Archiv für Psychologie
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ARCHIV
FÜR DIE
GESAMTE PSYCHOLOGIE
UNTER MITWIRKUNG
VON
Prof. H. HÖFFDING in Kopenhagen, Prof. F. JODL in Wien,^K
Prof. A. KIKSCHMANN in Toronto (Canada), Prof. E. KRAEPELIN
in München, Prof. O. KÜLPE in Würzbüro, Dr. A. LEHMANN
in Kopenhagen, Prof. Th. LIPPS in München, Prof. G. MARTIUS
in Kiel, Prof. G. STÖRRING in Zürich, Dr. W. W1RTH in Leipzig
und Prof. W. WUNDT in Leitzio
HERAUSGEGEBEN VON
E. MEUMANN
O. PROFESSOR DER PHILOSOPHIE A. D. UNIVERSITÄT ZÜRICH
IV. BAND, 1. u. 2. HEFT
MIT EINER FIGI H IM TEXT
8»
LEIPZIG
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN
1904
Ausgegeben am i. Xoa tubrr 1U04.
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Bemerkungen für nnsere Mitarbeiter.
Das Archiv erscheint in Heften, deren vier einen Band von
etwa 40 Bogen bilden.
Sämtliche Beiträge für das Archiv bitten wir an die Adresse des
Herrn Professor E,Me um ann, Zürich, Schmelzbergstr. 53 einzusenden.
An Honorar erhalten die Mitarbeiter: für Abhandlungen
Jl 30. — , für Referate Jt 40. — für den Bogen. Von den Abhand-
lungen werden an Sonderdrucken 40 umsonst, weitere Exemplare
gegen mäßige Berechnung geliefert. Von den Referaten werden
Sonderdrucke nur auf Verlangen geliefert. Die etwa mehr gewünschte
Anzahl bitten wir, wenn möglich bereits auf dem Manuskript an-
zugeben.
Die Manuskripte sind nur einseitig beschrieben und druckfertig
einzuliefern, so daß Zusätze oder größere sachliche Korrekturen
nach erfolgtem Satz vermieden werden. Die Zeichnungen für Tafeln
und Textabbildungen (diese mit genauer Angabe, wohin sie im Text
gehören) werden auf besondern Blättern erbeten ; wir bitten zu beachten,
daß für eine getreue und saubere Wiedergabe gute Vorlagen uner-
läßlich sind. Anweisungen für zweckmäßige Herstellung der Zeich-
nungen mit Proben der verschiedenen Reproduktionsverfahren stellt
die Verlagsbuchhandlung den Mitarbeitern auf Wunsch zur Verfügung.
In Fällen außergewöhnlicher Anforderungen hinsichtlich der Ab-
bildungen ist besondere Vereinbarung erforderlich.
Die im Archiv zur Verwendung kommende Orthographie ist
die für Deutschland, Österreich und die Schweiz jetzt amtlich ein-
geführte, wie sie im Dudenschen Wörterbuch, 7. Auflage, Leipzig
1902, niedergelegt ist.
Die Veröffentlichung der Arbeiten geschieht in der Reihenfolge,
in der sie druckfertig in die Hände der Redaktion gelangen, falls
nicht besondere Umstände ein späteres Erscheinen notwendig machen.
Die Korrekturbogen werden den Herrn Verfassern von der Ver-
lagsbuchhandlung regelmäßig zugeschickt; es wird dringend um deren
sofortige Erledigung und Rücksendung (ohne das Manuskript) an die
Verlagsbuchhandlung gebeten. Von etwaigen Änderungen des Aufent-
halts oder vorübergehender Abwesenheit bitten wir, die Verlagsbuch-
handlung sobald als möglich in Kenntnis zu setzen. Bei säumiger
Ausführung der Korrekturen kann leicht der Fall eintreten, daß
eine Arbeit für ein späteres Heft zurückgestellt werden muß.
Die Referenten werden gebeten, Titel, Jahreszahl, Verleger, Seiten-
zahl und wenn möglich Preis des Werkes, bzw. die Quelle bespro-
chener Aufsätze nach Titel, Band, Jahreszahl der betreffenden Zeit-
schrift genau anzugeben.
Herausgeber und Verlagsbuchhandlung.
ARCHIV
FÜR DIE
GESAMTE PSYCHOLOGIE
UNTER MITWIRKUNG
VON
Prof. H. HÖFFDLNG in Kopenhagen, Prof. F. JODL in Wien,
Prof. A. KIRSCHMANN in Toronto (Canada), Prof. E. KRAEPELIN
in MOnchen, Prof. 0. KÜLPE in Würzbüro, Dr. A. LEHMANN
in Kopenhagen, Prof. TH. LIPPS in München, Prof. G. MARTIUS
in Kiel, Prof. G. STÖRRING in Zürich, Dr. W. W1RTH in Lripzio
und Prof. W. WUNDT in Leipzig
HERAUSGEGEBEN VON
E. MEUMANN
0. PROF DER PHILOSOPHIE A. D. UNIVERSITÄT ZÜRICH
* M -
IV. BAND
MIT 14 FIGUREN IM TEXT
LEIPZIG
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN
1905
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Es wurden ausgegeben:
Heft 1 und 2 (8. 1—288; Literaturbericht S. 1— 32) am 4. November 1904.
Heft 3 (8. 289— 436; Literaturberichts. 33— 80) am 13. Januar 1906.
Heft 4 'S. 437 — 620; Literaturbericht S. 81 — 104) am 21. Februar 1905.
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Inhalt des vierten Bandes.
Seite
Abhandlungen :
Ei ert, E., und E. Meumann. Über einige Grundfragen der Psyche lugic der
Ubungsphänomcac im Bereiche des Gedächtnisses. (Mit einer Figur
im Text. 1
Gf.toer. Moritz. Bemerkungen zur Psychologie der Gefühl.sclementc und
Gcfühlsverbindungcn 233
Watt, He.nry J., Experimentelle Beitrüge zu einer Theorie deg Denkens.
;Mit 9 Figiireo im Text.) 289
Gordox, Kate, über dag Gcdächtnia für affektiv bestimmte Eindrücke.
(Mit zwei Figuren im Text) 437
KCi.pe. O., Bemerkungen zu vorstehender Abhandlung 459
Lipps, Tu., Weitereg zur »Einfühlung< 465
PkdersKN, R. H., Experimentelle Untersuchung der visuellen und akustischen
Erinnerungsbilder, angestellt an Schulkindern. (Mit zwei Figuren
im Text) 520
Literaturbericht :
Vierkandt, A-, Jahresbericht Aber die Literatur zur Kultur- und Qescllschafts-
lchre aus dem Jahre 1903 1
Stull, Otto, Suggestion und Hypnotismus in der Völkerpsychologie (A. Vier-
kant! f) 23
Frobenius, L., Das Zeitalter des Sonnengotteg. (A. Vierkandt) 26
Lange. Karl, Sinnesgenüsse und Kunstgenuß. (W. Nef) 2V»
Lichtwark, Alfred, Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken.
(W. Nef) 31
Runge, Max, Daa Weib in geiner geschlechtlichen Eigenart. (W. Nef) 31
Brühl, Marie, Die Natur der Frau und Herr Professor Runge. (W. Nef) 32
Elberskirchen, Johanna, Die Liebe deg dritten Geschlechts. (W. Nef) 32
Lipps, Theodor, Leitfaden der Pgychologie. (0, Mcssmer) . 33
Jodl, Friedrich, Lehrbuch der Psychologie. Zweite Auflage in zwei
Bänden. (E. Meumann) 38
Heinrich, W. , Die Aufmerksamkeit und die Funktion der Sinnesorgane.
(F. Büke) 39
Bin et, Alfred, Attention et adaptation. (E. Meumann) 40
Jung. C. G-ü und Riklin, Fr., Diagnostische Assoziatiousstudicn. 1. Bei-
trag: Experimentelle Untersuchung über Assoziationen Gesunder.
Vorwort: Uber die Bedeutung von Assoziationsversuchen, von Prof.
Bleuler-Burghölzli. (0. Messmer.) 46
Ackerkuecht, E., Die Theorie der Lokalzcichen. (F. Büke) 48
Hey maus, G. . Uber Unterschiedssclnvellcn bei Mischungen von Kontrast-
farben. (F. Biske) 50
TT
Piper. II.. Uber Dunkcladaptation. (F. Bisb) 51
Piper. H. , Uber die Abhängigkeit des Reilwertes leuchtender Objekte von
ihrer Flächen- bzw. "Winkelgröße. (F. Bisb:) 53
Piper, H., Uber das Hclligkcits Verhältnis monokular und binokular aus-
geloster Lichteuipfiudurigen. (F. Bisb) 54
Schäfer, Gisela, Wie verhalten sich die Helmholtzschen Grundfarben zur
Weite der Pupille. (F. Büke) 55
1Y.
Seit*
Lehmann, AI fr., Versuch einer Erklärung des Einflusses des Gesichts-
winkels auf die Auffassung von Licht und Farbe bei direktem
Sehen. (F. Biske) 56
Thorndikc, Edward L., An introduetiou to the theory of mental and
social measurements. (E. Mauna im) M>
Mcrker, Ilubert, Taubstutnmblind, eine psychologische Skizze. (E, Eberl) 07
Heller, Thcudor, Grundriß der licilpädagogik. (1 Heischt \r) GS
Heller, Theodor, Studien zur lUindenpsychologie. (E. Mrumann) ... 71
Kelly, Robert Lincoln, Psychophysical testa of normal and abnormal
children. Studies from the psychophysical Laboratory of the l'niver-
sity <>f Chicago. (E. Mn/maim) 72
Delaporte, L. J., Philosophische Untersuchungen über die nicht-euklidischen
Geometrien. (F. Bi.sir) 7-1
Marshall, W., Die Tiere der Erde, Eine volkstümliche Übersieht aber
die Naturgeschichte der Tiere. Ober 1000' Abbildungen und 25 farbige
Tafeln nach dem Leben. (Bielscher) 75
Naumann, Fr., Die Erziehung zur Persönlichkeit im Zeitalter des Groß-
betriebs. (E. Ebert) 77
Seitz, Anton, Willensfreiheit und moderner psychologischer Determinia-
mus. jO. Mrssno.r) 77
Richter, Raoul, Der Skeptizismus in der PhiloBophie. 1. Bd. (F. Rose) 79
Nikolaj I.oßkij, Die Grundlagen der Psychologie vom Standpunkte des
Voluntarismus. (J. Köhler) 81
Harald Hoff ding, Philosophische Probleme. (J. Köhler) 83
H. Thoden van Velten, System des religiösen Materialismus. I. Wissen-
schaft der Seele. (0. Vogl) 87
P. H. Sie wer s, Mechanismus und Organismus. Hin Versuch zur Erklärung
der Lebenstatigkeit. (J. Köhler) 89
Ch. H. Judd. Einige Erscheinungen des binokularen Sehens. (F. Bi\ih>l , 89
Loeser, Uber den Einfluß der Dunkeladaptation auf die spezifische Farben-
Bchwellc. (F. Bisttc) <H)
J. Franklin Messenger, Die Wahrnehmung der Zahl. (F. Bishr) ... 90
L. Luciani. Physiologie des Menschen. Lief. 1 u. 2. (Fi. J[">!ht/ .... 91
J. Breuer, Studien Ober den Vestibularapparat. (R. Höher) 92
Hermann Schneider, Die Stellung Gusseiidia zu Descartcs. (Fr, Rose) . 93
Hans Lindau, Unkritische Gänge. (E. Mcumann) 94
Jos. W. Nahlowsky, Das Duell, sein Widersinn und seine moralische
Verwerflichkeit. iE. Muuuariu) 91
Ch. Brunot, Untersuchung Aber die soziale Solidarität als Prinzip der Ge-
setze. (F. Biske) 94
Thcosophischer Wegweiser, Monatsschrift zur Verbreitung einer höheren
Weltanschauung und zur Verwirklichung der allgemeinen Mcnsehen-
verbrüderung. (F. Ehcrt) 95
OeheimwisBcnschaftliche Vorträge zur Einführung in die okkulte
Philosophie. Heft 5—7. (E. Eberl) 95
Philosophische Bibliothek: Bd. 3. Aristoteles' Metaphysik. — Bd. 43.
Immanuel Kants Logik. — Bd. 69. G. W. v. Leibniz, Neue Abhand-
lungen über den menschlichen Verstand. //•.'. Mammut i 90
Zeitschriftenschau 97
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungs-
phänomene im Bereiche des Gedächtnisses,
zugleich ein Beitrag zur Psychologie der formalen Geistesbildung:
A. Untersuchung der Wirkung einseitig mechanischer
Übung auf die Gesamtgedächtnisfunktion.
B. Über ökonomische Lernmethoden.
Von
Ernst Ebert und E. Meumann.
(Aus dem psychologischen Laboratorium der Universität Zürich.)
Mit einer Figur im Text.
I. Kapitel:
Einleitung und Aufstellung des Problems.
Die vorliegende Untersuchung1) beschäftigt sich mit einigen
psychologischen Fundamentalfragen, die schon lange einer experi-
mentellen Entscheidung harren. Bei Gelegenheit von Experimenten
über das Gedächtnis trat uns die Wichtigkeit der Frage entgegen,
ob und in welchem Sinne von einer allgemeinen Gedächtnis-
übung gesprochen werden kann, und ob sich durch einseitige Übung
eines der sogenannten Spezialgedächtnisse oder einer speziellen
Gedächtnisfunktion an einem bestimmten Stoff eine Vervoll-
kommnung des allgemeinen Gedächtnisses erreichen läßt.
Bei der Verfolgung dieses Problems zeigte sich, daß die Ergeb-
nisse unserer Versuche in mancher Hinsicht neues Licht auf das
Problem der Gedächtnisübung überhaupt warfen, und hiermit hingen
wieder die allgemeinen Probleme zusammen, in welchem Sinne
1 Anm. deB Herausgebers. Der Anteil von Herrn Dr. Ebert und mir an
der Kegenwiirtigen Arbeit verteilt Bich etwa in folgender Weise : Nachdem ich
den Plan der ganzen Untersuchung aufgestellt hatte, war Herr £. bei allen Ver-
suchen der ausführende Vereuchsleiter, ich selbst Versuchsperson. Herr E.
übernahm dann die erste Ausarbeitung des Textes, den ich in zweiter Redak-
tion überarbeitete und mit der Einleitung und der Zusammenfassung dor
Resultate (3. 1% ff.) und den theoretischen Schlußfolgerungen vervollständigte.
ArckiT ftur r*jchologie. IV. 1
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2
ErnBt Ebert und E. Meum&nn,
man Uberhaupt von Spezialgedächtnissen und Allgemeingedächtuis
reden könne. Wir üben in der Regel in der Praxis des Lebens
sogenannte Spezialgedächtnisse; wird nnn dadurch eine all-
gemeine Vervollkommnung des Gedächtnisses hervorgebracht?
Diese Frage hat sowohl große theoretische wie praktische Bedeu-
tung. Ihre theoretische Bedeutung ist darin zu suchen, daß wir
durchaus nichts Sicheres darüber wissen, wie weit die ganze
Vorstellung von dem Vorhandensein von Spezialgedächtnissen be-
rechtigt ist,* wie weit die Übungsphänomene der einzelnen Spezial-
gedächtnisse zusammenhängen, und in welchem Sinne wir von
einer allgemeinen Gedächtnisfunktion und ihrer Vervollkommnung
durch Übung reden können.
Diese Schwierigkeit ist wiederum ein Erzeugnis der neuen psy-
chologischen Gesamtauffassung vom Wesen des Bewußtseins und
der Methode der Untersuchung geistiger Prozesse. Die heutige
Psychologie redet nicht mehr von einem »Vorstellen« als einem
allgemeinen Vorgange, sondern von einzelnen Vorstellungen und
ihren Zusammenhängen, — nicht von einem Vermögen der
Assoziation und Reproduktion, sondern von den Bedingungen,
nnter denen sich Assoziationen zwischen einzelnen Vorstellungen
vollziehen oder Reproduktionen von einer einzelnen Vorstellung
aus (oder einem Komplex von Vorstellungen in Zusammenwirkung
mit einer gewissen Konstellation im Bewußtsein) stattfinden können.
Assoziation und Reproduktion sind also für uns nur Komplexe
von Bedingungen ftir die Verbindung im Bewußtsein vorhandener
und für das Auftauchen neuer Vorstellungen, und die allgemeine
Gedächtnisfunktion ist die allgemeine Eigenschaft der einzelnen
Vorstellungen (zentral erregten Empfindungen), Übungsdispositionen
zu hinterlassen, auf Grund deren sie vermittelst der Anregung durch
äußere oder innere Reize im Bewußtsein wieder auftauchen können.
Es hat aber keinen Sinn, von einer Steigerung oder Vervollkommnung
dieser allgemeinen Eigenschaft der Vorstellungen für sich durch
Übung zu reden; was wir üben, vervollkommnen und befestigen,
bleibt immer nur das Behalten und Reproduzieren der einzelnen
Vorstellungen. Wie haben wir uns also die allgemeine Gedächtnis-
übung und den Zusammenhang der SpezialÜbungen innerhalb ein-
zelner Gebiete des Vorstcllcns rein psychologisch zu denken?
Die physiologische Betrachtungsweise der Übungstatsachen des
Gedächtnisses bringt uns allerdings, wie wir später sehen, weiter
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 3
als die rein psychologische, doch bleiben immerhin auch für sie
ähnliche prinzipielle Schwierigkeiten bestehen.
Die rein empirische Untersuchung des Seelenlebens hat daher
vielfach an Stelle der Annahme eines allgemeinen Gedächtnisses
die Auffassung gesetzt, daß es eigentlich nur psychophysische
Ubnngsdispositionen für einzelne Vorstellungen und Vorstellungs-
zusammenhänge gibt. Es ist aber sehr bezeichnend, daß eben diese
rein empirische Untersuchung der einzelnen Assoziations- und Re-
produktionstatsachen wieder Über diese Anschauung hinausdrängt
in der Lehre Ton den sogenannten Spezialgedächtnissen. Man
pflegt wohl die Übnngsdispositionen für einzelne Vorstellungen wieder
in besondere Gruppen zu bringen nach dem Grade der Ver-
wandtschaft oder auch nach dem Gesichtspunkte der sensori-
schen Zusammengehörigkeit der reproduzierten Bewußt-
seinsinhalte, und als ein erstes Ergebnis dieser Zusammenfassung
erscheint dann die Aufzählung von Spezialgedächtnissen,
wie das Gedächtnis für Farben, Helligkeiten, Töne und andere
Empfindungsgruppen, für räumliche und zeitliche Verhältnisse, —
diese pflegt man wohl als das sinnlich-anschauliche Gedächtnis
zusammenzufassen. Ihnen gegenüber steht dann etwa das Ge-
dächtnis für Zeichen und Symbole für einen anschaulichen Inhalt,
das Namengedächtnis, Zahlengedächtnis, das Gedächtnis für mathe-
matische Symbole usf.; dazu kommt etwa noch das begriffliche
und logische Gedächtnis, das Gedächtnis für Willenshandlungen und
vielleicht auch für Gefühle (»emotionelles« Gedächtnis nach Ribot).
Es ist nun wichtig, zu betonen, daß diese Lehre von den Spezial-
gedächtnissen keineswegs bloß das Ergebnis einer logischen Klassi-
fikation von einzelnen Gedächtnisbetätigungen nach dem Gesichts-
punkt der Verwandtschaft der reproduzierten und geübten Bewußt-
seinsinhalte ist, vielmehr liegen dieser Lehre noch ganz andere als
logische Gesichtspunkte zugrunde. Sie kann sich in der Haupt-
sache auf vier verschiedene Tatsachengruppen stützen, nämlich
1 auf die häufig vorkommenden Unterschiede in der individuellen
Gedächtnisbegabung; wir finden z. B., daß manche Individuen
ein vortreffliches Ton- oder Farben- oder Namen- oder Zahlen-
gedächtnis besitzen, deren sonstige Gedächtnisleistungen relativ un-
bedeutend sind; 2) auf die Entwicklung des Gedächtnisses im
Kindesalter ; die einzelnen Spezialgedächtnisse trennen sich in ihrer
Entwicklung, die einen eilen um Jahre vor andern voraus (Net scha-
lt
4
Ernst Ebert und E. Meumaun,
jeff, Lobsien); 3) auf pathologische Tataachen; einzelne Spezial-
gedächtnisse können pathologisch verändert sein, während das übrige
Gedächtnis intakt bleibt; 4) vermeintlich auch auf die Übungs-
erscheinungen; so glaubte Netschajeff noch kürzlich behaupten
zu können, daß eine Steigerung eines Spezialgedächtnisses (z. B.
des akustischen) durch Übung durchaus nicht eine Steigerung eines
andern (z. B. des Farbengedächtnisses} mit sich bringe.
In der empirisch konstatierten Tatsache der Spezialgedächtnisse
haben wir daher einen Gedächtnistatbestand, an dem sich die oben
aufgeworfenen Probleme experimentell behandeln lassen.
Es fragt sich nämlich zunächst, wie nun diese Gedächtnis-
funktioneu untereinander zusammenhängen, und zeigen sie
Uberhaupt irgendeinen Zusammenhang? Trägt ihr Zusammenhang
insbesondere den Charakter allgemeinerer Funktionen, die in
gleichem Sinn an den Erscheinungen der Übung, Vervollkommnung,
Gewöhnuug, Entwöhnung oder der Vernachlässigung oder Degene-
ration teilnehmen? Nimmt z. B. das akustische Gedächtnis durch
Übung zu, wenn wir das optische vervollkommnen, und wenn
sich ein solches Zunehmen experimentell beweisen ließe, — wie
ist es dann zu erklären? Ist es ein bloßes Phänomen der Mit-
Ubung, oder beruht es darauf, daß eine Vervollkommnung gewisser
allgemeiner psychischer Faktoren stattfindet, die sich bei aller Ge-
dächtnisübung betätigen, z. B. eine Vervollkommnung der Aufmerk-
samkeit, ihrer Konzentration, Ausdauer usf.? Oder beruht viel-
leicht die ganze Erscheinung nur darauf, daß die Vp., welche ein
Spezialgedächtnis durch Übung steigert, gewisse äußere Kunst-
griffe und eine Lerntechnik erwirbt und sich in ihrer ganzen
inneren Verfassung in günstigerem Sinn an die Spezialarbeit des
Gedächtnisses anpaßt, — daß sie also z. B. eine für die Arbeit
des Lernens günstigere Stimmungslage erwirbt, ablenkende Vor-
stellungen und überflüssige Spannungen vermeidet u. dgl. m. ?
Das Problem der Gedächtnisübung hängt aber natürlich mit dem
allgemeinen Problem der Übung zusammen; alle Übung überhaupt
ist in gewissem Sinne Spezialttbung. Wir üben immer nur be-
stimmte Muskeln für bestimmte Bewegungen oder einzelne geistige
Fähigkeiten, wie das Lernen, das Reproduzieren, die Urteilsschärfe,
die Fälligkeit, Schlußketten zu übersehen. Und alle diese Fähig-
keiten üben wir strenggenommen wieder nicht als Fähigkeiten,
sondern als eine einzelne Betätigung im einzelnen Falle au einem
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übangsphänomene ubw. 5
speziellen Stoff, also in der Form der Betätigung einzelner Vor-
stellungen, Urteile, Schlüsse.
Gibt es nnn überhaupt eine allgemeine Übung irgendwelcher
geistigen Fähigkeiten? Befestigen wir durch die Übung immer nur
die Disposition, die Spur und die Reproduktionsmöglichkeit der
einzelnen Vorstellungen, des einzelnen Urteils- und Schlußaktes, —
oder wird das Urteil überhaupt, das Gedächtnis im allgemeinen
vervollkommnet, wenn wir es im einzelnen Fall an irgendeinem
Stoffe üben? Das Problem der allgemeinen und speziellen Übung
weist nun aber wieder auf ein weiteres, psychologisch und päda-
gogisch höchst wichtiges Problem hin, — nämlich auf die Frage
nach dem Wesen und der Möglichkeit der formalen
geistigen Bildung. Wenn sich alle geistige Übung an einem
bestimmten Stoffe vollzieht, und wenn insbesondere alle Vor-
stellungstätigkeit sich immer nur in Einzelvorstellungen betätigt,
so gibt es, wie es scheint, auch strenggenommen nur einen Erwerb
von Wissen von einzelnen Vorstellungen, Urteilen, Schlüssen usw.,
und es hat gar keinen Sinn, durch Übung die Vervollkommnung,
Bildung oder Kultur formaler, d. h. vom Stoff unabhängiger
geistiger Fähigkeiten zu erstreben. Mit Sicherheit nachweisen
können wir immer nur die Tatsache, daß materiell bestimmte Vor-
stellungen, Urteile und Schlüsse durch Übung »gebildet« werden, —
oder wenn man diese Konsequenz vermeiden will, so wird man nicht
nmhin können, in irgendeinem Sinne die Lehre von dem Vorhanden-
sein allgemeiner Fähigkeiten des Geistes wieder zu erneuern
und eine plausible Vorstellung von dem physischen und psychischen
Wesen einer Vorstellungsfahigkeit, einer Gedächtnis-, Reproduktion»-,
Phantasie- und Urteilsfähigkeit auszubilden. Wir stehen also
vor der Wahl: Entweder gelingt es uns, die Auffassung von dem
Vorhandensein allgemeiner psychophysischer Fähigkeiten wieder
zu erneuern, vielleicht durch das Zurückgreifen auf das Vorhanden-
sein allgemeiner psychophysischer Übungsdispositionen, welche als
die Träger der einzelnen Vorstellungen, Urteile oder Schlüsse an-
zusehen sind, oder auch durch den Nachweis einer Mitttbung ver-
wandter psychophysischer Dispositionen auf Grund der Vervoll-
kommnung einzelner Tätigkeiten, — oder aber wir bleiben bei der
streng atomistischen Auffassung des Seelenlebens stehen, die nur
einzelne Vorstellungen und Urteile kennt. Dann kann von formaler
Geistesbildung im psychologischen Sinne keine Rede sein.
6
Ernst Ebert und E. Meomann,
Für die Psychologie des 18. Jahrhunderts, welche einfach die
abstrakten Begriffe psychischer Vermögen zu realen psychischen
Vorgängen stempelte, bestand diese Schwierigkeit nicht. Sie trat
erst auf mit Herbarts Kritik der Vermögenslehre und seiner Auf-
lösung des Seelenlebens in das Kommen und Gehen einzelner Vor-
stellungen. Für den konsequenten Herbartianer gibt es daher
auf dem Boden der empirischen Psychologie weder allgemeine
Übung geistiger Fähigkeiten, noch formale geistige Bildung. Diese
Begriffe können höchstens durch ein Zurückgreifen auf das meta-
physische Wesen der Seele aufrechterhalten werden. Die gegen-
wärtige Psychologie ist in gewissem Sinne bei der Auffassung
Herbarts stehen geblieben. Wir nehmen zwar zum Unterschied
von Herbart mehrere Klassen psychischer Einzelvorgänge an,
nnd auch unser Begriff der Vorstellung ist nicht mehr derselbe wie
bei Herbart, nicht feste Größen sind die Vorstellungen, sondern
wandelbare Komplexe zentral erregter Empfindungen, aber die Her -
bartsche Auflösung des intellektuellen Seeleulebens in einzelne Vor-
stellungen ist im Prinzip geblieben, und wir haben es zwar nicht
bloß mit einzelnen Vorstellungen, wohl aber mit einzelnen
Empfindungen, Empfindungskomplexen, Vorstellungen, Vorstellungs-
komplexen, konkreten Vorstellungszusammenhängen und etwa noch
einzelnen Urteilen, Gefühlen und Willenshandlungen zu tun, — im
Prinzip besteht also für die heutige Psychologie die gleiche
Schwierigkeit wie für Herbarts Vorstellungslehre. Es ist
schwierig, sich vorzustellen, was eigentlich allgemeine Übung gei-
stiger Fähigkeiten ist, und worin die psychologische Basis for-
maler Geistesbildung besteht; denn schwerlich wird sich mit der
Ansicht auskommen lassen, daß allgemeine Übung einer geistigen
Fähigkeit eben nichts anderes sei als eine einfache Summation von
zahlreichen Einzelvorstellungen und deren Übungsdisposition.
Die vorliegende Untersuchung möchte nuu nach allen diesen
Richtungen einen Vorstoß machen zur experimentellen Bearbei-
tung der angedeuteten Probleme. Sie beschränkt sich zunächst
auf den rein tatsächlichen Nachweis, daß eine allgemeine
Steigerung des Gedächtnisses stattfindet, wenn man ein Spezial-
gedächtnis durch Übung vervollkommnet. Im Anschluß an diesen
Tatsachennachweis werden wir allerdings einige allgemeine theo-
retische Folgerungen über das Wesen der Übung und der Übungs-
dispositionen zu geben suchen. Eine weitere Untersuchung wird
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 7
die Fortsetzung der gegenwärtigen bieten; sie beschäftigt sich
nicht nur mit dem tatsächlichen Nachweis des Vorhandenseins einer
allgemeinen Übung innerhalb der Gedächtnisfunktion, sondern ganz
speziell mit der Erklärung dieses Phänomens.
Den Ausgangspunkt unserer Untersuchung bildet die experimen-
telle Entscheidung der Frage, welches die Wirkung einer einseitigen
Übung des mechanischen Behaltens bestimmter Arten von Vorstellun-
gen auf das Ganze der Gedächtnisfunktion ist, und, im Anschluß hieran,
soeben wir theoretisch zu erörtern, worin das Wesen des Übungs-
phänomens bei Gedächtnisübungen und das Wesen der Übung
überhaupt in psychologischer und physiologischer Hinsicht besteht.
Mit dieser ersten Frage ließ sich nun aber leicht die Behand-
lung zweier weiterer Gedächtnisprobleme verbinden. Indem
wir znm Zwecke der experimentellen Behandlung des genannten
Hauptproblems unsere Vp. ») an dem Lernen sinnloser Silben übten,
hatten wir zugleich gute Gelegenheit, den Wert verschiedener Lern-
methoden zu erproben. Schon G. E. Müller und Steffens
haben die sog. T.-Methode (Teil-Lernmethode) mit der G.-Methode
(Ganz-Lernmethode) verglichen. Durch frühere Versuche im Züricher
psychologischen Laboratorium waren wir auf mancherlei Mängel
der G.-Methode aufmerksam geworden. Wir versuchten deshalb,
eine dritte Art von Methoden auszubilden, welche die Vor-
teile der T.- und G.-Methode vereinigen sollten und sich zugleich
zur Anpassung an Stoffe von ungleicher Schwierigkeit als geeignet
erwiesen. Wir machen zunächst einige orientierende Angaben Uber
die Anordnung der ganzen Untersuchung.
Die Versuche fanden statt von November 1902 bis August 1903.
Es stellten sich uns unter Darbringung großer Opfer an Zeit und
Mühe als Vp. freundlichst zur Verfugung:
1) Herr stud. theol. Baumgartner (bez. B
2) Herr Sekundarlehrer Briner ( > Br.)
3) Fräulein stud. phil. Blank { > Bl.)
4) Herr stud. theol. Furrer ( > F.)
5) Herr Professor Dr. E. Meu mann ( » M.)
6) Fräulein stud. phil. Sokoleff ( > S.)
7) Herr Dr. med. et. phil. Wreschner ( » W.)
8) Herr stud. theol. Ziegler ( » Z.)
1 Dt» Wort Versuchsperson kürzen wir ab: Vp.
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8
Ernst Ebert and E. Meumann,
i
i
Die Namen der Vp. werden im folgenden nur noch mit den
Anfangsbuchstaben bezeichnet.
Fräulein S. trat im Lanfe der Versuche für Fräulein Bl. ein.
Herr Z. beteiligte sich an einer Gruppe von Versuchen, welche
den allmählichen Aufbau einer »Normalreihe von zwölf Silben«
und die eng damit zusammenhängende Wirksamkeit der Aufmerk-
samkeit darlegen sollten.
Bei allen diesen Herren und Damen wurde zunächst durch
Vorversuche festgestellt, welches die Leistung ihres Gedächtnisses
bei Beginn der Versuche war. Es wurde also eine Art Querschnitt
ihres Gesamtgedächtnisses zu Anfang der Versuche vorgenommen,
der zwar nicht allseitig, aber doch vielseitig war, — das heißt,
die in Rede stehende Anfangsprttfung erstreckte sich nicht auf
alle nur erdenklichen Spezialgedächtnisse — dies mag einer spä-
teren, weitergehenden Untersuchung vorbehalten bleiben, bei wel-
cher vor allem sämtlichen Beteiligten mehr Zeit verfügbar sein
mußte — , sie bezog sich aber immerhin auf so viel spezielle Arten
des Gedächtnisphänomens, als nötig erschien, um am Ende einen
völlig sicheren Schluß ziehen zu können betreffs der Wirkung
durchaus einseitig mechanischer Übung auf das Gesamtgedächtnis.
Diese Anfangsprttfung bezog sich ebensowohl auf das unmittelbare,
wie auf das dauernde Behalten, wobei wir unter unmittelbarem Be-
halten dasjenige verstehen, bei welchem die Wiedergabe sofort
nach dem einmaligen Auffassen erfolgt.
Die Feststellung der Fähigkeit des unmittelbaren Behaltens
fand statt
A. in bezug auf sinnloses Gedächtnismaterial, nämlich
a. in bezug auf Buchstaben,
b. » » » Zahlen,
c. » » » sinnlose Silben;
B. in bezug auf sinnvolles Gedächtnismaterial, nämlich
a. in bezug auf Wörter,
b. » » » italien. Vokabeln, gleich B, a, ohne
logische Verbindung,
c. in bezug auf Gedichtstrophen,
d. » » » Prosasätze.
Die hierauf folgende Feststellung der Fähigkeit des dauernden
Behaltens fand statt
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänoroene usw. 9
A. in bezog auf das Behalten sinnlosen Materials, nämlich
a. in bezog aof verschieden lange Reihen sinnloser
Silben,
b. in bezog aof Reihen visoeller Zeichen;
B. in bezog aof das Behalten sinnvollen Materials, nämlich
a. in bezog aof italien. Vokabeln, ohne logische Ver-
bindong,
b. in bezog aof Gedichtstrophen,
c. > * > Prosasätze.
Nachdem so die Anfangsbeschaffenheit des Gedächtnisses bei
jeder Vp. festgestellt war, erfolgte die einseitige Übong des me-
chanischen Gedächtnisses an Reihen sinnloser Silben, die nach den
Regeln von G. E. Müller aofgebaot waren. Zo diesem Zwecke
hatte jede Vp. 32 »Normalreihen«, das heißt Reihen zo je zwölf
sinnlosen Silben, zo erlernen. Mit diesen Einübungsversachen
wurde nun zugleich die Beantwortung einer zweiten Frage ver-
bunden, nämlich der, welche Lernmethode sich als die am meisten
ökonomische erweisen lasse. Rein theoretisch genommen, hätte
man wohl diese Einttbongsversoche mit sinnlosem Material so lange
fortsetzen müssen, bis bei jeder Vp. eine konstante, nicht mehr
zunehmende Zahl von Durchlesungen bis zum Auswendigkönnen
eingetreten wäre; es zeigte sich aber, daß die Übungszunahme eine
nahezu unbegrenzte war; sie schreitet vermutlich solange fort, bis
die Vp. eine Silbenreihe von der Länge, wie wir sie verwendeten,
mit einer Lesung lernt
So brachen wir denn nach Erlernung von 32 Normalsilben-
reihen die einseitige Übung ab, um deren bisherige Wirkong auf
das Gesamtgedächtnis festzustellen. Dies erfolgte in der Weise,
daß wir abermals einen »Querschnitt« dnreh das Gedächtnis machten,
und zwar unter den gleichen Bedingungen, wie bei dem ersten,
Seite 8 erwähnten. Das Material bei dem zweiten Querschnitt war
natürlich ein anderes, es wurde aber nach Möglichkeit dem früheren
Lernmaterial gleich gemacht. Nach dieser ersten Einübung an
32 Übungstagen trat schon ein beträchtlicher Übungserfolg ein;
wir setzten aber nach der zahlenmäßigen Feststellung desselben
die Einübung auf mechanisches Lernen in einer zweiten Reihe
von Einübungsversuchen fort
Diese schloß sich unmittelbar an die Aufnahme des »zweiten
Querschnittes« an, doch erfolgte sie nur bei der Hälfte der Vp.
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10
Emst Ebcrt uwl E. Meumann,
an abermals 32 Normalsilbenreihen, weil der Schluß des Semesters
die Vp. M., W. und S. zu einer Unterbrechung nötigte, weshalb das
Übungsmaterial für diese drei Personen auf die Hälfte reduziert
werden mußte, — sie lernten statt abermal 32 Reihen also nur 16,
ein Umstand, der ebenfalls Anlaß zu Beobachtungen über den Fort-
schritt des Gesamtgedächtnisses geben konnte. Im übrigen waren
alle Bedingungen dieses zweitmaligen , einübenden Silbenlernens
genau dieselben, wie beim Erlerneu der ersten 32 Reihen, — auch
hier wurden nach dem Ersparnisverfahren im regelmäßigen Wechsel
die G.- und T.-Methode, sowie die beiden später genauer zu be-
schreibenden V.-(Vermittlungs-)Methoden angewendet.
Sogleich nach Beendigung dieser zweiten Einübungsreihe wurde
wiederum der »Querschnitte durch das Gesamtgedächtnis, wie oben,
geprüft als eine Art von Schlußaufnahme des Totalgedächtnis-
status. — Dieses Schlußresultat drängte zuletzt noch die Frage
auf, wie weit die einseitig erworbene Übung des Gedächt-
nisses wohl nachhaltig sei. Wir prüften deshalb nach Verlauf
von drei Monaten, in deucn keine besonderen Einübungen statt-
fanden, das Gedächtnis der Vp. schließlich noch einmal, be-
schränkten uns aber dabei auf einzelne Stichproben, da die Frage
nach der Beständigkeit der erworbenen Gedächtnisfertigkeit Uber
die eigentliche Aufgabe dieser Untersuchung hinausfuhrt.
II. Kapitel:
Feststellung des Ausgangsstadiums.
Nachdem wir im vorstehenden den Gang der gesamten Ver-
suche im allgemeinen gekennzeichnet haben , verschreiten wir nun-
mehr zur detaillierten Darstellung der einzelnen Versuche, also
zunächst zur ausführlichen Darstellung der Aufnahme des Status
quo ante in bezug auf die Fähigkeit des unmittelbaren Behalteus
der einzelnen Vp.1).
1 Im folgenden bezeichnen wir das Ergebnis dieses ersten Querschnittes
durch das Gesauitgedächtnis der Vp. als > Anfangszustand <, das Ergebnis der
ersten Einübungsreihe für sinnlose Silben als »erstes Einübungsresultat«,
das des zweiten Querschnittes als »erstes Gesa nitre sultat« , das der zweiten
Einübungsreihe als »zweites Einübungsresultat«, das des zweiten Querschnitts
als »zweites Gesamtresultat«.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 1 1
Wie schon auf S. 9 gezeigt wurde, benutzten wir zuerst »sinn-
loses« Prüfungsmaterial, — Zahlen, Buchstaben und Ebbinghaus-
Müller8che Normalsilben. Die
I. Versuchsreihe
bezog sich also auf das unmittelbare Behalten von Zahlenreihen.
Es sollte sich dabei ergeben, 1) welches Quantum Zahlen jede Vp.
fehlerfrei nach einmaligem Vorsprechen reproduzieren könne, 2) bei
welcher Anzahl Ziffern erstmalig eine Fehlermenge von 50 % auf-
treten werde. Bei der Fehlerberechnung wurde nach folgenden
Regeln verfahren: Das Weglassen oder Hinzutun einer Zahl galt als
4 ;4 Fehler, eine Versetzung in der Reihe um mehr als eine Stelle
als 3/4 Fehler, eine Versetzung desgleichen um genau eine Stelle
als 2/4 Fehler, eine Korrektur als il\ Fehler. Die in stets anderer
Folge dargebotenen Zahlen waren die von 1 bis 20, also ein- und
zweisilbige Zahlen, nur selten wurde zur Variation der Reihe einer
der zweisilbig auszusprechenden sogenannten »reinen« Zehner bis
100 benutzt.
Beispiel einer Zahlenserie:
11_6— 15-2— 8-1— 12— 7-20.
Der Versuchsleiter sprach nach vorausgegangener Übung die
Zahlen — oder bei zweisilbigen deren dominierenden Vokal — in
Intervallen von etwa 9/4 Sekunden vor (nach dem Metronomtakt 80).
Die bloß akustische Darbietung zogen wir übrigens für alle Prü-
fungen des unmittelbaren Behaltens vor, weil die Vp. beim Lesen
nicht immer die aufzufassenden Eindrücke streng sukzessiv perzi-
pieren, vielmehr nicht selten gruppenweise oder gar fluktuierend,
d. h. indem der Blick abwechselnd voraus- oder zurückeilt. So
bekamen wir also durch das in Rhythmus, Tonfall und Intensität
tunlichst gleichmäßige Vorsprechen ein Mittel zu rein sukzessiver
Darbietung des Stoffes. (Vielleicht empfiehlt sich zu weiteren Ver-
suchen der in Rede stehenden Art der »Gedächtnisapparat« von
Ranschburg, wenn er von gewissen ihm anhaftenden Mängeln
befreit ist.)
Den Verlauf der ersten Versuchsreihe weist ziffernmäßig
Tabelle Ia nach, in welche wir zugleich unter Ib einen mehr bei-
läufigen Versuch aufgenommen haben, der nur mit Herrn Prof. Dr. M.
ausgeführt wurde. In der Rubrik »Bezeichnung der Fehler« haben
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12
Ernst Ebert and E. Meumann,
Tabelle
I. Versuchsreihe: Unmittelbares
Aufzu-
fassendes
Ziffern-
quantum
V
VI
VII
VIII
IX
XIII
XIV
Herr B.
Herr Br.
F.-
Zahl
Bezeichn. d. Fehl.
F.-
Zahl
XI
XII
0
o
V. 1
II, V, VI.
IV.V,VI;V1II. 2
Bezeichn. d. Fehl.
Herr F.
P.-
Zahl
Bezeichn. d. Fehl.
2
II. III; — VII, 4
VIII, IX; IV, %\ i
I
3«/4
3
-VI.
-V, VI.
-V, VI.
— IV, V, VI, VII.
-III, V, VI;
IX, X.
-III, V, VI.
0
2 4 ' in, rv
*U III^V; V,Vl.
3 — iii, rv, v.
3»/4-IV^,VI;lV,V;
VII, tx.
Vp. ist völlig ungeübt, —
empfindet als vorteilhaft die
genaue Angabe der Stoff-
menge vorher. Augen ge-
schlossen. Stirnrnnzeln,
Angenzummmenkneifen.
I'.eira »Besinnen« auf etwas
Vergessenes ist »Hemmung«
und »Anspannung« nötig,
doch kommt die wirkliche
Besinnung erst beim Dila-
tieren nach der Spannung.
Lärmende Kinder stören
nicht Besinnen nach län-
gerer Seit noch möglich
wie bei Herrn Br.; — bei
diesen beiden Herren auch
rückläufige Reproduktionen.
72/4 -III, VI, VII,
vm,ix,x,xi,
■j
Herr Br. glaubt bei op-
tischer Vorführung der
Herr Br. ist noch halb
Rek onvaleszent Schuldienst
vorher. — Zahlenquantität
muß vorher angegeben wer-
den.— Alle and. Inhalte des
Bew. müssen völlig gehemmt
werden. Augen geschlossen
oder verdeckt Keinerlei
Muskelspannung beobach-
tet, — spurt HerT Br. »Enno-
dung«, so pausiert er, um
nicht die Reserven des motor.
Apparate« heranziehen zu
müssen. Beobachtungen
nber das »Besinnen« wie
bei Herrn B. Geräusch
stört nicht.
Ist ungeübt — Quantität
des Dargebot muß vorher
angesagt werden. — Mit»
sprechen wird als hemmend
nach den ersten Versuchen
a u f gegeben, — Herr F. fixiert
dafür scharf einen Punkt,
sich dann ganz dem wech-
selnden ak. Eindruck hin-
gebend.
Krämpfen der Binde.
stört.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 13
Behalten von Zahlenreihen.
Aufzu-
fassendes L
Ziffern- ;i F.
Herr Prof. M.
Frl. S.
quantum :|ZahI
Bezeichn. d. Fehl.
F.-
Zahl
Bezeii hn. d. Fehl.
Herr Dr. W.
F.-
Zahl
Bezeichn. d. Fehl
V 0
VI 0
VII
VIII
IX
X
XI
XII
XIII
XIV
-VI.
3 -V, VI; VII.
— IV, VI, VII; III.
7 -
VIII; IX, X.
ÜXlV,VI,VII;
II, I, XI.
H i « r x o der beachtenswerte
Erganzungsversuch lb,
der wegen Ennndnng der
Vp. roneitig abgebrochen
0 —VI i.JXßZahlen
-IV l ax? •
Vollständigste Heining, al -
les »Übrigen« ist f. korrekte
Auffassg. n. Wiedergabe ge-
boten.— Schwache Geneigt-
heit mitxusprechen scheint
zu stören. — Angin ge-
schlossen,— wenn geöffnet
starr fixierend. Minimale Ge-
räusche scheinen xu stören.
»Besinnen« nach kurzer Zeit
nicht mehr möglich.
0
0
0
1»/«
i3;*4
i
I
I IV.
!ia,v-
43/4
6V4
VI; V. VII.
IV; V, VIII.
V,VIII; IV, VII.
V; VI, XI.
V, VII^ VIII,
XI ; VI, IX.
V, VII, IX, XI;
VI. X; IV, XII
!
Glaubt bei 8 Zahlen mehr
behalten tu haben, hatte aio
Torher sich nach der Zahl
der dargebotenenStoffmenge
besser eingerichtet.— Hem-
mung aller and. Bew.-Inhalte
durchaus nötig. Mitsprechen
erschwert etwas die scharfe
Erfassung. Augen geschlos-
sen, — oft gekniffen, daxa
Stirn gerunxelt. Eintritt
von Personen stört nicht.
— Besinnen nach etwa 1 Hin.
noch möglich. (Rockl. Repr.)
0
0
0
1
2
5
4
6
-V.
H- 11 nach VII;
-IV.
-IV,V,VI,VIH;
III.
— V, VI, VII; -+-9
nach VIL
IV; _ VII, VIII,
IX, X, XI.
Angabe der Zahl des Auf-
zufassenden befördert das
Behalten. — Mitsprechen
spaltet die Aufmerksamkeit,
— doch ist Neigung dato
stets vorhanden. Augen ver-
deckt Schwache Spannung
der Gesiehtsmuskulatur, —
noch achwacher im Ohr.
Geräusche im Neben raam
stören etwas, — sogar die
ungfllilich »sachsische« Aus-
sprache des Versuchsleiters.
— Die Reproduktion scheint
automatisch durch auditive
Nachbilder zu erfolgi-n.
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14 Ernst Ebert und E. Meumann,
wir folgende Abkürzungen angewendet, die wir auch weiterbin
benutzen werden:
a. Für Weglassungen das Minuszeichen vor der mit einer rö-
mischen Ziffer angegebenen Stelle der vorgesprochenen
Zahlenserie.
b. Für Hinzufbgungen entsprechend das Pluszeichen.
c. Für Umstellungen einen kurzen Pfeilbogen, der die beideu
vertauschten Stellen verbindet.
d. Für falsch wiedergegebene Stellen deren in römischen Ziffern
bezeichneten Ort mit zwei Strichen unter der Ziffer.
Den unteren Teil jeder für die einzelnen Vp. bestimmten Rubrik
haben wir in der Tabelle benutzt, um die uns für die Zwecke
dieser Untersuchung wesentlichst erscheinenden, meist spontan er-
folgten Aussagen der Vp. zu skizzieren und so die empirischen
Grundlagen ftir einige theoretische Folgerungen anzugeben1).
Was zeigt uns nun die Tabelle der ersten Versuchsreihe?
Vor allem zeigt sie in Hinsicht auf unser Hauptproblem zu
ihrem Teile die Basis, auf welcher sich bei jeder einzelnen Vp.
die Effekte der Übung aufbauten, also im vorliegenden Falle die-
jenige Zahlenmenge, welche jede Vp. mit Sicherheit ohne Fehler
unmittelbar zu behalten vermag. Dieser »Anfangszustand« liegt
bei den einzelnen Vp. hei folgenden Zahlenmengen:
a. Bei 5 Zahlen für Herrn F., d. i. diejenige Vp.. welche wie Herr
B. noch keinerlei psychologische Versuche mitgemacht hatte.
b. Bei 7 Zahlen ftir die Herren B., Br. und Dr. W., dgl. für
Fräulein S.
c. Bei 9 Zahlen für Herrn Prof. M., der am meisten vorge-
Ubten Vp. ; die Weglassung der VI. Stelle beim Auffassen
von 8 Zahlen beeinflußt das Faktum nicht, daß Herr Prof.
M. mit Sicherheit damals 9 Zahlen fehlerfrei sofort wieder-
geben konnte, — offenbar war der Versuch mit 8 Zahlen
nicht in das Maximum der Aufmerksamkeit gefallen.
Halten wir also fest, daß vor dem Eintritt der einseitig mecha-
nischen Übung die mittlere Leistung sämtlicher Vp. im Hin-
blick auf das unmittelbare Behalten von Zahlen 7 betrug.
1) Übrigens erscheint uns beachtlich, daß die Zahl der Aussagen sich
gegen den Abschluß der Versuche hin verringert, — ein Tatbestand, der ins
Auge zu fassen sein dürfte, wenn es sich um die Diskussion des Übangs-
Phänomens bandelt.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 15
Sehr lehrreich ist auch der Verfolg des individuell sehr ver-
schiedenen Anwachsens der Fehler bis zu 50 % der vorgesprochenen
Reihenlänge, — es mag genügen, aus der Tabelle die Reihenlänge
anzugeben, bei welcher die einzelnen jene 50 % erstmalig über-
schritten. Sie fand sich
a. bei 9 Zahlen für Herrn F.,
b. * 11 => ■ B., — beides > ungeübte < Vp.,
c. » 12 ► Prof. M. und Herrn Dr. W.,
d. » 13 . Fräulein S.,
e. 14 » » Herrn Br.
Deutlicher noch als beim vorliegenden ersten Querschnitt trat
übrigens beim zweiten und dritten hervor, daß es besser war, für
unsere Versuchszwecke das Anwachsen der Fehler nur bis zum
erstmaligen Überschreiten von 33V3 % zu verfolgen; es machte
sich infolge der großen Intensität der bei diesen Versuchen er-
forderlichen Konzentration auffällig bald Ermüdung und Unlust
geltend, — also zwei Bewußtseinsbedingungen, denen wir so weit
als möglich aus dem Wege gehen mußten.
Zum besseren Vergleich mit den Ergebnissen des zweiten und
dritten Querschnittes stellen wir deshalb noch zusammen, bei
welcher Reihenlänge erstmalig 33 Va % von den einzelnen über-
schritten wurden. Es erfolgte dies
a. bei 8 Zahlen bei Herrn F.,
b. > 10 » den Herren B. und Dr. W.,
c. » 11 • > Br. und Prof. M.,
d. - 12 > » Fräulein S.
Das bisher Gefundene läßt sich übersichtlich so darstellen:
Lage
Erstmaliges Überschreiten
der
Nullgrenze
50 % Fehlern 33 «/3 % Fehlern
von
Herr B. 7 Zahlen
Herr Br. 7
11 Zahlen 10 Zahlen
14 » 11
9 » 8
12 > 11
13 » 12
12 » 10
Herr F. 6
Herr Prof. M. 9 »
Frl. S. 7 »
Herr Dr. W. 7
Mittelwert: \ 7 Zahlen
11,88 Zahlen 10,33 Zahlen.
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16
Emst Ebert und E. Meumanu,
Diese Zahlen werden naturgemäß erst im Zusammenhang mit
allem Folgenden Bedeutung gewinnen, — wir gehen darum an dieser
Stelle nieht weiter darauf ein, sondern machen nur noch auf den
mit Herrn Prof. M. veranstalteten Ergänzungsversuch aufmerksam
(siehe dessen Rubrik in Tab. I).
Dabei kam ausnahmsweise einmal nicht das sonst für die Prü-
fung des unmittelbaren Behaltens durchgängig benutzte G.- Ver-
fahren in Anwendung, sondern ein vermittelnd-fraktionierendes
oder intermittierendes Verfahren, derart, daß zweimal 5, zweimal
6 und zweimal 7 Zahlen ebenfalls in Intervallen von 3/4 Sekunden
dargeboten wurden, vor Aussprechen der darzubietenden 6., 7. und
8. Zahl aber eiue Pause von doppelter Länge eingeschaltet wurde.
Man beachte, wie trotz ausgesprochener Ermüdung der Vp. die
Nullgrenze des Erfassens auf 10 hinaufgeht, — wie ferner beim
Behalten von 14 Zahlen erst 7,14 # Fehler auftreten, während beim
G. -Verfahren bereits bei Darbietung von 12 Zahlen mehr als das
Achtfache an Fehlern zu konstatieren war, nämlich 58,33 %. Hier
liegt wohl unzweifelhaft eine günstigere Verteilung der für
die Aufmerksamkeit disponibeln psychophysischen Energie vor,
welche in der vergrößerten Pause sich wieder sammeln kann. So
unscheinbar der kurze, nur beiläufig angestellte Versuch ist, so
charakterisiert er doch das Verhalten der Aufmerksamkeit In
praktischer Hinsicht liefert er den experimentellen Nachweis der
eminenten Bedeutung kleiner Pausen, etwa in der Musik für Er-
fassung des ästhetischen Eindrucks, oder beim Vortrag des Lehrers,
Redners, Schauspielers oder in der Sprache schlechthin, die wir
weit schwieriger erfassen würden ohne die fraktionierende, inter-
mittierende Wirkung der Interpunktion.
Der übrige Inhalt der tabellarisierten ersten Versuchsreihe
bietet nicht minder bedeutsame Hinweise auf die Funktion der
Aufmerksamkeit einerseits wie andererseits auf das individuelle
Verhalten beim unmittelbaren Erfassen.
Die Betrachtung des objektiven Tatbestandes, wie ihn die sechs
Kubrikeu der »Fehlerzahlen« der Tabelle (und dazu die kurze
Übersicht S. 15!) bieten, zeigt zunächst ein bemerkenswertes
Schwanken in der Konstanz der Konzentration der Aufmerksam-
keit, ein Faktum, das uns bei Analyse des Übungsphänomens
weiterhin beschäftigen wird. Am ehesten sehen wir an der Fehler-
grenze von 50 % die »ungeübten« Vp. anlangen, Herrn F. bei 9,
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Ober einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 17
Herrn B. bei 11 Zahlen, — die »geübten« Vp. erreichen sie
gruppiert um 13, also ziemlich gleichmäßig; bei Herrn Br., der
ältesten Vp., erhält sich die Konstanz seiner Konzentration bis zu
14 dargebotenen Zahlen, — vermutlich eine Wirkung seiner Be-
rufsarbeit als Sekundarlehrer, die zu gleichmäßiger Aufmerksam-
keit rar mehrere Stunden hintereinander zwingt (Dies ist um so
bemerkenswerter, als Herr Br. Rekonvaleszent war und etwas er-
müdet von vorherigem Schuldienst zu den Versuchen erschien.)
In der Rubrik »Bezeichnung der Fehler« ist der Ort und die
Art derselben angegeben; der Ort der Fehler charakterisiert vor-
rttglich das Verhalten der Aufmerksamkeit, bzw. das Nachlassen
der Konzentration. Die Stellen der Fehler besonders zu tabellari-
neren, unterlassen wir und greifen nur als Stichprobe diejenige
dargebotene Zahlenmenge heraus, bei welcher alle Vp. Fehler
teigen, — es ist dies der Fall bei »8 Zahlen«. Die sechs Vp.
machten hier in Summa 9 Fehler. Diese verteilen sich folgender-
maßen:
Schon in der ersten Versuchsreihe zeigt sich mithin wieder die
beim psychologischen Experiment vielfach beobachtete Erscheinung,
die auch bei allen folgenden Versuchsreihen hervortritt, — daß
nämlich das Verhalten der Aufmerksamkeit einem Wechsel von
An- und Absteigen unterworfen ist. Wir haben dies am Schluß
üeser Untersuchung noch einmal genauer beim Erlernen von
20 Nonnalsilbenreihen beobachtet, wir verweisen hier daher nur
aaf die Diskussion der betreffenden Versuchsreihe. Sehr von Be-
lüg erscheint uns ferner die sowohl von Geübten wie Ungeübten
verzeichnete Wahrnehmung, daß man »sich einrichten kann«, wie
Herr B., Herr Br., Herr F. nnd Frl. S. fast übereinstimmend wörtlich
igten. Das »Wieviel« und nicht minder das »Wie« der Dar-
bietung muß den Vp. bekannt sein, — durch die ganze Reihe der
Versuche hindurch war es zu beobachten, wie oft noch im letzten
Moment vor der Darbietung danach gefragt wurde. Fragen wie:
»Wieviel Zahlen, Buchstaben usw. kommen jetzt also?«, »Was ist
ArcWr fit p^ebolofi«. IY. 2
Stelle: I II IH IV V VI Vü VIII.
Je lmal
fehlend.
Je 3 mal
fehlend.
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18
Ernst Ebert und E. Meamann,
dies jetzt ftir eine Reihe?« usw. nötigten flir den Fall, daß es der
Versuchsleiter einmal unterlassen hatte, fast durchgängig zu einer
Art Zielangahe, — an einzelnen Stellen des weiteren Verlaufs der
Versuchsdarstellung werden wir darauf hinweisen können, daß spe-
ziell das Nichtwissen des »Wieviel« direkt langsamere Erlernung ver-
ursachte1). Wie sich bei Fe chners Versuchen mit Gewichten die
interessante Erscheinung bemerklich machte, daß wir uns normaler-
weise zur Hebung jeder Gewichtsstufe auf einen gewissen Kraft-
aufwand einstellen, so ähnlich ist es offenbar auch bei dem Er-
lernen irgendeines Pensums. Wir vollziehen durch einen be-
sonderen Einstellungsakt eine allmählich sich vervollkommnende
rationellere Verteilung der Aufmerksamkeit, eine Erscheinung, die
später bei Erörterung des Übungsphänomens mit herangezogen
werden soll.
Aus den Protokollbemerkungen ist ferner die Bedeutung einer
möglichst vollständigen Hemmung aller übrigen Bewußtseinsvor-
gänge, die während des Versuchs auf das Bewußtsein eindringen, zu
konstatieren. Man vergleiche die zu Protokoll gegebenen Äußerungen
des Herrn Br., des Herrn Prof. M. und des Frl. S., deren gemein-
samer Inhalt kurz der ist: Je vollständiger die Hemmung aller übrigen
Bewußtseinsinhalte gelingt, ein desto besseres Erfassen der Ein-
drücke und — sofern jene Hemmung beibehalten und gewisser-
maßen für einige Zeit fixiert wird — eine desto bessere Repro-
duktion ist möglich. Diese Hemmung, deren Ausdrucksvorgänge
aufzunehmen leider die Zeit der Vp. nicht erlaubte, ging sogar
so weit, daß manche Vp. das beabsichtigte »Mitsprechen« halblauter
oder innerlicher Art unterdrücken mußten, — es wurde als eine
unvorteilhafte »Spaltung« der Aufmerksamkeit empfunden, jenen
kinästhetischen Faktor mitwirken zu lassen (siehe Protokoll-
bemerk bei Herrn F. und Herrn Dr. W.!). Die in Rede stehende
Hemmung aller nicht in den Blickpunkt des Bewußtseins zu
rückenden Inhalte sollte jedenfalls auch unterstützt werden durch
das Verdecken oder Schließen der Augen, das bei der Mehrzahl
der Vp. bis zum Schluß der ganzen Untersuchung zu konstatieren
war ; wer sich von den Vp. davon freizumachen suchte, fixierte dann
ausnahmslos irgendeinen Punkt des umgebenden Raumes bis zur
1) Auch eine Protokollnotiz bei Frl. S. — siehe Tabelle I — illustriert
da» Gesagte.
Digitized by Googl
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene uaw. 19
Starrheit, was der Fall war mitunter bei Herrn Prof. M., vor allem
aber auffällig bei Herrn F. — Der Vervollständigung der Hemmung
dienten wohl auch zum großen Teile die Spannungen der Mus-
kulatur, welche lant Protokoll Herr B., Herr F., Herr Dr. W. und
Frl. S. an sich teils als totale, teils als partielle wahrnahmen, —
letztere traten auf als Znsammenkrampfen der Hände (Herr F.),
Runzeln der Stirn, Zusammenkneifen der Augen (Herr B., Frl. S.),
Spannungen in der Muskulatur der Augen (Herr Dr. W.), letzterer
Herr glaubt auch in der Ohrmuskulatur leise Spannungen emp-
fanden zu haben. Ganz frei von Spannungen in der Muskulatur
behauptet nur Herr Br. gewesen zu sein, — er deutet dies Auf-
wenden von Spannungen wohl nicht unrichtig als ein Heran-
ziehen von Reservekräften, indem vermutlich jene Spannungen
exzitierend auf die motorischen Hirnzentren wirken, durch deren
engen Konnex mit den sensorischen Zentren eben diese mit erregt,
bzw. zu verstärkter Energieentfaltung veranlaßt werden; Herr Br.
wollte als Rekonvaleszent das Aufgebot dieser Reserven vermeiden,
verhielt sich daher tunlichst passiv und ließ zwischen den einzelnen
Versuchen etwas größere Pausen eintreten. Herr Dr. W. glaubt
mehr Spannungen in der Gesamtmuskulatur empfunden zu haben,
doch äußert er sich darüber späterhin in dem Sinne, daß das Auf-
treten von Spannungen der Muskulatur mehr hervorgetreten sei,
wenn er sich in einem minder normalen Zustand — Erkältungs-
indisposition, Ermttdung nach schlechtem Schlaf, bzw. nach einer
anstrengenden Vorlesung — befunden habe. Frl. S. endlich emp-
tindet bei Spannungen in der Gesamtmuskulatur, die übrigens
auch nur bisweilen bei geringerem Wohlbefinden bei ihr auftreten,
ein bald mehr, bald minder intensives »Kältegefühl« in den unteren
Extremitäten.
Hemmungen und Spannungen treten, wie Herr Br. und Herr B.
wahrnahmen, übrigens speziell beim »Besinnen« auf etwas momentan
Entfallenes auf; im Laufe der weiteren Versuche wird dies auch
laut Protokoll von den andern Vp. beobachtet. Dabei tritt die
wirkliche Besinnung auf das Entfallene nicht im Maximum der
Hemmung und Spannung auf, sondern erst dann, wenn bereits
Symptome des Nachlassens sich bemerkbar machen.
Einige Protokollnotizen weisen bereits bei den ersten Versuchen
auf das Vorhandensein verschiedener »Lerntypen« unter den be-
teiligten Vp. hin. Herr Br. wird durch ein »störendes«, recht
2*
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20
Ernst Ebert und E. Meumann.
vernehmliches Geräusch im Zimmer über dem Versuchsraum nicht
im mindesten irritiert, — ebensowenig wie Frl. S. durch das
lärmende Eintreten einiger Personen, bzw. Herr B. durch eine Über-
laute Unterhaltung zwischen Kindern vor dem Fenster. Die
Übrigen drei Vp. zeigen sich gegen akustische Störungen zum Teil
recht empfindlich, — so glaubt z. B. Herr Dr. W. mitunter durch
Heraushören des angeblich »sächsischen« Dialektes des V.-Leiters
»gestört« worden zu sein; dieselbe Vp. gibt zu Protokoll, daß
die Reproduktion der dargebotenen Zahlenserien bei ihm »gleich-
sam automatisch« erfolgt auf Grund »auditiver Nachbilder«. Das
Besinnen auf momentan entfallene »auditive Nachbilder« führt
bei ihm ebensowenig zum Ziele, wie bei Herrn F. und Herrn Prof. M.,
während sich Herr B., Frl. S., vor allem aber nach erstaunlich langer
Zeit noch Herr Br. — 1 bis 2 Minuten und länger! — auf das
»Vergessene« besinnen können. Die drei letztgenannten Vp. neigen
hier wie noch oft im weiteren Gange der Untersuchung zu »rück-
läufiger« Reproduktion, auch glaubt insbesondere Herr Br. ein
weit größeres Quantum Zahlen unmittelbar behalten zu können,
wenn er zugleich die dargebotenen Reihen optisch vorgeführt be-
käme, — wir haben schon eingangs erwähnt, warum dieB nicht
geschah.
Gemeinsam war allen Vp. die beträchtliche Neigung zum Mit-
sprechen, obwohl sie nur teilweise realisiert wurde. Es schien
daher auf Grund der Beobachtungen bei der ersten Versuchsreihe
folgende Verteilung der Lerntypen unter den Vp. vorzuliegen:
a. Ak. = mot. = vis. Typ: Herr Dr. W.,
» Prof. M.,
> F.,
wobei die Reihenfolge die Annäherung bezeichnen soll an den :
b. Vis. = mot. = ak. Typ: Frl. S.,
Herr B.,
» Br.,
wobei die Reihenfolge die Entfernung vom akustischen Typ
bezeichnen soll.
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Ober einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 21
II. Versuchsreihe.
Diese Versuchsreihe prüft den Anfangszustand des Gedächtnisses
mit dem unmittelbaren Behalten von Buchstabenreihen.
Die äußere Form und Anordnung des Versuches war durchaus
dieselbe wie bei der Darbietung der Zahlen; bei den Buchstaben-
reihen waren nur ausgeschlossen
a. Vokal Verbindungen wie ei, au, eu usw.,
b. Konsonantenverbindungen wie st, 8p, seh usw.
Dem ungefähren Verhältnis zwischen der Zahl der Vokale und der
der Konsonanten im Alphabet entsprechend, war in den vor-
zusprechenden Bachstabenzeilen sorgfaltig darauf geachtet, daß nur
auf etwa 3 oder 4 Konsonanten ein Vokal kam, wodurch wohl
einzig vermieden werden konnte, daß die Buchstabenfolgen den
Charakter von Silben oder Wörtern bekamen; zugleich waren wir
aber auch bestrebt, die Schwierigkeiten des Erfassens nicht un-
nötigerweise noch dadurch zu häufen, daß wir etwa Serien dar-
boten wie diese: »e — b — w — d — c — g«, wo die Prävalenz des
>e-Klanges< das Behalten erschwert. Obgleich die Tabelle II die
Resultate der zweiten Versuchsreihe vollständig und Ubersichtlich
enthält, so sei doch einiges aus derselben hervorgehoben. Analog
deT kleinen Übersichtstafel auf S. 15 unten geben wir in folgendem
Schema an:
a. die Lage der Nullgrenzen,
b. die Stufe des erstmaligen Überschreitens von 50 % Fehlem,
c. desgleichen die Stufe des erstmaligen Überschreitens von
33V3 # Fehlern.
j
Lage
Erstmaliges Überschreiten
der
von
Nullgrenze
60 % Fehlern
331/3 % Fehlern
Herr B.
Buchstaben
11
Buchstaben
10 Buchstaben
Herr Br.
Ü
»
17
>
17
Herr F.
ö
>
8
>
7
Herr Prof. M.
9
>
14
>
13
Frl. S.
7
»
12
»
10
Herr Dr. W.
8
>
12
>
10
Mittelwert: 7,1« Buchstaben | 12,38 Buchstaben | 11,16 Buchstaben.
Da die Fehlerberechnung bei dieser Versuchsreihe dieselbe ge-
bbeben und der Stoff ein gleichartiger ist, dazu die Versuche kurz
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Ernst Ebert und E. Meumann,
Tabelle
II. Versuchsreihe: Unmittelbares
Herr B.
Aufzu-
fassendes
Buch- i
Btaben- I F.- J Bezeichnung der
quantum Zahl Fehler
Herr Br.
F.-
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
Herr F.
F.- Bezeichnung der
Zahlt Fehler
V
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
2/i
1
42«
6
0
0
u, ifa. o
VII. o
-IX*). ji
-III; VI, va Iii
VIII; IV, ^.
-UI,IV,V,VI;
VIII, IX.
Vp. empfindet, Zahlen
seien leichter zu merken,
weil weniger leicht zu ver-
wechseln, bieten mehr mne-
mutechn. Anhaltspunkte. —
Aufteilende Unlust stört
und hemmt in der Mitte,
wünscht Quantität vorher zu
erfahren. Im übrigen liehe
1. Versuchsreihe!
*! BeimBesinnen erscheint
du opt. Bild, doch mehrdeut.
2
2
5
8B/4
- V.
-V.
- V, VI.
— VI, XI.
-n,vtvi;i, iu.
— IV, v, vi.
XIÜ korrigiert.
-V,VI,VII,X,XI.
— V, VI, VIII;
\^I,jm;XI,XUI;
xrv, XV.
— IV, VII, X, XU,
XIII, XIV, XV
+ >p« nach
XVI; II, Vtll.
Herr Br. merkt den Anfang
rUuell, — nur den SchluU
auditiv. RQckl. Reprodakt.
Zahlen sind für Herrn Br.
weniger schwer zu behalten
gewesen. — Unlust kommt
etwa in der Mitte der Reihe
auf und latit einzelnes nicht
korrekt erfassen. —Wünscht
vorher genaue Bezeichn. der
Stoffmengen. Erst bei Dila-
tation besinnt man sich; —
vielleicht d. Peraeveranz.
(Übrig.: I. Versuchsreihe.)
Zuletzt große Ermüdung.
8>/4
0
3
4»/4
V, VI.
— Ii, rv, v*;.
-IV,V,VI; + n
nach VII. III
korrigiert
Herrn F.
»leichter« vor.
muß bekannt sein. Man be-
sinnt sich leichter auf Ver-
gessenes bei Dilatation.
Kein innerlich. Mitsprechen.
Du übrige aiehe I. Versuchs-
reihe. Ermüdung am Ende.
*) Optische Hilfen beim
Besinnen.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphiinomene usw. 23
IL
Behalten von Buchstaben.
Aufzu-
fangendes
Buch- i
staben- F.-
qoantura Zahl
Herr Prof. M.
Frl. S.
Bezeichnung der F.-
Fehler Zahl
Bezeichnung der F.-
Fehler Zahl
Herr Dr. W.
Bezeichnung der
Fehler
t r
V
o
VI
<>
VII
0
VIII
ii
0
0
0
34
I
I
VI, VIII.
I
ix !o
i;
23/4
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
\ *4U1,Y: IV,\'in; 32 4
IX. X.
-V.
ll
4 -V,VI,VII;+>r«
nach VIU.
5 -IV, VI, VII;
ffl- x
7« 4 —V, VI, VII, X, ''■'>
XI; III, XIII. ||
II korrigiert.
3*4
6'/4
Ii !
Herr Prof. M. fühlt «ich
von lOBuchstaben an in der
Mitt« der B«ibe »erwirrt, —
Segen Ende klarer. -Wissen
de« Quantums int forderlich.
Dilatieren d. Anfiel, verhilft
zum Besinnen. Siehe übri-
gens I.Versuchsreihe. Wenig
gute» Befinden — müde.
Frl. S. wird in der Mitt«
der Reihen Ton der ge-
botenen Buchstabenraenge
verwirrt. Die Menge des
Stoffe« darf nicht fremd sein.
Innerlich. Mitsprachen stört
— Vergessenes kommt viell.
durch Pereeveranz wieder.
Fühlt sich abgespannt durch
den Versuch. Siehe übriges
1. Versuchsreihe.
♦) »h. für »k« zuerst Dm
Auftauchen des opt Bildes
Terhilft
ö:
o
i
0
— v;vni;iv.ix. f 1
-IV, V; IX: 4
VU, VIII»
-VII. IX, X;
Ulfa VIII korr.
II ;-V, VII, VIII,
IX.XI. Illkorr.
-V.
Frage nach
Quant, vorher.)
-VI.
-VI, VII, VIII;
IX.
-V,VI,VII,VIII,
IX.
- IV, VII, VIII,
IX, X; II, XII.
Herr Dr. W. hat oft erat
mir das uptucbe alljretneitia
Bild, und dann erst klar das
Oesuchte.
Herr Dr. W. wird durch
aufkommende Unlust in der
Mitte gestört, bekommt dann
gegen Ende einen Antrieb,
wo fast unwillkürlich ge-
merkt wird. ZahUngabe vor-
her erforderlich. Übriges:
L Versuchsreihe.
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24
Ernst Ebert und E. Meumann,
nach denjenigen der ersten Reihe stattfanden, so erscheint ein Ver-
gleich der Ziffern in den Tabellen S. 15 und 21 nicht unangebracht.
