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Archiv  für  Psychologie 


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ARCHIV 

FÜR  DIE 


GESAMTE  PSYCHOLOGIE 


UNTER  MITWIRKUNG 

VON 

Prof.  H.  HÖFFDING  in  Kopenhagen,  Prof.  F.  JODL  in  Wien,^K 
Prof.  A.  KIKSCHMANN  in  Toronto  (Canada),  Prof.  E.  KRAEPELIN 
in  München,  Prof.  O.  KÜLPE  in  Würzbüro,  Dr.  A.  LEHMANN 
in  Kopenhagen,  Prof.  Th.  LIPPS  in  München,  Prof.  G.  MARTIUS 
in  Kiel,  Prof.  G.  STÖRRING  in  Zürich,  Dr.  W.  W1RTH  in  Leipzig 
und  Prof.  W.  WUNDT  in  Leitzio 


HERAUSGEGEBEN  VON 

E.  MEUMANN 

O.  PROFESSOR  DER  PHILOSOPHIE  A.  D.  UNIVERSITÄT  ZÜRICH 


IV.  BAND,  1.  u.  2.  HEFT 

MIT  EINER  FIGI  H  IM  TEXT 


8» 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  WILHELM  ENGELMANN 

1904 


Ausgegeben  am  i.  Xoa  tubrr  1U04. 


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Bemerkungen  für  nnsere  Mitarbeiter. 


Das  Archiv  erscheint  in  Heften,  deren  vier  einen  Band  von 
etwa  40  Bogen  bilden. 

Sämtliche  Beiträge  für  das  Archiv  bitten  wir  an  die  Adresse  des 
Herrn  Professor  E,Me  um  ann,  Zürich,  Schmelzbergstr.  53  einzusenden. 

An  Honorar  erhalten  die  Mitarbeiter:  für  Abhandlungen 
Jl  30. — ,  für  Referate  Jt  40. —  für  den  Bogen.  Von  den  Abhand- 
lungen werden  an  Sonderdrucken  40  umsonst,  weitere  Exemplare 
gegen  mäßige  Berechnung  geliefert.  Von  den  Referaten  werden 
Sonderdrucke  nur  auf  Verlangen  geliefert.  Die  etwa  mehr  gewünschte 
Anzahl  bitten  wir,  wenn  möglich  bereits  auf  dem  Manuskript  an- 
zugeben. 

Die  Manuskripte  sind  nur  einseitig  beschrieben  und  druckfertig 
einzuliefern,  so  daß  Zusätze  oder  größere  sachliche  Korrekturen 
nach  erfolgtem  Satz  vermieden  werden.  Die  Zeichnungen  für  Tafeln 
und  Textabbildungen  (diese  mit  genauer  Angabe,  wohin  sie  im  Text 
gehören)  werden  auf  besondern  Blättern  erbeten ;  wir  bitten  zu  beachten, 
daß  für  eine  getreue  und  saubere  Wiedergabe  gute  Vorlagen  uner- 
läßlich sind.  Anweisungen  für  zweckmäßige  Herstellung  der  Zeich- 
nungen mit  Proben  der  verschiedenen  Reproduktionsverfahren  stellt 
die  Verlagsbuchhandlung  den  Mitarbeitern  auf  Wunsch  zur  Verfügung. 
In  Fällen  außergewöhnlicher  Anforderungen  hinsichtlich  der  Ab- 
bildungen ist  besondere  Vereinbarung  erforderlich. 

Die  im  Archiv  zur  Verwendung  kommende  Orthographie  ist 
die  für  Deutschland,  Österreich  und  die  Schweiz  jetzt  amtlich  ein- 
geführte, wie  sie  im  Dudenschen  Wörterbuch,  7.  Auflage,  Leipzig 
1902,  niedergelegt  ist. 

Die  Veröffentlichung  der  Arbeiten  geschieht  in  der  Reihenfolge, 
in  der  sie  druckfertig  in  die  Hände  der  Redaktion  gelangen,  falls 
nicht  besondere  Umstände  ein  späteres  Erscheinen  notwendig  machen. 

Die  Korrekturbogen  werden  den  Herrn  Verfassern  von  der  Ver- 
lagsbuchhandlung regelmäßig  zugeschickt;  es  wird  dringend  um  deren 
sofortige  Erledigung  und  Rücksendung  (ohne  das  Manuskript)  an  die 
Verlagsbuchhandlung  gebeten.  Von  etwaigen  Änderungen  des  Aufent- 
halts oder  vorübergehender  Abwesenheit  bitten  wir,  die  Verlagsbuch- 
handlung sobald  als  möglich  in  Kenntnis  zu  setzen.  Bei  säumiger 
Ausführung  der  Korrekturen  kann  leicht  der  Fall  eintreten,  daß 
eine  Arbeit  für  ein  späteres  Heft  zurückgestellt  werden  muß. 

Die  Referenten  werden  gebeten,  Titel,  Jahreszahl,  Verleger,  Seiten- 
zahl und  wenn  möglich  Preis  des  Werkes,  bzw.  die  Quelle  bespro- 
chener Aufsätze  nach  Titel,  Band,  Jahreszahl  der  betreffenden  Zeit- 
schrift genau  anzugeben. 

Herausgeber  und  Verlagsbuchhandlung. 


ARCHIV 

FÜR  DIE 

GESAMTE  PSYCHOLOGIE 

UNTER  MITWIRKUNG 

VON 

Prof.  H.  HÖFFDLNG  in  Kopenhagen,  Prof.  F.  JODL  in  Wien, 
Prof.  A.  KIRSCHMANN  in  Toronto  (Canada),  Prof.  E.  KRAEPELIN 
in  MOnchen,  Prof.  0.  KÜLPE  in  Würzbüro,  Dr.  A.  LEHMANN 
in  Kopenhagen,  Prof.  TH.  LIPPS  in  München,  Prof.  G.  MARTIUS 
in  Kiel,  Prof.  G.  STÖRRING  in  Zürich,  Dr.  W.  W1RTH  in  Lripzio 
und  Prof.  W.  WUNDT  in  Leipzig 

HERAUSGEGEBEN  VON 

E.  MEUMANN 

0.  PROF  DER  PHILOSOPHIE  A.  D.  UNIVERSITÄT  ZÜRICH 

*  M  - 

IV.  BAND 

MIT  14  FIGUREN  IM  TEXT 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  WILHELM  ENGELMANN 

1905 

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Es  wurden  ausgegeben: 

Heft  1  und  2  (8.  1—288;  Literaturbericht  S.  1—  32)  am  4.  November  1904. 
Heft  3  (8.  289— 436;  Literaturberichts.  33—  80)  am  13.  Januar  1906. 

Heft  4  'S.  437  — 620;  Literaturbericht  S.  81  — 104)  am  21.  Februar  1905. 


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Inhalt  des  vierten  Bandes. 


Seite 

Abhandlungen : 

Ei  ert,  E.,  und  E.  Meumann.  Über  einige  Grundfragen  der  Psyche  lugic  der 
Ubungsphänomcac  im  Bereiche  des  Gedächtnisses.  (Mit  einer  Figur 
im  Text.   1 

Gf.toer.  Moritz.  Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Gefühl.sclementc  und 

Gcfühlsverbindungcn  233 

Watt,  He.nry  J.,  Experimentelle  Beitrüge  zu  einer  Theorie  deg  Denkens. 

;Mit  9  Figiireo  im  Text.)  289 

Gordox,  Kate,  über  dag  Gcdächtnia  für  affektiv  bestimmte  Eindrücke. 

(Mit  zwei  Figuren  im  Text)  437 

KCi.pe.  O.,  Bemerkungen  zu  vorstehender  Abhandlung  459 

Lipps,  Tu.,  Weitereg  zur  »Einfühlung<  465 

PkdersKN,  R.  H.,  Experimentelle  Untersuchung  der  visuellen  und  akustischen 
Erinnerungsbilder,  angestellt  an  Schulkindern.  (Mit  zwei  Figuren 
im  Text)  520 


Literaturbericht : 

Vierkandt,  A-,  Jahresbericht  Aber  die  Literatur  zur  Kultur-  und  Qescllschafts- 

lchre  aus  dem  Jahre  1903     1 

Stull,  Otto,  Suggestion  und  Hypnotismus  in  der  Völkerpsychologie  (A.  Vier- 
kant! f)    23 

Frobenius,  L.,  Das  Zeitalter  des  Sonnengotteg.   (A.  Vierkandt)   26 

Lange.  Karl,  Sinnesgenüsse  und  Kunstgenuß.    (W.  Nef)   2V» 

Lichtwark,  Alfred,  Übungen  in  der  Betrachtung  von  Kunstwerken. 

(W.  Nef)   31 

Runge,  Max,  Daa  Weib  in  geiner  geschlechtlichen  Eigenart.    (W.  Nef)  31 

Brühl,  Marie,  Die  Natur  der  Frau  und  Herr  Professor  Runge.    (W.  Nef)  32 

Elberskirchen,  Johanna,  Die  Liebe  deg  dritten  Geschlechts.    (W.  Nef)  32 

Lipps,  Theodor,  Leitfaden  der  Pgychologie.    (0,  Mcssmer)                   .  33 

Jodl,  Friedrich,  Lehrbuch  der  Psychologie.    Zweite  Auflage  in  zwei 

Bänden.   (E.  Meumann)   38 

Heinrich,  W. ,  Die  Aufmerksamkeit  und  die  Funktion  der  Sinnesorgane. 

(F.  Büke)   39 

Bin  et,  Alfred,  Attention  et  adaptation.   (E.    Meumann)   40 

Jung.  C.  G-ü  und  Riklin,  Fr.,  Diagnostische  Assoziatiousstudicn.  1.  Bei- 
trag: Experimentelle  Untersuchung  über  Assoziationen  Gesunder. 
Vorwort:  Uber  die  Bedeutung  von  Assoziationsversuchen,  von  Prof. 

Bleuler-Burghölzli.    (0.  Messmer.)   46 

Ackerkuecht,  E.,  Die  Theorie  der  Lokalzcichen.   (F.  Büke)   48 

Hey  maus,  G. .  Uber  Unterschiedssclnvellcn  bei  Mischungen  von  Kontrast- 

farben.    (F.  Biske)   50 

 TT  

Piper.  II..  Uber  Dunkcladaptation.    (F.  Bisb)   51 

Piper.  H. ,  Uber  die  Abhängigkeit  des  Reilwertes  leuchtender  Objekte  von 

ihrer  Flächen-  bzw.  "Winkelgröße.    (F.  Bisb:)   53 

Piper,  H.,  Uber  das  Hclligkcits Verhältnis  monokular  und  binokular  aus- 
geloster Lichteuipfiudurigen.    (F.  Bisb)   54 

Schäfer,  Gisela,  Wie  verhalten  sich  die  Helmholtzschen  Grundfarben  zur 

Weite  der  Pupille.   (F.  Büke)   55 


1Y. 

Seit* 


Lehmann,  AI  fr.,  Versuch  einer  Erklärung  des  Einflusses   des  Gesichts- 
winkels  auf  die   Auffassung  von  Licht  und  Farbe  bei  direktem 

Sehen.    (F.  Biske)   56 

Thorndikc,  Edward  L.,  An  introduetiou  to  the  theory  of  mental  and 

social  measurements.    (E.  Mauna  im)   M> 

Mcrker,  Ilubert,  Taubstutnmblind,  eine  psychologische  Skizze.    (E,  Eberl)  07 

Heller,  Thcudor,  Grundriß  der  licilpädagogik.    (1  Heischt \r)   GS 

Heller,  Theodor,  Studien  zur  lUindenpsychologie.    (E.  Mrumann)    ...  71 
Kelly,  Robert  Lincoln,  Psychophysical  testa  of  normal  and  abnormal 
children.    Studies  from  the  psychophysical  Laboratory  of  the  l'niver- 

sity  <>f  Chicago.    (E.  Mn/maim)   72 

Delaporte,  L.  J.,  Philosophische  Untersuchungen  über  die  nicht-euklidischen 

Geometrien.    (F.  Bi.sir)   7-1 

Marshall,  W.,  Die  Tiere  der  Erde,    Eine  volkstümliche  Übersieht  aber 
die  Naturgeschichte  der  Tiere.  Ober  1000'  Abbildungen  und  25  farbige 

Tafeln  nach  dem  Leben.    (Bielscher)   75 

Naumann,  Fr.,  Die  Erziehung  zur  Persönlichkeit  im  Zeitalter  des  Groß- 
betriebs.  (E.  Ebert)   77 

Seitz,  Anton,  Willensfreiheit  und  moderner  psychologischer  Determinia- 

mus.    jO.  Mrssno.r)   77 

Richter,  Raoul,  Der  Skeptizismus  in  der  PhiloBophie.  1.  Bd.  (F.  Rose)  79 
Nikolaj   I.oßkij,  Die  Grundlagen   der  Psychologie  vom  Standpunkte  des 

Voluntarismus.    (J.  Köhler)   81 

Harald  Hoff  ding,  Philosophische  Probleme.    (J.  Köhler)   83 

H.  Thoden  van  Velten,  System  des  religiösen  Materialismus.  I.  Wissen- 
schaft der  Seele.    (0.  Vogl)   87 

P.  H.  Sie  wer  s,  Mechanismus  und  Organismus.    Hin  Versuch  zur  Erklärung 

der  Lebenstatigkeit.    (J.  Köhler)   89 

Ch.  H.  Judd.  Einige  Erscheinungen  des  binokularen  Sehens.  (F.  Bi\ih>l  ,  89 
Loeser,  Uber  den  Einfluß  der  Dunkeladaptation  auf  die  spezifische  Farben- 

Bchwellc.    (F.  Bisttc)   <H) 

J.  Franklin  Messenger,  Die  Wahrnehmung  der  Zahl.  (F.  Bishr)  ...  90 
L.  Luciani.  Physiologie  des  Menschen.    Lief.  1  u.  2.    (Fi.  J[">!ht/    ....  91 

J.  Breuer,  Studien  Ober  den  Vestibularapparat.    (R.  Höher)   92 

Hermann  Schneider,  Die  Stellung  Gusseiidia  zu  Descartcs.    (Fr,  Rose)  .  93 

Hans  Lindau,  Unkritische  Gänge.    (E.  Mcumann)   94 

Jos.  W.  Nahlowsky,  Das  Duell,  sein  Widersinn  und  seine  moralische 

Verwerflichkeit.    iE.  Muuuariu)   91 

Ch.  Brunot,  Untersuchung  Aber  die  soziale  Solidarität  als  Prinzip  der  Ge- 
setze.  (F.  Biske)   94 

Thcosophischer  Wegweiser,  Monatsschrift  zur  Verbreitung  einer  höheren 
Weltanschauung  und  zur  Verwirklichung  der  allgemeinen  Mcnsehen- 

verbrüderung.    (F.  Ehcrt)   95 

OeheimwisBcnschaftliche  Vorträge  zur  Einführung  in  die  okkulte 

Philosophie.    Heft  5—7.   (E.  Eberl)   95 

Philosophische  Bibliothek:  Bd.  3.  Aristoteles'  Metaphysik.  —  Bd.  43. 
Immanuel  Kants  Logik.  —  Bd.  69.  G.  W.  v.  Leibniz,  Neue  Abhand- 
lungen über  den  menschlichen  Verstand.    //•.'.  Mammut i   90 

Zeitschriftenschau    97 


Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungs- 
phänomene  im  Bereiche  des  Gedächtnisses, 

zugleich  ein  Beitrag  zur  Psychologie  der  formalen  Geistesbildung: 

A.  Untersuchung  der  Wirkung  einseitig  mechanischer 
Übung  auf  die  Gesamtgedächtnisfunktion. 

B.  Über  ökonomische  Lernmethoden. 

Von 

Ernst  Ebert  und  E.  Meumann. 

(Aus  dem  psychologischen  Laboratorium  der  Universität  Zürich.) 

Mit  einer  Figur  im  Text. 

I.  Kapitel: 
Einleitung  und  Aufstellung  des  Problems. 

Die  vorliegende  Untersuchung1)  beschäftigt  sich  mit  einigen 
psychologischen  Fundamentalfragen,  die  schon  lange  einer  experi- 
mentellen Entscheidung  harren.  Bei  Gelegenheit  von  Experimenten 
über  das  Gedächtnis  trat  uns  die  Wichtigkeit  der  Frage  entgegen, 
ob  und  in  welchem  Sinne  von  einer  allgemeinen  Gedächtnis- 
übung gesprochen  werden  kann,  und  ob  sich  durch  einseitige  Übung 
eines  der  sogenannten  Spezialgedächtnisse  oder  einer  speziellen 
Gedächtnisfunktion  an  einem  bestimmten  Stoff  eine  Vervoll- 
kommnung des  allgemeinen  Gedächtnisses  erreichen  läßt. 

Bei  der  Verfolgung  dieses  Problems  zeigte  sich,  daß  die  Ergeb- 
nisse unserer  Versuche  in  mancher  Hinsicht  neues  Licht  auf  das 
Problem  der  Gedächtnisübung  überhaupt  warfen,  und  hiermit  hingen 
wieder  die  allgemeinen  Probleme  zusammen,  in  welchem  Sinne 

1  Anm.  deB  Herausgebers.  Der  Anteil  von  Herrn  Dr.  Ebert  und  mir  an 
der  Kegenwiirtigen  Arbeit  verteilt  Bich  etwa  in  folgender  Weise :  Nachdem  ich 
den  Plan  der  ganzen  Untersuchung  aufgestellt  hatte,  war  Herr  £.  bei  allen  Ver- 
suchen der  ausführende  Vereuchsleiter,  ich  selbst  Versuchsperson.  Herr  E. 
übernahm  dann  die  erste  Ausarbeitung  des  Textes,  den  ich  in  zweiter  Redak- 
tion überarbeitete  und  mit  der  Einleitung  und  der  Zusammenfassung  dor 
Resultate  (3. 1%  ff.)  und  den  theoretischen  Schlußfolgerungen  vervollständigte. 

ArckiT  ftur  r*jchologie.    IV.  1 

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2 


ErnBt  Ebert  und  E.  Meum&nn, 


man  Uberhaupt  von  Spezialgedächtnissen  und  Allgemeingedächtuis 
reden  könne.  Wir  üben  in  der  Regel  in  der  Praxis  des  Lebens 
sogenannte  Spezialgedächtnisse;  wird  nnn  dadurch  eine  all- 
gemeine Vervollkommnung  des  Gedächtnisses  hervorgebracht? 
Diese  Frage  hat  sowohl  große  theoretische  wie  praktische  Bedeu- 
tung. Ihre  theoretische  Bedeutung  ist  darin  zu  suchen,  daß  wir 
durchaus  nichts  Sicheres  darüber  wissen,  wie  weit  die  ganze 
Vorstellung  von  dem  Vorhandensein  von  Spezialgedächtnissen  be- 
rechtigt ist,*  wie  weit  die  Übungsphänomene  der  einzelnen  Spezial- 
gedächtnisse zusammenhängen,  und  in  welchem  Sinne  wir  von 
einer  allgemeinen  Gedächtnisfunktion  und  ihrer  Vervollkommnung 
durch  Übung  reden  können. 

Diese  Schwierigkeit  ist  wiederum  ein  Erzeugnis  der  neuen  psy- 
chologischen Gesamtauffassung  vom  Wesen  des  Bewußtseins  und 
der  Methode  der  Untersuchung  geistiger  Prozesse.  Die  heutige 
Psychologie  redet  nicht  mehr  von  einem  »Vorstellen«  als  einem 
allgemeinen  Vorgange,  sondern  von  einzelnen  Vorstellungen  und 
ihren  Zusammenhängen,  —  nicht  von  einem  Vermögen  der 
Assoziation  und  Reproduktion,  sondern  von  den  Bedingungen, 
nnter  denen  sich  Assoziationen  zwischen  einzelnen  Vorstellungen 
vollziehen  oder  Reproduktionen  von  einer  einzelnen  Vorstellung 
aus  (oder  einem  Komplex  von  Vorstellungen  in  Zusammenwirkung 
mit  einer  gewissen  Konstellation  im  Bewußtsein)  stattfinden  können. 
Assoziation  und  Reproduktion  sind  also  für  uns  nur  Komplexe 
von  Bedingungen  ftir  die  Verbindung  im  Bewußtsein  vorhandener 
und  für  das  Auftauchen  neuer  Vorstellungen,  und  die  allgemeine 
Gedächtnisfunktion  ist  die  allgemeine  Eigenschaft  der  einzelnen 
Vorstellungen  (zentral  erregten  Empfindungen),  Übungsdispositionen 
zu  hinterlassen,  auf  Grund  deren  sie  vermittelst  der  Anregung  durch 
äußere  oder  innere  Reize  im  Bewußtsein  wieder  auftauchen  können. 
Es  hat  aber  keinen  Sinn,  von  einer  Steigerung  oder  Vervollkommnung 
dieser  allgemeinen  Eigenschaft  der  Vorstellungen  für  sich  durch 
Übung  zu  reden;  was  wir  üben,  vervollkommnen  und  befestigen, 
bleibt  immer  nur  das  Behalten  und  Reproduzieren  der  einzelnen 
Vorstellungen.  Wie  haben  wir  uns  also  die  allgemeine  Gedächtnis- 
übung und  den  Zusammenhang  der  SpezialÜbungen  innerhalb  ein- 
zelner Gebiete  des  Vorstcllcns  rein  psychologisch  zu  denken? 

Die  physiologische  Betrachtungsweise  der  Übungstatsachen  des 
Gedächtnisses  bringt  uns  allerdings,  wie  wir  später  sehen,  weiter 


Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  3 

als  die  rein  psychologische,  doch  bleiben  immerhin  auch  für  sie 
ähnliche  prinzipielle  Schwierigkeiten  bestehen. 

Die  rein  empirische  Untersuchung  des  Seelenlebens  hat  daher 
vielfach  an  Stelle  der  Annahme  eines  allgemeinen  Gedächtnisses 
die  Auffassung  gesetzt,  daß  es  eigentlich  nur  psychophysische 
Ubnngsdispositionen  für  einzelne  Vorstellungen  und  Vorstellungs- 
zusammenhänge gibt.  Es  ist  aber  sehr  bezeichnend,  daß  eben  diese 
rein  empirische  Untersuchung  der  einzelnen  Assoziations-  und  Re- 
produktionstatsachen wieder  Über  diese  Anschauung  hinausdrängt 
in  der  Lehre  Ton  den  sogenannten  Spezialgedächtnissen.  Man 
pflegt  wohl  die  Übnngsdispositionen  für  einzelne  Vorstellungen  wieder 
in  besondere  Gruppen  zu  bringen  nach  dem  Grade  der  Ver- 
wandtschaft oder  auch  nach  dem  Gesichtspunkte  der  sensori- 
schen Zusammengehörigkeit  der  reproduzierten  Bewußt- 
seinsinhalte, und  als  ein  erstes  Ergebnis  dieser  Zusammenfassung 
erscheint  dann  die  Aufzählung  von  Spezialgedächtnissen, 
wie  das  Gedächtnis  für  Farben,  Helligkeiten,  Töne  und  andere 
Empfindungsgruppen,  für  räumliche  und  zeitliche  Verhältnisse,  — 
diese  pflegt  man  wohl  als  das  sinnlich-anschauliche  Gedächtnis 
zusammenzufassen.  Ihnen  gegenüber  steht  dann  etwa  das  Ge- 
dächtnis für  Zeichen  und  Symbole  für  einen  anschaulichen  Inhalt, 
das  Namengedächtnis,  Zahlengedächtnis,  das  Gedächtnis  für  mathe- 
matische Symbole  usf.;  dazu  kommt  etwa  noch  das  begriffliche 
und  logische  Gedächtnis,  das  Gedächtnis  für  Willenshandlungen  und 
vielleicht  auch  für  Gefühle  (»emotionelles«  Gedächtnis  nach  Ribot). 
Es  ist  nun  wichtig,  zu  betonen,  daß  diese  Lehre  von  den  Spezial- 
gedächtnissen keineswegs  bloß  das  Ergebnis  einer  logischen  Klassi- 
fikation von  einzelnen  Gedächtnisbetätigungen  nach  dem  Gesichts- 
punkt der  Verwandtschaft  der  reproduzierten  und  geübten  Bewußt- 
seinsinhalte ist,  vielmehr  liegen  dieser  Lehre  noch  ganz  andere  als 
logische  Gesichtspunkte  zugrunde.  Sie  kann  sich  in  der  Haupt- 
sache auf  vier  verschiedene  Tatsachengruppen  stützen,  nämlich 
1  auf  die  häufig  vorkommenden  Unterschiede  in  der  individuellen 
Gedächtnisbegabung;  wir  finden  z.  B.,  daß  manche  Individuen 
ein  vortreffliches  Ton-  oder  Farben-  oder  Namen-  oder  Zahlen- 
gedächtnis besitzen,  deren  sonstige  Gedächtnisleistungen  relativ  un- 
bedeutend sind;  2)  auf  die  Entwicklung  des  Gedächtnisses  im 
Kindesalter ;  die  einzelnen  Spezialgedächtnisse  trennen  sich  in  ihrer 
Entwicklung,  die  einen  eilen  um  Jahre  vor  andern  voraus  (Net  scha- 
lt 


4 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumaun, 


jeff,  Lobsien);  3)  auf  pathologische  Tataachen;  einzelne  Spezial- 
gedächtnisse  können  pathologisch  verändert  sein,  während  das  übrige 
Gedächtnis  intakt  bleibt;  4)  vermeintlich  auch  auf  die  Übungs- 
erscheinungen; so  glaubte  Netschajeff  noch  kürzlich  behaupten 
zu  können,  daß  eine  Steigerung  eines  Spezialgedächtnisses  (z.  B. 
des  akustischen)  durch  Übung  durchaus  nicht  eine  Steigerung  eines 
andern  (z.  B.  des  Farbengedächtnisses}  mit  sich  bringe. 

In  der  empirisch  konstatierten  Tatsache  der  Spezialgedächtnisse 
haben  wir  daher  einen  Gedächtnistatbestand,  an  dem  sich  die  oben 
aufgeworfenen  Probleme  experimentell  behandeln  lassen. 

Es  fragt  sich  nämlich  zunächst,  wie  nun  diese  Gedächtnis- 
funktioneu  untereinander  zusammenhängen,  und  zeigen  sie 
Uberhaupt  irgendeinen  Zusammenhang?  Trägt  ihr  Zusammenhang 
insbesondere  den  Charakter  allgemeinerer  Funktionen,  die  in 
gleichem  Sinn  an  den  Erscheinungen  der  Übung,  Vervollkommnung, 
Gewöhnuug,  Entwöhnung  oder  der  Vernachlässigung  oder  Degene- 
ration teilnehmen?  Nimmt  z.  B.  das  akustische  Gedächtnis  durch 
Übung  zu,  wenn  wir  das  optische  vervollkommnen,  und  wenn 
sich  ein  solches  Zunehmen  experimentell  beweisen  ließe,  —  wie 
ist  es  dann  zu  erklären?  Ist  es  ein  bloßes  Phänomen  der  Mit- 
Ubung,  oder  beruht  es  darauf,  daß  eine  Vervollkommnung  gewisser 
allgemeiner  psychischer  Faktoren  stattfindet,  die  sich  bei  aller  Ge- 
dächtnisübung betätigen,  z.  B.  eine  Vervollkommnung  der  Aufmerk- 
samkeit, ihrer  Konzentration,  Ausdauer  usf.?  Oder  beruht  viel- 
leicht die  ganze  Erscheinung  nur  darauf,  daß  die  Vp.,  welche  ein 
Spezialgedächtnis  durch  Übung  steigert,  gewisse  äußere  Kunst- 
griffe und  eine  Lerntechnik  erwirbt  und  sich  in  ihrer  ganzen 
inneren  Verfassung  in  günstigerem  Sinn  an  die  Spezialarbeit  des 
Gedächtnisses  anpaßt,  —  daß  sie  also  z.  B.  eine  für  die  Arbeit 
des  Lernens  günstigere  Stimmungslage  erwirbt,  ablenkende  Vor- 
stellungen und  überflüssige  Spannungen  vermeidet  u.  dgl.  m.  ? 

Das  Problem  der  Gedächtnisübung  hängt  aber  natürlich  mit  dem 
allgemeinen  Problem  der  Übung  zusammen;  alle  Übung  überhaupt 
ist  in  gewissem  Sinne  Spezialttbung.  Wir  üben  immer  nur  be- 
stimmte Muskeln  für  bestimmte  Bewegungen  oder  einzelne  geistige 
Fähigkeiten,  wie  das  Lernen,  das  Reproduzieren,  die  Urteilsschärfe, 
die  Fälligkeit,  Schlußketten  zu  übersehen.  Und  alle  diese  Fähig- 
keiten üben  wir  strenggenommen  wieder  nicht  als  Fähigkeiten, 
sondern  als  eine  einzelne  Betätigung  im  einzelnen  Falle  au  einem 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übangsphänomene  ubw.  5 

speziellen  Stoff,  also  in  der  Form  der  Betätigung  einzelner  Vor- 
stellungen, Urteile,  Schlüsse. 

Gibt  es  nnn  überhaupt  eine  allgemeine  Übung  irgendwelcher 
geistigen  Fähigkeiten?  Befestigen  wir  durch  die  Übung  immer  nur 
die  Disposition,  die  Spur  und  die  Reproduktionsmöglichkeit  der 
einzelnen  Vorstellungen,  des  einzelnen  Urteils-  und  Schlußaktes,  — 
oder  wird  das  Urteil  überhaupt,  das  Gedächtnis  im  allgemeinen 
vervollkommnet,  wenn  wir  es  im  einzelnen  Fall  an  irgendeinem 
Stoffe  üben?   Das  Problem  der  allgemeinen  und  speziellen  Übung 
weist  nun  aber  wieder  auf  ein  weiteres,  psychologisch  und  päda- 
gogisch höchst  wichtiges  Problem  hin,  —  nämlich  auf  die  Frage 
nach  dem  Wesen   und  der  Möglichkeit    der  formalen 
geistigen  Bildung.    Wenn  sich  alle  geistige  Übung  an  einem 
bestimmten  Stoffe  vollzieht,  und  wenn  insbesondere  alle  Vor- 
stellungstätigkeit sich  immer  nur  in  Einzelvorstellungen  betätigt, 
so  gibt  es,  wie  es  scheint,  auch  strenggenommen  nur  einen  Erwerb 
von  Wissen  von  einzelnen  Vorstellungen,  Urteilen,  Schlüssen  usw., 
und  es  hat  gar  keinen  Sinn,  durch  Übung  die  Vervollkommnung, 
Bildung  oder  Kultur  formaler,  d.  h.  vom  Stoff  unabhängiger 
geistiger  Fähigkeiten  zu  erstreben.    Mit  Sicherheit  nachweisen 
können  wir  immer  nur  die  Tatsache,  daß  materiell  bestimmte  Vor- 
stellungen, Urteile  und  Schlüsse  durch  Übung  »gebildet«  werden,  — 
oder  wenn  man  diese  Konsequenz  vermeiden  will,  so  wird  man  nicht 
nmhin  können,  in  irgendeinem  Sinne  die  Lehre  von  dem  Vorhanden- 
sein allgemeiner  Fähigkeiten  des  Geistes  wieder  zu  erneuern 
und  eine  plausible  Vorstellung  von  dem  physischen  und  psychischen 
Wesen  einer  Vorstellungsfahigkeit,  einer  Gedächtnis-,  Reproduktion»-, 
Phantasie-  und  Urteilsfähigkeit  auszubilden.     Wir  stehen  also 
vor  der  Wahl:  Entweder  gelingt  es  uns,  die  Auffassung  von  dem 
Vorhandensein  allgemeiner  psychophysischer  Fähigkeiten  wieder 
zu  erneuern,  vielleicht  durch  das  Zurückgreifen  auf  das  Vorhanden- 
sein allgemeiner  psychophysischer  Übungsdispositionen,  welche  als 
die  Träger  der  einzelnen  Vorstellungen,  Urteile  oder  Schlüsse  an- 
zusehen sind,  oder  auch  durch  den  Nachweis  einer  Mitttbung  ver- 
wandter psychophysischer  Dispositionen  auf  Grund  der  Vervoll- 
kommnung einzelner  Tätigkeiten,  —  oder  aber  wir  bleiben  bei  der 
streng  atomistischen  Auffassung  des  Seelenlebens  stehen,  die  nur 
einzelne  Vorstellungen  und  Urteile  kennt.  Dann  kann  von  formaler 
Geistesbildung  im  psychologischen  Sinne  keine  Rede  sein. 


6 


Ernst  Ebert  und  E.  Meomann, 


Für  die  Psychologie  des  18.  Jahrhunderts,  welche  einfach  die 
abstrakten  Begriffe  psychischer  Vermögen  zu  realen  psychischen 
Vorgängen  stempelte,  bestand  diese  Schwierigkeit  nicht.  Sie  trat 
erst  auf  mit  Herbarts  Kritik  der  Vermögenslehre  und  seiner  Auf- 
lösung des  Seelenlebens  in  das  Kommen  und  Gehen  einzelner  Vor- 
stellungen. Für  den  konsequenten  Herbartianer  gibt  es  daher 
auf  dem  Boden  der  empirischen  Psychologie  weder  allgemeine 
Übung  geistiger  Fähigkeiten,  noch  formale  geistige  Bildung.  Diese 
Begriffe  können  höchstens  durch  ein  Zurückgreifen  auf  das  meta- 
physische Wesen  der  Seele  aufrechterhalten  werden.  Die  gegen- 
wärtige Psychologie  ist  in  gewissem  Sinne  bei  der  Auffassung 
Herbarts  stehen  geblieben.  Wir  nehmen  zwar  zum  Unterschied 
von  Herbart  mehrere  Klassen  psychischer  Einzelvorgänge  an, 
nnd  auch  unser  Begriff  der  Vorstellung  ist  nicht  mehr  derselbe  wie 
bei  Herbart,  nicht  feste  Größen  sind  die  Vorstellungen,  sondern 
wandelbare  Komplexe  zentral  erregter  Empfindungen,  aber  die  Her - 
bartsche  Auflösung  des  intellektuellen  Seeleulebens  in  einzelne  Vor- 
stellungen ist  im  Prinzip  geblieben,  und  wir  haben  es  zwar  nicht 
bloß  mit  einzelnen  Vorstellungen,  wohl  aber  mit  einzelnen 
Empfindungen,  Empfindungskomplexen,  Vorstellungen,  Vorstellungs- 
komplexen, konkreten  Vorstellungszusammenhängen  und  etwa  noch 
einzelnen  Urteilen,  Gefühlen  und  Willenshandlungen  zu  tun,  —  im 
Prinzip  besteht  also  für  die  heutige  Psychologie  die  gleiche 
Schwierigkeit  wie  für  Herbarts  Vorstellungslehre.  Es  ist 
schwierig,  sich  vorzustellen,  was  eigentlich  allgemeine  Übung  gei- 
stiger Fähigkeiten  ist,  und  worin  die  psychologische  Basis  for- 
maler Geistesbildung  besteht;  denn  schwerlich  wird  sich  mit  der 
Ansicht  auskommen  lassen,  daß  allgemeine  Übung  einer  geistigen 
Fähigkeit  eben  nichts  anderes  sei  als  eine  einfache  Summation  von 
zahlreichen  Einzelvorstellungen  und  deren  Übungsdisposition. 

Die  vorliegende  Untersuchung  möchte  nuu  nach  allen  diesen 
Richtungen  einen  Vorstoß  machen  zur  experimentellen  Bearbei- 
tung der  angedeuteten  Probleme.  Sie  beschränkt  sich  zunächst 
auf  den  rein  tatsächlichen  Nachweis,  daß  eine  allgemeine 
Steigerung  des  Gedächtnisses  stattfindet,  wenn  man  ein  Spezial- 
gedächtnis  durch  Übung  vervollkommnet.  Im  Anschluß  an  diesen 
Tatsachennachweis  werden  wir  allerdings  einige  allgemeine  theo- 
retische Folgerungen  über  das  Wesen  der  Übung  und  der  Übungs- 
dispositionen  zu  geben  suchen.    Eine  weitere  Untersuchung  wird 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  7 


die  Fortsetzung  der  gegenwärtigen  bieten;  sie  beschäftigt  sich 
nicht  nur  mit  dem  tatsächlichen  Nachweis  des  Vorhandenseins  einer 
allgemeinen  Übung  innerhalb  der  Gedächtnisfunktion,  sondern  ganz 
speziell  mit  der  Erklärung  dieses  Phänomens. 

Den  Ausgangspunkt  unserer  Untersuchung  bildet  die  experimen- 
telle Entscheidung  der  Frage,  welches  die  Wirkung  einer  einseitigen 
Übung  des  mechanischen  Behaltens  bestimmter  Arten  von  Vorstellun- 
gen auf  das  Ganze  der  Gedächtnisfunktion  ist,  und,  im  Anschluß  hieran, 
soeben  wir  theoretisch  zu  erörtern,  worin  das  Wesen  des  Übungs- 
phänomens  bei  Gedächtnisübungen  und  das  Wesen  der  Übung 
überhaupt  in  psychologischer  und  physiologischer  Hinsicht  besteht. 

Mit  dieser  ersten  Frage  ließ  sich  nun  aber  leicht  die  Behand- 
lung zweier  weiterer  Gedächtnisprobleme  verbinden.  Indem 
wir  znm  Zwecke  der  experimentellen  Behandlung  des  genannten 
Hauptproblems  unsere  Vp. »)  an  dem  Lernen  sinnloser  Silben  übten, 
hatten  wir  zugleich  gute  Gelegenheit,  den  Wert  verschiedener  Lern- 
methoden zu  erproben.  Schon  G.  E.  Müller  und  Steffens 
haben  die  sog.  T.-Methode  (Teil-Lernmethode)  mit  der  G.-Methode 
(Ganz-Lernmethode)  verglichen.  Durch  frühere  Versuche  im  Züricher 
psychologischen  Laboratorium  waren  wir  auf  mancherlei  Mängel 
der  G.-Methode  aufmerksam  geworden.  Wir  versuchten  deshalb, 
eine  dritte  Art  von  Methoden  auszubilden,  welche  die  Vor- 
teile der  T.-  und  G.-Methode  vereinigen  sollten  und  sich  zugleich 
zur  Anpassung  an  Stoffe  von  ungleicher  Schwierigkeit  als  geeignet 
erwiesen.  Wir  machen  zunächst  einige  orientierende  Angaben  Uber 
die  Anordnung  der  ganzen  Untersuchung. 

Die  Versuche  fanden  statt  von  November  1902  bis  August  1903. 
Es  stellten  sich  uns  unter  Darbringung  großer  Opfer  an  Zeit  und 
Mühe  als  Vp.  freundlichst  zur  Verfugung: 

1)  Herr  stud.  theol.  Baumgartner     (bez.  B 

2)  Herr  Sekundarlehrer  Briner         (  >  Br.) 

3)  Fräulein  stud.  phil.  Blank  {  >  Bl.) 

4)  Herr  stud.  theol.  Furrer  (  >  F.) 

5)  Herr  Professor  Dr.  E.  Meu mann     (  »  M.) 

6)  Fräulein  stud.  phil.  Sokoleff       (  >  S.) 

7)  Herr  Dr.  med.  et.  phil.  Wreschner  (  »  W.) 

8)  Herr  stud.  theol.  Ziegler  (  »  Z.) 


1  Dt»  Wort  Versuchsperson  kürzen  wir  ab:  Vp. 


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8 


Ernst  Ebert  and  E.  Meumann, 


i 

i 


Die  Namen  der  Vp.  werden  im  folgenden  nur  noch  mit  den 
Anfangsbuchstaben  bezeichnet. 

Fräulein  S.  trat  im  Lanfe  der  Versuche  für  Fräulein  Bl.  ein. 
Herr  Z.  beteiligte  sich  an  einer  Gruppe  von  Versuchen,  welche 
den  allmählichen  Aufbau  einer  »Normalreihe  von  zwölf  Silben« 
und  die  eng  damit  zusammenhängende  Wirksamkeit  der  Aufmerk- 
samkeit darlegen  sollten. 

Bei  allen  diesen  Herren  und  Damen  wurde  zunächst  durch 
Vorversuche  festgestellt,  welches  die  Leistung  ihres  Gedächtnisses 
bei  Beginn  der  Versuche  war.  Es  wurde  also  eine  Art  Querschnitt 
ihres  Gesamtgedächtnisses  zu  Anfang  der  Versuche  vorgenommen, 
der  zwar  nicht  allseitig,  aber  doch  vielseitig  war,  —  das  heißt, 
die  in  Rede  stehende  Anfangsprttfung  erstreckte  sich  nicht  auf 
alle  nur  erdenklichen  Spezialgedächtnisse  —  dies  mag  einer  spä- 
teren, weitergehenden  Untersuchung  vorbehalten  bleiben,  bei  wel- 
cher vor  allem  sämtlichen  Beteiligten  mehr  Zeit  verfügbar  sein 
mußte  — ,  sie  bezog  sich  aber  immerhin  auf  so  viel  spezielle  Arten 
des  Gedächtnisphänomens,  als  nötig  erschien,  um  am  Ende  einen 
völlig  sicheren  Schluß  ziehen  zu  können  betreffs  der  Wirkung 
durchaus  einseitig  mechanischer  Übung  auf  das  Gesamtgedächtnis. 
Diese  Anfangsprttfung  bezog  sich  ebensowohl  auf  das  unmittelbare, 
wie  auf  das  dauernde  Behalten,  wobei  wir  unter  unmittelbarem  Be- 
halten dasjenige  verstehen,  bei  welchem  die  Wiedergabe  sofort 
nach  dem  einmaligen  Auffassen  erfolgt. 

Die  Feststellung  der  Fähigkeit  des  unmittelbaren  Behaltens 
fand  statt 

A.  in  bezug  auf  sinnloses  Gedächtnismaterial,  nämlich 

a.  in  bezug  auf  Buchstaben, 

b.  »     »       »  Zahlen, 

c.  »     »       »    sinnlose  Silben; 

B.  in  bezug  auf  sinnvolles  Gedächtnismaterial,  nämlich 

a.  in  bezug  auf  Wörter, 

b.  »     »       »    italien.  Vokabeln,  gleich  B,  a,  ohne 
logische  Verbindung, 

c.  in  bezug  auf  Gedichtstrophen, 

d.  »      »       »  Prosasätze. 

Die  hierauf  folgende  Feststellung  der  Fähigkeit  des  dauernden 
Behaltens  fand  statt 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänoroene  usw.  9 

A.  in  bezog  auf  das  Behalten  sinnlosen  Materials,  nämlich 

a.  in  bezog  aof  verschieden  lange  Reihen  sinnloser 
Silben, 

b.  in  bezog  aof  Reihen  visoeller  Zeichen; 

B.  in  bezog  aof  das  Behalten  sinnvollen  Materials,  nämlich 

a.  in  bezog  aof  italien.  Vokabeln,  ohne  logische  Ver- 
bindong, 

b.  in  bezog  aof  Gedichtstrophen, 

c.  >     *       >  Prosasätze. 

Nachdem  so  die  Anfangsbeschaffenheit  des  Gedächtnisses  bei 
jeder  Vp.  festgestellt  war,  erfolgte  die  einseitige  Übong  des  me- 
chanischen Gedächtnisses  an  Reihen  sinnloser  Silben,  die  nach  den 
Regeln  von  G.  E.  Müller  aofgebaot  waren.  Zo  diesem  Zwecke 
hatte  jede  Vp.  32  »Normalreihen«,  das  heißt  Reihen  zo  je  zwölf 
sinnlosen  Silben,  zo  erlernen.  Mit  diesen  Einübungsversachen 
wurde  nun  zugleich  die  Beantwortung  einer  zweiten  Frage  ver- 
bunden, nämlich  der,  welche  Lernmethode  sich  als  die  am  meisten 
ökonomische  erweisen  lasse.  Rein  theoretisch  genommen,  hätte 
man  wohl  diese  Einttbongsversoche  mit  sinnlosem  Material  so  lange 
fortsetzen  müssen,  bis  bei  jeder  Vp.  eine  konstante,  nicht  mehr 
zunehmende  Zahl  von  Durchlesungen  bis  zum  Auswendigkönnen 
eingetreten  wäre;  es  zeigte  sich  aber,  daß  die  Übungszunahme  eine 
nahezu  unbegrenzte  war;  sie  schreitet  vermutlich  solange  fort,  bis 
die  Vp.  eine  Silbenreihe  von  der  Länge,  wie  wir  sie  verwendeten, 
mit  einer  Lesung  lernt 

So  brachen  wir  denn  nach  Erlernung  von  32  Normalsilben- 
reihen die  einseitige  Übung  ab,  um  deren  bisherige  Wirkong  auf 
das  Gesamtgedächtnis  festzustellen.  Dies  erfolgte  in  der  Weise, 
daß  wir  abermals  einen  »Querschnitt«  dnreh  das  Gedächtnis  machten, 
und  zwar  unter  den  gleichen  Bedingungen,  wie  bei  dem  ersten, 
Seite  8  erwähnten.  Das  Material  bei  dem  zweiten  Querschnitt  war 
natürlich  ein  anderes,  es  wurde  aber  nach  Möglichkeit  dem  früheren 
Lernmaterial  gleich  gemacht.  Nach  dieser  ersten  Einübung  an 
32  Übungstagen  trat  schon  ein  beträchtlicher  Übungserfolg  ein; 
wir  setzten  aber  nach  der  zahlenmäßigen  Feststellung  desselben 
die  Einübung  auf  mechanisches  Lernen  in  einer  zweiten  Reihe 
von  Einübungsversuchen  fort 

Diese  schloß  sich  unmittelbar  an  die  Aufnahme  des  »zweiten 
Querschnittes«  an,  doch  erfolgte  sie  nur  bei  der  Hälfte  der  Vp. 


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10 


Emst  Ebcrt  uwl  E.  Meumann, 


an  abermals  32  Normalsilbenreihen,  weil  der  Schluß  des  Semesters 
die  Vp.  M.,  W.  und  S.  zu  einer  Unterbrechung  nötigte,  weshalb  das 
Übungsmaterial  für  diese  drei  Personen  auf  die  Hälfte  reduziert 
werden  mußte,  —  sie  lernten  statt  abermal  32  Reihen  also  nur  16, 
ein  Umstand,  der  ebenfalls  Anlaß  zu  Beobachtungen  über  den  Fort- 
schritt des  Gesamtgedächtnisses  geben  konnte.  Im  übrigen  waren 
alle  Bedingungen  dieses  zweitmaligen ,  einübenden  Silbenlernens 
genau  dieselben,  wie  beim  Erlerneu  der  ersten  32  Reihen,  —  auch 
hier  wurden  nach  dem  Ersparnisverfahren  im  regelmäßigen  Wechsel 
die  G.-  und  T.-Methode,  sowie  die  beiden  später  genauer  zu  be- 
schreibenden V.-(Vermittlungs-)Methoden  angewendet. 

Sogleich  nach  Beendigung  dieser  zweiten  Einübungsreihe  wurde 
wiederum  der  »Querschnitte  durch  das  Gesamtgedächtnis,  wie  oben, 
geprüft  als  eine  Art  von  Schlußaufnahme  des  Totalgedächtnis- 
status. —  Dieses  Schlußresultat  drängte  zuletzt  noch  die  Frage 
auf,  wie  weit  die  einseitig  erworbene  Übung  des  Gedächt- 
nisses wohl  nachhaltig  sei.  Wir  prüften  deshalb  nach  Verlauf 
von  drei  Monaten,  in  deucn  keine  besonderen  Einübungen  statt- 
fanden, das  Gedächtnis  der  Vp.  schließlich  noch  einmal,  be- 
schränkten uns  aber  dabei  auf  einzelne  Stichproben,  da  die  Frage 
nach  der  Beständigkeit  der  erworbenen  Gedächtnisfertigkeit  Uber 
die  eigentliche  Aufgabe  dieser  Untersuchung  hinausfuhrt. 


II.  Kapitel: 
Feststellung  des  Ausgangsstadiums. 

Nachdem  wir  im  vorstehenden  den  Gang  der  gesamten  Ver- 
suche im  allgemeinen  gekennzeichnet  haben ,  verschreiten  wir  nun- 
mehr zur  detaillierten  Darstellung  der  einzelnen  Versuche,  also 
zunächst  zur  ausführlichen  Darstellung  der  Aufnahme  des  Status 
quo  ante  in  bezug  auf  die  Fähigkeit  des  unmittelbaren  Behalteus 
der  einzelnen  Vp.1). 

1  Im  folgenden  bezeichnen  wir  das  Ergebnis  dieses  ersten  Querschnittes 
durch  das  Gesauitgedächtnis  der  Vp.  als  > Anfangszustand <,  das  Ergebnis  der 
ersten  Einübungsreihe  für  sinnlose  Silben  als  »erstes  Einübungsresultat«, 
das  des  zweiten  Querschnittes  als  »erstes  Gesa  nitre  sultat« ,  das  der  zweiten 
Einübungsreihe  als  »zweites  Einübungsresultat«,  das  des  zweiten  Querschnitts 
als  »zweites  Gesamtresultat«. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.     1 1 

Wie  schon  auf  S.  9  gezeigt  wurde,  benutzten  wir  zuerst  »sinn- 
loses« Prüfungsmaterial,  —  Zahlen,  Buchstaben  und  Ebbinghaus- 
Müller8che  Normalsilben.  Die 

I.  Versuchsreihe 

bezog  sich  also  auf  das  unmittelbare  Behalten  von  Zahlenreihen. 
Es  sollte  sich  dabei  ergeben,  1)  welches  Quantum  Zahlen  jede  Vp. 
fehlerfrei  nach  einmaligem  Vorsprechen  reproduzieren  könne,  2)  bei 
welcher  Anzahl  Ziffern  erstmalig  eine  Fehlermenge  von  50  %  auf- 
treten werde.  Bei  der  Fehlerberechnung  wurde  nach  folgenden 
Regeln  verfahren:  Das  Weglassen  oder  Hinzutun  einer  Zahl  galt  als 
4 ;4  Fehler,  eine  Versetzung  in  der  Reihe  um  mehr  als  eine  Stelle 
als  3/4  Fehler,  eine  Versetzung  desgleichen  um  genau  eine  Stelle 
als  2/4  Fehler,  eine  Korrektur  als  il\  Fehler.  Die  in  stets  anderer 
Folge  dargebotenen  Zahlen  waren  die  von  1  bis  20,  also  ein-  und 
zweisilbige  Zahlen,  nur  selten  wurde  zur  Variation  der  Reihe  einer 
der  zweisilbig  auszusprechenden  sogenannten  »reinen«  Zehner  bis 
100  benutzt. 

Beispiel  einer  Zahlenserie: 

11_6— 15-2— 8-1— 12— 7-20. 

Der  Versuchsleiter  sprach  nach  vorausgegangener  Übung  die 
Zahlen  —  oder  bei  zweisilbigen  deren  dominierenden  Vokal  —  in 
Intervallen  von  etwa  9/4  Sekunden  vor  (nach  dem  Metronomtakt  80). 
Die  bloß  akustische  Darbietung  zogen  wir  übrigens  für  alle  Prü- 
fungen des  unmittelbaren  Behaltens  vor,  weil  die  Vp.  beim  Lesen 
nicht  immer  die  aufzufassenden  Eindrücke  streng  sukzessiv  perzi- 
pieren,  vielmehr  nicht  selten  gruppenweise  oder  gar  fluktuierend, 
d.  h.  indem  der  Blick  abwechselnd  voraus-  oder  zurückeilt.  So 
bekamen  wir  also  durch  das  in  Rhythmus,  Tonfall  und  Intensität 
tunlichst  gleichmäßige  Vorsprechen  ein  Mittel  zu  rein  sukzessiver 
Darbietung  des  Stoffes.  (Vielleicht  empfiehlt  sich  zu  weiteren  Ver- 
suchen der  in  Rede  stehenden  Art  der  »Gedächtnisapparat«  von 
Ranschburg,  wenn  er  von  gewissen  ihm  anhaftenden  Mängeln 
befreit  ist.) 

Den  Verlauf  der  ersten  Versuchsreihe  weist  ziffernmäßig 
Tabelle  Ia  nach,  in  welche  wir  zugleich  unter  Ib  einen  mehr  bei- 
läufigen Versuch  aufgenommen  haben,  der  nur  mit  Herrn  Prof.  Dr.  M. 
ausgeführt  wurde.    In  der  Rubrik  »Bezeichnung  der  Fehler«  haben 


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12 


Ernst  Ebert  and  E.  Meumann, 

Tabelle 

I.  Versuchsreihe:  Unmittelbares 


Aufzu- 
fassendes 
Ziffern- 
quantum 

V 

VI 

VII 

VIII 

IX 


XIII 


XIV 


Herr  B. 


Herr  Br. 


F.- 
Zahl 


Bezeichn.  d.  Fehl. 


F.- 
Zahl 


XI 
XII 


0 
o 

V.  1 
II,  V,  VI. 

IV.V,VI;V1II.  2 


Bezeichn.  d.  Fehl. 


Herr  F. 


P.- 
Zahl 


Bezeichn.  d.  Fehl. 


2 


II.  III;  —  VII,  4 
VIII,  IX;  IV,  %\  i 


I 


3«/4 

3 


-VI. 
-V,  VI. 

-V,  VI. 
—  IV,  V,  VI,  VII. 

-III,  V,  VI; 

IX,  X. 
-III,  V,  VI. 


0 

2  4 '  in,  rv 

*U  III^V;  V,Vl. 

3  —  iii,  rv,  v. 

3»/4-IV^,VI;lV,V; 

VII,  tx. 


Vp.  ist  völlig  ungeübt,  — 
empfindet  als  vorteilhaft  die 
genaue  Angabe  der  Stoff- 
menge  vorher.  Augen  ge- 
schlossen. Stirnrnnzeln, 
Angenzummmenkneifen. 
I'.eira  »Besinnen«  auf  etwas 
Vergessenes  ist  »Hemmung« 
und  »Anspannung«  nötig, 
doch  kommt  die  wirkliche 
Besinnung  erst  beim  Dila- 
tieren  nach  der  Spannung. 
Lärmende  Kinder  stören 
nicht  Besinnen  nach  län- 
gerer Seit  noch  möglich 
wie  bei  Herrn  Br.;  —  bei 
diesen  beiden  Herren  auch 
rückläufige  Reproduktionen. 


72/4    -III,    VI,  VII, 

vm,ix,x,xi, 

■j 

Herr  Br.  glaubt  bei  op- 
tischer   Vorführung  der 


Herr  Br.  ist  noch  halb 
Rek  onvaleszent  Schuldienst 
vorher.  —  Zahlenquantität 
muß  vorher  angegeben  wer- 
den.—  Alle  and.  Inhalte  des 
Bew.  müssen  völlig  gehemmt 
werden.  Augen  geschlossen 
oder  verdeckt  Keinerlei 
Muskelspannung  beobach- 
tet, —  spurt  HerT  Br.  »Enno- 
dung«, so  pausiert  er,  um 
nicht  die  Reserven  des  motor. 
Apparate«  heranziehen  zu 
müssen.  Beobachtungen 
nber  das  »Besinnen«  wie 
bei  Herrn  B.  Geräusch 
stört  nicht. 


Ist  ungeübt  —  Quantität 
des  Dargebot  muß  vorher 
angesagt  werden.  —  Mit» 
sprechen  wird  als  hemmend 
nach  den  ersten  Versuchen 
a u f  gegeben, — Herr  F.  fixiert 
dafür  scharf  einen  Punkt, 
sich  dann  ganz  dem  wech- 
selnden ak.  Eindruck  hin- 
gebend. 

Krämpfen  der  Binde. 


stört. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  13 


Behalten  von  Zahlenreihen. 


Aufzu- 
fassendes L 
Ziffern-  ;i  F. 


Herr  Prof.  M. 


Frl.  S. 


quantum  :|ZahI 


Bezeichn.  d.  Fehl. 


F.- 
Zahl 


Bezeii  hn.  d.  Fehl. 


Herr  Dr.  W. 


F.- 
Zahl 


Bezeichn.  d.  Fehl 


V  0 
VI  0 


VII 
VIII 
IX 

X 
XI 

XII 
XIII 
XIV 


-VI. 


3     -V,  VI;  VII. 


—  IV,  VI,  VII;  III. 


7  - 


VIII;  IX,  X. 

ÜXlV,VI,VII; 
II,  I,  XI. 


H  i «  r  x  o  der  beachtenswerte 
Erganzungsversuch  lb, 

der  wegen  Ennndnng  der 
Vp.  roneitig  abgebrochen 


0      —VI  i.JXßZahlen 

-IV  l  ax?  • 


Vollständigste  Heining,  al  - 
les  »Übrigen«  ist  f.  korrekte 
Auffassg.  n.  Wiedergabe  ge- 
boten.— Schwache  Geneigt- 
heit mitxusprechen  scheint 
zu  stören.  —  Angin  ge- 
schlossen,—  wenn  geöffnet 
starr  fixierend.  Minimale  Ge- 
räusche scheinen  xu  stören. 
»Besinnen«  nach  kurzer  Zeit 
nicht  mehr  möglich. 


0 
0 
0 

1»/« 

i3;*4 

i 
I 

I  IV. 


!ia,v- 


43/4 
6V4 


VI;  V.  VII. 
IV;  V,  VIII. 

V,VIII;  IV, VII. 
V;  VI,  XI. 

V,  VII^  VIII, 

XI ;  VI,  IX. 

V,  VII,  IX,  XI; 

VI.  X;  IV,  XII 


! 

Glaubt  bei  8  Zahlen  mehr 
behalten  tu  haben,  hatte  aio 
Torher  sich  nach  der  Zahl 
der  dargebotenenStoffmenge 
besser  eingerichtet.—  Hem- 
mung aller  and.  Bew.-Inhalte 
durchaus  nötig.  Mitsprechen 
erschwert  etwas  die  scharfe 
Erfassung.  Augen  geschlos- 
sen, —  oft  gekniffen,  daxa 
Stirn  gerunxelt.  Eintritt 
von  Personen  stört  nicht. 
—  Besinnen  nach  etwa  1  Hin. 
noch  möglich.  (Rockl.  Repr.) 


0 

0 
0 

1 

2 
5 

4 

6 


-V. 

H-  11  nach  VII; 
-IV. 

-IV,V,VI,VIH; 
III. 

—  V, VI,  VII;  -+-9 
nach  VIL 

IV;  _  VII,  VIII, 
IX,  X,  XI. 


Angabe  der  Zahl  des  Auf- 
zufassenden befördert  das 
Behalten.  —  Mitsprechen 
spaltet  die  Aufmerksamkeit, 

—  doch  ist  Neigung  dato 
stets  vorhanden.  Augen  ver- 
deckt Schwache  Spannung 
der  Gesiehtsmuskulatur,  — 
noch  achwacher  im  Ohr. 
Geräusche  im  Neben  raam 
stören  etwas,  —  sogar  die 
ungfllilich  »sachsische«  Aus- 
sprache des  Versuchsleiters. 

—  Die  Reproduktion  scheint 
automatisch  durch  auditive 
Nachbilder  zu  erfolgi-n. 


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14  Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 

wir  folgende  Abkürzungen  angewendet,  die  wir  auch  weiterbin 
benutzen  werden: 

a.  Für  Weglassungen  das  Minuszeichen  vor  der  mit  einer  rö- 
mischen Ziffer  angegebenen  Stelle  der  vorgesprochenen 
Zahlenserie. 

b.  Für  Hinzufbgungen  entsprechend  das  Pluszeichen. 

c.  Für  Umstellungen  einen  kurzen  Pfeilbogen,  der  die  beideu 
vertauschten  Stellen  verbindet. 

d.  Für  falsch  wiedergegebene  Stellen  deren  in  römischen  Ziffern 
bezeichneten  Ort  mit  zwei  Strichen  unter  der  Ziffer. 

Den  unteren  Teil  jeder  für  die  einzelnen  Vp.  bestimmten  Rubrik 
haben  wir  in  der  Tabelle  benutzt,  um  die  uns  für  die  Zwecke 
dieser  Untersuchung  wesentlichst  erscheinenden,  meist  spontan  er- 
folgten Aussagen  der  Vp.  zu  skizzieren  und  so  die  empirischen 
Grundlagen  ftir  einige  theoretische  Folgerungen  anzugeben1). 

Was  zeigt  uns  nun  die  Tabelle  der  ersten  Versuchsreihe? 

Vor  allem  zeigt  sie  in  Hinsicht  auf  unser  Hauptproblem  zu 
ihrem  Teile  die  Basis,  auf  welcher  sich  bei  jeder  einzelnen  Vp. 
die  Effekte  der  Übung  aufbauten,  also  im  vorliegenden  Falle  die- 
jenige Zahlenmenge,  welche  jede  Vp.  mit  Sicherheit  ohne  Fehler 
unmittelbar  zu  behalten  vermag.  Dieser  »Anfangszustand«  liegt 
bei  den  einzelnen  Vp.  hei  folgenden  Zahlenmengen: 

a.  Bei  5  Zahlen  für  Herrn  F.,  d.  i.  diejenige  Vp..  welche  wie  Herr 
B.  noch  keinerlei  psychologische  Versuche  mitgemacht  hatte. 

b.  Bei  7  Zahlen  ftir  die  Herren  B.,  Br.  und  Dr.  W.,  dgl.  für 
Fräulein  S. 

c.  Bei  9  Zahlen  für  Herrn  Prof.  M.,  der  am  meisten  vorge- 
Ubten  Vp. ;  die  Weglassung  der  VI.  Stelle  beim  Auffassen 
von  8  Zahlen  beeinflußt  das  Faktum  nicht,  daß  Herr  Prof. 
M.  mit  Sicherheit  damals  9  Zahlen  fehlerfrei  sofort  wieder- 
geben konnte,  —  offenbar  war  der  Versuch  mit  8  Zahlen 
nicht  in  das  Maximum  der  Aufmerksamkeit  gefallen. 

Halten  wir  also  fest,  daß  vor  dem  Eintritt  der  einseitig  mecha- 
nischen Übung  die  mittlere  Leistung  sämtlicher  Vp.  im  Hin- 
blick auf  das  unmittelbare  Behalten  von  Zahlen  7  betrug. 

1)  Übrigens  erscheint  uns  beachtlich,  daß  die  Zahl  der  Aussagen  sich 
gegen  den  Abschluß  der  Versuche  hin  verringert,  —  ein  Tatbestand,  der  ins 
Auge  zu  fassen  sein  dürfte,  wenn  es  sich  um  die  Diskussion  des  Übangs- 
Phänomens  bandelt. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  15 

Sehr  lehrreich  ist  auch  der  Verfolg  des  individuell  sehr  ver- 
schiedenen Anwachsens  der  Fehler  bis  zu  50  %  der  vorgesprochenen 
Reihenlänge,  —  es  mag  genügen,  aus  der  Tabelle  die  Reihenlänge 
anzugeben,  bei  welcher  die  einzelnen  jene  50  %  erstmalig  über- 
schritten.   Sie  fand  sich 

a.  bei    9  Zahlen  für  Herrn  F., 

b.  *  11  =>       ■     B.,  —  beides  > ungeübte <  Vp., 

c.  »  12     ►  Prof.  M.  und  Herrn  Dr.  W., 

d.  »  13  .    Fräulein  S., 

e.  14     »  »    Herrn  Br. 

Deutlicher  noch  als  beim  vorliegenden  ersten  Querschnitt  trat 
übrigens  beim  zweiten  und  dritten  hervor,  daß  es  besser  war,  für 
unsere  Versuchszwecke  das  Anwachsen  der  Fehler  nur  bis  zum 
erstmaligen  Überschreiten  von  33V3  %  zu  verfolgen;  es  machte 
sich  infolge  der  großen  Intensität  der  bei  diesen  Versuchen  er- 
forderlichen Konzentration  auffällig  bald  Ermüdung  und  Unlust 
geltend,  —  also  zwei  Bewußtseinsbedingungen,  denen  wir  so  weit 
als  möglich  aus  dem  Wege  gehen  mußten. 

Zum  besseren  Vergleich  mit  den  Ergebnissen  des  zweiten  und 
dritten  Querschnittes  stellen  wir  deshalb  noch  zusammen,  bei 
welcher  Reihenlänge  erstmalig  33  Va  %  von  den  einzelnen  über- 
schritten wurden.    Es  erfolgte  dies 

a.  bei   8  Zahlen  bei  Herrn  F., 

b.  >  10  »    den  Herren  B.  und  Dr.  W., 

c.  »   11  •  >      Br.  und  Prof.  M., 

d.  -   12     >       »    Fräulein  S. 

Das  bisher  Gefundene  läßt  sich  übersichtlich  so  darstellen: 


Lage 


Erstmaliges  Überschreiten 


der 
Nullgrenze 


50  %  Fehlern    33 «/3  %  Fehlern 


von 


Herr  B.  7  Zahlen 

Herr  Br.  7 


11     Zahlen        10  Zahlen 


14  »  11 

9  »  8 

12  >  11 

13  »  12 
12  »  10 


Herr  F.  6 

Herr  Prof.  M.  9  » 

Frl.  S.  7  » 

Herr  Dr.  W.  7 


Mittelwert:      \    7  Zahlen 


11,88  Zahlen      10,33  Zahlen. 


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16 


Emst  Ebert  und  E.  Meumanu, 


Diese  Zahlen  werden  naturgemäß  erst  im  Zusammenhang  mit 
allem  Folgenden  Bedeutung  gewinnen,  —  wir  gehen  darum  an  dieser 
Stelle  nieht  weiter  darauf  ein,  sondern  machen  nur  noch  auf  den 
mit  Herrn  Prof.  M.  veranstalteten  Ergänzungsversuch  aufmerksam 
(siehe  dessen  Rubrik  in  Tab.  I). 

Dabei  kam  ausnahmsweise  einmal  nicht  das  sonst  für  die  Prü- 
fung des  unmittelbaren  Behaltens  durchgängig  benutzte  G.- Ver- 
fahren in  Anwendung,  sondern  ein  vermittelnd-fraktionierendes 
oder  intermittierendes  Verfahren,  derart,  daß  zweimal  5,  zweimal 
6  und  zweimal  7  Zahlen  ebenfalls  in  Intervallen  von  3/4  Sekunden 
dargeboten  wurden,  vor  Aussprechen  der  darzubietenden  6.,  7.  und 
8.  Zahl  aber  eiue  Pause  von  doppelter  Länge  eingeschaltet  wurde. 
Man  beachte,  wie  trotz  ausgesprochener  Ermüdung  der  Vp.  die 
Nullgrenze  des  Erfassens  auf  10  hinaufgeht,  —  wie  ferner  beim 
Behalten  von  14  Zahlen  erst  7,14  #  Fehler  auftreten,  während  beim 
G. -Verfahren  bereits  bei  Darbietung  von  12  Zahlen  mehr  als  das 
Achtfache  an  Fehlern  zu  konstatieren  war,  nämlich  58,33  %.  Hier 
liegt  wohl  unzweifelhaft  eine  günstigere  Verteilung  der  für 
die  Aufmerksamkeit  disponibeln  psychophysischen  Energie  vor, 
welche  in  der  vergrößerten  Pause  sich  wieder  sammeln  kann.  So 
unscheinbar  der  kurze,  nur  beiläufig  angestellte  Versuch  ist,  so 
charakterisiert  er  doch  das  Verhalten  der  Aufmerksamkeit  In 
praktischer  Hinsicht  liefert  er  den  experimentellen  Nachweis  der 
eminenten  Bedeutung  kleiner  Pausen,  etwa  in  der  Musik  für  Er- 
fassung des  ästhetischen  Eindrucks,  oder  beim  Vortrag  des  Lehrers, 
Redners,  Schauspielers  oder  in  der  Sprache  schlechthin,  die  wir 
weit  schwieriger  erfassen  würden  ohne  die  fraktionierende,  inter- 
mittierende Wirkung  der  Interpunktion. 

Der  übrige  Inhalt  der  tabellarisierten  ersten  Versuchsreihe 
bietet  nicht  minder  bedeutsame  Hinweise  auf  die  Funktion  der 
Aufmerksamkeit  einerseits  wie  andererseits  auf  das  individuelle 
Verhalten  beim  unmittelbaren  Erfassen. 

Die  Betrachtung  des  objektiven  Tatbestandes,  wie  ihn  die  sechs 
Kubrikeu  der  »Fehlerzahlen«  der  Tabelle  (und  dazu  die  kurze 
Übersicht  S.  15!)  bieten,  zeigt  zunächst  ein  bemerkenswertes 
Schwanken  in  der  Konstanz  der  Konzentration  der  Aufmerksam- 
keit, ein  Faktum,  das  uns  bei  Analyse  des  Übungsphänomens 
weiterhin  beschäftigen  wird.  Am  ehesten  sehen  wir  an  der  Fehler- 
grenze von  50  %  die  »ungeübten«  Vp.  anlangen,  Herrn  F.  bei  9, 


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Ober  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  17 


Herrn  B.  bei  11  Zahlen,  —  die  »geübten«  Vp.  erreichen  sie 
gruppiert  um  13,  also  ziemlich  gleichmäßig;  bei  Herrn  Br.,  der 
ältesten  Vp.,  erhält  sich  die  Konstanz  seiner  Konzentration  bis  zu 
14  dargebotenen  Zahlen,  —  vermutlich  eine  Wirkung  seiner  Be- 
rufsarbeit als  Sekundarlehrer,  die  zu  gleichmäßiger  Aufmerksam- 
keit rar  mehrere  Stunden  hintereinander  zwingt  (Dies  ist  um  so 
bemerkenswerter,  als  Herr  Br.  Rekonvaleszent  war  und  etwas  er- 
müdet von  vorherigem  Schuldienst  zu  den  Versuchen  erschien.) 

In  der  Rubrik  »Bezeichnung  der  Fehler«  ist  der  Ort  und  die 
Art  derselben  angegeben;  der  Ort  der  Fehler  charakterisiert  vor- 
rttglich  das  Verhalten  der  Aufmerksamkeit,  bzw.  das  Nachlassen 
der  Konzentration.  Die  Stellen  der  Fehler  besonders  zu  tabellari- 
neren,  unterlassen  wir  und  greifen  nur  als  Stichprobe  diejenige 
dargebotene  Zahlenmenge  heraus,  bei  welcher  alle  Vp.  Fehler 
teigen,  —  es  ist  dies  der  Fall  bei  »8  Zahlen«.  Die  sechs  Vp. 
machten  hier  in  Summa  9  Fehler.  Diese  verteilen  sich  folgender- 
maßen: 


Schon  in  der  ersten  Versuchsreihe  zeigt  sich  mithin  wieder  die 
beim  psychologischen  Experiment  vielfach  beobachtete  Erscheinung, 
die  auch  bei  allen  folgenden  Versuchsreihen  hervortritt,  —  daß 
nämlich  das  Verhalten  der  Aufmerksamkeit  einem  Wechsel  von 
An-  und  Absteigen  unterworfen  ist.   Wir  haben  dies  am  Schluß 
üeser  Untersuchung  noch  einmal  genauer  beim  Erlernen  von 
20  Nonnalsilbenreihen  beobachtet,  wir  verweisen  hier  daher  nur 
aaf  die  Diskussion  der  betreffenden  Versuchsreihe.  Sehr  von  Be- 
lüg erscheint  uns  ferner  die  sowohl  von  Geübten  wie  Ungeübten 
verzeichnete  Wahrnehmung,  daß  man  »sich  einrichten  kann«,  wie 
Herr  B.,  Herr  Br.,  Herr  F.  nnd  Frl.  S.  fast  übereinstimmend  wörtlich 
igten.    Das  »Wieviel«  und  nicht  minder  das  »Wie«  der  Dar- 
bietung muß  den  Vp.  bekannt  sein,  —  durch  die  ganze  Reihe  der 
Versuche  hindurch  war  es  zu  beobachten,  wie  oft  noch  im  letzten 
Moment  vor  der  Darbietung  danach  gefragt  wurde.    Fragen  wie: 
»Wieviel  Zahlen,  Buchstaben  usw.  kommen  jetzt  also?«,  »Was  ist 

ArcWr  fit  p^ebolofi«.   IY.  2 


Stelle:     I     II     IH     IV     V     VI     Vü  VIII. 


Je  lmal 
fehlend. 


Je  3  mal 

fehlend. 


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18 


Ernst  Ebert  und  E.  Meamann, 


dies  jetzt  ftir  eine  Reihe?«  usw.  nötigten  flir  den  Fall,  daß  es  der 
Versuchsleiter  einmal  unterlassen  hatte,  fast  durchgängig  zu  einer 
Art  Zielangahe,  —  an  einzelnen  Stellen  des  weiteren  Verlaufs  der 
Versuchsdarstellung  werden  wir  darauf  hinweisen  können,  daß  spe- 
ziell das  Nichtwissen  des  »Wieviel«  direkt  langsamere  Erlernung  ver- 
ursachte1). Wie  sich  bei  Fe chners  Versuchen  mit  Gewichten  die 
interessante  Erscheinung  bemerklich  machte,  daß  wir  uns  normaler- 
weise zur  Hebung  jeder  Gewichtsstufe  auf  einen  gewissen  Kraft- 
aufwand einstellen,  so  ähnlich  ist  es  offenbar  auch  bei  dem  Er- 
lernen irgendeines  Pensums.  Wir  vollziehen  durch  einen  be- 
sonderen Einstellungsakt  eine  allmählich  sich  vervollkommnende 
rationellere  Verteilung  der  Aufmerksamkeit,  eine  Erscheinung,  die 
später  bei  Erörterung  des  Übungsphänomens  mit  herangezogen 
werden  soll. 

Aus  den  Protokollbemerkungen  ist  ferner  die  Bedeutung  einer 
möglichst  vollständigen  Hemmung  aller  übrigen  Bewußtseinsvor- 
gänge, die  während  des  Versuchs  auf  das  Bewußtsein  eindringen,  zu 
konstatieren.  Man  vergleiche  die  zu  Protokoll  gegebenen  Äußerungen 
des  Herrn  Br.,  des  Herrn  Prof.  M.  und  des  Frl.  S.,  deren  gemein- 
samer Inhalt  kurz  der  ist:  Je  vollständiger  die  Hemmung  aller  übrigen 
Bewußtseinsinhalte  gelingt,  ein  desto  besseres  Erfassen  der  Ein- 
drücke und  —  sofern  jene  Hemmung  beibehalten  und  gewisser- 
maßen für  einige  Zeit  fixiert  wird  —  eine  desto  bessere  Repro- 
duktion ist  möglich.  Diese  Hemmung,  deren  Ausdrucksvorgänge 
aufzunehmen  leider  die  Zeit  der  Vp.  nicht  erlaubte,  ging  sogar 
so  weit,  daß  manche  Vp.  das  beabsichtigte  »Mitsprechen«  halblauter 
oder  innerlicher  Art  unterdrücken  mußten,  —  es  wurde  als  eine 
unvorteilhafte  »Spaltung«  der  Aufmerksamkeit  empfunden,  jenen 
kinästhetischen  Faktor  mitwirken  zu  lassen  (siehe  Protokoll- 
bemerk bei  Herrn  F.  und  Herrn  Dr.  W.!).  Die  in  Rede  stehende 
Hemmung  aller  nicht  in  den  Blickpunkt  des  Bewußtseins  zu 
rückenden  Inhalte  sollte  jedenfalls  auch  unterstützt  werden  durch 
das  Verdecken  oder  Schließen  der  Augen,  das  bei  der  Mehrzahl 
der  Vp.  bis  zum  Schluß  der  ganzen  Untersuchung  zu  konstatieren 
war ;  wer  sich  von  den  Vp.  davon  freizumachen  suchte,  fixierte  dann 
ausnahmslos  irgendeinen  Punkt  des  umgebenden  Raumes  bis  zur 


1)  Auch  eine  Protokollnotiz  bei  Frl.  S.  —  siehe  Tabelle  I  —  illustriert 
da»  Gesagte. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  uaw.  19 


Starrheit,  was  der  Fall  war  mitunter  bei  Herrn  Prof.  M.,  vor  allem 
aber  auffällig  bei  Herrn  F.  —  Der  Vervollständigung  der  Hemmung 
dienten  wohl  auch  zum  großen  Teile  die  Spannungen  der  Mus- 
kulatur, welche  lant  Protokoll  Herr  B.,  Herr  F.,  Herr  Dr.  W.  und 
Frl.  S.  an  sich  teils  als  totale,  teils  als  partielle  wahrnahmen,  — 
letztere  traten  auf  als  Znsammenkrampfen  der  Hände  (Herr  F.), 
Runzeln  der  Stirn,  Zusammenkneifen  der  Augen  (Herr  B.,  Frl.  S.), 
Spannungen  in  der  Muskulatur  der  Augen  (Herr  Dr.  W.),  letzterer 
Herr  glaubt  auch  in  der  Ohrmuskulatur  leise  Spannungen  emp- 
fanden zu  haben.  Ganz  frei  von  Spannungen  in  der  Muskulatur 
behauptet  nur  Herr  Br.  gewesen  zu  sein,  —  er  deutet  dies  Auf- 
wenden von  Spannungen  wohl  nicht  unrichtig  als  ein  Heran- 
ziehen von  Reservekräften,  indem  vermutlich  jene  Spannungen 
exzitierend  auf  die  motorischen  Hirnzentren  wirken,  durch  deren 
engen  Konnex  mit  den  sensorischen  Zentren  eben  diese  mit  erregt, 
bzw.  zu  verstärkter  Energieentfaltung  veranlaßt  werden;  Herr  Br. 
wollte  als  Rekonvaleszent  das  Aufgebot  dieser  Reserven  vermeiden, 
verhielt  sich  daher  tunlichst  passiv  und  ließ  zwischen  den  einzelnen 
Versuchen  etwas  größere  Pausen  eintreten.  Herr  Dr.  W.  glaubt 
mehr  Spannungen  in  der  Gesamtmuskulatur  empfunden  zu  haben, 
doch  äußert  er  sich  darüber  späterhin  in  dem  Sinne,  daß  das  Auf- 
treten von  Spannungen  der  Muskulatur  mehr  hervorgetreten  sei, 
wenn  er  sich  in  einem  minder  normalen  Zustand  —  Erkältungs- 
indisposition, Ermttdung  nach  schlechtem  Schlaf,  bzw.  nach  einer 
anstrengenden  Vorlesung  —  befunden  habe.  Frl.  S.  endlich  emp- 
tindet  bei  Spannungen  in  der  Gesamtmuskulatur,  die  übrigens 
auch  nur  bisweilen  bei  geringerem  Wohlbefinden  bei  ihr  auftreten, 
ein  bald  mehr,  bald  minder  intensives  »Kältegefühl«  in  den  unteren 
Extremitäten. 

Hemmungen  und  Spannungen  treten,  wie  Herr  Br.  und  Herr  B. 
wahrnahmen,  übrigens  speziell  beim  »Besinnen«  auf  etwas  momentan 
Entfallenes  auf;  im  Laufe  der  weiteren  Versuche  wird  dies  auch 
laut  Protokoll  von  den  andern  Vp.  beobachtet.  Dabei  tritt  die 
wirkliche  Besinnung  auf  das  Entfallene  nicht  im  Maximum  der 
Hemmung  und  Spannung  auf,  sondern  erst  dann,  wenn  bereits 
Symptome  des  Nachlassens  sich  bemerkbar  machen. 

Einige  Protokollnotizen  weisen  bereits  bei  den  ersten  Versuchen 
auf  das  Vorhandensein  verschiedener  »Lerntypen«  unter  den  be- 
teiligten Vp.  hin.    Herr  Br.  wird  durch  ein  »störendes«,  recht 

2* 

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20 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann. 


vernehmliches  Geräusch  im  Zimmer  über  dem  Versuchsraum  nicht 
im  mindesten  irritiert,  —  ebensowenig  wie  Frl.  S.  durch  das 
lärmende  Eintreten  einiger  Personen,  bzw.  Herr  B.  durch  eine  Über- 
laute Unterhaltung  zwischen  Kindern  vor  dem  Fenster.  Die 
Übrigen  drei  Vp.  zeigen  sich  gegen  akustische  Störungen  zum  Teil 
recht  empfindlich,  —  so  glaubt  z.  B.  Herr  Dr.  W.  mitunter  durch 
Heraushören  des  angeblich  »sächsischen«  Dialektes  des  V.-Leiters 
»gestört«  worden  zu  sein;  dieselbe  Vp.  gibt  zu  Protokoll,  daß 
die  Reproduktion  der  dargebotenen  Zahlenserien  bei  ihm  »gleich- 
sam automatisch«  erfolgt  auf  Grund  »auditiver  Nachbilder«.  Das 
Besinnen  auf  momentan  entfallene  »auditive  Nachbilder«  führt 
bei  ihm  ebensowenig  zum  Ziele,  wie  bei  Herrn  F.  und  Herrn  Prof.  M., 
während  sich  Herr  B.,  Frl.  S.,  vor  allem  aber  nach  erstaunlich  langer 
Zeit  noch  Herr  Br.  —  1  bis  2  Minuten  und  länger!  —  auf  das 
»Vergessene«  besinnen  können.  Die  drei  letztgenannten  Vp.  neigen 
hier  wie  noch  oft  im  weiteren  Gange  der  Untersuchung  zu  »rück- 
läufiger« Reproduktion,  auch  glaubt  insbesondere  Herr  Br.  ein 
weit  größeres  Quantum  Zahlen  unmittelbar  behalten  zu  können, 
wenn  er  zugleich  die  dargebotenen  Reihen  optisch  vorgeführt  be- 
käme, —  wir  haben  schon  eingangs  erwähnt,  warum  dieB  nicht 
geschah. 

Gemeinsam  war  allen  Vp.  die  beträchtliche  Neigung  zum  Mit- 
sprechen, obwohl  sie  nur  teilweise  realisiert  wurde.  Es  schien 
daher  auf  Grund  der  Beobachtungen  bei  der  ersten  Versuchsreihe 
folgende  Verteilung  der  Lerntypen  unter  den  Vp.  vorzuliegen: 

a.  Ak.  =  mot.  =  vis.  Typ:  Herr  Dr.  W., 

»    Prof.  M., 

>  F., 

wobei  die  Reihenfolge  die  Annäherung  bezeichnen  soll  an  den : 

b.  Vis.  =  mot.  =  ak.  Typ:  Frl.  S., 

Herr  B., 
»  Br., 

wobei  die  Reihenfolge  die  Entfernung  vom  akustischen  Typ 
bezeichnen  soll. 


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Ober  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  21 


II.  Versuchsreihe. 

Diese  Versuchsreihe  prüft  den  Anfangszustand  des  Gedächtnisses 
mit  dem  unmittelbaren  Behalten  von  Buchstabenreihen. 

Die  äußere  Form  und  Anordnung  des  Versuches  war  durchaus 
dieselbe  wie  bei  der  Darbietung  der  Zahlen;  bei  den  Buchstaben- 
reihen waren  nur  ausgeschlossen 

a.  Vokal  Verbindungen  wie  ei,  au,  eu  usw., 

b.  Konsonantenverbindungen  wie  st,  8p,  seh  usw. 

Dem  ungefähren  Verhältnis  zwischen  der  Zahl  der  Vokale  und  der 
der  Konsonanten  im  Alphabet  entsprechend,  war  in  den  vor- 
zusprechenden Bachstabenzeilen  sorgfaltig  darauf  geachtet,  daß  nur 
auf  etwa  3  oder  4  Konsonanten  ein  Vokal  kam,  wodurch  wohl 
einzig  vermieden  werden  konnte,  daß  die  Buchstabenfolgen  den 
Charakter  von  Silben  oder  Wörtern  bekamen;  zugleich  waren  wir 
aber  auch  bestrebt,  die  Schwierigkeiten  des  Erfassens  nicht  un- 
nötigerweise noch  dadurch  zu  häufen,  daß  wir  etwa  Serien  dar- 
boten wie  diese:  »e — b — w  —  d  —  c — g«,  wo  die  Prävalenz  des 
>e-Klanges<  das  Behalten  erschwert.  Obgleich  die  Tabelle  II  die 
Resultate  der  zweiten  Versuchsreihe  vollständig  und  Ubersichtlich 
enthält,  so  sei  doch  einiges  aus  derselben  hervorgehoben.  Analog 
deT  kleinen  Übersichtstafel  auf  S.  15  unten  geben  wir  in  folgendem 
Schema  an: 

a.  die  Lage  der  Nullgrenzen, 

b.  die  Stufe  des  erstmaligen  Überschreitens  von  50  %  Fehlem, 

c.  desgleichen  die  Stufe  des  erstmaligen  Überschreitens  von 
33V3  #  Fehlern. 


j 

Lage 

Erstmaliges  Überschreiten 

der 

von 

Nullgrenze 

60  %  Fehlern 

331/3  %  Fehlern 

Herr  B. 

Buchstaben 

11 

Buchstaben 

10  Buchstaben 

Herr  Br. 

Ü 

» 

17 

> 

17 

Herr  F. 

ö 

> 

8 

> 

7 

Herr  Prof.  M. 

9 

> 

14 

> 

13 

Frl.  S. 

7 

» 

12 

» 

10 

Herr  Dr.  W. 

8 

> 

12 

> 

10 

Mittelwert:         7,1«  Buchstaben  |  12,38  Buchstaben  |  11,16  Buchstaben. 


Da  die  Fehlerberechnung  bei  dieser  Versuchsreihe  dieselbe  ge- 
bbeben und  der  Stoff  ein  gleichartiger  ist,  dazu  die  Versuche  kurz 


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22 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Tabelle 

II.  Versuchsreihe:  Unmittelbares 


Herr  B. 


Aufzu- 
fassendes 

Buch-  i  

Btaben-  I  F.-  J  Bezeichnung  der 
quantum  Zahl  Fehler 


Herr  Br. 


F.- 
Zahl 


Bezeichnung  der 
Fehler 


Herr  F. 


F.-  Bezeichnung  der 
Zahlt  Fehler 


V 
VI 
VII 
VIII 

IX 
X 

XI 

XIII 
XIV 

XV 
XVI 

XVII 


2/i 


1 

42« 

6 


0 

0 

u,  ifa.  o 

VII.  o 

-IX*).  ji 

-III;  VI,  va  Iii 

VIII;  IV,  ^. 
-UI,IV,V,VI; 


VIII,  IX. 


Vp.  empfindet,  Zahlen 
seien  leichter  zu  merken, 
weil  weniger  leicht  zu  ver- 
wechseln, bieten  mehr  mne- 
mutechn.  Anhaltspunkte.  — 
Aufteilende  Unlust  stört 
und  hemmt  in  der  Mitte, 
wünscht  Quantität  vorher  zu 
erfahren.  Im  übrigen  liehe 
1.  Versuchsreihe! 

*!  BeimBesinnen  erscheint 

du  opt.  Bild,  doch  mehrdeut. 


2 
2 

5 

8B/4 


-  V. 
-V. 

-  V,  VI. 


—  VI,  XI. 

-n,vtvi;i,  iu. 

—  IV,  v,  vi. 
XIÜ  korrigiert. 

-V,VI,VII,X,XI. 

—  V,  VI,  VIII; 

\^I,jm;XI,XUI; 
xrv,  XV. 

—  IV,  VII,  X,  XU, 
XIII,  XIV,  XV 
+  >p«  nach 

XVI;  II,  Vtll. 

Herr  Br.  merkt  den  Anfang 
rUuell,  —  nur  den  SchluU 
auditiv.    RQckl.  Reprodakt. 

Zahlen  sind  für  Herrn  Br. 
weniger  schwer  zu  behalten 
gewesen.  —  Unlust  kommt 
etwa  in  der  Mitte  der  Reihe 
auf  und  latit  einzelnes  nicht 
korrekt  erfassen.  —Wünscht 
vorher  genaue  Bezeichn.  der 
Stoffmengen.  Erst  bei  Dila- 
tation besinnt  man  sich;  — 
vielleicht  d.  Peraeveranz. 
(Übrig.:  I.  Versuchsreihe.) 
Zuletzt  große  Ermüdung. 


8>/4 


0 

3 

4»/4 


V,  VI. 

—  Ii,  rv,  v*;. 

-IV,V,VI;  +  n 
nach  VII.  III 
korrigiert 


Herrn  F. 
»leichter«  vor. 
muß  bekannt  sein.  Man  be- 
sinnt sich  leichter  auf  Ver- 
gessenes bei  Dilatation. 
Kein  innerlich.  Mitsprechen. 
Du  übrige  aiehe  I. Versuchs- 
reihe. Ermüdung  am  Ende. 

*)  Optische  Hilfen  beim 
Besinnen. 


d  by  Google 


Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphiinomene  usw.  23 

IL 

Behalten  von  Buchstaben. 


Aufzu- 
fangendes 

Buch-  i  

staben-  F.- 
qoantura  Zahl 


Herr  Prof.  M. 


Frl.  S. 


Bezeichnung  der  F.- 
Fehler Zahl 


Bezeichnung  der  F.- 
Fehler Zahl 


Herr  Dr.  W. 


Bezeichnung  der 
Fehler 


t  r 


V 

o 

VI 

<> 

VII 

0 

VIII 

ii 

0 
0 
0 

34 

I 

I 


VI,  VIII. 


I 


ix  !o 

i; 


23/4 


XI 

XII 

XIII 
XIV 

XV 
XVI 

XVII 


\      *4U1,Y:  IV,\'in;   32  4 
IX.  X. 
-V. 


ll 


4  -V,VI,VII;+>r« 

nach  VIU. 

5  -IV,  VI,  VII; 

ffl-  x 

7«  4  —V,  VI,  VII,  X,  ''■'> 
XI;  III,  XIII.  || 
II  korrigiert. 


3*4 

6'/4 


Ii  ! 


Herr  Prof.  M.  fühlt  «ich 
von  lOBuchstaben  an  in  der 
Mitt«  der  B«ibe  »erwirrt,  — 
Segen  Ende  klarer.  -Wissen 
de« Quantums  int  forderlich. 
Dilatieren  d.  Anfiel,  verhilft 
zum  Besinnen.  Siehe  übri- 
gens I.Versuchsreihe.  Wenig 
gute»  Befinden  —  müde. 


Frl.  S.  wird  in  der  Mitt« 
der  Reihen  Ton  der  ge- 
botenen Buchstabenraenge 
verwirrt.  Die  Menge  des 
Stoffe«  darf  nicht  fremd  sein. 
Innerlich.  Mitsprachen  stört 
—  Vergessenes  kommt  viell. 
durch  Pereeveranz  wieder. 
Fühlt  sich  abgespannt  durch 
den  Versuch.  Siehe  übriges 
1.  Versuchsreihe. 

♦)  »h.  für  »k«  zuerst  Dm 
Auftauchen  des  opt  Bildes 
Terhilft 


ö: 

o 
i 

0 


— v;vni;iv.ix.  f  1 

-IV,  V;  IX:  4 

VU,  VIII» 
-VII.  IX,  X; 

Ulfa  VIII  korr. 

II  ;-V,  VII,  VIII, 
IX.XI.  Illkorr. 


-V. 

Frage  nach 
Quant,  vorher.) 

-VI. 

-VI,  VII,  VIII; 
IX. 

-V,VI,VII,VIII, 
IX. 

-  IV,  VII,  VIII, 
IX,  X;  II,  XII. 


Herr  Dr.  W.  hat  oft  erat 
mir  das  uptucbe  alljretneitia 
Bild,  und  dann  erst  klar  das 

Oesuchte. 

Herr  Dr.  W.  wird  durch 
aufkommende  Unlust  in  der 
Mitte  gestört,  bekommt  dann 
gegen  Ende  einen  Antrieb, 
wo  fast  unwillkürlich  ge- 
merkt wird.  ZahUngabe  vor- 
her erforderlich.  Übriges: 
L  Versuchsreihe. 


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24 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


nach  denjenigen  der  ersten  Reihe  stattfanden,  so  erscheint  ein  Ver- 
gleich der  Ziffern  in  den  Tabellen  S.  15  und  21  nicht  unangebracht. 
Die  Nnllgrenze  liegt  auch  hier  am  niedrigsten  bei  den  ungeübten 
Vp.,  am  höchsten  wieder  bei  den  beiden  ältesten,  aber  geübtesten 
also  bei  Herrn  Prof.  M.  und  Herrn  Br.,  daneben  bei  Herrn  Dr.  W. 
Sie  findet  sich  auf  genau  derselben  Stufe  wie  bei  der  ersten  Ver- 
suchsreihe bei  Herrn  F.,  Prof.  M.  und  Frl.  S.,  —  sie  ist  um  je 
eine  Stufe  gestiegen  bei  Herrn  Br.  und  Herrn  Dr.  W.,  dagegen 
um  eine  Stufe  gefallen  bei  Herrn  B.,  welcher  über  den  Grund 
dieser  Erscheinung  spontan  folgendes  aussagt:  »Es  macht  mir  den 
Eindruck,  als  seien  die  vorher  gebotenen  Zahlenreihen  leichter  zu 
erfassen.  Buchstaben  haben  keinen  derart  scharf  umrissenen 
Charakter  wie  Zahlen,  die  bestimmtesten  wohl  unter  allen  Be- 
griffen. Buchstaben  haben  oft  große  Klangähnlichkeit,  so  daß  man 
bisweilen  den  Bruchteil  einer  Sekunde  nütig  hat,  völlig  klar  Uber 
den  vernommenen  Laut  zu  werden,  wobei  man  in  Gefahr  gerät,  das 
Kommende  zu  überhören;  endlich  bieten  Zahlenreihen  nicht  selten 
Gelegenheiten  zur  Gruppierung  zu  Geschichtszahlen  (1 — 4—9 — 2], 
zu  arithmetischen  Reihen  (11 — 7—3)  u.  dgl.«  (Ähnlich  äußerten 
sich  gelegentlich  später  Herr  F.  und  Herr  Br.).  Ich  lasse 
es  dahingestellt,  inwieweit  das,  was  hier  Herr  B.  für  seine  Person 
aussagte,  allgemeine  Gültigkeit  hat;  das  —  jedenfalls  sehr  große 
Eile  erheischende  —  Suchen  nach  »Geschichtszahlen  usw.«  wäre 
übrigens  eine  Spezies  von  Mnemotechnik;  wir  werden  später  sehen, 
daß  Herr  B.  Mnemotechnik  nach  Poehlmann  getrieben  hatte,  und 
welche  Erfahrung  Herr  B.  betreffs  der  mnemotechnischen  Kunst- 
griffe an  sich  machte.  Der  Rückgang  der  Zahlen  ist  übrigens  so 
unbedeutend,  daß  er  in  den  Wirkungsbereich  der  Schwankungen  der 
Aufmerksamkeit  fallt;  er  ist  zugleich  dadurch  wichtig,  weil  man  aus 
ihm  sieht,  daß  durch  den  ersten  Versuch]  sozusagen  noch  keine 
Übung  eingetreten  war.|  Bei  den  übrigen  Vp.,  besonders  bei 
Herrn  Prof.  M.  und  noch  mehr  bei  Herrn  Br.,  tritt  eine  Besserung 
des  Behaltens  gegenüber  der  ersten  Versuchsreihe  hervor.  Bei 
Herrn  Br.  steigt  die  Nullgrenze  um  1  Stufe  (=  14,28)# ) ,  die 
50  %  F.-Grenze  um  3  Stufen  (=  21,43  #),  die  33  y3  F.-Grenze  gar 
um  6  Stufen  (=  54,54  #).  Herr  Br.  wie  Herr  Dr.  W.  fühlen  sich 
»angeregt«,  —  also  ist  im  vorliegenden  Falle  wohl  das  zum  Teil 
nicht  unerhebliche  Plus  auf  Rechnung  des  emotionellen  Anregungs- 
faktors zu  setzen,  wohl  auch  eine  Komponente  der  »Übung«. 


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Ober  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übnngsphänomeoe  usw.  25 

Nach  Abzog  der  regressiven  Effekte  bei  der  zweiten  Versuchsreibe 
verbleiben  im  ganzen  noch  an  progressiven: 

a.  betreffs  der  Nullgrenze         =  1  Stufe, 

b.  >       »  50#   F.-Grenze  =  3  Stufen, 

c.  »       »  33*13  %      »       =5  Stufen. 

Dieser  wenn  auch  geringe  Fortschritt  ist  offenbar  auch  der  besseren 
«Einstellung«  der  Geübten  außer  dem  schon  erwähnten  »Anregnngs- 
faktor«  zuzuschreiben;  eigentliche  Übung  kann  er  schon  im  Blick 
auf  die  Zeitverhältnisse  nicht  genannt  werden;  auch  das  ist 
wohl  ausgeschlossen,  daß  der  Stoff  —  die  Buchstaben!  —  »leichter« 
war:  nach  den  Bemerkungen  der  Herren  B.,  Br.  und  F.  möchte 
man  eher  geneigt  sein,  das  Gegenteil  anzunehmen.  Wie  im  einzelnen 
bei  den  sechs  Vp.  die  Fehlerzahlen  ansteigen,  zeigt  die  Tabelle, 
—  wir  weisen  nur  noch  auf  die  Erscheinung  hin,  daß  auch  hier 
bei  Herrn  Br.  eine  besondere  Konstanz  der  Konzentration  zu 
finden  ist;  während  Herr  F.  bei  7  Buchstaben  die  33 V»  %  F.-Grenze 
erreicht,  kommt  Herr  Br.  erst  bei  einer  23/?  mal  so  langen  Buch- 
stabenreihe an  die  bezeichnete  Grenze.  (Vgl.  Tabelle  n). 

Die  Details  der  Tabelle  belegen  wieder  auf  jeder  Zeile,  wo 
Fehler  bezeichnet  sind,  das  Auf-  und  Abwogen  der  Aufmerksam- 
keit, —  die  »Schwächen«  derselben  treten  abermals  wieder  in  der 
Mitte  auf,  das  scheint  untrennbar  mit  dem  G.-Verfahren 
verbunden  zu  sein.  Aus  den  spontanen  Äußerungen  der  Vp. 
geht  hervor,  daß  mit  dem  Sinken  der  Aufmerksamkeit  in  der 
Mitte  ein  Gefühl  der  Verwirrung  für  kurze  Zeit  auftritt,  das  beim 
Kommen  des  Schlusses  normaler  Klarheit  weicht,  —  so  bei  Herrn 
Prof.  M.  und  Frl.  S. ;  Herr  Br.  und  Herr  Dr.  W.  bezeichnen  dies 
Gefühl  als  Unlust,  die  sich  speziell  bei  Dr.  W.  um  so  stärker  äußert, 
je  länger  die  dargebotene  Reihe  wird,  und  bewirkt,  daß  er  das 
weitere  Zuhören  ftr  Momente  als  zwecklos  völlig  aufgibt,  dennoch 
aber  »fast  unwillkürlich«  den  Schluß  der  Buchstabenserien  erfaßt. 
Prägnanter  als  bei  der  ersten  Versuchsreihe  kam  bei  der  zweiten 
den  schon  dort  genannten  Vp.  zum  Bewußtsein,  wie  förderlich 
die  Kenntnis  von  der  Länge  der  zu  erfassenden  Buchstabenreihe 
war,  —  aus  einer  Notiz  auf  der  vierten  Zeile  der  Spalte  für  Herrn 
Dr.  W.  geht  hervor,  daß  das  Wiederauftreten  von  0- Fehlern 
wahrscheinlich  dem  Wissen  um  die  Zahl  der  Buchstaben  zuzu- 
schreiben ist. 

Ebenso  finden  alle  Vp.  es  unerläßlich,  daß  die  Hemmung  der 


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26 


Ernst  Ebert  und  E.  Meuraann, 


andern  Bewußtseinsinhalte  eine  möglichst  vollständige  ist,  so  daß 
auch  das  innerliche  Mitsprechen  nach  Kräften  unterdrückt  werden 
muß.  Auch  hier  findet  sich  die  immer  wieder  auftretende  spon- 
tane Äußerung  der  Vp.,  daß  »Vergessenes«  regelmäßig  erst  wieder 
in  den  Blickpunkt  des  Bewußtseins  tritt,  wenn  die  Besinnungs- 
spannungen sich  gelöst  haben.  Leider  haben  wir  auch  in  der  Folge 
nie  erfahren  können,  auf  welche  Weise  das  momentan  Entfallene 
wieder  zitiert  wird;  Herr  Prof.  M.  konnte  nur  angeben,  daß  das 
Vergessene  plötzlich  da  sei,  während  Herr  Br.  und  Frl.  S.  vermuten, 
daß  dies  scheinbar  ursachlose  Wiederauftauchen  des  Vergessenen 
eine  Wirkung  der  Perseveration  sei,  —  das  Vergessene  käme 
ja  »frei«  wieder.  Wir  werden  uns  später  noch  einmal  mit  den 
Perseverationsersch  einungen  zu  befassen  haben. 

Aus  den  sonstigen  Aussagen  der  Vp.  erscheinen  uns  beachtens- 
wert die  Angaben  der  Herren  F.  und  B.,  sowie  von  Frl.  S.  und 
Herrn  Dr.  W.,  daß  bei  etwas  zögernder  und  unsicherer  Repro- 
duktion bisweilen  das  visuelle  Bild  des  Gesuchten  aufgetreten 
sei,  doch  nicht  prägnant  und  unzweideutig,  sondern  nur  so, 
daß  z.  B.  beim  Suchen  des  >k«  zunächst  etwa  ein  »t«  oder  »h« 
in  den  Blickpunkt  zu  treten  schien,  worauf  dann  schnell  die  kor- 
rekte Reproduktion  erfolgte;  beachtlich  ist  hier  sicher,  daß  in  dem 
ursprünglich  unbestimmten,  verschwommenen  Reproduktionsbild  der 
allgemeine  optische  Eindruck  richtig  ist,  —  in  unserem  Beispiel 
sind  »t«  und  »h«  Schriftoberlängen,  ebenso  wie  das  gesuchte  >k<; 
es  ist  wohl  unnötig,  zu  bemerken,  das  dieselbe  Erscheinung  auch 
bei  Ganzlängen  (f,  f),  f)  und  Unterlängen  (g,  p,  3,  j)  auftrat  und 
daß  sie  auf  visuelle  Erfassungsanlage  hindeutet  Es  kam  dies 
auch  bei  Herrn  Dr.  W.  vor,  der  sich  für  einen  ausgeprägt 
akustischen  Typus  hält;  er  erscheint  hier  vielmehr  als  gemischter 
Typus  mit  Prävalenz  des  akustischen  Merkens.  Herr  Br.  versuchte 
von  »10  Buchstaben«  an  folgenden  Kunstgriff:  er  verband  die 
ersten  5  oder  6  Buchstaben  zu  einer  Art  sinnlosem  Wort,  dessen 
Silben  die  Lautcharaktere  der  Buchstaben  bildeten,  —  den  Rest 
der  aufzufassenden  Serie  merkte  er  sich  akustisch.  Da  aber  das 
akustisch  Gemerkte  zu  schnellem  Schwinden  aus  dem  Bewußt- 
sein bei  ihm  neigt,  so  reproduzierte  er  allemal  zuerst  das  akustisch 
Erfaßte,  alsdann  das  optisch- mnemotechnisch  erfaßte  sinnlose 
Wort,  das  ihm  zum  Wiederfinden  des  ersten  Teiles  der  jeweiligen 
Reihe  verhalf,  —  freilich  nach  Ausweis  der  Fehlerrubrik  nicht 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungfiphänomene  usw.  27 

immer  sicher.  Dieselbe  Vp.  glaubt  Überdies  nicht  unwesentlich 
dadurch  unterstutzt  worden  zu  sein,  daß  sie  das  Vorgesprochene 
schnell  mit  den  Fingern  auf  den  Tisch  schrieb,  um  so  durch  Zu- 
hilfenahme des  visuellen  und  kinästhetischen  Sinneseindruckes  die 
Erfassung  zu  erleichtern,  —  wir  erinnern  uns,  daß  Herr  Br.  schon 
während  der  ersten  Versuchsreihe  den  visuellen  Eindruck  lebhaft 
vermißt  hatte.  Man  beachte,  daß  Herr  ßr.  überhaupt  diejenige 
Vp.  war,  welche  einzig  sich  frei  von  hemmenden  Spannungen  auch 
bei  diesen  Versuchen  weiß;  die  Übrigen  Vp.  haben  offenbar  gemeint, 
auch  die  Betätigung  des  kinästhetischen  Sinnes  »Bpalte«  die  Kon- 
zentration auf  den  auditiven  Eindruck. 

m.  Versuchsreihe- 

Von  den  beiden  vorigen  Versuchsreihen  unterschied  sich  diese 
durch  das  dargebotene  Material.  Es  bestand  dies  aus  den  Ebbing- 
haus-Müllerschen  Silben,  bei  deren  Verwendung  sich  abermals 
herausstellte,  daß  auch  sie  noch  keinen  in  jeder  Hinsicht  einwand- 
freien, »neutralen«  Lernstoff  darstellen.  Bei  dem  Anhören  der  Silben 
schließen  einige  Vp.  diese  zu  meist  zweisilbigen  Wortcharakteren 
zusammen,  die  teils  das  Behalten  erleichtern,  teils  erschweren; 
ersteres  tun  sie,  wenn  die  Anfangssilbe  aufmerksam  erfaßt  ist1); 
fallt  dieses  dominierende  Element  aus,  so  wird  die  Erinnerung  an 
die  folgende  Silbe  in  der  Regel  mit  ausgelöscht,  —  siehe  die  be- 
treffenden Protokollnotizen  in  der  III.  Versuchsreihe!  Diese  sich 
gleichsam  aufdrängenden  Wortcharaktere  machen  das  Silben- 
material ungleich  schwierig,  —  dies  stellt  sich  besonders  während 
der  nächsten  Versuchswochen  heraus,  als  die  einseitige  Übung 
an  64  mal  12  silbigen  Reihen  vorgenommen  wurde.  Wer  erwartet, 
daß  z.  B.  folgende  Deutungen  in  der  Schnelligkeit  der  einmaligen 
Darbietung  vorgenommen  werden  würden: 

dim — bei    =  »Tümpel«  (Wasserlache), 
resch — meun  =  >Dr.  W.,  Prof.  M.«, 
faz — ken  =  »Fatzken«  (norddeutsches  Schimpfwort) 

usf.?  Bei  Berechnung  der  Fehler  nötigte  uns  der  Aufbau  der 
Silben  aus  Konsonant,  Vokal  und  Konsonant  zu  den  bereits 


1)  Siehe  die  Protokollangaben  bei  Herrn  B.,  Herrn  F.,  Herrn  Dr.  W., 
Frl.  S. 


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28 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 

Tabelle 

III.  Versuchsreihe:  Unmittelbares 


Aufzu- 
fassendes 

Silben- 
Qti&n  toni 

F.- 
Zahl 

IV 
v 

VI 

0 

VII 

3>/8 

vm 

IX 

X 

XI 

1 

1 

Herr  B. 

Bezeichnung  der 
Fehler 


IV,  V;  VI*  . 

Tempo  erscheint  zu 
nach.  Herr  B.  ver- 
sucht  Sinn  »einzu- 
hauchen«. 

TV,  V,  VI;  im. 

(diH-bel-TOmpel.) 
Reproduktion  ruck- 
lange Hesin- 


TV,V,VI.  Iii, 
III> ,  Vlllr  k . 

Vokale  nicht  so 
wichtig. 


Silben  ichließen  sich  meist 
zu  zweisilbiges  Worteharak- 


ten  fordernd  oder  hemmend ; 
ersterea,  wenn  die  Anfangs 
silbe  »gut«  erfaßt  ist. 

Herr  B.  merkt  auosiatir, 
um  die  Silben  möglichst 
zusammenzuschweißen ;  je 
besser  dies  gelingt,  de*u> 
sicherer  erfolgt  die  Wieder- 
gabe. Silben  erscheinen 
weniger  »bequem«  zn  mer- 
ken, die  Erfassg.  ist  weniger 
leicht,  fast  irregulär.  Unlust 
kommt  auf  u.  hemmt.  Keines 
»fassen    nach  auditirem 


Zah^ 


,  4/a 


Herr  Br. 


Herr  F. 


F.-   Bezeichnung  der  F 


Fehler 


Zahl 


•■3 


43/3 


m^,  iv- ^. 

Herr  Br.  wünscht 
langsamere 

Darbietung. 


in,  iv,v,vn; 
n» vnii . 


Silbea  erscheinen  schwie- 
riger zu  merken ;  die  sprach- 


Zeit  nnd  Möbe. 
Die  Ermüdung  macht  sich 


Rückläufige  Reproduktion 
in  reichlichen  F&llen,  —  auf- 
fallig langes  Besinnen  mög- 
lich. Stelle  in  der  Serie  ge- 
nauer bekannt. 


Bezeichnung  der 
Fehler 


0 

s/8  n»,v» 
IV"  i». 


Zusuraroenschlnn  der  Sil- 
ben wie  bei  Herrn  B.  mit 
gleicher  Doppel  Wirkung. 

Herrn  F.  kommt  das  Dar- 
bieten in  »/« Sekunden-Inter- 

vor,  —  Silben  danken  ihn 
überhaupt  »schwer«  zu  mer- 

flott  erfaßt  Ausgesprochen 
akustisch  merkend  infolge 
Myopie. 


Im  übrigen  sehe  man  die  weiter  geltenden 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  29 
flL 

Behalten  von  sinnlosen  Silben. 


Aufzu-  ' 

Herr  Prof.  M. 

Frl.  S. 

Herr  Dr.  W. 

Silben- 

F.- 

Bezeichnung  der 

F.- 

Bezeichnung  der 

F- 

Bezeichnung  der 

quantum  j 

r  einer 

7ii,i 

Aam 

r  enier 

/j<tni 

r  wuier 

! 

IV 

0 

0 

0 

IT 

V 

0 

y) 

VI 

0 

1) 

Vs 

n»;- 

resch-moaa 

1 

(NVrr.-Möumann.) 

vu 

1 

—  V,VI;  Vit»  . 

l1  ■« 

-IV;  V» 

3  9 

IU»  ,  IV»  ,  VU)»  . 

VIII 

—  Vl.VUjVUIvh. 

•>  s  ., 

-  VI,  VII;  HP', 

»3D 

-IV,V,VI;II»b, 

Vlü. 

IUI. 

Frl.  S.  fragt,  ob  diu 

Geschwindigkeit 

zugenommen  bat. 

IX 

2 

—  VI,  VIII. 

&  :» 

ITT    tTT    lFTl  Tl.. 

—  IVAI/V  II;  Iii, 

-III,  VI;  VU. 

i 

HI»  . 

V  Hl,  IX ;  V». . 

A 

4Vs 

-IV,  V,  VI,  VII; 

5 

-  1V,V,VI,VUI, 

vnih . 

IX. 

fai-keu  (FaUken!) 

VT 

+  nef  nach  III. 

-V.  VI.  VII;  H, 

—  VI.  VII.  VIII, 

X;  mii. 

IX;  X±± 

Herr  Prof.  M.  irUuM,  etwas 

I»i 

e   Silb-n   bilden  aller 

>  oder  :i  Silben  srhlieUeu 

Zeit 

zu  \erlieren  mit  der 

meist  iwci-,  selten  drei- 

-ich 

zu  Ganzen  zusammen 

sprachlichen  Auffassung  der 

|  Kilbi 

ge    Wortgame,  du» 

mit  Uoppelwirkung.  — 

fremdartig  er»cheiDenden 

sebä 

dlieh  wirken,  wenu  die 

Nichtmerkenkönnen  bereit. 

Silbco;     ist,  als  erschienen 

Initialsilbe    Mrj^t'^Bi  ti  ist. 

störend»   Unlust.  Findet 

»Silben«  schwierig  in  mer- 

.Silleiiraerkeu scheint  mehr 

Vokal  2uer?t  bei  zögernder 

ken. 

Schnelles  Vergessen, 

Mühe  iu  mithon,  —  da->  vr- 

Koproduktion;  motorisches 

—  leichte  Ablenkung  durch 

drie 

LH  etwas  und  stört  da- 

He-iauen  reproduziert  die 

»cheinbar  uabcdenHndeGo. 

durcb.Zur  Hälfte  rückläufig 

Konsonanten.  — Dio  Reihen- 

ch».  Angestrengte  Hom- 

Reproduktion,—  lange  B.-- 

;  folge  bleibt  dieselbe.. 

*  • 

mnng  altea  übrigen  Bewußt- 

sintiUDtf.    »Stelle«  he.-teu-i 

sein 

einhalte*  erscheint  ganr. 

bekannt.  Vekuli«  deiiiiuierei] 

nftti*. 

nirht  i^rade. 

Notizen  der  ersten  zwei  Versuchsreihen  an! 


30 


Ernst  Ebert  und  E.  Menmann, 


erwähnten  Schätzungen  der  Fehler  noch  > Drittelfeh ler«  hin- 
zuzutun 

In  Analogie  zu  den  kurzen  Übersichten,  welche  die  Null-  und 
oberen  Fehlergrenzen  bei  den  ersten  zwei  Versuchsreihen  dartun, 
fassen  wir  im  folgenden  auch  diejenigen  der  dritten  Versuchsreihe 
zusammen,  wiederholen  aber  zum  schnelleren  Vergleich  in  den 
Nebenspalten  die  Resultate  der  ersten  beiden  Versuchsreihen 
(Z.  =  Zahlen,  ß.  =  Buchstaben). 


Laxe 

Erstmaliges 

Überschreiten 

(1»T 

von 

Nullsrenzi? 

öO  "»  Fehlem 

W/i  Fehlern 

Z. 

B. 

«■ 

! 

Z 

n. 

Herr  Ii. 

ö  Silben 

7 

ü 

S  Silben 

11 

11 

<>  Silben 

10 

10 

Herr  Br. 

ö  » 

< 

8 

H 

14 

17 

i  L 

11 

17 

Herr  F. 

7 

ö 

t; 

s> 

8 

*i  > 

8 

7 

Herr  Prof.  AI. 

Ii 

n 

i» 

H 

12 

ll' 

11 

13 

Frl.  S. 

« 

7 

7 

11 

i:i 

12 

s 

12 

10 

Herr  Dr.  W. 

5 

7 

i 

8 

12 

12 

s 



10 

,0 

Mittelwert : 

5.1«  Silin  n 

8.83  Silben 

i  7.0«  Silben 

Das  augenfälligste  Merkmal  dieser  Resultatliste  ist  der  Rückgang 
aller  Grenzziffern,  —  extrem  zu  sehen  bei  Herrn  Br.,  Herrn  Prof.  M., 
Herrn  Dr.  W.  bei  der  Lage  der  Nullgrenze;  bei  Herrn  Br.  geht 
sodann  die  Lage  beider  Fehlergrenzen  um  mehr  als  die  Hälfte 
zurück. 

Die  Ursache  dieser  Erscheinung  ist  hauptsächlich  in  der 
größeren  Schwierigkeit  des  Stoffes  zu  suchen,  sekundär  kann  eine 
geringe  Ermüdung  mitgewirkt  haben,  da  die  Vp.  die  Silbenreihen 
unmittelbar  nach  den  Buchstaben-  und  Zahlenversuchen  zu  merken 
hatten.  Die  Aussagen  der  Vp.  (Herr  B.,  Herr  F.,  Herr  Br.,  Frl.  S.) 
bestätigen  dies,  und  so  ergab  denn  auch  die  Probe  beim  zweiten  und 
dritten  »Querschnitt«  ohne  Ausnahme  mindere  Resultatziffern  als  die 
bei  Zahlen  und  Buchstaben.  Letztere  beiden  Stoffkategorien  bieten 
der  Perzeption  und  Apperzeption  keinerlei  Schwierigkeiten;  unter 
den  Teiltätigkeiten  der  Aufmerksamkeit  kommt  nur  die  Fixation 


1)  In  der  Fehlerrubrik  der  Tabelle  bedeutet  z.  B. 
HI^    =  falscher  Anfangskonsonant  der  3.  Silbe, 
IV  m  h  =  falscher  Mittelvokal  und  Endkonsonant  der  4.  Silbe,  usw. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungephänomene  usw.  31 

dabei  in  Frage.  Anders  bei  den  sinnlosen  Silben!  Hier  tritt  in 
rasehem  Tempo  (3/4  Sekunden)  eine  durchaus  neu-  und  fremd- 
artige Silbe  auf,  beschäftigt  den  Bruchteil  einer  Sekunde  die  Auf- 
merksamkeit mit  ihrem  sprachlichen  Bau  —  siehe  Protokoll- 
notiz bei  Herrn  B.,  Herrn  F.,  Frl.  S.  und  Herrn  Prof.  M. !  — ,  unter- 
dessen ist  aber  schon  der  nächste  »Reiz«  an  die  akustische  Be- 
wußtseinspforte  herangetreten,  der  abermals  kleine  Apperzeptions- 
nnd  Fixationsschwierigkeiten  bringt.  Die  nächste  Folge  davon  ist 
»irreguläres  Erfassen«  —  siehe  Protokollnotiz  bei  Herrn  B.!  — 
und  vorwiegend  bei  ungeübten  Personen  leistungsmindernde  Unlust 
(Herr  F.,  Herr  B.,  aber  auch  Frl.  S.,  Herr  Dr.  W.). 

Da  auf  keiner  Stufe  Fehler  von  allen  Vp.  gemacht  wurden, 
so  unterlassen  wir  es,  die  Verteilung  der  Fehler  und  damit  das 
Verhalten  der  Aufmerksamkeit  beim  Silbenmerkeu  schematisch  zu 
kennzeichnen,  wie  S.  17. 

Die  Protokollnotizen  verstärken  durchgängig  das  bereits  bei 
Versuchsreihe  I  und  II  konstatierte  Selbstbeobachtungsmaterial,  — 
hier  seien  nur  als  neuartige  Momente  in  den  Aussagen  der  Vp. 
folgende  vier  herausgehoben: 

Herr  B.  nimmt  wahr,  daß  er  um  so  sicherer  und  leichter  vor- 
gesprochene Silben  reproduzieren  kann,  je  besser  es  ihm  gelingt, 
»ihnen  Sinn  einzuhauchen«  —  wie  er  sich  ausdruckt  —  und  sie 
so  zn  größeren  Einheiten  von  teilweise  sinnvollem  Charakter 
assoziativ  »zusammenzuschweißen«.  Vom  Versuchsleiter  darauf 
aufmerksam  gemacht,  daß  dieses  Verfahren  nicht  im  Sinn  unserer 
Untersuchung  läge,  wendet  er  ein,  daß  es  ihm  »absolut  unmöglich« 
sei,  rein  mechanisch,  auf  den  bloßen  auditiven  Reiz  hin  einige 
Silben  zu  erfassen. 

In  den  Aussagen  des  Herrn  F.  findet  sich  die  Notiz,  daß  er 
vorwiegend  nur  auf  die  Klangbilder  des  Dargebotenen  sich  ver- 
läßt; er  glaubt  durch  seine  fortgeschrittene  Myopie  vor  allem  auf 
sein  Ohr  angewiesen  zu  sein,  hält  sogar  die  Entwicklung  des 
visuellen,  beziehentlich  auditiven  Typus  für  abhängig  von  der  Seh- 
schärfe. 

Herrn  Dr.  W.  fällt  auf,  daß  er  beim  unsicheren  Reproduzieren 
regelmäßig  zuerst  den  Vokal  der  wiederzugebenden  Silbe  findet 
und  sich  dann  erst  —  wie  er  glaubt  —  auf  dem  Wege  »motorischer 
Bahnung«  die  Konsonanten  in  die  Erinnerung  zurückruft;  freilich 
ist  dies  selten  möglich  nach  einer  Besinnung  von  mehr  als 


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82 


Ernat  Ebert  und  E.  Meumann. 


30  Sekunden.  In  der  Tat  zeigt  der  Stellennachweis  der  Fehler  bei 
Herrn  Dr.  W.,  daß  er  in  keinem  Fall  den  in  der  Mitte  gelegenen 
Vokal  zu  behalten  verabsäumte,  sobald  er  überhaupt  ein  Residuum 
des  Dargebotenen  im  Bewußtsein  besaß.  Die  Reihenfolge  der 
Silben  war  dabei  immer  genau  dieselbe  wie  beim  Vorsprechen. 

Anders  war  dies  bei  den  Herren  B.,  Br.  und  Frl.  S.  Sie  re- 
produzierten wohl  in  der  Hälfte  aller  Fälle  die  Silben  in  einer  teils 
vorwärts,  teils  rückwärts  gerichteten  Sukzession,  »besannen  sich« 
merkwürdig  lange  und  kannten  stets  genau  die  Stelle  einer  Silbe 
in  der  Serie;  es  kam  vor,  daß  sie  konsonantische  Residuen  der 
Silben  besaßen  auf  Grund  visuellen  Vorstellens;  der  Vokal  schien 
bei  ihnen  nicht  in  dem  Grade  zu  dominieren,  wie  bei  Hern  Dr.  W. 

Die  nun  folgenden  vier  Versuchsreihen  wurden  während  der 
Aufnahme  des  ersten  Querschnittes  nur  mit  zwei  Vp.  ausgeführt, 
doch  nahmen  die  übrigen  Vp.  wenigstens  beim  U.  und  HI.  Quer- 
schnitt an  den  Versuchen  mit  einsilbigen  Substantiven  teil. 


In  der  vierten  Versuchsreihe  wurde  das  unmittelbare  liehalten 
an  einsilbigen  Substantiven  geprüft,  wobei  Abstrakta  und  Konkreta 
unter  denselben  Verhältnissen  dargeboten  wurden,  wie  bei  Ver- 
suchsreihe II  Konsonanten  und  Vokale;  da  es  einsilbige  Sub- 
stantiva  waren,  konnten  wir  das  bisher  festgehaltene  Sprechtempo 
auch  hier  zur  Anwendung  bringen.  Diese  Experimente  folgten 
wieder  möglichst  bald  den  früheren,  damit  sie  bei  möglichst  gleichem 
Gedächtniszustand  der  Vp.  aufgenommen  werden  konnten. 

Wie  bei  den  vorangegangenen  Versuchen  stellen  wir  die  drei 
Grenzwerte  Ubersichtlich  zusammen,  wie  folgt: 


IV.  Versuchsreihe. 


Lage  Erstmaliges  Überschreiten 

der  von 
Nollgrenze    50  *  Fehlern  1 33 1/3*  Fehlern 


Mittelwort: 


Herr  Prof.  M.  7  Wörter 
Herr  Dr.  W.      6  > 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  33 


Ein  Vergleich  dieser  Resultatziffern  mit  denjenigen  in  dem  kleinen 
Schema  anf  Seite  30  zeigt,  wie  die  Zahlen  wieder  steigen,  wenn 
auch  nur  um  je  eine  Stufe  hei  der  Nullgrenze  —  gleich  16,66  % 
bei  Herrn  Prof.  M.  und  20  %  hei  Herrn  Dr.  W.  Dagegen  steigt 
bei  Herrn  Prof.  M.  die  Grenze  für  50  X  Fehler  von  11  auf  15  — 
also  um  36,27  #!  — ,  bei  Herrn  Dr.  W.  von  9  auf  12  —  also  um 
33,33  Es  ist  also  schon  eine  gewisse  Übung  im  unmittelbaren 
Behalten  eingetreten,  die  freilich  noch  nicht  entfernt  an  die 
des  zweiten  Querschnitts  heranreicht. 

Tabelle  IV. 


IV.  Versuchsreihe:  Unmittelbares  Behalten  einsilbiger  Substan- 

tiva  ohne  logische  Verbindung. 


Aufzu- 
fassende 
Wort- 
zahl 

Herr  Prof.  M. 

Herr  Dr.  W. 

F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der  Fehler 

F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der  Fehler 

V  ; 

;  o 

0 

VI 

i  0 

0 

VII 

!  o 

Vd 

VI  korrigiert. 

VIII 

i 

-V. 

22/4 

-Ii,  V;  rv,fai. 

IX 

2*4 

III;  -  VI;  VII,  fall. 

4 

-HI.  IV,  V,  VIIL 

X 

23/« 

-II,  HI;  VII,  IX. 

3 

-IV,  V,  VI. 

XI 

23/4 

-IV,  VIII;  II,  \. 

6 

ii;  -v,  vi,  vn,  vm. 

XII 

XIII 
XIV 
XV 

5t/4 

4 

5 

7V4 

II;  -V.  VI,  VII,  X. 
XI  korrigiert* 

-V,  VI,  VII,  VIIL 

-II,  III,  IX,  XI,  XII. 

-I.  II,  III,  IV,  V,  VI,  XU; 

x,  iiv. 

63/« 

X;I,m;-IV,  V,  VI,  VII, 
VIH. 

Bein  mechanisch»  Merken,  —  Sinn  uater- 
stfttxt  fast  nicht   Müdigkeit  macht  «ich 
bemerkbar,  Hemmung  alles  übrigen  Be- 
wußtseinsinhaltes noch  weit  nötiger  als 
bisher.  Stoff  regt  an.  Bei  der  S.  Wörter- 
reihe reproduziert  das  endlich  gefundene 
«.  anch  das  gesuchte  7.  u.  S.  Wort  (Zahl  — 
Spott,  Eis),  ein  Zeichen  auch  ungewollter 
Association. 

[  Herr  Dr.  W.  meint  nur  akustisch  in  merken. 
•  Sinn  hilft  fast  nicht,  wirkt  eher  düaü.rend, 
1  distribuierend.  Schwaches  Lustgefühl  über 
neuen  sinnTolleren  Stoff.  Sich  aufdringende 
'  sinnvolle  Verknüpfungen  werden  zurück- 
'  gewieeen,  —  dennoch  treten  sie  häutig 
auf;  iweimal  bewirkt  das  Kennen  des  einen 
Wortes  praxise  Reproduktion  des  andern 
gesuchten. 

Im  übrigen  gelten  die  bisherigen  Wahrnehmungen. 
*MiT  für  Psychologie.   IV.  3 


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34 


Ernst  Ebert  und  E.  Meuinanu, 


Der  »Sinn«  der  einsilbigen  Substantiva  bat  nacb  den  im  Proto- 
koll verzeichneten  Aussagen  kaum  merklich  gefördert,  vielleicht 
eher  gehemmt,  insofern  er  die  Aufmerksamkeit  zwar  intensiver  auf  sich 
lenkte,  sie  aber  kaleidoskopisch  in  stets  andere  Kategorien  »warf« 
und  so  eine  stärkere  Hemmung  anderer  Bewußtseinsinhalte  nötig 
machte  als  bisher.  Eher  förderlich  waren  den  Vp.  emotionelle 
Hilfen,  welche  ausgelöst  wurden  durch  ein  schwaches  Lustgefühl, 
bedingt  durch  die  weniger  Unlust  erregende  Materie;  diese  Be- 
obachtung machten  späterhin  auch  die  andern  Vp.  an  sich  bei 
der  entsprechenden  Wiederholung  dieser  Versuchsreihe.  —  Die 
übrigen  zu  Protokoll  gegebenen  Aussagen  der  Vp.  bestätigten  nur 
die  Wahrnehmungen  bei  den  vorangeschickten  Versuchen ;  speziell 
bemerkenswert  ist  hier  wohl  nur  die  Tatsache,  daß  trotz  der 
Schnelligkeit  der  Darbietung  und  des  ausdrücklich  gewollten  Zurtick- 
weisens  von  möglicherweise  auftauchenden  Beziehungen  der  Wörter 
zueinander  solche  doch  derart  enstehen,  daß  die  Reproduktions- 
möglichkeit des  zweiten  Wortes  von  der  des  ersten  abhängt.  So 
besann  sich  Herr  Prof.  M.  bei  der  Darbietung  von  acht  Wörtern 
auf  das  7.  und  8.  Wort  (»Spott«,  »Eis«),  als  er  das  6.  (»Zahl«) 
gefunden  hatte;  häufiger  waren  derartige  Fälle  bei  Herrn  Dr.  W.,  der 
bei  den  letzten  beiden  Reproduktionsverzögerungen  direkt  wünschte : 
»Sagen  Sie  mir  das  5.  (8.)  Wort  —  »Lied«  (»Fall«)  — ,  so  weiß 
ich  das  6.  (9.)  gewiß«;  bei  Hemmung  der  gewünschten  Wörter 
erfolgte  prompt  die  Wiedergabe  der  darauf  folgenden  Wörter 
»Raum«  (»Strich«). 

V.  Versuchsreihe. 

Für  diese  Versuchsreihe  bildeten  deutsch-italienische  Vokabeln 
das  Versuchsmaterial.  Der  Unterschied  in  den  Ergebnisziffern, 
welcher  beim  ersten  Blick  auf  die  hierher  gehörige  Tabelle  auffällt, 
erklärt  sich  durch  das  doppelte  Verfahren,  welches  bei  Ausführung 
dieser  Experimente  verfolgt  wurde;  Herr  Prof.  M.  gab  nämlich  alles 
ihm  Vorgesprochene  wieder,  sowohl  das  deutsche,  als  auch  das  zu- 
gehörige italienische  Wort,  —  Herr  Dr.  W.  dagegen  ließ  sich  das 
deutsche  Wort  noch  einmal  vorsprechen  und  hatte  nur  ergänzend 
das  italienische  hinzuzufügen.  Da  beiden  Herren  die  italienische 
Sprache  nicht  nur  von  ihrer  Kenntnis  der  lateinischen  her  bekannt 
war,  so  mußte  besonders  kritisch  eine  Auslese  geeigneter  Vokabeln 
vorgenommen  werden.  Beim  Blick  auf  die  Tabelle  wolle  man  nicht 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übnngsphänomene  usw.  35 


vergessen,  daß  die  römischen  Ziffern  der  ersten  Rubrik,  links  also, 
Vokabelpaare  bedeuten.  Im  unten  folgenden  Schema  haben  wir 
aber  des  Vergleichs  halber  die  nachzusprechende  Wortzahl  angegeben. 
Da  diese  V.  Versuchsreihe  speziell  Interesse  gewinnen  dürfte,  wenn 
man  ihre  Hauptziffern  mit  denen  der  IV.  zusammenhält,  so  gebe 
ich  in  nachstehender  schematischen  Übersicht  dazu  Gelegenheit: 


Lage 

Erstmaliges  Überschreiten  ' 

der  Nullgrenze 

von 

50  %  Fehlern 

331/3  %  Fehl. 

Herr  Prof.  M. 

«Wörter 

7 

10  Wörter 

,6 

8  Wörter 

12 

Herr  Dr.  W.     ,j   4  » 

6 

_8  » 

12 

7  » 

9 

Mittelwert: 

5  Wörter 

Ii 

9  Wörter 

I 

7,5  Wörter 

\ 

\ 


Nur  deutsche  einsilbige  Substantiva. 

Nach  dem  allgemeinen  »Aufschwung«  bei  der  IV.  Versuchsreihe 
ist  also  die  Signatur  der  V.  Reihe  ebenso  ausnahmsloser  »Rückgang«, 
welcher  sich  in  Prozentziffern  so  darstellt: 

A)  Bei  Herrn  Prof.  M.  geht 

a.  die  Nullgrenze        zurück  von  7  auf  6  =  14,28  % , 

b.  »   50  #  F.-Grenze     »       »  15  »  10=  33,33 

c.  >   331/3  #      »  »       »  12   »    8  =  33,33  #. 

B)  Bei  Herrn  Dr.  W.  geht 

a.  die  Nullgrenze        zurück  von  6  auf  4  =  33,33  % , 

b.  »  50  #  F.-Grenze     »       »  12   »    8  =  33,33  #, 
|  c.    »  331/3  #     »  »    9  »    7  22,22 

Ein  so  gleichmäßig  prozentualer  Abfall  wie  in  den  obigen  Ver- 
suchen ist  bemerkenswert.  Noch  auffälliger  als  der  fast  8  %  be- 
tragende Mehr-Rückgang  der  Grenzwerte  bei  Herrn  Dr.  W.  ist  die 
absolute  Minderleistung.  Sie  beträgt  betreffs  der  Nullgrenze: 
33,33  betreffs  der  50  %  F.-Grenze:  20  betreffs  der  33»  3  % 
F.-Grenze:  12,5  %.  Spontan  zu  Protokoll  gegebene  Aussagen,  wie 
die,  daß  sich  Herr  Dr.  W.  nicht  erheblich  ermüdet  fühlt,  ließen  im 
Verein  mit  den  sonstigen  Gedächtnisleistungcn  deB  Herrn  Dr.  W.  und 
seinem  geringeren  Alter  wohl  eher  einen  Fortschritt  in  den  Resul- 
taten vermuten.  Die  Ursache  des  verschiedenen  Ausfalls  der  Re- 
sultate liegt  —  abgesehen  von  der  bei  Herrn  Dr.  W.  auftretenden 
Unlust  —  in  dem  Verfahren  der  Darbietung.  Bei  Herrn  Prof.  M.  kam 

3* 


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36 


Ernst  Ebert  und  E.  Mcumann, 


das  G.-Verfahren,  bei  Herrn  Dr.  W.  eine  Art  Trefferverfahren  zur 
Anwendung.  Es  macht  sich  nun  hier  der  auch  sonst  zu  konsta- 
tierende Vorzug  des  G.-Verfahrens  geltend,  daß  es  eine  auf  größte 
Konzentration  zielende  Einstellung  der  Aufmerksamkeit  bewirkt. 
Auch  als  wir  später  beim  siebenten  und  achten  Turnus  der  Ein- 
übungSYersuche  einmal  beiläufig  den  Gang  der  Aufmerksamkeit  nach 
der  Treffer-Methode  prüften,  ergab  sich  der  für  die  Konzentration 
ungünstige  Effekt  dieser  Methode.  Herr  Prof.  M.  wurde  im  vor- 
liegenden Falle,  bildlich  gesprochen,  durch  die  mit  dem  G.-Ver- 
fahren anscheinend  stets  auftretende  »Welle«  höchster  Konzen- 
tration trotz  seiner  merklichen  Ermüdung  um  so  viel  »gehoben«,  als 
die  zuletzt  hervorgehobenen  Prozentsätze  betragen.  Wahrschein- 
lich bewirkte  auch  die  Fremdartigkeit  der  sprachlichen  Eindrücke 
den  Rückgang  sämtlicher  Resultatziffern. 

Tabelle  V. 

V.  Versuchsreihe:  Unmittelb.  Behalten  von  deutsch-ital.  Vokabeln. 


Zahl 

der 

Vok.- 

F.- 

Paare 

Zahl 

III 

0 

IV 

3 

V 

6 

VI 
VII 

VIII 
IX 
X 

XI 


Herr  Prof.  M. 


Bezeichnung  der  Fehler 


Herr  Dr.  W. 


F.- 
Zahl 


Bezeichnung  der  Fehler 


—  III,  deutsch  u.  ital. 
-IV,  ital. 

—  IV,  V,  deutsch  u.  ital. 
— II,  III,  ital. 


0 
0 

1% 


4*4 


-IV. 

Von  I  u.  V  je  einer  der 
sechs  Buchst,  fehlend. 

Von  II  u.  VI  je  einer  der 
sechs  Buchst  fehlend. 

—  II,  III;  IV  total  falsch!) 

(Herr  Dr.  W.  wird  ungeduldig.) 

- 1,  Ii,  in,  iv;  vi,  vn. 


Mittelwerte: 


a)  Nullgrenze: 

b)  33i/3  %  F  -Grenze: 

! 


Wörter, 
» 


G.. Verfahren. 


Wenig  Kenntnis 

I'  Italienischen. 

Du  Erfassen  (Fixieren  usw.)  fallt 
Prof.  M.  schwer,  —  Laote  tu 


MudigkeitseropfiudunK. 

Im  übrigen  gelten  die 


Trefferrerfahren.      Sprache  Ton 
Reisen  her  ziemlich  bekannt  Viel  Fixation 
nötig  rar  Erfassung  der  Fremdlaute,  — 
scheint  Aufmerksamkeit  zu  spalten. 
Fühlt  sich  normal,  —  durchaus  nicht  m  ü  d  e. 
Protokollaussagen  ron  Reihe  I-IY. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungephänomene  usw.  37 


VI.  Versuchsreihe. 

In  dieser  Versachsreihe  wurde  das  unmittelbare  Behalten  von 
Gedichtstrophen,  also  rhythmisch  und  sinnvoll  verbundenem  Wort- 
m&terial,  geprüft  Die  Strophen  nahmen  wir  aus  Schillers  »Zer- 
störung von  Troja«.  (In  der  folgenden  VII.  Versuchsreihe  kam 
als  Stoff  »ungebundene«  Redeweise  zur  Anwendung,  nämlich  leich- 
tere Stellen  aus  Lockes  »Versuch  Uber  den  menschlichen  Verstand«, 
Übersetzung  von  Kirchmann).  Die  Fehler  wurden  bei  diesem  Ma- 
terial nicht  mehr  nach  Kategorien  zahlenmäßig  gewertet,  sondern 
eine  direkte  Bezeichnung  derselben  eingeführt.  Die  Hauptwerte 
sind  ja  hier  die  Null-Grenzziffern,  deren  Lage  die  in  Rede  stehenden 
sechs  Tabellen  übersichtlich  zeigen. 

Unter  Wiederholung  der  hierbei  besonders  interessierenden  Null- 
Grenzziffern  der  IV.  Versuchsreihe  stellen  wir  diejenigen  der  VI. 
mit  denen  der 

VII.  Versuchsreihe 

des  Ubersichtlicheren  Vergleichs  wegen  zusammen: 


Die  Nullgrenzen  liegen 


ftir 

i.d.VI.Vero.-Reihe 
bei  (Poesie) 

i.d.VU.Vers.-Reihe 
bei  (Prosa) 

i.d.IV.Vers.-Reihe 
bei  {Wortreihen) 

Herrn  Prof.  M. 

18  Worten 

22  Worten 

7  Worten 

Herrn  Dr.  W. 

12  . 

12  » 

6 

Der  Vergleich  der  beiden  ersten  Spalten  mit  der  dritten  ergibt 
augenfällig  die  leichtere  Einprägung  sinnvollen  Materials,  gleichviel, 
ob  dasselbe  an  Reime  und  Rhythmen  gebunden  ist  oder  nicht  (vgl. 
auch  Versuch  IV). 

Ein  Vergleich  der  Zahlen  der  VI.  und  VII.  Versuchsreihe  lehrt, 
daß  sich  Prosaworte  leichter  einprägen  als  poetische,  —  eine  Tat- 
sache, die  die  Vp.  selbst  überraschte,  die  übrigens  bis  zum  Schloß 
der  Untersuchung  zu  beobachten  war,  obgleich  beide  Vp.  von  sich 
aussagten,  daß  ihnen  der  Wohllaut  der  Sprache  Schillers  angenehm 
sei.  Bei  Herrn  Dr.  W.  blieben  denn  auch  die  Ziffern  ftir  beide  Stoffe 
gleich,  —  bei  Herrn  Prof.  M.  steigen  sie  von  18  auf  22,  das  gibt 


38 


Emst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Tabelle  VI. 

VI.  Versuchsreihe:  Unmittelbares  Behalten  von  Gedichtworten. 


Zahl  der 
Wörter 

des 
Gedichts 


Ii 


Herr  Prof.  M. 


a)  »Merken«  statt 
>  Ahnung«. 

b)  Für  »steigt«  :  »stieg«. 

»So  viel  Elend«  statt 
»Leiden«. 


a)  Statt  »Bande«:  »Band«. 

b)  »  »spricht« .»sprach«. 

a)  Statt  »Pelasger«:  »be- 
lastet«. 

b;  Statt  »himmelan«: 
»himmelwärts«. 

c)  7  Schlußworte  fehlen. 


Herr  Dr.  W. 


Bezeichnung  der  Fehler 


»verändert«  fllr  »vollen- 
det«. 

aj  »Roß  von  Kistenholz« 
für  »E.  v.  Fichtenholz«. 

b)  »wild«  für  »empört«. 

Es  fehlt:  »aus  dem  Volk«. 

a)  »die staunendeMitte« 
für  »desHeeresMitte«. 

b;  »drängt«  für  »dringt«. 

c;  »stürmischer«  für  »un- 
gestümer«. 

»in  ihn«  für  »ihm  Trost«. 

Nur  die  ersten  6  Worte 
richtig. 


Mittlere  Lage  der  Nullgrenze  für  beide  Vp.:  15  Wörter. 


Herr  Dr.  W.  findet  den  SnUbt*  mit- 
unter »g«wi-hr»ubt«,  —  doch  iit  er  sehr 
«ingenommen  für  Schiller»che  Dichtung 


Herr  Prof.  M, 
dem  Uthetiichen  Eindruck  der  8trophen, — 
seltenestilutieche  Wendungen  Oberreechen 
ihn  aber  and  scheinen  hinderlich  für 
and  Wiedergabe. 

Im  übrigen:  Innerei  and  iuOere«  Verhatten  wie  bisher. 


I 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  39 


Tabelle  VII. 

VII.  Versuchsreihe:  Unmittelbares  Behalten  von  philos.  Prosa. 


Herr  Prof.  M. 


F.- 
Zahl 


Bezeichnung  der  Fehler 


0 
0 
0 


Zu  »Vorstellungen«  hinzu- 
gefügt »angeborenen«. 


a)  »eingehende«  für 
»solch  e«Untersuchung. 

b)  »weiter«  fehlt. 

c;  »entsprechen«  für  »als 
entspr.  gelten«. 

a)  »kann  man  sicher  sein« 
für  »ist  man  s.«. 

b:  »zu  bewirken«  für  »her- 
vorzubringen«. 


Herr  Dr.  W. 


F.- 
Zahl 


Bezeichnung  der  Fehler 


»welche«  für  »die«. 

Fehlt,  »von  welcher  ihre 
Eigenschaften  abhängen«. 

aj  Fehlt:  »zu  bestehen«, 
b  »der  Anfang  des  Le- 
bens« ftir  »das  Leben«. 

»versehen«  für  »behaftet«. 

»einer  Vorst«  flir  »vou 
Vorstellungen«. 

a?  »eingehende«  für 

»solche«  Unters, 
b  Fehlt:  »ich  gehe  n.  weit. 

darauf  ein,  sondern«, 
c)  »entsprechen«  für  »als 

entspr.  gelten«. 


Mittlere  Lage  der  Nullgrenze  für  beide  Vp.:  17  Wörter. 


Innere«   and  lußor«*  Verhalten    du     Befinden  wie  bisher,  —  einige  Ungeduld 


bisherige,  —  doch  immer  stärkere  Ab- 
spannung merklich. 
I!   Zahl  de*  Gemerkten  überrascht  die  Vp. 


spürbar. 

Die  Vp.  hatte  nicht  geglaubt,  daß  sich 
.unmittelbar«  so  viel  behalten  110t 


40 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumaiin, 


22,22  %  zugunsten  der  philosophischen  Prosa.  Die  Ursache  hier- 
für dürfte  in  zwei  Faktoren  zn  suchen  sein:  erstens  nötigen 
Rhythmus  und  Reim  einer  Dichtung  zu  ungewöhnlichem,  nicht 
selten  gezwungenem  syntaktischen  Aufbau,  zweitens  war  die  philo- 
sophische Terminologie  den  beiden  Dozenten  für  Philosophie  ge- 
läufiger. 

In  mancher  Hinsicht  psychologisch  interessant  sind  die  Fehler- 
qualitäten, welche  bei  beiden  Versuchsreihen  vorkamen.  Die  eine 
derselben  möchten  wir  das  assimilierende  Hören  nennen;  das 
Protokoll  der  VI.  Versuchsreihe  weist  eine  Reihe  von  Beispielen 
auf:  so  hört  Herr  Dr.  W.  bei  der  Schilderung  des  trojanischen 
RoBses  trotz  artikuliertestem  Lautvorsprechen  »dies  Roß  von  Kisten- 
holz« für  »d.  R.  v.  Fichtenholz«,  —  Herr  Prof.  M.  glaubt  gehört  zn 
haben  »belastet  im  Betrügen«,  als  Sinon  bezeichnet  wird  als  »Pe- 
lasger  im  Betrügen«;  bei  tachistoskopischen  Versuchen  tritt  be- 
kanntlich in  ähnlicher  Weise  assimilierendes  Lesen  auf.  —  Eine 
andere  Gruppe  von  Fehlern  ist  korrigierender  Natur:  z.  B.  in  der 
VH.  Versuchsreihe  das  Einsetzen  des  Relativums  »welche«  für  »die«, 
—  beide  Vp.  geben  die  umständliche  Wendung  »als  entsprechende 
gelten«  richtig,  aber  einfacher  wieder  durch  »entsprechen«.  —  Noch 
auf  eine  dritte  Spezies  von  Fehlern  sei  hingewiesen ;  es  sind  solche 
wie  »versehen«  statt  »behaftet«  —  »Elend«  statt  »Leiden«  — 
»himmelwärts«  statt  »himmelan«,  —  siehe  VH.  und  VI.  Versuchsreihe 
unter  »Fehlerbezeichnung«.  Fehler  dieser  Art,  Einsetzung  synonymer 
Ausdrücke,  sind  gleich  den  »korrigierenden«  Fehlern  anders  zu  be- 
werten, als  etwa  das  Weglassen  der  letzten  18  von  24  dargebotenen 
Worten,  das  sinnentstellende  Hinzufügen  von  Ausdrücken1)  usf. 

Mit  der  Aufnahme  vorstehender  sieben  Stichproben  für  das 
unmittelbare  Behalten  betrachteten  wir  den  ersten  Hauptteil 
der  Prüfung  des  Ausgangszustandes  des  Gedächtnisses  unserer 
Vp.  als  abgeschlossen  und  wandten  uns  der  Untersuchung  des 
dauernden  Behaltens  zu.  Es  war  natürlich  nicht  zu  ver- 
meiden, daß  sich  nun  bei  diesen  bloßen  Vorversuchen,  die  noch 
möglichst  das  ungeübte  Gedächtnis  der  einzelnen  Vp.  be- 
stimmen sollten,  schon  eine  gewisse  Übung  einstellte.  Man  ver- 
folge z.  B.  die  Resultate  der  VIII.  und  X.  Reihe!   Die  Prüfung 


1)  z.  B.:  »die  staunende  Mitte«  für  »des  Heeres  Mitte«; 
oder:  »in  ihn«  fttr  »ihm  Trost«.   (Siehe  VI.  Versuchsreihe.) 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  41 


T  »  ~  s  3  >  > 
II  - 


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42 


Ernst  Ebert  und  E.  Menmann. 


wurde  von  selbst  zugleich  zum  Übenden  Moment,  und  der  mehrer- 
wähnte Querschnitt  zu  Anfang,  in  der  Mitte  und  am  Ende  unserer 
Untersuchung  ist  eher  als  »Schrägschnitt«  zu  bezeichnen.  Bei  allen 
diesen  Vorprüfungen  des  dauernden  Behaltens  kam  das  G.-Ver- 
fahren  zur  Anwendung. 


Der  Schieber  S  kann  hinter  dem  Holzschirm  so  verschoben  werden ,  daß  je 
eines  der  Diaphragmen  bei  d  geöffnet  wird. 


VIII.  Versuchsreihe. 

Zweck  dieser  Versuchsreihe  war,  das  Lernen  und  Behalten  von 
sinnlosen  Silben  bei  unsern  Vp.  zu  prüfen,  damit  wir  auch 
für  eigentliches  Lernen  und  dauerndes  Behalten  die  Wirkung  der 
Gedächtnisübung  feststellen  konnten.  Die  Vp.  hatten  vier  Silben- 
reihen —  je  zehn,  zwölf,  vierzehn  und  sechzehn  Silben  ent- 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  43 


haltend  —  zu  lernen,  die  nach  24  Stunden  wiedererlernt  wurden. 
Das  Verfahren  war  das  von  G.  E.  Müller,  in  der  von  Pent- 
sc he  w   mitgeteilten,   im  Züricher  Laboratorium  ausgebildeten 
Modifikation  (vgl.  Archiv  für  die  gesammte  Psychologie  Bd.  I, 
Heft  4,  S.  424  und  nebenstehende  Abbildung).  Die  Vp.  nimmt  Platz 
vor  dem  Holzschirm,  hinter  welchem  der  Apparat  auf  schalldämp- 
fender Filzunterlage  steht;  durch  den  Spalt  im  Schirm  sieht  die 
Vp.  die  Silben,  die  wie  gewöhnlich  mittels  Papierstreifen  auf  der 
horizontal  gelagerten  Trommel  aufgetragen  sind.  Der  Umfang  der 
Trommel  beträgt  500  mm,  die  Ganzhöhen  der  Schriftzeichen  messen 
15  mm.   Die  Verteilung  der  zehn,  zwölf,  vierzehn  und  sechzehn 
Silben  war  derart,  daß  am  Schluß  der  Reihe  stets  Raum  blieb  für 
zwei  Silben.   So  entstand  zwischen  den  einzelnen  Ganzlesungen, 
wie  üblich,  eine  Pause.    Als  Normalgeschwindigkeit  waren  zehn 
Sekunden  für  zwölf  Silben  festgesetzt.   Damit  die  Silben  immer 
gleich  lange  sichtbar  wurden,  verminderten  wir  die  Trommeldrehung 
entsprechend  der  zunehmenden  Silbenzahl.  Die  Vp.  hatte  halblaut 
zu  sprechen,  damit  der  Versuchsleiter  das  Lesen  kontrollieren  und 
den  Sprechton,  den  bevorzugten  Rhythmus  u.  dgl.  m.  beobachten 
konnte.    Die  Vorführung  des  Silbenmaterials  erfolgte  stets  erst 
dann,  wenn  die  Vp.  durch  ein  Zeichen  kundgab,  daß  sie  mich 
ihrem  inneren  wie  äußeren  Verhalten  zum  Lernen  bereit  sei.  Als 
»gelernt«  wurde  eine  Reihe  betrachtet,  wenn  sie  in  der  vorgeführten 
Aufeinanderfolge  einmal  fehlerfrei  reproduziert  werden  konnte, 
—  wir  teilten  die  Auffassung  G.  E.  Müllers,  welcher  im  Gegen- 
satz zu  Ebbinghaus  die  zweite  Aufsagung  als  neuen,  nicht  zu 
unterschätzenden  Übungsfaktor  betrachtet.  Für  die  Vereuchsergeb- 
nisse  vgl.  Tabelle  VIII,  und  zwar  zuerst  die  obere  horizontale  Spalte. 
Die  schnellste  Erlernung  finden  wir  in  dieser  Spalte  bei  Herrn  Dr. 
W.:  14  Lesungen.  Der  Versuchsleiter  beobachtete  schon  hier,  was 
später  bei  allen  übrigen  Vp.  hervortrat,  daß  das  Erlernen  in  Stufen 
vor  sich  geht,  die  um  so  artikulierter  waren,  je  weniger  ge- 
übt und  der  Lerntätigkeit  angepaßt  eine  Vp.  ist,  —  die  also  um  so 
mehr  ineinander  verfließen  und  ökonomischer  miteinander  verbunden 
werden,  je  mehr  die  Übung  sich  ihrem  idealen  Endziel  nähert: 
dem  möglichst  unmittelbaren  Erfassen  des  Lernstoffes.    Die  Ver- 
anschaulichung dieser  Stufen,  von  denen  man  bei  beginnender  Ein- 
übung etwa  fünf  unterscheiden  kann,  würde  wohl  erst  durch  phono- 
graphische Aufnahme  des  Sprechens  der  Vp.  in  befriedigender 


44 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann. 


Weise  möglich  sein,  wie  sie  z.  B.  an  der  Universität  Genf  rar 
Wiederholung  französischer  Sprachmuster  verwendet  wird.  Bei 
den  in  der  Tabelle  näher  bezeichneten  Vp.  ließen  sich  über  diese 
Lernstufen  genauere  Beobachtungen  anstellen. 

Von  den  14  Lesungen,  welche  nötig  waren,  nm  z.  B.  bei  Herrn 
Dr.  W.  eine  einwandfreie,  korrekte  Wiedergabe  jener  10  Silben  zu 
erzielen,  wurden  benutzt 

Lesung  1  und  2  vorwiegend  zum  Orientieren  Uber  den  sprachlichen 
Charakter  der  Silben,  —  Uber  einzelne  ungewohnte  Schriftzeichen  >l 
z.  B.  U- Bogen  bei  sog.  »lateinischer«  Schrift  n.  dgl.  m. 

Hierbei  kommen  Sprechfehler  vor,  werden  aber  korrigiert,  doch 
wird  das  eigentliche  mühelose  Ablesen  erst  erreicht  durch 

Lesung  3,  4,  5,  die  Stufe  des  apperzipierenden  Lesens,  im  Gegen- 
satz zur  ersten  orientierenden.  Hier  treten  keine  Verzögerungen 
mehr  auf;  das  mechanische  Lesen  verläuft  vielmehr  glatt,  —  in 
monotoner  Stimmlage.   Deutungen  treten  auf. 

Lesung  6,  7,  8,  9,  10  bringen  ein  wesentlich  neuartiges  Element  in  den 
Erlernungsprozeß;  ganz  spontan  treten  bei  Herrn  Dr.  W.  Ver- 
gesellschaftungen der  Silben  zu  vier  dreigliedrigen  Takt- 
einheiten auf,  die  fünfte  Takteinheit  ist  nur  zweigliedrig,  —  es  ist 
das  rhythmisierende  Lesen,  welches  die  Erlernung  anscheinend 
automatisch  gestaltet,  denn 

Lesung  11,  12,  13  läßt  deutlich  wahrnehmen,  was  die  Vp.  alsdann  auch 
bekundete,  daß  bei  diesen  »Lesungen«  kein  eigentliches  Lesen  mehr 
stattfindet,  vielmehr  lösen  in  der  Regel  die  akzentuierten  Taktteile 
die  minder  akzentuierten  in  dem  Bewußtsein  mit  aus,  —  sie  werden 
vorweggenommen,  ehe  sie  als  Reiz  vor  das  Auge  treten,  —  es 
ist  die  Stufe  des  antizipierenden  Lesens,  wobei  schließlich 
als  Symptom  der  perfekten  Erlernung  ein  Gefühl  der  »Leichtigkeit« 
spürbar  wird,  also  ein  Lustmoment  neben  dem  intellektuellen  Pro- 
zeß, welches  die  teilweise  Entlastung  der  Aufmerksamkeit  an- 
zeigt —  d.  h.  nur  jener,  welche  auf  die  Schriftzeichen  gerichtet  ist;  — 
die  Aufmerksamkeit  richtet  sich  nunmehr  auf  die  Klangbilder  der 
erlernten  Reihe,  —  die 

Lesung  14  ist  bloß  noch  ein  probierendes,  kontrollierendes 
»Lesen«,  wobei  die  emotionellen  Momente,  welche  in  unserem  Fall 
den  einwandfreien  Ablauf  der  Reproduktion  begleiten,  die  Gewiß- 
heit vermitteln,  daß  der  Erlernungsakt  ans  Ziel  geführt  habe.  Die 
beim  antizipierenden  Lesen  als  »schwierig«  befundenen  Silben 
werden  noch  einmal  scharf  akzentuiert  —  in  unserem  Fall  war  es 
die  VI.  und  VII.  Silbe  — ,  dann  erfolgt  die  Aufsagung. 


1)  Es  dürfte  Bich  empfehlen,  künftig  nur  deutlichst  lesbare  gedruckte 
Schriftzeichen  statt  der  noch  oft  recht  fremdartig  erscheinenden,  verschie- 
denen Duktusformen  anzuwenden.  (Vorherige  Ausprobierung  mit  Reaktions- 
versuchen am  Tachistoskop.) 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übnngsphäoomene  uaw.  45 

Diese  so  kurz  charakterisierten  Stufen  fanden  sich  bei  allen 
Vp.,  —  der  Natur  der  Sache  gemäß  individuell  variiert;  desgleichen 
traten  sie  beim  Erlernen  auf,  wenn  anderes  Material  als  die  Silben 
einzuprägen  war,  —  modifiziert  sogar  beim  Erlernen  visueller  Zei- 
chen. Da  diese  Stufen  aber  mit  fortschreitender  Übung  immer 
weniger  hervortraten,  werden  wir  uns  dieser  Erscheinungen  noch 
einmal  erinnern  müssen,  wenn  es  sich  um  Beantwortung  der  Frage 
handelt,  welche  Komponenten  den  Übungseffekt  herbei- 
führen. —  Der  Versuchsleiter  verfolgte  den  in  seiner  akustischen 
Ausdrucksform  interessanten  Lernprozeß  auch  bei  den  andern  Vp. 
(vgl.  die  Protokollnotizen  bei  Vp.  B.,  Br.,  F.,  Prof.  M.  und  Frl.  S.). 
—  Für  das  Verhalten  der  Aufmerksamkeit  ist  es  bezeichnend,  daß 
sich  nach  der  Aussage  des  Herrn  Dr.  W.  die  V.,  VI.,  VII.  Silbe  zu- 
letzt »einfügten«.  Im  übrigen  lernte  Herr  Dr.  W.  rein  akustisch-me- 
chanisch, —  er  unterdrückte  jedwede  Neigung  zu  andern  Asso- 
ziationsmitteln als  den  durch  visuelle,  akustische  und  motorische 
Eindrücke  gebotenen.  —  Bei  der  Wiedererlernung  nach  24  Stunden 
ersparte  er  zehn  Lesungen,  —  das  ergibt  71,43  % ;  ein  Blick  in  die 
Tabelle  zeigt,  daß  dieser  Ersparnisbetrag  keineswegs  der  »schnell- 
sten« Erlernung  entspricht,  die  vorher  zu  konstatieren  war,  wenn 
er  auch  noch  beträchtlich  genug  war.  —  Die  übrigen  Zahlen  der 
Spalte  zeigen  den  aufzunehmenden  Status  an  ihrem  Teile  wohl 
genügend  deutlich.  Die  hohe  Ziffer  bei  Herrn  Prof.  M.  erklärt  sich 
außer  durch  die  Ermüdung,  die  er  infolge  einer  vorangegangenen 
anstrengenden  Arbeit  verspürte,  ans  der  Schwierigkeit,  jene  per- 
severierenden  Assoziationen  zu  hemmen,  welche  ihm  durch  die  er- 
wähnte literarische  Arbeit  nahelagen;  die  Seite  44  skizzierten 
Stufen  des  rhythmisierenden  und  antizipierenden  Lesens  traten  laut 
Protokoll  erst  nach  der  17.  bzw.  28.  Lesung  ein. 

Die  zweite  Horizontalspalte  der  Tabelle  zeigt  die  Erlernung 
einer  Normalreihe  im  engeren  Sinne,  also  die  Erlernung  von  zwölf 
Silben;  es  dürfte  ferner  für  Gewinnung  eines  Einblicks  in  die  Ge- 
staltung des  Fortschrittes  bei  jeder  einzelnen  Vp.  empfehlenswert 
sein,  sofort  auf  die  Ziffern  der  dritten  und  vierten  Horizontalspalte 
mit  zu  achten,  —  also  auf  die  Erlernung  der  Reihen  von  14  und 
16  Silben.  Man  sieht  da  zunächst,  daß  Ebbinghaus'  Bemerkung, 
daß  die  Zahl  der  Lesungen  mit  der  der  Silben  »unverhältnismäßig« 
zunimmt,  Einschränkungen  erleidet.  Das  Element,  welches  uns 
hierzu  nötigt,  ist  in  erster  Linie  der  Rhythmus.  Um  seine  Wirkung 

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Ernst  Ebert  und  E.  Meomann, 


zu  erproben,  verfuhr  der  Versuchsleiter  so,  daß  er  dem  einen  der 
beiden  ungeübten  Herren  Studierenden,  Herrn  F.,  nach  Erlernung  der 
ersten  zehn  Silben  die  Verwendung  des  Rhythmus  empfahl,  den 
andern,  Herrn  B.,  aber  beliebig  lernen  ließ  bis  zur  Erlernung  der 
Reihe  mit  16  Silben.  Die  Rubriken  der  genannten  zwei  Vp.  zeigen 
den  merkwürdigen  Effekt  hiervon.  Herr  B.  braucht  zunächst  »un- 
verhältnismäßig« viel  Lesungen,  obwohl  jede  folgende  Silbenreihe 
nur  zwei  Silben  mehr  bietet,  —  z.  B.  braucht  er  zu  12  Silben 
49  Lesungen,  —  zu  14  Silben  63  Lesungen.  Nun  aber  kommt 
die  Wendung!  Nach  Hinweis  auf  energische  Ausnutzung  des  Rhyth- 
mus, der  Btarke  emotionelle  Hilfen  gewährte,  erlernt  Herr  B.  16  Silben 
mit  nur  31  Lesungen,  —  man  beachte,  daß  gerade  16  Silben  vor- 
teilhafte Ausnutzung  des  4 '«-Taktes  gestatten,  und  daß  Herr  B.  ver- 
suchte, möglichst  ohne  »mnemotechnische  Bindemittel«  auszukommen, 
also  ohne  »Deutung«  der  Silben  und  Assoziieren  dieser  »Deutungen«. 
(Ich  erwähnte  schon,  daß  Herr  B.  unter  dem  Einflüsse  der  Poe  11- 
mannschen  »Gedächtniskunst«  stand.) 

Und  nun  Herr  F.!  Nachdem  er  zur  Erlernung  der  10  Silben- 
Reihe  23  Lesungen  nötig  hatte,  lernt  er  die  folgende  12  Silben-Reihe 
in  drei  «/«-Takten  ohne  assoziatives,  mnemotechnisches  Verfahren 
mechanisch  bei  14  Lesungen!  Die  14  Silben-Reihe  bereitete  ihm 
mit  ihrem  halben  Schlußtakt  —  er  bheb  hier  beim  '/«-Takt!  — 
einige  Schwierigkeiten ,  —  er  hatte  demnach  24  Lesungen  nötig, 
welche  Lesungszahl  wieder  zurückging  auf  19,  als  die  bei  Ver- 
wendung des  4/4 -Taktes  so  günstige  16  Silben-Reihe  zu  lernen  war. 

Überraschend  ist,  daß  auch  bei  Herrn  Br.,  einer  nicht  uner- 
fahrenen Vp. ,  Vorgänge  derselben  Art  in  den  Ergebnisziffern  zum 
Ausdruck  kommen  wie  bei  Herrn  F.,  daß  ferner  auch  Herr 
Prof.  M.  und  Herr  Dr.  W.  die  rhythmisch-günstige  Eigenschaft  der 
16  Silben-Reihe  deutlich  verspüren  und  durch  die  Zahl  der  zur  Er- 
lernung nötigen  Lesungen  erhärten.  Nur  bei  Fräulein  S.  steigt 
die  Lesungszahl  etwa  im  Ebbinghausschen  Sinne,  die  Ursache 
dafür  ließ  sich  nicht  auffinden. 

Bei  Fräulein  S.  bieten  die  Resultatziftern  noch  einen  Beleg  für 
das  im  Anfang  der  Versuche  häufige  extreme  Ersparen  von  Wieder- 
holungen beim  Wiedererlernen;  Fräulein  S.  gebrauchte  statt  21  und 
33  Lesungen  zum  Erlernen  von  14  und  16  Silben  nach  Verlauf  von 
24  Stunden  nur  je  2  Lesungen,  was  im  ersten  Fall  ein  Ersparen 
von  90,47      im  zweiten  ein  solches  von  93,93  #  bedeutet.  Die 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  47 

Vp.  versichert,  instruktionsgemäß  sich  sonst  in  keiner  Weise  mit 
dem  Silbenmaterial  befaßt  zu  haben.  Als  Ursache  gab  die  Vp. 
eine  selten  günstige  Disposition  am  Wiederholungstage  und  sehr 
gehobene  Stimmung  an. 

Wir  hätten  es  demnach  mit  einem  Falle  zu  tun,  der  eklatant 
erweist,  daß  Lustmomente  selbst  bei  sinnlosen  Stoffen  erleichternd 
auf  das  Lernen  wirken. 

Der  Zweck  dieser  Versuchsreihe,  den  Status  quo  ante  in  bezug 
auf  das  dauerde  Behalten  sinnloser  Silben  quantitativ  zu  bestimmen, 
könnte  nun  als  erreicht  betrachtet  werden.  Das  Resultat  wird  aber 
noch  übersichtlicher,  wenn  wir  die  Zahlen  für  jede  Vp.  summieren 
und  schließlich  festhalten,  wieviel  jede  Vp.  im  Durchschnitt  un 
Lesungen  für  Neuerlernung  und  Wiedererlernung  einer  Silbe 
brauchte.  Die  vier  in  dieser  Versuchsreihe  gelernten  Reihen  hatten 
insgesamt  52  Silben,  für  deren  Erlernung,  bzw.  Wiedererlernung 
an  Lesungen  im  ganzen  nötig  waren  bei 

Herrn  B.  171,  bzw.  41, 

»     Br.  89,  »  26, 

>     F.  80,  »  19, 

.    Prof.  M.  140,  »  33, 

Fräulein  S.  92,  »  13, 

Herrn  Dr.  W.  89,  >  22. 

Hieraus  folgt,  daß  für  Erlernung,  bzw.  Wiedererlernung  in 
diesem  Gedächtnisstatus,  auf  eine  Silbe  als  Norm  bezogen,  nötig 
waren  bei 

Herrn  B.        3,29  Lesungen,  bzw.  0,78, 
»     Br.       1,71  >  0,50, 

>     F.        1,53       »  >  0,36, 

»    Prof.M.  2,69       »  >  0,63, 

Fräulein  S.     1,76       >  >  0,25, 

Herrn  Dr.  W.  1,71       »  »  0,42. 

Hieraus  wiederum  folgt,  daß  auf  diesem  Niveau  der  Gedächtnis- 
funktion für  eine  Silbe  als  Norm  durchschnittlich  erforderlich  waren 

bei  Neuerlernung      2,115  Lesungen 
und    »  Wiedererlernung  0,49  » 

zwei  Zahlenwerte,  die  wir  besonders  mit  zu  berücksichtigen  haben, 
wenn  es  sich  um  quantitative  Konstatierung  des  Übungseffektes 
handeln  wird. 


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48 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Auch  bei  diesen  am  Kymographion  vorgenommenen  Versuchen 
der  VIIL  Reihe  ließ  sich  eine  Anzahl  von 
welche  mit  dem  Grundphänomen  der  Aufmerksamkeit  zusammen- 
hängen; auf  diese  kommen  wir  später  zurück  bei  Besprechung 
einer  Gruppe  von  Versuchen,  welche  den  allmählichen  Aufbau  der 
Erlernung  von  Silbenreihen  verfolgten,  damit  aber  zugleich  das 
Funktionieren  der  Aufmerksamkeit  beim  Lernen.  Hier  sei  nur 
noch  kurz  die  Beobachtung  erwähnt,  daß  alle  Vp.  die  Zahl  der 
Drehungen  der  Trommel,  also  die  Zahl  ihrer  Lesungen,  ausnahmslos 
unterschätzten,  und  zwar  am  meisten  Fräulein  S.,  die  einmal 
die  Zahl  der  Lesungen  bei  16  Silben  um  fast  25  %  unterschätzte. 
Diese  Beobachtung  beweist  aufs  neue  die  bekannte  Tatsache,  daß 
bei  Konzentration  der  Aufmerksamkeit  auf  den  »Reiz«  —  hier 
also  die  Silbenreihe!  —  die  Zeit  unterschätzt  wird.  Bei  wieder- 
holten Abschätzungen  der  Zahl  der  Lesungen  durch  die  Vp.  zeigte 
sich,  daß  die  Schätzungszahlen  nur  dann  größer  als  die  wirklichen 
waren,  wenn  »Ungeduld«  und  andere  Formen  der  Unlust,  vor  allem 
aber  Ermüdung  bei  der  Vp.  merklich  wurden  (vgl.  die  Protokoll- 
notizen der  folgenden  vier  Versuchsreihen!). 


IX.  Versuchsreihe. 

Der  Zweck  dieser  Versuchsreihe  bestand  darin,  festzustellen, 
wie  das  Gedächtnis  unserer  Vp.  für  visuelle  Zeichen  beschaf- 
fen war,  welche  so  aufgebaut  waren,  daß  je  zwei  Raumelemente, 
z.  B.  ein  Strich  und  ein  Haken,  zu  einer  Figurenreihe  kombiniert 
wurden.  Es  ist  bei  solchen  Reihen  nahezu  unmöglich,  das  Ein- 
prägen der  Figuren  durch  eine  Bezeichnung  derselben  (also  akustisch- 
motorisch) zu  unterstützen,  weil  die  Vp.  in  diesem  Fall  eine  Fülle 
komplizierter  Bezeichnungen  anwenden  müßte,  wozu  sie  bei  der 
schnellen  Folge  der  Silben  keine  Zeit  finden  kann.  Das  »Lernen« 
ist  also  bei  diesen  Zeichen  ein  nahezu  rein  visuelles  Einprä- 
gen. Des  besseren  Vergleichs  mit  den  zwölfsilbigen  Normalreihen 
wegen  fügten  wir  je  12  solche  Zeichen  zusammen,  welche  ebenso 
wie  das  Silbenmaterial  der  VIII.  Versuchsreihe  auf  Papierstreifen 
aufgetragen  und  mittels  der  Kymographiontrommel  den  Vp.  vor- 
geführt wurden.  Jede  Vp.  hatte  je  zwei  solcher  Zeichenreihen 
zu  lernen.  Die  beiden  in  den  Vorversuchen  verwendeten  Zeichen- 
serien sind  hier  abgebildet. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  49 


Stelle: 

1.  Reihe : 

2.  Reihe : 

r 

M 

C 
1 

Tf 

y 

III. 

....  ;  ... 

TV 

J 

V. 

....  f  ... 

...  T 

VI. 

....  L  ... 

VII. 

.  .  1  ... 

VIII.               1    ? 

IX. 

....  +  ... 

X. 

....  \  ... 

...  c1 

XI. 

....  |.  ... 

XII. 

....  J  ... 

...  u> 

Man  ersieht,  daß  diese  optischen 
t  Figuren  zwar  elementar  gehalten  sind, 
wie  es  den  Grundanforderungen  an  das 
Material  fUr  ein  psychologisches  Ex- 
periment entspricht,  doch  zeigt  anderer- 
seits ein  Blick  auf  ihre  Details,  daß 
ihre  Erlernung  nicht  ganz  frei  von 
Schwierigkeiten  ist.  Die  »Reize«  sind 
derart  abgestuft,  daß  die  zweite  Reihe 
wesentlich  anders  und  komplizierter 
aufgebaut  ist  als  die  erste;  denn  statt 
der  konstanten  Vertikalen  in  der  ersten 
Reihe  alterniert  mit  der  Vertikalen  die 
Horizontale  in  der  zweiten  Reihe  in 
unregelmäßiger  Aufeinanderfolge;  statt 
der  »Notenköpfe«  der  ersten  Reihe 
bietet  die  zweite  halbkreisartige  Bogen, 
deren  Öffnung  ebenfalls  unregelmäßig 
wechselnd  nach  oben,  unten,  rechts  oder 
links  gerichtet  ist.  Mit  den  12  Silben 
bei  der  VDI.  Versuchsreihe  hatten 
diese  visuellen  Reihen  gemeinsam  die 
Drehungszeit,  die  Zwischenabstände 
und  die  Schlußpause. 


Da  wir  die  Absicht  hatten,  ein  möglichst  > reines«  optisches 
Erfassen  stattfinden  zn  lassen,  so  wurden  die  Vp.  dahin  instruiert, 
daß  sie  möglichst  nur  den  optischen  Eindruck  auf  sich  wirken 
lassen  sollten,  —  sie  sollten  also,  wenn  nur  irgend  möglich,  ver- 
zichten auf  ein  beschreibendes  Sprechen,  auf  logische  oder  mnemo- 
technische Kunstgriffe,  auf  motorisches  Erlernen  durch  Nachbilden 
der  Figuren  mit  Händen  oder  Füßen  u.  dgl.  Die  Schwierigkeit 
des  Lernens  dieser  Zeichenreihen  war  so  groß,  daß  nur  Herr  Prof.  M. 
und  Frl.  S.  nicht  ausdrücklich  von  einer  starken  Unlust  berichte- 
ten, als  sie  nach  dem  ersten  Dritteil  der  jeweils  nötigen  Lesungen 
verspürten,  wie  das  bloß  optische  Erfassen  ihnen  nicht  zum  dau- 
ernden Behalten  verhalf.  Diese  Unlust  ergriff  einige  Vp.  so 
intensiv,  daß  sie  wie  auf  Verabredung  erklärten,  »so«  wllrdeii  sie 
diese  Reihen  »nie  lernen«.  Allmählich  aber  stellte  sich  eine  An- 
passung an  den  ungewohnten  Lernstoff  ein.  —  Übrigens  ist  es 
wiederum  ein  Hinweis  auf  das  Wesen  der  Übung,  daß  bei  ener- 
gischer Hemmung  der  Unlust  und  mit  wachsendem  Interesse  an 
den  Reihen  größere  Konzentration  der  Aufmerksamkeit  und  damit 
schnelles  Anwachsen  der  Leistungsfähigkeit  auftritt.  Man  ver- 
gleiche hierzu  die  Zahlen  in  der  Rubrik  des  Herrn  Dr.  W.,  Tab.  Dt. 

ArchiT  fllr  Piyehologie.   IV.  4 


50 


Ernst  Ebert  and  E,  Meuraann, 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übongspbänomene  nsw.  51 


Diese  Vp.  hatte  anfangs  mit  affektartiger  Unlust  gelernt  and  den 
ihr  infolgedessen  endlos  lange  scheinenden  Erlernongsprozeß  da- 
durch zu  beschleunigen  gesucht,  daß  sie  vom  etwa  dritten  Viertel 
des  Vorganges  an  mit  den  Fingern  die  Figuren  »zeichnete«.  Da 
dies  der  Verabredung  zuwider  war,  unterzog  diese  Vp.  sich  noch- 
mals der  Mühe  der  Erlernung  zweier  anderer,  analoger  Reihen, 
diesmal  mit  andauernder  Unterdrückung  der  Unlust  und  wachsen- 
dem Interesse  an  ihrem  jetzt  angewendeten  Lern  verfahren.  In- 
folgedessen wurde  jetzt  eine  visuelle  Zeichenreihe  mit  etwa  50  % 
Ersparnis  erlernt.  Hierbei  ist  die  Erscheinung  von  Interesse,  daß 
die  Ersparnis  beim  Erlernen  mit  60,  bzw.  69  Lesungen  unverhält- 
nismäßig größer  ist  als  die  mit  28,  bzw.  37  Lesungen,  —  ja,  grüßer 
als  jeder  andere  Ersparniswert  in  dieser  Versuchsreihe  überhaupt. 
Prozentual  bestimmt  liegt  hier  folgender  Tatbestand  vor: 

1.  Versuch: 

a.  an  60  Lesungen  wurden  erspart  55  Lesungen,  d.  h.  91,66 

b.  an  69  Lesungen  desgleichen  64  Lesungen,  d.  h.  92,75  %. 

2.  Versuch: 

a.  an  28  Lesungen  wurden  erspart  16  Lesungen,  d.  h.  57,14  %, 

b.  an  37  Lesungen  desgleichen  20  Lesungen,  d.  h.  54,05  %. 

Ähnlich,  wenn  auch  nicht  so  markant  hervortretend,  sind  die 
prozentualen  Ersparniswerte  bei  Herrn  Br.,  Herrn  Prof.  M.  und 
Frl.  S.,  verglichen  mit  denen  des  Herrn  F.  oder  gar  mit  denen  des 
Herrn  B. ;  —  hiervon  eine  einzige  Stichprobe  in  Zahlen: 

Zur  zweiten,  schwierigeren  visuellen  Reihe  brauchte 

Herr  Prof.  M.  75  Lesungen,  zur  Wiederholung  11  Lesungen 
Herr  stud.  B.  37  »  »  14 

Die  Ersparniswerte  sind  also  für 

Herrn  Prof.  M.  64  Lesungen,  d.  h.  85,33  #, 
Herrn  stud.  B.  23        >         »  62,16 

Hält  man  mit  diesen  Versuchsergebnissen  den  Fall  bei  Herrn 
Dr.  W.  zusammen,  so  scheint  hier  aufs  neue  die  Erfahrung  be- 
stätigt zu  werden,  daß  intensivere  Aufmerksamkeit  und  lebhafteres 
Interesse  (Lustgefühl)  eine  Leistung  wohl  in  einzelnen  Fällen  stei- 
gern kann,  daß  aber  Treue  und  Nachhaltigkeit  des  Lernens  in 
erster  Linie  von  der  dafür  aufgewendeten  Zeit  und  von  der 
Zahl  der  Wiederholungen  abhängt. 

4* 

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52 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Was  das  von  den  einzelnen  Vp.  beobachtete  Lernverfahren 
betrifft,  so  war  ihnen  nach  dem  Versucbsbericht  ein  Dreifaches 
gemein.    Sämtliche  Vp.  verfuhren  nämlich 

a.  artikulierend, 

b.  konstruierend, 

c.  mit  motorischen  Hilfen  lernend. 

Artikulierend,  gliedernd  oder  gruppierend  verfuhren  sie,  in- 
dem sie  nach  den  ersten  »orientierenden«  Lesungen  —  die  S.  44 
angedeuteten  > Stufen«  wiederholten  sich  nach  den  Bemerkungen  im 
Protokoll  auch  hier!  —  eine  Figur  herausgriffen  und  als  »Grenz- 
pfahl« zweier  Gruppen  benutzten.  Die  »beste«  Erlernung  der 
ersten  Reihe  kam  bei  derjenigen  Vp.  vor,  welche  sich  rasch  ent- 
schlossen Ersatz  fUr  die  rhythmischen  Glieder  des  Viervierteltaktes 
dadurch  verschaffte,  daß  sie  hier  etwa  von  der  8.  Lesung  an  zwei 
»Grenzpfähle«  besonders  fixierte,  —  das  4.  und  das  9.  Zeichen, 
siehe  die  Rubrik  des  Herrn  F.  Tabelle  IX.  Hier  läge  also 
eine  optische  Modifikation  des  >  fraktionierenden «  Verfahrens 
vor,  und  zwar  deutet  das  Resultat  bei  Herrn  F.  wohl  etwas  darauf 
hin,  daß  der  Dreiteilung  ein  Vorzug  vor  der  Zweiteilung  zuzu- 
sprechen sei.  Während  die  andern  fünf  Vp.  das  Zeichen  >J^c, 
VII.  Stelle,  als  gruppierenden  »Grenzpfahl«  benutzten,  verwendete 
Herr  F.  diesen  nur  in  zweiter  Linie,  sich  zuerst  an  die  Zeichen 
»j|<  und  »•)•«  haltend,  also  an  die  IV.  und  IX.  Stelle.  Daß  sich 
die  Zeichen  Übrigens  progressiv  an  die  I.  und  regressiv  an  die 
Xn.  Stelle  anschlössen,  bedarf  wohl  kaum  der  Erwähnung.  — 
Bezeichnend  ist  auch  die  Artikulation  der  zweiten  Reihe:  Herr  B. 
und  Herr  F.  gliederten  sie  mit  Hilfe  der  Zeichen  » f «  und  » « , 
also  der  V.  und  IX.  Stelle,  —  Herrn  Dr.  W.  hatten  entsprechende 
Dienste  geleistet  Stelle  V  und  VTH,  die  Zeichen  »f «  und  »P«. 
Allen  drei  übrigen  Vp.  hatte  wiederum  die  Vü.  Stelle  zur  Glie- 
derung und  besseren  Orientierung  verholfen,  das  Zeichen  »h1«- 
Also  hatten  sich  bei  Erlernung  der  zweiten  Zeichenserie  zwei 
Gruppen  gebildet,  —  Lerner  mit  Zweiteilung  und  solche  mit  Drei- 
teilung, —  man  ersehe  die  Wirkung  aus  folgenden  Zahlen  der 
Tabelle: 

Herr  B.  lernt  dreiteilig  mit  37  Lesungen  (1.  Reihe  mit  25  Lea.), 
Herr  F.  »  >    33      >        (1.    >      >    24   »  ), 

Herr  Dr.  W.  >  >    69  (1.    >       »    60    >  ). 


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Ober  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänoniene  usw.  53 


Besondere  bei  Herrn  Dr.  W.  ist  auffallend,  wie  wenig  Mehr- 
lesungen er  infolgedessen  braucht  im  Vergleich  zur  Erlernung  der 
ersten  Reihe,  —  alle  drei  Lerner  dieser  dreiteilig  verfahrenden 
Gruppe  brauchen  32  Lesungen  insgesamt  mehr  als  bei  der  weniger 
schwierigen  Reihe. 

Die  andere  Gruppe  —  Lerner  mit  Zweiteilung  —  weist  fol- 
gende Zahlen  auf  : 

Herr  Br.:        53  Lesgn.,  gegenüber  26  Lesgn.  bei  der  1.  Reihe 

Herr  Prof.  M. :  75  >  48 

Frl.  S.:  61  43     »       »  * 

Sie  brauchte  hiernach  also  50  Lesungen  mehr  als  die  vorge- 
nannte Gruppe  für  die  schwierigere  Reihe,  —  wir  werden  noch  ein- 
mal genauer  auf  die  Gründe  des  Vorteils  des  fraktionierenden 
Verfahrens  eingehen  müssen,  sobald  wir  mehr  Unterlagen  für 
die  Beurteilung  desselben  bei  der  » Einübung«  gewonnen  haben. 

Konstruierend  oder  genetisch  verfuhren  weiter  alle  Vp., 
indem  sie  auf  der  Stufe  des  S.  44  charakterisierten  apperzipie- 
renden  Lesens  sich  die  Relationen,  bzw.  die  Konstruktion  der 
Zeichenelemente  durch  Urteile  klarmachten,  —  also  z.  B.  gleich 
die  ersten  drei  Zeichen  der  ersten  Reihe  so  erlernten,  daß  sie 
sich  diese  so  voneinander  abhängig  dachten:  Beim  I.  Zeichen 
bewegt  sich  der  linke  Kopf  erst  nach  der  Mitte  der  Vertikalen, 
dann  nach  dem  unteren  Ende;  nunmehr  ist  es  leicht,  zum 
obigen  Zeichen  sich  das  zweite  und  dritte  hinzuzudenken,  — 
also  »•(«  und  «J«. 

Dieses  Verfahren  scheint  nun  wohl  zum  dritten  allgemein  wahr- 
nehmbaren ganz  von  selbst  zu  veranlassen,  —  zum  motorischen. 
Alle  Vp.  verfuhren  besonders  auf  der  erwähnten  Stufe  des  apper- 
zipierenden  Lesens,  sodann  gegen  Schluß  hin,  also  beim  antizipie- 
renden und  kontrollierenden  Lesen  so,  daß  sie  (wenn  auch  oft  nur 
schwache)  Bewegungen  auaführten ;  z.  B.  fühlte  sich  Herr  Prof.  M. 
in  den  Händen  nur  »dazu  geneigt«,  doch  meint  er  »zeichnende 
Bewegungen  in  der  Augenmuskulatur«  verspürt  zu  haben.  Die 
andern  Vp.,  besonders  Frl.  S.,  Herr  Br.  und  Herr  Dr.  W.,  dessen 
Fall  schon  erwähnt  wurde,  beobachteten  an  sich  deutlich  die  Ge- 
neigtheit zu  muskulärer  Mitbetätigung  und  gaben  derselben  mehr 
oder  weniger  nach.     Herr  Br.  gibt  zu  Protokoll  an,  daß  er 


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54 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann. 


vermutet,  das  kinästhetische  Element  »vikariere«  für  das  hier  aus- 
geschaltete auditive  Element. 

Überdies  griffen  auch  logisch-deutende  Momente  in  den  hier 
zu  erörternden  Lernprozeß  ein,  —  das  Protokoll  führt  stichproben- 
weise folgende  Belege  hierfür  an: 

a.  » y «  =  gedeutet  als  »T«  der  Antiquaschrift  (Herr  B.,  Frl.  S.) 

oder  als  »Nagel«  (Herr  F.), 

b.  »J«  =  gedeutet  als  »S«  der  Antiqua  (Herr  B.,  Frl.  S.), 

c.  >«^c  s=a      »        »     Pluszeichen«  (Herr  F.), 

d.  >Y«=      »  *  »Becher«,  »Trinkschale«  (Herren Br., F.), 

e.  »'p»  =      *  »  »Anker«,  »Armbrust«  (dieselben!), 

f.  »t^«  =      >        »    »halbe  5«  (von  sämtlichen  Vp.) 

usw.  usw. 
Was  endlich  die  Reproduktionsform  anlangt,  so  trat  hier  erst- 
malig die  Erscheinung  auf,  daß  sämtliche  Vp.  die  beiden  Reihen 
»rückläufig«  reproduzierten,  indem  sie  nämlich  auf  dem  Papier- 
streifen, auf  dem  sie  die  gelernten  Formen  schließlich  nieder- 
zeichneten, nach  den  ersten  4 — 7  Zeichen  die  letzten  4—5  Zeichen 
vermerkten,  —  die  mittlere  Lücke  schloß  sich  zögernd;  Frl.  S. 
begann  sogar  die  Reproduktion  der  zweiten  Reihe  mit  der  Auf- 
zeichnung der  letzten  4  Zeichen.  Sämtliche  psychologisch  geschulte 
Vp.  bemerkten  hierzu,  daß  der  »Nachbildcharakter«  der  letzten 
Eindrücke  dadurch  zum  Ausdruck  gelange. 

Zum  Schlüsse  der  Besprechung  der  IX.  Versuchsreihe  stellen 
wir  noch  ähnlich  wie  bei  Diskussion  der  VHI.  Versuchsreihe,  S.  47, 
zur  besseren  Verdeutlichung  des  in  erster  Hinsicht  gesuchten 
Status  quo  ante  für  jede  Vp.  folgende  Berechnung  an:  Zu  den 
24  hier  zu  memorierenden  Zeichen  beider  visueller  Reihen  brauchten 
für  Erlernung,  bzw.  Wiedererlernung 

Herr  B.  62  Lesungen,  bzw.  25, 

>    Br.  79        >  >  12, 

F.  57  »20, 

»    Prof.  M.  123  >  17, 

Frl.  S.  104  -  15, 

Herr  Dr.  W.    129        »  »  10. 

(Bei  Herrn  Dr.  W.  wird  das  Resultat  der  ersten  Lernung  als  maß- 
gebend betrachtet,  da  sich  bei  der  zweiten  Lernung  der  Übungseffekt 
usw.  schon  zu  stark  geltend  macht.) 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  55 

Auf  dieser  Anfangsstufe  brauchten  also  für  Erfassung  eines 
einzigen  Zeichens  bei  Erlernung,  bzw.  Wiedererlernung 

Herr  B.  2,58  Lesungen,  bzw.  1,04, 


Herr  Br.  3,25  »  »  0,50, 

Herr  F.  2,37  »  »  0,83, 

Herr  Prof.  M.  5,12  >  »  0,708, 

Frl.  S.  4,33  >  »  0,62, 

Herr  Dr.  W.  5,37  >  »  0,41. 


Das  Mittel  aus  diesen  beiden  Zifferkolumnen  wollen  wir  fest- 
halten als  kürzesten  Ausdruck  für  die  durchschnittliche 
Leistung  der  Gedächtnisfunktion  unserer  Vp.  am  Anfang 
unserer  Untersuchung;  es  beträgt,  auf  ein  Zeichen  als 
Norm  bezogen, 

bei  der  Neuerlcrnung      3,83  Lesungen 
und  »     >  Wiedererlernung  0,68 

Erinnern  wir  uns  der  S.  47  analog  gewonnenen  Norm  für  eine 
Silbe,  so  ergibt  sich  ein  Wert  zur  quantitativen  Bestimmung  der 
größeren  Schwierigkeit  des  Erlernens  visueller  Zeichen,  —  sie 
beträgt  für 

erstmaliges  Erlernen      81,37  % 
und  für  Wiedererlernen  38,77 

Werte,  die  zugleich  erkennen  lassen,  warum  visueller  Stoff  im 
Laufe  dieser  Untersuchung  regelmäßig  Unlust  bei  den  Vp.  er- 
regte. 

X.  Versuchsreihe. 

In  dieser  Versuchsreihe  sollte  noch  das  Gedächtnis  für  fremd- 
sprachliche Vokabeln  vor  der  einseitig -mechanischen  Einübung 
kontrolliert  werden.  Wir  wählten  dabei  italienische  Vokabeln,  weil 
diese  relativ  am  wenigsten  für  die  Vp.  geläufig  waren  und  außer- 
dem nur  geringe  Aussprachschwierigkeiten  bieten.  Auch  hier 
gaben  wir  den  Stoff  in  zwei  Serien:  von  den  70  zu  lernenden 
Vokabeln  teilten  wir  der  ersten  30,  der  andern  40  zu  und 
schrieben  dieselben  auf  einen  Streifen  Papier.  Die  Vp.  versuchten 
dieselben  nach  dem  G.-Verfahren  derart  zu  lernen,  daß  sie  die 
deutschen  Worte  und  ihre  italienische  Bezeichnung  ebenso 
streng  sukzessiv  halblaut  vorlasen,  wie  etwa  die  Silben  der 


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56 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphknomene  usw.  57 


IX.  Versuchsreihe.  Allerdings  wurden  ohne  den  Gebranch  des 
Kymographions  die  Erlernungszeiten  weniger  regelmäßig,  doch  lag 
gerade  in  dem  dabei  hervortretenden  individuell  verschiedenen 
Tempo  ein  psychologisch  und  pädagogisch  wichtiges  Moment,  wir 
meinen  den  Einfluß  der  Lerngeschwindigkeit  auf  das  Lernen.  In 
den  70  Vokabeln  waren  vertreten  Substantiva,  Verba,  Adjektiva, 
Adverbia  und  Numeralia.  Je  20  %  der  gebotenen  Vokabeln  waren 
derart  ausgewählt,  daß  sie  Reminiszenzen  an  die  lateinische  oder 
französische  Sprache  wachrufen  konnten,  z.  B.  salce  (salix),  probo 
(probus),  ossutofos),  agnello  (agnus)  usw.  Die  Prüfung  der  Er- 
lernung erfolgte  nach  dem  bereits  bei  der  V.  Versuchsreihe  beobach- 
teten Trefferverfahren,  indem  das  deutsche  Wort  als  Reizwort  zu- 
gerufen wurde,  das  italienische  von  der  Vp.  zu  ergänzen  war, 
wobei  die  beim  Erlernen  beobachtete  Folge  genau  innegehalten 
wurde.  Der  Versuchsleiter  kontrollierte  und  notierte  nach  einer 
Sekundenuhr  die  Zeit,  welche  die  Vp.  zur  Erlernung  gebrauchte, 
desgleichen  diejenige  für  die  Wiedererlernung. 

Wir  betrachten  zunächst  die  Zahlen,  in  welchen  das  Haupt- 
resultat dieser  Versuche  niedergelegt  ist,  den  Stand  des  Gedächt- 
nisses für  Vokabeln  vor  den  Einübungsversuchen.   Es  brauchten 
für  Erlernung,  bzw.  Wiedererlernung  der  insgesamt  70  Vokabeln 
Herr  B.         16  Lesungen,  bzw.  2  Lesungen 
Herr  Br.        19  >  7 

Herr  F.         17        *  >  4 

Herr  Prof.  M.  22       »  >  2 

Frl.  S.  27  »  6 

Herr  Dr.  W.   14       »  .3 
Gehen  wir  trotz  der  zu  erwartenden  Bruchgrößen  auch  hier 
auf  eine  Vokabel  als  Grundmaß  zurück,  so  brauchten  zur  Erler- 
nung, bzw.  Wiedererlernung  dieser  einen  Vokabel 

Herr  B.         0,228  Lesungen,  bzw.  0,028  Lesungen 
Herr  Br.        0,271        »  »0,100 
Herr  F.  0,242        »  »  0,057 

Herr  Prof.  M.  0,314  »  >  0,028 
Frl.  S.  0,385        »  »  0,085 

Herr  Dr.  W.    0,200       .  »  0,042 

Der  Mittelwert,  mit  welchem  wir  schließlich  die  Leistungen 
im  Erlernen  von  Vokabeln  ftlr  diese  Anfangsstufe  und  für  alle 
Vp.  beziffern  können,  beträgt  also 


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58 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


für  Neuerlernung  einer  Vokabel      0,273  Lesungen 
und  »   Wiedererlernung  einer  Vokabel  0,056  > 
mithin  der  durchschnittliche  Ersparniswert  beim  Wiedererlernen 
nach  24  Stunden  0,217  Lesungen  oder  prozentual  bestimmt  79,48. 

Vergleicht  man  die  Erlernungsziffern  für  »30  Vokabeln  «  mit 
denen  für  >40  Vokabeln«,  so  bemerkt  man  die  eigenartige  Tat- 
sache, daß  der  (wie  S.  55  ausgeführt  wurde)  ziemlich  homogene 
Stoff  sich  zwar  quantitativ  nicht  unerheblich  vermehrt  hat  — 
25 %\  — ,  die  Erlernungsziffern  aber  kleiner  werden;  die  6  Vp. 
brauchten  insgesamt  64  Lesungen  zum  Erfassen  von  30  Vokabeln, 
doch  nur  51  Lesungen  (etwa  20 %  weniger!)  zum  Erfassen  von 
40  Vokabeln.  Eine  Ausnahme  macht  nur  Frl.  S.,  welche  zur  Er- 
lernung von  40  Vokabeln  14  Lesungen  statt  13  für  30  Vokabeln 
brauchte,  —  ein  Plus  also  von  7,69  %.  Welchen  Aufschluß  finden 
wir  hierüber  in  den  Protokollnotizen?  Herr  B.  bemerkt,  daß  er 
»nach  längerer  Zeit  erstmalig  wieder  Vokabeln  lerne  und  sich  erst 
einrichten  mußte«,  Herr  Br.  spricht  von  mehr  »Interesse«,  Herr  F. 
ist  »ärgerlich,  daß  er  zur  Erlernung  von  30  Vokabeln  mehr  Le- 
snngen  gebrauchte  als  sein  Freund  B.<,  dessen  Resultatziffer  er 
zufällig  erfahren  hatte;  Herr  Prof.  M.  schreibt  den  Vorgang  der 
> zentralen  Adaptation«  zu;  Frl.  S.  bemühte  sich,  schnell  fertig  zu 
werden  wegen  einer  nahe  gerückten  Vorlesung;  Herr  Dr.  W.  be- 
merkt etwas  von  »Anpassung«. 

Alle  diese  Aussagen  zeigen,  daß  der  Fortschritt  bei  den  fünf 
männlichen  Arbeitstypen  auf  sehr  verschiedenartigen  Bewußtseins- 
vorgängen beruht.  Es  handelt  sich  dabei  teils  um  Anpassung  und 
Anregung,  teils  auch  bereits  um  Übung.  Bei  Frl.  S.  scheint  sich 
die  weibliche  Eigenart  in  der  steigenden  Wiederholungszahl  bei 
zunehmender  Reihenlänge  zu  verraten. 

Übrigens  zeigten  sich  auch  hier  wieder  mit  aller  nur  wünschens- 
werten Deutlichkeit  die  erstmalig  von  uns  bei  der  VHI.  Versuchs- 
reihe gekennzeichneten  Einzelphasen  des  Lesungs-  bzw.  Er- 
lernungsprozesses,  nur,  daß  das  Rhythmisieren  auf  der  dritten 
Stufe  ein  »unregelmäßiges«  wurde,  —  es  war  mehr  ein  akzen- 
tuierendes und  isolierendes  Lesen,  z.  B.  isolierte  Herr  Prof.  M. 
auf  dieser  Stufe  durch  starke  Akzente  die  Wörter  der  30  Vokabeln- 
Reihe:  garbato,  battitojo,  combiato,  zeba. 

Letzteres  Wort  bot  auf  der  vorhergehenden  Stufe  Herrn  Dr.  W. 
assoziative  Hilfe  durch  seine  Klangähnlichkeit  mit  »Zebra«,  — 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  59 

ebenso  >daga<  durch  seine  Ähnlichkeit  mit  dem  damals  vielge- 
nannten Kamen  »Draga«  oder  »vaja«  durch  Ähnlichkeit  mit  >Vieh«. 
Außerdem  fanden  die  meisten  Vp.  die  Anklänge  des  Italienischen 
an  das  Lateinische  oder  Franzosische  bald  heraus  und  empfanden 
dieses  Wiedererkennen  als  assoziativ  und  emotionell  förderlich. 

Auf  der  Stufe  des  antizipierenden  Lesens  tauchte  bei  Herrn  Br. 
and  Herrn  B.,  vereinzelt  auch  bei  Frl.  S.,  das  visuelle  Bild  des 
» nächsten  c  italienischen  Wortes  mit  auf,  sobald  das  eine  Vokabel- 
paar ausgesprochen  wurde,  ohne  daß  zugleich  der  Sinn  des  be- 
treffenden Wortes  bewußt  war,  —  dieser  trat  erst  bei  den  letzten 
Lesungen  regelmäßig  dazu  (Stufe  des  kontrollierenden  Lesens). 

Mehrere  Vp.  empfanden  unangenehm  die  Eigenart  des  hier 
angewendeten  G.-Verfahrens,  bei  welchem  ja  z.  B.  39  schon  beim 
kontrollierenden  Lesen  als  sicher  assoziiert  befundene  Vokabeln 
noch  einmal  mitgelesen  werden  müssen,  um  des  an  irgendeiner 
Stelle  noch  befindlichen  unsicheren  40.  Wortes  willen,  —  es  be- 
durfte sogar  ernstlicher  Vorstellungen  und  dringender  Bitten  bei 
Herrn  F.,  um  ihn  zu  bewegen,  zweier  unsicherer  Vokabeln  halber 
die  andern  sicheren  38  Vokabeln  noch  einmal  mitzulesen  und  sich 
von  dem  Vorurteil  zu  befreien,  daß  das  G.- Verfahren  »pedan- 
tisch« sei. 

Die  Probe  auf  die  Brauchbarkeit  des  G.-Verfahrens  für  Vokabeln- 
lernen wurde  noch  durch  einen  Extraversuch  gemacht,  dem  sich 
Herr  Prof.  M.  unterzog.  Die  ziffernmäßigen  Ergebnisse  desselben 
sind  des  besseren  Gegenüberstellens  wegen  in  die  Tabelle  der 
X.  Versuchsreihe  mit  eingetragen.  Gegenstand  des  Spezialversuchs 
war  die  Erprobung  eines  Vermittlungsverfahrens  an  40  deutsch- 
italienischen Vokabeln.  Diese  las  Herr  Prof.  M.  wie  sonst  halb- 
laut zunächst  nach  dem  G.-Verfahren  durch  bis  an  die  Stufe  des 
kontrolüerenden  Lesens,  —  er  gebrauchte  hierzu  11  Lesungen; 
bei  der  12.  Ganzlesung  strich  er  sich  diejenigen  Wörter  an,  welche 
ihm  noch  nicht  geläufig  genug  erschienen,  —  es  waren  folgende 
acht:  rugiada,  temporale,  ciottolo,  sorgente,  Talbero,  bisaccia,  ri- 
paro,  Tassalto.  Diese  8  Vokabeln  las  er  noch  dreimal  für  sich 
durch,  worauf  er  sich  nach  dem  bereits  gekennzeichneten  abfra- 
genden Verfahren  prüfen  ließ,  und  zwar  erfolgte  die  Reproduktion 
aller  40  Vokabeln  nunmehr  völlig  einwandfrei.  Der  Versuch  fand 
nur  zwei  Tage  später  statt,  —  Herr  Prof.  M.  war  günstig  dispo- 
niert. —  es  kommt  vielleicht  auch  ein  minimaler  fördernder 


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ISO 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Einfluß  der  bei  den  täglichen  Versuchen  konstant  fortschreitenden 
Übung  hinzu,  und  trotz  alledem  fanden  zwei  Totallesungen  und 
drei  Partiallesungen  mehr  statt  als  zwei  Tage  vorher  bei  dem 
Lernen  nach  der  G.-Methode.  Freilich  hätten  erst  vielfache  Wieder- 
holungen solcher  Vergleichsversuche  stattzufinden,  ehe  für  das  hier 
angewandte  Lernmaterial  ein  Entscheid  Uber  das  ökonomischere 
Verfahren  getroffen  werden  kann. 

XL  Versuchsreihe. 

Der  Zweck  dieser  Versuchsreihe  war,  quantitativ  zu  bestimmen, 
wie  groß  im  gegenwärtigen  Stadium  der  Untersuchung  die  Fähig- 
keit der  Vp.  sei,  speziell  Gedichtstrophen  zu  memorieren.  Den 
Stoff  hierfür  entnahmen  wir  Schillers  Übersetzung  des  zweiten 
Buchs  der  Aneide  (»Zerstörung  von  Troja«),  also  derselben  Dich- 
tung, die  uns  schon  das  Gedächtnismaterial  für  die  VI.  Versuchs- 
reihe geboten  hatte  (Tod  Laokoons,  Öffnung  der  Mauer  zur  Auf- 
nahme des  trojanischen  Bosses).  Der  Stoff  wurde  gedruckt  vor- 
gelegt und  jede  Vp.  dahin  instruiert,  die  bisher  befolgte  G.-Methode 
auch  hier  innezuhalten.  Der  Versuchsleiter  notierte  nach  der  Se- 
kundenuhr die  jeweils  Air  eine  Erlernung,  bzw.  Wiedererlernung 
nötige  Zeit. 

Im  ursprünglichen  Plan  der  Untersuchung  war  festgesetzt  wor- 
den, jeder  Vp.  vier  achtzeilige  Strophen  zum  Memorieren  zu  unter- 
breiten, und  tatsächlich  unternahm  es  Herr  B.,  die  Strophen  37 — 40 
sich  nach  der  G.-Methode  einzuprägen.  Wie  aus  der  beigegebenen 
Tafel  ersichtlich  ist,  brauchte  er  dazu  62  Minuten,  von  denen  frei- 
lich 16  auf  vier  Pausen  (zu  4  Minuten)  entfallen,  deren  erste  nach 
der  19.  Lesung  eingeschoben  wurde,  die  sich  aber  naturgemäß 
gegen  das  Ende  der  Erlernung  hin  in  kürzeren  Intervallen  folgten, 
nämlich  nach  der  28.,  32.  und  36.  Lesung.  Da  nach  dieser  Probe 
vorauszusehen  war,  daß  unter  Umständen  noch  größere  Erlernungs- 
zeiten auftreten  dürften,  —  vor  allem  aber  noch  weit  intensivere 
Unlust  und  Ermüdung,  als  sie  bei  Herrn  B.  nach  dieser  Gedulds- 
probe sich  geltend  machten,  so  sahen  wir  uns  im  Interesse  der 
Untersuchung  genötigt,  den  Memorierstoff  um  50  #  zu  verringern. 

Alle  Vp.  erklärten,  daß  ihnen  das  Erlernen  von  Gedichten 
seit  Jahren  etwas  recht  Ungewohntes  sei;  vor  allem  fiel  es  Frl.  S., 
trotz  des  besonderen  Interesses,  das  sie  der  Untersuchung  ent- 
gegenbrachte, nicht  leicht,  sich  in  die  Sprachformen  Schillers  zu 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänoniene  usw.  61 


finden,  zumal  da  ihre  Muttersprache  Kussisch  ist.  Sie  brauchte 
denn  auch  rund  50 #  Lesungen  mehr  als  das  Gros  der  Vp., 
eine  Ziffer,  die  nebenbei  bemerkt  bei  einer  andern  Dame  aus 
Russisch-Polen  sich  noch  bis  zum  Doppelten  steigerte,  da  bei  ihr 
die  emotionellen  Hilfen  des  Interesses  ungleich  geringer  waren. 
Gemeint  ist  das  Resultat  bei  Frl.  Blank,  welche  sich  noch  bis 
zur  folgenden  Versuchsreihe  als  Vp.  mit  betätigte.) 

Ahnlich  wie  Fräulein  S.  bekundeten  auch  die  übrigen  Vp. 
spontan,  daß  ihnen  der  poetische  Memorierstoff  »angenehm«  sei 
(Herr  F.),  —  daß  »er  lebhafte  Lustgefühle  im  Gegensatz  zu  den 
meisten  bisherigen  Gedächtnismaterialien  auslöse«  (Herr  Dr.  W.), 
daß  »er  stark  zu  dem  verdrießlichen  Silbenmaterial  kontrastiere 
und  bewirke,  daß  die  Schönheit  der  Dichtung  doppelt  und  drei- 
fach verspürt  werde«  (Herr  B.).  Daneben  wird  freilich  Herr  Prof.  M. 
ein  wenig  irritiert  von  der  »Künstelei«  in  dem  grammatischen  Auf- 
bau einiger  Partien  der  Dichtung,  was  sich  erkennbar  in  seiner 
Erlernungsziffer  ausprägt.  —  Alle  Vp.  gaben  ferner  zu  Protokoll, 
daß  die  1.  Strophe  sich  nicht  so  leicht  lernen  lasse  als  die  2.,  — 
Fräulein  S.  glaubt  die  Ursache  hiervon  in  der  minder  sinnfaßlich- 
anschaulichen  Darstellung  suchen  zu  müssen.  Merkwürdigerweise 
kamen  aber  beim  Aufsagen  nur  Fehler  als  sogenannte  »Ver- 
sprechungen« vor  in  der  als  »leicht«  bezeichneten  2.  Strophe, 
welche  sich  mit  einer  gewissen  Zähigkeit  sogar  noch  beim  Wieder- 
erlernen nach  24  Stunden  bemerklich  machten  (Herr  Dr.  W., 
Herr  Br. ,  Frl.  S.),  ja,  deren  Wiederauftauchen  direkt  als  Wieder- 
erlernungshindernis  empfunden  wurde  (Herr  Prof.  M.). 

Mit  bemerkenswerter  Schärfe  und  Deutlichkeit  traten  die  Er- 
lernungsstufen hier  hervor,  wo  der  Stoff  ungleich  weniger 
mechanisch  zu  erfassen  war  als  der  zumeist  bis  jetzt  gebotene. 
Die  Stufe  des  apperzipierenden  Lesens  verfolgte  der  Versuchsleiter 
speziell  bei  Herrn  F.  mit  der  Sekundenuhr.  Während  die  2.  aller 
der  10  für  diese  Vp.  nötigen  Ganzlesungen  1  Min.  2  Sek.  gedauert 
hatte,  war  die  4.  und  5.  Lesung  langgedehnt  bis  auf  1  Min.  20  Sek., 
bzw.  1  Min.  22  Sek.,  dann  folgte  die  6.  Lesung  mit  1  Min.  9  Sek., 
dann  eine  stärkere  Beschleunigung  (Stufe  des  vorwiegend  rhyth- 
mischen Lesens)  bei  der  7.  und  8.  Lesung,  wozu  nur  55,  bzw. 
52  Sek.  nötig  waren,  —  schließlich  das  antizipierende  und  kon- 
trollierende Lesen  bei  der  9.  und  10.  Lesung  wieder  in  etwas  ver- 
langsamtem Tempo  mit  einer  Dauer  vou  1  Min.  3  Sek.,  bzw. 


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Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungephänomene  usw.  63 


1  Min.  6  Sek.,  —  endlich  die  Aufsagung  selbst  mit  einer  Dauer 
von  58  Sek.  (Ähnliche  Beobachtungen  verzeichnet  das  Protokoll 
bei  Herrn  Br.  und  Frl.  S.). 

Letztgenannte  zwei  Vp.,  dazu  Herr  B.,  äußern  während  der  Er- 
lernung, daß  es  durchaus  nötig  sei,  sich  den  geschilderten  Vorgang 
anschaulich  zu  machen,  ihn  also  nicht  nur  in  seiner  Sprachform 
korrekt  zu  erfassen,  —  diese  fände  sich  vielmehr  von  selbst,  so- 
bald einzelne  dominierende  Stellen  »da«  wären.  Beispielsweise 
folgten  stets  aufs  leichteste  nach  der  adverbialen  Bestimmung  »und 
auf  der  Walze  künstlichen  Wogen«  die  folgenden  Worte  > rollt  es  da- 
bin von  Strängen  fortgezogen ;  verderbenträchtig,  schwanger  mit  dem 
Blitz  der  Waffen,  rollt's  in  Priams  Königssitz«.  Auch  Herr  Dr.  W. 
beobachtete  ähnliches;  sobald  er  sich  nur  auf  »verderbenträchtig« 
besonnen  hatte,  war  das  Folgende  mit  Leichtigkeit  zu  reprodu- 
zieren, —  die  Aufmerksamkeit  wird  entlastet,  der  Ablauf  der  Vor- 
stellungen erscheint  nach  richtiger  Reproduktion  des  dominierenden 
Passus  einfach  automatisch. 

Übrigens  unterzog  sich  Herr  Prof.  M.  am  folgenden  Tage  einem 
Vergleichsversuch,  bei  welchem  nicht  die  G. -Methode,  sondern  eine 
vermittelnde  zur  Anwendung  gelangte.  Bei  diesem  Verfahren  las 
Herr  Prof.  M.  die  nächstfolgenden  zwei  Gedichtstrophen  zunächst 
zwölfmal  ganz  durch,  las  dann  die  für  ihn  schwierigen  ersten  drei 
Zeilen  noch  viermal  separat  durch  (»Und  hoch  beglückt,  den 
Strang  berührt  zu  haben  —  verehrte  Last«)  und  sodann  das  Ganze 
noch  einmal,  worauf  die  einwandfreie,  fließende  Wiedergabe  mög- 
lich war.  Vergleicht  man  die  Erlernungszahlen  für  den  nach  der 
6. -Methode  erlernten  Stoff  und  den  nach  der  eben  bezeichneten 
Vermittlungsmethode  gelernten,  so  scheint  ein  kleiner  Vorteil  bei 
der  letzteren  zu  liegen;  doch  stehen  bei  der  Wiedererlernung  nach 
24  Stunden  der  einen  Lesung  beim  G. -Verfahren  3  Lesungen  gegen- 
über, welche  nötig  waren,  um  das  beim  Vermittlungsverfahren  um 
ein  Minimum  schneller  Erlernte  wiederzulernen. 

Fassen  wir  die  ziffernmäßigen  Resultate  der  XI.  Versuchsreihe 
in  Mittelwerte  zusammen  —  wobei  also  das  Resultat  von  Herrn  B. 
auszuschalten  ist  — ,  bo  ergibt  sich,  daß  die  übrigen  fünf  Vp. 
insgesamt  nötig  hatten 

für  Erlernung  der  zwei  Strophen:  61  Lesungen 
und  »  Wiedererlernen  derselben:      12  » 


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Ernst  Ebert  und  E.  Menmann, 


Durchschnittlich  brauchte  also  auf  diesem  Niveau  ihrer  Ge- 
dächtnisfunktion jede  Vp. 

zur  Neuerlernung  12,2  Lesungen  J  Mittlere  Ersparnis  also 
und    >  Wiedererlernung   2,4       >        I  9,8  Les.  oder  80,32  % . 

Suchen  wir  einen  Mittelwert  für  jede  Vp.  einzeln  zu  gewinnen, 
indem  wir  wie  bei  den  drei  vorhergehenden  Versuchsreihen  auf 
die  kleinste  konstante  Einheit  zurückgehen,  so  müssen  wir  hier 
bei  dem  poetischen  Stoff  als  solche  ansehen  die  metrische  Einheit 
der  Gedichtzeile,  deren  jedes  bei  den  drei  »Schnitten«  verwen- 
dete Pensum  16  aufwies.  Zur  Einprägung  einer  solchen  Gedicht- 
zeile brauchte 

Herr  Br.        0,62  Lesungen,  zur  Wiedererlernung  0,12  Lesungen 
»    F.         0,62       >  >  .  0,12 

»    Prof.  M.  0,93      >  >  .  0,06 

Fräulein  S.    0,93       »  >  >  0,25 

Herr  Dr.  W.  0,68       >  »  >  0,18 

Setzen  wir  den  entsprechenden  Wert  für  Herrn  B.  noch  mit 
hierher  um  der  Vollständigkeit  und  des  Vergleiches  willeu,  so 
beträgt  er  1,21  für  die  Neulernung  und  0,05  für  die  Wiedererler- 
nung einer  der  von  ihm  bewältigten  32  Zeilen.  Auch  hier  zeigt 
sich  wieder,  daß  der  Aufwand  an  Wiederholungen  laugsamer 
wächst  als  das  Arbeitspensum.  Aus  obiger  Zahlenreihe  ergibt  sich, 
daß  durchschnittlich  nötig  waren 

für  Erlernung  einer  Gedichtzeile  0,76  Lesungen 

und  »   ihre  Wiedererlernung  nach  24  Stunden  0,14  » 

Aus  letzterer  Größe  ergibt  sich  als  durchschnittlicher  Ersparniswert 
81,33  %. 

Setzt  man  vergleichshalber  die  betr.  Werte  für  Herrn  B.  noch 
in  die  Berechnung  mit  ein,  so  verschiebt  sich  das  Bild  folgender- 
maßen: Für  Neu-  bzw.  Wiedererlernung  einer  Gedichtzeile  er- 
scheinen dann  nötig  im  Durchschnitt 

0,83,   bzw.  0,13  Lesungen, 
der  mittlere  Ersparniswert  steigt  hiernach  auf  84,33  % . 

XII.  Versuchsreihe. 

Mit  dieser  Versuchsreihe  fand  die  Aufnahme  des  Ausgangs- 
stadiums  des  Gedächtnisses  unserer  Vp.  ihren  Abschluß.  Ihr 
Gegenstand  war,  zu  untersuchen,  wie  groß  anfanglich  bei  ihnen 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  rbungsphänoinene  usw.  65 

speziell  die  Fähigkeit  war,  philosophische  Prosa  sich  wort- 
getreu einzuprägen.  Das  Lernmaterial  entnahmen  wir,  wie 
schon  bei  der  VII.  Versuchsreihe,  der  Schrift  Lockes  Ȇber  den 
menschlichen  Verstand«,  Ubersetzt  von  Kirchmann,  und  zwar  um- 
faßte es  dort  genau  20  Druckzeilen,  welche  auf  einem  Blatt  Papier 
kalligraphiert  den  Vp.  vorgelegt  und  von  diesen,  wie  üblich,  nach 
dem  G. -Verfahren  halblaut  durchgelesen  wurden.  Die  zu  lernende 
Stelle  lautete: 

»Wenn  die  Seele  die  Vorstellung  von  der  Länge  einer  gewissen 
Ausspannung  erlangt  hat,  mag  es  eine  Spanne  oder  ein  Schritt  oder 
sonst  eine  sein,  so  kann  sie,  wie  gesagt,  diese  Vorstellung  wieder- 
holen und  so  durch  Vermehrung  diese  Vorstellung  vergrößern  und  sie 
zwei  Spannen  oder  Schritten  gleichmachen  und  dies  so  oft  wiederholen, 
bis  die  Länge  der  Länge  irgendeines  Abstand  es  auf  der  Erde  gleich- 
kommt und  so  wächst,  bis  sie  den  Abstand  von  der  Sonne  oder  von 
den  entferntesten  Sternen  erreicht.  Bei  einem  solchen  Fortgang,  ent- 
weder von  dem  eigenen  Standort  oder  von  jedem  andern,  kann  man 
weiterschreiten  und  Uber  all  diese  Längen  hinausgehen,  ohne  daß  man 
dabei  durch  etwas  gehindert  wird,  und  zwar  sowohl  mit  einem  Körper 
wie  ohne  solchen.  Man  kann  zwar  leicht  in  Gedanken  an  das  Ende  der 
körperlichen  Ausdehnung  gelangen,  und  es  ist  nicht  schwer,  an  da« 
Ende  und  die  Grenze  alles  Körperlichen  zu  gelangen;  allein  von  dort 
hindert  nichts  die  Seele,  in  das  EndloBe  weiterzugehen,  und  sie  kann 
nie  das  Ende  der  Auaspannung  finden  oder  sich  vorstellen.« 

Dieser  Text  ist  für  die  Erlernung  sehr  schwierig  und  verleitete 
wegen  des  Vorkommens  ungewohnter,  etwas  veralteter  Ausdrucke 
zu  Fehlern,  indem  die  meisten  Vp.  statt  des  selteneren,  wenn 
auch  nicht  minder  anschanlichen  Ausdrucks  »Ausspannung c  das 
modernere  Wort  »Ausdehnung«  einsezten,  desgleichen  für  »Abstand« 
das  Wort  »Entfernung«  gebrauchten,  usw.  Diese  Vertauschungen 
synonymer  Ausdrücke  erhalten  sich  weit  Uber  die  Anfangsstufe 
des  orientierenden  Lesens  hinaus;  nachdem  sie  beim  meist  Wort 
für  Wort  oder  doch  wenigstens  Wortgruppe  für  Wortgruppe  vor- 
schreitenden, durch  auffalliges  Retardieren  kenntlichen  apperzipie- 
renden  Lesen  und  der  folgenden  Stufe  des  eigentlich  einübenden 
Lesens  fast  gänzlich  unterdrückt  waren,  tauchten  sie  bei  den  ab- 
schließenden Stufen  der  Erlernung,  beim  antizipierenden  und  kon- 
trollierenden Lesen,  wieder  häufiger  auf.  So  erhielten  sich  z.  B. 
bis  zum  Aufsagen,  bei  dem  sie  freilich  durch  sofortige  Selbst- 
korrektur gleichsam  ungeschehen  gemacht  zu  werden  suchten, 
folgende  Vertauschungen :  Herr  B.  sagte  kontinuierlich  für  »von 
jedem    andern«   (Standort)   »von  irgendeinem  andern«,  —  in 

Archi?  für  P«jchologi*.   IV.  6 


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Ober  einige  Grandfragen  der  Psychologie  der  Übnnggphänomene  usw.  67 


demselben  Passus  setzte  Fräulein  S.  beharrlich  »Standpunkt«  an 
die  Stelle  von  »Standort«,  —  kurz  vorher  vertauschte  Herr  Dr. 
W.  bei  nahezu  allen  Lesungen  das  Wort  »Sternen«  mit  »Planeten«. 
—  Ahnlich  erhielten  sich  auch  Weglassungen  bis  zum  Auf- 
sagen, z.  B.  ließ  Herr  Br.  permanent  im  ersten  Satz  weg  »und  so 
durch  Vermehrung  diese  Vorstellung  vergrößern«, —  Herr  Prof.  M. 
hatte  ganz  dieselbe  Mühe  mit  der  Einschaltung  »nnd  zwar  sowohl 
mit  einem  Körper  wie  ohne  solchen«.  Alle  Vp.  bekundeten,  daß 
diese  Schwächen  der  Erlernung  an  sogenannten  »leichten«  Stellen 
vorkamen,  —  also  an  Stellen,  auf  welche  sich  die  Aufmerksam- 
keit nur  sekundär  richtete,  da  sie  —  siehe  Protokoll notiz  bei 
Herrn  Dr.  W.,  Herrn  Br.  und  Herrn  F. !  —  primär  beansprucht  wurde 
von  den  dominierenden  Stellen  des  Memorierstoffes.  Herr  F.,  der 
diesen  Versuchen  mit  philosophischer  Prosa  ein  ganz  besonderes 
Interesse  entgegenbrachte  und  wohl  zum  Teil  gerade  deshalb  die 
» besten c  Erlernungen  erzielte,  äußerte  sich  dahin,  daß  er  glaube, 
man  werde  um  so  eher  »frei«  vom  Blatt  und  »könne  um  so  ökono- 
mischer derartige  Materien  erlernen,  je  mehr  es  gelinge,  die  beherr- 
schenden Stellen  herauszufinden,  von  denen  aus  sich  das  Übrige  als 
Füllwerk  zwischen  den  tragenden  Pfeilern  von  selbst  ergibt,  — 
auch  hinsichtlich  der  letzten  Details  der  Sprachform«.  Er  sowohl, 
wie  auch  Herr  B.  und  Herr  Br.  halten  diese  »tragenden  Pfeiler« 
für  ziemlich  identisch  mit  denjenigen  Stellen,  welche  beim  aus- 
drucksvollen Sprechen  durch  besonderes  Modulieren  und  Akzen- 
tuieren hervorgehoben  werden,  —  sogar  durch  ein  gewisses  Pathos; 
Übrigens  ist  auch  laut  Protokoll  Herr  Dr.  W.  auffällig  bemüht 
gewesen,  sich  durch  ausdrucksvolles  Sprechen  und  schärfstes  Heraus- 
heben des  Sinnes  durch  die  Betonung  zu  unterstutzen;  obwohl 
Herr  Dr.  W.  die  relativ  schnelle  Erlernung  in  allererster  Linie 
dem  Umstand  zuschreibt,  daß  er  seit  geraumer  Zeit  nie  eine  Ge- 
dächtnishilfe in  seinen  Vorlesungen  benutzt,  so  darf  man  wohl  an- 
nehmen, daß  bei  ihm  wie  auch  bei  den  andern  oben  bezeichneten 
Vp.  starke  positiv-emotionelle  Hilfen  gesetzt  waren,  und  daß  an- 
scheinend speziell  für  ProsastUcke  das  rhetorische  Element  die- 
selben fördernden  Dienste  leistet  wie  das  rhythmische  bei  sinnlosen 
Stoffen.  Versuchsleiter  ist  zu  dieser  Annahme  um  so  mehr  geneigt, 
als  er  während  seiner  siebzehnjährigen  Schulpraxis  zahlreiche  ent- 
sprechende Erfahrungen  sammeln  konnte.  Der  amtliche  Lehrplan 
seines  Schulbczirks  schrieb  fUr  jede  Stufe  des  achtjährigen  Knrsus 

5* 

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68 


Ernst  Ebcrt  und  E.  Meumann, 


das  dauernde  Einprägen  einer  kleinen  Anzahl  deutsch -sprachlicher 
MusterstUcke  vor,  welche  im  Unterricht  selbst  zu  memorieren  waren. 
Um  des  Prinzips  größtmöglicher  Selbsttätigkeit  der  Schiller  willen 
verfuhr  Versuchsleiter  dabei  mitunter  so,  daß  er  den  jeweiligen  Teil 
des  Pensums,  den  er  für  eine  gewisse  Lektion  bestimmt  hatte,  von 
einem  Schiller  vorlesen  ließ,  der  sich  durch  musterhaftes  Sprechen 
auszeichnete.  Die  übrigen  Schüler  hatten  das  Buch  geschlossen 
und  sprachen  das  (Übrigens  vorher  explikativ  behandelte)  Pensum 
einzeln  oder  im  Chore  nach  bis  zur  Erlernung.  Hierbei  war  zu 
konstatieren,  daß  die  Memorierarbeit  um  so  glatter  und  rascher 
verlief,  je  mehr  es  gelungen  war,  aus  der  Zahl  der  sich  zum  Vor- 
sprechen meldenden  Schüler  solche  zu  finden,  welche  in  ihrer 
Sprechart  dem  für  diese  Stufe  Erreichbaren  möglichst  nahe  kamen. 
Überrascht  von  diesem  Faktum  machte  Versuchsleiter  eine  Probe 
auf  dieses  Exempel  derart,  daß  er  den  Prosastoff  in  den  folgenden 
Wochen  auf  die  Wandtafel  schrieb  und  die  korrekte  Betouung  in 
der  einen  Lektion  mit  Strichen  und  Zeichen  aufs  genaueste  mar- 
kierte, in  der  folgenden  diese  Hilfen  wegließ.  Der  Effekt  war  der, 
daß  die  Erlernung  regelmäßig  in  den  Stunden  müheloser  war,  in 
welchen  die  musterhafte  Betonung  auch  für  den  schwächsten 
Schüler  verständlich  markiert  war.  (Nachprüfungen  mittels  des 
Phonographen  ließen  sich  leicht  auf  diese  oder  andere  Weise  in 
jedem  Laboratorium  für  Psychologie  anstellen.) 

Ungleich  wichtiger  freilich  als  alle  bisher  erwähnten  Hilfen 
waren  für  die  Erlernung  des  Prosastoffes  diejenigen,  welche  aus 
dem  Verständnis  der  logischen  Beziehungen  stammten,  wozu 
nach  den  spontanen  Bekundungen  der  Herren  Br.  und  F.,  sowie 
von  Fräulein  S.  noch  allmählich  das  anschauliche  Vorstellen  ein- 
zelner Partien  des  Stoffes  kam. 

Die  Resultate  dieser  Versuchsreihe  sind  in  Mittelwerten,  wenn 
man  als  kleinste  konstant  bleibende  Einheit  die  einzelne  Druck- 
zeile nimmt,  die  folgenden:  Die  sechs  Vp.  brauchten  insgesamt 

für  Neuerlernung  des  Prosastoffs     175  Lesungen 
und   >   Wiedererlernung  des  Prosastoffs  36  > 

mithin  durchschnittlich  29,16  Lesungen  zum  Neuerlernen  und 
6  Lesungen  zur  Wiedererlernung  nach  24  Stunden. 

Zur  Erlernung,  bzw.  Wiedererlernung  einer  einzigen  der 
20  Druckzeilen  hatten  nötig 


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Ober  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungephknomene  usw.  69 


Herr  B.        1,8  Lesungen,  bzw.  0,6  Lesungen 


»     Br.  1,3 

>  F.  0,85 

>  Prof.M.  1,95 
Fräulein  S.  1,9 
Herr  Dr.  W.  0,95 


»  0,2 
.    0,15  > 
»  0,3 
.     0,35  . 
.  0,2 

Wir  ersehen  hieraus,  daß  auf  der  hier  erörterten  Anfangsstufe 
der  Gesamtuntersuchung  im  Mittel  zur  Erlernung,  bzw.  Wiederer- 
lernung einer  Druckzeile  erforderlich  waren 

1,45  Lesungen,  bzw.  0,3  Lesungen, 
daß  also  der  durchschnittliche  Ersparniswert  auf  dieser  Stufe 
79,31  %  beträgt. 

An  dieser  Stelle  erscheint  es  angezeigt,  auf  die  Erlernungs- 
zeiten einen  Blick  zu  werfen  (vgl.  Tabelle  XII).  Wir  greifen  ein 
paar  Stichproben  aus  den  Tabellen  heraus,  und  zwar  die  Zeiten  für 
die  Erlernungsextreme,  die  Erlernung  mit  17  und  die  mit  39  Le- 
sungen, erstere  stattfindend  in  der  Zeitspanne  von  52  Min.  15  Sek., 
letztere  mit  einem  Zeitaufwand  von  70  Min.  20  Sek.;  zur  Been- 
digung einer  einzigen  Lesung  waren  bei  der  günstigeren  Erler- 
nung nötig  3  Min.  4,41  Sek.,  im  andern  Falle  1  Min.  47,69  Sek. 
Erinnern  wir  uns  des  drastisch  belehrenden  Ergänzungsversuclis, 
den  Herr  Prof.  M.  zur  ersten  Versuchsreihe  unternahm,  und  der 
die  Wirkung  minimaler  Pausen  im  gedächtnisfbrdernden  Sinne 
dartat,  so  wird  uns  leicht  verständlich,  warum  eine  Lesung  von 
3  Min.  4,41  Sek.  Dauer  relativ  schneller  und  ökonomischer  zur 
Erlernung  fuhrt  als  eine  Lesung  von  1  Min.  47,69  Sek.  Dauer. 
Die  langsamere  Lesung  bewirkt  eine  gleichmäßigere  Verwendung 
der  Mittel,  bzw.  der  Partialfunktionen  der  Aufmerksamkeit,  —  das 
einzelne  wird  schärfer  fixiert,  und  der  Sinn  des  Ganzen  wie  der 
einzelnen  Sätze  umfassender  apperzipiert.  Daß  sich  hierzu  noch 
emotionelle  Hilfen  positiver  Art  gesellen,  darf  man  wohl  aus  der 
im  Protokoll  verzeichneten  Bemerkung  des  Herrn  F.  (dazu  des 
Herrn  Br.)  entnehmen,  —  daß  nämlich  die  hier  wie  bei  den  zwei 
vorhergehenden  Versuchsreihen  gebotene  Möglichkeit,  das  Lern- 
tempo selbst  zu  regulieren,  viel  angenehmer  sei  als  das  Lernen 
nach  dem  Zwangstempo  der  vorher  benutzten  »Maschine«  (Kymo- 
graphion).  —  Das  mit  17  Lesungen  erfaßte  Pensum  wurde  nach 
24  Stunden  wiedererlernt  mit  3  Lesungen,  wozu  Vp.  gebrauchte 
7  Min.  50  Sek.,  —  zu  einer  Lesung  bedurfte  sie  also  im  Mittel  2  Min. 


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70 


Ernst  Ebert  und  E.  Menmann, 


36,66  Sek.  Die  Vp.,  welche  39  Lesungen  aufgeboten  hatte,  brauchte 
nach  24  Stunden  6  Lesungen  zur  Wiedererlernung,  laut  Protokoll 
erfolgt  binnen  10  Min.  2  Sek.,  —  zu  einer  einzelnen  Lesung  waren 
hier  also  nötig  1  Min.  40,33  Sek.  Anscheinend  hat  also  auch 
beim  Wiedererlernen  der  langsam  Lesende  den  Vorteil. 

Die  Erlernung  mit  19,  bzw.  38  Lesungen  bieten  schon  dadurch, 
daß  sie  sich  wie  1  zu  2  verhalten,  Anlaß,  das  Verhältnis  der  Er- 
lernungszeiten zu  beachten.  Zu  einer  der  19  Lesungen  waren 
nötig  2  Min.  19,42  Sek.,  zu  einer  der  38  liesungen  desgleichen 

1  Min.  54,10  Sek.  —  Wiedererlernt  wurde  der  Stoff  von  den  be- 
treffenden Vp.  mit  7,  bzw.  4  Lesungen,  —  auf  eine  Lesung  ent- 
fielen dabei  durchschnittlich  1  Min.  29,14  Sek.,  bzw.  2  Min.  8,75  Sek., 

—  quantitative  Ergebnisse,  welche  das  Urteil  auf  voriger  Seite 
ebenso  zu  bekräftigen  geeignet  sind,  wie  ein  Blick  auf  die  Zahlen 
der  Zeitverhältnisse  bei  26,  bzw.  36  Lesungen  bis  zur  Erlernung. 
Wie  außerordentlich  vorsichtig  man  aber  im  allgemeinen  mit 
Schlüssen  aus  den  Zeitverhältnissen  sein  muß,  zeigen  aus  den 
beiden  vorhergehenden  Versuchsreihen  jene  Fälle,  in  denen  eben- 
derselbe Stoff  von  zwei  verschiedenen  Vp.  zwar  mit  derselben 
Zahl  von  Lesungen,  jedoch  in  verschiedenen  Zeiten  erlernt  wurde. 
Ich  nenne  beispielsweise  aus  der  X.  Versuchsreihe  den  Fall  mit 
den  Herren  B.  und  Br.,  aus  der  XI.  Versuchsreihe  den  Fall  mit 
Herrn  Prof.  M.  und  Fräulein  S.  30  Vokabeln  erlernten  die  Herren 
B.  und  Br.  mit  je  10  Lesungen  in  12  Min.  20  Sek. ,  bzw.  14  Min. 
Die  Zeitdifferenz  von  80  Sek.  erklärt  sich  wohl  hauptsächlich  aus 
dem  langsameren  Lesetempo  des  gegen  30  Jahre  älteren  Herrn  Br. 
Ebendicsc  30  Vokabeln  erlernte  Herr  B.  in  einer  Lesung  von  1  Min. 

2  Sek.  Dauer  wieder,  —  Herr  Br.  brauchte  dazu  5  Lesungen  mit 
einem  Zeitaufwand  von  3  Min.  52  Sek.  —  Offenbar  kommt  in 
diesen  Zifferunterschiedeu  nicht  nur  die  Differenz  der  Tages- 
zeiten zum  Ausdruck  (Herr  B.  lernte  früh  zwischen  7  und  8  Uhr, 

—  Herr  Br.  abends  gegen  7  Uhr),  vielmehr  bei  Herrn  Br.  auch 
der  Einfluß  der  Ermüdung  nach  vielstündiger  praktischer  Schul- 
tätigkeit und  der  Effekt  der  Verstimmung  Uber  seine  gesundheit- 
liche Disposition. 

In  dem  oben  gestreiften  Fall  aus  der  XI.  Versuchsreihe,  be- 
treffend das  Erlernen  von  zwei  Gedichtstrophen  durch  Herrn  Prof. 
M.  und  Fräulein  S.,  scheinen  die  Verhältnisse  ganz  ähnlich  zu 
liegen.    Beide  Vp.  hatten  bis  zur  Erlernung  15  Lesungen  nötig, 


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CTber  einige  Grandfragen  der  Psychologie  der  Übungspbknomene  usw.  71 

wozu  Herr  Prof.  M.  14  Min.  55  Sek.  braucht,  —  Fräulein  S. 
aber  16  Min.  4  Sek.  Zur  Wiedererlernung  brauchte  Herr  Prof.  M. 
1  Lesung  und  2  Min.  Zeit,  Fräulein  S.  4  Lesungen  und  5  Min. 
10  Sek.  Zeit;  daß  Fräulein  S.  zur  Neuerlernung  so  viel  größeren 
Aufwand  von  Zeit  nötig  hatte,  macht  nach  ihrer  Ansicht  die  ver- 
stimmende Ermüdung  erklärlich,  unter  der  sie  an  jenem  Versuchs- 
t&ge  litt  und  welche  herabsetzend  auf  die  Aufmerksamkeit  wirkte. 
Wir  beabsichtigen,  später  auf  die  Lernzeiten  und  ihre  Beziehung 
zur  Ökonomie  des  Lernens  noch  einmal  zurückzukommen. 

III.  Kapitel: 
Erste  Serie  der  Einübungsversuche. 

Die  Aufnahme  des  Anfangszustandes  des  Gedächt- 
nisses unserer  Vp.  betrachteten  wir  mit  den  bisher  dis- 
kutierten zwölf  Versuchsreihen  als  abgeschlossen;  wir 
wendeten  uns  daher  nunmehr  ohne  weiteres  der 

einseitig-mechanischen  Einübung 

unserer  Yp.  zu;  wir  führten  dies  aus  in  acht  Versuchsreihen, 
deren  jede  vier  zwölfsilbige  Normalreihen  umfaßte; 
jede  der  vier  Normalreihen  vertrat  je  eine  der  vier  Lern- 
methoden, die  wir  gelegentlich  dieser  Einübung  auf  ihren  öko- 
nomischen Wert  hin  zu  prüfen  beabsichtigten.  Die  ersten  beiden 
dieser  Lernmethoden  sind  speziell  durch  die  mehrjährigen  Versuche 
im  Züricher  Laboratorium  und  deren  Mitteilung  hinreichend  sowohl 
in  ihren  Vorzügen,  als  auch  nicht  minder  in  ihren  Schwächen  bekannt 
geworden  *),  —  es  ist  dies  das  Ganz-Lern-  oder  G.- Verfahren,  welches 
fast  ausschließlich  auch  bei  den  »Querschnitten«  befolgt  wurde,  und 
das  Teil-Lern-  oder  fraktionierende,  das  sogenannte  T.-Verfahren, 
bei  welchem  das  G.- Verfahren  erst  auftritt,  sobald  jeder  der  zwei 
gleichen  Teile  der  Reihe  für  sich  gelernt  und  aufgesagt  wurde. 

Diesen  beiden  Lernarten  wurden  gegenübergestellt  zwei  »ver- 
mittelnde Methoden«,  welche  die  Vorzüge  derG.-  und  T. -Methode 
zu  vereinigen  suchen.  Die  erste  —  wir  wollen  sie  als  I.  V.-Mc- 
thode  oder  2x6-Reihe  bezeichnen  —  hat  eine  Pause  im  Zeitwert 
eiuer  Silbe  in  der  Mitte  der  Reihe.  Die  zweite  —  bezeichnet 
als  II.  V.-Methode  oder  3x4- Reihe  —  zeigt  zwei  derartige 


lj  Vgl.  Archiv  f.  d.  gea.  Psychologie  Bd.  I,  Heft  4,  S.  417  ff. 


72  ,  Ernst  Eben  und  £.  Meumann, 


i 


Pausen,  welche  nach  dem  ersten,  bzw.  zweiten  Dritteil  der 
Reihe  eingeschaltet  sind.  —  Die  Aufeinanderfolge  der  Methoden 
in  den  acht  Turnussen  wechselte  so,  daß  die  beiden  V.-Methoden 
bei  jedem  ungeradzahligen  Turnus  an  das  Ende,  bei  jedem  gerad- 
zahligen an  den  Anfang  gestellt  wurden.  An  jedem  Versuchstage 
wurden  in  der  Segel  zwei  Reihen  neu  gelernt,  nachdem  vorher 
die  beiden  früher  gelernten  wiederholt  waren.  Die  äußere  An- 
ordnung dieser  Versuche  war  naturgemäß  ganz  dieselbe  wie  bei 
der  VIR  Versuchsreihe,  wo  derartige  Reihen  das  erstemal  auf- 
traten. Die  beifolgenden  acht  Tabellen  zeigen  in  ihren  Ziffern 
und  Protokollangaben,  wie  sich  diese  Einttbungsversuche  gestalteten ; 
sie  bilden  in  der  gesamten  Untersuchung  die 

XIII.— XX.  Versuchsreihe1). 

Wenn  wir  diese  acht  Versuchsreihen  nunmehr  gemeinsam  dis- 
kutieren, so  dürfte  sich  dies  dadurch  rechtfertigen  lassen,  daß  sie 
ein  zusammenhängendes  Ganzes  bilden,  —  das  Ganze  der  ein- 
seitig-mechanischen Einübung  oder  wenigstens  ihre  erste 
und  für  die  Hälfte  der  Vp.  umfänglichste  Phase;  dazu  kommt, 
daß  die  bei  diesen  Versuchen  beobachtete  äußere  Anordnung  eine 
konsequent  gleichmäßige  war;  endlich  würden  bei  Einzelbetrach- 
tung der  Versuche  sich  Wiederholungen  häufen  und  den  nötigen 
Überblick  wesentlich  erschweren. 

Beide  hier  im  Vordergrund  des  Interesses  stehende  Haupt- 
punkte werden  wir  am  besten  treffen,  wenn  wir  die  Effekte  der 
einzelnen  Methoden  an  der  Hand  des  tabellarisierten  Zahlenmaterials 
bei  den  einzelnen  Vp.  zunächst  ohne  alle  weiteren  Erörterungen 
verfolgen.  Beginnen  wir  also  sofort  mit  der  speziellen  Betrachtung 
der  Wirkung  der  G. -Methode  bei  den  einzelnen  Vp. ! 

Herr  B.  erlernte  nach  ihr  die  acht  Normalreihen  bei  ihrer 
Neuerlernung  mit  19  Lesungen,  bzw.  Wiedererlern,  mit  4  Lesungen 
>    20  >  •  »    4  » 

>  »15»  »  »  »4» 
»    14                  i  >  >  6 

,  17  .  »  »  6 

»          >  13  >          »  »  •  4 

>  »  10  »  »  4 

>  »  7  >           *  »  »  4  » 

1;  Die  Tabellen  folgen  auf  S.  87  ff. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übangsphänomene  usw.  73 


Sachen  wir,  um  den  Fortschritt  festzustellen,  die  sich  entsprechen- 
den Mittelwerte  für  die  ersten  und  alsdann  für  die  letzten  vier 
Reihen,  so  ergeben  sich  als  solche 

17     Lesungen,  bzw.  4,5  Lesungen 
und  11,75        »  »    4,5  » 

Herr  B.  hätte  also  nach  dieser  Methode  beim  Neuerlernen  einen 
Fortschritt  von  30,88 #  gemacht,  während  beim  Wiedererlernen 
kein  Fortschritt  konstatiert  werden  kann.  —  Das  sich  aus  den 
eben  festgestellten  Werten  ergebende  Mittel  überhaupt  beträgt 

14,37  Lesungen,  bzw.  4,5  Lesungen, 
woraus  sich  als  mittlerer  Ersparniswert  ergibt  68,68#. 

Bei  Herrn  Br.  liegen  für  die  gleiche  Methode  die  Ziffern  so: 
Für  Neuerlernung,  bzw.  Wiedererlernung  waren  nötig 
17  Lesungen,  bzw.  5  Lesungen 

16  »  *  6 
15        .        >  6 

15  .  »  7 
11         ,         >  6 

10  .         ,  6 

11  »  <  4 
11         >         .  6 

Die  für  den  Fortschritt  signifikanten  Mittelwerte  aus  der  ersten 
bzw.  zweiten  Hälfte  dieser  Lesungszahlen  betragen 

15,75  Lesungen,  bzw.  6  Lesungen 
und  10,75  »  »  5,5 
Danach  wäre  der  Fortschritt  des  Herrn  Br.  zu  bemessen  auf  31,75  # 
für  Neuerlernung,  bzw.  8,33#  für  Wiedererlernung.  —  Im 
Mittel  überhaupt  brauchte  Herr  Br.  zur  Erlernung  bzw.  Wieder- 
erlernung einer  G.-Reihe  13,25  Lesungen  bzw.  5,75  Lesungen;  der 
mittlere  Ersparniswert  beträgt  demnach  für  ihn  56,98#. 

Für  Herrn  F.  ergeben  sich  aus  der  Tabelle  bei  Neuerlernung 
bzw.  Wiedererlernung  einer  G.-Reihe 

17  Lesungen,  bzw.  4  Lesungen 

16  .  ,  6 
8  ,  4 
8                 .  5 

11  »         .  4 

18  »  5 
8  -  3 
8  »  3 


74 


Ernst  Ebort  und  E.  Meuniann, 


Die  Mittelwerte  für  Bestimmung  des  Fortschrittes  betragen  bei  ihm 

12,25  Lesungen,  bzw.  4,75  Lesungen 
und  11,25        >         >  3,75 

Die  Fortschrittswerte  beziffern  sich  also  hiernach  auf  8,16  bzw. 
21,05#;  der  Mittelwert  des  Neu-  bzw.  Wiedcrerlernens  Uberhaupt 
beträgt  11,75  bzw.  4,25#,  —  also  der  mittlere  Ersparniswert,  pro- 
zentual ausgedruckt,  63,82. 

Herr  Prof.  M.  hatte  fUr  die  acht  G.-Reihen  jeweils  nütig 

24  Lesungen,  bzw.   6  Lesungen 

23  >  19 

19  »  4 

23  8 

28  >  4 

23  >          >      8  » 

12  7 

11  9 

Die  den  Fortschritt  markierenden  Mittelwerte  betragen  hier 

22,25  Lesungen,  bzw.  9,25  Lesungen 
und  18,5  >  »7 

der  Fortschritt  selbst  beläuft  sich  danach  auf  16,89  bzw.  24,33  % . 

—  Zur  Erlernung  bzw.  Wiedererlernung  einer  G.-Reihe  Überhaupt 
bedurfte  es  fUr  Herrn  Prof.  M.  im  Mittel  20,37  bzw.  8,12  Lesungen, 

—  danach  bestimmt  sich  der  mittlere  Ersparniswert  bei  ihm  auf 
60,13#. 

Was  ferner  Fräulein  S.  betrifft,  so  erlernte  bzw.  wiederholte 
sie  die  acht  G.-Keihen  mit 

18  Lesungen,  bzw.  7  Lesungen 

17  .  7 

31  >  8 

23  >  7 

20  >  6 
15  >  5 
11  »  7 
14  »  5 

Ihr  Fortschritt  ergibt  sich  aus  den  Mittelwerten 

22.25  Lesungen,  bzw.  7,25  Lesungen 
und  15  »  »  5,75 


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Über  einige  Grandfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  75 


er  beträgt  32,58  bzw.  20,69  %.  Fräulein  S.  gebrauchte  also 
durchschnittlich  zu  einer  Erlernung  bzw.  Wiedererlernung  18,62  Le- 
sungen bzw.  6,5  Lesungen,  —  die  Ersparnis  betrug  demnach  im 
Mittel  bei  ihr  65,09#. 

Bei  Herrn  Dr.  W.  endlich  sieht  die  Reihe  der  Erlernungs-  bzw. 
Wiedererlernungsziffern  so  aus: 

16  Lesungen,  bzw.  7  Lesungen 

16  ,  8 

13  »        »  4 

13  »  4 

15  >  8 

12  .  >  4 
15  >  7 

13  .  4 

Die  für  den  Fortschritt  maßgebenden  Mittelwerte  betragen 

14,5  Lesungen,  bzw.  5,75  Lesungen 
und  13,75        »         >    5,75  » 

Auf  Seiten  der  Neuerlernungen  ist  demnach  ein  Fortschritt  in  Höhe 
von  5,17 #  zu  konstatieren.  —  Die  Mittelwerte  für  Erlernen  bzw. 
Wiederholen  betragen  14,12  Lesungen  bzw.  5,75  Lesungen,  —  der 
mittlere  Ersparniswert  heißt  59,27#. 

Auf  Grund  dieser  ziffernmäßig  vorliegenden  Tatsachen  läßt  sich 
auf  kürzeste  Weise  der  Effekt  der  G.-Methode  für  diesen  Teil  der 
Einübung  so  bestimmen: 

Durchschnittlich  wurde  eine  G.-Reihe  erlernt  mit  15,41  Lesungen, 
desgleichen  wiedererlernt  mit  5,81  Lesungen.  Der  durchschnittliche 
Ersparniswert  beläuft  sich  demnach  auf  62,32#;  der  Fortschritt, 
welcher  sich  ergibt,  wenn  man  die  mittleren  Werte  der  ersten  vier 
Versuchsreihen  mit  denen  der  letzten  vier  Versuchsreihen  ver- 
gleicht, beträgt  durchschnittlich  für  das  Neuerlernen  20,9#,  für 
das  Wiedererlernen  25,73#.  Diese  quantitativen  Bestimmungen 
werden  im  Verein  mit  den  noch  für  die  drei  andern  Methoden 
zu  eruierenden  den  besten  Maßstab  für  die  Gewinnung  eines  ab- 
schließenden Urteils  Uber  die  vorteilhafteste  Lernmethode  bieten. 

Verfolgen  wir  weiter  die  Resultatziffern,  welche  sich  auf  das 
T.-Verfahren  beziehen,  so  finden  wir  für  Herrn  B.  folgendes: 


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76 


Ernst  Ebert  und  E.  Meuiuann. 


Zur  NeuerlernuDg  waren  nötig 
4  +  3 

— 2  h  9  Lesungen,  zur  Wiederholung  4  Lesungen 

4  +  5+21 


2 

5  +  7 
2 

5  +  6 

2 

6_+5 
2 

4  +  3 


+  19 
+  6 
+  5 
+  6 


*  +  *  +  7 
2     +  ' 


3  +  2 
2 


+  4 


5 
9 
8 
4 
3 
3 
6 


Vorausgesetzt,  daß  man  je  2  Lesungen  der  Reihenhälften  alsGanzlesung 
setzen  kann,  so  ergibt  sich  als  durchschnittlich  nötig  für  Erlernung 
einer  T. -Reihe  die  Summe  von  13,86  Lesungen,  für  ihre  Wiederholung 
die  von  5,25  Lesungen,  —  als  mittlerer  Ersparniswert  ergeben  eich 
62,12  %.  Der  Fortschritt  wäre  zu  bestimmen  nach  den  Mittelwerten 
18,61  Lesungen,  bzw.  6,5  Lesungen 
und  9,12  »4 
er  beläuft  sich  demgemäß  auf  50,99      bzw.  38,46 

Herr  Br.  ferner  brauchte  zur  Erlernung  bzw.  Wiederholung  der 
8  T.-Reihen 


4  +  6  +  HLeS0 

ngen,  bzw.  7  Lesungen 

7t6+io 

.  6 

.  7 

.  7 

2    +  8 

>          i    7  » 

4  +  5+  7  . 
2  -t- 

.  6 

2     +  6 

>  7 

2+2  . 

.  5 

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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  77 


Er  brauchte  mithin  zur  Erlernung,  bzw.  Wiederholung  einer  ein- 
zigen T.- Reihe  rund  11,81  Lesungen,  bzw.  6,5  Lesungen.  —  die 
Ersparnis  betrug  für  ihn  durchschnittlich  44,03  %.  Der  Fortschritt 
der  Übung  ergibt  sich  bei  ihm  aus  den  Mittelwerten 

13,75  Lesungen,  bzw.  6,75  Lesungen 
und   9,87        >  >  6,25 

prozentual  bestimmt  wird  er  also  durch  die  Werte  28,21  %,  bzw. 
7,4*. 

Herr  F.  wandte  fllr  die  T.- Reihen  auf  im  einzelnen 

4  +  5 

— 2  f-  3  Lesungen,  bzw.  5  Lesungen 

5  +  6 
2 

3+_4 
2 

4  +  4 

2 

4  +  6 

2 

5  +  5 
2 

3_+_3 
2 

3  +  2 
2 

Durchschnittlich  benötigte  er  zur  Erlernung  einer  einzelnen  T.-Reihe 

7.24  Lesungen,  bzw.  zu  ihrer  Wiedererlernung  nach  24  Stunden 

4.25  Lesungen.  Er  erzielte  also  eine  durchschnittliche  Ersparnis 
dabei  von  41,29  Den  Fortschritt  der  Lernfertigkeit  bezeichnen 
bei  ihm  folgende  Mittelwerte: 

7,87  Lesungen,  bzw.  4,5  Lesungen 
6,62       >  >  4 

er  beträgt  danach  15,88  %  für  das  Neuerlernen  und  11,11  %  für 
das  Wiederholen. 

Für  Herrn  Prof.  M.  gelten  hinsichtlich  der  Erlernung,  bzw. 
Wiederholung  der  acht  T.- Reihen  die  folgenden  Angaben  der 
TabeUen: 


+  4 

> 

5 

+  3 

> 

4 

+  4 

» 

4 

+  4 

> 

4 

+  3 

• 

5 

+  3 

» 

4 

+  1 

» 

3 

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78 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 

4  +  3 

— ^  h  16  Lesungen,  bzw.  7  Lesungen 


44-7 

2 

4  +  5 

-2~ 

3  +  3 
2 

2  +  6 
2 

4  +  5 


+  24 

+  17 

+  9 
+  25 

+  13 


2 

4  +  4 

t  +  4 


4  +  4 


+  4 


18 
6 
4 
4 
ti 
7 

10 


Zur  vollständigen  Einprägung,  bzw.  Wiederholung  einer  T.-  Reihe 
bedurfte  er  also  durchschnittlich  18,12  Lesungen,  bzw.  7,75  Lesungen, 
—  er  wiederholte  also  im  Mittel  mit  einer  Ersparnis  von  57,22  %. 
Für  Feststellung  des  Fortschrittes  sind  maßgebend  die  Mittelwerte 

20,62  Lesungen,  bzw.  8,75  Lesungen 
nnd  15,62       »  »  6,75 

Er  beträgt  hiernach  24,24  bzw.  22,85 

Frl.  S.  sodann  zeigt  folgende  Angaben  betreffs  der  T.-Methode: 
4  +  4 

— 2  h  12  Lesungen,  bzw.  10  Lesungen 

3  +  5 


2 

4  +  3 

2 

1  +  5 

2 

3  +  5 
2 

3  +  3 
2 

4  +  4 

2 

2  +  2 
2 


+  18 
+  18 

+  30 

+  9 
+  10 
+  8 
+  5 


7 
9 
10 
9 
7 
7 
5 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  79 


Durchschnittlich  erlernte,  bzw.  wiederholte  sie  eine  T.-Reihe  mit 
17,18,  bzw.  8  Lesungen,  dabei  eine  Ersparnis  von  53,43  #  er- 
zielend.   Nach  den  diesbezüglichen  Mittelwerten 
23,12  Lesungen,  bzw.  9  Lesungen 
und  17,18  »7 

beträgt  der  Fortschritt  hier  51,34,  bzw.  22,22  %. 

Endlich  lernte  Herr  Dr.  W.  die  acht  T.- Reihen  wie  folgt: 
6+10 


2 

14+J1 

2 

4  +  5 

2 

4  +  5 

2 

2  +  4 

2 

4  +  5 

2 

4+_3 
2 

5+_3 
2 


+  18  Lesungen,  bzw.  9  Lesungen 


+  15 
+  12 
+  11 
+  14 

+  11 
+  14 

+  8 


5 


5 


5 


10 


Zur  Erlernung,  bzw.  Wiederholung  einer  einzigen  T.-Reihe 
brauchte  er  also  18,43  Lesungen,  bzw.  6,62  Lesungen,  —  der  beim 
Wiedererlernen  erzielte  Ersparniswert  beträgt  64,08  %.  Den  Fort- 
schritt bestimmen  für  Herrn  Dr.  W.  folgende  Mittelwerte: 
21,37  Lesungen,  bzw.  7  Lesungen, 
15,5        »  »    6,25  > 

hieraus  ergibt  sich  ein  Fortschreiten  im  Werte  von  27,46,  bzw.  10,71 

Wir  können  nunmehr  auf  Grund  der  von  Seite  75,  unten,  an 
gewonnenen  Werte  den  Effekt  der  T.-Methode  kurz  so  be- 
stimmen: 

Eine  T.-Reihe  wurde  durchschnittlich  erlernt  mit  14,44  Lesungen, 
desgleichen  wiedererlernt  mit  6,39  Lesungen;  erspart  zeigten  sich 
beim  Wiederholen  im  Mittel  53,69  Der  aus  den  Mittelwerten 
der  ersten  und  der  zweiten  Hälfte  aller  Reihen  zu  bestimmende 
Fortschritt  betragt  durchschnittlich  beim  Ncuerlernen  33,02  beim 
Wiederholen  18,79 


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8(1 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Wenden  wir  uns  ferner  den  entsprechenden  Resnltatziffern  der 
I.  V.-Methode  (2x6  Silben)  zu,  so  ergibt  sich  zunächst  im  ein- 
zelnen, daß  Herr  B.  die  betreffenden  acht  Reihen  lernte,  bzw. 
wiederholte  wie  folgt: 

14  Lesungen,  bzw.  4  Lesungen 
12  .  9 

9  >  5  > 

12  >  7 

10  >  5 

12  >  »  3 

10  »  4 

9  >  5  v 

Er  hatte  also  im  Durchschnitt  nötig  11  Lesungen,  bzw.  5,25  Le- 
sungen, —  er  ersparte  beim  Wiedererlernen  im  Mittel  52,27 
Der  Fortschritt  der  Übung  bestimmt  sich  bei  ihm  nach  den  Werten 

11,75  Lesungen,  bzw.  6,25  Lesungen 
10,25      >  »  4,25 

er  beziffert  sich  danach  auf  12,76      bzw.  32 

Bei  Herrn  Br.  finden  wir  nötig  für  Erlernen,  bzw.  Wiederholen 
der  acht  I.  V.- Reihen 

15  Lesungen,  bzw.  7  Lesungen 
17  >  7 

16  ,  7 
14                 >  6 

11  >  6 

10  >  7 

13  ,  7 

10  >  5 

Hieraus  erhellt,  daß  im  Mittel  nötig  waren  13,25  Lesungen,  bzw. 
6,5  Lesungen,  ferner,  daß  die  mittlere  Ersparnis  bei  ihm  50,94  % 
betrug.  Sein  Übungsfortschritt  bestimmt  sich  nach  den  Durch- 
schnittsgrößen 

15,5  Lesungen,  bzw.  6,75  Lesimgen 

11  >  »  6,25 

er  beträgt,  prozentual  gesagt,  29,03,  bzw.  7,40. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übnngsphänomene  usw.  81 


Herr  F.  benötigte  für  das  gleiche  Material 
12  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 


12 
7 
9 
11 
11 
12 
6 


7 
4 

5 
5 
5 
4 
3 


Er  brauchte  mithin  im  Durchschnitt  10  Lesungen  zur  Erlernung 
und  4,5  Lesungen  zur  Wiedererlernung  einer  I.  V.- Reihe,  so  daß 
die  Ersparnis  im  Mittel  55  %  betrug.  Den  Fortschritt  der  Übung 
bezeichnen  die  Mittelwerte 

10  Lesungen,  bzw.  4,75  Lesungen 

10      »  »  4,25 

prozentual  bezeichnet  beträgt  er  — %,  bzw.  10,52 

Herr  Prof.  M.  erlernte  den  Übungsstoff  nach  der  I.  V.-Methode  in 
19  Lesungen,  bzw.  12  Lesungen 
19  >  6 

14  ,8 

16  »6 

14  »6 

15  >  6 
12  >  12 
15  ,8 

Im  Mittel  führten  bei  ihm  also  15,5  Lesungen,  bzw.  8  Lesungen 
zum  Erlernen,  bzw.  Wiedererlernen;  die  mittere  Ersparnis  betrug 
48,38  #.    Nach  den  mittleren  Werten  von 

17  Lesungen,  bzw.  8  Lesungen 
und  14      >  8  » 

beträgt  der  Fortschritt  17,64,  bzw.  — %. 

Frl.  S.  brauchte  zu  den  acht  I.  V.-Reihen 
21  Lesungen,  bzw.  8  Lesungen 


21 
32 
18 
19 
17 
12 
8 

ArchiT  Tar  Pijeholope.  IV. 


6 
h 
5 
8 
5 
6 
6 


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82 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Sie  hatte  also  für  eine  Reihe  durchschnittlich  nötig  18,5  Lesungen, 
bzw.  5,5  Lesungen;  ihre  durchschnittliche  Ersparnis  belief  sich 
auf  70,27  %.  Der  Fortschritt  der  Übung,  der  nach  den  Mittelwerten 

23  Lesungen,  bzw.  6  Lesungen 
und  14  >    5  » 

bei  ihr  zu  bestimmen  ist,  beträgt  39,13,  bzw.  16,66 

Für  Herrn  Dr.  W.  schließlich  finden  sich  folgende  Ergebnisse  in 
den  Tabellen:        16  Lesungen,  bzw.  6  Lesungen 

15  »  6 

22  »  9 

22  .  9 

14  »  8 

11  »  9 

12  »  6 
10  ,  7 

Er  benötigte  also  im  Mittel  zur  Erlernung  einer  I.  V.- Reihe 
15,25  Lesungen,  bzw.  7,5  Lesungen,  —  dabei  durchschnittlich  er- 
sparend 50,81  % .  Folgende  Mittelwerte  bestimmen  seinen  Fortschritt: 
18,75  Lesungen,  bzw.  7,50  Lesungen 
11,75       >  »  7,50 

Prozentual  bestimmt  beträgt  dieser  Fortschritt  37,33,  bzw.  — %. 

Die  Berechnungen  von  Seite  80  bis  hierher  lassen  uns  non 
das  Gesamtresultat  bezüglich  der  I.  V.-Methode  wie  folgt 
kurz  zusammenfassen: 

Eine  I.  V.-Rcihe  wurde  im  Durchschnitt  erlernt  mit  13,91  Le- 
sungen, dazu  wiedererlernt  mit  6,2  Lesungen.  Die  durchschnittlieh 
dabei  erzielte  Ersparnis  beträgt  54,61  Der  beim  Erlernen  der 
acht  Reihen  beobachtete  Fortschritt  beträgt  22,64  %  für  das  Neu- 
erlernen und  11,09  #  für  das  Wiedererlernen. 

Die  Versuche  endlich,  welche  mit  der  II.  V.-Methode  (3x4 
Silben)  angestellt  wurden,  hatten  im  einzelnen  folgende  Ergebnisse: 
Herr  B.  lernte  die  betreffenden  8  Reihen,  bzw.  wiederholte  sie  mit 

14  Lesungen,  bzw.  4  Lesungen 

12  .  7 

8  »  4 

9  »  4 
9  >  4 
8  »  4 
8  ,  3 
8                  >  5 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übnngsphänomene  usw.  83 


Mithin  hatte  er  im  Durchschnitt  flir  eine  derartige  Reihe  nötig 
9,5  Lesungen,  bzw.  4,37  Lesungen,  —  seine  Ersparnis  betrug  im 
Mittel  54«£.    Seinen  Fortschritt  bedingen  die  Mittelwerte 
10,75  Lesnngen,  bzw.  4,75  Lesungen 
und   8,25      »  »4 
er  beträgt  dementsprechend  23,44,  bzw.  15,55  %. 

Herr  Br.  hatte  für  den  hier  gebrauchten  Lernstoff  nach  der 
II.  V.- Methode  nötig 

15  Lesungen,  bzw.  6  Lesungen 
13  *  6 

11  .  7 

11  >  6 

12  >  6 
10  >  6 

9  >  4 

8      i  >  3 

Er  brauchte  also  durchschnittlich  für  Erlernung  einer  solchen  Reihe 
11,12  Lesungen,  zu  ihrer  Wiederholung  5,5  Lesungen,  —  er  ersparte 
im  Durchschnitt  beim  Wiedererlernen  50,53  %.  Folgende  Mittel- 
werte bestimmen  den  Fortschritt  für  ihn: 

12,5  Lesungen,  bzw.  6,25  Lesungen 
9,75     .  *  4,75 

Prozentual  ausgedrückt  betragt  dieser  Fortschritt  22,  bzw.  24. 

Herr  F.  erlernte,  bzw.  wiederholte  die  acht  II.  V.-Reihen  folgender- 
maßen : 

8  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 
12  .  6 

7  >  »     3  » 

10  >  5 

8  >  »     4  » 
7  ,  4 

11  >  4 

6       >  *    3  » 

Es  ergibt  sich  daraus,  daß  er  im  Mittel  für  eine  II.  V.- Reihe 
brauchte  8,62  Lesungen,  bzw.  4  Lesungen  und  53,59  #  Ersparnis 
erzielte.    Aus  den  Mittelwerten 

9,25  Lesungen,  bzw.  4,25  Lesungen 

8  »  •■>     3,75  » 

berechnet  sich  sein  Fortschreiten  auf  13,51,  bzw.  11,76  # 

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84 


EruBt  Ebert  und  E.  Meuiuann, 


Herr  Prof.  M.  lernte  den  betr.  Stoff  wie  folgt: ; 
18  Lesungen,  bzw.  6  Lesungen 


17 
15 
12 
12 
12 
13 
15 


7 

8 
5 
4 
5 
10 
6 


Durchschnittlich  bedurfte  er  also  für  eine  einzige  II.  V.-Reihe 
14,25  Lesungen,  bzw.  6,37  Lesungen,  —  dabei  im  Mittel  ersparend 
55,29       Sein  Fortschreiten  bezeichnen  die  Mittelwerte 
15,5  Lesungen,  bzw.  6,5  Lesungen 


13 


6.25 


Prozentual  ausgedrückt,  beträgt  dasselbe  16,12,  bzw.  3,84. 

Das  Erlernen,  bzw.  Wiedererlernen  nach  der  n.  V.- Methode  ver- 
lief für  Frl.  S.  folgendermaßen: 

17  Lesungen,  bzw.  9  Lesungen 


17 
16 
13 
13 
11 
11 
12 


12 
6 
7 
5 
5 
5 
6 


Sie  bedurfte  mithin  durchschnittlich  für  eine  einzige  II.  V.-Reihe 
13,75  Lesungen,  bzw.  6,87  Lesungen,  —  dabei  ersparend  im  Mittel 
50,03  %.  Folgende  mittlere  Werte  lassen  ihren  Fortschritt  erkennen: 

15,75  Lesungen,  bzw.  8,5  Lesungen 

11,75       »  »    5,25  » 

Nach  Prozenten  bestimmt,  beläuft  sich  dieser  auf  25,39,  bzw.  38,23. 
nerr  Dr.  W.  endlich  brauchte  im  einzelnen 

♦ 

13  Lesungen,  bzw.  9  Lesungen 

14  >  9 
12  >  4 

12  >  4 

14  >  8 

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Ober  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  85 


Im  Mittel  bedurfte  er  also  11,75  Lesungen  für  das  Neuerlernen 
einer  II.  V.- Reihe  und  6,5  Lesungen  für  deren  Wiedererlernung; 
er  ersparte  beim  Wiedererlernen  durchschnittlich  44,68  Seinen 
Übungsfortschritt  kennzeichnen  die  Mittelwerte 

12,75  Lesungen,  bzw.  6,5  Lesungen 
10,75      >  »    6,5  > 

Dieser  beträgt  in  Prozenten  15,68,  bzw.  — .  Auf  Grund  der 
Einzelberechnung  von  Seite  82  ab  fassen  wir  abermals  kurz  zu- 
sammen und  bestimmen  den  Effekt  des  II.  V.- Verfahrens  so: 

Eine  II.  V.- Reihe  wurde  im  Mittel  erlernt  mit  11,49  Lesungen, 
desgleichen  wiederholt  mit  5,6  Lesungen;  die  mittlere  Ersparnis 
betrog  51,35  Der  Übungsfortschritt  betrug  19,35  #  beim  Neu- 
erlernen,  15,56  %  beim  Wiederholen. 

Vergleichen  wir  diese  eben  konstatierten  Werte  für  die  II.  V.- 
Methode mit  denen  für  die  G.-,  T.-  und  I.  V.- Methode  gefundenen 
—  siehe  Seite  75,  79  und  82!  — ,  so  können  wir  feststellen, 
daß  die  II.  V.-Methode  sich,  objektiv  betrachtet,  als  die 
empfehlenswerteste  im  bisherigen  Verlaufe  der  Unter- 
suchung gezeigt  hat.  Der  bei  ihr  resultierende  Mittelwert  für 
Nenerlernung  sowohl,  wie  derjenige  für  Wiedererlernung  ist  der 
wesentlich  kürzeste;  nach  ihr  rangieren  betreffs  der  Mittelwerte 
filr  Neuerlernung  die  I.  V.-Methode,  die  T.-,  und  endlich  die 
G.- Methode.  Letztere  kommt  der  II.  V.-Methode  am  nächsten 
im  Mittelwert  beim  wiederholenden  Lernen,  während  sich  die 
T. -Methode  am  weitesten  von  ihr  entfernt.  —  An  diesem  End- 
ergebnis, das  unzweideutig  auf  die  Vorzugsstellung  der 
II.  V.-Methode  hinweist,  vermögen  die  andern  Mittelwerte, 
welche  sich  auf  die  durchschnittliche  Ersparnis  nach  24  Stunden 
und  auf  den  Fortschritt  innerhalb  einer  jeden  »Methode«  beziehen, 
nichts  von  Belang  zu  ändern.  Immerhin  ist  die  Umkehrung  der 
Extreme  im  Hinblick  auf  die  Ersparniswerte  recht  beobachtens- 
wert;  offenbar  sind  die  sukzessiv  erfolgenden  Assoziationen  — 
sowohl  die  unmittelbaren  wie  die  mittelbaren  —  infolge  der 
größeren  Zahl  von  Wiederholungen  fester  verknüpft  bei  der 
G.-Methode.  Freilich  werden  wir  uns  erst  gründlicher  und  de- 
finitiv mit  der  Beurteilung  der  hierher  gehörigen  Tatsachen  be- 
fassen können,  sobald  uns  auch  die  Resultate  der  II.  Eintibungs- 
periode  rechnerisch  verarbeitet  vorliegen.  Übrigens  Ubersehe  mau 
nicht  die  Annäherung  der  Resultate  des  T.- Verfahrens  an  die  des 


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86 


Ernst  Ebert  und  E.  Heumann, 


I.  V.-Verfahrens,  welch  letzteres  bezeichnenderweiße  sowohl  in 
den  Erlernung»-  wie  Ersparniswerten  um  ein  wenig  günstiger  er- 
scheint. (Aus  den  Protokollen  ist  zu  entnehmen,  daß  einzelne 
Vp.  vermuten,  es  hänge  das  Plus  an  Lesungen  bei  der  T.-Methode 
mit  der  nötigen  Beseitigung  unnötiger  und  störender  Assoziationen 
[Silbe  VI  und  I!]  zusammen,  —  desgleichen  mit  der  Taktänderung 
bei  denjenigen  Vp.,  welche  sonst  regelmäßig  im  4/4-Takt  lernen, 
bei  der  T.-Methode  aber  gelegentlich  des  Erlernens  der  getrennten 
Reihenhälften  sich  zur  Anwendung  des  '/«-Taktes  veranlaßt  sehen.) 
—  Was  den  prozentual  bestimmten  Übungsfortschritt  betrifft,  so 
ist  er  wiederum  bei  der  T.-  und  I.  V.-Methode  ein  auffällig  ähn- 
licher, wenn  man  das  Verhältnis  des  Fortschrittes  bei  Neuerlernungen 
zu  dem  bei  Wiederholungen  beachtet;  es  lautet  rund  5:3;  es  wird 
dies  bei  der  II.  V.-Methode  etwa  das  Verhältnis  von  4:3,  —  bei 
der  G.-Methode  das  Verhältnis  von  4 : 5.  Letzere  Ziffer  bezeugt 
wieder  die  bevorzugte  Festigkeit  der  bei  der  G.-Methode  ge- 
stifteten Assoziationen. 

In  der  subjektiven  Beurteilung  der  hier  ausprobierten  vier 
Methoden  waren  laut  Protokoll  die  Ansichten  der  Vp.  am  meisten 
Ubereinstimmend  betreffs  der  Mängel  des  T.-Verfahrens;  sobald 
die  Gesamtkonstellation  des  Bewußtseins  infolge  von  Müdigkeit, 
lebhafter  Besorgnis,  Unlust  bzw.  Verstimmung  eine  der  Lernarbeit 
weniger  günstige  geworden  ist,  tritt  durch  die  bei  der  T.-Methode 
nötig  werdenden  äußeren  Manipulationen,  weit  mehr  aber  noch 
durch  den  Wechsel  der  rhythmischen  Glieder  und  dadurch, 
daß  die  Erlernung  der  Reihenhälften  vorzugsweise  eine  Leistung 
des  bloß  »unmittelbaren  Behaltens«  ist,  eine  Verwirrung  ein,  welche 
bewirkt,  daß  das  »Zusammenschweißen«  der  vorher  erfaßten  Hälften 
einer  reinen  Neuerlernung  nach  dem  G.-Verfahren  gleichkommt; 
drastisch  illustriert  dies  die  Erlernungsziffer  des  Herrn  B.  für  die  II. 
und  III.  T.-Reihe  (S.  76)  —  ebenso  die  Erlernung  der  V.  und  VI. 
T.-Reihe  durch  Herrn  Prof.  M.  (S.  78)  —  die  Erlernung  der  IV.  T.-Reihe 
durch  Frl.  S.  (S.  78)  —  etwas  auch  die  Erlernung  der  VII.  T.-Reihe 
durch  Herrn  Dr.  W.  (S.  79).  —  Positiv  Lust  und  Interesse  er- 
weckend wirkten  die  G.-  und  I.  V.-Methode,  am  meisten  aber  die 

II.  V.-Methode,  an  welche  sich  einzig  Herr  Dr.  W.  mit  einigen  Schwie- 
rigkeiten deshalb  gewöhnte,  weil  sie  ihn  nötigte,  von  seinem  mit 
großer  Konsequenz  festgehaltenen  Vorzugsrhythmus  (Dreivierteltakt!) 
abzulassen.    Regelmäßig  kehrt  in  den  spontanen  Aussagen  der  Vp. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  uaw.  87 


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88 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphünomene  usw.  95 

die  Bemerkung  wieder,  daß  die  Pausen  »angenehm«  seien,  —  daß 
sie  günstig  wirkten,  »etwa  wie  das  Interpungieren  in  der  Sprache« 
Herr  B.,  Protokoll  zum  VI.  Turnus). 

Die  geringe  Konstanz  in  den  Erlernungsziffern  hat  nach  den 
übereinstimmenden  Angaben  der  Vp.  außer  »in  der  fortschreitenden 
Übung  und  Erlernungstechnik«  (Protokoll  zum  III.  Turnus)  uicht 
nur  ihre  Ursache  in  der  Variabilität  der  Gesamtkonstcllation  des 
Bewußtseins,  wie  das  auf  voriger  Seite  angedeutete  Beispiel  mit 
der  T. -Methode  zeigt,  sondern  zu  einem  nicht  geringen  Teil  in 
dem  Lernmaterial,  den  Silben,  selbst,  —  sie  sind  trotz  aller  Sorg- 
falt des  Aufbaues  der  Reihen  keineswegs  gleichmäßig  schwer  zu 
erlernen;  einzelne  Reihen  erscheinen  phonetisch  schwierig,  —  so  für 
Herrn  Prof.  M.  die  II.  V.-Reihe  des  dritten  Turnus,  welche  lautete: 
baz  —  dek — ziv  —  gon  ||  —  ful — häm  —  pait  —  jöx  !| 
raug — nüs — scheuf — gid. 
Herr  Prof.  M.  empfand  in  dieser  Reihe  störend  bzw.  hemmend 
das  fünfmalige  (siehe  fetten  Druck!)  Auftreten  gutturaler  Laute.  — 
Fräulein  S.  fand  Schwierigkeiten  phonetischer  Art  in  der  G.-Reihe 
des  IV.  Turnus,  welche  hieß: 

f  Un  —  boop  —  dim — geur  —  tek  —  jös — mab — zeud  — 
piesch  —  lad  —  wuz  —  kol. 
Die  fettgedruckten  Vokale  bereiteten  ihr  wegen  gegenseitiger  Ähn- 
lichkeit bzw.  Gleichheit  Hindernisse.  Weiter  findet  z.  B.  Herr  Dr.  W. 
phonetische  Schwierigkeiten  in  der  G.-Reihe  des  dritten  Turnus, 
welche  folgendermaßen  zusammengesetzt  war: 

f  üch  —  gaz  —  käsch  —  peit  —  daaf  —  kun  —  maup  — 
zom  —  nüs  —  rik  —  jew — bäul. 
Er  glaubt  die  Ursache  in  dem  zufälligen  Zusammenfinden  vorwiegend 
labialer  Laute  suchen  zu  müssen.  Da  in  diesen  drei  Beispielen 
wie  auch  in  andern  hier  nicht  erst  verzeichneten  nur  die  betreffen- 
den Vp.  die  Schwierigkeiten  fanden,  muß  man  wohl  annehmen, 
daß  derartige  Schwierigkeiten  keine  eigentlich  objektiven  sind,  daß 
sie  vielmehr  entstehen  durch  irgendeine  Eigenart  des  lernen- 
den Subjekts. 

Bemerkenswert  ist  die  Allgemeinheit,  mit  welcher  sämtliche 
Vp.  gegen  Schluß  der  Erlernung  bzw.  Wiedererlernnng  der  hier 
verwendeten  32  Normalreihen  zu  Protokoll  bekunden,  daß  das  Er- 
fassen des  Materials  »immer  mechanischer«  (Herr  F.,  Herr  Prof.  M., 
Herr  Dr.  W.),  immer  »freier  von  Assoziationen  sekundärer  Art« 

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I 


96  Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 

(Fräulein  S.),  immer  »weniger  bedürftig  mnemotechnischer  Hilfen« 
(Herr  B.)  werde,  —  daß  »Deutungs  versuche  immer  seltener«  auftreten 
(Herr  Br.).  Freilich  drängen  sich  Reminiszenzen  der  verschiedensten 
Art  auch  den  erfahrensten  Vp.  auf,  —  so  in  der  auf  voriger  Seite 
zuerst  verzeichneten  Reihe,  wo  das  Silbenpaar  »baz — dek«  Herrn 
Prof.  M.  sich  zu  einem  Worte  zusammenschließt  und  deshalb  sofort 
einprägt,  —  das  Silbenpaar  »ful  — häm«  wegen  seines  Anklingens  an 
englische  Worte  ebenfalls  besonders  rasch  behalten  wird.  Andere 
Beispiele  zeigen  die  Protokollbemerkungen  bei  sämtlichen  Vp. 

Desto  schneller  überwinden  sämtliche  Beteiligte  die  Stufen  des  oben 
charakterisierten  orientierenden  und  apperzipierenden  Lesens  und  be- 
nutzen ausgiebiger  die  zur  Automatisierung  führenden  rhythmischen 
Hilfen.  Die  Frage  »Was  fllr  eine  Reihe  kommt  jetzt?«  wurde  zur 
stehenden,  da  das  Gros  derVp.  zur  Erlernung  der  G.-  und  II.V.-Reihen 
den  4/V-Takt,  Zur  Erlernung  der  T.-  und  I.  V.-Reihen  den  3/4-Takt  ver- 
wendete; nur  Herr  Prof.  M.  band  sich  nicht  starr  an  bestimmte  Takte, 
—  er  benutzte  eingliedrige  Rhythmen  und  zuweilen  Trochäen  neben 
der  vom  Gros  der  Vp.  beliebten  rhythmischen  Artikulation,  —  siehe 
die  Protokollnotizen  zum  Vn.  Turnus.  Während  der  ersten  drei 
Turnusse  experimentierte  auch  Fräulein  S.  öfters  mit  Trochäen  bei 
G.-  und  V.-Reihen,  doch  schlössen  sich  bald  je  zwei  Trochäen 
in  beachtenswerter  Weise  zum  4/4-Takt  zusammen.  —  Ganz  be- 
sonders drastisch  trat  die  unterstützende  Wirkung  des  Rhythmus 
in  einer  Anzahl  von  Fällen  bei  der  Wiedererlernung  von  Reihen 
hervor,  —  siehe  die  Protokollnotizen  zum  V.  und  VI.  Turnus!  Diese 
Reihen  waren  als  T.-  und  I.  V.-Reihen  von  Herrn  F.  und  Herrn 
Prof.  M.  im  3/4-Takt  erlernt  worden,  —  es  stellte  sich  aber  bei 
der  Wiedererlernung  bei  diesen  Vp.  heraus,  daß  sie  ökonomischer, 
d.  h.  mit  weniger  Verbrauch  an  Zeit  und  Mühe,  erfaßten,  wenn 
nie  Kenntnis  von  der  Methode  des  erstmaligen  Lernens  hatten, 
also  die  G.-Reihe  der  bezüglichen  Wiederholung  nicht  wie  sonst 
im  «/«-Takt,  gondern  im  3/4-Takt  erlernten. 

Das  Verhalten  der  einzelnen  Vp.  werden  wir  später  bei  den 
speziellen  Versuchen  Uber  den  Gang  der  Aufmerksamkeitsakte  be- 
rücksichtigen. —  Konstatieren  wir  noch  am  Schlüsse  die  Mittelwerte 
fUr  sämtliche  Einübungsreihen  ohne  Rücksicht  auf  die  Lernmethoden: 
Erlernt  wurde  eine  Kormalreihe  mit  durchschnittlich  13,81  Le- 
sungen, wiederholt  mit  6  Lesungen;  erspart  wurden  55,49$;  der 
Fortschritt  betrug  23;97  bzw.  17,79  %. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  97 


IV.  Kapitel: 
Erstmalige  Kontrolle  des  Übungseffektes. 

Die  folgenden  zwölf  Versuchsreihen  bezweckten,  die  einseitig- 
mechanische Einübung  durch  einen  Kontrollquerschnitt  durch 
das  Gedächtnis  der  Vp.  zu  unterbrechen,  welcher  —  in  völliger 
Analogie  zur  Aufnahme  des  Ausgangsstadiums  ihres  Ge- 
dächtnisses geführt  —  dartun  sollte,  inwieweit  sich  bis 
jetzt  das  Phänomen  der  indirekten  Übung,  also  der  Mit- 
übung anderer  Spezialgedächtnisse  als  desjenigen  für 
sinnloses  Silbenmaterial  nachweisen  ließe;  da  es  aber  eben 
nur  ein  Kontrollquerschnitt  sein  sollte,  dem  alsbald  wieder  die 
einseitige  Einübung  folgen  mußte,  bzw.  alsdann  der  alle  Haupt- 
ergebnisse der  Untersuchung  in  sich  schließende  Schlußquerschnitt, 
so  sei  bei  Besprechung  der  folgenden  zwölf  Versuchsreihen  alles 
das  Beobachtungsmaterial  zurückgestellt,  welches  nicht  unbedingt 
nötig  znr  scharfen  Herausarbeitung  der  Tatsachen  der  bisherigen 
Mitübung  ist. 

Die  XXI. — XXVII.  Versuchsreihe  sollte  zunächst  die  indirekte 
Übung  der  Fähigkeiten  des  unmittelbaren  Behaltens  darlegen. 
War  eine  solche  indirekte  Übung  erfolgt,  und  in  welchem 
Maße? 

XXI.  Versuchsreihe. 

Zweck  dieser  Versuchsreihe  war,  die  durch  das  (30  Versuchs- 
tage fortgesetzte)  Lernen  sinnloser  Silben  erreichte  Mitübung  des 
unmittelbaren  Behaltens  von  Zahlen  festzustellen.  Achten 
wir  zunächst  wieder  wie  bei  der  ersten  Versuchsreihe  auf  die  Null- 
grenzen, so  zeigt  sich  folgende  Veränderung: 


Herr  B.       merkte  jetzt  9,  früher  7  Zahlen,  also 

+  2  =  28,57  # 

»  Br. 

»  10, 

>     7  > 

+  3  =  42,85  % 

»  F. 

.  8, 

,  5 

+  3  =  60,00?« 

»   Prof.  M.  » 

»  9, 

»     9  » 

+  0=- 

Frl.  S. 

»  10, 

»     7  » 

+  3  =  42,85  % 

Herr  Dr.  W. 

*  7> 

»     7  > 

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ArthiT  fttr  P.ychologie.   IV.  7 


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98 


Ernst  Ebert  and  E.  Menm&nn, 

Tabelle 

XXI.  Versnchsreihe:  Unmittelbares 


Herr  Ii. 


Ilerr  Br. 


Aul  zu- 
lassendes 

Zahlen*  ,i  )?.-  ]  Bezeichuuu<r  der    F.-   Bezeichnung  der 


Herr  F. 


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XVI 
XVII 

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-III.  IV. 

-ii.  in,  iv. 

-  VI;  II,  tll; 

1V.V:V11.V111. 

—  III,  IV,  V,  VI. 


1'  « j  +9  hinter  II: 


Zahl 


1 


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F.-  [  Bezeichnung  der 


Zahl 


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III.  IX. 
VI. 


-74  IV.  u.  VII.  Stelle 
korrijr.! 

III. 


1 

134 


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^.4 


—  V,  VI;  I.  II; 

Ml.  VIII. 

—  V.  VI.  VII,  XI;  3 

VIII.  IX. 

-  VI,  VII;  IX.  X;  .3 

VIII,  XI. 
II;  -IX,  X.  XIV;  5- < 

III.  V;  VI. VIII. 


XI.  XII,  XVI;  4 Vi 
IV,  VI:  V.  X: 

XVI.  XVII. 

III.  IV.  V,  VI.  5-4 
VII.  VIII.  XII, 

XIV;  XV, XVI. 


ikrr  ii.  fühlt  sich  r*.'M 

iii-ü  rennen  iitin  Kjprrimen- 
ttn.  —  durh  merU  Ar  -ein 
Ititero'vo  für  di«  V«  rvuctie 


11,  V. 

-VII;   V,  VI; 
VIII  korrigiert. 

1V.X11;V.VIII:  1>  4 :  —  XI:  VI.  XI, 

bei  IX  für 3-*  13! 


X,  XI. 


III.  VI.  \  II.  1-/.  —  Vll;  V.  VI. 
VIII. 


-V,  VIII,  XIV.  1-, 

—  V.  VIII.  XI V.     •_>'  4 

W,  -  VII,  VIII.  (;-■', 

X;   IX.  XI; 

XIII,  XVII. 
-VII.    IX.  XI, 

XV;      II.  III; 

xvi,  xvii 

IV.V  VII  VIII. 
X:  XI.  XII. 


VII.  X,  XI.  XII. 
XIII.  XIV; 
XIX. 


—  VIII;    III.  IV; 
VI.VIFXl.XllI. 

-  V.  VI;  IX.  XI: 

X.  XII 

IV.V.V1I.V1II, 

XI.  XIVjI.lll; 
XIIIXV.IX.X. 


Ih'rr  Hr.  kcnstatiort,  d:.;> 
.  r  jctit  leu-Mur  behalt. 

DotitunRi-ii  tlor  /.iihlco 
*i<  l'<^  Ji'«  vor^ni  V<r- 
mutLsl  diosor  Art. 


Herr  F.  bcob.  wach-onde  < 
Inlore^ft  f.  <1  cc«.  w-li^g. 
t'i.torsiirb.  an  Hieb,  laicht 
l:c:.ait.iir.vrrli«'nnliir.  Hprr 
F.  »will«  d.hocb^üroa« 
erreich.  ( tu  usk.Auipannnnp'. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  99 
XXL 

Behalten  von  Zahlenreihen. 


!  Herr  Prof.  M.  fühlt  sich 
Ton  vornherein  ermüdet,  ab- 
gespannt infolge  rorhergeh. 
intensiver  Betätigung.  OrOß. 
LeSelitijjlfit  merl  (bar.  Kon- 
tin.  Konaentratlon  nOtig. 


Anfen- 
f äsendes 

Herr  Prof.  M. 

Frl.  S. 

Herr  Dr.  W. 

Zahlen- 
quantum 

F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der  i 
Fehler 

r  .- 
Zahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

r  .- 
Zahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

VII 

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0 

0 

VIII 

0 

0 

IV  korrigiert. 

IX 
X 

0 

S/4 

IV,  V. 

P/4 

0 

-VI;  II,  vni. 

15/4 

4 

-VIII;  II,  UI; 

V,  VII. 
-  IV,  V,  VI,  IX. 

XI 

1*4 

I;  IV,  V;  IX,  XI. 

1 

-III. 

I T 

3 

-  III,  IV.  V. 

3 

-  IV,  IX,  X. 

Xffl 

3*4 

-II:  IV,  V; 

3 

LI;  -  VUI,  IX. 

XIV  ' 

1 

1 

VI,  VII. 
—  VI. 

43/4 

III,  IV;  —  VI,  X. 

ix,  im. 

XV 

4*4 

—  IIJII,  VII,  IX; 
IV,  V; 

XVI 

XVII 

II 

M 

xvin 

XIX 
XX 

l 

1 

1 
I 

i 

Starku  Lustgefühle,  Inter-  j<  Disposition  im  allge- 
esae  am  Zuwachs  dos  g<>-      meinen    nicht  sonderlich 


dücti  Unmäßigen  Küanens 


gut. 


7* 


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100  Ernst  Ebert  und  E.  Henmann, 

Es  worden  also  durchschnittlich  1,83  Zahlen  mehr  gemerkt, 
nämlich  durchschnittlich  8,83  Zahlen,  gegen  frühere  7  (siehe  die 
Tabelle  S.  15  unten!)',  prozentual  bestimmt  also  29,04,  —  Werte, 
die  offenbar  hinter  dem  eigentlichen  Tatbestand  des 
Fortschrittes  zurückbleiben,  denn  sowohl  Herr  B.  wie  Herr 
Prof.  M.  und  Herr  Dr.  W.  klagen  Uber  wenig  günstiges  Befinden, 
bzw.  Uber  einige  Abspannung  infolge  vorhergehender  Arbeiten. 

Achten  wir  —  unter  definitiver  Weglassung  der  50  Fehler- 
grenze —  auf  die  Verschiebung  der  33 y3# -Fehlergrenze,  so  erhalten 
wir  folgendes  Bild: 

Herr  B.  erreicht  sie  jetzt  bei  19  Zahlen,  früher  10,  -f  9  =  90,00# 

»     Br.      »      >     >     >  20  > 

>     F.  »     »  17  » 

»  Prof.M.  »      »     »     »  15  » 
Frl.  S.  >  14 

Herr  Dr.  W.  »      >      »     »  10  * 


ll,  +  9=  81,72# 
8,4-9  =  112,50^ 
11,-4-4=  36,36 # 
12,4-2=  16,66# 
10,4-0=  — 


Diese  Fehlergrenze  stieg  also  durchschnittlich  um  5,5  Zahlen; 
während  sie  früher  im  Mittel  bei  10,33  Zahlen  lag,  finden  wir  sie 
hier  beim  Mittel  von  15,83  Zahlen.  Sie  hob  sich  also  um  56,20# 
—  ein  Wert,  der  sehr  bemerkenswert  ist,  aber  sicher  ebenfalls 
hinter  dem  faktischen  Fortschritt  zurückbleibt.  —  Von  den  De- 
tails der  Protokollaussagen  seien  nur  diejenigen,  welche  für  unser 
Hauptproblem,  das  der  Übung,  wegleitend  sind,  kurz  hervorgehoben : 
Herr  B.,  Herr  F.  und  Fräulein  S.  bekunden,  daß  sie  mehr  >  Inter- 
esse« an  der  Sache  gewonnen  hätten  und  —  gleich  Herrn  Br.  — 
merklich  »leichter«  behielten;  Herr  Prof.  M.  beobachtet  an  sich 
gleichfalls  größere  Leichtigkeit  des  Behalten»  trotz  der  fühlbaren 
Abspannung,  —  er  betont,  wie  es  entscheidend  sei  für  die  Erfassung 
wie  für  die  Wiedergabe,  daß  die  Konzentration  eine  kontinuierlich 
konzentrierte,  also  auch  das  Zurückdämmen  der  übrigen  Bewußt- 
seinsinhalte ein  möglichst  anhaltendes  Bei.  Das  volitionalc  Moment 
trat  am  drastischsten  bei  Herrn  F.  auf,  der  den  löblichen  Ehrgeiz 
entwickelte,  die  Nullgrenze  möglichst  hoch  zu  bringen,  und  des- 
wegen selbst  zum  Mittel  muskulärer  Spannungen  griff  (siehe  die 
hierauf  bezügliche  Protokollnotiz). 


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Über  einige  Grandfragen  der  Psychologie  der  ÜbnngBpbünomene  naw.  101 


XXII.  Versuchsreihe. 

Diese  Versuchsreihe  war  in  ihrer  äußeren  Anordnung  ebenso 
eine  Wiederholung  der  II.  Versuchsreihe,  wie  die  vorige  eine  solche 
der  I.  Versuchsreihe  war.  Sie  bezweckte  den  Nachweis  der  Mit- 
übung der  Fähigkeit,  Buchstaben  unmittelbar  zu  behalten. 

Dabei  zeigten  sich  die  Nullgrenzen,  wie  folgt: 

Herr  B.      behielt  jetzt  9,  früher  6  Buchstaben,  also  -f-  3  =  50,00  # 


»  Br. 

»  11, 

>  8 

» 

»  +  3  =  37,50  X 

»  F. 

»  9, 

»  5 

» 

»   4-4  =  80,00  # 

>    Prof.  M.  * 

•  11, 

»  9 

» 

»   4- 2  =  22,22  # 

Frl.  S. 

»  9, 

>  7 

> 

»   4-2  =  28,57* 

Herr  Dr.  W.  » 

•  8, 

»  8 

* 

»   +  0  =  - 

• 

Durchschnittlich  merkte  sich  mithin  jetzt  eine  Vp.  9,5  Buchstaben, 
gegen  7,16  Buchstaben  im  Ausgangsstadium  (s.  S.21!).  Es  wurden 
jetzt  also  durchschnittlich  2,33  Buchstaben  mehr  gemerkt,  prozentual 
ausgedrückt  bedeutet  dies  einen  Fortschritt  von  36,28,  —  Werte, 
welche  sicher  in  Wirklichkeit  etwas  höher  zu  veranschlagen  sind, 
wenn  man  die  minder  günstige  Gesamtdisposition  (siehe  Protokoll!) 
einiger  Vp.  in  Anrechnung  bringt. 

Die  uns  noch  interessierenden  33 yt  %  F.-Grenzen  liegen  hier  so: 

furHerrn  B.      findet  sie  sich  b.  14  Buchst,  früher  10,  +  4  =40,00# 


»  Br. 

.  F. 

»  Prof.  M. 
»  Fräulein  S. 
>   Herrn  Dr.  W. 


17  >  >  17,-|-0=  — 

»  13  »  »  7,  4-6  =  85,71  # 

>  13  »  13,  4-0=  — 

»  15  >  ,  10,4-5  =  50,00^ 

»  14  »  »  10,4-4  =  40,00^ 


Vom  früheren  Mittelwert  —  S.  21  —  in  Höhe  von  11,16  Buchstaben 
stieg  die  Grenze  auf  14,33  Buchstaben  im  Mittel,  also  um  durch- 
schnittlich 3,17  Buchstaben,  d.  h.  um  28,40  %. 

Um  auch  hier  den  Lauf  der  Darstellung  nicht  aufzuhalten,  ver- 
weisen wir  hinsichtlich  aller  Details  auf  die  Tabelle  und 
heben  nur  die  Aussagen  der  Herren  Br.,  F.  und  Prof.  M.  hervor, 
daß  sie  bei  den  Versuchen  »weniger  ablenkbar«  sind,  —  »sich 
leichter  auf  das  Material  konzentrieren  können«,  —  sodann  die 
Aussagen  des  Herrn  B.,  Herrn  F.  und  Fräulein  S.,  daß  »sie  finden, 
daß  bei  den  im  ganzen  anstrengenden  Versuchen  diese  Ermüdung 
jetzt  weniger  zeitig  auftritt«. 


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102 


Ernst  Ebert  and  E.  Meumann, 


Tabelle 

XXII.  Versuchsreihe:  Unmittelbares 


Aufzu- 
fassendes 
Buch- 
staben- 
quantum  I 


llerr  B. 


F.-  Bezeichnung  der 
Zahl  Fehler 


Herr  Br. 


F.- 
Zahl 


Bezeichnung  der 
Fehler 


Herr  F. 


F.- 
Zahl 


der 


Fehler 


VI 

vn 

VIII 
IX 

X 
XI 

xn 
xra 

XIV 

xv 


XVI 

xvn 


o 
o 

0 
0 

2V4 
8»/« 

1«V4 
4'/4 

4«/4 


— ni,VH;VIkorr. 

—  II,  III,  IV; 
IX,  X. 

—  VII;  H,Vl; 

V,vhl;lY,tX; 
XI  korrigiert. 

-n,v,vm,  IX. 

HI  korrig. 

—  m,  iv,  y,  vi. 
x,xhi;ixjbv. 


0 
0 
0 
0 

0 
0 


Noch  immer  ist  die  Ge- 
samtdisposition  des  Herrn  B. 
derartigen  Versuchen  nicht 
recht  glinstig. 

Er  Ut  überrascht,  wie 
wenig  sich  troU  der  i 
Anstrengung  zuletxt 
mittung  »eigt. 


2«/4 


ÖV'4 


6 


—  X 


V,  VI. 

-m. 


i 


u. 

•  ivJyni;in,V, 

VII^IX. 


3     —  VH,  VIII,  IX. 


-xi,xn;Vi,m 
vn,vui;ix,i. 


VH,  VHI,  IX, 
X. 


ni,  iv,  x,  xi, 

XH;XVkorrig. 

v,\%vn,vui, 
ix,  xrv. 


3»/4j  —  VII,  X,Jffl; 
II,  V;  IX,  XI. 


Herr  Br.  iat  zum  Tolligen 
Konzentrieren  ftkr  heute 
nur  schwer  rahig,  —  immer- 
hin zeigt  er  sich  nach  seiner 
eigenen    sicheren  Wahr- 


bar als  früher. 


Herr  F.  nimmt  en  sieh 
mit  Bestimmtheit  wehr,  daß 
ersieh  gegenwärtig weeeatl. 
leichter  auf  das  Buchstaben- 
und  sonstige  Material  kon- 


daß  er 
müdet. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  103 


XXII. 

Behalten  von  Buchstaben. 


Aufzu- 
fassendes 
Bach- 
staben- 
qnantum 


Herr  Prof.  M. 


F.- 
Zahl 

0 


Bezeichnung  der 
Fehler 


VI 

VH  |0 

vni  jo 

IX  0 


2*4 


Ö*/4 


Frl.  S. 


F.- 
Zahl 

0 
0 
0 
0 


1 


Herr  Dr.  W. 


Bezeichnung  der  I  F.- 
Fehler Zahl 


-IV,  IX;  X,  il. 


n,rv,vii,vinf  i;23/4 
;  32/4 


0 

0 
0 


-V. 

-X;  vn,xi. 
—11,  ui,x. 

-V,XI;  VIII,  Iii. 


—  rvrux,  XI; 
XII,  XIII. 

4«/4!-ni,  vi,  vii, 

VIIL  IX,  X; 

xiv,\v. 


teue  Abspan- 
nung Störungen  akustischer, 
optischer  oder  wütiger  Art 
scheinen  für  Herrn  Prof.  M. 
auf     dieser  Übungsstufe 


S/4 


2»/4 

2 


1« 


4 


53 


Bezeichnung  der 
Fehler 


II,  V. 

— Vm,IX;VII,X. 
-V,  VIII. 

-VII;  11,^; 

nvWiV. 

-V,  VIII,  XII. 
g  nach  IX. 

—  II,  HI^VI,  IX, 

x.  v,Vni. 


Frl.  8.  fühlt  sich  ziemlich 


Herr  Dr.  Wr.  fühlt  rieh 


raatt,  —  im  Laufe  dieser  ■  im  Laufe  dieser  Versuche 

Versuche  wird  aie  »nun-  I  mehr  und  mehr  «angeregt« ; 

lerer« ,  wie  sie  rieh  aus-  es  lueen  sich  schwache,  aber 

druckt,  aie  spurt  weniger  deutliche  Lustgefühl*  aas. 


weniger  schädlich  auf  das  Müdigkeit. 


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104 


Ernst  Ebert  and  E.  Meumann, 


XXLII.  Versuchsreihe. 

Diese  Versuchsreihe  ist  bis  auf  den  speziellen  Stoff  eine,  völlige 
Wiederholung  der  III.  Versuchsreihe;  sie  sollte  das  Maß  der  in- 
direkten Übung  bezüglich  des  unmittelbaren  Behaltens 
sinnloser  Silben  nachweisen.  Die  Nullgrenzen  zeigten  sich  hier, 
wie  folgt: 


Herr  B.        behielt  jetzt  7,  früher  5  Silben,  also  +  2  =  40,00*, 


»  Br. 

»  6, 

5  » 

.  +1  =  20,00*, 

»  F. 

■ 

»    5,  , 

i     4  » 

.  +1  =  85,00*. 

»    Prof.  M.  » 

»     7,  : 

►     6  » 

»  +1  =  16,66*, 

Frl.  S. 

■    7,  , 

>     6  » 

»  +1  =  16,66*, 

Herr  Dr.  W. 

.    5,  , 

»     5  > 

»  +0=    — . 

Während  früher  (siehe  S.  30!)  durchschnittlich  5,16  Silben  ge- 
merkt wurden,  war  dies  also  hier  der  Fall  mit  6,16  Silben,  —  es 
wurde  also  rund  eine  Silbe  diesmal  mehr  gemerkt  oder  19,72*. 

Die  33 Ys*- Fehlergrenze  wurde  erreicht  von 


Herrn  B. 

bei  11  Silben,  früher  bei  6, 

also  +  5  =  83,33*, 

Br. 

»  11  , 

>      »  8, 

,  +3  =  37,50*, 

»  F. 

»  10  > 

>  »6, 

,  +4  =  66,66*, 

»     Prof.  M. 

»  12  » 

>  10, 

>  +2  =  20,00*, 

FrL  S. 

»  15  > 

»      >  8, 

>  +7  =  87,50*, 

Herr   Dr.  W. 

>    8  > 

>      >  8, 

>  +0=    — . 

Auf  dieser  Obungsstufe  wurden  also  im  Mittel  bis  zu  der  bezeich- 
neten Fehlergrenze  behalten  11,16  Silben,  im  Anfangsstadium  lautete 
die  entsprechende  Ziffer  7,66;  es  war  also  durchschnittlich  eine 
Hebuog  der  Fehlergrenze  um  3,5  Silben  eingetreten,  prozentual 
ausgedrückt  um  49,16. 

Aus  den  Details  der  Protokollnotizen  seien  als  die  beachtens- 
wertesten zunächst  die  von  Herrn  Prof.  M.  und  Fräulein  S.  erwähnt, 
welche  aussagen,  daß  sie  an  sich  eine  rationellere  Ausnutzung  der 
Sinneselemente  beobachten.  Herr  B.  und  Herr  F.  nehmen  ferner 
wahr,  daß  das  Behalten  »automatisch-mechanischer«  wird,  also 
erfolgt  ohne  besonderen  Aufwand  von  Kunstgriffen,  wie  sinnvollen 
Deutungen,  Wortbildungen  u.  dgl.,  —  Herr  Dr.  W.  fühlt  sich  noch 
immer  nicht  »recht  aufgelegt«,  —  offenbar  schaltet  dieses  Nicht- 
aufgelegtsein  einen  wesentlich  fördernden  emotionellen  Hilfsfaktor 
für  ihn  aus,  —  er  verharrt  auf  der  Stufe  der  »alten«  Leistung. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übongsphänomene  usw.  105 


XXTV.  Versuchsreihe. 

Diese  Versuchsreihe  ist  eine  Wiederholung  der  IV. ;  an  ihr  be- 
teiligten sich  diesmal  sämtliche  Vp.  Das  Maß  des  Fortschrittes 
kann  hier  also  nnr  für  Herrn  Prof.  M.  und  Herrn  Dr.  W.  fest- 
gestellt werden,  die  sich  bereits  bei  der  Feststellung  des  ersten 
Gedächtnisqnerschnittes  diesen  Versuchen  unterzogen  hatten.  Es 
zeigt  sich  dabei,  daß 

Herr  Prof.  M.  j  etzt  9  Wörter  behält,  früher  7,  also  +  2  =  28,57 
>  Dr  .  W.       »    7     »         >         »     6,     »  -{- 1  =  16,66#. 

Der  Durchschnitt  beträgt  hier  also  8  gegen  frühere  6,5  Wörter, 
siehe  Seite  32,  unten!  Das  Plus  ist  allerdings  nur  1,5  im  Mittel 
oder  22,61  Die  33  y,  #- Fehlergrenze  hat  sich  bei  beiden 
Vp.  in  keiner  Weise  verschoben;  sie  liegt  noch  bei  12  Wörtern 
ftir  Herrn  Prof.  M.  und  bei  9  Wörtern  für  Herrn  Dr.  W.  Wir 
werden  mithin  keinen  sonderlich  schwerwiegenden  Fehler  be- 
gehen, wenn  wir  —  schon  im  Hinblick  auf  die  beim  Schluß- 
querschnitt zu  ziehenden  Mittelwerte  —  die  beiden  vorerwähnten 
Vp.  mit  ihren  Resultaten  ohne  weitere  Trennung  neben  die 
übrigen  vier  Vp.  stellen;  wir  halten  zur  Korrektur  des  Urteils 
eben  nur  dabei  fest,  daß  die  beiden  erstgenannten  Vp.  einen 
minimalen  Vorsprung  vor  den  vier  andern  haben  dürften,  da  sie 
schon  gelegentlich  der  IV.  Versuchsreihe  mit  derartigem  Material 
bekannt  gemacht  wurden.  Folgende  Tabelle  zeigt  die  Lage  der 
Null-  und  33 y3 Fehlergrenze: 


Herr  B. 
»  Br. 

>  F. 

»    Prof.  M. 
Frl.  S. 
IJerr  Dr.  W. 


Behielt  9  Subst.  fehlerlos 


»  7 

>  5 

>  9 

>  7 
»  7 


* 

» 
» 


» 


Erreicht  bei  16 
13 
15 
12 
12 
9 


Sub- 
stantiva 
die 

337s  %- 
Fehler- 
Grenze. 


Es  werden  hier  also  im  Mittel  7,33  einsilbige  Substantiva  gemerkt, 
die  33  Vs  ^-Fehlergrenze  wird  erreicht  bei  durchschnittlich  12,83 
derartigen  Wörtern,  —  Zahlen,  die  wiederum  dartun,  wie  sehr  der 
Sinn  das  Behalten  unterstützt,  wenn  man  die  Seite  104  verzeichneten 
Mittelwerte  daneben  hält,  oder  welchen  un verhältnismäßigen  Auf- 
wand  von  psychophysischer  Energie  umgekehrt  das  Behalten 


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106 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Tabelle 


XXIII.  Versachsreihe:  Unmittelbares 


Aufzu- 

fassendes 

Silben- 

F.- 

quantura 

Zahl 

V 

0 

VI 

0 

VII 

0 

Herr  B. 

Bezeichnung  der 
Fehler 


I.- 
Zahl 


Herr  Br. 

Bezeichnung  der 
Fehler 


32.4 


-III.  IV. 

UIJV;  VI*  .VII*  . 

-IV,  VI.  VIII; 
U.  III. 

-1I.III.IVTV.IX. 


Herr  Ii.  werkt  immer  mehr 
automatisch,  mechanisch,  — 
Kunstgriffe  mri^motechiii- 
j-vhor  Art  verlieren  «ii-h. 


0 
0 

1 

2 


-IV. 

—  IV;  V:  .  VI*  . 

—  III;  Vi™,  VI* 

II.  VI. 


3*. 


V.  IX:  Vll; 

ii^,  xi~~~ 


Herr  Br.  bildet  udwüI- 
kttrlieh  drei- bia  viersilbige 
Minnlose  Merkworte, ->  iauell 

vorgestellt. 


F.- 
Zahl 

0 

l2/3 

2V3 

2» 3 


5i, 


Herr  F. 

Bezeichnung  der 
Fehler 


IV;  III>  .  V* . 
VW  ,  m  ,  Ii!  . 

11.  III;  IV*, 
VIII*  . 

II,  III,  VII»»; 
VIII*  . 

i,  u,  iii,  vra. 

V\  VII»  IX?, 

X*  . 


Herr  F.  spricht  sich  g*nz 
i  im  Sinne  des  Herrn  B.  tot. 
|  Dem  »Willen«  räumt  er  eine 
erhebliche  Einwirknnff»- 
möglichkeit  auf  die  Konri- 
titenz  der  Aufmerksamkeit 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphiinoniene  usw.  107 


xxni. 

Behalten  ?on  sinnlosen  Silben. 


Aufzu- 

Herr  Prof.  M.  i 

Frl.  S. 

Herr  Dr.  W. 

Silben- 
qnantum  j 

F.- 
Zahl 

1 

Bezeichnung  der 
Kehler 

1 

f  - 

Zahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

V 

n 

0 

VI 

0 

0 

VT  • 

VII 

0 

0 

2'  :, 

—  IV;  V»  .  VI^, 
VIIv  . 

vni  j 

!  v» 

IVl  . 

III»  .  VI*  . 

3V3 

—  iv,  V;  r ,  III», 

VI!»  ,  VIII»  . 

IX 

IV» 

-III;  VI»  . 

2 

-  U.  IV. 

X 

V3 

IV*. 

tii».iti»Mv»». 

XI 

2Va 

-U;UI;P>.Vm, 
IVvh. 

VI. 

XII 

—  m,  IV,  V;  II; 
VI5,XII5._ 

! 

1  " 

—  VI,  VII. 

xni 

XIV 

1 

1*« 

-  IV. 

-VIII;  VI.  VII. 

XV 

—  V,  IX,  X,  XI: 
VIII,  X 11. 

■ 

,  ** 

*  •  j  i  .  • 

t  -  , 

Behalten  erscheint  minder 
diffizil  wie  fordern,  —  nach 
der   Meinung    de«  Herrn 
Prof. IL  Tor  ■Harn  deswegen, 
weil    die  Sinnoeelemonto 
jetxt  rationeller  znsammon- 
wirken,  —  euch  Störungen 
auf  mehr  WidereUndsmhig- 
keit  treffen. 

Frl.  S.  glaubt,  die  grOlWe 
;  Leichtigkeit  Jes  unmittel- 
baren Behalten?   auf  eine 
eingetretene  rationellere 
|  Auanutzung    der  beteilig- 
!  ten  Sinne>eleraente  in  der 
Hauptsache  zurückfuhren  zu 

Allgemeinbefinden  noch 
immer  nicht  gut.  Einige 
sinnvolle  Deutungen  belä- 
stigen  mehr,    als  daß  üie 
fordern. 

Digitized  by  Co 


108 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Tabelle 

XXIV.  Versuchsreihe:  Unmittelbares  Behalten 


Aufzu- 
iasg. 

Herr  B.  | 

Herr  Br. 

Herr  F. 

Wort- 
zahl 1 

F, 
Z&hl 

Bezeichnung  der  { 
Fehler 

F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

,  F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

V 

0 

VI 

0 

Vs 

mi. 

VIT 
Vll 

0 

2/4 

iv,  V. 

VIII 

0 

1 

21 

1 

—  HI. 

IX 

VF 

1 

 v 

o 

4M 

—  TV  VTTT 

1  V  ,    v  1U- 

X 

1*4 

-V;  bei  I  Kleid 
für  Tracht. 

—  IV,  V;  VI,  VII. 

2 

— m,  vin. 

XI 

22/4 

—  III,  V;  IX,  Y 

3 

—  in,  iv,  v. 

32/s 

—  IV,  VTII,  X; 

V»h. 

xn 

4 

—  IV,  V,  VI,  VIII. 

3 

-V,  IX;  XI. 

4 

-II,  IV,  V,  VI. 

■VTIT 

3 

-V,  VII,  VIII. 

62/4 

-II,  III,  IV,  V, 
XI  ;  XII,  im. 

4 

V|    VT»    IX«  ILm 

XIV 

3 

-  VI,  VII,  VIII. 

41/4 

-IV,  V,  IX,  X; 
XH  korrig. 

XV 

4«/4 

—  VI,  VII,  X  JCI ; 

i.  ii,  vin,  lx. 

62/3 

— n,  in,  vi,  ix, 

XI,  XII.  Xll 

XVI 

-  v,vi,vn,vin, 
ix.  xi,  xn. 

»Nach  d«r  trostlosen 
.  Monotonie  des  sinnlosen 
Stoffe««  löst  das  Anwenden 
sinnvolleren  Materials  ent- 
schieden Lustgefühle  ans: 

Der  Sinn  scheint  an  und 
für  eich  weniger  unter- 
stützend gewirkt  zn  haben, 
—  vielmehr  scheint  es  Herrn 
B.,  daß  jedes  eiuelne  Wort 
die  Tendern  hatte,  durch 
Anregung  anderer  Voretel- 
Inngen  tn  terttreuen. 

Herr  Br.  anrieht  sieh  im 
Sinne  der  Herren  B.  und  F., 
sowie  von  Frl.  8.  aas.  Keine 
sinnvollen  Verknüpfungen. 
Durchaus  visuelles  Merken. 

Das    Herumwerfen  von 
einem  Gedankenkreis  in  den 
andern  völlig  heterogenen 
scheint  Herrn  F.weit  größer« 
Anforderungen  and. Konzen- 
trationsfähigkeit iu  »tollen, 
als  das  unmitUlh.  Behalten 
Tellig  sinnlosen  Material*. 
8toff  im  übrigen  Lustge- 
fühle auslosend. 

■ 

J  k, 


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Über  einige  Grandfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  uaw.  109 


XXIV. 


einsilbiger  Substantira  ohne  logische  Verbindung. 


Aufzu- 
fass. 

Herr  Prof.  M. 

Frl.  8. 

Herr  Dr.  W. 

Wort- 
zahl 

F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

1  F  " 
jZahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

V 
VI 

VII 

vm 

IX 


V3 


X  !2 


XI 


2'/a 


XII  fti/s 
XIII 

XIV 
XV 

XVI 


U»  Mut  H!  . 

—  11,  III. 

—  in,  IV;  I*  . 

—  i,  ii,  in,  tv,y. 


0 
0 

'0 

I 

!  ^ 


2 
5 


Sinn  fördert  Dicht  derart, 
wie  eu  rennuten  wir.  Groß« 
Ki  n/eütration  unbedingt  er- 
forderlich. Sinnrolle  Ver- 
bindungen und  mnemotech- 
nieche  Kunstgriffe  eigent- 
lich sie  Aufgetreten.  Znletzt 
At^espanatheit.  Akratisch 


Illvb. 

IIv|,  Illvh. 

—  II,  III,  VI. 

-VIII,  IX. 

-  II,  III,  IV, V, VI. 


Die  Verschiedenheit  der 
Begriff^ebiete  wirkt  dila- 
tierend  —  g»jn  gewill  mehr 
dilatierend  »Ii  die  Verachie* 
denhelteinnloeer  Silben,  die 
Aufmerksamkeit  nnd  Inter- 
esse  in  weit  geringerem 
Mal)  erregen,  —  also  sind 
hier  besonders  starke  Hein- 
raungaprozesje  gegen  dit 
drohende  Dilatation  von- 


0 
0 

0 

l2/3 

4 


-vinih.  i 

-  II,  III,  V,  VII. 


Herr  Dr.  W.  halt  eich 
faet  eusechlieOlich  aa  die 
Klangbilder.  Stoff  angenehm 
erregend  nach 
Material. 


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110 


Ernst  Ebert  und  E.  Meuniann, 


sinnlosen  Materials  erfordert.  Dabei  bezeugen  die  in  extenso  verzeich- 
neten Protokollnotizen  der  Tabelle,  daß  fast  sämtliche  Vpp.  nicht 
den  Eindruck  hatten,  als  habe  sie  der  Sinn  unterstützt,  —  mehr  för- 
derlich erschien  ihnen  das  emotionelle  Element  der  Lustgefühle  aus- 
lösenden Abwechslung  nach  der  »trostlosen  Monotonie  des  sinnlosen 
Stoffes«  (Herr  B.);  gleichzeitig  beobachten  sie  an  ihrem  inneren 
Verhalten,  daß  das  »Herumwerfen  von  einem  Gedankenkreis  in 
einen  völlig  heterogenen  andern«  (Ausdruck  des  Herrn  F.)  an  die 
Widerstandsfähigkeit  der  Konzentration  größere  Anforderungen  stellt, 
als  das  Behalten  durchaus  sinnlosen  Materials. 

Die  nun  folgenden  Versuchsreihen  XXV— XXVII  wurden  ent- 
sprechend den  Versuchsreihen  V— VH  nur  mit  Herrn  Prof.  M.  und 
Herrn  Dr.  W.  vorgenommen. 

XXV.  Versuchsreihe. 

Hier  handelte  es  sich  um  den  Nachweis  der  Mitttbung  des  un- 
mittelbaren Behaltens  von  fremdsprachlichen  Vokabeln 
infolge  der  einseitig-mechanischen  Übung.  Man  erinnere 
sich  der  differenten  Art,  wie  jede  der  Vp.  sich  bei  diesem  Versuche 
verhielt  —  siehe  Seite  35!   Die  Nullgrenze  liegt  für 

Herrn  Prof.  M.  jetzt  bei  6  Wörtern,  früher  6,  also  -h  0  =    — , 
>    Dr.  W.       »     »  5      »  »     4,    »   +1  =  25,00#. 

Die  33 V,  ^-Fehlergrenze  liegt  jetzt  für 

Herrn  Prof.  M.  bei  14  Wörtern,  früher  bei  8,  also  +  6  =  75,00 
»    Dr.  W.     >     9    »  »       »  7,    »    +  2  =  28,57#. 

Also  stiegen  betreffs  der  Nullgrenze  die  Leistungen  von  5  auf 
durchschnittlich  5,5  Wörter,  mithin  um  10  Die  durchschnittliche 
33  y3  # -Fehlergrenze  sehen  wir  auf  der  gegenwärtigen  Stufe  liegen 
bei  11,5  Wörtern,  während  sie  anfänglich  bei  7,5  Wörtern  lag;  sie 
hob  sich  also  um  vier  Wörter  oder  um  53,33  —  eine  Zahl,  die 
objektiv  dasselbe  bekundet,  was  subjektiv  Herr  Dr.  W.  zu  Protokoll 
bemerkte,  —  daß  nämlich  offensichtlich  mit  der  Übung  eine  wachsende 
Intensität  der  Konzentration  verbunden  ist. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  1 11 


Tabelle  XXV. 


XXV.  Versuchsreihe:  Unmittelbares  Behalten  von  deutsch 

italienischen  Vokabeln. 


Zahl 
der 
Vok- 
Paare 


F.- 
Zahl 


m 

IV  I 

v  !■ 

VI  i 
VII 

vin 

IX 

x 

XI 


0 

1 

2 
2 


Herr  Prof.  M. 


Bezeichnung  der  Fehler 


Herr  Dr.  W. 


F.- 
Zahl 


Bezeichnung  der  Fehler 


—  IV,  deutsch. 

—  IV,  deutsch  u.  ital. 

—  in,  ital. 
-IV,  > 

—  I,  deutsch  u.  ital. 

—  II,  » 


0 
0 
0 

U 

p  ■ 

-  4 

4*5 


Mittelwerte:  a)  Nullgrenze: 


Bei  II  fehlen  4  v.  6  Buchst 


IV,  VI. 


-  VI,  VIII. 

IV  =  3  V.  \  v.  d.  Zahl  der 
V  -=  »,6  I  Buchst,  falsch. 
- 1,  V,  VI,  IX. 
VIII  =  3  5  der  Zahl  d.  Buch- 
staben falsch. 

5.6  Wörter. 


b  33»  a  %  F.-Grenze:  11,5 


Weniger  günstige  Disposition,  —  Herr 
Prof.  H.  steht  etwas  unter  dem  Eindruck 
einer  Arersion  gegenüber  diesem  Stoff.  > 

i 


Ilerr  Dr.  W.  ist  erstaunt  über  seine 
eigene  »Ausdauer  der  Konientration«,  — 
ein  »zweifelloser  Übnngs«ffekt«.  (»Lang- 
sameres Abklingen  der  Konzentration  xur 
Distribution..) 


112 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumaun. 


XXVI.  und  XXVII.  Versuchsreihe. 

Diese  Versuchsreihe  bezweckte  den  Nachweis  der  Mitttbung 
der  Fähigkeit,  Gedichtworte  oder  schwierigere  Prosa 
unmittelbar  behalten  zu  können. 

Aus  der  Tabelle  (XXVI)  zur  XXVI.  Versuchsreihe  ersehen  wir, 
daß  die  Nullgrenze  für  Herrn  Prof.  M.,  rein  ziffernmäßig  betrachtet, 
dieselbe  geblieben  ist,  —  er  gab  fehlerlos  18  Gedichtworte  un- 
mittelbar wieder;  daß  diese  Grenzzahl  aber  ohne  Bedenken  höher 
gesetzt  werden  könnte,  zeigt  der  abschließende  Versuch  mit  26  Ge- 
dichtworten, der  bis  auf  die  Weglassung  einer  nebensächlichen 
attributiven  Bestimmung  völlig  einwandfreie  Reproduktion  einer 
recht  ansehnlichen  Wortzahl  nachwies.  —  Für  Herrn  Dr.  W.  sehen 
wir  ein  Steigen  der  Nullgrenze  von  12  auf  16  Wörter,  —  Zunahme 
4  Wörter  oder  33,33  % ,  so  daß  wir  dem  früheren  Mittelwert  (15  Wörter) 
jetzt  den  von  17  Wörtern  gegenüberstellen  können;  die  mittlere 
Zunahme  beträgt  also  2  Wörter  oder  13,33  Man  beachte  übrigens 
daß  Anwachsen  der  Mittelwerte  in  der  V.  und  XXV.  Versuchsreihe 
zu  denen  der  VI.  und  XXVI.  Versuchsreihe  und  ersehe  daraus  aufs 
neue,  wie  sehr  erleichternd  der  komplizierte  Assoziationsmechanis- 
mus des  >  Sinnes«  gegenüber  einer  völlig  verbindungslosen  Gruppe 
von  Gedächtnismaterial  wirkt!  Auch  die  VII.  bzw.  XXVII.  Ver- 
suchsreihe ist  zur  Erhärtung  dieses  Faktums  durchaus  geeignet 
Aus  der  Tabelle  XXVn  ist  hinsichtlich  des  Grades  der  indirekten 
Übung  zu  konstatieren,  daß  Herr  Prof.  M.  anf  seinem  Anfangs- 
standpunkt —  22  Worte  philosophischer  Prosa  —  verblieben  ist, 
während  Herr  Dr.  W.  von  12  auf  16  Worte  vorrückte,  —  wieder 
um  4  Worte  oder  33,33  Statt  des  früheren  Mittelwertes  für 
die  Nullgrenze  von  17  Wörtern  haben  wir  also  auf  dieser  Stufe 
einen  solchen  von  19  Wörtern,  —  ein  Plus  von  2  Wörtern  oder  11,76#. 

In  dem  Detail  des  Protokolls  ist  hier  das  Bemerkenswerteste, 
daß  beide  Vp.  an  sich  »größere  Leichtigkeit  des  Erfassens  und 
Wiedergebens«  beobachten. 

Die  XXVTH.— XXXH.  Versuchsreihe  sollte  hierauf  quantitative 
Unterlagen  liefern  für  das  Maß  der  Mitübung  der  Fähigkeit 
dauernden  Behaltens  infolge  einseitig-mechanischer  Übung,  und 
zwar  dienten  zum  Nachweis  dieser  indirekten  Übung  abermals 
Materialien,  welche  mit  besonderer  Sorgfalt  den  für  die  Versuchs- 
reihen VIH— XII  verwendeten  analog  zusammengestellt  waren. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  113 


Tabelle  XXVI. 

XXVI.  Versuchsreihe:  Unmittelbares  Behalten  von 

Gedichtworten. 


Zahl  der 
Wörter 

des 
Gedichts 


Herr  Prof.  M. 


Herr  Dr.  W. 


F.- 
Zahl 


Bezeichnung  der  Fehler 


F.- 
Zahl 


XII  | 

0 

XIV 

0 

XVI  j 

0 

xvra 

0 

XXII 


XXIV 


XXVI 
XXVIII 


Bezeichnung  der  Fehler 


a!  »Für«  statt  »auf«, 
b;  »von«  statt  »aus«, 
c)  »neues«  vor  »Uium« 
fehlt 

a)  »offne«  für  hohe  Tore. 

b)  »und  stehen  andere«  — 
hier  fehlte  stehen. 

Die  mittlere  der  3  Zeilen 
fehlt: 

»ein  Heer  zu  sammeln 
treibet  mich  der  Zorn«. 


»teuern«  fehlt  vor  »Vaters 
Hause«. 


0 
0 


»an«  für  »bei«. 

a)  »eisernes«  vor  »Ge- 
brause«  fehlt. 

b)  »Hause«  fehlt. 

c)  dgl.  »das  hinter  Bäumen 
einsam  sich  verlor«. 

»Ein  neues  Uium  wird  sich 
erheben«  flir  »fllr  Bie  w. 
du  ein  n.  TL  erheben«. 

a)  Für  »durch«:  »aus«, 
bj  Die  6  Schlußworte  fehl. 

a)  »Kommt  gezogen«  für 
»ist  vorhanden«. 

b)  Fehlt:  »gekommen  ist 
die  unabwendbar  böse 
Zeit«. 

c)  Fehlt:  »Troja  hat  ge- 
standen«. 

dj  Fehlt:  »Schimmer 
strahlte«. 


Mittlere  Lage  der  Nullgrenze  für  beide  Vp.:  17  Wörter. 


Intensive  Hemmung  aUes  sonstigen  Be- 
1  wußtaeinsinhaltee  nötig  nnd  zugleich  für 
Herrn  Prot  M.  mehr  nnd  mehr  möglich. 


Gefühl  der  »Leichtigkeit«  unverkennbar 
ausgelöst. 


Archiv  ftr  Psychologie.  IV. 


8 


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114 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann. 


Tabelle  XXVII. 

XXVII.  Versuchsreihe:  Unmittelbares  Behalten  von  philo- 
sophischer Prosa. 


Herr  Prof.  M. 


F.- 
Zahl 


0 
0 
0 

o 


0 
0 


Bezeichnung  der  Fehler 


Herr  Dr.  W. 


F.- 
Zahl 


a)  »in«  für  »bei«. 

b)  Umstellung:  »zu  er- 
strebende entfernten«. 

a)  Fehlt:  »Lust  und«. 

b)  Für:  »scheint  in  der 
schwach,  n.  beschränkt. 
Natur  d.  menschl.  Seele 
zu  liegen« :  »in  der  allg. 
Beschränkg.  d.  mensch- 
lichen Natur  zu  liegen«. 

a)  »in  der  Folge«  für  »in 
ihren  Folgen«. 

b)  »gut«  und  .»Übel«  für 
»Gutes«,  »Übles«. 

c)  Fehlt:  »in  der  kommen- 
den Zeit«. 


0 
0 
0 


Bezeichnung  der  Fehler 


&  Fehlt:  »grenzenlos«. 

b)  »Für«  statt  »auf  immer«. 

c;  Fehlt:  »wie  durch  Grenz- 
zeichen«. 

»vervielfachen«  für  »ver- 
vielfältigen«. 

al  »den  Ausdruck«  für  »die 
Beweise«. 

b)  Fehlt:  »bestens«. 

a}  »Erstrebung«  f. »Wahl«. 

b  Für  »eines  zu  erstr.  entf. 
Zieles« :  »zunächst  lie- 
genden Zieles«. 

a)  »Schmerz u. Lustgefühl« 
für  >  Lust  u.  Schmerzen « . 

b)  »liegt  in  der  Schwäche 
der  menschl.  Seele«  für 
»scheint  in  der  schw. 
n.  beschränkt.  Natur  d. 
menschlichen  Seele  zu 
liegen«. 

a)  »Diejenigen  Dinge« 
für  »die  in  ihren  Folgen 
gut.  u.  schlechten«. 

b}  »Schlimmes  und  Gutes« 
für  »Gutes  u.  übles«. 

c)  Fehlt:  »in  der  kommen- 
den Zeit«. 


Fehlt  am  Schluß 

a)  »wenn«, 

b}  »eine  Vorstellung«. 
Fehlt:  »gut«  zwischen  »Ge- 
spräch« und  »brauchen 
kann«. 

a;  Fehlt:  »notwendig  zu 
beantwortende«. 

b)  Fehlt:  »nun«. 

c)  Fehlt:  »nach  unserer! 
Auffassung«. 

Qi  »Wl  rken«  fiir  »einwirken 
können«. 

Mittlere  Lage  der  Nullgrenze  für  beide  Vp.:  19  Wörter. 

Herr  Dr.  W.  TeraoUt  die  Nullgrenx* 
»höher«  »uf  Grund  der  KmptinJung  der 


Gerlnteb.  nebenan  störte  nicht. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  uaw.  115 


XXVIII  Versuchsreihe. 

Bei  dieser  Versuchsreihe  hatten  wir  es  wieder  mit  Reihen  von 
10,  12,  14,  16  Silben  zu  tun.  Dem  in  erster  Linie  bei  diesem 
>  Kontrollquerschnitt«  verfolgten  Zwecke  gemäß  sei  sofort  auf  den 
Nachweis  des  Übungsfortschrittes  eingegangen,  von  dem  sich 
unschwer  vorausbestimmen  ließ,  daß  er  recht  beträchtlich  sein  werde, 
da  ja  Prttfungsstoff  und  Übungsstoff  in  jeder  Beziehung 
homogen  waren.  Indem  wir  bezüglich  aller  Einzelheiten  auf 
die  Tabelle  XX VIII  verweisen,  schreiten  wir  direkt  zur  summa- 
rischen Darstellung  des  hier  vorliegenden  Übungseffektes  unter 
Erinnerung  an  die  von  Seite  47  an  gewonnenen  Werte,  die  fortab 
in  runden  Klammern  den  jetzt  festzuhaltenden  beigefügt  werden 
sollen.  Zur  Erlernung,  bzw.  Wiedererlernuog  der  im  ganzen 
52  Silben  umfassenden  4  Reihen  gebrauchen  jetzt 

Herr  B.       Neulernen  21  Lesgn.  (171), Wiederlernen  11  Lesgn.  (41), 


*  Br. 
»  F. 

>    Prof.  M. 
Frl.  S. 
Herr  Dr.  W. 


42 
32 
50 
53 
64 


(89), 
(80), 
(140), 
(92), 
(89), 


12 
13 
15 
19 
16 


(26), 

(19), 
(33), 

(13), 
(22). 


Gehen  wir  wiederum  auf  die  feststehende  Norm  von  einer  der 
52  Silben  zurück,  so  zeigt  sich,  daß  gegenwärtig  zu  deren  Er- 
lernung und  Wiederlernung  im  Mittel  nötig  waren  bei 

Herrn  B.     Neulernen  0,40  Les.v(3,29),  Wiederlernen  0,21  Les.  (0,78), 


>  Br. 

>  F. 

»     Prof.  M. 
Frl.  S. 
Herrn  Dr.  W. 


0,80 
0,61 
0,96 
1,01 
1,23 


(1,71), 
(1,53), 
(2,69), 
(1,76), 
(1,71), 


0,23 
0,25 
0,28 
0,36 
0,30 


(0,50), 
(0,36), 
(0,63), 
(0,25), 
(0,42). 


Hieraus  folgt,  daß  bei  unserem  Kontrollschnitt  Uberhaupt  für 
eine  Silbe  als  Norm  nötig  waren 

bei  Neuerlernung     0,835  Lesungen  (2,115) 
und  bei  Wiedererlernung  0,271         »  (0,49). 

Diese  Werte  (mit  nur  zwei  Dezimalen  bezeichnet)  drücken  also 
gegenüber  dem  S.  47  konstatierten,  hier  in  Klammern  angedeuteten 
Faktum  aus  einen  Übungsfortschritt  um  1,28  Lesungen  oder 

8* 


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Ernst  Ebert  und  E.  Meuuiann. 


Herr  Dr.  W. 

Wieder- 
erlern. 

j  i 

CO  iß 

4  Lr€B. 

4  Les. 

6  ^  i*i  Bf       ™  2  « 
J-aä  §           -  § 
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3  6 

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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungspbiinoraene  u»w.  117 

60,66  #  bezüglich  der  Neuerlernungen  und  einen  solchen 
um  0,22  Lesungen  oder  44,89 #  betreffs  der  Wieder- 
erlernungen. 

Wie  sich  derselbe  im  einzelnen  Falle  verteilt,  ist  aus  der 
Tabelle  XXVTII  zu  ersehen.  Im  übrigen  sei  auch  hier  nur  das 
Wichtigste  aus  den  zu  Protokoll  niedergelegten  Beobachtungen 
herausgehoben. 

Zunächst  stimmt  das  Gros  der  Vp.  darin  überein,  daß  immer 
seltener  eine  Lesung  verloren  geht,  —  es  »findet  bessere  Ausnutzung 
der  Lesungen  statt«  (Herr  Br.,  Fräulein  S.). 

Ferner  setzt  immer  rapider  und  prägnanter  die  Stufe  des 
rhythmisierenden  Lesens  ein,  womit  sich  positiv -emotionelle 
Hilfsfaktoren  auslösen,  —  das  »Lernen  der  alten  Bekannten«,  näm- 
lich der  gewohnten,  aus  Silben  zusammengefügten  Rhythmen,  »be- 
reitet ein  gewisses  Vergnügen«  (Herr  F.).  Damit  verschmelzen 
nach  der  Ansicht  des  Herrn  B.,  Herrn  Br.  und  Fräulein  S.  inten- 
sivere Einflüsse  der  Sinneselemente,  vor  allem  der  optischen, 
akustischen  und  motorischen  Eindrücke.  So  kommen  denn  der- 
artige Fortschritte  vor,  wie  die  des  Herrn  Prof.  M.  von  31  und 
34  Lesungen  bei  X  und  XII  Silben  auf  11  und  8  Lesungen,  oder 
die  des  Herrn  B.  von  28,  49,  63  und  31  Lesungen  bei  den  4  Reihen 
auf  4,  6,  5,  6  Lesungen. 

XXIX.  Versuchsreihe. 

Zweck  dieser  Versuchsreihe  war,  zu  kontrollieren,  inwieweit 
auch  das  Gedächtnis  für  optische  Figuren  eine  Steigerung 
durch  die  bisherige  einseitige  Übung  erfahren  hatte. 

Wie  auf  S.  115  summarisch  verfahrend,  bringen  wir  im  folgen- 
den die  Erlernungswerte  sofort  für  sämtliche  24  Zeichen  in  Ansatz, 
gleichzeitig  in  Klammern  die  alten  Ziffern  repetierend. 

Es  wendeten  auf 
Herr  B.        Neulernen  41  Lsgn.  (62),  Wiederlernen  12  Lsgn.  (25), 


»  Br. 

37 

»  (79), 

> 

7  » 

(12), 

»  F. 

26 

»  (57), 

» 

6  » 

(20), 

»    Prof.  M. 

83 

»  (123), 

10  » 

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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  119 

Demnach  brauchten  zur  Erlernung,  bzw.  Wiedererlernung  eines 
einzigen  der  24  Zeichen  auf  der  gegenwärtigen  Stufe 

Herr  B.      Neulern.  1,70  Lsgn.  (2,58),  Wiederlern.  0,50  Lggn.  (1,04), 


0,29  »  (0,50), 

0,25  >  (0,83), 

0,41  »  (0,70), 

0,25  »  (0,62), 

0,41  »  (0,41). 


»    Br.  >  1,54  >  (3,25), 

»    F.  »  1,08  »  (2,37), 

>    Prof.  M.  >  3,45  »  (5,12), 

Frl.  S.  »  2,20  »  (4,33), 

Herr  Dr.  W.  »  3,45  »  (5,37), 

Überhaupt  wurden  demzufolge  beim  Eontrollschnitt  für  Erler- 
nung, bzw.  Wiedererlernung  eines  einzelnen  Zeichens  durchschnitt- 
lich gebraucht  2,23  Lesungen,  beziehentlich  0,35  Lesungen,  gegen- 
über früheren  3,83  Lesungen,  beziehentlich  0,68  Lesungen.  Es 
ist  also  ein  Fortschritt  um  1,6  Lesungen  bzw.  0,33  Le- 
sungen zu  konstatieren,  oder  ein  solcher  um  41, 77#,  bzw. 
48,52#. 

Aus  den  Einzelheiten  der  Protokollbemerkungen  ist  wohl  am 
meisten  von  Belang,  daß  sich  die  Vp.  immer  entschiedener  ver- 
neinend zu  der  Frage  stellen,  ob  ein  rein  visuelles,  passiv  die 
Eindrücke  aufnehmendes  Lernen  solchen  Materials  möglich  sei; 
vielmehr  sind  sie  der  Meinung,  daß  ihnen  vor  allem  das  schon 
früher  ausführlich  besprochene  konstruierende  und  ebensoviel 
oder  noch  mehr  das  artikulierende  Verfahren  »zur  sicheren  Per- 
zeption,  Apperzeption  und  Reproduktion«  (Frl.  S.,  —  ähnlich  aus- 
gedrückt von  Herrn  Br.)  verholfen  hat.  Herr  F.  und  Frl.  S.  heben 
als  speziell  erlernungsfördernd  den  Umstand  hervor,  daß  ihnen 
derartige  Reihen  > nicht  mehr  so  unangenehm«  vorkommen,  —  da- 
mit stimmt  das  Dafürhalten  des  Herrn  Br.  fast  völlig  überein.  Da 
diese  drei  Vp.  wohl  den  markantesten  Fortschritt  in  den  vorhin 
angestellten  Berechnungen  aufweisen,  wird  man  guttun,  der  Aus- 
schaltung negativ  emotioneller  Faktoren  —  also  der  UnlustgefUhle 
—  besondere  Wichtigkeit  für  das  Übungsphänomen  beizumessen. 

XXX.  Versuchsreihe. 

Den  Nachweis,  daß  auch  das  Gedächtnis  für  fremdsprach- 
liche Vokabeln  >  mitgeübt«  worden  sei,  sollte  diese  XXX.  Ver- 
suchsreihe erbringen,  die  nach  Analogie  der  X.  Versuchsreihe  an- 
geordnet war.  Für  Erlernung,  bzw.  Wiederholung  der  insgesamt 
70  Vokabeln  brauchten  diesmal 


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120 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumanu, 


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Über  einige  Grandfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  121 


Herr  B.  6  Lesungen  (16),  bzw.  2  Lesungen  (2), 

»     Br.  14  »       (19),    »  5       *  (7), 

»    F.  9  (17),    »  2       »  (4), 

»    Prof.  M.  14  »       {22},    »  2       »  (2), 

Frl.  S.  18  »       (27),    »  4       »  (6), 

Herr  Dr.  W.  13  »       (14),    >  2       »  (3). 

Gehen  wir  wieder  auf  eine  einzelne  der  70  Vokabeln  als 
maßgebende  Einheit  zurück,  so  finden  wir  für  die  6  Vp.  folgende 
Werte:  Auf  eine  Vokabel  entfällt  bei 


Herrn  B.         0,085  Lesgn.  (0,228),  bzw.  0,028  Lesgn.  (0,028), 


»    Br.        0,200  » 

(0,271), 

»    0,071  > 

►  (0,100), 

»    F.         0,128  > 

(0,242), 

»      0,028  : 

►  (0,057), 

>    Prof.  M.  0,200  » 

i0,314), 

»  0,028 

(0,028), 

Frl.  S.           0,257  » 

(0,385), 

»    0,057  i 

>  (0,085), 

Herrn  Dr.  W.   0,185  » 

(0,200), 

»    0,028  a 

►  (0,042). 

Auf  dem  gegenwärtigen  Standpunkte  der  Gedächtnisfunktion 
waren  also  im  Durchschnitt  für  eine  Vp.  nötig  0,175  Lesungen, 
bzw.  0,040  Lesungen  gegen  früher  nötige  0,273  Lesungen,  bzw. 
0,056  Lesungen;  die  Ersparnis  beträgt  also  gegenwärtig  0,135  Le- 
sungen im  Mittel  oder  77,14  —  man  vergleiche  damit  die  ent- 
sprechenden Werte  auf  S.  58  oben!  (Die  Ersparnis  wird  also  mit 
fortschreitender  Übung  geringer.) 

Der  Fortschritt  beträgt  also  bis  jetzt  im  Mittel  0,098  Le- 
sungen, bzw.  0,016  Lesungen,  oder  35,89 bz[w.  28,57#. 

Zwei  Punkte  schienen  dem  Versuchsleiter  unter  den  Protokoll- 
bemerkungen besonders  beachtenswert  zu  sein,  —  nämlich  einmal 
die  Übereinstimmung,  mit  welcher  vier  von  den  6  Vp.  erklären, 
daß  sie  »rein  automatisch <  *)  (Herr  F.)  —  besser  »ausschließlich 
mechanisch«  (Frl.  S.)  —  die  Vokabeln  erfassen  und  »keine  Zeit 
mehr  damit  verlieren,  Deutungen  oder  sonBtwelche  Kunstgriffe  an- 
zubringen« (Herr  Br.).  Sodann  erklären  die  beiden  Vp.  mit  den 
markantesten  Fortschritten,  daß  sie  »wieder  die  alte  Routine  ihrer 
Gymnasiastenzeit  erworben  hätten«  (Herr  B.),  beziehentlich  >sich 


1  In  Wirklichkeit  liegt  natürlich  kein  eigentliches  »Automatisieren«  de» 
Lernens  vor,  da  dieses  eine  Ausschaltung  des  Bewußtseins  voraussetzen 
würde,  sondern  ein  immer  ausschließlicheres  Verwenden  der  mechanischen 
Memorierweise,  die  Beschränkung  auf  die  unmittelbare  Aneinanderreihung  der 
Silben  durch  das  bloße  Moment  aufmerksamer  Wiederholung. 


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122  Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 

wieder  wie  ehedem  aufs  Vokabelnlernen  eingerichtet«  hätten 
(Herr  F.),  —  offenbar  meinen  beide  Herren  das  für  die  Übung  so 
außerordentlich  wichtige  Phänomen  der  zentralen  Adaptation  an 
eine  bestimmte  Tätigkeit. 

XXXI.  Versuchsreihe. 

Diese  Versuchsreihe  sollte  die  Wirkung  einseitig  mecha- 
nischer Übung  an  Silben  auf  das  dauernde  Behalten  von 
Gedichtstrophen  nachweisen  mittels  einer  Wiederholung  der 
XI.  Versuchsreihe  (s.  S.  60  ff.).  Diesmal  erlernte  auch  Herr  B. 
nur  16  Zeilen  der  vorn  bezeichneten  Dichtung,  —  er  wird  also 
ohne  weiteres  mit  in  Rechnung  gesetzt  werden  dürfen,  während 
wir  wohl  korrekter  verfahren,  wenn  wir  auf  diejenigen  Ziffern 
der  XI.  Versuchsreihe  rekurrieren,  die  nur  auf  Grund  der  Resul- 
tate der  fünf  übrigen  Vp.  gewonnen  wurden. 

Sämtliche  Vp.  hatten  diesmal  nötig  zur  Erlernung  insgesamt 
58  Lesungen,  zur  Wiederholung  8  Lesungen,  im  Mittel  also  9,66, 
bzw.  1,33  Lesungen,  gegen  frühere  12,2,  bzw.  2,4  Lesungen 
(S.  64,  oben).  Die  mittlere  Ersparnis  betrug  also  hier  8,33  Le- 
sungen oder  86,23  gegenüber  der  früheren  von  9,8  Lesungen 
oder  80,32 —  Der  Fortschritt  in  der  Erlernung,  bzw. 
Wiederholung,  ist  also  festzusetzen  auf  2,54  Lesungen, 
bzw.  1,07  Lesungen,  oder  20,81#,  bzw.  44,58#. 

Auf  eine  der  16  Gedichtzeilen  als  Norm  berechnet,  stellen  sich 
die  Verhältnisse  bei  den  einzelnen  Vp.  so  dar:  Es  brauchten  für 
eine  Zeile 

Herr  B.      Neulern.  0,68  Lsgn.  (— ),  Wiederlern.  0,06  Lsgn.  (— ), 
»   Br.  »      0,56    »    (0,62),         »        0,12    >  (0,12), 

»   F.  »      0,37    >    (0,62),         >       0,06    »  (0,12), 

»  Prof.  M.  »  0,75  »  (0,93),  >  0,06  »  (0,06), 
Frl.  S.  >      0,62    »    (0,93),         >       0,06    »  (0,25), 

Herr  Dr.  W.     >      0,62    ,    (0,68),         >       0,12    >  (0,18). 

Im  Mittel  wurden  also  auf  eine  einzige  Zeile  verwendet  0,6  Le- 
sungen, bzw.  0,08  Lesungen  gegen  frühere  0,75,  bzw.  0,14  Lesungen, 
wobei  eine  Ersparais  zutage  trat  von  0,52  Lesungen  oder  86,66  % 
gegen  frühere  0,61  Lesungen  oder  81,33 %  Ersparnis.  Auf  eine 
Zeile  als  Norm  bezogen  beträgt  mithin  der  Progreß  0,15 
Lesungen  oder  20#,  bzw.  0,06  Lesungen  oder  42,85#. 


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über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  123 


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124 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Aus  dem  Protokoll  sei  nur  als  wegleitend  fllr  die  Eigenart  des 
Übungsphänomens  erwähnt,  daß  alle  Vp.  sich  einer  besseren  Aus- 
nutzung der  logischen  Faktoren  beim  Erkennen  bedient  haben,  — 
ferner  daß  sämtliche  Beteiligte  (bis  auf  Herrn  Prof.  M.)  sich  mög- 
lichst bald  des  antizipierenden  Lesens  befleißigten,  sich  überhaupt 
»frei  vom  Blatt«  zu  machen  suchten  und  dasselbe  nur,  wenn  mög- 
lich, zur  Eontrolle  des  antizipierend  Gesprochenen  benützten.  Hier- 
zu stimmt  die  Erfahrung  von  Pentschew,  daß  Kinder  fast  nie 
antizipierend  lernen.  Sie  bleiben  an  das  Lesen  gebunden  bis  zum 
völligen  Auswendigwissen.  Die  Kinder  stehen  also  sozusagen 
dauernd  auf  der  Stufe  des  wenig  geübten  erwachsenen  Lerners. 

Die  den  Kontrollschnitt  beendende 

XXXII.  Versuchsreibe, 

eine  Wiederholung  der  XII.  Versuchsreihe,  sollte  nun  noch  die 
indirekte  Übung  des  Gedächtnisses  für  philosophische 
Prosa  nachweisen. 

Die  6  Vp.  hatten  diesmal  für  Erlernung  20  anderweiter  Druck- 
zeilen aus  Locke  insgesamt  nötig  99  Lesungen  (175),  bzw.  12  Le- 
sungen (36),  mithin  durchschnittlich  diesmal  16,5  Lesungen  (29,16), 
bzw.  2  Lesungen  (6).  Die  durchschnittliche  Ersparnis  betrug  14,5 
Lesungen  (23,16)  oder  87,87  %  (79,42).  Betreffs  der  Erlernung, 
bzw.  Wiedererlernung  ist  also  ein  mittlerer  Fortschritt 
von  12,66  Lesungen  oder  43,41  #  festzustellen. 

Entsprechend  der  Berechnung  auf  S.  69  seien  auch  hier  noch 
im  einzelnen  die  auf  eine  einzige  Druckzeile  bezüglichen  Werte 
angeführt;  ftlr  ebendieses  Stoffquantum  brauchten 


Herr  B.         1,20  Lesungen  (1,8),  bzw.  0,1  Lesungen  (0,6), 


»  Br. 

0,65 

(1,3),  » 

0,1 

(0,2), 

»  F. 

0,35 

(0,85),  » 

0,05  > 

(0,15), 

»    Prof.  M. 

1,35 

(1,95),  » 

0,15  » 

(0,3), 

Frl.  S. 

0,75 

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0,1  » 

(0,35), 

Herr  Dr.  W. 

0,65 

,       (0,95),  > 

0,1 

(0,2). 

Es  wurden  gegenwärtig  also  fllr  eine  der  20  Druckzeilen  ver- 
wendet im  Durchschnitt  0,82  Lesungen,  bzw.  0,1  Lesungen,  — 
vordem  1,45  Lesungen,  bzw.  0,3  Lesungen ;  es  ergibt  dies  für  jetzt 
eine  Ersparnis  von  0,72  Lesungen  oder  87,8  #  gegenüber  früher 
ersparten  1,15  Lesungen  oder  79,31  %.  Der  Fortschritt  würde 


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Ober  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  125 


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Ernst  Ebert  and  E.  Meumann, 


betreffs  der  Erlernung  bzw.  Wiederholung  nach  dieseu 
Werten  im  Mittel  betragen  0,63  Lesungen  oder  43, 44#, 
bzw.  0,2  Lesungen  oder  66,66#. 

Aus  den  Protokollnotizen  ist  besonders  hervorzuheben,  daß  von 
fast  allen  Vp.  »die  den  Gedankengang  beherrschenden  Stellen 
intensiver  fixiert  und  immer  schärfer  in  ihrer  Ökonomischen  Wich- 
tigkeit erkannt  werden«  (Herr  F.),  gleichzeitig  auch  sinnverwandte 
Ausdrücke  und  »Flickwörter«,  welche  das  streng  wortgetreue  Be- 
halten sehr  erschweren,  mehr  beachtet,  durch  besondere  Betonung 
(Herr  Br.,  Herr  B.,  Herr  F.,  Frl.  S.)  mehr  vertieft  oder  direkt  nach 
ihrer  Stelle  im  Text  visuell  oder  akustisch  eingeprägt  werden. 

Erinnern  wir  uns  hier  am  Schlüsse  dieser  Besprechung  des 
Kontrollschnittes  der  auf  den  S.  97—126  berechneten  Resultate, 
so  kann  man  schon  jetzt  vorbehältlich  des  Schlußurteiles  sagen: 

Die  indirekte  Übung  der  Gesamtgedächtnisfunktion 
ist  eine  empirisch  nachweisbare  Tatsache,  wenn  auch  das 
Maß  derselben  je  nach  den  verschiedenen  Bedingungen,  unter  denen 
die  einseitig-spezielle  Übung  vorgenommen  wird,  verschieden  sein 
dürfte. 

Übrigens  können  wir  hier  nicht  unerwähnt  lassen,  daß  bei 
diesem  endgültigen  Resultat  auch  die  einübende  Wirkung  des 
Kontrollschnittes  selbst  mit  in  Anschlag  zu  bringen  sein  dürfte, 
womit  ferner  noch  zwei  andere  Momente  zusammenwirken,  —  es 
ist  dies  einmal  der  emotionelle  Effekt  des  eben  besprochenen 
Kontrollschnittcs,  welcher  —  nach  dem  Protokoll  der  letzten 
12  Versuchsreihen  —  besteht  in  einem  zum  Teil  recht  ausge- 
sprochenen Lustgefühl  Uber  die  merklich  gesteigerte  Leichtigkeit, 
mit  welcher  die  einzelnen  Pensen  jetzt  erledigt  wurden,  —  dazu 
das  gesteigerte  Interesse  an  dem  Verlaufe  der  Untersuchung,  — 
endlich  auch  die  lusterregende  Gewißheit,  daß  der  größte  Teil 
der  von  den  Vp.  zu  bringenden  Opfer  an  Zeit  und  Mühe  nunmehr 
dahinten  liege.  Je  nach  der  Stärke  dieser  emotionellen  Hilfsfak- 
toren machte  sich  nun  in  Form  von  Antrieben,  Impulsen  ein 
volitionaler  Hilfsfaktor  geltend :  der  Wille,  in  der  Übung  fort- 
zuschreiten, —  man  beachte  hier  die  spontanen  Aussagen  der 
Herren  B.  und  Br.,  von  Frl.  S.  und  vor  allem  die  des  Herrn  F. 
in  den  letzten  Protokollen  des  Kontrollschnittes! 

Andererseits  ist  es  protokollarisch  erhärtetes  Faktum,  daß  fast 
alle  nun  folgenden  Resultatziffern  um  ein  bestimmtes  Maß  zu  hoch, 


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über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  127 

oder,  besser  gesagt,  zu  niedrig  sind,  da  sämtliche  Vp.  besonders 
beim  dauernden  Behalten  lieber  bis  drei  Lesungen  mehr  vornah- 
men, als  vielleicht  nötig  waren,  als  daß  sie  infolge  stockender 
Reproduktion  sich  der  Gefahr  längeren  Sichbesinnenmüssens  aus- 
setzten; mehrfache  Erfahrung  hatte  sie  belehrt,  daß  ein  einziges 
aasfallendes  Glied  in  der  zu  reproduzierenden  Vorstellungsreihe 
meist  eine  Gruppe  benachbarter  Glieder  mit  sich  reißt  und  die 
dabei  sich  auslösende  Unlust  auch  das  klar  Erfaßte  verwirren 
kann,  endlich  auch  das  konzentrierte,  bei  voller  Spannung  erfol- 
gende längere  Suchen  des  Entfallenen  unverhältnismäßig  stark  er- 
müdet. —  Man  wird  denn  wohl  nicht  fehlgehen,  wenn  man  an- 
nimmt, daß  letztere  Tatsache  die  das  Resultat  begünstigenden 
Einflüsse  des  Kontrollschnittes,  wie  sie  auf  voriger  Seite  gekenn- 
zeichnet wurden,  zum  Teil  kompensiert. 

V.  Kapitel: 
Zweite  Serie  der  Einübungsversuche. 

Die  infolge  des  eben  erwähnten  Querschnittes  unterbrochene 
einseitige  Übung  an  sinnlosen  Silben  wurde  nun  unter 
den  alten  Bedingungen  fortgesetzt,  doch  wurden  jetzt  die 
Vp.  in  zwei  Gruppen  geteilt,  deren  erste,  bestehend  aus  den 
Herren  B.,  Br.  und  F.,  abermals  32  Normalsilbenreihen  er- 
lernte, während  sich  die  übrigen  3  Vp.  mit  der  Erlernung 
von  nur  16  derartigen  Reihen  begnügten. 

Wir  erinnern  uns,  daß  mit  der  nun  zu  besprechenden  mecha- 
nischen Einübung  verbunden  wurde  die  empirische  Prüfung 
von  vier  Lernmethoden.  Es  dürfte  sich  nun  empfehlen,  die 
Resultate  aller  6  Vp.  so  lange  gemeinsam  zu  betrachten,  bis  die 
ersten  16  Normalreihen  von  ihnen  erlernt  wurden.  Durch  das 
Aufhören  der  einseitigen  Gedächtnisübung  für  die  Hälfte  der 
Vp.  erreicht  die  Untersuchung  an  dieser  Stelle  einen  gewissen 
Abschluß.  Wir  können  daher  jedenfalls  das  Hauptfazit  hinsicht- 
lich der  vier  Lernmethoden  an  diesem  Orte  ziehen  und  weiter- 
hin zusehen,  wie  sich  dieses  Fazit  dadurch  modifiziert,  daß  3  der 
Vp.  die  Übung  durch  Erlernung  weiterer  16  Normalserien  fort- 
setzen. Alle  hierher  gehörigen  Versuchsresultate  finden  sich  in 
den  beigefugten  Tabellen  Nr.  33—36  zur  XXXUI— XXXVI.  Ver- 


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128  Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


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132 


Ernst  Ebert  und  E.  Menmann, 


snchsreihe  (9. — 12.  Einübungsturnus),  beziehentlich  —  für  die  um 
16  Reihen  verlängerte  Einübung  —  in  den  Tabellen  der  XXXVH.— 
XL.  Versuchsreihe  (13. — 16.  Einübungsturnus). 

Fassen  wir  zunächst  also  die  Ergebnisse  bis  zum  12.  Turnus  ins 
Auge,  welche  sich  auf  die  Versuche  mit  der  G.-Methode  beziehen! 

Herr  B.  lernte  und  wiederholte  die  hier  in  Betracht  kommen- 
den 4  Reihen  folgendermaßen: 

10  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 
6       »  »    3  > 

5  >  »    4  > 
8  »  2 

Die  den  Fortschritt  bezeichnenden  Mittelwerte  aus  den  2  ersten, 
bzw.  2  letzten  dieser  Reihen  sind,  wie  ersichtlich, 

8  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 
und  6,5  3 

Der  Fortschritt  wäre  also  zu  beziffern  auf  1,5  Lesungen  oder 
18,75  #  für  Neuerlernung,  während  beim  Wiedererlernen  kein 
Fortschritt  zu  verzeichnen  ist.  Durchschnittlich  erlernte  Herr  B. 
eine  Reihe  mit  7,5  Lesungen,  wiederholte  sie  mit  3  Lesungen,  — 
ersparte  also  im  Mittel  4,5  Lesungen  oder  60 

Herr  Br.  erledigte  den  gleichen  Stoff  nach  der  G.-Methode  in 

8  Lesungen,  bzw.  4  Lesungen 

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Die  für  den  Fortschritt  maßgebenden  Mittelwerte  sind  hier 
8,5  Lesungen,  bzw.  4  Lesungen 
und  7,5       »  >    3,5  » 

Also  beläuft  sich  der  Fortschritt  hier  auf  1,00  Lesung  oder  11,76  %, 
bzw.  0,5  Lesungen  oder  12,5  %.  Durchschnittlich  hatte  Herr  Br. 
8  Lesungen  nötig  zur  Erlernung  einer  G.-Reihe,  bzw.  3,75  Le- 
sungen zur  Wiederholung.  Seine  mittlere  Ersparnis  belief  sich 
demnach  auf  4,25  Lesungen  oder  53,12  %. 

Für  Herrn  F.  waren  zur  Erlernung,  bzw.  Wiederholung  der 
4  G.-Reihen  nötig 

9  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 

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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  ÜbnngBpbKnomene  ubw.  133 

Für  ihn  heißen  die  den  Fortschritt  kennzeichnenden  Mittelwerte 
8  Lesungen,  hzw.  3,5  Lesungen 
und  5       >         '     3  » 
Der  Fortschritt  erfolgte  also  um  3  Lesungen  oder  37,5  #,  bzw. 
um  0,5  Lesungen  oder  14,28  %. 

Eine  G.-Reihe  erforderte  also  im  Mittel  6,5  Lesungen  heim  Er- 
lernen und  3,25  Lesungen  beim  Wiederholen;  die  mittlere  Ersparnis 
betrug  danach  3,25  Lesungen  oder  50 

Bei  Herrn  Prof.  M.  finden  sich  folgende  Resultate  bezüglich  der 
4  G.-Reihen  bei  Erlernung  und  Wiederholung: 
15  Lesungen,  bzw.  5  Lesungen 

12  »  5 

14  >  5 

13  >  4 

Die  den  Fortschritt  angebenden  Mittelwerte  heißen 
13,5  Lesungen,  bzw.  5  Lesungen 
und  13,5       •         »     4,5  » 
Es  ist  also  hier  nur  betreffs  der  Wiederholungen  ein  Fortschritt 
um  0,5  Lesungen  oder  10  #  zu  konstatieren.    Im  Mittel  erlernte 
Vp.  eine  G.-Reihe  mit  13,5  Lesungen,  wiederholte  sie  mit  4,75  Le- 
sungen, —  ersparte  dabei  also  8,75  Lesungen  oder  64,81  % . 
Bei  Frl.  S.  präsentieren  sich  uns  die  Erlernungszahlen  so: 
8  Lesungen,  bzw.  5  Lesungen 
11  *  4 

7  >  5 

8  »  2 

Da  die  Fortschrittsmittelwerte  demnach 

9  Lesungen,  bzw.  4,5  Lesungen 
und  7,5     »         »  3,5 

betragen,  so  wird  ersichtlich,  daß  ein  Fortschritt  zu  verzeichnen 
war  um  1,5  Lesungen  oder  16,66  %  beim  Lernen,  bzw.  1,00  Lesung 
oder  22,22  Durchschnittlich  waren  8,25  Lesungen  zum  Lernen 
und  4  Lesungen  zum  Wiederholen  einer  G.-Reihe  nötig,  —  die  Vp. 
ersparte  folglich  im  Mittel  4,25  Lesungen  oder  51,51 
Herr  Dr.  W.  endlich  hatte  fttr  die  4  G.-Reihen  nötig: 

15  Lesungen,  bzw.  7  Lesungen 
13       »         >  5 

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134 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Die  den  Fortschritt  bestimmenden  Mittelwerte  lauten  hier  also: 

14  Lesungen,  bzw.  6  Lesungen 
und  12  >    4  » 

Der  Fortschritt  beträgt  also  2  Lesungen  oder  14,28  bzw.  2  Le- 
sungen oder  33,33  %.  Die  Vp.  erlernte  also  hier  eine  G.-Reihe 
mit  durchschnittlich  13  Lesungen  und  wiederholte  sie  mit  5  Le- 
sungen; die  mittlere  Ersparnis  betrug  mithin  für  sie  8  Lesungen 
oder  61,53  %. 

Auf  Grund  dieser  Werte  fUr  jede  der  6  Vp.  kommen  wir 
zu  folgendem  Ergebnis  hinsichtlich  der  G.-Methode: 

Eine  G.-Reihe  wurde  in  diesem  Stadium  der  Untersuchung  er- 
lernt mit  9,45  Lesungen,  nach  24  Stunden  wiedererlernt  mit  3,95 
Lesungen  im  Durchschnitt,  —  die  mittlere  Ersparnis  betrug  hier 
56,82  %.  Der  Fortschritt  der  Übung  ist  im  Mittel  anzusetzen  mit 
16,49  %  beim  Neuerlernen  und  mit  15,38  %  beim  Wiedererlernen. 

Indem  wir  ans  bemühen,  die  Wirkung  der  vier  angewandten 
Lernmethoden  möglichst  Ubersichtlich  auf  Grund  der  quantitativen 
Ergebnisse  herauszuarbeiten,  sehen  wir  vorläufig  von  Beachtung 
aller  Einzelheiten  ab;  dieselben  finden  sich  in  den  Protokollnotizen 
der  Tabellen  und  werden  —  soweit  es  die  Vollständigkeit  der 
Darstellung  erheischt  —  weiterhin  zusammenfassend  berücksichtigt 
werden. 


Achten  wir  nunmehr  direkt  auf  die  Erfahrungen  mit  der 
T. -Methode!  Nach  ihr  erlernte  und  wiederholte  zunächst  Herr  B. 
4  Normalreihen  wie  folgt: 
4  +  4 

— 2  h  3  Lesungen,  bzw.  2  Lesungen 


4  +  2 
2 

2  +  2 

~2~ 
2  +  2 


+  2 
+  2 
+  4 


2 

Diese  Vp.  brauchte  jetzt  also  für  Erledigung  einer  T.-Reihe  im 
Mittel  5,5  Lesungen,  bzw.  2,25  Lesungen;  sie  ersparte  durchschnitt- 
lich beim  Wiedererlernen  3,25  Lesungen,  das  sind  59,09  Die 
den  Fortschritt  innerhalb  der  Erlernung  dieser  4  T.-Reihen  mar- 
kierenden Mittelwerte  heißen 


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Über  einige  Grandfragen  der  Psychologie  dor  Übungsphänomene  usw.  135 

6  Le sangen,  bzw.  2,5  Lesungen 

nnd  5       >         »     2,0  » 

Der  Fortechritt  betrag  hier  Also  1  Lesung  oder  16,66  %  beim 
Neuerlernen  nnd  0,5  Lesungen  oder  20  %  beim  Wiederhelen. 

Herr  Br.  bedurfte  zur  Aneignung  und  Wiederholung  des  vor- 
liegenden Pensums 

+  7  Lesungen,  bzw.  4  Lesungen 


2 

4+_4 
2 

3  +  3 


+  6  »6 
-1-5  >  »  5 
+  7        »  »4 


2 

Durchschnittlich  hatte  er  also  für  eine  T.-Serie  nötig  9,75  Le- 
sungen, bzw.  4,75  Lesungen,  und  ersparte  für  das  Wiedererlernen 
nach  24  Stunden  5  Lesungen  oder  51,28  Sein  Fortschreiten 
bezeichnen  die  Mittelwerte 

10  Lesungen,  bzw.  5  Lesungen 
und  9,5      »         »    4,5  » 

Der  Fortschritt  selbst  beläuft  sich  danach  auf  0,5  Lesungen 
oder  5  %  beim  ersten  Aneignen  und  auf  0,5  Lesungen  oder  10  # 
beim  Wiederholen. 

Für  Herrn  F.  zeigt  die  Tabelle  bei  Erlernung  der  T.-Reihe  fol- 
gende Werte: 

4  +  4 

— ^  h  1  Lesungen,  bzw.  2  Lesungen 

3  +  3 


2 

3  +  3 
2 

2  +  2 


+  2  »3 
+  1  »3 
+  1  »2 


Im  Mittel  hatte  diese  Vp.  also  nötig  für  eine  einzelne  T.-Reihe 
4,25  Lesungen,  bzw.  2,5  Lesungen,  —  die  durchschnittliche  Erspar- 
nis betrug  dabei  1,75  Lesungen  oder  41,17  Die  für  Bestim- 
mung seines  Fortschreitens  erforderlichen  mittleren  Werte  heißen 

5  Lesungen,  bzw.  2,5  Lesungen 
nnd  3,5      »         *    2,5  > 


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136  Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 

Es  liegt  also  nur  beim  Neuerlernen  ein  Fortschritt  vor  um 
1,5  Lesungen  oder  30  %. 

Herr  Prof.  M.  erledigte  das  nach  dem  T.-Verfahren  anzueig- 
nende Pensum,  wie  folgt: 
4  4-6 

— |  h  8  Lesungen,  bzw.  5  Lesungen 

4  4-5 


2 

6  +  6 


4-9  .6 
4-8  »6 


— ^  1-  o        >  »5  » 

Durchschnittlich  brauchte  er  also  für  eine  einzige  Reihe  13,12  Le- 
sungen, bzw.  5,5  Lesungen ;  die  mittlere  Ersparnis  betrug  7,62  Le- 
sungen oder  58,07  %.   Den  Fortschritt  zeigen  an  die  Mittelwerte 
13,25  Lesungen,  bzw.  5,5  Lesungen 
und  13  >  »     5,5  > 

Ein  Fortschritt  zeigt  sich  also  nur  beim  Neuerlernen  um  0,25  Le- 
sungen oder  1,88 

Frl.  S.  erledigte  Erlernung  und  Wiedererlernung  der  4  T.-Reihen 
folgendermaßen: 

*     *  4-  4  Lesungen,  bzw.  4  Lesungen 
2+2-M       >         ■    2  . 


2 
2 

1  4-3 


4-0       »         >  3 


+  2       ,  »  3 

Frl.  S.  bedurfte  also  im  Mittel  für  eine  T.-Reihe  4,37  Lesungen, 
bzw.  3  Lesungen,  —  sie  ersparte  durchschnittlich  1,37  Lesungen 
oder  31,35  %.  Folgende  Mittelwerte  charakterisieren  ihren  Fort- 
schritt: 

5,5  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 
und  3,25      >         >  3 

Der  Fortschritt,  der  nur  das  Neuerlernen  betrifft,  besteht  also 
ans  2,25  Lesungen  oder  40,90  %. 

Herr  Dr.  W.  erlernte,  bzw.  wiederholte  die  in  Rede  stehenden 
4  T.-Reihen  so: 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  137 

2  +  4 

— 2  f-  6  Lesungen,  bzw.  9  Lesungen 

3  -+-  3      a  Q 


2 

3  +  3 
2 

3  +  5 


+  5        »  >  6 

+  5        »  »7 


2 

Durchschnittlich  brauchte  er  also  für  eine  T.-Reihe  8,75  Le- 
sungen, bzw.  7,5  Lesungen,  —  ersparte  folglich  im  Mittel  1,25  Le- 
sungen oder  14,28  %.  Sein  Fortschreiten  bestimmen  die  Mittelwerte 

9  Lesungen,  bzw.  8,5  Lesungen 
und  8,5      »  »     6,5  > 

Er  beträgt  danach  0,5  Lesungen  oder  5,55  %,  bzw.  2  Lesungen 
oder  23,52  %. 

Auf  Grund  der  Überlegungen  von  S.  134  an  müssen  wir  zusam- 
menfassend folgende  allgemeine  quantitative  Bestimmungen  hinsicht- 
lich der  T.-Methode  machen: 

Eine  T.-Reihe  wurde  in  diesem  Teile  der  Untersuchung  im 
Dnrchschnitt  angeeignet  mit  7,62  Lesungen,  wiederholt  mit  4,25  Le- 
sungen, —  erspart  wurden  im  Mittel  42,54  %.  Der  Fortschritt  beim 
Lernen  nach  dieser  Methode  ist  zu  beziffern  auf  16,66  %  beim 
erstmaligen  Lernen  und  auf  8,92  %  für  das  Wiedererlernen. 

Gehen  wir  sofort  auf  die  Erfahrungen  mit  der  I.  V.-Methode 
ein,  so  finden  wir  zunächst  bei  Herrn  B.  folgende  Resultate: 

7  Lesungen,  bzw.  4  Lesungen 

6  »  2 
4  »  2 

7  .  2 

Herr  B.  hatte  also  hierbei  im  Mittel  nötig  6  Lesungen,  bzw. 
2,5  Lesungen.  Er  ersparte  beim  Wiederholen  durchschnittlich 
3,5  Lesungen  oder  58,33  %.  Sein  Fortschritt  wird  bezeichnet  von 
den  Mittelwerten 

6,5  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 
und  5,5  >  2 

er  beläuft  sich  auf  1  Lesung  oder  15,38  %,  bzw.  1  Lesung  oder 
33,33 


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138 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Herr  Br.  lernte  das  Pensum  nach  der  I.  V.-Methode  so: 
9  Lesungen,  bzw.  5  Lesungen 
8       >         »     5  » 

7  >  3 

8  »         >     4  > 

Er  lernte  also  im  Mittel  eine  I.  V.- Reihe  mit  8  Lesungen, 
wiederholte  sie  mit  4,25  Lesungen,  erzielte  also  eine  durchschnitt- 
liche Ersparnis  von  3,75  Lesungen  oder  46,87  %.  Der  Fortschritt 
wird  bezeichnet  durch  die  Mittelwerte 

8,5  Lesungen,  bzw.  5  Lesungen 
und  7.5        »  »     3,5  » 

Er  beträgt  danach  1  Lesung  oder  11,76  bzw.  1,5  Lesungen 
oder  30 

Herr  F.  erzielte  nach  der  I.  V.-Methode  folgende  Erlernungs-, 
bzw.  Wiederholungsziffern: 

7  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 

5  >  »    3  » 
4                  .  2 

7  »  2 

Man  sieht,  daß  er  eine  einzelne  I.  V.-Reihe  durchschnittlich  er- 
ledigte mit  5,75  Lesungen,  bzw.  2,5  Lesungen,  wobei  er  3,25  Le- 
sungen oder  56,52  %  ersparte.  Sein  Fortschreiten  lassen  folgende 
Mittelwerte  erkennen: 

6  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 
und  5,5     >         >     2  » 

Es  beträgt  0,50  Lesungen  oder  8,33      bzw.  1  Lesung  oder 

33,33  %. 

Herr  Prof.  M.  lernte,  bzw.  wiederholte  die  4  I.  V.-Reihen  wie  folgt: 

9  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 
10  »  7 

10  >  3 

8  »         »     5  > 
Durchschnittlich  gebrauchte  er  hier  also  9,25  Lesungen,  bzw. 

4,5  Lesungen  zur  Erlernung  einer  einzelnen  I.  V.-Reihe,  —  dabei 
erzielte  er  eine  mittlere  Ersparnis  von  4,75  Lesungen  oder  51,39  %. 
Für  den  Fortschritt  sind  folgende  mittleren  Werte  maßgebend: 
9,5  Lesungen,  bzw.  5  Lesungen 
und  9         »  »     4  » 


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Über  einige  Grandfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  139 


Der  Fortschritt  beträgt  danach  0,5  Lesungen  oder  5,26  %,  bzw. 
1  Lesung  oder  20 

Frl.  S.  brauchte  zur  Aneignung  der  4  Serien  nach  dem  I.  V.- 
Verfahren 

11  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 
7  »  4 

6  »  »  3  > 
6        »  >     4  » 

Also  erlernte  sie  im  Durchschnitt  eine  I.  V. -Reihe  mit  7,5  Le- 
sungen, wiederholte  sie  mit  3,5  Lesungen,  ersparte  beim  Wieder- 
holen 4  Lesungen  oder  53,33  %.  Ihr  Fortschreiten  bezeichnen 
folgende  mittleren  Werte: 

9  Lesungen,  bzw.  3,5  Lesungen 
und  6        »  »    3,5  » 

Der  Fortschritt  betrug  hiernach  3  Lesungen  oder  33,33  bzw. 
—  Lesung  oder  —  %. 

Herr  Dr.  W.  erzielte  nach  der  in  Rede  stehenden  Methode  fol- 
gende Werte: 

12  Lesungen,  bzw.  8  Lesungen 

13  >  8 

10  .  6 
12                 »  2 

Also  sind  11,75  Lesungen,  bzw.  6  Lesungen  für  ihn  im  Mittel 
zur  Absolvierung  einer  I.  V.-Reihe  nötig  gewesen,  —  seine  durch- 
schnittliche Ersparnis  betrug  5,75  Lesungen  oder  48,93  Sein 
Fortschritt  bemißt  sich  nach  den  Mittelwerten 

12,5  Lesungen,  bzw.  8  Lesungen 
und  11  >  »     4  > 

er  beträgt  1,5  Lesungen  oder  12      bzw.  4  Lesungen  oder  50  %. 

Die  Berechnungen  von  S.  137  an  beschaffen  uns  folgendes  Zah- 
lenmaterial zur  Beurteilung  der  I.  V.-Methode: 

Nach  ihr  wurde  eine  Normalsilbenreihe  im  Mittel  erlernt  mit 
8,04  Lesungen,  nach  24  Stunden  wiederholt  mit  3,87  Lesungen,  — 
erspart  wurden  dabei  durchschnittlich  52,56  %.  Es  wurde  ein  Fort- 
schritt dabei  gemacht  um  14,34  %  beim  Erlernen  und  um  21,11% 
beim  Wiedererlernen. 


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140  Ernst  Ebert  and  E.  Meamann. 

Wir  kommen  endlich  zu  den  Ergebnissen  mit  der  II.  V.- 
Methode. Nach  ihr  erlernte,  bzw.  wiederholte  Herr  B.  4  Normal- 
reihen  mit  folgenden  Ergebnissen: 

5  Lesungen,  bzw.  4  Lesungen 
4  »  2 

4     '  »  »3  » 

4  >         >     1  Lesung. 

Demnach  erledigte  Herr  B.  durchschnittlich  eine  einzige  der- 
artige Reihe  mit  4,25  Lesungen,  bzw.  2,5  Lesungen,  —  bei  einer 
mittleren  Ersparnis  von  1,75  Lesungen  oder  41,17  sein  Fort- 
schreiten bezeichnen  die  Mittelwerte 

4,5  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 
und  4  »  2  > 

Es  beträgt  danach  0,5  Lesungen  oder  11,11  #,  bzw.  1  Lesung 
oder  33,33  %. 

Herr  Br.  erledigte  den  gleichen  Stoff  nach  der  II.  V.-Methode 
in  folgender  Weise: 

7  Lesungen,  bzw.  5  Lesungen 

6  »  »     5  » 

6  »  »     3  » 

7  >  3 

Zu  einer  einzigen  Reihe  dieser  Art  hatte  er  also  nötig  6,5  Le- 
sungen, bzw.  4  Lesungen,  —  er  ersparte  im  Mittel  demnach  2,5 
Lesungen  oder  38,46  Der  Fortschritt  bei  ihm  wird  bestimmt 
durch  die  Mittelwerte 

6,5  Lesungen,  bzw.  5  Lesungen 
und  6,5       »         »3  » 
Es  beläuft  sich  derselbe  beim  Wiedererlernen  auf  2  Lesungen 
oder  40      während  bis  jetzt  (Herr  Br.  übte  weiter  um  16  Normal- 
reihenj!)  beim  Neuerlernen  kein  Fortschreiten  ersichtlich  wird. 

Bei  Herrn  F.  finden  wir  hinsichtlich  des  H.  V. -Verfahrens  fol- 
gende Ergebnisse :  er  erledigte  das  nach  dieser  Methode  zu  absol- 
vierende Pensum  mit 

6  Lesungen,  bzw.  4  Lesungen 

5  >  >     4  > 
5  »  2 

5  »  2 

Er  gebrauchte  also  im  Mittel  ftir  eine  solche  Serie  5,25  Le- 
sungen, bzw.  3  Lesungen,  bei  welch  letzteren  er  durchschnittlich 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  141 

ersparte  2,25  Lesungen  oder  42,85  %.  Sein  Fortschreiten  besagen 
die  Mittelwerte 

5,5  Lesungen,  bzw.  4  Lesungen 

5         >         »  2 
Es  beläuft  sich  danach  auf  0,5  Lesungen  oder  9,09  bzw. 
2  Lesungen  oder  50 

Herr  Prof.  M.  hatte  zur  Absolvierung  der  4  II.  V.-Reihen  nötig 

10  Lesungen,  bzw.  5  Lesungen 

10  >  6 

10  >  4 

9  >  *     3  1 
Durchschnittlich  erledigte  er  also  eine  II.  V.-Reihe  mit  9,75  Le- 
sungen, bzw.  4,5  Lesungen,  —  ersparte  bei  letzteren  im  Mittel 
5,25  Lesungen  oder  53,84  %.    Den  Fortschritt  geben  für  ihn  fol- 
gende mittleren  Werte  an: 

10  Lesungen,  bzw.  5,5  Lesungen 
und  9,5     »  3,5 
Er  betragt  danach  0,5  Lesungen  oder  5      bzw.  2  Lesungen 
oder  36,36  %. 

Frl.  S.  erlernte,  bzw.  wiederholte  die  4  II.  V.-Reihen  so: 
8  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 
7  >  2 

7  »  3 

5  >  2 

Sie  hatte  also  durchschnittlich  zur  Absolvierung  einer  einzigen 
solchen  Serie  nötig  6,75  Lesungen,  bzw.  2,5  Lesungen,  —  ihre  mitt- 
lere Ersparnis  betrug  mithin  1,75  Lesungen  oder  25,92  %.  Ihr 
Prozessieren  wird  bezeichnet  von  den  Mittelwerten 
7,5  Lesungen,  bzw.  2,5  Lesungen 
und  6         >         >    2,5  » 
Ein  Fortschritt  findet  sich  danach  nur  beim  Neuerlernen  vor  in 
Höhe  von  1,5  Lesungen  oder  20 

Herr  Dr.  W.  schließlich  erlernte  das  hierher  gehörige  Material  mit 
12  Lesungen,  bzw.  8  Lesungen 

10  8 
10  >  5 
12                »  3 

Der  mittlere  Aufwand  an  Lesungen  betragt  also  bei  ihm  11  Le- 
sungen, bzw.  6  Lesungen,  —  die  mittlere  Ersparnis  5  Lesungen 


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142 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


oder  45,45  <£.  Sein  Fortschreiten  erkennen  wir  am  den  Mittel- 
werten 

11  Lesungen,  bzw.  8  Lesungen 
nnd  11      >         >     4  > 
Es  beträgt  —  beim  Wiedererlernen!  —  4  Lesungen  oder  50  %. 

Aus  den  Überlegungen  von  S.  140  an  können  wir  folgendes 
Fazit  betreffs  der  IL  V. -Metbode  ziehen: 

Nach  diesem  Verfahren  wurde  eine  12  Silben-Reihe  angeeignet 
mit  7,25  Lesungen,  bzw.  4,16  Lesungen.   Beim  Wiedererlernen  er- 
zielten wir  danach  eine  durchschnittliche  Ersparnis  von  42,62 
Der  dabei  nachweisliche  Fortschritt  ist  zu  beziffern  auf  7,53  %  für 
das  Neuerlernen  und  auf  34,94  %  für  das  Wiedererlernen. 

Fassen  wir  die  von  S.  132  an  mitgeteilten  Erfahrungen 
hinsichtlich  der  yier  verwendeten  Methoden  zusammen, 
so  bemerken  wir,  daß  unsere  im  Anschluß  an  die  Diskussion  der 
erstmaligen  formalen  Einübung  gemachten  Wahrnehmungen  im 
wesentlichen  bestätigt  wurden;  dies  zeigt  sich  am  deutlichsten, 
wenn  wir  wiederum  konstatieren,  um  welche  Mittelwerte  herum 
sich  die  Ziffern  betreffs  der  vier  I^ernmethoden  bewegen.  Es  er- 
gibt sich,  daß  bei  dieser  zweimaligen  Einübung  an  sinn- 
losen Silben  eine  der  insgesamt  benutzten  16  Normalreihen  im 
Mittel  erlernt  wurde  mit  8,09  Lesungen,  wiederholt  nach  durch- 
schnittlich 4,05  Lesungen,  wobei  erspart  wurden  48,63  %.  Bei  den 
Neuerlernungen  war  ein  durchschnittlicher  Fortschritt  zu  verzeichnen 
von  16,25  —  beim  Wiedererlernen  ein  solcher  von  14,76  %. 
Mit  weniger  Lesungen,  als  dieser  Mittelwert  angibt,  wurden  durch- 
schnittlich erlernt  die  I.  V.- Reihen,  welche  durchschnittlich  mit 
0,05  Lesungen  weniger  erlernt  wurden,  —  sodann  die  T- Reihen 
—  die  Vp.  gebrauchten  dabei  im  Mittel  0,47  Lesungen  weniger  — 
und  die  II.  V.- Reihen,  deren  durchschnittliche  Erlernungsziffer 
0,84  Lesungen  niedriger  ist;  zur  Erlernung  einer  G. -Reihe  wurden 
im  Mittel  1,36  Lesungen  mehr  aufgewendet,  als  da«  allgemeine 
Mittel  beträgt  Daraus  folgt  —  wie  bei  der  erstmaligen  Ein- 
übung — ,  daß  die  II.  V.-Methode  am  raschesten  zur  Ein- 
prägung  führt,  —  am  wenigsten  rasch  die  G.-Methode, 
während  die  beiden  andern  Lernarten  eine  mittlere  Stellung 
dabei  innehaben,  nur  zeigt  sich  bis  jetzt  —  es  stehen,  wie  erinner- 
lich, noch  Resultate  an  weiteren  16  Reihen  mit  3  Vp.  aus!  — ,  daß 
die  T.- Methode  einen  Vorsprung  um  durchschnittlich  0,42  Lesungen 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übnngsphänomene  usw.  143 

vor  der  I.  V.- Methode  gewährt,  also  ihre  Rangstellung  mit  dieser 
getauscht  hat 

Sehr  bezeichnend  ist,  daß  die  am  schnellsten  znr  Erlernung 
führenden  Methoden  —  die  II.  V.-  und  T. -Methode  —  allein 
mehr  Lesungen  beim  Wiedererlernen  nötig  machen,  als  die 
langsamer  zur  Erlernung  fuhrenden  —  die  I.  V.-Methode 
and  6. -Methode;  der  Mittelwert  für  die  Wiedererlcrnang  in  Höhe 
Ton  4,05  Lesungen  wird  von  der  II.  V.-Methode  um  durchschnitt- 
lich 0,11  Lesungen,  von  der  T.- Methode  um  0,20  Lesungen  über- 
schritten, während  nach  dem  G.- Verfahren  0,1  Lesung,  nach  dem 
I.  V. -Verfahren  0,18  Lesungen  weniger  zur  Wiederholung  nötig 
waren.  Dasselbe  Verhältnis  zeigt  sich  naturgemäß  bei  der  pro- 
zentualen Bestimmung  der  mittleren  Ersparnis.  —  Aus  den  quan- 
titativen Bestimmungen,  welche  das  Maß  des  Fortschrittes  an- 
geben, zeigen  zwei  Stichproben  recht  markant,  wie  einmal  der 
größte  Fortschritt  nicht  bei  der  am  raschesten  zur  Erlernung 
führenden  Methode  ist,  —  die  II.  V.-Methode  zeigt  nur  innerhalb 
ihrer  4  Serien  ein  Fortschreiten  um  7,53  % ,  während  das  Mittel 
16,25  %  beträgt;  man  wird  wohl  annehmen  müssen,  daß  der 
Fortschritt  im  allgemeinen  um  so  geringer  wird,  je  mehr 
ein  Verfahren  in  seinen  Resultaten  an  die  relativ  beste 
Leistung  heranführt;  —  andererseits  zeigen  die  den  Fortschritt 
betreffenden  Werte  z.  B.  bei  der  T  -  und  II.  V.-Methode  interes- 
sante Umkehrungen  der  Verhältnisse  bezüglich  des  Fortschritts 
beim  erstmaligen  Lernen  und  dem  Wiederholen:  der  kleinsten 
FortBcbrittsziffer  beim  Erlernen  —  7,53  #  nach  der  II.  V.- 
Methode —  steht  die  größte  beim  Wiederholen  gegen- 
ober, 34,94  #  nach  der  bezeichneten  Methode;  umgekehrt 
stehen  den  16,66  %  beim  Erlernen  nach  dem  T.-Verfahren 
gegenüber  8,92  #  für  den  Fortschritt  beim  Wiederholen  nach 
dieser  Methode.  Doch  zeigen  die  übrigen  Werte,  daß  sich  hieraus 
keineswegs  eine  Regel  konstruieren  läßt;  eine  solche  dürfte  sich 
wohl  erst  ergeben  auf  Grund  weit  zahlreicherer  Versuche. 

Das  über  die  Wirksamkeit  unserer  vier  Methoden  bisher  ge- 
wonnene Bild  dürfte  um  vieles  vollständiger  werden,  wenn  wir 
nun  weiter  noch  die  mit  den  Herren  B.,  Br.  und  F.  gemachten 
übrigen  Versuche  in  Betracht  ziehen  —  siehe  die  Tabellen  37 — 40 
znr  XXXVII.  bis  XL.  Versuchsreihe,  deren  Ziffern  wir  zunächst 
wieder  in  der  bisher  befolgten  Art  verwerten  wollen. 


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144 


Ernst  Ebert  uad  E.  Meumann, 


Tabelle  XXXVÜ. 

XXXVII.  Versuchsreihe:  Dreizehnter  Turnus  der  Einübung 

an  sinnlosen  Silben. 


Herr  B. 

Herr  Br. 

Herr  F. 

Lern- 

methode 

Er- 

Wicder- 

Er- 

Wieder- 

Er- 

Wieder- 

lernang 

erlernang 

lernung 

erlernung 

lernung 

erlernang 

:  3  Lesgn.    2  Lesgn. 

^+1L.  3  Lesgn. 

6  Lesgn.  2  Lesgn. 
5  Lesgn.    2  Lesgn. 

Erlernung:  Beim  Er- 
!  lernen  der  beiden  V. -Reihen 
|  ut  Herr  F.  weniger  dispo- 

-  niert  —  auch  hat  er  du 
I  richtige  AügengUs  nicht  bei 

■ich. 

i  Wiedererl.:  Beim  Re- 
petieren der  T.-Reihe  Ml) 
der  Stoff  bereite  nach  1  Le- 
sungen bia  auf  die  momea- 

-  (an  entfallene  9.  80be. 


Tabelle  XXXVm. 

XXXVIII.  Versuchsreihe:  Vierzehnter  Turnus  der  Einübung 

an  sinnlosen  Silben. 


Lern- 
methode 

Herr  B. 

Herr  Br. 

Herr  F. 

Er- 
lernung 

Wieder- 
erlernung 

Er- 
1  lernung 

Wieder- 
erlernung 

Er- 
lernung 

Wieder- 
erlernung 

V.  (3x4) 
V.  (2x6; 

T. 

0. 

4  Lesgn. 
\  5  Lesgn. 

1  +  1  1T 
2  +1L< 
1  5  Lesgn. 

Wieder  eri 
Produktion  * 
läufig  (bis  zu 
weilen). 

2  Lesgn. 
2  Lesgn. 

2  Lesgn. 

2  Lesgn. 

'olgt  die  Re- 
Jm  Teil  rtek- 
r  8.  SUbe  bie- 

5  Lesgn. 

6  Lesgn. 
4-1-4 

2  +7L- 

7  Lesgn. 

Obwohl  ai 
—  laut  Prot* 
36.  Vertnchs 
muhte,  aich 
vom  Einfluß 
Hutthmus .  i 
doch  wenig  g< 
T.-  und  tum 
V.  .Methode  er 
von  vornhere 
luat  bei  ihm. 

3  Lesgn. 

4  Lesgn. 

6  Lesgn. 
3  Lesgn. 

ch   Herr  Br. 
>kollnotii  aur 
reihe  —  be- 
freizumachen 
dea  diversen 
st    ihm  dies 
hingen,  —  die 
Teil   die  I. 
regt  deswegen 
in  etwas  Ün- 

4  Lesgn. 

5  Lesgn. 

^+0L. 

6  Lesgn. 

Erlernun 
Schwierigkeit 
F.  in  der  II. 

Wiederei 
Aber  dem 
stört  Herrn  F 

1 

2  Lesgn. 
2  Lesgn. 

1  Lesg. 

2  Lesgn. 

g :  Sprech- 
en Ar  Herrn 
V.-Reihe. 

'1.:  Hemmern 
Versuchsl^kal 
.  nicht 

Wie  schon  Herr  Dr.  W.  gelegentlich  der  35.  Versuchsreihe  bemerkte,  desgleichen  Frl.  3.,  be- 
kunden die  an  dieser  ce^enwirtigen  Versuchsreihe  beteiligten  3  Herren,  daß  die  Menge  nicht  allzu 
differenter  Silben  die  Möglichkeit  des  Vertauschen»  nahelegt,  die  logischen  Relationen  zur  besseren 
Uistinktion  fehlen;  oben  die«  ist  ein  retardierendes  Moment  für  den  Fortschritt  der  Übung. 


G. 

T. 

V.  (2x6) 
V.  ;3x4) 


5  Le«gn. 

3  +  2 

+1L. 


2 

5  Lesgn. 
5  Le^gn. 


3  Lesgn. 

3  Lesgn. 

3  Lesgn. 
3  Lesgn. 


Herr  B.  findet  twar  noch 
diverse  »sinnvolle«  Besie- 
hungen zwischen  den  Silben, 
weist  sie  aber  als  unnötig, 
btw.  hemmend  suruck. 


6  Lengn. 
4  +  3+5L. 


2 

7  Lesgn. 
7  Lesgn. 


6  Lesgn. 

3  Lesgn. 

5  Lesgn . 
3  Lesgn. 


Herr  Br.  ist  der  Meinung, 
daß  er  lieber  eine  Lesung 
mehr  aufwenden  möge,  als 
sich  der  YerdrieUlichkeit 
des   Htockenden  Reprodu- 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  145 

Tabelle  XXXIX. 

XXXIX.  Versuchsreihe:   Fünfzehnter  Turnus  der  Einübung 

an  sinnlosen  Silben. 


Herr  B. 


I1 


Herr  Br. 


Herr  F. 


niethode 

Er- 

1  Wieder- 

Er- 

i1 

Wieder- 

Er- 

Wieder- 

i 

lernnng 

erlernung  ' 

lernung 

erlernung  | 

lernung 

erlernung 

i   _ 

G. 

T. 

V.(2x6; 
V.  ;3x4l 


5  Lesgn. 
1+2 

+1 L. 


2 

5  Lesgn. 
4  Lesgn. 

Erlernung:Immer  mehr 


3  Lesgn. 
1  Lesg. 

1  Lesg. 

2  Lesgn. 


7  Lesgn. 

l!  4  +  4 

6  Lesgn. 
5  Lesgn. 

Herr  Br.  ist 


4  Lesgn 

4  Lesgn 

4  Lesgn 
3  Lesgn 

inder  günstig 


mechanische*  Kinprigeu.     ,'  disponiert    infolge  ango- 

'  st  reagier  Tätigkeit  in  der 


Wiedererl.: 
aber  baldigen  AI 
»er  Einübung. 


Schale. 


3  Lesgn.  2  Lesgn. 
^+0L.   2  Lesgn. 

5  Lesgn.    2  Lesgn. 

4  Lesgn.    2  Lesgn. 

Der  bevorstehende  Ab- 
schluQ  der  formalen  Ein- 
Übung  wirkt  angenehm  er- 
regend auf  Herrn  F. 


Auf  Befragen  erklären  alle  3  Vp.,  daO  eie  «war  anfanglich  es  alt  unangenehm  empfunden 
kitten,  daß  beim  0. .Verfahren  bereits  völlig  sicher  Eingeprägtes  wieder  geleiten  werden  muß,  dsD 
sie  aber  Uber  dieses  Moment  sich  dadurch  hinweggeholfen  haben,  daß  sie  die  Aufmerksamkeit 
immer  intensiTer  auf  die  Partien  der  Reiben  richteten,  welche  beim  antizipierenden  Lesen  als 
?<:h«i.  hen  empfunden  wurden.  Speziell  Herr  F.  glaubt  im  ökonomischeren,  rationelleren  Verteilen 
der  Aafrai  rksamkeit  ein  Haupt moment  der  von  ihm  erlangten  »Übung«  und  »Kerntechnik«  erblicken 
in  aussen. 

(In  ähnlicher  Weise  sprach  sich  auch  Frl.  S.  zu  Protokoll  aus  bei  Absolvierung  des  12.  Turnus 
-  Kind  bong.) 


Tabelle  XL. 

XL.  Versuchsreihe:  Sechzehnter  Turnus   der  Einübung  an 

sinnlosen  Silben. 


.           Herr  B. 

Lern- 

Herr  Dr. 

Herr  F. 

taethode  Lr- 

Wieder-  [ 

Kr-  Wieder- 

Er- 

Wieder- 

,  leruung 

erlernuug  , 

lernnng  erleruung 

lernung 

erlernnng 

V.  3x4] 
V.  2x6 

T. 


3  Lesgn.  2  Lesgn. 
ö  Lesgn.    2  Lesgn. 

~-2L.  3  Lesgn. 

4  Leegn.    2  Lesgn. 

Luslmomente    über  den 
endlichen    Abschluß  der 
Arbeit  mit  ginnlosen  Silben. ; 
Herr  D.  fragt  an  .  ob  nueh 
der  und  jener  von  seinen  : 
BekauoleD    an    der  >üe-' 
dicht ni skur«  mittel*  unserer  | 
>Labor»toriumsmn«motech 


4  Lesgn. 

Lesgn. 
4  +  4 

+-4L. 


2 

5  Lehgn 


2  Lesgn. 
5  Lesgn. 

b  Lesgn 

4  Lesgn. 


3  Lesgn. 


S  hesgn. 


-OL. 


Hie  bei  der  vorigen  Ver- 
suchsreihe sich  für  Herrn 
l!r.  geltend  machende  In- 
disput-itiim  h.ill  um  h  r.nraer 
an.  Herr  Hr.  hkll  un.-er 
Verfahren  für  die  »eigent- 
liche Mj.umuteclniik.. 


!'• 


2  Lesgn. 
2  Lesgn. 

1  Lesg. 

2  Lesgu. 


s. Inders  beachtlich  i>t 
ilns  Krlernen  der  T.-Hoihe 
du  ich  Herrn  K  .  —  wie  auch 
-i'bun  bei  den  beiden  \  ori>ron 
'i'"nin:v-CTi.  Herr  V.  meint, 
dai;  er  jet/.t  .souveriiner« 
i|l  er  die  Mittel  seiner  Auf- 
merksamkeit *u  \crfug«n 
vrrni'n hie,  -  er  'dirigiere- 
1  «lie  Aufmerksamkeit  so,  dah 
kt  be-mn  Jen»  auf  die  üb  1  i  eben 
ijchw  rieben  in  d.  Mitte  achte. 

sich  in   ähnlicher  Weine  beim 


Auf  Befragen  erklären  Herr  B.  und  Herr  Ur ,  Jail  auch  sie 
T-Verfahien  «erkalten,  wie  Herr  F.  spezieller  ausführte.  Von  den  Y  o  oh  1  in  ann  sehe!)  »Konst- 
friffen, «lad  sie  gani  abgekommen  Uiese  seien  umsUiidlich,  gedachlüiibolaatend,  zeitraubend 
inrek  i  En  aste  1  ei«. 


IrckiT  für  Psychologie.  IV. 


10 


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146 


Ernst  Ebert  and  E.  Menmann. 


Nach  der  G. -Methode  lernte  hier  Herr  B.  vier  Normal- 
reihen folgendermaßen: 

5  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 

5  >  2 

5      »         »     3  » 

4  »  2 

Durchschnittlich  wendete  er  also  an  Lesungen  für  eine  einzelne 
G- Reihe  auf  4,75,  —  bzw.  2,5;  er  ersparte  dabei  2,25  Lesungen 
oder  47,36        Sein  Fortschreiten  geben  folgende  Mittelwerte  an: 

5  Lesungen,  bzw.  2,5  Lesungen 
4,5       »         »  2,5 

Es  ist  ein  solches  also  nur  beim  Neuerlernen  ziffernmäßig  nach- 
weisbar im  Betrage  von  0,5  Lesungen  oder  10  % . 
Herr  Br.  erledigte  das  gleiche  Pensum  so: 

6  Lesungen,  bzw.  5  Lesungen 

7  >  3 

7  >     4.  » 

5  »  4 

Er  gebrauchte  hier  im  Mittel  6,25  Lesungen,  bzw.  4  Lesungen, 
ersparte  demnach  durchschnittlich  2,25  Lesungen  oder  36  %.  Sein 
Fortschritt  wird  berechnet  nach  den  Mittelwerten: 
6,5  Lesungen,  bzw.  4  Lesungen 
und  6         >  >    4  » 

Derselbe  beträgt  also  für  das  Neuerlernen  0,5  Lesungen  oder 
7,69      während  beim  Wiederholen  sich  kein  Fortschritt  ergibt. 
Herr  F.  wandte  bei  den  4  G.- Serien  auf: 
3  Lesungen,  bzw.  2  Lesungen 

6  ^  »  2 

3  »  »  2 

4  2 

Das  durchschnittliche  Lernen  erfolgte  bei  ihm  mit  4  Lesungen, 
—  bzw.  2  Lesungen;  die  Ersparnis  betrug  2  Lesungen  oder  50 
Das  Fortschreiten  bezeichnen  die  Mittelwerte 
4,5  Lesungen,  bzw.  2  Lesungen 
und  3,5      >         >     2  > 
Der  nur  beim  Neuerlernen  hier  auftretende  Fortschritt  beläuft 
sich  auf  1,0  Lesung  oder  22,22 

Durchschnittlich  wandte  also  eine  der  hier  beteiligten  Yp.  zur  Er- 
lernung einer  G.-Reihe  auf  5  Lesungen,  zu  ihrer  Wiedererlernung 

i 

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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  147 

2,83  Lesungen,  —  die  Ersparnis  betrog  im  Mittel  43,4  % ;  der  inner- 
halb der  G.-Reihen  zu  verzeichnende  Fortschritt  beträgt  für  das  Neu- 
erlernen 13,3     —  beim  Wiedererlernen  ist  keiner  zu  verzeichnen. 

Die  vier  weiter  in  Betracht  kommenden  T.-Reihen 
prägte  sich  Herr  B.  folgendermaßen  ein: 
3  +  2 

— 2  h  1  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 

1  +  1 


2 

1  +  2 

2 

1  +  1 


+  1 
+  1 


—£—  +  2       >  >  3 

Er  erlernte  also  eine  derartige  Reihe  mit  2,75  Lesungen, 
holte  sie  mit  2,25  Lesungen  im  Durschschnitt,  ersparte  beim  Wieder- 
holen im  Mittel  0,5  Lesungen  oder  18,18  %.  Sein  Fortschreiten 
bezeichnen  folgende  mittleren  Werte: 

2,75  Lesnngen,  bzw.  2,5  Lesungen 
und  2,75       »  »  2,0 

Ein  Fortschreiten  ist  danach  hier  nur  beim  Wiederholen  zu  kon- 
statieren in  Höhe  von  0,5  Lesungen  oder  20 

Herr  Br.  erlernte,  bzw.  wiederholte  den  hierher  gehörigen  Stoff 
nach  dem  T.- Verfahren  wie  folgt: 

-^t — h  5  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 
4  +  4 


2 

4  +  4 


+  7  »6 
+  3      »         »  4 


2 

4  +  4  , 
— ^  h4       »  o 

Er  bedurfte  also  im  Mittel  zur  Erledigung  einer  einzigen  T.- 
Reihe hier  8,62  Lesungen,  —  bzw.  4,5  Lesungen;  erspart  wurden 
beim  Wiederholen  durchschnittlich  4,12  Lesungen  von  ihm  oder 
47,79       Den  Fortschritt  geben  folgende  Mittelwerte  hier  an: 
9,75  Lesungen,  bzw.  4,5  Lesungen 
und  7,50       »  4,5 
Er  liegt  also  nur  vor  beim  erstmaligen  Lernen  in  Höhe  von 
2,25  Lesungen  oder  23,07  %. 

10* 


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148  Ernat  Ebert  und  E.  Meamann, 

Herr  F.  endlich  erledigte  sein  Pensum  wie  folgt: 

2 ""2~     1  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 

x  +  2_i_n  i 

4-ü       »  »      1  » 


~2~ 
2  +  2 

2 

1  +  2 


+  0  >  2 


~2-+0      .  >  1 

Er  bedurfte  also  für  eine  einzige  T. -Reihe  im  Mittel  2  Lesungen, 
bzw.  1,75  Lesungen,  ersparte  also  beim  Wiedererlernen  0,25  Le- 
sungen oder  12,5  %.  Folgende  Mittelwerte  belehren  uns  über  seinen 
Fortschritt: 

2,25  Lesungen,  bzw.  2  Lesungen 
und  1,75       »  >     1,5  > 

Also  beträgt  der  Fortschritt  0,5  Lesungen  oder  22,22  %,  — 
bzw.  0,5  Lesungen  oder  25  %. 

Zusammenfassend  können  wir  die  Ergebnisse  betreffs  der  T.- 
Methode in  diesem  Teile  der  Untersuchung  so  bestimmen: 

Eine  T. -Reihe  wurde  durchschnittlich  erlernt  mit  4,45  Lesungen, 
—  nach  24  Stunden  wiedererlcrnt  mit  2,83  Lesungen,  die  mittlere 
Ersparnis  betrug  36,4  %,  der  durchschnittliche  Fortschritt  15,09  % 
beim  erstmaligen  Lernen  und  15  #  beim  Wiederholen. 

Nach  dem  I.  V.-Verfahren  erlernte  sodann  Herr  B. 
4  Reihen  wie  folgt: 

5  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 
5  »  2 

5  >  1 

5  2 

Also  wandte  er  durchschnittlich  auf  5  Lesungen,  bzw.  2  Le- 
sungen, ersparte  also  beim  Wiederholen  im  Mittel  3  Lesungen  oder 
60  Sein  Fortschreiten  ersehen  wir  aus  folgenden  mittleren 
Werten: 

5  Lesungen,  bzw.  2,5  Lesungen 
und  5      »  »     1,5  > 

Ein  Fortschritt  fand  hier  nur  betreffs  des  Wiederholens  statt 
um  1  Lesung  oder  40  %. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  149 

Herr  Br.  wandte  zur  Erlernung,  bzw.  Wiedererlernung  der 
4  I.  V.- Reihen  auf: 

7  Lesungen,  bzw.  5  Lesungen 
6      >  »     4  » 

6      »  »     4  » 

6      >         »     5  > 
Durchschnittlich  brauchte  er  also  für  eine  derartige  Reihe 
6,25  Lesungen,  bzw.  4,5  Lesungen,  ersparte  also  im  Mittel  beim 
Wiederholen  1,75  Lesungen  oder  28  %.    Folgende  Mittelwerte 
bezeichnen  hier  den  Progreß: 

6,5  Lesungen,  bzw.  4,5  Lesungen 
und  6        »  »     4,5  » 

Der  nur  fttr  das  Neuerlernen  erkennbare  Fortschritt  beträgt 
0,5  Lesungen  oder  7,68  % . 

Herr  F.  endlich  absolvierte  die  4  I.  V.- Reihen  folgendermaßen: 
6  Lesungen,  bzw.  2  Lesungen 
5  2 
5  »     2  > 

3  »  2 

Durchschnittlich  brauchte  er  also  4,75  Lesungen,  —  bzw.  2  Le- 
sungen ,  bei  letzteren  im  Mittel  ersparend  2,75  Lesungen  oder 
57,89  %.    Den  Fortschritt  bezeichnen  bei  ihm  die  Mittelwerte: 
5,5  Lesungen,  bzw.  2  Lesungen 
und  4         »  2  » 

Ein  Fortschreiten  ist  also  nur  bemerkbar  beim  Neuerlernen  um 
1,5  Lesungen  oder  27,27  % . 

Also  wurde  in  diesem  Teile  der  Untersuchung  eine  I.  V.-  Reihe 
im  allgemeinen  erlernt  mit  5,33  Lesungen,  wiedererlernt  mit  2,83  Le- 
sungen; die  mittlere  Ersparnis  belief  sich  dabei  auf  48,63  %\  der 
Fortschritt  betrug  im  Durchschnitt  11,65  %  beim  Neuerlernen  und 
13,33  %  beim  Wiederholen. 

Nach  der  II.  V.-Methode  endlich  erlernte  und  wieder- 
holte zunächst  Herr  B.  4  Reihen  folgendermaßen: 
5  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 

4  2 
4  »  2 
3  2 


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150 


Ernst  Ebert  and  E.  Meumann, 


Er  braucht©  also  ftir  eine  Reihe  im  Mittel  4  Lesungen,  bzw. 
2,25  Lesungen,  —  ersparte  also  durchschnittlich  1,75  Lesungen  oder 
43,75  %.  Der  Fortschritt  ist  zu  erkennen  aus  folgenden  Mittel- 
werten: 

4,5  Lesungen,  bzw.  2,5  Lesungen 
3,5  >  2 

Er  beläuft  sich  danach  auf  1  Lesung  oder  22,22,  bzw.  0,5  Le- 
sungen oder  20  %. 

Herr  Br.  erledigte  dasselbe  Pensum,  wie  folgt: 
7  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 
5      »  »     3  > 

5  >  »     3  » 

4  ,     2  > 

Also  bedurfte  er  für  eine  einzige  II.  V.- Reihe  im  Mittel  5,25  Le- 
sungen, bzw.  2,75  Lesungen,  —  er  ersparte  demnach  beim  Wieder- 
holen im  Durchschnitt  2,50  Lesungen  oder  47,61  %.  Sein  Fort- 
schreiten wird  bezeichnet  durch  die  Mittelwerte: 

6  Lesungen,  bzw.  3  Lesungen 
und  4,5      »         >  2,5 

Es  beläuft  sich  also  auf  1,5  Lesungen  oder  25  bzw.  0,5  Le- 
sungen oder  16,66  %* 

Endlich  erlernte  Herr  F.  die  4  II.  V.- Reihen  so: 

5  Lesungen,  bzw.  2  Lesungen 
4  »  2 

4      >  >     2  » 

3  »  2 

Im  Durchschnitt  wendete  er  also  zur  Absolrierung  einer  ein- 
zigen II.  V.- Reihe  auf  4  Lesungen,  bzw.  2  Lesungen,  [im  Mittel 
ersparend  2  Lesungen  oder  50  %.  Den  Progreß  geben  folgende 
Mittelwerte  an: 

4,5  Lesungen,  bzw.  2  Lesungen 
und  3,5      >         »     2  > 
Es  ist  also  beim  Neuerlernen  ein  Fortschritt  ziffernmäßig  nach- 
weisbar um  1  Lesung  oder  22,22  %. 

Im  allgemeinen  wurde  demnach  eine  II.  V. -Reihe  in  diesem 
Teil  unserer  Untersuchung  erlernt  mit  4,41  Lesungen,  wiederholt 
mit  2,33  Lesungen,  wobei  durchschnittlich  erspart  wurden  47,12  %. 
Der  Fortschritt  beträgt  23,14  %  beim  erstmaligen  Lernen  und 
12,22  %  beim  Wiederholen. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungspbünomene  ubw.  151 

Betrachten  wir  zurückschauend  den  Effekt  dieser  Sonderein- 
übung mit  den  Herren  B.,  Br.  und  F.,  so  zeigt  sich  auch  hier 
dasselbe  Bild  wie  bei  der  vorigen  allgemeinen  quantita- 
tiven Bestimmung  hinsichtlich  der  4  Lernmethoden:  Unter 
dem  Mittelwert  —  4,79  Lesungen  für  Neuerlernung,  2,70  Lesungen 
für  Wiederholungen  —  steht  am  meisten  die  II.  V.-Methode, 
nämlich  mit  0,38  Lesungen,  bzw.  0,37  Lesungen.  Ihr  am  nächsten 
kommt  wiederum  die  T.-Methode;  sie  führt  mit  0,34  Le- 
sungen schneller  zum  Ziele  beim  Neuerlernen,  als  der  Mittelwert 
dafür  betragt,  sie  Ubersteigt  den  Mittelwert  für  Wiedererlernen 
um  dasselbe  Maß  wie  die  6.-  und  I.  V.-Methode  —  nämlich  um 
0,13  Lesungen.  Am  wenigsten  vorteilhaft  zeigt  sich  nach  diesen 
letzten  Versuchen  die  I.  V. -Reihe;  während  die  G. -Methode  um 

0.  21  Lesungen  langsamer  zur  Erlernung  führt,  als  der  Mittelwert 
beträgt,  erfolgt  dies  nach  der  I.  V.-Methode  um  0,54  Lesungen 
später.  Übrigens  ist  nicht  zu  übersehen,  welche  Konstanz  das 
Wiedererlernen  nach  den  ersten  drei  Lern  weisen  angenommen  hat; 
zwei  der  Vp.  —  Herr  Ijr.  und  Fräulein  S. ,  12.  Turnus  —  be- 
kunden zu  Protokoll  ausdrücklich,  daß  es  ihnen  scheine,  als  sei 
nach  und  nach  die  Erlernungsart  für  das  Wiedererlernen  gleich- 
gültig. —  Was  schließlich  den  für  sämtliche  Methoden  geltenden 
Mittelwert  für  Ersparnis  beim  Wiedererlernen  und  den  für  Fort- 
sehritt beim  Neu-  und  Wiedercrlerncn  betrifft,  so  ist  beachtenswert, 
wie  sie  weiter  stetig  sinken,  je  weiter  die  Übung  fort- 
schreitet; die  3  Werte  betragen  hier  der  Reihe  nach  nur  noch 
je  43,88  und  15,79,  bzw.  10,13  %. 

Auf  Grund  der  nunmehr  beendigten  Berechnungen  läßt  sich 
wohl  ein  abschließendes  Urteil  Uber  die  vier  Lernmethoden 
wie  folgt  formulieren: 

Am  raschesten  führte  während  der  langen  Einübung  zur  Er- 
lernung jene  zweimal  unterbrochene  G.-Reihe,  die  wir 
II.  V. -Reihe  nannten,  — am  langsamsten  führte  die  G. -Me- 
thode im  engeren  Sinne  des  Wortes  zu  diesem  Ziele.  Die  beiden 
andern  ausprobierten  Methoden  nehmen  im  gesamten  Verlaufe  der 
mechanischen  Einübung  eine  vermittelnde  Stellung  ein;  hält  man 
die  bei  den  dreimaligen  Berechnungen  auch  bezüglich  der  T.-und 

1.  V.-Methode  gefundenen  durchschnittlichen  Werte  zusammen,  so 
bemerkt  man,  daß  bei  Neu-  wie  Wiedererlernungen  eine  außer- 
ordentliche Gleichmäßigkeit  der  Zahlen  hervortritt,  —  die  Differenz 


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152 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


beträgt  in  gleichmäßiger  Verteilung  zugunsten  beider  Lernweisen 
noch  nicht  einmal  eine  einzige  Lesung. — Der  im  Vordergrund  unserer 
Untersuchung  stehende  Hauptgesichtspunkt  der  Übung  ge- 
stattete nicht,  in  besonders  ausgedehnten  Versuchen  die  Nachhal- 
tigkeit einer  jeden  Methode  zu  prüfen  und  danach  diese  Methoden 
zu  rangieren,  —  unser  Urteil  bezieht  sich  einzig  und  allein 
auf  die  Raschheit,  mit  welcher  die  einzelnen  Methoden 
zur  Aneignung  des  betr.  Memorierstoffes  führten;  dennoch 
traten  wir  wenigstens  nebenher  auch  der  Frage  näher,  wie 
wohl  die  Methoden  zu  rangieren  seien,  wenn  man  nach  Verlauf 
einer  Woche  einen  bestimmten  Stoff  wiedererlernen  lasse.  Wir 
stellten  diese  Prüfung  der  Methoden  an  im  Anschluß  an  die 
XXXIII.  Versuchsreihe  (9.  Einübungsturnus) ;  die  ziffernmäßigen 
Ergebnisse  sind  in  der  Tabelle  33  nebst  den  wichtigsten  Protokoll- 
notizen verzeichnet.  Hier  seien  nur  zunächst  tibersichtlich  die 
Wiederholungsziffern  nach  Ablauf  einer  Woche  neben  die  früheren 
gestellt.  Es  wendeten  also  nach  1  Woche  an  Lesungen  auf  im 
Vergleich  zu  vordem: 


Herr  B. 

Herr  Br. 

Herr  F. 

HerrPrf.M. 

Frl.  S. 

'HerrDr.W. 

Me- 
thode 

Erste 
Wiederhol. 

Nach  einer 
Woche 

Erste 
j  Wiederhol. 

Nach  einer 
Woche 

Erste 
Wiederhol. 

Nach  einer  ' 
Woche  1 

Erste 
Wiederhol. 

Nach  einer 
Woche 

Erste 
Wiederhol. 

Nach  einer 
Woche 

Erste 
'  Wiederhol. 

Nach  einer 
i  Wocho 

G. 

3 

2 

4 

3 

y  i 
i 1 

5 

2 

ö 

7 

6 

T. 

2 

2 

4 

3  j 

2 

-  i 

5 

ö 

4 

ö 

9 

8 

I.  V. 

4 

3 

5 

5 

3 

3 

4 

3 

5 

8 

7 

II.  V. 

4 

4  1 
—  i 

5 

I  ! 

4 

i  ! 

6 

i 

3 

5  | 

8 

6 

Es  ist  nun  sehr  lehrreich,  auf  Grund  ebendieser  Übersicht  und 
der  Tabelle  XXXIH  zur  XXXHI.  Versuchsreihe  aus  den  summierten 
Ergebnissen  den  Wert  der  vier  Methoden  für  die  Dauer  des 
Rehaltens  wenigstens  annäherungsweise  zu  ersehen.  Bei  dem  in 
Rede  stehenden  9.  Turnus  der  mechanischen  Einübung  wurden  von 
den  sechs  Vp.  insgesamt  65  Lesungen  aufgeboten  zur  erstmaligen 
Erlernung  der  G.- Reihe,  welche  nach  lmal  24  Stunden  von  ihnen 
wiederholt  wurde  mit  insgesamt  23  Lesungen  und  nach  7  mal 
24  Stunden  noch  einmal  wiederholt  wurde  mit  im  ganzen  22  Lesungen. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übangsphänomene  usw.  153 


Bei  der  T.- Reihe,  welche  mit  49  Lesungen  ingesamt  erlernt  wnrde, 
waren  für  das  zweimalige  Wiedererlernen  26,  bzw.  26  Lesungen 
nötig;  bei  der  I.V.-Reihe,  erstmalig  gelernt  mit  in  Summa  55  Lesungen, 
waren  zum  Wiedererlernen  nötig  26,  bzw.  28  Lesungen;  für  die 
IL  V.-Rcihe  endlich  betragen  die  drei  Werte  der  Reihe  nach  48, 
—  29,  —  28  Lesungen.  Darf  man  auf  Grund  dieser  Zahlen  ein 
Urteil  über  die  Dauer  des  Behaltene,  bzw.  Uber  die  Solidität 
der  bei  den  einzelnen  Methoden  gestifteten  Assoziationen  aus- 
sprechen, so  muß  dasselbe  wohl  etwa  so  lauten:  die  festesten 
Assoziationen  und  damit  auch  die  längst  anhaltende  Möglichkeit 
einwandfreier  Reproduktion  eines  Stoffes  ergeben  sich  bei  der- 
jenigen Methode,  welche  die  größte  Zahl  der  Lesungen 
erfordert,  —  also  der  G.-Methode,  dann  erst  kommt  die  I.  V.- 
Methode, danach  erst  die  T.-  und  die  II.  V.- Methode. 

Im  allgemeinen  dürfte  es  überraschend  erscheinen,  daß  die 
vier  zu  dem  Versuche  benutzten  Reihen,  welche  mit  insgesamt 
217  Lesungen  erlernt  worden  waren  und  nach  24  Stunden  mit  im 
ganzen  104  Lesungen  wiederholt  wurden,  mit  einem  verhältnis- 
mäßig großen  Aufwand  von  ebenfalls  104  Lesungen  nach  7  mal 
24  Stunden  wiedererlernt  werden  mußten.  Sollte  man  nicht  ver- 
muten, daß  der  beim  Erlernen  und  ersten  Wiederholen  mit 
321  Lesungen  erfaßte  Stoff  bei  der  beständigen  Übung,  in  welcher 
sämtliche  Vp.  erhalten  wurden,  in  wesentlich  kürzerer  Frist  wieder 
anzueignen  gewesen  sein  müßte?  Sicher  darf  man  dem  gegen- 
über wohl  annehmen,  daß  die  ebenerwähnten  günstigen  Faktoren 
so  ziemlich  kompensiert  werden  von  der  Tendenz  des  Vergessens. 
Außerdem  kommt  hinzu,  daß  nach  den  Angaben  der  meisten  Vp. 
eine  besondere  Schwierigkeit  des  dauernden  Behaltens 
in  dem  sinnlosen  Material  selbst  liegt.  Speziell  die  Herren  F., 
Br.  und  B.,  Frl.  S.,  teilweise  Herr  Dr.  W.  stimmen  in  ihren  bei- 
läufig gemachten  Aussagen  darin  Uberein,  daß  je  länger  je  mehr 
heim  fortgesetzten  Lernen  sinnlosen  Materials  der  Einzelcharakter, 
das  ausgeprägt  Signifikante  der  Silben  »verschwimmt«  (Ausdruck 
des  Herrn  F.),  —  also  je  länger  gelernt  wird,  desto  leichter 
kommen  Verwechslungen  vor,  deren  Möglichkeit  das  sichere  Wieder- 
erfassen verlangsamt.  Wie  sehr  das  länger  fortgesetzte 
Lernen  sinnlosen  Silbenmaterials  dasErfassen  erschwert, 
trat  deutlich  zutage  am  Schluß  unserer  Untersuchung,  als  wir 
in  einigen  Ergänzungsversuchen  prüfen  wollten,  ob  der  erworbenen 


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154  Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 

Übung  auch  eine  gewisse  Konstanz  eigen  sei.  Um  den  Aus- 
fuhrungen darüber  nicht  vorzugreifen,  sei  an  dieser  Stelle  nur  ein 
Beispiel  erwähnt,  —  das  des  Herrn  Dr.  W.,  welcher  mit  den  Ge- 
dächtnisrersuchen  für  unsere  Zwecke  abgeschlossen  hatte  am 
28.  Febr.  1903,  der  dann  aber  nach  einer  Pause  von  105  Tagen 
sich  einer  Prüfung  an  sinnlosen  Silben  unterzog.  Er  lernte  dabei 
unter  anderem  16  Silben  mit  12  Lesungen,  während  er  vor  dieser 
Pause  zum  gleichen  Quantum  18  Lesungen  gebraucht  hatte!  Zu 
solchen  Wirkungen  einer  längeren  Lernpause  vereinigen  sich  freilich 
mehrere  Faktoren,  die  wir  später  genauer  bestimmen  werden.  Hier 
interessiert  uns  nur  vor  allem  die  Bekundung  der  Vp.,  daß  einer 
der  Hauptgründe  der  schnelleren  Erlernung  in  dem  starken  Zu- 
rücktreten der  sonst  sich  lernungshemmend  geltend  machenden 
»Reminiszenzen«  zu  suchen  sei,  —  das  Gedächtnis  sei  geradezu 
»entlastet«,  —  die  nach  der  Vakanz  anzueignenden  Silben  würden 
mit  auffälliger  Deutlichkeit  und  Schärfe  in  ihrer  Eigenart  erfaßt. 
—  »die  vordem  je  länger,  je  mehr  hervorgetretene  Tendenz  wohl 
jeder  einzelnen  neu  zu  lernenden  Silbe,  andere  früher  erlernte  von 
geringerer  oder  größerer  Ähnlichkeit  zu  reproduzieren  und  dadurch 
den  Aneignungsprozeß  schleppend  zu  gestalten,  macht  sich  un- 
verhältnismäßig weniger  bemerklich«  (siehe  Protokoll  in  Ta- 
belle 40).  Mit  dem,  was  einzelne  Forscher  »Perseveration«  nennen, 
hat  dieser  psychische  Vorgang  offenbar  wenig,  vielleicht  auch 
gar  nichts  gemeinsam.  Mit  besonderer  Sorgfalt  lenkte  Versuchs- 
leiter  speziell  während  der  zweiten  Gruppe  von  Einübungs versuchen 
die  Aufmerksamkeit  der  Vp.  auf  etwaige  bei  ihnen  auftretende 
Perseverationserscheinungen ;  das  Ergebnis  dieser  Nachfragen  war, 
daß  bei  unsern  Vp.  die  »Perseveration«  eine  anscheinend  recht 
unbedeutende  Rolle  spielte.  Vier  Herren  (Prof.  M.,  Dr.  W.,  F.,  B.) 
versicherten  aufs  bestimmteste,  daß  bei  ihnen  außerhalb  unserer 
speziellen  Versuchszeit  niemals  ein  spontanes  Auftauchen  unseres 
Lernmaterials  vorgekommen  sei,  —  »nicht  im  Schlafe«,  wie  einer 
der  Herren  sich  ausdrückte.  —  Alles  in  allem  hat  Versuchsleiter 
nur  zwei  Fälle  finden  können,  die  die  Vertreter  der  Persevera- 
tionstheorie  für  sich  in  Anspruch  nehmen  könnten,  —  zwei  Fälle, 
die  aber  wohl  auch  darzutun  vermögen,  daß  Perseverations- 
erscheinungen nicht  weit  von  der  Grenze  des  Pathologischen  sich 
bewegen.  Der  eine  Fall  betrifft  Herrn  Br. ,  welcher  sich  Uber- 
haupt während  der  ganzen  Versuchszeit  keines  befriedigendem 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  155 

Gesundheitszustandes  erfreute.  Er  bekundete,  daß  während  des 
Kontrollschnittes  ihm  gegen  Abend  die  beiden  Schiilerschen  Strophen 
immer  wieder  ohne  jede  erkennbare  Veranlassung  in  den  Sinn 
gekommen  seien  >etwa  wie  eine  Melodie,  welche  man  geraume 
Zeit  nicht  wieder  los  wird«,  —  damals  habe  er  sich  aber  im  Zu- 
stand ausnehmender  Abgespanntheit  befunden.  In  einem 
ähnlichen  Zustand  minder  normalen  Befindens  wurde  Frl.  S.  ein- 
mal während  des  SchlafenB  von  den  beim  Kontrollschnitt  erlernten 
visuellen  Zeichen  heimgesucht,  —  das  bei  weitem  zahlreichere 
Silbenmaterial  jedoch  kam  ihr  nicht  durch  Perseveration  ins  Be- 
wußtsein; lediglich  im  Anfang  der  Versuche  hat  sie  (sogar  einige 
Tage  lang)  in  der  Silbenfolge  »fap-rin«  eine  oft  auftauchende 
Erinnerung  an  einen  russischen  Namen  gehabt. 

Wir  teilen  nunmehr  noch  einige  Resultate  der  Selbstbeobachtung 
unserer  Vp.  mit.  Sämtliche  Vp.  stimmen  zunächst  darin  überein, 
daß  die  G.- Methode  wohl  die  »schwierigste«  sei,  da  sie  die  Auf- 
merksamkeit »kontinuierlich  anspanne«  (Frl.  S.,  Tabelle  35,  Protokoll 
zur  XXXV.  Versuchsreihe),  wahrscheinlich  deswegen  und  wegen  der 
davon  abhängigen  größeren  Zahl  von  Wiederholungen  auch  »an- 
scheinend ein  treueres  Behalten  bewirke«.  Ferner  sind  sich  alle 
Vp.  darüber  einig,  daß  das  G.- Verfahren  —  wie  allerdings  auch 
die  beiden  V.-Methoden  —  niemals  falsche,  unzweckmäßige  Asso- 
ziationen stifte.  Daß  auch  das  bereits  Gelernte  wiederholt  werden 
muß,  wurde  gegen  Ende  der  Übung  von  dem  Gros  der  Vp.  (Herren 
B.,  Br.,  F.,  Frl.  S.)  weniger  störend  empfunden;  die  genannten 
Vp.  glauben  das  immer  leichter  ausgleichen  zu  können  dadurch,  daß 
sie  die  Aufmerksamkeit  immer  intensiver  »auf  die  Partien  der 
Reihe  richten,  welche  beim  antizipierenden  Lesen  als  Schwächen 
empfunden  wurden«  (Prot,  zum  15.  Turnus).  Herr  F.  speziell 
glaubt  hierin  —  also  im  rationelleren,  ökonomischeren  Verteilen 
der  Aufmerksamkeit  —  ein  Hauptmoment  der  von  ihm  erlangten 
»Lerntechnik«  erblicken  zu  müssen,  —  siehe  Protokoll  zur  39.  Ver- 
suchsreihe! 

Eben  dieses  »Dirigierenkönnen«  der  Aufmerksamkeit  hat 
speziell  Herrn  F.  dazu  verholfen,  gelegentlich  der  Erlernung  der 
drei  letzten  T.-Reihen  diese  nach  je  ein-  bis  zweimaligem  Lesen 
der  Teile  als  G.-Reihe  korrekt  aufsagen  zu  können;  ähnlich  spricht 
sich  Herr  B.  und  Herr  Br.  in  den  letzten  Protokollen  zur  mecha- 
nischen Einübung  aus.    Es  scheint  danach  die  T.- Reihe  bei 


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156 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


fortgesetzter  Anwendung  derselben  mehr  und  mehr  von  ihrer  Schwäche 
zu  verlieren,  die  in  dem  Znstandekommen  unzweckmäßiger  Asso- 
ziationen besteht,  —  besonders  wenn  man  gleich  Herrn  B.,  Herrn  Br. 
und  Frl.  S.  sich  so  einrichtet,  daß  man  ebensogut  im  4/4-Takt  zu 
lernen  vermag,  der  vorzugsweise  beim  G.- Verfahren  zur  An- 
wendung kam,  wie  im  3/4-Takt,  zu  welchem  die  12 -silbige  T.-Reihe 
drängt.  Bei  solchen  ausgeprägten  > Akustikern <  freilich,  wie  sie 
repräsentiert  wurden  durch  Herrn  Prof.  M.  und  Herrn  Dr.  W.,  be- 
halten die  für  sich  erlernten  Hälften  der  Reihe  mindestens  im 
relativ  kurzen  Verlauf  unserer  Einübung  eine  Art  Nachbildcharakter 
im  auditiven  Sinnesgebiet,  —  diese  helfen  aber  nur  wenig  zum 
dauernden  Behalten,  was  ja  die  letzte  Ziffer  von  den  dreien  der 
Erlernung  in  ihrer  Höhe  mit  aller  Deutlichkeit  nachweist.  Daß 
auch  ein  so  visueller  Typ  wie  Herr  Br.  an  der  gedachten  Stelle 
jeweils  etwas  höhere  Ziffern  als  die  andern  Visuellen  unserer  Vp. 
zeigt,  erklärt  sich  dadurch,  daß  er  vorsichtigerweise  lieber  zwei 
oder  drei  Lesungen  mehr  aufwandte,  als  daß  er  sich  dem  speziell 
bei  ihm  stärkste  Unlust  erregenden  mangelhaften  Reproduzieren 
aussetzte,  —  außerdem  erregte  die  T.-Methode  von  vornherein 
einige  Unlust  bei  ihm  (siehe  Protokoll  zum  14.  Übungsturnus!), 
weil  er  mit  hier  fast  unangebrachter  Vorliebe  am  Rhythmus  des 
V<-Taktes  festhielt,  den  er  hier  aber  natürlich  ebensogut  aufgeben 
mußte,  wie  bei  der  folgenden  I.  V.-Methode. 

Dieselbe  hat  nach  den  Protokollnotizen  gleich  der  II.  V.-Me- 
thode in  der  subjektiven  Auffassung  unserer  Vp.  alle  Vorzüge 
der  G.-Methode  unter  Umgehung  ihrer  Mängel.  Daß  die 
n.  V.-Methode,  die  Lernweise  mit  zwei  Interpunktionen,  von  den 
Vp.  vorgezogen  wurde,  hat  nach  deren  spontanen  Äußerungen  einen 
zweifachen  Grund:  einigen  (Herrn  Br.,  Herrn  B.)  ist  es  störend,  ihren 
Vorzugsrhythmus  nicht  anwenden  zu  können,  weil  dadurch  Unlust 
erregt  wird,  —  dieser  Grund  gilt  freilich  nur  für  12-silbige  Reihen, 
und  wohl  auch  nur  da,  wo  der  Rhythmus  eine  solche  dominierende 
Rolle  spielt,  wie  bei  mechanischen  Leistungen,  also  auch  bei  diesem 
Lernen  sinnloser  Silben.  Gewichtiger  ist  der  zweiter  Grund  für 
subjektive  Bevorzugung  des  II.  V. -Verfahrens,  bezüglich  dessen  alle 
Vp.  durchaus  in  ihrer  Meinung  übereinstimmen:  es  findet  bei 
ihm  eine  gleichmäßigere  Verteilung  der  psy chophysischen 
Energie  statt,  —  eine  rationellere  Ausnutzung  der  Aufmerksam- 
keitsphänomene, —  damit  eo  ipso  eine  festere  Einprägung  der 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  157 

mittleren  Eindrücke  der  Reihe  nnd  damit  wieder  zusammen- 
hängend eine  Reproduktion,  die  in  der  Vp.  das  Lustgefühl  der 
Leichtigkeit  und  besonderen  Sicherheit  hinterläßt. 

VI.  Kapitel: 
Schlnßqn  er  schnitt. 

Bei  dem  nunmehr  ins  Auge  zu  fassenden  Schluß querschnitte 
durch  das  Gesamtgedächtnis  unserer  Vp.  wurde  wiederum  speziell 
darauf  geachtet,  daß  sämtliche  Lernbedingungen  die  nämlichen 
wie  bei  den  früheren  beiden  Schnitten  waren,  und  insbesondere 
der  jeweilige  Memorierstoff  in  denkbar  bester  Analogie  zu 
dem  früher  verwendeten  gewählt  wurde. 

XLI.  Versuchsreihe. 

Diese  Versuchsreihe  stellte  den  endgültigen  Effekt  der 
Mitübung  für  das  unmittelbare  Behalten  von  Zahlen  fest 
Hatten  sich  infolge  der  einseitig -mechanischen  Übung  am  sinn- 
losen Silbenmaterial  weitere  Fortschritte  auch  betreffs  dieser  »Seite« 
der  Gedächnisfunktion  entwickelt?  Bücken  wir  wieder  wie  vor- 
dem auf  das  Niveau  der  Nullgrenzen  und  derjenigen,  bei  welchen 
erstmalig  33 y3*  Fehler  zu  verzeichnen  waren,  und  setzen  wir 
sie  jeweils  sofort  in  Beziehung  zu  den  Ergebnissen  des  ersten  und 
zweiten  Querschnittes!    Es  behielten  fehlerlos  gegenwärtig 

B.  13  Zahl.,  vordem  9,  bzw.  7,  Fortschritt  also  44,44,  bzw.  85,71  *, 
Br.ll    »         »    10,    »   7,  >         »   10,        >  57,14*, 

F.  13  »  >  8,  »  5,  »  »  62,5,  >  160,00*, 
M.  11  »  >  9,  >  9,  »  »  22,22,  »  22,22*, 
S.  11  »  »  10,  »7,  »  >  10,  57,14*, 
W.  8    >        »     7,    >  7,         »         »  14,28,    >  14,28*. 

Durchschnittlich  merkte  also  am  Schlüsse  der  Untersuchung 
jede  Vp.  11,16  Zahlen  gegen  8,83  Zahlen  beim  mittleren  und 
7  Zahlen  beim  ersten  Querschnitt;  der  Fortschritt  erfolgte  vom 
mittleren  zum  Schlußschnitt  um  26,38*,  von  Anfang  bis  Ende 
der  Untersuchung  um  59,42*. 

Achten  wir  auf  die  gegenwärtige  Lage  der  33  Vs  * -Fehlergrenze, 
so  finden  wir  sie  bei 


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158 


Ernst  Kbert  und  E.  Meumann. 

Tabelle 

XLI.  Versuchsreihe:  Unmittelbares 


Aulzu- 

Herr  1? 

Herr  Hr. 

Herr  F. 

faiwendi'» 

/.uiiiL'n- 

r  - 

Bezeichnung  der 

F.- 

He/eichnuii;;  der 

F.- 

Bezeichnung- der 

quanfum 

Zühl 

Fehler 

Zahl 

Fehler 

Zahl 

Fehler 

VIII 

0 

0 

0 

1 A 

0 

0 

V 
A 

(1 

II 

o 

XI 

L> 

-  III.  VI. 

o 

XU 

1 

-  III. 

1 

-  IV. 

1 

VIII. 

XIII 

0 

-  V.  IX:  bei   II  0 

»11«   für  »12« 

-  III.  V  VIII. 

IV.  VI,  VII. 
VIII  ;  u.  rii 


verstanden. 
V.  VII. 


2? 


i 


VII.  VIII.  IX, 
V1.X;XII.X]V. 


VI.  VII.  \- III.  5 


XI;  XIII  XIV. 
III,  IV.  V.  VI. 

vir 

v.  VI.  VII. XII.  •> 


IX. X. XI. XII:  •> 
XV 


X1V;XV,XV1I. 

-  V.  VH1.  IX.  X. 
XI;  xvm 

-  IV  V.  VI.  VII. 
X.  XI.  XII. 


iwrr  K  'i-hreii'l  J.f  cul- 
.-i-Li'i  iJoji  J  m  Mcnu'i'.l  cu.et 
i.  rlin.  -  Tutionullrrrn  i'~up- 

ti-'ti     7/i  il  criiiu.it'Ti  al  h  /.i), 
-  \  r  i  r  ii.'.i'in  dem  Vt'rlin  '."ji 
jlrrii-il>      d'Ti)      0  T':ruUa: 
-rli v  . il  o    cl    im  ji't.*« .      i  [ ';[ - 

■  I  i r iii-k-  .-erlebt  .  r 
<vio  Htj-r  Hr. 


.V  ,    -  IV.  V.  VIII.  XI. 
XV1;X1I,XIII. 

-  vii.  vni.  ix  r  4 
x.  xv. 


-  V,  VIII; bei XII 
»17«  fiir  »14« 
verstanden. 
XV:  bei  Xlll  das 
obi^'e  gleiche 

Mißverständnis. 
X,  XIV 

-  VIII,  XII:  XV. 

-  IV.  V.  X.  XI; 
IX.  XV 


-  XI.  XII.  Xlll.  h<  i  -  III.  IV.  VI.  IX: 


XIV.  XV. 

1 1. 1 11 ;  —  VI  1 1  IX. 
X.XI.XIt.MÜ 

lUrr     l'.r.    ,  t  ,\,.n 

LlloWt  tu  ««'ini-m  :'w<"  kü; in  , 
Iii  riclisam  st  ritcuisi  licn  \  • 
):::'.U  u    boiiu  V<  ilcilfii  in:  I 
K  •  -.1  131         .1«t  1."  ■rt:ii.:.'t.,l 
i\  i-..  \  .  i  :•  I   r  v    Vi.  h 

••.'tineri  :»ul'  l'.srh  —  >  r.-te 

Hill  it"  VlMIrll  .  v,  t  Hui  (\  •' 
:iu  ö  il  i  *  ji-iiii'rU.  Jtit"^  <  i  ifii 
Ins  1  /.ah Ii- li  a<S",'.iit i  v  ;iK 
'i»."n-liii-rils':il!l<'ll  i : t-, 1 1 •  r  K-- 
rif l'  .in  (Ii'-  Tills. i •  1 1 :: 
l.isl.iriM  li.  r  Art  ><•  (>■  i.'U' 
V::li:.-'.|;"fiiij>  tVh:-ri. 


VIII.  XV; 
XIII.  XIX 


II,  :.-  1".  teilt  v, 11, Tr 
I! .  -  nur  l  ildi't  er  mi-hr 
Grur.p«'n  vcii.  /Ahlen 
;ilj  .  1  r -- 1  i.Jcr  v-^r  lir.iH.pn  — , 
i  p-l1.     UinlHisl    m  i  *  eintuu 

S  J 1 1  ■  •'  i  0  1 1 V  Ii         VV  L 1  [  BD .-  i  II  1  [i  II  .  * 
ert.is-erul.     J.;iui;r..  Siibtif- 
[iijcn'kiiti  rn'D      wi*1  *\ich 
Korr  r   %D.i  Yz\.  S. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphiiuomene  usw.  159 
XLL 

Behalten  von  Zahlenreihen. 


Aufzu- 
fassendes 
Zahlen- 
quantum 

Herr  Prof.  M. 

Frl.  S. 

F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

VI  II 

0 

IX 

0 

X 

0 

XI 

0 

XII 

i 

-  i 

XIII 

1 

AI  V 

i 
i 

40 

4-  4 

XV 

XVI 

5 

XVII 

6 

XVIII 

Herr  Dr.  W. 


F.- 
Zahl 


Bezeichnung  der 
Fehler 


BeiVm  »2«  für 
»20«  verstanden. 

-  V;  VI,  VII. 


ID,  VI,  VII. 

xrv;  iv,  V. 

V,  VI,  VII,  X; 
bei  IX  »6«  statt 
»16«. 


0 


23 


V,  VI,  XI,  XII; 

xm. 

II,  III,  X,  XI: 
XV,  XVI. 


4* 


4 


62 


Herr  Prot  M.  Yennag  mehr 
and  mehr  alles  andere 
Hemmende  ans  dem  Blick- 
punkt dM  Bewußtseins  je- 
weili  in  verdrangen,  um  In 
ebendemselben  Grade  ge- 
steigert« Int« 
raerksamkeit 


-IV. 

Bei  VII  unsicher, 
ob  »4«  oder  »40«. 

-VI,  VII. 

-  VIII,  IX; 

II,  1v. 

-  VII,  VIII,  IX, 
XV. 

-II,  V.VI,  VIII; 

XV,  XVII. 

-  V,  VIII,  IX,  X, 
XI;  XV; 


1«, 
4V4 


IX.  ~ 
V;    III,  VI; 

vm,  \ 

IV,  VI,  X; 
11  korrigiert. 

V,  VII,  vin, 
IX.  Bei  XI  für 

18-8! 


xni,  "xm 


Frl.  S.  beknndet,  daß  bei 
diesen  abschließenden  Ver- 
gucken die  Adaptation  der 
Aufmerksamkeit  merklich 
rascher  eintritt  und  sehr 
znm  quantitativ  und  quali- 
tativ vollkommeneren  Er- 
fassen beitragt.  (Größere 
Ansgeglichenheit  der  Oe- 
fflhlslage. 
Besinnen!) 


Herr  Dr.  W.  vermutet 
die   Ursache   des  minder 


_  in. 

Technik  des  Isolierens 
schwacher  Stellen ,  auf 
welche  dann  besser«  Kon- 
zentration möglich  ist. 

Herr  Dr.  W.  findet,  daß 
sich  das  Interesse  mehr  und 
mehr  emotionell  fordernd 
diesen  Experimenten  zu- 
wendet, —  die  Lustgefühle 
wirken  aber  kraftbildend 
nach  Stüter  Selbstbeobach- 


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100  Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 

B.  bei 20 Zahl.,  frUh.  19,  bzw.  10,  Fortschr.also  5,26, bzw.  100,00 %, 


Br. 

.20  » 

»  20, 

>    11,  » 

»     —  » 

81,81*, 

F. 

»  19  » 

•  17, 

»8,  » 

>  11,76,  . 

137,50 

M. 

»  17  > 

>  15, 

»  11, 

>  13,33,  » 

54,54 

S. 

»  18  » 

>  14, 

»  12, 

»  28,57,  . 

60,00 

w. 

»  12  » 

»  10, 

»  10, 

»  20,00,  . 

>     20,00  %. 

Im  Mittel  traten  also  33  i/8#  Fehler  auf  am  Schlosse  der 
Untersuchung  bei  17,66  Zahlen,  gegen  bei  15,83  Zahlen  beim  mittleren 
und  10,33  Zahlen  beim  ersten  Querschnitt.  Prozentual  bestimmt 
belief  sich  also  der  Fortschritt  vom  mittleren  Querschnitt  ab  auf 
11,56,  von  Anfang  bis  Schluß  der  Untersuchung  auf  70,95. 

Aus  dem  Detail  der  Protokollnotizen  sei  hier  nur  das  Wichtigste 
hervorgehoben. 

Zur  Bestim  muug  des  Wesens  der  Übung  scheinen  folgende 
Wahrnehmungen  der  Vp.  von  Belang  zu  sein: 

Herr  F.,  Herr  B.,  Herr  Br.  äußern  sich  dahin,  daß  es  ihnen  gelänge, 
durch  »technisch  rationellere  Gruppierung  des  dargebotenen  Ziffern- 
materials« das  Behalten  umfänglicher  und  sicherer  zu  machen,  — 
gleichsam,  wie  Herr  B.  sich  ausdruckt,  »durch  Befolgung  des 
Grundsatzes  'divide  et  impera' !  <  —  oder,  wie  Herr  Br.  exemplifiziert, 
»durch  zweckmäßiges,  gleichsam  strategisches  Verteilen,  bzw.  Kom- 
binieren der  verschiedenen  Lernmittel,  nämlich  des  visuellen,  kin- 
ästhetischen  und  auditiven  Merkens«  ;  Herr  Br.  zeichnet  nämlich 
das  Vorgesprochene  schnell  mit  den  Fingern  auf  den  Tisch,  merkt 
sich  die  erste  Hälfte  visuell,  die  letztere  auditiv,  —  bisweilen, 
wenn  die  Reihenfolge  der  Zahlen  dazu  von  selbst  Veranlassung 
bietet,  eine  Gruppe  von  dreien  oder  vieren  »als  Geschichtszahlen« 
assoziativ  »durch  momentanes  Erinnern  an  die  bezugliche  historische 
Tatsache«  (siehe  die  zugehörige  Tabelle!).  —  Herr  F.  teilt  die 
vorgesprochene  Zahlenserie  am  vielfachsten  —  von  9  Zahlen  ab 
in  3  oder  4  Gruppen  —  und  gibt  sich  möglichst  für  jede  Sonder- 
gruppe einen  speziellen  Willensimpuls. 

Wichtig  erscheint  ferner  für  die  Bestimmung  des  Wesens  der 
Übung  eine  subjektive  Wahrnehmung,  welcher  speziell  Herr  Prof.  M. 
Ausdruck  verlieh;  Herr  Prof.  M.  meint  auf  Grund  der  Übung 
immer  vollkommener  eine  Hemmung  der  übrigen  Bewußtseins- 
inhalte erreichen  zu  können,  in  demselben  Grad  aber  die  Inten- 
sität der  Konzentration  gesteigert  zu  spüren. 


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Über  einige  Grundfragsn  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  161 

Damit  harmoniert,  was  Frl.  S.  hinsichtlich  der  Übungsfaktoren 
auesagt,  —  daß  nämlich  bei  diesen  abschließenden  Versuchen  die 
Adaptation  der  Aufmerksamkeit  merklich  rascher  eintrete  und 
wesentlich  bei  ihr  zum  quantitativ  und  qualitativ  vervollkommneten 
Erfassen  beitrage. 

Endlich  findet  sich  noch  unter  den  spontanen  Aussagen  des 
Herrn  Dr.  W.  eine  Notiz,  welche  einen  beachtenswerten  Faktor  des 
Übungsphänomens  darzutun  scheint,  —  den  emotionellen.  Herr 
Dr.  W.  findet,  daß  sich  nach  und  nach  in  steigendem  Maße  das 
Interesse  von  einer  Reihe  anderer  Bewußtseinsinhalte  abwendet 
und  dieser  Art  von  Experimenten  zukehrt,  —  daß  die  größere 
Leistungsfähigkeit  auf  dieser  abschließenden  Stufe  zum  nicht  ge- 
ringen Teile  den  »kraftbildenden  Lustgefühlen«  zuzuschreiben  ist, 
welche  ein  wesentliches  Moment  im  »Interesse«  sind. 

Von  nicht  geringem  Interesse  war  ferner  die  durchgängig  von 
allen  Vp.  gemachte  Beobachtung,  daß  die  Möglichkeit  des  Sich- 
besinnenkönnens  auf  irgendein  Glied  der  zu  behaltenden  Serie 
auffällig  größer  war  als  bisher.  Herr  F.,  Herr  Br.  und  Frl.  S. 
bemerken,  daß  dies  in  erster  Linie  wohl  der  größeren  Ausge- 
glichenheit der  Gesamtgefühlslage  zu  verdanken  sei,  indem 
vor  allem  die  lästigen,  hemmenden  UnlustgefUhle  immer  mehr 
abklingen.  Herr  Dr.  W.  vermutet  eine  weitere  Mitursache  dieses 
weniger  schnellen  > Auslöschens«  in  der  Erinnerung  in  der  immer 
mehr  erlangten  »Technik«  des  Isolierens  schwacher  Stellen, 
auf  welche  sich  dann  die  Konzentration  besonders  intensiv  richten 
kann. 

Als  Wiederholung  der  IL,  bzw.  XXH.  Versuchsreihe  stellt  sich 
nns  weiter  die 

XLII.  Versuchsreihe 

dar.  Aus  ihr  ergibt  sich  abermals  zunächst  ein  Steigen  beider 
Grenzwerte,  —  zuerst  der  Nullgrenzen.  Es  behielten  an  Buch- 
staben bei  dieser  abschließenden  Versuchsreihe  völlig  fehlerlos 

B.  11,  vordem  9,  bzw.  6  Buchst,  Fortschr.  also  22,22,  bzw.  83,33  %, 


Br  12, 

»  11, 

»   8  » 

9,09, 

>  50,00 

F.  12, 

>  9, 

»   5  » 

»  33,33, 

»  140,00  %, 

M.  13, 

»  11, 

>   9  » 

»  18,18, 

»  44,44 

S.  12, 

>  9, 

»   7  » 

>  33,33, 

>    71,42  X, 

W.  8, 

>  8, 

,  8  » 

»     — . 

XrckiT  fix  Psychologie.   IV.  11 


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162 


Ernst  Ebert  und  E.  Meu 

Tabelle 

XLII.  Versuchsreihe:  Unmittelbares 


Aufzu- 
fassendes 
Buch- 
staben- 
quantnm 


Herr  B. 


II 


Herr  Br. 


F.- 
Zahl 


Bezeichnung  der 
Fehler 


F.- 
Zahl 


VIII 
IX 


XI 
XII 

XIII 

XIV 
XV 

XVI 

XVII 
XVIU 


0 


V. 


Bezeichnung  der 
Fehler 


Herr  F. 


F.- 
fcabl 


Bezeichnung  der 
Fehler 


3*  4  -V,  VII,  VIII: 


3 

67« 


0 


0 


-  vii,  viii.  x. 


V,  VI,  X,  XI;  3 
Xü;  XV  kor- 
rigiert. 

"43, 


Herr  B.  bexeigte  früher 
innerlich  ein  fast  ablehnen- 
de« Verhüten  derartigem 
Material  Reponier,  — jetlt 
findet  er  die  > Sache«  inter- 
essant. Herr  B.  orbliekt 
vor  dem  »inneren  Auge« 
du  Ganze  den  Dargebotenen 
and  zerlegt  dasselbe  beim 
Aufsagen.  (So  anch  Herr 
Br.!) 


634 


X,  XL 


0 
0 

0 


0 


0 


VTI;  bei  XIII 
b  für  p. 
IX,  X;  XIV. 


-m,  viii,  ix, 

XI;  XII,  XV. 

—  IX,  X,  XI,  XII; 

V. 

-Vffl,  XI,  XII. 
XHI;  V,  VI: 

XIV.  \viii. 


Herr  Br.  fühlt  seine 
StimmongsUge  in  ahnlicher 
Weise  umgeschlagen,  wie 
es  Ton  Herrn  B.  gekenn- 
zeichnet ward«.  Der  ener- 
gische »Wille«  regt  sein 
Können  an.  Herr  Br.  leich- 
netnnd  schreibt  in  dieLofl, 
tun  den  fehlenden  optisch- 
motorischen   Eindruck  «n 


-IX. 


1 


X,  XIII. 
V,  VI. 


VI,  VIII.  IX; 
XII. 


53/4  -  II,  V,  VI.  VII; 

xi,  xn.'xv. 


Das  unmittelbare  Be- 
halten d..r.\rtiger  sinnloser 


fallt  Herrn  F.  nicht  leicht, 
—  doch  fordern  ihn  immer 
meursUrke  Willensimpuls«' 
in  dieser  Art  geistiger  Be- 
tätigung. Mit  dem  Willen 
merke  er  < 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  163 
XLIL 

Behalten  yon  Buchstaben. 


Aufzu- 
fassendes i 
Buch- 

quantum 

Herr  Prof.  M. 

Krl.  S. 

Herr  Dr.  W. 

F.-! 
Zahl'; 

Bezeichnung  der 
Fehler 

F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

VITT 

L\ 

1 

0 

0 

0 
0 

! 

i 
i 

1 

0 

<> 

-  4 

VII.  VIII. 

X 

0 

0 

-ILIIljVIlUX; 
VII.  X. 

V  1 

2  4 

IV,  V. 

0 

-XI;    IV.  V; 

VII,  "x. 

XII 

0 

0 

-VII.  VIII,  X; 

XIII 

0 

:  i=/4 

MI:  bei  II  a  für  k! 

-1 

IV.  IX.  XI  nicht 
lokalisiert. 

-  V,VI.V1I.VIII. 

XIV 
XV 

<> 

6 

t  1  *        TT  r       1T1  TT 

—  I  v  .  VI.  \  III. 
-X;  IX.\lV 

-  i 
Vi 

VI,  VII. 

III;     -  IX.  X  ; 
Xl:  XII. 

o 

III:    —  IV,  XI, 
"XII.  XIII. 

XVI 

-  Hl.  V.  VI,  VII. 
VIII;  bei  XII 

für  b  -  »•!! 

! 

II.  I_ll;  —XI,  XII 

~~  XV,   V  korri- 
giert. 

XVII 

XVIII 

lli>rr  Prof.  M.   leidet  an         Frl.  >.  -firi.-ht  h!i-1i  t';Vr  '      f r - r r  in.  W.  i~t  nnln^tlff 

r>chlttflM!iipk-itint'o!s..'viol'>r      ihr  em..li..up!le-;  Verhältnis  über  Joci  St.-lT;  -r  vnürl,  <l.il< 

Arbeit.                                  ;um  ^t.:  fl'  in  srie-ii.-rier  Wr.iso  .UJurch  aurli  fein  Wollen 

.ms    v,i-   !T«rr  I:..    —   si-  i    tieeintricutint  wird. 
:;p\rt  ein.";  •'  eutl  i.'l.  "n  Um- 
s.-liwiii^  d.'r  <;.füi.:.-. 


11* 


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164  Ernst  Ebert  und  E.  Meumann. 

Man  sieht,  daß  gegenwärtig  die  Vp.  im  Mittel  11,33  Buch- 
staben unmittelbar  zn  behalten  vermögen  gegen  9,5 Buch- 
staben beim  Kontrollschnitt,  bzw.  7,16  Buchstaben  zn  Beginn  der 
Untersuchung.  Der  Fortschritt,  den  der  Schlußschnitt  gegen  den 
mittleren  Schnitt  nachweist,  betragt  19,26  —  von  Beginn 
bis  Schluß  der  Untersuchung  erfolgte  in  bezug  auf  das 
unmittelbare  Behalten  von  Buchstaben  ein  Fortschritt 
um  58,24 

Die  33  Ys  # -Fehlergrenzen  finden  sich  bei 
B.  bei  15 Buchst.,  früh.  14 bzw.  10, Forts c h r.  also  7,14, bzw.  50,00 %, 


Br.  »  18  >  ,    17  >  17, 

F.  »  17  »  >    13  >  7, 

M.  »  16  »  »    13  »  13, 

S.  »  16  »  »15  >  10, 

W. »  14  »  »    14  >  10, 


>   5,88,  >     5,88  #, 

»30,76,  >  142,85%, 

»23,07,  >  23,07 

»  6,66,  »   60,00$  , 

»   —  >  40,00*. 


Es  traten  also  am  Schlüsse  der  Untersuchung  33  y3  %  Fehler 
erst  auf  im  Mittel  bei  16  Buchstaben,  während  dies  beim  mittleren 
Schnitt  der  Fall  war  bei  durchschnittlich  14,33  Buchstaben  und 
anfänglich  bei  11,16  Buchstaben.  In  Prozenten  bestimmt  beträgt 
der  Fortschritt  in  dieser  Beziehung  vom  mittleren  zum  abschließenden 
Querschnitt  11,79  und  im  Gesamtverlaufe  der  Untersuchung 
überhaupt  43,36. 

Sehen  wir  wiederum  von  den  aus  den  Tabellen  ersichtlichen 
Details  ab,  wie  z.  B.  von  dem  sonderbaren  Falle,  daß  Herr  Dr.  W. 
im  Verlaufe  der  ganzen  Untersuchung  in  bezug  auf  das  unmittel- 
bare fehlerlose  Behalten  von  Buchstaben  keinen  Fortschritt  auf- 
zuweisen hat,  während  z.  B.  Herr  F.  es  bis  zu  140 #  gebracht 
hat,  und  achten  wir  vor  allem  auf  den  leitenden  Gesichtspunkt 
der  Untersuchung,  das  Übungsphänomen,  so  ist  aus  den  zu 
Protokoll  verzeichneten  Aussagen  der  Vp.  ein  Zweifaches  spe- 
ziellerer Beachtung  wert:  Herr  B.  und  Herr  Br.  sowie  Frl.  S. 
äußern  sich  dahin,  daß  ihnen  »die  Sache  immer  interessanter  werde, 
während  früher  ein  fast  ablehnendes  Verhaltene  bei  ihnen  präva- 
lierte,  —  Frl.  S.  besondere  verspürt  deutlich  einen  »Umschwung 
der  Gefühle  c,  —  also  das  auch  sonst  häufig  genug  wahrzunehmende 
emotionelle  Phänomen,  daß  bei  längerer  Dauer  einer  Tätigkeit 
Unlustgefühle  in  Lustgefühle  umschlagen  können.  —  Eine 
andere  Bemerkung  findet  sich  bei  Herrn  F.,  mit  welcher  eine  ähn- 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  165 

liehe  des  Herrn  Br.  und  des  Herrn  Dr.  W.  negativer  Art  ttber- 
einstimmt.  Herr  F.  meint,  »daß  ihm  zwar  das  unmittelbare  Be- 
halten derartiger  sinnloser  Buchstabenkombinationen  nicht  leicht 
fiele,  daß  er  aber  je  länger,  je  mehr  an  sich  wahrnehme,  wie  sehr 
starke  Willensimpulse  ihn  bei  dieser  Art  geistiger  Arbeit  förderten, 
—  mit  dem  Willen  merkte  er  das  Können  wachsen«,  —  dasselbe 
versichert  dem  Sinne  nach  auch  Herr  Br.  Es  liegt  hierin  wohl 
jene  auch  sonst  beglaubigte  psychologische  Tatsache  vor,  daß  die 
Leistung  wächst  mit  der  wachsenden  Zumutung  an  die 
Leistungsfähigkeit 

XLHI.  Versuchsreihe. 

Diese  Versuchsreihe  weist  abschließend  und  analog  der  in., 
bzw.  XXIII.  Versuchsreihe  nach,  in  welchem  Maße  sich  das 
unmittelbare  Behalten  sinnloser  Silben  vervollkommnet 
hatte.    Es  behielten  zuletzt  fehlerlos 

B.  8  Silb.,  vordem  7,  bzw.  5,  Fortschr.  also  14,28,  bzw.  60,00$, 
Br.  7    »        »     6,    »    5,       »  »    16,66,    »  40,00$, 

F.  9    »        >     5,    >    4,      »  »    80,00,    »  125,00$, 

M.  7    »        >     7,    »    6,       »  >      —      »  16,66$, 

S.  8    »        »     7,    »    6,      .  »    14,28,    >  33,33$, 

W.  5    »        »     5,    »    5,      »  »      —      »       — . 

Daraus  ergibt  sich,  daß  im  Durchschnitt  von  unsern  Vp.  zuletzt 
gemerkt  wurden  7,33  Silben  gegen  6,16  beim  mittleren  un<f  5,16 
beim  ersten  Querschnitt.  Prozentual  bestimmt  beträgt  der  Fort- 
schritt vom  Kontroll-  zum  Schlußschnitt  18,99,  —  der  Fortschritt 
im  Gesamtverlauf  der  Untersuchung  dagegen  42,05.  Die 
33  i/3  $ -Fehlergrenze  zeigt  sich  bei  dieser  Versuchsreihe  für 

B.  bei  12 Silb.,  früh.  11,  bzw. 6,  Fortschr.  also  9,09,  bzw.  100,00 %, 
Br.  »  12    »      »11,-8,      »  »   9,09,    »  60,00$, 

F.  «  12    »      >    10,    ,  6,      »  »  20,00,    .  100,00$, 

M.  >  12    »      »    12,    »10,      »  »    —       »  200,0$, 

S.  »  15    »      »    15,    »  8,      »  »    —       »  87,50$, 

W.  »  10    »      »     8,    ,  8,       »  »  25,00,    »  25,00$. 

Demnach  trat  das  bezeichnete  Quantum  Fehler  am  Schlüsse  der 
Untersuchung  erst  auf  bei  durchschnittlich  12,16  Silben,  während 
dies  beim  Kontrollschnitt  erfolgte  bei  11,16  Silben  und  bei  der 
Anfangsprttfung  bei  7,66  Silben.    Der  Fortschritt  betreffs  dieser 


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166 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumanu, 

Tabelle 

XXM.  Versuchsreihe:  Unmittelbares 


Aufzu- 
fassendes .  

Silben-  j\_ 

quantum  zahi 


Herr  B. 

Bezeichnung  der 
Fehler 


F.- 
Zahl 


Herr  Br. 


Bezeichnung  der  F. 
Fehler  Zahl 


Herr  F. 

Bezeichnung  der 
Fehler 


0 
0 

0 
0 

2*/a 


4Vs 


-  V;  ffl.'Vv. 

-  ii,  viii;  IV» , 

IX». 

-  in,  iv,  x. 


V,  VI,  VII, 
X;  XII. 


0 
0 

0 

IV» 


-  V,  VH*,. 


1  -IL 


2     —HI,  V. 


92 


■3 


-  VI,  Vn;  Xȣ. 


-  IV,  V,VI,VH; 
XI. 


Einig«  Unlust  Aber  das 
Silbenmsterial,  mitwokhem 
sich  Herr  B.  fiwt  »nber- 
f&tterU  glaubt.  Deutungs- 
versnche  werden  als  töricht 
empfunden  und  zurückge- 
wiesen. Bildung  ton  Ein- 
druck.»sKgresaten,  dj*  dann 
in  gliedern  sind. 


Disposition  weniger  gün- 
stig. Merken  vor  allem 
mit  Tisnellen  Mitteln,  — 
ohne  Versuch  etwslcher 
Deutung.  Herr  Br.  muß 
sich  starke  Willrnsimpulse 
geben,  da  diese  Experimente 
ihn  liemlich  ermüden. 


0 
0 

0 

l2/3 

0 

2*/a 


-ni;  iv:*. 


35/a 


-  in,  vin;  vi» , 
vui  ,  ixi\. 

-rv,  vra. 


-m,iv,x;vi* 


Merklicher  noch  sie  bei 
den  früheren  Veraschen 
schließen  sieh  diesmal  die 
Eindrucke  so  »Konglome- 
raten« zusammen,  meist 
swei  oder  drei  Ein  Akt 
der  Analyse  laßt  dann  da* 
Detail  hieraas  gewinnen. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungspbänomene  usw.  167 

XLni. 

Behalten  von  sinnlosen  Silben. 


Aufzu- 
fassendes 

Herr  Prof.  M. 

1           Frl.  S. 

Herr  Dr.  W. 

Silben- 
quantum 

F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

F.- 
gahl 

Bezeichnung  der 
Fehler 

V 

0 

0 

0 

VI 

0 

0 

5/a 

mi ,  rv»  vi , 
vi» . 

VII 

0 

0 

2/3 

Vb,  VUb. 

vm 

Vi 

vm. 

0 

vi,  vii,  vn;, 

vmv 

V  II  l_  . 

IX 

lS/3 

—  iii,  rv\,  vp»  . 

III? ,  VIV  b,  VIP1  . 

3V3 

—  IV,  V,  VI;  LP« . 

»     V     J        V     J         Tay      A  m  —  • 

X 

4 

—  v,vi,vn,vni. 

l3/3 

-iv;n»h,vni. 

6*/4 

-  n,  iv,  v,  vm, 

LX,X;  VI,Vn. 

XI 

-vm,  ix;  m,; 
m^,  viimb.  , 

-V,   VI,  Vü; 
Iß  ,  Villi . 

XII 

-  v,vi,vn,vm,j 
IX;  mi*. 

-V,    VI,  VII, 
IX*  . 

xin 

4 

IV;  — VIII,  EX,  X. 

XIV 

4S/4 

m,  lv;  -  vm, 

IX,  XI,  XII. 

XV 

7 

-  m,  v,  vi,  vn, 
vm,  ix,  xii. 

Biin  mechanisches  Mer- 
'  keii,  in  erster  Linie  gestutzt 
auf  die  akustischen  Ein- 
drücke.    Bildung  sinnloser 
Wörter   drangt    «ich  auf. 
Besinnen  auf  »Vergessenes« 
noch  immer  schwierig  and 
stark  ermüdend,  —  die  Ein- 
drücke haben  tu  sehr  den 
Charakter  des  Nachbildes. 

Spannung  in  der  unteren 
Extremität  Lustgefühl  am 
leichteren  Können.  Aus- 
schluß    von  mnemotech- 
nischen Kunstgriffen  und 
sinnvollen  Deutungen. 

Zusammengehen  der  Ein- 
drücke der  beteiligten  Sinne 
in   mehrere,   »üsuze«,  die 

analysiert 

Noch  immer  findet  Herr 
Dr.  W.,  daß  der  orsprtng- 
liche  ziffernartig  scharf  um- 
rissene  Charakter  der  Sil- 
ben infolge  der  Häufung 
derselben  und   der  damit 
verbundenen  Wiederkehr 
gewisser  Lautfolgen  etwas 
weicher,  verschwommener 
ist. 

Mechanisches  Merken,  ge- 
stützt auf  Kombination  dar 

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168  Ernst  übert  und  E.  Mcumann, 


Tabelle 

XLIV.  Versuchgreihe:  Unmittelbare»  Behalten 


Aufza- 

Herr  B. 

Herr  Br. 

Herr  V. 

Wort- 

r.- 

nozt'icnuuii^  aer 

V  - 

„rtta.  der 

F  - 

Bezei  l  u  der 

wahl 

Zahl 

Fehler 

Zahl 

Kehler 

Zahl 

Fehller*  " 

VT 

0 

1 

0 

• 

yj 

VIT 
\  11 

0 

>J 

VIII 

1 

0 

1 

i 

0 

0 

IX  1 

0 

IX»    Hain   R  M) 

Y 

x 

•>-> 
~*  4 

Mi   VII'  1  v  — 
—  III,  VII,   l  >  — 

1 

I 

VI 

—  VI. 

f  Miurd  -Macht' 

Y  \ 

1 

i 

-  VI. 

r  v  v 

1  " 

TV-  VTIlTh 

XII 

1 

V 

-X,  V 

—  IV,  V,  X;  Ii- 

XIII 

-  III.  IV.  VII l 

4'  4 

-V,  VI,  VII:  II  : 

4 

-III,  IV.  V,  VX 

XI  korrigiert. 

XIV 

2 

VII,  VIII 

■"»'  4 

—  III,    IV,  IX. 

—  II,  III.  IV;  V± 

X.    XI:  XIII 

korrigiert. 

XV 

1 

--  VII. 

j  —  III.V.VI.VUI; 

i 

XIV;  XUll 

XVI 

:i 

—  II.  III.  XV 

XVII 

-  III,  TV,  X,  XI: 

! 

i 

XII. 

XVIII 

6'  4 

II,  VIII    —  VII. 

^  xiTxn .  xv. 

XVI  korrigiert 

Hi-:  r  t;   l"  merkt :   h.-  trr- 

il-rr  Hr.  glaubt  benimmt 

!      Herr  F.  k)»|ft    tib,-r  di<> 

linirl-     mu     ji'ld  b<^n. 

i-.i.-1atii)e    zu    sein,  mehr 

lirlu 

zri-'-ln-'UeiiiJ.'ri  !•. : n  1 1  u l > 

m»'rkan  lu  knnn»n ,  hi>li»|ri 

fvluiupfenfiobTr?,    die  ihm 

cK  s  H.miu|r<^  <ir1'i>nn  fnien.s 

-rill 

in<'iLcr  Aufmi-rk^araUu  von 

dw^rt.      Im  ubriirM. 

*Mii>m     i  i<>ilariV>.'nkr»,i  in 

!  -prii'bl  er  »ifh  iti  gleichem 

i'iricti    :uv1crn    vollij:  lict<«- 

Smn«'  wif  Herr  B  ins. 

ru-.'U-j,  ;n  .TitK-UfU. 

Wle   T»rii«r    b*i  Silbe» 

iSiomermtbildang*. 

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Über  einige  Grandfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  uflw.  169 


XLIV. 


eiBBilbiger  Subgtantiva  ohne  logische  Verbindung. 


Aufzu- 
fassende 
Wort- 
wahl 


Herr  Prof.  M. 


F.- 
iZahl 


VI 
VII 
VIII 

IX 
X 

XI 
XII 

xra 
xrv  t 

xv 

XVI 

xvn 
xvra 


0 

0 

0 


0 
0 

3 
4 

41/4 

5»/j 


Frl.  S. 


Bezeichnung  der  I  F.- 
Fehler Zahl 


Bezeichnung  der 
Fehler 


!  F.- 
Zahl 


II,  III,  IX. 

iv,  v,  vi,  vn. 

II,  V,  VI;  X; 
XI  korrigiert. 

u,  m,  iv,  v, 

VI;  IX* 


0 
0 
0 

0 

2 

l2/3 

3 

4V3 


4u/ 


in 


Die  Reproduktion  erfolgt 
I  mit  gnaz  bedeutender 
Sicherheit  Venmchsleiter 
Ut  «beringt,  d*ß  bei 
Fortsetsang,  bzw.  Wieder- 
holung der  letzten  Versuche 
ein  bedeutend  bessere»  Ro- 
MlUt  »o  verzeichnen  ge- 
wann wir«. 


— ni,  iv. 

-vi,  IVi*. 
— Iii,  v,  IX. 

—  IV,  v,  VI,  VII,  | 

vm». 

—  VjVI.VII.XII; 

X,  *XI;  U%* 
HaunfürKauru. 


2»/« 
4V4 


Herr  Dr.  W. 

Bezeichnung 
Fehler 


—  VIII;  U,!tl; 
IV  korrigiert. 

—  VIII,  IX;  V,  VI. 

-VI,  VII,  VHI, 
IX;  V  kprrig. 


Rein  mechanisches  Mer- 
ken; tob  einzelnen  Worten 
—  Spund,  Sims.  Bord  — 
versteht  die  Vp.  den  Sinn 
nicht,  merkt  diese  aber  vi- 
eneU-nkiuUftoh.  (Frl.  &  Ut  | 
Bassin.)  Die  froher«  Ten- 
d«ra  der  elntelnen  8ob- 
■Untiy»,  andere  Vorstel- 
lungen zu  wecken  and  eo 
diUtierend  zn  wirken,  wird 
»eh  wicher.  »Konglomernt- 
bildungen«  wie  bei  Herrn  F. 


Herr  Dr.  W.  steht  unter 
dem  Eindrucke  4er  besorg- 
nis,  nicht  »fertig«  tu  wer- 
den vo 


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170  Ernst  Ebert  and  E.  Meamann, 

Fehlergrenze  beträgt  danach  vom  Kontrollschnitt  zum  Schluß- 
schnitt  8,96  %  und  von  Anfang  bi  s  Schluß  der  Untersuchung 
58,74 

Aus  den  mancherlei  Einzelheiten  der  Protokollnotizen  sei  hier 
nur  hervorgehoben,  daß  die  Mehrzahl  der  Vp.  —  Herr  B.,  Herr  Br., 
Frl.  S.,  Herr  Dr.  W.  —  wie  schon  früher  bekunden,  daß  sich  das 
Merken  der  sinnlosen  Silhen  immer  mechanischer  gestaltet,  in- 
dem die  Neigung  zu  mnemotechnischen  Kunstgriffen  immer  seltener 
auftritt,  Deutungsversuche  immer  spärlicher  gemacht  werden,  viel- 
mehr die  Verwendung  der  Sinneselemente  vorwiegt,  —  also 
der  optischen,  akustischen  und  motorischen  Eindrücke  (durch 
Innervationen  der  Sprechmuskulatur).  Nach  den  Aussagen  der- 
selben Vp.  —  mit  Ausnahme  des  Herrn  Dr.  W.,  für  den  aber 
Herr  F.  eintritt  —  schließen  sich  noch  merklicher  als  bei  den 
früheren  Versuchen  die  bezeichneten  Sinneseindrücke  zu  einem  oder 
—  was  gewöhnlicher  ist  —  zu  zwei  oder  drei  Silbenkonglomeraten 
zusammen  und  werden  beim  Reproduzieren  dnrch  einen  Akt  der 
Analyse  daraus  gewonnen. 


XLTV.  Versuchsreihe. 

Diese  Versuchsreihe,  eine  Wiederholung  der  IV.  und  XXIV.  Reihe 
mit  unmittelbarem  Behalten  von  Wörtern  wurde  abermals  mit 
sämtlichen  Vp.  veranstaltet  Es  stellte  sich  dabei  zunächst  hin- 
sichtlich der  Nullgrenzen  heraus  —  wobei  wir  die  IV.  Versuchsreihe 
unbeachtet  lassen  wollen,  uns  vielmehr  nur  auf  die  Werte  von  S.  105 
an  beschränken  — ,  daß  völlig  fehlerfrei  derzeit  behalten  wurden  von 


Herrn  B.       10  Subst,  vordem  9  Subst. ;  Fortschritt  also  11,11  % , 
Br.        9     »  7     »  »  >  28,57#, 

5     »  »  »  60,— 

9     »  »  11>H 

7     >  »  28,57#, 

7     »  >  —  %. 


>    F.  8 
»    Prof.  M.  10 
Frl.    S.  9 
Herrn  Dr.  W.  7 


Im  Mittel  wurden  jetzt  also  8,83  Substantiva  korrekt  gemerkt 
gegen  7,33  Substantiva  beim  mittleren  Querschnitt,  was  einem 
Fortschritt  von  20,46 £  gleichkommt. 

Achten  wir  auf  die  gegenwärtige  und  frühere  Situation  der 
33 Vj # -Fehlergrenze,  so  gewinnen  wir  folgendes  Bild:  Sie  liegt  für 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphünomene  usw.  171 


B. 
Br. 
F. 
M. 

s. 
w. 


bei  18  Subst,  vordem  bei  16  Subst. ;  Fortschritt  also  12,50 


14 
15 
14 
14 
10 


13 
15 
12 
12 
9 


7,64  %, 

-  %, 
16,66 

16,66 
11,11*. 


Im  Mittel  wurde  die  in  Rede  stehende  Grenze  also  erreicht  bei 
14,16  Substantiven,  während  dies  beim  Kontrollschnitt  geschah  bei 
12,83  Substantiven;  es  wäre  hiernach  also  ein  durchschnitt- 
licher Fortschritt  von  10,36*  zu  konstatieren,  —  Werte, 
die  Übrigens  etwas  höher  anzusetzen  sein  dürften,  wenn  man  im 
Protokoll  liest,  daß  sowohl  Herr  Br.  als  auch  Herr  F.  sich  während 
dieser  Versuche  durchaus  nicht  in  guter  Disposition  befanden. 

Abgesehen  von  allen  übrigen  Einzelheiten  der  protokollarisch 
niedergelegten  Beobachtungen  unserer  Vp.  über  ihr  äußeres  und 
inneres  Verhalten  bei  dieser  Versuchsreihe ,  sind  folgende  Punkte 
beachtenswert:  Herr  B.,  Herr  F.,  Fräulein  S.  geben  übereinstimmend 
an,  daß  sie  mit  besonderer  Deutlichkeit  wahrnehmen  können,  wie 
die  >  frühere  Tendenz  der  einzelnen  Substantiva,  andere  Vorstellungen 
zu  wecken  und  so  ablenkend  zu  wirken«  —  Ausdruck  von  Fräulein  S. 
— ,  immer  schwächer  wird;  damit  deckt  sich  der  Ausdruck  des 
Herrn  B.:  »Es  gelingt  mir  jetzt  besser,  dem  zerstreuenden  Einfluß 
des  Herumgeworfenwerdens  mit  meiner  Aufmerksamkeit  von  einem 
Gedankenkreis  in  einen  andern  völlig  heterogenen  zu  entgehen«. 
Weiter  erscheint  für  den  gleichen  Zweck  die  Aussage  des  Herrn  F. 
beachtenswert,  daß  ihm  auch  hier  die  einzelnen  Substantiva  zu  zwei 
oder  drei  »Wortkonglomeraten«  verschmolzen  —  ganz  ähnlich,  wie 
er  es  vorher  bei  den  sinnlosen  Silben  wahrnehmen  konnte.  Auch 
Fränlein  S.  machte  bei  sich  eine  derartige  Beobachtung. 

Die  folgenden  drei  Versuchsreihen,  welche  wiederum  nur  mit 
Herrn  Prof.  M.  und  Herrn  Dr.  W.  ausgeführt  wurden,  brachten  in 
ihren  Protokollnotizen  —  wie  aus  den  zugehörigen  Tafeln  ersicht- 
lich ist  —  wohl  Bestätigungen  des  bisher  Beobachteten,  aber  nichts 
eigentlich  Neues.  Wir  können  uns  demnach  wohl  darauf  beschränken, 
hier  auf  Grund  des  Materials  in  den  Tabellen  nur  die  Fortschritte 
für  das  jeweilige  Gedächtnisgebiet  quantitativ  zu  bestimmen, 
im  übrigen  aber  die  Tabellen  für  sich  reden  zu  lassen. 


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Emst  Kbert  und  E.  Meumann, 


Tabelle  XLV. 

XLV.  Versuchsreihe:  Unmittelbares  Behalten  von  deutsch- 
italienischen  Vokabeln. 


Zahl 
der 
Vok.- 
Paare 

Herr  Prof.  M. 

Herr  Dr.  W. 

F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der  Fehler 

F.- 
Zahl 

Bezeichnung  der  Fehler 

m 

0 

1° 

IV 

0 

0 

V 

1 

—  III,  ital. 

0 

VI 

2 

—  III,  ital. 

—  V,  deutsch. 

V« 

Bei  III  ein  Buchst,  von 
neun  fehlend. 

vn 

4 

—  I,  deutsch  u.  ital. 
-U,  deutsch  u.  ital. 

Bei  IV  zwei  von  sieben 
Buchst  fehlend. 

vin 

-V. 

BeilVeiner  vonsieben 

Buchst  falsch. 
Bei  III  drei  von  sieben 

Buchst  falsch. 

IX 

»/se 

Bei  UIu.IV  je  t/7  falsch. 
Bei  V  je  Vs* 

X 

!  3 

—  11,  III,  IX. 

XI 

6 

-II,  III,  IV,  vi,  vn. 

Hittelwerte:  a)  Nullgrenze:  6,5  Wörter 

b)  33 Vs*  F.-Grenze.  12,6  > 

Di»  Aussagen  der  Vp.  ergeben  nichts  Neues  von  einigem  Belang. 


Herr  Prof.  M.  ist  erstaunt,  wie  scharf  !    Herr  Dr.  W.  ist  noch  mehr  von  Unlust 
Ida*  Erfassen  ist,  sobald  da«  »Zurück-  jl  ober  da*  Material  beeinflußt  als  Herr 
i  dimuii  n«  anderer  Bewußtseinsinhalte  gut   Prof.  M 
I  gelingt. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  173 


Tabelle  XLVI. 

XLVI.  Veranchsreihe:  Unmittelbares  Behalten  von 

Gedichtworten. 


Zahl  der 

Wörter 
des 

Gedichts 


Herr  Prof.  M. 


Herr  Dr.  W. 


F.- 
Zahl 


Bezeichnung  der  Fehler 


F.- 
Zahl 


Bezeichnung  der  Fehler 


xn 

XIV 
XVI 

xvni 

XX 


XXII 


XXIV 
XXVI 
XXVIII 


0 
0 
0 
0 
0 


>Dem  Ansturm  der  Pfeile 
entgegen«  für  >  Der 
Pfeile  Sturm  entgegen«. 


0 
0 
0 
0 


aj  Fehlt  »Schreckens«  vor 
»Tage«. 

b)  »nimmer  mich«  umbe- 
stellt. 

c)  fehlt:  »feig«, 
d;  »Feindes«  für  »Gefech- 
tes«. 

a)  Fehlt:   »Frei  von  des 

Gesetzes  Zwang«, 
b;  »in«  für  »auf«, 
ci  »schünen«   für  »unbe- 
merkten«, 
d'i  »den  freien  Enkel«  für 
»zum  frohen  Ahn  den 
Enkel«. 

Es  fehlt:  »dem  Klang  der 
Stimmen«. 

Es   fehlt:    »Mit  Stärke 
Stärke  zu  vermählen«. 

a)  »Neue   Kämpfer«  für 
»frische  Streiter«. 

b)  »Kampf«  für  »Streit«. 

Mittlere  Lage  der  Nullgrenze  für  beide  Vp.: 

19  Wörter. 

Beide  Herren  reproduzieren  mit  sehr  bemerkenswerter  Sicherheit,  —  beide  haben 
den  Eindruck,  d»ß  sie  -  n»ch  dem  Gefühl  der  Leichtigkeit  dabei  -  »mehr  leisten« 
könnten. 

Im  übrigen  ergeben  die  Bekundungen  nichts  Neues  von  Wesenheit. 


174 


Ernst  Ebert  und  E.  Meuniann, 


Tabelle  XLVII. 

XLVII.  Versuchsreihe:   Unmittelbares  Behalten  von  philo 

sophischer  Prosa. 


Zahl  der 
Wörter 
im 
Satz 


Herr  Prof.  M. 


F.- 
Zahl 


Herr  Dr.  W. 


Bezeichnung  der  Fehler 


Bezeichnung  der  Fehler 


XII 

XIV 
XVI  i 

XVIII 
XX 

XXII 


XXIV 


XXVI 


XXVH1 


XXX 


XXXII 
XXXIV 


0 
0 
0 
0 
0 
0 


0 
0 
0 
0 
0 


Fehlt:  »und  einfach«. 


a)  »Erkenntnissen«  für 
»Grundsätzen«. 

b)  »getadelt«  für  »bezwei- 
felt«. 

a)  »Gewiß«   für  »sicher- 
lich«. 

b)  »Ansichten«  für  »Mei- 
nungen«. 

c)  Fehlt:  »vertrauensvoll«, 
d^  »wieder«  für  »weiter«. 

a)  Fehlt:  »und  versteht«. 

b)  Fehlt:  »in  Vertrauen«. 

c)  »bloße«  für  »bloß«. 


a;  Fehlt:  »Meister  und«, 
b)  »ein  großer«  für  »kein 

kleiner«, 
a  »Der  Leichtgläubig- 
keit« für  »blinde  Gläu- 
bigkeit«, 
b)  Fehlt:  »zu  fuhren  und«. 

»Aufgezählt«    für  »auf- 
zählen müssen«. 

»Auf    welchem«  für 
»dem«. 

Mittlere  Lage  der  Nullgrenze  für  beide  Vp.:  22  Wörter. 

Erstaunlich  sichere  Reproduktion.  Herr  Dr.  W.  ist  noch  immer  von  ün- 

ruhe  befingen. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  175 


XLV.  Versuchsreihe. 

Diese  Versuchsreihe  ist  eine  Wiederholung  der  V.  und  XXV.  Reihe 
mit  unmittelbarem  Behalten  von  italienischen  Vokabeln. 
Es  zeigte  sich  die  Nullgrenze,  bis  zu  welcher  das  betr.  Material 
fehlerlos  gemerkt  wurde,  ftir 

M.  bei8 Wört,  vordem 6,  bzw.  6 Wort.,  Fortschr.  33,33 bzw. 33,33 %, 
W.  >  5    >        >     5,    >   4    »  »         —      »  25, —  %. 

Wie  ersichtlich,  werden  jetzt  durchschnittlich  6,5  Wörter  gemerkt, 
—  beim  Mittelschnitt  waren  es  5,5  Wörter,  beim  Anfangsschnitt 
5  Wörter,  —  es  fand  also  vom  mittleren  zum  abschließenden 
Querschnitt  ein  Fortschreiten  um  18,18  #  statt  und  im  Verlaufe 
der  gesamten  Untersuchung  ein  solches  um  30#. 
Die  33 Vs  # -Fehlergrenze  finden  wir  jetzt  liegen  für 

M.beil4Wört.,vordeml4,bzw.8Wört.;Fortschr.  —  bzw.75,—  %, 
W.  »  11     »        >      9,  .   7     »  >      22,22    >  57,14 

Im  Mittel  wird  diese  Grenze  also  erreicht  bei  12,5  Wörtern  zum 
Schlüsse,  vordem  bei  11,5,  bzw.  7,5  Wörtern;  es  ist  vom  mittleren 
znm  dritten  Querschnitt  ein  Fortschritt  um  8,69 #  zu  sehen,  — 
im  Gesamtverlauf  der  Untersuchung  aber  hob  sich  die  in 
Rede  stehende  Fehlergrenze  um  66,66#,  —  Werte,  die 
höhere  geworden  wären,  wenn  nicht  beide  Vp.  intensive  Unlust 
verspürt  hätten,  weil  die  in  raschem  Tempo  gesprochenen  Laute 
eines  fremden  Idioms  sehr  schwer  festzuhalten  waren. 

XLVI.  Versuchsreihe. 

Diese  Versuchsreihe  ist  die  Wiederholung  der  VI.,  bzw.  XXVI. 
Reihe  mit  unmittelbarem  Behalten  von  Gedichtstrophen. 
Sie  zeigt  zunächst  folgende  Lage  der  Nullgrenze:  Es  werden 
fehlerlos  behalten  von 

M.  20 Gedichtwrt. ,  vordem  1 8,  bz  w.  1 8 ;  F  o  r  t  s  c  h  r .  1 1 , 1 1 bzw.  1 1 ,1 1  # , 
W.18        »  ,     16,    »    12;       »        12,50  >  50,— 

Im  Mittel  werden  also  im  gegenwärtigen  Stadium  unmittelbar 
gemerkt  ohne  Fehler  19  Gedichtworte,  —  beim  mittleren  Schnitt 
waren  dies  17,  beim  ersten  Schnitt  15  Gedichtworte.  Der  Fort- 
schritt beläuft   sich   also   vom   mittleren   zum  abschließenden 


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176 


Ernst  Ebert  und  E.  Menroann. 


Querschnitt  auf  11,76#,  im  gesamten  Verlauf  der  Unter- 
Buchung  aber  beträgt  er  im  Mittel  26,66#. 

Indem  Versuchsleiter  speziell  hinsichtlich  der  Fehler  vermeidet, 
quantitative  Bestimmungen  —  hier  wie  bei  der  folgenden  Versuchs- 
reihe —  zu  machen,  kann  er  doch  nicht  umhin,  darauf  hinzuweisen, 
wie  sich  in  qualitativer  Hinsicht  die  Fehler  sozusagen  als  minder 
schwere  darstellen:  immer  ist  der  Sinn  beibehalten,  —  die 
»Fehler«  sind  harmlose  Wortvertauschungen ,  —  bisweilen  sogar 
»Verbesserungen«;  man  sehe  z.  H.  den  Fall  bei  Herrn  Prof.  M.  in 
der  folgenden  Versuchsreihe,  wo  er  bei  34  vorgesprochenen  Worten 
aus  Lock  es  »Versuch  über  den  menschlichen  Verstand«  alles 
korrekt  wiedergibt  und  nur  insofern  fehlt,  als  er  das  richtige 
Relativum  »welchem«  an  Stelle  von  »dem«  einsetzt. 

XLVn.  Versuchsreihe. 

Diese  Versuchsreihe  ist  eine  Wiederaufnahme  der  VII.,  bzw. 
XXVn.  Keihe  (unmittelbares  Behalten  von  philosophischer 
Prosa).    Es  zeigte  sich  folgende  Lage  der  Nullgrenzen: 

Herr  Prof.  M.  behielt  24  Worte  korrekt,  vordem  22,  bzw.  22; 

Fortschritt  also  9,0»,  bzw.  9,09 
Herr  Dr.  W.  behielt  20  Worte  korrekt,  vordem  1<>,  bzw.  12; 

Fortschritt  also  25,—,  bzw.  66,66 

In  Mittelwerten  ausgedruckt,  werden  also  jetzt  behalten  22  Worte 
korrekt,  während  dies  beim  mittleren  Schnitt  19  Worte,  beim  ersten 
17  Worte  waren.  Der  Fortschritt  betrüg  also  vom  zweiten  zum 
dritten  Schnitt  lö,78#  und  insgesamt  '29,41 

Die  folgenden  fu* nf  Versuchsreihen  waren  der  abschließenden 
Prüfung  des  dauernden  Behaltens  gewidmet,  zunächst  die 

XLVIII.  Versuchsreihe 

als  Wiederholung  der  VII 1.,  bzw.  XX VIII.  Versuchsreihe  der  Son- 
dierung darttber,  wie  jetzt  ausschließlich  nach  dem  G.- Verfahren 
vier  Reihen  Silben  —  je  10,  12,  14,  16  Silben  —  erlernt  werden 
Wörden. 

Zur  Aneignung,  bzw.  Wiederaneignung  nach  einem  Zeitintervall 
von  24  Stunden  der  im  ganzen  52  Silben  hatten  diesmal  nötig 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  177 


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178 


Ernst  Ebert  nnd  E.  Menmann. 


B.  18  Lesgn.,  vordem  21,  bzw.  171,  und  6  Lsgn.,  vordem  11,  bzw.  41, 
Br.  27  ,     42,    >     89,  >   12  •     12,    >  26, 

F.  15  >  >  32,  >  80,  .  8  >  ,  13,  *  19, 
M.  14  >     50,    >    140,  »   11     »         »     15,    .  33, 

S.  28  .  >  53,  »  92,  *  14  »  »  19,  >  13, 
W.  50     >         »     64,    »     89,  »   15     »         »     16,    »  22. 

Im  Mittel  waren  demzufolge  bei  den  einzelnen  Vp.  zur  Erler- 
nung, bzw.  Wiedererlernung  einer  einzigen  der  insgesamt  52  Sil- 
ben nötig  bei 

B.  0,34  Les.,  vordem  0,40,  bzw.  3,29,  u.  0, 1 1  Les.,  vordemO,2 1  bzw.  0, 78. 
Br.0,51  .  .  0,80,  »  1,71,  ,  0,23  >  .  0,23  >  0,50, 
F.  0,28  •  »  0,61,  .  1,53,  » 0,15  .  »  0,25  >  0,36, 
W.  0,26  >  .  0,96,  »  2,69,  » 0,21  »  »  0,28  >  0,63. 
S.  0,53  .  .  1,01,  >  1,76,  >  0,26  ,  .  0,36  .  0,25, 
W.0,96  >       .      1,23,   .    1,71,  »0,28  »        »    0,30    »  0,42. 

Daraus  folgt,  daß  beim  Schlußquerschnitt  ftir  eine  einzige 
Silbe  als  Norm  überhaupt  erforderlich  waren 

beim     Neuerl  erneu  0,48  Lesgn.,  vordem  0,83,  bzw.  2,11  Lesgn. 
»  Wiedererlernen  0,20     •  >     0,27,    »    0,49  » 

Der  Übungsfortschritt  beziffert  sich  demnach,  auf  eine  Silbe 
bezogen,  vom  mittleren  zum  abschließenden  Querschnitt  auf  0,35  Le- 
sungen oder  43,37#,  —  im  Gesamtverlaufe  der  Untersuchung 
aber  auf  1,63  Lesungen  oder  77,25#,  bzw.  beim  Wieder- 
holen auf  0,29  Lesungen  oder  59,18#. 

Im  Anschluß  an  die  Erlernung  der  12 silbigen  Normalreihe 
dieser  Versuchsgruppe  veranstaltete  Experimentator  eine  Prüfung 
der  Festigkeit  der  gestifteten  Assoziationen  in  der  Weise,  daß  er 
jede  Vp.  nach  dem  Aufsagen  der  erlernten  Reihe  fünf  Minuten 
lang  mit  Fragen  beschäftigte,  welche  irgendwie  mit  unseru  Ver- 
suchen zusammenhingen,  und  sie  dann  ersuchte,  die  eben  gelernte 
Reihe  nochmals  zu  reproduzieren.  Die  dabei  zutage  getretenen 
Details  wolle  man  aus  der  Tabelle  zur  XLVIII.  Versuchsreihe  er- 
sehen; man  erkennt  unschwer  dabei  individuelle  Unterschiede, 
weshalb  wir  uns  einläßlicher  mit  diesem  Ergänzungsversuch  be- 
schäftigen wollen,  wenn  es  sich  darum  handelt,  das  Fazit  betreffs 
des  typisch  verschiedenen  Verhaltens  unserer  Vp.  zu  ziehen. 

Wie  rasch  einerseits  das  Stiften  der  gewünschten  Assoziationen 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  ÜbungephUnoinene  ubw.  179 

übrigens  vor  sich  gehen  kann,  andererseits  eine  einzige  versagende 
Assoziation  verwirren  nnd  die  Nachbarschaft  mit  wegreißen  kann, 
zeigen  die  protokollarisch  vermerkten  beiden  Fälle,  bei  denen 
Herr  B.  und  Herr  F.  je  10  Silben  zu  erlernen  hatten.  Im  »Gefühl 
der  Sicherheit«,  wie  Herr  B.  sich  äußerte,  waren  beide  Herren 
des  Glaubens,  die  10  Silben  nach  je  einmaligem  Durchlesen  auf- 
sagen zu  können,  zumal  »sie  ja  ähnliches  schon  bei  der  XLIII.  Ver- 
suchsreihe geleistet  hätten«.  In  der  Tat  gelang  denn  auch  die 
Reproduktion  der  Reihe  beiden  Herren  nahezu  fehlerlos,  —  Herr  F. 
stockte  bei  der  Vin.  Silbe,  worauf  die  IX.  und  X.  Silbe  einiger- 
maßen ins  Wanken  geriet,  die  er  erst  deutlich  erfaßt  hatte,  —  er 
nahm  dann  schnell  noch  eine  Lesung  vor,  worauf  er  imstande 
war,  die  ganze  Reihe  völlig  einwandfrei  zu  reproduzieren,  — 
immerhin  eine  bemerkenswerte  Leistung,  wenn  man  sich  erinnert, 
daß  derselbe  Herr  ein  Vierteljahr  vorher  23  Lesungen  für  dieselbe 
Quantität  sinnlosen  Materials  nötig  gehabt  hatte.  —  Herr  B.  sagte  nach 
einmaligem  Durchlesen  die  Reihe  auf  bis  auf  die  VI.,  ihm  momentan 
entfallene  Silbe,  —  die  Unlust  Uber  diesen  Ausfall  verwirrte  ihn 
derart,  daß  er  auch  die  V.,  Vn.  und  VIII.  Silbe  während  der  Auf- 
sageversuche verstellte,  bzw.  entstellte,  so  daß  er  noch  2  Lesungen 
nötig  hatte,  um  den  bezüglichen  Assoziationen  die  nötige  Festigkeit 
verleihen  zu  können.  Bedenkt  mau ,  daß  diese  Vp.  vor  Viertel- 
jahresfrist 28  Lesungen  zur  Aneignung  desselben  Silbenquantums 
brauchte,  so  erkennt  man  recht  scharf  das  bemerkenswerte  Maß 
der  erlangten  Fertigkeit. 

Für  Kennzeichnung  der  Eigenart  des  Ubungsphänomens  scheinen 
noch  folgende  Protokollnotizen  beachtenswert  zu  sein:  Fürs  erste 
ist  es  die  Empfindung  der  Leichtigkeit  und  Sicherheit, 
welche  von  der  Mehrheit  der  Vp.  beim  Lernen  konstatiert  wird, 
verbunden  mit  der  vor  allem  bei  den  drei  jüngeren  Vp.,  nicht  minder 
aber  auch  bei  der  ältesten  immer  bestimmter  auftretenden  Fähigkeit 
der  richtigen  Vorausschätznng  des  für  ein  bestimmtes  Quantum 
nötigen  Lesungsaufwandes.  Nach  den  ersten  2,  bzw.  3  Lesungen 
sagen  die  genannten  Vp.  mit  selten  fehlgreifender  Genauigkeit 
voraus,  wieviel  Drehungen  der  Trommel  noch  bis  zur  Erlernung 
für  sie  notwendig  sind,  —  sie  »stellen  sich  danach  mit  allen  ver- 
fügbaren Lernmitteln^  —  Ausdruck  von  Fräulein  S.  —  »ein<. 

Herr  B.,  Herr  Br.,  Herr  F.  bekunden  ferner  Ubereinstimmend, 
wie  unter  den  »Lernmitteln«  für  diese  Silbenreihen  das  mnemo- 

12* 


1*0 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


technische  Deuten  künstlicher  Art  immer  seltener  wird.  Herr  B. 
insbesondere  macht  an  sich  die  Erfahrung,  daß  ihm  zwar  Deu- 
tungen vorkommen,  z.  B.  bei  kusch  —  dich  und  beuz  —  gach  —  siehe 
Protokoll!  — ,  daß  er  sie  aber  energisch  zurückweist,  da  der 
Sinn  dieser  Deutungen  ihm  direkt  >als  Widersinn«  erscheint,  — 
Herr  B.  wie  Fräulein  S.,  in  zwei  vereinzelten  Fällen  auch  Herr  F., 
zeigen  sich  nach  dem  Protokoll  bei  ihrem  Bemühen,  die  Reihen 
der  Silben  sich  anzueignen,  so  intensiv  konzentriert,  daß  sie  deut- 
liche >tt«-  und  >ä« -Striche,  welche  sie  in  den  früheren  Übungs- 
stadien erkannten,  erst  bei  der  letzten  Lesung  oder  auch  gar  nicht 
wahrnahmen,  —  eine  Erscheinung,  die  z.  B.  ja  auch  bei  tachisto- 
skopischen  Experimenten  beobachtet  wird,  sobald  bei  den  Vp.  die 
Aufmerksamkeit  auf  den  Sinn  des  Wortes  gerichtet  ist.  —  Bezüg- 
lich der  übrigen  Beobachtungen  verweisen  wir  auf  die 

XLEX.  Versuchsreihe. 

Der  Verlauf  derselben  war  hinsichtlich  der  äußeren  Anordnung 
ein  der  IX.  und  XXIX.  Reihe  analoger,  es  wurden  optische 
Zeichen  erlernt.  Äußere  Umstände  nötigten  Herrn  Prof.  M., 
auf  die  Teilnahme  an  dieser  Versuchsreihe  zu  verzichten,  —  doch 
darf  man  wohl  annehmen,  daß  die  mit  Hilfe  der  übrigen  Vp.  im 
weiteren  gewonnenen  Werte  ein  im  wesentlichen  verläßliches  Bild 
vom  Maße  der  durch  einseitige  Ubnng  erworbenen  allgemeinen 
Gedächtnisfertigkeit  geben.  —  Aus  den  Resultaten  der  eben  be- 
sprochenen XLVIII.  Versuchsreihe  ist  erkenntlich,  wie  Herr  Prof.  M. 
mit  seiner  erlangten  Fertigkeit  Uber  dem  Durchschnittsmaße 
steht,  —  denken  wir  uns  nun  in  jedem  Falle,  wo  er  an  der  Teil- 
nahme fernerhin  behindert  war,  den  Mittelwert  der  übrigen 
Leistungen  für  die  fehlende  seinige  eingesetzt,  so  bleiben 
unsere  Werte  dieselben  und  sind  hauptsächlich  nicht  unberechtigt 
> günstigere»  geworden.  —  Für  die  insgesamt  hier  anzueignenden 
24  optischen  Zeichen  wurden  aufgewendet  von 

Ii.  19Lcsgn.,  vordem  41,  bzw.  fi2,  und  11  Lesgn..  vordem  12,  bzw.  25, 
Ur.  13     >  >     37,    >    79,        6     »  7,    >  12, 

F.  12  2fi,    >    57,   >     4     >  6,    »  20, 

S.  16  53,    »  104,   >     6     *  6,    *  15, 

W.49  >     83,    ,  120,       10     ,  .     10,    >  10. 


Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  181 


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182 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Daraus  ergibt  sich,  daß  zur  erstmaligen  Erlernung,  bzw.  zur  Wieder- 
holung eines  der  24  Zeichen  durchschnittlich  am  Ende  der 
Untersuchung  nötig  waren  bei 

B.  0,79 Les.,  vordem  1,70,  bzw.  2,58,  u.  0,45 Les., vordem 0,50,bzw.  1,04. 
Br.0,54  >  >  1,54,  »  3,25,  >  0,25  »  >  0,29,  >  0,50, 
F.  0,50  »    1,08,   >   2,37,  >  0,16    »        >    0,25,   >  0,83, 

S.  0,66    >  2,20,   >   4,33,  >  0,25    .        >    0,25,  >  0,62, 

W.2,04    >        »    3,45,   »   5,37,  »0,41    >        >    0,41,    .  0,41. 

Demzufolge  waren  zur  Zeit  fUr  ein  einziges  optisches  Zeichen 
als  Norm  erforderlich 

beim      Neucrlernen  0,90  Lesgn.,  vordem  2,23,  bzw.  3,83  Les^n. 
»  Wiedererlernen  0,30      »  >    0,35,    >  0,68  » 

Der  durch  Übung  bewirkte  Fortschritt  wäre  —  immer  auf  e  i  n 
einziges  Zeichen  bezogen  —  vom  zweiten  zum  dritten  Schnitt 
zu  berechnen  auf  1,33  Lesungen  oder  59,64  #;  betreffs  der  Wieder- 
holungen auf  0,05  Lesungen  oder  14,28#;  im  gesamten  Ver- 
laufe der  Untersuchung  ist  er  zu  beziffern  auf  2,93  Le- 
sungen oder  76,5#,  betreffs  der  Wiederholungen  auf 
0,38  Lesungen  oder  55,88 

Auf  Befragen  erklären  die  vier  ersten  Vp.,  welche  meist  er- 
heblich unter  20  Lesungen  fttr  Aneignung  der  24  optischen  Figuren 
nötig  hatten,  daß  sie  dieses  günstige  Resultat  außer  den  Faktoren 
des  lebhaften  Interesses,  der  »maximal  gespannten«  Aufmerksam- 
keit usw.  vor  allem  der  »praktischen,  ökonomischen  Verbindung 
der  Sinneseindrücke  mit  logischen  Elementen  zu  danken  hätten«  — 
Ausdruck  des  Herrn  F.  Da  sich  auch  hier  aufs  markanteste 
zeigte,  daß  ein  passives  optisches  Erfassen  eine  Unmöglichkeit 
sei,  —  »mitzeichnen«  aber  gegen  die  Versuchsbedingungen  verstieß, 
so  verfuhren  die  Vp.  konstruierend,  wobei  sie  bis  auf  Herrn  Dr.  W. 
zugleich  innerlich  mitzusprechen  suchten;  damit  kombinierten  die 
erstgenannten  vier  Vp.  eine  rascher  als  früher  vorgenommene 
Heraushebung  von  »Orientierungsmarken«,  —  also  zweier  oder 
dreier  auffälliger  Zeichen,  welche  im  Protokoll  vermerkt  sind,  und 
von  denen  aus  eine  Teilung  der  Reihen  vorgenommen  wurde  zwecks 
Erleichterung  der  Assoziierung  der  schwierigeren  Eindrücke  mit 
den  festgehaltenen  »Orientierungsmarken«.  Schließlich  bekunden 
noch  sämtliche  Vp.,  daß  sie  zwar  nicht  nach  Deutungen  der  vor- 
geführten Figuren  gedrängt  hätten  —  wegen  des  schnellen  Tempos 


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über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  183 


der  Trommeldrehung  — ,  daß  sie  aber  doch  Deutungen  angenommen 
hätten,  wo  das  Aussehen  der  Figuren  eine  solche  unmittelbar  vcr- 
anlaßte.  Dafür  drei  Beispiele.  Das  X.  Zeichen  der  ersten  Reihe 
wurde  als  »Z«  gedeutet  von  Herrn  F.  und  Fräulein  S.,  — 
das  I.  Zeichen  der  zweiten  Reihe  (»T«)  von  denselben  Vp.  und 
Herrn  Br.  als  >T«  der  römischen  Antiqua,  sodann  das  VIII.  Zeichen 
der  zweiten  Reihe  (»TT«)  von  Herrn  B.  als  »Gartenbank«. 

Ebendiese  Vp.,  dazu  Fräulein  S.,  machen  noch  eine  andere  nicht 
uninteressante  Angabe  Uber  ihr  Verhalten  beim  Lernen.  Sie  nehmen 
wahr,  wie  früher  bei  ihnen  beobachtete  Muskclspannungen  — 
Herr  B.  runzelt  die  Stirn  und  spannt  die  Muskeln  der  unteren 
Extremitäten,  Fräulein  S.  ballt  die  Fäuste  und  verspürt  sonst 
Spannungen  in  der  Augenmuskulatur  —  mehr  und  mehr  auf  ein 
Minimum  zurückgehen;  sie  vermuten,  speziell  und  mit  aller 
Bestimmtheit  Fräulein  S.,  daß  die  hier  früher  »abgezweigte«  Ener- 
gie besser  und  rationeller  verteilt  worden  ist,  »vermutlich  an  die 
sensorischen  Zentren«. 


L.  Versuchsreihe. 

Diese  Versuchsreihe  war  in  gleicher  Weise  angeordnet  wie  die 
X.,  bzw.  XXX.  Reihe.  Es  handelte  sich  um  Mittibung  des  Gedächt- 
nisses für  Vokabeln.  Herr  Prof.  M.  konnte  an  diesen  Versuchen 
nur  in  einem  Falle  teilnehmen.  Es  dürfte  sich  daher  wohl  emp- 
fehlen, die  quantitativen  Bestimmungen  im  folgenden  wieder  nur 
mit  Hilfe  der  an  den  übrigen  5  Vp.  gemachten  Erfahrungen  auszu- 
führen. Zur  erstmaligen,  bzw.  wiederholten  gedächtnismäßigen 
Erfassung  der  hier  verwendeten  70  deutsch-italienischen  Vo- 
kabeln hatten  diesmal  nötig 

Herr  B.        6  Les.,  vordem  6,  bzw.  16,  u.  2  Les.,  vordem  2,  bzw.  2, 
»    Br.     10  »        >     14,   >    19,  »  3    *        »     5,    »  7, 
»     F.       6  »        »      9,   >    17,  >  2    >        »     2,    »  4, 
Frl.    S.       8   »        >     18,       27,  »  4    *        >     4,    >  6, 
Herr  Dr.  W.  8   >        >     13,       14,  >  2    »        »     2,    >  3. 

Aus  diesen  Ziffern  ergibt  sich,  daß  zur  Neuerlernung,  bzw. 
Wiederholung  einer  einzigen  der  70  Vokabeln  gebraucht  wurden 
von 


184 


ErnBt  Ebert  und  E.  Meuraann. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  185 

B.  0,085 L.,vordem  0,085,  bzw.0,228,  u. 0,028 L.,vord.0,028,bzw.0,028, 
Br.0,142  >  >  0,200,  »  0,271,  *  0,042  »  »  0,071,  >  0,100, 
F.  0,085  >  »  0,128,  >  0,242,  » 0,028  >  »  0,028,  ,  0,057, 
S.  0,114  »  »  0,257,  *  0,385,  >  0,057  »  »  0,057,  »  0,085, 
W.  0,114»      »     0,185,  .  0,200,  ,  0,028  >    »    0,028,   >  0,042. 

Es  waren  also  für  eine  einzige  Vokabel  am  Schlüsse  der 
Untersuchung  nötig: 

beim  Neuerlernen     0,108  Les.,  vordem  0,175,  bzw.  0,273  Les. 
»  Wiedererlernen  0,036  »        >      0,040,    »    0,056  » 

Vom  mittleren  zum  abschließenden  Querschnitt  ist  also  ein 
Fortschreiten  zu  konstatieren  um  0,067  Lesungen  oder  38,28  %, 
bzw.  des  Wiederholens  um  0,004  Lesungen  oder  10,0  Der 
Fortschritt  im  Gesamtverlauf  der  Untersuchung  berech- 
net sich  auf  0,165  Lesungen  oder  60,43#,  bzw.  des  Wieder- 
holens auf  0,02  Lesungen  oder  35,71 

Die  vier  erstgenannten  Vp.  stimmen  in  ihren  zu  Protokoll  ge- 
gebenen Aussagen  darin  überein ,  daß  sie  an  eich  ein  »zweckdien- 
licheres« Verhalten  gegenüber  der  hier  zu  erfassenden  Materie  wahr- 
nehmen: die  Aufmerksamkeit  stellt  sich  schneller  auf  diesen  Stoff 
ein,  »es  geht  nichts  mehr  von  ihr  verloren«  (Fräulein  S.),  —  sie 
verteilt  sich  »immer  unzweideutiger  spürbar  auf  diejenigen  Vo- 
kabeln, welche  sprechschwierig,  besonders  fremdartig  oder  sonstwie 
nicht  leicht  zu  behalten  sind«  (Herr  F.).  —  Herr  Br.  und  Fräulein 
S.  bekunden  übrigens  spontan,  daß  ihnen  eigentlich  früher  das 
Vokabellernen  (auch  im  Anfang  dieser  Untersuchung)  »recht  lang- 
weilig« und  »geradezu  ermüdend«  gewesen  sei,  daß  sie  aber  jetzt 
»verwundert«  und  »erfreut«  seien,  »trotz  der  ungewöhnlichen 
Menge  von  Vokabeln  nichts  von  ermüdender,  quälender  Langweilig- 
keit zu  spüren«.  Die  übrigen  Protokollbemerkungen  sind  unter- 
geordneter Art 

LI.  Versuchsreihe. 

Diese  Versuchsreihe  steht  in  Parallele  zur  XI.  und  XXXI.  Reihe. 
Es  handelt  sich  um  die  Mitübung  beim  dauernden  Behalten  von 
Gedichtstrophen.  Herr  Prof.  M.  nahm  anfänglich  an  diesen  Ver- 
suchen teil,  mußte  aber  später  von  weiterem  Mitarbeiten  absehen. 

Die  verbleibenden  fünf  Vp.  hatten   zur   Absolvierung  der 


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186 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänoniene  usw.  187 

16  Gedichtzeilen  diesmal  nötig  38  Lesungen,  bzw.  6  Lesungen,  —  also 
im  Durchschnitt  7,6  Lesungen,  bzw.  1,2  Lesungen,  während  diese 
Werte  beim  mittleren  Querschnitt  9,66,  bzw.  1,33  und  beim  ersten 
Querschnitt  12,2,  bzw.  2,4  hießen.  Der  Fortschritt  beziffert  sich 
demgemäß  filr  das  Neuerlernen  auf  2,06  Lesungen  oder  21,32  % 
zwischen  den  beiden  letzten  Schnitten,  beim  Wiederholen  auf 
0,13  Lesungen  oder  9,77  %,  —  im  Gesamtverlauf  der  Unter- 
suchung berechnet  er  sich  auf  4,6  Lesungen  oder  37,70  %, 
beim  Wiederholen  auf  1,2  Lesungen  oder  50,0 

Vielleicht  gewährt  auch  hier  das  Bezugnehmen  auf  eine  der 
16  Gedichtzeilen  als  Grundmaß  manchen  bemerkenswerten  Einblick; 
es  hatte  also  für  eine  Gedichtzeile  nötig 

B.  0,43  Les.,  vordem  0,68,  bzw. 0,00,  u.  0,06  Lea.,  vord.  0,06,  bzw.  0,00, 
Br.0,50  >      0,56,   >    0,62,  »  0,12  0,12,   >  0,12, 

F.  0,31  0,37,  »    0,62,  >  0,06   »  0,06,   »  0,12, 

S.  0,56   >  0,62,  >    0,93,  »  0,06   .      »     0,06,    >  0,25, 

W.0,56   >       »      0,62,  >    0,68,    0,06  *      -     0,12,   »  0,18. 

Es  wurden  also  zuletzt  beim  Neuerlernen  einer  Gedichtzeile  als 
Norm  0,47  Lesungen  gebraucht  gegen  vordem  im  Mittel  0,6  Le- 
sungen, bzw.  0,75  Lesungen.  Beim  Wiederholen  nach  24  Stunden 
waren  im  Mittel  zuletzt  nötig  0,07  Lesungen,  vordem  0,08  Lesungen, 
bzw.  0,14  Lesungen.  Es  hat  demnach  vom  zweiten  zum  dritten  Schnitt 
ein  Fortschreiten  stattgefunden  um  0,13  Lesungen  oder  21,66 
beim  Wiederholen  um  0,01  Lesung  oder  12,6  im  Verlaufe 
der  ganzen  Untersuchung  Uberhaupt  aber  um  0,28  Le- 
sungen oder  37,33  % ,  bzw.  beim  Wiederholen  um  0,07  Le- 
sungen oder  50  %. 

Auf  Befragen  Uber  die  Mittel,  welche  den  Vp.  zu  der  Er- 
fassung dieses  in  eine  durchaus  nicht  alltägliche  Sprachform 
gekleideten  Memorierstofifes  verholfen  haben,  äußern  sie  sich  laut 
Protokoll  dahin,  daß  es  vor  allem  die  logischen  Beziehungen 
waren,  auf  die  sie  sich  in  aller  Schärfe  konzentrierten;  Herr  B. 
z.  B.  bemerkt:  >Gelang  mir  dies,  in  relativer  Schnelligkeit  das 
logische  Leitmotiv  aus  dem  leider  etwas  gekünstelten  Sprachbau 
herauszufinden,  so  ergab  sich  mir  die  Wortfolge  bis  auf  wenige 
besonders  ungewöhnliche  Kombinationen  eigentlich  von  selbst,  — 
ich  glaube,  daß  ich  eine  gewisse  Technik  darin  erlangt  habe,  eben 
jene  leitenden  Gedanken  hurtiger  und  schärfer  herauszufinden«. 


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188 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Mit  diesen  Ausführungen  stimmen  mehr  oder  weniger  die  andern 
protokollarischen  Bemerkungen  der  Vp.  überein.  —  Als  eminent 
förderlich  bezeichnen  Herr  F.,  Fräulein  S.  und  Herr  Dr.  W.  das 
intensive  Lustgefühl,  welches  sich  ihnen  aufdrängt,  —  um  mit 
den  Worten  des  Herrn  F.  zu  reden,  »da  nun  endlich  einmal  nach 
so  viel  Wochen  wieder  etwas  Schönes  und  Vernünftiges  kommt« 
(Herr  F.  hatte  die  Versuche  über  das  unmittelbare  Behalten  sinn- 
voller Stoffe  nicht  mitgemacht). 

Der  Schlußquerschnitt  wurde  beendet  durch  die 

LH.  Versuchsreihe, 

den  Parallel  versuch  zur  XII.,  bzw.  XXXÜ.  Versuchsreihe.  Gegen- 
stand des  Versuchs  war  das  dauernde  Behalten  des  (philo- 
sophischen) Prosatextes..    (Auch  hieran  nahmen  nur  5  Vp.  teil.) 

Das  abermals  20  Druckzeilen  umfassende  Pensum  für  die  Memo- 
rierarbeit wurde  von  den  5  Vp.  erledigt  in  insgesamt  50  Le- 
sungen beim  Neuerlernen  und  9  Lesungen  beim  Wiederholen, 
gegenüber  früheren  99,  bzw.  175  Lesungen  beim  erstmaligen  und 
12,  bzw.  36  Lesungen  beim  wiederholten  Lernen.  Der  Fortschritt 
vom  zweiten  zum  dritten  Querschnitt  beläuft  sich  demnach  auf 
49  Lesungen  oder  49,49  %  betreffs  des  Neuerlernens  und  auf 
3  Lesungen  oder  25  #  hinsichtlich  des  Wiederholens.  Im  Ge- 
samtverlauf der  Untersuchung  ist  beim  Prosastoff  ein 
Fortschreiten  zu  verzeichnen  um  125  Lesungen  oder 
71,42  %,  bzw.  27  Lesungen  oder  75  %. 

Gehen  wir,  um  mehr  ins  Detail  einzudringen,  auch  hier  auf 
eine  einzelne  der  20  Druckzeilen  als  Norm  zurück,  so  zeigt  sich, 
daß  zur  Absolvierung  dieses  Quantums  erforderlich  waren  für 

B.  0,7  Les.,  vordem  1,2,  bzw.  1,8,  u.  0,1  Les.,  vord.  0,1,  bzw.  0,6, 
Br.0,55  •     0,65,   »    1,3,    »  0,1    »      >     0,1,    »  0,2, 

F.  0,25  >     0,35,  ,    0,85,     0,05  >  0,05,  »  0,15, 

S.  0,5    .  0,75,       1,9,    >  0,1    >      >     0,1,  0,35, 

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Am  Schluß  unserer  Untersuchung  wurden  demnach  durch- 
schnittlich verwendet  zur  Neuerlernung  einer  einzelnen  Druck- 
zeile 0,5  Lesungen,  —  zur  Wiederholung  0,09  Lesungen,  während 
vordem  nötig  gewesen  waren  0,82,  bzw.  1,45  Lesungen  und  0,1, 
bzw.  0,3  Lesungen.  Der  Fortschritt  erfolgte  also  zwischen  den  letzten 


Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  189 


Herr  Dr.  W. 

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190 


Ernst  Ebert  and  E.  Meum&nn, 


beiden  Schnitten  um  0,32  Lesungen  oder  39,02  %  beim  Neuerlerneu 
und  um  0,01  Lesung  oder  10  %  beim  Wiedererlernen.  Der 
Gesamtverlauf  der  Untersuchung  weist  hinsichtlich  der 
Fähigkeit,  philosophische  Prosastücke  wortgetreu  zu 
behalten,  einen  Fortschritt  auf  um  0,95  Lesungen  oder 
65,51  #  fürs  erstmalige  und  0,21  Lesungen  oder  70  #  fürs 
wiederholte  Erlernen. 

Auch  bekunden  die  Vp.,  wie  wichtig  es  ist,  »daß  möglichst 
rasch  diejenigen  logischen  Momente  erfaßt  werden,  welche  gleich- 
sam als  die  strategisch  wichtigsten  Punkte  die  Herrschaft  über 
das  ganze  Gedankenmaterial  und  damit  zum  größten  Teil  auch 
Uber  die  Ausdrucksform  ausüben«  (Herr  Br.).  Wo  diese  dominie- 
renden Stellen  nicht  ausreichen,  werdeu  die  übrigen  Lern- 
mittel herangezogen,  vor  allem  das  zum  Teil  visuelle  Merken 
der  Folge  synonymer  Ausdrücke  wie  »Grundsätze«,  »Normen«, 
»Maximen«  und  dergleichen,  —  ferner  »die  akustisch-motorischen 
Eindrücke  durch  stark  betonendes  Aussprechen«  (Fräulein  S.). 
Endlich  erscheint  dem  Versuchsleiter  unter  den  Protokollbekun- 
duugen  noch  besonders  wichtig  diejenige  des  Herrn  Br.,  welcher 
an  sich  eine  »gleichmäßigere  emotionelle  Lage«  wahr- 
nimmt, —  vor  allem  »plagt«  ihn  nicht  mehr  jene  störende  Un- 
lust, welche,  wie  er  sich  wohl  erinnert,  im  Anfang  der  Unter- 
suchung »bei  Aneignung  dieser  abstrakt  formulierten  philoso- 
phischen Ausfuhrungen«  ihn  im  Lernprozeß  aufhielt;  vielmehr  ist 
bei  ihm  und  —  nach  den  Protokollbemerkungen  zu  schließen  — 
auch  bei  Herrn  B.,  Herrn  F.  und  Fräulein  S.  ein  »Gefühl 
der  Zuversicht«  vorhanden,  »daß  er  der  Schwierigkeiten  der 
streng  wortgetreuen  Einprägung  Meister  werden  würde«,  —  die 
Versuchung,  »die  Flinte  ins  Korn  zu  werfen«,  wie  sie  im  Anfange 
dieser  Untersuchung  bei  Herrn  Br.  und  in  einem  Moment  starker 
UnlustgefUhlc  selbst  bei  Herrn  Prof.  M.  auftrat  (beide  Herren 
äußerten,  daß  sie  »heute  wohl  kaum  diese  Materie  wörtlich  zu  er- 
fassen imstande  seien«),  drohte  hier  in  keinem  einzigen  Falle  mehr. 

Überblicken  wir  die  Ergebnisse  speziell  der  ausschlag- 
gebenden letzten  12  Versuchsreihen,  indem  wir  diesmal  die  Stoffe 
voranstellen,  deren  Aneignung  die  geringsten  Fortschritte 
aufzuweisen  hat!  Dabei  ergibt  sich  betreffs  der  beim  unmittel- 
baren Behalten  verwendeten  Materien  folgende  Reihenfolge: 


Über  einige  Grandfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  191 

Das  unmittelbare  Behalten  einsilbiger  Substantiva 
machte  nur  einen  Fortschritt  von  20,46  %  hinsichtlich  der  Null- 
grenze und  von  10,36  %  betreffs  der  33  xj3  # -Fehlergrenze.  Doch 
können  wir  diesen  Fortschrittswert  nicht  mit  den  andern  gleich- 
setzen, da  dieser  Stoff  erst  beim  Kontrollquerschnitt  eingeführt 
wurde,  also  die  angeführten  quantitativen  Bestimmungen  nur  einen 
Teil  des  eventuell  möglich  gewesenen  Fortschrittes  bezeichnen. 
Demnächst  ist  am  geringsten,  wenn  auch  immerhin  erheblich  genug, 
der  Fortschritt  beim  unmittelbaren  Behalten  von  Gedicht- 
worten: 26,66  % ,  —  etwas  höher  derjenige  beim  unmittel- 
baren Behalten  philosophischer  Prosa:  29,41  Vielleicht 
erklärt  sich  die  letztere  etwas  höhere  Ziffer  durch  die  Vertrautheit 
der  beiden  Herren  Dozenten  mit  diesem  Stoffe.  —  In  charakte- 
ristischer Weise  steigen  die  übrigen  Zahlen,  welche  sich  auf 
mehr  sinnloses  Material  beziehen:  bezüglich  der  sinnlos  neben- 
einander gestellten  italienischen  Vokabeln  ergibt  sich  ein 
Fortschritt  um  30  %%  bzw.  66,66  %  hinsichtlich  der  33l/3  ^-Fehler- 
grenze, —  betreffs  der  Silben,  Buchstaben  und  Zahlen  je  ein 
Fortschritt  um  42,05,  58,24  und  59,42  #  bezüglich  der  Null- 
grenzen, bzw.  um  58,74,  43,36  und  70,95  %  bezüglich  der  33 Vs  %- 
Fehlergrenze,  —  Zahlen  wurden  demnach  unmittelbar  am 
besten  gemerkt,  ein  Ergebnis,  das  übrigens  auch  bei  andern 
ähnlichen  Versuchen  (Bolton!)  gewonnen  wurde.  (Vergleiche  auch 
die  Selbstbeobachtungen  der  Vp.  B.) 

Bezüglich  der  Stoffe,  welche  für  dauerndes  Behalten  zur 
Verwendung  kamen,  ergibt  sich  nachstehende  Reihenfolge, 
sobald  wir  in  erster  Linie  den  Fortschritt  beim  erstmaligen  Lernen 
ins  Auge  fassen: 

Die  Versuche  mit  dem  poetischen  Memorierstoff  weisen 
einen  Fortschritt  von  37,33  %  auf  (50  %  beim  Wiederholen !),  — 
eine  etwas  überraschende  Tatsache,  wenn  man  bedenkt,  wie  »an- 
genehm«, Lustgefühle  auslösend  gerade  dieser  ästhetische  Stoff  auf 
sämtliche  Vp.  wirkte.  Zur  Erklärung  mag  wohl  einerseits  die 
verwickelte,  oft  etwas  gekünstelte  sprachliche  Form  des  Stoffes 
dienen,  doch  dürfte  eine  mindestens  ebenso  beachtenswerte  Ursache 
angedeutet  sein  in  einer  Bemerkung  des  Herrn  F.  während  des 
zweiten  Querschnittes  (s.  Tabelle  XXXI  zur  31.  Versuchsreihe!): 
»Hierbei  kann  man  sich  förmlich  ausruhen«;  es  scheint  danach, 
als  habe  das  Gefühl  der  relativen  »Leichtigkeit«  des  Stoffes  die 


192 


Ernst  Ebert  und  E.  Meura  iura, 


gewöhnliche  Anspannung  der  Energie  bei  unsern  Vp.  etwas  sinken 
gemacht. 

Es  folgt  der  Fortschritt  beim  Erlernen  der  Vokabeln  mit 
60,43  %  (bzw.  35,71  %  bei  deren  Wiederholung),  —  sodann  der- 
jenige beim  Memorieren  philosophischer  Prosa  mit  65,51$ 
(bzw.  70  #  beim  Wiederholen),  —  endlich  der  Fortschritt  an 
ganz  sinnlosen  Stoffen,  nämlich  bei  optischen  Figuren  mit 
76,5  #  (beim  Wiederholen  55,88  #)  und  bei  sinnlosen  Silben 
mit  77,25  %  (beim  Wiederholen  59,18  %\  —  Ergebniswerte,  welche 
besonders  bemerkenswert  erscheinen,  wenn  man  beachtet,  daß  es 
Mittelgrößen  sind,  gewonnen  zur  Hälfte  an  Vp.,  die  des  regel- 
mäßigen Memorierens  seit  Jahren  entwöhnt  waren,  da  sie  37,  41, 
bzw.  (Herr  Br.)  54  Jahre  alt  waren. 

Trotz  der  Verschiedenheit  der  Stoffe  sowohl,  als  auch  besonders 
der  psychischen  Prozesse  teils  beim  unmittelbaren,  teils  beim 
dauernden  Behalten  ist  doch  die  allgemeine  Hebung  der 
Gedächtnisfunktion  unserer  Vp.  im  Laufe  der  Unter- 
suchung eine  Tatsache.  Wenn  wir  zunächst  auf  eine  Angabe 
der  speziellen  Ursachen  dieser  Erscheinung  verzichten  und  uns 
an  das  objektive  Ergebnis  der  Versuche  halten,  so  müssen  wir 
sagen,  daß  dieser  allgemeine  Gedächtnisfortschritt  bei  allen  Vp. 
zustande  gekommen  ist  durch  die  einseitig-mechanische 
Gedächtnisübung  an  den  sinnlosen  Silben.  Daneben  können 
nur  ganz  sekundär  die  bei  den  »Querschnitten«  ausgeführten 
Lernübungen  anderer  Art  mitgewirkt  haben. 

So  wird  man  denn  nicht  anstehen  dürfen,  als  Tatsache  anzu- 
erkennen, daß  es  eine  allgemeine  Gedächtnisübung  gibt,  daß 
es  also  unmöglich  ist,  irgendein  Spezialgedächtnis  isoliert 
von  der  Totalität  der  Gedächtnisfunktion  durch  Übung 
zu  steigern. 

Was  ferner  das  Maß  der  Steigerungsfähigkeit  des  Ge- 
dächtnisses durch  Übung  und  Mitübung  betrifft,  so  ist  zunächst 
zu  bedenken,  daß  die  Dauer  der  von  uns  vorgenommenen  Ein- 
übung eine  verhältnismäßig  kurze  war,  —  daß  wir  auch 
den  Umfang  des  jeweiligen  Pensums  nicht  unbeträchtlich  hätten 
steigern  können,  ohne  dabei  Gefahr  zu  laufen,  die  Vp.  zu  ermüden. 
Man  darf  also  mit  Sicherheit  annehmen,  daß  eine  weitere  Fort- 
setzung rationeller  Einübung  nach  Art  der  von  uns  befolgten 
einen   erstaunlich    hohen   Gedächtniseffekt  herbeiführen 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  193 


werde.  Man  erinnere  sich  z.  B.  des  Faktums,  daß  Frl.  S.  vorher  (am 
6.  Februar)  24  optische  Figuren  mit  insgesamt  104  Lesungen  er- 
faßte, später  (am  7.  März)  aber  eine  ganz  analog  aufgebaute  Zeichen- 
reihe mit  insgesamt  16  Lesungen  nicht  minder  sicher  lernte, 
—  daß  Herr  F.  52  Silben  anfanglich  mit  80  Lesungen  erlernte, 
während  er  zuletzt  dasselbe  Pensum  mit  15  Lesungen  erledigte,  — 
daß  selbst  der  54jährige  Herr  Br.,  trotz  seiner  angegriffenen  Ge- 
sundheit, es  beim  Lernen  der  ProsastUcke  aus  »Locke«  dahin 
brachte,  daß  er  statt  der  früheren  26  Lesungen  11  gebrauchte, 
und  man  wird  nicht  zögern  in  der  Annahme,  daß  das  Maß  der 
möglichen  Steigerung  des  Gedächtnisses  bei  rationeller 
Übung  ein  fast  unbegrenztes  ist  und  auch  bei  älteren  Personen 
eine  beträchtliche  Größe  erlangt. 

Es  lag  nach  alledem  die  Frage  nahe,  ob  die  so  verhältnis- 
mäßig rasch  erworbene  Steigerung  des  Gedächtnisses 
auch  nachhaltig  Bei,  —  ob  vielleicht  das  bald  Erworbene  nicht 
auch  relativ  rasch  wieder  dem  Ausgangszustande  der  Gedächtnis- 
leistung Platz  mache.  Wir  gingen  dieser  Frage  nach  in  einigen 
Ergänznngs versuchen,  an  denen  sämtliche  Vp.  teilnahmen 
außer  Herrn  Prof.  M.).  Da  es  sich  nur  um  kurze  Stichproben  han- 
deln konnte,  benutzten  wir  als  Prüfungsmaterial  4  Reihen  sinn- 
loser Silben,  je  12  und  16  Silben  nach  der  G.-Methode,  sodann  ebenso 
viele  nach  der  T. -Methode  —  in  der  üblichen  Weise  vorgeführt 
am  Kymographion  — ,  die  Herren  B.  und  F.  lernten  darauf  noch 
je  zwei  weitere  Strophen  aus  Schillers  »Zerstörung  von  Troja«. 
Die  Wiederholung  des  Memorierten  nach  24  Stunden  wurde  dabei 
als  hier  belanglos  weggelassen. 

Das  kürzeste  Ferienintervall  —  75  Tage  Zwischenzeit  nach 
Abschluß  der  Untersuchung  —  wurde  beobachtet  von  Herrn  Br. 
Er  erlernte  die  beiden  G.- Reihen  mit  6,  bzw.  7  Lesungen,  die 

3-4-3  3  |  \ 

zwei  T.-Reihen  mit  —~ — h  2  Lesungen  und  — ~ — H  3  Lesungen. 

Vordem  hatte  er  für  die  betreffenden  G. -Reihen  nötig  gehabt  6 

4-1-4 

und  8  Lesungen,  dazu  für  die  zwölf  silbige  T. -Reihe  — j~  +  4  Le- 
sungen. Man  erkennt,  daß  kein  Nachlassen  der  Lernfertig- 
keit stattgefunden  hat,  —  bei  der  16 silbigen  G.-Reihe  und 
12silbigen  T.-Reihe  hat  sich  sogar  eine  Besserung  der  Werte 
eingestellt. 

iiehiv  för  Ptjchologie.   IV.  13 


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194  Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 

Nach  85  Tagen  Unterbrechungszeit  erlernte  das  gleiche 
Material  nach  gleichem  Verfahren  Fräulein  S.  Wie  vordem  brauchte 
sie  für  die  12 silbige  G.- Reihe  7  Lesungen,  für  die  16 silbige 
G. -Reihe  aber  statt  der  früheren  10  Lesungen  deren  nur  7.  Auch 
bei  der  12silbigen  T.-Reihe  zeigt  sich  eine  Fortschritt  in  der 
Gedächtnisfunktion,  wenn  auch  nur  um  '/i  Lesung  —  sie  braucht 

1     2  +  2  Lesungen  — ,  vordem  hatte  sie  — y—  +  2  Lesungen 

nötig  gehabt  Die  16 silbige  T.-Reihe  erfaßte  sie  mit  ^^  +  3 
Lesungen. 

Nach  einer  Unterbrechungsfrist  von  91  Tagen  absolvierte 

Herr  Dr.  W.  das  in  Rede  stehende  Gedächtnispensum.  Mit  10  und 

12  Lesungen  gelang  es  ihm,  die  G. -Reihen  zu  erlernen,  für  welche 

er  früher  11,  bzw.  18  Lesungen  nötig  gehabt  hatte.    Für  die  T  - 

3  4-4  4-4-5 
Reihen  brauchte  er  — ^  f-  4  Lesungen,  bzw.  — ^  f-  3  Lesungen, 

—  vordem  hatte  er  flir  die  erstbezeichnete  12 silbige  T.-Reihe 
4  +  5 

2  h  8  Lesungen  nötig  gehabt. 

Herr  F.  lernte  die  zwei  G.-Reihen  nach  146Tagen  Zwischen- 
zeit mit  je  4  Lesungen  —  vordem  mit  4,  bzw.  5  Lesungen  — , 

für  die  12 silbige  T.-Reihe,  für  welche  er  früher  — ~+0  Le- 
sungen gebraucht  hatte,  bedurfte  er  -f  1  Lesungen ,  —  die 

2  I  o 

16 silbige  T.-Reihe  erlernte  er  in  — ^—  +  2  Lesungen.  Die  beiden 

Schillerschen  Strophen  hatte  er  mit  4  Lesungen  korrekt  erfaßt,  — 
bei  der  letzten  Prüfung  hatte  er  für  dasselbe  Pensum  5  Lesungen 
nötig  gehabt. 

Nach  156  Tagen*  Vakanz  endlich  erlernte  auch  Herr  B.  das- 
selbe Material.  Die  12  silbige  G.- Reihe  erlernte  er  wie  vordem 
mit  5  Lesungen,  für  die  16 silbige  G. -Reihe  hatte  er  6  Lesungen 

—  früher  5  —  nötig.  Die  12 silbige  T.-Reihe,  für  welche  er  früher 

1  4-  1  2  1  1 

— i 2  h2  Lesungen  brauchte,  erledigte  er  jetzt  in  — ^  \-lLe- 

2  4-3 

sungen,  die  16 silbige  T.-Reihe  mit  — |-  3  Lesungen.  Die 
beiden  Gedichtstrophen  erlernte  er  wie  früher  mit  7  Lesungen. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  195 

Man  sieht  aus  den  Ziffern  dieser  ergänzenden  Ver- 
suche,  daß   nicht  nur   kein   irgendwie  nennenswerter 
Übungsverlust  eingetreten  ist,  sondern  sogar  eine  tat- 
sächliche weitere  Hebung  der  Gedächtnisfunktion  kon- 
statiert werden  muß,  welche  am  markantesten  hervortritt  in 
den  Erlernungs werten  des  Herrn  Dr.  W.  Dieses  Faktum,  welches 
alle  Beteiligten  nicht  wenig  überraschte,  da  sie  sich  zwar  als 
Studierende,  bzw.  Dozenten  in  der  Vakanzzeit  genugsam  geistig 
betätigt  hatten,  aber  »an  nichts  weniger  gedacht  hatten,  als  noch 
einmal  mit  Erlernen  von  Silben  oder  Gedichtstrophen  geplagt  zu 
werden«,  soll  weiter  unten  noch  genauer  erklärt  werden;  zum  Teil 
ist  es  wohl  als  ein  Produkt  latenter  Weiterttbung  der  Gedächtnis- 
funktion anzusehen,  welche  auch  sonst  bei  körperlich -geistigen 
Übungen  wahrgenommen  werden  kann,  sobald  diese  für  einige 
Zeit  unterbrochen  werden.    Z.  B.  hat  jeder  Turner  oft  genug  Ge- 
legenheit, zu  konstatieren,  daß  eine  schwierige  Übungsfolge  nach 
einigen  Tagen  Nichtübens  Uberraschend  exakter  gelingt.  Nach 
den  Äußerungen  der  beteiligten  Vp.  wurde  die  schnellere  Erler- 
nung bei  dieser  Nachprüfung  vor  allem  bewirkt  »durch  das  Weg- 
fallen ungünstiger  Faktoren,  die  als  unliebsame  Begleit- 
erscheinungen während  des  Verlaufs  der  Hauptuntersuchung  zutage 
traten«.    Herr  Dr.  W.,  Herr  F.,  Herr  Br.,  Herr  B.,  Frl.  S.  sagen 
übereinstimmend  aus,  daß  »das  Gedächtnis  förmlich  entlastet 
sei  ron  den  vielerlei  Eindrücken  der  früheren  Versuche,  besonders 
von  den  Nachklängen  des  Silbenmaterials,  welches  je  länger,  je 
mehr  die  Tendenz  zeigte,  bei  jedem  einigermaßen  ähnlichen  op- 
tischen oder  akustischen  neuen  Eindruck  den  oder  jenen  alten 
wieder  zu  reproduzieren,  eben  dadurch  aber  auch  den  Eintritt  des 
neuen  Stoffes  in  den  normalen  Grad  der  Klarheit  des  Bewußtseins 
zu  verzögern«  (Herr  Br.).    »Die  Eindrücke  sind  jetzt  schärfer  um- 
rissen, —  sie  treten  mir  innerlich  plastischer  hervor,  sie  erscheinen 
mir  trotz  der  Reihenfolge  isolierter«  (Herr  B.).   »Die  frühere  Furcht 
vor  Überfütterung  ist  verschwunden«  (Frl.  S.).    »Die  infolge  der 
Dauer  der  Hauptuntersuchung  auftretenden  Unlustgefuhle,  speziell 
bei  den  sinnlosen  Stoffen,  haben  Lustgefühlen  Platz  gemacht,  —  das 
Interesse  ist  jetzt  besonders  lebhaft«  (Herr  Dr.  W.).    »Ich  tappe 
immer  weniger  versuchend  hin  und  her,  sondern  setze  unverzüg- 
lich alle  Mittel  der  Sinne  und  der  Logik  ein,  um  schnell  das  Ziel 
xu  erreichen«  (Herr  F.). 

13* 


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1% 


Ernst  Eberl  und  E.  Meumann 


Daß  die  allgemeine  Steigerang  des  Gedächtnisses  infolge 
längerer  Übung  besteht  nnd  offenbar  bedeutend  nachhaltig  ist, 
kann  nach  den  vorstehenden  empirischen  Nachweisen  nicht  mehr 
bezweifelt  werden,  wenn  auch  die  Resultatziffern  unseres  zweiten 
und  dritten  »Querschnittes«  dartun,  daß  einseitige  Übung  in 
erster  Linie  dasjenige  Gebiet  des  Assoziierens  und  Reproduzierens 
fördert,  innerhalb  dessen  sie  erfolgte,  —  in  unserem  Fall 
also  das  Gebiet  der  vorzugsweise  mechanisch  zu  merkenden,  sinn- 
losen Stoffe.  Es  scheint  dies  in  dem  Wesen  der  Übung  begründet 
zu  sein. 

VII.  Kapitel: 
Ergänzungsversuche  und  theoretische  Schlußfolgerungen. 

In  der  vorliegenden  Untersuchung  sind  wir  in  zwiefacher  Rich- 
tung zu  bestimmten  Ergebnissen  gelangt,  —  einmal  in  der  speziel- 
leren Frage,  welche  Lernmethoden  sich  als  die  am  meisten  ökono- 
mischen erweisen  lassen,  sodann  in  der  Behandlung  des  allge- 
meinen Problems,  wie  weit  es  eine  allgemeine  Gedächtnisübung 
gibt  und  in  welchem  Maße  diese  durch  einseitige  Übung  im 
mechanischen  Lernen  sinnloser  Silben  erreicht  werden  kann.  Die 
experimentelle  Untersuchung  dieser  Fragen  führte  uns  aber  ferner 
zur  Gewinnung  einer  Anzahl  weiterer  Ergebnisse,  die  von  allge- 
meiner psychologischer  Bedeutung  sind,  indem  sie  auf  das  Problem 
das  Gedächtnisses,  sowie  auf  das  Wesen  der  Übungsphänomene  in 
mancher  Hinsicht  neues  Licht  werfen.  Wir  fassen  zunächst  die  Haupt- 
resultate zusammen,  die  sich  aus  unserer  Untersuchung  für  die  Be- 
antwortung der  beiden  erstgenannten  Fragen  ergeben  haben;  sodann 
werden  wir  versuchen,  diese  zu  Folgerungen  Uber  das  Wesen  des  Ge- 
dächtnisses und  die  psychophysische  Erklärung  der  Übungsphäno- 
mene zu  benutzen.  Der  Übersichtlichkeit  halber  sollen  die  Haupt- 
resultate nach  fortlaufenden  Nummern  aufgezählt  werden. 

I.  Resultate  bezüglich  der  ökonomischen  Lernmethoden. 

1)  Während  die  bisherigen  Untersuchungen  über  ökonomisches 
Lernen  sich  auf  die  Vergleichung  nur  zweier  verschiedener  Lern- 
methoden beschränkten:  die  T.-Methode  (oder  Teil-Lernmethode) 
und  die  G.-Methode  (oder  Ganz-Lernmethode) ,  haben  wir  diesen 
eine  neue  Gruppe,  die  vermittelnden  Methoden  (I.  V.-Methode 
und  II.  V.-Methode),  an  die  Seite  gestellt.    Der  Zweck  der  ver- 


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Über  einige  Grandfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  197 


mittelnden  Methoden  wurde  darin  gesucht,  in  ihnen  die  Vorteile 
der  G.-  und  T.-Methode  zu  vereinigen  und  es  besser  als  durch 
die  G.-Methode  —  welche  man  nach  den  Untersuchungen  von 
G.  E.  Müller  und  L.  Steffens  für  die  vorteilhafteste  halten  mußte 
—  zu  ermöglichen,  daß  das  Lernverfahren  Stoffen  von  ungleicher 
Schwierigkeit  angepaßt  werden  könne  und  sich  damit  dem  wirk- 
lichen Lernen  des  Schulkindes  uud  des  Erwachsenen  annähere. 

2)  Das  Wesen  der  vermittelnden  Methoden  besteht  darin,  den 
Lernstoff  in  Gruppen  zu  zerlegen  (ähnlich  wie  die  T.-Methode), 
diese  Gruppen  aber  trotzdem  allein  ganz  ohne  Unterbrechung 
lernen  zu  lassen,  wobei  der  Lernstoff  immer  nur  von  Anfang  bis 
zu  Ende  durchgelesen  wird.  Schematisch  an  einer  Reibe  von 
12  sinnlosen  Silben  dargestellt,  ergeben  die  einzelnen  Methoden 
folgendes  Bild: 


G.-Me- 

T.-Methode: 

I.  V.-Me- 

II.  V.-Me- 

thode: 

thode: 

thode : 

I 

I 

VII 

I  oder 

I     V  IX 

i 

I 

I 

II 

II 

VIII 

II 

II    VI  X 

ii 

II 

II 

III 

III 

IX 

III 

III  VII  XI 

in 

III 

III 

IV 

IV 

X 

IV 

iv  viii  xn 

IV 

IV 

IV 

V 

V 

XI 

V 

V 

V 

1 

VI 

VI 

XII 

VI 

VI 

VI 

V 

VII 

VII 

VII 

[ 

VI 

VIII 

VIII 

VIII 

VII 

VII 

IX 

IX 

IX 

VIII 

VIII 

X 

X 

X 

IX 

1 

XI 

XI 

XI 

X 

IX 

XII 

XII 

XII 

XI 
XII 

X 

XI 

XII 

3)  Jede  der  bisher  bekannten  Lernmethoden  hat  ihre  eigen- 
tümlichen Vorteile  und  Nachteile. 


Die  Schwächen  der  T.-Methode  bestehen  in  der  Bildung  von 
rückläufigen,  für  das  Reproduzieren  zweckwidrigen  Assoziationen 
zwischen  dem  Endglied  einer  Teilreihe  und  ihrem  Anfangsglied, 
ferner  in  der  Schwierigkeit,  das  Endglied  jeder  Teilreihe  mit  dem 
Aofangsglied  jeder  neuen  Reihe  zu  assoziieren.  Ihr  Vorteil  besteht 
darin,  daß  die  Aufmerksamkeit  bei  Beginn  jeder  Teilreihe  wieder 
mit  voller  Frische  und  Energie  einsetzt.  (Ein  sekundärer  Nach- 
teil der  T.-Methode  ist  dadurch  gegeben,  daß  die  Vp.  bei  den 


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198 


Emst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Teilreihen  bisweilen  nicht  ihren  gewohnten  Rhythmus  behalten 
können,  oder  bei  den  Teilreihen  einen  andern  Rhythmus  verwenden 
müssen  als  bei  der  Zusammenfügung  der  Teilreihen  zum  Ganzen.) 

Die  Schwäche  der  G.-Methode  besteht  darin,  daß  die  Auf- 
merksamkeit in  der  Mitte  der  Reihe  (des  Stoffes)  nachläßt,  und 
die  Mitte  daher  stets  weniger  gut  eingeprägt  wird  als  Anfang  und 
Ende  der  Reihe.  Ihr  Vorteil  ist  darin  zu  suchen,  daß  sie  alle 
Assoziationen  in  der  Richtung  bildet,  in  welcher  sie  bei  der  Repro- 
duktion wirksam  werden  sollen,  —  daß  sie  ferner  namentlich  bei 
sinnvollen  Stoffen  unaufmerksames  Wiederholen  vermeidet,  welches 
ftir  den  Lernprozeß  relativ  oder  gänzlich  unwirksam  bleiben  müßte; 
sie  hält  die  Aufmerksamkeit  in  beständiger  Spannung  und  ge- 
stattet, beim  Erlernen  stets  den  gleichen  Rhythmus  anzuwenden. 

Die  beiden  vermittelnden  Methoden  besitzen  erstens  die  Vor- 
teile der  T.-Methode:  Die  Aufmerksamkeit  kann  in  der  Mitte  der 
Reihe  nicht  nachlassen,  indem  diese  Methoden  nach  je  6,  bzw. 
4  Reihengliedern  Pausen  einschalten.  Sie  besitzen  zweitens  die 
Vorteile  der  G.-Methode,  indem  auf  Grund  des  nur  vom  Anfang 
nach  dem  Ende  fortschreitenden  Lernens  die  Assoziationen  so  ge- 
bildet werden,  wie  sie  bei  der  Reproduktion  wirksam  werden 
sollen.  Es  braucht  ferner  bei  dieser  Methode  kein  Wechsel  des 
Rhythmus  stattzufinden,  indem  z.  B.  selbst  bei  der  I.  V.-Methode 
im  4/4-Takt  gelernt  werden  kann,  wenn  die  Vp.  die  beiden  letzten 
Silben  jeder  Teilreihe  als  Nachtaktc  behandelt. 

4)  In  der  Frage,  welche  Lernmethode  die  ökonomischere  ist, 
hat  man  zwei  Gesichtspunkte]  auseinanderzuhalten:  Eine  Methode 
kann  vorteilhaft  sein,  weil  sie  mit  größerer  Schnelligkeit  zum  erst- 
maligen Erlernen  führt  —  oder  weil  sie  eine  dauernderes  und 
treueres  Behalten  und  größere  Sicherheit  der  Reproduktion  ge- 
währt. Unter  dem  ersten  Gesichtspunkt  ist  die  bei  weitem  beste 
Methode  die  II.  V.-Methode,  dagegen  fuhrt  in  der  Mehrzahl  der 
Fälle  die  G.-Methode  nicht  am  schnellsten  zum  Ziele  des  Auswendig- 
wissens, weil  sie  mehr  Wiederholungen  nötig  macht  als  die  ver- 
mittelnden Methoden. 

Unter  dem  zweiten  Gesichtspunkt  ist  die  beste  Methode  die 
G.-Methode,  und  zwar  ist  es  gerade  der  bei  dieser  Methode  not- 
wendige Mehraufwand  an  Wiederholungen,  welcher  ihre  Über- 
legenheit an  Nachwirkung  im  Gedächtnis  oder  in  der  Festigkeit 
der  durch  sie  gebildeten  Assoziationen  herbeiführt. 


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Ober  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  199 

Die  T.-Methode  steht  in  der  Schnelligkeit  des  Lernens  den  ver- 
mittelnden Methoden  näher  als  der  G.-Methode. 

5)  Der  Effekt  der  Leramethoden  für  die  Gedächtnisarbeit  ist 
in  mehrfachem  Sinne  verschieden. 

a.  Die  V.-Methoden  führen  zum  raschesten  Neulernen  und  zu 
einem  Behalten  von  mittlerer  Treue. 

b.  Die  T.-Methode  führt  zu  einem  relativ  raschen  Neulernen, 
aber  unsicherem  Behalten. 

c.  Die  G.-Methode  führt  vielfach  zu  einem  langsameren,  d.  h.  an 
Wiederholungen  reicheren  Neulernen,  aber  größter  Treue  im 
Behalten  und  Sicherheit  in  der  Reproduktion. 

d.  Für  den  Fortschritt  in  der  Übung  und  Vervollkommnung 
des  Lernens  und  des  Gedächtnisses  Uberhaupt  ist  im  all- 
gemeinen auf  Grund  der  gesamten  vorliegenden  quantitativen 
Bestimmungen  hierüber  zu  sagen,  daß  der  Fortschritt  nach 
einer  unserer  Methoden  in  demselben  Maße  geringer  ist,  je 
mehr  sich  die  betreffende  Methode  in  ihren  Resultaten  der 
relativ  besten  Leistung  nähert. 

6)  Bei  sehr  lange  fortgesetzter  Übung  im  Lernen  nähern  sich 
die  psychischen  Effekte  der  verschiedenen  Lernmethoden  einander 
an  (vgl.  die  Untersuchung  Magneffs!).  Die  Vp.  lernen  offen- 
bar, immer  mehr  die  Unzweckmäßigkeiten  der  einen  oder  andern 
Methode  auszuschalten  und  ihre  Vorteile  zu  benutzen. 

II.  Resultate  bezüglich  der  Gedächtnisübung. 

»* 

Unsere  Untersuchung  über  die  Übung  des  Gedächtnisses  und 
speziell  über  die  Frage,  wie  weit  einseitig  fortgesetztes  mecha- 
nisches Lernen  sinnloser  Silben  das  allgemeine  Gedächtnis  ver- 
Tollkommnet,  ergibt  zwei  Gruppen  von  Resultaten: 

A.  Objektive  Resultate,  die  sich  direkt  aus  den  zahlenmäßigen 
Ergebnissen  der  Tabellen  entnehmen  lassen. 

B.  Subjektive  Resultate  der  Selbstbeobachtung.  Auf  Grund 
der  systematischen  Befragung  unserer  Vp.  und  ihrer  spontanen 
Aussagen  Uber  eigene  Beobachtungen  und  Erfahrungen  ge- 
wannen wir  eine  Anzahl  wichtiger  subjektiver  Bekundungen 
über  den  Gang  der  Gedächtnisübung  und  das  Wesen  derselben. 
Wir  stellen  zunächst  die  objektiven  Ergebnisse  voran  und 
schließen  daran  die  Hauptpunkte  der  Selbstaussage  der  Vp. 


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200 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


A.  Objektive  Resultate  der  Untersuchung  Uber  Ge- 
dächtnisübung: 

7)  Durch  fortgesetztes  Lernen  sinnloser  Silben,  welches  von 
sämtlichen  Vp.  mit  der  Absicht  betrieben  wurde,  die  Gedächtnis- 
leistung  allmählich  zu  vervollkommnen,  also  durch  planmäßige 
einseitig-mechanische  Übung  des  Gedächtnisses  an  dem  gleichen 
Stoff  und  unter  gleichen  Bedingungen,  vervollkommnet  sich  nicht 
nur  das  Lernen  und  Behalten  für  diesen  einen  ÜbungsBtofif,  son- 
dern es  wird  eine  Mitvervollkommnung  des  Lernens  und  Behaltene 
sehr  verschiedenartiger  anderweitiger  Gedächtnisstoffe  erreicht  (oder 
die  Vervollkommnung  des  Gedächtnisses  für  sinnlose  Silben  bewirkt 
eine  Mitvervollkommnung  anderer  Spezialgedächtnisse).  Erwiesen 
wurde  das  in  der  vorliegenden  Untersuchung  für  das  unmittelbare 
Behalten  von  Buchstaben,  Zahlen,  Wörtern,  sinnlosen  Silben,  fremd- 
sprachlichen Vokabeln,  Gedichtversen  und  philosophischer  Prosa; 
ferner  für  das  dauernde  Behalten  von  sinnlosen  Silben,  optischen 
Zeichen,  Vokabeln,  Gedichtstrophen,  philosophischer  Prosa.  Man 
kann  dieses  allgemeine  Faktum  auch  so  ausdrücken:  Die  objek- 
tiven Resultate  unserer  Versuche  zeigen,  daß  spezielle 
Gedächtnisübung  zugleich  eine  allgemeine  Gedächtnis- 
steigerung zur  Folge  hat 

8)  Diese  Mitvervollkommnung  (Mitübung)  erstreckt  sich  nicht 
in  gleicher  Weise  auf  die  übrigen  Gedächtnisse,  sondern  sie  scheint 
dem  Gesetz  zu  folgen,  daß  die  speziellen  Gedächtnisse  genau  in 
dem  Maße  durch  Mitübung  vervollkommnet  werden,  als  sie  auf 
Grund  der  Natur  des  Stoffes,  der  Lernmittel  und  der  Lernweisen 
dem  einseitig  geübten  Gedächtnis  verwandt  sind  und 
um  so  weniger  an  der  Vervollkommnung  teilnehmen,  je  mehr  sie 
sich  durch  den  Stoff,  die  Lernmittel  und  Lern  weisen  von  jenem 
unterscheiden.  Dieses  Gesetz  tritt  in  den  objektiven  Resultaten 
unserer  Versuche  deutlich  hervor,  —  man  vergleiche  hierzu  die  über- 
sichtliche Zusammenstellung  der  betreffenden  quantitativen 
Bestimmungen  auf  den  S.  190  bis  193.  Hier  sei  nur  die  Reihen- 
folge der  Stoffe  noch  einmal  derart  bezeichnet,  daß  diejenigen 
zuletzt  folgen,  bei  denen  der  Übungseffekt  am  bedeutendsten  war: 

A.  Unmittelbares  Behalten: 

1)  Einsilbige  Substantiva  (gilt  mit  Einschränkung  —  s.  S.170ff.). 

2)  Gedichtworte.  3)  Philos.  Prosaworte.  4)  Ital.  Vokabeln. 
5)  Sinnlose  Silben.     6)  Buchstaben.     7)  Zahlen. 


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über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  201 

B.  Dauerndes  Behalten: 

ij  Gedichtstrophen.  2)  Ital.  Vokabeln.  ;$)  Philos.  Prosa. 
4)  Optische  Figuren.     5)  Sinnlose  Silben. 

Diese  objektiven  Resultate  der  Versuche  Uber  allgemeine 
Steigerung  des  Gedächtnisses  und  Mitvervollkommnung  verwand- 
ter Gedächtnisse  bedürfen  aber  noch  einer  gewissen  Korrektur 
durch  Berücksichtigung  verschiedener  Nebenumstände,  welche  das 
obenerwähnte  Gesetz  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  getrübt  haben, 
z.  B.  vorübergehende  Indisposition  einzelner  Vp.,  die  den  Fort- 
schritt in  dem  einen  oder  andern  Spezialgedächtnis  herabsetzten; 
ferner  wurde  die  Gedächtnisvervollkommnung  überhaupt  erschwert 
durch  die  immer  größere  Belastung  des  Gedächtnisses  der  Vp.  mit 
dem  gleichen  Material.  Am  meisten  fühlbar  wurde  diese  Gedächt- 
nisbelastung bei  den  sinnlosen  Silben,  so  daß  der  wirkliche 
Übungseffekt  durchschnittlich  in  Wahrheit  ein  größerer  war,  als 
es  in  den  Versuchszahlen  hervortritt.  Der  objektive  Beweis  dafür 
liegt  in  den  Steigerungen  der  Leistungen  nach  der  längeren  Pause 
vor  den  Versuchen  zur  Kontrolle  des  Übungsverlustes,  vgl.  S.  193  ff. 

9)  Die  Vervollkommnung  des  Gedächtnisses  trat  in  den  Ver- 
suchen in  folgender  Weise  zutage: 

(1)  Das  Neulernen  geht  in  kürzerer  Zeit  und  mit  weniger 
Wiederholungen  vonstatten. 

(2)  Die  Ersparnis  au  Wiederholungen  beim  Wiedererlernen 
nimmt  immer  mehr  zu. 

(3)  Die  Möglichkeit,  sich  beim  unmittelbaren  Behalten  nach- 
träglich auf  ausgefallene  Eindrücke  zu  besinnen,  steigert 
sich  beträchtlich. 

(4)  Die  Lernform  oder  Lernweise  der  Vp.  ändert  sich,  indem 
einzelne  Stadien  des  Lernprozesses  zurücktreten,  andere  — 
namentlich  das  Stadium  des  Rhythmischlernens  —  an  Be- 
deutung gewinnen. 

(5)  Mit  fortgesetztem  Lernen  verbessert  sich  nicht  nur  das  Er- 
lernen selbst,  sondern  es  wird  auch  die  ganze  Summe  der 
sekundären  Begleitvorgänge  des  Lernens  und  die  psycho- 
physische  Verfassung  der  Vp.  zweckmäßiger  dem  Lernen 
angepaßt. 

10)  Ein  Übungsverlust  ist  bei  Erwachsenen  nach  146  Tagen 
Pause  noch  nicht  vorhanden. 


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202 


Emst  Ebert  und  E.  Meumann, 


B.  Die  subj  ektivenBekundungenderVp.(Selbstbeobachtungen, 
auf  Grund  von  Befragungen  oder  spontaner  Aussagen  festgestellt) 
Uber  die  Gedächtnisvervollkommnung: 

11)  Die  Aussagen  der  Vp.  Uber  die  Ursachen  des  Ubungsfort- 
schrittes  und  über  das  Wesen  der  Gedächtnisübung  erstrecken  sich 
hauptsächlich  auf  zwei  Punkte: 

A.  Auf  ihren  gesamten  psychischen  Habitus,  ihr  gesamtes  Ver- 
halten im  Anfangsstadium  der  Versuche  zum  Unterschied 
von  ihrem  Verhalten  bei  eingetretener  Übung. 

B.  Auf  die  Art  und  Weise  des  Lesens,  des  Lernens  und  des 
Reproduzierens  in  den  verschiedenen  Stadien  der  Übung 
und  speziell  auf  die  von  ihnen  verwendeten  Lernmittel. 

Zu  A.:  Das  gesamte  Verhalten  der  Vp.  umfaßt  die  Mitwirkung 
der  Gefühle,  insbesondere  der  gesamten  Stimmungslage,  die  Mit- 
wirkung von  Spannungen,  von  Willensregungen  bestimmter  Art, 
die  Art  und  Weise  der  Betätigung  ihrer  Aufmerksamkeit  und 
deren  Begleiterscheinungen. 

Die  Veränderungen  dieser  Erscheinungen  auf  Grund  der  Übung 
sind  nach  der  Aussage  der  Vp.  die  folgenden:  Im  AnfangsBtadium 
des  Lernens  (Stadium  der  Ungeübtheit)  herrschen  meist  Unlust- 
gefUhle  vor,  die  eine  hemmende  Wirkung  auf  das  Lernen  ausüben; 
die  Vp.  kämpfen  mit  diesen  Unlustgefllhlen  und  haben  sie  oft 
mühsam  zu  überwinden,  oder  es  tritt  ein  Alternieren  zwischen  Lust 
und  Unlust  ein.  Die  gesamte  Stimmungslage  ist  nicht  immer  so- 
gleich die  fiir  die  Arbeit  passende  und  günstige;  es  werden  übermäßig 
viele  und  oft  ganz  zwecklose  motorische  Spannungen  aufgewendet, 
die  in  der  Gesichtsmuskulatur,  den  Händen,  Füßen,  im  Kacken, 
in  den  Augenmuskeln  (vielleicht  auch  im  Ohr)  empfunden  werden. 
Es  sind  zahlreiche  und  energische  Willensantriebc  notwendig,  ins- 
besondere die  bewußte  Vergegenwärtigung  des  wissenschaftlichen 
Zweckes  und  des  Wertes  der  Versuche,  um  die  Arbeit  aufrechtzu- 
erhalten (ganz  besonders  bei  den  optischen  Zeichenreihen).  Die 
Aufmerksamkeit  wird  ungleichmäßig  auf  den  Lernstoff  verteilt,  sie 
läßt  häufig  in  der  Mitte  größerer  Reihen  nach,  insbesondere  bei 
der  G.-Methode,  und  paßt  sich  erst  allmählich  der  speziellen  Lern- 
tätigkeit und  dem  speziellen  Stoffe  an.  Die  Hemmung  ablenken- 
der Vorstellungen  ist  vielfach  eine  ungenügende.  Auf  diese 
Hemmung  muß  bisweilen  viel  Energie  verwendet  werden.  Die 


Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  ubw.  203 

Konstanz  (Gleichmäßigkeit)  und  Ausdauer  der  Aufmerksamkeit 
lassen  oft  zu  wttnschen  übrig.  Die  Bereitschaft  und  Vollständig- 
keit der  apperzipierenden  Vorstellungen  (insbesondere  beim  Lernen 
sinnvoller  Stoffe)  ist  mangelhaft.  Die  Einstellung  auf  die  Leistung 
als  Erfolg  der  Anpassung  ist  unvollkommen. 