Die Nnllgrenze liegt auch hier am niedrigsten bei den ungeübten
Vp., am höchsten wieder bei den beiden ältesten, aber geübtesten
also bei Herrn Prof. M. und Herrn Br., daneben bei Herrn Dr. W.
Sie findet sich auf genau derselben Stufe wie bei der ersten Ver-
suchsreihe bei Herrn F., Prof. M. und Frl. S., — sie ist um je
eine Stufe gestiegen bei Herrn Br. und Herrn Dr. W., dagegen
um eine Stufe gefallen bei Herrn B., welcher über den Grund
dieser Erscheinung spontan folgendes aussagt: »Es macht mir den
Eindruck, als seien die vorher gebotenen Zahlenreihen leichter zu
erfassen. Buchstaben haben keinen derart scharf umrissenen
Charakter wie Zahlen, die bestimmtesten wohl unter allen Be-
griffen. Buchstaben haben oft große Klangähnlichkeit, so daß man
bisweilen den Bruchteil einer Sekunde nütig hat, völlig klar Uber
den vernommenen Laut zu werden, wobei man in Gefahr gerät, das
Kommende zu überhören; endlich bieten Zahlenreihen nicht selten
Gelegenheiten zur Gruppierung zu Geschichtszahlen (1 — 4—9 — 2],
zu arithmetischen Reihen (11 — 7—3) u. dgl.« (Ähnlich äußerten
sich gelegentlich später Herr F. und Herr Br.). Ich lasse
es dahingestellt, inwieweit das, was hier Herr B. für seine Person
aussagte, allgemeine Gültigkeit hat; das — jedenfalls sehr große
Eile erheischende — Suchen nach »Geschichtszahlen usw.« wäre
übrigens eine Spezies von Mnemotechnik; wir werden später sehen,
daß Herr B. Mnemotechnik nach Poehlmann getrieben hatte, und
welche Erfahrung Herr B. betreffs der mnemotechnischen Kunst-
griffe an sich machte. Der Rückgang der Zahlen ist übrigens so
unbedeutend, daß er in den Wirkungsbereich der Schwankungen der
Aufmerksamkeit fallt; er ist zugleich dadurch wichtig, weil man aus
ihm sieht, daß durch den ersten Versuch] sozusagen noch keine
Übung eingetreten war.| Bei den übrigen Vp., besonders bei
Herrn Prof. M. und noch mehr bei Herrn Br., tritt eine Besserung
des Behaltens gegenüber der ersten Versuchsreihe hervor. Bei
Herrn Br. steigt die Nullgrenze um 1 Stufe (= 14,28)# ) , die
50 % F.-Grenze um 3 Stufen (= 21,43 #), die 33 y3 F.-Grenze gar
um 6 Stufen (= 54,54 #). Herr Br. wie Herr Dr. W. fühlen sich
»angeregt«, — also ist im vorliegenden Falle wohl das zum Teil
nicht unerhebliche Plus auf Rechnung des emotionellen Anregungs-
faktors zu setzen, wohl auch eine Komponente der »Übung«.
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Ober einige Grundfragen der Psychologie der Übnngsphänomeoe usw. 25
Nach Abzog der regressiven Effekte bei der zweiten Versuchsreibe
verbleiben im ganzen noch an progressiven:
a. betreffs der Nullgrenze = 1 Stufe,
b. > » 50# F.-Grenze = 3 Stufen,
c. » » 33*13 % » =5 Stufen.
Dieser wenn auch geringe Fortschritt ist offenbar auch der besseren
«Einstellung« der Geübten außer dem schon erwähnten »Anregnngs-
faktor« zuzuschreiben; eigentliche Übung kann er schon im Blick
auf die Zeitverhältnisse nicht genannt werden; auch das ist
wohl ausgeschlossen, daß der Stoff — die Buchstaben! — »leichter«
war: nach den Bemerkungen der Herren B., Br. und F. möchte
man eher geneigt sein, das Gegenteil anzunehmen. Wie im einzelnen
bei den sechs Vp. die Fehlerzahlen ansteigen, zeigt die Tabelle,
— wir weisen nur noch auf die Erscheinung hin, daß auch hier
bei Herrn Br. eine besondere Konstanz der Konzentration zu
finden ist; während Herr F. bei 7 Buchstaben die 33 V» % F.-Grenze
erreicht, kommt Herr Br. erst bei einer 23/? mal so langen Buch-
stabenreihe an die bezeichnete Grenze. (Vgl. Tabelle n).
Die Details der Tabelle belegen wieder auf jeder Zeile, wo
Fehler bezeichnet sind, das Auf- und Abwogen der Aufmerksam-
keit, — die »Schwächen« derselben treten abermals wieder in der
Mitte auf, das scheint untrennbar mit dem G.-Verfahren
verbunden zu sein. Aus den spontanen Äußerungen der Vp.
geht hervor, daß mit dem Sinken der Aufmerksamkeit in der
Mitte ein Gefühl der Verwirrung für kurze Zeit auftritt, das beim
Kommen des Schlusses normaler Klarheit weicht, — so bei Herrn
Prof. M. und Frl. S. ; Herr Br. und Herr Dr. W. bezeichnen dies
Gefühl als Unlust, die sich speziell bei Dr. W. um so stärker äußert,
je länger die dargebotene Reihe wird, und bewirkt, daß er das
weitere Zuhören ftr Momente als zwecklos völlig aufgibt, dennoch
aber »fast unwillkürlich« den Schluß der Buchstabenserien erfaßt.
Prägnanter als bei der ersten Versuchsreihe kam bei der zweiten
den schon dort genannten Vp. zum Bewußtsein, wie förderlich
die Kenntnis von der Länge der zu erfassenden Buchstabenreihe
war, — aus einer Notiz auf der vierten Zeile der Spalte für Herrn
Dr. W. geht hervor, daß das Wiederauftreten von 0- Fehlern
wahrscheinlich dem Wissen um die Zahl der Buchstaben zuzu-
schreiben ist.
Ebenso finden alle Vp. es unerläßlich, daß die Hemmung der
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Ernst Ebert und E. Meuraann,
andern Bewußtseinsinhalte eine möglichst vollständige ist, so daß
auch das innerliche Mitsprechen nach Kräften unterdrückt werden
muß. Auch hier findet sich die immer wieder auftretende spon-
tane Äußerung der Vp., daß »Vergessenes« regelmäßig erst wieder
in den Blickpunkt des Bewußtseins tritt, wenn die Besinnungs-
spannungen sich gelöst haben. Leider haben wir auch in der Folge
nie erfahren können, auf welche Weise das momentan Entfallene
wieder zitiert wird; Herr Prof. M. konnte nur angeben, daß das
Vergessene plötzlich da sei, während Herr Br. und Frl. S. vermuten,
daß dies scheinbar ursachlose Wiederauftauchen des Vergessenen
eine Wirkung der Perseveration sei, — das Vergessene käme
ja »frei« wieder. Wir werden uns später noch einmal mit den
Perseverationsersch einungen zu befassen haben.
Aus den sonstigen Aussagen der Vp. erscheinen uns beachtens-
wert die Angaben der Herren F. und B., sowie von Frl. S. und
Herrn Dr. W., daß bei etwas zögernder und unsicherer Repro-
duktion bisweilen das visuelle Bild des Gesuchten aufgetreten
sei, doch nicht prägnant und unzweideutig, sondern nur so,
daß z. B. beim Suchen des >k« zunächst etwa ein »t« oder »h«
in den Blickpunkt zu treten schien, worauf dann schnell die kor-
rekte Reproduktion erfolgte; beachtlich ist hier sicher, daß in dem
ursprünglich unbestimmten, verschwommenen Reproduktionsbild der
allgemeine optische Eindruck richtig ist, — in unserem Beispiel
sind »t« und »h« Schriftoberlängen, ebenso wie das gesuchte >k<;
es ist wohl unnötig, zu bemerken, das dieselbe Erscheinung auch
bei Ganzlängen (f, f), f) und Unterlängen (g, p, 3, j) auftrat und
daß sie auf visuelle Erfassungsanlage hindeutet Es kam dies
auch bei Herrn Dr. W. vor, der sich für einen ausgeprägt
akustischen Typus hält; er erscheint hier vielmehr als gemischter
Typus mit Prävalenz des akustischen Merkens. Herr Br. versuchte
von »10 Buchstaben« an folgenden Kunstgriff: er verband die
ersten 5 oder 6 Buchstaben zu einer Art sinnlosem Wort, dessen
Silben die Lautcharaktere der Buchstaben bildeten, — den Rest
der aufzufassenden Serie merkte er sich akustisch. Da aber das
akustisch Gemerkte zu schnellem Schwinden aus dem Bewußt-
sein bei ihm neigt, so reproduzierte er allemal zuerst das akustisch
Erfaßte, alsdann das optisch- mnemotechnisch erfaßte sinnlose
Wort, das ihm zum Wiederfinden des ersten Teiles der jeweiligen
Reihe verhalf, — freilich nach Ausweis der Fehlerrubrik nicht
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungfiphänomene usw. 27
immer sicher. Dieselbe Vp. glaubt Überdies nicht unwesentlich
dadurch unterstutzt worden zu sein, daß sie das Vorgesprochene
schnell mit den Fingern auf den Tisch schrieb, um so durch Zu-
hilfenahme des visuellen und kinästhetischen Sinneseindruckes die
Erfassung zu erleichtern, — wir erinnern uns, daß Herr Br. schon
während der ersten Versuchsreihe den visuellen Eindruck lebhaft
vermißt hatte. Man beachte, daß Herr ßr. überhaupt diejenige
Vp. war, welche einzig sich frei von hemmenden Spannungen auch
bei diesen Versuchen weiß; die Übrigen Vp. haben offenbar gemeint,
auch die Betätigung des kinästhetischen Sinnes »Bpalte« die Kon-
zentration auf den auditiven Eindruck.
m. Versuchsreihe-
Von den beiden vorigen Versuchsreihen unterschied sich diese
durch das dargebotene Material. Es bestand dies aus den Ebbing-
haus-Müllerschen Silben, bei deren Verwendung sich abermals
herausstellte, daß auch sie noch keinen in jeder Hinsicht einwand-
freien, »neutralen« Lernstoff darstellen. Bei dem Anhören der Silben
schließen einige Vp. diese zu meist zweisilbigen Wortcharakteren
zusammen, die teils das Behalten erleichtern, teils erschweren;
ersteres tun sie, wenn die Anfangssilbe aufmerksam erfaßt ist1);
fallt dieses dominierende Element aus, so wird die Erinnerung an
die folgende Silbe in der Regel mit ausgelöscht, — siehe die be-
treffenden Protokollnotizen in der III. Versuchsreihe! Diese sich
gleichsam aufdrängenden Wortcharaktere machen das Silben-
material ungleich schwierig, — dies stellt sich besonders während
der nächsten Versuchswochen heraus, als die einseitige Übung
an 64 mal 12 silbigen Reihen vorgenommen wurde. Wer erwartet,
daß z. B. folgende Deutungen in der Schnelligkeit der einmaligen
Darbietung vorgenommen werden würden:
dim — bei = »Tümpel« (Wasserlache),
resch — meun = >Dr. W., Prof. M.«,
faz — ken = »Fatzken« (norddeutsches Schimpfwort)
usf.? Bei Berechnung der Fehler nötigte uns der Aufbau der
Silben aus Konsonant, Vokal und Konsonant zu den bereits
1) Siehe die Protokollangaben bei Herrn B., Herrn F., Herrn Dr. W.,
Frl. S.
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28
Ernst Ebert und E. Meumann,
Tabelle
III. Versuchsreihe: Unmittelbares
Aufzu-
fassendes
Silben-
Qti&n toni
F.-
Zahl
IV
v
VI
0
VII
3>/8
vm
IX
X
XI
1
1
Herr B.
Bezeichnung der
Fehler
IV, V; VI* .
Tempo erscheint zu
nach. Herr B. ver-
sucht Sinn »einzu-
hauchen«.
TV, V, VI; im.
(diH-bel-TOmpel.)
Reproduktion ruck-
lange Hesin-
TV,V,VI. Iii,
III> , Vlllr k .
Vokale nicht so
wichtig.
Silben ichließen sich meist
zu zweisilbiges Worteharak-
ten fordernd oder hemmend ;
ersterea, wenn die Anfangs
silbe »gut« erfaßt ist.
Herr B. merkt auosiatir,
um die Silben möglichst
zusammenzuschweißen ; je
besser dies gelingt, de*u>
sicherer erfolgt die Wieder-
gabe. Silben erscheinen
weniger »bequem« zn mer-
ken, die Erfassg. ist weniger
leicht, fast irregulär. Unlust
kommt auf u. hemmt. Keines
»fassen nach auditirem
Zah^
, 4/a
Herr Br.
Herr F.
F.- Bezeichnung der F
Fehler
Zahl
•■3
43/3
m^, iv- ^.
Herr Br. wünscht
langsamere
Darbietung.
in, iv,v,vn;
n» vnii .
Silbea erscheinen schwie-
riger zu merken ; die sprach-
Zeit nnd Möbe.
Die Ermüdung macht sich
Rückläufige Reproduktion
in reichlichen F&llen, — auf-
fallig langes Besinnen mög-
lich. Stelle in der Serie ge-
nauer bekannt.
Bezeichnung der
Fehler
0
s/8 n»,v»
IV" i».
Zusuraroenschlnn der Sil-
ben wie bei Herrn B. mit
gleicher Doppel Wirkung.
Herrn F. kommt das Dar-
bieten in »/« Sekunden-Inter-
vor, — Silben danken ihn
überhaupt »schwer« zu mer-
flott erfaßt Ausgesprochen
akustisch merkend infolge
Myopie.
Im übrigen sehe man die weiter geltenden
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 29
flL
Behalten von sinnlosen Silben.
Aufzu- '
Herr Prof. M.
Frl. S.
Herr Dr. W.
Silben-
F.-
Bezeichnung der
F.-
Bezeichnung der
F-
Bezeichnung der
quantum j
r einer
7ii,i
Aam
r enier
/j<tni
r wuier
!
IV
0
0
0
IT
V
0
y)
VI
0
1)
Vs
n»;-
resch-moaa
1
(NVrr.-Möumann.)
vu
1
— V,VI; Vit» .
l1 ■«
-IV; V»
3 9
IU» , IV» , VU)» .
VIII
— Vl.VUjVUIvh.
•> s .,
- VI, VII; HP',
»3D
-IV,V,VI;II»b,
Vlü.
IUI.
Frl. S. fragt, ob diu
Geschwindigkeit
zugenommen bat.
IX
2
— VI, VIII.
& :»
ITT tTT lFTl Tl..
— IVAI/V II; Iii,
-III, VI; VU.
i
HI» .
V Hl, IX ; V». .
A
4Vs
-IV, V, VI, VII;
5
- 1V,V,VI,VUI,
vnih .
IX.
fai-keu (FaUken!)
VT
+ nef nach III.
-V. VI. VII; H,
— VI. VII. VIII,
X; mii.
IX; X±±
Herr Prof. M. irUuM, etwas
I»i
e Silb-n bilden aller
> oder :i Silben srhlieUeu
Zeit
zu \erlieren mit der
meist iwci-, selten drei-
-ich
zu Ganzen zusammen
sprachlichen Auffassung der
| Kilbi
ge Wortgame, du»
mit Uoppelwirkung. —
fremdartig er»cheiDenden
sebä
dlieh wirken, wenu die
Nichtmerkenkönnen bereit.
Silbco; ist, als erschienen
Initialsilbe Mrj^t'^Bi ti ist.
störend» Unlust. Findet
»Silben« schwierig in mer-
.Silleiiraerkeu scheint mehr
Vokal 2uer?t bei zögernder
ken.
Schnelles Vergessen,
Mühe iu mithon, — da-> vr-
Koproduktion; motorisches
— leichte Ablenkung durch
drie
LH etwas und stört da-
He-iauen reproduziert die
»cheinbar uabcdenHndeGo.
durcb.Zur Hälfte rückläufig
Konsonanten. — Dio Reihen-
ch». Angestrengte Hom-
Reproduktion,— lange B.--
; folge bleibt dieselbe..
* •
mnng altea übrigen Bewußt-
sintiUDtf. »Stelle« he.-teu-i
sein
einhalte* erscheint ganr.
bekannt. Vekuli« deiiiiuierei]
nftti*.
nirht i^rade.
Notizen der ersten zwei Versuchsreihen an!
30
Ernst Ebert und E. Menmann,
erwähnten Schätzungen der Fehler noch > Drittelfeh ler« hin-
zuzutun
In Analogie zu den kurzen Übersichten, welche die Null- und
oberen Fehlergrenzen bei den ersten zwei Versuchsreihen dartun,
fassen wir im folgenden auch diejenigen der dritten Versuchsreihe
zusammen, wiederholen aber zum schnelleren Vergleich in den
Nebenspalten die Resultate der ersten beiden Versuchsreihen
(Z. = Zahlen, ß. = Buchstaben).
Laxe
Erstmaliges
Überschreiten
(1»T
von
Nullsrenzi?
öO "» Fehlem
W/i Fehlern
Z.
B.
«■
!
Z
n.
Herr Ii.
ö Silben
7
ü
S Silben
11
11
<> Silben
10
10
Herr Br.
ö »
<
8
H
14
17
i L
11
17
Herr F.
7
ö
t;
s>
8
*i >
8
7
Herr Prof. AI.
Ii
n
i»
H
12
ll'
11
13
Frl. S.
«
7
7
11
i:i
12
s
12
10
Herr Dr. W.
5
7
i
8
12
12
s
10
,0
Mittelwert :
5.1« Silin n
8.83 Silben
i 7.0« Silben
Das augenfälligste Merkmal dieser Resultatliste ist der Rückgang
aller Grenzziffern, — extrem zu sehen bei Herrn Br., Herrn Prof. M.,
Herrn Dr. W. bei der Lage der Nullgrenze; bei Herrn Br. geht
sodann die Lage beider Fehlergrenzen um mehr als die Hälfte
zurück.
Die Ursache dieser Erscheinung ist hauptsächlich in der
größeren Schwierigkeit des Stoffes zu suchen, sekundär kann eine
geringe Ermüdung mitgewirkt haben, da die Vp. die Silbenreihen
unmittelbar nach den Buchstaben- und Zahlenversuchen zu merken
hatten. Die Aussagen der Vp. (Herr B., Herr F., Herr Br., Frl. S.)
bestätigen dies, und so ergab denn auch die Probe beim zweiten und
dritten »Querschnitt« ohne Ausnahme mindere Resultatziffern als die
bei Zahlen und Buchstaben. Letztere beiden Stoffkategorien bieten
der Perzeption und Apperzeption keinerlei Schwierigkeiten; unter
den Teiltätigkeiten der Aufmerksamkeit kommt nur die Fixation
1) In der Fehlerrubrik der Tabelle bedeutet z. B.
HI^ = falscher Anfangskonsonant der 3. Silbe,
IV m h = falscher Mittelvokal und Endkonsonant der 4. Silbe, usw.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungephänomene usw. 31
dabei in Frage. Anders bei den sinnlosen Silben! Hier tritt in
rasehem Tempo (3/4 Sekunden) eine durchaus neu- und fremd-
artige Silbe auf, beschäftigt den Bruchteil einer Sekunde die Auf-
merksamkeit mit ihrem sprachlichen Bau — siehe Protokoll-
notiz bei Herrn B., Herrn F., Frl. S. und Herrn Prof. M. ! — , unter-
dessen ist aber schon der nächste »Reiz« an die akustische Be-
wußtseinspforte herangetreten, der abermals kleine Apperzeptions-
nnd Fixationsschwierigkeiten bringt. Die nächste Folge davon ist
»irreguläres Erfassen« — siehe Protokollnotiz bei Herrn B.! —
und vorwiegend bei ungeübten Personen leistungsmindernde Unlust
(Herr F., Herr B., aber auch Frl. S., Herr Dr. W.).
Da auf keiner Stufe Fehler von allen Vp. gemacht wurden,
so unterlassen wir es, die Verteilung der Fehler und damit das
Verhalten der Aufmerksamkeit beim Silbenmerkeu schematisch zu
kennzeichnen, wie S. 17.
Die Protokollnotizen verstärken durchgängig das bereits bei
Versuchsreihe I und II konstatierte Selbstbeobachtungsmaterial, —
hier seien nur als neuartige Momente in den Aussagen der Vp.
folgende vier herausgehoben:
Herr B. nimmt wahr, daß er um so sicherer und leichter vor-
gesprochene Silben reproduzieren kann, je besser es ihm gelingt,
»ihnen Sinn einzuhauchen« — wie er sich ausdruckt — und sie
so zn größeren Einheiten von teilweise sinnvollem Charakter
assoziativ »zusammenzuschweißen«. Vom Versuchsleiter darauf
aufmerksam gemacht, daß dieses Verfahren nicht im Sinn unserer
Untersuchung läge, wendet er ein, daß es ihm »absolut unmöglich«
sei, rein mechanisch, auf den bloßen auditiven Reiz hin einige
Silben zu erfassen.
In den Aussagen des Herrn F. findet sich die Notiz, daß er
vorwiegend nur auf die Klangbilder des Dargebotenen sich ver-
läßt; er glaubt durch seine fortgeschrittene Myopie vor allem auf
sein Ohr angewiesen zu sein, hält sogar die Entwicklung des
visuellen, beziehentlich auditiven Typus für abhängig von der Seh-
schärfe.
Herrn Dr. W. fällt auf, daß er beim unsicheren Reproduzieren
regelmäßig zuerst den Vokal der wiederzugebenden Silbe findet
und sich dann erst — wie er glaubt — auf dem Wege »motorischer
Bahnung« die Konsonanten in die Erinnerung zurückruft; freilich
ist dies selten möglich nach einer Besinnung von mehr als
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82
Ernat Ebert und E. Meumann.
30 Sekunden. In der Tat zeigt der Stellennachweis der Fehler bei
Herrn Dr. W., daß er in keinem Fall den in der Mitte gelegenen
Vokal zu behalten verabsäumte, sobald er überhaupt ein Residuum
des Dargebotenen im Bewußtsein besaß. Die Reihenfolge der
Silben war dabei immer genau dieselbe wie beim Vorsprechen.
Anders war dies bei den Herren B., Br. und Frl. S. Sie re-
produzierten wohl in der Hälfte aller Fälle die Silben in einer teils
vorwärts, teils rückwärts gerichteten Sukzession, »besannen sich«
merkwürdig lange und kannten stets genau die Stelle einer Silbe
in der Serie; es kam vor, daß sie konsonantische Residuen der
Silben besaßen auf Grund visuellen Vorstellens; der Vokal schien
bei ihnen nicht in dem Grade zu dominieren, wie bei Hern Dr. W.
Die nun folgenden vier Versuchsreihen wurden während der
Aufnahme des ersten Querschnittes nur mit zwei Vp. ausgeführt,
doch nahmen die übrigen Vp. wenigstens beim U. und HI. Quer-
schnitt an den Versuchen mit einsilbigen Substantiven teil.
In der vierten Versuchsreihe wurde das unmittelbare liehalten
an einsilbigen Substantiven geprüft, wobei Abstrakta und Konkreta
unter denselben Verhältnissen dargeboten wurden, wie bei Ver-
suchsreihe II Konsonanten und Vokale; da es einsilbige Sub-
stantiva waren, konnten wir das bisher festgehaltene Sprechtempo
auch hier zur Anwendung bringen. Diese Experimente folgten
wieder möglichst bald den früheren, damit sie bei möglichst gleichem
Gedächtniszustand der Vp. aufgenommen werden konnten.
Wie bei den vorangegangenen Versuchen stellen wir die drei
Grenzwerte Ubersichtlich zusammen, wie folgt:
IV. Versuchsreihe.
Lage Erstmaliges Überschreiten
der von
Nollgrenze 50 * Fehlern 1 33 1/3* Fehlern
Mittelwort:
Herr Prof. M. 7 Wörter
Herr Dr. W. 6 >
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 33
Ein Vergleich dieser Resultatziffern mit denjenigen in dem kleinen
Schema anf Seite 30 zeigt, wie die Zahlen wieder steigen, wenn
auch nur um je eine Stufe hei der Nullgrenze — gleich 16,66 %
bei Herrn Prof. M. und 20 % hei Herrn Dr. W. Dagegen steigt
bei Herrn Prof. M. die Grenze für 50 X Fehler von 11 auf 15 —
also um 36,27 #! — , bei Herrn Dr. W. von 9 auf 12 — also um
33,33 Es ist also schon eine gewisse Übung im unmittelbaren
Behalten eingetreten, die freilich noch nicht entfernt an die
des zweiten Querschnitts heranreicht.
Tabelle IV.
IV. Versuchsreihe: Unmittelbares Behalten einsilbiger Substan-
tiva ohne logische Verbindung.
Aufzu-
fassende
Wort-
zahl
Herr Prof. M.
Herr Dr. W.
F.-
Zahl
Bezeichnung der Fehler
F.-
Zahl
Bezeichnung der Fehler
V ;
; o
0
VI
i 0
0
VII
! o
Vd
VI korrigiert.
VIII
i
-V.
22/4
-Ii, V; rv,fai.
IX
2*4
III; - VI; VII, fall.
4
-HI. IV, V, VIIL
X
23/«
-II, HI; VII, IX.
3
-IV, V, VI.
XI
23/4
-IV, VIII; II, \.
6
ii; -v, vi, vn, vm.
XII
XIII
XIV
XV
5t/4
4
5
7V4
II; -V. VI, VII, X.
XI korrigiert*
-V, VI, VII, VIIL
-II, III, IX, XI, XII.
-I. II, III, IV, V, VI, XU;
x, iiv.
63/«
X;I,m;-IV, V, VI, VII,
VIH.
Bein mechanisch» Merken, — Sinn uater-
stfttxt fast nicht Müdigkeit macht «ich
bemerkbar, Hemmung alles übrigen Be-
wußtseinsinhaltes noch weit nötiger als
bisher. Stoff regt an. Bei der S. Wörter-
reihe reproduziert das endlich gefundene
«. anch das gesuchte 7. u. S. Wort (Zahl —
Spott, Eis), ein Zeichen auch ungewollter
Association.
[ Herr Dr. W. meint nur akustisch in merken.
• Sinn hilft fast nicht, wirkt eher düaü.rend,
1 distribuierend. Schwaches Lustgefühl über
neuen sinnTolleren Stoff. Sich aufdringende
' sinnvolle Verknüpfungen werden zurück-
' gewieeen, — dennoch treten sie häutig
auf; iweimal bewirkt das Kennen des einen
Wortes praxise Reproduktion des andern
gesuchten.
Im übrigen gelten die bisherigen Wahrnehmungen.
*MiT für Psychologie. IV. 3
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34
Ernst Ebert und E. Meuinanu,
Der »Sinn« der einsilbigen Substantiva bat nacb den im Proto-
koll verzeichneten Aussagen kaum merklich gefördert, vielleicht
eher gehemmt, insofern er die Aufmerksamkeit zwar intensiver auf sich
lenkte, sie aber kaleidoskopisch in stets andere Kategorien »warf«
und so eine stärkere Hemmung anderer Bewußtseinsinhalte nötig
machte als bisher. Eher förderlich waren den Vp. emotionelle
Hilfen, welche ausgelöst wurden durch ein schwaches Lustgefühl,
bedingt durch die weniger Unlust erregende Materie; diese Be-
obachtung machten späterhin auch die andern Vp. an sich bei
der entsprechenden Wiederholung dieser Versuchsreihe. — Die
übrigen zu Protokoll gegebenen Aussagen der Vp. bestätigten nur
die Wahrnehmungen bei den vorangeschickten Versuchen ; speziell
bemerkenswert ist hier wohl nur die Tatsache, daß trotz der
Schnelligkeit der Darbietung und des ausdrücklich gewollten Zurtick-
weisens von möglicherweise auftauchenden Beziehungen der Wörter
zueinander solche doch derart enstehen, daß die Reproduktions-
möglichkeit des zweiten Wortes von der des ersten abhängt. So
besann sich Herr Prof. M. bei der Darbietung von acht Wörtern
auf das 7. und 8. Wort (»Spott«, »Eis«), als er das 6. (»Zahl«)
gefunden hatte; häufiger waren derartige Fälle bei Herrn Dr. W., der
bei den letzten beiden Reproduktionsverzögerungen direkt wünschte :
»Sagen Sie mir das 5. (8.) Wort — »Lied« (»Fall«) — , so weiß
ich das 6. (9.) gewiß«; bei Hemmung der gewünschten Wörter
erfolgte prompt die Wiedergabe der darauf folgenden Wörter
»Raum« (»Strich«).
V. Versuchsreihe.
Für diese Versuchsreihe bildeten deutsch-italienische Vokabeln
das Versuchsmaterial. Der Unterschied in den Ergebnisziffern,
welcher beim ersten Blick auf die hierher gehörige Tabelle auffällt,
erklärt sich durch das doppelte Verfahren, welches bei Ausführung
dieser Experimente verfolgt wurde; Herr Prof. M. gab nämlich alles
ihm Vorgesprochene wieder, sowohl das deutsche, als auch das zu-
gehörige italienische Wort, — Herr Dr. W. dagegen ließ sich das
deutsche Wort noch einmal vorsprechen und hatte nur ergänzend
das italienische hinzuzufügen. Da beiden Herren die italienische
Sprache nicht nur von ihrer Kenntnis der lateinischen her bekannt
war, so mußte besonders kritisch eine Auslese geeigneter Vokabeln
vorgenommen werden. Beim Blick auf die Tabelle wolle man nicht
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übnngsphänomene usw. 35
vergessen, daß die römischen Ziffern der ersten Rubrik, links also,
Vokabelpaare bedeuten. Im unten folgenden Schema haben wir
aber des Vergleichs halber die nachzusprechende Wortzahl angegeben.
Da diese V. Versuchsreihe speziell Interesse gewinnen dürfte, wenn
man ihre Hauptziffern mit denen der IV. zusammenhält, so gebe
ich in nachstehender schematischen Übersicht dazu Gelegenheit:
Lage
Erstmaliges Überschreiten '
der Nullgrenze
von
50 % Fehlern
331/3 % Fehl.
Herr Prof. M.
«Wörter
7
10 Wörter
,6
8 Wörter
12
Herr Dr. W. ,j 4 »
6
_8 »
12
7 »
9
Mittelwert:
5 Wörter
Ii
9 Wörter
I
7,5 Wörter
\
\
Nur deutsche einsilbige Substantiva.
Nach dem allgemeinen »Aufschwung« bei der IV. Versuchsreihe
ist also die Signatur der V. Reihe ebenso ausnahmsloser »Rückgang«,
welcher sich in Prozentziffern so darstellt:
A) Bei Herrn Prof. M. geht
a. die Nullgrenze zurück von 7 auf 6 = 14,28 % ,
b. » 50 # F.-Grenze » » 15 » 10= 33,33
c. > 331/3 # » » » 12 » 8 = 33,33 #.
B) Bei Herrn Dr. W. geht
a. die Nullgrenze zurück von 6 auf 4 = 33,33 % ,
b. » 50 # F.-Grenze » » 12 » 8 = 33,33 #,
| c. » 331/3 # » » 9 » 7 22,22
Ein so gleichmäßig prozentualer Abfall wie in den obigen Ver-
suchen ist bemerkenswert. Noch auffälliger als der fast 8 % be-
tragende Mehr-Rückgang der Grenzwerte bei Herrn Dr. W. ist die
absolute Minderleistung. Sie beträgt betreffs der Nullgrenze:
33,33 betreffs der 50 % F.-Grenze: 20 betreffs der 33» 3 %
F.-Grenze: 12,5 %. Spontan zu Protokoll gegebene Aussagen, wie
die, daß sich Herr Dr. W. nicht erheblich ermüdet fühlt, ließen im
Verein mit den sonstigen Gedächtnisleistungcn deB Herrn Dr. W. und
seinem geringeren Alter wohl eher einen Fortschritt in den Resul-
taten vermuten. Die Ursache des verschiedenen Ausfalls der Re-
sultate liegt — abgesehen von der bei Herrn Dr. W. auftretenden
Unlust — in dem Verfahren der Darbietung. Bei Herrn Prof. M. kam
3*
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36
Ernst Ebert und E. Mcumann,
das G.-Verfahren, bei Herrn Dr. W. eine Art Trefferverfahren zur
Anwendung. Es macht sich nun hier der auch sonst zu konsta-
tierende Vorzug des G.-Verfahrens geltend, daß es eine auf größte
Konzentration zielende Einstellung der Aufmerksamkeit bewirkt.
Auch als wir später beim siebenten und achten Turnus der Ein-
übungSYersuche einmal beiläufig den Gang der Aufmerksamkeit nach
der Treffer-Methode prüften, ergab sich der für die Konzentration
ungünstige Effekt dieser Methode. Herr Prof. M. wurde im vor-
liegenden Falle, bildlich gesprochen, durch die mit dem G.-Ver-
fahren anscheinend stets auftretende »Welle« höchster Konzen-
tration trotz seiner merklichen Ermüdung um so viel »gehoben«, als
die zuletzt hervorgehobenen Prozentsätze betragen. Wahrschein-
lich bewirkte auch die Fremdartigkeit der sprachlichen Eindrücke
den Rückgang sämtlicher Resultatziffern.
Tabelle V.
V. Versuchsreihe: Unmittelb. Behalten von deutsch-ital. Vokabeln.
Zahl
der
Vok.-
F.-
Paare
Zahl
III
0
IV
3
V
6
VI
VII
VIII
IX
X
XI
Herr Prof. M.
Bezeichnung der Fehler
Herr Dr. W.
F.-
Zahl
Bezeichnung der Fehler
— III, deutsch u. ital.
-IV, ital.
— IV, V, deutsch u. ital.
— II, III, ital.
0
0
1%
4*4
-IV.
Von I u. V je einer der
sechs Buchst, fehlend.
Von II u. VI je einer der
sechs Buchst fehlend.
— II, III; IV total falsch!)
(Herr Dr. W. wird ungeduldig.)
- 1, Ii, in, iv; vi, vn.
Mittelwerte:
a) Nullgrenze:
b) 33i/3 % F -Grenze:
!
Wörter,
»
G.. Verfahren.
Wenig Kenntnis
I' Italienischen.
Du Erfassen (Fixieren usw.) fallt
Prof. M. schwer, — Laote tu
MudigkeitseropfiudunK.
Im übrigen gelten die
Trefferrerfahren. Sprache Ton
Reisen her ziemlich bekannt Viel Fixation
nötig rar Erfassung der Fremdlaute, —
scheint Aufmerksamkeit zu spalten.
Fühlt sich normal, — durchaus nicht m ü d e.
Protokollaussagen ron Reihe I-IY.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungephänomene usw. 37
VI. Versuchsreihe.
In dieser Versachsreihe wurde das unmittelbare Behalten von
Gedichtstrophen, also rhythmisch und sinnvoll verbundenem Wort-
m&terial, geprüft Die Strophen nahmen wir aus Schillers »Zer-
störung von Troja«. (In der folgenden VII. Versuchsreihe kam
als Stoff »ungebundene« Redeweise zur Anwendung, nämlich leich-
tere Stellen aus Lockes »Versuch Uber den menschlichen Verstand«,
Übersetzung von Kirchmann). Die Fehler wurden bei diesem Ma-
terial nicht mehr nach Kategorien zahlenmäßig gewertet, sondern
eine direkte Bezeichnung derselben eingeführt. Die Hauptwerte
sind ja hier die Null-Grenzziffern, deren Lage die in Rede stehenden
sechs Tabellen übersichtlich zeigen.
Unter Wiederholung der hierbei besonders interessierenden Null-
Grenzziffern der IV. Versuchsreihe stellen wir diejenigen der VI.
mit denen der
VII. Versuchsreihe
des Ubersichtlicheren Vergleichs wegen zusammen:
Die Nullgrenzen liegen
ftir
i.d.VI.Vero.-Reihe
bei (Poesie)
i.d.VU.Vers.-Reihe
bei (Prosa)
i.d.IV.Vers.-Reihe
bei {Wortreihen)
Herrn Prof. M.
18 Worten
22 Worten
7 Worten
Herrn Dr. W.
12 .
12 »
6
Der Vergleich der beiden ersten Spalten mit der dritten ergibt
augenfällig die leichtere Einprägung sinnvollen Materials, gleichviel,
ob dasselbe an Reime und Rhythmen gebunden ist oder nicht (vgl.
auch Versuch IV).
Ein Vergleich der Zahlen der VI. und VII. Versuchsreihe lehrt,
daß sich Prosaworte leichter einprägen als poetische, — eine Tat-
sache, die die Vp. selbst überraschte, die übrigens bis zum Schloß
der Untersuchung zu beobachten war, obgleich beide Vp. von sich
aussagten, daß ihnen der Wohllaut der Sprache Schillers angenehm
sei. Bei Herrn Dr. W. blieben denn auch die Ziffern ftir beide Stoffe
gleich, — bei Herrn Prof. M. steigen sie von 18 auf 22, das gibt
38
Emst Ebert und E. Meumann,
Tabelle VI.
VI. Versuchsreihe: Unmittelbares Behalten von Gedichtworten.
Zahl der
Wörter
des
Gedichts
Ii
Herr Prof. M.
a) »Merken« statt
> Ahnung«.
b) Für »steigt« : »stieg«.
»So viel Elend« statt
»Leiden«.
a) Statt »Bande«: »Band«.
b) » »spricht« .»sprach«.
a) Statt »Pelasger«: »be-
lastet«.
b; Statt »himmelan«:
»himmelwärts«.
c) 7 Schlußworte fehlen.
Herr Dr. W.
Bezeichnung der Fehler
»verändert« fllr »vollen-
det«.
aj »Roß von Kistenholz«
für »E. v. Fichtenholz«.
b) »wild« für »empört«.
Es fehlt: »aus dem Volk«.
a) »die staunendeMitte«
für »desHeeresMitte«.
b; »drängt« für »dringt«.
c; »stürmischer« für »un-
gestümer«.
»in ihn« für »ihm Trost«.
Nur die ersten 6 Worte
richtig.
Mittlere Lage der Nullgrenze für beide Vp.: 15 Wörter.
Herr Dr. W. findet den SnUbt* mit-
unter »g«wi-hr»ubt«, — doch iit er sehr
«ingenommen für Schiller»che Dichtung
Herr Prof. M,
dem Uthetiichen Eindruck der 8trophen, —
seltenestilutieche Wendungen Oberreechen
ihn aber and scheinen hinderlich für
and Wiedergabe.
Im übrigen: Innerei and iuOere« Verhatten wie bisher.
I
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 39
Tabelle VII.
VII. Versuchsreihe: Unmittelbares Behalten von philos. Prosa.
Herr Prof. M.
F.-
Zahl
Bezeichnung der Fehler
0
0
0
Zu »Vorstellungen« hinzu-
gefügt »angeborenen«.
a) »eingehende« für
»solch e«Untersuchung.
b) »weiter« fehlt.
c; »entsprechen« für »als
entspr. gelten«.
a) »kann man sicher sein«
für »ist man s.«.
b: »zu bewirken« für »her-
vorzubringen«.
Herr Dr. W.
F.-
Zahl
Bezeichnung der Fehler
»welche« für »die«.
Fehlt, »von welcher ihre
Eigenschaften abhängen«.
aj Fehlt: »zu bestehen«,
b »der Anfang des Le-
bens« ftir »das Leben«.
»versehen« für »behaftet«.
»einer Vorst« flir »vou
Vorstellungen«.
a? »eingehende« für
»solche« Unters,
b Fehlt: »ich gehe n. weit.
darauf ein, sondern«,
c) »entsprechen« für »als
entspr. gelten«.
Mittlere Lage der Nullgrenze für beide Vp.: 17 Wörter.
Innere« and lußor«* Verhalten du Befinden wie bisher, — einige Ungeduld
bisherige, — doch immer stärkere Ab-
spannung merklich.
I! Zahl de* Gemerkten überrascht die Vp.
spürbar.
Die Vp. hatte nicht geglaubt, daß sich
.unmittelbar« so viel behalten 110t
40
Ernst Ebert und E. Meumaiin,
22,22 % zugunsten der philosophischen Prosa. Die Ursache hier-
für dürfte in zwei Faktoren zn suchen sein: erstens nötigen
Rhythmus und Reim einer Dichtung zu ungewöhnlichem, nicht
selten gezwungenem syntaktischen Aufbau, zweitens war die philo-
sophische Terminologie den beiden Dozenten für Philosophie ge-
läufiger.
In mancher Hinsicht psychologisch interessant sind die Fehler-
qualitäten, welche bei beiden Versuchsreihen vorkamen. Die eine
derselben möchten wir das assimilierende Hören nennen; das
Protokoll der VI. Versuchsreihe weist eine Reihe von Beispielen
auf: so hört Herr Dr. W. bei der Schilderung des trojanischen
RoBses trotz artikuliertestem Lautvorsprechen »dies Roß von Kisten-
holz« für »d. R. v. Fichtenholz«, — Herr Prof. M. glaubt gehört zn
haben »belastet im Betrügen«, als Sinon bezeichnet wird als »Pe-
lasger im Betrügen«; bei tachistoskopischen Versuchen tritt be-
kanntlich in ähnlicher Weise assimilierendes Lesen auf. — Eine
andere Gruppe von Fehlern ist korrigierender Natur: z. B. in der
VH. Versuchsreihe das Einsetzen des Relativums »welche« für »die«,
— beide Vp. geben die umständliche Wendung »als entsprechende
gelten« richtig, aber einfacher wieder durch »entsprechen«. — Noch
auf eine dritte Spezies von Fehlern sei hingewiesen ; es sind solche
wie »versehen« statt »behaftet« — »Elend« statt »Leiden« —
»himmelwärts« statt »himmelan«, — siehe VH. und VI. Versuchsreihe
unter »Fehlerbezeichnung«. Fehler dieser Art, Einsetzung synonymer
Ausdrücke, sind gleich den »korrigierenden« Fehlern anders zu be-
werten, als etwa das Weglassen der letzten 18 von 24 dargebotenen
Worten, das sinnentstellende Hinzufügen von Ausdrücken1) usf.
Mit der Aufnahme vorstehender sieben Stichproben für das
unmittelbare Behalten betrachteten wir den ersten Hauptteil
der Prüfung des Ausgangszustandes des Gedächtnisses unserer
Vp. als abgeschlossen und wandten uns der Untersuchung des
dauernden Behaltens zu. Es war natürlich nicht zu ver-
meiden, daß sich nun bei diesen bloßen Vorversuchen, die noch
möglichst das ungeübte Gedächtnis der einzelnen Vp. be-
stimmen sollten, schon eine gewisse Übung einstellte. Man ver-
folge z. B. die Resultate der VIII. und X. Reihe! Die Prüfung
1) z. B.: »die staunende Mitte« für »des Heeres Mitte«;
oder: »in ihn« fttr »ihm Trost«. (Siehe VI. Versuchsreihe.)
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 41
T » ~ s 3 > >
II -
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42
Ernst Ebert und E. Menmann.
wurde von selbst zugleich zum Übenden Moment, und der mehrer-
wähnte Querschnitt zu Anfang, in der Mitte und am Ende unserer
Untersuchung ist eher als »Schrägschnitt« zu bezeichnen. Bei allen
diesen Vorprüfungen des dauernden Behaltens kam das G.-Ver-
fahren zur Anwendung.
Der Schieber S kann hinter dem Holzschirm so verschoben werden , daß je
eines der Diaphragmen bei d geöffnet wird.
VIII. Versuchsreihe.
Zweck dieser Versuchsreihe war, das Lernen und Behalten von
sinnlosen Silben bei unsern Vp. zu prüfen, damit wir auch
für eigentliches Lernen und dauerndes Behalten die Wirkung der
Gedächtnisübung feststellen konnten. Die Vp. hatten vier Silben-
reihen — je zehn, zwölf, vierzehn und sechzehn Silben ent-
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 43
haltend — zu lernen, die nach 24 Stunden wiedererlernt wurden.
Das Verfahren war das von G. E. Müller, in der von Pent-
sc he w mitgeteilten, im Züricher Laboratorium ausgebildeten
Modifikation (vgl. Archiv für die gesammte Psychologie Bd. I,
Heft 4, S. 424 und nebenstehende Abbildung). Die Vp. nimmt Platz
vor dem Holzschirm, hinter welchem der Apparat auf schalldämp-
fender Filzunterlage steht; durch den Spalt im Schirm sieht die
Vp. die Silben, die wie gewöhnlich mittels Papierstreifen auf der
horizontal gelagerten Trommel aufgetragen sind. Der Umfang der
Trommel beträgt 500 mm, die Ganzhöhen der Schriftzeichen messen
15 mm. Die Verteilung der zehn, zwölf, vierzehn und sechzehn
Silben war derart, daß am Schluß der Reihe stets Raum blieb für
zwei Silben. So entstand zwischen den einzelnen Ganzlesungen,
wie üblich, eine Pause. Als Normalgeschwindigkeit waren zehn
Sekunden für zwölf Silben festgesetzt. Damit die Silben immer
gleich lange sichtbar wurden, verminderten wir die Trommeldrehung
entsprechend der zunehmenden Silbenzahl. Die Vp. hatte halblaut
zu sprechen, damit der Versuchsleiter das Lesen kontrollieren und
den Sprechton, den bevorzugten Rhythmus u. dgl. m. beobachten
konnte. Die Vorführung des Silbenmaterials erfolgte stets erst
dann, wenn die Vp. durch ein Zeichen kundgab, daß sie mich
ihrem inneren wie äußeren Verhalten zum Lernen bereit sei. Als
»gelernt« wurde eine Reihe betrachtet, wenn sie in der vorgeführten
Aufeinanderfolge einmal fehlerfrei reproduziert werden konnte,
— wir teilten die Auffassung G. E. Müllers, welcher im Gegen-
satz zu Ebbinghaus die zweite Aufsagung als neuen, nicht zu
unterschätzenden Übungsfaktor betrachtet. Für die Vereuchsergeb-
nisse vgl. Tabelle VIII, und zwar zuerst die obere horizontale Spalte.
Die schnellste Erlernung finden wir in dieser Spalte bei Herrn Dr.
W.: 14 Lesungen. Der Versuchsleiter beobachtete schon hier, was
später bei allen übrigen Vp. hervortrat, daß das Erlernen in Stufen
vor sich geht, die um so artikulierter waren, je weniger ge-
übt und der Lerntätigkeit angepaßt eine Vp. ist, — die also um so
mehr ineinander verfließen und ökonomischer miteinander verbunden
werden, je mehr die Übung sich ihrem idealen Endziel nähert:
dem möglichst unmittelbaren Erfassen des Lernstoffes. Die Ver-
anschaulichung dieser Stufen, von denen man bei beginnender Ein-
übung etwa fünf unterscheiden kann, würde wohl erst durch phono-
graphische Aufnahme des Sprechens der Vp. in befriedigender
44
Ernst Ebert und E. Meumann.
Weise möglich sein, wie sie z. B. an der Universität Genf rar
Wiederholung französischer Sprachmuster verwendet wird. Bei
den in der Tabelle näher bezeichneten Vp. ließen sich über diese
Lernstufen genauere Beobachtungen anstellen.
Von den 14 Lesungen, welche nötig waren, nm z. B. bei Herrn
Dr. W. eine einwandfreie, korrekte Wiedergabe jener 10 Silben zu
erzielen, wurden benutzt
Lesung 1 und 2 vorwiegend zum Orientieren Uber den sprachlichen
Charakter der Silben, — Uber einzelne ungewohnte Schriftzeichen >l
z. B. U- Bogen bei sog. »lateinischer« Schrift n. dgl. m.
Hierbei kommen Sprechfehler vor, werden aber korrigiert, doch
wird das eigentliche mühelose Ablesen erst erreicht durch
Lesung 3, 4, 5, die Stufe des apperzipierenden Lesens, im Gegen-
satz zur ersten orientierenden. Hier treten keine Verzögerungen
mehr auf; das mechanische Lesen verläuft vielmehr glatt, — in
monotoner Stimmlage. Deutungen treten auf.
Lesung 6, 7, 8, 9, 10 bringen ein wesentlich neuartiges Element in den
Erlernungsprozeß; ganz spontan treten bei Herrn Dr. W. Ver-
gesellschaftungen der Silben zu vier dreigliedrigen Takt-
einheiten auf, die fünfte Takteinheit ist nur zweigliedrig, — es ist
das rhythmisierende Lesen, welches die Erlernung anscheinend
automatisch gestaltet, denn
Lesung 11, 12, 13 läßt deutlich wahrnehmen, was die Vp. alsdann auch
bekundete, daß bei diesen »Lesungen« kein eigentliches Lesen mehr
stattfindet, vielmehr lösen in der Regel die akzentuierten Taktteile
die minder akzentuierten in dem Bewußtsein mit aus, — sie werden
vorweggenommen, ehe sie als Reiz vor das Auge treten, — es
ist die Stufe des antizipierenden Lesens, wobei schließlich
als Symptom der perfekten Erlernung ein Gefühl der »Leichtigkeit«
spürbar wird, also ein Lustmoment neben dem intellektuellen Pro-
zeß, welches die teilweise Entlastung der Aufmerksamkeit an-
zeigt — d. h. nur jener, welche auf die Schriftzeichen gerichtet ist; —
die Aufmerksamkeit richtet sich nunmehr auf die Klangbilder der
erlernten Reihe, — die
Lesung 14 ist bloß noch ein probierendes, kontrollierendes
»Lesen«, wobei die emotionellen Momente, welche in unserem Fall
den einwandfreien Ablauf der Reproduktion begleiten, die Gewiß-
heit vermitteln, daß der Erlernungsakt ans Ziel geführt habe. Die
beim antizipierenden Lesen als »schwierig« befundenen Silben
werden noch einmal scharf akzentuiert — in unserem Fall war es
die VI. und VII. Silbe — , dann erfolgt die Aufsagung.
1) Es dürfte Bich empfehlen, künftig nur deutlichst lesbare gedruckte
Schriftzeichen statt der noch oft recht fremdartig erscheinenden, verschie-
denen Duktusformen anzuwenden. (Vorherige Ausprobierung mit Reaktions-
versuchen am Tachistoskop.)
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übnngsphäoomene uaw. 45
Diese so kurz charakterisierten Stufen fanden sich bei allen
Vp., — der Natur der Sache gemäß individuell variiert; desgleichen
traten sie beim Erlernen auf, wenn anderes Material als die Silben
einzuprägen war, — modifiziert sogar beim Erlernen visueller Zei-
chen. Da diese Stufen aber mit fortschreitender Übung immer
weniger hervortraten, werden wir uns dieser Erscheinungen noch
einmal erinnern müssen, wenn es sich um Beantwortung der Frage
handelt, welche Komponenten den Übungseffekt herbei-
führen. — Der Versuchsleiter verfolgte den in seiner akustischen
Ausdrucksform interessanten Lernprozeß auch bei den andern Vp.
(vgl. die Protokollnotizen bei Vp. B., Br., F., Prof. M. und Frl. S.).
— Für das Verhalten der Aufmerksamkeit ist es bezeichnend, daß
sich nach der Aussage des Herrn Dr. W. die V., VI., VII. Silbe zu-
letzt »einfügten«. Im übrigen lernte Herr Dr. W. rein akustisch-me-
chanisch, — er unterdrückte jedwede Neigung zu andern Asso-
ziationsmitteln als den durch visuelle, akustische und motorische
Eindrücke gebotenen. — Bei der Wiedererlernung nach 24 Stunden
ersparte er zehn Lesungen, — das ergibt 71,43 % ; ein Blick in die
Tabelle zeigt, daß dieser Ersparnisbetrag keineswegs der »schnell-
sten« Erlernung entspricht, die vorher zu konstatieren war, wenn
er auch noch beträchtlich genug war. — Die übrigen Zahlen der
Spalte zeigen den aufzunehmenden Status an ihrem Teile wohl
genügend deutlich. Die hohe Ziffer bei Herrn Prof. M. erklärt sich
außer durch die Ermüdung, die er infolge einer vorangegangenen
anstrengenden Arbeit verspürte, ans der Schwierigkeit, jene per-
severierenden Assoziationen zu hemmen, welche ihm durch die er-
wähnte literarische Arbeit nahelagen; die Seite 44 skizzierten
Stufen des rhythmisierenden und antizipierenden Lesens traten laut
Protokoll erst nach der 17. bzw. 28. Lesung ein.
Die zweite Horizontalspalte der Tabelle zeigt die Erlernung
einer Normalreihe im engeren Sinne, also die Erlernung von zwölf
Silben; es dürfte ferner für Gewinnung eines Einblicks in die Ge-
staltung des Fortschrittes bei jeder einzelnen Vp. empfehlenswert
sein, sofort auf die Ziffern der dritten und vierten Horizontalspalte
mit zu achten, — also auf die Erlernung der Reihen von 14 und
16 Silben. Man sieht da zunächst, daß Ebbinghaus' Bemerkung,
daß die Zahl der Lesungen mit der der Silben »unverhältnismäßig«
zunimmt, Einschränkungen erleidet. Das Element, welches uns
hierzu nötigt, ist in erster Linie der Rhythmus. Um seine Wirkung
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Ernst Ebert und E. Meomann,
zu erproben, verfuhr der Versuchsleiter so, daß er dem einen der
beiden ungeübten Herren Studierenden, Herrn F., nach Erlernung der
ersten zehn Silben die Verwendung des Rhythmus empfahl, den
andern, Herrn B., aber beliebig lernen ließ bis zur Erlernung der
Reihe mit 16 Silben. Die Rubriken der genannten zwei Vp. zeigen
den merkwürdigen Effekt hiervon. Herr B. braucht zunächst »un-
verhältnismäßig« viel Lesungen, obwohl jede folgende Silbenreihe
nur zwei Silben mehr bietet, — z. B. braucht er zu 12 Silben
49 Lesungen, — zu 14 Silben 63 Lesungen. Nun aber kommt
die Wendung! Nach Hinweis auf energische Ausnutzung des Rhyth-
mus, der Btarke emotionelle Hilfen gewährte, erlernt Herr B. 16 Silben
mit nur 31 Lesungen, — man beachte, daß gerade 16 Silben vor-
teilhafte Ausnutzung des 4 '«-Taktes gestatten, und daß Herr B. ver-
suchte, möglichst ohne »mnemotechnische Bindemittel« auszukommen,
also ohne »Deutung« der Silben und Assoziieren dieser »Deutungen«.
(Ich erwähnte schon, daß Herr B. unter dem Einflüsse der Poe 11-
mannschen »Gedächtniskunst« stand.)
Und nun Herr F.! Nachdem er zur Erlernung der 10 Silben-
Reihe 23 Lesungen nötig hatte, lernt er die folgende 12 Silben-Reihe
in drei «/«-Takten ohne assoziatives, mnemotechnisches Verfahren
mechanisch bei 14 Lesungen! Die 14 Silben-Reihe bereitete ihm
mit ihrem halben Schlußtakt — er bheb hier beim '/«-Takt! —
einige Schwierigkeiten , — er hatte demnach 24 Lesungen nötig,
welche Lesungszahl wieder zurückging auf 19, als die bei Ver-
wendung des 4/4 -Taktes so günstige 16 Silben-Reihe zu lernen war.
Überraschend ist, daß auch bei Herrn Br., einer nicht uner-
fahrenen Vp. , Vorgänge derselben Art in den Ergebnisziffern zum
Ausdruck kommen wie bei Herrn F., daß ferner auch Herr
Prof. M. und Herr Dr. W. die rhythmisch-günstige Eigenschaft der
16 Silben-Reihe deutlich verspüren und durch die Zahl der zur Er-
lernung nötigen Lesungen erhärten. Nur bei Fräulein S. steigt
die Lesungszahl etwa im Ebbinghausschen Sinne, die Ursache
dafür ließ sich nicht auffinden.
Bei Fräulein S. bieten die Resultatziftern noch einen Beleg für
das im Anfang der Versuche häufige extreme Ersparen von Wieder-
holungen beim Wiedererlernen; Fräulein S. gebrauchte statt 21 und
33 Lesungen zum Erlernen von 14 und 16 Silben nach Verlauf von
24 Stunden nur je 2 Lesungen, was im ersten Fall ein Ersparen
von 90,47 im zweiten ein solches von 93,93 # bedeutet. Die
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 47
Vp. versichert, instruktionsgemäß sich sonst in keiner Weise mit
dem Silbenmaterial befaßt zu haben. Als Ursache gab die Vp.
eine selten günstige Disposition am Wiederholungstage und sehr
gehobene Stimmung an.
Wir hätten es demnach mit einem Falle zu tun, der eklatant
erweist, daß Lustmomente selbst bei sinnlosen Stoffen erleichternd
auf das Lernen wirken.
Der Zweck dieser Versuchsreihe, den Status quo ante in bezug
auf das dauerde Behalten sinnloser Silben quantitativ zu bestimmen,
könnte nun als erreicht betrachtet werden. Das Resultat wird aber
noch übersichtlicher, wenn wir die Zahlen für jede Vp. summieren
und schließlich festhalten, wieviel jede Vp. im Durchschnitt un
Lesungen für Neuerlernung und Wiedererlernung einer Silbe
brauchte. Die vier in dieser Versuchsreihe gelernten Reihen hatten
insgesamt 52 Silben, für deren Erlernung, bzw. Wiedererlernung
an Lesungen im ganzen nötig waren bei
Herrn B. 171, bzw. 41,
» Br. 89, » 26,
> F. 80, » 19,
. Prof. M. 140, » 33,
Fräulein S. 92, » 13,
Herrn Dr. W. 89, > 22.
Hieraus folgt, daß für Erlernung, bzw. Wiedererlernung in
diesem Gedächtnisstatus, auf eine Silbe als Norm bezogen, nötig
waren bei
Herrn B. 3,29 Lesungen, bzw. 0,78,
» Br. 1,71 > 0,50,
> F. 1,53 » > 0,36,
» Prof.M. 2,69 » > 0,63,
Fräulein S. 1,76 > > 0,25,
Herrn Dr. W. 1,71 » » 0,42.
Hieraus wiederum folgt, daß auf diesem Niveau der Gedächtnis-
funktion für eine Silbe als Norm durchschnittlich erforderlich waren
bei Neuerlernung 2,115 Lesungen
und » Wiedererlernung 0,49 »
zwei Zahlenwerte, die wir besonders mit zu berücksichtigen haben,
wenn es sich um quantitative Konstatierung des Übungseffektes
handeln wird.
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48
Ernst Ebert und E. Meumann,
Auch bei diesen am Kymographion vorgenommenen Versuchen
der VIIL Reihe ließ sich eine Anzahl von
welche mit dem Grundphänomen der Aufmerksamkeit zusammen-
hängen; auf diese kommen wir später zurück bei Besprechung
einer Gruppe von Versuchen, welche den allmählichen Aufbau der
Erlernung von Silbenreihen verfolgten, damit aber zugleich das
Funktionieren der Aufmerksamkeit beim Lernen. Hier sei nur
noch kurz die Beobachtung erwähnt, daß alle Vp. die Zahl der
Drehungen der Trommel, also die Zahl ihrer Lesungen, ausnahmslos
unterschätzten, und zwar am meisten Fräulein S., die einmal
die Zahl der Lesungen bei 16 Silben um fast 25 % unterschätzte.
Diese Beobachtung beweist aufs neue die bekannte Tatsache, daß
bei Konzentration der Aufmerksamkeit auf den »Reiz« — hier
also die Silbenreihe! — die Zeit unterschätzt wird. Bei wieder-
holten Abschätzungen der Zahl der Lesungen durch die Vp. zeigte
sich, daß die Schätzungszahlen nur dann größer als die wirklichen
waren, wenn »Ungeduld« und andere Formen der Unlust, vor allem
aber Ermüdung bei der Vp. merklich wurden (vgl. die Protokoll-
notizen der folgenden vier Versuchsreihen!).
IX. Versuchsreihe.
Der Zweck dieser Versuchsreihe bestand darin, festzustellen,
wie das Gedächtnis unserer Vp. für visuelle Zeichen beschaf-
fen war, welche so aufgebaut waren, daß je zwei Raumelemente,
z. B. ein Strich und ein Haken, zu einer Figurenreihe kombiniert
wurden. Es ist bei solchen Reihen nahezu unmöglich, das Ein-
prägen der Figuren durch eine Bezeichnung derselben (also akustisch-
motorisch) zu unterstützen, weil die Vp. in diesem Fall eine Fülle
komplizierter Bezeichnungen anwenden müßte, wozu sie bei der
schnellen Folge der Silben keine Zeit finden kann. Das »Lernen«
ist also bei diesen Zeichen ein nahezu rein visuelles Einprä-
gen. Des besseren Vergleichs mit den zwölfsilbigen Normalreihen
wegen fügten wir je 12 solche Zeichen zusammen, welche ebenso
wie das Silbenmaterial der VIII. Versuchsreihe auf Papierstreifen
aufgetragen und mittels der Kymographiontrommel den Vp. vor-
geführt wurden. Jede Vp. hatte je zwei solcher Zeichenreihen
zu lernen. Die beiden in den Vorversuchen verwendeten Zeichen-
serien sind hier abgebildet.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 49
Stelle:
1. Reihe :
2. Reihe :
r
M
C
1
Tf
y
III.
.... ; ...
TV
J
V.
.... f ...
... T
VI.
.... L ...
VII.
. . 1 ...
VIII. 1 ?
IX.
.... + ...
X.
.... \ ...
... c1
XI.
.... |. ...
XII.
.... J ...
... u>
Man ersieht, daß diese optischen
t Figuren zwar elementar gehalten sind,
wie es den Grundanforderungen an das
Material fUr ein psychologisches Ex-
periment entspricht, doch zeigt anderer-
seits ein Blick auf ihre Details, daß
ihre Erlernung nicht ganz frei von
Schwierigkeiten ist. Die »Reize« sind
derart abgestuft, daß die zweite Reihe
wesentlich anders und komplizierter
aufgebaut ist als die erste; denn statt
der konstanten Vertikalen in der ersten
Reihe alterniert mit der Vertikalen die
Horizontale in der zweiten Reihe in
unregelmäßiger Aufeinanderfolge; statt
der »Notenköpfe« der ersten Reihe
bietet die zweite halbkreisartige Bogen,
deren Öffnung ebenfalls unregelmäßig
wechselnd nach oben, unten, rechts oder
links gerichtet ist. Mit den 12 Silben
bei der VDI. Versuchsreihe hatten
diese visuellen Reihen gemeinsam die
Drehungszeit, die Zwischenabstände
und die Schlußpause.
Da wir die Absicht hatten, ein möglichst > reines« optisches
Erfassen stattfinden zn lassen, so wurden die Vp. dahin instruiert,
daß sie möglichst nur den optischen Eindruck auf sich wirken
lassen sollten, — sie sollten also, wenn nur irgend möglich, ver-
zichten auf ein beschreibendes Sprechen, auf logische oder mnemo-
technische Kunstgriffe, auf motorisches Erlernen durch Nachbilden
der Figuren mit Händen oder Füßen u. dgl. Die Schwierigkeit
des Lernens dieser Zeichenreihen war so groß, daß nur Herr Prof. M.
und Frl. S. nicht ausdrücklich von einer starken Unlust berichte-
ten, als sie nach dem ersten Dritteil der jeweils nötigen Lesungen
verspürten, wie das bloß optische Erfassen ihnen nicht zum dau-
ernden Behalten verhalf. Diese Unlust ergriff einige Vp. so
intensiv, daß sie wie auf Verabredung erklärten, »so« wllrdeii sie
diese Reihen »nie lernen«. Allmählich aber stellte sich eine An-
passung an den ungewohnten Lernstoff ein. — Übrigens ist es
wiederum ein Hinweis auf das Wesen der Übung, daß bei ener-
gischer Hemmung der Unlust und mit wachsendem Interesse an
den Reihen größere Konzentration der Aufmerksamkeit und damit
schnelles Anwachsen der Leistungsfähigkeit auftritt. Man ver-
gleiche hierzu die Zahlen in der Rubrik des Herrn Dr. W., Tab. Dt.
ArchiT fllr Piyehologie. IV. 4
50
Ernst Ebert and E, Meuraann,
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übongspbänomene nsw. 51
Diese Vp. hatte anfangs mit affektartiger Unlust gelernt and den
ihr infolgedessen endlos lange scheinenden Erlernongsprozeß da-
durch zu beschleunigen gesucht, daß sie vom etwa dritten Viertel
des Vorganges an mit den Fingern die Figuren »zeichnete«. Da
dies der Verabredung zuwider war, unterzog diese Vp. sich noch-
mals der Mühe der Erlernung zweier anderer, analoger Reihen,
diesmal mit andauernder Unterdrückung der Unlust und wachsen-
dem Interesse an ihrem jetzt angewendeten Lern verfahren. In-
folgedessen wurde jetzt eine visuelle Zeichenreihe mit etwa 50 %
Ersparnis erlernt. Hierbei ist die Erscheinung von Interesse, daß
die Ersparnis beim Erlernen mit 60, bzw. 69 Lesungen unverhält-
nismäßig größer ist als die mit 28, bzw. 37 Lesungen, — ja, grüßer
als jeder andere Ersparniswert in dieser Versuchsreihe überhaupt.
Prozentual bestimmt liegt hier folgender Tatbestand vor:
1. Versuch:
a. an 60 Lesungen wurden erspart 55 Lesungen, d. h. 91,66
b. an 69 Lesungen desgleichen 64 Lesungen, d. h. 92,75 %.
2. Versuch:
a. an 28 Lesungen wurden erspart 16 Lesungen, d. h. 57,14 %,
b. an 37 Lesungen desgleichen 20 Lesungen, d. h. 54,05 %.
Ähnlich, wenn auch nicht so markant hervortretend, sind die
prozentualen Ersparniswerte bei Herrn Br., Herrn Prof. M. und
Frl. S., verglichen mit denen des Herrn F. oder gar mit denen des
Herrn B. ; — hiervon eine einzige Stichprobe in Zahlen:
Zur zweiten, schwierigeren visuellen Reihe brauchte
Herr Prof. M. 75 Lesungen, zur Wiederholung 11 Lesungen
Herr stud. B. 37 » » 14
Die Ersparniswerte sind also für
Herrn Prof. M. 64 Lesungen, d. h. 85,33 #,
Herrn stud. B. 23 > » 62,16
Hält man mit diesen Versuchsergebnissen den Fall bei Herrn
Dr. W. zusammen, so scheint hier aufs neue die Erfahrung be-
stätigt zu werden, daß intensivere Aufmerksamkeit und lebhafteres
Interesse (Lustgefühl) eine Leistung wohl in einzelnen Fällen stei-
gern kann, daß aber Treue und Nachhaltigkeit des Lernens in
erster Linie von der dafür aufgewendeten Zeit und von der
Zahl der Wiederholungen abhängt.
4*
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52
Ernst Ebert und E. Meumann,
Was das von den einzelnen Vp. beobachtete Lernverfahren
betrifft, so war ihnen nach dem Versucbsbericht ein Dreifaches
gemein. Sämtliche Vp. verfuhren nämlich
a. artikulierend,
b. konstruierend,
c. mit motorischen Hilfen lernend.
Artikulierend, gliedernd oder gruppierend verfuhren sie, in-
dem sie nach den ersten »orientierenden« Lesungen — die S. 44
angedeuteten > Stufen« wiederholten sich nach den Bemerkungen im
Protokoll auch hier! — eine Figur herausgriffen und als »Grenz-
pfahl« zweier Gruppen benutzten. Die »beste« Erlernung der
ersten Reihe kam bei derjenigen Vp. vor, welche sich rasch ent-
schlossen Ersatz fUr die rhythmischen Glieder des Viervierteltaktes
dadurch verschaffte, daß sie hier etwa von der 8. Lesung an zwei
»Grenzpfähle« besonders fixierte, — das 4. und das 9. Zeichen,
siehe die Rubrik des Herrn F. Tabelle IX. Hier läge also
eine optische Modifikation des > fraktionierenden « Verfahrens
vor, und zwar deutet das Resultat bei Herrn F. wohl etwas darauf
hin, daß der Dreiteilung ein Vorzug vor der Zweiteilung zuzu-
sprechen sei. Während die andern fünf Vp. das Zeichen >J^c,
VII. Stelle, als gruppierenden »Grenzpfahl« benutzten, verwendete
Herr F. diesen nur in zweiter Linie, sich zuerst an die Zeichen
»j|< und »•)•« haltend, also an die IV. und IX. Stelle. Daß sich
die Zeichen Übrigens progressiv an die I. und regressiv an die
Xn. Stelle anschlössen, bedarf wohl kaum der Erwähnung. —
Bezeichnend ist auch die Artikulation der zweiten Reihe: Herr B.
und Herr F. gliederten sie mit Hilfe der Zeichen » f « und » « ,
also der V. und IX. Stelle, — Herrn Dr. W. hatten entsprechende
Dienste geleistet Stelle V und VTH, die Zeichen »f « und »P«.
Allen drei übrigen Vp. hatte wiederum die Vü. Stelle zur Glie-
derung und besseren Orientierung verholfen, das Zeichen »h1«-
Also hatten sich bei Erlernung der zweiten Zeichenserie zwei
Gruppen gebildet, — Lerner mit Zweiteilung und solche mit Drei-
teilung, — man ersehe die Wirkung aus folgenden Zahlen der
Tabelle:
Herr B. lernt dreiteilig mit 37 Lesungen (1. Reihe mit 25 Lea.),
Herr F. » > 33 > (1. > > 24 » ),
Herr Dr. W. > > 69 (1. > » 60 > ).
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Ober einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänoniene usw. 53
Besondere bei Herrn Dr. W. ist auffallend, wie wenig Mehr-
lesungen er infolgedessen braucht im Vergleich zur Erlernung der
ersten Reihe, — alle drei Lerner dieser dreiteilig verfahrenden
Gruppe brauchen 32 Lesungen insgesamt mehr als bei der weniger
schwierigen Reihe.
Die andere Gruppe — Lerner mit Zweiteilung — weist fol-
gende Zahlen auf :
Herr Br.: 53 Lesgn., gegenüber 26 Lesgn. bei der 1. Reihe
Herr Prof. M. : 75 > 48
Frl. S.: 61 43 » » *
Sie brauchte hiernach also 50 Lesungen mehr als die vorge-
nannte Gruppe für die schwierigere Reihe, — wir werden noch ein-
mal genauer auf die Gründe des Vorteils des fraktionierenden
Verfahrens eingehen müssen, sobald wir mehr Unterlagen für
die Beurteilung desselben bei der » Einübung« gewonnen haben.
Konstruierend oder genetisch verfuhren weiter alle Vp.,
indem sie auf der Stufe des S. 44 charakterisierten apperzipie-
renden Lesens sich die Relationen, bzw. die Konstruktion der
Zeichenelemente durch Urteile klarmachten, — also z. B. gleich
die ersten drei Zeichen der ersten Reihe so erlernten, daß sie
sich diese so voneinander abhängig dachten: Beim I. Zeichen
bewegt sich der linke Kopf erst nach der Mitte der Vertikalen,
dann nach dem unteren Ende; nunmehr ist es leicht, zum
obigen Zeichen sich das zweite und dritte hinzuzudenken, —
also »•(« und «J«.
Dieses Verfahren scheint nun wohl zum dritten allgemein wahr-
nehmbaren ganz von selbst zu veranlassen, — zum motorischen.
Alle Vp. verfuhren besonders auf der erwähnten Stufe des apper-
zipierenden Lesens, sodann gegen Schluß hin, also beim antizipie-
renden und kontrollierenden Lesen so, daß sie (wenn auch oft nur
schwache) Bewegungen auaführten ; z. B. fühlte sich Herr Prof. M.
in den Händen nur »dazu geneigt«, doch meint er »zeichnende
Bewegungen in der Augenmuskulatur« verspürt zu haben. Die
andern Vp., besonders Frl. S., Herr Br. und Herr Dr. W., dessen
Fall schon erwähnt wurde, beobachteten an sich deutlich die Ge-
neigtheit zu muskulärer Mitbetätigung und gaben derselben mehr
oder weniger nach. Herr Br. gibt zu Protokoll an, daß er
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54
Ernst Ebert und E. Meumann.
vermutet, das kinästhetische Element »vikariere« für das hier aus-
geschaltete auditive Element.
Überdies griffen auch logisch-deutende Momente in den hier
zu erörternden Lernprozeß ein, — das Protokoll führt stichproben-
weise folgende Belege hierfür an:
a. » y « = gedeutet als »T« der Antiquaschrift (Herr B., Frl. S.)
oder als »Nagel« (Herr F.),
b. »J« = gedeutet als »S« der Antiqua (Herr B., Frl. S.),
c. >«^c s=a » » Pluszeichen« (Herr F.),
d. >Y«= » * »Becher«, »Trinkschale« (Herren Br., F.),
e. »'p» = * » »Anker«, »Armbrust« (dieselben!),
f. »t^« = > » »halbe 5« (von sämtlichen Vp.)
usw. usw.