Alle  diese  Erscheinungen  kehren  sich  durch  den  Fortschritt 
der  Übung  fast  genau  in  ihr  Gegenteil  um:  An  Stelle  der  hem- 
menden UnlustgefÜhle  treten  positiv  arbeitsfördernde  Lustgefühle, 
infolge  der  größeren  Leichtigkeit  der  Erlernung,  der  Sicherheit  des 
Erfolges  und  des  wachsenden  Interesses  an  der  Arbeit.  Die 
Stimmungslage  wird  eine  ausgeglichenere,  d.  h.  sie  ist  fast  von  vorn- 
herein die  Air  die  Gedächtnisarbeit  zweckmäßige.  Die  motorischen 
Spannungen  nehmen  an  Intensität  und  Ausbreitung  ab.  Statt  zahl- 
reicher, immer  wieder  erneuerter  Willensantriebe  genügt  ein  ein- 
maliger Antrieb  oder  ein  Entschluß  beim  Beginn  der  Arbeit.  Die 
Aufmerksamkeit  wird  zweckmäßiger  auf  den  Lernstoff  verteilt,  ins- 
besondere bei  sinnvollen  Stoffen  auf  die  für  die  Erfassung  des 
Zusammenhangs  wichtigsten  Stellen ;  die  apperzipierenden  Vorstel- 
lungen sind  in  größter  Bereitschaft  und  Vollständigkeit,  usf. 

Die  Willen s tätigkeit  endlich  wird  in  folgender  Weise  ver- 
ändert: 

a.  Der  Wille  zur  Vervollkommnung  des  Gedächtnisses  beherrscht 
allmählich  immer  entschiedener  das  ganze  Verhalten  der  Vp. 
während  der  Versuche. 

b.  Dieser  Wille  (unterstützt  durch  die  Vorstellung  vom  Zwek 
und  Wert  der  Versuche)  leitet  alle  im  Moment  des  Lernens 
verfügbaren  körperlichen  und  geistigen  Mittel  in  den  Dienst 
des  einen  vorschwebenden  Zweckes;  Gefühle,  Aufmerk- 
samkeit, Spannungen,  Erfassung  des  Sinnes,  Einprägung  der 
sinnlichen  Eindrücke,  alles  dieses  wird  dem  einen  Zweck 
untergeordnet*  eine  möglichst  schnelle  Aneignung  des  Stoffes 
zu  erreichen. 

Zu  B. :  Das  Lernen  verläuft  in  verschiedenen  Stadien,  während 
welcher  der  Lernprozeß  selbst  sehr  verschieden  ist.  Diese  Stadien 
sind  am  Anfang  der  Einübung  noch  unklar  geschieden ;  sie  bilden 
sich  allmählich  immer  bestimmter  heraus,  aber  mit  fortschreitender 
Übung  treten  einige  Lernstadien  wieder  hinter  andere  zurück,  die 
nun  als  die  dominierenden  verbleiben.  Diese  fünf  Stadien  wurden 

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204 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann. 


S.  43  ff.  genauer  bezeichnet.  Mit  fortschreitender  Übung  domi- 
niert unter  diesen  immer  mehr  das  Stadium  des  rhythmischen 
Lernens. 

Die  Lernmittel  (Assoziationsmittel)  verändern  sich  mit  fort- 
schreitender Übung  in  typischer  Weise:  Anfangs  suchen  fast  alle 
Vp.  nach  zahlreichen  sekundären  Hilfen,  z.  B.  symbolischer  Deu- 
tung der  einzelnen  sinnlosen  Silben,  die  dadurch  zu  Pfeilern  in 
der  Reihe  werden,  an  welche  sich  der  übrige  Stoff  anschließt,  — 
ferner  Bildung  sekundärer  assoziativer  Zusammenhänge  zwischen 
zwei  oder  mehreren  Silben,  mnemotechnische  Hilfen  verschiedener 
Art,  Achten  auf  die  absolute  Stelle  einzelner  Silben,  rhythmisch- 
motorische Innervationen  verschiedener  Art  usf. 

Mit  fortschreitender  Übung  verschwinden  alle  diese  Hilfen, 
und  die  Vp.  verlassen  sich  immer  mehr  auf  das  rein  mechanische 
Einprägen  der  Silben  durch  den  bloßen  Faktor  sukzessiver  Assozia- 
tion der  Silben  selbst  mittels  aufmerksamer  Wiederholung;  bei 
sinnvollen  Stoffen  finden  die  Vp.  mit  immer  größerer  Sicherheit  die 
für  den  Sinn  bedeutungsvollsten  Stellen  heraus  und  erwerben  die 
Fähigkeit,  die  rein  sinnlichen  Mittel  (insbesondere  die  optischen) 
mit  den  logischen  Beziehungen  in  zweckmäßiger  Weise  zusammen- 
arbeiten zu  lassen. 

Unter  den  Lernmitteln  ferner  nimmt  mit  fortschreitender 
Übung  eine  immer  größere  Bedeutung  ein  das  Herausfinden  des  ' 
individuell  bevorzugten  Rhythmus,  das  Betonen  der  schwachen 
Stellen,  das  sichere  Erkennen  der  dem  individuellen  Lerntypus 
(VorstellungstypuB)  entsprechenden  sinnlichen  Mittel,  welche  vor- 
zugsweise verwendet  werden  (z.  B.  beim  >  Optiker«  die  visuellen 
Mittel),  während  die  weniger  geläufigen  Mittel  eine  untergeordnete 
Verwendung  finden.    Vgl.  auch  S.  27  flF. 

Theoretische  Folgerungen  aus  den  objektiven  Ergeb- 
nissen und  den  subjektiven  Bekundungen  über  das  We- 
sen des  Gedächtnisses,  der  Gedächtnisübung  und  das 
Wesen  der  Übung  im  allgemeinen. 

I.  Folgerungen  für  die  allgemeine  Gedächtnispsychologie: 

1)  Die  Funktionen  des  unmittelbaren  Behaltene  auf  Grund 
einmaliger  Auffassung  der  unmittelbar  zu  reproduzierenden  Ein- 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Üuungsphänomene  usw.  205 

drücke  und  des  dauernden  Behaltens  durch  wiederholtes  Erlernen 
sind  zwei  ganz  verschiedenartige  Gedächtnisleistungen. 

In  dem  einen  Falle  handelt  es  sich  im  allgemeinen  dämm,  daß 
auf  Grund  einer  unmittelbaren  Nachwirkung  der  Eindrücke  ein 
Reproduzieren  stattfindet,  noch  ehe  diese  Eindrücke  verklungen 
sind.  In  dem  andern  Falle  dagegen  —  beim  dauernden  Behalten 
—  ist  die  Aufgabe  des  Gedächtnisses  insofern  eine  völlig  anders- 
artige, als  die  Eindrücke  inzwischen  wieder  vollständig  ausge- 
löscht waren,  und  eine  Reproduktion  derselben  im  engeren  Sinne  des 
Wortes  notwendig  wird.  Reim  unmittelbaren  Behalten  kann  man 
nicht  von  einer  Schaffung  dauernder  Übungsdispositionen  reden, 
weil  die  Eindrücke  schon  ganz  kurze  Zeit  nach  ihrer  Applikation 
nicht  mehr  reproduzierbar  sind.  Beim  dauernden  Behalten  da- 
gegen ist  gerade  die  Herstellung  dauernder  Übungsdispositionen, 
welche  eine  Reproduktion  auch  nach  sehr  langer  Zeit  ermöglichen, 
auf  Grund  der  wiederholten  Einprägung  das  Charakteristische 
des  Vorgangs.  Die  Bedingungen  beider  Arten  des  Behaltens  sind 
dab er  auch  ganz  verschieden.  Für  das  unmittelbare  Behalten  ist 
die  Hauptbedingung  eine  einmalige,  höchst  intensive  Kon- 
zentration der  Aufmerksamkeit  mit  möglichst  vollstän- 
diger  Hemmung  aller  störenden  Eindrücke  und  Vorstellungen. 
Bei  dem  Dauernd-Behalten  ist  die  Hauptbedingung  die  Wieder- 
holung der  Eindrücke,  während  die  Aufmerksamkeit  nur  als 
eine  Mitbedingung  erscheint. 

Das  unmittelbare  Behalten  hat  eine  große  Verwandtschaft  mit 
dem  physiologischen  Nachbilde  von  SinneseindrUcken ;  es  ist  wie 
dieses  durch  die  Qualität  und  Intensität  der  Reize  (z.  B.  der  vor- 
gesprochenen Worte)  mit  bestimmt.  Es  klingt  wie  dieses  schnell  ab, 
es  kann  genau  wie  das  Nachbild  durch  plötzliche,  unmittelbar  nach 
dem  Reiz  eintretende  Störungen  völlig  ausgelöscht  werden.  Infolge- 
dessen wird  beim  unmittelbaren  Behalten  auch  die  ganze  Fülle 
der  konkreten  Umstände  der  Eindrücke  mit  reproduziert.  Die  Vp. 
hören  gewissermaßen  noch  in  der  Erinnerung  die  Stimme  des 
Vorsprechenden,  ihre  Klangfarbe,  ihren  Tonfall,  ihren  Rhythmus 
nnd  ihr  Tempo,  —  Merkmale,  die  bei  der  Reproduktion  auf 
Grund  des  dauernden  Behaltens  zu  fehlen  pflegen. 

Das  unmittelbare  Behalten  hat  ferner  gewisse  nur  ihm  zu- 
kommende Eigentümlichkeiten:  Die  auffallendste  derselben  ist 
das  Auftreten  der  rückwärts  wirkenden  Hemmungen. 


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206  Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 

Diese  besteben  darin,  daß,  wenn  im  Verlauf  der  Einprägung  der 
vorgesprochenen  Eindrucke  eine  innere  oder  äußere  Störung  ein- 
tritt, diese  Störung  nicbt  nur  die  unmittelbar  von  ihr  selbst  be- 
troffenen Eindrücke  ergreift,  sondern  auch  rückwärts  wirkend  die 
schon  eingeprägten  Eindrücke  wieder  auslöscht  und  ihre  Repro- 
duktion unmöglich  macht. 

Auch  in  der  individuellen  Begabung  ist  die  Befähigung  für 
unmittelbares  Behalten  und  dauerndes  Einprägen  verschieden  ver- 
teilt. Bei  drei  Vp.  ergab  sich  durch  eine  besondere  quantitative 
Bestimmung,  daß  die  Person  mit  dem  besten  dauernden  Gedächt- 
nis im  unmittelbaren  Behalten  die  geringste  Leistung  aufwies, 
während  eine  Vp.,  die  das  mindest  gute  dauernde  Gedächtnis 
besaß,  die  größte  Leistung  im  unmittelbaren  Behalten  aufwies. 

Bei  den  gewöhnlichen  Gedächtnisversuchen  mit  sinnlosen  Silben 
wirkt  jedenfalls  das  unmittelbare  Behalten  in  einer  noch  wenig 
kontrollierten  Weise  mit.  Das  tritt  besonders  bei  der  T.-Methode 
hervor,  bei  der  nicht  selten  die  Partialreihen  sofort  nach  einmaliger 
Lesung  auf  Grund  des  unmittelbaren  Behaltens  reproduziert  werden, 
worauf  denn  die  Vp.  die  ganze  Reihe  erst  mit  mehrfachen  Wieder- 
holungen in  der  Weise  des  dauernden  Behaltens  einprägen  muß. 

Aus  allen  diesen  Überlegungen  ergibt  sich,  daß  die  Asso- 
ziierung von  Eindrücken  für  den  Moment  und  die  dauernde  Asso- 
ziation oder  Schaffung  andauernder  Übungsdispositionen  zwei  ver- 
schiedenartige psychophysische  Vorgänge  sind,  von  denen  jeder 
seine  eigentümlichen  Bedingungen  und  seine  individuell  verschie- 
dene Ausprägung  hat.  Für  das  momentane  Assoziieren  ist  der 
entscheidende  Faktor  Konzentration  der  Aufmerksamkeit 
unter  gleichzeitiger  Hemmung  aller  übrigen  Eindrücke  und  eine 
günstige  GefÜhlslage.  Für  das  dauernde  Behalten  ist  der  ent- 
scheidende Faktor  das  Wiederholen  der  gleichen  Tätigkeit 
unter  gleichen  inneren  und  äußeren  Bedingungen,  wo- 
bei die  Aufmerksamkeit  nur  eine  unter  den  mancherlei  inneren 
Bedingungen  darstellt. 

2)  Es  ergaben  sich  bei  unsern  Versuchen  auch  zahlreiche  inter- 
essante Beobachtungen  über  die  sogenannten  Lerntypen;  wir 
behalten  uns  jedoch  vor,  das  umfangreiche  Material,  das  wir  Uber 
diesen  Punkt  gesammelt  haben,  in  einer  besonderen  Abhandlung 
mitzuteilen. 

3)  Alles  dauernde  Behalten  erfordert  die  Mitwirkung  eines 


Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übangsphänomene  ubw.  207 

mechanischen  Momentes,  welches  in  der  Wiederholung  der  Ein- 
drücke oder  wiederholten  Einprägung  zu  suchen  ist  Selbst  das 
genaueste  logische  Verstehen  eines  sinnvollen  Stoffes  genügt  nicht, 
um  eine  wörtliche  Reproduktion  desselben  zu  ermöglichen.  Diese 
letztere  wird  nur  erreicht,  wenn  auch  das  sinnliche  Material  der 
Worte  durch  wiederholtes  Einprägen  zu  einer  dauernden,  spontaner 
Wiedererneuerung  zugänglichen  Übungsposition  geworden  ist. 

4)  Sinnvolle  Stoffe  werden  sehr  viel  leichter  behalten  als 
sinnlose  (Ebbinghaus). 

5)  Lustgefühle  fördern  die  Arbeit  des  Gedächtnisses  in  hohem 
Maße,  —  Unlustgefühle,  eine  wechselnde  Stimmungslage 
und  Ubermäßiger  Aufwand  von  motorischen  Spannungen 
hemmen  die  Arbeit  des  Gedächtnisses  sehr  stark. 

II.  Folgerungen  für  die  Frage  der  speziellen  und  allgemeinen  Ge- 
dächtnisübung : 

Die  Tatsache,  daß  eine  allgemeine  Vervollkommnung  (Übung) 
durch  fortgesetzte  spezielle  Übung  und  Vervollkommnung  einer 
bestimmten  Gedächtnisart  erreicht  wird,  kann  in  gewissem  Maße 
als  durch  unsere  Versuche  erwiesen  gelten,  —  vergleiche  in  der 
Zusammenfassung  der  Resultate  Nr.  7—9!  Wir  sehen,  daß  durch 
das  Lernen  sinnloser  Silben  eine  Vervollkommnung  so  verschieden- 
artiger Gedächtnisse  eintritt,  wie  z.  B.  des  unmittelbaren  Be- 
haltens  von  sehr  verschiedenen  Stoffen  und  des  dauernden  Behal- 
ten von  Reihen  optischer  Zeichen,  von  Gedichtstrophen  und 
philosophischer  Prosa.  Allein  ehe  wir  diese  Tatsache  zu  einer 
Erörterung  des  Wesens  der  allgemeinen  Gedächtnisübung  verwerten, 
müssen  wir  einigen  Bedenken  Rechnung  tragen,  welche  vielleicht 
gegen  die  Bedeutung  unseres  Hauptresultates  erhoben  werden 
könnten.  Einmal  könnte  man  vermuten,  daß  das  mechanische 
Lernen  sinnloser  Silben  nicht  eigentlich  die  Übung  eines  Spezial- 
gedächtnisses  vorstelle,  daß  dabei  vielmehr  ein  wesentliches  Moment 
alles  Lernens  durch  Übung  vervollkommnet  werde,  indem  bei 
allem  Lernen,  wie  wir  früher  besonders  betont  haben,  ein  mecha- 
nisches Moment  mitwirken  muß.  Man  könnte  daher  sagen,  daß 
wir  bei  unsern  Vp.  eine  allgemeine  elementare  GedächtnisbediDgung 
durch  Übung  vervollkommnet  haben,  —  daraus  lasse  sich  die 
scheinbare  Mitvervollkommnung  der  Spezialgedächtnisse  erklären. 

Es  ist  keine  Frage,  daß  unsere  Versuche  noch  nach  mehrfacher 


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208 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Richtung  hin  einer  Ergänzung  bedürfen,  wenn  unser  Hauptresultat 
seine  volle  Bedeutung  erlangen  soll.  Man  müßte  z.  B.  ein  reines 
Spezi algedächtnis  durch  Übung  vervollkommnen,  z.  B.  etwa  da? 
Gedächtnis  für  Farben  und  Töne,  und  nun  die  Wirkung  einer  solchen 
speziellen  Einübung  auf  das  allgemeine  Gedächtnis  der  Yp. 
prüfen;  ferner  hätte  der  Querschnitt,  den  wir  durch  das  Gedächt- 
nis der  beteiligten  Vp.  geführt  haben,  natürlich  noch  auf  eine 
größere  Anzahl  von  Spezialgedächtnissen  ausgedehnt  werden  können 
als  in  der  vorliegenden  Untersuchung  geschehen  ist.  Allein  man 
muß  beachten,  daß  die  Ausdehnung  der  Vorversuche,  welche  den 
Zweck  haben,  das  Anfangsstadium  des  Gedächtnisses  der  Yp.  fest- 
zustellen, eine  Grenze  hat,  deren  Innehalten  durch  den  Zweck  der 
Versuche  selbst  geboten  ist.  Je  weiter  man  nämlich  in  der  Prü- 
fung der  Spezialgedächtnisse  geht,  —  je  mehr  man  also  den  Quer- 
schnitt ausdehnt,  —  desto  mehr  Einübung  der  Vp.  fahrt  man  schon 
bei  den  Versuchen  herbei;  dadurch  kann  natürlich  der  Hauptzweck 
der  Versuche,  den  Effekt  einer  einseitigen  Übung  mit  dem  wirk- 
lichen Ausgangszustand  zu  vergleichen,  in  hohem  Maße  beeinträch- 
tigt werden. 

Wenn  man  ferner  annimmt,  daß  das  Lernen  sinnloser  Silben 
ein  wesentliches  Moment  alles  Lernens  enthalte,  so  kann  man  die 
gleiche  Behauptung  mit  etwas  anderer  Wendung  von  jeder  Art  der 
Gcdächtniseinübung  wiederholen ;  denn  selbst  mit  der  Einübung  des 
Farben-  oder  Tongedächtnisses  werden  natürlich  gewisse  Partial- 
funktionen  geübt,  die  bei  jeder  Gedächtnisleistung  wiederkehren. 
Man  setzt  bei  diesem  Einwände  voraus,  daß  es  wirklich  rein  iso- 
lierte Spezialgedächtnisse  gibt,  —  eine  Voraussetzung,  deren  Recht 
eben  erst  durch  Untersuchungen  nach  Art  der  vorliegenden  ge- 
prüft werden  muß. 

Für  die  theoretische  Deutung  unserer  Versuchsergebnisse  für 
das  Wesen  der  speziellen  und  allgemeinen  Gedächtnisübung  sind 
nun  folgende  Möglichkeiten  in  Erwägung  zu  ziehen: 

Wir  nehmen  an,  daß  die  Tatsache  der  Vervollkommnung  des 
allgemeinen  Gedächtnisses  durch  fortgesetztes  Lernen  sinnloser 
Silben  erwiesen  ist,  und  daß  sie  im  allgemeinen  so  aufgefaßt 
werden  muß,  daß  bei  unsern  Vp.  durch  sogenannte  spezielle 
Gedächtnisübung  eine  allgemeine  Gedächtnissteigerung  herbei- 
geführt wurde. 

DiescTatsache  kann  auf  sehr  verschiedene  Weise  gedeutet  werden: 


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Über  einige  Grandfragen  der  Psychologie  der  ÜbungsphSnomene  usw.  209 

a.  Man  könnte  annnehmen,  daß  dieße  Erscheinung  darauf  be- 
ruhe, daß  es  in  der  Tat  eine  allgemeine  Gedächt- 
nisfunktion gibt  —  ein  Allgemeingedächtnis  oder  Ge- 
dächtnisvermögen —  in  ähnlichem,  wenn  auch  nicht  gleichem 
Sinne,  in  welchem  die  Psychologie  des  18.  Jahrhunderts 
von  einem  Gedächtnisvermögen  sprach. 

Wenn  diese  Deutung  die  richtige  ist,  so  wird  man  sich 
eine  Vorstellung  darüber  zu  bilden  haben,  was  sich  nach  der 
Auffassung  unserer  gegenwärtigen  Psychologie  unter  einer 
solchen  allgemeinen  Gedächtnisfunktion,  einem  Allgemein- 
gedächtnis oder  Gedächtnisvermögen  eigentlich  denken  lasse. 

b.  Die  allgemeine  Gedächtnisübung  auf  Grund  der  Vervoll- 
kommnung eines  Spezialgedächtnisses  könnte  eine  Erschei- 
nung der  Mitübung  verwandter  Gedächtnisfunk- 
tionen sein  (Mittibung  verwandter  Spezialgedächtnisse). 

Wenn  diese  Deutung  unserer  Resultate  als  richtig  be- 
funden wird,  so  wird  man  zeigen  müssen,  wie  diese  Er- 
scheinung der  Mitübung  im  Bereiche  der  Gedächtnisfunktion 
psychophysisch  aufzufassen  ist,  und  wie  wir  uns  speziell  den 
Zusammenhang  der  einzelnen  Ubungsdispositionen  der  Spe- 
zialgedächtnisse zu  denken  haben. 

c.  Eine  weitere  mögliche  Deutung  unserer  Versuchsergebnisse 
ist  die,  daß  die  Tatsache  der  allgemeinen  Gedächtnisver- 
vollkommnung nur  eine  scheinbare  sei,  daß  sie  viel- 
mehr in  Wahrheit  beruhe  auf  der  Verbesserung 
und  Vervollkommnung  gewisser  anderweitiger  all- 
gemeiner psychischer  Funktionen,  die  bei  aller 
Gedächtnisarbeit  mitwirken,  z.  B.  auf  einer  Vervoll- 
kommnung der  Aufmerksamkeit  mit  allen  ihren  durch  die 
gegenwärtige  Psychologie  nachgewiesenen  Eigenschaften, 
oder  auf  dem  Ausgleich  der  Gefühlslage,  der  Herbeiführung 
von  gedächtnisfördernden  Lustgefühlen,  auf  der  Beseitigung 
hemmender  Unlustgefuhle  und  störender  Spannungen,  oder 
auf  stärkerer  Ausbildung  der  Willensmomente,  endlich  auf 
einem  Zusammenwirken  aller  dieser  bei  der  Gedächtnis- 
arbeit mitwirkenden  Faktoren.  (Durch  unsere  Versuche 
ist  das  tatsächliche  Vorhandensein  aller  dieser  Verände- 
rungen und  der  Veränderungen  der  gesamten  Haltung  der  Vp. 
als  Wirkung  der  fortschreitenden  Übung  erwiesen  worden.) 

Artki»  ttj  Psychologie.  IV.  14 

r 

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210 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


d.  Es  ist  noch  eine  letzte  Deutung  unserer  Resultate  möglich: 
Man  könnte  annehmen,  daß  die  Vp.  bei  fortschreitender 
Übung  gewisse  Kunstgriffe  und  technische  Mittel,  eine  eigent- 
liche Lerntechnik  erwerben  und  durch  zweckmäßige  und 
ökonomische  Verwendung  solcher  Kunstgriffe,  die  mehr  oder 
weniger  bei  allem  Lernen  in  Betracht  kommen,  den  schein- 
baren Fortschritt  der  allgemeinen  Gedächtnisrunktion  er- 
reichen. 

Eine  Entscheidung  betreffs  dieser  vier  möglichen  Deutungen 
werden  wir  in  möglichst  engem  Anschluß  an  die  Resultate  unserer 
Experimente  selbst  geben  müssen;  es  scheint  nun,  daß  ein  ganz 
spezielles  Ergebnis  unserer  Versuche  die  folgende  Deutung  not- 
wendig macht:  Die  Hauptursache  der  ganzen  Erscheinung  der 
von  uns  bewiesenen  allgemeinen  Steigerung  des  Gedächtnisses  beim 
fortgesetzten  Lernen  sinnloser  Silben  ist  die  Mitübung  verwandter 
Gedächtnisrunktionen.  Es  muß  aber  zugestanden  werden,  daß  auch 
die  unter  c  und  d  erwähnten  Punkte,  nämlich  die  Vervollkomm- 
nung anderweitiger  allgemeiner  psychischer  Funktionen  und  die 
Erwerbung  von  Kunstgriffen  und  technischen  Mitteln  als  Mit  Ur- 
sachen in  Betracht  kommen.  Es  würde  demnach  unter  den  oben- 
erwähnten vier  Deutungen  unserer  Versuchsergebnisse  die  unter 
b  erwähnte  Deutung  den  Kern  des  Phänomens  bezeichnen,  wäh- 
rend die  Deutungen  c  und  d  in  sekundärer  Weise  zu  berück- 
sichtigen sind.  Dasjenige  Versuohsergebnis,  welches  diese  Deutung 
nötig  macht,  ist  die  von  uns  oben  erwähnte  Erscheinung,  daß  die 
Vervollkommnung  der  übrigen,  nicht  geübten  Gedächtnisleistungen 
keine  gleichmäßige  und  allgemeine  ist,  sondern  daß  sie  sich  sicht- 
bar abstuft  nach  dem  Grade  der  Verwandtschaft  der  Gedächtnis- 
leistungen mit  dem  durch  die  einseitige  Übung  vervollkommneten 
mechanischen  Gedächtnis  für  sinnlose  Silben. 

Andererseits  nötigen  uns  die  Aussagen  unserer  Vp.  zu  einer 
weitgehenden  Berücksichtigung  der  unter  c  und  d  erwähnten 
Mitursachen  der  auf  andere  Gedächtnisse  übergreifenden  Vervoll- 
kommnung. Um  diese  letztere  Behauptung  zu  beglaubigen,  können 
wir  hier  auf  die  ausführliche  Mitteilung  der  Bekundungen  unserer 
Vp.  verweisen,  und  ganz  besonders  auf  die  kurze  Zusammenfassung 
derselben  unter  einige  Hauptpunkte  bei  Nr.  10,  a,  b  in  der  Zu- 
sammenfassung der  Resultate. 

Die  Erscheinung  der  Mitübung  verwandter  Gedächt- 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungephänomene  usw.  211 

nisfunktionen  steht  so  sehr  im  Mittelpunkt  unseres 
ganzen  Nachweises,  daß  wir  eben  deswegen  versucht 
haben,  sie  durch  ein  besonderes  Gesetz  zu  formulieren. 
Vergleiche  Punkt  8  der  Zusammenfassung  der  Resultate!  Es 
scheint  hiernach,  daß  wir  das  Recht  haben,  von  Verwandt- 
schaftsgraden der  einzelnen  Gedächtnisfunktionen  zu  sprechen, 
und  diese  Verwandtschaftsgrade  stellen  die  Hauptbedingung  dafür 
dar,  daß  eine  Gedächtnisart  oder  spezielle  Übungsdisposition  durch 
Übung  mitvervollkommnet  wird. 

m.  Theoretische  Folgerungen  für  das  Wesen  der  Übung  im  all- 
gemeinen und  den  psychologischen  Charakter  der  Übungsdispo- 
sitionen überhaupt. 

Unsere  Versuchsresultate  sind  von  besonderer  Ergiebigkeit  be- 
treffs der  Frage,  worin  das  Wesen  der  Übung  im  allgemeinen  und 
der  psychophysische  Charakter  der  Übungsdispositionen  bestehe: 
Wir  dürfen  wohl  voraussetzen,  daß  alles,  was  von  den  Übungs- 
dispositionen des  Gedächtnisses  (der  Vorstellungen)  erwiesen  wird, 
mit  einer  gewissen  Annäherung  auch  von  dem  Charakter  der 
psychophysischen  Übungsdispositionen  im  allgemeinen  gilt. 

Der  Begriff  des  Gedächtnisses  ist  ja  nicht  selten  anf  das  ganze 
Wesen  der  Übungsdisposition  überhaupt  ausgedehnt  worden,  so 
daß  z.  B.  Hering  und  Hensen  sogar  von  einem  Gedächtnis 
der  organischen  Materie  überhaupt  sprechen.  Diese  Aus- 
dehnung des  Gedächtnisbegriffs  ist  freilich  nicht  berechtigt.  Wir 
bezeichnen  unter  Gedächtnis  im  psychologischen  Sinne  nicht  bloß 
etwas  wie  die  allgemeine  Eigenschaft  der  organischen  Materie, 
daß  sie  Spuren  und  Nachwirkungen  von  einmal  oder  mehrfach  ge- 
leisteten Tätigkeiten  oder  erlebten  Eindrucken  auszubilden  ver- 
mag, auf  Grund  deren  die  spätere  Wiederholung  gleicher  oder 
ähnlicher  Eindrücke  oder  Tätigkeiten  leichter  vonstatten  geht,  — 
wir  rechnen  vielmehr  durchaus  zu  dem  psychologischen  Begriff 
des  Gedächtnisses  auch  die  Erscheinung  des  spontanen  Wieder- 
auflebens solcher  Spuren  (bei  der  Reproduktion  der  Vorstellungen). 
Üiese  letztere  ist  aber  keineswegs  eine  allgemeine  Eigenschaft  der 
organischen  Materie;  dagegen  rechtfertigt  sich  die  Gleichsetzung 
von  Gedächtnis-  und  Übungsdisposition  überhaupt,  wenn  man 
sie  zugleich  auf  die  Ubnngsdisposition  der  vorstellenden  Tätigkeit 
beschränkt. 

14* 

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212 


Emst  Ebert  und  E.  Meumann, 


Es  wird  am  zweckmäßigsten  sein,  wenn  wir  auch  hier  wieder 
die  Hauptpunkte,  welche  sich  aas  unserer  Untersuchung  für  das 
Wesen  des  Übungsphänomens  ergeben  haben,  nach  fortschreitenden 
Nummern  zusammenfassen : 

1)  Bei  aller  Einübung  von  psychischen  Fähigkeiten  herrscht 
das  ökonomische  Gesetz,  daß  das  Bewußtsein  anfangs  durchaus 
nicht  in  der  einfachsten  Weise  verfahrt,  sondern  in  den  Anfangs- 
stadien der  Einübung  sogar  stets  mit  einem  gewissen  Aufwand 
an  Nebenvorgängeu  arbeitet,  die  später  als  überflüssige  und 
direkt  die  Erreichung  des  Zweckes  schädigende  ausgeschaltet 
werden.  Das  Bewußtsein  gleicht  beim  Beginn  einer  relativ  un- 
gewohnten Arbeit  einem  ratlosen  Feldherrn,  welcher  alle  mög- 
lichen Hilfstruppen  aufbietet,  die  sich  später  als  überflüssig  er- 
weisen. Wir  sehen  daher,  daß  unsere  sämtlichen  Vp.  beim  Beginn 
des  Lernens  mit  einer  großen  Menge  von  begleitenden  psychischen 
und  physischen  Tätigkeiten  arbeiten,  welche  mit  fortschreitender 
Übung  zum  Teil  vollständig  in  Wegfall  kommen  oder  wenigstens 
sehr  eingeschränkt  werden  und  ihre  Bedeutung  für  den  Zweck  des 
Lernens  verlieren,  —  siehe  hierzu  Punkt  10 A  in  der  vorange- 
gangenen Zusammenfassung  der  Resultate! 

2)  Mit  fortschreitender  Übung  beschränkt  sich  die  psychophy- 
sische  Tätigkeit  zur  Erreichung  eines  bestimmten  Zweckes  immer 
mehr  auf  die  am  unmittelbarsten  zum  Ziele  führende  Tätigkeit  und 
vermeidet  alle  sekundären  Hilfen,  —  vgl.  S.  202  und  204. 

Diese  Ausschaltung  überflüssiger  Begleitvorgänge  einer  Tätig- 
keit ist  zum  Teil  eine  Folge  der  fortschreitenden  Automatisierung 
und  Mechanisierung  jeder  längere  Zeit  fortgesetzten  Tätigkeit.  Die 
bei  fortschreitender  Übung  auszuschaltenden  sekundären  Hilfen  sind 
speziell  für  die  Gedächtnistätigkeit  die  folgenden:  Motorische 
Spannungen,  sekundäre  Assoziationen,  mnemotechnische  Kunst- 
griffe u.  a.  m.  Die  Ausschaltung  der  hier  von  uns  kurz  als 
überflüssig  bezeichneten  Vorgänge  ist  aber  nicht  so  aufzu- 
fassen, als  wenn  die  Vp.  im  Anfangsstadium  der  Übung  jene 
Hilfen  entbehren  könnten  und  als  wenn  sie  auch  ohne  jene  Hilfen 
in  der  Form,  in  welcher  später  nach  erreichter  Übung  gelernt  wird, 
ihr  Ziel  schneller  erreichen  würden.  Vielmehr  sind  alle  diese 
sekundären  Hilfen  notwendige  Begleiterscheinungen  des  Anfangs- 
stadiums, und  jeder  Versuch,  sich  sofort  aller  solcher  Hilfen  zu 
entschlagen,  führt  einen  größeren  Aufwand  an  Wiederholungen 


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Über  einige  Grandfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  213 

herbei.  —  Die  Vereinfachung  der  Lernweise,  welche  mit 
fortschreitender  Übung  eintritt,  setzt  also  ein  gutes  Funk- 
tionieren der  ÜbungsdiBpositionen  voraus.  Solange  diese 
Dispositionen  noch  nicht  ausgebildet,  befestigt  oder  »gebahnt«  sind, 
ist  die  Mitwirkung  der  erwähnten  sekundären  Hilfen  nötig. 

3)  Alle  Übung  durchläuft  —  wie  schon  früher  wiederholt  ge- 
zeigt worden  ist  —  eine  Anzahl  Stadien,  innerhalb  welcher  die 
einzuübende  Tätigkeit  sich  qualitativ,  d.  h.  in  ihrer  ganzen 
Zusammensetzung  aus  Partialvorgängen,  verändert.  Alle  Ein- 
übung fuhrt  daher  eine  qualitative  Veränderung  der  eingeübten 
Tätigkeit  herbei.  Diese  qualitative  Veränderung  hat  stets  die  Ten- 
denz einer  Vereinfachung  der  Tätigkeit  in  dem  Sinne,  daß  das 
Ziel  der  Tätigkeit  nur  noch  mit  Aufwendung  der  unbedingt  not- 
wendigen Mittel  erreicht  wird. 

Wir  sehen  daher  in  unsern  Versuchen,  daß  die  Vp.  sich  immer 
mehr  in  ihren  Lernmitteln  beschränken  und  zuletzt  nur  noch  ge- 
wisse Hauptmittel,  die  individuell  verschieden  sind,  ver- 
wenden. 

Bei  der  Lerntätigkeit  wird  speziell  durch  fortschreitende  Übung 
alles  das  begünstigt,  was  dem  Lernen  einen  mechanischen  Charak- 
ter gibt  —  z.  B.  der  Rhythmus  und  die  Verwendung  der  sinn- 
lichen Mittel,  die  dem  individuellen  Vorstellungstypus  am  meisten 
entsprechen  — ,  und  bei  sinnvollen  Stoffen  besteht  der  Fort- 
schritt durch  Übung  hauptsächlich  darin,  daß  eine  rechte  Zn- 
sammenstimmung zwischen  den  sinnlichen  und  den  logischen 
Mitteln  erreicht  wird.  Als  logische  Mittel  bleiben  zuletzt  nur 
noch  die  Hauptpunkte  des  Gedankengangs  Übrig,  und  für  die 
ganze  Summe  derjenigen  Worte,  welche  durch  den  Gedanken- 
zusammenhang nicht  eindeutig  genug  bestimmt  sind,  tritt  das 
mechanische  Einprägen  des  akustisch-motorischen  und  optischen 
Wortmaterials  ein.  So  wäre  im  gewissen  Sinne  das  geübte  Lernen 
sinnvoller  Stoffe  sinnvoller  und  mechanischer  zugleich. 

4)  Es  liegt  nahe,  aus  diesen  Beobachtungen  einige  Rückschlüsse 
zu  machen  auf  das  Wesen  der  Ausbildung  von  psychophysischen 
Übungsdispositionen.  Im  Anfangsstadium  der  Einübung  irgendeiner 
Tätigkeit  benutzt  das  Bewußtsein  zahlreiche  von  früher  her  ge- 
läufige und  gewohnte  Hilfstätigkeiten  (Hilfsbahnen),  denen  es 
gemeinsam  ist,  daß  sie  nicht  direkt  zum  Ziele  fuhren,  sondern 
mehr  als  Begleit-  und  Nebenvorgänge  erscheinen;  das  Bewußtsein 


214 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


eilt  gewissermaßen  mit  einer  überflüssigen  Zersplitterung  seiner 
Kräfte  auf  vielen  Wegen  dem  zn  erreichenden  Ziele  zu,  welche 
zum  größten  Teile  den  Charakter  von  Umwegen  haben. 

Aus  diesen  bildet  sich  allmählich  bei  fortschreitender  Übung 
die  einfachere  und  direktere  Bahn,  oder  es  wird  durch  Ausschal- 
tung Überflüssiger  Hilfstätigkeiten  und  Begleitvorgänge  eine  Kette 
einfacher,  direkter  zum  Ziele  führender  Tätigkeiten  hergestellt. 
Der  Übungsfortschritt  besteht  also  darin,  daß  aus  Elementen  von 
früher  her  geläufiger  Tätigkeiten  —  z.  B.  in  unserem  Fall  aus 
dem  RhythmuB,  den  optisch- akustischen  Wortelementen,  den 
logischen  »Stützpfeilern«  usw.  —  eine  neue,  dem  speziellen  Ziele 
vollkommen  angepaßte  Kette  von  Tätigkeiten  hergestellt  wird,  die 
in  dieser  Kombination  der  verwendeten  Partialvorgänge  bisher 
noch  nicht  vorhanden  war.  Wendet  man  dieBe  Betrachtung  auf  die 
Assoziationsvorgänge  als  solche  an,  so  liegt  die  Hypothese  nahe, 
daß  alle  psyohophysische  Bahnung  anfangs  eine  Benutzung 
älterer  Bahnen  ist,  ans  denen  durch  Ausschaltung  unzweckmäßiger 
Bahnelemente  und  durch  eine  immer  unmittelbarere  Aneinander- 
schaltung  der  direkt  zum  Ziele  rührenden  Bahnteile  eine  neue 
Bahn  gebildet  wird,  und  hierdurch  entsteht  nun  der  eigentliche 
Ubungsweg,  der  Weg  der  Fertigkeit  oder  der  vervollkommneten 
und  vereinfachten  Tätigkeit  oder  der  Weg  der  direkten  Asso- 
ziation. Die  von  J.  v.  Kries  mit  Recht  betonte  Schwierig- 
keit, sich  die  erstmalige  Bildung  einer  Übnngs-  oder  Asso- 
ziationsbahn physiologisch  vorzustellen,  dürfte  damit  zum  Teil 
gehoben  sein Für  das  entwickelte  Seelenleben  wäre  dann  die 
Bildung  neuer  Assoziationsbahnen  wahrscheinlich  eine  Umbildung 
schon  bestehender  Bahnen,  die  in  der  soeben  angedeuteten  Weise 
vor  sich  geht  Für  die  Bildung  der  ersten  Bahnen  im  kindlichen 
Gehirn  wird  man  nur  auf  vererbte,  dispositionell  vorliegende 
Bahnen  zurückgreifen  können. 

5)  Die  oben  unter  »4«  beschriebenen  Vorgänge  machen  zum 
Teil  das  Wesen  der  sogenannten  Mechanisierung  aus,  welche  in 
der  Regel  als  ein  notwendiger  Effekt  aller  längere  Zeit  fortgesetz- 
ten Einübung  angesehen  wird.  Diese  Mechanisierung  des  Lernens 
tritt  bei  unsern  sämtlichen  Vp.  in  markanter  Weise  hervor,  sie 


1)  Vgl.  J.  v.  Kries,  Über  die  materiellen  Grundlagen  der  Bewußtseins- 
erscheinungen.   Tübingen  (Mohr)  1901. 


Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  215 

ist  beim  Lernen  keine  eigentliche  Automatisierung,  weil  diese  die 
Ausschaltung  der  Aufmerksamkeit  voraussetzt,  während  bei  aller 
Gedächtnisarbeit  natürlich  eine  lebhafte  Mitwirkung  der  Auf- 
merksamkeit dauernde  Bedingung  der  Aneignung  bleibt.  Aber 
sie  ist  sehr  wohl  eine  Mechanisierung,  wie  sich  darin  zeigt,  daß 
die  mechanischen  Elemente  des  Lernens  allmählich  immer  größere 
Bedeutung  gewinnen,  selbst  bei  Einprägung  sinnvoller  Stoffe. 

6)  Der  zentrale  Vorgang  der  Übung  ist  als  ein  Willensphäno- 
men anzusehen,  vgl.  hierzu  S.  203.  Man  beobachtet  bei  psycho- 
physischen  Versuchen  sehr  häufig,  daß  die  bloße  Wiederholung 
einer  Tätigkeit  als  solche  durchaus  nicht  notwendig  eine 
Vervollkommnung  jener  Tätigkeit  herbeiführt;  vielmehr  kann 
man  sagen,  daß,  wenn  der  Wille  zur  Vervollkommnung  bei  der 
Vp.  fehlt,  sich  selbst  durch  sehr  lange  fortgesetzte  Wiederholung 
der  gleichen  Tätigkeit  keine  Veränderung  derselben  bewirken 
läßt1).  Es  ist  daher  der  Wille  oder  der  Entschluß,  eine 
Vervollkommnung  zu  erreichen,  ein  absolut  notwendiges 
Element  des  Übungsfortschritts.  In  welcher  Weise  der 
Wille  bei  der  Übung  mitwirkt,  haben  wir  in  Nr.  10a  (Schluß)  der 
Zusammenfassung  der  Resultate  ausgeführt.  Es  sei  hier  nur  noch 
darauf  hingewiesen,  daß  mit  dem  Fortschritt  der  Übung  der  Wille 
zur  Vervollkommnung  einer  Tätigkeit  von  selbst  immer  leb- 
hafter wird,  und  daß  die  Willensfunktion  dabei  als  diejenige  er- 
scheint, welche  alle  zur  Erreichung  des  Zweckes  der  Tätigkeit 
notwendigen  Hilfsvorgänge  oder  Partialvorgänge  dem  einen  Zwecke 
dienstbar  macht.  Auch  bei  den  einzelnen  Vp.  ließ  sich  beobachten, 
daß  die  besonders  eifrig  auf  die  Vervollkommnung  ihres  Gedächt- 
nisses bedachten  Individuen  schnellere  Übungsfortschritte  machten 
und  auch  absolut  größere  Fertigkeit  erreichten. 

7)  Der  Fortschritt  der  Übung  erzeugt  sich  selbst  die  für 
die  Ausführung  einer  Tätigkeit  günstige  Stimmungslage:  das  Vor- 
herrschen der  Lustgefühle  am  leichteren  Gelingen,  wobei  als  in- 
tellektuelle Momente  mitwirken  das  Bewußtsein  der  Sicherheit  und 
der  Herrschaft  über  die  betreffende  Tätigkeit,  das  Voraussehen  des 
Erfolges,  die  Überzeugung  von  der  Geringfügigkeit  der  früher  be- 
fürchteten Schwierigkeiten  usw. 


1}  Vgl.  zu  dieser  Frage:  Meumann,  Über  Ökonomie  und  Technik  dea 
Lernen«.  Leipzig,  Klinkhardt,  1903.   S.  100  ff. 


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216 


Emst  Ebert  und  E.  Meunianii. 


Die  Übung  erzeugt  ferner  ein  Interesse  an  der  formalen 
Tätigkeit  selbst,  ganz  abgesehen  von  ihrem  Gegenstande;  da- 
bei findet  meist  eine  Gefühlsübertragung  statt  Das  Lust- 
gefühl überträgt  sich  von  der  Tätigkeit  auf  ihren  Inhalt,  und  dieser 
wird  selbst  lustvoller  und  kann  sogar  zu  einer  selbständigen  Quelle 
für  die  angenehme  Stimmungslage  werden.  Dieser  ganze  Vor- 
gang trägt  sehr  wesentlich  mit  zur  Befestigung  der  Übungs- 
dispositionen bei. 

Man  hat  die  Gefühle  wohl  als  Indikatoren  vermehrter  psycho- 
physischer  Energie  angesehen.  Vielleicht  ist  es  diese  Vermehrung 
der  psychophysischen  Energie  und  die  durch  das  Gefühl  bewirkte 
Steigerung  der  psychophysischen  Erregbarkeit,  welche  die  Be- 
festigung der  Übungsdispositiouen  herbeiführt. 

Die  Stimmungslage  der  Vp.  wird  übrigens  von  einzelnen  Teil- 
nehmern an  unsern  Versuchen  als  »Empfindungslage«  beschrieben, 
indem  sie  auf  eine  charakteristische  Veränderung  ihrer  Organ- 
empfindungen  beim  Fortschritt  der  Übung  hinweisen. 

8)  Als  das  eigentliche  Mittel  für  die  Erwerbung  und  Befestigung 
von  Übungsdispositionen,  die  später  wieder  aufleben  können,  ist 
nach  unsern  Versuchen  anzusehen: 

a.  die  Steigerung  der  psychophysischen  Erregbarkeit  bei  der 
erstmaligen  oder  wiederholten  Tätigkeit  selbst, 

b.  die  Summe  der  zeitlichen  Faktoren:  die  Dauer  des  Vor- 
gangs (je  länger  er  dauert,  desto  festere  Dispositionen 
bilden  sich)  und  die  Wiederholung  (je  öfter  er  wiederholt 
wird,  desto  fester  wird  die  Dispositon). 

Dabei  ist  der  Faktor  a  wieder  als  ein  zusammengesetzter  zu 
denken,  in  dem  zur  Steigerung  der  psychophysischen  Erregbarkeit 
zusammenwirken  die  Intensität  der  Konzentration  der 
Aufmerksamkeit,  die  Lustgefühle  und  die  motorischen 
Spannungen.  Dagegen  wirken  hindernd  Unlustge fühle  und 
jedes  Übermaß  motorischer  Spannungen;  die  ersteren  viel- 
leicht darum,  weil  sie  die  psychophysische  Erregbarkeit  herab- 
setzen, —  die  letzteren,  weil  sie  eine  Störung  und  Inkoordination 
der  psychophysischen  Tätigkeiten  herbeiführen. 

9)  Die  Vervollkommnung  psychophysischer  Tätigkeiten  durch 
Übung  scheint  durch  eine  allzu  große  Häufung  der  Wiederholungen 
der  gleichen  Tätigkeit  gestört  zu  werden ;  aus  den  Versuchen  geht 
speziell  hervor,  daß  eine  Anhäufung  ähnlicher  Bewußtseinsinhalte 


Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  ÜbungephEnomene  ubw.  217 

und  das  fortgesetzte  Üben  des  Gedächtnisses  an  gleichen  oder 
ähnlichen  Bewußtseinsinhalten  den  Fortschritt  der  Übung  aufhält 
So  ist  es  zu  erklären,  daß  eine  Pause  in  der  Einübung  oft  förder- 
licher werden  kann  als  die  kontinuierliche  Fortsetzung  der  Übung, 
—  s.  S.  193  und  195.  Die  fördernde  Wirkung  dieser  Pausen  bedarf 
noch  einer  besonderen  Erklärung.    Es  wirken  dabei  zusammen: 

a.  Der  Umstand,  daß  das  Bewußtsein  freier  wird  von  hinder- 
lichen ähnlichen  Inhalten,  die  sich  eben  wegen  ihrer  Ähnlich- 
keit gegenseitig  hemmen. 

b.  Wahrscheinlich  ferner  eine  latente  Fortbildung  der  in  den 
Zentren  gesetzten  Dispositionen  oder  der  physischen  Ver- 
änderungen, auf  welchen  diese  beruhen.  Zu  dieser  An- 
nahme nötigt  uns  die  bekannte  Tatsache,  daß  auch  bei  rein 
motorischen  Übungen  eine  ähnliche  günstige  Wirkung  der 
Pausen  beobachtet  wird. 

c.  Die  Zentren  haben  Gelegenheit,  sich  auszuruhen;  wahrschein- 
lich tritt  durch  kontinuierliche  einseitige  Weiter- 
übung eine  Ermüdung  oder  Erschlaffung  der  geübten 
Zentren  ein,  die  durch  die  Erholung  und  Abwechslung 
während  der  Pausen  wieder  gehoben  wird. 

In  einer  besonderen  Reihe  von  Ergänzungsversuchen, 
deren  Resultate  in  den  Tabellen  Lm  bis  LV  genau  verzeichnet 
sind,  gingen  wir  zum  Schluß  der  Sonderfrage  nach,  in  welcher 
Weise  wohl  die  Aufmerksamkeit  sich  verhalte,  bis  sie  zur  Er- 
lernung von  Reihen  sinnloser  Silben  führe.  Es  wurden  hierfür 
20  weitere  Normalsilbenreihen  bestimmt,  je  fünf  nach  der  6.-  und 
T.-,  bzw.  I.  V.-  und  LI.  V.-Methode.  Als  Vp.  beteiligten  sich  zwei 
mit  dem  Verfahren  vertraute  Herren,  nämlich  Herr  Prof.  M.  und 
Herr  B.,  —  daneben  eine  Vp.,  der  die  ganze  Art  der  Gedächtnis- 
versuche neu  war,  Herr  stud.  theol.  Z.  Das  besondere  Verfahren 
dabei  lag  darin,  daß  nach  je  zwei  Lesungen  der  Reihen,  bzw. 
einer  Lesung  bei  den  separierten  Hälften  der  T.-Reihen,  das  bisher 
Behaltene  vollständig  aufgesagt  werden  mußte.  Dieses  unterbrechende 
Verfahren  wurde  so  lange  fortgesetzt,  bis  die  Reproduktion  der  ganzen 
Reihe  einmal  fehlerlos  gelang. 

Es  zeigte  sich  zunächst  in  interessanter  Weise  in  völliger  Un- 
zweideutigkeit  die  Tatsache,  daß  die  Aufmerksamkeit  nie  zu  einer 
Einprägung  der  Eindrücke  in  ihrer  gegebenen  Reihenfolge  führt, 


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218 


Ernst  Ebert  and  E.  Meumann, 


LIII.  Versuchsreihe: 
Prüfung  des  Funktionierens  der  Aufmerksamkeit  an  je  fünf  G.-Reihen. 


Tabelle  LIII. 


Vp. :  Herr  B. 


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Über  einige  Grandfragen  der  Psychologie  der  Übungephänomene  naw.  219 


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220 


Emst  Ebert  und  E.  Heumann, 


LTV.  Versuchsreihe: 
Prüfung  des  Funktioniere!»  der  Aufmerksamkeit  an  je  fünf  T.-Reihen. 


Tabelle  LVI. 


Vp.:  Herr  B. 


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222 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


LV.  Versuchsreihe: 
Prüfung  des  Funktionieren s  der  Aufmerksamkeit  an  je  fünf  I.  V.«Reihen. 


Tabelle  LIX. 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungaphünomene  usw.  223 


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Etwas  Ennuduag  vom  Ketsch  olne*  Museums. 


224 


EniBt  Ebert  und  E.  Meumann, 


LVI.  Versuchsreihe: 
Prüfung  des  Funktionieren  der  Aufmerksamkeit  an  je  fünf  II.  V.- Reihen. 


Tabelle  LXIL 


Vp.:  Herr  B. 


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über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungspbänomene  usw.  225 


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Tabelle  LXIV. 


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226 


Ernst  Ebert  and  E.  Meumann, 


daß  sie  vielmehr  verfährt  wie  ein  Brückenbaumeister,  der  von 
beiden  zu  verbindenden  Punkten  aus  nach  der  Mitte  hin  arbeitet 
und  dort  den  Schlußstein  einfügt;  die  Schließung  der  Assoziation 
tritt  daher  nie  bei  den  beiden  ersten  oder  letzten  Silben  der 
Reihe  ein.  Dies  zeigte  sich  recht  deutlich  selbst  noch  beim 
abschließenden  Aufsagen,  z.  B.  ist  aus  den  Tabellen  erkenntlich, 
daß  Herr  B.  die  Erlernung  der  fünf  G.-Reihen  viermal  mit  der 
VIII.  Silbe  schloß,  —  vorher  hatte  er  sich  »nicht  gleich«  darauf 
besinnen  können,  einmal  schloß  er  mit  der  VI.  Silbe,  —  oder,  um 
noch  ein  Beispiel  anzuführen,  Herr  Z.  schloß  zwei  von  den  fünf 
II.  V.-Reihen  mit  SUbe  VU,  eine  mit  Silbe  Vm  usf.  Dabei  ist 
fttr  das  Verhalten  der  Aufmerksamkeit  besonders  interessant,  daß 
sich  bei  den  T.-  und  I.  V.-Reihen  während  ihres  brückenbogen- 
artigen  Aufbaues  im  Gedächtnis  naturgemäß  und  regelmäßig  ein 
»Stützpfeiler«  in  der  Mitte  bildet,  indem  sich  die  Silben  V  bis  VIQ 
hier  zeitig  einstellen,  —  bei  den  IL  V.-Reihen  bilden  sich  dem- 
entsprechend konstant  zwei  solcher  stützender  Pfeiler,  gleichfalls 
dort,  wo  die  Pausen  die  Aufmerksamkeit  sich  neu  konzentrieren 
ließen.  Ein  Blick  auf  die  Tabelle  der  hierher  gehörigen  Versuche 
mit  den  fünf  G.-Reihen  zeigt  überdies,  daß  besonders  auffällige, 
weil  etwas  Sinn  bergende  oder  Wortcharakter  tragende  Silben 
ebenfalls  die  Konzentration  der  Aufmerksamkeit  auf  sich  lenken 
und  Mittelpfeiler  im  allmählichen  Aufbau  der  Reihe  bilden,  die 
zum  schnelleren  und  sichereren  Erlernen  verhelfen;  so  sehen  wir  bei 
Herrn  Z.  in  der  m.  G.-Reihe  die  VI.  Silbe  eine  Mittelstütze  bilden, 
—  sie  hieß  »seim«  und  wurde  von  der  Vp.  gedeutet  mit  dem  ver- 
alteten, selten  gehörten  Wort  »Seim«,  d.  i.  »gereinigter  Saft«,  etwa 
vom  Honig,  —  in  genau  derselben  Reihe  bildete  Bich  für  Herrn 
Prof.  M.  ein  mittlerer  Stützpunkt  in  den  Silben  »keur — lieh«,  an- 
klingend an  »säuerlich«,  —  in  der  V.  G.-Reihe  erkennen  wir 
gleichfalls  eine  Pfeilerbildung  bei  Herrn  B.,  der  die  Silben  »ris — 
feil«  ebenfalls  als  eine  Art  Wortbildung  ansieht.  Die  Tabellen 
zeigen  außerdem  eine  Anzahl  nicht  uninteressanter  Einzelfälle,  wie 
sich  die  oder  jene  einzelne  Silbe  aufbaute;  wir  sehen,  daß  der 
Vokal  sich  meist  zuerst  einstellt,  vermutlich,  weil  auf  ihm,  der 
allein  mehr  oder  weniger  langzuziehen  ist,  die  Aufmerksamkeit 
wesentlich  länger  haften  kann.  (Versuchsleiter  bedauert,  nicht  in 
der  Lage  gewesen  zu  sein,  durch  chronometrische  Messungen  dar- 
tun zu  können,  daß  vokalische  Laute  bei  weitem  mehr  Bruchteile 


Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  227 


einer  Sekunde  zum  Aussprechen  erfordern  als  konsonantische.) 
Das  interessanteste  Beispiel  für  das  Sichvordrängen  vokalischer 
Sprachelemente  läßt  die  Tabelle  der  G. -Reihen  bei  Herrn  Prof.  M. 
(Reihe  41)  erkennen  (Tabelle  LIV).    Nach  der  2.  Lesung  ist  sich 
Herr  Prof.  M.  dessen  vollständig  bewußt,  daß  die  dritte  Silbe  ein 
>aa«  hat,  die  3.  und  4.  Lesung  ändert  daran  nichts;  nach  der 
6.  Lesung  hat  sich  der  Schlußkonsonant  »k«  eingestellt,  aber  erst 
nach  der  8.  Lesung  vervollständigt  sich  die  Vorstellung  des  Ein- 
drucks durch  Mitreproduktion  des  Anfangskonsonanten  »r«.  — 
Merkwürdig  sind  noch   außer  den  Verdrehungen  oder  besser 
Umsetzungen  der  Konsonanten,  wie  wir  eine  bei  Herrn  Z.  finden, 
2.  II.  V.-Reihe,  Silbe  VT1,  »leim«  für  »meil«,  die  Verschmelzungen 
zweier  Silben  zu  einer  Silbe,  welche  unverkennbar  ihre  Entstehung 
in  ihrer  Form  anzeigt,  —  so  verschmolzen  bei  Herrn  B.  die  X.  und 
XI.  Silbe  der  1.  E.  V.-Reihe  »raf—  nep«  zu  »fap«,  bei  Herrn  Z 
die  IX.  und  X.  Silbe  der  3. 1.  V.-Reihe  »ket— bauz«  zu  »kauz«  usw., 
—  Erscheinungen,  welche  anscheinend  auch  für  Philologen  inter- 
essant sein  dürften,  da  sie  zeigen,  wie  verhältnismäßig  leicht  Wort- 
verkttrzungen,  bzw.  -Verstümmlungen  eintreten  können.  —  An 
unserem  Urteil  über  die  vier  verwendeten  Lernmethoden  etwas  zu 
ändern,  bieten  diese  Spezialversuche  keinen  Anlaß.  Sehr  bezeich- 
nender Weise  kam  es  nur  bei  der  II.  V.-Methode  vor,  daß  die 
gewünschte  Assoziationsfolge  bereits  nach  der  2.  Lesung  nahe- 
zu einwandfrei  vorhanden  war  (vgl.  die  3.  Reihe  bei  Hern  B., 
wo  nur  die  X.  Silbe  etwas  zögernd  reproduziert  wurde,  weshalb  das 
Lernen  weiter  ging).  Daß  wir  speziell  die  T.-Reihe  nicht  zu  pessi- 
mistisch beurteilen  dürfen,  zeigen  außer  unBern  früheren  Erfahrungen 
die  diesmaligen  Zahlen  speziell  bei  Herrn  B.,  wenngleich  das  Proto- 
koll auch  ergibt,  daß  beide  jüngere  Vp.  während  der  Versuche  mit 
den  beiden  Vermittelungsmethoden  nicht  gut  disponiert  waren. 

Die  Versuche  zeigen  endlich  auch  das  Maß  der  Schnelligkeit 
der  Einstellung  auf  eine  sich  in  der  Hauptsache  gleichbleibende 
Betätigung  an,  —  am  drastischsten  bei  den  beiden  ersten  Methoden, 
mit  welchen  bei  jeder  Vp.  begonnen  wurde;  die  Tabelle  der 
Versuche  mit  G. -Reihen  zeigt  z.  B.,  daß  Herr  Prof.  M.  anfänglich 
mit  9,  später  mit  7  Lesungen  lernte,  Herr  Z.  erst  mit  10,  kurz 
darauf  mit  6  Lesungen,  Herr  B.  mit  erst  8,  zuletzt  mit  4  Lesungen. 

Bezüglich  der  individuellen  Lerntypen,  deren  Verhalten 
wir  bei  unserer  Beobachtung  des  Übungsphänomens  zwar  nicht  in 

15* 


228 


Ernst  Ebert  und  E.  Meomann, 


erster  Linie  ins  Auge  fassen  konnten,  die  sieb  ans  aber  doch  nebenbei 
in  mitunter  recht  charakteristischer  Weise  offenbarten,  ist  zunächst 
im  allgemeinen  zu  sagen,  daß  sich  im  großen  und  ganzen  die 
schon  während  der  ersten  Versuche  konstatierte  Eigenart  der  Vp. 
bis  zum  Schlüsse  der  Untersuchung  in  durchaus  ähnlichen  Formen 
als  für  sie  habituell  erwies,  —  die  Seite  20  aufgestellte  Gruppie- 
rung der  sechs  Vp.  braucht  also  nach  der  Überzeugung  des  Ver- 
suchsleiters  nicht  geändert  zu  werden.  Betreffs  des  Herrn  Prof.  M. 
ist  allerdings  auf  Grund  verschiedentlicher  Protokollnotizen  zu 
sagen,  daß  diese  Vp.  in  oft  erstaunlicher  Weise  ihre  Lernmittel 
wechselt,  doch  wiegt  bei  ihr  das  akustische  Element  im  letzten 
Grunde  zweifellos  mehr  vor  als  bei  Herrn  F.  Interessant  ist  es, 
aus  zahlreichen  spontanen  Kundgebungen  der  drei  jüngeren  Vp.  zu 
ersehen,  daß  sie  meinen,  je  länger,  je  mehr  gewissermaßen 
alle  Lernmittel  gleichmäßig  zu  gebrauchen,  also  nicht  ein- 
seitig akustisch,  visuell,  motorisch  tätig  zu  sein,  —  siehe  hierzu  die 
verschiedenen  Protokollnotizen  etwa  der  letzten  20  Versuchsreihen ! 

Dennoch  machten  sich  bis  zuletzt  in  einer  Reihe  von  Punkten 
nicht  unbedeutende  typische  Unterschiede  in  dem  Verhalten  der 
Vp.  geltend.  Zu  dem  Auffälligsten  gehörte  zunächst  beim  jeweiligen 
Aufsagen  des  Behaltenen  die  verschiedene  Länge  der  so- 
genannten Verarbeitungszeit.  Die  vorn  bezeichneten  drei  Vi- 
suellen begannen  ohne  Zögern  sofort  nach  Aufnahme  des  letzten 
Eindruckes  zu  reproduzieren,  als  läsen  sie  irgendwoher  ab,  —  die 
Akustiker  saßen  allermeist  nach  Abschluß  der  Stoffdarbietung 
einige  Sekunden  da,  um  sich  auf  die  Klangbilder  des  »Anfanges« 
schweigend  konzentrieren  zu  können.  Die  visuell  veranlagten  Vp., 
voran  Herr  Br.,  betonen  immer  wieder,  wie  wichtig  es  für  sie  ist, 
daß  sie  alles  zu  Perzipierende  sobald  als  möglich  in  ein  »anschau- 
liches« Bild  Ubertragen,  —  ist  dies  gelungen,  so  reproduzieren  sie 
den  Stoff  beim  unmittelbaren  wie  beim  dauernden  Behalten  gleicher- 
weise sicher  vor-  oder  rückwärts;  ist  ihrem  Gedächtnis  etwas 
für  Augenblicke  entfallen,  so  besinnen  sie  sich  durch  möglichst 
lebhaftes  Vergegenwärtigen  der  Gesichtseindrucke.  Wie  lange  und 
vollständig  sich  die  vorwiegend  visuell  veranlagten  Vp.  übrigens 
besinnen  konnten,  zeigte  der  im  Anschluß  an  die  XLVHI.  Versuchs- 
reihe unternommene  und  dort  in  der  Tabelle  detaillierte  Ergänzungs- 
versuch. Doch  unterschätzen  die  vorwiegend  visuell  veranlagten 
Vp.  den  Wert  der  akustischen  Eindrücke  nicht,  —  vor  allem 


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Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übungsphänomene  usw.  229 

gehätzen  8ie  aber  die  motorischen  Hilfsmittel:  sie  alle  sprechen 
tunlichst  mit,  —  Herr  Br.  muß  vor  allem  in  die  Luft  mitzeichnen 
oder  mitschreiben,  wo  ihm  kein  Gesichtseindruck  geboten  wird,  — - 
Herr  B.  durchmißt  das  Lokal  mit  lebhaften  Bewegungen,  wo  dies 
beim  Einprägen  nur  irgendwie  angeht,  —  Herr  F.,  jener  Akustiker, 
der  den  Visuellen  wohl  am  nächsten  steht,  fängt  an,  sich  hastig 
hin  und  her  zu  bewegen,  sobald  der  Lauf  der  Reproduktion  minder 
glatt  vonstatten  zu  gehen  droht.  Nebenbei  bemerkt  könnte  man 
nach  einigen  Bemerkungen  der  Herren  Br.  und  B.  während 
der  letzten  Versuche  mit  dem  unmittelbaren  Behalten  —  siehe  z.  B. 
XLI.  und  XLH.  Versuchsreihe,  Tabelle  XLI  und  XLII  —  schließen, 
daß  visuell  veranlagte  Personen  zu  einem  analysierenden  Verhalten 
ihrer  Aufmerksamkeit  neigen,  —  sie  erblicken  vor  ihrem  inneren 
Auge  das  Ganze  des  Dargebotenen  und  analysieren  dies  beim 
Reproduzieren.  Daß  Herr  F.  dem  visuellen  Typ  recht  nahe  steht, 
ist  auch  daraus  zu  entnehmen,  daß  er  sich  gleich  den  ausge- 
sprochenen »Optikern«  speziell  bei  sinnvollen  Stoffen  »möglichst 
plastisch«  das  Vorgeführte  »vor  die  Seele  zu  stellen«  versucht.  — 
Für  die  Akustiker  ist  nach  den  Protokollnotizeu  besonders  charak- 
teristisch, daß  sie  weit  pointierter  betonen  und,  wenn  nur  irgend 
möglich,  scharf  rhythmisch  artikulieren,  —  daher  besinnt  sich  z.  B. 
Herr  Dr.  W.  auf  momentan  Entfallenes  beim  Lernen  sinnloser  Silben 
dadurch,  daß  er  sich  das  Gesuchte  »als  akustisches  Glied  eines 
Taktes«  zu  vergegenwärtigen  sucht.  Ganz  besonders  beachtens- 
wert erscheint  dem  Versuchsleiter  das  Faktum,  daß  diejenige  Vp.. 
welche  das  bemerkenswerteste  Fortschreiten  in  ihrer  Gedächtnis- 
leistung erkennen  ließ,  Herr  F.,  kein  einseitiger  Optiker,  Akustiker 
oder  Motoriker  ist,  sondern  daß  er  nach  seiner  eigenen  ausdrück- 
lichen Bekundung  —  siehe  z.  B.  das  Protokoll  zur  LI.  Versuchs- 
reihe —  mit  allen  Sinneselementen  zu  arbeiten  behauptet,  wenn  schon 
er  der  Gesichtsfunktion  einige  Prävalenz  einräumte. 

Wir  behalten  uns  vor,  die  praktische  Bedeutung  unserer  Ver- 
suche bei  anderer  Gelegenheit  ausführlicher  zu  erläutern, 
und  begnügen  uns  für  jetzt  mit  wenigen  Schlußfolgerungen. 

Eines  vor  allem  hat  die  vorstehend  dargelegte  Untersuchung  nach- 
gewiesen: wie  bildungsfähig  das  einer  rationellen  Übung 
unterzogene  Gedächtnis  ist,  selbst  noch  in  reiferem  Alter 
und  an  Stoffen,  die  —  weil  vorzugsweise  mechanisch  zu  merken  — 

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230 


Ernst  Ebert  und  E.  Meumann, 


gemeinhin  als  nur  vom  jugendlichen  Gedächtnis  erfaßbar 
galten.  Wieviel  daher  die  Schule  als  berufene  Pflegestätte  der 
so  enorm  wichtigen  Gedächtnisfunktion  noch  künftig  zu  leisten 
vermag,  ist  kaum  auszudenken;  denn  eine  Reihe  neuerer  Unter- 
suchungen des  Gedächtnisses  der  Schulkinder  in  allen  Ländern, 
wo  man  die  weittragende  Bedeutung  der  experimentellen  Psycho- 
logie und  Pädagogik  anerkennt,  hat  das  nicht  gerade  erfreuliche 
Faktum  dargetan,  daß  die  Gedächtnisfunktion  der  Schulkinder 
durchaus  nicht  so  vervollkommnet  wird,  wie  man  es  nach  einer 
achtjährigen  unablässigen  Betätigung  der  jugendlichen  Gedächtnisse 
erwarten  dürfte.  Und  daß  auch  die  höheren  Schulstufen  der  ver- 
nünftigen Pflege  des  Gedächtnisses  nicht  jenen  Grad  von  Sorgfalt 
angedeihen  lassen,  die  man  in  Hinsicht  auf  die  umfassende  Bedeu- 
tung dieser  psychischen  Funktion  erwarten  dürfte,  lassen  die  oft 
erstaunlich  niedrigen  Grenzwerte  bei  Versuchen  mit  unmittelbarem 
Behalten,  beziehentb'ch  die  übermäßig  große  Zahl  von  Wieder- 
holungen bei  Versuchen  mit  dauerndem  Behalten  an  jungen  Stu- 
dierenden deutlich  erkennen.  Versuchsleiter  erinnert  sich  aus 
seiner  eigenen  Schttlerzeit,  daß  einige  seiner  Lehrer  doch  heraus- 
fühlten, daß  eine  systematischere  Pflege  des  Gedächtnisses  für  die 
Schüler  nötig  sei,  sie  empfahlen  darum  —  Anleitungen  zur 
Mnemotechnik,  »K.  0.  Reventlows  System«,  »Herrn.  Rothes 
Handbuch  der  Mnemotechnik«  usw.,  Vorgänger  der  heutigen,  in 
der  Regel  als  Geheimkunst  behandelten  »Gedächtnislebren«.  Unter 
unsern  Vp.  hatte  sich  außer  Herrn  Br.  besonders  Herr  B.  mit  der 
»Gedächtnislehre«  eines  gewissen  P.  theoretisch  und  praktisch  befaßt. 
Wir  wissen,  wie  beide  Herren  im  Laufe  unserer  Untersuchung  von 
der  Mnemotechnik  abfielen,  —  sie  erklärten  sie  für  »umständlich 
und  gedächtnisbelastend,  durch  Künstelei  mehr  zeitraubend«  — 
siehe  Protokoll  zur  XL.  Versuchsreihe!  Ein  Studium  der  P. sehen 
Hefte  fitr  Gedächtniskunst  wird  jedem  psychologisch  Denkenden 
das  Zutreffende  dieses  Urteils  bestätigen,  wenn  auch  z.  B.  An- 
leitungen wie  die  über  die  Sinnesschärfung  recht  zweckdienlich 
sein  mögen,  —  ohne  korrekten  ersten  Eindruck  des  Stoffes  ist  die 
Ökonomie  des  Lernverfahrens  unvollkommen!  Diese  hergebrachte 
»Mnemotechnik«  dürfte  wohl  nie  Allgemeingut  werden;  sie  wird 
vielmehr  nur  eine  Liebhaberei  oder  ein  Notbehelf  für  einzelne 
Gebildete  bleiben.  Sehr  bezeichnender  Weise  erklärten  gerade 
diese  beiden  früheren  Anhänger  einer  »Gedächtniskunst«  das  von 


Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der  Übongsphänomene  uhw.  231 

uns  im  Laboratorium  befolgte  Verfahren  für  die  »eigentliche  Mnemo- 
technik«,—sie  fragten  ernstlich  an,  ob  nicht  noch  die  oder  jene  Person 
ihrer  Umgebung  »an  der  Gedächtniskur  teilnehmen  könne«  (Herr  B.). 
Nach  alledem  kann  man  nur  aufs  dringlichste  wünschen, 
daß  man  auf  allen  Schulstufen  —  also  nicht  allein  in  der  »Volks- 
schule« —  in  unserem  Zeitalter  besonders  drängender  pädagogischer 
Reformen  den  hohen  Wert  formaler  Bildung  nicht  vergesse 
Uber  dem  Bestreben,  hochgeschraubte  Schulleistungen  materieller 
Art  zu  erzielen.  Man  braucht  bei  rein  formaler  Übung  des  Ge- 
dächtnisses durchaus  nicht  in  Extreme  zu  verfallen,  wie  Pestalozzi, 
der  bekanntlich  ein  altes  Tapetenmuster  an  einer  Wand  des  Schul- 
zimmers als  Objekt  ftlr  umfängliche  formale  Übungen  benutzte,  — 
man  treibe  auch  nicht  formale  Übungen,  wie  sie  van  Biervliet 
neuerlich  in  extremer  Weise  forderte1),  —  man  verwende  also 
keine  sinnlosen  Gedächtnisstoffe,  sie  rauben  Zeit  und  Kraft, 
sind  also  unökonomisch.  Aber  auch  die  Pflege  und  Entwicklung 
der  Gedächtnisfunktion  an  dem  sinnvollen  Stoffe  der  Lehrpläne  hat 
nur  Aussicht  auf  Erfolge,  wie  sie  die  Laboratoriumsversuche  an- 
deuteten, wenn  sie  während  der  gesamten  Schulzeit  nach 
einem  einheitlichen  Plan  erfolgt,  bei  dessen  Aufstellung  außer 
dem  praktischen  Pädagogen  auch  der  erfahrene  Psychologe  ein  ent- 
scheidendes Wort  mitzureden  hat.  Die  Schaffung  eines  solchen 
Kunstwerkes,  wie  es  ein  wohlgepflegtes  Gedächtnis  ist,  verbietet 
aber  ebenso,  daß  an  ihm  viele  arbeiten,  wie  an  einem  Werke  der 
Malerei,  der  Tonkunst  usw.,  —  es  erfordert  Konzentration  auch  in 
der  leitenden  Person,  also  Beibehaltung  desselben  Lehrers,  solange 
es  nur  irgend  angängig  ist,  »Durchführung  der  Klassen«.  Die 
notwendige  Einheit  in  dieser  formal-bildenden  pädagogischen 
Arbeit  erheischt  aber  auch,  daß  die  Mitarbeit  des  Elternhauses 
möglichst  ausgeschaltet  wird.  Schon  Ratke,  dessen  didaktische 
Genialität  neuerdings  immer  mehr  erkannt  wird,  forderte,  daß 
»alle  Arbeit  auf  den  Lehrmeister  zu  fallen  habe«,  —  bis  auf  die 
Teilnehmer  am  Unterricht  im  Griechischen  war  allen  seinen  Schü- 
lern das  Lernen  außerhalb  der  Schule  untersagt.  Ratke  wußte, 
wieviel  die  Umgebung  des  Kindes  außerhalb  der  Schule  der  plan- 
vollen pädagogischen  Arbeit  des  Lehrers  zu  schaden  vermag  (vgl. 


1)  Vgl.  Revue  de  Philosophie.  1903.  Bd.  III.  Heft  4. 


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232     Ernst  Ebert  und  E.  Meumann,  Über  einige  Grundfragen  uew. 

zu  dieser  Frage  die  Untersuchungen  von  Schmidt,  Uber  Schul- 
und  Hausarbeit.  Archiv  f.  d.  ges.  Psychologie.  Bd.  HI,  Heft  1). 

Die  Schule  kann  sich  aber  nicht  damit  begnügen,  nur  prak- 
tische Übungen  zur  Gedächtnisbildung  zu  veranstalten,  —  sie  leistet 
dem  Zögling  vielmehr  einen  fast  noch  größeren  Dienst  durch 
systematische  Belehrungen  Uber  Gedächtnispflege,  wie  sie  über- 
dies schon  die  Pädagogen  des  Mittelalters  und  der  Renaissancezeit 
zu  geben  pflegten  (Erasmus  von  Rotterdam),  dabei  wiederum 
fußend  auf  weit  älteren  Anweisungen  zur  Gedächtniskultivierung, 
zum  Teil  auf  den  trefflichen  Winken  des  erfahrenen  Quintiii  an. 
Gibt  die  Schule  ihren  Zöglingen  auf  Grund  experimenteller  Päda- 
gogik und  Psychologie  Anweisung  Uber  die  Schärfung  der  Sinne 
zwecks  rascher,  korrekter  Auffassung  des  Stoffes,  über  die  Partial- 
vorgänge  der  Aufmerksamkeit,  den  Einfluß  der  Gefühle  und  des 
Willens,  Uber  die  Bedeutung  des  Rhythmus  und  des  Tempos  beim 
Lernen,  über  die  verschiedenen  Methoden  des  Lernens  —  vor  allem 
über  die  Varianten  der  G. -Methode  — ,  über  die  rationellste 
Verteilung  der  Wiederholungen,  die  Bedeutung  und  Länge  der 
Lernpausen,  die  Wichtigkeit  des  Umstandes,  daß  man  seinen 
eigenen  Lerntypus  kennt,  und  über  manches  andere  mehr,  so  setzt 
sie  den  Schüler  in  nicht  hoch  genug  anzuschlagender  Weise  in 
den  Stand,  selbsterzieherisch  auch  ohne  die  Schule  an 
seinem  Gedächtnis  zu  arbeiten,  solange  er  nur  irgend 
nach  Vervollkommnung  strebt. 


Eingegangen  am  1.  Mai  l'J04. 


Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Gefühlselemente 

und  Qefuhlsverbindungen. 

Von 

Moritz  Geiger. 
(Aas  dem  psychologischen  Seminar  der  Universität  München.) 

I.  Abschnitt: 
Gefühlselement  und  Gefühls  Verbindung. 

1)  Der  Begriff  des  Gefühlselements. 

Gegenüber  den  Problemen  der  Emptindungslehre  sind  die  Pro- 
bleme der  GefUhlslehre  in  der  Psychologie  von  jeher  vernachlässigt 
worden.  Dieser  Umstand  mag  znm  Teil  seine  Begründang  darin 
finden,  daß  die  experimentelle  Behandlung  der  Gefühlslehre  — 
ans  hier  nicht  zu  erörternden  Gründen  —  weit  größeren  Schwie- 
rigkeiten begegnet  als  die  Anwendung  des  Experiments  bei  den 
Fragen  der  Empfindungspsychologie.  In  erster  Linie  ist  aber  wohl 
das  Fehlen  eines  allgemein  anerkannten  Unterbaues  der  Grund, 
daß  verwick eitere  Probleme  aus  dem  Bereiche  des  Gefühlslebens  — 
von  der  Ethik  und  der  Ästhetik  natürlich  abgesehen  —  so  selten 
auf  wissenschaftlicher  Basis  in  Angriff  genommen  werden.  Viel- 
mehr werden  immer  und  immer  wieder  die  elementarsten  Fragen 
behandelt,  um  eben  diesen  gemeinsamen  Unterbau  zu  gewinnen. 
Wie  sollte  auch  eine  allgemein  anerkannte  Lösung  verwickelterer 
Fragen  möglich  sein,  wenn  schon  in  der  Frage  nach  den  Gefühls- 
elementen die  Ansichten  so  weit  auseinandergehen,  daß  die  einen  die 
Zahl  verschiedenartiger  einfacher  Gefühle  auf  zwei  (z.B.  Kttlpe, 
Titchener),  die  andern  (Wundt,  Lipps)  auf  unendlich  angeben? 

Bei  einer  derartigen  Divergenz  der  Grundanschauungen  muß 
eine  Arbeit,  die  sich  Gefühlsprobleme  höherer  Art  stellt,  daher 
vor  allen  Dingen  den  Standpunkt  festlegen,  von  dem  sie  ausgeht. 
Sie  muß,  um  überhaupt  kompliziertere  Fragen  behandeln  zu 
können,  die  Elementarprobleme  nach  einer  Richtung  hin  als  ent- 
schieden annehmen,  um  dadurch  die  Grundlage  für  weitere  Unter- 
suchungen zu  gewinnen. 


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234 


Moritz  Geiger, 


Diese  Arbeit  verzichtet  daher  prinzipiell  auf  die  Angabe  von 
Gründen  für  die  Anschauungen,  von  denen  sie  ausgeht.  Sie 
nimmt  mit  Lipps1)  und  Wandt1)  »eine  unendliche  Mannigfaltig- 
keit  der  Gefühle«  an,  wobei  betont  werden  muß,  daß  diese  Uber- 
einstimmung in  den  Grundlagen  keineswegs  nun  auch  eine  Über- 
einstimmung bis  in  die  Einzelheiten  in  sich  schließt. 

Naturgemäß  hat  die  erste  Analyse  der  Welt  der  Gefühle  auf 
dem  Wege  der  subjektiven  Analyse  vor  sich  gehen  müssen.  Erst 
nachdem  diese  Aufgabe  gelöst  war,  konnte  zur  Feststellung  der 
objektiven  Gefühlssymptome  tibergegangen  werden.  Nicht  anders 
war's  ja  bei  den  Empfindungen.  Nur  daß  hier  die  Feststellung 
und  Ordnung  der  Elemente  schon  im  verwissenschaftlichen  Denken, 
in  der  Sprache,  in  einfachster  Weise  geschehen  ist,  so  daß  die 
Wissenschaft  im  wesentlichen  einfach  an  diese  Ordnung  anzu- 
knüpfen brauchte. 

Man  brauchte  z.  B.,  als  man  begann,  wissenschaftliche  Psycho- 
logie zu  treiben,  nicht  erst  Namen  für  die  einfachen  Farben  zo 
schaffen,  —  die  vorwissenschaftliche  Praxis  sowohl,  als  die  Natur- 
wissenschaften hatten  längst  alle  Vorarbeit  getan. 

Die  subjektive  Geftthlsanalyse  zeigt  gegenüber  der  Analyse 
der  Empfindungswelt  beträchtliche  Schwierigkeiten,  die  in  zwei 
psychologischen  Momenten  ihren  Grund  haben. 

Einmal  ist  die  Welt  der  Gefühle  im  Gegensatz  zu  den  Empfin- 
dungen nicht  analysierbar  im  Moment  des  Daseins;  Gefühle 
können  erst  dann  analysiert  werden,  wenn  sie  nicht  mehr  als 
subjektive  Erlebnisse  existieren,  sondern  gegenständliche  Inhalte 
des  Bewußtseins  geworden  sind3).  Eine  Beobachtung  im  exakten 
Sinne  wird  dadurch  unmöglich  gemacht,  und  nur  durch  genaue 
retrospektive  Selbstbeobachtung  wird  die  wissenschaftliche  Unter- 
suchung der  Gefühle  überhaupt  möglich.  Es  ist  hiernach  klar, 
wie  groß  hier  die  Gefahr  der  Selbsttäuschung  ist 

Dazu  kommt  noch  ein  weiterer  Umstand4):  »Die  Gegenstanda- 
seite  des  Bewußteins  ist  in  jedem  Moment  von  einer  Reihe  dispa- 
rater Inhalte  erfüllt,  die  nur  durch  die  Geftthlsseite  des  Bewußt- 

1)  Da«  Selbstbewußtsein,  Emp6ndung  und  Gefühl.  (Grenzfragen  des 
Nerven-  und  Seelenlebens.  1901.  Heft  9.) 

2)  Grundriß  der  Psychologie.  4.  Aufl.  1901.  —  Grundzfige  der  physio- 
logischen Psychologie.  5.  Aufl.  1902. 

3)  Siehe  Lipps,  a.  a.  0. 

4)  Vgl.  Wund t,  Grundzüge  der  physiolog.  Psychologie.  Bd.  II.  S.  342. 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Gefiihlselemente  usw. 


235 


Seins  in  letzter  Linie  zusammenhängt«.  Zwei  Farben,  »rot«  and 
»blau«,  bilden  ein  deutlich  getrenntes  und  trennbares  psychisches 
Nebeneinander,  so  gut  wie  zwei  einfache  Töne.  Auf  der  Geftihl*- 
seite  ist  das  anders:  Hier  herrscht  das  von  Wundt1)  bezeich- 
nete Prinzip  der  Einheit  der  Gemtttslage.  Die  Gefühle  jedes  Zeit- 
moments vereinigen  sich  ohne  Rücksicht  auf  die  Beziehung  ihrer 
zugehörigen  Vorstellungsbestandteile  in  einem  einheitlichen  Total- 
gefühl.  In  der  Empfindungsichre  ist  die  Analyse  relativ  einfach; 
sie  kann  sich  darauf  beschränken,  die  Elemente  in  Gruppen  zu 
ordnen  und  die  Verschiedenartigkeit  ihrer  Verbindung  festzustellen. 
In  der  Gefühlslehre  dagegen  hat  die  Analyse  die  weit  schwierigere 
Aufgabe,  das,  was  für  das  Bewußtsein  eine  Einheit  ist,  methodisch 
zn  gliedern  und  ans  der  Einheit  die  Bestandteile  herauszuschälen. 
Sie  setzt  Bich  dabei  stets  der  Gefahr  aus,  daß  die  Analyse  in  die 
Irre  führt,  da  entweder  die  Teile  der  Einheit  nicht  richtig  be- 
stimmt sind,  oder  die  Methodik  der  Analyse  nicht  die  richtige 
war.  Denn  während  in  der  Welt  der  Empfindungen  die  Ordnung 
und  Gliederung  eine  durch  die  Disparatheit  der  Inhalte  natür- 
lich gegebene  ist,  schafft  in  der  Gefühlslehre  die  Psychologie 
die  Gliederung  erst,  indem  sie  —  natürlich  in  Anknüpfung  an 
psychische  Erlebnisse,  aber  doch  mehr  oder  minder  willkürlich  — 
die  Einheit  des  Gefühlsbewußtseins  in  Teilinhalte  zerlegt. 

So  bringt  es  z.  B.  die  Einheit  der  Gefühlslage  mit  sich,  daß 
schon  der  Begriff  des  Elements  in  der  Geftthlspsychologie  nicht 
so  eindeutig  und  selbstverständlich  ist  wie  in  der  Lehre  von  den 
Empfindungen.  Den  Charakter  der  Bewußtseinsinhalte  rot  und 
blau  als  elementar  wird  niemand  bestreiten;  denn  sie  sind  tat- 
sächlich letzte  anschauliche  Erlebnisse,  die  nicht  weiter  zerlegbar 
sind.  Statt  dessen  etwa  Helligkeit  und  Sättigung  als  die  eigent- 
lichen Elemente  zu  bezeichnen,  da  sie  ja  noch  einmal  innerhalb 
rot  und  blau  unterscheidbar  seien,  daran  wird  jeden  ihr  abstrakter 
Charakter  verhindern. 

Bei  den  Gefühlen  ist  das  anders:  Schon  der  allgemein  aner- 
kannte Gefühlsgegensatz  Lust-Unlust  bezeichnet  ursprünglich  nur 
den  allgemeinen  Charakter  der  gesamten  Geftthlslage  des  betreffen- 
den Moments,  anschaulicher  als  Helligkeit  und  Sättigung,  abstrakter 
als  rot  und  blau.     Die  Anschaulichkeit,  die  rot  und  blau  als 


1)  a.  a.  0.,  S.  342. 


236 


Moritz  Geiger, 


Elemente  anerkannt  werden  ließ,  kann  nicht  in  Betracht  kommen. 
»Anschaulich«  im  strengen  Sinn  ist  nnr  die  einheitliche  Gefübls- 
lage  jedes  Augenblicks,  anschaulich  nur  das  Totalgefühl  in  seiner 
Einheitlichkeit:  jede  Analyse  heißt  in  der  Gefühlswelt  im  strengen 
Sinn  unanschauliche  Abstraktion.  Natürlich  ist  hier  »Abstraktion< 
in  einem  ganz  besonderen  Sinne  genommen.  Denn  tatsächlich 
setzt  ja  jede  systematische  Behandlung  des  einheitlichen  Bewußt- 
seinsinhalts eines  Moments  Abstraktion  voraus.  Nur  durch  Ab- 
straktion ist  es  möglich,  die  allgemeine  Bezeichnung  rot  als 
Empfindungselement  zu  gewinnen.  Von  dieser  Abstraktion  ist 
natürlich  nicht  die  Rede,  wenn  wir  die  Empfindungselemente  als 
anschaulich,  die  Gefühlselemente  als  Ergebnisse  einer  unanschau- 
lichen Abstraktion  bezeichnen.  In  dem  hier  angewandten  Sinne 
gilt  als  unabstrahiert  alles,  was  ein  für  das  betrachtende  Bewußt- 
sein unmittelbar  selbständiges,  ein  nicht  nur  in  der  Reflexion  trenn- 
bares Erlebnis  bezeichnet.  In  diesem  Sinn  ist  jeder  Empfindungs- 
inhalt unabstrahiert.  Dagegen  ist  die  Feststellung  von  Gefühls- 
elementen Ergebnis  einer  Abstraktion.  Denn  es  handelt  sich  nicht 
darum,  im  Bewußtsein  nebeneinander  Bestehendes  aus  seiner  noch 
so  engen  einheitlichen  Verbindung  zu  lösen,  wie  es  z.  B.  geschieht, 
wenn  ich  die  Farben,  die  mein  Gesichtsbild  eines  Hauses  aus- 
machen, gesondert  auffasse,  sondern  vielmehr:  es  ist  für  mein  Be- 
wußtsein eines,  nur  eines,  nämlich  die  einheitliche  Gefühlslage, 
gegeben.  Die  einzelnen  Gefühle,  die  ich  imstande  bin  in  der  Re- 
flexion zu  unterscheiden,  sind  »Merkmale«  dieses  einheitlichen 
Geftthlserlebnisses,  —  wobei  ich  mir  wohl  bewußt  bin,  daß  mit 
dem  Ausdruck  Merkmal  nichts  bestimmt  ist,  sondern  daß  der  Ge- 
brauch dieses  Aasdrucks  nur  Hinweis  ist  auf  das  Problem  des 
Merkmals,  dessen  Erörterung  jedoch  hier  zu  weit  führen  würde. 

Mit  diesen  Bemerkungen  ist  das  Problem  der  Loslösung  der 
Einzelgefühle  ans  dem  Totalgefühl  jedes  Moments  nur  gestreift. 
Psychologisch  wäre  die  Frage  zu  erörtern,  wie  sich  die  Einheit 
der  Gefühlslage  mit  der  Annahme  der  Vielheit  der  Gefühle  ver- 
trägt; ferner  wie  diese  Beziehung  der  Gefühle  auf  die  Gegen- 
standsseite zustande  kommt.  Methodisch  jedoch  —  und  nur  das 
Methodische  soll  zunächst  angedeutet  werden  —  ist  es  vollkommen 
gleichgültig,  wie  diese  Loslösung  zustande  kommt  Da  interessiert 
nur,  daß  sie  zustande  kommt.  Wir  werden  später  noch  Gelegen- 
heit finden,  auf  diese  Probleme  zurückzukommen. 


Bemerkungen  zur  Psycnologie  der  GefUhlaelemente  usw.  237 

Im  strengen  Sinn  also  sind  z.  B.  Lnst  and  Unlust  nur  Merk- 
male des  einheitlichen  GefUhlserlebnisses  jedes  Moments,  sie 
können  demnach,  rein  nach  der  Gefühlsseite  hin  betrachtet,  nnr 
als  Charakteristiken  der  gesamten  GefUhlslage  angesehen  werden, 
wie  es  ja  die  Psychologie  im  Falle  der  > Stimmauge  tatsächlich 
tat  In  diesem  strengen  Sinn  also  dürfen  wir  von  Geftthlsele- 
menten  <rar  nicht  reden. 

Ein  Umstand  jedoch  kommt  uns  zu  Hilfe,  der  uns  ein  Recht 
gibt,  diese  strengen  Folgerungen  zu  umgehen:  Lust  und  Unlust 
sind  nicht  nur  Charakteristika  der  Gefühlslagen  des  Totalgefühls 
eines  Moments,  sondere  sie  haben  auch  Beziehung  zu  der  gegen- 
ständlichen Seite  unseres  Bewußtseins.  Sie  können  unabhängig 
von  den  sonstigen  Bestandteilen  des  Totalgefühls  bezogen  sein 
auf  Empfindungen  und  Vorstellungen.  Daß  sie  dies  können,  löst 
sie  los  yon  den  sonstigen  Bestandteilen  des  Totalgefühls,  von  der 
einheitlichen  Stimmung  des  Moments,  von  der  sie  sonst  einen  Teil 
bilden,  macht  sie  zu  gesonderten  und  für  die  Analyse  herauslös- 
baren  Bestandteilen  des  Gefühlserlebens. 

Wir  wollen  übereinkommen,  überall  da  von  Gefühlselementen 
zu  reden,  wo  letzte  Bestandteile  des  Totalgefühls  selbstän- 
dig auf  einen  Gegenstand  bezogen  sind.  In  dieser  Bestimmung 
liegt  zweierlei:  Einmal  müssen  es  letzte  Bestandteile  des  Total- 
gefühls  sein,  die  auf  die  Gegenstände  bezogen  sind,  damit  wir 
von  ihnen  als  von  Gefühlselementen  reden  dürfen.  Man  muß  sich 
klar  darüber  sein,  was  dies  heißt:  Nicht  jedes  Gefühl,  das  allein 
auf  einen  Gegenstand  bezogen  erscheint,  ist  ein  Element,  sondern 
nur  dasjenige  Gefühl,  das  keine  Bestandteile  mehr  enthält,  die 
ein  andermal  gesondert  (d.  h.  ohne  Bestandteile  jenes  Gefühls  zu 
sein)  auf  Gegenständliches  bezogen  werden  können.  Das  Gefühl 
der  Bewunderung  einer  Bildsäule  gegenüber  wäre  also  kein  Ele- 
ment, da  die  darin  enthaltenen  Gefühle  der  Lust  sowohl,  als  auch 
der  Spannung  usw.  sehr  wohl  gesondert  ebenfalls  auf  ein  Objekt 
bezogen  werden  können.  Dagegen  ist  die  eigenartige  Beruhigung, 
die  man  gegenüber  einem  tiefen  Blau  fühlt,  ein  Element:  Es  läßt 
sich  die  Beruhigung  nicht  weiter  in  Bestandteile  zerlegen  derart, 
daß  jeder  Bestandteil  die  angegebene  Bedingung  erfüllt. 

Durch  den  eben  besprochenen  Teil  der  Definition  ist  das  Ge- 
fühlselement gegenüber  den  Gefühlsverbindungen  abgegrenzt;  denn 
überall  da,  wo  sich  in  einem  Gefühl  noch  Bestandteile  aufzeigen 


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238 


Moritz  Geiger, 


lassen,  die  ein  andermal  gesondert  auf  einen  Gegenstand  bezogen 
werden  können,  liegt  eine  Gefühlsverbindung  vor.  Daher  ist  also 
das  Gefühl  der  Bewunderung  eine  Gefühlsverbindung. 

Es  ist  notwendig,  ebenso  das  Geftthlselement  in  der  Definition 
gegenüber  Beinen  Merkmalen  abzugrenzen,  damit  im  konkreten 
Falle  kein  Zweifel  über  die  Natur  eines  Bestandteils  eines  Total- 
gefühls entstehen  kann.  Hier  hilft  uns  die  andere  Seite  der  De- 
finition weiter:  Das  Gefühl  muß  »selbständig«  auf  den  Gegen- 
stand bezogen  sein,  damit  von  einem  Geftthlselement  geredet  werden 
darf.  Was  »Selbständigkeit«  bedeutet,  ist  nicht  ohne  weiteres  klar. 

»Selbständigkeit«  heißt  einmal  Isoliertheit:  ein  Gefühl  wird 
selbständig  auf  einen  Gegenstand  bezogen,  kann  heißen,  es  wird 
auf  einen  Gegenstand  bezogen,  ohne  daß  dabei  ein  anderes  Ge- 
fühl ebenfalls  auf  den  Gegenstand  bezogen  wird.  Das  ist  in 
Wahrheit  nie  der  Fall:  es  gibt  wohl  kein  Gefühl  der  Erregung, 
das  weder  Lust-  noch  Unlustmomente  in  sich  enthielte,  und  die 
Anerkennung  der  Erregung  als  Geftthlselement  hinge  davon  ab, 
ob  es  mir  gelingt,  in  meiner  Selbstanalyse  jemals  ein  isoliertes 
Geftthl  der  Erregung  aufzufinden.  Damit  stünde  der  Begriff  des 
Elements  auf  sehr  schwachen  Füßen,  und  ein  Kriterium  gar  auf 
solch  schwankem  Grund  aufbauen  zu  wollen,  wäre  vollends  gewagt. 

Aber  das  Wort  »Selbständigkeit«  hat  noch  eine  andere  Be- 
deutung. »Selbständig«  führt  derjenige  eine  Tat  aus,  der  sie  ohne 
fremde  Hilfe,  unabhängig  ausführt  Selbständig  heißt  hier:  ohne 
fremde  Vermittlung  oder  Hilfe.  »Selbständig«  ist  in  diesem  Sinne 
das  Gefühl  auf  den  Gegenstand  bezogen,  wenn  es  unmittelbar, 
ohne  Vermittlung  eines  andern  Gefühls,  auf  den  Gegenstand  be- 
zogen ist. 

So  ist  z.  B.  in  der  Freude  an  einer  schönen  Farbe  die  Lust 
ein  Geftthlselement:  die  Lust  ist  unmittelbar  auf  die  Farbe  be- 
zogen, sie  ist  Lust  an  der  Farbe. 

Anders  liegt  es  bei  folgendem  Fall:  Ich  habe  großen  Durst 
und  sehe  ein  Glas  Wasser  vor  mir  stehen.  Ich  verspüre  daher 
den  Trieb  in  mir,  von  dem  Wasser  zu  trinken;  es  besteht  in  mir 
ein  Gefühl  der  Notwendigkeit,  das  Glas  Wasser  auszutrinken. 
Aber  diese  Notwendigkeit  ist  ganz  anderer  Art  als  diejenige, 
welche  ich  gegenüber  einem  mathematischen  Lehrsatz  fühle,  die- 
sen Lehrsatz  anzuerkennen.  Ich  will,  ohne  mich  auf  weitere  Ana- 
lyse einzulassen,  den  crsteren  Fall  kurz  als  ein  Gefühl  »subjek- 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  (ieftihlselemente  usw.  289 

tiver«,  den  letzteren  als  ein  Gefühl  »objektiver«  Notwendigkeit1) 
bezeichnen. 

Es  fragt  sich,  ob  wir  diese  beiden  Bestandteile  des  Gefühls, 
die  Subjektivität  bzw.  Objektivität  einerseits  und  die  Notwendig- 
keit andererseits,  beide  als  Geftthlselemente  anerkennen  dürfen. 
Hier  hilft  uns  die  Definition  weiter:  Als  notwendig  erlebe  ich  das 
Ton,  aber  nicht  als  subjektiv.  Subjektiv  ist  nicht  das  Tun,  son- 
dern die  Notwendigkeit  Die  Subjektivität  ist  also  keineswegs 
selbständig  auf  das  Tun  bezogen,  sondern  erst  durch  die  Not- 
wendigkeit vermittelt.  Daher  ist  Subjektivität  kein  GefUhlselement, 
sondern  nur  ein  Merkmal  an  einem  solchen;  GefUhlselement  ist 
vielmehr  das  ganze  Gefühl  der  subjektiven  Notwendigkeit. 

Es  ist  zu  beachten,  daß  diese  Abgrenzung  des  Geftthlselements 
gegenüber  den  Merkmalen  durch  den  Begriff  der  Selbständigkeit 
ihr  Analogon  findet  bei  den  Empfindungselementen.  »Rot  ist 
Empfindungselement«',  als  solches  ist  es  unmittelbar  auf  den  Gegen- 
stand bezogen:  die  Rose  ist  rot.  Die  Merkmale  aber  sind  ihrer- 
seits erst  wieder  durch  Vermittlung  des  Elements  auf  den  Gegen- 
stand bezogen.   Rot  ist  gesättigt,  nicht  etwa  die  RoseJ). 

Diese  genaue  Abgrenzung  des  Begriffs  des  Gefühlselements  ist 
nicht  überflüssig  für  eine  Untersuchung  der  Gefühlsverbindungen: 
denn  je  nachdem  der  Begriff  des  Elements  enger  oder  weiter  ge- 
faßt wird,  wird  dieses  oder  jenes  Gefühl  noch  als  Gefühlsverbin- 
dung betrachtet  werden  müssen,  das  bei  einer  andern  Abgrenzung 
des  Gefühlselements  noch  als  Element  mit  einer  eigenartigen  Mo- 
difikation erscheint.  Sie  ist  nm  so  weniger  überflüssig,  als  sich 
von  hier  aus  auch  methodisch  ein  bemerkenswerter  Unterschied 
der  Verbindungen  der  Gefühlselemente  gegenüber  den  Verbindungen 

1)  Die  Notwendigkeit  ist  in  dieser  Arbeit  durchgehende  als  Gefühl  be- 
zeichnet. Strenggenommen  ist  diese  Ausdrucks  weise  aus  mehreren  Gründen 
falsch.  Einmal  ist  die  Notwendigkeit  (eines  Geschehens  z.  B.)  Uberhaupt  keine 
psychische  Tatsache.  Aber  auch  das  Bewußtsein  der  Notwendigkeit  ist 
sicherlich  mehr  als  ein  Gefühl.  Dieser  Umstand  kommt  jedoch  hier  nicht  in 
Betracht  Für  diese  Untersuchung  genügt  es,  daß,  wie  mir  festzustehen 
scheint,  in  jedem  Notwendigkeitsbewußtsoin  ein  gefühlsmäßiges  Moment  ent- 
halten ist.  Dieses  gefühlsmäßige  Moment  ist  es,  das  ich  abkürzungshalber 
einfach  mit  Notwendigkeit  bezeichne,  da  m.  £.  durch  das  Ziel  der  Unter- 
suchung Mißverständnisse  ausgeschlossen  sind.  Dasselbe  gilt  für  die  Aus- 
drücke: Möglichkeit,  Wahrscheinlichkeit,  Wirklichkeit  usw. 

2,  Vgl.  auch  die  Ausführungen  über  Träger  und  Merkmal:  Lipps,  Leit- 
faden der  Psychologie,  Leipzig  1903,  S.  116. 


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Moritz  Geiger, 


der  Empfindungselemente  ergibt.  Da  die  Empfindungselemente 
eindeutig  Bind,  d.  h.  nicht  anders  gewählt  werden  können,  als  sie 
tatsächlich  gewählt  worden  sind,  so  ist  damit  auch  ohne  weiteres 
die  Weise  ihrer  Verbindung  in  den  komplexen  Erlebnissen  fest- 
gelegt. Das  Geftthlselement  jedoch,  so  sahen  wir,  könnte  auf 
mannigfache  Weise  definiert  werden,  und  durch  jede  verschiedene 
Definition  würde  natürlich  auch  die  Lehre  von  den  Gefühlsver- 
bindungen sich  ganz  verschieden  gestalten.  Und  da  das  Gefuhls- 
element Produkt  einer  Zerlegung  ist,  so  hat  man  in  der  Lehre 
von  den  Geftthlsverbindungen  einfach  den  Weg  zurttckzuverfolgen, 
den  man  vorher  vorwärts  gegangen  ist;  man  hat  sich  klar  darüber 
zu  werden,  wie  man  vorher  zerlegt  hat,  dann  ist  man  auch  klar 
darüber,  wie  die  Gefühle  verbunden  sein  können,  während  hin- 
gegen die  Verbindungen  der  Empfindungen  mit  der  Aufsuchung 
der  Empfindungselemente  keinen  solchen  Zusammenhang  haben. 

Die  Abweichung  der  hier  gegebenen  Definition  des  Geftthls- 
elements  von  den  in  andern  Arbeiten,  wenn  auch  ohne  ausdrück- 
lich formulierte  Definition,  benutzten,  läßt  es  mir  notwendig  er- 
scheinen, mit  ein  paar  Worten  diejenigen  Geftthlseinteilungen  zu 
streifen,  die  sich  auf  dem  Boden  der  unendlichen  Mannigfaltigkeit 
der  Geftlhle  bewegen: 

Es  liegt  eine  Einteilung  der  Gefühlselemente  vom  Standpunkt 
der  Mannigfaltigkeit  der  Gefühlserlebnisse  von  zwei  Seiten  vor: 
von  Wundt1)  und  von  Lipps.  Wundt  unterscheidet,  wie  be- 
kannt, drei  Gefühlsrichtungen:  Lust-Unlust,  erregende-beruhigende, 
spannende-lösende  Gefühle.  Alle  drei  Bezeichnungen  sind,  wenn 
wir  auf  sie  unsere  Definition  anwenden,  Bestimmungen  von  Gruppen 
von  Gefühlselementen.  In  jeder  Gruppe  sind  eine  Reihe  von  Ge- 
fühlselementen  verschiedener  Art  eingeschlossen.  Obwohl  also 
z.  B.  das  Gefühl  der  Notwendigkeit  ein  Hemmungsgefühl  ist,  so 
ist  es  doch  ein  eigenartiges  Gefühl,  das  sich  mit  irgendeinem  be- 
liebigen Hemmungsgefühl  kaum  vergleichen  läßt.  Dennoch  ist 
das  Gefühl  der  Notwendigkeit  nicht  etwa  Gefühl  der  Hemmung 
plus  etwas  anderem,  also  keine  Gefühlsverbindung,  sondern  da 
dieses  andere  nicht  selbständig  als  Gefühl  auf  ein  Objekt  bezogen 
sein  kann,  so  liegt  im  Gefühl  der  Notwendigkeit  ein  Geftthls- 
element  vor,  das  der  Hemmungsgruppe  angehört.   Auch  bei  den 


1)  Wundt,  Grundri0  der  Psychologie.  4.  Aufl.  S.  101. 


Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Geflihleelemente  usw. 


241 


Empfindungen  bezeichnen  wir  ja  genau  genommen  mit  der  Angabe 
von  Rot  und  Blau  nicht  einzelne  Elemente,  nur  Elementengruppen. 

Wundts  Einteilung  ist  rein  phänomenologisch,  weder  gegründet 
auf  die  Abhängigkeit  der  Gefühle  von  den  Eindrücken  der  Außen- 
welt, noch  auf  Überlegung  über  die  Bedeutung  des  Gefühls  im 
Seelenleben  *). 

Vom  entgegengesetzten  Ende  aus  hat  Lipps3)  die  Systematik 
der  Gefühle  begonnen.  Theoretisch  stellt  er  die  Bedeutung  des 
Gefühls  im  Seelenleben  fest  und  sucht  aus  den  Möglichkeiten,  wie 
sich  diese  Bedeutung  des  Gefühls  im  Seelenleben  äußern  kann, 
systematisch  die  Mannigfaltigkeiten  des  Gefühlslebens  zu  erfassen. 
Er  gibt  eine  Systematik  der  Gefühle  nach  ihren  Bedingungen. 
Demgemäß  treten  auch  ganz  andere  Gesichtspunkte  bei  den  tat- 
sächlich vorhandenen  Gefühlen  in  den  Vordergrund.  Denn  die 
gesonderten  oder  heraussonderbaren  Bedingungen  brauchen  sich 
nicht  stets  in  einem  gesonderten  Gefühlselement  zu  äußern,  son- 
dern können  ihr  Vorhandensein  in  verschiedenartiger  Modifikation 
desselben  Elements  kundgeben.  Wie  etwa  die  Amplitude  der 
Uftschwingungen  nur  den  Grund  für  eine  Dimension  der  Töne 
bildet,  nicht  etwa  selbst  eigenartige  physische  Erlebnisse  hervor 
ruft,  so  gibt  es  ähnliches  auch  bei  den  Gefühlen.  Es  gibt  seeli- 
sche Bedingungen,  die  die  Ursache  von  Gefühlselementen,  andere, 
die  nur  die  Ursache  von  Modifikationen  an  diesen  Elementen  sind. 

Wir  hatten  oben  die  Definition  des  Gefühlselements  rein 
phänomenologisch,  keineswegs  ausgehend  von  der  prinzipiellen  Stel- 
lung der  Gefühle  im  Seelenleben,  getroffen.  Es  ist  daher  selbst- 
verständlich, daß  viele  der  von  Lipps  angegebenen  Bedingungen, 
und  gerade  die  allgemeinsten,  nicht  Gefühlselemente  im  definierten 
Sinne  hervorbringen.  Das  Gefühl  der  subjektiven  Notwendigkeit 
z.  B.  wird  bei  Lipps  nach  seinen  Bedingungen  zerlegt,  die  teils 
auf  die  Subjektivität  des  Gefühls,  teils  auf  den  Notwendigkeits- 
charakter hinwirken.  Diese  Zerlegung  nach  den  Bedingungen  ist 
keine  Zerlegung  in  Gefühlselemente.  Denn  der  Gegensatz  des 
Subjektiven  und  des  Objektiven   zieht   sich  zwar  durch  das 

1  Einige  theoretische  Überlegungen  in  den  früheren  Auflagen  des 
Grundrisses  (vgl.  2.  Aufl.  1897,  S.  100i  haben  nicht  Belbst  zu  der  Aufstellung 
des  Schemas  geführt,  sondern  dienen  nur  dazu,  das  empirisch  gefundene 
Schema  auch  theoretisch  zu  erläutern. 

2)  Vom  Fühlen,  Wollen  und  Denken. 

ArcW»  tfu  P.ychologie.   IV.  16 

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242 


Moritz  Geiger, 


gesamte  Gefühlsleben,  aber  ein  Subjektivitätsgeftihl,  das  ohne  Ver- 
bindung mit  andern  Gefühlen  nnd  ohne  ihre  Vermittlung  selb- 
ständig auf  gegenständliche  Inhalte  bezogen  ist,  gibt  es  nicht,  so 
wenig  wie  ein  Notwendigkeitsgefühl,  das  weder  subjektiv  noch 
objektiv  ist.  Wir  müssen  also  nach  unserer  Definition  des 
Elements  das  Gefühl  der  subjektiven  Notwendigkeit  nicht  als  ein 
zusammengesetztes,  sondern  als  ein  einfaches  Gefühl  auffassen. 

2)  Die  Eigentümlichkeiten  der  Gefühlselemente. 

Diese  Festlegung  des  Gefühlselements  ergibt  von  selbst  die 
Festlegung  des  Begriffs  der  Verbindung  von  Gefühlen.  Überall 
da,  wo  wir  mehrere  Gefühlselemente  in  einem  To talgefühl  nach- 
weisen können,  liegt  eine  Verbindung  von  Gefühlen  vor.  Anderer- 
seits fordert  natürlich  die  Statuierung  von  Gefühlselementen  nicht, 
daß  an  diesen  Elementen  nicht  noch  mancherlei  Verschiedenartiges 
zu  unterscheiden  sei.  Daß  Rot  ein  Empfindungselement  ist,  das 
hindert  ja  auch  nicht  daran,  daß  an  ihm  noch  Helligkeit,  Sättigung 
und  Farbenton  unterschieden  werden. 

Es  ist  natürlich  für  die  Lehre  von  den  Verbindungen  der  Ge- 
fühle wichtig,  sich  darüber  klar  zu  sein,  welcher  Art  diejenigen 
Eigentümlichkeiten  sind,  die  innerhalb  der  Gefühlselemente  noch 
unterscheidbar  sind.  Genau  so  gut,  wie  bei  den  Verbindungen  der 
Töne  zu  Klängen  die  Dimensionen  gesondert  ihre  Bedeutung  haben, 
ist  auch  von  vornherein  anzunehmen,  daß  die  Dimensionen  der 
Gefühlselemente  nicht  ohne  Einfluß  auf  den  Charakter  der  Ver- 
bindungen sind.  Ich  flechte  daher  eine  Einteilung  der  Eigentüm- 
lichkeiten der  Gefühlselemente  ein. 

Die  drei  Haupteigenschaften  der  Gefühlselemente1)  sind:  Inten- 
sität, Qualität  und  zeitlicher  Verlauf2^.  Die  erste  und  die  dritte 
Eigenschaft  kommen  für  uns  hier  nicht  weiter  in  Betracht.  Wir 
wollen  im  folgenden  die  Verbindungen  der  Gefühle  nur  nach 

Ii  Vgl.  Wundt,  Grundzüge  der  physiolog.  Psychologie.  Bd.  II.  S.  209. 

2;  Vielleicht  dürfte  es  richtig  sein,  noch  eine  weitere  Haupteigenschaft 
der  Gefühle  anzunehmen.  Es  ist  die  Art  ihrer  Beziehung  auf  die  gegen- 
ständlichen Inhalte.  Ich  freue  mich  Uber  ein  Ereignis  und  ich  freue  mich  an 
einem  Ereignis  sind  sicherlich  Aussagen  über  grundverschiedene  psychische 
Tatbestände,  die  sich  nicht  restlos  als  Unterschiede  von  Qualitäten  der  Ge- 
fühle abtun  laasen.  Ich  kann  mir  es  jedoch  ersparen,  näher  darauf  einzu- 
gehen, da  es  sich  im  folgenden  ebensowenig  um  diese  Eigenschaft  der  Ge- 
fühle wie  um  ihre  Intensität  und  ihren  zeitlichen  Verlauf  handelt. 


Bemerkungen  zur  Psychologie  der  GefUhlselemente  usw.  243 

ihrer  qualitativen  Seite  betrachten.  Infolgedessen  sind  für  uns 
auch  nur  die  qualitativen  Eigenschaften  von  Interesse. 

Bei  der  Feststellung  der  Merkmale  der  Gefühle  geht  es  ähn- 
lich wie  bei  der  Feststellung  der  Gefüblselemente.  Es  genügte 
nicht,  die  Elemente  einfach  aufzuzeigen  wie  bei  den  Empfindungen, 
sondern  es  war  notwendig,  einige,  wenn  auch  nicht  tiefgehende 
methodische  Erörterungen  vorauszuschicken.  Ähnlich  hier:  Die 
Empfindungen  ordnen  sich  ohne  viel  Mühe  in  Systeme  und  inner- 
halb der  Systeme  wieder  nach  Dimensionen  —  in  den  Systemen 
wenigstens,  in  denen  sie  sich  Überhaupt  ordnen  lassen.  Bei  den 
Gefühlen  ist  die  Aufgabe  nicht  so  einfach  zu  erledigen.  Auch 
hier  wiederum  sind  die  Merkmale  nicht  einfach  aufzuzeigen,  son- 
dern bei  dem  Reichtum  an  verschiedenartigen  Gestaltungen,  der 
das  Gefühlsleben  auszeichnet,  möglichst  zweckentsprechend  zu- 
sammenzuordnen. Von  einer  wirklich  ausführlichen  systematischen 
Ordnung  dieser  Merkmale  kann  jedoch  keine  Rede  sein,  —  ich 
muß  mich  mit  einigen  Andeutungen  begnügen. 

Das  Aufzeigen  von  Merkmalen  eines  Gegenstandes  hat  einen 
doppelten  Zweck.  Einmal  soll  dadurch  der  Gegenstand  vollständig 
beschrieben  werden:  wenn  ich  alle  seine  Merkmale  angegeben 
habe,  dann  kenne  ich  vollkommen  die  Eigenart  des  betreffenden 
Gegenstandes.  Fernerhin  muß  jedoch  die  Angabe  der  Merkmale 
derart  beschaffen  sein,  daß  der  Gegenstand  im  System  der  in  Be- 
tracht kommenden  Tatsachen  eine  eindeutige  Stellung  zugewiesen 
erhalte.  Wenn  ich  von  einem  Ton  z.  B.  aussage:  er  ist  ein  Ton, 
und  zwar  ein  Geigenton  von  der  Höhe  a  und  einer  bestimmten 
Intensität,  so  habe  ich  den  Ton  —  vorausgesetzt,  daß  die  Klang- 
farbe der  Geige  bekannt  ist  —  genau  und  eindeutig  beschrieben. 
Zugleich  habe  ich  jedoch  auch  seine  Stellung  im  System  aller 
möglichen  Töne  bezeichnet;  das  System  der  Töne  erschöpft  sich 
in  der  Angabe  der  Klangfarbe,  Höhe  und  Intensität.  Es  sind  drei 
Fragen,  die  ich  an  jeden  Ton  stellen  muß,  um  seine  Stellung  im 
System  genau  zu  ergründen,  eben  die  nach  seiner  Klangfarbe, 
seiner  Höhe  und  seiner  Intensität. 

Dabei  dürfen  wir  nicht  vergessen,  daß  es  Fragen  verschiedener 
Ordnung  sind,  die  ich  an  eine  Empfindung  stelle,  bis  ich  ihre 
Eigenart  erkenne.  Zuerst  frage  ich  nach  dem  Empfindungssystem, 
dem  meine  Empfindung  angehört;  erst  wenn  ich  weiß,  daß  die 
betreffende  Empfindung  ein  Ton  ist,  kann  es  sich  darum  handeln, 

16* 


244 


Moritz  Geiger, 


zu  bestimmen,  von  welcher  Höhe,  Klangfarbe  nnd  Intensität  der 
Ton  ist.  Wir  dürfen  erwarten,  daß  es  bei  den  Gefühlen  eben- 
falls Gesichtspunkte  verschiedener  Ordnung  sind,  nach  denen  sie 
sich  gliedern.  Weiterhin  ist  zu  beachten:  Die  Aufzeigung  der 
Merkmale  kann  nach  doppelter  Methode  geschehen,  einmal  durch 
Ordnung  der  Merkmale  nach  Klassen  und  ferner  durch  Ordnung 
der  Merkmale  nach  Dimensionen.  Die  Ordnung  nach  Klassen  ge- 
schieht in  der  Weise,  daß  bestimmte,  sich  logisch  oder  empirisch 
exkludierende  Merkmale  als  Einteilungsprinzip  zugrunde  gelegt 
werden,  und  von  allen  sonstigen  Merkmalen  der  Objekte  Abstand 
genommen  wird.  So  ist  z.  B.  die  Einteilung  der  Empfindungen 
nach  ihren  Systemen  eine  Klasseneinteilung:  hier  sind  die  sich 
empirisch  ausschließenden  Merkmale  der  Hörbarkeit,  Sichtbarkeit, 
Riechbarkeit  usw.  als  Einteilungsprinzip  genommen.  Es  werden 
dann  einfach  alle  hörbaren  Empfindungen  zu  einer  Klasse  gesam- 
melt, alle  sichtbaren  zu  einer  andern,  usw. 

Die  Einteilung  nach  Dimensionen  dagegen  erfordert  ein  anderes 
Einteilungsprinzip:  es  sind  eine  Reihe  koordinierter  Gesichts- 
punkte notwendig,  nach  denen  sich  die  Merkmale  ordnen  lassen. 
Jeder  Gegenstand,  der  unter  die  Klasse  fällt,  die  dimensional 
eingeteilt  werden  soll,  muß  sich  unter  jeden  der  aufgestellten 
Gesichtspunkte  bringen  lassen,  und  zwar  so,  daß  zu  jedem  Punkt 
der  einen  Dimension  ein  Punkt  der  andern  gehört.  Eine  solche 
dimensionale  Einteilung  liegt  vor  bei  Tönen  und  Farben.  Bei  den 
Farben  z.  B.  sind  es  die  koordinierten  Gesichtspunkte  der  Sätti- 
gung, der  Helligkeit  und  des  Farbentons,  die  zur  Dimensionsein- 
teilung benutzt  werden;  es  lassen  sich  beliebig  irgendein  Sättigungs- 
grad, ein  Farbenton  und  eine  Helligkeit  verbinden:  es  gibt  im 
Reich  der  Farben  eine  bestimmte  Farbe,  die  den  gestellten  Be- 
dingungen genügt.  Die  Dimensionseinteilung  hat  also  gegenüber 
der  Klasseneinteilung  einen  beschränkten  Geltungsbereich,  da  wohl 
selten  diese  Zuordnung  der  Dimensionspunkte  zu  finden  ist.  Da- 
gegen liegt  bei  Tönen  und  Farben  der  besondere  Fall  vor,  daß 
alle  Merkmale  sich  dimensional  ordnen  lassen.  Das  braucht  nicht 
der  Fall  zu  sein:  es  könnte  z.  B.  sein,  daß  im  Gelb  die  Farben 
Merkmale  hätten  neben  Sättigung,  Helligkeit  und  Farbenton.  Dann 
behielten  natürlich  die  Farbendimensionen  ihr  gutes  Recht.  Nur 
müßten  wir  dann  für  jeden  einzelnen  Farbenton  Gliederungen 
höherer  Ordnung  eintreten  lassen,  die  wiederum  dimensionale  oder 


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Bemerkungen  zur  PsychotOgie  der  GefUhlselemente  usw.  245 

nach  Klassen  fortschreitende  Gliederungen  sein  könnten.  Eine 
Dimensionseinteilung  kann  also  absolut  sein,  wie  sie  bei  Tönen 
and  Farben  ist,  aber  auch  partiell,  nur  auf  einzelne  Merkmale 
aasgehend,  während  andere  Merkmale  sich  nicht  dimensional  ord- 
nen lassen.  Auch  innerhalb  einer  erschöpfenden  Dimension  kann 
dann  wiederum  Klasseneinteilung  Platz  greifen  usw.,  wie  es  ja 
tatsächlich  bei  der  Klangfarbe  der  Töne  der  Fall  ist,  wenn  wir 
die  Klangfarben  ordnen  nach  den  Instrumenten,  denen  sie  ihr  Da- 
sein verdanken. 

Ferner  sind  zwei  Arten  von  Dimensionen  zu  unterscheiden: 
die  kontinuierliche  und  die  diskrete  Dimension.  Kontinuierlich  ist 
eine  Dimension,  wenn  alle  Merkmale,  die  sich  zu  einer  Dimension 
ordnen,  eine  kontinuierliche  Reihe  bilden,  wie  dies  z.  B.  bei  Inten- 
sität und  Höhe  der  Fall  ist  Die  Dimension  der  Klangfarbe  da- 
gegen ist  diskret.  Es  gibt  keinen  in  den  Empfindungen  selbst 
liegenden  Grund  zur  Ordnung  der  Klangfarben  in  eine  stetige 
Reihe.  Man  könnte  beliebig  die  Reihe  Orgel-,  Flöten-,  Cello-,  Geigen- 
ton aufstellen,  als  auch  irgendeine  andere  Permutation  dieser  Reihe, 
wag  natürlich  die  größere  oder  geringere  Verwandtschaft  einzelner 
Klangfarben  nicht  ausschließt 

Eine  vollständige  Ordnung  der  Merkmale  der  Gefühle  schlösse 
eine  ausgeführte  GefUhlslehre  in  sich.  Nicht  darum  handelt  es 
sich  hier,  sondern  nur  um  eine  Aufzeigung  der  Gesichtspunkte, 
nach  denen  sich  die  Merkmale  ordnen  lassen. 

Die  erste  Ordnung  der  Gefühlselemente  ist  seit  je  eine  Klassen- 
ordnung oder,  wenn  man  lieber  will,  eine  Gruppenordnung.  Die 
Gefühle  gehören  entweder  der  Gruppe  der  Lust-Unlust-Gefühle, 
der  Gruppe  der  Erregungs-Hemmungs-Gefühle  usw.  an.  Ich  will 
diese  Einteilung  als  Einteilung  der  Gefühle  nach  ihrer  Gefühls- 
grnndlage  bezeichnen.  Sinnliche  Lust,  Trauer  und  Billigung, 
Vergnügen  und  Schönheit  haben  also  dieselbe  Gefühlsgrundlage: 
die  der  Lust-Unlust. 

Die  weitere  Einteilung  kann  nach  Dimensionen  geschehen,  und 
zwar  liegt  bei  den  Gefühlen  gegenüber  den  Empfindungen  der 
Unterschied  vor,  daß  nicht  wie  dort  die  einzelnen  Empfindungs- 
klassen gesonderte  Dimensionen  haben,  so  daß  die  Gesichtspunkte 
der  einen  Klasse  nicht  auf  die  der  andern  anwendbar  sind,  son- 
dern die  Dimensionen  der  Gefühle  gelten  für  alle  Gefühlsgrund- 
lagen  gleichmäßig.    Es  sind  drei  Dimensionen,  nach  denen  sich 


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246 


Moritz  Geiger, 


die  GeftihUelemente  aller  Gefühlsgrundlagen  ordnen  lassen:  1}  nach 
Intensität,  2)  nach  Richtungsbestimmtheit,  3)  nach  Gefühlscbarakter. 
Die  Intensität  der  Gefühle  bedarf  wohl  keiner  näheren  Erläuterung. 
Sie  ist,  wie  alle  Intensitätsdimensionen,  kontinuierlich. 

Die  Richtungsbestimmtheit  präzisiert  das  Gefühl  in  bezug  auf 
die  Gegensätze,  die  innerhalb  der  Gefühlsgrundlage  noch  möglich 
sind:  Ein  Gefühl  von  Lust-Unlust-Grundlage  kann  immer  noch 
Lust,  Unlust  oder  Indifferenz  sein.  Demgemäß  kennt  die  Rieh- 
tungsbestimintheit  nur  drei  verschiedene  Stufen:  Positivität,  In- 
differenz und  Negativität.  Die  Billigung  z.  B.  hat  positive  Rich- 
tungsbestimmtheit in  gleicher  Weise  wie  die  sinnliche  Lust;  die 
Notwendigkeit  hat,  da  ihre  Grundlage  die  Hemmung  ist,  negative 
Richtungsbestimmtheit,  dagegen  die  Erregung  positive.  Die  In- 
differenz ist  nicht  etwa  der  Mangel  eines  Gefühls,  sondern  das 
Vorhandensein  eines  positiven  Gefühls  der  Gleichgültigkeit  Und 
zwar  scheint  mir  die  Selbstbeobachtung  zu  zeigen,  daß  jede  Ge- 
fühlsgrundlage ihr  eigenes  Indifferenzgefühl  hat,  daß  Gleichgültig- 
keit gegen  Lust-Unlust  anders  geartet  ist  als  gegen  Erregung- 
Hemmung.  —  Die  Richtungsbestimmtheit  ist  eine  kontinuierliche 
Dimension.  Sie  führt  von  Positivität  Uber  Indifferenz  zur  Negativität. 

Unter  Gefühlscharakter  soll  die  bestimmte  Modifikation  ver- 
standen sein,  die  dem  Gefühl  einen  eigenartigen  Charakter  gibt, 
ohne  ihm  jedoch  seine  Einfachheit  zu  nehmen.  So  gehören  z.  B. 
Lust  und  Billigung  und  Schönheit  alle  derselben  Qefüfilsgmndlage 
an,  ebenso  die  Hemmung,  Notwendigkeit  und  Wirklichkeit  einer 
andern.  Wir  wollen  das,  wodurch  sie  sich  unterscheiden,  als 
ihren  Gefühlscharakter  bezeichnen. 

Die  Dimensionseinteilung  der  einzelnen  Gefühlsgrundlagen  ist 
eine  partielle.  Es  bleiben  noch  eine  Reihe  von  Eigentümlichkeiten, 
die  sich  nicht  dimensional  anordnen  lassen.  Z.  B.  geht  dem  Unter- 
schied der  Lust  an  rotem  und  an  weißem  Wein  auf  dem  Gebiet 
der  andern  Gefühlscharaktere,  z.  B.  der  Billigung,  kein  dement- 
sprechender  Unterschied  parallel.  Der  Sachverhalt  ist  daher  fol- 
gender: Intensität,  Richtungsbestimmtheit  und  Geftthlscharakter 
sind  innerhalb  derselben  Gcfühlsgrundlago  streng  dimensional. 
Daneben  sind  aber  noch  Unterschiede  vorhanden,  die  sich  nicht 
dimensional  ausschöpfen  lassen.  Und  zwar  sind  diese  Unterschiede 
als  innerhalb  des  Gefühlscharakters  liegend  anzusehen,  denn 
diese  Unterschiede  ändern  sich  mit  dem  Gefühlscharakter.  De 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Geftihlselemente  usw.  247 

Geflihlscharakter  als  Ganzes  ist  demnach  ein  Dimensionsbegriff  wie 
die  Klangfarbe,  aber  anch  wie  diese  zugleich  ein  Klassenmerkmal, 
wenn  wir  die  einzelnen  Gefühlscharaktere  betrachten.  Denn  alle 
Gefühle  haben  irgendeinen  Geftthlscharakter,  sowie  jeder  Ton 
irgendeine  Klangfarbe  hat  Aber  so  wie  die  Klangfarben  selbst 
sich  wieder  zu  Klassen  zusammenschließen  (Geigen-,  Trompeten- 
klangfarben), so  anch  die  Gefühlscharaktere. 

Jeder  Geftthlscharakter  für  sich  läßt  sich  nnn  wiederum  di- 
mensional  zerlegen.  Und  zwar  schwankt  die  Zahl  der  Dimen- 
sionen von  Charakter  zn  Charakter.  Vorkommen  können,  soviel 
ich  sehe,  vier  Dimensionen  innerhalb  des  Geftthlscharakters : 
erstens  die  Gefühlsmodulation,  zweitens  die  Gefühlsfärbung,  drit- 
tens die  Gefühlsbetonung,  viertens  die  Gefühlsnuance. 

Es  wurde  oben  schon  darauf  hingewiesen,  daß  die  Notwendig- 
keit niemals  bloße  Notwendigkeit,  sondern  stets  subjektive  oder 
objektive  Notwendigkeit  ist.  Der  Gefühlscharakter  (die  Notwendig- 
keit) ist  in  beiden  Fällen  derselbe;  was  sich  ändert,  ist  eine  Mo- 
difikation des  Gefühls,  die  ich  als  Geftthlsmodulation  bezeichnen 
will.  Dabei  heiße  in  Hinsicht  auf  die  Geftihlsmodulation  der  Ge- 
fühlscharakter (Notwendigkeit  z.  B.)  das  modulierte  Gefühl  (rich- 
tiger Gefühlsbestandteil),  der  andere  Bestandteil  (die  Subjektivität 
also)  das  modulierende  Gefühl.  Ein  anderes  Beispiel  für  das 
modulierende  Gefühl  wäre  z.  B.  die  Aktivität  im  aktiven  Streben. 
Psychologisch  steht  die  Sache  so,  daß  das  modulierte  Gefühl 
das  Wesentliche,  das  modulierende  das  Hinzutretende  ist.  Die 
modulierenden  Gefühle  bewegen  sich  in  Gegensätzen  (Aktivität  und 
Passivität,  Subjektivität  und  Objektivität).  Ein  moduliertes  Ge- 
fühl kann  mehrere  modulierende  Faktoren  haben  (Aktivität  und 
Subjektivität  z.  B.),  niemals  aber  umgekehrt.  —  Da  nur  eine  Zwei- 
heit  der  Differenzierung  der  Merkmale  besteht,  so  hat  die  Frage 
nach  der  Kontinuität  der  Dimension  keinen  Sinn. 

Zweitens  können  Begehren,  Verlangen,  Wünschen  usw.  ein- 
fache Gefühle  sein.  Das  tut  der  Kompliziertheit  ihres  Entstehens 
und  ihrer  Vorstellungsgrundlage  keinen  Eintrag.  Sie  sind,  um 
einen  später  zu  gebrauchenden  Ausdruck  vorwegzunehmen,  Ver- 
schmelzungsgefühle.  Sie  haben  alle  den  gemeinsamen  Gefühls- 
charakter des  Strebens.  Die  Modifikation,  durch  die  sie  sich 
unterscheiden,  wollen  wir  die  Gefühlsfärbung  nennen.  Gefühla- 
lärbung  des  Charakters  der  Wirklichkeit  wäre  z.  B.  das  Bewußtsein 


248 


Moritz  Geiger, 


der  Wirklichkeit  so  gut  wie  das  der  Möglichkeit.  Die  Gefühls- 
färbung  ist  eine  diskrete  Dimension. 

Drittens  das  Lustgefühl  beim  Anhören  eines  hohen  Tons  ist 
anders  als  das  beim  Anhören  eines  tiefen.  Jener  zeichnet  sich 
(siehe  Lipps,  Psychologische  Studien)  durch  Einfachheit,  Spitz- 
heit usw.  aus,  dieser  durch  Breite,  Tiefe,  in  manchen  Fällen  viel- 
leicht durch  Reichtum.  Derartige  Modiiikationen  des  Gefühls 
seien  als  Gefühlsbetonungen  bezeichnet.  Die  Gefühlsbetonungen 
haben  die  Eigentümlichkeit,  gleichen  Namen  mit  sehr  komplexen 
Gefühlsverbindungen,  wie  etwa  den  Gefühlen  des  Reichtums, 
zu  tragen.  Ich  hatte  ja  in  dem  Beispiel  die  Geftthlsbetonungen 
boschrieben,  indem  ich  sie  als  Reichtum,  Einfachheit  usw.  be- 
zeichnete; ich  gab  also  zu  ihrer  Beschreibung  Namen  an,  die  sehr 
komplexen  Gefühlen  zukommen.  Es  liegt  das  daran,  daß  die 
Sprache  nach  praktischen  Bedürfnissen  ihre  Bezeichnungen  wählt 
Da  für  ihre  Bedürfnisse  die  komplexen  Gefühle  zunächst  in  Be- 
tracht kommen,  so  bedeutet  Reichtum  usw.  zunächst  nicht  die 
Gefühlsbetonung,  sondern  das  komplexe  Gefühl.  In  der  Tat  liegt 
es  jedoch  so,  daß  für  diejenige  Art  der  Gefühlsbetonung,  die  bei 
der  entsprechenden  Gefühlsverbindung  besonders  heraustritt,  bei 
den  einfachen  Gefühlen  der  Name  des  betreffenden  komplexen 
Gefühls  eintritt. 

Unter  der  vierten  Dimension,  der  Geftlhlsnuance,  fassen  wir 
all  die  kleinen  Unterschiede  der  einfachen  Gefühle  zusammen,  die 
keinen  sprachlichen  Ausdruck  gefunden  haben.  Es  gehören  hierher 
z.  B.  die  verschiedenen  Arten  der  sinnlichen  Lust,  wie  sie  durch 
die  Verschiedenheit  der  Vorstellungsgrundlage  bedingt  sind,  z.  B. 
die  Unterschiede  der  Lust  beim  Verzehren  einer  Frucht  und  beim 
Trinken  eines  Glases  Wein.  Es  erscheint  notwendig,  diese  vier 
Dimensionen,  deren  Unterschiede  wir  uns  bis  jetzt  vor  allem  au 
Beispielen  klargemacht  haben,  auch  theoretisch  durch  Angabe 
ihrer  Besonderheiten  festzulegen.  Für  die  Gefühlsmodulation  ist 
das  bereits  geschehen:  sie  ist  ausgezeichnet  durch  die  Bewegung 
in  Gegensätzen  und  ferner  dadurch,  daß  das  modulierende  Gefühl 
als  Bestimmung  des  modulierten  (Subjektivität  als  Bestimmung  der 
Notwendigkeit)  erscheint,  während  z.  B.  bei  den  andern  Dimen- 
sionen die  Dimension  als  Charakteristikum  des  ganzen  Gefühls- 
elements aufzufassen  ist,  —  z.  B.  ist  die  Geftihlsfärbung  im  »Ver- 
langen« eine  Färbung  des  Gesamtgeftlhls  des  Verlangens. 


Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Gefühlselemente  uaw.  249 


Auf  einem  andern  Gebiet  liegen  die  Unterschiede  von  GefÜhls- 
betonnng,  Gefühlsfarbung  und  GefÜhlsnuance. 

Für  die  Gefühlsbetonungen  charakteristisch  ist,  daß  sie  nur  als 
Gefühlsseite  gegenständlicher  Bestimmungen  erscheinen;  sie  sind 
zwar  ihrer  Gefühlsseite  nach  Merkmale  des  Elements,  dem  sie 
zugehören,  ihrer  gegenständlichen  Seite  nach  aber  vollkommen  selb- 
ständige Bestimmungen  des  Gegenstandes.  So  ist  der  Ton  breit, 
spitz,  reich,  wenn  auch  die  Gefühle  der  Breite,  der  Spitzheit,  des 
Reichtums  nur  Merkmale  des  Tongefühls  sind. 

Die  Geftthlsnnancen  nehmen  eine  Zwischenstellung  ein:  sie 
verdanken  ihr  Dasein  der  Individualität  des  Gegenstands,  etwa 
dem  Umstand,  daß  der  Wein  ein  bestimmter  Rotwein  ist,  und 
diese  Beziehung  der  GefÜhlsnuance  zum  Gegenstand  wird  auch 
unmittelbar  erkannt;  aber  dennoch  werden  sie  keineswegs  als 
Bestimmtheiten  des  Gegenstands  angesehen:  z.  B.  dieser  Rotwein 
schmeckt  anders  als  jener  Weißwein,  das  bedeutet  nicht,  daß 
irgendeine  Bestimmtheit  am  Rotwein,  sondern  daß  seine  Gefühls- 
wirkung auf  mich  eine  andere  ist. 

Übrigens  können  all  diese  Angaben  von  Eigenschaften  der 
Dimensionen  nur  Hinweise  sein.  So  wenig  es  etwa  möglich  ist, 
Sättigung,  Helligkeit  und  Farbenton  nur  durch  Definitionen  ohne 
Anschauung  dem  Verständnis  näher  zu  bringen,  so  wenig  ist  es 
bei  den  Dimensionen  des  Gefühlscbarakters  möglich.  Das  einzige, 
was  geschehen  kann,  ist,  durch  eine  Abgrenzung  der  Eigenschaften 
der  Dimensionen  auf  sie  hinzuweisen. 

Wir  haben  also  die  GefÜhlselementc  in  ihren  Merkmalen  fol- 
gendermaßen bestimmt:  Die  Gefühle  unterscheiden  sich  nach  Ge- 
fühlsgrundlagen. Innerhalb  jeder  Grundlage  ordnen  sie  sich  nach 
Intensität,  Richtungsgegensatz  und  GefÜhlscharakter.  Innerhalb  des 
Gefühlscharakters  eventuell  nach  Gefühlsmodulation,  Gefühlsfär- 
bung, Gefühlsbetonung  und  Gefühlsnuance. 

Um  ein  Beispiel  herauszugreifen:  Das  Gefühl  beim  starken 
Hinsehen  nach  einem  Gegenstand  etwa  gehört  der  Gefühlsgrund- 
lage der  Spannung-Lösung  an.  Seiner  Intensität  nach  ist  es  nicht 
genau  angebbar,  aber  jedenfalls  am  von  0  abgewandten  Ende  der 
Skala,  seine  Richtungsbestimmtheit  ist  positiv  (Spannung),  sein 
GefÜhlscharakter  Streben.  Sein  Gefühlscharakter  ist  näher  be- 
stimmt durch  die  Merkmale  der  Aktivität  (Gefühlsmodulation); 
denn  es  ist  ein  Streben,  bei  dem  keineswegs  vom  Gegenstand 


250 


Moritz  Geiger, 


meine  Aufmerksamkeit  auf  sich  gezogen  wird,  sondern  bei  dem 
ich  meine  Aufmerksamkeit  auf  den  Gegenstand  richte.  Zu  den 
Gefühlsbetonungen  wären  die  Unterschiede  des  StrebensgefÜhls  zu 
rechnen,  die  sich  auf  die  Seite  am  Gegenstand,  die  erstrebt  wird, 
beziehen.  Es  käme  hier  als  Gefühlsbetonung  also  in  Betracht, 
daß  es  apperzeptives  Streben  ist,  das  hier  vorliegt,  daß  die  Ap- 
perzeption des  Gegenstandes  erstrebt  wird.  Als  GefÜblsfärbnng 
wäre  die  Entschiedenheit  des  Strebens  anzusehen  und  als  Gefthls- 
nuance  diejenigen  Merkmale  am  Streben,  die  bestimmt  sind  durch 
die  Individualität  des  Gegenstandes,  den  ich  betrachte. 

3)  GefUhlsverbindung  und  Gefühlskombination. 

Wir  haben  festgesetzt,  was  im  folgenden  als  Geftiblselement 
betrachtet  werden  soll.  Jetzt  taucht  das  neue  Problem  auf,  in 
welcher  Weise  in  der  einheitlichen  Geftihlslage  jedes  Moments 
die  Elemente  enthalten  sind. 

Die  Frage  erscheint  nicht  überflössig,  wenn  man  bedenkt,  daß 
die  Geflthlslage  eine  Einheit,  ein  Totalgefühl  ist,  in  dem  sich  die 
einzelnen  Gefühle  nicht  getrennt  befinden.  Drei  Momente  sind  es, 
die  uns  die  Herauslösung  der  Gefühlselemente  möglich  machen: 
zwei  unmittelbare  und  ein  mittelbares. 

Zunächst  ist  eine  erste  Erkennung  von  Unterschieden  im  Total- 
gefühl dadurch  möglich,  daß  die  Einheit  der  Gefühlslage  sich  un- 
mittelbar in  einer  einzigen  Gefühlsgrundlage  kundgibt,  daß  das 
Totalgefühl  als  Lust  oder  Unlust,  Erregung  oder  Beruhigung  erlebt 
wird.  Das  bedeutet  für  das  Gefühl:  Unter  den  verschiedenen 
Gefühlselementen,  die  im  Totalgefühl  eines  Moments  enthalten 
sind,  dominieren  Elemente  einer  Gefühlsgrundlage  Ist  das 
Geflihl  im  Moment  darauf  gegenständlich  geworden,  so  wird  die- 
jenige Gefllhlsgrundlage,  die  im  Erleben  dominierte,  apperzeptiv 
herausgehoben  sein  und  dadurch  von  dem  Hintergrund  des  Total- 
gefühls gesondert  werden,  so  daß  sie  gesondert  erkannt  werden  kann. 

Das  zweite  Moment  ist  die  Beziehung  der  Gefühle  auf  Gegen- 
stände. Diejenigen  Partialge  ftihle,  die  sich  auf  Gegenstände  be- 
ziehen, sind  als  solche  aus  der  Gesamtheit  des  Totalgefühls  her- 
ausgehoben und  werden  dadurch  gesondert  erkannt.  Wenn  sich 
auch  alle  PartialgefÜhle  irgendwie  auf  Gegenstände  beziehen,  so 

1)  Vgl.  Wundt,  Grundriß  der  Psychologie,  den  Abschnitt:  Die  zu- 
sammengesetzten Gefühle. 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Gefiihlseleuiente  usw.  251 

stehen  doch  die  meisten  dieser  Gegenstände  keineswegs  im  Mittel- 
punkt dieser  Apperzeption.  Wenn  ich  z.  B.  ein  Haus  betrachte, 
so  ist  meist  nnr  das  Hans  zentral  apperzipiert;  die  Gemeinempfin- 
dnngen,  die  ich  gleichzeitig  habe,  treten  apperzeptiv  zurück.  Es 
gilt  nun  der  Satz,  daß  diejenigen  Gefühle,  die  auf  apperzeptiv 
herausgehobene  Gegenstände  bezogen  sind,  durch  diese  Beziehung 
aus  der  Gesamtheit  des  Totalgefuhls  sich  loslösen,  so  daß  sie  ge- 
sondert erkannt  werden  können. 

Dazu  kommt  ein  drittes,  mittelbares  Moment: 

Kehrt  irgendein  Gefllhlsmoment  wieder,  das  vorher  entweder 
dominierte  oder  auf  eine  apperzeptiv  herausgehobene  Vorstellung 
bezogen  war,  so  braucht  jetzt  zwar  keine  dieser  isolierenden  Be- 
dingungen vorzuliegen.  Dennoch  vermögen  in  der  retrospektiven 
Analyse  die  Dispositionen  der  früheren  Elemente  die  ihnen  gleich- 
artigen des  jetzigen  Gefühls  herauszuheben  und  dadurch  erkenn- 
bar zu  machen. 

Die  so  herausgesonderten  Gefiihlselemente  sind  jedoch  tatsäch- 
lich niemals  gesondert  vorhanden,  sondern  stets  untereinander 
zu  engeren  oder  loseren  Verbindungen  verknüpft. 

Eine  Lehre  von  den  Verbindungen  der  Gefühle  kann  auf  die 
verschiedenste  Weise  gegeben  werden. 

Man  kann  einmal  untersuchen,  wie  sich  die  Gefühle  durch  ihre 
zeitliche  Aufeinanderfolge  zusammensetzen,  wie  zusammengehörige 
Gefühle  einen  einheitlichen  Geftihlsverlauf  bilden.  Das  geschieht 
in  der  Lehre  von  den  Affekten  und  den  WillensvorgUngen.  Hier 
soll  uns  der  zeitliche  Verlauf  der  Gefühle,  ihre  Zusammensetzung 
zu  Gefühlsprozessen  nicht  interessieren.  Wenn  Affekte  in  Betracht 
gezogen  werden,  so  soll  weder  die  Art  ihres  An-  und  Absteigens 
betrachtet  werden,  noch  die  Aufeinanderfolge  verschiedener  Ge- 
fühle, sondern  einzig  und  allein  die  qualitative  Zusammensetzung 
ihres  Grundcharakters,  wie  etwa  bei  der  Hoffnung  die  Erregung 
und  die  Lust  usw. 

Ferner  wäre  eine  Lehre  von  der  Verbindung  der  Gefühle  mög- 
lich, indem  man  sie  in  ihrer  Abhängigkeit  von  der  Gegenstands- 
seite des  Bewußtseins  betrachtet,  z.  B.  die  qualitative  Veränderung 
der  Gefühle  und  ihrer  Verbindungen  feststellt  bei  Änderong  der 
Vorstellung88eite  usw. 

Und  endlich  ist  eine  Lehre  von  der  Verbindung  der  Gefühle 
denkbar,  die  nur  die  GcfUhlsseite  betrachtet  und  und  sich  damit 


252 


Moritz  Geiger. 


beschäftigt,  wie  die  PartialgefUhle  eines  Moments  sich  vereinheit- 
lichen zu  dem  einheitlichen  Totalgefühl  eines  Moments.  Mit  diesem 
Problem  hat  sich  Wundt1)  beschäftigt  und  zur  Orientierung  Par- 
tialgcfuhle  verschiedener  Ordnung  eingeführt. 

Dasselbe  Problem  soll  uns  von  einer  etwas  andern  Seite  her 
ebenfalls  beschäftigen.  Aus  dem  allgemeinsten  Problem  die  Ver- 
bindungen der  Gefühle  im  TotalgefUhl  aufzuzeigen,  greifen  wir 
ein  spezielleres  heraus. 

Der  Aufbau  des  Totalge flihls  aus  den  Partialgefühleii  nämlich 
ist  teilweise  der  Aufbau  eines  Einheitlichem  aus  zufällig  Zusammen- 
getroffenem. Ich  rieche  zufallig  Leuchtgas  und  höre  eine  Melodie. 
Die  > Seele  nimmt  Stellung«  zu  beiden  Eindrücken,  d.  h.  beides 
erzeugt  Gefühle  in  mir,  und  da  diese  Gefühle  zufällig  gleichzeitig  in 
mir  sind,  so  wirken  sie  beide  mit  zum  Aufbau  eines  TotalgefUhls. 

Es  gibt  aber  eine  Reihe  von  Gefühlen,  deren  gleichzeitiges 
Vorhandensein  kein  zufälliges  ist;  die  Gefühle  stehen  in  irgend- 
welcher Beziehung  zueinander,  schon  durch  die  Bedingungen  ihres 
Entstehens.  Beide  beziehen  sich  z.  B.  auf  denselben  Gegenstand. 
Wenn  mich  etwas  angenehm  überrascht,  so  ist  nicht  zufällig  ein 
Gefühl  der  Lust  und  auch  ein  Gefühl  der  Überraschung  vorhanden, 
sondern  dasselbe,  das  mich  überraschte,  war  mir  auch  lustvoll. 

Überall,  wo  eine  Beziehung  zwischen  zwei  gleichzeitigen  Ge- 
fühlen durch  ihre  Entstehuugsbedinguugen  vorhanden  ist,  mag 
diese  Beziehung  seiu,  welche  sie  wolle  —  das  ist  die  exaktere 
Bezeichnung  dessen,  was  oben  mit  »uicht  zufällig«  bezeichnet 
worden  ist  — ,  bilden  diese  Gefühle  innerhalb  des  Ganzen  des 
TotalgefUhls  ein  Ganzes  für  sich.  Wir  wollen  nur  diese  zusam- 
mengehörenden Totalgefühle  innerhalb  des  Gefühlsganzen  eines 
Moments  als  Gefühlsverbindungen  bezeichnen,  während  wir 
die  sonstigen  Verbindungen  der  Gefühle  mit  dem  Ausdruck  Ge- 
fühlskombinationen  benennen  wollen. 

Übrigens  kann  die  Geftlhlskombination  unter  Umständen  sehr 
wohl  eine  engere  Verbindung  von  Gefühlen  darstellen  als  die 
Gefühlsverbindung,  zumal  wenn  die  gegenständlichen  Inhalte,  auf 
die  sich  die  Gefühlskombiuation  aufbaut,  selbst  schon  verwandte 
Momente  in  sich  enthalten.  —  Es  gibt  z.  B.  wohl  keine  Gefühls- 
verbindung, die  enger  ist.  als  die  GcfUhlskombination,  die  zustande 


1  Grundztige  der  Physiol.  Psych.   Bd  II,  S.  341. 


Bemerkungen  zur  Psychologie  der  GefUhlseleraente  usw.  253 

kommt  durch  die  Unsumme  innerer  Empfindungen,  die  in  jedem 
Moment  des  Lebens  vorhanden  sind,  —  das  Gemeingefühl.  Trotz- 
dem bezeichnen  wir  diese  Verbindung  der  Gefühle,  die  den  eigent- 
lichen Gefühlshintergrund  des  Moments  bildet,  nicht  als  Gefühls- 
Verbindung,  sondern  als  Gefühlskombination,  da  weder  die  Inhalte, 
die  die  Grundlage  des  Gemeingeftihls  bilden,  noch  die  Gefühle 
selbst  in  irgendwelcher  sachlichen  psychologischen  Beziehung  in 
bezug  auf  ihr  Auftreten  stehen  oder  wenigstens  zu  stehen  brauchen. 
Überaus  lose  dagegen  ist  rein  phänomenologisch  die  Verbindung 
der  Gefühle  im  Gefühl  einer  neuen  Möglichkeit.  Dennoch  liegt 
hier  eine  Gefühlsverbindung  vor,  denn  es  ist  nicht  zufällig  ein 
Gefühl  der  Neuheit  und  ein  Gefühl  der  Möglichkeit  vorhanden, 
sondern  »die  Möglichkeit  ist  neu«.  Was  das  heißt,  wird  später 
besprochen  werden. 

Wie  man  sieht,  ist  bei  dieser  Einteilung  der  Verbindungen  der 
Gefühle  der  rein  phänomenologische  Gesichtspunkt,  der  bei  der 
Abgrenzung  des  Gefühlselements  wie  der  Einteilung  der  Eigen- 
tümlichkeit der  Gefllhlselemente  maßgebend  war,  verlassen  und 
auf  die  Bedingungen  des  Entstehens  der  Verbindungen  eingegangen 
worden.  Denn  die  Scheidung  zwischen  Gefühlsverbindung  und 
Gefühlskombination  geschieht  unter  Rücksichtnahme  auf  die  Ent- 
stehung der  Gefühle.  Natürlich  stehen  beide  Gesichtspunkte  im 
engsten  Zusammenhang;  es  ist  ja  selbstverständlich,  daß  der 
Charakter  der  Vorstellungsgrundlage  des  Gefühls  mit  ausschlag- 
gebend ist  für  den  Charakter  der  Verbindung  der  Gefühle  im  Total- 
gefühl.  Im  folgenden  wird  stets  das  Hauptgewicht  auf  das 
Phänomenologische  gelegt  werden,  die  Aufzeigung  der  Entstehungs- 
bedingungen jedoch  als  Hilfsprinzip  zur  Ordnung  der  Verbindungen 
im  einzelnen  herangezogen  werden. 

Der  Gegenstand  der  vorliegenden  Arbeit  ist  nur  die  Unter- 
suchung der  Gefühlsverbindungen,  nicht  der  GefUhlskombinationen. 
Die  Problemstellung  lautet  also:  Welche  Gefühls  Verbindungen 
entstehen,  wenn  Gefühlselemente  gleichzeitig  gegeben 
sind,  deren  Entstehungsbedingungen  im  Zusammenhang 
stehen? 

Diese  Problemstellung  hat  immer  noch  einen  doppelten  Sinn, 
einen  materialen  und  einen  formalen.  Es  könnten  alle  GefÜhls- 
Terbindungen  ihrem  Inhalte  nach  in  systematischer  Übersicht  auf- 
gezeigt werden.    Oder  es  könnten  auch  nur  die  Formen  der 


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254 


Moritz  Geiger, 


Gefühlsverbindungen  angegeben  werden;  es  könnte  dargetan  werden: 
welche,  nicht  ihrem  Inhalt,  sondern  ihrem  Verbindungscharakter 
nach  verschiedene  Verbindungen  die  Gefühle  eingehen  können. 
Die  einzelnen  GefUhlsverbindungen  würden  hier  ihren  GefÜhla- 
elementen  nach  nur  beispielsweise  namhaft  zu  machen  sein. 

In  dieser  Arbeit  soll  nur  das  letztere  Problem,  das  formale, 
behandelt  werden,  das  natürlich  mit  dem  materialen  zusammen- 
hängt. Also  nicht,  welche  Gefühle  sich  miteinander  verbinden, 
sondern  wie  sich  Gefühle  miteinander  verbinden,  soll  in  den  Vor- 
dergrund des  Interesses  treten. 

4j  Verbindungsgefühle  und  GefUhlsverbindungen  ver- 
schiedener Ordnung. 

GefUhlsverbindungen  kommen  zustande,  wenn  für  die  Entste- 
hung mehrerer  Gefühle  Bedingungen  vorhanden  sind,  die  in  irgend- 
welcher sachlichen  Beziehung  stehen. 

Der  rein  theoretische  Gesichtspunkt,  der  hier  für  die  Definition 
der  Gefühlsverbindung  herangezogen  ist,  deckt  sich  nicht  ohne 
weiteres  mit  dem  phänomenologischen  Tatbestand,  den  wir  unter- 
suchen wollen.  Denn  von  diesem  rein  theoretischen  Gesichtspunkt 
aus  müßten  sehr  viele  elementare  Gefühle  Gefühlsverbindungen 
sein.  Nehmen  wir  einmal  an,  ein  Eindruck  trage  als  solcher 
Bedingungen  der  Lust  in  sich.  Es  gehen  ihm  außerdem  andere 
unangenehme  Eindrücke  voraus.  Es  wird  dann  durch  den  Kon- 
trast der  Vorstellungen,  wie  wir  kurz,  aber  ungenau  sagen  können, 
eine  neue  Bedingung  für  Lust  geschaffen.  Es  sjnd  Talso.  zwei 
Bedingungen  für  Lust,  die  eine  durch  den  Eindruck  als  solchen, 
die  andere  durch  den  Kontrast,  gegeben.  Das  Bewußtseinsergebnis 
sind  aber  nicht  etwa  zwei  Lustgefühle,  sondern  ein  besonders 
intensives  Lustgefühl.  Wird  man  etwa  dieses  intensive  Lustgefühl 
als  eine  Gefühlsverbindung  bezeichnen  wollen?  Dann  gäbe  es 
wohl  kaum  ein  Gefühl,  dem  man  diese  Bezeichnung  vorenthalten 
dürfte,  denn  jedes  Gefühl  kommt  durch  Zusammenwirken  sehr 
verschiedenartiger  Bedingungen  zustande.  Wir  müssen  also  zu 
dem  theoretischen  Gesichtspunkt  in  der  Definition  noch  einen  phä- 
nomenologischen hinzufügen,  der  dem  Bewußtseinsphänomen  der 
Gefühlsverbindung  gerecht  wird.  Eine  Gefühls  Verbindung  kann 
sich  im  Bewußtsein  nur  durch  das  Vorhandensein  mehrerer  gleich- 
zeitiger Gefühle  kundgeben.    Zu  einer  Gefühlsverbindung  gehört, 


L 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Gefithlselemente  usw.  255 


daß  mehrere  bewußt  vorhandene  Gefühle  eine  Gefühlseinheit  bilden. 
Die  Gefühls  Verbindung  umfaßt  also  mindestens  drei  Bestandteile: 
mindestens  zwei  bewußte  PartialgefÜhle  und  ein  Totalgefühl,  das 
mehr  ist,  als  die  Summe  der  einzelnen  PartialgefUhle,  vielmehr 
eine  höhere  Einheit,  die  beide  zusammenhält.  Natürlich  können 
diese  verschiedenen  Gefühle  nur  zustande  kommen,  wenn  auch 
verschiedene  Bedingungen  für  sie  vorhanden  sind.  Und  diese 
Bedingungen  müssen  in  Beziehung  stehen,  wenn  wir  von  einer 
Gefühls  Verbindung  und  nicht  von  einer  Gefühlskombination  reden. 
Aber  umgekehrt  können,  wie  wir  eben  sahen,  verschiedene  Be- 
dingungen für  Gefühle  sehr  wohl  ein  einheitliches  Gefilhl  hervor- 
bringen, ein  Gefühl,  das  vom  phänomenologischen  Gesichtspunkt 
aas  elementar  ist.  Wenn  dies  der  Fall  ist,  wenn  verschieden- 
artige Gefühlsbedingungen  ein  einheitliches  Gefühl  hervorbringen, 
so  werden  wir  im  folgenden  stets  nicht  von  einer  Gefühlsverbin- 
dung, sondern  von  einem  Verbindungsgefühl  reden.  Wann 
eine  Mehrheit  von  Bedingungen  ein  einziges  Verbindungsgefühl 
and  wann  sie  eine  Gefühlsverbindung  hervorruft,  das  hier  zu  unter- 
suchen würde  zu  weit  führen.  Die  Abgrenzung  der  Gefühlsver- 
bindung geschieht  demnach  durch  ein  rein  phänomenologisches  und 
durch  ein  theoretisches,  d.  h.  auf  die  Entstehungsbedingungen  re- 
kurrierendes Merkmal.  Die  Beziehung  der  GefUhlsbedingungen 
zueinander  ist  das  theoretische,  das  Vorhandensein  von  Totalgefuhl 
mit  Partialgeflihlen  das  phänomenologische  Merkmal.  Die  Kreu- 
zung dieser  Gesichtspunkte  zeigt  folgendes  Schema: 

Es  sind  gegeben  zwei  Bedingungen  für  Gefühle.  Sie  stehen 
der  Entstehung  nach: 


In  keinem  Zu- 
sammenhang : 


Im  Zusammen- 
hang: 


Ein  Gefühl: 

Sie  bewirken 


Verbindungs- 
gefühl. 


phänomeno-  <  Ein  Totalge- 
logisch         fohl  mit  Par- 
tialgefühlen: 


Gefühlskom- 
bination 


Geftihlsver- 
bindung. 


Das  Verbindungsgefühl  ist  also  ein  elementares  Gefühl  unter 
dem  Gesichtspunkt  seines  Entstehens  aus  einer  Mehrheit  von  Ge- 
fühUbedingungen.    Es  wird  uns  daher  nur  insoweit  beschäftigen, 


Moritz  Geiger, 


als  es  im  ganzen  der  Untersuchung,  die  den  Gefühlsverbindungen 
gewidmet  sein  soll,  erforderlich  scheint. 

Unter  den  Formen  der  Gefühlsverbindung  soll  uns  jedoch  nur 
ein  bestimmter  Teil  beschäftigen,  nämlich  nur  die  einfachsten.  Das 
GefUhl  freudiger  Überraschung  z.  B.  ist  aus  einer  ganzen  Reibe 
von  Geftihlselementen  zusammengesetzt,  aus  Gefühlen  der  Lost, 
der  Hemmung,  der  Spannung  usw.  Eine  vollkommene  Analyse 
der  Geftlhlsverbindung  wäre  erst  dann  gegeben,  wenn  gezeigt 
wäre,  wie  die  HemmungsgefÜhle  mit  den  Spannungsgeftlhlen  ver- 
bunden sind,  jedes  von  diesen  mit  der  Lust  usw.,  und  wie  aus 
allem  dem  eine  Einheit  entsteht.  Das  ergäbe  natürlich  eine  Verbin- 
dung sehr  komplizierter  Form. 

Wir  vereinfachen  uns  die  Untersuchung  in  dreifacher  Weise: 
Einmal  betrachten  wir  diese  Gefühlsverbindungen  stets  nur,  inso- 
weit sie  die  Verbindungen  zweier  Gefühle  sind,  etwa  Lust  mit 
Erregung  usw.  Ferner  gehen  wir  dabei  nicht  auf  die  Verbin- 
dungen von  Gefühlselementen  zurück;  vielmehr  genügt  es  uns, 
die  Verbindung  zweier  Gefühle  festzustellen  {ohne  Rücksicht  darauf, 
ob  sie  elementar  sind  oder  nicht),  wenn  ihre  Verbindung  über- 
haupt im  Totalgefühl  gesondert  betrachtet  werden  kann.  Wir 
betrachten  daher  das  Gefühl  freudiger  Überraschung  als  eine  Ver- 
bindung von  Lust  mit  Überraschung,  obwohl  die  Überraschung 
selbst  eine  Gefühlsverbindung  ist. 

Drittens  betrachten  wir  die  Verbindungen  von  mehr  als  zwei 
Elementen  dann  als  einfache  Geftlhlsverbindung,  wenn  diese  Ge- 
fühle nicht  mehr  als  zwei  Arten  von  Verbindungswerten  in  sieb 
enthalten,  d.  h.  wenn  ein  PartialgefÜhl  dominierend  heraustritt, 
und  alle  andern  PartialgefÜhle  in  gleicher  Weise  sich  mit  den 
ersten  verbinden.  Die  Überraschung  mag  z.  B.  eine  Verbindung 
von  sehr  vielen  Gefühlen  sein,  es  tritt  doch  nur  eine  Geftthlsgrund- 
lage,  die  der  Hemmung,  deutlich  heraus,  alle  übrigen  sind  zwar 
herausanalysierbar,  treten  aber  in  gleicher  Weise  hinter  dem 
dominierenden  Gefühl  zurück.  Wir  betrachten  also  die  Uber- 
raschung  als  eine  Verbindung  von  Gefühlen  der  Hemmung  mit 
einer  Einheit  anderer  Gefühle  und  fassen  deshalb  die  Überraschung 
als  einfache  Geftlhlsverbindung  auf. 

Die  so  abgegrenzten  Gefühlsverbindungen  bezeichnen  wir  als 
einfache  Geftihlavcrbindungen  oder  als  Geftlhlsverbindungen  erster 
Ordnung.    Sie  sind  natürlich  nur  Abstraktionen  aus  den  tatsäcb- 


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Bemerkungen  rar  Psychologie  der  GefÜhtoelemente  usw. 


257 


lioh  vorhandenen  weit  komplizierteren  Gefühls  Verbindungen.  Ein 
Gefühl  freudiger  Überraschung  wäre  also  tatsächlich  mindestens 
eine  GefUhlsverbindung  zweiter  Ordnung.  Sie  wäre  eine  Verbin- 
dung von  HemmungsgefUhlen,  einer  Reihe  anderer  für  die  Art 
ihrer  Verbindung  gleichwertiger  Gefühle,  und  Lustgefühlen.  Wir 
betrachten  sie  jedoch  hier  nur  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Ver- 
bindung erster  Ordnung.  Sie  enthält  dann  zwei  Verbindungen 
erster  Ordnung:  die  Verbindung  der  Partialgefuhle  zur  Überra- 
schung und  die  Verbindung  von  Lust  mit  Überraschung. 

Dieser  Gesichtspunkt  zur  Einteilung  der  Gefühlsbedingungen 
erster,  zweiter,  dritter  Ordnung  deckt  sich  also  keineswegs  mit 
den  Wun  dt  sehen  Partialgefuhlen  erster,  zweiter  usw.  Ordnung. 
Bei  den  Ordnungen  der  Partialgefuhle  ist  der  synthetische  Gesichts- 
punkt maßgebend.  Wun  dt  fragt:  Wie  setzen  sich  die  letzten 
Elemente  der  Gefühle,  die  sich  in  diesem  Sinne  nicht  vollkom- 
men mit  den  von  uns  definierten  Elementen  decken,  zusammen? 
Und  je  mehr  Elemente  in  dem  Gefühl  enthalten  sind,  desto  höherer 
Ordnung  ist  es.  Umgekehrt  kommt  es  bei  der  Ordnungszahl  der 
Gefühlsverbindungen  gar  nicht  auf  die  Zahl  der  Elemente  im  be- 
trachteten Gefühl  an,  sondern  es  wird  vom  zusammengesetzten 
Gefühl  aus  gerechnet,  in  wieviel  Bestandteile  ich  es  zerlege,  und 
danach  die  Ordnung  gezählt. 

Ein  Vergleich  macht  das  deutlich:  Angenommen,  ein  Stück 
Papier  bestünde  aus  einer  Million  Atome,  so  könnte  ich  das 
Papier  als  eine  Verbindung  von  Atomen  »millionter  Ordnung« 
ansehen.  Nun  kann  ich  aber  auch  das  Papier  in  zwei  Teile  zer- 
reißen; dann  ist  das  Stück  Papier  eine  Verbindung  von  Teilen 
erster  Ordnung;  zerreiße  ich  es  in  drei  Teile,  von  Teilen  zweiter 
Ordnung,  usw.  Die  Parallele  zu  der  Ordnung  der  GefÜhlsverbin- 
dungen  und  der  Partialgefuhle  ist  leicht  zu  ziehen.  Die  GefÜhls- 
?erbindungen  zählen  ihre  Ordnung  von  oben,  die  PartialgefÜhle 
von  unten. 

Es  ist  ein  rein  praktischer  Grund,  der  zu  dieser  Bestimmung 
der  Gefühlsverbindung  und  ihrer  Ordnung  führt.  Wo  es  sich  um 
die  Abhängigkeit  eines  Gefühls  von  einem  Dreiklang  handelt,  ist 
die  Bestimmung  der  Ordnung  des  PartialgefÜhls  relativ  leicht,  und 
hier  ist  es  unnötig,  die  Gefühlsverbindungen  heranzuziehen.  Aber 
etwa  anzugeben,  ein  PartialgefÜhl  wievielter  Ordnung  das  Gefühl 
der  Tragik  ist,  dahin  wird  die  Psychologie  wohl  nie  gelangen. 

ArckiY  f&r  Psychologie.   IT.  17 

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258 


Moritz  Geiger, 


Deshalb  empfiehlt  sich  für  kompliziertere  Verbindungen  der  um- 
gekehrte Weg,  der  von  oben  nach  unten. 

5)  Einige  Prinzipien   der  Untersuchung  von  Partial- 
gefuhlen. 

Wundt*)  gibt  für  das  Verhältnis  der  Totalgefühle  zu  den 
Partialgefuhlen  zwei  Prinzipien  an:  das  Prinzip  der  Abstufung  der 
Elemente  und  das  Prinzip  der  Wertgröße  des  Ganzen. 

Das  Prinzip  der  Abstufung  der  Elemente  besteht  in  der  Tat- 
sache, daß  in  jedem  zusammengesetzten  Totalgefühl  ein  Partial- 
gefühl  dominiert,  das  dem  Gefühl  seinen  Grundcharakter  gibt,  der 
durch  die  übrigen  PartialgefÜhle  nur  mehr  oder  minder  modifiziert 
wird.  —  Das  Prinzip  der  Wertgröße  des  Ganzen  besteht  darin, 
daß  sich  ein  Totalgefühl  niemals  bloß  aus  der  Summe  der  Par- 
tialgefÜhle zusammensetzt,  in  die  es  zerlegt  werden  kann,  sondern 
daß  es  dazu  noch  einen  wesentlichen  Gefühlswert  hinzubringt.  — 
Diese  beiden  Prinzipien  sind  auch  für  unsere  Untersuchung  wesent- 
lich. Denn  das  erste  Prinzip  macht  es  uns  zur  Aufgabe,  anzu- 
geben, welches  der  beiden  von  uns  untersuchten  PartialgefÜhle 
dominiert,  oder  ob  es  vielleicht  ein  drittes  Partialgeftlhl  ist,  das 
wir  zunächst  bei  der  Untersuchung  der  betreffenden  Gefühlsver- 
verbindungen außer  acht  ließen. 

Das  zweite  Prinzip  leistet  uns  wesentliche  Dienste,  wo  es  gilt, 
festzustellen,  ob  eine  Gefühlsverbindung  oder  ein  Verbindungsgefühl 
vorliegt.  Liegt  das  erstere  vor,  so  müssen  PartialgefÜhle  und 
Totalgefühl  nachweisbar  sein.  Beim  letzteren  ist  nur  ein  Total- 
gefühl vorhanden,  das  ja  nach  einer  andern  Richtung  hin  als  der 
untersuchten  dennoch  zusammengesetzt  sein  kann. 

Ferner  ist  wichtig:  Es  handelt  sich  hier  um  eine  Untersuchung 
und  eine  Einteilung  von  psychischen  Gegenständen.  Die  Aufgabe 
ist  eine  rein  morphologische.  Gesetzmäßigkeiten  und  Abhängig- 
keiten haben  hier  nur  sekundäres  Interesse.  Deshalb  dürfen  wir 
Uberall,  wo  wir  Erscheinungen  begegnen,  die  wir  der  Wirksamkeit 
von  Bedingungen  des  psychischen  Mechanismus  zuschreiben  dürfen, 
diese  Erscheinungen  —  abgesehen  von  ihrer  morphologischen  Seite 
—  außer  acht  lassen. 

Im  übrigen  soll  auch,  abgesehen  von  allen  Einschränkungen, 
die  gemacht  wurden,  die  Arbeit  nicht  erschöpfend  sein.    Es  soll 

1  Wundt,  GrundzUge  der  Phyeiol.  Psych.   Bd.  II,  S.  346. 


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I 


Bemerkungen  zur  Psychologie  der  GefUhleeleinente  ubw. 


259 


kein  vollkommenes  System  der  Formen  der  GefÜhlsverbin düngen 
gregeben  werden ,  sondern  einzelne  häufigere  Formen  aufgezeigt 
und  einige  Gesichtspunkte  zu  ihrer  Einteilung  bezeichnet  werden. 

Naturgemäß  wird  die  Analyse  der  als  Beispiele  herangezogenen 
Gefühle  eine  oberflächliche  sein;  denn  es  wird  niemals  darauf  an- 
kommen, weder  das  einzelne  Gefühl  erschöpfend  zu  analysieren, 
noch  die  analysierten  Gefühle  auf  ihre  Bedingungen  hin  zu  unter- 
suchen, sondern  es  genügt,  da  der  Zweck  ein  phänomenologischer 
ist,  stets  das  einfache  Aufzeigen  der  GeftLhlsbestandteile,  die  für 
den  vorliegenden  Zweck  wichtig  sind. 

♦ 

n.  Abschnitt: 
Die  Formeil  der  Gefühlsvcrbindungen  erster  Ordnung. 

1)  Die  Einteilung  der  Gefühle. 

Zu  Beginn  des  vorigen  Abschnitts  war  mit  ein  paar  Worten 
die  Einteilung  der  Gefühle  gestreift  worden.  Dort  hatte  es  sich 
um  die  Gefühlselemente  gehandelt,  und  wie  sie  am  zweckmäßig- 
sten zu  ordnen  seien.  Wir  treten  jetzt  unter  einem  ganz  andern 
Gesichtspunkt  an  die  Gefühle  heran:  Wir  suchen  charakteristische 
Formen  der  Gefühlsverbindung,  und  da  ist  es  notwendig,  die  Ge- 
fühle so  zu  gliedern,  wie  es  für  das  vorliegende  Problem  am 
zweckmäßigsten  ist.  Hier  ist  die  Einteilung  nach  Gefühlselementen 
oder  nach  Gefühlsmerkmalen  nicht  zweckmäßig,  da  Gefühle,  die 
zu  einer  Elementengruppe  gehören,  je  nach  ihren  sonstigen  Eigen- 
tümlichkeiten einen  ganz  verschiedenen  Verbindungscharakter  haben. 
Es  ist  z.  B.  klar,  daß  das  einfache  Gefühl  der  Hemmung  und  das 
Gefühl  der  Notwendigkeit,  die  beide  dieselbe  Gefühlsgrundlage, 
nämlich  die  der  Hemmung,  haben,  auf  ganz  verschiedene  Weise 
mit  andern  Gefühlen  sich  verbinden.  Es  müssen  also  Gesichts- 
punkte gesucht  werden,  die  diejenigen  Momente  aufzeigen,  die  in 
bestimmter  Weise  den  Verbindungscharakter  beeinflussen,  und 
diesen  Gesichtspunkten  gemäß  müssen  wir  eine  Einteilung  der 
Gefühle  geben,  —  sollte  Bich  selbst  herausstellen,  daß  für  .eine 
allgemeine  Systematik  der  Gefühle  unsere  Einteilung  unzweck- 
mäßig wäre. 

Hier  ist  ein  Gegensatz  wichtig,  der  sich  durch  das  ganze  Ge- 
fühlsleben zieht,  und  den  wir  schon  oben  kurz  gestreift  haben. 

17* 

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260 


Moritz  Geiger. 


Eine  Reihe  von  Gefühlen  bezieht  auch  das  unmittelbare  Bewußt- 
sein auf  das  fühlende  Subjekt:  Ich  bin  lustgestimmt  oder  unlust- 
gestimmt, erregt  oder  ruhig,  wollend,  befriedigt  usw.  Dabei  kann 
es  natürlich  dennoch  ein  Objekt  sein,  das  mich  angenehm  be- 
rührt, erregt  usw.  Aber  die  Lust  wird  nicht  als  eine  Bestimmung 
des  Objekts,  sondern  als  eine  Bestimmung  meiner  angesehen. 

Dagegen  gibt  es  eine  Reihe  anderer  Gefühle,  die  erst  eine 
eingehende  psychologische  Analyse  als  Gefühle  erkennt.  Für 
das  unmittelbare  Bewußtsein  ist  die  Ähnlichkeit  z.  B.  nichts 
als  eine  Bestimmtheit  am  Gegenstand:  Die  Dinge  sind  ähnlich, 
verschieden,  ein  Geschehen  ist  notwendig,  möglich  und  wirklich, 
ein  Gegenstand  ist  neu;  nicht  ich  bin  neu,  notwendig  oder  ähnlich! 

Dennoch  liegen  auch  in  diesen  Fällen  wie  im  Bewußtsein  der 
Ähnlichkeit  usw.  Gefühlstatbestände  vor:  auch  sie  enthalten  eine 
Art,  wie  ein  Ding  mich  anmutet,  und  deshalb  müssen  wir  ein  Gefühl 
der  Ähnlichkeit,  der  Wirklichkeit  annehmen,  das  auch  von  denen 
anerkannt  werden  muß,  die  behaupten,  daß  neben  diesem  Gefühls- 
tatbestand  in  der  Ähnlichkeit  andere  Momente  wesentlicher  sind. 

Dabei  liegt  die  Sache  nicht  so,  wie  man  geneigt  sein  könnte 
zu  glauben,  daß  es  nur  die  Ausdrucksweise  ist,  die  hier  durch 
die  Verschiedenheit  des  logischen  Subjekts  eine  Verschiedenheit 
des  Tatbestandes  vorspiegele,  wenn  ich  sage:  ich  bin  lustge- 
stimmt und  die  Dinge  sind  ähnlich,  aber  nicht  ich  bin  ähnlich. 
In  der  Tat  spricht  für  diese  Auffassung  mancherlei:  »Der  Gegen- 
stand ist  schön«  und  »Ich  habe  Gefallen  an  dem  Gegenstande«, 
oder  »Ich  bin  gewiß,  daß  dies  oder  jenes  geschieht«  und  »Dies 
oder  jenes  geschieht  gewiß«  scheinen,  wenn  überhaupt  verschie- 
dene Dinge,  jedenfalls  nicht  allzu  verschiedene  Dinge  zu  sein.  — 
»Der  Gegenstand  ist  schön«  mag  ja  auch  im  Sprachgebrauch  des 
Alltags  nicht  viel  anderes  bedeuten  als  »der  Gegenstand  gefällt 
mir«  —  obwohl  das  erst  noch  genau  zu  untersuchen  wäre  — ,  so 
gibt  es  doch  andererseits  eine  Reihe  von  Gefühlen,  die  nicht  ein- 
mal eine  doppelte  sprachliche  Fassung  erlauben.  Die  Lust  an 
einer  Speise,  die  Erregung  angesichts  eines  Vorfalls  lassen  sich  nur 
als  subjektive  Zuständlichkeiten ,  niemals  als  objektive  Merkmale 
beschreiben,  oder  vielmehr,  wenn  ich  sie  als  objektive  Merkmale 
beschreibe,  so  ist  dieses  Merkmal  nur  die  Wirkungsfähigkeit  auf 
mich:  Der  Vorfall  ist  erregend,  nicht  erregt,  die  Speise  ist  ange- 
nehm (angenehm  schließt  stets  die  Wirkung  auf  ein  Subjekt  in  sich). 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Gefühlselemente  uew.  261 

Das  Trennende  ist  also  nicht  etwa,  daß  die  einen  Gefühle  Be- 
stimmungen meiner  selbst,  die  andern  des  Objekts  sind,  sondern 
vielmehr  die  einen  sind  nnr  Bestimmungen  meines  Gefühlslebens, 
bezogen  auf  ein  Objekt,  wie  die  Lust;  die  andern  dagegen,  die 
stets  mit  nicht  gefühlsmäßigen  Erlebnissen  verbunden  sind,  treten 
diesen  gegenüber  im  unmittelbaren  Bewußtsein  so  sehr  zurück, 
daß  erst  die  eingehende  psychologische  Analyse  ihren  Gefühls- 
charakter nachweisen  kann:  Die  Statue  ist  schön,  das  Geschehen 
notwendig. 

Zweifellos  liegt  diesem  Unterschied  der  beiden  Geftthlsgruppen 
ein  tieferes,  schon  oben  gestreiftes  Problem  zugrunde.  Zweifellos 
sind  Ähnlichkeit  und  Notwendigkeit  mehr  als  ein  bloßes  Gefühl, 
wie  das  etwa  »Vergnügen«  ist.  Aber  das  kommt  hier  nicht  in 
Betracht.  In  Betracht  kommt  hier  nur,  daß  das  unmittelbare  Be- 
wußtsein die  eine  Gruppe  von  Erlebnissen  als  Bestimmungen  des 
Gegenstandes  auffaßt,  die  andern  nicht,  nnd  daß  dadurch  der 
Verbindungscharakter  der  Erlebnisse  wesentlich  modifiziert  wird. 

Die  erste  Gruppe  von  Gefühlen,  die  als  Zuständlicheit  meiner 
angesehen  werden,  will  ich  wegen  ihrer  Verwandtschaft  mit  den 
Affekten  als  »AffektgefUhle«  bezeichnen;  die  zweite  Gruppe,  da 
ihren  Kern  die  logischen  Gefühle  bilden,  ganz  allgemein  als  die 
Gruppe  der  »logischen  Gefühle«.  Doch  gehören  auch  die  ethi- 
schen und  ästhetischen  Gefühle  zu  dieser  Gruppe. 

In  bezog  auf  die  Gefühlselemente,  die  in  ihnen  enthalten  sein 
können,  unterscheiden  sich,  wie  schon  aus  dem  obenerwähnten 
Beispiel  ersichtlich  ist,  die  beiden  Gruppen  in  keiner  Weise.  Es 
können  alle  Arten  von  Geftthlselementen  sowohl  in  der  Affekt- 
gruppe,  als  auch  in  der  Gruppe  der  logischen  Gefühle  vorkommen. 

Es  ist  klar,  daß  diese  Beziehung  der  Gefühle  aufB  Objekt  der 
Verbindung  der  Gefühle  einen  ganz  besonderen  Charakter  auf- 
druckt. Ein  Gefühl  freudiger  Überraschung  (die  Verbindung 
zweier  Affektgefühle)  hat  einen  ganz  andern  Verbindungscha- 
rakter als  das  Gefühl  einer  Instvollen  Möglichkeit  (die  Verbindung 
eines  logischen  Gefühls  mit  einem  Affektgefühl). 

Durch  diese  Einteilung  sind  drei  Verbindungsmöglichkeiten 
gewonnen,  die  wir  der  Reihe  nach  betrachten  wollen:  die  Ver- 
bindung von  Affektgeftthlen  untereinander,  die  Verbindung  von 
logischen  Gefühlen  untereinander  und  die  Verbindung  von  Affekt- 
gef&hlen  mit  logischen  Gefühlen. 


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262 


Moritz  Geiger, 


2)  Die  Verbindung  von  gegensätzlichen  Affektgefühlen. 

Ein  allgemeines  Charakteristikum  der  Gefühle  ist  das  Sich- 
bewegen in  Gegensätzen.  Es  liegt  daher  die  Möglichkeit  vor, 
daß  Bedingungen  für  gegensätzliche  Gefühle  —  etwa  gleich- 
zeitig fttr  Lust  und  Unlust  —  gegeben  sind,  neben  dem  Fall,  daß 
Bedingungen  fttr  das  Entstehen  verschiedenartiger  Gefühle  — 
etwa  für  Lust  und  Erregung  —  vorhanden  sind.  Beide  Fälle 
müssen  gesondert  betrachtet  werden,  da  sie  ganz  verschiedenartige 
Verbindungen  erzeugen. 

Zunächst  betrachten  wir  das  gleichzeitige  Gegebensein  von  Be- 
dingungen für  gegensätzliche  Gefühle.  Das  Problem,  wie  es 
möglich  ist,  daß  im  einheitlichen  Gefühlszustand  eines  Moments 
gegensätzliche  Gefühle  enthalten  sein  können,  soll  hier  unerörtert 
bleiben.  Gleichsam  eine  Vorstufe  hierzu  ist  das  gleichzeitige  Vor- 
handensein verschiedener  Bedingungen  fttr  gleichartige  Gefühle, 
etwa  für  das  Vorhandensein  von  Lustgefühlen,  die  auf  verschie- 
denen Bedingungen  beruhen.  Hier  wird  naturgemäß  keine  Ge- 
fühlsverbindung zustande  kommen,  sondern  die  beiden  Bedingungen 
werden  sich  verstärken,  oder  zu  einem  einheitlichen  Gefühl  zu« 
sammenwirken,  so  daß  ein  Verbindungsgeftthl  entsteht  Ein  sehr 
einfacher  Fall  ist  folgender:  Ich  habe  Hunger  und  bekomme  mein 
Lieblingsgericht  vorgesetzt.  Hier  sind  zwei  Bedingungen  fttr  Lust 
vorhanden;  sie  bewirken  einGeftthl.  Ebenso  einfache  Fälle  sind 
die  einfachen  Kontrastgefühle,  wo  durch  Bedingungen  vorange- 
gangener Unlust  die  Lust  gesteigert  wird  usw.  Nach  der  Lust- 
seite hin  ist  die  Mitfreude  z.  B.  ebenfalls  ein  Verbindungsgefühl, 
keine  Gefühlsverbindung,  wenn  auch  ein  Verbindungsgeftthl  kom- 
plizierterer Art  als  die  vorher  erwähnten;  denn  die  Bedingung  fttr 
Lust  ist  einmal  der  Tatbestand,  über  den  ich  mich  freue,  und 
ferner  liegt  darin  Lust  begründet,  daß  ich  mit  und  in  einer  an- 
dern Persönlichkeit  fühle. 

Wenn  jedoch  Bedingungen  für  gegensätzliche  Gefühle  vor- 
handen sind,  so  wird  in  der  Regel  eine  Gefühlsverbindung  zu- 
stande kommen.  Ich  ziehe  im  folgenden,  wenn  möglich,  Verbin- 
dungen von  Lust  mit  Unlust  als  Beispiele  heran. 

Die  Einteilung  der  gegensätzlichen  Gefühls  Verbindungen  kann 
zweckmäßig  nach  zwei  Gesichtspunkten  geschehen,  nach  einem 
phänomenologischen  und  nach  einem  theoretischen. 


Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Geftihlselemente  usw.  263 

Der  phänomenologische  ist  der,  daß  wir  die  gegensätzlichen 
Geftthlsverbindungen  einteilen  nach  dem  rein  phänomenologischen 
Verhältnis  des  Totalgefühls  zu  den  Partialgefühlen,  daß  wir  die 
Art  betrachten,  wie  die  PartialgefUhle  im  Totalgeftthl  enthalten 
sind.  Beim  theoretischen  muß  von  den  Beziehungen  der  Gefühls- 
bedingungen zueinander  und  znm  gegenständlichen  Inhalt  ausge- 
gangen werden;  es  muß  untersucht  werden,  in  welchen  Beziehungen 
die  Bedingungen  der  Gefühle  zueinander  stehen.  Diese  Beziehun- 
gen werden  sich  natürlich  auch  im  Bewußtsein  äußern. 

Wir  wollen  beide  Wege  einschlagen.  Wir  wollen  die  Möglich- 
keiten des  Verhältnisses  von  Partialgefühlen  zum  Totalgefuhl  als 
rein  phänomenologisch  in  den  Vordergrund  rücken  und  danach 
unsere  Namengebung  einrichten,  aber  dann  auch  untersuchen,  wie 
diese  Beziehungen  der  GefUhlsbedingungen  zueinander  die  Form 
der  Gefühlsverbindung  bestimmen. 

Totalgefuhl  und  gegensätzliches  PartialgefUhl  können  in  einer 
Reihe  von  Beziehungen  zueinander  stehen.  Voraussetzung  der 
Gefühlsverbindung  ist,  wie  wir,  sahen,  daß  beide  PartialgefUhle 
deutlich  erkennbar  vorhanden  sind.  Es  ist  dann  möglich,  daß  das 
Totalgefühl  als  Ganzes  keinen  der  Charaktere  der  gegensätz- 
lichen Gefühle  hat,  sondern  etwas  ganz  Neues  gegenüber  den 
Partialgefühlen  ist,  die  im  Gefühl  vorhanden  sind.  Die  beiden 
gegensätzlichen  Partialgefühle  sind  etwa  Lust  und  Unlust,  wäh- 
rend das  Totalgefühl  weder  Lust  noch  Unlust  zeigt.  In  diesem 
Falle  wollen  wir  von  einer  Gefühls  Verschmelzung  reden. 

Oder  der  neue  Charakter  des  Totalgefühls  kann,  je  nach  Um- 
ständen, entweder  dem  einen  oder  dem  andern  der  Partialge- 
fühle angehören.  Das  Totalgefühl  ist  also  zwar  etwas  Neues  ge- 
genüber den  Partialgefühlen,  hat  aber  dennoch  den  Charakter  des 
einen  der  Partialgefühle,  und  zwar  je  nach  Umständen  bald  des 
einen,  bald  des  andern:  Mehrdeutige  Gefühlsverflechtung. 
Das  Totalgefuhl  hat  also,  wenn  Lust  oder  Unlust  die  gegensätz- 
lichen PartialgefUhle  sind,  zuweilen  Lust-,  zuweilen  Unlustcha- 
rakter, ohne  daß  dadurch  am  eigentlichen  Wesen  des  Gefühls 
etwas  geändert  ist 

Oder  er  muß,  wenn  das  Gefühl  seinem  ganzen  Charakter  nach 
dasselbe  bleiben  Boll,  stets  einem  bestimmten  der  beiden  Gegen- 
sätze angehören.  Das  Totalgefühl  kann  also  nicht  den  Charakter 
entweder  des  einen  oder  des  andern  der  Partialgefühle  an 


264 


Moritz  Geiger, 


sich  tragen,  sondern  nur  seiner  Katar  nach  eines  bestimmten  von 
beiden:  Eindeutige  Gefühlsverflechtung.  Es  muß  also  das 
Totalgefühl  seinem  Wesen  nach  z.  B.  immer  Lust  sein. 

Hiermit  sind  jedoch  die  Möglichkeiten  gegensätzlicher  Gefühls- 
verbindungen in  keiner  Weise  erschöpft.  Einmal  bleiben  noch 
einige  eigenartige  Fälle,  die  späterhin  betrachtet  werden  sollen; 
und  fernerhin  variiert  neben  dem  Verhältnis  der  Partialgeftthle 
zum  Totalgefuhl  das  Verhältnis  der  Partialgeftthle  zueinander. 
Diese  Variationen  ergeben  sich  am  besten  aus  dem  zweiten  Ge- 
sichtspunkt, aus  der  Betrachtung  des  Verhältnisses  der  Gefuhls- 
bedingungen  zueinander. 

Das  Verhältnis  der  Gefühlsbedingungen  wird  bestimmt  durch 
die  Beziehung  der  Gefühle  zu  dem  Gegenstand.  Diese  Beziehung 
kann  —  ganz  allgemein,  nicht  nur  bei  den  gegensätzlichen  Ge- 
flihlsverbindungen  —  eine  vierfache  sein.  Einmal  kann  der  Ge- 
genstand als  der  Gegenstand,  der  er  ist,  beide  Gefühlserlebnisse 
auslösen,  z.  B.  ein  Ton  als  Ton  zugleich  lustvoll  und  erregend 
sein.  Zum  andern  kann  der  Gegenstand  zwar  beide  Gefühle 
auslösen,  aber  nicht,  wie  im  eben  angeführten  Falle,  beide  Gefühle 
durch  seinen  sinnlichen  Inhalt,  sondern  durch  verschiedene  Seiten 
an  ihm,  z.  B.  das  eine  Gefühl  durch  seinen  sinnliehen  Inhalt, 
das  andere  durch  seine  assoziativen  Beziehungen.  Der  Inhalt 
wirkt  dann  im  zweiten  Falle  nicht  als  solcher,  sondern  symbolisch 
als  Auslösung  einer  ganzen  psychischen  Kette.  Das  Schild  an 
der  Straße  z.  B.  ist  einerseits  eine  blane,  mit  Buchstaben  ver- 
sehene Tafel  und  hat  rein  als  solche  Gefühlswirkungen;  anderer- 
seits sind  vielleicht  die  Buchstaben  der  Name  einer  Straße,  die 
ich  lange  gesucht  habe.  Im  letzteren  Falle  tun  die  Buchstaben 
ihre  Wirkung  als  Symbol. 

Es  besteht  jedoch  auch  die  Möglichkeit,  daß  die  Beziehung 
der  Gefühle  nicht  durch  den  gegenständlichen  Inhalt  vermittelt 
wird,  sondern  direkt  vor  sich  geht,  daß  die  Gefühle  irgendwie 
als  Gefühle  zusammenhängen.  Und  hier  sind  wiederum  zwei 
Möglichkeiten  zu  unterscheiden.  Es  besteht  die  Möglichkeit,  daß 
die  Gesamtheit  der  Bedingungen  des  einen  Gefühls,  nicht  nur  der 
gegenständliche  Inhalt  allein,  Bedingung  für  das  Entstehen  des 
andern  Gefühls  ist.  Das  erste  Gefühl  entsteht  also  hier  dadurch, 
daß  ein  Inhalt  in  irgendwelcher  Weise  in  mein  seelisches  Leben 
eingreift,  das  zweite  Gefühl  durch  die  Art  dieses  Eingreifens.  Das 


Bemerkungen  znr  Psychologie  der  GefUhlselemente  usw.  26f) 

ist  z.  B.  der  Fall  beim  Gefühl  des  Stolzes.  Die  Lust  an  der 
wohlschmeckenden  Speise  war  einfach  dadnrch  bedingt,  daß  der 
gegenständliche  Inhalt  die  Bedingungen  für  die  Lust  in  sich  ent- 
hält. Beim  Stolz  ist  das  anders:  nicht  die  Auszeichnung  als 
solche,  die  mich  mit  Stolz  erfüllt,  ist  lustvoll,  sondern  sie  löst  in 
mir  bestimmte  Geftthlserlebnisse,  wie  das  der  Erhebung  z.  B.,  aus, 
die  ihrerseits  durch  die  Art  ihres  Auftretens  lustvoll  sind.  Die 
Gefühle,  die  im  Stolz  enthalten  sind,  schließen  in  ihren  Ent- 
stehungsbedingungen also  zugleich  Bedingungen  für  Lust  ein. 

Und  endlich  kann  die  Beziehung  der  Gefühle  untereinander 
derart  sein,  daß  das  eine  Gefühl  die  Bedingung  für  das  andere 
ist,  in  einer  ähnlichen,  wenn  auch  nur  vergleichbaren  Weise,  indem 
der  gegenständliche  Inhalt  Bedingung  für  das  erste  ist.  Das 
zweite  Gefühl  bezieht  sich  (vielleicht  nur  indirekt)  auf  das  erste 
und  dieses  auf  den  gegenständlichen  Inhalt.  Ich  erinnere  z.  B. 
an  das  Gefühl  einer  neuen  Möglichkeit.  Nicht  der  Gegenstand 
der  Vorstellung  ist  hier  neu,  sondern  die  Möglichkeit. 

An  den  Beispielen  werden  späterhin  die  verschiedenartigsten 
Möglichkeiten  noch  deutlicher  werden. 

Wir  wollen  diese  Möglichkeiten  der  Reihe  nach  durchgehen, 
wenn  die  Gefühlsbedingungen  gegensätzlicher  Natur  sind. 

Der  erste  Fall,  die  Auslösung  gegensätzlicher  Gefühlsbe- 
dingungen durch  denselben  Inhalt,  liegt  z.  B.  vor,  wenn  die  Be- 
dingungen eines  obenerwähnten  Beispiels  anders  gewandt  sind: 
Ich  habe  starken  Hunger,  und  es  wird  mir  eine  Speise  vorgesetzt, 
die  ich  nicht  mag.  Hier  sind  Bedingungen  der  Lust  in  der  Stil- 
lung- meines  Hungers  gegeben,  zugleich  Bedingungen  der  Unlust 
in  meiner  Abneigung  gegen  die  Speise.  Der  Erfolg  kann  ein 
verschiedener  sein,  je  nach  der  Art  und  Stärke  der  Bedingungen. 
Die  Abneigung  kann  ganz  überwunden  sein,  dann  liegt  keine  Ge- 
fuhlsverbindung  vor,  sondern  eine  psychomechanische  Auslöschung 
der  einen  Gefühlsbedingung  durch  die  andere,  eine  Wirksamkeit 
des  psychologischen  Mechanismus,  welcher  Inhalte,  die  unter  nor- 
malen Bedingungen  unlustbetont  wären,  jetzt  lustbetont  sein 
läßt.  Diese  Erscheinung  hat  natürlich  mit  Gefühlsverbindungen 
nichts  mehr  zu  tun. 

Die  Abneigung  kann  jedoch  neben  der  Befriedigung  des  Hungers 
bestehen  bleiben,  so  daß  ich,  während  ich  gierig  esse,  mich  inner- 
lich von  der  Speise  wegwende.   Hier  entsteht  eine  regelrechte 


266 


Moritz  Geiger, 


Gefühlsverbindung.  Das  Totalgeftthl  trägt,  je  nachdem  das  eine 
oder  das  andere  Gefühl  Überwiegt,  Last-  oder  Uniastcharakter. 
Daneben  bleiben  die  Partialgeftthle  deutlich  bestehen.  Diese  Ge- 
fUhlsverbindung gehört  also  diesem  Kennzeichen  nach  zu  der 
Kategorie  der  mehrdeutigen  Geftihlsverflechtung;  denn  das  Total- 
geftthl  kann  bald  den  Charakter  des  einen,  bald  des  andern 
Partialgeftthls  zeigen.  Daneben  ist  das  Totalgefühl  deutlich  da- 
durch charakterisiert,  daß  die  Partialgefühle  in  ihm  einfach  gegen- 
einander wirken,  so  daß  der  Gesamtcharakter  der  Lust  oder  der 
Unlust  nur  durch  Überwiegen  des  einen  Gefühls  zustande  kommt. 
Eine  derartige  Gefühlsverbindung  soll  als  gegensätzliche  Gefühls- 
Verdrängung  bezeichnet  werden.  Ihre  Merkmale  sind:  1)  sie  ist 
mehrdeutig,  das  heißt,  es  kann  sowohl  die  Lust  als  auch  die  Un- 
lust überwiegen;  2)  die  Vereinigung  der  Gefühle  kommt  durch 
einfaches  Gegeneinanderwirken  zustande,  so  daß  das  stärkere 
Uberwiegt.  Ein  weiteres  Beispiel  des  ersten  Falles,  daß  derselbe 
Inhalt  entgegengesetzte  Bedingungen  auslöst,  ist  folgendes: 

Es  sei  ein  Ton  gegeben,  dem  verschiedene  andere  Töne  voraus- 
gegangen sind.  Der  Ton  sei  »relativ«1)  konsonant  den  voraus- 
gegangenen. In  dieser  Relativität  liegt,  daß  er  einesteils  konsonant 
ist,  d.  h.  Bedingungen  der  Lust  in  sich  trägt,  andererseits  aber 
auch  nicht  vollkommen  konsonant  ist,  also  auch  Bedingungen  der 
Unlust  in  sich  enthält  Der  Erfolg  ist  diesmal  keine  Geftthlsver- 
bindung,  sondern  ein  Verbindungsgef  Uhl.  Die  Lust  erscheint  gegen- 
über der  reinen  Konsonanz  eigenartig  bereichert,  vertieft  Es  ist 
ja  bekannt,  wieviel  tiefer  die  relative  Konsonanz  einer  Terz  gegen- 
über der  vollkommeneren  Konsonanz  einer  Oktave  ist.  Es  ist  ein 
Verbindungsgefühl,  das  wir  mit  dem  Namen  eines  » Vertiefungs- 
gefühls c  bezeichnen  wollen.  Es  tritt  Btets  als  ein  Nebenerfolg 
ein,  wenn  zugleich  Bedingungen  der  Lust  und  der  Unlust  vor- 
handen sind,  die  zu  einem  einheitlichen  Gefühl  zusammenwirken, 
also  auch  bei  Gefühlsverschmelzungen  (s.  unten).  Überhaupt  sind 
sehr  viele  ästhetische  Gefühle  Vertiefungsgeftthle. 

Wir  gehen  zur  zweiten  Möglichkeit  über.  Ein  Beispiel  vom 
Vorhandensein  von  Bedingungen  für  entgegengesetzte  Gefühle,  bei 
dem  das  eine  Gefühl  sein  Entstehen  dem  Inhalt  selbst,  das  andere 
seiner  symbolischen  Bedeutung  verdankt,  ist  folgendes:  Ich  er- 


1  Siehe  Lipps,  Psychologische  Stadien. 


Bemerkungen  wir  Psychologie  der  Gefiihlselemente  usw. 


267 


warte  die  Ankunft  eines  Schiffes  sehnsüchtig,  plötzlich  höre  ich 
den  Ton  des  Nebelhorns,  der  bekanntlich  nicht  zn  den  angenehmsten 
Geraaschen  gehört.  Dieser  Ton  verkündet  mir  die  Ankunft  des 
erwarteten  Schiffes.  Hier  liegt  die  Bedingung  der  Unlust  in  dem 
Mißton  des  Nebelhorns,  der  Lust  in  der  Ankunft  des  Schiffes,  für 
die  mir  der  Ton  ein  Zeichen  ist  Auch  hier  tritt  keine  Gefühls- 
Verbindung  ein,  trotz  der  Auslösung  der  Gefühle  durch  den  gleichen 
Inhalt.  Vielmehr  entsteht  eine  Verminderung  der  Unlust,  die 
sogar  ganz  verschwinden  kann,  nicht  auf  dem  Wege  der  Gefühls- 
verbindung, sondern  auf  dem  Wege  der  Verminderung  der  Quan- 
tität der  sinnlichen  Seite  des  Inhalts,  eine  Erscheinung,  die  übrigens 
auch  eintritt,  wenn  ein  ziemlich  lustbetonter  Inhalt  das  Nahen  des 
Schiffes  verkündete *).  Bleibt  jedoch  die  Unlust  des  Tones  neben 
der  Lust  noch  bestehen,  so  tritt  keine  Gef  tthlsverbindung,  sondern 
eine  Gefühlskombination  ein;  denn  wenn  auch  tatsächlich  derselbe 
Inhalt  die  Bedingungen  hervorruft,  die  die  beiden  Gefühle  aus- 
lösen, so  ist  die  Verbindung  keine  in  dem  Inhalt  selbst  begründete. 
Der  Ton  des  Nebelhorns  löst  zwar  die  Unlust  aus,  aber  auf  der 
andern  Seite  löst  er  nicht  die  Lust  aus,  sondern  mit  ihm  asso- 
ziativ verknüpfte  Vorstellungen,  die  erst  ihrerseits  Grund  der  Lust 
sind.  Das  gibt  uns  das  Recht,  im  Sinne  der  Gefühlsseite  die  Lust 
und  Unlust  als  aus  verschiedenen  gegenständlichen  Bedingungen 
heraus  entstanden  und  die  Verbindung  demnach  als  Gefühlskom- 
bination  zu  betrachten.  Zudem  sind  die  beiden  Gefühle  auch  im 
Erleben  vollkommen  unabhängig  voneinander. 

In  ganz  anderer  Weise  liegt  die  zweite  Möglichkeit  vor  —  die 
Möglichkeit  also,  daß  der  Inhalt  durch  verschiedene  Seiten  die 
entgegengesetzten  Gefühle  auslöst,  bei  einer  richtigen  Gefühlsver- 
bindnng  von  Lust  und  Unlust:  der  Sehnsucht.  Hier  ist  es  die 
eine  Seite  einer  Vorstellung,  ihr  Inhalt  nämlich,  der  Grund  der 
Last  ist,  eine  andere  Seite,  die  Grund  der  Unlust  ist.  In  der 
Sehnsucht  nach  einem  fernen  Land  z.  B.  ist  der  Inhalt,  die  Vor- 
stellung des  fernen  Landes,  lustbetont,  das  Nur-als-Vorstellung- 
Vorhandensein,  daß  die  Vorstellung  nur  Vorstellung  und  nicht 
Wirklichkeit  ist,  unlustbetont.  Die  oft  gestellte  Frage:  ob  Sehn- 
sacht ein  Lust-  oder  Unlustgeftthl  ist,  beweist,  daß  sie  beides  ist 
und  zugleich  beides  nicht,  sonst  hätte  die  Frage  keinen  Sinn. 


I  Vgl.  Lipps,  über  die  Quantität  in  psychischen  Gesamtvorgängen. 


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268 


Moritz  Ctoiger, 


Die  Sehnsacht  als  Totalgeftthl  ist  entweder  unlnstvoll  oder  lust- 
voll.  Sie  ist  nicht,  wie  das  Mitleid  (siehe  nnten),  weder  das  eine, 
noch  das  andere,  so  daß  sie  nnr  znweilen  nnlustvoll  oder  Instvoll 
sein  könnte,  sondern  die  Sehnsucht  als  Ganzes  ist  stets  entweder 
lastvoll  oder  anlastvoll.  In  manchen  Arten  der  Sehnsucht,  wie 
im  Heimweh,  tritt  der  Uniastcharakter  stark  zutage,  während  zum 
Beispiel  die  Sehnsucht  eines  Frühlingsabends  an  Tiefe  die  meisten 
Lustgefühle  übertrifft. 

Die  Partialgefühle  sind  noch  beide  erhalten.  Die  Lust  der 
Sehnsucht  wie  ihre  Unlust  Bind  im  Gefühl  bei  allen  Arten  der 
Sehnsucht  stets  ausgeprägt.  Das  Totalgeftthl  selbst  jedoch  ist 
etwas  vollkommen  Neues,  in  dem  die  Gegensätze  zur  Einheit  ver- 
woben sind,  doch  so,  daß  das  Totalgefühl  als  Ganzes  den  Cha- 
rakter des  einen  der  Gegensätze  hat.  Hier  liegen  wiederum  die 
Merkmale  der  mehrdeutigen  Gefühlsverflechtung  vor.  Doch  sind 
hier  die  Gegensätze  in  ganz  anderem  Grade  miteinander  verwoben 
(wie  schon  daraus  hervorgeht,  daß  die  Sehnsucht  ein  Vertiefungs- 
gefühl ist),  als  bei  der  obenerwähnten  Gefühlsverdrängung.  Wir 
wollen  daher  diese  Art  der  mehrdeutigen  Gefühlsverflechtung  die 
»mehrdeutige  Geftthlsverwebung«  nennen.  Bei  der  Gefühlsver- 
webung  sind  also  die  gegensätzlichen  Gefühle  nicht  einander 
gegenüberstehend,  sondern  ineinander  verwoben.  Eine  mehrdeutige 
Gefühlsverwebung  ist  z.  B.  auch  die  Wehmut. 

Der  dritte  Fall,  daß  die  Gesamtheit  der  Bedingungen  für  das 
eine  Gefühl  zugleich  eine  Bedingung  für  das  Entstehen  des  an- 
dern abgibt,  liegt  bei  einer  sehr  eigenartigen  Geftthlsverbindung 
vor,  für  die  Neid,  Mißgunst,  Rachegeftthl  usw.  Beispiele  sind.  Das 
Gefühl  der  Lust  in  der  Rache  oder  Grausamkeit  z.  B.  liegt  nicht 
etwa  darin,  daß  mich  in  fremdem  Leiden  etwas  sympathisch  be- 
rührt, wie  in  Mitleid,  —  auch  nicht  etwa  darin,  daß  ich  einfach 
fremdes  Leid  sehe,  ohne  daß  es  mir  weiter  als  fremdes  Leid 
zum  Bewußtsein  kommt.  Dann  würde  ich  mich  einfach  an  dem 
Aussehen  der  Bewegungen  des  Leidenden  freuen,  ohne  etwas  von 
seinem  Leiden  za  wissen.  Das  liegt  oft  bei  der  fälschlich  so  ge- 
nannten Grausamkeit  der  Kinder  vor.  Sie  haben  keine  Ahnung 
von  den  Leiden  der  gequälten  Tiere,  sondern  freuen  sich  an  den 
Bewegungen  als  solchen.  Bei  wirklicher  Grausamkeit  dagegen  ist 
Freude  an  fremdem  Leid  vorhanden.  Es  ist  gerade  Bedingung, 
daß  das  fremde  Leid  als  solches  mitwirkender  Faktor  ist..  Phä- 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  ßefUhlselemente  usw.  269 

nomenologisch  ist  bei  Neid,  Rache,  Mißgunst  usw.  eine  sehr  merk- 
würdige Geftihlsverbindung  vorhanden:  der  Charakter  des  Total- 
gefuhls  ist  stets  eindeutig  bestimmt,  bei  der  Grausamkeit  z.  B. 
der  der  Lust,  bei  dem  Neid  der  der  Unlust  Das  entgegengesetzte 
Gefühl  —  bei  der  Grausamkeit  die  Unlust,  das  Leiden  des  Opfers  — 
ist  als  Partialgeftthl  im  eigentlichen  Sinne  nicht  bemerkbar.  Ich 
erlebe  bei  der  Grausamkeit  nicht  die  Unlust  des  Opfers,  nicht  so, 
als  ob  sie  meine  eigene  Unlust  wäre.  Das  entgegengesetzte  Ge- 
fühl macht  sich  jedoch  in  doppelter  Weise  bemerkbar:  es  ist  die 
Vorstellung  fremden  Leidens  vorhanden,  und  diese  Gefühlsvor- 
stellung ist  eng  in  das  Ganze  des  Gefühls  verwoben.  Und  ferner 
macht  sich  die  Unlust  nicht  nur  als  vertiefendes  Moment  bemerk- 
bar, sondern  drückt  sich  in  nicht  näher  beschreibbarer,  nur  erleb- 
barer Weise  im  ganzen  Charakter  des  Gefühls  ans,  in  der  Er- 
regung, die  hervorgerufen  wird,  usw.  Diese  Art  der  Verbindung 
der  Gefühle  hält  die  Mitte  zwischen  Gefühlsverbindung  und  Ver- 
bindungsgeftthl.  Mit  der  Geftthlsverbindung  haben  die  Gefühle 
gemeinsam,  daß  das  fremde  Leiden  vollkommen,  wenn  auch  nur 
als  Gefühlsvorstellung,  nicht  als  wirklich  erlebtes  Gefühl,  erlebt 
wird,  und  seine  Wirkung  im  Totalgefühl  vorhanden  ist  Mit  dem 
VerbindungsgefUhl  teilen  sie,  daß  das  dem  Totalgefühl  entgegen- 
gesetzte Partialgeftthl  nicht  als  selbständiges  Partialgeftthl  erlebt 
wird.  Das  eine  Gefühl  ist  stets  dem  andern  psychologisch  voll- 
kommen untergeordnet.  Diese  Art  der  Mittelstellung  zwischen  Ge- 
ftihlsverbindung und  VerbindungsgefUhl  wollen  wir  daher  »Gefühls- 
subordination« nennen.  Auf  der  Seite  der  Gefühlsverbindungen 
sind  dieser  Art  von  Gefühlen  am  nächsten  verwandt  Gefühle  wie 
das  Mitleid.  Hier  ist  das  fremde  Leid  tatsächlich  eigenes  Erleben 
(im  Partialgeftthl).  Auf  Seiten  der  Verbindungsgeftlhle  besteht 
eine  nahe  Verwandtschaft,  z.  B.  mit  der  Wollust  in  allen  ihren 
Arten.  Hier  ist  die  Vorstellung  fremder  Unlust  vollkommen  ver- 
schwunden, und  nur  ihre  das  Gefühl  vertiefenden  und  modifizieren- 
den Wirkungen  sind  noch  erhalten. 

Es  bleibt  noch  der  vierte  Fall  Übrig:  Die  Bedingungen  des 
einen  Gefühls  enthalten  nicht  die  Bedingungen  des  andern  in 
sich,  sondern  das  eine  Gefühl  ist  als  solches  Bedingung  des  andern. 

Hier  haben  wir  verschiedene  Arten  von  Verbindungen. 

Ein  Beispiel  ist  das  Mitleid1).    Es  ist  nicht  zu  verwechseln 


1  Siehe  Lipps,  Zum  Streit  Uber  die  Tragödie. 


270 


Moritz  Geiger. 


mit  dem  oben  besprochenen  Mitleiden,  einem  reinen  Unlnstgeftthl, 
bei  dem  zndem  noch  die  Bedingungen  des  dritten  Falles  vorliegen. 
Mitleiden  liegt  z.  B.  vor,  wenn  ich  einen  mir  tenern  Mengeheu 
sich  nnter  Schmerzen  quälen  sehe.  Dann  »leide  ich  mit«,  d.  h. 
es  sind  die  in  ihm  wirksamen  Unlustmomente  auch  in  mir  als 
Uniastmomente  wirksam;  davon  ist  das  Mitleid  grundverschieden. 
[Das  Mitleid  soll  natürlich  hier  nur  nach  der  Lust-Unlustseite  hin 
betrachtet  werden;  als  Ganzes  ist  es  eine  Greftthlsverbindang 
höherer  Ordnung.]  Nach  der  Lust-Unlustseite  liegt  in  ihm  die 
Unlust  des  Mitleidens.  Aber  gerade  dieses  Unlustgefühl  ist  durch 
die  Ubereinstimmung  der  fremden  und  der  eigenen  Persönlichkeit 
Bedingung  für  Lust  Es  sind  also  im  Mitleid  Bedingungen  für 
Lust  und  für  Unlust  enthalten,  während  im  Mitleiden  die  Be- 
dingungen der  Lust  ganz  zurücktreten.  Das  Totalgeftthl  des  Mit- 
leids als  Ganzes  jedoch  hat  weder  Lust-  noch  Unlustcharakter 
Es  gibt  zum  mindesten  ein  Mitleid,  das  zwar  die  Partialgeftlble 
der  Lust  und  der  Unlust  in  Bich  enthält,  selbst  aber  neutral  ist 
Das  Mitleid  ist  etwas  ganz  Neues  gegenüber  den  Gefühlen  der 
Sympathie  und  des  Leidens,  etwas,  das  sich  nicht  einfach  als  die 
Summe  aus  der  Unlust  des  Leidens  und  der  Lust  der  Sympathie 
auffassen  läßt  Dennoch  sind  deutlich  Lust  und  Unlust  in  ihm 
enthalten.  Es  kann  je  nach  Umständen  der  eine  oder  der  andere 
dieser  Gegensätze  dem  Totalgeftthl  seinen  Charakter  aufdrucken, 
wie  das  unlustvolle  Mitleid  am  Bett  eines  Kranken  und  das  lnst- 
volle  beim  Anhören  einer  Tragödie  beweisen.  Das  ändert  nichts 
daran,  daß  das  Mitleid  selbst  neutral  ist,  und  daß  bei  den  er- 
wähnten Gefühlen,  bei  denen  das  Mitleid  lust-  oder  unlustbetont 
ist,  schon  Gefühlsverbindungen  höherer  Ordnung  vorliegen.  Wir 
haben  beim  Mitleid  die  Merkmale  der  Geftthlsverschmelzung,  wie 
sie  oben  definiert  wurde,  als  ein  neues,  neutrales  Totalgeftthl,  in 
dem  die  gegensätzlichen  Partialgeftthle  deutlich  erhalten  sind. 

In  anderer  Weise  ist  der  vierte  Fall  gegeben,  in  einer  Ge- 
fühlsverbindung,  für  die  das  Gefühl  der  Entrüstung  als  Beispiel 
dienen  soll.  Die  Entrüstung  ist  stets  Unlust,  solange  nicht  neue 
Bedingungen  hinzutreten.  Sie  gehört  also  zu  den  eindeutigen 
Gegensatzgeftihlen.  Sie  ist  UnluBt  Uber  irgendein  Tun  eines  Men- 
schen oder  vielmehr  Unlust  Uber  die  Gesinnung  des  Menschen, 
die  sich  in  diesem  seinem  Tun  ausdrückt.  In  dieser  Unlust  liegen 
aber  zugleich  Bedingungen  für  Lust  eingeschlossen.    Denn  es  ist 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Gefilhlselemente  uew.  271 

keine  auf  der  Oberfläche  bleibende  Unlust  wie  beim  Arger,  son- 
dern eine  tiefgehende  und  den  Menschen  in  seinem  innersten  Kern 
packende  Unlust,  die  sich  in  der  Entrüstung  äußert.  Da  nun  jedes 
seelische  Geschehen,  das  das  seelische  Leben  in  weitem  Umkreis  er- 
schüttert, als  solches  schon  Bedingung  für  Lust  ist,  so  liegt  hier  also 
in  der  Art  der  Unlust  selbst  eine  Bedingung  für  Lust  eingeschlossen. 

Aber  dieses  Lustmoment  kommt  als  Partialgeftthl  für  gewöhn- 
lich nicht  zum  rollen  Ausdruck.  Es  ist  vorhanden  als  Ver- 
tiefungsgefühl  und  äußert  sich  andererseits  aber  auch  in  einer 
Modifizierung  der  Unlust.  Es  ist  vorhanden,  ohne  jedoch  so  voll- 
kommen heraustreten  zn  können,  wie  es  bei  neutralen  oder  mehr- 
deutigen Gefühlsverbindungen  der  Fall  ist.  Treten  freilich  neue 
Bedingungen  hinzu,  so  kann  als  Geftihlsverbindung  höherer  Ord- 
nung eine  lustvolle  Entrüstung  eintreten.  Es  gibt  ja  Leute,  welche 
diese  Bedingungen  besonders  gut  in  sich  wachzurufen  verstehen, 
denen  es  ein  Vergnügen  ist,  sich  zu  entrüsten. 

Die  Entrüstung  gehört  also  in  ihrer  normalen  Form  zu  den  ein- 
deutigen Gefühlsverflechtungen.  Wir  wollen  wegen  der  Innigkeit, 
mit  der  die  Partialgefühle  zu  einem  neuen,  eigenartigen  Ganzen 
verwoben  sind,  diese  Gefühlsverbindung  spezieller  als  »eindeutige 
Geftthlsverwebung«  bezeichnen. 

Ebenfalls  zu  den  eindeutigen  Gefühlsverflechtungen  gehört  eine 
andere  Art  der  Verbindung,  wie  sie  etwa  das  Lustgefühl  in  der 
Uberwindung  einer  starken  Anstrengung  zeigt  Der  Grundcha- 
rakter ist  hier  Lust,  aber  die  Unlust  der  Anstrengung  ist  als  Par- 
tialgefühl, und  zwar  unter  Umständen  sehr  klar  und  deutlich  be- 
merkbar. Eis  liegt  keine  Verwebung  der  Gefühle  vor  wie  bei 
der  Entrüstung,  nicht  ein  ganz  neuer  Totalcharakter  tritt  ein, 
sondern  die  Gefühle  vereinheitlichen  sich  nur.  Die  Anstrengung, 
das  Unlustvolle  in  ihr,  bleibt,  aber  die  Lust,  die  in  der  Anstrengung, 
in  dem  kraftvollen  Sichabmühen  liegt,  tritt  selbständig  heraus, 
ja  drückt  sogar  dem  Totalgeftthl  den  Charakter  auf,  so  daß  also 
im  Gefühl  die  Lust  überwiegt.  Ein  Uberwiegen  der  Unlust  kann 
nicht  stattfinden,  denn  dann  verschwindet  die  Lust  als  Partial- 
gefühl vollkommen,  und  es  liegt  keine  Gefühlsverbindung  vor. 
Die  geschilderte  Art  der  Gefühls  Verbindung  sei  als  »eindeutige 
Gefühls  Vereinheitlichung«  bezeichnet.  Ihre  Unterschiede  von  der 
»eindeutigen  Geftthlsverwebung«  sind  klar:  ein  schärferes  Heraus- 
treten des  Gegensätzlichen  und  das  Fehlen  eines  eigenartigen 


272 


Moritz  Geiger, 


Gesamtcharakters  (außer  demjenigen  natürlich,  der  im  Dasein  eines 
Totalgefühls  überhaupt  liegt),  nur  eine  enge  Verbindung  der  Par- 
tialgeftthle. 

Wir  haben  also  an  Verbindungen  der  Gefühle  gegensätzlicher 
Natur  kennen  gelernt: 

Gefühlsverschmelzung  (Mitleid). 

Mehrdeutige  Gefühls  Verflechtungen: 

1)  Gefühls  Verdrängung  (unangenehme  Speise  bei  Hunger), 

2)  Mehrdeutige  Gefühlsverwebung  (Sehnsucht). 
Eindeutige  Geftthlsverflechtung: 

3)  Eindeutige  Gefühlsvereinheitlichung  (Uberwindung 
einer  Kraftanstrengung), 

4)  Eindeutige  Gefühlsverwebung  (Entrüstung). 
Zwischenverbindung  zwischen  Verbindungsgefuhlen  und  Ge- 
fühls Verbindung: 

Gefühlssubordination  (Neid). 
Verbindungsgefühl: 

1}  Vertiefungsgefühl  (angenehme  Dissonanz). 

Die  Zahlen  vor  der  Gefühlsverbindung  beziehen  sich  darauf, 
bei  welchem  der  vier  obenerwähnten  Fälle  der  Beziehungen  der 
GefUhlsbedingungen  aufeinander  wir  die  betreffende  Gefühlsver- 
bindung  betrachtet  haben. 

Wie  aus  der  Tabelle  ersichtlich,  kommen  mehrdeutige  Gefühls- 
verbindungen nur  bei  Fall  1  und  2  vor,  also  nur  dann,  wenn 
beide  Gefühle  auf  denselben  gegenständlichen  Inhalt  bezogen  sind. 
Das  ist  vollkommen  begreiflich.  Denn  mehrdeutige  Geftthlsver- 
bindungen  setzen  voraus,  daß  beide  Gefühle  ihre  Rollen  in  der 
Wirkung  auf  das  Ganze  vertauschen  können.  Das  ist  nur  der 
Fall,  wenn  die  Gefühle  koordiniert  sind,  wenn  sie  sich  in  ganz 
gleichartiger  Weise  auf  die  Vorstellungsgrundlage  beziehen.  Bei 
den  Möglichkeiten  3  und  4,  wo  das  eine  Gefühl  die  Grundlage 
des  andern  bildet,  muß  eine  Vertauschung  der  Gefühle  den  Cha- 
rakter des  ganzen  Gefühls  ändern.  Wir  können  also  in  diesen 
Fällen  nur  Gefühls  Verbindungen  erhalten,  die  nicht  mehrdeutig  sind. 

Es  sind  hier  stets  nur  Beispiele  von  Verbindungen  von  Lust 
und  Unlust  herbeigezogen  worden.  Einmal  deshalb,  weil  diese 
Verbindungen  am  leichtesten  analysierbar  sind  (hiervon  wird  später 
genauer  die  Rede  sein!,  und  dann,  weil  die  Sprache  für  die  Ver- 
bindungen von  Lust  und  Unlust  mehr  als  bei  den  andern  Ge~ 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Gefuhlselemente  usw.  273 

fühlsgrundlagen  Namen  ausgeprägt  hat,  daher  durch  Angabe  dieser 
Namen  Mitleid,  Sehnsucht  usw.  ohne  weitern  Zusatz  jeder  weiß, 
welches  Gefühl  gemeint  ist.  Es  sind  jedoch  natürlich  die  meisten 
der  genannten  Verbindungen  bei  den  andern  Gegensätzen  auch 
vorhanden,  selbstverständlich  umgebildet  nach  dem  Charakter  der 
Gegensätze.  So  ist  z.  B.  —  die  Beispiele  sind  wahllos  heraus- 
gegriffen —  die  Komik1)  nach  der  Spannungs-Lösungsseite  eine 
Gefühlsverschmelzung;  sie  enthält  Momente  der  Lösung  in  sieh, 
indem  eine  Erwartung  erfüllt  wird,  Momente  der  Spannung,  indem 
das  Eintretende  nicht  der  Erwartung  nach  der  Seite  der  psychi- 
schen Bedeutsamkeit  hin  entspricht.  Die  Komik  als  Totalgefühl 
dagegen  ist  weder  Spannung  noch  Losung.  Nach  der  SpannungB- 
Lösungsseite  hin  ist  das  Gefühl  beim  Essen  einer  schlecht- 
schmeckenden Speise  mit  hungrigem  Magen  eine  Gefühlsverdrän- 
gung: die  Befriedigung  (Lösung),  überhaupt  Essen  zu  haben,  kämpft 
mit  dem  Widerwillen  (Spannung)  gegen  die  schlechte  Speise.  Die 
Entrüstung  über  fremde  Teilnahmlosigkeit  ist  eine  Gefühlssub- 
ordination der  fremden  Beruhigung  unter  die  eigene  Erregung 
(wie  oben  bei  Grausamkeit  fremden  Leidens  unter  eigene  Lust). 
Es  ist  nach  der  Spannungs-Lösungsseite  die  Sehnsucht  eine  ein- 
deutige Gefühlsverwebung,  —  es  überwiegt  die  Spannung  stets, 
zugleich  aber  bewirkt  hier  der  Gegensatz  von  Spannung  und 
Lösung  ein  Vertiefungsgefühl. 

Die  angeführten  Beispiele  legen  zur  Genüge  dar,  daß  die  ange- 
führten Verbindungsformen  nicht  auf  Lust-Unlust  beschränkt  sind. 

3)  Die  Verbindung  von  Affektgeftthlen  verschiedenen 

Charakters. 

Die  Verbindungen  von  Affektgefuhlcn  verschiedenen  Charakters 
ordnen  sich  zum  Teil  nach  ähnlichen  Gesichtspunkten,  wie  die 
gegensätzlichen  Verbindungen.  Auch  hier  kommt  es  vor  allem 
darauf  an,  wie  das  Totalgefühl  beschaffen  ist  Es  kommen  jedoch 
anch  einige  andere  Momente  in  Betracht,  die  bei  den  oben  be- 
trachteten Verbindungen  gegensätzlicher  Gefühlsgrundlagen  eben 
wegen  der  Gegensätzlichkeit  sich  in  anderer  Weise  äußerten. 
Während  es  z.  B.  bei  der  Verbindung  gegensätzlicher  Gefühle  sehr 
wohl  möglich  war,  daß  das  Totalgefühl  einen  neutralen  Charakter 

1]  Siehe  Lipps,  Komik  and  Humor. 

Archir  für  Piychologl«.   IV.  18 

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274 


Moritz  (teiger, 


gegenüber  den  gegensätzlichen  Gefühlen  aufwies  (Mitleid),  ohne 
daß  die  Verbindung  deshalb  unter  die  Verbindungsgefühle  ge- 
rechnet za  werden  brauchte,  ist  das  bei  der  Verbindung  verschie- 
denartiger Affektgefilhle  anders.  Hier  hat  das  Totalgeftlhl,  wenn 
es  den  Charakter  einer  Gefuhlsrerbindung  haben  soll,  entweder 
den  Charakter  des  einen  oder  beider  Partialgefuhle.  Denn  nach 
dem  Prinzip  der  Abstufong  der  Elemente  muß  ein  Partialgefilhl 
dominieren.  Das  konnte  bei  den  gegensätzlichen  Verbindungen 
ein  Partialgefllhl  sein,  das  nicht  an  dem  Gegensatz  teilhatte,  der 
in  Betracht  kam,  ein  Gefühl,  das  außerhalb  der  Gegensätze  stand, 
sie  in  sich  versöhnte.  Es  konnte  etwa,  wenn  Lust-Unlust  das 
Uegensatzpaar  war,  das  Totalgeftlhl  den  Charakter  der  Erregung 
tragen.  Bei  der  Verbindung  von  verschiedenartigen  Gefühlen 
wurde  ein  drittes  Gefühl,  das  dominiert,  nach  den  Prinzipien,  die 
wir  oben  aufgestellt  haben,  nicht  möglich  sein.  Es  würden  näm- 
lich dann  die  beiden  betrachteten  Gefühle  gleichen  Verbindungs- 
wert haben,  da  sie  beide  untergeordnete  PartialgefUhle  sind.  Sie 
können  dann  miteinander  derart  verbunden  sein,  daß  das  eine 
Gefühl  gegenüber  dem  andern  relativ  dominiert.  Dann  hätten 
wir  eine  GefÜhlsverbindung  dreier  ungleichwertiger  Gefühle  (des 
dominierenden  und  der  untergeordneten)  vor  uns,  also  eine  Gefühls- 
verbindung höherer  Ordnung.  Und,  wie  wir  oben  festsetzten,  fällt 
dann  nicht  mehr  ihre  Verbindung  untereinander,  sondern  ihre 
gemeinsame  Verbindung  mit  dem  dritten  Gefühl  unter  den  Begriff 
der  Gefühlsverbindung  erster  Ordnung.  Bei  gegensätzlichen  Ge- 
fühlen ist  dieser  Verbindungswert  dadurch  ausgeschlossen,  daß  die 
Verbindung  der  Gegensätzlichkeit  keine  einfache  derart  sein  kann, 
daß  etwa  Lust  und  Unlust  sieh  miteinander  verbinden,  wie  es 
etwa  Lust  und  Erregung  können.  Es  wird  vielmehr  im  Totalgeftlhl 
sich  stets  äußern,  w  ie  die  Art  der  Beziehung  zwischen  Lust  und  Un- 
lust ist,  und  deshalb  dürfen  wir  nicht  einfach  in  solchen  Fällen  Lust 
und  Unlust  als  PartialgefÜhle  von  gleichem  Verbindungsweg  ansehen. 
Denn  gleicher  Verbindungswert  setzt  gerade  voraus,  daß  die  Be- 
ziehung der  gleichwertigen  Partialgefuhle  untereinander  gleichgültig 
ist,  daß  nur  ihr  Verhältnis  zum  Totalgeftlhl  in  Betracht  kommt. 

Auch  die  Analoga  zur  eindeutigen,  wie  mehrdeutigen  Gefühls- 
verflechtung Bind  ausgeschlossen,  wie  durch  das  eben  Gesagte  die 
Analoga  zur  gegensätzlichen  Gefühlsverschmelzung.  Da  die  in 
Betracht  kommenden  Gefühle  Verbindungen  verschiedenartiger 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Gefuhlselemente  wir.  275 

Gefühle  sind,  etwa  von  Lust  und  Erregung,  so  ist  natürlich  eine 
Vertauschbar keit  der  Gefühle,  ohne  daß  sich  der  Gesamtcharakter 
des  Gefühls  ändert,  ausgeschlossen.  Denn  eine  Vertausch  ung 
von  PartialgefÜhlen  ohne  Änderung  des  Gesamtcharakters  ist  nur 
bei  Gefühlen  von  gleicher  Gefühlsgrundlage  möglich.  Die  Aus- 
tausch ung  von  Gegensätzen  kann  dort  den  Gesamtcharakter  un- 
verändert lassen  und  nur  die  Richtungsbestimmtheit  ändern;  bei 
verschiedenartigen  Gefühlsverbindungen  dagegen  ist  die  Vertau- 
schung der  GefUhle  zugleich  eine  Vertauschung  verschiedener  Ge- 
ftihlBgrundlagen  oder  Gefllhlscharaktere,  wodurch  naturgemäß  der 
Charakter  des  ganzen  Gefühls  geändert  wird.  Deshalb  sind 
diese  Verbindungen  alle  eindeutig.  Oder  vielmehr  der  Gegensatz 
von  eindeutig  und  mehrdeutig  verliert  seine  Berechtigung. 

Es  liegt  hier  auf  andern  Momenten  der  Hauptnachdruck.  Es 
kommt  hier  vor  allem  die  Stellung  der  Partialgeftihle  zueinander  in 
bezug  auf  das  Dominieren  im  Totalgeftlhl  in  Betracht.  Phänomeno- 
logisch unterscheiden  sich  die  Gefühlsverbindungen  verschiedener 
AflfektgefÜhle  hauptsächlich  dadurch,  daß  das  Dominieren  ein  ver- 
schiedenartiges sein  kann,  daß  die  Partialgeftihle  mehr  oder  weniger 
relative  Selbständigkeit  besitzen  können.  Damit  Hand  in  Hand 
geht  die  Enge  der  Verbindung  der  beiden  Gefühle.  Die  Verbin- 
dung wird  meist  —  daß  es  nicht  immer  der  Fall  ist,  werden  die 
Beispiele  lehren  —  eine  um  so  engere  sein,  je  mehr  das  eine 
Gefühl  dominierend  heraustritt.  Dominieren  sie  dagegen  annähernd 
gleich,  so  heißt  das,  daß  sie  beide  relativ  selbständig  sind.  Sub- 
ordination des  einen  Gefühles  unter  das  andere  bedeutet  also  meist 
Vereinheitlichung,  Koordination  meist  Verselbständigung. 

Die  phänomenologische  Einteilung  der  Gefühlsverbindungen 
verschiedenartiger  Affektgeftlhle  wird  demnach  zum  Hauptgesichts- 
punkt die  Stufen  des  Dominierens  verlangen.  Diese  Stufen  sind 
jedoch  nicht  im  strengen  Sinne  Stufen  der  Intensität  des  Domi- 
nierens, denn  dann  gäbe  es  so  viele  Formen  der  Gefühlsverbin- 
dungen wie  individuell  vorkommende  Gefühle:  In  einer  lastvollen 
Erregung  kann  die  Erregung  bald  relativ  schwach  sein  und  demnach 
wenig,  bald  relativ  stark  sein  und  dadurch  mehr  dominieren. 
Hierum  kann  es  sich  nicht  handeln.  Vielmehr  sind  die  Stufen  rein 
prinzipiell  zu  nehmen.  Es  muß  nicht  auf  die  Stufe,  sondern  auf 
die  allgemeine  Art  der  Verbindung  der  PartialgefÜhle  in  dem 
betreffenden  Totalgefühl  zurückgegriffen  werden,  durch  die  eine 

18* 

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276 


Moritz  Geiger, 


bestimmte  Weise  des  Dominierens  eines  Partialgetuhls  imTotalgeftlhl 
bestimmt  wird.  Hierdurch  sind  wir  wieder  auf  die  Entstehungs- 
bedingungen der  Gefühle,  also  auf  theoretischen  Boden  verwiesen. 

Allgemein  wissen  wir  aus  unserer  Erfahrung  eins  im  voraus: 
Die  Verbindung  von  Lust-Unlust  mit  andern  AfFektgeftthlen  wird 
eine  ganz  andersartige  sein  als  die  Verbindung  der  andern  Affekt- 
geflihle  untereinander.  Das  beweist  schon  die  eigenartige  Stellung, 
die  Lust  und  Unlust  in  der  früheren  Psychologie  eingenommen 
haben  und  zum  Teil  auch  noch  in  der  heutigen  Psychologie  ein- 
nehmen. Lust  und  Unlust  hielt  man  fllr  die  einzigen  existierenden 
GefUhle,  zum  großen  Teil  deshalb,  weil  sie  relativ  leicht  aus  dem 
GefUhlsganzen  herausanalysierbar  sind.  Das  kommt  daher,  daß  Lust 
und  Unlust  als  Partialgeftihle  immer  relativ  selbständig  bleiben  und 
sich  niemals  vollkommen  den  andern  Gefühlen  unterordnen,  wie 
es  z.  B.  Erregung  oder  Spannung  tut.  Diese  Tatsache  wollen  wir 
als  das  Prinzip  des  geringen  Verbindungswertes  von  Lust  und 
Unlust  bezeichnen. 

Die  engste  Form  von  GefUhlsverbindangen  verschiedenartiger 
Affektgefühle  wird  also  diejenige  sein,  in  der  Lust  und  Unlust 
gar  nicht  vorkommt,  und  ich  will  daher  diese  Form  zunächst  be- 
trachten. Ein  Beispiel  davon  liegt  etwa  vor  in  derjenigen  Über- 
raschung, die  weder  angenehm  noch  unangenehm  ist.  Sie  ist  die 
Verbindung  einer  Menge  von  Gefühlen,  unter  denen  die  Hemmung 
Uberwiegt.  Die  andern  Gefühle  treten,  der  Hemmung  gegenüber, 
vollkommen  zurück.  Sie  ordnen  sich  vollständig  unter;  es  entsteht 
ein  Gefühl  durchaus  neuen  Charakters,  in  dem  alle  jene  Gefühle 
als  Partialgeftihle  vorhanden  sind.  Diesen  Typus,  der  fllr  alle 
Verbindungen  von  Affektgeftthlen  gilt,  die  nicht  Lust  oder  Unlust 
in  sich  enthalten,  will  ich  »Gefühls Verdichtung«  nennen.  Die  Merk- 
male sind:  1)  Das  Totalgeftihl  hat  einen  eigenartigen,  neuen  Cha- 
rakter. 2)  Es  existiert  ein  deutlich  dominierendes  Partialgeftihl. 
3)  Die  übrigen  Partialgeftihle  sind  vorhanden,  aber  relativ  schwach. 
—  Zu  den  Geftthlsverdichtungen  gehört  z.  B.  auch  das  Gefühl 
der  Erwartung.  Ich  denke  hier  an  einen  einfachsten  Fall  der 
Erwartung:  ich  sehe  einen  Stein  fallen  und  erwarte,  sein  Auf- 
schlagen auf  den  Boden  zu  hören.  Nicht  hierher  gehören  natür- 
lich die  Fälle  der  Erwartung,  in  denen  neben  der  Spannung,  oder 
mehr  als  sie,  die  Erregung  dominierend  heraustritt,  so  vor  allem 
die  Fälle,  in  denen  der  Affekt  der  Erwartung  vorliegt. 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Gettthlselemente  ubw.  277 

Mannigfaltiger  sind  die  GefÜhlBverbindungen  von  Lnst-Unhi8t 
mit  sonstigen  Affektgefühlen.  Hier  können  wir  wieder  die  Mög- 
lichkeiten des  vorigen  Abschnittes  herbeiziehen,  nnr  daß  wir  die 
zweite  nnd  die  vierte  Möglichkeit  ausfallen  lassen  müssen.  Die 
zweite  —  der  Inhalt  ruft  die  Gefühle  durch  verschiedene  Seiten, 
die  an  ihm  wirksam  sind,  hervor  —  deshalb,  weil  eine  strenge 
Scheidung  von  der  ersten  nicht  möglich  ist,  weil  es  ja  stets  ver- 
schiedene Seiten  eines  Inhaltes  sein  werden,  die  etwa  Lust  und 
Erregung  auslösen,  da  Lust-Unlust  ganz  andere  Entstehungsbedin- 
gungen hat  als  die  übrigen  Gefühlsgrundlagen. 

Die  vierte  Möglichkeit  (das  eine  Gefühl  bezieht  sich  auf  das 
andere,  wie  dieses  auf  den  Inhalt)  kommt  deshalb  nicht  in  Be- 
tracht, da,  wenn  sich  etwa,  dem  Beispiel  des  Neides  entsprechend, 
ein  Gefühl  der  Lust  auf  eine  Erregung  bezieht,  damit  stets  noch 
andere  Gefühle  der  Lust  oder  Unlust  gegeben  sind,  die  nicht  aus 
dem  Ganzen  des  Totalgefühls  genommen  werden  können,  um  es 
gesondert  zu  betrachten.  Es  wäre  z.  B.  die  Entrüstung  über  ein 
rohes  Lachen  ein  solches  Gefühl,  bei  dem  von  der  Unlust  nicht 
abgesehen  werden  kann,  wohl  aber  zum  Zweck  der  Ordnung,  wie 
wir  oben  sahen,  von  der  Erregung.  Wenn  man  also  die  Erregung 
mit  einbezieht,  so  liegt  hier  eine  Geftlhlsverbindung  höherer  Ord- 
nung vor.  Umgekehrt  kann  man  hier  auch  von  der  Lust  oder 
Unluststellung  des  Gefühls  Uberhaupt  abstrahieren,  wie  wir  eben- 
falls in  einem  obigen  Beispiel  taten  (Entrüstung  Uber  fremde  Teil- 
nahmslosigkeit). Wenn  man  aber  Lust  und  Erregung  in  die  Ana- 
lyse mit  einbezieht,  so  kann  man  es  nur,  indem  man  es  voll- 
ständig tut,  d.  h.  alle  im  Gefühl  vorhandenen  Lust-Unlustmomente 
sowohl,  als  auch  die  Erregungsmomente  berücksichtigt  und  demnach 
das  Totalgefühl  als  Gefühlsverbindung  höherer  Ordnung  ansieht. 

Bleiben  also  noch  die  beiden  Fälle:  Die  beiden  Gefühle  be- 
ziehen sich  auf  den  Gegenstand  oder  sie  beziehen  sich  direkt  auf- 
einander, so  daß  das  eine  Gefllhl  zugleich  die  Bedingungen  für 
das  andere  in  sich  enthält. 

Zu  dem  ersten  Fall  gehört  z.  B.  das  Gefühl,  das  durch  ein 
leuchtendes  Rot  ausgelöst  wird:  lustvolle  Erregung.  Die  Gefllhle 
sind  in  ihren  Entstehungsbedingungen  koordiniert.  Im  Totalgefühl 
koordiniert  die  Lust.  Die  Verbindung  ist  eine  relativ  enge,  obwohl 
auch  das  ErregungsgefÜhl  ziemlich  deutlich  heraustreten  kann. 
Eine   derartige  Verbindung   wollen    wir  »Geflihlskoordination« 


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278 


Monte  Geiger, 


nennen;  nicht  nach  ihrer  phänomenologischen  Erscheinung,  denn, 
wie  gesagt,  im  Dominieren  sind  die  beiden  Gefühle  keineswegs 
koordiniert,  sondern  nach  ihren  Entstehnngsbedingungen.  Merkmale 
sind :  1)  Die  Verbindung  von  Lust  oder  Unlust  mit  einem  andern 
Affektgefuhl.  2)  Gleichartige  Beziehung  auf  einen  Gegenstand. 
3)  Dominieren  des  Lustgefühls.  4)  Das  Totalgefuhl  hat  zwar  einen 
einheitlichen,  aber  keinen  neuen  Charakter. 

Die  Analogie  zur  zweiten  Möglichkeit  des  vorigen  Kapitels 
ließe  sich  allenfalls  noch  aufrechterhalten  bei  einer  Verbindung, 
wie  sie  z.  B.  in  der  freudigen  Überraschung  gegeben  ist.  Durch 
die  Art  seines  Auftretens  löst  der  Inhalt  ein  Uberraschungs- 
gefühl  aus,  durch  seinen  Inhalt,  entweder  assoziativ  oder  direkt, 
ein  Lustgefühl.  Es  dominiert  im  Totalgefühl  die  Überraschung. 
Dennoch  ist  nach  dem  Prinzip  des  geringen  Verbindungswertes 
von  Lust  und  Unlust  die  Lust  relativ  selbständig.  Beide,  Lust 
und  Überraschung,  bilden  jedoch  ein  einheitliches  Ganze,  doch  so, 
daß  die  Lust  die  Überraschung  eigenartig  färbt.  Wir  wollen  diese 
Verbindung  als  »GeftLhlsverknüpfung«  bezeichnen.  Merkmale  sind: 
1)  Verbindung  von  Lust-Unlust  mit  andern  Affektgefühlen.  2)  Aus- 
lösung durch  denselben  Inhalt.  3)  Lust-Unlust  dominiert  nicht, 
sondern  das  andere  Affektgeftihl.  Man  konnte  im  Zweifel  sein, 
ob  wirklich  bei  der  freudigen  Überraschung  stets  die  Überraschung 
dominiert  Mir  scheint  das  in  der  Tat  der  Fall  zu  sein,  die  Freude 
nur  eine  Färbung  der  Überraschung  darzustellen.  Denn  sobald 
der  Moment  der  ersten  Überraschung  vorbei  ist,  und  die  Freude 
eigentlich  erst  in  ihr  Recht  tritt,  würde  ich  das  Gefühl  nicht  mehr 
Überraschung  nennen,  zumal  da  jetzt  nicht  mehr  die  Hemmung, 
sondern  die  Erregung  fllr  den  Affekt  bezeichnend  ist.  4)  Lust- 
Unlust  ist  relativ  selbständiges  Partialgefuhl.  5)  Die  Verbindung 
ist  eine  enge,  aber  leicht  analysierbare. 

Die  andere  Möglichkeit,  daß  die  Bedingungen  des  einen  Ge- 
fühls zugleich  Bedingungen  des  andern  sind,  liegt  bei  verschie- 
denen Fällen  vor: 

Eine  Art  dieser  Verbindungen  finden  wir  z.  B.  in  den  Gefühlen 
der  Kraft,  der  Freiheit,  der  Schwäche,  der  Ohnmacht  usw.  Be- 
trachten wir  z.  B.  das  Gefühl  der  Kraft.  Die  ursprünglichen 
Charakteristika  sind  SpannungsgefUlüe  besonderer  Art,  die  Be- 
dingungen für  Lustgefühle  in  sich  enthalten.  In  dem  Totalgefuhl 
bilden  beide  eine  einzige  Einheit,  in  der  die  Lustgefühle  domi- 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Gefiihlselemente  usw. 


279 


nieren.  Sie  durchdringen  sich  jedoch  gegenseitig  und  bilden  eine 
weit  engere  Einheit,  als  sie  z.  B.  beim  Gefühl  der  freudigen  Über- 
raschung vorliegt.  Dennoch  sind  in  der  Analyse  beide  Gefühle 
sehr  wohl  voneinander  trennbar.  Wir  wollen  diese  GefÜhlsver- 
bindung  »Gefühlsdurchdringung«  nennen.  Sie  charakterisiert  sich 
dadurch,  1)  daß  Lust-Unlust  mit  andern  Affektgefühlen  verbunden 
ist;  2)  daß  die  Verbindung  der  Gefühle  ihrer  Richtungsbestimmt- 
heit nach  eine  fest  bestimmte  ist  —  es  gibt  kein  unlustvolles  Kraft- 
gefühl  oder  lustvolles  Schwächegefühl,  wie  es  lustvolle  oder  unlust- 
volle Überraschung  gibt;  3)  daß  die  Gefühle  eng  verwoben  sind; 
4)  daß  trotzdem  die  Trennung  beider  in  der  Analyse  leicht  gelingt. 

Eine  andersgeartete  Form  der  eben  besprochenen  Möglichkeit 
ist  die,  daß  das  Gefühl  als  solches  durch  seinen  Inhalt  nicht  die 
Bedingungen  des  zweiten  Gefühls  in  sich  enthält,  sondern  durch 
die  Art  und  Starke  seines  Auftretens,  wie  z.  B.  beim  Schreck. 
Der  Schreck  (nicht  der  durch  seinen  Inhalt  unlustvolle,  der  schon 
eine  Gefühlsverbindung  höherer  Ordnung  aus  der  unlustvollen 
Überraschung  ist)  ist  eine  ubernormal  gesteigerte  Überraschung 
und  hierdurch  unlustvoll.  Die  Verbindung  der  Überraschung  mit 
der  Unlust  ist  derart,  daß  die  Unlust  stark  dominierend  heraus- 
tritt. Die  Verbindung  ist  eine  enge  bei  großer  Selbständigkeit 
der  PartialgefÜhle.  Die  Verbindung  sei  mit  >Gefuhlsttber- 
höhung«  nach  der  Art  ihrer  Entstehung  bezeichnet.  Sie  unter- 
scheidet sich  von  der  Gefühlsdurchdringung  durch  die  Stärke  des 
Totalgefühls,  durch  die  größere  Stärke  und  Selbständigkeit  der 
PartialgefÜhle,  dadurch,  daß  sie  stets  unlustvoll  ist,  und  endlich 
durch  das  stärkere  Dominieren  der  Unlust,  als  es  bei  Gefühls- 
durchdringungen der  Fall  ist.  — 

Ordnen  wir  die  GefÜhlsverbindungen  verschiedenen  Charakters 
nach  der  Enge  der  Verbindung  des  Ganzen,  so  ergibt  sich  in 
absteigender  Enge: 

Gefühlsverdichtung  (Überraschung). 
Gefühlsdurchdringung  (Kraft). 
Gefühlskoordination  (Erregung  und  Lust  im  Rot). 
GefÜhlsUberhöhung  (Schreck). 
Gefühlsverknüpfung  (freudige  Überraschung). 

Geordnet  nach  der  relativen  Selbständigkeit  der  nicht  domi- 
nierenden PartialgefÜhle,  mit  dem  unselbständigsten  beginnend: 


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280 


Moritz  Geiger, 


GeftlhlsYerdichtung. 

Gefühlskoordination. 

Gefühlsdurchdringung. 

GefÜblsüberhöhung. 

GefÜhlsverknüpfung. 
Wie  man  sieht,  deckt  sich  die  Enge  der  Verbindung  nur  an- 
nähernd, nicht  vollkommen  mit  der  Unselbständigkeit  der  Partial- 
gefühle. 

4)  Die  Verbindung  logischer  Gefühle. 

Wie  bei  den  Affektgefühlen  ist  anch  hier  zu  unterscheiden 
zwischen  den  Verbindungen  gegensätzlicher  Gefühle  und  denen 
verschiedenartiger  Gefühle. 

Die  Verbindungen  gegensätzlicher  Gefühle  der  logischen  Gruppe 
unterscheiden  sich  von  denen  der  Affektgruppe  gemäß  den  Be- 
dingungen, die  überhaupt  zur  Scheidung  der  beiden  Gruppen  ge- 
führt haben.  Die  logischen  Gefühle  werden  vom  unmittelbaren 
Bewußtsein  von  den  Bestimmungen  eines  Gegenstands  nicht  ge- 
sondert. Dann  bestehen  zwei  Möglichkeiten :  entweder  die  gegen* 
sätzlichen  Gefühle  beziehen  sich  auf  verschiedene  gleichzeitige 
Erlebnisse,  so  liegt  eine  Gefühlskombination,  keine  Gefühls  Verbin- 
dung vor.  Oder  es  liegen  Bedingungen  gegensätzlicher  Gefühle 
in  Beziehung  auf  denselben  Gegenstand  vor,  so  schließen  sie  sich 
gegenseitig  aus,  wenn  sie  gleichzeitig  gegeben  sind  und  wirken; 
denn  in  demselben  Sinne  können  nicht  zwei  entgegengesetzte 
logische  Gefühle  auf  denselben  Gegenstand  bezogen  sein,  da  kein 
Gegenstand  in  demselben  Sinn  entgegengesetzte  Bestimmtheiten 
an  sich  tragen  kann.  Es  kann  dann  keine  Gefühlsverbindung, 
sondern  nur  ein  Verbindungsgefühl  entstehen;  denn  diese  gegen- 
sätzlichen Bedingungen  werden  zusammenwirken  zu  einem  ein- 
heitlichen Gefühl.  Sind  sie  nicht  gleichzeitig  wirksam,  sondern 
wirken  sie  abwechselnd  nacheinander,  so  liegt  freilich  die  Mög- 
lichkeit der  Bildung  einer  gegensätzlichen  Gefühlsverbindung  vor. 

Bei  den  AffektgefUhlen  war  das  anders.  Sie  können  wohl 
eine  Beziehung  auf  Gegenstände  haben,  sind  aber  für  die  unmittel- 
bare Auffassung  nicht  Bestimmungen  dieser  Gegenstände.  Dem- 
entsprechend wirken  gegensätzliche  Affektgefühle  zwar  gegenein- 
ander, brauchen  sich  aber  nicht  notwendig  aufzuheben.  Wie  wir 
sehen,  können  ja  die  Lust  und  die  Unlust  auf  verschiedene  Seiten 
des  Gegenstandes  gehen,  usw.    Dadurch  kann  ein  Gegenstand 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Geftthlselemente  usw. 


281 


sowohl  lustvoll  als  unlustvoll  sein.  Das  logische  Gefühl  trifft 
jedesmal  den  ganzen  Gegenstand.  Ein  Gegenstand  ist  entweder 
z.  B.  mit  dem  Bewußtsein  der  Wirklichkeit  oder  der  Nichtwirk- 
lichkeit  verbunden.   Mit  beiden  zugleich,  das  wäre  unmöglich. 

Bei  den  Verbindungen  von  gegensätzlichen  logischen  Gefühls- 
bedingungen haben  wir  demnach  zu  unterscheiden  zwischen  simul- 
tanem Wirken  gegensätzlicher  Bedingungen,  das  Verbindungsgefühle 
ergibt,  und  dem  sukzessiven,  aus  dem  Gefühls  Verbindungen  entstehen. 

Es  seien  zuerst  simultan  in  Beziehung  auf  dasselbe  psychische 
Geschehen  Bedingungen  entgegengesetzter  Art  gegeben.  Es  seien 
z.  B.  Bedingungen  gegeben,  die  auf  ein  Gefühl  der  Wirklichkeit 
gegenüber  einem  Tatbestand  hinweisen,  und  andere,  die  ein  Gefühl 
der  NichtWirklichkeit  zu  bewirken  imstande  sind.  Wenn  beides 
nur  Bedingungen  sind,  keine  das  Gegenteil  absolut  ausschließen- 
den Ursachen  des  Gefühls,  so  können  sie  nicht  nebeneinander 
bestehen  bleiben,  es  entsteht  ein  VerbindnngsgefÜhl,  das  Gefühl 
der  Möglichkeit.  Eine  genauere  Analyse  muß  ich  mir  hier  ver- 
sagen. Nur  bo  viel  sei  bemerkt,  daß  nur  eine  Art  des  Gefühls 
der  Möglichkeit  hier  gestreift  ist,  und  daß  auch  hier  als  Bedin- 
gungen des  Gefühls  der  Wirklichkeit  nicht  Ursachen  für  die  Wirk- 
lichkeit, sondern  Gründe  für  die  Annahme  der  Wirklichkeit  vor- 
handen sein  müssen.  Wegen  der  genaueren  psychologischen  Ana- 
lyse des  Tatbestandes  verweise  ich  auf  Lipps,  Vom  Fühlen,  Wollen 
and  Denken.  Es  entsteht  also  hier  ein  Verbindungsgefühl,  dessen 
Charakteristikum  ist,  daß  es  keins  der  gegensätzlichen  Gefühle 
zum  Grundcharakter  hat,  daß  es  als  Gefühl  etwas  vollkommen 
Neues  mit  vollkommen  neuem  Charakter  ist,  wenn  auch  das  Be- 
wußtsein der  Art  des  Entstehens  der  Bedingungen  für  entgegen- 
gesetzte logische  Gefühle  oft  damit  verknüpft  zu  sein  scheint.  Zu 
einem  vollständig  neuen  Gefühl  haben  sich  die  Bedingungen  ver- 
schmolzen: Wir  können  deshalb  eine  derartige  Verbindung  als 
Verschmelzungsgefühl  (nach  dem  Vorgange  von  Lipps)  bezeichnen. 
Nicht  immer  ist  es  übrigens  notwendig,  daß  die  Bedingungen  bei 
den  Verschmelzungsgefühlen  für  das  Bewußtsein  vorhanden  sind. 
Nehmen  wir  z.  B.  die  Ähnlichkeit,  die  aus  Bedingungen  für  Gleich- 
heit und  Verschiedenheit  verschmolzen  ist,  so  gibt  es  zweifellos 
Fälle,  wie  bei  der  Ähnlichkeit  von  Dreiecken,  bei  denen  ich  die  Be- 
dingungen der  Gleichheit  und  der  Verschiedenheit  ohne  weiteres  an- 
geben kann.   Dagegen  zeigt  sich,  daß  diese  Bedingungen  bei  der 


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282 


Moritz  Geiger. 


Ähnlichkeit  von  Rot  und  Orange  z.  B.  fttr  das  Bewußtsein  nicht  vor- 
handen sind.  Sie  sind  einfach  ähnlich,  ohne  daß  ich  imstande  bin, 
das  Gleiche  und  das  Verschiedene  der  beiden  Farben  voneinander 
zu  lösen.  Ebenso  kann  auch  in  der  individuellen  Entwicklung 
das  VerschmelzungsgefUhl  dem  elementaren  Gefühl  vorausgehen »). 

Zu  den  Verschmelzungsgefuhlen  gehören  z.  B.  Ähnlichkeit, 
Wahrscheinlichkeit,  Möglichkeit,  Gegensätzlichkeit. 

Wir  müssen  bei  den  Verschmelzungsgefuhlen  zweierlei  unter- 
scheiden: solche,  bei  denen  der  neue  Charakter  des  Verschmel- 
zungsgefUhls  rein  ist,  d.  h.  nichts  vom  Charakter  des  einen  der 
GefUhle  hat,  deren  Bedingungen  seine  Komponenten  sind  (neutrales 
VerschmelzungsgefUhl),  und  solche,  bei  denen  im  Gesamtcharakter 
das  eine  Gefühl  Uberwiegt,  ohne  natürlich  dem  vollkommen  Neuen 
und  Eigenartigen  des  Verschmelzungsgefühls  Eintrag  zu  tun  (ein- 
seitig betontes  VerschmelzungsgefUhl).  Zu  den  neutralen  Ver- 
schmelzungsgefuhlen gehört  die  Möglichkeit,  zu  den  einseitig  be- 
tonten die  Wahrscheinlichkeit,  bei  der  die  Bedingungen  für  eines 
der  widerstreitenden  Gefühle  stärker  sind,  ferner  die  Ähnlichkeit, 
bei  der  die  Gleichheit,  die  Gegensätzlichkeit,  bei  der  die  Ver- 
schiedenheit stärker  betont  ist. 

Um  Mißverständnisse  auszuschließen,  möchte  ich  darauf  hin- 
weisen, daß  das  in  dem  Lipps  sehen  Buche  vom  Fühlen,  Wollen 
und  Denken  an  der  zitierten  Stelle  erwähnte  VerschmelzungsgefUhl 
der  Gewißheit  wohl  in  der  dort  erwähnten  Hinsicht,  nicht  aber 
in  unserem  Sinn  ein  VerschmelzungsgefUhl  ist  Ein  Gefühl  kann, 
seinem  Entstehen  nach,  ursprünglich  das  Endergebnis  gegenein- 
ander wirkender  Bedingungen  sein,  ohne  daß  im  Gefühl  selbst 
diese  einander  entgegenwirkenden  Bedingungen  zum  Ausdruck 
kommen.  Die  logische  Möglichkeit  ist  zuweilen  die  Verschmelzung 
aus  Geftthlsbedingungen  der  Wirklichkeit  und  der  Nichtwirklich- 
keit.  Die  Gewißheit,  der  Gewißheitsentscheid  ist,  wenn  auch 
entstanden  aus  entgegengesetzten  Bedingungen,  dennoch  kein  Ver- 
schmelzungsgefUhl in  unserem  Sinn;  denn  daß  und  ob  der  Gewiß- 
heit widerstreitende  Motive  vorausgegangen  sind,  das  äußert  sich 
vielleicht  im  Grad  der  Entschiedenheit,  mit  der  das  Gefühl  der  Ge- 
wißheit auftritt.  Aber  im  Moment,  wo  die  Gewißheit  zum  Erleben 
kommt,  müssen  diese  entgegenstehenden  Bedingungen  unwirksam 

1)  Siehe  z.  B.  für  die  Ähnlichkeit  die  Ausführungen  bei  Hans  Corne- 
lius, Psychologie  als  Erfahrungswissenschaft  1897.   I.  Kapitel. 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Geftihlselemente  usw.  283 

geworden  Bein,  sonst  entsteht  eben  keine  Gewißheit.  Deshalb 
Techne  ich  die  Gewißheit  nicht  zu  den  Verschmolz  anbefahlen. 

Die  Bedingungen,  die  auf  entgegengesetzte  logische  Gefühle 
hinwirken,  können  auch  nacheinander  wirksam  werden.  Das  ist 
z.  B.  beim  Zweifel,  bei  der  Unentschiedenheit  der  Fall.  Bei  diesen 
Gefühlen  liegt  einerseits  eine  Gefühlsdurchdringung  vor  —  davon 
soll  später  die  Rede  sein,  —  ferner  aber  eine  Gefühlsverbinduug, 
in  der  die  gegensätzlichen  Gefühle  vorhanden  sind,  der  Gesamt- 
charakter jedoch  etwas  vollkommen  Neues  ist.  Dennoch  treffen 
hier  nicht  die  Merkmale  der  Gefühlsverschmelzung  zu.  Denn  dort 
bestanden  die  gegensätzlichen  Gefühle  nebeneinander,  hier  ist  es 
ein  Nacheinander.  Wenn  ich  z.  B.  unentschieden  bin,  ob  ich  etwas 
tun  soll,  so  bin  ich  keineswegs  gleichzeitig  geneigt,  das  Betreffende 
zu  tun  und  nicht  zu  tun,  sondern  zunächst  betrachte  ich  das  Aus- 
führen der  einen  Möglichkeit  als  wirklich;  doch  so,  daß  ein  Gefühl 
inneren  Widerstrebens  vorhanden  ist,  das  mich  dazu  veranlaßt, 
zu  der  andern  Möglichkeit  innerlich  überzugehen.  Es  scheint 
mir  jedoch  nicht  so  zu  sein,  daß  die  beiden  in  Betracht  kommen- 
den Möglichkeiten  gleichzeitig  als  Willensantriebe  im  Bewußtsein 
sind.  Vielmehr  ist  im  Bewußtsein  ein  Willensantrieb  und  ein 
Gefühl  des  Widerstrebens  dagegen,  und  nachher  der  entgegen- 
gesetzte Willensantrieb  und  ebenfalls  ein  Gefühl  des  Widerstrebens. 
Über  beiden  baut  sich  ein  Totalgefühl  auf,  das  wir  mit  dem  Namen 
der  Unentschiedenheit  bezeichnen.  Diese  Art  der  gegensätzlichen 
Gefühlsverbindung,  bei  der  das  Totalgefühl  einen  neuen  Charakter 
hat,  die  gegensätzlichen  Gefühle  jedoch  als  sukzessiv  abwechselnd 
dominierende  PartialgefÜhle  erhalten  sind,  sei  mit  dem  Ausdruck 
» Gefühlsentgegensetzung «  bezeichnet. 

Hiermit  sind  die  Hauptformen  logischer  gegensätzlicher  Geftihls- 
verbindungen  erschöpft.  Die  Verbindungen  verschiedenartiger 
logischer  Gefühle  sind  wenig  mannigfaltig  in  ihren  Formen. 

Beziehen  sich  verschiedenartige  logische  Gefühle  auf  denselben 
Gegenstand,  so  gehen  sie  keine  engere  Verbindung  ein.  Zwei 
Gegenstände  sind  neu,  ähnlich  und  wirklich.  Das  sind  so  ver- 
schiedene Bestimmungen,  auf  die  diese  Gefühle  sich  beziehen,  daß 
zwischen  ihnen  keine  engere  Gefühlsverbindung  zustande  kommt 
als  die,  welche  in  ihrer  Gleichzeitigkeit  gegeben  ist. 

Eine  Beziehung  logischer  Gefühle  aufeinander  könnte  man  an- 
nehmen, wo  es  sich  um  das  Bewußtsein  einer  neuen  Notwendigkeit, 


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284 


Moritz  Geiger, 


einer  möglichen  Ähnlichkeit  handelt.  Aber  die  Beziehung  ist 
sicherlich  nicht  etwa  so  beschaffen,  daß  man  einfach  sagen 
darf :  das  Gefühl  der  Ähnlichkeit  bezieht  sich  auf  die  Gegenstände 
nnd  das  Gefühl  der  Möglichkeit  anf  das  Gefühl  der  Ähnlichkeit 
Dadurch  wäre  der  Tatbestand  keinesfalls  richtig  beschrieben. 
Denn  wenn  auch  das  Bewußtsein  der  Ähnlichkeit  einen  Gefühls- 
bestandteil  in  sich  enthält,  so  ist  es  doch  gerade  das  Nichtgeftthls- 
mäßige  an  ihr,  die  auf  den  Gegenstand  bezogene  Seite  an  ihr, 
auf  die  sich  die  Möglichkeit  bezieht.  Wir  können  also  nur  sagen : 
das  Gefühl  der  Möglichkeit  bezieht  sich  indirekt  auf  das  Gefühl 
der  Ähnlichkeit.  Dieser  geringe  Zusammenhang,  der  es  fraglich 
erscheinen  läßt,  ob  wir  überhaupt  noch  das  Recht  haben,  von 
einer  Beziehung  der  Gefühle  aufeinander  zu  reden,  ergibt  sich 
auch  phänomenologisch:  das  Gefühl  der  Möglichkeit  und  das  der 
Ähnlichkeit  sind  so  lose  verknüpft,  daß  jedes  Gefühl  für  sich  selb- 
Btändig  bleibt  und  nur  eine  lose  Einheit  zustande  kommt,  die  wir 
als  GefÜhlsnebeneinander  bezeichnen  wollen. 

5)  Die  Verbindung  der  logischen  Gefühle  mit  Affekt- 
gefühlen. 

Bei  der  Verbindung  der  logischen  Gefühle  mit  den  Affektge- 
fuhlen  sind  von  den  obenerwähnten  vier  Möglichkeiten  der  Bezie- 
hung der  Gefühle  zum  Gegenstand  und  zueinander  drei  vorhanden, 
die  uns  schon  oben  begegnet  sind.  Es  sind  wiederum  nur  drei 
Möglichkeiten,  da  aas  den  bei  den  Verbindungen  der  Affektgefühle 
erwähnten  Gründen  eine  Scheidung  zwischen  Beziehung  beider 
Gefühle  auf  denselben  Gegenstand  und  Beziehung  auf  verschiedene 
Seiten  des  Gegenstandes  nicht  möglich  erscheint,  da  natürlich 
Affektgefühle  und  logische  Gefühle  stets  durch  verschiedene  Seiten 
des  Inhalts  ausgelöst  werden. 

Entweder  beziehen  sich  also  die  Gefühle  auf  denselben  Gegen- 
stand, oder  die  Bedingungen  des  logischen  Gefühls  sind  zugleich 
Bedingungen  des  Affektgefühls,  oder  das  eine  Gefühl  hat  das  andere 
zum  Gegenstand. 

Beziehen  sich  die  beiden  Gefühle  einfach  auf  denselben  gegen- 
ständlichen Inhalt,  so  verbinden  sie  sich  nicht,  wie  das  ja  auch 
beim  Zusammentreffen  zweier  logischer  Gefühle  der  Fall  war. 
Ob  ein  angenehmes  Rot  ähnlich  einem  andern  ist,  ob  es  neu  ist 
usw.,  das  mag  zwar  die  Intensität  des  Affektgefühls  beeinflussen, 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Geflihlselemente  uaw.  285 

bringt  aber  keineswegs  eine  Verbindung  zwischen  den  Gefühlen* 
zustande. 

Sind  die  Bedingungen  des  logischen  Gefühls  dagegen  zugleich 
Bedingungen  des  Affektgefühls,  so  entsteht  eine  enge  Verbindung. 
Ein  Beispiel  ist  das  früher  erwähnte  Gefühl  des  Zweifels.  Da 
aber  hier  gegensätzlich  logische  Gefühle  sich  mit  UnlustgefÜhlen 
verbinden,  der  Zweifel  als  Ganzes  also  eine  Gefühlsverbindung 
höherer  Ordnung  ist,  so  wollen  wir  uns  an  andere  Beispiele  halten. 

Ehe  wir  zu  diesen  übergehen,  muß  noch  eine  Besonderheit 
dieser  Gefühle  beachtet  werden.    Die  Gefühle  nämlich,  die  das 
Gefühl  des  Zweifels  ausmachen,  haben  den  Charakter  logischer 
Gefühle,  die  Unlust  ist  ein  Affektgefühl.    Es  könnte  demnach 
zweierlei  geschehen,  dadurch,  daß  auf  Objekte  bezogene  Gefühle 
und  nicht  auf  Objekte  bezogene  Gefühle  zu  einem  einzigen  Gefühl 
vereinigt  werden.  Entweder  die  Affektgefühle  nehmen  teil  an  der 
Beziehung  auf  die  Objekte  und  werden  als  Bestimmungen  des  Ob- 
jekts aufgefaßt,  oder  die  logischen  Gefühle  verlieren  ihre  Beziehung 
auf  das  Objekt  und  werden  mit  den  Affektgefuhlen  als  Zustände 
des  Subjekts  aufgefaßt.  In  Wirklichkeit  tritt  nur  das  letztere  ein. 
Der  Zweifel  z.  B.  wird  vollkommen  vom  Objekt  getrennt,  wenig- 
stens soweit  er  eine  Verbindung  mit  den  Affektgefühlen  eingeht.  Da- 
neben behält  er  oder  kann  er  wenigstens  seinen  objektiven  Charak- 
ter behalten.    Ich  zweifle  z.  B.,  daß  mein  Lotterielos  gewinnen 
wird.  Hier  kann  das  Zweifelhafte,  das  eigentlich  in  der  Sache  selbst 
liegt,  durch  die  Verbindung  mit  den  Gefühlen  der  Lust  und  des 
Strebens  reine  Stimmung  werden:  ich  zweifle,  daß  ich  gewinnen 
werde.  Daneben  freilich  bleibt  der  Charakter  der  Ungewißheit  des 
Gewinns,  der  Ungewißheit  also  als  Bestimmung  des  Objekts,  be- 
stehen.   Aber  der  eigentliche  Affekt  des  Zweifels  ist  keine  Be- 
stimmtheit des  Gegenstandes  mehr,  sondern  er  bezieht  sich  auf  den 
Gegenstand,  er  haftet  an  dem  Gegenstand.    Der  Gesamtcharakter 
wird  durch  das  Affektgefühl  bestimmt,  nicht  durch  das  logische 
Gefühl.  Man  kann  diese  Erscheinung  als  das  Prinzip  der  Subjekti- 
vation  logischer  Gefühle  durch  Affektgefühle  bezeichnen. 

Diese  Erscheinung:  tritt  auch  bei  den  Gefühlsverbindungen  erster 
Ordnung  auf,  die  uns  hier  interessieren,  z.  B.  im  Gefühl  der  Sicher- 
heit, der  Gewißheit. 

Dieses  Gefühl  hat  phänomenologisch  drei  Stufen.  Die  logisch 
verschiedene  Bedeutung  dieser  drei  Stufen  kommt  hier  nicht  in 


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286 


Moritz  Geiger, 


Betracht,  uns  interessiert  nur  die  psychologische  Seite;  und  von 
dieser  wiederum  nur  die  Geftihlsseite.  In  der  ersten  ist  eine  Tat- 
sache gewiß;  ein  rein  logisches  Gefühl  ist  vorhanden  ohne  Ver- 
bindung mit  Affektmomenten.  In  der  zweiten  Stufe  ist  ebenfalls 
noch  das  Bewußtsein  der  Gewißheit  oder  Sicherheit  einer  Tat- 
sache vorhanden;  daneben  aber  macht  sich  deutlich  die  lustvolle 
Gesamtstimmung  der  Sicherheit  bemerkbar,  hervorgerufen  gerade 
durch  das  Bewußtsein  der  Sicherheit  einer  Tatsache.  In  der  dritten 
Stufe  ist  einfach  das  Gefühl  der  Sicherheit  als  Stimmung  vorhanden, 
ohne  ein  deutliches  Bewußtsein  von  Objekten,  die  sicher  sind. 

Das  logische  Gefühl  der  Gewißheit  einer  Tatsache  ist  auf  der 
ersten  Stufe  ein  einfaches  Gefühl,  keine  Gefühlsverbindung.  Aber 
es  sind  auch  hier  schon  Bedingungen  vorhanden,  die  unter  Um- 
ständen affektiv  wirken  können.  Diese  Bedingungen  sind  gegeben 
in  der  mit  jedem  Bewußtsein  der  Sicherheit  verbundenen  Ein- 
deutigkeit des  psychischen  Geschehens,  in  seinem  eindeutigen 
Vorwärtsgehen.  Kommen  neue  Umstände  hinzu,  die  die  Gefühls- 
wirkung dieser  Eindeutigkeit  verstärken,  etwa  eine  vorausgegangene 
Unsicherheit,  so  tritt  der  Affektcharakter  deutlich  heraus.  Es  ent- 
steht dann  das  Gefühl  der  Lust  der  Gewißheit  einer  Tatsache; 
nicht  der  Gewißheit  einer  bestimmten  Tatsache,  sondern  Lagt  an 
der  Gewißheit  schlechtweg.  Die  Gewißheit  kann  sogar  als  Gewiß- 
heit dieser  Tatsache  sehr  unlustvoll  sein.  Von  dieser  Gefnhls- 
verbindung  wird  noch  die  Rede  sein. 

Die  hier  in  Frage  kommende  Lust  an  der  Gewißheit  ißt  eine 
Gefuhlsverbindung,  bei  der  die  Bedingungen  der  Gewißheit  die 
Bedingungen  der  Lust  unmittelbar  in  sich  enthalten.  Phänomeno- 
logisch trügt  diese  Gewißheit  der  zweiten  Stufe  alle  Merkmale  der 
»GefUhlsdurchdringung«  an  sich,  wie  wir  sie  im  Gefühl  der  Kraft 
oder  der  Freiheit  kennen  gelernt  haben.  Wir  können  sie  daher 
als  »logisch-affektive  GefUhlsdurchdringung«  bezeichnen. 

Geht  der  logische  Charakter  ganz  verloren  -  die  dritte  der 
obenerwähnten  Stufen  —  und  bleibt  nur  die  Stimmung  der 
Sicherheit  zurück,  so  haben  wir  es  nicht  mehr  mit  einer  Verbin- 
dung von  logischen  und  affektiven  Gefühlen  zu  tun,  sondern  mit 
einer  rein  affektiven  Verbindung,  eben  der  rein  affektiven  GefUhls- 
durchdringung. Die  logisch-affektive  GefUhlsdurchdringung  ist  also 
eine  Vorstufe  der  affektiven.  Fast  alle  GefUhlsdurchdringungen 
haben  ein  zugehöriges  indifferentes  logisches  Gefühl  und  daher 


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Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Gefiihlselemente  ubw. 


287 


auch  eine  solche  Voretnfe.  So  z.  B.  die  Gefühle  unlustvollen  Sich- 
kleinfühlens  oder  Instvollen  SichgroßfÜhlens  das  gegenständliche 
Intensitätsgeftthl,  der  Zwang  das  Gefhhl  der  Notwendigkeit  nsw. 
Es  zeigt  sich  hierin,  daß  unsere  Zweckmäßigkeitsscheidung  von 
logischen  und  Affektgeftihlen  keinerlei  fundamentale  psychologische 
Bedeutung  hat  (in  Beziehung  auf  eine  Einteilung  nach  Geiuhls- 
grundlagen),  sondern  sekundären  Charakter,  und  nicht  für  die 
Gefühle  selbst,  sondern  nur  flir  die  Verbindungen  der  Gefühle 
eine  zweckentsprechende  ist 

Endlich  noch  die  letzte  Möglichkeit:  Ein  Gernhl  bezieht  sich 
auf  das  andere.  Hier  gilt  all  das  wiederum,  was  oben  in  bezug 
anf  die  Gefühle  einer  neuen  Möglichkeit  gesagt  wurde.  Der  in 
Frage  stehende  Fall  liegt  im  Gefühl  der  angenehmen  Möglichkeit 
vor.  In  letzter  Linie  freilich  geht  die  Lust  auf  die  Tatsache, 
deren  Möglichkeit  vorliegt.  Sie  tut  es  jedoch  durch  Vermittlung 
des  Gefühls  der  Möglichkeit  Die  reine  Vorstellung  des  Gegen- 
stands ohne  das  Gefühl  der  Möglichkeit  würde  vielleicht  nicht 
genügen,  das  affektive  Gefühl  auszulösen.  Hier  haben  wir,  ent- 
sprechend oben  beim  Gefühl  einer  neuen  Möglichkeit  ein  logi- 
sches Gefuhlsnebeneinander,  ein  logisch-affektives  Gefuhlsneben- 
einander.  Hierher  gehört  auch  das  obenerwähnte  Gefühl  der 
angenehmen  wie  der  unangenehmen  Gewißheit  einer  bestimmten 
Tatsache.  Tritt  die  unangenehme  Gewißheit  nach  einer  Zeit  der 
Ungewißheit  anf,  die  unangenehm  als  Gewißheit  ist  —  es  tritt  dann 
die  schreckliche  Gewißheit  ein,  die  trotzdem  oft  als  Erlösung 
gegenüber  einer  schrecklichen  Ungewißheit  angesehen  wird  — , 
so  haben  wir  eine  Gefublsverbindung  höherer  Ordnung  vor  uns. 

6)  Zusammenfassung. 

Wenn  auch  mit  dieser  Zusammenstellung  nicht  alle  möglichen 
Gefuhlsverbindungen  erster  Ordnung  erschöpft  sind,  so  sind  doch 
wohl  einige  der  wichtigsten  zusammengestellt  Es  verschlägt  dabei 
nichts,  wenn  sich  späterhin  andere  Einteilungsgesichtspunkte  als 
zweckmäßiger  herausstellen  sollten.  Diese  Arbeit  sollte  nur  ein 
erster  Versuch  sein,  auf  der  Grundlage  der  Anschauung  von  der 
Mannigfaltigkeit  der  Gefühle  die  Gefuhlsverbindungen  zu  systemati- 
sieren. Das  Neuland  der  Gefühlsverbindungen  wird  nicht  bei  der 
ersten  Inangriffnahme  vollkommen  erobert  werden  können.  Des- 
halb glanbte  ich  es  in  skizzenhafter,  für  den  tiefer  Eindringenden 


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288  Moritz  Geiger,  Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Geflihlselemente  usw. 

wohl  allzu  skizzenhafter  Weise  wagen  zn  dürfen,  wenigstens  einzelne 
Gesichtspunkte,  die  weiterführen  können,  aufzuzeigen.  Die  Haupt- 
gesichtspunkte, nach  denen  die  Ordnung  erfolgte,  waren  einmal  das 
Verhältnis  von  PartialgefÜhl  und  Totalgefühl  und  in  zweiter  Linie 
die  Beziehung  der  Partialge  fühle  zueinander,  hzw.  zum  Gegenstand. 

Es  ergaben  sich  hieraus  die  folgenden  Geftthlsverbindungen. 
Die  Verbindungsgefühle  sind,  als  nur  durch  die  systematische 
Ubersicht  erfordert,  eingeklammert. 

I.  Verbindungen  von  Affektgefühlen. 

A.  Verbindungen  gegensätzlicher  Gefühle. 

1)  GefÜhlsverschmelzung  (Mitleid). 

2)  Mehrdeutige  GefUhlsverflechtungen. 

a.  Gefühls  Verdrängung  (unangenehme  Speise  bei  Hunger]. 

b.  Mehrdeutige  GefÜhlsverwebung  (Sehnsucht). 

3)  Eindeutige  GefUhlsverflechtungen. 

a.  Eindeutige  Gefühlsvereinheitlichung  (überwundene  An- 
strengung). 

b.  Eindeutige  GefÜhlsverwebung  (Entrüstung). 

4)  Zwischenverbindung    zwischen  Gefühlsverbindung  and 
Verbindungsgefühlen. 

a.  Gefühlssubordination  (Rache,  Neid). 
[5)  Verbindungsgefühl:  VertierungsgefÜhl.] 

B.  Verbindungen  verschiedenartiger  Gefühle. 

1)  Gefühlsverdichtung  (Überraschung). 

2)  Gefühlsdurchdringung  (Kraft). 

3)  Gefühlskoordination  (leuchtendes  Rot). 

4)  GefÜhlsUberhöhung  (Schreck). 

5)  Gefühls  Verknüpfung  (freudige  Überraschung). 

II.  Verbindungen  von  logischen  Gefühlen. 

A.  Verbindungen  gegensätzlicher  Gefühle. 
[1)  Verschmelzungsgefühl  (Möglichkeit).] 
2)  Gefühlsentgegensetzung  (Zweifel). 

B.  Verbindungen  verschiedenartiger  Gefühle. 
1)  GefÜhlsnebeneinander  (neue  Möglichkeit). 

III.  Verbindungen  logischer  Gefühle  mit  Affektgefühlen. 

1)  AfFektiv-logische  Gefühlsdurchdringung  (Gewißheit). 

2)  Logisch-affektives  GefÜhlsnebeneinander  (unangenehme 
Gewißheit). 

[Eingegangen  am  15.  Hai  1904.. 


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ARCHIV 


FÜR  DIE 

GESAMTE  PSYCHOLOGIE 


UNTER  MITWIRKUNG 

VON 

Prof.  H.  HÖFFDING  in  Kopenhagen,  Prof.  F.  JODL  in  Wien, 
Prof.  A.  KIRSCHMANN  in  Tohonto  (Canada),  Pbof.  E.  KRAEPEL1N 
in  München,  Prof.  O.  KÜLPE  in  Wübzburg,  Dr.  A.  LEHMANN 
iw  Kopenhagen,  Prof.  Th.  LIPPS  in  München,  Prof.  G.  MARTIUS 
in  Kiel,  Prof.  G.  STÖRRING  in  Zürich,  Dr.  W.  WIRTH  in  Leipzig 

und  Prof.  W*.  WUNDT  in  Leipzig 

HERAUSGEGEBEN  VON 

E.  MEUMANN 

0.  PROFESSOR  I»KI£  PHILOäOPIlIK  A.  D.  UNIVKRS1TAT  ZÜRICH 


* 


IV.  BAND,  3.  HEFT 

MIT  NEI  N  EIGIKEN  IM  TEXT 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  WILHELM  ENGELMANN 

1905 


Ausgegeben  am  IX.. Januar  190-',.  Digitized  by  Goo  j 


Bemerkungen  für  unsere  Mitarbeiter. 

Das  Archiv  erscheint  in  Heften,  deren  vier  einen  Band  von 
etwa  40  Bogen  bilden. 

Sämtliche  Beiträge  für  das  Archiv  bitten  wir  an  die  Adresse  des 
Herrn  Professor  E.  M e u m  ann,  Zürich,  Schmelzbergstr.  53  einzusenden. 

An  Honorar  erhalten  die  Mitarbeiter:  für  Abhandlungen 
JtdO.— ,  für  Referate  Ji  40.—  für  den  Bogen.  Von  den  Abhand- 
lungen werden  an  Sonderdrucken  40  umsonst,  weitere  Exemplare 
gegen  mäßige  Berechnung  geliefert.  Von"  den  Referaten  werden 
Sonderdrucke  nur  auf  Verlangen  geliefert.  Die  etwa  mehr  gewünschte 
Anzahl  bitten  wir,  wenn  möglich  bereits  auf  dem  Manuskript  an- 
zugeben. 

Die  Manuskripte  sind  nur  einseitig  beschrieben  und  druckfertig 
einzuliefern,  so  daß  Zusätze  oder  größere  sachliche  Korrekturen 
nach  erfolgtem  Satz  vermieden  werden.  Die  Zeichnungen  für  Tafeln 
und  Textabbildungen  (diese  mit  genauer  Angabe,  wohin  sie  im  Text 
gehören]  werden  auf  besondern  Blättern  erbeten ;  wir  bitten  zu  beachten, 
daß  für  eine  getreue  und  saubere  Wiedergabe  gute  Vorlagen  uner- 
läßlich sind.  Anweisungen  für  zweckmäßige  Herstellung  der  Zeich- 
nungen mit  Proben  der  verschiedenen  Reproduktionsverfahren  stellt 
die  Verlagsbuchhandlung  den  Mitarbeitern  auf  Wunsch  zur  Verfügung. 
Tn  Fällen  außergewöhnlicher  Anforderungen  hinsichtlich  der  Ab- 
bildungen ist  besondere  Vereinbarung  erforderlich. 

Die  im  Archiv  zur  Verwendung  kommende  Orthographie  ist 
die  für  Deutschland,  Österreich  und  die  Schweiz  jetzt  amtlich  ein- 
geführte, wie  sie  im  Du  denschen  Wörterbuch,  7.  Auflage,  Leipzig 
1902,  niedergelegt  ist. 

Die  Veröffentlichung  der  Arbeiten  geschieht  in  der  Reihenfolge, 
in  der  sie  druckfertig  in  die  Hände  der  Redaktion  gelangen,  falls 
nicht  besondere  Umstände  ein  späteres  Erscheinen  notwendig  machen. 

Die  Korrekturbogen  werden  den  Herrn  Verfassern  von  der  Ver- 
lagsbuchhandlung regelmäßig  zugeschickt;  es  wird  dringend  um  deren 
sofortige  Erledigung  und  Rücksendung  ;ohne  das  Manuskript)  an  die 
Verlagsbuchhandlung  gebeten.  Von  etwaigen  Änderungen  des  Aufent- 
halts oder  vorübergehender  Abwesenheit  bitten  wir,  die  Verlagsbuch- 
handlung sobald  als  möglich  in  Kenntnis  zu  setzen.  Bei  säumiger 
Ausführung  der  Korrekturen  kann  leicht  der  Fall  eintreten,  daß 
eine  Arbeit  für  ein  späteres  Heft  zurückgestellt  werden  muß. 

Die  Referenten  werden  gebeten, Titel,. Jahreszahl,  Verleger, Seiteu- 
zahl und  wenn  möglich  Preis  des  Werkes,  bzw.  die  Quelle  bespro- 
chener Aufsätze  nach  Titel,  Band,  Jahreszahl  der  betreffenden  Zeit- 
schrift genau  anzugeben. 

Herausgeber  und  Verlagsbuchhandlung. 

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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 

Von 

Henry  J.  Watt 

(Aas  dem  psychologischen  Institut  der  Universität  Würzhnrg.) 

Mit  9  Figuren  Im  Text. 


§  1.   Die  Aufgabe  und  die  Versuehsanordnung. 

Die  hier  behandelten  Reaktiona versuche  wurden  im  Würzburger 
Psychologischen  Institut  im  Sommersemester  des  Jahres  1902  und 
im  darauf  folgenden  Wintersemester  ausgeführt  Es  sind  Versuche 
Ober  sogenannte  Assoziationsreaktionen  gewesen,  wobei  auf 
ein  von  der  Vp. »)  gelesenes  Reizwort  mit  einem  von  ihr  ge- 
sprochenen Worte  reagiert  wurde.  Dabei  waren  die  Reproduktionen 
nicht  sogenannte  freie,  sondern  durch  bestimmte  Aufgaben 
eingeschränkte.  Wir  stellten  den  Vp.  im  ganzen  sechs  Aufgaben, 
von  denen  in  der  Regel  je  zwei  (=  30  Einzelversuche)  au  jedem 
Vereuchstag  erledigt  wurden.  Die  sechs  Aufgaben  waren 
zu  dem  im  Reizwort  bezeichneten  zu  finden:  einen  übergeordneten 
Begriff,  einen  untergeordneten  Begriff,  ein  Ganzes,  einen  Teil,  einen 
koordinierten  Begriff,  einen  andern  Teil  eines  gemeinsamen  Ganzen. 
Diese  Aufgaben  sind  im  folgenden  in  dieser  Reihenfelge  als  Auf- 
gabe'I,  II,  III,  IV,  V,  VI  bezeichnet.  Nach  jedem  Versuch  gab 
die  Vp.  alles  zu  Protokoll,  was  sie  erlebt  hatte,  und  alles, 
was  sie  über  ihre  Erlebnisse  sagen  wollte.  Alles  das  wurde  sofort 
vom  Experimentator  aufgeschrieben  und  gelegentlieh  durch  geeig- 
nete Fragen  ergänzt.  Die  zwei  Versuchsreihen  nahmen  gewöhnlich 
eine  Stunde  in  Anspruch,  zuweilen  etwas  mehr,  zuweilen  etwas 
weniger,  je  nach  der  Länge  und  Ausführlichkeit  des  Protokolls,  und 


1)  Vp.  Versuchsperson. 

Arcfc»  tti  Ptjebologi«.  IV. 


19 


290 


Henry  J.  Watt, 


je  nachdem  die  Vp.  überhaupt  langsamer  oder  schneller  arbeitete. 
Gelegentlich  kamen  wir  auch  zu  keiner  zweiten  Reihe,  aber  es 
wurde  strenge  darauf  gesehen,  daß  keine  Aufgabe  durch  ihre  Zeit- 
lage benachteiligt  wurde.  Zwischen  den  zwei  Reihen  fand  eine 
kleine  Pause  statt,  die  sich  nach  den  Umständen  und  nach  dem 
Reaktionscharakter  der  Vp.  von  Zeit  zu  Zeit  veränderte.  Es  ist 
ja  bekannt,  daß  einige  Vp.  ein  besseres  Gedächtnis  für  die  Ver- 
suche haben,  als  andere,  die  sich  weniger  von  vorhergehenden 
Aufgaben  und  Reproduktionen  und  von  Bereitschaften  beeinflussen 
lassen.  Die  nötige  Vorsicht,  daß  die  Vp.  unwissentlich  verfuhren, 
wurde  möglichst  durchgeführt. 

Die  Wörter,  die  im  Sommersemester  1902  benutzt  wurden, 
stammten  aus  einer  im  Institut  schon  befindlichen,  von  Herrn  Dr. 
Ach  herrührenden  Sammlung.  Viele  waren  zu  unsern  Zwecken 
nicht  besonders  geeignet.  Im  Wintersemester  ließen  wir  deshalb 
gegen  500  Wörter  drucken,  die  unter  die  verschiedenen  Aufgaben 
verteilt  wurden.  Sic  waren  sämtlich  Hauptwörter,  die  jeder- 
mann geläufig  und  nicht  offenbar  zusammengesetzt  waren  und  fast 
alle  aus  weniger  als  drei  Silben  bestanden.  Dreisilbige  Wörter 
habe  ich  deshalb  nicht  prinzipiell  vermieden,  weil  die  zur  Auf- 
fassung gebräuchlicher  Wörter  erforderliche  Zeit  bekanntlich  nicht 
durchweg  von  deren  Silbenzahl  abhängt.  Für  die  Aufgaben,  bei 
denen  es  sich  um  das  Ganze  oder  den  Teil  handelte,  waren  sie 
natürlich  hauptsächlich  Bezeichnungen  für  Gegenstände,  bei  den 
andern  kamen  Bezeichnungen  sowohl  von  Gegenständen  als  von 
Begriffen  nebst  einigen  geläufigen  Eigennamen  vor.  Im  Sommer- 
semester stieg  die  Anzahl  der  ausgeführten  Versuche  bis  1362? 
und  im  Wintersemester,  das  das  beste  und  am  meisten  benutzte 
Material  für  diese  Arbeit  geliefert  hat,  machte  jede  Vp.  gegen 
100  Versuche  mit  jeder  Aufgabe.  Mit  allen  sechs  Aufgaben 
arbeiteten  drei  Vp.,  und  mit  nur  zweien  eine  Vp.  Die  genaue 
Anzahl  der  Versuche  dieses  Semesters  war  1891. 

Den  sechs  Vp.,  den  Herren  Professoren  F.  Angell  und  Külpe, 
Dr.  Dürr,  Dr.  Orth,  Dr.  F.  Schmidt,  K.  Schmitt,  die  mir 
meine  Arbeit  durch  ihre  Geduld,  Hingabe  und  Freundschaft  so 
erleichtert  und  angenehm  gemacht  haben,  wiederhole  ich  hier 
meinen  aufrichtigen  Dank.  Im  folgenden  ist  jede  dieser  Vp.  mit 
einer  Nummer  bezeichnet,  die  für  dieselbe  Vp.  die  ganze  Arbeit 
hindurch  die  gleiche  bleibt. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


291 


Unser  Apparat  bestand  im  wesentlichen  ans  dem  Hipp  sehen  Chrono- 
skop1;. dem  Achschen  Kartenwechsler2)  und  dem  Schalltrichter *).  Durch 
Stromscbließung  im  Kartenwechsler  bewegt  sich  das  Zeigerwerk  des  Chrono- 
skops,  und  durch  Unterbrechung  des  Stroms  beim  Hineinsprechen  in  den 
Schalttrichter  steht  es  still.  Auf  diese  Weise  bekommt  man  am  Chronoskop 
die  zwischen  der  Erscheinung  des  Reizwortes  und  dem  ersten  ausgesprochenen 
Laut  verflossene  Zeit. 

Die  einzige  Schwierigkeit  ist,  diese  Instrumente  so  einzurichten,  daß 
die  bloß  momentane  Strom  Unterbrechung,  die  zwischen  der  Schraube  und  der 
Blechmembran  im  Trichter  beim  Hineinsprechen  entsteht,  am  Chronoskop 
eine  dauernde  wird.  Um  dies  zu  ermöglichen,  benutzt  man  zwei  Strom- 
kreise, von  denen  der  zweite  sich  nicht  nach  einer  momentanen  Unter- 
brechung wieder  schließen  kann.  Dieses  leistet  das  Relais,  das,  wie  wir  es 
benutzt  haben,  eine  Vereinfachung  des  Cattel Ischen  ist4).  Unsere  ganze 
Einrichtung  findet  man  in  Fig.  1  dargestellt.  Der  in  ausgezogener  Linie 
angedeutete  Chronoskopstrom  geht  von  der  Klemmschraube  c  Uber  die  Feder  /», 
die,  wenn  der  Magnetstrom  unterbrochen  wird,  die  den  Anker  des  Doppel- 
magneten  tragende  Lamelle  zurückzieht,  und  durch  den  Kern  des  Magneten 
über  c'  hinaus  weiter.  Durch  die  Schraube  a  wird  die  Lamelle  festgehalten 
und  eventuell  den  Magneten  genähert.  Der  andere  in  unterbrochener  Linie 
angedeutete  Strom,  der  zugleich  der  im  Schalltrichter  benutzte  ist  und  durch 
Vibrieren  der  Membran  momentan  unterbrochen  wird,  geht  bei  d  hinein,  um- 
kreist die  Magnetkerne  und  tritt  bei  d'  aus.  Dieser  Stromkreis  ist  von  dem 
Strom  des  Chronoskops  durch  die  in  der  Figur  geschwärzten  Teile  des  Relais 
isoliert.  Der  Strom  des  Trichters  wird  so  eingerichtet,  daß  die  Zugkraft  der 
Magneten  um  weniges  stärker  als  die  der  Feder  6  ist,  aber  nicht  ausreicht, 
am  den  Anker  in  seiner  Ruhelage  (die  in  der  Figur  gezeichnet  ist)  anzuziehen. 
Wenn  man  nun  den  Stromkreis  des  Trichters  schließt  und  den  Anker  an  die 
Magneten  drückt,  so  ist  der  Stromkreis  des  Chronoskops  ebenfalls  geschlossen. 
Sobald  aber  die  Membran  im  Trichter  ins  Vibrieren  kommt,  läßt  die  Zugkraft 
der  Magneten  nach,  der  Anker  wird  zurückgezogen  und,  obgleich  der  Kontakt 
im  Trichter  sofort  wieder  hergestellt  wird,  vermügen  die  Magneten  den  Anker  aus 
der  Entfernung  nicht  wieder  an  sich  zu  ziehen.  Die  momentane  Unterbrechung 
im  Trichter  ist  dadurch  zu  einer  dauernden  im  Strom  des  Chronoskops 
geworden. 

Im  Stromkreis  des  Chronoskops,  der  von  zehn  Meidinger  Ele- 
menten Eli  zunächst  zu  dem  Stromwechsler  geleitet  ist.  stehen  der  Widerstand 
K  das  ChronoBkop5)  GE1  dessen  untere  Magneten  wir  benutzt  haben,  ein 

1  Wundt,  »Psych.  III,  S.  391  ff. 

2  Ach,  Über  die  Beeinflussung  der  Auffassungsfähigkeit  durch  einige 
Arzneimittel.   Diss.   Würzburg  1900.   S.  68  ff. 

3;  Als  Membran  haben  wir  auf  Empfehlung  von  Herrn  Prof.  Meumann  in 
Zürich  statt  Lammleder  ein  dünnes  Kupferblech  benutzt,  welches  isoliert  am 
Gerüst  des  Trichters  angeschraubt  wird.  Vgl.  Wundt.  »Psych.  III,  S.  403. 

4  Vgl.  Wundt,  a.  a.  0.,  S.  403.  Nach  den  Angaben  von  Prof.  KUlpe 
vom  Mechaniker  Sieden  topf  in  Würzburg  angefertigt. 

5;  An  dem  Chronoskop  sind  auf  Veranlassung  von  Herrn  Prof.  KUlpe 
zwei  Klemmschrauben  angebracht,  die  eine  in  leitender  Verbindung  mit  dem 
Uhrwerk  links  an  der  hinteren  Platte  des  Gerüsts  (5  in  der  Fig.),  die  andere  in 

19* 

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Henry  J.  Watt, 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  293 


Amperometer';,  der  Achsche  Kartenwechsler,  das  Relais  und  das  Pendel.  Das 
Amperometer  hat  dazu  gedient,  den  Strom  der  Elemente  täglich  sowohl  vor 
wie  nach  den  Versuchen  zu  messen.  Im  Kartenwechsler  wird  der  Kontakt 
hergestellt  indem  die  Platte,  die  die  Karte  bedeckt,  aufspringt,  d.  h.  in  dem 
Moment,  in  dem  das  gedruckte  Wort  der  Vp.  sichtbar  wird.  Da  in  diesem 
Moment  alle  andern  Kontakte  im  Stromkreis  geschlossen  sind,  setzt  sich 
das  Zeigerwerk  des  Chronoskops  in  Bewegung.  Beim  Hineinsprechen  des 
Reaktionswortes  in  den  Schalltrichter  wird  der  Strom  in  der  angegebenen 
Weise  am  Anker  des  Relais  dauernd  unterbrochen,  und  die  Zeiger  des  Ohrono- 
skops stehen  still.  Man  hat  also  die  Zeit  vom  Erseheinen  des  Wortes  an  bis 
zum  Anfang  der  Reaktion  gemessen2). 

Im  Stromkreis  des  Schalltrichters,  zu  dem  wir  einen  durch  einen 
Rosenbachschen  Tellerwiderstand  TW*)  entsprechend  abgeschwächten 
Starkstrom  EL»  benutzt  haben,  stehen  von  dem  Strom  wechslet  ausgehend 
der  Schalltrichter  ST  und  das  Relais  Ii.  Im  Trichter  geht  der  Strom  durch 
die  eine  Klemmschraube  ins  Gerüst,  auf  eine  im  Innern  des  Trichters  be- 
findliche Schraube,  die  die  Membran  berührt,  Uber,  und  durch  diese  an  der 
andern  Klemmschraube  hinaus.  Die  Luftschwingungen,  die  durch  die  Ex- 
spiration beim  Sprechen  der  Vp.  verursacht  werden,  werfen  die  Membran  von 
der  Schraube  momentan  zurück,  wodurch  der  Kontakt  gebrochen  wird. 

Der  Schalltrichter  war  zuweilen  etwas  träge,  zuweilen  etwas  empfindlich 
gegen  andere  Vibrationen,  wodurch  wir  in  einigen  Fällen  zu  lange,  zu  kurze 
oder  keine  Zeitmessungen  im  Chronoskop  bekommen  haben.  Dies  bringt 
aber  außer  dem  Verlust  dieser  Messungen  keine  Störung4)  mit  sich,  weil  man 
ja  am  Zeiger  des  Chronoskops  sieht,  wie  die  Störung  wirkte,  ob  verkürzend 
oder  sonstwie,  und  weil  die  Unterbrechung  am  Trichter  ja  oine  plötzliche 
sein  muß.  Es  ist  eine  gewisse  Stärke  der  Luftschwingungen  nötig,  um  die 
Membran  zu  entfernen. 

Die  Platte  des  Karten  Wechslers  wurde  vom  Experimentator  durch 
Ziehen  einer  am  Hebel  K  befestigten  Schnur  losgelassen.  Zwischen  den  einzelnen 
Versuchen  hat  die  Vp.  selbBt  die  Karte  durch  Druck  an  dem  Hebel  h  erneuert 
und  den  Anker  an  die  Magneten  des  Relais  gedrückt.  Der  Experimentator 
setzte  dann  das  Uhrwerk  des  Chronoskops  in  Bewegung,  rief  »jetzt«  und 


isolierter  Aufstellung  hinten  über  den  Magneten.  Durch  die  letztere 
geht  eine  Schraube,  gegen  deren  platinierte  Spitze  der  vom  Magneten  bewegte, 
den  Mitnehmer  tragende  Hebel  gezogen  wird,  und  die  so  eingestellt  sein 
kann,  daß  ein  Strom  mittels  dieses  Hebels  genau  in  dem  Moment  geschlossen 
wird,  in  dem  das  Zeigerwerk  des  Chronoskops  sich  zu  bewegen  anfangt 
Diese  Einrichtung  (vom  Mechaniker  Zimmermann  in  Loipzig  in  seinen 
Katalog  XVIII  Nr.  107  aufgenommen}  ist  dazu  bestimmt,  eine  direkte  chrono- 
graphische  Aufnahme  der  vom  Chronoskop  angegebenen  Zeit  zu  ermög- 
lichen. 

1)  Von  Gebr.  Ruhstrat,  Göttingen,  bezogen. 

2)  Die  ganze  von  Herrn  Privatdozenten  Dr.  Ach  in  dankenswerter  Weise 
selbst  bestimmte  Latenzzeit  des  in  Göttingen  bei  Dieterich  angefertigten 
Kartenwechslers  betrug  22,1  it,  mittlere  Variation  0,3  ff. 

3)  Von  Gebr.  Ruhstrat,  Göttingen. 

4)  Die  Versuche,  bei  denen  ich  keine  Zeiten  bekommen  habe,  wiederholte 
ich  nach  einigen  Monaten, 


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294  Henry  J.  Watt, 

ließ  etwa  zwei  Sekunden  später  die  Karte  dnrch  Ziehen  an  der  Schnur  er- 
fleheinen. 

Das  Pendel1)  dient  dazu,  den  Einfluß  der  Stromstärke  auf  das  Chrono- 
skop  zu  kontrollieren.  Diese  Rontrollmessnngen  wurden  vor  und  nach  jeder 
Versuchsstunde  vorgenommen.  Es  besteht  aus  einem  170  cm  langen  Pendel 
das  Uber  einem  Haßstab  schwingt  Auf  dem  Maßstab  sind  zwei  Kontakt- 
apparate C  und  C  angebracht  die  in  der  Figur  2  flir  sich  dargestellt  sind. 
Ein  mit  einem  Gelenk  e  versehener  Stift,  der  auf  der  Achse  f  mit  einem 
Exzenter  b  schwingt,  läßt  sich  durch  die  Feder  c  kontrollieren,  so  daß,  wenn 
er  aufrecht  steht,  er  gegen  die  auf  dem  Messingkeil  angebrachte  Schraube 
gedrückt  wird  und,  wenn  er  aus  der  senkrechten  Lage  gebracht  wird,  ein 
daran  befindliches,  in  der  Figur  unsichtbares  Stäbchen  mit  der  platzierten 
Lamelle  in  Berührung  kommt  und  dnrch  die  Wirkung  des  Exzenters  an  dieser 
entlang  hinunterfällt  Wie  man  sieht,  kann  man,  indem  der  Stift  hinunter- 
geworfen wird,  den  Strom  Offnen  oder  eventuell  seine  Richtung  verändern. 


Fig.  2. 


Das  Gelenk  c  an  dem  Stift  b  erlaubt  dem  Pendel  in  der  einen  Richtung  rba 
darüber  hinweg  zu  schwingen,  ohne  den  Kontakt  mit  a  zu  lösen,  während 
das  Pendel,  wenn  es  zurückschwingt,  den  Stift  gleich  nach  c  hinunterwirft 
Die  Kontaktapparate  wurden  an  dem  Maßstab  so  angebracht  daß  die 
Zeit  zwischen  der  Stromschließung  und  -Öffnung  etwa  der  Durchschnitt  der  zu 
kontrollierenden  Zeiten  ist.  Wir  haben  mit  zwei  Zeiten  gearbeitet  etwa  420  « 
und  1000  <s.  Für  die  letztere  wurden  die  Kontaktapparate  wie  in  der  Figur 
angebracht,  der  eine  mit  a  dem  zum  Schwingen  eingestellten  Pendel  zugekehrt 
der  andere  in  der  entgegengesetzten  Richtung.  Am  Apparat  C  wird  der  Strom 
an  der  an  der  Seite  befindlichen  Schraube  g  hinein-,  an  der  hinteren  Schraube  h 


1)  Das  Pendel  ist  nach  Angaben  von  Prof.  Kiilpe  vom  Mechaniker 
Siedentopf  in  WUrzburg  angefertigt. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  de»  Denkens.  295 


hinausgeleitet:  ron  da  geht  er  zu  der  entsprechenden  Schraube  h  des  Appa- 
rats C  und  an  der  Schraube  a  hinaus,  gegen  die  sich  der  Stift  anlehnt. 
Wenn  der  letztere  bei  C  senkrecht  steht,  gibt  es  also  keinen  Kontakt,  und 
ebenso  bei  C\  wenn  der  Stift  umgeworfen  ist.  Das  Pendel  fällt  von  A  nach  c, 
wirft  den  daran  befindlichen  senkrecht  gestellten  Stift  hinunter,  wodurch  der 
Strom  geschlossen  wird,  schwingt  nach  C  und  darüber  hinweg,  ohne  den 
Eontakt  zu  lösen,  was  das  schon  erwähnte  Gelenk  ermöglicht,  schwingt  dann 
zurück,  wobei  diesmal  der  Stift  bei  C'  hinuntergeworfen  und  der  Kontakt 
unterbrochen  wird.  Am  Chronoskop  kann  man  ablesen,  wie  lange  der  Strom 
durchgegangen  ist  Außerdem  mißt  man  die  Stärke  des  Stromes  am  Am- 
perometer  bei  jeder  Reihe  von  Kontrollversuchen. 

Der  zum  Einstellen  des  Pendels  gebrauchte  Apparat  A  (Fig.  3)  ist  sehr 
einfach.  Ein  Hebel  be  wird  durch  Zug  an  dem  mit  einer  Feder  d  versehenen 
Haken  ae  losgelassen.  Das  Pendel,  das  mittels  des  Gelenkes  b  ohne  Be- 
wegung des  Hebels  darüber  hinaufgezogen  werden  kann  und  das  *  wenn 


eingestellt,  auf  b  ruht,  fällt,  wenn  a  gezogen  wird.  Eine  Feder  e  zieht  den 
Hebel  in  seine  Ruhelage  zurück  »}. 

Bei  unsern  täglichen  Kontrollversuchen  haben  wir  einigen  Einfluß  der 
Stromstärke  auf  die  Chronoskopzeit  gefunden.  Er  trat  aber  nicht  regelmäßig 
hervor.  Stromstärken  von  42,  49,  61,  63  Hilliamp.  entsprachen  durchschnitt- 
lich die  Zeiten  986  ,  990  ,  996  und  1000  a. 


1)  Der  Vorteil  dieses  Kontrollpendels  besteht  offenbar  in  den  weiten 
Grenzen  der  dadurch  herstellbaren  Zeiten.  Man  kann  von  ungefähr  60  bis 
1800  a  und  darüber  alle  Zeitwerte  einstellen.  Dabei  ist  die  Genauigkeit,  wie 
chronographische  Messungen  mit  einer  Stimmgabel  von  106  Schwingungen 
am  Zimmer  mann  sehen  Kymographion  ergeben  haben,  hinreichend  groß. 
Bei  den  beiden  Zeiten,  die  wir  bei  unsern  Versuchen  verwandten  {418  und 
997  o),  betrug  die  mittlere  Variation  aus  10  Einzelmessungen  nicht  mehr  als  1,6  <x 


7 


Fig.  3. 


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296 


Henry  J.  Watt. 


§  2.    Allgemeine  Analyse  der  bei  den  Versuchen  beteiligten 

Faktoren. 

Bei  unsern  Versuchen  kommen  hauptsächlich  drei  Gruppen 
von  Einflüssen  in  Betracht:  die  Aufgabe,  das  vorgezeigte  Reiz- 
wort und  die  durch  diese  beiden  Faktoren  beeinflußte  Seele  der 
Vp.  Diese  letztere  läßt  sich  für  unsere  Zwecke  wiederum  in  zwei 
Gruppen  zerlegen:  die  vorliegenden  Reproduktionstendenzen 
und  Bereitschaften  nebst  dem  momentanen  Bewußtseinsinhalt 
nnd  alles,  was  wir  die  augenblickliche  allgemeine  Disposition 
der  Vp.  nennen  können.  Reproduktionstendenzen,  Bereitschaften 
und  Bewußtseinsinhalt  lassen  sich  gut  zusammenfassen,  und  ans 
dem  letzten  Bestandteil  können  wir  alles  in  die  Disposition  Ober- 
tragen, was  Organempfindung  und  etwaiges  damit  verbundenes 
Gefühl  oder  Stimmung  ist.  Damit  soll  nicht  gesagt  werden,  daß 
die  Aufgabe  und  das  Reizwort  keinen  Einfluß  auf  die  Organemp- 
findungen  oder  die  Stimmung  haben  können.  Es  ist  wahrscheinlich, 
daß  der  Ubergang  von  einer  leichten  Aufgabe  zu  einer  schwereren, 
oder  umgekehrt,  die  Stimmung  etwas  verändern  kann.  Eine  solche 
Einteilung  ist  aber  auch  zweckmäßig  für  diese  Untersuchung, 
weil  sie  die  Reproduktionen,  Reproduktionstendenzen  und  Bereit- 
schaften, um  die  es  sich  hier  hauptsächlich  handelt,  für  sich 
herausgesondert  denkt.  Der  Einfluß  der  Disposition  kann  übrigens 
von  guten  Vp.  bis  zu  einem  gewissen  Grad  ausgeschaltet  oder 
abgeschwächt  werden.  Es  ist  offenbar,  daß  von  den  dreien,  Auf- 
gabe, Reizwort  und  Reproduktionstendenzen,  zwei,  zu  denen  die  Auf- 
gabe gehört,  zu  einer  Reproduktion  nicht  genügen.  Jedes  bringt 
sozusagen  Bewegung  in  die  beiden  andern  und  die  Möglichkeit 
einer  bestimmten  Richtung. 

Die  Methode  der  sogenannten  freien  Assoziationen, 
wobei  nach  unserm  Schema  nnr  Reizwort  und  Reproduktions- 
tendenzen zusammen  die  Reproduktion  bestimmen,  scheint  für  die 
Untersuchungen  nicht  sehr  zweckmäßig  gewesen  zusein.  Das 
in  dieser  Weise  gelieferte  Material  ist  zu  mannigfaltiger  Art,  als 
daß  es  sich  gut  analysieren  ließe.  Man  weiß  eigentlich  nicht, 
was  darin  enthalten  ist,  und  es  scheint  kaum  möglich,  einen  Be- 
wußtseinszustand vorzubereiten,  in  dem  jedes  Richten  der  Auf- 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  297 

merksamkeit  auf  irgend  etwas  unterdrückt  wird1).  Wenn  dem 
so  ist,  was  Übrigens  eine  knrze  Selbstbeobachtung  zeigt,  so  ist  es 
zweckmäßiger,  jedes  unwillkürliche  Richten  der  Aufmerksamkeit 
durch  ein  aufgegebenes  zu  vertauschen3).  Das  läßt  sich  viel 
leichter  machen,  als  es  überhaupt  zu  unterdrücken.  So  bekommen 
wir  auch  eher  das  gesuchte  Material,  das  sich  überdies  besser 
und  genauer  analysieren  läßt  Unter  dem  Einfluß  einer  be- 
stimmten Aufgabe  ist  der  Inhalt  des  Versuches  genauer 
begrenzt,  und  der  Versuch  dehnt  sich  dann  nicht  so  lange 
aus,  bis  es  der  Vp.  einfällt,  an  einem  beliebigen  Erlebnis  Halt 
zu  machen  und  es  anzugeben3).  Wir  können  auf  diese  Weise 
auch  besser  bestimmen,  was  in  dem  Versuch  enthalten  war. 
Trautscholdt,  der  eine  Gruppe  von  Versuchen  in  seiner  Ar- 
beit als  Subsumtionsurteile  benennt,  gibt  die  sich  zwischen 
Reizwort  und  Reaktionswort  einschaltenden  Erlebnisse  überhaupt 
nicht  an.  Wir  wissen  dann  nicht,  ob  nicht  das  Reizwort  zu- 
nächst mit  dem  Gedanken  an  das  Verhältnis  zwischen  Begriff  und 
übergeordnetem  Begriff  oder  dergleichen  assoziiert  war.  Jedenfalls 
darf  man,  wenn  z.  B.  Strahl  —  Form  der  Lichtbewegung4)  selbst 
eine  assoziativ  bestimmte  Reaktion  ist,  in  der  Weise,  daß  Strahl 
mit  Form  der  Lichtbewegung  assoziiert  war  und  es  nur  vermöge ' 
dieser  Assoziation  reproduziert  hat,  doch  nicht  ohne  Protokoll 
behaupten,  daß  es  auch  ein  Urteil  war.  Solche  Experimente 
mit  >  freien  <  Assoziationen  könnten  vielleicht  gut  ausgeführt  werden, 
nachdem  wir  die  verschiedenen  Einflüsse  und  Faktoren,  die  eine 
Reproduktion  bestimmen,  kennen  gelernt  haben.  Bis  dahin  liefern 
sie  ein  viel  zu  großes  und  mannigfaltiges  Material,  aus  dem  wir 
die  einzelnen  Faktoren  fast  gar  nicht  für  sich  herausgreifen  können. 
Es  ist  auch  gefährlich,  weil  die  Vp.  wegen  Mangel  einer  bestimmten 


1)  Was  Trautscholdt  (Phil.  Stud.  Bd.  I,  S.  214)  von  seinen  Vp.  ver- 
langt hat  —  »die  aktive  Aufmerksamkeit  tunlichst  zu  unterdrücken,  den 
Willen  von  der  Beherrschung  des  Gedankenverlaufs  abzuziehen  und  sich 
möglichst  passiv  dem  Wechsel  der  aufsteigenden  Vorstellungen  hinzugeben«. 

2)  Vgl.  damit  Wundt,  »Psychologie,  Bd.  III,  S.  684. 

3)  Vgl.  Scripture,  Phil.  Stud.  VII.  1892.  S.  60—147  »Über  den  assozia- 
tiven Verlauf  der  Vorstellungen«  im  allgemeinen,  insbesondere  3.  66:  »sobald 
er  wollte,  durfte  der  Beobachter  angeben,  welche  VorsteUung  er  assoziiert 
hatte«  und  S.  90,  Beispiel  H.  IV.  88. 

4)  Trautscholdt,  a.  a.  0.  S.  246 


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298 


Henry  J.  Watt, 


Richtung  der  Aufmerksamkeit  und  unter  dem  Drange,  möglichst 
rasch  zu  reagieren,  nicht  sagen  kann,  wie  deren  augenblickliche 
Richtung  neben  den  andern  Faktoren  zur  Bestimmung  des  Produkts 
beigetragen  hat.  Sie  kann  sie  nicht  gut  beobachten,  weil  sie 
sowohl  was  sie  ist,  als  wie  sie  ist,  zugleich  beobachten  muß. 
Es  scheint  auch  leicht  vorzukommen,  daß  die  Aufmerksamkeit  in 
gewisse  Richtungen  geht,  deren  sich  die  Vp.  nicht  bewußt  ist 
Das  könnte  auch  der  Fall  gewesen  sein  bei  solchen  Vp.,  die 
angeblicherweise  lieber  mit  Verben  auf  Verba,  mit  Substantiven  aaf 
Substantiva  usw.  reagieren,  und  noch  mehr  bei  solchen  Versuchen, 
wo,  von  einem  Reizwort  ausgehend,  die  Vp.  50  oder  100  Wörter 
aufschreiben  mußte,  von  denen  vielleicht  ein  gewisser  Prozenteatz 
einer  Kategorie  angehörte l)  (z.  B.  Benennungen  von  Gegenstanden). 
Man  ist  nicht  berechtigt,  anzunehmen,  daß  Vp.  gewisse  dauernde 
Tendenzen  haben,  bis  man  den  Einfluß  der  gegebenen  oder  der 
von  der  Vp.  angenommenen  mehr  oder  minder  zufälligen  Richtung 
der  Aufmerksamkeit  bestimmt  hat.  Das  geschieht  am  besten,  indem 
man  eine  nicht  nur  formell,  sondern  auch  inhaltlich  bestimmte 
Aufgabe  benutzt.  Wir  hoffen,  im  folgenden  diese  Kritik  in  ein 
besseres  Licht  zu  setzen  und  das  Material  zu  ihrer  Berechtigung 
zu  finden. 


§  3.   Das  Einwirken  der  Aufgabe  in  der  Vorbereitung. 

Den  Einfluß  der  Aufgabe  schon  hier  ausführlich  beschreiben 
zu  wollen,  würde  uns  nötigen,  vielem  vorzugreifen,  was  wir  erst 
im  Laufe  der  Entwicklung  unserer  Resultate  zeigen  können.  Eins 
können  wir  jedoch  schon  bemerken,  nämlich  daß  die  Mehrzahl 
der  Versuche  aus  Reaktionen  besteht,  die  eine  befriedigende 
Antwort  auf  die  Aufgabe  bilden.  Das  zu  zeigen,  könnte  auf  den 
ersten  Blick  Überflüssig  erscheinen,  weil  man  ja  erwartet,  daß 
derartige  Versuche  ziemlich  glatt  erledigt  werden,  und  daß,  wenn 
man  eine  Aufgabe  stellt,  mau  eine  Antwort  darauf  bekommen 
wird.  Doch  ist  dieser  Faktor  in  Anbetracht  seiner  Wichtigkeit 
auch  in  dieser  einfachen  Form  nicht  unerwähnt  zu  lassen.   In  der 


1)  Vgl.  Aschaffenburg,  Experimentelle  Studien  Uber  Assoziationen, 
Kraepelins  Psych.  Arbeiten  I,  S.  255  f.  Man  bemerke  die  Unterbrechungen 
des  Gedankenganges  bei  seinen  Reihenversuchen,  was  auch  Binet  kon* 
statiert :  L'etnde  expcrimentale  de  rintelligence,  Paris  1903,  S.  63,  69. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


299 


Tabelle  I  gebe  ich  nur  das  Resultat  aus  den  Versuchen  des  Winter- 
semesters1), weil  die  des  Sommersemesters,  wegen  der  schon  er- 
wähnten ungeeigneten  Reaktionswörter,  kein  klares  Resultat  liefern 
konnten.  Insoweit  als  wir  sie  benutzt  haben,  mußten  wir  die 
Richtigkeit  als  Kriterium  eines  passenden  Versuchs  nehmen. 

Tabelle  I. 


1 

* 

Anfg.  I 

II  m 

> 

v 

V! 

n 

* ! 

»• 

n 

% 

n 

i. 

*  \ 

i- 

% 

Vp.  I 

86 

94 

97 

96 

84 

85 

85 

99 

84 

100 

74 

87 

vp.  n 

85 

88 

97 

79 

86 

35 

85 

85 

83 

94 

vp.  m 

86 

67 

100 

47 

87 

80 

86 

80 

84 

79 

69 

66 

Vp.  VI 

84 

80 

74 

58 

n  «=  die  absolute  Anzahl  der  Versuche. 
%  —  Prozentsatz  richtiger  Versuche. 
Aufg.  I,  II  usw.  =  Aufgabe  I,  Aufgabe  II  usw. 


Aus  der  Tabelle  sehen  wir,  daß  in  der  großen  Mehrzahl  der 
Fälle  die  Aufgabe  mit  einem  ihr  und  dem  vorgezeigten  Wort  ent- 
sprechenden Reaktionswort  erledigt  wurde.  Die  zwei  Ausnahmen 
-  Vp.  III  Aufg.  II,  Vp.  II  Aufg.  III  —  werden  wir  später  zu  erläutern 
Gelegenheit  haben. 

Wie  kommt  es  aber,  daß  die  Vp.  der  Aufgabe  entsprechend 
reagiert?  Wir  können  vorläufig  nur  den  Prozeß  beschreiben,  wo- 
durch die  Vp.  die  Aufgabe  aufnimmt.  Die  Aufgabe  wirkt  auf  die 
Vp.  ein  durch  die  ganze  Versuchsanordnung,  aber  hauptsächlich 
durch  die  vom  Experimentator  gegebene  Formulierung  der  Auf- 
gabe und  die  darauf  folgende  Vorbereitung  seitens  der  Vp.  selbst. 
Abgesehen  von  der  Gewöhnung  an  das  Experimentieren  wirkt  die 
Aufgabe  in  ihrem  Wechsel  von  Tag  zu  Tag  und  von  Reihe  zu 
Reibe  durch  die  Vorbereitung  ein.  Vorbereitung  ist  also  alles 
das,  wodurch  sich  die  Vp.  bewußt  wird,  wie  sie  auf  den  Reiz 
reagieren  soll. 

1)  In  dieser  und  in  einigen  andern  Tabellen  werden  die  Versuche  von 
Vp.  II  Aufg.  VI  nicht  herangezogen,  weil  sie  diese  Aufgabe  nicht  gut  ver- 
enden und  ziemlich  verwirrt  reagiert  hat.  Wir  meinen  nicht,  daß  das  ihre 
Reaktionen  unerklärlich  machen  würde,  sondern  daß,  weil  sie  sich  vom  Ver- 
halten der  andern  Vp.  in  unkontrollierter  Weise  entfernt  hat,  der  Versuch 
einer  Erklärung  mühsam,  wenn  nicht  eitel  wäre. 

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300 


Henry  J.  Watt, 


Allen  Aufgaben  ist  als  Vorbereitung  gemeinsam  die 
körperliche  Akkommodation.  Die  Vp.  richtet  ihren  Blick  aaf  die 
Platte,  die  das  Wort  bedeckt,  mit  mehr  oder  weniger  Aufmerk- 
samkeit in  einem  Zustand  der  Erwartung,  die  von  mehr  oder 
weniger  lebhaften  Spannungsempfindungen  begleitet  wird.  Sie 
wiederholt  ein  paar  Male  innerlich  den  Titel  der  Aufgabe:  über- 
geordneten Begriff,  untergeordneten  Begriff,  Teil  finden  usw.,  und 
denkt  vielleicht  an  einige  Beispiele.  Dieser  Prozeß  ist  am  Anfang 
der  Reihe  und  besonders  beim  Beginn  einer  neuen  Aufgabe  ziemlich 
lebhaft  im  Bewußtsein,  nimmt  aber  mit  der  Zeit  ab,  so  daß  beim 
zweiten  oder  dritten  Versuch  die  Aufgabe  nur  einmal  innerlich 
ausgesprochen  wird,  bis  schließlich  dies  ganz  und  die  bewußte 
Spannung  fast  ganz  verschwindet.  Es  bleibt  also  nur  übrig:  die 
körperliche  Akkommodation,  nämlich  der  Blick  auf  die  Platte,  das 
Ansetzen  des  Mundes  an  den  Schalltrichter  usw.  und  ein  schwacher 
Erwartungszustand.  So  ist  der  Verlauf,  wenn  die  Aufgabe  leicht 
ist,  und  die  Vp.  sich  an  das  Experimentieren  gewöhnt  hat 

Wenn  die  Aufgabe  Schwierigkeiten  bietet,  die  die  Vp.  im 
Laufe  der  Zeit  empfindet,  dann  greift  sie  nach  einem  Hilfsmittel. 
Sie  versucht  sich  zu  vergegenwärtigen,  wie  der  Prozeß  formal 
vor  sich  geht.  Bei  Aufg.  II  (Untergeord.  Begr.)  denkt  sie  etwa 
daran,  daß  das  Vorsetzen  eines  Wortes  vor  das  gegebene  die  Auf- 
gabe löst,  oder  daß  sie  ein  einzelnes  Ding,  Wort  nennen  will; 
oder  z.  B.  Vp.  III:  »unwillkürlich  kam  ich  auf  den  Gedanken,  daß 
bei  zusammengesetzten  Wörtern  der  zweite  Teil  oft  den  Teil  be- 
zeichnet, wie  z.  B.  Schildrand,  Kirchturm.  Dann  sagte  ich  mir: 
den  Teil  findet  man  auf  diese  Weise.«  Vp.  III.  Aufg.  III  (Ganzes 
zu  finden):  »ich  habe  mir  vorgenommen,  mir  das  Ding  möglichst  in 
seiner  räumlichen  und  zeitlichen  Umgebung  vorzustellen«.  Vp.  III: 
»ich  hatte  den  Eindruck,  daß  der  koordinierte  Begriff  vom  Ober- 
begriff aus  gefunden  werden  müßte :  man  tut  am  besten,  sich  den 
übergeordneten  Begriff  einfallen  zu  lassen«.  Solche  vorhergehende 
Überlegungen  erleichtern  den  Versuch  wesentlich,  wenn  sie  für 
das  gegebene  Wort  passen,  oder  wenn  dasselbe  die  Vp.  durch 
andere  Assoziationen  von  ihrer  Vorbereitung  nicht  ablenkt  So 
Vp.  III  Aufg.  IV  (Teil  zu  finden):  »durch  den  Einfluß  des  Vorberei- 
tungsbeispiels schloß  sich  an  das  Reizwort  das  Reaktionswort  wie 
ein  zweites  Beispiel  an«.  Nach  etwaigem  Mißlingen  solcher  Über- 
legungen entschließt  sich  die  Vp.,  sich  dem  Worte  ganz  zu  Uber- 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


301 


lassen  oder  einfach  auf  das  Auftreten  des  Wortes  ohne  weitere 
Gedanken  aufzupassen.  Dies  aber  geschieht  nur,  wenn  die  Vp. 
sich  so  lange  in  einer  Reihe  oder  Uberhaupt  geübt  hat,  daß  weitere 
spezielle  Überlegungen  und  Gedanken  an  Methoden  sie  nur  ablenken 
und  stören  würden.  Bei  den  einfacheren  Aufgaben,  z.  B.  Aufg.  I 
(Ubergeordn.  Begr.),  wo  es  keine  eigentliche  Methode  gibt,  hilft  sich 
die  Vp.  gelegentlich  in  der  Vorbereitung  durch  Veranschau- 
lichung des  Begriffs,  z.  B.  durch  einen  großen  oder  eisen 
kleinen  Kreis  oder  durch  eine  Masse  von  Organempfindungen, 
einen  Gesamtzustand  des  innerlichen  Ausbreitens1),  oder  sie  Bagt 
sich:  »ieh  will  mir  ein  allgemeines  Gebiet  wählen <.  Das  sind  eigent- 
lich nur  Versuche,  eine  allgemeine  Richtung  der  Aufmerksamkeit 
oder  sozusagen  eine  allgemeine  Reproduktionstendenz  anschaulich 
zu  vergegenwärtigen.  Wenn  etwa  die  Vp.  in  der  Vorbereitung  an 
irgend  etwas  denkt,  was  sich  nicht  im  Versuch  anwenden  läßt, 
bleibt  das  ja  ohne  Folge,  wenn  es  keine  Störung  mit  sich  bringt1); 
wenn  es  gut  paßt,  z.  B.  in  dem  Versuch,  bei  dem  die  Vp.  an 
Genußmittel  gedacht  hatte  und  Semmel  das  Reizwort  war,  reagierte 
sie  mit  dem  Worte  Genußmittel  fast  mechanisch8),  mit  einem  starken 
Gefahl  der  Erleichterung,  obgleich  die  Aufgabe  damit  nicht  sehi 
befriedigend  gelöst  wurde.  Der  Grad  der  Bewußtheit  der  Vor- 
bereitung sagt  nichts  ttber  ihren  Wert  aus.  Sie  kann  sehr  bewußt 
gewesen  und  doch  schlecht  sein.  Wenn  die  Vp.  mit  der  Vorberei- 
tung wo  sie  nötig  ist,  z.  B.  am  Anfang  einer  Reihe,  nicht  fertig4) 
geworden  ist  oder  mitten  darin  vom  Reiz  überrascht  wird,  so 
leidet  der  Versuch  gewöhnlich  darunter. 

All  das  zeigt  uns,  daß  die  Vorbereitung  wesentlich  zur  Be- 
stimmung der  Reproduktionstendenzen  und  Bereitschaften,  die  später 


1)  Solche  Veranschaulichungen  müssen  wohl  als  Seltenheiten  angesehen 
werden.  Sie  werden  nicht  oft  konstatiert.  Deshalb  darf  man  auch  nicht 
denken,  daß  sie  zur  Reaktion  nöti^  sind. 

B)  Wie  bei  Vp.  III  Maß  (Reizwort)  —  Meter  (Reaktionswort).  Als  Vor- 
bereitung habe  ieh  an  die  Spezies  bei  lebenden  Wesen  gedacht.  Dann  kam 
Maße  and  ein  momentanes  Bewußtsein,  es  paßt  nicht.  Dann:  ja  —  Meter. 
1063  *. 

3)  Vgl.  Giebel.  »Da»  Reaktionswort  kam  so  momentan,  weil  ich  in  der 
Vorbereitung  an  FWgel  —  Hans  gedacht  hatte.  Als  Giebel  kam  —  das  paßt 
fwno«!  and  damit:  Haus.< 

4)  Geschirr.  > Vollständig  verwirrt.  Vorbereitung  nicht  günstig.  Habe 
das  Reizwort  selbst  ausgesprochen.« 


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302 


Henry  J.  Watt, 


wirksam  werden,  beiträgt.  Den  Verlauf  der  Vorbereitung  vermögen 
wir  bei  einer  so  einfachen  Aufgabe  wie  das  Finden  eines  über- 
geordneten Begriffs  kaum  zu  zerlegen.  Bei  den  schwierigeren  Auf- 
gaben aber  deutet  die  in  der  Vorbereitung  vergegenwärtigte  Vor- 
»tcllungsmecbanik  darauf  hin,  wie  die  Vorbereitung  ihren  Einfluß 
ausübt.  Gewisse  Gruppen  von  Reproduktionstendenzen  werden 
dadurch  begünstigt,  daß  eine  formale  Reproduktionstendenz 
erregt  wird,  indem  die  Vp.  eine  Gesichtsvorstellung,  Wortvorstellung 
auftauchen  läßt,  und  am  besten  dann,  wenn  sie  schon  weiß,  welche 
formalen  Richtungen  bei  ihr  mit  der  betreffenden  Aufgabe  zur 
Geltung  kommen.  Die  eine  sagt  nur  »ein  weiteres  Gebiet  nennen«; 
die  andere  »ein  Bild  von  dem  Gegenstand  auftauchen  lassen«, 
oder  bei  einer  andern  Aufgabe  »ein  Wort  vorsetzen«.  Die  fal- 
schen Versuche  lehren  dasselbe,  in  der  Weise,  daß  eine  falsche 
formale  Einstellung  entweder  die  Zeit  verlängert,  indem  die  zwei 
Einstellungen  sich  gegenseitig  hemmen,  oder  eine  der  gestellten 
Aufgabe  nicht  entsprechende  Antwort  liefert. 

Wir  werden  auch  später  sehen,  wie  die  allgemeinen  Richtungen 
der  Reproduktionstendenzen  und  Bereitschaften  sich  von  Aufgabe 
zu  Aufgabe  sehr  wesentlich  verändern,  so  daß  wir  werden  an- 
erkennen müssen,  daß  die  Beeinflussung,  die  durch  die  Aufgabe 
hervorgebracht  wird,  eine  sehr  wichtige  Rolle  im  Prozeß  des 
Reproduzierens  spielt1).  Zweifellos  wird  von  der  Aufgabe  und 
sehr  wahrscheinlich  auch  von  gewissen  Reizen  —  bei  uns  Wörtern  — 
eine  solche  allgemeine  Richtung  oder  Einstellung  vorbereitet.  Man 
nehme  nicht  an,  daß  die  Vp.  nur  einer  aus  einer  schlechthin  von 
dem  Reizwort  erregten  Gruppe  von  assoziierten  Vorstellungen  fast 
zufällig  herausgewählten  Vorstellung  folgt:  das  ist  nur  in  sehr 
beschränktem  Maße  zutreffend.  Vielmehr  erweckt  die  Aufgabe  in 
ihr  eine  Einstellung  auf  ein  gewisses  Vorstellungsgebiet,  visuelles, 


1;  Vgl.  Witasek,  Ztschr.  für  Psych.  Bd.  XII,  S.192:  Über  willkürliche 
Vorstellungsverbindung.  »Zwischen  dem  unanschaulichen  und  dem  an- 
schaulichen Inhalt  besteht  immer  eine  j?anz  bestimmte  Relation,  vermöge  deren 
Bie  eben  einen  und  denselben  Gegenstand  zur  Vorstellung  bringen,  anschau- 
liche und  unanschauliche  Vorstellung  desselben  ( tegenstandes  sind.  Und  diese 
Relation  muß,  wenn  der  Übergang  von  der  einen  zur  andern  mit  Bedacht  und 
Absicht  vollzogen  wird,  auch  vorgestellt  werden.  In  AssoziationsfäUen  ist 
aber  von  dem  Vorhandensein  einer  solchen  Relationsvorstellung  gar  nichts 
zu  merken.«  Die  ganze  Arbeit  von  Witasek  ist  eine  Bebandlnng  des 
Wesens  der  Aufgabe  in  gewissen  Reproduktionen. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  303 

akustisches,  motorisches  usw.,  wodurch  die  entsprechenden  Vor- 
stellungen sehr  stark  begünstigt  werden. 

Wir  können  erwarten,  daß  die  Fälle,  die  der  herrschenden  Ein- 
stellung entgangen  sind,  längere  Reaktionszeiten  haben.  Dies 
wäre  wohl  am  besten  zu  sehen,  wo  die  große  Mehrzahl  der  Fälle 
einer  Klasse  gehört.  Solche  Fälle  finden  wir  in  den  späteren 
Tabellen,  Tab.  2  und  3  Vp.  II  Aufg.  I  und  II  At  und  A2,  Tab.  5 
Vp.  I  Aufg.  IV  Ai ,  und  etwas  weniger  Tab.  4  Vp.  III  Aufg.  III  Ax : 
wir  sehen  im  allgemeinen,  daß,  wo  sehr  viele  Fälle  einer  Form 
vorkommen,  die  entsprechende  Zeit  kurz  ist,  und  lang,  wo  da- 
neben sehr  wenige  Fälle  einer  andern  Form  vorkommen.  Die 
auffallendste  Einstellung  finden  wir  freilich  bei  Vp.  II  A3  Tab.  5. 
Die  andern  zwei  kurzen  Reaktionszeiten  aber  waren  sehr  leichte 
Versuche  und  wahrscheinlich  nur  wegen  ihrer  Geläufigkeit 
der  Herrschaft  der  Einstellung  entrückt:  die  Reaktionen  waren 
Jahr  —  Monat;  Tausend  —  Hundert. 

§  4.   Reproduktionen  mit  einfacher  Richtung. 

Wenn  wir  alle  die  vorliegenden  Versuche  der  sechs  Aufgaben 
untersuchen,  finden  wir  darin  eine  große  Mannigfaltigkeit,  deren 
Einteilung  unmöglich  zu  sein  scheint.  Wir  finden  viele,  die 
vom  Anfang  bis  zum  Ende  ohne  Störung  zu  verlaufen  scheinen. 
Bei  diesen  mögen  Wort-  oder  Gesichtsvorstellungen  hie  und  da  im 
Verlauf  des  Prozesses  vorhanden  sein,  aber  es  wird  keine  Ab- 
weichung von  der  am  Anfang  eingeschlagenen  Richtung  von  der 
Vp.  oder  dem  Experimentator  konstatiert.  Die  Vp.  findet  die 
Uisung  der  Aufgabe  in  der  Richtung,  wo  sie  gesucht  wird.  Solche 
Fälle  sind  weitaus  die  zahlreichsten  und  verdienen  zuerst  unsere 
Aufmerksamkeit.  Nennen  wir  sie  Reproduktionen  mit  ein- 
facher Richtung  und  bezeichnen  wir  sie  mit  A. 

Solche  Fälle,  wie  sie  in  unsern  Versuchen  auftreten,  lassen 
sich  in  drei  Klassen  einteilen.  Die  erste  läßt  sich  wegen  ihrer 
Einfachheit  und  Häufigkeit  leicht  herausgreifen.  Bei  ihr  folgt 
gleich  auf  das  Reizwort  eine  Gesichtsvorstellung,  die  das 
vom  Reizworte  Bezeichnete  vorstellt  oder  etwas,  wozu  das  vom 
Reizworte  Bezeichnete  in  irgendeinem  Verhältnis  steht,  sei  es  der 
Teil  oder  das  Ganze  davon,  oder  sei  es  damit  aus  irgendeinem, 

g 

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Henry  J.  Watt, 


der  betreffenden  Vp.  eigentümlichen  Grund  assoziiert1).  Auf  die 
Gesichtsvorstellung  folgt  das  Reaktionswort  nach  einem 
Prozeß  des  Suchens,  das  mehr  oder  weniger  deutlich  in  oder  an 
dem  Bilde  selbst  stattfindet.  Dieses  bewußte  Suchen  kann  auch 
fast  gänzlich  fehlen,  ausgenommen,  daß  die  Vp.  nachträglich  kon- 
statiert, daß  das  im  Reaktionsworte  Bezeichnete  in  der  Vorstellung 
selbst  enthalten  war,  oder  daß  sie  das  Vorgestellte  nur  genannt 
hatte  je  nach  den  Umständen  und  der  Aufgabe. 

Zweitens  kann  es  vorkommen,  daß  auf  das  gegebene  Wort 
irgendeine  Wort  Vorstellung2)  oder  eine  Gruppe  von  Wort- 
vorstellungen3) oder  bloß  ein  Zustand  der  Erinnerung4)  oder  ein 
Zustand  der  Erinnerung,  der  Spuren  von  Wortvorstellungen  enthält 
oder  nicht6),  was  die  Vp.  selber  vielleicht  zu  entscheiden  nicht 
imstande  ist6),  oder  bloß  eine  Bewußtseinslage7)  folgt.  Darauf 
kommt  ein  Wort,  das  darin  gewesen  sein  kann  oder  nicht,  und 
dieses  Wort  bildet  das  Reaktionswort  für  den  Versuch.  Oder 
es  kann  ein  Suchen  in  diesem  Erinnerungserlebnis  stattfinden, 
worauf  die  Reaktion  folgt  *).    Dies  geschieht  am  häufigsten  in 

1)  Beispiele  sind  Vp.  I.  Imbiß.  Reaktionswort  Speise.  Dunkle  Vor- 
stellung von  einem  Eßtisch.  Hier  bat  die  Bereitschaft  auch  geholfen.  1673  <r. 
Vp.  U.  Schlitten.  >Ich  sah  einen  Schlitten  dahinfahren  und  sagte  Fuhrwerk«. 
2429  <r.  Zahlreiche  Beispiele  und  Erweiterungen  dieser  Charakteristiken 
findet  man  in  §  11  unten. 

2]  Vp.  ITI.  Seide.  »Sofort  Samt  und  sofort  Erinnerung  an  den  vorigen 
Versuch.  Stoff  ausgesprochen.  Wie  die  Erinnerung  war,  kann  ich  nicht 
mehr  sagen.«  805  a.  (Der  vorhergehende  Versuch  war:  Samt  Zuerst  die 
ABBoaiation  Seide.   Rcaktionswort  Stoff.   1016  a.} 

3)  Vp.  I.  Dienst  Erinnerung  an  zwei  Wörter  von  gestern,  Amt  —  Beruf. 
Vielleicht  dadurch  kam  ich  auf  Schreiber.   2812  a. 

4)  Vp.  III.  Weber — Handwerker,  mit  dem  Bewußtsein,  daß  es  früher 
als  Reaktionswort  benutzt  worden  war.   Erleichterung  dabei.   809  a. 

6)  Vp.  III.  Pferd.  Erinnerung  an  die  frühere  Assoziation  Lamm  — Tier. 
Lamm  war  aber  als  Wortvorstellung  nicht  im  Bewußtsein  vorhanden,  sondern 
bloß  als  Erinnerung  und  Erleichterung  durch  das  Wort  Tier.  Die  Vor- 
bereitung war  nicht  genügend  und  nicht  beendet 

6)  Vp.  III.  Schmiede.  »Eine  Menge  Vorstellungen,  die  sich  gegenseitig 
gedrängt  haben.  Reaktionswort  Eisen  ausgesprochen.  Durch  den  Begriff 
Schmiedeeisen  wurde  das  hervorgerufen,  glaube  ich.  Wie  Eisen  kam,  weiß 
ich  aber  nicht  Während  ich  es  aussprach,  war  es  etwas  anderes,  worauf 
meine  übrigen  Gedanken  hingingen.«    1404  o. 

7)  Verstehen  wir  vorläufig  darunter  ein  Erlebnis,  das  noch  nicht  näher 
analysierbar  ist. 

8)  Vp.  III.  Statue.  »Diesmal  eine  Komplikation  dieses  Reizwortes  mit  Ge- 
sicht auH  einem  früheren  Versuch).  Da  dacht»  ich  nachträglich,  waroxn  habe 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  805 

solchen  Fällen,  wo  die  Erinnerung  nur  eine  deutliche  psychologische 
Elemente  nicht  enthaltende  Bewußtseinslage  war. 

Unter  unsern  Experimenten  waren  dies  die  zwei  durch  ein 
deutliches,  aufs  Reizwort  folgendes  Erlebnis  ausgezeichneten  Haupt- 
gruppen. Sämtliche  übrigen  in  einfacher  Richtung  erfolgten 
Reproduktionen  zeichneten  sich  durch  nichts  derartiges  in 
ihrem  Verlaufe  aus.  Bei  vielen1)  folgte  die  Reaktion  anf  das 
Wort,  während  weder  Rechenschaft  noch  Beschreibung  gegeben 
noch  irgendein  besonderes  Suchen  konstatiert  werden  konnte. 
Es  kann  ein  Zögern  im  Prozeß  stattgefunden  haben,  oder  das  be- 
wußte Bestreben,  das  Suchen  zu  konzentrieren  und  das  Wort  in 
der  mit  oder  nach  dem  Suchen  entstandenen  Pause  deutlich  zu 
reproduzieren.  Es  konnte  aber,  was  die  Hauptsache  ist,  keine 
Rechenschaft  abgegeben  werden,  warum  dieses  und  kein  anderes 
Wort  reproduziert  wurde,  oder  was  zum  Reproduzierten  geführt 
hatte.  Nach  dem  Reizwort,  das  vielleicht  innerlich  ausgesprochen 
wurde,  erfolgte  die  Reaktion,  der  ein  Suchen  danach  oder  ihr 
innerliches  Aussprechen  oder  eine  sich  aufdrängende  Masse  von 
dunkeln,  von  der  Vp.  nicht  näher  beschreibbaren  Vorstellungen 
vorausgegangen  sein  mag.  Vor  oder  nach  der  Reaktion  kann  auch 
ein  Urteil  aufgetreten  sein.  Solche  begleitende  Erlebnisse  waren 
aber  allen  Gruppen  gemeinsam  und  haben  mit  dem  Wesentlichen 
dieser  Einteilung  nichts  zu  tun.  Sie  werden  später  beschrieben 
und  untersucht  werden. 

Die  die  Gesichtsvorstellungen  und  die  Wortvorstellungen  ent- 
haltenden Gruppen  nennen  wir  beziehungsweise  Az  und  Die  dritte 
Gruppe  bezeichnen  wir  mit  Au  Eine  vierte  Gruppe  A9  wird 
zuweilen,  wo  die  Versuche  genügendes  Material  bieten,  hinzugefugt. 
Das  sind  die  Versuche,  bei  denen  gar  nichts  Weiteres  von  der 
Vp.  konstatiert  werden  konnte  als  das  Reaktionswort.    Um  der 


ich  nicht  Nase  gesagt?  Jetzt  kam  das  Bewußtsein,  es  kommt  jetzt  etwas, 
was  ich  früher  hätte  sagen  sollen  —  Nase.«   936  a. 

Vp.  III.  Mond — Stern.  »Eine  sofortige  und  umfassende  Erinnerung  ohne 
Detail  an  den  Versuch,  wo  ich  anf  Stern  mit  Sonne  reagierte,  und  Erinnerung, 
daß  ich  Mond  hätte  geben  sollen.  Auf  Grund  dessen  wurde  das  auftauchende 
Wort  Sonne  unterdrückt  und  dann  Stern  gesagt.«   867  a. 

Vp.  I.  Geruch  —  Wohlgeruch.  »Ich  dachte  dabei  an  die  Einteilung  der 
Gerüche.«   1742  «r. 

1}  Vp.  I.    Aal— Fisch.     Sehr  befriedigend.     Wiederholtes  Einprägen 
»Übergeordneter  Begriff"«.  1029  <r. 

Archiv  fftr  Psychologie.   IV.  20 

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306 


Henry  J.  Watt. 


Gleichförmigkeit  willen  sondere  ich  solche  Versuche  sonst  nicht 
von  denen  der  Grnppe  At. 

Verfolgen  wir  diese  Gruppen  durch  die  verschiedenen  Aufgaben. 

Die  erste  Aufgabe,  einen  übergeordneten  Begriff  zu 
dem  im  Reizwort  Bezeichneten  zu  finden,  zeichnet  sich  durch  die 
Einfachheit  ihres  Verlaufs  aus.  Die  folgende  Tabelle  zeigt  uns, 
wie  die  Formen  des  Versuchsverlaufs  sich  bei  dieser  Aufgabe  in 
bezug  auf  ihre  Häufigkeit  geäußert  haben. 


Tabelle  IL 
Aufg.  I:  Überg.  Begr.  zu  finden. 


I 

Ai  n 

Ao  n 

A$  n 

4. 

Vp.    I  Me 
Ma 
m.V. 

1201  37 
1281 
256 

1139  31 
1254 
293 

1292  11 
1666 
544 

1195  1 

1210  49 
1407 
276 

Vp.  II  Mc 
Ma 

m.V. 

1778  10 
1607 
|  464 

973  4 
1040 
182 

1323  53 
1670 
542 

4714  4 

4913 

1604 

1468  67 
1775 
774 

Vp.  III  Me 
Ma 

m.V. 

■  1100  26 
1311 

j  381 

989  11 
976 
86 

1924  2 
1924 
395 

1080  18 
1329 
512 

1097  46 
1345 
462 

A*  =  Gesichtsvorstcllung  als  Mittelglied,      Mc   =  der  Zentralwert 
At  =  WortrorsteUung  als  Mittelglied.         Ma   =  das  arithmetische  Mittel. 
A\  «=  ohne  derartige  Angaben.  m.  V.  =  die  mittlere  Variation. 

Aq  =  ohne  jegliche  Angabe.  Sämtlich  in  v«  angegeben. 

Ao  wird  in  A\  mitgerechnet  so,  daß  Ai  +  A*  +  Az  =  Summa. 
n  =  absolute  Anzahl  der  Versuche. 

In  den  folgenden  Tabellen  bedeutet  Mc  und  Ma  die  in  a 
ausgedruckten  mittleren  Zeiten  und  m.V.  die  mittlere  Variation 
bezüglich  Ma.  Aus  allen  Tabellen  finde  ich,  daß  in  157  Fällen 
Mc  <  Ma  ist,  während  nur  bei  22  Mc  >  Ma.  Bei  jenen  beträgt  der 
mittlere  Unterschied  aus  den  ersten  59  Fällen  175  a,  bei  diesen 
aus  den  sieben  in  denselben  Tabellen  vorkommenden  Fällen  nur 
45  a.  Deshalb  habe  ich  mit  Kraepelin1)  den  Zentralwert  in  den 
Tabellen  vorangestellt.  Wo  die  Anzahl  der  Versuche  eine  gerade 
ist,  ist  Mc  das  arithmetische  Mittel  der  zwei  Zentralwerte. 

1)  Über  die  Beeinflussung  einfacher  psychischer  Vorgänge  durch  einige 
Arzneimittel.  Jena  1892.  8. 31.  —  Aschaffenburg,  Experimentelle  Studien 
Uber  Assoziation,  I.  TeU.  Psych.  Arbeiten,  I.  Bd,  2.  Heft,  S.  217  ff.  —  Dgl. 
Dias.  Heidelberg,  S.  14.    Bei  beiden  sind  ähnliche  Ausführungen  zu  finden. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  307 

Die  Tabelle  zeigt  uns,  daß  im  Durchschnitt  diejenigen  Fälle 
die  kürzeste  Zeit  brauchten,  wo  die  Vp.  nichts  weiter  konsta- 
tierte *},  d.  h.  die  Form  ,  wenn  nicht  auch  Ax ,  ist  bei  allen  die 
kürzeste.  Die  sechs  Fälle  bei  Vp.  I,  die  die  Zeit  von  At  ver- 
längert haben,  waren  von  den  andern  Aq  dadurch  unterschieden, 
daß  ein  Urteil  Uber  das  ausgesprochene  Wort  entweder  vor  oder 
mit  dessen  Aussprechen  gefällt  wurde.  Geht  die  Reproduktions- 
tendenz also  von  dem  gegebenen  Reizwort  direkt  aus,  ohne  daß 
der  in  diesem  enthaltene  Begriff  sich  zuerst  irgendwie  veranschau- 
licht, so  findet  die  Reproduktion  schneller  statt.  Auffallend  ist 
die  Rolle,  die  die  verschiedenen  Formen  bei  verschiedenen  Vp. 
spielten.  Vp.  I  und  Vp.  III  zeigen  eine  Vorliebe  fUr  einfache, 
direkte  Reproduktionen,  die  ziemlich  selten  bei  Vp.  II  vorkommen. 
Diese  dagegen  arbeitet  fast  ausschließlich  mit  optischen  Vorstel- 
lungen, und  zwar  in  der  Weise,  daß  die  Vorstellung  nicht  bloß 
eine  Begleiterscheinung  im  Prozeß  ist,  sondern  daß  sie  den  Begriff 
im  Bewußtsein  der  Vp.  vertritt  oder  ersetzt,  wenigstens  aber  so, 
daß  die  Reproduktion  in  ihr  ihren  Ausgangspunkt  findet  Vp.  HI 
hat  eine  ziemlich  hohe  Anzahl  von  Reproduktionen,  die  von 
Erinnerungen  eingeleitet,  oder  die  nicht  gefunden  worden  sind, 
bis  das  Reizwort  auf  rein  assoziativem  Wege  zu  einem  derartigen 
Ausgangspunkt  hinttbergeftthrt  hatte. 

Die  zweite  Aufgabe  bestand  darin,  einen  untergeordneten 
Begriff  zu  finden.  Hier  folgt  die  Tabelle  für  die  unter  A  ein- 
geordneten Fälle. 

Tabelle  DDL 
Aufg.  II:  Unterg.  Begr.  zu  finden. 


<  A,  n 

1' 

Aq  n 

4$  » 

Ai  n 

|  Summa  n 

Vp.    I  Mc 

m.V. 

1443  43 
1604 
474 

1238  23 
1338 
329 

1735  7 
1991 

1654  13 
1829 
438 

1554  63 
1693 
470 

Vp.  II  Mc 
Ma 

m.V. 

mi  22 
2186 

1185  11 
1Ö96 
177 

1399  37 
1791 
694 

2956  15 

3262 

1602 

1657  74 

2207 

1070 

Vp.  in  Mc 
Ma 

m.V. 

1115  19 
1257 
272 

> 

977  9 
1028 
79 

1118  3 
1501 
310 

1298  12 
1638 

625 

1174  34 
1413 

443 

1)  Vgl.  Mayer  und  Orth,  Zur  qualitativen  Untersuchung  der  Assozia- 
tionen.  Zeitschr.  f.  Psych.  XXVI.   1901.  S.  1  ff. 

20* 


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308 


Henry  J.  Watt, 


Die  Bezeichnungen  sind  hier  dieselben  wie  die  oben  gebrauchten. 
Wir  sehen  wieder,  daß  die  Ax  -Fälle  die  kürzesten  Zeiten  von  allen 
haben,  außer  (wie  in  Tab.  II)  bei  Vp.  IL  Das  rührt  daher,  daß 
diese  Vp.  in  vielen  Fällen  keine  weiteren  Erlebnisse  angab,  auch 
wo  solche  vermutlich  dawaren ;  obgleich  es  freilich  auch  so  sein 
könnte,  daß  bei  dieser  Vp.  die  gewöhnlichste,  aber  nicht  einfachste 
Form  die  kürzeste  geworden  ist  Eis  waren  22  Fälle,  wovon  die 
ersten  11,  die  unter  A0  angegeben  sind,  zwischen  800  a  und  1600  o 
liegen.  Die  nächste  Zeitlänge  ist  2118  a.  Wir  können  kaum  an- 
nehmen, daß  die  Vp.  in  einer  so  langen  Zeit  keine  weiteren  Erleb- 
nisse als  die  konstatierten  hatte.  Die  Vp.  hat,  wie  schon  gezeigt, 
eine  Vorliebe  für  Gesichtsvorstellungen  und  beschreibt  sie 
sorgfältig,  so  daß  es  sehr  wahrscheinlich  ist,  daß,  wenn  sie  » keine 
weiteren  Erlebnisse«  konstatierte,  sie  oft  damit  sagen  wollte,  sie 
habe  keine  Gesichtsvorstellungen  gehabt.  In  dieser  Reihe  von  Fällen 
wächst  die  Dauer  der  Reaktion  bei  dieser  Vp.  mit  der  UngelSnn> 
keit  des  gegebenen  Begriffs.  Bei  ihren  optischen  Vorstellungen 
ist  das  auch  der  Fall.  Auch  nimmt  die  Dauer  mit  der  Verwicklung 
der  Gesichtsvorstellung  zu.  So  auch  bei  der  Form  A2:  je  länger 
oder  verwickelter  die  Gruppe  von  Wortvorstellungen  im  Bewußtsein 
ist,  um  so  länger  ist  auch  die  Dauer  der  Reaktion.  In  den  meisten 
^-Fällen  bei  Vp.  III  ist  ein  Urteil  vor,  mit  oder  nach  dem  Aus- 
sprechen des  Wortes  aufgetreten. 

Was  das  Verhältnis  der  Anzahl  der  Fälle  bei  den  verschiedenen 
Formen  betrifft,  so  sehen  wir  auch  hier,  daß  die  Vp.  II  lieber  mit 
Gesichtsvorstellungen  arbeitet,  obgleich  hier  nicht  so  viele  kon- 
statiert werden.  Uberhaupt  hat  die  Anzahl  der  A3-Fälle  abgenommen, 
während  die  der  ^2-Fälle  und  der  ^,-Fälle  ziemlich  stark  zu- 
genommen hat.  Auffallend  ist  auch  die  Verlängerung  der  Reaktions- 
zeit in  fast  allen  Versuchen  (außer  bei  Vp.  m  A3  und  Vp.  II  A:\ 
dieser  Aufgabe.  Es  nimmt  längere  Zeit  in  Anspruch,  einen 
untergeordneten  als  einen  Ubergeordneten  Begriff  zu 
finden. 

Die  dritte  Aufgabe  verlangte  ein  Ganzes  zu  einem  ge- 
gebenen Teil  zu  finden,  und  die  Versuche  sind  wie  vorher  in 
der  folgenden  Tabelle  eingeteilt. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denken«. 


309 


Tabelle  IV. 
Aufg.  HI:  Ein  Ganzes  zu  finden. 


1!   Ax  " 

Äo  n 

A$  n 

A*      n  ||  Summa  n 

Vp.    I  Me 
Ma 

m.V. 

1  1387  10 
1605 
453 

1397  5 
1441 
256 

1430  39 
1651 
468 

0 

1405  49 
1642 
467 

Vp.  ü  Me 
Ma 

m.V. 

1457  1 

0 

1373  29 
1617 
578 

1641  3 
1639 
262 

1379  33 
1614 
536 

Vp.  HI  Mc 
Ma 

m.V. 

1323  8 
1370 
421 

871  4 

955 

174 

949  23 
1169 

358 

1027  18 
1054 
179 

1001  49 
1160 
313 

A%  =  mit  Gesichtsvorstellung  als  Mittelglied. 
At  =»  mit  Wortvorstellung  als  Mittelglied. 
Ai  —  ohne  derartige  Angaben. 
Aq  =  ohne  jegliche  Angaben. 


Die  Zeiten  sind  interessant,  und  obgleich  sie  nicht  dieselbe 
Regelmäßigkeit  in  allen  Fällen  zeigen,  sind  sie  doch  aus  dem 
Protokoll  erklärlich.   Wir  sehen  hier,  daß  die  Zeiten  der  Ä2-  und 
4r Fälle  denen  der  Äx -Fälle  fast  gleich,  oder  kürzer  als  diese  sind. 
Wir  sehen  aber  zugleich,  daß  die  Häufigkeit  von  A3  stark  zu- 
genommen hat,  was  deutlich  zeigt,  daß  eine  Antwort  auf  diese 
Aufgabe  durch  eine  Gesichtsvorstellung  sehr  erleichtert 
wird,  oder,  wie  wir  dasselbe  mit  andern  Worten  ausdrücken 
können,  daß  die  Länge  der  Zeit,  die  von  der  Pause  zwischem  dem 
verstandenen  Reizwort  und  dem  auftauchenden  Reaktionswort,  oder 
von  dem  Suchen  nach  dem  letzteren  ausgefüllt  ist,  beinahe  so 
lang  ist  als  die  Zeit,  die  bei  dieser  Aufgabe  zu  einer  Gesichts- 
vorstellung nötig  ist.   Noch  anders  gesagt  heißt  es:  die  größere 
Leichtigkeit  der  Reproduktion  durch  eine  Gesichtsvorstellung  ist 
der  größeren  Schwierigkeit  der  ungewöhnlichen  Aufgabe  beinahe 
äquivalent.    Auch  bei  den  ^-Fällen  von  Vp.  III  ist  die  Reaktions- 
zeit kürzer  als  bei  den  4 -Fällen.    Das  kommt  daher,  daß  in 
vielen  Fällen  die  von  dem  Reizwort  geweckte  Erinnerungs-  oder 
Wortvorstellungsgruppe  mit  dem  Reaktionswort  beinahe  identisch 
war.  Dafür,  daß  hier  eine  Erleichterung  vorhanden  war,  spricht 
die  Tatsache,  daß  bei  dieser  Aufgabe  von  der  Form  A2  18  Fälle 


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310 


Henry  J.  Watt, 


richtig  und  nur  2  falsch  waren,  während  von  der  vorigen  Aufgabe 
12  richtig  [Mc  =  1298  a)  und  15  falsch  waren.  Es  fehlt  auch  nicht 
an  Fällen  (Yp.  HI  Aq),  bei  denen  die  Aufgabe  ohne  weitere  Er- 
lebnisse und  in  kürzerer  Zeit  als  bei  A2  erledigt  wurde. 

Die  vierte  Aufgabe  bestand  darin,  einen  Teil  zu  einem 
gegebenen  Ganzen  zu  finden.  Eine  ähnliche  Tabelle  ftir  die 
4-Fälle  folgt. 

Tabelle  V. 
Aufg.  IV:  Einen  Teil  zu  finden. 


At  n 

An  n 

4i  n 

At  n 

Summa  n 

Vp.    I  Mc 
Ma 

m.V. 

1689  15 
1722 
646 

1218  6 
1225 
102 

1331  62 
1461 
322 

1309  1 

1372  68 
1617 
418 

Vp.  n  Mc 

Ma 
m.V. 

830  1 

0 

1333  72 
1391 
441 

901  1 

1327  74 
1377 
440 

Vp.  III  Mc 
Ma 

m.V. 

1111  9 
1090 
136 

0 

1166  26 
1236 
179 

1004  17 
1034 
120 

1118  62 
1146 
144 

Hier  sehen  wir  wieder  die  Unregelmäßigkeit  in  bezug  auf  den 
Zeitunterschied  zwischen  As  und  Au  und  diesmal  bei  Vp.  I.  Wenn 
man  aber  die  Fälle  ausscheidet,  bei  denen  ein  Zweifel  oder  eine 
Hemmung  in  der  SprechmuBkulatur  vorhanden  war,  oder  bei  denen 
die  Vp.  viele  sich  hervordrängende  Vorstellungen  konstatierte,  ohne 
daß  sie  näher  angeben  konnte,  wie  diese  waren,  so  bekommt 
man  Aq,  und  die  Regelmäßigkeit  wird  wiederhergestellt  Was 
für  Vp.  IH  in  bezug  auf  A2  und  At  für  die  letzte  Aufgabe  galt,  gilt 
auch  wieder  für  diese.  Bei  8  von  den  17  Fällen  unter  A2  war  das 
Reaktionswort  ein  Teil  eines  zusammengesetzten  Wortes,  von  dem 
das  Reizwort  den  andern  Teil  bildete.  Das  Reaktionswort  kam 
also  ziemlich  spontan  und  automatisch  infolge  einer  Berührungs- 
assoziation mit  dem  Reizwort,  und  die  Vp.  beurteilte  ihre  Leistung 
vor  dem  Aussprechen  des  Wortes  oder  während  desselben.  Wie 
man  erwarten  konnte,  hatten  wir  einige  Fehler  in  dieser  Rubrik, 
aber  nur  sehr  wenige.  Man  sieht,  daß  bei  dieser  Aufgabe  die 
Methode,  mit  der  Gesichtsvorstellung  zuarbeiten,  bei  allen 
Vp.  weitaus  die  herrschende  ist.  Bei  Vp.  n  liefert  sie  72  von 
74  Fällen. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  311 

Bei  diesen  vier  Aufgaben  sehen  wir,  daß  die  Versuche,  bei 
denen  eine  einzelne  Tendenz  vom  Anfang  bis  zum  Ende  des  Versuchs 
verfolgt  wurde,  sich  voneinander  in  gewisser  Beziehung  unter- 
scheiden. In  vielen  tritt  das  Reaktionswort  auf  nach  einer  Pause, 
die  mit  nichts  oder  mit  einem  gewissen  Suchen  ausgefüllt  sein 
kann.  Bei  andern  wird  die  Aufgabe  an  der  Hand  einer  Gesichts- 
vorstellung erledigt,  an  der  gesucht  wird.  Bei  noch  andern 
erweckt  das  gegebene  Wort  eine  oder  mehrere  Wortvorstellungen 
durch  irgendeine  BeruhrungsasBoziation.  Diese  Vorstellung  selbst 
bildet  die  Antwort  auf  die  Aufgabe  und  wird  vor  oder  erst  nach 
einem  Prozeß  des  ßeurteilens  ausgesprochen,  oder  die  Vp.  sucht 
in  der  Masse  von  zum  Teil  dunkeln,  zum  Teil  deutlichen  Wortvor- 
stellungen und  findet  darin  eine,  die  als  Antwort  paßt,  oder  die 
direkt  zu  einer  passenden  Antwort  leitet.  Andere  Gruppen, 
die  sich  in  dieser  Beziehung  wesentlich  auszeichneten,  fanden 
wir  nicht.  Prinzipiell  wäre  die  Existenz  von  solchen  doch 
nicht  zu  leugnen,  z.  B.  solche  mit  Vermittlungen  durch  Gehörs-, 
Geruchs-,  Geschmacks-  usw.  -Vorstellungen.  Sie  könnten  vor- 
kommen, wenn  die  betreffende  Aufgabe  eine  solche  Mechanik 
zweckmäßig  machte,  und  wenn  die  betreffende  Vp.  eine  solche 
Mechanik  zureichend  ausgebildet  hätte  oder  überhaupt  besäße. 

Das  Vorkommen  dieser  Formen  hängt  also  sehr  wesent- 
lich von  der  Natur  der  Aufgabe  ab.  In  der  nächsten  Tabelle 
wird  die  Häufigkeit  des  Vorkommens  der  vier  Formen  von  Ä  im 
Prozentsatz  gegeben. 

Tabelle  VI. 

Häufigkeit  des  Vorkommens  der  Formen  in  %  aller  richtigen  -4-FäUe. 


1  * 

4> 

Vp.I 

II 

III 

,Vp.I 

II 

III 

Vp.I 

II 

in 

Vp.I 

II 

III 

Aufgabe  I 

76 

12 

67 

64 

24 

23 

82 

V 

6 

39 

II 

68 

30 

66 

37 

15 

26 

11 

60 

20 

35 

III 

22 

1 

17 

9 

76 

97 

60 

1 

33 

IV 

|» 

3 

16  1 

10 

~8 

80 

88 

47, 

- 

9 

37 

I 

+     +  4i  «=  100. 


Hier  sehen  wir  bei  der  1H.  und  IV.  Aufgabe  ein  starkes  Ab- 
nehmen der  Ai  -Fälle  bei  allen  Vp.  zugunsten  der  sehr  stark  zu- 
nehmenden ^,-Fälle,  obgleich  diese  verhältnismäßig  selten  bei  Vp.  I 


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312 


Henry  J.  Watt, 


und  bei  Vp.  III  fast  gar  nicht  bei  den  ersten  zwei  Aufgaben  vor- 
kamen. Vp.  II  hatte  schon  in  den  ersten,  mehr  begrifflichen 
Aufgaben  eine  große  Vorliebe  für  Gesichtsvorstellungen,  aber  in 
den  letzten  zwei  sehen  wir,  daß  sie  fast  exklusiv  mit  ihnen  arbeitet, 
bei  der  dritten  sogar  in  97  #  der  richtig  ausgeführten  Fälle.  Wir 
konstatieren  somit  den  Einfluß  der  Aufgabe  auf  die  Vor- 
stellungsmechanik bei  den  beiden  Extremen,  sowohl  wenn  die 
Vp.  keine  große  Neigung  zu  Gesichtsvorstellungen  hat,  als  wenn 
sie  die  Neigung  in  sehr  ausgeprägtem  Maß  und  bewußt  besitzt. 
Natürlich  scheint  es,  daß  dies  so  sein  müsse,  weil  die  gegebenen 
Wörter  in  der  III.  und  IV.  Aufgabe  meistens  Gegenstände  be- 
zeichneten. Von  den  Gesichtsvorstellungen  dürfen  wir  also  nicht 
schlechthin  sagen,  daß  sie  Begleiterscheinungen  gewisser  anderer 
Erlebnisse  seien.  Sie  können  das  wohl  sein  unter  gewissen  Be- 
dingungen, bzw.  bei  gewissen  Aufgaben  oder  Vorbereitungen.  Das 
darf  uns  aber  nicht  veranlassen,  zu  behaupten,  daß  es  sich  immer 
so  mit  den  Gesichtsvorstellungen  verhält.  Das  wäre  unter  vielen 
Fällen,  bei  denen  man  aktiv  denkt,  nicht  der  Fall.  Da  werden 
die  Gesichtsvorstellungen  oft  Arbeitsplätze  für  das  Denken.  Wenn 
wir  bei  einer  gewissen  Aufgabe  konstatiert  haben,  daß  eine  Vp. 
viele,  bzw.  keine  Gesichtsvorstellungen  hat,  so  dürfen  wir  auch 
hier  nicht  zu  schnell  ins  Allgemeine  gehen,  bis  wir  unter- 
sucht haben,  was  für  einen  Einfluß  die  betreffende  Aufgabe 
auf  andere  schon  daraufhin  untersuchte  Vp.,  bzw.  andere  Aufgaben 
auf  dieselbe  Vp.  ausüben. 

Was  die  Wortvorstellungen  (A2)  betrifft,  so  merken  wir  bei 
der  zweiten  Aufgabe  eine  Vermehrung.  Das  können  wir  in  keiner 
andern  Weise  erklären,  als  daß  diese  veränderte  Aufgabe,  einen 
untergeordneten  Begriff  statt  eines  übergeordneten  zu  finden,  eine 
ans  Wort  anknüpfende  Erinnerung  in  der  Form  einer  Gruppe 
von  Wortvorstellungen  leichter  auftauchen  ließ,  weil  man  nach 
etwas  Speziellerem  als  dem  Gegebenen  Buchen  mußte.  Jedenfalls 
kamen  bei  allen  Vp.  keine  Fälle  des  einfachen  Vorsetzens  eines 
Wortes  an  das  gegebene  vor,  die  man  unter  diese  Rubrik  {A^} 
bringen  konnte.  Es  gab  wenige  zusammengesetzte  Wörter  bei 
dieser  Form,  und  die  vorhandenen  waren  mit  Hilfe  obenerwähnter 
Erinnerungen  und  Wortvorstellungen  gefunden,  was  dafür  spricht, 
daß  die  Antworten  aus  diesen  hauptsächlich  akustischen  Wortvor- 
stellungen als  einfache,  nicht  als  zusammengesetzte,  herausgetreten 


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Experimentelle  Beiträge  za  einer  Theorie  de»  Denkens.  313 

sind.  Wenn  die  zusammengesetzten  Wörter  nur  durch  einen  Ge- 
danken an  das  Vorsetzen  während  des  Versuches  oder  nur  durch 
die  bewußte  oder  unbemerkte  Tendenz  zum  Vorsetzen  veranlaßt 
wurden,  rechnete  ich  die  entsprechenden  Fälle  der  Form  Ax  zu. 
Bei  Vp.  III  bleibt  die  Häufigkeit  des  Vorkommens  von  A2  ziemlich 
konstant  in  allen  Aufgaben. 

Tabelle  VII. 
Aufg.  V:  Einen  koordinierten  Begriff  zu  finden. 


A\  n 

A3          n      A3  n 

Vp.    I  Mc 
Ma 

m.r. 

1283  3 
1295  69 

1  65 

1448          2  1  0 
1448  3 
159 

Vp.  n  Mc 
Ma 

m.V. 

1053        15  i  1086  8 
1021        16  1124 

255            ;  211 

1311  36 
1475  49 
476 

1645  10 
1882  9 
710 

Vp.  III  Mc 
Ma 

m.V. 

1072  26 
1099  41 
238 

831  3 
986  5 
247 

948  1 
1 

Vp.  VI  Mc 
Mo 

in.  V. 

A3  = 

1127  21 
1227  26 
291 

mit  Gesichtsvoi 

1448  13 
1492 
416 

rstellung  als  Mi 

1203  11 
1367  29 
346 

Ittelglied. 

1268  5 
1614  5 
508 

A{3)  =  mit  Gesichtsvorstellung  als  Nebenerscheinung. 
■4«   *=  mit  Wortvorstcllung  als  Mittelglied. 
Ax    =  ohne  derartige  Angaben. 

n  =  absolute  Anzahl  der  Versuche.  Unter  n  in  einor  Linie  mit  Ma 
die  Anzahl  der  einen  Oberbegriff  enthaltenden  Versuche,  die 
sich  in  der  betreffenden  Ax-,  A$-  usw. -Weise  auszeichneten. 
Vgl.  Tab.  Xn  bis  XV  unten. 

Von  den  schon  erwähnten  Aufgaben  unterschieden  sich  die 
fttnfte  und  sechste  insofern,  als  sie  nur  eine  gewisse  Anzahl 
von  Versuchen  lieferten,  die  sich  wie  die  andern  Aufgaben  ein- 
teilen lassen.  Es  kommen  einige  vor,  die  sich  nicht  so  gut  wie 
die  andern  beschreiben  lassen,  anch  wenn  wir  es  versuchen 
wollten,  weil  dazu  ihr  Protokoll  nicht  ausführlich  genug  ist;  diese 
Versuche  werden  später  für  sich  behandelt  werden,  wenn  wir  zur 
Betrachtung  der  einzelnen  Aufgaben  kommen. 

Hier  sehen  wir  wieder,  wie  der  ¥onnAx  allgemein  die  kürzere  Zeit 
entspricht;  ausgenommen  die  Vp.  III,  bei  der  die  wenigen  Fälle  (4), 
in  denen  eine  kurze  Reaktionszeit  vorkommt  (A3,  A2),  ziemlich  das 

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314 


Henry  J.  Watt, 


Gepräge  von  Ax  tragen,  d.  h.  die  Gesichtsvorstellung  bei  dem 
Prozeß  war  mit  Ausnahme  eines  Falles  ziemlich  unwesentlich:  Kom- 
pott—  Salat,  optische  Vorstellung  des  in  Kristallschalen  servierten 
Salats  sehr  lebhaft  770  a.  Auch  haben  wir  bei  Äx  4  Fälle  einer  Zeit- 
länge unter  770  a  und  bzw.  5  und  9  unter  831  und  948«;. 

Mit  .4<3)  bezeichne  ich  diejenigen  Fälle,  bei  denen  das  Bild  nur 
Nebenerscheinung  war  und  keine  wesentliche  Rolle  im  Prozeß 
gespielt  hat.  Auf  Grund  verschiedener  Andeutungen  dürfen  wir 
behaupten,  daß,  wenn  die  Vorstellung  nur  Nebenerscheinung 
im  Prozeß  ist,  die  Reaktion  schneller  erfolgt  als  sonst. 
Bei  Vp.  II,  dem  stark  visuellen  Typus,  verhält  es  sich  so,  und  bei 
Vp.  VI  A3  ist  die  kleinste  Reaktionszeit  943  a,  und  es  sind  zwei 
Fälle  unter  1000a,  bei  A{3)  dagegen  882a  und  drei  Fälle  unter 
1000a.  —  Sowohl  Mc  als  auch  Ma  sind  trotzdem  bei  Vp.  VI  A^) 
größer  als  bei  A3.  Andere  Grunde  hätten  eine  Verlängerung 
der  Zeit  veranlassen  können,  wenn  z.  B.  die  Vorstellung  —  ob- 
schon  Nebenerscheinung  —  den  Verlauf  des  Versuches  irgendwie 
gestört  hätte.  Bei  A{3)  kamen  tatsächlich  fünf  FäUe  vor,  bei  denen 
irgendeine  Störung  vorhanden  war;  bei  den  andern  A3  nur  einer. 
Wir  sehen  schließlich,  daß  Vp.  I  und  in  zu  ihrem  Verhalten  bei 
den  ersten  zwei  Aufgaben  zurückgekehrt  sind.  Dasselbe  kann 
auch  von  Vp.  II  gesagt  werden,  der  sich  Vp.  VI  ziemlich  an  die 
Seite  stellt. 

Tabelle  VIII. 
Aufg.  VI:  Einen  koordinierten  Teil  zu  finden. 


A3  n 

A^  n 

Vp.    1  Me 
Ma 

m.V. 

2220  1 

1638  4 
1627  29 
101 

0 

Vp.  II  Me 
Ma 

m.V. 

|  1601  4 
2114  0 
1096 

1601  23 
1882  0 
720 

4307  1 
0 

Vp.  IE  Me 

m.V. 

893  7 
861  13 
72 

3071  1 

1460  7 
1401  11 
326 

1022  9 
1096  10 
229 

Vp.  VI  Me 
Ma 
m.V. 

1  1666  2 
1666  5 
1  482 

1223  3 
1325 
144 

1507  18 
1734  26 
481 

0 

Erläuterung  vgl.  Tab.  VII. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  315 

Hier  sehen  wir,  wie  es  bei  der  VI.  Aufgabe  (einen  andern 
Teil  eines  gemeinsamen  Ganzen  zu  finden)  steht.  Daß  die  Ge- 
sichtBvorstellnngen  enthaltenden  Versuche  ebenso  stark  überwiegen, 
wie  bei  den  Aufgaben  Ol  und  IV,  davon  kann  hier  keine  Rede 
sein.  loh  gebe  unter  der  Anzahl  der  Versuche,  denen  die  vor- 
gelegten Zeiten  entsprechen,  noch  die  Anzahl  der  Versuche,  die 
der  betreffenden  Form  überhaupt  angehörten,  obgleich  sie  nicht 
ebenso  einfach  wie  die  andern  waren.  Die  lange  Zeit  bei 
Vp.  m  rührte  von  langem  Besinnen  und  Nichtfindenkönnen  her; 
die  entsprechende  Zeit  bei  Vp.  I  ist  wohl  ebenso  zu  deuten.  Die 
bei  Vp.  III  eigentümliche  Kürze  der  A2  den  andern  gegenüber 
erscheint  hier  wieder  wie  bei  den  Aufgaben  III,  IV,  V. 


Fig.  4. 

Die  sechs  vorhergehenden  Tabellen  werden  in  Fig.  4  in  der  Form 
von  Kurven  zusammengestellt  Die  Form  bringt  die  Hauptsache 
zur  Anschauung,  nämlich  den  regelmäßigen  Einfluß,  den  die 
Veränderung  der  Aufgabe  auf  den  qualitativen  Inhalt 
des  Keaktionsverlaufes  jeder  Versuchsperson  hat.  Be- 
sonders auffallend  bei  Ax  und  As  ist  die  Weise,  wie  auch  die 
Extreme  (Vp.  HI  und  Vp.  H)  in  ihren  Veränderungen  überein- 
stimmen. Es  erhärtet  nur  die  Resultate,  daß  Vp.  VI  in  immer 
übereinstimmender  Weise  bei  der  V.  und  VI.  Aufgabe  auftritt,  ob- 
gleich sie  nicht  wie  die  andern  Vp.  in  solchen  Aufgaben  vorher 
geübt  war. 


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316 


Henry  J.  Watt, 


"»  >  •»  K  *J  &> 


3- 


=3 


Fignr  5  zeigt  den  Ein- 
fluß der  Aufgabe  anf 
die  Länge  der  Reaktions- 
zeit bei  den  verschiede- 
nen Formen  von  A.  Auch 
hier  sieht  man  wieder,  daß 
die  Vp.  sehr  übereinstimmen, 
nnd  daß  die  sechste  Vp.  sich 
ebenso  wie  vorher  verhält. 
Wenn  kein  Fall  der  be- 
treffenden Form  vorkommt, 
so  verschwindet  die  Kurve 
natürlich.  Trotzdem  zeigt 
die  Darstellung  der  Durch- 
schnittszeiten für  alle  rich- 
tigen 4-Fälle,  daß  die  Ver- 
änderungen aller  Vp.  sehr 
ähnlich  sind. 


^«5^  uiJiftNx«^  £   §5.   Spezielle  Analyse  des 

Reaktionsverlaufs. 


Ich  gehe  zu  einer  Be- 
schreibung   der  einzelnen 
Stadi  en  des  Prozesses  über. 
Auf  den  Vorschlag  des  Herrn 
Prof.  Külpe  habe  ich,  nach- 
dem ich  mit  den  Versuchen 
über  die  einzelnen  Aufgaben 
zu  Ende  gekommen  war,  jede 
Vp.  Reihen  von  Versuchen 
f*    machen  lassen,  bei  denen 
I    sie  je  ein  bestimmtes  Sta- 
1    dium  des  Reaktionsverlaufes 
zum  Gegenstand  b  e  s  o  n  d  e  r  s 
genauer  Beobachtung 
machen  sollte.    Zu  diesem 
s£    Zwecke  definierte  ich  vier 
Stadien,    deren  Hervor- 


e>  n  *  ^  ^  j£ 


°»  o.  S 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  317 

hebtiDg  mir  als  die  zweckmäßigste  erschien:  die  Vorbereitung 
zum  Versuche,  das  Erscheinen  des  Reizwortes,  das  Suchen 
nach  dem  Reaktionswort  (wenn  ein  solches  Uberhaupt  statt- 
fand), und  endlich  das  Auftauchen  des  Reaktionswortes.  Die 
Vp.  hatten  sich  auf  meine  Mitteilung,  daß  sie  jetzt  ein  bestimmtes 
dieser  Stadien  genau  beobachten  sollten,  um  hernach  darüber  mög- 
lichst detaillierte  Auskünfte  geben  zu  können,  auf  das  betreffende 
Stadium  vorher  einzustellen,  was  in  derselben  Weise  vor  sich  ging 
wie  die  vorher  geschilderte  Vorbereitung.  Der  Erfolg  war  sehr 
deutlich.  Die  Beschränkung  auf  eine  bestimmte  Phase  des  kompli- 
zierten Reaktionsverlaufs  ermöglichte  eine  sorgfältigere  und  er- 
giebigere Anwendung  der  Selbstbeobachtung.  Das  Fraktionieren 
des  Bewußtseinsbestandes  dürfte  sich  auch  sonst  bei  kompli- 
zierten Aufgaben  sehr  empfehlen.  Mit  jeder  Vp.  machte  ich  für 
jedes  Stadium  wenigstens  drei  Versuche.  Die  folgenden  Schilde- 
rungen bauen  sich  auf  aus  den  Aussagen  der  Vp.  während  der 
regelmäßigen  Versuchsreihen  und  der  näheren  Untersuchung  der 
Stadien,  wobei  die  letzteren  niemals  im  Widerspruch  zu  den 
früheren  Ergebnissen  ohne  Fraktionierung  standen,  sondern  eine 
Ergänzung  und  nähere  Ausführung  derselben  lieferten. 

Nachdem  ich  schon  oben  (§  3]  das  erste  Stadium  zur  Genüge  geschildert 
habe,  darf  ich  gleich  mit  dem  zweiten  anfangen.  Was  geschieht,  nachdem 
das  Reizwort  erschienen  ist? 

Äußerlich  zunächst:  Von  der  Vorbereitung  aus  dauert  die  Spannung, 
die  in  der  Erwartung  entsteht,  bis  zum  Erscheinen  des  Wortes  fort  und 
erreicht  dort  ihren  Hübepunkt  Die  Spannung  findet  gewöhnlich  rasch  ein 
Ende  durch  die  Reproduktion.  Bei  Vp.  I  wurde  diese  Spannung  öfters  kon- 
statiert Sie  ist  natürlich  am  größten  am  Anfang  einer  Reihe  und  gelegentlich 
nach  einer  falschen  Reproduktion  oder  beim  Auftreten  eines  mehrdeutigen 
Wortes.  Bei  Vp.  III  kommen  die  Spannungsempfindungen  ziemlich  selten 
vor.  Diese  Vp.  konstatiert  das  Eintreten  einer  ruhigen  Pause  ohne  Spannung, 
oder  einer  Hast  und  Unruhe  mit  Spannung  nach  dem  Erscheinen  des 
Reizwortes,  gelegentlich  auch,  was  sie  >ein  ruhiges  Zurücktreten  vor  dem 
Worte<  nennt  und  Fixieren  desselben.  Die  folgenden  Aussagen  geben 
eine  weitere  Schilderung  dieses  Stadiums.  Vp.  III:  »Mit  dem  Verständnis 
lag  bereits  der  nötige  (Ubergeord.)  Begriff  vor.«  > Darin  bestand  die  Apper- 
zeption von  Klavier,  daß  der  Begriff  Instrument  auftauchten  »Im  Augen- 
blick, wo  ich  das  Wort  verstehe,  habe  ich  das  Bewußtsein ,  ich  weiß 
schon,  was  ich  zu  sagen  habe«  oder  »ich  woiß,  was  ich  will.«  »Ich  hatte 
den  Eindruck  eines  gewissen  Zwanges,  als  wenn  ich  vorher  wußte,  was  zu 
sagen  wäre.«  Diese  Eindrücke  werden  ziemlich  oft  von  Vp.  DU  konstatiert 
Vp.  I :  »Die  volle  Bedeutung  des  Wortes  war  schon  bei  der  bloßen  optischen 
Wahrnehmung  da.  Es  ist  mir  nicht  zum  Bewußtsein  gekommen,  daß  ich  das 
Wort  ausgesprochen  hatte,  oder  daß  die  Bedeutung  in  irgendwelcher  Vor- 


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318 


Henry  J.  Watt, 


Stellung  explizite  gegeben  war.«  Aber  »ein  unwillkürliches,  innerliches 
Aussprechen  des  Reizwortes,  nnd  zwar,  wie  ich  es  selbst  aussprechen  würde, 
und  damit  gleichzeitig  verbunden  das  Verständnis.«  »Es  scheint,  als  wenn 
dieser  Komplex  von  Schrift-,  Sprech-  nnd  Lautbild  das  Verständnis  voll- 
endete. Sonstige  Repräsentation  des  Verständnisses  gab  es  nicht.«  Das 
scheint  der  Verlauf  und  Charakter  dieses  Stadiums  bei  Vp.  I  fast  immer  zu 
sein.  Vp.  II  und  Vp.  VI  konstatieren  auch  ein  innerliches  Aussprechen  des 
Wortes.  Vp.  III,  die  das  Wort  sonst  nicht  innerlich  auszusprechen  scheint, 
sagt  auch  einmal:  »Im  Verständnis  von  Ostern  (Anfg.  V)  war  die  Überleitung 
au  Pfingsten  schon  gelegen,  als  wenn  ich  bloß  das  Wort  innerlich  nachzu- 
sprechen brauche,  damit  etwas  anderes  sich  anschließe«.  Vp.  III:  »Es  war 
keine  Pause1)  zwischen  dem  Erscheinen  des  Reizwortes  und  dem  Verständnis 
da,  doch  dauerte  es  ziemlich  lang,  bis  das  Verständnis  ganz  dawar.  Hit 
dem  vollen  Verständnis  war  der  Anstoß  zur  Assoziation  gegeben.«  Bei 
Aufg.  I  (Übergeord.  Begr.)  konstatiert  Vp.  II:  »In  einer  Klasse  von  Versuchen 
ist  der  Begriff  schon  mit  dem  Verständnis  des  Wortes  da,  in  der  andern 
kommt  das  Verständnis  erst  mit  einer  Assoziation  oder  Vorstellung.«  Wieder: 
»Das  Verständnis  kam  durch  eine  Art  Veranschaulichung.«  Vp.  VI  konstatiert 
neben  einem  Bewußtsein  der  Wortbedeutung  und  der  Aufgabe  häufige  Gefühls- 
zustände  dem  Reizworte  gegenüber,  die  eventuell  mit  Organempfindungen 
verknüpft  waren.  Vp.  III  sagt,  daß  der  Akt  des  Verständnisses  bei  den 
Aufgaben  I  und  U  [übergeord.  Begr.  und  untergeordn.  Begr.)  anfänglich  der- 
selbe sei,  daß  sie  aber  bei  dieser  den  Begriff  sich  ausbreiten  lasse,  und  bei 
jener  rasch  über  den  Akt  des  Verständnisses  hinwegsehe  mit  der  Frage: 
»Was  gibt's  für  Arten?«  Ob  und  wie  die  verschiedenen  Aufgaben  diesen 
Akt  des  Verständnisses  beeinflußt  haben,  vermögen  wir  auf  Grund  unseres 
Materials  nicht  zu  entscheiden. 

AU  drittes  Stadium  habe  ich  das  Suchen  nach  einem  Worte  be- 
zeichnet. Ein  Suchen  findet  nicht  immer  statt.  Vp.  I,  Aufg.  I,  macht  die 
allgemeine  Bemerkung:  »Ich  habe  meistens  das  Bewußtsein,  daß  die  Wörter 
kommen,  ohne  daß  ich  sie  gerade  gesucht  habe.  Sie  kommen  als  etwas 
Selbständiges,  was  mich  betrifft,  Fremdes.  Nur  selten  habe  ich  das  Bewußt- 
sein einer  Richtung  dorthin.«  »Den  Gang  zu  diesem  Worte  kann  ich  nicht 
beschreiben.«  Das  Suchen  selbst  kann  Vp.  I  nicht  näher  beschreiben.  Sie 
konstatiert  bei  .di-Fällen  eine  dunkle  Masse  von  sich  hervordrängenden  Vor- 
stellungen, sie  wisse  nicht,  welche.  Vp.  I  meint,  daß,  wenu  das  Wort  nicht 
bald  kommt,  späteres  Warten  umsonst  ist.  Sie  konstatiert  auch  gelegentlich 
eine  kleine  Leere  des  Bewußtseins,  in  der  sich  etwas  wie  eine  Wiederholung 
der  Aufgabe  antreffen  ließ.  Dieses  Bewußtsein  der  Aufgabe  konstatiert  auch 
Vp.  III,  aber  es  ist  so  undeutlich ,  daß  sie  nicht  sagen  kann ,  wie  es  war. 
Dieses  Bewußtsein  wird  aber  nur  Belten  konstatiert.  Vp.  II  sagt  wenig  Uber 
das  Suchen  aus.  Sie  besinnt  sich  gewöhnlich,  findet  das  Gesuchte  aber  am 
liebsten  in  einem  Bilde.  Wenn  kein  Bild  da  ist,  und  wenn  irgendeine  Schwierig- 
keit entsteht,  dann  hilft  sie  sich  vorwärts  mit  einer  Fragestellung  wie:  »Was  ist 
das?«  oder  »Warum?«  Vp.  III  konstatiert,  daß  der  Begriff  'Aufg.  I)  schon 
eher  dawar,  als  ein  Wort  dafür,  oder  daß  sie  sich  bewußt  ist,  daß  ihr 


1)  Ein  typischer  Fall  bei  Vp.  III  Aufg.  IV :  Körper.  Verstanden.  Pause. 
Optische  Vorstellung.  Darauf  der  Versuch,  möglichst  rasch  einen  Teil  heraus- 
zusuchen. Dann  Bein. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


319 


das  richtige  einfallen  wird,  oder  »der  Begriff  war  da  als  Masse,  aus 
der  man  etwas  heraussuchen  konnte«.  Eine  ungefähre  allgemeine  Beschreibung 
ron  A\  bei  Vp.  III  ist  das  folgende  Protokoll  eineB  Versuches:  »Ein  Hasten 
vorhanden.  Dann  taucht  der  Begriff  auf.  Eine  Pause  folgt,  wo  er  formuliert 
wird.  Das  Wort  kommt  unerwartet  mit  einem  Bewußtsein  der  Richtigkeit, 
wenn  es  ausgesprochen  wird.« 

Bei  der  Aufgabe  II  (untergeordn.  Begr.)  ist  das  Suchen  etwas  ausgeprägter, 
und  zwar,  weil  die  Aufgabe  eine  etwas  schwierigere  ist  Vp.  III:  »Im  Ver- 
ständnis war  kein  Anhaltspunkt  zu  Assoziationen.  Dann  kam  die  Frage: 
'Was  ist  denn  eine  Arznei?1  Das  ging  nicht.  Auch  mit  Veranschaulichung 
nicht  Dann:  'Was  für  Arzneien  gibt  es?'  Wortvorstellungen,  und  damit  eine 
Erinnerung  und  das  Reaktionswort«  Diese  Fragestellung  kam  ziemlich  oft 
bei  Vp.  D  und  Vp.  III  vor.  Zur  Beseitigung  der  Ratlosigkeit  und  Verlegenheit 
mußte  Vp.  I  die  Vorbereitung  erneuern  oder  die  Richtung  des  Suchens  durch 
den  Gedanken  an  das  Anhängen  eines  Wortes  an  das  Reizwort  bestimmen. 
Das  bringt  eine  Erleichterung  mit  sich.  Die  Spannung  hält  bis  zum  Suchen 
an  und  wird  besonders  deutlich  bei  einer  Mehrheit  von  Reproduktions- 
tendenzen bzw.  Bereitschaften.  Das  Suchen  kann  auch  bestehen  in  einer 
gespannten  Leere,  bei  welcher  der  Vp.  etwas  nicht  näher  zu  Beschreibendes 
vorschwebt.  Diese  Leere  wird  durch  das  auftauchende  Wort  verdrängt.  Das 
innerlich  ausgesprochene  Reizwort  scheint  auch  zuweilen  eine  Rolle  im  Suchen 
zn  spielen,  wobei  es  noch  nachklingen  kann.  »Ich  weiß,  waB  kommt,  ich 
weiß  den  untergeordneten  Begriff  schon«  kommt  auch  bei  dieser  Aufgabe  vor. 

Bei  der  dritten  Aufgabe  (ein  Ganzes  zu  finden)  ist  der  Verlauf  des  Suchens 
und  sein  Charakter  im  wesentlichen  derselbe.  Es  kann  in  verschiedenen 
Graden  der  Intensität  vorhanden  sein  oder  gar  nicht,  z.  B.  wo  das  Wort  sich 
aufdrängt,  ohne  daß  die  Vp.  etwas  dabei  denkt.  So  kommt  bei  Vp.  III  öfters 
dm  Reaktionswort  zuerst,  darnach  dessen  Rechtfertigung.  Das  Suchen  kann 
auch  bloß  durch  das  Bewußtsein  dessen,  was  zu  sagen  wäre,  vertreten,  durch 
ein  Bewußtsein  der  Aufgabe  unterstützt,  oder  es  kann  der  Bestimmung  der 
Reaktion  durch  eine  Frage  nachgeholfen  werden.  Das  Suchen  kann  zuweilen 
peinlich  werden.  Es  wird  besonders  ausgeprägt  durch  das  Auftreten  anderer 
Reproduktionstendenzen,  worunter  die  Vp.  vielleicht  nach  etwas  anderem 
gesucht,  als  sie  ausgesprochen  hat,  sei  es,  daß  sie  wußte,  was  sie  wollte, 
»ei  es,  daß  sie  von  diesem  »Etwas«  nichts  Näheres  angeben  konnte,  oder 
daß  sie  eine  andere  Richtung  nur  in  einer  andern  Einstellung  des  motori- 
schen Apparats  verspürte.  Vp.  III  konstatiert  in  einer  Reihe  von  Versuchen 
zwei  große  Klassen.  In  der  einen  folgt  der  Gesichtsvorstellung  eine  Pause, 
hierauf  mit  einem  Sprunge  das  Wort,  in  der  andern  ist  der  Prozeß  kon-  < 
trauierlich.  In  einem  Falle  trat  das  Suchen  nicht  auf,  weil  das  Reaktionswort 
ichon  in  der  Vorbereitung  als  Beispiel  benutzt  worden  war.  Das  Bewußtsein 
des  kommenden  Wortes  oder  dessen,  was  die  Vp.  sagen  will,  ist  von  Wort- 
vorstellungen nicht  begleitet,  sondern  ist  nur  ein  Bewußtsein  der  Erleichterung, 
«twa  wie  bei  »Na  ja!« 

Von  der  vierten  Aufgabe  (einen  Teil  zu  finden)  ist  nichts  wesentlich 
Neues  anzugeben.  Bei  der  näheren  Untersuchung  dieser  Aufgabe  sagte  die 
Vp.  III  daß  das  Suchen  mit  einer  nochmaligen  Apperzeption  beginnt,  wenn 
die  der  Berührungsassoziation  entsprechende  Apperzeption  mißlungen  ist 
Die  Richtung  Uber  eine  Gesichtsvoretellung  hinweg  scheint  bei  dieser  Auf- 
gabe sehr  stark  und  sicher  zu  sein,  so  daß  andere  Tendenzen  daneben  selten 
wr  Geltung  kommen. 


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320 


Henry  J.  Watt, 


Bei  der  fünften  Aufgabe  konstatiert  Vp.  I  wie  Vp.  III  bei  der  vierten, 
daß  sie  nach  einer  falschen  Richtung  des  Suchens  mit  besonderer  Betonung 
wieder  auf  das  Reizwort  blickte,  als  ob  von  diesem  die  Anregung  zur  rich- 
tigen Reproduktion  ausgehen  müßte.  Vp.  VI,  die  bei  dieser  Aufgabe  neu 
hinzugetreten  ist,  gibt  als  Suchen  einen  nicht  näher  zu  charakterisierenden, 
eventuell  mit  Unruhe  und  Organempfindungen  verbundenen  Zustand  an  und 
konstatiert,  sie  habe  schon  im  Suchen  gewußt,  daß  sie  etwas  Bestimmtes  wolle. 

Als  viertes  und  letztes  Stadium  habe  ich  das  Auftauchende» 
Reaktionswortes  im  Bewußtsein  bezeichnet.  In  Verbindung  mit  der 
oben  besprochenen  Spannung  gibt  Vp.  I  an:  »Das  Aussprechen  geschah  mit 
einer  starken  Exspiration,  die  mit  einer  gewissen  Erleichterung  verbunden 
war,  wahrscheinlich  weil  früher  der  Atem  angehalten  war.«  Die  Exspiration 
ist  nicht  so  stark,  wenn  das  Experiment  kürzer  ist,  und  nimmt  mit  der  Übung 
ab.  Einmal  konstatierte  Vp.  I :  »Die  Exspiration  war  groß,  auch  wenn  die 
Erregung  nicht  so  groß  war.  Ich  glaube,  es  war  eine  Art  Hemmung  voraus- 
gegangen, eine  gegenseitige  Hemmung  von  mehreren  Reproduktionstendenzen. 
Die  Exspiration  war  vielleicht  auch  von  einem  Zweifel  an  der  Richtigkeit  der 
Antwort  verursacht.«  Vp.  III  hat  keine  Spannungsempfindungen  beim  Warten 
auf  das  Wort,  Vp.  I  bewegt  ihre  Augen  beim  Finden  des  Wortes  regelmäßig 
von  der  Platte  nach  unten. 

Das  Reaktionswort  selbst  tritt  in  zweierlei  Weise  auf:  entweder  wird  es 
wirklich  ausgesprochen,  oder  nicht.  Vp.  I  konstatiert  dies  einmal  als  bloßes  Laut- 
gebilde ohne  Betätigung  des  Sprachapparates  und  lokalisiert  es  in  der  Gegend 
des  Kehlkopfes.  Oftmals,  wie  namentlich  bei  glatten  und  kurzen  Reaktionen, 
ist  das  nicht  der  Fall,  und  wird  das  Reizwort  ohne  vorhergehende  akustisch- 
motorische  Vorstellungen  ausgesprochen.  Es  kann  sich  auch  direkt  an  ein 
Bild  anschließen.  So  bei  Vp.  IH.  Das  Reaktionswort  kommt  eigentlich  sel- 
tener bei  ihr  vor  dem  Aussprechen  als  mit  demselben.  Der  Sinn  des  kom- 
menden Wortes  ist  öfters  vor  dem  Worte  selbst  da  und  zeigt  sich  schoo 
bald  nach  Anfang  des  Versuchs,  wie  oben  gezeigt  wurde.  Einmal  merkte 
sie  die  Artikulation  des  ersten  Buchstabens  des  Wortes  in  der  Zunge,  bevor 
sie  mit  dessen  Artikulation  Uberhaupt  anfing.  So  auch  fiel  ein  andermal 
das  Wort  vor  dem  Aussprechen  motorisch,  aber  nicht  akustisch  ein J).  Vp.  II 
spricht  auch  gelegentlich  das  Reaktionswort  erst  innerlich  aus,  oder  sieht  es 
als  gedrucktes  Wort.  Bei  Vp.  III  tritt  das  Wort  vor  dem  Aussprechen  öfter 
akustisch  als  in  anderer  Weise  auf. 

Die  Art  nnd  Weise,  wie  das  Wort  subjektiv  auftritt,  variiert  sehr  stark 
Vp.  HI  konstatiert,  daß  es  mit  dem  Bewußtsein  eines  Zwanges  wider  Willen 
ausgesprochen  oder  mit  aufdringlicher  Kraft  gekommen  ist  Der  Einfloß 
geläufiger  Wortverbindungen  auf  die  Reproduktionen  zeigt  sich  darin,  daß 
die  Worte,  welche  sich  anbieten,  mit  großer  Leichtigkeit  auftreten.  Vp.  III 
spricht  das  Wort  sehr  oft  unwillkürlich  aus  und  hat  dem  Reizwort  gegenüber 
verschiedene  Erlebnisse,  Lust  oder  Unlust,  Überraschung  usw.  Alle  Vp.  be- 
schreiben das  Aussprechen  des  Wortes  von  Zeit  zu  Zeit  als  »ziemlich  auto- 
matisch«, »kam  von  selbst«,  »kam  überraschend«,  »zwangsweise«,  »unwillkür- 
lich«, »mit  einer  großen  Erleichterung«,  usw. 

Vorläufig  dürfte  vorstehendes  als  Beschreibung  der  einzelnen  Stadien 
und  ihres  Verlaufs  im  allgemeinen  wohl  genügen. 


1)  Die  Wort  Vorstellungen  dieser  Vp.  sind  viel  mehr  motorisch  als  op- 
tisch oder  akustisch. 


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Experimentelle  Beitrüge  zn  einer  Theorie  des  Denkens. 


321 


§  6.   Reproduktionen  mit  mehrfacher  Richtung. 

a)  unbewußte  und  bewußte  Richtungen. 

Bis  jetzt  haben  wir  nur  diejenigen  Fälle  behandelt,  bei  denen 
eine  einzige  Tendenz  vom  Anfang  bis  zum  Ende  verfolgt  wurde. 
Dies  schien  mir  zwecks  Unterscheidung  der  Formen  des  Versuchs- 
verlaufs einfacher,  nicht  nur  weil  die  aus  einer  Reproduktions- 
tendenz bestehenden  Formen  viel  zahlreicher  sind,  sondern  auch 
weil  die  andern  Fälle  Mischungen  der  Formen  zeigen  und  es  sich 
vorher  gerade  darum  handelte,  jene  Formen  des  Versuchsverlaufes 
für  sich  in  ihrer  Eigenart  hervortreten  zu  lassen.  Die  andern 
Fälle,  die  in  nicht  kleiner  Zahl  bei  diesen  Versuchen  vorkamen, 
zeichneten  sich  dadurch  aus,  daß  bei  den  einen  die  Vp.  zunächst 
»nach  etwas  anderem  suchte«,  oder  daß  »ihr  etwas  anderes 
vorschwebte«,  ohne  daß  sie  angeben  konnte,  wie  dieses  andere 
war,  bei  den  andern,  daß  die  Vp.  nach  etwas  anderem  Be- 
stimmten suchte,  es  aber  »nicht  finden  konnte«,  oder  daß  sie 
etwas  anderes  schon  hatte,  es  aber  aus  irgendwelchen  Gründen 
verwarf  oder  durch  die  Stärke  der  andern  Tendenz  verhindert 
war,  es  zu  benutzen').  Jene  Fälle  bezeichnen  wir  m\tB,  diese  mit  C. 
Es  kam  bei  diesen  Fällen  dieselbe  Reproduktionsmechanik  vor,  die 
wir  oben  (§  3)  besprochen  haben,  so  daß  wir  darauf  nicht  näher 
einzugehen  brauchen.  Die  folgenden  Tabellen  Air  die  verschiedenen 
Aufgaben  zeigen,  wie  die  Dauer  der  Reaktion  sich  zu  den  Ten- 
denzen verhält,  und  die  Häufigkeit  des  Vorkommens  der  drei  Arten 
A,  B  und  C.  Unter  J,  B  und  C  sind  sämtliche  durch  die 
Verschiedenheit  der  Reproduktionstendenzeil  ausgezeichneten  Fälle 
eingeordnet,  ohne  auf  die  bei  ihnen  häufig  vorkommenden  Unter- 
arten, z.B.  Aif  B3l  C2  usw.,  einzugehen.  In  den  Tabellen  sehen 
wir,  daß  bei  allen  Vp.  und  Aufgaben  die  Formen  B  und  C 
eine  längere  Zeit  in  Anspruch  nehmen  als  A,  und  C  mei- 
stens eine  längere  Zeit  als  B.  Bei  andern  aber,  nämlich  Aufg.I 

Vp.  n,  Aufg.  iv  Vp.  i,  n,  m,  Aufg.  in  vp.  m,  Aufg.  vi  vp.  in, 

finden  wir,  daß  B  eine  längere  Dauer  hat  als  C.  Von  jenen  gibt 
es  im  großen  und  ganzen 

427  A,  76  B,  74  C, 

von  diesen  338  A,  26  B,  43  C. 

1)  Mit  diesen  Ä-,  B-  nnd  C- Fällen  vergleiche  man  Wnndts  Trieb-, 
Willkür-  nnd  Wahlhandlungen.  -Psych.  III.  S.  256.  Begleitende  Gefühle 
sind  wir  nicht  imstande  aus  nnsern  Versuchen  anzugeben. 

ArehiT  för  Psychologie.    IV.  21 

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322 


Henry  J.  Watt. 


Bei  einigen  andern  Fällen  ist  B  nach  Ma  durchschnittlich 
kürzer  als  A  —  Vp.  m,  Anfg.  I,  II  nnd  Aufg.  II,  Vp.  II.  Von 
diesen  liegen  vor: 

154  A,  13  B,  26  C. 

Diese  Zeitverhältnisse  bewähren  sich  gewöhnlich  auch,  wenn 
man  A,  B  nnd  C  in  die  ihnen  zugehörigen  Unterarten  einteilt 


Tabelle  DC. 

Aufg.  I.  Aufg.  II. 

Oberg.  Begr.  zu  finden.     Unterg.  Begr.  zu  finden. 


 1 

A      |  B 

C 

A 

B 

C 

! 

Vp.    1  Mc 
Ma 

m.V. 

1210  49 
1407 

276 

2059  17 
2106 
735 

2480  13 
2397 
647 

1664  63 
1693 
470 

1826  20 
1915 
460 

2601  9 
2875 
833 

Vp.  II  Mc 
Ma 
m.V. 

1468  67 
1775 
774 

2948  3 
2817 
227 

1663  4 
1788 
562 

1667  74 

2207 

1070 

1869  1 

2630  4 
2691 
547 

Vp.  III  Mc 
Ma 

m.V. 

1097   46  jl531  6 
1346       j 1317 
462  663 

1612  11 

2166 

1188 

1174  34 
1413 
443 

1246  6 
1337 
316 

1639  12 
1865 
743 

Bei  Aufg.  I,  Vp.  I  C,  kommen  Fälle  vor,  bei  denen  die  wie 
bei  A2  einleitende  Assoziation  der  Aufgabe  nicht  entsprach  und 
verworfen  werden  mußte.  Die  Länge  von  Aufg.  I ,  Vp.  II  B,  igt 
nur  daraus  zu  erklären,  daß  sie  längere  Zeit  nach  dem  nicht  ge- 
fundenen andern  suchte,  wogegen  bei  C  das  zuerst  Gesuchte  ziem- 
lich schnell  aufgetreten  ist.  Diese  Mehrheit  der  Tendenzen  ent- 
steht zum  Teil  aus  dem  von  verschiedenen  Vp.  öfters  konstatierten 
Bestreben,  bei  der  Aufg.  I  einen  möglichst  nahe  liegenden,  bei  der 
Aufg.  II  einen  möglichst  speziellen  Begriff  zu  finden.  Die  Dauer 
von  B  hängt  von  Verschiedenem  ab :  von  der  Intensität  des  Suchens '} 
nach  etwas  anderem,  von  der  Art  und  Weise,  wie  das  tatsächlich 


1)  Vgl.  Balg.  Ich  sachte  nach  ewas  anderem,  ich  weiß  nicht  was  —  sagte 
»Kind«.    1530  a. 

Kagout.  Ich  suchte  nach  dem  (nachträglich  eingefallenen]  Wort  »Gericht«, 
das  nicht  einfiel.   Sagte  dann  »eßbarer  Gegenstand«. 

Aussatz.  Erinnerte  sich  an  Naeman.  Der  Name  fiel  aber  nicht  ein. 
Sagte  Krankheit.   3027  a. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  de»  Denkens.  323 

anggesprochene  Wort  auftritt:  erscheint  es  von  selbst1)  oder  drängt 
es  sich  anf,  dann  ist  die  Reaktion  ceteris  paribns  kurzer;  muß  es 
gesucht  werden,  dann  ist  sie  um  so  viel  länger ;  endlich  hängt  die 
Dauer  offenbar  gelegentlich  von  der  Beschaffenheit  des  Ausgespro- 
chenen *)  ab,  in  der  Weise,  daß  längere  oder  abstraktere  und  we- 
niger geläufige  Wörter  oder  ein  Wort  mit  Adjektivum  längere  Zeit 
zur  Reproduktion  (wie  auch  bei  Ä)  in  Anspruch  nehmen.  Bei  C 
gilt  das  meiste  von  dem  eben  Gesagten  und  außerdem,  daß  die 
Dauer  von  der  Geläufigkeit3)  der  andern  verworfenen,  bzw.  ver- 
nachlässigten Reproduktionstendenz  abhängt.  Pausen,  Verlegenheit, 
Überlegung  im  Aussprechen  usw.  verlängern  die  Reaktion  natürlich 
überall  und  immer. 


Tabelle  X. 

Aufgabe:  Aufgabe: 
Ein  Ganzes  zu  finden.      Einen  Teil  zu  finden. 


B 



C  A 

B 

C 

Vp.    I  Mc 
Ma 

m.V. 

1405  49 
1642 
467 

2135  11 
2463 
814 

2436  17 
2608 
896 

1372  68 
1517 
418 

2278  5 
2224 
266 

1676  10 
1857 
472 

vp.  n  Mc 

Ma 

m.V. 

1379  33 
1614 
536 

0 

3437  1 

1327  74 
1377 
440 

1979  3 
3361 
915 

1889  1 

vp.  in  Mc 

Ma 

m.V. 

llOOl  49 

lneo 

j  313 

1616  6 
1849 
544 

1397  11 
1600 
646 

1118  62 
1146 
144 

1494  7 
1492 
346 

1085  13 
1344 
430 

Der  Charakter  des  ans  mehreren  Reprodnktionstendenzen  bestehenden 
Verlaufs  ist  bei  den  nächsten  zwei  Aufgaben  (ein  Ganzes  zu  einem  gegebenen 
Teil  and  einen  Teil  eines  gegebenen  Ganzen  zu  finden)  im  wesentlichen 
derselbe.  Vp.  I  ist  sich  der  Tendenz  wenig  bewußt ;  sie  sagt  etwa,  sie  habe 
nach  einem  gewissen  Worte  gesucht,  das  ihr  aber  nicht  einfiel.  Das  Bewußt- 
sein der  andern  Reproduktionstendenz  kann  sehr  dunkel  sein,  und  Vp.  I  gibt 


1)  Kellner.  Zunächst  suchte  ich  nach  etwa  »junger  Hann«,  sagte  aber 
Diener  das  war  von  vornherein  in  Bereitschaft).   1311  a. 

2)  Vgl.  z.  B.  die  folgenden  langen  Reaktionswörter: 

Psychisches  Verhalten.  2765  <r. 

Apothekcrmittel.   2059  <r;  bei  denen  sonst  nichts  die  Länge  der  Re- 
aktion Erklärendes  vorlag. 
3  Aal.  Wollte  »Vogel«  sagen;  sagte  »Fisch«.  861  c. 

21* 


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324 


Henry  J.  Watt, 


einmal  an:  >Ich  bemerkt«  an  einer  andern  Einstellung  des  motorischen 
Apparats,  daß  die  Richtung  nach  etwas  anderem  ging,  ich  weiß  nicht,  wo- 
nach«, oder  »auch  drängte  sich  etwas  anderes  auf,  ich  weiß  nicht  was«. 
So  kann  es  sein,  daß  die  Vp.,  wenn  die  andere  Tendenz  ein  Bild  enthält, 
ein  die  Aufgabe  befriedigendes  Wort  mit  Hilfe  des  Bildes  nicht  hat  finden 
können,  dann  aber  ein  solches  direkt  und  für  sich  sucht  und  findet» ,  oder 
»etwas  anderes  taucht  plötzlich  auf  und  verdrängt  die  zunächst  gesuchte 
Richtung«.  Vp.  IH  drückt  sich  so  aus:  >Ich  bin  mir  bewußt,  daß  mir  etwas 
anderes  vorgeschwebt  ist.«  >Ich  suchte  etwas  anderes  in  der  Richtung  nach 
Service.  Ich  fand  aber  kein  richtiges  Wohin.«  Im  folgenden  Beispiel 
müssen  wir  das  Gesichtsbild  als  Zeichen  einer  andern  Tendenz  nehmen. 
Orchester:  »Ich  hatte  ein  ganz  anderes  Bild  als  das,  wozu  das  Wort  Violine 
gehört  Ich  hatte  ein  lebhaftes  Bild  der  Orgelpfeife,  als  ich  Violine  aus- 
sprach, und  ein  lebhafteres  Bewußtsein,  daß  das  gar  nicht  zum  Bild  paßt, 
was  ich  sagte.«  Wie  aus  einigen  Beispielen,  aus  der  Länge  usw.  hervorgeht, 
müssen  wir  in  dem  zum  Bewußtsein  gekommenen  Doppelsinn*)  eines  Reiz- 
wortes die  Anfänge  einer  zweiten  Tendenz  sehen. 

C  läßt  sich  nicht  immer  deutlich  von  B  unterscheiden,  zuweilen  wegen 
mangelhaften  Protokolls.  Das  andere  Gesuchte  kommt  auch  gelegentlich 
nachträglich  oder  während  des  Aussprechens  zur  Geltung,  so  daß  es  von 
der  Form  B  zu  C  übergeht,  und  die  Vp.  selbst  vermag  nicht  immer  anzugeben, 
wo  dieses  Deutlichwerden  der  andern  Richtung  eingetreten  ist,  noch  viel 
weniger,  dasselbe  klar  auszudrücken.  In  den  meisten  Fällen  wird  die  erste 
Reproduktionstendenz  oder  das,  was  sie  lieferte,  verworfen.  Es  ist  schwer, 
genau  zu  bestimmen,  was  dieses  Verwerfen  eigentlich  ist.  In  vielen  Fällen 
gibt  die  Vp.  nur  an,  es  sei  ihr  klar  geworden,  daß  der  Ubergeordnete 
Begriff,  der  Teil  zu  abstrakt ,  zu  allgemein,  koordiniert,  zu  viel  usw.,  d.  h. 
ein  falsch  Gesuchtes  sei.  Das  kann  begleitet  sein  und  in  den  eben  zitierten 
Formen  ist  es  gewöhnlich  von  mehr  oder  weniger  Wortvorstellungen:  Nein, 
paßt  nicht,  geht  nicht,  usw.  neben  den  obigen  Bruchstücken  begleitet.  Das 
Verwerfen  kann  auch  eine  einfache  Aversion  oder  einfach  eine  die  vorher- 
gehende beseitigende  Bewußtseinslage3)  sein.  Eine  Überlegung,  die  keine 
als  solche  vorhandene  bewußte  Verwerfung  des  Eretgesuchten  enthält4),  oder 
eine  Verwerfung  der  Richtung  selbst,  so  etwa  wie  »in  der  Richtung  oder 
nach  dem  und  dem  wäre  es  zuviel«  leistete  auch  zuweilen  denselben  Dienst. 


1)  Stufe.  Dunkles  Bild  einer  Treppe.  Wollte  »Treppe«;  kam  nicht  dar- 
auf. Suchte  und  suchte  und  sagte  schließlich  »Leiter«.  Das  Wort  war  in 
größerer  Bereitschaft,  ich  wollte  es  aber  nicht  sagen. 

2)  Vgl.  den  Fall  »Bäckerei«.  Ein  Wort  mit  B  anfangend  hat  sich  aufge- 
drängt; unterdrückt  mit  Gefühl  der  Anstrengung.  Dann  das  Wort  »Weck« 
(es  scheint  als  eine  besondere  Leistung,  daß  ich  das  herbeibringe;.  »Weck« 
war  vom  Anfang  an,  aber  nur  dem  Begriffe  nach  da. 

3)  Vp.  HL  Kreis.  Bei  der  Vorstellung  eino  Bewußtseinslage  der  Un- 
sicherheit wegen  der  Einfachheit  der  Vorstellung.  Sah  keinen  Teil  zunächst 
Dann  »Wenn  keine  Teile  dasind,  muß  man  sie  machen«.  Dies  nur  ein 
Gedanke.  Segment. 

4)  Vp.  I.  Zunge.  Dachte  zunächst  an  MuBkel.  Dann  der  Gedanke 
»Die  ganze  Zunge  ist  ein  Muskel«  (»was  das  Verwerfen  ausmachte«).  Sodann 
»Fleisch«  ausgesprochen. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denken».  325 

Wenn  Gesichtsvorstellungen  vorhanden  sind,  kann  die  Konzentration  mit 
oder  nach  dem  Verwerfen  wechseln.  Daß  der  Wechsel  der  Konzentration 
einem  Verwerfen  vorausging  oder  ein  Verwerfen  bildete,  habe  ich  nicht  fest- 
stellen können.   Nach  der  Verwerfung  tritt  häufig  eine  Pause  ein. 

Das  Bestreben,  obgleich  nicht  ausgesprochen,  ist  auch  hier  wieder,  ein 
ingcs  Ganze  zu  finden,  d.  h.  der  Aufgabe  gründlichst  nachzukommen. 

Interferenzwirkungen  zweier  Reproduktionstendenzen  sehen 
wir  in  den  folgenden  Beispielen: 

Vp.  I.    Zimmer.    Stuhl  und  Tisch  gaben  Tusch.    1530  er. 

Vp.  in.  Kloster.  Optisches  Bild  einer  Nonne,  wollte  aber  Mönch 
aussprechen;  die  beiden  gaben  Nönch.    1107  a. 

Vp.  III.  Flinte.  Ich  wollte  Hahn  sagen,  Schoß  drängte  sich 
mir  auf,  so  daß  ich  zu  Schahn  kam.    986  a. 

Vp.  m.  Haus.  Türe  und  Stuhl  =  Stür.  Türe  war  dem  Be- 
griffe nach  und  Stuhl  dem  Worte  nach  vor  dem  Aussprechen  da. 
Keine  Vorstellung.    1012  a. 

Hier  sehen  wir,  daß  die  Reaktionsdauer  für  diese  vier  Fälle 
kürzer  ist  als  die  durchschnittliche  bei  der  betreffenden  Vp.  für 
C  bei  diesen  Aufgaben,  weil  die  zwei  Tendenzen  einander  in  ihrer 
Wirksamkeit  nicht  wesentlich  haben  hemmen  können. 


Tabelle  XI. 
Aufg.  V:  Koord.  Begr.     Aufg.  VI:  Koord.  Teil. 


Ä 

B 

C 

A 

B 

C 

Vp.   I  Mc 
Ma 

m.V. 

1328  72 
1421 
366 

1664  8 
1974 
586 

2868  4 

3569 

1644 

1606  54 
1743 
504 

1998  3 
2344 
713 

3343  7 
3342 
179 

Vp.  VI    Mc      '1241  64 
Ma  1350 
m.V.  \  368 

1530  2 
295 

2076  5 
2117 
700 

1579  31 
1778 
467 

1820  2 
331 

2325  10 
2386 
413 

Vp.  III  Mc 
Ma 

m.V. 

1049  45 
1155 
290 

1458  13 

1623 
539 

2786  8 
2591 
862 

994  28 
1300 
317 

3308  2 
251 

1316  3 

2288 

1617 

Die  nächsten  zwei  Aufgaben  bieten  bei  B  nichts  prinzipiell 
Neues.  In  vielen  Fällen  gab  ein  Doppelsinn  des  Reizwortes 
Anlaß  zu  der  zweiten  Tendenz,  und  in  vielen  war  ein  Suchen 
nach  einer  zweiten  Richtung  vorhanden,  von  der  aber  kein  Wort 
einfiel.  Es  bedarf  kaum  einer  Erwähnung,  daß  eine  Tendenz  ftir 
sich  verworfen  werden  kann.   Die  Pause  und  der  Hemmungs- 


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326 


Henry  J.  Watt, 


zustand  nach  dem  Prozeß  des  Yerwerfens  werden,  besonders  wenn 
sie  ausgeprägt  sind,  durch  eine  Rückkehr  zn  der  Aufgabe  oder 
durch  eine  betonte  Frage  gelöst1).  Das  folgende  Beispiel  ist 
interessant  auch  in  bezug  auf  die  Selbständigkeit  der  zweiten 
Tendenz  und  ihre  augenscheinliche  Unabhängigkeit  von  der  ersten. 

»Bembrandt«  —  Bewußtseiu  von  der  Wortbedeutung  und  schwa- 
ches optisches  Bild  der  Niederlande  auf  der  Karte.  Eigentüm- 
licher Zustand,  der  als  Suchen  nach  dem  Namen  eines  bekannten 
niederländischen  Malers  (Rubens)  zu  bezeichnen  ist.  Nicht  ein- 
gefallen. Lebhafte  Unruhe,  ausgedrückt  durch  Organempfindungen 
in  der  Brust  und  Spannungsempfindungen  in  der  Stirnhaut,  und 
unter  dem  Einfluß  der  langen  Pause  aussprechen  von  »Uhde«. 
(Wie  ich  dazu  gekommen  bin,  weiß  ich  nicht.  Eine  Beziehung 
zwischen  beiden  besteht  nicht.) 

Nach  dem  Prozeß  des  Verwerfens  findet  im  allgemeinen  mehr 
oder  minder  starke  Hemmung  statt,  die  sich  in  der  obenerwähnten 
Pause  zeigt  oder  darin,  daß  einige  Zeit  nichts  anderes  aufkom- 
men will. 

Ich  gebe  auf  der  folgenden  Seite  eine  Figur,  die,  wie  Fig.  5  für 
die  4-Fälle,  anschaulich  zeigt,  wie  sich  die  Länge  der  Reaktionszeit 
bei  den  B-  und  OFällen  und  um  so  mehr  schließlich  bei  allen  rich- 
tigen Fällen  jeder  Aufgabe  mit  der  Aufgabe  verändert.  Die  Tabelle 
leidet  darunter,  daß  verhältnismäßig  wenige  Fälle  der  zwei  Formen 
B  und  C  vorkamen.  Die  Kurven  jedoch  stimmen  sichtlich  mitein- 
ander überein,  und  die  für  sämtliche  richtigen  Fälle  jeder  Auf- 
gabe ist  ebenso  deutlich  wie  die  oben  gegebene  für  die  ^4-Fälle. 
Damit  steilen  wir  den  durchgehenden  Einfluß  der  Aufgabe2) 

1)  KajUte.  Im  ersten  Augenblick  die  Erwartung  eines  besonderen, 
ergänzenden  Begriffs;  dann  kam  nichts.  Dann  eigentliches  Besinnen.  Was 
ist  eine  KajUte?  Begriff  > Kabine <.  Verworfen  mit  der  Überlegung:  »Das 
ist  dasselbe«.  Dann  unklar  der  Begriff  »Schiff«  und  nun  eine  ganz  ausfuhr- 
liche Überlegung:  »Was  gibt  es  für  andere  Teile?«  »Kohlenraum«  nach 
einiger  Zeit. 

2)  Dieser  Einfluß  der  Aufgabe  ist  schon  von  sehr  vielen  Psychologen 
unter  verschiedenen  Namen  —  Interesse  u.  dgl.  —  konstatiert  worden.  Die 
neueren  Untersuchungen  Uber  die  motorischen  Einstellungen  und  einige 
andere  Arbeiten,  wie  Mlinstcrberg,  »WUlkürliche  und  unwillkürliche 
Vorstellungsverbindungen«;  Flournoy,  »Sur  les  temps  de  lecture  et 
doniission«,  L'annee  psych.  1895.  p.  4ö  ff,  usw.  sind  experimenteU  nahe  daran 
gekommen.  M  uns t erb  e  rg  jedoch  war  durch  sonstige  Voreingenommenheiten 
daran  verhindert,  dieses  unter  andern  deutliehen  Ergebnissen  seiner  Arbeit 
hervorzuheben.  S.  besonders  a.  a.  0.,  Beiträge  I.,  S.  106. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  deß  Denkens. 


327 


auf  die  Länge  der  Re- 
aktionszeit bei  jeder 
Form  des  Verlanfes  fest. 

Man  könnte  nun  einen 
großen  Einwand  vorbringen 
gegen  die  Behauptung,  daß 
die  Aufgabe  sowohl  die 
Häufigkeit  des  Vorkommens 
der  Unterarten  von  A  als 
die  Länge  der  Reaktionszeit 
jeder  Form  des  Verlaufes 
überhaupt  beeinflußt,  näm- 
lich folgenden :  daß  wir  gar 
keine  Differenzierung 
zwischen  dem  Einfluß 
der  Aufgabe  und  dem 
der  einzelnen  Wörter, 
die  bekanntlich  bei  jeder 
Aufgabe  wechselten,  gemacht 
haben.  Man  könnte  behaup- 
ten: das,  was  hier  der  Ein- 
fluß der  Aufgabe  genannt 
wird,  ist  nichts  anderes  als 
der  Einfluß  der  stetigen 
Veränderung  der  Reizwörter, 
so  daß  es  sich  mit  wenig 
verändertem  Ausdruck  würde 
sagen  lassen:  >Die  Wörter 
wechseln  ja  von  Aufgabe 
zu  Aufgabe,  und  damit 
verändert  sich  die  Häufig- 
keit des  Vorkommens  der 
Formen  und  die  Länge  der 
Reaktionszeit.  Der  Einfluß 
der  Aufgabe  bleibt  wohl 
bei  jeder  Aufgabe  der  näm- 
tiehe,  was  die  Theorie,  daß 
die  Verschiedenheit  der  Vor- 
bereitung gar  nichts  an  dem 


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328 


Henry  J.  Watt, 


inhaltlichen  Verlauf  der  Reaktion  ändert,  nur  bestätigen  würde.«  An 
diesem  Punkt  unserer  Analyse  scheint  dieser  Einwand  wohl  sehr 
berechtigt ;  man  kann  jedoch  verschiedenes  darauf  erwidern.  Dazu 
ist  es  aber  nötig,  einige  unserer  unten  entwickelten  Resul- 
tate jetzt  schon  vorwegzunehmen: 

1)  Wir  finden  unten  (§  10),  daß  die  Geschwindigkeit  einer  Re- 
produktion bei  jeder  Vp.  im  allgemeinen  mit  ihrer  Geläufigkeit  zu- 
nimmt. Wenn  wir  nun  eine  Ziffer  fllr  jeden  Grad  von  Geläufigkeit 
bei  jeder  Aufgabe  aufstellen,  indem  wir  die  Durchschnittszeit  aller 
Vp.  bestimmen  (was  man  z.  B.  bei  der  V.  Aufgabe  schon  in  der 
Tabelle1}  findet),  so  ergibt  sich  daraus,  daß  die  Kurven  sich  in 
sehr  ähnlicher  Weise  verhalten,  wie  die  eben  vorgeführten  Kurven, 
so  daß  wir  sagen  dürfen:  Der  Einfluß  der  Aufgabe  ist  unab- 
hängig von  dem  Grade  der  Geläufigkeit  der  betreffenden 
Tendenzen.  In  der  Figur  8  haben  wir  nämlich  drei  (vier)  Kur- 
ven, die  drei  (vier)  Grade  der  Geläufigkeit  darstellen.  Man  kann 
aber  noch  in  jeder  dieser  Kurven  den  Einfluß  der  Veränderung  der 
Aufgabe  sehen.  Man  vergleiche  Figur  8  mit  dem  letzten  Teil 
von  Figur  6.  Folglich  ist  die  Wirkung  der  Aufgabe  unabhängig 
wenigstens  von  der  Geläufigkeit  der  von  ihr  beeinflußten  Repro- 
duktionstendenzen. 

2)  Wir  haben  schon  den  Einfluß  der  Veränderung  der  Aufgabe 
auf  die  Häufigkeit  des  Vorkommens  der  Formen  Ai}  Aiy  A3  ge- 
zeigt Man  könnte  nun  meinen,  daß  die  Prozentsätze  aller  rich- 
tigen Reaktionen,  die  sich  bei  A>  B  und  C  finden,  einen  ähnlichen 
Einfluß  der  Aufgabe  zeigen  würden,  wenn  der  Einwand  gegen  uns 
richtig  wäre,  weil  es  sich  ja  da  um  die  Anzahl  der  erregten  Repro- 
duktionstendenzen  handelt.  Es  ist  nun  sehr  wahrscheinlich,  daß 
die  Möglichkeit  des  Vorkommens  eines  B-  oder  G-Falles  vom  Reiz- 
worte selbst  abhängt,  weil  es  sich  um  Reproduktionstendenzen 
handelt,  die  an  das  Reizwort  angeknüpft  sind.  Zeigen  wir  doch 
weiter  unten2),  daß  die  siegende  Tendenz  bei  diesen  Reproduk- 
tionen (B-Fälle)  mit  zweiter,  unbewußter  Tendenz  von  der  Geläufig- 
keit, d.  h.  von  der  größeren  Reproduktionsgeschwindigkeit  der 
siegenden  Tendenz  selbst  abhängt.  Also  würde  die  Häufigkeit 
des  Vorkommens  der  A-,  B-  und  C-Fälle  von  den  Reizwör- 
tern selbst  abhängen  und  nicht  von  dem  Einfluß  der  Aufgabe. 


1}  TabeUe  XX.      2)  Tabelle  XXI. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


329 


In  der  Figur  7  haben  wir 
die  Häufigkeitskurven  der  A-,  B- 
und  C-Fälle  unter  den  verschie- 
denen Aufgaben  zur  Darstellung 
gebracht.  Wir  finden  keine 
Regelmäßigkeit  von  der  Art 
der  früheren.  Auch  die  Art  und 
Weise,  wie  Vp.  VI  in  der  Tabelle 
auftritt,  hat  an  sich  gar  keine 
Spur  von  der  Regelmäßigkeit  der 
früheren  Kurven.  Wir  finden 
aber  hier  den  Einfluß  der 
Wörter  selbst.  Dieser  zeigt 
keine  Ähnlichkeit  mit  dem,  was 
wir  den  Einfluß  der  Aufgabe  ge- 
nannt haben.  Um  so  schwächer 
also  wird  damit  der  gegen  uns 
erhobene  Einwand. 

Anmerkung.  Die  Unterscheidung 
zwischen  dem  Wesen  der  Aufgabe  und 
dem  der  Reproduktionstendenzen  ist 
«ehr  notwendig,  weil  es  bis  jetzt  in  der 
Psychologie  die  allgemeine  Tendenz 
gewesen  ist,  die  Aufgabe  im  Sinne  von 
bloßen  Reproduktionstendenzen  zu 
interpretieren  und  schematisch  darzu- 
stellen. Da*  sieht  man  besonders  klar 
nun  Beispiel  in  einer  Arbeit  wie  der 
von  J.  H.  Bair,  The  practice  Curve1. 
Hier  hat  der  Verfasser  Untersuchungen 
in  einer  Weise  gemacht ,  die  sehr  ge- 
eignet wäre,  Licht  auf  die  Wirkung  der 
Anfgabe  zu  werfen.  Da  er  aber  Auf- 
gabe und  Reproduktionstendenz  nicht 
voneinander  gesondert  hat,  so  begeg- 
net er  großen  Schwierigkeiten,  wenn 
er  eins  seiner  Resultate,  that  special 
practice  gives  general  ability,  as  well 
u  special  (S.  66),  oder  »the  Curve  M  N 
representa  the  practice  effect  one 
order  practised  has  on  the  time  re- 
quired  to  do  another  order  as  yet  not 
practised<  erklären  will.  Dieses  Resultat 

lj  Psych.  Rev.  Vol.  V.   Monog.-Suppl.  2,  1902. 


■i 


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330 


Henry  J.  Watt, 


deutet  er  im  Sinn  einer  Meinung  MUnsterbergs'],  so  daß  er  sogar  zu 
dem  folgenden  allgemeinen  Ausdruck  kommt:  there  is  probably  no  such  thing 
as  interference  [S.  68;.  Dies  ist  aber  eine  falsche  Entwicklung  des  sehr 
wichtigen  Resultats  von  Münsterberg,  und  es  ist  zu  viel  verlangt,  daß 
die  so  deutlichen  Ergebnisse  Uber  die  Hemmung  von  Beproduktionstendenzen 
von  Müller  und  Pilzecker,  deren  Werk  Bair  nicht  zu  kennen  scheint,  bei- 
seite gesetzt  werden  sollten.  Wir  dürfen  Übrigens  bei  solchen  Untersuchungen 
über  Reproduktionstendenzen  nicht  vergessen,  daß  wir  Aufgaben  nicht  überall 
aufzudecken  vermögen. 

b)  Verschiedenes  Uber  die  Tendenzen. 

Wir  haben  schon  im  allgemeinen  den  hemmenden  Einfluß  einer 
zweiten  wirksam  werdenden  Reproduktionstendenz  und  die  von  der- 
selben verursachte  Verlängerung  der  Reaktionsdaucr  betrachtet. 
Solche  Hemmungen  machen  sich  aber  auch  fühlbar  in  andern  als  den 
zwei  Gruppen  B  nnd  C;  namentlich  in  A  treten  sie  in  verschiedener 
Weise  hervor.  Es  kamen  mehrere  Fälle  vor,  bei  denen  die  Vp. 
eine  Menge  von  sich  hervordrängenden  Vorstellungen 
konstatierte.  Bei  Anfg.  I  konstatiert  Vp.  I  eine  solche  Masse 
von  sich  hervordrängenden  Vorstellungen,  sie  weiß  nicht  welchen, 
und  dazu,  daß  in  solchen  Fällen  die  Spannung  groß  sei.  Bei 
Aufg.  II  konstatiert  Vp.  I  diese  Fälle  von  Tendenzen  in  einzelnen 
Fällen.  Die  durchschnittliche  Dauer  für  die  Form  Ax  ist:  Mc  1443a, 
Ma  1604  a  (43  Fälle).  Für  die  Fälle  mit  einer  Fülle  von  Vorstellungen 
beträgt  sie:  Mc  1557,  Ma  1671  (11  Fälle),  also  eine  Verlänger- 
ung von  bzw.  114  a  und  67  a.  Bei  Vp.  I,  Aufg.  III1)  und  IV3) 
zeigt  sich  wieder  diese  Fülle  von  Reproduktionstendenzen,  bei  der 
vierten  (einen  Teil  zu  finden)  allerdings  häufiger.  Bei  Vp.  m 
(Aufg.,  einen  Teil  zu  finden)  haben  wir  eine  vollständige  Hemmung. 
»Welt«:  »So  viele  Vorstellungen  im  Bewußtsein,  daß  keine  sich 
verdichtet  hat.  Ich  suchte  nach  einem  Worte;  keines  gefunden; 
Versuch  aufgegeben.«    So  konstatiert  auch  Vp.  VI,  Aufg.  II,  ein 

1)  Vgl.  S.  9  in  der  Bai  rächen  Arbeit:  »He  [nämlich  Münsterberg) 
believes  that  the  sensori-motor  im  pulse  does  not  divido  like  an  electric  cur- 
rent  inversely  proportional  to  the  resistance,  but  the  whole  impulse  goes 
in  one  direction  and  that  direction  is  determined  by  habit«.  Vgl.  Münster- 
berg, GedächtnisBtudien  Teil  I,  Beiträge  Heft  IV,  1892. 

2)  Brett.  Die  Vorstellung  eines  BretteB.  Konnte  mir  lauge  Zeit  kein 
zugehöriges  Ganzes  nennen.  Allerlei  Vorstellungen  schienen  Bich  vorzu- 
drängen.  Starke  Aufmerksamkeit  und  dann  Schrank.   4173  a. 

3)  Welt.  Eine  ungeheure  Fülle  andrängender  Vorstellungen.  Ich  sagte 
mit  einem  gewissen  Trotz  Stern  und  dachte,  es  ist  gleichgültig,  waB  ich 
sage.   Deutliche  Empfindung  der  Hemmung.   2514  a.   (Aufg.  IV.) 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


331 


Konkurrieren  verschiedener  Vorstellungen,  von  denen  aber  keine 
ins  Bewußtsein  trat,  oder  wieder  ein  eigentümliches  Bewußtsein, 
als  wollten  verschiedene  Wortvorstellungen  im  Bewußtsein  auf- 
tauchen. Vp.  I:  »Hering:  Sofort  der  Oberbegriff  Fisch,  und  es 
drängten  sich  so  viele  Vorstellungen  vor,  daß  es  lange  Zeit  zu  nichts 
kam.  Butte«  —  2295  a  (lang).  Vgl.  auch  den  interessanten  Fall 
Aufg.  V.  »Eifer:  Tugend  war  der  Oberbegriff.  Ich  suchte  nach 
etwas  anderem,  Gegensätzlichem,  Koordiniertem.  Verschiedenes 
drängte  sich  vor,  und  währenddessen  habe  ich  Tugend  aus- 
gesprochen.« 1365  a.  Hier  sehen  wir,  wie  verschiedene  Tendenzen 
einander  so  hemmen  können,  daß  eine  Vorstellung,  die  eigentlich 
mit  schwacher  motorischer  Tendenz  im  Bewußtsein  da  ist,  die 
andern  überwindet  und  hervorbricht  Mit  Ausnahme  von  Vp.  I, 
Aufg.  I,  sind  die  Fälle,  bei  welchen  diese  Fülle  von  Tendenzen 
konstatiert  wird,  nicht  sehr  zahlreich.  Alle  aber  zeichnen  sich 
durch  eine  über  der  Durchschnittsdauer  liegende  Reak- 
tionsdan er  aus.  Es  können  sich  auch  viele  Tendenzen  auf  das- 
selbe Objekt  richten,  und  zwar  in  der  Weise,  daß  sie  alle  dazu 
beitragen,  das  Reaktionswort  herbeizufuhren,  und  jede  für  sich  auf 
dasselbe  gerichtet  ist.  »Bart:  Reaktionswort  Haupt.  Sehr  zweifel- 
haft. Ich  gebrauche  Haupt  nicht,  sondern  nur  Kopf.  Ich  würde, 
glaube  ich,  nicht  darauf  gekommen  sein,  wenn  nicht  einer  von 
meinen  Bekannten  Bart,  der  andere  Haupt  hieße.  Optische 
Vorstellung  eines  Vollbartes.«  Verschiedene  Vermittlungen  kommen 
der  Vp.  öfters  ins  Bewußtsein.  Erst  allmählich  lernt  die 
Vp.  kennen,  wie  ihre  Reproduktionen  motiviert  sind. 
Nach  einer  Gesichtsvorstellung  kann  das  Reaktionswort  auch  noch 
begrifflich  vermittelt  werden.  Die  Vp.  findet  gleichsam  die  An- 
regung zur  richtigen  Reproduktion  an  dem  Bilde,  blickt  aber  vom 
Bilde  weg,  um  das  Wort  auftauchen  zu  lassen.  Wenn  mehrere 
Keproduktionstendenzen  dasselbe  Reaktionswort  herbeiführen,  so 
scheint  es  natürlich,  daß  sie  sich  gegenseitig  verstärken,  was  aus 
dem  oben  gegebenen  Beispiel  Bart -Haupt  hervorgeht,  wobei  wir 
nach  der  Vp.  annehmen  müssen,  daß  Bart  allein  Haupt  nie  bei 
der  betreffenden  Aufgabe  reproduziert  hätte,  wenn  die  Reproduk- 
tion nicht  unterstützt  gewesen  wäre.  Es  scheint  an  der  Hand  der 
wenigen  Beispiele1),  die  vorliegen,  sehr  wahrscheinlich,  daß  die 

1)  Mappe.  Optisches  Bild  einer  Briefmappe.  Hatte  den  Eindruck,  als 
ob  durch  BerührungsaHsoziation  Brief  herbeigeführt  wäre,  aber  auch  »der 


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332 


Henry  J.  Watt, 


Reaktionsdauer  vieler  gleichgerichteten  Reproduktionstendenzen 
länger  ist  als  die  einer  gleichstarken  einzigen,  und  zwar  je  nach 
der  Quantität  der  Erlebnisse,  die  sie  hervorrufen. 

§  7.   Tendenzen,  die  nach  dem  Aussprechen  zum  Bewußtsein 

kommen. 

Am  Anfang  unserer  Versuche  wurde  die  Vp.  gebeten,  gleich  nach  dein 
Versuch  alles  zu  Protokoll  zu  geben,  was  irgendwie  den  Versuch  be- 
einflußt habe,  und  es  wurde  ihr  leider  gesagt,  daß  das,  was  etwa  nach  dem 
Aussprechen  zum  Bewußtsein  käme,  nicht  von  Belang  sei.  Ich  habe  aber 
gefunden,  daß  eine  im  Versuche  selbst  nicht  znm  Bewußtsein 
gekommene  Reproduktionstendenz  im  Aussprechen  des  Re- 
aktionswortes einfallen  kann.  Leider  habe  ich  wenige  solche  Fälle 
im  Protokoll.  Das  beste  Beispiel  ist  folgendes:  Brust:  kolossalo  Tendenz, 
»Bauch«  zu  sagen.  Zurückgedrängt  durch  die  logische  Überlegung  etwa:  das 
ist  koordiniert.  Damit  war  das  Bewußtsein  vorhanden,  was  richtig  sei.  Das 
Wort  kam  erst,  als  es  ausgesprochen  wurde,  nämlich  Körper.  .Organismus', 
wenn  es  gekommen  wäre,  wäre  ebenso  gut  gewesen  (und  es  war  tatsächlich 
mit  Körper  im  obigem  Zustand  gegeben1)).  Mit  einem  solchen  dürfen  wir 
die  zahlreichen  Fälle  vergleichen,  bei  denen  die  Vp.  konstatiert,  daß  sie  einen 
näherliegenden2)  Begriff"  nach  oben  oder  nach  unten,  ein  engeres  Ganze  usw. 
hätte  geben  können.  Wenn  auch  die  Vp.  sich  irrt  in  der  Meinung,  daß  sie 
etwas  anderes  hätte  angeben  können,  so  will  sie  doch  damit  sagen,  daß 
andere  vorhandene  Reproduktionstendenzen ,  wenn  sie  unterstützt  worden 
wären,  die  Aufgabe  eher  befriedigt  hätten.  Es  kann  uns  nicht  wundern,  daß 
die  als  besser  angesehene  Tendenz  nicht  zur  Geltung  kam,  weil  es  sich  hier 
nicht  um  bessere  oder  schlechtere  Äußerungen  handeln  kann,  sondern  um 
stärkere  oder  schwächere  Tendenzen.   Wir  können  uns  nicht  denken,  daß 


Brief  liegt  in  der  Mappe,  ist  ein  Teil«.  Zum  Bewußtsein  gekommen,  daß  die 
Zerteüung  von  Briefmappe  als  solche  nicht  falsch  ist  wie  früher.   1193  c. 

Stadt — Haus.  Optisch  vermittelt  und  auch  zum  Teil  begrifflich.  Ich  hatte 
den  Eindruck  eines  Häuserkomplexes  als  Stadt,  und  ganz  hemmungslos  schloß 
sich  Haus  daran  als  Teil.   758  <r. 

Daumen— Hand.  Hier  (wieder)  eine  Erleichterung.  Nachträglich  ist  es 
mir  eingefallen,  daß  der  frühere  Versuch  Gesicht— Hand  mir  während  des 
Versuchs  eingefallen  ist  und  die  Erleichterung  hervorgebracht  hat.   760  <r. 

Dabei  sagt  die  Vp. :  Die  Anstrengung  und  die  Zeit  vom  Auftauchen  des 
Begriffa  biB  zum  Auftreten  des  gegebenen  Wortes  scheint  mir  nicht  klein  zu 
sein,  bo  daß  ich  eine  Erleichterung  sofort  fühle. 

1)  Vgl.  Vp.  III.  Schwester:  Wie  ich  das  Wort  »Vater«  aussprach,  war 
der  Begriff  Verwandte  da  und  zugleich  ein  Bewußtsein  des  Nichtganzpasscus, 
und  als  Grund  dafür  ist  mir  gleich  danach  der  Begriff  Bruder  eingefallen, 
den  ich  eigentlich  hatte  aussprechen  wollen. 

2)  Vgl.  was  Wreschner  (Experim.  Studien  über  die  Assoziation,  Allg. 
Ztschr.  f.  Psychiatrie.  57.  1900.  S.  284  Uber  seine  Patientin  sagt,  daß  sie  sich 
eng  an  den  Inhalt  des  Reizwortes  anklammert  und  selbst,  wenn  sie  ihn  über- 
schreitet, nur  an  das  Nächstliegende  denkt. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


333 


eine  Reproduktionstendenz  eher  wirksam  sein  könnte,  als  eine  zweite  ebenso 
starke,  aber  minderwertigere,  ohne  daß  dieses  Wertmoment  aktuell  im  Be- 
wußtsein wirkte  und  die  objektiv  wertvollere  Tendenz  unterstützte.  Die 
allgemeinere,  breitere  Tendenz  ist  gerade  wegen  ihres  häufigen  Vorkommens 
stärker  und  kommt  deshalb  leichter  zur  Geltung. 

Zuweilen  wird  eine  andere  Bedeutung  des  Reizwortes  bewußt; 
wir  können  aber  nach  unserem  Protokoll  nicht  feststellen,  ob  die  zweite 
Bedeatungstendenz  schon  im  Verlauf  des  Versuches  anfing.  So  kann  auch 
dort,  wo  ein  Ubergeordneter  Begriff  oder  ein  Ganzes  (bei  der  Koordination 
von  Begriffen  und  Teilen)  eine  Rolle  spielt,  das  gewöhnlich  als  Mittelglied 
auftretende  Element  erst  im  Aussprechen  oder  nachträglich  zum  Bewußtsein 
kommen.  Dies  geschieht  häufig,  wenn  die  wirksame  Reproduktionstendenz 
fflr  sich  irgendwie  sehr  stark  ist.  »Löwe:  Habe  Möwe  zwangsweise  repro- 
duziert. Viel  später  kam  der  Begriff  Tier.<  826  a.  »Schwester:  Wie  ich  das 
Wort  Vater  aussprach,  war  der  Begriff  Verwandte  da.<  Das  kommt  nicht 
so  gelten  vor,  ist  aber  schwer  vom  Urteil  über  die  Richtigkeit  der  Repro- 
duktion zu  unterscheiden.  Die  Aufgabe  begrenzt  gewöhnlich  die  möglichen 
Reproduktionstendenzen  entweder  vor  dem  Versuch  in  der  Vorbereitung,  oder 
wenn  sie  sich  massenweise  aufdrängen.  Eine  starke  Reproduktionstendenz 
kann  diesen  Einfluß  der  Vorbereitung  momentan  verdrängen,  so  daß  sich 
die  Aufgabe  erst  nach  ihrem  Auftreten  im  Bewußtsein,  bzw.  nach  dem  Aus- 
sprechen wieder  geltend  macht.  Es  gibt  aber  sonst  viele  Fälle,  bei  denen 
die  Aufgabe  schon  wirksam  gewesen  ist  und  in  einem  Akt  des  Urteilens 
sich  wieder  am  Ende  des  Versuches  zeigt. 

Eine  interessante  Form  des  Einflusses  einer  zweiten  Tendenz  ist  das 
Korrigieren  während  des  Aussprechens.  Vp.  III.  »Religion:  Bud- 
dhismus. Ich  wollte  , Buddha*  sagen  und  im  Aussprechen  habe  ich  es  korri- 
giert« Dieselbe  Vp.  konstatiert,  daß  dies  verschiedene  Male  vorgekommen 
ist.  So:  Wache — Polizei+mann,  Teich— See,  »und  .Rose' habe  ich  hinzugefügt 
auf  Grund  einer  Anschauung,  bei  der  ich  einen  Teich  mit  Rosen  bedeckt 
vor  mir  hatte.  Ich  habe  ,See'  ausgesprochen  ohne  eine  Ahnung,  glanbe 
ich,  von  dem,  was  folgt,  auf  Grund  der  äußeren  Assoziation  , Teich— See'.« 
924«. 

§  8.    Spezielle  Analyse  der  fünften  und  sechsten  Aufgabe. 

(Einen  koordinierten  Begriff  oder  einen  andern  Teil  eines  gemein- 
samen Ganzen  zn  finden.) 

Diese  zwei  Aufgaben  sind  in  ihrer  Wirkung  von  den  andern 
so  verschieden,  daß  ich  gewisse  Fragen,  die  sich  auf  sie  be- 
ziehen, insoweit  unberührt  gelassen  habe,  als  sie  diese  Aufgaben 
betreffen.  Es  schien  mir  besser,  diese  Aufgaben  fiir  sich  zu  be- 
handeln, da  die  obige1)  Auseinandersetzung  anders  sehr  ver- 
wickelt geworden  wäre.  Diese  Aufgaben  bieten  aber  nichts 
den  auf  Grund  der  andern  gemachten  Behauptungen  Wider- 
Ii  §  ö. 


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334 


Henry  J.  Watt, 


sprechendes,  and  man  wird  guttun,  ihnen  all  das  Obige  voraus- 
gesetzt zu  denken,  damit  wir  uns  hier  kurzer  fassen  können.  Wir 
haben  bis  jetzt  nichts  Uber  die  Wirkung  schwieriger  oder  ver- 
wickelter Aufgaben  behauptet,  und  solche  sind  diese  beiden  in 
gewissen  Beziehungen.  Wir  wollten  aber  nur  mit  den  einfachen 
anfangen,  um  auf  Grund  ihrer  etwaigen  Analyse  zur  Untersuchung 
der  andern  fortschreiten  zu  können. 

Die  Einteilung  der  Verlaufsformen  A,  B,  C,  Au  A^,  A3}  die  wir 
oben  gemacht  haben,  gilt  auch  hier.  Was  aber  diese  Aufgaben  von 
den  andern  unterscheidet,  ist  das  häufige  Vorkommen  von  Ver- 
mittlungen. 


a.  Die  fünfte  Aufgabe. 

Tabelle  XU 
Aufg.  V:  Koord.  Begr. 


n 

Ai  V 

n 

A*V 

n 

Bt  V 

n 

QV 

n 

Afe 
Ma 

m.V. 

1338 
1338 
55 

2 

1322 
1415 
330 

65 

1448 
1448 
160 

2 

1664 
1974 
586 

8 

2868 
3569 
1644 

4 

V  =  Vermittlung  vorhanden. 


Ich  gebe  hier  eine  Übersicht  Uber  die  Reaktionszeiten  bei  Vp.  I.  Ax  bedarf 
keiner  weiteren  Bemerkung.  Mit  V  bezeichne  ich  die  Vermittlung,  genauer 
den  Oberbegriff,  der  im  Versuch  vorhanden  war.  Er  ist  wohl  gewöhnlich  als 
Wortvorstellung  zu  denken.  Aus  dem  Protokoll  der  Vp.  I  ist  nicht  ersicht- 
lich, wo  im  Laufe  des  Versuches  der  Oberbegriff  vorkommt  Sie  weiß  dies 
auch  selbst  nicht  genauer  anzugeben.  Der  Oberbegriff  kann  ja  eine  ganz 
bestimmte  Stelle1)  im  Verlaufe  des  Versuches  einnehmen.  Wir  müssen  es 
uns  aber  wohl  so  denken,  daß  der  Oberbegriff,  weil  er  nicht  absolut 
nötig  zur  Reproduktion  eines  koordinierten  Begriffes  ist  (vgl.  Ax  in  der 
Tabelle),  obwohl  er  ein  bestimmtes  Stadium  der  Reproduktion  bilden  kann, 
im  allgemeinen  eine  von  dem  Reizwort  erweckte,  der  andern,  nämlich  der 
Versuchsreproduktion  parallel  gehende  Reproduktion  ist,  die  hauptsächlich 
zur  Rontrolle  der  Versuchsreproduktion  dient.  Er  kann  in  allen 
Stadien  des  Versuches  auftreten,  vom  ersten  (vgl.  obiges  Beispiel «) )  bis  zum 
letzten  und  nach  diesem.  Man  beachte  in  der  Tabelle  die  äquivalente 
Regelmäßigkeit  der  schon  in  §  5  festgestellten  Zeitlängen.  In  Ax  wurde 
eine  Zeitlänge  weggelassen,  weil  das  Suchen3)  darin  sehr  lang  und 
eine  Vermittlung  doch  vorhanden  war.  wenn  auch  nicht  genau  so  wie  bei 

1)  Dachs:  Hier  war  zunächst  nach  Dachs  die  Wortvorstellung  »anderer 
Iiuud«  da  und  die  Tendenz,  ein  einfaches  Wort  dafür  zu  finden,  usw. 

2)  Geheimnis:  Langes  Suchen  nach  einer  Koordination.  Kein  Ubergeord- 
neter Begriff  vorhanden.  Die  Tendenz,  einfach  etwas  Offenes  zu  finden. 
34%  a. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  335 

den  A\  f-Fällen.  Auffallend  ist  auch,  wie  wenige  Gesichtsvorstellungen  diese 
Vp.  hier  hatte,  was  sie  veranlaßte  zu  sagen,  daß  bei  diesen  Versuchen  das  Bild 
überhaupt  keine  Rolle  spiele.  Es  verhält  sich  das  aber  wohl  kaum  so,  wie  wir  an 
den  andern  Vp.  sehen.  Auch  kam  ein  Fall  *)  vor,  bei  dem  das  Bild  so  dunkel 
und  unausgeprägt  dawar,  daß  die  Vp.  es  nur  als  > vielleicht  vorhanden« 
»ngab;  die  Zeit  war  1210  c,  also  relativ  kurz.  Das  Bild  hat  der  Reproduk- 
tion auch  nicht  wesentlich  geholfen. 


Tabelle  XIII. 

AufS-  V-  Vp.  II. 


Ai 

n 

AV 

n 

As 

n 

A*V 

n 

Ai 

n 

Ma 

m.V. 

1053 
1021 

255 

15 

1139 
1430 
527 

3 

1311 
1475 
476 

36 

1852 
2042 
611 

4 

1658 
1971 
707 

9 

B  (4  Fälle)  =  2876.  C  (1  Fall)  =  9402.  Ai2)  {1  Fall)  =  1087. 
A(3)  (8  Fälle)  =  1124;  Mc  =  1085;  m.V.  =  211. 


^3),  A(i)  bedeutet,  daß  Bild  bzw.  Wortvorstellung  usw.  keine  wesentliche 
Rolle  in  der  Reproduktion  gespielt  hat.  Wir  sehen  hier  schön,  wie  diese 
Formen  kürzer  sind,  als  die  andern  von  ähnlicher  Art.  Von  den  Ober- 
begriffen ist  hier  wenig  zu  bemerken.  Soweit  das  Protokoll  reicht,  mUssen 
wir  sagen,  sie  sind  wie  bei  Vp.  I.  Es  ist  aber  auffallend,  daß  solche  Fälle 
fast  gar  nicht  vorkamen.  Es  sind  nur  7  Fälle  bei  dieser  Vp.  In  vielen 
Fallen  bildet  gewissermaßen  die  Gesichtsvorstellung  den  Ober- 
begriff; sie  begrenzt  das  Feld  des  Suchens  für  die  Vp.  und  zeigt  sich  in 
einer  etwas  andern  Gestalt  als  Anhaltspunkt  für  Reproduktionen,  als  bei  den 
andern  Aufgaben.  Die  Vp.  wird  gleichsam  in  ein  gewisses  beschränktes  Ge- 
biet«; hineinversetzt,  wo  sie  ruhig  suchen  darf.    So  auch  ziemlich  bei  A2. 

Aas  der  Tabelle  sieht  man,  wie  die  Vermittlung  den  Versuch 
wesentlich  verlängert,  wie  die  A»-  und  ^-Formen  länger  Bind  als  die 
entsprechenden  ^-Formen,  und  ebenso,  wie  B  und  C  länger  als  A  sind. 


Tabelle  XIV. 

Aufg.  V.  vp.  m. 


|    Ax  n 

Ai  V  n 

Bi  n 

Bi  V  n 

Q  n 

(\V  n 

Mc 
Ma 

m.V. 

'  1072  26 
jl099 

|  238 

1049  13 
1271 
376 

1179  7 
1475 
559 

1618  4 
1724 
318 

2786  1 

2291  5 
2881 
961 

A{2)  ;3  Fälle)  =  986.     4(3)  V  =  2006.     A3  V  =  975.     A2  «=  948. 
B(3)  V  =  1990.         a2  =  867.       C2  V  -  2669. 


1)  Schwan— Ente.  Kein  ausgeprägter  Hintergrund.  Vielleicht  ganz  dunkel 
das  Bild  eines  Teiches.  Die  Ente  ist  nicht  im  Bilde  gewesen.  1210  a. 

2)  Rubin:  Einen  Fingerring  mit  rotem  Stein  habe  ich  gesehen;  an  einem 
andern  Finger  einen  Ring  mit  grünem  Stein;  Smaragd.  2229  a.  Knie:  Ich 
fahr  mit  Blicken  nach  unten  und  sagte  Wade.  Socke:  Ich  dachte  an  das 
Lied :  >Zu  Lauterbach  hab'  ich  mein1  Strumpf  verlor'n«.   Strumpf.  1632  a. 


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336 


Henry  J.  Watt, 


Die  Zeiten  fiir  Vp.  III  sind  regelmäßig.  Auch  hier  ist  die  Funktion 
des  Oberhegriffs  im  Protokoll  nicht  deutlich.  Er  kann  eine  ganz 
unbestimmte  Stellung  im  Versuch  einnehmen,  kann  beim  Aussprechen  auf- 
treten, ja  sogar  nicht  selten  nach  dem  Aussprechen,  und  kann  endlich  die 
Stelle  des  Vermittelnden  einnehmen  und  wesentlich  zur  Reproduktion  des 
Ausgesprochenen  dienen.  Als  solcher  ist  er  wohl  als  die  Bestimmung  der  Re- 
produktionstendenz durch  die  Bereitschaft  der  Aufgabe  zu  betrachten,  aber 
mehr  im  Sinne  der  Frage1),  wo  das  bestimmende  Moment  des  Reizwortes 
mit  der  Aufgabe5)  verbunden  wird,  was  leicht  zu  einer  Reproduktionstendenz 
führt. 


Tabelle  XV. 

Aufg.  V.  Vp.  VI 


|   ÄX  n 

Ai  V  n 

A,  V  n 

A2  « 

Mc 
Ma 

m.  V. 

!  1135  22 
|  1221 

283 

1224  2 
1224 
130 

1448  13 
1492 
416 

1203  11 
1367 
346 

1091  1 

1268  5 
1614 

508 

Bei  Vp.  VI  gibt  es  im  ganzen  nur  6  Fülle,  bei  denen  ein  Mittelbegriff 
vorhanden  war.  Vp.  VI  gibt  die  Aufeinanderfolge  der  Erlebnisse  genau  an, 
so  daß  kein  Zweifel  mehr  obwalten  kann,  daß  die  Rolle,  die  der  Oberbegriff 
als  vermittelnder  Anhaltspunkt  für  die  Reproduktionen  bei  der  Aufgabe 
Bpielt,  verschwindend  klein  ist,  und  die  Ansicht,  die  wir  bei  Betrachtung  der 
Versuche  von  Vp.  I  aufgestellt  haben,  wird  damit  gerechtfertigt.  Auch 
wenn  der  Oberbegriff  vorkommt,  kann  er  nur  etwas  Nebensäch- 
liches sein,  während  die  Reproduktion  am  meisten  durch  irgendeine 
Berührungsassoziation3)  bestimmt  wird.  Es  besteht  zwischen  der  Anzahl 
der  einen  Oberbegriff  enthaltenden  und  der  falschen  Fälle  keine  Beziehung, 
die  wir  ersehen  konnten. 

Das  Bild  kommt  auch  hier  in  seinem  Verhalten  dem  Oberbegriff  sehr 
nahe;  es  kann  gleichsam  den  Oberbegriff  bilden.  Z.B.  »Fleiß:  Bild  von 
einem  Zensurbogen,  auf  dem  das  Wort  stand  , Fleiß',  in  einer  Rubrik  stand 
,Note  vier',  und  dann  sagte  ich  .Faulheit'.«  Dies  kann  in  verschiedenen 
Graden  geschehen,  bis  schließlich  nichts  mehr  gemeinsam  bleibt  als  der 
Hintergrund  oder  die  Tatsache,  daß  die  Vp.  jedesmal  die  Bilder  vor  sich 
sah  (was  eigentlich  nichts  ist). 

Die  Fehler  bei  dieser  Aufgabe  sind  ziemlich  dieselben  wie  bei  den 
andern.  Sie  hat  jedoch  etwas  ihr  Eigentümliches,  was  aus  der  Art  der 
Aufgabe  leicht  verständlich  ist ,  nämlich  der  übergeordnete  Begriff  wird 
häufig  ausgesprochen  oder  als  Reaktionswort  angegeben.  Dabei  wird 
öfters  konstatiert,  daß  die  Vp.  dies  nicht  gewollt  hat,  aber  es  nicht  hat 


1)  Vgl.  unten  S.  348  f. 

2)  Vgl.  Klavier:  Begriff  Instrument  ziemlich  ausgesprochen  da.  Zither. 
969  o. 

3}  Hegel:  Akustisch -motorische  Wortvorstellung  »Philosoph«.  Zustand 
innerer  Unruhe,  aus  welchem  die  akustisch  -  motorische  Wortvorstellung 
»Schölling«  auftrat.  Das  Auftreten  von  »Sendling«  mehr  von  der  verbalen 
Assoziation  »Hegel  und  Schölling«  bedingt.  1094  a. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


337 


unterdrücken  künnen.  Wie  zu  erwarten  war,  sind  die  Zeiten  bei  solchen 
Fehlern  im  allgemeinen  kurzer  als  die  übrigen.  Vp.  VI:  Übergeord.  Begr. 
losgesprochen  2;  1475  a.  Sonstige  fehlerhafte  Reaktionen  (13)  Mc  1617  <rt 
Afal674<x.  Vp.  III:  Übergeord.  Begr.  ausgespochen  (7)  Mc 956  <r,  Ma  1018  o. 
sonstige  (10)  Mc  1156  a,  Ma  1367  a. 

Sonst  zeigen  diese  Fehler  im  ganzen,  sowie  die  vom  Sommersemester 
da^elbe  Gepräge,  wie  bei  den  andern  Aufgaben.  Viele  werden  durch  die 
ablenkende  Kraft  eines  Bildes  verursacht,  viele  »drängen  sich  auf«  oder  sind 
berührungsassoziativ  herbeigeführt.  Soweit  wir  sie  analysieren  künnen,  sind 
sie  alle  durch  die  ReproduktionBgeschwindigkeit  oder  die  motorische  Kraft 
der  Tendenzen  bestimmt.  Bei  den  wenigen  Versuchen  vom  Sommersemester, 
die  mit  dieser  Aufgabe  ausgeführt  wurden,  sind  alle  Fälle  mit  einer 
Vermittlung  oder,  anders  gesagt,  mit  dem  Oberbegriff  im  Durchschnitt 
länger,  als  die  entsprechenden  Fälle  {Ai,  A3  usw.)  ohne  den  Oberbegriff. 
Die  Talle  At,  A9  usw.  verhalten  sich  zueinander  wie  bei  den  andern  Auf- 
gaben. Das  Protokoll  über  die  Funktion  des  Oberbegriffes  im  Versuch  war 
nicht  genau  genug,  um  eine  Ansicht  darüber  zu  ermöglichen.  Vp.  IV  kon- 
statiert bei  einem  gewissen  Versuch  »Der  Mittelbegriff  war  schwach,  ,  Grün- 
specht —  übergeordneter  Begriff  Vogel— Meise4,  weil  er  diesmal  leichter  zu 
finden  ist.« 

b.  Die  sechste  Aufgabe. 

Die  Vermittlung  ist  gemäß  der  Aufgabe  ein  irgendwie  re- 
präsentiertes Ganze,  und  das  wird  wie  bei  der  letzten  Aufgabe  in 
den  Tabellen  ausgedrückt,  aber  diesmal  mit  einem  O.  In  den 
verschiedenen  Rubriken  bedeutet  G,  daß  das  Ganze  durch  Wort- 
vorstellungen oder  Bewußtseinslagen  u.  dgl.,  aber  nicht  durch  eine 
Gesichtsvorstellung  vertreten  war. 

Tabelle  XVI. 


Aufg.  VI  :  Einen  koordinierten  Teil  zu  finden. 

Vp.  I. 


\AG 

n 

A{3}  Q  n 

n 

a3o 

n 

C 

n 

Me 

; 

i  1504 

25 

1848  15 

1638 

4 

1991 

9 

3343 

7 

Ma 

1  1579 

1877 

1627 

1973 

3342 

mV. 

i  483 

508 

102 

543 

179 

B(i  =  2344. 


Im  allgemeinen  verhält  es  sich  hier  ebenso  wie  vorher.  Das 
Ganze  kann  Vp.  I  nicht  genau  in  dem  Versuch  lokalisieren. 
Sie  sagt  selbst  darüber  aus:  »Das  Bewußtsein  vom  Ganzen  und 
von  dem  andern  Teile  kommen  ziemlich  gleichzeitig.  Zuweilen 
kommt  nicht  einmal  das  Ganze  ausdrücklich,  sondern  ich  drücke 
es  erst  später  aus.«    Eine  allgemeine  Betrachtung  der  Fälle  lehrt 

Archi*  fftr  PiycfcolofU.  IV.  22 

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338 


Henry  J.  Watt, 


uns  dasselbe.  Es  gibt  Fülle,  bei  denen  das  Reizwort1)  selbst 
augenscheinlich  die  Reproduktion  bestimmt  hat,  andere,  bei  denen 
'die  Stellung2)  des  Ganzen  nicht  deutlich  ist,  und  andere,  bei  denen 
sie  ein  bestimmtes  Stadium3)  im  Versuch  ausgefüllt  hat.  Die 
Zeiten  steigen  mit  der  dieser  Vp.  eigenen  Regelmäßigkeit 

Die  Vermittlung  ist  hier  schon  etwas  nötiger  als  in  dem 
letzten  Falle.  Es  kommen  Reproduktionen  vor,  die  ohne  das 
gleichzeitige  Bewußtsein  eines  Ganzen  nicht  richtig  genannt  werden 
könnten.  Dies  erfordert  aber  nicht,  daß  das  Ganze  eine  bestimmte 
Stelle  in  dem  Verlauf  des  Versuches  einnehme.  Wie  bei  der  letzten 
Aufgabe  dient  auch  hier  die  Reproduktion  des  Ganzen  zur  Kontrolle 
der  Versuchsreproduktion;  aber  hier  kann  sie  die  Reproduk- 
tion richtig  machen,  ja  sie  ist  dazu  geradezu  nötig4),  obgleich  eine 
Gesichts  Vorstellung  dieselbe  Funktion  Übernehmen  kann.  In  ihr 
wird  das  Ganze  wirklich  oder  nur  potentiell  vorgestellt,  und  sie 
dient  zugleich  als  Anhaltspunkt  fllr  Reproduktionstendenzen5). 


Tabelle  XVII. 

Anfg.  VI.  Vp.  m. 


1 

n 

At  0 

„ 

M 

n 

A, 

n 

G 

n 

Me 

893 

7 

1632 

4 

1460 

7 

1022 

9 

1316 

3 

Ma 

861 

1906 

1401 

1096 

2288 

m.V. 

72 

567 

326 

229 

1617 

B  =  3308;  m.V.  251. 


1}  Vgl.  Mittwoch-Donnerstag  ah  Teile  der  Woche,  ohne  Bild.   946  ff. 

2)  Küche — Zimmer  (Wohnzimmer).  Bild  einer  Küche.  Vielleicht  war 
Haus  ein  Bestandteil  des  Suchens  als  Ganzes;  wie  es  repräsentiert  war,  ob 
als  Wort  oder  als  Richtung,  kann  ich  nicht  genau  sagen.   1709  a. 

3)  Keller— Gewölbe,  als  Teile  eines  Hauses.  Hans  war  hier  deutlich  das 
Ganse.  Undeutliche  Vorstellung  von  einem  Souterrain  eines  Hauses  vor- 
handen.  2367  a. 

4)  Eule— Athen,  als  Bestandteil  der  Phrase:  Eulen  nach  Athen  tragen. 
1604  <r. 

6)  Eine  nähere  Untersuchung  der  Versuche  mit  Vp.  II  will  ich  hier  nicht 
geben.  Diese  Versuche  waren  in  bezug  auf  das  Protokoll  minderwertig,  weil 
sich  die  Vp.  die  Bedeutung  dieser  Aufgabe  nicht  ganx  klar  machen  konnte. 
Ich  gebe  aber  in  den  andern  Tabellen  die  Werte  für  diese  Vp.  an,  weil 
sie  unsern  Maßstab  für  die  Beschaffenheit  der  richtig  ausgeführten  Akte 
bilden. 


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« 


Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  339 

Bei  At  kam  zuweilen  irgendeine  Erinnerung»)  an  frühere  ähnliche  Ver- 
gliche, bei  denen  die  Vp.  ein  Ganzen  nicht  angibt,  weil  sie  es  vermutlich 
als  in  dem  früheren  Versuch  enthalten  oder  als  selbstverständlich  voraussetzt. 
Der  Einfluß  geläufiger  Verbindungen  zeigt  sich  auch  hier,  indem  sie  schnelle 
Reaktionen  veranlassen,  nach  deren  Erledigung  das  Ganze  reproduziert  und 
der  Versuch  gerechtfertigt-)  wird*  Bei  A\  ist  die  Sache  etwas  zweifelhafter. 
Im  allgemeinen  kommt  die  Rechtfertigung3)  nachträglich.  Einige  aber  waren 
»ach  hier  nicht  gerechtfertigt4).  Bei  einigen  ist  es  schwer,  zu  sagen,  ob  die 
Aufgabe  gelöst  worden  ist  oder  nicht. 

Die  Zeiten  bei  Vp.  III  sind  so  regelmäßig,  daß  eine  weitere  Erwähnung 
wohl  Uberflüssig  erscheint 


Tabelle  XVIII. 

Anfg.  VI.  Vp.  VI. 


-J 

n 

4. 

n 

isö 

n 

B 

n 

<h  n 

Mc 
Ma 

m.V. 

1666 
1666 
482 

2 

1507 
1734 
481 

18 

2388 
2499 
284 

3 

1820 
1820 
331 

2 

2394  10 
2364 
390 

a  0  =  2423.     Cus)  G  =  3158. 


Wie  bei  der  fünften  Aufgabe  kamen  die  Vermittlungen  bei  Vp.  VI  viel 
seltener  vor.  Wie  vorher  gesagt,  gibt  diese  Vp.  die  Aufeinanderfolge  der 
Erlebnisse  möglichst  genau  an.  Aus  ihrem  Protokoll  ist  mir  aber  nicht  recht 
klar,  ob  die  Vermittlung  in  den  Fällen,  in  welchen  sie  vorkam5),  zur  Re- 
produktion nötig  war  oder  nicht;  doch  kann  es  sein.  Die  Gesichtsvorstellung 
funktioniert  häufig  als  das  Ganze,  und  bei  nur  zwei  richtigen  Fällen«;  fehlt 


1}  Sonne.  Erinnerung  an  den  früheren  Versuch  mit  Stern  usw.,  dann 
sofort  Mond.  814 <r.  Baum — Strauch;  diese  habe  ich  vorher,  als  ich  einen 
koordinierten  Begriff  finden  sollte,  als  Beispiele  in  der  Vorbereitung  benutzt 
Nachträglich  kam  als  Ganzes  Wald.  1447  a. 

2)  Vgl.Pieron,  Revue  phü.  aoütl903.  8.148.  L' Association  mediate.  »Les 
pretendues  associations  par  contiguite  sont  presque  toujours  des  associationa 

de  parties  d'un  meme  tout  entre  elles  ou  avec  le  tout   Et  sous  cette 

forme  il  ne  Berait  paß  difficile  de  soutenir,  qu'au  fond  Tassociation  par 
contiguite  pure  et  simple  est  toujours  mädiate.«  Was  also  falsch  ist 

3)  Vgl.  unser  Beispiel  Baum— Strauch,  oben. 

4)  Gabel.   Messer  hat  sich  mit  einem  gewissen  Zwang  sofort  aufge- 
drängt.  786  a. 

6)  Vgl.  Treppe.  Akustisch-motorische  Wortvorstellung  Stiege.  Sprechen 
des  Wortes  Geländer  mit  dem  Bewußtsein  der  Richtigkeit  und  rein  akustisch 
Stiegenhaua.  1214  <r. 

6)  Gabel.  Bewußtseinslage,  die  als  blitzartige  Erinnerung,  das  Wort  schon 
vorher  gesehen  zu  haben,  zn  bezeichnen  ist  Messer  mit  dem  Bewußtsein 
der  Richtigkeit  1184  a.  Semester.  Akustisch-motorische  Wortvorstellung, 
Halbjahr.  Bewußtsein,  daß  das  Semester  zurzeit  geschlossen  ist  Bewußt- 
sein der  Aufgabe  und  Sprechen  des  Wortes  Trimester  mit  Bewußtsein  der 
Richtigkeit  2148  «r. 

22* 

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340 


Henry  J.  Watt, 


ein  Ganzes  vollkommen.  Eb  ist  deshalb  zweifelhaft,  ob  diese  Fälle  als  richtig 
zu  bezeichnen  sind.  Es  ist  anch  fraglich,  ob  hier  die  Stellang  der  Aufgabe 
allein  genügt,  eine  Antwort  zn  ermöglichen,  deren  Richtigkeit  man  ohne  weiteres 
annehmen  kann.  Wir  können  z.  B.  den  folgenden  Versuch  kaum  als  richtig 
zulassen:  Schrank:  Bewußtsein  der  Aufgabe  verbunden  mit  eigentümlichen 
Organempfindungen  in  der  Brust  Aussprechen  von  Kasten.  1488  e.  Das  könnte 
ein  richtiger  Versuch  gewesen  sein,  wenn  ein  Ganzes  im  Bewußtsein  vor- 
handen gewesen  wäre.  Die  Zeiten  sind  hier  auch  regelmäßig.  Bei  den  Ver- 
suchen des  Sommersemesters  wiederholt  sich  alles,  was  für  die  fünfte 
Aufgabe  über  sie  gesagt  wurde;  es  wurden  nur  wenige  Versuche  gemacht 

Diese  Betrachtung  zeigt  ans  mit  größter  Deutlichkeit  den  Anteil, 
den  Assoziation  nnd  Reproduktion  in  unserem  gewöhnlichen  Denken 
spielen.  Wir  sehen  unten  (S.  343  ff.),  daß  Aufgaben  die  später  wirksam 
werdenden  Reproduktionen  bis  zu  einem  hohen  Grade  bestimmen, 
und  daß  eine  richtige  Reproduktion  durch  die  vorhergehende 
Einprägung  der  Aufgabe  ohne  Wiederholung  während  des  Ver- 
suches hervorgebracht  werden  kann.  Hier  sehen  wir,  daß  die 
Einprägung  der  Aufgabe  die  Reproduktion  in  etwas  bestimmen 
kann,  was  richtig  ist  oder  werden  kann.  Wir  meinen,  daß 
dieses  Verfahren  den  Verlauf  des  Denkens  bei  allen  schwierigeren 
Aufgaben,  bei  allen  eigentlichen  Problemen  darstellt.  Man  stellt 
sich  die  Aufgabe,  man  fangt  an,  an  das  Problem  zu  denken. 
Verschiedenes  wird  reproduziert,  man  versucht,  es  zu  rechtfertigen, 
und  verwirft  es,  wenn  das  nicht  gelingt.  Man  könnte  es  für  das 
Normale  halten,  daß  man  den  Reiz  und  die  Aufgabe  analog  unsere 
Versuchen  miteinander  verbände,  und  daß  dieser  Komplex  das 
Richtige  reproduzieren  würde.  Es  scheint  Tatsache  zu  sein,  daß 
nur  das  von  einem  Reiz  oder  von  einer  Zusammenfugung  von 
Reiz  und  Aufgabe  reproduziert  werden  kann,  was  früher  damit  in 
Verbindung  gewesen  ist.  Das  eben  geschilderte  Verfahren  ist  eine 
Methode,  Reproduktionstendenzen  zustande  zu  bringen, 
die  sich  von  einer  Aufgabe  bestimmen  lassen. 

Die  Fehler  bei  dieser  Aufgabe  waren  zumeist  Reproduktionen  des 
koordinierten  Begriffes.  Das  ist  natürlich,  wenn  wir  uns  daran  erinnern,  daß 
die  zwei  Aufgaben  keinen  Unterschied  der  Reproduktion  zu  bedingen  brauchen, 
und  daß  nur  die  Anwesenheit  einer  Vermittlung  das  eine  zum  andern  machen 
kann.  Viele  andere  Fehler  waren  von  sich  aufdrängenden  Tendenzen  ver- 
ursacht Bei  den  Fällen,  in  welchen  mit  dem  Ganzen  reproduziert  wurde, 
war  die  Reaktion  natürlich  kürzer  als  die  durchschnittliche  Reaktionszeit  für 
die  Fehler.   Sonst  bieten  die  Fehler  nichts  Bemerkenswertes. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


341 


§  9.  Bereitschaft, 
a.  Die  Perseverationstendenz  der  Vorstellungen. 

Vorstellungen,  die  vor  kurzem  im  Bewußtsein  gewesen  sind, 
haben  für  eine  gewisse  Zeit  die  Eigenschaft,  sehr  leicht  und  schnell 
selbst  wieder  ins  Bewußtsein  zu  treten  oder  sich  reproduzieren  zu 
lassen.  Diese  Eigenschaft  besitzen  sie  bei  verschiedenen  Indi- 
viduen1) in  verschiedenen  Graden.  Man  nennt  sie  die  Perseve- 
rationstendenz der  Vorstellungen  und  man  sagt,  solche 
Vorstellungen  befinden  sich  in  Bereitschaft2).  Wir  können  im 
allgemeinen  ziemlich  sicher  behaupten,  daß  die  Geschwindigkeit 
von  Reproduktionen  größer  ist,  wenn  sie  in  Bereitschaft  sind.  Die 
gewöhnlichste  Form  ist  jene,  bei  der  auf  ein  später  in  der- 
selben Reihe  vorgezeigtes  oder  in  der  nächsten  Reihe  auf  ein 
anderes  Reizwort  mit  dem  bei  einem  früheren  Versuch  reprodu- 
zierten Reaktionswort  oder  mit  dem  Reizwort  desselben  reagiert 
wird.  Bei  einigen  Fällen  wird  die  Reproduktionsgeschwindigkeit 
bedeutend  größer,  wenn  die  Tendenzen  in  Bereitschaft  sind,  auch 
wenn  die  Perseverationstendenz  schon  einige  Tage  alt  ist.  Ich 
habe  alle  Fälle  der  Aufgabe  Übergeord.  Begr.  nicht  nur  an  demselben 
Vereuchstage,  sondern  auch,  wo  überhaupt  ein  Reaktionswort  mehr 
als  einmal  in  allen  Versuchen  derselben  Vp.  gebraucht  wird,  unter- 
sucht3) und  konstatiere  die  Vergrößerung  der  Reproduktions- 
geschwindigkeit bei  70  #  der  Fälle  (26).  Daß  es  nicht  bei 
allen  Fällen  vorkommt,  erklärt  sich  hauptsächlich  daraus,  daß  das 
Auftauchen  eines  für  ein  anderes  Reizwort  gebrauchten  und  viel- 
leicht jetzt  nicht  ganz  passenden  Reaktions wortes  geradezu  hem- 
mend wirken  kann.    Die  Wirkung  der  Perseveration  tritt  aber 

1]  Wir  sehen  hier  davon  ab,  einen  prinzipiellen  Unterschied  zn  machen 
zwischen  der  Perseverationstendenz  und  der  Bereitschaft  der  Vorstellungen. 
Es  ist  noch  nicht  experimentell  bewiesen  worden,  daß  Vorstellungen  un- 
motiviert oder  von  selbst  ins  Bewußtsein  treten  künnen;  eB  mag  wahr- 
scheinlich sein.  Im  Begriff  der  Perseverationstendenz  also  muß  man  für 
spätere  Forschung  die  Möglichkeit  der  gesetzmäßigen  Aufeinanderfolge  und 
des  freien  Steigens  der  Vorstellungen  für  sich  oder  auf  Anlaß  zum  ersten- 
mal erlebter  Empfindungen  denken.   (Vgl.  K  U 1  p  e ,  Psychologie.  §  29.  2.) 

2}  MUH  er  und  Pilzecker,  Experimentelle  Beiträge  zur  Lehre  vom 
Gedächtnis.   Ztechr.  f.  Psych.  Erg.-Bd.  I.  1900.  S.  58. 

3)  Die  Perseverationstendenz  einer  Vorstellung  ist  also  von  der  Geläufig- 
keit einer  Reproduktionstendenz  zu  unterscheiden,  bei  der  dieselben  Reiz- 
und  Reaktionswörter  aufeinander  folgen. 


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342 


Henry  J.  Watt, 


doch  nicht  immer  in  der  Reaktionsdauer  deutlich  hervor,  weil  ihre 
absolute  Wirksamkeit  von  dem  inhaltlichen  Verlauf  der  Vorstellungen 
sehr  verdeckt  werden  kann.  Das  Reizwort  weckt  vielleicht  eine 
Gesichtsvorstellung  oder  gibt  Anlaß  zu  einer  Reproduktionstendenz. 
Im  letzteren  Falle  jedoch  trägt  die  in  Bereitschaft  liegende  Ten- 
denz mit  mehr  oder  weniger  Leichtigkeit  den  Sieg  davon  und 
zeichnet  sich  im  allgemeinen  durch  die  Selbständigkeit  ihres  Auf- 
tretens aus. 

Das  Vorausgehende  wird  sehr  deutlich  illustriert  durch  sechs  Ver- 
suche von  Vp.  III,  welche  ich  hier  folgen  lasse: 

18.  November  1902.   Aufgabe :  Übergeord.  Begr. 

91.  Birne:  Frucht  nach  einiger  Zerstreutheit;  Vorbereitung  nicht 
gut.  Ruhe.  Mit  dem  Wort  war  der  Prozeß  abgeschlossen. 
936  a. 

92.  Tabak:  Frucht  ausgesprochen.  Ruhe  wieder  vorhanden.  Mit 
Frucht  gemeint  etwas,  was  man  verwenden  kann.  Bewußt, 
daß  das  nicht  recht  stimmt    872  a. 

93.  Senf:  Als  ich  Senf  auffaßte,  drängte  sich  Frucht  vor.  Bewußt, 
daß  es  besser  paßt,  aber  noch  nicht  gut.  Bild  von  Senfkörnern. 
Wort  »Frucht«  kam  zwingend.    811  a. 

94.  Honig:  Wider  Willen  »Frucht«.  Ganz  unklare  Beziehung, 
dazwischen  »Sttß«  und  »Honig«.  Ich  wollte  Frucht  unter- 
drücken.   2353  a. 

95.  Schnaps:  Ich  habe  an  Flüssigkeit  gedacht  nnd  habe  »Frucht« 
ganz  unwillkürlich  ausgesprochen.    808  a. 

96.  Spinat:  Das  erste,  was  mir  einfiel,  waren  die  Beziehungen  zu 
den  andern  Reizwörtern.  Meine  Aufmerksamkeit  ruht  auf  dem 
Reizwort,  und  ich  verstehe  es  deutlich  und  bin  mir  der  Be- 
ziehungen zu  Senf  usw.  und  der  Leichtigkeit,  mit  der  der 
übergeord.  Begriff  kommen  könnte,  bewußt,  und  dann  kommt 
dieses  Wort  Frucht  unwillkürlich.    929  a. 

Bei  dem  nächsten  Versuch  gelang  es  der  Vp.,  das  wieder  auf- 
getauchte Wort  »Frucht«  zu  unterdrücken  und  sich  wieder  Frei- 
heit zu  verschaffen.  Diese  Fälle  lehren,  daß  es  für  solche  Ver- 
suche unzweckmäßig  ist,  derselben  Kategorie  angehörende  Reiz- 
wörter aufeinander  folgen  zu  lassen. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  343 

Ein  ganz  anderes  Bild  bekommen  wir  von  einer  ähnliehen 
Reihe  von  Versuchen  bei  einer  andern  Vp.,  die  ein  verschwindend 
kleines  Versnchsgedächtnis  hatte  nnd  zum  Teil  vielleicht  deshalb 
diese  Hemmungen  der  in  Bereitschaft  liegenden  Reproduktionsten- 
denzen  nicht  zeigt. 

18.  November  1902. 
Nr.  83.  Linsen:  Gesichtsvoretellung,  Frucht.  1748a. 

21.  November  1902. 
Nr.  95.  Senf :  Gesichtsvorstellung,  Frucht.    1530  a. 
Nr.  96.  Tabak :  Gesichtsvorstellung,  Frucht.  1181a. 
Nr.  97.  Honig:  Gesichts  Vorstellung,  Frucht  819  a. 

9.  Dezember  1902. 
Nr.  121.  Mehl:  Gesichtsvorstellung,  Frucht.  989a. 

Im  letzten  Falle  sehen  wir,  wie  die  Perseveration  sich  er- 
halten hat. 

b.  Die  Perseverationstendenz  der  Aufgabe. 

Wir  haben  in  unserer  Besprechung  der  Vorbereitung  gesehen, 
wie  die  Einprägung  der  Aufgabe  die  Richtung  der  Aufmerksam- 
keit bestimmt.  Man  könnte  nun  annehmen,  daß  entweder  diese 
Vorbereitung  vollständig  genüge,  um  nach  dem  Erscheinen  des 
Reizwortes  jede  falsche  Reproduktionstendenz  zu  hemmen,  oder  daß 
dies  nicht  geschehe,  sondern  daß  nach  dem  Reiz  immer  wieder 
eine  Wiederholung  der  Aufgabe  stattfinden  müsse,  während  die 
Vorbereitung  nur  dazu  diene,  dies  möglich  zu  machen.  Jenes 
wäre  ein  idealer  und  Zeit  ersparender  Zustand  und  liegt  z.  B.  bei 
vollständiger  Einübung  auf  eine  einfache  Reaktion  vor.  Bei 
unBern  Versuchen  aber  konnte  von  einem  hohen  Grade  der  Übung 
nicht  die  Rede  sein.  Hatten  wir  doch  sechs  verschiedene  Auf- 
gaben und  weniger  als  hundert  Reizwörter  für  jede,  die  nur  aus- 
nahmsweise und  dann  nur  einmal  wiederholt  wurden,  welche  Fälle 
hier  auch  nicht  in  Betracht  gezogen  werden.  Es  würde  nun  trotz- 
dem nicht  gelingen,  nach  jedem  Reizwort  ein  Bewußtsein  der 
Aufgabe  nachzuweisen.  Die  Vp.  gibt  in  der  Regel  jedesmal  an, 
wenn  ein  Bewußtsein  der  Aufgabe  dawar1),  und  viele  Versuche 
sind  so  beschrieben  worden,  daß  man  ein  solches  Bewußtsein  nicht 

1)  In  der  näheren  Untersuchung  von  Aufg.  I  konstatiert  die  Vp.  »keine 
Wiederholung  der  Aufgabe«  ubw. 


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Henry  J.  Watt, 


hineinlesen  könnte.  Vgl.  bei  Vp.  VI,  die  sonst  öfters  ein  Bewußt- 
sein der  Aufgabe  konstatiert  und  Bich  als  einen  sehr  genauen  und 
sorgfältigen  Beobachter  erwiesen  hat  Ein  häufiger  Versuchsver- 
lauf ist:  Kupfer.  Bewußtsein  der  Wortbedeutung.  Unwillkürliches 
Sprechen  »Blei«.  923  a. 

Vp.  III  gibt  öfters  die  folgende  Beschreibung  des  Versuchsverlaufes:  »Mit 
dem  Verständnis  lag  bereits  der  nötige  Begriff  schon  da«.  Damit  vergleiche 
man  das  oben  öfters  konstatierte  Bewußtsein:  »Ich  weiß  schon,  was  kommt«. 
Im  allgemeinen  unterscheidet  Vp.  III  auoh  zwischen  den  Fällen,  bei  denen 
nach  dem  Reizwort  eine  merkbare  Pause  eintritt,  und  Fällen,  bei  welchen 
sich  der  Gedankengang  sofort  an  das  Wort  anschließt.  Ein  meiner 
Meinung  nach  zwingender  Beweis  für  die  Möglichkeit  einer  richtigen  Repro- 
duktion mit  bloß  dem  Reizworte  vorausgehender  Vorbereitung  auf  die  Auf- 
gabe1} ist  ein  solcher  Fall  wie  der  oben  angegebene:  Löwe:  »Habe  Möwe 
zwangsweise  reproduziert;  viel  später  kam  der  Begriff  Tier«,  d.  h.  der  Vp. 
ist  es  erst  spät  zum  Bewußtsein  gekommen,  inwiefern  der  Versuch  richtig 
war.  Solche  Fälle  sind  häufig,  und  bessere  ließen  sich  unter  weiteren  Ver- 
suchen finden,  weil  die  Lautähnlichkeit,  wie  man  leicht  einsieht,  sehr  wahr- 
scheinlich die  Verbindung  zwischen  Löwe  und  Möwe  begünstigt  hat.  Das  ist 
aber  kein  Nachteil;  wir  haben  oben  solche  und  ähnliche  Fälle  (^3,  A£  reichlich 
konstatiert  und  besprochen.  Daß  der  Versuch  richtig  ist,  kann  man  nicht 
leugnen;  es  ist  aber  ein  Grenzfall,  der  für  viele  bei  allen  Aufgaben  typisch 
ist.«  Ich  gebe  nun  noch  ein  Beispiel,  Aufg-  IV:  Dom:  »Chor«  ausgesprochen 
mit  Bewußtsein  der  Richtigkeit  und  dem  Bewußtsein,  daß  es  so  rasch  kam, 
weil  es  ein  Bestandteil  von  »Domchor«  ist  (ein  in  WUrzburg  sehr  häufig  ge- 
hörtes Wort),  Erinnerung,  daß  ich  Chor  schon  vorher  einmal  reproduziert 
habe«.  864  s.  Es  kann  kein  Zweifel  mehr  obwalton,  daß  die  Vorbereitung 
die  vorliegenden  Reproduktionstendenzen  nach  der  einen  oder  der  andern 
Richtung  hin  begünstigen  kann,  seien  dieselben  schon  stark  berührungs- 
assoziativ oder  mehr  direkt  von  der  Aufgabe  selbBt  erregt.  Aber  obgleich 
möglich  und  häufig  vorkommend,  sind  solche  Reproduktionen  wie  Löwe- 
Möwe,  Dom — Chor  usw.  nicht  die  Reget  Auch  können  wir  nicht  annehmen, 
daß  bei  allen  Versuchen,  bei  denen  kein  Bewußtsein  der  Aufgabe  kon- 
statiert worden  ist,  auch  keines  vorhanden  war.  Die  Vp.  kann  es  als  etwas 

1  Vgl.  die  Arbeit  von  MUnsterberg  »Über  willkürliche  und  unwillkür- 
liche Vorstellungsverbindungen«  in  seinen  »Beiträgen«,  Heft  I.  Es  liegt  noch 
kein  Grund  vor,  anzunehmen,  daß  eine  gewisse  Art  des  psychologischen 
Verlaufs  die  unerläßliche  Bedingung  des  logischen  Denkens  sei.  Wir  müssen 
uns  im  Gegenteil  nur  nach  der  Leistung  richten  und  brauchen  nicht  anzu- 
nehmen, daß  eine  gewisse  Geschwindigkeit  der  Reproduktion  und  Weise  der 
Apperzeption  wesentliche  Bedingungen  eines  logischen  Aktes  sind.  Ich  finde 
keinen  logischen  Unterschied  zwischen  der  ersten,  langsamen,  verzögerten 
Reproduktion  einer  Vorstellung  und  der  verkürztesten,  wie  dem  angegebenen 
Beispiel  Löwe— Möwe.  Es  ist  aber  bei  vielen  Psychologen  üblich  geworden, 
von  einem  Denken  zu  sprechen,  das  mechanisch  eingeübt  ist,  im  Gegensatz 
zu  einem  aktiven,  neuen,  wertvollen  Denken.  Dies  ist  ein  vulgärer  Unter- 
schied, der  die  psychologische  Analyse  und  das  Experiment  wenig  angeht. 
Vgl.  z.  B.  Royce,  Psych.  Review  1902,  S.  113 ff. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  345 

Selbstverständliches  nicht  in  das  Protokoll  gegeben  haben.  Heine  Vp. 
waren  aber  mehr  oder  weniger  Psychologen  vom  Fach  und  dazu  sorgfältige 
und  gewissenhafte  Beobachter.  Es  kann  auch  in  minimalem  Grade  vorhanden 
gewesen  und  bis  zur  Protokollierung  vergessen  worden  sein. 

Vp.  I  konstatiert  in  der  näheren  Untersuchung  der  Stadien  nach  dem 
Erscheinen  des  Reizwortes  eine  kleine  Leere  im  Bewußtsein,  in  der  noch  so 
etwas  wie  eine  Wiederholung  der  Aufgabe  sich  antreffen  ließ.  Die  gewöhn- 
lichen Reihenversuche,  bei  denen  eine  Wiederholung  der  Aufgabe 
angegeben  wird,  sind  nicht  zahlreich.   Ich  finde  in  diesen  Fällen  bei 
Vp.  I,  II,  III,  daß  der  Wiederholung  bei  zwei  Fällen  ein  langes  Suchen  und 
eine  Disorientierung,  bei  vier  Fällen  eine  Hemmung  infolge  der  Perseveration 
der  vorhergehenden  Reihe  und  Aufgabe,  bei  zwei  Fällen  eine  falsche  oder  un- 
befriedigende Reproduktion,  bei  drei  Fällen  ein  Vergessen  der  Aufgabe  voran- 
geht.  Bei  einem  von  zwei  ähnlichen  Fällen  vertiefte  sich  die  Vp.  in  die 
Betrachtung  einer  Gesichtsvorstellung,  als  ob  sie  sonst  nichts  zu  tun  hätte. 
Nor  bei  einem  FaUe  (Vp.  I,  Aufg.  U)  wird  kein  besonderer  Grund  für  die 
Wiederholung  der  Aufgabe  angegeben.  Vp.  VI,  Aufg.  V,  dagegen  konstatiert 
eine  Wiederholung  bei  9  Fällen  von  81  im  ganzen.   Es  läßt  sich  nichts  aus 
den  Zeiten  1208,  2164,  1826,  936,  1127.  1880,  834,  1056.  2060  a,  Mittel  1456  a, 
Mittel  für  die  ganze  Aufgabe  (richtige  Fälle)  1419  <r  schließen.  Bei  derselben 
Vp.,  Aufgabe  VI  (einen  andern  Teil  eines  gemeinsamen  Ganzen  zu  finden),  ist 
die  Aufgabe  während  des  Versuches  bei  23  aus  74  Fällen  wiederholt  worden. 
Bei  8  Fällen  darunter  geht  die  Wiederholung  einer  Veränderung  der  Repro- 
dnktionsrichtung  voraus,  bei  dreien  ein  Verwerfen  früherer  Richtungen.  Bei 
3  Fällen  folgt  die  Wiederholung  der  Aufgabe  auf  irgendeine  Störung  oder 
Ablenkung.    Bei  6  Fällen  folgt  sie  auf  eine  Gesichtsvorstellung  des  vom 
Reizwort  bezeichneten  Gegenstandes,  und  aus  den  sämtlichen  23  Fällen  geht 
eine  Gesichtsvorstellung,  d.  h.  etwas,  was  sie  wahrscheinlich  aufgehalten  oder 
abgelenkt  hat,  14  mal  der  Wiederholung  der  Aufgabe  voraus.  Es  sind  nun  über- 
haupt nur  27  Fälle,  bei  denen  eine  Gesichtsvorstellung  bloß  des  Reizwortes 
allein  auftaucht Nur  bei  3  Fällen  kommt  also  die  Wiederholung  gleich 
nach  dem  Reizwort  und  dem  Protokoll  nach  wenigstens  unmotiviert,  und 
zwei  von  diesen  sind  der  erste  und  dritte  Versuch  der  Aufgabe.  Bei  14  Fällen 
ist  die  Wiederholung  der  Aufgabe  vorteilhaft  gewesen,  d.  h.  sie  bringt  die 
richtigen  Reproduktionstendenzen  wieder  zur  Geltung.  Daß  sie  bei  6  Fällen 
nach  einer  Gcsichtsvorstellung  vorhanden  war,  läßt  sich  in  derselben  Weise 
erklären,  wenn  man  annimmt,  daß  die  Vp.  irgendwie  von  dem  Bilde  gefesselt 
oder  aufgehalten  wurde  oder  sich  wieder  in  Bewegung  nach  einer  Tendenz 
bringen  mußte.  Nur  bei  zwei  Fällen  liegt  eine  Veränderung  der  Reproduktions- 
richtnng  in  ihr.  Es  ist  wohl  möglich,  daß  es  einer  Vp.  gut  dünkt,  oder,  anders 
gesagt,  daß  sie  es  sich  als  Aufgabe  setzt,  die  Aufgabe  zu  wiederholen;  man 
kann  ihr  dies  nicht  verwehren.   Dagegen  gibt  diese  Vp.3}  eher  die  Aufein- 

1)  15  von  den  26  falschen  Fällen  (Vp.  VI,  Aufg.  VI)  gehören  hierher, 
d.  h.  eine  Gesichtsvorstellung  des  vom  Reizworte  Bezeichneten  war  vorhanden. 

2j  Diese  Vp.  VI  war  davon  Uberzeugt,  daß  die  psychologische  Analyse 
nur  in  einer  Aufzählung  psychologischer  Elemente  (Wahrnehmung,  bzw.  Emp- 
findung, Vorstellung,  Gefühl  und  Bewußtseinslage)  bestehen  dürfe,  und  fühlte 
«eh  deshalb  verhindert,  über  ihre  Erlebnisse  so  auszusagen,  wie  sie  sich  der 
unbefangenen  Darstellung  zeigten.  Ich  finde,  daß  eine  solche  erzwungene 
Analyse  große  praktische  Nachteilo  hat. 


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Henry  J.  Watt, 


anderfolge  der  deutlichen  psychologischen  Erlebnisse  zum  Protokoll  als 
die  ihr  bewußten  Beziehungen  zwischen  denselben,  was  ich  mehr  bei  den 
andern  zwei  Vp.  angetroffen  habe. 

Abgesehen  davon  scheint  es  den  Tatsachen  eher  zn  entsprechen, 
daß  die  normale  Reproduktion  anf  Grand  der  regelmäßigen 
Vorbereitung  ohne  Wiederholung  der  Aufgabe  während 
des  Versuches  vor  sich  geht,  es  sei  denn,  daß  die  Vp.  irgendwie 
aus  dem  vorbereiteten  Gebiet  von  Reproduktionstendenzen  hinaus- 
geruckt worden  ist.  Für  eine  Erklärung  dieser  Störungen  müssen 
wir  uns  auf  die  den  Einfluß  einer  Aufgabe  überwiegende  eigene 
Stärke  vieler  Reproduktionstendenzen  und  die  hemmende  Per- 
severationstendenz  einer  früheren  Aufgabe1)  berufen.  In  beiden 
Fällen  ist  die  Dauer  des  Versuches  länger,  wenn  es  der  Vp.  doch 
gelingt,  richtig  zu  reproduzieren.  Wir  sehen  also,  daß  die 
Einwirkung  der  Aufgabe  in  der  Vorbereitung  zu  einer 
richtigen  Reproduktion  genügt,  daß  aber  die  Perseve- 
rationstendenz  und  die  neue  dadurch  verursachte  Ent- 
wicklung der  Aufgabe  nachweisbar  ist.  Die  Aufgabe 
wirkt  fast  in  derselben  Weise  aufs  neue  ein,  wie  sie  zum  ersten- 
mal eingewirkt  hat  durch  gewisse  Wortvorstellungen,  z.  B.  unter- 
geordneter Begriff,  Ubergeordneter  Begriff,  Teil,  Ganzes  finden  usw. 
Diese  verschwinden,  wenn  die  Aufgabe  sich  wieder  geltend  ge- 
macht hat.  Wir  sehen  also  auch  hier,  wie  in  der  Besprechung 
der  Einwirkung  der  Aufgabe  in  der  Vorbereitung,  den  Wechsel 
je  nach  den  Umständen  zwischen  der  wirksamen  Aufgabe 
und  gewissen  Vorstellungen,  die  sie  zur  Wirksamkeit  bringen. 
Wir  könnten  sagen:  Die  Vorstellung  wird  Aufgabe,  indem 
sie  dauernd  und  in  der  oben  (§  3)  geschilderten  Weise 
wirksam  wird;  die  Aufgabe  wird  Vorstellung  oder  als 
solche  bewußt,  wenn  sie  nicht  mehr  einwirkt  oder  wenn 
sie  wieder  zur  Wirksamkeit  gelangen  soll. 

Die  Wiederholung  der  Aufgabe  kann  nun  in  andern 
Formen  zum  Bewußtsein  kommen,  indem  sie  im  Bewußtsein  näher 
bestimmt  wird.  Schon  in  der  Vorbereitung  haben  wir  solche  Be- 

1)  Einhorn:  »Starke  Tendenz,  .Nashorn'  auszusprechen.  Ich  mußte  diese 
Tendenz  Uberwinden  und  noch  einmal  mir  klar  machen,  daß  ich  den  Uberg. 
Begriff  zu  suchen  hatte.   Säugetier«.   3129  er. 

Sultan:  »Starke  Tendenz  ,von  Marokko'  zu  Bagen.  Mußte  die  Tendenz 
überwinden  und  die  Vorbereitung  wiederholen.  Sagte  .Herrscher'.  Tendenz, 
auch  , Fürst 4  zu  sagen.« 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  H47 


Stimmungen  kennen  gelernt.  Es  scheint  mir  aber  zweckmäßig, 
sie  hier  ausführlicher  zn  behandeln,  weil  sie  nicht  bloß  Bestand- 
teile des  bewußten  Verlaufes,  sondern  auch  wirksame  Faktoren 
darin  sind. 

Ihr  Vorhandensein  scheint  nicht  so  sehr  von  der  Mangelhaftigkeit  der 
Vorbereitung  als  von  der  eigentümlichen  Schwierigkeit  der  be- 
treffenden Aufgabe  abzuhängen.   Mit  den  früheren  Wiederholungen 
der  Aufgabe  haben  sie  gemeinsam,  daß  sie  besonders  leicht  nach  der  ersten 
empfundenen  Unwirksamkeit  der  Vorbereitung  oder  Schwierigkeit  der  Auf- 
gabe eintreten;  öfters  bringen  sie  eine  große  Erleichterung1)  mit  sich.  Eine 
formale  Bestimmung  der  Aufgabe  ist  besonders  häufig  bei  Aufg.  II  (Unter- 
geord.  Begr.),  weniger  bei  Aufg.  IV  (Teil).    Bei  jener  kommt  es  daher,  daß 
die  Vp.  auf  das  Zusammensetzen  von  Wörtern,  das  im  Deutschen  nicht  zu 
vermeiden  ist,  als  die  leichteste  Lösung  der  Aufgabe  verfällt.  Z.  B.  der  erste 
solche  Fall  bei  Vp.  I:  Beweis:  »Geometrischer  Beweis.  Ich  hatte  mir  in  der 
Vorbereitung  gesagt,  daß  man  so  speziellere  Begriffe  gut  bildet«  Dann  später 
in  derselben  Reihe:  Zeug:  »Gesucht,  und  es  wollte  mir  nichts  einfallen  (ich 
suchte  ein  einfaches  Wort).  Kam  auf  die  alte  Methode  (Zusammensetzung), 
*agte  Seidenzeug.«    So  geht  es  weiter  durch  die  ganze  Aufgabe.   Hie  und 
da  tritt  der  Gedanke  an  das  Zusammensetzen  nach  dem  Reizwort  auf.  Bei 
Vp.  I  bildet  von  93  Versuchen  nur  in  33  Fällen  ein  wirklich  einfaches  Wort, 
in  38  ein  zusammengesetztes,  in  5  ein  Adjektiv  und  ein  Substantiv  das 
Reaktionnwort,  und  in  17  war  das  Reizwort  im  Reaktionswort  vorausgesetzt. 
In  nur  12  Fällen  aber  wurde  ein  Gedanke  an  das  Zusammensetzen  konstatiert, 
in  einem  Falle  schon  in  der  Vorbereitung,  in  5  Fällen  nach  irgendeinem 
Hindernis  (vgl.  oben),  in  6  Fällen  nach  dem  einfachen  Gedanken  an  die  Me- 
thode.  Es  kamen  natürlich  Fülle  vor,  bei  welchen  das  Reaktionswort  zu- 
sammengesetzt war,  ohne  daß  seine  Form  als  solche  psychologisch2)  bestimmt 
wurde.  Vp.  II  konstatiert  nicht,  wie  ihre  Wörter  entstanden  sind.  Aus 
47  richtigen  Reproduktionen  bei  Vp.  III  (unter  den  falschen  kommen  nur 
2  FäUe  vor,  in  denen  das  Reaktionswort  kein  einfaches  war8) ) ,  bildet  das 
Reaktionswort  in  24  Fällen  ein  einfaches  Wort,  in  22  eine  dem  Reizworte 
vorgesetzte  Silbe  und  in  einem  ein  Adjektiv.   In  2  Fällen  wird  eine  Vor- 
bereitung auf  das  Zusammensetzen  konstatiert,  und  einmal  tritt  es  bewußt 
nach  einem  Hindernis  auf.    In  solchen  eben  genannten  Fällen  tritt  das 
Zusammensetzen  leicht  von  selbst  auf,  weil  es  eben  einer  Erleichterung  des 
Prozesses  entspricht 

Bei  der  Aufgabe,  einen  Teil  zu  finden,  ist  es  auch  eine  erleichternde  Me- 
thode, ein  Reaktionswort  auf  Grund  von  Berührungsassoziation  zu  finden,  z.  B. 


1)  Fluß:  »Man  kann  einen  Eigennamen  nennen.  Das  war  eine  plötzliche 
Erleuchtung.  Dann  Main.  Weiß  nicht,  ob  der  Begriff  Eigenname  oder  der 
Name  Main  zuerst  dawar.«  Vgl.  Million:  ».  . .  Richtung  repräsentiert  durch 
die  akust-motor.  Vorstellung:  kleinere  Zahl.« 

2)  Vp.  I  Theorie— Lichttheorie,  ohne  eine  bewußte  Anknüpfung  an  das 
frühere  Verfahren  (vorsetzen).  Pause  mit  allerlei  Vorstellungen  gefüllt,  von 
denen  ich  nichts  sagen  kann.  2010  a. 

3)  Deshalb  kann  man  um  so  mehr  auf  eine  Erleichterung  und  Sicherung 
durch  die  formale  Bestimmung  des  Reizwortes  schließen. 


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848 


Henry  J.  Watt, 


Fuß  —  Fußnagel.  Wagen— Wagenrad.  Wenn  die  Vp.  (wie  Vp.  III)  auf  ein 
solches  Verfahren  verfällt,  entstehen  gelegentlich  Schwierigkeiten,  weil  es 
nicht  immer  gelingen  will,  und  infolgedessen  methodische  Richtungsbestini» 
mungen.  Was  von  der  Wiederholung  der  Aufgabe  gesagt  wurde, 
gilt  auch  hier. 

Solche  Erlebnisse  sind  kein  wesentlicher  Teil  einer  richtigen 
Reproduktion;  sie  finden  aber  öfters  statt,  wenn  der  Zustand  der 
Wirksamkeit  der  Aufgabe  nicht  genügt,  die  Reaktion  befriedigend 
zu  lösen.  Die  eben  geschilderte  Form  könnte  man  passend 
nennen:  eine  Veränderung  in  der  Weise  der  Wirksamkeit 
der  Aufgabe.  Wird  diese  Art  und  Weise  schon  in  der  Vor- 
bereitung verändert,  dann  genügt  dies  vollständig.  Sonst  läßt  sich 
unter  den  betreffenden  Umständen  die  Schwierigkeit  der  gewöhn- 
lichen Weise  empfinden,  und  die  zu  der  Veränderung  der  Wirk- 
samkeit der  Aufgabe  nötigen  Vorstellungen  werden  alsbald  repro- 
duziert. Es  sind  wahrscheinlich  auch  andere  Gründe,  als  die  rein 
objektiven,  für  solche  Störungen  und  Veränderungen  im  Verlauf 
des  Versuches  maßgebend  gewesen,  z.  B.  zufällige  individuelle 
Motivierungen,  die  sich  unserer  und  der  Beobachtung  der  Vp.  ent- 
ziehen. 

Eine  andere  Weise,  in  der  sich  die  etwaige  Unfähigkeit  der  Aufgabe  und 
der  vorhergehenden  Reproduktionstendenzen,  sich  eindeutig  zu  bestimmen,  zeigt, 
ist  das  Auftreten  eines  Erlebnisses  während  eines  Versuchsverlaufes,  in  dem  eine 
Frage  irgendwie  ausgedrückt  wird,  gewöhnlich  in  der  Form  von  Wortvoretel- 
lungen.  Am  häufigsten  tritt  dies  bei  den  Aufgaben,  einen  untergeordneten  Begriff 
und  einen  Teil  zu  finden,  auf.  In  gar  mancher  Hinsicht  ist  diese  Erschei- 
nung den  eben  besprochenen  sehr  ähnlich,  und  ich  darf  deshalb  einiges  zu- 
sammenfassen. Ich  finde  sie  nach  einem  Hindernis  (Vp.  U  und  IU),  oder  wo 
im  Verständnis  kein  Anhaltspunkt  zu  Reproduktionen  gegeben  war,  oder 
wenn  die  Vp.  das  Gesuchte  nicht  gleich  findet.  Vp.  UI  konstatiert,  daß  der 
Übergeordnete  Begriff  sich  aus  dem  Akt  des  Verständnisses  entwickelt,  während 
sie  bei  dem  untergeordneten  Begriff  rasch  Uber  den  Akt  des  Verständnisses  hin- 
wegsieht, und  die  Frage:  »Was  gibt  es  für  Arten  V«  darauf  folgt  Dies  hängt  wohl 
damit  zusammen,  daß  diese  Aufgabe  schwieriger  ist.  Fast  alle  andern  Fälle 
(bei  wenigen  habe  ich  bloß  die  Frage  ohne  Erklärung  konstatiert)  lassen  sich 
so  formulieren:  Wo  findet  man  den  Gegenstand  (Ganzes  zu  finden)?  oder 
(namentlich  bei  Vp.  H)  fangen  sie  assoziativ  an,  z.  B.:  Was  tust  du  jetzt? 
Was  ist  meine  Pflicht?  usw.  Bei  der  Aufgabe  »koordinierter  Begriff«,  die  sich 
wegen  der  ziemlichen  Verwicklung  ihres  Verlaufes  in  vielen  FäUen  mit  den 
andern  Aufgaben  nicht  gut  vergleichen  läßt,  dient  die  Frage  dazu,  den 
gefundenen  Oberbegriff  im  Verhältnis  zu  dem  Reizwort  und  der  Aufgabe 
festzuhalten,  z.  B.  Lerche — Singvogel.  »Was  für  andere  Singvögel  gibt  es?« 
Der  Frage  geht  gewöhnlich  eine  Pause  voraus,  was  irgendein  Hindernis 
andeutet 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  349 

Doch  deutet  die  Frage  als  solche  noch  auf  keine  radikale  Ent- 
gleisung hin,  sondern  auf  eine  Verbindung  der  vorhandenen  Aufgabe 
mit  einem  noch  unbeweglichen  Anhaltspunkt  für  Reproduktions- 
tendenzen, um  die  Bewegung  darüber  hinweg  zu  erleichtern  und 
zu  befördern.  Der  Frageprozeß  will  die  Wirksamkeit  der 
Aufgabe  stärken  und  beschleunigen  und  scheint  einer  guten 
Reproduktion  sehr  günstig  zu  sein,  eben  weil  er,  wie  gesagt,  die 
Aufgabe  und  den  Reiz  in  diesem  bewußten  Erlebnis  verknüpft. 

Die  Quelle  für  die  zur  Reaktion  nötige  Wirksamkeit  haben 
wir:  in  der  Wiederholung  der  Aufgabe,  falls  der  Anteil  der  Auf- 
gabe an  dem  schon  verlaufenen  Prozeß  falsch  oder  ungenügend 
gewesen  ist;  in  der  nochmaligen  Apperzeption  des  Reizwortes1), 
falls  dies  nicht  richtig  aufgefaßt  worden  ist;  in  der  bewußten  Ver- 
bindung der  Aufgabe  mit  dem  Wort  oder  dem  vom  Worte  gelie- 
ferten Ausgangspunkt  für  Reproduktionen,  falls  beide  ins  Stocken 
gekommen  oder  irgendwie  unbeweglich  geworden  sind. 

Die  Richtung  kommt  gelegentlich  so  zum  Bewußtsein,  wie  bei  den  oben- 
erwähnten, häufigen  Fällen.  >Ich  weiß  schon,  was  ich  will«,  »Ich  weiß,  was 
kommt,  ist  richtig«  usw.  Bei  der  fünften  Aufgabe2,  Koordination  des  Be- 
griffes, kann  der  Oberbegriff  lediglich  als  Richtung  und  nicht,  wie  gewöhnlich, 
«1*  mehr  oder  weniger  deutliche  Wortvorstellung  zum  Bewußtsein  kommen. 
Das  Bewußtsein  des  Kommenden  wird  nur  von  Vp.  III  konstatiert,  aber  da 
»ehr  oft;  bei  ihr  kommt  das  Reaktionswort  am  häufigsten  ohne  vorhergehende 
WortvorBtellung,  d.  h.  es  tritt  erst  als  ausgesprochenes  auf.  Bei  Vp.  1  kommt 
es  häufiger  nach  der  Wortvorstellung. 

Diese  Erscheinung  ist  wahrscheinlich  nur  ein  Teil  des  Prozesses  des 
Bewoßtwerdens  des  Reaktiooswortes,  weil  es  in  einem  Versuche  vorkommt, 
bei  dem  weder  die  Wirksamkeit  der  Aufgabe  noch  das  Einwirken  des  Reiz- 
wortes mangelhaft  gewesen  ist. 


1)  Wenn  das  Wort  verlesen  war  und  dergleichen.  Vgl.  auch  Vp.  I 
Koord.  Begr.  nähere  Untersuchung ;.  Die  Tendenz  war  .  .  .  Wie  das  nicht 
gleich  gelang,  so  habe  ich  beobachtet,  daß  ich  wieder  mit  besonderer  Be- 
tonung auf  das  Reizwort  blickte,  als  wenn  von  diesem  die  Anregung  zur 
richtigen  Reproduktion  ausgehen  müßte. 

2)  Bei  dieser  Aufgabe  tritt  überhaupt  der  Oberbegriff  auf.  wenn  eine  Be- 
stimmung der  Richtung  nötig  ist.  Daß  diese  nicht  immer  nötig  ist,  sehen 
wir  daran,  daß  die  Fälle,  bei  denen  kein  Oberbegriff  auftritt,  sondern  der 
koordinierte  Begriff  ohne  weiteres  gefunden  wird,  zahlreich  sind. 


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350 


Henry  J.  Watt, 


§  10.    Die  Geläufigkeit  der  Reproduktionen. 

Die  von  verschiedenen  Psychologen  gemachte  Beobachtung 
daß  die  Dauer  einer  Reproduktion  von  ihrer  Geläufigkeit  ab- 
hängig ist,  wird  in  unsero  Versuchen  bestätigt.  Wir  fassen  in 
den  folgenden  drei  Tabellen  die  Tatsachen  für  sämtliche  Aufgaben 
zusammen,  wobei  die  Dauer  und  die  Anzahl  aller  Reaktionen  der 
betreffenden  Vp.  unter  den  betreffenden  Häungkeitsgrad  eingeordnet 
sind.  Geringes  Interesse  bietet  es,  zu  wissen,  welche  Wörter  bei 
diesen  Reaktionen  als  Reizwort  und  Reaktionswort  dienten.  Diese 
wurden  natürlich  bis  zu  einem  gewissen  Grade  nach  den  Umständen, 
Kreis,  Stadt,  Studienfach,  Alter  usw.,  verschieden  sein.  Es  genügt 
schon,  den  Satz  aufstellen  zu  dürfen,  daß  bei  verschiedenen  Auf- 
gaben die  Reproduktionsgeschwindigkeit  von  der  Geläu- 
figkeit entschieden  abhängig  ist. 


Tabelle  XIX. 


Bevorzugteste  Re- 

Nächst bevorzugte 

Alle  andern  rich- 

aktion, allen  Vp. 

Reaktion,  zwei  Vp. 

tigen  Fälle,  d.  h. 

Aufg. 

Vp. 

imeinaa 

m 

I 

gemeinst 

in 

einer  Vp.  eigen 

n 

Mc 

Ma 

n 

Mc 

Ma 

n 

I 

1  I 

9(10)  1024 

1012 

18 

1372 

1517 

52 

1671  1874 

II 

10 

966 

1131 

19 

1135 

1355 

43 

1748  2267 

III 

10 

1046 

1240 

11 

1039 

1163 

42 

1276  1628 

I 

2 

1627 

1627 

9 

1471 

1510 

71 

1557  2169 

II 

II 

2 

1868 

1868 

8 

1440 

2495 

48 

1820  2245 

I  111 

2 

960 

960 

3 

1232 

1378 

47 

1236  1540 

I 

8 

1134 

1251 

12 

1282 

1549 

57 

1855  2163 

III 

II 

8 

1137 

1282 

i  9 

1376 

1386 

17 

1345  1998 

III 

;  s 

874 

1026 

1  14 

967 

1067 

44 

1191  1394 

I 

7 

1103 

1263 

18 

1456 

1563 

58 

1490  1653 

IV 

II 

6(7) 

1113 

1074 

14 

1419 

1528 

58 

1425  2061 

III 

7 

1012 

1026 

i 18 

1162 

1148 

47 

1120  1268 

1)  Vgl.  die  Versuche  von  Ebbinghaus,  Über  das  Gedächtnis,  1885,  S.77; 
Müller  und  Pilzecker,  a.  a.  0.,  z.B.  S.  24  »daß  bei  Steigerung  der  Wieder- 
holungszahl neben  einem  Anwachsen  der  relativen  Trefferzahl  zngleich  eine 
Abnahme  der  durchschnittlichen  Trefferzeit  stattfindet«  nsw.  Wumit, 
6Psych.  III.  S.  467.  Besonders  Thumb  und  Marbe,  Experim.  Untersuch, 
über  die  psych.  Grundlagen  der  sprachlichen  Analogiebildung,  S.  46. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  351 


Tabelle  XX. 


J 

Bevorzugteste  Re- 
aktion ,  allen  Vp. 
gemeinsam. 

Nächst  bevor- 
zugte Reaktion, 
3  Vp.  gemeinsam 

Nächst  bevor- 
zugte Reaktion, 
2  Vp.  gemeinsam 

Einer  Vp. 
eemein^üiu 

n       Mc  Ma 

n     Mc  Ma 

n     Mc  Ma 

n     Mc  Ma 

Aufg.  V 

[Vp.  I 

vp.  n 
vp.  in 

Vp.  VI 
Mittel 

10      993  1099 
10      856  1031 
8(101063  1040 
10      984  1146 

9   1123  1196 
9     947  1088 
8    987  1191 
6   1148  1246 
1174 

13   1472  1503 
23   1273  1600 
16   1197  1310 
19   1168  1314 

52   1379  1786 
39   1521  1746 
34   1375  1606 
26   1464  1639 
1710 

1089 

1403 

* 

51 

Vp.  I 
Vp.  u 

vp.  m 

1  Vp.  VI 

2     1563  1563 
1(2)  1698  1598 
2       825  825 
2(1)  2086(1184)  825 

5  983  990 
2   1080  1080 

6  833  844 
5  1223  1536 

10  1624  1916 
6   1890  2569 

11  1316  1396 
8   1589  1716 

47   1920  2070 
19   1936  2070 
14   1482  1986 
28  1982  2035 

Aus  den  Tabellen  sehen  wir,  daß  der  Satz  für  Ma  durchweg  in  16,  fttr 
Mc  in  10  der  20  Reihen  gilt  Genauer  ausgedrückt,  kommen  für  Me  nur  10 
Ausnahmen  aus  48  Fällen  des  Übergangs  von  einem  Grade  der  Geläufigkeit 
zum  andern  vor;  für  Ma  in  derselben  Weise  nur  6,  wovon  4  mit  denen  von 
Mc  übereinstimmen.  Wenn  wir  bei  Aufg.  I  Vp.  in  zwei  Fälle,  bei  denen 
die  Vp.  eine  Verlängerung  durch  Zögern  beim  Aussprechen  und  eine  von 
dem  vorhergehenden  Versuche  störende  Perseverationstendenz  konstatierte, 
außer  acht  lassen,  sinkt  die  Dauer  auf  Mc  940  <r  und  Ma  1068  <r.  Bei  Aufg. 
U,  Vp.  I,  waren  beide  Reproduktionen  von  andern  Reproduktionstendenzen 
gehemmt  In  dem  einen  Falle  war  die  Nebentendenz  vielleicht  und  zum 
Teil  die  Verlängerung  durch  die  Stellung  des  Versuches  am  Anfang  der 
zweiten  Reihe  bedingt.  Der  andere  Fall  dauerte  1466  er,  wodurch  also  die 
Regelmäßigkeit  wiederhergestellt  wird,  obgleich  die  zweite  Tendenz  noch 
da  ist  Bei  Aufg.  U,  Vp.  IL,  Ma  waren  zwei  Fälle  durch  ein  vergebliches  Suchen 
verlängert;  bei  dem  einen  ist  die  Vp.  zunächst  zu  der  Aufgabe  der  eben 
erledigten  Versuchsreihe  zurückgekehrt,  bei  dem  andern  war  sie  von  einer 
durch  das  Reizwort  hervorgerufenen  Erinnerung  lange  Zeit  gefesselt  So- 
bald die  Hemmungen  gelöst  waren,  kam  sie  auf  das  ausgesprochene  Reak- 
tionswort Lassen  wir  die  beiden  Fälle  weg,  so  sinkt  die  durchschnittliche 
Länge  der  Zeit  auf  Mc  1211  a  und  Ma  1556  <r,  welche  Zeiten  freilich  kleiner 
sind  als  die  den  allen  Vp.  gemeinsamen  Reaktionen  entsprechenden  Zeiten. 
Von  letzteren  aber  kommt  ein  Fall  vor  {A\)  1136  a.  Bei  Aufg.  m,  IV  und 
V  sind  die  Ausnahmen,  die  ausschließlich  Mc  angehören,  selten  und  sehr 
klein.  Von  Aufg.  VI,  Vp.  I,  gehören  die  zwei  allen  Vp.  gemeinsamen  Re- 
aktionen in  die  Form  A3  O,  die  sämtlichen  drei  Vp.  gemeinsamen  Reaktionen  in 
die  Form  Ax  Q.  Bei  dieser  Vp.  aber  ist  die  durchschnittliche  Länge  von  A3  O 
(9  Fälle)  Mo  1991  <r,  Ma  1973  er,  von  At  O  £6  FäUe)  Mc  1604  <r,  Ma  1579  0, 
d.  h.  sie  unterscheiden  sich  voneinander  dadurch,  daß  die  ersten  vermittelst 
einer  Gesichtsvorstellnng,  die  andern  direkt  gefunden  waren.  Aus  früheren 
Betrachtungen  solcher  Fälle  wissen  wir,  daß  die  Ja -Fälle  im  allgemeinen 


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352 


Henry  J.  Watt, 


länger  sind,  als  die  anf  direktem  Wege  reproduzierten.  Alle  solche  Ein- 
flüsse, deren  Ausschaltung  die  augenscheinliche  und  auffallende  Regel- 
mäßigkeit zu  einer  durchgehenden  macht,  sind  zugleich  solche,  die  in  ihrem 
Wesen  und  Wirken  von  der  Geläufigkeit  der  in  den  betreffenden  Fällen  znr 
Geltung  kommenden  Reproduktionen  unabhängig  sind.  Nur  in  der  zuletzt 
erwähnten  Gruppe  ist  das  nicht  schlechthin  anzunehmen.  Wir  sollten  eher 
erwarten,  daß  die  geläufigeren  Reproduktionen  auf  dem  raschesten  Wege 
zur  Geltung  kommen.  Das  wäre  durchweg  der  Fall,  wenn  die  Geläufigkeit 
allein  die  Reproduktionsgeschwindigkeit  bestimmte.  Aber  auch  die  Aufgabe  üt 
bei  uns,  wie  oben  gezeigt,  ein  sehr  wichtiger  Faktor,  obgleich  sie,  wie  unsere 
Tabellen  zur  Genüge  beweisen,  auch  der  Geläufigkeit  Spielraum  bietet.  Es 
ist  aber  sehr  wohl  denkbar,  daß  eine  Reproduktion  allen  Vp.  gemeinsam 
wäre,  ohne  daß  sie  im  mindesten  eine  Reproduktionsschnelligkeit  zeigte. 
Bei  Aufg.  Übergeord.  Begr.,  Vp.  I,  II  und  III,  kommt  die  Reproduktion  Stiefel  - 
Kleidung  vor  mit  Formen  und  Zeiten  für  die  betreffenden  Vp.  bzw.  A%  1135  <s. 
A3  2570  a ,  A3  2120.  Die  entsprechenden  Durchschnittszeiten  sind  för 
die  drei  Vp.  bzw.  Me  1024  a  Ma  1012  a,  Mc  966  a  Ma  1131a,  Me  1016a 
Ma  1240  a.  Das  ist  also  keine  geläufige  Reproduktion,  sondern  eher  eine,  bei 
uns  wenigstens,  eindeutig  bestimmte  Reaktion,  und  wir  können  nicht  erwarten, 
daß  eindeutig  bestimmte  Reaktionen  als  solche  auf  gleiche  Weise  verlaufen 1 
Daß  trotzdem  die  Gültigkeit  des  Satzes  von  der  Geschwindigkeit  der  geläufigen 
Reproduktionen  bei  uns  so  aufiällt,  kann  ihn  nur  annehmbarer  machen. 
Anderweitige,  diesen  Satz  störende  Einflüsse  treffen  doch  möglicherweise  alle 
Fälle  wenigstens  unabhängig  von  ihrer  Geläufigkeit.  Übrigens  tritt  die 
Gültigkeit  des  Satzes  so  deutlich  in  unsern  Tabellen  hervor,  daß  sie  andere 
mögliche  Einwände,  wie  z.  B.  den  verkürzenden  Einfluß  der  Bereitschaft  bei 
ungeläufigen  Reproduktionen,  den  störenden  Einfluß  von  allerlei  Umständen 
auf  wirklich  geläufige  Reproduktionen,  wie  sie  tatsächlich  vorkommen,  ent- 
kräften kann.  Unser  Maßstab  für  die  Geläufigkeit  ist  eben  die  Häufigkeit 
des  Vorkommens  bei  den  verschiedenen  Vp.,  und  mit  demselben  wird  der 
Satz  bestätigt. 

Wenn  man  für  alle  Aufgaben  diese  Durchschnittszeiten  aller 
Vp.  für  jeden  Grad  der  Geläufigkeit  sucht  und  die  dabei  erhal- 
tenen Ziffern  in  Kurven  zur  Anschauung  bringt,  so  erkennt  mau 
wieder  deutlich  den  Einfluß  der  Aufgabe  neben  dem  der 
Geläufigkeit,  was  eine  Vergleichung  mit  den  schon  oben  aus- 
geführten, diesen  Einfluß  der  Aufgabe  darstellenden  Kurven  nm 
so  mehr  bestätigt,  als  man  dabei  findet,  wie  tibereinstimmend  der 


1)  D.  h.  die  Gemeinsamkeit  einer  Reaktion  muß  nicht  in  jedem  Fall  auf 
eine  Geläufigkeit  derselben  hinweisen.  —  Vgl.  Münsterberg,  a.  a.  0.  S.  111  • 
»Unsere  Versuche  zeigten  nämlich,  daß  die  eindeutigen  Beziehungeurteile 
wesentlich  schneller  abliefen,  als  die  unbeschränkten  Beziehungsuiteile«.  Es 
wäre  schwierig,  Eindeutigkeit  ganz  und  gar  von  der  Geläufigkeit  experimen- 
tell zu  trennen.  —  Vgl.  Cattell,  Psychometrische  Untersuchungen,  Teil  DI- 
Wundts  Studien,  Bd.  IV,  S.  246:  > C  weiß  ebensogut  als  ß,  daß  5  +  7»  12 
eindeutig  ist,  braucht  aber  V10"  länger,  es  sich  ins  Gedächtnis  zu  rufen«  usw 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


Korvenabfall  in  den  verschiedenen  Figuren  ist.  In  der  Fignr  sind 
die  Ordinalen  Zehntelsekunden  und  die  Abszissen  Aufgaben. 
n  bedeutet  die  allen  Vp.  gemeinsamen,  n—  1  die  allen  Vp.  außer 
einer  gemeinsamen  Reaktionen,  usw. 


™  Au/$aJ>cn  I  M  w  ir  t  n 

Fig.  8. 


Wenn  die  Geläufigkeit  einer  Reproduktion  in  dieser  Weise  für 
die  Dauer  der  Reaktion  bestimmend  ist,  dürfte  man  außer  dem 
bereits  Gefundenen  nocb  anderes  erwarten,  nämlich,  daß  B-  und 
C-Fälle  eine  kürzere  Zeit  in  Anspruch  nehmen,  je  geläufiger 
die  reproduzierte  Vorstellung  bei  der  betreffenden  Vp.  ist.  Die 
Zeit  müßte  im  Durchschnitt  kürzer  sein,  wenn  das  betreffende  Re- 
produzierte zweimal  vorkommt,  und,  wenn  es  dreimal  vorkommt, 
kürzer  als  bei  zweimaligem  Vorkommen,  usf.  Das  dürfen  wir  auch 
für  die  .4-Fälle  erwarten  und  um  so  mehr  für  die  falschen  Fälle, 
die  ja  so  oft  durch  die  Stärke  der  Reproduktionstendenz  verur- 
sacht werden. 

Um  diese  Folgerungen  zu  prüfen,  habe  ich  einige  Tabellen 
aufgestellt. 

Archiv  für  Psychologie.    IV.  23 


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Henry  J.  Watt. 


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Experimentelle  Beiträge  au  einer  Theorie  des  Denkens. 


355 


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2604 

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817 

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1444 
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1163 

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rH  CM 

1397 
814 

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1-  1-H 

1331 
1292 

1122 
1003 
1384 

CO 

CO  CO 

CO  CO 

1-1 

OS  CO 

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1-H 

2606 
1687 

2    ,-H  rH 

1935 
1587 

1390 
2443 

rH  CM  CM 
H  H  H 

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SS 

1318 
1446 

1777 
1011 
1243 

1720 
1415 

1413 
1857 

1143 
1109 
1103 

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356  Henry  J.  Watt, 


Tabelle  XXIII. 
Die  Geläufigkeit  der  Vorstellungen  bei  den  einzelnen  Vp. 


Aufgabe  V 

j 

Aufgabe  VI 

1— !— 

■     !  1 

2 

3 

j  n    Mc  Ma 

n      Mc         Ma  !|  n    Mc  Ma 

n    Mc  Ma 

n    Mc  Ma 

Vp.   I   B+C   11  1763  2600 
A  :67  1323  1434 

2  4077(1297]  4077 
5  1515  1525 

9  3335  3000 
41  1606  1736 

1  3424  3424 
13  1613  1764 

Vp.  n  JS+  C 
A 
F 

16  1818  2040 
41  1035  1147 
9  1461  1301 

3  17%  1882 

4  1232  1012 
8    949           967  , 

26  1044  1325 
23  1271  1618 

3    966  1087 
1    858  1087 

3    797  803 

Vp.ni  B+Cl 
A 

6  1828  1769 
53  1303  1357 

1  2869  2869 
1    978  978 

11  2285  2222 
29  1579  1793 
27  1739  2155 

1  1313 
1  1143 

1  3050 
1  1737 
1  1486 

Die  Zahlen  über  den  Vcrtikalkolumnen  geben  an,  wie  oft  das  betreffende 
Reaktionswort  bei  der  Vp.  in  jeder  Aufgabe  reproduziert  wurde.  Da  eine 
Trennung  der  B-  und  C-Fälle  deren  Anzahl  sehr  verringert  hätte,  werden 
hier  B-  und  C-Fälle  zusammengerechnet,  und  unter  1  geben  Mc  und  Jlfa  die 
durchschnittliche  Dauer  der  B-  und  C-Fälle  an  nach  Abzug  derer,  die  in  den 
andern  Vertikalkolumnen  vorkommen.  In  derselben  Weise  werden  die 
F-  (falschen)  Fülle  gerechnet. 

Bei  den  B+  C-  Formen  6nde  ich,  daß  bei  sieben  aus  allen  13  Fällen  die 
zweimal  vorkommende  Reaktion  sowohl  für  Mc  als  für  Ma  entschieden 
kleiner,  und  bei  5  Füllen  größer  ist,  als  die  einmal  vorkommende.  Von 
diesen  gehören  drei  den  letzten  zwei  Aufgaben  an.  Viermal  ist  sowohl  Mc 
wie  Ma  in  der  dritten  Rubrik  kürzer  als  in  der  zweiten,  während  die  zwei 
übrigen  Fälle  länger  sind.  In  der  vierten  sind  zwei  länger  und  zwei  kürzer. 
Von  den  übrigen  sind  Mc  und  Ma  einmal  länger  nnd  einmal  kürzer,  und 
einmal  Mc  kürzer  und  Ma  länger.  Tab.  XXII,  Aufg.  III,  Vp.  HI  B  +  C  ist 
das  regelmäßigste  Beispiel.  Bei  den  A -Fällen  sind  zugleich  Mc  und  Ma  in 
19  Fällen  kürzer:  neunmal  im  ersten,  siebenmal  im  zweiten  und  dreimal  in 
andern  Graden,  wogegen  Mc  und  Jlfa  in  elf  Fällen  länger  sind :  viermal  im 
ersten,  dreimal  im  zweiten,  dreimal  im  dritten  und  einmal  im  vierten  (trade. 
Die  übrigen  7  Fälle,  wovon  fünf  im  ersten  Grade  sind,  schwanken.  Es  sind 
hier  im  ganzen  37  Fälle.  Bei  den  falschen  Fällen  endlich  werden  die 
Zeiten  in  13  aus  den  19  Fällen  mit  der  Geläufigkeit  kürzer  sowohl  für  Mc 
wio  für  Ma.   Unsere  Erwartung  wurde  damit  im  großen  und  ganzen  erfüllt 

Wie  läßt  sich  aber  die.  plötzliche,  auffallende  Verlängerung  der  Zeit  in 
den  höheren  Graden,  wenn  die  Reaktion  viele  Male  vorkommt,  erklären? 
Dazu  müssen  wir  uns  an  verschiedenes  erinnern.  Wenn  die  Reproduktion 
sich  oft  und  stark  aufdrängt,  wird  sie  störend,  weil  sie  sich  öfters  zu 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Deukene.  357 


unpassender  Zeit  geltend  macht  >),  wenn  sie  nicht  der  Hemmung  ausgesetzt 
wird,  indem  sie  sich  nur  durch  ihre  größere  Kraft  und  gegen  die  Tendenz 
der  Aufgabe  wirksam  erweist.  Obgleich  wir  im  allgemeinen  finden,  daß  die 
Reproduktion  je  geläufiger  desto  schneller  ist,  haben  wir  doch  keinen  Grund 
so  der  Annahme,  daß  eine  Reproduktion,  die  von  einem  Reiz  ausgeht,  not- 
wendigerweise von  der  Geschwindigkeit  derselben  Reproduktionstendenz,  die 
von  einem  andern  Reiz  ausgeht,  beeinflußt  werde.  Dies  könnten  wir  nur 
erwarten,  wenn  die  Reize  einander  funktionell  ähnlich  sind,  was  sie  bei 
diesen  Aufgaben  Behr  gut  sein  könnten. 

Es  wäre  nun  interessant,  zu  wissen,  ob  bei  den  Fällen,  wo  mehrere 
Reproduktionstendenzen  wirksam  sind,  die  eine  die  Reaktion  bestimmt,  weil 
sie  eine  größere  Geschwindigkeit  oder  Geläufigkeit  wie  die  andern  gehabt 
hat  In  denjenigen  Fällen,  bei  denen  eine  Fülle  von  Vorstellungen  oder 
ReproduktionBtendenzen  konstatiert  wurde,  Bind  wir  nicht  imstande,  dies 
wahrscheinlich  zu  machen.  Nur  einmal  haben  zwei  Vp.  gleich  reagiert.  Es 
handelte  sich  hauptsächlich  um  eine  Gruppe  bei  einer  einzigen  Vp.,  und 
dabei  läßt  uns  die  Art  der  betreffenden  Aufgabe  (II)  nicht  einmal  eine 
große  Übereinstimmung  in  der  Reaktion  erwarten.  Die  sonst  konstatierten 
Fälle  sind  wohl  zu  wenige  und  zu  zerstreut.  Die  B- Fälle  jedoch,  die 
eine  große  Ähnlichkeit  mit  diesen  haben,  aber  nur  eine  andere  Tendenz, 
nicht  viele,  enthalten,  eignen  sich  wegen  ihrer  größeren  Häufigkeit  bei  allen 
Aufgaben  mehr  zu  einer  solchen  Untersuchung.  Dabei  ergibt  sich  folgendes 
Resultat  Bei  36  Fällen  ist  eine  gewisse  Geläufigkeit  der  wirksam 
gewordenen  Tendenz  nachweisbar,  und  zwar  darin,  daß  diese  Reproduktion 
entweder  auf  das  betreffende  Reizwort  bei  verschiedenen  Vp.  oder  mehrere 
Maie  bei  derselben  Vp.  auf  ein  anderes  Reizwort  oder  beides  in  verschiedenen 
Graden  der  Häufigkeit  folgte.  Eine  Reproduktion  auf  ein  und  das- 
selbe Wort ,  die  bei  vier  Vp.  vorkam ,  verlief  in  1179  a,  6,  die  bei  dreien 
vorkamen,  in  durchschnittlich  1641  «r,  16,  die  mehr  als  einmal  auf  verschie- 
dene Reizwörter  bei  derselben  Vp.  vorkamen,  in  durchschnittlich  1948  a 
und  10,  die  anf  dasselbe  Reizwort  nur  bei  zwei  Vp.  und  nicht  weiter  vor- 
kamen, in  durchschnittlich  2623  <r2].  Das  Vorkommen  mehrere  Male  und  bei 
mehreren  Vp.  wird  immer  als  Vorkommen  in  derselben  Aufgabe  verstanden. 
Bei  8  Fällen  ging  die  Tendenz  zunächst  nach  einer  falschen  oder  einer  in 
der  vorhergegangenen  Reihe  zur  Anwendung  gekommenen  Aufgabe.  Hier 
ist  der  Einfluß  der  Aufgabe  wieder  offenbar.  Es  bedarf  auch  nicht  der  Unter- 
suchung, ob  wir  eine  Geläufigkeit  der  Aufgabe  nachweisen  können.  Daß  sie 
vorhanden  ist  versteht  sich  von  selbst,  und  es  ist  ja  natürlich,  daß  der  Ein- 
fluß der  richtigen  Aufgabe  bevorzugt  wurde  und  verstärkend  wirkte. 

Bei  10  Fällen  kamen  zwei  Bedeutungen  des  Reizwortes  zum  Be- 
wußtsein. In  7  Fällen  davon  ging  die  Vp.  zu  der  von  allen,  in  zweien  zu 
der  von  allen  Vp.  mit  Ausnahme  einer  einzigen  angenommenen  Bedeutung 
öber.  Einmal  stand  sie  in  ihrer  Auffassung  des  Reizwortes  allein,  obgleich 
die  andere  Bedeutung,  die  ihr  im  Bewußtsein  war,  gerade  die  von  allen 
andern  Vp.  angenommene  war.  Das  betreffende  Reizwort  war  Alter,  das 
die  Vp.  als  ein  substantiviertes  Adjektiv  auffaßte.  Viermal  wurde  das 
Wort  verlesen.   Das  Richtige  kam  aber  gleich  zur  Geltung.  Siebenmal 


1}  Vgl.  die  Reihe  von  Fällen  oben  S.  342  f. 
2;  Für  diese  Zahlen  ist  Ma  allein  berechnet. 


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358 


Henry  J.  Watt, 


hat  eine  besondere  Leistung  seitens  der  Vp.  einen  Znstand  der  Hemmung 
gelöst:  dreimal  durch  Unterdrückung,  einmal  durch  Verlassen  der  andern 
Richtung  für  sich,  zweimal  durch  eine  »energische  Anwendung  der  Aufmerk- 
samkeit«. Ein  anderes  Mal  >ein  Nachlaß,  als  wenn  die  vorhergehende  Hem- 
mung gewaltsam  aufgehoben  wurde;  es  muß  stimmen«  (nämlich  das  Reaktions- 
wort}. Bewußtsein  einer  gewissen  Willktirlicbkeit  in  der  Begriffsbestimmung, 
etwa:  Ach  was,  es  muß  so  gehen.  Zweimal  kam  die  wirksame  Repro- 
duktion mit  dem  Eindruck  des  Zwanges  oder  Uberraschend,  woraus  wir 
auf  eine  ursprüngliche  Stärke  der  Tendenz  schließen  dürfen,  und  zweimal 
war  die  wirksame  Reproduktionstendenz  in  Bereitschaft.  Bei  33  Fällen 
fiel  dasjenige,  worauf  die  zweite  Tendenz  eich  richtete,  nicht  ein,  oder,  mit 
andern  Worten,  die  Vp.  suchte  so  lange,  daß  sie  nachträglich  zu  Protokoll 
geben  mußte,  sie  habe  es  nicht  gefunden.  Die  Tendenz  war  zu  schwach, 
es  Uber  die  Reproduktionsschwelle  zu  erheben;  sie  war  unterwertig  >).  In 
14  solchen  Fällen  (sämtlich  bei  Aufgabe  II)  griff  die  Vp.  nach  einer  andern 
Methode,  der  schon  erwähnten  mechanischen  Metbode  des  Vorsetzens  oder 
des  Anhängens  eines  Wortes  oder  einer  Silbe  an  daB  Reizwort  ubw.  Das 
war  eine  entschiedene  Erleichterung  der  Aufgabe,  was  gleichwertig  ist 
mit  einer  Verstärkung  der  wirksamen  Tendenz.  Von  den  Übrigen  kann 
man  aus  dem  Protokoll  nichts  weiter  sagen;  sie  waren  aber  offenbar  durch 
die  Stärke  der  wirksamen  Reproduktion  bestimmt. 

Es  bleiben  damit  im  ganzen  etwa  13  Fälle  unerklärt.  Bei  dreien  hat 
eine  lebhafte  Vorstellung,  bei  einem  eine  geläufige  Berührungsassoziation  der 
wirksamen  Reproduktionstendenz  viel  geholfen.  Einmal  ging  die  Repro- 
duktion aber  gegen  die  Richtung  der  lebhaften  Gesichtsvorstellung.  Zu  diesen 
und  den  andern  Fällen  können  wir  ans  dem  Protokoll  nichts  Erklärendes 
finden. 

Es  aind  aber  im  ganzen  wenige  Fälle,  die  da  übrigbleiben,  und  daß  ein 
notwendigerweise  so  bedingtes  Protokoll,  wie  das  unsrige,  in  allen  Fällen 
Auskunft  geben  werde,  können  wir  nicht  erwarten.  Wir  müssen  also  an- 
nehmen, daß  diese  wie  aUe  Reproduktionen  erstens  durch  die  in  der  Vor- 
bereitung oder  durch  etwaige  Wiederholung  wirksam  werdende  Kraft  der 
Aufgabe  und  zweitens  durch  die  relative  Stärke  der  einzelnen  erregten  Re- 
produktionstendenzen bestimmt  wurden.  Ceteris  paribus  entscheidet 
zwischen  zwei  Tendenzen  die  eigene  Stärke  und  nicht  eine 
Wahl  oder  die  Apperzeption.  Dahin  geht  unsere  ganze  Beweisführung. 

Fassen  wir  das  Resultat  dieses  Abschnittes  zusammen!  Erstens 
haben  wir  gefunden,  daß,  je  mehr  die  verschiedenen  Vp.  in  einer 
Reaktion  auf  einen  bestimmten  Reiz  in  derselben  Aufgabe  Uber- 
einstimmen, um  so  geschwinder  diese  Reaktion  bei  jeder  Vp.  statt- 
findet. Die  wenigen  Ausnahmen  vermochten  wir  auch  zu  erklären. 
Geläufigkeit  können  wir  aber  auch  noch  in  einer  andern  Form 
beobachten.  Dieselbe  Reaktion  kann  bei  derselben  Vp.  auf  ver- 
schiedene Reize  folgen.  Demgemäß  finden  wir  zweitens,  daß  die 
Reaktion  bei  allen  großen  Klassen  um  so  geschwinder  stattfindet,  je 


1)  Müller  und  Pilzecker,  a.a.O.   S.  34  ff. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


359 


öfter  die  betreffende  Reaktion  in  derselben  Aufgabe  bei  je  einer 
Vp.  auf  verschiedene  Reize  folgt.  Die  Unregelmäßigkeit,  die  wir 
da  gefunden  haben,  daß  nämlich  bei  derartigen  Versuchen  wie 
den  nnsrigen  die  Reaktion  öfters  länger  dauert,  wenn  sie  sehr 
oft  auf  verschiedene  Reizwörter  folgt,  haben  wir  der  Interferenz- 
wirkung von  sich  aufdrängenden  unpassenden  Tendenzen  zuschreiben 
können.  Drittens  haben  wir  uns  gefragt,  ob  eine  Tendenz  um  so 
schneller  andere  Tendenzen  stören  und  beseitigen  kann,  je  ge- 
schwinder sie  ist.  Dazu  erinnern  wir  wieder  daran,  daß  unser 
zweiter  Satz  im  allgemeinen  für  die  B-  und  C-Fälle  zusammen- 
genommen, für  die  J-Fälle  und  etwas  deutlicher,  wie  zu  erwarten, 
für  die  falschen  Fälle  und  deshalb  auch  für  alle  Fälle  im  großen 
und  ganzen  gilt.  In  Anbetracht  dieser  Resultate  haben  wir  nun  die 
ß- Fälle  untersucht.  Diese  B-  Fälle  sind  dadurch  charakterisiert, 
daß  sie  neben  der  in  der  Reaktion  sich  kundgebenden  Tendenz  noch 
eine  Tendenz  enthalten,  welche  die  Vp.  nicht  näher  zu  charakteri- 
sieren imstande  ist.  Es  ist  nun  von  mehreren  Psychologen1)  be- 
hauptet worden,  daß  bei  einem  solchen  Falle,  in  dem  mehrere  mög- 
liche Verbindungen  dem  Bewußtsein  zu  Gebote  stehen,  eine  Apper- 
zeption eine  dieser  Verbindungen  auswählt  und  sie  in  den  Blick- 
punkt des  Bewußtseins  erhebt.  Das  ganze  Resultat  unserer  Unter- 


1)  Trautachoidt,  Wundts  Studien,  Bd.  I,  S.  248.  Wundt,  Logik, 
1880,  Bd.  I,  S.  25:  Die  aktive  Form  der  Apperzeption,  »bei  der  unter  ver- 
schiedenen sich  darbietenden  Vorstellungen  eine  bestimmte  ausgewählt 
wird«  usf.  Vgl.  damit  Physiol.  Psych.,  3.  Aufl.,  Bd.  II,  S.  381 :  »indem  die 
Apperzeption  aus  einer  Mehrheit  bereit  liegender  assoziativer  Verbindungen 
die  geeigneten  auswählt.  Alles  Denken  ist  daher  innere  Wahltätigkeit.« 
Das  wird  in  der  5.  Auflage  allem  Anscheine  nach  nicht  mehr  aufrecht- 
erhalten. Vgl.  »In  noch  höherem  Maße  ist  das  natürlich  unter  den  meist  viel 
komplizierteren  Verhältnissen  der  gewöhnlichen  Tätigkeit  der  aktiven  Auf- 
merksamkeit der  Fall,  wo  sich  unter  Umständen  zahlreiche  assoziativ  ge- 
hobene Vorstellungen  darbieten  können,  unter  denen  dann  eine  bestimmte, 
den  gegebenen  intellektuellen  Bedingungen  entsprechende  stärker  gehoben 
and  demzufolge  apperzipiert  wird,  aber  von  dem  Gefllhl  begleitet  ist,  daß 
neben  diesem  noch  andere  Apperzeptionsmotive  vorhanden  waren.  In 
diesen  Fällen  hat  also  die  aktive  Apperzeption  die  Merkmale  einer  Will- 
kür handlnng.«  Bd.  in,  S.  345.  Wenn  man  unter  Wahl  den  Inbegriff  der 
Vorgänge,  wodurch  eine  ReproduktiotiBtendenz  zur  Wirksamkeit  bestimmt 
wird,  versteht,  so  muß  man  sich  davor  hüten,  den  Anschein  zu  erwecken, 
als  wenn  unter  Wahl  ein  von  andern  prinzipiell  verschiedener  Einfluß  ver- 
standen würde.  Dem  Begriff  der  Wahl  ist  nun  etwas  derartiges  aufgeprägt 
worden.  Dazu  gibt  er  also  den  psychologischen  Tatbestand  nicht  exakt 
genug  wieder  und  ist  deshalb  zu  verwerfen. 


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360 


fienry  J.  Watt, 


Buchung  der  -B-Fälle  bewegt  sich  in  der  Richtung,  daß  wir  sagen 
müssen:  unter  gleichen  Umständen  entscheidet  zwischen 
rerschiedenen  sich  darbietenden  Vorstellungen  nicht  eine 
apperzeptive  Wahl1),  sondern  die  eigene,  durch  Wieder- 
holung gewonnene  Stärke  der  Reproduktionstendenz. 
Einer  der  »gleichen  Umstände«  ist,  wie  nebenher  bemerkt  sei,  die 
Einheit  der  Aufgabe,  der  sich  diese  Vorstellungen  darbieten.  Daß 
diese  Aufgabe  an  der  Reproduktion  der  wirksamen  Tendenz  teil- 
nimmt, würde  niemand  weniger  als  ich  bestreiten,  aber  ich  kann 
nicht  einsehen,  daß  es  uns  erlaubt  ist,  irgendeine  andere  Hypo- 
these anzunehmen  als  die,  daß  der  die  Reproduktion  begün- 
stigende Einfluß  der  Aufgabe  allen  sich  darbietenden 
Vorstellungen  zuteil  wird. 

Man  könnte  dagegen  einwenden,  daß  unter  den  am  Ende  von 
§  6  erwähnten  A -Fällen,  bei  welchen  viele  Tendenzen  sich  auf- 
drängten, nur  ein  Fall  durch  eine  Geläufigkeit  seiner  Reaktion 
irgendwie  eine  Erklärung  fand,  und  daß  unter  den  besprochenen 
B-  Fällen  zweimal  (unter  andern  ziemlich  gleichen  Fällen)  die 
Hemmung  durch  eine  energische  Anwendung  der  Aufmerksamkeit 
aufgehoben  wurde.  Gegen  den  ersten  Einwand  kann  ich  nur  er- 
widern, daß  unser  Material  nicht  groß  genug  zu  einer  hinreichenden 
Erklärung  war.  Wir  sind  aber  zu  der  Annahme  berechtigt,  daß 
ähnliche  Fälle  in  ähnlicher  Weise  sich  erklären  lassen.  Gegen 
den  zweiten  Einwurf  könnte  man  nur  vorbringen,  daß  die  Aussage 
einer  Vp.,  wenn  es  sich  um  etwas  Objektives  handelt,  nur  einen 
heuristischen  Wert  hat,  bis  etwas  objektiv  Erklärendes  gefunden 
wird.  Mit  andern  Worten  gesagt,  sie  dient  als  eine  Quelle  von 
zu  prüfenden  möglichen  Erklärungen;  aber  das  gefundene  Objek- 
tive geht  hier  gegen  die  Aussage  der  Vp. 


1)  Ob  bei  den  sogenannten  Wahlreaktionen  etwas  vorhanden  ist 
was  man  mit  dem  Namen  Wahlakt  fixieren  darf,  ist  eine  andere  Frage. 
Vgl.  Kraepelin  und  Merkel,  »Beobachtungen  bei  zusammengesetzten  Re- 
aktionen«, Studien,  X,  499 ff.,  und  Wundts  Aufsatz  daselbst  Rein  Name 
und  keine  Wahrnehmung  (S.  495)  wird  jedoch  diesen  Wahlakt  als  einen  nicht 
durch  die  Stärke  der  Reproduktion  selbst,  ceteris  paribus,  bedingten  fest- 
stellen können. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


361 


§  11.   Die  Gesichtsvorstellunsen. 

Die  Eigenschaften  und  Funktionen  der  Gesichtsvorstellongen 
sind  sehr  interessant,  und  es  wird  sich  lohnen,  sie  durch  die  ver- 
schiedenen Aufgaben  bei  den  verschiedenen  Vp.  zn  verfolgen.  — 
Ich  gebe  also  eine  kurze  Beschreibung  der  Gesichtsvorstellungen 
bei  jeder  Aufgabe  für  jede  Vp.  Im  folgenden  werden  die 
Versuche,  welche  solche  Vorstellungen  enthalten,  im  Prozentsatz 
aller  Versuche  und  die  Vp.  angegeben. 

Vp.  L  Aufg.  I.  18,6  %. 

Das  Sachen  findet  kaum  im  Bilde  statt,  vielmehr  ist  das  Bild  eigentlich 
eine  verstümmelte  Vorstellung  des  vom  Reizwort  Bezeichneten.  In  nur  einem 
Falle»  (einem  falschen,  und  so  wird  es  verständlich)  gehörte  das  BUd  mehr 
zum  Reaktionswort;  Vp.  konstatierte  dabei,  sie  glaube,  daß  das  Bild  sich 
aus  dem  Sachen  entwickelt  habe.  Wenn  die  Aufmerksamkeit  eine  andere 
Richtung  erhält,  soll  sich  das  Bild  auch  zuweilen  verdunkeln. 

Aufg.  II.   10  f.. 

Die  Vorstellung  ist  hier  seltener,  dunkel  und  flüchtig.  Sie  kann  noch 
das  Reizwort  zum  Ausdruck  bringen,  was  aber  der  eigentlichen  Tendenz  der 
Reproduktion  weniger  dienlich  ist.  Natürlich  kommen  bei  dieser  Aufgabe  mehr 
Pille  vor,  bei  denen  das  Bild  in  naher  Beziehung  zum  Reaktionsworte  steht, 
weil  es  hier  möglich  ist,  daß  mittels  einer  Gesichtsvorstellung  das  von  der 
Vp.  nur  noch  zu  Nennende  auf  direktem  Wege  hervorgerufen  wird.  Also 
leiitet  die  Vorstellung *)  hier  mehr,  obgleich  ihre  Wirksamkeit  öfters  von  der 
Methode  des  Vorsetzens  beeinträchtigt  wird.  Beides  hängt  von  der  Natur 
der  Aufgabe  ab.   Vp.  I  konstatiert  noch,  daß  alle  Bilder  farblos  sind. 

Vp.  II,  Aufg.  I.   73  X 

In  der  Regel  ist  das  Bild  eine  Vorstellung  des  vom  Reizwort  Bezeich- 
neten, zuweilen  jedoch  nur  des  damit  Assoziierten;  z.  B.  Fieber:  >  Dunkles  Bild 
eines  Fingers,  der  auf  dem  Puls  liegt«,  oder  Schweiß:  »Bild  einer  Stirne« 
usw.  Nur  selten  sind  die  Bilder  betont,  da  ja  kein  Moment  im  Versuche 
vorliegt,  welches  Betonung  hervorbringen  könnte.  Mehrere  werden  als 
schwach  und  dunkel  konstatiert  und  viele  nicht  näher  beschrieben;  es  ist 
jedoch  wahrscheinlich,  daß  sie  ziemlich  deutlich  waren.  Das  Bild  scheint 
zumeist  das  Verständnis  des  Wortes  zu  verdeutlichen;  daß  es  wesentlich 
dazu  beitragt,  die  Reproduktionstendenz  zu  bestimmen,  kann  man  nicht  immer 
sicher  behaupten,  obgleich  es  vorkommt.  Z.  B.  Sichel :  Bild  einer  mähenden 
Bäuerin;  sah  die  Hand  und  die  Sichel:  Handwerkszeug.  Bei  einigen  falschen 
Fitten  hat  die  Vp.  direkt  ans  dem  Bilde  selbst  etwas  genannt  Die  Zeiten 
steigen  von  765  o  (schwaches  Bild)  und  780  a«)  (deutliches  Bild)  bis  6794  o,  wo 
die  Vp.  lange  Zeit  vom  Bilde  gefesselt  worden  war. 

1)  Beichte:  Bild  einer  Kirche  und  eines  Beichtstuhles:  Kirche. 

2)  Z.B.  Gebäude:  Flüchtiges  Bild  des  hiesigen  neuen  Universitätagebäudes ; 
sagte  Kollegienhaus. 

3)  Adler:  sah  in  den  Lüften  einen  Adler  hoch,  sagte  Vogel.   780 a. 


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362 


Henry  J.  Watt, 


Aufg.  II.   62,6  X- 

Bei  den  meisten  Fällen  hat  die  Vp.  nnr  das  zn  nennen,  was  im  Bilde 
deutlich  gegeben  war;  z.  B.  Schlange:  Schwaches  Bild  einer  hinkriechenden 
Natter,  nnd  bei  mehreren  wird  das  Oesachte  an  dem  Bilde  selbst  gefunden, 
wo  der  Prozeß  des  Suchens  stattfindet  —  Speise:  »Eine  weiße,  gedeckte 
Tafel  mit  allerlei  Speisen.  Ich  suchte  eine  heraus  und  sagte  Braten«  3647  3, 
oder  Gebäck:  »Ich  suchte  einen  Wecken  heraus  und  sagte  Mundbrot.  Bild 
von  einem  Bäckerladen«  1614 a.  Deshalb  sind  die  Bilder  viel  deutlicher  und 
ausgeprägter,  die  Aufgabe  erlaubt,  daß  sie  sich  an  ganz  individuelle  Objekte 
anlehnen.  Den  komplizierten  Bildern  entsprechen,  wie  auch  in  der  ersten 
Aufgabe,  längere  Reaktionszeiten.  Natürlich  wirken  geläufige  Wörter,  auch 
wenn  eine  Gesichtsvorstellung  mitwirkt,  beschleunigend,  ebenso  der  Grad  der 
Deutlichkeit,  mit  dem  eine  einzige  Reproduktionstendenz  aus  dem  Bilde 
hervorgehen  kann.   Vgl.  oben  den  Versuch  »Speise«. 

Vp.  III,  Aufg.  I.   2  *. 

Nur  zweimal  in  86  Versuchen!  Schach:  »Optische  Vorstellung  des 
Brettmusters ;  eine  Zeitlang  damit  beschäftigt,  dann  das  klare  Verständnis 
von  Schach.  Spiel.«  1729 a.  Stiefel:  »Optische  Vorstellung  eines  Stiefels, 
Kleidungsstück.    Zögern  im  Aussprechen.«   2120  <x. 

Auch  wenn  sie  vorhanden  sind,  wio  man  sieht,  sind  die  Vor- 
stellungen von  keiner  Bedeutung  für  den  Versuch.  In  der  spezielleren 
UnterBuchung  der  Stadien  des  Versuchsverlaufes  bei  dieser  Vp.  waren  die 
optischen  Vorstellungen  häufiger.  Warum  es  so  war,  ist  nicht  deutlich; 
vielleicht,  weil  die  Versuche  mit* geschärfterer  Aufmerksamkeit  und  größerem 
Bedacht  ausgeführt  wurden.  Interessant  sind:  »Natter:  Lebhafte  optische 
Vorstellung  einer  Natter.  Das  Spezielle  an  Natter  kam  nicht,  nur  die  all- 
gemeine Vorstellung  eines  gekrümmten  Reptils,  nicht  die  eines  individuellen. 
So  war  eo  ipso  der  Begriff  Schlange  gegeben.«  Spatz:  Optische  Vorstellung 
eines  grauen  Vogels.  An  dem  Vogel  waren  die  Merkmale  zu  finden,  die 
zum  Ubergeordneten  Begriff  gehörten. 