Was endlich die Reproduktionsform anlangt, so trat hier erst-
malig die Erscheinung auf, daß sämtliche Vp. die beiden Reihen
»rückläufig« reproduzierten, indem sie nämlich auf dem Papier-
streifen, auf dem sie die gelernten Formen schließlich nieder-
zeichneten, nach den ersten 4 — 7 Zeichen die letzten 4—5 Zeichen
vermerkten, — die mittlere Lücke schloß sich zögernd; Frl. S.
begann sogar die Reproduktion der zweiten Reihe mit der Auf-
zeichnung der letzten 4 Zeichen. Sämtliche psychologisch geschulte
Vp. bemerkten hierzu, daß der »Nachbildcharakter« der letzten
Eindrücke dadurch zum Ausdruck gelange.
Zum Schlüsse der Besprechung der IX. Versuchsreihe stellen
wir noch ähnlich wie bei Diskussion der VHI. Versuchsreihe, S. 47,
zur besseren Verdeutlichung des in erster Hinsicht gesuchten
Status quo ante für jede Vp. folgende Berechnung an: Zu den
24 hier zu memorierenden Zeichen beider visueller Reihen brauchten
für Erlernung, bzw. Wiedererlernung
Herr B. 62 Lesungen, bzw. 25,
> Br. 79 > > 12,
F. 57 »20,
» Prof. M. 123 > 17,
Frl. S. 104 - 15,
Herr Dr. W. 129 » » 10.
(Bei Herrn Dr. W. wird das Resultat der ersten Lernung als maß-
gebend betrachtet, da sich bei der zweiten Lernung der Übungseffekt
usw. schon zu stark geltend macht.)
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 55
Auf dieser Anfangsstufe brauchten also für Erfassung eines
einzigen Zeichens bei Erlernung, bzw. Wiedererlernung
Herr B. 2,58 Lesungen, bzw. 1,04,
Herr Br. 3,25 » » 0,50,
Herr F. 2,37 » » 0,83,
Herr Prof. M. 5,12 > » 0,708,
Frl. S. 4,33 > » 0,62,
Herr Dr. W. 5,37 > » 0,41.
Das Mittel aus diesen beiden Zifferkolumnen wollen wir fest-
halten als kürzesten Ausdruck für die durchschnittliche
Leistung der Gedächtnisfunktion unserer Vp. am Anfang
unserer Untersuchung; es beträgt, auf ein Zeichen als
Norm bezogen,
bei der Neuerlcrnung 3,83 Lesungen
und » > Wiedererlernung 0,68
Erinnern wir uns der S. 47 analog gewonnenen Norm für eine
Silbe, so ergibt sich ein Wert zur quantitativen Bestimmung der
größeren Schwierigkeit des Erlernens visueller Zeichen, — sie
beträgt für
erstmaliges Erlernen 81,37 %
und für Wiedererlernen 38,77
Werte, die zugleich erkennen lassen, warum visueller Stoff im
Laufe dieser Untersuchung regelmäßig Unlust bei den Vp. er-
regte.
X. Versuchsreihe.
In dieser Versuchsreihe sollte noch das Gedächtnis für fremd-
sprachliche Vokabeln vor der einseitig -mechanischen Einübung
kontrolliert werden. Wir wählten dabei italienische Vokabeln, weil
diese relativ am wenigsten für die Vp. geläufig waren und außer-
dem nur geringe Aussprachschwierigkeiten bieten. Auch hier
gaben wir den Stoff in zwei Serien: von den 70 zu lernenden
Vokabeln teilten wir der ersten 30, der andern 40 zu und
schrieben dieselben auf einen Streifen Papier. Die Vp. versuchten
dieselben nach dem G.-Verfahren derart zu lernen, daß sie die
deutschen Worte und ihre italienische Bezeichnung ebenso
streng sukzessiv halblaut vorlasen, wie etwa die Silben der
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56
Ernst Ebert und E. Meumann,
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphknomene usw. 57
IX. Versuchsreihe. Allerdings wurden ohne den Gebranch des
Kymographions die Erlernungszeiten weniger regelmäßig, doch lag
gerade in dem dabei hervortretenden individuell verschiedenen
Tempo ein psychologisch und pädagogisch wichtiges Moment, wir
meinen den Einfluß der Lerngeschwindigkeit auf das Lernen. In
den 70 Vokabeln waren vertreten Substantiva, Verba, Adjektiva,
Adverbia und Numeralia. Je 20 % der gebotenen Vokabeln waren
derart ausgewählt, daß sie Reminiszenzen an die lateinische oder
französische Sprache wachrufen konnten, z. B. salce (salix), probo
(probus), ossutofos), agnello (agnus) usw. Die Prüfung der Er-
lernung erfolgte nach dem bereits bei der V. Versuchsreihe beobach-
teten Trefferverfahren, indem das deutsche Wort als Reizwort zu-
gerufen wurde, das italienische von der Vp. zu ergänzen war,
wobei die beim Erlernen beobachtete Folge genau innegehalten
wurde. Der Versuchsleiter kontrollierte und notierte nach einer
Sekundenuhr die Zeit, welche die Vp. zur Erlernung gebrauchte,
desgleichen diejenige für die Wiedererlernung.
Wir betrachten zunächst die Zahlen, in welchen das Haupt-
resultat dieser Versuche niedergelegt ist, den Stand des Gedächt-
nisses für Vokabeln vor den Einübungsversuchen. Es brauchten
für Erlernung, bzw. Wiedererlernung der insgesamt 70 Vokabeln
Herr B. 16 Lesungen, bzw. 2 Lesungen
Herr Br. 19 > 7
Herr F. 17 * > 4
Herr Prof. M. 22 » > 2
Frl. S. 27 » 6
Herr Dr. W. 14 » .3
Gehen wir trotz der zu erwartenden Bruchgrößen auch hier
auf eine Vokabel als Grundmaß zurück, so brauchten zur Erler-
nung, bzw. Wiedererlernung dieser einen Vokabel
Herr B. 0,228 Lesungen, bzw. 0,028 Lesungen
Herr Br. 0,271 » »0,100
Herr F. 0,242 » » 0,057
Herr Prof. M. 0,314 » > 0,028
Frl. S. 0,385 » » 0,085
Herr Dr. W. 0,200 . » 0,042
Der Mittelwert, mit welchem wir schließlich die Leistungen
im Erlernen von Vokabeln ftlr diese Anfangsstufe und für alle
Vp. beziffern können, beträgt also
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58
Ernst Ebert und E. Meumann,
für Neuerlernung einer Vokabel 0,273 Lesungen
und » Wiedererlernung einer Vokabel 0,056 >
mithin der durchschnittliche Ersparniswert beim Wiedererlernen
nach 24 Stunden 0,217 Lesungen oder prozentual bestimmt 79,48.
Vergleicht man die Erlernungsziffern für »30 Vokabeln « mit
denen für >40 Vokabeln«, so bemerkt man die eigenartige Tat-
sache, daß der (wie S. 55 ausgeführt wurde) ziemlich homogene
Stoff sich zwar quantitativ nicht unerheblich vermehrt hat —
25 %\ — , die Erlernungsziffern aber kleiner werden; die 6 Vp.
brauchten insgesamt 64 Lesungen zum Erfassen von 30 Vokabeln,
doch nur 51 Lesungen (etwa 20 % weniger!) zum Erfassen von
40 Vokabeln. Eine Ausnahme macht nur Frl. S., welche zur Er-
lernung von 40 Vokabeln 14 Lesungen statt 13 für 30 Vokabeln
brauchte, — ein Plus also von 7,69 %. Welchen Aufschluß finden
wir hierüber in den Protokollnotizen? Herr B. bemerkt, daß er
»nach längerer Zeit erstmalig wieder Vokabeln lerne und sich erst
einrichten mußte«, Herr Br. spricht von mehr »Interesse«, Herr F.
ist »ärgerlich, daß er zur Erlernung von 30 Vokabeln mehr Le-
snngen gebrauchte als sein Freund B.<, dessen Resultatziffer er
zufällig erfahren hatte; Herr Prof. M. schreibt den Vorgang der
> zentralen Adaptation« zu; Frl. S. bemühte sich, schnell fertig zu
werden wegen einer nahe gerückten Vorlesung; Herr Dr. W. be-
merkt etwas von »Anpassung«.
Alle diese Aussagen zeigen, daß der Fortschritt bei den fünf
männlichen Arbeitstypen auf sehr verschiedenartigen Bewußtseins-
vorgängen beruht. Es handelt sich dabei teils um Anpassung und
Anregung, teils auch bereits um Übung. Bei Frl. S. scheint sich
die weibliche Eigenart in der steigenden Wiederholungszahl bei
zunehmender Reihenlänge zu verraten.
Übrigens zeigten sich auch hier wieder mit aller nur wünschens-
werten Deutlichkeit die erstmalig von uns bei der VHI. Versuchs-
reihe gekennzeichneten Einzelphasen des Lesungs- bzw. Er-
lernungsprozesses, nur, daß das Rhythmisieren auf der dritten
Stufe ein »unregelmäßiges« wurde, — es war mehr ein akzen-
tuierendes und isolierendes Lesen, z. B. isolierte Herr Prof. M.
auf dieser Stufe durch starke Akzente die Wörter der 30 Vokabeln-
Reihe: garbato, battitojo, combiato, zeba.
Letzteres Wort bot auf der vorhergehenden Stufe Herrn Dr. W.
assoziative Hilfe durch seine Klangähnlichkeit mit »Zebra«, —
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 59
ebenso >daga< durch seine Ähnlichkeit mit dem damals vielge-
nannten Kamen »Draga« oder »vaja« durch Ähnlichkeit mit >Vieh«.
Außerdem fanden die meisten Vp. die Anklänge des Italienischen
an das Lateinische oder Franzosische bald heraus und empfanden
dieses Wiedererkennen als assoziativ und emotionell förderlich.
Auf der Stufe des antizipierenden Lesens tauchte bei Herrn Br.
and Herrn B., vereinzelt auch bei Frl. S., das visuelle Bild des
» nächsten c italienischen Wortes mit auf, sobald das eine Vokabel-
paar ausgesprochen wurde, ohne daß zugleich der Sinn des be-
treffenden Wortes bewußt war, — dieser trat erst bei den letzten
Lesungen regelmäßig dazu (Stufe des kontrollierenden Lesens).
Mehrere Vp. empfanden unangenehm die Eigenart des hier
angewendeten G.-Verfahrens, bei welchem ja z. B. 39 schon beim
kontrollierenden Lesen als sicher assoziiert befundene Vokabeln
noch einmal mitgelesen werden müssen, um des an irgendeiner
Stelle noch befindlichen unsicheren 40. Wortes willen, — es be-
durfte sogar ernstlicher Vorstellungen und dringender Bitten bei
Herrn F., um ihn zu bewegen, zweier unsicherer Vokabeln halber
die andern sicheren 38 Vokabeln noch einmal mitzulesen und sich
von dem Vorurteil zu befreien, daß das G.- Verfahren »pedan-
tisch« sei.
Die Probe auf die Brauchbarkeit des G.-Verfahrens für Vokabeln-
lernen wurde noch durch einen Extraversuch gemacht, dem sich
Herr Prof. M. unterzog. Die ziffernmäßigen Ergebnisse desselben
sind des besseren Gegenüberstellens wegen in die Tabelle der
X. Versuchsreihe mit eingetragen. Gegenstand des Spezialversuchs
war die Erprobung eines Vermittlungsverfahrens an 40 deutsch-
italienischen Vokabeln. Diese las Herr Prof. M. wie sonst halb-
laut zunächst nach dem G.-Verfahren durch bis an die Stufe des
kontrolüerenden Lesens, — er gebrauchte hierzu 11 Lesungen;
bei der 12. Ganzlesung strich er sich diejenigen Wörter an, welche
ihm noch nicht geläufig genug erschienen, — es waren folgende
acht: rugiada, temporale, ciottolo, sorgente, Talbero, bisaccia, ri-
paro, Tassalto. Diese 8 Vokabeln las er noch dreimal für sich
durch, worauf er sich nach dem bereits gekennzeichneten abfra-
genden Verfahren prüfen ließ, und zwar erfolgte die Reproduktion
aller 40 Vokabeln nunmehr völlig einwandfrei. Der Versuch fand
nur zwei Tage später statt, — Herr Prof. M. war günstig dispo-
niert. — es kommt vielleicht auch ein minimaler fördernder
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ISO
Ernst Ebert und E. Meumann,
Einfluß der bei den täglichen Versuchen konstant fortschreitenden
Übung hinzu, und trotz alledem fanden zwei Totallesungen und
drei Partiallesungen mehr statt als zwei Tage vorher bei dem
Lernen nach der G.-Methode. Freilich hätten erst vielfache Wieder-
holungen solcher Vergleichsversuche stattzufinden, ehe für das hier
angewandte Lernmaterial ein Entscheid Uber das ökonomischere
Verfahren getroffen werden kann.
XL Versuchsreihe.
Der Zweck dieser Versuchsreihe war, quantitativ zu bestimmen,
wie groß im gegenwärtigen Stadium der Untersuchung die Fähig-
keit der Vp. sei, speziell Gedichtstrophen zu memorieren. Den
Stoff hierfür entnahmen wir Schillers Übersetzung des zweiten
Buchs der Aneide (»Zerstörung von Troja«), also derselben Dich-
tung, die uns schon das Gedächtnismaterial für die VI. Versuchs-
reihe geboten hatte (Tod Laokoons, Öffnung der Mauer zur Auf-
nahme des trojanischen Bosses). Der Stoff wurde gedruckt vor-
gelegt und jede Vp. dahin instruiert, die bisher befolgte G.-Methode
auch hier innezuhalten. Der Versuchsleiter notierte nach der Se-
kundenuhr die jeweils Air eine Erlernung, bzw. Wiedererlernung
nötige Zeit.
Im ursprünglichen Plan der Untersuchung war festgesetzt wor-
den, jeder Vp. vier achtzeilige Strophen zum Memorieren zu unter-
breiten, und tatsächlich unternahm es Herr B., die Strophen 37 — 40
sich nach der G.-Methode einzuprägen. Wie aus der beigegebenen
Tafel ersichtlich ist, brauchte er dazu 62 Minuten, von denen frei-
lich 16 auf vier Pausen (zu 4 Minuten) entfallen, deren erste nach
der 19. Lesung eingeschoben wurde, die sich aber naturgemäß
gegen das Ende der Erlernung hin in kürzeren Intervallen folgten,
nämlich nach der 28., 32. und 36. Lesung. Da nach dieser Probe
vorauszusehen war, daß unter Umständen noch größere Erlernungs-
zeiten auftreten dürften, — vor allem aber noch weit intensivere
Unlust und Ermüdung, als sie bei Herrn B. nach dieser Gedulds-
probe sich geltend machten, so sahen wir uns im Interesse der
Untersuchung genötigt, den Memorierstoff um 50 # zu verringern.
Alle Vp. erklärten, daß ihnen das Erlernen von Gedichten
seit Jahren etwas recht Ungewohntes sei; vor allem fiel es Frl. S.,
trotz des besonderen Interesses, das sie der Untersuchung ent-
gegenbrachte, nicht leicht, sich in die Sprachformen Schillers zu
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänoniene usw. 61
finden, zumal da ihre Muttersprache Kussisch ist. Sie brauchte
denn auch rund 50 # Lesungen mehr als das Gros der Vp.,
eine Ziffer, die nebenbei bemerkt bei einer andern Dame aus
Russisch-Polen sich noch bis zum Doppelten steigerte, da bei ihr
die emotionellen Hilfen des Interesses ungleich geringer waren.
Gemeint ist das Resultat bei Frl. Blank, welche sich noch bis
zur folgenden Versuchsreihe als Vp. mit betätigte.)
Ahnlich wie Fräulein S. bekundeten auch die übrigen Vp.
spontan, daß ihnen der poetische Memorierstoff »angenehm« sei
(Herr F.), — daß »er lebhafte Lustgefühle im Gegensatz zu den
meisten bisherigen Gedächtnismaterialien auslöse« (Herr Dr. W.),
daß »er stark zu dem verdrießlichen Silbenmaterial kontrastiere
und bewirke, daß die Schönheit der Dichtung doppelt und drei-
fach verspürt werde« (Herr B.). Daneben wird freilich Herr Prof. M.
ein wenig irritiert von der »Künstelei« in dem grammatischen Auf-
bau einiger Partien der Dichtung, was sich erkennbar in seiner
Erlernungsziffer ausprägt. — Alle Vp. gaben ferner zu Protokoll,
daß die 1. Strophe sich nicht so leicht lernen lasse als die 2., —
Fräulein S. glaubt die Ursache hiervon in der minder sinnfaßlich-
anschaulichen Darstellung suchen zu müssen. Merkwürdigerweise
kamen aber beim Aufsagen nur Fehler als sogenannte »Ver-
sprechungen« vor in der als »leicht« bezeichneten 2. Strophe,
welche sich mit einer gewissen Zähigkeit sogar noch beim Wieder-
erlernen nach 24 Stunden bemerklich machten (Herr Dr. W.,
Herr Br. , Frl. S.), ja, deren Wiederauftauchen direkt als Wieder-
erlernungshindernis empfunden wurde (Herr Prof. M.).
Mit bemerkenswerter Schärfe und Deutlichkeit traten die Er-
lernungsstufen hier hervor, wo der Stoff ungleich weniger
mechanisch zu erfassen war als der zumeist bis jetzt gebotene.
Die Stufe des apperzipierenden Lesens verfolgte der Versuchsleiter
speziell bei Herrn F. mit der Sekundenuhr. Während die 2. aller
der 10 für diese Vp. nötigen Ganzlesungen 1 Min. 2 Sek. gedauert
hatte, war die 4. und 5. Lesung langgedehnt bis auf 1 Min. 20 Sek.,
bzw. 1 Min. 22 Sek., dann folgte die 6. Lesung mit 1 Min. 9 Sek.,
dann eine stärkere Beschleunigung (Stufe des vorwiegend rhyth-
mischen Lesens) bei der 7. und 8. Lesung, wozu nur 55, bzw.
52 Sek. nötig waren, — schließlich das antizipierende und kon-
trollierende Lesen bei der 9. und 10. Lesung wieder in etwas ver-
langsamtem Tempo mit einer Dauer vou 1 Min. 3 Sek., bzw.
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62
Ernst Ebert und E. Meumann,
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungephänomene usw. 63
1 Min. 6 Sek., — endlich die Aufsagung selbst mit einer Dauer
von 58 Sek. (Ähnliche Beobachtungen verzeichnet das Protokoll
bei Herrn Br. und Frl. S.).
Letztgenannte zwei Vp., dazu Herr B., äußern während der Er-
lernung, daß es durchaus nötig sei, sich den geschilderten Vorgang
anschaulich zu machen, ihn also nicht nur in seiner Sprachform
korrekt zu erfassen, — diese fände sich vielmehr von selbst, so-
bald einzelne dominierende Stellen »da« wären. Beispielsweise
folgten stets aufs leichteste nach der adverbialen Bestimmung »und
auf der Walze künstlichen Wogen« die folgenden Worte > rollt es da-
bin von Strängen fortgezogen ; verderbenträchtig, schwanger mit dem
Blitz der Waffen, rollt's in Priams Königssitz«. Auch Herr Dr. W.
beobachtete ähnliches; sobald er sich nur auf »verderbenträchtig«
besonnen hatte, war das Folgende mit Leichtigkeit zu reprodu-
zieren, — die Aufmerksamkeit wird entlastet, der Ablauf der Vor-
stellungen erscheint nach richtiger Reproduktion des dominierenden
Passus einfach automatisch.
Übrigens unterzog sich Herr Prof. M. am folgenden Tage einem
Vergleichsversuch, bei welchem nicht die G. -Methode, sondern eine
vermittelnde zur Anwendung gelangte. Bei diesem Verfahren las
Herr Prof. M. die nächstfolgenden zwei Gedichtstrophen zunächst
zwölfmal ganz durch, las dann die für ihn schwierigen ersten drei
Zeilen noch viermal separat durch (»Und hoch beglückt, den
Strang berührt zu haben — verehrte Last«) und sodann das Ganze
noch einmal, worauf die einwandfreie, fließende Wiedergabe mög-
lich war. Vergleicht man die Erlernungszahlen für den nach der
6. -Methode erlernten Stoff und den nach der eben bezeichneten
Vermittlungsmethode gelernten, so scheint ein kleiner Vorteil bei
der letzteren zu liegen; doch stehen bei der Wiedererlernung nach
24 Stunden der einen Lesung beim G. -Verfahren 3 Lesungen gegen-
über, welche nötig waren, um das beim Vermittlungsverfahren um
ein Minimum schneller Erlernte wiederzulernen.
Fassen wir die ziffernmäßigen Resultate der XI. Versuchsreihe
in Mittelwerte zusammen — wobei also das Resultat von Herrn B.
auszuschalten ist — , bo ergibt sich, daß die übrigen fünf Vp.
insgesamt nötig hatten
für Erlernung der zwei Strophen: 61 Lesungen
und » Wiedererlernen derselben: 12 »
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Ernst Ebert und E. Menmann,
Durchschnittlich brauchte also auf diesem Niveau ihrer Ge-
dächtnisfunktion jede Vp.
zur Neuerlernung 12,2 Lesungen J Mittlere Ersparnis also
und > Wiedererlernung 2,4 > I 9,8 Les. oder 80,32 % .
Suchen wir einen Mittelwert für jede Vp. einzeln zu gewinnen,
indem wir wie bei den drei vorhergehenden Versuchsreihen auf
die kleinste konstante Einheit zurückgehen, so müssen wir hier
bei dem poetischen Stoff als solche ansehen die metrische Einheit
der Gedichtzeile, deren jedes bei den drei »Schnitten« verwen-
dete Pensum 16 aufwies. Zur Einprägung einer solchen Gedicht-
zeile brauchte
Herr Br. 0,62 Lesungen, zur Wiedererlernung 0,12 Lesungen
» F. 0,62 > > . 0,12
» Prof. M. 0,93 > > . 0,06
Fräulein S. 0,93 » > > 0,25
Herr Dr. W. 0,68 > » > 0,18
Setzen wir den entsprechenden Wert für Herrn B. noch mit
hierher um der Vollständigkeit und des Vergleiches willeu, so
beträgt er 1,21 für die Neulernung und 0,05 für die Wiedererler-
nung einer der von ihm bewältigten 32 Zeilen. Auch hier zeigt
sich wieder, daß der Aufwand an Wiederholungen laugsamer
wächst als das Arbeitspensum. Aus obiger Zahlenreihe ergibt sich,
daß durchschnittlich nötig waren
für Erlernung einer Gedichtzeile 0,76 Lesungen
und » ihre Wiedererlernung nach 24 Stunden 0,14 »
Aus letzterer Größe ergibt sich als durchschnittlicher Ersparniswert
81,33 %.
Setzt man vergleichshalber die betr. Werte für Herrn B. noch
in die Berechnung mit ein, so verschiebt sich das Bild folgender-
maßen: Für Neu- bzw. Wiedererlernung einer Gedichtzeile er-
scheinen dann nötig im Durchschnitt
0,83, bzw. 0,13 Lesungen,
der mittlere Ersparniswert steigt hiernach auf 84,33 % .
XII. Versuchsreihe.
Mit dieser Versuchsreihe fand die Aufnahme des Ausgangs-
stadiums des Gedächtnisses unserer Vp. ihren Abschluß. Ihr
Gegenstand war, zu untersuchen, wie groß anfanglich bei ihnen
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Über einige Grundfragen der Psychologie der rbungsphänoinene usw. 65
speziell die Fähigkeit war, philosophische Prosa sich wort-
getreu einzuprägen. Das Lernmaterial entnahmen wir, wie
schon bei der VII. Versuchsreihe, der Schrift Lockes Ȇber den
menschlichen Verstand«, Ubersetzt von Kirchmann, und zwar um-
faßte es dort genau 20 Druckzeilen, welche auf einem Blatt Papier
kalligraphiert den Vp. vorgelegt und von diesen, wie üblich, nach
dem G. -Verfahren halblaut durchgelesen wurden. Die zu lernende
Stelle lautete:
»Wenn die Seele die Vorstellung von der Länge einer gewissen
Ausspannung erlangt hat, mag es eine Spanne oder ein Schritt oder
sonst eine sein, so kann sie, wie gesagt, diese Vorstellung wieder-
holen und so durch Vermehrung diese Vorstellung vergrößern und sie
zwei Spannen oder Schritten gleichmachen und dies so oft wiederholen,
bis die Länge der Länge irgendeines Abstand es auf der Erde gleich-
kommt und so wächst, bis sie den Abstand von der Sonne oder von
den entferntesten Sternen erreicht. Bei einem solchen Fortgang, ent-
weder von dem eigenen Standort oder von jedem andern, kann man
weiterschreiten und Uber all diese Längen hinausgehen, ohne daß man
dabei durch etwas gehindert wird, und zwar sowohl mit einem Körper
wie ohne solchen. Man kann zwar leicht in Gedanken an das Ende der
körperlichen Ausdehnung gelangen, und es ist nicht schwer, an da«
Ende und die Grenze alles Körperlichen zu gelangen; allein von dort
hindert nichts die Seele, in das EndloBe weiterzugehen, und sie kann
nie das Ende der Auaspannung finden oder sich vorstellen.«
Dieser Text ist für die Erlernung sehr schwierig und verleitete
wegen des Vorkommens ungewohnter, etwas veralteter Ausdrucke
zu Fehlern, indem die meisten Vp. statt des selteneren, wenn
auch nicht minder anschanlichen Ausdrucks »Ausspannung c das
modernere Wort »Ausdehnung« einsezten, desgleichen für »Abstand«
das Wort »Entfernung« gebrauchten, usw. Diese Vertauschungen
synonymer Ausdrücke erhalten sich weit Uber die Anfangsstufe
des orientierenden Lesens hinaus; nachdem sie beim meist Wort
für Wort oder doch wenigstens Wortgruppe für Wortgruppe vor-
schreitenden, durch auffalliges Retardieren kenntlichen apperzipie-
renden Lesen und der folgenden Stufe des eigentlich einübenden
Lesens fast gänzlich unterdrückt waren, tauchten sie bei den ab-
schließenden Stufen der Erlernung, beim antizipierenden und kon-
trollierenden Lesen, wieder häufiger auf. So erhielten sich z. B.
bis zum Aufsagen, bei dem sie freilich durch sofortige Selbst-
korrektur gleichsam ungeschehen gemacht zu werden suchten,
folgende Vertauschungen : Herr B. sagte kontinuierlich für »von
jedem andern« (Standort) »von irgendeinem andern«, — in
Archi? für P«jchologi*. IV. 6
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66
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Ober einige Grandfragen der Psychologie der Übnnggphänomene usw. 67
demselben Passus setzte Fräulein S. beharrlich »Standpunkt« an
die Stelle von »Standort«, — kurz vorher vertauschte Herr Dr.
W. bei nahezu allen Lesungen das Wort »Sternen« mit »Planeten«.
— Ahnlich erhielten sich auch Weglassungen bis zum Auf-
sagen, z. B. ließ Herr Br. permanent im ersten Satz weg »und so
durch Vermehrung diese Vorstellung vergrößern«, — Herr Prof. M.
hatte ganz dieselbe Mühe mit der Einschaltung »nnd zwar sowohl
mit einem Körper wie ohne solchen«. Alle Vp. bekundeten, daß
diese Schwächen der Erlernung an sogenannten »leichten« Stellen
vorkamen, — also an Stellen, auf welche sich die Aufmerksam-
keit nur sekundär richtete, da sie — siehe Protokoll notiz bei
Herrn Dr. W., Herrn Br. und Herrn F. ! — primär beansprucht wurde
von den dominierenden Stellen des Memorierstoffes. Herr F., der
diesen Versuchen mit philosophischer Prosa ein ganz besonderes
Interesse entgegenbrachte und wohl zum Teil gerade deshalb die
» besten c Erlernungen erzielte, äußerte sich dahin, daß er glaube,
man werde um so eher »frei« vom Blatt und »könne um so ökono-
mischer derartige Materien erlernen, je mehr es gelinge, die beherr-
schenden Stellen herauszufinden, von denen aus sich das Übrige als
Füllwerk zwischen den tragenden Pfeilern von selbst ergibt, —
auch hinsichtlich der letzten Details der Sprachform«. Er sowohl,
wie auch Herr B. und Herr Br. halten diese »tragenden Pfeiler«
für ziemlich identisch mit denjenigen Stellen, welche beim aus-
drucksvollen Sprechen durch besonderes Modulieren und Akzen-
tuieren hervorgehoben werden, — sogar durch ein gewisses Pathos;
Übrigens ist auch laut Protokoll Herr Dr. W. auffällig bemüht
gewesen, sich durch ausdrucksvolles Sprechen und schärfstes Heraus-
heben des Sinnes durch die Betonung zu unterstutzen; obwohl
Herr Dr. W. die relativ schnelle Erlernung in allererster Linie
dem Umstand zuschreibt, daß er seit geraumer Zeit nie eine Ge-
dächtnishilfe in seinen Vorlesungen benutzt, so darf man wohl an-
nehmen, daß bei ihm wie auch bei den andern oben bezeichneten
Vp. starke positiv-emotionelle Hilfen gesetzt waren, und daß an-
scheinend speziell für ProsastUcke das rhetorische Element die-
selben fördernden Dienste leistet wie das rhythmische bei sinnlosen
Stoffen. Versuchsleiter ist zu dieser Annahme um so mehr geneigt,
als er während seiner siebzehnjährigen Schulpraxis zahlreiche ent-
sprechende Erfahrungen sammeln konnte. Der amtliche Lehrplan
seines Schulbczirks schrieb fUr jede Stufe des achtjährigen Knrsus
5*
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68
Ernst Ebcrt und E. Meumann,
das dauernde Einprägen einer kleinen Anzahl deutsch -sprachlicher
MusterstUcke vor, welche im Unterricht selbst zu memorieren waren.
Um des Prinzips größtmöglicher Selbsttätigkeit der Schiller willen
verfuhr Versuchsleiter dabei mitunter so, daß er den jeweiligen Teil
des Pensums, den er für eine gewisse Lektion bestimmt hatte, von
einem Schiller vorlesen ließ, der sich durch musterhaftes Sprechen
auszeichnete. Die übrigen Schüler hatten das Buch geschlossen
und sprachen das (Übrigens vorher explikativ behandelte) Pensum
einzeln oder im Chore nach bis zur Erlernung. Hierbei war zu
konstatieren, daß die Memorierarbeit um so glatter und rascher
verlief, je mehr es gelungen war, aus der Zahl der sich zum Vor-
sprechen meldenden Schüler solche zu finden, welche in ihrer
Sprechart dem für diese Stufe Erreichbaren möglichst nahe kamen.
Überrascht von diesem Faktum machte Versuchsleiter eine Probe
auf dieses Exempel derart, daß er den Prosastoff in den folgenden
Wochen auf die Wandtafel schrieb und die korrekte Betouung in
der einen Lektion mit Strichen und Zeichen aufs genaueste mar-
kierte, in der folgenden diese Hilfen wegließ. Der Effekt war der,
daß die Erlernung regelmäßig in den Stunden müheloser war, in
welchen die musterhafte Betonung auch für den schwächsten
Schüler verständlich markiert war. (Nachprüfungen mittels des
Phonographen ließen sich leicht auf diese oder andere Weise in
jedem Laboratorium für Psychologie anstellen.)
Ungleich wichtiger freilich als alle bisher erwähnten Hilfen
waren für die Erlernung des Prosastoffes diejenigen, welche aus
dem Verständnis der logischen Beziehungen stammten, wozu
nach den spontanen Bekundungen der Herren Br. und F., sowie
von Fräulein S. noch allmählich das anschauliche Vorstellen ein-
zelner Partien des Stoffes kam.
Die Resultate dieser Versuchsreihe sind in Mittelwerten, wenn
man als kleinste konstant bleibende Einheit die einzelne Druck-
zeile nimmt, die folgenden: Die sechs Vp. brauchten insgesamt
für Neuerlernung des Prosastoffs 175 Lesungen
und > Wiedererlernung des Prosastoffs 36 >
mithin durchschnittlich 29,16 Lesungen zum Neuerlernen und
6 Lesungen zur Wiedererlernung nach 24 Stunden.
Zur Erlernung, bzw. Wiedererlernung einer einzigen der
20 Druckzeilen hatten nötig
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Ober einige Grundfragen der Psychologie der Übungephknomene usw. 69
Herr B. 1,8 Lesungen, bzw. 0,6 Lesungen
» Br. 1,3
> F. 0,85
> Prof.M. 1,95
Fräulein S. 1,9
Herr Dr. W. 0,95
» 0,2
. 0,15 >
» 0,3
. 0,35 .
. 0,2
Wir ersehen hieraus, daß auf der hier erörterten Anfangsstufe
der Gesamtuntersuchung im Mittel zur Erlernung, bzw. Wiederer-
lernung einer Druckzeile erforderlich waren
1,45 Lesungen, bzw. 0,3 Lesungen,
daß also der durchschnittliche Ersparniswert auf dieser Stufe
79,31 % beträgt.
An dieser Stelle erscheint es angezeigt, auf die Erlernungs-
zeiten einen Blick zu werfen (vgl. Tabelle XII). Wir greifen ein
paar Stichproben aus den Tabellen heraus, und zwar die Zeiten für
die Erlernungsextreme, die Erlernung mit 17 und die mit 39 Le-
sungen, erstere stattfindend in der Zeitspanne von 52 Min. 15 Sek.,
letztere mit einem Zeitaufwand von 70 Min. 20 Sek.; zur Been-
digung einer einzigen Lesung waren bei der günstigeren Erler-
nung nötig 3 Min. 4,41 Sek., im andern Falle 1 Min. 47,69 Sek.
Erinnern wir uns des drastisch belehrenden Ergänzungsversuclis,
den Herr Prof. M. zur ersten Versuchsreihe unternahm, und der
die Wirkung minimaler Pausen im gedächtnisfbrdernden Sinne
dartat, so wird uns leicht verständlich, warum eine Lesung von
3 Min. 4,41 Sek. Dauer relativ schneller und ökonomischer zur
Erlernung fuhrt als eine Lesung von 1 Min. 47,69 Sek. Dauer.
Die langsamere Lesung bewirkt eine gleichmäßigere Verwendung
der Mittel, bzw. der Partialfunktionen der Aufmerksamkeit, — das
einzelne wird schärfer fixiert, und der Sinn des Ganzen wie der
einzelnen Sätze umfassender apperzipiert. Daß sich hierzu noch
emotionelle Hilfen positiver Art gesellen, darf man wohl aus der
im Protokoll verzeichneten Bemerkung des Herrn F. (dazu des
Herrn Br.) entnehmen, — daß nämlich die hier wie bei den zwei
vorhergehenden Versuchsreihen gebotene Möglichkeit, das Lern-
tempo selbst zu regulieren, viel angenehmer sei als das Lernen
nach dem Zwangstempo der vorher benutzten »Maschine« (Kymo-
graphion). — Das mit 17 Lesungen erfaßte Pensum wurde nach
24 Stunden wiedererlernt mit 3 Lesungen, wozu Vp. gebrauchte
7 Min. 50 Sek., — zu einer Lesung bedurfte sie also im Mittel 2 Min.
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Ernst Ebert und E. Menmann,
36,66 Sek. Die Vp., welche 39 Lesungen aufgeboten hatte, brauchte
nach 24 Stunden 6 Lesungen zur Wiedererlernung, laut Protokoll
erfolgt binnen 10 Min. 2 Sek., — zu einer einzelnen Lesung waren
hier also nötig 1 Min. 40,33 Sek. Anscheinend hat also auch
beim Wiedererlernen der langsam Lesende den Vorteil.
Die Erlernung mit 19, bzw. 38 Lesungen bieten schon dadurch,
daß sie sich wie 1 zu 2 verhalten, Anlaß, das Verhältnis der Er-
lernungszeiten zu beachten. Zu einer der 19 Lesungen waren
nötig 2 Min. 19,42 Sek., zu einer der 38 liesungen desgleichen
1 Min. 54,10 Sek. — Wiedererlernt wurde der Stoff von den be-
treffenden Vp. mit 7, bzw. 4 Lesungen, — auf eine Lesung ent-
fielen dabei durchschnittlich 1 Min. 29,14 Sek., bzw. 2 Min. 8,75 Sek.,
— quantitative Ergebnisse, welche das Urteil auf voriger Seite
ebenso zu bekräftigen geeignet sind, wie ein Blick auf die Zahlen
der Zeitverhältnisse bei 26, bzw. 36 Lesungen bis zur Erlernung.
Wie außerordentlich vorsichtig man aber im allgemeinen mit
Schlüssen aus den Zeitverhältnissen sein muß, zeigen aus den
beiden vorhergehenden Versuchsreihen jene Fälle, in denen eben-
derselbe Stoff von zwei verschiedenen Vp. zwar mit derselben
Zahl von Lesungen, jedoch in verschiedenen Zeiten erlernt wurde.
Ich nenne beispielsweise aus der X. Versuchsreihe den Fall mit
den Herren B. und Br., aus der XI. Versuchsreihe den Fall mit
Herrn Prof. M. und Fräulein S. 30 Vokabeln erlernten die Herren
B. und Br. mit je 10 Lesungen in 12 Min. 20 Sek. , bzw. 14 Min.
Die Zeitdifferenz von 80 Sek. erklärt sich wohl hauptsächlich aus
dem langsameren Lesetempo des gegen 30 Jahre älteren Herrn Br.
Ebendicsc 30 Vokabeln erlernte Herr B. in einer Lesung von 1 Min.
2 Sek. Dauer wieder, — Herr Br. brauchte dazu 5 Lesungen mit
einem Zeitaufwand von 3 Min. 52 Sek. — Offenbar kommt in
diesen Zifferunterschiedeu nicht nur die Differenz der Tages-
zeiten zum Ausdruck (Herr B. lernte früh zwischen 7 und 8 Uhr,
— Herr Br. abends gegen 7 Uhr), vielmehr bei Herrn Br. auch
der Einfluß der Ermüdung nach vielstündiger praktischer Schul-
tätigkeit und der Effekt der Verstimmung Uber seine gesundheit-
liche Disposition.
In dem oben gestreiften Fall aus der XI. Versuchsreihe, be-
treffend das Erlernen von zwei Gedichtstrophen durch Herrn Prof.
M. und Fräulein S., scheinen die Verhältnisse ganz ähnlich zu
liegen. Beide Vp. hatten bis zur Erlernung 15 Lesungen nötig,
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CTber einige Grandfragen der Psychologie der Übungspbknomene usw. 71
wozu Herr Prof. M. 14 Min. 55 Sek. braucht, — Fräulein S.
aber 16 Min. 4 Sek. Zur Wiedererlernung brauchte Herr Prof. M.
1 Lesung und 2 Min. Zeit, Fräulein S. 4 Lesungen und 5 Min.
10 Sek. Zeit; daß Fräulein S. zur Neuerlernung so viel größeren
Aufwand von Zeit nötig hatte, macht nach ihrer Ansicht die ver-
stimmende Ermüdung erklärlich, unter der sie an jenem Versuchs-
t&ge litt und welche herabsetzend auf die Aufmerksamkeit wirkte.
Wir beabsichtigen, später auf die Lernzeiten und ihre Beziehung
zur Ökonomie des Lernens noch einmal zurückzukommen.
III. Kapitel:
Erste Serie der Einübungsversuche.
Die Aufnahme des Anfangszustandes des Gedächt-
nisses unserer Vp. betrachteten wir mit den bisher dis-
kutierten zwölf Versuchsreihen als abgeschlossen; wir
wendeten uns daher nunmehr ohne weiteres der
einseitig-mechanischen Einübung
unserer Yp. zu; wir führten dies aus in acht Versuchsreihen,
deren jede vier zwölfsilbige Normalreihen umfaßte;
jede der vier Normalreihen vertrat je eine der vier Lern-
methoden, die wir gelegentlich dieser Einübung auf ihren öko-
nomischen Wert hin zu prüfen beabsichtigten. Die ersten beiden
dieser Lernmethoden sind speziell durch die mehrjährigen Versuche
im Züricher Laboratorium und deren Mitteilung hinreichend sowohl
in ihren Vorzügen, als auch nicht minder in ihren Schwächen bekannt
geworden *), — es ist dies das Ganz-Lern- oder G.- Verfahren, welches
fast ausschließlich auch bei den »Querschnitten« befolgt wurde, und
das Teil-Lern- oder fraktionierende, das sogenannte T.-Verfahren,
bei welchem das G.- Verfahren erst auftritt, sobald jeder der zwei
gleichen Teile der Reihe für sich gelernt und aufgesagt wurde.
Diesen beiden Lernarten wurden gegenübergestellt zwei »ver-
mittelnde Methoden«, welche die Vorzüge derG.- und T. -Methode
zu vereinigen suchen. Die erste — wir wollen sie als I. V.-Mc-
thode oder 2x6-Reihe bezeichnen — hat eine Pause im Zeitwert
eiuer Silbe in der Mitte der Reihe. Die zweite — bezeichnet
als II. V.-Methode oder 3x4- Reihe — zeigt zwei derartige
lj Vgl. Archiv f. d. gea. Psychologie Bd. I, Heft 4, S. 417 ff.
72 , Ernst Eben und £. Meumann,
i
Pausen, welche nach dem ersten, bzw. zweiten Dritteil der
Reihe eingeschaltet sind. — Die Aufeinanderfolge der Methoden
in den acht Turnussen wechselte so, daß die beiden V.-Methoden
bei jedem ungeradzahligen Turnus an das Ende, bei jedem gerad-
zahligen an den Anfang gestellt wurden. An jedem Versuchstage
wurden in der Segel zwei Reihen neu gelernt, nachdem vorher
die beiden früher gelernten wiederholt waren. Die äußere An-
ordnung dieser Versuche war naturgemäß ganz dieselbe wie bei
der VIR Versuchsreihe, wo derartige Reihen das erstemal auf-
traten. Die beifolgenden acht Tabellen zeigen in ihren Ziffern
und Protokollangaben, wie sich diese Einttbungsversuche gestalteten ;
sie bilden in der gesamten Untersuchung die
XIII.— XX. Versuchsreihe1).
Wenn wir diese acht Versuchsreihen nunmehr gemeinsam dis-
kutieren, so dürfte sich dies dadurch rechtfertigen lassen, daß sie
ein zusammenhängendes Ganzes bilden, — das Ganze der ein-
seitig-mechanischen Einübung oder wenigstens ihre erste
und für die Hälfte der Vp. umfänglichste Phase; dazu kommt,
daß die bei diesen Versuchen beobachtete äußere Anordnung eine
konsequent gleichmäßige war; endlich würden bei Einzelbetrach-
tung der Versuche sich Wiederholungen häufen und den nötigen
Überblick wesentlich erschweren.
Beide hier im Vordergrund des Interesses stehende Haupt-
punkte werden wir am besten treffen, wenn wir die Effekte der
einzelnen Methoden an der Hand des tabellarisierten Zahlenmaterials
bei den einzelnen Vp. zunächst ohne alle weiteren Erörterungen
verfolgen. Beginnen wir also sofort mit der speziellen Betrachtung
der Wirkung der G. -Methode bei den einzelnen Vp. !
Herr B. erlernte nach ihr die acht Normalreihen bei ihrer
Neuerlernung mit 19 Lesungen, bzw. Wiedererlern, mit 4 Lesungen
> 20 > • » 4 »
> »15» » » »4»
» 14 i > > 6
, 17 . » » 6
» > 13 > » » • 4
> » 10 » » 4
> » 7 > * » » 4 »
1; Die Tabellen folgen auf S. 87 ff.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übangsphänomene usw. 73
Sachen wir, um den Fortschritt festzustellen, die sich entsprechen-
den Mittelwerte für die ersten und alsdann für die letzten vier
Reihen, so ergeben sich als solche
17 Lesungen, bzw. 4,5 Lesungen
und 11,75 » » 4,5 »
Herr B. hätte also nach dieser Methode beim Neuerlernen einen
Fortschritt von 30,88 # gemacht, während beim Wiedererlernen
kein Fortschritt konstatiert werden kann. — Das sich aus den
eben festgestellten Werten ergebende Mittel überhaupt beträgt
14,37 Lesungen, bzw. 4,5 Lesungen,
woraus sich als mittlerer Ersparniswert ergibt 68,68#.
Bei Herrn Br. liegen für die gleiche Methode die Ziffern so:
Für Neuerlernung, bzw. Wiedererlernung waren nötig
17 Lesungen, bzw. 5 Lesungen
16 » * 6
15 . > 6
15 . » 7
11 , > 6
10 . , 6
11 » < 4
11 > . 6
Die für den Fortschritt signifikanten Mittelwerte aus der ersten
bzw. zweiten Hälfte dieser Lesungszahlen betragen
15,75 Lesungen, bzw. 6 Lesungen
und 10,75 » » 5,5
Danach wäre der Fortschritt des Herrn Br. zu bemessen auf 31,75 #
für Neuerlernung, bzw. 8,33# für Wiedererlernung. — Im
Mittel überhaupt brauchte Herr Br. zur Erlernung bzw. Wieder-
erlernung einer G.-Reihe 13,25 Lesungen bzw. 5,75 Lesungen; der
mittlere Ersparniswert beträgt demnach für ihn 56,98#.
Für Herrn F. ergeben sich aus der Tabelle bei Neuerlernung
bzw. Wiedererlernung einer G.-Reihe
17 Lesungen, bzw. 4 Lesungen
16 . , 6
8 , 4
8 . 5
11 » . 4
18 » 5
8 - 3
8 » 3
74
Ernst Ebort und E. Meuniann,
Die Mittelwerte für Bestimmung des Fortschrittes betragen bei ihm
12,25 Lesungen, bzw. 4,75 Lesungen
und 11,25 > > 3,75
Die Fortschrittswerte beziffern sich also hiernach auf 8,16 bzw.
21,05#; der Mittelwert des Neu- bzw. Wiedcrerlernens Uberhaupt
beträgt 11,75 bzw. 4,25#, — also der mittlere Ersparniswert, pro-
zentual ausgedruckt, 63,82.
Herr Prof. M. hatte fUr die acht G.-Reihen jeweils nütig
24 Lesungen, bzw. 6 Lesungen
23 > 19
19 » 4
23 8
28 > 4
23 > > 8 »
12 7
11 9
Die den Fortschritt markierenden Mittelwerte betragen hier
22,25 Lesungen, bzw. 9,25 Lesungen
und 18,5 > »7
der Fortschritt selbst beläuft sich danach auf 16,89 bzw. 24,33 % .
— Zur Erlernung bzw. Wiedererlernung einer G.-Reihe Überhaupt
bedurfte es fUr Herrn Prof. M. im Mittel 20,37 bzw. 8,12 Lesungen,
— danach bestimmt sich der mittlere Ersparniswert bei ihm auf
60,13#.
Was ferner Fräulein S. betrifft, so erlernte bzw. wiederholte
sie die acht G.-Keihen mit
18 Lesungen, bzw. 7 Lesungen
17 . 7
31 > 8
23 > 7
20 > 6
15 > 5
11 » 7
14 » 5
Ihr Fortschritt ergibt sich aus den Mittelwerten
22.25 Lesungen, bzw. 7,25 Lesungen
und 15 » » 5,75
Digitized by Google
Über einige Grandfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 75
er beträgt 32,58 bzw. 20,69 %. Fräulein S. gebrauchte also
durchschnittlich zu einer Erlernung bzw. Wiedererlernung 18,62 Le-
sungen bzw. 6,5 Lesungen, — die Ersparnis betrug demnach im
Mittel bei ihr 65,09#.
Bei Herrn Dr. W. endlich sieht die Reihe der Erlernungs- bzw.
Wiedererlernungsziffern so aus:
16 Lesungen, bzw. 7 Lesungen
16 , 8
13 » » 4
13 » 4
15 > 8
12 . > 4
15 > 7
13 . 4
Die für den Fortschritt maßgebenden Mittelwerte betragen
14,5 Lesungen, bzw. 5,75 Lesungen
und 13,75 » > 5,75 »
Auf Seiten der Neuerlernungen ist demnach ein Fortschritt in Höhe
von 5,17 # zu konstatieren. — Die Mittelwerte für Erlernen bzw.
Wiederholen betragen 14,12 Lesungen bzw. 5,75 Lesungen, — der
mittlere Ersparniswert heißt 59,27#.
Auf Grund dieser ziffernmäßig vorliegenden Tatsachen läßt sich
auf kürzeste Weise der Effekt der G.-Methode für diesen Teil der
Einübung so bestimmen:
Durchschnittlich wurde eine G.-Reihe erlernt mit 15,41 Lesungen,
desgleichen wiedererlernt mit 5,81 Lesungen. Der durchschnittliche
Ersparniswert beläuft sich demnach auf 62,32#; der Fortschritt,
welcher sich ergibt, wenn man die mittleren Werte der ersten vier
Versuchsreihen mit denen der letzten vier Versuchsreihen ver-
gleicht, beträgt durchschnittlich für das Neuerlernen 20,9#, für
das Wiedererlernen 25,73#. Diese quantitativen Bestimmungen
werden im Verein mit den noch für die drei andern Methoden
zu eruierenden den besten Maßstab für die Gewinnung eines ab-
schließenden Urteils Uber die vorteilhafteste Lernmethode bieten.
Verfolgen wir weiter die Resultatziffern, welche sich auf das
T.-Verfahren beziehen, so finden wir für Herrn B. folgendes:
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76
Ernst Ebert und E. Meuiuann.
Zur NeuerlernuDg waren nötig
4 + 3
— 2 h 9 Lesungen, zur Wiederholung 4 Lesungen
4 + 5+21
2
5 + 7
2
5 + 6
2
6_+5
2
4 + 3
+ 19
+ 6
+ 5
+ 6
* + * + 7
2 + '
3 + 2
2
+ 4
5
9
8
4
3
3
6
Vorausgesetzt, daß man je 2 Lesungen der Reihenhälften alsGanzlesung
setzen kann, so ergibt sich als durchschnittlich nötig für Erlernung
einer T. -Reihe die Summe von 13,86 Lesungen, für ihre Wiederholung
die von 5,25 Lesungen, — als mittlerer Ersparniswert ergeben eich
62,12 %. Der Fortschritt wäre zu bestimmen nach den Mittelwerten
18,61 Lesungen, bzw. 6,5 Lesungen
und 9,12 »4
er beläuft sich demgemäß auf 50,99 bzw. 38,46
Herr Br. ferner brauchte zur Erlernung bzw. Wiederholung der
8 T.-Reihen
4 + 6 + HLeS0
ngen, bzw. 7 Lesungen
7t6+io
. 6
. 7
. 7
2 + 8
> i 7 »
4 + 5+ 7 .
2 -t-
. 6
2 + 6
> 7
2+2 .
. 5
Digitized by Google
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 77
Er brauchte mithin zur Erlernung, bzw. Wiederholung einer ein-
zigen T.- Reihe rund 11,81 Lesungen, bzw. 6,5 Lesungen. — die
Ersparnis betrug für ihn durchschnittlich 44,03 %. Der Fortschritt
der Übung ergibt sich bei ihm aus den Mittelwerten
13,75 Lesungen, bzw. 6,75 Lesungen
und 9,87 > > 6,25
prozentual bestimmt wird er also durch die Werte 28,21 %, bzw.
7,4*.
Herr F. wandte fllr die T.- Reihen auf im einzelnen
4 + 5
— 2 f- 3 Lesungen, bzw. 5 Lesungen
5 + 6
2
3+_4
2
4 + 4
2
4 + 6
2
5 + 5
2
3_+_3
2
3 + 2
2
Durchschnittlich benötigte er zur Erlernung einer einzelnen T.-Reihe
7.24 Lesungen, bzw. zu ihrer Wiedererlernung nach 24 Stunden
4.25 Lesungen. Er erzielte also eine durchschnittliche Ersparnis
dabei von 41,29 Den Fortschritt der Lernfertigkeit bezeichnen
bei ihm folgende Mittelwerte:
7,87 Lesungen, bzw. 4,5 Lesungen
6,62 > > 4
er beträgt danach 15,88 % für das Neuerlernen und 11,11 % für
das Wiederholen.
Für Herrn Prof. M. gelten hinsichtlich der Erlernung, bzw.
Wiederholung der acht T.- Reihen die folgenden Angaben der
TabeUen:
+ 4
>
5
+ 3
>
4
+ 4
»
4
+ 4
>
4
+ 3
•
5
+ 3
»
4
+ 1
»
3
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78
Ernst Ebert und E. Meumann,
4 + 3
— ^ h 16 Lesungen, bzw. 7 Lesungen
44-7
2
4 + 5
-2~
3 + 3
2
2 + 6
2
4 + 5
+ 24
+ 17
+ 9
+ 25
+ 13
2
4 + 4
t + 4
4 + 4
+ 4
18
6
4
4
ti
7
10
Zur vollständigen Einprägung, bzw. Wiederholung einer T.- Reihe
bedurfte er also durchschnittlich 18,12 Lesungen, bzw. 7,75 Lesungen,
— er wiederholte also im Mittel mit einer Ersparnis von 57,22 %.
Für Feststellung des Fortschrittes sind maßgebend die Mittelwerte
20,62 Lesungen, bzw. 8,75 Lesungen
nnd 15,62 » » 6,75
Er beträgt hiernach 24,24 bzw. 22,85
Frl. S. sodann zeigt folgende Angaben betreffs der T.-Methode:
4 + 4
— 2 h 12 Lesungen, bzw. 10 Lesungen
3 + 5
2
4 + 3
2
1 + 5
2
3 + 5
2
3 + 3
2
4 + 4
2
2 + 2
2
+ 18
+ 18
+ 30
+ 9
+ 10
+ 8
+ 5
7
9
10
9
7
7
5
Digitized by Google
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 79
Durchschnittlich erlernte, bzw. wiederholte sie eine T.-Reihe mit
17,18, bzw. 8 Lesungen, dabei eine Ersparnis von 53,43 # er-
zielend. Nach den diesbezüglichen Mittelwerten
23,12 Lesungen, bzw. 9 Lesungen
und 17,18 »7
beträgt der Fortschritt hier 51,34, bzw. 22,22 %.
Endlich lernte Herr Dr. W. die acht T.- Reihen wie folgt:
6+10
2
14+J1
2
4 + 5
2
4 + 5
2
2 + 4
2
4 + 5
2
4+_3
2
5+_3
2
+ 18 Lesungen, bzw. 9 Lesungen
+ 15
+ 12
+ 11
+ 14
+ 11
+ 14
+ 8
5
5
5
10
Zur Erlernung, bzw. Wiederholung einer einzigen T.-Reihe
brauchte er also 18,43 Lesungen, bzw. 6,62 Lesungen, — der beim
Wiedererlernen erzielte Ersparniswert beträgt 64,08 %. Den Fort-
schritt bestimmen für Herrn Dr. W. folgende Mittelwerte:
21,37 Lesungen, bzw. 7 Lesungen,
15,5 » » 6,25 >
hieraus ergibt sich ein Fortschreiten im Werte von 27,46, bzw. 10,71
Wir können nunmehr auf Grund der von Seite 75, unten, an
gewonnenen Werte den Effekt der T.-Methode kurz so be-
stimmen:
Eine T.-Reihe wurde durchschnittlich erlernt mit 14,44 Lesungen,
desgleichen wiedererlernt mit 6,39 Lesungen; erspart zeigten sich
beim Wiederholen im Mittel 53,69 Der aus den Mittelwerten
der ersten und der zweiten Hälfte aller Reihen zu bestimmende
Fortschritt betragt durchschnittlich beim Ncuerlernen 33,02 beim
Wiederholen 18,79
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8(1
Ernst Ebert und E. Meumann,
Wenden wir uns ferner den entsprechenden Resnltatziffern der
I. V.-Methode (2x6 Silben) zu, so ergibt sich zunächst im ein-
zelnen, daß Herr B. die betreffenden acht Reihen lernte, bzw.
wiederholte wie folgt:
14 Lesungen, bzw. 4 Lesungen
12 . 9
9 > 5 >
12 > 7
10 > 5
12 > » 3
10 » 4
9 > 5 v
Er hatte also im Durchschnitt nötig 11 Lesungen, bzw. 5,25 Le-
sungen, — er ersparte beim Wiedererlernen im Mittel 52,27
Der Fortschritt der Übung bestimmt sich bei ihm nach den Werten
11,75 Lesungen, bzw. 6,25 Lesungen
10,25 > » 4,25
er beziffert sich danach auf 12,76 bzw. 32
Bei Herrn Br. finden wir nötig für Erlernen, bzw. Wiederholen
der acht I. V.- Reihen
15 Lesungen, bzw. 7 Lesungen
17 > 7
16 , 7
14 > 6
11 > 6
10 > 7
13 , 7
10 > 5
Hieraus erhellt, daß im Mittel nötig waren 13,25 Lesungen, bzw.
6,5 Lesungen, ferner, daß die mittlere Ersparnis bei ihm 50,94 %
betrug. Sein Übungsfortschritt bestimmt sich nach den Durch-
schnittsgrößen
15,5 Lesungen, bzw. 6,75 Lesimgen
11 > » 6,25
er beträgt, prozentual gesagt, 29,03, bzw. 7,40.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übnngsphänomene usw. 81
Herr F. benötigte für das gleiche Material
12 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
12
7
9
11
11
12
6
7
4
5
5
5
4
3
Er brauchte mithin im Durchschnitt 10 Lesungen zur Erlernung
und 4,5 Lesungen zur Wiedererlernung einer I. V.- Reihe, so daß
die Ersparnis im Mittel 55 % betrug. Den Fortschritt der Übung
bezeichnen die Mittelwerte
10 Lesungen, bzw. 4,75 Lesungen
10 » » 4,25
prozentual bezeichnet beträgt er — %, bzw. 10,52
Herr Prof. M. erlernte den Übungsstoff nach der I. V.-Methode in
19 Lesungen, bzw. 12 Lesungen
19 > 6
14 ,8
16 »6
14 »6
15 > 6
12 > 12
15 ,8
Im Mittel führten bei ihm also 15,5 Lesungen, bzw. 8 Lesungen
zum Erlernen, bzw. Wiedererlernen; die mittere Ersparnis betrug
48,38 #. Nach den mittleren Werten von
17 Lesungen, bzw. 8 Lesungen
und 14 > 8 »
beträgt der Fortschritt 17,64, bzw. — %.
Frl. S. brauchte zu den acht I. V.-Reihen
21 Lesungen, bzw. 8 Lesungen
21
32
18
19
17
12
8
ArchiT Tar Pijeholope. IV.
6
h
5
8
5
6
6
Digitized by Google
82
Ernst Ebert und E. Meumann,
Sie hatte also für eine Reihe durchschnittlich nötig 18,5 Lesungen,
bzw. 5,5 Lesungen; ihre durchschnittliche Ersparnis belief sich
auf 70,27 %. Der Fortschritt der Übung, der nach den Mittelwerten
23 Lesungen, bzw. 6 Lesungen
und 14 > 5 »
bei ihr zu bestimmen ist, beträgt 39,13, bzw. 16,66
Für Herrn Dr. W. schließlich finden sich folgende Ergebnisse in
den Tabellen: 16 Lesungen, bzw. 6 Lesungen
15 » 6
22 » 9
22 . 9
14 » 8
11 » 9
12 » 6
10 , 7
Er benötigte also im Mittel zur Erlernung einer I. V.- Reihe
15,25 Lesungen, bzw. 7,5 Lesungen, — dabei durchschnittlich er-
sparend 50,81 % . Folgende Mittelwerte bestimmen seinen Fortschritt:
18,75 Lesungen, bzw. 7,50 Lesungen
11,75 > » 7,50
Prozentual bestimmt beträgt dieser Fortschritt 37,33, bzw. — %.
Die Berechnungen von Seite 80 bis hierher lassen uns non
das Gesamtresultat bezüglich der I. V.-Methode wie folgt
kurz zusammenfassen:
Eine I. V.-Rcihe wurde im Durchschnitt erlernt mit 13,91 Le-
sungen, dazu wiedererlernt mit 6,2 Lesungen. Die durchschnittlieh
dabei erzielte Ersparnis beträgt 54,61 Der beim Erlernen der
acht Reihen beobachtete Fortschritt beträgt 22,64 % für das Neu-
erlernen und 11,09 # für das Wiedererlernen.
Die Versuche endlich, welche mit der II. V.-Methode (3x4
Silben) angestellt wurden, hatten im einzelnen folgende Ergebnisse:
Herr B. lernte die betreffenden 8 Reihen, bzw. wiederholte sie mit
14 Lesungen, bzw. 4 Lesungen
12 . 7
8 » 4
9 » 4
9 > 4
8 » 4
8 , 3
8 > 5
Digitized by Google
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übnngsphänomene usw. 83
Mithin hatte er im Durchschnitt flir eine derartige Reihe nötig
9,5 Lesungen, bzw. 4,37 Lesungen, — seine Ersparnis betrug im
Mittel 54«£. Seinen Fortschritt bedingen die Mittelwerte
10,75 Lesnngen, bzw. 4,75 Lesungen
und 8,25 » »4
er beträgt dementsprechend 23,44, bzw. 15,55 %.
Herr Br. hatte für den hier gebrauchten Lernstoff nach der
II. V.- Methode nötig
15 Lesungen, bzw. 6 Lesungen
13 * 6
11 . 7
11 > 6
12 > 6
10 > 6
9 > 4
8 i > 3
Er brauchte also durchschnittlich für Erlernung einer solchen Reihe
11,12 Lesungen, zu ihrer Wiederholung 5,5 Lesungen, — er ersparte
im Durchschnitt beim Wiedererlernen 50,53 %. Folgende Mittel-
werte bestimmen den Fortschritt für ihn:
12,5 Lesungen, bzw. 6,25 Lesungen
9,75 . * 4,75
Prozentual ausgedrückt betragt dieser Fortschritt 22, bzw. 24.
Herr F. erlernte, bzw. wiederholte die acht II. V.-Reihen folgender-
maßen :
8 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
12 . 6
7 > » 3 »
10 > 5
8 > » 4 »
7 , 4
11 > 4
6 > * 3 »
Es ergibt sich daraus, daß er im Mittel für eine II. V.- Reihe
brauchte 8,62 Lesungen, bzw. 4 Lesungen und 53,59 # Ersparnis
erzielte. Aus den Mittelwerten
9,25 Lesungen, bzw. 4,25 Lesungen
8 » •■> 3,75 »
berechnet sich sein Fortschreiten auf 13,51, bzw. 11,76 #
6*
Digitized by Google
84
EruBt Ebert und E. Meuiuann,
Herr Prof. M. lernte den betr. Stoff wie folgt: ;
18 Lesungen, bzw. 6 Lesungen
17
15
12
12
12
13
15
7
8
5
4
5
10
6
Durchschnittlich bedurfte er also für eine einzige II. V.-Reihe
14,25 Lesungen, bzw. 6,37 Lesungen, — dabei im Mittel ersparend
55,29 Sein Fortschreiten bezeichnen die Mittelwerte
15,5 Lesungen, bzw. 6,5 Lesungen
13
6.25
Prozentual ausgedrückt, beträgt dasselbe 16,12, bzw. 3,84.
Das Erlernen, bzw. Wiedererlernen nach der n. V.- Methode ver-
lief für Frl. S. folgendermaßen:
17 Lesungen, bzw. 9 Lesungen
17
16
13
13
11
11
12
12
6
7
5
5
5
6
Sie bedurfte mithin durchschnittlich für eine einzige II. V.-Reihe
13,75 Lesungen, bzw. 6,87 Lesungen, — dabei ersparend im Mittel
50,03 %. Folgende mittlere Werte lassen ihren Fortschritt erkennen:
15,75 Lesungen, bzw. 8,5 Lesungen
11,75 » » 5,25 »
Nach Prozenten bestimmt, beläuft sich dieser auf 25,39, bzw. 38,23.
nerr Dr. W. endlich brauchte im einzelnen
♦
13 Lesungen, bzw. 9 Lesungen
14 > 9
12 > 4
12 > 4
14 > 8
9 ,7
11 ^6
9 «5
Digitized by Google
Ober einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 85
Im Mittel bedurfte er also 11,75 Lesungen für das Neuerlernen
einer II. V.- Reihe und 6,5 Lesungen für deren Wiedererlernung;
er ersparte beim Wiedererlernen durchschnittlich 44,68 Seinen
Übungsfortschritt kennzeichnen die Mittelwerte
12,75 Lesungen, bzw. 6,5 Lesungen
10,75 > » 6,5 >
Dieser beträgt in Prozenten 15,68, bzw. — . Auf Grund der
Einzelberechnung von Seite 82 ab fassen wir abermals kurz zu-
sammen und bestimmen den Effekt des II. V.- Verfahrens so:
Eine II. V.- Reihe wurde im Mittel erlernt mit 11,49 Lesungen,
desgleichen wiederholt mit 5,6 Lesungen; die mittlere Ersparnis
betrog 51,35 Der Übungsfortschritt betrug 19,35 # beim Neu-
erlernen, 15,56 % beim Wiederholen.
Vergleichen wir diese eben konstatierten Werte für die II. V.-
Methode mit denen für die G.-, T.- und I. V.- Methode gefundenen
— siehe Seite 75, 79 und 82! — , so können wir feststellen,
daß die II. V.-Methode sich, objektiv betrachtet, als die
empfehlenswerteste im bisherigen Verlaufe der Unter-
suchung gezeigt hat. Der bei ihr resultierende Mittelwert für
Nenerlernung sowohl, wie derjenige für Wiedererlernung ist der
wesentlich kürzeste; nach ihr rangieren betreffs der Mittelwerte
filr Neuerlernung die I. V.-Methode, die T.-, und endlich die
G.- Methode. Letztere kommt der II. V.-Methode am nächsten
im Mittelwert beim wiederholenden Lernen, während sich die
T. -Methode am weitesten von ihr entfernt. — An diesem End-
ergebnis, das unzweideutig auf die Vorzugsstellung der
II. V.-Methode hinweist, vermögen die andern Mittelwerte,
welche sich auf die durchschnittliche Ersparnis nach 24 Stunden
und auf den Fortschritt innerhalb einer jeden »Methode« beziehen,
nichts von Belang zu ändern. Immerhin ist die Umkehrung der
Extreme im Hinblick auf die Ersparniswerte recht beobachtens-
wert; offenbar sind die sukzessiv erfolgenden Assoziationen —
sowohl die unmittelbaren wie die mittelbaren — infolge der
größeren Zahl von Wiederholungen fester verknüpft bei der
G.-Methode. Freilich werden wir uns erst gründlicher und de-
finitiv mit der Beurteilung der hierher gehörigen Tatsachen be-
fassen können, sobald uns auch die Resultate der II. Eintibungs-
periode rechnerisch verarbeitet vorliegen. Übrigens Ubersehe mau
nicht die Annäherung der Resultate des T.- Verfahrens an die des
Digitized by Google
86
Ernst Ebert und E. Heumann,
I. V.-Verfahrens, welch letzteres bezeichnenderweiße sowohl in
den Erlernung»- wie Ersparniswerten um ein wenig günstiger er-
scheint. (Aus den Protokollen ist zu entnehmen, daß einzelne
Vp. vermuten, es hänge das Plus an Lesungen bei der T.-Methode
mit der nötigen Beseitigung unnötiger und störender Assoziationen
[Silbe VI und I!] zusammen, — desgleichen mit der Taktänderung
bei denjenigen Vp., welche sonst regelmäßig im 4/4-Takt lernen,
bei der T.-Methode aber gelegentlich des Erlernens der getrennten
Reihenhälften sich zur Anwendung des '/«-Taktes veranlaßt sehen.)
— Was den prozentual bestimmten Übungsfortschritt betrifft, so
ist er wiederum bei der T.- und I. V.-Methode ein auffällig ähn-
licher, wenn man das Verhältnis des Fortschrittes bei Neuerlernungen
zu dem bei Wiederholungen beachtet; es lautet rund 5:3; es wird
dies bei der II. V.-Methode etwa das Verhältnis von 4:3, — bei
der G.-Methode das Verhältnis von 4 : 5. Letzere Ziffer bezeugt
wieder die bevorzugte Festigkeit der bei der G.-Methode ge-
stifteten Assoziationen.
In der subjektiven Beurteilung der hier ausprobierten vier
Methoden waren laut Protokoll die Ansichten der Vp. am meisten
Ubereinstimmend betreffs der Mängel des T.-Verfahrens; sobald
die Gesamtkonstellation des Bewußtseins infolge von Müdigkeit,
lebhafter Besorgnis, Unlust bzw. Verstimmung eine der Lernarbeit
weniger günstige geworden ist, tritt durch die bei der T.-Methode
nötig werdenden äußeren Manipulationen, weit mehr aber noch
durch den Wechsel der rhythmischen Glieder und dadurch,
daß die Erlernung der Reihenhälften vorzugsweise eine Leistung
des bloß »unmittelbaren Behaltens« ist, eine Verwirrung ein, welche
bewirkt, daß das »Zusammenschweißen« der vorher erfaßten Hälften
einer reinen Neuerlernung nach dem G.-Verfahren gleichkommt;
drastisch illustriert dies die Erlernungsziffer des Herrn B. für die II.
und III. T.-Reihe (S. 76) — ebenso die Erlernung der V. und VI.
T.-Reihe durch Herrn Prof. M. (S. 78) — die Erlernung der IV. T.-Reihe
durch Frl. S. (S. 78) — etwas auch die Erlernung der VII. T.-Reihe
durch Herrn Dr. W. (S. 79). — Positiv Lust und Interesse er-
weckend wirkten die G.- und I. V.-Methode, am meisten aber die
II. V.-Methode, an welche sich einzig Herr Dr. W. mit einigen Schwie-
rigkeiten deshalb gewöhnte, weil sie ihn nötigte, von seinem mit
großer Konsequenz festgehaltenen Vorzugsrhythmus (Dreivierteltakt!)
abzulassen. Regelmäßig kehrt in den spontanen Aussagen der Vp.
Digitized by Google
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene uaw. 87
Digitized by Google
88
Ernst Ebert und E. Meumann,
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphünomene usw. 95
die Bemerkung wieder, daß die Pausen »angenehm« seien, — daß
sie günstig wirkten, »etwa wie das Interpungieren in der Sprache«
Herr B., Protokoll zum VI. Turnus).
Die geringe Konstanz in den Erlernungsziffern hat nach den
übereinstimmenden Angaben der Vp. außer »in der fortschreitenden
Übung und Erlernungstechnik« (Protokoll zum III. Turnus) uicht
nur ihre Ursache in der Variabilität der Gesamtkonstcllation des
Bewußtseins, wie das auf voriger Seite angedeutete Beispiel mit
der T. -Methode zeigt, sondern zu einem nicht geringen Teil in
dem Lernmaterial, den Silben, selbst, — sie sind trotz aller Sorg-
falt des Aufbaues der Reihen keineswegs gleichmäßig schwer zu
erlernen; einzelne Reihen erscheinen phonetisch schwierig, — so für
Herrn Prof. M. die II. V.-Reihe des dritten Turnus, welche lautete:
baz — dek — ziv — gon || — ful — häm — pait — jöx !|
raug — nüs — scheuf — gid.
Herr Prof. M. empfand in dieser Reihe störend bzw. hemmend
das fünfmalige (siehe fetten Druck!) Auftreten gutturaler Laute. —
Fräulein S. fand Schwierigkeiten phonetischer Art in der G.-Reihe
des IV. Turnus, welche hieß:
f Un — boop — dim — geur — tek — jös — mab — zeud —
piesch — lad — wuz — kol.
Die fettgedruckten Vokale bereiteten ihr wegen gegenseitiger Ähn-
lichkeit bzw. Gleichheit Hindernisse. Weiter findet z. B. Herr Dr. W.
phonetische Schwierigkeiten in der G.-Reihe des dritten Turnus,
welche folgendermaßen zusammengesetzt war:
f üch — gaz — käsch — peit — daaf — kun — maup —
zom — nüs — rik — jew — bäul.
Er glaubt die Ursache in dem zufälligen Zusammenfinden vorwiegend
labialer Laute suchen zu müssen. Da in diesen drei Beispielen
wie auch in andern hier nicht erst verzeichneten nur die betreffen-
den Vp. die Schwierigkeiten fanden, muß man wohl annehmen,
daß derartige Schwierigkeiten keine eigentlich objektiven sind, daß
sie vielmehr entstehen durch irgendeine Eigenart des lernen-
den Subjekts.
Bemerkenswert ist die Allgemeinheit, mit welcher sämtliche
Vp. gegen Schluß der Erlernung bzw. Wiedererlernnng der hier
verwendeten 32 Normalreihen zu Protokoll bekunden, daß das Er-
fassen des Materials »immer mechanischer« (Herr F., Herr Prof. M.,
Herr Dr. W.), immer »freier von Assoziationen sekundärer Art«
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I
96 Ernst Ebert und E. Meumann,
(Fräulein S.), immer »weniger bedürftig mnemotechnischer Hilfen«
(Herr B.) werde, — daß »Deutungs versuche immer seltener« auftreten
(Herr Br.). Freilich drängen sich Reminiszenzen der verschiedensten
Art auch den erfahrensten Vp. auf, — so in der auf voriger Seite
zuerst verzeichneten Reihe, wo das Silbenpaar »baz — dek« Herrn
Prof. M. sich zu einem Worte zusammenschließt und deshalb sofort
einprägt, — das Silbenpaar »ful — häm« wegen seines Anklingens an
englische Worte ebenfalls besonders rasch behalten wird. Andere
Beispiele zeigen die Protokollbemerkungen bei sämtlichen Vp.
Desto schneller überwinden sämtliche Beteiligte die Stufen des oben
charakterisierten orientierenden und apperzipierenden Lesens und be-
nutzen ausgiebiger die zur Automatisierung führenden rhythmischen
Hilfen. Die Frage »Was fllr eine Reihe kommt jetzt?« wurde zur
stehenden, da das Gros derVp. zur Erlernung der G.- und II.V.-Reihen
den 4/V-Takt, Zur Erlernung der T.- und I. V.-Reihen den 3/4-Takt ver-
wendete; nur Herr Prof. M. band sich nicht starr an bestimmte Takte,
— er benutzte eingliedrige Rhythmen und zuweilen Trochäen neben
der vom Gros der Vp. beliebten rhythmischen Artikulation, — siehe
die Protokollnotizen zum Vn. Turnus. Während der ersten drei
Turnusse experimentierte auch Fräulein S. öfters mit Trochäen bei
G.- und V.-Reihen, doch schlössen sich bald je zwei Trochäen
in beachtenswerter Weise zum 4/4-Takt zusammen. — Ganz be-
sonders drastisch trat die unterstützende Wirkung des Rhythmus
in einer Anzahl von Fällen bei der Wiedererlernung von Reihen
hervor, — siehe die Protokollnotizen zum V. und VI. Turnus! Diese
Reihen waren als T.- und I. V.-Reihen von Herrn F. und Herrn
Prof. M. im 3/4-Takt erlernt worden, — es stellte sich aber bei
der Wiedererlernung bei diesen Vp. heraus, daß sie ökonomischer,
d. h. mit weniger Verbrauch an Zeit und Mühe, erfaßten, wenn
nie Kenntnis von der Methode des erstmaligen Lernens hatten,
also die G.-Reihe der bezüglichen Wiederholung nicht wie sonst
im «/«-Takt, gondern im 3/4-Takt erlernten.
Das Verhalten der einzelnen Vp. werden wir später bei den
speziellen Versuchen Uber den Gang der Aufmerksamkeitsakte be-
rücksichtigen. — Konstatieren wir noch am Schlüsse die Mittelwerte
fUr sämtliche Einübungsreihen ohne Rücksicht auf die Lernmethoden:
Erlernt wurde eine Kormalreihe mit durchschnittlich 13,81 Le-
sungen, wiederholt mit 6 Lesungen; erspart wurden 55,49$; der
Fortschritt betrug 23;97 bzw. 17,79 %.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 97
IV. Kapitel:
Erstmalige Kontrolle des Übungseffektes.
Die folgenden zwölf Versuchsreihen bezweckten, die einseitig-
mechanische Einübung durch einen Kontrollquerschnitt durch
das Gedächtnis der Vp. zu unterbrechen, welcher — in völliger
Analogie zur Aufnahme des Ausgangsstadiums ihres Ge-
dächtnisses geführt — dartun sollte, inwieweit sich bis
jetzt das Phänomen der indirekten Übung, also der Mit-
übung anderer Spezialgedächtnisse als desjenigen für
sinnloses Silbenmaterial nachweisen ließe; da es aber eben
nur ein Kontrollquerschnitt sein sollte, dem alsbald wieder die
einseitige Einübung folgen mußte, bzw. alsdann der alle Haupt-
ergebnisse der Untersuchung in sich schließende Schlußquerschnitt,
so sei bei Besprechung der folgenden zwölf Versuchsreihen alles
das Beobachtungsmaterial zurückgestellt, welches nicht unbedingt
nötig znr scharfen Herausarbeitung der Tatsachen der bisherigen
Mitübung ist.
Die XXI. — XXVII. Versuchsreihe sollte zunächst die indirekte
Übung der Fähigkeiten des unmittelbaren Behaltens darlegen.
War eine solche indirekte Übung erfolgt, und in welchem
Maße?
XXI. Versuchsreihe.
Zweck dieser Versuchsreihe war, die durch das (30 Versuchs-
tage fortgesetzte) Lernen sinnloser Silben erreichte Mitübung des
unmittelbaren Behaltens von Zahlen festzustellen. Achten
wir zunächst wieder wie bei der ersten Versuchsreihe auf die Null-
grenzen, so zeigt sich folgende Veränderung:
Herr B. merkte jetzt 9, früher 7 Zahlen, also
+ 2 = 28,57 #
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XXI. Versnchsreihe: Unmittelbares
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VIII, XI.
II; -IX, X. XIV; 5- <
III. V; VI. VIII.
XI. XII, XVI; 4 Vi
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XVI. XVII.
III. IV. V, VI. 5-4
VII. VIII. XII,
XIV; XV, XVI.
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iii-ü rennen iitin Kjprrimen-
ttn. — durh merU Ar -ein
Ititero'vo für di« V« rvuctie
11, V.
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VIII korrigiert.
1V.X11;V.VIII: 1> 4 : — XI: VI. XI,
bei IX für 3-* 13!
X, XI.
III. VI. \ II. 1-/. — Vll; V. VI.
VIII.
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XIII, XVII.
-VII. IX. XI,
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xvi, xvii
IV.V VII VIII.
X: XI. XII.
VII. X, XI. XII.
XIII. XIV;
XIX.
— VIII; III. IV;
VI.VIFXl.XllI.
- V. VI; IX. XI:
X. XII
IV.V.V1I.V1II,
XI. XIVjI.lll;
XIIIXV.IX.X.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 99
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Behalten von Zahlenreihen.
! Herr Prof. M. fühlt sich
Ton vornherein ermüdet, ab-
gespannt infolge rorhergeh.
intensiver Betätigung. OrOß.
LeSelitijjlfit merl (bar. Kon-
tin. Konaentratlon nOtig.
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Herr Prof. M.
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Starku Lustgefühle, Inter- j< Disposition im allge-
esae am Zuwachs dos g<>- meinen nicht sonderlich
dücti Unmäßigen Küanens
gut.
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100 Ernst Ebert und E. Henmann,
Es worden also durchschnittlich 1,83 Zahlen mehr gemerkt,
nämlich durchschnittlich 8,83 Zahlen, gegen frühere 7 (siehe die
Tabelle S. 15 unten!)', prozentual bestimmt also 29,04, — Werte,
die offenbar hinter dem eigentlichen Tatbestand des
Fortschrittes zurückbleiben, denn sowohl Herr B. wie Herr
Prof. M. und Herr Dr. W. klagen Uber wenig günstiges Befinden,
bzw. Uber einige Abspannung infolge vorhergehender Arbeiten.
Achten wir — unter definitiver Weglassung der 50 Fehler-
grenze — auf die Verschiebung der 33 y3# -Fehlergrenze, so erhalten
wir folgendes Bild:
Herr B. erreicht sie jetzt bei 19 Zahlen, früher 10, -f 9 = 90,00#
» Br. » > > > 20 >
> F. » » 17 »
» Prof.M. » » » » 15 »
Frl. S. > 14
Herr Dr. W. » > » » 10 *
ll, + 9= 81,72#
8,4-9 = 112,50^
11,-4-4= 36,36 #
12,4-2= 16,66#
10,4-0= —
Diese Fehlergrenze stieg also durchschnittlich um 5,5 Zahlen;
während sie früher im Mittel bei 10,33 Zahlen lag, finden wir sie
hier beim Mittel von 15,83 Zahlen. Sie hob sich also um 56,20#
— ein Wert, der sehr bemerkenswert ist, aber sicher ebenfalls
hinter dem faktischen Fortschritt zurückbleibt. — Von den De-
tails der Protokollaussagen seien nur diejenigen, welche für unser
Hauptproblem, das der Übung, wegleitend sind, kurz hervorgehoben :
Herr B., Herr F. und Fräulein S. bekunden, daß sie mehr > Inter-
esse« an der Sache gewonnen hätten und — gleich Herrn Br. —
merklich »leichter« behielten; Herr Prof. M. beobachtet an sich
gleichfalls größere Leichtigkeit des Behalten» trotz der fühlbaren
Abspannung, — er betont, wie es entscheidend sei für die Erfassung
wie für die Wiedergabe, daß die Konzentration eine kontinuierlich
konzentrierte, also auch das Zurückdämmen der übrigen Bewußt-
seinsinhalte ein möglichst anhaltendes Bei. Das volitionalc Moment
trat am drastischsten bei Herrn F. auf, der den löblichen Ehrgeiz
entwickelte, die Nullgrenze möglichst hoch zu bringen, und des-
wegen selbst zum Mittel muskulärer Spannungen griff (siehe die
hierauf bezügliche Protokollnotiz).
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Über einige Grandfragen der Psychologie der ÜbnngBpbünomene naw. 101
XXII. Versuchsreihe.
Diese Versuchsreihe war in ihrer äußeren Anordnung ebenso
eine Wiederholung der II. Versuchsreihe, wie die vorige eine solche
der I. Versuchsreihe war. Sie bezweckte den Nachweis der Mit-
übung der Fähigkeit, Buchstaben unmittelbar zu behalten.
Dabei zeigten sich die Nullgrenzen, wie folgt:
Herr B. behielt jetzt 9, früher 6 Buchstaben, also -f- 3 = 50,00 #
» Br.
» 11,
> 8
»
» + 3 = 37,50 X
» F.
» 9,
» 5
»
» 4-4 = 80,00 #
> Prof. M. *
• 11,
» 9
»
» 4- 2 = 22,22 #
Frl. S.
» 9,
> 7
>
» 4-2 = 28,57*
Herr Dr. W. »
• 8,
» 8
*
» + 0 = -
•
Durchschnittlich merkte sich mithin jetzt eine Vp. 9,5 Buchstaben,
gegen 7,16 Buchstaben im Ausgangsstadium (s. S.21!). Es wurden
jetzt also durchschnittlich 2,33 Buchstaben mehr gemerkt, prozentual
ausgedrückt bedeutet dies einen Fortschritt von 36,28, — Werte,
welche sicher in Wirklichkeit etwas höher zu veranschlagen sind,
wenn man die minder günstige Gesamtdisposition (siehe Protokoll!)
einiger Vp. in Anrechnung bringt.
Die uns noch interessierenden 33 yt % F.-Grenzen liegen hier so:
furHerrn B. findet sie sich b. 14 Buchst, früher 10, + 4 =40,00#
» Br.
. F.
» Prof. M.
» Fräulein S.
> Herrn Dr. W.
17 > > 17,-|-0= —
» 13 » » 7, 4-6 = 85,71 #
> 13 » 13, 4-0= —
» 15 > , 10,4-5 = 50,00^
» 14 » » 10,4-4 = 40,00^
Vom früheren Mittelwert — S. 21 — in Höhe von 11,16 Buchstaben
stieg die Grenze auf 14,33 Buchstaben im Mittel, also um durch-
schnittlich 3,17 Buchstaben, d. h. um 28,40 %.
Um auch hier den Lauf der Darstellung nicht aufzuhalten, ver-
weisen wir hinsichtlich aller Details auf die Tabelle und
heben nur die Aussagen der Herren Br., F. und Prof. M. hervor,
daß sie bei den Versuchen »weniger ablenkbar« sind, — »sich
leichter auf das Material konzentrieren können«, — sodann die
Aussagen des Herrn B., Herrn F. und Fräulein S., daß »sie finden,
daß bei den im ganzen anstrengenden Versuchen diese Ermüdung
jetzt weniger zeitig auftritt«.
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102
Ernst Ebert and E. Meumann,
Tabelle
XXII. Versuchsreihe: Unmittelbares
Aufzu-
fassendes
Buch-
staben-
quantum I
llerr B.
F.- Bezeichnung der
Zahl Fehler
Herr Br.
F.-
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
Herr F.
F.-
Zahl
der
Fehler
VI
vn
VIII
IX
X
XI
xn
xra
XIV
xv
XVI
xvn
o
o
0
0
2V4
8»/«
1«V4
4'/4
4«/4
— ni,VH;VIkorr.
— II, III, IV;
IX, X.
— VII; H,Vl;
V,vhl;lY,tX;
XI korrigiert.
-n,v,vm, IX.
HI korrig.
— m, iv, y, vi.
x,xhi;ixjbv.
0
0
0
0
0
0
Noch immer ist die Ge-
samtdisposition des Herrn B.
derartigen Versuchen nicht
recht glinstig.
Er Ut überrascht, wie
wenig sich troU der i
Anstrengung zuletxt
mittung »eigt.
2«/4
ÖV'4
6
— X
V, VI.
-m.
i
u.
• ivJyni;in,V,
VII^IX.
3 — VH, VIII, IX.
-xi,xn;Vi,m
vn,vui;ix,i.
VH, VHI, IX,
X.
ni, iv, x, xi,
XH;XVkorrig.
v,\%vn,vui,
ix, xrv.
3»/4j — VII, X,Jffl;
II, V; IX, XI.
Herr Br. iat zum Tolligen
Konzentrieren ftkr heute
nur schwer rahig, — immer-
hin zeigt er sich nach seiner
eigenen sicheren Wahr-
bar als früher.
Herr F. nimmt en sieh
mit Bestimmtheit wehr, daß
ersieh gegenwärtig weeeatl.
leichter auf das Buchstaben-
und sonstige Material kon-
daß er
müdet.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 103
XXII.
Behalten von Buchstaben.
Aufzu-
fassendes
Bach-
staben-
qnantum
Herr Prof. M.
F.-
Zahl
0
Bezeichnung der
Fehler
VI
VH |0
vni jo
IX 0
2*4
Ö*/4
Frl. S.
F.-
Zahl
0
0
0
0
1
Herr Dr. W.
Bezeichnung der I F.-
Fehler Zahl
-IV, IX; X, il.
n,rv,vii,vinf i;23/4
; 32/4
0
0
0
-V.
-X; vn,xi.
—11, ui,x.
-V,XI; VIII, Iii.
— rvrux, XI;
XII, XIII.
4«/4!-ni, vi, vii,
VIIL IX, X;
xiv,\v.
teue Abspan-
nung Störungen akustischer,
optischer oder wütiger Art
scheinen für Herrn Prof. M.
auf dieser Übungsstufe
S/4
2»/4
2
1«
4
53
Bezeichnung der
Fehler
II, V.
— Vm,IX;VII,X.
-V, VIII.
-VII; 11,^;
nvWiV.
-V, VIII, XII.
g nach IX.
— II, HI^VI, IX,
x. v,Vni.
Frl. 8. fühlt sich ziemlich
Herr Dr. Wr. fühlt rieh
raatt, — im Laufe dieser ■ im Laufe dieser Versuche
Versuche wird aie »nun- I mehr und mehr «angeregt« ;
lerer« , wie sie rieh aus- es lueen sich schwache, aber
druckt, aie spurt weniger deutliche Lustgefühl* aas.
weniger schädlich auf das Müdigkeit.
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104
Ernst Ebert and E. Meumann,
XXLII. Versuchsreihe.
Diese Versuchsreihe ist bis auf den speziellen Stoff eine, völlige
Wiederholung der III. Versuchsreihe; sie sollte das Maß der in-
direkten Übung bezüglich des unmittelbaren Behaltens
sinnloser Silben nachweisen. Die Nullgrenzen zeigten sich hier,
wie folgt:
Herr B. behielt jetzt 7, früher 5 Silben, also + 2 = 40,00*,
» Br.
» 6,
5 »
. +1 = 20,00*,
» F.
■
» 5, ,
i 4 »
. +1 = 85,00*.
» Prof. M. »
» 7, :
► 6 »
» +1 = 16,66*,
Frl. S.
■ 7, ,
> 6 »
» +1 = 16,66*,
Herr Dr. W.
. 5, ,
» 5 >
» +0= — .
Während früher (siehe S. 30!) durchschnittlich 5,16 Silben ge-
merkt wurden, war dies also hier der Fall mit 6,16 Silben, — es
wurde also rund eine Silbe diesmal mehr gemerkt oder 19,72*.
Die 33 Ys*- Fehlergrenze wurde erreicht von
Herrn B.
bei 11 Silben, früher bei 6,
also + 5 = 83,33*,
Br.
» 11 ,
> » 8,
, +3 = 37,50*,
» F.
» 10 >
> »6,
, +4 = 66,66*,
» Prof. M.
» 12 »
> 10,
> +2 = 20,00*,
FrL S.
» 15 >
» > 8,
> +7 = 87,50*,
Herr Dr. W.
> 8 >
> > 8,
> +0= — .
Auf dieser Obungsstufe wurden also im Mittel bis zu der bezeich-
neten Fehlergrenze behalten 11,16 Silben, im Anfangsstadium lautete
die entsprechende Ziffer 7,66; es war also durchschnittlich eine
Hebuog der Fehlergrenze um 3,5 Silben eingetreten, prozentual
ausgedrückt um 49,16.
Aus den Details der Protokollnotizen seien als die beachtens-
wertesten zunächst die von Herrn Prof. M. und Fräulein S. erwähnt,
welche aussagen, daß sie an sich eine rationellere Ausnutzung der
Sinneselemente beobachten. Herr B. und Herr F. nehmen ferner
wahr, daß das Behalten »automatisch-mechanischer« wird, also
erfolgt ohne besonderen Aufwand von Kunstgriffen, wie sinnvollen
Deutungen, Wortbildungen u. dgl., — Herr Dr. W. fühlt sich noch
immer nicht »recht aufgelegt«, — offenbar schaltet dieses Nicht-
aufgelegtsein einen wesentlich fördernden emotionellen Hilfsfaktor
für ihn aus, — er verharrt auf der Stufe der »alten« Leistung.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übongsphänomene usw. 105
XXTV. Versuchsreihe.
Diese Versuchsreihe ist eine Wiederholung der IV. ; an ihr be-
teiligten sich diesmal sämtliche Vp. Das Maß des Fortschrittes
kann hier also nnr für Herrn Prof. M. und Herrn Dr. W. fest-
gestellt werden, die sich bereits bei der Feststellung des ersten
Gedächtnisqnerschnittes diesen Versuchen unterzogen hatten. Es
zeigt sich dabei, daß
Herr Prof. M. j etzt 9 Wörter behält, früher 7, also + 2 = 28,57
> Dr . W. » 7 » > » 6, » -{- 1 = 16,66#.
Der Durchschnitt beträgt hier also 8 gegen frühere 6,5 Wörter,
siehe Seite 32, unten! Das Plus ist allerdings nur 1,5 im Mittel
oder 22,61 Die 33 y, #- Fehlergrenze hat sich bei beiden
Vp. in keiner Weise verschoben; sie liegt noch bei 12 Wörtern
ftir Herrn Prof. M. und bei 9 Wörtern für Herrn Dr. W. Wir
werden mithin keinen sonderlich schwerwiegenden Fehler be-
gehen, wenn wir — schon im Hinblick auf die beim Schluß-
querschnitt zu ziehenden Mittelwerte — die beiden vorerwähnten
Vp. mit ihren Resultaten ohne weitere Trennung neben die
übrigen vier Vp. stellen; wir halten zur Korrektur des Urteils
eben nur dabei fest, daß die beiden erstgenannten Vp. einen
minimalen Vorsprung vor den vier andern haben dürften, da sie
schon gelegentlich der IV. Versuchsreihe mit derartigem Material
bekannt gemacht wurden. Folgende Tabelle zeigt die Lage der
Null- und 33 y3 Fehlergrenze:
Herr B.
» Br.
> F.
» Prof. M.
Frl. S.
IJerr Dr. W.
Behielt 9 Subst. fehlerlos
» 7
> 5
> 9
> 7
» 7
*
»
»
»
Erreicht bei 16
13
15
12
12
9
Sub-
stantiva
die
337s %-
Fehler-
Grenze.
Es werden hier also im Mittel 7,33 einsilbige Substantiva gemerkt,
die 33 Vs ^-Fehlergrenze wird erreicht bei durchschnittlich 12,83
derartigen Wörtern, — Zahlen, die wiederum dartun, wie sehr der
Sinn das Behalten unterstützt, wenn man die Seite 104 verzeichneten
Mittelwerte daneben hält, oder welchen un verhältnismäßigen Auf-
wand von psychophysischer Energie umgekehrt das Behalten
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106
Ernst Ebert und E. Meumann,
Tabelle
XXIII. Versachsreihe: Unmittelbares
Aufzu-
fassendes
Silben-
F.-
quantura
Zahl
V
0
VI
0
VII
0
Herr B.
Bezeichnung der
Fehler
I.-
Zahl
Herr Br.
Bezeichnung der
Fehler
32.4
-III. IV.
UIJV; VI* .VII* .
-IV, VI. VIII;
U. III.
-1I.III.IVTV.IX.
Herr Ii. werkt immer mehr
automatisch, mechanisch, —
Kunstgriffe mri^motechiii-
j-vhor Art verlieren «ii-h.
0
0
1
2
-IV.
— IV; V: . VI* .
— III; Vi™, VI*
II. VI.
3*.
V. IX: Vll;
ii^, xi~~~
Herr Br. bildet udwüI-
kttrlieh drei- bia viersilbige
Minnlose Merkworte, -> iauell
vorgestellt.
F.-
Zahl
0
l2/3
2V3
2» 3
5i,
Herr F.
Bezeichnung der
Fehler
IV; III> . V* .
VW , m , Ii! .
11. III; IV*,
VIII* .
II, III, VII»»;
VIII* .
i, u, iii, vra.
V\ VII» IX?,
X* .
Herr F. spricht sich g*nz
i im Sinne des Herrn B. tot.
| Dem »Willen« räumt er eine
erhebliche Einwirknnff»-
möglichkeit auf die Konri-
titenz der Aufmerksamkeit
Digitized by Googl
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphiinoniene usw. 107
xxni.
Behalten ?on sinnlosen Silben.
Aufzu-
Herr Prof. M. i
Frl. S.
Herr Dr. W.
Silben-
qnantum j
F.-
Zahl
1
Bezeichnung der
Kehler
1
f -
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
F.-
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
V
n
0
VI
0
0
VT •
VII
0
0
2' :,
— IV; V» . VI^,
VIIv .
vni j
! v»
IVl .
III» . VI* .
3V3
— iv, V; r , III»,
VI!» , VIII» .
IX
IV»
-III; VI» .
2
- U. IV.
X
V3
IV*.
tii».iti»Mv»».
XI
2Va
-U;UI;P>.Vm,
IVvh.
VI.
XII
— m, IV, V; II;
VI5,XII5._
!
1 "
— VI, VII.
xni
XIV
1
1*«
- IV.
-VIII; VI. VII.
XV
— V, IX, X, XI:
VIII, X 11.
■
, **
* • j i . •
t - ,
Behalten erscheint minder
diffizil wie fordern, — nach
der Meinung de« Herrn
Prof. IL Tor ■Harn deswegen,
weil die Sinnoeelemonto
jetxt rationeller znsammon-
wirken, — euch Störungen
auf mehr WidereUndsmhig-
keit treffen.
Frl. S. glaubt, die grOlWe
; Leichtigkeit Jes unmittel-
baren Behalten? auf eine
eingetretene rationellere
| Auanutzung der beteilig-
! ten Sinne>eleraente in der
Hauptsache zurückfuhren zu
Allgemeinbefinden noch
immer nicht gut. Einige
sinnvolle Deutungen belä-
stigen mehr, als daß üie
fordern.
Digitized by Co
108
Ernst Ebert und E. Meumann,
Tabelle
XXIV. Versuchsreihe: Unmittelbares Behalten
Aufzu-
iasg.
Herr B. |
Herr Br.
Herr F.
Wort-
zahl 1
F,
Z&hl
Bezeichnung der {
Fehler
F.-
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
, F.-
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
V
0
VI
0
Vs
mi.
VIT
Vll
0
2/4
iv, V.
VIII
0
1
21
1
— HI.
IX
VF
1
v
o
4M
— TV VTTT
1 V , v 1U-
X
1*4
-V; bei I Kleid
für Tracht.
— IV, V; VI, VII.
2
— m, vin.
XI
22/4
— III, V; IX, Y
3
— in, iv, v.
32/s
— IV, VTII, X;
V»h.
xn
4
— IV, V, VI, VIII.
3
-V, IX; XI.
4
-II, IV, V, VI.
■VTIT
3
-V, VII, VIII.
62/4
-II, III, IV, V,
XI ; XII, im.
4
V| VT» IX« ILm
XIV
3
- VI, VII, VIII.
41/4
-IV, V, IX, X;
XH korrig.
XV
4«/4
— VI, VII, X JCI ;
i. ii, vin, lx.
62/3
— n, in, vi, ix,
XI, XII. Xll
XVI
- v,vi,vn,vin,
ix. xi, xn.
»Nach d«r trostlosen
. Monotonie des sinnlosen
Stoffe«« löst das Anwenden
sinnvolleren Materials ent-
schieden Lustgefühle ans:
Der Sinn scheint an und
für eich weniger unter-
stützend gewirkt zn haben,
— vielmehr scheint es Herrn
B., daß jedes eiuelne Wort
die Tendern hatte, durch
Anregung anderer Voretel-
Inngen tn terttreuen.
Herr Br. anrieht sieh im
Sinne der Herren B. und F.,
sowie von Frl. 8. aas. Keine
sinnvollen Verknüpfungen.
Durchaus visuelles Merken.
Das Herumwerfen von
einem Gedankenkreis in den
andern völlig heterogenen
scheint Herrn F.weit größer«
Anforderungen and. Konzen-
trationsfähigkeit iu »tollen,
als das unmitUlh. Behalten
Tellig sinnlosen Material*.
8toff im übrigen Lustge-
fühle auslosend.
■
J k,
Digitized by Google
Über einige Grandfragen der Psychologie der Übungsphänomene uaw. 109
XXIV.
einsilbiger Substantira ohne logische Verbindung.
Aufzu-
fass.
Herr Prof. M.
Frl. 8.
Herr Dr. W.
Wort-
zahl
F.-
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
1 F "
jZahl
Bezeichnung der
Fehler
F.-
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
V
VI
VII
vm
IX
V3
X !2
XI
2'/a
XII fti/s
XIII
XIV
XV
XVI
U» Mut H! .
— 11, III.
— in, IV; I* .
— i, ii, in, tv,y.
0
0
'0
I
! ^
2
5
Sinn fördert Dicht derart,
wie eu rennuten wir. Groß«
Ki n/eütration unbedingt er-
forderlich. Sinnrolle Ver-
bindungen und mnemotech-
nieche Kunstgriffe eigent-
lich sie Aufgetreten. Znletzt
At^espanatheit. Akratisch
Illvb.
IIv|, Illvh.
— II, III, VI.
-VIII, IX.
- II, III, IV, V, VI.
Die Verschiedenheit der
Begriff^ebiete wirkt dila-
tierend — g»jn gewill mehr
dilatierend »Ii die Verachie*
denhelteinnloeer Silben, die
Aufmerksamkeit nnd Inter-
esse in weit geringerem
Mal) erregen, — also sind
hier besonders starke Hein-
raungaprozesje gegen dit
drohende Dilatation von-
0
0
0
l2/3
4
-vinih. i
- II, III, V, VII.
Herr Dr. W. halt eich
faet eusechlieOlich aa die
Klangbilder. Stoff angenehm
erregend nach
Material.
Digitized by Google
110
Ernst Ebert und E. Meuniann,
sinnlosen Materials erfordert. Dabei bezeugen die in extenso verzeich-
neten Protokollnotizen der Tabelle, daß fast sämtliche Vpp. nicht
den Eindruck hatten, als habe sie der Sinn unterstützt, — mehr för-
derlich erschien ihnen das emotionelle Element der Lustgefühle aus-
lösenden Abwechslung nach der »trostlosen Monotonie des sinnlosen
Stoffes« (Herr B.); gleichzeitig beobachten sie an ihrem inneren
Verhalten, daß das »Herumwerfen von einem Gedankenkreis in
einen völlig heterogenen andern« (Ausdruck des Herrn F.) an die
Widerstandsfähigkeit der Konzentration größere Anforderungen stellt,
als das Behalten durchaus sinnlosen Materials.
Die nun folgenden Versuchsreihen XXV— XXVII wurden ent-
sprechend den Versuchsreihen V— VH nur mit Herrn Prof. M. und
Herrn Dr. W. vorgenommen.
XXV. Versuchsreihe.
Hier handelte es sich um den Nachweis der Mitttbung des un-
mittelbaren Behaltens von fremdsprachlichen Vokabeln
infolge der einseitig-mechanischen Übung. Man erinnere
sich der differenten Art, wie jede der Vp. sich bei diesem Versuche
verhielt — siehe Seite 35! Die Nullgrenze liegt für
Herrn Prof. M. jetzt bei 6 Wörtern, früher 6, also -h 0 = — ,
> Dr. W. » » 5 » » 4, » +1 = 25,00#.
Die 33 V, ^-Fehlergrenze liegt jetzt für
Herrn Prof. M. bei 14 Wörtern, früher bei 8, also + 6 = 75,00
» Dr. W. > 9 » » » 7, » + 2 = 28,57#.
Also stiegen betreffs der Nullgrenze die Leistungen von 5 auf
durchschnittlich 5,5 Wörter, mithin um 10 Die durchschnittliche
33 y3 # -Fehlergrenze sehen wir auf der gegenwärtigen Stufe liegen
bei 11,5 Wörtern, während sie anfänglich bei 7,5 Wörtern lag; sie
hob sich also um vier Wörter oder um 53,33 — eine Zahl, die
objektiv dasselbe bekundet, was subjektiv Herr Dr. W. zu Protokoll
bemerkte, — daß nämlich offensichtlich mit der Übung eine wachsende
Intensität der Konzentration verbunden ist.
Digitized by Googl
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 1 11
Tabelle XXV.
XXV. Versuchsreihe: Unmittelbares Behalten von deutsch
italienischen Vokabeln.
Zahl
der
Vok-
Paare
F.-
Zahl
m
IV I
v !■
VI i
VII
vin
IX
x
XI
0
1
2
2
Herr Prof. M.
Bezeichnung der Fehler
Herr Dr. W.
F.-
Zahl
Bezeichnung der Fehler
— IV, deutsch.
— IV, deutsch u. ital.
— in, ital.
-IV, >
— I, deutsch u. ital.
— II, »
0
0
0
U
p ■
- 4
4*5
Mittelwerte: a) Nullgrenze:
Bei II fehlen 4 v. 6 Buchst
IV, VI.
- VI, VIII.
IV = 3 V. \ v. d. Zahl der
V -= »,6 I Buchst, falsch.
- 1, V, VI, IX.
VIII = 3 5 der Zahl d. Buch-
staben falsch.
5.6 Wörter.
b 33» a % F.-Grenze: 11,5
Weniger günstige Disposition, — Herr
Prof. H. steht etwas unter dem Eindruck
einer Arersion gegenüber diesem Stoff. >
i
Ilerr Dr. W. ist erstaunt über seine
eigene »Ausdauer der Konientration«, —
ein »zweifelloser Übnngs«ffekt«. (»Lang-
sameres Abklingen der Konzentration xur
Distribution..)
112
Ernst Ebert und E. Meumaun.
XXVI. und XXVII. Versuchsreihe.
Diese Versuchsreihe bezweckte den Nachweis der Mitttbung
der Fähigkeit, Gedichtworte oder schwierigere Prosa
unmittelbar behalten zu können.
Aus der Tabelle (XXVI) zur XXVI. Versuchsreihe ersehen wir,
daß die Nullgrenze für Herrn Prof. M., rein ziffernmäßig betrachtet,
dieselbe geblieben ist, — er gab fehlerlos 18 Gedichtworte un-
mittelbar wieder; daß diese Grenzzahl aber ohne Bedenken höher
gesetzt werden könnte, zeigt der abschließende Versuch mit 26 Ge-
dichtworten, der bis auf die Weglassung einer nebensächlichen
attributiven Bestimmung völlig einwandfreie Reproduktion einer
recht ansehnlichen Wortzahl nachwies. — Für Herrn Dr. W. sehen
wir ein Steigen der Nullgrenze von 12 auf 16 Wörter, — Zunahme
4 Wörter oder 33,33 % , so daß wir dem früheren Mittelwert (15 Wörter)
jetzt den von 17 Wörtern gegenüberstellen können; die mittlere
Zunahme beträgt also 2 Wörter oder 13,33 Man beachte übrigens
daß Anwachsen der Mittelwerte in der V. und XXV. Versuchsreihe
zu denen der VI. und XXVI. Versuchsreihe und ersehe daraus aufs
neue, wie sehr erleichternd der komplizierte Assoziationsmechanis-
mus des > Sinnes« gegenüber einer völlig verbindungslosen Gruppe
von Gedächtnismaterial wirkt! Auch die VII. bzw. XXVII. Ver-
suchsreihe ist zur Erhärtung dieses Faktums durchaus geeignet
Aus der Tabelle XXVn ist hinsichtlich des Grades der indirekten
Übung zu konstatieren, daß Herr Prof. M. anf seinem Anfangs-
standpunkt — 22 Worte philosophischer Prosa — verblieben ist,
während Herr Dr. W. von 12 auf 16 Worte vorrückte, — wieder
um 4 Worte oder 33,33 Statt des früheren Mittelwertes für
die Nullgrenze von 17 Wörtern haben wir also auf dieser Stufe
einen solchen von 19 Wörtern, — ein Plus von 2 Wörtern oder 11,76#.
In dem Detail des Protokolls ist hier das Bemerkenswerteste,
daß beide Vp. an sich »größere Leichtigkeit des Erfassens und
Wiedergebens« beobachten.
Die XXVTH.— XXXH. Versuchsreihe sollte hierauf quantitative
Unterlagen liefern für das Maß der Mitübung der Fähigkeit
dauernden Behaltens infolge einseitig-mechanischer Übung, und
zwar dienten zum Nachweis dieser indirekten Übung abermals
Materialien, welche mit besonderer Sorgfalt den für die Versuchs-
reihen VIH— XII verwendeten analog zusammengestellt waren.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 113
Tabelle XXVI.
XXVI. Versuchsreihe: Unmittelbares Behalten von
Gedichtworten.
Zahl der
Wörter
des
Gedichts
Herr Prof. M.
Herr Dr. W.
F.-
Zahl
Bezeichnung der Fehler
F.-
Zahl
XII |
0
XIV
0
XVI j
0
xvra
0
XXII
XXIV
XXVI
XXVIII
Bezeichnung der Fehler
a! »Für« statt »auf«,
b; »von« statt »aus«,
c) »neues« vor »Uium«
fehlt
a) »offne« für hohe Tore.
b) »und stehen andere« —
hier fehlte stehen.
Die mittlere der 3 Zeilen
fehlt:
»ein Heer zu sammeln
treibet mich der Zorn«.
»teuern« fehlt vor »Vaters
Hause«.
0
0
»an« für »bei«.
a) »eisernes« vor »Ge-
brause« fehlt.
b) »Hause« fehlt.
c) dgl. »das hinter Bäumen
einsam sich verlor«.
»Ein neues Uium wird sich
erheben« flir »fllr Bie w.
du ein n. TL erheben«.
a) Für »durch«: »aus«,
bj Die 6 Schlußworte fehl.
a) »Kommt gezogen« für
»ist vorhanden«.
b) Fehlt: »gekommen ist
die unabwendbar böse
Zeit«.
c) Fehlt: »Troja hat ge-
standen«.
dj Fehlt: »Schimmer
strahlte«.
Mittlere Lage der Nullgrenze für beide Vp.: 17 Wörter.
Intensive Hemmung aUes sonstigen Be-
1 wußtaeinsinhaltee nötig nnd zugleich für
Herrn Prot M. mehr nnd mehr möglich.
Gefühl der »Leichtigkeit« unverkennbar
ausgelöst.
Archiv ftr Psychologie. IV.
8
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114
Ernst Ebert und E. Meumann.
Tabelle XXVII.
XXVII. Versuchsreihe: Unmittelbares Behalten von philo-
sophischer Prosa.
Herr Prof. M.
F.-
Zahl
0
0
0
o
0
0
Bezeichnung der Fehler
Herr Dr. W.
F.-
Zahl
a) »in« für »bei«.
b) Umstellung: »zu er-
strebende entfernten«.
a) Fehlt: »Lust und«.
b) Für: »scheint in der
schwach, n. beschränkt.
Natur d. menschl. Seele
zu liegen« : »in der allg.
Beschränkg. d. mensch-
lichen Natur zu liegen«.
a) »in der Folge« für »in
ihren Folgen«.
b) »gut« und .»Übel« für
»Gutes«, »Übles«.
c) Fehlt: »in der kommen-
den Zeit«.
0
0
0
Bezeichnung der Fehler
& Fehlt: »grenzenlos«.
b) »Für« statt »auf immer«.
c; Fehlt: »wie durch Grenz-
zeichen«.
»vervielfachen« für »ver-
vielfältigen«.
al »den Ausdruck« für »die
Beweise«.
b) Fehlt: »bestens«.
a} »Erstrebung« f. »Wahl«.
b Für »eines zu erstr. entf.
Zieles« : »zunächst lie-
genden Zieles«.
a) »Schmerz u. Lustgefühl«
für > Lust u. Schmerzen « .
b) »liegt in der Schwäche
der menschl. Seele« für
»scheint in der schw.
n. beschränkt. Natur d.
menschlichen Seele zu
liegen«.
a) »Diejenigen Dinge«
für »die in ihren Folgen
gut. u. schlechten«.
b} »Schlimmes und Gutes«
für »Gutes u. übles«.
c) Fehlt: »in der kommen-
den Zeit«.
Fehlt am Schluß
a) »wenn«,
b} »eine Vorstellung«.
Fehlt: »gut« zwischen »Ge-
spräch« und »brauchen
kann«.
a; Fehlt: »notwendig zu
beantwortende«.
b) Fehlt: »nun«.
c) Fehlt: »nach unserer!
Auffassung«.
Qi »Wl rken« fiir »einwirken
können«.
Mittlere Lage der Nullgrenze für beide Vp.: 19 Wörter.
Herr Dr. W. TeraoUt die Nullgrenx*
»höher« »uf Grund der KmptinJung der
Gerlnteb. nebenan störte nicht.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene uaw. 115
XXVIII Versuchsreihe.
Bei dieser Versuchsreihe hatten wir es wieder mit Reihen von
10, 12, 14, 16 Silben zu tun. Dem in erster Linie bei diesem
> Kontrollquerschnitt« verfolgten Zwecke gemäß sei sofort auf den
Nachweis des Übungsfortschrittes eingegangen, von dem sich
unschwer vorausbestimmen ließ, daß er recht beträchtlich sein werde,
da ja Prttfungsstoff und Übungsstoff in jeder Beziehung
homogen waren. Indem wir bezüglich aller Einzelheiten auf
die Tabelle XX VIII verweisen, schreiten wir direkt zur summa-
rischen Darstellung des hier vorliegenden Übungseffektes unter
Erinnerung an die von Seite 47 an gewonnenen Werte, die fortab
in runden Klammern den jetzt festzuhaltenden beigefügt werden
sollen. Zur Erlernung, bzw. Wiedererlernuog der im ganzen
52 Silben umfassenden 4 Reihen gebrauchen jetzt
Herr B. Neulernen 21 Lesgn. (171), Wiederlernen 11 Lesgn. (41),
* Br.
» F.
> Prof. M.
Frl. S.
Herr Dr. W.
42
32
50
53
64
(89),
(80),
(140),
(92),
(89),
12
13
15
19
16
(26),
(19),
(33),
(13),
(22).
Gehen wir wiederum auf die feststehende Norm von einer der
52 Silben zurück, so zeigt sich, daß gegenwärtig zu deren Er-
lernung und Wiederlernung im Mittel nötig waren bei
Herrn B. Neulernen 0,40 Les.v(3,29), Wiederlernen 0,21 Les. (0,78),
> Br.
> F.
» Prof. M.
Frl. S.
Herrn Dr. W.
0,80
0,61
0,96
1,01
1,23
(1,71),
(1,53),
(2,69),
(1,76),
(1,71),
0,23
0,25
0,28
0,36
0,30
(0,50),
(0,36),
(0,63),
(0,25),
(0,42).
Hieraus folgt, daß bei unserem Kontrollschnitt Uberhaupt für
eine Silbe als Norm nötig waren
bei Neuerlernung 0,835 Lesungen (2,115)
und bei Wiedererlernung 0,271 » (0,49).
Diese Werte (mit nur zwei Dezimalen bezeichnet) drücken also
gegenüber dem S. 47 konstatierten, hier in Klammern angedeuteten
Faktum aus einen Übungsfortschritt um 1,28 Lesungen oder
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Ernst Ebert und E. Meuuiann.
Herr Dr. W.
Wieder-
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungspbiinoraene u»w. 117
60,66 # bezüglich der Neuerlernungen und einen solchen
um 0,22 Lesungen oder 44,89 # betreffs der Wieder-
erlernungen.
Wie sich derselbe im einzelnen Falle verteilt, ist aus der
Tabelle XXVTII zu ersehen. Im übrigen sei auch hier nur das
Wichtigste aus den zu Protokoll niedergelegten Beobachtungen
herausgehoben.
Zunächst stimmt das Gros der Vp. darin überein, daß immer
seltener eine Lesung verloren geht, — es »findet bessere Ausnutzung
der Lesungen statt« (Herr Br., Fräulein S.).
Ferner setzt immer rapider und prägnanter die Stufe des
rhythmisierenden Lesens ein, womit sich positiv -emotionelle
Hilfsfaktoren auslösen, — das »Lernen der alten Bekannten«, näm-
lich der gewohnten, aus Silben zusammengefügten Rhythmen, »be-
reitet ein gewisses Vergnügen« (Herr F.). Damit verschmelzen
nach der Ansicht des Herrn B., Herrn Br. und Fräulein S. inten-
sivere Einflüsse der Sinneselemente, vor allem der optischen,
akustischen und motorischen Eindrücke. So kommen denn der-
artige Fortschritte vor, wie die des Herrn Prof. M. von 31 und
34 Lesungen bei X und XII Silben auf 11 und 8 Lesungen, oder
die des Herrn B. von 28, 49, 63 und 31 Lesungen bei den 4 Reihen
auf 4, 6, 5, 6 Lesungen.
XXIX. Versuchsreihe.
Zweck dieser Versuchsreihe war, zu kontrollieren, inwieweit
auch das Gedächtnis für optische Figuren eine Steigerung
durch die bisherige einseitige Übung erfahren hatte.
Wie auf S. 115 summarisch verfahrend, bringen wir im folgen-
den die Erlernungswerte sofort für sämtliche 24 Zeichen in Ansatz,
gleichzeitig in Klammern die alten Ziffern repetierend.
Es wendeten auf
Herr B. Neulernen 41 Lsgn. (62), Wiederlernen 12 Lsgn. (25),
» Br.
37
» (79),
>
7 »
(12),
» F.
26
» (57),
»
6 »
(20),
» Prof. M.
83
» (123),
10 »
(17),
Frl. S.
53
» (104),
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6 >
(15),
Herr Dr. W.
83
» (129),
»
10 »
(10).
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118
Ernst Ebert und E. Meumaon,
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 119
Demnach brauchten zur Erlernung, bzw. Wiedererlernung eines
einzigen der 24 Zeichen auf der gegenwärtigen Stufe
Herr B. Neulern. 1,70 Lsgn. (2,58), Wiederlern. 0,50 Lggn. (1,04),
0,29 » (0,50),
0,25 > (0,83),
0,41 » (0,70),
0,25 » (0,62),
0,41 » (0,41).
» Br. > 1,54 > (3,25),
» F. » 1,08 » (2,37),
> Prof. M. > 3,45 » (5,12),
Frl. S. » 2,20 » (4,33),
Herr Dr. W. » 3,45 » (5,37),
Überhaupt wurden demzufolge beim Eontrollschnitt für Erler-
nung, bzw. Wiedererlernung eines einzelnen Zeichens durchschnitt-
lich gebraucht 2,23 Lesungen, beziehentlich 0,35 Lesungen, gegen-
über früheren 3,83 Lesungen, beziehentlich 0,68 Lesungen. Es
ist also ein Fortschritt um 1,6 Lesungen bzw. 0,33 Le-
sungen zu konstatieren, oder ein solcher um 41, 77#, bzw.
48,52#.
Aus den Einzelheiten der Protokollbemerkungen ist wohl am
meisten von Belang, daß sich die Vp. immer entschiedener ver-
neinend zu der Frage stellen, ob ein rein visuelles, passiv die
Eindrücke aufnehmendes Lernen solchen Materials möglich sei;
vielmehr sind sie der Meinung, daß ihnen vor allem das schon
früher ausführlich besprochene konstruierende und ebensoviel
oder noch mehr das artikulierende Verfahren »zur sicheren Per-
zeption, Apperzeption und Reproduktion« (Frl. S., — ähnlich aus-
gedrückt von Herrn Br.) verholfen hat. Herr F. und Frl. S. heben
als speziell erlernungsfördernd den Umstand hervor, daß ihnen
derartige Reihen > nicht mehr so unangenehm« vorkommen, — da-
mit stimmt das Dafürhalten des Herrn Br. fast völlig überein. Da
diese drei Vp. wohl den markantesten Fortschritt in den vorhin
angestellten Berechnungen aufweisen, wird man guttun, der Aus-
schaltung negativ emotioneller Faktoren — also der UnlustgefUhle
— besondere Wichtigkeit für das Übungsphänomen beizumessen.
XXX. Versuchsreihe.
Den Nachweis, daß auch das Gedächtnis für fremdsprach-
liche Vokabeln > mitgeübt« worden sei, sollte diese XXX. Ver-
suchsreihe erbringen, die nach Analogie der X. Versuchsreihe an-
geordnet war. Für Erlernung, bzw. Wiederholung der insgesamt
70 Vokabeln brauchten diesmal
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120
Ernst Ebert und E. Meumanu,
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Über einige Grandfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 121
Herr B. 6 Lesungen (16), bzw. 2 Lesungen (2),
» Br. 14 » (19), » 5 * (7),
» F. 9 (17), » 2 » (4),
» Prof. M. 14 » {22}, » 2 » (2),
Frl. S. 18 » (27), » 4 » (6),
Herr Dr. W. 13 » (14), > 2 » (3).
Gehen wir wieder auf eine einzelne der 70 Vokabeln als
maßgebende Einheit zurück, so finden wir für die 6 Vp. folgende
Werte: Auf eine Vokabel entfällt bei
Herrn B. 0,085 Lesgn. (0,228), bzw. 0,028 Lesgn. (0,028),
» Br. 0,200 »
(0,271),
» 0,071 >
► (0,100),
» F. 0,128 >
(0,242),
» 0,028 :
► (0,057),
> Prof. M. 0,200 »
i0,314),
» 0,028
(0,028),
Frl. S. 0,257 »
(0,385),
» 0,057 i
> (0,085),
Herrn Dr. W. 0,185 »
(0,200),
» 0,028 a
► (0,042).
Auf dem gegenwärtigen Standpunkte der Gedächtnisfunktion
waren also im Durchschnitt für eine Vp. nötig 0,175 Lesungen,
bzw. 0,040 Lesungen gegen früher nötige 0,273 Lesungen, bzw.
0,056 Lesungen; die Ersparnis beträgt also gegenwärtig 0,135 Le-
sungen im Mittel oder 77,14 — man vergleiche damit die ent-
sprechenden Werte auf S. 58 oben! (Die Ersparnis wird also mit
fortschreitender Übung geringer.)
Der Fortschritt beträgt also bis jetzt im Mittel 0,098 Le-
sungen, bzw. 0,016 Lesungen, oder 35,89 bz[w. 28,57#.
Zwei Punkte schienen dem Versuchsleiter unter den Protokoll-
bemerkungen besonders beachtenswert zu sein, — nämlich einmal
die Übereinstimmung, mit welcher vier von den 6 Vp. erklären,
daß sie »rein automatisch < *) (Herr F.) — besser »ausschließlich
mechanisch« (Frl. S.) — die Vokabeln erfassen und »keine Zeit
mehr damit verlieren, Deutungen oder sonBtwelche Kunstgriffe an-
zubringen« (Herr Br.). Sodann erklären die beiden Vp. mit den
markantesten Fortschritten, daß sie »wieder die alte Routine ihrer
Gymnasiastenzeit erworben hätten« (Herr B.), beziehentlich >sich
1 In Wirklichkeit liegt natürlich kein eigentliches »Automatisieren« de»
Lernens vor, da dieses eine Ausschaltung des Bewußtseins voraussetzen
würde, sondern ein immer ausschließlicheres Verwenden der mechanischen
Memorierweise, die Beschränkung auf die unmittelbare Aneinanderreihung der
Silben durch das bloße Moment aufmerksamer Wiederholung.
Digitized by Google
122 Ernst Ebert und E. Meumann,
wieder wie ehedem aufs Vokabelnlernen eingerichtet« hätten
(Herr F.), — offenbar meinen beide Herren das für die Übung so
außerordentlich wichtige Phänomen der zentralen Adaptation an
eine bestimmte Tätigkeit.
XXXI. Versuchsreihe.
Diese Versuchsreihe sollte die Wirkung einseitig mecha-
nischer Übung an Silben auf das dauernde Behalten von
Gedichtstrophen nachweisen mittels einer Wiederholung der
XI. Versuchsreihe (s. S. 60 ff.). Diesmal erlernte auch Herr B.
nur 16 Zeilen der vorn bezeichneten Dichtung, — er wird also
ohne weiteres mit in Rechnung gesetzt werden dürfen, während
wir wohl korrekter verfahren, wenn wir auf diejenigen Ziffern
der XI. Versuchsreihe rekurrieren, die nur auf Grund der Resul-
tate der fünf übrigen Vp. gewonnen wurden.
Sämtliche Vp. hatten diesmal nötig zur Erlernung insgesamt
58 Lesungen, zur Wiederholung 8 Lesungen, im Mittel also 9,66,
bzw. 1,33 Lesungen, gegen frühere 12,2, bzw. 2,4 Lesungen
(S. 64, oben). Die mittlere Ersparnis betrug also hier 8,33 Le-
sungen oder 86,23 gegenüber der früheren von 9,8 Lesungen
oder 80,32 — Der Fortschritt in der Erlernung, bzw.
Wiederholung, ist also festzusetzen auf 2,54 Lesungen,
bzw. 1,07 Lesungen, oder 20,81#, bzw. 44,58#.
Auf eine der 16 Gedichtzeilen als Norm berechnet, stellen sich
die Verhältnisse bei den einzelnen Vp. so dar: Es brauchten für
eine Zeile
Herr B. Neulern. 0,68 Lsgn. (— ), Wiederlern. 0,06 Lsgn. (— ),
» Br. » 0,56 » (0,62), » 0,12 > (0,12),
» F. » 0,37 > (0,62), > 0,06 » (0,12),
» Prof. M. » 0,75 » (0,93), > 0,06 » (0,06),
Frl. S. > 0,62 » (0,93), > 0,06 » (0,25),
Herr Dr. W. > 0,62 , (0,68), > 0,12 > (0,18).
Im Mittel wurden also auf eine einzige Zeile verwendet 0,6 Le-
sungen, bzw. 0,08 Lesungen gegen frühere 0,75, bzw. 0,14 Lesungen,
wobei eine Ersparais zutage trat von 0,52 Lesungen oder 86,66 %
gegen frühere 0,61 Lesungen oder 81,33 % Ersparnis. Auf eine
Zeile als Norm bezogen beträgt mithin der Progreß 0,15
Lesungen oder 20#, bzw. 0,06 Lesungen oder 42,85#.
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über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 123
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124
Ernst Ebert und E. Meumann,
Aus dem Protokoll sei nur als wegleitend fllr die Eigenart des
Übungsphänomens erwähnt, daß alle Vp. sich einer besseren Aus-
nutzung der logischen Faktoren beim Erkennen bedient haben, —
ferner daß sämtliche Beteiligte (bis auf Herrn Prof. M.) sich mög-
lichst bald des antizipierenden Lesens befleißigten, sich überhaupt
»frei vom Blatt« zu machen suchten und dasselbe nur, wenn mög-
lich, zur Eontrolle des antizipierend Gesprochenen benützten. Hier-
zu stimmt die Erfahrung von Pentschew, daß Kinder fast nie
antizipierend lernen. Sie bleiben an das Lesen gebunden bis zum
völligen Auswendigwissen. Die Kinder stehen also sozusagen
dauernd auf der Stufe des wenig geübten erwachsenen Lerners.
Die den Kontrollschnitt beendende
XXXII. Versuchsreibe,
eine Wiederholung der XII. Versuchsreihe, sollte nun noch die
indirekte Übung des Gedächtnisses für philosophische
Prosa nachweisen.
Die 6 Vp. hatten diesmal für Erlernung 20 anderweiter Druck-
zeilen aus Locke insgesamt nötig 99 Lesungen (175), bzw. 12 Le-
sungen (36), mithin durchschnittlich diesmal 16,5 Lesungen (29,16),
bzw. 2 Lesungen (6). Die durchschnittliche Ersparnis betrug 14,5
Lesungen (23,16) oder 87,87 % (79,42). Betreffs der Erlernung,
bzw. Wiedererlernung ist also ein mittlerer Fortschritt
von 12,66 Lesungen oder 43,41 # festzustellen.
Entsprechend der Berechnung auf S. 69 seien auch hier noch
im einzelnen die auf eine einzige Druckzeile bezüglichen Werte
angeführt; ftlr ebendieses Stoffquantum brauchten
Herr B. 1,20 Lesungen (1,8), bzw. 0,1 Lesungen (0,6),
» Br.
0,65
(1,3), »
0,1
(0,2),
» F.
0,35
(0,85), »
0,05 >
(0,15),
» Prof. M.
1,35
(1,95), »
0,15 »
(0,3),
Frl. S.
0,75
> (1,9), »
0,1 »
(0,35),
Herr Dr. W.
0,65
, (0,95), >
0,1
(0,2).
Es wurden gegenwärtig also fllr eine der 20 Druckzeilen ver-
wendet im Durchschnitt 0,82 Lesungen, bzw. 0,1 Lesungen, —
vordem 1,45 Lesungen, bzw. 0,3 Lesungen ; es ergibt dies für jetzt
eine Ersparnis von 0,72 Lesungen oder 87,8 # gegenüber früher
ersparten 1,15 Lesungen oder 79,31 %. Der Fortschritt würde
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Ober einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 125
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126
Ernst Ebert and E. Meumann,
betreffs der Erlernung bzw. Wiederholung nach dieseu
Werten im Mittel betragen 0,63 Lesungen oder 43, 44#,
bzw. 0,2 Lesungen oder 66,66#.
Aus den Protokollnotizen ist besonders hervorzuheben, daß von
fast allen Vp. »die den Gedankengang beherrschenden Stellen
intensiver fixiert und immer schärfer in ihrer Ökonomischen Wich-
tigkeit erkannt werden« (Herr F.), gleichzeitig auch sinnverwandte
Ausdrücke und »Flickwörter«, welche das streng wortgetreue Be-
halten sehr erschweren, mehr beachtet, durch besondere Betonung
(Herr Br., Herr B., Herr F., Frl. S.) mehr vertieft oder direkt nach
ihrer Stelle im Text visuell oder akustisch eingeprägt werden.
Erinnern wir uns hier am Schlüsse dieser Besprechung des
Kontrollschnittes der auf den S. 97—126 berechneten Resultate,
so kann man schon jetzt vorbehältlich des Schlußurteiles sagen:
Die indirekte Übung der Gesamtgedächtnisfunktion
ist eine empirisch nachweisbare Tatsache, wenn auch das
Maß derselben je nach den verschiedenen Bedingungen, unter denen
die einseitig-spezielle Übung vorgenommen wird, verschieden sein
dürfte.
Übrigens können wir hier nicht unerwähnt lassen, daß bei
diesem endgültigen Resultat auch die einübende Wirkung des
Kontrollschnittes selbst mit in Anschlag zu bringen sein dürfte,
womit ferner noch zwei andere Momente zusammenwirken, — es
ist dies einmal der emotionelle Effekt des eben besprochenen
Kontrollschnittcs, welcher — nach dem Protokoll der letzten
12 Versuchsreihen — besteht in einem zum Teil recht ausge-
sprochenen Lustgefühl Uber die merklich gesteigerte Leichtigkeit,
mit welcher die einzelnen Pensen jetzt erledigt wurden, — dazu
das gesteigerte Interesse an dem Verlaufe der Untersuchung, —
endlich auch die lusterregende Gewißheit, daß der größte Teil
der von den Vp. zu bringenden Opfer an Zeit und Mühe nunmehr
dahinten liege. Je nach der Stärke dieser emotionellen Hilfsfak-
toren machte sich nun in Form von Antrieben, Impulsen ein
volitionaler Hilfsfaktor geltend : der Wille, in der Übung fort-
zuschreiten, — man beachte hier die spontanen Aussagen der
Herren B. und Br., von Frl. S. und vor allem die des Herrn F.
in den letzten Protokollen des Kontrollschnittes!
Andererseits ist es protokollarisch erhärtetes Faktum, daß fast
alle nun folgenden Resultatziffern um ein bestimmtes Maß zu hoch,
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über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 127
oder, besser gesagt, zu niedrig sind, da sämtliche Vp. besonders
beim dauernden Behalten lieber bis drei Lesungen mehr vornah-
men, als vielleicht nötig waren, als daß sie infolge stockender
Reproduktion sich der Gefahr längeren Sichbesinnenmüssens aus-
setzten; mehrfache Erfahrung hatte sie belehrt, daß ein einziges
aasfallendes Glied in der zu reproduzierenden Vorstellungsreihe
meist eine Gruppe benachbarter Glieder mit sich reißt und die
dabei sich auslösende Unlust auch das klar Erfaßte verwirren
kann, endlich auch das konzentrierte, bei voller Spannung erfol-
gende längere Suchen des Entfallenen unverhältnismäßig stark er-
müdet. — Man wird denn wohl nicht fehlgehen, wenn man an-
nimmt, daß letztere Tatsache die das Resultat begünstigenden
Einflüsse des Kontrollschnittes, wie sie auf voriger Seite gekenn-
zeichnet wurden, zum Teil kompensiert.
V. Kapitel:
Zweite Serie der Einübungsversuche.
Die infolge des eben erwähnten Querschnittes unterbrochene
einseitige Übung an sinnlosen Silben wurde nun unter
den alten Bedingungen fortgesetzt, doch wurden jetzt die
Vp. in zwei Gruppen geteilt, deren erste, bestehend aus den
Herren B., Br. und F., abermals 32 Normalsilbenreihen er-
lernte, während sich die übrigen 3 Vp. mit der Erlernung
von nur 16 derartigen Reihen begnügten.
Wir erinnern uns, daß mit der nun zu besprechenden mecha-
nischen Einübung verbunden wurde die empirische Prüfung
von vier Lernmethoden. Es dürfte sich nun empfehlen, die
Resultate aller 6 Vp. so lange gemeinsam zu betrachten, bis die
ersten 16 Normalreihen von ihnen erlernt wurden. Durch das
Aufhören der einseitigen Gedächtnisübung für die Hälfte der
Vp. erreicht die Untersuchung an dieser Stelle einen gewissen
Abschluß. Wir können daher jedenfalls das Hauptfazit hinsicht-
lich der vier Lernmethoden an diesem Orte ziehen und weiter-
hin zusehen, wie sich dieses Fazit dadurch modifiziert, daß 3 der
Vp. die Übung durch Erlernung weiterer 16 Normalserien fort-
setzen. Alle hierher gehörigen Versuchsresultate finden sich in
den beigefugten Tabellen Nr. 33—36 zur XXXUI— XXXVI. Ver-
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128 Ernst Ebert und E. Meumann,
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132
Ernst Ebert und E. Menmann,
snchsreihe (9. — 12. Einübungsturnus), beziehentlich — für die um
16 Reihen verlängerte Einübung — in den Tabellen der XXXVH.—
XL. Versuchsreihe (13. — 16. Einübungsturnus).
Fassen wir zunächst also die Ergebnisse bis zum 12. Turnus ins
Auge, welche sich auf die Versuche mit der G.-Methode beziehen!
Herr B. lernte und wiederholte die hier in Betracht kommen-
den 4 Reihen folgendermaßen:
10 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
6 » » 3 >
5 > » 4 >
8 » 2
Die den Fortschritt bezeichnenden Mittelwerte aus den 2 ersten,
bzw. 2 letzten dieser Reihen sind, wie ersichtlich,
8 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
und 6,5 3
Der Fortschritt wäre also zu beziffern auf 1,5 Lesungen oder
18,75 # für Neuerlernung, während beim Wiedererlernen kein
Fortschritt zu verzeichnen ist. Durchschnittlich erlernte Herr B.
eine Reihe mit 7,5 Lesungen, wiederholte sie mit 3 Lesungen, —
ersparte also im Mittel 4,5 Lesungen oder 60
Herr Br. erledigte den gleichen Stoff nach der G.-Methode in
8 Lesungen, bzw. 4 Lesungen
9 » 4
9 » 3
6 4 >
Die für den Fortschritt maßgebenden Mittelwerte sind hier
8,5 Lesungen, bzw. 4 Lesungen
und 7,5 » > 3,5 »
Also beläuft sich der Fortschritt hier auf 1,00 Lesung oder 11,76 %,
bzw. 0,5 Lesungen oder 12,5 %. Durchschnittlich hatte Herr Br.
8 Lesungen nötig zur Erlernung einer G.-Reihe, bzw. 3,75 Le-
sungen zur Wiederholung. Seine mittlere Ersparnis belief sich
demnach auf 4,25 Lesungen oder 53,12 %.
Für Herrn F. waren zur Erlernung, bzw. Wiederholung der
4 G.-Reihen nötig
9 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
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Über einige Grundfragen der Psychologie der ÜbnngBpbKnomene ubw. 133
Für ihn heißen die den Fortschritt kennzeichnenden Mittelwerte
8 Lesungen, hzw. 3,5 Lesungen
und 5 > ' 3 »
Der Fortschritt erfolgte also um 3 Lesungen oder 37,5 #, bzw.
um 0,5 Lesungen oder 14,28 %.
Eine G.-Reihe erforderte also im Mittel 6,5 Lesungen heim Er-
lernen und 3,25 Lesungen beim Wiederholen; die mittlere Ersparnis
betrug danach 3,25 Lesungen oder 50
Bei Herrn Prof. M. finden sich folgende Resultate bezüglich der
4 G.-Reihen bei Erlernung und Wiederholung:
15 Lesungen, bzw. 5 Lesungen
12 » 5
14 > 5
13 > 4
Die den Fortschritt angebenden Mittelwerte heißen
13,5 Lesungen, bzw. 5 Lesungen
und 13,5 • » 4,5 »
Es ist also hier nur betreffs der Wiederholungen ein Fortschritt
um 0,5 Lesungen oder 10 # zu konstatieren. Im Mittel erlernte
Vp. eine G.-Reihe mit 13,5 Lesungen, wiederholte sie mit 4,75 Le-
sungen, — ersparte dabei also 8,75 Lesungen oder 64,81 % .
Bei Frl. S. präsentieren sich uns die Erlernungszahlen so:
8 Lesungen, bzw. 5 Lesungen
11 * 4
7 > 5
8 » 2
Da die Fortschrittsmittelwerte demnach
9 Lesungen, bzw. 4,5 Lesungen
und 7,5 » » 3,5
betragen, so wird ersichtlich, daß ein Fortschritt zu verzeichnen
war um 1,5 Lesungen oder 16,66 % beim Lernen, bzw. 1,00 Lesung
oder 22,22 Durchschnittlich waren 8,25 Lesungen zum Lernen
und 4 Lesungen zum Wiederholen einer G.-Reihe nötig, — die Vp.
ersparte folglich im Mittel 4,25 Lesungen oder 51,51
Herr Dr. W. endlich hatte fttr die 4 G.-Reihen nötig:
15 Lesungen, bzw. 7 Lesungen
13 » > 5
11 , 5
13 , 3
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134
Ernst Ebert und E. Meumann,
Die den Fortschritt bestimmenden Mittelwerte lauten hier also:
14 Lesungen, bzw. 6 Lesungen
und 12 > 4 »
Der Fortschritt beträgt also 2 Lesungen oder 14,28 bzw. 2 Le-
sungen oder 33,33 %. Die Vp. erlernte also hier eine G.-Reihe
mit durchschnittlich 13 Lesungen und wiederholte sie mit 5 Le-
sungen; die mittlere Ersparnis betrug mithin für sie 8 Lesungen
oder 61,53 %.
Auf Grund dieser Werte fUr jede der 6 Vp. kommen wir
zu folgendem Ergebnis hinsichtlich der G.-Methode:
Eine G.-Reihe wurde in diesem Stadium der Untersuchung er-
lernt mit 9,45 Lesungen, nach 24 Stunden wiedererlernt mit 3,95
Lesungen im Durchschnitt, — die mittlere Ersparnis betrug hier
56,82 %. Der Fortschritt der Übung ist im Mittel anzusetzen mit
16,49 % beim Neuerlernen und mit 15,38 % beim Wiedererlernen.
Indem wir ans bemühen, die Wirkung der vier angewandten
Lernmethoden möglichst Ubersichtlich auf Grund der quantitativen
Ergebnisse herauszuarbeiten, sehen wir vorläufig von Beachtung
aller Einzelheiten ab; dieselben finden sich in den Protokollnotizen
der Tabellen und werden — soweit es die Vollständigkeit der
Darstellung erheischt — weiterhin zusammenfassend berücksichtigt
werden.
Achten wir nunmehr direkt auf die Erfahrungen mit der
T. -Methode! Nach ihr erlernte und wiederholte zunächst Herr B.
4 Normalreihen wie folgt:
4 + 4
— 2 h 3 Lesungen, bzw. 2 Lesungen
4 + 2
2
2 + 2
~2~
2 + 2
+ 2
+ 2
+ 4
2
Diese Vp. brauchte jetzt also für Erledigung einer T.-Reihe im
Mittel 5,5 Lesungen, bzw. 2,25 Lesungen; sie ersparte durchschnitt-
lich beim Wiedererlernen 3,25 Lesungen, das sind 59,09 Die
den Fortschritt innerhalb der Erlernung dieser 4 T.-Reihen mar-
kierenden Mittelwerte heißen
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Über einige Grandfragen der Psychologie dor Übungsphänomene usw. 135
6 Le sangen, bzw. 2,5 Lesungen
nnd 5 > » 2,0 »
Der Fortechritt betrag hier Also 1 Lesung oder 16,66 % beim
Neuerlernen nnd 0,5 Lesungen oder 20 % beim Wiederhelen.
Herr Br. bedurfte zur Aneignung und Wiederholung des vor-
liegenden Pensums
+ 7 Lesungen, bzw. 4 Lesungen
2
4+_4
2
3 + 3
+ 6 »6
-1-5 > » 5
+ 7 » »4
2
Durchschnittlich hatte er also für eine T.-Serie nötig 9,75 Le-
sungen, bzw. 4,75 Lesungen, und ersparte für das Wiedererlernen
nach 24 Stunden 5 Lesungen oder 51,28 Sein Fortschreiten
bezeichnen die Mittelwerte
10 Lesungen, bzw. 5 Lesungen
und 9,5 » » 4,5 »
Der Fortschritt selbst beläuft sich danach auf 0,5 Lesungen
oder 5 % beim ersten Aneignen und auf 0,5 Lesungen oder 10 #
beim Wiederholen.
Für Herrn F. zeigt die Tabelle bei Erlernung der T.-Reihe fol-
gende Werte:
4 + 4
— ^ h 1 Lesungen, bzw. 2 Lesungen
3 + 3
2
3 + 3
2
2 + 2
+ 2 »3
+ 1 »3
+ 1 »2
Im Mittel hatte diese Vp. also nötig für eine einzelne T.-Reihe
4,25 Lesungen, bzw. 2,5 Lesungen, — die durchschnittliche Erspar-
nis betrug dabei 1,75 Lesungen oder 41,17 Die für Bestim-
mung seines Fortschreitens erforderlichen mittleren Werte heißen
5 Lesungen, bzw. 2,5 Lesungen
nnd 3,5 » * 2,5 >
Digitized by Google
136 Ernst Ebert und E. Meumann,
Es liegt also nur beim Neuerlernen ein Fortschritt vor um
1,5 Lesungen oder 30 %.
Herr Prof. M. erledigte das nach dem T.-Verfahren anzueig-
nende Pensum, wie folgt:
4 4-6
— | h 8 Lesungen, bzw. 5 Lesungen
4 4-5
2
6 + 6
4-9 .6
4-8 »6
— ^ 1- o > »5 »
Durchschnittlich brauchte er also für eine einzige Reihe 13,12 Le-
sungen, bzw. 5,5 Lesungen ; die mittlere Ersparnis betrug 7,62 Le-
sungen oder 58,07 %. Den Fortschritt zeigen an die Mittelwerte
13,25 Lesungen, bzw. 5,5 Lesungen
und 13 > » 5,5 >
Ein Fortschritt zeigt sich also nur beim Neuerlernen um 0,25 Le-
sungen oder 1,88
Frl. S. erledigte Erlernung und Wiedererlernung der 4 T.-Reihen
folgendermaßen:
* * 4- 4 Lesungen, bzw. 4 Lesungen
2+2-M > ■ 2 .
2
2
1 4-3
4-0 » > 3
+ 2 , » 3
Frl. S. bedurfte also im Mittel für eine T.-Reihe 4,37 Lesungen,
bzw. 3 Lesungen, — sie ersparte durchschnittlich 1,37 Lesungen
oder 31,35 %. Folgende Mittelwerte charakterisieren ihren Fort-
schritt:
5,5 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
und 3,25 > > 3
Der Fortschritt, der nur das Neuerlernen betrifft, besteht also
ans 2,25 Lesungen oder 40,90 %.
Herr Dr. W. erlernte, bzw. wiederholte die in Rede stehenden
4 T.-Reihen so:
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 137
2 + 4
— 2 f- 6 Lesungen, bzw. 9 Lesungen
3 -+- 3 a Q
2
3 + 3
2
3 + 5
+ 5 » > 6
+ 5 » »7
2
Durchschnittlich brauchte er also für eine T.-Reihe 8,75 Le-
sungen, bzw. 7,5 Lesungen, — ersparte folglich im Mittel 1,25 Le-
sungen oder 14,28 %. Sein Fortschreiten bestimmen die Mittelwerte
9 Lesungen, bzw. 8,5 Lesungen
und 8,5 » » 6,5 >
Er beträgt danach 0,5 Lesungen oder 5,55 %, bzw. 2 Lesungen
oder 23,52 %.
Auf Grund der Überlegungen von S. 134 an müssen wir zusam-
menfassend folgende allgemeine quantitative Bestimmungen hinsicht-
lich der T.-Methode machen:
Eine T.-Reihe wurde in diesem Teile der Untersuchung im
Dnrchschnitt angeeignet mit 7,62 Lesungen, wiederholt mit 4,25 Le-
sungen, — erspart wurden im Mittel 42,54 %. Der Fortschritt beim
Lernen nach dieser Methode ist zu beziffern auf 16,66 % beim
erstmaligen Lernen und auf 8,92 % für das Wiedererlernen.
Gehen wir sofort auf die Erfahrungen mit der I. V.-Methode
ein, so finden wir zunächst bei Herrn B. folgende Resultate:
7 Lesungen, bzw. 4 Lesungen
6 » 2
4 » 2
7 . 2
Herr B. hatte also hierbei im Mittel nötig 6 Lesungen, bzw.
2,5 Lesungen. Er ersparte beim Wiederholen durchschnittlich
3,5 Lesungen oder 58,33 %. Sein Fortschritt wird bezeichnet von
den Mittelwerten
6,5 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
und 5,5 > 2
er beläuft sich auf 1 Lesung oder 15,38 %, bzw. 1 Lesung oder
33,33
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138
Ernst Ebert und E. Meumann,
Herr Br. lernte das Pensum nach der I. V.-Methode so:
9 Lesungen, bzw. 5 Lesungen
8 > » 5 »
7 > 3
8 » > 4 >
Er lernte also im Mittel eine I. V.- Reihe mit 8 Lesungen,
wiederholte sie mit 4,25 Lesungen, erzielte also eine durchschnitt-
liche Ersparnis von 3,75 Lesungen oder 46,87 %. Der Fortschritt
wird bezeichnet durch die Mittelwerte
8,5 Lesungen, bzw. 5 Lesungen
und 7.5 » » 3,5 »
Er beträgt danach 1 Lesung oder 11,76 bzw. 1,5 Lesungen
oder 30
Herr F. erzielte nach der I. V.-Methode folgende Erlernungs-,
bzw. Wiederholungsziffern:
7 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
5 > » 3 »
4 . 2
7 » 2
Man sieht, daß er eine einzelne I. V.-Reihe durchschnittlich er-
ledigte mit 5,75 Lesungen, bzw. 2,5 Lesungen, wobei er 3,25 Le-
sungen oder 56,52 % ersparte. Sein Fortschreiten lassen folgende
Mittelwerte erkennen:
6 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
und 5,5 > > 2 »
Es beträgt 0,50 Lesungen oder 8,33 bzw. 1 Lesung oder
33,33 %.