Aufg.  II.   3  *. 

Bei  diesen  drei  Fällen  bestimmen  die  optischen  Vorstellungen  durch  die 
in  ihnen  enthaltenen  Farbenvorstellungen  die  Richtung  der  Reproduktion. 
Reizwörter:  Bier,  Zettel,  Saft.  Optische  Vorstellungen:  eines  braunen  Ge- 
tränkes, eines  weißen  Papierfetzens,  eines  gelben  Saftes.  Reaktionswörter: 
Met,  Stimmzettel,  Zitronensaft. 

Vp.  I,  Aufg.  III.   64  %. 

Hier  ist  nichts  Besonderes  zu  erwähnen. 

Die  folgende  Tabelle  für  die  III.  Aufgabe  für  alle  Vp.  habe  ich  zusammen- 
gestellt, um  zu  zeigen,  wie  der  im  Reizwort  gegebene  Teil  und  das  gefundene 
Ganze  sich  in  bezug  auf  Deutlichkeit  und  Häufigkeit  des  Vorkommens  in 
der  Gesichtsvorstellung  verhalten.  Ich  habe  mich  darin  bestrebt,  auch 
immer  nach  den  Aussagen  der  Vp.1)  Uber  den  Grad  der  Deutlichkeit 
der  Bilder  zu  urteilen.   Wo  dies  nicht  möglich  war.  habe  ich  ihn  nach  der 


1]  Auch  Binet  hat  die  Beschreibungen  der  Gesichtsvorstellungen  ob- 
jektiv kontrolliert  und  hat  gefunden,  daß  die  Intensität  einer  Vorstellung 
ihrem  Alter  fast  immer  umgekehrt  proportional  war.  L'etude  experimentale  de 
Tintelligence  S.  114  ff.,  bes.  S.  120.)  Die  Aussage  ist  hier  wohl  noch  zuverlässiger. 


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363 


Art  der  Beschreibung  der  Geeichtsvorstellung  geschätzt.  Viel  Wert  lege 
ich  allerdings  anf  die  Genauigkeit  der  Unterscheidung  zwischen  den  klaren 
und  den  unklaren  Ganzen  nicht;  einen  gewissen  Wert  aber  besitzen  die 
Zahlen  immerhin.  Es  ist  unverkennbar,  daß  der  Teil  viel  öfter  klar  als  un- 
klar, verschwommen,  schwach  usw.  ist,  und  daß  zugleich  das  derselben  Ge- 
Bichtsvoratellnng  zugehörige  Ganze  überwiegend,  jedoch  nicht  immer,  klar  ist. 
In  einer  erheblichen  Anzahl  von  Fällen  war  das  Ganze  unklar,  und  noch 
häufiger  war  es  überhaupt  nicht  vorhanden.  Anch  von  der  andern  Seite 
betrifft  derselbe  Grad  von  Klarheit  in  den  meisten  Versuchen  sowohj 
den  Teil  als  das  Ganze.  In  den  Fällen,  bei  denen  das  Ganze  zu  der  Teil- 
voretellnng  nicht  vorhanden  war.  ist  wohl  .meistenteils  auch  ein  begriffliches 
Suchen  oder  noch  eine  Reproduktionstendenz  deB  reproduzierten  Wortes 
neben  der  von  der  GeBichtsvorstellung  ausgehenden  vorhanden  zu  denken. 
Bei  Vp.  II  waren  41  %  solcher  Fälle  falsch,  was  noch  deutlicher  zeigt,  wie 
zuverlässig  die  Gesi chtsvorstellungen  als  Führer  zu  der  richtigen 
Reprodnktionstendenz  sind,  wenn  sie  nur  zur  Geltung  kommen.  Mit  vier 
Ananahmen  waren  alle  dieee  falschen  Fälle  bei  Vp.  II  entweder  Reproduk- 
tionen des  Ubergeordneten  Begriffes  (14,6  %  =  10  Fälle)  oder  des  Namens 

Tabelle  XXIV. 
Anfg.  III. 


Vp. 


Teil  klar 


I 

II 
III 


in 

% 


Gan-:  G. 
zes  un- 
klar :  klar 


Kein 
Gan- 
zes 


Kein 
Teil, 
Gan- 
zes 
klar 


Teil  unklar 


in 


63 

87,6 

83,6 


28 
26 
48 


17  |18 
14.6  48  41 
9,5  26 


1,6 
6 


I  6  • 


16,5 
1,6 
6 


Gan 
zes 
klar 


I 


G. 
un- 


Kein 
Gan- 
klar i  zes 


Kein  Son- 
Teil.  jstige 
opt. 
Vor- 


Gan- 
zes 
un- 
klar 


stel- 
lgen. 


# 
aller 
Ver- 
suche 
=  100* 


1,6 


7,5 
ö 


7.5 
1.5 
2,6 


13 
8 
4 


54 
81 
48 


für  den  Stoff,  aus  dem  der  Gegenstand  des  Reizwortes  gemacht  war.  Damit 
soll  aber  nicht  gesagt  sein,  daß  andero  Reproduktionstendenzen  nicht  zu- 
verlässig sind.  Sie  können  das  wohl  sein,  wie  bei  Vp.  I  und  III  ;  bei  diesen 
ist  das  Ganze  öfter  in  der  Vorstellung  als  nicht,  und  die  Anzahl  der  falschen 
Reproduktionen  ist  viel  kleiner.  Man  könnte  dagegen  einwenden,  daß  die 
Vp.  II  sich  die  Aufgabe  vielleicht  nicht  so  gut  eingeprägt  oder  die 
logischen  Bedingungen  derselben  nicht  so  gut  verstanden  habe.  Das  mag 
zutreffen,  reicht  aber  nicht  aus.  In  Tabelle  XXV,  Aufgabe  IV,  sehen  wir,  daß 
89,6  %  der  Fälle  Gesichtsvorstelinngen  enthielten,  nur  9  %  (7;  dieser  Fälle 
den  jetzt  behandelten  analog  waren,  worunter  6.5  %  (5)  falsche  Reproduk- 
tionen, drei  untergeordnete  und  zwei  übergeordnete  Begriffe  waren.  Im 
ganzen  waren  nur  acht  Fälle  mit  Gesichtsvorstellungen  (10,6  %)  falsch.  Bei 
75  °4  aller  Fälle  waren  sowohl  das  gegebene  Ganze  wie  der  gefundene  Teil 
deutlich  vorgestellt  und  alle  richtig;  d.  h.  es  sind  bei  weitem  nicht  so  viele 
falsche  Fälle  bei  der  rV  Aufgabe  überhaupt,  oder,  mit  andern  Worten,  die 
Aufgabe  ist  leichter.  Wo  die  Vorstellungen  durchaus  zur  Geltung  kamen, 
da  verschwanden  die  falschen  Reproduktionen;  wo  nicht,  wie  unter  der 
Rubrik  »Teil  klar,  kein  Ganzes«,  in  48  %  der  eine  Gesichtavoratellung 


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364 


Henry  J.  Watt, 


enthaltenden  Fälle  waren  dagegen  41  yl  falsch,  und  unter  der  Rubrik  bei  der 
IV.  Aufgabe  »Ganzes  klar,  kein  Teil«  9  *  6,5  %  falsch)  bleiben  die  Verhält- 
nisse (48  :  36)  fast  genau  dieselben.  Hätte  aber  die  Vp.  sich  fester  an  ihre 
Gesichtsvorstellungen  gehalten,  dann  hätte  sie  nicht  so  viele  falsche  Repro- 
duktionen gebracht.  Bei  Vp.  I,  Aufg.  III,  sind  nur  drei  von  Gesichtsvor- 
stellungen  begleitete  Reproduktionen  falsch,  wovon  zwei  in  diese  Rubrik 
(Teil  klar,  kein  Ganzes/  fallen.  Auch  die  einzige  falsche  Reproduktion  bei 
Aufgabe  IV  gehört  hier  hinein.  Bei  Vp.  IH  verschwanden  die  falschen  Repro- 
duktionen völlig,  wo  sowohl  Gegebeues  als  Gefundenes  wie  beim  Über^an^e 
von  der  1H.  zur  IV.  Aufgabe  vorgestellt  wurden.  In  der  Rubrik  »Kein  Ganzes, 
bzw.  kein  Teil«  sind  sie  noch  zu  finden,  obgleich  sie  auch  aus  andern  Gründen 
sonst  vorkommen. 

Ich  habe  oben  auf  die  Beschreibung  einer  Gesichtsvorstellung 
von  Vp.  in  hingewiesen,  bei  der  sie  angegeben  hat,  daß  darin 
nnr  das  Seh  langen  artige  vertreten  war.  Dasselbe  kommt 
auch  häufig  bei  Vp.  I  vor,  obgleich  ihre  Vorstellungen  oft  individuell 
und  klar  ausgeprägt  sind.  Z.  B.  Fell:  »Vorstellung  eines  stark 
behaarten  Oberkörpers  (ganz  undeutlich).  Welchem  Tier  es  ge- 
hörte, weiß  ich  nicht. «  Getreide:  »Flüchtiges  Bild  eines  Roggen- 
oder Weizenfeldes ;  die  Art  nicht  deutlich.  «  Maul :  »Tier.  Dunkle 
Vorstellung  von  einem  ganz  undefinierbaren  Tier.  Es  könnte 
ein  Ochs,  Pferd,  Hund  gewesen  sein  mit  besonderer  Betonung 
des  Kopfes  und  der  Mundgegend1).«  Zu  sagen,  wie  die  Vor- 
stellung »wirklich«  im  letzteren  Falle  war,  wäre  nach  der  Be- 
schreibung sowohl  für  die  Vp.  selbst  als  noch  mehr  für  andere 
gewagt,  obgleich  man  behaupten  könnte,  sie  wäre  doch  etwas 
Bestimmtes,  entweder  Hund  oder  Pferd  und  entweder  ein  ge- 
wisser Hund  oder  ein  gewisses  Pferd,  gewesen.  Behaupten 
kann  man  es,  aber  angesichts  solcher  Beschreibungen  wie  der 
eben  gegebenen  nicht  beweisen.  Allenfalls  darf  man  zugeben, 
daß  tatsächlich  und  für  die  betreffende  Vp.  die  Gesichts- 
vorstellung als  eine  allgemeine  gegolten  hat.  Man 
könnte  aber  auch  behaupten,  daß  Begriffe,  insofern  sie  nicht 
bloß  Namen  oder  Wörter  sind,  psychologisch  rein  nicht  existieren, 
d.  h.  ohne  daß  Anklänge  zur  Reproduktion  gewisser  untergeord- 
neter Begriffe  oder  Individuen  oder  gewisser,  dem  Individuum 
allein  gehöriger  Eigenschaften  vorhanden  sind,  und  daß  Begriffe 
als  solche  keine  reine  psychologische  Existenz  haben,  ebensowenig 


lj  Für  ähnliche  Beispiele  vgl.  Binet,  L'etude  experimentale  de  l'intelli- 
gence.  Paris  1903.  S.  113,  143,  160,  153.  Es  sind  in  dem  Buche  auch  sonst 
viele  interessante  Beobachtungen  enthalten. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


365 


wie  (nach  der  hier  bekämpften  Ansicht)  Begriffsvorstellungen.  Daß 
beide  psychologisch  als  allgemein  gelten  können,  wäre  dabei  nicht 
ausgeschlossen,  and  daß  Begriffe  eine  Berechtigung  außer  der  prak- 
tischen haben  und  allgemeine  Vorstellungen  nicht,  hat  mit  der 
Frage  nichts  zu  tun. 

Vp.  II  hat  im  allgemeinen  sehr  lebhafte  Vorstellungen,  die  sie  gleichsam 
plastisch  umformt,  und  auf  deren  verschiedene  Teile  sich  ihr  Rück  beliebig 
richtet.  Selbst  Bewegungen  kommen  darin  vor,  und  oft  fühlt  die  Vp.,  daß 
und  wo  sie  selbst  im  Bilde  sei,  und  daß  sie  sich  darin  bewegt  habe.  So 
verändert  sich  auch  bei  Vp.  1  und  III  die  Aufmerksamkeit  oder  die  Betonung 
des  Bildes.  Interessant  ist  es,  wie  eine  optische  Vorstellung  eine  andere 
Bedeutung  erhält,  indem  sie  sich  verbreitert.  Flamme:  optische  Vor- 
stellung einer  einzelnen  Flamme  nnd  dann  zugleich  eine  breitere  optische 
Vorstellung:  Feuer.  Die  Vp.  kann  von  der  Lebhaftigkeit  ihrer  Vorstellungen 
irregeführt  werden  oder  lange  dabei  stehen  bleiben  oder  an  einem  Tag  eine 
größere  Lebhaftigkeit  der  Vorstellungen  als  am  andern  haben.  Daß  das 
Wort  gelegentlich  etwas  anderes  bezeichnet  als  das,  worauf  der  Blick  sich 
richtete,  ist  schon  oben  unter  B  und  C  besprochen  (S.  324 . 

Tabelle  XXV. 
Aufg.  IV. 


Ganzes  klar 

Kein 
Gan- 

Ganzes unklar 

Vp. 

in 

9i 

i  - 

Teil 
klar 

Teil 
un- 
klar 

Kein 
Teil 

zes, 
Teil 
klar 

in 

Jl. 

Teil 
klar 

Teil 
un- 
klar 

Kein 
Teil 

li 

54.5 

32 

4,5 

18 

3 

36,5 

17 

15 

4,5 

u  1 

87 

75 

3 

9 

3 

5 

1 

1 

64 

47 

8,5 

8,5 

15 

10.5 

8,ö 

2 

Kein  j  Son- 


7.CS, 

Teil 
un- 
klar 

6 


opt. ! 
Vor- 
stel- 
lgen. | 


aller 

Ver- 
suche 
=  100* 


-  78 

89,5 


3 

-     10,5  65 


Das  meiste  des  oben  Uber  die  dritte  Aufgabe  Gesagten  kann  man  hier  wieder 
an  der  Tabelle  sehen,  so  daß  sieh  eine  Wiederholung  alles  dessen  nicht  lohnt. 
Auffallend  ist  die  Abnahme  der  Fälle,  bei  denen  das  Ganze  klar  vorgestellt' 
wurde,  und  die  entsprechende  Zunahme  der  unklar  vorgestellten  Ganzen. 
Auch  iBt  die  Abnahme  der  Fälle,  bei  denen  das  Ganze  klar  nnd  der 
Teil  unklar  vorgestellt  wurde,  unverkennbar,  ebenso  wie  die  Zunahme 
derjenigen,  bei  denen  unter  denselben  Umständen  der  Teil  klar  war.  Das 
alles  deutet  auf  eine  Schwierigkeit,  die  im  Vorstellen  des  Ganzen 
liegt,  und  eine  Leichtigkeit  dagegen,  die  im  Vorstellen  des  Teiles 
liegt  und  auch  dem  Protokoll  nach  empfunden  worden  ist.  Was 
sonst  noch  unter  die  optischen  Vorstellungen  kommt,  sind  solche  Vorstel- 
lungen, die  sich  weder  als  Teil  noch  als  Ganzes  gut  bezeichnen  lassen.  Z.  B. 
Farbe:  >Die  Vorstellung  einer  Farbe,  vielleicht  Gemälde,  vielleicht  Spek- 
trum. Bloß  ein  Nebeneinander  von  Farben.  Ol.«  Oder  Steuer.  »Dunkles  Bild 
von  dem  Amtsgebäude  hier  in  WUrzburg.  wo  man  Steuern  bezahlt.  Ausgabe.« 
Flamme:  »Vorstellung  eines  Holzstoßes,  der  in  Brand  ist:  Feuer«  usw. 


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366 


Henry  J.  Watt, 


Hier  wird  wieder  die  Allgemeinheit  des  Bildes  konstatiert,  z.  B.  Strauß: 
»Dunkles  Bild  eines  Blumenstraußes.  Art  der  Blume  selbst  in  keiner  Weise 
bewußt.  Die  Bilder  sind  öftere  so  dunkel,  daß  die  Einzelheiten  nicht 
zu  erkennen  sind,  und  daß  sie  als  allgemein  gelten  können.«  Was 
oben  von  der  Veränderung  der  Aufmerksamkeit,  der  Bewegung  im  Bilde  usw. 
gesagt  wurde,  gilt  auch  hier.  Vp.  I  gibt  an,  daß  ihre  Bilder  ziemlich  klar 
sind,  daß  jedenfalls  der  Teil  in  den  meisten  Fällen  betont  ist  Sie  meint, 
daß  durch  das  Bild  ein  Wort  gefunden  werde,  und  in  der  Regel,  aber  nicht 
immer  entspreche  das  Wort  dem  betonten  Teile.  Die  Vorstellungen  von  Vp.  II 
sind  sehr  klar  und  ausgeprägt.  Vp.  in  hatte  dem  Erlebnis  optischer  Vor- 
stellung gegenüber  den  Eindruck,  daß  da  ein  Auseinandertreten  der  Teile 
selbst  sei;  inwiefern  die  Vorstellungen  klare  und  deutliche  Bilder  seien,  künne 
sie  nicht  sagen,  sie  könnten  wohl  teilweise  auch  begriffliche  Teilgruppen 
sein.  Ihre  Wortreaktionen  sind  öfters  durch  anderweitige  gleichgerichtete 
Reproduktionstendenzen  neben  der  direkt  aus  der  Vorstellung  hervorgehenden 
herbeigeführt  Der  Begriff  kann  »ebenso  deutlich  oder  deutlicher«  als  das 
Bild  werden,  in  welchem  Falle  der  Teil  im  Bilde  nicht  betont  wäre;  wie  oft 
es  der  Fall  war,  läßt  sich  nicht  feststellen;  wahrscheinlich  nicht  oft,  weil 
es  kaum  einen  Zweifel  gibt,  daß  dies  von  der  Stärke  der  andern  gleich- 
gerichteten Reproduktionstendenz  und  nicht  von  der  Beschaffenheit  ihrer 
Vorstellungen  als  solcher  oder  nach  ihrer  Funktion  in  dieser  Aufgabe  abhängt. 


Tabelle  XXVI. 


Gesichts- 

Gesichts» 

Gesichts- 

Gesichts- 

Prozent- 

vorstd. vom 

vorst.  d.vom 

vorst  von 

vorst  von 

satz 

Reizwort 

Rktswort 

beiden 

etwas  bei- 

aller Ver- 

Bezeichne- 

Bezeichne- 

nachein- 

des Um- 

suche der 

ten  allein 

ten  allein 

ander 

fassendem 

Aufgabe 

> 

Vp.  I 

1 

2,5 

3,6 

«SP 

Vp.  u 

23,5 

14 

14 

48.6 

66,5 

s 

Vp.  III 

67  (4! 

33  2) 

7 

< 

tVp.  VI 

60 

7 

9 

21,5 

64 

> 

Vp.  I 

28 

3 

10 

59 

52 

Vp.  u 

18 

5 

77 

82 

3 

Vp.  III 

9 

9 

82 

17 

< 

Vp.  VI 

47 

2 

7 

44 

78,5 

In  dieser  Tabelle  finden  wir  ein  etwas  ähnliches  Verhalten  der  Ge- 
sichtsvorstellungen  wie  bei  den  letzten  zwei  Aufgaben.  Wir  sehen,  daß 
das  Reizwort  am  meisten  vertreten  ist,  daß  etwas  sowohl  Reizwort  als 
Reaktionswort  Vorstellendes  häufig  gebraucht  wird,  aber  bei  weitem  nicht 
so  oft,  wie  bei  der  IU.  und  IV.  Aufgabe.  Die  Anzahl  der  Gesichtsvorstel- 
lungen  enthaltenden  Versuche  Uberhaupt  hat  auch  stark  abgenommen. 
Das  alles  hängt  mit  der  Beschaffenheit  der  Aufgabe  zusammen.  Ob- 
gleich wir  bei  Vp.  I  für  Aufg.  V  so  wenige  Vorstellungen  finden,  was  sie 
veranlaßt  auszusagen,  daß  das  Bild  bei  dieser  Aufgabe  keine  Rolle  spielt 
finden  wir  sie  doch  häufig  bei  Vp.  II  und  VI,  obgleich  ihre  Rolle  kleiner  ist 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


867 


Bei  dem  Prozeß  des  Findens  der  Reproduktionstendenz  verändert  sich 
in  vielen  Fällen  die  Aufmerksamkeit  an  demselben  Bilde,  oder  ein  zweites 
Bild  stellt  sich  neben  das  erste  mit  irgendeinem  gemeinsamen  begrifflichen 
Hintergrund1},  ohne  daß  die  Bilder  zusammen  eines  bilden,  oder  die  Repro- 
duktionstendenz findet  im  ersten  Bilde  Platz  *j  und  wächst  in  ihrer  eigenen 
Form  daraus  hervor.  Vp.  VI  hat  ziemlich  schwache  und  verschwommene 
Bilder. 

Hit  der  sechsten  Aufgabe  hat  sich  nichts  Wesentliches  verändert. 
Wir  merken  die  Zunahme  der  Vorstellungen  im  ganzen  in  den  Versuchen, 
die  Abnahme  der  das  Reizwort  allein  veranschaulichenden  Gesichtsvoretellnng 
zugunsten  der  sowohl  Reiz-  als  Reaktionswort  umfassenden.  Jede  Vp.  hat 
eine  erhebliche  Anzahl  von  Vorstellungen.  Daß  Vp.  III  so  wenige  hat,  hängt 
wohl  damit  zusammen,  daß  sie  den  andern  Teil  unrichtigerweise  Öfters 
wie  den  koordinierten  Begriff,  d.  h.  durch  den  Vermittlungsgedanken  an  den 
Oberbegriff,  gefunden,  oder  sonst  das  Ganze  zu  den  beiden  Teilen  als 
System  von  Dingen  begrifflich  und  nicht  anschaulich  gegenwärtig  ge- 
habt hat 

Bei  Vp.  II  geht  bei  dieser  und  bei  andern  Aufgaben  eine  Überlegung 
der  Veränderung  der  Aufmerksamkeit  im  Bilde  zuweilen  voraus,  z.  B.  Baum : 
»Bild  bloß  vom  Stamm,  nicht  vom  Blätterdach.  Habe  mich  einen  Moment 
besonnen:  soll  mein  Blick  aufwärts  oder  abwärts  gleiten?  Dann  schaute  ich 
herunter  und  sagte  Wurzel.«   Sonst  ist  hier  nichts  Neues  zu  konstatieren. 

Aus  alledem  ersehen  wir,  wie  die  Beschaffenheit  nnd  die 
Funktion  der  Vorstellungen  von  der  Aufgabe  abhängig 
ist  Sie  können,  wie  wir  gesehen  haben,  in  jeder  Gestalt  nnd  Be- 
schaffenheit auftreten,  als  bloße  Begleiter  der  vorhandenen  Reiz- 
wörter oder  als  Ausgangspunkt3)  für  Reproduktionen,  je  nach  der 
Aufgabe.  Jedoch  scheint,  weil  die  Mehrzahl  der  Fälle  bei  diesen 
sechs  Aufgaben  so  ist,  die  Annahme  eher  der  Wahrheit  zu  ent- 
sprechen, daß  jede  Vorstellung  irgendeinen  Einfluß  auf  die  Re- 
produktion ausübt,  sei  es  als  Ausgangspunkt  dafür,  oder  indem  sie 
die  einen  oder  die  andern  Reproduktionstendenzen  unterstützt 
oder  hemmt.  Man  darf  auch  deshalb,  weil  die  Vorstellungen 
irgendeiner  Vp.  bei  irgendeiner  beliebigen  (oder  keiner!)  Aufgabe  so 

1)  Pfeife:  »Bild  von  einer  langen  Pfeife  im  Hunde;  dann  Bild  von  einer 
Zigarrenspitze.   Beide  waren  im  Munde,  aber  nicht  in  demselben  Munde.« 

2)  Lerche:  »Bild  von  einer  aufsteigenden  Lerche.  Als  sie  in  einer  gewissen 
Höhe  war  Baumhöhe),  sah  ich  eine  Nachtigall  auf  dem  Baume  sitzen. 
Nachtigall.« 

Schwein:  Ich  sah  ein  Schwein  in  einem  Stalle.  Ich  schaute  mich  im 
Stalle  um.  Dann  fand  ich  kein  anderes  Tier  im  Stalle.  Neben  daran  war 
ein  anderer  8tall,  darin  eine  Kuh. 

3)  Vgl.  Payot,  Comme  la  Sensation  devient  idee.  Rev.  Phil.  31.  p.  632: 
»Cette  image  elle-merae  Tesprit  la  neglige  pour  le  mot  et  il  ne  se  sert  d'elle 
que  comme  image  d'appui,  de  contrdle«.   Das  ist  etwas  zuviel  gesagt. 


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368  Henry  J.  Watt, 

und  so  sind,  nicht  annehmen,  daß  die  Vp.  einen  besonderen1) 
Typus  bildet,  auch  wenn  die  Wiederholungen  derselben  Ver- 
suche dasselbe  Resultat  ergeben.  Es  könnte  bei  gewissen  Auf- 
gaben vorkommen  (wie  auch  bei  uns  einige  Male  beinahe  der  Fall 
war),  daß  dieselbe  Vp.  gar  keine  Gesichtsvorstellungen  hätte,  die 
später  bei  andern  Aufgaben  deren  eine  Fülle  erlebte.  Verall- 
gemeinernd dürfen  wir  sagen:  Kein  sogenannter  Typus  darf 
ohne  Beziehung  auf  die  Aufgabe,  wie  sie  auch  sein 
mag,  beschrieben,  oder  gar  aufgestellt  werden. 

§  12.   Das  Urteil  im  Versuch. 

Während  des  Aussprechens  des  Reaktionswortes  oder  danach,  oder  auch 
nach  einer  falschen  Reproduktion  vor  dem  Ende  des  Versuches  tritt  leicht  ein 
Urteil  Uber  die  betreffende  Reaktion  auf.  Das  ist  die  Regel,  wenn  die  Re- 
produktion hauptsächlich  durch  die  Stärke  der  ReproduktionBtendenz  selbst, 
mehr  oder  weniger  unabhängig  von  der  Aufgabe,  bestimmt  worden  ist.  Unter 
solchen  Fällen  kommen  natürlich  viele  falsche  Reproduktionen  vor.  Das 
Urteil  tritt  auch  sonst  auf,  wird  aber  wenig  konstatiert,  weil  seine  Erschei- 
nung nicht  so  sehr  vom  Charakter  des  Versuches  selbst  bedingt  ist,  nicht  so 
rasch  erfolgt  und  deshalb  gewöhnlich  nicht  in  den  Versuch  hineingehört. 
Wenn  aber  die  Wortreproduktionstendenz  sehr  stark  und  aufdringlich  ist, 
macht  sich  der  vorbereitete  Anteil  der  Aufgabe  am  Prozeß  wieder  geltend. 
Das  kann  wie  bei  Aufg.  I  und  II,  den  einfacheren,  in  einem  Urteil  bestehen : 
oder  es  kann  sich  so  gestalten  wie  bei  Aufg.  V,  daß  der  das  Reiz-  und 
Reaktionswort  umfassende  Oberbegriff  auftritt  und  Befriedigung  bzw.  Un- 
zufriedenheit mit  sich  bringt;  oder  es  kann  sich,  wahrscheinlich  auf  Grund 
einer  andern  im  Verlauf  des  Versuches  dagewesenen  Reproduktionstendenz2), 
eine  Bewußtseinslage  bilden,  daß  das  Reaktionswort  etwas  Engeres 
Näheres  usw.  hätte  sein  können.  Natürlich  können  auch  zwischen  der  Wort- 
vorstellung und  dem  Aussprechen  derselben  Überlegungen  und  Urteile  auf- 
treten. 

Bei  Vp.  III  finde  ich  zwei  Gruppen  von  Versuchen:  bei  der  einen 
kommt  das  ausgesprochene  Wort  und  darauf  die  Rechtfertigung  der  Repro- 
duktion; bei  der  andern,  bei  der  die  eigene  Kraft  der  von  der  Aufgabe 
erregten  Reproduktionstendenzen  das  Bewußtsein  bzw.  die  kontollierende 
Kraft  der  Aufgabe  nicht  verdrängt  hatte,  kommt  ein  vielleicht  der  Recht- 


1)  Du  gas,  Rev.  Fhil.  39.  p.  288.  Types  d'images.  1)  Quelques  uns 
enjolivent  et  ornent  leurs  representations.  2)  Quelques  uns  les  simplifient, 
les  reduisent  ä  un  detail  expressif  et  net.  Man  vergleiche  dazu  den  Unter- 
schied zwischen  den  Vorstellungen  der  III.  und  denen  der  IV.  Aufgabe. 
Ribot,  Rev.  Phil.  32.  1891.  p. 380.  Enquete  sur  les  idees  g6ne>ales.  >0n 
pense  le  tout  (general)  au  moyen  de  la  partie  concretu  Solche  Charakteri- 
sierungen haben  ja  ihren  relativen  Wert,  aber  man  muß  sehr  vorsichtig  sein, 
wenn  man  Vorstellungstypcn  aufstellen  will. 

2  Vgl.  oben  §  7. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


369 


fertigung  äquivalenter  Prozeß  zuerst  und  dann  daB  auszusprechende  oder 
ausgesprochene  Wort  Z.  B.  Aufg.  V :  Durst— Pause.  Zustand  der  Sicherheit 
und  Bewußtsein  »was  kommt  ist  ganz  sicher  bestimmt«.  Hunger  868  <r.  Oder 
wieder:  »was  ich  früher  mit  Unrecht  sagte,  kann  ich  jetzt  mit  Recht  sagen«, 
wobei  sich  die  Vp.  dieses  Etwas  noch  nicht  bewußt  war.  Es  möchte  gewagt 
scheinen,  diesen  Prozeß»)  eine  Rechtfertigung  vor  dem  Aussprechen  zu 
nennen.  Er  ist  aber  jedenfalls  ein  Prozeß,  der  dieselbe  Befriedigung  wie 
ein  auf  Grund  einer  vollendeten  Reproduktion  gefälltes  Urteil  bringt 

Bei  nicht  wenigen  Versuchen  sagt  die  Vp.  im  Protokoll,  nachdem  sie 
das  Reaktionswort  angegeben  hat:  »ich  meinte  darunter  so  und  so«.  Ich 
gebe  eine  Reihe  von  Beispielen. 

Darunter  gemeint: 
Kleine  Ferien. 
Ein  Gesamtvorgang,  bei 

dem  man  klettert 
Duft  inklusiv. 
Der  ganze  Apparat. 
Elektrische  Anlage. 
Rumpf  (auf  Grund  einer 

Gesichtsvorstellung) 
Teil  der  Zeit. 
Rechtfertigung  gelingt 
nicht 

Begriffserweiterung  als 

Rechtfertigung. 
Der  ganze  Eisenbahn- 
betrieb. 
Alles,  was  darauf  und 
darunter  ist 

In  den  letzteren  Fällen  sehen  wir,  wie  eine  starke  Reproduktionstendenz, 
z.  B.  Stunde,  Tag.  das  Wort  geliefert  hat,  dessen  Sinn  in  einer  Weise  auf- 
gefaßt wurde,  die  der  Aufgabe  entsprach.  Ich  habe  zufälligerweise  zwei  sehr 
lehrreiche  Versuche  von  Vp.  I.  Ich  wiederholte  einige  Versuche,  bei  denen 
ich  das  erstemal  wegen  Störung  des  Apparats  keine  Zeitmessung  bekam, 
einige  Monate,  nachdem  ich  die  betreffende  Aufgabe  mit  der  Vp.  durchgeführt 
hatte.  Ich  gebe  von  der  Vp.  zuerst  den  betreffenden  Versuch  und  dann 
seine  spätere  Wiederholung. 
Aufg.  1U,  1.  Dezember  1902: 

Maul  —  Mund.   Als  Mundhöhle  gemeint,  Maul  als  die  Öffnung. 
Aufg.  III,  ö.  März  1903: 

Maul  —  Mund.   Ich  meinte  Gesicht.   Das  war  ein  einfaches  Ver- 
sprechen.  1262  er. 

Hier  sehen  wir  deutlich,  wie  eine  vorliegende  und  als  stärker  anzunehmende 
Reproduktionstendenz  sich  gegen  die  Absicht  und  das  Bedeutungsbewußtsein 

1)  Vgl.  Claparede.  L'assoc.  des  idees.  p.  229.  »On  sent  deja  dans 
quelle  direction  se  fera  la  r6ponse«.  Auf  Grund  davon  sagt  er:  »le  senti- 
ment  de  la  relation  precede  l'induit  et  est  evoquö  lui-meme  par  Tinducteur. 
Cette  forme  est  assez  delicate  ä  apercevoir:  peut-etre  möme  sa  realite  de- 
iuande-t-elle  ä  ötre  confirm6e«. 

Archiv  flkr  Psychologie.   IV.  24 


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Aufg.  III 
Vp.  I 


Aufg.  IV 
Vp.  III 


Aufg.  III 
Vp.  IH 


Reizwort: 
Ferien 
Stange 

Reaktionswort : 

Monat 
Klettern 

Duft 
Spritze 
Draht 
Genick 

Gerüche 
Feuerspritze 
Leitung 
Kopf 

(  Fahrt 
Welt 

Stunde  (der  Fahrt) 
Tag 

Theater 

Schauspieler 

(  Schaffner 

Eisenbahn 

1  Brücke 

Fluß 

370 


Henry  J.  Watt, 


der  Vp.  aufgedrängt  hat  Wie  vorsichtig  müssen  wir  dann  sein,  wenn  wir 
die  Aussage  einer  Vp.  für  die  Erklärung  irgendeiner  Erscheinung  nehmen. 
In  den  meisten  der  angegebenen  Fälle  entspricht  das  Reaktionswort  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  dem  gewollten  Sinn  und  wird  als  solches,  angenommen 
und  ausgesprochen :  bei  andern  kommt  das  Wort  zuerst,  und  sein  Sinn  wird 
so  aufgefaßt,  daß  die  Aufgabe,  wenn  irgend  möglich,  befriedigt  wird. 
In  allen  Fällen  ist  es  nur  eine  Sache  des  Grades.  Unter  dem  Begriff  Sinne 
können  wir  also  wohl  nur  die  Richtung  der  stärksten  oder  später  am  passendste» 
gefundenen  Tendenz  und  besondere  etwa  darin  enthaltener  Vorstellungen  ver- 
stehen. Aus  unserer  Betrachtung  der  B-  und  C-  Fälle  ergibt  sich  ohne  weiteres, 
wie  es  einen  Widerspruch  zwischen  dem  Reproduzierten  und  dem  gewollten 
Sinne  geben  kann,  wenn  das  Vorhandensein  einer  Mehrheit  von  Reproduktions- 
tendenzen nur  dunkel  und  ungenau  zum  Bewußtsein  kommt.  Wenn  die 
Reaktion  mit  dem  gewollten  Sinne  Übereinstimmt,  muß  er  von  einem  Gliede 
der  Richtung  vertreten  werden.  Ich  verweise  hier  zurück  auf  das  häußg 
von  Vp.  III  konstatierte  Bewußtsein  des  Kommenden  und  auf  die  B- Versuche 
von  Vp.  I,  bei  denen  sie  z.  B.  konstatierte,  daß  sie  nach  etwas  anderem 
»etwa  so  und  so«  suchte.  Die  Fälle  lassen  sich  kaum  anders  erklären  als 
dadurch,  daß  eine  Reproduktionstondenz  als  solche  erkennbar 
ist,  bevor  das  zu  Reproduzierende  vorhanden  ist.  Aus  dem 
Protokoll  können  wir  nicht  bestimmen,  wie  dieses  Erkennen  ist  Wenn  das 
Bewußtsein  »ich  weiß,  was  kommt«  zum  Teil  aus  Wortvorstellungen  besteht, 
machen  diese  Wortvorstellungen  das  Bewußtsein  des  spezielleren  noch 
Kommenden  sicher  nicht  aus.  Wenn  z.  B.  die  Wortvorstellungen  »weiß« 
oder  »sicher«  dagewesen  wären,  wurden  sie  ein  Bewußtsein  der  Sicherheit 
feststellen,  aber  ohne  Verhältnis  zu  dem,  worüber  man  sicher  war.  Ein  Ge- 
fühl ist  es  wohl  auch  nicht,  weil  keines  konstatiert  wird.  Wir  müßten  denn 
annehmen,  daß  es  mehr  Teile  im  Verlauf  einer  Reaktion  gibt,  als  die, 
die  wir  mit  Az,  A$  hervorgehoben  haben,  weil  jedesmal  doch  ein  anderes 
Kommendes  bewußt  und  gemeint  wird. 

In  vielen  Fällen  also  wird  das  Gesuchte  tatsächlich  U-Fälle  z.  B.)  repro- 
duziert, in  andern  wird  ein  anderes  (B- Fälle  z.  B.)  vom  Gesuchten  als  ver- 
schieden Erkanntes  reproduziert,  und  bei  noch  andern  wird  etwas  reproduziert, 
das  bis  zu  seinem  Auftreten  und  nachher  vielleicht  als  Vertreter  des  Gemeinten 
gilt.  Es  scheint  auch  zweifellos  zu  sein,  was  aus  dem  Versuch  Maul— Mund 
und  andern  hervorgeht,  daß  innerhalb  gewisser  Grenzen  gewisse  Reproduktions- 
tendenzen in  den  ersten  Stadien  ihres  Auftretens  einander  gleich,  mit  an- 
dern Worten  in  ihrer  Besonderheit  nicht  erkennbar  sind. 


§  13.  Verschiedenes. 

1)  Geläufige  Wortverbindung. 

Wie  oben  bei  der  Besprechung  der  Form  A7  auseinandergesetzt 
wurde,  spielte  der  Einfluß  geläufiger  Wortverbindungen  bei  den 
Versuchen  eine  ziemlich  große  Rolle.  Jedoch  läßt  er  sich  nicht 
überall  feststellen,  weil  die  Vp.  selbst  nicht  immer  ganz  oder  doch 
wenigstens  einigermaßen  sicher  war,   ob  ein   solcher  Einfluß 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  371 

zu  konstatieren  war.  Wir  selbst  dürfen  es  nicht  unter- 
nehmen, nach  der  bloßen  Beschaffenheit  der  Reiz-  und  Reaktions- 
wörter festzustellen,  wo  er  vorhanden  war  und  wo  nicht.  Es  gibt 
manche  Fälle,  die  äußerlich  entschieden  das  Gepräge  einer  Wort- 
ergänzung oder  Wortverbindung  tragen,  die  aber  psychologisch 
gar  keine  solchen  sind:  z.  B.  Aufg.  II  Theorie-Lichttheorie,  See- 
Nordsee  (mit  Hilfe  einer  Gesichtsvorstellung  gefunden),  Stuhl-Bein, 
Nuß-Kern,  Wagen-Rad.  Bei  der  einen  Vp.  können  solche  Fälle 
durch  die  Wortverbindung  bestimmt  sein  und  bei  den  andern 
nicht.  Wo  es  also  zweifelhaft  ist,  dürfen  wir  nicht  entscheiden. 
Bei  Aufg.  VI,  Vp.  III,  habe  ich  eine  Reihe  von  zwölf  Wortver- 
binduogen  erhalten,  die  eine  durchschnittliche  Dauer  von  Ma  957, 
Mc  997  geben,  während  die  durchschnittliche  Dauer  für  die  ganze 
Aufgabe  Mc  1143,  Ma  1446  a  ist.  Wir  dürfen  deshalb  annehmen, 
daß  der  Einfluß  von  Wortverbindungen,  wo  er  frei  spielen  kann, 
d.  h.  keine  bestimmte  Vorstellungsmechanik  durchzumachen  oder 
keine  andern  Tendenzen  zu  überwinden  hat,  die  Reaktionsdauer 
entschieden  verkürzt. 

Dasselbe  zeigen  uns  die  Kriterien  des  Einflusses  von  Wort- 
verbindungen bei  den  Vp.  Solche  sind:  die  Erleichterung,  die 
eine  schon  auf  das  in  der  Wortverbindung  vorhandene  Wort  ge- 
richtete Reproduktionstendenz  erfährt;  die  allgemein  gefühlte  Er- 
leichterung der  Reproduktionen;  daß  die  Beziehungen  zwischen 
Heiz-  und  Reaktionswort  nicht  im  Bewußtsein  waren;  daß  die 
Aufmerksamkeit  sich  auf  etwas  anderes  im  Bilde  als  auf  das 
vom  Reaktionswort  Bezeichnete  gerichtet  hatte ;  daß  das  Reaktions- 
wort sich  ans  Reizwort  wie  verbunden  anschloß,  z.  B.  Tag  — 
Nacht;  daß  das  Reaktionswort  sich  aufdrängte;  daß  das  Reprodu- 
zierte sich  gar  nicht  rechtfertigen  läßt.  Eine  Vp.  sagte  gelegentlich, 
sie  wisse ,  daß  das  Wort  so  rasch  gekommen  sei ,  weil  eine  ge- 
läufige Verbindung  bestehe.  Natürlich  kommt  cb  auch  vor,  daß  das 
Gepräge  der  Redewendung  unverkennbar  ist,  z.  B.  Motte  und 
Kost  Die  Vp.  wird  nach  und  nach  geübter  im  Erkennen  dessen, 
wodurch  das  Wort  herbeigerufen  wurde.  Eine  Vp.  konstatierte 
eines  Tages,  daß  ihr  erst  jetzt  der  Unterschied  zwischen  Be- 
rlihnmgsassoziationen  und  anderweitigen  Reproduktionen  ein- 
gefallen sei:  er  läge  darin,  daß  jene  gleich  nach  dem  Reiz  auf- 
tauchen, während  diesen  eine  Pause,  die  durch  ein  Besinnen  oder 
eine  Frage  ausgefüllt  sei,  vorausgehe. 

24* 

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372 


Henry  J.  Watt, 


2)  Vermittlungen. 

- 

a.  Klangähnlichkeit. 

Reproduktionen  nach  Klangähnlichkeit  sind  nicht  häufig  bei  unsern 
Versuchen,  wie  nach  der  Beschaffenheit  der  Aufgaben  zu  erwarten  ist.  Je- 
doch kommen  sie  in  vereinzelten  Fällen  vor:  z.  B.  Vp.  III  Photograph— Tele- 
graph $89  a) ,  eine  falsche  Antwort,  die  die  Vp.  gemacht  hat,  ohne  den  Sinn 
des  Reizwortes,  ob  es  Mensch  oder  Apparat  bezeichnete,  aufzufassen.  Bei 
andern,  Dachs —  Fuchs  (831  <r),  Duft  —  Luft,  wirkte  die  Klangähnlichkeit  nur 
als  Beihilfe.  Die  Zeiten  für  diese  Reproduktionen  sind  sehr  kurz,  weil  die  Vor- 
stellungen eigentlich  ohne  weiteres  ineinander  übergehen.  Wir  sehen  uns 
aber  nicht  veranlaßt,  dies  irgendwie  als  eine  Assoziationsgruppe  zu  be- 
trachten. Die  Reproduktion  wird  erleichtert,  weil  die  Wörter  vieles  gemein- 
sam haben,  und  durch  das  Apperzipieren  und  vielleicht  schon  Artikulieren 
des  einen  viel  für  das  andere  vorbereitet  wird. 

b.  Kontrast. 

Wie  zu  erwarten  war,  haben  unsere  Aufgaben  keinen  besonderen  Anlaß 
zu  Reproduktionen  von  Begriffen  geboten,  welche  zum  Reizwort  im  Ver- 
hältnis des  Kontrastes  stehen.  In  der  fünften  Aufgabe  aber  kommen  ver- 
schiedene Fällo  vor,  die  zunächst  äußerlich,  d.  h.  nach  dem  bloßen  Verhältnis 
des  Reizwortes  und  des  Reaktionswortes  zueinander,  als  Beispiele  von  »Kon- 
tra8tas8oziationen<  aufgefaßt  werden  konnten,  und  an  ihrer  Hand  milchte 
ich  die  Frage  nach  der  Existenz  und  dem  Wesen  einer  Assoziation  durch 
Kontrast  behandeln.  Ich  habe  eine  Reihe  solcher  Fälle  zusammengestellt 
mit  den  Reiz-  und  Reaktionswörtern  der  verschiedenen  Vp.  und  jeder  für 
diese  Frage  wesentlichen  Vermittlung,  wo  es  eine  solche  gegeben  hat. 
Ich  entschuldige  mich  nicht  wegen  der  Auswahl  oder,  wenn  ja,  nur  damit, 
daß  sie  eben  eine  dem  äußeren  Anscheine  nach  gemachte  Auswahl  ist,  wie 
bei  Versuchen  aus  früherer  Zeit,  bei  denen  kein  Protokoll  aufgenommen 
wurde  oder  bei  denen  die  Vp.  selbst  erst  nach  längerer  Zeit,  Monaten,  Jahren, 
zu  entscheiden  hatte,  welcher  Art  eine  Reproduktion  war,  ob  Subsumtion, 
Kontrast,  Wortergänzung,  aus  der  Jugend  und  dergleichen  mehr. 

Aus  der  Tabelle  XXVII  ergibt  sich,  daß  die  Vermittlung  ein  die  beiden 
Wörter  zusammenfassender  Oberbegriff,  eine  nicht  näher  analysierbare  Bewußt- 
seinslage, eine  Gesichtsvorstellung  oder  ähnliches  gewesen  sein  kann.  In  den 
übrigen  Fällen  ist  keine  Vermittlung  konstatiert  oder  vorhanden.  Für  unsere 
Frage  kommt  der  Oberbegriff  als  Vermittlung  nicht  in  Betracht,  wie  gegen- 
sätzlich auch  die  Wörter  zueinander  sein  mögen,  z.B.  Nacht —Tag.  So  auch 
die  Aufzählung  violer  möglicher  Begriffe  und  Bewußtseinslagen.  Das  Be- 
wußtsein des  Gegensatzes  kann  nicht  im  ganzen  dasselbe  sein,  wie  das  Be- 
wußtsein des  logischen  Kontrastes  zwischen  zwei  IJegriffen,  weil  der  zweite 
Begriff  in  bewußter  Form  in  jenem  Falle  noch  nicht  daist.  Es  ist  auch 
nicht  bloß  die  Verkündigung  der  sich  regenden  Reproduktionen,  wie  bei  dem 
»ich  weiß,  was  kommt« ,  weil  es  vor  demselben  und  ohne  dasselbe  erlebt 
werden  kann.  Es  scheint  vielmehr,  daß  daB  Reizwort  mit  einem  Bewußtsein 
des  Kontrastverbältnisses  assoziiert  ist,  und  daß  aus  beiden  eine  bestimmte 
Richtung,  eventuell  ein  Bewußtsein  derselben  (s.  den  Fall  Kind  Vp.  III  in 
der  Tabelle;  entsteht.    Insofern  ist  der  Prozeß  in  seiner  Wirkung  dem  der 


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Experimentelle  Beiträge  zn  einer  Theorie  des  Denkens.  373 

Tabelle  XXVII. 
Die  Assoziation  durch  Kontrast. 


Reizwort 

Vp.I 

vP.n 

vp.  m 

Vp.  VI 

Brauerei 
Verna. 

Weinberg 

Kelterei 
Oberbegriff 

Weinhandel 

Eigentüml.  Be- 
wußtseinzustand 

Demokrat 

Venn. 

Aristokrat 
Oberbegriff 

Aristokrat 
Aufzähl.  v.Wört. 

Eifer 
Venn. 

Faulheit 

Fleiß 
Venn. 

|  Faulheit 

Bild  eines  Zensurbogens,  auf 
Note  4  nebeinander  stehen 

dem  Fleiß  und 

Faulheit 
Ohne  weiteres 

Fremde 
Venn. 

Oberbegriff 

Einheimische 

Heimat.  1024  a 
Ohne  Weiteres 

Heimat  rgatzeg 
Bewßts.d.Gegen- 

Geheimnis 

V«». 

Offenbarung 
Bewußtsein  des  ( 

3egensatzes:etwi 

18  Offenes  finden. 

Gennß 

Venn. 

Ungenuß 
Fand  nichts,  da 

an  Ungenuß 

M 

Venn. 

Vater 

Oberbegriff 

Vater.   778  a 

Greis  finden' 
Das  and.  Extrem 

Kunst 

Venn. 

Wissenschaft 
Oberbegriff 

Wissenschaft 

Wissenschaft 

Ein  Bewußtsein 
d.  Zugehörigkeit 

Wissenschaft 
Ohne  weiteres 

Nacht 
Venn. 

Tag 

Oberbegriff 

Tag.   704  a 

Tag  [Kontrastes 
Bewußtsein  des 

Tag 

Ohne  weiteres 

Oberst 
Venn. 

Unterst  j 

Bild  einer  Leiter.  Zwei  Enden 

Prosa 
Verna. 

Poesie 
Oberbegriff 

Poesie 

Schwanz 
Venn. 

Kopf 

Oberbegriff 

Kopf 

An  einem  Bilde 
gefunden 

Kopf 

Bild.  Nicht  der 
einzige  Grund 

Schwester 
Venn. 

Bruder 
Oberbegriff 

Bruder.   659  a 

Bruder 
Unwillkürlich 

Venn.  =  Vermittlung  zwischen  Reiz-  und  Reaktionswort. 

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374 


Henry  J.  Watt, 


Wiederholung  der  Aufgabe  ähnlich.  Hierher  wäre  der  Fall  von  Vp.  II,  Ge- 
nuß—Ungenuß,  zu  zählen,  allein  dieses  Bewußtsein  des  Kontrastverhältnisses 
und  seiner  Bildung  durch  »un<  ist  sehr  spät  nach  dem  Reizworte  reprodu- 
ziert worden.  An  einer  Gesichtevorstellung  kann  das  angeblich  Gegensätzliche 
gefunden  werden,  indem  der  Blick  sich  nach  dem  entsprechenden  Teil  bewegt 
Es  gibt  aber  viele  Fälle,  -bei  denen  man  nichts  Erklärendes  vorfindet.  Was 
sollen  wir  von  diesen  sagen?  Wenn  eine  Assoziation  durch  Kontrast  wirk- 
lich besteht,  so  wären  solche  Fälle  gerade  die  gewünschten,  die  zu  erwar- 
tenden. Das  bringt  uns  auf  die  Hauptschwierigkeit:  Wenn  es  eine 
wirkliche  Assoziation  durch  Kontrast  gibt,  kann  sie  nur  als  solche  die  Re- 
produktion einleiten,  nicht  durch  ein  Bewußtsein  des  Kontrastverhältnieses 
Wir  könnten  ja  ein  Bewußtsein  einer  Bestimmtheit  im  Auftauchenden  und 
ein  Bewußtsein,  daß  das,  was  kommt,  im  Verhältnis  des  Kontrastes  mit  dem 
Reizwort  steht,  verstehen  (vgl.  oben :  ich  weiß,  daß  das,  was  kommt,  richtig 
ist).  Das  ist  aber  etwas  ganz  anderes  als  der  Gedanke  an  das  Konstrast- 
verhältnis im  allgemeinen.  Der  Gedanke  an  die  Richtigkeit  der  Reproduktion 
kann  nicht  die  richtige  Reproduktion  hervorrufen.  Dann  steht  der  Gedanke 
an  das  Kontrastverhältnis  auf  derselben  Stufe  mit  einer  Reproduktion  des 
übergeordneten  Begriffes,  wie  in  dem  Versuch :  Nacht.  Ein  zu  etwas  im  Ver- 
hältnis des  Kontrastes  stehender  Begriff:  Tag. 

Was  wäre  aber  zu  erwarten,  wenn  Kontrast  eine  »Assoziation«  zwischen 
Bewußtseinsinhalten  wäre?  Sie  müßte  zunächst  beschleunigend  auf  die  Re- 
produktion wirken,  und  es  bliebe  dies  experimentell  festzustellen.  Aber  wie  ? 
Soll  man  gleich  geläufige  Wörter  geben  und  eine  größere  Geschwindigkeit 
der  Kontrastreproduktion  zu  bestätigen  suchen?  Die  Bedingungen  zu  solchen 
Versuchen  sind  undenkbar,  weil  jede  konstatierte  Zunahme  der  Reproduk- 
tionsgeschwindigkeit mit  vollem  Recht  einer  bestehenden  größeren  Geläufig- 
keit zugerechnet  würde.  Es  ließe  sich  aber  vielleicht  feststellen,  daß  tat- 
sächlich gleich  geläufige  Reproduktionen  fester  sind,  wenn  sie  zugleich 
Kontrastassoziationen  enthalten,  oder  daß  solche  jüngere  Tendenzen  ebenso 
fest  Bind  wie  ältere,  usw.  Dann  müßte  sich  ergeben,  daß  das  Verhältnis  des 
Grades  der  Festigkeit  einer  Normalreproduktion  zu  dem  einer  Vergleichs- 
reproduktion kleiner  ist,  als  das  Verhältnis  ihrer  Reproduktionsgeschwindig- 
keiten. Nur  so  könnte  man  zeigen,  daß  Kontrast  wirklich  assoziierend  wirkt 
und  nicht  selbst  bloß  ein  Reproduzierendes  und  Reproduziertes  ist.  Die 
Schwierigkeiten,  die  man  bei  solchen  Versuchen  zu  beseitigen  hätte,  sind 
zahllos,  z.  B.  die  Ausgleichung  der  Werte  der  andern  mit  dem  Kontrast 
vorhandenen  »Assoziationen«  usw.  Es  müßte  auch,  wenn  es  eine  Assoziation 
durch  Kontrast  gibt,  möglich  sein,  eine  Assoziation  zwischen  Bewußtseins- 
inbalten zu  konstatieren,  die  noch  nie  zusammen  im  Bewußtsein  gewesen 
sind. 

So  geht  alles  teils  in  die  Reproduktionstendenz  und  teils  in  das  Problem 
der  Perzeption  oder  die  Entstehung  von  Reproduktionstendenzen  über.  Tag 
und  Nacht  z.  B.  folgen  als  Erlebnisse  aufeinander  so  oft,  bis  ein  Bewußtsein 
des  Kontrastes  zwischen  ihnen  entsteht.  Durch  Ausfall  von  Gliedern  in  dem 
Verlauf  der  Reproduktion,  was  wir  bestätigen  können,  wird  ein  Bewußtsein 
des  Kontrastverhältnisses  mit  Tag  assoziiert  und  die  Reproduktion  von  Nacht 
bestimmt.  Endlich  fällt  auch  dieses  Mittelglied  aus,  und  Tag— Nacht  wird 
eine  geläufige  Reproduktionstendenz. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  DenkenB.  375 

Gewöhnlich  wird  die  Assoziation  durch  Kontrast  für  eine  Asso- 
ziation durch  Ähnlichkeit  gehalten1).  Wenn  aber  diese  Asso- 
ziation durch  Ähnlichkeit  ein  etwaiges  Bewußtsein  der  Ähnlichkeit  m 
als  Mittelglied  enthält,  so  gilt  dafilr  das  eben  Gesagte.  Z.  B.  Vp.  III : 
Krücke.  »Diesmal  ein  Ähnlichkeitsbewußtsein  da.  Es  gibt  noch 
so  etwas  ähnliches  wie  Krücke.  Stelze.«  Wirkliche  Fälle  einer 
Ahnlichkeitsassoziation  finde  ich  kaum  unter  den  Versuchen. 
Aufg.  V,  Vp.  III:  Motte.  »Die  äußere  Ähnlichkeit  des  ums  Licht 
Schwirrens.  Fliege«  —  bietet  keine  Schwierigkeit.  Es  ist  eben 
eine  Reproduktion  mittels  eines  Ubergeordneten  Begriffes.  Vgl.  Vp.  I: 
>Ich  habe  das  Wort  Malve  (Reizwort)  nicht  innerlich  ausgesprochen. 
Es  war  mir,  als  wenn  Möwe  da  war.  Ich  war  mir  bewußt,  daß 
das  falsch  war.  Vogel.«  1064  a.  Vp.  I:  Tafel.  »Ich  habe  heute  das 
Wort  table  gesehen  und  übersetzt  und  dies  hat  Tisch  reprodu- 
ziert.« 971  o. 

Der  folgende  Versuch  bietet  etwas  mehr.  Aufg.  V,  Vp.  I: 
Tulpe.  »Mohn  als  Bestandteile  eines  Blumenbeetes.  Eigentümlich 
ist  es,  daß  ich  auf  Mohn  kam.  Es  drängten  sich  viele  Vorstellungen 
vor.  Ein  gewisses  undeutliches  Bild  einer  Tulpenblttte  war  vor- 
banden. Das  verschwommene  Bild  der  Tulpenblttte  hat  als 
solches  Mohn  reproduziert.«  Hier  hat  wohl  das  Wort  Tulpe  in 
Verbindung  mit  der  Aufgabe  Anlaß  zu  der  Reproduktion  der  ver- 
schwommenen Gesichtsvorstellung  gegeben,  die  ihrerseits  Mohn 
reproduziert  hat.  Eine  dunkle  Gesichtsvorstellung  kann  auch  als 
übergeordneter  Begriff  gelten  oder  eine  ähnliche  Rolle  spielen. 
Man  wendet  gewöhnlich  dagegen  ein,  daß  Vorstellungen  doch 
immer  etwas  Bestimmtes  sind  und  gar  nichts  Allgemeines  an  sich 
haben,  daß  wir  eine  allgemeine  Vorstellung,  z.  B.  eines  Hundes, 
unmöglich  haben  können.  Wir  haben  aber  schon  gesehen  [§  11], 
daß  wir  die  Existenz  eines  Allgemeinen  an  den  Vorstellungen 
nicht  ableugnen  dürfen.  Es  ist  also  verständlich,  daß  eine  solche 
Vorstellung  zwei  voneinander  verschiedene,  schon  mit  ihr  assoziierte 
Wortvorstellungen  reproduzieren  könnte,  bzw.  von  der  einen  re- 
produziert werden  und  die  andere  alsdann  reproduzieren  könnte. 


1)  Max  Offner,  Die  Grandformen  der  Vorstellungsverbindungen. 
Phil.  Monatshefte.  Bd.  28.  1892.  S.  613  ff.  B.  Bourdon,  Les  Resultats  deB 
Theories  contemporaines  sur  l'association  des  idees.  Rev.  Phil.  Tome  31. 
1891.  p.  681. 


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376 


Henry  J.  Watt, 


c.  Geföhlsvermittlung. 

Unter  den  Versuchen  finde  ich  drei  Fülle,  bei  denen  eine  Gefühlsvermitt- 
lung vorhanden  zu  sein  scheint. 

Aufg.  V.  Vp.  VI.  Geheimnis.  Bewußtheit  der  Aufgabe.  Eigentümlicher 
Zustand.  Es  ist  mir  komisch  vorgekommen.  Es  war  ein  Zustand  der  Über- 
raschung, weil  statt  eines  konkreten  Begriffes  der  Begriff  Geheimnis  auf- 
getaucht ist  (d.  h.  als  Reizwort).  Aus  diesem  Zustand  heraus  ist  das  Wort 
»Nein«  zu  erklären,  was  ich  unwillkürlich  aussprach.  1763  a. 

Aufg.  V.  Vp.  III.  Dutzend.  Der  Eindruck  des  Komischen  durch  eine 
Erinnerung,  die  »zwei  Dutzend«  herbeiführte.  Zwei  ausgesprochen.  Hier 
zum  ersten  Male  bin  ich  feBt  Überzeugt,  daß  etwas  Gefühlartiges  die  Asso- 
ziation vermittelt  hat.  1301  o. 

Aufg.  VI.  Vp.  III.  Kartoffel.  Schwierigkeit  in  der  Ergänzung,  als  wenn 
nichts  Schönes  einfallen  würde.  Dann  »doch«,  und  Hering  war  da.  Hier  ein 
stimmungsmäßiges  Koordinierendes.  Kartoffel  nicht  als  Kraut,  sondern  als 
Gericht,  als  wenn  man  sich  einer  gewissen  Ärmlichkeit  gegenüber  befindet 
1479  <r. 

Es  liegen  hier  zu  wenige  Beispiele  vor,  als  daß  wir  uns  eine  Be- 
sprechung der  Möglichkeit  oder  des  Wesens  einer  Gefühlsvermittlung  er- 
lauben könnten.  Der  erste  Versuch  ist  der  reinste,  weil  in  den  zwei 
andern  Bewußtseinslagen  vorhanden  sind.  Die  kleine  Zahl  solcher  Ver- 
mittlungen läßt  sich  ja  aus  dem  Charakter  unserer  Anfgaben  und  der  arbeits- 
mäßigen Natur  solcher  Experimente  im  allgemeinen  erklären.  Aber  eine 
Assoziation  kann  das  Gefühl  wohl  kaum  sein.  Es  könnte  einen  Teil  des 
Reizes  bilden  oder  selbst  ein  Glied  einer  Reihe  von  Reproduktionen  sein 
und  so  zum  Reaktionswort  Uberführen. 

d.  Ohne  Vermittlung. 

Endlich  kann  ein  Bewußtseinsinhalt  ohne  irgendeine  oder  ohne  eine 
bemerkte  Verroittelung  auftreten.  Vgl.  den  Versuch  Rembrandt — Uhde  oben 
(S.  326).  Bei  der  Behandlung  der  Formen  B  und  C  haben  wir  gezeigt,  daß 
eine  von  einem  gegebenen  Reiz  erweckte  Reproduktionstendenz  sich  erat 
ziemlich  viel  später  verwirklichen  kann,  so  daß  sie  sich  mehr  oder  minder 
in  den  Strom  der  bewußten  Erlebnisse  eindrängt.  Es  läßt  sich  denken,  daß 
dies  sich  zeitlich  weit  ausdehnen  könnte.  Als  Grenzbegriff  bildet  es  vielleicht 
die  sogenannte  freisteigende  Reproduktion.  Je  weiter  eine  reproduzierte 
Vorstellung  von  der  reproduzierenden  zeitlich  entfernt  läge,  um  so  mehr 
würde  es  scheinen,  daß  sie  von  selbst  in  das  Bewußtsein  gekommen 
wäre. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


877 


§  14.    Die  einzelnen  Aufgaben. 

1)  Die  erste  and  die  zweite  Aufgabe:  einen  übergeordneten 
bzw.  untergeordneten  Begriff  zu  finden. 

Tabelle  XXVIH 


Die  Durchschnittszeiten  der  Reaktionen  jeder  Aufgabe. 


Aufgabe  I 

Aufgabe  II 

Vp.  I 

Vp.  II 

Vp.  III 

Vp.  1 

Vp.  II 

Vp.  III 

Me 
Ma 

ir  1 

in.  v . 

1414  79 
1720 
619 

1431  74 
1818 
799 

1157  63 
1486 
625 

1782  92 
1857 
569 

1732  79 

2261 

1081 

1225  51 
1508 
534 

In  Übereinstimmung  mit  der  Tabelle  konstatieren  die  drei  Vp., 
natürlich  ohne  zu  wissen,  wie  die  Reaktionszeiten  waren,  von 
selbst  eine  größere  Leichtigkeit  bei  der  ersten  Auf- 
gabe1). Vp.  I:  »Untergeordnete  Begriffe  werden  nngerne  gesucht«. 
Vp.  II:  »Untergeordnete  Begriffe  sind  schwerer  zn  finden.«  Vp.  HI: 
»Übergeordnete  Begriffe  sind  leichter  zu  finden.« 

Aus  der  Tabelle  sehen  wir  noch,  daß  die  mittleren  Variationen 
bei  Vp.  I  und  III  kleiner  sind  für  die  zweite  als  für  die  erste 
Aufgabe;  daß  also  die  Reaktionszeiten  größere  Verschiedenheit 
untereinander  bei  der  zweiten  Aufgabe  zeigen,  darf  man  nicht 
als  den  Grund  der  mittleren  Verlängerung  der  Reaktionszeit  dieser 
Aufgabe  annehmen.  Die  Zeiten  sind  verlängert  worden,  aber  sie 
sind  in  ihre  Zeitgrenzen  mehr  in  der  zweiten,  als  in  der  ersten 
Aufgabe  eingeschränkt.  Auch  sehen  wir,  daß  die  Mittelwerte  über- 
all kürzer  sind  in  der  ersten  Aufgabe.  Die  kürzesten  Zeiten  sind 
bei  der  zweiten  Aufgabe  um  100  a  höher  als  die  kürzesten  der 


1)  Vgl.  Cattell,  Psychometrische  Untersuchungen.  Teil  III.  Wundts 
Studien,  Bd.  IV,  S.  249.  »Die  schwierigsten  Assoziationen  scheinen  die  zn 
sein,  wo  zum  Klassenbegriff  ein  Beispiel  und  wo  zum  Verbum  ein  Subjekt 
zn  suchen  ist.« 


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378 


Henry  J.  Watt. 


andern  Aufgabe,  nnd  die  Anzahl  der  falschen  Fälle  im  allgemeinen 
nimmt  bei  der  zweiten  ziemlich  stark  zu: 


Aufgabe  I 
Aufgabe  II 


Vp.I 
*  R.    %  F. 

94  :  6 

96  :  4 


Vp.  II 
*  R.   X  F. 

88  :  12 

79  :  21 


Vp.  III 

fi  R.    %  F. 

74  :  26 
47  :  53 


Das  alles  wird  auch  in  den  Versuchen  vom  Sommersemester  von 
den  Vp.  konstatiert  und  objektiv  bestätigt. 

Tabelle  XXIX. 

Die  Durchschnittszeiten  der  Reaktionen  jeder  Aufgabe  nach  den 
Versuchen  des  Sommersemesters. 


Aufgabe  I 

Aufgabe  II 

Vp.  I 

Vp.  II 

Vp.  IV 

Vp.  I 

Vp.  II 

Vp.  IV 

Mc 

1097  77 

1087  44 

2295  96 

1857  41 

1290  30 

2733  59 

Ma 

1400 

1150 

2532 

1916 

1401 

2731 

m.V. 

414 

244 

778 

474 

670 

676 

Vp.  IV  sagt:  »Die  Gattungsbegriffe  sind  viel  leichter  zu  finden. 
Man  braucht  sich  nur  an  eine  Definition  zu  halten,  z.  B.  Schreiner 
—  ist  ein  Holzarbeiter. «  Vp.  I  sagt,  daß  sie  den  Eindruck  habe,  das 
Suchen  sei  ein  anderes  bei  der  zweiten,  als  bei  der  ersten  Aufgabe. 
Dort  wäre  es  eine  Hemmung.  Was  die  Grenzen  der  mittleren  Variation 
betrifft,  so  sieht  man,  daß  sie  hier  bei  der  zweiten  Aufgabe  weiter 
sind,  nur  bei  der  Vp.  IV  sind  sie  enger.  Die  auffallend  große 
Anzahl  falscher  Fälle  ist  wohl  dadurch  zu  erklären,  daß  die  Reiz* 
Wörter  nicht  sehr  geeignet  und  oft  sehr  schwierig  waren. 

Den  Grund  dieser  festgestellten  Verlängerung  der 
Reaktionszeit  bei  der  zweiten  Aufgabe  haben  wir  wohl  darin  zu 
suchen,  daß  die  erste  Aufgabe  durch  eine  gewöhnlich  eindeutig 
bestimmte  Reproduktion  rasch  erledigt  wird,  während  die  zweite 
eine  Menge  von  Reproduktionen1}  erregt,  die  sich  alsbald  in  der 

1  Vgl.  Trautscholdt,  a.  a.  0.,  S.  249:  »In  anderen  Fällen  wird  man 
eich  des  Aufsteigens  mehrerer  assoziierter  Vorstellungen  klar  bewußt  und 
muß  erst  eine  derselben  als  Urteilsprädikat  auswählen« Müller  und 
Pilzecker,  a.  a.  0.,  S.  166:  »Eine  nicht  unwesentliche  Rolle  dürfte  die 
effektuelle  Hemmung  bei  denjenigen  Assoziationsreaktionen  spielen,  wo  die 
Vp.  ein  Wort  oder  Wortaggregat  eine  Frage)  zugerufen  erhält,  für  welches 
das  Reaktionswort  (die  Antwort)  nicht  eindeutig  bestimmt  ist«.  Dagegen 
MUnsterberg,  a.  a.  0.,  8.  94  ff. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  379 

oben  gezeigten  Weise  zu  der  Reaktion  bestimmen  milssen.  Wir 
haben  ja  gesehen,  daß  eine  Yp.  bei  der  zweiten  Aufgabe  eine 
Reihe  von  Fällen  konstatiert  bat,  bei  denen  eine  Fülle  von  Re- 
produktionatendenzen  oder  von  »Vorstellungen«  vorhanden  war, 
die  sie  nicht  näher  beschreiben  konnte.  Gegen  diese  Auffassung 
ist  der  schwere  Einwand  zu  erheben,  daß  wir  keine  Vermehrung 
der  B-  und  C-Fälle  im  Verhältnis  zu  den  .4-Fällen  in  unsern  Ta- 
bellen haben  feststellen  können.  Wir  müssen  deshalb  die  Fälle 
einer  Fülle  von  Reproduktionstendenzen  als  eine  dieser  Aufgabe 
eigentümliche  Klasse  ansehen.  Aber  die  von  uns  festgestellten 
Eigenschaften  dieser  Aufgabe,  z.  B.  die  Länge  der  Reaktionszeit, 
beruhen  nicht  darauf,  weil  ja  die  Mehrzahl  der  Versuche  keine 
Menge  Bich  aufdrängender  Vorstellungen  konstatieren  läßt,  und 
weil  gerade  derjenige  Grund1)  fehlt,  der  uns  erlaubt  hätte,  der- 
artiges anzunehmen.  Unsern  früheren  Erörterungen  gemäß  können 
wir  nur  bestätigen,  daß  diese  Aufgabe  nicht  denselben  Einfluß 
auf  die  Geschwindigkeit  der  Reaktion  hat,  wie  Aufg.  I.  Eine  Er- 
klärung dafür  könnten  wir  darin  vermuten,  daß  wegen  des  selteneren 
Gebrauchs  dieser  Aufgabe  der  Grad  der  Zeitersparnis  für  die  Re- 
produktionen, den  man  bei  ihr  annehmen  könnte,  nicht  so  groß  ist. 

Tabelle  XXX. 


Die  Form  des  Reaktionswortes  bei  der  zweiten  Aufgabe. 


Form 

Vp.  I 

Vp.  II 

Vp.  III 

X  -  Reizwort 

39  % 

30  % 

23  % 

Adj.  +  Subst. 

5 

4 

0 

Richtige  Fälle 

X  ;Reizwort) 

8 

1 

0 

Adj.  (Reizwort; 

9 

0 

1 

Einfaches  Wort 

34 

44 

24.5 

X  -  Reizwort 

0 

2 

1 

Einfaches  Wort 

5 

12 

29,5 

Falsche  Fälle  < 

Aufgegeben 

0 

6 

15 

Sinnlos 

o 

0 

5 

Sonst 

0 

1 

1 

X- Reizwort  bedeutet,  daß  das  Reaktionswort  ein  zusammengesetztes 
Wort  war,  in  dem  das  Reizwort  ein  Element  bildete.  Wenn  das  Reizwort 
in  Klammern  steht,  wird  damit  angedeutet,  daß  es  nicht  ausgesprochen  wurde. 


1)  Vgl.  die  Erörterungen  von  Müller  und  Pilzecker  Uber  ihre  Treffer- 
metkode und  den  verschiedenen  Rechnungswert  von  Uber-  und  unterwerfen 


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380 


llenry  J.  Watt, 


Die  Tabelle  XXX  zeigt,  wie  häufig  die  verschiedenen  obener- 
wähnten Formen  des  Reaktion» Wortes  vorkamen.  Wir  sehen,  daß 
die  Verhältnisse  bei  den  richtigen  Fällen  von  Vp.  zu  Vp.  ziemlich 
konstant  sind.  Auffallend  ist  auch,  daß  das  einfache  Wort  ver- 
hältnismäßig viel  häufiger  unter  den  falschen,  als  unter  den  rich- 
tigen Fällen  vorkommt  Wenn  es  aber  schwierig  ist,  ein  einfaches 
Reaktionswort  zu  finden,  was  wir  daraus  schließen  können,  daß 
die  Vp.  so  oft  nach  einer  schematischen  Methode  greift,  so  ist  ee 
fast  selbstverständlich,  daß  das  einfache  Wort  häufiger  Fehler  mit 
Bich  bringt.  Es  sind  das  die  sich  aufdrängenden  Reproduktionen, 
und  die  typische  Form  der  Reaktion  ist  ein  Wort,  hier  gewöhnlich 
ein  Substantiv.  Nichtbeachtung  von  Schwierigkeiten  verursacht 
naturlich  auch  Fehler. 


Tabelle  XXXI. 
Die  Dauer  der  entsprechenden  Reaktionen. 


Die  Form 
des  Reaktionswortes 

Vp.  I 

Vp.  II 

Vp.  1 

III 

Mc 

Ma 

Mc 

Ma 

Mc 

Ma 

X- Reizwort 

1738 

17fiö 

1716 

2241 

1115 

1312 

Adj.  Subst. 

2449 

23Ö7 

1360 

2069 

X  (Reizwort) 

!  2181 

2888 

1940 

2745 

Adj.  (Reizwort) 

;  1590 

1528 

977 

977 

Einfache»  Wort 

1479 

1597 

1820 

2073 

1266 

1679 

Tabelle  XXXI  zeigt,  wie  die  Zeiten  sich  bei  den  verschiedenen 
Formen  des  Reaktionswortes  verhalten.  Daß  Vp.  III  den  andern 
zweien  gegenüber  eine  Verlängerung  der  Zeit  bei  dem  einfachen 
Wort  hat,  hängt  wohl  damit  zusammen,  daß  sie  Zusammensetzung 
immer  vermeiden  wollte  und  Anstoß  daran  uahm,  so  daß  B-  und 
C-  Fälle,  bei  denen  die  erste  Tendenz  nach  einem  zusammen- 
gesetzten Reaktionsworte  ging,  ziemlich  häufig  unter  dieser  Rubrik, 
nämlich  der  der  einfachen  Wörter,  vorkamen.  Auch  gibt  es  unter 


Reproduktionstendenzen  a.  a.  0.,  S.  34  ff.).  Unsere  zweite  Aufgabe  im  Gegen- 
satz zu  der  ersten  wäre  dafür  ein  gutes  Beispiel.  B-  und  C-  Fälle  wären 
dann  die  Überwertigen  Reproduktionen,  die  Fälle  der  Fülle  von  Repro- 
duktionstendenzen die  unterwertigen.  Wenn  die  Eigenart  der  zweiten  Auf- 
gabe auf  der  Menge  der  vorhandenen  Tendenzen  beruht,  sollten  wir  eine 
große  Vermehrung  der  J3-  und  C- Fälle  gegenüber  den  ^-Fällen  erwarten. 
Diese  finden  wir  aber  nicht. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  381 

den  einfachen  Reizwörtern  ziemlich  viele  der  Form  Aiy  was  bei 
der  Vp.  II  auch  der  Fall  ist.  Den  assoziativ  gebundenen  Anhalts- 
punkt für  Reproduktionen  bilden  ja  in  häufig  Gruppen  von 
Wortvorstellungen ,  die  ein  einfaches  Wort  leicht  liefern.  Die 
^43-Form  (Gesichtsvorstellung)  begünstigt  die  Reproduktion  von 
einfachen  Wörtern  in  keinem  merklichen  Grade.  Es  ist,  wie  bei 
den  andern  zwei  Vp.,  bei  Vp.  III  natürlich,  daß  der  Fall,  bei 
welchem  ein  Notbehelf  angewandt  wurde,  länger  dauert.  Eine 
vollkommene  Regelmäßigkeit  können  wir  jedoch  hier  nicht  erwarten. 
Viele  zusammengesetzte  Wörter  werden  ja  als  einfache  reprodu- 
ziert. Immerhin  ist  das  Resultat,  vielleicht  gerade  in  seiner  Un- 
regelmäßigkeit, nicht  ohne  Wert. 

Die  Fehler  bei  diesen  Aufgaben. 

In  der  ersten  Aufgabe,  in  der  wir  wenige  Fehler  finden,  sind 
sie  meistens  auf  zufällige  Störungen  zurückzufahren ,  wie  die  nach- 
wirkende Einstellung  auf  die  frühere  Aufgabe,  die  eigene  Stärke 
irgendeiner  Reproduktionstendenz,  die  ablenkende  Kraft  einer 
Gesichtsvorstellung  usw.  In  einigen  Fällen  hat  Vp.  III  wegen  des 
hemmenden  Einflusses  einer  in  Bereitschaft  liegenden,  aber  nicht 
passenden  Reproduktion,  wegen  allgemeiner  Hemmung  oder  Mangel 
an  Reproduktionstendenz  einen  Versuch  mit  einer  mehr  oder 
minder  sinnlosen  Reaktion  beendet.  Gelegentlich  spricht  die  Vp. 
das  Reizwort  selbst  aus.  Das  ist  aber  nicht  immer  als  eine 
Reproduktion  des  Wortes  durch  das  Wort  selbst  zu  betrachten1). 
Z.  B.  »Hagel.  Wollte  etwas  sagen.  Hatte  ein  Bewußtsein  von  Ahn- 
lichkeitsbeziehungen  zu  andern  Dingen.  Habe  dann  ein  Wort 
im  Kopf  gehabt,  daß  das  Allgemeine  in  Hagel  wiedergab.  Habe 
aber  Hagel  ausgesprochen.«  Dies  ist  wohl  durch  die  motorische 
Tendenz  der  Vorstellung  selbst  und  durch  die  ablenkende  Kraft  von 
unpassenden  und  unklaren  Vorstellungen  zu  erklären.  Vergleiche  man 
damit  das  oben  konstatierte  innerliche  Aussprechen  des  Reizwortes 
gleich  nach  seiner  Erscheinung.  Dagegen:  >Sorge.  Wortvorstellung 


1,  Vgl.  Van  der  Plaats,  Vrije  Woordassociatic,  S.  44,  wo  er  gegen 
Abc haffenburgs  Gruppe  von  >sinnlosen  Assoziationen«  argumentiert. 
>Eine  Wiederholung  des  Reizwortes  kann  nicht  als  Assoziation  aufgefaßt 
werden.  Viele  sprechen  doch  daa  Reizwort  innerlich  oder  laut  aus,  bevor 
sie  die  Assoziation  selbst  aussprechen.  Fällt  ihnen  nun  eine  Assoziation 
nicht  gleich  ein.  so  wiederholen  sie  eben  das  Reizwort.« 


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882 


Henry  J.  Watt, 


,  Gemütsbewegung  *  mit  dem  Bewußtsein,  daß  es  richtig  wir. 
Sorge  aber  unwillkürlich  ausgesprochen.  Sorge  hat  eine  Er- 
innerung an  den  Roman  von  Sudermann  aufgerufen.  Es  hängt 
damit  zusammen,  daß  ich  Sorge  ausgesprochen  habe.  <  Hier  haben 
wir  es  mit  einer  wirklichen  Reproduktion  zu  tun. 

In  der  zweiten  Aufgabe  kommen  neben  den  schon  für  die  erste 
erwähnten  Gründen  ftir  fehlerhafte  Reaktionen  noch  folgende  vor: 
bei  Vp.  II  einige  Fälle,  bei  denen  die  Vp.  als  untergeordneten 
Begriff  die  Antwort  auf  die  Frage  » woraus  ?*  angab.  Fahne— 
Tuch,  Torte — Teig,  und  dergleichen  mehr-  Bei  ihr  finden  wir 
auch  sechs  Fälle,  bei  denen  sich  keine  Reproduktionstendenz  Uber- 
wertig  machen  konnte  und  sie  den  Versuch  aufgab.  Entweder 
fand  Bie  nichts,  oder  verurteilte  und  verwarf  die  Richtung,  in  der 
sie  suchte1).  Bei  25  Fällen  von  Vp.  III  waren  die  Fehler  haupt- 
sächlich Ubergeordnete  Begriffe  und  Synonyme  oder  rein  auf  Grund 
von  lautlicher  Bertihrungsassoziation  reproduzierte  Wörter.  Hem- 
mung kann  ja  den  Versuch  unter  solchen  Umständen  sehr  ver- 
längern, sogar  bis  6235  a. 

Die  aufgegebenen  Versuche  von  Vp.  III  lassen  sich  in  der- 
selben Weise  wie  bei  Vp.  II  erklären.  Auch  kommen  drei  Fülle 
von  Aussprechen  des  Reizwortes  vor.  In  einem  Falle  war  da* 
Reizwort  auf  Grund  einer  Bewußtseinslage  ausgesprochen.  Eine 
kurze  Reaktion  war:  Fleiß.  »Habe  ganz  automatisch,  ohne  dabei 
zu  denken,  Pe  ausgerufen.«  695 a.  Natürlich  lassen  sich  solche 
und  ziemlich  allgemein,  alle  falschen  Fälle  nicht  erklären  außer 
im  Sinne  der  bei  den  früheren  Betrachtungen  aufgestellten  Sätze. 
Einen  Anhaltspunkt  zu  Erklärungen  derartiger  Versuche  haben  wir 
in  unserem  Material  ja  nicht,  weil  die  Reaktionen  bei  den  falschen 
Fällen  erst  recht  unter  den  verschiedenen  Vp.  auseinandergehen. 
Die  faschen  Fälle  des  Sommersemesters  verhalten  sich  im  ganien 
in  derselben  Weise. 


1)  Z.  B.  Sprichwort.  Habe  an  zwei  Sprichwörter  gedacht.  »Cliacun 
pour  Boi<  und  ein  zweites,  aber  verschwommenes.  Hatte  gleich  die  Vor- 
stellung von  Salomon  der  hat  viele  Sprichwörter  gemacht).  Habe  mir  ge- 
sagt: >Ich  kann  kein  Sprichwort  angeben«.  Aufgegeben. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  383 

2)  Die  dritte  und  die  vierte  Aufgabe:  ein  Ganzes  zu  finden 

und  einen  Teil  zu  finden. 

Tabelle  XXXII. 


Die  Durchschnittszeiten  der  Reaktionen  jeder  Aufgabe. 


Aufgabe  III 

Aufgabe  IV 

Vp.  I 

Vp.  II 

Vp.  III 

Vp.  I 

Vp.  II       Vp.  III 

Ma 

171  >  V. 

1729  77 
1972 

1359  34 
1667 
589 

1100  66 
1279 
413 

 .  _ 

1448  83 
1624 
434 

1341    78  '  1119  72 
1459        j  1215 
516  232 

Im  Einklang  mit  der  Tabelle  sagen  die  Vp.  hier  wieder  von 
sich  selbst  aus,  daß  das  Finden  eines  Teiles  zu  einem  gege- 
benen Ganzen  viel  bequemer  und  angenehmer  ist,  als  umgekehrt. 
Vp.  III  fügt  auch  hinzu:  »Ganzes  zum  Teil  ist  mehr  analytisch, 
wie  beim  Finden  eines  übergeordneten  Begriffes,  Teil  zum  Ganzen 
mehr  synthetische  Die  Vp.  fühlen  sowohl,  daß  die  eine  Auf- 
gabe leichter  ist,  als  auch,  daß  die  andere  schwerer  ist  Aus  der 
Tabelle  sehen  wir,  daß  die  Zeiten  bei  der  vierten  Aufgabe  kürzer 
sind,  als  bei  der  dritten,  ausgenommen  den  Zentralwert  bei  Vp.  III. 
Dieser  ist  auch  bei  Vp.  II  in  der  vierten  Aufgabe  kaum  kleiner. 
Auffallend  ist  wieder  die  Verkleinerung  der  mittleren  Variationen. 
Damit  geht  eine  merkwürdige  Tatsache  Hand  in  Hand.  Bei  der 
dritten  Aufgabe  liegen  die  Höhepunkte  der  Frequenzkurven  für 
sämtliche  richtigen  Fälle  bei  den  Vp.  bzw.  im 

11.,       10.,        8.  Hundert  a, 

während  sie  bei  der  vierten  Aufgabe  bzw.  im 

11.  und  13.,       13.,      11.  Hundert  a 

liegen.  Diese  gehen  steil  und  scharf  hinauf  zum  Höhepunkt,  jene 
langsamer.  In  Aufg.  IV  erreicht  die  Kurve  ihren  Höhepunkt  bzw.  in 

2,      2,       1  Hundert  o, 

in  Aufg.  III  dagegen  in 

4,      6,      4  Hundert  a. 

Damit  hängt  es  zusammen,  daß  die  mittleren  Variationen  bei 
der  dritten  Aufgabe  so  groß  sind,  und  zugleich,  daß  die  mittlere 
Variation  nach  oben  so  auffallend  groß,  die  nach  unten  dagegen 


- 


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384 


Henry  J.  Watt, 


so  klein  ist.  Der  mittlere  Wert  liegt  auch  bei  Aufgabe  IV 
ziemlich  in  dem  Hundert,  in  das  der  Höhepunkt  der  Frequenzkurve 
fallt:  bei  der  andern  dagegen  um  bzw.  6,  3  und  3  Hunderte  höher. 
Wir  haben  einen  zweiten,  aber  ziemlich  viel  niedrigeren  Höhepunkt 
auch  da,  wo  der  Mittelwert  liegt. 

Der  Tatbestand  ist  also  dem  bei  den  ersten  zwei  Aufgaben  er- 
wähnten ähnlich.  Bei  Aufg.  IV  handelt  es  sich  augenscheinlich 
um  die  Reproduktion  eines  einzigen  Teiles  einer  Mannigfaltigkeit. 
Man  könnte  darin  den  Grund  des  höheren  Wertes  des  Höhepunktes 
der  Frequenzkurve  der  vierten  Aufgabe  finden  wollen.  Das  Argu- 
ment aber  scheitert  in  genau  derselben  Weise  wie  bei  der  zweiten 
Aufgabe.  Dazu  ist  Aufg.  IV  von  allen  Vp.  leichter  und  ange- 
nehmer gefunden  worden,  während  die  Aufgabe  mit  der  scheinbar 
eindeutig  bestimmten  Richtung  schwieriger  gefunden  wird.  Man 
könnte  erwidern,  daß  die  Mannigfaltigkeit  der  möglichen  Rich- 
tungen, die  Zweideutigkeit  der  Lösung  bei  Aufg.  HI  vorliegt.  Das 
ist  aber  wieder  nicht  zutreffend,  weil  Fälle  einer  Fülle  von  Repro- 
duktionstendenzen bei  Aufg.  IV  (nicht  HI)  konstatiert  werden,  und 
das  Verhalten  der  B-  und  C~  Fälle  dagegen  spricht. 

Hier  stehen  wir  vor  einem  Dilemma.  Wir  haben  die  in  Ma 
wenigstens  deutliche  Verlängerung  der  durchschnittlichen  Re- 
aktionszeit bei  der  dritten  Aufgabe  zu  erklären.  Dafür  kann 
man  das  Argument  von  der  Mannigfaltigkeit  der  möglichen  Rich- 
tungen anführen,  das  aber  für  verfehlt  gehalten  werden  muß.  Dann 
muß  man  sagen:  Das  Vorkommen  einer  empfundenen  Fülle  von 
Reproduktionstendenzen  ist  eine  eigentümliche  Erscheinung,  die 
aber  gar  nichts  mit  der  Anzahl  der  vorhandenen  Richtungen  zu  tun 
hat,  weil  es  sich  ja  hier  nicht  etwa  um  eine  hinzugetretene  dritte 
Tendenz,  sondern  um  die  Häufigkeit  des  Vorkommens  einer  schon 
zuweilen  konstatierten  zweiten  Tendenz  handelt.  Kein  gefundenes 
Datum  hindert,  daß  eine  zweite  Tendenz  50  %  häufiger  bei  einer 
Aufgabe  als  bei  einer  andern  vorkommt.  Daß  der  ganze  Tat- 
bestand einfach  eine  Folge  der  Zusammenstellung  von  Versuchen 
verschiedener  Art  ist,  kann  man  auch  nicht  behaupten,  weil  wir 
dieselben  Eigentümlichkeiten  an  den  Aufgaben  oft  auch  bei  ein- 
facheren Formen  (A^ ,  Az ,  s.  Figur  5 )  finden.  Die  Erörterungen 
von  Müller  und  Pil zecker  haben  ihre  Berechtigung.  Sie  er- 
lauben udb  aber  nicht,  eine  Hemmung  jeder  Reproduktionstendenz 
durch  jede  andere  vorhandene  Tendenz,  wie  man  zuweilen  ange- 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  385 

nommen  bat,  vorauszusetzen.  An  der  Regelmäßigkeit  unserer 
Daten  kann  man  keinen  Anstoß  nehmen.  Es  wäre  eine  traurige 
Täuschung,  wenn  wir  trotz  solcher  Regelmäßigkeiten  doch  za  der 
Annahme  gedrängt  würden,  jeder  Versuch  ließe  sich  nur  an  und 
für  siefe  untersuchen. 

Deshalb  müssen  wir  eine  ander*  Theorie  zu  Hilfe  nehmen, 
and  zwar  die  achon  angedeutete.  Wir  haben  nämlich  bei  den 
Aufgaben  LH  und  IV  gefunden,  daß  der  Versuch  bei  Au  fg.  III 
oft  geschwinder  verläuft,  daß  er  aber  als  schwieriger 
empfunden  wird,  während  der  Versuch  bei  Aufg.  IV  im 
allgemeinen  länger  dauert,  bzw.  der  Höhepunkt  der  Fre- 
quenzkurve höher  liegt,  aber  als  leichter  empfunden  wird. 
Dies  steht  in  schönem  Gegensatz  zu  den  früheren  zwei  Aufgaben  und 
es  ließe  sich  so  formulieren:  Bei  Aufg.  III  ist  die  Reproduk- 
tion an  sich  geschwinder,  die  Aufgabe  aber  bewirkt  nur 
eine  geringe  Zeitersparnis.  Bei  Aufg.  IV  dagegen  ist  die 
Reproduktion  an  sich  langsamer  als  bei  Aufg.  III,  aber 
die  Aufgabe  selbst  kann  eine  größere  Zeitersparnis  her- 
?orbringen,  und  zwar  so,  daß  diese  größer  ist  als  der 
Nachteil  der  Reproduktionsgeschwindigkeit  bei  Aufg.  III. 

Im  Sommersemester  konstatierte  Vp.  I,  daß  es  ihr  leichter  schien, 
?om  Ganzen  auf  den  Teil  als  umgekehrt  zu  kommen.  S.  auch  Vp.IV. 

Tabelle  XXXIII. 
Sommersemester. 


Aufgabe  HI 

Aufgabe  IV 

Vp.  I 

Vp.  n 

Vp.  IV 

Vp.  I 

Vp.  II 

Vp.  IV 

Ma 

w.  V. 

1646  26 
1805 
627 

1532  16 
1853 
615 

r  

2121  63 

2241 

1190 

1760  26 
1866 
626 

1672  21 
1791 
673 

2126  42 
2412 
863 

P 

4        |     64        |     27  0 

15  16 

F  =  absolute  Anzahl  der  falschen  Reaktionen. 


Die  Tabelle  XXXIII  ist  auch  sonst  abweichend.  Nur  bei  Vp.  II 
ist  die  durchschnittliche  Ziffer  Ma  bei  der  vierten  Aufgabe  kürzer. 
Bei  Vp.  I  ist  sie  in  der  großen  Mehrzahl  der  Fälle  (73*)  kürzer. 
Bei  Vp.  IV  ist  sie  durchgehends  länger  als  bei  Aufg.  m.  Daß  sie 
nicht  reagiert  wie  die  andern,  kann  man  aus  dem  Folgenden  sehen: 
Besen— Stiel.  >Ohne  weiteres.  Das  ist  ein  sehr  geläufiger  Ausdruck 

ArekW  ftr  Ptyebologi«.  IV.  26 

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386 


Henry  J.  Watt, 


;nian  schreibt  ja  Besenstiel).  <  2917  a(\).  Diese  Zeit  ist  ungemein 
lang  für  einen  geläufigen  Ausdruck.  Weil  dies  weiter  nicht  (im 
Protokoll  usw.)  erklärt  wird,  müssen  wir  es  auf  sich  beruhen  lassen. 
Die  Anzahl  der  falschen  Fälle  nimmt  bei  allen  Vp.  bei  der  vierten 
Aufgabe  ab,  bei  Vp.  IV  allerdings  nur  3  %.  Diese  Unregelmäßig- 
keit gegenüber  den  Versuchen  des  Wintersemesters  ist  wohl  wie- 
der auf  die  ungeeigneten  Reizwörter  zurückzuführen. 

Die  Verhältnisse  hei  den  falschen  Fällen  des  Wintersemesters 
zeigen  uns  auch,  daß  die  vierte  Aufgabe  leichter  ist 


Vp.  1 

F.    R.  F. 

56  3 

72  1 


Aufg.m  86:14  56  3  5  1  35  :  65  39  43  52  80  :  20  34  11  24 
Aufg.IV  99:  1   72  1  1   85:15  95   6   6  80  :  20  43  10  19 

Unter  dem  Zeichen  für  die  Vp.  steht  links  das  Verhältnis  der 
Anzahl  aller  richtigen  Versuche  der  Aufgabe  zu  der  der  falschen,  in 
Prozentsätzen  ausgedrückt;  rechts  die  absoluten  Anzahlen  aller 
protokollierten,  Gesichtsvorstellungen  enthaltenden  richtigen  und 
falschen  Versuche,  zuletzt  der  Prozentsatz  der  letzteren.  Wir  merken 
die  relative  und  absolute  Abnahme  bei  der  vierten  Aufgabe.  Es  wäre 
doch  zu  erwarten,  daß  die  Gesichtsvorstellungen,  die  eine  so  große 
Rolle  bei  diesen  zwei  Aufgaben  spielen,  bei  der  leichteren  Aufgabe 
zunehmen.   Man  vgl.  auch  das  unten  (S.  388)  angeführte  Protokoll. 

Schon  Home1)  hat  in  seinem  Gesetz  des  natürlichen  Verlaufs 
der  Vorstellungen  behauptet,  daß  es  uns  ein  Vergnügen  sei,  vom 
Ganzen  zu  den  Teilen  überzugehen,  und  umgekehrt  unangenehm. 
Steinthal1)  dagegen  stellt  die  folgenden  drei  Sätze  auf:  1)  daß 

1  Henry  Homo  (Lord  Karaes},  Elements  of  Criticism.  7.  ed.  1788 
Vol.I  p.  2öf.  »Grandeur  wbich  makes  a  deep  impression,  inclines  us,  in 
running  over  any  series,  to  proeeed  from  small  to  great,  rather  than  from 
great  to  small;  but  order  prevails  over  that  tendency,  and  affords  great 
pleasure  as  well  as  facüity  in  passing  from  a  whole  to  its  parte,  and  from 
a  Bubject  to  its  Ornaments,  which  are  not  feit  in  the  opposite  course.  Ele- 
vati on  touches  the  mind  no  Iobs  than  grandeur  doth;  and  in  raising  the  mind 
to  elevated  objects,  there  is  sensible  pleaaure :  the  course  of  nature,  however, 
hath  still  a  greater  influence  than  elevation;  and  therefore,  the  pleaaure  of 
falling  with  rain,  and  descending  gradually  with  a  river,  prevails  over  that 
of  mounting  upward.  But  where  the  course  of  nature  is  joined  with  ele- 
vation, the  effect  mnst  be  delightful :  and  hence  the  Singular  beauty  of  smoke 
ascending  in  a  calm  morning. 

2)  Steinthal,  Einleitung  in  die  Psychologie  und  Sprachwissenschaft. 
Erster  Teil.    S.  161. 


Vp.  II 

F.    R.  F. 


vp.  in 

F.     R  F. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  387 

die  Seele  leichter  aus  dem  angewöhnten  Znstand  in  den  gewohnten 
zurückkehrt  als  umgekehrt;  2)  denn  die  Seele  folgt  leichter  dem 
Gange  der  wirklichen  Bewegung,  als  sie  die  rückläufige  Bewegung 
Tollzieht;  3)  das  selbständige  Objekt  reproduziert  schwerer  das 
unselbständige,  z.  B.  das  Ganze  reproduziert  schwerer  die  Teile 
als  umgekehrt  Denn  im  Gedanken  des  Ganzen  ruht  die  Seele, 
während  die  Vorstellung  des  Teiles  sie  zum  Ganzen  treibt,  ohne 
welches  er  gar  nicht  zu  denken  ist. 

Dies  wird  von  Trautscholdt  *)  bestätigt  mit  einer  durchschnitt- 
lichen Zeit  für  den  gefundenen  Teil  von  901  a,  für  das  gefundene 
Ganze  von  608a  (subtrahierte  »Assoziationszeiten«).  Die  Reproduk- 
tionen, die  er  als  Teile  bezeichnet  hat,  sind  aber  kaum  mit  den 
andern,  den  Ganzen,  zu  vergleichen. 

Auch  Cattell2)  war  noch  nicht  auf  das  Richtige  gekommen. 
Er  sagt:  »Man  wird  erkennen,  daß  es  nicht  länger  dauert,  eine 
Stadt  zu  nennen,  wenn  ein  Land  gegeben  ist,  als  umgekehrt:  *in 
diesem  Fall  ist  in  Wirklichkeit  eine  Wahl  nicht  nötig.  Denn  es 
gibt  in  jedem  Land  eine  bestimmte  Stadt,  die  man  fast  unwill- 
kürlich nennt«  usw.  Das  kann  so  sein;  nichts  hindert,  daß  irgend 
etwas  mit  irgend  etwas  verbunden  sei,  was  für  ein  logisches  Ver- 
hältnis auch  immer  zwischen  ihnen  obwalte.  Das  drückt  aber  nur 
die  Gleichwertigkeit  assoziativer  Verbindungen  unter  allen  Umstän- 
den aus.  Die  Reproduktion  vieler  Wörter  unter  dem  Einfluß 
einer  Aufgabe  ist  anders  bedingt,  als  die  bloße  Reproduktion 
von  irgend  etwas,  sei  das  Induzierte  der  Teil  zu  dem  Gegebenen 
oder  sonst  etwas.  Die  bloße  Assoziation  hat  als  solche  nichts  mit 
der  Bedeutung  des  Reproduzierten  für  das  Reproduzierende  zu  tun. 

Wir  haben  hier  einen  experimentellen  Beleg  für  die  Ausfüh- 
rungen von  Schmidkunz3),  in  denen  er  der  analytischen  Phan- 
tasie der  synthetischen  gegenüber  den  Vorzug  zuspricht. 


1)  Trautscholdt,  Wundts  Stndien  Bd.  I,  S.  244. 
2;  Cattell,  Psychometrische  Untersuchungen,  Teil  III.  Wundts  Studien 
Bd.  IV,  S.  247. 

3)  Schmidkunz,  Analytische  und  synthetische  Phantasie,  Halle  1889, 
S.91:  >Das  Bisherige  hat  uns  bereits  hinreichend  darüber  aufgeklärt,  welcher 
Weg,  ob  der  synthetische  oder  der  analytische,  uns  zu  einem  deutlicheren 
nnd  lebhafteren  Bilde  all  der  verborgenen  Fäden  führt,  die  in  der  dar- 
stellenden Natu)  oder  in  der  zu  reproduzierenden  Kunst  von  einem  Punkt 
zun  andern,  vom  Einzelnen  zum  Ganzon  und  wieder  zurück  laufen.  Es  war 
die  Analysis,  welche  hier  tiefer  eindringt.« 

25* 

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388 


Henry  J.  Watt, 


Im  Einklang  mit  unserem  Resultat  könnte  man  die  vorgeführten 
Ansichten  etwas  voneinander  trennen.  Der  Weg  vom  Ganzen 
zu  den  Teilen,  der  analytische  Weg  von  Bchmidknnz,  entspräche 
dann  mit  seiner  größeren  Leichtigkeit  der  leichteren  Aufgabe  IV, 
während  Steinthal  recht  hätte,  insofern  man  das  Ganze  in  ähn- 
licher Weise  wie  den  Ubergeordneten  Begriff  als  den  natürlichen 
Ruhepunkt  betrachtete,  da  der  Teil  das  Ganze  implizite  einschließt 
nnd  nur  dadurch  existiert.  Diese  Leichtigkeit,  das  Ganze  zu  finden, 
wäre  dann  wieder  in  den  bei  dieser  Aufgabe  niedriger  liegenden 
Höhepunkten  der  Frequenzkurven  zu  sehen.  Das  praktische  Ver- 
halten oder  die  Aufgabe  hat  jedoch  teilweise  das  letztere  Uberwogen. 

Vp.  I  macht  die  Bemerkung:  »ich  habe  den  Eindruck,  daß  es 
leichter  ist,  den  Teil  zu  finden,  wenn  die  Gegenstände  kleiner  sind«. 
Der  betreffende  Versuch  war:  Schwert.  »Dunkles  Bild  einer  Schwert- 
klinge« 1102  <y,  und  em  vorhergehendes:  Laden.  »Bild  eines  kleinen 
Ladens.  Gesucht  nach  irgendeinem  Inhalt.  Gedacht  an  Gewürz 
und  dergleichen.  Fiel  aber  nicht  darauf.  Sagte  Gewölbe.  Wahr- 
scheinlich wollte  ich  Gewürz  sagen.  Unangenehme  Spannung.«  2571a. 
Ich  habe  demzufolge  eine  Reihe  von  Versuchen  bei  jeder  Vp.  her- 
ausgesucht, bei  welchen  die  Reizworte  Bezeichnungen  für  kleinere 
Gegenstände  waren.  Ich  finde  aber  keine  wesentliche  Verminderung 
der  Reaktionzeit  bei  ihnen.  Die  durchschnittliche  Zeit  ist  kaum, 
wenn  auch  ein  wenig,  kleiner  als  die  sämtlicher  Versuche  der 
Aufgabe.  Umgekehrt  finde  ich  nicht,  daß  die  Versuche  mit  einer 
Zeit  von  mehr  als  2000  a  immer  Reizwörter  haben,  die  größere 
Gegenstände  bezeichnen.  Solche  Wörter  kommen  ja  vielfach  vor, 
aber  die  Länge  der  Zeit  ist  wohl  nicht  schlechthin  aus  der  Größe 
des  vom  Reizwort  bezeichneten  Gegenstandes  zu  erklären.  Der- 
gleichen sind  Kreis,  Welt,  Schlacht,  Drache,  Erde,  Wirtschaft,  Ge- 
birge, Land,  Laden,  Schule,  Ausstellung,  Forst,  Brief,  Gewehr, 
Kloster,  Mappe,  Himmel  usw. 

So  auch  bei  der  andern  Aufgabe.  Vp.  I  macht  hier  wieder  die 
Bemerkung  bei  dem  Versuch:  Tisch.  »Dunkle  Vorstellung  eines 
Tisches  im  Zimmer.«  Zimmer.  »Sobald  die  Gegenstände  größer 
werden,  wird  es  schwieriger  für  mich,  ein  Ganzes  zu  finden.  Ich 
glaube,  daß  meine  Bilder  begrenzt  sind,  und  daß  es  leichter  ist, 
bei  kleinen  zu  einem  Ganzen  Uberzugehen,  als  bei  größeren.  So 
hatte  ich  bei  dem  Reizwort  Seil  Schwierigkeiten,  weil  es  (Seil)  so 
lang  war.«    Ich  habe  nun  die  Versuche  wie  bei  der  andern  Auf- 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  deß  Denkens. 


389 


gäbe  untersucht.  Es  sind  aber  nicht  schlechthin  die  größeren 
Gegenstände,  die  am  meisten  Schwierigkeiten  bieten,  sondern  die 
mehr  oder  minder  selbständigen.  Ein  Wort  wie  Brocke  wurde 
sehr  schwierig  gefunden.  Yp.  I:  Brücke.  »Deutliche  Vorstellung 
einer  Brücke  Uber  einen  Fluß.  Ich  konnte  kein  Ganzes  finden. 
Habe  schließlich  Verbindung  gesagt  (=  übergeord.  Begr.).«  4624  a. 
Vp.  II:  Brücke.  »Ich  stand  auf  einer  Brücke  und  habe  mich  nach 
allen  Seiten  umgeschaut.  Habe  das  Ganze  nicht  gefunden.  Unlust- 
geftihl  dabei.«  18714  *(!).  Vp.  IH:  Brücke.  »Optische  Vorstellung 
von  Häusern,  die  jenseits  der  Brücke  stehen,  und  dann  auf  einmal 
Stadt«  2069  a. 

3)  Die  fünfte  und  die  sechste  Aufgabe:  einen  koordinierten 
Begriff  bzw.  einen  andern  Teil  eines  gemeinsamen  Ganzen  zu  finden. 

Uber  die  fünfte  Aufgabe  sagt  Vp.  I  aus:  »es  scheint,  als  ob 
diese  Art  von  Versuchen  sehr  bequem,  am  bequemsten  ist«,  und 
Vp.  HI:  »ich  habe  den  Eindruck  großer  Leichtigkeit  bei  diesen 
Versuchen.  Das  andere  Wort  springt  heraus«,  und  wieder:  »Alles 
scheint  wie  aus  der  Pistole  zu  kommen«. 

Sehen  wir  zu,  ob  das  objektiv  bestätigt  wird. 

Tabelle  XXXIV. 


Die  Durchschnittszeiten  der  Reaktionen  jeder  Aufgabe. 


Anfagbe  V 

Vp.  I 

Vp.  II 

Vp.  ni  - 

Vp.  VI 

Me 

1338  84 

1312  81 

1197  66 

1220  61 

Ma 

1694 

1612 

1421 

1419 

m.V. 

492 

662 

530 

442 

Für  Vp.  I  ist  die  durchschnittliche  Zeit  Ma  dieser  Aufgabe  kürzer, 
als  die  irgendeiner  andern  Aufgabe,  und  für  Vp.  II  ebenso,  außer 
bei  der  vierten  Aufgabe.  Für  Vp.  III  ist  sie  kürzer,  als  die  der 
ersten  zwei  Aufgaben,  länger  als  die  der  dritten  und  vierten.  Bei 
Vp.  II  aber  nimmt  die  Frequenzkurve  dieser  Aufgabe  ihren  An- 
fang um  200  o  früher  als  die  der  vierten  Aufgabe,  bei  Vp.  III  um 
100  a  früher  als  die  andern  zwei  Aufgaben.  Der  Zentralwert  bei 
Vp.  II  und  Vp.  I  ist  bei  dieser  Aufgabe  am  kleinsten,  bei  Vp.  IH 
ist  er  nur  kleiner  als  der  der  zweiten  Aufgabe. 


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390 


Henry  J.  Watt, 


Der  Prozentsatz  der  falschen  Fälle:  Vp.  I  0^,  Vp.  H  6 
Vp.  III  21,5      Vp.  VI  20      ist  kleiner  bei  dieser  Aufgabe  aU 
bei  allen  andern  für  alle  Vp.  anßer  Vp.  III,  für  welche  der  Prozent- 
satz bei  dieser  Aufgabe  1,5  %  größer  ist,  als  bei  der  dritten  and 
der  vierten  Aufgabe. 

Wir  dürfen  also  nicht  behaupten,  daß  diese  Aufgabe  die 
leichteste  von  allen  sei:  sie  ist  aber  jedenfalls  eine  der  leich- 
testen. Gerade  das  Gegenteil  aber  habe  ich  am  Beginn  der 
Versuche  erwartet,  weil  es  mir  sehr  wahrscheinlich  zu  sein 
schien,  daß  die  Reproduktion  mittels  des  Oberbegriffs  regelmäßig 
stattfinden  müßte.  Das  ist  aber,  wie  wir  gezeigt  haben,  keines- 
wegs der  Fall,  und  auch  wenn  das  regelmäßig,  wie  bei  Vp.  I,  zu 
geschehen  scheint,  ist  die  durchschnittliche  Zeit  doch  kürzer  als 
bei  den  andern  Aufgaben.  Das  bekräftigt  unsere  Behauptung, 
daß  der  Oberbegriff  nur  eine  Nebenerscheinung  im  Prozeß 
ist.  Wenn  das  nicht  so  wäre,  wären  die  Zeiten  durchschnittlich  viel 
länger  gewesen,  und  in  der  Tat  können  die  Versuchsreproduktion 
und  Reproduktion  des  Oberbegriffes  nebeneinander  verlaufen,  ohne 
sich  gegenseitig  viel  zu  hemmen. 

Das  Obige  wird  weder  im  Protokoll  noch  objektiv  bei  den  Ver- 
suchen des  Sommersemesters  bestätigt.   Ich  gebe  hier  die 


Tabelle  XXXV 
Sommersemester. 


Aufgabe  V 

Aufgabe  VI 

Vp.  I 

Vp.  II 

Vp.  III 

Vp.  I 

Vp.  n 

Vp.  IV 

Mc 

1857  11 

1445  40 

2461  65 

i  2389  13 

1601  29 

2949  26 

Ma 

2071 

1676 

2649 

1  2294 

2097 

3343 

m.  V. 

688 

676 

508 

562 

1014 

dafür,  ohne  weitere  Bemerkung  außer  der,  daß  die  Reizwörter  auch 
hier  wieder  nicht  sehr  geeignet  waren,  und,  was  wichtiger  ist,  daß 
wir  dieselben  Reizwörter  das  ganze  Semester  hindurch  und  für 
alle  Aufgaben  benutzt  haben,  so  daß  allerlei  Störungen  dage- 
wesen sein  können  und  auch  zum  Teil  als  Erinnerungen  usw.  u 
spüren  sind.  Auch  das  Protokoll  vermag  uns  keinen  Aufschluß 
über  den  Tatbestand  zu  geben,  so  daß  in  Anbetracht  der  großen 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einor  Theorie  des  Denkens.  391 

subjektiven  und  objektiven  Übereinstimmung  der  Versuche  dieser 
Aufgabe  während  des  Wintersemesters  wir  an  deren  Resultat  gar 
nicht  zu  zweifeln  brauchen. 


Die  sechste  Aufgabe. 
Tabelle  XXXVI. 


Aufgabe  VI 

Vp.  I 

Vp.  II 

,  — .  

Vp.  III 

Vp.  VI 

Mc 

1699  64 

1745  28 

1316  33 

1888  43 

Ma 

1946 

2002 

1511 

1920 

m.V. 

658 

839 

565 

507 

Aus  der  Tabelle  ersehen  wir,  daß  die  Reaktionszeiten  bei  allen 
Vp.  (Sommer  und  Winter)  ziemlich  viel  länger  als  die  der  fünften 
Aufgabe  sind.  Das  ist  wohl  zum  Teil  auf  die  Notwendigkeit  der 
Vermittlung,  des  Ganzen,  im  Versuch  zurückzuführen.  Bei  allen 
Vp.  ist  die  Frequenzkurve  höchst  unregelmäßig.  Sie  zeigt  kaum 
einen  deutlichen  Höhepunkt  und  wird  hier  und  da  plötzlich  unter- 
brochen. Der  höchste  Punkt  in  der  Kurve  kommt  später  als  bei  der 
fünften  Aufgabe,  und  bei  Vp.  VI  nimmt  sie  ihren  Anfang  400  a  später. 
Sie  zeigt  deutlich  den  Einfluß  einer  Störung.  Bei  andern  Vp.  nimmt 
sie  ihren  Anfang  eher,  wenn  auch  schwächer.  Der  Prozentsatz 
der  Fehler  bei  den  verschiedenen  Vp.:  Vp.  I  13 #,  Vp.II  62 
Vp.  in  44  %,  Vp.  VI  42 #,  ist  auch  viel  größer.  Das  läßt  sich 
durch  eine  dieser  Aufgabe  eigentümliche  Schwierigkeit  kaum  völlig 
erklären.  Wir  müssen  uns  daran  erinnern,  daß  wir  ein  Reprodu- 
ziertes nicht  als  der  Aufgabe  entsprechend  betrachten  können, 
wenn  es  nicht  bewußt  als  Teil  eines  Ganzen  aufgefaßt  wurde.  Ein 
solches  Versäumnis  hing  nicht  von  einer  Vergeßlichkeit  seitens 
der  Vp.  ab,  sondern  von  der  empfundenen  Schwierigkeit,  etwas  als 
Teil  eines  Ganzen  anzusehen,  was  man  selbst  als  Ganzes  oder  als 
etwas  Selbständiges  zu  betrachten  pflegt ').  Vp.  I  macht  eine  Be- 
merkung darüber  anläßlich  des  folgenden  Versuches.  > Mauer. 
Garten,  als  Teil  eines  Anwesens.  Ziemlich  deutliches  Bild  einer 
Mauer,  die  einen  Garten  abschließt.    Das  Suchen  dauerte  etwas 


1]  Vp.  I.  Beere— Frucht.  Bewußtsein,  daß  es  falsch  ist.  Ich  suchte 
nach  etwas  anderem.  Fand  nichts,  weil  es  schon  etwas  Selbständiges  ist 
2721  <r. 


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392 


Henry  J.  Watt, 


lang. «  4164  a.  Es  ist  eben  ein  großer  Unterschied  zwischen  den 
Fällen,  bei  denen  man  gewohnt  ist,  etwas  als  Teil  zu  betrachten  (z.  B. 
Schnabel),  and  den  Fällen,  bei  denen  man  gar  nicht  geneigt  ist, 
etwas  als  Teil  zu  betrachten.  Das  ist  ein  wesentlicher  Unterschied 
zwischen  der  gegenständlichen  und  der  begrifflichen  Koordination 
(d.  h.  zwischen  der  VI.  und  der  V.  Aufgabe).  Vergleiche  man 
damit  die  folgenden:  Seife  —  Waschwasser,  Löffel  —  Messer.  Da- 
gegen wurde  als  leicht  empfunden:  Sonne — Mond  als  Teile  des 
Planetensystems.  Wenn  man  aber  die  Reizwörter  mit  den  Reaktion  s- 
würtern  der  Zeitlänge  nach  einordnet,  sieht  man  keine  Zunahme 
der  Dauer  mit  der  Selbständigkeit.  Das  hätten  wir  auch  nicht 
erwarten  können  :  wir  müssen  die  Aussage  der  Vp.  im  einzelnen 
Falle  stehen  lassen  und  uns  damit  begnügen.  Im  Gegensatz  zu 
der  früheren  also  ist  diese  Aufgabe  keine  geläufige,  während  wir 
doch  nicht  sagen  können,  daß  die  Reproduktionstendenz  irgend- 
wie an  sich  ungünstig  gestellt  ist.  Jedoch  liegt  öfters,  wie  wir 
gesehen  haben,  ein  dem  Prozeß  wesentlicher  Teil  außerhalb  der 
einfachen  Kooperation  von  Aufgabe  und  Reproduktionstendenz,  wie 
wir  sie  bei  den  andern  Aufgaben  gefunden  haben. 

Über  die  Fehler  ist  nicht  viel  Neues  zu  sagen.  Störungen 
und  Hemmungen  gingen  ihnen  meistenteils  voran;  die  Vp. 
war  vielleicht  von  einem  interessanten  oder  lebhaften  Bild  oder 
von  einer  sich  aufdrängenden  oder  in  Bereitschaft  liegenden  Repro- 
duktionstendenz abgelenkt.  Unter  allen  kommt  die  Angabe  des 
übergeordneten  Begriffes  am  häufigsten  statt  des  Ganzen  oder  des 
andern  Teiles  vor.  Das  hängt  wohl  damit  zusammen,  daß  die 
Aufgabe,  den  übergeordneten  Begriff  zu  finden,  eine  starke  Perse- 
verationstendenz  besitzt.  Vp.  II  klagt  sogar  einmal  darüber,  daß 
ihr  das  Reizwort  so  gattungsmäßig  vorkam.  Ich  finde  aber  nicht, 
daß  im  allgemeinen  die  fälschliche  Reproduktion  des  Ubergeord- 
neten Begriffes  merklich  kürzere  Zeit  dauert,  als  fälschliche  Re- 
produktionen anderer  Art.  Wo  der  Versuch  aufgegeben  wurde, 
ist  der  Grund  nur  in  der  Unfähigkeit,  eine  befriedigende  Repro- 
duktionstendenz zu  finden,  in  einer  Hemmung  oder  einem  Urteil 
über  die  vorhandene  Tendenz  zu  sehen.  Wie  oben,  so  können  wir 
auch  hier  nicht  alle  Fälle  erklären.  Daß  die  Fehler  sämtlich  auf 
der  größeren  oder  kleineren  Geschwindigkeit  und  Stärke  der  be- 
treffenden Reproduktion  oder  auf  einer  momentanen  falschen  Auf- 
fassung der  Aufgabe  beruhen,  kann  man  nicht  leugnen.  Auch  kann 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  393 

das  Reproduzierte  bis  zu  einem  bestimmten  Punkt  ins  Bewußt- 
sein kommen,  wie  wenn  es  das  wirklich  der  Aufgabe  Entsprechende 
wäre.  Die  Aufgabe  braucht  nicht  jedesmal  ersetzt  zn  werden. 
Sie  kann  einfach  durch  die  Kraft  der  sich  aufdrängenden  Repro- 
duktionstendenz  verdrängt  werden.  Es  ist  auch  wohl  möglich,  daß 
die  Aufgabe  von  der  Vp.  selbst  falsch  hergestellt  wird  und  des- 
halb natürlich  Fehler  bewirkt  Als  Fehler  dieser  Gattung  sind  die 
Ton  Vp.  II  bei  Aufgabe  HI  so  oft  angegebenen  Antworten  auf  die 
Frage  woraus?  zu  betrachten.  Die  Fehler  vom  Sommersemester 
bieten  nichts  Neues. 

Ist  die  Länge  der  Reaktionszeit  bei  falschen  Reaktionen  ein 
Kriterium  dafür,  daß  sich  die  Vp.  mehr  oder  weniger  bemUht 
hat,  richtig  zu  reagieren? 

Tabelle  XXXVII. 


Die  Dauer  der  richtigen  und  der  falschen  Fülle  im  Verhältnis 

zueinander. 


•  Aufg.  1 

Auf?.  II 

Aufg.  III 

Aufg.  IV 

Aufg.  V 

Aufg.  VI 

Vp.  I     JfJ  1Ö2 
Ma  1  202 

140 
117 

108 
117 

88 
88 

108 
109 

Vp.  11  Mc 
Ma 

97 

134 

98 
82 

107 
108 

140 
176 

262 

Vp.ni  Mr\ 

117 
101 

117  118 
122  108 

107 
11H 

94  103 
106  109 

Vp.  VI     Jf,  ! 

«%        Ma  || 

130 
122 

129 
124 

Die  Zahlen  geben  die  Dauer  der  falschen  Fälle  im  Prozenteatz  der  Dauer 
der  richtigen  Fälle  an. 


Ich  habe  die  Fehler  aller  Aufgaben  daraufhin  untersucht,  finde 
aber  kein  einheitliches  Resultat.  Die  verhältnismäßig  lange  Dauer 
falscher  Fälle  bei  allen  Aufgaben  einer  Vp.  hätte  angedeutet,  daß 
sie  sich  mehr  als  die  andern  Vp.  bemüht  hätte,  richtig  zu  rea- 
gieren, indem  sie  länger  der  Kraft  sich  aufdrängender  Reaktionen 
widerstanden  wäre.  Eine  solche  lange  Dauer  ist  aber  in 
Tabelle  XXXVII  nicht  zu  finden,  obgleich  wohl  nicht  jedes 
Resultat  ganz  unerklärlich  wäre.  Wir  weisen  also  einfach  wieder 
auf  die  größere  Mannigfaltigkeit  der  Faktoren  bei  den  falschen 
Fällen  hin. 

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394 


Henry  J.  Watt, 


§  15.  Zusammenfassung. 

1)  Individuelle  Unterschiede. 

Im  fünften  Paragraphen  haben  wir  viele  Angaben  der  Vp.  ge- 
bracht, die  zu  der  Frage  Anlaß  geben,  ob  sich  die  betreffende 
Vp.  mehr  an  die  motorische  oder  an  die  sensorische  Reaktions- 
weise1) gehalten  hat.  Vp.  I  z.  B.  spricht  das  Reizwort  nach  seinem 
Erscheinen  fast  regelmäßig  zuerst  innerlich  aus,  ebenso  wie  das 
Reaktionswort  vor  der  Reaktion.  Bei  kurzen  und  glatten  Reaktionen 
jedoch  fällt  letzteres  öfters  weg.  Die  Lautbilder  sind  hier  akustisch- 
motorisch;  aber  die  Vp.  beschreibt  sie  als  rein  oder  Uberwiegend 
akustisch.  Vp.  III  dagegen  spricht  das  Reizwort  nach  seinem  Er- 
scheinen gar  nicht  und  das  Reaktionswort  vor  dem  Aussprechen 
nur  selten  innerlich  aus.  Ihre  Lautbilder  sind  ebenfalls  akustisch- 
motorisch, jedoch  vorwiegend  motorisch.  Das  Reaktionswort  tritt 
öfters  überraschend  oder  mit  dem  Bewußtsein  eines  Zwanges  auf, 
und  die  Vp.  weiß  in  der  Reaktion  oft  schon  sehr  früh,  was  sie 
zu  sagen  hat.  Die  Reaktion  wird  gewöhnlich  erst  im  Aussprechen 
gerechtfertigt,  und  diese  Vp.  macht  nicht  selten  sinnlose  und  ver- 
frühte Reaktionen.  Wie  sie  sagt,  fängt  sie  zuweilen  an,  das  Reiz- 
wort auszusprechen,  noch  bevor  es  ihr  klar  ins  Bewußtsein  ge- 
kommen ist.  Sie  beobachtet  auch  einmal  eine  Einstellung;  des 
motorischen3)  Apparats  auf  ein  Wort  vor  dem  Auftreten  des  Wortes 
im  Bewußtsein.  Vp.  II  verhält  sich  im  allgemeinen  mehr  wie 
Vp.  I.   So  viel  lehrt  uns  die  bloße  Aussage  der  Vp. 

Diese  Unterscheidung  ist  insofern  eine  begründete,  als  wir 
sehen,  daß  die  eine  Vp.  scheinbar  viele  auf  das  erste  Stadium  des 
Versuches  oder  auf  die  Apperzeption  sich  beziehende  Erlebnisse 
angibt,  während  diese  Erlebnisse  bei  der  andern  Vp.  wegfallen, 
was  freilich  keineswegs  immer  der  Fall  ist.    Man  kann  aber  diesen 


1}  Vgl.  Wandt,  &Psych.  M,  S.  420 ff. 

2]  Aafg.  IV.  Garten.  Diesmal  habe  ich  die  zwangsweise  Artikulation 
von  z  in  der  Zangenspitze  gefühlt,  and  zwar  halb  artikuliert,  bevor  ich  über- 
haupt anfing,  das  Reaktionswort  auszusprechen   Zaun.  969  <r. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  395 

Unterschied  in  der  Reaktionsweise  auch  objektiv  beobachten  und 
man  hat  dafür  kürzlich  eine  nene  Methode  eingeführt.  Danach 
ordnet  man  alle  Versuche  nach  der  Größe  der  Reaktionszeit  in 
regelmäßige,  passend  kleine  Zeitabschnitte.  Die  Anzahl  der  Ver- 
suche bei  den  Zeitabschnitten  ergibt  dann  eine  Kurve,  die  den 
Zusammenhang  zwischen  allen  Versuchen  sehr  gut  darstellt. 

Dies  haben  wir  auch  mit  unsern  Versuchen  für  jede  Aufgabe 
und  jede  Vp.  vorgenommen  (s.  Figur  9).  Nur  die  Kurve  für 
Aufg.  VI,  Vp.  II,  fehlt  aus  schon  angegebenen  Gründen  (S.  299). 
Man  wird  nun  häufig  in  der  Figur  eine  verfrühte  und  eine  ver- 
spätete Reaktion  finden,  und  im  allgemeinen  ist  erstere  Weise 
bei  Vp.  HI  viel  ausgeprägter  als  bei  den  andern,  was  mit  den 
obigen  Angaben  gut  übereinstimmen  würde.  Auf  diese  Weise 
könnte  man  zu  der  Meinung  kommen,  daß  Vp.  III  motorisch, 
Vp.  I  und  Vp.  II  dagegen  sensorisch  angelegte  Typen  seien.  Das 
wäre  auch  ein  gut  zusammenfassender  Ausdruck  für  viele  Eigen- 
tümlichkeiten der  Vp. 

Viele  der  sonstigen  Unterschiede  zwischen  den  Vp.  wurden 
schon  erwähnt.  Im  allgemeinen  lassen  sie  sich  folgendermaßen 
charakterisieren.  Vp.  I  hat  nur  mittelstarke  Reproduktions- 
tendenzen, aber  die  Aufgabe  hat  bei  ihr  eine  kräftige  und 
nachhaltige  Wirkung,  und  die  Perseverationstendenz  kommt  ihr 
zu  Hilfe,  sobald  sie  sich  des  Mangels  an  Wirksamkeit  der 
Aufgabe  bewußt  wird.  Die  Aufgabe  kann  die  Reproduktions- 
tendenzen zu  ihren  Zwecken  gut  verwerten.  Die  Vp.  macht  des- 
halb nur  wenige  Fehler  und  gibt  wenige  Versuche  ungelöst  auf. 
Vp.  III  dagegen  hat  sehr  starke  Reproduktionstendenzen,  und  die 
Aufgabe  hat  öfters  nicht  die  nötige  Kraft,  ihr  Aufkommen  ge- 
nügend zu  dirigieren,  die  falschen  zu  hemmen  und  die  richtigen 
zu  verstärken.  Viele  dringen  trotz  der  Vorbereitung  und  der 
starken  Wirksamkeit  der  Aufgabe  durch.  Vp.  II  dagegen  hat 
keine  besonders  starken  Reproduktionstendenzen ;  die  Wirksamkeit 
der  Aufgabe  ist  noch  schwächer,  und  sie  vermag  wegen  unklaren  Ver- 
ständnisses nicht  immer  die  richtige  Wirksamkeit  herzustellen,  und 
selbst  wenn  sie  daist,  ist  sie  meist  nicht  genügend  sicher  und 
stark.  Vp.  VI  ist  mehr  wie  Vp.  I,  nur  daß  bei  ihr  die  Repro- 
duktionstendenzen verhältnismäßig  etwas  stärker  sind  als  bei 
Vp.  I. 


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Experimentelle  Beitrüge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  397 

Die  aus  unsern  Lese-,  Bog.  Erkennung« versuchen  erhaltenen 
Daten  lasse  ich  in  einer  Tabelle  folgen. 

Tabelle  XXXVHI. 
Die  Leseversuehe. 


vP. 

Anzahl  der 
Versuche 

Mo 

m.V. 

Gipfel  der 
Strenungskurve 

1 1 

1  - 

415 

79 

390 

n 

102 

411 

66 

390 

m 

94 

444 

56 

390  =  410 

rv 

30 

525 

66 

420  =  600 

2)  Die  Reaktionsweise. 

In  unserer  Figur  bemerkt  man  nicht  nur  zwei  Gipfel,  sondern 
in  den  meisten  Euren  deren  mehrere.  Bei  Vp.  I  sind  die  meisten 
Gipfel  etwa  0,3*,  zuweilen  nur  0,2*  voneinander  entfernt.  Bei 
Vp.  H  beträgt  der  Zwischenraum  ebenfalls  häufig  0,3',  und  bei 
Vp.  m  ist  es  etwas  unbestimmter,  weil  es  bei  ihr  im  allgemeinen 
nicht  so  viele  Gipfel  gibt,  aber  die  zwei  Perioden  0,2'  und  0,3« 
sind  doch  zu  erkennen.  Insofern  könnte  man  von  einer  Perio- 
dizität in  der  Streuungakurve  reden.  Wir  geben  zu,  daß  die 
Anzahl  der  Versuche,  aus  denen  diese  Kurven  gewonnen  wurden, 
nicht  »ehr  groß  ist.  Auffallend  ist  noch,  wie  oft  die  Gipfel  bei 
den  verschiedenen  Aufgaben  in  ihrer  absoluten  Stellung  mitein- 
ander tibereinstimmen  (s.  besonders  Vp.  II).  In  den  Streuungs- 
kurven kann  man  zugleich  Charakteristiken  für  die  verschiedenen 
Aufgaben  finden  wie,  daß  die  Kurve  der  zweiten  Aufgabe  etwas 
später  anfängt,  und  daß  der  zweite  Gipfel  etwas  deutlicher  als  der 
erste  ist.  Bei  der  dritten  Aufgabe  zeigt  sich  der  erste  Gipfel  etwas 
früher  als  bei  der  vierten,  was  wir  in  Beziehung  zu  der  Frage 
der  Schwierigkeiten  dieser  Aufgabe  schon  oben  besprochen  haben. 
Bei  den  übrigen  Aufgaben  sieht  man,  wie  früh  schon  die  Kurven 
anfangen. 

Nun  fragt  es  sich,  ob  wir  berechtigt  sind,  aus  so  wenigen  Ver- 
suchen eine  Regelmäßigkeit  herauszulesen.  Wir  haben  viele  Gruppen 
von  Faktoren  gefunden  und  könnten  wohl  sagen:  wenn  die  Fak- 
toren bei  den  Versuchen  so  verschieden  und  mannigfaltig  sind,  so 


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398 


Henry  J.  Watt, 


kann  man  ans  einer  derartigen  Zusammenstellung  aller  Versuche 
schwerlich  Neues  gewinnen.  Aus  den  Streuungskurven  Schlüsse  zu 
ziehen,  ist  aber,  wie  gesagt,  zu  einer  Methode  geworden,  die 
gewisse  Vorteile  neben  denen  des  arithmetischen  Mittels  bzw.  der  m.  V. 
und  des  Zentralwertes  haben  soll,  und  die  betreffenden  Forscher1) 
haben  wichtige  Schlüsse  auf  Grund  ihrer  Kurven  gezogen.  Wir 
könnten  vielleicht  mit  demselben  Recht  unsere  Periodizität  behaup- 
ten. Dies  veranlaßt  uns,  die  Methode  im  allgemeinen  zu  besprechen. 

Wenn  die  Anzahl  der  Faktoren,  die  die  Länge  der  Reaktions- 
zeit bestimmen,  begrenzt  und  nicht  variabel  ist,  sollte  man  er- 
warten, daß  sich  die  Zeiten  in  einer  Streuungskurve  alle  symme- 
trisch entweder  um  einen  oder  um  mehrere  Werte  scharen. 
Das  tun  sie  aber  bekanntlich  nicht.  Wären  in  den  meisten  Ver- 
suchen viele  Faktoren  zu  gleicher  Zeit  wirksam,  in  andern  aber 
ein  anderer  Faktor  zu  späterer  Zeit,  dann  dürfte  man  einen  hohen 
Gipfel  zu  jener  Zeit  und  zu  dieser  Zeit  einen  zweiten  niedrigeren 
Gipfel  in  der  Kurve  erwarten.  So  konnte  eine  Art  Periodizität 
entstehen.  Tatsächlich  findet  man  ähnliches,  wie  man  in  den  von 
Alechsieff*)  angegebenen  Kurven  sofort  sehen  kann.  Wenn  man 
die  Gipfel  dieser  Kurven  etwas  genauer  verfolgt,  so  findet  man 
verschiedenes  Bemerkenswerte.  Ich  will  ein  wenig  darauf  ein- 
gehen, weil  bei  Alechsieff,  im  Gegensatz  zu  den  früheren 
Arbeiten,  die  den  Unterschied  zwischen  den  Reaktionsweisen  be- 
handelt haben,  das  Material  klarer  dargestellt  und  zugänglicher  ist 
Aus  allen  seinen  Tabellen  stellte  ich  alle  Kurven  jeder  Vp.  in  je 
eine  Tabelle  zusammen,  worin  nur  die  allen  Kurven  gemeinsamen 
Gipfel  zum  Vorschein  kamen. 

Ich  fand  erstens,  was  auch  Alechsieff  hervorgehoben  hat, 
daß  bei  den  verkürzten  Reaktionen  nur  ein  einziger  Gipfel 
vorkommt,  und  zwar  bei  150  oder  154  a,  zweitens,  daß  sehr  viele 
der  andern  Kurven  ihre  Gipfel  in  Perioden  von  20  oder  30  a 
erreichen.  Bei  Vp.  Alechsieff  erfolgen  die  Perioden  bei  den 
verlängerten  und  natürlichen  Reaktionen  fast  regelmäßig  in  Perioden 
von  20  ff.  Dem  scheinen  sich  Vp.  Buch  und  Koch  anzuschließen. 
Dagegen  brauchen  Vp.  Savescu  und  Almy  etwa  30  a  zu  einer 
Periode.  Eigentümlich  ist  es,  wie  fast  genau  dieselbe  Ein  hei  ts- 

1}  Alechsieff,  Reaktionszeiten  bei  Durchgangsbeobachtungen.  Wandte 
Studien,  XVI,  S.  lff.   Wundt,  »Psych.,  HI,  S.  421  ff. 
2;  a.  a.  0.,  am  Schlosse  des  Bandes. 


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399 


Ziffer  bei  den  die  Gipfel  angebenden  Zahlen  wiederkehrte.  Bei 
vielen  Reihen  kehrte  anch  die  Periode  immer  an  derselben  abso- 
luten Stelle  wieder.  Es  kamen  wohl  Abweichungen  vor,  trotzdem 
wurde  die  Größe  der  Periode  beibehalten,  s.  z.  B.  Vp.  Savescu. 
Dabei  bemerkte  ich,  wenn  ich  die  Versachsreihe  mit  der  Versuchs - 
anordnung  verglich,  daß  eine  Periode  scheinbar  aufwärts  oder 
abwärts  geschoben  werden  kann,  wenn  die  Reize  in  ihrer 
Qualität  oder  Quantität  verändert  werden.  Diese  brauchen  aber 
nicht  bei  jeder  Veränderung  des  Reizes  verschoben  zu  sein,  son- 
dern mutmaßlich  nur  da,  wo  die  mehr  physiologischen  Bedingungen 
der  Reaktion  dadurch  verändert  werden. 

Man  könnte  nun  daraus  verschiedene  Schlüsse  ziehen. 
Zunächst  ist  die  motorische  oder  die  verkürzte  Reaktion  nur  die 
verktlrzteste.  Doch  kann  man  dabei  noch  von  nichts  Absolutem 
sprechen.  In  den  von  Wundt  mitgeteilten  Bergemann  sehen 
Versuchen ')  scheint  die  Reaktion  noch  kurzer  als  150  a  zu  sein, 
etwa  100  a.  Die  verkürzte  Reaktion  wäre  dann  eine  Reaktion 
unter  möglichst  großer  Konstanz  des  Reizes  und  Einfachheit  der 
Aufgabe  und  Einübung  von  beiden.  Ich  sage  Aufgabe,  weil 
die  Unterschiede  des  Reaktionsverlaufes  nicht  einfach  vorgefunden, 
sondern  auf  Grund  der  besonderen  Vorbereitung  erfolgt  sind.  Wundt 
erklärt  z.  B. 3),  daß  bei  der  motorischen  Reaktion  »mit  der  Perzeption 
des  Eindrucks  auch  schon  die  impulsive  Apperzeption  der  Reaktions- 
bewegung  ausgelöst  wird,  während  die  deutliche  Apperzeption  des 
Eindrucks  erst  nachfolgt.  So  wird  man  annehmen  dürfen,  daß  die 
im  Fall  maximaler  Übung  bei  beiden  Reaktionsweisen  übrigbleiben- 
den Unterschiede  die  Zeit  zweier  sukzessiver  Apperzeptionsakte 
von  einfachster  Beschaffenheit  repräsentieren.«  Das  wäre  richtig, 
wenn  man  in  vielen  Versuchen  bloß  vorfände,  daß  der  be- 
treffende Apperzeptionsakt  fortgefallen  sei.  Dem  ist  aber  nicht 
so,  man  bereitet  vielmehr  dieses  Fortfallen  vor.  In  beiden  Fällen 
bat  man  nicht  nur  zwei  verschiedene  Reaktionen,  sondern  auch 
zwei  verschiedene  Aufgaben.  Deshalb  kann  von  einem  bei  der 
^nsorischen  Reaktion  vorhandenen  vollständigen  Willensvorgang 
und  einem  die  muskuläre  Reaktion  ausmachenden  bloßen  Reflex3) 
nicht  wohl  die  Rede  sein.     Die  Reaktionen  sind   in  beiden 

1}  Wundt,  a.  a.  0.,  S.  421. 

2)  i.  a.  0.,  S.  420. 

3)  a.  a.  0.,  S.  427. 


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400 


Henry  J.  Watt, 


Fällen  ebensosehr  Willensvorgänge  oder  von  einer  Aufgabe  ab- 
hängige Vorgänge.  Dafür  spricht  auch  die  Tatsache,  daß  bei 
Alechsieff)  die  natürliche  Reaktion  ebenfalls  einen  sehr  symme- 
trischen und  dem  der  verkürzten  Reaktion  ähnlichen  Verlauf  nimmt1). 
Das  ist  vielleicht  durch  die  sich  den  vorliegenden  Gewohnheiten 
anpassende  Aufgabe  und  die  einigermaßen  konstant  bleibenden 
Reaktionsumstände  zu  erklären.  Die  Symmetrie  des  Verlaufs  ist 
also  ziemlich  unabhängig  von  dem  Charakter  der  Reaktion  7  sei 
diese  ursprünglich  sensorisch  oder  motorisch  (s.  Alechsieff, 
Fig.  1  und  2).  Die  eingeübt  sensorische  Reaktion  dagegen  zeigt 
viele  Gipfel,  welche  andeuten,  daß  bei  verschiedenen  Versuchen 
die  Anzahl  der  Faktoren  und  ihre  Stellung  in  der  Reaktion 
verschieden  gewesen  sind,  wie  wir  es  auch  für  die  Mittelglieder 
unserer  V.  und  VI.  Aufgaben  gezeigt  haben  (§  8).  Die  Reaktion 
kann  demnach  je  nach  Art  der  Aufgabe  in  irgendeine  der  oben- 
erwähnten Perioden  fallen.  Die  absoluten  Zeiten  der  Perioden  aber 
bleiben  dabei  dieselben.  Wie  schon  gesagt,  scheint  diese  abso- 
lute Stellung  der  Perioden  von  einer  Veränderung  im  Reize  bin 
und  her  geschoben  werden  zu  können, 

Man  muß  deshalb  sehr  vorsichtig  verfahren.  Die  Form 
einer  Kurve  ist  noch  kein  Beweis,  daß  in  dem  einen  Reaktiona- 
verlauf ein  Faktor  vorhanden  war,  der  dem  andern  fehlte.  Wir 
müssen  zuerst  wissen,  bei  welcher  Zeit  das  Vorhandensein  des  be- 
treffenden Faktors,  der  sicher  nicht  in  allen  Fällen  im  Protokoll 
verzeichnet  ist,  anzunehmen  ist.  Man  sollte  denken,  daß  bei  ge- 
nügender Übung  die  Streuuiigskurve  für  irgendeine  Aufgabe, 
vorausgesetzt,  daß  die  Reize  qualitativ  und  quantitativ  immer 
gleichwertig  gehalten  werden  können,  ebenso  symmetrisch  aua- 
fallen müßte,  wie  die  für  die  verkürzte  Reaktion,  deren  einfache 
Aufgabe  sich  gleichbleibt  Unter  dieser  Voraussetzung  konnte 
man  wohl  mit  Heranziehung  des  Protokolls  Behauptungen  über 
die  Dauer  eines  Aktes  nach  einer  Subtraktion  der  Gesamtresultate 
aufstellen.  Es  ist  aber  zu  betonen ,  daß  wir  vorläufig  die  Dauer 
eines  Aktes  nicht  unabhängig  von  der  ihn  vorbereitenden  Autgabe 
ausdrücken  dürfen,  bis  vielleicht  weitere  Forschung  durch  Ver- 

1)  Wundtß  Erklärung  davon  scheint  mir  nicht  plausibel  (a.  a.  0.,  S.  4221 
Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  daß  ein  solcher  Unterschied  der  Reaktioasweise, 
wie  der  der  motorischen  und  sensorischen  Reaktionen  sein  soll,  von  einer 
Vergrößerung  des  zufälligen  Fehlers  von  6  a  gana  verwischt  wird. 


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401 


gleichung  vieler  Aufgaben  uns  gelehrt  haben  wird,  daß  die  Dauer 
eines  Aktes  unabhängig  von  der  Aufgabe  ist.  Keinesfalls  darf 
man  aus  der  bloßen  Form  der  Kurven  entnehmen,  daß  in  der  einen 
Reaktion  (der  sensorischen)  etwas  prinzipiell  Neues  vorhanden 
ist,  was  nicht  im  wesentlichen  schon  in  der  andern  (der  motorischen) 
enthalten  war.  Jedoch  kann  man  annehmen,  wenn  der  Verlauf 
der  Streuungskurve  irgendwelche  Eigentümlichkeiten  zeigt,  daß 
eine  Verschiedenheit  entweder  der  Aufgabe  oder  des  Reaktions- 
verlaufs (vgl.  unser  Äu  Äi}  Ät  oben)  oder  beider  vorliegt.  In 
diesem  Sinne  wäre  die  Streuungskurve  ein  Hilfsmittel  zur  Diagno- 
stik der  Reaktion.  Insofern  als  beide  Kurven  bestimmten  Aufgaben 
entsprechen,  haben  sie  denselben  Wert.  Aus  Alechsieffs  Kurven 
scheint  jedoch  hervorzugehen,  daß  eine  Verwicklung  der  Aufgabe, 
wie  die  sensorische  Form  der  Reaktion  sie  enthält,  nicht  so  gleich- 
mäßig und  konstant  durchgeführt  werden  kann. 


Tabelle  XXXIX 
Aufg.  I.   Vp.  n. 


Reaktionszeit 
Anzahl 

750 
6 

830 
3 

910 
4 

990 
8 

1070 
6 

1150 
3 

Anzahl 
Klasse 

1230 

1310 
6 

63  M  Mc 

1390 
7 

—  1323 

1470 
2 

1550 
4 

1630 
4 

Reaktionszeit 

Anzahl 

Klasse 

1710 
1 

10  Ai  Mc 

1790 
5 

=  1778 

1870 
1 

1960 
1 

2030 
2 

2110 
2 

Reaktionszeit 

Anzahl 

Klasse 

2190 
1 

2270 

2 

2350 
1 

2430 
1 

2610 
1 

2590 
1 

Reaktionszeit 

Anzahl 

Klasse 

2670 
1 

2750 

2830 
1 

2910 
3BMc 

2990 
-2948 

3070 
2 

Anzahl  =  Anzahl  der  Versuche,  deren  Dauer  zwischen  die  zwei  betreffen- 
den Zeiten  fallt;  z.  B.  5  Versuche  lagen  zwischen  750  a  und  830  a.  Unter 
Klasse  wird  die  Anzahl  der  Fälle  in  der  Klasse  Ax,  usw.  und  der 
Zentralwert  derselben  angegeben.  Die  Abstände  zwischen  den  Zeiten  ent- 
sprechen dem  wahrscheinlichen  Fehler;  hier  betragt  er  z.  B.  78,  rund  80  <r. 


Are  kW  ftr  Pijcholotf*.  IV.  26 

I 

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402 


Henry  J.  Watt, 


Tabelle  XL. 


Vp.  I.   Aufg.  IV. 


Reaktionszeit 

Anzahl 

Klasse 

900 
1 

933 

1000 

1 

1033 
2 

3 

1100 
7 

1133 
3 

1166 

3 

Tipak  t  inns7.pit 

Anzahl 
Klasse 

1  1200 
2 
64, 

1233 
2 

Mc  =» 

1266 
4 

1218 

4 

62.4 

6 

8itfc  = 

1366 
4 

1331 

1400 

1433 
3 

1466 

Anzahl 
Klasse 
Kluse 

1500 
2 

1533 
2 

1 

1600 
2 

io  d 

1633 

Jfc«= 
15  A 

1666 
6 

1676 
,3fc  «= 

1700 
1689 

1733 
2 

1766 
1 

Reaktionszeit 

Anzahl 

Klasse 

1800 

1833 
1 

2133 
3 

1866 

2 

1900 

1933 

1966 

3 

2000 

2033 

2066 
1 

Reaktionszeit 

Anzahl 

Klasse 

2100 

2166 
1 

2200 

2233  1  2266 
1  1 
bBMc^i 

2300 
1 

J278 

2333 

2366 

Tabelle  XLI. 


Vp.  IH.   Aufg.  IV. 


Reaktionszeit 

700 

725 

750 

775 

800 

825 

850 

875 

Anzahl 

1 

1 

1 

1 

1 

3 

2 

Klasse 

Reaktionszeit 

900 

925 

960 

975 

1000 

1025 

1050 

1076 

Anzahl 

1 

2 

1 

4 

6 

6 

4 

Klasse 

17  At  Mc  =  1004.  13  GMc  «=  1085 

Reaktionszeit 

1100 

1125 

1160 

1175 

1200 

1225 

1250 

1275 

Anzahl 

10 

3 

6 

6 

1 

2 

2 

3 

Klasse 

9AtMc 

=»1111 

26^3#c-=1165 

Reaktionszeit 

1300 

1325 

1350 

1376 

1400 

1425 

1450 

1475 

Anzahl 

1 

2 

1 

1 

1 

1 

2 

Klasse 

7  BMc  1494 

Reaktionszeit 
Anzahl 

1600 

1525 

1560 

1575 

1600 

1625 

1660 

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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  403 

Ich  habe  nun  zur  Illustration  dieser  Kritik  drei  fast  zu- 
fällig herausgegriffene  Versuchsreihen  in  Streuungskurven  dar- 
gestellt, wobei  der  wahrscheinliche  Fehler  als  Zeiteinheit  zugrunde 
gelegt  wurde.  Die  Tabellen  XXXIX-XLI  enthalten  das  Resultat. 
Unter  jedem  Zeitabschnitt  steht  die  Anzahl  der  Falle,  die  darin 
vorkamen,  und  darunter  wieder  der  Zentralwert  irgendeiner  von 
uns  bestimmten  Klasse  von  Versuchen,  der  auch  in  den  betreffen- 
den Zeitabschnitt  fallt.  Davor  steht  die  Anzahl  von  Versuchen  in 
der  betreffenden  Klasse. 

Wie  man  sieht,  haben  wir  nichts  weniger  als  eine  symmetrische 
Kurve.  Doch  kommen  mehrere  höhere  Gipfel  vor,  in  deren  Nähe 
der  Zentralwert  der  einen  oder  der  andern  Klasse  nicht  selten 
liegt  Gipfel  kommen  aber  auch  ohne  eine  zugeordnete  Klasse 
vor,  z.  B.  Tab.  XXXIX,  990  a,  8  Fälle. 

Dieses  Resultat  bestätigt,  was  wir  behauptet  haben,  daß 
eine  unregelmäßige  Streuungskurve  kein  einheitliches  Ganzes  bildet. 
Die  Streuungskurve  bildet  aber  ein  gutes  Hilfsmittel  zur  Diagnostik 
der  Versuchsreihe,  indem  die  Höhe  und  Lage  der  Gipfel  als  eine 
Bestätigung  für  die  Einteilung  der  Versuche  betrachtet  werden  kann, 
oder  indem  diese  Gipfel  als  Fingerzeig  zur  Aufdeckung  änderet' 
Versuohsarten  dienen. 

3)  Die  Reaktionen  und  die  Frage  der  Subtraktion. 

Wir  kommen  jetzt  auf  die  Frage  der  Subtraktion  bei  Reaktions- 
versuchen im  allgemeinen.  Für  kompliziertere  Reaktionen  sind 
die  muskuläre  und  die  sensorielle  Reaktion  der  Ausgangspunkt 
gewesen.  In  den  Verlauf  der  letzteren  glaubte  man  andere  intel- 
lektuelle Akte  einfügen  zu  können,  die  ihre  Dauer  um  eine 
entsprechende  Größe  verlängern  müßten.  So  erhielt  man  die 
sogenannten  Erkennungs-,  Unterscheidungs-  und  Assoziations- 
reaktionen1).  Auf  Grund  von  Subtraktion  der  Zeiten  der  einfacheren 
Reaktionen  von  denen  der  komplizierteren  glaubte  man  in  den 
Differenzen  die  Erkennungs-,  Unterscheidungs-  und  Assoziations- 
zeiten sehen  zu  dürfen,  wobei  man  den  Maßstab  für  diese  Akte 
natürlich  nur  in  der  formalen  Definition  derselben  finden  konnte. 

Es  lassen  sich  gegen  dieses  Verfahren  naheliegende  Bedenken 


1)  Für  eine  zusammenfassende  Darstellung  der  Frage,  des  Argument» 
dafür  und  der  Literatur  ».  Wundt,  »Psych.,  in.,  S.  450  ff. 

26* 

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404 


Henry  J.  Watt. 


erheben.   Zunächst  bürgt  eine  bestimmte  Versuchsanordnung  noch 
nicht  dafür,  daß  das  im  Bewußtsein  wirklich  vorkommt,  was  man 
als  Unterscheidung  usw.  definiert  hat    Der  Verlauf  der  Reaktion 
ist  erst  daraufhin  zu  untersuchen.   Es  bestehen  mehrere  Möglich- 
keiten. Der  erwartete  Akt  könnte  erstens  vielleicht  außerhalb  statt 
innerhalb  des  Verlaufs  des  Versuchs  vorkommen,  was  der  Fall  wäre, 
wenn  nur  die  Verschiedenheit  der  vorausgehenden  Vorbereitung  den 
psychologischen  Unterschied  zwischen  den  Reaktionen  bildete.  In 
dem  Falle  wäre  es  falsch,  die  Unterschiede  der  Reaktionszeiten 
mit  etwaigen  Unterschieden  im  Inhalt  der  Versuche  verschiedener 
Aufgaben  zu  identifizieren.    Zweitens  braucht  überhaupt  kein 
eigentümlicher  Unterscheidungsakt  vorzukommen.  Natürlich  kann 
drittens  auch  eine  wirkliche  Unterscheidung  erfolgen,  aber  in 
qualitativ  und  vermutlich  auch  zeitlich  verschiedener  Form  *).  Bevor 
wir  Reaktionszeiten  voneinander  subtrahieren,  müssen  wir  sicher 
sein,  daß  die  gefundenen  Unterschiede  der  Zeiten  eindeutig  Unter- 
schieden im  Verlauf  der  Reaktionen  entsprechen.   Diese  Sicher- 
heit gibt  uns  nicht  einmal  das  Protokoll.    Die  Vp.  kann  aus 
ein  einigermaßen  zuverlässiges  Protokoll  über  ihre  eigenen  Erleb- 
nisse, aber  nicht  über  deren  Bedeutung  oder  über  die  Rolle,  die  sie 
im  Versuch  spielen,  geben.    Das  kann  erst  durch  das  Sammeln 
und  Vergleichen  vieler  das  betreffende  Erlebnis  enthaltenden  Ver- 
suche ermittelt  werden,  wobei  man  das  betreffende  Erlebnis  mit 
den  vorausgehenden  und  nachfolgenden  zusammenzustellen  bat 
Es  wäre  offenbar  bedenklich,  einen  ideal  vollständigen  Reak- 
tionsverlauf für  die  Erkennungsreaktion  und  einen  gleichen  for 
die  Assoziationsreaktionen  aus  vielen  unvollkommenen  Versuchen 
aufzubauen,  die  entsprechenden  Durchschnittszeiten  voneinander  zu 
subtrahieren  und  diese  dann  als  Assoziationszeiten  zu  betrachten. 
Wir  müssen  erst  viele  Versuche  sammeln,  in  denen  wir  denselben 
Inhalt  vorfinden.  Für  diese  wären  wir  berechtigt,  eine  durchschnitt- 
liche Dauer  zu  berechnen.   Auf  diese  Weise  hätten  wir  sowohl 
Qualität  wie  Quantität  der  Elemente  im  Verlauf  der  Reaktion 
fixiert.   Die  Selbstbeobachtung  kann  natürlich  nicht  in  allen  Fallen 
gleichmäßig  eingehend  und  zuverlässig  sein,  aber  hinreichende 

1)  Diese«  Bedenken  scheint  auch  Wandt  zuzugeben,  indem  er  sagt,  »diB 
sich  auch  die  der  Selbstbeobachtung  gegebene  qualitative  Beschaffenheit  der 
Akte  (Erkennungs-  usw.  -Akte)  mit  dem  Grad  ihrer  Zusammensetzung  mehr 
oder  weniger  erheblich  verandern  wird«.  5Psych.,  I1L,  S.  462. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  405 

Exaktheit  wäre  nur  auf  diese  Weise  zu  gewinnen.  Derartiges 
haben  wir,  wenn  auch  in  noch  sehr  unvollkommener  Weise,  mit 
unsern  At-}  A^-,  ^-Fällen  erstrebt.  Bei  solchem  Verfahren  wurde 
eine  symmetrische,  aus  einem  einzigen  Gipfel  bestehende  Streuungs- 
kurve ein  gutes  Kriterium  ftir  die  Gleichartigkeit  des  Inhalts  der 
Reaktion  sein.  Dies  ist  aber  immer  nur  innerhalb  derselben  Auf- 
gabe auszuführen,  weil  wir  noch  keine  Ahnung  haben,  in  welcher 
Weise  verschiedene  Aufgaben  die  einzelnen  Teile  eines  Versuchs- 
Verlaufs  beeinflussen. 

Für  die  Ausführung  des  Subtraktionsverfahrens  scheint  ein 
Schema  wie  das  folgende1)  bestimmend  gewesen  zu  sein. 


S  bezeichnet  den  Beginn  der  Reizung  und  M  das  Reaktionsende 
der  Nervenbahn,  SC  das  sensorische  und  MC  das  motorische 
Zentrum.  Der  Kreis  S—SC—MC—M  würde  also  den  Verlauf 
der  motorischen  Reaktion  darstellen.  ApC  bezeichnet  das  Apper- 
zeptionszentrum, so  daß  der  Verlauf  8— SC— ApC— MC— M  die 
sensorische  Reaktion  wiedergeben  würde.  Die  Assoziationsreaktion 
kommt  etwa  zustande,  indem  die  Strecke  ApC— MC  zu  den 
beiden  ApC —  V  und  V—MC  erweitert  wird,  wo  V  eine  Vorstellung 
bezeichnen  soll.  Ein  auffallender  Fehler  liegt  in  diesem  Verfahren. 
Man  nimmt  nämlich  immer  an,  daß  die  in  dem  jeweils  er- 
weiterten Verlauf  ausgefallene  Strecke,  z.  B.  SC — MC  oder 
ApC — MC,  ignoriert  werden  kann.  S — SC — ApC — MC — M  sei 
die  Erkennungsreaktion,  und  S — SC — ApC — V — MC — M die  Asso- 
ziationsreaktion.  Wenn  jene  von  dieser  subtrahiert  werden  soll, 
muß  das  Verhältnis  der  Dauer  von  ApC — MC  zu  der  von  ApC —  V 
und  V — MC  zusammen  berücksichtigt  werden.  Im  Subtraktionsver- 
fahren kann  ApC — MC  wenigstens  nicht  als  gleich  Null  gelten. 

1 )  Vgl.  Erdmann  nnd  Dodge,  Untersuchungen  über  das  Lesen,  Kap . IX 


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40> 


nenry  J.  Watt, 


Der  Verlauf  vieler  Versuche  deutet  darauf  hin,  daß  dieses 
Schema  etwas  zu  vollständig  ißt.  Viele  Reproduktionen  kommen, 
ohne  daß  sie  gesueht  werden,  Uberraschend,  zwangsweise,  sie 
drangen  sich  auf  (s.  oben  §  5).  Was  aus  dem  Schema  in  diesem 
Falle  ausfallen  soll,  ist  schwer  zn  bestimmen.  Das  Wort  wird 
wohl  immer  von  der  Vp.  apperzipiert.  Darauf  kommt  aber  manch- 
mal das  Reaktionswort,  ohne  daß  es  vorher  alB  akustische  oder 
motorische  Wortvorstellung  aufgetreten  wäre.  Der  Verlauf  der 
Bahn  von  ApC  an  ist  wenigstens  sehr  verkürzt  oder  »unbewußt« 
zu  denken  im  Vergleich  zu  dem  Fall,  bei  dem  ein  peinlich  langer 
Prozeß  des  Sachens  stattfindet,  ohne  daß  bestimmte  Vorstellungen 
dabei  bemerkt  werden,  und  bei  dem  das  Wort  als  akustische  oder 
motorische  Vorstellung  vor  seinem  Aussprechen  auftritt.  Dies 
ganze  Schema  ist  eine  allzu  mechanische  Auffassung,  die 
dem  wirklichen  Verlauf  der  Assoziation  sehr  wenig  entspricht,  ab- 
gesehen davon ,  daß  der  dem  Schema  .  zugrunde  liegende  Ver- 
lauf ohne  Rücksicht  auf  den  sich  von  Versuch  zu  Versuch  ver- 
ändernden Charakter  des  Reaktionsverlaufs  konstruiert  worden  ist, 
wie  wir  schon  erwähnt  haben. 

Das  Schema  berücksichtigt  auch  nicht  den  Einfluß  der  voraus- 
gehenden Vorbereitung  auf  den  ganzen  Verlauf  der  Reaktion. 
Wir  haben  als  wahrscheinlich  gefunden,  daß  verschiedene  Aufgaben 
den  Inhalt  des  Verlaufs  verschieden  gestalten  und  die  Länge  der  Re- 
aktionszeiten in  verschiedenem  Grade  beeinflussen.  Es  ist  unklar, 
wie  man  die  ganze  Dauer  der  Reaktion  auf  die  verschiedenen  Teile 
der  Bahn  verteilen  soll,  auch  wenn  man  annimmt,  daß  die  Vorbereitung 
sie  alle  gleichmäßig  beeinflußt,  was  nicht  wahrscheinlich  ist.  Man 
müßte  erst  ähnliche  Gruppen  von  Versuchen  bei  verschiedenen 
Aufgaben,  die  in  der  obenerwähnten  Weise  gesammelt  worden 
sind,  vergleichen.  Dabei  könnte  man  eine  vollkommene  Gleich- 
heit des  Verlaufs  derselben  Versuchsart  bei  verschiedenen  Auf- 
gaben kaum  erwarten.  Eine  solche  aber  annähernd  zu  erreichen 
und  eine  solche  Vergleichung  wäre  nötig,  bevor  man  sichere  Be- 
hauptungen Uber  die  Dauer  irgendeines  Aktes  aufstellen  könnte. 
Dann  ließe  sich  vielleicht  der  verkürzende  Einfluß  der  Aufgabe 
von  den  rein  mechanischen  Prozessen  in  der  Reaktion  trennen 
und  eine  Bestimmung  Uber  die  Dauer  verschiedener  Teile  erzielen. 

Es  kommt  noch  etwas  hinzu,  was  das  Subtraktionsverfahren 
bedenklich  macht.  Wir  haben  oben  (Fig.  8,  S.  353)  festgestellt,  daß  die 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


407 


Geläufigkeit  einer  Reproduktion  von  der  Aufgabe  unabhängig 
ist,  d.  h.  die  Geläufigkeit  übt  für  sich  einen  verkürzenden  Einfluß 
auf  die  Reaktion  aus.  Ich  habe  nicht  festgestellt,  ob  die  Zunahme 
der  Geläufigkeit  stets  den  Ausfall  irgendwelcher  Prozesse  im  Ver- 
such mit  sich  bringt,  oder  ob  sie  die  Dauer  des  Übergangs  von 
dem  einen  Punkt  zum  andern  für  sich  verkürzt.  Das  wäre  aber 
erst  festzustellen,  ehe  man  das  Subtraktionsverfahren  für  suver- 
liisaig  halten  dürfte.  Mit  diesem  Faktor  hat  nooh  keiner  der 
Forscher  gerechnet,  die  das  Subtraktionsverfahren  angewendet 
haben. 

Obgleioh  es  nicht  ausgeschlossen  ist,  daß  das  Subtraktions- 
verfahren schließlich  anwendbar  wäre,  meinen  wir,  daß  seine  bis- 
herige Anwendung  den  Wert  der  in  dieser  Weise  berechneten 
Resultate  eher  vermindert  und  den  späteren  Forschern  den  Zugang 
zu  den  experimentellen  Daten  und  irgendeinen  sicheren  Vergleich 
der  Resultate  fast  unmöglich  gemacht  hat. 

4)  Einteilung  der  Assoziationen. 

Es  gibt  viele  Einteilungen  der  Assoziationen  und  Kritiken  dieser 
Einteilungen.  Die  wichtigsten  Kritiken  sind  wohl  die  von  Orth1) 
und  die  von  Cl aparede*).  Jener  hat  Nachdruck  auf  die  un- 
psychologische Natur  der  früher  aufgestellten  Einteilnngen  von 
Trautscholdt,  Kraepelin,  Aschaffenburg,  Munsterberg, 
Ziehen  und  Wreschner  gelegt  und  sie  verurteilt,  weil  sie  logisch 
und  nicht  rein  psychologisch,  nicht  aus  dem  Gegenstande  selbst 
geschöpft  sind.  Er  entwirft  selbst  eine  Einteilung  >auf  Grund 
eines  umfangreichen  Materials,  gewonnen  durch  Versuche«.  Er  ver- 
steht unter  Assoziation  »das  Hervorrufen  von  Bewußtseinstatsuchen 
durch  andere«,  und  die  Einteilung  beruht  zunächst  auf  der  Unter- 
scheidung zwischen  Assoziationen  ohne  eingeschobene  Bewußtseins- 
vorgänge3) bzw.  mit  solchen,  nnd  Assoziationen  ohne  beglei- 
tende Bewußtseinsvorgänge  bzw.  mit  solchen.  Dagegen  erhebt 
Claparede4)  den  Einwand,  daß,  obgleich  eine  rein  psychologische 

1)  Orth,  Kritik  der  Assoziationseinteilnngen.  Zeitachr.  f.  päd.  Psych. 
III.  1901.  S.  104. 

2;  Claparede,  L'aaaociation  de»  idees.  Paris  1903,  S.  206 ff. 

3)  Vgl.  Mayer  und  Orth,  Ztschr.  für  Phys.  und  Psych.  26.  1901.  S.  1  ff. 

4)  a.  a.  0.,  S.  220.  La  forme  logique  a  aussi  un  interöt  psychologique. 
II  n'est  pas  indifferent  que  le  snjet  ait  on  non  conscience  de  oette  forme. 


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408 


Henry  J.  Watt, 


Einteilung  nötig  sei,  man  nicht  vergessen  dürfe,  daß  die  logische 
Form  auch  psychologisch  wichtig  sei.  Es  sei  nicht  gleichgültig, 
ob  die  Vp.  sich  dieser  Form  bewnBt  sei  oder  nicht.  Er  versteht 
unter  Assoziation  dasselbe  wie  Orth  und  entwirft  selbst  eine  ziem- 
lich verwickelte  Einteilung  der  Assoziationen,  die  von  Selbstbeobach- 
tung während  einer  Reihe  von  Versuchen  unterstützt  worden  ist. 

Wenn  wir  nach  den  meisten  Einteilungen  Assoziation  definieren 
als  >das  Hervorrufen  von  Bewußtseinstatsachen  durch  andere«,  so 
haben  wir  freilich  das  Recht  zu  dieser  Definition;  aber  man  darf 
immerhin  fragen,  ob  eine  solche  Definition  zweckmäßig  ist.  Man 
kann  zunächst  fragen,  welche  in  der  ganzen  Reihe  hervorgerufener 
Bewußtseinsinhalte  man  damit  meint,  und  warum  gerade  diese. 
Wenn  der  Inhalt  z.  B.  ein  Reaktionswort  ist,  ist  er  freilich  zum 
Teil  dadurch  bestimmt,  daß  ein  Reizwort  vorherging.  Aber  die 
hervorgerufene  Reaktion  ist  nur  qualitativ  bestimmt,  sonst  nicht. 
Sie  kann  zeitlich  sehr  weit  von  dem  Reiz  entfernt  liegen  und 
kann  dazn  in  einem  variabeln,  durch  das  Reizwort  nicht  eindeutig 
bestimmten  Verhältnis  stehen.  Außerdem  können  noch  andere 
Vorstellungen  sich  zwischen  Reiz-  und  Reaktionswort  einschieben, 
bei  denen  gleichfalls  eine  Beziehung  zum  Reizworte  anzunehmen 
ist.  Es  ist  mir  nicht  klar,  wie  man  unter  solchen  Umständen  über- 
haupt eine  brauchbare  Einteilung,  besonders  eine  solche,  bei  der 
der  Wert  der  Assoziation  oder  die  besondere  Beziehung  zwischen 
Reiz  und  Reaktion  berücksichtigt  wird,  hat  erwarten  können. 
Man  könnte  ebensogut  eine  Einteilung  nach  dem  Werte  der  Asso- 
ziationen, die  zwischen  zwei  in  einem  Buche  aufeinander  folgen- 
den Substantiven  vorliegen,  versuchen1).  Eine  solche  Einteilung 
würde  sich  einfach  nach  der  Anzahl  der  gewollten  Kategorien  und 
gar  nicht  nach  dem  Sachverhalt  richten  können. 

Daher  scheint  es  uns,  zunächst  wenigstens,  zweckmäßiger,  Asso- 
ziation anders  zu  definieren.  Assoziation  ist  hiernach  das, 
wodurch  es  erst  möglich  wird,  daß  ein  Erlebnis  von 
einem  andern  reproduziert  werde.  Diese  Definition  hat 
den  Vorteil,  daß  sie  den  Gegenstand  bestimmt,  den  sie  definieren 
will,  aber  zugleich  dessen  Beschreibung  und  Analyse  der  Forschung 

1)  Aschaffenburg,  Experimentelle  Stadien  Uber  Assoziationen,  I.Teil. 
Kraepelins  Psych.  Arb.  I.  S.  220:  »Ich  habe  mich  . .  .  darauf  beschränkt,  die 
Beziehungen  von  Reiz  und  Reaktion  festzustellen,  wie  sie  sich  im  Sprechen 
widerspiegeln«. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  409 

Uberläßt,  wie  es  heutzutage  unserem  Ausgangspunkt  entsprechend 
sein  sollte.  Reproduktion  kennen  wir  als  Tatsache,  aber  Asso- 
ziation kennen  wir  nicht,  und  wir  können  sie  noch  sehr  wenig  be- 
grifflich bestimmen.  Zugleich  wird  diese  Definition  brauchbar  für 
jede  Aufeinanderfolge  von  Reproduktionen,  wie  lang  diese  auch 
sei,  weil  sie  sich  nur  damit  wiederholt.  Sie  bezieht  sich  auf  jede 
Art  von  Reaktion.  Damit  wird  auch  eine  Einteilung  oder  Be- 
schreibung gewisser  Reproduktionen  (sogenannter  Assoziationen)  je 
nach  den  Umständen  nicht  ausgeschlossen.  Unsere  Arbeit  hat 
eine  solche  zu  geben  versucht  Diese  wird  aber  den  Details  der 
Arbeit  überlassen,  weil  sie  keine  Einteilung  ist,  die  gleich  einen 
allgemeinen  Wert  zu  haben  beanspruchen  könnte,  und  vor  allem, 
weil  sie  nur  die  Bedingungen  für  die  Reproduktion  angibt. 

Es  scheint  zunächst  aus  unsern  Experimenten  hervorzugehen,  daß 
irgendein  Erlebnis  auf  ein  anderes  assoziativ  folgen  kann,  wenn 
Assoziation  zwischen  ihnen  vorausgesetzt  wird.  Die  einzige  For- 
derung ist,  daß  sie  miteinander  assoziiert  seien,  und  die  Qualität 
der  Erlebnisse  scheint  diese  Möglichkeit  auf  keine  Weise  zu  be- 
grenzen. Zentral  erregte  Erlebnisse  aber  können  auch  aufeinander 
folgen,  ohne  daß  das  Spätere  vom  Früheren  reproduziert  werde1), 
wie  wir  bei  unserer  Betrachtung  der  mehrere  Reproduktions- 
tendenzen  enthaltenden  Versuche  oben  gesehen  haben.  Ein  sol- 
cher Fall  würde  sich  etwa  so  darstellen  lassen ;  A  a  b  c  d  a  ß, 
wobei  A  der  Reiz  ist,  ab  cd  die  erste  Reihe  von  Erlebnissen,  die 
von  A  reproduziert  werden,  a  ß  die  zweite  Reihe;  a  wird  aber  nicht 
von  d  reproduziert  oder  veranlaßt,  sondern  von  A.  Das  sollte 
nach  der  Beschreibung  der  B-  und  C- Fälle  klar  sein. 

Nach  dieser  Betrachtung  und  nach  unsern  Versuchen  wird 
man  leicht  einsehen  können,  wie  die  Assoziationen  einzuteilen  sind. 
Wir  sehen  von  der  Möglichkeit  frei  steigender  zentraler  Empfin- 
dungen oder  Vorstellungen  hier  ab,  weil,  wie  wir  oben  angedeutet 
haben,  diese  zum  Teil  vielleicht  gut  als  Grenzfalle  unter  die  B- 
und  C-  Fälle  gebracht  werden  können. 

Jede  Assoziation  ist  ebenso  innere1)  wie  äußere,  weil  es,  soviel 


1}  Oeshalb  sage  ich  oben  bei  der  Bestimmung  des  Gegenstandes  bzw. 
Definition  »von  einem  andern  reproduziert«  und  nicht  »auf  ein  anderes  ge- 
folgt«. 

2)  Max  Offner,  Die  Grundformen  der  Vorstellungsverbindungen,  S.  66. 


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Henry  J.  Watt, 


wir  wissen,  nur  eine  Art  von  Assoziationen  gibt,  die  dadurch 
hergestellt  wird,  daß  zwei  Erlebnisse  zusammen1)  im  Bewußtsein  ge- 
wesen sind.  Daß  das  aber  keine  ausreichende  Erklärung  für  die  Re- 
produktion ergibt,  haben  wir  schon  zur  Genüge  gesehen.  Wir  haben 
den  Einfluß  der  Aufgabe,  der  andern  vom  Reiz  oder  von  reprodu- 
zierten Erlebnissen  in  Gang  gebrachten  Reproduktionen,  der  Gefühle 
usw.  auf  die  Bestimmung  der  Reproduktion  erkannt.  Demzufolge 
müssen  wir  sagen:  Wo  es  sich  um  unmittelbar  aufeinander  folgende 
Erlebnisse  handelt,  wird  das  Spätere  nie  vom  Früheren  durch 
den  Wert  der  inhaltlichen  Beziehungen  zwischen  ihnen 
reproduziert.  Seine  Reproduktion  aber  kann  begünstigt,  be- 
nachteiligt oder  ausgeschlossen  werden,  wenn  ein  vorhergehendes 
Moment  (wie  die  Aufgabe,  ein  Gefühl  usw.)  darauf  wirksam  wird, 
aber  nur  auf  Grund  eines  früheren  bewußten  Zusammendenkens 
(am  meisten  in  der  Form  Ax)  oder  einer  Methode,  die  zu  solchem 
fuhren  könnte  {A3,  A2  usw.).  Welche  Form  bestimmend  wird, 
hängt  von  der  Geschwindigkeit  der  sie  ausmachenden  Reproduk- 
tionstendenzen ab.  Die  einzige  Bedingung  für  die  Entstehung  einer 
Assoziation,  die  wir  denken  können,  ist  also  einfach  die,  daß  die 
zwei  Erlebnisse  zusammen  im  Bewußtsein  gewesen  sind.  Man 
kann  sie  auch  Kontiguität  oder  Simultaneität  nennen.  Was  wir 
als  Reproduktionsgeschwindigkeit  untersucht  haben,  und  jeden 
Vorteil,  den  eine  Reproduktion  durch  ihre  Perservation  usw.  ge- 
winnt, fuhren  wir  auf  Assoziation  zurück,  weil  wir  eine  genaue 
Scheidung  des  Anteils  der  mitwirkenden  Faktoren  nicht  vornehmen 
können.  Dabei  hat  die  Assoziation  je  nach  den  Umständen  gegen 
oder  für  den  Wert  der  Reproduktion  einen  Einfluß. 

5)  Der  Versuch  als  Urteil. 

Alle  unsere  Versuche  sind  Urteile  gewesen,  wie  man  leicht 
einsehen  kann.  Wir  dürfen  also  auf  Grund  dieser  unserer  Versuche 
Aufschluß  Uber  die  Natur  des  Urteils  erwarten. 

Es  leuchtet  zunächst  ein,  daß  die  bloße  Reproduktion,  die 
bloße  Aufeinanderfolge  von  Erlebnissen  keine  hinreichende 
Bedingung  für  ein  Urteil  ist.  Beispiele  sind  kaum  nötig.  Die 
Aufeinanderfolge  der  Wortvorstellungen  Pferd,  Tier  ist  noch  kein 


1)  Darunter  ist  auch  daB  Nacheinander  innerhalb  einer  wohl  etwas 
variabeln  Zeitetreclce  zn  denken. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  411 

Urteil,  und  die  von  Pferd  Mensch  steht  damit  in  keinem  Wider- 
spruche. Alles,  was  nnr  vermöge  der  eigenen  Kraft  von  Repro- 
duktionstendenzen geschieht,  ist  noch  nicht  Urteil.  Das  sieht  man 
deutlich  an  allen  Gedächtnisversuchen  und  dergleichen1). 

Wir  müssen  jedoch  zugeben,  daß  Reproduzieren  bzw.  Erleben 
eine  notwendige  Bedingung  fiir  ein  Urteil  ist  Aber  auf  welches 
Subjekt  bezieht  sich  das?  Offenbar  kann  das  Reproduzieren, 
bzw.  Erleben  nur  das  des  betreffenden  Urteilenden  sein.  Mein 
Erlebnis  kann  ein  Urteil  bei  einem  andern  veranlassen,  aber  nur 
insofern,  als  es  sein  Erlebnis  wird.  Daß  das  Erlebnis,  welches 
ich  habe,  zugleich  Urteil  oder  Urteilserlebnis  bei  mir  wird,  ist 
damit  noch  gar  nicht  gesagt.  Wenn  dem  so  ist,  haben  wir  zu- 
nächst zu  fragen,  unter  welchen  Bedingungen  des  Reproduzierens 
bzw.  Erlebens  ein  Erlebnis  Urteil  wird.  Es  ist  zunächst  offen- 
bar, daß  es  überhaupt  kein  Urteil  gäbe,  wenn  das  Reproduzieren 
oder  die  Aufeinanderfolge  der  Erlebnisse  etwas  streng  Gesetz- 
mäßiges wäre,  in  dem  Sinne,  daß  auf  eines  nur  ein  bestimmtes 
anderes  unter  allen  Bedingungen  folgen  könnte.  Das  können  wir 
auch  am  Verhalten  unserer  Vp.  den  schnellen  Reproduktionen 
gegenüber  sehen.  Wird  die  Reproduktion  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  aufdringlich,  dann  ist  die  Vp.  nicht  mehr  geneigt,  das  Er- 
lebnis Uberhaupt  als  Urteil  anzusehen.  In  unserem  zweiten3)  Bei- 
spiel ist  ein  Zustand  vorhanden,  der  dem  der  einzig  möglichen 
Reproduktion  annähernd  gleich  ist.  Eine  solche  Neigung  der  Vp. 
kann  man  durch  alle  Reihen  von  Versuchen  verfolgen.  Je  mehr 
die  Reproduktion  von  der  Beschaffenheit  eines  Reproduktionsmotivs 
selbst,  abgesehen  von  andern  Einflüssen,  bestimmt  wird,  desto 
mehr  neigt  das  Erlebnis  dazu,  rein  psychologische  Bedeutung  zu 
haben.  Demzufolge  möchten  wir  den  Satz  aufstellen:  Was  den  An- 
teil des  Faktors  der  bloßen  Reproduktion  im  Urteil  betrifft,  ist  es 
eine  notwendige  Bedingung  zum  Zustandekommen  eines  Urteils, 


1/  Vgl.  Wandt,  »Psych.,  in.,  S.  680. 

2j  Aufgabe  III.   Zwei  aufeinander  folgende  Versuche: 

Spritze.  Wort  hat  sich  aufgedrängt  ohne  daß  ich  etwas  dabei  gedacht 
habe.  Ich  wollte  es  unterdrücken.  Gleichzeitig  der  Begriff  des  Spritzen- 
hauses da.    Wort  doch  ausgesprochen :  Feld.   662  o. 

Donner.  Habe  gar  keine  Vorstellung  gehabt  Ich  habe  das  Wort  Donner 
betrachtet  und  mich  gewundert,  als  das  Wort  Feld  ausgesprochen  wurde. 

o.  (Feld  war  in  starker  Bereitschaft  aus  einem  früheren  Versuch.; 


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Henry  J.  Watt, 


daß  mehr  als  eine  Reproduktion  anf  das  betreffende  Reiz- 
erlebnis folgen  kann.  Viele  Reproduktionstendenzen  brauchen 
nicht  in  jedem  Fall  erregt  gewesen  zn  sein,  anch  nicht  eine  mög- 
licherweise richtige,  falls  die  tatsächlich  wirksam  gewordene  falsch 
war,  sonst  würde  die  Möglichkeit  eines  falschen  Urteils  anch 
verschwinden,  was  ebenso  schlimm  wäre. 

Wie  wird  dieser  Znstand  znm  Urteil?  Marbe1)  hat  das  Urteil 
nntersncht,  und  er  hat  gefunden,  daß,  wenn  man  die  Anwendbar- 
keit der  Prädikate  richtig  oder  falsch  anf  die  betreffenden  Reak- 
tionen als  Kriterium  eines  Urteils  nimmt,  man  zwischen  Reiz  nnd 
Reaktion  nnter  den  protokollierten  Erlebnissen  nichts  findet,  was 
sie  im  Gegensatz  zu  andern  zu  Urteilserlebnissen  stempeln  könnte. 
Das  findet  man  auch  noch,  wenn  man  Handlungen  und  Protokolle 
untersucht,  die  einen  Prozeß  des  Urteils  wirklich  verkörpert  und 
beschrieben  haben.  Es  gibt  nach  Marbe  deshalb  kein  psycho- 
logisches Kriterium  eines  Urteils3),  nichts,  was  man  aufweisen 
kann,  das  ein  Erlebnis  zum  Urteil3)  machte.  Eine  Absicht  des 
Erlebenden  ist  nach  Marbe  für  das  Urteil  doch  wesentlich,  aber 
er  hat  keine  psychologisch  nachweisen  können4). 

Dieses  Resultat  ist  außerordentlich  wichtig.  Es  ist  eine  un- 
widerlegliche Kritik  aller  derjenigen  Theorien,  die  behaupten,  daß 
in  jedem  Urteil  das  und  jenes  als  bewußtes  Erlebnis  psychologisch 
vorhanden  ist  oder  sein  muß.  Sei  es  eine  Zerlegung  eines  Ganzen 
in  seine  Teile,  sei  es  eine  eigenartige  Verbindung  von  Assoziationen, 
sei  es  eine  eigentümliche  Inhärenz  des  Prädikats  im  Subjekt,  es 
ist  einerlei.     Sobald  man  behauptet,   das  sei  im  Verlauf  des 


1)  Marbe,  Experimentell-psychologische  Untersuchungen  Uber  das  Urteil. 
2;  a.  a.  0.,  S.  94. 

3)  Vgl.  Wundt,  »Psych.,  III.,  S.  680f.  Wundt  geht  in  seiner  Kritik 
der  »provozierten  sogenannten  Urteile«  als  Kunstprodukte  des  Experiments 
zu  weit,  so  weit,  daß  man  sich  zn  wundern  beginnt,  daß  Uberhaupt  »ein  im 
normalen  Verlauf  des  Denkens  gebildetes  ursprüngliches  Urteil«  noch  von 
jemand  gefällt  wird.  Urteile  sind  doch  nicht  so  seltene  Vorkommnisse  und 
können  sicher  wiederholt  werden.  Aber  Wundt  betont  mit  Recht,  daß 
nicht  jede  »Assoziation«  ein  Urteil  ist,  wie  MUnBterberg  behauptet. 
Beiträge  I,  S.  91. 

4)  a.  a.  0.,  S.  52.  Marbe  drtickt  sich  weiterhin  noch  folgendermaßen 
aus:  »daß,  wenn  wir  die  Urteile  auch  als  Erlebnisse  bezeichnen  können, 
welche  nach  der  Absicht  des  Erlebenden  mit  andern  Gegenständen  Uberein- 
stimmen sollen,  doch  irgendwelche  Absichtlichkeit  im  Bewußtsein  des  Er- 
lebenden nicht  nachweisbar  zu  sein  braucht«.   S.  64. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  413 

Urteils  notwendig  psychologisch  vorhanden,  so  ist  ein  Resultat 
wie  das  Mar  besehe  vernichtend.  Unsere  Untersuchung  erlaubt 
uns  aber,  auf  etwas  hinzudeuten,  was  nicht  zwischen  die  Er- 
scheinung des  Reizes  und  die  Reaktion  fallt ,  und  was  die  bloße 
Aufeinanderfolge  von  Erlebnissen,  die  wir  in  einer  Analyse  von 
Urteilsprozessen  finden,  zu  Urteilen  macht  und  sie  von  bloßen 
Aufeinanderfolgen  unterscheidet,  nämlich  die  Aufgabe.  So  viel 
darf  man  von  dem  Standpunkt  der  reinen  Selbstbeobachtung  aus 
behaupten. 

Aber  man  könnte  uns  erwidern:  wir  geben  zu,  daß  das,  was 
wir  für  das  Urteil  wesentlich  finden,  in  einem  Protokoll  nicht 
nachweisbar  ist  Wir  haben  auch  nicht  behauptet,  daß  es 
immer  nachweisbar  sei,  sondern  wir  glauben,  daß  irgendein 
Prozeß  der  Zerlegung,  eine  Bedeutungsvorstellung,  worauf  sich 
sowohl  Subjekt  wie  Prädikat  beziehen,  oder  dergleichen  mehr 
wirklich  vorhanden  sei,  ohne  daß  wir  es  immer  beobachten  können. 
Daun  hat  man  aber  den  Standpunkt  der  reinen  Selbstbeobachtung 
rerlassen.  Man  ist  von  diesem,  einem  konszientialistischen,  zu  einem 
realistischen  Standpunkt  Ubergegangen,  wo  man  indirekt  fest- 
stellen kann,  daß  etwas  erlebt  worden  sei,  was  sich  nicht  be- 
obachten läßt,  auch  wenn  man  die  Selbstbeobachtung  äußerst  vor- 
sichtig und  genau  ausfuhrt.  Dieser  Standpunkt  wäre  aber  doch  erst 
zu  rechtfertigen. 

Hat  man  das  getan,  so  kann  man  dazu  fortschreiten,  das  Wesen 
und  den  Vorgang  des  Urteils  von  diesem  realistischen  Standpunkt 
aus  zu  erforschen  und  zu  beschreiben,  was  man  auch  ohne  Vor- 
urteil in  bezug  auf  den  Standpunkt  auszufuhren  versuchen  sollte. 
Ans  einem  konszientialistischen  Standpunkt  heraus  aber  darf  man 
keine  Prozesse  aus  allgemeinen  Gründen  konstruieren,  die  für  das 
Urteil  wesentlich  sein  sollen,  und  die  in  genau  protokollierten  Ver- 
suchen nicht  zu  finden  sind. 

Bleibt  man  auf  dem  letzteren  und  beschränkteren  Standpunkt 
stehen,  so  hat  man  mit  Marbe  kein  psychologisches  Kriterium 
eines  Urteils  und  mit  uns  ein  einziges,  die  vorausgehende  Vor- 
bereitung auf  die  Reaktion  oder  die  Aufgabe,  es  sei  denn,  daß 
man  zeigen  könnte,  daß  die  Untersuchungen  und  die  Resultate 
talsch  sind.  Gehen  wir  Uber  diesen  Standpunkt  hinaus,  so  werden 
wir  vielleicht  andere  Kriterien  eines  Urteils  entdecken,  neben 
denen  das  eben  angeführte  als  gleichberechtigt  stehen  wird. 

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414 


Henry  J.  Watt, 


Solche  sind  aber  an  der  Hand  sorgfältig  ausgeführter  Experimente 
noch  zu  entdecken. 

Es  kommen  während  des  einzelnen  Versuchs  auch  Urteile  über 
die  Urteile  vor,  und  vieles  wird  dabei  zu  Protokoll  gegeben,  was  eine 
Untersuchung  beansprucht    Nennen  wir  diese  Urteile  der  Ein- 
fachheit wegen  sekundäre  Urteile.    Wir  haben  schon  gesehen, 
wie  das  sekundäre  Urteil  während  des  Aussprechen  des  Wortes  und 
danach  auftreten  kann.  Wir  haben  zugleich  auf  Grund  des  Proto- 
kolls behauptet,  daß  es  auch  vor  der  Versuchsreproduktion  (d.  b. 
bevor  das  auszusprechende  Wort  klar  apperzipiert  worden  ist)  auf- 
treten kann.   Das  Urteil  kann  in  dem  Falle  richtig  sein,  aber  es 
kann  auch  leicht  falsch  sein.    Z.  B.  »ich  habe  Mut  ausgesprochen 
in  dem  Glauben,  daß  ich  etwas  Richtiges  hatte«.    »Das  Wort 
kam  mit  großer  Selbstverständlichkeit;  es  wurde  aber  ausge- 
sprochen mit  dem  Bewußtsein,  daß  es  falsch  war«.    »Das  Wort 
hat  sich  zuerst  mit  großer  Leichtigkeit  aufgedrängt  Unmittel- 
bar nach  dem  Aussprechen  Zweifel.   Zuletzt  direktes  Bewußt- 
sein, daß  es  falsch  ist.«    »Im  Begriff  ,Bahn<  (Reizwort)  lag  be- 
reits der  Begriff  Verkehrsmittel.    Ausgesprochen  mit  dem  Be- 
wußtsein, daß  es  richtig  sei,  nachträglich  bewußt  der  falschen 
Aufgabe«,  nsw.  Das  zeigt  uns  also  ziemlich  deutlich  die  mögliche 
Verwechselung  zwischen  der  Art  und  Weise,  wie  die  Repro- 
duktion sich  vollzieht,  und  dem  Bewußtsein  von  deren  Richtigkeit, 
worin  dies  auch  bestehen  mag.  Dazu  sagt  Vp.  TO  aus:  »im  Aus- 
sprechen habe  ich  ein  Bewußtsein,  ob  es  (das  Wort)  sich  recht- 
fertigen läßt,  bevor  es  ausgesprochen  wird;  wenn  nicht,  dann  rUhle 
ich  eine  Hemmung,  wenn  ja,  dann  bin  ich  ganz  ruhig  im  Aus- 
sprechen«.  Zuverlässig  aber  ist  dieses  Bewußtsein  als  Kriterium 
der  Richtigkeit  nicht,  weil,  wie  die  Versuche  uns  zeigen,  eine  rich- 
tige Reproduktion  gehemmt  und  nachher  als  richtig  erkannt  werden 
kann,  während  andererseits  eine  selbstverständlich  und  richtig 
scheinende   Reproduktion   später    als   falsch    erkannt  werden 
kann. 

Also  macht  dieses  Bewußtsein  die  psychologische  Bedingung 
eines  (sekundären)  Urteilserlebnisses  nicht  aus,  obgleich  es  ein 
Urteil  veranlassen  kann.  Es  ist  aber  augenscheinlich  kein  direktes 
Urteilsbewußtsein,  sondern  nur  ein  assoziiertes  oder  symbolisches. 
Zuerst  muß  die  Verbindung  zwischen  Richtigkeit  und  Ruhe  im' 
Aussprechen  und  zwischen  Falschheit  und   dem  Zustand  der 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  415 

Hemmung  gefunden  und  gemacht  werden.  Damit  wird  die  Er- 
klärung nor  anderswohin  verschoben. 

Wir  haben  bei  unserer  Betrachtung  der  fünften  und  der  sechsten 
Aufgabe  gesehen,  wie  nötig  die  Kontrolle  der  Versuchsreproduktion 
durch  die  Reproduktion  eines  Oberbegriffes,  bzw.  eines  Ganzen 
war.    Dafür  seien  noch  einige  Beispiele  vorgeführt.   Aufgabe  V, 
Vp.  VI,  Motte.   »Unwillkürliches  inneres  Sprechen  ,und  Rost*  mit 
dem  Bewußtsein,  daß  diese  Wörter  Teile  einer  biblischen  Redensart 
seien.  Aussprechen  von  Rost  mit  dem  Bewußtsein  der  Richtigkeit«. 
Hier  hätte  das  Wort  »fressen«  genügt,  um  diese  Reproduktion 
zu  rechtfertigen.   Vergleiche  man  dagegen:  Aufgabe  V,  Vp.  HI, 
Schwan.    »Fisch  drängt  sich  auf,  ohne  daß  ich  den  Mittelbegriff 
angeben  kann,  und  im  Aussprechen  der  Eindruck,  es  ist  nicht 
richtig,  ich  mußte  einen  Spezialfisch  nennen.   Und  unmittelbar 
danach  , Beide  sind  im  Wasser'.«    Hier  hat  die  nachträgliche 
Reproduktion  den  ersten  Eindruck  beseitigt  und  die  Reproduktion 
gerechtfertigt.    So  wieder  Aufgabe  VI,  Vp.  VI.:  Stein.   »Brot  mit 
dem  Bewußtsein  der  Unrichtigkeit,  nachträglich  die  Bewußtseins- 
lage, die  als  Erinnerung  an  die  Versuchung  Christi,  daß  die  Steine 
Brot  werden,  zu  bezeichnen  ist«.    Vergleiche  man  dagegen:  Auf- 
gabe VI,  Vp.  I,  Eule — Athen  als  Bestandteile  der  Phrase  »Eulen 
nach  Athen  tragen«  *).   In  diesen  Fällen  ist  das,  was  die  Repro- 
duktion richtig  oder  falsch  erscheinen  ließ,  die  vom  Reizwort 
und  Reaktionswort  ausgehende  Reproduktion  im  Lichte 
der  im  Bewußtsein  vorhandenen  Aufgabe.    Für  solche  vom 
Reizwort  und  Reaktionswort  zusammen  ausgehenden  Reproduktionen 
müssen  wir  auch  die  vielen  Fälle  ansehen,  bei  denen  folgendes 
konstatiert  wird.    »Ich  hatte  das  Bewußtsein,  daß  das  falsch  war: 
es  ist  das  Ganze«.   »Es  ist  der  übergeordnete  Begriff.   Ich  bin  in 
die  alte  Aufgabe  zurückgefallen«  usw.  So  auch  Aufgabe  V,  Vp.  ni: 
»Während  des  Aussprechens  ein  lebhaftes  Bewußtsein  der  Nicht- 
zusammengehörigkeit  von  Photograph  (Reizwort)  und  Telegraph. 
Photograph  habe  ich  dem  Sinne  nach  absolut  nicht  aufgefaßt. 
Ich  war  mir  nicht  bewußt,  daß  es  kein  Apparat  ist,  sondern  ein 
Mensch.« 


1)  Ein  gewöhnlicher  Fall  ist:  Aüfg.  VI,  Vp.  VI.  Salz.  Kartoffeln.  Ich 
wollte  das  Wort  ablehnen.  Dann  doch  Sprechen  des  Wortes  Kartoffeln  mit 
dem  Bewußtsein,  daß  beide  Speisen  sind. 

*- 

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416 


Henry  J.  Watt, 


So  finden  wir  hier  wieder,  was  wir  schon  für  den  Versach  an 
sich  festgestellt  haben.  Da  mußte  das  Reaktionswort  sowohl  von 
dem  Reizwort  als  von  der  Aufgabe  bestimmt  werden,  um  als 
Urteil  gelten  zu  können.  Hier  gehen  Reiz-  und  Reaktionswort 
zusammen,  um  unter  dem  noch  dauernden  Einfluß  der  Aufgabe 
noch  weiter  reproduzierend  zu  wirken.  Die  das  Urteil  ausmachenden 
Reproduktionen  müssen  von  der  Aufgabe  selbst  ausgehen,  oder  die 
Aufgabe  muß  mit  ihnen  zusammengehalten  werden,  in  welchem 
Falle  die  Verträglichkeit  oder  Unverträglichkeit  dieser  Faktoren  mit- 
einander das  Urteil  charakterisiert,  das  sich  wieder  in  irgendeinem 
Akt,  fast  immer  einer  Reproduktion,  wie  ja,  nein,  kundgeben  kann. 
Damit  wird  das  selbstverständlich,  was  auch  experimentell  be- 
stätigt wird,  daß  die  bloße  Ersetzung  eines  Bewußtseinsinhaltes 
durch  einen  andern  oder  die  bloße  Unverträglichkeit  genügt,  ein 
(sekundäres)  Urteil  zu  bilden.  Demnach  wäre  ein  Urteil  oder 
ein  Denkakt  eine  Aufeinanderfolge  von  Erlebnissen,  deren  Aus- 
gang von  dem  ersten  Glied,  dem  Reiz,  durch  einen  psychologischen 
Faktor,  der  als  bewußtes  Erlebnis  vorangegangen  ist,  aber  als 
feststellbarer  Einfluß  noch  fortdauert,  bedingt  worden  ist. 


6)  Zur  Theorie  des  Denkens. 

Es  könnte  behauptet  werden,  daß  die  Grundlage  einer  solchen 
Untersuchung  wie  diese  die  Voraussetzung  relativ  selbständiger 
und  reproduzierbarer  Vorstellungen  ist.  Man  könnte  das  vielleicht 
noch  bestimmter  ausdrucken,  und  wir  wollen  nicht  leugnen,  daß 
wir  psychische  Vorgänge  öfters  mit  Namen  bezeichnet  haben,  die 
ihnen,  kritisch  betrachtet,  nicht  genau  entsprechen.  Das  ist  aber 
durch  die  Tatsache  bedingt,  daß  man  für  den  betreffenden  Gegen- 
stand den  nächsten  besten  Namen  benutzen  muß,  bis  man  fest- 
gesetzt hat,  welcher  mit  Worten  schon  fixierte  Begriff  dem  Gegen- 
stand am  besten  entspricht  Dieser  Tatbestand  fordert  von  uns 
am  Ende  und  gemäß  der  experimentellen  Untersuchung  ein 
kritisches  Sichten  unserer  Voraussetzungen  und  unserer  Begriffe. 

Die  Annahme  der  Selbständigkeit  und  Reproduzier- 
barkeit der  Vorstellungen  ist  sehr  alt  und  einflußreich, 
und  es  ist  deshalb  nicht  zu  verwundern,  daß  eine  Darstellung 
experimenteller  Befunde  über  den  Zusammenhang  der  Vorstellungen 
noch  unter  ihrem  Einfluß  steht.    Wir  fühlen  uns  nicht  ver- 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


417 


anlaßt,  hier  näher  auf  diese  Theorie  oder  auf  ihre  vielen  Folge- 
rungen einzugehen.  Sehen  wir  lieber  den  heutigen  Zustand 
der  experimentellen  Psychologie  etwas  näher  an.  Was  ist 
ihr  Resultat,  und  was  dürfen  wir  auf  dessen  Grund  behaupten? 
Wir  haben  zahlreiche  Untersuchungen  Uber  das  Gedächtnis,  Uber 
Assoziation,  über  die  Eigenschaften  der  Vorstellungen  und  der- 
gleichen mehr,  und  wir  finden  darin  viele  Resultate  formuliert,  bei 
denen  sehr  oft  von  Gesichtsvorstellnngen,  Wortvorstellungen,  Ge- 
fühlen und  anderem  gesprochen  wird.  Man  neigt  deshalb  begreif- 
licherweise zu  der  Meinung,  unser  Denken  bestehe  aus  solchen 
aneinandergereihten  und  scharf  voneinander  getrennten  Elemen- 
ten, besonders  weil  wir  gewohnt  sind,  diese,  zumal  die  Wortvor- 
stellungen, als  etwas  ganz  scharf  Begrenztes  wie  das  gedruckte 
Wort  auf  dem  Papier  anzusehen.  Trotzdem  wäre  es  wohl  rich- 
tiger, zu  behaupten,  daß  wir  die  Grenzen  zwischen  den  Erlebnissen 
verschied  ner  Momente  nicht  ziehen  und  ihren  besonderen  Charak- 
ter oft  nur  in  ganz  allgemeinen  Ausdrücken  angeben  können. 
Solche  Angaben  unterscheiden  sich  häufig  in  keiner  Weise  von 
der  Beschreibung  der  Wahrnehmungen,  mit  andern  Worten,  sie 
beziehen  sich  auf  Verhältnisse,  die  nicht  psychologischen  Charak- 
ters sind.  Es  steht  aber  fest,  daß  wir  viele  Bewußtseinszustände 
im  allgemeinen  mehr  oder  weniger  genau  charakteri- 
sieren können  und  etwas  Uber  die  Verhältnisse  dieser  Zustände 
zueinander  und  zu  gewissen  Bedingungen  des  Erlebens  schon 
wissen.  Mau  hat  daher  versucht,  einen  so  präzisen  Ausdruck  wie 
den  folgenden :  in  der  Psychologie  kennen  wir  nur  Wahrnehmungen, 
bzw.  Empfindungen,  Vorstellungen,  Gefühle  und  Bewußtseinslagen 
—  zu  formulieren  und  in  diesem  Sinne  zu  interpretieren:  Unser  Er- 
leben bestehe  nur  aus  solchen.  Ein  solche  Umkehrung  des  Satzes 
ist  nicht  erlaubt,  wenn  der  erste  auch  zutreffend  sein  sollte,  und 
ist  jedenfalls,  was  auch  die  allgemeineren  Gründe  dafür  sein 
mögen,  sehr  verfrüht.  Ein  Verfahren  wie  das  letztere  ist  es 
gerade,  das  so  viele  Philosophen  und  Psychologen  so  lange  Zeit 
betrieben  haben.  Die  einigermaßen  einheitlichen  Bewußtseins- 
zustände, die  man  feststellen  konnte,  hat  man  sich  als  die  Bau- 
steine des  später  gebauten  und  mit  dem  Mörtel  der  Assoziation 
zusammengeklebten  Bewußtseins  vorgestellt.  Die  Entstehung  solcher 
Theorien  in  früheren  Zeiten  ist  erklärlich,  da  ihre  Verteidiger  keine 
oder  nur  eine  sehr  schlechte  Psychologie  besaßen.    Wenn  wir 

ArchiT  för  Psychologie.   IV.  27 


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Henry  J.  Watt, 


aber  experimentelle  Psychologie  treiben  wollen,  müssen  wir  ans 
vor  der  Versuchung  hüten,  irgendeine  Theorie  von  vornherein  ver- 
teidigen zu  wollen.  Wir  dürfen  nur  auf  unserem  experimentellen 
Befund  unsere  Hypothesen  aufbauen. 

Was  ist  denn  der  Tatbestand?  In  dem  vorgefundenen  Be- 
wußtsein treffen  wir  hier  und  dort  in  einer  Art  deutliche  und 
ausgeprägte  Zustände,  die  wir  mehr  oder  weniger  gut  be- 
schreiben können.  Wir  sind  dabei  durch  nichts  veranlaßt,  zu 
denken,  daß  wir  zwischen  solchen  deutlich  abgrenzbaren  Erleb- 
nissen kein  Bewußtsein  gehabt  haben.  Wir  können  noch  vieles  über 
diese  deutlichen  Zustände  aussagen,  was  direkt  oder  indirekt  zur 
Bestimmung  ihrer  Beschaffenheit  und  Wichtigkeit  beiträgt.  Wir 
gehen  also  von  dem  Psychischen,  das  wir  kennen,  aus, 
analysieren  die  gesammelten  Beobachtungen  und  experimentellen 
Daten  und  nähern  uns  allmählich  der  Feststellung  etwaiger  ein- 
heitlicher Zustände  und  deren  regelmäßiger  Aufeinanderfolge  als 
einem  fernen  Ziele.  Wir  gehen  immer  von  einem  schon  konti- 
nuierlichen Psychischen  aus.  Es  ist  also  keine  Aufgabe  der 
Psychologie,  das  erlebte  Psychische  am  Ende  einer  Untersuchung 
wiederherzustellen.  Es  genügt,  gezeigt  zu  haben,  daß  die  Bei- 
träge zu  seiner  Analyse  begründet  sind. 

Das  ist  die  Grundlage  dieser  Arbeit.  Wir  haben  zwei  Grenzen 
aufgestellt,  den  Moment  der  Einwirkung  des  Reizwortes  und  den 
des  Aussprechens  des  Reaktionswortes.  Aus  vielen  Versuchen  und 
Aussagen  haben  wir  ferner  mit  Hilfe  von  uns  als  wesentlich  er- 
scheinenden Momenten  deren  Aufeinanderfolge  festgestellt.  Unsere 
gewonnenen  Resultate  lassen  uns  diese  Momente  und  ihre  Auf- 
einanderfolge noch  wichtiger  erscheinen.  Deshalb  dürfen  wir  unsere 
Terminologie  in  diesem  Sinne  zu  rechtfertigen  suchen. 
Reproduktion  wäre  demnach  die  Reproduktion  eines  solchen  Mo- 
ments von  einem  andern  aus,  Assoziation  wäre  in  ähnlicher  Weise 
zu  deuten,  usw.  Dies  ist  die  Methode  der  Forschung,  bei  der  wir 
einsehen,  wie  wir  uns  nur  langsam  den  Kenntnissen  nähern,  die 
uns  Aufschluß  über  möglicherweise  zu  findende  unanalysierbare 
Einheiten  geben  können.  Dabei  ist  unsere  Hoffnung  auf  sehr 
exakte  Resultate  selbstverständlich  anfangs  nur  klein.  Wenn  wir 
lange  Zeit  darauf  verwenden  müssen,  Sammlungen  von  durch  zwei 
bekannte  Momente  a—e  ausgezeichneten  Aufeinanderfolgen  zu 
machen,  so  kommen  wir  nicht  so  bald  zu  unsern  Resultaten,  als 


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Experimentelle  Beitrüge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  419 


wenn  wir  gleich  Aufeinanderfolgen  von  Einheiten  a  —  b  sammeln  könn- 
ten und  dabei  sicher  wären,  daß  o  und  b  unmittelbar  beieinander 
lägen.  Mit  unserer  Methode  verbinden  wir  auch  die  Annahme, 
daß,  wenn  a—e  sich  wiederholt,  die  etwaigen  dazwischen  liegen- 
den Einheiten  sich  in  derselben  Weise  wie  früher  wiederholen. 
Diese  Annahme  ist  jedoch  nicht  absolut  sicheT.  Wir  nehmen  nur 
nichts  wahr,  was  dagegen  spricht,  wie  es  beim  Aufeinanderfolgen 
derselben  Reiz-  und  Reaktions Wörter  der  Fall  ist,  bei  denen  wir 
oft  wissen,  daß  die  Mittelglieder  verschieden  gewesen  sind.  Wir 
könnten  auch  zu  wichtigen  Resultaten  kommen,  wenn  diese  An- 
nahme falsch  wäre,  nämlich  zu  Resultaten,  die  von  den  zwischen 
deutlichen  Momenten  vorkommenden  Stufen  unabhängig  wären. 
Jene  könnten  uns  dann  Aufschluß  über  diese  geben,  usw. 

Eine  solche  Grundlage  beraubt  uns  auch  nicht  des  Rechtes,  dar- 
auf eine  psychologische  Theorie  des  Denkens  aufzubauen.  Das 
wäre  nur  dann  der  Fall,  wenn  etwaige  Theorien  Uber  »Assoziation« 
schon  eine  Grundlage  in  gefundenen  und  bestätigten  Einheiten  hätten. 
Unseres  Wissens  ist  das  aber  nicht  der  Fall,  und  indem  wir 
zuerst  festzustellen  suchen,  was  die  Grundlage  jeder  möglichen 
Theorie  des  Denkens  allein  sein  kann,  glauben  wir  auf  Grund 
unserer  Versuche  berechtigt  zu  sein,  eine  solche  Theorie  anzu- 
bahnen. Der  Ausgangspunkt  unserer  Untersuchung  kommt  somit 
zum  Ausdruck  in  der  Bezeichnung:  Theorie  des  Denkens. 

Welches  sind  nun  unsere  Resultate,  wenn  wir  hier  noch  ein- 
mal alles  zusammenfassen  dürfen?  Wir  haben  gefunden,  daß 
jedes  unserer  Ergebnisse  dahin  weist,  daß  unter  gleichen  Be- 
dingungen diejenige  Reproduktionstendenz  wirksam  wird,  die  auf 
Grund  häufigerer  Wiederholung  eine  größere  Reproduktionsgeschwin- 
digkeit besitzt.  Es  hat  sich  gezeigt,  daß  in  vielen  Fällen,  und 
gerade  da,  wo  es  sich  um  die  Möglichkeit  einer  Wahl  handelte, 
fast- jeder  bestimmende  Faktor  außer  einigen  Ausdrücken  der  Vp. 
auf  Seiten  der  Reproduktionstendenz  und  keiner  auf  Seiten  einer 
wählenden  Apperzeption  und  derartiger  Tätigkeiten  zu  finden  war. 
Wir  haben  auch  Ähnlichkeit  und  Kontrast  als  Gründe  für  Repro- 
duktionen an  sich  nicht  zugelassen,  weil  wir  keinen  experimen- 
tellen Befund  hatten,  der  den  Gebrauch  solcher  Wörter  in  ihrem 
richtigen  und  nicht  in  einem  metaphysisch  abgeblaßten1)  Sinn 

1)  Vgl.  Wundt,  a.  a.  0.,  S.  659.  Ob  Kontiguität  im  letzten  Grande  nur 
mittels  Ähnlichkeit  definierbar  sei,  ist  keine  psychologische  Frage.  Vgl. 

27* 


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420 


Henry  J.  Watt, 


erlaubt  hätte.  Alle  Reproduktionstendenzen  müssen  wir  also  mit 
einer  gewissen,  vielleicht  auf  Grand  anderer  Einflüsse  wechseln- 
den Stärke  behaftet  denken. 

Wir  haben  sodann  festgestellt,  daß  die  Aufgabe,  die  wohl  selbst 
■  als  ein  größeres  und  stärkeres  Reprodnktionsmotiv  zu  denken  ist, 
ein  sehr  wichtiger  Faktor  ist  bei  der  Bestimmung  der  Reproduktions- 
tendenzen, der  Länge  der  Reaktionszeit  und  des  qualitativen  In- 
halts des  Reaktionsverlaufes.  Sie  hat  eine  so  große  und  konti- 
nuierliche Wirksamkeit,  daß  wir  diese  nicht  ohne  weiteres  mit  ihren 
bis  jetzt  bekannten  Äußerungen  gleichstellen  dürfen.  Das  sehen  wir 
auch  daran,  daß  die  Herrschaft  falscher  Aufgaben  erst  in  ihren 
Wirkungen  ihr  Vorhandensein  erkennen  läßt.  Daß  eine  Aufgabe 
wirksam  geworden  ist,  erklärt  wohl  auch  manche  Fälle  von  Über- 
raschung und  sonstigen  intellektuellen  Gemütsbewegungen:  durch 
das  Nebeneinandersein  bloßer  Vorstellungen  ließen  sie  sich  nicht 
erklären.  Die  Aufgabe  übt  einen  so  bestimmenden  Einfluß  auf 
ein  möglicherweise  großes  und  sich  stetig  veränderndes  Gebiet 
aus,  daß,  wenn  man  sich  dieses  in  Form  aller  der  von  ihr  be- 
stimmbaren Reproduktionstendenzen  denkt,  man  sie  nicht  bloß 
eine  motorische  Einstellung1)  nennen  darf.  Soweit  wenigstens 
ihre  Wirksamkeit  mit  der  Stärke  von  Reproduktionstendenzen  zu 
rechnen  vermag,  ist  sie  für  einen  ersten  wie  für  alle  weiteren 
Versuche  bestimmend. 

Wir  haben  auch  diesen  Faktor,  die  Aufgabe,  von  den  an  die 
Reizwörter  gebundenen  Reproduktionstendenzen  trennen  können, 
so  daß  uns  keine  Verwechselung  oder  einfaches  Ersetzen  des  einen 
durch  den  andern  vorgeworfen  werden  kann. 

Welche  Theorien  stehen  uns  nun  zu  Gebote?  Zunächst  ist 
jede  Theorie,  die  mit  den  bloßen  Assoziationen  bzw.  Repro- 
duktionstendenzen, zumal  ihrer  physiologischen  Umdeutung  aus- 
zukommen hofft,  mit  unsern  experimentellen  Resultaten  un^er- 

ßourdon,  Les  Resultats  deB  Theories  contemponines  sur  l'association  des 
Idees.  Rov.  Phil.  31.  (1891\  p.  684  und  593.  Ch.  Dumont.  Contiguite" 
dans  l'association  des  idees.  Rev.  de  Metaph.  et  de  Morale.  XIV.  1895. 
p.  298.  >Ed  droit  les  idees  ne  peuvent  s'associer  par  contiguitc,  car  les 
idees  ne  peuvent  utre  contigues  les  unes  aux  autres  dans  l'esprit  inetendu. 
En  fait  les  associations  par  contiguitc  se  reduisent  ä  l'association  par  ressem- 
blance  de  temps  et  de  lieu.«  Vgl.  Hüfler,  Psych.  1897,  S.  168,  und  noch 
viele  andere. 

1;  Wie  Ebbinghaus  das  vorzuschlagen  scheint.   Psych.  Bd.  1.  S.  682. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  421 

einbar.  Positive  physiologische  Ergebnisse,  die  als  Grundlage 
dienen  künnten,  fehlen  fast  vollständig.  Daß  wir  gewisse  Gebiete, 
die  zum  Vorkommen  gewisser  Vorstellungskreise  notwendig  sind, 
lokalisieren  können,  kann  man  nicht  leugnen,  ebensowenig  wie 
daß  die  Reproduktionstendenzen  eine  gewisse  physiologische  Grund- 
lage haben.  Aber  keine  Zellen-  und  Fasertheorie  hat  für  eine  einiger- 
maßen vollständige  Schematisiernng  ausgereicht.  Solche  Schema- 
tisierungen haben  immer  etwas  Künstliches  an  sich,  und  wenn  a,  b 
und  c  die  betreffenden  Vorstellungen  bezeichnen  sollen,  ist  man 
immer  genötigt,  noch  unzählige  ms  und  m  anzuhängen,  um  die 
Richtung  des  Denkens  und  dergleichen  auszudrücken.  Noch 
weniger  finden  wir  etwas  der  Aufgabe  physiologisch  Entsprechen- 
des. Eine  andere  Art  forschender  Spekulation1)  in  der  Physio- 
logie wird  vielleicht  hier  für  uns  Wert  haben.  Daß  wir  aber  ftlr 
psychologische  Befunde  keine  physiologische  > Erklärung«  haben,  ist 
nach  dem  heutigen  Stande  unserer  Kenntnis  kein  großer  Mangel, 
obgleich  viele  anderer  Meinung  sind.  Man  verwechselt  auch  leicht 
das  Produkt  seiner  Erklärungsungeduld  mit  seinem  Wissen. 

Wir  glauben  nun  in  den  hier  hervorgehobenen  Tatsachen  auch 
das  empirische  Fundament  der  Wun  dt  sehen  Apperzeptionslehre, 
soweit  sie  sich  auf  das  Denken  bezieht,  sehen  zu  dürfen.  Wir 
nehmen  an,  daß  es  unter  denselben  Umständen,  nämlich  Stärke 
der  Reproduktionstendenz,  Beeinflussung  durch  eine  Aufgabe, 
jeder  Vorstellung  gleich  möglich  sei,  in  den  Blickpunkt  des  Be- 
wußtseins zu  treten.  Die  Apperzeption  übt  also  keinen  unter- 
scheidenden Einfluß  auf  die  von  derselben  Aufgabe  abhängenden 
Reproduktionstendenzen  aus.  Wir  haben  dagegen  festgestellt,  daß 
eine  gewisse  Geschwindigkeit  den  Reproduktionstendenzen  an  sich 
zuzuschreiben  ist,  daß  die  Aufgabe  wahrscheinlich  alle  ihr  unter- 
worfenen Tendenzen  gleich  befördert,  und  daß  verschiedene  Auf- 
gaben in  verschiedenem  Maße  auf  ihre  Reproduktionstendenzen 
einwirken.  Das  sind  die  Prozesse,  die  vorausgesetzt  werden,  wenn 
eine  Vorstellung  in  den  Blickpunkt  des  Bewußtseins  eintritt.  Da- 
bei kann  von  einer  aktiven,  von  der  Apperzeption  ausgehenden 
Hemmung  ebensowenig,  wie  von  einem  sich  von  dem  der  Repro- 
duktionstendenzen prinzipiell  unterscheidenden  befördernden  Einfluß 
der  Apperzeption  die  Rede  sein.  Was  bleibt  dann  übrig?  Im 

1)  Vgl.  Hans  Driesch.  Die  Seele  als  elementarer  Naturfaktor.  Leipzig 
1903. 

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Henry  J.  Watt, 


allgemeinen  haben  wir  nur  verschiedene  Kreise  von  Einflüssen 
nnd  ihre  wechselnde  Gruppierung  und  Zusammenwirkung  und 
einen  relativ  konstanten  Bewußtseinszustand1),  den  wir 
in  gewisser  Hinsicht  charakterisieren  können.  Dieser  ist  die  Be- 
dingung der  Zusammenwirkung  jener  und  als  solcher  ist  er  außer- 
ordentlich wichtig.  Es  bleibt  darin  genug  übrig,  dem  Wundtschen 
Begriff  noch  die  Bedeutung  und  den  Wert  zu  geben,  die  ihm  zu- 
geschrieben worden  sind. 

Wir  sind  von  dem  erlebten,  ganz  kontinuierlichen  Bewußtsein 
ausgegangen,  und  gerade  diese  Kontinuität  fehlt  den  Elementen 
der  Analyse,  die  sie  doch  immer  voraussetzen.  Dieses  Bewußt- 
sein ist  auch  wohl  die  Bedingung  der  Entstehung  komplexerer 
Faktoren,  deren  einen  wir  in  der  Aufgabe  gefunden  haben.  Es 
ist  eine  Bedingung  des  Denkens,  aber  nicht  das  Denken  selbst. 
Das  Denken  ist  demnach  das  Zusammentreffen  und  -wirken 
verschiedener  Gruppen  von  Faktoren  in  einem  sie  verbindenden 
Bewußtsein,  worunter  der,  den  wir  die  Aufgabe  genannt  haben, 
einen  maßgebenden  Einfluß  auf  die  Aufeinanderfolge  der  andern 
ausübt  und  die  Art  und  Weise  ihres  Auftretens  in  vieler  Hin- 
sicht bestimmt.  Es  ist  wahrscheinlich,  daß  es  erst  durch 
wiederholtes  Zusammenwirken  so  weit  kommt,  daß  sich  eine  Auf- 
gabe aus  bloßen  Aufeinanderfolgen  von  Vorstellungen  usw. 
entwickelt  und  voll  bewußt  wird,  ohne  daß  die  Vorstellungen, 
die  dazu  fuhren,  dadurch  ihre  Einheitlichkeit  und  Selbständigkeit 
verlieren.  Wir  hätten  uns  den  Verlauf  dabei  vielleicht  so  zu 
denken,  daß  zuerst  durch  einige  gewohnheitsmäßige  Reproduktionen 
eine  Aufgabewirksamkeit  entstanden  wäre,  die  dann  als  solche 
zum  Bewußtsein  käme  und  durch  die  dabei  entstehenden  Vor- 
stellungen und  durch  ihre  eigenen  Wirkungen  verändert  würde. 
Das  ist  jedenfalls  ein  Prozeß,  den  eine  Aufgabe,  die  nicht  nur 
eine  Wirksamkeit  überhaupt  bleibt,  sondern  als  solche  in  der  Form 
von  Vorstellungen  zum  Bewußtsein  kommt,  immer  durchmacht. 
Wir  gelangen  auch  zu  interessanten  Vermutungen  Uber  die  Eigen- 
schaften der  Vorstellungen  in  einem  unentwickelten  Bewußtsein, 
wenn  wir  den  Prozeß  der  Entstehung  einer  Aufgabe  umkehren, 
soweit  wir  das  auszudenken  vermögen. 

In  diesem  Sinne  werden  keine  unveränderlichen  Vorstellungen 


1)  Er  küante  auch  gut  eine  Grüßo  oder  Zeitstrecke  genannt  werden. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  423 

angenommen,  sondern  sich  stetig  verändernde  nnd  sich  dem  Ein- 
fluß von  Aufgaben  immer  mehr  fügende  Komplexe.  Zu  diesem 
Resultat  wurden  wir  durch  unsere  Untersuchungen  über  die 
Reproduktionstendenzen  gefuhrt,  und  in  der  gemeinsamen  Wirkung 
in  einem  (psychologisch,  nicht  logisch)  einheitlichen  Bewußtsein, 
das  wir  Apperzeption  nennen  dürfen,  müssen  wir  alle  die  ver- 
borgenen Schätze  finden,  die  man  im  Begriff  der  Wahl  und  der 
freien  Spontaneität  so  andauernd  gesucht  hat 

Schließlich  bleiben  bo  drei  ziemlich  definierte  Gebiete: 
das  der  Reproduktionstendenzen  selbst,  die  elementare  Grundlage 
aller  andern,  das  der  Aufgabe  und  das  des  Zusammenbewußtwerdens 
und  -wirkens  von  dieser  und  Inhalten,  die  relativ  selbständig  sein 
können.  In  das  erste  gehört  die  sog.  Wahl  einer  apperzeptiven 
Tätigkeit,  in  das  zweite  alles,  was  von  der  Apperzeption  im  Her- 
bartschen  Sinne  noch1)  zum  Begriff  der  Apperzeption  gerechnet 
wird,  und  als  drittes  und  als  die  eigentliche  Apperzeption  bleibt 
der  Kern  der  Wnndtschen  Apperzeption  stehen. 

7)  Insuffizienz  des  Bewußtseins. 

Wir  sind  in  unserer  Untersuchung  von  dem  Protokoll  nnserer 
Yp.  und  unsern  experimentellen  Daten  ausgegangen.  Das 
Protokoll  beruht  ja  auf  den  Bewußtseinsinhalten  der  Vp.,  die  sie 
möglichst  bald  beschrieben  und  in  Worten  ausgedrückt  haben. 
Durch  Zusammenstellung  nnd  Yergleichung  der  Aussagen,  durch 
Gruppierung  der  Aufeinanderfolgen,  sowie  durch  ein  entsprechendes 
Verfahren  mit  den  zugehörigen  experimentellen  Daten  sind  wir  dazn 
gekommen,  verschiedenes  über  die  Erlebnisse  unserer  Vp.  und  über 
das  Psychische  im  allgemeinen  zu  behaupten,  obgleich  wir  dabei 
wenig  Rücksicht  auf  die  Individualität  der  Vp.  oder  der  Erlebnisse 
genommen  haben.  Unsere  Behauptungen  beziehen  sich  trotzdem 
auf  die  einzelnen  Vp.  und  die  einzelnen  Erlebnisse  oder  deren  Auf- 
einanderfolgen. Wir  haben  dabei  nicht  etwa  auf  die  physiologischen 
Bedingungen  des  Erlebens  geschlossen,  sondern  auf  Eigentümlich- 
keiten der  Erlebnisse,  die  den  Vp.  und  uns  im  allgemeinen  noch 
unbekannt  waren.  Wir  behaupten  auch  Verschiedenes  Uber 
psychische  Faktoren,  denen  wir  eine  Wirksamkeit  und  Merkmale  zu- 
schreiben, die  in  keiner  Weise  aus  dem  Protokoll  der  Vp.  hervorgehen. 

1  Was  in  der  5.  Auflage  von  Wundt  mir  nicht  wenig  zu  sein  scheint. 


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Henry  J.  Watt, 


Dieses  Verfahren  wird  zu  einem  sehr  wichtigen  Problem 
für  uns,  indem  wir  daran  denken,  daß  es  darauf  hinausläuft,  den 
Charakter  von  Erlebnissen  indirekt  festzustellen,  d.  h.  weiter  und 
anders,  als  sie  sich  unmittelbar  im  Bewußtsein  der  Vp.  kundgeben. 
Unter  Bewußtseinsinhalt  verstehe  ich  im  folgenden  das,  was 
ich  unmittelbar  in  meinem  Bewußtsein  vorfinde;  Erlebnis  sei  zu- 
gleich alles  andere,  was  auch  als  psychisch  zu  denken  ist,  wobei 
natürlich  nicht  ausgeschlossen  ist,  daß  es  schon  znra  Teil  Bewußt- 
seinsinhalt geworden  ist. 

Die  allgemeine  Frage  ist:  Darf  man  durch  Verarbeitung 
seiner  Erfahrungen  Behauptungen  aufstellen  Uber  das,  was  nicht 
als  solches  ein  Bewußtseinsinhalt  gewesen  ist,  abgesehen  von  der 
Beziehung,  in  welcher  das  Objekt  dieser  Behauptungen  zu  dem 
Bewußtseinsinhalt  stehen  mag  ?  Es  kann  ja  ganz  verschieden  da- 
von sein  oder  auch  nur  in  bezog  auf  das,  worüber  man  die  betref- 
fenden Behauptungen  aufstellt,  nicht  als  solches  bewußt  erfahren 
worden  sein.  In  dieser  allgemeinen  Frage  sind  sehr  viele  spezielle 
Fragen  enthalten.    Wir  müssen  unser  Gebiet  zuerst  abgrenzen. 

Mit  der  Frage  nach  etwas  von  unserem  Bewußtsein  ganz  Ver- 
schiedenem und  ganz  Unabhängigem  haben  wir  hier  natürlich 
nichts  zu  tun.  Wir  können  also  an  derartig  formulierten  Problemen 
einer  Außenwelt  oder  der  physiologischen  Bedingungen  des  Be- 
wußtseins als  solcher  und  dergleichen  mehr  vorbeigehen.  Auch 
das  Problem  des  fremden  Seelenlebens,  das  psychologischer  An- 
nahme nach  meinem  eigenen  Bewußtsein  gleichartig  ist,  geht  uns 
hier  nichts  an.  Die  Psychologie  macht  im  Einklang  mit  dieser 
Annahme  gleichen  Gebrauch  von  der  Erfahrung  eines  jeden. 

Weiter  würde  es  uns  weuig  nützen,  anzunehmen,  daß  etwas 
außerhalb  meines  Bewußtseins  gerade  so  existiert,  wie  es  in  mei- 
nem Bewußtsein  ist,  weil  damit  jedes  Problem  verschwindet,  und 
noch  mehr,  weil  es  den  Tatsachen  nicht  entsprechen  kann.  Die 
Frage  ist  vielmehr:  Wie  kann  ich  von  etwas  Erfahrenem  mehr 
behaupten,  als  ich  mir  direkt  bewußt  geworden  bin? 

Die  allgemeine  Tatsache,  daß  wir  gegenwärtige  Bewußt- 
seinsinhalte als  schon  dagewesen  denken,  ist  fast  die  umgekehrte 
Frage:  Wie  läßt  sich  ein  Bewußtseinsinhalt  setzen,  der  als  außer- 
halb meines  jetzigen  Bewußtseins  existierend  nicht  gedacht  werden 
kann?  Wir  können  uns  damit  nicht  ohne  Erklärung  zufrieden 
geben.  Die  Tatsache,  daß  ein  früher  im  Bewußtsein  Gewesenes 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


425 


wieder  im  Bewußtsein  ist,  kann  nichts  erklären,  weil  aus  dem 
bloßen  Wiederdasein  nie  ein  Bewußtsein  von  Gewesenem  entstehen 
könnte.  Irgendeine  Ordnung  der  Inhalte  des  Bewußtseins  wurde 
es  ebenfalls  aus  demselben  Grunde  nicht  erklären,  und  eine 
Verschiedenheit  der  Quellen  der  Erlebnisse  leistet  ebensowenig. 
Wir  erleben  alles,  was  uns  gegeben  wird,  aber  wir  bekommen 
dabei  nie  eine  weitere  Erkenntnis,  wenn  sie  nicht  in  demselben 
Grade  gegeben  und  Inhalt  des  Bewußtseins  wird.  Wenn  Vor- 
stellungen, ohne  irgendeine  Spur  ihrer  Vergangenheit  in  ihrem 
Inhalte  zu  haben,  in  uns  auftauchen,  so  können  wir  sie  nicht 
in  die  Vergangenheit  zurückvcrlegen.  Jede  Erweiterung  des  Be- 
wußtseinsinhaltes ist  uns  auf  den  ersten  Blick  ebenso  unver- 
ständlich, weil  wir  ja  nicht  annehmen  können,  daß  Bewußtsein 
ohne  weiteres  aus  nichts  entsteht.  Zur  Erkennung  einer  Vor- 
stellung muß  irgendeine  Reproduktion  außer  der  Vorstellung 
selbst  da  sein.  Es  können  nicht  zwei  Empfindungen,  z.  B.  die  eine 
von  Rot,  die  andere  von  erkanntem  Rot,  existieren.  Sonst  hätten 
wir  ja  zwei  Qualitäten  von  Rot.  Zu  sagen,  daß  die  zum  zweiten 
Male  wahrgenommene  Vorstellung  ihren  alten  Begleiter  reproduziert, 
ist  auch  nicht  als  Erklärung  der  Erkennung  zulässig,  weil  dieser 
Prozeß  allein  ja  nie  ohne  weiteres  Erkennung  ausmachen  könnte. 
Er  wurde  höchstens  neue  Inhalte,  neue  Erlebnisse  geben,  aber 
nicht  eine  Erkennung  gewisser  Vorstellungen  ausmachen.  Die 
fnndamentale  Schwierigkeit  ist  hier,  die  sinnvolle  Ver- 
knüpfung von  Vorstellungen  nach  ihrem  Inhalt  zu  erklären.  Dies 
ist  zugleich  die  psychologische  Form  der  Frage:  Wie 
läßt  sich  ein  Inhalt  als  Erweiterung  unserer  Erkenntnis  anderer  Er- 
lebnisse, die  diesen  nicht  als  solchen  enthalten,  auf  diese  andern 
Erlebnisse  beziehen? 

Verschiedene  Tatsachen  haben  diese  allgemeine  Frage 
innerhalb  der  Psychologie  aufgebracht.  Das  Problem  ist  erst  kürz- 
lich klar  ausgedruckt  worden,  und  zwar  in  Beziehung  zu  einigen 
unerwarteten  Beobachtungen  über  das  Verhältnis  der  Methode  der 
ebenmerklichen  Unterschiede  zu  der  der  mittleren  Ab- 
stufungen der  Empfindungsunterschiede  *).  Eine  von  F  e  ch  n  e  r  her- 
stammende Annahme  besagt,  daß  die  ebenmerklichen  Empfindnngs- 

1)  Klilpe,  Congres  de  Psych.  Paris  1900.  Ament,  Über  das  Ver- 
hältnis der  ebenmerklichen  zu  den  übermerklichen  Unterschieden.  Diss. 
Würzburg  1900. 

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Henry  J.  Watt, 


unterschiede,  die  mit  einer  Skala  relativ  gleicher  Reizunter- 
schiede parallel  gehen,  gleiche  Größen  sind.  Wir  finden  aber, 
wenn  wir  die  mittlere  Stufe  zwischen  zwei  in  der  Reihe  ebenmerk- 
licher Unterschiede  weiter  auseinander  liegenden  Empfindungen 
feststellen,  daß  die  Anzahl  cbenmerklicher  Unterschiedsstufen  in 
in  der  unteren  Hälfte  größer  ist  als  die  Anzahl  der  Unterscbieds- 
stufen  in  der  oberen  Hälfte,  nämlich  der  zwischen  der  mittleren 
Stufe  und  der  intensiveren  Empfindung.  Wir  schließen  daraus, 
daß  die  ebenmerklichen  Unterschiede  nicht  gleiche  Größen  sind. 
Das  dürfen  wir,  weil  bei  dem  Fall  der  mittleren  Abstufungen  die 
Empfindungsunterschiede  tatsächlich  in  bezog  auf  ihre  Größe  ver- 
glichen wurden,  während  im  andern  Falle  die  Empfindungen  nur 
in  bezug  auf  ihre  Unterscheidbarkeit  und  nicht  in  bezng  auf  die 
Größe  dieses  Unterschiedes  verglichen  wurden.  Dieser  Unterschied 
hat  aber  doch  eine  Größe  gehabt,  und  der  Kern  der  Untersuchung  ist, 
daß  wir  diese  Größe,  die  nicht  als  solche  zum  Bewußtsein  kam, 
indirekt  bestimmen  zu  können  glauben.  Ferner:  »Insbesondere 
kommt  es  vor,  daß  ein  Beobachter  bei  Buchstaben,  die  ihm  gezeigt 
worden  sind,  zwar  deren  Anzahl  und  ein  paar  von  ihnen  auch 
ihrer  lautlichen  Beschaffenheit  nach  zu  nennen  weiß,  aber  von 
ihrer  Farbe  keine  Ahnung  hat.  So  zweifellos  es  ist,  daß  er 
die  Buchstaben  sämtlich  irgendwie  farbig  gesehen  hat,  so  unzu- 
reichend muß  demnach  ein  Bewußtsein  heißen,  welches  von 
diesen  seinen  Inhalten  keine  Kunde  zu  geben  vermag« 

Solche  Betrachtungen  bringen  uns  in  ein  allgemeines  Gebiet,  von 
dem  unsere  Untersuchung  ausgeht.  Wir  können  viele  ähnliche  Bei- 
spiele anfahren,  aber  es  seien  einige  Erwägungen  vorangestellt. 

Wir  brauchen  kaum  zu  erwähnen,  daß  das  Protokoll  bei  psycho- 
logischen Versuchen  kein  erschöpfendes  ist.  Belege  finden  sich 
fast  bei  jedem  Versuche.  Aber  was  bedeutet  das?  Protokoll  ist 
eine  in  Worten  wiedergegebene  Selbstbeobachtung,  und  Selbst- 
beobachtung ist  das  Bewußtsein  von  Erlebnissen,  das  in  allen  einiger- 
maßen komplizierten  Fällen  auf  Reproduktion  angewiesen  ist  und 
alle  Mängel  und  Unvollkommenheiten  derselben  teilt.  Deshalb 
müssen  wir  uns  immer  daran  erinnern,  daß  es  an  der  zugrunde 
liegenden  Reproduktionstendenz  liegen  kann,  wenn  eine  Vor- 
stellung in  einem  bestimmten  Moment  nicht  im  Bewußtsein  ist 

1)  Külpe,  Philosophie  der  Gegenwart  in  Deutschland,  S.  102.  Vgl. 
Einleitung  in  die  Philosophie.  3.  Aufl.  1903.  S.  273  ff. 


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Experimentelle  Beitrüge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  427 

Nun  kommt  noch  etwas  hinzu.  Wir  haben  an  unsern  eigenen 
Versuchen  gelernt,  wie  wichtig  und  bestimmend  für  Reproduktionen 
das  Vorhandensein  einer  Aufgabe  ist.  Daß  zu  bestimmten  Zeiten 
gewisse  Reproduktionen  stattfinden  und  andere  ausbleiben,  babcu 
wir  nur  durch  die  vorhandene  Aufgabe  erklären  können,  und  durch 
sie  haben  wir  auch  den  überraschenden  Mangel  an  Hemmung  bei 
Versachsreproduktionen  erklärt.  Wir  haben  ferner  gesehen,  daß  der 
Verschiedenheit  der  Wirksamkeit  der  Aufgabe  die  Verschiedenheit 
in  der  Menge  der  Fehler  zuzuschreiben  ist.  Aus  alledem  geht 
hervor,  daß  die  Vollkommenheit  von  Reproduktionen  auf  der  Be- 
schaffenheit der  Reproduktionstendenzen  für  sich  und  auf  der  Wirk- 
samkeit der  sie  beeinflussenden  Aufgabe  beruht.  Das  trifft  genau 
für  das  Protokoll  und  die  Selbstbeobachtung  zu.  Wir  müssen  also 
vorsichtig  sein,  wenn  wir  behaupten,  daß,  weil  etwas,  was  im 
Protokoll  fehlt,  vermutlich  erlebt  gewesen  sein  müsse,  es  wegen 
Mangels  einer  Aufgabe  nicht  bewußt  gewesen  sei.  Fällt  denn  die 
Grenze  zwischen  dem  Erleben  und  dem  Bewußtsein  mit  der 
zwischen  der  Möglichkeit  und  der  Unmöglichkeit  einer  Reproduktion 
bzw.  Selbstbeobachtung  zusammen?  Es  kommt  nicht  bei  jeder- 
mann die  zum  Beschreiben  nötige  Aufgabe  in  genügendem  Grade 
vor.  Wir  unterscheiden  zwischen  unsern  Vp.,  obgleich  wir  des- 
halb einem  »schlechten«  Beobachter  nicht  im  mindesten  Un- 
aufrichtigkeit  zutrauen.  So  wird  das  Verfahren,  aus  einem 
Mangel  im  Protokoll  auf  einen  gleichen  im  Bewußtseinsinhalt  zu 
schließen,  höchst  bedenklich.  Wir  sagen  demgemäß:  Entweder 
ließ  sich  das  Erlebte  durch  nichts  im  Bewußtsein  im  Moment 
der  Selbstbeobachtung  Vorhandenes  reproduzieren,  oder  das  Vor- 
handene konnte  es  einfach  nicht  reproduzieren,  oder  die  vorhan- 
dene Aufgabe  der  Beschreibung  war  nicht  wirksam  genug,  diesen 
Reproduktionen  einen  Vorteil  vor  andern  zu  geben,  oder  endlich 
die  Vp.  hat  tatsächlich  nicht  alles  angegeben,  was  sie  hätte  an- 
geben können.  Auf  diesen  Tatbestand  haben ,  wir  in  unsern 
näheren  Untersuchungen  methodologisch  Rücksicht  genommen,  in- 
dem wir  die  Aufgabe  der  Beschreibung  eingeschränkt  und 
zergliedert  haben1). 

In  derselben  Weise  kann  man  die  Tatsache  erklären,  daß  die 
Vp.  oft  nicht  weiß,  warum  und  wie  sie  zu  gewissen  Vorstellungen 


1]  S.  oben  §  5. 

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Henry  J.  Watt. 


gekommen  ist.  Z.  B.  Vp.  I. :  Man  wird  erst  im  Laufe  der  Zeit  des 
inneren  Zusammenhangs  im  Verlauf  der  Erlebnisse  bewußt.  Außer- 
dem finden  wir  folgendes  im  Protokoll:  Vp.  I  »Ich  habe  dann 
Mann  gesagt,  ohne  daß  ich  den  Gang  zu  diesem  Worte  beschrei- 
ben kann«.  »Wie  ich  auf  Feder  gekommen  bin,  weiß  ich  nicht«. 
»Ich  weiß  nicht,  wie  das  Wort  gekommen  ist« .  Vp.  III:  »Kopf 
habe  ich  ausgesprochen,  ohne  daß  ich  jetzt  weiß,  warum«.  »Ge- 
bäude drängte  sich  auf  und  wurde  unterdrückt,  ohne  daß  ich  daa 
Bewußtsein  hatte,  warum,  oder  daß  es  mit  Recht  unterdrückt 
wurde«.  Vp.  VI:  »Die  Beziehung  zwischen  zwei  aufeinander 
folgenden  Wortbedeutungserlebnissen  kann  ich  nicht  angeben«.  Wir 
haben  auch  wenig  Grund,  anzunehmen,  daß  die  Beziehungen  zwischen 
Erlebnissen,  auch  wenn  es  solche  gibt,  der  Vp.  zum  Bewußtsein 
kommen  und  beschreibbar  sind.  Die  Betrachtung  der  7?-Fälle  zeigt 
uns  augenscheinlich,  daß  zwei  Vorstellungen  von  demselben  Reiz 
und  derselben  Aufgabe  reproduziert  werden  und  aufeinander  folgen 
können,  ohne  daß  eine  Verbindung  zwischen  ihnen  anzunehmen 
ist.  Daraus  wird  zum  Teil  erklärlich,  daß  die  Vp.  öfters  von  Repro- 
duktionen überrascht  wurde.  Solche  »Erklärungen«  der  Repro- 
duktionen und  Beziehungen  zwischen  Erlebnissen  beruhen  wohl 
auf  Reproduktionen,  die  aus  der  Zeit  der  Entstehung  der  Prozesse 
stammen.  Als  Reproduktionen  haben  sie  ihre  eigene  Aufgabe  zur 
Bedingung,  die  man  die  Aufgabe  der  Erklärung  nennen  kann. 
Man  sieht  ein,  daß  es  sich  bei  dieser  Aufgabe  um  frühere,  von 
den  jetzt  erlebten  ausgehende  Reproduktionen  handelt. 

Vieles  scheint  auch  erst  im  Laufe  der  Zeit  zum  Bewußtsein  zu 
kommen,  wobei  man  aber  nicht  entscheiden  kann,  ob  es  früher 
erlebt  wurde  oder  nicht.  Vp.  I:  >Um  das  Wort  zu  finden,  habe  ich 
auf  die  Wand  geblickt.  Ich  weiß,  daß  ich  in  den  früheren  Ver- 
suchen immer  wieder  weggeblickt  habe,  um  besser  zu  finden.«  »Ich 
spreche  das  Wort  innerlich,  wenn  ich  lese:  ob  ich  das  sonst  tue, 
weiß  ich  nicht«. 

Eine  ähnliche  Aufgabe  läßt  sich  für  das  Vergleichen  von 
Bewußtseinsinhalten  anführen.  Es  leuchtet  ein,  daß  jede  Vor- 
stellung sich  von  andern  Vorstellungen  abgrenzen  muß.  Man  kann 
diese  Grenzen  aber  nicht  vorführen,  und  diese  sind  auch  nicht  als 
solche  Inhalte  der  Vorstellungen  selbst.  Um  Inhalte  des  Bewußtseins 
zu  werden,  müssen  entsprechende  Reproduktionstendenzen  und  Auf- 
gaben gebildet  werden.    Es  kann  sein,  daß  dies  im  betreffenden 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  429 

Falle  nicht  möglich  ist,  und  daß  wir  durch  andere  Methoden,  wie 
bei  den  ebenmerklichen  Unterschieden,  Bestimmungen1)  über  die 
Erlebnisse  machen  können.  Das  ändert  jedoch  wenig.  In  allen 
Fällen  ist  das  Verfahren  ein  indirektes.  Durch  Her- 
Stellung  von  Reproduktionstendenzen  und  Aufgaben  kommen  wir 
erst  zu  unserer  Kenntnis  der  Erlebnisse,  indem  sie  in  dieser  Hin- 
sicht die  unmittelbaren  Inhalte  anderer  Erlebnisse  werden,  die  sich 
auf  sie  inhaltlich  beziehen. 

Damit  sind  wir  auf  einen  allgemeineren  Boden  gekommen.  Wir 
sehen,  daß  die  Erweiterung  unseres  Bewußtseins  auf  der  Zunahme 
der  Reproduktionen  beruht,  so  daß,  auch  wenn  wir  eine  Vorstellung 
erleben,  wir  sie  in  vieler  Hinsicht  erst  zum  Bewußtsein  bringen, 
indem  wir  anderes  reproduzieren,  das  sich  darauf  inhaltlich  be- 
zieht. Das  Merkwürdige  ist  eben,  daß  sich  dies  auf  die  be- 
treffende Erfahrung  inhaltlich  bezieht.  Wir  verstehen  es  ohne 
weiteres,  daß  peb  rech  z.  B.  reproduziert,  wenn  wir  voraussetzen, 
daß  diese  zwei  Wortvorstellungen  früher  zusammen  gelernt  wurden. 
Was  wir  nicht  ohne  weiteres  verstehen,  ist,  daß  auf  die  Vorstel- 
lung rot  das  Wort  Rot  folgt,  so  daß  dieses  Wort  rot  eine  ganz 
eigentümliche  Bedeutimg  und  Richtung  für  uns  erhält. 

Wir  haben  nun  in  unserer  Untersuchung  einen  Faktor  im  Ver- 
lauf des  Denkens  hervorgehoben,  der  gerade  zu  der  Bestimmung 
der  sinnvollen  Aufeinanderfolge  der  Erlebnisse  beiträgt  und  dabei 
noch  andere  Einflüsse  hat.  Wir  haben  auch  das  Mechanische  in 
Verbindung  mit  diesem  Faktor  gesehen,  wie  z.  B.  im  Wachsen  der 
Geläufigkeit  der  Reproduktionstendenzen.  Wir  könnten  dann  sagen : 
die  Reproduktionstendenzen  sind  das  eigentlich  Mechanische  im 
Denken,  und  die  Aufgabe  ermöglicht  die  sinnvolle  Beziehung 
der  Vorstellungen  aufeinander.  Sie  wird  durch  Vorstellungen  zur 
Wirksamkeit  bestimmt  und  gibt  sich  kund  im  Bewußtsein  für  sich 
in  der  Form  von  Vorstellungen,  z.  B.  >Teil  finden <  usw.  Sie  kommt 
sonst  aber  nur  insofern  zum  Bewußtsein,  als  sie  anderes 
von  ihr  Beeinflußtes  zum  Bewußtsein  bringt.  Sie  bildet  den  sinn- 
vollen Zusammenhang  unter  den  von  ihr  reproduzierten  oder  aufge- 
nommenen Vorstellungen.  Wie  wir  gesehen  haben,  tritt  vor  und  nach 
dem  Reiz worte  mit  vorausgegangener  Vorbereitung  eine  Pause  ein, 


1  Vgl.  Wundts  Erklärung  des  >Merkelechen  Gesetzes«.   5Psycb.  I. 
S.646f. 

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Henry  J.  Watt, 


entweder  des  Wartens  anf  das  Reizwort  oder  des  Wartens  auf 
die  gesachte  oder  auftauchende  Vorstellung  usw.  Solche  Pausen 
mit  darauf  folgenden  Reproduktionen  werden  charakteristisch  für 
eine  Aufgabevorstellung,  oder  umgekehrt  stammen  aus  ihnen  auch 
Aufgabevorstellungen  als  ihre  Namen.  Dabei  könnte  man  aber 
nichts  anderes  zur  Erklärung  dieser  Zustände  angeben,  als  viel- 
leicht eine  derartige  Aufgabevorstellung  oder,  wenn  eine  solche  nicht 
existiert ,  die  Reproduktionen,  die  aus  ihr  hervorgehen.  Dieser  letz- 
tere Prozeß  beschreibt  genau,  was  Marbe1)  Bewußtseinslage 
genannt  hat.  Eine  Aufgabe  wäre  demnach  ein  Bewußtseins- 
zustand, der  nur  existiert,  um  eine  gewisse  sinnvolle  Reihe  von 
Reproduktionen  zu  bestimmen,  und  nur  durch  diese  anzugeben  ist, 
ja  nur  als  diese  ins  Bewußtsein  kommt;  eine  Bewußtseinslage 
wäre  dasselbe  ohne  einen  bestimmten  Namen.  Für  die  Aufgabe 
kann  man  sowohl  den  Namen  als  auch  den  Sinn  des  von  ihr 
Reproduzierten  angeben.  Dabei  läßt  sich  dieser  Sinn  oder  die 
sinnvolle  Beziehung  mit  andern  Beziehungen  vergleichen,  wie  wir 
in  der  Besprechung  der  Vorbereitung  gefunden  haben:  diese  aber 
machten  sie  nicht  notwendig  wirksamer,  obgleich  sie  gewöhnlich 
dazu  verwendet  werden  und  das  auch  gelegentlich  hervorbringen. 

Ein  anderer  Gesichtspunkt  bringt  uns  auf  unsere  Schluß- 
betrachtung. Es  ist  ja  selbstverständlich,  daß  die  durch  die 
Aufgabe  zustande  gebrachte  sinnvolle  Verknüpfung  zwischen  der 
Wahrnehmung  (Erlebnis,  Reiz)  und  dem  sich  darauf  beziehenden 
Bewußtseinsinhalt  (Reaktion)  besteht.  Danach  können  wir  behaup- 
ten: In  jedem  Reiz  —  und  irgendein  Erlebnis,  worüber  wir  etwas 
aussagen,  ist  auch  in  diesem  Sinn  ein  Reiz  —  liegt  alles,  was 
unter  dem  Einfluß  irgendeiner  Aufgabe  in  der  dadurch 
bestimmten  Reaktion  in  sinnvoller  Beziehung  genau  zum 
Ausdruck  kommt.  Wenn  das  Erlebnis  dasselbe  bleibt  und  die 
zu  einer  Reaktion  nötigen  Bedingungen  erfüllt  werden,  nnd  wenn 
dabei  Genaues  darin  zum  Ausdruck  kommt,  z.  B.  Rot  oder  diese 
und  jene  Größe,  dann  müssen  wir  sagen:  In  dem  Erlebnis  liegt 
schon,  bevor  diese  Bedingungen  erfüllt  werden,  Rot,  die  nnd  jene 
Größe,  die  und  jene  Qualität  oder  Eigenschaft.  Damit  haben  wir, 
abgesehen  von  den  schon  erwähnten  Schwierigkeiten  des  Ver- 


1)  Vgl.  K  Harbe,  Experirnentell-psych.  Untersuchungen  Uber  das  Urteil. 
1901.  S.  11  f.     J.  Orth,  Gefühl  und  Bewußteeinslage.   8.  69  ff. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens. 


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fahrens,  die  Möglichkeit  festgestellt,  daß  etwas  in  einem 
schon  mehr  oder  minder  zum  Bewußtsein  gekommenen  Erlebnis 
Torhanden  ist,  ohne  schon  zum  Bewußtsein  gekommen  zu  sein. 
Der  Vorteil  des  experimentellen  Verfahrens  dem  Protokoll 
gegenüber  ist,  daß  wir  diese  Bedingungen  des  in  einer  Reaktion 
zum  Bewußtsein  Kommens  erfüllen  können. 

8)  Ober  allgemeine  Vorstellungen  und  Begriffe. 

Wir  haben  oben  viele  Angaben  der  Vp.  über  Gesichtsvorstel- 
hmgen  (§  11)  und  das  mehr  unbestimmte  Bedeutungsbewußtsein 
§  5)  mitgeteilt.  Es  dürfte  sich  wegen  der  großen,  verwirrenden 
Verschiedenheit  der  Meinungen  lohnen,  auf  die  hierin  liegenden 
Probleme  etwas  näher  einzugehen. 

Es  hat  lange  gedauert,  bis  man  in  der  Aufzählung  des  Vorge- 
fundenen zwischen  den  allgemeinen  Begriffen  und  den  allgemeinen 
Vorstellungen  unterschieden  hat1),  und  man  hat  sich  vielfach  durch 
die  Angabe  über  das  eine  auch  in  bezug  auf  das  andere  bestim- 
men lassen.  Zur  Abgrenzung  des  Gebiets  wollen  wir  uns  von  den 
drei  Begriffen:  Wort,  Begriff  und  Vorstellung  leiten  lassen. 

Die  Vorstellung  ist  uns  in  der  Form  von  Gesichts-  und  Wort- 
vorstellungen, von  denen  wir  hier  ausgehen,  gut  bekannt,  wenn 
sie  auch  nicht  ebenso  genau  definiert  ist  Wir  sehen  einstweilen 
ganz  davon  ab,  den  Begriff  der  Vorstellung  unterzuordnen2).  Man 
zweifelt  nicht  daran,  daß  ganz  genau  bestimmte  Vorstellungen  vor- 
kommen. Ich  habe  oben  einige  sehr  genaue  und  lebhafte  ange- 
geben (§  11).  Diese  vielleicht  öfter  vorkommende  Genauigkeit 
der  Vorstellungen  und  die  Schwierigkeit,  welche  Vorstellungen,  zu- 
mal unbestimmte  und  dunkle,  einer  ungeschulten  Selbstbeobachtung 
bieten,  hat  wohl  die  entschiedenen  Behauptungen 3)  veranlaßt,  daß 
diese  Art  allein  vorkommt,    wenn  wir  von  theoretischer 

1}  Vgl.  Otto  Liebmann,  Zur  Analysis  der  Wirklichkeit.  2.  Aufl. 
über  die  ExiBtenz  abstrakter  Begriffe.   S.  487. 

2j  Wundt,  5 Psych.  III.  S.  574  ff.  Vom  Standpunkt  der  experimentellen 
Psychologie  kann  die  Unterordnung  noch  nicht  durchgeführt  werden. 
Bin  et  b  Bestreben,  Begriffliches  und  Vorgestelltes,  wie  wir  sie  in  der  Selbst- 
beobachtung finden,  sorgfältig  zu  unterscheiden,  kann  die  experimentelle 
Forschung  nur  fördern.   A.  a.  0.,  S.  84  ff. 

3)  Berkeley,  Principles  of  human  knowledge,  Introd.  §10.  Hume, 
Treatise  on  human  Nature.  Book  1.  part.  1.  §  7  usw. 


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432 


Henry  J.  Watt, 


Voreingenommenheit  absehen,  die  erklärt,  daß  Vorstellungen  nur 
als  individuell  bestimmte  Gebilde  möglich  sind.  Die  oben  (§  11) 
mitgeteilten  Beispiele  allgemeiner  Vorstellungen  machen,  insofern 
das  Protokoll  verschiedener  Vp.  eine  Garantie  dafür  ist,  ihr  Vor- 
kommen sehr  wahrscheinlich.  Demnach  wäre  die  Ansicht,  wonach 
auf  Grund  der  Selbstbeobachtung  nur  bestimmte  Vorstellungen  vor- 
kommen sollen,  als  beschränkt  und  vielleicht  etwas  dogmatisch  zu 
bezeichnen. 

Der  Ursprung  der  allgemeinen  Vorstellung  möge  hier  un- 
berücksichtigt bleiben.  Die  allgemeine  Ansicht  *),  wonach  die  Ver- 
schmelzung vieler  ähnlicher  Vorstellungen  die  gemeinsamen  Teile 
herausheben  und  die  vereinzelt  vorkommenden  verdunkeln  soll, 
enthält  wohl  einige  Wahrheit.  Es  ist  aber  nicht  sicher,  daß  die- 
jenigen Vp.,  welche  unbestimmte  allgemeine  Vorstellungen  haben, 
sie  durch  die  Verschmelzung  ganz  konkreter  Vorstellungen  er- 
halten haben.  Es  ist  wahrscheinlich,  daß  einige  Vp.  nur  unbe- 
stimmte, andere  Vp.  dagegen  bestimmte  und  vielleicht  nur  solche 
Vorstellungen  haben2). 

So  weit  reicht  Air  uns  die  Tatsächlichkeit.  Man  hat  aber  diese 
Beschaffenheit  der  Vorstellungen  öfters  aus  allgemeinen  Grün- 
den bestimmen  wollen.    Was  läßt  sich  nun  darüber  sagen? 

Es  ist  offenbar,  daß  eine  Vorstellung  nicht  ganz  bestimmt  ist, 
weil  sie  diese  und  nicht  zugleich  eine  andere  iBt,  oder  weil  sie 
individuell  ist.  Ein  Begriff  ist  auch  individuell,  aber  er  ist  deshalb 
in  keiner  Weise  weniger  allgemein. 

Taine3)  behauptete,  daß  die  farblose  unbestimmte  Vorstellung 
nicht  die  allgemeine  abstrakte  Idee,  sondern  nur  ihre  Begleiterin 
sei.  Wir  haben  diese  Ansicht,  daß  unsere  Vorstellungen  unsere 
Worte  und  Gedanken  bloß  begleiten,  schon  oben  (§  11)  bekämpft, 
und  wir  wollen  darüber  hier  nicht  weiter  diskutieren.  Wir  haben 
keinen  Gruud,  anzunehmen,  daß  Gesichtsvorstellungen  unfähiger 
als  Wortvorstellungen  sind,  Sinn  zu  haben  und  im  Verlauf  der 
Gedanken  allein  zu  arbeiten.  Wie  dem  auch  sein  mag,  so  sind 
wir  jedenfalls  nicht  imstande,  den  Sinn  und  das  bloße  Bild  für 
sich  behandeln  und  noch  weniger,  wenn  das  Uberhaupt  möglich 

1)  Taine,  De  l'Intelligence.  Pari»  1897.  II.  S.  259,  260.  Gegen  diese 
Theorie  erhebt  Binet  Bedonken.   A.  a.  0.,  S.  146  ff. 

2)  Vgl.  James,  Psych.  IL  8.  66 ff.  ftir  Beispiele. 

3)  A.  a.  0.,  S.  260. 


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Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  433 

ist,  sie  voneinander  abtrennen  zn  können.  Es  kann  wohl  sein, 
daß  man,  wenn  man  sich  die  Aufgabe  stellt,  sich  eine  Vorstellung 
zn  vergegenwärtigen  und  zn  beobachten,  dabei  findet,  daß  sie  in 
jeder  beobachteten  Richtung  ganz  bestimmt  wird1),  und  daß  das 
in  dieser  WeiBe  beobachtete  Bild  nichts  bedeutet.  Aber  dies  be- 
weist noch  nicht,  daß  es  mit  den  Vorstellungen  im  allgemeinen  so 
ist.  Um  so  mehr  wird  eine  Beobachtung  von  Gesichts  Vorstellungen, 
wie  sie  im  Verlauf  des  Denkens  oder  des  Versuchs  vorkommen, 
gefordert. 

Es  ist  nicht  selbstverständlich,  daß,  wenn  eine  Vp.  nicht  alles 
genau  beschreiben  kann,  was  die  Vorstellung  enthält,  diese  des- 
halb allgemein  ist.  Das  einzige  Kriterium,  das  wir  bis  jetzt  da- 
für haben,  ist  die  Beschreibung  und  die  allgemeine  Behauptung  der 
Vp.  Von  dieser  Unvollkommenheit  der  Selbstbeobachtung  rührt 
es  her,  daß  diejenigen  Ansichten,  welche  die  Allgemeinheit 
oder  Unbestimmtheit  der  Vorstellungen  als  einzige  Möglich- 
keit behaupten,  sich  alle  auf  beobachtete  Vorstellungen  be- 
schränken. Die  Selbstbeobachtung  allein  aber  verschafft  uns  be- 
kanntlich keine  genügende  Sicherheit  über  die  Beschaffenheit  der 
erlebten  Vorstellung.  In  einer  der  obigen  entgegengesetzten  Rich- 
tung bewegt  sich  die  schon  erwähnte  Ansicht,  wonach  jede  Vor- 
stellung ganz  bestimmt  ist.  Wenn  man  sich  an  die  bekannte 
Unbestimmtheit  vieler  Vorstellungen  erinnert,  leuchtet  es  ein,  daß 
reale  psychische  Gebilde,  die  ganz  bestimmt  sein  müssen, 
obgleich  sie  als  solche  nicht  erkannt  werden,  die  Voraussetzung 
dieser  Theorie  sind.  Derselbe  Gegensatz  der  Theorien  ließe  sich 
auch  für  die  Begriffe  durchführen. 

In  der  Analyse  des  Reaktionsverlaufs  (§  5)  habe  ich  viele  An- 
gaben der  Vp.  gebracht,  die  uns  etwas  Aufschluß  über  den  Be- 
griff  geben  können.  Unsere  zwei  ersten  Aufgaben  waren  begriff 
lieh.  Um  nun  einen  übergeordneten  Begriff  zu  dem  Reizwort  als 
untergeordnetem  Begriff  zu  reproduzieren,  war  es  wohl  meistens 
nötig,  das  Reizwort  ebensosehr  als  Begriff  zum  Bewußtsein  kommen 
zn  lassen,  wie  dies  im  Verlauf  des  gewöhnlichen  Denkens  geschiebt 
Wir  dürfen  daher  einiges  Protokoll  darüber  erwarten.  Die 
Vp.  sind  nun  darüber  einig,  daß  das  Wort  und  dessen  Verständnis 
nicht  ein  und  dasselbe  ist.    Vp.  I:  »Die  volle  Bedeutung  des 

1}  VgL  Binet,  ».  ».  0.,  S.  89. 

AicWt  fftr  Paychologi«.   I?.  28 


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434 


Henry  J.  Watt, 


Wortes  war  schon  bei  der  bloßen  optischen  Wahrnehmung  da.  Es 
ist  mir  nicht  zum  Bewußtseiu  gekommen,  daß  ich  das  Wort  aus- 
gesprochen hatte,  oder  daß  die  Bedeutung  in  irgendwelcher  Vor- 
stellung explizite  gegeben  war«  —  oder:  »Mit  dem  innerlichen 
Aussprechen  des  Reizwortes  war  gleichzeitig  verbunden  das  Verständ- 
nis«. »Es  scheint,  als  wenn  dieser  Komplex  von  Schrift-,  Sprech- 
und  Lautbild  das  Verständnis  vollendet «.  In  diesen  Zitaten  ist  es 
nicht  ganz  klar,  ob  neben  dem  Wortbild  ein  keine  deutlichen 
Elemente  enthaltendes  Verständnis  vorhanden  war.  Vp.  III  spricht 
sich  klarer  dafür  aus:  »Es  war  keine  Pause  zwischen  dem  Er- 
scheinen des  Reizwortes  und  dem  Verständnis  da,  doch  dauerte  es 
ziemlich  lang,  bis  das  Verständnis  ganz  dawar.  Mit  vollem  Ver- 
ständnis war  der  Anstoß  zur  Assoziation  gegeben.«  Dagegen  ist 
der  Fall,  in  welchem  Laut-,  Schrift-  und  Sprechbild  nicht  das  Ver- 
ständnis geben,  sondern  eine  bloß  lautliche  oder  sinnlose  Assoziation, 
ja  gut  bekannt  Vp.  III  konstatiert  oft,  daß  der  Begriff  oder  der 
Sinn  des  kommenden  Wortes  eher  dawar,  als  das  Wort  selbst, 
und  Vp.  I  suchte  einmal  nach  einem  spezielleren  Begriff,  »dem 
Glied  einer  bestimmten  Gemeinschaft« ,  aber  der  Gedanke  daran 
enthielt  keine  Worte.  Auch  Erinnerungen  ohne  Worte  kommen 
vielfach  vor.  Ein  Oberbegriff,  sagt  eine  Vp.,  war  als  Richtung, 
nicht  als  Wort,  vorhanden.  Das  bloße  Wort  also  repräsentiert 
den  Begriff  nicht 

Man  behauptet  auch,  daß  dieses  Verständnis  etwa  eine  Masse 
von  dunkeln  Assoziationen  sei,  seien  es  Wortassoziationen 
oder  andere.  Das  ist  aber  ebenfalls  nach  dem  Protokoll  nicht  selbst- 
verständlich. Man  hört  nichts  von  solchen  im  Verständnis  Hegen- 
den Massen  von  Assoziationen,  obgleich  wohl  später  im  Suchen 
nach  einem  Reaktionswort  sich  viele  auf  einmal  aufdrängen  können. 
Das  folgende  Protokoll,  Vp.  III:  »Im  Verständnis  war  kein  An- 
haltspunkt zu  Assoziationen.  Dann  kam  die  Frage,  was  ist  denn 
eine  Arznei?'  Das  ging  nicht  Auch  mit  Veranschaulichungen 
ging  es  nicht.  Dann  ,was  für  eine  Arznei  gibt  es?'  (Wortvor- 
stellungen), und  damit  eine  Erinnerung  und  das  Reaktionswort«  — 
deutet  darauf  hin,  daß  das  Verständnis  eines  Begriffes,  wie  es  sich 
der  freien  Selbstbeobachtung  bietet,  etwas  anderes  ist  als  dunkel 
anklingende  Assoziationen  oder  eine  bestimmte  Anzahl  derselben. 
Doch  muß  hier  eine  Methode  der  experimentellen  Bestimmung  noch 
ausgebildet  werden.   Das  Protokoll  meiner  Versuche  reicht  leider 


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Experimentelle  Beitrüge  zu  einer  Theorie  des  Denkens.  435 

für  eine  begründete  Meinung  nicht  ans.  Eine  analysierende  Selbst- 
beobachtung in  dieser  Richtung  ist  äußerst  schwierig.  Das  wenige 
aber,  was  wir  haben,  und  die  Schwierigkeit  in  der  Behandlang  der 
Bewußtseinslagen  und  des  Bedeutungsbewußtseins  und  dergleichen 
in  der  Psychologie  im  allgemeinen  lassen  vermuten,  daß  viele 
Beschreibungen  dessen,  was  vor  sich  geht,  wenn  man  einen  Be- 
griff denkt,  dem  Vorgefundenen  nicht  entnommen  wurden,  sondern 
den  Forderungen  einer  Theorie  entsprechen  sollen,  oder  Kon- 
struktionen des  wahrscheinlichen  Verlaufs  der  Verarbeitung  der 
Erfahrung  sind.  Auch  die  Abhängigkeit  der  Begriffe  und  Urteile 
von  den  Worten  ist  angesichts  unserer  tatsächlichen  Kenntnis  viel 
zu  entschieden  ausgedruckt  worden1). 

Es  sind  wahrscheinlich  sehr  wenige  Personen,  die  einen  Be- 
griff irgendwie  psychologisch  vollziehen.  Wenn  man  einen  Be- 
griff denkt  und  darauf  die  Definition  und  alle  Merkmale  reprodu- 
ziert, so  fragen  wir:  inwiefern  ist  es  richtig,  dieses  Bewußtsein 
des  Begriffs  mit  den  zur  Definition  gebrauchten  Worten  und  dem 
während  der  Reproduktion  Erlebten  zu  identifizieren,  oder  alle  diese 
letzteren  in  das  Bewußtsein  des  Begriffes  realiter  zu  verlegen?  Wie 
wir  schon  erwähnt  haben,  ist  es  nicht  anzunehmen,  daß  die  später 
reproduzierten  Uber-  oder  untergeordneten  Begriffe  schon  immer 
im  Verständnis  des  Reizwortes  angedeutet  liegen,  obgleich  das 
doch  vorkommt  Ebensowenig  ist  es  selbstverständlich,  daß  »fttr 
das  Denken  des  Begriffs  des  Kreises,  welches  in  Urteilen  geschieht, 
das  Denken  des  Begriffs  des  Kreises  gänzlich  vollzogen  ist« 2).  Es 
kann  psychologisch  wohl  in  der  Absicht3)  schon  vollzogen  sein, 
als  eine  Reproduktion,  die  später  verstanden  wird,  und  die  in  dem 
ihr  anhaftenden  Sinne  der  logischen  Vollkommenheit  entspricht. 
Aber  wir  haben  noch  keinen  Grund,  die  Existenz  eines  einheit- 
lichen psychologischen  Analogons  des  logischen  Begriffs  anzunehmen, 
und  wir  wissen  psychologisch  so  gut  wie  nichts  von  der  Beschaffen- 
heit des  Bedeutungsbewußtseins,  das  ein  Begriffswort  begleitet. 

1]  Erdmann,  Logik.  S.  223 ff.  Binet  wül  Beispiele  für  wortloses 
Denken  bringen,  a.  a.  0.,  S.  106.  Die  Aufgabe  {force  directrice)  wäre  nach 
ihm  ein  sicheres  Beispiel. 

2  Stör  ring,  Zur  Lehre  von  den  Allgemeinbegriffen.  Phil.  Stud. 
Bd.  XX.  S.  335. 

3j  Volkelt,  Erfahrung  und  Denken.  S.  366.  Vgl.  Binet,  L'etude  ex- 
penmentale  de  lintelligence.  Binet  führt  dafür  das  Wort  >intentionisme« 
ein.  A.  a.  0.,  S.  164. 

28* 


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436  Henry  J.  Watt,  Experimentelle  Beitrüge  zu  einer  Theorie  de«  Denkens. 

Wenn  wir  jetzt  zu  der  allgemeinen  Vorstellung  zurück- 
kehren, dürfen  wir  fragen:  warum  spricht  man  ihr  die  Allgemein- 
heit oder  die  Funktion  der  Allgemeinheit  ab?  Die  Gesichts  Vor- 
stellung entspricht  Welleicht  nicht  ganz  der  Bestimmtheit  des 
logischen  Begriffs,  aber  sie  könnte  wohl  seine  Merkmale  reprodu- 
zieren, ebensogut  wie  eine  Wortvorstellung.  Sie  ist  sehr  wahr- 
scheinlich in  dieser  Hinsicht  psychologisch  ebenso  fähig,  wie  die 
Wortvorstellung,  und  es  kann  wohl  sein,  daß  die  allgemeine  Vor- 
stellung bei  vielen  Personen  oft  die  Rolle  einer  begrifflichen  Wort- 
vorstellung oder  noch  mehr  die  der  begrifflichen  Bewußtseinslage 
spielt,  und  daß  nur  die  einmal  eingeschlagene  Richtung  die  Bevor- 
zugung der  Worte  erklärt.  Es  ist  deshalb  wünschenswert,  daß 
möglichst  viele  Beispiele  dieser  Art  gesammelt  werden,  bis 
sich  unsere  Kenntnisse  genügend  erweitert  haben  werden.  Dann 
erst  werden  wir  genau  wissen,  ob  die  begriffliche  Bewußtseinalage 
für  das  Begriffswort  und  die  allgemeine  Vorstellung  eine  notwen- 
dige Rolle  spielt  und  inwiefern  die  stellvertretende  Funktion  der 
Erlebnisse  ein  eigentümliches  und  nicht  ganz  allgemeines  psycholo- 
gisches Merkmal  ist.  Es  scheint  uns,  daß  dies  aus  logischen  Über- 
legungen zu  sehr  als  Eigentümlichkeit  der  den  Begriff  begleiten- 
den Vorstellungen  gilt.  Um  so  mehr  ist  es  nötig,  alles  vom  Stand- 
punkt der  vorausgehenden  und  kontrollierenden  Vorbereitungen 
(Aufgaben)  zu  untersuchen1).  Wir  müssen  vor  allem  nicht  suchen, 
die  Beschaffenheit  psychischer  Zustände  aus  allgemeinen  Gründen 
zu  bestimmen,  sondern  nur  aus  der  vorgefundenen  Natur  der  sich 
unserem  Auge  bietenden  Gebilde  dürfen  wir  auf  etwaige  tiefer 
liegende  Bestimmungen  schließen.  Dabei  muß  man  sich  klar- 
machen, ob  man  nur  das,  was  man  erlebt,  klärt  und  ordnet,  oder 
ob  man  das  Erlebte  durch  die  Annahme  von  uns  unabhängiger  psy- 
chischer Gebilde,  deren  Wesen  und  Wirken  durch  unsere  Beobach- 
tung nicht  beeinflußt  wird,  zu  vervollständigen  und  zu  erklären 
sucht.   Das  tut  not. 


1)  Binet  nimmt  einen  ähnlichen  Standpunkt  ein.  Er  hat  sehr  wahr- 
scheinlich recht,  aber  der  Name  »intentionisme«  drückt  nicht  da«  Richtige 
ana  and  ist  jedenfalls  vorläufig  etwas  überflüssig. 

Eingegangen  am  15.  Mai  1904.) 


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UNTER  MITWIRKUNG 

vox 

Prof.  H.  HÖFFDING  in  Kopenhagen,  Prof.  F.  JODL  in  Wien, 
Prof.  A.  KIRSCHMANN  in  Toronto  (Canada),  Prof.  E.  KRAEPEHN 
in  München,  Prof.  O.  KÜLPE  in  Würzburg,  Dr.  A.  LEHMANN 
in  Kopenhagen,  Prof.  Th.  LIPPS  in  München,  Prof.  G.  MARTIUS 
ts  Kiel,  Prof.  G.  STÖRRING  in  Zürich,  Dr.  W.  WIRTH  in  Leipzig 

und  Prof.  W.  WUNDT  in  Leipzig 

HERAUSGEGEBEN  VON 

F.  MEUMANN 

o.  PROFESSUR  PER  PHILOSOPHIE  A.  D.  UNIVERSITÄT  ZI  R1CH 


IV.  BAND,  4.  HEFT 

MIT  VIER  FIOULIEN  IM  TEXT 


LEIPZIG 

VERLAG  VON  WILHELM  ENGELMANN 

1905 


Ausgegeben  am  21.  Februar  JHOö. 


Bemerkungen  für  unsere  Mitarbeiter. 

Das  Archiv  erscheint  in  Heften,  deren  vier  einen  Band  von 
etwa  40  Bogen  bilden. 

>Im  Interesse  einer  vollständigen  Berichterstattung  Uber  neue 
Erscheinungen  im  ganzen  Gebiet  der  Psychologie ,  psychologischen 
Erkenntnistheorie,  sowie  der  Anatomie  und  Physiologie  des  Nerven- 
systems und  der  Sinnesorgane  bittet  die  Redaktion  um  geh*.  Ein- 
sendung aller  Separatabzüge,  Dissertationen,  Programme,  Mono- 
graphien usw.  an  die  Adresse  der  Redaktion  Zürich  V,  Schmelz- 
bergstraße 53,  oder  an  die  Verlagsbuchhandlung  von  Wilhelm 
Engelmann,  Leipzig,  Mittelstraße  2.< 

An  Honorar  erhalten  die  Mitarbeiter:  für  Abhandlungen 
.,#30. — ,  für  Referate  Jt  40. —  für  den  Bogen.  Von  den  Abhand- 
lungen werden  an  Sonderdrucken  40  umsonst,  weitere  Exemplare 
gegen  mäßige  Berechnung  geliefert.  Von  den  Referaten  werden 
Sonderdrucke  nur  auf  Verlangen  geliefert.  Die  etwa  mehr  gewünschte 
Anzahl  bitten  wir,  wenn  möglich  bereits  aufdem  Manuskript  an- 
zugeben. 

Die  Manuskripte  sind  nur  einseitig  beschrieben  und  druckfertig 
einzuliefern,  so  daß  Zusätze  oder  größere  sachliche  Korrekturen 
nach  erfolgtem  Satz  vermieden  werden.  Die  Zeichnungen  für  Tafeln 
und  Textabbildungen  (diese  mit  genauer  Angabe,  wohin  sie  im  Text 
gehören)  werden  auf  besondern  Blättern  erbeten ;  wir  bitten  zu  beachten, 
daß  für  eine  getreue  und  saubere  Wiedergabe  gute  Vorlagen  uner- 
läßlich sind.  Anweisungen  für  zweckmäßige  Herstellung  der  Zeich- 
nungen mit  Proben  der  verschiedenen  Reproduktionsverfahren  stellt 
die  Verlagsbuchhandlung  den  Mitarbeitern  auf  Wunsch  zur  Verfügung. 
In  Fällen  außergewöhnlicher  Anforderungen  hinsichtlich  der  Ab- 
bildungen ist  besondere  Vereinbarung  erforderlich. 

Die  im  Archiv  zur  Verwendung  kommende  Orthographie  ist 
die  für  Deutschland,  Osterreich  und  die  Schweiz  jetzt  amtlich  ein- 
geführte, wie  sie  im  Du  den  sehen  Wort  erb  uch,  7.  Auflage,  Leipzig 
1902,  niedergelegt  ist. 

Die  Veröffentlichung  der  Arbeiten  geschieht  in  der  Reihenfolge, 
in  der  sie  druckfertig  in  die  Hände  der  Redaktion  gelangen,  falls 
nicht  besondere  Umstände  ein  spateres  Erscheinen  notwendig  machen. 

Die  Korrekturbogen  werden  den  Herrn  Verfassern  von  der  Ver- 
lagsbuchhandlung regelmäßig  zugeschickt ;  es  wird  dringend  um  deren 
sofortige  Erledigung  und  Rücksendung  (ohne. das  Manuskript)  an  die 
Verlagsbuchhandlung  gebeten.  Von  etwaigen  Änderungen  des  Aufent- 
halts oder  vorübergehender  Abwesenheit  bitten  wir,  die  Verlagsbuch- 
handlung sobald  als  möglich  in  Kenntnis  zu  setzen.  Bei  säumiger 
Ausführung  der  Korrekturen  kann  leicht  der  Fall  eintreten,  daß 
eine  Arbeit  für  ein  späteres  Heft  zurückgestellt  werden  muß. 

Die  Referenten  werden  gebeten, Titel,  Jahreszahl,  Verleger,  Seiten- 
zahl und  wenn  möglieh  Preis  des  Werkes,  bzw.  die  Quelle  bespro- 
chener Aufsätze  nach  Titel,  Band,  Jahreszahl  der  betreffenden  Zeit- 
schrift genau  anzugeben. 

Herausgeber  und  Verlagsbuchhandlung. 


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Uber  das  Gedächtnis  für  affektiv  bestimmte  Eindrücke. 

Von 

Dr.  Kate  Gordon. 

(Aus  dem  psychologischen  Institut  der  Universität  Würzburg.) 

Mit  zwei  Figuren  im  Text 


Während  die  experimentelle  Psychologie  im  allgemeinen  auf 
dem  Gebiete  des  Gedächtnisses  schon  ganz  bedeutende  Unter- 
suchungen Yorgenommen  hat,  ist  verhältnismäßig  sehr  wenig  über 
dag  sogenannte  affektive  Gedächtnis  oder  Uber  den  Einfluß,  welchen 
Lost  bzw.  Unlust  auf  die  Erinnerungsprozesse  ausübt,  gearbeitet 
worden.  Dies  ist  aber  in  keinem  Sinne  eine  einfache  Frage,  die 
man  a  priori  oder  auf  der  Stelle  beantworten  kann;  wir  können 
in  ihr  z.  B.  die  folgenden  Probleme  isolieren:  1)  Gibt  es  ein  rein 
affektives  Gedächtnis?  2)  Haben  die  Erinnerungsprozesse  als 
solche  einen  affektiven  Ton  —  sind  sie  angenehm  oder  unange- 
nehm? 3)  Ist  die  Erinnerung  an  angenehme  Erfahrungen  selbst 
eine  erfreuliche  Erinnerung  oder  nicht?  4)  Hat  die  affektive  Be- 
tonung eines  Eindrucks  einen  nachweisbaren  Einfluß  auf  die  Er- 
innerung an  ihn  in  bezug  auf  die  Leichtigkeit,  die  Genauigkeit, 
die  Dauerhaftigkeit  solcher  Erinnerung  usf.?  Man  könnte  weiter 
mit  einem  affektiv  betonten  Material  alle  schon  entdeckten  Gesetze 
des  Gedächtnisses  von  neuem  prüfen.  Das  Verhältnis  zwischen  Ge- 
dächtnis und  Affekt  ist  also  kein  einfaches.  Die  folgenden  Versuche 
bieten  einen  kleinen  Beitrag  zur  Lösung  eines  dieser  Probleme 
dar.  Sie  beschränken  sich  auf  eine  Frage  aus  dem  Gebiete  der 
visuellen  Erfahrungen,  ob  nämlich  die  Annehmlichkeit  bzw. 
Unannehmlichkeit  gewisser  visueller  Erlebnisse  einen 
Einfluß  auf  die  Genauigkeit  der  Erinnerung  an  diese 
Erlebnisse  hat. 

Die  Auswahl  des  Materials  für  einen  solchen  Versach  mußte 
aus  zwei  Gründen  eine  gewisse  Schwierigkeit  darbieten:  erstens 

Arthir  für  Piycholotfo.   IV.  29 


438 


Kate  Gordon, 


weil  eine  genügend  schwierige  Aufgabe  fürs  Gedächtnis  zn  stellen, 
und  zweitens  weil  eine  wirklich  affektive  Betonung  zu  sichern 
war.  Als  solches  Material,  d.  h.  als  Objekt  der  Erinnerung  haben 
wir  Reihen  von  Bildern  gebraucht,  und  um  die  Wirkung  dieser 
Bilder  auf  das  Gedächtnis  zu  prüfen,  haben  wir  genaue  wörtliche 
Beschreibungen  derselben  von  den  Versuchspersonen  zu  Protokoll 
geben  lassen. 

I.  Erste  Versuchsanordnung. 

Die  erste  Versuchsanordnung  wurde  folgendermaßen  vorge- 
nommen. Die  Vp.  saß  2  Meter  von  einem  großen  grauen  Schirm 
entfernt  und  schaute  in  eine  vierseitige,  in  dem  Schirm  befindliche 
Öffnung  von  17  x  17  cm  hinein.  Eine  Reihe  Figuren  wurden  eine 
naeh  der  andern  für  je  3  Sekunden  gezeigt.  Die  Experimente 
wurden  bei  Tageslicht  ausgeführt  und  deswegen  bei  wechselnder 
Helligkeit.  Zur  Feststellung  des  Tempos  diente  eine  Weckeruhr, 
nach  der  die  Karten,  worauf  die  Figuren  gezeichnet  waren,  rasch 


der  richtig  erinnerten  Punkte  in  jedem  Bilde  zu  bestimmen.  Jede 
unabhängige  Tatsache  oder  Bestimmung,  die  die  Vp.  bemerkt  und 
wiedergegeben  hatte,  d.  h.  jeder  Punkt,  der  mir  als  klares  selb- 
ständiges Moment  im  Bewußtsein  zu  sein  schien,  wurde  als  eins 
gerechnet,  und  je  größer  die  Zahl  solcher  richtig  angegebenen  Punkte 
war,  als  desto  besser  oder  genauer  wurde  die  Erinnerung  an  das  Bild 
gerechnet.  Als  Beispiel  einer  solchen  Schätzung  nehmen  wir  Figur  1, 
deren  Farben  rot  und  gelb  waren,  und  ihre  Beschreibung  von  Vp.  D. 


exponiert  und  wieder  entfernt 
wurden.  Nach  jeder  Expo- 
sition mußte  Vp.  sagen,  was  sie 
gesehen  und  erlebt  habe.  Die 
Vp.  gab  es  mündlich  an,  und 
Verf.  schrieb  das  Protokoll, 
welches  sie  danach  der  Vp.  zur 
Kontrolle  vorlas. 