Herr Prof. M. lernte, bzw. wiederholte die 4 I. V.-Reihen wie folgt:
9 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
10 » 7
10 > 3
8 » » 5 >
Durchschnittlich gebrauchte er hier also 9,25 Lesungen, bzw.
4,5 Lesungen zur Erlernung einer einzelnen I. V.-Reihe, — dabei
erzielte er eine mittlere Ersparnis von 4,75 Lesungen oder 51,39 %.
Für den Fortschritt sind folgende mittleren Werte maßgebend:
9,5 Lesungen, bzw. 5 Lesungen
und 9 » » 4 »
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Über einige Grandfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 139
Der Fortschritt beträgt danach 0,5 Lesungen oder 5,26 %, bzw.
1 Lesung oder 20
Frl. S. brauchte zur Aneignung der 4 Serien nach dem I. V.-
Verfahren
11 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
7 » 4
6 » » 3 >
6 » > 4 »
Also erlernte sie im Durchschnitt eine I. V. -Reihe mit 7,5 Le-
sungen, wiederholte sie mit 3,5 Lesungen, ersparte beim Wieder-
holen 4 Lesungen oder 53,33 %. Ihr Fortschreiten bezeichnen
folgende mittleren Werte:
9 Lesungen, bzw. 3,5 Lesungen
und 6 » » 3,5 »
Der Fortschritt betrug hiernach 3 Lesungen oder 33,33 bzw.
— Lesung oder — %.
Herr Dr. W. erzielte nach der in Rede stehenden Methode fol-
gende Werte:
12 Lesungen, bzw. 8 Lesungen
13 > 8
10 . 6
12 » 2
Also sind 11,75 Lesungen, bzw. 6 Lesungen für ihn im Mittel
zur Absolvierung einer I. V.-Reihe nötig gewesen, — seine durch-
schnittliche Ersparnis betrug 5,75 Lesungen oder 48,93 Sein
Fortschritt bemißt sich nach den Mittelwerten
12,5 Lesungen, bzw. 8 Lesungen
und 11 > » 4 >
er beträgt 1,5 Lesungen oder 12 bzw. 4 Lesungen oder 50 %.
Die Berechnungen von S. 137 an beschaffen uns folgendes Zah-
lenmaterial zur Beurteilung der I. V.-Methode:
Nach ihr wurde eine Normalsilbenreihe im Mittel erlernt mit
8,04 Lesungen, nach 24 Stunden wiederholt mit 3,87 Lesungen, —
erspart wurden dabei durchschnittlich 52,56 %. Es wurde ein Fort-
schritt dabei gemacht um 14,34 % beim Erlernen und um 21,11%
beim Wiedererlernen.
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140 Ernst Ebert and E. Meamann.
Wir kommen endlich zu den Ergebnissen mit der II. V.-
Methode. Nach ihr erlernte, bzw. wiederholte Herr B. 4 Normal-
reihen mit folgenden Ergebnissen:
5 Lesungen, bzw. 4 Lesungen
4 » 2
4 ' » »3 »
4 > > 1 Lesung.
Demnach erledigte Herr B. durchschnittlich eine einzige der-
artige Reihe mit 4,25 Lesungen, bzw. 2,5 Lesungen, — bei einer
mittleren Ersparnis von 1,75 Lesungen oder 41,17 sein Fort-
schreiten bezeichnen die Mittelwerte
4,5 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
und 4 » 2 >
Es beträgt danach 0,5 Lesungen oder 11,11 #, bzw. 1 Lesung
oder 33,33 %.
Herr Br. erledigte den gleichen Stoff nach der II. V.-Methode
in folgender Weise:
7 Lesungen, bzw. 5 Lesungen
6 » » 5 »
6 » » 3 »
7 > 3
Zu einer einzigen Reihe dieser Art hatte er also nötig 6,5 Le-
sungen, bzw. 4 Lesungen, — er ersparte im Mittel demnach 2,5
Lesungen oder 38,46 Der Fortschritt bei ihm wird bestimmt
durch die Mittelwerte
6,5 Lesungen, bzw. 5 Lesungen
und 6,5 » »3 »
Es beläuft sich derselbe beim Wiedererlernen auf 2 Lesungen
oder 40 während bis jetzt (Herr Br. übte weiter um 16 Normal-
reihenj!) beim Neuerlernen kein Fortschreiten ersichtlich wird.
Bei Herrn F. finden wir hinsichtlich des H. V. -Verfahrens fol-
gende Ergebnisse : er erledigte das nach dieser Methode zu absol-
vierende Pensum mit
6 Lesungen, bzw. 4 Lesungen
5 > > 4 >
5 » 2
5 » 2
Er gebrauchte also im Mittel ftir eine solche Serie 5,25 Le-
sungen, bzw. 3 Lesungen, bei welch letzteren er durchschnittlich
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 141
ersparte 2,25 Lesungen oder 42,85 %. Sein Fortschreiten besagen
die Mittelwerte
5,5 Lesungen, bzw. 4 Lesungen
5 > » 2
Es beläuft sich danach auf 0,5 Lesungen oder 9,09 bzw.
2 Lesungen oder 50
Herr Prof. M. hatte zur Absolvierung der 4 II. V.-Reihen nötig
10 Lesungen, bzw. 5 Lesungen
10 > 6
10 > 4
9 > * 3 1
Durchschnittlich erledigte er also eine II. V.-Reihe mit 9,75 Le-
sungen, bzw. 4,5 Lesungen, — ersparte bei letzteren im Mittel
5,25 Lesungen oder 53,84 %. Den Fortschritt geben für ihn fol-
gende mittleren Werte an:
10 Lesungen, bzw. 5,5 Lesungen
und 9,5 » 3,5
Er betragt danach 0,5 Lesungen oder 5 bzw. 2 Lesungen
oder 36,36 %.
Frl. S. erlernte, bzw. wiederholte die 4 II. V.-Reihen so:
8 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
7 > 2
7 » 3
5 > 2
Sie hatte also durchschnittlich zur Absolvierung einer einzigen
solchen Serie nötig 6,75 Lesungen, bzw. 2,5 Lesungen, — ihre mitt-
lere Ersparnis betrug mithin 1,75 Lesungen oder 25,92 %. Ihr
Prozessieren wird bezeichnet von den Mittelwerten
7,5 Lesungen, bzw. 2,5 Lesungen
und 6 > > 2,5 »
Ein Fortschritt findet sich danach nur beim Neuerlernen vor in
Höhe von 1,5 Lesungen oder 20
Herr Dr. W. schließlich erlernte das hierher gehörige Material mit
12 Lesungen, bzw. 8 Lesungen
10 8
10 > 5
12 » 3
Der mittlere Aufwand an Lesungen betragt also bei ihm 11 Le-
sungen, bzw. 6 Lesungen, — die mittlere Ersparnis 5 Lesungen
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142
Ernst Ebert und E. Meumann,
oder 45,45 <£. Sein Fortschreiten erkennen wir am den Mittel-
werten
11 Lesungen, bzw. 8 Lesungen
nnd 11 > > 4 >
Es beträgt — beim Wiedererlernen! — 4 Lesungen oder 50 %.
Aus den Überlegungen von S. 140 an können wir folgendes
Fazit betreffs der IL V. -Metbode ziehen:
Nach diesem Verfahren wurde eine 12 Silben-Reihe angeeignet
mit 7,25 Lesungen, bzw. 4,16 Lesungen. Beim Wiedererlernen er-
zielten wir danach eine durchschnittliche Ersparnis von 42,62
Der dabei nachweisliche Fortschritt ist zu beziffern auf 7,53 % für
das Neuerlernen und auf 34,94 % für das Wiedererlernen.
Fassen wir die von S. 132 an mitgeteilten Erfahrungen
hinsichtlich der yier verwendeten Methoden zusammen,
so bemerken wir, daß unsere im Anschluß an die Diskussion der
erstmaligen formalen Einübung gemachten Wahrnehmungen im
wesentlichen bestätigt wurden; dies zeigt sich am deutlichsten,
wenn wir wiederum konstatieren, um welche Mittelwerte herum
sich die Ziffern betreffs der vier I^ernmethoden bewegen. Es er-
gibt sich, daß bei dieser zweimaligen Einübung an sinn-
losen Silben eine der insgesamt benutzten 16 Normalreihen im
Mittel erlernt wurde mit 8,09 Lesungen, wiederholt nach durch-
schnittlich 4,05 Lesungen, wobei erspart wurden 48,63 %. Bei den
Neuerlernungen war ein durchschnittlicher Fortschritt zu verzeichnen
von 16,25 — beim Wiedererlernen ein solcher von 14,76 %.
Mit weniger Lesungen, als dieser Mittelwert angibt, wurden durch-
schnittlich erlernt die I. V.- Reihen, welche durchschnittlich mit
0,05 Lesungen weniger erlernt wurden, — sodann die T- Reihen
— die Vp. gebrauchten dabei im Mittel 0,47 Lesungen weniger —
und die II. V.- Reihen, deren durchschnittliche Erlernungsziffer
0,84 Lesungen niedriger ist; zur Erlernung einer G. -Reihe wurden
im Mittel 1,36 Lesungen mehr aufgewendet, als da« allgemeine
Mittel beträgt Daraus folgt — wie bei der erstmaligen Ein-
übung — , daß die II. V.-Methode am raschesten zur Ein-
prägung führt, — am wenigsten rasch die G.-Methode,
während die beiden andern Lernarten eine mittlere Stellung
dabei innehaben, nur zeigt sich bis jetzt — es stehen, wie erinner-
lich, noch Resultate an weiteren 16 Reihen mit 3 Vp. aus! — , daß
die T.- Methode einen Vorsprung um durchschnittlich 0,42 Lesungen
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übnngsphänomene usw. 143
vor der I. V.- Methode gewährt, also ihre Rangstellung mit dieser
getauscht hat
Sehr bezeichnend ist, daß die am schnellsten znr Erlernung
führenden Methoden — die II. V.- und T. -Methode — allein
mehr Lesungen beim Wiedererlernen nötig machen, als die
langsamer zur Erlernung fuhrenden — die I. V.-Methode
and 6. -Methode; der Mittelwert für die Wiedererlcrnang in Höhe
Ton 4,05 Lesungen wird von der II. V.-Methode um durchschnitt-
lich 0,11 Lesungen, von der T.- Methode um 0,20 Lesungen über-
schritten, während nach dem G.- Verfahren 0,1 Lesung, nach dem
I. V. -Verfahren 0,18 Lesungen weniger zur Wiederholung nötig
waren. Dasselbe Verhältnis zeigt sich naturgemäß bei der pro-
zentualen Bestimmung der mittleren Ersparnis. — Aus den quan-
titativen Bestimmungen, welche das Maß des Fortschrittes an-
geben, zeigen zwei Stichproben recht markant, wie einmal der
größte Fortschritt nicht bei der am raschesten zur Erlernung
führenden Methode ist, — die II. V.-Methode zeigt nur innerhalb
ihrer 4 Serien ein Fortschreiten um 7,53 % , während das Mittel
16,25 % beträgt; man wird wohl annehmen müssen, daß der
Fortschritt im allgemeinen um so geringer wird, je mehr
ein Verfahren in seinen Resultaten an die relativ beste
Leistung heranführt; — andererseits zeigen die den Fortschritt
betreffenden Werte z. B. bei der T - und II. V.-Methode interes-
sante Umkehrungen der Verhältnisse bezüglich des Fortschritts
beim erstmaligen Lernen und dem Wiederholen: der kleinsten
FortBcbrittsziffer beim Erlernen — 7,53 # nach der II. V.-
Methode — steht die größte beim Wiederholen gegen-
ober, 34,94 # nach der bezeichneten Methode; umgekehrt
stehen den 16,66 % beim Erlernen nach dem T.-Verfahren
gegenüber 8,92 # für den Fortschritt beim Wiederholen nach
dieser Methode. Doch zeigen die übrigen Werte, daß sich hieraus
keineswegs eine Regel konstruieren läßt; eine solche dürfte sich
wohl erst ergeben auf Grund weit zahlreicherer Versuche.
Das über die Wirksamkeit unserer vier Methoden bisher ge-
wonnene Bild dürfte um vieles vollständiger werden, wenn wir
nun weiter noch die mit den Herren B., Br. und F. gemachten
übrigen Versuche in Betracht ziehen — siehe die Tabellen 37 — 40
znr XXXVII. bis XL. Versuchsreihe, deren Ziffern wir zunächst
wieder in der bisher befolgten Art verwerten wollen.
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144
Ernst Ebert uad E. Meumann,
Tabelle XXXVÜ.
XXXVII. Versuchsreihe: Dreizehnter Turnus der Einübung
an sinnlosen Silben.
Herr B.
Herr Br.
Herr F.
Lern-
methode
Er-
Wicder-
Er-
Wieder-
Er-
Wieder-
lernang
erlernang
lernung
erlernung
lernung
erlernang
: 3 Lesgn. 2 Lesgn.
^+1L. 3 Lesgn.
6 Lesgn. 2 Lesgn.
5 Lesgn. 2 Lesgn.
Erlernung: Beim Er-
! lernen der beiden V. -Reihen
| ut Herr F. weniger dispo-
- niert — auch hat er du
I richtige AügengUs nicht bei
■ich.
i Wiedererl.: Beim Re-
petieren der T.-Reihe Ml)
der Stoff bereite nach 1 Le-
sungen bia auf die momea-
- (an entfallene 9. 80be.
Tabelle XXXVm.
XXXVIII. Versuchsreihe: Vierzehnter Turnus der Einübung
an sinnlosen Silben.
Lern-
methode
Herr B.
Herr Br.
Herr F.
Er-
lernung
Wieder-
erlernung
Er-
1 lernung
Wieder-
erlernung
Er-
lernung
Wieder-
erlernung
V. (3x4)
V. (2x6;
T.
0.
4 Lesgn.
\ 5 Lesgn.
1 + 1 1T
2 +1L<
1 5 Lesgn.
Wieder eri
Produktion *
läufig (bis zu
weilen).
2 Lesgn.
2 Lesgn.
2 Lesgn.
2 Lesgn.
'olgt die Re-
Jm Teil rtek-
r 8. SUbe bie-
5 Lesgn.
6 Lesgn.
4-1-4
2 +7L-
7 Lesgn.
Obwohl ai
— laut Prot*
36. Vertnchs
muhte, aich
vom Einfluß
Hutthmus . i
doch wenig g<
T.- und tum
V. .Methode er
von vornhere
luat bei ihm.
3 Lesgn.
4 Lesgn.
6 Lesgn.
3 Lesgn.
ch Herr Br.
>kollnotii aur
reihe — be-
freizumachen
dea diversen
st ihm dies
hingen, — die
Teil die I.
regt deswegen
in etwas Ün-
4 Lesgn.
5 Lesgn.
^+0L.
6 Lesgn.
Erlernun
Schwierigkeit
F. in der II.
Wiederei
Aber dem
stört Herrn F
1
2 Lesgn.
2 Lesgn.
1 Lesg.
2 Lesgn.
g : Sprech-
en Ar Herrn
V.-Reihe.
'1.: Hemmern
Versuchsl^kal
. nicht
Wie schon Herr Dr. W. gelegentlich der 35. Versuchsreihe bemerkte, desgleichen Frl. 3., be-
kunden die an dieser ce^enwirtigen Versuchsreihe beteiligten 3 Herren, daß die Menge nicht allzu
differenter Silben die Möglichkeit des Vertauschen» nahelegt, die logischen Relationen zur besseren
Uistinktion fehlen; oben die« ist ein retardierendes Moment für den Fortschritt der Übung.
G.
T.
V. (2x6)
V. ;3x4)
5 Le«gn.
3 + 2
+1L.
2
5 Lesgn.
5 Le^gn.
3 Lesgn.
3 Lesgn.
3 Lesgn.
3 Lesgn.
Herr B. findet twar noch
diverse »sinnvolle« Besie-
hungen zwischen den Silben,
weist sie aber als unnötig,
btw. hemmend suruck.
6 Lengn.
4 + 3+5L.
2
7 Lesgn.
7 Lesgn.
6 Lesgn.
3 Lesgn.
5 Lesgn .
3 Lesgn.
Herr Br. ist der Meinung,
daß er lieber eine Lesung
mehr aufwenden möge, als
sich der YerdrieUlichkeit
des Htockenden Reprodu-
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 145
Tabelle XXXIX.
XXXIX. Versuchsreihe: Fünfzehnter Turnus der Einübung
an sinnlosen Silben.
Herr B.
I1
Herr Br.
Herr F.
niethode
Er-
1 Wieder-
Er-
i1
Wieder-
Er-
Wieder-
i
lernnng
erlernung '
lernung
erlernung |
lernung
erlernung
i _
G.
T.
V.(2x6;
V. ;3x4l
5 Lesgn.
1+2
+1 L.
2
5 Lesgn.
4 Lesgn.
Erlernung:Immer mehr
3 Lesgn.
1 Lesg.
1 Lesg.
2 Lesgn.
7 Lesgn.
l! 4 + 4
6 Lesgn.
5 Lesgn.
Herr Br. ist
4 Lesgn
4 Lesgn
4 Lesgn
3 Lesgn
inder günstig
mechanische* Kinprigeu. ,' disponiert infolge ango-
' st reagier Tätigkeit in der
Wiedererl.:
aber baldigen AI
»er Einübung.
Schale.
3 Lesgn. 2 Lesgn.
^+0L. 2 Lesgn.
5 Lesgn. 2 Lesgn.
4 Lesgn. 2 Lesgn.
Der bevorstehende Ab-
schluQ der formalen Ein-
Übung wirkt angenehm er-
regend auf Herrn F.
Auf Befragen erklären alle 3 Vp., daO eie «war anfanglich es alt unangenehm empfunden
kitten, daß beim 0. .Verfahren bereits völlig sicher Eingeprägtes wieder geleiten werden muß, dsD
sie aber Uber dieses Moment sich dadurch hinweggeholfen haben, daß sie die Aufmerksamkeit
immer intensiTer auf die Partien der Reiben richteten, welche beim antizipierenden Lesen als
?<:h«i. hen empfunden wurden. Speziell Herr F. glaubt im ökonomischeren, rationelleren Verteilen
der Aafrai rksamkeit ein Haupt moment der von ihm erlangten »Übung« und »Kerntechnik« erblicken
in aussen.
(In ähnlicher Weise sprach sich auch Frl. S. zu Protokoll aus bei Absolvierung des 12. Turnus
- Kind bong.)
Tabelle XL.
XL. Versuchsreihe: Sechzehnter Turnus der Einübung an
sinnlosen Silben.
. Herr B.
Lern-
Herr Dr.
Herr F.
taethode Lr-
Wieder- [
Kr- Wieder-
Er-
Wieder-
, leruung
erlernuug ,
lernnng erleruung
lernung
erlernnng
V. 3x4]
V. 2x6
T.
3 Lesgn. 2 Lesgn.
ö Lesgn. 2 Lesgn.
~-2L. 3 Lesgn.
4 Leegn. 2 Lesgn.
Luslmomente über den
endlichen Abschluß der
Arbeit mit ginnlosen Silben. ;
Herr D. fragt an . ob nueh
der und jener von seinen :
BekauoleD an der >üe-'
dicht ni skur« mittel* unserer |
>Labor»toriumsmn«motech
4 Lesgn.
Lesgn.
4 + 4
+-4L.
2
5 Lehgn
2 Lesgn.
5 Lesgn.
b Lesgn
4 Lesgn.
3 Lesgn.
S hesgn.
-OL.
Hie bei der vorigen Ver-
suchsreihe sich für Herrn
l!r. geltend machende In-
disput-itiim h.ill um h r.nraer
an. Herr Hr. hkll un.-er
Verfahren für die »eigent-
liche Mj.umuteclniik..
!'•
2 Lesgn.
2 Lesgn.
1 Lesg.
2 Lesgu.
s. Inders beachtlich i>t
ilns Krlernen der T.-Hoihe
du ich Herrn K . — wie auch
-i'bun bei den beiden \ ori>ron
'i'"nin:v-CTi. Herr V. meint,
dai; er jet/.t .souveriiner«
i|l er die Mittel seiner Auf-
merksamkeit *u \crfug«n
vrrni'n hie, - er 'dirigiere-
1 «lie Aufmerksamkeit so, dah
kt be-mn Jen» auf die üb 1 i eben
ijchw rieben in d. Mitte achte.
sich in ähnlicher Weine beim
Auf Befragen erklären Herr B. und Herr Ur , Jail auch sie
T-Verfahien «erkalten, wie Herr F. spezieller ausführte. Von den Y o oh 1 in ann sehe!) »Konst-
friffen, «lad sie gani abgekommen Uiese seien umsUiidlich, gedachlüiibolaatend, zeitraubend
inrek i En aste 1 ei«.
IrckiT für Psychologie. IV.
10
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146
Ernst Ebert and E. Menmann.
Nach der G. -Methode lernte hier Herr B. vier Normal-
reihen folgendermaßen:
5 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
5 > 2
5 » » 3 »
4 » 2
Durchschnittlich wendete er also an Lesungen für eine einzelne
G- Reihe auf 4,75, — bzw. 2,5; er ersparte dabei 2,25 Lesungen
oder 47,36 Sein Fortschreiten geben folgende Mittelwerte an:
5 Lesungen, bzw. 2,5 Lesungen
4,5 » » 2,5
Es ist ein solches also nur beim Neuerlernen ziffernmäßig nach-
weisbar im Betrage von 0,5 Lesungen oder 10 % .
Herr Br. erledigte das gleiche Pensum so:
6 Lesungen, bzw. 5 Lesungen
7 > 3
7 > 4. »
5 » 4
Er gebrauchte hier im Mittel 6,25 Lesungen, bzw. 4 Lesungen,
ersparte demnach durchschnittlich 2,25 Lesungen oder 36 %. Sein
Fortschritt wird berechnet nach den Mittelwerten:
6,5 Lesungen, bzw. 4 Lesungen
und 6 > > 4 »
Derselbe beträgt also für das Neuerlernen 0,5 Lesungen oder
7,69 während beim Wiederholen sich kein Fortschritt ergibt.
Herr F. wandte bei den 4 G.- Serien auf:
3 Lesungen, bzw. 2 Lesungen
6 ^ » 2
3 » » 2
4 2
Das durchschnittliche Lernen erfolgte bei ihm mit 4 Lesungen,
— bzw. 2 Lesungen; die Ersparnis betrug 2 Lesungen oder 50
Das Fortschreiten bezeichnen die Mittelwerte
4,5 Lesungen, bzw. 2 Lesungen
und 3,5 > > 2 >
Der nur beim Neuerlernen hier auftretende Fortschritt beläuft
sich auf 1,0 Lesung oder 22,22
Durchschnittlich wandte also eine der hier beteiligten Yp. zur Er-
lernung einer G.-Reihe auf 5 Lesungen, zu ihrer Wiedererlernung
i
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 147
2,83 Lesungen, — die Ersparnis betrog im Mittel 43,4 % ; der inner-
halb der G.-Reihen zu verzeichnende Fortschritt beträgt für das Neu-
erlernen 13,3 — beim Wiedererlernen ist keiner zu verzeichnen.
Die vier weiter in Betracht kommenden T.-Reihen
prägte sich Herr B. folgendermaßen ein:
3 + 2
— 2 h 1 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
1 + 1
2
1 + 2
2
1 + 1
+ 1
+ 1
—£— + 2 > > 3
Er erlernte also eine derartige Reihe mit 2,75 Lesungen,
holte sie mit 2,25 Lesungen im Durschschnitt, ersparte beim Wieder-
holen im Mittel 0,5 Lesungen oder 18,18 %. Sein Fortschreiten
bezeichnen folgende mittleren Werte:
2,75 Lesnngen, bzw. 2,5 Lesungen
und 2,75 » » 2,0
Ein Fortschreiten ist danach hier nur beim Wiederholen zu kon-
statieren in Höhe von 0,5 Lesungen oder 20
Herr Br. erlernte, bzw. wiederholte den hierher gehörigen Stoff
nach dem T.- Verfahren wie folgt:
-^t — h 5 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
4 + 4
2
4 + 4
+ 7 »6
+ 3 » » 4
2
4 + 4 ,
— ^ h4 » o
Er bedurfte also im Mittel zur Erledigung einer einzigen T.-
Reihe hier 8,62 Lesungen, — bzw. 4,5 Lesungen; erspart wurden
beim Wiederholen durchschnittlich 4,12 Lesungen von ihm oder
47,79 Den Fortschritt geben folgende Mittelwerte hier an:
9,75 Lesungen, bzw. 4,5 Lesungen
und 7,50 » 4,5
Er liegt also nur vor beim erstmaligen Lernen in Höhe von
2,25 Lesungen oder 23,07 %.
10*
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148 Ernat Ebert und E. Meamann,
Herr F. endlich erledigte sein Pensum wie folgt:
2 ""2~ 1 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
x + 2_i_n i
4-ü » » 1 »
~2~
2 + 2
2
1 + 2
+ 0 > 2
~2-+0 . > 1
Er bedurfte also für eine einzige T. -Reihe im Mittel 2 Lesungen,
bzw. 1,75 Lesungen, ersparte also beim Wiedererlernen 0,25 Le-
sungen oder 12,5 %. Folgende Mittelwerte belehren uns über seinen
Fortschritt:
2,25 Lesungen, bzw. 2 Lesungen
und 1,75 » > 1,5 >
Also beträgt der Fortschritt 0,5 Lesungen oder 22,22 %, —
bzw. 0,5 Lesungen oder 25 %.
Zusammenfassend können wir die Ergebnisse betreffs der T.-
Methode in diesem Teile der Untersuchung so bestimmen:
Eine T. -Reihe wurde durchschnittlich erlernt mit 4,45 Lesungen,
— nach 24 Stunden wiedererlcrnt mit 2,83 Lesungen, die mittlere
Ersparnis betrug 36,4 %, der durchschnittliche Fortschritt 15,09 %
beim erstmaligen Lernen und 15 # beim Wiederholen.
Nach dem I. V.-Verfahren erlernte sodann Herr B.
4 Reihen wie folgt:
5 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
5 » 2
5 > 1
5 2
Also wandte er durchschnittlich auf 5 Lesungen, bzw. 2 Le-
sungen, ersparte also beim Wiederholen im Mittel 3 Lesungen oder
60 Sein Fortschreiten ersehen wir aus folgenden mittleren
Werten:
5 Lesungen, bzw. 2,5 Lesungen
und 5 » » 1,5 >
Ein Fortschritt fand hier nur betreffs des Wiederholens statt
um 1 Lesung oder 40 %.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 149
Herr Br. wandte zur Erlernung, bzw. Wiedererlernung der
4 I. V.- Reihen auf:
7 Lesungen, bzw. 5 Lesungen
6 > » 4 »
6 » » 4 »
6 > » 5 >
Durchschnittlich brauchte er also für eine derartige Reihe
6,25 Lesungen, bzw. 4,5 Lesungen, ersparte also im Mittel beim
Wiederholen 1,75 Lesungen oder 28 %. Folgende Mittelwerte
bezeichnen hier den Progreß:
6,5 Lesungen, bzw. 4,5 Lesungen
und 6 » » 4,5 »
Der nur fttr das Neuerlernen erkennbare Fortschritt beträgt
0,5 Lesungen oder 7,68 % .
Herr F. endlich absolvierte die 4 I. V.- Reihen folgendermaßen:
6 Lesungen, bzw. 2 Lesungen
5 2
5 » 2 >
3 » 2
Durchschnittlich brauchte er also 4,75 Lesungen, — bzw. 2 Le-
sungen , bei letzteren im Mittel ersparend 2,75 Lesungen oder
57,89 %. Den Fortschritt bezeichnen bei ihm die Mittelwerte:
5,5 Lesungen, bzw. 2 Lesungen
und 4 » 2 »
Ein Fortschreiten ist also nur bemerkbar beim Neuerlernen um
1,5 Lesungen oder 27,27 % .
Also wurde in diesem Teile der Untersuchung eine I. V.- Reihe
im allgemeinen erlernt mit 5,33 Lesungen, wiedererlernt mit 2,83 Le-
sungen; die mittlere Ersparnis belief sich dabei auf 48,63 %\ der
Fortschritt betrug im Durchschnitt 11,65 % beim Neuerlernen und
13,33 % beim Wiederholen.
Nach der II. V.-Methode endlich erlernte und wieder-
holte zunächst Herr B. 4 Reihen folgendermaßen:
5 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
4 2
4 » 2
3 2
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150
Ernst Ebert and E. Meumann,
Er braucht© also ftir eine Reihe im Mittel 4 Lesungen, bzw.
2,25 Lesungen, — ersparte also durchschnittlich 1,75 Lesungen oder
43,75 %. Der Fortschritt ist zu erkennen aus folgenden Mittel-
werten:
4,5 Lesungen, bzw. 2,5 Lesungen
3,5 > 2
Er beläuft sich danach auf 1 Lesung oder 22,22, bzw. 0,5 Le-
sungen oder 20 %.
Herr Br. erledigte dasselbe Pensum, wie folgt:
7 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
5 » » 3 >
5 > » 3 »
4 , 2 >
Also bedurfte er für eine einzige II. V.- Reihe im Mittel 5,25 Le-
sungen, bzw. 2,75 Lesungen, — er ersparte demnach beim Wieder-
holen im Durchschnitt 2,50 Lesungen oder 47,61 %. Sein Fort-
schreiten wird bezeichnet durch die Mittelwerte:
6 Lesungen, bzw. 3 Lesungen
und 4,5 » > 2,5
Es beläuft sich also auf 1,5 Lesungen oder 25 bzw. 0,5 Le-
sungen oder 16,66 %*
Endlich erlernte Herr F. die 4 II. V.- Reihen so:
5 Lesungen, bzw. 2 Lesungen
4 » 2
4 > > 2 »
3 » 2
Im Durchschnitt wendete er also zur Absolrierung einer ein-
zigen II. V.- Reihe auf 4 Lesungen, bzw. 2 Lesungen, [im Mittel
ersparend 2 Lesungen oder 50 %. Den Progreß geben folgende
Mittelwerte an:
4,5 Lesungen, bzw. 2 Lesungen
und 3,5 > » 2 >
Es ist also beim Neuerlernen ein Fortschritt ziffernmäßig nach-
weisbar um 1 Lesung oder 22,22 %.
Im allgemeinen wurde demnach eine II. V. -Reihe in diesem
Teil unserer Untersuchung erlernt mit 4,41 Lesungen, wiederholt
mit 2,33 Lesungen, wobei durchschnittlich erspart wurden 47,12 %.
Der Fortschritt beträgt 23,14 % beim erstmaligen Lernen und
12,22 % beim Wiederholen.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungspbünomene ubw. 151
Betrachten wir zurückschauend den Effekt dieser Sonderein-
übung mit den Herren B., Br. und F., so zeigt sich auch hier
dasselbe Bild wie bei der vorigen allgemeinen quantita-
tiven Bestimmung hinsichtlich der 4 Lernmethoden: Unter
dem Mittelwert — 4,79 Lesungen für Neuerlernung, 2,70 Lesungen
für Wiederholungen — steht am meisten die II. V.-Methode,
nämlich mit 0,38 Lesungen, bzw. 0,37 Lesungen. Ihr am nächsten
kommt wiederum die T.-Methode; sie führt mit 0,34 Le-
sungen schneller zum Ziele beim Neuerlernen, als der Mittelwert
dafür betragt, sie Ubersteigt den Mittelwert für Wiedererlernen
um dasselbe Maß wie die 6.- und I. V.-Methode — nämlich um
0,13 Lesungen. Am wenigsten vorteilhaft zeigt sich nach diesen
letzten Versuchen die I. V. -Reihe; während die G. -Methode um
0. 21 Lesungen langsamer zur Erlernung führt, als der Mittelwert
beträgt, erfolgt dies nach der I. V.-Methode um 0,54 Lesungen
später. Übrigens ist nicht zu übersehen, welche Konstanz das
Wiedererlernen nach den ersten drei Lern weisen angenommen hat;
zwei der Vp. — Herr Ijr. und Fräulein S. , 12. Turnus — be-
kunden zu Protokoll ausdrücklich, daß es ihnen scheine, als sei
nach und nach die Erlernungsart für das Wiedererlernen gleich-
gültig. — Was schließlich den für sämtliche Methoden geltenden
Mittelwert für Ersparnis beim Wiedererlernen und den für Fort-
sehritt beim Neu- und Wiedercrlerncn betrifft, so ist beachtenswert,
wie sie weiter stetig sinken, je weiter die Übung fort-
schreitet; die 3 Werte betragen hier der Reihe nach nur noch
je 43,88 und 15,79, bzw. 10,13 %.
Auf Grund der nunmehr beendigten Berechnungen läßt sich
wohl ein abschließendes Urteil Uber die vier Lernmethoden
wie folgt formulieren:
Am raschesten führte während der langen Einübung zur Er-
lernung jene zweimal unterbrochene G.-Reihe, die wir
II. V. -Reihe nannten, — am langsamsten führte die G. -Me-
thode im engeren Sinne des Wortes zu diesem Ziele. Die beiden
andern ausprobierten Methoden nehmen im gesamten Verlaufe der
mechanischen Einübung eine vermittelnde Stellung ein; hält man
die bei den dreimaligen Berechnungen auch bezüglich der T.-und
1. V.-Methode gefundenen durchschnittlichen Werte zusammen, so
bemerkt man, daß bei Neu- wie Wiedererlernungen eine außer-
ordentliche Gleichmäßigkeit der Zahlen hervortritt, — die Differenz
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152
Ernst Ebert und E. Meumann,
beträgt in gleichmäßiger Verteilung zugunsten beider Lernweisen
noch nicht einmal eine einzige Lesung. — Der im Vordergrund unserer
Untersuchung stehende Hauptgesichtspunkt der Übung ge-
stattete nicht, in besonders ausgedehnten Versuchen die Nachhal-
tigkeit einer jeden Methode zu prüfen und danach diese Methoden
zu rangieren, — unser Urteil bezieht sich einzig und allein
auf die Raschheit, mit welcher die einzelnen Methoden
zur Aneignung des betr. Memorierstoffes führten; dennoch
traten wir wenigstens nebenher auch der Frage näher, wie
wohl die Methoden zu rangieren seien, wenn man nach Verlauf
einer Woche einen bestimmten Stoff wiedererlernen lasse. Wir
stellten diese Prüfung der Methoden an im Anschluß an die
XXXIII. Versuchsreihe (9. Einübungsturnus) ; die ziffernmäßigen
Ergebnisse sind in der Tabelle 33 nebst den wichtigsten Protokoll-
notizen verzeichnet. Hier seien nur zunächst tibersichtlich die
Wiederholungsziffern nach Ablauf einer Woche neben die früheren
gestellt. Es wendeten also nach 1 Woche an Lesungen auf im
Vergleich zu vordem:
Herr B.
Herr Br.
Herr F.
HerrPrf.M.
Frl. S.
'HerrDr.W.
Me-
thode
Erste
Wiederhol.
Nach einer
Woche
Erste
j Wiederhol.
Nach einer
Woche
Erste
Wiederhol.
Nach einer '
Woche 1
Erste
Wiederhol.
Nach einer
Woche
Erste
Wiederhol.
Nach einer
Woche
Erste
' Wiederhol.
Nach einer
i Wocho
G.
3
2
4
3
y i
i 1
5
2
ö
7
6
T.
2
2
4
3 j
2
- i
5
ö
4
ö
9
8
I. V.
4
3
5
5
3
3
4
3
5
8
7
II. V.
4
4 1
— i
5
I !
4
i !
6
i
3
5 |
8
6
Es ist nun sehr lehrreich, auf Grund ebendieser Übersicht und
der Tabelle XXXIH zur XXXHI. Versuchsreihe aus den summierten
Ergebnissen den Wert der vier Methoden für die Dauer des
Rehaltens wenigstens annäherungsweise zu ersehen. Bei dem in
Rede stehenden 9. Turnus der mechanischen Einübung wurden von
den sechs Vp. insgesamt 65 Lesungen aufgeboten zur erstmaligen
Erlernung der G.- Reihe, welche nach lmal 24 Stunden von ihnen
wiederholt wurde mit insgesamt 23 Lesungen und nach 7 mal
24 Stunden noch einmal wiederholt wurde mit im ganzen 22 Lesungen.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übangsphänomene usw. 153
Bei der T.- Reihe, welche mit 49 Lesungen ingesamt erlernt wnrde,
waren für das zweimalige Wiedererlernen 26, bzw. 26 Lesungen
nötig; bei der I.V.-Reihe, erstmalig gelernt mit in Summa 55 Lesungen,
waren zum Wiedererlernen nötig 26, bzw. 28 Lesungen; für die
IL V.-Rcihe endlich betragen die drei Werte der Reihe nach 48,
— 29, — 28 Lesungen. Darf man auf Grund dieser Zahlen ein
Urteil über die Dauer des Behaltene, bzw. Uber die Solidität
der bei den einzelnen Methoden gestifteten Assoziationen aus-
sprechen, so muß dasselbe wohl etwa so lauten: die festesten
Assoziationen und damit auch die längst anhaltende Möglichkeit
einwandfreier Reproduktion eines Stoffes ergeben sich bei der-
jenigen Methode, welche die größte Zahl der Lesungen
erfordert, — also der G.-Methode, dann erst kommt die I. V.-
Methode, danach erst die T.- und die II. V.- Methode.
Im allgemeinen dürfte es überraschend erscheinen, daß die
vier zu dem Versuche benutzten Reihen, welche mit insgesamt
217 Lesungen erlernt worden waren und nach 24 Stunden mit im
ganzen 104 Lesungen wiederholt wurden, mit einem verhältnis-
mäßig großen Aufwand von ebenfalls 104 Lesungen nach 7 mal
24 Stunden wiedererlernt werden mußten. Sollte man nicht ver-
muten, daß der beim Erlernen und ersten Wiederholen mit
321 Lesungen erfaßte Stoff bei der beständigen Übung, in welcher
sämtliche Vp. erhalten wurden, in wesentlich kürzerer Frist wieder
anzueignen gewesen sein müßte? Sicher darf man dem gegen-
über wohl annehmen, daß die ebenerwähnten günstigen Faktoren
so ziemlich kompensiert werden von der Tendenz des Vergessens.
Außerdem kommt hinzu, daß nach den Angaben der meisten Vp.
eine besondere Schwierigkeit des dauernden Behaltens
in dem sinnlosen Material selbst liegt. Speziell die Herren F.,
Br. und B., Frl. S., teilweise Herr Dr. W. stimmen in ihren bei-
läufig gemachten Aussagen darin Uberein, daß je länger je mehr
heim fortgesetzten Lernen sinnlosen Materials der Einzelcharakter,
das ausgeprägt Signifikante der Silben »verschwimmt« (Ausdruck
des Herrn F.), — also je länger gelernt wird, desto leichter
kommen Verwechslungen vor, deren Möglichkeit das sichere Wieder-
erfassen verlangsamt. Wie sehr das länger fortgesetzte
Lernen sinnlosen Silbenmaterials dasErfassen erschwert,
trat deutlich zutage am Schluß unserer Untersuchung, als wir
in einigen Ergänzungsversuchen prüfen wollten, ob der erworbenen
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154 Ernst Ebert und E. Meumann,
Übung auch eine gewisse Konstanz eigen sei. Um den Aus-
fuhrungen darüber nicht vorzugreifen, sei an dieser Stelle nur ein
Beispiel erwähnt, — das des Herrn Dr. W., welcher mit den Ge-
dächtnisrersuchen für unsere Zwecke abgeschlossen hatte am
28. Febr. 1903, der dann aber nach einer Pause von 105 Tagen
sich einer Prüfung an sinnlosen Silben unterzog. Er lernte dabei
unter anderem 16 Silben mit 12 Lesungen, während er vor dieser
Pause zum gleichen Quantum 18 Lesungen gebraucht hatte! Zu
solchen Wirkungen einer längeren Lernpause vereinigen sich freilich
mehrere Faktoren, die wir später genauer bestimmen werden. Hier
interessiert uns nur vor allem die Bekundung der Vp., daß einer
der Hauptgründe der schnelleren Erlernung in dem starken Zu-
rücktreten der sonst sich lernungshemmend geltend machenden
»Reminiszenzen« zu suchen sei, — das Gedächtnis sei geradezu
»entlastet«, — die nach der Vakanz anzueignenden Silben würden
mit auffälliger Deutlichkeit und Schärfe in ihrer Eigenart erfaßt.
— »die vordem je länger, je mehr hervorgetretene Tendenz wohl
jeder einzelnen neu zu lernenden Silbe, andere früher erlernte von
geringerer oder größerer Ähnlichkeit zu reproduzieren und dadurch
den Aneignungsprozeß schleppend zu gestalten, macht sich un-
verhältnismäßig weniger bemerklich« (siehe Protokoll in Ta-
belle 40). Mit dem, was einzelne Forscher »Perseveration« nennen,
hat dieser psychische Vorgang offenbar wenig, vielleicht auch
gar nichts gemeinsam. Mit besonderer Sorgfalt lenkte Versuchs-
leiter speziell während der zweiten Gruppe von Einübungs versuchen
die Aufmerksamkeit der Vp. auf etwaige bei ihnen auftretende
Perseverationserscheinungen ; das Ergebnis dieser Nachfragen war,
daß bei unsern Vp. die »Perseveration« eine anscheinend recht
unbedeutende Rolle spielte. Vier Herren (Prof. M., Dr. W., F., B.)
versicherten aufs bestimmteste, daß bei ihnen außerhalb unserer
speziellen Versuchszeit niemals ein spontanes Auftauchen unseres
Lernmaterials vorgekommen sei, — »nicht im Schlafe«, wie einer
der Herren sich ausdrückte. — Alles in allem hat Versuchsleiter
nur zwei Fälle finden können, die die Vertreter der Persevera-
tionstheorie für sich in Anspruch nehmen könnten, — zwei Fälle,
die aber wohl auch darzutun vermögen, daß Perseverations-
erscheinungen nicht weit von der Grenze des Pathologischen sich
bewegen. Der eine Fall betrifft Herrn Br. , welcher sich Uber-
haupt während der ganzen Versuchszeit keines befriedigendem
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 155
Gesundheitszustandes erfreute. Er bekundete, daß während des
Kontrollschnittes ihm gegen Abend die beiden Schiilerschen Strophen
immer wieder ohne jede erkennbare Veranlassung in den Sinn
gekommen seien >etwa wie eine Melodie, welche man geraume
Zeit nicht wieder los wird«, — damals habe er sich aber im Zu-
stand ausnehmender Abgespanntheit befunden. In einem
ähnlichen Zustand minder normalen Befindens wurde Frl. S. ein-
mal während des SchlafenB von den beim Kontrollschnitt erlernten
visuellen Zeichen heimgesucht, — das bei weitem zahlreichere
Silbenmaterial jedoch kam ihr nicht durch Perseveration ins Be-
wußtsein; lediglich im Anfang der Versuche hat sie (sogar einige
Tage lang) in der Silbenfolge »fap-rin« eine oft auftauchende
Erinnerung an einen russischen Namen gehabt.
Wir teilen nunmehr noch einige Resultate der Selbstbeobachtung
unserer Vp. mit. Sämtliche Vp. stimmen zunächst darin überein,
daß die G.- Methode wohl die »schwierigste« sei, da sie die Auf-
merksamkeit »kontinuierlich anspanne« (Frl. S., Tabelle 35, Protokoll
zur XXXV. Versuchsreihe), wahrscheinlich deswegen und wegen der
davon abhängigen größeren Zahl von Wiederholungen auch »an-
scheinend ein treueres Behalten bewirke«. Ferner sind sich alle
Vp. darüber einig, daß das G.- Verfahren — wie allerdings auch
die beiden V.-Methoden — niemals falsche, unzweckmäßige Asso-
ziationen stifte. Daß auch das bereits Gelernte wiederholt werden
muß, wurde gegen Ende der Übung von dem Gros der Vp. (Herren
B., Br., F., Frl. S.) weniger störend empfunden; die genannten
Vp. glauben das immer leichter ausgleichen zu können dadurch, daß
sie die Aufmerksamkeit immer intensiver »auf die Partien der
Reihe richten, welche beim antizipierenden Lesen als Schwächen
empfunden wurden« (Prot, zum 15. Turnus). Herr F. speziell
glaubt hierin — also im rationelleren, ökonomischeren Verteilen
der Aufmerksamkeit — ein Hauptmoment der von ihm erlangten
»Lerntechnik« erblicken zu müssen, — siehe Protokoll zur 39. Ver-
suchsreihe!
Eben dieses »Dirigierenkönnen« der Aufmerksamkeit hat
speziell Herrn F. dazu verholfen, gelegentlich der Erlernung der
drei letzten T.-Reihen diese nach je ein- bis zweimaligem Lesen
der Teile als G.-Reihe korrekt aufsagen zu können; ähnlich spricht
sich Herr B. und Herr Br. in den letzten Protokollen zur mecha-
nischen Einübung aus. Es scheint danach die T.- Reihe bei
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156
Ernst Ebert und E. Meumann,
fortgesetzter Anwendung derselben mehr und mehr von ihrer Schwäche
zu verlieren, die in dem Znstandekommen unzweckmäßiger Asso-
ziationen besteht, — besonders wenn man gleich Herrn B., Herrn Br.
und Frl. S. sich so einrichtet, daß man ebensogut im 4/4-Takt zu
lernen vermag, der vorzugsweise beim G.- Verfahren zur An-
wendung kam, wie im 3/4-Takt, zu welchem die 12 -silbige T.-Reihe
drängt. Bei solchen ausgeprägten > Akustikern < freilich, wie sie
repräsentiert wurden durch Herrn Prof. M. und Herrn Dr. W., be-
halten die für sich erlernten Hälften der Reihe mindestens im
relativ kurzen Verlauf unserer Einübung eine Art Nachbildcharakter
im auditiven Sinnesgebiet, — diese helfen aber nur wenig zum
dauernden Behalten, was ja die letzte Ziffer von den dreien der
Erlernung in ihrer Höhe mit aller Deutlichkeit nachweist. Daß
auch ein so visueller Typ wie Herr Br. an der gedachten Stelle
jeweils etwas höhere Ziffern als die andern Visuellen unserer Vp.
zeigt, erklärt sich dadurch, daß er vorsichtigerweise lieber zwei
oder drei Lesungen mehr aufwandte, als daß er sich dem speziell
bei ihm stärkste Unlust erregenden mangelhaften Reproduzieren
aussetzte, — außerdem erregte die T.-Methode von vornherein
einige Unlust bei ihm (siehe Protokoll zum 14. Übungsturnus!),
weil er mit hier fast unangebrachter Vorliebe am Rhythmus des
V<-Taktes festhielt, den er hier aber natürlich ebensogut aufgeben
mußte, wie bei der folgenden I. V.-Methode.
Dieselbe hat nach den Protokollnotizen gleich der II. V.-Me-
thode in der subjektiven Auffassung unserer Vp. alle Vorzüge
der G.-Methode unter Umgehung ihrer Mängel. Daß die
n. V.-Methode, die Lernweise mit zwei Interpunktionen, von den
Vp. vorgezogen wurde, hat nach deren spontanen Äußerungen einen
zweifachen Grund: einigen (Herrn Br., Herrn B.) ist es störend, ihren
Vorzugsrhythmus nicht anwenden zu können, weil dadurch Unlust
erregt wird, — dieser Grund gilt freilich nur für 12-silbige Reihen,
und wohl auch nur da, wo der Rhythmus eine solche dominierende
Rolle spielt, wie bei mechanischen Leistungen, also auch bei diesem
Lernen sinnloser Silben. Gewichtiger ist der zweiter Grund für
subjektive Bevorzugung des II. V. -Verfahrens, bezüglich dessen alle
Vp. durchaus in ihrer Meinung übereinstimmen: es findet bei
ihm eine gleichmäßigere Verteilung der psy chophysischen
Energie statt, — eine rationellere Ausnutzung der Aufmerksam-
keitsphänomene, — damit eo ipso eine festere Einprägung der
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 157
mittleren Eindrücke der Reihe nnd damit wieder zusammen-
hängend eine Reproduktion, die in der Vp. das Lustgefühl der
Leichtigkeit und besonderen Sicherheit hinterläßt.
VI. Kapitel:
Schlnßqn er schnitt.
Bei dem nunmehr ins Auge zu fassenden Schluß querschnitte
durch das Gesamtgedächtnis unserer Vp. wurde wiederum speziell
darauf geachtet, daß sämtliche Lernbedingungen die nämlichen
wie bei den früheren beiden Schnitten waren, und insbesondere
der jeweilige Memorierstoff in denkbar bester Analogie zu
dem früher verwendeten gewählt wurde.
XLI. Versuchsreihe.
Diese Versuchsreihe stellte den endgültigen Effekt der
Mitübung für das unmittelbare Behalten von Zahlen fest
Hatten sich infolge der einseitig -mechanischen Übung am sinn-
losen Silbenmaterial weitere Fortschritte auch betreffs dieser »Seite«
der Gedächnisfunktion entwickelt? Bücken wir wieder wie vor-
dem auf das Niveau der Nullgrenzen und derjenigen, bei welchen
erstmalig 33 y3* Fehler zu verzeichnen waren, und setzen wir
sie jeweils sofort in Beziehung zu den Ergebnissen des ersten und
zweiten Querschnittes! Es behielten fehlerlos gegenwärtig
B. 13 Zahl., vordem 9, bzw. 7, Fortschritt also 44,44, bzw. 85,71 *,
Br.ll » » 10, » 7, > » 10, > 57,14*,
F. 13 » > 8, » 5, » » 62,5, > 160,00*,
M. 11 » > 9, > 9, » » 22,22, » 22,22*,
S. 11 » » 10, »7, » > 10, 57,14*,
W. 8 > » 7, > 7, » » 14,28, > 14,28*.
Durchschnittlich merkte also am Schlüsse der Untersuchung
jede Vp. 11,16 Zahlen gegen 8,83 Zahlen beim mittleren und
7 Zahlen beim ersten Querschnitt; der Fortschritt erfolgte vom
mittleren zum Schlußschnitt um 26,38*, von Anfang bis Ende
der Untersuchung um 59,42*.
Achten wir auf die gegenwärtige Lage der 33 Vs * -Fehlergrenze,
so finden wir sie bei
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158
Ernst Kbert und E. Meumann.
Tabelle
XLI. Versuchsreihe: Unmittelbares
Aulzu-
Herr 1?
Herr Hr.
Herr F.
faiwendi'»
/.uiiiL'n-
r -
Bezeichnung der
F.-
He/eichnuii;; der
F.-
Bezeichnung- der
quanfum
Zühl
Fehler
Zahl
Fehler
Zahl
Fehler
VIII
0
0
0
1 A
0
0
V
A
(1
II
o
XI
L>
- III. VI.
o
XU
1
- III.
1
- IV.
1
VIII.
XIII
0
- V. IX: bei II 0
»11« für »12«
- III. V VIII.
IV. VI, VII.
VIII ; u. rii
verstanden.
V. VII.
2?
i
VII. VIII. IX,
V1.X;XII.X]V.
VI. VII. \- III. 5
XI; XIII XIV.
III, IV. V. VI.
vir
v. VI. VII. XII. •>
IX. X. XI. XII: •>
XV
X1V;XV,XV1I.
- V. VH1. IX. X.
XI; xvm
- IV V. VI. VII.
X. XI. XII.
iwrr K 'i-hreii'l J.f cul-
.-i-Li'i iJoji J m Mcnu'i'.l cu.et
i. rlin. - Tutionullrrrn i'~up-
ti-'ti 7/i il criiiu.it'Ti al h /.i),
- \ r i r ii.'.i'in dem Vt'rlin '."ji
jlrrii-il> d'Ti) 0 T':ruUa:
-rli v . il o cl im ji't.*« . i [ ';[ -
■ I i r iii-k- .-erlebt . r
<vio Htj-r Hr.
.V , - IV. V. VIII. XI.
XV1;X1I,XIII.
- vii. vni. ix r 4
x. xv.
- V, VIII; bei XII
»17« fiir »14«
verstanden.
XV: bei Xlll das
obi^'e gleiche
Mißverständnis.
X, XIV
- VIII, XII: XV.
- IV. V. X. XI;
IX. XV
- XI. XII. Xlll. h< i - III. IV. VI. IX:
XIV. XV.
1 1. 1 11 ; — VI 1 1 IX.
X.XI.XIt.MÜ
lUrr l'.r. , t ,\,.n
LlloWt tu ««'ini-m :'w<" kü; in ,
Iii riclisam st ritcuisi licn \ •
):::'.U u boiiu V< ilcilfii in: I
K • -.1 131 .1«t 1." ■rt:ii.:.'t.,l
i\ i-.. \ . i :• I r v Vi. h
••.'tineri :»ul' l'.srh — > r.-te
Hill it" VlMIrll . v, t Hui (\ •'
:iu ö il i * ji-iiii'rU. Jtit"^ < i ifii
Ins 1 /.ah Ii- li a<S",'.iit i v ;iK
'i»."n-liii-rils':il!l<'ll i : t-, 1 1 • r K--
rif l' .in (Ii'- Tills. i • 1 1 ::
l.isl.iriM li. r Art ><• (>■ i.'U'
V::li:.-'.|;"fiiij> tVh:-ri.
VIII. XV;
XIII. XIX
II, :.- 1". teilt v, 11, Tr
I! . - nur l ildi't er mi-hr
Grur.p«'n vcii. /Ahlen
;ilj . 1 r -- 1 i.Jcr v-^r lir.iH.pn — ,
i p-l1. UinlHisl m i * eintuu
S J 1 1 ■ •' i 0 1 1 V Ii VV L 1 [ BD .- i II 1 [i II . *
ert.is-erul. J.;iui;r.. Siibtif-
[iijcn'kiiti rn'D wi*1 *\ich
Korr r %D.i Yz\. S.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphiiuomene usw. 159
XLL
Behalten von Zahlenreihen.
Aufzu-
fassendes
Zahlen-
quantum
Herr Prof. M.
Frl. S.
F.-
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
F.-
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
VI II
0
IX
0
X
0
XI
0
XII
i
- i
XIII
1
AI V
i
i
40
4- 4
XV
XVI
5
XVII
6
XVIII
Herr Dr. W.
F.-
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
BeiVm »2« für
»20« verstanden.
- V; VI, VII.
ID, VI, VII.
xrv; iv, V.
V, VI, VII, X;
bei IX »6« statt
»16«.
0
23
V, VI, XI, XII;
xm.
II, III, X, XI:
XV, XVI.
4*
4
62
Herr Prot M. Yennag mehr
and mehr alles andere
Hemmende ans dem Blick-
punkt dM Bewußtseins je-
weili in verdrangen, um In
ebendemselben Grade ge-
steigert« Int«
raerksamkeit
-IV.
Bei VII unsicher,
ob »4« oder »40«.
-VI, VII.
- VIII, IX;
II, 1v.
- VII, VIII, IX,
XV.
-II, V.VI, VIII;
XV, XVII.
- V, VIII, IX, X,
XI; XV;
1«,
4V4
IX. ~
V; III, VI;
vm, \
IV, VI, X;
11 korrigiert.
V, VII, vin,
IX. Bei XI für
18-8!
xni, "xm
Frl. S. beknndet, daß bei
diesen abschließenden Ver-
gucken die Adaptation der
Aufmerksamkeit merklich
rascher eintritt und sehr
znm quantitativ und quali-
tativ vollkommeneren Er-
fassen beitragt. (Größere
Ansgeglichenheit der Oe-
fflhlslage.
Besinnen!)
Herr Dr. W. vermutet
die Ursache des minder
_ in.
Technik des Isolierens
schwacher Stellen , auf
welche dann besser« Kon-
zentration möglich ist.
Herr Dr. W. findet, daß
sich das Interesse mehr und
mehr emotionell fordernd
diesen Experimenten zu-
wendet, — die Lustgefühle
wirken aber kraftbildend
nach Stüter Selbstbeobach-
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100 Ernst Ebert und E. Meumann,
B. bei 20 Zahl., frUh. 19, bzw. 10, Fortschr.also 5,26, bzw. 100,00 %,
Br.
.20 »
» 20,
> 11, »
» — »
81,81*,
F.
» 19 »
• 17,
»8, »
> 11,76, .
137,50
M.
» 17 >
> 15,
» 11,
> 13,33, »
54,54
S.
» 18 »
> 14,
» 12,
» 28,57, .
60,00
w.
» 12 »
» 10,
» 10,
» 20,00, .
> 20,00 %.
Im Mittel traten also 33 i/8# Fehler auf am Schlosse der
Untersuchung bei 17,66 Zahlen, gegen bei 15,83 Zahlen beim mittleren
und 10,33 Zahlen beim ersten Querschnitt. Prozentual bestimmt
belief sich also der Fortschritt vom mittleren Querschnitt ab auf
11,56, von Anfang bis Schluß der Untersuchung auf 70,95.
Aus dem Detail der Protokollnotizen sei hier nur das Wichtigste
hervorgehoben.
Zur Bestim muug des Wesens der Übung scheinen folgende
Wahrnehmungen der Vp. von Belang zu sein:
Herr F., Herr B., Herr Br. äußern sich dahin, daß es ihnen gelänge,
durch »technisch rationellere Gruppierung des dargebotenen Ziffern-
materials« das Behalten umfänglicher und sicherer zu machen, —
gleichsam, wie Herr B. sich ausdruckt, »durch Befolgung des
Grundsatzes 'divide et impera' ! < — oder, wie Herr Br. exemplifiziert,
»durch zweckmäßiges, gleichsam strategisches Verteilen, bzw. Kom-
binieren der verschiedenen Lernmittel, nämlich des visuellen, kin-
ästhetischen und auditiven Merkens« ; Herr Br. zeichnet nämlich
das Vorgesprochene schnell mit den Fingern auf den Tisch, merkt
sich die erste Hälfte visuell, die letztere auditiv, — bisweilen,
wenn die Reihenfolge der Zahlen dazu von selbst Veranlassung
bietet, eine Gruppe von dreien oder vieren »als Geschichtszahlen«
assoziativ »durch momentanes Erinnern an die bezugliche historische
Tatsache« (siehe die zugehörige Tabelle!). — Herr F. teilt die
vorgesprochene Zahlenserie am vielfachsten — von 9 Zahlen ab
in 3 oder 4 Gruppen — und gibt sich möglichst für jede Sonder-
gruppe einen speziellen Willensimpuls.
Wichtig erscheint ferner für die Bestimmung des Wesens der
Übung eine subjektive Wahrnehmung, welcher speziell Herr Prof. M.
Ausdruck verlieh; Herr Prof. M. meint auf Grund der Übung
immer vollkommener eine Hemmung der übrigen Bewußtseins-
inhalte erreichen zu können, in demselben Grad aber die Inten-
sität der Konzentration gesteigert zu spüren.
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Über einige Grundfragsn der Psychologie der Übungsphänomene usw. 161
Damit harmoniert, was Frl. S. hinsichtlich der Übungsfaktoren
auesagt, — daß nämlich bei diesen abschließenden Versuchen die
Adaptation der Aufmerksamkeit merklich rascher eintrete und
wesentlich bei ihr zum quantitativ und qualitativ vervollkommneten
Erfassen beitrage.
Endlich findet sich noch unter den spontanen Aussagen des
Herrn Dr. W. eine Notiz, welche einen beachtenswerten Faktor des
Übungsphänomens darzutun scheint, — den emotionellen. Herr
Dr. W. findet, daß sich nach und nach in steigendem Maße das
Interesse von einer Reihe anderer Bewußtseinsinhalte abwendet
und dieser Art von Experimenten zukehrt, — daß die größere
Leistungsfähigkeit auf dieser abschließenden Stufe zum nicht ge-
ringen Teile den »kraftbildenden Lustgefühlen« zuzuschreiben ist,
welche ein wesentliches Moment im »Interesse« sind.
Von nicht geringem Interesse war ferner die durchgängig von
allen Vp. gemachte Beobachtung, daß die Möglichkeit des Sich-
besinnenkönnens auf irgendein Glied der zu behaltenden Serie
auffällig größer war als bisher. Herr F., Herr Br. und Frl. S.
bemerken, daß dies in erster Linie wohl der größeren Ausge-
glichenheit der Gesamtgefühlslage zu verdanken sei, indem
vor allem die lästigen, hemmenden UnlustgefUhle immer mehr
abklingen. Herr Dr. W. vermutet eine weitere Mitursache dieses
weniger schnellen > Auslöschens« in der Erinnerung in der immer
mehr erlangten »Technik« des Isolierens schwacher Stellen,
auf welche sich dann die Konzentration besonders intensiv richten
kann.
Als Wiederholung der IL, bzw. XXH. Versuchsreihe stellt sich
nns weiter die
XLII. Versuchsreihe
dar. Aus ihr ergibt sich abermals zunächst ein Steigen beider
Grenzwerte, — zuerst der Nullgrenzen. Es behielten an Buch-
staben bei dieser abschließenden Versuchsreihe völlig fehlerlos
B. 11, vordem 9, bzw. 6 Buchst, Fortschr. also 22,22, bzw. 83,33 %,
Br 12,
» 11,
» 8 »
9,09,
> 50,00
F. 12,
> 9,
» 5 »
» 33,33,
» 140,00 %,
M. 13,
» 11,
> 9 »
» 18,18,
» 44,44
S. 12,
> 9,
» 7 »
> 33,33,
> 71,42 X,
W. 8,
> 8,
, 8 »
» — .
XrckiT fix Psychologie. IV. 11
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162
Ernst Ebert und E. Meu
Tabelle
XLII. Versuchsreihe: Unmittelbares
Aufzu-
fassendes
Buch-
staben-
quantnm
Herr B.
II
Herr Br.
F.-
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
F.-
Zahl
VIII
IX
XI
XII
XIII
XIV
XV
XVI
XVII
XVIU
0
V.
Bezeichnung der
Fehler
Herr F.
F.-
fcabl
Bezeichnung der
Fehler
3* 4 -V, VII, VIII:
3
67«
0
0
- vii, viii. x.
V, VI, X, XI; 3
Xü; XV kor-
rigiert.
"43,
Herr B. bexeigte früher
innerlich ein fast ablehnen-
de« Verhüten derartigem
Material Reponier, — jetlt
findet er die > Sache« inter-
essant. Herr B. orbliekt
vor dem »inneren Auge«
du Ganze den Dargebotenen
and zerlegt dasselbe beim
Aufsagen. (So anch Herr
Br.!)
634
X, XL
0
0
0
0
0
VTI; bei XIII
b für p.
IX, X; XIV.
-m, viii, ix,
XI; XII, XV.
— IX, X, XI, XII;
V.
-Vffl, XI, XII.
XHI; V, VI:
XIV. \viii.
Herr Br. fühlt seine
StimmongsUge in ahnlicher
Weise umgeschlagen, wie
es Ton Herrn B. gekenn-
zeichnet ward«. Der ener-
gische »Wille« regt sein
Können an. Herr Br. leich-
netnnd schreibt in dieLofl,
tun den fehlenden optisch-
motorischen Eindruck «n
-IX.
1
X, XIII.
V, VI.
VI, VIII. IX;
XII.
53/4 - II, V, VI. VII;
xi, xn.'xv.
Das unmittelbare Be-
halten d..r.\rtiger sinnloser
fallt Herrn F. nicht leicht,
— doch fordern ihn immer
meursUrke Willensimpuls«'
in dieser Art geistiger Be-
tätigung. Mit dem Willen
merke er <
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 163
XLIL
Behalten yon Buchstaben.
Aufzu-
fassendes i
Buch-
quantum
Herr Prof. M.
Krl. S.
Herr Dr. W.
F.-!
Zahl';
Bezeichnung der
Fehler
F.-
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
F.-
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
VITT
L\
1
0
0
0
0
!
i
i
1
0
<>
- 4
VII. VIII.
X
0
0
-ILIIljVIlUX;
VII. X.
V 1
2 4
IV, V.
0
-XI; IV. V;
VII, "x.
XII
0
0
-VII. VIII, X;
XIII
0
: i=/4
MI: bei II a für k!
-1
IV. IX. XI nicht
lokalisiert.
- V,VI.V1I.VIII.
XIV
XV
<>
6
t 1 * TT r 1T1 TT
— I v . VI. \ III.
-X; IX.\lV
- i
Vi
VI, VII.
III; - IX. X ;
Xl: XII.
o
III: — IV, XI,
"XII. XIII.
XVI
- Hl. V. VI, VII.
VIII; bei XII
für b - »•!!
!
II. I_ll; —XI, XII
~~ XV, V korri-
giert.
XVII
XVIII
lli>rr Prof. M. leidet an Frl. >. -firi.-ht h!i-1i t';Vr ' f r - r r in. W. i~t nnln^tlff
r>chlttflM!iipk-itint'o!s..'viol'>r ihr em..li..up!le-; Verhältnis über Joci St.-lT; -r vnürl, <l.il<
Arbeit. ;um ^t.: fl' in srie-ii.-rier Wr.iso .UJurch aurli fein Wollen
.ms v,i- !T«rr I:.. — si- i tieeintricutint wird.
:;p\rt ein."; •' eutl i.'l. "n Um-
s.-liwiii^ d.'r <;.füi.:.-.
11*
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164 Ernst Ebert und E. Meumann.
Man sieht, daß gegenwärtig die Vp. im Mittel 11,33 Buch-
staben unmittelbar zn behalten vermögen gegen 9,5 Buch-
staben beim Kontrollschnitt, bzw. 7,16 Buchstaben zn Beginn der
Untersuchung. Der Fortschritt, den der Schlußschnitt gegen den
mittleren Schnitt nachweist, betragt 19,26 — von Beginn
bis Schluß der Untersuchung erfolgte in bezug auf das
unmittelbare Behalten von Buchstaben ein Fortschritt
um 58,24
Die 33 Ys # -Fehlergrenzen finden sich bei
B. bei 15 Buchst., früh. 14 bzw. 10, Forts c h r. also 7,14, bzw. 50,00 %,
Br. » 18 > , 17 > 17,
F. » 17 » > 13 > 7,
M. » 16 » » 13 » 13,
S. » 16 » »15 > 10,
W. » 14 » » 14 > 10,
> 5,88, > 5,88 #,
»30,76, > 142,85%,
»23,07, > 23,07
» 6,66, » 60,00$ ,
» — > 40,00*.
Es traten also am Schlüsse der Untersuchung 33 y3 % Fehler
erst auf im Mittel bei 16 Buchstaben, während dies beim mittleren
Schnitt der Fall war bei durchschnittlich 14,33 Buchstaben und
anfänglich bei 11,16 Buchstaben. In Prozenten bestimmt beträgt
der Fortschritt in dieser Beziehung vom mittleren zum abschließenden
Querschnitt 11,79 und im Gesamtverlaufe der Untersuchung
überhaupt 43,36.
Sehen wir wiederum von den aus den Tabellen ersichtlichen
Details ab, wie z. B. von dem sonderbaren Falle, daß Herr Dr. W.
im Verlaufe der ganzen Untersuchung in bezug auf das unmittel-
bare fehlerlose Behalten von Buchstaben keinen Fortschritt auf-
zuweisen hat, während z. B. Herr F. es bis zu 140 # gebracht
hat, und achten wir vor allem auf den leitenden Gesichtspunkt
der Untersuchung, das Übungsphänomen, so ist aus den zu
Protokoll verzeichneten Aussagen der Vp. ein Zweifaches spe-
ziellerer Beachtung wert: Herr B. und Herr Br. sowie Frl. S.
äußern sich dahin, daß ihnen »die Sache immer interessanter werde,
während früher ein fast ablehnendes Verhaltene bei ihnen präva-
lierte, — Frl. S. besondere verspürt deutlich einen »Umschwung
der Gefühle c, — also das auch sonst häufig genug wahrzunehmende
emotionelle Phänomen, daß bei längerer Dauer einer Tätigkeit
Unlustgefühle in Lustgefühle umschlagen können. — Eine
andere Bemerkung findet sich bei Herrn F., mit welcher eine ähn-
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 165
liehe des Herrn Br. und des Herrn Dr. W. negativer Art ttber-
einstimmt. Herr F. meint, »daß ihm zwar das unmittelbare Be-
halten derartiger sinnloser Buchstabenkombinationen nicht leicht
fiele, daß er aber je länger, je mehr an sich wahrnehme, wie sehr
starke Willensimpulse ihn bei dieser Art geistiger Arbeit förderten,
— mit dem Willen merkte er das Können wachsen«, — dasselbe
versichert dem Sinne nach auch Herr Br. Es liegt hierin wohl
jene auch sonst beglaubigte psychologische Tatsache vor, daß die
Leistung wächst mit der wachsenden Zumutung an die
Leistungsfähigkeit
XLHI. Versuchsreihe.
Diese Versuchsreihe weist abschließend und analog der in.,
bzw. XXIII. Versuchsreihe nach, in welchem Maße sich das
unmittelbare Behalten sinnloser Silben vervollkommnet
hatte. Es behielten zuletzt fehlerlos
B. 8 Silb., vordem 7, bzw. 5, Fortschr. also 14,28, bzw. 60,00$,
Br. 7 » » 6, » 5, » » 16,66, » 40,00$,
F. 9 » > 5, > 4, » » 80,00, » 125,00$,
M. 7 » > 7, » 6, » > — » 16,66$,
S. 8 » » 7, » 6, . » 14,28, > 33,33$,
W. 5 » » 5, » 5, » » — » — .
Daraus ergibt sich, daß im Durchschnitt von unsern Vp. zuletzt
gemerkt wurden 7,33 Silben gegen 6,16 beim mittleren un<f 5,16
beim ersten Querschnitt. Prozentual bestimmt beträgt der Fort-
schritt vom Kontroll- zum Schlußschnitt 18,99, — der Fortschritt
im Gesamtverlauf der Untersuchung dagegen 42,05. Die
33 i/3 $ -Fehlergrenze zeigt sich bei dieser Versuchsreihe für
B. bei 12 Silb., früh. 11, bzw. 6, Fortschr. also 9,09, bzw. 100,00 %,
Br. » 12 » »11,-8, » » 9,09, » 60,00$,
F. « 12 » > 10, , 6, » » 20,00, . 100,00$,
M. > 12 » » 12, »10, » » — » 200,0$,
S. » 15 » » 15, » 8, » » — » 87,50$,
W. » 10 » » 8, , 8, » » 25,00, » 25,00$.
Demnach trat das bezeichnete Quantum Fehler am Schlüsse der
Untersuchung erst auf bei durchschnittlich 12,16 Silben, während
dies beim Kontrollschnitt erfolgte bei 11,16 Silben und bei der
Anfangsprttfung bei 7,66 Silben. Der Fortschritt betreffs dieser
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166
Ernst Ebert und E. Meumanu,
Tabelle
XXM. Versuchsreihe: Unmittelbares
Aufzu-
fassendes .
Silben- j\_
quantum zahi
Herr B.
Bezeichnung der
Fehler
F.-
Zahl
Herr Br.
Bezeichnung der F.
Fehler Zahl
Herr F.
Bezeichnung der
Fehler
0
0
0
0
2*/a
4Vs
- V; ffl.'Vv.
- ii, viii; IV» ,
IX».
- in, iv, x.
V, VI, VII,
X; XII.
0
0
0
IV»
- V, VH*,.
1 -IL
2 —HI, V.
92
■3
- VI, Vn; Xȣ.
- IV, V,VI,VH;
XI.
Einig« Unlust Aber das
Silbenmsterial, mitwokhem
sich Herr B. fiwt »nber-
f&tterU glaubt. Deutungs-
versnche werden als töricht
empfunden und zurückge-
wiesen. Bildung ton Ein-
druck.»sKgresaten, dj* dann
in gliedern sind.
Disposition weniger gün-
stig. Merken vor allem
mit Tisnellen Mitteln, —
ohne Versuch etwslcher
Deutung. Herr Br. muß
sich starke Willrnsimpulse
geben, da diese Experimente
ihn liemlich ermüden.
0
0
0
l2/3
0
2*/a
-ni; iv:*.
35/a
- in, vin; vi» ,
vui , ixi\.
-rv, vra.
-m,iv,x;vi*
Merklicher noch sie bei
den früheren Veraschen
schließen sieh diesmal die
Eindrucke so »Konglome-
raten« zusammen, meist
swei oder drei Ein Akt
der Analyse laßt dann da*
Detail hieraas gewinnen.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungspbänomene usw. 167
XLni.
Behalten von sinnlosen Silben.
Aufzu-
fassendes
Herr Prof. M.
1 Frl. S.
Herr Dr. W.