Fig.  1. 


Znr  Schätzung  der  so  ge- 
wonnenen Protokolle  ist  mir 
kein  besseres  Mittel  eingefallen, 
als  ein  willkürlicher  Uberschlag 
der  in  jeder  Beschreibung  ent- 
haltenen Faktoren,  um  die  Zahl 


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Über  das  Gedächtnis  für  affektiv  bestimmte  Eindrücke.  439 

Vp.  D.  sagte:  > Angenehm.  Ein  schiefstehendes  Kreuz,  dessen 
Balken  nicht  gleich  dick  waren,  sondern  in  der  Mitte  schmäler 
wurden.  Das  Kreuz  war  goldgelb  and  der  Hintergrund  rot.  Das 
ganze  Bild  war  viereckig.  Es  waren  vier  rote  Dreiecke,  die  die 
vom  Kreuz  gebildeten  Winkel  ausfüllten.  Angenehm  wirkte  die 
leuchtende,  gesättigte  Beschaffenheit  der  Farben,  besonders  das 
leuchtende  Goldgelb.  Die  Zusammenstellung  der  Farben  war  an- 
genehm, sie  erinnerte  an  Sonnenstrahl  und  Morgenrot.« 

Die  Ausnutzung  dieses  Protokolls  ergab: 
I.  Als  Zahl  der  richtig  angegebenen  Punkte  10,  nämlich 

1)  ein  Kreuz, 

2)  daß  es  ein  schiefstehendes  ist, 

3)  die  Balken  waren  nicht  gleich  dick,  d.  h.  sie 
wurden  schmäler, 

4)  sie  wurden  in  der  Mitte  schmäler, 

5)  das  Kreuz  war  gelb, 

6)  die  Farbe  wurde  weiter  bestimmt  als  leuchtendes 
Goldgelb, 

7)  das  ganze  Bild  war  viereckig, 

8)  das  Kreuz  bildete  mit  dem  Hintergrunde  Dreiecke, 

9)  diese  betrugen  vier, 

10)  und  waren  rot1).  , 
II.  Als  Assoziation  haben  wir 

1)  die  Erinnerung  an  Sonnenstrahl  und  Morgenrot. 
III.  Als  Grund  des  Gefallens 

1)  Beschaffenheit  der  einzelnen  Farben, 

2)  Zusammenstellung  der  Farben. 

Dreißig  solche  farbige  Figuren  wurden  gezeigt.  Da  die  Figuren 
nicht  alle  gleich  schwierig  in  ihrer  Auffassung  erschienen,  haben 
die  Vp.  nachträglich  die  Bilder  nach  der  Geläufigkeit  der  Wahr- 
nehmung in  drei  Klassen  geteilt.  Als  Vp.  dienten  die  folgenden, 
denen  ich  hier  meinen  Dank  ftir  ihre  Freundlichkeit  ausdrücken 

1)  Diese  Schätzung  ist,  wie  schon  gesagt,  ein  willkürlicher  Überschlag. 
Die  ganze  Aufgabe  ist,  zu  sagen,  welche  Punkte  als  unabhängige  Einzel- 
heiten zählen  sollen.  Ich  habe  versucht,  alle  modifizierenden  Wörter  zu 
rechnen,  nur  mußte  ich  mich  in  acht  nehmen,  denselben  Punkt  nicht  zweimal 
zu  zählen;  denn  es  kam  oft  vor,  daß  die  Vp.  denselben  Inhalt  in  andern 
Wörtern  wiederholte,  oder  daß  sie  einen  Punkt  bezeichnete,  der  in  einem 
andern  angerechneten  notwendigerweise  eingeschlossen  war. 

29* 


Digitized  by  Google 


440 


Kate  Gordon, 


möchte:  Herrn  Prof.  Kttlpe  bezeichne  ich  als  Vp.  K.,  Herrn  Dr. 
Dtlrr  als  D.,  Herrn  Dr.  Scheunert  als  S.,  Herrn  Dr.  Abbott 
als  A.,  Herrn  Dr.  Watt  als  W.,  Fräulein  Dr.  Nanu  als  N.,  and 
Fräulein  Remick  als  R.  Die  ersten  drei  Vp.  sind  Deutsche. 
A.  und  B.  Amerikaner,  W.  Schottländer  und  N.  Rumänin.  Alle 
hatten  vorher  als  Vp.  gedient,  und  die  vier  ersten  waren  schon 
in  ästhetischen  Versuchen  geübt.  Die  Experimente  fanden  im 
Wintersemester  1903—04  im  psychologischen  Institut  in  Wunburg 
statt,  und  es  ist  mir  ein  Vergnügen,  Herrn  Professor  Kttlpe  für 
die  freundlichste  Förderung,  die  er  mir  in  jeder  Richtung  gegeben 
hat,  zu  danken. 

Die  folgende  Tabelle  I  zeigt  die  zusammengestellten  Resultate 
von  drei  Vp.,  denen  ich  sämtliche  Bilder  der  Reihe  nach  vor- 
zeigte. Die  drei  Klassen  L  Schwer,  II.  Mittelschwer,  HL  Leicht 
entsprechen  der  Schwierigkeit  der  Auffassung  der  Bilder. 

Tabelle  I. 


Vp. 

Gefällig 

Indifferent 

Mißfällig 

n 

M 

mV 

n 

M 

mV 

n 

M 

mV 

L 

Schwere  < 

|W. 

2 
3 

10,5 
8 

0,5 
1,3 

1 
0 

8 

3 
2 

8,1 

0,8 
2 

Kluse 

!  D. 

4 

10,7 

1,2 

0 

4 

Summa 

9,7 

1  II 

8,3 

1,4 

II. 

w.l 

.0 

12,2 

2,4 

4 

9,2 

0,8 

1  2 

12,5 

0.5 

Mittlere 

S. 

6 

8,6 

1,6 

8 

9,7 

1,7 

1 

8 

Klasse 

D.ü  5 

11,6 

2,9 

3 

13 

2,6 

8.6 

1,9 

Summa 

10,8 

2,2 

l  _ 

10,6  , 

1,7 

9.7 

u 

UL 

r  W. 

4 

14,5 

2,2 

1 

7 

0 

Leichte 

3 

8.3 

1,5 

6 

9 

1,6 

13 

Klasse 

D. 

4 

8,2 

0.7 

2 

9.5 

0,5 

1 

8,5 

Summa 

110,1 

1,4 

: 

8,5 

I 

:  i 

Die  erste  vertikale  Zahlenreihe  gibt  unter  n  die  Zahl  der  Experi- 
mente, die  zweite  unter  M  die  Durchschnittszahlen  der  jeweils 
erinnerten  Punkte,  und  die  dritte  unter  m  V  die  mittlere  Variation 
in  diesen  Werten  an.  Wir  sehen  in  der  schweren  Klasse,  daß 
die  »gefälligen«  Figuren  durchschnittlich  9,7  erinnerte  Punkte  ge- 
liefert haben,  die  »mißfälligen«  8,H,  daß  dieser  Unterschied  aber 


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über  das  Gedächtnis  für  affektiv  bestimmte  Eindrücke.  441 

durch  die  Schwankungen  wieder  ausgeglichen  wird.  Wir  können 
hier  keine  Vergleichung  mit  den  »indifferenten«  Figuren  vornehmen, 
weil  von  Vp.  S.  und  D.  keines  von  den  schweren  Bildern  als 
gleichgültig  bezeichnet  wurde.  In  der  mittleren  Klasse  finden  wir 
für  die  gefalligen  10,8,  die  indifferenten  10,6,  und  die  mißfälligen  9,7, 
die  gleichfalls  bei  der  Berücksichtigung  der  mV  nicht  als  von- 
einander wesentlich  verschieden  gelten  können. 

Drei  Wochen  nach  der  ersten  Exposition  wurden  diese  Bilder 
noch  einmal  gezeigt  und  dieselbe  Aufgabe  gestellt.  Damit  die  Vp. 
nicht  von  vornherein  sicher  wären,  eine  bestimmte  Figur  schon 
gesehen  zu  haben,  habe  ich  bei  den  Wiederholungen  immer  ganz 
neue  Figuren  in  die  Reihen  gemischt  Die  folgende  Tabelle  Ia 
gibt  die  erreichten  Resultate: 


Tabelle  Ia  (Wiederholungen)1). 


Vp- 

Gefälli 

g  Indifferent 

i 

Mißfällig 

n 

31 

mV\ 

n 

M 

mV 

n 

M 

mV 

I.     /  w. 
Schwere  {  S. 
Klasse  (  D. 

0 
0 
4 

11.1 

0,4 

1 
0 
0 

11,6 

l 

0 

12 

12 

2 

Summa 

i  1 

_ 

1  II 

IL     /  W. 
Mittlere  I  S. 
KlasBe  (  D. 

5 
5 
4 

13,6 
13,8 
11,7 

1,6 
1,7 
1,1 

3 
5 
3 

9,8 
13,6 
11 

3,1 
1,8 
1 

1 
1 
1 

13 
10 
7 

Summa 

13 

M  || 

11,4 

1,9 

10 

III.    /  W. 
laichte  <   S.  ! 
Klasse  (  D.  , 

6 
2 

16 

12,6 
9 

1,4 
1 

!  i 

:J 

12 

10,7 

11 

1,7 

0 
0 

2 

10,5 

2,6 

Summa  \         |  12,5  |    1,4  j         |  11,2  j| 


Da  die  Zahl  der  Versuche  nicht  genügte,  habe  ich  50  andere 
Bilder  angefertigt.  Diese  waren  von  ähnlicher  Natur  und  Schwierig- 
keit wie  die  früheren,  nur  waren  sie  ohne  Farben,  einfach  schwarz 
und  weiß.  Die  Resultate  sind  in  den  Tabellen  II  und  IIa  mit- 
geteilt. 


1)  Mehrere  Versuche  fehlen  hier,  weil  die  Vp.  nicht  an  den  richtigen, 
ftlr  die  Wiederholungen  angesetzten  Tagen  kommen  konnten . 


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442 


Kate  Gordon. 


Tabelle  IL 


Vp. 

Gefällig 

Indifferent 

MißfSllif 

n 

M 

Af 

mV 

!  n 

M 

mV 

I. 

Schwere  < 
Klasse 

'  K. 

11 

«/,»> 

9  7 

77 

07 

0 

I  W. 
1  D- 

>  s. 

8 
9 
6 

12 
9,7 
11,8 

1.2  1 

i,7  : 

2,2 

7 

3 

1  3 

10,4 

8,3 
9,3 

1,7 
0,4 
1,7 

0 
0 

1 

9 

Summa 

Inn 

1,9 

u  u 

8,9 

1 

II.  1 
Mittlere  « 
Klasse 

'  K. 

14 

10 

a  v/ 

2 1 

4 

9 

0,5 

5 

6 

W. 

4 

10,2 

1,7 

8 

9,6 

2,2 

1 

12 

1? 

11 

1 

7 

8,2 

1,6 

3 

9,6 

1,1 

\i 

8,2 

2,8 

8,7 

2,9 

1 

8 

Summa  |j 

93 

1,9  ' 

8,8 

i»  | 

8.9 

ra.  | 

Leichte  • 
Klasse  i 

'  K. 

o 

6 

11 

1,8 

I 

10 

9,9 

i  W. 

5 

12 

0,8 

3 

10 

0,6 

0 

1  D. 

3 

12,3 

1,6 

5 

8 

1.6 

1 

8 

i  s. 

4 

9,7 

2,1 

5 

7,6 

1,1 

4 

.9,7 

3i 

Summa  |  |   9,1  !    1,2  j 


Die  Versuche  wurden  mit  zwei  Vp.  wiederholt.  Die  Resul- 
tate sind  in  Tabelle  IIa  zusammengestellt 


Tabelle  IIa  (Wiederholungen). 


Vp. 

Gefällig 

1 

Indifferent 

Mißfällig 

n 

M 

mV 

n 

M 

mV 

n 

M 

mV 

I.  Schwere  j  K. 
Klasse   j  S. 

7  12 
4  16 

4 

2,5 

2 
3 

11 

15,3 

1,4 

1 

1 

14 

15 

Summa  || 

14     |  3,2 

13,1      0,7  j 

14,6 

II.  Mittlere  (K. 
Klasse    j  S. 

8 
8 

11,7 
13,6 

2,2 
3 

6 
6 

12 
10,1 

2,3 
1,8 

5 

11,2 

\* 

Summa 

12,6  2,6 

1  * 

11    |  2  5 

1 

III.  Leichte  JK.1;  1 
Klasse    )S.|.  2 

14 
12 

1 

2 

1  2 

12 
10 

4 
1 

'  10 
6 

12,8 
12,6 

LS 
2.6 

Summa 

13 

II 

11 

2,5  ||         ;  12,7  |  2i 

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Über  das  Gedächtnis  fUr  affektiv  bestimmte  Eindrücke.  443 

Nach  diesen  Tabellen  I,  Ia,  II,  IIa  müssen  wir  entscheiden, 
daß  kein  wesentlicher  allgemeiner  Unterschied  der  M 
zwischen  den  gefälligen,  mißfälligen  nnd  gleichgültigen 
Klassen  bei  nnsern  Versnchen  erkennbar  ist  Aber  bei  diesen 
Versuchen  haben  sich  folgende  Schwierigkeiten  geltend  gemacht: 
Erstens  fehlte  ein  objektives  Kriterium  dafür,  daß  die  Zahl  der 
möglichen  Punkte  oder  die  Komplexität  der  verschiedenen  Bilder 
vergleichbar  ist  Zweitens  sind  diese  Punkte  von  ganz  verschie- 
dener Art  und  möglicherweise  verschiedener  Wichtigkeit  Drittens 
wurden  die  Bilder  in  ihren  apperzeptiven  Verhältnissen  und 
ihren  assoziativen  Möglichkeiten  sehr  verschieden  empfunden. 
Viertens  ist  es  vorgekommen,  daß  zwei  Figuren,  obwohl  sie  in 
andern  Beziehungen  ganz  gut  vergleichbar  waren,  ganz  unähnlich 
in  bezug  auf  die  Schwierigkeit  ihrer  Beschreibung  sein  konnten. 
Das  Suchen  nach  richtigen  Wörtern  und  das  Streben,  passende 
Ausdrücke  zu  finden,  können  große  Unterschiede  in  die  Erleb- 
nisse der  Vp.  hineinbringen.  Um  diesen  Einwänden  gegen  die 
Methode  zu  begegnen,  habe  ich  weitere  Versuche  mit  der  folgenden 
Einrichtung  unternommen. 

II.  Zweite  Versuchsanordnung. 

Diese  Experimente  fanden  im  Dunkelzimmer  mit  Hilfe  eines 
Projektionsapparats  statt.  Die  Beleuchtung  des  visuellen  Feldes 
war  deswegen  viel  gleichförmiger  geworden.  Anstatt  einer  Expo- 
sition von  drei  Sekunden  wurden  die  Figuren  diesmal  nur  eine 
Sekunde  gezeigt.  Bei  einer  Exposition  von  drei  Sekunden  hatte 
die  Aufmerksamkeit  zu  viel  Gelegenheit  zu  Abschweifungen,  auch 
kamen  bei  dieser  Expositionszeit  zu  wenig  Fehler  vor,  d.  h.  die 
Eindrücke  waren  so  vollständig,  daß  verhältnismäßig  wenig  ver- 
gessen wurde  und  bei  den  Wiederholungen  fast  alle  Figuren  so- 
fort wiedererkannt  wurden,  ohne  den  möglichen  Unterschieden 
einen  freien  Spielraum  zu  erlauben. 

Als  Material  der  Erinnerung  brauchte  ich  solche  Formen  wie  um- 
stehende Figur  2.  40  vierseitige  Karten  waren  in  genau  übereinstim- 
mender Form  in  neun  quadratische  Felder  geteilt,  aber  für  jede  Karte 
war  eine  verschiedene  Farbenzusammenstellung  arrangiert  Die  Kar- 
ten waren  aus  Pappbrett  und  die  ausgeschnittenen  Felder  mit  farbigen. 
Gelatineplättchen  überzogen.   Das  vergrößerte  Bild  dieser  farbigen 


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444 


Kate  Gordon, 


r  i 

Fig.  2. 


Felder  wurde  vom  Projektionsapparat  auf  einen  Schirm  geworfen. 
Für  diese  Farbenkombinationen  wurden  nur  sieben  verschiedene 
Farben  gebraucht,  leicht  erkennbare  Nuancen  von  Rosa,  Rot, 
Orange,  Gelb,  Grün,  Blau  und  Violett.  In  jeder  einzelnen  Figur 
wurden  gewöhnlich  nur  drei  bis  vier  verschiedene  Farben  ange- 
wandt. Die  Vp.  saß  7  Meter  weit  von  dem  Schirme,  und  das  ganze 
Bild  maß  in  seinen  Diagonalen  1,15  Meter.  Diese  Verhältnisse  gaben 
als  Gesichtswinkel  9,4°.  Um  zu  finden,  ob  dies  ftlr  die  Vp.  zu 
groß  sei,  um  alles  ganz  deutlich  in  einer  Sekunde  zu  sehen,  wurde 
jede  der  sieben  Farben  in  jeder  von  den  vier  äußersten  Stellungen, 
d.  h.  den  vier  Ecken,  für  je  eine  Sekunde  gezeigt.  Die  Vp.  mußten 
den  Mittelpunkt  fixieren  und  haben  dabei  im  indirekten  Sehen  alle 
Farben  leicht  erkannt.  Ein  mit  Leuchtfarbe  bestrichener  Fleck  anf 
dem  Schirm  diente  durch  den  ganzen  Versuch  als  Fixationspunkt. 
Das  Tempo  wurde  mit  einem  photographischen  Sekundenverschlusse 
reguliert,  und  diese  Vorrichtung  vor  und  nach  jeder  Stunde  nach 
den  Schlägen  eines  auf  eine  Sekunde  eingestellten  Metronoms  ge- 
prüft. Die  Aufgabe  blieb  dieselbe:  die  Vp.  mußte  nach  Vor- 
zeigung jeder  Kombination  sagen,  ob  sie  die  Zusammenstellung 
angenehm,  unangenehm  oder  gleichgültig  finde,  und  dann  die  ge- 
sehenen Farben  nennen  und  ihre  Stellungen  angeben.  Um  nun 
die  Schwierigkeiten  der  wörtlichen  Beschreibung  für  alle  Vp.  mög- 
lichst gleich  zu  machen,  habe  ich  die  einzelnen  Farben  zuerst 
gezeigt  und  bin  mit  den  Vp.  einig  geworden,  wie  sie  die  Nuancen 
nennen  und  mit  welchen  Wörtern  sie  die  verschiedenen  Stellen 
andeuten  sollten.    Wir  haben  sie  folgendermaßen  bezeichnet: 


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Über  das  Gedächtnis  für  affektiv  bestimmte  Eindrücke.  445 


Links 

Mitte 

Rechts 

oben 

oben 

oben 

w    *  1 

Links 

Rechts 

Mitte 

Zentrum 

Mitte 

Links 

Mitte 

Rechts 

unten 

unten 

unten 

Auf  diese  Weise  konnten  alle  Beschreibungen  in  denselben 
Ausdrucken  und  in  streng  vergleichbarer  Form  gemacht  werden. 
Eine  von  Vp.  E.  gegebene  Beschreibung  lautet  z.  B.:  »Gefällig. 
Zentrum  orange,  rechts  Mitte  orange,  links  Mitte  rosa,  Mitte  unten 
und  Mitte  oben  erschienen  orange,  links  unten,  glaube  ich,  blau. 
Anordnung  undurchsichtig.  Farbenzusammenstellung  und  einzelne 
Farben  gefallig.   Auffassung  schwierige 

Die  Anordnung  bei  diesem  Versuch  zeigt  folgende  Vorzüge 
gegenüber  der  vorhergehenden:  Nicht  nur  sind  die  äußeren  Be- 
dingungen, d.  h.  die  Beleuchtung  und  die  Dauer  der  Exposition 
konstanter,  auch  die  Natur  der  Aufgabe  selbst  ist  gleichförmiger 
geworden.  Die  allgemeine  Form  der  Figur  und  die  Form,  Zahl, 
Größe  und  Einrichtung  der  Einzelfelder  bleiben  konstant.  Die 
Außwahl  der  Farben  ist  geringer  geworden,  und  die  Art  der  Proto- 
kollierung gleichmäßiger  und  einfacher. 

Bei  der  Ausnutzung  dieser  Protokolle  sind  die  folgenden  Regeln 
beobachtet  worden : 

1)  Jede  Farbe,  die  richtig  genannt  und  lokalisiert  wird,  zählt 
drei  Punkte,  einen  für  den  richtigen  Namen,  einen  für  die 
richtige  horizontale  Reihe  und  einen  für  die  richtige  verti- 
kale Reihe.  So  konnten  für  jede  Figur  27  Punkte  in  Be- 
tracht kommen. 

2)  Wenn  man  eine  Farbe  richtig  genannt,  aber  die  Stelle  falsch 
angegeben  hatte,  wurde  nur  ein  Punkt  gerechnet. 

3)  Wenn  die  richtige  Farbe  in  die  richtige  Reihe,  vertikal  oder 
horizontal,  lokalisiert  worden  war,  so  galt  dies  zwei  Punkte. 


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446 


Kate  Gordon, 


4)  Die  vierte  Regel  bezieht  sich  auf  die  Ähnlichkeit  zwischen 
Rosa  und  Rot,  Blan  und  Violett,  Gelb  nnd  Orange.  Wenn 
Rot  mit  Rosa,  Blan  mit  Violett  verwechselt  wurde  (z.  B.  statt 
Orange  die  Vp.  Gelb  für  die  betreffende  Stelle  angab),  so 
habe  ich  dies  als  zwei  Punkte  gerechnet,  weil  Vp.  die  rich- 
tige Stelle  für  die  Farbe  angegeben,  aber  nicht  die  rich- 
tige Nuance  bezeichnet  hat. 

Unter  Beachtung  dieser  Regeln  sind  Tabelle  III  und  HI  a  ge- 
wonnen. Die  Resultate  sind  nach  den  zu  Protokoll  gegebenen 
Urteilen  Uber  die  Schwierigkeit  der  Auffassung  in  zwei  Klassen 
geteilt.  Die  Reihe  von  40  Figuren  wurde  mit  fünf  Vp.  durch- 
geführt. 


Tabelle  III. 


Vp. 

Gefällig 

Indifferent  ' 

Mißfällig 

n 

M 

mV 

w 

M 

mV 

n 

M 

mV 

s. 

10 

20 

5 

1  15 

20 

6 

I.      i  A. 
Schwere  <  K. 
Klasse  j  R. 

\  n.  ; 

1 
14 
11 

6 

13,5 
14,4 
21 
14,1 

2,5 
2,7 
2,5 
2,7 

0 

!  8 
0 
4 

13 
15,7 

1,8 
3,7 

1  6 
2 
9 
9 

i 

15,3 
10,5 
20,6 
15,6 

3,2 
3,5 
2,6 
4,6 

Summa1}  | 

15,7 

2.*  Ii  1 

1  15,5 

3,4 

S. 

3 

22,6 

5,8 

• 

21,2 

5,9 

n.    i  a. 

Leichte  l  K. 
Klasse  j  R. 
'  N. 

11 

6 
12 
7 

23,4 
19,8 
24,8 
23,5 

3 

2.1 
2,2 

2,5 

4 
4 

2 
6 

23 
19,2 
24 
18,8 

2,5 
1,2 
1 

2,8 

9 

'  1 
6 

5 

22 
24 
25,5 
21,2 

8,1 
2 

4,1 

Sauima1;  j 

22.8 

2.4 

21,2 

W  Ii 

23,1 

Eine  Woche  später  wurden  dieselben  Figuren  wieder  gezeigt 
und  von  vier  Vp.  beschrieben. 


l;  Ohne  Vp.  S.  Um  eine  durchschnittliche  Vergleichung  der  verschie- 
denen Vp.  zu  machen,  müssen  wir  Vp.  S.  auslassen,  weil  die  mißfälligen 
Fälle  bei  ihr  fehlen.  Ihre  Resultate  flir  die  gefälligen  und  indifferenten 
Fälle  stimmen  mit  denen  der  andern  Vp.  Qberein. 


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Über  das  Gedächtnis  für  affektiv  bestimmte  Eindrücke.  447 


Tabelle  Iüa  (Wiederholungen). 


Vp. 

Gefällig 

1  .  Indifferent 

Mißfällig 

n 

J/ 

«/ 1' 

M 

mV 

n 

3f 

mV 

(a 

Schwere  l  ^ 
Klasse  R 

n 

Ö 

8 

3 

23 
20,4 
14,7 
22 

4,2 
4,7 
2,5 

16 

3 
6 

25,4 

16 

13,6 

1,9  ! 

5,6 
2,1 

5 

\  6 
1  5 

20,6 

13 

21,8 

2,4 
3,6 
2,6 

Summa  [ohne  R.) 

19,3 

3,8  , 

18,3 

3,2 

Snmma  (ohne  S.) 

19 

I 

1  II 

18,4 

2,8 

»•  (!: 

Leichte  <  — 

Klasse  f  ™ 

\  R. 

7 

15 
!  13 

1  « 

26,5 
25,2 
19,9 
24,8 

0,6 
1,6 
1,9 
2,1 

5 
3 
6 

26,2 

25 

19,3 

1,1 
2,6 

2,1 

7 
1 

15 

26,5 

22 

26,6 

0,7 
0,7 

Summa  (ohne  R.) 

23,8 

1,3 

23,5 

1,6 

Summa  (ohne  S.) 

23,3 

1,8 

; 

26 

Bei  Vp.  S.  fehlen  hier  die  mißfalligen  und  bei  Vp.  R.  die 
indifferenten  Fälle,  und  wir  können  deswegen  nicht  einen  allge- 
meinen Durchschnitt  aufstellen,  aber  die  Resultate  von  diesen  Vp. 
stimmen,  soweit  sie  reichen,  mit  denen  der  andern  Uberein.  In 
den  Tabellen  III  nnd  lila  können  wir  ebensowenig  wie  in 
den  vorhergehenden  einen  wesentlichen  Unterschied 
zwischen  den  gefälligen,  mißfälligen  und  indifferenten 
Fällen  entdecken. 

III.  Nebenergebnisse. 

Die  Erforschung  der  Genauigkeit  der  Erinnerung  ist  bei  diesen 
Versuchen  die  Hauptsache  gewesen,  aber  aus  den  Protokollen  ist 
auch  eine  Reihe  anderer  Ergebnisse  zu  ersehen.  Die  Vp.  haben 
nicht  nur  ihre  ästhetischen  Urteile  und  ihre  Beschreibungen  zu 
Protokoll  gegeben,  sondern  auch  sonstige  Erlebnisse,  die  sie  ge- 
habt hatten,  z.  B.  Assoziationen  »),  die  Motive  des  ästhetischen  Ur- 
teils, und  bei  den  Wiederholungen  haben  sie  gesagt,  ob  die 
Figuren  wohlbekannt  oder  neu  waren,  nnd,  wenn  bekannt,  welches 
affektive  Urteil  sie  früher  abgegeben  zu  haben  glaubten. 

1)  Anf  S.  439  ist  der  Fall  von  Vp.  D.  schon  erwähnt. 

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448 


Kate  Gordon, 


1)  Die  folgenden  Prozente  deuten  die  Rolle  an,  die  der 
assoziative  Faktor  gespielt  hat,  d.  h.  die  Zahlen  geben  in  Pro- 
zenten der  Figurenzahl  die  Fälle  merklicher  Assoziationen. 
Diese  Tabelle  beruht  nur  auf  den  früheren  Versuchen,  weil  der 
assoziative  Faktor  bei  den  späteren  fast  ganz  zurücktrat.  Dabei 
habe  ich  die  Fälle,  in  denen  die  vorgezeigten  Figuren  Erinnerungs- 
bilder reproduzierten  (in  der  Tabelle  kurz  »Erinnerungsbilder« 
genannt),  von  denen  gesondert,  in  denen  sie  Wortvorstellungen 
anregten  (in  der  Tabelle  kurz  »Wortvorstellungen«  genannt). 


Tabelle  IV. 


Gefällig 

Indifferent 

Mißfällig 

Vp. 

Er- 

Wortvor- 
stellungen 

Er- 

Wortvor- i 
Stellungen  • 

Er- 

Wortvor- 
stellungen 

innerungs- 
bilder 

innerungs- 
bilder 

innerungs- 
bilder 

— 

K. 

S. 

w. 

D. 

80* 
125  s 
35  *r 
58  s 

129  s 
37  s 

14  s 
80  s 
42  s 
40* 

bis 

(K)S  ; 

33* 
150  s 

25s 

125  s 

Bei  den  Wiederholungen: 

K. 

S. 

93* 
114  s 

l 

30s 
81  s 

31* 
100  s 

Es  ist  hier  gar  keine  durchgehende  Tendenz  zu  finden.  Bei 
Vp.  K.,  W.  und  D.  haben  die  gefälligen  und  bei  Vp.  S.  die  miß- 
fälligen die  größte  Anzahl  der  Assoziationen.  Bei  W.  haben  die 
gefälligen  weniger  Erinnerungsbilder,  aber  mehr  Wortvorstellungen 
erregt,  und  bei  D.  ist  diese  Tendenz  umgekehrt  Wir  bemerken 
aber  bei  W.  und  D.  zugleich  ein  interessantes  Verhältnis  zwischen 
Erinnerungsbildern  und  Wortvorstellungen:  sowie  die  Zahl  der 
einen  sich  vergrößert,  vermindert  sich  die  Zahl  der  andern 


1  Jedenfalls  wird  man  hiernach  nicht  ohne  weiteres  sagen  dürfen,  daß 
Lust  die  assoziativen  Funktionen  fördere,  während  Unlust  sie  hemme. 


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Über  das  Gedächtnis  für  affektiv  bestimmte  Eindrucke.  449 

2)  Die  Gründe  des  Gefallens  und  Mißfallens  lassen  sich  unter 
die  folgenden  Kategorien  bringen: 

a)  Gründe  des  Gefallens: 

1)  Beschaffenheit  der  einzelnen  Farben:  Nuance,  Glanz, 
Sättigung1)  und  emotionelle  Stimmung. 

2)  Zusammenstellung  der  Farben. 

3)  Geschickte  Zeichnung. 

4)  Symmetrie  und  Einheit  der  Figur. 

5)  Regelmäßigkeit. 

6)  Unregelmäßigkeit  unter  Umständen. 

7)  Bedeutung  oder  Inhalt  —  assoziativer  Faktor. 

8)  Neuheit. 

9)  Wiedererkennen. 

b)  Gründe  des  Mißfallens: 

1)  Beschaffenheit  der  einzelnen  Farben:  bestimmte  Nuancen 
wurden  ohne  weiteres  mißfällig  gefunden,  Vp.  S.  schätzt 
z.  B.  Orange  nicht 

2)  Zusammenstellung  der  Farben. 

3)  Unbestimmtheit  der  Form. 

4)  Unregelmäßigkeit. 

5)  Sinnlosigkeit «). 

3)  Das  Wiedererkennen  der  früher  gesehenen  Figuren  ist 
gleich  gut  für  die  gefälligen,  mißfalligen  und  gleichgültigen.  Bei 
den  ersten  Versuchen  wurden  fast  alle  Bilder  sofort  wieder- 
erkannt; bei  der  späteren  Anordnung,  wo  die  Figuren  von  gleicher 
Form  waren,  wurden  fast  alle  vergessen,  und  weder  in  dein 
leichteren  noch  im  schwereren  Falle  gab  es  einen  nachweisbaren 
Unterschied  zwischen  affektiven  und  affektlosen  Eindrücken. 

4)  Ferner  gibt  es  eine  Tendenz,  die  wir  als  die  Neigung,  sich 
an  frühere  Eindrücke  in  einem  günstigen  Lichte  zu  erinnern,  be- 
schreiben können.  Die  Vp.  wurden,  wenn  sie  ein  Bild  schon  ge- 
sehen zu  haben  glaubten,  gefragt,  was  sie  damals  als  affektive 
Wirkung  erlebt  hatten.    Manchmal  konnten  sie  sich  an  diese  nicht 

1)  In  dieser  Beziehung  stimmt  die  Selbstbeobachtung  meiner  Vp.  Uberein 
mit  den  Ermittelungen  Cohns  über  >GefUhlston  und  Sättigung  der  Farben«. 
Philos.  Stud.  XV. 

2)  Diese  Kategorien  stimmen  mit  den  von  KUlpe  in  Am.  Journ.  of  l'sych. 
Vol.  XIV.  S.  227  ff.  angegebenen  Uberein. 


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450 


Kate  Gordon, 


erinnern,  und  manchmal  haben  sie  die  richtige  Antwort  gegeben, 
aber  in  nenn  Fällen  wurde  die  affektive  Wirkung  in  der  Erinnerung 
verbessert,  und  nur  in  drei  Fällen  hat  das  Gegenteil  gegolten. 


Vp. 

Das  erste  Urteil 

Was  Vp.  früher  geurteilt 
zn  haben  glaubte 

1) 

N. 

mißfällig 

etwas  gefällig 

2) 

D. 

mißfällig 

indifferent 

3) 

D. 

relativ  angenehm 

angenehm 

4) 

S. 

nicht  angenehm 

mindestens  nicht  unangenehm 

5) 

K. 

interessant,  aber  indifferent 

gefällig 

6) 

K. 

indifferent 

gefällig 

7) 

K. 

mißfällig 

indifferent 

8) 

K. 

indifferent 

gefällig 

9) 

K. 

indifferent 

gefällig 

1) 

2) 
3) 

K. 
K. 
K. 

gefallig 

teilweise  gefällig 
indifferent 

indifferent 
nicht  gefällig 
eher  mißfallig 

Auf  diesen  »Erinnerungsoptimismus«  komme  ich  im  folgenden 
zurück. 

5)  Eine  letzte  Beobachtung  ergibt  sich,  indem  wir  die  ange- 
nehmen, unangenehmen  und  indifferenten  Eindrücke  registrieren, 
worin  alle  Vp.  bei  ihrem  Urteile  Ubereinstimmten.  Die  Zahl  dieser 
Eindrücke  ist  sehr  klein,  kaum  größer,  als  sie  der  bloße  Zufall 
ergäbe,  aber  der  interessante  Punkt  ist  der,  daß  eine  Uberwiegende 
Gleichförmigkeit  des  Urteils  nur  bei  den  angenehmen  Eindrücken 
hervortritt.  In  der  ersten  Versuchsanordnung  (flir  Tabelle  I  und  Ia), 
in  welcher  30  Bilder  drei  Vp.  gezeigt  wurden,  stimmten  alle 
Uberein  bei  sechs  gefallenden  Bildern,  bei  einem  indifferenten  und 
einem  mißfälligen  Bilde.  Für  Tabelle  II  und  IIa  wurden  50  Bilder 
vier  Vp.  gezeigt,  und  alle  stimmten  Uberein  bei  vier  gefallenden 
Bildern,  keinem  indifferenten  und  keinem  mißfalligen  Bilde.  In  der 
zweiten  Versuchsanordnung  wurden  40  Figuren  fünf  Vp.  gezeigt, 
und  alle  stimmten  Uberein  bei  drei  gefallenden  Bildern,  keinem  in- 
differenten und  keinem  mißfälligen  Bilde.  Dies  Resultat  ist  ein  interes- 
santes Gegenstück  zu  Eowalewskis  Mitteilung,  wonach  sich  seine 
Vp.  in  größerer  Zahl  auf  ein  Übel,  als  auf  ein  Gut  vereinigten1). 

I  Kowalewaki.  Studien  zur  Psychologie  des  Pessimismus.  1904.  S.  93 ff. 


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Über  das  Gedächtnis  für  affektiv  bestimmte  Eindrücke.  451 


IV.  Zur  Erklärung  der  Resultate. 

In  einer  Untersuchung  Uber  das  Gedächtnis  für  angenehme  und 
unangenehme  Eindrücke  haben  wir  es  mit  zwei  Faktoren  zu  tun, 
welche  zueinander  im  Gegensatz  zu  stehen  scheinen:  einerseits 
müssen  wir  ein  Material  benutzen,  welches  vollständig  und  ver- 
schiedenartig genug  ist,  um  eine  das  Gefühl  genügend  ansprechende 
Wirkung  auf  die  Vp.  auszuüben;  andererseits  müssen  wir  uns  be- 
mühen, eine  gewisse  Gleichartigkeit  und  Ähnlichkeit  des  Materials 
beizubehalten,  um  eine  für  die  Bearbeitung  der  Resultate  er- 
forderliche Vergleichbarkeit  der  verschiedenen  im  Gedächtnis  zu 
behaltenden  Figuren  herzustellen.  In  der  zweiten  Form  unserer 
Versuche  schienen  die  Figuren  genug  Verschiedenartigkeit  und 
Vollständigkeit  zu  enthalten,  um  einen  positiv  angenehmen  oder 
unangenehmen  Eindruck  zu  machen,  und  sie  boten  zu  gleicher  Zeit 
die  (schon  oben  erwähnten)  Vorteile  objektiver  Gleichförmigkeit, 
größerer  Beständigkeit  der  Beleuchtung  und  der  Art  und  Dauer 
der  Exposition,  Gleichartigkeit  in  der  allgemeinen  Form  und  Größe 
der  Figuren,  wie  auch  in  der  Form,  der  Anordnung  und  Größe 
der  Teile  dar.  Die  Auswahl  der  Farben  war  mehr  geregelt  und 
einige  Unzulänglichkeiten  in  der  Beschreibung  der  Figuren  ver- 
mieden. Trotz  dieser  Vorsichtsmaßregeln  zeigten  die  verschiedenen 
Farbenanordnungen  noch  einige  Differenzen  in  der  Schwierigkeit 
der  Aufgabe1)  für  die  Vp.    Da  aber  verschiedene  Personen  in 

1)  Wenn  alle  Vp.  darin  Übereingestimmt  hätten,  welche  Figuren  leicht 
und  schwer,  welche  angenehm,  gleichgültig  and  unangenehm  seien,  hätten 
wir  ein  objektiveres  Merkmal  für  nnsere  Klassifizierung  gehabt,  aber  das  war 
nicht  der  Fall:  von  40  Figuren  gab  es  fünf,  von  welchen  alle  sagten,  sie 
wären  leicht,  keine,  von  denen  alle  sagten,  sie  wäre  schwer;  dann  gab  es 
drei,  von  welchen  alle  urteilten,  sie  wären  angenehm,  keine,  die  allgemein 
indifferent  oder  unangenehm  erschien.  Ks  gab  keinen  einzigen  Fall,  in  welchem 
zwei  Ubereinstimmende  Urteile  der  Vp.  auf  ein  gleiches  Objekt  gofallen  wären, 
z.  B.  keine  Figur,  welche  alle  Vp.  leicht  und  zugleich  angenehm  gefunden 
hätten.  Die  Tabellen  der  ersten  Versuchsanordnung  zeigen  keine  bemerkens- 
werte Differenz  zwischen  der  Erinnerung  an  schwierige  und  an  leichte  Figuren, 
und  dies  mag  der  Tatsache  zugeschrieben  werden,  daß  die  Vp.  die  Ein- 
teilung der  Figuren  in  »schwere«  und  »leichte«  erst  nach  den  Versuchen 
machten  und  dabei  eine  bemerkenswerte  Unsicherheit  ihres  Urteils  zeigten. 
In  der  zweiten  Versachsanordnung  hingegen  wurden  diese  Urteile  unmittel- 
bar mit  der  Beschreibung  der  Figur  gegeben,  und  in  den  Tabellen  III 
und  lila  ist  die  Differenz  zwischen  den  für  »schwere«  und  »leichte«  Objekte 
erhaltenen  Werten  augenscheinlich. 


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452 


Kate  Gordon, 


■ 


diesen  Schwierigkeiten  nicht  übereinstimmten,  können  wir  das 
Kriterium  derselben  nur  in  dem  individuellen  Urteil  jeder  Vp.  für 
ihren  eigenen  Fall  finden. 

Es  würde  zweifellos  von  Interesse  sein,  die  Natur  und  die 
Grunde  dieser  Differenzen  zu  analysieren  und  unsere  Resultate 
z.  B.  nach  der  Schwierigkeit  des  Auffassens,  der  Einpräglich- 
keit  und  des  Reproduzierens  usw.  zu  klassifizieren.  In  der  vor- 
liegenden Untersuchung  haben  wir  uns  aber  nur  auf  die  erste 
dieser  Schwierigkeiten  als  Basis  der  Klassifizierung  beschränkt. 
Unsere  Tabellen  (III  und  niaj  zeigen  also  zwei  Einteilungs- 
gesichtspunkte, beide  gegründet  auf  das  individuelle  Urteil  der 
Vp.,  den  GefÜhlseindruck  und  die  relative  Leichtigkeit  oder 
Schwierigkeit  des  Auffassens  der  Figuren.  Diese  Tabellen  zeigen, 
daß,  wenn  die  Figuren  zum  erstenmal  vorgeführt  wurden  (Tabelle  III), 
die  Erinnerung  an  die  leichte  Klasse  im  Übergewicht  war,  und 
daß,  wenn  die  Experimente  wiederholt  wurden  (Tabelle  III),  dieses 
Übergewicht  zwar  noch  bestand,  aber  weniger  ausgeprägt  als  das 
erstemal. 

In  keiner  dieser  Tabellen  aber  zeigt  sich  eine  merkliche 
Differenz  fllr  angenehme,  indifferente  und  unangenehme  Objekte. 
Dies  sieht  auf  den  ersten  Blick  so  aus,  als  müßten  wir  annehmen, 
daß  Wohlgefallen  und  Mißfallen  keinen  besonderen  Einfluß  auf 
den  Gedächtnisprozeß  haben.  Wir  müssen  jedoch  hier  zwischen 
einem  direkten  und  indirekten  Einfluß  des  Wohlgefallens  bzw. 
Mißfallens  auf  den  Gedächtnisprozeß  unterscheiden1).  Ein  direkter 
Einfluß  würde  in  der  unmittelbaren  Steigerung  der  Tendenz 
zur  Assoziation  und  Reproduktion  bestehen,  ein  indirekter  Einfluß 
würde  sich  dagegen  fühlbar  machen,  wenn  Wohlgefallen  bzw.  Miß- 
fallen die  Aufmerksamkeit  anziehen  oder  abstoßen  und  dadurch 
erst  auf  das  Gedächtnis  wirken  würden.  Bei  unserer  Unter- 
suchung hatten  solche  indirekten  Einflüsse  sehr  wenig  Spielraum, 
weil  von  der  Vp.  ausdrücklich  verlangt  wurde,  ihre  Aufmerk- 
samkeit auf  jede  vorgezeigte  Figur  zu  richten  und  sie  möglichst 
genau  zu  beschreiben,  ob  sie  ihr  gefiel  oder  nicht. 

Die  folgenden  zu  Protokoll  gegebenen  Beobachtungen  scheinen 
anzudeuten,  daß  die  Vp.  solchen  indirekten  Einflüssen  gelegent- 
lich ausgesetzt  waren.    Vp.  K.  sagt  von  Figur  27:  »Mißfällig 

1}  Vgl.  KUlpe.  Gruudriß  dor  l'sych.  S.  217 f. 


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Über  das  Gedächtnis  für  affektiv  bestimmte  Eindrücke.  453 

  es  machte  mir  Mühe,   die  Aufmerksamkeit  damit  zu 

beschäftigen.  Ich  hatte  eine  Neigung  zu  Überwinden,  davon  fort- 
zugehen.«   Vp.  K.  Figur  34:  >Sehr  gefällig  Auffassung 

etwas  erschwert  durch  das  kontemplative  Verhalten.«  Vp.  N. 
Figur  34:  »Die  Aufmerksamkeit  wollte  sich  auf  das  Gefallen 
richten.«  Vp.  S.  Figur  25:  »Der  Versuch,  das  Detail  einzuprägen, 
wurde  durch  die  ästhetische  Wirkung  vereitelt  recht  an- 
genehm.« In  allen  vier  Fällen,  drei  gefälligen  und  einem  mißfälligen, 
liegt  in  dem  affektiven  Element  die  Anregung,  die  Aufmerksam- 
keit von  ihrer  Aufgabe  abzulenken,  aber  die  bewußten  Bemühungen 
der  Vp.,  dieser  treu  zu  bleiben,  scheinen  erfolgreich  gewesen  zu 
sein,  da  die  Resultate  in  den  obigen  Fällen  normal  sind.  In  der 
überwiegenden  Mehrheit  der  Experimente  ist  eine  solche  Wirkung 
auf  die  Aufmerksamkeit  nicht  berichtet  worden,  doch  kann  man 
wohl  annehmen,  daß  unter  gewöhnlichen  Umständen  die  Aufmerk- 
samkeit durch  Gefälligkeit  und  Mißfälligkeit  eines  Eindrucks  von 
ihm  abgelenkt  oder  angezogen  werden  kann. 

Ein  kurzer  Uberblick  einiger  Erörterungen  Uber  den  Zusammen- 
hang zwischen  Gedächtnis  und  Gefühl  kann  dazu  beitragen,  unsere 
Resultate  zu  den  Ansichten  anderer  in  Beziehung  zu  setzen. 

Ribot1)  hat  die  Frage  aufgeworfen,  ob  es  einen  affektiven 
Gedächtnistypus  in  dem  Sinne  gibt,  wie  wir  von  einem  motorischen, 
akustischen  oder  visuellen  Typus  des  Gedächtnisses  sprechen. 
Er  ist  überzeugt,  daß  dies  der  Fall  ist,  und  sagt:  »II  existe  un 
type  affectiv  aussi  net,  aussi  tranche  que  le  type  visuel,  le 
type  auditif  et  le  type  moteur.  II  consiste  dans  la  reviviscence 
aisee,  complcte  et  preponderante  des  representations  affectives.« 
Ribot  ist  weder  auf  die  Bedingungen  eines  solchen  Gedächtnis- 
typus näher  eingegangen,  noch  auf  die  Beziehungen  zwischen 
einem  affektiven  und  einem  affektlosen  Typus.  Außerdem  hat 
Ribot  in  einem  besonderen  Kapitel  seines  Buches  über  die  Ge- 
fühle und  die  Assoziation  der  Vorstellungen  zu  der  Frage  Stelluug 
genommen,  ob  jene  einen  fördernden  Einfluß  auf  die  Assoziation 
haben.  Diese  Frage  wird  gleichfalls  mit  voller  Entschiedenheit 
bejaht.  Er  hebt  zwei  Fälle  hervor,  das  sogenannte  Gesetz  der 
Gefuhlsübertragung  und  die  Assoziation  von  verschiedenartigen 
Vorstellungen  durch  gleichartige,  ihnen  anhaftende  Gefühle. 


l;  Psychologie  des  Sentiments  S.  166. 

Archiv  Ar  Pijcholofi«.  IV. 


30 


454 


Kate  Gordon. 


Titchener ')  bestreitet  die  Ribotscbe  Lehre  und  zitiert  Spencer, 
Bain,  James,  Hüffding  zur  Unterstützung  seiner  Behauptung, 
daß  die  Vermittlung  zwischen  vergangenen  und  gegenwärtigen 
geistigen  Prozessen  immer  durch  Vorstellungen,  nie  durch  Gefühle 
bewirkt  wird,  und  daß  es  einen  rein  affektiven  Typus  nicht  gibt. 

Horwicz2)  scheint  etwas  Ahnliches  zu  meinen,  wenn  er 
schreibt:  »Die  Erinnerung  an  Schmerzen  gelingt  nur  in  dem  Maße, 
als  die  Erinnerung  an  die  entsprechenden  Bewegungen  gelingt. 
Wenn  ich  mich  z.  B.  an  Zahnschmerzen  erinnern  will,  muß  ich 
erst  die  Haltung  oder  Bewegung  annehmen  oder  mir  vorstellen, 

die  ich  während  der  Schmerzen  anzunehmen  pflege  Nicht 

das  Gefühl  an  sich  iBt  der  elementare  Faktor  der  Erinnerung,  son- 
dern das  Gefühl  in  seiner  notwendigen  Verbindung  mit  Bewegungs- 
gefühl  und  der  daraus  folgenden  Gefühlsmodifikation.  Das  Gefühl 
ist  nicht  unmittelbar,  sondern  nur  mittelbar  Träger  der  Assoziation.« 

Der  folgende  Absatz  von  Fauth3)  bietet  einen  ganz  andern 
Hinweis  auf  diese  Beziehung:  »Vielleicht  ließe  sich  durch  eine 
genaue  allseitige  Untersuchung  über  das  Wesen  der  Gefühle  das 
Geheimnis  der  Assoziation  Uberhaupt  mehr  aufklären,  besonders 
wenn  man  annimmt,  daß  in  den  Gefühlen  die  Seele  nicht  bloß 
erscheint,  sondern  daß  sich  darin  ihr  innerstes,  einheitliches  Wesen 
offenbart.  So  muß  doch  z.  B.  jede  Assoziation  zweier  oder  mehrerer 
Empfindungen  irgendein  Gefühl  des  Wertes  dieser  Form  der  Ver- 
bindung erzeugen.  Mag  diese  Assoziation  nun  als  Ganzes  oder 
als  Allgemeines  angeschaut  oder  erlebt  werden,  das  Gefühl  des 
Wertes,  das  gerade  dieses  Ganze,  dieses  Allgemeine  begleitet, 
wird  doch  wohl  der  Reiz  sein,  welcher  die  Seele  antreibt,  sobald 
ein  Teil  der  Assoziation  oder  Verknüpfung  im  Bewußtsein  auf- 
getaucht ist,  willkürlich  oder  unwillkürlich  auch  den  andern  Teil 
der  Assoziation  zu  suchen  und  zu  erzeugen.« 

Schließlich  müssen  wir  noch  über  diesen  allgemeinen  Zusammen- 
hang zwischen  Gefühl  und  Assoziation  Störring*)  zitieren:  »Über 
den  Einfluß  der  Gefühle  auf  die  Assoziation  von  Vorstellungen 
können  wir  schnell  hinweggehen,  da  bekannt  ist,  daß  Gefühle  im 
allgemeinen  die  Assoziation  von  Vorstellungen  verstärken.  Hat 

1)  Phil.  Rev.  IV.  S.  65  ff. 

2)  Psychologische  Analysen.  Bd.  I.  S.  319. 

3)  »Das  Gedächtnis«.  Kap.  21.  8.  199. 

4}  Zur  Lehre  vom  Einfluß  der  Gefühle  usw.   Phil.  Stnd.  XII.  S.  614. 


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Über  das  Gedächtnis  für  affektiv  bestimmte  Eindrücke.  455 

eine  im  Blickpunkt  des  Bewußtseins  stehende  Vorstellung  eine 
starke  GefUhlsbetonung,  so  überträgt  sich  diese  Geftlhlsbetonuug 
nicht  nur  auf  die  mit  ihr  im  Blickpunkt  stehenden  Vorstellungen, 
sondern  die  Assoziation  dieser  beiden  Vortellungen  untereinander 
wird  auch  eine  innigere.  Es  wird  eben  mehr  psychophysische 
Energie  auf  diese  Assoziation  verwandte 

Unsere  Ansicht  Uber  den  Einfluß  des  Gefühls  auf  das  Gedächt- 
nis, wonach  er  sich  nur  indirekt,  nicht  direkt  kundgibt,  mag  zur 
Versöhnung  des  scheinbaren  Konflikts  der  eben  angeführten  An- 
sichten dienen.  Wir  geben  zu,  daß  bei  manchen  Personen  der 
Einfluß  der  Lust  und  Unlust  auf  die  Aufmerksamkeit  vorherrschen- 
der ist  als  bei  andern,  während  wir  die  Existenz  eines  affektiven 
Typus  im  engeren  Sinne  dahingestellt  sein  lassen,  da  unsere  Ver- 
suche keinen  Beitrag  zu  dieser  Frage  liefern.  Zugleich  können 
wir  mitTitchener  und  Horwicz  insofern  Ubereinstimmen,  als  ein 
direkter,  die  Reproduzierbarkeit  eines  Eindrucks  verstärkender 
Einfluß  der  Gefühle  nicht  nachgewiesen  werden  konnte,  sondern 
vielmehr  die  indifferenten  den  gefühlsbetonten  Vorstellungen  in 
dieser  Hinsicht  ganz  gleichgestellt  waren.  Vielleicht  würde  dem 
Sinne  von  Fauths  Behauptung  keine  Gewalt  angetan,  wenn  man 
sie  in  derselben  Art  zu  interpretieren  versuchte.  Ein  Gefühl,  be- 
hauptet er,  ist  immer  der  Antrieb  zu  einem  Akt  der  Assoziation; 
unsere  Ansicht  würde  dabin  gehen,  daß  ein  Gefühl  in  der  Regel 
dahin  strebt,  die  Bedingungen  des  Aktes  der  Assoziation  an- 
zuregen. Ebenso  mußten  wir  unsere  Resultate  mit  Störrings 
Ansicht  in  Übereinstimmung  bringen.  Wenn  er  meint,  daß  der 
affektive  Wert  einer  Vorstellung  die  Assoziation  mit  einer  andern 
befestigen  kann,  so  würde  das,  von  der  GefÜhlsübertragung  abge- 
sehen, allerdings  dadurch  geschehen  können,  daß  die  Gefühls- 
betonung eine  größere  Eindringlichkeit  bedingt.  Aber  freilich,  nur 
von  einer  Regel  kann  hier  gesprochen  werden.  Unter  Umständen 
lenken  Lust  und  Unlust  auch  von  der  Einprägung  eines  Eindrucks 
und  einer  Assoziation  seiner  Terle  miteinander  ab.  Wir  suchen 
uns  das  Unangenehme  fernzuhalten  und  versinken  zuweilen  in 
einen  Zustand  passiver  Lust,  der  die  Reproduzierbarkeit  des  in 
diesem  Zustande  Genossenen  nicht  nur  nicht  steigert,  sondern  viel- 
mehr herabsetzt. 

Bisher  haben  wir  nur  im  allgemeinen  von  dem  möglichen 
Einfluß  des  affektiven  Wertes  auf  das  Gedächtnis  gesprochen;  und 

30* 

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456 


Kate  Gordon. 


jetzt  haben  wir  nnn  noch  zwei  Autoren  zn  erwähnen,  welche 
die  Frage  eines  differenzierten  Effekts  der  Lust  und  Unlust  auf- 
geworfen haben,  ob  nämlich  die  eine  oder  die  andere  dem  Ge- 
dächtnisprozeß günstiger  sei. 

Colegrove1)  hat  eine  Statistik  Uber  diesen  Fall  angestellt. 
Er  legte  einer  großen  Anzahl  von  Weißen,  Indianern  und  Negern 
einen  Fragebogen  vor,  auf  dem  sich  folgende  Frage  befand: 
> Erinnern  Sie  sich  besser  an  Angenehmes  oder  Unangenehmes?« 
Um  Colegroves  Resultate  in  eine  entsprechendere  Form  zu  bringen, 
stellte  Kowalewski2)  sie  in  folgender  Tabelle  dar.  »Faßt  man 
alle  Altersstufen  (welche  Colegrove  unterschieden  bat)  zusammen, 
so  ergibt  sich  als  durchschnittlicher  Prozentsatz  der  Stimmen,  die 
ftir  eine  bessere  Lusterinnerung  sprechen, 

bei  den  weißen  Männern   61,5  % , 

>  i       >      Weibern   58,8  % , 

>  »  Indianern  36,9  % , 
»  »  Indianerinnen  54,2  % , 
»     »   Negern              48,2  % , 

»    »    Negerinnen  81,4  % .  < 

Kowalewski3)  teilt  auch  eigene  Resultate  mit:  »Ich  selbst 
habe  mit  124  Knaben  urM  146  Mädchen  im  Alter  von  10 — 13  Jahren, 
die  einen  gleichartigen  Schulunterricht  genießen,  die  Colegrove- 
sche  Enquete  wiederholt.  Dabei  habe  ich  aber  meine  Frage  von 
vornherein  so  gestellt,  daß  bei  den  Kindern  kein  Zweifel  Uber 
ihren  Sinn  bestehen  konnte.  Ich  formulierte  sie  in  folgender 
Weise:  , Woran  kannst  du  dich  klarer  und  deutlicher  erinnern,  an 
Freuden  oder  an  Leiden  ? '  Vom  Versuchsleiter  wurden  außerdem 
zweckentsprechende  Erläuterungen  gegeben.  Die  Resultate  meiner 
Ermittlungen  sind  aus  folgender  Tabelle  ersichtlich: 


Gesamtzahl 
der 
Stimmen 

Stimmen 
für  bessere 

LUBt- 

erinnerung 

Stimmen 
für  bessere 

Unlust- 
erinnerung 

Prozentsatz 
der  Stimmen 
zugunsten  der 
Lasterinnerung 

Knaben 

124 

86 

38 

69,4  % 

Mädchen 

146 

99 

47 

67,8  %  « 

1)  Memory,  Ch.  6 ,  pag.  256. 

2)  Studien  zur  Psycho),  des  Pessimismus.  S.  108. 
3  Ebenda,  S.  109  f. 


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Über  das  Gedächtnis  flir  affektiv  bestimmte  Eindrücke.  457 

Er  schließt:  »Jedenfalls  kann  ich  in  Übereinstimmung  mit 
Colegrove  sagen,  daß  im  jugendlichen  Alter  die  bessere  Last- 
erinnerung mit  fast  70  #  vertreten  ist.  Vermutlich  werden  die 
Prozentsätze,  die  sich  aus  Colegroves  Enquete  ergeben  haben, 
bei  genauerer  Nachprüfung  auch  für  die  höheren  Altersstufen  eine 
annähernde  Bestätigung  erfahren,  so  daß  im  Durchschnitt  unsere 
Erinnerung  eine  ausgesprochen  optimistische  Tendenz  zu  haben 
scheint  < 

Diese  Schlußfolgerungen  scheinen  auf  den  ersten  Blick  den 
unsrigen  zu  widersprechen.  Um  diesen  Widerspruch  aufzuheben, 
können  wir  zunächst  daran  erinnern,  daß  die  Methode  von 
Colegrove  und  Kowalewski  eine  statistische  und  keine  eigent- 
lich experimentelle  ist.  Die  Selbstbeobachtung  der  Vp.  hat  hier 
keine  Rolle  gespielt,  während  bei  unserer  Untersuchung  die  Fest- 
stellung der  Beobachtungsbedingungen  und  Aussagen  als  Haupt- 
voraussetzung für  die  Zuverlässigkeit  der  Ergebnisse  galt.  So- 
dann aber  läßt  sich  der  scheinbare  Widerspruch  auch  durch  eine 
genauere  Einsicht  in  die  Natur  der  Resultate  beseitigen  oder  auf- 
klären. In  unserem  Falle  haben  wir  die  Neigung  ermittelt,  den 
Wert  des  früher  Erlebten  in  der  Erinnerung  zu  steigern.  Der 
»Erinnerungsoptimismus«  besteht  dann  darin,  daß  wir  unsere 
früheren  Erfahrungen  für  angenehmer  halten,  als  sie  wirklich 
waren,  und  nicht  darin,  daß  dieselben  besser  behalten  worden 
sind.  Statt  daher  mit  Colegrove  und  Kowalewski  zu  sagen, 
daß  wir  uns  besser  (d.  h.  klarer  und  deutlicher]  unserer  ange- 
nehmen Eindrücke  erinnern,  würde  ich  betonen,  daß  wir  die 
Neigung  haben,  uns  in  der  Erinnerung  einen  früheren  Eindruck 
angenehmer  vorzustellen.  Das  Gedächtnis  brauchte  dann  für  an- 
genehme Eindrücke  nicht  besser  zu  sein,  weil  der  Vp.  in  der 
Erinnerung  eine  größere  Zahl  von  Eindrücken  angenehm  erscheint. 
Unter  diesem  Gesichtspunkte  würde  über  den  Erinnerungsoptimismus 
zwischen  den  beiden  Resultaten  kein  Widerspruch  bestehen. 
Übrigens  ist  es  aber  auch  wohl  möglich,  daß  die  von  Kowa- 
lewski zusammengestellten  und  gefundenen  Ergebnisse  durch  den 
Unterschied  der  Einprägungsbedingungen  sich  erklären  lassen,  der 
für  seine  und  meine  Vp.  zweifellos  bestanden  hat.  Jene  konnten 
dem  natürlichen  Einfluß  der  Gefühle  nachgeben,  diese  hatten  alle 
Eindrücke,  welcher  Gefühlston  ihnen  auch  anhaften  mochte,  mit 
gleicher  Sorgfalt  sich  anzueignen.    Nimmt  man  an,  daß  im 


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458  Kate  Gordon,  Über  das  Gedächtnis  für  affektiv  bestimmte  Eindrücke. 

allgemeinen  die  Lust  eine  lebhaftere  Beschäftigung  mit  den  sie 
begleitenden  Eindrücken  einleitet,  als  die  Unlust,  so  würde  sich 
die  relativ  bessere  Erinnerung  an  das  Angenehme  in  jener  Statistik 
ebensogut  wie  der  Mangel  eines  solchen  Vorzugs  für  die  Lust- 
eindrücke  bei  unsern  Experimenten  verstehen  lassen. 

Zum  Schluß  möchte  ich  sagen,  daß  die  theoretische  Bedeutung 
unserer  Untersuchungen  auf  der  gegenwärtigen  Stufe  unserer 
Kenntnis  der  affektiven  Prozesse  und  deren  Beziehungen  zum 
Geistesleben  im  allgemeinen  nur  eine  Sache  der  Mutmaßung  sein 
kann.  Das  Beste,  was  man  von  einer  so  begrenzten  und  elemen- 
taren Untersuchung  hoffen  kann,  ist,  daß  sie  dazu  beitragen  kann, 
einige  der  Schwierigkeiten  dieses  Behr  komplizierten  Problems 
aufzudecken  und  vielleicht  auf  eine  brauchbare  Methode  für  ferneres 
Arbeiten  hinzuweisen. 


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Bemerkungen  zu  vorstehender  Abhandlung. 

Von 

O.  Külpe. 


Der  interessante  Versuch,  den  die  Verfasserin  der  vorstehenden 
Arbeit  gemacht  hat,  das  Problem  des  Verhältnisses  der  Gefühle 
znm  Gedächtnis  zu  klären  und  nach  einer  gewissen  Richtung 
zu  lösen,  hat  mich  dazu  angeregt,  einige  allgemeinere  Betrach- 
tungen über  dieses  Problem  und  damit  zusammenhängende  Fragen 
anzustellen. 

Ist  uns  eine  Empfindung  E  gegeben,  so  kann  der  Einfluß  eines 
Lust-  oder  Unlustzustandes,  der  sich  an  E  knüpft,  a  priori  ein 
außerordentlich  mannigfaltiger  sein.  Die  Dauer  von  E,  seine  Leb- 
haftigkeit, seine  Beziehung  zu  andern  Bewußtseinsinhalten  kann 
von  der  Natur  des  L  oder  ü  abhängen.  Ferner  kann  die  Perse- 
verationstendenz  und  Reproduzierbarkeit,  die  Reproduktionstendenz 
und  Assoziabilität  dadurch  bedingt  sein.  Auch  seine  Bedeutung 
für  die  Aufmerksamkeit,  für  das  Wollen  und  Handeln  unter- 
liegt vielleicht  diesem  Einfluß.  Von  allen  diesen  Möglichkeiten 
soll  hier  nur  die  an  zweiter  Stelle  aufgeführte  näher  diskutiert 
werden. 

Die  Perseverationstendenz ,  Bereitschaft,  Reproduzierbarkeit 
von  E  kann  ebenso  wie  Beine  Reproduktionstendenz,  die  Festigkeit 
seiner  Assoziation  mit  andern,  seine  Assoziabilität  gefordert  oder 
gehemmt,  gesteigert  oder  verringert  werden.  L  und  U  können, 
wenn  sie  überhaupt  einen  Einfluß  darauf  haben,  gleichsinnig 
oder  ungleichsinnig  wirken,  und  diese  Wirkung  ist  als  eine 
direkte,  unmittelbare  oder  als  eine  indirekte,  mittelbare  denkbar. 
Was  hier  für  ein  E  aufgeführt  ist,  gilt  auch  für  einen  ^-Kom- 
plex, der  als  Ganzes  zum  Träger  eines  L  oder  U  geworden  ist, 
oder  für  einen  Teil  dieses  Komplexes,  mit  dem  sie  in  Ver- 
bindung stehen. 


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460 


0.  Külpe. 


Die  Versuche  von  K.  Gordon  haben  es  mit  solchen  Kom- 
plexen zu  tun.  Sie  sind  teils  lustbetont,  teils  indifferent,  teils  un- 
lustbetont gewesen.  Die  Beschreibung  dieser  Komplexe,  die  Aus- 
sage über  ihre  Beschaffenheit  unmittelbar  nach  dem  Verschwinden 
der  sie  hervorrufenden  Reize  hat  den  Maßstab  für  ihre  gedächtnis- 
mäßige  Aneignung  und  Einprägung  gebildet.  Die  Bestandteile 
der  Eindrucke  waren  hierbei  die  Reproduktionsmotive  für  die  der 
Beschreibung  dienenden  Worte.  Die  Zahl  der  bezeichneten  selb- 
ständigen Elemente  eines  Komplexes  galt  als  direkter  Ausdruck 
für  die  Größe  der  Gedächtnisleistung,  für  die  Stärke  der  Repro- 
duktionstendenz, die  den  Eindrücken  zuzuschreiben  war.  Hatten 
L  oder  U  einen  Einfluß  darauf,  so  mußten  sie  diese  Tendenz, 
d.  h.  die  Zahl  der  angegebenen  Elemente  vergrößern  oder  ver- 
ringern. Weder  das  eine  noch  das  andere  trat  ein.  L  und  U 
hatten  demnach  keinen  nachweisbaren  Einfluß  auf  die  Repro- 
duktionstendenz der  Eindrücke  bzw.  ihrer  Bestandteile. 

Dadurch,  daß  die  Aufgabe,  eine  Beschreibung  zu  geben,  all- 
gemein für  die  Versuche  gestellt  wurde,  konnte  ein  etwaiger 
Einfluß  von  L  oder  U  nicht  wohl  verdeckt  werden.  Die  Versuchs- 
umstände  erlaubten  eine  Besserung  ebenso  wie  eine  Verschlech- 
terung der  tatsächlichen  Leistung.  Hatten  daher  L  und  Ü  eine 
selbständige  und  eigenartige  Bedeutung  für  den  Reproduktions- 
vorgang, so  war  diese  innerhalb  der  für  alle  Fälle  gleichmäßig 
bestehenden  Aufgabe  hervorzutreten  imstande.  Wie  sich  der 
Unterschied  der  Schwierigkeit  in  der  zweiten  Versuchsgruppe 
deutlich  in  der  Differenz  der  gefundenen  Durchschnittswerte  aus- 
drückte (vgl.  S.  446  f.) ,  so  hätte  sich  auch  der  Unterschied  des 
Oefilhlstons  darin  offenbaren  können. 

Auf  andern  Gebieten  hat  man  längst  angenommen,  daß  die 
Annehmlichkeit  oder  Unannehmlichkeit  eines  Eindrucks  die  Durch- 
führung der  an  ihm  zu  lösenden  Aufgaben  nicht  verändere. 
Empfindlichkeit  und  Unterschiedsempfindlichkeit  für  Reize,  die  auf 
das  Konstatieren  und  Vergleichen  von  Reizen  und  Reizunter- 
schieden gerichtet  sind,  werden  nach  allgemein  herrschender  An- 
sicht (die  durch  Kowalewski  nicht  erschüttert  worden  ist)  von 
den  dabei  auftretenden  Gefühlen  nicht  beeinflußt.  Auch  hier 
spielen  Perseveration  und  Reproduktion  eine  nicht  unerhebliche 
Rolle.  Ebensowenig  vermögen  Lust  und  Unlust  die  Ausführung 
bestimmter  wissenschaftlicher  Aufgaben  zu  modifizieren,  solange 


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Bemerkungen  zu  vorstehender  Abhandlung.  461 

die  Aufgabe  selbst  unvenrückt  erhalten  bleibt.  Und  wenn  man 
von  dem  Wollen  und  Handeln  verlangt,  daß  es  nach  Prinzipien 
und  nicht  nach  zufalligen  Lustmomenten  sich  richte,  so  ist  hier 
gleichfalls  die  Vorstellung  maßgebend,  daß  eine  Unabhängigkeit 
von  den  Gefühlen,  die  an  die  Motive  oder  Ziele  geknüpft  sein 
mögen,  erreichbar  ist. 

Die  Ergebnisse  von  K.  Gordon  reihen  sich  daher  in  eine 
große  Gruppe  von  Tatsachen  ein,  die  man  unter  dem  Sammel- 
namen einer  Emanzipation  des  Intellekts  und  des  Willens 
von  den  Gefühlen  der  Lust  und  Unlust  zusammenfassen 
könnte.  Je  einfacher  und  durchsichtiger  die  Aufgabe  und  die 
Mittel  zu  ihrer  Lösung  sind,  um  so  leichter  wird  diese  Emanzi- 
pation werden.  Damit  ist  ein  wirklicher  Einfluß  der  Gefühle  auf 
den  Ausfall  solcher  Aufgaben  nicht  ausgeschlossen.  Aber  unsere 
Versuche  scheinen  zn  lehren,  daß  er  kein  unmittelbarer,  sondern 
ein  mittelbarer  und  daß  er  kein  einsinniger,  sondern  ein  mehr- 
sinniger ist  und  sein  kann.  Beides  hängt  miteinander  zusammen. 
Ein  unmittelbarer  gesetzmäßiger  Einfluß  müßte  einsinnig  sein,  so- 
fern er  von  einer  und  derselben  Bedingung  ausgeht.  Ein  mittel- 
barer Einfluß  dagegen  kann  mehrsinnig  sein  je  nach  der  Be- 
schaffenheit des  Mittels  oder  der  Mittel,  durch  welche  er  wirkt. 
Lost  und  Unlust  gewinnen  zuweilen  einen  Einfluß  auf  die  intellek- 
tuellen Funktionen,  indem  sie  die  gestellten  Aufgaben  befestigen 
oder  schwächen.  Die  Lust  am  Eindruck  kann  zur  Lust  an  der 
gestellten  oder  an  einer  andern  Aufgabe  werden  und  demnach 
die  Lösung  jener  befördern  oder  beeinträchtigen.  Das  nämliche 
gilt  von  der  Unlust.  Es  besteht  also  kein  einfacher,  prinzipieller 
Gegensatz  in  der  Wirkung  von  L  und  Ü  auf  die  intellektuellen 
Prozesse l).  Wahrscheinlich  wird  der  bei  der  Deutung  von  Ergeb- 
nissen der  Ausdrucksmethoden  sich  empfehlende  Unterschied 
zwischen  aktiver  und  passiver  Lust  und  Unlust  auch  hier  durch- 
zuführen sein.  Doch  soll  nicht  bestritten  werden,  daß  wenigstens 
regelmäßig  ein  gegensinniger  Verlauf  des  Lust-  und  Unlusteinflusses 
sich  zeige. 

Aber  noch  nach  einer  andern  Richtung  sind  unsere  Versuche 
von  Bedeutung.    L  und  U  tragen,  wie  K.  Gordon  mitgeteilt  hat, 


1)  Dies  wichtige  Ergebnis  ist  auch  bei  der  Übersieht  über  den  assozia- 
tiven Faktor  S.  448  hervorgetreten. 

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4H2 


0.  Kiilpe, 


zum  Wiedererkennen  der  mit  ihnen  verbunden  gewesenen  Eindrücke 
nichts  bei  (vgl.  S.449).  Die  indifferenten  Vorstellungen  werden  genau 
bo  gut  oder  so  schlecht  wiedererkannt,  wie  die  angenehmen  und  un- 
angenehmen. Insbesondere  aber  ist  es  nie  vorgekommen,  daß  sie  an 
ihrer  Annehmlichkeit  oder  Unannehmlichkeit  erkannt  worden  wären. 
Daraus  geht  doch  wohl  hervor,  daß  L  und  U  derjenigen  quali- 
tativen Mannigfaltigkeit  entbehrt  haben,  die  sie  zu  einem  Vehikel 
des  Wiedererkennens  tauglich  machen  würde.  Annehmlichkeit  und 
Unannehmlichkeit  als  solche  sind  nicht  genügend  differenziert,  um 
als  Reproduktionsmotive  für  Besonderheiten  der  Vorstellungswelt 
wirken  zu  können.  Diese  Schlußfolgerung,  die  gegen  die 
pluralistische  Lust-  und  Unlusttheorie  im  extremen  Sinne 
vernehmlich  spricht,  ohne  freilich  die  einfache  Lust- Unlust- 
theorie in  ihrer  strengen  Form  notwendig  zu  machen,  erläutert 
auch  die  vorhin  geschilderten  Ergebnisse  unserer  Versuche.  Die 
Reproduktion  von  Aussagen  Uber  einen  bestimmten  Eindruck,  die 
wechselseitige  Assoziation  seiner  Bestandteile,  die  Individualität 
des  Ganzen  würden  durch  charakteristische  L  und  ZT,  die  sich  mit 
dem  Komplex  oder  einzelnen  Teilen  desselben  verknüpfen,  wesent- 
lich gewinnen  können.  Daß  sie  auf  die  Erinnerung  und  Be- 
schreibung keinen  unterstützenden  Einfluß  geübt  haben,  zeigt 
ebenfalls,  daß  sie  der  dazu  erforderlichen  Eigenart  entbehrt 
haben. 

Ich  bin  schon  wiederholt  für  die  Wahrscheinlichkeit  einer  ein- 
fachen Lust-Unlusttheorie  eingetreten1)  und  finde  in  der  eben  er- 
wähnten Tatsache  ein  neues  Argument  dafür.  Dazu  läßt  sich  aber 
noch  auf  eine  vielbesprochene  Erscheinung  hinweisen,  die  nach 
meiner  Ansicht  zu  der  gleichen  Annahme  fuhren  muß,  nämlich  die 
sogenannte  GefUhlsübertragung.  Die  Gefühlsanalogie  zwischen  den 
heterogensten  Vorstellungen  kann  so  groß  sein,  daß  die  an  der 
einen  von  ihnen  haftende  Gefühlsbetonung  ohne  weiteres  auf  die 
andere  Ubergeht.  Ebenso  kann  die  Assoziation  zweier  Vorstel- 
lungen bewirken,  daß  die  der  einen  zukommende  Annehmlichkeit 
anch  zu  einer  Eigenschaft  der  andern  wird.  Dafür  gibt  es  sonst 
keine  Beispiele  in  der  Welt  der  Empfindungen.  Die  Herbstzeit- 
lose erscheint  mir  nicht  grtin,  weil  ich  sie  stets  im  Verein  mit 


1)  Vgl.  Grundriß  der  Psychol.  S.  246  ff.;  Vierteljahreachr.  f.  wiss.  Philo*. 
XXIII.  S.  174.   S.  auch  Orth.  Gefühl  und  Bewußteeinalage.  1903. 


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Bemerkungen  zu  vorstehender  Abhandlung  463 

grünen  Wiesen  wahrnehme.  Die  Weichheit  eines  Klanges  bleibt 
trotz  aller  Analogie  mit  einem  weichen  Tasteindruck  ein  qualitativ 
von  ihm  ganz  abweichendes  Phänomen  und  läßt  sich  nicht  etwa 
auf  ein  Kissen  »Ubertragen«.  Die  Lehre  von  der  Mehrdimensio- 
nalität  der  Gefühle  wird  natürlich  durch  diese  Betrachtungen  nicht 
berührt. 

Zum  Schluß  möchte  ich  noch  auf  einen  Mangel  der  Versuche  hin- 
weisen, den  die  Verfasserin  der  vorstehenden  Arbeit  nicht  genügend 
hat  hervortreten  lassen.  Die  in  den  Tabellen  I — III  aufgeführten 
Mittelwerte  beziehen  sich  für  jede  Vp.  auf  verschiedene  Objekte, 
weil  nicht  nur  die  GefUhlsurteile  individuell  stark  variiert  haben, 
sondern  auch  die  Angaben  über  die  relative  Schwierigkeit  der 
Auffassung  ganz  auseinandergegangen  sind.  Es  ist  nicht  ausge- 
schlossen, daß  das  letztere  z.  T.  daran  lag,  daß  die  Vp.  nicht 
immer  dasselbe  unter  dieser  Schwierigkeit  verstanden.  Ordnet 
man  eine  Reihe  von  Figuren  nach  den  Graden  relativer  Schwierig- 
keit, so  kann  diese  bald  in  der  sinnlichen  Auffassung  des  Bildes 
und  seiner  Teile,  bald  in  der  Einprägung  der  Elemente  und  ihrer 
Anordnung,  bald  in  der  Beschreibung  des  Wahrgenommenen  ge- 
runden werden.  Auch  wenn  ausdrücklich  nur  die  Schwierigkeit 
der  sinnlichen  Auffassung  bestimmt  werden  sollte,  mochte  doch 
ein  anderer  Gesichtspunkt  sich  gelegentlich  vordrängen.  Außer- 
dem ist  freilich  diese  Schwierigkeit  den  individuellen  Differenzen 
sehr  ausgesetzt.  Für  mich  bezog  sie  sich  in  der  II.  Versuchs- 
anordnnng  namentlich  auf  die  Zahl  der  erkennbaren  Farbenunter- 
schiede und  auf  die  Anordnung  derselben.  War  die  Mannigfaltig- 
keit der  wahrgenommenen  Farben  klein  und  deren  Anordnung 
durchsichtig,  irgendwie  geometrisch  bestimmbar,  so  erschien  mir 
das  Objekt  »leicht«.  Es  ist  verständlich,  daß  diese  Kriterien  eine 
große  subjektive  Schwankungsbreite  gewähren. 

Nun  ist  aber  der  Umstand,  daß  die  in  den  Tabellen  zusammen- 
gefaßten Zahlen  für  die  einzelnen  Vp.  von  verschiedenen  Objekten 
herstammen,  nicht  unbedenklich.  Die  vorgezeigten  Figuren  mußten 
normalsinnigen  Vp.,  die  wir  sämtlich  waren,  wesentlich  gleichartig 
erscheinen.  Das  subjektive  Urteil  Uber  die  Schwierigkeit  konnte 
auf  einer  Selbsttäuschung  beruhen  und  war  ja  eine  rein  relative 
Angabe,  die  nicht  nnr  in  allgemeinen  Annahmen,  sondern  auch 
und  hauptsächlich  in  den  jeweils  vorausgegangenen  Versuchen 
ihren  Maßstab  hatte.  Wir  wissen  nicht,  wieviel  von  den  gefundenen 

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464         0.  KUlpe,  Bemerkungen  xu  vorstehender  Abhandlung. 

Werten  von  der  Verschiedenheit  der  zugrunde  gelegten  Objekte 
abhängt.  Unser  Material  war  zu  klein,  um  diese  Frage  beant- 
worten zu  können.  Hier  besonders  wird  eine  künftige  Fortsetzung 
unserer  Versuche  zu  ergänzen  und  zu  bessern  haben,  und  ich  kann 
nur  wünschen,  daß  wir  diese  der  geschickten  und  tüchtigen  Ver- 
fasserin der  vorstehenden  Abhandlung  zu  danken  haben  werden. 


(Eingegangen  am  12.  Oktober  1904.) 


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■ 

Weiteres  zur  »Einfühlung«. 


Von 
Th.  Lipps. 

Witasek  will  die  Einfühlung,  die  ein  sich  Fühlen  in  einem 
von  mir  unterschiedenen  sinnlich  Wahrgenommenen  oder  sinnlich 
Wahrnehmbaren  ist,  ersetzen  durch  die  Mit  Vorstellung  eines 
Psychischen  in  einem  sinnlichen  Gegenstand. 

Hier  ist  zuerst  die  Frage  am  Platze,  was  diese  Mitvorstellung 
besagen,  d.  h.  worin  das  Mitvorstellen  bestehen  soUe.  Die  Meinung 
scheint  diese,  oder  kann  zunächst  diese  sein:  Wenn  ich  eine 
Gebärde  sehe,  so  ist  mit  der  Wahrnehmung  der  Gebärde  die  an- 
schauliche Vorstellung  eines  Psychischen,  etwa  die  Vorstellung  von 
Stolz  oder  Trauer  u.  dgl.,  durch  Erfahrung,  oder  nach  dem  Gesetz 
der  »Kontiguität«,  assoziiert. 

Gesetzt  jemand  ist  dieser  Meinung,  so  besteht  für  ihn  die  Auf- 
gabe, zu  zeigen,  wie  solche  Assoziation  möglich  sei,  oder  wie  sie 
zu  stände  kommen  könne.  Solange  diese  Aufgabe  nicht  erfüllt  ist, 
ist  die  fragliche  Meinung  eine  leere  Behauptung.  Niemand  aber 
hat  bisher  einen  Weg  gezeigt,  auf  dem  die  Assoziationen  der 
»Berührung«  oder  der  »Kontiguität«,  die  hier  vorausgesetzt  wären, 
zustande  kommen  könnten.  Und  niemand  wird  ihn  zeigen.  Es 
gibt  keinen  solchen  Weg1). 

In  jedem  Falle  genügt  dieser  Begriff  der  Assoziation  nicht  Daß 
mir  eine  Gebärde  als  Ausdruck  des  Stolzes  oder  der  Trauer  er- 
scheint, oder,  besser  gesagt,  daß  sie  für  mich  oder  für  mein  Bewußt- 
sein Stolz  oder  Trauer  tatsächlich  ausdrückt,  und  daß,  indem  ich 
die  Gebärde  wahrnehme,  damit  die  Vorstellung  von  Stolz  oder 
Trauer  sich  assoziiert  oder  assoziiert  ist,  diese  beiden  Behaup- 
tungen besagen  nicht  das  gleiche. 


1}  Siehe  .Grundlegung  der  Ästhetik«  S.  112  ff. 

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4B6 


Th.  Lipp». 


Wenn  ich  einen  Stein  sehe,  so  ist  mit  dieser  Wahrnehmung 
die  Vorstellung  der  Härte,  der  Glätte  usw.  assoziiert.  Aber  darum 
sage  ich  doch  nicht,  der  gesehene  Stein,  oder  der  Stein,  so  wie 
ich  ihn  sehe,  »drücke«  Härte  oder  Glätte  »aus«.  Umgekehrt: 
Von  dem,  was  ich  wahrnehme,  wenn  ich  den  Stein  betrachte,  sage 
ich,  es  ist  hart  oder  glatt.  Dagegen  sage  ich  von  der  Gebärde 
nicht,  sie  »ist«  traurig  oder  stolz;  und  wenn  ich  etwa  so  sage, 
dann  weiß  ich,  daß  ich  mich  nicht  korrekt  ausdrücke.  Ich  weiß, 
es  wäre  richtiger,  wenn  ich  sagte,  die  Gebärde  ist  eine  Gebärde 
»des«  Stolzes  oder  »der«  Trauer.  Dies  aber  heißt  wiederum: 
sie  ist  eine  solche,  die  Stolz  oder  Trauer  ausdrückt. 

Mit  einem  Worte,  zwischen  der  Gebärde  und  dem  Psychischen, 
das  für  mich  in  derselben  »liegt«,  besteht  eine  Beziehung  eigener 
Art,  insbesondere  eine  Beziehung  von  anderer  Art,  als  die  asso- 
ziative Beziehung  zwischen  der  optischen  Wahrnehmung  des  Steines 
und  der  Vorstellung  seiner  Härte  oder  Glätte  und  ähnlichen,  über- 
haupt eine  Beziehung,  die  von  aller  bloßen  Assoziation  grundsätz- 
lich verschieden  ist.  Es  besteht  zwischen  der  Gebärde  und  dem, 
was  sie  ausdrückt,  die  Beziehung,  die  ich  wegen  ihrer  Eigenart 
zunächst  mit  einem  allgemeinen  Namen,  nämlich  dem  Namen  der 
symbolischen  Relation,  bezeichne.  Die  besondere  Art  der  symbo- 
lischen Relation  wiederum,  die  hier  in  Frage  steht,  bezeichne  ich 
speziell  als  symbolische  EinfUhlungsrelation,  oder  kurz  als  Relation 
der  Einfühlung. 

Daß  die  Beziehung  des  Eingefühlten  zu  demjenigen,  in  das  es 
eingefühlt  ist,  keine  einfache  Assoziation  sei,  dies  habe  ich  selbst 
ehemals  nicht  erkannt.  Ich  bezeichnete  selbst  gelegentlich  diese 
Beziehung  als  assoziative  Beziehung.  Ich  tat  dies  im  Gegensatze 
zu  Volkelt,  der  von  vornherein  leugnete,  daß  es  sich  hier  um 
eine  Assoziation  der  gewöhnlichen  Art  handle.  Ich  muß  jetzt 
Volkelt  recht  geben.  Die  Einftlhlungsbeziehung  oder  Einfuhlungs- 
relation  ist  in  der  Tat  eine  Beziehung  durchaus  eigener  Art.  Sie 
ist  insbesondere  auch  eine  Beziehung  von  besonderer  Innigkeit. 
Sie  darum  mit  Volkelt  als  »Verschmelzung«  zu  bezeichnen, 
möchte  ich  doch  aus  den  gelegentlich  angeführten  Gründen  auch 
weiterhin  ablehnen. 

Im  oben  angeführten  Beispiele  einer  Assoziation  war  mit  einer 
sinnlichen  Wahrnehmung  die  Vorstellung  eines  sinnlich  Wahr- 
nehmbaren assoziiert.    Die  Sache  ändert  sich  aber  nicht,  wenq 


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Weiteres  zur  »Einfühlung«. 


4H7 


wir  mit  einer  sinnlichen  Wahrnehmung  die  Vorstellung  einen  Psy- 
chischen assoziiert  denken. 

Ich  sehe  etwa  ein  Ding,  und  weiß,  irgend  jemand  wünscht 
dasselbe  zu  besitzen,  oder  hat  sich  darüber  gefreut,  oder  hat  über 
das  Dasein  desselben  sich  geärgert.  Dann  ist  zweifellos  ftlr  mich 
mit  der  Wahrnehmung  des  Dinges  die  Vorstellung  dieses  psychischen 
Tatbestandes  assoziiert.  Aber  wiederum  »drückt«  mir  das  Ding 
nicht  Freude,  Wunsch,  Arger  »aus«. 

Was  nun  ist  eigentlich  das  Besondere  dieses  »Ausdrückens«? 
Zweifellos  liegt  ja  darin  etwas  Eigenartiges.  Und  dies  Eigen- 
artige muß  festgestellt  werden. 

Die  nächste  Antwort  auf  die  gestellte  Frage  lautet:  Das  Aus- 
drücken ist  in  jedem  Falle  ein  Intendieren  oder  Meinen.  Jeder- 
mann versteht  es  und  findet  es  in  der  Ordnung,  wenn  ich  sage:  Die 
Gebärde  der  Trauer  »meint«  die  Trauer,  oder  sie  »zielt«  auf 
die  Trauer  oder  richtiger  auf  die  Kundgabe  derselben  »ab«;  sie 
ist  nicht  »um«  ihrer  selbst,  sondern  »um«  der  Trauer  »willen«  da. 
Statt  zu  fragen,  was  die  Gebärde  ausdrücke,  fragen  wir  auch, 
was  sie  »wolle«. 

Dieser  Sachverhalt  nun  wird  verständlich  und  einzig  verständ- 
lich, wenn  wir  die  Einfühlungsrelation  so  bestimmen,  wie  ich  sie 
bestimmt  habe:  Ich  sehe  die  Gebärde  und  erlebe  in  der  Wahr- 
nehmung derselben  eine  Tendenz  oder  einen  Antrieb  zu  einer  be- 
stimmten Art  des  inneren  Verhaltens  oder  der  psychischen  Ein- 
stellung, nämlich  derjenigen,  die  jedermann  mit  dem  Namen 
Trauer  bezeichnet.  Ich  erlebe  die  Tendenz  »in«  der  Wahr- 
nehmung, d.  h.  der  Akt  der  Wahrnehmung,  oder  genauer,  der  Akt 
der  Auffassung  des  Wahrgenommenen,  und  diese  Tendenz,  traurig 
gestimmt  zu  sein  oder  mich  traurig  zu  fühlen,  dies  beides  ist  ein 
einziger  ungeteilter  psychischer  Akt.  Die  fragliche  Tendenz  ist 
in  dem  Wahrnehmungsakt  ursprünglich  oder  instinktiv,  vermöge 
einer  wunderbaren  und  nicht  weiter  zurückftihrbaren  Einrichtung 
meiner  Natur,  unmittelbar  eingeschlossen. 

Dies  Eingeschlossen  sein  der  »Tendenz«,  mich  traurig  zu  fühlen, 
in  dem  Wahrnehmungs-  oder  Apperzeptionsakt  kann  ich  aber 
weiter  auch  so  bezeichnen:  Der  Akt  der  Wahrnehmung  selbst 
zielt,  vermöge  dieser  Einrichtung,  über  sich  selbst  hinaus  zum 
Erleben  oder  zum  Vollzug  jener  inneren  Einstellung. 

Dieser  Sachverhalt  ist  unmittelbar  deutlich  in  andern  Fällen 

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468 


Th.  LippB, 


des  »Auedrucks«.  Ein  Satz,  den  ich  höre,  drückt  ein  Urteil  aus. 
Dies  heißt  zweifellos:  Er  zielt  auf  einen  Urteilsakt,  der  in  mir 
zustande  kommen  soll.  Ich  soll  so  urteilen,  wie  es  der  Satz  aus- 
sagt. Auch  dies  »Sollen«  ist  eine  in  der  Wahrnehmung  oder  Apper- 
zeption des  Satzes  unmittelbar  liegende  Tendenz.  Ich  bezeichne 
dieselbe  als  ein  »Sollen«,  weil  sie  nicht  eine  spontan  in  mir  ent- 
stehende, sondern  in  dem  Satze  ftlr  mich  liegende,  in  der  Auf- 
fassung des  Satzes,  dieses  von  mir  unterschiedenen  Gegen- 
standes meiner  Wahrnehmung,  unmittelbar  eingeschlossene 
Tendenz  ist. 

Genau  so  nun  wie  der  Satz  ein  Urteil,  so  drückt  die  Gebärde 
der  Trauer  Trauer  aus,  d.  h.  das  »Ausdrücken«  ist  in  beiden 
Fällen  in  demselben  Sinne  gemeint.  Also  wird  eB  auch  in  beiden 
Fällen  den  gleichen  Tatbestand  bezeichnen;  d.  h.  auch  daß  die 
Gebärde  der  Trauer  Trauer  ausdrückt,  besagt,  ihre  Auffassung 
schließe  die  Tendenz  zum  Erleben  oder  Vollzug  des  »Ausgedruck- 
ten« in  sich.  Auch  in  diesem  Falle  darf  ich  die  Tendenz  als  ein 
Sollen  bezeichnen:  Ich  darf  sagen,  ich  »soll«  Trauer  fühlen. 
Auch  hier  eben  ist  die  Tendenz  zu  dieser  inneren  Einstellung 
nicht  etwas  aus  mir,  d.  h.  aus  meinen  eigenen  traurigen  Erleb- 
nissen Stammendes,  sondern  etwas,  das  in  der  Wahrnehmung 
eines  von  mir  unterschiedenen  Gegenstandes  liegt.  Sie  iBt  ein 
von  dem  Gegenstande  her  an  mich  ertönender  Ruf,  eine  Auf- 
forderung oder  Zumutung,  die  er  an  mich  stellt 

Damit  ist  das  Eigentümliche  bezeichnet,  das  in  dem  Worte 
»Ausdrücken«  liegt,  und  seinen  spezifischen  Sinn  ausmacht.  Viel- 
leicht findet  jemand,  daß  andere  Wendungen  den  Sachverhalt 
besser  beschreiben,  als  die  von  mir  gebrauchten.  In  jedem  Falle 
steht  es  dem  Psychologen  nicht  an,  über  das  Wesen  der  Ein- 
fühlung zu  urteilen,  ehe  er  sich  über  das  in  dem  Begriffe  des 
»Ausdrucks«  liegende  Eigentümliche  —  und  daß  in  dem  Be- 
griffe etwas  Eigentümliches  liegt,  das  über  die  bloße  Assoziation 
hinausgreift,  kann  niemand  zweifelhaft  sein  —  volle  Rechenschaft 
gegeben  hat. 

Nach  dem  Obigen  erscheint  die  Unterscheidung  zwischen 
»direkten«  und  »assoziativen«  Faktoren  in  der  Wirkung  des 
ästhetischen  Objektes  als  im  Grunde  unzulässig.  Es  ist  aber  nicht 
nur  das  Spezifische  des  ästhetischen  Objektes,  daß  in  ihm  mit  dem 
sinnlich  Wahrgenommenen  ein  Psychisches  in  ganz  besonderer 


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Weiteres  zur  »Einfühlung«. 


469 


Weise,  die  von  aller  Assoziation  grundsätzlich  verschieden  ist, 
verknüpft  erscheint,  sondern  wir  müssen  allgemeiner  sagen:  Es 
gehört  Uberhaupt  alles  dasjenige,  was  mit  dem  wahrgenommenen 
ästhetischen  Objekt  lediglich  durch  Assoziation  im  gewöhnlichen 
Sinne  dieses  Wortes  zusammenhängt,  nicht  zum  ästhetischen 
Objekt  als  solchem. 

Ist  mir  etwa  ein  Bild  von  lieber  Hand  geschenkt,  so  kann 
zwischen  dem  Bilde  und  der  »lieben  Hand«  die  innigste  Assozia- 
tion bestehen.  Aber  mit  dem  ästhetischen  Wesen  des  Bildes  hat 
dies  nichts  zu  tun. 

Es  genügt  auch  nicht,  daß  etwa  nur  die  eindeutigen  und  not- 
wendigen Assoziationen  als  Faktoren  in  der  ästhetischen  Wirkung 
eines  Gegenstandes  angesehen  werden.  Was  sind  das,  eindeutige 
nnd  notwendige  Assoziationen?  In  unserem  Falle  wird  man  sagen, 
die  Assoziation  zwischen  dem  Bilde  und  dem  Umstände,  daß  es 
mir  von  lieber  Hand  geschenkt  worden  ist,  sei  keine  eindeutige 
und  notwendige,  d.  h.  in  dem  Bilde  selbst  »liege«  davon  nichts. 
So  nimmt  in  der  Tat  Ettlpe,  soviel  ich  sehe,  die  eindeutigen  und 
notwendigen  Assoziationen.  Aber,  daß  etwas  in  einem  sinnlich 
Wahrgenommenen  unmittelbar  »liegt«,  darin  »liegt«  eben  jeder- 
zeit mehr  als  eine  bloße  Assoziation. 

Die  liebe  Hand,  von  der  ich  hier  rede,  oder  das,  was  sie  zur 
> lieben«  Hand  macht,  ist  wiederum  ein  Psychisches.  Aber  nehmen 
wir  nun  ein  Beispiel,  in  welchem  ein  Physisches  mit  einem  sinn- 
lich wahrgenommenen  Objekt  assoziiert  ist. 

Mit  der  Vorstellung  eines  schweren  Körpers,  der  ohne  Unter- 
stützung in  der  Luft  schwebt,  ist  die  Vorstellung  des  Fallens  ver- 
knüpft. Und  diese  Verknüpfung  ist  so  notwendig,  als  irgendeine 
Assoziation  sein  kann.  Dies  hindert  doch  nicht,  daß  die  Kunst 
schwebende  Körper  darstellt.  Und  die  Erfahrung  zeigt,  daß  der 
Gedanke  des  Fallens  hier  ästhetisch  gar  nicht  in  Frage  kommt. 
Antwortet  man  darauf,  für  die  ästhetische  Betrachtung  sei  eben 
diese  Assoziation  keine  notwendige,  sie  sei  es  so  wenig,  daß  sie 
in  solcher  Betrachtung  überhaupt  nicht  bestehe  oder  nicht  zur 
Wirkung  komme,  so  liegt  darin  nichts  anderes  als  das  Zuge- 
ständnis, daß  auch  die  notwendigsten  Assoziationen  für  das 
ästhetische  Objekt  bedeutungslos  sein  können.  Und  dies  wiederum 
heißt,  daß  die  Erfahrungsassoziationen  rein  als  solche  ästhetisch 
überhaupt  nichts  zur  Sache  tun.    Wir  können  mit  Bezug  auf  die 

Archiv  f&r  PsycLologi«.   IV.  31 

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470 


Th.  Lipps. 


erwähnte  Assoziation  wiederum  sagen:  Sie  ist  ästhetisch  bedeutungs- 
los, weil,  mag  sie  so  notwendig  sein  wie  sie  will,  in  dem 
Schweben  nichts  vom  Fallen  »liegt«. 

Hiergegen  wendet  man  vielleicht  ein:  Aber  wir  interpretieren 
doch  die  flächenhafte  Darstellung  körperlicher  Objekte  in  einem 
gemalten  oder  gezeichneten  Bilde  dreidimensional.  Die  perspek- 
tivische Ansicht  eines  Hauses  etwa  repräsentiert  uns  das  an  sich 
nicht  perspektivisch  verschobene  Haus.  Und  dies  hat  doch  in 
einer  Erfahrungsassoziation  seinen  Grund.  Zugleich  ist  solche 
dreidimensionale  Umdeutung  ästhetisch  keineswegs  irrelevant. 
Sie  ist  eine  wesentliche  Voraussetzung  des  ästhetischen  Eindruckes, 
den  ich  von  dem  Bild  gewinnen  soll.  Ich  gebe  gleicherweise  der 
kleiner  gezeichneten  Gestalt  im  Hintergrunde  des  Bildes  auf  Grund 
von  Erfahrungsassoziationen  ihre  wirkliche  Größe.  Und  wiederum 
hat  dies  für  die  ästhetische  Betrachtung  des  Bildes  entscheidende 
Bedeutung. 

Aber  hier  muß  ich  eben  der  Meinung,  der  Zusammenhang 
zwischen  dem  Bilde  und  dem,  was  es  »vorstellt«,  sei  ein  lediglich 
assoziativer  im  gewöhnlichen  Sinne  des  Wortes,  widersprechen. 
Dies  heißt  nicht,  daß  auch  hier  Einfühlung  vorliege.  Die  wirk- 
liche Gestalt  des  perspektivisch  dargestellten  Hauses  oder  die 
wirkliche  Größe  der  verkleinert  gezeichneten  Person  wird  in  das 
Wahrgenommene  gewiß  nicht  »eingefühlt«.  Wohl  aber  darf  ich 
sagen:  ich  »sehe«  sie  unmittelbar  »darin«;  oder  wiederum:  sie 
»liegt«  für  mich  darin.  Ich  sehe  nicht  das,  was  ich  sehe,  und 
knüpfe  daran  die  Vorstellung  des  wirklichen  Sachverhaltes,  so 
wie  ich  an  die  Wahrnehmung  des  schwebenden  Körpers  die  Vor- 
stellung des  Fallens  oder  an  die  optische  Wahrnehmung  des 
Steines  die  Vorstellung  seiner  Härte  knüpfe,  sondern  »in«  dem 
flächenhaften  Bild,  das  ich  mit  dem  sinnlichen  Auge  sehe,  denke 
ich  den  dreidimensionalen  Körper,  oder  stellt  sich  dem  geistigen 
Auge  der  dreidimensionale  Körper  dar.  Ich  »sehe«  ebenso,  näm- 
lich mit  demselben  »geistigen  Auge«,  in  dem  verkleinerten  Bilde 
den  Menschen,  der  an  sich  nicht  verkleinert,  sondern  ebenso  groß 
ist,  als  wenn  er  im  Vordergrunde  stände.  Was  ich  mit  dem  sinn- 
lichen Auge  sehe,  ist  mir  Repräsentant  oder  Symbol  des  da- 
mit Gemeinten  oder  vom  geistigen  Auge  »Gesehenen«.  Es  »drückt« 
mir  nicht  etwas  »aus«,  aber  es  bedeutet  mir  etwas.  Kurz  es 
besteht  auch  hier  zwischen  dem,  was  ich  sehe,  und  dem,  was  ich 


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Weiteres  zur  »Einfdhlungc. 


471 


nicht  sehe,  und  was  doch  zum  ästhetischen  Objekt  mit  hinzu- 
gehört, eine  Art  der  symbolischen  Relation.  Mag  beim  Zu- 
standekommen derselben  die  Erfahrung  noch  so  sehr  beteiligt  sein, 
so  ist  dieselbe  doch  nicht  einfach  gleichbedeutend  mit  erfahrungs- 
gemäßer Verknüpfung.  Die  fragliche  symbolische  Relation  ist 
nicht  dieselbe,  wie  diejenige,  die  zwischen  einer  Gebärde  und 
dem,  was  sie  ausdruckt,  besteht,  sondern  sie  ist  die  symbolische 
Relation  zwischen  »Erscheinung«  und  dem,  was  >darin  erscheint, 
oder  darin  gedacht  wird.  Aber  auch  diese  symbolische  Relation 
ist  ihrem  letzten  Grunde  oder  eigentlichen  Kerne  nach  etwas  von 
jeder  bloßen  Erfahrungsassoziation  grundsätzlich  Verschiedenes. 

Jetzt  können  wir  genauer  sagen,  welcher  Art  unter  allen  Um- 
ständen die  Beziehung  sein  muß,  die  zwischen  der  sinnlich  wahr- 
genommenen Komponente  des  ästhetischen  Objektes  einerseits  und 
dem,  was  sonst  zum  ästhetischen  Objekt  gehören  soll,  besteht.  Sie 
ist  jederzeit  eine  symbolische  Relation.  Und  die  Relation  zwischen 
jener  Komponente  und  dem  in  dem  Objekt  »ausgedrückten« 
Psychischen  ist  diejenige  Art  der  symbolischen  Relation,  die 
den  besonderen  Namen  »Einftthlungsrelation«  trägt. 

Das  Studium  der  symbolischen  Relationen  und  insbesondere  das 
Studium  der  Einfllhlungsrelation,  die  Besinnung  darüber,  was  das 
spezifische  Wesen  der  »Bedeutung«,  und  insbesondere  darüber, 
was  das  spezifische  Wesen  des  »Ausdruckes«  ausmacht,  wird  für 
alle  weitere  Stellungnahme  zum  Begriffe  der  Einfühlung,  und  dem- 
nach auch  zum  Begriffe  der  ästhetischen  Sympathie,  überhaupt 
for  jede  Stellungnahme  zur  Frage,  was  außer  dem  in  der  Wahr- 
nehmung unmittelbar  Gegebenen  zum  ästhetischen  Objekt  gehöre 
oder  dasselbe  konstituiere,  unerläßliche  Bedingung  sein. 

Dieses  Studiums  der  symbolischen  Relation  und  insbesondere 
der  Einfllhlungsrelation  wird  sich  vor  allem  wohl  oder  übel 
Witasek  befleißigen  müssen. 

Auf  Kttlpes  experimentelle  Widerlegung  des  Satzes,  daß  der 
Kern  alles  ästhetischen  Genusses  in  der  ästhetischen  Sympathie  liege 
oder  Genuß  dieser  Sympathie  sei,  komme  ich  an  anderer  Stelle. 
Aber  ich  darf  wohl  hier  schon  die  Erwartung  aussprechen,  daß 
der  Tag  kommen  wird,  wo  K.  Uber  solche  »experimentelle  Psycho- 
logie« ebenso  denken  wird,  wie  ich  es  jetzt  schon  zu  tun  mir 
erlaube. 

31* 

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472 


Tb.  Lipps. 


Ich  habe  oben  an  Witasek  die  Frage  gerichtet,  wie  er  sich 
das  Mitvorstellen  eines  Psychischen  »in  der  sinnlichen  Wahr- 
nehmung eines  ästhetischen  Objektes  denke,  oder  was  dies 
Psychische  an  das  sinnlich  Wahrgenommene  binden  solle.  Jetzt 
stelle  ich  die  weitere  Frage,  was  denn  unter  der  »anschau- 
lichen« Vorstellung  eines  Psychischen  von  ihm  verstanden  sei? 

Zweifellos  stelle  ich  eine  Farbe  so  anschaulich  als  möglich  vor, 
wenn  ich  sie  wahrnehme.  Im  übrigen  hat  derjenige  die  anschau- 
lichste Farbenvorstellung,  bei  dem  sich  die  vorgestellte  Farbe, 
d.  h.  das  Vorstellungsbild  derselben,  der  wahrgenommenen,  oder 
dem  Wahrnehmungsbilde  derselben,  am  meisten  nähert  Das  volle 
Schauen  der  Farbe  ist  das  sinnliche  Schauen. 

Statt  dessen  kann  ich  auch  sagen:  Die  Farbe  ist  anschaulich 
vorgestellt  in  dem  Maße,  als  ich  sie  »erlebe«  oder  als  sie  sich  in 
mir  oder  meinem  Bewußtsein  der  »erlebten«  nähert.  Das  »Erleben« 
des  sinnlich  Wahrnehmbaren  ist  das  Wahrnehmen  desselben. 

Nun,  ebenso  ist  die  Vorstellung  eines  Psychischen  eine  anschau- 
liche in  dem  Maße,  als  die  Vorstellung  sich  dem  Erleben  nähert 
oder  in  dasselbe  Übergeht.  In  der  Tat  scheint  mir  die  Erklärung 
Witasek s,  im  ästhetischen  Objekt  sei  mit  dem  sinnlich  Wahr- 
genommenen die  »anschauliche«  Vorstellung  eines  Psychischen 
verknüpft,  das  Zugeständnis,  daß  die  bloße  Vorstellung  eines 
Psychischen  als  Grund  eines  ästhetischen  Genusses  ihm  nicht  ge- 
nügt, sondern  daß  er  mehr,  nämlich  ein  Erleben  desselben, 
fordert 

Freilich  Witasek  definiert  die  »Anschaulichkeit«  der  Vor- 
stellung anders.  Sie  ist  ihm  offenbar  dies,  daß  ich  von  dem  Vor- 
gestellten ein  Bild  habe,  daß  der  vorgestellte,  genauer  gesagt, 
der  in  der  Vorstellung  gemeinte  oder  gedachte  Gegenstand  in 
meinem  Bewußtsein  durch  ein  Bild  eben  dieses  Gegenstandes, 
nicht  etwa  durch  ein  bloßes  Wort  oder  Wortbild  repräsentiert  sei. 

Indessen  in  einem  solchen  Bilde  »schaue«  ich  den  damit  ge- 
meinten oder  dadurch  repräsentierten  Gegenstand  doch  eben  nur 
in  dem  Maße  »an«,  als  dies  Bild  mit  dem  Gegenstand  überein- 
stimmt Und  dies  heißt:  in  dem  Maße,  als  ich  darin  den  Gegen- 
stand erlebe. 

Mag  nun  aber  das  Wort  »anschaulich«  diesen  oder  jenen  Sinn 
haben,  in  jedem  Falle  findet  im  ästhetischen  Genuß  ein  solches 


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Weiteres  zur  »Einfühlung«. 


473 


Erleben  statt  oder  —  so  wollen  wir  zunächst  sagen  —  es  kann 
darin  stattfinden.  Anch  Witasek  hat  zweifellos  schon  in  dem 
Leiden  einer  Person,  die  in  einem  Roman  oder  Drama  auftritt, 
sich  bedrückt  oder  bekümmert,  von  der  frohen  Zuversicht  einer 
andern  sich  gehoben  oder  »angesteckt«  gefühlt  Und  er  wußte 
dabei  sein  Gefühl  von  der  bloßen  Vorstellung,  auch  der  möglichst 
»anschaulichen«  Vorstellung,  daß  irgendwo  in  der  Welt  ein  Gefühl 
des  inneren  Druckes  oder  Kummers  oder  des  Gegenteiles  sich 
finde,  oder  daß  irgendwo  in  der  Welt  Zuversicht  gefühlt  werde' 
sehr  wohl  zu  unterscheiden. 

Es  gibt  aber  sogar  Menschen,  die  von  den  Leiden  und  Nöten, 
der  Not  und  dem  Kummer  einer  epischen  oder  dramatischen  Ge- 
stalt zu  Tränen  »gerührt«  werden. 

Vielleicht  sagt  man,  dies  letztere  sollte  nicht  Bein.  Solches 
Verhalten  sei  kein  eigentliches  ästhetisches  Verhalten  mehr.  Mag 
es  so  sein.  Aber  warum  eigentlich?  Darauf  muß  die  Antwort 
lauten  :  weil  das  künstlerisch  dargestellte  Leiden  gar  nicht  um 
seiner  selbst  willen  da  ist.  D.  h.  es  ist  nicht  dazu  da,  damit  es 
für  sich  allein  mit-  oder  nacherlebt  werde. 

Ich  sage  deutlicher,  was  ich  hiermit  meine.  Unlust  ist  nicht 
etwas,  das  irgendwo  in  der  Welt  für  sich  vorkäme  oder  ein 
selbständiges  Dasein  hätte.  Sondern  Unlust  stammt  immer  aus 
einer  Quelle  oder  Wurzel  in  einer  Gesamtpersönlicbkeit  So  ist 
es  nicht  nur  an  sich,  sondern  auch  für  mich.  An  der  Unlust,  wie 
an  jedem  Gefühl  überhaupt,  hängt  für  mich  die  fühlende  und  in 
dem  Gefühl  sich  kundgebende  Persönlichkeit  Demgemäß 
ist  auch  das  volle  Miterleben  der  Unlust  notwendig  jederzeit  Mit- 
erleben einer  Gesamtpersönlichkeit  Dies  heißt  zunächst:  Ich  kann 
Unlust  positiv  miterleben;  d.  h.  sie  kann  zu  meiner  eigenen  Un- 
lust werden,  nur  unter  der  Voraussetzung,  daß  ich  auch  diese  Ge- 
samtpersönlichkeit positiv  mitzuerleben  vermag.  Die  Unlust  etwa, 
die  einem  bloßen  Irrtum  entstammt,  die  sinnlose,  in  keiner  Weise 
gerechtfertigte  Unlust,  der  blinde  Arger  oder  dergleichen  weckt 
in  mir,  vorausgesetzt,  daß  mir  dieser  Grund  der  Unlust  bekannt 
ist,  kein  Mitleid.  Ich  kann  den  blinden  Ärger  innerlich  nicht 
»mitmachen«,  weil  ich  die  Blindheit,  der  er  entstammt,  und  die 
ihn  charakterisiert,  nicht  mitmachen  kann.  Angesichts  solcher 
Unlust  kann  ich  also  auch  nicht  >gerührt«  in  Tränen  zerfließen. 

Gesetzt  aber,  irgendwelche  Unlust  ist  nicht  sinnlos,  sonde  rn  an 


f 

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474 


Th.  Lipps, 


sich  menschlich  wohl  berechtigt,  zugleich  von  so  tiefgehender  Art, 
daß  sie  besser  als  Sorge,  Kummer,  innere  Not,  Angst,  vielleicht 
Verzweiflung  bezeichnet  wird.  Dann  sind  zwei  Möglichkeiten, 
daß  ich  zu  Tränen  gerührt  werde,  also  die  Unlust  in  möglichster 
Stärke  innerlich  miterlebe.  Einmal:  In  der  dargestellten  Gestalt 
fehlt  jedes  Moment  der  Kraft,  deB  Kampfes,  der  inneren  Gegen- 
wehr, des  Trotzes,  des  Humors  und  dergleichen;  knrz  es  fehlt  in 
ihr  alles  das,  dessen  Miterleben  mein  Mitleid  hindern  kann  und  muß, 
bloßes  Mit-Leiden  zn  sein.  Zum  andern:  Diese  Momente  fehlen 
iu  der  dargestellten  Gestalt  nicht,  sie  finden  aber  in  mir  keinen 
genügend  starken  Widerhall.  Ich  erlebe  also  diese  Momente  nicht 
oder  nicht  in  gleicher  Stärke  mit.  Ich  fühle  den  Kummer,  die 
Sorge  usw.,  aber  nicht  in  gleichem  Maße  die  innerliche  Kraft  der 
Persönlichkeit,  welche  die  Unlust  in  sich  erlebt.  Ich  bin  dazu 
nicht  imstande,  weil  ich  selbst  kraftvollerer  innerer  Erregungen 
oder  Verhaltungsweisen  unfähig,  weil  ich  allzu  weicher  Natur  bin. 

In  diesen  beiden  Fällen  wird  und  muß  es  schließlich  dazu 
kommen,  daß  ich  von  der  bloßen  Tatsache  der  »Unlust«,  d.  h. 
des  Kummers,  der  Sorge  usw.,  ganz  und  gar  hingenommen  oder 
ihr  widerstandslos  hingegeben  bin,  daß  ich  also  lediglich  diese 
»Unlust«  nachfühle  oder  miterlebe,  oder  lediglich  das  Leid  mit- 
erleide. 

Schließlich  unterliegen  freilich  die  beiden  hier  unterschiedenen 
Möglichkeiten  der  gleichen  Voraussetzung.  Sic  laufen  auf  die 
gleiche  »Weichheit«  hinaus.  Nur  die  weiche  Natur  wird  den  Mangel 
der  Kraft,  des  Kampfes,  des  Stolzes  usw.  in  der  dargestellten 
Person  ertragen.  Die  weniger  weiche  Natur  fordert  dergleichen. 
Sie  wendet  sich  darum  vielleicht  von  der  Gestalt,  die  nichts  der- 
gleichen verrät,  ab.  Dann  kommt  es  wiederum  zu  keinem  Mit- 
fühlen des  Leidens. 

Was  ich  hier  sage,  hat  allgemeinere  Bedeutung.  Wir  fordern, 
daß  in  dem  Kunstwerk  jederzeit  ein  Mensch  uns  gegenübertritt. 
Ein  »Mensch«,  das  heißt  aber  nicht:  ein  Wesen,  das  bloß  unter 
dem  Unglücke  leidet,  oder  über  beglückende  Erlebnisse  sich  freut. 
»Mensch  sein«  beißt  nicht,  Erlebnissen  und  ihrer  Unlust-  oder 
Lustwirkung  einfach  hingegeben  sein,  sondern  zum  »Mensch  sein« 
gehört,  daß  ich  zu  den  Erlebnissen  auch  etwas  aus  mir  hinzu- 
füge, es  gehört  dazu  Aktivität,  irgendeine  Weise,  in  den  leiden 
und  Freuden  oder  ihnen  gegenüber  spontan  sich  zu  betätigen. 


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Weiteres  zur  >  Ein  tu  Ii  Jung«. 


475 


Der  »Mensch«,  das  ist  der  wollende,  der  innerlich  arbeitende,  auch 
der  sich  wehrende,  der  weiterstrebende,  der  kämpfende  nnd 
ringende,  auch  der  denkende ;  es  ist  der  so  oder  so  Uber  das  Schick- 
sal überlegene  oder  sich  erhebende  usw. 

Solche  Menschen  nun  fordern  wir  in  der  Kunst.  Wir  fordern, 
wo  in  den  Gestalten  einer  Dichtung  Schmerz  oder  Lust  uns  ent- 
gegentritt, also  Bitteres  oder  Süßes  uns  zum  Miterleben  auffordert, 
anch  etwas  von  dem  Salz,  das  in  solcher  Aktivität  der  Persönlich- 
keit, solcher  inneren  Arbeit  liegt;  wir  fordern  ein  Quantum  von 
Stahl  und  Eisen,  irgendwelche  feste  Bestandteile,  etwas  von 
dem,  was  wir  im  positiven  Sinne  des  Wortes  Charakter  nennen. 
Dies  besteht  eben  in  solchen  festen  Bestandteilen  oder  schließt 
anch  solche  in  sich. 

Und  wo  nun  dergleichen  nicht  fehlt,  und  wir  es  verspüren  und 
miterleben,  oder  innerlich  mitmachen,  da  ist  das  weiche  wider- 
standslose Miterleben  des  Unglücks  und  ebenso  das  weiche  wider- 
standslose Miterleben  des  einer  Person  widerfahrenden  Glückes 
ausgeschlossen.  Wir  schmelzen  nicht  dahin,  weder  in  der  einen, 
noch  in  der  andern  Art  des  Miterlebens,  sondern  fUhlen  uns  zu- 
gleich zusammengefaßt,  wollend,  aktiv,  innerlich  arbeitend,  viel- 
leicht Uberlegen.  Jenes  Salz  hindert  das  reine  Gefühl  der  Bitter- 
keit oder  Süßigkeit;  das  Miterleben  der  festen  Bestandteile  wirkt 
dem  Zerschmelzen  oder  Zerfließen  entgegen.  Uberkommt  uns  doch 
für  einen  Augenblick  die  Rührung,  so  schämen  wir  uns  leicht  dieser 
Rührung.  Diese  Beschämung  entstammt  dem  Bewußtsein  einer 
Schwäche;  und  diese  Schwäche  liegt  in  dem  Mangel  dessen,  was 
ich  soeben  als  das  Salz,  als  Stahl  und  Eisen,  oder  als  die  festen 
Bestandteile  bezeichnet  habe. 

Man  versteht,  warum  ich  dies  alles  im  gegenwärtigen  Zusammen- 
hang sage.  Man  verurteilt  die  Rührstücke,  und  mit  gutem  Grunde. 
Und  von  da  aus  nun  könnte  der  > Ästhetiker«  weiter  schließen  und 
sagen:  Rührung  ist  zweifellos  volles  Miterleben.  Wer  beim  An- 
blick  des  traurigen  Geschickes,  das  dem  Helden  oder  der  Heldin 
des  Dramas  widerfahrt,  in  Tränen  zerfließt,  der  erlebt  zweifellos 
dies  traurige  Geschick  mit.  Er  stellt  sich  nicht  bloß  vor,  daß 
irgendwo  Trauer  sei.  Aber  dies  Zerfließen  in  Tränen  ist  eben 
nicht  das  Richtige.  Also  besteht  auch  die  ästhetische  Wirkung, 
welche  ein  Kunstwerk  üben  soll,  oder,  was  dasselbe  sagt,  es  be- 
steht die  ästhetische  Wirkung,  welche  das  Kunstwerk,  falls  es 

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476 


Th.  Lipps, 


wirklich  ein  solches  ist  und  als  solches  genossen  wird,  tatsächlich 
übt,  nicht  in  solchem  Erleben. 

Dies  aber  wäre  ein  übler  Schluß.  Nicht  darin  besteht  der 
Fehler  des  Rührstückes,  daß  es  zum  vollen  Miterleben  zwingt, 
sondern  darin,  daß  dasjenige,  was  es  uns  miterleben  läßt,  nichts 
Volles,  sondern  etwas  Einseitiges  ist.  Sein  Fehler  besteht  nicht 
im  »zu  viel«,  sondern  im  »zu  wenig«.  Es  gibt  uns  Leiden  oder 
Freuden,  traurige  oder  erfreuliche  Geschicke,  aber  es  gibt  uns 
neben  diesem,  was  Menschen  widerfährt  und  von  ihnen  erlebt 
werden  kann,  nicht  auch  einen  Menschen.  Es  gibt  uns  nicht  die 
Würze,  das  Salz,  den  Stahl  und  das  Eisen,  die  festen  Bestandteile, 
die  zum  Menschen  gehören  und  erst  den  Charakter  konstituieren. 
Ja,  es  gibt  uns  schließlich  vielleicht  nicht  einmal  das  Schicksal, 
so  wie  wir  es  kennen,  sondern  ein  positives  oder  negatives  Ideal 
eines  solchen,  ein  reines  Unglück  oder  Glück,  wie  es  in  der  Welt 
nicht  vorzukommen  pflegt,  nnd  darum  uns  unverständlich  ist,  oder 
unverständlich  sein  sollte. 

Und  nicht  dies  ist  der  Fehler  bei  demjenigen,  der  sich  rühren 
läßt,  daß  das  unglückliche  oder  glückliche  Geschick  einer  dar- 
gestellten Person  ihn  so  stark  ergreift,  sondern  der  Fehler  ist, 
daß  ihm  die  Fähigkeit  fehlt,  das,  was  als  Salz  in  Unlust  und 
Freude  wirkt,  mitzuerleben  und  so  eine  Reaktion  gegen  die  schmel- 
zende Hingabe  in  sich  zu  erleben.  Oder  der  Fehler  ist,  daß  er 
seiner  weichen  Natur  zufolge  sich  mit  einem  Kunstwerke,  das 
solche  schmelzende  Hingabc  fordert,  begnügt,  nnd  nicht  dies  Salz 
oder  das,  was  diese  Reaktion  in  ihm  bewirken  müßte,  von  dem 
Kunstwerk  fordert;  daß  er  nicht,  wo  es  ihm  versagt  bleibt, 
vom  Kunstwerk  sich  abwendet. 

Rührung  ist  also  allerdings  kein  ästhetisches  Verhalten;  aber 
nicht  darum,  weil  es  ein  allzu  volles  Miterleben  wäre,  sondern 
darum,  weil  es  ein  einseitiges  und  insbesondere  ein  salzloses  oder 
knochenloses  Miterleben,  oder  weil  es  das  widerspruchslose  Mit- 
erleben eines  salzlosen  oder  knochenlosen  Kunstwerkes  ist.  Oder 
umgekehrt,  das  ästhetische  Verhalten,  das  die  Rührung  ausschließt, 
ist  nicht  ein  minder  volles  Miterleben,  sondern  es  ist  ein  voll- 
ständigeres Miterleben;  oder  es  ist  das  Miterleben  dessen,  was  ein 
inhaltlich  vollständigeres  Kunstwerk  bietet;  eines  Kunstwerkes, 
dem  auch  das  Salz  oder  die  Knochen  nicht  fehlen.  Es  ist  ein 
Miterleben,  in  welchem  ein  Gegeneinanderwirken  der  Akte  des 


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Weiteros  zur  »Einfilhlung«. 


477 


Miterlebens  stattfindet,  weil  in  ihm  nicht  bloß  ein  leidvolles  oder 
erfreuliches  Schicksal,  sondern  zugleich  ein  Mensch  miterlebt 

Mit  Obigem  ist  nnn  auch  schon  gesagt,  wie  es  zu  beurteilen 
ist,  wenn  Witasek  gewissermaßen  triumphierend  meint,  wer  den 
Anfang  des  »Faust«  auf  der  Bühne  sehe,  der  mache  doch  nicht 
nacheinander  die  Angst,  Not,  Verzweiflung  durch,  die  Faust  fühle, 
sondern  er  habe  in  Betrachtung  alles  dessen  einen  ästhetischen 
Genuß.  Ich  meine,  nach  dem  vielen,  was  bisher  schon  über  die 
ästhetische  Einfühlung  gesagt  worden  ist,  hätte  WitaBek  diese 
Bemerkung  unterlassen  müssen. 

Ich  sage  dazu  noch  einmal:  Gewiß  erlebt  der  Zuschauer  im 
Theater  alle  diese  inneren  Vorgänge  in  der  Person  des  Faust 
mit,  aber  er  erlebt  in  sich  noch  etwas  mehr.  Die  Gemüts- 
verfassungen des  Faust  sind  doch  eben  nicht  in  der  Luft 
schwebende  Dinge,  sondern  sie  sind  Gemütsverfassungen  dieser 
bestimmten  Person.  Und  dies  heißt,  daß  der  Zuschauer  diese 
Person  miterlebt,  und  zwar  genau  so,  wie  er  sie  sieht  und  aus 
den  Gemütsverfassungen  und  den  Weisen,  wie  dieselben  sich 
kundgeben,  herausliest.  Und  das  ist  eine  Persönlichkeit,  die 
Kraft  in  sich  trägt,  Tüchtigkeit,  inneren  Reichtum  und  Größe,  das 
ist  der  Faust,  der  immer  strebend  sich  bemüht. 

Diese  Kraft,  diese  Größe,  Tüchtigkeit,  diesen  inneren  Reich- 
tum, dieses  strebende  sich  Bemühen,  diese  innere  Arbeit  in  einem 
Menschen  erleben  wir  aber  nicht  neben  der  Sorge  oder  Ver- 
zweiflung, sondern  unmittelbar  darin.  Noch  mehr,  dies  Mit- 
erleben der  Persönlichkeit  ist  die  Basis  alles  sonstigen  Mit- 
erlebens. Es  ist  der  herrschende  Grundklang  in  dem  reichen 
Akkord  unserer  ästhetischen  Sympathie.  Dies  Bild  stimmt  auch 
insofern,  als  jene  einzelnen  Affekte  der  Sorge,  der  Verzweiflung 
usw.  auf  diesen  Grundklang  hinweisen.  Ja  ihre  eigentliche 
Funktion  ist  es,  darauf  hinzuweisen,  und,  indem  sie  dies  tun, 
diesen  Grundklang,  den  »Menschen«,  im  positiven  Sinne  dieses 
Wortes,  uns  reicher,  größer  und  als  volleren  Menschen  erscheinen 
und  in  uns  miterleben  zu  lassen,  als  Menschen,  der  nicht  nur 
Sorge,  Verzweiflung  überhaupt,  sondern  Bolche  Sorge  und  solche 
Verzweiflung  fühlt  und  eben  darin  als  solchen  Menschen 
sich  ausweist 

Und  erleben  wir  nun  so  in  uns#  diesen  Menschen,'  und  diese 

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478 


Th  Lipp», 


Größe,  Kraft,  Tiefe  und  Weite  eines  Menschen,  dann  erleben  wir 
natürlich  nicht  Kummer  und  Verzweiflung,  so  gewiß  und  im 
gleichen  Sinne,  wie  derjenige,  der  einen  mächtigen  Akkord  hört, 
nicht  einen  einzelnen  der  auf  dem  Grundklang  aufgebauten  Klänge 
hört,  sondern  eben  den  Akkord,  oder,  wenn  man  lieber  will,  nicht 
das  einzelne  in  dem  Akkord  enthaltene  Intervall,  sondern  die  Ein- 
heit der  Intervalle,  die  im  Akkord  in  eines  sich  verweben. 

Dabei  mag  das  einzelne  Intervall  für  sich  dissonant  sein.  Dies 
hindert  doch  nicht,  daß  der  Akkord  konsonant  sei.  Dies  ist  dann 
freilich  eine  Konsonanz  eigener  Art,  nämlich  eine  solche,  die  die 
Dissonanzen  in  sich  aufgenommen  hat. 

So  verhindert  auch  der  Umstand,  daß  Sorge  und  Verzweiflung 
des  Faust  für  uns  Uulustaffakte  sind,  nicht,  daß  unser  Gesamt- 
erlebnis, vermöge  der  inneren  Bereicherung,  Ausweitung,  Hinaus- 
hebung  Uber*  uns  selbst,  die  in  ihm  den  beherrschenden  Grund- 
klang ausmacht,  für  uns  lustvoll  ist,  nicht  lustvoll,  wie  ein  gutes 
Mittagessen  für  uns  lustvoll  sein  kann,  wohl  aber  so,  wie  es  alle- 
mal solche  durch  das  Miterleben  von  Not  und  Verzweiflung  ver- 
mittelte Ausweitung,  Bereicherung,  Hinaushebung  Uber  uns  selbst 
ihrer  Natur  nach  ist. 

Freilich  Witasck  gehört  zu  den  sonderbaren  Gemütern,  für 
welche  »Lust«  allemal  dieselbe  Sache  ist.  Er  kennt  keine  quali- 
tativen Verschiedenheiten  der  Lust.  Und  so  ist  es  kein  Wunder, 
wenn  er  die  Lust,  die  aus  der  Anteilnahme,  nicht  an  Kummer  und 
Verzweiflung,  sondern  an  Kummer  und  Verzweiflung  eines  solchen 
Menschen  uns  erwächst,  —  da  sie  nun  einmal  zweifellos  von 
der  Lust  an  einem  guten  Mittagessen  deutlich  sich  unterscheidet  — 
nicht  versteht.  Solcher  schmerzliche  Genuß  kann  für  ihn, 
wenn  er  konsequent  ist,  Uberhaupt  nicht  existieren. 

Jenes  Miterleben  des  Menschen,  der  auch  in  tiefster  Not  und 
Kümmernis,  und  da  vielleicht  erst;  recht,  als  Menschen  sich  dar- 
stellt, das  Miterleben  menschlicher  Größe,  die  auch  in  Not  und 
Kümmernis,  und  da  vielleicht  erst  recht,  sich  offenbart,  das  ist 
die  ästhetische  Sympathie,  die  Külpe  experimeutell  aus  der  Welt 
geschafft  hat.  Ich  vermute,  sie  wird  aller  KUlpeschen  Experi- 
mentierkunst  und  allem  Mißverständnis  des  Sinnes  der  »experi- 
mentellen Psychologie«  zum  Trotz  das  bleiben,  was  sie  ist,  näm- 
lich der  Kern  alles  ästhetischen  Genusses  überhaupt. 


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Weiteres  zur  > Einfühlung«. 


479 


Zu  allem  dem  muß  schließlich  noch  hinzugefügt  werden :  Ästhe- 
tische Einfühlung,  ästhetisches  Miterleben,  ästhetische  Sympathie 
ist  ästhetische  Einfühlung,  ästhetisches  Miterleben,  ästhe- 
tische Sympathie,  und  schlechterdings  nur  dies.  Sie  ist  Einfüh- 
lung, Miterleben,  Sympathie,  die  in  der  ästhetischen  Betrach- 
tung sich  ergibt.  Das  will  heißen:  Nicht  ich,  der  ich  jetzt,  oder 
wenn  ich  den  Faust  lese,  an  meinem  Schreibtische  sitze,  auch 
nicht  ich,  der  ich,  wenn  ich  den  Faust  aufgeführt  sehe,  auf  einem 
bestimmten,  bequemen  oder  unbequemen  Platze  im  Theater  sitze, 
nicht  ich,  der  ich  mittags  zu  Mittag  und  abends  zu  Abend  esse, 
nicht  ich,  der  ich  in  die  tausendfältigen  Interessen  des  praktischen 
Lebens  verflochten  bin,  kurz  nicht  dies  »reale«  Ich  erlebt  die 
Sorge  und  Bekümmernis  des  Faust  mit,  wohl  aber  das  Ich,  das 
der  Person  des  Faust  und  seinem  Schicksal  und  der  Weise,  wie 
er  es  erlebt  und  innerlich  verarbeitet,  betrachtend  hingegeben  ist 
und  betrachtend  darin  aufgeht. 

Gehe  ich  aber  betrachtend  in  dem  Faust  auf,  dann  bin  ich  in 
diesem  Moment  nur  dies  betrachtende  Ich.  Und  dies  betrachtende 
Ich  ist  in  dem  Faust  oder  ist  der  Faust;  es  ist  ganz  und  gar  in 
ihm  und  ist  nur  in  ihm.  Es  lebt  in  ihm.  Kein  Wunder,  wenn  es 
sein  Erleben  miterlebt.  Dagegen  ist  jenes  andere,  das  reale  loh, 
jetzt  gar  nicht  da;  es  ist  zurückgeblieben.  Das  betrachtende  Ich, 
das  man  auch  ein  ideelles  nennen  mag,  erlebt  mit,  was  da  irgend 
mit  zu  erleben  ist,  d.  h.  vor  allem  die  Persönlichkeit  des  Faust, 
auf  die  alles,  was  sie  in  sich  erlebt,  hinweist.  Das  ist  dann 
natürlich  ein  völlig  anderes  Erleben,  weil  ein  Erleben  in  einer 
ganz  andern  Sphäre  und  unter  Voraussetzung  einer  ganz  andern 
inneren  Einstellung,  als  diejenige  ist,  die  im  praktischen  Leben  in 
mir  stattfindet.  Insbesondere  ist  auch  die  Sorge  und  Verzweiflung 
eine  andere  Sorge  und  Verzweiflung,  als  wenn  ich  besorgt  bin 
Uber  ein  Unglück,  das  mir,  dem  realen  Ich,  in  der  wirklichen 
Welt  widerfahren  könnte;  oder  wenn  ich  an  der  Möglichkeit  meiner 
realen  Existenz  verzweifle.  Es  ist  eben  Miterleben  und  ästhe- 
tisches Miterleben. 

Das  Gefühl,  das  bei  solchem  Miterleben  in  mir  ist,  ist  nicht  »Ernst- 
gefuhl«,  wenn  man  unter  einem  solchen  ein  Gefühl  versteht,  das  sieh 
mir  aus  meinen  praktischen  Lebensbeziehungen  ergibt.  Damm  ist 
es  doch  himmelweit  davon  entfernt,  >  Phantasiere  fühl«  zu  sein,  vor- 
ausgesetzt, daß  man  sich  unter  diesem  Wort  Uberhaupt  etwas  denken 

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480 


Th.  Lipps, 


kann.  Es  ist  Ernstgefühl,  d.  h.  wirkliches  Gefühl,  aber  in  dieser 
besonderen  Sphäre,  nnd  damit  ein  Ernstgefühl  von  diesem  be- 
sonderen Charakter.  Es  gibt  eben  nicht  nnr  zwischen  Himmel  und 
Erde  allerlei,  von  dem  die  Schulweisheit  der  Philosophen,  sondern 
es  gibt  auch  in  des"  Menschen  Brost  noch  allerlei,  insbesondere 
allerlei  Weisen  sich  zu  fühlen,  von  denen  die  Schulweisheit  einiger 
Psychologen  und  Ästhetiker  sich  nichts  träumen  läßt.  Es  gibt  ins- 
besondere, als  etwas,  Tomit  nichts  sonst  in  der  Welt  vergleichbar 
ist,  das  ästhetische  Mitgefühl  oder  Miterleben,  es  gibt,  als  etwas 
Eigenartiges  neben  jeder  sonstigen  Sympathie,  die  ästhetische 
Sympathie. 

Witasek  zitiert  ein  Wort,  das  ich  an  anderer  Stelle  den- 
jenigen gegenübergehalten  habe,  die  das  Besondere  der  ästhe- 
tischen Einfühlung  oder  ästhetischen  Sympathie  nicht  sehen  oder 
einer  Theorie  zuliebe  nicht  sehen  dürfen.  Ich  bitte  an  der  be- 
treffenden Stelle,  man  möge  in  dem  Satze  »Ich  fühle  mich  strebend 
in  der  Säule«  jedes  Wort  in  strengem  Sinne  nehmen.  Witasek 
nun  scheint  hier  zunächst  dies,  daß  ich  mich  strebend  fühle, 
streng  genommen  zu  haben.  Aber  der  Satz  lautet:  ich  fühle  mich 
strebend  in  der  Säule.  Und  daß  ich  in  der  Säule  mich  so  fühle, 
da«  ist  etwas  ganz  anderes,  als  wenn  ich  sonst  mich  strebend 
fühle;  etwas  ganz  anderes,  als  wenn  ich  etwa  das  Streben  fühle 
nach  Vollendung  einer  Korrektur,  die  der  Drucker  nachdrücklich 
fordert. 

Trotz  dieses  meines  Widerspruches  gegen  Witasek  glaube  ich 
doch  nicht  an  die  Schärfe  des  Gegensatzes  zwischen  Witasek 
und  mir.  Und  ich  glaube  ganz  und  gar  nicht  an  die  Schärfe  des 
Gegensatzes  zwischen  Külpe  und  mir.  Auch  Witasek  kanu 
eben  doch  offenkundige  Tatsachen  nicht  leugnen.  Und  Külpe 
kann  neben  den  angeblich  experimentell  gefundenen  Tatsachen  sich 
denjenigen  Tatsachen  nicht  verschließen,  die  jeder  mit  seinen  ge- 
sunden eigenen  Augen  sieht  Es  kommt  doch  nun  eben  einmal 
vor,  daß  Menschen  gerührt  werden ;  es  kommt  vor,  daß  Menschen 
weinen  mit  den  Weinenden  und  sich  freuen  mit  denen,  die  sich 
freuen.  Es  gibt  Mitfreude  und  Mitleid,  z.  B.  tragisches  Mitleid. 
Und  wer  dergleichen  fühlt,  fühlt  es  eben.  Er  stellt  sich  das 
Gefühl  nicht  bloß  vor.  Wer  von  einem  Rührstück  gerührt  wird, 
mag  ein  Weichling  heißen.  Und  vielleicht  verdient  derjenige,  der 
tragisches  Mitleid  fnhlt,  den  gleichen  Nameq.   Dies  heißt  dann 


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Weiteres  zur  »Einfühlung«. 


481 


doch  nur,  es  fehlt  ihm  an  der  Kraft  des  inneren  Widerstandes  oder 
der  inneren  Reaktion.  Je  weniger  also  ich  Widerstand  übe,  desto 
eher  verfalle  ich  dem  vollen  Erleben  des  dargestellten  Affektes. 
Und  dies  heißt:  Mag  man  anch  sagen,  der  in  einem  Kunstwerke 
dargestellte  Affekt,  oder  allgemeiner,  das  in  ihm  dargestellte  Psy- 
chische, werde  von  dem  ästhetischen  Betrachter  nur  »vorgestellt«. 
Dann  ist  doch  in  jedem  Falle  diese  Vorstellung  nicht  eine  bloße 
Vorstellung,  sondern  eine  solche,  welche  die  Tendenz  zum  vollen 
Erleben  in  sich  schließt 

Und  damit  nun  bin  ich  zufrieden.  Wie  weit  diese  Tendenz  zum 
vollen  Erleben  wird,  dies  wird  jedesmal  davon  abhängen,  in 
welchem  Grade  ich  in  das  Kunstwerk  betrachtend  mich  versenke 
oder  mich  hineinlebe.  Und  in  diesem  Punkte  sind  ja  gewiß  große 
individuelle  Unterschiede  nicht  ausgeschlossen.  Der  eine  kann  es 
weniger  als  der  andere. 

Ich  bin  aber  nicht  nur  damit  zufrieden,  daß  man  die  Ein- 
fühlung zunächst  als  eine  »Tendenz«  des  vollen  Miterlebens  be- 
zeichne, die  im  gegebenen  Falle  bald  mehr,  bald  minder  sich 
verwirklicht,  sondern  ich  fordere  auch,  daß  man  dies  tue. 

Man  vergesse  doch  auch  nicht  den  Gegensatz  der  positiven  und 
der  negativen  Einfühlung.  Auch  darauf  muß  ich  hier  der  Mißver- 
ständnisse der  ästhetischen  Einfühlung  wegen,  die  nicht  aufhören 
zu  wollen  scheinen,  mit  einem  Worte  eingehen. 

Zur  Illustrierung  dieses  Gegensatzes  habe  ich  gelegentlich  ein- 
ander gegenübergestellt  die  Einfühlung  in  die  Gebärde  des  edeln 
Stolzes  und  die  Einfühlung  in  die  Gebärde  des  dummen  Hochmutes. 
In  beiden  Fällen  besteht  der  Tendenz  nach  ein  Miterleben;  in  beiden 
Fällen  ist  mir  durch  die  Wahrnehmung  der  Gebärde  zugemutet, 
in  bestimmter  Weise  mich  innerlich  einzustellen  und  zu  fühlen; 
das  eine  Mal  in  der  Weise  des  edeln  Stolzes,  das  andere  Mal  in 
der  Weise  des  dummen  Hochmutes.  Beide  Male  dringt  das  Ge- 
fühl, das  für  mich  in  der  Gebärde  liegt,  in  mich  ein.  Aber  das 
eine  Mal,  beim  edeln  Stolz,  um  von  mir  frei  aufgenommen  zu 
werden.  Es  ist  in  mir  eine  natürliche  Sehnsucht,  mich  stolz  zu 
fllhlen  oder  stolz  fühlen  zu  können.  Diese  Sehnsucht  begegnet 
der  Aufforderung,  welche  die  Gebärde  des  edeln  Stolzes  an  mich  stellt, 
mich  so  zu  fühlen.  Darum  erscheint  dieselbe  nicht  als  »Zumutung», 
sondern  als  freies  Sichausleben  meines  eigenen  Wesens. 


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482 


Th.  Lipps. 


Das  andere  Mal  dagegen  sträubt  sieh  der  tiefste  Grund  meines 
Wesens  gegen  die  Zumutung,  mich  so  zn  fühlen,  wie  es  die  Gebärde 
»will«.  Ich  setze  mich  mehr  oder  minder  heftig  gegen  den  Hoch- 
mut, der  in  mich  eindringt  und  von  mir  miterlebt  werden  soll. 
Jenen  edeln  Stolz  verspüre  ich  darum  als  eine  Lebensbejahnng, 
die  ich  gern  innerlich  in  mir  vollziehe;  diesen  dummen  Hochmut 
dagegen  als  eine  abzuweisende  Lebensverneinung. 

In  keinem  Falle  aber  stelle  ich  bloß  vor.  In  jedem  Falle 
erlebe  ich.  Nur  dort  eine  freie,  obzwar  aus  dem  Objekt  stam- 
mende und  durch  dasselbe  in  mir  angeregte  —  in  diesem  Sinne 
nicht  »spontane*  —  Betätigung  meiner  selbst;  im  andern  Falle 
einen  Eingriff  in  mein  Selbst.  Ich  erlebe  im  letzteren  Falle  das 
in  mich  Eingreifende  nicht  als  etwas,  zu  dem  mein  eigenes  Weseu 
ja  sagt,  sondern  ich  erlebe  es  eben  als  Eingriff,  den  ich  abwehre. 

Auf  diesem  Boden  nun,  meine  ich,  kann  ich  mich  mit  meinen 
Herren  Gegnern  finden.  Aber  das  ist  eben  nicht  der  Boden  der 
Vorstellung,  weder  der  anschaulichen  noch  der  unanschaulichen, 
sondern  der  Boden  der  Einfühlung,  der  ästhetischen  Sympathie,  der 
positiven  und  der  negativen.  —  Man  könnte  diese  negative  Sym- 
pathie auch  ästhetische  Antipathie  nennen. 

Ich  unterziehe  aber  die  Tatsache  der  Einfühlung  im  folgenden 
noch  einer  weiteren  Betrachtung.  Ich  erinnere  zunächst  zur  Klä- 
rung dieser  Tatsache,  ich  hoffe  zum  Überfluß,  an  Tatsachen,  die 
niemand  leugnet.  Ich  meine  die  Tatsache  der  unwillkürlichen, 
automatischen  oder  instinktiven  Nahahmung. 

Ich  greife  das  trivialste  Beispiel  solcher  Nachahmung  heraus. 
Es  ist  dies  dasselbe  triviale  Beispiel,  von  dem  ich  auch  in  der 
jetzt  im  Erscheinen  begriffenen  zweiten  Auflage  meiner  »Ethischen 
Grundfragen«  ausgehe.  Der  Begriff  der  Einfühlung  ist  ja  eben- 
sowohl ein  ethischer  wie  ein  ästhetischer  Grundbegriff;  nur  daß 
in  der  Ethik  die  Einfühlung  als  praktische,  in  der  Ästhetik  als 
ästhetische  in  Betracht  kommt. 

Gähnen  wirkt  ansteckend  oder  suggestiv.  Ich  sehe  einen  Men- 
schen gähnen;  und  dies  veranlaßt  mich  zu  gähnen.  Ich  gähne 
unwillkürlich  mit.  Den  Sinnen  stellt  sich  hier  die  Nachahmung 
dar  als  äußere  Nachahmung.  Aber  dieser  äußeren  liegt  eine 
innere  Nachahmung  zugrunde.  Der  körperliche  Vorgang  des 
Gähnen»  vollzieht  sich  bei  mir,  weil  die  innere  Zuständigkeit, 


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Weiteres  zur  > Einfühlung«. 


483 


Verfassung,  Einstellung,  Verhaltungsweise  in  mir  da  ist,  aus  welcher 
dieser  körperliche  Vorgang,  die  äußerlich  sichtbare  Gähnbewegung, 
naturgemäß  hervorgeht.  Dieser  innere  Zustand  wird  in  mir  durch 
die  optische  Wahrnehmung  des  Gähnens  eines  andern  ins  Dasein 
gerufen.  Ich  stelle  diesen  inneren  Zustand  nicht  vor,  sondern  ich 
erlebe  ihn.    Er  ist  in  mir  da. 

Ein  Seitenstttck  nun  zu  dieser  unwillkürlichen  Nachahmung, 
ja  schließlich  nur  ein  spezieller  Fall  derselben  ist  die  Einfühlung, 
von  welcher  ich  in  diesem  Zusammenhange  rede.  Dieselbe  ist 
gewiß  nicht  dieselbe  Sache,  wie  das  instinktive  Nachgähnen.  Aber 
es  liegt  ihr  dieselbe  allgemeine  psychologische  Tatsache  zugrunde. 

Das  Allgemeine,  was  uns  jenes  Gähnen  lehrt,  ist  dies,  daß  die 
sinnliche  Wahrnehmung  der  körperlichen  Folgeerscheinungen  einer 
psychischen  Zuständigkeit,  Weise,  sich  innerlich  zu  betätigen  und 
zu  fühlen,  eben  diese  psychische  Zuständigkeit  in  mir  zu 
wecken  »tendiert«.  Nun  dies  Allgemeine  liegt  auch  bei  der  Ein- 
fühlung vor.  Die  innere  Verfassung  oder  Zuständlichkeit  aber,  die 
innere  Weise,  sich  zu  betätigen  oder  zu  fühlen,  welche  die  sinn- 
lich wahrgenommene  Gebärde  der  Trauer  zur  körperlichen  Folge- 
erscheinung hat,  ist  die  Trauer.  Es  muß  also  in  mir,  wenn  ich 
die  Gebärde  der  Trauer  sehe,  die  Tendenz  entstehen  zur  Verwirk- 
lichung der  inneren  Zuständlichkeit,  Verfassung,  Weise,  mich  zu 
betätigen  und  zu  fühlen,  die  man  Trauer  nennt. 

Natürlich  hätte  ich  im  obigeu  an  die  Stelle  des  unwillkürlichen 
Nachgähnens  irgendwelche  sonstige  instinktive  Nachahmungen,  die 
Nachahmung  etwa  von  Grimassen,  von  halsbrecherischen  Be- 
wegungen usw.,  anführen  können.  In  der  Tat  gilt  von  aller  un- 
willkürlichen Nachahmung  das,  was  oben  Uber  das  unwillkürliche 
Nachgähnen  gesagt  wurde.  Solche  Nachahmung  pflegen  wir  Ge- 
bildeten, von  Anstandsrücksichten  Beherrschten,  wir,  die  wir  uns  in 
der  Gewalt  haben,  in  der  Regel  zu  unterlassen,  d.  h.  wir  unter- 
lassen die  äußere  Nachahmung.  Aber  eiue  Art  oder  ein  Grad  der 
inneren  und  dann  weiterhin  auch  eine  Tendenz  der  äußeren 
Nachahmung  fehlt  nie,  nur  daß  sie  durch  die  Gegentendenzen,  die 
wir  Anstandsrücksichten  und  dergleichen  nennen,  im  Sehach  gehalten 
wird.  Beweis  für  das  Dasein  der  Tendenz  ist  dies,  daß  bei  Sug- 
gestibeln,  d.  h.  bei  solchen,  bei  welchen  die  in  uns  wirkendeu 
Hemmungen  oder  Gegentendenzen  fehlen,  oder  mindere  Kraft  haben, 
auch  die  äußere  Nachahmung  widerstandslos  sich  vollzieht.  Immer 

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484 


Th.  Lipps. 


ist  doch  auch  dabei  die  Nachahmung  notwendig  zunächst  eine 
innere.  Ohne  diese  wäre  ja  die  äußere  Nachahmung  ein  voll- 
kommenes Wunder.  Man  müßte,  um  sie  verständlich  zu  machen, 
zu  magischen  Vorstellungen  seine  Zuflucht  nehmen. 

Statt  innerer  Nachahmung  nun  kann  ich  ebensowohl  sagen: 
inneres  Nacherleben.  Die  innere  Nachahmung  besteht  darin,  daß 
ich  die  der  äußeren  Bewegung  zugrunde  liegende  innere  Zustiind- 
lichkeit  nicht  vorstelle,  sondern  in  mir  erlebe.  Und  solches  innere 
Nacherleben  ist  »Einfühlung«. 

Beachten  wir  diesen  Sachverhalt,  so  erscheint  die  Einfühlung, 
und  dies,  daß  die  Einfühlung  zunächst  der  Tendenz  nach  und  dann 
weiterhin  je  nach  Umständen  mehr  oder  minder  tatsächlich  eiu 
Erleben  ist,  als  eine  selbstverständliche  Sache. 

Zu  dem  gleichen  Ergebnis,  wie  im  vorstehenden,  werde  ich 
nun  aber  auch  auf  anderem  Wege  geführt.  Die  Behauptung,  ein 
Objekt  werde  dadurch  für  mich  erfreulich,  daß  ich,  indem  ich  es 
wahrnehme,  ein  Psychisches  vorstelle,  ist  gewiß  nicht  in  dem 
Sinne  gemeint,  daß  jedes  Psychische,  das  ich  bei  der  Wahrneh- 
mung eines  Objektes  mit  vorstelle,  dies  Objekt  ästhetisch  erfreu- 
lich macht.  Auch  wenn  ich  dummen  Hochmut  vorstelle,  stelle  ich 
etwas  Psychisches  vor.  Aber  die  Gebärde  des  dummen  Hochmutes 
ist  ästhetisch  nicht  erfreulich.  Es  müßte  denn  sein,  daß  etwas 
anderes,  Positives,  hinzutritt,  ein  Moment  etwa,  wodurch  dieser 
dumme  Hochmut  mir  in  humoristischem  Licht  erscheint. 

Allgemein  gesagt:  die  Vorstellung  eines  Psychischen  kann  nur 
erfreulich  sein,  wenn  das  Psychische  selbst,  sei  es  an  sich  oder 
durch  etwas  anderes,  das  in  ihm  sich  ausspricht,  erfreulich  ist. 
Oder  sollte  etwa  die  Meinung  Witaseks  sein,  die  Vorstellung 
eines  Psychischen  sei  allemal  erfreulich?  Dagegen  würden  doch 
die  Tatsachen  allzu  lauten  Widerspruch  erheben. 

Nehmen  wir  in  jedem  Falle  der  Einfachheit  wegen  an,  Wita- 
sek  meine,  wenn  er  den  ästhetischen  Genuß  auf  die  Freude  an 
der  Vorstellung  eines  Psychischen  zurückführt,  allemal  die  Vor- 
stellung eines  erfreulichen  Psychischen.  Er  behaupte  also,  die 
Mitvorstellung  eines  erfreulichen  Psychischen  bei  der  Wahrneh- 
mung eines  sinnlichen  Objektes  mache  dies  Objekt  ästhetisch 
erfreulich.  Dann  rede  ich  nicht  noch  einmal  davon,  daß  die 
Verbindung  des  Psychischen  mit  dem  Sinnlichen  eine  Verbindung 


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Weiteres  zur  »Einfühlung«. 


485 


von  besonderer  Art  sein  muß,  wenn  das  ästhetische  Wohlgefallen 
zustande  kommen  soll.  Mag  die  Verbindnng  sein,  welche  sie  will. 

Wohl  aber  erhebt  sich  jetzt  für  uns  die  Frage,  ob  wirklich  die 
Vorstellung  eines  erfreulichen  Psychischen  ohne  weiteres  selbst 
erfreulich  sei? 

Darauf  muß  ich  antworten,  daß  ich  davon  nichts  weiß.  Die  Er- 
innerung an  eine  Freude,  an  irgendwelches  lustvolle  innere  oder 
psychische  Verhalten  ist,  soviel  ich  sehe,  keineswegs  ohne  weiteres 
lustvoll.  Ich  kann  mich  ärgern  darüber,  daß  ich  mich  freute.  Ich 
kann  beschämt  sein  darüber,  daß  ich  stolz  war.  Ich  kann  mir  vor- 
stellen und  mir  eine  vollkommen  »anschauliche«  Vorstellung  davon 
machen,  daß  eiue  läppische  » Auszeichnung «  in  mir  dasselbe  Ge- 
fühl der  befriedigten  Eitelkeit  weckte,  wie  es  bei  solcher  Gelegen- 
heit in  andern  zu  entstehen  scheint,  und  kann  dabei  ein  Gefühl 
der  Selbstverachtung  haben. 

Nur  unter  einer  Voraussetzung  allerdings  ist  für  mich  das  vor- 
gestellte Psychische  erfreulich,  nämlich  wenn  ich  es  billige.  Es 
ist  unweigerlich  unerfreulich,  wenn  ich  es  mißbillige.  Und  es  ist 
in  solchem  Falle  um  so  unerfreulicher,  je  »anschaulicher«  ich 
es  mir  vorstelle. 

Daß  ich  aber  eine  vergangene  Freude  billige,  dies  heißt,  daß 
ich  mich  jetzt  wiederum  freue,  nicht  über  die  vergangene  Freude, 
sondern  Uber  eben  das,  worüber  ich  ehemals  mich  freute.  Billige 
ich  ehemaligen  Stolz,  Trotz,  oder  was  es  sonst  sein  mag,  so  fühle 
ich  jetzt,  indem  ich  mir  den  Gegenstand  des  Stolzes  und  Trotzes 
und  die  Situation,  unter  welcher  ich  stolz  oder  trotzig  war,  ver- 
gegenwärtige, sie  innerlich  wiederum  ins  Dasein  rufe,  auch  wieder- 
um Stolz  oder  Trotz.  Dies  liegt  im  Sinne  der  Billigung.  Die 
Billigung  ist  tatsächliche  Einstimmigkeit  meines  gegenwärtigen 
Wesens  und  Verhaltens  mit  dem,  was  ich  billige. 

Und  ebenso  muß  ich  nun  auch  das  in  einem  andern  vorge- 
stellte psychische  Verhalten  billigen,  d.  h.  innerlich  mitmachen, 
wenn  es  für  mich  lustvoll  sein  soll. 

Vielleicht  nennt  Witasek  die  Vorstellung  hier  jedesmal  eine 
anschauliche.  Nun,  danu  ist  völlig  klar:  Wi taseks  anschauliche 
Vorstellungen  eines  Psychischen  sind  keine  bloßen  Vorstellungen, 
sondern  Erlebnisse.  Siud  sie  dies  nicht,  so  sind  sie  nicht  Gegen- 
stand der  Lust. 

Areliir  für  Psychologie.    IV.  32 

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486 


Th.  Lipp», 


Von  hier  aas  komme  ich  aber  weiter  auf  einen  Gegensatz 
zweier  verschiedener  Klassen  von  ästhetischen  Gefühlen,  den 
Witasek  statuiert.  Wenn  ich  mit  der  Wahrnehmung  des  Moses 
des  Michel  Angelo  die  »Vorstellung«  des  heiligen  Zornes  verbinde, 
so  ist  das  Gefühl  der  Lust,  das  ich  auf  Grund  davon  an  dem 
Moses  habe,  für  Witasek,  wenn  ich  nicht  irre,  ein  Vorstellungs- 
gefühl.  Erzählt  dagegen  ein  Dichter,  sein  Held  habe  sich  irgend- 
wie innerlich  verhalten,  er  sei  etwa  in  heiligen  Zorn  geraten,  dann 
nennt  er  die  Freude,  die  mir  daraus  erwächst,  ein  Urteilsgefuhl. 
Und  diese  Urteilsgefuhle  nennt  er  auch  Wertgefuhle. 

Hier  nun  wird  Witasek  zunächst  guttun,  den  Ausdruck 
»Urteilsgefuhle«  zu  beseitigen.  Unter  UrteilsgefUhlen  wird  schwer- 
lich jemand  etwas  anderes  verstehen  als  die  intellektuellen  Ge- 
fühle der  Gewißheit,  des  Zweifels  usw. 

Doch  lassen  wir  dies.  Wertgefuhle  sind  für  Witasek,  ge- 
nauer gesagt  für  Meinong,  und  darum  auch  für  Witasek,  Ge- 
fühle, die  sich  knüpfen  an  das  Bewußtsein,  daß  etwas  sei,  daß, 
wie  ich  sagen  würde,  ein  Gegenstand  oder  eine  Relation  zwischen 
Gegenständen,  bzw.  Teilgegenständen  gelte,  daß  es  sich  irgendwo 
in  der  Welt  wirklich  oder  tatsächlich  so  und  nicht  anders  verhalte. 
VorstcllungsgefUhle  dagegen  sind  Gefühle,  die  sich  knüpfen  ein- 
fach an  einen  vorgestellten  Gegenstand.  Jenes  »daß«,  —  daß  etwas 
sei  oder  daß  eine  Relation  gelte  — ,  nennt  Witasek  auch,  wiederum 
nach  dem  Vorgang  Meinongs,  ein  »Objektiv«.  »Objektive«  sind 
das,  was  im  Urteile  bejaht  oder  verneint  wird.  Nun,  bejahen  oder 
verneinen  kann  ich  nur  Geltungsansprüche.  »Objektive«  sind  also 
Geltungsansprtiche,  d.  h.  Ansprüche  von  Gegenständen  oder  Rela- 
tionen, geltende  zu  sein. 

Aber  auch  dies  nur  nebenbei.  Was  mich  an  dieser  Stelle  einzig 
interessiert,  das  ist  die  Frage,  wie  es  mit  dem  Meinong- Wita- 
sekschen  Gegensatz  der  »Vorstellungsgefühle«  und  der  »Urteils- 
gefuhle«, insbesondere  soweit  beide  ästhetische  Gefühle  sein  sollen, 
tatsächlich  bestellt  sei.  Ich  bemerke  gleich:  Meine  Meinung  geht 
dahin,  daß  es  um  diesen  Gegensatz  sehr  übel  bestellt  sei. 

Nehmen  wir  einmal  an,  eben  das,  was  ein  Plastiker,  etwa 
Michel  Angelo  in  seinem  Moses,  plastisch  darstellt,  werde  von 
einem  Dichter  erzählt  oder  in  Worten  dargestellt  Dann  ist  das 
Gefühl,  das  der  Dichter  weckt,  für  Witasek  ein  Urteilsgefuhl. 
Warum?    Nun,  weil  ich  mich  freue,  »daß'  nach  Aussage  des 


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Weiteres  zur  »Einfühlung«. 


487 


Dichters  etwaB  geschehen  ist,  »daß«  etwa  seinen  Worten  zufolge 
Moses  in  heiligen  Zorn  ausgebrochen  ist.  Aber  wenn  ich  nun  dies 
>daß«  weglasse  und  einfach  sage,  ich  freue  mich  Uber  den  vom 
Dichter  mir  mitgeteilten  heiligen  Zorn  des  Moses,  dann  scheint 
mein  Gefühl  kein  Urteilsgeiuhl  mehr  ;  es  scheint  znm  Vorstellunga- 
gefühl  geworden.  Ich  freue  mich  Uber  diesen  vom  Dichter  mir  mitge- 
teilten heiligen  Zorn  genau  so,  wie  ich  mich  Uber  den  vom  Plastiker 
plastisch  dargestellten  oder  > mitgeteilten«  heiligen  Zorn  freue. 

Aber,  so  sagt  man  vielleicht,  meine  Freude  beruht  im  ersteren 
Falle  doch  zweifellos  nicht  darauf,  daß  ich  mir  den  Zorn  vorstelle, 
sondern  darauf,  daß  der  Dichter  mir  sagt,  er  habe  stattgefunden, 
und  daß  ich,  was  der  Dichter  sagt,  annehme  oder  hinnehme.  Und 
diese  Annahme  oder  Hinnahme,  dies  Geltenlassen  dessen,  was  der 
Dichter  sagt,  muß  als  eine  Art  von  Urteil  bezeichnet  werden. 

Aber  wenn  es  so  ist,  dann  vollziehe  ich  angesichts  der  pla- 
stischen Gestalt  ganz  gewiß  auch  ein  Urteil.  Und  ich  vollziehe 
unter  der  von  mir  gemachten  Voraussetzung  ihr  gegenüber  genau 
dasselbe  Urteil. 

Das  Urteil,  so  sagte  ich  vorhin,  ist  das  Bewußtsein  der  Geltung 
eines  Gegenstandes  oder  einer  Relation  zwischen  Gegenständen 
Es  ist  das  Bewußtsein  der  Wirklichkeit  oder  Tatsächlichkeit  eines 
Gegenstandes  oder  Sachverhaltes.  Nun,  zweifellos  habe  ich  gegen- 
über der  Mitteilung  des  Dichters  eine  Art  von  Wirklichkeitsbewußt- 
sein. Aber  genau  dasselbe  Wirklichkeitsbewußtsein  habe  ich,  und 
womöglich  noch  eindringlicher,  angesichts  der  Statne.  Der  Zorn 
des  Moses  hat  für  mich  eindringlichere  Realität,  wenn  ich  ihn  ans 
der  plastischen  Gestalt,  als  wenn  ich  ihn  aus  den  Worten  des 
Dichters  herauslese. 

Doch  gehen  wir  dieser  Sache  etwas  genauer  nach.  Ich  weiß, 
daß  der  Mephisto  Goethes  eine  rein  dichterische  Gestalt  ist,  daß 
es  einen  Mephisto  nie  gegeben  hat,  daß  also  auch  nie  von  ihm  die 
Worte  gesprochen  worden  sind,  die  Goethe  ihn  sprechen  läßt. 
Dennoch  kann  ich  darüber  streiten,  wie  Mephisto  dem  Faust  oder 
dem  Herrn  an  einer  bestimmten  Stelle  antwortet.  Ich  kann  sagen, 
er  antwortet  »tatsächlich«  so,  und  nicht  etwa  so. 

Und  es  ist  wohl  zu  beachten,  daß  ich  damit  nicht  etwa  ein 
Urteil  fällen  will  Uber  meine  oder  über  Goethes  Phantasietätigkeit, 
sondern  ich  fälle  es  Uber  die  Person  des  Mephisto.  Ich  will 
zunächst  nicht  sagen :  I  c  h  stelle  mir  jetzt  in  meiner  Phantasie  den 

32* 


488 


Th.  Lipps, 


Mephisto  so  vor.  Vorstellen  kann  ich  mir  ja  ebensowohl  jede  be- 
liebige andere  Antwort  des  Mephisto.  Tue  ich  dies  aber,  so  weiß 
ich,  die  Antwort  des  Mephisto  lautet  tatsächlich  nicht  so,  wie 
ich  sie  mir  vorstelle,  sondern  vielleicht  vollkommen  entgegengesetzt. 

Ebensowenig  aber  will  ich  mit  meiner  Behauptung  sagen, 
Goethe  habe  in  seiner  Phantasie  den  Mephisto  in  dieser  bestimm- 
ten Weise  antworten  lassen.  Diese  Deutung  meiner  Behauptung 
ist  schon  dadurch  widerlegt,  daß  ich  ja  sage,  Mephisto  > ant- 
wortet«, d.  h.  daß  für  mich  oder  mein  Bewußtsein  die  Antwort 
des  Mephisto  nicht  etwa  der  Vergangenheit,  sondern  der  unmittel- 
baren Gegenwart  angehört.  Dagegen  ist  die  Phantasietätigkeit 
Goethes  zweifellos  eine  vergangene  Tatsache. 

Andererseits  rede  ich  doch  auch  wiederum  nicht  von  dem  histo- 
rischen Mephisto,  sondern  von  dem  Goeth eschen,  oder  richtiger 
gesagt  von  dem  Mephisto  der  Dichtung.  Aber  dieser  hat  eine 
eigentümliche  Daseinsweise.  Er  ist  zweifellos  ehemals  von  Goethe 
ins  Dasein  gerufen.  Aber  nachdem  er  einmal  ins  Dasein  gerufen 
und  in  den  Worten  der  Dichtung  zur  künstlerischen  Darstellung 
gekommen  ist,  hat  er  eine  Art  von  Wirklichkeit;  was  er  tut  und 
sagt,  ist  in  gewissem  Sinne  eine  gegen  jeden  Zweifel  feststell- 
bare > Tatsache«.  Und  mein  Bewußtsein  von  dieser  Tatsache, 
mein  Bewußtsein,  es  sei  um  die  Reden  und  Handlungen  des 
Mephisto  tatsächlich,  oder  es  sei  um  sie  »in  Wirklichkeit«  so  und 
nicht  anders  bestellt,  kann  ein  Urteil  heißen.  Ein  solches  Urteil 
fälle  ich  nicht  nur  in  diesem  bestimmten  Falle,  sondern  es  liegt 
für  mich  ein  solches  in  jeder  Aussage  einer  Dichtung. 

Zugleich  aber  muß  ich  hinzufügen,  der  plastische  oder  in  einem 
Gemälde  dargestellte  Vorgang,  die  plastisch  oder  malerisch  darge- 
stellte Lebensäußerung  etwa,  hat  diese  Wirklichkeit  nicht  minder, 
das  Bewußtsein  davon  ist  ein  völlig  gleichartiges  »Urteil«. 

Hiermit  uun  sind  wir  auf  eine  psychologische  Tatsache  gestoßen, 
die  einige  Wichtigkeit  besitzt,  die  darum  die  Psychologie  ausdrück- 
lich anerkennen  sollte.  Es  ist  ein  Verdienst  Meinongs,  in  seinem 
Buche  über  »die  Annahmen«  auf  diese  und  verwandte  Tatsachen 
ausdrücklich  hingewiesen  zu  haben.  Ich  meine  mit  dieser  Tatsache 
eben  jene  in  den  Worten  der  Dichtung  oder  in  den  Formen  eines 
plastischen  Bildwerkes  und  dergleichen  liegenden  Quasi-Urteile. 

Meinong  uuu  hat  diese  Quasi-Urteile  Annahmeu  genannt.  Damit 


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Weiteres  zur  > Einfühlung. 


4M 


hat  doch  Mein o ng  dieselben  schwerlich  verstündlicher  gemacht.  In 
der  Tat  ist  ja  die  Annahme  im  eigentlichen  Sinne,  insbesondere  im 
Sinne  der  wissenschaftlichen  Annahme,  etwas  ganz  anderes.  Weder, 
wenn  ich  den  Dichter  sagen  höre,  Moses  sei  in  einen  heiligen 
Zorn  geraten,  noch  auch  wenn  ich  diesen  heiligen  Zorn  in  dem 
plastisch  dargestellten  Moses  unmittelbar  finde,  mache  ich  die 
•  Annahme«,  oder  »fingiere«  ich  gar,  Moses  sei  in  einen 
solchen  heiligen  Zorn  geraten  oder  sei  jetzt  von  heiligem  Zorn 
erfüllt.  Sondern  in  jenem  Falle  höre  ich,  in  diesem  Falle  sehe 
ich,  daß  es  so  sich  verhält. 

Dagegen  können  wir  das  fragliche  Wirklichkeitsbewnßtsein 
wohl  bezeichnen  als  ein  »Hinnehmen«.  Besser  ist  es  vielleicht, 
wir  lassen  auch  diesen  Ausdruck  und  sprechen  statt  dessen  von 
einem  außerlogischen  Wirklichkeits-  oder  Tatsächlichkeitsbewußt- 
sein.  Berücksichtigen  wir  den  Umstand,  daß  dasselbe  vorzugsweise 
ästhetische  Bedeutimg  hat,  so  können  wir  es  auch  das  ästhetische 
Wirklichkeits-  oder  Tatsächlichkcitsbewußtscin  nennen.  So  wollen 
wir  es  in  der  Tat  der  Kürze  halber  im  folgenden  nennen. 

Welchen  Namen  aber  wir  der  in  Rede  stehenden  Tatsache 
geben  mögen,  in  jedem  Falle  müssen  wir  uns  darüber  klar  sein, 
worin  sie  besteht.  Die  Antwort  auf  diese  Frage  nun  muß  lauten: 
Dies  Wirklichkeitsbewnßtsein  ist  nichts  als  das  einfache  und  un- 
bestrittene Dasein  eines  Gegenstandes  Air  mich  überhaupt.  Ein 
Gegenstand  hat  diese  ästhetische  Wirklichkeit,  dies  heißt:  er  steht 
einfach  als  etwas  von  mir  Unterschiedenes  da  vor  mir,  oder  mir 
gegenüber,  und  ich  nehme  ihn  ohne  weitere  Frage  hin,  so  wie  er 
eben  da  vor  mir  steht.  Die  ästhetische  Wirklichkeit  ist  diese  ein- 
fach »fraglose«  Gegenständlichkeit  oder  »Objektivität«,  das 
einfache  und  unbestrittene  Gegebensein  als  Gegenstand  meines 
Denkens.  Das  Bewußtsein  davon  ist  das  Erleben  dieses  Sach- 
verhaltes. 

Dies  Wirklichkeitsbewnßtsein  ist  wohl  zu  unterscheiden  von 
jedem  empirischen  Wirklichkeitsbewußtsein.  Das  letztere  beruht 
auf  Erfahrung,  d.  h.  letzten  Endes  auf  eigener  oder  fremder  Wahr- 
nehmung. Und  dies  gilt  von  der  ästhetischen  Wirklichkeit  nicht. 
Sie  ist  nicht  in  der  Erfahrung  begründet;  sie  ist  überhaupt  nicht 
im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  »begründet«.  Sondern,  ich 
wiederhole,  sie  ist  mit  dem  einfachen  und  unbestrittenen  Dasein 
eines  Gegenstandes  für  mich  gegeben,  oder  sie  ist  das  einfache, 

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490 


Tb.  Lipp«, 


von  keiner  Frage  nach  dem  Rechte  des  Daseins  behelligte  Dasein 
für  mich;  sie  ist  dies  ruhige  Gegenständlichsein. 

Da  sie  nichts  anderes  ist  als  dies,  so  eignet  jedem  Gegenstand, 
der  für  mich  da  ist,  oder  von  mir  gedacht  wird,  an  sich,  d.  h. 
abgesehen  von  jeder  Frage  nach  dem  Rechte  dieses  Daseins,  solche 
ästhetische  Wirklichkeit.  Damit  aber  ist  zugleich  gesagt,  daß  die 
ästhetische  Wirklichkeit  aufgehoben  werden  kann.  Sie  wird  es, 
Bobald  das  Dasein  des  Gegenstandes  nicht  mehr  unbestritten  ist, 
sobald  also  das  Recht  dieses  Daseins  in  Frage  gestellt  wird. 

Letzteres  aber  ist  beispielsweise  immer  der  Fall,  wenn  ein 
Gegenstand  mir  als  bloßer  Phantasiegegenstand  erscheint.  Er 
erscheint  mir  als  solcher,  oder  ist  für  mich  ein  solcher,  d.  h.  ich 
habe  das  Bewußtsein,  daß  ich  diesen  Gegenstand  willkürlich  ins 
Dasein  rufe. 

Dies  Bewußtsein  nun  ist  ein  Bewußtsein  meiner  Tätigkeit.  Und 
dies  Tätigkeitsbewnßtsein  setzt,  wie  jedes  Tätigkeitsbewußtsein 
überhaupt,  einen  Widerstand  voraus,  oder  setzt  etwas  voraus,  wo- 
gegen ich  tätig  bin.  Dasjenige  aber,  wogegen  ich  in  der  Her- 
vorbringung von  Phantasiegegenständen  tätig  bin.  ist  die  Erfahrung, 
genauer  gesagt,  die  erfahrungsgemäße  oder  > empirische«  > Forde- 
rung« von  Gegenständen. 

Ich  stelle  etwa  einen  goldenen  Berg  vor,  d.  h.  ich  verbinde  die 
Elemente  oder  Teilgegenstände,  »Gold«  und  »Berge«  genannt,  zu  dem 
Gesamtgegenstande,  der  den  Namen  »goldener  Berg«  trägt.  Hier 
fordert  die  Erfahrung  eine  andere  Verbindung.  Sie  fordert,  daß 
ich  Gold  denke  nicht  in  Gestalt  von  Bergen,  sondern  in  anderer 
Gestalt,  etwa  von  Goldmünzen  oder  Goldbarren  oder  Goldgeräten 
usw. ;  und  sie  fordert ,  daß  ich  Berge  denke  nicht  als  aus  Gold, 
sondern  als  aus  Erde  und  Gestein  bestehend.  Das  Bewußtsein 
dieser  Forderung  oder  richtiger  dies  »Forderungserlebnis«  nun 
schließt  zugleich  in  sich  eine  Tendenz  zur  entsprechenden  Kombi- 
nation der  Vorstellungselemente.  Und  diese  Tendenz  steht  der 
Vorstellung  des  goldenen  Berges  entgegen  und  macht,  daß  dieser 
Gegenstand  nicht  mehr  unbestritten  für  mich  da  ist.  Wenn  ich 
ihn  vorstelle,  so  tue  ich  dies  willkürlich,  d.  h.  widerrechtlich,  oder 
im  Gegensatz  zu  jener  Forderung. 

Es  kann  aber  unter  bestimmten  Umständen  auch  geschehen, 
daß  das  Dasein  eines  Gegenstandes,  der  tatsächlich  "  ein  bloßer 
Phantasiegegenstand  ist,  für  mein  Bewußtsein  nicht  begleitet  ist  von 


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Weitere«  zur  »Einfühlung«. 


491 


dem  Bewußtsein,  derselbe  sei  von  mir  ins  Dasein  gerufen.  Es 
begegnet  etwa  einem  Dichter,  daß  die  von  ihm  erdichteten  Ge- 
stalten auftreten,  ohne  daß  er  weiß,  wie  ihm  geschieht.  Sie  gind 
eben  da  und  erfreuen  sich  eines  unbestrittenen  Daseins.  Dann 
eignet  ihnen  eben  damit  jene  ästhetische  Wirklichkeit.  Der  Dichter 
sagt  und  darf  sagen,  die  Gestalten  sind  da,  ich  weiß  nicht  woher; 
und  sie  sind  so,  wie  sie  sind  ;  und  sie  gerieren  sich  so  und  nicht 
anders. 

In  solchem  Falle  sprechen  wir  wohl  von  dichterischer  » Inspi- 
ration <.  Diese  Inspiration  hat  den  Charakter  einer  Mitteilung. 
Es  ist  dem  Dichter  so,  wie  wenn  diese  Gestalten  von  einer  fremden 
Macht  ihm  eingegeben  und  vor  sein  Bewußtsein  hingestellt  worden 
seien. 

Dies  nun  fuhrt  uns  darauf,  [daß  jede  tatsächliche  Mittei- 
lung durch  andere  in  gleicher  Weise  Gegenstände  in  der  Weise 
vor  mich  hinstellen  kann,  daß  ihnen  für  mein  Bewußtsein  ein  un- 
bestrittenes Dasein  eignet.  Jemand  berichte  mir  über  eine  Sache, 
von  der  ich  nichts  weiß,  und  keine  Erfahrung  mir  je  etwas  gesagt 
hat.  Dann  veranlaßt  er  mich,  in  dieser  oder  jener  Weise  Gegen- 
stände oder  Teilgegenstände  zu  einem  Gesamtgegenstand  zu  ver- 
einigen, oder  zueinander  in  Relation  zu  setzen.  Auch  die  Gegen- 
stände oder  Sachverhalte,  die  so  für  mich  zustande  kommen, 
können  Phantasiegegenstände  sein,  d.  h.  der  empirischen  Wirklich- 
keit entbehren.  Und  sie  brauchen  auch  für  mein  Bewußtsein 
nicht  wirklich  zu  sein.  Ich  frage  vielleicht  gar  nicht  darnach,  ob 
sie  wirklich  sind  oder  nicht.  Es  »interessiert«  mich  gar  nicht, 
wie  es  sich  damit  verhält.  Aber  sie  stellen  sich  mir  auch  nicht  dar 
als  etwas,  das  durch  mich  ins  Dasein  gerufen  wäre;  sondern  sie 
sind  einfach  da,  und  ihr  Dasein  ist  zunächst  ein  unbestrittenes. 

Dies  hindert  nicht,  daß  auch  die  »ästhetische  Wirklichkeit« 
solcher  mitgeteilter  Gegenstände  uns  verloren  gehen  oder  auf- 
gehoben werden  kann.  Die  empirische  Wirklichkeit  widerspricht 
vielleicht  dem  Mitgeteilten  und  nötigt  mir,  weil  ich  davon  weiß, 
Gegenvorstellungen  auf;  dann  ist  die  ästhetische  Wirklichkeit 
wiederum  dahin. 

Einen  einzigen  Fall  aber  gibt  es  nun,  in  welchem  diese  Gefahr 
unbedingt  ausgeschlossen  ist.  Dieser  Fall  liegt  vor  in  der  ästhe- 
tischen Mitteilung,  d.  h.  in  der  Mitteilung,  welche  mir  das 
Kunstwerk,  etwa  die  Dichtung,  macht.  Betrachte  ich  das  Kunstwerk 

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Th.  Lipp», 


nur  als  solches,  ist  also  meine  Betrachtung  eine  rein  ästhe- 
tische, so  gilt  von  ihr,  was  von  aller  ästhetischen  Betrachtung 
Überhaupt  gilt.  D.  h.  es  liegt  in  der  Natur  derselben,  die  Frage 
nach  der  empirischen  Wirklichkeit  oder  NichtWirklichkeit  dessen, 
was  das  ästhetische  Objekt  mir  sagt  oder  mitteilt,  absolut  auszu- 
schließen. Die  Frage  etwa,  ob  das,  wovon  der  Epiker  erzählt,  in 
der  empirischen  oder  historischen  Wirklichkeit  sich  zugetragen 
habe  oder  nicht,  hat  für  die  ästhetische  Betrachtung  gar  keinen 
Sinn.  Es  kommt  eben  hier  nicht  die  empirische,  sondern  einzig  und 
allein  die  ästhetische  Wirklichkeit  in  Frage.  Die  ästhetische  Be- 
trachtung lebt  nur  in  dieser  Region,  die  von  der  Region,  der  die 
empirische  Wirklichkeit  und  NichtWirklichkeit  angehört,  absolut 
geschieden  ist. 

Diese  ästhetische  Wirklichkeit  dessen,  was  der  Dichter  mit- 
teilt, besteht  aber  nicht  nur,  sondern  sie  ist  eine  unbedingte.  Es 
ist  ein  Vorzug  des  Dichters  vor  dem  Historiker  und  vor  jedem, 
der  empirische  Tatsachen  mitteilt,  daß  wir  ihm  unbedingt 
»glauben«,  d.  h.  daß  wir,  was  er  sagt,  ohne  die  Stellung  einer 
Rechts-  oder  Berecbtigungsfragc  einfach  hinnehmen;  es  sei  denn, 
daß  die  Folgerichtigkeit  der  dichterischen  Mitteilung  selbst  den 
Glauben  aufhebt.  Aber  dieser  Glaube  ist  eben  ästhetischer  Glaube. 
Er  ist  jenes  einfache  > Hinnehmen«. 

Diesen  Glauben  nennen  wir  auch  »Überzeugtsein«.  Das  echte 
Kunstwerk  der  Dichtkunst  redet  überzeugend  zu  uns.  Die  > Uber- 
zeugung«, die  in  dieser  jedermann  vertrauten  Wendung  gemeint 
ist,  ist  genau  das,  was  ich  oben  als  ästhetisches  Wirklichkeits- 
bewußtsein bezeichnete.  In  unserm  Haben  oder  Erleben  derselben 
bestehen  die  »Urteilsakte«,  die  wir  in  der  innerlichen  Aneignung 
eines  dichterischen  Kunstwerkes  vollziehen. 

Hiermit  raeine  ich  das  Wesen  der  Quasi-Urteile,  die  in  den  Aus- 
sagen der  Dichtung  liegen,  bezeichnet  zu  haben.  Ich  muß  aber 
wiederum  hinzufügen :  Genau  solche  »Urteile«  liegen  in  den  »Aus- 
sagen«, ich  meine:  in  den  Formen  und  Farben  der  Werke  der  Bild- 
künste, und  weiter  in  den  Formen  der  Architektur,  kurz  in  jedem 
Kunstwerk  überhaupt.  Wir  fordern  von  beliebigen  sonstigen  Kunst- 
werken, etwa  vom  plastischen  Kunstwerk,  genau  die  gleiche  Über- 
zeugungskraft wie  vom  Kunstwerk  der  Dichtung;  wir  »glauben« 
an  das,  was  uns  das  plastische  Kunstwerk  sagt,  genau  in  dem 
Sinne,  wie  wir  an  das  glauben,  was  die  Dichtung,  insbesondere 


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Weitere»  zur  »Einftihinng«. 


493 


die  epische  Dichtung,  uns  mitteilt.  Wir  glauben  daran  ebenso 
unbedingt. 

Freilich  sagt  das  plastische  Bildwerk,  was  es  zu  sagen  hat, 
nicht  in  Worten.  Es  sagt  nicht  in  sprachlichen  Lauten  und  Laut- 
komplexen, »daß«  das  menschliche  Individuum,  das  in  ihm  dar- 
gestellt ist,  dies  oder  jenes  tue,  etwa  einen  Diskus  zu  werfen  im 
Begriffe  sei,  oder  »daß«  es  so  oder  so  innerlich  sich  verhalte  und 
fühle,  etwa  von  einem  freien,  leichten,  kraftvollen  Lebensgcftlhl 
durchströmt  sei;  es  verwendet  als  Mittel  des  Ausdrucks  nicht  Sätze 
in  Aussageform  mit  einem  sprachlichen  Subjekt  und  Prädikat, 
sondern  es  verwendet  dazu  genau  die  Ausdrucksinittel,  die  nun 
einmal  ihm  als  plastischem  Kunstwerk  spezifisch  eigen  sind. 

Man  sollte  aber  allmählich  gelernt  haben,  das,  was  in  irgend- 
einer Weise  ausgedruckt  ist,  von  den  Mitteln  des  Ausdruckes  zu 
unterscheiden.  Man  sollte  insbesondere  allmählich  gelernt  haben, 
das  in  einem  Satze  ausgesagte  Urteil  von  dem  Satze  oder  der 
Aussage  zu  unterscheiden. 

Die  Satzform  ist  für  den  Sinn  zufällig,  d.  h.  sie  ist  das  Mittel 
der  Kundgabe  eines  Sinnes,  wenn  dieser  Sinn  einmal  sprachlich 
kundgegeben  werden  soll,  so  wie  Gebärden,  Formen,  Farben,  Töne 
das  Mittel  der  Kundgabe  sind,  wenn  einmal  in  Gebärden,  Formen, 
Farben,  Tönen  kundgegeben  werden  soll.  Freilich  geben  zugleich 
alle  diese  Ausdrucksmittel  das  und  nur  das  kund,  was  sie  ver- 
möge ihrer  besonderen  Eigenart  kundgeben  können.  Aber  das 
Bewußtsein  jener  ästhetischen  Wirklichkeit  oder  Tatsächlichkeit 
vermögen  sie  alle  in  gleicher  Weise,  d.  h.  insbesondere  mit  gleich 
»überzeugender  Kraft«,  in  uns  zu  wirken.  Und  nennen  wir  dies 
Bewußtsein  ein  Urteil,  so  sind  sie  alle  im  gleichen  Sinne  Träger 
von  Urteilen. 

Zugleich  müssen  wir  sagen:  Daß  in  irgendeinem  Kunstwerke 
irgend  etwas  ausgedrückt  oder  »dargestellt«  ist,  oder  daß  irgend- 
wie in  dem,  was  eine  Kunst  den  Sinnen  unmittelbar  darbietet, 
etwas  anderes,  nicht  sinnlich  Wahrnehmbares  »liegt«,  dies  besagt 
alleraal  und  unweigerlich,  daß  wir  ein  solches  ästhetisches  Wirk- 
lichkeits-  oder  Tatsächlichkcitsbewußtsein  haben.  Alles,  was  in 
einem  Kunstwerke,  welcher  Gattung  es  immer  angehöre,  »liegt«, 
ist  für  uns  ein  ästhetisch  Wirkliches  oder  Tatsächliches,  oder  ist 
Inhalt  eines  »Urteils«  von  der  Art,  wie  sie  in  den  Aussagen  der 
Dichtung  liegen.    Wir  können  dies  auch  so  ausdrücken:  Die 


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Th.  Lipp», 


»Sprache«  der  Plastik  und  jeder  Kunst  überhaupt  ist  eine  Sprache 
im  selben  Sinne  wie  die  Sprache  des  Dichters  oder  der  Dichtung. 

Hiermit  nun  ist  der  Gegensatz  zwischen  ästhetischen  Vorstel- 
lungsgefühlen und  ästhetischen  Urteilsgefuhlen,  den  Witasek  sta- 
tuiert, völlig  hinfällig  geworden.  D.  h.  es  gibt  keinen  Unterschied 
zwischen  Gefühlen  der  ästhetischen  Befriedigung,  insbesondere  der 
Freude  an  einem  Kunstwerke,  der  darauf  beruhte,  daß  ich  das 
eine  Mal  ein  Psychisches  —  oder  auch  Nichtpsychisches  —  nur 
vorstellte,  das  andere  Mal  ein  Bewußtsein  der  Wirklichkeit  oder  Tat- 
Sachlichkeit  des  Vorgestellten  hätte.  Sondern  alle  Freude  an  einem 
Kunstwerk  ist  jederzeit  in  gleichem  Sinne  Urteilsgefühl,  wenn  man 
das  ästhetische  Wirklichkeits-  oder  Tatsächlichkeitsbewußtsein  ein 
»Urteil«  nennt;  jedes  Gefühl  dieser  Art  ist  in  gleicher  Weise  nicht 
UrteilBgefiihl,  wenn  man  jenem  Bewußtsein  den  Namen  des  Urteils 
verweigert,  und  diesen  Namen  —  wozu  man  gewiß  berechtigt, 
und  mehr  als  berechtigt  ist  —  dem  logischen  oder  Erkenntnis- 
urteil reserviert. 

Bleiben  wir  aber  hier  dabei,  jenem  ästhetischen  Wirklichkeits- 
oder Tatsächlichkeitsbewußtsein  den  Namen  eines  Urteils  zu  geben. 
Dann  erhebt  sich  die  neue  Frage,  wieso  denn  die  Gefühle,  die  solche 
Urteile  voraussetzen  oder  an  ihnen  hängen,  durch  das  Urteil  als 
solches  bedingt  seien  oder  sich  daraus  ergeben.  Darauf  antworte 
ich  sogleich:  Alle  sogenannten  »UrteilsgefUhle«  entstehen  nicht 
aus  einem  Urteil  als  solchem;  sie  sind  also  insofern  nicht  Urteils- 
gefühle, sondern  sie  haften  unmittelbar  an  dem  Erleben  des- 
jenigen, was  in  dem  Urteil  bejaht  wird,  oder  was  für  mich  die 
Wirklichkeit  oder  Tatsächlichkeit  besitzt,  die  ich  im  Akt  des 
Urteilens  anerkenne  oder  »hinnehme«. 

Dies  will  in  den  verschiedenen  Fällen  Verschiedenes  besagen: 
Ich  freue  mich  etwa,  daß  ich  materielle  Mittel  besitze  oder  be- 
sitzen werde.  Ich  habe  sie  jetzt  nicht  in  Händen;  aber  ich 
weiß,  daß  ich  sie  besitze.  Dann  freue  ich  mich  Uber  die  unmittel- 
bar erlebte  Macht,  die  mir  diese  materiellen  Mittel  geben  oder  geben 
werden.  Ich  habe  das  Gefühl  des  Könnens,  der  innern  Weite  und 
Freiheit. 

Diese  Freiheit  ist  die  Freiheit  des  Disponierens  oder  Schaltens. 
Dazu  bemerkt  man  vielleicht:  Ich  habe  Lust  am  Reichtum,  auch 
wenn  ich  darüber  jetzt  nicht  disponiere,  wenn  ich  vielleicht  gar 


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Weiteree  zur  »Einfühlung«. 


495 


nicht  darüber  disponieren  will.  Ich  »weiß«  nnr,  daß  ich  frei 
disponieren  kann.    Und  dies  genügt  für  meine  Lust. 

Aber  hier  liegt  eine  Zweideutigkeit  vor.  Sie  liegt  im  Begriffe 
des  Könnens  und  damit  zugleich  in  dem  des  Disponierens.  Ich 
weiß,  daß  ich  disponieren  kann,  d.  h.  ich  weiß,  daß  gewissen 
äußeren  Vorgängen,  zunächst  solchen  an  oder  in  meinem  Körper, 
nämlich  denjenigen,  in  welchen  das  » Disponieren <,  äußerlich  be- 
trachtet, oder  in  welchen  die  äußere  » Willenshandlung <  des 
>  Disponierens  €  besteht,  kein  physisches  Hindernis  entgegenstehen 
würde. 

Was  aber  den  eigentlichen  Sinn  des  Könnens  ausmacht,  ist 
nicht  dieser  physische  Sachverhalt,  sondern  etwas  völlig  anderes, 
ein  iuueres  Erlebnis;  das  Erlebnis,  das  ich  Freiheit  nenne  und 
das  in  meinem  Freiheitsgeftthl  von  mir  erlebt  wird. 

Und  dies  mein  Erlebnis,  Freiheit  genannt,  kommt  in  mir  zu- 
stande in  einem  tatsächlichen  inneren  Disponieren.  Ich  vollbringe 
es  innerlich  oder  lediglich  »in  meinen  Gedanken«.  Aber  dies 
heißt  nicht,  daß  das  Disponieren  ein  bloß  gedachtes  ist, 
sondern  daß  die  äußeren,  d.  h.  die  körperlichen  Vorgänge,  auf 
welche  die  Tätigkeit  des  Disponierens,  die  an  sich  ein  lediglich 
innerlicher  Vorgang  ist,  zielt,  bloß  gedachte  sind.  Zugleich  ist 
mein  Disponieren  nicht  ein  ausgeführtes,  d.  h.  nicht  ein  Dispo- 
nieren in  einzelnen  Akten,  sondern  ein  abstrakt  allgemeines. 
D.h.  ich  stelle  mich  innerlich  dem  Reichtum  so  gegenüber, 
wie  ich  es  naturgemäß  tue,  wenn  ich  einen  einzelnen  Akt  des 
freien  Disponierens  vollbringe.  Ich  erlebe,  d.  h.  vollziehe  das 
innere  Verhalten  oder  die  innere  Einstellung  gegenüber  dem  ge- 
wußten Besitz,  in  welchem  das  allgemeine  Wesen  des  freien  Dis- 
ponierens besteht,  soweit  dies  meine  Tätigkeit,  also  ein  innerer 
Vorgang  ist.  Und  dabei  fühle  ich  mich  frei.  Ich  erlebe  dies, 
daß  ich  mich  frei  oder  durch  nichts  gehindert  in  solcher  Weise 
innerlich  zu  meinem  Besitz  stellen  kann  oder  darf.  Dies  drücke 
ich  auch  so  aus:  Ich  fühle  mich  ihm  gegenüber  als  Herrn. 
Damit  bezeichne  ich  eine  jetzt  erlebte  Beziehung  oder  innere  Stel- 
lungnahme zu  dem  gewußten  Besitz.  Ich  weiß  nicht  etwa  nur, 
daß  ich  diese  innere  Beziehung,  diese  Weise,  zum  Besitz  innerlich 
mich  zu  stellen,  in  mir  erfahren,  daß  ich  dies  GefUhlserlebnis 
haben,  daß  ich  die  Freiheit,  die  Herrschaft,  das  Können  verspüren 
werde,  wenn  ich  einmal  äußerlich  disponiere,  d.  h.  die  dem 


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496 


Th.  Lipps, 


inneren  Disponieren  entsprechenden  änßeren  Akte  vollbringe,  oder 
daß  mir  ein  solches  inneres  Erlebnis  znteil  werden  würde,  falls 
ich  einen  solchen  Akt  vollbrächte,  sondern  dasselbe  findet  sich 
jetzt  in  mir.  Die  Freiheit,  das  Können,  die  Herrschaft  gehören 
der  unmittelbar  erlebten  Gegenwart  an.  Ich  erlebe  oder  fühle 
sie.    Und  indem  ich  sie  erlebe  oder  fühle,  fühle  ich  Lust. 

Und  freue  ich  mich  ein  andermal,  daß  ich  eine  Tat  glücklich  zu 
Ende  gefuhrt  habe,  so  freue  ich  mich,  weil  ich  die  Vollendung  der- 
selben jetzt  wiederum  innerlich  erlebe,  oder  weil  ich  sie  nach- 
erlebe«, dies  >nach<  im  zeitliehen  Sinne  genommen.  Ich  habe 
auch  hier  ein  Gefühl  des  kraftvollen  Könnens,  in  dessen  Natur  es 
liegt,  lustgefärbt  zu  sein,  oder  mit  einem  Worte,  ich  habe  ein  Ge- 
fühl des  Stolzes.  In  diesem  ist  beides  nicht  nur  gewußt,  sondern 
tatsächlich  gefühlt,  die  Tat  d.  h.  dasjenige,  worin  die  »Tat«  als 
Bewußtscinsvorgang  betrachtet  bestand,  genauer  gesagt,  dasjenige, 
was  daran  eigentlich  >mein  Tun«  war,  das  innere  Verhalten  oder 
die  innere  Einstellung  oder  Beziehung  zu  der  Sache,  die  in  der 
Tat  oder  durch  dieselbe  verwirklicht  wurde  und  verwirklicht 
werden  sollte,  einschließlich  der  besonderen  Art,  wie  dies  Tun  erlebt 
wurde,  d.  h.  einschließlich  der  Kraft  und  Freiheit,  und  gefühlt 
wird  damit  zugleich  die  allem  dem  eigene  Lustfärbung. 

Und  das  gleiche  gilt,  wenn  ich  mich  freue,  weil  ich  weiß,  daß 
ich  eine  bestimmte  edle  oder  kühne  Tat  tun  werde.  Ich  freue  mich 
dann,  weil  ich  sie  jetzt  nicht  äußerlich,  aber  innerlich  »tue«.  Ich 
vollbringe  oder  erlebe  nicht  die  äußere,  wohl  aber  die  innere 
Willenshandlung.  Ich  nehme  das  Wollen  und  Vollbringen,  kurz 
das  innere  Tun  und  Erleben  voraus,  antizipiere  die  innere  Leistung; 
ich  erlebe  sie  nicht  >nach<,  sondern  »vor«.  Und  ich  fühle  auch 
hier  wiederum  tatsächlich  die  Kraft  und  Freiheit  dieses  inneren 
Tuns.   Und  indem  ich  dieselbe  fühle,  fühle  ich  sie  als  lustgefärbt. 

Was  uns  diese  Fälle  lehren,  müssen  wir  aber  verallgemeinern 
und  auch  auf  scheinbar  ganz  anders  geartete  Fälle  ausdehnen. 
Wir  müssen  sagen:  Freue  ich  mich,  daß  irgendwo  in  der  Welt 
irgend  etwas  geschieht,  und  ist  für  diese  Freude  mein  Wissen  von 
der  Tatsächlichkeit  des  Geschehens  Bedingung,  so  wurzelt  allemal 
meine  Freude  in  einem  gegenwärtigen  tatsächlichen  Erleben.  Die 
Freude  ist  niemals  Freude  an  dem  »daß«,  oder  an  der  Tatsache 
;ils  solcher.    Sie  wurzelt  nicht  in  meinem  Wissen  oder  Urteil  als 


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Weiteres  zur  > Einfühlung«. 


497 


solchem,  sondern  sie  wurzelt  —  so  können  wir  uns  zunächst  allge 
mein  ausdrücken  —  in  meinem  »Genießen«. 

Ich  muß  die  gewußte  Tatsache  irgendwie  »genießen«,  wenn 
sie  für  mich  lustvoll  sein  soll.  Könnte  ich  sie  nicht  »genießen«, 
oder  wäre  nicht  an  ihr  etwas,  das  Gegenstand  meines  »Genusses  - 
sein  kann,  so  könnte  ich  mich  zwar  freuen,  daß  ich  die  Tatsache 
erkenne,  die  Tatsache  selbst  aber  bedeutete  mir  nichts.  Alle 
Freude  an  einem  Gewußten  überhaupt  ist  in  Wahrheit  Freude  an 
eiuem  Genießen,  sei  es  einem  eigenen  oder  einem  fremden.  Und 
dieser  Genuß  ist  allemal  mein  eigener  gegenwärtiger  Genuß,  sei 
es  ein  unmittelbar  eigener,  sei  es  ein  miterlebter  fremder.  In 
beiden  Fällen  ist  der  Genuß  ein  Genuß  in  Gedanken.  D.  h.  er 
ist  ein  Genuß  der  nur  gedachten  oder  gewußten  Tatsache.  Aber 
der  Genuß  selbst  ist  darum  doch  nicht  bloß  gedacht,  sondern  tat- 
sächlich erlebt.  D.  h.  es  vollzieht  sich  in  mir,  oder  es  wird  von 
mir  erlebt  oder  vollbracht  die  innere  Verhaltungswcise  oder 
die  Tätigkeit,  in  welcher  jeder  »Genuß«  besteht. 

Hier  rede  ich  zunächst  wiederum  in  Beispielen:  Ich  freue  mich 
etwa,  »daß«  heuer  der  Wein  gut  geraten  ist  oder  geraten  wird. 
Für  solche  Freude  gibt  es  allerlei  mögliche  Motive.  Ich  bin  etwa 
selbst  Liebhaber  eines  guten  Weines.  Dann  genieße  ich  jetzt  den 
Wein,  d.  h.  ich  antizipiere  den  Genuß,  den  ich  haben  werde,  wenn 
ich  ihn  trinken  werde.  Ich  nehme  das  Genießen  desselben  voraus. 
Dies  heißt  nicht,  daß  ich  den  Wein  jetzt  körperlich  oder  äußer- 
lich »genieße«.  D.  h.  ich  führe  ihn  jetzt  nicht  zum  Munde,  bringe 
ihn  nicht  in  Berührung  mit  meinen  Lippen,  meiner  Zunge,  mit 
dem  Gaumen.  Dazu  wäre  erforderlich,  daß  ich  den  Wein  jetzt 
sichtbar  und  greifbar  vor  mir  hätte. 

Aber  zur  innern  »Tätigkeit«  des  »Genießeus«  bedarf  es 
dessen  nicht.  Dazu  genügt,  daß  ich  den  Wein  und  den  angenehmen 
Geschmack  desselben  denke  und  betrachte.  Auch  den  gedachten 
Geschmack  kann  ich  genießen,  d.  h.  ich  kann  innerlich  mich  ihm 
zuwenden,  ich  kann  ihn  innerlich  erfassen  und  mir  zu  eigen  macheu, 
und  ich  kann  dies  tun  ähnlich  frei,  bereitwillig,  begierig,  wie  ich 
ihm  mich  zuwenden,  ihn  erfassen,  mir  ihn  innerlich  zu  eigen 
machen  würde,  wenn  der  Wein  sichtbar  und  greifbar  vor  mir 
stände.  Und  indem  ich  dies  tue,  fühle  ich  Lust  oder  erlebe  ich 
die  Tätigkeit,  die  ich  innerlich  vollbringe,  und  die  von 
jenem  körperlichen   Vorgaug   aufs  allerstrcugste  zu  scheiden 

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Th.  Lipps. 


ist,  als  eine  lustvolle  oder  lustgefarbte,  vielleicht  als  eine  be- 
glückende. 

Dies  Genießen  ist  wiederum  ein  Genießen  >in  Gedanken«. 
Aber  dies  >in  Gedanken«  heißt  auch  hier  nicht,  das  Genießen  selbst 
ist  ein  nur  gedachtes.  Sondern  gedacht  ist  das,  was  ich  genieße, 
oder  dasjenige,  dem  ich  in  so  eigentümlicher  Weise  innerlich  mich 
zuwende.  Das  Genießen  selbst  dagegen,  diese  eigentümliche  innere 
Zuwendung,  diese  freie,  bereitwillige,  begierige  Erfassung  und 
innerliche  Aneignung  ist  eine  tatsächliche  und  erlebte,  eine  jetzt 
von  mir  vollbrachte  innere  Tätigkeit  Ich  betone  noch  einmal 
den  Gegensatz  dieser  Tätigkeit,  die  meine  Tätigkeit  ist,  und  der 
körperlichen  Vorgänge,  die  weder  meine  Tätigkeit,  noch  über- 
haupt eine  »Tätigkeit«  sind,  sondern  Geschehnisse  in  dem  von 
mir  sinnlich  wahrgenommenen  Dinge,  das  ich  »meinen 
Körper«  nenne. 

Oder  aber  ich  freue  mich,  daß  der  Wein  gut  geraten  ist  oder 
geraten  wird,  weil  ich  weiß,  daß  andere  ihn  genießen  oder  ge- 
nießen werden.  Auch  indem  ich  dies  weiß,  genieße  ich,  oder  er- 
lebe ich  das  Genießen.  Ich  sympathisiere  mit  dem  Genießen 
anderer,  mit  ihrem  freien  oder  begierigen  und  darum  lustvollen 
oder  lustgefärbten  Sichzuwenden  zu  dem  Geschmack  oder  inner- 
lichen Sichaneignen  desselben.  Indem  ich  aber  damit  sympathi- 
siere, mache  ich  es  innerlich  mit.  Vielleicht  findet  solches  Genießen 
jetzt  in  andern  gar  nicht  statt.  Dann  kann  von  einem  »Nach- 
machen« desselben  nicht  eigentlich  geredet  werden.  Aber  mein 
inneres  Erleben  des  fremden  Genießens  ist  davon,  ob  es  in  andern 
tatsächlich  stattfindet,  nicht  abhängig.  Es  genügt,  daß  ich  weiß, 
es  könne  in  andern  stattfinden. 

Oder  ich  freue  mich  über  die  fragliche  Tatsache,  weil  die 
Weinproduzenten  davon  etwas  haben,  einen  Zuwachs  ihres  Be- 
sitzes, den  sie  genießen  können.  Dann  genieße  ich  diesen  Besitz, 
d.  h.  ich  erlebe  in  mir  das  reichere  Können,  die  größere  Freiheit 
des  innerlichen  Verhaltens,  erlebe  alöo  eben  dasjenige,  worin  für 
jene  das  innerliche  Genießen  des  Besitzzuwachses  besteht. 

Und  jedesmal  hat  meine  Freude  an  der  gewußten  Tatsache 
in  solchem  Erleben  ihre  Wurzel. 

Oder  andere  Beispiele:  Freue  ich  mich  der  edeln  Tat,  die  eiu 
anderer  begangen  hat,  so  tue  ich  dies,  weil  ich  die  fremde  Tat 
miterlebe,  so  wie  ich  die  begangene  eigene  Tat  nacherlebe.  Freue 


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Weitere«  zur  »Einfühlang«. 


499 


ich  mich  der  edeln  Tat,  die  ein  anderer  in  der  Zukunft  tun 
wird,  dann  geschieht  dies,  weil  ich  auch  das  zukünftige  fremde 
Tun  zu  antizipieren  vermag. 

Reden  wir  aher  jetzt  allgemeiner.  Im  obigen  ist,  wie  man  sieht, 
zunächst  vorausgesetzt,  daß  man  den  doppelten  oder  dreifachen 
Sinn  des  Wortes  »Genuß«  wohl  auseinanderzuhalten  wisse.  Viel- 
leicht versteht  man  unter  dem  Genuß  einfach  die  Lust.  Ich  sage 
wohl,  der  angenehme  Geschmack  oder  ein  Kunstwerk  bereite  mir 
Genuß,  und  meine  damit  einfach  dies,  daß  die  Gegenstände  Lust 
in  mir  wecken.  Von  dem  Genuß  in  diesem  Sinne  nun  redete  ich 
oben  nicht  Sondern  ich  meinte  mein  »Genießen«.  Und  ich 
verstand  darunter  wiederum  nicht  das  »Genießen«  im  Sinne  des 
Essens  oder  Trinkens  oder,  allgemeiner  gesagt,  irgendwelcher 
körperlicher  Vorgänge,  sondern  ich  meinte  es  im  Sinne  des  inner- 
lichen Genießen». 

Und  dies  nun  ist  eine  Tätigkeit,  und,  wie  alle  »Tätigkeit«, 
eine  innerliche  Tätigkeit.  Es  ist  die  Tätigkeit  oder  Weise  der 
inneren  Betätigung  meiner  selbst,  ohne  die  es  kein  Lustgefühl  gibt. 

Dies  Genießen  aber  ist  entweder  »sinnliches«  Genießen,  d.  h.  Ge- 
nießen eines  Sinnlichen,  oder  es  ist  Selbstgeuuß;  und  es  ist  beide- 
mal idiopathisches  oder  sympathisches  Genießen;  »sympathisches 
Genießen«,  d.  h.  Genießen  in  einem  andern.  Anders  gesagt:  Das 
Genießen  ist  entweder  ein  rein  subjektives  oder  es  ist  ein  objekti- 
viertes Genießen. 

Darauf  gehe  ich  etwas  näher  ein.  Was  ist  der  Grund  der 
sinnlichen  Lust,  d.  h.  der  Lust  an  einem  sinnlich  wahrgenommenen 
oder  wahrnehmbaren  Gegenstande?  Man  sieht  sofort,  daß  auch 
diese  Frage  doppelsinnig  ist.  Demgemäß  erlaubt  sie  eine  doppelte 
Antwort.  Man  antwortet  vielleicht  zunächst:  der  Gegenstand.  Und 
diese  Antwort  ist  gewiß  berechtigt.  Aber  die  Lust  entsteht  doch 
nicht  einfach,  weil  der  Gegenstand  irgendwo  in  der  Welt  da  ist. 
Sondern  der  Gegenstand  muß,  wenn  ich  Lust  an  ihm  fühlen  soll, 
auch  für  mich  dasein.  D.  h.  ich  muß  ihn  erfassen,  mich  ihm 
zuwenden,  ihn  mir  innerlich  aneignen,  auf  ihn  »merken«. 

Und  dabei  nun  kann  es  geschehen,  daß  diese  Tätigkeit  der 
Zuwendung,  Erfassung,  innerlichen  Aneignung,  kurz  diese  Tätig- 
keit der  »Aufmerksamkeit«  von  mir  erlebt  wird  als  eine  freie, 
bereitwillige,  begierige.    Als  solche  wird  sie  tatsächlich  erlebt 

s 

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500 


Th.  Lipps, 


werden,  wenn  die  Erfassung,  innerliche  Aneignung  eines  solchen 
Gegenstandes  meinem  Wesen,  meiner  psychischen  Organisation  oder 
Verfassung,  einer  in  mir  liegenden  Disposition  oder  natürlichen 
Betätigungsrichtung,  oder  mit  dem  uns  geläufigsten  Ausdruck,  wenn 
sie  einem  in  mir  vorhandenen  »Bedürfnis«  entspricht  oder  gemäß  ist. 

Diese  freie  oder  begierige  Erfassung  des  sinnlich  wahrnehm- 
baren Gegenstandes  nun  ist  das,  was  ich  hier  als  das  (positive) 
Genießen  eines  sinnlichen  Gegenstandes  bezeichne.  Und  in  diesem 
»Genießen«  hat  die  Lust  an  dem  Gegenstande  ihren  Grund,  so 
gewiß  sie  andererseits  in  dem  Gegenstande  ihren  Grund  hat. 
Richtiger  wäre:  Sie  hat  in  dem  Gegenstand  ihren  »Grund«  oder 
ist  darin  »begründet«,  und  sie  wurzelt  in  jenem  meinem  Genießen. 

Dem  Genuß  eines  von  mir  unterschiedenen  Gegenstandes  nun 
habe  ich  oben  den  Selbstgenuß  gegenübergestellt. 

Auch  dabei  müssen  wir  aber  wieder  von  dem  Genuß  im  Sinne 
der  Lust  unterscheiden  den  Genuß  im  Sinne  des  Genicßeus,  an  dem 
die  Lust  haftet.  Nehmen  wir  das  Wort  Genuß  im  erstoren  Sinne, 
dann  ist  der  Selbstgenuß  die  Lust  an  mir  oder  meinem  »Selbst«-. 
Das  Ich  aber,  das  ich  hier  als  Selbst  bezeichne,  der  Kern  des  Ich, 
das  Ich  schlechtweg,  ist  Tätigkeit.  Ich  werde  meiner  rein  oder 
für  sich  inne  einzig  in  meinem  Tätigkeitsgefühl. 

Damit  ist  dann  schon  gesagt,  daß  der  Genuß  des  Selbst,  wenn 
wir  von  jetzt  an  als  »Genuß«  ausschließlich  das  »Genießen«  be- 
zeichnen, worin  die  Lust  »wurzelt«,  eben  diese  Tätigkeit  ist. 
In  der  Tat  gibt  es  keine  Weise,  mich  zu  genießen,  als  indem  ich 
mich  betätige.  Sich  genießen  heißt  sich  betätigen.  Und  die  Lust, 
die  in  solcher  Selbstbetätigung  wurzelt,  ist  Lust  am  eignen  Selbst 
oder  ist  Selbstwertgefllhl.  Alles  Selbstwertgefühl  oder  alles  Selbst- 
gefühl im  positiven  Sinne  des  Wortes  ist  Lust  aus  der  unmittelbar 
erlebten  Selbstbetätigung. 

Jetzt  nun  scheint  es,  als  ob  Lust  an  den  von  mir  unterschie- 
denen sinnlichen  Gegenständen  und  Selbstwertgefühl  gar  nicht 
grundsätzlich  sich  unterschieden. 

In  der  Tat  ist  bei  beiden  das,  woran  die  Lust  »haftet«,  oder  es  ist 
in  beiden  Fällen  die  »Wurzel«  der  Lust  Selbstbetätigung.  Darum 
besteht  doch  zwischen  beiden  ein  voller  Gegensatz.  Dort,  bei  der 
Lust  an  sinnlichen  Gegenständen;  ist  die  Tätigkeit  Tätigkeit  der 
Erfassung  eines  Gegenstandes,  und  die  Lust  beruht  darauf,  daß 
die  Tätigkeit  der  Erfassung  eines  solchen  Gegenstandes,  oder 


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Weitere«  zur  »Einfühlung«. 


501 


die  hinsichtlich  ihres  Gegenstandes,  oder  durch  denselben 
qualitativ  bestimmte  Auffassungstätigkeit,  einem  Bedürfnis  des  auf- 
fassenden Ich  gemäß  ist. 

Neben  dieser  einfach  auffassenden  Tätigkeit  gibt  es  aber  noch 
eine  andere  Tätigkeit;  eine  Tätigkeit  höherer  Stufe. 

Jene  Tätigkeit  des  Erfassens  ist  eine  rezeptive  Tätigkeit;  oder 
war  lediglich  als  solche  gemeint  Sie  ist  die  einfache  Erfüllung 
der  Forderung  des  zufallig  sich  mir  darbietenden  Gegenstandes, 
für  mich  Gegenstand  zu  sein.  In  dieser  Tätigkeit  bin  ich  also 
gegenständlich  bestimmt  und  zugleich  an  den  zufälligen  Umstand, 
daß  jetzt  dieser,  jetzt  jener  Gegenstand  sich  mir  zur  Erfassung 
darbietet,  gebunden. 

Dagegen  ist  die  Tätigkeit  der  höheren  Stufe,  etwa  die  Willens- 
tätigkeit im  engeren  Sinne,  spontane  Tätigkeit.  Jede  eigentliche 
»spontane«  Tätigkeit  aber  ist  wählende  Tätigkeit  Sie  ist  »frei« 
in  diesem  Sinne:  zu  ihr  oder  in  ihr  bestimme  ich  mich  selbst 
und  fühle  mich  als  mich  selbst  bestimmend. 

Beide  Arten  der  Tätigkeit  nun  können  lustgefarbt  oder  unlust- 
gefärbt sein.  Die  erstere,  die  Tätigkeit  des  einfachen  Erfassens 
eines  Gegenstandes,  weil  ein  solcher  »zufallig«  sich  zur  Erfassung 
darbietet,  ist  wie  gesagt  das  eine  oder  das  andere,  je  nachdem  die 
Erfassung  eines  solchen  Gegenstandes  eine  meinem  natürlichen 
Bedürfnis  gemäße  ist.  Hier  bestimmt  also  die  Natur  des  Gegen- 
standes, der  erfaßt  werden  soll,  und  der  Umstand,  daß  ein  so  ge- 
arteter Gegenstand  sich  mir  jetzt  eben  zur  Auffassung  darbietet, 
die  Lust  oder  Unlustfärbung  der  Tätigkeit. 

Dagegen  ist  die  Lnst-  oder  Unlustfärbung  der  freien  oder  spon- 
tanen Tätigkeit  bestimmt  durch  die  Art,  wie  die  Tätigkeit  in  sich 
selbst  geartet  ist,  ob  überhaupt  und  wie  ich  irgendwelchen  Gegen- 
ständen gegenüber  tätig  bin  und  mich  tätig  fahle. 

Dies  läßt  sich  genauer  bestimmen.  Die  fragliche  höhere  oder 
eigentlich  »spontane«  Tätigkeit  ist  lustvoll  in  dem  Maße,  als  sie 
Tätigkeit,  nämlich  positive  Tätigkeit  ist  D.  h.  lustgefärbt  ist 
die  kraftvolle,  die  vielseitige,  oder  die  reiche  und  weite,  und  die 
in  sich  selbst  einstimmige  Tätigkeit,  welches  auch  immer  die 
Gegenstände  dieser  Tätigkeit  sein  mögen.  Alle  Schwäche,  Enge 
oder  Armut,  jede  Gegensätzlichkeit  der  Tätigkeit  in  sich  selbst  ist 
ja  Negation  der  »Tätigkeit«. 

Und  diesem  Gegensatz  nun  entspricht  eine  entgegengesetzte 

ArcfciT  Ar  PtyehologU.   IV.  33 


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502 


Th.  Lipp«, 


Weise  der  Beziehung  der  Lust.  Dort  ftthlen  wir  sie  als  gegen- 
ständlich bestimmt,  oder  in  der  Natur  des  Gegenstandes  begründet. 
Wir  erleben  sie  als  Lust  an  dem  erfaßten  Gegenstand.  Hier 
dagegen  kann  ich  die  Lust  fühlen  als  Lust  an  der  Weise  der 
inneren  Tätigkeit  oder  Betätigung  meiner  selbst.  Mit  einem  Wort : 
Die  Lust  ist  dort  Gegenstandswertgcftlhl,  hier  kann  sie  zum  Selbst- 
wertgefübl  oder,  kürzer,  zum  Selbstgefühl  werden.  Welche  Be- 
dingung noch  erfüllt  sein  muß,  wenn  die  Lust  bewußterweise  auf 
das  Selbst  bezogen  sein  soll,  darüber  wird  weiter  unten  ein  Wort 
zu  sagen  sein. 

Noch  eine  Möglichkeit  der  Lust  scheint  hierbei  übersehen.  Ich 
freue  mich  nicht  nur  an  sinnlichen  Gegenständen,  und  lege 
andererseits  mir  Wert  bei,  sondern  ich  freue  mich  auch  über 
Psychisches  außer  mir.  Aber  dieses  Psychische  außer  mir  ist  das 
objektivierte  Psychische  in  mir,  es  ist  in  einem  andern  erlebte, 
oder  in  eine  sinnliche  Erscheinung  eingefühlte  eigene  innere  Tätig- 
keit oder  Weise  der  Selbstbetätigung. 

Es  ist  also  der  Gegensatz  zwischen  Lust  an  sinnlichen  Gegen- 
ständen und  Selbst wertgefUhl  erschöpfend.  D.  h.  es  gibt  keine 
dritte  Möglichkeit  der  Lust  »an«  etwas.  Nur  müssen  wir  hinzu- 
fügen :  Das  Selbst  ist  entweder  nur  das  eigene  Selbst,  oder  ist 
das  von  mir  unmittelbar  erlebte  Ich;  oder  aber  es  ist  das  objekti- 
vierte, in  einem  sinnlich  Wahrgenommenen  erlebte  Ich  oder  Selbst. 

Es  braucht  wohl  zum  obigen  nicht  hinzugefugt  zu  werden, 
daß  die  Unterscheidung  der  »rezeptiven«  und  der  »spontanen« 
Tätigkeit  nicht  gemeint  ist  als  Unterscheidung  zweier  sich  aus- 
schließender Möglichkeiten.  Jede  menschliche  Tätigkeit  ist  bald 
mehr  rezeptiv  bald  mehr  »spontan«  oder  wählend.  Die  rein 
rezeptive  Tätigkeit  ist  ein  Idealfall.  Es  »kann«  also  auch  jede 
Tätigkeit  zum  Selbstwertgeftthl  Anlaß  geben.  —  Im  übrigen  sieht 
man  leicht,  daß  im  obigen  eine  wichtige  Frage  nur  gestreift 
ist.  Hier  kommt  es  zunächst  darauf  an,  daß  auch  die  Lust  an 
sinnlichen  Gegenständen  in  einer  Tätigkeit  »wurzelt«. 

Unser  obiger  allgemeiner  Satz  lautete:  Immer,  wenn  unsere 
Freude  dadurch  bedingt  ist,  daß  wir  wissen  oder  zu  wissen  glauben, 
das  Erfreuliche  finde  wirklich  oder  tatsächlich  statt,  oder  habe 
stattgefunden,  oder  werde  stattfinden,  so  beruht  die  Freude  in 
Wahrheit  auf  einem  unmittelbaren  Erleben,  nämlich  einer  un- 


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Weiteres  zur  »Einfühlung«. 


mittelbar  erlebten  inneren  Tätigkeit,  auf  der  Tätigkeit  des 
»Genießens«. 

Dazu  müssen  wir  nun  hinzufügen:  Diese  Tätigkeit  ist  allerdings 
allemal  zunächst  eine  gewußte,  aber  diese  wird  eben  bald 
mehr  bald  minder  zugleich  zur  unmittelbar  erlebten. 

Daß  es  so  ist,  zeigen  zunächst  die  Tatsachen  von  der  oben 
angeführten  Art.  Ich  erlebe  oder  fühle,  so  sagte  ich  oben,  wenn  ich 
>weiß«,  daß  ich  etwas  besitze  oder  besitzen  werde,  die  Macht,  das 
Können,  die  Freiheit  des  Disponierens,  ich  erlebe  die  allgemeine 
innere  Einstellung  oder  Weise  der  inneren  Tätigkeit,  die  das  ge- 
meinsame Wesen  alles  freien  Disponierens  ausmacht.  Hier  weiß 
ich  also  zunächst,  daß  ich  Freiheit  des  Disponierens  habe.  Aber 
indem  ich  davon  weiß,  erlebe  ich  sie.  Ebenso  » weiß «  ich  zunächst, 
daß  ein  anderer  dies  oder  jenes  genießt  oder  genießen  wird.  Aber 
wiederum  gilt:  Indem  ich  davon  weiß,  genieße  ich.  Mag  es  sich 
in  diesem  Punkte  bei  andern  anders  verhalten;  was  mich  angeht, 
so  verhält  es  sich  zweifellos  so,  wie  ich  sage. 

Es  geschieht  dies  aber  zugleich  nach  einem  allgemeinen 
psychologischen  Gesetz.  Dies  besagt:  Jede,  sei  es  eigene,  sei 
eB  fremde,  innere  oder  psychische  Verhaltungsweise, 
von  der  ich  weiß,  oder  von  deren  Wirklichkeit  ich  ein 
Bewußtsein  habe,  ist  der  Tendenz  nach  die  ent- 
sprechende tatsächliche  eigene  innere  Verhaltungsweise. 
Dieses  psychologische  Gesetz  ordnet  sich  wiederum  ein  oder  unter 
dem  psychologischen  Grundgesetz,  das  wir  so  formulieren 
können:  Alles,  von  dem  ich  weiß,  ist  der  Tendenz  nach 
von  mir  erlebt.  Jedes  Wissen  zielt  oder  tendiert  über  sich 
hinaus  zum  Erleben  des  Gewußten1). 

Dabei  besagt  das  Wort  »Tendenzc  genau  das,  was  es  auch 
sonst,  etwa  in  der  Physik,  besagt.  D.  h.  jedes  Wissen,  und  ins- 
besondere jedes  Wissen  um  ein  Psychisches  wird  zum  Erleben  des 
Gewußten,  wenn  und  soweit  kein  Hindernis  besteht,  oder  nichts 
der  Verwirklichung  der  Tendenz  entgegenwirkt  und  schließlich  sie 
tinmöglich  macht. 

Hier  nun  haben  wir  es  nur  mit  dem  Wissen  um  ein  Genießen, 
allgemein  gesagt  um  eine  psychische  oder  innere  Tätigkeit  zu  tun. 


1  Vgl.  Leitfaden  der  Psychologie  S.  163 ff.;  170ff.;  173;  214;  234 f.;  282. 

33» 

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504  Th.  Lipps, 

Damm  genügt  uns  in  diesem  Zusammenhang  jenes  minder  allge- 
mein gefaßte  Gesetz. 

Vielleicht  nnn  weiß  ein  Psychologe  nichts  von  dem  soeben  for- 
mulierten allgemeinen  psychologischen  Grundgesetz,  vielleicht  weiß 
er  auch  nichts  von  der  Gültigkeit  der  spezielleren  Formulierung,  mit 
der  wir  uns  hier  begnügen  wollen.  Dann  verweise  ich  auf  einige 
der  Tatsachen,  auf  die  ich  in  anderem  Zusammenhange  zur  Er- 
härtung dieses  Gesetzes  hingewiesen  habe1]. 

Ich  habe  etwa  einen  Entschluß  gefaßt  und  weiß  davon.  Dann 
besteht  in  mir  eine  Tendenz,  bei  dem  einmal  gefaßten  Entschluß 
zu  »bleiben« ;  d.  h.  mich  jetzt  wiederum  ebenso  zu  entschließen.  Der 
Entschluß,  von  dem  ich  weiß,  schließt  die  Tendenz  in  sich,  mein 
gegenwärtiger  tatsächlicher  Entschluß  zu  sein.  Ich  muß  Gegen- 
motive haben,  wenn  ich  mich  anders  entschließen  soll.  Und  auch, 
wenn  ich  solche  habe,  lasse  ich  den  gefaßten  Entschluß  nicht  ohne 
Widerstreben  fallen.  Ich  belasse  es  nicht  ohne  Widerstreben  bei 
dem  bloßen  Wissen  davon;  oder  beim  bloßen  »Urteil«. 

Ich  verspüre  ebenso  ein  Widerstreben,  ein  Urteil  aufzugeben, 
das  ich  einmal  gewonnen  habe,  und  dessen  ich  mich  erinnere,  eine 
Theorie  etwa  aufzugeben,  die  ich  einmal  mir  gebildet  habe,  und 
von  der  ich  weiß.  Hier  schließt  der  Akt  des  Urteilens,  von  dem 
ich  weiß,  die  Tendenz  in  sich,  jetzt  wiederum  von  mir  erlebt,  d.  h. 
vollzogen  zu  werden.  Mein  Wissen  von  dem  Urteilsakt  tendiert 
auf  das  Erleben,  d.  h.  den  Vollzug  desselben. 

Und  nicht  anders  verhält  es  sich,  wenn  ich  von  einer  Weise 
eines  andern,  sich  innerlich  zu  verhalten,  weiß.  Auch  dies  Wissen 
ist  der  Tendenz  nach  ein  entsprechendes  Erleben,  d.  h.  ein  ent- 
sprechendes Verhalten. 

Höre  ich  einen  Satz,  so  weiß  ich  oder  glaube  zu  wissen,  daß 
derjenige,  der  ihn  ausspricht,  ein  bestimmtes  Urteil  fällt.  Ich  ur- 
teile: Dies  Urteil  wird  gefällt.  Hier  nun  bezweifelt  niemand,  daß 
in  mir  eine  Tendenz  besteht,  das  von  dem  andern  ausgesprochene 
Urteil  in  mir  selbst  zu  erleben,  d.  h.  eine  Tendenz,  dies  Urteil 
auch  meinerseits  zu  vollziehen.  Einfacher  gesagt:  Eis  besteht  für 
uns  alle  die  Tendenz,  an  Behauptungen  anderer  zu  glauben.  Der 
zwingende  Beweis  dafür  ist,  daß  wir  an  die  Behauptungen  an- 
derer tatsächlich  glauben,  wenn  wir  keine  Gegengründe  haben. 

1)  Leitfaden  der  Psychologie  S.  171,  173.  Vgl.  »Vom  Fühlen,  Wollen 
und  Denken«  S.  89  ff. 


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Weiteres  zur  »Einfühlung«.  505 

Ebenso  besteht  in  mir  eine  Tendenz,  den  Willen,  den  ein 
anderer  in  Worten  oder  sonstwie  kundgibt,  mir  zu  eigen  zu  machen. 
Jemand  gebe  zu  erkennen,  er  wolle,  daß  ich  dies  oder  jenes  tue, 
dann  erfülle  ich  seinen  Willen,  d.  h.  ich  will,  was  er  will,  sofern 
ich  keine  Gegenmotive  habe. 

Diese  Tatsachen  nun  leugnet  niemand.  Sie  wären  aber  ein 
unbegreifliches  Wunder,  wenn  sie  nicht  auf  einem  allgemeinen 
Gesetze  beruhten.  Und  dies  allgemeine  Gesetz  kann  nur  das  oben 
ausgesprochene  sein.  Ich  wiederhole :  Jedes  psychische  Verhalten, 
sei  es  ein  eigenes  oder  fremdes,  von  dem  ich  weiß,  ist  der  Ten- 
denz nach  mein  entsprechendes  eigenes  gegenwärtiges  Verhalten. 

Das  Wissen,  von  dem  ich  hier  redete,  ist  ein  empirisches 
Wissen.  Es  ist  ein  Wissen  davon,  daß  in  der  empirisch  wirklichen 
Welt  ein  Psychisches  stattfand  bzw.  stattfindet.  Was  aber  von 
diesem  gesagt  wurde,  gilt  nun  auch,  wenn  das  »Wissen«  nur  ein 
ästhetisches  Wissen  ist.  D.  h.  wenn  es  in  jenem  »ästhetischen 
Wirklichkeits-  oder  Tatsächlichkeitsbewußtsein«  besteht,  von  dem 
oben  die  Rede  war. 

Um  nun  dies  zu  verstehen,  müssen  wir  die  weitere  Frage  stellen, 
warum  oder  auf  Grund  wovon  denn  das  Wissen  von  einem 
psychischen  Verhalten  die  Tendenz  des  Erlebens  in  sich  schließe. 

Darauf  müssen  wir  antworten:  Nicht  das  Wissen  als  solches 
tnt  dies,  sondern  das  unangefochtene  oder  unbestrittene  Dasein 
für  mich,  das  demjenigen  eignet,  von  dessen  Wirklichkeit  oder 
Tatsächlichkeit  ich  weiß. 

Weiß  ich,  daß  etwas  ist  oder  stattfindet,  so  sind  damit  die 
Gegenvorstellungen,  daß  etwas  anderes  an  seiuer  Stelle  sei  oder 
stattfinde,  abgewiesen.  Und  nun  gilt  das  allgemeinste  psycho- 
logische Grundgesetz,  für  welches  auch  das  oben  ausgesprochene 
allgemeine  psychologische  Grundgesetz  nur  eine  speziellere  Fas- 
sung ist,  daß  nämlich  in  jeder  Vorstellung  irgendeines 
Gegenstandes  oder  Sachverhaltes  an  sich  die  Tendenz 
liege,  zum  vollen  Erleben  desselben  zu  werden1).  Sie 
liegt  darin  an  sich,  d.  h.  die  fragliche  Tendenz  besteht  tatsäch- 
lich, wenn  die  Vorstellung  des  Gegenstandes  für  sich  besteht  Und 


l;  Leitfaden  der  Psychologie  S.  141  Anm.  und  später. 


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506 


Th.  Lipps, 


dies  wiederum  heißt,  wenn  sie  nicht  durch  Gegenvorstellungen, 
die  eine  gleichartige  Tendenz  in  sich  schließen,  aufgehoben  ist 

Stelle  ich  einen  Gegenstand  oder  Sachverhalt  vor  und  zweifle 
an  seiner  Wirklichkeit,  oder  ist  er  für  mich  ein  nur  möglicher 
Gegenstand  oder  Sachverhalt,  so  ist  er  für  mich  mit  der  Negation 
behaftet.  Indem  ich  ihn  vorstelle  oder,  richtiger,  denke,  denke  ich 
ihn  zugleich  als  einen  solchen,  an  dessen  Stelle  ein  damit  unver- 
träglicher Gegenstand  oder  Sachverhalt  für  mich  da  zu  sein  das 
Recht  oder  das  gleiche  Recht  hätte.  Und  damit  liegt  zugleich  in 
der  Tendenz  jenes  Gegenstandes  oder  Sachverhaltes,  von  mir  erlebt 
zu  werden,  die  gleichartige  Tendenz  dieses  andern  Gegenstandes 
oder  Sachverhaltes,  kurz  eine  Gegentendenz.  Und  dies  Ineinander 
beider  Tendenzen  ist  gleichbedeutend  mit  der  Aufhebung  der  einen 
durch  die  andere. 

So  geschieht  es,  daß  ich  auch  Gegenstände  vorstellen  kann, 
ohne  daß  in  ihnen  die  Tendenz  des  vollen  Erlebens  liegt.  Ich  be- 
merke ausdrücklich :  Daß  es  solche  Gegenstände  ftlr  mich  gibt, 
nicht,  daß  in  andern  Fällen  die  Tendenz  des  Erlebens  besteht, 
ist  das  psychologisch  zu  Erklärende.  Eis  ist  so,  weil  das  Bestehen 
der  Tendenz  das  Primäre,  das  Nichtbestehen  derselben  das  Sekun- 
däre ist;  gleichbedeutend  mit  einem  Aufgehobensein  durch  Gegen- 
tendenzen. 

Daß  die  Tendenz  des  vollen  Erlebens  eines  vorgestellten  Gegen- 
standes besteht,  sofern  sie  nicht  durch  Gegen tendenzen  aufge- 
hoben ist,  dies  können  wir  aber  auch  kurz  so  ausdrucken:  Sie 
besteht,  wenn  die  Vorstellung  eines  Gegenstandes  frei  oder  von 
Gegenvorstellungen  unangefochten  ist  Dies  aber  macht  nun  eben 
das  Wesen  jener  ästhetischen  Wirklichkeit  oder  Tatsächlichkeit 
aus.  Das  Bewußtsein  derselben  ist  das  rückhaltlose  und  zweifels- 
freie Hiugegebensein  an  einen  Gegenstand  oder  Sachverhalt  Das- 
selbe schließt  also  die  Tendenz  des  vollen  Erlebens  allemal  in  sich. 

Hiermit  nun  ist  das  Verhältnis  der  Vorstellungs-  und  Urteils- 
gefühle deutlich.  Sie  sind  beide  in  gleicher  Weise  Gefühle  aus 
der  bald  mehr,  bald  minder  sich  verwirklichenden  Tendenz  des 
vollen  Erlebens  eines  vorgestellten  Gegenstandes.  Das  »Urteil« 
tut  dabei  nur  Bofern  etwas  zur  Sache,  als  es  die.Tendenz  des  vollen 
Erlebens,  die  in  jeder  Vorstellung  —  genauer  in  jedem  Denken  — 
eines  Gegenstandes  potentiell  oder  implizite  liegt,  expliziert,  frei 
macht,  aktuell  werden  läßt.    Sie  läßt  dieselbe  aktuell  werden,  in 

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Weiteres  aar  »Einfühlung«. 


507 


dem  Sinne,  daß  sie  die  Vorstellung  des  Gegenstandes  von  dem 
Gewicht  der  Gegenvorstellungen  befreit,  oder  in  dem  Sinne,  daß 
sie  das  Gleichgewicht]  zwischen  einer  Tendenz  und  ihren  Gegen- 
tendenzen, in  welchem  beide  sich  wechselseitig  aufheben,  zu- 
gunsten der  ersteren  aufhebt. 

Nebenbei  bemerkt,  diese  Aufhebung  eines  solchen  Gleich- 
gewichtszustandes, oder  diese  Befreiung  einer  Tendenz  des  vollen 
Erlebens  kann  auch  durch  affektive  Momente  bewirkt  werden. 
Dann  wird  die  Tendenz  zum  positiven  oder  negativen  Wünschen, 
zum  Begehren  oder  Verabscheuen.  Was  dabei  gewünscht  oder  be- 
gehrt wird,  ist  eben  das  volle  Erleben  eines  vorgestellten  Gegen- 
standes !). 

Die  Anschauung,  die  ich  im  obigen  vertrete,  suche  ich  noch 
durch  folgende  Bemerkungen  zu  bestätigen.  Es  handelt  sich  uns 
hier  um  die  Lust  an  Psychischem.  Dieses  Psychische  ist  eine 
psychische  Tätigkeit  oder  Betätigungsweise.  In  solcher  Lust  an 
einer  psychischen  Tätigkeit  nun  steht  die  Lust  der  Tätigkeit  nicht 
gegenüber,  so  wie  bei  der  Lust  an  einem  Sinnlichen,  etwa  an 
einem  Geschmack,  die  Lust  allerdings  dem  Geschmack  gegenüber- 
steht. In  letzterem  Falle  ist  die  Lust,  wie  jederzeit,  meine  Lust, 
eine  Ichbestimmtheit;  der  Geschmack  dagegen  ist  eine  Gegenstanda- 
bestimmtheit.  Nicht  der  Gegenstand  ist  lustig  oder  erfreut,  son- 
dern ich;  und  nicht  ich  bin  süß  oder  wohlschmeckend,  sondern 
der  mir  gegenüberstehende  Gegenstand.  Der  Gegensatz,  der  hier 
stattfindet,  ist  also  kein  geringerer  als  der  zwischen  dem  Ich  und 
der  vom  Ich  unterschiedenen  und  ihm  gegenüberstehenden  gegen- 
ständlichen Welt. 

Dagegen  ist  alle  psychische  Tätigkeit  Tätigkeit  des  Ich.  Was 
das  Wort  Tätigkeit  meint,  kann  nie  anders  gegeben  sein  als  im 
Tätigkeitsgeftthl.    Und  dies  ist  Ichgefuhl.    Ich  fühle  mich  tätig. 

Allgemein  ausgedrückt:  Auch  die  Tätigkeit  ist,  ebenso  wie  die 
Lust,  eine  Ichbestimmtheit.  Freilich  bezeichnen  beide  Worte  ver- 
schiedene Ichbestimmtheiten.  Aber  beide  sind  eines  in  dem  Ich, 
dessen  Bestimmtheiten  sie  sind.  Sie  sind  verschiedene  mögliche 
Seiten  der  Qualität  des  Ich  oder  der  Weise,  wie  das  Ich  gegeben 
ist  oder  erlebt  wird.    Sie  verhalten  sich  zueinander  analog,  wie  der 


1)  Leitfaden  der  Psychologie  8.  202  ff..  234  i. 


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508 


Th.  Lipps, 


Farbenton  einer  Farbe  und  die  Helligkeit  sich  zueinander  ver- 
halten. Auch  diese  Bestimmtheiten  der  Farbe  sind  verschiedene 
Bestimmtheiten,  aber  sie  sind  in  der  Farbe  eines.  Sie  sind  ver- 
schiedene Seiten  an  der  Farbe  oder  der  Qualität  des  Empfindungs- 
inhaltes,  den  ich  Farbe  nenne.  Ebenso,  sage  ich,  sind  Lust  und 
Tätigkeit  verschiedene  Seiten  des  Icbgefühls  oder  der  jederzeit 
einheitlichen  Weise,  wie  ich  mich  erlebe. 

Und  wenn  es  nun  so  ist,  dann  hat  es  keinen  Sinn,  von  einer 
tatsächlich  gefühlten  oder  erlebten  Lust  an  einer  nur  vorgestellten 
oder  gewußten  Tätigkeit,  also  au  einem  nur  vorgestellten  oder 
gewußten  Psychischen,  überhaupt  zu  reden.  Es  hat  dies  ebenso- 
wenig Sinn,  als  es  Sinne  hätte,  von  einer  Helligkeit  zu  reden,  die 
an  einer  nicht  empfundenen,  sondern  nur  vorgestellten  oder  ge- 
wußten Farbe  empfunden  würde.  Sondern  so  gewiß  die  Hellig- 
keit einer  nur  vorgestellten  oder  gewußten  Farbe  selbst  nur  eine 
vorgestellte  bzw.  gewußte  Helligkeit  sein  kann,  so  auch  kann  die 
Lust  an  einem  nur  vorgestellten  oder  gewußten  Psychischen,  d.  h. 
an  einer  nur  vorgestellten  oder  gewußten  inneren  Tätigkeit  oder 
Betätigungsweise  nur  eine  vorgestellte  oder  gewußte  Lust  sein. 
Oder  umgekehrt,  so  gewiß  die  empfundene  Helligkeit  einer  Farbe 
Helligkeit  einer  empfundenen  Farbe,  oder  so  gewiß  mit  der  Hellig- 
keit einer  Farbe  zugleich  auch  der  Farbenton  Inhalt  einer  Emp- 
findung ist,  so  gewiß  ist  die  jetzt  erlebte  Lust  an  einer 
psychischen  Tätigkeit  Lust  an  einer  erlebten  psychischen  Tätig- 
keit. Um  eine  tatsächlich  erlebte  Lust  an  Psychischem  handelt 
es  sich  aber  in  diesem  Zusammenhange. 

Den  gleichen  Sachverhalt  wende  ich  im  folgenden  noch  etwas 
anders.  Manche  Psychologen  reden  von  Lust  und  Unlust,  als 
seien  dieselben  selbständige  Bewußtseinserlebnisse.  Sie  lassen 
diese  »Gefühle«  wie  Personen  auf  einem  Theater  erst  für  sich  auf- 
treten, dann  untereinander  oder  mit  Vorstellungen  sich  assoziieren 
oder  zu  Komplexen  sich  zusammenschließen,  auf  das  Vorstellungs- 
leben wirken  usw. 

Nun,  solche  selbständige  Bewußtseinserlebnisse,  Lust  und  Un- 
lust genannt,  gibt  es  nicht.  Sondern  es  gibt  lediglich  das  Ich, 
das  in  der  Tätigkeit  oder  dem  TätigkeitsgefUhl  unmittelbar  ge- 
geben ist,  und  es  gibt  allerlei  nähere  Bestimmungen,  Charaktere 
oder  Färbungen  des  Ich  oder  des  TätigkeitsgefÜhls.  Solche 


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Weiteres  zur  »Einfühlung« 


509 


Färbungen  Bind  Last  und  Unlust  Lust  und  Unlust  bezeichnen 
einen  Grundgegensatz  in  der  Färbung  des  Tätigkeitsgefühls. 
Andere  Grandgegensätze,  die  mit  diesem  sieb  kreuzen,  sind  etwa 
die  der  objektiven  Bestimmtheit  und  der  Willkür,  der  Freiheit  und 
der  Gebundenheit  in  verschiedenem  Sinne  dieses  Wortes. 

Und  nun  achten  wir  wiederum  auf  die  oben  unterschiedenen 
beiden  Möglichkeiten:  Die  fragliche  »Tätigkeit«  ist  entweder  dasein- 
fache Auffassen  oder  sich  Aneignen,  wodurch  etwas  für  mich  zum 
Gegenstand  wird,  es  ist  diese  rezeptive  Tätigkeit,  oder  aber  sie  ist 
spontane  Tätigkeit,  etwa  die  Tätigkeit  des  Verstandes,  die  Tätig- 
keit des  Nachdenkens,  Überlegens  usw.  oder  die  auf  Verwirk- 
lichung eines  vorgestellten  Zieles  gerichtete  > Willenstätigkeit«. 
In  jener  rezeptiven  Tätigkeit  genüge  ich  nur  einfach  der  Forderung 
oder  dem  Anspruch  des  Gegenstandes,  aufgefaßt  und  dadurch 
für  mich  znm  Gegenstande  zu  werden.  In  dieser  spontanen 
Tätigkeit  wähle  ich  zwischen  Gegenständen.  Dabei  ist  voraus- 
gesetzt, daß  dieselben  schon  für  mich  Gegenstände  seien. 

Und  alle  Lust  nnn  ist  eine  Färbung  jener  oder  dieser  Tätig- 
keit. Alle  erlebte  Lust  ist  eine  Färbung  oder,  ohne  dies  Bild, 
eine  Eigentümlichkeit,  eine  Modalität,  ein  charakteristischer  Zug 
an  oder  in  der  erlebten  Tätigkeit.  Bezeichnen  wir  sie  als  Lust 
an  der  Tätigkeit,  so  sollten  wir  uns  bewußt  sein,  daß  dies  »an« 
einen  doppelten  Sinn  haben  kann.  Es  kann  einmal  gleich- 
bedeutend sein  mit  »angesichts«  oder  »gegenüber«.  Eine  Lust  an 
der  Tätigkeit  in  diesem  Sinne  nnn  gibt  es  nicht.  Die  Lust  an  der 
Tätigkeit  würden  wir  darum  richtiger  Lust  in  der  Tätigkeit 
nennen.  Ich  fühle  mich  tätig,  und  fühle  mich  darin,  d.  h.  in 
dieser  Tätigkeit,  beglückt.  Auch  die  Lust,  die  ich  in  der  rezep- 
tiven Erfassung  eines  sinnlichen  Gegenstandes  fühle,  ist  Lust  in 
dieser  Tätigkeit.  Sie  ist  aber  zugleich,  weil  sie  gefühlt  wird  in 
der  Tätigkeit,  durch  welche  ich  den  Gegenstand  mir  »gegenüber- 
stelle« und  dadurch  für  mich  zum  »Gegenstand«  mache,  Lust 
gegenüber  dem  Gegenstand  oder  angesichts  desselben. 

Hier  wird  man  nun  aber  erwidern:  Auch  wenn  ich  Lust  habe 
an  mir,  d.  h.  an  meiner  spontanen  Tätigkeit,  z.  B.  an  einem 
kühnen  und  gegen  alle  Hindernisse  sich  behauptenden  Entschluß, 
oder  an  meiner  Erkenntnistätigkeit,  wenn  ich  auf  dergleichen  stolz 
bin,  so  ist  doch  die  Tätigkeit  auch  ein  »Gegenstand«,  auf  den 


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Th.  Lipps, 


ich  die  Lust  beziehe,  oder  > angesichts«  dessen  ich  Lust 
ftihle. 

Dies  ist  richtig,  und  auch  nicht.  Es  ist  zunächst  richtig. 
Und  da  in  dem  Moment,  in  welchem  ich  tätig  bin,  die  Tätig- 
keit nicht  Gegenstand  für  mich  sein  kann,  so  folgt  daraus,  daß 
ich  niemals  Lust  an  mir  haben  kann  in  dem  Moment,  wo  ich  dazu 
ein  Recht  hätte.  Dies  will  beispielsweise  sagen:  Tue  ich  eine 
stolze  Tat,  d.  h.  eine  Tat,  auf  die  ich  stolz  sein  darf,  so  kann  ich 
mich  nicht  stolz  fühlen,  während  ich  die  Tat  tue.  Gewiß  fühle 
ich  mich  beglückt  in  meinem  Tun.  Aber  das  GlücksgefÜhl  ist 
für  mein  Bewußtsein  nicht  auf  mein  Tun  bezogen;  sondern  es 
kann  einzig  bezogen  erscheinen  auf  das,  was  durch  mein  Tun  ge- 
tan wird,  auf  die  Verwirklichung  des  Zieles  meines  Tuns.  Helfe 
ich  einem  Menschen  mit  Opferung  eigener  Interessen,  so  freue 
ich  mich,  während  ich  dies  tue,  nicht  über  mein  Tun,  sondern 
darüber,  daß  dem  Menschen  geholfen  wird.  Erst  hinterher  kann 
ich  mein  Tun  betrachten  und  meine  Freude  an  diesem  Tun  haben, 
d.  h.  darauf  stolz  sein. 

Es  gibt,  allgemein  gesagt,  kein  Selbstgefühl,  das  als  solches 
von  mir  erlebt  würde,  außer  in  der  rUckschauenden  oder  in  der 
vorausschauenden  Betrachtung  oder  in  der  Betrachtung  eines 
andern.  Das  letztere  Selbstgefühl  ist  das  sympathische  oder  das 
objektivierte  Selbstgefühl.  Ich  kann  mich  etwa  stolz  fühlen  in  der 
Tat,  die  ich  getan  habe,  oder  in  der  Tat,  die  ich  tun  werde;  und 
andererseits  in  dem  stolz  emporragenden  Felsen,  oder  in  den 
Taten,  die  das  Heer  meines  Vaterlandes  vollbringt,  und  dergleichen. 
Sofern  auch  die  Tat,  die  ich  vollbracht  habe  oder  vollbringen 
werde,  oder  sofern  auch  meine  eigene  Vergangenheit  oder  Zukunft 
Objekte  sind  —  das  absolute  Subjekt  ist  das  gegenwärtige  Ich  — 
kann  auch  der  darauf  gerichtete  Stolz  objektiviert  heißen.  Unter 
Voraussetzung  dieses  weiteren  Begriffes  der  Objektivierung  können 
wir  sagen:  Es  gibt  kein  Selbstgefühl,  das  nicht  objektiviertes 
Selbstgefühl  wäre. 

Damit  nun  scheine  ich  mit  dem  vorhin  Gesagten  in  direkten 
Widerspruch  getreten.  Lust,  so  sagte  ich  erst,  ist  eine  Färbung 
der  Tätigkeit,  jetzt  erlebte  Lust  also  eine  Färbung  der  jetzt  er- 
lebten Tätigkeit.  Und  jetzt  sage  ich:  Es  gibt  keine  Lust  an  mir 
oder  meiner  Tätigkeit,  außer  wofern  die  Tätigkeit,  also  auch  das 
Ich  objektiviert  oder  für  mich  Gegenstand  ist. 


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Weiteres  zur  »Einfühlung«. 


511 


Dieser  Widerspruch  nun  findet  seine  Lösung  in  der  Natur  des 
Ich,  insbesondere  der  Tatsache  der  Identität  des  Ich. 

Ich,  der  ich  eine  bestimmte  Tat  vollbrachte,  bin  ich,  der  ich 
jetzt  diese  Tat,  and  in  derselben  mich,  denke  und  betrachte.  Jenes 
Ich  ist  mit  diesem  identisch.  Nicht  in  jedem  Sinne.  Manches, 
das  dem  vergangenen  Ich  angehört,  ist  mir  jetzt  > fremd«,  ich  kann 
mich  nicht  »hineinfinden« ;  oder  ich  finde  darin  mich,  das  gegen- 
wärtige oder  das  jetzt  erlebte  Ich  nicht  »wieder«.  Aber  dies  hindert 
nicht,  daß  das  vergangene  Ich  ich  ist,  d.  h.  das  jetzt  unmittelbar 
erlebte  Ich,  nicht  etwas  von  demselben  Verschiedenes. 

Dieser  Sachverhalt  ist  eine  unmittelbare  Bewußtseinstatsache. 
Ich  erlebe  diese  Identität 

Und  ich  erlebe  sie,  genau  soweit  ich  das  vergangene  Ich  gegen- 
wärtig habe,  d.  h.  genau  soweit  ich  es  denke  und  betrachte. 
Ich  bin  dann  betrachtend  in  ihm.  Je  voller  ich  das  vergangene 
Ich  apperzipiere  oder  »anschaulich«  vorstelle,  je  mehr  ich  es 
apperzeptiv  durchdringe,  desto  mehr  bin  ich  darin.  Das  Apper- 
zipieren  des  eigenen  vergangenen  Ich  ist  ein  »Sich versetzen«  oder 
»-versenken«  in  dasselbe.  Und  das  Ich,  das  dabei  versetzt  wird, 
ist  allemal  das  gegenwärtige. 

Indem  aber  das  gegenwärtige  Ich  in  dem  vergangenen  Ich  ist, 
vollbringt  es  die  Tätigkeit  desselben.  Freilich  so,  wie  es  in  der 
besonderen  Beschaffenheit  des  gegenwärtigen  Ich  liegt,  d.  h.  ge- 
gebenenfalls widerstrebend  oder  sich  widersetzend.  Und  die  Lust 
bzw.  Unlust,  die  ich  fühle,  ist  die  Lust-  oder  Unlustfärbung  der 
Betätigung  dieses  gegenwärtigen  Ich,  das  als  dies  gegenwärtige  und 
mit  der  Eigenart  des  gegenwärtigen  in  die  Vergangenheit  versetzt 
ist  und  demnach  zugleich  als  das  vergangene  sich  betätigt.  Ich 
ftlhle  Lust  ond  Unlust  in  der  Betrachtung  des  vergangenen  Ich 
genau  in  dem  Maße,  als  diese  Betrachtung  wirkliche  und  volle  Be- 
trachtung, d.  h.  volle  »Versetzung«  ist.  Ich  erlebe  die  vergangene 
Lust,  wie  ich  die  vergangene  Tätigkeit  erlebe,  deren  Färbung  die 
Lust  ist,  d.  h.  so,  daß  ich  sie  in  mein  gegenwärtiges  Ich  aufnehme 
oder  hineinnehme.  Und  ich  nehme  sie  hinein,  so  wie  ich  sie  eben 
als  dies  gegenwärtige  Ich  hineinnehmen  kann,  nämlich  zustimmend 
oder  mich  widersetzend.  In  jenem  Falle  fühle  ich  Lust,  in  diesem 
Falle  Unlust  an  der  vergangenen  Lust  bzw.  Unlust,  genauer  an 
der  vergangenen  lustgefärbten  bzw.  unlustgefärbten  Tätigkeit. 
Im  ersteren  Fall  ist  die  Identität  qualitative  Identität  der  zeitlich 

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512 


Th.  Lippe, 


getrennten  lebe,  im  letzteren  Falle  tritt  an  die  Stelle  die  quali- 
tative Entzweiung  des  identischen  Ich  in  sich  seihst  In  jedem 
Falle  bleibt  die  eigenartige  numerische  Identität  des  Ich  bestehen. 

Wundert  man  sich  darüber,  daß  hier  numerische  Identität  statt- 
findet bei  aufgehobener  qualitativer  Identität  und  zeitlicher  Nicbt- 
identität,  so  erinnere  man  sich  etwa  an  die  Melodie,  die  auch,  ab 
eine  und  dieselbe  Melodie,  an  dieser  Stelle  ihres  Verlaufes  quali- 
tativ diese,  an  einer  andern  Stelle  jene  ist.  Freilich  diese 
Identität  der  Melodie  wurzelt,  wie  jede  Identität  überhaupt,  in  der 
Identität  des  Ich,  vielmehr  sie  ist  im  letzten  Grunde  nichts  als 
diese. 

Ich  rede  noch  etwas  genauer:  Jene  qualitative  Identität  ist 
nicht  das,  was  wir  sonst  so  nennen  mögen,  d.  h.  sie  ist  nicht 
Gleichheit  Sie  ist  dies  so  wenig,  als  jene  Entzweitheit  Ver- 
schiedenheit ist.  Gleichheit  und  Verschiedenheit  erkennen  wir. 
Wir  rinden  sie,  indem  wir  Gegenstände  denken  und  denkend  ver- 
gleichen. Gleichheit  nnd  Verschiedenheit  sind  Denkkategorien 
oder  logische  Kategorien.  Hier  aber  handelt  es  sich  um  ein  Er- 
lebnis. Die  Einheit,  die  hier  in  Frage  steht,  ist  zunächst  Einheit 
des  gegenwärtigen,  also  des  unmittelbar  erlebten  Ich  mit  dem  ver- 
gangenen Ich.  Indem  aber  das  Ich,  das  mit  dem  vergangenen 
als  eines  erscheint,  erlebt  wird,  ist  notwendig  auch  die  Einheit 
erlebt:  Ich  erlebe  mich  oder  fühle  mich  eins  mit  mir,  so  wie  ich 
ehemals  war.  Und  dies  wiederum  schließt  in  sich,  daß  auch  das 
Ich,  womit  ich  mich,  d.  h.  das  gegenwärtige  Ich,  eins  fühle,  er- 
lebt oder  gefühlt  wird.  Jede  Art  der  Einheit  zwischen  gedachten 
Gegenständen  ist  gedacht  oder  gewußt.  Und  umgekehrt,  jede 
Einheit,  die  nicht  eine  bloße  gewußte,  sondern  erlebte  ist,  ist  eine 
Einheit  zwischen  Erlebtem. 

Und  ebenso  ist  jene  Entzweiung  nicht  gewußte  Zweiheit  von 
Gegenständen,  sondern  erlebte  Entzweiung:  Ich  fühle  mich  in  mir 
entzweit.  Und  so  gewiß  diese  Entzweiung  erlebt  ist,  so  gewiß 
ist  das  »Zweierlei«  erlebt,  d.  h.  auch  hier  ist  das  gegenwärtige 
und  das  vergangene  Ich  erlebt 

Mag  ich  mich  aber  mit  dem  vergangenen  Ich  eins ,  oder  ent- 
zweit fühlen,  oder  mag  ich  mich,  indem  ich  das  vergangene  Ich 
gegenwärtig  habe,  in  mir  —  dem  Ich,  das  beides  zumal  ist  — 
oder  mit  mir  eins  oder  entzweit  fühlen,  in  jedem  Fall  ist  da» 
vergangene  Ich  gedacht  also  gegenständlich,  mir  gegenüberstehend, 


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Weitere»  zur  »Kiiifiihlnng«. 


513 


und  doch  zugleich  erlebt.  Dies  ist  seltsam.  Aber  dies  Selt- 
same macht  eben  das  Wesen  der  Identität  des  Ich  aus.  Es  liegt 
in  ihr  dies,  daß  —  in  den  beiden  oben  unterschiedenen  Fällen  — 
das  vergangene,  also  gegenständliche  Ich  erlebt  ist.  Es  ist  erlebt, 
eben  indem  es  gegenständlich  ist.  Es  ist  in  mir,  oder  ist  ich, 
eben  indem  es  mir  gegenübersteht,  und  jedesmal  in  dem  Maße, 
als  es  als  ein  solchergestalt  mir  Gegenüberstehendes  betrachtet 
wird.  Fühle  ich  mich  mit  dem  vergangenen  Ich  entzweit,  so  ist 
mir  allerdings  das  vergangene  Ich  noch  in  einem  besonderen  Sinne 
gegenständlich«,  nämlich  qualitativ.  Es  ist  dies  in  der  eigentüm- 
lichen Weise,  die  ich  nur  so  zu  bezeichnen  weiß :  das  vergangene  Ich 
dringt  in  mein  gegenwärtiges  ein,  um  von  diesem,  sofern  es  eben 
nicht  das  gegenwärtige  sein  kann,  abgewiesen,  d.  h.  gefühlsmäßig 
negiert  zu  werden.  Dies  heißt  zugleich,  es  wird  jetzt  erlebt,  und 
es  wird  nicht  erlebt.  Es  wird  erlebt  eben  als  das  eindringende 
und  abgewiesene,  oder  als  ein  solches,  das  auch  wiederum  nicht 
erlebt  werden  kann. 

Und  ebenso  wie  das  vergangene  Ich,  so  kann  ich  auch  ein 
zukünftiges  Ich  oder  eine  Tätigkeit  des  zukünftigen  Ich,  von  der 
ich  weiß,  in  mich  restlos  aufnehmen,  oder  es  jetzt  positiv  miter- 
leben und  ein  andermal  als  in  mich  eindringend  erleben,  und  es 
abweisen,  kurz  negativ  miterleben.  Auch  hier  findet  die  merk- 
würdige Tatsache  statt,  daß  das  betrachtete  Ich,  also  das  Ich,  das 
fllr  mich  Gegenstand  ist,  in  sich  selbst  und  in  dem  Maße,  als  es 
Gegenstand  der  Betrachtung  ist,  ein  erlebtes  ist. 

Und  mit  diesen  beiden  Möglichkeiten  ist  endlich  völlig  gleich- 
artig die  dritte:  das  Betrachten  des  fremden  Ich  oder  des  an  ein 
sinnlich  Wahrgenommenes  außer  mir  gebundenen  Psychischen. 
Es  ist  ein  Betrachten  und  als  Gegenstand  Haben  und  eben  damit 
ein  Erleben.  Es  ist  das  gleiche  positive  oder  negative  Miterleben. 
Dies  speziell  nennen  wir  »Einfühlung«,  und  das  positive  Mit- 
erleben nennen  wir  Sympathie,  das  negative  mögen  wir  Anti- 
pathie oder  antipathisches  innerliches  Miterleben  nennen. 

Von  solcher  Sympathie  weiß  ich  nicht,  sondern  ich  fühle  sie 
oder  erlebe  sie.  Und  daß  ich  sie  erlebe,  heißt  zugleich,  daß  ich 
das  erlebe,  womit  ich  sympathisiere.  Und  die  Lust  aus  der  Sym- 
pathie ist  die  Lustfärbung  der  Sympathie  oder  die  Lustfärbung 
der  inneren  Tätigkeit,  in  welcher  das  Sympathisieren  besteht. 

Um  noch  einmal  auf  das  Witaseksche  Beispiel  zu  kommen. 

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514 


Th.  Lipp». 


Nicht  die  Sorge  des  Fangt  wird  in  mir  zur  lustvollen  Sache,  son- 
dern das  Sympathisieren  mit  ihr,  das  positive  Hiterleben  des  in 
solcher  Weise  sorgenden  Faust. 

Das  hier  Vorgebrachte  bedurfte  vielleicht,  um  vollkommen  ein- 
dringlich zu  werden,  einer  weitergehenden  Überlegung.  Aber  das 
Gesagte  genügt  vielleicht,  um  anzudeuten,  daß  die  Frage  der  Ein- 
fühlung, wie  schließlich  jede  psychologische  Frage,  zurückführt 
auf  die  Fundamente  der  Psychologie. 

Zum  Verständnis  dieser  Fundamente  ist  aber  vor  allem  eine 
Einsicht  erforderlich,  nämlich  die  Einsicht,  daß  Psychologie  treiben 
in  erster  Linie  heißt :  alle  Begriffe  von  sich  abtun,  die  anderswoher 
genommen  sind  als  aus  dem  Gegenstand  der  Psychologie,  d.  h. 
aus  den  jeweilig  betrachteten  Bewußtseinserlebnissen.  Es  gilt  hier 
das  Baconsche  oder  im  Baconschen  Sinn  genommene:  Wenn 
ihr  nicht  werdet,  wie  die  Kinder,  so  werdet  ihr  nicht  in  das 
Himmelreich  kommen.  Psychisches,  wenn  darunter  Bewußtseins- 
leben, also  letzten  Endes  das  Ich  verstanden  wird,  ist  etwas  mit 
nichts  sonst  in  der  Welt  Vergleichbares;  kein  Wunder,  wenn  dies 
auch  von  der  Betrachtung  des  Psychischen  oder  der  »anschau- 
lichen Vorstellung«  desselben  gilt.  Was  in  alle  sonstigen  oder 
irgendwoher  sonst  geholten  Begriffes  nicht  hineinpaßt,  kann  psy- 
chologische Tatsache  sein.  Es  fordert  dann  seinen  psycholo- 
gischen Begriff.  Mag  insbesondere  die  »anschauliche  Vorstellung < 
sonst  vom  Erleben  noch  so  weit  entfernt  sein,  dies  hindert  nicht, 
daß  die  anschauliche  Vorstellung  eines  Psychischen  ein  Erleben 
ist.  Und  die  anschauliche  Vorstellung  eines  Psychischen,  die  in 
der  ästhetischen  Betrachtung  stattfindet,  ist  genau  diese,  und  keine 
andere  Weise  des  Erlebens. 

Ich  komme  jetzt  noch  einmal  auf  die  »Wertgefühle«  zurück 
und  betone  darin  das  Wort  >Wert«.  Was  heißt  das:  Ich  habe 
das  Gefühl  oder  Bewußtsein  —  nicht  der  Lust,  sondern  des 
>Wertes«  ? 

Nicht  jede  Lust  an  einem  Gegenstand  oder  Sachverhalt,  dem 
ich  Wirklichkeit  oder  Tatsächlichkeit  zuerkenne,  ist  nach  Aussage 
meines  Sprachgefühls  ein  Wertgefühl.  Daß  eine  edle  Tat  ge- 
schieht, dies  hat  Wert  oder  ist  eine  wertvolle  Sache,  nicht  aber  der 
angenehme  Geschmack  einer  kandierten  Frucht.  Kurz  gesagt,  sinn- 
liche Annehmlichkeit  ist  nicht  Wert.   Die  Psychologie  sollte,  so 


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Weitere»  zur  »Einfühlung«. 


515 


meine  ich,  es  ein  für  allemal  unterlassen,  Wertgefühl  and  Lust- 
gefühl, mag  anch  dies  letztere  auf  einem  Urteil  beruhen,  oder  ein 
Urteil  voraussetzen,  einander  gleichzustellen. 

Sondern  Wert  kann  nur  Psychisches  haben.  Und  aller  Wert 
eines  Psychischen  ist  Wert  einer  innerlichen  Selbstbetätigung  oder 
Weise  der  Aktivität.  Alles  Wertgeftthl  entsteht,  indem  ich  solche 
Aktivität  erlebe,  sei  es  idiopathisch  oder  sympathisch,  aus  meinen 
eigenen  inneren  Widerfahrnissen  heraus  geboren,  oder  durch  die 
Wahrnehmung  fremder  Lebensäußerungen  ins  Dasein  gerufen  und 
darum  >in  einem  andern«  objektiviert. 

Dies  Gefühl  der  Aktivität  nennen  wir  Selbstgefühl.  Das  Ge- 
fühl der  starken,  reichen  und  freien,  d.  h.  mit  sich  selbst  einstim- 
migen Aktivität  ist  das  positive  Selbstgefühl  oder  das  Selbstgefühl 
im  prägnanten  Sinne.  Solches  Selbstgefühl  ist  in  sich  lustgefärbt 
oder  ist  eine  Art  des  Lustgefühls.  Nicht  irgendeine  Art  des- 
selben, sondern  seine  höchste  Art.  Alles  positive  Wertgefühl  ist 
also  entweder  in  mir  selbst  begründetes,  oder  objektiviertes  posi- 
tives Selbstgefühl. 

Und  derart  ist  nun  insbesondere  alles  ästhetische  Wertgefühl. 
Dasselbe  entsteht,  indem  ich  in  einem  sinnlichen  Objekt  mich 
selbst  positiv  betätige.  Es  ist  Gefühl  der  Betätigung  oder  des 
Sichauswirkens  meiner  selbst  in  einem  sinnlichen  Objekt.  Es 
besagt,  daß  ich  meines  Menschseins  in  dem  sinnlichen  Objekt 
oder  in  der  betrachtenden  Hingabe  an  dasselbe  innewerde.  Die 
Höhe  des  ästhetischen  Wertes  ist  die  Höhe  dieses  Innewerdens 
meines  Menschseins,  der  Kraft,  des  Reichtums  und  der  inneren 
Freiheit  desselben.  Der  Genuß  des  schönen  Obje'ktes  ist  die  Be- 
friedigung der  in  mir  wohnenden  Sehnsucht,  irgendwie  mich  posi- 
tiv als  Mensch  zu  fühlen. 

Endlich  füge  ich  den  vorstehenden  Darlegungen  noch  zwei,  die 
Einfühlung  betreffende  Bemerkungen  hinzu.  Die  erste  ist  von 
entscheidender  psychologischer  und  erkenntnistheoretischer 
Bedeutung.  Alles  Eingef Uhlte  ist  der  Tendenz  nach  für  mich  ein 
empirisch  Wirkliches.  Und  umgekehrt,  alles  Bewußtsein,  daß  es 
ein  Psychisches  außer  mir  gebe,  mein  Bewußtsein  etwa,  daß  ein 
Gefühl  der  Freude  in  einem  andern  tatsächlich  sich  finde,  ist  seinem 
Ursprünge  nach  Einfühlung,  oder  ist  Objektivierung  eines  durch 
eine  fremde  Lebensäußerung  in  mir  geweckten  eigenen  Gefühles. 

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516 


Th.  Lipps. 


Indem  die  Einfühlung  die  Tendenz  des  Eingefühlten,  mir  als 
etwas  empirisch  Wirkliches  zu  erscheinen,  in  sich  schließt,  wird 
die  Einfühlung  zu  einer  Erkenntnisquelle.  Sie  ist  die  Quelle  für 
all  mein  Bewußtsein  der  Wirklichkeit  eines  Psychischen  außer 
mir,  so  wie  die  innere  Wahrnehmung  die  Quelle  ist  für  die  Er- 
kenntnis des  Psychischen  in  mir,  die  sinnliche  Wahrnehmung  die 
Quelle  der  Erkenntnis  des  Sinnlichen  außer  mir. 

Jener  Satz,  daß  die  Einfühlung  die  Tendenz  des  Eingefühlten, 
mir  als  wirklich  zu  erscheinen,  oder  subjektiv  gewendet,  daß  die 
Einfühlung  der  Tendenz  nach  empirisches  Wirklichkeitsbewußtsein 
ist,  ist  aber  wiederum  eine  Spezialisierung  eines  allgemeinsten 
psychologischen  Grandsatzes,  der  unmittelbar  neben  jenes  oben- 
erwähnte allgemeinste  psychologische  Grundgesetz  tritt  und  dieses 
ergänzt,  nämlich  des  Satzes,  daß  jeder  vorgestellte  Gegen- 
stand, an  sich  betrachtet,  die  Tendenz  in  sich  BchLießt, 
für  mich  ein  empirisch  wirklicher  zu  sein.  An  sich  be- 
trachtet, dies  heißt  wiederum,  wenn  die  fragliche  Tendenz  von 
Gegentendenzen,  d.  h.  von  gleichartigen  Tendenzen  der  Gegen- 
vorstellungen, befreit  ist1). 

Die  Einfühlnng  hat  nun  aber,  wie  wir  sahen,  dies  Eigentüm- 
liche, daß  in  ihr  die  Vorstellung  des  Eingefühlten  von  solchen 
Gegentendenzen  befreit  ist.  Es  liegt  dies,  wie  wir  sahen,  in  dem 
Umstände,  daß  das  Eingcfühlte  .ästhetische  Wirklichkeit«  besitzt. 
Daraus  ergibt  sich,  daß  dem  Eingefühlten  die  Tendenz,  als  empi- 
risch wirklich  zu  erscheinen,  allgemein  eignen  muß.  Dies  dürfen 
wir  auch  so  ausdrücken:  Alles  ästhetisch  Wirkliche  tendiert,  für 
mich  ein  empirisch  Wirkliches  zu  sein. 

Diese  Tendenz  und  die  oben  behauptete  Tendenz  alles  ästhe- 
tisch Wirklichen,  ein  von  mir  voll  Erlebtes  zu  sein,  gehen  Hand 
in  Hand.  Ja  sie  bezeichnen  zwei  Seiten  einer  und  derselben  all- 
gemeinsten psychologischen  Grundtatsache. 

Doch  müssen  wir  nun  zu  jener  Tendenz  des  Eingefühlten,  als 
ein  empirisch  Wirkliches  zu  erscheinen,  noch  einen  einschränkenden 
Zusatz  machen.  Soll  ein  ästhetisch  Wirkliches  für  mich  tatsäch- 
lich ein  empirisch  Wirkliches  werden,  so  ist  noch  eines  voraus- 
gesetzt, nämlich  die  empirische  Apperzeption,  oder  die  Frage 
nach  der  empirischen  Wirklichkeit  oder  Nichtwirklichkeit. 

1:  Leitfaden  der  Tsycholotfie  S.  218  ff. 


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Weiteres  zur  »Einfühlung«. 


517 


Diese  Frage  nun  ißt  bei  der  ästhetischen  Betrachtung  aus- 
geschlossen. Darum  kann  in  ihr  die  bezeichnete  Tendenz  sich 
nicht  verwirklichen.  Hier  ist  der  Punkt,  wo  sich  Ästhetische  und 
praktische  Einfühlung  voneinander  scheiden1).  Die  letztere  ist  die 
mit  dem  Bewußtsein  der  Wirklichkeit  des  Eingefühlten  verbundene. 
Die  ästhetische  Einfühlung  ist  davon  frei.  Der  Gegensatz  der 
empirischen  Wirklichkeit  and  NichtWirklichkeit  ist  bei  ihr  aufge- 
hoben im  unmittelbaren  Erleben. 

Die  zweite  der  Bemerkungen,  die  ich  oben  ankündigte,  betrifft 
den  Gegensatz  der  Gefühle,  die  ich  einfühle  und  habe  in  einem 
Gegenstände,  und  derjenigen,  die  ich  habe  angesichts  eines 
Gegenstandes.  In  der  Einfühlung  ist  mein  Gefühl  oder  mein  un- 
mittelbar erlebtes  inneres  Verhalten  das  Gefühl  oder  Verhalten 
des  Gegenstandes,  in  welchen  ich  mich,  oder  meine  innere  Be- 
tätigung einfühle.  Fühle  ich  mich  strebend  in  der  Säule,  so  ist 
mein  Streben  das  Streben  der  Säule. 

Von  diesem  meinem  Streben  in  der  Säule  nun  ist  grundsätzlich 
verschieden  mein  Streben  nach  etwas;  etwa  nach  physischer  Auf- 
richtung oder  nach  Zertrümmerung  der  Säule.  Oder  ein  anderes 
Beispiel :  Fühle  ich  mein  Lachen,  d.  h.  meine  Freude  und  innere 
Heiterkeit,  ein  in  das  Blau  des  Himmels,  dann  lacht  dieses  Blau 
des  Himmels.  Ich  lache  in  ihm;  mein  Lachen  ist  sein  Lachen. 
Davon  wiederum  grundsätzlich  verschieden  ist  dies,  daß  ich  Uber 
etwas  lache  oder  an  etwas  meine  Freude  habe,  durch  etwas  in 
einen  Zustand  innerer  Heiterkeit  versetzt  werde. 

Noch  einen  anders  gearteten,  aber  doch  analogen  Fall  füge 
ich  geflissentlich  hinzu:  Wenn  ich  sage,  ich  glaube  an  Gott,  oder 
an  eine  historische  Tatsache,  so  heißt  dies,  ich  halte  Gott  oder 
die  historische  Tatsache  für  wirklich.  Einen  davon  völlig  ver- 
schiedenen Sinn  dagegen  hat  es,  wenn  ich  sage,  ich  glaube  an 
eine  Behauptung,  die  ich  höre.  Dies  will  nicht  sagen,  ich  glaube, 
daß  die  Behauptung  wirklich  stattfinde,  sondern,  was  ich  tatsäch- 
lich meine,  würde  ich  richtiger  ausdrücken  in  dem  Satze:  Ich 
glaube  in  der  Behauptung,  d.  h.  mein  Glaube  ist  der  in  der  Be- 
hauptung liegende  oder  darin  zum  Ausdruck  kommende.  Er  ist 
der  Glaube  an  den  in  der  Behauptung  behaupteten  Sachverhalt. 

1)  Über  diesen  Gegensatz  vgl.  Ethische  Grundfragen,  2.  Aufl.  (im  Er- 
scheinen begriffen).   Erster  Vortrag. 

Archiv  für  Puyehologrie.    IV.  H4 

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518 


Th.  Lippe. 


Dieser  Gegensatz  nun  wird  uns  verständlich,  wenn  wir  uns  des 
Wesens  der  Einfühlung  erinnern,  und  gleichzeitig  uns  bewußt 
werden,  was  im  Unterschiede  davon  die  Lust  an  etwas,  das  Stre- 
ben nach  etwas,  das  Glauben  an  einen  Gegenstand  oder  Sach- 
verhalt eigentlich  besagen  will. 

Habe  ich  Lust  >  an  <  einem  Gegenstande,  so  bin  ich  durch  den 
Gegenstand  bestimmt,  die  Lust  ist  in  dem  Gegenstand  > gegründete, 
sie  »gilt<  von  ihm;  die  Lust,  das  will  sagen:  Die  innere  Tätig- 
keit der  Zuwendung,  die,  weil  sie  Tätigkeit  der  Erfassung  eines 
solchen  Gegenstandes  ist,  Lustfärbung  an  sich  trägt,  ist  von  dem 
Gegenstand  gefordert;  sie  ist  die  Erfüllung  einer  objektiven,  d.  h. 
einer  Gegenstandsforderung.  Ebenso  ist  mein  Streben  nach  einem 
Gegenstand  ein  Streben  um  des  Gegenstandes  willen,  d.  h.  ein  im 
Gegenstand  begründetes  oder  von  ihm  gefordertes.  Es  ist  wieder- 
um die  Erfüllung  einer  Gegenstandsforderung.  Und  mein  Glaube 
an  eine  Tatsache  endlich  ist  die  Erfüllung  der  Forderung  eines 
Gegenstandes  oder  Sachverhaltes,  für  mich  ein  geltender  zu  sein. 
Es  ist  die  Anerkennung  einer  solchen  Forderung.  Die  Beziehung 
zwischen  Gegenständen  und  mir,  die  ich  hier  kurz  als  Erfüllung 
einer  Gegenstandsforderung  bezeichne,  macht  den  spezifischen  Sinn 
der  Lust  an  etwas,  des  Strebens  nach  etwas,  des  Glaubens  an 
etwas  aus. 

Von  dieser  Beziehung  nun  ist  die  Beziehung  zwischen  mir  und 
dem  sinnlichen  Gegenstand,  in  welchem  ich  Lust  fühle,  strebe, 
glaube,  durchaus  verschieden.  Hier  ist  nicht  die  Rede  von  einer 
Forderung  des  Gegenstandes.  Sondern  die  Einfühlung  besagt,  wie 
wir  gesehen  haben,  daß  die  Auffassung  eines  sinnlichen  Gegen- 
standes in  sich  selbst  zugleich  die  Tendenz  ist,  mich  in  bestimmter 
Weise  innerlich  zu  betätigen,  daß,  letzten  Endes  vermöge  eines 
nicht  weiter  zurückftthrbaren  Instinktes,  dies  beides,  die  Erfas- 
sung eines  sinnlichen  Gegenstandes  und  eine  bestimmte  Weise 
meiner  eigenen  inneren  Betätigung,  ein  und  derselbe  Akt  ist,  eine 
einzige  innere  Betätigungsweise. 

Jene  Beziehung  zwischen  der  Forderung  von  Gegenständen  und 
meiner  Erfüllung  oder  Anerkennung  ist  eine  logische,  wenn  dies 
Wort  im  weiteren  Sinne  genommen  wird.  Dem  logischen  Gebiet 
in  diesem  weiteren  Sinne  gehört  jedes  Objektivitäts-  oder  Gegen- 
standsbewußtsein, oder  jedes  Bewußtsein  des  Begrtindetseins  in 
einem  Gegenstande  an. 


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Weiteres  zur  »Einfühlung f. 


519 


Diese  Einfühlungsbeziehung  dagegen  ist  eine  rein  psycho- 
logische. Sie  ist,  wie  gesagt,  die  Einheit  oder  das  Ineinander 
meines  Erfassens  und  einer  anderweitigen,  darüber  hinaus- 
gehenden Art  meiner  inneren  Betätigung.  Das  Bewußtsein  jener 
Beziehung,  etwa  das  Bewußtsein  der  Lust  an  einem  Gegenstand, 
setzt  die  »Apperzeption«  des  Gegenstandes,  nämlich  die  Apperzeption 
im  Sinne  der  einfachen  Erfassung,  voraus,  d.  h.  es  setzt  voraus, 
daß  der  Gegenstand  für  mich  Gegenstand  oder  von  mir  gedacht 
ist.  Sie  ist  eine  Wechselbeziehung  zwischen  dem  mir  gegenüber- 
stehenden Gegenstand  und  mir.  Die  Einfühlungsbeziehung  dagegen 
ist  in  der  Erfassung  des  Gegenstandes  zugleich  mitgegeben  oder 
liegt  im  Akt  der  Erfassung  unmittelbar  enthalten.  Indem  jene 
Weisen  meiner  Betätigung,  die  Heiterkeit,  das  Streben,  der 
Glaube,  an  diese  Erfassung  gebunden  oder  mit  den  Akt  der- 
selben ein  einziger  Akt  sind,  nehme  ich  dieselben,  nehme  ich 
also  mich,  der  in  solcher  Weise  sich  betätigt,  d.  h.  mich,  den 
Heiteren,  Strebenden,  Glaubenden,  in  den  erfaßten  Gegenstand 
hinein,  kurz,  fühle  mich  oder  diese  Betätigungsweise  meiner  in  den- 
selben ein. 

So  entsteht  der  Gegensatz  zwischen  der  Lust  angesichts  eines 
Gegenstandes  oder  dem  Gegenstand  gegenüber,  und  der  Lust  in 
dem  Gegenstand ;  zwischen  dem  Strebeu  nach  dem  Gegenstand  und 
dem  Streben  in  demselben ;  zwischen  dem  Glauben  an  einen  Satz, 
d.  h.  dem  Glauben,  daß  der  Satz  existiert,  und  dem  Glauben 
in  einem  Satze,  d.  h.  dem  Glauben,  daß  dem  im  Satze  Gemeinten 
Geltung  zukommt,  kurz  der  Gegensatz  zwischen  Erlebnissen  an- 
gesichts, und  Erlebnissen  in  einem  Gegenstande. 


(Eingegangen  am  29.  November  1904.) 


34* 


Experimentelle  Untersuchung  der  visuellen  und 
akustischen  Erinnerungsbilder,  angestellt  an  Schul- 
kindern. 


Von 

R.  H.  Pedersen,  M.  S., 

Lehrer  an  der  VolköBchule  in  Kopenhagen. 
Mit  2  Figuren  im  Text) 


Seit  Charcot  auf  Grundlage  von  Studien  Uber  pathologische 
Fälle  zum  erstenmal  die  Aufmerksamkeit  auf  die  verschiedenen 
Gedächtnistypen  hinleitete,  ist  eine  große  Literatur  über  diesen 
sowohl  in  psychologischer  als  in  pädagogischer  Beziehung  höchst 
interessanten  Gegenstand  erschienen.  Durch  zahlreiche  Unter- 
suchungen ist  die  Existenz  der  von  Charcot  aufgestellten  Hanpt- 
typen:  des  indifferenten,  visuellen,  akustischen  und  motorischen 
Typus  mit  Sicherheit  festgestellt;  es  ist  aber  noch  nicht  mit  der- 
selben Sicherheit  entschieden,  wie  verbreitet  jeder  von  diesen 
gefunden  wird.  Der  indifferente  Typus  wird  als  der  häufigst 
vorkommende  angenommen.  Kucksichtlich  des  akustischen  und 
visuellen  Typus  herrscht  etwas  Uneinigkeit,  die  meisten  Psycho- 
logen aber  sehen  den  ersten  als  den  gewöhnlichsten  an.  In  reiner 
Form  soll  er  nach  Ribots  Meinung  selten  sein.  Der  motorische 
Typus  wird  fttr  den  seltensten  gerechnet,  vielleicht  doch  mit  Un- 
recht, indem  er  weniger  beachtet  gewesen  ist  als  die  andern  und 
der  schwierigst  zugängliche  für  Untersuchungen  ist. 

Die  endliche  Lösung  dieser  wie  anderer  hierhin  gehörenden 
Fragen,  z.  B.  ob  die  Typen  willkürlich  durch  Übung  ausgebildet 
werden  können,  welche  Ansicht  Meumann  vertritt1),  oder  ob  sie 
wesentlich  durch  erbliche  Anlagen  bestimmt  sind,  wie  Ribot 

I  E.  Meuraann,  Über  Ökonomie  und  Technik  des  Lernen».  Leipzig  1903. 


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Expertin.  Untersuchung  der  viBuellen  und  akustischen  Erinnerungsbilder.  521 

meint,  wird  offenbar  von  der  Möglichkeit,  ob  sichere  Bestimmungs- 
methoden  sich  finden  lassen,  abhängen.  Solche  ganz  zuverläs- 
sige Methoden  sind  wohl  noch  nicht  bekannt,  man  darf  aber 
hoffen,  daß  das  Problem,  jedenfalls  was  den  visuellen  and 
akustischen  Typus  betrifft,  in  naher  Zukunft  gelöst  werden 
kann. 

In  dem  Folgenden  werden  in  Kürze  einige  Arbeiten  von  rein 
experimentaler  Natur  zur  Bestimmung  der  verschiedenen  Typen 
erwähnt  werden. 

Ein  häufig  benutztes  Verfahren  geht  darauf  aus,  durch  Hilfe 
von  diktierten  Wörtern  die  Art  der  Assoziationen,  welche  bei  den 
Versuchspersonen  erweckt  werden,  zu  untersuchen.  Die  Methode 
ist  von  Ribot1)  und  Dugas2)  benutzt  worden. 

Ribot  Btellt  auf  Grundlage  seiner  Untersuchungen  drei  Typen 
auf :  den  konkreten,  den  auditiven  und  den-  typographisch-visuellen 
Typus.  Der  erste  ist  dadurch  charakterisiert,  daß  das  abstrakte 
Wort  ein  Bild  erweckt,  in  der  Regel  ein  visuelles,  nicht  aber 
Wortlaut  oder  Wortbild.  Der  Typus  ist  allgemein  unter  Frauen 
und  Kindern.  Der  typographisch-visuelle  Typus  kennzeichnet  sich 
dadurch,  daß  wesentlich  nur  das  gedruckte  Wortbild  erweckt 
wird. 

Von  dieser  Methode  kann  man  kaum  erwarten,  daß  sie  sehr 
exakt  ist,  sie  wird  unter  keinen  Umständen  gegenüber  Personen 
angewandt  werden  können,  welche  die  Analyse  ihres  Bewußtseins- 
zustandes nicht  gewohnt  sind. 

Folgende  Methode  ist  von  Stetson  ')  und  A.  Netschajeff4) 
angewandt  worden.  Es  wurde  den  Versuchspersonen  eine  Reihe 
von  Fragen  vorgelegt,  aus  deren  Beantwortung  die  verschiedenen 
Typen  hervorgehen  sollten.  So  stellte  Netschajeff  folgende 
Fragen  an  seine  Versuchspersonen,  alle  Schüler  in  verschiedenem 
Alter: 


1  Ribot,  Enqcte  sur  leB  ldeee  gencrales.    Revue  philosoph.  1891. 

2;  Dugas,  Recherche»  expcriincntales  sur  les  difterents  types  d'imagett 
Revue  philosoph.  1895. 

3  Stetson,  Typos  of  Imagination.   Psychologie*]  Review.   Juli  1896. 

4j  A.  Netschajeff,  Experimentelle  Untersuchungen  über  die  Gedächtnis- 
entwicklung  bei  Schulkindern.  Zeitschrift  für  Psychol.  und  Physiol.  der 
Sinnesorgane.  XXIV.  S.  321;  und  A.  Netschajeff,  Über  Memorieren. 
Sammlung  von  Abhandlungen  aus  dem  Gebiete  der  pädagogischen  Psycho- 
logie und  Physiologie.  1902. 

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522 


R.  H.  Pederscn, 


1)  Wie  finden  Sie  es  leichter,  eine  Lektion  zn  lernen  —  leise 
oder  mit  lanter  Stimme? 

2)  Wie  finden  Sie  es  leichter,  eine  Schularbeit  zu  lernen  —  nach 
dem  Buche  oder  nach  dem  Gehör? 

3)  Was  ziehen  Sie  vor,  wenn  Sie  eine  Lektion  nach  dem  Buche 
präparieren  —  dieselbe  schweigend  durchzulesen  oder  die  Wörter 
nachzusprechen? 

4)  Erinnern  Sie  sich,  auf  welcher  Seite  des  Boches  die  Lektion 
abgedruckt  ist,  wenn  Sie  Ihre  Aufgabe  hersagen?  Erinnern  Sie 
sich  vielleicht,  ob  die  Lektion  rechts  oder  links  abgedruckt  war? 

5)  Stellen  Sie  sich  die  Lettern  des  Buches  vor,  wenn  Sie  eine 
Lektion  hersagen? 

Der  Verfasser  stellt  durch  Analyse  der  Antworten  sieben  Typen 
auf,  nämlich  außer  den  vier  früher  erwähnten  einen  motorisch- 
akustischen, einen  visuell -motorischen  und  einen  visuell -akusti- 
schen Typus. 

Aach  diese  Methode  scheint  nicht  besonders  sichere  Resultate 
geben  zu  können,  besonders  wenn  sie  wie  hier  an  Kindern  oder 
ganz  jungen  Leuten  angewandt  wird. 

Mehr  exakt  ist  J.  Cohn1)  zu  Werke  gegangen.  Er  benutzte 
ein  Schema,  bestehend  aus  zwölf  Buchstaben,  geordnet  in  vier 
Reihen.  Die  Buchstaben  wurden  in  einer  gewissen  Zeit  unter 
verschiedenen  Bedingungen  gelesen.  1)  Die  Buchstaben  wurden 
laut  von  den  Vp.  gelesen ;  k2)  die  Vp.  betrachteten  die  Buchstaben, 
indem  sie  die  Sprech bewegung  unterdrückten;  3)  die  Buchstaben 
wurden  unter  gleichzeitigem  Hersagen  eines  Vokals  gelesen; 
4)  unter  gleichzeitigem  Zählen  von  1  bis  20;  oder  5)  unter  Her- 
sagen einer  komplizierten  Zahlenreihe. 

Bei  der  Untersuchung  darüber,  durch  welche  Bedingungen  das 
beste  Resultat  unter  den  zwei  ersten  Versuchen  erreicht  würde» 
und  wieviel  der  störende  Einfluß  nuter  den  übrigen  Versuchen 
den  verschiedenen  Vp.  gegenüber  sich  geltend  machte,  glückte  es 
dem  Vcrsuchsleiter,  dieselben  in  visuelle  und  akustisch-motorische 
zu  unterscheiden. 

Von  den  erwähnten  Methoden  ist  keine,  die  sich  besonders  zur 

1  J.  Cohn,  Experimentelle  Untersuchungen  Uber  das  Zusammenwirken 
des  akustisch-motorischen  und  des  visuellen  Gedächtnisses.  Zeitschrift  für 
Psycho!,  und  Fhysiol.  der  Sinnesorgane.   XX.   S.  161. 


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Experim.  Untersuchung  der  visuellen  and  akustischen  Erinneron^sbikler.  523 


Anwendung  gegenüber  Vp.  eignet,  welche  nicht  darin  gettbt  sind, 
ihren  Bewußtseinszustand  zu  analysieren,  oder  im  psychologischen 
Experiment  so  gettbt  sind,  daß  sie  imstande  sind,  gewisse  Vcr- 
suchsbedingungen  zu  befriedigen,  wie  z.  B.  die  von  J.  Cohn  be- 
natzten. Ungeübten  Personen  gegenüber  mnß  die  Methode  von 
einer  solchen  Beschaffenheit  sein,  daß  man  nur  von  ihnen  ver- 
laugt, was  sie  unter  ganz  gewöhnlichen  Verhältnissen  gewohnt  sind 
zn  leisten.  Besonders  schwierig  ist  das  Verhältnis  Kindern  gegen- 
über, deren  Aussage  über  ihren  psychischen  Zustand  man  nicht 
Glauben  schenken  kann.  Soll  man  deshalb  eine  Methode  zum  Ge- 
brauch für  diese  finden,  so  muß  man  dazu  die  Forderung  stellen,  daß 
sie  nichts  für  sie  Ungewohntes  oder  Neues  fordert;  denn  solches 
würde,  besonders  den  schwach  begabten  Kindern  gegenüber,  deren 
psychischen  Zustand  zu  untersuchen  nicht  weniger  interessant 
ist,  leicht  ein  falsches  Bild  der  faktischen  Verhältnisse  geben 
können. 

Mit  diesen  Forderungen  vor  Augen,  habe  ich  eine  Reihe  Ver- 
suche über  die  Genauigkeit  der  Gesichts-  und  Gehörserinnerungs- 
bilder der  Kinder  angestellt  und  daraus  Schlüsse  rücksichtlich  der 
Typen  gezogen,  zu  welchen  sie  gehören.  Die  Versuche  betreffen 
jedoch  nur  den  visuellen  und  den  akustischen  Typus.  Die  Vp. 
waren  Knaben,  Eleven  in  der  Volksschule  im  Alter  von  10  bis 
11  Jahren.    Sie  waren  folglich  wohlgeübt  im  Lesen  und  Schreiben. 

Bei  der  Untersuchung  der  Gesichtserinnerungsbilder  verfuhr  ich 
folgendermaßen:  Aus  einem  englischen  Lexikon  wählte  ich  etwa 
500  Wörter  zu  sieben  Buchstaben,  wie  z.  B.  Borough,  fifthly,  anights, 
samtlich  Wörter,  welche  schwierig  auszusprechen  sind,  und  deren 
Orthographie  ziemlich  verschieden  von  der  Aussprache  ist;  sie 
waren  natürlich  den  Kindern  ganz  unbekannt.  An  jedem  Ver- 
suchstage  wurden  aufs  Geratewohl  15  Wörter  ausgesucht,  nie 
mehr,  damit  die  Kinder  nicht  müde  würden,  und  jedes  Kind 
erhielt  ein  Blatt  Papier,  auf  welches  die  Wörter  geschrieben 
werden  sollten.  Darauf  überzeugte  ich  mich  davon,  daß  die 
Kinder  von  ihren  Plätzen  deutlich  die  Stelle  der  Klassentafel,  auf 
welche  ich  schreiben  wollte,  sehen  konnten,  wonach  eine  große 
Pappplatte  vor  der  Tafel  aufgestellt  wurde,  damit  die  Kinder 
nicht  sehen  konnten,  waB  ich  darauf  schrieb.  Dann  schrieb  ich 
mit  Kreide  eins  der  ausgewählten  Wörter  mit  großen,  deutlichen 
Buchstaben,   und   nachdem  ich  ein  Signal  gegeben  und  zur 


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524  R-  H.  Pedersen, 

weiteren  Sicherheit  mich  davon  überzeugt  hatte,  daß  alle  Kinder 
ihren  Blick  gegen  die  Tafel  gerichtet  hatten,  wurde  die  Papp- 
platte weggenommen.  Die  Kinder  betrachteten  das  Wort  einige 
Sekunden  (5  oder  10),  wonach  die  Platte  wieder  vor  die  Tafel  ge- 
stellt wurde,  und  die  Kinder  das  Wort  niederschrieben.  Anf  diese 
Weise  wurde  fortgefahren,  bis  alle  15  Wörter  geschrieben  waren. 

Die  Expositionszeit  war,  wie  gesagt,  teils  5,  teils  10  Sekunden; 
denn  ich  wollte  gern  wissen,  ob  10  Sek.  ein  besseres  Resultat 
als  5  Sek.  gäben.  Um  die  Übung  zu  eliminieren,  stellte  ich 
den  einen  Tag  Versuche  mit  5  Sek.,  den  folgenden  solche  mit 
10  Sek.  an. 

Um  den  Einfluß  der  Übung  zu  finden,  habe  ich  das  Versuchs- 
material für  beide  Versuchszeiten  in  vier  gleichgroße  Teile  geteilt 
und  die  Fehler  in  Prozent  für  jedcB  Viertel  berechnet.  Die 
Prozentzahlen  sind  hier,  wie  überall,  von  der  Anzahl  der  falsch 
geschriebenen  Buchstaben  im  Verhältnis  zu  sämtlichen  Buch- 
staben berechnet.  In  der  Tabelle  I  und  II  wird  das  Resultat  ge- 
funden. Was  das  Kind  Nr.  24  betrifft,  so  ist  keine  Berechnung  an- 
gestellt; die  erwähnten  Tabellen  sind  etwas  später  als  die  Übrigen 
berechnet,  und  in  der  Zwischenzeit  war  das  Material  für  dieses 
Kind  verloren  gegangen.  Für  die  Berechnung  der  Durchschnitts- 
zahlen von  Fehlern  hat  dies  jedoch  keine  Bedeutung. 

Die  Durchschnittszahlen  für  die  vier  Viertel  sind  für  die  Ver- 
suche mit  5  Sek.  bzw.  5,03,  4,13,  3,19  und  2,97  Prozent,  was 
mit  dem  allgemeinen  Übungsgesetze  Ubereinstimmend  ist.  Man 
kann  die  Übung  nach  der  ersten  Hälfte  als  abgeschlossen  be- 
trachten. Dagegen  zeigen  die  Versuche  mit  10  Sek.  einige  Un- 
regelmäßigkeiten, denn  die  Fehler  für  die  vier  Teile  sind  bzw. 
3,54,  3,88,  2,79  und  3,19  Prozent.  Hier  haben  also  andere  Fak- 
toren  als  die  Übung  Einfluß  auf  das  Resultat  gehabt.  Die  Zeit 
ist  wahrscheinlich  zu  lang  gewesen,  und  die  Kinder  haben  nicht 
das  Interesse  so  lange  bewahren  können.  Deshalb  habe  ich  die 
Versuche  mit  5  Sek.  für  die  folgenden  Berechnungen  zugrunde 
gelegt. 

In  den  Tabellen  HI  und  IV  findet  man  das  Kesultat  beider 
Versuchsreihen.  Die  Anzahl  der  Fehler  variiert  von  0,18  %  bis 
10,53  %.  Vergleicht  man  die  Tabelle  m  und  IV,  so  sieht  mau, 
daß  nur  Nr.  9  und  Nr.  20  größeren  Nutzen  von  der  längeren  Zeit 
gehabt  haben,  was  offenbar  damit  in  Verbindung  steht,  daß 


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Experim.  Untersuchung  der  visuellen  und  akustischen  Erinnerungsbilder.  527 

sie  recht  langsam  lesen;  die  andern  zeigen  nur  geringen  Fort- 
schritt oder  sogar  Rückgang. 

Die  mittleren  Fehler  für  sämtliche  Schüler  sind  für  die  zwei 
Expositionszeiten  4,08  bzw.  3,54.  Der  ganze  Fortschritt  bei  den 
Versnchen  mit  10  Sekunden  beträgt  also  nur  0,54  %  und  rührt 
wahrscheinlich  von  den  akustischen  Kindern  her.  Denn  wenn  die 
in  dem  Folgenden  gemachte  Einteilung  der  Kinder  in  visuelle  und 
akustische  benutzt  wird  (was  jedoch  in  Betracht  der  Unregelmäßig- 
keiten, welche  Tabelle  II  bei  der  Berechnung  der  Übung  zeigte, 
nur  mit  einigem  Vorbehalt  gemacht  werden  darf),  und  wenn  man 
die  Durchschnittszahlen  der  beiden  Expositionszeiten  nimmt,  so 
bekommt  man  untenstehendes  Resultat: 

Visuelle:  Akustische: 
5  Sekunden:     2,85  #  5,86  % 

10  Sekunden:     2,82  %  4,59  %. 

Man  bemerkt,  daß  nur  die  akustischen  Kinder  aus  der  längeren 
Zeit  Vorteil  haben;  die  visuellen  machen  ebensoviel  Fehler  bei 
den  Versuchen  mit  10  Sek.  als  bei  denen  mit  5  Sek.  Dies  kann 
dadurch  erklärt  werden,  daß  die  visuellen  beim  wiederholten 
Lesen  des  Wortes  in  den  10  Sek.  Bich  vom  Wortlaut  stören  lassen, 
weil  die  Wörter  anders  ausgesprochen  als  buchstabiert  werden. 
Ein  Typus  kommt  ja  nur  selten  in  reiner  Form  vor.  Außer  den 
Erinnerungsbildern,  welche  vorherrschen  und  den  Typus  bestimmen, 
werden  gewöhnlich  auch  Bilder  aus  andern  Sinnesgebieten  sich 
geltend  machen,  aber  weit  weniger  stark  als  jene.  Der  Visuelle 
wird  sich  also  nicht  ausschließlich,  sondern  nur  überwiegend  der 
Gesichtsbilder  bedienen;  auch  akustische  und  motorische  Bilder 
gehen,  aber  in  schwächcrem  Grade,  in  seine  Erinnerungsbilder  ein. 

Die  akustischen  Kinder  dagegen,  welche  das  Wortbild  ins 
Lautbild  umsetzen,  werden  beim  wiederholten  Lesen  des  Wortes 
in  den  10  Sek.  von  keiner  störenden  Einwirkung  beeinflußt  Im 
Gegenteil,  sie  müssen  bei  der  Wiederholung  auch  einigen  Nutzen 
aus  dem  Gesichtsbild  ziehen,  und  deswegen  machen  sie  weniger 
Fehler  in  den  lang  exponierten,  als  in  den  kurz  exponierten -Wörtern. 

Bei  der  Untersuchung  Uber  die  Gehörserinnerungsbilder  be- 
nutzte ich  ebenfalls  den  Kindern  unbekannte  Wörter,  welche 
sieben  Buchstaben  enthielten,  deren  Orthographie  aber  mit  der 
Aussprache  ganz  übereinstimmte.    Jeden  Versuchstag  suchte  ich 

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528 


Ii.  H.  Pedereen, 


15  Wörter  aus.  Jede»  Wort  wurde  einmal  recht  laut,  langsam 
und  deutlich  den  Kindern  vorgesprochen,  und  dann  von  diesen 
niedergeschrieben.  Bei  der  Berechnung  der  Fehler  nahm  ich 
natürlicherweise  auf  Verwechselungen  der  Laute,  die  ein  normales 
Ohr  schwer  unterscheidet,  keine  Rücksicht.  Die  Prozeutzahlen 
der  Fehler  liegen  zwischen  1,12  und  10,56  %. 

Die  Tabellen  III  und  V  bilden  die  Grundlage  zur  Unterscheidung 
der  visuellen  und  akustischen  Kinder,  wozu  uns  die  folgende  Be- 
trachtung fuhrt.  In  den  Versuchen  mit  den  Sehwörtern  konnten 
die  Kinder,  wenn  sie  die  Wörter  niederschrieben,  sowohl  von  den 
Gesichts-  als  von  den  Gehörserinnernngsbildern  sich  leiten  lassen. 
Die  akustischen,  welche  in  Ubereinstimmung  mit  dem  Wortlaut 
schreiben,  hatten  während  des  Niederschreibens  nur  geringen 
Nutzen  von  den  Gesichtsbildern,  welche  sie  sogleich  in  Lautbilder 
umsetzten,  und  sie  mußten  folglich  mehr  Fehler  begehen  bei  den 
Sehwörtern,  welche  nicht  ihrer  Orthographie  gemäß  ausgesprochen 
werden,  als  bei  den  Gehörwörtern,  bei  welchen  das  Lautbild  ge- 
nügt. Das  akustische  Kind  ist  geneigt,  bei  den  Sehwörtern  stumme 
Buchstaben  zu  vergessen,  gleichlautende  Buchstaben,  wie  c  und  s, 
b  und  p,  zu  verwechseln  usw.  Die  visuellen  Kinder  dagegen, 
welche  meistens  nach  dem  Gesichtsbild  schreiben,  sind  mehr  vor 
diesen  Fehlern  geschützt,  und  machen  weniger  Fehler  in  den 
Sehwörtern  als  in  den  Gehörwörtern.  Bei  den  letzteren  sind  sie 
in  einer  schwierigen  Lage,  weil  sie  nicht  daran  gewöhnt  sind,  sich 
nach  dem  Lautbild  zu  richten.  Macht  also  ein  Kind  weniger 
Fehler  in  den  Seh  Wörtern  als  in  den  Gehörwörtern,  so  ist  es  visuell; 
wenn  dagegen  das  Umgekehrte  der  Fall  ist,  akustiBch.  Vergleicht 
man  Tabelle  III  mit  Tabelle  V,  was  ohne  weiteres  erlaubt  werden 
kann,  weil  die  zwei  Durchschnittszahlen  der  sämtlichen  Prozent- 
zahlen der  Fehler  für  Seh-  nnd  Gehörwörter  (wie  die  Tabellen 
zeigen)  ungefähr  einander  gleich  sind  (4,08  bzw.  4,04  %),  dann 
geht  daraus  hervor,  daß  die  ersten  16  Schüler  die  wenigsten  Fehler 
in  den  Seh  Wörtern  machen,  weshalb  sie  als  überwiegend  visuell 
zu  betrachten  sind.  Die  übrigen  sind  überwiegend  akustisch. 
Nimmt  man  die  Durchschnittszahlen  der  Fehler  für  die  visuellen 
und  die  akustischen,  so  bekommt  man  folgendes  Resultat: 


Visuelle: 


Akustische: 


Sehwörter:  2,85  % 
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Experim.  Untersuchung  der  visuellen  and  akustischen  Erinncnmpsbilder.  529 

Was  die  Gehörwörter  betrifft,  sind  also  die  Visuellen  und  die 
Akustischen  einander  gleich.  Obwohl  man  hätte  erwarten  können, 
daß  die  ersteren  den  letzteren  nachstehen  werden,  ist  der  Befnnd 
jedoch  deswegen  nicht  als  unrichtig  zn  betrachten;  denn  es  ist 
möglich,  daß  die  Visuellen  trotz  ihrer  vorherrschenden  Gesichts- 
erinnerungsbilder gleichwohl  ebenso  gute  Gehörserinnerungsbilder 
wie  die  Akustischen  besitzen  können. 

Bei  den  Sehwörtern  machen  die  Visuellen  1,18  %  weniger 
Fehler,  die  Akustischen  1,80  %  mehr  als  bei  den  Gehörwörtern. 

Übrigens  streitet  das  Resultat  gegen  die  gewöhnliche  Annahme, 
daß  die  meisten  Menschen  akustisch  sind.  Es  ist  möglich,  daß 
die  hier  angewandte  Methode  den  Gesichtserinnerungsbildern  ein 
zu  großes  Gewicht  im  Verhältnis  zu  den  Gehörserinnerungsbildern 
gewährt,  aber  die  Nichtubereinstimmung  kann  auch  darin  ihren 
Grund  haben,  daß  der  indifferente  Typus  in  den  beiden  Typen 
enthalten  ist.  Auch  ist  die  Möglichkeit  nicht  ausgeschlossen,  daß 
die  Verbreitung  der  Typen  in  den  verschiedenen  Ländern  sehr 
verschieden  ist.  Falls  der  Unterricht  großen  Einfluß  auf  die  Aus- 
bildung der  Typen  hat,  ist  es  nicht  unwahrscheinlich,  daß  unter 
den  Dänen  die  Visuellen  in  der  Mehrzahl  sind. 

Nachdem  ich  die  Kinder  auf  diese  Weise  in  visuelle  und 
akustische  gesondert  hatte,  stellte  ich  für  mehrere  Unterrichts- 
fächer eine  Berechnung  der  Zensuren  an,  welche  die  Kinder  im 
Lanfe  des  ganzen  Schuljahres  bekommen  hatten,  um  zu  sehen,  ob 
es  möglich  wäre,  zwischen  dem  oben  gefundenen  Ergebnis  nnd 
den  Leistungen  der  Kinder  in  den  verschiedenen  Fächern  eine 
Ubereinstimmung  zu  finden.  Zwar  sind  die  Zensuren  gewöhnlieh 
ein  minderwertiges  Material,  um  daraus  sichere  Schlüsse  zu  ziehen, 
wenn  aber  die  Durchschnittszensuren  des  ganzen  Jahres  zugrunde 
gelegt  werden,  dann  ist  zu  erwarten,  daß  man  ein  annähernd  treues 
Bild  von  dem  Stand  der  Leistungen  der  einzelnen  Kinder  bekommt. 
Außerdem  habe  ich  selbst  die  Zensuren  gegeben  (ausgenommen 
die  fttr  Schreiben  und  Zeichnen),  und  ich  habe  mich  immer  be- 
müht, bei  jeder  Prüfung  die  Kenntnisse  der  Kinder  genau  zu  be- 
urteilen. Auch  wird  die  Bemerkung  nicht  Überflüssig  sein,  daß 
den  Kindern  niemals  häusliche  Arbeit  aufgegeben  wurde.  Sie  waren 
also  darauf  angewiesen,  sich  ihre  Kenntnisse  in  den  Unterrichts- 
stunden zu  erwerben;  sie  arbeiteten  folglich  alle  unter  denselben 


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530 


R.  H.  Pedersen, 


Bedingungen,  und  die  Zensuren  sind,  so  weit  als  möglich,  eine 
Beurteilung  ihrer  Beanlagungeu,  und  darauf  kommt  es  in  diesem 
Zusammenhang  an.  Die  Berechnung  des  Versuchsmaterials  habe 
ich  erst  am  Schlüsse  des  Schuljahres  angestellt,  damit  die  Resultate 
derselben  auf  mein  Zensurgeben  keinen  Einfluß  ausüben  könnten. 

Die  Zensuren  findet  man  in  Tabelle  VI.  Die  benutzte  Zensuren- 
skala umfaßt  19  Zensuren,  von  welchen  18  die  beste,  0  die 
niedrigste  ist.  Im  folgenden  werden  die  Zensuren  überall  mit 
Zahlen  bezeichnet.  Einem  Schüler,  Nr.  13,  sind  keine  Zensuren  in 
drei  Fächern  gegeben,  weil  er  einen  großen  Teil  des  Jahres  krank 
gewesen  war.  , 

Nimmt  man  die  Durchschnittszensuren  jedes  Faches,  so  bekommt 
man  folgendes  Resultat: 


Visuelle: 

Akustische: 

Orthographie : 

12,7 

11,2 

Geschichte: 

12,6 

15,0 

Geographie : 

13,6 

13,8 

Naturgeschichte: 

14,6 

15,5 

Zeichnen : 

13,1 

11,9 

Schreiben : 

12,9 

12,3 

Bezüglich  der  Orthographie  sind,  wie  zu  erwarten  war,  die 
Visuellen  die  geschicktesten;  dagegen  werden  sie  in  Geschichte 
von  den  Akustischen  übertroffen.  Auch  letzteres  ist  sehr  ver- 
ständlich, denn  Geschichte  ist  hauptsächlich  akustischer  Natur. 
Was  Geographie  und  Naturgeschichte  betriff*,  sind  beide  Teile 
einander  mehr  gleich,  was  damit  Ubereinstimmt,  daß  die  zwei 
Fächer  mehr  gleichmäßig  Gesichts-  und  Gehörserinnerungsbilder 
in  Anspruch  nehmen.  Doch  dürfte  man  erwarten,  daß  die  Visuellen 
die  Akustischen  übertreffen  würden,  weil  das  visuelle  Moment  in 
beiden  Fächern  überwiegt. 

Auch  für  Zeichnen  und  Schreiben  ist  eine  Zensurenberechnung 
angestellt.  Denn  vorausgesetzt,  daß  eine  Person,  welche  einem 
Typus  angehört  mit  Bezug  auf  die  Worterinnerungsbilder,  auch 
demselben  Typus  in  seinem  übrigen  Erinnerungsgehalt  zugehörig 
ist,  darf  man  vermuten,  daß  die  Visuellen  den  Akustischen  in  den 
beiden  Fächern  überlegen  sind1).   Die  erwähnten  Fächer  machen 

1)  Obwohl  Prof.  Heumann  in  >Über  Ökonomie  und  Technik  des 
Lernens«  die  Ansicht  vertritt,  daß  man  in  seinen  gegenständlichen  Vor- 
stellungen einem  andern  Typus  als  in  seinen  wörtlichen  angehören  kann. 


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Prozentzahlen  der  Fehler 
bei  den  Sehwörtern 

Prozentzahlen  der  Fehler 
bei  den  Gehörwörtern 

Orthographie 
Zeichnen 

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S  l  Geschichte 
N  Naturgeschichte 
Geographie 

Durchschnittszensuren  > 
für  sämtliche  Unter- 
richtsfächer mit  Aus- 
nahme von  Zeichnen 
und  Schreiben          /  1 

531 


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Ö32  R.  H.  Pedersen. 

indessen  nicht  nur  Anspruch  anf  die  visuellen  Erinnerungsbilder, 
sondern  auch  auf  die  motorischen,  welche  hier  nicht  beurteilt 
werden  können.  Das  Resultat  zeigt,  daß  die  Visuellen  ein  geringes 
Ubergewicht  haben,  jedoch  sehr  unbedeutend,  was  das  Schreiben 
betrifft.  In  diesem  Fach  herrscht  aber  auch  das  motorische  Ele- 
ment so  sehr  vor,  daß  das  visuelle  ganz  in  den  Hintergrund  tritt. 


0 


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Fig.  L 

Die  graphischen  Darstellungen  in  Figur  1  und  2  geben  eine 
gute  Übersicht  Uber  das  Verhältnis  zwischen  den  Durchschnitts- 
zensuren für  die  Schüler  und  den  Resultaten  der  Versuche,  be- 
treffend ihre  Gesichts-  und  Gehörscrinnerungsbilder. 

darf  man  jedoch  annehmen,  daß  das  gewöhnlich  nicht  der  Fall  ist,  nnd  daß 
der  Typus ,  wenn  es  stattfindet,  nnr  wenig  ausgeprägt  sei.  Solche  Fälle 
werden  von  Ballet  (Ballet,  Le  laugage  interieur)  zu  dem  indifferenten 
Typus  gerechnet. 


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Kxperim.  Untereuehun°:  der  visuellen  und  akustischen  Erinnerungsbilder.  533 

Die  Prozentzablen  der  Fehler  sind  bei  den  Sehwörtern  auf  der 
Abszissenachse  und  bei  den  Gehörwörtern  auf  der  Ordinatenaehse 
abgesetzt.  Betragen  z.  B.  die  Gesichts-  und  Gehörsfehler  eines 
Kindes  3  bzw.  4,  so  wird  sein  Standpunkt  mit  Bezug  auf  die  zwei 
Sinnengebiete  durch  den  Durchschnittspunkt  zwischen  der  Abszisse  3 
und  der  Ordinate  4  bestimmt.    Ist  die  Abszisse  des  Punktes  kürzer  • 


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Fig.  2. 

als  die  Ordinate,  dann  ist  das  Kind  visuell,  im  entgegengesetzten 
Fall  akustisch.  Jedem  Punkt  ist  die  Durcbschnittszensur  des 
Kindes  in  Zahlen  beigefügt. 

Fig.  1  stellt  allein  das  Verhältnis  für  die  Orthographie  dar  und 
zeigt  im  ganzen  eine  recht  gute  Übereinstimmung  zwischen  den 
Versuchsresultaten  und  der  Fertigkeit  der  Kinder  bezüglich  dieses 
Faches.    Man  sieht,  daß  die  Visuellen  in  Orthographie  die  besten 

Archiv  für  Psychologie.   IV.  35 


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534    K-  H.  Pedersen,  Exper.  Untersuch,  d.  vis.  u.  akuat.  Erinnerungsbilder. 

sind.  Nur  zwei  Kinder  (Nr.  3  und  8  in  den  Übriges  Tabellen), 
welche  die  Prozentfehler  2.20  und  1,90  für  Gesichtebilder,  2,79 
und  2,48  für  Gehörsbilder  haben,  sind  Ausnahmen.  Ihre  Zensuren 
sind  9  bzw.  11. 

Die  in  Fig.  2  angeführten  Zensuren  sind  als  Durchschnitt  der 
Zensuren  aller  Fächer,  mit  Ausnahme  von  Zeichnen  und  Schreiben, 
berechnet,  und  es  geht  daraus  hervor,  daß  sich  hier  dasselbe  Ver- 
hältnis wie  in  Fig.  1,  wenn  auch  weniger  ausgeprägt,  geltend 
macht.  Die  Kinder,  welche  bei  den  Versuchen  am  wenigsten 
Fehler  machten,  zeigten  sieh  auch  beim  Unterricht  als  die  geschick- 
testen. Man  bemerkt,  daß  die  obenerwähnten  zwei  Schüler  wieder 
eine  Ausnahme  bilden,  denn  ihre  Zensuren  sind  13  und  12. 

Es  scheint  folglich,  daß  die  Versuchsresultate  ein  annäherndes 
Maß  für  die  Tüchtigkeit  der  Kinder  bezüglich  des  Unterrichts 
geben.  Da  die  Sicherheit  der  Erinnerungsbilder  wesentlich  von 
dem  während  des  Sinneseindruckes  und  während  der  Erinnerung 
gegenwärtigen  Aufmerksamkeitsgrade  bedingt  ist,  geben  die  Ver- 
suche auch  einige  Auskunft  Uber  die  Fähigkeit  der  Kinder,  ihre 
Aufmerksamkeit  zu  konzentrieren.  Obenerwähnte  Ubereinstimmung 
zwischen  Versuchs-  und  Unterrichtsresultatcn  führt  deshalb  zu  der 
Annahme,  daß  es  den  Kindern,  welche  beim  Unterricht  zurück- 
stehen, an  dieser  Fähigkeit  fehlt  Die  Frage,  ob  diese  Kinder 
mit  gutem  Erfolg  unterrichtet  werden  können,  leitet  uns  also  auf 
die  noch  tiefer  liegende  Frage:  Können  sie  in  genügendem  Grade 
ihre  Aufmerksamkeit  konzentrieren  lernen?  Diese  Frage  wird 
von  Prof.  Meumann  bejahend  beantwortet.  Die  in  dem  Labora- 
torium in  Zürich  vor  kurzem  angestellten  Untersuchungen  zeigen, 
daß  die  Aufmerksamkeit  außerordentlich  geübt  und  entwickelt 
werden  kann.  Ist  dies  der  Fall,  dann  darf  man  auch  die  Hoffnung 
hegen,  daß  die  Kinder,  sogar  die  schlecht  begabten,  weit  größeren 
Nutzen  aus  dem  Unterricht  ziehen  lernen  können,  als  heutzutage 
geschieht. 


(Eingegangen  am  20.  Dezember  1904. 


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Referate. 


Jahresbericht  über  die  Literatur  m  Kiltnr-  ud  Gesellschafte- 

lehre  ans  dem  Jahre  1903 »). 

Von 

A.  Vierkandt  (Gr.-Lichterfelde). 

Die  hierher  gehörigen  Werke  können  ihr  Problem  von  der  systematischen 
oder  von  der  historischen  Seite  her  in  Angriff  nehmen.  Im  ersteren  Falle 
geht  man  mehr  geradlinig,  im  letzteren  mehr  anf  Umwegen  anf  daa  für  uns 
in  Betracht  kommende  Ziel,  eine  allgemeine  Theorie  der  Kultur  und  Gesell- 
schaft, los.  Aber  auch  hier  zeigt  sich  vielfach,  daß  der  geradeste  Weg  nicht 
immer  der  kürzeste  ist;  denn  die  Systematiker  verlieren  leicht  den  Boden 
der  Erfahrung  unter  den  Füßen,  während  die  Historiker  durch  das  Schwer- 
gewicht ihres  Stoffes  zwar  in  ihren  Bewegungen  gehemmt  werden,  aber  da- 
für auch  gleichsam  in  einer  festen  Leitung  gehen.  Jedenfalls  zeigt  auch  die 
Literatur  des  verflossenen  Jahres,  wie  wichtig  ein  Zusammenarbeiten  beider 
Richtungen  ist;  sie  deutet  aber  auch  darauf  hin,  wie  ein  Verständnis  für 
dieses  Ineinandergreifen  und  ein  Verlangen  danach  immer  reger  wird.  Es 
scheint  kaum  zweifelhaft,  daß  für  die  Weiterentwicklung  der  Geisteswissen- 
schaften gerade  hier  der  entscheidende  Punkt  liegt 

Wir  beginnen  mit  einigen  systematischen  Werken: 

1)  Rudolf  Eisler,  Soziologie.  Die  Lehre  von  der  Entstehung  und  Ent- 
wicklung der  menschlichen  Gesellschaft.  Leipzig,  J.  J.  Weber, 
1903.  M.  4.-. 

Dieses  Werk  enthält,  freilich  nur  in  summarischer  Form,  einen  ziemlich 
erschöpfenden  Gesamtüberblick  Uber  die  wichtigsten  Gesichtspunkte  und 
Fragen  und  die  wenigen  gesicherten  Resultate,  die  auf  dem  gesamten  Ge- 
biet der  Kultur-  und  Gesellschaftalehre  in  Betracht  kommen.  Auch  die 
wichtigste  Literatur  ist  angegeben.  Da  absolute  Vollständigkeit  auf  diesem 
Gebiete  unmöglich  ist,  so  wird  es  jedem  Fachmann  leicht  fallen,  hier  und 
da  wichtige  Lücken  aufzuspüren.  Andererseits  ist  das  Büchlein  in  seiner 
knappen  Form  so  vielseitig,  daß  es  für  jeden  Laien  und  jeden  Vertreter 
einer  Geisteswissenschaft  eine  Fülle  von  Anregung  und  Belehrung  bietet. 
Es  zerfällt  in  drei  Teile :  eine  allgemeine  Soziologie,  welche  die  wesent- 
lichsten psychischen  Zusammenhänge  und  Beziehungen  innerhalb  der  Gruppe 
behandelt;  einen  Abschnitt,  der  den  wichtigsten  Kulturgütern  gewidmet  ist; 
und  einen  solchen,  der  sich  mit  den  hauptsächlichsten  einzelnen  Formen  der 


1}  Mehrfach  ist  zum  Zweck  der  Abrundung  weiter  zurückgegriffen. 

Arckiv  fftr  Pijcholoji«.   IV.  LiUntar  1 


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2 


Literatlirbericht. 


Gesellschaft  beschäftigt  Besonders  erfreulich  ist  die  Einschaltung  des 
zweiten  Teils,  der  in  den  meisten  derartigen  Büchern  fehlt  Er  befaßt  sich 
einerseits  mit  den  primitiven  Stadien  der  hier  bebandelten  Kulturgüter  und 
ihrer  psychologischen  Grundlage,  andererseits  mit  den  Wechselwirkungen, 
die  zwischen  einem  einzelnen  Kulturgut  und  der  gesamten  Kultur  besteben. 
Der  erste  Teil  handelt  hauptsächlich  vom  Geselligkeitstrieb,  dem  Verhältnis 
zwischen  dem  Einzelnen  und  der  Gesamtheit  dem  Gesamtbewußtsein,  der 
Kausalität  und  dem  Zweckbewußtsein;  dankenswert  wäre  hier  eine  etwas 
eingehendere  Erörterung  der  einfachsten  sozialpsychologischen  Vorgänge  wie 
des  Mitteilungstriebes,  der  Einfühlung,  der  Sympathie  und  der  Nachahmung; 
gute  Literatur  ist  ja  glücklicherweise  darüber  vorhanden.  Bei  dem  dritten 
Teile,  welcher  Familie,  Horde,  Stamm,  Stände-  und  Parteibildung  und  den 
Staat  behandelt  ist  für  den  Historiker  die  Heranziehung  primitiver  Verhält- 
nisse, <L  h.  der  Zustände  der  heutigen  Naturvölker,  sehr  beachtenswert 
Eingehendere  psychologische  Erörterungen  über  die  in  Betracht  kommenden 
Motive  und  Kräfte  der  vorliegenden  Formen  der  Vergesellschaftung  fehlen 
leider  auch  hier. 

Weniger  vielseitig,  aber  dafür  selbständiger  gehalten  ist  das  folgende  Buch : 

2)  Ernst  Victor  Zenker,  Die  Gesellschaft  U.Band:  Die  soziologische 
Theorie.  Berlin,  Georg  Reiner,  1908.  M.  3.—. 

Dieser  Teil  soll  nach  dem  Vorwort  die  eigentliche  soziologische  Theorie 
des  Verfassers  enthalten »).  »Ich  habe  mich  auch  bei  diesem  Bande«,  heißt 
es,  »so  weit  wie  möglich  bemüht  eine  allgemeine  Orientierung  Uber  alles  bis- 
her Geleistete  zu  geben  und  die  Resultate  der  einzelnen  Forscher  so  viel 
wie  möglich  zusammenzufassen.«  Hinter  dieser  Ankündigung  bleibt  der  In- 
halt freilich  etwas  zurück.  Zenker  behandelt  nur  eine  Auswahl  von  Fragen 
und  Ergebnissen  der  Soziologie  und  trifft  dabei  nicht  immer  das  Wich- 
tigste. Ein  erster  Abschnitt  handelt  kurz  von  den  Aufgaben  und  Me- 
thoden der  Soziologie,  ein  zweiter  von  den  seelischen  Grunderscheinungen 
der  Gesellschaft  ein  dritter  von  den  sozialen  Kräften  und  Gesetzen.  Von 
Gesetzen  werden  in  dem  letzten  Abschnitt  nur  eine  Anzahl  ziemlich  trivialer 
Analogien  zu  gewissen  physikalischen  Gesetzen  behandelt  Eigentlich  zeigt 
sich  in  diesem  Teile,  auch  in  dem  ersten  Abschnitt  hauptsächlich  nur,  wie 
viel  unfruchtbare  Arbeit  bis  jetzt  —  man  denke  nur  etwa  an  den  Streit 
über  die  organische  Natur  der  Gesellschaft  —  auf  diesem  Gebiet  ver- 
schwendet ist.  Am  ertragreichsten  ist  der  zweite  Abschnitt,  insbesondere 
seine  Erörterung  über  die  grundlegenden  Kräfte  der  Vergesellschaftung. 
Zenkers  Theorie,  daß  die  Gesellschaft  keinerlei  Kunstprodukt  sondern  ein 
natürlicher  Ausfluß  des  Geselligkeitstriebes  ist,  ist  nun  freUicb  nicht  so  neu, 
wie  er  meint,  und  die  daran  geknüpfte  Erörterung  der  Frage,  wie  weit 
höhere  Bewußtseinsprozesse,  zielbewußtes  Wollen  und  ideale  Motive  das 
Leben  der  Gesellschaft  beeinflussen,  ist  leider  ebenso  summarisch  gehalten, 
wie  die  voraufgehende  Diskussion;  denn  auch  bei  ihr  müssen  wir,  wie  oben. 


1)  Der  erste  Teil,  1899  erschienen,  handelt  von  der  »Entwicklung  der 
Gesellschaft«,  d.  h.  von  der  Famlien-,  Stammes-  und  Staatenbildung,  ihren 
Ursachen  und  Formen.  Wir  brauchen  auf  ihn  nicht  einzugehen,  da  die  vor- 
liegende Veröffentlichung  ein  abgeschlossenes  Ganzes  für  sich  bildet 


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Literatur  beriebt. 


8 


beklagen,  daß  bo  wichtige  Erscheinungen  wie  Mitteilungstrieb,  Nachahmung, 
Sympathie  und  Einfühlung  gar  nicht  behandelt  sind.  Immerhin  bewegen  wir 
uns  hier  wenigstens  anf  einem  gesunden  Boden.  —  Das  Buch  ist,  wie  gesagt, 
origineller  als  das  Kompendium  von  Eisler;  trotzdem  erinnert  ein  großer 
Teil  seines  Inhalts,  wenn  wir  ihn  mit  dem  genannten  Werk  und  den  meisten 
später  zu  erörternden  historisch  fundierten  Untersuchungen  vergleichen,  uns 
daran,  eine  wie  große  Menge  der  sogenannten  soziologischen  Erörterungen 
sich  auf  sterilem  Boden  bewegt  und  sich  um  mehr  oder  weniger  scholastische 
Fragen  bemüht,  während  ringsum  die  grüne  Weide  lockend  da  liegt. 

In  verstärktem  Maße  empfangen  wir  diesen  Eindruck  von  den  folgenden 
beiden  Veröffentlichungen: 

3)  Rudolf  Holzapfel,  Wesen  und  Methode  der  sozialen  Psychologie. 
Archiv  für  systematische  Psychologie.  1903.  S.  1—67. 

3a)  Panideal.   Psychologie  der  sozialen  Gefühle.     Leipzig,  Johann 

Ambrosius  Barth,  1901.  M.  7.—. 

Die  Abhandlung  nimmt  sich  wie  eine  Art  einleitendes  Programm  zu  dem 
Buche  aus,  das  umgekehrt  als  eine  weitere  Ausführung  derselben  und  als 
eine  Probe  für  ihre  Intentionen  gelten  kann.  Holzapfel  legt  vor  allem 
Gewicht  auf  die  Selbstbeobachtung:  »Nur  diejenigen  Philosophen,  welche 
selbst  Vieles  und  Bedeutendes  erlebt  haben,  werden  von  der  Hervorhebung 
gemeinsamer  Momente  der  einem  größeren  Sozialgebiet  angehörenden  Kom- 
plexe zur  Hervorhebung  gemeinsamer  Momente  der  einem  stets  kleineren  Ge- 
biet angehörigen  Komplexe,  somit  von  den  allgemeinsten  zu  immer  spezielleren 
und  individuelleren  Abstraktionen  schreiten  können;  ist  doch  die  Soziologie 
und  die  Koordinationspsychologie  ursprünglich  und  unmittelbar  auf  Selbst- 
beobachtung angewiesen.  Dieses  Konkretisieren  ist  eine  Mitbedingung 
der  Annäherung  der  sozialen  Wissenschaften  an  das  ästhetische  und  theo- 
retische Vollendungsmaximum  abstrakter  Kunst.  Nur  durch  ein  solches 
Konkretisieren  können  die  sozialen  Wissenschaften  ins  volle  Menschenleben 
bestimmend  und  lenkend  eingreifen.«  In  der  Hauptsache  bietet  die  Abhand- 
lung für  eine  solche  systematische  Selbstbeobachtung  ein  ausführliches 
Schema,  an  das  dann  einige  kurze  Ausführungen  in  durchaus  skizzenhafter 
Form  sich  anschließen.  Leider  ist  die  Abhandlung  sehr  schwerverständlich 
geschrieben.  Die  Mühe,  ihren  Inhalt  vollständig  zu  erfassen,  würde  der  Er- 
trag wohl  kaum  lohnen.  Sicherlich  ist  ihr  Grundgedanke  nicht  unrichtig, 
wenn  schon  Behr  einseitig;  denn  gerade  die  in  der  historischen  Betrachtungs- 
weise wurzelnden  Produktionen  zeigen  uns,  wie  sehr  das  angehäufte  Er- 
fahrungsmaterial der  Beseelung  auf  Grund  der  Selbstbeobachtung  bedarf; 
nnd  die  Gleichartigkeit  der  menschlichen  Natur  Uber  aUe  Zeiten  und  Räume 
darf  heute  als  so  gesichert  gelten,  daß  der  Übertragung  der  Ergebnisse  der 
Selbstbeobachtung  auf  fremde  Völker  und  Zeiten,  wofern  es  sich  nur  um 
hinreichend  elementare  Prozesse  handelt,  keine  grundsätzlichen  Bedenken 
entgegentreten.  Aber  dieser  Gedanke  ist  auch  wohl  kaum  völlig  neu,  und 
wichtiger  als  seine  Aussprache  ist  seine  Durchführung. 

Den  Versuch  einer  solchen  bietet  nun  freilich  das  vorhegende  Buch, 
aber  auch  bei  ihm  müssen  wir,  und  zwar  noch  mehr,  über  seine  außerordent- 
lich schwere  Verständlichkeit  klagen.  In  der  bekannten  Art  von  Avenarius 
geschrieben,  Btrotzt  es  von  Definitionen  und  von  Fremdwörtern,  die  das 

1* 


4 


Literaturbericht. 


Eindringen  anf  jeder  Seite  mehr  erschweren.  So  lesen  wir  z.  B.  S.  127 : 
»Unterschiedsgraduell  hygiopsychische  menBchheitsdegeneresc  enzharmonische 
Bühgungsfreiheit«,  nnd  S.  142:  »Unterschiedsgraduell  hygiopsychische  mensch- 
beitsentwickJungsharmonische  Moralrefonn«.  Die  Grundabaicht  des  Baches 
ist  Lösung  der  Frage:  Wie  erreicht  die  Menschheit  ein  Maximum  der 
Vollendung?  Dasu  soll  die  Frage  beantwortet  werden:  Wie  entstehen  im 
Bewußtsein  ideale  Werte?  Die  Durchführung  behandelt,  und  zwar  stets  auf 
dem  Wege  der  reinen  Deduktion,  die  folgenden  Themata:  Einsamkeit,  Sehn- 
sucht, Gebet,  Gewissen  und  Kunst  Soweit  dem  Referenten  das  Verständ- 
nis gelungen  ist,  scheinen  ihm  die  Ausführungen  des  Verfassers  von  einem 
ungewöhnlichen  Talent  der  Selbstbeobachtung  zu  zeugen.  Insbesondere  die 
psychologische  Zergliederung  der  bestimmenden  Motive  für  die  Entwicklung 
des  Gewissens,  für  den  Kunstgenuß  und  das  Kunstschaffen  lesen  sich  recht 
anregend.  Ohne  Zweifel  von  großer  Bedeutung  für  die  zukünftige  Soziologie 
ist  auch  das  vom  Verfasser  vielfach  behandelte  Thema  von  der  unpersön- 
lichen Vergesellschaftung:  Ideale  Güter,  insbesondere  Kunst  und  Philosophie, 
treten  zumal  zu  dem  Einsamen  in  ein  ähnliches  und  doch  so  völlig  ver- 
schiedenes inneres  Verhältnis  wie  andere  menschliche  Wesen.  Aber  wieviel 
Leser  werden  sich  die  Mühe  geben,  solche  Goldkörner  in  einem  solchen 
Boden  zu  suchen? 

Von  den  systematischen  wenden  wir  uns  jetzt  zu  den  historischen  Unter- 
suchungen, bei  denen  uns  durchweg  der  frisohe  Erdgeruch  ihrer  empirischen 
Grundlage  wohltuend  berührt.  Wir  beginnen  mit  zwei  kleinen  Arbeiten,  die 
den  Klassenbewegungen  anf  höherer  Kulturstufe  gewidmet  sind. 

4}  Rudolf  Broda,  Esquisse  d'une  histoire  naturelle  des  partis  poütiques. 
Paris,  Guillaumin  et  Co.,  o.  J. 

4a)  Gustav  Schmoller,  Klassenkämpfe  und  Klassenherrschaft  Sitzungs- 
berichte der  Königl.  Pr.  Akad.  d.  W.  LXXX.  1903. 

Die  französische  Arbeit  hat  sich  ein  interessantes  Thema  gewählt; 
und  die  Art  wta  sie  es  in  Angriff  nimmt  zeugt  von  einer  gesunden  und 
zutreffenden  Denkweise.  Leider  ist  die  Arbeit  aber  weniger  wissenschaft- 
licher als  journalistischer  Natur.  Der  VerfaBBer  behandelt  die  Tatsache  der 
poutischen  Parteien  im  8inne  der  Marxistischen  Geschichtsauffassung.  Die 
Überzeugungen  der  politischen  Parteien,  sagt  er  in  der  Einleitung  (8. 11), 
haben  ihre  einfache  Grundlage.  Die  Zeitungen  derselben  Richtung  äußern 
sich  über  dieselben  Fragen  stets  Übereinstimmend.  Handelt  es  sich  dabei 
um  ein  allgemeines  Problem,  so  ist  diese  Gleichheit  ein  einfacher  Ausfluß 
der  gleichen  politischen  Denkweise;  handelt  es  sich  um  eine  aktuelle  und 
praktische  Frage,  so  entstammt  sie  der  Tatsache,  daß  Überzeugungen  auf 
diesem  Gebiet  einfach  ein  anderer  Ausdruck  für  Wünsche  und  Bestrebungen 
sind;  denn  die  Tendenzen  einer  Partei  bestimmen  ihre  Werturteile.  Die 
eigentliche  Untersuchung  beginnt  mit  der  interessanten  Frage:  Wie  ent- 
stehen politische  Ideale?  Leider  lautet  die  Antwort  darauf,  die  vorzüglich 
an  den  beiden  Idealen  der  Freiheit  und  der  Gleichheit  abgeleitet  und  zugleich 
erläutert  wird,  etwas  kurz:  Sie  entstehen  als  Reaktion  auf  einen  starken  Druck 
und  als  daraus  hervorgehende  starke  Bedürfnisse  großer  Mengen,  ganzer 
Schichten  innerhalb  einer  Gesellschaft.   Eine  Vertiefung  dieser  Antwort  hätte 


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Literaturbericht. 


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nicht  so  fern  gelegen :  Die  politischen  Ideale  sind  zusammenhängende  Aus- 
drucke für  moralische  Gebote,  welche  noch  nicht  die  Anerkennung  der  ge- 
samten Gesellschaft,  sondern  erst  die  einer  einzelnen  Schicht  in  ihr  gefunden 
haben.  Oft  setzen  sie  sich  im  Laufe  ihrer  Entwicklung  durch,  bisweilen  auch 
nicht  Auf  unserer  Kulturstufe  scheint  das  hauptsächlich  davon  abzuhängen, 
ob  solche  Ideale  wirklich  sittlichen  Wert  haben,  d.  h.  ob  sie  wirklich  das 
Gedeihen  der  Gesamtheit  fördern,  oder  ob  sie,  wie  das  bei  den  Idealen  rück- 
ständiger Parteien,  die,  in  ihrem  Besitztum  bedroht,  sich  an  sie  anklammern, 
meist  der  Fall,  nur  gruppenegoistische  Bedeutung  besitzen.  Aber  gerade  auf 
diese  wichtige  Frage:  Wann  siegt  ein  Ideal;  hängt  das  nur  von  seinem 
inneren  Wert  ab,  oder  und  in  welchem  Maße  sprechen  äußere  Faktoren  mit? 
erhalten  wir  leider  keine  Antwort.  —  In  das  politische  Leben  verwickelt 
werden  diese  Ideale  aus  zwei  Gründen:  entweder  handelt  es  sich  bei  den 
Partei beetrebungen,  wie  etwa  bei  dem  Anarchismus,  um  rein  prinzipielle 
Fragen,  oder  um  solche  von  praktischer  Bedeutung.  Beide  Gründe  können 
auch  zugleich  wirksam  sein,  da  dieselbe  politische  Frage  sowohl  praktisch 
Beteiligte  wie  praktisch  Unbeteiligte  zu  erregen  vermag,  über  die  näheren 
Modalitäten  erhalten  wir  leider  auch  hier  keine  Auskunft.  —  Weiter  wird 
die  Frage  erörtert:  Wann  entstehen  Parteien?  Vorbedingung  dafür  ist  das 
Bestehen  von  einzelnen  Klassen,  Schichten  oder  Ständen  innerhalb  einer 
Gesellschaft.  Aber  dieses  genügt  an  sich  noch  nicht,  vielmehr  hält  im  all- 
gemeinen die  natürliche  Ehrfurcht  vor  dem  Bestehenden  den  Geist  der 
Kritik  in  Schranken.  Vorzüglich  zwei  Kräfte  können  diese  aber  durch- 
brechen :  das  energische  Aufwärtsstreben  einer  tieferen  Schicht  und  die  ver- 
zweifelte Erregung  einer  besitzenden  Klasse,  die  sich  durch  neue  Institutionen 
in  ihrer  Position  bedroht  fühlt  Im  einzelnen  erhält  weiter  die  Partei  Uberall 
ihr  Gepräge  durch  dasjenige  der  ganzen  Gesellschaft,  der  sie  angehört,  wie 
durch  die  Rasse,  den  Kulturtypus  usw. 

Eine  verwandte  Frage  behandelt  die  kleine  vorläufige  Veröffentlichung 
von  Gustav  Schmoller.  Klassenkämpfe  entstehen  nur  zu  besonderen 
Zeiten  mit  erhöhtem  Wandel  der  bestehenden  Zustände.  Eine  Klassen- 
herrschaft sowohl  im  sozialen  und  wirtschaftlichen  wie  im  rechtlichen  Sinne 
entsteht  daraus  häufig,  aber  nicht  immer.  In  der  Neuzeit  ist  die  Tendenz 
zu  ihrer  Entwicklung  sehr  beschränkt  worden  durch  folgende  Faktoren: 
durch  ein  verfeinertes  Rechtsgefühl  und  die  wachsende  Ausbildung  von 
hemmenden  Rechtsinstitutionen  und  Verfassungsformen;  durch  die  steigende 
Macht  der  öffentlichen  Meinung;  durch  die  Tatsache,  daß  die  heutigen 
sozialen  Klassen  zwar  stärker  organisiert,  im  Kampfe  oft  sogar  egoistischer 
als  früher  geworden,  aber  doch  auch  weiter  gespalten  als  früher  sich  gegen- 
wärtig mehr  in  Schach  halten;  und  endlich  durch  die  politische  Arbeits- 
teilung, welche  besondere  Stände  und  Klassen  geschaffen  hat,  die  ihre 
Lebensarbeit  dem  staatlichen  und  öffentlichen  Interesse  widmen.  Als  Haupt- 
hemmungsgründe  erscheinen  also,  in  der  Sprache  der  soziologischen  Ab- 
straktion ausgedrückt,  erstens  ideale  Faktoren  wie  das  Rechtsbewußtsein 
und  die  Macht  der  öffentlichen  Meinung,  zweitens  der  Mechanismus  der 
gegenseitigen  Lähmung  und  drittens  die  Vermehrung  der  unparteiischen 
Elemente,  der  sogenannten  liberalen  und  verwandten  Berufsarten.  Die  zu- 
nehmende Wirksamkeit  der  idealen  Faktoren  ist  jedenfalls  in  der  Haupt- 
sache auf  diese  beiden  letzten  Momente  zurückzuführen,  insbesondere  auf 
Vermehrung  der  bei  jeder  einzelnen  Streitfrage  Unbeteiligten,  zu  denen 


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Literaturbericht. 


nicht  nur  die  oben  genannten  Berufearten,  sondern  auch  alle  nicht  gerade 
engagierten  Parteien  gehören.  In  vergrößerten  Dimensionen  tritt  ans  hier 
wieder  die  bekannte  grundlegende  Tatsache  aller  Moral  entgegen:  Die 
moralische  Forderung  setzt  sich  deswegen  durch,  weil  es  neben  den  Han- 
delnden Zuschauer  gibt,  und  weil  die  Rolle  zwischen  beiden  fortwährend 
wechselt  derart,  daß  jeder  einzelne  schließlich  sich  dem  in  den  Zuschauern 
herrschenden  Geiste  nicht  zu  entziehen  vermag. 

Was  bei  diesen  Dingen  das  brennendste  Interesse  erregt,  ist  die  Frage 
nach  dem  Mechanismus,  durch  den  sich  die  sittliche  Kraft  allmählich  durch- 
setzt —  eine  Frage,  die  naturgemäß  im  Rahmen  der  eben  besprochenen 
Skizze  nicht  beantwortet  werden  kann.  Günstiger  steht  es  in  dieser  Be- 
ziehung mit  der  folgenden  monographischen  Darstellung: 

5;  A.  Hellwig,  Das  Asylrecht  der  Naturvolker.  Berliner  Juristische  Bei- 
träge, herausgegeben  von  Dr.  J.  Kohler.  Berlin,  R  v.  Deckers 
Verlag,  1903.   M.  4.—. 

Das  hier  behandelte  Asylrecht  bezieht  sich  auf  Verbrecher,  auf  Sklaven 
nnd  auf  Stammesfremde.  Bei  sehr  vielen  Stämmen  finden  diese  drei  Gruppen 
von  Menschen  unter  gewissen  Bedingungen  und  an  gewissen  Örtlichkeiten 
einen  Schutz  gegen  die  sie  Verfolgenden,  und  zwar  im  Falle  des  Verbrechens 
teils  gegen  die  Sippe  des  Geschädigten,  teils  auch  gegen  die  Staatsgewalt 
selbst,  falls  diese  bereits  die  Strafgewalt  ausübt  Die  Stätten  sind  nament- 
lich Heiligtümer  und  die  Räume  des  Häuptlings  oder  anderer  angesehener 
Personen.  Häufig  ist  der  Gerettete  zu  gewissen  Leistungen  verpflichtet: 
der  Sklave  bleibt  in  der  Botmäßigkeit  seines  Herrn,  der  Fremdling  in  be- 
stimmter Abhängigkeit  von  dem  Herrscher,  nnd  der  Verbrecher  muß  ihm  eine 
Lttsungssumme  zahlen,  wofür  er  dann  eventuell  die  völlige  Bewegungsfreiheit 
zurückgewinnt.  In  vielen  Fällen  wird  das  Asyl  auch  nur  vorübergehend  be- 
nutzt, namentlich  von  Verbrechern  so  lange,  bis  der  Blutdurst  der  geschä- 
digten Sippe  sich  so  weit  beruhigt  hat,  daß  sie  für  ein  angebotenes  Wer- 
geid empfänglich  wird. 

Die  Wirkungen  dieses  Asylrechts  für  die  Gesamtheit  sind  Überwiegend 
nützlicher  Art.  Denn  dieses  Recht  ist  vorwiegend  auf  einer  bestimmten 
Stufe  der  Gesittung  ausgeprägt,  nämlich  da,  wo  der  Häuptling  oder  die  Geist- 
lichkeit bereits  eine  gewisse  Macht  besitzen,  und  andererseits  die  Blutrache 
schon  Uberwiegend  verderblich  wirkt,  während  zu  ihrer  Unterdrückung  die 
Macht  des  Herrschers  noch  nicht  ausreicht.  Unter  diesen  Umständen  wird 
durch  das  Asylrecht  der  verheerenden  Wirkung  der  Blutrache  Einhalt  getan, 
und  fremde  Fürsten  und  Besitzer  von  Sklaven  werden  durch  die  drohende 
Gefahr,  die  Ihrigen  zu  verlieren,  zu  einer  milden  Behandlung  veranlaßt  Ein 
Ubermäßiger  Mißbrauch  des  Rechts  ist  nicht  zu  befürchten,  weil  seine  Inan- 
spruchnahme ja  auch  manche  Nachteile  mit  sich  bringt 

Die  Ursachen  der  Einrichtung  stehen  jedoch  keineswegs  mit  diesem 
Nutzen  in  direktem  Zusammenhang,  sie  beruhen  vielmehr  auf  dem  Vorteil, 
die  sie  einzelnen  gewährt,  besonders  dem  Häuptling  und  der  Priesterschaft 
Beide  gewinnen  durch  Ausübung  des  Schutzrechts  zunächst  unmittelbar 
an  Macht;  beide  verstärken  ihre  Macht  ferner  durch  Vermehrung  derjenigen 
Personen,  die  ihrer  Botmäßigkeit  mehr  oder  weniger  stark  unterstellt  sind. 
Beide  gewinnen  eventuell  an  Geld.   Endlich  wird  durch  den  Zuwachs  von 


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Literaturbericht. 


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stammesfremden  Männern  auch  die  Webxhaftigkeit  des  Stammes  erhöht,  was 
wiederum  für  dessen  Häuptling  von  Vorteil  ist  Hierin  liegen  offenbar,  wie 
der  Verfasser  auch  meint,  die  Hauptantriebe  für  die  Ausbildung  des  Insti- 
tuts, wenn  schon  an  unmittelbar  bewußte  Erwägungen  wohl  wenig  zu  denken 
ist.  Weiter  fragt  sich  aber,  welche  Rolle  dabei  ideale  Motive  spielen. 
Religiöse  Beweggründe  können  dabei  kaum  primär  wirksam  gewesen  sein, 
weil  man  den  Geistern  und  Göttern  nur  solche  Interessen  zuschreibt,  die 
bereits  die  lebenden  Menschen  besitzen.  Wie  ist  es  aber  mit  der  Rücksicht 
auf  das  Gedeihen  des  Stammes  durch  das  Heranziehen  kampffähiger  Männer 
und  durch  die  Einengung  der  Blutrache?  Auch  hieran  als  ein  Motiv  denkt 
der  Verfasser  in  manchen  Fällen;  und  dem  Herausgeber  Köhler  schwebt 
vielleicht  dieser  Punkt  vor,  wenn  er  in  seinem  Vorwort  die  Auffassung  des 
Verfassers  als  stellenweise  zu  rationalistisch  bezeichnet.  Ob  er  das  mit  Recht 
tut?  Eine  sehr  zuverlässige  Quelle  sagt  uns  von  den  eingeborenen  Stämmen 
Zentralaustraliens,  daß  dort  Stammesinstitutionen  auf  Grund  freier  Diskussion 
der  Stammesältesten  häufig  abgeändert  werden»).  Im  ganzen  ist  diese  Fragi« 
noch  nicht  völlig  spruchreif. 

Die  genannten  Motive  für  die  Ausbildung  des  Asylrechts  finden  nun 
«inen  wichtigen  Anknüpfungspunkt  in  dem  religiösen  Vorstellungskreis,  der 
in  Wirksamkeit  tritt,  sobald  das  Asylrecht  auf  die  Verstorbenen  und  die 
Geisterwelt  Uberhaupt  Ubertragen  wird,  und  der  wohl  meistens  erst  der 
neuen  Einrichtung  den  nötigen  Respekt  sichert.  Auch  dieser  Fall  bestätigt 
wieder  den  alten  Satz  von  dem  Mangel  an  Spontaneität  als  einer  wesent- 
lichen Eigenschaft  der  menschlichen  Kultur:  die  vorhandenen  egoistisch- 
utili tarischen  Motive,  obwohl  doch  stark  genug,  schaffen  die  ihnen  gemäße 
Institution  nicht  spontan,  sondern  gestutzt  auf  anderweitige  Seiten  der 
Kultur.  Eine  weitere  Grundlage  für  die  Entwicklung  des  Asylrechts  bildet 
offenbar  auch  die  Billigung  der  ganzen  Gesellschaft :  bei  der  noch  schwachen 
Macht  des  HäuptUngs  und  der  Priesterschaft  gedeiht  sie  nur  da,  wo  die 
Sympathien  des  Publikums  auf  der  Seite  des  Flüchtenden  sind.  Daraus  er- 
klärt sich  wesentlich,  daß  wir  wenig  von  Ubermäßigen  Mißbräuchen  dieses 
Hechts  erfahren. 

Eine  sehr  interessante  Erscheinung  an  diesen  Dingen  ist  die  Teilung 
der  Gewalten,  die  uns  hier  auf  primitiven  Stufen  der  Kultur  entgegentritt 
Häuptling  oder  Häuptling  und  Priesterschaft  auf  der  einen  Seite,  der  ganze 
Stamm  auf  der  andern  Seite,  bei  höher  gestiegenen  Völkern,  wie  z.  B.  den 
Abessiniern,  auch  Adel  und  Priesterschaft  auf  der  einen,  der  König  auf  der 
andern  Seite  halten  sich  gegenseitig  in  Schach  und  begünstigen  dadurch  die 
Herausbildung  von  Hemmungen  gegen  den  schrankenlosen  Mißbrauch  der 
Gewalt  2). 


1)  Spencer  and  Gillen,  The  Native  Tribes  of  Central  Australia. 
pag.  11.   London,  1899. 

2]  Nur  anhangsweise  können  wir  hier  das  folgende  Buch  namhaft  machen: 
Rechtsverhältnisse  von  eingeborenen  Völkern  in  Afrika  und 
Ozeanien.  Beantwortungen  des  Fragebogens  der  Internationalen  Vereinigung 
für  vergleichende  Rechtswissenschaft  und  Volkswirtschaftslehre  zu  Berlin. 
Bearbeitet  im  Auftrage  der  Vereinigung  von  S.  R.  Steinmetz.  Berlin, 
Verlag  von  Julius  Springer,  1903.  Die  Persönlichkeit  des  Verfassers  ließ 
auf  abschließende  eigene  Betrachtungen  hoffen.  In  kritischer  Reserve  [hat 


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Literaturbericht. 


Der  Einblick  in  den  psychologischen  Mechanismus  wird  uns  in  dieser 
Abhandlung  freilich  dadurch  erschwert,  daß  es  sieh  hier  um  entlegene  Zu- 
stände handelt,  die  innere  Rekonstruktion  auf  Grund  der  Selbstbeobachtung 
und  Wahrnehmung  des  täglichen  LebenB  also  erschwert  wird.  Anders  ist 
das  bei  den  folgenden  Untersuchungen,  die  der  Gegenwart  gelten.  Wir 
führen  zunächst  ein  Werk  an,  das  es  sich  so  recht  zur  Aufgabe  macht, 
diesen  Mechanismus,  der  Uberall  der  Entwicklung  von  Kulturgütern  zugrunde 
liegt,  an  einem  einzelnen  Problem  aufzudecken. 

6)  Werner  Sombart,  Der  moderne  Kapitalismus.  Erster  und  zweiter  Band. 
Leipzig,  Duncker  &  Humblot,  1902.   M.  20.—. 

Den  Inhalt  der  bis  jetzt  erschienenen  beiden  Bände  des  Werkes  macht 
der  Versuch  aus,  wie  man  kurz  sagen  kann,  den  Siegeszug  des  Kapitals, 
den  es  auf  dem  gewerblichen  Gebiete  vorzüglich  seit  der  Mitte  des  vorigen 
Jahrhunderts  angetreten  hat,  festzustellen  und  zu  erklären,  oder,  wie  man  es 
auch  formulieren  kannte,  den  Geist  des  modernen  K apitalismus  zu  er- 
fassen. Der  Begriff  Kapitalismus  ist  dabei  nicht  im  Sinne  des  Fabrik- 
betriebes, sondern  alß  Gegensatz  zum  Handwerk  gemeint  Für  das  letztere 
charakteristisch  ist  die  enge  Verbindung  zwischen  der  Arbeit  und  der  Persön- 
lichkeit: das  Können  ist  mehr  instinktiver  Natur,  beruht  nur  auf  Tradition 
und  unmittelbarer  Nachahmung,  ist  demgemäß  mit  der  ganzen  Persönlichkeit 
verwachsen.  Ebenso  ist  äußerlich  der  Betrieb  des  Handwerks  eng  mit  dem 
Familienleben  des  Meisters  verknüpft.  Die  kapitalistische  Wirtschaftsweise 
dagegen  ist  streng  unpersönlich;  alle  von  ihr  vorgenommenen  Tätigkeiten 
sind  lediglich  Mittel  zum  Zweck  des  Profits.  Sie  können  demgemäß  beliebig 
variiert  werden,  stehen  daher  der  Persönlichkeit  fremd  gegenüber;  sie  wer- 
den mit  möglichst  weit  ausgreifender  Berechnung  ausgewählt,  so  daß  ein 
ausgeprägter  Rationalismus  ebenfalls  dieser  Form  eigen  ist  Daher  fehlt 
ihrer  Tätigkeit  auch  jener  mystische  Hauch,  der  zumal  in  älteren  Zeiten 
und  aueh  bei  den  primitiven  Völkern  dem  Handwerk  eigen  ist:  die  Leistung 
erscheint  nicht  mehr  als  ein  Ausfluß  übernatürlicher,  zauberhafter  Kräfte, 
sondern  beruht  auf  Hilfsmitteln,  deren  Handhabung  lehrbar  ist  und  sich  des- 
wegen unabhängig  von  der  Person  verbreiten  kann.  Der  Gegensatz  dieser 
beiden  Wirtschaftsformen  bildet  daher,  wie  man  sieht,  einen  speziellen  Fall 
der  von  Tön  nies  so  feinsinnig  durchgeführten  Gegenüberstellung  von  Ge- 
meinschaft und  Gesellschaft 

Die  ersten  beiden  Bände  versuchen  nun,  näher  betrachtet  die  folgenden 
vier  Fragen  zu  beantworten:  Wie  ist  der  Kapitalismus  entstanden?  Wie 
weit  hat  er  sich  durchgesetzt?  Durch  welche  Mittel  hat  er  dieses  Ziel  er- 
reicht? Und  warum  konnte  er  es  durch  diese  Mittel  erreichen?  Die  Ant- 
worten darauf  lauten  in  Kürze  folgendermaßen : 

1)  Die  Entstehung  des  Kapitalismus  hat  gewisse  äußere  und  gewisse 
innere  Bedingungen  zur  Voraussetzung,  nämlich  einerseits  vor  allem  eine 

dieser  jedoch  davon  Abstand  genommen  und  sich  auf  Voranschickung  und 
gelegentliche  Einschaltung  orientierender  und  erläuternder  Bemerkungen  bei 
den  einzelnen  Abschnitten  beschränkt  So  ist  das  Buch  eine  vorzüglich 
arrangierte,  sehr  wertvolle  Materialsammlung,  auf  die  unser  Bericht  leider 
nicht  eingehen  kann. 


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Literaturbericht. 


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genügende  Anhäufung  von  Metallgeld  in  einzelnen  Händen,  andererseits  den 
kapitalistischen  Geist  Die  Anhäufung  von  Metallgeld  in  einzelnen  Familien 
weist  zuletzt  auf  sehr  entlegene  Zeiten  zurück;  sie  reicht  teils  bis  in  da» 
klassische  Altertum  hinein,  teils  beruht  die  Bildung  nener  Vermögen  auf  der 
Grundrente  der  Großgrundbesitzer.  Außerordentlich  verstärkt  wurde  diese 
Konzentration  aber  vor  allem  durch  die  Kolonialwirtschaft  des  sechzehnten 
und  siebenzehnten  Jahrhunderts,  welche  in  diesem  Zusammenhange  lediglich 
als  ein  einziges  großes  Raub-  und  ErpresBungssystem  erscheint,  das  die 
christlichen  Europaer  gegen  die  wehrlosen  Eingeborenen  von  drei  Erdteilen 
verübten.  Subjektiv  entsprang  der  Kapitalismus  aus  einem  erhöhten  Begehren 
nach  dem  Golde  und  dem  völlig  neuen  Gedanken,  dieses  durch  berechnende 
wirtschaftliche  Operationen  zu  stillen.  Das  Anschwellen  jenes  Verlangens 
führt  Sombart  in  der  Hauptsache  auf  die  Verweltlichung  des  ausgehenden 
Mittelalters  zurück.  Zunächst  suchte  man  es  aber  auf  außerwirtschaftlichem 
Wege,  vorzüglich  durch  das  Goldgräbertum  und  die  Alchemie,  zu  befriedigen 
—  phantastische  Mittel,  bei  deren  Ergreifen  alle  möglichen  Motive,  auch 
solche  mystischer  Natur,  mitgesprochen  haben.  Das  Erwachen  des  wirtschaft- 
lichen Rationalismus  dagegen  bleibt  im  einzelnen  unaufgeklärt  Man  kann 
nur  sagen,  daß  es  bei  Leuten  niederen  Standes  vor  sich  ging,  wie  denn  der 
Erwerbstrieb  eine  spezifisch  plebejische  Seelenstimmung  ist  und  daß  es  sich 
namentlich  im  Verkehr  mit  Stammesfremden  vollzogen  haben  wird. 

2)  Die  Leistungen  des  Kapitalismus  bestehen,  wie  hier  nicht  weiter 
aaszuführen  ist  darin,  daß  er  auf  dem  gewerblichen  Gebiete  —  und  nur 
diesem  gelten  die  beiden  bis  jetzt  veröffentlichten  Bände  —  das  Handwerk 
nach  der  Meinung  des  Verfassers  auf  der  ganzen  Linie  und  ohne  Ausnahme 
besiegt  und  mehr  oder  weniger  dem  Untergang  entgegengeführt  hat 

3)  Durch  welche  Mittel  ist  ihm  dieses  gelungen?  Er  hat  die  Kultur- 
Verhältnisse,  die  er  bei  seiner  Geburt  vorfand  und  die  ihm  ungünstig  waren, 
sowohl  auf  dem  geistigen  wie  auf  dem  wirtschaftlichen  Gebiete  in  der  ent- 
schiedensten Weise  zu  seinen  Gunsten  umzuwandeln  gewußt  Er  hat  zu- 
nächst die  Rechtsordnung  im  kapitalistischen  Sinn  umgestaltet  Sombart 
stellt  sich  hier  durchaus  auf  den  Standpunkt,  daß  sich  die  Rechtsordnung 
den  wirtschaftlichen  Verhältnissen,  genauer  gesprochen  den  wirtschaftlichen 
Interessen  der  oberen,  führenden  Schichten  anpaßt  Selbst  wo  sie  das  im 
einzelnen  noch  nicht  getan  hat,  ist  ihr  Widerstreit  mit  den  dominierenden 
Interessen  vergeblich:  das  Gesetz  wird  entweder  umgangen  oder  direkt 
durchbrochen,  wobei  dann  die  Behörde  ein  oder  mehrere  Augen  zuzudrücken 
pflegt 

Von  den  Umgestaltungen  auf  wirtschaftlichem  Gebiete,  die  nach  Som- 
barts  Darstellung  der  Kapitalismus  bewirkt  hat,  führen  wir  hier  nur  die 
folgenden  an:  zunächst  die  Erscheinung  der  Landflucht,  durch  welche  ihm 
die  Reservearmee  von  Arbeitskräften  zugeführt  wurde.  Sie  beruht  negativ 
auf  der  Auflösung  des  alten  patriarchalischen  Geistes,  auf  dem  Erwachen 
des  Individualismus,  der  eine  notwendige  Folge  des  ganzen  mit  dem  Kapital 
eng  verquickten  Rationalismus  ist  teils  von  der  Stadt  aus  in  das  Land  ein- 
dringt teils  dort  selbst  als  Folge  des  wirtschaftlichen  Rationalismus  ent- 
steht Positiv  entsprang  sie  der  Anziehungskraft  der  großen  Städte,  die 
Werner  Sombart  vor  allem  anf  das  vermehrte  Bedürfnis  nach  individueller 
Freiheit  zurückfüht,  nach  der  Befreiung  von  dem  Zwange  der  Sippe,  der 
Nachbarschaft,  der  Herrschaft.  Daneben  ist  wahrscheinlich  aber  doch  auch 


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Literaturbericht. 


die  Schätzung  der  Großstädte  als  vermeintlicher  oder  wirklicher  Trägerinnen 
des  Kulturfortschritte  und  eine  Art  von  Einfühlungsprozeß  als  Grund  anzu- 
führen, der  den  einzelnen  die  dynamische  Grüße  der  Stadt  in  sich  mit  er- 
leben läßt  und  dadurch  sein  Selbstgefühl  steigert  Einen  zweiten  wichtagen 
Faktor  bildet  die  Umgestaltung  des  Bedarfs,  die  sich  namentlich  nach  den 
vier  Richtungen  der  Vergrößerung,  der  Verfeinerung,  der  Vereinheitlichung 
und  der  Mobilisierung  hin  vollzieht  Bei  dem  zweiten  Punkte  interessiert 
uns  besonders  die  führende  Rolle,  die  nach  des  Verfassers  Meinung  die 
moderne  Technik  der  kapitalistischen  Produktionsweise  bei  der  Umge- 
staltung unseres  Geschmackes  spielt  Alles,  was  man  Kunsthandwerk  nennt 
und  was  nach  seinem  künstlerischen  Gehalt  wirklich  auf  den  ersten  Teil 
dieses  Ausdrucks  Anspruch  hat,  ist  nach  Sombart  eminent  kapitalistisch; 
und  in  die  Technik  dieses  Kapitalismus  fühlen  und  leben  wir  uns  so  ein, 
daß  er  uns  unbewußt  unsern  Geschmack  völlig  beherrscht  Im  heutigen 
Kunsthandwerk  sind  die  Amerikaner  führend,  weil  sie  allem  dieser  domi- 
nierenden Stellung  der  Technik  gerecht  werden.  Die  andern  Völker  werden 
ihnen  folgen.  >Wir  werden  lernen,  das  schön  zu  finden,  was  technisch 
vollendet  ist,  sei  es  eine  neue  Art  der  Gläserbearbeitung,  sei  es  eine  neue 
Bruckenkonstruktion  oder  Wartehalle,  sei  es  die  Form  eines  Schiffs  oder 
Wagens,  die  Gestalt  eines  Möbels,  dessen  Schnitt  und  Politur  mit  den  Mitteln 
einer  vollendeten  neuen  Technik  hergestellt  sind.  Daß  sich  in  dieser  Rich- 
tung der  einzig  gangbare  Weg  zeigt,  haben  auch  die  verständigen  unter 
den  kunstgewerblichen  und  ästhetischen  Fachschriftstellern  längst  einge- 
sehen. Und  Männer  wie  Bode  und  Lessing  betonen  gerade  im  Hinblick 
auf  die  wunderbaren  Erfolge  der  Amerikaner  immer  wieder,  daß  allein  aus 
den  Bahnen  der  modernen  Technik  heraus  die  neuen  Grundformen  und 
Regeln  für  den  Kunstgeschmack  hervorwachsen  können.  ,In  der  Maschine', 
sagt  ein  anderer  hervorragender  Sachverständiger,  , liegt  der  Stil  der  Zukunft'. 
Und  es  ist  wirklich  reizvoll,  zu  beobachten,  wie  rasch  sich  unser  Geschmack 
unmerklich  mit  den  Wandlungen  der  Technik  wandelt,  bis  er  mit  einem 
Male  das  eben  noch  Verehrte  unerträglich,  das  von  der  neuen  Technik  ge- 
lieferte Neue,  das  erst  mit  Reserve  aufgenommen  wurde,  selbstverständlich 
schön  findet  So  haben  wir  uns  heute  an  die  glatten,  der  modernen  Ma- 
schinentechnik angepaßten  Möbelformen  so  sehr  gewöhnt  daß  wir  die  einer 
Handwerkerzeit  entsprungenen  Schnitz-  und  Einlegearbeiten  kaum  noch  an- 
sehen mögen.«  (II,  317.)  —  Auf  einem  ähnlichen  kausalen  Zusammenhange 
beruht  das,  was  der  Verfasser  die  Urbanisierung  unseres  Bedarfs  nennt 
Unser  Geschmack  geht  von  dem  Derben,  Soliden  und  Dauerhaften  mehr 
zum  Gefälligen,  Leichten,  Graziösen  über,  vorzüglich  deswegen,  weil,  wie  es 
z.  B.  für  das  Schuhwerk  ein  Blick  auf  die  verschiedenen  Zustände  des 
Bodens  zeigt,  die  äußeren  Bedingungen  sich  in  der  Weise  geändert  haben, 
daß  wiederum  in  der  einen  wie  in  der  andern  Epoche  das  Angenehme  mit 
dem  Nützlichen  zusammenfällt  —  Wir  erwähnen  nur  noch  die  Gründe,  die 
der  Verfasser  für  die  von  ihm  so  genannte  Mobilisierung  des  Bedarfs  an- 
fuhrt. Mit  diesem  Ausdruck  bezeichnet  er  die  Tatsache,  daß  die  Mode  bei 
uns  sich  viel  intensiver  als  bei  andern  Völkern  und  zu  andern  Zeiten  geltend 
macht,  indem  sie  sich  über  eine  unabsehbare  FUlle  von  Gebrauchsgegen- 
ständen erstreckt,  von  absoluter  Allgemeinheit  geworden  ist  und  vor  allem 
ein  rasendes  Tempo  angeschlagen  hat.  Einen  wesentlichen,  aber  doch  nur 
einzelnen  Grund  für  die  letzte  Erscheinung  sieht  Werner  Sombart  in 


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Literaturbericht. 


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jener  allgemeinen  Hast  des  modernen  Lebens,  die  er  wiederum  direkt  aus 
dem  Geist  des  Kapitalismus  ableitet,  der  mit  seinem  rastlosen  Jagen  nach 
immer  neuen  Formen  des  Profits  das  ganze  Seelenleben  angesteckt  hat. 
Aber  die  entscheidenden  Gründe  fllr  die  Umgestaltung  der  Mode  sucht 
Sombart  anderswo.  Er  läßt  dabei  durchaus  die  bekannte  Theorie  von  der 
Mode  gelten,  welche  diese  bekanntlich  auf  das  Streben  der  höheren  Schichten 
zurückführt,  sich  von  den  unteren  durch  gewisse  Äußerlichkeiten  zu  unter- 
scheiden, und  auf  das  fortwährende  Nachdrängen  der  letzteren,  welches 
diesen  Vorsprung  immer  wieder  aufhebt.  Aber  seine  Deutung  geht  Uber 
diese  allgemeine  Erklärung  hinaus,  indem  sie  viel  konkretere  Tatsachen  auf- 
deckt, welche  diesen  allgemeingültigen  Mechanismus  in  der  Gegenwart  in 
besonderer  Weise  ausgestalten.  Seine  Theorie,  welche  er  gleichzeitig  in 
einer  besonderen  kleinen  Schrift  veröffentlicht  hat1],  kommt  in  der  Haupt- 
sache darauf  hinaus,  »daß  die  Mitwirkung  des  Konsumenten  auf  ein  Minimum 
beschränkt  bleibt,  daß  vielmehr  durchaus  die  treibende  Kraft  bei  der 
Schaffung  der  modernen  Mode  der  kapitalistische  Unternehmer  ist  Die 
Leistungen  der  Pariser  Damen  und  des  Prinzen  von  Wales  tragen  durchaus 
nur  den  Charakter  der  vermittelnden  Beihilfe«  (Wirtschaft  und  Mode,  S.  19). 
Die  tonangebenden  Firmen  haben  nämlich  ein  rastloses  Bestreben,  immer 
neue  Muster  auf  den  Markt  zu  bringen,  und  demselben  Bestreben  müssen 
auch  die  sämtlichen  Händler  bis  in  das  kleinste  Dorf  hinab  sich  anschließen, 
wefl  nun  seinerseits  das  Publikum  ebenfalls  bis  in  die  einfachsten  Verhält- 
nisse hinein  nach  dem  Allerneuesten  verlangt  Die  großen  Firmen  aber 
streben  nach  fortwährendem  Wechsel  nicht  nur,  weil  das  Publikum  es 
wünscht  sondern  auch  weil  auf  dem  Gebiet  des  Musterwechselns  am  ehesten 
noch  sich  ein  Vorsprang  vor  dem  Konkurrenten  ohne  Mehrkosten  erringen 
laßt  and  weil  der  rasche  Wechsel  die  Menge  des  Absatzes  erhöht  Wie 
man  sieht  setzt  diese  Erklärung  die  allgemeine  Empfänglichkeit  für  die 
Mode  und  die  Existenz  tonangebender  Produzenten,  die  als  solche  direkt 
wenigstens  von  einer  Anzahl  maßgebender  Persönlichkeiten  und  von  da  ab 
indirekt  stufenweise  abwärts  anerkannt  werden,  durchaus  voraus. 

Dieser  kurze  Überblick  über  den  Inhalt  erweckt  hoffentlich  schon  eine 
Vorstellung  von  der  Methode  des  Verfassers.  Mit  Recht  sagt  der  Verfasser 
von  sich,  daß  sein  Werk  eine  vermittelnde  Richtung  zwischen  der  soge- 
nannten historischen  Schule  und  der  abstrakten  Nationalökonomie,  z.  B.  der 
österreichischen  Schule,  innehält  Sombart  will  die  wirtschaftlichen  Er- 
scheinungen psychologisch  verständlich  machen  und  auf  gewisse  relativ  ein- 
fache Bewußtseinsvorgänge  zurückführen.  Aber  diese  Erklärungsweise  soll 
den  wechselnden  historischen  Umständen  doch  so  angepaßt  sein,  daß  sie 
auf  abstrakte  Allgemeingültigkeit  verzichten  muß.  In  diesem  Sinne  spricht 
Werner  Sombart  von  einer  historischen  Psychologie.  Psychologisch  ist 
seine  Erklärungsweise,  insofern  er  als  letzte  Ursache  für  das  soziale  Ge- 
schehen nur  die  »Motivationen  lebendiger  Menschen«  (Bd.  1.  S.  XVin)  gelten 
laßt  Dabei  können  natürlich  nur  durchschnittliche  Bewußtseinsvorgänge 
von  typischer  Bedeutung  gemeint  sein.  Sollen  diese  nicht  gar  zu  abstrakt 
ausfallen,  so  muß  bei  ihrer  Aufstellung,  wie  gesagt,  den  wechselnden 


1)  Werner  Sombart,  Wirtschaft  und  Mode.  Ein  Beitrag  zur  Theorio 
der  modernen  Bedarfsgestaltung.  Grenzfragen  des  Nerven-  und  Seelen- 
lehens. Heft  XII.   Wiesbaden,  J.  F.  Bergmann,  1902. 


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12 


Literaturbericht. 


geschichtlichen  Verhältnissen  Rechnung  getragen  werden.  In  (liefern  Sinne 
bezeichnet  der  Verfasser  in  der  Tat  seine  Untersuchung  als  »einheitlich  ge- 
ordnete Erklärung  aus  den  das  Wirtschaftsleben  einer  bestimmten  Epoche 
prävalent  beherrschenden  Motivreihen  der  führenden  Wirtschaftssubjekte« 
Bd.  I.  S.  XXI).  Da  sich  durchaus  nicht  alle  allgemeinen  Tendenzen  einea 
Zeitalters  in  derselben  Richtung  zu  bewegen  brauchen,  vielmehr  Sonder- 
bildungen  auf  dem  Gebiete  der  Motivationen  auftreten  können,  so  muß  eine 
derartige  Untersuchung  solchen  Erscheinungen  gegebenenfalls  Rechnung 
tragen.  (Eine  Anwendung  dieser  Regel  sollen  die  folgenden  Bände  ent- 
halten, welche  sich  mit  der  Entwicklung  und  den  Zuständen  der  Landwirt- 
schaft befassen  sollen,  bei  der  die  Herrschaft  des  kapitalistischen  Geistes 
durch  andere  Tendenzen  gekreuzt  wird.)  Derartige  Tendenzen  wirken  stets 
unter  gewissen  objektiven  Bedingungen,  welche  nicht  nur  festzustellen,  son- 
dern bei  deren  Untersuchung  auch  darauf  zu  achten  ist,  ob  sie  primär  oder 
sekundär  sind,  <L  h.  ob  sie  wirklich  unabhängig  von  der  zu  betrachtenden 
Tendenz  bestehen  oder  erst  (wie  z.  B.  das  moderne  Bedürfnis  nach  Ab- 
wechslung auf  dem  Gebiete  des  Bedarfs)  aus  den  prävalierenden  Tendenzen 
ihrerseits  hervorgegangen  sind.  »Von  den  Wirtschaftstheoretikern  wird  man 
so  lange  Gedankenreihen  verlangen  müssen ,  die  heute  ganz  aus  der  Mode 
gekommen  zu  sein  scheinen«  (Bd.  I,  S.  XXV). 

Das  Werk  strebt,  wie  man  sieht,  eine  eigenartige  Verbindung  der 
historischen  und  der  systematisch -psychologischen  Betrachtungsweise  an. 
Im  Prinzip  verdient  dieses  Bestreben  die  grüßte  Beachtung;  wie  eingangs  ge- 
sagt, liegt  gerade  hier  der  entscheidende  Punkt  für  die  moderne  Weiterentwick- 
lung der  Geisteswissenschaften.  Lehrreich  ist  in  dieser  Beziehung  z.  B.  ein 
Vergleich  mit  dem  bekannten  Buche  Simmeis:  »Philosophie  des  Geldes« 
Auch  hier  werden  gewisse  Eigenarten  des  modernen  Lebens  charakterisiert, 
die  dabei  völlig  abstrakt  aus  dem  Wesen  des  Geldes  deduziert  werden. 
Bei  allem  gebührenden  Respekt  vor  der  dialektischen  Virtuosität  Simmels 
kann  man  doch  kaum  zweifeln,  welcher  von  beiden  Wegen  verheißungs- 
voller ist 

Für  den  Psychologen  wird  das  Werk  daher  seine  große  Bedeutung  auch 
dann  behalten,  wenn  die  Fachmänner,  die  Nationalökonomen  und  Historiker, 
gegen  seinen  Inhalt  mancherlei  kritische  Bedenken  vorzubringen  haben 
sollten.  Welchen  Gewinn  der  Psychologe  auf  alle  Fälle  aus  ihm  ziehen 
kann,  wollen  wir  zum  Schluß  hier  kurz  andeuten.  Für  dasjenige  unfertige 
Gebiet,  das  man  wohl  als  historische  Psychologie  bezeichnen  kann,  kommt 
namentlich  die  von  Werner  Sombart  gelieferte  Charakteristik  des  mo- 
dernen Zeitgeistes  in  Betracht.  Abi  seinen  Kern  bezeichnet  er  einen  gewissen 
Rationalismus.  Zu  demselben  Ergebnis  war,  wie  ihm  hier  einzuschalten  ver- 
gönnt sein  mag,  der  Berichterstatter  früher  durch  einen  Vergleich  zwischen 
den  Natur-  und  Kulturvölkern  gelangt 1).  Indem  hier  diese  Tatsache  auf  dem 
Wege  einer  systematisch-historischen  Betrachtung  gewonnen  wird,  erscheint 
sie  uns  um  so  viel  näher  gerückt  und  begreiflicher  gemacht,  weil  wir  gleich- 
«am  in  den  Mechanismus  ihrer  Entstehung  eingeweiht  werden.  Auf  dem 
wirtschaftlichen  Gebiete  hat  dieser  Rationalismus,  wenn  wir  dem  Verfasser 
glauben  dürfen,  seinen  Ursprung,  und  eine  Fülle  von  geschichtlich  bedingten 
Umständen  mußte  dabei  zusammenwirken:  eine  ungewöhnliche  Steigerung 

1)  Vier k and t,  Natur-  und  Kulturvölker.   S.  332,  34ö,  407. 


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Literaturbericht. 


13 


des  Goldduretes,  die  Möglichkeit  der  Ausbeutung  der  Kolonien,  das  moderne 
Buchführung»-  und  Rechnungswesen  sowie  die  Existenz  genügender  Massen 
Metallgeldes.  Von  diesem  seinem  Entstehungsherd  ans  hat  dann  der 
Rationalismus  sich  erst  über  die  gesamte  materielle  und  geistige  Kultur  aus- 
gebreitet und  jenes  stolze  Selbstgefühl  erzeugt,  das  z.  B.  in  der  Welt- 
anschauung Nietzsches  kaum  noch  Spuren  seines  Ursprungs  an  sich 
trägt.  In  engen  Zusammenhang  mit  diesem  Rationalismus  rückt  dann  der 
Verfasser  genau  so,  wie  es  der  Berichterstatter  in  der  genannten  Unter- 
suchung getan  hat«),  die  beiden  Eigenschaften  des  Individualismus  und  der 
Atomisienmg,  die  zusammen  in  so  vielen  Fällen  zerstörend  gewirkt  haben.  — 
Eine  Uberaus  wichtige  Form  dieses  Rationalismus  ist  die  aus  seiner  sche- 
matisierenden Tendenz  entspringende  Neigung,  das  Individuum  zu  miß- 
achten. Sombart  weist  nur  gelegentlich  auf  diesen  Zug  bin.  Wir  möchten 
hinzufügen,  daß  sich  diese  Eigentümlichkeit  auf  dem  wissenschaftlichen  Ge- 
biet in  der  noch  heute  nicht  überwundenen  prinzipiellen  Zurücksetzung  der 
beschreibenden  oder  historischen  Wissenschaften  gegenüber  den  systema- 
tischen außerordentlich  stark  betätigt  hat.  Wie  sehr  die  ganze  Entfaltung 
der  Wissenschaften,  d.  h.  die  Rationalisierung  der  Überzeugungen  und  Ein- 
sichten, mit  der  Entwicklung  des  Rationalismus  zusammenhängt,  bedarf  wohl 
keines  Wortes,  und  das  wird  entsprechend  auch  für  die  Schatten  gelten 
müssen,  die  hier  und  dort  dieses  Aufblühen  begleiten:  der  rechnerische  Geist 
kann  eben  der  in  Rede  stehenden  Gefahr  kaum  entgehen,  weil  die  quantitative 
Betrachtungsweise  die  Vernachlässigung  der  individuellen  Unterschiede  zur 
Voraussetzung  hat. 

Besonders  von  Interesse  für  den  Soziologen  ist  ferner  der  Gesichtspunkt 
des  Mangels  an  Spontaneität  in  der  Entwicklung  der  menschliehen  Dinge, 
der  diese  Darstellung  einerseits  bereits  als  selbstverständliche  Voraussetzung 
beherrscht,  wie  er  andererseits  als  ihr  Ergebnis  erscheint  So  hat  der  Geist 
des  Kapitalismus  sich  nicht  spontan  aus  sich  selbst  heraus  entwickelt,  [son- 
dern verdankt  seine  Geburt  dem  Zusammentreffen  einer  Reihe  von  in  diesem 
Sinne  zufälligen  Umständen.  So  bestimmt  durchweg  nach  dieser  Darstellung, 
wie  wir  eben  Bähen,  die  herrschende  Technik  den  Geschmack:  das  ästhetische 
Fühlen  erscheint  also  wiederum  nicht  als  etno  spontane  Funktion,  sondern 
als  eine  Art  Spiegelung  objektiver  Zustände  oder,  besser  gesagt,  als  ein  Er- 
gebnis nachträglichen  Einlebens  in  diese.  So  folgt  das  Recht,  mag  es  wollen 
oder  nicht  wollen,  den  wirtschaftlichen  Zuständen  nach.  So  wird  selbst  das 
sittliche  Leben  in  diesen  Strudel  hineingezogen.  Der  ganze  Kreis  der  patri- 
archalischen Gefühle  wird  unbarmherzig  durch  den  Kapitalismus  zerstört. 
Vor  allem  diese  destruktive  Wirkung  tritt  in  den  vorliegenden  beiden  Bänden 
zutage;  die  schaffende  Seite  des  Prozesses  wird  nur  gelegentlich  gestreift, 
z.  B.  da,  wo  es  sich  um  das  neue  Klassenbewußtsein  des  Proletariers 
handelt 

Wir  können  die  hier  betonten  Tatsachen  als  das  Überwiegen  der  objek- 
tiven Gebilde  der  Kultur  Uber  die  subjektiven  Vorgänge  bezeichnen.  Dem 
Soziologen  ist  ja  die  Vorstellung  vertraut,  daß  das  Wesen  der  Kultur  vor 
allem  in  einer  Reihe  von  objektiven,  festen  Formen  besteht,  die  der  Willkür 
des  einzelnen  entzogen  sind,  und  die  mit  wachsender  Höhe  der  Gesittung 
extensiv  und  intensiv  an  Gewicht  zunehmen.   Es  stimmt  durchaus  zu  dieser 

S.  360. 


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14 


Literaturbericht. 


Auffassung,  wenn  Werner  Sombart  bei  einer  Vergleichung  zwischen  der 
Wirtschaftsform  des  Handwerks  und  derjenigen  des  Kapitalismus  dem  letz- 
tern einen  höheren  Grad  von  Objektivität  zuerkennt:  bei  dem  Handwerk  ist 
der  Prozeß  der  Produktion  noch  eng  mit  der  Persönlichkeit  verschmolzen, 
so  wie  auch  sein  Können  nur  durch  die  Person  überliefert  wird,  während 
beides  bei  der  kapitalistischen  Unternehmung  gleichsam  auf  eine  Reihe  von 
Formeln  gebracht  und  so  in  einen  Mechanismus  verwandelt  wird,  den  ein 
jeder,  falls  er  die  nötigen  Kenntnisse  besitzt,  handhaben  kann.  Demgemäß 
ist  z.  B.  auch  die  Berufsehre  bei  dem  Handwerker  in  ganz  anderer  Weise 
ausgeprägt  als  bei  dem  Unternehmer;  ein  wesentlicher  Beweggrund  der  Red- 
lichkeit, der  dort  sehr  wirksam  ist,  ist  hier  erheblich  abgeschwächt. 

Man  könnte  diese  schwer  anzufechtende  Überzeugung  von  der  Präva- 
lenz der  objektiven  Momente  als  eine  Einräumung  gegenüber  der  materia- 
listischen Geschichtsphilosophie  bezeichnen.  Aber  freilich  würde 
sie  für  sie  einen  Sieg  bedeuten,  dessen  sie  kaum  froh  werden  könnte;  denn 
er  stellt  gar  zu  sehr  die  innere  Leere  und  Armseligkeit  wenigstens  der  ge- 
bräuchlichen Form  dieser  Theorie  ans  Licht  Man  kann  sagen,  Sombart 
steht  ihr  ähnlich  gegenüber  wie  Simmel  in  seiner  Philosophie  des  Geldes: 
er  anerkennt  sie  äußerlich,  um  sie  innerlich  zu  überwinden,  indem  er  die 
objektiven  Erscheinungen  der  Wirtschaft  ihrerseits  wieder  in  eine  Reihe  von 
Bewußtseinsprozessen  auflöst 

Endlich  interessieren  den  Soziologen  noch  die  vielen  Fälle  von  Wechsel- 
wirkungen innerhalb  der  sozialen  Gruppe,  für  die  dieses  Buch  Material 
bietet.  Zunächst  Wechselwirkungen  zwischen  objektiven  Kulturgütern  und 
den  Bewußtseinszuständen  der  einzelnen:  indem  z.  B.  die  Rechtsformen  in 
einem  Punkte  den  kapitalistischen  Tendenzen  nachgeben,  passen  sie  an  dieser 
Stelle  das  Gesamtbewußtsein  ihnen  mehr  an  ^  was  dann  wiederum  zu  einer 
Stärkung  des  kapitalistischen  Geistes,  von  da  zu  einer  Rückwirkung  auf  das 
Recht  usw.  führt.  Die  ganze  moderne  Wirtschaft  hat  sich  offenbar  in  sol- 
chen Wechselwirkungen  stufenweise  entfaltet:  jede  objektive  Einrichtung 
setzt  bereits  ein  gewisses  Maß  entsprechender  Gesinnung  voraus  und  wirkt 
dann  verstärkend  auf  diese,  die  ihrerseits  wieder  die  objektiven  Institutionen 
verstärkt  usw.  Dabei  ist  freilich  zu  beachten,  daß  bei  diesen  Wechsel- 
wirkungen die  führende  Rolle  durchweg,  wie  eben  erörtert,  die  objektiven 
Gebilde  innehaben.  —  Sodann  beobachten  wir  Wechselwirkungen  zwischen 
den  Individuen  der  Gruppe,  und  zwar  namentlich  zwischen  dem  Publikum 
und  den  Produzenten:  in  der  Entwicklung  des  kapitalistischen  Geistes  gehen 
die  letzteren  voraus  und  stecken  dann  das  Publikum  in  einem  solchen  Grade 
an,  daß  sie  durch  dessen  Resonanz  in  ihrer  eigenen  geistigen  Verfassung 
wiederum  bestärkt  werden.  Auch  hier  sind  die  beiden  Partner  nicht  gleich 
wirksam,  sondern  die  führende  Rolle  liegt  bei  dem  Produzenten. 


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Literaturbericht. 


15 


Wir  kommen  jetzt  zn  einigen  kleinen,  sehr  anregenden  nnd  verdienst- 
vollen Arbeiten  aas  dem  Gebiete  des  Kriegswesen». 

7;  Reisner  Freiherr  von  Lichtenstern,  Taktische  Probleme.  Jahrbücher 
für  die  deutsche  Armee  und  Marine.  1903,  Januar  —  Juni.  I.  Die 
Psychologie  der  Entscheidung  in  der  Schlacht.  S.  31 — 14.  II.  Die 
Feuerüberlegenheit  S.  383-405.  III.  Neue  Taktik  —  neue  Aus- 
büdung.  S.  515—626. 

7  a)    Die  Macht  der  Vorstellung  im  Kriege.  Sonderdruck  aus  den  Jahr- 
büchern für  die  deutsche  Armee  und  Marine.  Berlin,  A.  Bath,  1902. 
M.  1.—. 

7b)  C.  von  B— K.,  Zur  Psychologie  des  großen  Krieges.  DI.  Statistik  und 
Psyche.  Wien  und  Leipzig,  Wilhelm  Braumüller,  1897. 

Die  an  erster  Stelle  genannte  Reihenfolge  von  Abhandlangen  liefert 
wertvolle  Beiträge  zur  angewandten  Psychologie  des  Wollens  und  der  Über- 
zeugung. Ihre  psychologischen  Ergebnisse  sind  um  so  beachtenswerter,  weil 
sowohl  dieser  wie  der  an  dritter  Stelle  genannte  Verf.  der  wissenschaftlichen 
Psychologie  fern  stehen,  in  ihren  Urteilen  also  keineswegs  von  ihr  beeinflußt 
sind ;  um  so  bemerkenswerter  ist  ee,  daß  sie  sich  zu  Ansichten  gedrängt  sehen, 
die  den  populären  und  noch  heute  auch  bei  den  meisten  Vertretern  der  ein- 
zelnen Geisteswissenschaften  herrschenden  ins  Geeicht  schlagen.  Das  psycho- 
logische Ergebnis  der  ersten  der  in  Rede  stehenden  Abhandlungen  ist,  kurz 
gesprochen:  Die  Handlungen  werden  weniger  von  den  Tatsachen  selbst  als 
von  den  von  ihnen  ausgehenden  Eindrücken,  insbesondere  von  sinnfälligen 
und  gefüülsBtarken  Vorstellungen  bestimmt;  und  Analoges  gilt  auch  von  den 
sie  bestimmenden  Überzeugungen.  Überzeugungen  wie  Handlungen  entstehen 
also  vorwiegend  auf  irrationaler  Basis.  Zweck  des  Krieges,  sagt  die 
erste  Abhandlung,  ist  nicht,  den  Gegner  zu  vernichten,  sondern  seinen  Willen 
zu  beugen  oder  zu  brechen.  Dieses  geschieht  ,  das  Zurückgehen  erfolgt  nicht 
aus  logischen  Gründen,  sondern  »meistens  infolge  psychischer  Eindrücke« 
(S.  35],  d.  h.  infolge  von  irrationalen,  insbesondere  starke  Affekte  einflößenden 
Eindrücken.  Entsprechendes  gilt  natürlich  auch  vom  Sieg;  daher  die  uner- 
meßliche suggestive  Wirkung  einzelner  Persönlichkeiten,  wie  etwa  der  Jung- 
frau von  Orleans  oder  Napoleons  I.  Ähnlich  heißt  es  in  der  zweiten  Ab- 
handlung: die  Urteile  und  Überzeugungen  von  der  taktischen  Lage  einer 
Truppe  sind  »subjektiver,  also  unlogischer  Natur«  (S.  383),  denn  der  aus  der 
Gefahr  entspringende  Affekt  führt  zu  übertriebenen  Vorstellungen.  —  Für 
den  Sieg  ist  nicht  die  tatsächliche  Überlegenheit,  sondern  die  Vorstellung 
davon  entscheidend.  —  Nur  beiläufig  weisen  wir  auf  den  beachtenswerten 
Gedanken  der  dritten  Abhandlung  hin:  Die  neue  Kampfesweise,  welche  die 
einheitliche  Leitung  im  Gefecht  sehr  erschwert,  im  einzelnen  wegen  der  Feuer- 
wirkung unmöglich  maeht,  demgemäß  vom  einzelnen  eine  viel  größere  Selb- 
ständigkeit fordert,  verlangt  auch  eine  entsprechende  neue  Ausbildung,  welche 
diesem  Bedürfnis  der  Selbständigkeit  Rechnung  trägt. 

Der  Grundgedanke  der  zweiten  Abhandlung  ist  wiederum:  Die  ent- 
scheidenden Handlungen  in  der  Schlacht  gehen  aus  Überzeugungen  hervor, 
die  infolge  von  AffekteinflÜBsen  auf  völlig  irrationaler  Grundlage  erwachsen. 
Der  Verf.  weist  auf  die  zahlreichen  Fülle  hin,  in  denen  einzelne  Truppen- 
teile in  der  Schlacht  trotz  unmittelbarer  Nähe  des  Feindes  und  starker 


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16 


Litcraturbericht. 


Hilfsbedürftigkeit  der  eigenen  Truppe  eine  völlige  Untätigkeit  zeigten,  die  für 
die  populäre  Denkweise  geradezu  unbegreiflich  ist  Man  sagt  sich  »ange- 
sichts dieser  und  anderer  auffälliger  Vorgänge,  daß  es  im  Kriege  etwas  geben 
muß,  das  bestehende  Nachteile  schwächt  oder  Mißerfolge  vertieft  oder  ver- 
breitert, das  allen  wichtigen  Vorkommnissen  eine  Bedeutung  gibt,  die  Über 
das  Tatsächliche  hinausgeht  Dieses  geheimnisvolle  Etwas  verbindet  oder 
beherrscht  alles,  erhöht  hier  die  Willenskraft  in  wunderbarer  Weise,  während 
es  dort  den  Willen  lähmt  und  die  Tatkraft  unterbindet.  Der  Grund  dieser 
Erscheinungen  ist  ein  seelischer.  Er  besteht  in  dem  bestimmenden  Einfluß, 
den  starke  Vorstellungen,  die  von  Gefühlen  festgehalten  und 
hervorgehoben  werden,  auf  das  Urteil  und  die  Willenskraft  ausüben 

 In  diesem  eingeengten  Seelenznstand  erleidet  das  Urteil,  das  Wägen 

mehr  oder  minder  Einbuße«  (S.  3).  Diese  Vorgänge  werden  namentlich  an 
zwei  Erscheinungen  erläutert,  erstens  an  dem  hartnäckigen  Haftenbleiben  des 
Führers  an  seiner  Vorstellung,  aweitens  an  der  zu  frühen  Annahme  eines 
Erfolges  oder  Mißerfolges.  »Im  entern  Falle  drängt  sich  einem  Führer  aus 
irgend  einem  Grunde  eine  bestimmte  Vorstellung  mit  solcher  Ausschließlich- 
keit auf,  daß  er  darüber  etwas  Naheliegendes,  Entgegenstehendes  nicht  mehr 
aufzunehmen  fähig  ist  und  vollständig  übersieht.  Diese  Erscheinung  bewirkt 
Urteilslosigkeit,  die  oft  als  Bätsei  bezeichnet  wird,  und  die  denn  auch  bei 
einem  ruhigen  Nachdenken  und  einem  unbeeinflußten  Urteil  keinem  begegnen 
könnte«  (8. 4).  Im  zweiten  Falle  eilt  »die  Phantasie,  die  ja  immer  tätig  ist, 
den  Ereignissen  voraus;  denn  gerade  in  der  Gefahr  hat  der  Mensch  die  Nei- 
gung, die  Bedeutung  der  Dinge  zu  übertreiben«  (S.  4).  Es  kommt  dann  je 
nachdem  zu  einem  unnötig  frühen  Rückzüge  oder  zu  einem  kühnen  Vor- 
wärtsgehen, das  objektiv  nicht  berechtigt,  aber  oft  von  Erfolg  begleitet  ist. 
—  »Auch  diese  Betrachtungen« ,  beißt  es  am  Ende,  »führen  uns  also  zu  dem 
Schlüsse  hin,  daß  im  Kriege  nicht  ,rohe  Kräfte  sinnlos  walten',  sondern  daß 
wenig  beachtete  Unterstrümungen  riesige  Erfolge  herbeiführen  helfen  und 
oft  rätselhafte  Niederlagen  erklären«  (8. 18).  —  Wie  zutreffend  die  hier  ent- 
wickelten Anschauungen  sind,  bedarf  für  den  Psychologen  keines  Wortes. 
Man  kann  aber  auch  an  diesem  Beispiel  erkennen,  wie  wenig  überflüssig  für 
den  Betrieb  der  Geisteswissenschaften  die  Kenntnis  der  Psychologie  ist;  denn 
die  meisten  Forscher  der  einzelnen  Gebiete  beginnen  höchstens,  sich  aus 
den  einschlägigen  Irrtümern  der  rationalistischen  Popularpsyehologie  zu  be- 
freien. 

Anhangsweise  sei  uns  hierbei  gestattet,  auf  das  viel  ältere,  an  dritter 
Stelle  genannte  Werk  hinzuweisen.  Es  zerfällt  in  zwei  Abhandlungen.  Die 
erste  zeigt  —  die  sachliche  Richtigkeit  der  Erörterungen  hier  wie  überall 
vorausgesetzt  — ,  daß  die  relative  Menge  der  Verluste  in  den  Schlachten  in 
den  letzten  Jahrhunderten  abgenommen  hat,  und  zwar  nicht  nur  für  die 
ganze  Dauer  der  Schlachten,  sondern  auoh  für  gleiche  Zeiträume.  Verbes- 
serte Waffen  erzielen  also  heute  eine  verminderte  Wirkung;  dagegen  ist 
die  Rückwirkung  der  Schlachten  eine  stärkere  geworden:  während  in  früheren 
Zeiten  auch  der  blutigste  Sieg  in  der  Regel  keinen  unmittelbaren  Gewinn 
brachte,  der  Unterlegene  häufig  sich  sofort  wieder  aufraffte,  und  das  blutige 
Spiel  lange  hin-  und  herschwankte  —  »der  Grundzug  der  Zeit  lag  in  der  Blu- 
tigkeit, Ungewißheit  und  in  der  Ergebnislosigkeit  der  Schlachten«  — ,  heftet 
sich  heute  Sieg  oder  Niederlage  dauernd  an  dasselbe  Heer:  die  Rückwir- 
kungen von  Sieg  und  Verlust  sind  so  gestiegen,  daß  der  Krieg  einen  ein- 


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Literaturbericht. 


17 


heitlichen  und  in  der  Regel  raschen  Verlauf  nimmt  Es  zeigt  sich  mit  andern 
Worten  heute  eine  viel  größere  Stetigkeit  in  der  Kriegführung  und  eine 
größere  Beeinflußbarkeit  der  Massen  in  den  Schlachten.  Für  den  psycho- 
logischen Theoretiker  liegt  die  Versuchung  nahe,  den  Grund  jenes  Wandels 
in  allgemeinen  Änderungen  des  durchschnittlichen  Bewußtseinszustandes  zu 
suchen.  Man  könnte  sagen:  die  Stetigkeit  des  Bewußtseins,  der  Zusammen- 
hang zwischen  den  einzelnen  Akten  hat  Uberhaupt  in  den  letzten  Jahrhun- 
derten zugenommen,  demgemäß  ist  auch  die  dauernde  Wirkung  des  einzelnen 
Schlachtvorganges  eine  viel  stärkere  als  früher.  Der  Verf.  ist  jedoeh  vielmehr 
geneigt,  vorwiegend  an  technische  Gründe  zu  denken,  nämlich  an  den  Er-  * 
satz  des  alten  Berufsheeres  durch  das  heutige  Volksheer,  welches  wegen 
seiner  Ungewohntheit  viel  sensibler  geworden  ist  Sicherlich  in  diese  Rich- 
tung weist  das  Ergebnis  der  zweiten  Abhandlung:  die  Marschleistungen  der 
Heere  bei  Beginn  der  Kriege  sind  trotz  der  Verbesserungen  der  Wege  in  den 
letzten  Jahrhunderten  nicht  gestiegen,  sondern  gesunken. 


8)  Hermann  Reich,  Der  Mimus.  Ein  literar-entwicklungBgeschichtlicher 
Versuch.  Bd.  I.  Erster  und  zweiter  Teil.  Berlin ,  Weidmannsche 
Buchhandlung,  1903.    M.  24.-. 

8a)  Georg  Jacob,  Türkische  Literaturgeschichte  in  Einzeldarstellungen. 

Heftl.  Das  türkische  Schattentheater.  Berlin,  Mayer  und  Müller, 

1900.  M.3.60. 

8b)  Enno  Littmann,  Arabische  Schattenspiele.  Berlin,  Mayer  und  Müller, 

1901.  M.  2.80. 

Das  an  erster  Stelle  genannte  Werk  erwähnen  wir  hier  kurz  wegen 
seines  weiten  Gesichtskreises.  An  sich  bewegt  es  sich  streng  in  der  rein 
geschichtlichen  Betrachtungsweise.  Es  erörtert  eingehend  die  komisch-reali- 
stische Dichtungsart  des  klassischen  Altertums  und  ihre  Ausbreitung  über 
benachbarte  Völker  und  spätere  Zeiten.  Diese  Dichtungsart  hat  bei  den  Grie- 
chen und  Römern  eine  bis  in  die  Philosophie  hineinreichende  Bedeutung  be- 
sessen, die  bisher  vollständig  verkannt  wurde ;  sie  hat  sich  von  dort  aus  Uber 
den  Orient  mindestens  bis  nach  Indien  ausgebreitet,  hat  sich  in  Ostrom  bis 
zu  dessen  Fall  behauptet  und  danach  das  türkische  Schattenspiel,  den  Kara- 
göz,  in  eingreifender  Weise  beeinflußt,  hat  endlich  in  Italien  da*  ganze  Mittel- 
alter hindurch  weiter  gelebt  und  hat  in  der  Neuzeit  in  ganz  Westeuropa  in 
(restalt  der  komischen  Figur  in  der  Posse  und  im  Puppentheater  bis  in  die 
Gegenwart  nachgewirkt  Für  den  Soziologen  liegt  die  Bedeutung  des  Werkes 
vorzüglich  in  dem  Gesichtspunkt  der  Kontinuität  räumlich  und  zeitlich 
weit  getrennter  Erscheinungen.  Für  den  Völkerkundigen  ist  es  heute  von 
vornherein  wahrscheinlich,  daß  ähnliche  Kulturgebüde  an  verschiedenen  Stellen 
der  Erdoberfläche  nicht  gesondert  voneinander  entstanden  sind,  sondern 
einen  gemeinschaftlichen  Ursprung  besitzen;  die  historischen  Disziplinen  be- 
ginnen dagegen  erst,  sich  mit  dieser  Anschauungsweise  zu  befreunden.  Für 
die  Ästhetik  liefert  das  Werk  mindestens  wertvollen  Stoff  für  die  Lehre  vom 
Wesen  des  Komischen.   Man  fühlt  sich  an  die  Theorie  des  Überlegenheits- 

knhir  ftr  P«yehologi*.   IV.    Literatur.  2 


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18 


Literaturbericht. 


gefühles  des  Betrachters  erinnert,  wenn  man  sieht,  welche  Stoffe  die  Volks- 
komik jahrtausendelang  in  Gestalt  des  Mimns  mit  Vorliebe  benutzt  hat: 
nämlich  körperliche  und  geistige  Gebrechen  niedriger  Art  sowie  den  Durch- 
bruch der  natürlichen  Triebe  durch  die  Schranken  des  Konventionellen,  den 
letztern  vorzüglich  in  obszöner  Zuspitzung. 

In  anschaulicher  Form  übermitteln  uns  denselben  Eindruck  die  hier  ge- 
nannten Schriften  von  Georg  Jacob  und  Littmann,  welche  uns  Proben 
der  komischen  türkischen  Volkspoesie,  vorzüglich  des  Karagözspieles,  bieten. 
Von  der  Bedeutung  dieser  Veröffentlichungen  auch  für  die  systematische 
Kunstwissenschaft  hat  Jacob  ein  ausgeprägtes  Bewußtsein,  wie  die  fol- 
gende Stelle  zeigt:  »Ich  habe  mich  bemüht,  den  einzelnen  Erscheinungen  der 
Karagözkomik  nicht  vermittelst  eines  fertigen  Schemas  Gewalt  anzutun,  son- 
dern sie  nach  den  am  meisten  hervortretenden  Einheiten  zu  gruppieren,  die 
ihre  vermutliche  Entstehungsursache  sind.  So  glaube  ich  am  ersten  einen 
Einblick  in  ihren  Werdeprozeß  und  ihre  Technik  zu  erlangen.  Auf  diesem 
Wege  allein  können  wir  schließlich  zu  einer  befriedigenden  Theorie  der  Komik 
gelangen,  nicht  durch  Spekulation  und  Analysen  der  kompliziertesten  Kunst- 
produkte  auf  diesem  Gebiet«  (S.  66}.  Mag  man  auch  die  hier  ausgesprochene 
Anschauung  nicht  völlig  teilen,  so  wird  man  sie  doch  nicht  einfach  von  der 
Hand  weisen  können.  Mag  man  z.  B.  auch  die  von  Lipps  gegen  die  Über- 
legenheitstheorie gemachten  Einwendungen  für  zutreffend  erachten,  so  bean- 
sprucht doch  die  Tatsache,  daß  die  primitiven  Stoffe  der  Komik  mit  der 
Überlegenheit  des  Zuschauers  in  engem  Zusammenhang  stehen,  mindestens 
für  das  Verständnis  der  Entwicklung  des  Kunstsinnes  eingehende  Beachtung. 
Wie  sehr  die  abstrakte  Betrachtungsweise  bei  der  Deutung  höherer  Kunst- 
gebilde in  die  Irre  gehen  kann,  dafür  führen  wir  hier  noch  das  folgende  Bei- 
spiel an.  Nach  Reich  stammt  die  Figur  des  Narren  bei  Shakespeare  aus 
dem  alten  Mimus  und  dessen  mittelalterlichen  Umbildungen.  Wie  unendlich 
viel  ist  über  die  Bedeutung  und  die  innere  Notwendigkeit  dieser  Figur  unter 
der  stillschweigenden  Annahme  ihrer  spontanen  Entstehung  im  Bewußtsein 
des  Dichters  geschrieben  worden;  und  wie  anders  erscheint  sie  hier  unter 
dem  Gesichtspunkte  einer  historischen  Nachwirkung,  die  sich  mehr  vermöge 
eines  gewissen  Beharrungsvermögens  als  einer  inneren  Notwendigkeit  geltend 
macht  —  Hier  wie  an  anderer  Stelle  werden  wir  in  diesem  Werk  an  die 
eigentümliche  Verquickung  niederer  und  höherer  Elemente  im  Leben  der 
Kunst  gemahnt.  Besonders  lebhaft  weist  uns  darauf  die  vom  Verf.  gelegent- 
lich erörterte  bekannte  Tatsache  hin,  daß  in  Deutschland  im  Gegensatz  zu 
andern  Ländern  das  höhere  Lustspiel  nicht  hat  gedeihen  wollen,  weil  es  nicht 
an  den  Hanswurst  anknüpfen  konnte,  da  dieser  bekanntlich  von  der  Bühne 
vertrieben  war.  Soziologisch  besteht  diese  Verquickung  vorzüglich  darin, 
daß  für  die  große  Masse  des  Publikums  vor  allem  die  gröberen  Faktoren 
der  Kunstwirkung  in  Betracht  kommen.  Entwlcklungsgeschichtlich  aber  be- 
tätigt sie  sich  darin,  daß  die  höheren  Kunstarten  und  Kunstregungen  einer 
unermeßlich  langen  Vorgeschichte  bedürfen,  die  sich  durchaus  in  den  Nie- 
derungen bewegt:  an  durchaus  trivialen  Stoffen  hat  sich  zunächst  der  Kunst- 
sinn entfaltet,  und  erst  an  diesen  massiven  Stützen  hat  sich  dann  das  feinere 
ästhetische  Leben  emporgerankt. 


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Literaturbericht. 


19 


9j  J.  N.  B.  He witt,  Orenda  and  a  definition  of  religion.  American  Anthro- 
pologist  1902.  S.  33— 46. 

9a)  George  A.  Dorsey,  Wichita  Tales.   Journal  of  American  Folklore. 
1902.  S.  216-239. 

9  b)  The  Dwamiah  Indian  Spirit  Boat  and  ita  uae.  Bulletin  of  theFree 

Museum  of  Science  and  Art.  III.  (1902).  S.  227—238. 

9c)  Sartori,  Die  Speisung  der  Toten.  Programm  des  Gymn.  zu  Dortmund. 
1903. 

Die  modernen  Anschauungen  Uber  die  Natur  des  religiösen  Lebens  ent- 
fernen sich  von  den  älteren  vorzüglich  in  drei  Richtungen:  Erstens  erkennt 
man,  daß  das  religiöse  Leben  viel  mehr  praktischer  als  theoretischer  Natur 
ist,  seinen  Schwerpunkt  mehr  in  Handlungen  als  in  Vorstellungen  hat  Zwei- 
tens beginnt  man,  für  seine  primitiven  Stufen  seinen  Mittelpunkt  mehr  unter 
den  Menschen  als  unter  den  Gottern,  nämlich  vorzüglich  bei  den  Priestern 
und  Beschwörern  als  den  mit  schaffenden  Zauberkräften  ausgestatteten  Per- 
sonen zu  suchen.  Drittens  würdigt  man  mehr  die  Bedeutung  der  unmittel- 
baren sinnfälligen  Anschauung  beim  Kultus,  wie  sie  vorzüglich  bei  deu 
ekstatischen  Zuständen,  aber  auch  bei  manchen  wahrscheinlich  damit  zusammen- 
hängenden Gebräuchen  sich  betätigt:  durchweg  wird  hier  die  Übersinnliche 
Welt  in  dramatischen  Darstellungen,  mag  nun  der  agierende  Priester  in  der 
Ekstase  von  der  Realität  seiner  Bilder  Uberzeugt  sein,  oder  mag  er  als  bloßer 
Gaukler  eine  geschickte  Vorstellung  geben,  in  unmittelbarer  Realität  dem 
gläubigen  Publikum  vor  die  Augen  gestellt  Diesem  veränderten  Wesen  der 
modernen  Anschauungen  entsprechen  die  drei  erstgenannten  Aufsätze.  Von 
der  größten  allgemeinen  Bedeutung  ist  der  an  erster  Stelle  genannte. 
Unmittelbar  beziehen  sich  seine  Untersuchungen  nur  auf  die  Irokesen;  sie 
gestatten  jedoch  eine  jedenfalls  weitgehende  Verallgemeinerung.  Mit  dem 
Worte  »Orenda«  bezeichnen  diese  Indianer  eine  Art  mystischer  Universal- 
kraft, die  alle  wichtigen  und  einflußreichen  Ereignisse  des  täglichen  Lebens 
zustande  bringt,  und  deren  Träger  jedesmal  der  betreffende  verursachende 
Gegenstand  ist.  Das  Aufziehen  der  Sturmwolke,  die  Hitze  des  Tages,  die 
durch  das  Zirpen  der  Heuschrecke  verursacht  werden  soll,  die  erfolgreiche 
Wirksamkeit  eines  Medizinmannes  —  alles  beruht  auf  der  Betätigung  des 
Orenda,  mit  welchem  das  betreffende  Wesen  behaftet  ist  Das  GlUck  oder 
Unglück  des  Jägern  hängt  davon  ab,  ob  sein  Orenda  oder  das  seiner  Jagd- 
beute stärker  ist.  Das  Wort  Orenda  hat  weder  mit  den  Bezeichnungen  für 
Macht  und  Stärke,  noch  mit  denjenigen  für  Seele,  Geist,  Leben  usw.  etwas 
zu  tun.  Jedenfalls  sehen  wir,  wie  hier  das  religiöse  Interesse  viel  weniger 
theoretische  Vorstellungen  ausprägt  als  sich  wichtigen  und  naheliegenden 
Handlungen  zuwendet  Demgemäß  definiert  der  Verf.  die  Religion  »als  ein 
System  von  Worten,  Handlungen  und  Kunstgriffen  oder  eine  Verbindung 
davon,  angewandt  zur  Erlangung  von  Vorteilen  oder  zur  Abwendung  von 
Übeln  durch  den  Gebrauch,  die  Ausübung  oder  die  Gunst  des  Orenda  eines 
oder  mehrerer  anderer  Körper«. 

Ein  Seitenstück  hierzu  bildet  die  an  zweiter  Stelle  genannte  Mono- 
graphie von  Dorsey.  Sie  enthält  eine  Reihe  von  Ursprungsmythen,  die 
in  der  Gestalt  einer  Art  Geschichte  der  Menschheit  sich  auf  die  Entstehung 
der  wichtigsten  Dinge  und  Kunstfertigkeiten  beziehen.   Alle  schöpferischen 

2* 


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20 


Literaturbericht. 


Leistungen  beruhen  auf  einer  besonderen  Zauberkraft  der  handelnden  Per- 
sonen. An  sich  erscheint  die  Zauberkraft  hier  als  eine  allgemeine  Gabe  aller 
Mensehen,  die  nur  in  besonderen  Fällen  gesteigert  ist. 

Die  Bedeutung  des  dramatischen  Elementes  im  primitiven  religiösen  Leben 
zeigt  uns  die  an  dritter  Stelle  genannte  Abhandlung.  Sie  beschreibt  eine 
Zauberzeremonie  zum  Zweck  der  Krankenheilung,  bei  der  eine  Reise  in  die 
Unterwelt,  durch  welche  die  Seele  des  Kranken  aus  ihr  zurückgeholt  werden 
soll,  von  vier  Schamanen  in  einer  völlig  dramatischen  Aufführung,  die 
mehrere  Tage  dauert,  dargestellt  wird1). 

Eine  breite  Kluft,  welche  dem  Fortschritt  der  neueren  religionspsyeho- 
logischen  Anschauungen  entspricht,  trennt  diese  Arbeiten  von  der  Abhand- 
lung Sartorie  über  die  Speisung  der  Toten.  Hit  außerordentlichem  Fleiß 
ist  hier  eine  Fülle  von  Gebräuchen  zu  einer  Art  entwicklungsgeschichtlichen 
Bildes  zusammengestellt.  Freilich  auf  die  Art  der  Entwicklung  im  einzelnen 
ist  der  Verf.  wenig  eingegangen;  insbesondere  hat  er  der  Möglichkeit  der 
Verschiebung  der  Motive  weniger  Rechnung  getragen,  als  es  wahrscheinlich 
angebracht  ist.  Denn  es  scheint,  daß  durchweg  die  Beschäftigung  mit  den 
Toten  zuerst  der  Furcht  vor  ihnen  entsprang,  und  daß  sich  erst  allmählich 
eben  dadurch,  indem  so  die  Aufmerksamkeit  und  das  Gefühlsleben  den  Toten 
zugewandt  wurde,  andere  Regungen  aus  dieser  dunkeln  Unterlage  entwickelt 
haben.  Bei  der  psychologischen  Erklärung  der  Erscheinungen  fällt  dem  Leser 
ein  gewisser  Rationalismus  in  der  Betrachtungsweise  auf;  so  wenn  es  z.  B. 
auf  Seite  6  heißt:  »Bei  allen  diesen  Gebräuchen  liegt  der  Gedanke  zugrunde, 
daß  der  Tote  selbst  an  den  Gelagen  Anteil  und  Freude  hat;  sein  Geist  wird 
gegenwärtig  gedacht  in  diesem  Augenblicke  bedarf  die  Seele  offen- 
bar ganz  besonders  ihrer  Versöhnung  es  muß  ihr  deutlich  gemacht 

werden,  daß  man  die  Gemeinschaft  mit  ihr  noch  immer  nicht  als  aufgelöst 
betrachtet«.  Oder  auf  Seite  18:  »Solange  die  Leiche  noch  im  Hause  steht, 
den  Blicken  der  Überlebenden  erreichbar,  kann  bei  diesen  der  Gedanke 
dauernder  Trennung  von  dem  geliebten  Toten  nicht  völlig  Platz  greifen; 
erst  wenn  die  Erde  die  Reste  bedeckt,  kommt  die  Gewißheit  des  Abschiedes 
ganz  zum  Bewußtsein.  Aber  auch  jetzt  noch  bleibt  eine  gewisse  Verbindung 
zwischen  Toten  und  Lebenden.  Diese  haben  willkürlich  Uber  den  Leib  des 
Verstorbenen  verfügt  Sie  sind  seiner  Seele  dafür  Genugtuung  schuldig. 
Sie  müssen  ihr  zeigen,  daß  sie  sie  nicht  haben  beleidigen  wollen,  daß  sie 
vielmehr  auch  jetzt  noch  eine  Angehörigkeit  anerkennen  und  von  dem  Hin- 
geschiedenen erwarten,  daß  auch  er  sich  seiner  Pflichten  gegen  den  bisherigen 
Verband  bewußt  bleibt.«  Freilich  ist  es  viel  leichter,  diesen  Übelstand  beim 
Namen  zu  nennen,  als  ihm  abzuhelfen.  Wir  haben  auch  lediglich  auf  ihn 
hingewiesen,  um  daran  zu  erinnern,  in  welch  hoffnungsloser  Weise  unser 
sprachliches  Handwerkszeug  in  der  rationalistischen  Denkweise  befangen  wU 
—  eine  Tatsache,  in  der  eins  der  schwersten  Hemmnisse  für  deren  Besei- 
tigung liegt. 


1)  Die  vorstehenden  drei  kurzen  Referate  sollen  nur  eine  Probe  von 
dem  Geiste  der  einschlägigen  Literatur  geben  ;  eingehender  gedenkt  der  Be- 
richterstatter diesen  Gegenstand  in  dem  nächsten  Überblick  zu  bebandeln. 


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Literaturbericht. 


21 


Noch  stärker  in  den  Bahnen  deB  Rationalismus  wandelt  die  folgende 
Schrift: 

10)  L.  Darapsky,  Altes  und  Neues  von  der  Wünschelrute.    Leipzig,  P. 
Leineweber,  1903.   M.  1.60. 

Aus  Zauberstäben  und  -raten  hat  sich  die  Wünschelrute  erst  im  Mittel- 
alter herausspezialisiert.  Damals  wurde  sie  jedoch  nur  für  die  Entdeckung 
bergmännischer  Bodenschätze  verwendet  Erst  in  der  Neuzeit  benutzt  man 
sie  zum  Quellensuchen,  daneben  auch  für  andere  Zwecke,  z.  B.  zur  Ausfindig- 
machung  von  Verbrechern.  Interessant  ist  die  Fülle  verschiedener  Erklä- 
rungsweisen in  der  Neuzeit:  neben  der  ZurtickfÜhrung  auf  die  behexenden 
Kräfte  des  Bösen  finden  wir  rein  physikalische  Theorien  in  gewisser  Ver- 
wandtschaft mit  der  Lehre  vom  Magnetismus  und  mystische  Erklärungs- 
weisen, welche  eine  besonders  konzentrierte  Willenskraft  für  eine  hinreichende 
Ursache  halten.  Schade,  daß  der  Verf.  in  diesen  Dingen  überall  nur  einen 
Ausfluß  besonderer  menschlicher  Torheit  erblickt.  Daß  an  dieser  Dumm- 
heit« auch  die  alten  Griechen  ihren  reichlichen  Anteil  hatten,  würde  ihn  viel- 
leicht nicht  irre  machen.  In  der  Tat  aber  steht  diese  Auffassungsweise  nicht 
höher  als  die  Urteilsweise  des  typischen  Lehrers,  der  jedes  Jahr  bei  allen 
seinen  Schülern  eine  ganz  erstaunliche  Dummheit,  eine  wunderbare  Unfähig- 
keit, die  einfachsten  Regeln  der  Mathematik  und  der  Grammatik  zu  verstehen 
und  zu  beachten,  entdeckt.  Überall  beruht  dieBe  Auffassungsweise  auf  einer 
Überschätzung  des  logischen  Niveaus  der  Menschheit  Stehen  wir  selbst 
darin  so  viel  höher  als  alle  andern  Zeitalter,  so  beruht  dieser  Vorzug  viel- 
mehr auf  Erziehung,  Tradition  und  Einübung,  als  auf  gesteigerter  Spon- 
taneität des  eigenen  Denkens.  Gerade  die  Geschichte  der  religiösen  und 
abergläubischen  Vorstellungen  predigt  uns  immer  unabweisbarer,  daß  der 
Irrtum  eine  allgemeine  und  normale  Eigenschaft  der  menschlichen  Natur  ist 


11)  Wolfgang  Dröber,  Kartographie  bei  den  Naturvölkern.  Dias.  Erlangen, 
1903. 

Primitive  Kartenzeichnungen  sind  bei  den  Naturvölkern  weit  verbreitet. 
Das  ist  nicht  wunderbar,  da  zunächst  die  Vorbedingungen  dafilr,  wie  der 
Verf.  im  ersten  Abschnitt  ausführt,  in  Gestalt  der  Zeichenkunst,  der  Sinnes- 
schärfe, des  Orientierung«-  und  Schätzungsvermögens  und  einfacher  Orts- 
kenntnisse Uberall  vorhanden  sind.  Ebensowenig  fehlt  es,  wie  wir  ergänzend 
hinzufügen  mOchten,  in  der  Regel  an  den  inneren  Bedingungen,  nämlich  an 
einem  gewissen  praktischen  Bedürfnis,  das  sich  aus  der  Beweglichkeit  dieser 
Menschen  meist  von  selbst  ergibt 

Die  einfachsten  Kartenzeichnungen  knüpfen  an  die  AuBdracksbewegungen 
an;  wir  können  auch  bei  ihnen  zwischen  hinweisenden  und  nachahmenden 
unterscheiden,  von  denen  die  ersteren  meist  zugleich  flächenhafte,  die  letz- 
teren meist  plastische  Gebilde  sind.  Ein  in  den  Sand  gezeichneter  Pfeil  ge- 
hört der  ersteren  Klasse,  verknotete  Halme  oder  über  den  Weg  gebogene 
Ruten  gehören  der  letzteren  an.  Wir  können  namentlich  von  den  plastischen 
Zeichnungen  uns  vorstellen,  wie  sie  sich  ganz  allmählich  auf  einem  orga- 


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22 


Literaturbericht. 


machen  Wege  entwickelt  haben.  »Man  knickt  z.  B.  die  Zweige  auf  dem 
Pfade,  zunächst  um  sich  Raum  zu  schaffen,  und  dann  zweckbewußt,  um  den 
Weg  zu  markieren«  {Karl  von  den  Steinen).  —  Aus  diesen  primitiven  Ge- 
bilden entwickeln  sich  dann  zwei  Reihen  von  höheren,  nämlich  die  Sand- 
karten und  die  Reliefkarten;  die  letzteren  Bind  vorzüglich  in  der  Südsee  ein- 
heimisch, und  ihre  bekanntesten  Vertreter  bilden  die  sog.  Stabkarten,  bei 
denen  eine  Anzahl  Blattrippen  der  Kokospalme  dazu  dienen,  vorzüglich  die 
Meeresströmungen  und  andere  Richtungen  zu  markieren. 


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1)  Otto  St  oll,  Soggestton  und  Hypnotismus  in  der  Völkerpsychologie.  2.  um- 
gearb.  u.  verin.  Aufl.  X,  738  S.  gr.  8°.  Leipzig,  Veit  &  Co.,  1903. 
M.  16.-;  in  Halbfrz.  geb.  M.  18.60. 

Den  Hauptinhalt  des  vorliegenden  Buches  machen  die  pathologischen  Er- 
scheinungen des  religiösen  Lebens  in  ihrer  Verbreitung  über  die  ganze  Erd- 
oberfläche aus.  Es  kommen  namentlich  in  Betracht  die  visionären  und  ek- 
statischen Zustände  sowie  diejenigen  der  Besessenheit,  die  Anästhesie  bei 
Folterungen,  endlich  ansteckende  Wach  Suggestionen,  die  die  Grundlage  für 
den  Glauben  an  Wunder  bilden.  Ausführlich  werden  diese  Erscheinungen 
für  das  gesamte  Gebiet  der  Naturvölker,  kursorisch  auch  für  das  der  höheren 
Religionen  besprochen.  Als  Ethnologe  ist  der  Verfasser  naturgemäß  mehr 
auf  dem  enteren  Gebiet  zu  Hause,  während  fttr  das  letztere  manche  ein- 
dringende Monographien,  wie  z.  B.  die  Arbeiten  von  Rhode  und  Roscher  Uber 
die  griechische  Religion  und  diejenige  von  Gunkel  und  Weinel  Uber  die 
Ekstase  im  Urchristentum,  unbenutzt  geblieben  sind.  Die  behandelten  Er- 
scheinungen werden  zunächst  ausführlich  geschildert  und  sodann  einer  theo- 
retischen Erklärung  unterzogen.  Diese  ergibt,  daß,  von  den  Wachsuggestionen 
abgesehen,  die  Vorgänge  teils  auf  Hypnose,  teils  auf  Epilepsie  zurückzuführen 
sind.  Die  Abgrenzung  zwischen  beiden  Erscheinungsreihen  ist  vorzüglich 
deswegen  so  schwer,  weil  die  epileptischen  Anfälle  bekanntlich  nachgeahmt 
werden  kOnnen,  und  die  weit  verbreiteten  Priesterschulen  der  Naturvölker 
Anleitung  genug  dazu  geben.  Die  hypnotischen  Anfälle  werden  teils  durch 
eintönige  und  starke  Sinnesreize,  wie  wilde  Musik,  leidenschaftliche  Tänze, 
starke  Gerüche,  teils  durch  verbale  Suggestionen  in  Gestalt  von  Zauberformeln 
nnd  Gesängen,  teils  auf  Grund  der  EinUbung  durch  willkürliche  Auto- 
suggestionen ausgelöst  Der  Priester  glaubt  sich  in  solchen  Zuständen  in 
unmittelbarem  Verkehr  mit  der  Geisterwelt;  häufig  führt  er  auch  ein  förm- 
liches Drama  auf,  indem  er  abwechselnd  mit  seiner  eigenen  die  Rolle  ver- 
schiedener Dämonen  spielt,  oder  auch,  wie  in  den  Zuständen  der  Besessen- 
heit, mit  einem  einzigen  bOsen  Geist  sich  dauernd  identifiziert.  Der  Inhalt  der 
hypnotischen  Bewußtseinszustände  ist  überall  bestimmt  durch  die  Erwartung, 
mit  der  in  sie  eingetreten  wird,  d.  h.  durch  die  in  dem  betreffenden  Milieu 
verbreiteten  religiösen  Vorstellungen,  die  auf  diese  Weise  in  solchen  Erlebnissen 
für  den  Zuschauer  dramatische  Anschaulichkeit,  für  den  Agierenden  plastische 
Realität  gewinnen  und  so  nach  beiden  Seiten  hin  ein  wichtiger  Beweis  für 
die  Richtigkeit  der  herrschenden  Anschauungen  werden. 

Unter  diesem  teleologischen  Gesichtspunkte  ist  das  Buch  für  Psychologen 
und  Soziologen  besonders  interessant  Es  gewährt  uns  einen  lehrreichen  Ein- 
blick in  den  Mechanismus  der  Selbsterhaltung  der  religiösen  Systeme.  Was 
einmal  für  wahr  gilt,  wird  in  diesen  Zuständen  vom  Priester  und  der 


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24 


Literaturbericht. 


Gemeinde  erlebt,  worin  dann  ein  neuer  Beweis  für  seine  Richtigkeit  liegt.  Dieser 
Mechanismus  gründet  sich,  wie  man  sieht,  vorzüglich  auf  die  Wechselwirkungen 
zwischen  dem  einzelnen  und  seiner  Umwelt:  der  herrschende  Glaube  bestimmt 
den  Inhalt  der  hypnotischen  Zustande  bei  dem  einzelnen,  und  dessen  Er- 
lebnisse verstärken  wiederum  den  Glauben  der  gesamten  Gruppe.  Im  engem 
Sinne  teleologisch  bedeutsam  geworden  sind  diese  Vorgänge  für  die  gesamte 
Entwicklung  der  Religion  bis  zu  ihrer  höchsten  Hohe.  Der  Glaube  an  ihre 
Richtigkeit  und  die  daraus  fließende  Begeisterung  zum  Handeln  würde  nicht 
gedeihen,  wenn  nicht  durch  diese  Erlebnisse  die  blasse  Theorie  sich  fortwährend  in 
Realitäten  umsetzte.  Insbesondere  ist  auch  der  höchste  Aufschwung,  den  das 
religiöse  Leben  im  frühen  Christentum  gewonnen  hat,  ohne  diesen  Mechanismus 
ebenso  undenkbar,  wie  das  schon  für  die  Entwicklung  der  Prophetie  beim 
alten  Israel  gilt  Die  sittlichen  Anschauungen  und  Forderungen  der  großen 
Prediger  hätten  diese  selbst  und  durch  sie  die  Massen  nicht  zu  begeistern 
vermocht,  wären  sie  nicht  in  Gestalt  ekstatischer  Zustände  anscheinend  un- 
mittelbar dem  Walten  der  Gottheit  entflossen.  Das  Christentum  hätte  die 
Welt  nicht  so  erobert,  hätten  seine  Märtyrer  nicht  durch  die  vermeintliche 
unmittelbare  Hilfe  Gottes  die  Kraft  zum  Ertragen  ihrer  Leiden  gefunden.  Es 
ist  äußerst  interessant,  in  der  einschlägigen  Literatur  zu  verfolgen  —  leider 
ist  dies,  wie  gesagt,  in  diesem  Buche  nur  wenig  geschehen  — ,  wie  bei  diesen 
Zuständen  Wert  des  Inhaltes  und  Stärke  des  ekstatischen  £ustandes  in  um- 
gekehrtem Verhältnis  zueinander  stehen.  Je  stärker  ausgeprägt  der  eigent- 
liche hypnotische  Charakter,  desto  trivialer  ist  der  Inhalt-,  je  mehr  dieser  sich 
veredelt,  desto  mehr  ermäßigt  sich  die  Abnormität  des  Zustandes;  sowie  ja 
auch  die  junge  christliche  Kirche  prinzipiell  solchen  irregulären  Vorgängen 
ablehnend  gegenüber  stand.  Aber  gerade  die  sittlich  höchsten  Leistungen 
des  religiösen  Bewußtseins  schöpfen,  wie  gesagt,  ihre  Wirkungskraft  noch 
aus  derselben  Quelle,  wie  die  Unsummen  trivialer  oder  verderblicher  Lehren. 
Es  würde  eine  äußerst  interessante  Aufgabe  sein,  diese  Zustände  in  ihren 
letzten  Verzweigungen  und  Ausläufern  einmal  monographisch  bis  in  die  Mystik 
und  den  Pietismus  hinein  zu  verfolgen.  Nur  vorübergehend  freilich  erhebt 
sich  dieser  Mechanismus  zu  Leistungen  von  solchem  Wert  Einen  viel  breiteren 
Raum  nehmen  auch  auf  den  höheren  Stufen  rein  pathologische  Erscheinungen 
ein,  wie  die  Besessenheitsepidemien  des  Mittelalters  oder  eine  ganze  Reihe 
von  Kreuzigungs-  und  Mordekstasen  bei  neuzeitlichen  Sekten,  die  häufig  mit 
deu  ärgsten  sexuellen  Ausschweifungen  verbunden  waren. 

Die  letzten  Kapitel  des  Buches  beschäftigen  sich  mit  außerreligiösen  Vor- 
gängen der  Neuzeit,  bei  denen  sich  ansteckende  Wachsuggestionen  geltend 
machen,  die  zu  Massenerscheinungen  führen.  Ein  längeres  Kapitel  ist  der 
französischen  Revolution  gewidmet  und  befaßt  sich  mit  den  Erscheinungen 
gesteigerter  Leichtgläubigkeit,  kritikloser  Überzeugungen,  enthusiastischer  und 
fanatischer  Massenhandlungen,  akuter  und  chronischer  Mordekstasen  ganzer 
Massen  u.  a.  m.  Den  Stoff  der  übrigen  Kapitel  bilden  Modetorheiten  und 
ihnen  ähnliche  Dinge,  die  teils  dem  Gebiet  der  eigentlichen  Mode,  teils  dem- 
jenigen des  wissenschaftlichen  und  wirtschaftlichen  Lebens  angehören.  Eine 
theoretische  Erörterung  der  Suggestion  bildet  den  Abschluß  des  Ganzen. 

Auf  diese  letztere  gehen  wir  hier  noch  etwas  ein,  weil  sie  uns  von  typi- 
scher Bedeutung  zu  sein  scheint  für  die  Bedeutung  der  Psychologie  für  die 
Geisteswissenschaften.  Auch  derjonige,  der  diese  Bedeutung  hartnäckig  be- 
streitet, wird  durch  Fälle  wie  den  hier  zu  besprechenden  vielleicht  doch  in 


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Literaturbericht. 


25 


seiner  Überzeugung  schwankend  gemacht  werden.  Es  gibt  bekanntlich  eine 
ausgedehnte  Popularpsychologie,  die  ein  unbewußtes  Besitztum  der  nicht 
psychologisch  geschulten  Forscher  bildet  Unser  Fall  zeigt  nun  recht  deutlich, 
wie  trübend  ihre  Irrtümer  wirken  können. 

Hier  handelt  es  sich  nämlich  um  den  Irrtum,  als  ob  unsere  Überzeugungen 
im  allgemeinen  durch  logische  Ursachen,  unsere  Handlungen  durchweg  durch 
Zweckniäßigkeitserwägungen  planmäßig  bestimmt  sein  mußten.  Wo  das  nicht 
der  Fall  ist,  glaubt  St  oll  den  Begriff  der  Suggestion  anwenden  zu  müssen. 
Das  Wesen  der  suggestiven  Einwirkung  schildert  er  nämlich  mit  den  Worten 
(S.  702):  »Indem  das  Eindringen  einer  neuen  Vorstellung  in  unsere  Gedanken- 
welt deren  Richtung  in  einer  vom  Willen  unabhängigen  Weise,  also  zwangs- 
inäßig  bestimmt  und  lenkt,  bedingt  sie  für  einen  gegebenen  Zeitabschnitt  eine 
gewisse  Einseitigkeit  des  Denkens  und  Urteilens«.  Als  suggestiv  bestimmt 
sollen  danach  anscheinend  alle  diejenigen  Urteile  und  Handlungen  gelten,  bei 
denen,  in  der  Sprache  Wundts  ausgedrückt,  ein  Abwägen  zwischen  ver- 
schiedenen Möglichkeiten  ausgeschlossen  ist:  also  die  gesamten  triebartigen 
Handlungen  und  rein  assoziativ  zustande  gekommenen  Überzeugungen  würden 
hierhin  gehören.  Ein  Blick  auf  eine  Anzahl  von  St  oll  gegebener  Beispiele 
stimmt  in  der  Tat  dazu,  zeigt  aber  zugleich,  wie  der  Verfasser  Überall  den 
Mangel  der  höheren,  regulierenden  Einflüsse  als  etwas  Abnormes,  gleichsam 
als  einen  pathologischen  Defekt  auffaßt  Von  den  Beschlüssen  des  franzö- 
sischen Konvents  in  der  großen  Revolution  z.  B.  sagt  er  (S.  617):  »Aus  der 
Natur  dieser  wichtigen  Beschlüsse  allein  wäre  der  Nachweis  einer  Beteiligung 
suggestiver  Einflüsse  an  ihrem  Zustandekommen  nicht  möglich,  denn  nackt 
zusammengestellt  erscheinen  sie  lediglich  als  das  Produkt  vernunftgemäßer 
Überzeugung.  Mit  aller  Deutlichkeit  geht  aber  das  suggestiv-enthusiastische 
Element  aus  der  Schilderung  hervor,  wie  diese  Beschlüsse  zustande  kommen. 
Diese  zeigt  nämlich,  wie  der  Affekt  der  Begeisterung  einen  stärkeren  Anteil 
an  ihnen  hat  als  die  nüchterne  Erwägung.«  Die  Tatsache  des  sogenannten 
Tropenkollers,  der,  wie  Stoll  selbst  anführt,  durchweg  zutage  tritt  wo  bei 
der  Ausübung  der  Macht  tieferstehenden  Elementen  gegenüber  jegliche  Kon- 
troUe  und  jegliche  Schranke  fehlt,  gehören  nach  ihm  ebenfalls  zu  den  Sug- 
gestiverscheinungen; denn  es  »verwirrt  das  Bewußtsein  unbeschränkter  und 
unkontrollierbarer  Gewalt  Uber  Leben  nnd  Tod  das  normale  Empfinden  völlig« 
(S.  649).  Auf  Suggestion  beruht  es  ebenso,  wenn  es  der  bekannten  Therese 
Humbert  viele  Jahre  lang  gelungen  war,  mit  den  unwahrscheinlichsten  An- 
gaben eine  große  Reihe  von  gescheiten  Leuten  um  ungeheuere  Geldsummen 
zu  prellen  (S.  656;.  In  Wirklichkeit  lassen  sich  ähnliche  Fälle  starker  Leicht- 
gläubigkeit doch  wohl  recht  häufig  beobachten.  »Nur  auf  dem  Wege  der  an- 
steckenden imitativen  Suggestion  ferner  ist  es  möglich,  daß  unsere  Damen 
in  diesem  Jahre  sich  alle  erdenkliche  Mühe  geben,  ihrem  Körper  da  Buckel 
aufzusetzen,  wo  er  keine  hat,  in  einem  andern  Jahre  dagegen  sogar  die 
natürlichen  Buckel  ihres  Leibes  gewaltsam  platt  zu  drücken.«  —  Die  günstige 
Auffassung,  welche  die  Optimisten  von  der  Wirklichkeit  hegen,  beruht  eben- 
falls auf  Suggestion:  »Ein  Blick  in  die  Krankensäle  eines  Hospitals  oder  auf 
die  Melancholiker  eines  Irrenhauses,  die  in  beständigem  psychischen  Schmerz 
sich  härmen,  müßte  ihnen,  bestände  nicht  der  Zwang  der  Suggestion,  zeigen, 
daß  die  Zweckmäßigkeitslehre  sich  nicht  aufrechterhalten  läßt«  (S.  703).  — 
Nur  noch  ein  besonders  instruktives  Beispiel.  Der  wissenschaftliche  Dilettan- 
tismus, wie  er  sich  z.  B.  in  dem  Versuche,  die  mexikanische  Kultur  aus 


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Literaturbericht. 


Griechenland  abzuleiten,  in  der  Falbechen  Theorie  oder  Jägerschen  Seelen- 
riecherei  n.  a.  kundgibt,  ist  ebenfalls  suggestiv  veranlaßt:  »Das  suggestive 
Moment  dokumentiert  sich  dabei  aufs  klarste  darin,  daß  solche  Leute  nicht 
nur  zu  einer  wissenschaftlich-kritischen  Fragestellung  selbst  unbefähigt  sind, 
sondern  daß  sie  sich  gegen  die  wirkliche,  nüchterne  wissenschaftliche  Arbeit 
auf  dem  betreffenden  Gebiete  geflissentlich  und  demonstrativ  ablehnend  ver- 
halten« (8.  673). 

Überall  zeigt  sich  in  diesen  Beispielen  dieselbe  Überschätzung  des  durch- 
schnittlichen logischen  und  ethischen  Niveaus  der  menschliehen  Natur.  Wer 
sich  einigermaßen  selbst  zu  beobachten  versteht,  weiß,  wie  selten  seine  Über- 
zeugungen wirklich  durch  logische  Kräfte,  seine  Entschlüsse  und  Handlungen 
durch  klare  Zweckmäßigkeitserwügungen  und  rein  ethische  Motive  bestimmt 
sind.  Wer  mit  derselben  Beobachtungsgabe  jemals  in  einem  Kollegium  tätig  ge- 
wesen ist,  weiß  auch,  daß  bei  dessen  KoUektivbeschlttssen  derartige  Leistungen 
noch  viel  seltener  sind.  Wissenschaftliche  Probleme  auf  dilettantischem  Wege 
anzufassen,  unwahrscheinlichen  Behauptungen  im  Stile  der  Therese  Humbert 
zum  Opfer  zu  fallen,  die  einfachsten  widersprechenden  Tatsachen  der  Er- 
fahrung zugunsten  einmal  gefaßter  Meinungen  zu  Ubersehen,  ist  nichts  Außer- 
gewöhnliches, nichts  Abnormes  oder  Pathologisches,  sondern  ein  Grundzug  der 
menschlichen  Natur.  Aus  diesen  Tatsachen,  deren  Untersuchung  heute  noch 
in  den  ersten  Anfängen  liegt,  entstammen  vorzüglich  die  bekannten  Schwierig- 
keiten einer  befriedigenden  Definition  des  Begriffs  der  Suggestion.  Vorläufig 
und  für  Zwecke  wie  diejenigen  des  vorliegenden  Buches  könnte  man  viel- 
leicht von  Suggestion  Überall  da  sprechen,  wo  infolge  fremder  Einwirkung 
oder  lediglich  aus  inneren  Ursachen  heraus  die  Überzeugungen  und  Hand- 
lungen ein  entschiedenes  Herabsinken  unter  das  sonstige  Niveau  der  Persönlich- 
keit und  einen  inneren  Widerspruch  mit  deren  Gesamtart  zeigen,  also  gleich- 
sam ein  fremdes  Ich  in  dem  eigenen  Ich  offenbaren.  Im  Grunde  hat  dies 
offenbar  auch  St  oll  vorgeschwebt;  schon  die  hier  genannten  Beispiele  weisen 
darauf  hin.  Am  deutlichsten  aber  beweist  es  das  von  ihm  angeführte  Bei- 
spiel eines  verstorbenen  französischen  Physikers,  der  sich  zugleich  nebenher 
in  der  Konchyliologie  einen  hervorragenden  Namen  gemacht  hatte.  Ganz  zu- 
fällig durch  ein  Erlebnis  in  der  Kinderzeit  war  er  zu  dem  letzteren  Interesse 
gekommen,  das  ihn  dann  fortgesetzt  und  während  seiner  letzten  Lebensjahre 
ausschließlich  beschäftigte.  >Daß  es  sich  wirklich  in  diesem  Falle  nicht  bloß 
um  eine  allgemeine  Neigung  zu  zoologischen  Studien,  sondern  um  eine  spezi- 
fische Form  der  Suggestion  handelte,  beweist  der  Umstand,  daß  er  sich  gegen- 
über andern,  sonst  häufig  im  Bereiche  der  Liebhaberei  liegenden  zoologischen 
Zweigen  vollständig  gleichgültig  verhielt«  (S.  714).  Also  gleichsam  ein  fremder 
Blutstropfen  in  seinem  Körper.  A.  Vierkandt  [Groß-Lichterfelde). 


2)  L.  Frobenius,  Das  Zeitalter  des  Sonnengottes.  I.  Bd.  Mit  1  TafeL  XII, 
420  S.   gr.  8°.   Berlin,  G.  Reimer,  1904.   M.  8.—. 

Dieser  Band  enthält  die  Anfänge  einer  vergleichenden  Mythologie  im 
großen  Stile.  Die  früheren  derartigen  Versuche,  die  sich  durchweg  auf  die 
indogermanischen  Völker  beschränkten,  überragt  der  hier  begonnene  vor  allem 
durch  die  Weite  des  Gesichtskreises,  nämlich  die  Hereinziehung  der  gesamten 


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Literaturbericht. 


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Völker  der  Erdoberfläche  in  die  Untersuchung,  sowie  durch  deren  weit  vor- 
sichtigere und  kritischere  Art  In  diesem  einleitenden  ersten  Bande  stellt 
der  Verfasser  vor  allem  eine  Anzahl  universell  verbreiteter  Typen  von  Mythen 
zusammen,  indem  er  ihre  besondere  Ausgestaltung  bei  den  einzelnen  Völkern 
in  einer  großen  Menge  von  Beispielen  meist  in  ziemlich  wortgetreuer  An- 
lehnung an  die  Quellen  vorführt.  Die  Deutung  tritt  dem  Stoff  gegenüber  in 
den  Hintergrund,  so  daß  dieser  Band  auf  alle  Fälle  das  Verdienst  einer  an- 
regenden Materialsammlung  besitzt 

Von  den  behandelten  Typen  ist  wohl  am  einheitlichsten  trotz  seiner 
universellen  Verbreitung  gestaltet  derjenige  des  Walfischmythus,  wie  wir  ihn 
aus  dem  alten  Testament  in  der  Geschichte  von  Jonas  kennen:  ein  See- 
ungeheuer verschlingt  den  Helden,  oft  auch  alle  Menschen  und  schwimmt  mit 
seiner  Beute  von  Westen  nach  Osten ;  der  Held  wird,  nachdem  er  häufig  das 
Herz  des  Ungetüms  verwundet  und  in  dem  Gefängnis  seine  Haare  eingebüßt 
hat,  schließhch  eventuell  samt  allen  Insassen  ans  Licht  gespien.  Verwandt 
damit  sind  die  Mythen  von  Arion  und  von  Polykrates.  —  Ein  weiterer  be- 
handelter Typus  ist  derjenige  der  Jungfrauengeburt:  eine  Jungfrau  wird 
schwanger,  indem  sie  etwas  verschluckt  einen  Fisch,  eine  Kiefernadel,  eine 
Beere  u.  dgl.  m. ;  an  Stelle  des  Verschluckens  tritt  auch  wohl  die  ein- 
fache Anhexung  durch  einen  Zauberer.  Der  Geborene  ist  durchweg  ein  großer 
Held.  Oft  kommt  noch  ein  Aussetzungsmythus  hinzu:  die  Jungfrau  samt 
ihrem  Kinde  wird  in  einem  Kasten  eingesperrt,  der  dem  Meere  Uberantwortet 
wird  und  schließlich  ans  Land  treibt  —  Weiter  erwähnen  wir  die  Mädchen- 
angelmythe: ein  Jüngling  verleiht  einen  Fischhaken,  der  dabei  verloren  geht 
Er  gerät  darüber  in  Zwist  mit  dem  Verleiher  und  sucht  den  Haken  in  der 
See.  Auf  dem  Meeresgrund  trifft  er  ein  Mädchen,  welches  den  Haken  ver- 
Bchluckt  hat  und  wieder  von  sich  gibt  in  der  Regel  dann  auch  von  ihm 
geheiratet  wird.  Der  Angelhaken  wird  oft  durch  eine  Harpune,  durch  einen 
Pfeil,  ja  gelegentlich  durch  ein  Rindenstück  ersetzt  Ferner  sei  die  Schwanen- 
jungfraumythe  genannt:  eine  Jungfrau,  die  wohl  auch  die  Gestalt  eine«  Fisches 
oder  Vogels  hat  legt  beim  Baden  ihre  Gewänder,  eventuell  ihre  Flügel  oder 
Flossen  ab;  diese  werden  ihr  von  einem  Manne  geraubt  der  sie  dann  unter 
Ausnutzung  der  Situation  zur  Frau  gewinnt.  Später  findet  sie  aber  das  Ver- 
lorene wieder  und  scheidet  für  immer.  —  Endlich  behandelt  das  Buch  eine 
Anzahl  Mythen,  welche  sich  auf  das  Liebesleben  von  Sonne  und  Mond  und 
auf  das  Eheverhältnis  von  Himmel  und  Erde  beziehen. 

Alle  diese  Typen  sind,  wie  gesagt  universell  verbreitet  Der  Grund  davon 
kann  entweder  in  einer  spontanen  Entstehung  an  verschiedenen  Orten  oder 
in  einer  Ausbreitung  von  einem  einzigen  Zentrum  aus  gesucht  werden.  Im 
enteren  Falle  muß  ein  einheitlicher  Entstehungsgrund  für  die  vielfachen 
Wiederholungen  derselben  Erscheinung  angenommen  werden ;  daher  verbietet 
sich  dann  die  ZurUckfUhrung  der  Mythe  auf  historische  Ereignisse,  was  ohne- 
hin übrigens  auch  aus  inneren  Gründen  der  Fall  sein  wtlrde;  denn  wir  wissen, 
wie  außerordentlich  schwach  die  Tradition  und  die  historischen  Interessen 
bei  allen  primitiven  Völkern  entwickelt  sind.  Es  würde  daher  nur  übrig- 
bleiben, auf  Naturereignisse  zurückzugreifen.  Einen  Hinweis  auf  den  Ursprung 
könnte  man  nun,  und  das  würde  auch  für  den  zweiten  Fall  gelten,  in  der 
Tatsache  erblicken,  daß  in  vielen  Einzelgestaltungen  dieser  Mythen  ein  deut- 
licher Bezug  auf  die  großen  Erscheinungen  des  Himmelslebens,  insbesondere 
auf  das  Versinken  der  Sonne  im  Meere  und  ihr  Auftauchen  aus  ihm,  sowie 


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Literaturbericht. 


auf  ihre  zu  verschiedenen  Zeiten  verschieden  gestaltete  Bahn  am  Himmel 
zu  erkennen  ist.  Ob  dieser  Hinweis  zwingend  ist,  laßt  sich  heute  kaum 
entscheiden;  auch  nicht  auf  dem  Wege  psychologischer  Rekonstruktion. 
Frobenins  meint  allerdings,  daß  das  Schauspiel  von  Sonnenauf-  und  -unter- 
fang und  Nachtgröße  in  den  Tropen  einen  ganz  Überwältigenden  Eindruck 
gemacht  haben  müsse  (S.  35]  und  demgemäß  mehr  als  jeder  andere  Vorgang 
zur  Erzeuguug  aller  dieser  Typen  befähigt  gewesen  wäre.  Aber  sein  ganzes 
Buch  ist  so  kritisch  gehalten,  daß  er  selbst  seiner  Erklärung  nur  den  Wert 
einer  Wahrscheinlichkeit  beimißt  Die  Theorie  ist,  wie  gesagt,  in  dem  vor- 
liegenden Bande  nur  angedeutet.  Ihr  Hauptgesichtspunkt  ist  derjenige  einer 
unermeßlichen  historischen  Kontinuität  in  den  heutigen  Mythen.  Nicht  nur 
die  moralisierenden  Fabeln  bei  den  höheren  Kulturvölkern  werden,  wie  das 
heute  wohl  allgemein  angenommen  wird,  auf  frühere  harmlose  Formen  zurück- 
geführt, sondern  auch  für  die  meisten  sogenannten  Erklärungsmythen,  welche 
den  Ursprung  irgendeines  Gebildes  oder  irgendeiner  Eigenschaft  aus  einem 
einmaligen  Ereignis  ableiten,  nimmt  Frobenins  eine  ähnliche  nachträgliche 
Anpassung  gegebener  älterer  Stoffe  an.  Allerdings  ist  er  weit  von  jener 
Schematisierungswut  entfernt,  die  alle  Mythen  auf  eine  einzige  Quelle  zurück- 
führen möchte;  vielmehr  sind  für  ihn  die  solaren  Erscheinungen  nur  der 
Hauptausgangspunkt  der  Mythendichtung  gewesen.  Von  hier  aus  hat  die 
Mythologie  sich  dann  vorzüglich  in  vier  allgemeinen  Typen  entwickelt:  der 
heroische  Typus  schildert  die  großen  Taten  eines  Heldenjiinglingn.  dessen 
solare  Natur  vielfach  noch  durchschimmert;  der  animalistische  Typus  bietet 
uns  anscheinend  nur  Tierfabeln,  denn  der  ursprüngliche  Kern  ist  hier  infolge 
eines  beschränkteren  Interessenkreises  völlig  Uberwuchert  durch  die  Teil- 
nahme an  dem  Leben  der  Tiere;  der  kosmologiscbe  Typus  umgekehrt  vertieft 
seinen  Stoff  zn  weit  ausgesponnenen  Vorstellungen  Uber  den  ersten  Ursprung 
der  Dinge;  der  epische  Typus  endlich  ist  uns  von  manchen  Kulturvölkern 
hinlänglich  bekannt.   Eine  Abzweigung  von  ihm  bildet  das  einfache  Märchen. 

Der  Grundgedanke  dieser  ganzen  Theorie,  der  sich  wohl  in  Wechsel- 
wirkungen mit  dem  Durcharbeiten  des  Stoffes  entwickelt,  jedenfalls  an  ihm 
bewährt  hat,  ist  die  stillschweigende  Üb  erzeugnng  von  dem  Mangel  an 
Spontaneität  als  der  wichtigsten  von  den  für  die  Mythenbildung  in  Betracht 
kommenden  Eigenschaften  des  menschlichen  Bewußtseins.  Schon  die  älteste 
Zeit  der  Menschheit  hat  ein  für  allemal  die  grundlegende  Arbeit  auf  dem 
Gebiete  des  Mythus  getan.  Sie  hat  die  großen,  gewaltigen  Typen  umschrieben 
und  fixiert,  die  dann  eine  unermeßliche  Fülle  von  Abwandlungen  erlebt  haben, 
die  sich  Uberall  den  herrschenden  Interessenkreisen  und  der  gegebenen 
Denkweise  angepaßt  und  dadurch  mit  dem  Denken  und  Fühlen  einer  un- 
ermeßlichen Reihe  von  Geschlechtern  aufs  engste  verschmolzen  haben.  Für 
die  Religion  wie  für  die  Kunst  sind  sie  bis  auf  den  heutigen  Tag  von  grund- 
legender Bedeutung  geblieben.  Auch  hier  scheint  sich  zu  bewahrheiten,  was 
auf  so  vielen  Gebieten  heute  sichergestellt  ist,  daß  die  Wurzeln  unserer 
Kulturgüter  in  die  entlegensten  Zeiten  zurückreichen,  und  diese  schon  damals 
entscheidende  Impulse  für  ihre  spätere  Gestaltung  empfangen  haben. 

A.  Vierkandt  (Groß-Lichterfelde). 


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Literaturbericht. 


29 


3)  Kar]  Lange,  Sinnesgenttsse  und  Kunstgenuß.  Beitrüge  zu  einer  sensu- 
alistischen  Kunstlehre.  VIII,  100  S.  gr.  8°.  {Grenzfragen  des  Nerven- 
und  Seelenlebens,  herausgeg.  von  Loewenfeld  und  Kurella,  Heft  XX.) 
Wiesbaden,  J.  F.  Bergmann,  1903.   M.  2.—. 

Die  Abhandlung  zerfällt  in  zwei  Hauptabschnitte.  Der  erste  behandelt 
die  Physiologie  des  Genusses  und  den  Kunstgenuß,  der  zweite  die  Kunst 
Im  ersten  Abschnitt  werden  die  folgenden  Punkte  besprochen. 

1)  Die  Physiologie  des  Genusses. 

Die  aktiven  Bewegungen  unserer  Blutgefäße  und  damit  auch  unsere 
ftefüblszuatände  werden  durch  das  vasomotorische  Nervensystem  reguliert. 
Dabei  können  die  vasomotorischen  Vorgänge  und  damit  die  Affekte  und  damit 
wieder  die  Genüsse  teils  durch  periphere  (sinnliche),  teils  durch  zentrale  fgeistige) 
Vorgänge  ausgelost  werden.  Ferner  kann  eine  affektive  Gefäßbewegung 
ilurch  chemische  Einwirkung  auf  das  Blut  Alkohol,  Morphium  usw.  und  durch 
mechanische  Einwirkung  auf  den  Kreislauf  (Tanzen,  Rennen  usw.)  verursacht 
werden.  Alle  diese  Mittel  benutzen  die  Menschen,  um  sich  Genüsse  zn  ver- 
schaffen; so  ruft  man  durch  Sinneseindrllcke  der  verschiedensten  Art  (Ge- 
schmacksempfindungen, Gerüche,  Farben,  Töne  usw.)  Behagen  hervor;  Kaffee, 
Tee,  Alkohol  usw.,  sowie  Tanzen,  Turnen,  Bergsteigen  usw.  sind  Genuß- 
mittel, welche  eine  große  Rolle  im  Leben  spielen. 

2)  Die  Affekte  als  Genußmittel. 

Es  ist  nun  festzustellen,  auf  welche  Weise  die  verschiedenen  Arten  von 
Genußmitteln  uns  Genuß  verschaffen,  und  da  ergibt  sich,  daß  die  Eindrücke, 
denen  wir  uns  hingeben,  um  einen  Genuß  zu  erleben,  vasomotorische  Vor- 
gänge sind,  auf  der  Verengerung  oder  Erweiterung  der  Blutgefäße  beruhen, 
d.  h.  also  Gemütsbewegungen  Bind  (vgl.  darüber  des  Verfassers  >Über  Gemüts- 
bewegungen«, Leipzig,  1887;.  Es  ist  nun  von  größter  Bedeutung,  darüber  klar 
zu  werden,  welche  Affekte  uns  Genuß  bereiten  und  welche  nicht,  und  Lange 
gibt  darauf  die  Antwort,  daß  fast  alle  Gemütsbewegungen  und  Stimmungen  im- 
stande sind,  Genuß  zu  gewähren.  Daß  die  Freude  Genuß  bietet,  bedarf  keiner 
weitern  Erläuterung.  Auch  der  Zorn  ist  mit  Genuß  verbunden;  dies  äußert  sich 
besonders  im  Leben  der  Naturvölker,  in  welchem  der  Kampf  ein  großes  Genuß- 
nüttel bildet  Selbst  der  Angst  und  dem  Schrecken  fehlt  der  Genuß  nicht; 
kann  man  nämlich  die  emotionellen  Angstphänomene  erleben,  ohne  sich  in 
Wirklichkeit  einer  ernsten  Gefahr  auszusetzen,  mit  klarem  Bewußtsein  der 
Sicherheit  der  Situation,  so  ist  die  Angst  vielleicht  nicht  weniger  genußreich, 
al«  die  vorhin  erwähnten  Affekte  (vgl.  z.  B.  den  Genuß  an  schaurigen  Ge- 
spenstergeschichten). Der  Angst  steht  die  Spannung  sehr  nahe,  wegen  des  da- 
mit verbundenen  Genusses  einer  der  gesuchtesten  Affekte,  was  die  Beliebtheit 
aller  Arten  von  Spiel  zeigt.  Selbst  der  Kummer  ist  unter  Umständen  nicht  ohne 
Genuß;  man  denke  etwa  an  die  Wollust  der  Tränen.  Endlich  sind  die  Ek- 
stase und  die  Bewunderung  zwei  mit  Genuß  verbundene  Affekte,  die  ja  ge- 
rade im  ästhetischen  Genuß  mit  eine  große  Rolle  spielen.  Einzig  der  Affekt 
der  Enttäuschung  scheint  nie  von  Genuß  begleitet  zu  sein. 

Es  kann  also  wohl  als  feststehend  betrachtet  werden,  daß  unsere  Genuß- 
zostände  zum  großen  und  wesentlichen  Teil  aus  unsern  Gemütszuständen 
stammen;  sie  hängen  also  von  vasomotorischen  Veränderungen  ab.  Wohl 


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30 


Literaturbericht. 


ist  es  möglich,  daß  wir  auch  Genuß  empfinden  können  ohne  das,  was  man 
gewöhnlich  Gemütsbewegung  nennt,  aber  jedem  Genuß  wird  doch  wahr- 
scheinlich  eine  vasomotorische  Veränderung  zugrunde  liegen  von  derselben 
Art,  wie  die,  welche  unsere  Gemütsbewegungen  repäsentieren. 

Neben  dieser  allgemeinen  Bedingung  der  Genußeraeugung  gibt  es  noch 
andere,  welche  für  die  künstlerische  Erregung  des  Genußlebens  von  der 
größten  Bedeutung  sind;  es  sind  dies  die  Anwendung  der  Abwechslung  und 
die  Erregung  der  sympathischen  Stimmung. 

S)  Die  Abwechslung  als  Genußmittel. 

Jeder  Genuß  hat  seinen  natürlichen  Abschluß,  man  wird  schließlich  ab- 
gestumpft gegen  ihn.  Da,  wo  es  sich  darum  handelt,  einen  dauernden  Genuß- 
zustand  zu  erhalten,  ist  die  erste  Aufgabe,  für  Veränderung  zu  sorgen.  Die 
Unlust  aus  Mangel  an  Abwechslung  kann  entweder  in  Abstumpfung  oder  in 
Müdigkeit  bestehen,  deren  erstere  aus  den  perzipierenden  Nervenelementen, 
deren  letztere  aus  dem  vasomotorischen  Zentrum  stammt.  Diesen  Erscheinungen 
der  Abstumpfung  und  der  Ermüdung  beugt  man  nur  durch  den  Wechsel  der 
genußerregenden  Eindrücke  vor. 

Aber  in  manchen  Fällen  bildet  Uberhaupt  die  Abwechslung  an  sich  ein 
Genußmittel,  besonders  wenn  die  Abwechslung  in  gesetzmäßig  bestimmter 
Form  gegeben  wird,  wie  z.  B.  im  Rhythmus.  Dessen  Reiz  besteht  in  be- 
ständig wiederkehrender  Spannung  mit  darauf  folgender  Lösung.  Nun  soll 
aber  nicht  gesagt  sein,  daß  jede  Abwechslung  genußbringend  ist,  wohl  aber 
wäre  es  wünschenswert,  einmal  die  Gesetze  Uber  die  Wirkung  der  Abwechslung 
hinsichtlich  der  Lust-  und  Unlustgefühle  zu  ermitteln. 

Die  starke  emotionelle  Wirkung  der  Abwechslung  kann  nun  noch  dadurch 
erhöht  werden,  daß  man  beim  Wechseln  der  Eindrücke  gelegentlich  einen 
unterlaufen  läßt,  der  nach  den  gegebenen  Voraussetzungen  gar  nicht  zu  er- 
warten war.  Dadurch  entsteht  die  Überraschung,  ein  Mittel,  das  sich  in  der 
Kunst  großer  Beliebtheit  erfreut  (vgl.  Heine},  das  aber  mit  viel  Vorsicht  ver- 
wendet werden  muß,  da  die  Überraschung  leicht  zur  unangenehmen  Ent- 
täuschung werden  kann. 

4)  Die  sympathische  GefUhlacrregung. 

Es  ist  eine  höchst  bemerkenswerte  Tatsache,  daß  man  von  einer  Gemüts- 
bewegung ergriffen  werden,  in  eine  Stimmung  versetzt  werden  kann  dadurch, 
daß  man  diese  Stimmung  bei  andern  beobachtet.  Diese  Übertragbarkeit  der 
Gemütsbewegungen  bezeichnet  man  als  Sympathie.  Alle  Gemütsbewegungen 
können  ansteckend  wirken  (man  denke  an  das  Ansteckende  der  Freude  oder 
die  Übertragbarkeit  von  Furcht  und  Schrecken  von  einem  einzelnen  auf  eine 
ganze  Volksmenge,  etwa  bei  einer  Panik).  Das,  was  ansteckend  wirkt,  sind 
die  körperlichen  Erscheinungen,  da  sie  das  einzige  für  andere  Bemerkbare 
an  der  Gemütsbewegung  sind.  »Ein  in  der  Tiefe  der  Seele  versteckter  Affekt 
hat  keine  Möglichkeit,  ansteckend  auf  die  Umgebung  zu  wirken,  wohingegen 
eine  fingierte  Gemütsbewegung  oft  ebenso  ansteckend  wirkt,  wie  eine  echte.« 

Diese  Übertragbarkeit  der  Gemütsbewegungen  spielt  eine  große  Rolle  in 
der  Kunst.  Es  ist  einleuchtend,  daß  plastische,  oder  gemalte,  oder  mimische, 
oder  mit  Worten  geschilderte  Gemütsbewegungen  in  uns  eine  sympathische 
Wirkung  hervorrufen,  und  wir  sind  so  imstande,  durch  die  Kunst  uns  eine 
Menge  von  genußreichen  Stimmungen  zu  verschaffen,  die  uns  im  gewöhnlichen 
Leben  nicht  immer  zur  Verfügung  stehen. 


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Literatarbericht. 


31 


Im  zweiten  Hauptabschnitt:  »Die  Kunst«  treffen  wir  folgende  Gedanken : 

Das  Genußverlangen  der  Menschen  hat  an  der  Natur  allein  nie  völlige 
Befriedigung  gefunden;  wo  nun  die  Natur  versagt,  tritt  die  Kunst  ein.  Sie 
ist  aus  dem  Bestreben,  dem  ewig  regen  Drange  nach  Genuß  entgegenzukommen, 
entsprungen.  Jedes  Henschenwerk,  das  seinen  Ursprung  in  dem  bewußten 
Streben  hat,  einen  Genuß  durch  das  Auge  oder  das  Ohr  hervorzurufen,  nennen 
wir  Kunstwerk.  Als  Genußmittel,  die  in  der  Kunst  Anwendung  finden,  haben 
wir  die  Schaffung  von  Abwechslung  und  das  Hervorrufen  von  Gemüts- 
bewegungen auf  sympathischem  Wege  kennen  gelernt;  eine  Sonderstellung 
unter  den  Affekten  kommt  der  Bewunderung  (Ekstase)  zu,  so  daß  wir  diese 
als  drittes  künstlerisches  Genußmittel  den  beiden  obengenannten  anreihen 
dürfen.  Demnach  ist  die  KunBt  zu  definieren  als  der  »Inbegriff  der  mensch- 
lichen Werke,  welche  durch  Abwechslung,  sympathische  Stimmungserregung 
oder  Erweckung  von  Bewunderung  Genuß  gewähren«. 

Der  Verfasser  geht  nun  einzelne  Kunstzweige,  wie  die  Dekoration,  die 
Malerei,  die  Dichtung  und  die  Bühne  mit  Rücksicht  auf  die  drei  Genußmittel 
im  speziellen  durch.  Da  diese  Kapitel  prinzipiell  nichts  Neues  mehr  bieten, 
sondern  nur  die  Anwendung  der  vorgetragenen  Ideen  auf  einzelne  Fälle  ent- 
halten, so  möge  hier  dieser  kurze  Hinweis  darauf  genügen. 

W.  Nef  (Trogen  . 


4}  Alfred  Lichtwark,  Übungen  in  der  Betrachtung  von  Kunstwerken. 
5.  Auflage.  Mit  16  Abbildungen.  136  S.  gr.  8<>.  Berlin,  B.  Cassirer, 
191)4.   Geb.  in  Leinw.  M.  4. — . 

Nach  einer  Einleitung,  welche  einige  Winke  des  Verfassers  über  die 
künstlerische  Erziehung  der  Jugend  enthält,  gibt  das  Büchlein  zehn  Unter- 
haltungen Uber  Gemälde  im  Hamburger  Museum,  welche  Lichtwark  mit 
einer  Schulklasse  geführt  hat.  Diese  Unterhaltungen  sind  mit  den  einzelnen 
Fragen  des  Lehrers  und  den  Antworten  der  Schüler  wiedergegeben  und  bieten 
so  unmittelbar  ein  Muster  dafür,  wie  ein  Lehrer  mit  seiner  Klasse  Übungen 
in  der  Kunstwerkbetrachtung  vornehmen  kann.  Es  ist  zu  wünschen,  daß  das 
Büchlein  besonders  bei  den  Lehrern  eine  große  Verbreitung  finde. 

W.  Nef  (Trogen). 


ö)  Max  Runge,  Das  Weib  in  seiner  geschlechtlichen  Eigenart.  Nach  einem 
in  Göttingen  gehaltenen  Vortrage.  4.  Auflage.  IV,  38  S.  gr.  8». 
Berlin,  J.  Springer,  1900.  M.  1.—. 

Dem  Weibe  kommt  infolge  seiner  ganzen  Konstitution  eine  gewisse 
Schwäche  und  Schutzbedürftigkeit  zu;  dies  zeigt  sich  besonders  während  der 
periodisch  wiederkehrenden  Menstruation,  dann  aber  bei  der  Verrichtung  seiner 
eigentlichen  Berufsarbeit,  bei  der  Schwangerschaft,  beim  Gebären  und  Säugen 
des  Kindes,  während  welcher  Zeit  die  Leistungsfähigkeit  des  Weibes  gegen- 
über der  Außenwelt  erheblich  herabgesetzt  ist.  Dabei  entwickelt  sich  das 
Weib  aber  doch  erst  durch  das  Vollziehen  seiner  Berufstätigkeit  (durch  die 


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32 


Literaturbericht. 


Fortpflanzungevorgänge)  zu  seiner  vollen  Eigenart  Mit  dem  weiblichen  Ge- 
schlechtsleben hängen  auch  geistige  Eigenschaften  zusammen,  welche  dem 
Weibe  eigentümlich  sind,  so  vor  allem  die  Neigung  zur  Täuschung  und  zum 
Trug,  welche  wohl  daraus  entsteht,  daß  die  Scham  dem  Weibe  die  Ver- 
heimlichung seiner  sexuellen  Vorgänge,  wie  Menstruation,  Schwangerschaft, 
gebietet  Auch  der  Hang  des  Weibes  zum  Putz  und  zur  Gefallsucht  hängt 
mit  dem  Geschlechtsleben  zusammen.  Der  gewaltigste  Instinkt  des  Weibes 
ist  der  Mutterinstinkt,  und  darauB  leiten  sich  die  größten  Tugenden  und  Fähig- 
keiten des  Weibes  her,  vor  allem  Mitleid  und  Menschenliebe,  Teilnahme  und 
Geduld  für  Unglückliche  und  Kranke.  Fragt  man  nun,  ob  das  Weib  für  seine 
Berufsarbeit  (die  Kinderzeugung)  ebenso  vollkommen  ausgerüstet  sei,  wie  der 
Mann  für  die  seinige,  so  muß  dies  verneint  werden;  den  Beweis  für  diese 
Behauptung  erbringen  die  Anatomie,  Physiologie  und  Pathologie.  Aus  allem 
diesem  ergibt  sich  nun,  daß  die  Frauenbewegung  im  Irrtum  ist  wenn  sie  eine 
völlige  Emanzipation  des  Weibes  verlangt.  »Weder  Erziehung  noch  Lebens- 
weise,  weder  die  hochgeschraubteste  Kultur  noch  größte  Unkultur  werden  je 
imstande  sein,  die  spezifische  Eigenart  des  Weibes  auszulöschen.«  Dabei  ver- 
wahrt sich  aber  Runge,  als  Gegner  der  Frauenbewegung  hingestellt  zu 
werden,  wenn  er  »auf  die  natürlichen  Anlagen  und  Schranken,  die  sich  aus  der 
geschlechtlichen  Eigenart  des  Weibes  ergeben,  hinweise«. 

W.  Nef  (Trogen). 


6)  Frau  Marie  Brühl,  Die  Natur  der  Frau  und  Herr  Professor  Runge.  Eine 
Erwiderung  auf  die  Schrift  »Das  Weib  in  seiner  geschlechtlichen 
Eigenart«  von  Dr.  Max  Runge,  Geh.  Medizinalrat  zu  Göttingen.  29  S. 
gr.  8».   Leipzig,  H.  Seemann  Nachf.,  1902.  M.  —.75. 

Diese  Schrift  wendet  sich  in  ziemlich  aufgeregter  Webe  gegen  die  oben 
angezeigte  von  Runge.  Marie  Brühl  tadelt  an  Runge  hauptsächlich  seine 
einseitige  Auffassung  von  der  Berufstätigkeit  der  Frau.  Nicht  die  Vollziehung 
der  Fortpflanzungstätigkeit  ist  der  natürliche  Beruf  des  Weibes,  sondern  das 
Streben  nach  Vollkommenheit  und  dann  allerdings  auch  die  Pflege  des  Kindes . 
Auch  tritt  die  Verfasserin  eifrig  für  die  Gleichheit  der  Rechte  von  Frau  und 
Mann  ein.  W.  Nef  (Trogen). 


7}  Johanna  Elberskirchen,  Die  Liebe  des  dritten  Geschlechts.  Homo- 
sexualität eine  bisexuelle  Varietät  keine  Entartung  —  keine  Schuld. 
38  S.   gr.  80.   Leipzig,  M.  Spohr,  1904.   M.  1.—. 

Die  Verfasserin  vertritt  mit  großem  Eifer  den  Standpunkt  daß  die  Homo- 
sexualität und  die  Liebe  des  Homosexualen  keine  Entartung,  keine  Psycho- 
pathie und  keine  Schuld  seien.  W.  Nef  (Trogen). 


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Vient  de  paraSlre  le  1"  Mai  1904 

1 


A  LA  LIBEAIRIE  MASSON  ET  C4e 

120,  BOULEVARD  SAINT  GERMAIN,  PARIS  (6.) 


L'MNfiE  PSYCHOLOGIQUE 

Publice  par  M.  A.  BIN  ET 

Directeur  du  Laboratoirc  de  Psychologie  de  la  Sorboune. 

AVEC  LA  COLL ABORATION  DE 

MM.  Baldwin,  Beaanis,  Blum,  Gas  ton  Bonnier,  Bourdon, 
Boutroux,  Bouvier,  Capitan,  Claparede,  Demoor,  Deniker,  Durkeim, 
Ebbinghaus,  Fere,  Flournoy,  Fredericq,  Fuster  ;M1";, 
Van  Gehuchten,  Giad,  Gley,  Grasset,  Henneguy,  Henri, 

Lacassagne,  Leuba,  Malaper t,  Martin, 
Metchnikoff,  H.  Michel,  Philippe,  Pitres,  Poincare,  Regia, 
Renault  d'Allonnes,  Ribot,  Serieux,  Simon,  H.  de  Varigny, 
Warren,  Zwaardemaker. 


Sea-ctairc  de  la  rvlaction:  J.  L  ARG  VIER  DES  BANCELS 


SOMMAIRE  DU  TOME  X 

Editorial 

MEMOIRE*  ORIGINAL'X 

V.  Henri:  L'origine  psychologique  des  uotions  de  force,  energic  et  mauere. 

A.  Bin  ET:  L'imagiuation  littcraire.  Portrait  de  Paul  Hervieu. 

A.  BlNET :  La  graphologie  et  «es  revelations  sur  Tage,  lc  sexe  et  riutelligcnce. 

Lecaii.lox:  Psychologie  d'unc  Araignec. 

H-  Miciiel:  Ren    vier  et  Spencer. 

Bourdon:  Un  oas  de  trouble  de  la  pereeptiou  stcreognostique. 
LarüLIER.  Kxperienccs  sur  la  memoire. 
FlrB:  ObservatioDS  sur  Tasjocialion  des  idees. 

BlNET:  Sommairc  des  travaux  m  cours  ä  la  Socicte  de  Psychologie  de  Vatfant. 
Zwaardemakkr:  Experiencc  sur  leg  Uraitcs  de  lauditiuii. 
Bertillon:  Methode  pour  reconuaitre  nnc  phygiouomie. 

REVUES  GE>' ERALES 

Hexnegcy:  Revue  annucllc  de  Cytologie. 

Van  Gebuchten:  Revue  annucllc*  d' Anatomie  du  Systeme  uerveux.  —  A  propo« 

de  la  loi  de  Waller. 
Fredericcj:  Revue  annuelle  de  Physiologie  du  Systeme  nerveux. 
PrritEs:  Revue  annucllc  de  Pathologie  uerveusc.  La  Psychastenie. 
Orasset:  La  grandeur  et  la  decadcncc  du  Neurone. 
Den'ICKER:  Revue  annuelle  d'Authropologie. 
Serieux:  Revue  annuelle  de  Pathologie  mentale. 
Simon:  Resume  clinique  de  Psychiatrie. 
Blum:  Revue  annuelle  de  Pedag.jgie  normale. 
Demoor:  Revue  annuelle  de  Pedagogie  des  auormaux. 
Malapert:  Revue  annuelle  de  Philosophie  et  de  Monlc. 
Leuna:  Revue  annucllc  de  Psychologie  religicusc.  Definition  de  cette  scienec. 
H.  de  Varigny:  Chronique  psyehologique. 
A.  BlNET:  Revue  annuelle  des'crreurs  de  Psychologie. 

ANALYSES 

Compte  rendu  analytique  et  critique  de  nenibreux  ouvrages  et  memoires  de 
Psychologie. 

TABLES  BIBL10GRAPH1QUES 

contenant  environ  3.000  numeros  d'ouvrages  sc  rapportant  a  la  Psychologie. 

UN  volumc  in-S"  15  francs. 

(Ce  journal  est  pass6  du  fondg  de  la  Librairie  Schleicher  Frercs  ü  la  Librairic 

Masson  et  Cic. 


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Inhalt  des  1.  und  2.  Heftes. 

Abhandlungen: 

HEBT,  E.,  ud<1  E.  Melmanv,  Über  einige  Grundfragen  der  Psychologie  der 
Übuugsphänonieuc  im  Bereiche  des  Gedächtnisses.  '  (Mit  einer  Figur 

im  Text)   1 

Geich:    Moritz,  Bemerkungen  zur  Psychologie  der  GefühUelementc  und 

Gefühlsverbindungen  233 

Litcraturbcxieht: 

Vicrkandt,  AM  Jahresbericht  über  die  Literatur  zur  Kultur-  und  Gesellschaft»- 

lehre  aus  dem  Jahre  1903   

Stoll,  Otto,  Suggestion  und  Hypnottsmus     der  Völkerpsychologie  (A.  Vicr- 
kandt)   

Frobeniua,  L.,  Das  Zeitalter  des  Sonnengottes.    (A.  Vierkandt)   88 

Lange,  Karl,  SiunesgcnQssc  und  Kunstgenuß.    (W.  Ncf)   29 

Lichtwark,  Alfred,  Übungen  in  der  Metrachtung  von  Kunstwerken. 

(W.  Xef)  .  .  .  .  \   31 

Kungc,  Max,  Da«  Weib  in  seiner  geschlechtlichen  Ki^enart.  (W.  Xtf)  31 
Brühl.  Marie,  Die  Natur  der  l;ra  i  und  Herr  Professor  Runge.  (W.  Srf)  32 
Elbcrskirchcu ,  Johanna,  Die  Liebe  des  dritten  Geschlechts.    (W.  Nef)  32 

Verlag  von  Wilhelm  Engelmann  in  Leipzig. 

Grundriss 

\^  der 

HEILPÄDAGOGIK 

von 

Dr.  Theodor  Heller, 

Direktor  der  heilpädagognchen  Anstalt  Wien-Grinzing. 

Mit  2  Abbildungen  auf  einer  Tafel, 
gr.  8.   1904.   Jt  8.-;  in  Leinen  geb.  Jf  9.—. 

Studien 

•  nir 

•  *"  *  *  .  i 

Blindenpsychologie 

von 

Di  Th.  Heller, 

Direktor  der  ucilpädagogitschcn  Anstalt  Wien-üriniing. 
Mit  drei  Figuren  im  Text. 
gr.  8.   1904.   .M  3.-. 
•  Druck  roa  Br«Hko»f  *  HirLl  in  Uipiig. 


Referate. 


DTheodorLipps,  Leitfaden  der  Psychologie.  IX,  349  S.  gr.  80.  Leipzig, 
Wilhelm  Engelmann,  1903.   M.  8.—  ;  geb.  M.  9.—. 

Lipps  hat  diesen  »Leitfaden  der  Psychologie«  zunächst  für  die  Hörer 
seiner  Vorlesungen  bestimmt.  Für  den  Anfänger  sind  gewisse  Abschnitte, 
die  man  unbeschadet  des  Zusammenhanges  überschlagen  kann,  mit  einem 
Sternchen  versehen. 

Der  »Leitfaden«  ist  ein  Buch  von  ganz  eigenartigem  Charakter.  Dem 
Hörer  der  Vorlesungen  des  Verf.  mag  er  nützliche  Dienste  leisten,  aber  für 
den  Anfänger  Uberhaupt  ist  er  nicht  geeignet,  und  zwar  deswegen  nicht, 
weil  er  alles  das  alß  gegeben  voraussetzt,  was  dem  Anfänger  in  allererster 
Linie  zu  wissen  not  tut:  Kenntnis  der  auf  experimenteller  Basis  zu  gewin- 
nenden Tatsachen.  Dagegen  ist  die  logische  Behandlung  eines  gewissen 
Tatsachenmaterials  so  sehr  in  den  Vordergrund  gerückt,  daß  ein  Amänger 
leicht  in  den  Glauben  kommen  kann,  es  handle  sich  für  den  Psychologen  in 
erster  Linie  um  Reflexionen  und  erst  in  letzter  Linie  um  exakte  Beobachtung 
und  Sammlung  von  Tatsachen. 

Die  eigenartige,  anf  logische  Sichtung  des  Stoffes  hinausgehende  Dar- 
stellung läßt  es  kaum  zu,  einen  kurzen  Oberblick  des  Inhaltes  zu  bieten. 
Denn  die  einzelnen  Erörterungen  und  Begriffsbestimmungen  greifen  so  sehr 
ineinander  Uber,  daß  ein  Auszug  doch  kein  richtiges  Bild  vom  Ganzen  zn 
geben  vermöchte.  Wir  beschränken  uns  deshalb  darauf,  nur  so  viel  herbei- 
zuziehen, als  zur  Charakterisierung  der  Eigenart  des  Buches  dient,  zur  Fest- 
stellung der  Vor-  und  Nachteile  des  eingeschlagenen  Verfahrens  in  der  Be- 
handlung des  psychologischen  Stoffgebietes. 

Die  Psychologie  faßt  Lipps  auf  als  »die  Lehre  von  den  Bewußtseins- 
inhalten oder  Bewußtseinserlebnissen  als  solchen«.  Die  Beschaffenheit  eines 
Bewußtseinserlebnisses  wird  schließlich  an  einem  Bild  veranschaulicht.  »Ein 
BewuBteeinserlebnis  ist  eine  Linie  mit  zwei  Endpunkten.  Der  eine  Endpunkt 
ist  der  so  oder  so  beschaffene  Inhalt,  der  andere  Endpunkt,  hesser  der  An- 
fangspunkt, ist.  das  Ich.  Die  Linie  zwischen  beiden  Punkten  ist  das  .Mein- 
sein4   Bewußtseinserlebnisse  sind  Linien,  die  von  einem  einzigen 

Punkte,  dem  Ich,  ausgehen  nnd  am  andern  Ende  einen  Inhalt  tragen«  (S.  3). 
Im  Zusammentreffen  aller  Linien  in  dem  einen  Punkte,  dem  Ich,  besteht  die 
»Einheit  des  Bewußtseins«.  Mit  Wundt  betrachtet  Lipps  die  Psychologie 
als  eine  Wissenschaft  der  unmittelbaren  Erfahrung  und  scheidet  sie  so  von 
Naturwissenschaft  und  Mathematik.  Ihre  Aufgabe  besteht  in  einer  »Analyse, 
Vergleichung,  systematischen  Ordnung  der  vorgefundenen  Inhalte  nnd  der 
Erzeugung  der  etwa  in  ihnen  unmittelbar  auffindbaren  Gesetzmäßigkeit« 

Archiv  fftr  Psychologie.   IV.  Literatur.  3 


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34 


Literaturberieht. 


(8.  5).  Man  sollte  meinen,  damit  wäre  alles  empirisch  Erreichbare  angegeben. 
Aber  es  macht  gerade  eine  der  Eigentümlichkeiten  der  in  Rede  stehenden 
Psychologie  ans,  daß  sie  noch  eine  zweite  Aufgabe  darin  erblickt,  die  vor- 
gefundenen Inhalte  in  einen  Kausalzusammenhang  einzuordnen. 
Jene  erste  Aufgabe  wird  die  phänomenologische,  oder  die  rein  beschreibende 
genannt,  diese  die  erklärende.  Da  diese  letztere  Aufgabe  den  psycholo- 
gischen Standpunkt  von  Lipps  ganz  eigenartig  beeinflußt  hat,  wollen  wir 
etwas  bei  ihr  verweilen.  Über  die  Notwendigkeit  der  »erklärenden«  Aufgabe 
der  Psychologie  äußert  sich  Lipps  S.  oft,  S.  181  ff.  und  auch  im  Schluß- 
kapitel S.  335 ff.  »Kausalität  ist  ihrer  Natur  nach  Kausalität  zwischen  objektiv 

Wirkliebem   Ein  physisches  «Erlebnis'  E  stellte  sich  ein  unter  den 

begleitenden  und  vorangehenden  Umständen  U.«  Ein  solches  Erlebnis  bleibt 
aber  an  ein  schlechthin  unabhängig  von  mir  existierend  gedachtes  U 
geknüpft  Das  heißt,  U  und  E  sind  »Gegenstand  des  Bewußtseins  der 
objektiven  Wirklichkeit«  (8.182).  Die  Notwendigkeitsbeziehung  ist  aleo  un- 
abhängig von  dem  Individuum  überhaupt  und  seinen  zeitlichen  Zuständen.  Da- 
gegen enthält  das  Bewußtsein  der  subj  ektiven  Wirklichkeit  keine  Notwendig- 
keitsbeziehung. Unsere  Bewußtseinserlebnisse  sind  vom  Individuum  abhängig 
und  von  seinen  augenblicklichen  Zuständen.  »Und  da  nun  Bewußt- 
seinserlebnisse aU  solche  aller  Ursächlichkeit  widerstreiten,  so  bedarf  es  des 
Hineindenkens  eines  Realen,  dessen  Erscheinungen  sie  sind,  und  das  kausal 
verknüpft  werden  kann«  (S.  184).  Und  weiter:  »Dabei  bleibt  doch  wiederum 
der  unmittelbar  erlebte  Zusammenhang,  soweit  nicht  auch  er  einer  Umdenkung 
bedarf,  bestehen.  Er  wird  in  das  psychisch  Reale,  da  eben  doch  auch 
dies  nur  das  umgedachte  unmittelbar  Gegebene  ist,  hineingenommen.«  Lipps 
setzt  so  eine  kausale,  unbewußte  Unterströmung,  aus  der  zuweilen  einzelne 
Wellengipfel  ins  kausallose  Bewußtseinsleben  hinaufragen.  Und  diese  Unter- 
strömung wird  deswegen  postuliert,  weil  unser  ErklUmngsbedUrfnis  sie  ver- 
lange. Wir  möchten  aber  fragen,  wsb  denn  das  psychisch  Reale  für 
die  kausale  Erklärung  psychischer  Vorgänge  positiv  leistet? 
Das  psychisch  Reale  liegt  nicht  in  unserem  Bewußtsein,  gehört  also  nicht 
in  den  Bereich  unserer  Erfahrung.  Und  was  man  davon  zu  wissen  vermeint, 
ist  doch,  wie  Lipps  selber  bemerkt,  bloß  das  umgedachte  Bewußtseins- 
leben. Also  eine  Verdoppelung,  eine  reine  Konstruktion.  Ferner:  Im  Be- 
wußtseinsleben herrscht  subjektive  Freiheit,  nicht  Notwendigkeit  Dies  ist 
aber  offenbar  der  wesentliche  Charakter  alles  Psychischen  Uberhaupt,  also  auch 
des  psychisch  Realen.  Der  ihm  angedichtete  Notwendigkeitscharakter  wider- 
spricht der  Natur  des  Psychischen,  so  wie  es  unserer  Erfahrung  gegeben  ist; 
und  was  unserer  Erfahrung  nicht  gegeben  ist  kann  nicht  zu  ihrer  Erklärung 
dienen  —  oder  dann  kann  es  alles  erklären.  Somit  nützt  das  psychisch 
Reale  der  .Psychologie  wenig.  Auf  die  vollendete  Kausalerklärung  des 
psychischen  Lebens,  die  uns  gestatten  würde,  psychische  Vorgänge  voraus 
zu  konstruieren,  müssen  wir  verzichten.  Von  den  ursächlichen  Faktoren 
eines  geistigen  Vorganges  sind  stets  nur  wenige  der  inneren  Beobachtung 
zugänglich.  Die  Natur  und  Wirksamkeit  der  übrigen  sind  der  Beobachtung 
entzogen.  Nehmen  wir  dennoch  solche  an  und  mit  dem  Anspruch,  daß  bei 
einer  vollständigen  Kenntnis  derselben  das  psychische  Geschehen  restlos 
kausal  zu  erklären  wäre,  so  folgen  wir  einem  metaphysischen  Postulat  näm- 
lich dem  der  kausalen  Bestimmtheit  des  ganzen  Weltzusanimenhanges.  Aber 
seine  Übertragung  auf  das  empirische  Gebiet  der  Psychologie  ist  bloß  die 


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Literaturbericht. 


35 


Anerkennung  der  Forderung  einer  kausalen  Erklärung,  nicht  die  aus- 
geführte Erklärung  selbst;  denn  wir  vermögen  nicht  für  alle  Glieder  der 
Kausalibnnel  bestimmte  Werte  einzusetzen.  Die  Forderung  ist  formell,  aber 
nicht  inhaltlich  erfüllt,  und  deshalb  hat  Bie  keinen  Wert  fUr  eine  wirkliche 
Erklärung.  Metaphysische  Spekulationen  sollten  Überhaupt  in  eine  Psychologie 
von  rein  empirischem  Charakter  nicht  einfließen,  aber  noch  viel  weniger  Ein- 
fluß auf  sie  gewinnen.  Diesem  Grundsatz  scheint  Lipps  nicht  gefolgt  zu 
«ein,  und  wir  gewinnen  den  Eindruck,  als  ob  die  Konstruktion  des  psychisch 
>Bealen«  weniger  dem  Bedürfnis  des  praktischen  Forschers  als  dem  des 
Metaphysiken  entsprungen  sei.  Das  »tatsächliche  Gebundensein  der  Be- 
wußtseinserlebnisse an  das  Gehirn  ist  denkbar  nur  unter  der  Voraussetzung 
des  Panpsychismus  oder  des  universellen  psychophysischen  Parallelismus 
(S.  836).«  Die  metaphysische  Annahme  eines  psychophysischen  P.  fordert 
natürlich  ein  Psychisches,  das  ebenfalls  einen  Kausalzusammenhang  dar- 
bietet Man  mag  mit  einer  solchen  Weltanschauung  sympathisieren,  aber 
der  Psychologe  sollte  sich  doch  nicht  darum  kümmern.  Das  metaphysische 
Urteil  des  Philosophen  wird  für  den  Psychologen  leicht  ein  hinderndes  Vor- 
urteil, demzufolge  die  Dinge  nicht  immer  so  gesehen  werden,  wie  sie  wirk- 
lich sind,  sondern  so,  wie  man  sie  für  gewisse  Zwecke  gern  haben  möchte. 
Zwar  bringt  Lipps  die  metaphysischen  Bemerkungen  in  einem  Schlußkapitel 
und  trennt  sie  so  räumlich  vom  psychologischen  Teile  des  Buches.  Aber  die 
räumliche  Trennung  ist  keine  inhaltliche.  Dies  beweist  die  Aufnahme  des 
psychisch  »Realen«.  Ein  vorbildliches  Muster  für  die  scharfe  Sonderung  von 
psychologischen  und  philosophischen  Problemen  hat  Wund  t  in  seiner  Psycho- 
logie gegeben,  und  wir  glauben,  daß  dies  das  einzig  richtige  Vorgehen  für 
eine  ersprießliche  Weiterentwicklung  der  Psychologie  als  Erfahrungswissen- 
schaft sei. 

Wir  nehmen  den  Faden  des  Referates  wieder  auf.  In  der  Beschreibung 
der  psychologischen  Methoden  unterscheidet  Lipps  das  rein  psychologische 
Experiment  vom  psychophysischen.  Unter  dem  letzteren  versteht  er  die  als 
Reiz-,  Ausdrucks-  und  Reaktionsmethoden  bekannten  Hilfsmittel  der  Be- 
obachtung. Während  aber  diese  Methoden  dem  Experimentalpsychologen 
unbedingt  in  erster  Linie  stehen,  gewinnt  für  Lipps  das  »rem  psycholo- 
gische« Experiment  einen  dominierenden  Wert  Worin  besteht  nun  dasselbe? 
»Ich  realisiere  in  mir  gewisse  Gedanken  oder  Vorstellungsbedingungen  und 
überzeuge  mich  davon,  was  daraus  folgt.  Die  Möglichkeit  solchen  Experi- 
mentierens gibt  der  psychologischen  vor  jeder  sonstigen  Beobachtung  einen 
spezifischen  Vorzug«  (S.  13).  Gegen  den  Vorwurf,  daß  die  Erinnerung  wegen 
der  gesetzmäßigen  Täuschungen,  denen  sie  ausgesetzt  ist,  ein  unzweckmäßiges 
Forschungsmittel  sei,  bemerkt  Lipps:  »Was  einmal  erlebt  wurde,  ist  eine 
fertige  Tatsache,  die  der  Erinnerung  ebenso  standhält,  wie  physikalische  Tat- 
sachen, die  jetzt  eben  beobachtet  wurden.«  Insofern  die  Erinnerung  sich  auf 
soeben  stattgehabte  Erlebnisse  bezieht,  ist  gegen  ihre  Benutzung  nichts 
einzuwenden ;  denn  in  dieser  Form  wird  sie  ja  gerade  bei  den  vorhin  »psycho- 
physisch«  genannten  Methoden  verwendet.  Die  Anwendung  des  Experimentes 
in  der  Psychologie  verfolgt  gerade  den  Zweck,  die  Erinnerung  als  unmittel- 
bare zu  einem  brauchbaren  Forschungsmittel  zu  machen.  Wo  dies  nicht 
möglich  ist,  da  können  Erinnerungen  an  längst  vergangene  Erlebnisse  nie 
und  nimmer  zuverlässige  Resultate  liefern.  So  weit  sind  wir  wohl  mit  Lipps 
einverstanden.   Aber  etwaB  ganz  anderes  als  die  Erinnerung  an 

3* 


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36 


Literaturbericht. 


ein  soeben  stattgehabtes  Erlebnis  ist  die  willkürliche  Er- 
zeugung eines  psychischen  Vorganges  aus  Erinnerungsele- 
menten. Wenn  Lipps  sagt:  »Ich  realisiere  in  mir  gewisse  Gedanken  oder 
Vorstellungsbedingtinge ii  und  Uberzeuge  mich  davon,  was  daraus  folgt«,  so 
ist  das  ein  Experiment,  wodurch  nicht  eigentlich  das  Wesen  des 
Psychischen,  sondern  das  Wesen  des  Logischen  untersucht  wird. 
So  ist  beispielsweise  jeder  Schluß  nichts  anderes  als  die  Folge  gewisser  rea- 
lisierter Vorstellungsbedingungen,  die  in  den  Prämissen  enthalten  sind.  Von 
diesen,  und  nur  von  diesen  Vorstellungsbedingungen  ist  die  Folgerung  ab- 
hängig. Das  ist  .die  log  iß  che  Notwendigkeit,  die  sich  gerade  deswegen 
kontrollieren  läßt,  weil  wir  die  Bedingungen  derselben  Ubersehen.  In  einem 
psychischen  Vorgang  dagegen  wirkt  außer  solchen  sicher  angebbaren  Vor- 
stellungsbedingungen  noch  die  ganze  veränderliche  Konstellation  des  Be- 
wußtseins mit,  die  unserer  Beobachtung  nicht  vollständig  zugänglich  ist. 
Übersieht  man  dies,  so  läuft  man  eben  Gefahr,  ein  logisches  Schema,  eine 
reine  Konstruktion  für  einen  realen  psychischen  Vorgang  anzusehen.  Die 
Gefährlichkeit  solchen  > Experimentierens«  beweisen  alle  spekulativen  Psycho- 
logen. Der  einzige  Gewinn,  der  aus  einer  solchen  rein  »psychologischen« 
Methode  für  den  erwächst,  der  sie  praktiziert,  besteht  darin,  daß  er  sich 
eine  gewisse  Originalität  sichert.  Beseitigung  des  Originalitätsbestrebens 
ist  aber  nicht  der  unbedeutendste  Erfolg  gerade  der»  experimentellen 
Methoden. 

Unter  der  Bezeichnung  »komparative  Psychologie«  versteht  Lipps  weiter 
die  Psychologie  »der  auf  niedrigerer  Kulturstufe  Stehenden« :  die  Psychologie 
des  Kindes  und  die  des  Tieres  und  ferner  die  Völkerpsychologie  sowie  die 
Psychologie  der  abnormen  Erscheinungen. 

Als  allgemeinste  Gattungen  von  Bewußtseinsinhalten  werden  Empfin- 
dungen und  Gefühle  unterschieden.  Dabei  werden  die  Empfindungs-  und  Vor- 
stellungsinhalte  scharf  von  den  Empfindungen  und  Vorstellungen  geschieden. 
»Der  empfundene  Ton  ist  ein  Empfindungsinhalt.  Die  Empfindung  des  Tones 

ist  die  unmittelbar  erlebte  Beziehung  zwischen  mir  und  dem 

Ton«  (S.  16).  Eine  solche  Unterscheidung  anerkennen  wir,  aber  bloß  als 
logische,  nicht  als  psychologische.  Das  psychisch  Ungeschiedene  mag  wohl 
logisch  zerlegt  werden,  aber  die  logische  Zerlegung  ist  keine  psychische 
Unterschiedenheit 

Während  die  Empfindungsinbalte  absolut  »gegenständliche«  Inhalte  sind, 
haben  die  Gefühle  die  Bedeutung  unmittelbar  erlebter  »Qualitäten  oder  Be- 
stimmtheiten des  Ich«.  Demnach  ist  jedes  Gefühl  ein  Ichgefübl.  Die  Emprin- 
dungeinhalte  und  Gefühle  unterscheiden  sich  oft  auch  dadurch,  daß  manche 
Empfindungsinhalte  räumlich  ausgedehnt  sind,  »das  Ich  dagegen  wird  erlebt 
als  schlechthin  räum-  und  ortlos«. 

Dann  gibt  es  aber  noch  andere  Bewußtseinsinhalte.    »Zwischen  das  Ich 

und  das  absolut  Gegenständliche  treten  in  die  Mitte  die  unmittelbar 

erlebten  Beziehungen  meiner  auf  Gegenständliches,  alle  Ichbeziehungen.« 

Lipps  nennt  sie  auch  Relationen.  »Diese  Beziehungen  sollten  weder  als  Ge- 
fühl noch  als  empfunden  bezeichnet  werden.  Sie  sind  einfach  .erlebt'.«  Auch 
hier  will  es  uns  scheinen,  als  ob  Produkte  logischer  Reflexion  zu  psychischen 
Tatsachen  hypostasiert  werden. 

Die  einzelnen  Sinnesgebiete  werden  —  ein  bemerkenswerter  Gegensatz  zu 
andern  Kompendien  der  Psychologie  —  möglichst  kurz  abgetan  (S.  24—33). 


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Literaturbericht. 


37 


Dafür  widmet  Lipps  den  komplexen  Erscheinungen  des  Seelenlebens  erhöhte 
Aufmerksamkeit  Es  werden  ausfuhrlich  erörtert:  Aufmerksamkeit  und  Be- 
wußtsein, Assoziation  und  Gedächtnis,  die  Apperzeption  fS.  63—124),  die  Er- 
kenntnis (mit  einem  Abriß  der  Logik),  der  Wille,  die  Gefühle  und  schließlich 
noch :  besondere  psychische  Zustände.  Dabei  entwickelt  der  Verf.  einen  um- 
fassenden Begriffsapparat  mit  peinlich  genau  ausgeführten  Distinktionen  und 
Definitionen.  Eine  allseitige  logische  Verarbeitung  gegebenen  Materials  ist 
nach  unserer  Meinung  die  Hauptleistung  des  Buches.  Man  darf  daher  durch 
das  Studium  desselben  nicht  eine  Mehrung  psychologischen  Wissens  oder 
Anregung  zur  Ausführung  psychologischer  Experimente  erwarten.  Dessen- 
ungeachtet ist  in  einer  Zeit,  wo  die  experimentell  gewonnenen  Tatsachen 
ins  Unübersehbare  sich  häufen,  das  Bedürfnis  nach  logischer  Sichtung  nnd 
Ordnung  des  Materials  groß  genug,  um  auch  eine  Arbeit  wertvoll  erscheinen 
zu  lassen,  die  diesem  Bedürfnis  entspricht  Die  gründliche  logische  Verar- 
beitung des  Stoffes  läßt  zuweilen  interessante  neue  Synthesen  er- 
scheinen, wodurch  Tatsachen,  die  bisher  verschiedenen  Regionen  unseres 
Wissens  angehörten,  in  Uberraschende  Beziehung  zueinander  gebracht  werden 
und  so  neue  Gesichtspunkte  der  Betrachtung  erschließen.  So  stellt 
Lipps  z.B.  das  Gesetz  auf:  Teile  eines  Ganzen  verlieren  im  Ganzen  nach 
Maßgabe  der  Innigkeit  der  Einheitsbeziehung  und  des  Umfanges  des  Ganzen 
ihre  Selbständigkeit  (S.  74).  Unter  dieses  Gesetz  kann  nun  das  Web  er- 
sehe subsumiert  werden  als  ein  »Gesetz  der  Relativität  der  psychischen  Quan- 
tität: Wachstum  eines  Ganzen  um  gleiche  Teile  ist  ein  um  so  geringeres 
Wachstum  der  psychischen  Quantität  des  Ganzen,  je  größer  dies  Ganze  ist«. 
Und  weiter  (S.  77  ff.)  werden  dann  eine  Reihe  einzelner  Fälle  erwähnt  die  in 
jenem  allgemeinen  Satz  synthetisch  zusammengefaßt  erscheinen.  >In  diesen 
Zusammenhang  gehören  im  übrigen  vielfache,  zum  Teil  scheinbar  weit  von- 
einander abliegende  Tatsachen.  Ein  Objekt  unter  vielen  gleichen  ist  mir 
relativ  bedeutungs-  oder  eindruckslos.  Im  Vergleich  damit  hat  dasjenige, 
was  einzig  in  seiner  Art  ist  d&*  Unikum  oder  das  Seltene,  das  Außerordent- 
liche, kurz  das,  was  mir  nicht  als  eines  unter  vielen  erscheint,  erhöhte  Ein- 
drucksfähigkeit Wir  reden  von  einem  Seltenheits-  und  können  reden 
von  einem  Einzigkeitswert  Oder:  In  einem  räumlich  begrenzten  Objekt, 
einer  gleichgeiärbten  Fläche  etwa,  , verlieren'  sich  die  inneren  Teile  nach 
allen  Seiten  hin  im  Ganzen.  Dagegen  können  die  Grenzteile,  die  an  eine 
von  ihnen  verschiedene  Umgebung  stoßen,  in  dieser  Richtung  nicht  in 
gleichem  Grade  sich  ,verlieren4.  Daher  die  Grenzteile  für  uns  ein  beson- 
deres Gewicht  einen  besonderen  ,Ton'  oder  Nachdruck  haben.  Dem  ent- 
spricht in  einer  Reihe  sich  folgender  gleichartiger  Objekte  die  besondere 
Eindrucksfähigkeit  des  ersten  und  letzten  Elementes.  Es  besteht  hier  eine 
Tendenz  der  Initial-  und  Finalbetonung.  Diese  hat  u.  a.  unmittelbare  Be- 
deutung für  das  Gedächtnis.  Das  erste  und  das  letzte  in  einer  Reihe  von 
Objekten,  die  nebeneinander  oder  nacheinander  vorgezeigt  werden,  Anfang 
nnd  Ende  eines  Gedichtes,  einer  Erzählung  usw.,  prägen  sich  besonders  sicher 
ein.  Ein  besonderer  Fall  jener  Tendenz  ist  die  Tendenz  der  Betonung  des 
ersten  und  letzten  Elementes  einer  einfachen  Verbindung  von  Taktschlägen 
oder  Silben,  woraus  die  einfachen  rhythmischen  Einheiten,  die  Trochäen, 
Jamben,  Daktylen,  Anapäste  usw.  hervorgehen.  Darauf  kommen  wir  zurück. 
Damit  gleichartig  ist  das  besondere  Gewicht  der  Priorität,  d.  h.  die  be- 
sondere Bedeutung,  die  für  uns  derjenige  hat,  der  eine  Leistung  zuerst 


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38 


Literaturbericht. 


rollbracht,  z.  B.  eine  Entdeckung  zuerst  gemacht,  einen  Gedanken  zuerst  aus- 
gesprochen hat;  auch  die  besondere  Bedeutung  eines  Geschlechtes  Auch 
hier  tritt  der  initialen  Betonung  eine  finale  Betonung  gegenüber.  Auch  der 
Letzte  eines  Geschlechtes,  oder  derjenige,  der  eine  Leistung;  zum  letzten  Male 
vollbracht  hat,  steht  uns  besonders  eindrucksvoll  vor  Augen.  Endlich  und 
vor  allem  gehört  in  diesen  Zusammenhang  die  .Abstumpfung'  oder  ,Er- 
mUdnng*  auf  Grund  der  Gewohnheit  oder  des  häufigen  Erlebens  eines  Gegen- 
standes oder  einer  Tatsache.  Diese  Abstumpfung  ist  nichts  anderes  als  jenes 
Sichverlieren  oder  jene  Einbuße  an  Eindrucksfähigkeit  die  jedem  Tel  eines 
Ganzen  im  Ganzen  widerfährt.  Das  ,Gewohnte'  erleidet  diese  Einbuße  nicht 
überhaupt,  sondern  innerhalb  des  Zusammenbanges,  in  dem  es  uns  Öfter  be- 
gegnet ist,  in  den  es  also  innig  sich  hat  verweben  können.  Das  Gewohnte 
bleibt  eindrucksvoll,  vielmehr  es  ist  vermöge  seiner  »dispositionellen  Ener- 
gie' eindrucksvoller,  als  wenn  es  kein  Gewohntes  wäre,  wenn  es  uns  in  un- 
gewohntem Zusammenhange  begegnet  Die  Brille  vor  den  Augen  des  Ge- 
lehrten fallt  uns  nicht  auf.  Die  Brille  vor  den  Augen  eines  Tieres  würde 
uns  in  höchstem  Maße  auffallen.  Der  Grund  liegt  in  der  Vereinheitlichung: 
Was  öfter  in  einem  Zusammenhang  uns  begegnet,  hat  sich  mit  diesem  Zu- 
sammenhang immer  inniger  vereinheitlicht;  es  , verliert'  sich  also  immer  mehr 
darin.  Was  zunächst  in  einem  bestimmten  Zusammenhang  ein  «Gewohntes* 
geworden,  d.  h.  seiner  Eindrucksfähigkeit  verlustig  gegangen  ist,  kann  dann 
weiterhin  auch  in  andern  nnd  zuletzt  in  allen  möglichen  Zusammenhängen 
eindruckslos  werden.  Die  Bedingung  ist,  daß  es  auch  in  diesen  andern  Zu- 
sammenhängen immer  wieder  uns  begegnet  ist  Dabei  ist  aber  zu  bedenken, 
daß  es  einen  Zusammenhang  gibt,  in  welchen  alle  unsere  Erlebnisse  ein- 
treten, nämlioh  den  Zusammenhang  mit  den  Körperempfindungen,  die  uns  in 
jedem  Augenblick  unseres  Lebens  zuteil  werden,  und  mit  der  uns  individuell 
eigentümlichen,  überall  wiederkehrenden  Weise  des  Vorstellens,  Denkens. 
Verhaltens.« 

Wir  enthalten  uns,  weiter  auf  den  Inhalt  des  Buches  einzugehen,  nach- 
dem seine  Eigenart  bisher  deutlich  zum  Ausdruck  gekommen  ist.  Es  sei 
nochmals  wiederholt,  die  Schwächen  des  Buches  scheinen  uns  darin  zu  liegen, 
daß  metaphysische  Spekulationen  auf  die  vermeintlich  empirische  Wissenschaft 
Einfluß  gewinnen,  und  daß  ferner  Produkte  logischer  Reflexionen  allzu  leicht  zu 
psychischen  Tatsachen  gestempelt  werden.  Wertvoll  dagegen  sind  manche 
allgemeine  Sätze,  die  durch  Synthese  mannigfacher  Tatsachen  neue  Gesichts- 
punkte darbieten.  Dr.  0.  Messmer  (Rorschach). 


2;  Friedrich  Jodl,  Lehrbach  der  Psychologie.  Zweite  Auflage  in  zwei 
Bänden.  XX,  436  u.  X,  448  S.  gr.  8».  Stuttgart,  J.  G.  Cotta 
Nachfolger,  1903.   M.  14.— ;  geb.  M.  18.—. 

Die  erste  Auflage  von  Jodls  Psychologie  erschien  1896  in  einem  Bande. 
Die  Vorzüge  des  Werkes  waren  schon  damals:  die  Berücksichtigung  einer 
umfangreichen  Literatur,  auch  derjenigen  zur  Psychologie  des  Auslandes, 
große  Klarheit  und  Eleganz  der  Darstellung,  zahlreiche  Seitenblicke  auf  An- 
wendungsgebiete der  Psychologie,  insbesondere  auf  die  Ethik  und  Ästhetik. 
Die  gegenwärtig  vorliegende  zweite  Auflage  ist  nach  allen  diesen  Richtungen 


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Literaturbericht. 


hin  bereichert  worden,  die  Disposition  des  Werkes  and  der  Standpunkt  des 
Verf.  lind  dagegen  gleich  geblieben.  »Die  erhebliche  Vermehrung  des  Um- 
fängst —  so  sagt  der  Verf.  selbst  —  »ist  nicht  durch  eine  Erweiterung  des 
Planes  bedingt,  sondern  lediglich  durch  vielfache  Aufnahme  neuen  Stoffes 
zur  Verdeutlichung  und  genaueren  Ausführung  des  Gegebenen  erwachsen 
(die  Auflage  ist  etwa  um  10  Druckbogen  vermehrt).  In  den  Literaturangaben 
ist  hier  und  da  gestrichen  worden,  ihre  Vermehrung  ist  eine  beträchtliche, 
es  sind  etwa  500  Nummern  gegen  die  erste  Auflage  hinzugekommen.  Jodls 
Psychologie  ist  in  der  ersten  Auflage  so  vielfach  rezensiert  worden,  daß  es 
überflüssig  sein  dürfte,  in  einer  Fachzeitschrift  noch  einmal  auf  ihre  mannig- 
fachen Vorzüge  und  Eigentümlichkeiten  zurückzukommen.  Es  sei  hier  nur 
bemerkt,  daß  merkwürdigerweise  bei  dem  Kapitel  > Raumsinn  des  Ohrs« 
noch  immer  eine  Berücksichtigung  der  aasgezeichneten  Arbeit  von  Bloch 
fehlt  Bloch,  Das  binaorale  Hören,  Zeitschr.  f.  Ohrenheilkunde  von  Knapp 
and  Moos,  XXIV.  1893),  während  die  minderwertige  Untersuchung  von 
MUnsterberg  Uber  das  gleiche  Thema  angeführt  wird.  Der  Standpunkt 
Jodls  bleibt  auch  in  der  gegenwärtigen  Auflage  im  ganzen  ein  vermittelnder, 
vermittelnd  zwischen  mancherlei  gegensätzlichen  Lösungen  psychologischer 
Einzelfragen  und  zwischen  den  methodischen  Gegensätzen  der  heutigen  Psy- 
chologie; der  Verf.  steht  selbst  wesentlich  auf  dem  Standpunkte  der  Psycho- 
logie der  Selbstwahrnehmung,  zieht  aber  auch  die  experimentell-psychologi- 
schen Ergebnisse  in  umfassendem  Maße  heran. 

E.  Meumann  (Zürich. 


3)  Dr.  W.  Heinrich,  Die  Aufmerksamkeit  und  die  Funktion  der  Sinnes- 
organe. Ztschr.  f.  Psych,  u- Phys.  d.  Sinnesorg.  1896.  9.  S.  342— 388 
11.  S.  408-430. 

Die  Untersuchung  bezieht  sich  auf  die  Tätigkeit  der  Sinnesorgane  bei 
der  Aufmerksamkeit  Es  galt  daher  zuerst  den  Akkommodationsznstand  des 
Auges,  speziell  die  Änderungen  der  Pupille  und  der  Linse  bei  den  Ände- 
rungen der  Aufmerksamkeit  zu  studieren.  Die  Untersuchung  umfaßte  Fest- 
stellung der  Größe  der  Pupille  mit  Hilfe  des  Ophthalmometers,  das  hinter 
dem  Perimeter  so  angebracht  wurde,  daß  seine  Achse  mit  der  Sehachse  zu- 
sammenfiel, und  zwar  beim  zentralen  Fixieren,  beim  seitlichen  Sehen  und  beim 
Rechnen. 

Die  Untersuchungen  führen  zu  folgenden  Resultaten: 

Wenn  nicht  der  zentral  gesehene  Punkt  fixiert,  sondern  die  Aufmerk- 
samkeit einem  seitlich  gelegenen  zugewendet  wird,  so  ändert  sich  der  Ak- 
kommodationszustand  des  Auges,  trotzdem  der  Abstand  der  angeschauten 
Objekte  derselbe  bleibt  wie  der  der  zentral  gesehenen.  Die  Änderung  offen- 
bart sich  in  der  Vergrößerung  der  Pupille  und  in  der  Abflachung  der  Linse. 
Das  Auge  besitzt  daher  die  Fähigkeit,  auf  Entfernungen  paraxial  liegender 
Objekte  zu  akkommodieren,  wenn  auch  die  Akkommodation  keine  genaue,  son- 
dern mit  von  der  Lage  des  axialen  Fixierzeichens  abhängig  ist.  Die  par- 
axiale  Akkommodation  hat  zur  Folge  das  Zusammenfallen  der  ersten,  auf  die 
Einfallebene  senkrechten  Brennlinie  mit  der  Retina;  dabei  ist  die  Akkom- 
modationsbreite geringer  als  die  axiale  ond  nimmt  mit  der  Krümmung  der 


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40  Literaturbericht. 

Linse  anfangs  ab,  and  dann  nimmt  sie  von  einem  gewissen  Winkel  an,  anter 
welchem  das  Licht  einfällt  (40°— 60°)  zu;  die  Brennlinien  nehmen  mit  dem 
Einfallswinkel  und  mit  der  Zunahme  der  Krümmungsradien  der  Linse  an 
Größe  zu,  was  mit  dem  Einfallswinkel  abnehmende  Sehschärfe  bedingt,  und 
der  Winkel,  unter  welchem  die  gebrochenen  Strahlen  konvergieren,  nimmt 
mit  dem  zunehmenden  Radius  der  Linse  ab,  wodurch  bei  nicht  ganz  voll- 
kommener Akkommodation  die  ZerstreuungseUipsen  verkleinert  werden.  Wird 
die  Aufmerksamkeit  nichtoptischen  Eindrücken  zugewendet,  so  wird  das 
Auge  akkommodationslos,  es  kann  sogar  eine  noch  größere  Öffnung  der  Pu- 
pille und  Abflachung  der  Linse  eintreten,  wie  bei  der  Anschauung  der  Ob- 
jekte im  peripheren  Teile  des  Gesichtsfeldes;  dabei  ändert  sich  die  Konver- 
genz der  Augenachsen,  die  sich  der  Parallelstellung  nähern.  Es  läßt  sich 
noch  die  auffallende  Beobachtung  bei  der  Messung  der  PupUlenöffimng 
machen,  daß  sich  die  Pupille  nie  in  Ruhe  befindet,  sondern  ihre  Größe  be- 
ständig ändert.  Die  Ursache  dieser  kleinen  Schwankungen  ist  durch  die 
kleinen  Schwankungen  in  der  Krümmung  der  Linse  bedingt.  Diese  Beob- 
achtung wird  zu  der  Abspannung  der  Akkommodation  zu  rechnen  sein, 
welche  eintritt,  wenn  die  Aufmerksamkeit  anderswo  abgewendet  wird. 

F.  Biske  (Zürich). 


4)  Alfred  Binet,  Attention  et  adaptation.    LAnnee  psychologique.  VI. 
1900.   S.  248  ff. 

Der  Verf.  stellte  sich  die  Aufgabe,  nicht  eine  allgemeine  Theorie  der 
Aufmerksamkeit  zu  geben,  sondern  die  individualpsychologische  Frage  zu 
beantworten:  wie  können  wir  wissen,  ob  eine  Person  eine  Btarke  oder  schwache 
Aufmerksamkeit  bat?  Seine  Absicht  ging  also  vornehmlich  darauf,  Methoden 
zur  Messung  individueller  Aufmerksamkeitsleistungen  zu  finden.  Zu  diesem 
Zwecke  wurden  11  Kinder  einer  ecole  primaire  clcmentaire  in  Paris  unge- 
fähr zwei  Monate  lang  daraufhin  geprüft,  welche  Kraft  ihre  willkürliche  Auf- 
merksamkeit besitze ;  unter  diesen  waren  6  sehr  intelligente  und  6,  von  denen 
man  sicher  sagen  konnte,  daß  sie  unintelligent  seien.  Die  beiden  Gruppen 
wurden  beständig  miteinander  verglichen,  es  sollten  also  zugleich  die 
Beziehungen  zwischen  Aufmerksamkeit  und  Intelligenz  ge- 
prüft werden,  und  die  Aufmerksamkcitsprüfungen  galten  als  ein  Mittel 
der  Intelligenzprüfung.  Absichtlich  hatte  der  Verf.  die  Kinder  von  dem 
Lehrer  nicht  nach  dem  Gesichtspunkt  ihrer  verschiedenen  Aufmerksamkeits- 
leistungen auswählen  lassen,  weil  er  diesen  für  einen  unbestimmteren  und 
variableren  hielt  als  den  des  Unterschiedes  ihrer  Intelligenz;  ebenso  wurde 
nicht  nach  dem  Fleiß  oder  der  Arbeitslust  gefragt,  sondern  nach  der  »natür- 
lichen Intelligenz«.  Das  Alter  der  Schüler  variierte  zwischen  9»/s  und  13  Jah- 
ren, die  meisten  waren  11  Jahre.  Der  Verf.  teilt  eine  eingehende  allgemeine 
Charakteristik  der  Schüler  mit,  die  nach  seinen  Angaben  von  dem  Klassen- 
lehrer entworfen  wurde.  Alle  Prüfungen  waren  individuelle,  am  einzelnen 
Schüler  vorgenommen,  zur  gleichen  Tageszeit  (2—4  Uhr  nachmittags).  Alle 
Prüfungen  galten  der  willkürlichen  Aufmerksamkeit,  die  Prüfungsmittel 
wurden  so  gewählt,  daß  sie  für  die  Aufmerksamkeit  schwierige  Leistungen 
enthielten,  dagegen  keine  große  Leistung  des  Verständnisses  erforderten. 


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Literaturbericht.. 


41 


Daß  nun  der  Verf.  dieses  erste  Problem  mit  dem  zweiten,  der  Adap- 
tation, kombinierte,  hatte  darin  seinen  Grund,  daß  die  ersten  Intelligenz- 
prttfungen  stets  eine  größere  Differenz  der  Begabungen  zu  ver- 
raten schienen  als  spätere  Wiederholungen  oder  längere  Fortsetzung  desselben 
Prüfungsverfahrens.  Das  Resultat  leitet  B inet  von  der  verschieden  schnellen 
Anpassungsfähigkeit  der  Schüler  her.  Der  intelligente  Schüler  hat  bessere 
and  schnellere  Adaptation  an  eine  gegebene  Aufgabe,  der 
weniger  intelligente  aber  kommt  ihm  bei  wiederholtem  Arbeiten  an 
Adaptation  gleich  und  leistet  dann  oft  ebensoviel  wie  der  erstere. 

Es  ist  nun  von  großem  Interesse,  dem  ganzen  Verfahren  Binets  nach- 
zugehen. Dasselbe  erscheint  als  ein  suchendes,  tastendes,  und  es  ist  beson- 
dere wertvoll,  daß  Binet  auch  die  weniger  erfolgreichen  Intelligenzprlifungen 
in  aller  Ausführlichkeit  mitteilt,  um  so  mehr  können  andere  Experimentatoren 
von  seinem  Vorgehen  profitieren.  Zuerst  wurde  die  sensibilite  tactile  ge- 
prüft; verwendet  wird  die  Web  ersehe  Zweispitzenmethode,  mit  der  äußer- 
lichen Modifikation,  daß  nicht  der  Tasterzirkel,  sondern  Kartons  mit  ent- 
sprechenden ausgeschnittenen  Spitzen  verwendet  wurden,  Der  Verf.  schreibt 
dies  Verfahren  irrtümlich  Herrn  V.  Henri  zu  —  ich  habe  es  schon  vor  zehn 
.Jahren  in  Leipzig  verwendet.  Resultat:  die  Leistungen  der  Gruppe  der  in- 
telligenten Kinder  sind  hierbei  beträchtlich  bessere  als  die  der  Nichtintelli- 
genten, jene  haben  annähernd  doppelt  so  viel  richtige  Urteile,  dagegen  unter- 
scheiden sich  beide  Gruppen  nicht  in  dem  Gange  des  Urteils  für  die  größeren 
Werte  (3  und  4  cm).  Binet  meint  infolgedessen:  >man  muß  also,  um  die 
beiden  Gruppen  unterscheiden  zu  können,  ihnen  eine  Arbeit  von  einer  ge- 
wissen Schwierigkeit  aufgeben« .  Worin  beßteht  nun  die  Überlegenheit  der 
Intelligenten?  In  der  größeren  Feinheit  des  Hautsinns,  oder  in  der  besseren 
Aufmerksamkeit,  oder  der  schärferen  Interpretation  der  Sinneseindrücke ? 
Verf.  gibt  an  dieser  Stelle  noch  keine  Antwort,  sie  lautet  später  zugunsten 
der  Aufmerksamkeit.  Der  nächste  Versuch  kontrollierte  den  vorigen  durch 
Einschieben  von  Vexierversuchen  —  das  Hauptresultat  bleibt  dasselbe  wie 
vorher.  Der  dritte  Versuch  wiederholt  den  zweiten  nach  einer  Pause  von 
14  Tagen.  Auch  jetzt  besteht  noch  der  Unterschied  in  den  Leistungen  der 
beiden  Kindergruppen,  allein  die  Leistungen  der  Unintelligenten  haben  so 
zugenommen,  daß  sie  den  Intelligenten  sehr  nahe  kommen,  überhaupt  haben 
alle  Vp.  bei  den  beiden  Wiederholungen  ihre  Leistungen  verbessert,  die  Un- 
intelligenten aber  weit  mehr  als  die  Intelligenten;  von  den  drei  oben  als 
möglich  hingestellten  Deutungen  zur  Beantwortung  der  Frage,  worin  dieser 
Fortschritt  besteht,  erklärt  Binet  die  Deutung  als  Aufmerksamkeitsfort- 
schritt für  unwahrscheinlich,  weil  die  Aufmerksamkeit  der  Kinder  gerade 
bei  den  ersten  Versuchen  am  lebhaftesten  sei.  Es  ist  jedoch  klar,  daß  der 
Verf.  hier  die  Übungseffekte  und  die  Intelligenzleistungen  nicht  genug  aus- 
einanderhält. Sodann  wurden  die  Reaktionszeiten  beider  Kindergruppen 
gemessen.  Buccola  hatte  behauptet,  die  Reaktionszeiten  seien  geradezu 
ein  Dynamometer  der  Aufmerksamkeit,  wie  könnte  man  sie  also  bei  einer 
speziellen  Prüfung  der  Aufmerksamkeit  umgehen?  Binet  nahm  also  26  ein- 
fache nnd  25  Wahlreaktionen  von  jedem  Schüler  auf  (Schallreaktionen  .  Die 
einzelnen  Reaktionen  wurden  nicht  durch  ein  Signal  angekündigt,  weil  der 
Verf.  der  Ansicht  war,  daß  Unterschiede  in  der  Leistungsfähigkeit  der  Auf- 
merksamkeit auf  diese  Weise  besser  hervortreten  würden.  Ähnlich  wie  früher 
Patrizi  fand  Binet,  daß  die  Reaktionszeiten  anfangs  lang  waren,  sich 


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42 


Litoraturbericht. 


dann  verkürzten,  dann  wieder  länger  wurden.  Bei  den  einfachen  Reaktionen 
fand  sich  in  den  Zeiten  kein  deutlicher  Unterschied  zwischen  Intelligenten 
nnd  Nichtintelligenten,  bei  den  Wahlreaktionen  (bei  denen  auf  einen  von 
zwei  verschiedenen  Gehörsreizen  reagiert  wurde,  auf  den  andern  nicht)  trat 
ebenfalls  kein  charakteristischer  Unterschied  in  den  Zeiten  hervor,  wohl 
aber  in  gewissen  Nebenumständen,  z.  B.  darin,  daß  die  Fehlreaktionen  bei 
den  Unintelligenten  länger  dauerten.  Es  wurde  nun  ein  (schwierigerer}  Ver- 
such mit  drei  Signalen  ausgeführt,  hierbei  werden  die  Unterschiede  zwischen 
beiden  Gruppen  schon  fast  ganz  verwischt,  weil  die  unintelligenten  Kinder 
sich  dem  Versuch  mehr  angepaßt  haben.  Wir  werden  nun  sehen,  daß  diese 
Erscheinung  in  nahezu  allen  weiteren  Experimenten  Binets  hervortritt;  sooft 
ein  Versuch  wiederholt  oder  längere  Zeit  fortgesetzt  wird,  in  dem  anfangs  die 
minderbegabten  Kinder  weniger  leisteten,  kommen  diese  allmählich  den  be- 
gabten bei,  und  es  verwischen  sich  die  charakteristischen  Merkmale  der 
Minderbegabung.  Deutet  man  diese  Erscheinung  mit  Binet  als  Adaptations- 
phänomen,  so  ist  in  der  Tat  in  der  schnelleren  Adaptation  das 
eigentliche  Merkmal  der  Intelligenz  zu  suchen. 

Von  den  weiteren  Intelligenzprtifungen  Binets  sollen  nun  nur  noch 
die  erfolgreichen  genauer  hehandelt  werden.  Die  nächste  Versuchsgruppe 
besteht  in  dem  Zählen  von  Punkten.  Zuerst  sollten  acht  Reihen  von  kleinen, 
mit  Tinte  auf  Papier  dicht  nebeneinander  gezeichneten  Punkten  gezählt 
werden,  ohne  Unterstützung  durch  Zeigen  mit  dem  Finger  oder  Bleistift. 
Es  ergibt  sich  ein  deutlicher  Unterschied  zugunsten  der  intelligenten  Kinder. 
Bei  einer  Modifikation  des  Versuchs:  Zählen  mehrerer  Punktlinien  (mit  Zeit- 
messung dnrch  den  Experimentator)  ergibt  sich,  daß  die  Anzahl  der  Fehler 
bei  beiden  Gruppen  von  Kindern  fast  gleich  ist,  aber  die  Grüße  der  Fehler 
ist  geringer  bei  den  Unintelligenten.  Nunmehr  wurde  die  Aufgabe  er- 
schwert, indem  unregelmäßig  zerstreute  Gruppen  von  Punkten  zu  zählen 
waren;  hierbei  tritt  wieder  die  Überlegenheit  der  Intelligenten  hervor.  Bei 
einer  Wiederholung  deB  Versuchs  nähern  sich  wiederum  die  Unintelligenten 
den  übrigen  Kindern  sehr  an.  [Diesen  test  hält  Binet  für  sehr  brauchbar.1 
Beide  Erscheinungen  sind  charakteristisch,  das  Adaptieren  der  Minder- 
begabten ebenso  wie  das  deutlichere  Hervortreten  der  Begabungsunterschiede 
bei  jeder  Komplizierung  der  Leistung  —  wir  werden  sehen,  daß  gerade  das 
letztere  Faktum  für  die  Deutung  der  Ergebnisse  von  Wichtigkeit  ist. 

Eine  vierte  Gruppe  von  Versuchen  bezieht  sich  auf  das  Auffassen 
von  Reizveränderungen.  Hierzu  verwendet  Binet  ein  von  ihm  in  sehr 
sinnreicher  Weise  verbessertes  Metronom,  das  er  als  den  »batteur«  bezeichnet 
Es  besitzt  ein  Zählwerk,  man  kann  während  des  Ganges  die  Geschwindig- 
keit verändern,  und  das  Pendel  hält  automatisch  an  nach  einer  Zahl  von 
Schlägen,  die  vorher  festgestellt  werden  kann.  Erster  Versuch:  Bemerken 
die  beiden  Gruppen  von  Kindern  eine  geringe  Veränderung  in  der  Geschwin- 
digkeit der  Sukzession  der  Schläge  in  gleich  feiner  Weise?  Der  Versuch  wurde 
lOmal  wiederholt,  die  Geschwindigkeiten  der  Schläge  wechselten  von  0,196 
bis  0,226  Sek.  Resultat:  es  zeigt  sich  kein  wesentlicher  Unterschied  zwi- 
schen beiden  Gruppen.  Derselbe  Versuch  wurde  zu  einer  Suggestion  der 
Geschwindigkeitsveränderung  benutzt.  Resultat:  es  zeigt  sich  keine  ent- 
schiedene Differenz  zwischen  der  Suggestibilität  der  Intelligenten  und  Nicht- 
intelligenten. 

Die  nächste  Versuchsreihe  verwendet  das  Zählen  von  Metrono m- 


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Literaturbericht. 


43 


schlügen  bei  verschiedener  Geschwindigkeit  derselben.  Zwei  Versuche 
werden  gemacht;  der  erete  ergibt,  daß  dieser  test  sich  vortrefflich 
bewährt,  die  Unintelligenten  machen  fünfmal  so  viel  Fehler  als  die  Intelli- 
genten. (Die  Zahl  der  zu  zählenden  Schläge  variierte  zwischen  5  und  20, 
die  Geschwindigkeit  war  ö  Schläge  in  der  Sekunde;  fünfmalige  Wiederholung 
des  Versuchs.)  Zweiter  Versuch,  acht  Tage  später:  diesmal  waren  10  Reihen 
Schläge  zu  zählen,  Geschwindigkeit  der  Schläge  die  gleiche  wie  vorher.  Das 
Resultat  ist  dasselbe  wie  früher:  die  Unintelligenten  haben  bedeutende  Fort- 
schritte gemacht,  statt  der  nach  dem  ersten  Versuch  zu  erwartenden  30 
machen  sie  nur  18  Fehler. 

Die  nächste  Versuchsreihe  verwendete  Kopieren  (eines  Textes)  als 
Prüfungsmittel ;  es  sei  sogleich  bemerkt,  daß  diese  Methode  sehr  inter- 
essante Resultate  lieferte.  Die  verschiedenen  Individuen  besitzen  eine 
sehr  verschiedene  Fähigkeit,  eine  gewisse  Zahl  von  Eindrücken  zugleich  zu 
merken,  ohne  daß  sie  wieder  hinzusehen  brauchen,  beim  Abschreiben  von 
Ziffern  merkt  sich  der  eine  vielleicht  fünf,  ein  anderer  zwei  usf.  Der  erstere 
hat  natürlich  einerseits  einen  größeren  Umfang  der  Aufmerksamkeit,  anderer- 
seits mutet  er  seinem  Gedächtnis  (unmittelbarem  Behalten)  mehr  zu.  Um  dies 
zu  kontrollieren,  befolgte  Binet  das  sinnreiche  Verfahren,  daß  z.  B.  beim 
Kopieren  von  60  einfachen  Zahlen  (nebeneinandergeschrieben)  die  Kinder  in 
der  linken  Hand  einen  Karton  hielten,  den  sie  jedesmal  aufdeckten,  wenn 
sie  eine  Anzahl  Ziffern  niedergeschrieben  hatten,  und  zudeckten,  wenn  sie 
wieder  auf  die  Vorlage  hinsehen  mußten.   Der  Experimentator  kann  so  direkt 
beobachten,  wieviel  Ziffern  der  Schüler  jedesmal  merkt.  Resultat:  die  unintelli- 
genten Kinder  sehen  viel  Öfter  hin,  merken  also  auf  einen  Blick  viel  weniger 
als  die  intelligenten  (3,6  im  Mittel  gegen  2,8  bei  den  ersteren).  Dieselbe  Über- 
legenheit ergibt  sich,  wenn  man  Gruppen  von  Ziffern  von  2  bis  5  zusammen- 
ordnet und  sie  kopieren  läßt.  Noch  deutlicher  zeigen  sich  diese  Unterschiede 
beim  Kopieren  von  Sätzen.   Es  wurden  inhaltlich  leichtere  und  schwie- 
rigere Sätze  kopiert  In  beiden  Fällen  zeigt  sich  die  Überlegenheit  der  in- 
telligenteren Kinder,  aber  obgleich  bei  den  schwierigeren  Sätzen  diese  Über- 
legenheit eigentlich  zunehmen  sollte,  nimmt  sie  ab;  wiederum,  weil  bei 
der  Wiederholung  des  Versuchs  die  Minderbegabten  sich  mehr  angepaßt 
haben.   Die  Wirkung  der  Adaptation  kompensiert  also  die  der  inhaltlichen 
Erschwerung.   Interessant  ist  noch,  daß  auch  die  Fraktionen  der  Satzteile 
bei  den  Intelligenten  viel  sinngemäßer  sind  als  bei  den  Nichtintelligenten; 
die  ersteren  haben  3,  die  letzteren  13  unlogische  Satzteilungen.   Auch  in 
diesem  Punkte  verwischen  sich  bei  Wiederholung  des  Versuchs  die  Unter- 
schiede.  Beim  nächsten  Versuch,  Kopieren  einer  Zeichnung,  blicken  die  In- 
telligenten öfter  hin,  sie  zeichnen  aber  genauer. 

Sehr  ergebnisreich  ist  die  nächste  Versuchsreihe  mit  dem  Durchstrei- 
chen von  Buchstaben  in  einem  gedruckten  Text.  Die  Methode  ist 
wesentlich  die  Kraepelinsche,  obgleich  Kraepelin  dabei  nicht  genannt 
wird.  Verf.  bemerkt,  daß  man  dabei  zweierlei  beobachten  und  voneinander 
trennen  müsse,  die  Schnelligkeit  der  Arbeit  und  ihre  Exaktheit.  Läßt  man 
nur  einen  Buchstaben  durchstreichen,  so  tritt  mehr  die  Schnelligkeit,  wenn 
man  mehrere  Buchstaben  aufgibt,  so  tritt  mehr  die  Exaktheit  hervor  und 
die  Geschwindigkeiten  gleichen  sich  merklich  ans.  Da  wir  schon  sahen 
(Reaktionsversucbe),  daß  die  Schnelligkeit  der  Arbeit  kein  Charakteristikum 
der  Intelligenten  Ist,  so  gibt  Binet  6  Buchstaben,  die  jedem  Kinde  links 


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44 


Literaturbericht. 


oben  auf  das  Blatt  geschrieben  wurden ;  die  Arbeit  wurde  10  Minuten  lang 
betrieben,  nach  jeder  Minute  hatte  der  Schiller  eine  Marke  zu  machen.  Re- 
sultat: betrachtet  man  die  Anzahl  durchstrichener  Buchstaben,  so  ist  diese 
die  gleiche  für  beide  Kindergruppen,  betrachtet  man  aber  den  Fortschritt 
beider  Gruppen  in  der  Zeit,  so  sieht  man,  daß  die  Intelligenten  wesentlich 
schneller  fortschreiten,  Bie  haben  also  eine  schnellere  Adaptation. 
Dieser  Unterschied  tritt  nicht  nur  in  den  Mittelzahlen  hervor,  sondern  er 
kehrt  bei  jedem  Individuum  wieder;  ferner  machen  die  unintelligenten 
Kinder  uogefähr  viermal  so  viel  Fehler  beim  Durchstreichen  als  die  intelli- 
genten; endlich  vermindern  die  intelligenten  im  Fortgang  der  Arbeit  ihre 
Fehler  um  Vs»  die  unintelligenten  um  Vs-  Auch  das  beweist  die  schnellere 
Adaptation  bei  den  ersteren.  Eine  Wiederholung  des  Versuchs  mit  den 
gleichen  Buchstaben  zeigt  nun  wieder  die  uns  bekannte  Erscheinung:  die 
unintelligenten  Kinder  nähern  sich  den  intelligenten  erheblich  an,  sie  machen 
größere  Fortschritte  als  diese,  sie  haben  also  langsamere  Adaptation,  wenn 
sie  diese  aber  erreicht  haben,  so  kommen  sie  in  ihren  Leistungen  den  intel- 
ligenten nahezu  gleich.  Eine  Wiederholung  des  Versuchs  mit  neuen 
zn  durchstreichenden  Buchstaben  sollte  nun  speziell  prüfen,  ob  eine  fest 
gewordene  Assoziation  (das  Merken  der  zu  durchstreichenden  Buch- 
staben) von  der  einen  Gruppe  schneller  verlassen  werden  kann  als  von  der 
andern.  Merkwürdigerweise  verlangsamt  dieser  Wechsel  mit  den  Buch- 
staben die  Arbeitszeit  bei  beiden  Gruppen  nahezu  in  gleicher  Weise.  Man 
sollte  erwarten,  daß  die  schnell  adaptierenden  intelligenten  Kinder  auch  einen 
schnellen  Wechsel  der  Adaptation  hätten,  aber  der  Versuch  ist  eben  nicht 
rein;  es  handelt  Bich  nicht  bloß  um  den  Wechsel  der  Anpassung,  sondern 
zugleich  um  Aufgeben  einer  befestigten  Assoziation,  und  diese  war  bei  de 
intelligenteren  Kindern  offenbar  die  festere.  (Die  Festigkeit  einer  Assoziation 
offenbart  sich  in  der  Schnelligkeit,  mit  der  sie  arbeitet,  und  der  Schwierig- 
keit, mit  der  sie  wechselt).  Die  Festigkeit  der  alten  Assoziationen  ist  nun 
bei  den  intelligenten  Kindern  offenbar  das  Uberwiegende  Phänomen,  denn 
sie  machen  bei  diesem  Wechsel  der  Buchstaben  mehr  Fehler  als  die  un- 
intelligenten Kinder  (intelligente  29,8,  unintelligente  16,8  Fehler!).  Verändert 
man  den  Versuch  so.  daB  geläufige  und  neue  Buchstaben  gemischt  werden, 
so  bleibt  wiederum  die  Zahl  der  durchstrichenen  Buchstaben  gleich,  aber  die 
intelligenten  Kinder  machen  jetzt  weniger  Fehler,  die  festeren  Assoziationen 
wirken  jetzt  im  günstigen  Sinne  nach. 

Die  nächste  Versuchsreihe  sollte  den  Bewußtseinsumfang  feststellen;  wie 
viele  Ereignisse  kann  ein  Individuum  zugleich  auffassen?  Oder,  wie  weit  kann 
die  Aufmerksamkeit  eines  Schülers  für  gewisse  Eindrücke  so  abgeschwächt« 
werden,  daß  sie  einem  automatischen  Ablauf  der  Vorgänge  Platz  macht? 
(Unter  automatischer  Tätigkeit  soll  dabei  im  psychischen  Sinne  eine  Aktivität 
niederer  Ordnung  verstanden  werden,  welche  von  Bewußtsein  begleitet  oder 
nicht  begleitet  sein  kann,  die  aber  keiner  Willensanstrengung  oder  Über- 
legung nnd  keiner  neuen  Anpassung  bedarf).  Den  Schülern  werden  drei 
Zahlen  aufgeschrieben  und  alsbald  wieder  verdeckt,  zu  diesen  haben  sie  jedes- 
mal eine  hinzuzufügen,  sie  haben  also  bei  jeder  Addition  jedesmal  die  voraus- 
gehenden Zahlen  im  Gedächtnis  festzuhalten.  Sie  schreiben  sechs  Minuten 
lang  diese  Vermehrung  von  drei  nebeneinander  stehenden  Ziffern  um  eine 
auf.  Resultat:  die  Anzahl  der  aufgeschriebenen  Ziffern  ist  nicht  charakte- 
ristisch für  die  intelligenten  Kinder,  sondern  nur  für  die  Individuen,  bei 


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Litoraturbericht. 


45 


denen  sie  bedeutend  variieren  (der  langsamste  Schüler  schreibt  40,  der 
schnellste  in  der  gleichen  Zeit  96  Ziffern).  In  der  Anzahl  der  Fehler  stehen 
wiederum  die  intelligenten  Rinder  günstiger  da  (13,5  gegen  17  bei  den  un- 
intelligenten). 

Zuletzt  prüfte  Binet  noch  besonders  die  Geschwindigkeit  der 
geistigen  Prozesse  bei  beiden  Schülergruppen.  Wir  sahen  bisher,  daß  sie 
kein  Charakteristikum  der  Intelligenz  bildet;  bestätigt  Bich  das  bei  besonders 
darauf  gerichteten  Versuchen?  20 Zahlen  werden  so  rasch  als  möglich  ge- 
lesen und  die  Lesezeit  gemessen;  Resultat:  kein  Unterschied  zwischen  beiden 
Gruppen.  Zweiter  Versuch  dasselbe,  aber  zu  jeder  Zahl  wird  eine  addiert; 
wiederum  tritt  kein  Unterschied  zwischen  Intelligenten  und  Nichtintelligenten 
hervor.  Das  Resultat  ist  also  wiederum  ein  negatives  für  die  psychi- 
schen Zeiten,  es  bestätigt  sich  also  das  Ergebnis  der  Versuche  mit  Reak- 
tionszeiten, Lesen,  Zählen,  Zählen  mit  Addieren,  Kopieren.  Bemerkenswert 
ist  noch,  daß  der  schnellste  von  Binets  Schülern  zugleich  der  unintelli- 
genteste war. 

In  einer  Schlußbetrachtung  wirft  Binet  zunächst  die  Frage  auf: 
haben  wir  hier  wirklich  die  willkürliche  Aufmerksamkeit  untersucht?  Diese 
bloße  Frage  beweise,  wie  schwierig  es  sei,  die  willkürliche  Aufmerksamkeit 
im  Experiment  zu  fassen.   Zuerst  sei  daher  die  Frage  beantwortet:  als  was 
erscheint  die  willkürliche  Aufmerksamkeit  in  diesen  Versuchen? 
Binet  antwortet:  als  eine  Anpassung  an  einen  neuen  Geistes- 
zustand (Tätigkeit),  die  um  so  deutlicher  hervortritt,  je  mehr  Schwierigkeit 
die  neue  Tätigkeit  dem  Individuum  darbietet.   (Man  vergl.  die  ähnliche  Auf- 
fassung bei  Rageot,  dieses  Archiv  Bd.  UI,  S.  228  ff.,  Referate).   Als  die 
beiden  Hauptresultate  seiner  Untersuchung  bezeichnet  Binet  selbst: 
die  Versuche  zeigen  eine  durchgreifende  Verschiedenheit  der  intelligenten 
und  nichtintelligenten  Schüler  bei  den  erstmaligen  Prüfungen,  die  sich  bei 
jeder  Wiederholung  desselben  Experimentes  vermindert  oder  verschwindet, 
und  diese  Überlegenheit  der  Adaptation  zeigt  sich  überraschenderweise 
schon  bei  ganz  einfachen  Tätigkeiten.   (Dagegen  ist  zu  bemerken,  daß  diese 
Tätigkeiten  gar  nicht  so  einfach  sind,  die  Leistungen  sind  einfache, 
nicht  die  psychischen  Prozesse,  durch  die  sie  zustande  kommen!)    Die  ver- 
wendeten tests  lassen  sich  in  zwei  Gruppen  teilen,  solche,  welche  den  Unter- 
schied der  intelligenten  und  nichtintelligenten  Schüler  zeigen,  und  solche, 
die  das  nicht  tun;  zu  den  letzteren  gehören:  Auffassung  der  Geschwindig- 
keit von  Metronomschlägen,  Lesegeschwindigkeit  bei  kurzer  Exposition  und 
Reaktionszeitmessungen,  vor  allem  zeigen  sich  alleGeschwiudigkeitsmessungen 
als  ungeeignet  zur  Aufdeckung  der  Intelligenz.  Zu  den  ersteren  gehören 
alle  übrigen  Prüfungsmittel.   Verf.  geht  dann  die  einzelnen  tests  durch  und 
zeigt,  wie  weit  sie  zu  einer  mit  den  Schulleistungen  zusammen- 
treffenden Charakteristik  der  Schüler  führen.   Die  Adaptationsverhältnisse 
beider  Gruppen  werden  in  zwei  sehr  lehrreichen  Kurven  dargestellt. 

Der  Referent  glaubte  auf  die  Untersuchung  Binets  genauer  eingehen 
zu  müssen,  weil  die  Intelligenzprüfung  eines  der  schwierigsten  Kapitel  der 
Kinderpsychologie  und  experimentellen  Pädagogik  ist. 

E.  Meumann  (Zürich). 


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46 


Literaturbericht. 


6)  C.  G.  Jung  und  Fr.  Riklin,  Diagnostische  Assoziationsstudien.  1.  Bei- 
trag: Experimentelle  Untersuchung  Uber  Assoziationen  Gesunder. 
Vorwort:  Über  die  Bedeutung  von  Assoziationsversuchen,  von  Prof. 
Bleuler-  Burghülzli  (Zürich).  Journal  flir  Psychologie  und  Neuro- 
logie, Bd.  III.  1904. 

Daß  Vorwort  von  Bleuler  behandelt  die  Bedeutung  der  Assoziationen 
im  psychischen  Leben  überhaupt  und  ihren  Wert  für  die  Diagnose  des  Irren- 
ärzte*. Die  von  Jung  und  Riklin  ausgeführten  Experimente  liegen  uns 
noch  nicht  in  abgeschlossener  Darstellung  vor;  wir  gewinnen  vorläufig  bloß 
einen  Einblick  in  die  allgemeine  Versuchsanordnung  und  die  Einteilung  der 
Assoziationen. 

Das  Vorwort  von  Bleuler  reizt  den  Psychologen  zum  Widerspruch. 
Da  wird  die  Assoziation  zum  Teil  richtig  als  das  hingestellt,  was  sie  wirk- 
lich ist,  als  »ein  Grundphänomen  der  psychischen  Tätigkeit«  (S.  51).  Zun  . 
andern  Teil  aber  wird  ihr  Wesen  i iiischlich  mit  dem  Denken  identifiziert. 
»Daß  unsere  Denkgesetze  nur  Regeln  des  Assoziationsverlaufes  seien,  wird 
sonderbererweise  noch  bestritten«  (S.  61).  Wir  mochten  aber  doch  den  scharfen 
Unterschied  zwischen  assoziativen  und  logischen  Vorgängen  einer  gefähr- 
lichen Verquickung  gegenüberstellen.  Unsere  Denkvorgänge  tragen  das  auf- 
fallende Kennzeichen  der  dichotomisch en  Gliederung  an  sich,  das 
den  Assoziationen  nicht  zukommt.  Ein  Denkakt  ist  jedesmal  relativ  abge- 
schlossen, wenn  eine  Zweigliederung  sich  vollzogen  hat.  In  unverkennbarer 
Weise  manifestiert  sich  diese  Gesetzmäßigkeit  in  der  sprachlichen  Form,  die 
man  bildlich  als  die  Versteinerung  des  Denkens  bezeichnen  konnte.  Zunächst 
zeigt  sie  sich  darin,  daß  der  einfachste,  fertige  Gedankenausdruck,  der  Satz, 
zwei  Vorstellungen  (oder  Begriffe)  enthält:  Subjekt  und  Prädikat.  Und 
dann  liegt  wiederum  ein  Beweis  für  die  Qualität  des  Denkens  in  seinen 
abgekürzten  Ausdrucksformen,  wie  sie  bestehen  zwischen  Attribut  und  Sub- 
jekt, Adverb  und  Verb  oder  Objekt  und  Verb  (siehe  Wundte  Logik,  I.  Bd. 
2.  Aufl.  S.  59ff.).  Der  Gedankenverlauf  ist  natürlich  nach  einer  Zweiteilung 
noch  nicht  abgeschlossen,  aber  das  logische  Denken  wählt  sich  nach  je  zwei 
Gliedern  doch  stets  eine  Art  Ruhepunkt.  Das  ist  nun  bei  den  Assoziationen 
ganz  und  gar  nicht  der  Fall.  Denn  eine  assoziative  Reihe  kann  sich  beliebig 
in  die  Länge  ziehen  und  Uberall  abbrechen,  sie  gehorcht  nicht  dem  Gesetze 
der  Zweiteilung.  Das  Denken  und  die  Assoziation  sind  aber  nicht  immer  realiter 
voneinander  getrennt,  denn  es  ist  richtig,  was  Bleuler  bemerkt:  »Wahr- 
nehmen, Denken,  Handeln  hört  auf,  sobald  das  Assoziieren  gehindert  ist«. 
Das  heißt  aber  nur,  daß  die  Assoziation  für  die  genannten  Vorgänge  die 
Grundlage  biete,  nicht  aber,  daß  sie  mit  diesen  Vorgängen  selbst  identisch 
sei.  Aus  Bausteinen  errichtet  man  ein  Gebäude,  ohne  jene  ist  dieses  un- 
möglich. Aber  die  Bausteine  in  ihrer  Gesamtheit  sind  noch  nicht  das  Ge- 
bäude. 

Aber  die  Unzulänglichkeit  der  Begriffe  ist  für  eine  experimentelle  Arbeit 
lange  nicht  so  bedeutend  und  folgenreich,  wie  im  Gebiete  reiner  Begriffs- 
wissenschaften,  wo  der  rein  logische  Gang  der  Untersuchung  ausschließlich 
von  den  Eigenschaften  des  einmal  angenommenen  Begriffes  abhängig  ist. 
Die  experimentelle  Methode  hat  es  so  unmittelbar  mit  den  Tataachen  selbst 
zu  tun,  daß  der  Wert  der  Beobachtungen  durch  allgemeine,  vorangeschickte 


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Literaturbericht. 


47 


BegrirTsertfrterungen  nicht  beeinträchtigt  wird.  Wir  gehen  daher  auf  die  all- 
gemeine Versuchsanordnung  Ubor.  Die  Assoziationen  wurden  erzeugt  durch 
Zurufen  eines  Reizwortes.  Im  ganzen  sind  400  verschiedene  Reizwörter  be- 
natzt worden.  In  der  Form  oder  im  Sinne  ähnliche  Reizwörter  wurden  ver- 
mieden, damit  die  Vp.  sich  nicht  nach  zwei  bis  drei  Reaktionen  auf  ein  be- 
stimmtes Gebiet  einstelle.  Auch  Dialektwörter  fanden  Verwendung,  um  den 
ungebildeten  Vp.  entgegenzukommen.  Es  ließ  sich  aber  beobachten,  »daß 
die  ungebildeten  Vp.  das  Dialektwort  schlechter  verstanden  und  mühsamer 
verarbeiteten  als  das  schriftdeutsche  Wort,  und  daß  sie  sich  meist  bemühten, 
Schriftdeutsch  zu  reagieren«.  Die  Erklärung  für  die  etwas  paradoxe  Er- 
scheinung liegt  darin,  >daß  das  Schweizerdeutsch  eine  rein  akustisch-moto- 
rische Sprache  ist,  die  höchst  selten  gelesen  oder  geschrieben  wird  

Der  Schweizer  ist  daher  nicht  gewohnt,  seine  Wörter  als  Einzelindividuen 
zu  empfinden,  sondern  kennt  sie  bloß  im  akustisch-motorischen  Zusammen» 
hang  mit  andern.«    Die  Anordnung  der  Versuche  war  folgende:  »Zuerst 

worden  200  Reaktionen  ohne  weitere  Bedingungen  aufgenommen  

Noch  200  Reaktionen  wurden  mit  der  Vp.,  sofern  es  möglich  war,  sofort  ein- 
geteilt   Das  Ergebnis  des  Versuches  wurde  getrennt  in  ein  erstes 

and  zweites  Hundert  und  getrennt  aufgeschrieben.«  Zweite  Versuchsreihe: 
>100  Reaktionen,  welche  unter  der  Bedingung  der  inneren  Ablenkung  auf- 
genommen wurden.  Die  Vp.  wurde  aufgefordert,  ihre  Aufmerksamkeit  mög- 
lichst konzentriert  dem  sog.  ,A-Phänomen'  (Cordes)  zuzuwenden  und  da- 
neben oder  doch  möglichst  rasch,  d.  h.  mit  der  gleichen  Promptheit  wie  beim 
ersten  Versuche,  zu  reagieren.«  (A-Phänomen  =  die  Summe  derjenigen 
psychologischen  Phänomene,  welche  unmittelbar  durch  die  Perzeption  des 
akustischen  Reizes  hervorgerufen  wurden.)  Dritte  Versuchsreihe,  jeweils  am 
zweiten  Tage  aufgenommen:  »Sie  bestand  aus  100  Reaktionen  und  erfolgte 
anter  der  Bedingung  der  äußeren  Ablenkung   Die  Vp.  mußte  gleich- 

seitig mit  Metronomschlägen  Bleistiftstriche  von  zirka  1  cm  Länge  ausführen.« 
So  wurden  für  jede  Vp.  durchschnittlich  300—400  Assoziationen  gewonnen. 
Ihre  Zahl  beträgt  im  ganzen  12  400. 

In  der  Einteilung  der  Assoziationsformen  schlössen  sich  die  Verfasser 
an  das  von  Aschaffenburg  aufgestellte  Schema  an.  »Wir  haben  diesem 
System  den  Vorzug  vor  andern  gegeben,  weil  dasselbe  nach  unserer  subjek- 
tiven Ansicht  das  heuristisch  wertvollste  ist«  Der  Übersicht  halber  »geben 
die  im  zweiten  Teil  veröffentlichten  Tabellen  bloß  die  Zahlen  der  Haupt- 
groppen  wieder«.   Und  dies  sind  folgende: 

I.  Innere  Assoziation.  1)  Koordination.  2)  Prädikative  Beziehnng. 
3)  Kausalabhängigkeit  IL  Außere  Assoziation.  1)  Koexistenz.  2)  Iden- 
tität 3)  Sprachlich-motorische  Form.  III.  Klangreaktion.  1)  Wortergiin- 
zung.  2)  Klang.  3)  Reim.  IV.  Restgruppe.  1)  Mittelbare  Reaktion.  2)  Sinn- 
lose Reaktion.  3)  Fehler.  4.  Wiederholtes  Reizwort.  A.  Perseveration. 
B,  Egozentrische  Reaktion  (tanzen  —  mag  ich  nicht).  C.  Wiederholung. 
D.  Sprachliche  Bindung:  1)  Gleiche  grammatikalische  Form.  2)  Gleiche  Silben- 
zahl. 3)  Alliteration.  4)  Konsonanz.  6)  Gleiche  Endung. 

Man  darf  den  psychologischen  Versuchen  der  Psychiater  mit  Interesse 
entgegensehen.  Die  Leistungsfähigkeit  des  psychologischen  Experimentes 
wird  durch  sie  aufs  beste  bewiesen.  Dr.  O.  Messmer  (Borechsch.) 


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48 


Literaturbericht. 


6;  E.  Ackerknecht.  Die  Theorie  der  Lokalzeichen.  Ihr  Verhältnis  zur 
empiristischen  und  nativistischen  Lösung  des  psychologischen  Baum- 
problems. Mit  6  Figuren.  VIII,  88  S.  gr.  8°  Tübingen,  J.  C.  B. 
Mohr,  1904.   M.  2.-. 

Die  Frage  nach  der  psychologischen  Entstehung  unseres  Baunibewußtseina 
wurde  zuerst  mit  der  Aufstellung  der  Lokalzeichentheorie  in  folgender  Weise 
entwickelt1): 

Der  Begriff  des  Lokalzeichens  hat  die  konstituierenden  Merkmale,  daß 
es  ein  Leitfaden,  ein  Motiv  ist,  das  die  Seele  veranlaßt,  ihre  raumbildende 
Tendenz  auf  einzelne  Empfindungsinhalte  anzuwenden ;  daß  es  mit  dem  quali- 
tativen Empfindungsinhalt  bzw.  mit  dem  ihn  vermittelnden  Nervenprozeß  un- 
vermischbar  und  unvertauschbar  sein  muß,  und  daß  die  Lokalzeichen  —  innerhalb 
eines  Sinnorgans  —  ein  Keihensystem  bilden  müssen.   Diese  Lokalzeichen  — 
Nebenempfindungen  —  haben  am  Anfang  unserer  Erfahrung  noch  nicht  räumlich 
gedeutet  werden  können,  d.  h.  daß  ein  »lokaler  Lernkursus«  nötig  ist.  Die 
Hautlokalzeichen  präsentieren  sich  in  der  Harmonie  der  Mitempfindungen,  die 
bei  der  Beizung  einer  einzelnen  Hautstelle  zn  dem  Haupteindruck  selbBt  hinzu- 
kommen.  Die  Lokalzeichen  des  HautsinnB  lernen  wir  erst  lokal  verstehen 
durch  Assoziationen  mit  den  Gesichtsempfindungen.    Trifft  ein  besonders 
intensiver,  unsere  Aufmerksamkeit  erregender  Beiz  einen  seitlichen  Teil  der 
Netzhaut,  so  pflegt  er  sofort  eine  solche  Bewegung  des  Auges  hervorzubringen, 
daß  der  betreffende  Beiz  die  empfindlichste  Stelle  des  Auges,  d.  h.  die  Netz- 
hautgrube, trifft.    Diese  Hervorbringung  beruht  auf  einem  physiologischen 
Mechanismus,  in  welchem  nach  dem  Prinzip  der  Reflexbewegung  die  Beizung 
jeder  bestimmten  Netzhautstelle  auf  verschiedene  Fasern  der  motorischen 
Augennerven  so  Ubertragen  wird,  daß  für  jede  eine  besondere  unvertausch- 
bare  Bewegungsgruppe  entsteht.   So  bekommt  man  durch  Regulierung  für 
jeden  Punkt  der  Netzhaut  eine  von  allen  andern  möglichen  Bewegungs- 
empfindungen des  Auges  hinsichtlich  ihrer  Bewegungsgröße  und  -richtung 
verschiedene  Bewegungsempfindung.  Es  wird  sich  später  an  jeden  Netzhaut- 
punkt durch  Assoziation  unmittelbar  auch  der  Trieb  zn  der  bestimmten  Größe 
der  Bewegung  knüpfen  niüSBen,  so  daß  Beine  Beizung  begleitet  erscheint  von 
einer  ihr  allein  im  Unterschied  von  allen  andern  eigentümlichen  Bewegungs- 
tendenz, die  ihrerseits  wieder  eine  entsprechende,  ihr  allein  eigentümliche 
Bewegungsvorstellung  reproduziert.    Damit  hat  man  jenes  fein  abgestufte 
Baumschema,  in  das  man  die  einzelnen  Empfindungsinhalte  der  Netzhaut 
ausbreitet.   Gegen  diese  Entwicklung  der  Lokalzeichentheorie  läßt  sich  das 
einwenden,  daß  die  lokale  Deutung  der  Hautlokalzeichen  nicht  von  Asso- 
ziationen mit  Gesichts-  bzw.  Muskelempfindungen  abhängig  zu  sein  braucht; 
daß  dieso  Lokalzeichen  nicht  Empfindungskomplexe  einer  Beiho  von  Haut- 
nerven zu  sein  brauchen,  und  daß  sie  mit  der  Spannung  und  Unterlage  der  Haut 
nichts  zu  tun  haben.   Die  Gesichtslokalzcichen  sind  richtige  Lokalzeichen; 
nun  kann  die  Annahme  eines  »lokalen  Lernkursus«  vermißt  werden. 

Nachdem  wurde  die  Lokalzeichentheorie  auf  diejenige  Weise  dargestellt2}, 
daß  unsere  Baumvorstellung  aus  der  Verbindung  einer  qualitativen  Mannig- 
faltigkeit peripherischer  Sinnesempfindungen  mit  den  qualitativ  einförmigen 
Innervationsgefühlen,  welche  sich  durch  ihre  intensive  Abstufung  zu  einem 

Ii  Lotze.     2)  Wundt 


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49 


intensiven  Größenmaß  eignen,  hervorgeht  Hierdurch  ist  die  Möglichkeit  ge- 
geben, daß  die  Mannigfaltigkeit  der  Lokalzeichen  in  ein  Kontinnam  von 
gleichartigen  Dimensionen  geordnet,  d.  h.  in  die  räumliche  Form  gebracht 
werde.  Dabei  macht  gleichzeitig  die  qualitative  Verschiedenheit  der  in  die 
Raumform  gebrachten  Lokalzeicheu  die  Unterscheidungen  der  einzelnen 
Richtungen  und  Lagen  im  Räume  möglich.  Gegen  diese  Darstellung  läßt  sich 
das  einwenden,  daß  von  einer  Mitwirkung  motorischer  Momente,  auch  in 
Gestalt  von  Innervation  erfühlen,  bei  der  Entstehung  unserer  Anschauung  im 
Gebiete  des  Gesichtssinnes  nicht  die  Rede  zu  sein  braucht 

Der  moderne  Nativisuius  macht  die  Annahme1),  daß  uub  die  raumliche 
Qualität  in  gewissen  besonderen  Sinnesernpfindungen  gegeben  ist,  so  gut  wie 
z.  B.  die  Farbenqualität  Das  nati  vis  tische  Lokalzeichen  ist  ein  physisches 
Moment  ein  Nervenprozeß  so  gut  wie  derjenige,  der  die  Anschauung  einer 
Farbe  unserem  Bewußtsein  aufdrängt.  Und  zwar  ist  das  Lokalzeichen  ge- 
nauer der  Nervenprozeß,  dessen  unmittelbare  psychische  Folge  die  Anschauung 
eines  ausgedehnten  Ortes  ist  Der  Raum,  sowohl  als  absolute  Ausdehnung 
wie  als  räumliche  Ordnung,  bildet  einen  Teilinhalt  gewisser  Sinneeempfindungen, 
so  daß  das  Raumbewußtsein  ebenso  ursprünglich  ist  wie  das  Farbenbewußtsein. 
Es  ist  nötig,  in  den  Sinnesgebieten  des  HautsinneB  und  des  Gesichtssinnes 
vorzugsweise  Systeme  von  gleichartigen  LokationBinotiven  anzunehmen,  und 
es  ist  im  Grund  der  Hautsinn,  der  die  Basis  unserer  Raumanschauung  bildet 
Die  Empfindung  eines  ausgedehnten  Ortes  ist  eine  letzte  Tatsache  der  genetisch- 
psychologischen  Analyse  des  Raumbewußtseins.  Man  darf  als  äußerst  wahr- 
scheinlich annehmen,  daß  die  in  Sinnesorganen  bestehende  Isolierung  der 
Fasern  im  einzelnen  Falle  auch  zur  Isolierung  der  Eindrucke  benutzt  wird, 
d.  h.  daß  der  isolierte  Faserverlauf  ein  Mittel  ist  jene  verschiedenen  Lokal- 
zeichen hervorzubringen.  Die  kleinsten  Reiznuancen  und  Empfindungsnuancen 
der  lokalen  Distanzempfindung  im  Gebiet  des  Hautsinnes  kommen  uns  erst 
zum  Bewußtsein,  wenn  wir  sie  wiederholt  ins  Licht  unserer  besonderen  Auf- 
merksamkeit gerückt  haben.  Dies  ist  einer  jener  rein  psychischen  Prozesse, 
die  bei  der  Ausbildung  unseros  Raumbewußtseinse  eine  so  große  Rolle  spielen. 
Im  Gebiet  des  Gesichtssinnes  ist  es  —  dank  der  nahezu  schematischen  An- 
ordnung der  nervösen  Grundlage  —  experimentell  ermöglicht,  die  Erregung 
eines  Netzhautzapfens  und  damit  wohl  auch  einer  Primitivfaser  des  Sehnervs 
als  das  letzte  Atom  des  Sehfelds  zu  konstatieren.  Die  Eigentümlichkeit  der 
korrespondierenden  oder  identischen  Punkte  der  beiden  Netzhäute  ist  es,  daß 
wir  infolge  der  Gleichheit  ihrer  Lokationsmotive  mit  ihnen  stets  einfach  sehen 
müssen,  daß  ihre  Eindrücke  in  gewissen  Fällen  verschmelzen.  In  der  Tat- 
sache des  Plastischsehens,  dieser  sinnlich-optischen  Perzeption  von  Tiefen- 
unterschieden, liegt  ein  Moment  selbBtändiger,dreidimensionaler  Raumansc  hau  u  ng 
des  Gesichtssinnes  vor,  was  auch  der  Gesichtswahrnehmung  an  sich  —  d.  h. 
abgesehen  vom  binokularen  Sehen  —  zu  inhärieren  scheint.  Der  Begriff  des 
Lokalzeichens  hat  innerhalb  der  nativistischen  Raumtheorie  eine  Stelle  als 
physischer  Nervenprozeß,  der  sich  konstant  für  jede  Stelle  des  Nervensystems  — 
im  Gebiet  des  Haut-  und  Gesichtssinnes  vorzugsweise  —  mit  jenem  veränder- 
lichen Nervenprozeß  assoziiert,  welcher  an  derselben  Stelle  dem  qualitativen 
Inhalt  der  wechselnden  Empfindung  zugrunde  liegt.     F.  Biske  (Zürich  . 