Silben-
quantum
F.-
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
F.-
Zahl
Bezeichnung der
Fehler
F.-
gahl
Bezeichnung der
Fehler
V
0
0
0
VI
0
0
5/a
mi , rv» vi ,
vi» .
VII
0
0
2/3
Vb, VUb.
vm
Vi
vm.
0
vi, vii, vn;,
vmv
V II l_ .
IX
lS/3
— iii, rv\, vp» .
III? , VIV b, VIP1 .
3V3
— IV, V, VI; LP« .
» V J V J Tay A m — •
X
4
— v,vi,vn,vni.
l3/3
-iv;n»h,vni.
6*/4
- n, iv, v, vm,
LX,X; VI,Vn.
XI
-vm, ix; m,;
m^, viimb. ,
-V, VI, Vü;
Iß , Villi .
XII
- v,vi,vn,vm,j
IX; mi*.
-V, VI, VII,
IX* .
xin
4
IV; — VIII, EX, X.
XIV
4S/4
m, lv; - vm,
IX, XI, XII.
XV
7
- m, v, vi, vn,
vm, ix, xii.
Biin mechanisches Mer-
' keii, in erster Linie gestutzt
auf die akustischen Ein-
drücke. Bildung sinnloser
Wörter drangt «ich auf.
Besinnen auf »Vergessenes«
noch immer schwierig and
stark ermüdend, — die Ein-
drücke haben tu sehr den
Charakter des Nachbildes.
Spannung in der unteren
Extremität Lustgefühl am
leichteren Können. Aus-
schluß von mnemotech-
nischen Kunstgriffen und
sinnvollen Deutungen.
Zusammengehen der Ein-
drücke der beteiligten Sinne
in mehrere, »üsuze«, die
analysiert
Noch immer findet Herr
Dr. W., daß der orsprtng-
liche ziffernartig scharf um-
rissene Charakter der Sil-
ben infolge der Häufung
derselben und der damit
verbundenen Wiederkehr
gewisser Lautfolgen etwas
weicher, verschwommener
ist.
Mechanisches Merken, ge-
stützt auf Kombination dar
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168 Ernst übert und E. Mcumann,
Tabelle
XLIV. Versuchgreihe: Unmittelbare» Behalten
Aufza-
Herr B.
Herr Br.
Herr V.
Wort-
r.-
nozt'icnuuii^ aer
V -
„rtta. der
F -
Bezei l u der
wahl
Zahl
Fehler
Zahl
Kehler
Zahl
Fehller* "
VT
0
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VIII
1
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IX» Hain R M)
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Mi VII' 1 v —
— III, VII, l > —
1
I
VI
— VI.
f Miurd -Macht'
Y \
1
i
- VI.
r v v
1 "
TV- VTIlTh
XII
1
V
-X, V
— IV, V, X; Ii-
XIII
- III. IV. VII l
4' 4
-V, VI, VII: II :
4
-III, IV. V, VX
XI korrigiert.
XIV
2
VII, VIII
■"»' 4
— III, IV, IX.
— II, III. IV; V±
X. XI: XIII
korrigiert.
XV
1
-- VII.
j — III.V.VI.VUI;
i
XIV; XUll
XVI
:i
— II. III. XV
XVII
- III, TV, X, XI:
!
i
XII.
XVIII
6' 4
II, VIII — VII.
^ xiTxn . xv.
XVI korrigiert
Hi-: r t; l" merkt : h.- trr-
il-rr Hr. glaubt benimmt
! Herr F. k)»|ft tib,-r di<>
linirl- mu ji'ld b<^n.
i-.i.-1atii)e zu sein, mehr
lirlu
zri-'-ln-'UeiiiJ.'ri !•. : n 1 1 u l >
m»'rkan lu knnn»n , hi>li»|ri
fvluiupfenfiobTr?, die ihm
cK s H.miu|r<^ <ir1'i>nn fnien.s
-rill
in<'iLcr Aufmi-rk^araUu von
dw^rt. Im ubriirM.
*Mii>m i i<>ilariV>.'nkr»,i in
! -prii'bl er »ifh iti gleichem
i'iricti :uv1crn vollij: lict<«-
Smn«' wif Herr B ins.
ru-.'U-j, ;n .TitK-UfU.
Wle T»rii«r b*i Silbe»
iSiomermtbildang*.
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Über einige Grandfragen der Psychologie der Übungsphänomene uflw. 169
XLIV.
eiBBilbiger Subgtantiva ohne logische Verbindung.
Aufzu-
fassende
Wort-
wahl
Herr Prof. M.
F.-
iZahl
VI
VII
VIII
IX
X
XI
XII
xra
xrv t
xv
XVI
xvn
xvra
0
0
0
0
0
3
4
41/4
5»/j
Frl. S.
Bezeichnung der I F.-
Fehler Zahl
Bezeichnung der
Fehler
! F.-
Zahl
II, III, IX.
iv, v, vi, vn.
II, V, VI; X;
XI korrigiert.
u, m, iv, v,
VI; IX*
0
0
0
0
2
l2/3
3
4V3
4u/
in
Die Reproduktion erfolgt
I mit gnaz bedeutender
Sicherheit Venmchsleiter
Ut «beringt, d*ß bei
Fortsetsang, bzw. Wieder-
holung der letzten Versuche
ein bedeutend bessere» Ro-
MlUt »o verzeichnen ge-
wann wir«.
— ni, iv.
-vi, IVi*.
— Iii, v, IX.
— IV, v, VI, VII, |
vm».
— VjVI.VII.XII;
X, *XI; U%*
HaunfürKauru.
2»/«
4V4
Herr Dr. W.
Bezeichnung
Fehler
— VIII; U,!tl;
IV korrigiert.
— VIII, IX; V, VI.
-VI, VII, VHI,
IX; V kprrig.
Rein mechanisches Mer-
ken; tob einzelnen Worten
— Spund, Sims. Bord —
versteht die Vp. den Sinn
nicht, merkt diese aber vi-
eneU-nkiuUftoh. (Frl. & Ut |
Bassin.) Die froher« Ten-
d«ra der elntelnen 8ob-
■Untiy», andere Vorstel-
lungen zu wecken and eo
diUtierend zn wirken, wird
»eh wicher. »Konglomernt-
bildungen« wie bei Herrn F.
Herr Dr. W. steht unter
dem Eindrucke 4er besorg-
nis, nicht »fertig« tu wer-
den vo
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170 Ernst Ebert and E. Meamann,
Fehlergrenze beträgt danach vom Kontrollschnitt zum Schluß-
schnitt 8,96 % und von Anfang bi s Schluß der Untersuchung
58,74
Aus den mancherlei Einzelheiten der Protokollnotizen sei hier
nur hervorgehoben, daß die Mehrzahl der Vp. — Herr B., Herr Br.,
Frl. S., Herr Dr. W. — wie schon früher bekunden, daß sich das
Merken der sinnlosen Silhen immer mechanischer gestaltet, in-
dem die Neigung zu mnemotechnischen Kunstgriffen immer seltener
auftritt, Deutungsversuche immer spärlicher gemacht werden, viel-
mehr die Verwendung der Sinneselemente vorwiegt, — also
der optischen, akustischen und motorischen Eindrücke (durch
Innervationen der Sprechmuskulatur). Nach den Aussagen der-
selben Vp. — mit Ausnahme des Herrn Dr. W., für den aber
Herr F. eintritt — schließen sich noch merklicher als bei den
früheren Versuchen die bezeichneten Sinneseindrücke zu einem oder
— was gewöhnlicher ist — zu zwei oder drei Silbenkonglomeraten
zusammen und werden beim Reproduzieren dnrch einen Akt der
Analyse daraus gewonnen.
XLTV. Versuchsreihe.
Diese Versuchsreihe, eine Wiederholung der IV. und XXIV. Reihe
mit unmittelbarem Behalten von Wörtern wurde abermals mit
sämtlichen Vp. veranstaltet Es stellte sich dabei zunächst hin-
sichtlich der Nullgrenzen heraus — wobei wir die IV. Versuchsreihe
unbeachtet lassen wollen, uns vielmehr nur auf die Werte von S. 105
an beschränken — , daß völlig fehlerfrei derzeit behalten wurden von
Herrn B. 10 Subst, vordem 9 Subst. ; Fortschritt also 11,11 % ,
Br. 9 » 7 » » > 28,57#,
5 » » » 60,—
9 » » 11>H
7 > » 28,57#,
7 » > — %.
> F. 8
» Prof. M. 10
Frl. S. 9
Herrn Dr. W. 7
Im Mittel wurden jetzt also 8,83 Substantiva korrekt gemerkt
gegen 7,33 Substantiva beim mittleren Querschnitt, was einem
Fortschritt von 20,46 £ gleichkommt.
Achten wir auf die gegenwärtige und frühere Situation der
33 Vj # -Fehlergrenze, so gewinnen wir folgendes Bild: Sie liegt für
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphünomene usw. 171
B.
Br.
F.
M.
s.
w.
bei 18 Subst, vordem bei 16 Subst. ; Fortschritt also 12,50
14
15
14
14
10
13
15
12
12
9
7,64 %,
- %,
16,66
16,66
11,11*.
Im Mittel wurde die in Rede stehende Grenze also erreicht bei
14,16 Substantiven, während dies beim Kontrollschnitt geschah bei
12,83 Substantiven; es wäre hiernach also ein durchschnitt-
licher Fortschritt von 10,36* zu konstatieren, — Werte,
die Übrigens etwas höher anzusetzen sein dürften, wenn man im
Protokoll liest, daß sowohl Herr Br. als auch Herr F. sich während
dieser Versuche durchaus nicht in guter Disposition befanden.
Abgesehen von allen übrigen Einzelheiten der protokollarisch
niedergelegten Beobachtungen unserer Vp. über ihr äußeres und
inneres Verhalten bei dieser Versuchsreihe , sind folgende Punkte
beachtenswert: Herr B., Herr F., Fräulein S. geben übereinstimmend
an, daß sie mit besonderer Deutlichkeit wahrnehmen können, wie
die > frühere Tendenz der einzelnen Substantiva, andere Vorstellungen
zu wecken und so ablenkend zu wirken« — Ausdruck von Fräulein S.
— , immer schwächer wird; damit deckt sich der Ausdruck des
Herrn B.: »Es gelingt mir jetzt besser, dem zerstreuenden Einfluß
des Herumgeworfenwerdens mit meiner Aufmerksamkeit von einem
Gedankenkreis in einen andern völlig heterogenen zu entgehen«.
Weiter erscheint für den gleichen Zweck die Aussage des Herrn F.
beachtenswert, daß ihm auch hier die einzelnen Substantiva zu zwei
oder drei »Wortkonglomeraten« verschmolzen — ganz ähnlich, wie
er es vorher bei den sinnlosen Silben wahrnehmen konnte. Auch
Fränlein S. machte bei sich eine derartige Beobachtung.
Die folgenden drei Versuchsreihen, welche wiederum nur mit
Herrn Prof. M. und Herrn Dr. W. ausgeführt wurden, brachten in
ihren Protokollnotizen — wie aus den zugehörigen Tafeln ersicht-
lich ist — wohl Bestätigungen des bisher Beobachteten, aber nichts
eigentlich Neues. Wir können uns demnach wohl darauf beschränken,
hier auf Grund des Materials in den Tabellen nur die Fortschritte
für das jeweilige Gedächtnisgebiet quantitativ zu bestimmen,
im übrigen aber die Tabellen für sich reden zu lassen.
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Emst Kbert und E. Meumann,
Tabelle XLV.
XLV. Versuchsreihe: Unmittelbares Behalten von deutsch-
italienischen Vokabeln.
Zahl
der
Vok.-
Paare
Herr Prof. M.
Herr Dr. W.
F.-
Zahl
Bezeichnung der Fehler
F.-
Zahl
Bezeichnung der Fehler
m
0
1°
IV
0
0
V
1
— III, ital.
0
VI
2
— III, ital.
— V, deutsch.
V«
Bei III ein Buchst, von
neun fehlend.
vn
4
— I, deutsch u. ital.
-U, deutsch u. ital.
Bei IV zwei von sieben
Buchst fehlend.
vin
-V.
BeilVeiner vonsieben
Buchst falsch.
Bei III drei von sieben
Buchst falsch.
IX
»/se
Bei UIu.IV je t/7 falsch.
Bei V je Vs*
X
! 3
— 11, III, IX.
XI
6
-II, III, IV, vi, vn.
Hittelwerte: a) Nullgrenze: 6,5 Wörter
b) 33 Vs* F.-Grenze. 12,6 >
Di» Aussagen der Vp. ergeben nichts Neues von einigem Belang.
Herr Prof. M. ist erstaunt, wie scharf ! Herr Dr. W. ist noch mehr von Unlust
Ida* Erfassen ist, sobald da« »Zurück- jl ober da* Material beeinflußt als Herr
i dimuii n« anderer Bewußtseinsinhalte gut Prof. M
I gelingt.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 173
Tabelle XLVI.
XLVI. Veranchsreihe: Unmittelbares Behalten von
Gedichtworten.
Zahl der
Wörter
des
Gedichts
Herr Prof. M.
Herr Dr. W.
F.-
Zahl
Bezeichnung der Fehler
F.-
Zahl
Bezeichnung der Fehler
xn
XIV
XVI
xvni
XX
XXII
XXIV
XXVI
XXVIII
0
0
0
0
0
>Dem Ansturm der Pfeile
entgegen« für > Der
Pfeile Sturm entgegen«.
0
0
0
0
aj Fehlt »Schreckens« vor
»Tage«.
b) »nimmer mich« umbe-
stellt.
c) fehlt: »feig«,
d; »Feindes« für »Gefech-
tes«.
a) Fehlt: »Frei von des
Gesetzes Zwang«,
b; »in« für »auf«,
ci »schünen« für »unbe-
merkten«,
d'i »den freien Enkel« für
»zum frohen Ahn den
Enkel«.
Es fehlt: »dem Klang der
Stimmen«.
Es fehlt: »Mit Stärke
Stärke zu vermählen«.
a) »Neue Kämpfer« für
»frische Streiter«.
b) »Kampf« für »Streit«.
Mittlere Lage der Nullgrenze für beide Vp.:
19 Wörter.
Beide Herren reproduzieren mit sehr bemerkenswerter Sicherheit, — beide haben
den Eindruck, d»ß sie - n»ch dem Gefühl der Leichtigkeit dabei - »mehr leisten«
könnten.
Im übrigen ergeben die Bekundungen nichts Neues von Wesenheit.
174
Ernst Ebert und E. Meuniann,
Tabelle XLVII.
XLVII. Versuchsreihe: Unmittelbares Behalten von philo
sophischer Prosa.
Zahl der
Wörter
im
Satz
Herr Prof. M.
F.-
Zahl
Herr Dr. W.
Bezeichnung der Fehler
Bezeichnung der Fehler
XII
XIV
XVI i
XVIII
XX
XXII
XXIV
XXVI
XXVH1
XXX
XXXII
XXXIV
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
0
Fehlt: »und einfach«.
a) »Erkenntnissen« für
»Grundsätzen«.
b) »getadelt« für »bezwei-
felt«.
a) »Gewiß« für »sicher-
lich«.
b) »Ansichten« für »Mei-
nungen«.
c) Fehlt: »vertrauensvoll«,
d^ »wieder« für »weiter«.
a) Fehlt: »und versteht«.
b) Fehlt: »in Vertrauen«.
c) »bloße« für »bloß«.
a; Fehlt: »Meister und«,
b) »ein großer« für »kein
kleiner«,
a »Der Leichtgläubig-
keit« für »blinde Gläu-
bigkeit«,
b) Fehlt: »zu fuhren und«.
»Aufgezählt« für »auf-
zählen müssen«.
»Auf welchem« für
»dem«.
Mittlere Lage der Nullgrenze für beide Vp.: 22 Wörter.
Erstaunlich sichere Reproduktion. Herr Dr. W. ist noch immer von ün-
ruhe befingen.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 175
XLV. Versuchsreihe.
Diese Versuchsreihe ist eine Wiederholung der V. und XXV. Reihe
mit unmittelbarem Behalten von italienischen Vokabeln.
Es zeigte sich die Nullgrenze, bis zu welcher das betr. Material
fehlerlos gemerkt wurde, ftir
M. bei8 Wört, vordem 6, bzw. 6 Wort., Fortschr. 33,33 bzw. 33,33 %,
W. > 5 > > 5, > 4 » » — » 25, — %.
Wie ersichtlich, werden jetzt durchschnittlich 6,5 Wörter gemerkt,
— beim Mittelschnitt waren es 5,5 Wörter, beim Anfangsschnitt
5 Wörter, — es fand also vom mittleren zum abschließenden
Querschnitt ein Fortschreiten um 18,18 # statt und im Verlaufe
der gesamten Untersuchung ein solches um 30#.
Die 33 Vs # -Fehlergrenze finden wir jetzt liegen für
M.beil4Wört.,vordeml4,bzw.8Wört.;Fortschr. — bzw.75,— %,
W. » 11 » > 9, . 7 » > 22,22 > 57,14
Im Mittel wird diese Grenze also erreicht bei 12,5 Wörtern zum
Schlüsse, vordem bei 11,5, bzw. 7,5 Wörtern; es ist vom mittleren
znm dritten Querschnitt ein Fortschritt um 8,69 # zu sehen, —
im Gesamtverlauf der Untersuchung aber hob sich die in
Rede stehende Fehlergrenze um 66,66#, — Werte, die
höhere geworden wären, wenn nicht beide Vp. intensive Unlust
verspürt hätten, weil die in raschem Tempo gesprochenen Laute
eines fremden Idioms sehr schwer festzuhalten waren.
XLVI. Versuchsreihe.
Diese Versuchsreihe ist die Wiederholung der VI., bzw. XXVI.
Reihe mit unmittelbarem Behalten von Gedichtstrophen.
Sie zeigt zunächst folgende Lage der Nullgrenze: Es werden
fehlerlos behalten von
M. 20 Gedichtwrt. , vordem 1 8, bz w. 1 8 ; F o r t s c h r . 1 1 , 1 1 bzw. 1 1 ,1 1 # ,
W.18 » , 16, » 12; » 12,50 > 50,—
Im Mittel werden also im gegenwärtigen Stadium unmittelbar
gemerkt ohne Fehler 19 Gedichtworte, — beim mittleren Schnitt
waren dies 17, beim ersten Schnitt 15 Gedichtworte. Der Fort-
schritt beläuft sich also vom mittleren zum abschließenden
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176
Ernst Ebert und E. Menroann.
Querschnitt auf 11,76#, im gesamten Verlauf der Unter-
Buchung aber beträgt er im Mittel 26,66#.
Indem Versuchsleiter speziell hinsichtlich der Fehler vermeidet,
quantitative Bestimmungen — hier wie bei der folgenden Versuchs-
reihe — zu machen, kann er doch nicht umhin, darauf hinzuweisen,
wie sich in qualitativer Hinsicht die Fehler sozusagen als minder
schwere darstellen: immer ist der Sinn beibehalten, — die
»Fehler« sind harmlose Wortvertauschungen , — bisweilen sogar
»Verbesserungen«; man sehe z. H. den Fall bei Herrn Prof. M. in
der folgenden Versuchsreihe, wo er bei 34 vorgesprochenen Worten
aus Lock es »Versuch über den menschlichen Verstand« alles
korrekt wiedergibt und nur insofern fehlt, als er das richtige
Relativum »welchem« an Stelle von »dem« einsetzt.
XLVn. Versuchsreihe.
Diese Versuchsreihe ist eine Wiederaufnahme der VII., bzw.
XXVn. Keihe (unmittelbares Behalten von philosophischer
Prosa). Es zeigte sich folgende Lage der Nullgrenzen:
Herr Prof. M. behielt 24 Worte korrekt, vordem 22, bzw. 22;
Fortschritt also 9,0», bzw. 9,09
Herr Dr. W. behielt 20 Worte korrekt, vordem 1<>, bzw. 12;
Fortschritt also 25,—, bzw. 66,66
In Mittelwerten ausgedruckt, werden also jetzt behalten 22 Worte
korrekt, während dies beim mittleren Schnitt 19 Worte, beim ersten
17 Worte waren. Der Fortschritt betrüg also vom zweiten zum
dritten Schnitt lö,78# und insgesamt '29,41
Die folgenden fu* nf Versuchsreihen waren der abschließenden
Prüfung des dauernden Behaltens gewidmet, zunächst die
XLVIII. Versuchsreihe
als Wiederholung der VII 1., bzw. XX VIII. Versuchsreihe der Son-
dierung darttber, wie jetzt ausschließlich nach dem G.- Verfahren
vier Reihen Silben — je 10, 12, 14, 16 Silben — erlernt werden
Wörden.
Zur Aneignung, bzw. Wiederaneignung nach einem Zeitintervall
von 24 Stunden der im ganzen 52 Silben hatten diesmal nötig
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 177
ArchiT für Psychologie.
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178
Ernst Ebert nnd E. Menmann.
B. 18 Lesgn., vordem 21, bzw. 171, und 6 Lsgn., vordem 11, bzw. 41,
Br. 27 , 42, > 89, > 12 • 12, > 26,
F. 15 > > 32, > 80, . 8 > , 13, * 19,
M. 14 > 50, > 140, » 11 » » 15, . 33,
S. 28 . > 53, » 92, * 14 » » 19, > 13,
W. 50 > » 64, » 89, » 15 » » 16, » 22.
Im Mittel waren demzufolge bei den einzelnen Vp. zur Erler-
nung, bzw. Wiedererlernung einer einzigen der insgesamt 52 Sil-
ben nötig bei
B. 0,34 Les., vordem 0,40, bzw. 3,29, u. 0, 1 1 Les., vordemO,2 1 bzw. 0, 78.
Br.0,51 . . 0,80, » 1,71, , 0,23 > . 0,23 > 0,50,
F. 0,28 • » 0,61, . 1,53, » 0,15 . » 0,25 > 0,36,
W. 0,26 > . 0,96, » 2,69, » 0,21 » » 0,28 > 0,63.
S. 0,53 . . 1,01, > 1,76, > 0,26 , . 0,36 . 0,25,
W.0,96 > . 1,23, . 1,71, »0,28 » » 0,30 » 0,42.
Daraus folgt, daß beim Schlußquerschnitt ftir eine einzige
Silbe als Norm überhaupt erforderlich waren
beim Neuerl erneu 0,48 Lesgn., vordem 0,83, bzw. 2,11 Lesgn.
» Wiedererlernen 0,20 • > 0,27, » 0,49 »
Der Übungsfortschritt beziffert sich demnach, auf eine Silbe
bezogen, vom mittleren zum abschließenden Querschnitt auf 0,35 Le-
sungen oder 43,37#, — im Gesamtverlaufe der Untersuchung
aber auf 1,63 Lesungen oder 77,25#, bzw. beim Wieder-
holen auf 0,29 Lesungen oder 59,18#.
Im Anschluß an die Erlernung der 12 silbigen Normalreihe
dieser Versuchsgruppe veranstaltete Experimentator eine Prüfung
der Festigkeit der gestifteten Assoziationen in der Weise, daß er
jede Vp. nach dem Aufsagen der erlernten Reihe fünf Minuten
lang mit Fragen beschäftigte, welche irgendwie mit unseru Ver-
suchen zusammenhingen, und sie dann ersuchte, die eben gelernte
Reihe nochmals zu reproduzieren. Die dabei zutage getretenen
Details wolle man aus der Tabelle zur XLVIII. Versuchsreihe er-
sehen; man erkennt unschwer dabei individuelle Unterschiede,
weshalb wir uns einläßlicher mit diesem Ergänzungsversuch be-
schäftigen wollen, wenn es sich darum handelt, das Fazit betreffs
des typisch verschiedenen Verhaltens unserer Vp. zu ziehen.
Wie rasch einerseits das Stiften der gewünschten Assoziationen
igmzea Dy
Google
Über einige Grundfragen der Psychologie der ÜbungephUnoinene ubw. 179
übrigens vor sich gehen kann, andererseits eine einzige versagende
Assoziation verwirren nnd die Nachbarschaft mit wegreißen kann,
zeigen die protokollarisch vermerkten beiden Fälle, bei denen
Herr B. und Herr F. je 10 Silben zu erlernen hatten. Im »Gefühl
der Sicherheit«, wie Herr B. sich äußerte, waren beide Herren
des Glaubens, die 10 Silben nach je einmaligem Durchlesen auf-
sagen zu können, zumal »sie ja ähnliches schon bei der XLIII. Ver-
suchsreihe geleistet hätten«. In der Tat gelang denn auch die
Reproduktion der Reihe beiden Herren nahezu fehlerlos, — Herr F.
stockte bei der Vin. Silbe, worauf die IX. und X. Silbe einiger-
maßen ins Wanken geriet, die er erst deutlich erfaßt hatte, — er
nahm dann schnell noch eine Lesung vor, worauf er imstande
war, die ganze Reihe völlig einwandfrei zu reproduzieren, —
immerhin eine bemerkenswerte Leistung, wenn man sich erinnert,
daß derselbe Herr ein Vierteljahr vorher 23 Lesungen für dieselbe
Quantität sinnlosen Materials nötig gehabt hatte. — Herr B. sagte nach
einmaligem Durchlesen die Reihe auf bis auf die VI., ihm momentan
entfallene Silbe, — die Unlust Uber diesen Ausfall verwirrte ihn
derart, daß er auch die V., Vn. und VIII. Silbe während der Auf-
sageversuche verstellte, bzw. entstellte, so daß er noch 2 Lesungen
nötig hatte, um den bezüglichen Assoziationen die nötige Festigkeit
verleihen zu können. Bedenkt mau , daß diese Vp. vor Viertel-
jahresfrist 28 Lesungen zur Aneignung desselben Silbenquantums
brauchte, so erkennt man recht scharf das bemerkenswerte Maß
der erlangten Fertigkeit.
Für Kennzeichnung der Eigenart des Ubungsphänomens scheinen
noch folgende Protokollnotizen beachtenswert zu sein: Fürs erste
ist es die Empfindung der Leichtigkeit und Sicherheit,
welche von der Mehrheit der Vp. beim Lernen konstatiert wird,
verbunden mit der vor allem bei den drei jüngeren Vp., nicht minder
aber auch bei der ältesten immer bestimmter auftretenden Fähigkeit
der richtigen Vorausschätznng des für ein bestimmtes Quantum
nötigen Lesungsaufwandes. Nach den ersten 2, bzw. 3 Lesungen
sagen die genannten Vp. mit selten fehlgreifender Genauigkeit
voraus, wieviel Drehungen der Trommel noch bis zur Erlernung
für sie notwendig sind, — sie »stellen sich danach mit allen ver-
fügbaren Lernmitteln^ — Ausdruck von Fräulein S. — »ein<.
Herr B., Herr Br., Herr F. bekunden ferner Ubereinstimmend,
wie unter den »Lernmitteln« für diese Silbenreihen das mnemo-
12*
1*0
Ernst Ebert und E. Meumann,
technische Deuten künstlicher Art immer seltener wird. Herr B.
insbesondere macht an sich die Erfahrung, daß ihm zwar Deu-
tungen vorkommen, z. B. bei kusch — dich und beuz — gach — siehe
Protokoll! — , daß er sie aber energisch zurückweist, da der
Sinn dieser Deutungen ihm direkt >als Widersinn« erscheint, —
Herr B. wie Fräulein S., in zwei vereinzelten Fällen auch Herr F.,
zeigen sich nach dem Protokoll bei ihrem Bemühen, die Reihen
der Silben sich anzueignen, so intensiv konzentriert, daß sie deut-
liche >tt«- und >ä« -Striche, welche sie in den früheren Übungs-
stadien erkannten, erst bei der letzten Lesung oder auch gar nicht
wahrnahmen, — eine Erscheinung, die z. B. ja auch bei tachisto-
skopischen Experimenten beobachtet wird, sobald bei den Vp. die
Aufmerksamkeit auf den Sinn des Wortes gerichtet ist. — Bezüg-
lich der übrigen Beobachtungen verweisen wir auf die
XLEX. Versuchsreihe.
Der Verlauf derselben war hinsichtlich der äußeren Anordnung
ein der IX. und XXIX. Reihe analoger, es wurden optische
Zeichen erlernt. Äußere Umstände nötigten Herrn Prof. M.,
auf die Teilnahme an dieser Versuchsreihe zu verzichten, — doch
darf man wohl annehmen, daß die mit Hilfe der übrigen Vp. im
weiteren gewonnenen Werte ein im wesentlichen verläßliches Bild
vom Maße der durch einseitige Ubnng erworbenen allgemeinen
Gedächtnisfertigkeit geben. — Aus den Resultaten der eben be-
sprochenen XLVIII. Versuchsreihe ist erkenntlich, wie Herr Prof. M.
mit seiner erlangten Fertigkeit Uber dem Durchschnittsmaße
steht, — denken wir uns nun in jedem Falle, wo er an der Teil-
nahme fernerhin behindert war, den Mittelwert der übrigen
Leistungen für die fehlende seinige eingesetzt, so bleiben
unsere Werte dieselben und sind hauptsächlich nicht unberechtigt
> günstigere» geworden. — Für die insgesamt hier anzueignenden
24 optischen Zeichen wurden aufgewendet von
Ii. 19Lcsgn., vordem 41, bzw. fi2, und 11 Lesgn.. vordem 12, bzw. 25,
Ur. 13 > > 37, > 79, 6 » 7, > 12,
F. 12 2fi, > 57, > 4 > 6, » 20,
S. 16 53, » 104, > 6 * 6, * 15,
W.49 > 83, , 120, 10 , . 10, > 10.
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 181
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igmzea Dy
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182
Ernst Ebert und E. Meumann,
Daraus ergibt sich, daß zur erstmaligen Erlernung, bzw. zur Wieder-
holung eines der 24 Zeichen durchschnittlich am Ende der
Untersuchung nötig waren bei
B. 0,79 Les., vordem 1,70, bzw. 2,58, u. 0,45 Les., vordem 0,50,bzw. 1,04.
Br.0,54 > > 1,54, » 3,25, > 0,25 » > 0,29, > 0,50,
F. 0,50 » 1,08, > 2,37, > 0,16 » > 0,25, > 0,83,
S. 0,66 > 2,20, > 4,33, > 0,25 . > 0,25, > 0,62,
W.2,04 > » 3,45, » 5,37, »0,41 > > 0,41, . 0,41.
Demzufolge waren zur Zeit fUr ein einziges optisches Zeichen
als Norm erforderlich
beim Neucrlernen 0,90 Lesgn., vordem 2,23, bzw. 3,83 Les^n.
» Wiedererlernen 0,30 » > 0,35, > 0,68 »
Der durch Übung bewirkte Fortschritt wäre — immer auf e i n
einziges Zeichen bezogen — vom zweiten zum dritten Schnitt
zu berechnen auf 1,33 Lesungen oder 59,64 #; betreffs der Wieder-
holungen auf 0,05 Lesungen oder 14,28#; im gesamten Ver-
laufe der Untersuchung ist er zu beziffern auf 2,93 Le-
sungen oder 76,5#, betreffs der Wiederholungen auf
0,38 Lesungen oder 55,88
Auf Befragen erklären die vier ersten Vp., welche meist er-
heblich unter 20 Lesungen fttr Aneignung der 24 optischen Figuren
nötig hatten, daß sie dieses günstige Resultat außer den Faktoren
des lebhaften Interesses, der »maximal gespannten« Aufmerksam-
keit usw. vor allem der »praktischen, ökonomischen Verbindung
der Sinneseindrücke mit logischen Elementen zu danken hätten« —
Ausdruck des Herrn F. Da sich auch hier aufs markanteste
zeigte, daß ein passives optisches Erfassen eine Unmöglichkeit
sei, — »mitzeichnen« aber gegen die Versuchsbedingungen verstieß,
so verfuhren die Vp. konstruierend, wobei sie bis auf Herrn Dr. W.
zugleich innerlich mitzusprechen suchten; damit kombinierten die
erstgenannten vier Vp. eine rascher als früher vorgenommene
Heraushebung von »Orientierungsmarken«, — also zweier oder
dreier auffälliger Zeichen, welche im Protokoll vermerkt sind, und
von denen aus eine Teilung der Reihen vorgenommen wurde zwecks
Erleichterung der Assoziierung der schwierigeren Eindrücke mit
den festgehaltenen »Orientierungsmarken«. Schließlich bekunden
noch sämtliche Vp., daß sie zwar nicht nach Deutungen der vor-
geführten Figuren gedrängt hätten — wegen des schnellen Tempos
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über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 183
der Trommeldrehung — , daß sie aber doch Deutungen angenommen
hätten, wo das Aussehen der Figuren eine solche unmittelbar vcr-
anlaßte. Dafür drei Beispiele. Das X. Zeichen der ersten Reihe
wurde als »Z« gedeutet von Herrn F. und Fräulein S., —
das I. Zeichen der zweiten Reihe (»T«) von denselben Vp. und
Herrn Br. als >T« der römischen Antiqua, sodann das VIII. Zeichen
der zweiten Reihe (»TT«) von Herrn B. als »Gartenbank«.
Ebendiese Vp., dazu Fräulein S., machen noch eine andere nicht
uninteressante Angabe Uber ihr Verhalten beim Lernen. Sie nehmen
wahr, wie früher bei ihnen beobachtete Muskclspannungen —
Herr B. runzelt die Stirn und spannt die Muskeln der unteren
Extremitäten, Fräulein S. ballt die Fäuste und verspürt sonst
Spannungen in der Augenmuskulatur — mehr und mehr auf ein
Minimum zurückgehen; sie vermuten, speziell und mit aller
Bestimmtheit Fräulein S., daß die hier früher »abgezweigte« Ener-
gie besser und rationeller verteilt worden ist, »vermutlich an die
sensorischen Zentren«.
L. Versuchsreihe.
Diese Versuchsreihe war in gleicher Weise angeordnet wie die
X., bzw. XXX. Reihe. Es handelte sich um Mittibung des Gedächt-
nisses für Vokabeln. Herr Prof. M. konnte an diesen Versuchen
nur in einem Falle teilnehmen. Es dürfte sich daher wohl emp-
fehlen, die quantitativen Bestimmungen im folgenden wieder nur
mit Hilfe der an den übrigen 5 Vp. gemachten Erfahrungen auszu-
führen. Zur erstmaligen, bzw. wiederholten gedächtnismäßigen
Erfassung der hier verwendeten 70 deutsch-italienischen Vo-
kabeln hatten diesmal nötig
Herr B. 6 Les., vordem 6, bzw. 16, u. 2 Les., vordem 2, bzw. 2,
» Br. 10 » > 14, > 19, » 3 * » 5, » 7,
» F. 6 » » 9, > 17, > 2 > » 2, » 4,
Frl. S. 8 » > 18, 27, » 4 * > 4, > 6,
Herr Dr. W. 8 > > 13, 14, > 2 » » 2, > 3.
Aus diesen Ziffern ergibt sich, daß zur Neuerlernung, bzw.
Wiederholung einer einzigen der 70 Vokabeln gebraucht wurden
von
184
ErnBt Ebert und E. Meuraann.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 185
B. 0,085 L.,vordem 0,085, bzw.0,228, u. 0,028 L.,vord.0,028,bzw.0,028,
Br.0,142 > > 0,200, » 0,271, * 0,042 » » 0,071, > 0,100,
F. 0,085 > » 0,128, > 0,242, » 0,028 > » 0,028, , 0,057,
S. 0,114 » » 0,257, * 0,385, > 0,057 » » 0,057, » 0,085,
W. 0,114» » 0,185, . 0,200, , 0,028 > » 0,028, > 0,042.
Es waren also für eine einzige Vokabel am Schlüsse der
Untersuchung nötig:
beim Neuerlernen 0,108 Les., vordem 0,175, bzw. 0,273 Les.
» Wiedererlernen 0,036 » > 0,040, » 0,056 »
Vom mittleren zum abschließenden Querschnitt ist also ein
Fortschreiten zu konstatieren um 0,067 Lesungen oder 38,28 %,
bzw. des Wiederholens um 0,004 Lesungen oder 10,0 Der
Fortschritt im Gesamtverlauf der Untersuchung berech-
net sich auf 0,165 Lesungen oder 60,43#, bzw. des Wieder-
holens auf 0,02 Lesungen oder 35,71
Die vier erstgenannten Vp. stimmen in ihren zu Protokoll ge-
gebenen Aussagen darin überein , daß sie an eich ein »zweckdien-
licheres« Verhalten gegenüber der hier zu erfassenden Materie wahr-
nehmen: die Aufmerksamkeit stellt sich schneller auf diesen Stoff
ein, »es geht nichts mehr von ihr verloren« (Fräulein S.), — sie
verteilt sich »immer unzweideutiger spürbar auf diejenigen Vo-
kabeln, welche sprechschwierig, besonders fremdartig oder sonstwie
nicht leicht zu behalten sind« (Herr F.). — Herr Br. und Fräulein
S. bekunden übrigens spontan, daß ihnen eigentlich früher das
Vokabellernen (auch im Anfang dieser Untersuchung) »recht lang-
weilig« und »geradezu ermüdend« gewesen sei, daß sie aber jetzt
»verwundert« und »erfreut« seien, »trotz der ungewöhnlichen
Menge von Vokabeln nichts von ermüdender, quälender Langweilig-
keit zu spüren«. Die übrigen Protokollbemerkungen sind unter-
geordneter Art
LI. Versuchsreihe.
Diese Versuchsreihe steht in Parallele zur XI. und XXXI. Reihe.
Es handelt sich um die Mitübung beim dauernden Behalten von
Gedichtstrophen. Herr Prof. M. nahm anfänglich an diesen Ver-
suchen teil, mußte aber später von weiterem Mitarbeiten absehen.
Die verbleibenden fünf Vp. hatten zur Absolvierung der
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186
Ernst Ebert und E. Meumann,
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänoniene usw. 187
16 Gedichtzeilen diesmal nötig 38 Lesungen, bzw. 6 Lesungen, — also
im Durchschnitt 7,6 Lesungen, bzw. 1,2 Lesungen, während diese
Werte beim mittleren Querschnitt 9,66, bzw. 1,33 und beim ersten
Querschnitt 12,2, bzw. 2,4 hießen. Der Fortschritt beziffert sich
demgemäß filr das Neuerlernen auf 2,06 Lesungen oder 21,32 %
zwischen den beiden letzten Schnitten, beim Wiederholen auf
0,13 Lesungen oder 9,77 %, — im Gesamtverlauf der Unter-
suchung berechnet er sich auf 4,6 Lesungen oder 37,70 %,
beim Wiederholen auf 1,2 Lesungen oder 50,0
Vielleicht gewährt auch hier das Bezugnehmen auf eine der
16 Gedichtzeilen als Grundmaß manchen bemerkenswerten Einblick;
es hatte also für eine Gedichtzeile nötig
B. 0,43 Les., vordem 0,68, bzw. 0,00, u. 0,06 Lea., vord. 0,06, bzw. 0,00,
Br.0,50 > 0,56, > 0,62, » 0,12 0,12, > 0,12,
F. 0,31 0,37, » 0,62, > 0,06 » 0,06, » 0,12,
S. 0,56 > 0,62, > 0,93, » 0,06 . » 0,06, > 0,25,
W.0,56 > » 0,62, > 0,68, 0,06 * - 0,12, » 0,18.
Es wurden also zuletzt beim Neuerlernen einer Gedichtzeile als
Norm 0,47 Lesungen gebraucht gegen vordem im Mittel 0,6 Le-
sungen, bzw. 0,75 Lesungen. Beim Wiederholen nach 24 Stunden
waren im Mittel zuletzt nötig 0,07 Lesungen, vordem 0,08 Lesungen,
bzw. 0,14 Lesungen. Es hat demnach vom zweiten zum dritten Schnitt
ein Fortschreiten stattgefunden um 0,13 Lesungen oder 21,66
beim Wiederholen um 0,01 Lesung oder 12,6 im Verlaufe
der ganzen Untersuchung Uberhaupt aber um 0,28 Le-
sungen oder 37,33 % , bzw. beim Wiederholen um 0,07 Le-
sungen oder 50 %.
Auf Befragen Uber die Mittel, welche den Vp. zu der Er-
fassung dieses in eine durchaus nicht alltägliche Sprachform
gekleideten Memorierstofifes verholfen haben, äußern sie sich laut
Protokoll dahin, daß es vor allem die logischen Beziehungen
waren, auf die sie sich in aller Schärfe konzentrierten; Herr B.
z. B. bemerkt: >Gelang mir dies, in relativer Schnelligkeit das
logische Leitmotiv aus dem leider etwas gekünstelten Sprachbau
herauszufinden, so ergab sich mir die Wortfolge bis auf wenige
besonders ungewöhnliche Kombinationen eigentlich von selbst, —
ich glaube, daß ich eine gewisse Technik darin erlangt habe, eben
jene leitenden Gedanken hurtiger und schärfer herauszufinden«.
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188
Ernst Ebert und E. Meumann,
Mit diesen Ausführungen stimmen mehr oder weniger die andern
protokollarischen Bemerkungen der Vp. überein. — Als eminent
förderlich bezeichnen Herr F., Fräulein S. und Herr Dr. W. das
intensive Lustgefühl, welches sich ihnen aufdrängt, — um mit
den Worten des Herrn F. zu reden, »da nun endlich einmal nach
so viel Wochen wieder etwas Schönes und Vernünftiges kommt«
(Herr F. hatte die Versuche über das unmittelbare Behalten sinn-
voller Stoffe nicht mitgemacht).
Der Schlußquerschnitt wurde beendet durch die
LH. Versuchsreihe,
den Parallel versuch zur XII., bzw. XXXÜ. Versuchsreihe. Gegen-
stand des Versuchs war das dauernde Behalten des (philo-
sophischen) Prosatextes.. (Auch hieran nahmen nur 5 Vp. teil.)
Das abermals 20 Druckzeilen umfassende Pensum für die Memo-
rierarbeit wurde von den 5 Vp. erledigt in insgesamt 50 Le-
sungen beim Neuerlernen und 9 Lesungen beim Wiederholen,
gegenüber früheren 99, bzw. 175 Lesungen beim erstmaligen und
12, bzw. 36 Lesungen beim wiederholten Lernen. Der Fortschritt
vom zweiten zum dritten Querschnitt beläuft sich demnach auf
49 Lesungen oder 49,49 % betreffs des Neuerlernens und auf
3 Lesungen oder 25 # hinsichtlich des Wiederholens. Im Ge-
samtverlauf der Untersuchung ist beim Prosastoff ein
Fortschreiten zu verzeichnen um 125 Lesungen oder
71,42 %, bzw. 27 Lesungen oder 75 %.
Gehen wir, um mehr ins Detail einzudringen, auch hier auf
eine einzelne der 20 Druckzeilen als Norm zurück, so zeigt sich,
daß zur Absolvierung dieses Quantums erforderlich waren für
B. 0,7 Les., vordem 1,2, bzw. 1,8, u. 0,1 Les., vord. 0,1, bzw. 0,6,
Br.0,55 • 0,65, » 1,3, » 0,1 » > 0,1, » 0,2,
F. 0,25 > 0,35, , 0,85, 0,05 > 0,05, » 0,15,
S. 0,5 . 0,75, 1,9, > 0,1 > > 0,1, 0,35,
W.0,5 , > 0,65, . 0,95, » 0,1 > - 0,1, > 0,2.
Am Schluß unserer Untersuchung wurden demnach durch-
schnittlich verwendet zur Neuerlernung einer einzelnen Druck-
zeile 0,5 Lesungen, — zur Wiederholung 0,09 Lesungen, während
vordem nötig gewesen waren 0,82, bzw. 1,45 Lesungen und 0,1,
bzw. 0,3 Lesungen. Der Fortschritt erfolgte also zwischen den letzten
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 189
Herr Dr. W.
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190
Ernst Ebert and E. Meum&nn,
beiden Schnitten um 0,32 Lesungen oder 39,02 % beim Neuerlerneu
und um 0,01 Lesung oder 10 % beim Wiedererlernen. Der
Gesamtverlauf der Untersuchung weist hinsichtlich der
Fähigkeit, philosophische Prosastücke wortgetreu zu
behalten, einen Fortschritt auf um 0,95 Lesungen oder
65,51 # fürs erstmalige und 0,21 Lesungen oder 70 # fürs
wiederholte Erlernen.
Auch bekunden die Vp., wie wichtig es ist, »daß möglichst
rasch diejenigen logischen Momente erfaßt werden, welche gleich-
sam als die strategisch wichtigsten Punkte die Herrschaft über
das ganze Gedankenmaterial und damit zum größten Teil auch
Uber die Ausdrucksform ausüben« (Herr Br.). Wo diese dominie-
renden Stellen nicht ausreichen, werdeu die übrigen Lern-
mittel herangezogen, vor allem das zum Teil visuelle Merken
der Folge synonymer Ausdrücke wie »Grundsätze«, »Normen«,
»Maximen« und dergleichen, — ferner »die akustisch-motorischen
Eindrücke durch stark betonendes Aussprechen« (Fräulein S.).
Endlich erscheint dem Versuchsleiter unter den Protokollbekun-
duugen noch besonders wichtig diejenige des Herrn Br., welcher
an sich eine »gleichmäßigere emotionelle Lage« wahr-
nimmt, — vor allem »plagt« ihn nicht mehr jene störende Un-
lust, welche, wie er sich wohl erinnert, im Anfang der Unter-
suchung »bei Aneignung dieser abstrakt formulierten philoso-
phischen Ausfuhrungen« ihn im Lernprozeß aufhielt; vielmehr ist
bei ihm und — nach den Protokollbemerkungen zu schließen —
auch bei Herrn B., Herrn F. und Fräulein S. ein »Gefühl
der Zuversicht« vorhanden, »daß er der Schwierigkeiten der
streng wortgetreuen Einprägung Meister werden würde«, — die
Versuchung, »die Flinte ins Korn zu werfen«, wie sie im Anfange
dieser Untersuchung bei Herrn Br. und in einem Moment starker
UnlustgefUhlc selbst bei Herrn Prof. M. auftrat (beide Herren
äußerten, daß sie »heute wohl kaum diese Materie wörtlich zu er-
fassen imstande seien«), drohte hier in keinem einzigen Falle mehr.
Überblicken wir die Ergebnisse speziell der ausschlag-
gebenden letzten 12 Versuchsreihen, indem wir diesmal die Stoffe
voranstellen, deren Aneignung die geringsten Fortschritte
aufzuweisen hat! Dabei ergibt sich betreffs der beim unmittel-
baren Behalten verwendeten Materien folgende Reihenfolge:
Über einige Grandfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 191
Das unmittelbare Behalten einsilbiger Substantiva
machte nur einen Fortschritt von 20,46 % hinsichtlich der Null-
grenze und von 10,36 % betreffs der 33 xj3 # -Fehlergrenze. Doch
können wir diesen Fortschrittswert nicht mit den andern gleich-
setzen, da dieser Stoff erst beim Kontrollquerschnitt eingeführt
wurde, also die angeführten quantitativen Bestimmungen nur einen
Teil des eventuell möglich gewesenen Fortschrittes bezeichnen.
Demnächst ist am geringsten, wenn auch immerhin erheblich genug,
der Fortschritt beim unmittelbaren Behalten von Gedicht-
worten: 26,66 % , — etwas höher derjenige beim unmittel-
baren Behalten philosophischer Prosa: 29,41 Vielleicht
erklärt sich die letztere etwas höhere Ziffer durch die Vertrautheit
der beiden Herren Dozenten mit diesem Stoffe. — In charakte-
ristischer Weise steigen die übrigen Zahlen, welche sich auf
mehr sinnloses Material beziehen: bezüglich der sinnlos neben-
einander gestellten italienischen Vokabeln ergibt sich ein
Fortschritt um 30 %% bzw. 66,66 % hinsichtlich der 33l/3 ^-Fehler-
grenze, — betreffs der Silben, Buchstaben und Zahlen je ein
Fortschritt um 42,05, 58,24 und 59,42 # bezüglich der Null-
grenzen, bzw. um 58,74, 43,36 und 70,95 % bezüglich der 33 Vs %-
Fehlergrenze, — Zahlen wurden demnach unmittelbar am
besten gemerkt, ein Ergebnis, das übrigens auch bei andern
ähnlichen Versuchen (Bolton!) gewonnen wurde. (Vergleiche auch
die Selbstbeobachtungen der Vp. B.)
Bezüglich der Stoffe, welche für dauerndes Behalten zur
Verwendung kamen, ergibt sich nachstehende Reihenfolge,
sobald wir in erster Linie den Fortschritt beim erstmaligen Lernen
ins Auge fassen:
Die Versuche mit dem poetischen Memorierstoff weisen
einen Fortschritt von 37,33 % auf (50 % beim Wiederholen !), —
eine etwas überraschende Tatsache, wenn man bedenkt, wie »an-
genehm«, Lustgefühle auslösend gerade dieser ästhetische Stoff auf
sämtliche Vp. wirkte. Zur Erklärung mag wohl einerseits die
verwickelte, oft etwas gekünstelte sprachliche Form des Stoffes
dienen, doch dürfte eine mindestens ebenso beachtenswerte Ursache
angedeutet sein in einer Bemerkung des Herrn F. während des
zweiten Querschnittes (s. Tabelle XXXI zur 31. Versuchsreihe!):
»Hierbei kann man sich förmlich ausruhen«; es scheint danach,
als habe das Gefühl der relativen »Leichtigkeit« des Stoffes die
192
Ernst Ebert und E. Meura iura,
gewöhnliche Anspannung der Energie bei unsern Vp. etwas sinken
gemacht.
Es folgt der Fortschritt beim Erlernen der Vokabeln mit
60,43 % (bzw. 35,71 % bei deren Wiederholung), — sodann der-
jenige beim Memorieren philosophischer Prosa mit 65,51$
(bzw. 70 # beim Wiederholen), — endlich der Fortschritt an
ganz sinnlosen Stoffen, nämlich bei optischen Figuren mit
76,5 # (beim Wiederholen 55,88 #) und bei sinnlosen Silben
mit 77,25 % (beim Wiederholen 59,18 %\ — Ergebniswerte, welche
besonders bemerkenswert erscheinen, wenn man beachtet, daß es
Mittelgrößen sind, gewonnen zur Hälfte an Vp., die des regel-
mäßigen Memorierens seit Jahren entwöhnt waren, da sie 37, 41,
bzw. (Herr Br.) 54 Jahre alt waren.
Trotz der Verschiedenheit der Stoffe sowohl, als auch besonders
der psychischen Prozesse teils beim unmittelbaren, teils beim
dauernden Behalten ist doch die allgemeine Hebung der
Gedächtnisfunktion unserer Vp. im Laufe der Unter-
suchung eine Tatsache. Wenn wir zunächst auf eine Angabe
der speziellen Ursachen dieser Erscheinung verzichten und uns
an das objektive Ergebnis der Versuche halten, so müssen wir
sagen, daß dieser allgemeine Gedächtnisfortschritt bei allen Vp.
zustande gekommen ist durch die einseitig-mechanische
Gedächtnisübung an den sinnlosen Silben. Daneben können
nur ganz sekundär die bei den »Querschnitten« ausgeführten
Lernübungen anderer Art mitgewirkt haben.
So wird man denn nicht anstehen dürfen, als Tatsache anzu-
erkennen, daß es eine allgemeine Gedächtnisübung gibt, daß
es also unmöglich ist, irgendein Spezialgedächtnis isoliert
von der Totalität der Gedächtnisfunktion durch Übung
zu steigern.
Was ferner das Maß der Steigerungsfähigkeit des Ge-
dächtnisses durch Übung und Mitübung betrifft, so ist zunächst
zu bedenken, daß die Dauer der von uns vorgenommenen Ein-
übung eine verhältnismäßig kurze war, — daß wir auch
den Umfang des jeweiligen Pensums nicht unbeträchtlich hätten
steigern können, ohne dabei Gefahr zu laufen, die Vp. zu ermüden.
Man darf also mit Sicherheit annehmen, daß eine weitere Fort-
setzung rationeller Einübung nach Art der von uns befolgten
einen erstaunlich hohen Gedächtniseffekt herbeiführen
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 193
werde. Man erinnere sich z. B. des Faktums, daß Frl. S. vorher (am
6. Februar) 24 optische Figuren mit insgesamt 104 Lesungen er-
faßte, später (am 7. März) aber eine ganz analog aufgebaute Zeichen-
reihe mit insgesamt 16 Lesungen nicht minder sicher lernte,
— daß Herr F. 52 Silben anfanglich mit 80 Lesungen erlernte,
während er zuletzt dasselbe Pensum mit 15 Lesungen erledigte, —
daß selbst der 54jährige Herr Br., trotz seiner angegriffenen Ge-
sundheit, es beim Lernen der ProsastUcke aus »Locke« dahin
brachte, daß er statt der früheren 26 Lesungen 11 gebrauchte,
und man wird nicht zögern in der Annahme, daß das Maß der
möglichen Steigerung des Gedächtnisses bei rationeller
Übung ein fast unbegrenztes ist und auch bei älteren Personen
eine beträchtliche Größe erlangt.
Es lag nach alledem die Frage nahe, ob die so verhältnis-
mäßig rasch erworbene Steigerung des Gedächtnisses
auch nachhaltig Bei, — ob vielleicht das bald Erworbene nicht
auch relativ rasch wieder dem Ausgangszustande der Gedächtnis-
leistung Platz mache. Wir gingen dieser Frage nach in einigen
Ergänznngs versuchen, an denen sämtliche Vp. teilnahmen
außer Herrn Prof. M.). Da es sich nur um kurze Stichproben han-
deln konnte, benutzten wir als Prüfungsmaterial 4 Reihen sinn-
loser Silben, je 12 und 16 Silben nach der G.-Methode, sodann ebenso
viele nach der T. -Methode — in der üblichen Weise vorgeführt
am Kymographion — , die Herren B. und F. lernten darauf noch
je zwei weitere Strophen aus Schillers »Zerstörung von Troja«.
Die Wiederholung des Memorierten nach 24 Stunden wurde dabei
als hier belanglos weggelassen.
Das kürzeste Ferienintervall — 75 Tage Zwischenzeit nach
Abschluß der Untersuchung — wurde beobachtet von Herrn Br.
Er erlernte die beiden G.- Reihen mit 6, bzw. 7 Lesungen, die
3-4-3 3 | \
zwei T.-Reihen mit —~ — h 2 Lesungen und — ~ — H 3 Lesungen.
Vordem hatte er für die betreffenden G. -Reihen nötig gehabt 6
4-1-4
und 8 Lesungen, dazu für die zwölf silbige T. -Reihe — j~ + 4 Le-
sungen. Man erkennt, daß kein Nachlassen der Lernfertig-
keit stattgefunden hat, — bei der 16 silbigen G.-Reihe und
12silbigen T.-Reihe hat sich sogar eine Besserung der Werte
eingestellt.
iiehiv för Ptjchologie. IV. 13
Digitized by Google
194 Ernst Ebert und E. Meumann,
Nach 85 Tagen Unterbrechungszeit erlernte das gleiche
Material nach gleichem Verfahren Fräulein S. Wie vordem brauchte
sie für die 12 silbige G.- Reihe 7 Lesungen, für die 16 silbige
G. -Reihe aber statt der früheren 10 Lesungen deren nur 7. Auch
bei der 12silbigen T.-Reihe zeigt sich eine Fortschritt in der
Gedächtnisfunktion, wenn auch nur um '/i Lesung — sie braucht
1 2 + 2 Lesungen — , vordem hatte sie — y— + 2 Lesungen
nötig gehabt Die 16 silbige T.-Reihe erfaßte sie mit ^^ + 3
Lesungen.
Nach einer Unterbrechungsfrist von 91 Tagen absolvierte
Herr Dr. W. das in Rede stehende Gedächtnispensum. Mit 10 und
12 Lesungen gelang es ihm, die G. -Reihen zu erlernen, für welche
er früher 11, bzw. 18 Lesungen nötig gehabt hatte. Für die T -
3 4-4 4-4-5
Reihen brauchte er — ^ f- 4 Lesungen, bzw. — ^ f- 3 Lesungen,
— vordem hatte er flir die erstbezeichnete 12 silbige T.-Reihe
4 + 5
2 h 8 Lesungen nötig gehabt.
Herr F. lernte die zwei G.-Reihen nach 146Tagen Zwischen-
zeit mit je 4 Lesungen — vordem mit 4, bzw. 5 Lesungen — ,
für die 12 silbige T.-Reihe, für welche er früher — ~+0 Le-
sungen gebraucht hatte, bedurfte er -f 1 Lesungen , — die
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16 silbige T.-Reihe erlernte er in — ^— + 2 Lesungen. Die beiden
Schillerschen Strophen hatte er mit 4 Lesungen korrekt erfaßt, —
bei der letzten Prüfung hatte er für dasselbe Pensum 5 Lesungen
nötig gehabt.
Nach 156 Tagen* Vakanz endlich erlernte auch Herr B. das-
selbe Material. Die 12 silbige G.- Reihe erlernte er wie vordem
mit 5 Lesungen, für die 16 silbige G. -Reihe hatte er 6 Lesungen
— früher 5 — nötig. Die 12 silbige T.-Reihe, für welche er früher
1 4- 1 2 1 1
— i 2 h2 Lesungen brauchte, erledigte er jetzt in — ^ \-lLe-
2 4-3
sungen, die 16 silbige T.-Reihe mit — |- 3 Lesungen. Die
beiden Gedichtstrophen erlernte er wie früher mit 7 Lesungen.
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 195
Man sieht aus den Ziffern dieser ergänzenden Ver-
suche, daß nicht nur kein irgendwie nennenswerter
Übungsverlust eingetreten ist, sondern sogar eine tat-
sächliche weitere Hebung der Gedächtnisfunktion kon-
statiert werden muß, welche am markantesten hervortritt in
den Erlernungs werten des Herrn Dr. W. Dieses Faktum, welches
alle Beteiligten nicht wenig überraschte, da sie sich zwar als
Studierende, bzw. Dozenten in der Vakanzzeit genugsam geistig
betätigt hatten, aber »an nichts weniger gedacht hatten, als noch
einmal mit Erlernen von Silben oder Gedichtstrophen geplagt zu
werden«, soll weiter unten noch genauer erklärt werden; zum Teil
ist es wohl als ein Produkt latenter Weiterttbung der Gedächtnis-
funktion anzusehen, welche auch sonst bei körperlich -geistigen
Übungen wahrgenommen werden kann, sobald diese für einige
Zeit unterbrochen werden. Z. B. hat jeder Turner oft genug Ge-
legenheit, zu konstatieren, daß eine schwierige Übungsfolge nach
einigen Tagen Nichtübens Uberraschend exakter gelingt. Nach
den Äußerungen der beteiligten Vp. wurde die schnellere Erler-
nung bei dieser Nachprüfung vor allem bewirkt »durch das Weg-
fallen ungünstiger Faktoren, die als unliebsame Begleit-
erscheinungen während des Verlaufs der Hauptuntersuchung zutage
traten«. Herr Dr. W., Herr F., Herr Br., Herr B., Frl. S. sagen
übereinstimmend aus, daß »das Gedächtnis förmlich entlastet
sei ron den vielerlei Eindrücken der früheren Versuche, besonders
von den Nachklängen des Silbenmaterials, welches je länger, je
mehr die Tendenz zeigte, bei jedem einigermaßen ähnlichen op-
tischen oder akustischen neuen Eindruck den oder jenen alten
wieder zu reproduzieren, eben dadurch aber auch den Eintritt des
neuen Stoffes in den normalen Grad der Klarheit des Bewußtseins
zu verzögern« (Herr Br.). »Die Eindrücke sind jetzt schärfer um-
rissen, — sie treten mir innerlich plastischer hervor, sie erscheinen
mir trotz der Reihenfolge isolierter« (Herr B.). »Die frühere Furcht
vor Überfütterung ist verschwunden« (Frl. S.). »Die infolge der
Dauer der Hauptuntersuchung auftretenden Unlustgefuhle, speziell
bei den sinnlosen Stoffen, haben Lustgefühlen Platz gemacht, — das
Interesse ist jetzt besonders lebhaft« (Herr Dr. W.). »Ich tappe
immer weniger versuchend hin und her, sondern setze unverzüg-
lich alle Mittel der Sinne und der Logik ein, um schnell das Ziel
xu erreichen« (Herr F.).
13*
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1%
Ernst Eberl und E. Meumann
Daß die allgemeine Steigerang des Gedächtnisses infolge
längerer Übung besteht nnd offenbar bedeutend nachhaltig ist,
kann nach den vorstehenden empirischen Nachweisen nicht mehr
bezweifelt werden, wenn auch die Resultatziffern unseres zweiten
und dritten »Querschnittes« dartun, daß einseitige Übung in
erster Linie dasjenige Gebiet des Assoziierens und Reproduzierens
fördert, innerhalb dessen sie erfolgte, — in unserem Fall
also das Gebiet der vorzugsweise mechanisch zu merkenden, sinn-
losen Stoffe. Es scheint dies in dem Wesen der Übung begründet
zu sein.
VII. Kapitel:
Ergänzungsversuche und theoretische Schlußfolgerungen.
In der vorliegenden Untersuchung sind wir in zwiefacher Rich-
tung zu bestimmten Ergebnissen gelangt, — einmal in der speziel-
leren Frage, welche Lernmethoden sich als die am meisten ökono-
mischen erweisen lassen, sodann in der Behandlung des allge-
meinen Problems, wie weit es eine allgemeine Gedächtnisübung
gibt und in welchem Maße diese durch einseitige Übung im
mechanischen Lernen sinnloser Silben erreicht werden kann. Die
experimentelle Untersuchung dieser Fragen führte uns aber ferner
zur Gewinnung einer Anzahl weiterer Ergebnisse, die von allge-
meiner psychologischer Bedeutung sind, indem sie auf das Problem
das Gedächtnisses, sowie auf das Wesen der Übungsphänomene in
mancher Hinsicht neues Licht werfen. Wir fassen zunächst die Haupt-
resultate zusammen, die sich aus unserer Untersuchung für die Be-
antwortung der beiden erstgenannten Fragen ergeben haben; sodann
werden wir versuchen, diese zu Folgerungen Uber das Wesen des Ge-
dächtnisses und die psychophysische Erklärung der Übungsphäno-
mene zu benutzen. Der Übersichtlichkeit halber sollen die Haupt-
resultate nach fortlaufenden Nummern aufgezählt werden.
I. Resultate bezüglich der ökonomischen Lernmethoden.
1) Während die bisherigen Untersuchungen über ökonomisches
Lernen sich auf die Vergleichung nur zweier verschiedener Lern-
methoden beschränkten: die T.-Methode (oder Teil-Lernmethode)
und die G.-Methode (oder Ganz-Lernmethode) , haben wir diesen
eine neue Gruppe, die vermittelnden Methoden (I. V.-Methode
und II. V.-Methode), an die Seite gestellt. Der Zweck der ver-
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Über einige Grandfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 197
mittelnden Methoden wurde darin gesucht, in ihnen die Vorteile
der G.- und T.-Methode zu vereinigen und es besser als durch
die G.-Methode — welche man nach den Untersuchungen von
G. E. Müller und L. Steffens für die vorteilhafteste halten mußte
— zu ermöglichen, daß das Lernverfahren Stoffen von ungleicher
Schwierigkeit angepaßt werden könne und sich damit dem wirk-
lichen Lernen des Schulkindes uud des Erwachsenen annähere.
2) Das Wesen der vermittelnden Methoden besteht darin, den
Lernstoff in Gruppen zu zerlegen (ähnlich wie die T.-Methode),
diese Gruppen aber trotzdem allein ganz ohne Unterbrechung
lernen zu lassen, wobei der Lernstoff immer nur von Anfang bis
zu Ende durchgelesen wird. Schematisch an einer Reibe von
12 sinnlosen Silben dargestellt, ergeben die einzelnen Methoden
folgendes Bild:
G.-Me-
T.-Methode:
I. V.-Me-
II. V.-Me-
thode:
thode:
thode :
I
I
VII
I oder
I V IX
i
I
I
II
II
VIII
II
II VI X
ii
II
II
III
III
IX
III
III VII XI
in
III
III
IV
IV
X
IV
iv viii xn
IV
IV
IV
V
V
XI
V
V
V
1
VI
VI
XII
VI
VI
VI
V
VII
VII
VII
[
VI
VIII
VIII
VIII
VII
VII
IX
IX
IX
VIII
VIII
X
X
X
IX
1
XI
XI
XI
X
IX
XII
XII
XII
XI
XII
X
XI
XII
3) Jede der bisher bekannten Lernmethoden hat ihre eigen-
tümlichen Vorteile und Nachteile.
Die Schwächen der T.-Methode bestehen in der Bildung von
rückläufigen, für das Reproduzieren zweckwidrigen Assoziationen
zwischen dem Endglied einer Teilreihe und ihrem Anfangsglied,
ferner in der Schwierigkeit, das Endglied jeder Teilreihe mit dem
Aofangsglied jeder neuen Reihe zu assoziieren. Ihr Vorteil besteht
darin, daß die Aufmerksamkeit bei Beginn jeder Teilreihe wieder
mit voller Frische und Energie einsetzt. (Ein sekundärer Nach-
teil der T.-Methode ist dadurch gegeben, daß die Vp. bei den
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198
Emst Ebert und E. Meumann,
Teilreihen bisweilen nicht ihren gewohnten Rhythmus behalten
können, oder bei den Teilreihen einen andern Rhythmus verwenden
müssen als bei der Zusammenfügung der Teilreihen zum Ganzen.)
Die Schwäche der G.-Methode besteht darin, daß die Auf-
merksamkeit in der Mitte der Reihe (des Stoffes) nachläßt, und
die Mitte daher stets weniger gut eingeprägt wird als Anfang und
Ende der Reihe. Ihr Vorteil ist darin zu suchen, daß sie alle
Assoziationen in der Richtung bildet, in welcher sie bei der Repro-
duktion wirksam werden sollen, — daß sie ferner namentlich bei
sinnvollen Stoffen unaufmerksames Wiederholen vermeidet, welches
ftir den Lernprozeß relativ oder gänzlich unwirksam bleiben müßte;
sie hält die Aufmerksamkeit in beständiger Spannung und ge-
stattet, beim Erlernen stets den gleichen Rhythmus anzuwenden.
Die beiden vermittelnden Methoden besitzen erstens die Vor-
teile der T.-Methode: Die Aufmerksamkeit kann in der Mitte der
Reihe nicht nachlassen, indem diese Methoden nach je 6, bzw.
4 Reihengliedern Pausen einschalten. Sie besitzen zweitens die
Vorteile der G.-Methode, indem auf Grund des nur vom Anfang
nach dem Ende fortschreitenden Lernens die Assoziationen so ge-
bildet werden, wie sie bei der Reproduktion wirksam werden
sollen. Es braucht ferner bei dieser Methode kein Wechsel des
Rhythmus stattzufinden, indem z. B. selbst bei der I. V.-Methode
im 4/4-Takt gelernt werden kann, wenn die Vp. die beiden letzten
Silben jeder Teilreihe als Nachtaktc behandelt.
4) In der Frage, welche Lernmethode die ökonomischere ist,
hat man zwei Gesichtspunkte] auseinanderzuhalten: Eine Methode
kann vorteilhaft sein, weil sie mit größerer Schnelligkeit zum erst-
maligen Erlernen führt — oder weil sie eine dauernderes und
treueres Behalten und größere Sicherheit der Reproduktion ge-
währt. Unter dem ersten Gesichtspunkt ist die bei weitem beste
Methode die II. V.-Methode, dagegen fuhrt in der Mehrzahl der
Fälle die G.-Methode nicht am schnellsten zum Ziele des Auswendig-
wissens, weil sie mehr Wiederholungen nötig macht als die ver-
mittelnden Methoden.
Unter dem zweiten Gesichtspunkt ist die beste Methode die
G.-Methode, und zwar ist es gerade der bei dieser Methode not-
wendige Mehraufwand an Wiederholungen, welcher ihre Über-
legenheit an Nachwirkung im Gedächtnis oder in der Festigkeit
der durch sie gebildeten Assoziationen herbeiführt.
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Ober einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 199
Die T.-Methode steht in der Schnelligkeit des Lernens den ver-
mittelnden Methoden näher als der G.-Methode.
5) Der Effekt der Leramethoden für die Gedächtnisarbeit ist
in mehrfachem Sinne verschieden.
a. Die V.-Methoden führen zum raschesten Neulernen und zu
einem Behalten von mittlerer Treue.
b. Die T.-Methode führt zu einem relativ raschen Neulernen,
aber unsicherem Behalten.
c. Die G.-Methode führt vielfach zu einem langsameren, d. h. an
Wiederholungen reicheren Neulernen, aber größter Treue im
Behalten und Sicherheit in der Reproduktion.
d. Für den Fortschritt in der Übung und Vervollkommnung
des Lernens und des Gedächtnisses Uberhaupt ist im all-
gemeinen auf Grund der gesamten vorliegenden quantitativen
Bestimmungen hierüber zu sagen, daß der Fortschritt nach
einer unserer Methoden in demselben Maße geringer ist, je
mehr sich die betreffende Methode in ihren Resultaten der
relativ besten Leistung nähert.
6) Bei sehr lange fortgesetzter Übung im Lernen nähern sich
die psychischen Effekte der verschiedenen Lernmethoden einander
an (vgl. die Untersuchung Magneffs!). Die Vp. lernen offen-
bar, immer mehr die Unzweckmäßigkeiten der einen oder andern
Methode auszuschalten und ihre Vorteile zu benutzen.
II. Resultate bezüglich der Gedächtnisübung.
»*
Unsere Untersuchung über die Übung des Gedächtnisses und
speziell über die Frage, wie weit einseitig fortgesetztes mecha-
nisches Lernen sinnloser Silben das allgemeine Gedächtnis ver-
Tollkommnet, ergibt zwei Gruppen von Resultaten:
A. Objektive Resultate, die sich direkt aus den zahlenmäßigen
Ergebnissen der Tabellen entnehmen lassen.
B. Subjektive Resultate der Selbstbeobachtung. Auf Grund
der systematischen Befragung unserer Vp. und ihrer spontanen
Aussagen Uber eigene Beobachtungen und Erfahrungen ge-
wannen wir eine Anzahl wichtiger subjektiver Bekundungen
über den Gang der Gedächtnisübung und das Wesen derselben.
Wir stellen zunächst die objektiven Ergebnisse voran und
schließen daran die Hauptpunkte der Selbstaussage der Vp.
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200
Ernst Ebert und E. Meumann,
A. Objektive Resultate der Untersuchung Uber Ge-
dächtnisübung:
7) Durch fortgesetztes Lernen sinnloser Silben, welches von
sämtlichen Vp. mit der Absicht betrieben wurde, die Gedächtnis-
leistung allmählich zu vervollkommnen, also durch planmäßige
einseitig-mechanische Übung des Gedächtnisses an dem gleichen
Stoff und unter gleichen Bedingungen, vervollkommnet sich nicht
nur das Lernen und Behalten für diesen einen ÜbungsBtofif, son-
dern es wird eine Mitvervollkommnung des Lernens und Behaltene
sehr verschiedenartiger anderweitiger Gedächtnisstoffe erreicht (oder
die Vervollkommnung des Gedächtnisses für sinnlose Silben bewirkt
eine Mitvervollkommnung anderer Spezialgedächtnisse). Erwiesen
wurde das in der vorliegenden Untersuchung für das unmittelbare
Behalten von Buchstaben, Zahlen, Wörtern, sinnlosen Silben, fremd-
sprachlichen Vokabeln, Gedichtversen und philosophischer Prosa;
ferner für das dauernde Behalten von sinnlosen Silben, optischen
Zeichen, Vokabeln, Gedichtstrophen, philosophischer Prosa. Man
kann dieses allgemeine Faktum auch so ausdrücken: Die objek-
tiven Resultate unserer Versuche zeigen, daß spezielle
Gedächtnisübung zugleich eine allgemeine Gedächtnis-
steigerung zur Folge hat
8) Diese Mitvervollkommnung (Mitübung) erstreckt sich nicht
in gleicher Weise auf die übrigen Gedächtnisse, sondern sie scheint
dem Gesetz zu folgen, daß die speziellen Gedächtnisse genau in
dem Maße durch Mitübung vervollkommnet werden, als sie auf
Grund der Natur des Stoffes, der Lernmittel und der Lernweisen
dem einseitig geübten Gedächtnis verwandt sind und
um so weniger an der Vervollkommnung teilnehmen, je mehr sie
sich durch den Stoff, die Lernmittel und Lern weisen von jenem
unterscheiden. Dieses Gesetz tritt in den objektiven Resultaten
unserer Versuche deutlich hervor, — man vergleiche hierzu die über-
sichtliche Zusammenstellung der betreffenden quantitativen
Bestimmungen auf den S. 190 bis 193. Hier sei nur die Reihen-
folge der Stoffe noch einmal derart bezeichnet, daß diejenigen
zuletzt folgen, bei denen der Übungseffekt am bedeutendsten war:
A. Unmittelbares Behalten:
1) Einsilbige Substantiva (gilt mit Einschränkung — s. S.170ff.).
2) Gedichtworte. 3) Philos. Prosaworte. 4) Ital. Vokabeln.
5) Sinnlose Silben. 6) Buchstaben. 7) Zahlen.
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über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 201
B. Dauerndes Behalten:
ij Gedichtstrophen. 2) Ital. Vokabeln. ;$) Philos. Prosa.
4) Optische Figuren. 5) Sinnlose Silben.
Diese objektiven Resultate der Versuche Uber allgemeine
Steigerung des Gedächtnisses und Mitvervollkommnung verwand-
ter Gedächtnisse bedürfen aber noch einer gewissen Korrektur
durch Berücksichtigung verschiedener Nebenumstände, welche das
obenerwähnte Gesetz aller Wahrscheinlichkeit nach getrübt haben,
z. B. vorübergehende Indisposition einzelner Vp., die den Fort-
schritt in dem einen oder andern Spezialgedächtnis herabsetzten;
ferner wurde die Gedächtnisvervollkommnung überhaupt erschwert
durch die immer größere Belastung des Gedächtnisses der Vp. mit
dem gleichen Material. Am meisten fühlbar wurde diese Gedächt-
nisbelastung bei den sinnlosen Silben, so daß der wirkliche
Übungseffekt durchschnittlich in Wahrheit ein größerer war, als
es in den Versuchszahlen hervortritt. Der objektive Beweis dafür
liegt in den Steigerungen der Leistungen nach der längeren Pause
vor den Versuchen zur Kontrolle des Übungsverlustes, vgl. S. 193 ff.
9) Die Vervollkommnung des Gedächtnisses trat in den Ver-
suchen in folgender Weise zutage:
(1) Das Neulernen geht in kürzerer Zeit und mit weniger
Wiederholungen vonstatten.
(2) Die Ersparnis au Wiederholungen beim Wiedererlernen
nimmt immer mehr zu.
(3) Die Möglichkeit, sich beim unmittelbaren Behalten nach-
träglich auf ausgefallene Eindrücke zu besinnen, steigert
sich beträchtlich.
(4) Die Lernform oder Lernweise der Vp. ändert sich, indem
einzelne Stadien des Lernprozesses zurücktreten, andere —
namentlich das Stadium des Rhythmischlernens — an Be-
deutung gewinnen.
(5) Mit fortgesetztem Lernen verbessert sich nicht nur das Er-
lernen selbst, sondern es wird auch die ganze Summe der
sekundären Begleitvorgänge des Lernens und die psycho-
physische Verfassung der Vp. zweckmäßiger dem Lernen
angepaßt.
10) Ein Übungsverlust ist bei Erwachsenen nach 146 Tagen
Pause noch nicht vorhanden.
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202
Emst Ebert und E. Meumann,
B. Die subj ektivenBekundungenderVp.(Selbstbeobachtungen,
auf Grund von Befragungen oder spontaner Aussagen festgestellt)
Uber die Gedächtnisvervollkommnung:
11) Die Aussagen der Vp. Uber die Ursachen des Ubungsfort-
schrittes und über das Wesen der Gedächtnisübung erstrecken sich
hauptsächlich auf zwei Punkte:
A. Auf ihren gesamten psychischen Habitus, ihr gesamtes Ver-
halten im Anfangsstadium der Versuche zum Unterschied
von ihrem Verhalten bei eingetretener Übung.
B. Auf die Art und Weise des Lesens, des Lernens und des
Reproduzierens in den verschiedenen Stadien der Übung
und speziell auf die von ihnen verwendeten Lernmittel.
Zu A.: Das gesamte Verhalten der Vp. umfaßt die Mitwirkung
der Gefühle, insbesondere der gesamten Stimmungslage, die Mit-
wirkung von Spannungen, von Willensregungen bestimmter Art,
die Art und Weise der Betätigung ihrer Aufmerksamkeit und
deren Begleiterscheinungen.
Die Veränderungen dieser Erscheinungen auf Grund der Übung
sind nach der Aussage der Vp. die folgenden: Im AnfangsBtadium
des Lernens (Stadium der Ungeübtheit) herrschen meist Unlust-
gefUhle vor, die eine hemmende Wirkung auf das Lernen ausüben;
die Vp. kämpfen mit diesen Unlustgefllhlen und haben sie oft
mühsam zu überwinden, oder es tritt ein Alternieren zwischen Lust
und Unlust ein. Die gesamte Stimmungslage ist nicht immer so-
gleich die fiir die Arbeit passende und günstige; es werden übermäßig
viele und oft ganz zwecklose motorische Spannungen aufgewendet,
die in der Gesichtsmuskulatur, den Händen, Füßen, im Kacken,
in den Augenmuskeln (vielleicht auch im Ohr) empfunden werden.
Es sind zahlreiche und energische Willensantriebc notwendig, ins-
besondere die bewußte Vergegenwärtigung des wissenschaftlichen
Zweckes und des Wertes der Versuche, um die Arbeit aufrechtzu-
erhalten (ganz besonders bei den optischen Zeichenreihen). Die
Aufmerksamkeit wird ungleichmäßig auf den Lernstoff verteilt, sie
läßt häufig in der Mitte größerer Reihen nach, insbesondere bei
der G.-Methode, und paßt sich erst allmählich der speziellen Lern-
tätigkeit und dem speziellen Stoffe an. Die Hemmung ablenken-
der Vorstellungen ist vielfach eine ungenügende. Auf diese
Hemmung muß bisweilen viel Energie verwendet werden. Die
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene ubw. 203
Konstanz (Gleichmäßigkeit) und Ausdauer der Aufmerksamkeit
lassen oft zu wttnschen übrig. Die Bereitschaft und Vollständig-
keit der apperzipierenden Vorstellungen (insbesondere beim Lernen
sinnvoller Stoffe) ist mangelhaft. Die Einstellung auf die Leistung
als Erfolg der Anpassung ist unvollkommen.
Alle diese Erscheinungen kehren sich durch den Fortschritt
der Übung fast genau in ihr Gegenteil um: An Stelle der hem-
menden UnlustgefÜhle treten positiv arbeitsfördernde Lustgefühle,
infolge der größeren Leichtigkeit der Erlernung, der Sicherheit des
Erfolges und des wachsenden Interesses an der Arbeit. Die
Stimmungslage wird eine ausgeglichenere, d. h. sie ist fast von vorn-
herein die Air die Gedächtnisarbeit zweckmäßige. Die motorischen
Spannungen nehmen an Intensität und Ausbreitung ab. Statt zahl-
reicher, immer wieder erneuerter Willensantriebe genügt ein ein-
maliger Antrieb oder ein Entschluß beim Beginn der Arbeit. Die
Aufmerksamkeit wird zweckmäßiger auf den Lernstoff verteilt, ins-
besondere bei sinnvollen Stoffen auf die für die Erfassung des
Zusammenhangs wichtigsten Stellen ; die apperzipierenden Vorstel-
lungen sind in größter Bereitschaft und Vollständigkeit, usf.
Die Willen s tätigkeit endlich wird in folgender Weise ver-
ändert:
a. Der Wille zur Vervollkommnung des Gedächtnisses beherrscht
allmählich immer entschiedener das ganze Verhalten der Vp.
während der Versuche.
b. Dieser Wille (unterstützt durch die Vorstellung vom Zwek
und Wert der Versuche) leitet alle im Moment des Lernens
verfügbaren körperlichen und geistigen Mittel in den Dienst
des einen vorschwebenden Zweckes; Gefühle, Aufmerk-
samkeit, Spannungen, Erfassung des Sinnes, Einprägung der
sinnlichen Eindrücke, alles dieses wird dem einen Zweck
untergeordnet* eine möglichst schnelle Aneignung des Stoffes
zu erreichen.
Zu B. : Das Lernen verläuft in verschiedenen Stadien, während
welcher der Lernprozeß selbst sehr verschieden ist. Diese Stadien
sind am Anfang der Einübung noch unklar geschieden ; sie bilden
sich allmählich immer bestimmter heraus, aber mit fortschreitender
Übung treten einige Lernstadien wieder hinter andere zurück, die
nun als die dominierenden verbleiben. Diese fünf Stadien wurden
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204
Ernst Ebert und E. Meumann.
S. 43 ff. genauer bezeichnet. Mit fortschreitender Übung domi-
niert unter diesen immer mehr das Stadium des rhythmischen
Lernens.
Die Lernmittel (Assoziationsmittel) verändern sich mit fort-
schreitender Übung in typischer Weise: Anfangs suchen fast alle
Vp. nach zahlreichen sekundären Hilfen, z. B. symbolischer Deu-
tung der einzelnen sinnlosen Silben, die dadurch zu Pfeilern in
der Reihe werden, an welche sich der übrige Stoff anschließt, —
ferner Bildung sekundärer assoziativer Zusammenhänge zwischen
zwei oder mehreren Silben, mnemotechnische Hilfen verschiedener
Art, Achten auf die absolute Stelle einzelner Silben, rhythmisch-
motorische Innervationen verschiedener Art usf.
Mit fortschreitender Übung verschwinden alle diese Hilfen,
und die Vp. verlassen sich immer mehr auf das rein mechanische
Einprägen der Silben durch den bloßen Faktor sukzessiver Assozia-
tion der Silben selbst mittels aufmerksamer Wiederholung; bei
sinnvollen Stoffen finden die Vp. mit immer größerer Sicherheit die
für den Sinn bedeutungsvollsten Stellen heraus und erwerben die
Fähigkeit, die rein sinnlichen Mittel (insbesondere die optischen)
mit den logischen Beziehungen in zweckmäßiger Weise zusammen-
arbeiten zu lassen.
Unter den Lernmitteln ferner nimmt mit fortschreitender
Übung eine immer größere Bedeutung ein das Herausfinden des '
individuell bevorzugten Rhythmus, das Betonen der schwachen
Stellen, das sichere Erkennen der dem individuellen Lerntypus
(VorstellungstypuB) entsprechenden sinnlichen Mittel, welche vor-
zugsweise verwendet werden (z. B. beim > Optiker« die visuellen
Mittel), während die weniger geläufigen Mittel eine untergeordnete
Verwendung finden. Vgl. auch S. 27 flF.
Theoretische Folgerungen aus den objektiven Ergeb-
nissen und den subjektiven Bekundungen über das We-
sen des Gedächtnisses, der Gedächtnisübung und das
Wesen der Übung im allgemeinen.
I. Folgerungen für die allgemeine Gedächtnispsychologie:
1) Die Funktionen des unmittelbaren Behaltene auf Grund
einmaliger Auffassung der unmittelbar zu reproduzierenden Ein-
Digitized by Google
Über einige Grundfragen der Psychologie der Üuungsphänomene usw. 205
drücke und des dauernden Behaltens durch wiederholtes Erlernen
sind zwei ganz verschiedenartige Gedächtnisleistungen.
In dem einen Falle handelt es sich im allgemeinen dämm, daß
auf Grund einer unmittelbaren Nachwirkung der Eindrücke ein
Reproduzieren stattfindet, noch ehe diese Eindrücke verklungen
sind. In dem andern Falle dagegen — beim dauernden Behalten
— ist die Aufgabe des Gedächtnisses insofern eine völlig anders-
artige, als die Eindrücke inzwischen wieder vollständig ausge-
löscht waren, und eine Reproduktion derselben im engeren Sinne des
Wortes notwendig wird. Reim unmittelbaren Behalten kann man
nicht von einer Schaffung dauernder Übungsdispositionen reden,
weil die Eindrücke schon ganz kurze Zeit nach ihrer Applikation
nicht mehr reproduzierbar sind. Beim dauernden Behalten da-
gegen ist gerade die Herstellung dauernder Übungsdispositionen,
welche eine Reproduktion auch nach sehr langer Zeit ermöglichen,
auf Grund der wiederholten Einprägung das Charakteristische
des Vorgangs. Die Bedingungen beider Arten des Behaltens sind
dab er auch ganz verschieden. Für das unmittelbare Behalten ist
die Hauptbedingung eine einmalige, höchst intensive Kon-
zentration der Aufmerksamkeit mit möglichst vollstän-
diger Hemmung aller störenden Eindrücke und Vorstellungen.
Bei dem Dauernd-Behalten ist die Hauptbedingung die Wieder-
holung der Eindrücke, während die Aufmerksamkeit nur als
eine Mitbedingung erscheint.
Das unmittelbare Behalten hat eine große Verwandtschaft mit
dem physiologischen Nachbilde von SinneseindrUcken ; es ist wie
dieses durch die Qualität und Intensität der Reize (z. B. der vor-
gesprochenen Worte) mit bestimmt. Es klingt wie dieses schnell ab,
es kann genau wie das Nachbild durch plötzliche, unmittelbar nach
dem Reiz eintretende Störungen völlig ausgelöscht werden. Infolge-
dessen wird beim unmittelbaren Behalten auch die ganze Fülle
der konkreten Umstände der Eindrücke mit reproduziert. Die Vp.
hören gewissermaßen noch in der Erinnerung die Stimme des
Vorsprechenden, ihre Klangfarbe, ihren Tonfall, ihren Rhythmus
nnd ihr Tempo, — Merkmale, die bei der Reproduktion auf
Grund des dauernden Behaltens zu fehlen pflegen.
Das unmittelbare Behalten hat ferner gewisse nur ihm zu-
kommende Eigentümlichkeiten: Die auffallendste derselben ist
das Auftreten der rückwärts wirkenden Hemmungen.
Digitized by Google
206 Ernst Ebert und E. Meumann,
Diese besteben darin, daß, wenn im Verlauf der Einprägung der
vorgesprochenen Eindrucke eine innere oder äußere Störung ein-
tritt, diese Störung nicbt nur die unmittelbar von ihr selbst be-
troffenen Eindrücke ergreift, sondern auch rückwärts wirkend die
schon eingeprägten Eindrücke wieder auslöscht und ihre Repro-
duktion unmöglich macht.
Auch in der individuellen Begabung ist die Befähigung für
unmittelbares Behalten und dauerndes Einprägen verschieden ver-
teilt. Bei drei Vp. ergab sich durch eine besondere quantitative
Bestimmung, daß die Person mit dem besten dauernden Gedächt-
nis im unmittelbaren Behalten die geringste Leistung aufwies,
während eine Vp., die das mindest gute dauernde Gedächtnis
besaß, die größte Leistung im unmittelbaren Behalten aufwies.
Bei den gewöhnlichen Gedächtnisversuchen mit sinnlosen Silben
wirkt jedenfalls das unmittelbare Behalten in einer noch wenig
kontrollierten Weise mit. Das tritt besonders bei der T.-Methode
hervor, bei der nicht selten die Partialreihen sofort nach einmaliger
Lesung auf Grund des unmittelbaren Behaltens reproduziert werden,
worauf denn die Vp. die ganze Reihe erst mit mehrfachen Wieder-
holungen in der Weise des dauernden Behaltens einprägen muß.
Aus allen diesen Überlegungen ergibt sich, daß die Asso-
ziierung von Eindrücken für den Moment und die dauernde Asso-
ziation oder Schaffung andauernder Übungsdispositionen zwei ver-
schiedenartige psychophysische Vorgänge sind, von denen jeder
seine eigentümlichen Bedingungen und seine individuell verschie-
dene Ausprägung hat. Für das momentane Assoziieren ist der
entscheidende Faktor Konzentration der Aufmerksamkeit
unter gleichzeitiger Hemmung aller übrigen Eindrücke und eine
günstige GefÜhlslage. Für das dauernde Behalten ist der ent-
scheidende Faktor das Wiederholen der gleichen Tätigkeit
unter gleichen inneren und äußeren Bedingungen, wo-
bei die Aufmerksamkeit nur eine unter den mancherlei inneren
Bedingungen darstellt.
2) Es ergaben sich bei unsern Versuchen auch zahlreiche inter-
essante Beobachtungen über die sogenannten Lerntypen; wir
behalten uns jedoch vor, das umfangreiche Material, das wir Uber
diesen Punkt gesammelt haben, in einer besonderen Abhandlung
mitzuteilen.
3) Alles dauernde Behalten erfordert die Mitwirkung eines
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übangsphänomene ubw. 207
mechanischen Momentes, welches in der Wiederholung der Ein-
drücke oder wiederholten Einprägung zu suchen ist Selbst das
genaueste logische Verstehen eines sinnvollen Stoffes genügt nicht,
um eine wörtliche Reproduktion desselben zu ermöglichen. Diese
letztere wird nur erreicht, wenn auch das sinnliche Material der
Worte durch wiederholtes Einprägen zu einer dauernden, spontaner
Wiedererneuerung zugänglichen Übungsposition geworden ist.
4) Sinnvolle Stoffe werden sehr viel leichter behalten als
sinnlose (Ebbinghaus).
5) Lustgefühle fördern die Arbeit des Gedächtnisses in hohem
Maße, — Unlustgefühle, eine wechselnde Stimmungslage
und Ubermäßiger Aufwand von motorischen Spannungen
hemmen die Arbeit des Gedächtnisses sehr stark.
II. Folgerungen für die Frage der speziellen und allgemeinen Ge-
dächtnisübung :
Die Tatsache, daß eine allgemeine Vervollkommnung (Übung)
durch fortgesetzte spezielle Übung und Vervollkommnung einer
bestimmten Gedächtnisart erreicht wird, kann in gewissem Maße
als durch unsere Versuche erwiesen gelten, — vergleiche in der
Zusammenfassung der Resultate Nr. 7—9! Wir sehen, daß durch
das Lernen sinnloser Silben eine Vervollkommnung so verschieden-
artiger Gedächtnisse eintritt, wie z. B. des unmittelbaren Be-
haltens von sehr verschiedenen Stoffen und des dauernden Behal-
ten von Reihen optischer Zeichen, von Gedichtstrophen und
philosophischer Prosa. Allein ehe wir diese Tatsache zu einer
Erörterung des Wesens der allgemeinen Gedächtnisübung verwerten,
müssen wir einigen Bedenken Rechnung tragen, welche vielleicht
gegen die Bedeutung unseres Hauptresultates erhoben werden
könnten. Einmal könnte man vermuten, daß das mechanische
Lernen sinnloser Silben nicht eigentlich die Übung eines Spezial-
gedächtnisses vorstelle, daß dabei vielmehr ein wesentliches Moment
alles Lernens durch Übung vervollkommnet werde, indem bei
allem Lernen, wie wir früher besonders betont haben, ein mecha-
nisches Moment mitwirken muß. Man könnte daher sagen, daß
wir bei unsern Vp. eine allgemeine elementare GedächtnisbediDgung
durch Übung vervollkommnet haben, — daraus lasse sich die
scheinbare Mitvervollkommnung der Spezialgedächtnisse erklären.
Es ist keine Frage, daß unsere Versuche noch nach mehrfacher
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208
Ernst Ebert und E. Meumann,
Richtung hin einer Ergänzung bedürfen, wenn unser Hauptresultat
seine volle Bedeutung erlangen soll. Man müßte z. B. ein reines
Spezi algedächtnis durch Übung vervollkommnen, z. B. etwa da?
Gedächtnis für Farben und Töne, und nun die Wirkung einer solchen
speziellen Einübung auf das allgemeine Gedächtnis der Yp.
prüfen; ferner hätte der Querschnitt, den wir durch das Gedächt-
nis der beteiligten Vp. geführt haben, natürlich noch auf eine
größere Anzahl von Spezialgedächtnissen ausgedehnt werden können
als in der vorliegenden Untersuchung geschehen ist. Allein man
muß beachten, daß die Ausdehnung der Vorversuche, welche den
Zweck haben, das Anfangsstadium des Gedächtnisses der Yp. fest-
zustellen, eine Grenze hat, deren Innehalten durch den Zweck der
Versuche selbst geboten ist. Je weiter man nämlich in der Prü-
fung der Spezialgedächtnisse geht, — je mehr man also den Quer-
schnitt ausdehnt, — desto mehr Einübung der Vp. fahrt man schon
bei den Versuchen herbei; dadurch kann natürlich der Hauptzweck
der Versuche, den Effekt einer einseitigen Übung mit dem wirk-
lichen Ausgangszustand zu vergleichen, in hohem Maße beeinträch-
tigt werden.
Wenn man ferner annimmt, daß das Lernen sinnloser Silben
ein wesentliches Moment alles Lernens enthalte, so kann man die
gleiche Behauptung mit etwas anderer Wendung von jeder Art der
Gcdächtniseinübung wiederholen ; denn selbst mit der Einübung des
Farben- oder Tongedächtnisses werden natürlich gewisse Partial-
funktionen geübt, die bei jeder Gedächtnisleistung wiederkehren.
Man setzt bei diesem Einwände voraus, daß es wirklich rein iso-
lierte Spezialgedächtnisse gibt, — eine Voraussetzung, deren Recht
eben erst durch Untersuchungen nach Art der vorliegenden ge-
prüft werden muß.
Für die theoretische Deutung unserer Versuchsergebnisse für
das Wesen der speziellen und allgemeinen Gedächtnisübung sind
nun folgende Möglichkeiten in Erwägung zu ziehen:
Wir nehmen an, daß die Tatsache der Vervollkommnung des
allgemeinen Gedächtnisses durch fortgesetztes Lernen sinnloser
Silben erwiesen ist, und daß sie im allgemeinen so aufgefaßt
werden muß, daß bei unsern Vp. durch sogenannte spezielle
Gedächtnisübung eine allgemeine Gedächtnissteigerung herbei-
geführt wurde.
DiescTatsache kann auf sehr verschiedene Weise gedeutet werden:
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Über einige Grandfragen der Psychologie der ÜbungsphSnomene usw. 209
a. Man könnte annnehmen, daß dieße Erscheinung darauf be-
ruhe, daß es in der Tat eine allgemeine Gedächt-
nisfunktion gibt — ein Allgemeingedächtnis oder Ge-
dächtnisvermögen — in ähnlichem, wenn auch nicht gleichem
Sinne, in welchem die Psychologie des 18. Jahrhunderts
von einem Gedächtnisvermögen sprach.
Wenn diese Deutung die richtige ist, so wird man sich
eine Vorstellung darüber zu bilden haben, was sich nach der
Auffassung unserer gegenwärtigen Psychologie unter einer
solchen allgemeinen Gedächtnisfunktion, einem Allgemein-
gedächtnis oder Gedächtnisvermögen eigentlich denken lasse.
b. Die allgemeine Gedächtnisübung auf Grund der Vervoll-
kommnung eines Spezialgedächtnisses könnte eine Erschei-
nung der Mitübung verwandter Gedächtnisfunk-
tionen sein (Mittibung verwandter Spezialgedächtnisse).
Wenn diese Deutung unserer Resultate als richtig be-
funden wird, so wird man zeigen müssen, wie diese Er-
scheinung der Mitübung im Bereiche der Gedächtnisfunktion
psychophysisch aufzufassen ist, und wie wir uns speziell den
Zusammenhang der einzelnen Ubungsdispositionen der Spe-
zialgedächtnisse zu denken haben.
c. Eine weitere mögliche Deutung unserer Versuchsergebnisse
ist die, daß die Tatsache der allgemeinen Gedächtnisver-
vollkommnung nur eine scheinbare sei, daß sie viel-
mehr in Wahrheit beruhe auf der Verbesserung
und Vervollkommnung gewisser anderweitiger all-
gemeiner psychischer Funktionen, die bei aller
Gedächtnisarbeit mitwirken, z. B. auf einer Vervoll-
kommnung der Aufmerksamkeit mit allen ihren durch die
gegenwärtige Psychologie nachgewiesenen Eigenschaften,
oder auf dem Ausgleich der Gefühlslage, der Herbeiführung
von gedächtnisfördernden Lustgefühlen, auf der Beseitigung
hemmender Unlustgefuhle und störender Spannungen, oder
auf stärkerer Ausbildung der Willensmomente, endlich auf
einem Zusammenwirken aller dieser bei der Gedächtnis-
arbeit mitwirkenden Faktoren. (Durch unsere Versuche
ist das tatsächliche Vorhandensein aller dieser Verände-
rungen und der Veränderungen der gesamten Haltung der Vp.
als Wirkung der fortschreitenden Übung erwiesen worden.)
Artki» ttj Psychologie. IV. 14
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210
Ernst Ebert und E. Meumann,
d. Es ist noch eine letzte Deutung unserer Resultate möglich:
Man könnte annehmen, daß die Vp. bei fortschreitender
Übung gewisse Kunstgriffe und technische Mittel, eine eigent-
liche Lerntechnik erwerben und durch zweckmäßige und
ökonomische Verwendung solcher Kunstgriffe, die mehr oder
weniger bei allem Lernen in Betracht kommen, den schein-
baren Fortschritt der allgemeinen Gedächtnisrunktion er-
reichen.
Eine Entscheidung betreffs dieser vier möglichen Deutungen
werden wir in möglichst engem Anschluß an die Resultate unserer
Experimente selbst geben müssen; es scheint nun, daß ein ganz
spezielles Ergebnis unserer Versuche die folgende Deutung not-
wendig macht: Die Hauptursache der ganzen Erscheinung der
von uns bewiesenen allgemeinen Steigerung des Gedächtnisses beim
fortgesetzten Lernen sinnloser Silben ist die Mitübung verwandter
Gedächtnisrunktionen. Es muß aber zugestanden werden, daß auch
die unter c und d erwähnten Punkte, nämlich die Vervollkomm-
nung anderweitiger allgemeiner psychischer Funktionen und die
Erwerbung von Kunstgriffen und technischen Mitteln als Mit Ur-
sachen in Betracht kommen. Es würde demnach unter den oben-
erwähnten vier Deutungen unserer Versuchsergebnisse die unter
b erwähnte Deutung den Kern des Phänomens bezeichnen, wäh-
rend die Deutungen c und d in sekundärer Weise zu berück-
sichtigen sind. Dasjenige Versuohsergebnis, welches diese Deutung
nötig macht, ist die von uns oben erwähnte Erscheinung, daß die
Vervollkommnung der übrigen, nicht geübten Gedächtnisleistungen
keine gleichmäßige und allgemeine ist, sondern daß sie sich sicht-
bar abstuft nach dem Grade der Verwandtschaft der Gedächtnis-
leistungen mit dem durch die einseitige Übung vervollkommneten
mechanischen Gedächtnis für sinnlose Silben.
Andererseits nötigen uns die Aussagen unserer Vp. zu einer
weitgehenden Berücksichtigung der unter c und d erwähnten
Mitursachen der auf andere Gedächtnisse übergreifenden Vervoll-
kommnung. Um diese letztere Behauptung zu beglaubigen, können
wir hier auf die ausführliche Mitteilung der Bekundungen unserer
Vp. verweisen, und ganz besonders auf die kurze Zusammenfassung
derselben unter einige Hauptpunkte bei Nr. 10, a, b in der Zu-
sammenfassung der Resultate.
Die Erscheinung der Mitübung verwandter Gedächt-
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungephänomene usw. 211
nisfunktionen steht so sehr im Mittelpunkt unseres
ganzen Nachweises, daß wir eben deswegen versucht
haben, sie durch ein besonderes Gesetz zu formulieren.
Vergleiche Punkt 8 der Zusammenfassung der Resultate! Es
scheint hiernach, daß wir das Recht haben, von Verwandt-
schaftsgraden der einzelnen Gedächtnisfunktionen zu sprechen,
und diese Verwandtschaftsgrade stellen die Hauptbedingung dafür
dar, daß eine Gedächtnisart oder spezielle Übungsdisposition durch
Übung mitvervollkommnet wird.
m. Theoretische Folgerungen für das Wesen der Übung im all-
gemeinen und den psychologischen Charakter der Übungsdispo-
sitionen überhaupt.
Unsere Versuchsresultate sind von besonderer Ergiebigkeit be-
treffs der Frage, worin das Wesen der Übung im allgemeinen und
der psychophysische Charakter der Übungsdispositionen bestehe:
Wir dürfen wohl voraussetzen, daß alles, was von den Übungs-
dispositionen des Gedächtnisses (der Vorstellungen) erwiesen wird,
mit einer gewissen Annäherung auch von dem Charakter der
psychophysischen Übungsdispositionen im allgemeinen gilt.
Der Begriff des Gedächtnisses ist ja nicht selten anf das ganze
Wesen der Übungsdisposition überhaupt ausgedehnt worden, so
daß z. B. Hering und Hensen sogar von einem Gedächtnis
der organischen Materie überhaupt sprechen. Diese Aus-
dehnung des Gedächtnisbegriffs ist freilich nicht berechtigt. Wir
bezeichnen unter Gedächtnis im psychologischen Sinne nicht bloß
etwas wie die allgemeine Eigenschaft der organischen Materie,
daß sie Spuren und Nachwirkungen von einmal oder mehrfach ge-
leisteten Tätigkeiten oder erlebten Eindrucken auszubilden ver-
mag, auf Grund deren die spätere Wiederholung gleicher oder
ähnlicher Eindrücke oder Tätigkeiten leichter vonstatten geht, —
wir rechnen vielmehr durchaus zu dem psychologischen Begriff
des Gedächtnisses auch die Erscheinung des spontanen Wieder-
auflebens solcher Spuren (bei der Reproduktion der Vorstellungen).
Üiese letztere ist aber keineswegs eine allgemeine Eigenschaft der
organischen Materie; dagegen rechtfertigt sich die Gleichsetzung
von Gedächtnis- und Übungsdisposition überhaupt, wenn man
sie zugleich auf die Ubnngsdisposition der vorstellenden Tätigkeit
beschränkt.
14*
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212
Emst Ebert und E. Meumann,
Es wird am zweckmäßigsten sein, wenn wir auch hier wieder
die Hauptpunkte, welche sich aas unserer Untersuchung für das
Wesen des Übungsphänomens ergeben haben, nach fortschreitenden
Nummern zusammenfassen :
1) Bei aller Einübung von psychischen Fähigkeiten herrscht
das ökonomische Gesetz, daß das Bewußtsein anfangs durchaus
nicht in der einfachsten Weise verfahrt, sondern in den Anfangs-
stadien der Einübung sogar stets mit einem gewissen Aufwand
an Nebenvorgängeu arbeitet, die später als überflüssige und
direkt die Erreichung des Zweckes schädigende ausgeschaltet
werden. Das Bewußtsein gleicht beim Beginn einer relativ un-
gewohnten Arbeit einem ratlosen Feldherrn, welcher alle mög-
lichen Hilfstruppen aufbietet, die sich später als überflüssig er-
weisen. Wir sehen daher, daß unsere sämtlichen Vp. beim Beginn
des Lernens mit einer großen Menge von begleitenden psychischen
und physischen Tätigkeiten arbeiten, welche mit fortschreitender
Übung zum Teil vollständig in Wegfall kommen oder wenigstens
sehr eingeschränkt werden und ihre Bedeutung für den Zweck des
Lernens verlieren, — siehe hierzu Punkt 10 A in der vorange-
gangenen Zusammenfassung der Resultate!
2) Mit fortschreitender Übung beschränkt sich die psychophy-
sische Tätigkeit zur Erreichung eines bestimmten Zweckes immer
mehr auf die am unmittelbarsten zum Ziele führende Tätigkeit und
vermeidet alle sekundären Hilfen, — vgl. S. 202 und 204.
Diese Ausschaltung überflüssiger Begleitvorgänge einer Tätig-
keit ist zum Teil eine Folge der fortschreitenden Automatisierung
und Mechanisierung jeder längere Zeit fortgesetzten Tätigkeit. Die
bei fortschreitender Übung auszuschaltenden sekundären Hilfen sind
speziell für die Gedächtnistätigkeit die folgenden: Motorische
Spannungen, sekundäre Assoziationen, mnemotechnische Kunst-
griffe u. a. m. Die Ausschaltung der hier von uns kurz als
überflüssig bezeichneten Vorgänge ist aber nicht so aufzu-
fassen, als wenn die Vp. im Anfangsstadium der Übung jene
Hilfen entbehren könnten und als wenn sie auch ohne jene Hilfen
in der Form, in welcher später nach erreichter Übung gelernt wird,
ihr Ziel schneller erreichen würden. Vielmehr sind alle diese
sekundären Hilfen notwendige Begleiterscheinungen des Anfangs-
stadiums, und jeder Versuch, sich sofort aller solcher Hilfen zu
entschlagen, führt einen größeren Aufwand an Wiederholungen
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Über einige Grandfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 213
herbei. — Die Vereinfachung der Lernweise, welche mit
fortschreitender Übung eintritt, setzt also ein gutes Funk-
tionieren der ÜbungsdiBpositionen voraus. Solange diese
Dispositionen noch nicht ausgebildet, befestigt oder »gebahnt« sind,
ist die Mitwirkung der erwähnten sekundären Hilfen nötig.
3) Alle Übung durchläuft — wie schon früher wiederholt ge-
zeigt worden ist — eine Anzahl Stadien, innerhalb welcher die
einzuübende Tätigkeit sich qualitativ, d. h. in ihrer ganzen
Zusammensetzung aus Partialvorgängen, verändert. Alle Ein-
übung fuhrt daher eine qualitative Veränderung der eingeübten
Tätigkeit herbei. Diese qualitative Veränderung hat stets die Ten-
denz einer Vereinfachung der Tätigkeit in dem Sinne, daß das
Ziel der Tätigkeit nur noch mit Aufwendung der unbedingt not-
wendigen Mittel erreicht wird.
Wir sehen daher in unsern Versuchen, daß die Vp. sich immer
mehr in ihren Lernmitteln beschränken und zuletzt nur noch ge-
wisse Hauptmittel, die individuell verschieden sind, ver-
wenden.
Bei der Lerntätigkeit wird speziell durch fortschreitende Übung
alles das begünstigt, was dem Lernen einen mechanischen Charak-
ter gibt — z. B. der Rhythmus und die Verwendung der sinn-
lichen Mittel, die dem individuellen Vorstellungstypus am meisten
entsprechen — , und bei sinnvollen Stoffen besteht der Fort-
schritt durch Übung hauptsächlich darin, daß eine rechte Zn-
sammenstimmung zwischen den sinnlichen und den logischen
Mitteln erreicht wird. Als logische Mittel bleiben zuletzt nur
noch die Hauptpunkte des Gedankengangs Übrig, und für die
ganze Summe derjenigen Worte, welche durch den Gedanken-
zusammenhang nicht eindeutig genug bestimmt sind, tritt das
mechanische Einprägen des akustisch-motorischen und optischen
Wortmaterials ein. So wäre im gewissen Sinne das geübte Lernen
sinnvoller Stoffe sinnvoller und mechanischer zugleich.
4) Es liegt nahe, aus diesen Beobachtungen einige Rückschlüsse
zu machen auf das Wesen der Ausbildung von psychophysischen
Übungsdispositionen. Im Anfangsstadium der Einübung irgendeiner
Tätigkeit benutzt das Bewußtsein zahlreiche von früher her ge-
läufige und gewohnte Hilfstätigkeiten (Hilfsbahnen), denen es
gemeinsam ist, daß sie nicht direkt zum Ziele fuhren, sondern
mehr als Begleit- und Nebenvorgänge erscheinen; das Bewußtsein
214
Ernst Ebert und E. Meumann,
eilt gewissermaßen mit einer überflüssigen Zersplitterung seiner
Kräfte auf vielen Wegen dem zn erreichenden Ziele zu, welche
zum größten Teile den Charakter von Umwegen haben.
Aus diesen bildet sich allmählich bei fortschreitender Übung
die einfachere und direktere Bahn, oder es wird durch Ausschal-
tung Überflüssiger Hilfstätigkeiten und Begleitvorgänge eine Kette
einfacher, direkter zum Ziele führender Tätigkeiten hergestellt.
Der Übungsfortschritt besteht also darin, daß aus Elementen von
früher her geläufiger Tätigkeiten — z. B. in unserem Fall aus
dem RhythmuB, den optisch- akustischen Wortelementen, den
logischen »Stützpfeilern« usw. — eine neue, dem speziellen Ziele
vollkommen angepaßte Kette von Tätigkeiten hergestellt wird, die
in dieser Kombination der verwendeten Partialvorgänge bisher
noch nicht vorhanden war. Wendet man dieBe Betrachtung auf die
Assoziationsvorgänge als solche an, so liegt die Hypothese nahe,
daß alle psyohophysische Bahnung anfangs eine Benutzung
älterer Bahnen ist, ans denen durch Ausschaltung unzweckmäßiger
Bahnelemente und durch eine immer unmittelbarere Aneinander-
schaltung der direkt zum Ziele rührenden Bahnteile eine neue
Bahn gebildet wird, und hierdurch entsteht nun der eigentliche
Ubungsweg, der Weg der Fertigkeit oder der vervollkommneten
und vereinfachten Tätigkeit oder der Weg der direkten Asso-
ziation. Die von J. v. Kries mit Recht betonte Schwierig-
keit, sich die erstmalige Bildung einer Übnngs- oder Asso-
ziationsbahn physiologisch vorzustellen, dürfte damit zum Teil
gehoben sein Für das entwickelte Seelenleben wäre dann die
Bildung neuer Assoziationsbahnen wahrscheinlich eine Umbildung
schon bestehender Bahnen, die in der soeben angedeuteten Weise
vor sich geht Für die Bildung der ersten Bahnen im kindlichen
Gehirn wird man nur auf vererbte, dispositionell vorliegende
Bahnen zurückgreifen können.
5) Die oben unter »4« beschriebenen Vorgänge machen zum
Teil das Wesen der sogenannten Mechanisierung aus, welche in
der Regel als ein notwendiger Effekt aller längere Zeit fortgesetz-
ten Einübung angesehen wird. Diese Mechanisierung des Lernens
tritt bei unsern sämtlichen Vp. in markanter Weise hervor, sie
1) Vgl. J. v. Kries, Über die materiellen Grundlagen der Bewußtseins-
erscheinungen. Tübingen (Mohr) 1901.
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 215
ist beim Lernen keine eigentliche Automatisierung, weil diese die
Ausschaltung der Aufmerksamkeit voraussetzt, während bei aller
Gedächtnisarbeit natürlich eine lebhafte Mitwirkung der Auf-
merksamkeit dauernde Bedingung der Aneignung bleibt. Aber
sie ist sehr wohl eine Mechanisierung, wie sich darin zeigt, daß
die mechanischen Elemente des Lernens allmählich immer größere
Bedeutung gewinnen, selbst bei Einprägung sinnvoller Stoffe.
6) Der zentrale Vorgang der Übung ist als ein Willensphäno-
men anzusehen, vgl. hierzu S. 203. Man beobachtet bei psycho-
physischen Versuchen sehr häufig, daß die bloße Wiederholung
einer Tätigkeit als solche durchaus nicht notwendig eine
Vervollkommnung jener Tätigkeit herbeiführt; vielmehr kann
man sagen, daß, wenn der Wille zur Vervollkommnung bei der
Vp. fehlt, sich selbst durch sehr lange fortgesetzte Wiederholung
der gleichen Tätigkeit keine Veränderung derselben bewirken
läßt1). Es ist daher der Wille oder der Entschluß, eine
Vervollkommnung zu erreichen, ein absolut notwendiges
Element des Übungsfortschritts. In welcher Weise der
Wille bei der Übung mitwirkt, haben wir in Nr. 10a (Schluß) der
Zusammenfassung der Resultate ausgeführt. Es sei hier nur noch
darauf hingewiesen, daß mit dem Fortschritt der Übung der Wille
zur Vervollkommnung einer Tätigkeit von selbst immer leb-
hafter wird, und daß die Willensfunktion dabei als diejenige er-
scheint, welche alle zur Erreichung des Zweckes der Tätigkeit
notwendigen Hilfsvorgänge oder Partialvorgänge dem einen Zwecke
dienstbar macht. Auch bei den einzelnen Vp. ließ sich beobachten,
daß die besonders eifrig auf die Vervollkommnung ihres Gedächt-
nisses bedachten Individuen schnellere Übungsfortschritte machten
und auch absolut größere Fertigkeit erreichten.
7) Der Fortschritt der Übung erzeugt sich selbst die für
die Ausführung einer Tätigkeit günstige Stimmungslage: das Vor-
herrschen der Lustgefühle am leichteren Gelingen, wobei als in-
tellektuelle Momente mitwirken das Bewußtsein der Sicherheit und
der Herrschaft über die betreffende Tätigkeit, das Voraussehen des
Erfolges, die Überzeugung von der Geringfügigkeit der früher be-
fürchteten Schwierigkeiten usw.
1} Vgl. zu dieser Frage: Meumann, Über Ökonomie und Technik dea
Lernen«. Leipzig, Klinkhardt, 1903. S. 100 ff.
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216
Emst Ebert und E. Meunianii.
Die Übung erzeugt ferner ein Interesse an der formalen
Tätigkeit selbst, ganz abgesehen von ihrem Gegenstande; da-
bei findet meist eine Gefühlsübertragung statt Das Lust-
gefühl überträgt sich von der Tätigkeit auf ihren Inhalt, und dieser
wird selbst lustvoller und kann sogar zu einer selbständigen Quelle
für die angenehme Stimmungslage werden. Dieser ganze Vor-
gang trägt sehr wesentlich mit zur Befestigung der Übungs-
dispositionen bei.
Man hat die Gefühle wohl als Indikatoren vermehrter psycho-
physischer Energie angesehen. Vielleicht ist es diese Vermehrung
der psychophysischen Energie und die durch das Gefühl bewirkte
Steigerung der psychophysischen Erregbarkeit, welche die Be-
festigung der Übungsdispositiouen herbeiführt.
Die Stimmungslage der Vp. wird übrigens von einzelnen Teil-
nehmern an unsern Versuchen als »Empfindungslage« beschrieben,
indem sie auf eine charakteristische Veränderung ihrer Organ-
empfindungen beim Fortschritt der Übung hinweisen.
8) Als das eigentliche Mittel für die Erwerbung und Befestigung
von Übungsdispositionen, die später wieder aufleben können, ist
nach unsern Versuchen anzusehen:
a. die Steigerung der psychophysischen Erregbarkeit bei der
erstmaligen oder wiederholten Tätigkeit selbst,
b. die Summe der zeitlichen Faktoren: die Dauer des Vor-
gangs (je länger er dauert, desto festere Dispositionen
bilden sich) und die Wiederholung (je öfter er wiederholt
wird, desto fester wird die Dispositon).
Dabei ist der Faktor a wieder als ein zusammengesetzter zu
denken, in dem zur Steigerung der psychophysischen Erregbarkeit
zusammenwirken die Intensität der Konzentration der
Aufmerksamkeit, die Lustgefühle und die motorischen
Spannungen. Dagegen wirken hindernd Unlustge fühle und
jedes Übermaß motorischer Spannungen; die ersteren viel-
leicht darum, weil sie die psychophysische Erregbarkeit herab-
setzen, — die letzteren, weil sie eine Störung und Inkoordination
der psychophysischen Tätigkeiten herbeiführen.
9) Die Vervollkommnung psychophysischer Tätigkeiten durch
Übung scheint durch eine allzu große Häufung der Wiederholungen
der gleichen Tätigkeit gestört zu werden ; aus den Versuchen geht
speziell hervor, daß eine Anhäufung ähnlicher Bewußtseinsinhalte
Über einige Grundfragen der Psychologie der ÜbungephEnomene ubw. 217
und das fortgesetzte Üben des Gedächtnisses an gleichen oder
ähnlichen Bewußtseinsinhalten den Fortschritt der Übung aufhält
So ist es zu erklären, daß eine Pause in der Einübung oft förder-
licher werden kann als die kontinuierliche Fortsetzung der Übung,
— s. S. 193 und 195. Die fördernde Wirkung dieser Pausen bedarf
noch einer besonderen Erklärung. Es wirken dabei zusammen:
a. Der Umstand, daß das Bewußtsein freier wird von hinder-
lichen ähnlichen Inhalten, die sich eben wegen ihrer Ähnlich-
keit gegenseitig hemmen.
b. Wahrscheinlich ferner eine latente Fortbildung der in den
Zentren gesetzten Dispositionen oder der physischen Ver-
änderungen, auf welchen diese beruhen. Zu dieser An-
nahme nötigt uns die bekannte Tatsache, daß auch bei rein
motorischen Übungen eine ähnliche günstige Wirkung der
Pausen beobachtet wird.
c. Die Zentren haben Gelegenheit, sich auszuruhen; wahrschein-
lich tritt durch kontinuierliche einseitige Weiter-
übung eine Ermüdung oder Erschlaffung der geübten
Zentren ein, die durch die Erholung und Abwechslung
während der Pausen wieder gehoben wird.
In einer besonderen Reihe von Ergänzungsversuchen,
deren Resultate in den Tabellen Lm bis LV genau verzeichnet
sind, gingen wir zum Schluß der Sonderfrage nach, in welcher
Weise wohl die Aufmerksamkeit sich verhalte, bis sie zur Er-
lernung von Reihen sinnloser Silben führe. Es wurden hierfür
20 weitere Normalsilbenreihen bestimmt, je fünf nach der 6.- und
T.-, bzw. I. V.- und LI. V.-Methode. Als Vp. beteiligten sich zwei
mit dem Verfahren vertraute Herren, nämlich Herr Prof. M. und
Herr B., — daneben eine Vp., der die ganze Art der Gedächtnis-
versuche neu war, Herr stud. theol. Z. Das besondere Verfahren
dabei lag darin, daß nach je zwei Lesungen der Reihen, bzw.
einer Lesung bei den separierten Hälften der T.-Reihen, das bisher
Behaltene vollständig aufgesagt werden mußte. Dieses unterbrechende
Verfahren wurde so lange fortgesetzt, bis die Reproduktion der ganzen
Reihe einmal fehlerlos gelang.
Es zeigte sich zunächst in interessanter Weise in völliger Un-
zweideutigkeit die Tatsache, daß die Aufmerksamkeit nie zu einer
Einprägung der Eindrücke in ihrer gegebenen Reihenfolge führt,
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218
Ernst Ebert and E. Meumann,
LIII. Versuchsreihe:
Prüfung des Funktionierens der Aufmerksamkeit an je fünf G.-Reihen.
Tabelle LIII.
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Emst Ebert und E. Heumann,
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beiden zu verbindenden Punkten aus nach der Mitte hin arbeitet
und dort den Schlußstein einfügt; die Schließung der Assoziation
tritt daher nie bei den beiden ersten oder letzten Silben der
Reihe ein. Dies zeigte sich recht deutlich selbst noch beim
abschließenden Aufsagen, z. B. ist aus den Tabellen erkenntlich,
daß Herr B. die Erlernung der fünf G.-Reihen viermal mit der
VIII. Silbe schloß, — vorher hatte er sich »nicht gleich« darauf
besinnen können, einmal schloß er mit der VI. Silbe, — oder, um
noch ein Beispiel anzuführen, Herr Z. schloß zwei von den fünf
II. V.-Reihen mit SUbe VU, eine mit Silbe Vm usf. Dabei ist
fttr das Verhalten der Aufmerksamkeit besonders interessant, daß
sich bei den T.- und I. V.-Reihen während ihres brückenbogen-
artigen Aufbaues im Gedächtnis naturgemäß und regelmäßig ein
»Stützpfeiler« in der Mitte bildet, indem sich die Silben V bis VIQ
hier zeitig einstellen, — bei den IL V.-Reihen bilden sich dem-
entsprechend konstant zwei solcher stützender Pfeiler, gleichfalls
dort, wo die Pausen die Aufmerksamkeit sich neu konzentrieren
ließen. Ein Blick auf die Tabelle der hierher gehörigen Versuche
mit den fünf G.-Reihen zeigt überdies, daß besonders auffällige,
weil etwas Sinn bergende oder Wortcharakter tragende Silben
ebenfalls die Konzentration der Aufmerksamkeit auf sich lenken
und Mittelpfeiler im allmählichen Aufbau der Reihe bilden, die
zum schnelleren und sichereren Erlernen verhelfen; so sehen wir bei
Herrn Z. in der m. G.-Reihe die VI. Silbe eine Mittelstütze bilden,
— sie hieß »seim« und wurde von der Vp. gedeutet mit dem ver-
alteten, selten gehörten Wort »Seim«, d. i. »gereinigter Saft«, etwa
vom Honig, — in genau derselben Reihe bildete Bich für Herrn
Prof. M. ein mittlerer Stützpunkt in den Silben »keur — lieh«, an-
klingend an »säuerlich«, — in der V. G.-Reihe erkennen wir
gleichfalls eine Pfeilerbildung bei Herrn B., der die Silben »ris —
feil« ebenfalls als eine Art Wortbildung ansieht. Die Tabellen
zeigen außerdem eine Anzahl nicht uninteressanter Einzelfälle, wie
sich die oder jene einzelne Silbe aufbaute; wir sehen, daß der
Vokal sich meist zuerst einstellt, vermutlich, weil auf ihm, der
allein mehr oder weniger langzuziehen ist, die Aufmerksamkeit
wesentlich länger haften kann. (Versuchsleiter bedauert, nicht in
der Lage gewesen zu sein, durch chronometrische Messungen dar-
tun zu können, daß vokalische Laute bei weitem mehr Bruchteile
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 227
einer Sekunde zum Aussprechen erfordern als konsonantische.)
Das interessanteste Beispiel für das Sichvordrängen vokalischer
Sprachelemente läßt die Tabelle der G. -Reihen bei Herrn Prof. M.
(Reihe 41) erkennen (Tabelle LIV). Nach der 2. Lesung ist sich
Herr Prof. M. dessen vollständig bewußt, daß die dritte Silbe ein
>aa« hat, die 3. und 4. Lesung ändert daran nichts; nach der
6. Lesung hat sich der Schlußkonsonant »k« eingestellt, aber erst
nach der 8. Lesung vervollständigt sich die Vorstellung des Ein-
drucks durch Mitreproduktion des Anfangskonsonanten »r«. —
Merkwürdig sind noch außer den Verdrehungen oder besser
Umsetzungen der Konsonanten, wie wir eine bei Herrn Z. finden,
2. II. V.-Reihe, Silbe VT1, »leim« für »meil«, die Verschmelzungen
zweier Silben zu einer Silbe, welche unverkennbar ihre Entstehung
in ihrer Form anzeigt, — so verschmolzen bei Herrn B. die X. und
XI. Silbe der 1. E. V.-Reihe »raf— nep« zu »fap«, bei Herrn Z
die IX. und X. Silbe der 3. 1. V.-Reihe »ket— bauz« zu »kauz« usw.,
— Erscheinungen, welche anscheinend auch für Philologen inter-
essant sein dürften, da sie zeigen, wie verhältnismäßig leicht Wort-
verkttrzungen, bzw. -Verstümmlungen eintreten können. — An
unserem Urteil über die vier verwendeten Lernmethoden etwas zu
ändern, bieten diese Spezialversuche keinen Anlaß. Sehr bezeich-
nender Weise kam es nur bei der II. V.-Methode vor, daß die
gewünschte Assoziationsfolge bereits nach der 2. Lesung nahe-
zu einwandfrei vorhanden war (vgl. die 3. Reihe bei Hern B.,
wo nur die X. Silbe etwas zögernd reproduziert wurde, weshalb das
Lernen weiter ging). Daß wir speziell die T.-Reihe nicht zu pessi-
mistisch beurteilen dürfen, zeigen außer unBern früheren Erfahrungen
die diesmaligen Zahlen speziell bei Herrn B., wenngleich das Proto-
koll auch ergibt, daß beide jüngere Vp. während der Versuche mit
den beiden Vermittelungsmethoden nicht gut disponiert waren.
Die Versuche zeigen endlich auch das Maß der Schnelligkeit
der Einstellung auf eine sich in der Hauptsache gleichbleibende
Betätigung an, — am drastischsten bei den beiden ersten Methoden,
mit welchen bei jeder Vp. begonnen wurde; die Tabelle der
Versuche mit G. -Reihen zeigt z. B., daß Herr Prof. M. anfänglich
mit 9, später mit 7 Lesungen lernte, Herr Z. erst mit 10, kurz
darauf mit 6 Lesungen, Herr B. mit erst 8, zuletzt mit 4 Lesungen.
Bezüglich der individuellen Lerntypen, deren Verhalten
wir bei unserer Beobachtung des Übungsphänomens zwar nicht in
15*
228
Ernst Ebert und E. Meomann,
erster Linie ins Auge fassen konnten, die sieb ans aber doch nebenbei
in mitunter recht charakteristischer Weise offenbarten, ist zunächst
im allgemeinen zu sagen, daß sich im großen und ganzen die
schon während der ersten Versuche konstatierte Eigenart der Vp.
bis zum Schlüsse der Untersuchung in durchaus ähnlichen Formen
als für sie habituell erwies, — die Seite 20 aufgestellte Gruppie-
rung der sechs Vp. braucht also nach der Überzeugung des Ver-
suchsleiters nicht geändert zu werden. Betreffs des Herrn Prof. M.
ist allerdings auf Grund verschiedentlicher Protokollnotizen zu
sagen, daß diese Vp. in oft erstaunlicher Weise ihre Lernmittel
wechselt, doch wiegt bei ihr das akustische Element im letzten
Grunde zweifellos mehr vor als bei Herrn F. Interessant ist es,
aus zahlreichen spontanen Kundgebungen der drei jüngeren Vp. zu
ersehen, daß sie meinen, je länger, je mehr gewissermaßen
alle Lernmittel gleichmäßig zu gebrauchen, also nicht ein-
seitig akustisch, visuell, motorisch tätig zu sein, — siehe hierzu die
verschiedenen Protokollnotizen etwa der letzten 20 Versuchsreihen !
Dennoch machten sich bis zuletzt in einer Reihe von Punkten
nicht unbedeutende typische Unterschiede in dem Verhalten der
Vp. geltend. Zu dem Auffälligsten gehörte zunächst beim jeweiligen
Aufsagen des Behaltenen die verschiedene Länge der so-
genannten Verarbeitungszeit. Die vorn bezeichneten drei Vi-
suellen begannen ohne Zögern sofort nach Aufnahme des letzten
Eindruckes zu reproduzieren, als läsen sie irgendwoher ab, — die
Akustiker saßen allermeist nach Abschluß der Stoffdarbietung
einige Sekunden da, um sich auf die Klangbilder des »Anfanges«
schweigend konzentrieren zu können. Die visuell veranlagten Vp.,
voran Herr Br., betonen immer wieder, wie wichtig es für sie ist,
daß sie alles zu Perzipierende sobald als möglich in ein »anschau-
liches« Bild Ubertragen, — ist dies gelungen, so reproduzieren sie
den Stoff beim unmittelbaren wie beim dauernden Behalten gleicher-
weise sicher vor- oder rückwärts; ist ihrem Gedächtnis etwas
für Augenblicke entfallen, so besinnen sie sich durch möglichst
lebhaftes Vergegenwärtigen der Gesichtseindrucke. Wie lange und
vollständig sich die vorwiegend visuell veranlagten Vp. übrigens
besinnen konnten, zeigte der im Anschluß an die XLVHI. Versuchs-
reihe unternommene und dort in der Tabelle detaillierte Ergänzungs-
versuch. Doch unterschätzen die vorwiegend visuell veranlagten
Vp. den Wert der akustischen Eindrücke nicht, — vor allem
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Über einige Grundfragen der Psychologie der Übungsphänomene usw. 229
gehätzen 8ie aber die motorischen Hilfsmittel: sie alle sprechen
tunlichst mit, — Herr Br. muß vor allem in die Luft mitzeichnen
oder mitschreiben, wo ihm kein Gesichtseindruck geboten wird, — -
Herr B. durchmißt das Lokal mit lebhaften Bewegungen, wo dies
beim Einprägen nur irgendwie angeht, — Herr F., jener Akustiker,
der den Visuellen wohl am nächsten steht, fängt an, sich hastig
hin und her zu bewegen, sobald der Lauf der Reproduktion minder
glatt vonstatten zu gehen droht. Nebenbei bemerkt könnte man
nach einigen Bemerkungen der Herren Br. und B. während
der letzten Versuche mit dem unmittelbaren Behalten — siehe z. B.
XLI. und XLH. Versuchsreihe, Tabelle XLI und XLII — schließen,
daß visuell veranlagte Personen zu einem analysierenden Verhalten
ihrer Aufmerksamkeit neigen, — sie erblicken vor ihrem inneren
Auge das Ganze des Dargebotenen und analysieren dies beim
Reproduzieren. Daß Herr F. dem visuellen Typ recht nahe steht,
ist auch daraus zu entnehmen, daß er sich gleich den ausge-
sprochenen »Optikern« speziell bei sinnvollen Stoffen »möglichst
plastisch« das Vorgeführte »vor die Seele zu stellen« versucht. —
Für die Akustiker ist nach den Protokollnotizeu besonders charak-
teristisch, daß sie weit pointierter betonen und, wenn nur irgend
möglich, scharf rhythmisch artikulieren, — daher besinnt sich z. B.
Herr Dr. W. auf momentan Entfallenes beim Lernen sinnloser Silben
dadurch, daß er sich das Gesuchte »als akustisches Glied eines
Taktes« zu vergegenwärtigen sucht. Ganz besonders beachtens-
wert erscheint dem Versuchsleiter das Faktum, daß diejenige Vp..
welche das bemerkenswerteste Fortschreiten in ihrer Gedächtnis-
leistung erkennen ließ, Herr F., kein einseitiger Optiker, Akustiker
oder Motoriker ist, sondern daß er nach seiner eigenen ausdrück-
lichen Bekundung — siehe z. B. das Protokoll zur LI. Versuchs-
reihe — mit allen Sinneselementen zu arbeiten behauptet, wenn schon
er der Gesichtsfunktion einige Prävalenz einräumte.
Wir behalten uns vor, die praktische Bedeutung unserer Ver-
suche bei anderer Gelegenheit ausführlicher zu erläutern,
und begnügen uns für jetzt mit wenigen Schlußfolgerungen.
Eines vor allem hat die vorstehend dargelegte Untersuchung nach-
gewiesen: wie bildungsfähig das einer rationellen Übung
unterzogene Gedächtnis ist, selbst noch in reiferem Alter
und an Stoffen, die — weil vorzugsweise mechanisch zu merken —
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230
Ernst Ebert und E. Meumann,
gemeinhin als nur vom jugendlichen Gedächtnis erfaßbar
galten. Wieviel daher die Schule als berufene Pflegestätte der
so enorm wichtigen Gedächtnisfunktion noch künftig zu leisten
vermag, ist kaum auszudenken; denn eine Reihe neuerer Unter-
suchungen des Gedächtnisses der Schulkinder in allen Ländern,
wo man die weittragende Bedeutung der experimentellen Psycho-
logie und Pädagogik anerkennt, hat das nicht gerade erfreuliche
Faktum dargetan, daß die Gedächtnisfunktion der Schulkinder
durchaus nicht so vervollkommnet wird, wie man es nach einer
achtjährigen unablässigen Betätigung der jugendlichen Gedächtnisse
erwarten dürfte. Und daß auch die höheren Schulstufen der ver-
nünftigen Pflege des Gedächtnisses nicht jenen Grad von Sorgfalt
angedeihen lassen, die man in Hinsicht auf die umfassende Bedeu-
tung dieser psychischen Funktion erwarten dürfte, lassen die oft
erstaunlich niedrigen Grenzwerte bei Versuchen mit unmittelbarem
Behalten, beziehentb'ch die übermäßig große Zahl von Wieder-
holungen bei Versuchen mit dauerndem Behalten an jungen Stu-
dierenden deutlich erkennen. Versuchsleiter erinnert sich aus
seiner eigenen Schttlerzeit, daß einige seiner Lehrer doch heraus-
fühlten, daß eine systematischere Pflege des Gedächtnisses für die
Schüler nötig sei, sie empfahlen darum — Anleitungen zur
Mnemotechnik, »K. 0. Reventlows System«, »Herrn. Rothes
Handbuch der Mnemotechnik« usw., Vorgänger der heutigen, in
der Regel als Geheimkunst behandelten »Gedächtnislebren«. Unter
unsern Vp. hatte sich außer Herrn Br. besonders Herr B. mit der
»Gedächtnislehre« eines gewissen P. theoretisch und praktisch befaßt.
Wir wissen, wie beide Herren im Laufe unserer Untersuchung von
der Mnemotechnik abfielen, — sie erklärten sie für »umständlich
und gedächtnisbelastend, durch Künstelei mehr zeitraubend« —
siehe Protokoll zur XL. Versuchsreihe! Ein Studium der P. sehen
Hefte fitr Gedächtniskunst wird jedem psychologisch Denkenden
das Zutreffende dieses Urteils bestätigen, wenn auch z. B. An-
leitungen wie die über die Sinnesschärfung recht zweckdienlich
sein mögen, — ohne korrekten ersten Eindruck des Stoffes ist die
Ökonomie des Lernverfahrens unvollkommen! Diese hergebrachte
»Mnemotechnik« dürfte wohl nie Allgemeingut werden; sie wird
vielmehr nur eine Liebhaberei oder ein Notbehelf für einzelne
Gebildete bleiben. Sehr bezeichnender Weise erklärten gerade
diese beiden früheren Anhänger einer »Gedächtniskunst« das von
Über einige Grundfragen der Psychologie der Übongsphänomene uhw. 231
uns im Laboratorium befolgte Verfahren für die »eigentliche Mnemo-
technik«,—sie fragten ernstlich an, ob nicht noch die oder jene Person
ihrer Umgebung »an der Gedächtniskur teilnehmen könne« (Herr B.).
Nach alledem kann man nur aufs dringlichste wünschen,
daß man auf allen Schulstufen — also nicht allein in der »Volks-
schule« — in unserem Zeitalter besonders drängender pädagogischer
Reformen den hohen Wert formaler Bildung nicht vergesse
Uber dem Bestreben, hochgeschraubte Schulleistungen materieller
Art zu erzielen. Man braucht bei rein formaler Übung des Ge-
dächtnisses durchaus nicht in Extreme zu verfallen, wie Pestalozzi,
der bekanntlich ein altes Tapetenmuster an einer Wand des Schul-
zimmers als Objekt ftlr umfängliche formale Übungen benutzte, —
man treibe auch nicht formale Übungen, wie sie van Biervliet
neuerlich in extremer Weise forderte1), — man verwende also
keine sinnlosen Gedächtnisstoffe, sie rauben Zeit und Kraft,
sind also unökonomisch. Aber auch die Pflege und Entwicklung
der Gedächtnisfunktion an dem sinnvollen Stoffe der Lehrpläne hat
nur Aussicht auf Erfolge, wie sie die Laboratoriumsversuche an-
deuteten, wenn sie während der gesamten Schulzeit nach
einem einheitlichen Plan erfolgt, bei dessen Aufstellung außer
dem praktischen Pädagogen auch der erfahrene Psychologe ein ent-
scheidendes Wort mitzureden hat. Die Schaffung eines solchen
Kunstwerkes, wie es ein wohlgepflegtes Gedächtnis ist, verbietet
aber ebenso, daß an ihm viele arbeiten, wie an einem Werke der
Malerei, der Tonkunst usw., — es erfordert Konzentration auch in
der leitenden Person, also Beibehaltung desselben Lehrers, solange
es nur irgend angängig ist, »Durchführung der Klassen«. Die
notwendige Einheit in dieser formal-bildenden pädagogischen
Arbeit erheischt aber auch, daß die Mitarbeit des Elternhauses
möglichst ausgeschaltet wird. Schon Ratke, dessen didaktische
Genialität neuerdings immer mehr erkannt wird, forderte, daß
»alle Arbeit auf den Lehrmeister zu fallen habe«, — bis auf die
Teilnehmer am Unterricht im Griechischen war allen seinen Schü-
lern das Lernen außerhalb der Schule untersagt. Ratke wußte,
wieviel die Umgebung des Kindes außerhalb der Schule der plan-
vollen pädagogischen Arbeit des Lehrers zu schaden vermag (vgl.
1) Vgl. Revue de Philosophie. 1903. Bd. III. Heft 4.
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232 Ernst Ebert und E. Meumann, Über einige Grundfragen uew.
zu dieser Frage die Untersuchungen von Schmidt, Uber Schul-
und Hausarbeit. Archiv f. d. ges. Psychologie. Bd. HI, Heft 1).
Die Schule kann sich aber nicht damit begnügen, nur prak-
tische Übungen zur Gedächtnisbildung zu veranstalten, — sie leistet
dem Zögling vielmehr einen fast noch größeren Dienst durch
systematische Belehrungen Uber Gedächtnispflege, wie sie über-
dies schon die Pädagogen des Mittelalters und der Renaissancezeit
zu geben pflegten (Erasmus von Rotterdam), dabei wiederum
fußend auf weit älteren Anweisungen zur Gedächtniskultivierung,
zum Teil auf den trefflichen Winken des erfahrenen Quintiii an.
Gibt die Schule ihren Zöglingen auf Grund experimenteller Päda-
gogik und Psychologie Anweisung Uber die Schärfung der Sinne
zwecks rascher, korrekter Auffassung des Stoffes, über die Partial-
vorgänge der Aufmerksamkeit, den Einfluß der Gefühle und des
Willens, Uber die Bedeutung des Rhythmus und des Tempos beim
Lernen, über die verschiedenen Methoden des Lernens — vor allem
über die Varianten der G. -Methode — , über die rationellste
Verteilung der Wiederholungen, die Bedeutung und Länge der
Lernpausen, die Wichtigkeit des Umstandes, daß man seinen
eigenen Lerntypus kennt, und über manches andere mehr, so setzt
sie den Schüler in nicht hoch genug anzuschlagender Weise in
den Stand, selbsterzieherisch auch ohne die Schule an
seinem Gedächtnis zu arbeiten, solange er nur irgend
nach Vervollkommnung strebt.
Eingegangen am 1. Mai l'J04.
Bemerkungen zur Psychologie der Gefühlselemente
und Qefuhlsverbindungen.
Von
Moritz Geiger.
(Aas dem psychologischen Seminar der Universität München.)
I. Abschnitt:
Gefühlselement und Gefühls Verbindung.
1) Der Begriff des Gefühlselements.
Gegenüber den Problemen der Emptindungslehre sind die Pro-
bleme der GefUhlslehre in der Psychologie von jeher vernachlässigt
worden. Dieser Umstand mag znm Teil seine Begründang darin
finden, daß die experimentelle Behandlung der Gefühlslehre —
ans hier nicht zu erörternden Gründen — weit größeren Schwie-
rigkeiten begegnet als die Anwendung des Experiments bei den
Fragen der Empfindungspsychologie. In erster Linie ist aber wohl
das Fehlen eines allgemein anerkannten Unterbaues der Grund,
daß verwick eitere Probleme aus dem Bereiche des Gefühlslebens —
von der Ethik und der Ästhetik natürlich abgesehen — so selten
auf wissenschaftlicher Basis in Angriff genommen werden. Viel-
mehr werden immer und immer wieder die elementarsten Fragen
behandelt, um eben diesen gemeinsamen Unterbau zu gewinnen.
Wie sollte auch eine allgemein anerkannte Lösung verwickelterer
Fragen möglich sein, wenn schon in der Frage nach den Gefühls-
elementen die Ansichten so weit auseinandergehen, daß die einen die
Zahl verschiedenartiger einfacher Gefühle auf zwei (z.B. Kttlpe,
Titchener), die andern (Wundt, Lipps) auf unendlich angeben?
Bei einer derartigen Divergenz der Grundanschauungen muß
eine Arbeit, die sich Gefühlsprobleme höherer Art stellt, daher
vor allen Dingen den Standpunkt festlegen, von dem sie ausgeht.
Sie muß, um überhaupt kompliziertere Fragen behandeln zu
können, die Elementarprobleme nach einer Richtung hin als ent-
schieden annehmen, um dadurch die Grundlage für weitere Unter-
suchungen zu gewinnen.
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234
Moritz Geiger,
Diese Arbeit verzichtet daher prinzipiell auf die Angabe von
Gründen für die Anschauungen, von denen sie ausgeht. Sie
nimmt mit Lipps1) und Wandt1) »eine unendliche Mannigfaltig-
keit der Gefühle« an, wobei betont werden muß, daß diese Uber-
einstimmung in den Grundlagen keineswegs nun auch eine Über-
einstimmung bis in die Einzelheiten in sich schließt.
Naturgemäß hat die erste Analyse der Welt der Gefühle auf
dem Wege der subjektiven Analyse vor sich gehen müssen. Erst
nachdem diese Aufgabe gelöst war, konnte zur Feststellung der
objektiven Gefühlssymptome tibergegangen werden. Nicht anders
war's ja bei den Empfindungen. Nur daß hier die Feststellung
und Ordnung der Elemente schon im verwissenschaftlichen Denken,
in der Sprache, in einfachster Weise geschehen ist, so daß die
Wissenschaft im wesentlichen einfach an diese Ordnung anzu-
knüpfen brauchte.
Man brauchte z. B., als man begann, wissenschaftliche Psycho-
logie zu treiben, nicht erst Namen für die einfachen Farben zo
schaffen, — die vorwissenschaftliche Praxis sowohl, als die Natur-
wissenschaften hatten längst alle Vorarbeit getan.
Die subjektive Geftthlsanalyse zeigt gegenüber der Analyse
der Empfindungswelt beträchtliche Schwierigkeiten, die in zwei
psychologischen Momenten ihren Grund haben.
Einmal ist die Welt der Gefühle im Gegensatz zu den Empfin-
dungen nicht analysierbar im Moment des Daseins; Gefühle
können erst dann analysiert werden, wenn sie nicht mehr als
subjektive Erlebnisse existieren, sondern gegenständliche Inhalte
des Bewußtseins geworden sind3). Eine Beobachtung im exakten
Sinne wird dadurch unmöglich gemacht, und nur durch genaue
retrospektive Selbstbeobachtung wird die wissenschaftliche Unter-
suchung der Gefühle überhaupt möglich. Es ist hiernach klar,
wie groß hier die Gefahr der Selbsttäuschung ist
Dazu kommt noch ein weiterer Umstand4): »Die Gegenstanda-
seite des Bewußteins ist in jedem Moment von einer Reihe dispa-
rater Inhalte erfüllt, die nur durch die Geftthlsseite des Bewußt-
1) Da« Selbstbewußtsein, Emp6ndung und Gefühl. (Grenzfragen des
Nerven- und Seelenlebens. 1901. Heft 9.)
2) Grundriß der Psychologie. 4. Aufl. 1901. — Grundzfige der physio-
logischen Psychologie. 5. Aufl. 1902.
3) Siehe Lipps, a. a. 0.
4) Vgl. Wund t, Grundzüge der physiolog. Psychologie. Bd. II. S. 342.
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Bemerkungen zur Psychologie der Gefiihlselemente usw.
235
Seins in letzter Linie zusammenhängt«. Zwei Farben, »rot« and
»blau«, bilden ein deutlich getrenntes und trennbares psychisches
Nebeneinander, so gut wie zwei einfache Töne. Auf der Geftihl*-
seite ist das anders: Hier herrscht das von Wundt1) bezeich-
nete Prinzip der Einheit der Gemtttslage. Die Gefühle jedes Zeit-
moments vereinigen sich ohne Rücksicht auf die Beziehung ihrer
zugehörigen Vorstellungsbestandteile in einem einheitlichen Total-
gefühl. In der Empfindungsichre ist die Analyse relativ einfach;
sie kann sich darauf beschränken, die Elemente in Gruppen zu
ordnen und die Verschiedenartigkeit ihrer Verbindung festzustellen.
In der Gefühlslehre dagegen hat die Analyse die weit schwierigere
Aufgabe, das, was für das Bewußtsein eine Einheit ist, methodisch
zn gliedern und ans der Einheit die Bestandteile herauszuschälen.
Sie setzt Bich dabei stets der Gefahr aus, daß die Analyse in die
Irre führt, da entweder die Teile der Einheit nicht richtig be-
stimmt sind, oder die Methodik der Analyse nicht die richtige
war. Denn während in der Welt der Empfindungen die Ordnung
und Gliederung eine durch die Disparatheit der Inhalte natür-
lich gegebene ist, schafft in der Gefühlslehre die Psychologie
die Gliederung erst, indem sie — natürlich in Anknüpfung an
psychische Erlebnisse, aber doch mehr oder minder willkürlich —
die Einheit des Gefühlsbewußtseins in Teilinhalte zerlegt.
So bringt es z. B. die Einheit der Gefühlslage mit sich, daß
schon der Begriff des Elements in der Geftthlspsychologie nicht
so eindeutig und selbstverständlich ist wie in der Lehre von den
Empfindungen. Den Charakter der Bewußtseinsinhalte rot und
blau als elementar wird niemand bestreiten; denn sie sind tat-
sächlich letzte anschauliche Erlebnisse, die nicht weiter zerlegbar
sind. Statt dessen etwa Helligkeit und Sättigung als die eigent-
lichen Elemente zu bezeichnen, da sie ja noch einmal innerhalb
rot und blau unterscheidbar seien, daran wird jeden ihr abstrakter
Charakter verhindern.
Bei den Gefühlen ist das anders: Schon der allgemein aner-
kannte Gefühlsgegensatz Lust-Unlust bezeichnet ursprünglich nur
den allgemeinen Charakter der gesamten Geftthlslage des betreffen-
den Moments, anschaulicher als Helligkeit und Sättigung, abstrakter
als rot und blau. Die Anschaulichkeit, die rot und blau als
1) a. a. 0., S. 342.