1  James,  Stumpf,  Höfler. 


AxchiT  für  Psychologie.   IV.   Literatur.  4 


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50 


Literaturbericht. 


7}  G.  Hey  man  8,  Über  Unterschiedssehwellcu  bei  Mischungen  von  Kontrast- 
farben. Zeitschr.  f.  Psych,  n.  Phys.  d.  Sinnesorg.  1903.  32.  S.38— 49. 

Da  diese  Untersuchung  in  einem  gewissen  Zusammenhang  mit  den  Arbeiten 
Uber  psychische  Hemmung  steht,  so  empfiehlt  es  sich,  zuerst  auf  diese  hin- 
zuweisen »). 

Mit  dem  Worte  psychische  Hemmung  wird  die  Tatsache  bezeichnet,  daß 
ein  Bewußtseinsinhalt  durch  das  gleichzeitige  Gegebensein  eines  andern 
Bewußtseinsinhaltes  einen  Intensitätsverlust  erleidet.  Um  die  Gesetze  dieser 
Erscheinung  zu  ermitteln,  wurden  Versuche  angestellt,  die  sich  dem  folgenden 
Schema  einordnen :  es  wurde  für  eine  bestimmte  Empfindungsqualität  erstens 
die  einfache  Reizschwelle,  sodann  die  durch  gleichzeitige  Einwirkung  eines 
in  verschiedenen  Intensitäten  zur  Anwendung  gelangenden  zweiten  Reizes 
erhöhte  Reizschwelle  bestimmt ;  jene  einfache  wurde  von  je  einer  dieser  er- 
höhten Reizschwellen  subtrahiert,  und  es  wurde  gesucht,  welche  Beziehung 
zwischen  den  so  erhaltenen  Hemmungswirkungen  und  den  entsprechenden 
Intensitäten  des  hemmenden  Reizes  besteht.  Die  Versuche  im  Gebiete  der 
Farbenempfindungen  wurden  mittels  eines  Rotationsapparates  mit  Sektor- 
scheiben angestellt.  Aus  diesen  geht  hervor,  daß  die  Hemmungskraft  eines 
Farbenreizes,  an  den  eben  gehemmten  Farbenreizen  gemessen,  proportional 
seiner  Intensität  wächst.  Die  Beziehung  zwischen  der  einfachen  Reizschwelle 
für  eine  bestimmte  Farbe  r0  und  der  durch  Beimischung  eines  zweiten  Farben- 
reizes von  der  Intensität  R  erhöhten  Reizschwelle  rR  muß  sich  demnach  durch 

folgende  Formel  darstellen  lassen:  rH  —  r0  -f-  h  Ä,  in  welcher  h  eine  Konstante, 

den  Hemmungskoeffizienten,  vorstellt.  Die  mittleren  Hemmungskoeffizienten 
für  die  verschiedenen  Farben  als  Aktivreize  geben  ein  Maß  für  die  hemmende 
Kraft,  welche  diesen  Farben  irgendwelchen  passiven  Farbenreizen  gegenüber 
zukommt;  und  die  reziproken  Werte  der  mittleren  Hemmungskoeffizienten  für 
die  verschiedenen  Farben  als  die  Passivreize  geben  ein  Maß  für  den  Wider- 
stand, welchen  diese  Farben  der  Hemmung  durch  irgendwelche  aktive  Farben- 
reize entgensetzen.  Es  läßt  sich  demnach  aus  den  Versuchsergebnissen  noch 
folgende  gegenseitige  Abhängigkeit  ausdrücken:  die  Heinmungskräfte  sind 
den  Hemmungswiderständen,  und  beide  den  reziproken  einfachen  Reizschwellen 
proportional.  Aus  dem  kann  man  schließen,  daß  auch  das,  was  als  Reiz- 
schwelle gemessen  zu  werden  pflegt,  nicht  elirainierbaren  oder  nicht  eliminierten 
nemmungswirkungen  zugeschrieben  werden  muß. 

Das  Ziel  der  vorliegenden  Untersuchung  war  die  Bestimmung  der  bei  der 
Mischung  von  Kontrastfarben  sich  ergebenden  Unterschiedsschwellen.  Das 
Versuchsverfahren  bestand  darin,  daß  je  zwei  Kontrastfarben  (Rot  und  Blau- 
grün, Braungelb  und  Blau,  Weiß  und  Schwarz)  in  verschiedenen  Verhältnissen 
gemischt  werden,  und  für  jede  Mischung  die  zur  Erzielung  eines  ebenmerklichen 
Unterschiedes  erforderte  Ersetzung  der  jeweilig  letzteren  durch  die  jeweilig 
erstere  Farbe  nach  der  Methode  der  Minimaländerungen,  mittels  rotierender 
Sektorscheiben,  ermittelt  wurde.  Aub  den  Versuchen  läßt  sieh  folgende  Gesetz- 
mäßigkeit der  Ergebnisse  ermitteln:  bei  der  Mischung  von  Rot  und  Blaugrün, 
und  ebenso  bei  derjenigen  von  Braungelb  und  Blau,  erreicht  die  Unterschieds- 


1)  Zeitschr.  f.  Psych.  21. 


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Literaturbericht. 


51 


schwelle  bei  einem  Bolchen  Mischungsverhältnis,  welches  ein  reines  Grau  er- 
gibt, ein  Minimum,  von  welchem  sie  nach  beiden  Seiten  hin  regelmäßig  an- 
steigt; bei  der  Mischung  von  Weiß  und  Schwarz  läßt  die  Unterschiedsschwelle 
von  der  dunkelsten  bis  zur  hellsten  Nuance  eine  durchgehende  Zunahme  er- 
kennen; und  zwar  in  jedem  Falle  wächst  die  Unterschiedsschwelle  von  dem 
Minimum  an  proportional  denjenigen  Beträgen,  von  welchen  Stücke  der  einen 
durch  solche  der  andern  ersetzt  worden  sind.  Bei  der  Mischung  von  Rot 
und  Blaugrün  wird  die  Unterschiedsschwelle  von  Rot  bei  einem  Mischungs- 
verhältnis von  66°  rot  und  405°  blaugrün  minimal  =  3,83°.  Sie  steigt  von 
diesem  Punkte  an  um  0,025°  für  jeden  Grad  Blaugrün,  der  durch  Rot,  und  um 
0,027°  für  jeden  Grad  Rot,  der  durch  Blaugrün  ersetzt  wird.  Bei  der  Mischung 
von  Braungelb  und  Blau  wird  die  Unterschiedsschwelle  von  Braungelb  bei 
einem  Mischungsverhältnis  von  214,4°  Braungelb  und  146,6°  Blau  minimal  = 
2,92".  Sie  steigt  von  diesem  Punkte  an  um  0,018°  für  jeden  Grad  Blau,  der 
durch  Braungelb,  um  0,021  °  für  jeden  Grad  Braungelb,  der  durch  Blau  ersetzt 
wird.  Bei  der  Mischung  von  Weiß  und  Schwarz  wird  die  Unterschiedsschwelle 
von  Weiß  bei  möglichst  reinem  Schwarz  minimal  =  0,16°.  Sie  steigt  von  diesem 
Punkte  an  um  0,011  °  für  jeden  Grad  Schwarz,  der  durch  Weiß  ersetzt  wird. 

Es  läßt  sich  jede  Mischung  von  Kontrastfarben,  in  welcher  eine  Farbe 
überwiegt,  als  eine  solche  von  Grau  mit  einem  bestimmten  Werte  von  dieser 
Farbe  ansehen.  Die  aus  diesen  Versuchen  auf  diese  Weise  für  vollständig 
kompensierte  Mischungen  gefundenen  Unterschiedswerte  der  betreffenden 
Farben  bestimmen  den  Sättigungsgrad  einer  Farbe,  welcher  dazu  erforderlich 
ist,  sie  eben  wahrnehmbar  zu  machen;  und  die  für  andere  Mischungen  ge- 
fundenen Unterschiedswerte  der  Farben  bestimmen  die  Süttigungsdifferenzen, 
welche  dazu  erfordert  sind,  Farben  von  bestimmten  Sättigungsgraden  eben 
von  andern  unterscheiden  zu  können.  Vergleicht  man  diese  absoluten  Unter- 
schiedsschwellen mit  den  entsprechenden  Sättigungsgraden,  so  scheinen  sie 
dem  Gesetze  der  Konstanz  der  relativen  Unterschiedsschwelle  wenig  zu  ge- 
nügen. Berechnet  man  aber  zuerst  die  Hemmungskoeffizienten  für  die  Wirkung 
des  durch  Mischung  zweier  Komplementärfarben  bei  vollständig  kompensierten 
Mischungen  hervorgebrachten  Grau  anf  jede  dieser  Farben,  so  läßt  sich  aus 
diesen  für  jede  der  andern  Mischungen  die  totale  Hemmungswirkung  des 
dubei  verwendeten  Grau  berechnen ;  zieht  man  dieselbe  von  der  entsprechenden 
Unterschiedsschwelle  ab  und  teilt  den  Rest  durch  den  Betrag  der  beigemischten 
Farbe,  so  ergeben  sich  die  Hemmungskoeffizienten  für  die  Wirkung  von  einer 
Farbe  auf  sie  selber.  Die  Übereinstimmung  zwischen  den  verschiedenen  für 
je  eine  Farbe  gefundenen  Werten  bestätigt  die  Annahme,  daß  die  Hemmungs- 
wirkungen mehrerer  in  eine  Mischung  eingehender  Komponenten  sich  addieren, 
und  berechtigt  zu  dem  Schluß,  daß  die  HemmungBtheorie  von  diesen  Tatsachen 
genaue  Rechenschaft  zu  geben  vermag.  F.  Biske  (Zürich). 


8i  H.  Piper,  Über  Dunkeladaptation.   Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Phys.  d.  Sinnes- 
org.  1903.    31.   S.  161-219. 

In  dieser  Untersuchung  soll  der  allgemeine  zeitliche  Verlauf  der  Adaptation 
ohne  eingehende  Berücksichtigung  der  lokalen  Empfindlichkeitsdifferenzen 
der  Netzhaut  festgestellt  werden.  Die  Versuche  wurden  so  angeordnet,  daß 
durch  einen  Apparat  von  der  Beschaffenheit  einer  Camera  abscura  ein  Bild 

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52 


Literaturbericht. 


der  durch  eine  Glühlampe  beleuchteten  Kartonfläche  in  der  Größe  eines 
Quadrates  von  10  cm  Seite  auf  eine  Milchglasscheibe  entworfen  wurde,  deren 
Helligkeit  durch  eine  Irisblende  variiert  werden  konnte.  Die  Versuchsperson 
befand  sich  in  einem  völlig  dunkeln  Raum,  und  ihr  Auge  wurde  in  dem  kon- 
stanten Abstand  von  30  cm  von  der  leuchtenden  Scheibe  der  Camera  ge- 
halten. In  passenden  Zeitintervallen  wurden  Bestimmungen  der  eben  noch 
wahrnehmbaren  Lichtintensität  vorgenommen.  Um  einen  Oberblick  Uber  den 
Verlauf  der  Empfindlichkeitszunahme  zu  gewinnen,  war  es  nötig,  daß  jede 
Messungsreihe  mit  der  einer  maximalen  Helladaptation  entsprechenden  Mindest- 
empfindlichkeit des  Sehorgans  begonnen  wurde.  Es  stellte  sich  heraus,  daß 
in  ziemlich  weiten  Grenzen,  unabhängig  von  der  Dauer  des  Hellanfenthalts 
und  von  der  Intensität  der  einwirkenden  Sonnenstrahlung,  stets  annähernd 
die  gleiche  Helligkeit  des  Versuchslichtreizes  als  Anfangsschwellenwert  ge- 
funden wurde.  Bemerkenswert  ist  die  Erscheinung,  daß,  wenn  man  bei  Be- 
stimmung einer  Schwelle  von  unterschwelligen  Werten  zu  größeren  Licht- 
intensitäten Ubergeht,  man  zu  einer  solchen,  welche  plötzlich  auffallend  hell 
im  Gesichtsfeld  auftaucht,  gelangt;  man  kann  dann  ziemlich  erheblich  den 
Lichtreiz  wieder  abschwächen,  bis  man  die  jetzt  gültige,  scharf  einstellbare 
Schwelle  findet.  Bei  den  Versuchen  wurde  der  letzte  geringere  Schwellen- 
wert als  gültig  angenommen.  Die  reziproken  Zahlen  dieser  Schwellenintensitäten 
sind  dann  die  Empfindlichkeit« werte  der  Retina.  Zuerst  wurde  bei  den  Unter- 
suchungen binokular  beobachtet  Sieht  man  von  den  Verschiedenheiten  des 
Verlaufes  der  Empfindlichkeit  bei  einzelnen  Personen  ab,  so  ergibt  sich  die 
allgemeine  physiologische  Regel,  daß  die  Empfindlichkeit  der  Retina  bei 
Dunkelaufenthalt,  vom  Zustand  guter  Helladaptation  ausgehend,  in  den  ersten 
10—12  Minuten  langsam,  dann  aber  schnell  zunimmt  und  nach  längerer  oder 
kürzerer  Zeit  ein  Maximum  erreicht,  auf  dem  sie  stehen  bleibt.  Dabei  erweist 
sich  der  Charakter  des  Adaptationsverlaufs,  d.  h.  die  Steilheit  der  Steigung  und 
mit  gewissen  Einschränkungen  die  absolute  Höhe  der  Empfindlichkeit,  für  eine 
bestimmte  Person  stets  als  gleich.  Nach  40—60  Minuten  dauerndem  Licht- 
abschluß geht  der  Adaptationsverlauf  in  mehr  oder  weniger  ausgesprochen 
scharfer  Biegung  in  eine  äußerst  langsame,  aber  stetig  fortgesetzte  Steigung 
Uber.  Nach  8  ständiger  Adaptationszeit  Ubertraf  die  Netzbautempfindlichkeit 
die  nach  1  Stunde  erreichte  noch  um  fast  das  Doppelte.  Was  das  Maß  der 
Empfindlichkeitszunahme  bei  Dunkelaufenthalt  betrifft,  so  ergeben  einige  Ver- 
suche Zahlen,  die  eine  rund  100  mal  größere  Empfindlichkeitszunahme  nach 
etwa  1  stündigem  Dunkelaufenthalt  angeben.  Man  kann  zwei  Typen  des 
Adaptationsverlaufs  unterscheiden,  von  denen  der  eine  durch  eine  sehr  schnelle 
und  meistens  auch  hochgradige  Empfindlichkeitszunahme,  der  andere  durch 
langsame  und  in  der  Regel  weniger  ausgiebige  Adaptation  unterscheidbar  ist, 
wobei  der  Verlaufstypus  der  Adaptation,  ihre  Geschwindigkeit  und  Größe 
als  unabhängig  von  den  Typendifferenzen  des  Farbensinnes  zu  betrachten 
sind.  Normale  wie  anormale  Trichromaten,  sowie  auch  Dichromaten  können 
ebensogut  dem  Typus  der  schnellen  und  ausgiebigen,  wie  der  langsamen  und 
geringen  Adaptation  angehören.  Bei  monokularer  Beobachtung  beträgt  der 
Empfindlichkeitswert  des  einen  Auges  stets  annähernd  die  Hälfte  des  bino- 
kularen. Bei  Beobachtung  mit  beiden  Augen  im  Zustande  vorgeschrittener 
Dunkeladaptation  summieren  sich  also  die  beiden  Lichtreize;  dabei  tritt  diese 
Erscheinung  erst  nach  etwa  lö  Minuten  dauerndem  Dunkelaufenthalt  hervor, 
so  daß  der  Satz  der  binokularen  Reizaddition  für  das  helladaptierte  Auge 


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Literaturbericht. 


53 


nicht  gilt  Beachtet  man  den  Verlauf  der  Empfindlichkeitesteigerung  bei 
binokularer  Dunkeladaptation,  aber  monokularer  Beobachtung,  und  den  bei 
ausschließlicher  Dunkeladaptation  des  einen  Auges  und  Beobachtung  mit  diesem 
allein,  so  ergibt  sich,  daß  die  Adaptation  jedes  Auges  sich  unabhängig  von 
der  des  andern  vollzieht,  was  im  Einklang  mit  der  Annahme  steht,  daß  die 
Empfindlichkeitszunahme  bei  Dunkelaufenthalt  sich  vermutlich  in  der  Netz- 
haut abspielt  Aus  der  Tatsache,  daß  bei  monokularer  Dunkeladaptation  die 
Beizaddition  ausbleibt,  gleichgültig,  ob  das  Hellauge  mit  beobachtet  oder 
nicht,  ist  zu  schließen,  daß  die  unterschwelligen  Erregungen  des  Hellauges 
nicht  so  weit  geleitet  werden,  um  die  des  Dunkelauges  verstärken  zu  können. 

F.  Biske  (Zürich). 


9)  H.  Piper,  Dr.  med.,  Über  die  Abhängigkeit  des  ReizwerteB  leuchtender 
Objekte  von  ihrer  Flächen-  bzw.  Winkelgröße.  Zeitachr.  f.  Psych, 
u.  Phys.  d.  Sinnesorg.   1904.   32.   S.  98—112. 

Es  ist  bekannt,  daß  die  Größe  des  Objektes  fllr  dessen  Sichtbarkeit  von 
erheblicher  Bedeutung  ist  derart,  daß  bei  gleicher  Flächenintensität  der  Objekte 
kleinere  unterschwellig  bleiben,  größere  dagegen  wohl  wahrnehmbar  sind. 
Nach  den  Untersuchungen  verschiedener  Forscher  kann  man  dem  Verhältnis, 
in  welchem  Flächengröße  und  Schwellenhelligkeit  des  Objektes  stehen,  so- 
lange es  sich  um  Flächengrößen  handelt,  deren  Netzhautbilder  die  Fovea 
centralis  nicht  überschreiten,  die  mathematische  Formulierung  geben:  dag 
Produkt  von  Flächengröße  des  Netzhautbildes  und  Lichtintensität  ist  eine 
konstante  Größe. 

Es  war  interessant  zu  untersuchen,  wie  sich  in  dieser  Beziehung  die 
Netzhautperipherie  verhält  Bei  den  Schwellenbestimmungen  wurde  ein  Apparat 
von  der  Beschaffenheit  einer  Camera  obscura  benutzt,  in  welchem  die  Linse 
das  Bild  einer  leuchtenden  Kartonfläche  auf  eine  Milchglasscheibe  entwarf, 
dessen  Helligkeit  durch  eine  vor  der  Linse  angebrachte  graduierte  Irisblende 
meßbar  variiert  werden  konnte,  und  welches  den  Lichtreiz  bildete,  an  dem 
die  Empfindlichkeit  des  Auges  gemessen  wurde.  Die  Reizobjekte  wurden  bei 
allen  Versuchen  mit  weit  peripheren  Netzhautteilen  beobachtet  derart  daß 
der  innere  Rand  des  Netzhantbildes  mindestens  20°— 26°  von  der  Fovea  ab- 
lag. Benutzt  man  den  Lichtschwellenwert  als  Indikator  des  Reizwertes  eines 
Objektes  für  das  Auge,  so  ergibt  sich  aus  den  Messungen,  daß  dieser  Reiz- 
wert für  die  Peripherie  der  dnnkeladaptierten  Retina  abhiingig  ist  von  der 
Größe  des  leuchtenden  Objektes  bzw.  seines  Netzhautbildes,  derart,  daß  größere 
Objekte  niedrigere  Schwellenwerte  haben  als  kleine,  und  zwar  annähernd  so, 
daß  das  Produkt  des  Lichtschwellenwertes  mit  der  Wurzel  der  Flächengröße 
des  Netzhautbildes  bezüglich  der  Wahrnehmbarkeit  des  Objektes  eine  konstante 
Größe  ist 

Um  auch  für  die  helladaptierte  Netzhautperipherie  festzustellen,  wie  sich 
die  Lichtschwellenwerte  bei  Beobachtung  verschieden  großer  Objekte  zu- 
einander verhalten,  ist  zu  bemerken,  daß  die  sämtlichen  Bestimmungen  bei 
unverändertem  Empfindlichkeitszustand  der  Netzhaut  vorgenommen  werden 
müssen,  wenn  die  für  verschieden  große  Reizobjekte  gefundenen  Schwellen- 
werte quantitativ  untereinander  vergleichbar  sein  sollen.  Dieser  Forderung 
gerecht  zu  werden,  war  bei  dunkeladaptiertem  Auge  möglich,  da  die  Netzhaut 


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54 


Literatlirbericht. 


nach  Va — 3A stündlichem  Dunkelaufen  thatt  einen  ziemlich  konstant  bleibenden 
Zustand  maximaler  Empfindlichkeit  erreicht;  bei  helladaptiertem  Auge  ist  das 
aber  fast  nicht  möglich,  denn  in  der  Zeit,  welche  zwischen  den  einzelnen  im 
Dunkeln  vorgenommenen  Schwellenmessungen  verstreicht,  hat  sich  die  Empfind- 
lichkeit der  Retina  im  Sinne  der  Dunkeladaptation  verändert  Trotzdem  die 
Beobachtungen  so  angestellt  wurden,  daß  dieser  Fehler  sich  in  dem  Sinne 
geltend  macht,  daß  die  Differenz  der  Reizwerte  sich  als  noch  zu  groß  dar- 
stellt, zeigt  Bie  doch  im  Vergleich  zu  den  bei  Dunkeladaptation  gewonnenen 
Feststellungen  einen  ganz  geringen  Wert,  so  daß  demnach  der  Einfluß  der 
Größe  des  Objekts  auf  seinen  Lichtschwellenwert  für  die  helladaptierte  Neta- 
hautperipherie  als  minimal  betrachtet  wird.  F.  Biske  (Zürich). 


10)  H.  Piper,  Dr.  med.,  Über  das  Helligkoitsverhältnis  monokular  und  binokular 
ausgelöster  Lichtempfindungen.  Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Phys.  d.  Sinnes- 
org.   1903.   32.   S.  161-176. 

Von  gewissem  Interesso  ist  die  Frage,  ob  sich  die  beiden  monokularen 
Netzhauterregungen  zur  Auslösung  einer  einzigen  stärkeren  Helligkeits- 
empfindung summieren,  oder  ob  dies  nicht  erfolgt,  d.  h.  ob  wir  mit  zwei 
Augen  heller  sehen  als  mit  einem,  oder  ebenso  hell.  Es  erschien  wünschens- 
wert, dieser  theoretisch  interessanten  Frage  durch  quantitative  Messungen 
nachzugehen;  der  gegebene  Weg  hierfür  war  der,  Gleichheiten  zwischen  einer 
monokular  und  einer  binokular  gesehenen  Helligkeit  einstellen  zu  lassen  und 
dann  die  objektiven  Lichtintensitäten  der  beiden  Felder  zahlenmäßig  zu  ver- 
gleichen. 

Bei  solchen  Messungen  werden  die  Versuche  mit  Hilfe  eines  camera- 
artigen Apparates  so  angeordnet,  daß  der  Beobachter  das  eine  Feld  binokular, 
das  andere  aber  monokular  sehen  konnte.  Der  Beobachter  hatte  nun  die 
Helligkeiten  des  binokular  und  des  monokular  gesehenen  Feldes  miteinander 
zu  vergleichen  und  die  Intensität  des  einäugig  gesehenen  so  lange  durch  Ver- 
stellung der  diesem  zugehörigen  Irisblende  lindern  zu  lassen,  bis  beide  Felder 
gleich  hell  erschienen.  Ist  dies  erreicht,  so  verhalten  sich  die  Lichtintensitäten 
beider  Felder  zueinander  wie  die  Quadrate  der  zugehörigen  Blendendurchmesser; 
die  Empfindlichkeit  des  einen  Auges  verhält  sich  aber  zu  der  beider  Augen 
zusammen  umgekehrt  proportional  den  Lichtintensitäten,  welche  von  den  von 
einem  und  den  von  beidon  Augen  beobachteten  Feldern  nach  Gleichheits- 
einstellung ausgestrahlt  werden. 

Schon  die  Ergebnisse  qualitativer  und  ganz  roher  Versuche  deuten  darauf 
hin.  daß,  wenn  man  mit  gut  hell  adaptierten  Augen  eine  mehr  oder  weniger 
stark  lichtreflektierende  Flüche,  etwa  den  hellen  Tageshimmel,  beobachtet  und 
dabei  abwechselnd  das  eine  Auge  schließt  und  öffnet,  man  im  Moment  des 
Lidschlusses  einen  ganz  zarten  Schatten  sich  Uber  die  Fläche  legen  sieht,  der 
im  Moment  des  üffnens  verschwindet  und  einer  ebenso  minimalen  Erhellung 
Platz  macht;  diese  Helligkeitsunterschiedo  sind  verhältnismäßig  sehr  schwach, 
für  manche  Augen  kaum  wahrnehmbar.  Die  quantitativen  Messungen  be- 
stätigen das  Resultat,  daß  man  bei  Helladaptation  mit  zwei  Augen  ganz  außer- 
ordentlich wenig  heller  sieht  als  mit  einem. 

Es  ergeben  sich  dagegen  viel  größere  Unterschiede,  wenn  die  Versuche 


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Literaturbericht. 


55 


bei  guter  Dunkeladaptation  der  Augen  angestellt  werden;  die  Intensität  der 
Felder  kann  erheblich  herabgesetzt  werden,  so  daß  sie  für  das  helladaptierte 
Auge  unterschwellig  sein  würde;  der  subjektive  Helli^keitseindruck  war  in- 
dessen so  groß  wie  früher.  Sind  beide  Felder  auf  gleiche  Lichtintensität 
gebracht,  so  erscheint  stets  das  monokular  beobachtete  beträchtlich  dunkler 
als  das  binokular  gesehene;  diese  Erscheinung  tritt  ein,  gleichgültig,  ob  das 
rechte  oder  das  linke  Auge  das  monokular  beobachtende  ist  Es  wurden  wiederum 
Gleichheiten  zwischen  der  monokular  und  der  binokular  gesehenen  Helligkeit 
eingestellt,  indem  die  zum  dunkleren,  einäugig  beobachteten  Felde  zugehörige 
Blende  erweitert  wurde,  und  die  Beobachtungen  wurden  bei  verschiedenen 
absoluten  Lichtintensitäten  eingestellt.  Es  zeigte  sich,  daß  bei  Dunkeladaptation 
die  mit  zwei  Augen  beobachteten  Objekte  durchschnittlich  um  das  1,6—1,7  fache 
heller  erscheinen,  als  die  mit  einem  gesehenen,  und  bei  ganz  geringen  ab- 
soluten Lichtwerten  Ubertrifft  die  binokulare  Empfindlichkeit  die  monokulare 
annähernd  um  das  Doppelte. 

Macht  man  mit  der  Kopfbewegung  in  einer  mittleren  Lage  Halt,  so  daß 
die  beiden  inneren  Hälften  der  Felder  nur  monokular  gesehen  werden  können, 
nämlich  die  des  linken  Feldes  nur  vom  linken,  die  des  rechten  nur  vom 
rechten  Auge,  die  beiden  äußeren  Feldhälften  aber  binokular  sichtbar  sind, 
so  erscheinen  die  beiden  inneren  Hälften  der  Felder  beschattet,  die  beiden 
äußeren  aber  heller;  durch  Kopfbewegung  kann  man  die  Schatten  beliebig 
nach  rechts  oder  links  wandern  machen;  die  Grenze  zwischen  dem  hellen 
und  dem  beschatteten  Teile  jedes  Feldes  ist  durch  einen  besonders  dunkeln 
senkrechten  Streifen  markiert  Der  dunkle  Streifen  zwischen  binokular  und 
monokular  gesehenen  Feldhälften  ist  noch  sichtbar,  wenn  der  Unterschied 
zwischen  den  Helligkeiten  der  beiden  Feldhälften  nicht  wahrnehmbar  wird, 
was  bei  Beobachtung  unter  den  Bedingungen  der  Helladaptation  der  Fall  sein 
kann;  nur  erscheint  er  nicht  in  so  dunklem  Kontrast  zum  Hell  des  Feld- 
grondeB.  F.  Biske  (Zürich). 


11  Gisela  Schäfer,  Wie  verhalten  sich  die  Helmholtzschen Grundfarben  zur 
Weite  der  PupUle.   Zeitschr.  f.  Psych,  u.  Phys.  d.  Sinnesorg.  1903.  32. 

Über  den  Einfluß  farbiger  Lichter  auf  die  Pupillenweite  liegen  einige 
Arbeiten  vor,  die  zu  dem  Ergebnis  geführt  haben,  daß  die  Farben  gleicher 
Helligkeit  der  Pigmentpapiere  sich  in  bezug  auf  ihre  Wirkung  auf  das  pupillen- 
verengende  Zentrum  als  motorisch  äquivalent  erweisen '],  und  daß  mit  der 
Änderung  der  Helligkeitswerte  des  monochromatischen  Lichtes  bei  einer 
Heizung  derselben  Netzhautstelle  auch  eine  äquivalente  Änderung  der  pupillo- 
motorischen  Wirkung  einhergeht-;. 

Die  folgenden  Versuche  bestehen  darin,  daß  auf  einem  Feld  von  ge- 
gebener Größe  ein  Weiß  aus  zwei  Komplementärfarben  gemischt  und  mit  einer 
bestimmten  Netzhautstelle  betrachtet  wurde.  Nimmt  man  nun  eine  der  Farben 
weg,  so  vergrößert  sich  die  Pupille.  Es  fragt  sich,  ob  eine  Reaktion  etwa 
wesentlich  schwächer  ist,  wenn  die  zurückbleibende  Farbe  eine  Grundfarbe 
ist  als  wenn  sie  dies  nicht  ist.  Die  Versuche  wurden  so  ausgeführt,  daß  die 
Farben  auf  der  Netzhaut  gemischt  wurden,  indem  aus  einem  Spektrum  durch 


1)  Dr.  M.  Sachs.     2)  G.  Abelsdorff. 


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56 


Literaturbericht. 


einen  Spalt  des  Schirmes  eine  der  Grundfarben  hindurch  gel  aasen  und  dann 
der  zweite  Spalt  so  verschoben  und  beiden  Spalten  solche  Breite  gegeben 
wurde,  daß  das  Mischfeld  weiß  erschien.  Die  jeweilige  Weite  der  Pupille 
wurde  mittels  des  Zerstreu ungskreises  gemessen,  den  die  Strahlen  eines 
Lichtpunktes  vor  demselben  Auge  bildeten,  das  zur  Beobachtung  des 
MischfeldeB  benutzt  wurde.  In  einem  vollständig  dunkeln  Kaume  wurde 
eine  große  Zahl  von  Versuchen  angestellt,  und  zwar  sowohl  mit  hell-  als  mit 
dunkeladaptiertem  Auge.  Es  erwies  sich,  daß  Grün  immer  den  größten 
Zerstreuungskreis  hatte,  Rot  den  kleineren,  die  Mischfarben  den  kleinsten; 
ebenßo  gab  das  Violett  immer  einen  größeren  Zerstreuungskreis  als  Gelb,  nnd 
die  Mischfarbe  hatte  wieder  den  kleinsten.  Dabei  hatte  die  Mischfarbe  des 
ersten  Farbenpaares  einen  kleineren  Zerstreuungskreis  als  die  des  zweiten. 
Da  die  Grandfarben  Rot  und  Violett  im  Vergleich  mit  ihren  Komplementär- 
farben pupillomotorisch  verschieden  wirken,  so  kann  man  folgern,  daß  die 
Grandfarben  als  solche  keine  speziellen  Wirkungen  üben. 

F.  Biske  (Zürich) 


12)  AI  fr.  Lehmann,  Versuch  einer  Erklärung  des  Einflusses  des  Gesichts- 
winkels auf  die  Auffassung  von  Licht  und  Farbe  bei  direktem 
Sehen.   (Archiv  f.  d.  ges.  Physiologie.  1885.  36.  S.  580-639.) 

Es  ist  bekannt,  daß  der  Gesichtswinkel  einen  bedeutenden  Einfluß  bei 
der  Auffassung  der  Lichtnnterschiede  hat;  wenn  der  Gesichtswinkel  eines 
Objektes  bei  gegebener  Beleuchtung  so  klein  ist,  daß  es  eben  wahr- 
genommen werden  kann,  beim  kleineren  Gesichtswinkel  eine  stärkere 
Beleuchtung  erforderlich  wird,  um  das  Objekt  sichtbar  zu  machen. 
Hieraus  wurde  der  Satz  abgeleitet,  daß  Gesichtswinkel  nnd  Helligkeit  sich 
gegenseitig  ergänzen»). 

Etwas  durchaus  Entsprechendes  gilt  für  die  Farbenanffassung;  bei  einer 
gegebenen  Lichtstärke  wird  man  nicht  imstande  sein,  die  Farbe  eines  Ob- 
jektes unter  einem  gewissen  Gesichtswinkel  richtig  aufzufassen.  Bei  ver- 
schiedenen hierauf  bezüglichen  Untersuchungen  zeigte  sich  noch,  daß  die  Be- 
schaffenheit des  Hintergrundes  großen  Einfluß  auf  die  Gesichtswinkel  der 
Sichtbarkeit  verschiedener  Farben  hatte.  Um  den  Kontrast  gegen  den  Grand 
vollständig  eliminieren  zu  können,  wurden  Versuche  gemacht,  Pigmente  von 
verschiedenem  Farbenton,  aber  von  derselben  Helligkeit  und  Sättigung  dar- 
zustellen. Man  kann  z.  B.  einem  gelben  Pigment  so  viel  von  einem 
schwarzen  zusetzen,  daß  die  Mischung  sich  ebenso  dunkel  zeigt,  wie  ein 
vorgelegter  roter  Färbestoff.  Von  Schwarz  und  Weiß  kann  man  darauf  ein 
Grau  darstellen,  das  dieselbe  Helligkeit  hat  wie  das  Rot  nnd  das  gemischte 
Gelb.  Fügt  man  nun  etwas  von  diesem  Grau  zu  dem  Rot,  so  kann  sich 
die  Helligkeit  nicht  verändern,  weil  die  zwei  vorher  gleich  hell  waren,  da- 
gegen aber  wird  die  Sättigung  geringer,  nnd  es  scheint,  als  müsse  man  die 
Mischungsverhältnisse  so  anordnen  können,  daß  das  Rot  dieselbe  Sättigung 
erhält  wie  das  Gelb.  Wenn  dieses  erreicht  ist,  so  hat  man  ein  gelbes  und 
ein  rotes  Pigment,  die  sowohl  dieselbe  Sättigung  als  dieselbe  Helligkeit 
haben.    Aus  den  Versuchen  in  bezug  auf  die  Ordnung  der  Sichtbarkeit  der 


1)  Förster. 


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Literaturbericht. 


57 


verschiedenen  Farbtöne,  die  mit  solchen  Pigmenten  auf  schwarzem  Grand 
angestellt  wurden,  kann  man  die  Schlußfolgerung  ziehen,  daß  Rot  von  allen 
Farben  diejenige  sei,  die  sich  unter  dem  kleinsten  Gesichtewinkel  auffassen 
läßt;  danach  folgen  die  andern  in  folgender  Ordnung:  Blau,  Gelb,  Grün. 
Der  Umstand,  daß  die  Farben  unter  sehr  verschiedenen  Gesichtswinkeln  sicht- 
bar werden  oder  aufhören  sichtbar  zu  sein,  kann  nur  durch  die  Annahme 
erklärt  werden,  daß  große  Differenzen  in  der  Empfänglichkeit  der  Netzhaut 
für  Einwirkungen  der  verschiedenen  Farbenstrahlen  stattfinden.  Und  man 
muß  alsdann  annehmen,  daß  die  Empfänglichkeit  am  größten  ist  für  Rot, 
kleiner  für  Blau  und  Gelb,  und  am  kleinsten  für  Grün1). 

Hierbei  ist  jedoch  zu  bemerken ,  daß  die  farbigen  Objekte  allerdings  in 
der  angegebenen  Reihenfolge  als  farbige  sichtbar  werden,  aber  keineswegs 
in  ihrem  rechten  Farbentone.  Orange  zeigte  sich  auf  schwarzem  Grunde 
beim  kleinen  Gesichtswinkel  rot,  und  erst  bei  einem  größeren  Gesichtswinkel 
trat  es  als  orange  hervor.  Grün  zeigte  sich  auf  schwarzem  Grunde  zuerst 
hell  bläulich,  und  erst  darauf  erschien  es  als  deutlich  grün2). 

Ein  näher  formuliertes  Gesetz  Uber  das  Verhältnis  zwischen  Gesichts- 
winkel und  Stärke  der  Beleuchtung,  welches  erfordert  wird,  damit  eine  Licht- 
oder Farbenempfindung  soll  entstehen  können,  ist  noch  nicht  aufgefunden. 
Ob  Beleuchtungsintenaität   und  Gesichtswinkel  einfach    reziprok  wären, 
—  woraus  folgen  würde,   daß   eine  gewisse  Summe  Strahlen   auf  die 
Netzhaut  fallen  müßte,  um  eine  Lichtempfindung  hervorzurufen,  es  aber 
gleichgültig  wäre,  ob  diese  Summe  Uber  einen  größeren  oder  kleineren  Raum 
der  Netzhaut  verteilt  würde  — ,  läßt  sich  nicht  umstoßen.   Denn  ist  es  be- 
kannt, daß  die  Entfernungen  eines  Objektes  einen  nicht  unwesentlichen  Ein- 
fluß auf  die  Funktion  unseres  Auges  ausüben,  indem  dabei  die  Akkommo- 
dation und  zum  Teil  die  Adaptation  der  Iris  bestimmt  ist.  Folglich  läßt  es 
sich  sehr  wohl  denken,  daß  diese  Verhältnisse  eine  Komplikation  des  Ge- 
setzes bewirken  können,  so  daß  die  Annahme  einer  konstanten  Lichtmenge 
vollkommen  richtig  sein  kann,  ohne  doch  eine  genaue  Reziprozität  zwischen 
Lichtstärke  und  Gesichtswinkel  zu  bedingen.    Soll  es  also  gelingen,  die 
rechte  Erklärung  des  gegenwärtigen  Abhängigkeitsverhältnisses  zwischen  Ge- 
sichtswinkel und  Stärke  der  Beleuchtung  zu  finden,  so  müßte  zuerst  unter- 
sucht werden,  wie  das  ins  Auge  gelangende  Licht  sich  auf  der  Netzhaut 
verteilt,  wenn  der  Abstand  des  Auges  vom  Objekt  verändert  wird.   Es  wird 
allgemein  angenommen,  daß  die  Lichtstärke  des  Netzhautbildes  konstant  ist, 
unabhängig  von  dem  Abstand  zwischen  Objekt  und  Auge,  wenn  die  Be- 
leuchtung des  Objektes  gegeben  ist.    Dieser  Satz  stützt  sich  auf  die  Be- 
trachtung, daß  die  das  Auge  treffende  Lichtmenge  und  das  Areal  des  Netz- 
hantbildes  immer  in   demselben  Verhältnis  abnehmen.     Betrachtet  man 
nämlich  einen  Gegenstand  unter  einem  gewissen  Gesichtswinkel,  so  sind  da- 
mit die  Ausdehnung  und  die  Lichtstärke  des  Netzhautbildes  gegeben.  Wird 
der  Abstand  des  Objektes  vom  Auge  nmal  so  groß,  so  wird  die  das  Auge 

treffende  Lichtmenge  ~-  von  der  ursprünglichen  werden,  aber  gleichzeitig 

1 

verringert  sich  der  Gesichtswinkel  zu  -  ,  so  daß  das  Areal  des  Bildes  zu 

tt 

des  ursprünglichen  wird.  Als  Folge  davon  wird  die  Lichtstärke  auf  jeder 
1)  Bull.      2)  Aubert. 


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58 


Literaturbericht. 


Flächeneinheit  konstant  sein.  Hierbei  ist  vorausgesetzt,  daß  ein  Punkt  im 
Raumo  »ich  auf  der  Netzhaut  wie  ein  Punkt  abbildet.  Ißt  dies  dagegen 
nicht  der  Fall,  so  wird  die  lineare  Große  des  Bildes  nicht  in  demselben 
Verhältnis  abnehmen,  wie  der  Abstand  zunimmt,  und  folglich  wird  die 
Lichtstärke  des  Netzhautbildes  nicht  konstant  sein.  Indessen  haben  die 
Untersuchungen  Uber  die  Irradiationserscheinnngen  zu  dem  Nachweis  ge- 
führt, daß  ein  Punkt  im  Räume  strenggenommen  niemals  sich  aU  Punkt 
auf  der  Netzhaut  abbildet  Es  wird  daher  die  erste  Aufgabe  sein,  als  Folge 
davon  die  Lichtverteilung  im  Netzhautbilde  darzulegen. 

Betrachtet  man  zwei  gleich  große  Quadrate,  ein  schwarzes  auf  weißem 
Grunde  und  ein  weißes  auf  schwarzem  Grunde,  so  fällt  es  gleich  in  die 
Augen,  daß  das  weiße  größer  als  das  schwarze  zu  sein  scheint,  und  das  in 
desto  höherem  Grade,  je  kleiner  der  Gesichtswinkel  ist,  unter  welchem  mau 
die  Figuren  betrachtet.  Dieses  Phänomen  beruht  auf  dem  Umstände,  daß 
das  Bild  auf  der  Netzhaut  durch  Zerstreuungskreise  gebildet  wird,  indem  die 
in  die  Randpunkte  des  Bildes  fallenden  Strahlen  sich  über  Zirkel  zer- 
streuen, in  deren  Mittelpunkten  die  Intensität  am  grüßten  sein  muß,  und 
von  da  nimmt  sie  gegen  die  Peripherie  ab.  Wie  aber  das  Licht  im  Zer- 
streuungszirkel verteilt  ist,  wird  von  den  optischen  Verhältnissen  abhängig 
sein,  welche  die  Zerstreuung  bedingen.  Von  solchen  kann  bei  dem  Auge  in 
Frage  kommen:  Zerstreuung  wegen  der  Dispersion,  wegen  der  monochroma- 
tischen Abweichung  und  durch  die  unvollständige  Akkommodation.  Denken 
wir  uns,  daß  ein  einzelner  Strahl  des  weißen  Lichtes  das  Auge  trifft,  und 
daß  dieses  für  Strahlen  von  mittlerer  Brauchbarkeit  akkommodiert  ist,  so 
werden  diese  sich  in  einem  Punkte  der  Netzhaut  vereinigen.  Die  übrigen 
Strahlen  werden  sich  in  Kreisen  vereinigen,  und  da  sie  alle  geringere  Hellig- 
keit haben,  weil  sie  sich  Uber  ein  ziemlich  großes  Areal  zerstreuen,  so  wird 
die  Helligkeit  in  den  äußersten  Kreisen  der  Zerstreuungszirkel  allmählich 
abnehmen.  Unter  monochromatischer  Abweichung  faßt  man  die  Zerstreuungen 
zusammen,  welche  Lichtstrahlen  von  bestimmter  Brecbbarkeit  dadurch  er- 
leiden, daß  die  brechenden  Medien  des  Auges  nicht  von  solchen  Flächen 
begrenzt  werden,  die  erforderlich  sind,  um  homogenes  Licht  nach  der 
Brechung  in  einem  Punkt  zu  sammeln,  daß  ferner  die  brechenden  Medien 
nicht  zentriert  sind,  und  daß  die  Linse  eine  strahlige  Struktur  hat.  Es  läßt 
sich  annehmen,  daß  in  denjenigen  Zerstreuungszirkeln,  in  denen  das  Licht 
auf  Grund  der  angeführten  verschiedenen  Umstände  zugleich  verteilt  wird, 
die  Lichtstärke  im  Mittelpunkte  am  größten  sein  und  ziemlich  schnell  gegen 
die  Peripherie  abnehmen  muß.  In  dem  durch  unvollständige  Akkommodation 
entstehenden  Zerstreuungszirkel  wird  die  Lichtstärke  ungefähr  durchweg 
gleichförmig  sein.  Im  Gegensatz  zu  den  durch  Dispersion  und  mono- 
chromatische Abweichung  hervorgebrachten  Zerstreuungszirkeln,  deren  Radius 
in  einem  gegebenen  Auge  als  konstant  betrachtet  werden  kann,  müssen  die 
Zerstreuungszirkel  der  unvollkommenen  Akkommodation  veränderliche  Radien 
haben.  Aber  auch  für  ein  Auge  im  gegebenen  AkkoraniodationszuBtand  muß 
der  Radius  variabel  sein;  da  die  Zerstreuungszirkel  nämlich  Bilder  der  Pu- 
pille, und  daher  von  der  Größe  derselben  abhängig  sind,  so  muß  jede 
Reizung  des  Auges,  wodurch  die  Pupillenweite  verändert  wird,  auch  den 
Radius  der  Zerstreuungszirkel  verändern. 

In  bezug  auf  die  Lichtverteilung  im  Zerstreuungszirkel,  wenn  alle  drei 
Verteilungsprinzipien  gleichzeitig  auftreten,  ergibt  sich  als  die  einfachste  und 


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Literaturbericht. 


59 


wahrscheinlichste  Annahme  diese,  daß  die  Lichtstärke  im  Zentrum  des  Zirkels 
am  größten  sein  muß  und  von  da  allmählich  gegen  die  Peripherie  abnimmt 
Für  die  Berechnung  der  Lichtverteilung  im  Rande  des  Netzhautbildes  eine» 
Quadrates  ist  es  gleichgültig,  ob  man  jeden  Strahl  in  der  Höhe  des  Quadrates 
über  einen  Zirkel  mit  bestimmtem  Radius  sich  zerstreuen  läßt,  oder  jeden 
derselben  für  sich  allein  Uber  den  auf  die  Seite  rechtwinkligen  Diameter 
ihres  eigenen  Zerstreuungszirkels  verteilt.  Man  kann  auch  ungefähr  an- 
nehmen, daß  das  Licht  auf  jedem  der  auf  die  Ränder  des  Bildes  recht- 
winkligen Diameter  der  Zerstreuungszirkel  gleichmäßig  vom  Zentrum  gegen 
die  Peripherie  abnimmt.  Für  die  Berechnung  der  Lichtverteilung  ist  es  also 
nötig,  nur  die  Intensitäten  zu  summieren,  die  durch  Aufeinanderlagerung  der 
in  der  Richtung  senkrecht  zur  Seite  nacheinander  folgenden  Diameter  ent- 
stehen. Bezeichnet  man  die  Intensität  des  Strahles  mit  i,  den  Radius  des 
Zerstreuungszirkels  mit  %,  so  ist  die  Intensität  in  jedem  Punkte  des  irradiierten 
Bildrandes  in  der  Entfernung  x  vom  äußeren  Peripheriepunkte  im  Abstand  * 
senkrecht  zum  Rande  gerechnet: 

J'=  2  -'U 

für  Punkte  zwischen  der  äußereu  Peripherie  und  dem  ideellen  Rand,  und 

für  Punkte  zwischen  dem  ideellen  Rand  und  der  inneren  Peripherie. 

Es  ist  noch  die  Irradiation  des  Grundes  zu  berücksichtigen  nötig,  wenn 
der  Grund  nicht  als  absolut  schwarz  betrachtet  werden  kann.  In  solchem 
Falle  wird  nämlich  das  vom  Grunde  kommende  Licht  Uber  das  Netzhautbild 
des  Objektes  irradiieren,  so  wie  dieses  Uber  jenes  irradiiert.  Die  zugehörigen 
Gleichungen  erhält  man  aus  den  früheren,  wenn  für  t  die  Intensität  des 
Grundes  «,  und  für  x  die  Abscisse  2  %  —  x ,  um  von  demselben  Anfangs- 
punkte zu  rechnen,  substituiert  werden : 

für  die  äußeren  Punkte,  und 

V+ä) 

für  innere  Punkte. 

Da  die  Intensität  im  irradiierten  Rande  die  Summe  der  Intensitäten 
werden  muß,  die  Grund  und  Objekt  jedes  für  sich  hervorbringen  würden,  so 
hat  man 

1  x2  . 

4r  + =  y  V2  (»-«)+« 

für  äußere  Punkte  und 

^+*«+('*-Ä-*1)(<— ! 

für  innere  Punkte. 

In  einer  mathematischen  Bestimmung  der  Lage  der  Grenze  zwischen  dem 
Objekt  und  dem  Grunde  muß  folgende  Voraussetzung  angenommen  werden: 
Wenn  unser  Auge  aus  irgendeinem  Grunde  genötigt  wird,  im  kontinuier- 
lichen Lichtubergange  eine  künstliche  Grenze  aufzufassen,  so  wird  diese 
Grenze  da  eingesetzt,  wo  der  Unterschied  zwischen  den  empfundenen  In- 
tensitäten in  den  Punkten  des  Objektes  und  der  Grenze  gleich  diesem  ünter- 


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60 


Literaturbericht. 


schied  in  den  Punkten  der  Grenze  und  des  Grandes  ist.  Ist  die  objektive 
Intensität  in  der  Grenze  Jr,  im  Objekt  und  Grande  dagegen  «  und  «,  so 
wird  nach  dem  psychophysischen  Gesetze 

Da,  wie  die  Erfahrung  lehrt,  das  Objekt  vergrößert  erscheint,  so  darf 
man  vermuten,  daß  die  künstliche  Grenze  in  Punkten  zwischen  der  äußeren 
Peripherie  und  dem  ideellen  Rande  sich  finden  wird,  folglich 

Löst  man  diese  Gleichung  mit  Rücksicht  auf  x  und  beachtet,  daß  der  Zu- 
wachs /  des  Netzhautbildes  gegeben  ist  durch  t  =  *  —  x,  so  erhält  man  für  t 
folgenden  Ausdruck: 

Da  die  Annahme,  daß  die  Grenze  zwischen  dem  ideellen  Rand  und  der 
inneren  Peripherie  liegt,  zu  einer  Absurdität  führen  würde,  so  ist  es  be- 
wiesen, daß  ein  helles  Objekt  auf  dunkelm  Grunde  durch  die  Irradiation 
immer  vergrößert  erscheinen  muß.  Außerdem  ist  es  aus  der  Gleichung  er- 
sichtlich, daß  der  Zuwachs  t  des  Netzhautbildes  unabhängig  ist  von  dem 
wahren  Gesichtswinkel  des  Objekts,  folglich  erscheint  das  Objekt  desto  mehr 
vergrößert,  je  kleiner  der  Gesichtswinkel  wird.  Aus  einer  großen  Anzahl  in 
dieser  Beziehung  angestellter  Versuche  erwies  sich,  daß  die  Irradiation  von 
ungleicher  Stärke  für  die  verschiedenen  Augen  war,  sie  variierte  auch  für  das- 
selbe Individuum  ein  wenig  von  einem  Tage  zum  andern,  aber  der  Zuwachs 
des  Gesichtswinkels,  den  das  Objekt  durch  die  Irradiation  erhält,  d.  h.  der 
Zuwachs  des  Netzhantbildes,  war  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  un- 
abhängig von  dem  Abstand  zwischen  dem  Objekt  und  dem  Auge1). 

In  der  Gleichung,  die  einen  Ausdruck  filr  den  Irradiationszuwachs  des 
Netzhautbildes  gibt,  kommen  außer  der  konstanten  Größe  *  zugleich  die 
variabeln  a  und  i  vor.  Setzt  man  für  t  verschiedene  Werte  in  Funktion 
von  tt ,  so  erhält  man  filr  t  : 

«bscc,      2a,         3  « ,         4a,  26  « ,        106  a ,      OO  ff. 

<=-0,     0.09  x,     0.14  x,     0.19  a,     0.43  x,     0.37  x,  x. 

Es  zeigt  sich  dadurch  bewiesen,  daß  auch  der  experimentell  gefundene 
Satz  von  dem  Zunehmen  der  Irradiationswerte  mit  zunehmender  Lichtstärke 
eine  Konsequenz  der  Theorie  ist  Es  ist  einleuchtend,  daß,  wenn  die  Irra- 
diationszunahme zugleich  mit «  wächst,  während  a  konstant  ist,  sie  auch  mit 
abnehmenden  «  wachsen  muß,  während  t  konstant  ist 

In  dem  Falle,  wenn  die  Breite  des  ideellen  Netzhautbildes  im  Vergleich 
mit  den  Zerstreuungszirkeln  nur  klein  ist,  werden  die  Lichtverhältnisse  des 
Bildes  von  dem  bisher  Behandelten  verschieden  werden.  Ist  die  Breite  des 
Bildes  6,  so  wird  die  Intensität  für  Punkte  von  der  äußeren  Peripherie  bis 
zur  Entfernung  b  dieselbe  wie  früher  sein;  von  der  Entfernung  bis  zum 
ideellen  Rande  dagegen  wird  sie  um 

(♦  —  a) 
2  " 


1)  Plateau. 


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Literaturbericht. 


61 


kleiner,  folglich: 

_                    b{2x-b)  .. 
J*  +  Az—a-\  2x?    ~  (*  —  «)• 

Auf  analogo  Weise  kann  man  einen  Ausdruck  für  die  Lichtverteilung 
innerhalb  der  Grenzen  des  Objektes  finden.  Dies  ist  indessen  hier  ohne 
Bedeutung,  deshalb  kann  man  sich  darauf  beschränken,  das  Maximum  der 
Intensität  au  bestimmen,  welches  in  den  Mittelpunkt  des  Objektes  fällt  Die 
Intensität  des  Objektes  im  Mittelpunkte  ist: 

die  Intensität  des  Grundes  dagegen: 

die  volle  Intensität  wird  also: 


Für  6<2*  gibt  diese  Gleichung  JM  4-  AM  <• ,  für  6  =  2*  dagegen 
Aber  erst,  wenn  die  Breite  des  Netzhautbildes  dem  Diameter  2  z  des  Zer- 
streuungswinkels gleich  geworden  ist,  wird  das  Bild  auf  einem  einzelnen 
Punkte,  nämlich  im  Mittelpunkt,  die  Lichtstärke  erreichen,  die  es  —  ohne 
Lichtzerstreuung  —  Uberall  gehabt  haben  würde.  Die  vorhin  ausgeführten 
Berechnungen  Uber  die  Irradiation  bei  großen  Objekten  gelten  also  für 
b^2x. 

Da  b  in  beiden  letzten  Ausdrücken  für  JM  +  AM  vorkommt,  wird  die 
Intensität  von  den  verschiedenen  Punkten  von  b  abhängig,  und  es  dürfte  folg- 
lich zu  untersuchen  sein,  welchen  Zuwachs  die  Irradiation  dem  Bilde  gibt, 
wenn  b  variiert,  während  alle  andern  vorkommenden  Größen  konstant  sind. 
In  Analogie  mit  dem  vorbin  Entwickelten  muß  man  annehmen,  daß  die  In- 
tensität, die  gleichsam  die  Grenze  bildet  zwischen  dem,  was  zum  Grunde, 
und  dem,  was  zu  dem  irradiierten  Objekt  gerechnet  wird,  bestimmt  ist 

durch  die  Gleichung  J=  y  a  [JM  -fr-  AM) ,  wo  «  die  Intensität  des  Grundes, 

JM  +  AM  die  Maximalintensität  ist.   Hier  sind  also  zwei  Möglichkeiten,  denn 

die  Grenze  kann  entweder  in  den  Punkten  von  der  äußeren  Peripherie  bis 
zur  Entfernung  b  oder  von  der  Entfernung  bis  zum  ideellen  Rande  fallen, 
und  für  jeden  der  beiden  Fälle  erhält  man  eine  besondere  Formel  zur  Be- 
rechnung der  Lage  derselben.    Im  ersten  Falle  hat  man: 


«+i.|,.-.,-|/.[.+  *(i-i)7.-.,], 

wonach  der  Zuwachs  des  Netzhautbildes  t  =  *  —  x  wird : 


Im  zweiten  Falle  ist: 


woraus 


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62 


Literaturbericht. 


Da  man  fUr  große  Werte  von  b  haben  muß  />s  —  6,  muß  man  also 
die  erste  Gleichung  anwenden,  solange  man  mit  verhältnismäßig  großen 
Werten  von  b  zu  tun  hat;  und  sobald  man  durch  abnehmende  b  zu  einem 
Werte  von  /  <  *  —  b  kommt,  so  muß  man  fiir  diesen  und  alle  kleineren 
Werte  von  b  die  zweite  Gleichung  anwenden.   Setzt  man  in  den  Gleichungen 

re  1 

-r  =  -,.r,  nnd  nacheinander  6  =  2x,  6=1.8*  usf..  so  erhält  man  für  /  und 
t  öl 

fllr  die  scheinbare  Breite  des  Objektes,  die  der  Summe  des  ideellen  Netz- 
hautbildes  und  des  Irradiationszuwachses  nach  beiden  Seiten  gleich  sein 
muß,  a  =  b  +  2t: 

6  =  2*,  1.8,         1.6,         1.0,         0.3,  0.01; 

»=0.504*,      0.606,      0.510,      0.546,      0.654,  0.555; 

«  =  3.01»,       2.81,       2.62  ,        2.09,        1.61,  1.12. 

Die  Tabelle  zeigt,  daß  der  Zuwachs  /  bis  zu  einer  gewissen  Grenze  mit 
dem  abnehmenden  Werte  von  b  wächst   Die  Tabelle  zeigt  ferner,  daß  « 

viel  langsamer  als  6  abnimmt.    Während  nämlich  b  zu  einem  seiner 

ursprunglichen  Größe  verringert  wird,  nimmt  «  kaum  zn  ^  ab.  Die  schein- 
bare Grüße  eines  Objektes  ist  also,  innerhalb  nicht  gar  zn  weiter  Grenzen, 
konstant,  unabhängig  von  dem  Gesichtswinkel  derselben,  wenn  dieser  nui 
klein  ist.   Die  Sätze  selbst  sind  experimentell  vorlängst  festgestellt1}. 

Man  kann  nun  die  durch  Versuche  und  theoretisch  festgestellten  Ergeb- 
nisse dieser  Untersuchungen  Uber  die  Irradiation  der  hellen  Objekte  auf 
dunkelm  Grunde  in  folgender  Übersicht  sammeln: 

1)  Für  Objekte,  die  unter  einem  so  großen  Gesichtswinkel  gesehen 
werden,  daß  ihre  ideellen  Netzhautbilder  größer  sind,  als  der  Diameter  der 
Zerstreuungszirkel,  ist  die  Irradiationszunahme  für  ein  gegebenes  Auge  in 
bestimmtem  AkkommodationBzustand  konstant,  unabhängig  von  dem  Gesichts- 
winkel des  Objektes,  solange  das  Verhältnis  zwischen  der  Helligkeit  des 

Grundes  und  des  Objektes  y  konstant  ist. 

2)  Nimmt  das  Verhältnis  -"-  ab,  sei  es  nun,  daß  *  zunimmt,  während  « 

konstant  ist,  oder  daß  «  abnimmt,  während  t  konstant  ist,  so  wird  die 
Irradiationszunahme  wachsen,  und  das  Entgegengesetzte  findet  also  statt, 

wenn  —  wächst, 
i 

3)  Fiir  Objekte,  die  unter  einem  so  kleinen  Gesichtswinkel  gesehen 
werden,  daß  die  lineare  Ausdehnung  des  ideellen  Netzhautbildes  kleiner  ist 

als  der  Diameter  des  Zerstreuungswinkels,  wird,  vorausgesetzt  daß  kon- 
stant ist,  die  Irradiationszunahme  dergestalt  mit  abnehmendem  Gesichts- 
winkel wachsen,  daß  die  scheinbare  Größe  des  Objektes  konstant  ist. 

Man  kann  die  Konsequenzen  der  nachgewiesenen  Irradiationsgeeetze  mit 
Rücksicht  auf  die  Sichtbarkeit  farbloser  Objekte  entwickeln,  und  dabei  die 
Bedingungen,  unter  denen  ein  Objekt  uns  sichtbar  werden  kann,  festzustellen 
snchen.    Die  Annahme,  daß  ein  Objekt  sichtbar  sein  wird,  wenn  es  eine 


1)  Volkmann,  Aubert. 


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Litoraturbericht. 


68 


bestimmte  Menge  Licht  in  das  Auge  wirft,  gleichviel,  ob  diese  Lichtmenge  ein 
größeres  oder  kleineres  Areal  der  Netzhaut  trifft,  gibt  in  Verbindung  mit 
den  Irradiationsgesetzen  die  Mittel  an  die  Hand,  auf  dem  Wege  der  Berech- 
nung eine  Formel  für  die  gegenseitige  Abhängigkeit  des  Gesichtswinkels  und 
der  Lichtstärke  aufzustellen.  Man  kann  in  bezug  auf  die  Sichtbarkeit  eines 
Objektes  folgende  Bedingungen  aufstellen :  Eine  Lichtempfindung  wird  ent- 
stehen künnen,  d.  h.  ein  Objekt  wird  sichtbar  werden,  wenn  die  Lichtmenge, 
die  von  demselben  in»  Auge  gelangt,  nur  nicht  unter  einen  gewissen 
Hinimumswert  herabsinkt,  oder  sich  über  ein  Areal  verbreitet,  das  eine  ge- 
wisse Größe  Uberschreitet.  Findet  letzteres  statt,  so  daß  die  Beleuchtung 
eines  jeden  Netzhautpunktes  unter  eine  gewisse  Größe  herabsinkt,  so  muß 
die  ganze  ins  Auge  gelangende  Lichtmenge  in  einem  der  Größe  des  Areals 
entsprechenden  Verhältnis  vermehrt  werden,  wenn  das  Objekt  wieder  sicht- 
bar werden  soll.  Solange  nicht  entweder  das  Objekt  oder  der  Grund  ver- 
ändert wird,  der  Abstand  des  Lichtgebers  von  beiden  sei,  welcher  er  wolle, 
wird  das  Verhältnis  zwischen  den  von  jeder  Arealeinheit  von  denselben  re- 
flektierten Lichtmengen  und  folglich  zwischen  der  Beleuchtung  des  Netz- 

hautbildes  und  des  Augengrundes,   .• ,  konstant  sein,  wodurch  die  Irradia- 

donszunahme  unverändert  bleibt.  Betrachtet  man  nun  vorerst  das  Objekt 
in  einem  so  großen  Abstand,  daß  die  scheinbare  Größe  desselben  unver- 
ändert ist,  so  wird  auch  das  irradiierte  Netzhautbild  eine  konstante  Aus- 
dehnung d  haben.  Ist  die  lineare  Ausdehnung  des  ideellen  Netzhautbildes  6, 
und  ist  die  Beleuchtung  desselben,  die  Lichtstärke  auf  jedem  Flächenelement,  *, 
so  wird  die  ganze  ins  Auge  gelangende  Lichtmenge  6*i  sein.  Von  dieser 
maß  nun  ein  Teil  sich  unserer  Auffassung  entziehen,  der  nämlich,  der  über 
die  scheinbare  Grenze  des  Objektes  zerstreut  wird.  Da  die  verlorene  Licht- 
roenge,  in  dem  Falle  der  Objekte  unter  sehr  kleinem  Gesichtswinkel,  außer- 
ordentlich gering  ist,  weil  der  größte  Teil  des  Areals,  Uber  welches  das  Licht 
zerstreut  wird,  als  dem  Objekt  angebörig  aufgefaßt  wird,  und  weil  ein  Teil 
des  irradiierten  Lichtes  vom  Grunde  den  Verlust  ersetzt,  so  ist  es  möglich, 
anstatt  die  Formeln  zu  entwickeln,  die  ganze  Lichtmenge  b*i  als  innerhalb 
der  scheinbaren  Grenzen  des  Objekts  wirksam  zu  betrachten.  Das  Objekt 
wird  unsichtbar  werden,  wenn  b*  »  =»  M ,  wo  Af  die  ebenmerkliche  Lichtmenge 
ist.   Hat  man  in  einem  andern  Falle  b^  t,  =  Jf,  so  wird  b*  t«=6J  t,  .  Da 

aber  -—-  =  *!  ,  wo  *  und  *i  die  Abstände  des  Auges  vom  Objekt  bezeichnen, 
i  „t 

nnd  -r-  = — -,  wo  «  und  ett  die  Entfernungen  der  Lichtquellen  vom  Ob- 
t,  «5 

jekt  bezeichnen,  so  wird  *«  =  «!«, .  Das  Resultat  ist  also,  daß  für  sehr 
kleine  Gesichtswinkel  das  Produkt  des  Abstandes  des  Auges  und  der  Licht- 
quelle vom  Objekt  konstant  sein  wird,  wenn  das  Objekt  eben  unsichtbar  ge- 
worden ist.  Anders  stellt  sich  die  Sache,  wenn  das  Objekt  unter  einem  so 
großen  Gesichtswinkel  betrachtet  wird,  daß  &>2s,  in  welchem  Falle  das 
Netzhautbild  durch  die  Irradiation  einen  konstanten  Zuwach»  erhält,  und 
folglich  von  dem  Areal,  Uber  welches  das  Lieht  zerstreut  wird,  ein  kleinerer 
Teil  als  im  ersten  Falle  als  dem  Objekt  angehörig  aufgefaßt  wird.  Da  der 
Abstand  des  äußersten  Punktes  der  Zerstreuung  von  der  scheinbaren  Grenze 

des  Objektes  nur  von  *  und  —  abhängig  ist,  so  läßt  sich  beweisen,  daß  für 


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64 


Literaturbericht. 


dasselbe  Auge,  in  gegebenem  Zustand  und  bei  unverändertem  Verhältnis 

auf  jeder  Linie  rechtwinklig  auf  eine  der  Seiten  des  ideellen  Netzhaut- 
bildes  eine  Lichtmenge  k  i  des  vom  Objekt  irradiierten  Lichtes  verloren  geht 
und  ein  Zuwachs  an  Licht  h  o  vom  irradiierten  Grund  erhalten  wird,  wo  k 
und  *t  unabhängige  Konstanten  sind.  Da  der  Perimeter  des  Netzhautbildee 
4  6  ist,  so  verliert  das  Objekt  im  ganzen  die  Lichtmenge  4  b  ki  und  erhält 
Abkta.  Und  da  die  ursprüngliche  Lichtmenge  des  Objekts  i  ist  muß  ea 
folglich  unsichtbar  werden ,  wenn  b*i  —  4bki  +  4bkitt  =  M,  wo  M  die 
Lichtmenge  bedeutet,  die  noch  fallen  kann,  ohne  eine  Empfindung  zu  erregen. 
Durch  Vergleichung  der  Verhältnisse  im  andern  Fall  entsteht: 

b*i-4bki  +  ibkia~b\il-4blkii+4blklai. 


Da 


so  erhält  man 


a 

T 


g, 


±_ 


Ii 

3 


*,<*?(«,  -  4  es)  «=»*</*(!  —  4  e),  wo 


Nimmt  man  nun  an ,  daß  durch  einen  einzelnen  Versuch  die  zusammen- 
gehörenden Werthe  «t  und  «t  bestimmt  sind,  so  zeigt  diese  Formet  daß  das 
Produkt  ad  mit  abnehmenden  Werten  für  s  wachsen  wird.  Löst  man  die 
Gleichung  mit  Rücksicht  auf  e ,  so  läßt  sich  e  bestimmen,  wenn  man  will- 
kürlich zwei  Paar  zusammengehörender  Werte  von  s  und  d  wählt,  natürlicher- 
weise nur  solche,  für  welehe  das  Produkt  *  d  wächst,  und  diese  für  *  und  d, 
«i  und  d\  einsetzt.  Ist  c  auf  diese  Weise  gefunden,  wird  man  imstande 
sein,  den  Wert  von  s  für  jeden  beliebigen  Wert  von  «  zu  berechnen,  wenn 
man  die  Formel  mit  Rücksicht  auf  a  auflöst  und  für  st  und  d\  ein  Paar  der 
durch  Versuche  bestimmten  zusammengehörenden  Werte  substituiert 

Man  kann  die  theoretischen  Entwicklungen  durch  folgende  Versuche 
prüfen : 


d 

8 

res 

berechn. 
s 

A  60 

1060 

54000 

60 

914 

54  840 

80 

679 

54320 

B  100 

597 

59  700 

8 

150 

420 

63000 

448 

200 

347 

69400 

356 

250 

278 

69500 

294 

300 

243 

72900 

252 

400 

192 

76800 

8 

Aus  dieser  Tabelle  ist  es  ersichtlich,  daß  die  Produkte  ««  sich  in  zwei 
Gruppen  A  und  B  fallend  zeigen;  in  der  ersten  sind  die  Produkte  konstant, 
in  der  letzten  wachsen  sie  dagegen  mit  den  abnehmenden  Werten  von  «,  was 
das  Ergebnis  der  theoretischen  Betrachtungen  war.  Die  Werte  fUr  s  und  o 
unter  y  und  tf  sind  zur  Berechnung  von  c  benutzt,  welches  in  Verbindung 
mit  y  danach  die  »berechneten«  s  ergeben  hat.    Offenbar  sind  die  berech- 


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Literaturbericht. 


65 


neten  s  mit  einem  konstanten  Fehler  behaftet,  der  davon  herrühren  muß, 
daß  die  zur  Berechnung  benutzten  *  beide  zu  groß  sind. 

Als  praktisches  Resultat  dieser  Untersuchungen  kann  man  also  als  Ab- 
hängigkeitsverhältnis zwischen  dem  Gesichtswinkel  und  der  Lichtstärke 
folgende  Gesetze  aufstellen: 

1)  Für  kleine  Werte  des  Gesichtswinkels  gilt  die  Formel:  sas^a,. 

2)  Werden  die  Gesichtswinkel  so  groß,  daß  1)  nicht  zutrifft,  indem  als- 
dann das  Produkt  s  u  wächst,  so  gilt  die  Formel:  *,of     —  4  c«;  =«'  «*  d  —  4  c). 

Die  zwei  Gesetze  müßten  ebensowohl^  die  Farbenauffassung  der  Objekte 
gelten,  wenn  die  Helligkeiten  der  Farben  konstant  wären.   Wenn  man  nur 
die  Helligkeiten  der  Farben  bei  verschiedenen  objektiven  Beleuchtungen 
kennen  würde,  so  würde  man  imstande  sein,  anzugeben,  ob  der  Kontrast  bei 
einer  gewissen  Beleuchtung  groß  oder  klein  sei,  und  man  würde  demnach, 
wenn  auch  nur  unvollkommen,  den  Einfluß  derselben  würdigen  können. 
Wenn  es  sich  außerdem  dabei  herausstellte,  daß  es  für  eine  oder  mehrere 
Farben  gewisse  Grenzen  gäbe,  innerhalb  welcher  man  die  Beleuchtung 
variieren  könnte,  ohne  daß  die  Helligkeit  der  Farben  im  wesentlichen  Grade 
sich  änderte,  so  würde  der  Kontrast  der  Farben  sich  also  auch  nicht  ändern, 
and  daraus  würde  man  wiederum  folgern,  daß  die  fflr  die  Sichtbarkeit  des 
Objekts  geltenden  Gesetze  auch  für  die  Auffassung  der  Farbe  zwischen  den 
bestimmten  Grenzen  der  Beleuchtung  gelten  würden.   Es  wurde  eine  größere 
Reihe  quantitativer  Bestimmungen  der  Helligkeitsänderungen  der  Farben  bei 
wechselnder  objektiver  Beleuchtung  ausgeführt.   Es  wurden  dazu  die  sechs 
Pigmente  benutzt,  deren  Sättigungen  allgemein  als  denjenigen  der  Spektral- 
farben zunächststehend  betrachtet  werden  und  die  fast  alle  nur  in  einem 
bestimmten  Farbentone  vorkommen  wegen  ihrer  festen  chemischen  Zasammen- 
setzung,  nämlich  reines  Karmin,  Zinnober,  Bleichromat,  Zinkchromat,  Schwein- 
rartergrün  und  Ultramarinblau.    Zu  einer  Bestimmung  der  relativen  Hellig- 
keiten der  Pigmentfarben  kann  man  bei  den  verschiedenen  Beleuchtungen 
die  Farben  mit  einer  weißen  Fläche  vergleichen,  die  von  derselben  Licht- 
quelle wie  die  Pigmente  beleuchtet  wird,  deren  Helligkeit  aber  durch  Bei- 
mischung von  einer  meßbaren  Menge  Schwarz  verändert  wird.    Die  Unter- 
suchungen wurden  mit  einer  Sektorscheibe  angestellt,  und  es  war  die  Auf- 
gabe, die  Anzahl  A*  von  Graden  Weiß  zu  finden,  welche  in  Verbindung 
mit  360°  —  -4°  Schwarz  ein  Grau  von  derselben  Helligkeit  wie  die  der  be- 
trachteten Farbe  geben  würde. 


Beleuchtung 

0.23 

1.3 

51 

490 

2500 

10000 

Karmin 

8 

10 

71 

94 

74 

93 

rot 

Zinnober 

46 

61 

117 

128 

134 

136 

orangerot 

Bleichromat 

107 

101 

194 

207 

229 

242 

orangegelb 

Zinkchromat 

253 

239 

312 

318 

292 

298 

gelb 

Schweinfurtergrün 

170 

169 

131 

156 

148 

163 

grün 

Ultramarin 

97 

93 

73 

80 

65 

83 

blau 

Aus  dem  Vergleiche  zeigt  sich,  daß  Grün  und  Blau  relativ  —  im  Verhält- 
nis zum  Weiß  bei  derselben  Beleuchtung  —  dunkler  werden,  wenn  die  Be- 
leuchtung zunimmt,  alle  die  andern  dagegen  heller.   Dies  stimmt  mit  dem 

Archiv  fftr  Psychologie.   IV.    Lit*r»tnr.  5 


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66 


Literaturbericht. 


als  Resultat  von  den  Versuchen  anderer  Abgeleiteten  l).  Aber  demnächst 
geht  aus  diesen  Versuchen  hervor,  daß  die  Helligkeitsvariationen  nur  recht 
hervortreten  bis  zn  der  Lichtstärke  61,  welche  der  Beleuchtung  in  einem 
gegen  Norden  kehrenden  Zimmer  zur  Mittagszeit  an  einem  dunkeln  reg- 
nerischen Herbsttage  entspricht.  Hieraus  kann  man  den  Schluß  ziehen, 
daß  die  fUr  die  Sichtbarkeit  von  Objekten  gefundenen  Gesetze  mit  großer 
Annäherung  auch  für  die  Farbenauffassung  bei  allen  höheren  Beleuchtungs- 
graden bis  zu  10  000  gelten  werden ,  welche  der  Beleuchtung  eines  Gegen- 
standes entspricht,  der  im  Schatten  in  einem  Zimmer  steht,  das  der  vollen 
Mittagssonne  im  Sommer  durch  eine  große  Fensteröffnung  ausgesetzt  ist 
Zu  einer  Erklärung  der  Veränderungen  des  Farbentones,  denen  die  Farben 
bei  abnehmendem  Gesichtswinkel  unterworfen  sind,  scheint  die  folgende  Be- 
trachtung geeignet  Da  die  Lichtstärke  des  Netzhautbildes  bei  abnehmendem 
Gesichtswinkel  fortwährend  geringer  wird,  wenn  der  Winkel  anfänglich  nur 
klein  ist  80  steht  es  zu  erwarten,  daß  die  Farben  bei  abnehmendem  Ge- 
sichtswinkel ganz  dieselben  Veränderungen  des  Farbentones  zeigen  werden, 
die  sich  geltend  machen,  wenn  der  Gesichtswinkel  konstant  ist,  während  die 
Beleuchtung  bis  zur  Unmerklichkeit  herabsinkt.  Eine  solche  Übereinstimmung 
scheint  aber  in  der  Tat  auch  stattzufinden,  indem  die  Angaben  verschiedener 
Beobachtungen  Uber  die  Variationen  des  Farbentones  bei  abnehmendem  Ge- 
sichtswinkel mit  denen  bei  abnehmender  Beleuchtung  Ubereinstimmen ». 

F.  Biske  (Zürich  . 


13)  Edward  L.  Thorndike,  An  introduetion  to  tbe  theory  of  mental  and 
social  measurements.  212  Seiten.  New  York,  The  Science  Press. 
1904. 

Das  Werk  von  E.  L.  Thorndike  kommt  einem  dringenden  Bedürfnis 
der  experimentellen  und  angewandten  Psychologie  entgegen;  einem  theore- 
tischen und  praktischen  Bedürfnis,  denn  es  fehlte  bisher  in  der  experimentell- 
psychologischen Literatur  an  einer  allgemeinen  Theorie  der  psychischen  Mes- 
sungen und  an  einer  Anleitung  der  Studierenden  zur  Anwendung  raathema- 
tischer Prinzipien  auf  die  quantitative  Verwertung  der  Resultate  des  psycho- 
logischen Experiments.  Das  vorliegende  Werk  ergänzt  diese  Lücke,  und 
zwar  sowohl  fUr  das  psychologische  Experiment  als  fUr  das  gesamte  Stu- 
dium sozialer  Erscheinungen. 

Der  Verf.  äußert  sich  in  folgender  Weise  selbst  über  Absicht  und  Plan 
seines  Werkes.  Die  Erfahrung  hat  zur  Genüge  dargetan,  daß  die  Vorgänge 
des  menschlichen  LebenB,  insbesondere  auch  die  des  Geisteslebens,  einer 
quantitativen  Bestimmung  zugänglich  sind  und  ein  geeignetes  Material  für 
eine  quantitative  Wissenschaft«  darbieten.  Die  direkte  Übertragung  von 
Methoden,  die  in  den  physikalischen  Wissenschaften  oder  in  der  allgemeinen 
Statistik  ausgebildet  worden  sind  anf  die  komplexen  und  variabeln  Vorgänge 
des  menschlichen  Lebens,  hat  zn  rohen  und  oft  trügerischen  Messnngen 
geführt.  Es  war  ferner  bisher  schwierig,  die  Studierenden  zum  Gebrauch 
mathematischer  Methoden  in  der  Psychologie  anzuhalten,  weil  die  Werke, 


1)  Helmholtz,  Chodin.      2)  Aubert,  Chodin. 


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Literaturbericht. 


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auf  die  man  &ie  verweisen  mußte,  entweder  zu  abstrakt  mathematisch  oder 
zu  speziell  waren  und  die  Prinzipien  psychologischer  Messung  in  der  Regel 
nicht  beachteten.  Die  Absicht  Thorndikes  iet  nun.  ganz  speziell  ein  Buch 
für  Studierende  der  Psychologie  und  noch  mehr  für  Studierende  der  An- 
wendungsgebiete der  Psychologie  zu  bieten,  sie  damit  in  die  Prinzipien  psy- 
chischer Messungen  und  statistischer  Rechnungen  einzuführen  und  zum  Ge- 
brauch solcher  Prinzipien  anzuleiten,  damit  sie  fähig  sind,  »quantitative  Evi- 
denz nnd  Beweisführung  kritisch  zu  prüfen  und  ihre  eigenen  Untersuchungen 
exakt  und  logisch  auszuführen«.  Hierbei  hat  Thorndike  ganz  besonders 
gewisse  Gebiete  der  angewandten  Psychologie  im  Auge  gehabt  er  wendet 
eich  mehr  an  die  Studierenden  der  Nationalökonomie,  Soziologie  und  der 
Erziehungswissenschaften  als  an  die  reinen  Psychologen.  Daher  ist  z.  B. 
suf  anthropologische  Messungen  und  Statistik  großer  Wert  gelegt.  Die  ersten 
Kapitel  behandeln  die  allgemeinen  Prinzipien  der  »Messung  eines  Individuums« 
and  der  Messungen  eines  kollektiven  Ganzen  oder  der  Massenmessungen. 
Hierbei  geht  der  Verf.  der  Anwendung  von  Zahl  nnd  graphischer  Darstellung 
in  allen  bekannteren  psychologischen,  pädagogischen,  sozialpädagogischen 
und  verwandten  Experimenten  nach.  In  diesen  Kapiteln  ist  die  Darstellung 
durchweg  zu  wenig  eindringend,  sie  hat  mehr  den  Wert  einer  ersten  Orien- 
tierung des  Studierenden  alB  den  eines  die  wissenschaftlichen  Prinzipien  selbst 
fördernden  Werkes.  Der  Verf.  scheint  aber  durchweg  den  Charakter  des 
Lehrbuches  wahren  zu  wollen,  er  bleibt  deshalb  bei  den  allgemeinen,  oft 
den  allgemeinsten  Anweisungen  stehen,  und  geht  wenig  ins  Detail.  Die 
pädagogische  Tendenz  des  Werkes  tritt  auch  darin  hervor,  daß  den  einzelnen 
Kapiteln  Aufgaben  angehängt  sind.  Die  nächsten  Kapitel  enthalten  die 
Prinzipien  der  Wahrscheinlichkeitsrechnung  und  ihre  Anwendung  auf  psy- 
chische Messungen,  die  Berechnung  von  Mittelwerten  und  Durchschnitts- 
zahlen, den  Gebrauch  von  Häufigkeitstabellen,  die  Theorie  der  Beobachtungs- 
fehler, die  allgemeinen  Fehlerquellen  bei  Messungen  u.  a.  m.  Sehr  nützlich 
ist  ein  besonderes  Kapitel,  das  den  Leser  zu  weiteren  Studien  der  einschlä- 
gigen Literatur  anleitet;  hierbei  wird  außer  der  psychologischen  Literatur 
warum  ist  die  psychophysische  so  wenig  herangezogen  ?)  berücksichtigt :  die 
Erziehungswissenschaft,  die  Nationalökonomie,  die  Anthropometrie,  die 
Lebensstatistik,  die  Biologie  und  die  allgemeine  Methode  der  Statistik. 

Im  Anhang  werden  Tabellen  mitgeteilt  und  dann  die  Losungen  der  vor- 
her im  Text  aufgestellten  Probleme  gegeben,  die  mit  fortlaufenden  Nummern 
bezeichnet  sind. 

Es  wäre  sehr  zu  wünschen,  daß  die  deutsche  psychologische  Literatur 
bald  um  ein  ähnliches  Werk  wie  das  von  Thorndike  bereichert  würde. 

E.  Meumann  (Zürich). 


14  Hubert  Merk  er,  Tanbstummblind,  eine  psychologische  Skizze.  (Ab- 
gedruckt in  »Hochland«,  Monatsschrift  für  alle  Gebiete  des  Wissens, 
der  Literatur  und  Kunst.  Herausgeber  K.  Muth.)  Kempten,  Ver- 
lag von  Josef  Kösel.  1904. 

La  Mettrie  erwägt  in  seiner  »Histoire  naturelle  de  Tarne«  die  Mög- 
lichkeit der  Taubstummenblindheit  und  behauptet,  daß  »höhere«  psychische 

5* 


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Literaturbericht. 


Funktionen  bei  damit  Behafteten  schlechthin  unmöglich  seien.  Diesem  Er- 
gebnis logischen  Konstruierens  entsprechen  keineswegs  die  besonders  in  der 
Neuzeit  vorliegenden  Fakta.  Fälle  wie  der  der  Laura  Bridgman  oder  Helen 
Keller  zeigen,  zu  welchem  Grade  psychischer  Reife  selbst  Individuen  ge- 
langen können,  bei  denen  Tast-  und  Bewegungsempfindungen  für  die  der 
»höheren«  Sinne  eintreten  müssen.  Weit  frappanter  dürfte  sich  dies  aber 
zeigen  an  der  19jährigen  Marie  Heurtin  in  der  Schwesternanstalt  (!)  zu 
Larnay  (Frankreich),  deren  Bildungsgang  Verfasser  in  großen  Zügen  kenn- 
zeichnet mit  der  ausgesprochenen  Absicht,  zur  Kenntnis  des  Falles  >in  aller 
Welt«  beizutragen.  Auch  wir  müssen  wünschen,  daß  das  an  Marie  Heurtin 
iresammelte  Tatsachenmaterial  bald  tranz  in  das  Licht  der  Wissenschaft 
gerückt  werde,  —  vornehmlich  Philosophen  und  Pädagogen  haben  ein 
eminentes  Interesse  daran.  Bis  zur  definitiven  und  erschöpfenden  Prüfung 
des  Falles  gebietet  jedoch  die  Vorsicht,  die  Vollwertigkeit  der  höheren  Be- 
griffe eines  taubstummblind  geborenen  Individuums  in  Zweifel  zu  ziehen  und 
sich  vor  Schlüssen  zu  hüten,  die  ebenso  gewagt  sein  konnten,  wie  die  des 
eingangs  erwähnten  Sensualisten.  Dr.  Ernst  Ebert  (Dresden). 


15)  Thoodor  Heller,  Grundriß  der  Heilpädagogik.  Mit  2  Abbildungen  auf 
einer  Tafel.  X,  366  S.  gr.  8<>.  Leipzig,  Wilhelm  Engelmann,  1904. 
M.  8.—  ;  geb.  M.  9.-. 

Hellers  Grundriß  der  Heilpädagogik  will  Lehrern  eine  Unterweisung  in 
der  Beobachtung  von  Anzeichen  geben,  nach  denen  man  aus  dem  Verhalten 
erkrankter  Schüler  möglichst  richtig  und  zeitig  genug  auf  die  Art  ihrer  Leiden 
schließen  kann.  Sind  Uberhaupt  erst  die  im  verborgenen  schleichenden  Ge- 
fahren, ehe  es  zu  spät,  entdeckt,  so  läßt  sich  ihnen  auch  durch  schnelles 
Hinzuziehen  eines  umsichtigen  Arztes  der  gefährlichste  Stachel  nehmen.  Die 
Entdeckung  von  Anomalien  wird  mit  Hilfe  der  hier  gegebenen  Anweisung 
sehr  erleichtert  Rascher  wird  eine  genaue  Umgrenzung  ihres  Grades  und 
ihrer  Art  und  Weise  erfolgen;  und  wenn  nun  das  Krankheitsbild  nach  jeder 
Richtung  hin  klargestellt,  braucht  der  Lehrer  den  Leidenden  nicht  nur  ärzt- 
licher Pflege  zu  überlassen,  er  trachtet  vielmehr  danach,  mit  seinem  Unter- 
richt das  Seine  zur  Heilung  des  erkannten  pathologischen  Verhaltens  bei- 
zutragen. Wirksame  Ergänzung  medizinischer  und  pädagogischer  Arbeit,  das 
eben  ist  Zweck  und  Ziel  dieses  Grundrisses.  Damit  erweist  sich  auch  durch- 
aus seine  Notwendigkeit.  Denn  sieht  der  Arzt  auch  den  Schüler  mit  seinem 
für  die  Beobachtung  von  Krankheitsbildern  geschärften  Blicke,  so  kann  er 
ihn  doch  —  auch  als  Schularzt  —  ungleich  seltener  als  der  Lehrer  zu  Gesicht 
bekommen,  ja  möglicherweise  gerade  dann  nur,  wenn  der  Zustand  des  Er- 
krankten nicht  die  charakteristischen  Zeichen  des  pathologischen  Bildes  deutlich 
erkennen  läßt.  Dann  muß  der  Lehrer  dem  Arzte  die  Beschreibung  liefern. 
Dies  wird  er  richtig  nur  dann  kOnnen,  wenn  er  weiß,  auf  welche  Merkmale 
er  zu  achton  hat:  was  wichtig,  was  bedeutungslos. 

Welche  Pädagogik  aber  dem  Kinde  angemessen,  kann  wiederum  der 
Arzt,  sofern  ihm  das  pädagogische  Gebiet  Überhaupt  fern  liegt,  nicht  abwägen. 
Wo  er  nur  ganz  allgemein  »mäßige  Beschäftigung«  anempfehlen  kann,  da 
wird  der  Lehrer  wiederum  an  die  frühere  Ausbüdungsweise  seines  erkrankten 


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Literaturbericht. 


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Pfleglings  anzuknüpfen  suchen,  ihn  seiner  ihm  ebenfalls  von  früher  her  be- 
kannten Eigenart  entsprechend  behandeln.  Wie  aber,  ohne  ihm  zu  schaden, 
dazu  gehört  reiche  Erfahrung.  Solche  ist,  an  einzelnen  gewonnen  und  dann 
doch  in  allgemeiner  Fassung,  in  dem  Grundriß  dargestellt  und  niedergelegt 
worden. 

In  früherer  Zeit  stand  der  Glaube  an  die  Bildungsunfähigkeit  schwach- 
sinniger Kinder  so  unerschütterlich  fest,  daß  uns  nirgends  berichtet  wird,  es 
sei  ein  Versuch,  sie  durch  Erziehung  und  Unterricht  zu  fördern,  unternommen 
worden. 

»Die  Simpel  oder  Tölpel  . . .  trieben  sich  auf  den  Straßen  und  öffent- 
lichen Plätzen  herum  und  waren  häufig  die  Zielscheibe  der  rohesten  Späße. 
Die  Internierung  Schwachsinniger  diente  ausschließlich  den  Zwecken  der 
öffentlichen  Sicherheit,  und  es  kam  nicht  selten  vor,  daß  geistig  abnorme 
Kinder  auf  ausdrückliches  Verlangen  ihrer  nächsten  Angehörigen  in  Gewahr- 
sam gebracht  wurden,  weil  man  sich  mit  ihnen  nicht  zu  helfen  wußte.« 

Der  Salzburger  Goggenmos  gründete  1828,  der  Schweizer  Guggenbühl 
Ende  der  dreißiger  Jahre  eine  Anstalt  zur  Pflege  jugendlicher  Schwachsinniger. 
Der  englische  Minister  Gordon  in  Bern  veranlaßte  eine  Untersuchung  des 
menschenfreundlichen  Unternehmens  Guggenbühls.  Nach  dieser  Untersuchung 
als  Scharlatan  gebrandmarkt,  starb  Guggenbühl  1863;  seine  Anstalt  war  ge- 
schlossen worden.  GnggenbühlB  Fehler  bestand  darin,  sich  zu  viel  von  dem 
heilpädagogischen  Verfahren  versprochen  zu  haben,  nämlich  leichte,  voll- 
ständige Rettung  der  Erkrankten. 

So  mußte  sich  durch  viele  Irrtümer  die  neue  Wissenschaft  Bahn  brechen. 
Wenn  dieser  Versuch  einer  neuen  Begründung:  Wilhelm  Wundt  gewidmet  ist, 
so  weist  damit  der  Verfasser  anf  den  Mann  hin,  dessen  Lebenswerk  not- 
wendig war,  um  die  heutigen  Erfolge  zn  erzielen.  Auch  jetzt  noch  ein  Anfange- 
stadium, doch  ein  in  richtiger  wissenschaftlicher  Harmonie  wohlbegrttndeteB ! 

Das  läßt  sich  an  der  Hand  des  hier  niedergelegten  Erfahrungsgehalts  am 
treffendsten  nachweisen.  Solches  zu  sammeln,  war  in  reichem  Maße  Gelegen- 
heit vorhanden. 

Mit  welchem  Nachdruck  freie  Liebestätigkeit  an  dem  Werke  der  Für- 
sorge für  die  gefährdete,  verlassene  und  verwahrloste  Jugend  im  stillen  weiter 
gearbeitet  hat,  geht  daraus  hervor,  daß  man  bereits  am  1.  Oktober  1898  in 
Preußen  678  Erziehungsanstalten  errichtet  hatte,  die  diesen  Zweck  verfolgten, 
Uber  100  Millionen  Mark  ohne  Staatszuwendungen  aufbrachte  und  40626 
Zöglingen  solche  Pflege  angedeihen  ließ.  Staatliche  und  Provinzialanstalten 
traten  hinzu.  Ein  eigenes  preußisches  FUrsorgegesetz  ist  am  1.  April  1901 
in  Kraft  getreten. 

Aus  der  Fülle  der  für  die  Heilpädagogik  besonders  in  Betracht  kommenden 
Talle  dürften  die  Erörterungen  Uber  den  Unterricht  als  therapeutische 
Maßregel  als  besonders  wertvoll  hervorgehoben  werden. 

Nach  Anerkennung  des  Rechts,  das  anch  ein  epileptisches  Kind  auf  Er- 
werbung der  notwendigen  Kenntnisse  und  Fertigkeiten  hat,  wird  zugestanden, 
daß  »die  natürliche  Schonnngsbedürftigkeit  solcher  Kinder«  den  Unterricht 
nicht  bloß  zu  einem  sehr  schwierigen,  sondern  auch  verantwortungsvollen 
macht  »Dabei  ist  die  Auffassungsfähigkeit  der  Patienten  fortwährenden 
Schwankungen  unterworfen;  überdies  setzt  der  in  den  meisten  Fällen  un- 
aufhaltsame geistige  Verfall  der  Schüler  den  Bemühungen  des  Lehrers  ein 
nahes  Ziel.   Trotz  dieser  nicht  unbeträchtlichen  Schwierigkeiten  und  der  oft 


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Literaturbericht 


sehr  geringen  Unterrichtserfolge  ist  die  hinreichende  Beschäftigung  jagend- 
licher Epileptiker  von  großer  Bedeutung,  weil  hierdurch  am  ehesten  jenen 
Angstgefühlen  begegnet  werden  kann,  die  in  vielen  Fällen  auch  in  der  anfalls- 
freien Zeit  vorkommen.  Besteht  auch  keine  Erinnerung  an  den  Anfall  selbst 
so  prMgen  sich  doch  bisweilen  die  Vorzeichen  desselben  dem  Gedächtnis  ein. 
Das  Kind  beobachtet  sich  selbst,  die  geringste  unangenehme  Sensation  er- 
weckt die  Angst  vor  einem  neuen  Anfall.  Werden  diese  zur  Hypochondrie 
neigenden  Kinder  zweckmäßig  beschäftigt,  so  kann  ihrem  Denken  eine  andere 
Richtung  gegeben  werden.  In  diesem  Sinn  ist  der  Unterricht  tatsächlich  als 
eine  therapeutische  Maßregel  anzusehen.«  Doch  nicht  allein  diese  prophylak- 
tische Wirkung,  den  Angstgefühlen  vorzubeugen,  vermag  solcher  Unterricht 
auszuüben,  ihm  kann  noch  ein  viel  höherer  Wert  zukommen.  Moralischer 
Minderwertigkeit  epileptischer  Kinder  kann  gesteuert  werden.  Erweisen  sich 
doch  in  vielen  Fällen  die  schlechten  Charaktereigenschaften  dieser  Kinder 
nur  als  ein  Produkt  verfehlter  Erziehung.  >Die  Angehörigen  fürchten  die 
Übeln  Folgen  jeder  Aufregung  und  lassen  daher  dem  Willen  des  Kindes 
freien  Lauf.« 

Die  so  wichtige  Überbürdungsfrage  kommt  namentlich  bei  choreatischen 
Kindern  zur  Sprache,  welche  nur  zu  leicht  wegen  ihrer  vermeintlichen  Nach- 
lässigkeit bestraft  werden,  wodurch  das  Übel  nur  noch  verschlimmert  wird.  — 
Überbürdung  oder  Übertreibung  kann  auch  leicht  bei  gymnastischen  Übungen 
vorkommen,  also  gerade  bei  Anwendung  eines  Mittels  gegen  die  schädlichen 
Wirkungen  starker  geistiger  Anspannung.  Bei  diesem  so  wichtigen  Heil- 
mittel empfiehlt  Heller  ausdrücklich  Vorsicht,  damit  die  Gesundheit  der 
Zöglinge  nicht  beeinträchtigt  werde  (S.  323).  Auf  gymnastische  Übungen  legt 
Heller  für  die  gesamte  geistige  Entwicklung  der  Schwachsinnigen  hohen 
Wert.  Sie  bieten  nach  seiner  Erfahrung  das  wirksamste  Mittel  zur  Behebung 
tikartiger  und  choreiformer  Bewegungen.  Sie  dienen  als  >  Hemmungsgymnastik < . 

Eine  Ergänzung  und  Vervollkommnung  der  gymnastischen  Übungen  er- 
blickt H  e  1  le  r  im  Handfertigkeitsunterricht  Allerdings  Bind  bei  ihm  namentlich 
anfangs  nicht  unwesentliche  Schwierigkeiten  zu  bewältigen ;  eignen  sich  doch 
die  für  den  Handfertigkeitsunterricht  normaler  Kinder  aufgestellten  Lehrpläne 
in  der  Regel  nicht  für  schwachsinnige  Schüler,  »weil  sie  die  Fähigkeit,  räum- 
liche Gebilde  der  verschiedenen  Art  anschaulich  aufzufassen,  ab  gegeben 
voraussetzen,  während  der  heilpädagogische  Handfertigkeitsunterricht  die 
bezüglichen  Kenntnisse  in  vielen  Fällen  erst  ausbilden  maß«.  Auch  der 
praktische  Wert  des  Handfertigkeitsunterrichts  ist  ein  sehr  großer,  weil  er 
den  Schüler  nicht  allein  für  die  Verrichtung  des  täglichen  Lebens  geschickt 
macht,  sondern  auch  eine  Vorschule  für  die  Erlernung  bestimmter  Handwerke 
werden  kann,  Arbeitsfreudigkeit  hervorruft  und  den  Gefahren  des  Müßig- 
gangs steuert 

Heller  muß  in  dem  Bestreben,  möglichst  vollständig  sein  Thema  zu  be- 
handeln, wiederholt  auf  schon  oft  behandelte  Themata  zu  sprechen  kommen. 
Hierbei  ist  sein  Geschick  zu  bewundern,  oft  scheinbar  recht  nebensächliche 

Dinge  (Abnagen  der  Fingernägel  ;  in  systematischen  Zusammenhang  zu 

einer  ganzen  Gruppe  krankhafter  Erscheinungen  zu  bringen  und  eine  derartige 
Rubrizierung  zu  rechtfertigen. 

Hin  und  wieder  lassen  sich  wohl  andere  als  die  von  Heller  angeführten 
Gründe  für  daB  Zustandekommen  der  von  ihm  beobachteten  Erscheinungen 
geltend  machen.   S.  117  sagt  II  eller  z.  B.:  »Einzelne  Buchstaben  werden 


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Literaturbericht. 


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beim  Schreiben  weggelassen,  aber  durch  andere  ersetzt,  anch  Unterstellungen 
von  Buchstaben  kommen  vor.  Nach  meinen  Erfahrungen  kommt  das  Schreib- 
stammeln  in  der  Regel  dadurch  zustande,  daß  sich  das  Kind  beim  Schreiben 
die  Wörter  lautierend  vorspricht,  wodurch  die  Mängel  seiner  Aussprache  auch 
auf  die  Schriftsprache  übertragen  werden.« 

Ob  dieser  von  Heller  angeführte  Grund  bei  Kindern  die  Regel  bildet, 
erscheint  deshalb  fraglich,  weil  Erwachsene  ihren  Zustand  bei  derartigem 
fehlerhaften  Schreiben  so  analysierten,  daß  sie  ihre  Aufmerksamkeit,  während 
die  Finger  mechanisch  die  Buchstaben  niederschrieben,  bereits  auf  eine  fol- 
gende Silbe  bzw.  ein  folgendes  Wort  gerichtet  hätten.  Die  Tatsache,  an 
andere  Wortabschnitte  oder  an  andere  ganze  Wörter  als  die  augenblicklich 
verlangten  zu  denken,  erklärt  das  Weglassen  einzelner  Buchstaben,  das  Er- 
setzen durch  andere  wie  Unterstellungen  von  Buchstaben  sehr  wohl. 

Von  hohem  Interesse  ist  das  reichlich  benutzte  zuverlässige  statistische 
Material.  Wie  sehr  vermag  es,  namentlich  wo  physiologische  Abnormitäten 
als  Ursachen  geistiger  Defekte  in  Betracht  kommen,  die  Diagnose  zu  er- 
leichtern! So,  wenn  William  Hill  >bei  fast  allen  geistig  zurückgebliebenen 
Kindern  im  Earslwood-Asyl  eine  mehr  oder  minder  ausgesprochene  Behinderung 
der  Nasenatmung«  fand.  Immerhin  darf  bei  keinem  Versuche,  »Charakter- 
bilder imbeziller  Individuen  durch  Anführung  ihrer  hervorstechendsten  Eigen- 
schaften zu  entwerfen«,  vergessen  werden,  »daß  diejenigen,  welche  nach 
Maßgabe  Ubereinstimmender  Merkmale  ein  nahezu  gleichartiges  Verhalten  an 
den  Tag  legen«,  .  . .  »sich  in  Wirklichkeit  voneinander  sehr  wesentlich  unter- 
scheiden«. 

Auch  die  wichtigen  Erfordernisse,  die  in  Anwesenheit  schwachsinniger, 
sehr  oft  mit  Scharfblick  für  die  Sonderbarkeiten  der  Personen  ihrer  Umgebung 
ausgestatteter  und  zum  Nachäffen  ihrer  Stimme  und  Haltung  aufgelegter  Kinder 
an  den  Erzieher  herantreten,  vor  allem  die  Selbstbeherrschung,  werden  ent- 
sprechend gewürdigt. 

Eine  Vermehrung  der  Abbildungen  wäre  gerade  bei  dem  Zweck  des 
Buches,  nicht  medizinisch  Vorgebildeten  als  Anleitung  zu  dienen,  sehr  zu 
wünschen.  Hi  eise  her  (Heidelberg). 


16)  Theodor  Heller,  Studien  zur  Blindenpsychologie.  Mit  3  Figuren  im 
Text.  VII,  136  S.  gr.  8<>.  Leipzig,  Wilhelm  Engelmann,  1904. 
M.  3. — . 

Th.  Heller,  der  Direktor  der  heilpädagogischen  Anstalt  zu  Wien-Grin- 
zing,  gibt  in  dem  vorliegenden  Bändchen  seine  Untersuchungen  an  Blinden 
neu  heraus,  die  zum  erstenmal  1895  im  XI.  Bande  von  Wundts  Philos. 
Studien  erschienen  waren.  Der  Inhalt  ist  im  wesentlichen  derselben  geblieben 
wie  in  der  früheren  Abhandlung,  er  ist  bereichert  um  daB  neue  Kapitel:  »Zur 
Geschichte  der  Blindenpädagogik«,  um  ein  Namen-  und  Sachregister  und  neue 
Literaturangaben.  H ellers  Studien  haben  sich  offenbar  schon  in  der  früheren 
Form  viele  Freunde  erworben,  sie  führen  in  vortrefflicher  Weise  in  die  psy- 
chologischen Hauptfragen  des  Seelenlebens  der  Blinden  ein,  sie  analysieren 
den  Mechanismus  des  Tastens  der  Blinden,  bobandeln  den  Tastraum,  das 
Lesen  und  Schreiben  der  Blinden  u.  a.  m.,  was  auch  den  Blindenlehrer  für 
die  Praxis  interessieren  muß.   Die  Analyse  des  »Ferngefühls«  der  Blinden 


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Literaturbericht 


and  der  Nachweis  der  interessanten  »Snrrogatvorstellnngen«,  mit  denen  der 
Erblindete  ähnliche  Leistungen  wie  der  vollsi?nige  Mensch  vollbringt,  wurde 
wohl  zum  erstenmal  durch  den  Verf.  in  befriedigender  Weise  gegeben.  Wir 
können  die  kleine  Schrift  auf  das  wärmste  empfehlen. 

E.  Meumann  (Zürich). 


17)  Robert  Lincoln  Kelly,  Psychophysical  tests  of  normal  and  abnormal 
cbildren.  Studies  from  the  psychophysical  Laboratory  of  the  Uni- 
versity  of  Chicago.  Comm.  by  Prof.  J.  R.  Angell.  ThePsycho- 
logical  Review.  X.  4.  July  1903. 

Die  Versuche,  von  denen  Kelly  berichtet,  wurden  ausgeführt  an  Schü- 
lern der  »Elementarschule  der  Universität  von  Chicago«  und  in  der  »Chicago 
Physiological  School«.  Die  Kinder  der  ersteren  Schule  sind  normal  und 
stammen  aus  durchschnittlich  guten  Verhältnissen,  die  der  letzteren  sind 
schwache  und  zurückgebliebene  Schüler,  die  aber  immerhin  noch  als  erzieh- 
bar gelten,  bei  vielen  von  ihnen  liegen  vererbte  körperlich-geistige  Schäden 
vor.  Der  Verf.  hielt  es  mit  Recht  bei  der  Unsicherheit  der  meisten  tests 
für  notwendig,  recht  zahlreiche  Prüfungsmittel  zu  verwenden.  Diese  lassen 
sich  in  drei  Klassen  teilen:  1)  Die  gewöhnlichen  Prüfungen  der  Sinnestätig- 
keit; 2)  Muskelprüfungen,  einschließend  zahlreiche  Formen  motorischer  Koor- 
dination, an  denen  zugleich  motorische  Ermüdung  untersucht  wurde;  3)  spe- 
zielle Prüfung  der  vorwaltenden  Form  der  Vorstcllungstätigkeit ,  der  emo- 
tionellen Reaktionsweise  u.  a.  m.  Hiermit  wurden  für  die  Schüler  der  erst- 
genannten Schule  körperliche  Untersuchungen  Uber  das  Gewicht,  Größe, 
Vitalkapazität  und  Dynamometerleistung  verbunden.  Die  Zwecke  der  Ver- 
suche waren  die  folgenden:  1)  Es  sollten  >psychische  Daten«  gewonnen 
werden  zur  »Bestimmung  des  fruchtbarsten  pädagogischen  Fortschritts«  für 
jedes  Kind;  2;  es  sollten  Kennzeichen  gefunden  werden,  durch  die  sich  das 
abnorme  Kind  sicher  von  dem  normalen  unterscheiden  ließe;  3]  es  galt  wo- 
möglich einen  Ersatz  zu  finden  für  daB  gegenwärtig  übliche,  zugestandener- 
maßen pädagogisch  und  psychologisch  unzureichende  Zensurwesen;  endlich 
sollte  im  allgemeinen  eine  gründlichere  Kenntnis  von  dem  geistigen  Leben 
des  Kindes  angebahnt  werden. 

Betrachten  wir  zunächst  die  sensorischen  tests  an  normalen  Kindern. 
Der  Verf.  betont  mit  Recht,  es  sei  erstaunlich,  daß  trotz  der  Einfachheit  der 
Prüfung  der  kindlichen  Sinne  oft  große  Defekte  derselben  den  Eltern  und 
Erziehern  verborgen  bleiben.  Von  53  Kindern  der  Elementarschule  hatten 
drei  ernstliche  Sinnesdefekte,  ungenügende  Sehschärfe  hatte  ein  Kind,  61  n 
waren  anastigmatiscb ;  es  fanden  sich  zwei  Fälle  von  so  ausgesprochener 
Farbenblindheit,  daß  die  Kinder  dadurch  beim  Unterricht  behindert  wurden; 
die  Mädchen  hatten  eine  fast  gleichmäßig  niedrigere  Geschmacksschwelle  als 
die  Knaben,  Veilchengeruch  wurde  von  den  Mädchen,  Gewürznelken  von  den 
letzteren  besser  erkannt;  Verf.  meint,  der  ästhetische  Geruch  trenne  sich  hier 
von  dem  praktischen.  Sauer  wird  von  den  Hnuptgeachinäckon  merkwür- 
digerweise am  schlechtesten  erkannt,  namentlich  bei  den  Knaben,  s/s  yon 
ihnen  kennen  keine  Bezeichnung  dafür;  die  allgemeineren  Bezeichnungen 
sauer,  bitter  usw.  sind  den  Kindern  bekannter  als  die  spezielleren,  wie  Zitronen- 


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Literaturbericht. 


73 


geschmack  u.  dgl.  Schwache  Geschmäcke  werden  oft  verwechselt,  wobei  der 
mimische  Ausdruck  im  Sinne  der  Verwechslung  eintritt  (also  wohl  durch  die 
Vorstellung  von  dem  Geschmack  und  deren  GefUhlston,  nicht  durch  den  Reiz 
bestimmt  wird). 

Vergleichen  wir  damit  den  Auafall  der  sensorischen  Prüfungen  an  ab- 
normen Kindern.  Die  »Kinder«  standen  im  Alter  von  10—22  Jahren.  Der 
Verf.  hebt  hervor,  wieviel  Mühe  und  Sorgfalt  solche  Versuche  erfordern, 
es  ist  notwendig,  erst  das  Vertrauen  der  Kinder  zu  gewinnen.  Unter  zwölf 
von  diesen  Kindern  hatten  sechs  Defekte  in  der  Farbenwahrnehmung,  nur 
zwei  (Mädchen)  hatten  eine  korrekte  Farbenbenennung.  Blau  und  Grün 
,  werden  öfter  verwechselt  als  Rot  und  Gelb;  auch  die  Namen  für  Rot,  Karmin 
und  Braun  sind  die  geläufigeren.  Was  die  Farbenschwelle  betrifft,  so  scheint 
Rot  die  niedrigste  Schwelle  zu  haben,  dann  folgen  Grün,  Blau,  Gelb.  Die 
Vorliebe  für  bestimmte  Farben  war  nicht  sehr  ausgeprägt,  das  Wohlgefällig- 
keitsurteil  scheint  sich  oft  durch  nebensächliche  individuelle  Erfahrungen  be- 
stimmen zu  lassen.  Das  Gehör  war  nur  in  drei  Fällen  normal,  das  Erkennen 
der  höheren  Töne  blieb  weit  hinter  dem  des  normalen  Erwachsenen  zurück. 
Fast  die  Hälfte  der  normalen  Kinder  hatte  ferner  herabgesetzte  Sehschärfe, 
fast  alle  Astigmatismus,  die  Empfindlichkeit  und  Unterscbiedeempfindlichkeit 
für  Geschmack  war  sehr  herabgesetzt,  ebenso  für  Schmerz-  und  Temperatur- 
reize. Die  Ermüdung  nach  dem  Unterricht,  mit  dem  Dynamometer  kontrol- 
liert, ergab  sich  bei  den  Schwachen  als  sehr  beträchtlich.  Die  Zweispitzen- 
schwelle ist  relativ  groß,  10  mm  auf  der  Spitze  des  Zeigefingers,  am  Unter- 
arm 50—60  cm. 

Der  Vorstellungstypus  wurde  nach  der  Methode  des  unmittelbaren  Be- 
haltens  unter  verschiedenen  Bedingungen  geprüft,  die  Reproduktion  wurde 
von  10  zu  10  Sekunden  wiederholt.  Die  Kinder  zeigen  sehr  verschiedene 
Vorstellungstypen,  doch  genügt  die  Anzahl  der  geprüften  Kinder  nicht,  um 
ein  allgemeines  Urteil  Uber  die  Verteilung  der  Typen  bei  Kindern  zu  ermög- 
lichen. Interessant  für  die  allgemeine  Gedächtnispsychologie  ist,  daß  die 
Fehler  dabei  eine  bestimmte  Ordnung  einhalten ;  nach  den  ersten  10  Sekunden 
überwiegen  die  Verstellungen,  nach  den  zweiten  die  Auslassungen,  dann  das 
Hinzufügen,  —  alBO  wenn  das  Gedächtnis  ganz  unsicher  wird,  kommen  die 
Hinzufügungen ! 

Die  motorische  Koordination  sollte  geprüft  werden  durch  das  Sortieren 
von  buntfarbigen  Kugeln  und  Karten  von  verschiedener  Form  und  Farbe; 
ein  anderes  Mal  sollten  die  Kinder  mit  einem  Fingerglied  und  mit  dem  Ober- 
arm die  kleinste  mögliche  Bewegung  machen  (accuracy);  beide  Prüfungen 
sind  —  zumal  an  Kindern  —  von  recht  zweifelhaftem  Wert,  —  das  Sortieren 
ist  doch  nicht  annähernd  bloß  eine  »motor  coordination« !  Sodann  folgen 
Prüfungen  in  der  Bewegungsgeschwindigkeit.  In  allen  diesen  tests  zeigten 
sich  die  abnormen  Kinder  den  normalen  unterlegen.  Beide  Gruppen  von 
Kindern  stimmten  darin  Uberein,  daß  sie  mehr  Zeit  gebrauchten  für  das  Sor- 
tieren der  Farben  als  der  Formen.  Sehr  merkwürdig  ist  die  folgende  Beob- 
achtung: Beide  Gruppen  von  Kindern  sortieren  Formen  schneller  mit  der 
linken  Hand,  die  Farben  mit  der  rechten  Hand,  sie  haben  ferner  feinere  Be- 
wegungswahrnebmnngen  mit  einem  größeren  als  mit  einem  kleineren  Gelenk, 
ebenso  bewegen  sie  das  größere  Gelenk  schneller.  Verf.  folgert  daraus,  daß 
die  größeren  und  weiteren  Bewegungen  der  Arme  dem  kleineren  Kinde  adä- 
quater sind  als  die  feineren  und  kleineren  Bewegungen  der  Finger;  zieht  man 


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74 


Literaturbericht. 


ferner  in  Betracht,  daß  alle  Messungsergebnisse  des  Verf.  mit  dem  zuneh- 
menden Alter  der  Kinder  eine  fast  gleichmäßige  Zunahme  der  Bewegungs- 
werte zeigen,  so  liegt  die  pädagogische  Folgerung  nahe,  daß  Spiele,  welche 
die  Arme  beschäftigen,  für  die  kleineren  Kinder  naturgemäßer  sind  als  Zeich- 
nen, Modellieren  u.  dgl. 

Im  allgemeinen  vertritt  Kelly  die  Ansicht,  daß  längere  Zeit  fortgeführte 
individuelle  tests  wertvoller  seien  als  Durchschnittswerte  aus  großen  Zahlen 
einmaliger  Prüfung,  entweder  also  einfache  und  lang  durchgeführte  oder  ein- 
malige, dann  aber  recht  mannigfach  zusammengesetzte  Prüfungen.  Kelly 
widerspricht  mit  Recht  einigen  tests  von  Kirkpatrick  und  bezweifelt 
deren  Brauchbarkeit;  die  tests  sollten  ferner  alle  Grundeigentümlichkeiten 
der  Kinder  berühren,  sonst  geben  sie  ein  falsches  Bild  ihrer  Leistungen. 

Bezüglich  der  Gemütsbewegungen  und  anderer  geistiger  Zustände  der 
abnormen  Kinder  wird  bemerkt,  daß  andauernde  Beobachtungen  mehr  zum 
Ziele  führen  als  das  Experiment;  es  fehlt  ihnen  im  allgemeinen  die  Inten- 
sität der  psychischen  Erlebnisse  der  normalen  Kinder,  dagegen  läßt  sich 
keine  Fähigkeit  entdecken,  die  ihnen  völlig  fehlte. 

Aus  der  Zusammenfassung  der  Resultate,  die  Kelly  gibt,  läßt  sich  noch 
folgendes  hervorheben:  Große  Harmonie  in  den  psychischen  Reaktionen  ist 
Anzeichen  einer  normalen  Konstitution,  das  umgekehrte  Verhalten  verrät  eine 
neuropathische  Veranlagung.  Der  Vorstellungskreis  eines  Kindes  soll  nach 
Kelly  mehr  Ausdruck  seiner  Umgebung  als  eigener  Tätigkeit  sein.  Mit  Recht 
betont  der  Verf.,  daß  das  mechanische  Sammeln  von  tests  ohne  genaue  Prü- 
fung des  Sprachschatzes,  der  Gewohnheiten  und  der  Umgebung  des  Kindes 
keinen  wissenschaftlichen  Wert  hat.  Von  den  materialen  Resultaten  sei  noch 
erwähnt,  daß  der  Tastsinn  in  seiner  Entwicklung  dem  Farbensinn  vorauseilt 
und  lange  Zeit  der  dominierende  Sinn  bleibt  (eine  Zeitgrenze  ist  nicht  an- 
gebbar;.  Daß  die  gröberen  und  umfangreicheren  Bewegungen  sich  vor  den 
den  feineren  entwickeln,  sahen  wir  schon,  interessant  aber  ist  noch,  daß  sich 
diese  Eigentümlichkeit  der  Kinder  bei  den  Schülern  der  Elementarschule  bis 
zum  letzten  Jahre  der  Schulzeit  verfolgen  ließ.  Das  Wach  st  um  in  der  Be- 
wegungsgeschicklichkeit wächst  gleichmäßig  mit  der  Intelligenz,  das  gilt  für 
die  durchschnittliche  aufsteigende  Entwicklung  aller  Kinder  nnd  für  die  In- 
dividuen. Je  geringer  die  Intelligenz,  desto  mehr  tritt  die  Ermüdungsfähig- 
keit  hervor.  Die  Neigung,  rhythmisch  zu  arbeiten,  ist  stark  ausgeprägt. 
Vielleicht  ist  der  Berührungssinn  empfindlicher  an  der  linken  Hand  bei  rechts- 
händigen Individuen,  und  umgekehrt.  E.  Meumann  (Zürich. 


18)  L.  J.  Delaporte,  Philosophische  Untersuchungen  Uber  die  nicht-enkli- 
dischen  Geometrien.   1395.   Paris,  C.  Naud,  1903. 

Die  allgemeine  Geometrie  nimmt  u.  a.  die  zwei  folgenden  Postnlate  an: 
daß  man  durch  einen  Punkt  außerhalb  einer  Geraden  nur  eine  zu  dieser  parallele 
Gerade  ziehen  kann;  und  daß  zwei  nicht  parallele  Geraden  sich  nur  in  einem 
Punkte  schneiden  können1). 


1J  Euklid. 


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Literaturbericht. 


75 


Es  sind  in  neuerer  Zeit  einige  spezielle  geometrische  Untersuchungen  an- 
gestellt worden,  die  statt  dieser  Postulate  aufzustellen  versuchen:  daß  das 
erste  Postulat  richtig  ist,  dagegen  die  zwei  Geraden  sich  in  zwei  Punkten 
schneiden  können1};  —  oder  daß  man  durch  einen  Punkt  außerhalb  einer 
Geraden  ganze  Büschel  diese  nicht  schneidender  Geraden  ziehen  kann,  daß 
dagegen  das  zweite  Postulat  richtig  sei2]. 

Diese  speziellen  geometrischen  Untersuchungen  unterscheiden  sich  von 
der  allgemeinen  Lehre  Uber  die  Geometrie  durch  die  Definition  der  Geraden 
und  der  Ebene.  In  den  ersten  Untersuchungen  versteht  man  unter  einer 
Geraden  auf  einer  Ebene  das,  was  in  der  allgemeinen  Geometrie  als  eine 
geodätische  Linie  auf  der  positiven  Fläche  einer  Sphäre  verstanden  wird; 
in  den  zweiten  Untersuchungen  versteht  man  darunter  das,  was  in  der  all- 
gemeinen Geometrie  als  eine  geodätische  Linie  auf  der  negativen  Fläche  einer 
Sphäre  verstanden  wird. 

Die  andern  mathematischen  Untersuchungen,  die  n-dimensionalen  Geo- 
metrien genannt,  sind  eigentlich  gewisse  spezielle  Erweiterungen  der  Algebra, 
die  nicht  einer  geometrischen  Interpretation  fähig  sind.  Die  von  diesen  Unter- 
suchungen, deren  Deduktionen  sich  auf  geometrisch  vorstellbare  Figuren  be- 
ziehen, bilden  einen  Teil  der  allgemeinen  Geometrie. 

F.  Biske  (Zürich). 


19)  W.  Marshall,  Die  Tiere  der  Erde.  Eine  volkstümliche  Übersicht  Uber 
die  Naturgeschichte  der  Tiere.  Über  1000  Abbildungen  und  25  farbige 
Tafeln  nach  dem  Leben.  Vollständig  in  50  Lieferungen  zu  60  Pfennig. 
4°.   Stuttgart,  Deutsche  Verlagsanstalt,  1903. 

r 

An  Nichtzoologen  wendet  sich  Marsh  all  mit  seinem  Werke  »Die  Tiere 
der  Erde«.  Schon  viele  habeu  es  unternommen,  solcher  Art  ihre  Wissen- 
schaft vorzutragen,  wie  hier  der  gelehrte  Fachmann.  Doch  recht  verschieden 
sind  diese  Versuche  ausgefallen.  In  dem  vorliegenden  Werke  ist  von  vorn- 
herein ein  Grundsatz  befolgt,  der  allen  Zuhörern  und  Lesern,  den  Zoologen 
wie  den  Nichtzoologen,  das  Verständnis  wesentlich  erleichtert.  Mars  hall  führt 
nns  nämlich  zunächst  einmal  die  in  möglichst  günstiger  und  charakteristischer 
Stellung  nicht  gemalten,  sondern  photographisch  aufgenommenen  Tiere 
ihrer  äußeren  Erscheinung  nach  vor  Augen.  So  gewinnen  wir  eine  lebendige 
Anschauung;  wir  sehen,  um  dann  zu  hören.  Eigentlich  machen  wir  den 
Streifzug  des  Jägers  und  des  Naturforschers  nochmals  mit.  Marshall  hält 
es  eben  fllr  unbedingt  wichtig,  »die  Übereinstimmung  der  Lebensweise  der  Tiere 
mit  ihrer  äußeren  Gestaltung«  zu  betonen.  Dies  ist  zweifellos  gut  volks- 
tümlich und  führt  rasch  zum  Ziel.  —  Wer  nun  Tierpsychologie  treibt,  weiß 
auch,  daß  in  derselben  das  Hauptinteresse  einigen  wenigen  Tierreihen  auf 
Kosten  aller  andern  zugewandt  werden  muß.  Denn  sonst  ist  es  ja  gar 
nicht  möglich,  gründliche  Beobachtungen  anzustellen,  und  —  dies  wieder 
zugestanden  —  bleibt  es  doch  gewiß  auch  durchaus  wünschenswert,  den  Blick 
auf  das  große  Ganze  nie  völlig  zu  verlieren.   Sich  bloß  die  Natur  freu  de 


1)  Riemann.      2;  Lobatschewsky. 


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7fi 


Literatlirbericht. 


zu  bewahren,  reicht  für  den  wissenschaftlichen  Betrieb  nicht  ans;  die  Tatsachen- 
kenntnis  muß  durchgängig  und  also  vollständig  aufgefrischt  und  bei  den 
Einzeldarstellungen  mit  verwertet  werden.  Wie  und  wo  kann  dies  aber 
leichter  erfolgen  als  an  der  Hand  eines  wohlgeordneten  naturkundlichen 
Materials! 

Die  Anordnung  der  Gesamtdarstellung  ist  eine  Btreng  wissenschaftliche. 
Sie  täuscht  uns  in  angenehmer  Weise  die  Führung  durch  einen  ideal  ange- 
legten zoologischen  Garten  vor;  dazu  noch  in  Begleitung  eines  gemütvollen 
Kenners  der  zur  Schau  gestellten  Gruppen  und  ihrer  Sonderheiten.  Niemals 
fehlt  bei  aller  Objektivität,  mit  welcher  uns  der  Reihe  nach  die  Tiere  ge- 
schildert werden,  ein  Hinweis  darauf,  wie  der  Mensch  zu  ihnen  von  den 
frühesten  Zeiten  an  Stellung  genommen,  ja  unter  Umständen  sie  göttlich  ver- 
ehrt hat,  etwa  einen  Apisstier  oder  ein  goldenes  Kalb.  Wichtiger  noch  bleibt, 
welche  verwandten,  auch  uns  Menschen  eigenen  Merkmale  oft  so  ausgeprägt 
bei  diesem  oder  jenem  Tier  auftreten/  daß  wir  zur  gründlicheren  Erforschung 
unserer  selbst  solche  durch  einzelne  Fähigkeiten  sich  auazeichnenden  Wesen 
eingehend  studieren  müssen.  Z.  B.  den  Adler  mit  seinen  scharf  ausgeprägten 
Sehwerkzeugen  und  der  so  feinen  Durchbildung  des  Nervus  opticus.  Oder 
die  Katze  mit  manchen  bei  uns  Menschen  unauffindbaren  Verästelungen  und 
Verzweigungen  des  Nervus  acusticus.  Einseitige  Bevorzugungen,  die  zurück- 
wirken auf  die  Intelligenz  dieser  Geschöpfe. 

Zuweilen  sind  dergleichen  Beziehungen  noch  erst  wenig  klargelegt,  und 
ein  einzelner  kann  sich,  will  er  ein  vollständiges  Werk  wie  das  vorliegende 
liefern,  nur  auf  die  Berichte  anderer  verlassen.  So  bleibt  gewiß  einiges 
immer  noch  zu  verbessern;  auch  liefert  die  Wissenschaft  stets  neues  Be- 
obachtungsmaterial ;  in  letzter  Zeit  wohl  am  auffallendsten  Uber  unser  treues 
Haustier,  das  Pferd,  welches  sich  gegenüber  unserer  bisherigen  Meinung 
als  noch  viel  verständiger  gezeigt  hat,  sobald  es  entsprechend  behandelt 
wird. 

Wie  Beobachtungen  im  kleinen,  so  werden  auch  ergänzende  Berichte  neuer 
Forschungsreisen  stets  nachzuliefern  bleiben.  Erwägt  man  alles  dies,  so  fällt  erst 
recht  die  gleichmäßige,  lebensfrische  Behandlung  aller  Tiergruppen  in  dem  vor- 
liegenden Werke  auf;  sie  bringt  den  noch  so  weit  auseinandergehenden  Sonder- 
liebbabereien  einzelner  Tierfreunde  Verständnis  entgegen.  In  jeder  Beziehung 
kann  die  Beschäftigung  mit  dem  vorliegenden  Werke  gute  Dienste  erweisen ; 
für  jede  tierpsychologische  Einzelforschung  wird  sie,  .wie  gesagt,  gerade  da- 
durch wertvoll,  daß  sio  zum  Verständnis  des  Gesamtbildes,  das  wir  heute  von 
der  Tierwelt  haben,  beiträgt,  daß  sie  deshalb  auch  von  neuem  lehrt,  wie 
auf  ihre  Erforschung,  Einteilung,  Anordnung  im  großen  Rücksicht  zu 
nehmen  ist. 

Die  Farben  der  Buntbilder  Bind  gut  abgetönt  und  verdecken  nichts  von 
den  charakteristischen  Körperformen,  wie  dies  sonst  leider  häufig  der  Fall  ist. 
Die  ganze  Ausstattung  ist  durchaus  preiswürdig  und  geschmackvoll. 

Hi  eise  her  (Heidelberg). 


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Literaturbericht. 


77 


20)  D.  Fr.  Naumann,  Die  Erziehung  zur  Persönlichkeit  im  Zeitalter  des 
Großbetriebes.  (Rede,  gehalten  am  26.  Februar  1904  im  Berliner 
Lehrerverein.)  19  S.  gr.  8<>.  Berlin,  Buchverlag  der  »Hilfe«,  1904. 
M.  0,26. 

Nur  ein  kleines  Schriftchen,  doch  recht  bedeutsam  von  Inhalt!  »Ge- 
staltung der  Persönlichkeit  aus  dem  Naturprodukt«,  das  der  Mensch  anfäng- 
lich darstellt,  ist  nach  N.  Kern  und  Stern  aller  Erziehertätigkeit  und  muß 
dies  im  laufenden  Jahrhundert  der  Großbetriebe  immer  mehr  werden. 
»Persönlichkeit«  dabei  verstanden  nach  Kant  als  Unabhängigkeit  vom  Mecha- 
nismus im  weiteren  Sinne,  also  nicht  nur  als  Eigenschaft  der  Intelligenz. 
Man  meine  nicht,  daß  die  Annäherung  an  das  Persönlichkeitsideal  bei  der 
merklichen  Abnahme  der  Selbständigkeitsformen  und  der  fortschreitenden 
»Entpersönlichung  der  Arbeitsweise  durch  den  Großbetrieb«  unmöglich  und 
dafür  etwa  zu  erstreben  sei  die  »Gewinnung  gehorsamer  Verwendbarkeit 
des  einzelnen  im  unaufhaltsam  wachsenden  Großbetriebe«  des  Staats  und  des 
wirtschaftlichen  Lebens,  wobei  der  einzelne  blutwenig  daran  ändern  kann, 
daß  er  nach  vorhandenen  Schemas  bewertet  wird.  Schon  um  ihrer  dauern- 
den Existenz  willen  muß  den  Großbetrieben  alles  daran  gelegen  sein,  daG 
das  Persönlichkeitsideal  die  ihm  gebührende  Zentralstellung  behält;  alle  Ver- 
feinerung und  Komplizierung  der  verschiedenen  Großbetriebe  kann  nach- 
haltig nur  ausgenutzt  werden  bei  gleichzeitigem  »Fortschreiten  der  Menschen- 
entwicklung«. N.  kennzeichnet  nun  unter  Exemplifizierung  auf  sozial- 
politische Tatsachen  in  großen  Zügen,  wie  weit  und  in  welchen  Formen  die 
Erziehung  zur  Persönlichkeit  auch  im  Großbetriebszeitalter  möglich  ist.  Er 
empfiehlt  als  Muster  die  doppelte  Methode  des  Liberalismus  gegenüber  dem 
modernen  Staatsgroßbetrieb  und  formuliert  dieser  gemäß  —  Seite  lö  —  seine 
Forderungen  für  die  Schule  in  zweifacher  Weise.  Freilich  vermag  die  8jäb- 
rige  Schulzeit  nur  propädeutisch  zu  wirken  und  muß  sich  meist  damit  be- 
gnügen, hauptsächlich  im  sogenannten  Gesinnungsunterricht  den  jugendlichen 
Individuen  zur  klarbewußten  Aneignung  des  Persönlichkeitsprinzips  zu  ver- 
helfen und  in  ihnen  den  Willen  zu  begründen,  es  als  Prinzip  des  Rechts 
jederzeit  zu  verteidigen.  Die  Erziehung  zur  Persönlichkeit  im  Zeitalter  des 
Großbetriebs  wird  allerdings  nur  solchen  gelingen,  die  selbst  hohen  Per- 
sönlichkeitswert besitzen,  —  eine  Tatsache,  die  wiederum  sorgfältigste  Er- 
ziehung der  Erzieher  erheischt. 

Die  Fülle  des  Stoffes  nötigte  den  Vortragenden  zu  knappster  Fassung 
desselben;  immerhin  vermißt  Referent  ungern  die  Andeutung  der  Richtlinien, 
in  welchen  sich  die  Erziehung  zur  Persönlichkeit  in  dem  so  Uberaus  wich- 
tigen nachschulpflichtigen  Alter  zu  bewegen  hat 

Dr.  Ernst  Ebert  (Dresden). 


21)  Anton  Seitz,  Willensfreiheit  und  moderner  psychologischer  Determi- 
nismus.  62  S.   Köln,  Verlag  von  J.  P.  Bachem,  190i. 

Der  Verfasser  steuert  gleich  im  Anfang  auf  seine  Sonderstellung  in  bezug 
auf  das  zu  behandelnde  Problem  los,  eine  Auffassung,  die  er  als  einen  »rela- 
tiven Indeterminismus  und  Indifferentismus«  bezeichnet,  »den  man  ebensowohl 


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78 


Literaturbericht. 


relativen  Determinismus  nennen  könnte«.  Zunächst  werden  die  »Schranken 
des  Indeterminismus«  dargelegt.  Der  Indeterminismus  sei  nicht  im  Sinne  einer 
ursachlosen  Selbstbestimmung  zu  verstehen.  Und  andererseits  bestehe  die 
Willensfreiheit  nicht  bloß  bei  einer  ganz  gleichmäßigen  Neigung  des  Willens 
zum  Guten  wie  zum  Bösen  oder  überhaupt  allen  Beweggründen  gegenüber. 
Diese  Auffassung  wird  als  »absoluter  Indeterminismus  oder  Indifferentismus« 
gebrandmarkt.  »Absolut  frei  kann  nur  das  eine  durchaus  vollkommene  und 
in  keiner  Beziehung  abhängige  göttliche  Wesen  sein.  Alle  außergöttlichen 
Wesen,  also  auch  der  Mensch,  sind  nur  relativ  frei.  Der  menschliche  Wille 
ist  kein  absoluter  Anfang  der  Bewegung;  er  ist  einem  höheren  Gesetzgeber 
physisch  und  moralisch  unterworfen,  nicht  nur  indi reckt,  insofern  er  nie 
ohne  eine  an  eine  somatische  Grundlage  und  eine  bestimmte  Entwicklungs- 
zeit gebundene  Erkenntnis  sich  betätigen  kann,  deren  Umfang  nnd  Inhalt 
durch  innere  und  äußere  Verhältnisse :  Naturanlage,  Bildung  und  Erziehung, 
Lebensverhältnisse  n.  dgl.  bestimmt  ist  und  ohne  fortgesetzte  Übung  er- 
schlaffen muß,  wie  jede  Anlage  durch  Nichtgebrauch  verkümmert,  sondern 
anch  direkt,  insofern  er,  wie  jede  geschaffene  Existenz,  im  Bestand  nnd 
in  der  Forterhaltung  seiner  Natur  und  außerdem  noch  durch  positive,  natür- 
liche und  übernatürliche  Zielbestimmung  abhängig  ist«  (S.  4'.  Hier  ist  also 
eine  Determination  des  menschlichen  Willens  in  mancherlei  Beziehung  aus- 
drücklich konstatiert.  Und  doch  soll  der  Wille  unter  Umständen  sich  »frei« 
zeigen,  und  dies  nicht  nur  bei  einer  »Indifferenz  des  Gleichgewichts«,  son- 
dern auch  dann,  »wenn  die  stärksten  Gründe  zusammen  auf  einer  Seite 
sich  finden«.  Das  wird  im  zweiten  Abschnitt  ausgeführt,  unter  dem  Titel 
»Scheinfreiheit  des  Determinismus«.  »Der  springende  Punkt  im  Streit  mit 
dem  Determinismus  liegt  nicht  darin,  ob  Uberhaupt  bestimmte  Gründe  auf 
den  Geist  einwirken,  sondern  ob  sie  so  einwirken,  daß  der  Geist  unter  ver- 
schiedenen, selbst  in  verschiedener  Heftigkeit  auftretenden  Bestimmunga- 
gründen  in  der  Regel  wenigstens  eine  selbständige  Auswahl  zu  treffen 
vermag«  (S.  6 .  Der  Determinismus  lasse  den  Menscbengeist  »selbsttätig,  aber 
nicht  selbständig  seine  Lebensäußerungen  entfalten«.  Von  diesem  Stand- 
punkt aus  sieht  sich  der  Verfasser  gezwungen,  das  Vorhandensein  eines 
von  den  Beweggründen  verschiedenen  Aktivitätsprinzips  anzu- 
nehmen. Dieser  »relative  Indeterminismus«  wird  mit  einer  konstitutionellen 
Monarchie  verglichen,  »insofern  der  Wille  nie  ohne  Motive  handeln  kann, 
aber  doch  mit  souveräner  Macht  den  Motiven  seine  Zustimmung  erteilt  oder 
versagt;  der  absolute  Indeterminismus  käme  gleich  einem  politischen  Abso- 
lutismus oder  Despotismus,  einer  reinen  Willkürherrschaft,  der  absolute 
Determinismus  einer  republikanischen  oder  demokratischen  Verfassung,  deren 
Oberhaupt,  die  Persönlichkeit,  nur  als  Vollzugsorgan  eines  drängenden  Volks- 
willens —  der  Motive  und  des  Charakters  —  in  Betracht  käme«  {S.  12).  Nun 
folgt  die  positive  Begründung  des  eigenartigen  Standpunktes  als  ethi- 
scher, psychologischer  und  metaphysischer  Beweis.  In  der  negativen  Be- 
gründung zieht  der  Verf.  zuerst  gegen  den  Motivendetermiuismus  und  dann 
gegen  den  Charakterdeterminismus  zu  Felde.  Und  endlich  »den  Schlußstein 
zur  posisiven  nnd  negativen  Begründung  der  Willensfreiheit  bildet  die  psy- 
chologische Analyse  derselben,  d.  h.  die  Erläuterung  des  Herganges  bei  der 
freien  Willensentscheidung  nach  Untersuchung  der  Elemente  der  freien  Hand- 
lung: des  Willensvermögens  und  der  Aktivität  desselben«  (S.  43).  Und  dieser 
Hergang  interessiert  uns  am  meisten.    »Die  Willensfreiheit  im  psychologi- 


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Literaturbericht. 


79 


achen,  d.  h.  für  den  normalen  Menschen  empirisch  festzustellenden  Sinne 
kann  man  demnach  definieren  als  die  Fähigkeit  eines  vernünftigen  Geistes, 
nach  selbstbestimmter  Norm  unter  den  gleichen  Verhältnissen  zwischen  ver- 
schiedenen, das  Maß  der  natürlichen  Kraft  nicht  Ubersteigenden  Richtungen 

seiner  Tätigkeit    eine  überlegte  Wahl  zu  treffen   Unerläßliche 

Vorbedingung  der  Willensfreiheit  ist  ein  von  der  Erkenntnis  vorgelegter 
Beweggrund,  der  jedoch  erst  durch  das  vom  freien  Willen  ihm  eingeräumte 
Gewicht  den  nötigenden  Charakter  eines  Bestimmungsgrundes  erhält«  (S.  62 . 
DieBe  Auffassung  berührt  uns  in  doppelter  Hinsicht  sonderbar.  Einmal  sind 
die  Motive,  die  ihre  Motivkraft  erst  vom  freien  Willen  empfangen  müssen, 
vorher  Uberhaupt  noch  keine  Motive  gewesen.  Und  sodann  ist  der  psy- 
chologische Vorgang  bei  der  Übertragung  jener  Motivkraft  sehr  rätselhaft, 
der  Verf.  bleibt  die  Erklärung  dazu  schuldig.  Und  zweitens  ist  das  postu- 
lierte Aktivitätsprinzip  eine  auffallende  Annahme.  Nach  demselben  trifft  der 
Wille  eine  selbständige  Auswahl  unter  den  Motiven  (die  dann  allerdings 
keine  Motive  mehr  sind),  er  handelt  also  unmotiviert,  d.h.  eben  im  Sinne 
des  absoluten  Indeterminismus.  So  kommt  der  zur  vordem  Tür  hinaus- 
gejagte Gesell  durch  ein  Hintertürchen  wieder  hereingeschlichen.  Damit  ist 
der  Arbeit  ihr  Urteil  gesprochen:  ;Der  »relative  Indeterminismus«  ist  nicht 
das,  was  er  sein  will,  und  das  Ziel  war  nur  scheinbar  erreicht.  Immerhin 
bietet  die  Abhandlung  eine  umfassende  Darstellung  aller  in  Frage  kommen- 
den Probleme  und  behält  um  dieser  Zusammenstellung  willen  einen  großen 
Wert  Dr.  0.  Messmer  (Rorschach;. 


22)  Raoul  Richter,  Der  Skeptizismus  in  der  Philosophie.   1.  Bd.  XXIV, 
364  S.   gr.  8°.   Leipzig,  DUrrsche  Buchhandlung,  1904.  M.  6,-. 

In  dem  vorliegenden  ersten  Bande  seiner  historisch-kritischen  Monographie 
gibt  der  durch  sein  Nietzschebuch  vorteilhaft  bekannte  Verfasser  eine  Ge- 
samtdarstellung der  Entwicklung  und  der  Lehren  des  griechischen  Skepti- 
zismus. Dabei  fällt  der  Schwerpunkt,  dem  systematisch-philosophischen  Inter- 
esse des  Werkes  entsprechend,  auf  die  ausfuhrliche  Kritik  des  skeptischen 
Standpunktes,  der  daher  fast  zwei  Drittel  deB  Textes  ausschließlich  gewidmet 
sind.  Der  Verfasser  geht  zunächst  den  Spuren  der  beginnenden  Skepsis  in 
den  Anfängen  der  Erkenntnistheorie  nach  und  schildert  sodann  die  Haupt- 
vertroter  der  pyrrhonischen  und  akademischen  Skepsis  {Kap.  1 .  Hieran 
schließt  sich  eine  die  hauptsächlichsten  Gesichtspunkte  geschickt  zusammen- 
stellende Gesamtschilderung  der  skeptischen  Grundlehren  (Kap.  2;.  Von  einer 
gemäßigteren  skeptischen  Haltung  der  mittleren  Akademie,  worin  der  Verf. 
mit  andern  den  Unterschied  zwischen  pyrrhonischer  und  akademischer  Skepsis 
setzt,  kann  nur  hinsichtlich  der  Wahrscheinlichkeitstheorie  die  Rede  sein; 
im  allgemeinen  huldigt  die  akademische  Skepsis  einem  negativen  Dogmatismus 
mit  absichtlich  destruktiven  Tendenzen.  Außer  durch  seine  unbestrittene 
Originalität  und  strengere  Konsequenz  erweist  sich  der  Pyrrhonismus  durch 
seine  Hervorkehrung  des  subjektivistischen  und  relativistischen  Standpunktes 
als  die  systematisch  wertvollere  Ausgestaltung  der  skeptischen  Weltbeur- 
teilung; der  Probabilismus  der  Akademie  findet  im  Relativismus  seinen  An- 
knüpfungspunkt. Man  darf  demnach  die  Lehren  der  pyrrhonischen  und  der 
akademischen  Skepsis  noch  einheitlicher  behandeln,  als  der  Verfasser  es  tut. 


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80 


Literaturbericht. 


Die  mit  großer  Umsicht  and  eindringlichem  Scharfsinn  bis  ins  einzelne  sieg- 
reich durchgerührte  Kritik  der  skeptischen  Position  —  und  zwar  vom  Boden 
des  gemäßigten  Realismus  wie  dem  des  extremen  Idealismus  aus  —  verdient 
alles  Lob.  In  der  Ausfuhrung  richtet  sie  sich  freilich  vorwiegend  gegen  die 
These  völliger  Unerkennbarkeit  der  Dinge  (dogmatischer  Negativismus,  Nihi- 
lismus), während  die  Quintessenz  der  griechischen  Skepsis  nicht  so  im  abso- 
luten Zweifel  (Verzweifeln)  an  der  Möglichkeit  der  Erkenntnis,  als  vielmehr 
im  relativen  Zweifel  (Unentschiedenheit),  in  der  Behauptung  der  Möglichkeit 
sicherer,  unbestreitbarer  Erkenntnis  beruht.  Die  skeptische  Inox^  bedeutet 
demgemäß  nicht  daB  Enthalten  von  jeglichen  Urteilen,  sondern  nur  von  allem 
bestimmten  Urteil  und  jeder  absoluten  Beurteilung,  daher  ihr  Kern:  die 
Leugnung  der  irgendwo  und  irgendwann  erreichten  Wahrheit,  weniger  eine 
widerlegbare  Theorie  als  eine  habituelle  Denkweise  bezeichnet 

Verträgt  sich  der  skeptische  Wahrheitsbegriff  auch  mit  einer  fortge- 
schrittenen Auffassung,  so  scheitert,  wie  der  Verfasser  richtig  zeigt,  alle  dog- 
matische Skepsis  an  der  Tatsächlichkeit  gesetzmäßiger  Beziehungen  zwischen 
den  Erscheinungen.  Wenn  die  Skepsis  die  Erkenntnis  der  tatsächlichen  Be- 
schaffenheit der  Dinge  leugnet,  so  ist  es  nicht  unumgänglich  nötig,  derselben 
eine  extrem  realistische  Erkenntnistheorie  zuzuschreiben,  wie  der  Verfasser 
hier  und  a.  a.  0.  zu  erweisen  sucht  Schon  die  Behauptung  der  Unerkenn- 
barkeit der  Dinge  an  sich  schließt  die  unskeptische  Behauptung  der  Existenz 
von  Dingen  an  sich  ein:  eine  Inkonsequenz  in  der  Verwertung  der  skepti- 
schen Isostbenie,  die  man  den  besseren  Vertretern  der  Skepsis  nicht  zutrauen 
darf.  Das  vom  Verfasser  aufgestellte  Wahrheitskriterium  des  unüberwind- 
lichen Überzeugungsgefühls ,  dessen  Vorhandensein  die  Skepsis  jedenfalls 
leugnen  würde,  falls  sie  der  Unüberwindlichkeit  nicht  durch  Aufstellung 
negativer  Instanzen  (als  Möglichkeit  der  Beeinflussung  und  Veränderlichkeit 
des  Wahrheitsgefühls)  den  Boden  abgraben  könnte,  ist  auch  nach  der  besten 
Überzeugung  des  Verfassers  nicht  imstande,  den  Streit  zwischen  dem  kriti- 
schen Realismus  und  dem  extremen  Idealismus  in  der  Erkenntnistheorie  zum 
Austrag  zu  bringen.  Auf  die  dennoch  in  Aussicht  gestellte  Lösung  der  Frage 
im  2.  Bd.  unseres  Werkes  darf  man  aufrichtig  gespannt  sein.  Vollkommen 
darf  man  dem  Verf.  darin  recht  geben,  daß,  gleicht  man  den  Lehrgehalt  der 
pyrrhonischen  und  der  akademischen  Skepsis  gegeneinander  aus,  sich  eine 
Theorie  des  Positivismus  oder  phänomenaliBtischen  Empirismus  ergibt,  die 
allen  Anforderungen  des  Lebens  und  der  Wissenschaft  völlig  Genüge  leistet. 
Der  2.  (Schluß-)  Band  wird  die  skeptischen  Lehren  der  Renaissance  (Mon- 
taigne u.  a.),  diejenigen  der  Aufklärungszeit  (Home)  und  der  Philosophie 
der  Gegenwart  (Mach.  Nietzsche)  bebandeln,  woran  —  als  zweiter  Teil 
des  Ganzen  —  sich  eine  Besprechung  der  partiellen  Skepsis  Pasc  als,  der 
Mystiker  und  endlich  Kants  anreihen  soll.  Wie  die  skeptische  Isostbenie 
als  Methode,  so  kann  das  gehaltreiche  Werk  allen  zur  Lektüre  empfohlen 
werden,  die  an  dem  einseitigen  Vorurteil  von  der  Unfruchtbarkeit  und  Wissen- 
schaftsfcindlichkeit  eines  begründeten  Skeptizismus  und  seiner  Verwechslung 
mit  einem  nihilistischen  Agnostizismus  noch  festhalten ;  ganz  besonders  aber 
kann  es  dem  Dogmatismus  aller  Schattierungen  als  »heilsames  Zuchtmittel 
ira  Dienste  der  Wahrheit«  ans  Herz  gelegt  werden :  zum  Heil  der  Philosophie 
als  dem  systematischen  Versuch  einer  wissenschaftlichen  Begründung  unserer 
Wertschätzungen.  Dr.  F.  Rose  (Bonn1. 


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Verlag  von  Wilhelm  Engelmann  in  Leipzig. 


Psychologische  Arbeiten. 

Herausgegeben  von 


Emil  Eraepelin 

Professor  in  München. 


Bisher  erschienen: 


Erster  Band.   Mit  13  Figuren  im  Text.    1896.  J[  17.—. 

Inhalt:  Vorwort.  —  Eraepolin,  D«r  psychologische  Versuch  in  der  Psychiatrie.  —  Oehrn,  Ex- 
perimentelle Studien  rar  Individualpeychologie.  —  Bettmann.  Ueber  die  Beeinflussung  einfacher 
psychischer  Vorgänge  durch  körperliche  and  geistige  Arbeit  —  Aschaf fenburg,  Experimentelle 
Stadien  aber  Associationen.  —  Amberg,  üeber  den  Einfluss  von  Arbeitspensen  nnf  die  geistige 
Leistungsfähigkeit  —  Hoch  und  Eraepelin,  Ueber  die  Wirkung  der  Theebestandtheile  nnf  körper* 
Iii  he  und  geUtige  ArbeiL  Mit  H  Figuren  im  Text.  —  Loewald,  Ueber  die  psychischen  Wirkungen 
des  Broms.  —  Roemer.  Beitrag  zur  Bestimmung  zusammengesetzter  Iteactionszeiten.  Mit  4  Figuren 
im  Text  —  Aechaffenbnrg.  Priktische  Arbeit  unter  Alkoholwtxkug.  Mit  1  Figur  im  Text  — 
BiTors  und  Eraepelin,  Ueber  Ermüdung  und  Erholung. 


Zweiter  Band.  Mit  8  Tafeln  und  9  Figuren  im  Text  1899.  JK  20.—. 

Inhalt:  Aschaffenburg,  Experimentelle  Studien  über  Associationen  in  der  Erschöpfung.  — 
Micbelaon,  Untersuchungen  über  die  Tiefe  des  Schlafes.  Mit  &  Figuren  im  Text.  —  Weygandt, 
Ueber  den  Einfluss  des  Arbeitswechsels  auf  fortlaufende  geistige  Arbeit,  —  Cron  und  Eraepelin, 
Ueber  die  Messung  der  AuffassungsfahigkeR.  —  Haehnel,  Die  psychischen  Wirkungen  des  Trionale. 
Mit  1  Figur  im  Text.  —  von  Voss,  Ueber  die  Schwankungen  der  geistigen  Arbeitsleistung.  Mit 
1  Figur  im  Text  —  Gross,  Untersuchungen  ftber  die  Schrift  Gesunder  und  Geisteskranker.  Mit 
8  Tafeln  und  1  Figuren  im  Text  —  Gross,  Zur  Psychologie  der  traumatischen  Psychose.  — 
Reis,  Ueber  einfache  pathologische  Versuche  an  Gesunden  und  Geisteskranken.  —  Weygandt, 
Röroer'a  Versuche  ftber  Nahrungsaufnahme  und  geistig«  Leistungsfähigkeit 


Dritter  Band.  Mit  1  Tafel  und  41  Figuren  im  Text.  1901.  uT25.— . 

Inhalt:  Diehl,  Ueber  die  Eigenschaften  der  Schrift  bei  Gesunden.  Mit  1  Figur  im  Text  — 
Vogt,  Ueber  Ablenkbarkeit  und  Gewöhnung« flh igkeit  —  Ach,  Ueber  die  Beeinflussung  der  Auffassung». 
fehigkeit  durch  einige  Arzneimittel.  —  Final,  Sur  Untersuchung  der  Auffassungsfahigkeit  und  Merk* 
fahigkeit  Mit  I  Abbildung  im  Text.  —  Gross,  Ueber  das  Verhalten  einfacher  psychischer  Reaetioaea 
in  epileptischen  Verstimmungen.  —  Eurx  und  Eraepelin,  Ueber  die  Beeinflussung  psychischer  Vor* 
ginge  durch  regelmäßigen  Alkoholgonuss.  Mit  'i  Figuren  im  Text  —  8ehnelder,  Ueber  Auffassung 
und  Merkfahigkeit  beim  Altersblödsinn.  —  Lindley,  Ueber  Arbelt  und  Rahe.  —  Mayer,  Ueber  die 
Beeinflussung  der  Schrift  durch  den  Alkohol.  Mit  einer  Tafel.  —  Oseretzkowsky  und  Eraepelin, 
Ueber  die  Beeinflussung  der  Muskelleistung  durch  verschiedene  Arbeitsbedingungen.  Mit  36  Fig.  Im  Text 


Vierter  Band.  Mit  5  Tafeln  und  13  Figuren  im  Text  1904.  J$  27.—. 

Inhalt:  Rftdin,  Ueber  die  Dauer  der  psychischen  Alkoholwirkung.  —  Weygandt,  Ueber  die 
Beeinflussung  geistiger  Leistungen  durch  Hungern.  Mit  einer  Figur  im  Text  —  Bolton,  Ueber  die 
Beziehungen  zwischen  Ermüdung,  Baumsinn  der  Haut  und  Muskelleistung.  —  Aschaffenburg, 
Experimentelle  Studien  ftber  Associationen,  ni.  Theil:  Die  Ideeaflncht  Mit  3  Figuren  im  Text  — 
Mlesemer,  Ueber  psychische  Wirkungen  körperlicher  und  geistiger  Arbeit  Mit  1  Tafel.  —  Eafemann, 
Ueher  die  Beeinflussung  geistiger  Leistungen  durch  Behinderung  der  Naeenatbmung.  Mit  2  Figuren 
im  Text  —  Hylan  und  Eraepelin,  Ueber  die  Wirkung  kurzer  Arbeitszeiten.  —  Rftdin,  Auf- 
fassung und  Merkfahigkeit  unter  Alkoholwirkung.  —  Beinhold  Krauss,  Ueber  Auffassung-  und 
Merk-Versuche  bei  einem  Falle  von  polyneuritischer  Psychose.  —  Gustaf  Heft  man,  Ueber  die  Be- 
ziehungen zwischen  Arbeitsdauer  und  Pausenwirkung.  Mit  6  Figuren  im  Text  —  G.  Lefmann,  Ueber 
psychomotorische  Störungen  in  Depresaionazustanden.   Mit  Tafel  11 -V  und  1  Figur  im  Text 


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Vient  de  parat  Ire  le  1er  Mai  1904: 


A  LA  LIBRAIRIE  MASSON  ET  Cie 

180,  BOULEVARD  SAINT-GERMAIN,  PARIS  (6«) 


L'ANNfiE  PSYCHOLOGIQÜE 

Publiee  par  M.  A.  BIN  ET 

Directeur  da  Laboratoire  de  Psychologie  de  la  Sorbonne. 

AVEC  LA  COLLABORATION  DE 

MM.  Baldwin,  Beaunis,  Blum,  Oaston  Bonnier,  Boardon, 
Boutroax,  Bouvier,  Capitan,  Claparede,  Demoor,  Deniker,  Darkeim, 
Ebbinghaus,  Fere,  Flournoy,  Fredericq,  Fuster  M"' , 
Van  Gehuehten,  Oiad,  Gley,  Grasset,  Henneguy,  Henri, 

Lacassagne,  Leuba,  Malapert,  Martin, 
Metohnikoff,  H.  Mio  hei,  Philippe,  Pitres,  Poincare,  Begis, 
Renault  d'AUonnes,  Bibot,  Serieux,  Simon,  H.  de  Varigny, 


SecrStaire  de  la  rSdaction:  J.  LAROUIER  DES  BANCELS 


SOMMAIRE  DU  TOME  X 

Editorial 

MEMOIRE 8'  ORIGINAL  X 

V.  Henri:  L'origine  psychologique  des  notions  de  force,  energie  et  mauere. 

A.  Binet:  L'imagiuaüon  litteraire.  Portrait  de  Paul  Henrieu. 

A,  Binet:  La  graphologie  et  ses  revelationg  sur  Tage,  le  i«e  et  1'intelligence. 

Lecaillon:  Psychologie  d'une  Araignee. 

IL  Michel:  Renourier  et  Spencer. 

Bourdon:  Uq  cai  de  trouble  de  la  percepuon  stereognostique. 
Largüier:  Experiences  sur  la  m6moire. 
FiRB:  Observations  sur  l'association  des  idees. 

Binet:  Sommaire  des  travaux  en  cours  ä  la  Socieli  de  Psychologie  de  Venfant. 
Zwaardemaker  :  Experience  sur  les  limites  de  l'audition. 
Berti  llon:  Methode  pour  reconnattre  une  physionomie. 

RKVUES  GENERALES 

Henneout:  Revue  annuelle  de  Cytologie. 

Van  Gehüchten:  Revue  annuelle  d' Anatomie  du  Systeme  nerveux.  —  A  propos 

de  la  loi  de  Waller. 
Fredericq:  Revue  annuelle  de  Physiologie  du  Systeme  nerveux. 
Pitres:  Revue  annuelle  de  Pathologie  nerveuse.  La  Psychastenie. 
Grasset:  La  grandeur  et  la  decadence  du  Neurone. 
Denicker:  Revue  annuelle  d'Anthropologie. 
Seriecx:  Revue  annuelle  de  Pathologie  mentale. 
Simon:  Rcsume  clinique  de  Psychiatne. 
Blum:  Revue  annuelle  de  Pedagogie  normale. 
Demoor:  Revue  annuelle  de  Pedagogie  des  anormaux. 
MALAPERT:  Revue  annuelle  de  Philosophie  et  de  M orale. 
Leuba:  Revue  annuelle  de  Psychologie  religieuse.  D6finition  de  cette  tcience. 
H.  de  Variqny:  Chroniaue  psychologique. 
A.  Binet:  Revue  annuelle  des  erreurs  de  Psychologie. 

ANALYSES 

Compte  rendu  analytique  et  critique  de  nombreux  ouvrages  et  memoires  de 
Psychologie. 

T ARLES  BIBLIOGRAPHIQUES 

contenant  environ  3.000  numeros  d'ouvrages  se  rapportant  k  la  Psychologie. 

UN  volume  in-8°  15  francs. 

(Ce  journal  est  pass6  du  fonds  de  la  Librairie  Sohleicher  Freres  &  la  Librairie 

Masson  et  Cie.) 


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Verlag  von  Wilhelm  Eucelmann  in  Leipzig, 


Neuigkeiten! 
Grundriss 

der 

HEILPÄDAG-OGIK 

von 

Dr.  Theodor  Heller, 

Direktor  der  hcilpädapogisclien  Anstalt  Wien  •  Griiuting. 

Mit  2  Abbildungen  auf  einer  Tafel, 
gr.  8.    HMJ4.    Jt  8.  —  ;  in  Leinen  geb.  Jt  9—. 

Studien 

zur 

Blindenpsychologie 

von 

Di  Th.  Heller, 

Oireklor  «1er  li-;ilpaJago(tisc!iou  Anstalt  Wicii  Griiuiiic. 
Mit  drei  Figuren  im  Text, 
gr.  H.    1904.    .//  3._. 

Grundlinien 

einer 

Psychologie  der  Hysterie 

von 

Willy  Hellpach, 

l)r  nt^l  ut  phil-,  Nervenarzt  in  Karlsruhe. 

gr.  S.    1904.    .//  9.—  ;  in  Leinen  geb.  .H  10.—. 


Die  Mneme 

als  erhaltendes  Prinzip 
im  Wechsel  des  organischen  Geschehens 

von 

Richard  Scinon. 

8.    1904.    .//  6.-  :  in  Leinen  geb.  Jt  7.-. 

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Inhalt  des  3.  Heftes. 

Seil« 

A  bhandlu ng: 

Watt.  Henry  J.,  Experimentelle  Beiträge  zu  einer  Theorie  des  Denket«. 

Mit  9  Figurcu  im  Text  "  289 

Literaturbericht: 

Lipps,  Theodor,  Leitfaden  der  Psychologie.    (0.  Mesumer)   33 

Jodl,  Friedrich,  Lehrbuch  der  Psychologie.     Zweite  Auflage  in  zwei 

Bänden.    (E.  Mcumann.)  38 

Heinrich,  W.,  Die  Aufmerksamkeit  und  die  Funktion  der  Sinnesorgane. 

(F.  Düke)   39 

Bin  et,  Alfred.  Attention  et  adaptalion.    (E.    Mcumann)   40 

Jung,  C.  G.,  und  Riklin,  Fr.,  Diagnostische  Assoziaüonsstudieu.  1.  Bei- 
trag: Experimentelle  Untersuchung  über  Assoziationen  Gesunder. 
Vorwort:  Über  die  Bedeutung  von  Assoziatiousversuchen,  von  Prof. 
Blculcr-Burghölzli.    (0.  Messmcr.)   46 

Ackerknecht,  E.,  Die  Theorie  der  Lokalzeichen.    (F.  Biske)   48 

Hevmans,  G.,  Über  Unterschicdsschwcllcn  bei  Mischungen  von  Kontrast- 
farben.  (F.  Bisb)   50 

Piper.  H.,  Über  Dunkcladaptation.    (F.  liisk*)   51 

Piper.  H,  Über  die  Abhängigkeit  des  Reizwertes  leuchtender  Objekte  von 

ihrer  Flüchen-  bzw.  Winkelgröße.    (F.  Büke)   53 

Piper.  H. ,  Über  das  Helligkcitsverhältnis  monokular  und  binokular  aus- 
gelöster Lichtempfindungen.    (F.  Bükrl   64 

Schiifcr,  Gisela.  "Wie  verhalten  sich  die  Hclmholtzschen  Grundfarben  zur 

Weite  der  Pupille.    (F.  Büke)   55 

Lehmann,  Alfr.,  Versuch  einer  Erklärung  des  Einflusses  des  Gesichts- 
winkels auf  die  Auffassung  von  Licht  und  Farbe  bei  direktem 
Sehen.    (F.  Bükr)   56 

Thorndikc,  Edward  L..  An  intraduetion  to  the  theory  of  mental  and 

social  measurements.    (E.  Mrumann)   66 

Merker.  Hubert,  Tan bstunimblind,  eine  psychologische  Skizze.  (Ernst 

FJxrt)  '   67 

Hellcr,  Theodor,  Grundriß  der  Hcilpadagogik.    (Uidsehcr)   68 

Heller,  Theodor,  Studien  zur  Blindenpsychologie.    (E.  Mcumann)   ...  71 

Kelly,  Robert  Lincoln,  Psychophysical  tests  of  normal  and  abnormal 
children.  Studies  from  the  psychophysical  I.aboratory  of  the  Univer- 
sity  of  Chicago.    (E.  Mcumann)   72 

Delaporte,  L.  J..  Philosophische  Untersuchungen  über  die  nicht-euklidischen 

Geometrien.    (F.  Bükt)   74 

Mars  ha  11,  W.,  Die  Tiere  der  Erde.  Kinc  volkstümliche  Übersicht  über 
die  Xaturgeschichte  der  Tiere.  Über  1600  Abbildungen  und  25  farbige 
Tafeln  nach  dem  Leben.    ( IJi'lsc/irr)   75 

Naumann.  Fr..  Die  Erziehung  zur  Persönlichkeit  im  Zeitalter  des  Groß- 
betriebs.   ( Ent*t  FJ><  rh   77 

Seit/..  Anton.  Willensfreiheit  und  moderner  psychologischer  Determinis- 
mus.   /"  M<  s>vt<n   .  77 

Richter.  Raoul.  Der  Skeptizismus  in  der  Philosophie.    1.  Bd.    (F.  Hose)  70 

l>rn\  w.u  l:r.  ilkr.j.r  &  Härtel  in  Leipzig. 

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Referate. 


1)  Nikolaj  Loßkij,  Die  Grundlagen  der  Psychologie  vom  Standpunkte 
des  Voluntarismus.     Deutsch  von  E.  Kleuker.   221  S.   gr.  80.. 
Leipzig,  Johann  Ambrosius  Barth,  1904.   M.  6.—. 

Der  Grundgedanke  des  Werkes  ist  der,  daß  alle  Veränderungen  im  Be- 
wußtsein, die  wir  auf  unser  Ich  beziehen,  nach  dem  Typus  der  Willensband- 
iungen  verlaufen.  Wird  doch  das  Ich  geradezu  definiert  als  die  Substanz, 
die  unmittelbar  alle  ihre  Zustande  als  ihre  Handlungen  empfindet  Um 
den  Willenscharakter  aller  auf  daß  Ich  bezogenen  Erlebnisse  darzutun,  ver- 
sacht Loßkij  in  engem  Anschluß  an  die  durch  Pfänder  (»Phänomenologie 
des  WollenB«)  gegebene  Analyse  der  Willensvorgänge  sämtliche  Bewußtseins- 
tatsachen in  zwei  Gruppen  zu  bringen:  in  solche,  die  ich  unmittelbar  als 
»meine«  empfinde,  und  solche,  die  ebenfalls  unmittelbar  als  »mir  gegebene« 
aufgefaßt  werden.  »Meine«  psychischen  Zustünde  sind  nach  L.  zugleich  die- 
jenigen, welche  durch  mein  Zutun,  durch  mein  aktives  Kingreifen  entstehen; 
alle  Elemente  dagegen,  die  ohne  ausgesprochene  Strebung,  also  bei  passivem 
Verhalten,  in  mir  auftauchen,  sind  als  »gegebene«  zn  betrachten.  Die  Be- 
griffe »meine«  Zustände  und  »durch  mich  hervorgebrachte«  Akte  fallen  dem- 
uach  vollständig  zusammen;  ebenso  die  Begriffe  »gegebene«  und  »ohne  mein 
Zutun«  entstandene  Zustände.  Irgendeine  seelische  Erscheinung  gehört  also 
entweder  zu  den  »meinen«  nnd  ist  in  diesem  Fall  durch  eine  von  dem  Gefühl 
der  Aktivität  begleitete  Strebung  erzeugt,  oder  sie  gehört  zu  den  »gegebenen« 
Zuständen  und  ist  dann  nicht  durch  mich  erzeugt,  sondern  unmittelbar  die 
Strebung  eines  fremden  Ich,  die  von  mir  empfunden  wird. 

Dagegen  ist  zweierlei  zu  bemerken :  Einmal  dürfte  es  nicht  ohne  weiteres 
richtig  sein,  daß  bloß  Strebungen  als  »mein«  empfunden  werden.  Es  gibt 
im  Bewußtsein  zweifellos  Elemente,  die  unmittelbar  als  zu  meinem  Ich  ge- 
borig aufgefaßt,  als  Ichvorgänge  erlebt  werden,  ohne  auch  zugleich  als  Wil- 
lensakte empfunden  zu  werden.  Dahin  sind  z.  B.  Empfindungsqualitäten  und 
Gefühle  zu  rechnen.  Durch  besondere  Richtung  der  Aufmerksamkeit  können 
solche  Zustände  größere  Klarheit  erlangen;  aber  das  dabei  erlebte  Aktivitäts- 
and Spannungsgefühl  bezieht  sich  auf  den  Akt  der  Apperzeption,  nicht  auf 
die  Qualität  des  ZuStandes  selbst  und  kann  daher  nicht  zur  Stütze  der  Loß- 
kij sehen  Hypothese  dienen.  Es  ist  Uberhaupt  irreführend,  wenn  die  Begriffe 
»mein«  und  »gegeben«  kontradiktorisch  einander  entgegengesetzt  werden. 
Denn  der  Gegensatz  von  »gegeben«  ist  nicht  »mein«,  sondern  »durch  mich 
hervorgebracht«. 

Die  zweite  Behauptung  Loßkij s,  daß  die  »mir  gegebenen«  psychischen 

Arehir  ftr  Pijchologie.   IV.   LiUmtur  (J 


82 


Literaturbericht. 


Zustande  Strebungeu  fremder  Ich  seien  (oder  —  wie  es  Verfasser  ausdrückt 
—  daß  die  >mir  gegebenen«  Bewußtseinszustände  »meine«  Zustände  anderer 
Ich  seien),  ist  mystisch  und  reicht  stark  in  die  Metaphysik  hinein.  Dem  Ich 
wird  hierdurch  ausdrücklich  die  Fähigkeit  der  Intuition  zugesprochen,  d.  h. 
die  Fähigkeit,  die  aktiven  Zustände  fremder  Ich  direkt  zu  empfinden.  Als 
Betspiel  wird  die  Autohypnose  herangezogen,  bei  welcher  Strebungen  des 
einen  Ich  (also  »meine«  Strebungen)  die  Ursache  der  Entstehung  von  Stre- 
bungen in  einem  andern  Ich,  nämlich  in  einem  hypothetischen  Unterbewußt- 
sein, Zellen-  oder  Rückenmarksbewußtsein,  bilden,  welch  letztere  Strebungen 
dann  durch  mein  Ich  als  »gegebene«  Zustände  erlebt  werden.  So  soll  all- 
gemein dem  Ich  als  substantieller  Einheit  eine  Vielzahl  von  fremden  sub- 
stantiellen Einheiten  gegenüberstehen,  in  denen  ebenfalls  Strebungen  statt- 
finden, die  von  denselben  ab)  »meine«  Bewußtscinszustünde  empfunden,  in 
der  unmittelbaren  Auffassimg  durch  mich  aber  als  »gegebene«  Zustände  be- 
trachtet werden. 

Wenn  nun  auch  die  Einordnung  der  Bewußtseinserscheinungen  in  die 
beiden  Gruppen  der  »meinen«  (richtiger:  der  »von  mir  hervorgebrachten«)  und 
der  »mir  gegebenen«  Zustände  für  die  psychologische  Analyse  wertvolle 
Dienste  zu  leisten  geeignet  ist  und  solche  dem  Verfasser  bei  seinen  Unter- 
suchungen unbestritten  geleistet  hat,  so  durfte  es  aber  kaum  gelingen,  auf 
Grund  dieser  Unterscheidung  sämtliche  subjektiven  Erlebnisse  des  Bewußt- 
seins empirisch  auf  Strebungen  zurückzuführen.  Darum  dürfte  auch  die 
Definition  der  Psychologie  in  der  Form,  wie  sie  L.  gibt,  entschieden  zu  eng 
sein.  Er  sagt  nämlich :  »Die  Psychologie  ist  die  Wissenschaft  von  der  subjektiven 
Welt;  die  subjektive  Welt  ist  der  Inbegriff  »meiner1  Bewußtseinszustände«. 
Die  Untersuchung  der  »gegebenen«  Zustände  weist  L.  der  physiologischen 
Psychologie  und  den  übrigen  Naturwissenschaften  zu,  weil  jene  Zustände  wegen 
ihrer  Gegebenheit  nicht  zum  Ich,  sondern  zur  objektiven  Welt  gehören. 
Damit  spricht  L.  den  »gegebenen«  Zuständen  geradezu  jeden  subjektiven 
Charakter  ab  und  entfernt  sich  weit  von  der  Auffassung  Wundts,  auf  die 
er  sich  in  andern  Stücken  gern  beruft;  ja,  er  mißversteht  in  diesem  Punkt 
Wundt  so  sehr,  daß  er  behauptet,  die  konsequente  Durchfuhrung  der  Wundt- 
schen  Auffassung  weise  der  Psychologie  die  Bearbeitung  der  gesamten  Wirk- 
lichkeit zu  und  mache  die  Naturwissenschaft  vollkommen  Uberflüssig.  Ver- 
fasser bißt  dabei  ganz  außer  acht,  daß  die  objektiven  Bewußtseinstatsachen 
sowohl  eine  psychologische  als  auch  oine  naturwissenschaftliche  Bearbeitung 
zulassen,  deren  beiderseitige  Ziele  total  voneinander  verschieden  sind. 

Die  Ersetzung  der  gebräuchlichen  Begriffe  »bewußt«  und  »unbewußt«, 
bzw.  »Bewußtsein«  und  »Unbewußtsein«,  durch  die  Ausdrücke  »gewußt«  und 
»ungewußt«  dürfte  immerhin  eine  Klärung  der  Begriffe  zur  Folge  haben; 
doch  geht  Verfasser  wohl  zu  weit,  wenn  er  sich  daraus  einen  großen  sach- 
lichen Nutzen  verspricht,  schon  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  eine  scharfe 
Grenze  zwischen  dem  »Gewußten«  und  dem  »Ungewußten«  gar  nicht  zu  ziehen 
ist  und  unseres  Erachtens  die  von  Wundt  eingeführten  Bezeichnungen  Ap- 
perzeption und  Perzeption,  in  ihrer  richtigen  Bedeutung  genommen,  weit  bessere 
Dienste  leisten  mögen  als  die  vorgeschlagenen  neuen  Ausdrücke. 

Wichtiger  dünkt  uns  die  Affektenlehre  Loßkijs.  Er  legt  darin  ein 
Hauptgewicht  auf  die  EmpfindungHkomponenten,  die  mit  den  Ausdrucks- 
bewegungen  verbunden  sind,  und  betrachtet  sie  nicht  als  bloße  Begleiter- 
scheinungen, sondern  als  notwendige  Bestandteile  eines  jeden  Affektes.  »Die 


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Literaturberkht. 


Unterdrückung  der  körperlichen  Äußerungen  der  Affekte«,  behauptet  Ver- 
fasser, >wird  vom  Erlöschen  de»  Affektes  selbst  begleitet«  Damit  neigt  L. 
bewußterweise  zur  Auffassung  von  James  hin,  der  in  den  körperlichen  Ans- 
drucksbewegungen  nicht  die  Folgen,  sondern  die  Ursachen  de»  Affektes  er- 
blickt Seine  Lehre  unterscheidet  sich  von  der  James  sehen  nur  durch  die 
starke  Betonung  der  Strebungs-  oder  Willensakte,  welche  den  Affekt  be- 
gleiten. Der  Affekt  wird  definiert  ab  eine  rudimentäre  instinktive  Willens- 
handlung, die  eine  große  Menge  innerkörperlicher  Reaktionen  enthält 
welch  letztere  angeborene  Zweckmäßigkeit  besitzen,  d.  h.  der  Erfahrung  der 
Vorfahren  entsprungen  sind.  Offenbar  lassen  sich  in  dieser  Definition  zwar 
die  grobsinnlichen  Affekte  leicht  unterbringen,  weniger  gut  oder  gar  nicht 
aber  solche  Affekte,  die  mehr  in  einem  bloßen  Wechsel  von  Gefühlen  be- 
stehen und  nach  außen  nicht  zur  Geltung  kommen.  Die  Geftihlskomponenten 
der  Affekte  werden  von  L.  fast  ganz  vernachlässigt 

Eine  Besprechung  der  Kapitel  Uber  Persönlichkeit,  Lust  und  Un- 
lust, Charakter  u.  dgl.,  die  manche  gute  Beobachtung  enthalten,  können 
wir  füglich  unterlassen,  da  wenig  neue  Gesichtspunkte  darin  vorkommen. 
Es  genüge,  darauf  hingewiesen  zu  haben. 

Wenngleich  das  Werk  als  Ganzes  von  Mängeln  nicht  frei  ist  und  von 
seinem  Ziel,  die  Psychologie  auf  voluutaristischer  Grundlage  aufzubauen, 
noch  recht  weit  entfernt  sein  dürfte,  so  bUdet  es  dessenungeachtet  eine  wert- 
volle Bereicherung  der  psychologischen  Literatur,  weU  es  sich  vor  allen 
Dingen  auszeichnet  durch  eine  Fülle  feiner  psychologischer  Beobachtungen 
und  guter  Analysen.  J.  Köhler  (Rehbach). 


2)  Harald  Höffd in g,  Philosophische  Probleme.   109  S.   gr.8».  Leipzig, 
0.  R.  Reisland,  1903.   M.  2.40. 

Vier  Hauptprobleme  sind  es,  mit  denen  sich  die  Philosophie  beschäftigt : 
I.  Das  psychologische,  II.  Das  logische,  HI.  Das  kosmologische, 
IV.  Das  ethisch-religiöse  Problem.  In  klarer,  anschaulicher  Weise  sucht 
der  Verfasser  die  gemeinsamen  Grundgedanken  in  diesen  vier  Problemen  zu 
entwickeln.  Zunächst  betont  er  die  innige  Wechselbeziehung  zwischen  Per- 
sönlichkeit und  wissenschaftlicher  Forschung:  Einheit  gehört  zur  Persönlich- 
keit und  zwar  Einheit  der  Vorstellungen,  Gefühle  und  Bestrebungen,  Ein- 
heit erstrebt  die  wissenschaftliche  Forschung,  indem  sie  einen  Standpunkt 
sucht  von  dem  aus  das  Einzelne  sich  als  Glied  eines  großen  Zusammen- 
hangs erweist  So  erzeugt  die  Persönlichkeit  in  der  Wissenschaft  ein  ob- 
jektives Abbild  ihrer  selbst  —  Einheit  und  Zusammenhang.  Die  Aufgabe 
der  philosophischen  Forschung  besteht  darin,  das  Unzusammenhängende  in 
der  Erfahrung  als  Unterschiede  der  Zeit,  des  Ortes,  der  Qualität  der  Indi- 
vidualität zu  Überwinden.  Die  Diskontinuität  in  den  Dingen  steht  dem  wissen- 
schaftlichen Einheitastreben  aber  nicht  feindlich  gegenüber,  sondern  stellt  ihm 
vielmehr  stets  neue  Aufgaben,  löst  gebundene  Kräfte  aus  und  bringt  in 
Wissenschaft  und  Leben  neue  Inhalte. 

I.  Das  Bewußtseinsproblem  (psychologisches  Problem).  Der  Per- 
sönlichkeitsbegriff bUdet  das  Grundproblem  der  Psychologie.  Derselbe 
läßt  vor  allem  die  Frage  auftauchen :  Bildet  unser  Bewußtsein  ein  Kontinuum, 

6* 


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84 


Literaturbericht. 


oder  ist  es  bloß  eine  Summe  von  Fragmenten?  Das  Ziel  des  Verfassers  geht 
nun  darauf  hinaus,  die  zweite  Möglichkeit  zu  widerlegen.  In  erster  Linie 
spricht  für  die  Totalität  des  Bewußtseins  der  Umstand,  daß  die  psychischen 
Elemente  niemals  isoliert  vorkommen,  sondern  bloß  in  Zusammenhängen  ge- 
geben sind.  Ein  solcher  Zusammenhang  aber  kann  nicht  ein  Produkt  der 
Elemente  sein,  da  sie  nur  infolge  des  Zusammenhangs  als  diese  oder 
jene  Empfindungen  auftreten.  Für  die  ursprüngliche  Einheit  des  Bewußt- 
seins spricht  ferner  der  Totalitätszusammenhang,  der  in  dem  Vorgang  der 
Assoziation  wirksam  ist,  wodurch  die  Vorstellungen  unmittelbar  mitein- 
ander verknüpft  werden,  weil  keine  Vorstellung  für  sich  allein  existiert 
Insofern  nun  Bewußtsein  und  Persönlichkeit  nicht  als  Produkte  gegebener 
Elemente  aufgefaßt  werden  können,  andererseits  aber  ihr  Wesen  sich  als  ein 
beständiges  Zusammenfassen  nicht  anfänglich  selbst  erzeugter,  sondern 
gegebener  Elemente  dokumentiert,  entsteht  eine  unauflösbare  Antinomie. 

So  sehr  aber  auch  die  Psychologie  den  synthetischen  Charakter  des  Be- 
wußtseinslebens betonen  mag,  so  ist  sie  doch  nicht  imstande,  einen  fertigen 
Persönlichkeitsbegriff  zu  bilden.  Sie  kommt  Uber  Beobachten,  Experimentieren 
und  Analysieren  nicht  hinaus.  Darum  bleibt  der  Persönlichkeitsbegriff  stets 
ein  Problem. 

Zu  einem  vollkommenen  Verständnis  im  Gebiete  des  Bewußtaeinslebens 
gehörte  eigentlich  der  Nachweis  eines  ununterbrochenen  Zusammenhangs  aller 
Elemente.  Es  müßten  zu  diesem  Zweck  die  psychischen  Tatsachen  auf  solche 
Elementarvorgänge  zurückgeführt  werden  können,  von  denen  aus  —  wie  im 
Gebiet  des  Naturgeschehens  —  die  Entwicklung  der  augenblickliehen  Zu- 
stände aus  vorhergehenden  und  zukünftiger  Zustände  aus  gegenwärtigen  als 
bloße  äquivalente  Umsätze  zu  deuten  wären.  Diesem  Ziel  Bteht  die  Diskon- 
tinuität im  Gebiet  des  psychischen  Geschehens  entgegen,  die  zum  Ausdruck 
kommt  in  unbewußten  Zuständen:  in  Ohnmächten  und  traumlosem  Schlaf, 
sowie  in  den  qualitativen  Unterschieden  zwischen  den  verschiedenen  Ele- 
menten des  Bewußtseins.  Zur  Beseitigung  dieser  Diskontinuität  stehen  zwei 
Wege  offen:  entweder  man  führt  die  psychischen  Vorgänge  auf  physio- 
logische zurück,  oder  man  ergänzt  die  Lücken  der  psychischen  Kausalreihe 
durch  hypothetische  Verbindungsglieder. 

Der  erste  Weg,  der  von  Avenarius  und  MUnsterberg  beschritten 
worden,  führt  zur  Aufhebung  der  Psychologie  als  Wissenschaft  und  ist  um 
deswillen  verfehlt,  weil  auf  demselben  das  Rätsel  ungelöst  bleibt,  wie  physio- 
logische Zustände  psychische  Symptome  haben  und  wie  quantitative  Gleich- 
artigkeiten auf  der  einen  Seite  qualitative  Ungleichartigkeiten  auf  der  andern 
Seite  erzeugen  können. 

Der  zweite  mögliche  Weg  zur  Beseitigung  der  Diskontinuität  wird  von 
Höffding  selbst  betreten.  Die  Tatsache  des  festen  Zusammenhangs  des 
Bewußtseinsinhaltes  beim  Erinnern  und  Vergleichen,  dann  aber  auch  die 
innige  Abbiingigkeitsbeziehung  aller  seelischen  Regungen  von  einem  höch- 
sten Zweck,  wie  sie  bei  charakterfesten  Persönlichkeiten  deutlich  hervor- 
tritt, veranlassen  den  Verfasser,  den  Begriff  einer  potentiellen  psychi- 
schen Energie  als  Verbindungsbegriff  einzuführen,  einen  Begriff,  der  nach 
Analogie  des  physischen  Energiebegriffs  gebildet  ist,  aber  nicht  mehr  aus- 
drücken soll  wie  die  Begriffe  >Spur«,  »Möglichkeit«,  »Disposition«.  Volle 
Einsicht  in  den  Zusammenhang  von  Physischem  und  Psychischem  könne  viel- 
leicht dann  gewonnen  werden,  meint  Verfasser,  wenn  es  möglich  wäre,  einen 


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Literaturbericht. 


85 


Energiebegriff  zu  bilden,  ans  dem  sich  der  psychologische  wie  der  natur- 
wissenschaftliche Energiebegriff  als  spezielle  Formen  ableiten  ließen.  So  ist 
es  schließlich  die  Identitätshypothese,  welche  am  ungezwungensten  das 
innige  Zusammengehören  der  physischen  und  der  psychischen  Reihe  von  Zu- 
stünden verständlich  macht  Sie  ist  zugleich  die  eigentliche  Arbeitshypo- 
these beim  psychischen  und  physiologischen  Problem,  indem  sie  die  Auf- 
gabe stellt,  beide  Reihen  von  Erscheinungen  derart  wissenschaftlich  zu  be- 
arbeiten, daß  jede  von  ihnen  möglichst  vollständig  und  kontinuierlich  dar- 
gestellt werde,  wobei  die  Glieder  der  einen  Reihe  als  Symptome  von  Gliedern 
der  andern  Reihe  zu  betrachten  sind  (Parallelhypothese). 

Überall  aber,  wo  psychische  Erscheinungen  auftreten,  wird  psychische 
Arbeit  verrichtet,  weil  solche  Erscheinungen  stets  eine  Synthese  voraus- 
setzen, die  in  der  Kombination  der  Bewußtseinselemente  besteht  Darum 
erscheint  der  Willensbegriff  als  Begriff  der  psychischen  Aktivität  über- 
haupt und  bildet  deshalb  in  der  psychischen  Reihe  den  Fundaniental- 
begriff. 

II.  Das  Erkenntnisproblem  (logisches  Problem).  Verständnis  der 
Geschehnisse  kann  auf  drei  Arten  gewonnen  werden:  1)  durch  Aufsteigen 
von  den  Erscheinungen  zum  Begriff,  2)  durch  Schlüsse  aus  Begriffs  Verbindungen, 
3)  durch  Herleitung  der  Erscheinungen  aus  andern  Erscheinungen  (Kausali- 
tät). Aus  der  ursprünglich  elementaren  Form  des  Kausalitätsbegriffs,  der 
nur  ein  Sukzessionsverhältnis  ausdrückt,  entstand  allmählich  der  ideale 
Kausalitätsbegriff,  welcher  die  Wirkung  znr  Fortsetzung  der  Ursache  macht 
und  in  seiner  letzten  Form  in  den  Entwicklungsbegriff  Ubergeht 

Dadurch,  daß  ein  erkenntnistheoretisches  Prinzip  dem  psychischen  Be- 
dürfnis nach  Einheit  und  Kontinuität  der  Erfahrung  entgegenkommt,  ist  seine 
objektive  Gültigkeit  noch  nicht  erwiesen;  denn  die  Befriedigung  jenes  Be- 
dürfnisses läßt  sich  auch  in  mythischer  oder  spekulativer  Form  ermöglichen. 
Fundamentale  Erkenntnisprinzipien  müssen  ihre  Bedeutung  nach  zwei  Rich- 
tungen hin  darlegen,  nach  der  subjektiven  und  nach  der  objektiven  Seite; 
nach  der  subjektiven,  insofern  unser  Bewußtsein  keine  seinem  Wesen  fremde 
Erkenntnis  zu  gewinnen  vermag,  nach  der  objektiven,  insofern  die  zn  be- 
arbeitenden Erscheinungen  als  dem  Dasein  Uberhaupt  angehörig  zu  betrach- 
ten sind.  Die  Prinzipien  haben  den  Zweck,  Verständnis  gewinnen  zu  helfen. 
»Djre  Wahrheit  besteht  in  ihrer  Gültigkeit,  und  ihre  Gültigkeit  in  ihrem 
Arbeitswert«  Der  Begriff  der  Wahrheit  ist  ein  symbolischer  Begriff,  da 
er  nicht  Deckungsgleichheit  sondern  Beziehungsähnlichkeit  zwischen  den 
Vorgängen  im  Dasein  und  der  Auffassung  in  unserem  Bewußtsein  bedeutet. 
Darum  können  wir  unsere  Gedanken  mit  dem  absoluten  Sein  der  Dinge  direkt 
nicht  vergleichen. 

Zwischen  dem  Dasein  und  unserer  Erkenntnis  besteht  ein  irrationales 
Verhältnis,  weil  im  sinnlich  wahrnehmenden  Subjekt  die  Qualitäten  jeder- 
zeit als  unmittelbare  Tatsachen  bestehen  bleiben,  selbst  wenn  in  der  phy- 
sischen Welt  alle  Qualitäten  sich  auf  Quantitäten  reduzieren  ließen.  Ähn- 
liches gilt  von  dem  idealen  Kausalitätsbegriff,  insofern  mit  dem  Nachweis 
eines  Äquivalenz  Verhältnisses  zwischen  Ursache  und  Wirkung  unsere  Erkennt- 
nis nicht  abgeschlossen  sein  kann,  denn  es  kommt  bei  jenem  Begriff  nicht 
bloß  auf  die  Äquivalenz,  sondern  ebensosehr  auf  die  Richtung  der  Ver- 
änderungen an,  weshalb  eine  kausale  Abhängigkeit  stets  rationales  und 


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86 


Literatarberich  t. 


Zeitverhältnis  zugleich  ist,  indem  ein  Zustand  nicht  bloß  ans,  sondern  auch 
nach  einem  andern  erfolgt 

Die  Erkenntnis,  die  wir  vom  Dasein  gewinnen,  ist  selbst  wieder  ein 
Teil  dieses  Daseins.  Das  Erkenntnisproblero  wäre  daher  dann  lösbar,  wenn 
ein  Dasein  mittels  eines  seiner  Teile  ausgedrückt  werden  könnte.  Da  dies 
aber  ausgeschlossen  ist,  so  ist  ein  erschöpfender  Wirklichkeitsbegriff  nicht 
möglich. 

DU.  Das  Das  ein  spr  ob  1  em  (kosmologisches  Problem).  Infolge  stetigen 
Werdens  unserer  Erkenntnis  ist  eine  vollendete  Welttotalität  nicht  denkbar. 
Der  Umstand,  daß  die  Erkenntnis  als  Teil  des  Daseins  unfertig  ist,  konnte 
damit  in  Verbindung  etehen,  daß  die  Welt  in  gleicher  Weise  in  beständigem 
Wachsen  und  Fortschreiten  begriffen  wäre  wie  Erkenntnis  und  Persönlich- 
keit selbst  Jeder  Versuch  einer  Weltanffassung  bedarf  einer  Analogie, 
welche  darin  besteht,  daß  ein  einzelnes  uns  zugängliches  Gebiet  benutzt 
wird,  um  die  Totalität  des  Daseins  dadurch  auszudrücken.  Die  Erscheinung, 
auf  welche  sich  diese  Analogie  gründet,  kann  als  das  Urphänomen  be- 
zeichnet werden.  Als  Urphänomen  kann  dienen  das  Leben,  das  Denken  oder 
die  Materie.  Die  dogmatische  Metaphysik  bedient  sich  eines  solchen  Ur- 
phänomens,  ohne  dasselbe  zuvor  wissenschaftlich  untersucht  zu  haben.  Ist 
nun  anch  die  Wahl  desselben  stets  von  persönlichen  Momenten  abhängig, 
so  darf  es  zum  Aufbau  eineB  metaphysischen  Systems  nur  benutzt  werden, 
wenn  es  kritisch  beleuchtet  ist,  und  wenn  zugleich  ein  reichhaltiger  wissen- 
schaftlich durchgearbeiteter  Stoff  zur  Verfügung  steht. 

Was  ferner  das  Dasein  selbst  betrifft,  so  muß  eB  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  unserm  Verständnis  zugänglich  sein,  denn  andernfalls  vermochten  wir 
uns  mit  unsere  Fähigkeiten  und  Methoden  nicht  in  der  Welt  zu  orientieren. 
Da  nun  jedes  Verständnis  aber  nicht  bloß  selber  in  einem  inneren  Zusammen- 
hange besteht,  sondern  anch  einen  solchen  in  den  Dingen  voraussetzt,  anf 
die  es  sich  erstreckt,  so  folgt  daraus,  daß  auch  im  Dasein  eine  innere  Einheit 
vorhanden  ist  Diese  Einheit  im  Dasein  nötigt  uns,  die  alles  verbindende 
Kausalität  als  ein  Urphänomen  anzunehmen,  welche  Annahme  der  Vielge- 
staltigkeit  der  Formen  des  Daseins  nicht  widerspricht,  wenn  man  mit  dem 
Kritischen  Monismus  im  Dasein  eine  kämpfende  Einheitsgewalt  vorans- 
Betzt,  welche  durch  fortschreitende  Entwicklung  über  das  Sprunghafte  und 
Widerstrebende  hinwegfuhrt.  Offen  bleibt  natürlich  die  Frage,  ob  die  als 
wirklich  angenommene  Entwicklung  des  Daseins  als  ein  rhythmisches  Wieder- 
kehren früherer  Formen  oder  als  ein  Fortschreiten  zu  größerer  Vollkommen- 
heit zu  denken  sei.  Bei  der  positiven  Bestimmung  des  Einheitsprinzips  ent- 
steht der  Zwiespalt  zwischen  Materialism  ub  und  metaphysischem  Idealie- 
mus. Die  beiden  Richtungen  entspringen  dem  Versuch,  den  Totalzusammen- 
hang im  Dasein  entweder  durch  Analogie  mit  dem  räumlich  Aasgedehnten 
oder  durch  Analogie  mit  den  geistigen  Erscheinungen  zu  erklären.  Die 
Schwierigkeit  der  Frage  besteht  darin,  daß  unsere  Erfahrung  uns  überhaupt 
nicht  Elemente  genug  zur  Lösung  des  Daseinsproblems  bietet  Der  Kritische 
Monismus  sucht  daher  die  Unlösbarkeit  des  Problems  darauf  zurückzuführen, 
daß  er  eine  Grandeigenschaft  des  Daseins  annimmt,  die  wir  nicht  kennen. 
Wäre  sie  uns  bekannt,  so  würden  wir  auch  vielleicht  verstehen,  wie  aus 
dieser  Grundeigenschaft  sowohl  Geist  als  Materie  entspringen. 

Das  Unvollendete  des  Daseins  weist  uns  schlieOlich  anf  eine  Ethik  hin. 


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Literaturbericht 


87 


War«  das  Dasein  fertig,  bo  wäre  eine  Ethik  überflüssig.  Denn  alle  Ethik 
verlangt  eine  Arbeit,  für  welche  in  einer  ewigen  Vollkommenheit  keine 
Stelle  wäre. 

IV.  Das  Wertungsproblem  (ethisch-religiöses  Problem).  Was  eine  Be- 
friedigung herbeiführt  oder  einem  Bedürfnis  abhilft,  besitzt  Wert  Indem 
es  erstrebt  wird,  bildet  es  einen  Zweck.  Die  Norm  aber  ist  die  Tätigkeit, 
welche  zur  Erreichung  des  Zwecks  dient.  Damit  postuliert  Höffding  ein 
der  Kant  sehen  Ethik  entgegengesetztes  Verhältnis  der  Begriffe  Zweck,  Wert, 
Norm.  Die  Werte  können  individuell  und  zeitlich  verschieden  sein.  Bei  der 
Abschätzung  der  Werte  gegeneinander  ergibt  sich  die  Notwendigkeit,  analog 
dem  Begriff  des  Urphänomens  im  Daseinsproblem  einen  Grundwert  auf- 
zustellen. Dieser  Grundwert  hängt  davon  ab,  je  nachdem  man  im  indi- 
viduellen Leben  die  Lebenstotalität  oder  das  Recht  der  einzelnen 
Augenblicke  und  Triebe  betont — oder  im  sozialen  Znsammenleben  die 
Selbstbehauptung  oder  die  Hingebung  an  die  Spitze  stellt  Ein  dem 
Einheitsbedlirfnis  der  Persönlichkeit  entsprechender  Ausgleich  zwischen  dem 
Widerstreit  der  Totalität  des  Lebens  und  dem  augenblicklichen  Triebe  ist 
dadurch  möglich,  daß  jeder  Augenblick  und  jede  Fähigkeit  den  angemesse- 
nen Platz  und  das  gebührende  Recht  erhält,  so  daß  kein  Element  des  per- 
lichen  Lebens  nur  als  Mittel,  sondern  auch  zugleich  als  Zweck  betrachtet 
wird,  jedoch  in  stetem  Hinblick  auf  den  Totalzusaminenhang.  Die  gleiche 
Harmonie  (Gerechtigkeit)  läßt  sich  zwischen  der  individuellen  und  der  sozialen 
Lebenstotalität  erstreben.  Ein  logisches  Hinüberfuhren  eines  Grundwertes 
zu  einem  andern  ist  nicht  möglich.  Es  sind  psychologische  und  geschicht- 
liche Bedingungen,  welche  den  Grundwert  bestimmen;  und  es  können  daher 
auch  die  ethischen  Forderungen  nicht  als  allgemein  geltende  Gesetze  auf- 
gestellt werden,  sondern  es  ist  eine  Individualisierung  derselben  vorzunehmen, 
damit  die  Ethik  sich  nicht  selbst  an  ihrem  Satz  versündige,  daß  die  Persön- 
lichkeit stets  Zweck,  niemals  bloß  Mittel  sei 

Die  Diskontinuität  und  das  Verlorengehen  so  mancher  Werte  im  Leben 
bedingen  psychologisch  die  Religion.  Sie  besteht  in  einem  Glauben  an 
die  Fortdauer  der  Werte  trotz  ihres  empirischen  Untergangs.  Das  Haupt- 
Bächliche  der  Religion  ist  nicht  ein  intellektuelles,  sondern  ein  Gefühls-  und 
Willensinteresse.  Der  Glaube  an  die  Kontinuität  der  Werte  besitzt  insofern 
selbst  einen  Wert,  als  er  den  Mut  des  Menschen  stärkt  und  den  Ansporn 
gibt  neue  Werte  für  verloren  gegangene  zu  suchen. 

Indem  so  alle  vier  philosophischen  Probleme  sich  als  unlösbar  erweisen, 
finden  wir  trotzdem  einen  Weg,  der  vorwärts  führt  insofern  die  Diskonti- 
nuität in  der  Erfahrung  unserm  Forschen  und  Denken  stets  neue  Horizonte 
eröffnet  neue  Aufgaben  stellt  und  es  neue  Zwecke  finden  läßt 

J.  Köhler  (Rehbach). 


3}  H.  Thoden  van  Velsen,  System  des  religiösen  Materialismus.  I.  Wissen- 
schaft der  Seele.  X,  467  S.  gr.  8<>.  Leipzig,  0.  R.  Reisland  in  Komm., 
1903.  M.9.-. 

Das  Resultat  oder,  besser  gesagt  der  Kernpunkt  vorliegender  phsycho- 
logischer  Darstellungen  wird  auf  S.  1  so  angegeben:  »{Die  Seele)  ist  ein  Wesen, 
das  aus  zwei  andern  Wesen  zusammengestellt  ist,  nämlich  dem  bewußten. 


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88 


Literaturbericht. 


fühlenden,  denkenden,  wollenden  Geiste  und  einem  den  Geiat  umringenden 
Wesen,  dem  Gedächtnis,  daa  von  den  zentralen  Regionen  des  Nervensystems 
derartig  bewegt  wird,  daß  es  Bilder  empfängt,  dieGeistesbilder  heißen  können«. 
In  einem  späteren  Teil  des  Buches  wird  dann  weiter  ausgeführt:  »Lehrt  uns 
dieErscheinungswelt,  daß  Tätigkeiten,  Bewegungen  immer  Wesen  voraussetzen, 
die  bewegen,  dann  müssen  auch  unsere  Tätigkeiten  Fühlen,  Denken,  Wollen, 
Bewußtsein  ein  oder  mehrere  Wesen  voraussetzen,  die  tätig  sind«  (S.  384). 
Dieses  Wesen  ist  der  Geist  oder  das  Ich,  und  die  folgenden  Paragraphen 
sollen  »beweisen«  die  Einheit,  Ungeteiltheit,  Selbständigkeit  und  Iden- 
tität dieses  Geistwesens;  es  »ist  ein  Atom  von  beschränkter  Größe« 
(446),  also  materiell.  Ebenso  ist  das  Gedächtnis  »wesentlich«,  d.  h.  materiell- 
stofflich  (413),  ja,  es  ist  »körperbildend«,  »die  wahre  matrix  der  Körperteile«, 
»weil  es  die  Begriffe  unserer  Körperteile  bewahrt«  (433);  es  hat  »höchstwahr- 
scheinlich eine  sphärische  Form«  und  ist  unveränderlich  in  seinem  Wesen.  — 
Aber  auch  die  Vorstellungen  nnd  Begriffe  (letztere  als  Gruppierungen  ähnlicher 
Vorstellungen)  haben  »Länge,  Breite  und  Tiefe«  (424),  sie  sind  ebenfalls 
stofflich-materiell.  Natürlich  wohnt  diese  aus  zweierlei  Stoffen  zusammen- 
gesetzte nnd  mit  einer  »bestimmten,  absoluten  Größe«  begabte  Seele  »irgend- 
wo im  Gehirn«  (426). 

Ein  Hauptargument  für  die  Materialität  und  Ortlichkeit  der  Vorstellungen 
(bzw.  Begriffe)  ist  dem  Verf.  die  Verdunkelung,  »Überschattung«  gewisser  Vor- 
stellungen durch  eine  oder  einige  andere,  im  natürlichen  und  hypnotischen 
Schlaf  oder  bei  gewissen  geistigen  Erkrankungen.  Dieser  Gedanke  der  Über- 
schattung wird  originell-interessant  in  der  Anwendung  auf  die  Erscheinung 
des  Todes  (im  6.  Teil  des  Buches)  :  Der  Tod  ist  von  psychologischem  Stand- 
punkte aus  nichts  anderes  als  eine  Vorstellung,  die  wie  jede  andere  inten- 
sive oder  andauernde  Vorstellung  langsamer  oder  schneller  die  übrigen  Vor- 
stellungen Uberschattet,  wie  es  im  Schlafe  und  ähnlichen  Zuständen  auch 
geschieht  Doch  wird  der  Tod,  oder  vielmehr  die  bestimmte  alles  überschattende 
Vorstellung  gewiß  auch  nicht  dauernd  die  Welt  der  übrigen  Vorstellungen  ver- 
dunkeln, sondern  die  Seele  wird,  da  ihre  Vorstellungen  und  Begriffe  körperbildend 
sind,  sich  einen  neuen  Leib  bilden,  nachdem  sie  »wahrscheinlich«  einen  andern 
Weltkörper  aufgesucht,  um  dort  ihre  Arbeit  fortzusetzen;  die  spiritistischen 
Erscheinungen  sind  dann  vielleicht  Wirkungen  von  einem  andern  Planeten 
aus  »mittels  Elektrizität  ohne  Draht«  (466).  —  Man  denkt  bei  diesen  letzten 
Erörterungen  bisweilen  an  Fechners  metaphysische  Schriften,  zumal  anch 
die  Diktion  daran  erinnert  und  etwas  Ergreifendes  hat 

Reich  ist  das  Buch  übrigens  an  historischen  Überblicken  nnd  Kritiken. 
Die  letzteren  sind  freilich  mitunter  recht  sonderbarer  Art  Ein  Beispiel  für 
mehrere:  Wundts  Definition  der  Freiheit  (in  Ethik,  Abschn.  III,  Kap.  I, 
S.  397 ff.):  »Freiheit  ist  die  Fähigkeit  eines  Wesens,  durch  selbstbewußte 
Motive  unmittelbar  in  seinen  Handlungen  bestimmt  zu  werden.  Daa  Gegen- 
teil der  Freiheit  ist  Zwang,  welchen  wir  Uberall  da  voraussetzen,  wo  die  un- 
mittelbaren Ursachen  des  Handelns  außerhalb  des  Selbstbewußtseins  liegen,« 
wird  mit  folgenden  Argumenten  abgewiesen :  »Das  Vermögen  zur  Freiheit  und 
die  Freiheit  sind  Begriffe  verschiedener  Bedeutung.  Wir  haben  das  Vermögen 
zu  tanzen,  deshalb  tanzen  wir  aber  noch  nicht«  (247).  » Von  Willensentwicklung 
kann  keine  Rede  sein  . . .  Wille  ist  einfach  ein  Begriff,  n.  zw.  ein  Artbegriff . .  . 
der  die  Vorstellungen  unserer  Fähigkeiten  Wollen  in  sieb  faßt«  (249).  Dies 
gegen  Wundts  Erklärung  vom  Bewußtsein  seiner  selbst:  »der  eigenen,  durch 


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Literaturbericht. 


89 


die  vorangegangene  Willensen twicklung  bestimmten  Persönlichkeit  bewußt 
sein.«  —  Endlich  S.  253,  es  sei  doch  unrichtig,  zu  behaupten:  Freiheit  sei 
Bestimmtheit;  >wenn  ich  von  einer  Passion  frei  bin,  bin  ich  doch  von  dieser 
Passion  nicht  bestimmt«.  Dem  gegenüber  stellt  der  Verf.  seine  Definition: 
»Freiheit  ist  ein  Begriff,  der  die  Vorstellungen  vieler  Tätigkeiten  Nichtwollen 
(verneinen,  trennen)  zusammenfaßt  Unser  Begriff  ist  also  zuerst  negativ.  Daß 
ich  etwas  nicht  will,  daß  ioh  etwas  abweise,  dadurch  werde  ich  frei.  Ich 
vrül  keine  Külte.  Ich  will  keine  Menschenvergötterung.  Ich  entferne  die 
Vorstellung  des  Hasses  von  mir.  Ich  verneine  meinen  Freund.  Dadurch  bin 
ich  frei«  (263  f.).  Als  ob  die  beiden  Definitionen  einen  gemeinsamen  Gegen- 
stand hätten!  —  Weiter  unten  heißt  es:  »Die  Fähigkeit,  bestimmter  Vor- 
Stellungen  bewußt  zu  sein,  und  das  Aufhören  damit  beweist  das  Wählen  des 
Geistes,  seine  Freiheit«  (279)  und  S.  288:  der  Geist  »wählt  die  Motive.  Er 
steht  ihnen  selbständig  gegenüber«  usw. 

Es  wäre  wohl  zu  wünschen,  daß  die  auf  vorliegenden  psychologischen 
Präliminarien  sieh  aufbauende  ReligionsphiloBophie  strikter  im  Beweisen  und 
strenger  in  der  Gedankenführung  wäre,  wenn  sie  etwas  anderes  sein  will  als 
ein  religiöses  Glaubensbekenntnis.  C.  Vogl  (Leislau). 


4)  P.  H.  Siewers,  Mechanismus  und  Organismus.  Ein  Versuch  zur  Er- 
klärung der  LebenBtätigkeit  40  S.  gr.  8°.  Essen  a.  d.  Ruhr, 
G.  D.  Bädeker,  1904    M.  1.20. 

Der  Verfasser  sucht  mit  Hilfe  mathematischer  Kombinationen  das  DaBeins- 
problem  zu  lösen.  Nach  dem  Vorgange  Kants  nimmt  er  Kraftzentren  an, 
in  denen  zwei  entgegengesetzte  Kräfte,  die  Anziehungskraft  +  *  und  die 
Abstoßungskraft  —  &,  tätig  sind,  außerdem  aber  noch  eine  dritte  Kraft,  die 
Triebkraft  p,  wirkt,  und  zwar  so,  daß  ihre  Wirkung  jenen  beiden  Kräften 
gleichzeitig  entgegengesetzt  ist  und  mathematisch  der  Proportion  Genüge 
leistet: 

4-  k  :  p  :  =  p  :  —  k. 

Aus  dieser  Gleichung  folgt: 

!»-•*, 

d.  h.  p  ist  eine  imaginäre  Kraft.  Nichtsdestoweniger  soll  diese  Größe  sehr 
reell  sein.  Denn  gerade  sie  soll  —  als  imaginäre  Kraft  —  den  Unterschied 
zwischen  Lebendigem  und  Leblosem  bedingen.  Solcher  Unmöglichkeiten 
enthält  die  Schrift  trotz  ihres  geringen  Umfangs  noch  viele,  so  daß  sie  mehr 
als  Spielerei  mit  momentanen  Einfällen  denn  als  ernste  philosophische 
Leistung  zu  betrachten  ist.  J.  Köhler  (Rehbach). 


5)  Dr.  Ch.  H.  Judd,  Einige  Erscheinungen  des  binokularen  Sehens.  The 
Psychological  Review.   1897.  Vol.  IV,  4.  p.  374—390. 

Es  war  interessant  zu  untersuchen,  wie  sich  bei  unveränderter  Akkom- 
modation der  Augenlinsen,  aber  veränderlicher  Konvergenz  der  Augenachsen 
die  Empfindung  des  binokularen  Sehens  gestaltet    Der  zur  Untersuchung 


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90 


Literaturbericht. 


verwandte  Apparat  bestand  aus  zwei  ebenen  Spiegeln,  die  unter  verschiede- 
nen Winkeln  gegeneinander  geneigt  werden  konnten.  Zuerst  konvergierten 
die  Augen  auf  das  Bild  eines  leuchtenden  Punktes  bei  der  Lage  der  beiden 
Spiegel  in  einer  Ebene.  Es  wurden  dann  die  ßpiegel  in  der  einen  oder  andern 
Richtung  gegeneinander  geneigt  und  wieder  der  Bildpunkt  fixiert  Die  Akkom- 
modation der  Augenlinsen  bleibt  dabei  unverändert,  die  Konvergenz  der 
Augenachsen  ist  aber  größer  oder  kleiner  geworden.  Bei  größerer  Konver- 
genz der  Augenachsen  erseheint  der  Punkt  näher,  bei  kleinerer  dagegen 
weiter.  Bei  der  Anwendung  eines  leuchtenden  Objektes  statt  eines  leuch- 
tenden Punktes  scheinen  die  Dimensionen  de«  Objektbüdee  bei  näherer 
Entfernung  kleiner,  bei  weiterer  dagegen  größer  zu  sein. 

DieBe  Untersuchungen  erlauben  zu  schließen,  daß  die  scheinbare  Größe 
des  Objektes  von  der  Kombination  des  Sehwinkels  und  der  Entfernung  des- 
selben abhängig  ist,  wobei  die  letzte  zum  größeren  Teile  durch  die  Empfindung 
der  Konvergenz  der  Augenachsen  als  durch  die  der  Akkommodation  der 
Augenlinsen  gegeben  ist  F.  Biske  (Zürich). 


6)  Dr.  med.  Loeser,  Ober  den  Einfloß  der  Dunkeladaptation  auf  die  spezi- 
fische Farbenschwelle.  Zeitschr.  f  "Psych,  u.  Physiol.  d.  Sinnesorgane. 
1904.  36.  S.l— 18. 

* 

Es  war  interessant,  die  Abhängigkeit  der  Farbenschwelle  vom  Adapta- 
tionszustand zu  untersuchen.  Dazu  wurden  die  Versuche  mittels  eines  camera- 
artigen Apparates  mit  zwei  Irisblenden  angestellt,  wobei  ein  bestimmtes 
farbiges  Licht  der  einen  Blende,  mit  einem  farblosen  der  andern  verglichen 
werden  konnte.  Die  Schwellenbestimmung  gestaltete  sich  in  der  Weise,  daß 
die  beiden  Blenden  so  weit  geüffnet  wurden,  bis  die  eine  mit  Sicherheit  als 
die  farbige  erkannt  werden  konnte,  ohne  daß  es  möglich  war,  durch  weitere 
Öffnung  der  andern  Blende,  also  durch  Vermehrung  der  Helligkeit  den  Farben- 
unterBchied  wieder  auszugleichen.  Die  Intensität  der  Farbe  war  dann  dem 
Quadrat  des  Blendendurchmessers  proportional. 

Für  den  allgemeinen  Typus  der  adaptiven  FarbenempfinoUichkeitsänderung 
ergibt  sich  aus  den  Versuchen  folgendes:  Schon  in  den  ersten  Bruchteilen 
einer  Minute  vom  Moment  guter  Belladaption  ab  tritt  eine  bedeutende  Zu- 
nahme der  Farbenempfindlichkeit  ein,  die  nach  etwa  10  Minuten  ihr  Maxi- 
mum erreicht,  dann  allmählich  abnimmt,  und  nach  etwa  46  Minuten  wird  ein 
definitiver  Zustand  erreicht  wo  die  Farbenempfindlichdeit  keine  größeren 
Veränderungen  mehr  erleidet.  In  quantitativer  Beziehung  bestehen  für  die  drei 
untersuchten  Farben:  Rot  Grün  und  Blau  gewisse  Differenzen,  indem  die 
Farbenempfindliohkeit,  nachdem  sie  ihr  Maximum  erreicht  hat  mit  der  fort- 
schreitenden Dunkeladaptation  am  wenigsten  abnimmt  für  Rot,  etwas  mehr 
für  Grün  und  am  meisten  für  Blau.  F.  Biske  : Zürich i. 


7)  J.  Franklin  Messenger,  M.  A.,  Die  Wahrnehmung  der  Zahl.  The 
Psychological  Review.  1903.   Nr.  22.  p.  1—44. 

Wie  kommt  man  zur  Erkenntnis,  wieviel  Objekte  man  sieht  wenn  man 
sie  alle  auf  einmal  wahrnimmt?  Der  Prozeß  der  Erkenntnis  ist  feigen  der: 


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Literaturbericht. 


91 


1)  Die  Wahrnehmung  des  unteibaren  Ganzen,  2)  die  Zerlegung  de»  Ganzen 
in  seine  Teile,  3)  die  Assoziation  der  Teile  mit  der  bekannten  Zahlenreihe. 

Die  Bezeichnung  der  Zahl,  ebenso  wie  anderer  Qualitäten,  ist  der  Name 
fttr  eine  gewisse  Eigenschaft,  nämlich  die  Zerlegbarkeit  in  bestimmte  Teile 
des  Objektes.  F.  Biske  (Zürich). 


8)  L.  Luciani,  Physiologie  des  Menschen.  Übersetzt  und  bearbeitet  von 
S.  Baglioni  und  H.  Winterstein.  Mit  einer  Einführung  von 
M.  Verwbrn.  1.  u.  2.  Lieferung.  8.  1—322.  Jena.  Gustav  Fischer, 
1904.  Jede  Lieferung  M.  4.-. 

In  ungefähr  12  Lieferungen  Boll  Lucianis  »Physiologie  des  Menschen« 
in  der  deutschen  Übersetzung  erscheinen;  die  beiden  ersten  Lieferungen  im 
Umfang  von  322  Seiten  liegen  vor.  Es  wird  sieh  also,  wenn  die  Ausgabe 
▼ollendet  ist,  eher  um  ein  Handbuch  als  um  ein  bloßes  Lehrbuch  der  Physio- 
logie handeln,  und  dem  entspricht  es,  wenn  der  Verfasser  sein  Publikum 
weniger  unter  den  Studierenden  als  unter  den  fertigen  Ärzten  sucht,  denen  er 
die  Gelegenheit  bieten  wilL  sich  über  den  momentanen  Stand  irgendwelcher 
Spezialfragen  aus  der  Physiologie  deB  Menschen  zu  orientieren.  In  der  Tat 
wird  das  Werk  diese  Aufgabe  erfüllen,  wenn  in  den  folgenden  Lieferungen 
dieselbe  Gründlichkeit  zum  Ausdruck  kommt,  mit  der  in  den  zwei  ersten  die 
Physiologie  des  Blutes  und  des  Kreislaufs  behandelt  ist  —  Ich  will  an  dieser 
Stelle  kein  genaues  Referat  nnd  auch  keine  eingehende  Kritik  über  das  bis- 
her Gebotene  geben,  sondern  will  nur  einiges  hervorheben,  was  für  das  Buch 
besonders  charakteristisch  und  was  für  den  Psychologen  von  besonderem  Wert 
ist  Erstens  scheinen  mir  sehr  charakteristisch  die  lebensvollen,  fesselnden, 
belehrenden  Darstellungen  der  Historie  der  Physiologie  des  Kreislaufs  (nnd 
der  Atmung,  welche  der  Darlegung  der  heute  geltenden  Lehren  eingefügt 
sind.  Zweitens  sehe  ich  einen  großen  Vorteil  in  der  Fülle  der  Abbildungen, 
zumal  der  graphischen  Darstellungen  von  Vorgängen.  Freilich  ist  zu  sagen, 
daß  eine  ganze  Anzahl  von  Figuren  technisch  auffällig  hinter  dem  zurück- 
bleibt, was  wir  heute  in  Büchern  zu  sehen  gewohnt  sind,  z.  B.  die  Figuren  26, 
34,  64,  148.  Drittens  findet  der  Psychologe,  welcher  Versuche  über  die 
Zirkulation  des  Menschen  zu  unternehmen  wünscht,  die  dazu  dienenden  Apparate, 
die  verschiedenen  Sphygmomanometer,  Sphygmographen,  Plethysmographen 
beschrieben  und  auch  kritisiert.  Vorangestellt  ist  dem  Ganzen  auf  etwa 
60  Seiten  eine  »allgemeine  Physiologie«,  d.  h.  es  werden  einzelne  prägnante 
Erscheinungsweisen  der  Ernährung,  des  Stoffwechsels,  der  Erregbarkeit  aus 
dem  gesamten  Organismenreich  hervorgehoben.  Meiner  Meinung  nach  ist 
mit  solch  einer  Einleitung  für  das  Verständnis  der  menschlichen  Physiologie 
nichts  gewonnen.  Will  man  durchaus  durch  eine  Einführung  die  Physiologie 
des  Menschen  als  einen  Spezialteil  der  Physiologie  »an  sich«,  der  Lehre  vom 
Leben,  abgrenzen,  so  soll  man  sagen,  was  den  Lebensprozeß  gegenüber 
andern  Prozessen  charakterisiert,  man  soll  ihn  von  den  Phänomenen  der  toten 
Natur  scharf  zu  unterscheiden  versuchen,  anstatt  daß  es,  wie  hier  und  anders- 
wo, von  vornherein  heißt:  das  Leben  ist  gekennzeichnet  durch  den  Stoff- 
wechsel, den  Kraftwechsel,  die  Erregbarkeit,  die  Fortpflanzung,  Funktionen, 
für  die  man  dann  einige  Beispiele  herzählt,  die  den  Namen  »allgemeine 
Physiologie«  bekommen.  R.  Hüber  (Zürich). 


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92 


Literaturbericht. 


9}  J.  Breuer,  Studien  Uber  den  Vestibularapparat  Sitzuugsber.  der 
Kaiserl.  Akad.  d.  Wiss.  in  Wien.  Mathem.-naturwiss.  Klasse.  Bd.  112, 
Abt.  III.   Sitzung  vom  6.  Novbr.  1903.  —  80  S.,  2  Taf. 

Den  Hauptinhalt  der  Schrift  bilden  anatomische  und  physiologische 
Untersuchungen,  die  die  Auffassung  des  Vestibularapparates  als  Organ  der 
Lage-  und  Bewegungsperzeptionen  von  neuem  bekräftigen;  den  Schluß  bildet 
eine  Verteidigung  der  Auffassung  gegen  Hensens  Einwände. 

Das  erste  Kapitel  enthält  Daten  Uber  die  Anatomie  der  Bogengänge  und 
deren  Deutung  im  Sinne  der  Theorie.  Dieser  Theorie  zufolge  bilden  Winkel- 
bcschleunigungen  den  Reiz  der  Crlstae  acnsticae,  die  Reizeffekte  sind  Empfin- 
dungen von  Winkelgeschwindigkeiten,  welche  den  Reiz  Uberdauern;  die  Er- 
regung der  Cristae  kommt  zustande  durch  Verschiebung  der  Endolymphe. 
Unerklärt  blieb  bisher  die  Nachdauer  der  Empfindung  Uber  die  Zeit  des 
Bewegungsreizes  hinaus,  nachdem  die  ursprüngliche  Erklärung,  die  Endo- 
lymphe ströme  entsprechend  ihrer  Trägheit  noch  eine  Zeitlang  nach  dem 
ersten  Bewegungsanstoß  weiter,  wegen  der  Engigkeit  der  häutigen  Bogen- 
gänge und  entsprechend  großer  Reibung  der  Endolymphe  an  den  Wandungen 
fallen  gelassen  war. 

Breuer  zeigt  nun,  daß  die  Haare  der  Sinnesepithelien  an  den  Cristae 
untereinander  durch  eine  Zwischenmasse  zu  der  oft  bestrittenen  und  als 
Kunstprodukt  bezeichneten  »Cupula  terminalis«  wirklich  verbunden  sind. 
Frei  von  Zwischenmasse  bleiben  die  Haare  nur  an  ihren  Ursprüngen  aus  den 
Epithelien.  und  daher  bildet  die  Cupula  eine  Platte,  welche  von  der  Crista 
durch  einen  schmalen,  nur  von  den  untersten  Haar  stücken  durchzogenen 
Zwischenraum  getrennt  ist  und  so  auf  diesen  HaarstUcken  schwebt.  Dadareh 
kann  die  Cupula  als  Ganzes  von  der  bewegten  Endolymphe  verschoben  wer- 
den, indem  die  Haarträger  sich  biegen.  Sie  zerren  dabei  an  den  Neuro- 
epithelien,  und  wenn  man  sich  vorstellt,  daß  die  Elastizität  der  Ilaare  be- 
schränkt ist,  so  wird  es  begreiflich,  daß  die  Erregung  der  Epithelien  durch 
Zerrung  unter  allmählicher  Abnahme  so  lange  nachdauern  muß,  bis  durch  die 
vorhandenen  elastischen  Kräfte  die  erfolgte  Durchbiegung  der  Haare  wieder 
völlig  ausgeglichen  ist. 

In  der  Engigkeit  der  Bogengänge,  die  die  Ausgiebigkeit  der  Endolymphe 
bewegung  stark  beschränkt,  sieht  Breuer  einen  Schutz  für  die  nur  lose  be- 
festigte Cupula,  die  leicht  durch  heftige  Strömungen  losgerissen  werden 
könnte,  und  so  findet  er  es  begreiflich,  daß  die  Bogengänge  keineswegs 
der  Größe  der  Tiere  proportional  an  Lumen  gewinnen,  sondern  stets  relativ 
eng  bleiben. 

Die  Cristae  sind  zum  Teil  äußerst  kompliziert  gebaut,  ebenso  die  Am- 
pullen und  Bogengänge;  es  ist  darüber  sowie  Uber  die  physiologische  Be- 
deutung des  Baues  im  Original  nachzulesen. 

Im  zweiten  und  dritten  Kapitel  sind  physiologische  Experimente  be- 
schrieben. Es  wird  die  für  die  Theorie  des  Vestibularapparates  sehr  wichtige 
Angabe  von  C.  J.  König  Uber  den  Effekt  der  Kokainisierung  der  Bogengänge 
bestätigt:  durch  lokale  Kokainisierung  lassen  sich  bei  Tauben  ohne  Ver- 
letzung die  häutigen  Bogengänge  ausschalten,  und  das  Resultat  der  Vergiftung 
ist  das  gleiche  wie  nach  Exstirpation,  nämlich  Pendeln  des  Kopfes  und  ge- 


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Literatarberieht. 


93 


^wisse  Gangstörungen.  Breuer  zeigt  nun  ferner,  daß  auch  die  »galvano- 
tropische  Reaktion«  (galvanischer  Schwindel)  durch  die  Kokainisierung  ver- 
loren geht,  nnd  daß  hei  einseitiger  Anästhesie  dieselbe  allmähliche  Kopf- 
drehung um  180°  zustande  kommt,  die  für  einseitige  Labyrinthexetirpation 
charakteristisch  ist  Die  gewohnliche  galvanotropische  Reaktion,  Seitenneigung 
des  Kopfes  zur  Anode  von  der  Kathode  fort,  bezieht  sich  auf  das  ganze 
Labyrinth;  isolierte  Reizung  einzelner  Ampullen  ist  nur  schwer  möglich; 
dennoch  gelingt  es  Breuer,  festzustellen,  daß  sich  durch  Reizung  der 
Ampulla  externa  horizontale  Kopfwendung  erzielen  läßt. 

Im  vierten  Kapitel  setzt  sich  Breuer  mit  Hensen  auseinander,  indem 
er  dessen  einzelne  Einwände  gegen  die  Lehre  vom  statischen  Sinne  Punkt 
für  Punkt  kritisiert.  R.  Hüber  (Zürich). 


10)  Dr.  Hermann  Schneider,  Die  Stellung  Gassendis  zu  Descartes. 

67  S.  Leipzig,  Kommissionsverlag  der  Dürrschen  Buchhandlung, 
1904.   M.  1.60. 

Verfasser  bietet  unter  den  Titeln:  1.  Lebenslauf.  2.  Discours  und  Exercita- 
tiones  paradoxicae.  3.  Meditationes  und  Disquisitio  metapbysica.  4.  Psycho- 
logie. 5.  Ethik.  6.  Physik  —  eine  vergleichende  Charakteristik  der  genannten 
Denker,  die  in  ihrem  Resultat  von  der  geläufigen  Auffassung  nicht  wesent- 
lich abweicht.  Die  flüssig  geschriebene  Arbeit  bemüht  sich  meist  erfolgreich, 
den  allgemeinen  Gefahren  dieser  —  als  Dissertationsthemen  immer  noch  reich- 
lich beliebten  —  Gegenüberstellungen  verwandter  oder  zeitgenössischer  Geister 
aus  dem  Wege  zu  gehen.  Nur  an  einem  Hauptpunkt  scheint  der  Autor  der 
Versuchung:  Unterschiede  in  Gegensätze  umzudeuten  und  künstliche  Be- 
ziehungen zu  konstruieren,  unterlegen  zu  sein,  indem  er,  unter  Vernach- 
lässigung der  kritischen  Tendenz  des  methodischen  Skeptizismus  Descartes1, 
diesen,  als  dogmatisch,  in  Kontrast  zu  dem  relativen  Skeptizismus  Gassendis 
setzt  Demzufolgo  soll  dann  im  Widerspruch  zu  ausdrücklichen  Aufstellungen 
Descartes1  nicht  nur  das  Gewißheitskriterium  der  clara  et  distincta  percep- 
tio,  sondern  auch  die  idea  Dei  (ohne  die  kein  [Zweifel  und  daher  auch  keine 
Erkenntnis  möglich  sei)  der  ersten,  grundlegenden  Einsicht  des  lumen  natu- 
rale, nämlich  der  Selbstgewißheit  des  Denkenden  (cogito,  sum)  als  dogmatische 
Voraussetzung  dienen.  Umgekehrt  erhält  vielmehr  das  Gewißheitskriterium 
erst  aus  der  Unmittelbarkeit  der  intuitiven  Selbsterkenntnis  seine  Würde, 
während  Gott,  weit  entfernt  die  erste  Gewißheit  erschüttern  zu  können,  erst 
nachträglich  als  Stütze  der  Richtigkeit  der  erkenntnistheoretischen  Erörterung 
auftritt  Nicht  Descartes,  welcher  die  logische  Evidenz  des  1.  n.  von  der 
klaren  und  anschaulichen  Evidenz  mathematischer  Einsicht  wohl  zu  trennen 
weiß  {vgl.  Desc.  ed.  Cousin  2,  293),  scheint  hier  einen  zwiespältigen  Begriff 
von  der  cogitatio  zu  besitzen.  Die  Lehre  von  den  ideae  innatae  Ubernimmt 
der  Verfasser  in  der  zu  weit  gehenden  Fassung  (als  fertig  eingeborener  Be- 
wußtseinsinhalte) der  Med.,  ohne  Berücksichtigung  der  einschränkenden  Er- 
läuterungen in  den  Briefen  und  Responsionen. 

Dr.  Fr.  Rose  (Zürich). 


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94 


Literaturbericht. 


11)  Hans  Lindau,  Unkritische  Gänge.    VTII,  192  S.    80.    BerKn,  Egon 
Fleischet  u.  Cie.,  1904.  M.  2.-;  geb.  M.  3.-. 

In  »einem  Vorwort  bemerkt  der  Verf.  zur  Rechtfertigung  des  Titels 
»unkritische  Gänge«,  daß  er  mehr  auf  Erweckung  von  Lust  und  Liebe  zu 
den  besprochenen  Dingen  ausgehe  »als  auf  verstandesmäßige  Sonderung  und 
Regelung  ihrer  schwachen  Seiten«.  Man  wird  ihm  darin  beistimmen,  >daß 
diesem  Verfahren  ein  ebenso  sicheres  Daseinsrecht  zukommt«,  wie  den  un- 
vermeidlichen »kritischen  Gängen«  durch  die  Literatur.  In  dem  vorliegenden 
Bande  bietet  nun  Hans  Lindau  Essays  Uber  Philosophen,  Historiker  und 
verschiedene  Schriftsteller  der  Gegenwart.  Zuerst  wird  Kurd  Lasewitz 
gewürdigt,  Lindau  sucht  in  ihm  vor  allem  die  seltene  Vereinigung  dichte- 
rischer und  philosophischer  Begabung  in  das  rechte  Licht  zu  rücken.  Es  folgt 
Wilhelm  Bölsche,  den  Lindau  den  unermüdlichen  Erzieher  zum  Natur- 
genuß nennt,  richtiger  wäre  es  vielleicht  gewesen,  die  hervorragende  Bega- 
bung B (Usch es  für  Popularisierung  auch  schwieriger  moderner  naturwissen- 
schaftlicher Theorien  zu  betonen.  In  dem  nächsten  Essay  »Der  Genuß  der 
Sprache«  wird  Mauthners  Werk  in  etwas  zn  unkritischer  Weise  gelobt. 
Es  folgt  eine  vortreffliche  Charakteristik  von  Lamprechts  deutscher  Ge- 
schichte, eine  ebenso  verständnisvolle  wie  liebenswürdige  Charakteristik  von 
Paulsen,  und  ein  ästhetischer  Essay  Uber  Adolf  Wilbrandt  Ein  glück- 
licher Griff  Lindaus  war  es,  Jules  Case  und  Anatole  France  zn  be- 
handeln. Diese  beiden  französischen  Schriftsteller  verdienen  es,  dem  weiteren 
deutschen  Publikum  bekannt  zn  werden.  Zuletzt  wird  Nicole  als  ein  Apostel 
des  Friedens  besprochen.  E.  Heumann  (Zürich). 


12]  Jos.  W.  Nahlowsky,  Das  Duell,  sein  Widersinn  und  seine  moralische 
Verwerflichkeit  Zweite  Auflage.  39  S.  Langensalza,  Herrn. 
Beyer  u.  Söhne,  1904.   M.  —.00. 

Schon  der  Titel  sagt,  welchen  Standpunkt  der  Verf.  zur  Duellfrage  ein- 
nimmt, er  verwirft  das  Duell  als  logisch  widersinnig,  weil  es  gar  kein  Mittel 
zur  Ehrenrettung  sei,  nnd  als  nnmoralisch.  Nahlowsky  empöehlt,  nach- 
dem er  das  Duell  vor  dem  Forum  des  praktischen  Verstandes  und  vor  »dem 
obersten  Gerichtshof  der  Moral«  betrachtet  hat,  eine  Anzahl  direkter  und 
indirekter  Mittel  zur  Bekämpfung  des  Duellunwesens. 

E.  Meumann  (Zürich). 


13)  Ch.  Brunot,  Untersuchung  über  die  soziale  Solidarität  als  Prinzip  der 
Gesetze.  Seanc.  et  Ar.  de  l'Acad.  d.  sc.  mor.  et  pol.  1903. 
63.  An.   pag.  305—364. 

Die  Hauptidee  ist  die  folgende:  Alles,  was  jemand  erreicht  hat,  was  er 
besitzt,  verdankt  er  der  Gesellschaft;  folglich  ist  ein  jeder  moralischer  Schuld- 
ner der  Gesellschaft,  die  das  Recht  hat,  von  ihm  die  Schuld  zu  verlangen, 
nicht  aber  sie  nur  als  Gnade  zu  erhalten.  Die  Anhänger  dieser  Idee 
suchen  Garantie  gegen  die  soziale  Ungerechtigkeit,  um  die  Gesellschaft  vor 
Zerfall  zu  bewahren.  F.  Biske  (Zürich). 


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Literaturbericht. 


14)  Theos ophischer  Wegweiser,  Monatsschrift  zur  Verbreitung  einer 
höheren  Weltanschauung  und  zur  Verwirklichung  der  allgemeinen 
Menschenverbrüderung.  —  Hedaktion:  A.  Weber,  Leipzig.  — 
Probenummer  aus  dem  V.  Jahrgang). 

Referent  hat  geduldig  von  jeder  der  etwa  30  Seiten  des  Heftchens 
Kenntnis  genommen,  sich  also  der  Reihe  nach  »vertieft«  in:  Denkwürdige 
Aussprüche  des  brahminischen  Philosophen  Rainakriachna.  —  Die  Religion 
der  Erkenntnis.  —  Buddha  als  Sämann.  —  Etwas  aus  Leo  Tolstois  Tage- 
buch. —  Das  Kind  und  seine  Erziehung.  —  Die  zwei  Asketen.  —  Auf  der 
Höhe  (Theosophisches  Gedicht).  Das  unverkennbar  ernste  pädagogische 
Streben  der  meisten  Mitarbeiter  nach  »Veredlung«,  »Aufklärung«,  »Verwirk- 
lichung des  Kulturideals  der  geistigen  Menschenverbrliderung«  in  allen 
Ehren,  doch  fiat  justitia!  Wissenschaftlich  ernst  zu  nehmen  sind  der- 
artige Darbietungen,  in  denen  die  Anschauungen  morgenländischer  Togis 
and  abendländischer  Mystiker  grundlegend  zu  sein  scheinen,  doch  nicht. 
Im  Übrigen  mag  folgender  kleine  Ausschnitt  aus  dem  spezifisch  pädagogi- 
schen Artikel  den  Geist  des  Ganzen  bezeugen :  »Die(se)  okkulte  Psychologie, 
welche  die  Präexistenz  und  Wiederverkörperung  der  Menschenseele  lehrt, 
erklärt  uns  das  Wesen  des  Kindes  und  erhöht  außerordentlich  unsere  Achtung 
vor  ihm.  Sie  unterrichtet  uns  darüber,  daß  die  Kinder  nicht  die  Geschöpfe 
ihrer  Eltern  sind.  Die  Eltern  tragen  nur  zum  Aufbau  des  Körpers  des  Kindes 
bei.  Die  Funktion  der  Mutter  vor  der  Geburt  ist  ebenso  wie  nach  der  Ge- 
burt, wenn  die  Mutter  das  Kind  ernährt,  nur  Ernährung,  nicht  Erschaffung. 
Die  Kinder  sind  nicht  innerlich  unmündige  Wesen,  sondern  Menschenseelen, 
welche  schon  viele  Kulturperioden  durchlebt  und  viele  Erfahrungen  gesam- 
melt haben.  Sie  haben  schon  oft  einen  erwachsenen  Körper  gehabt.« 
Sapienti  sat!  Dr.  E.  Ebert  (Dresden). 


15)  Geheimwissenschaftliche  Vorträge  zur  Einführung  in  die 
okkulte  Philosophie.  Herausgegeben  von  Arthur  Weber, 
Leipzig. 

a.  Heft  5 :  Karma,  das  Gesetz  der  Wiedervergeltung  und  Har- 
monie im  Weltall. 

b.  Heft  6:  Der  verlorene  Sohn.  (Ev.  Lucae  15). 

c.  Heft  7:  Die  Lebendigen  und  die  Toten. 

(Verf.  aller  drei  »Vorträge«:  H.  Rudolph). 

Traktätchen,  aus  demselben  Geist  und  demselben  ethischen  Bestreben 
hervorgegangen  wie  der  eben  charakterisierte  »Theosophische  Wegweiser«, 
—  Materien,  die  besser  in  Annalen  apokrypher  Wissenschaften  eingehend 
besprochen  werden.  Dr.  E.  Ebert  (Dresden). 


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96 


Literaturbericht. 


16)  Philosophische  Bibliothek,  neu  herausgegeben  von  dem  Verlag  der 
Dürrschen  Bachhandlang,  Leipzig,  1904. 

Bd.  3:  Aristoteles1  Metaphysik,  Ubersetzt  and  mit  einer  Ein- 
leitung and  erklärenden  Anmerkungen  versehen  von  Dr.  theol. 
Eng.  Rolfes.  Zweite  Hälfte.  Buch  Vm.  bis  XIV.   M.  2.50. 

Bd.  43:  Immanuel  Kants  Logik.  Ein  Handbuch  zu  Vor- 
lesungen, (zuerst)  herausgegeben  von  Gottlob  Benjamin  Jäsche, 
Dritte  Auflage.  Neu  herausgegeben,  mit  einer  Einleitung,  sowie 
einem  Personen-  uud  Sachregister  versehen  von  Dr.  Walter 
Kinkel.    M.  2.-. 

Bd.  69:  6.  W.  v.  Leibniz,  Nene  Abhandlangen  Uber  den 
menschlichen  Verstand.  Ins  Deutsche  Ubersetzt,  mit  Einleitung, 
Lebensbeschreibung  des  Verf.  und  erläuternden  Anmerknngen  ver- 
sehen von  C.  Schaarschmidt  Zweite  Auflage.   M.  6.— . 

Wir  haben  die  gegenüber  den  früheren  v.  Kirchraannachen  Aasgaben 
zum  Teil  sehr  wesentlich  verbesserten  Werke  der  Dürrschen  Philosophi- 
schen Bibliothek  schon  früher  hier  ausführlicher  besprochen  (vgL  dieses 
Archiv  Bd.  IU,  Heft  4) ;  es  sei  deshalb  hier  nur  kurz  darauf  hingewiesen, 
daß  die  obenerwähnten  drei  neuen  Bände  in  dem  gleichen  Sinne  aufgefaßt 
werden  müssen,  nur  der  Leibnizband  scheint  ein  einfacher  Wiederabdruck  zu 
sein.  Die  Logik  Kants  ist  von  Kinkel  mit  einer  ausführlichen  Einleitung 
versehen  worden,  in  der  namentlich  der  Abschnitt  »Die  Stellang  der  Logik 
im  System  Kants«  eine  wertvolle  Beigabe  zur  Einführung  für  die  Leser  ist. 

E.  Meamann  (Zürich). 


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Zeitschriftenschau 


I.  Nene  Zeitschriften : 

1)  Bote  der  Psychologie,  der  Kriminalanthropologie  and  des 
Hypnotismus  (Wiestnik  psichologii,  Kriminalantropo- 
logii  i  hipnotisma).  So  heißt  die  neue  Zeitschrift,  welche  in 
Petersburg  von  Prof.  Bechterew  and  Prof.  Serebrenni kow 
herausgegeben  wird  und  den  psychologischen  Problemen  gewidmet 
ist  Es  ist  die  erste  Zeitschrift  in  Rußland,  die  sich  speziell  mit 
den  psychologischen  Wissenschaften  beschäftigt  In  den  bereits 
erschienenen  fünf  Nummern  findet  sich  eine  Reihe  von  Aufsätzen, 
die  teils  für  den  weiteren  gebildeten  Leserkreis  bestimmt  sind,  teils 
originelle  Beiträge  zur  allgemeinen  und  experimentellen  Psychologie 
enthalten.  Wir  berichten  über  dieselben,  soweit  sie  für  den  Leser- 
kreis des  Archivs  Interesse  haben. 

A.  Was  ist  Suggestion?  von  Prof.  Bechterew. 

Alle  bisherigen  Definitionen  der  Suggestion  sind  nach  dem  Verf.  unge- 
uügend.  Er  bespricht  die  Definitionen  von  Lefevre,  Liebault.  Bern- 
heim, Löwenfeld,  Forel,  Wandt,  Schrenck-Notzing,  Vincent, 
Mirschlaff,  Baldwin  undSiddis.  Er  kritisiert  näher  die  Definition  von 
Siddis,  nach  welcher  »die  Suggestion  ein  Eindringen  irgendwelcher  Vor- 
stellung in  das  Bewußtsein  ist;  nach  größerem  oder  geringerem  Widerstand 
des  Individuums  wird  sie  ohne  Kritik  angenommen  und  ohne  Beurteilung, 
fast  automatisch  realisiert«.  Auch  diese  Definition  sei  unvollständig,  weil 
die  Suggestion  nicht  immer  mit  Widerstand  verbunden  ist.  Aber  auch  der 
motorische  Automatismus  gehört  nicht  zu  den  unentbehrlichen  Eigenschaften 
der  Suggestion.  Das  Wesen  der  Suggestion  besteht  nach  dem  Verf.  nicht 
in  diesen  oder  jenen  äußeren  Eigentümlichkeiten,  sondern  in  der  eigenartigen 
Beziehung  des  suggerierten  Inhalts  zum  »Ich«  des  Subjekts  während  des 
SuggerierenB.  Unsere  Wahrnehmung  kann  aktiven  und  passiven  Charakter 
haben.  Bei  der  aktiven  Wahrnehmung  beteiligt  sich  das  Ich  des  Subjekts, 
welches  die  Aufmerksamkeit  je  nach  dem  Inhalte  unseres  Denkens  auf  diese 
oder  jene  Erscheinungen  lenkt,  welche  dann,  nachdem  sie  vom  Bewußtsein 
bearbeitet  worden  sind,  zum  festen  und  bleibenden  Besitz  unseres  »Personal- 
bewußtseins« werden.  Diese  Art  des  Wahrnehmens  liegt  allen  unsern  Über- 
zeugungen zugrunde.  Außerdem  wird  vieles  von  uns  ohne  die  Beteiligung 
unseres  Ichs  wahrgenommen,  nämlich  wenn  unsere  Aufmerksamkeit  auf  irgend 
etwas  konzentriert  ist  oder  im  Zustande  der  Zerstreutheit  sich  befindet  In 
solchen  Fällen  dringt  der  Wahrnehmungsinhalt  nicht  in  unser  Personalbewußt- 

Arohir  ftr  Payehologi«.  IV.  Litentor.  7 


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98 


Literaturboricht. 


sein  ein,  sondern  in  ein  anderes  Gebiet  unseres  psychischen  Lebens ,  welches 
der  Verf.  »Allgemeinbewußtsein«  nennt,  und  welches  vom  Peroonalbewußt- 
sein  unabhängig  ist,  obgleich  bei  gewissen  Bedingungen  die  Produkte  des 
Allgemeinbewußtseins  ■  in  das  Personalbewußtsein  Ubergehen  können.  Die 
Suggestion  bezieht  sich  auf  die  Einwirkungen  auf  solche  Seiten  unseres  Seelen- 
lebens, die  dem  Allgemeinbewußtsein  gehören,  und  dadurch  wird  sie  von  der 
Überzeugung  unterschieden,  welche  vermittelst  der  Mitwirkung  des  Personal- 
bewußtseins zustande  kommt.  Die  Suggestion  wird  durch  das  unmittelbare 
Eindringen  der  suggerierten  Vorstellung  in  die  Bewußtseinsspaäre,  die  mit 
dem  Ich  des  Subjekts  unkoordiniert  ist,  bedingt,  und  deshalb  bat  das  letz- 
tere Uber  die  Suggestion  keine  Macht.  Suggestion  und  Überzeugung  sind 
zwei  Grundformen  der  gegenseitigen  Beeinflussung  der  Menschen.  Der  Be- 
fehl und  das  Beispiel  lassen  sich  leicht  auf  die  Suggestion  einerseits  und  auf 
die  Überzeugung  andererseits  zurückfuhren.  So  wirkt  das  Kommando  nicht 
nur  durch  die  Furcht  vor  den  Folgen  des  Nichtgehorchens,  sondern  auch 
unmittelbar  durch  die  Suggestion. 

B.  Über  Massenhalluzinationen  und  -Illusionen,  von  Dr. 
Nikitin. 

In  der  psychologischen  Literatur  gibt  es  fast  keine  Beobachtungen  von 
kollektiven  Sinnestäuschungen,  die  von  den  Psychologen  oder  Psychiatern 
gemacht  worden  wären.  Deshalb  ist  die  psychologische  Seite  dieser  Erschei- 
nungen noch  nicht  genug  untersucht  worden.  Der  Verf.  war  in  der  glück- 
lichen Lage,  einen  sehr  interessanten  Fall  der  Massenülusion  beobachten  zu 
können,  der  er  vom  Anfang  an  bis  zu  Ende  beiwohnte. 

Vor  einem  Jahre  hat  die  russische  Regierung  einen  längst  verstorbenen 
Mönch  (Seraph in  aus  Sarovo)  zum  Heiligen  ernannt.  (In  Kußland  werden 
auch  die  Heiligen  von  der  Regierung  ernannt).  Aus  ganz  Rußland  strömten 
Volksmengen  dem  RloBter  in  Sarovo  zu.  Eines  Tages  hat  der  Verf.  um  einen 
Brunnen,  dessen  Wasser  für  heiliges  galt,  eine  Gruppe  von  etwa  20  Bauern 
und  Bäuerinnen  versammelt  gesehen,  die  lebhaft  ins  Wasser  blickten.  Die 
Menge  wuchs  schnell.  Einer  der  Bauern  rief  aus:  »Es  wurde  uns  gesagt, 
daß  am  Brunnengrunde  zwei  Gesichter  sichtbar  sind«.  Diese  Worte  haben 
auf  die  Versammlung  mächtig  gewirkt.  Da  der  blaue  Himmel,  der  sich  im 
Wasser  widerspiegelte,  die  Umrisse  des  Brunnengrundes  deutlich  zu  sehen 
verhinderte,  war  Uber  den  Köpfen  der  Zuschauer  ein  schwarzer  Schal  aue- 
gebreitet. Plötzlich  rief  eine  Bäuerin  aus:  »Da  sehe  ich  den  Pater  Seraphin«! 
Die  Illusion  wurde  allgemein  und  sie  dauerte  10—15  Minuten.  Der  Verf., 
der  auch  in  den  Brunnen  blickte,  hat  keine  Illusion  gehabt  Die  Menge 
wuchs  immer  mehr,  bis  etwa  zu  40  Personen;  die  Zahl  der  Frauen  war  Über- 
wiegend. Die  Illusion  dauerte,  bis  eine  Frau,  die  keine  Bäuerin  war,  sagte, 
sie  sehe  bloß  Menschenköpfe,  die  sich  im  Waaser  widerspiegeln,  weiße  Steine, 
sonst  nichts  mehr.  Die  Rlusion  verschwand  und  kehrte  später  nicht  mehr 
wieder. 

Bei  der  Ausfrage  der  Bauern  und  Bäuerinnen,  die  die  Illusion  gehabt 
haben ,  zeigte  sich ,  daß  das  Bild  nicht  von  allen  in  gleicher  Weise  gesehen 
wurde.  Alle  haben  zwar  den  heiligen  Seraphin  gesehen,  aber  einige  haben 
ihn  in  ganzer  Größe,  andere  als  Brustbild,  andere  nur  das  Gesicht  gesehen. 
Die  Figur  war  auch  nicht  von  allen  an  demselben  Orte  gesehen.  Die  Einzel- 
heiten deB  Illusionsbildes  waren  also  different,  eine  Erscheinung,  die  für  die 


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Literaturberirht. 


99 


Erklärung  der  Illusion  Verf.  für  besondere  wichtig  hält  Die  Illusion  fand 
unter  folgenden  Umständen  statt: 

1)  die  daran  Beteiligten  waren  ganz  ungebildet, 

2)  sie  waren  sehr  ermüdet  (manche  haben  Hunderte  und  Tausende  von 
Kilometern  durchwandert), 

3)  sie  waren  hungrig  (viele  fasteten), 

4)  sie  bilden  eine  Menge  und 

5)  sie  waren  alle  in  der  gleichen  Stimmung,  die  für  die  Sinnestäuschungen 
günstig  war. 

Der  wichtigste  Umstand  war,  daß  die  Pilger  eine  Menge  bildeten,  so 
daß  Autosuggestion  durch  die  gegenseitige  Suggestion  unterstfitzt  wurde. 
Die  Gegensuggestion  von  der  Seite  der  Frau,  deren  Stimmung  zur  Illusion 
nicht  genügend  vorbereitet  war,  hat  der  Massenillusion  ein  Ende  gemacht. 

G.  Die  geistige  Arbeitsfähigkeit  minderjähriger  Verbrecher 
von  Dr.  Schtscheglon. 

Der  Verfasser  hat  an   den  minderjährigen   Verbrechern    aus  dem. 
Petersburger  Gefängnis  und  an  den  gleichaltrigen  Schülern  der  Peters- 
burger Gewerbeschule  psychologische  Versuche  angestellt.   Es  ergab  sich, 
daß  die   Zeit  der  einfachen  und  der  Wahlreaktion  bei  den  Verbrechern 
länger  war.  als  bei  den  Schülern  des  gleichen  Alters  und  der  gleichen  ge- 
sellschaftlichen Stellung.   Auch  die  mittlere  Variation  war  bei  den  ersteren 
großer.    Die  Schnelligkeit  der  intellektuellen  Prozesse  (gemessen  durch  die 
Anzahl  der  in  einer  Minute  gelösten  arithmetischen  Aufgaben)  oder,  mit 
andern  Worten,  die  Schnelligkeit  des  Verlaufs  der  einfachsten  und  geläufig- 
sten Assoziationen  erwies  sich  im  Vergleich  mit  den  Nichtverbrechern  eben- 
falls kleiner.   Die  Anpassung  an  die  geistige  Arbeit,  die  Fähigkeit,  schnell 
die  maximale  intellektuelle  Leistung  zu  entwickeln,  ging  bei  den  jugend- 
lichen Verbrechern  schwieriger  vonstatten,  als  bei  den  Schulkindern.  Die 
Aufmerksamkeit  während  der  Arbeit  war  bei  den  Verbrechern  mehr  schwankend, 
das  Gefühl  der  Ermüdung  entwickelte  sich  bei  ihnen  früher  und  steigerte 
sich  schneller.   Endlich  die  Fähigkeit  für  das  Behalten  und  die  Reproduktion 
der  Wörter  erwies  sich  bei  den  minderjährigen  Verbrechern  weniger  voll- 
ständig als  bei  den  Nichtverbrechern. 

D.  Über  einige  Eigentümlichkeiten  des  Seelenlebens  der 
Blinden,  von  Dr.  Krogius. 

Der  Verfasser  hat  seine  Versuche  an  zwanzig  blinden  und  achtzehn 
sehenden  Mädchen  im  Alter  von  10  bis  19  Jahren  angestellt  Die  Ver- 
suchsbedingungen  waren  insofern  gleich,  als  die  geistige  Entwicklung 
und  der  Bildungsgrad  der  sehenden  und  der  blinden  Mädchen  ungefähr 
dieselben  waren.  Die  Blinden  und  die  Sehenden  (mit  verbundenen  'Augen) 
wurden  zu  dem  mit  der  Bewegung  verbundenen  Tasten  verschiedener  ein- 
facher, aus  Karton  hergestellter  Figuren  zuerst  mit  einem,  dann  mit  zwei 
Fingern  derselben  Hand,  und  endlich  mit  zwei  Fingern  beider  Hände,  und  dann  zur 
Reproduktion  dieser  Figuren  mit  den  mit  Kohlenpulver  eingeriebenen  Finger- 
spitzen aufgefordert  Die  Versuchspersonen  reproduzierten  die  Figuren  ein- 
mal mit  derselben  Bewegung,  mit  der  die  Figuren  wahrgenommen  wurden, 
das  andere  Mal  wurden  die  Figuren,  die  mit  der  Bewegung  zweier  Finger 
wahrgenommen  wurden,   mit  der  Bewegung  nur  eines  Fragen  reproduziert 

1* 


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100 


Literaturbericht. 


In  allen  diesen  Fällen  reproduzierten  die  sehenden  Mädchen  ihre  Taatwahr- 
nehmangen  viel  genauer  als  die  blinden.  Besondere  scharf  zeigte  sich  dieser 
Unterschied  bei  solchen  Versnchen,  wo  die  Versuchsperson  die  Figur  mit 
einer  andern  Bewegung,  als  sie  ursprünglich  wahrgenommen  wurde,  repro- 
duzierte. Diesen  Unterschied  erklärt  der  Verf.  dadurch,  daß  bei  diesen  Tast- 
und  Bewegungsempfindungen  der  Sehenden  die  Gesichtsvorstellungen  eine 
große  Rolle  spielen:  die  Tastempfindungen  werden  durch  die  Gesichtsvor- 
stellungen interpretiert. 

Der  Gesichtssinn  wird  bei  den  Blinden  durch  den  Gehörssinn  ersetzt. 
Die  Töne  wurden  von  den  blinden  Mädchen  besser  und  exakter  lokalisiert 
als  von  den  sehenden.  Die  Worte,  die  der  Benennung  der  Gesichtsvorstel- 
lungen (Farben)  dienen,  interessieren  die  Blinden  sehr;  sie  haben  mehr  oder 
weniger  richtige  Vorstellungen  von  der  Gefühlswirkung  verschiedener  Farben, 
wofür  den  Blinden  die  metaphorischen  Ausdrücke,  wie  rosige  Brille,  graue 
Tage,  und  namentlich  die  Gedichte  besonderen  Dienst  erweisen. 

Da  die  Zahl  der  Wahrnehmungen,  die  die  Blinden  von  der  Außenwelt 
erhalten,  viel  geringer  ist  als  bei  den  Sehenden,  so  wird  jeder  neue  Ein- 
druck, ceteris  paribus,  besser  von  den  Blinden  apperzipiert  Die  Versuche, 
die  der  Verf.  über  das  Gedächtnis  (G.-Methode)  der  Bunden  gemacht  hat, 
bestätigen  diese  Ansicht  Die  sinnlosen  Silben,  die  sinnlosen  Wörter  und 
die  Gedichte  werden  von  den  Blinden  schneller  erlernt  als  von  den  Sehenden. 
Das  Verhältnis  der  Anzahl  der  Wiederholungen,  die  zum  Erlernen  von  den 
Blinden  und  Sehenden  gebraucht  wurden,  war:  für  die  sinnlosen  Silben 
57,2 : 100,  für  die  sinnvollen  Wörter  54,2 : 100. 

Am  Schluß  der  Untersuchung  wird  vom  Verf.  das  starke  Interesse  der 
Blinden  für  religiöse  Fragen  und  Kunst  hervorgehoben. 

Außerdem  finden  wir  in  der  neuen  Zeitschrift  noch  folgende  bemerkens- 
werte Artikel,  über  die  später  berichtet  werden  soll: 

Die  biologische  Bedeutung  der  Psychik,  von  Bechterew. 
Über  die  Kraft  des  kindlichen  Gedächtnisses,  von  Netschajeff. 
Leibniz1  Lehre  vom  unbewußten  Seelenleben,  von  Serebrenniko w. 
Die  Bedeutung  des  Experimentes  in  der  Psychologie,  von  Lasurskij. 
Die  Ähnlichkeitsassoziation,  von  Netschajeff. 

Die  Mängel  der  traditionellen  Klassifikation  der  psychischen  Erschei- 
nungen, von  Loßkij. 
Experimentelle  Beiträge  zur  Assoziationsfrage ,  von  Korolkow,  u.  a. 

R.  Segal  (Zürich). 


2)  The  american  Journal  of  Religious  Psychology  and  Edu- 
cation,  ed.  by  Stanley  Hall,  with  the  Cooperation  of  Jean 
Du  Buy,  Clark  University;  George  A.  Coe,  Northwestern  Uni- 
versity;  Theodore  Flournoy,  Universität  Genf;  James  H. 
Leuba,  Bryn  Mawr  College;  Edwin  D.  Starbuck,  Earlham 
College;  R.  M.  Wenley,  University  of  Michigan,  and  others. 
Clark  University  Press,  Worcester,  Mass.  Vol.  I.  Nr.  2.  Nov.  1904. 

Diese  neue  amerikanische  Zeitschrift  widmet  sich  der  Psychologie  des 
religiösen  Lebens  und  der  religiösen  Erziehung  der  Kinder.  In  der  vor- 


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Literaturbericht. 


101 


Hegenden  Nummer  berichtet  zuerst  F.  A.  Lombard  Uber  die  Pädagogik  in 
der  Missionstätigkeit;  sodann  gibt  S.  W.  Raneon  einen  Beitrag  zur  Psycho- 
logie des  Gebets  und  der  Gebetswirkung.  Cl.  D.  Royse  behandelt  das 
schwierige  neutestamenüiche  Problem :  Paulus1  Bekehrung.  James  H.  Leuba 
gibt  einen  sehr  instruktiven  Überblick  über  die  Probleme  der  Religions- 
psychologie.  Edwin  D.  Starbuck  behandelt  die  Gefühle  und  ihre  Rolle 
im  religiösen  Leben.  Über  die  beiden  letztgenannten  Abhandlungen  werden 
wir  im  Archiv  noch  ausführlicher  berichten.  Die  Zeitschrift  bringt  ausführ- 
liche Literatnrberichte  Uber  religionBwisBenschaftliche,  theoretische  und  prak- 
tische Werke. 


3)  Kind  und  KunBt,  illustrierte  Monatsschrift  zur  Pflege  der  Kunst  im 
Leben  deB  Kindes.  Herausgegeben  unter  Mitwirkung  erster  Autoren 
und  Kttnstler  von  Hofrat  Alexander  Koch.  Verlag  von  AI.  Koch, 
Darnstedt 

Seit  Herbst  1904  erscheint  unter  Redaktion  von  Alexander  Koch  diese 
nach  Text  und  Dlustrationen  glänzend  ausgestattete  Zeitschrift,  die  wohl  die 
führende  Rolle  in  der  Bewegung  der  Erziehung  des  Kindes  zur  Kunst  ein- 
nehmen wird.  Auf  einzelne  ästhetisch  -  psychologisch  und  pädagogisch 
interessante  Ausführungen  der  Zeitschrift  werden  wir  in  den  Literatnr- 
berichten  zurückkommen. 


U.  Übersicht  über  den  Inhalt 
der  neuesten  Nummern  älterer  Zeltschriften : 

1)  Psychologische  Arbeiten,  herausgegeben  von  Emil  Kraepelin. 
IV,  4.   Leipzig,  Wilh.  Engelmann,  1904. 

Inhalt  des  vierten  Heftes:  Rein  hold  Krause,  Über  AuffasBungs-  und 
Merkversuche  bei  einem  Falle  von  polyneuritischer  Psychose.  GuBtav  HeU- 
man,  Über  die  Beziehungen  zwischen  Arbeitsdauer  und  Pausenwirkung. 
G.  Lefmann,  Über  psychomotorische  Störungen  in  Depressionszuständen. 


2)  Archiv  für  Kriminalanthropologie  und  Kriminalistik,  herausg. 

von  Hans  Gross.   Leipzig,  F.  C.  W.  Vogel.  XVm.   1.  Dez.  1904. 

Inhalt  des  Heftes:  Fei  kl,  Beitrag  zur  forensischen  Kasuistik  der  soli- 
tären  Erinnerungstäuschungen.  Bauer,  Ein  Fall  angeblicher  Kleptomanie. 
Placzek,  Experimentelle  Untersuchungen  Uber  die  Zeugenaussagen  Schwach- 
sinniger. L o  h  s  i n g ,  Reflexionen  über  den  Fall  eines  Jugendlichen.  Kleinere 
MitteUungen:  a.  von  Dr.  P.  Näcke  in  Hubertusburg:  1)  Jurisprudenz  und 
klassische  Bildung,  2)  Eine  auf  ein  Gefängnis  geprägte  Plakette,  3)  Selbst- 
mord bei  Tieren,  4)  Gelehrtenzwist;  b.  vom  Anstaltsarzt  Dr.  Dost  in  Hubertus- 
burg:  Zwei  Fälle  von  Lysolvergiftung.  Es  folgen  Besprechungen  von  Näcke, 
Lohsing  und  H.  Gross. 


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102 


Literaturbericht. 


3;  The  American  Journal  of  Psychology,  ed.  by  Stanley  Hall, 
E.  C.  Sanford,  E.  B.  Titchener.  Worcester,  Maas.,  Louis  N. 
Wilson.   Vol.  XVI.   1.  January  1905. 

James  Ralph  Jewell,  The  psychology  of  dreatns.  Lill ien  J.  Martin, 
Psychology  of  aesthetics.  Alexander  F.  Chamberlain,  Primitive  hearing 
and  »hearing  words«.  Edgar  James  Swift,  Memory  of  a  skillful  act. 
Litterature. 


4)  The  Psychological  Review,  ed.  by  J.  Mark  Baldwin,  Howard 

C.  Warren,  Charles  H.  Judd.  New  York,  The  Macmillan  Com- 
pany. Vol.  XII.   1.  January  1906. 

William  James,  The  experience  of  activity.  Th.  H.  Haines  and 
J.  C.  Williams,  The  relation  of  perceptive  and  revived  mental  material  as 
shown  by  the  subjective  control  of  Visual  after-images.  O.  M.  Stratton, 
From  the  University  of  California  Psychological  Laboratory.  J.  E.  Brand, 
The  effect  of  verbal  Suggestion  upon  the  estimation  of  linear  magnitudes. 
G.  S.  Manchester,  Experiments  on  the  unreflective  Ideas  of  men  and  women. 

5)  The  Journal  of  Philosophy,  Psychology  and  Scientific  Me- 

thods.  Vol.  II.  2.  January  1905.  The  science  Pre&B.  Lancaster  PA. 

William  James,  The  thing  and  ita  relations.  Society s:  the  fourth 
meeting  of  the  american  philosophical  association.  Notes  and  News. 


6]  The  Journal  of  mental  Pathology,  ed.  by  Louise  6.  Robinovitch. 
State  Press,  publishers  New  York.   Vol.  VI.   Nr.  1—4. 

6.  Biancone,  On  some  diagnostic  difficulties  in  a  case  of  lesion  of  the 
spinal  cord.  Mingarrini  and  Perueini,  Two  casee  of  familiär  heredo- 
spinal  atrophy  (Friedreichs  Type).  Pietro  Timpano,  A  case  of  left 
hemiplegia  with  right  hemianesthesia  of  traumatic  origtn  without  organic 
lesion  of  the  spinal  cord.  Editorial:  the  function  of  the  tbyroid  and  para- 
thyroid  bodics.  Litterature. 


7)  Mind,  ed.  by  G.  F.  Stout   London,  Williams  and  Norgate.  N.S.  Nr.  63. 
January  1905. 

H.  H.  Joachim,  »Absolute«  and  »relative«  truth.  J.  H.  Leuba,  On 
the  psychology  of  a  group  of  Christian  mystics.  H.  W.  B.  Joseph,  Prof. 
James  on  humanism  and  truth.  Alfred  Sidgwick,  Applied  axioms. 
B.  A.  P.  Rogers,  The  meaning  of  the  time  direction.  H.  MaeColl,  Sym- 
bolic  reasoning.  Discussions:  J.  Solomon,  The  paradox  of  Psychology. 
Critical  Notices  etc. 

8}  Brain,  a  Journal  of  neurology,  ed.by  R.  Percy  Smith,  M.D.  PartCVIl 
Vol.  27.   Autumn  1904. 

W.  B.  War  ring  ton,  On  the  cells  of  the  spinal  ganglia,  and  on  the 
relationship   of  their  histological  Btructure   to  the  axonal  dietribution. 


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Literaturbericht. 


103 


Gordon  Holmes,  On  certain  tremora  in  organic  cerebral  lcsions.  Fr.  E. 
Batten,  The  pathology  of  infantile  paralysis.  H.  Mackay,  On  so-called 
facial  bemihypertrophy.  Reviews. 

9)  Revue  Philoeophique  de  la  France  et  de  FEtranger.   Dir.  par 
Th.  Ribot.  Paris,  F.  Alcan.   XXX.   1.  Janvier  1906. 

A.  F o u i  1 1 6 ,  La  raison  pure  pratiqne  doit-elle  ötre  critiquee ?  G.  Spiller, 
De  la  methode  dan»  les  recherches  des  lois  de  l'ethique.  Vernon  Lee, 
Essais  d'esthetiqne  empiriqne:  l'individu  devant  r«uvre  d'art  Revue 
generale :  G.  Richard,  Le  conflit  de  la  sociologie  et  de  la  morale  philo- 
sopbique.  Analyses  et  comptes  rendns.  Observations  et  documents: 
H.  Meunier,  Un  cas  d'attention  precoce  a  des  Bensations  esthötiques.  Revue 
deB  pgriodiques  6trangers.   Le  V.  Congres  international  de  Psychologie. 


10}  Revue  de  Philosophie.  Directenr  E.  Peil  lau  be.  V.  1.  Januar  1905. 

X.  Moisant,  La  pensee philosophique  et  la  pensee  mathematique  (1.  articlej. 
P.  Duhem,  La  theorie  pbysiqne.  IX.  la  loi  physique.  Ch.  Huit,  Les  notions 
dinfini  et  de  parfait  (fin).  Revue  critique:  P.  Vignon,  Doctrines  et  opinions 
relatives  ä  la  philosophie biologique  (l.article).  Discussion:  Comte  de  Vorges, 
L'abstraction,  deuxieme  replique  ä  M.  V.  Bernies.  Periodiques.  Analyses 
et  comptes  rendns.  L'enseignement  philosophique :  agregation  de  philosophie. 
L'enseignement  de  la  philosophie  au  College  de  France.  Chronique  etc. 
Fiches  bibliographiques. 


11)  Journal  de  Psychologie  normale  et  pathologique.   Direc  teure: 

Dr.  Pierre  Janet,  Dr.  Georges  Du  maß.  Paris,  F.  Alcan.  I. 
Nr.  5.   8ep  — Oct  1904. 

Pierre  Janet,  L'amnesie  et  la  dissociation  des  Souvenirs  par  Emotion. 
S olli er,  Le  langage  psychologique.  Notes  et  discussions:  F.  Houssay, 
üne  curieuse  illusion  d'optique.  Kahn  et  Carteron,  Eiperiences  de  dynamo- 
metrie.  Bibliographie. 

12)  Archive«  de  Psychologie,  publiees  par  Th.  Flournoy,  Ed.  Cla- 

parede.   Geneve,  E.  KUndig,  Editeur.   IV.   Nr.  14.   Nov.  1904. 

M.  C.  Schuyten,  Comment  doit-on  mesurer  la  fatigue  des  ecouers? 
Th.  Flournoy,  Sur  le  panpsychisme  comme  une  expUcation  des  rapporta  de 
l'äme  et  du  corps.  C.  A.  Strong,  Sur  le  panpsychisme.  A.  Ledere,  La 
genese  de  l'emotion  esthetique.  G.  Sergi,  Les  illusionB  des  psycbologuea. 
Faits  et  discussions:  Ed.  Cl aparede,  Steräoscopie  monoculaire  paradoxale. 
A  Lemaitre,  Suicide  par  intoxication  philosophique.  Th.  Flournoy, 
A  propos  d'un  songe  proph6tique  realise\  Bibliographie. 

13)  L'annäe  Psychologique,  publice  par  Alfred  Binet.    X.  annee. 

Paris,  Maason  et  Cie,  Editeurs,  1904. 

Note  de  la  direction.  1.  Memoires  originaux:  A  Binet,  La  creation 
htteraire.   Portrait  psychologique  de  M.  Paul  Hervieu.    Lecaillon,  La 


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KU 


Literatiirbt'riehf. 


biologie  et  la  psychologie  d'uue  arraignee.  Board on  et  Dide,  Un  cas 
d'amnfoie  continue,  avec  asymbolie  tactile,  complique  d'autres  troubles. 
A.  Binet.  Sommaire  des  travaux  en  cours  4  la  Societe  de  psychologie  de 
l'enfant.  Larguier  des  Bancels,  Methodes  de  memorisation.  A. Binet, 
Questions  de  techniqae  cephalometrique.  H.  Michel,  Herbert  Spencer  et 
Charles  Renouvier.  Zwaardemaker,  Sur  la  sensibilite  de  l'oreille  aux 
differentes  Tanteors  deB  sons.  A.  Binet,  La  graphologie  et  ses  revelations 
sur  le  sexe,  Tage  et  l'intelligence.  2.  Revues  generales:  F.  II  cn  neguy,  Revue 
de  Cytologie.  A.  van  Gehachten,  La  loi  de  Waller.  L.  Fredcriqu, 
Revne  generale  sur  la  phyBiologie  da  Systeme  nerveux.  Grasset,  Neuro- 
path ologie.  P i t r e s ,  La  psychasthenie.  J.  D e n i k e r ,  Revue  danthropologie. 
E.  Blum,  Revne  de  pedologie.  Demoor  et  de  Croly,  Revae  de  pedagogie 
des  anormaax.  Simon,  Resum6  cliniqae  d'alienation  mentale.  Melapert, 
Revue  generale  de  philosophie  et  de  morale.  H.  de  Varigny,  Chronique 
psychologique.  Binet,  Revue  aanoelle  des  erreurs  de  psychologie. 
3.  AnalyBes  bibliographiqnes.  4.  Table  bibliographique. 


14)  Archivio  di  Fisiologia,  diretto  e  pubblicato  dal  Giulio  Fano. 
Firenze.  Vol.  IL  2.  Gennaio  1905. 

LaccariaTreves  e  F.  Maiocco,  Osservazioni  sull'apnea degli  uccelli. 
De  Marc his,  II  simpatico  cervicale  concorre  all'  innervazione  vaso-morrice 
del  cervello?  Pio  Marfori,  Sul  composti  organici  del  fosforo.  M.  N. 
Vasehide,  La  physiologie  au  congres  britanniqne  de  Cambridge  pour 
Favancement  des  Bciences.  Ginseppe  Levi,  SulTorigine  delle  cellule  ger- 
minali.  G.  Rossi  e  0.  Scarpa,  Sulla  viscositä  di  alcuni  colloidi  inorganici. 
Casimiro  Donizelli,  Di  alcnne  modificazioni  al  cronoscopio  di 
Hipp.  Paolo  Enriques,  U  numero  dei  cronosoni  nelle  varie  specie  ani- 
mali  e  le  cause  della  sua  variabilitA.  Gilberto  Rossi,  La  viscosita  e 
l'acione  denaturante  del  calore  in  soluzioni  di  siero-albumina. 


16)  Die  Musik,  herausgegeben  von  Bernh.  Schuster.   Schuster  &  LUffler, 
Berlin  und  Leipzig.   4.  Jahr,  Heft  7.   Erstes  Januarheft  1906. 

Die  Zeitschrift  »Die  Musik«  widmet  sich  seit  kurzem  auch  der  Musik- 
ästhetik. Das  vorliegende  Heft  enthält  eine  musikästhetische  Abhandlung 
von  Dr.  H.  Resser:  Musikgenuß  und  Organempfindungen.  Auch  zur  M  usik- 
theorie  bringt  die  Zeitschrift  zahlreiche  Abhandlungen  von  Komponisten, 
die  als  Aufschlüsse  Uber  die  musikalischen  Mittel  und  Wege,  mit  denen  der 
einzelne  Komponist  seine  Tonwirkungen  zu  erreichen  Bucht,  großes  musik- 
theoretiBches  Interesse  haben.  Dahin  gehört  Felix  Weingartners  Ab- 
handlung: >Die  Laienpartitur«.  Weingartner  tritt  hier  einigen  neuerdings 
hervorgetretenen  Vorschlägen  zur  Vereinfachung  der  Partitur  entgegen, 
und  gibt  für  eine  neuartige  Notierung  verschiedener  Orchesterinstru- 
mente den  Komponisten,  den  Verlegern  und  dem  Publikum  beherzigens- 
werte Winke.  Hugo  Conrat  gibt  eine  Studie:  Joseph  Haydn  und  das 
kroatische  Volkslied,  die  mehr  musikgeschichtliche  Bedeutung  hat  Tapp  er  t 
behandelt  die  Tänze  in  LeoncavalloB  »Roland  von  Berlin«.  Das  nächste 
Heft  der  Zeitschrift  wird  ein  Richard  Strauß -Heft  sein. 


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Bei  der  Redaktion  sind  folgende  Schriften  eingegangen,  die 
unsern  Referenten  auf  Wunsch  znr  Verfügung  stehen*): 

Hermann  Heister,  Gedanken  über  das  Denken.  Stuttgart,  Strecker  u. 
Schröder.  1904. 

A.  Builingcr,  Hegels  Phänomenologie  des  Geistes,  auf  ihren  kürzesten 
und  leichtverständlichsten  Ausdruck  reduziert.  München,  Theodor 
Ackermann.  1904. 

A.  Meinung,  Untersuchungen  zur  < Jegenstandstheorie  und  Psychologie. 
Leipzig,  Johann  Ambrosius  Barth.  1904. 

Ottmar  Dittrich,  Uber  Wortzusammensetzung  auf  Grund  der  neufranzö- 
sischen Schriftsprache.  Habilitationsschrift.  (Leipzig.  Halle,  Mux  Nia- 
mey er.  1904. 

» 

Robert  E.  Park,  Masse  und  Publikum.  Eine  methodologische  und  sozio- 
logische Untersuchung.  Dissertation.  (Heidelberg.1  Bern,  Lack  und 
Grünau.  1904. 

F.  E.  Otto  Schultxc,  Akustische,  psychologische  und  ästhetische  Unter- 
suchungen zum  Fall  Madeleine  G.    Stuttgart,  Hoffmann  1904. 

Franz  Roberts,  Die  Schlaftänzerin  Madeleine  G.  München,  Birk  & 
Comp.  1904. 

Egon  Frulell,  Novalis  als  Philosoph.    München,  F.  Bruckmann.  1904. 
Mario  Panixza,    Compendio   di  Morfologia  e  Fisiologia  comparate  del 

Systema  Nervoso.    (170  Abb.)    Roma.    E.  Löscher  &  Cie.  1903. 
Ausgewählte   Briefe  von   und  an  Ludw.  Feuerbach  von  Wilh.  Bolin. 

Bd.  I  u.  IL    Leipzig,  Otto  Wigand.  1904. 

Natur  und  Kunst,  Briefwechsel  zwischen  William  Shakespeare  und  Ma- 
dame Gäches-Sarrante.  Nach  authentischen  Quellen  herausgegeben 
von  H.  B.    Zürich,  Caesar  Schmidt.  1904. 

K.  W.  Scripture,  Über  das  Studium  der  Spracbkurven.  Ostwalds  Annalen 
der  Naturphilosophie    IV.    1904.  Sep. 

3/.  C.  Schwjtcn,  Pacdologisch  Jaarboek.  V.  Jahrgang.  1904.  Leipzig, 
Fr.  Brandstetter. 

Mary,  Whiion  Calkim,  An  introduetion  to  psychology.  New  York.  The 
Macmillan  Company.  1902. 

Hermann  Dimmlcr,  Aristotelische  Metaphysik.  Kempten  und  München, 
Jos.  Kösel.  1904. 

A.  Sickinger,  Der  Unterrichtsbetrieb  in  großen  Volksschulkörpcrn.  Mann- 
heim, J.  Beusheimer.  1904. 

Karl  Groos,  Die  Anfange  der  Kunst  und  die  Theorie  Darwins.  Hessische 
Blätter  für  Volkskunde.    JII.  2  3  1904.  Sep. 

—  Fortsetzung  im  nächsten  Heft.  — 

*  Die  Schriften  werden  in  der  Reihenfolge  aufgezahlt,  in  der  sie  eingegangen 
sind. 


d  by  £jff>Ogl^ 


Inhalt  des  4.  Heftes. 

Abhandlungen:  ?0ite 

Gordon  ,  Katf.,   Cbrr  das  Gedächtnis  für  affektiv  bestimmte  Eindrücke. 

Mit  zwei  Figuren  im  Text  437 

KÜLl'K,  ().,  Bemerkungen  zu  vorstehender  Abhandlung  ...  459 

Linvs,  Tu..  "Weiteres  zur  > Einfühlung»  465 

Pkdebsex,  IL  H..  Experimentelle  Untcrsxichuug  der  visuellen  und  akustischen 
Erinnerungsbilder,  angestellt  an  Sehulkindern.  Mit  zwei  Figuren 
im  Text  520 

Literaturbericht: 

Nikolaj  Loßkij,  Die  Grundlagen  der  Psychologie  vom  Standpunkte  des 

Voluntarismus.    (J.  Köhltri  '   81 

Harald  Hüffding.  Philosophische  Probleme.    tJ.  Kühler)   83 

H.  Thoden  van  Velzcu,  System  des  religiösen  Materialismus.  I.  Wissen- 
schaft der  Seele.    (C.  VogO   87 

P.  II.  Siewers,  Mechanismus  und  Organismus.   Ein  Versuch  zur  Erklärung 

der  Lebenstätigkeit.    (J.  Köhler)   89 

Ch.  II.  Judd.  Einige  Erscheinungen  des  binokularen  Sehens.  (F.  Biske)  .  K9 
Loescr,  Über  den  Einfluß  der  Dunkcladaptation  auf  die  spezifische  Farben- 

schwclle.         Biske)   90 

J.  Franklin  Messenger,  Die  Wahrnehmung  der  Zahl.  (F.  Biske)  ...  90 
L.  Luciani,  Physiologie  des  Menschen.    Lief.  1  u.  2.    <li.  H>>hn\  ...  91 

J.  H  reu  er.  Studien  über  den  Vcstibularapparat.    (Ii.  Hoher)   92 

Hermann  Schneider, ■  Die  Stellung  Gasscndis  zu  üescartes.    (Fr.  Hose)  .  93 

Hans  Lindau,  Unkritische  Gänge.    (F.  Heitmann)   94 

Jos.  W.  Xahlowsky,  Das  Duell,  sein  "Widersinn  und  seine  moralische 

Verwerflichkeit!    (F.  Heitmann)   94 

Ch.  Bruno t,  Untersuchung  über  die  soziale  Solidarität  als  Prinzip  der  Ge- 
setze.   (F.  Biske)   94 

Thcosophischer  Wegweiser,  Monatsschrift  zur  Verbreitung  einer  höheren 
Weltanschauung  und  zur  Verwirklichung  der  allgemeinen  Menschcu- 

verbrüderung.    (F.  Fheii)   95 

Geheimwissensehaftliche  Vorträge  zur  Einführung  in  die  okkulte 

Philosophie.    Heft  5-7.    (F.  Fbert)   95 

Philosophische  Bibliothek:  Bd.  3.  Aristoteles1  Metaphysik.  -  Bd.  43. 
Immanuel  Kants  Logik.  —  Bd.  69.  G.  W.  v.  Lcibniz,  Neue  Abhand- 
lungen über  den  menschlichen  Verstand.    (F.  Heitmann)   96 

Zeitschriftenschau     97 


T?  i  \  r%\\  f\ v*"Pv*  f\i  i  m  *\  r\    die  ihren  gesamten  Bucherbedarf  zu 
OUL/Ilv/l  XI  Cvlllvlt'j  ausserordentlich  günstigen  Beding- 
— -■— —  1  uugen  bezichen  wollen,  erhalten 

umsoiist 

den 

Neuen  illustrierten  Pracht -Katalog 

III.  Jahrgang  1905  soeben  erschienen) 
des 

Neuen  Vereins  für  deutsche  Literatur.  Berlin  SW.  61, 

Belle-Alliaaee-Platz  22. 


=  Diesem  Heft  Hegt  der  Verlagsbcrlcht  für  1904  von  Wilhelm  Engel- 
mann  in  Leipzig  bei.  = 


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