236
Moritz Geiger,
Elemente anerkannt werden ließ, kann nicht in Betracht kommen.
»Anschaulich« im strengen Sinn ist nnr die einheitliche Gefübls-
lage jedes Augenblicks, anschaulich nur das Totalgefühl in seiner
Einheitlichkeit: jede Analyse heißt in der Gefühlswelt im strengen
Sinn unanschauliche Abstraktion. Natürlich ist hier »Abstraktion<
in einem ganz besonderen Sinne genommen. Denn tatsächlich
setzt ja jede systematische Behandlung des einheitlichen Bewußt-
seinsinhalts eines Moments Abstraktion voraus. Nur durch Ab-
straktion ist es möglich, die allgemeine Bezeichnung rot als
Empfindungselement zu gewinnen. Von dieser Abstraktion ist
natürlich nicht die Rede, wenn wir die Empfindungselemente als
anschaulich, die Gefühlselemente als Ergebnisse einer unanschau-
lichen Abstraktion bezeichnen. In dem hier angewandten Sinne
gilt als unabstrahiert alles, was ein für das betrachtende Bewußt-
sein unmittelbar selbständiges, ein nicht nur in der Reflexion trenn-
bares Erlebnis bezeichnet. In diesem Sinn ist jeder Empfindungs-
inhalt unabstrahiert. Dagegen ist die Feststellung von Gefühls-
elementen Ergebnis einer Abstraktion. Denn es handelt sich nicht
darum, im Bewußtsein nebeneinander Bestehendes aus seiner noch
so engen einheitlichen Verbindung zu lösen, wie es z. B. geschieht,
wenn ich die Farben, die mein Gesichtsbild eines Hauses aus-
machen, gesondert auffasse, sondern vielmehr: es ist für mein Be-
wußtsein eines, nur eines, nämlich die einheitliche Gefühlslage,
gegeben. Die einzelnen Gefühle, die ich imstande bin in der Re-
flexion zu unterscheiden, sind »Merkmale« dieses einheitlichen
Geftthlserlebnisses, — wobei ich mir wohl bewußt bin, daß mit
dem Ausdruck Merkmal nichts bestimmt ist, sondern daß der Ge-
brauch dieses Aasdrucks nur Hinweis ist auf das Problem des
Merkmals, dessen Erörterung jedoch hier zu weit führen würde.
Mit diesen Bemerkungen ist das Problem der Loslösung der
Einzelgefühle ans dem Totalgefühl jedes Moments nur gestreift.
Psychologisch wäre die Frage zu erörtern, wie sich die Einheit
der Gefühlslage mit der Annahme der Vielheit der Gefühle ver-
trägt; ferner wie diese Beziehung der Gefühle auf die Gegen-
standsseite zustande kommt. Methodisch jedoch — und nur das
Methodische soll zunächst angedeutet werden — ist es vollkommen
gleichgültig, wie diese Loslösung zustande kommt Da interessiert
nur, daß sie zustande kommt. Wir werden später noch Gelegen-
heit finden, auf diese Probleme zurückzukommen.
Bemerkungen zur Psycnologie der GefUhlaelemente usw. 237
Im strengen Sinn also sind z. B. Lnst and Unlust nur Merk-
male des einheitlichen GefUhlserlebnisses jedes Moments, sie
können demnach, rein nach der Gefühlsseite hin betrachtet, nnr
als Charakteristiken der gesamten GefUhlslage angesehen werden,
wie es ja die Psychologie im Falle der > Stimmauge tatsächlich
tat In diesem strengen Sinn also dürfen wir von Geftthlsele-
menten <rar nicht reden.
Ein Umstand jedoch kommt uns zu Hilfe, der uns ein Recht
gibt, diese strengen Folgerungen zu umgehen: Lust und Unlust
sind nicht nur Charakteristika der Gefühlslagen des Totalgefühls
eines Moments, sondere sie haben auch Beziehung zu der gegen-
ständlichen Seite unseres Bewußtseins. Sie können unabhängig
von den sonstigen Bestandteilen des Totalgefühls bezogen sein
auf Empfindungen und Vorstellungen. Daß sie dies können, löst
sie los yon den sonstigen Bestandteilen des Totalgefühls, von der
einheitlichen Stimmung des Moments, von der sie sonst einen Teil
bilden, macht sie zu gesonderten und für die Analyse herauslös-
baren Bestandteilen des Gefühlserlebens.
Wir wollen übereinkommen, überall da von Gefühlselementen
zu reden, wo letzte Bestandteile des Totalgefühls selbstän-
dig auf einen Gegenstand bezogen sind. In dieser Bestimmung
liegt zweierlei: Einmal müssen es letzte Bestandteile des Total-
gefühls sein, die auf die Gegenstände bezogen sind, damit wir
von ihnen als von Gefühlselementen reden dürfen. Man muß sich
klar darüber sein, was dies heißt: Nicht jedes Gefühl, das allein
auf einen Gegenstand bezogen erscheint, ist ein Element, sondern
nur dasjenige Gefühl, das keine Bestandteile mehr enthält, die
ein andermal gesondert (d. h. ohne Bestandteile jenes Gefühls zu
sein) auf Gegenständliches bezogen werden können. Das Gefühl
der Bewunderung einer Bildsäule gegenüber wäre also kein Ele-
ment, da die darin enthaltenen Gefühle der Lust sowohl, als auch
der Spannung usw. sehr wohl gesondert ebenfalls auf ein Objekt
bezogen werden können. Dagegen ist die eigenartige Beruhigung,
die man gegenüber einem tiefen Blau fühlt, ein Element: Es läßt
sich die Beruhigung nicht weiter in Bestandteile zerlegen derart,
daß jeder Bestandteil die angegebene Bedingung erfüllt.
Durch den eben besprochenen Teil der Definition ist das Ge-
fühlselement gegenüber den Gefühlsverbindungen abgegrenzt; denn
überall da, wo sich in einem Gefühl noch Bestandteile aufzeigen
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238
Moritz Geiger,
lassen, die ein andermal gesondert auf einen Gegenstand bezogen
werden können, liegt eine Gefühlsverbindung vor. Daher ist also
das Gefühl der Bewunderung eine Gefühlsverbindung.
Es ist notwendig, ebenso das Geftthlselement in der Definition
gegenüber Beinen Merkmalen abzugrenzen, damit im konkreten
Falle kein Zweifel über die Natur eines Bestandteils eines Total-
gefühls entstehen kann. Hier hilft uns die andere Seite der De-
finition weiter: Das Gefühl muß »selbständig« auf den Gegen-
stand bezogen sein, damit von einem Geftthlselement geredet werden
darf. Was »Selbständigkeit« bedeutet, ist nicht ohne weiteres klar.
»Selbständigkeit« heißt einmal Isoliertheit: ein Gefühl wird
selbständig auf einen Gegenstand bezogen, kann heißen, es wird
auf einen Gegenstand bezogen, ohne daß dabei ein anderes Ge-
fühl ebenfalls auf den Gegenstand bezogen wird. Das ist in
Wahrheit nie der Fall: es gibt wohl kein Gefühl der Erregung,
das weder Lust- noch Unlustmomente in sich enthielte, und die
Anerkennung der Erregung als Geftthlselement hinge davon ab,
ob es mir gelingt, in meiner Selbstanalyse jemals ein isoliertes
Geftthl der Erregung aufzufinden. Damit stünde der Begriff des
Elements auf sehr schwachen Füßen, und ein Kriterium gar auf
solch schwankem Grund aufbauen zu wollen, wäre vollends gewagt.
Aber das Wort »Selbständigkeit« hat noch eine andere Be-
deutung. »Selbständig« führt derjenige eine Tat aus, der sie ohne
fremde Hilfe, unabhängig ausführt Selbständig heißt hier: ohne
fremde Vermittlung oder Hilfe. »Selbständig« ist in diesem Sinne
das Gefühl auf den Gegenstand bezogen, wenn es unmittelbar,
ohne Vermittlung eines andern Gefühls, auf den Gegenstand be-
zogen ist.
So ist z. B. in der Freude an einer schönen Farbe die Lust
ein Geftthlselement: die Lust ist unmittelbar auf die Farbe be-
zogen, sie ist Lust an der Farbe.
Anders liegt es bei folgendem Fall: Ich habe großen Durst
und sehe ein Glas Wasser vor mir stehen. Ich verspüre daher
den Trieb in mir, von dem Wasser zu trinken; es besteht in mir
ein Gefühl der Notwendigkeit, das Glas Wasser auszutrinken.
Aber diese Notwendigkeit ist ganz anderer Art als diejenige,
welche ich gegenüber einem mathematischen Lehrsatz fühle, die-
sen Lehrsatz anzuerkennen. Ich will, ohne mich auf weitere Ana-
lyse einzulassen, den crsteren Fall kurz als ein Gefühl »subjek-
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Bemerkungen zur Psychologie der (ieftihlselemente usw. 289
tiver«, den letzteren als ein Gefühl »objektiver« Notwendigkeit1)
bezeichnen.
Es fragt sich, ob wir diese beiden Bestandteile des Gefühls,
die Subjektivität bzw. Objektivität einerseits und die Notwendig-
keit andererseits, beide als Geftthlselemente anerkennen dürfen.
Hier hilft uns die Definition weiter: Als notwendig erlebe ich das
Ton, aber nicht als subjektiv. Subjektiv ist nicht das Tun, son-
dern die Notwendigkeit Die Subjektivität ist also keineswegs
selbständig auf das Tun bezogen, sondern erst durch die Not-
wendigkeit vermittelt. Daher ist Subjektivität kein GefUhlselement,
sondern nur ein Merkmal an einem solchen; GefUhlselement ist
vielmehr das ganze Gefühl der subjektiven Notwendigkeit.
Es ist zu beachten, daß diese Abgrenzung des Geftthlselements
gegenüber den Merkmalen durch den Begriff der Selbständigkeit
ihr Analogon findet bei den Empfindungselementen. »Rot ist
Empfindungselement«', als solches ist es unmittelbar auf den Gegen-
stand bezogen: die Rose ist rot. Die Merkmale aber sind ihrer-
seits erst wieder durch Vermittlung des Elements auf den Gegen-
stand bezogen. Rot ist gesättigt, nicht etwa die RoseJ).
Diese genaue Abgrenzung des Begriffs des Gefühlselements ist
nicht überflüssig für eine Untersuchung der Gefühlsverbindungen:
denn je nachdem der Begriff des Elements enger oder weiter ge-
faßt wird, wird dieses oder jenes Gefühl noch als Gefühlsverbin-
dung betrachtet werden müssen, das bei einer andern Abgrenzung
des Gefühlselements noch als Element mit einer eigenartigen Mo-
difikation erscheint. Sie ist nm so weniger überflüssig, als sich
von hier aus auch methodisch ein bemerkenswerter Unterschied
der Verbindungen der Gefühlselemente gegenüber den Verbindungen
1) Die Notwendigkeit ist in dieser Arbeit durchgehende als Gefühl be-
zeichnet. Strenggenommen ist diese Ausdrucks weise aus mehreren Gründen
falsch. Einmal ist die Notwendigkeit (eines Geschehens z. B.) Uberhaupt keine
psychische Tatsache. Aber auch das Bewußtsein der Notwendigkeit ist
sicherlich mehr als ein Gefühl. Dieser Umstand kommt jedoch hier nicht in
Betracht Für diese Untersuchung genügt es, daß, wie mir festzustehen
scheint, in jedem Notwendigkeitsbewußtsoin ein gefühlsmäßiges Moment ent-
halten ist. Dieses gefühlsmäßige Moment ist es, das ich abkürzungshalber
einfach mit Notwendigkeit bezeichne, da m. £. durch das Ziel der Unter-
suchung Mißverständnisse ausgeschlossen sind. Dasselbe gilt für die Aus-
drücke: Möglichkeit, Wahrscheinlichkeit, Wirklichkeit usw.
2, Vgl. auch die Ausführungen über Träger und Merkmal: Lipps, Leit-
faden der Psychologie, Leipzig 1903, S. 116.
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240
Moritz Geiger,
der Empfindungselemente ergibt. Da die Empfindungselemente
eindeutig Bind, d. h. nicht anders gewählt werden können, als sie
tatsächlich gewählt worden sind, so ist damit auch ohne weiteres
die Weise ihrer Verbindung in den komplexen Erlebnissen fest-
gelegt. Das Geftthlselement jedoch, so sahen wir, könnte auf
mannigfache Weise definiert werden, und durch jede verschiedene
Definition würde natürlich auch die Lehre von den Gefühlsver-
bindungen sich ganz verschieden gestalten. Und da das Gefuhls-
element Produkt einer Zerlegung ist, so hat man in der Lehre
von den Geftthlsverbindungen einfach den Weg zurttckzuverfolgen,
den man vorher vorwärts gegangen ist; man hat sich klar darüber
zu werden, wie man vorher zerlegt hat, dann ist man auch klar
darüber, wie die Gefühle verbunden sein können, während hin-
gegen die Verbindungen der Empfindungen mit der Aufsuchung
der Empfindungselemente keinen solchen Zusammenhang haben.
Die Abweichung der hier gegebenen Definition des Geftthls-
elements von den in andern Arbeiten, wenn auch ohne ausdrück-
lich formulierte Definition, benutzten, läßt es mir notwendig er-
scheinen, mit ein paar Worten diejenigen Geftthlseinteilungen zu
streifen, die sich auf dem Boden der unendlichen Mannigfaltigkeit
der Geftlhle bewegen:
Es liegt eine Einteilung der Gefühlselemente vom Standpunkt
der Mannigfaltigkeit der Gefühlserlebnisse von zwei Seiten vor:
von Wundt1) und von Lipps. Wundt unterscheidet, wie be-
kannt, drei Gefühlsrichtungen: Lust-Unlust, erregende-beruhigende,
spannende-lösende Gefühle. Alle drei Bezeichnungen sind, wenn
wir auf sie unsere Definition anwenden, Bestimmungen von Gruppen
von Gefühlselementen. In jeder Gruppe sind eine Reihe von Ge-
fühlselementen verschiedener Art eingeschlossen. Obwohl also
z. B. das Gefühl der Notwendigkeit ein Hemmungsgefühl ist, so
ist es doch ein eigenartiges Gefühl, das sich mit irgendeinem be-
liebigen Hemmungsgefühl kaum vergleichen läßt. Dennoch ist
das Gefühl der Notwendigkeit nicht etwa Gefühl der Hemmung
plus etwas anderem, also keine Gefühlsverbindung, sondern da
dieses andere nicht selbständig als Gefühl auf ein Objekt bezogen
sein kann, so liegt im Gefühl der Notwendigkeit ein Geftthls-
element vor, das der Hemmungsgruppe angehört. Auch bei den
1) Wundt, Grundri0 der Psychologie. 4. Aufl. S. 101.
Bemerkungen zur Psychologie der Geflihleelemente usw.
241
Empfindungen bezeichnen wir ja genau genommen mit der Angabe
von Rot und Blau nicht einzelne Elemente, nur Elementengruppen.
Wundts Einteilung ist rein phänomenologisch, weder gegründet
auf die Abhängigkeit der Gefühle von den Eindrücken der Außen-
welt, noch auf Überlegung über die Bedeutung des Gefühls im
Seelenleben *).
Vom entgegengesetzten Ende aus hat Lipps3) die Systematik
der Gefühle begonnen. Theoretisch stellt er die Bedeutung des
Gefühls im Seelenleben fest und sucht aus den Möglichkeiten, wie
sich diese Bedeutung des Gefühls im Seelenleben äußern kann,
systematisch die Mannigfaltigkeiten des Gefühlslebens zu erfassen.
Er gibt eine Systematik der Gefühle nach ihren Bedingungen.
Demgemäß treten auch ganz andere Gesichtspunkte bei den tat-
sächlich vorhandenen Gefühlen in den Vordergrund. Denn die
gesonderten oder heraussonderbaren Bedingungen brauchen sich
nicht stets in einem gesonderten Gefühlselement zu äußern, son-
dern können ihr Vorhandensein in verschiedenartiger Modifikation
desselben Elements kundgeben. Wie etwa die Amplitude der
Uftschwingungen nur den Grund für eine Dimension der Töne
bildet, nicht etwa selbst eigenartige physische Erlebnisse hervor
ruft, so gibt es ähnliches auch bei den Gefühlen. Es gibt seeli-
sche Bedingungen, die die Ursache von Gefühlselementen, andere,
die nur die Ursache von Modifikationen an diesen Elementen sind.
Wir hatten oben die Definition des Gefühlselements rein
phänomenologisch, keineswegs ausgehend von der prinzipiellen Stel-
lung der Gefühle im Seelenleben, getroffen. Es ist daher selbst-
verständlich, daß viele der von Lipps angegebenen Bedingungen,
und gerade die allgemeinsten, nicht Gefühlselemente im definierten
Sinne hervorbringen. Das Gefühl der subjektiven Notwendigkeit
z. B. wird bei Lipps nach seinen Bedingungen zerlegt, die teils
auf die Subjektivität des Gefühls, teils auf den Notwendigkeits-
charakter hinwirken. Diese Zerlegung nach den Bedingungen ist
keine Zerlegung in Gefühlselemente. Denn der Gegensatz des
Subjektiven und des Objektiven zieht sich zwar durch das
1 Einige theoretische Überlegungen in den früheren Auflagen des
Grundrisses (vgl. 2. Aufl. 1897, S. 100i haben nicht Belbst zu der Aufstellung
des Schemas geführt, sondern dienen nur dazu, das empirisch gefundene
Schema auch theoretisch zu erläutern.
2) Vom Fühlen, Wollen und Denken.
ArcW» tfu P.ychologie. IV. 16
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242
Moritz Geiger,
gesamte Gefühlsleben, aber ein Subjektivitätsgeftihl, das ohne Ver-
bindung mit andern Gefühlen nnd ohne ihre Vermittlung selb-
ständig auf gegenständliche Inhalte bezogen ist, gibt es nicht, so
wenig wie ein Notwendigkeitsgefühl, das weder subjektiv noch
objektiv ist. Wir müssen also nach unserer Definition des
Elements das Gefühl der subjektiven Notwendigkeit nicht als ein
zusammengesetztes, sondern als ein einfaches Gefühl auffassen.
2) Die Eigentümlichkeiten der Gefühlselemente.
Diese Festlegung des Gefühlselements ergibt von selbst die
Festlegung des Begriffs der Verbindung von Gefühlen. Überall
da, wo wir mehrere Gefühlselemente in einem To talgefühl nach-
weisen können, liegt eine Verbindung von Gefühlen vor. Anderer-
seits fordert natürlich die Statuierung von Gefühlselementen nicht,
daß an diesen Elementen nicht noch mancherlei Verschiedenartiges
zu unterscheiden sei. Daß Rot ein Empfindungselement ist, das
hindert ja auch nicht daran, daß an ihm noch Helligkeit, Sättigung
und Farbenton unterschieden werden.
Es ist natürlich für die Lehre von den Verbindungen der Ge-
fühle wichtig, sich darüber klar zu sein, welcher Art diejenigen
Eigentümlichkeiten sind, die innerhalb der Gefühlselemente noch
unterscheidbar sind. Genau so gut, wie bei den Verbindungen der
Töne zu Klängen die Dimensionen gesondert ihre Bedeutung haben,
ist auch von vornherein anzunehmen, daß die Dimensionen der
Gefühlselemente nicht ohne Einfluß auf den Charakter der Ver-
bindungen sind. Ich flechte daher eine Einteilung der Eigentüm-
lichkeiten der Gefühlselemente ein.
Die drei Haupteigenschaften der Gefühlselemente1) sind: Inten-
sität, Qualität und zeitlicher Verlauf2^. Die erste und die dritte
Eigenschaft kommen für uns hier nicht weiter in Betracht. Wir
wollen im folgenden die Verbindungen der Gefühle nur nach
Ii Vgl. Wundt, Grundzüge der physiolog. Psychologie. Bd. II. S. 209.
2; Vielleicht dürfte es richtig sein, noch eine weitere Haupteigenschaft
der Gefühle anzunehmen. Es ist die Art ihrer Beziehung auf die gegen-
ständlichen Inhalte. Ich freue mich Uber ein Ereignis und ich freue mich an
einem Ereignis sind sicherlich Aussagen über grundverschiedene psychische
Tatbestände, die sich nicht restlos als Unterschiede von Qualitäten der Ge-
fühle abtun laasen. Ich kann mir es jedoch ersparen, näher darauf einzu-
gehen, da es sich im folgenden ebensowenig um diese Eigenschaft der Ge-
fühle wie um ihre Intensität und ihren zeitlichen Verlauf handelt.
Bemerkungen zur Psychologie der GefUhlselemente usw. 243
ihrer qualitativen Seite betrachten. Infolgedessen sind für uns
auch nur die qualitativen Eigenschaften von Interesse.
Bei der Feststellung der Merkmale der Gefühle geht es ähn-
lich wie bei der Feststellung der Gefüblselemente. Es genügte
nicht, die Elemente einfach aufzuzeigen wie bei den Empfindungen,
sondern es war notwendig, einige, wenn auch nicht tiefgehende
methodische Erörterungen vorauszuschicken. Ähnlich hier: Die
Empfindungen ordnen sich ohne viel Mühe in Systeme und inner-
halb der Systeme wieder nach Dimensionen — in den Systemen
wenigstens, in denen sie sich Überhaupt ordnen lassen. Bei den
Gefühlen ist die Aufgabe nicht so einfach zu erledigen. Auch
hier wiederum sind die Merkmale nicht einfach aufzuzeigen, son-
dern bei dem Reichtum an verschiedenartigen Gestaltungen, der
das Gefühlsleben auszeichnet, möglichst zweckentsprechend zu-
sammenzuordnen. Von einer wirklich ausführlichen systematischen
Ordnung dieser Merkmale kann jedoch keine Rede sein, — ich
muß mich mit einigen Andeutungen begnügen.
Das Aufzeigen von Merkmalen eines Gegenstandes hat einen
doppelten Zweck. Einmal soll dadurch der Gegenstand vollständig
beschrieben werden: wenn ich alle seine Merkmale angegeben
habe, dann kenne ich vollkommen die Eigenart des betreffenden
Gegenstandes. Fernerhin muß jedoch die Angabe der Merkmale
derart beschaffen sein, daß der Gegenstand im System der in Be-
tracht kommenden Tatsachen eine eindeutige Stellung zugewiesen
erhalte. Wenn ich von einem Ton z. B. aussage: er ist ein Ton,
und zwar ein Geigenton von der Höhe a und einer bestimmten
Intensität, so habe ich den Ton — vorausgesetzt, daß die Klang-
farbe der Geige bekannt ist — genau und eindeutig beschrieben.
Zugleich habe ich jedoch auch seine Stellung im System aller
möglichen Töne bezeichnet; das System der Töne erschöpft sich
in der Angabe der Klangfarbe, Höhe und Intensität. Es sind drei
Fragen, die ich an jeden Ton stellen muß, um seine Stellung im
System genau zu ergründen, eben die nach seiner Klangfarbe,
seiner Höhe und seiner Intensität.
Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß es Fragen verschiedener
Ordnung sind, die ich an eine Empfindung stelle, bis ich ihre
Eigenart erkenne. Zuerst frage ich nach dem Empfindungssystem,
dem meine Empfindung angehört; erst wenn ich weiß, daß die
betreffende Empfindung ein Ton ist, kann es sich darum handeln,
16*
244
Moritz Geiger,
zu bestimmen, von welcher Höhe, Klangfarbe nnd Intensität der
Ton ist. Wir dürfen erwarten, daß es bei den Gefühlen eben-
falls Gesichtspunkte verschiedener Ordnung sind, nach denen sie
sich gliedern. Weiterhin ist zu beachten: Die Aufzeigung der
Merkmale kann nach doppelter Methode geschehen, einmal durch
Ordnung der Merkmale nach Klassen und ferner durch Ordnung
der Merkmale nach Dimensionen. Die Ordnung nach Klassen ge-
schieht in der Weise, daß bestimmte, sich logisch oder empirisch
exkludierende Merkmale als Einteilungsprinzip zugrunde gelegt
werden, und von allen sonstigen Merkmalen der Objekte Abstand
genommen wird. So ist z. B. die Einteilung der Empfindungen
nach ihren Systemen eine Klasseneinteilung: hier sind die sich
empirisch ausschließenden Merkmale der Hörbarkeit, Sichtbarkeit,
Riechbarkeit usw. als Einteilungsprinzip genommen. Es werden
dann einfach alle hörbaren Empfindungen zu einer Klasse gesam-
melt, alle sichtbaren zu einer andern, usw.
Die Einteilung nach Dimensionen dagegen erfordert ein anderes
Einteilungsprinzip: es sind eine Reihe koordinierter Gesichts-
punkte notwendig, nach denen sich die Merkmale ordnen lassen.
Jeder Gegenstand, der unter die Klasse fällt, die dimensional
eingeteilt werden soll, muß sich unter jeden der aufgestellten
Gesichtspunkte bringen lassen, und zwar so, daß zu jedem Punkt
der einen Dimension ein Punkt der andern gehört. Eine solche
dimensionale Einteilung liegt vor bei Tönen und Farben. Bei den
Farben z. B. sind es die koordinierten Gesichtspunkte der Sätti-
gung, der Helligkeit und des Farbentons, die zur Dimensionsein-
teilung benutzt werden; es lassen sich beliebig irgendein Sättigungs-
grad, ein Farbenton und eine Helligkeit verbinden: es gibt im
Reich der Farben eine bestimmte Farbe, die den gestellten Be-
dingungen genügt. Die Dimensionseinteilung hat also gegenüber
der Klasseneinteilung einen beschränkten Geltungsbereich, da wohl
selten diese Zuordnung der Dimensionspunkte zu finden ist. Da-
gegen liegt bei Tönen und Farben der besondere Fall vor, daß
alle Merkmale sich dimensional ordnen lassen. Das braucht nicht
der Fall zu sein: es könnte z. B. sein, daß im Gelb die Farben
Merkmale hätten neben Sättigung, Helligkeit und Farbenton. Dann
behielten natürlich die Farbendimensionen ihr gutes Recht. Nur
müßten wir dann für jeden einzelnen Farbenton Gliederungen
höherer Ordnung eintreten lassen, die wiederum dimensionale oder
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Bemerkungen zur PsychotOgie der GefUhlselemente usw. 245
nach Klassen fortschreitende Gliederungen sein könnten. Eine
Dimensionseinteilung kann also absolut sein, wie sie bei Tönen
and Farben ist, aber auch partiell, nur auf einzelne Merkmale
aasgehend, während andere Merkmale sich nicht dimensional ord-
nen lassen. Auch innerhalb einer erschöpfenden Dimension kann
dann wiederum Klasseneinteilung Platz greifen usw., wie es ja
tatsächlich bei der Klangfarbe der Töne der Fall ist, wenn wir
die Klangfarben ordnen nach den Instrumenten, denen sie ihr Da-
sein verdanken.
Ferner sind zwei Arten von Dimensionen zu unterscheiden:
die kontinuierliche und die diskrete Dimension. Kontinuierlich ist
eine Dimension, wenn alle Merkmale, die sich zu einer Dimension
ordnen, eine kontinuierliche Reihe bilden, wie dies z. B. bei Inten-
sität und Höhe der Fall ist Die Dimension der Klangfarbe da-
gegen ist diskret. Es gibt keinen in den Empfindungen selbst
liegenden Grund zur Ordnung der Klangfarben in eine stetige
Reihe. Man könnte beliebig die Reihe Orgel-, Flöten-, Cello-, Geigen-
ton aufstellen, als auch irgendeine andere Permutation dieser Reihe,
wag natürlich die größere oder geringere Verwandtschaft einzelner
Klangfarben nicht ausschließt
Eine vollständige Ordnung der Merkmale der Gefühle schlösse
eine ausgeführte GefUhlslehre in sich. Nicht darum handelt es
sich hier, sondern nur um eine Aufzeigung der Gesichtspunkte,
nach denen sich die Merkmale ordnen lassen.
Die erste Ordnung der Gefühlselemente ist seit je eine Klassen-
ordnung oder, wenn man lieber will, eine Gruppenordnung. Die
Gefühle gehören entweder der Gruppe der Lust-Unlust-Gefühle,
der Gruppe der Erregungs-Hemmungs-Gefühle usw. an. Ich will
diese Einteilung als Einteilung der Gefühle nach ihrer Gefühls-
grnndlage bezeichnen. Sinnliche Lust, Trauer und Billigung,
Vergnügen und Schönheit haben also dieselbe Gefühlsgrundlage:
die der Lust-Unlust.
Die weitere Einteilung kann nach Dimensionen geschehen, und
zwar liegt bei den Gefühlen gegenüber den Empfindungen der
Unterschied vor, daß nicht wie dort die einzelnen Empfindungs-
klassen gesonderte Dimensionen haben, so daß die Gesichtspunkte
der einen Klasse nicht auf die der andern anwendbar sind, son-
dern die Dimensionen der Gefühle gelten für alle Gefühlsgrund-
lagen gleichmäßig. Es sind drei Dimensionen, nach denen sich
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246
Moritz Geiger,
die GeftihUelemente aller Gefühlsgrundlagen ordnen lassen: 1} nach
Intensität, 2) nach Richtungsbestimmtheit, 3) nach Gefühlscbarakter.
Die Intensität der Gefühle bedarf wohl keiner näheren Erläuterung.
Sie ist, wie alle Intensitätsdimensionen, kontinuierlich.
Die Richtungsbestimmtheit präzisiert das Gefühl in bezug auf
die Gegensätze, die innerhalb der Gefühlsgrundlage noch möglich
sind: Ein Gefühl von Lust-Unlust-Grundlage kann immer noch
Lust, Unlust oder Indifferenz sein. Demgemäß kennt die Rieh-
tungsbestimintheit nur drei verschiedene Stufen: Positivität, In-
differenz und Negativität. Die Billigung z. B. hat positive Rich-
tungsbestimmtheit in gleicher Weise wie die sinnliche Lust; die
Notwendigkeit hat, da ihre Grundlage die Hemmung ist, negative
Richtungsbestimmtheit, dagegen die Erregung positive. Die In-
differenz ist nicht etwa der Mangel eines Gefühls, sondern das
Vorhandensein eines positiven Gefühls der Gleichgültigkeit Und
zwar scheint mir die Selbstbeobachtung zu zeigen, daß jede Ge-
fühlsgrundlage ihr eigenes Indifferenzgefühl hat, daß Gleichgültig-
keit gegen Lust-Unlust anders geartet ist als gegen Erregung-
Hemmung. — Die Richtungsbestimmtheit ist eine kontinuierliche
Dimension. Sie führt von Positivität Uber Indifferenz zur Negativität.
Unter Gefühlscharakter soll die bestimmte Modifikation ver-
standen sein, die dem Gefühl einen eigenartigen Charakter gibt,
ohne ihm jedoch seine Einfachheit zu nehmen. So gehören z. B.
Lust und Billigung und Schönheit alle derselben Qefüfilsgmndlage
an, ebenso die Hemmung, Notwendigkeit und Wirklichkeit einer
andern. Wir wollen das, wodurch sie sich unterscheiden, als
ihren Gefühlscharakter bezeichnen.
Die Dimensionseinteilung der einzelnen Gefühlsgrundlagen ist
eine partielle. Es bleiben noch eine Reihe von Eigentümlichkeiten,
die sich nicht dimensional anordnen lassen. Z. B. geht dem Unter-
schied der Lust an rotem und an weißem Wein auf dem Gebiet
der andern Gefühlscharaktere, z. B. der Billigung, kein dement-
sprechender Unterschied parallel. Der Sachverhalt ist daher fol-
gender: Intensität, Richtungsbestimmtheit und Geftthlscharakter
sind innerhalb derselben Gcfühlsgrundlago streng dimensional.
Daneben sind aber noch Unterschiede vorhanden, die sich nicht
dimensional ausschöpfen lassen. Und zwar sind diese Unterschiede
als innerhalb des Gefühlscharakters liegend anzusehen, denn
diese Unterschiede ändern sich mit dem Gefühlscharakter. De
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Bemerkungen zur Psychologie der Geftihlselemente usw. 247
Geflihlscharakter als Ganzes ist demnach ein Dimensionsbegriff wie
die Klangfarbe, aber anch wie diese zugleich ein Klassenmerkmal,
wenn wir die einzelnen Gefühlscharaktere betrachten. Denn alle
Gefühle haben irgendeinen Geftthlscharakter, sowie jeder Ton
irgendeine Klangfarbe hat Aber so wie die Klangfarben selbst
sich wieder zu Klassen zusammenschließen (Geigen-, Trompeten-
klangfarben), so anch die Gefühlscharaktere.
Jeder Geftthlscharakter für sich läßt sich nnn wiederum di-
mensional zerlegen. Und zwar schwankt die Zahl der Dimen-
sionen von Charakter zn Charakter. Vorkommen können, soviel
ich sehe, vier Dimensionen innerhalb des Geftthlscharakters :
erstens die Gefühlsmodulation, zweitens die Gefühlsfärbung, drit-
tens die Gefühlsbetonung, viertens die Gefühlsnuance.
Es wurde oben schon darauf hingewiesen, daß die Notwendig-
keit niemals bloße Notwendigkeit, sondern stets subjektive oder
objektive Notwendigkeit ist. Der Gefühlscharakter (die Notwendig-
keit) ist in beiden Fällen derselbe; was sich ändert, ist eine Mo-
difikation des Gefühls, die ich als Geftthlsmodulation bezeichnen
will. Dabei heiße in Hinsicht auf die Geftihlsmodulation der Ge-
fühlscharakter (Notwendigkeit z. B.) das modulierte Gefühl (rich-
tiger Gefühlsbestandteil), der andere Bestandteil (die Subjektivität
also) das modulierende Gefühl. Ein anderes Beispiel für das
modulierende Gefühl wäre z. B. die Aktivität im aktiven Streben.
Psychologisch steht die Sache so, daß das modulierte Gefühl
das Wesentliche, das modulierende das Hinzutretende ist. Die
modulierenden Gefühle bewegen sich in Gegensätzen (Aktivität und
Passivität, Subjektivität und Objektivität). Ein moduliertes Ge-
fühl kann mehrere modulierende Faktoren haben (Aktivität und
Subjektivität z. B.), niemals aber umgekehrt. — Da nur eine Zwei-
heit der Differenzierung der Merkmale besteht, so hat die Frage
nach der Kontinuität der Dimension keinen Sinn.
Zweitens können Begehren, Verlangen, Wünschen usw. ein-
fache Gefühle sein. Das tut der Kompliziertheit ihres Entstehens
und ihrer Vorstellungsgrundlage keinen Eintrag. Sie sind, um
einen später zu gebrauchenden Ausdruck vorwegzunehmen, Ver-
schmelzungsgefühle. Sie haben alle den gemeinsamen Gefühls-
charakter des Strebens. Die Modifikation, durch die sie sich
unterscheiden, wollen wir die Gefühlsfärbung nennen. Gefühla-
lärbung des Charakters der Wirklichkeit wäre z. B. das Bewußtsein
248
Moritz Geiger,
der Wirklichkeit so gut wie das der Möglichkeit. Die Gefühls-
färbung ist eine diskrete Dimension.
Drittens das Lustgefühl beim Anhören eines hohen Tons ist
anders als das beim Anhören eines tiefen. Jener zeichnet sich
(siehe Lipps, Psychologische Studien) durch Einfachheit, Spitz-
heit usw. aus, dieser durch Breite, Tiefe, in manchen Fällen viel-
leicht durch Reichtum. Derartige Modiiikationen des Gefühls
seien als Gefühlsbetonungen bezeichnet. Die Gefühlsbetonungen
haben die Eigentümlichkeit, gleichen Namen mit sehr komplexen
Gefühlsverbindungen, wie etwa den Gefühlen des Reichtums,
zu tragen. Ich hatte ja in dem Beispiel die Geftthlsbetonungen
boschrieben, indem ich sie als Reichtum, Einfachheit usw. be-
zeichnete; ich gab also zu ihrer Beschreibung Namen an, die sehr
komplexen Gefühlen zukommen. Es liegt das daran, daß die
Sprache nach praktischen Bedürfnissen ihre Bezeichnungen wählt
Da für ihre Bedürfnisse die komplexen Gefühle zunächst in Be-
tracht kommen, so bedeutet Reichtum usw. zunächst nicht die
Gefühlsbetonung, sondern das komplexe Gefühl. In der Tat liegt
es jedoch so, daß für diejenige Art der Gefühlsbetonung, die bei
der entsprechenden Gefühlsverbindung besonders heraustritt, bei
den einfachen Gefühlen der Name des betreffenden komplexen
Gefühls eintritt.
Unter der vierten Dimension, der Geftlhlsnuance, fassen wir
all die kleinen Unterschiede der einfachen Gefühle zusammen, die
keinen sprachlichen Ausdruck gefunden haben. Es gehören hierher
z. B. die verschiedenen Arten der sinnlichen Lust, wie sie durch
die Verschiedenheit der Vorstellungsgrundlage bedingt sind, z. B.
die Unterschiede der Lust beim Verzehren einer Frucht und beim
Trinken eines Glases Wein. Es erscheint notwendig, diese vier
Dimensionen, deren Unterschiede wir uns bis jetzt vor allem au
Beispielen klargemacht haben, auch theoretisch durch Angabe
ihrer Besonderheiten festzulegen. Für die Gefühlsmodulation ist
das bereits geschehen: sie ist ausgezeichnet durch die Bewegung
in Gegensätzen und ferner dadurch, daß das modulierende Gefühl
als Bestimmung des modulierten (Subjektivität als Bestimmung der
Notwendigkeit) erscheint, während z. B. bei den andern Dimen-
sionen die Dimension als Charakteristikum des ganzen Gefühls-
elements aufzufassen ist, — z. B. ist die Geftihlsfärbung im »Ver-
langen« eine Färbung des Gesamtgeftlhls des Verlangens.
Bemerkungen zur Psychologie der Gefühlselemente uaw. 249
Auf einem andern Gebiet liegen die Unterschiede von GefÜhls-
betonnng, Gefühlsfarbung und GefÜhlsnuance.
Für die Gefühlsbetonungen charakteristisch ist, daß sie nur als
Gefühlsseite gegenständlicher Bestimmungen erscheinen; sie sind
zwar ihrer Gefühlsseite nach Merkmale des Elements, dem sie
zugehören, ihrer gegenständlichen Seite nach aber vollkommen selb-
ständige Bestimmungen des Gegenstandes. So ist der Ton breit,
spitz, reich, wenn auch die Gefühle der Breite, der Spitzheit, des
Reichtums nur Merkmale des Tongefühls sind.
Die Geftthlsnnancen nehmen eine Zwischenstellung ein: sie
verdanken ihr Dasein der Individualität des Gegenstands, etwa
dem Umstand, daß der Wein ein bestimmter Rotwein ist, und
diese Beziehung der GefÜhlsnuance zum Gegenstand wird auch
unmittelbar erkannt; aber dennoch werden sie keineswegs als
Bestimmtheiten des Gegenstands angesehen: z. B. dieser Rotwein
schmeckt anders als jener Weißwein, das bedeutet nicht, daß
irgendeine Bestimmtheit am Rotwein, sondern daß seine Gefühls-
wirkung auf mich eine andere ist.
Übrigens können all diese Angaben von Eigenschaften der
Dimensionen nur Hinweise sein. So wenig es etwa möglich ist,
Sättigung, Helligkeit und Farbenton nur durch Definitionen ohne
Anschauung dem Verständnis näher zu bringen, so wenig ist es
bei den Dimensionen des Gefühlscbarakters möglich. Das einzige,
was geschehen kann, ist, durch eine Abgrenzung der Eigenschaften
der Dimensionen auf sie hinzuweisen.
Wir haben also die GefÜhlselementc in ihren Merkmalen fol-
gendermaßen bestimmt: Die Gefühle unterscheiden sich nach Ge-
fühlsgrundlagen. Innerhalb jeder Grundlage ordnen sie sich nach
Intensität, Richtungsgegensatz und GefÜhlscharakter. Innerhalb des
Gefühlscharakters eventuell nach Gefühlsmodulation, Gefühlsfär-
bung, Gefühlsbetonung und Gefühlsnuance.
Um ein Beispiel herauszugreifen: Das Gefühl beim starken
Hinsehen nach einem Gegenstand etwa gehört der Gefühlsgrund-
lage der Spannung-Lösung an. Seiner Intensität nach ist es nicht
genau angebbar, aber jedenfalls am von 0 abgewandten Ende der
Skala, seine Richtungsbestimmtheit ist positiv (Spannung), sein
GefÜhlscharakter Streben. Sein Gefühlscharakter ist näher be-
stimmt durch die Merkmale der Aktivität (Gefühlsmodulation);
denn es ist ein Streben, bei dem keineswegs vom Gegenstand
250
Moritz Geiger,
meine Aufmerksamkeit auf sich gezogen wird, sondern bei dem
ich meine Aufmerksamkeit auf den Gegenstand richte. Zu den
Gefühlsbetonungen wären die Unterschiede des StrebensgefÜhls zu
rechnen, die sich auf die Seite am Gegenstand, die erstrebt wird,
beziehen. Es käme hier als Gefühlsbetonung also in Betracht,
daß es apperzeptives Streben ist, das hier vorliegt, daß die Ap-
perzeption des Gegenstandes erstrebt wird. Als GefÜblsfärbnng
wäre die Entschiedenheit des Strebens anzusehen und als Gefthls-
nuance diejenigen Merkmale am Streben, die bestimmt sind durch
die Individualität des Gegenstandes, den ich betrachte.
3) GefUhlsverbindung und Gefühlskombination.
Wir haben festgesetzt, was im folgenden als Geftiblselement
betrachtet werden soll. Jetzt taucht das neue Problem auf, in
welcher Weise in der einheitlichen Geftihlslage jedes Moments
die Elemente enthalten sind.
Die Frage erscheint nicht überflössig, wenn man bedenkt, daß
die Geflthlslage eine Einheit, ein Totalgefühl ist, in dem sich die
einzelnen Gefühle nicht getrennt befinden. Drei Momente sind es,
die uns die Herauslösung der Gefühlselemente möglich machen:
zwei unmittelbare und ein mittelbares.
Zunächst ist eine erste Erkennung von Unterschieden im Total-
gefühl dadurch möglich, daß die Einheit der Gefühlslage sich un-
mittelbar in einer einzigen Gefühlsgrundlage kundgibt, daß das
Totalgefühl als Lust oder Unlust, Erregung oder Beruhigung erlebt
wird. Das bedeutet für das Gefühl: Unter den verschiedenen
Gefühlselementen, die im Totalgefühl eines Moments enthalten
sind, dominieren Elemente einer Gefühlsgrundlage Ist das
Geflihl im Moment darauf gegenständlich geworden, so wird die-
jenige Gefllhlsgrundlage, die im Erleben dominierte, apperzeptiv
herausgehoben sein und dadurch von dem Hintergrund des Total-
gefühls gesondert werden, so daß sie gesondert erkannt werden kann.
Das zweite Moment ist die Beziehung der Gefühle auf Gegen-
stände. Diejenigen Partialge ftihle, die sich auf Gegenstände be-
ziehen, sind als solche aus der Gesamtheit des Totalgefühls her-
ausgehoben und werden dadurch gesondert erkannt. Wenn sich
auch alle PartialgefÜhle irgendwie auf Gegenstände beziehen, so
1) Vgl. Wundt, Grundriß der Psychologie, den Abschnitt: Die zu-
sammengesetzten Gefühle.
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Bemerkungen zur Psychologie der Gefiihlseleuiente usw. 251
stehen doch die meisten dieser Gegenstände keineswegs im Mittel-
punkt dieser Apperzeption. Wenn ich z. B. ein Haus betrachte,
so ist meist nnr das Hans zentral apperzipiert; die Gemeinempfin-
dnngen, die ich gleichzeitig habe, treten apperzeptiv zurück. Es
gilt nun der Satz, daß diejenigen Gefühle, die auf apperzeptiv
herausgehobene Gegenstände bezogen sind, durch diese Beziehung
aus der Gesamtheit des Totalgefuhls sich loslösen, so daß sie ge-
sondert erkannt werden können.
Dazu kommt ein drittes, mittelbares Moment:
Kehrt irgendein Gefllhlsmoment wieder, das vorher entweder
dominierte oder auf eine apperzeptiv herausgehobene Vorstellung
bezogen war, so braucht jetzt zwar keine dieser isolierenden Be-
dingungen vorzuliegen. Dennoch vermögen in der retrospektiven
Analyse die Dispositionen der früheren Elemente die ihnen gleich-
artigen des jetzigen Gefühls herauszuheben und dadurch erkenn-
bar zu machen.
Die so herausgesonderten Gefiihlselemente sind jedoch tatsäch-
lich niemals gesondert vorhanden, sondern stets untereinander
zu engeren oder loseren Verbindungen verknüpft.
Eine Lehre von den Verbindungen der Gefühle kann auf die
verschiedenste Weise gegeben werden.
Man kann einmal untersuchen, wie sich die Gefühle durch ihre
zeitliche Aufeinanderfolge zusammensetzen, wie zusammengehörige
Gefühle einen einheitlichen Geftihlsverlauf bilden. Das geschieht
in der Lehre von den Affekten und den WillensvorgUngen. Hier
soll uns der zeitliche Verlauf der Gefühle, ihre Zusammensetzung
zu Gefühlsprozessen nicht interessieren. Wenn Affekte in Betracht
gezogen werden, so soll weder die Art ihres An- und Absteigens
betrachtet werden, noch die Aufeinanderfolge verschiedener Ge-
fühle, sondern einzig und allein die qualitative Zusammensetzung
ihres Grundcharakters, wie etwa bei der Hoffnung die Erregung
und die Lust usw.
Ferner wäre eine Lehre von der Verbindung der Gefühle mög-
lich, indem man sie in ihrer Abhängigkeit von der Gegenstands-
seite des Bewußtseins betrachtet, z. B. die qualitative Veränderung
der Gefühle und ihrer Verbindungen feststellt bei Änderong der
Vorstellung88eite usw.
Und endlich ist eine Lehre von der Verbindung der Gefühle
denkbar, die nur die GcfUhlsseite betrachtet und und sich damit
252
Moritz Geiger.
beschäftigt, wie die PartialgefUhle eines Moments sich vereinheit-
lichen zu dem einheitlichen Totalgefühl eines Moments. Mit diesem
Problem hat sich Wundt1) beschäftigt und zur Orientierung Par-
tialgcfuhle verschiedener Ordnung eingeführt.
Dasselbe Problem soll uns von einer etwas andern Seite her
ebenfalls beschäftigen. Aus dem allgemeinsten Problem die Ver-
bindungen der Gefühle im TotalgefUhl aufzuzeigen, greifen wir
ein spezielleres heraus.
Der Aufbau des Totalge flihls aus den Partialgefühleii nämlich
ist teilweise der Aufbau eines Einheitlichem aus zufällig Zusammen-
getroffenem. Ich rieche zufallig Leuchtgas und höre eine Melodie.
Die > Seele nimmt Stellung« zu beiden Eindrücken, d. h. beides
erzeugt Gefühle in mir, und da diese Gefühle zufällig gleichzeitig in
mir sind, so wirken sie beide mit zum Aufbau eines TotalgefUhls.
Es gibt aber eine Reihe von Gefühlen, deren gleichzeitiges
Vorhandensein kein zufälliges ist; die Gefühle stehen in irgend-
welcher Beziehung zueinander, schon durch die Bedingungen ihres
Entstehens. Beide beziehen sich z. B. auf denselben Gegenstand.
Wenn mich etwas angenehm überrascht, so ist nicht zufällig ein
Gefühl der Lust und auch ein Gefühl der Überraschung vorhanden,
sondern dasselbe, das mich überraschte, war mir auch lustvoll.
Überall, wo eine Beziehung zwischen zwei gleichzeitigen Ge-
fühlen durch ihre Entstehuugsbedinguugen vorhanden ist, mag
diese Beziehung seiu, welche sie wolle — das ist die exaktere
Bezeichnung dessen, was oben mit »uicht zufällig« bezeichnet
worden ist — , bilden diese Gefühle innerhalb des Ganzen des
TotalgefUhls ein Ganzes für sich. Wir wollen nur diese zusam-
mengehörenden Totalgefühle innerhalb des Gefühlsganzen eines
Moments als Gefühlsverbindungen bezeichnen, während wir
die sonstigen Verbindungen der Gefühle mit dem Ausdruck Ge-
fühlskombinationen benennen wollen.
Übrigens kann die Geftlhlskombination unter Umständen sehr
wohl eine engere Verbindung von Gefühlen darstellen als die
Gefühlsverbindung, zumal wenn die gegenständlichen Inhalte, auf
die sich die Gefühlskombiuation aufbaut, selbst schon verwandte
Momente in sich enthalten. — Es gibt z. B. wohl keine Gefühls-
verbindung, die enger ist. als die GcfUhlskombination, die zustande
1 Grundztige der Physiol. Psych. Bd II, S. 341.
Bemerkungen zur Psychologie der GefUhlseleraente usw. 253
kommt durch die Unsumme innerer Empfindungen, die in jedem
Moment des Lebens vorhanden sind, — das Gemeingefühl. Trotz-
dem bezeichnen wir diese Verbindung der Gefühle, die den eigent-
lichen Gefühlshintergrund des Moments bildet, nicht als Gefühls-
Verbindung, sondern als Gefühlskombination, da weder die Inhalte,
die die Grundlage des Gemeingeftihls bilden, noch die Gefühle
selbst in irgendwelcher sachlichen psychologischen Beziehung in
bezug auf ihr Auftreten stehen oder wenigstens zu stehen brauchen.
Überaus lose dagegen ist rein phänomenologisch die Verbindung
der Gefühle im Gefühl einer neuen Möglichkeit. Dennoch liegt
hier eine Gefühlsverbindung vor, denn es ist nicht zufällig ein
Gefühl der Neuheit und ein Gefühl der Möglichkeit vorhanden,
sondern »die Möglichkeit ist neu«. Was das heißt, wird später
besprochen werden.
Wie man sieht, ist bei dieser Einteilung der Verbindungen der
Gefühle der rein phänomenologische Gesichtspunkt, der bei der
Abgrenzung des Gefühlselements wie der Einteilung der Eigen-
tümlichkeit der Gefllhlselemente maßgebend war, verlassen und
auf die Bedingungen des Entstehens der Verbindungen eingegangen
worden. Denn die Scheidung zwischen Gefühlsverbindung und
Gefühlskombination geschieht unter Rücksichtnahme auf die Ent-
stehung der Gefühle. Natürlich stehen beide Gesichtspunkte im
engsten Zusammenhang; es ist ja selbstverständlich, daß der
Charakter der Vorstellungsgrundlage des Gefühls mit ausschlag-
gebend ist für den Charakter der Verbindung der Gefühle im Total-
gefühl. Im folgenden wird stets das Hauptgewicht auf das
Phänomenologische gelegt werden, die Aufzeigung der Entstehungs-
bedingungen jedoch als Hilfsprinzip zur Ordnung der Verbindungen
im einzelnen herangezogen werden.
Der Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist nur die Unter-
suchung der Gefühlsverbindungen, nicht der GefUhlskombinationen.
Die Problemstellung lautet also: Welche Gefühls Verbindungen
entstehen, wenn Gefühlselemente gleichzeitig gegeben
sind, deren Entstehungsbedingungen im Zusammenhang
stehen?
Diese Problemstellung hat immer noch einen doppelten Sinn,
einen materialen und einen formalen. Es könnten alle GefÜhls-
Terbindungen ihrem Inhalte nach in systematischer Übersicht auf-
gezeigt werden. Oder es könnten auch nur die Formen der
Digitized by Google
254
Moritz Geiger,
Gefühlsverbindungen angegeben werden; es könnte dargetan werden:
welche, nicht ihrem Inhalt, sondern ihrem Verbindungscharakter
nach verschiedene Verbindungen die Gefühle eingehen können.
Die einzelnen GefUhlsverbindungen würden hier ihren GefÜhla-
elementen nach nur beispielsweise namhaft zu machen sein.
In dieser Arbeit soll nur das letztere Problem, das formale,
behandelt werden, das natürlich mit dem materialen zusammen-
hängt. Also nicht, welche Gefühle sich miteinander verbinden,
sondern wie sich Gefühle miteinander verbinden, soll in den Vor-
dergrund des Interesses treten.
4j Verbindungsgefühle und GefUhlsverbindungen ver-
schiedener Ordnung.
GefUhlsverbindungen kommen zustande, wenn für die Entste-
hung mehrerer Gefühle Bedingungen vorhanden sind, die in irgend-
welcher sachlichen Beziehung stehen.
Der rein theoretische Gesichtspunkt, der hier für die Definition
der Gefühlsverbindung herangezogen ist, deckt sich nicht ohne
weiteres mit dem phänomenologischen Tatbestand, den wir unter-
suchen wollen. Denn von diesem rein theoretischen Gesichtspunkt
aus müßten sehr viele elementare Gefühle Gefühlsverbindungen
sein. Nehmen wir einmal an, ein Eindruck trage als solcher
Bedingungen der Lust in sich. Es gehen ihm außerdem andere
unangenehme Eindrücke voraus. Es wird dann durch den Kon-
trast der Vorstellungen, wie wir kurz, aber ungenau sagen können,
eine neue Bedingung für Lust geschaffen. Es sjnd Talso. zwei
Bedingungen für Lust, die eine durch den Eindruck als solchen,
die andere durch den Kontrast, gegeben. Das Bewußtseinsergebnis
sind aber nicht etwa zwei Lustgefühle, sondern ein besonders
intensives Lustgefühl. Wird man etwa dieses intensive Lustgefühl
als eine Gefühlsverbindung bezeichnen wollen? Dann gäbe es
wohl kaum ein Gefühl, dem man diese Bezeichnung vorenthalten
dürfte, denn jedes Gefühl kommt durch Zusammenwirken sehr
verschiedenartiger Bedingungen zustande. Wir müssen also zu
dem theoretischen Gesichtspunkt in der Definition noch einen phä-
nomenologischen hinzufügen, der dem Bewußtseinsphänomen der
Gefühlsverbindung gerecht wird. Eine Gefühls Verbindung kann
sich im Bewußtsein nur durch das Vorhandensein mehrerer gleich-
zeitiger Gefühle kundgeben. Zu einer Gefühlsverbindung gehört,
L
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Bemerkungen zur Psychologie der Gefithlselemente usw. 255
daß mehrere bewußt vorhandene Gefühle eine Gefühlseinheit bilden.
Die Gefühls Verbindung umfaßt also mindestens drei Bestandteile:
mindestens zwei bewußte PartialgefÜhle und ein Totalgefühl, das
mehr ist, als die Summe der einzelnen PartialgefUhle, vielmehr
eine höhere Einheit, die beide zusammenhält. Natürlich können
diese verschiedenen Gefühle nur zustande kommen, wenn auch
verschiedene Bedingungen für sie vorhanden sind. Und diese
Bedingungen müssen in Beziehung stehen, wenn wir von einer
Gefühls Verbindung und nicht von einer Gefühlskombination reden.
Aber umgekehrt können, wie wir eben sahen, verschiedene Be-
dingungen für Gefühle sehr wohl ein einheitliches Gefilhl hervor-
bringen, ein Gefühl, das vom phänomenologischen Gesichtspunkt
aas elementar ist. Wenn dies der Fall ist, wenn verschieden-
artige Gefühlsbedingungen ein einheitliches Gefühl hervorbringen,
so werden wir im folgenden stets nicht von einer Gefühlsverbin-
dung, sondern von einem Verbindungsgefühl reden. Wann
eine Mehrheit von Bedingungen ein einziges Verbindungsgefühl
and wann sie eine Gefühlsverbindung hervorruft, das hier zu unter-
suchen würde zu weit führen. Die Abgrenzung der Gefühlsver-
bindung geschieht demnach durch ein rein phänomenologisches und
durch ein theoretisches, d. h. auf die Entstehungsbedingungen re-
kurrierendes Merkmal. Die Beziehung der GefUhlsbedingungen
zueinander ist das theoretische, das Vorhandensein von Totalgefuhl
mit Partialgeflihlen das phänomenologische Merkmal. Die Kreu-
zung dieser Gesichtspunkte zeigt folgendes Schema:
Es sind gegeben zwei Bedingungen für Gefühle. Sie stehen
der Entstehung nach:
In keinem Zu-
sammenhang :
Im Zusammen-
hang:
Ein Gefühl:
Sie bewirken
Verbindungs-
gefühl.
phänomeno- < Ein Totalge-
logisch fohl mit Par-
tialgefühlen:
Gefühlskom-
bination
Geftihlsver-
bindung.
Das Verbindungsgefühl ist also ein elementares Gefühl unter
dem Gesichtspunkt seines Entstehens aus einer Mehrheit von Ge-
fühUbedingungen. Es wird uns daher nur insoweit beschäftigen,
Moritz Geiger,
als es im ganzen der Untersuchung, die den Gefühlsverbindungen
gewidmet sein soll, erforderlich scheint.
Unter den Formen der Gefühlsverbindung soll uns jedoch nur
ein bestimmter Teil beschäftigen, nämlich nur die einfachsten. Das
GefUhl freudiger Überraschung z. B. ist aus einer ganzen Reibe
von Geftihlselementen zusammengesetzt, aus Gefühlen der Lost,
der Hemmung, der Spannung usw. Eine vollkommene Analyse
der Geftlhlsverbindung wäre erst dann gegeben, wenn gezeigt
wäre, wie die HemmungsgefÜhle mit den Spannungsgeftlhlen ver-
bunden sind, jedes von diesen mit der Lust usw., und wie aus
allem dem eine Einheit entsteht. Das ergäbe natürlich eine Verbin-
dung sehr komplizierter Form.
Wir vereinfachen uns die Untersuchung in dreifacher Weise:
Einmal betrachten wir diese Gefühlsverbindungen stets nur, inso-
weit sie die Verbindungen zweier Gefühle sind, etwa Lust mit
Erregung usw. Ferner gehen wir dabei nicht auf die Verbin-
dungen von Gefühlselementen zurück; vielmehr genügt es uns,
die Verbindung zweier Gefühle festzustellen {ohne Rücksicht darauf,
ob sie elementar sind oder nicht), wenn ihre Verbindung über-
haupt im Totalgefühl gesondert betrachtet werden kann. Wir
betrachten daher das Gefühl freudiger Überraschung als eine Ver-
bindung von Lust mit Überraschung, obwohl die Überraschung
selbst eine Gefühlsverbindung ist.
Drittens betrachten wir die Verbindungen von mehr als zwei
Elementen dann als einfache Geftlhlsverbindung, wenn diese Ge-
fühle nicht mehr als zwei Arten von Verbindungswerten in sieb
enthalten, d. h. wenn ein PartialgefÜhl dominierend heraustritt,
und alle andern PartialgefÜhle in gleicher Weise sich mit den
ersten verbinden. Die Überraschung mag z. B. eine Verbindung
von sehr vielen Gefühlen sein, es tritt doch nur eine Geftthlsgrund-
lage, die der Hemmung, deutlich heraus, alle übrigen sind zwar
herausanalysierbar, treten aber in gleicher Weise hinter dem
dominierenden Gefühl zurück. Wir betrachten also die Uber-
raschung als eine Verbindung von Gefühlen der Hemmung mit
einer Einheit anderer Gefühle und fassen deshalb die Überraschung
als einfache Geftlhlsverbindung auf.
Die so abgegrenzten Gefühlsverbindungen bezeichnen wir als
einfache Geftihlavcrbindungen oder als Geftlhlsverbindungen erster
Ordnung. Sie sind natürlich nur Abstraktionen aus den tatsäcb-
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Bemerkungen rar Psychologie der GefÜhtoelemente usw.
257
lioh vorhandenen weit komplizierteren Gefühls Verbindungen. Ein
Gefühl freudiger Überraschung wäre also tatsächlich mindestens
eine GefUhlsverbindung zweiter Ordnung. Sie wäre eine Verbin-
dung von HemmungsgefUhlen, einer Reihe anderer für die Art
ihrer Verbindung gleichwertiger Gefühle, und Lustgefühlen. Wir
betrachten sie jedoch hier nur unter dem Gesichtspunkt der Ver-
bindung erster Ordnung. Sie enthält dann zwei Verbindungen
erster Ordnung: die Verbindung der Partialgefuhle zur Überra-
schung und die Verbindung von Lust mit Überraschung.
Dieser Gesichtspunkt zur Einteilung der Gefühlsbedingungen
erster, zweiter, dritter Ordnung deckt sich also keineswegs mit
den Wun dt sehen Partialgefuhlen erster, zweiter usw. Ordnung.
Bei den Ordnungen der Partialgefuhle ist der synthetische Gesichts-
punkt maßgebend. Wun dt fragt: Wie setzen sich die letzten
Elemente der Gefühle, die sich in diesem Sinne nicht vollkom-
men mit den von uns definierten Elementen decken, zusammen?
Und je mehr Elemente in dem Gefühl enthalten sind, desto höherer
Ordnung ist es. Umgekehrt kommt es bei der Ordnungszahl der
Gefühlsverbindungen gar nicht auf die Zahl der Elemente im be-
trachteten Gefühl an, sondern es wird vom zusammengesetzten
Gefühl aus gerechnet, in wieviel Bestandteile ich es zerlege, und
danach die Ordnung gezählt.
Ein Vergleich macht das deutlich: Angenommen, ein Stück
Papier bestünde aus einer Million Atome, so könnte ich das
Papier als eine Verbindung von Atomen »millionter Ordnung«
ansehen. Nun kann ich aber auch das Papier in zwei Teile zer-
reißen; dann ist das Stück Papier eine Verbindung von Teilen
erster Ordnung; zerreiße ich es in drei Teile, von Teilen zweiter
Ordnung, usw. Die Parallele zu der Ordnung der GefÜhlsverbin-
dungen und der Partialgefuhle ist leicht zu ziehen. Die GefÜhls-
?erbindungen zählen ihre Ordnung von oben, die PartialgefÜhle
von unten.
Es ist ein rein praktischer Grund, der zu dieser Bestimmung
der Gefühlsverbindung und ihrer Ordnung führt. Wo es sich um
die Abhängigkeit eines Gefühls von einem Dreiklang handelt, ist
die Bestimmung der Ordnung des PartialgefÜhls relativ leicht, und
hier ist es unnötig, die Gefühlsverbindungen heranzuziehen. Aber
etwa anzugeben, ein PartialgefÜhl wievielter Ordnung das Gefühl
der Tragik ist, dahin wird die Psychologie wohl nie gelangen.
ArckiY f&r Psychologie. IT. 17
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258
Moritz Geiger,
Deshalb empfiehlt sich für kompliziertere Verbindungen der um-
gekehrte Weg, der von oben nach unten.
5) Einige Prinzipien der Untersuchung von Partial-
gefuhlen.
Wundt*) gibt für das Verhältnis der Totalgefühle zu den
Partialgefuhlen zwei Prinzipien an: das Prinzip der Abstufung der
Elemente und das Prinzip der Wertgröße des Ganzen.
Das Prinzip der Abstufung der Elemente besteht in der Tat-
sache, daß in jedem zusammengesetzten Totalgefühl ein Partial-
gefühl dominiert, das dem Gefühl seinen Grundcharakter gibt, der
durch die übrigen PartialgefÜhle nur mehr oder minder modifiziert
wird. — Das Prinzip der Wertgröße des Ganzen besteht darin,
daß sich ein Totalgefühl niemals bloß aus der Summe der Par-
tialgefÜhle zusammensetzt, in die es zerlegt werden kann, sondern
daß es dazu noch einen wesentlichen Gefühlswert hinzubringt. —
Diese beiden Prinzipien sind auch für unsere Untersuchung wesent-
lich. Denn das erste Prinzip macht es uns zur Aufgabe, anzu-
geben, welches der beiden von uns untersuchten PartialgefÜhle
dominiert, oder ob es vielleicht ein drittes Partialgeftlhl ist, das
wir zunächst bei der Untersuchung der betreffenden Gefühlsver-
verbindungen außer acht ließen.
Das zweite Prinzip leistet uns wesentliche Dienste, wo es gilt,
festzustellen, ob eine Gefühlsverbindung oder ein Verbindungsgefühl
vorliegt. Liegt das erstere vor, so müssen PartialgefÜhle und
Totalgefühl nachweisbar sein. Beim letzteren ist nur ein Total-
gefühl vorhanden, das ja nach einer andern Richtung hin als der
untersuchten dennoch zusammengesetzt sein kann.
Ferner ist wichtig: Es handelt sich hier um eine Untersuchung
und eine Einteilung von psychischen Gegenständen. Die Aufgabe
ist eine rein morphologische. Gesetzmäßigkeiten und Abhängig-
keiten haben hier nur sekundäres Interesse. Deshalb dürfen wir
Uberall, wo wir Erscheinungen begegnen, die wir der Wirksamkeit
von Bedingungen des psychischen Mechanismus zuschreiben dürfen,
diese Erscheinungen — abgesehen von ihrer morphologischen Seite
— außer acht lassen.
Im übrigen soll auch, abgesehen von allen Einschränkungen,
die gemacht wurden, die Arbeit nicht erschöpfend sein. Es soll
1 Wundt, GrundzUge der Phyeiol. Psych. Bd. II, S. 346.
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I
Bemerkungen zur Psychologie der GefUhleeleinente ubw.
259
kein vollkommenes System der Formen der GefÜhlsverbin düngen
gregeben werden , sondern einzelne häufigere Formen aufgezeigt
und einige Gesichtspunkte zu ihrer Einteilung bezeichnet werden.
Naturgemäß wird die Analyse der als Beispiele herangezogenen
Gefühle eine oberflächliche sein; denn es wird niemals darauf an-
kommen, weder das einzelne Gefühl erschöpfend zu analysieren,
noch die analysierten Gefühle auf ihre Bedingungen hin zu unter-
suchen, sondern es genügt, da der Zweck ein phänomenologischer
ist, stets das einfache Aufzeigen der GeftLhlsbestandteile, die für
den vorliegenden Zweck wichtig sind.
♦
n. Abschnitt:
Die Formeil der Gefühlsvcrbindungen erster Ordnung.
1) Die Einteilung der Gefühle.
Zu Beginn des vorigen Abschnitts war mit ein paar Worten
die Einteilung der Gefühle gestreift worden. Dort hatte es sich
um die Gefühlselemente gehandelt, und wie sie am zweckmäßig-
sten zu ordnen seien. Wir treten jetzt unter einem ganz andern
Gesichtspunkt an die Gefühle heran: Wir suchen charakteristische
Formen der Gefühlsverbindung, und da ist es notwendig, die Ge-
fühle so zu gliedern, wie es für das vorliegende Problem am
zweckmäßigsten ist. Hier ist die Einteilung nach Gefühlselementen
oder nach Gefühlsmerkmalen nicht zweckmäßig, da Gefühle, die
zu einer Elementengruppe gehören, je nach ihren sonstigen Eigen-
tümlichkeiten einen ganz verschiedenen Verbindungscharakter haben.
Es ist z. B. klar, daß das einfache Gefühl der Hemmung und das
Gefühl der Notwendigkeit, die beide dieselbe Gefühlsgrundlage,
nämlich die der Hemmung, haben, auf ganz verschiedene Weise
mit andern Gefühlen sich verbinden. Es müssen also Gesichts-
punkte gesucht werden, die diejenigen Momente aufzeigen, die in
bestimmter Weise den Verbindungscharakter beeinflussen, und
diesen Gesichtspunkten gemäß müssen wir eine Einteilung der
Gefühle geben, — sollte Bich selbst herausstellen, daß für .eine
allgemeine Systematik der Gefühle unsere Einteilung unzweck-
mäßig wäre.
Hier ist ein Gegensatz wichtig, der sich durch das ganze Ge-
fühlsleben zieht, und den wir schon oben kurz gestreift haben.
17*
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260
Moritz Geiger.
Eine Reihe von Gefühlen bezieht auch das unmittelbare Bewußt-
sein auf das fühlende Subjekt: Ich bin lustgestimmt oder unlust-
gestimmt, erregt oder ruhig, wollend, befriedigt usw. Dabei kann
es natürlich dennoch ein Objekt sein, das mich angenehm be-
rührt, erregt usw. Aber die Lust wird nicht als eine Bestimmung
des Objekts, sondern als eine Bestimmung meiner angesehen.
Dagegen gibt es eine Reihe anderer Gefühle, die erst eine
eingehende psychologische Analyse als Gefühle erkennt. Für
das unmittelbare Bewußtsein ist die Ähnlichkeit z. B. nichts
als eine Bestimmtheit am Gegenstand: Die Dinge sind ähnlich,
verschieden, ein Geschehen ist notwendig, möglich und wirklich,
ein Gegenstand ist neu; nicht ich bin neu, notwendig oder ähnlich!
Dennoch liegen auch in diesen Fällen wie im Bewußtsein der
Ähnlichkeit usw. Gefühlstatbestände vor: auch sie enthalten eine
Art, wie ein Ding mich anmutet, und deshalb müssen wir ein Gefühl
der Ähnlichkeit, der Wirklichkeit annehmen, das auch von denen
anerkannt werden muß, die behaupten, daß neben diesem Gefühls-
tatbestand in der Ähnlichkeit andere Momente wesentlicher sind.
Dabei liegt die Sache nicht so, wie man geneigt sein könnte
zu glauben, daß es nur die Ausdrucksweise ist, die hier durch
die Verschiedenheit des logischen Subjekts eine Verschiedenheit
des Tatbestandes vorspiegele, wenn ich sage: ich bin lustge-
stimmt und die Dinge sind ähnlich, aber nicht ich bin ähnlich.
In der Tat spricht für diese Auffassung mancherlei: »Der Gegen-
stand ist schön« und »Ich habe Gefallen an dem Gegenstande«,
oder »Ich bin gewiß, daß dies oder jenes geschieht« und »Dies
oder jenes geschieht gewiß« scheinen, wenn überhaupt verschie-
dene Dinge, jedenfalls nicht allzu verschiedene Dinge zu sein. —
»Der Gegenstand ist schön« mag ja auch im Sprachgebrauch des
Alltags nicht viel anderes bedeuten als »der Gegenstand gefällt
mir« — obwohl das erst noch genau zu untersuchen wäre — , so
gibt es doch andererseits eine Reihe von Gefühlen, die nicht ein-
mal eine doppelte sprachliche Fassung erlauben. Die Lust an
einer Speise, die Erregung angesichts eines Vorfalls lassen sich nur
als subjektive Zuständlichkeiten , niemals als objektive Merkmale
beschreiben, oder vielmehr, wenn ich sie als objektive Merkmale
beschreibe, so ist dieses Merkmal nur die Wirkungsfähigkeit auf
mich: Der Vorfall ist erregend, nicht erregt, die Speise ist ange-
nehm (angenehm schließt stets die Wirkung auf ein Subjekt in sich).
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Bemerkungen zur Psychologie der Gefühlselemente uew. 261
Das Trennende ist also nicht etwa, daß die einen Gefühle Be-
stimmungen meiner selbst, die andern des Objekts sind, sondern
vielmehr die einen sind nnr Bestimmungen meines Gefühlslebens,
bezogen auf ein Objekt, wie die Lust; die andern dagegen, die
stets mit nicht gefühlsmäßigen Erlebnissen verbunden sind, treten
diesen gegenüber im unmittelbaren Bewußtsein so sehr zurück,
daß erst die eingehende psychologische Analyse ihren Gefühls-
charakter nachweisen kann: Die Statue ist schön, das Geschehen
notwendig.
Zweifellos liegt diesem Unterschied der beiden Geftthlsgruppen
ein tieferes, schon oben gestreiftes Problem zugrunde. Zweifellos
sind Ähnlichkeit und Notwendigkeit mehr als ein bloßes Gefühl,
wie das etwa »Vergnügen« ist. Aber das kommt hier nicht in
Betracht. In Betracht kommt hier nur, daß das unmittelbare Be-
wußtsein die eine Gruppe von Erlebnissen als Bestimmungen des
Gegenstandes auffaßt, die andern nicht, nnd daß dadurch der
Verbindungscharakter der Erlebnisse wesentlich modifiziert wird.
Die erste Gruppe von Gefühlen, die als Zuständlicheit meiner
angesehen werden, will ich wegen ihrer Verwandtschaft mit den
Affekten als »AffektgefUhle« bezeichnen; die zweite Gruppe, da
ihren Kern die logischen Gefühle bilden, ganz allgemein als die
Gruppe der »logischen Gefühle«. Doch gehören auch die ethi-
schen und ästhetischen Gefühle zu dieser Gruppe.
In bezog auf die Gefühlselemente, die in ihnen enthalten sein
können, unterscheiden sich, wie schon aus dem obenerwähnten
Beispiel ersichtlich ist, die beiden Gruppen in keiner Weise. Es
können alle Arten von Geftthlselementen sowohl in der Affekt-
gruppe, als auch in der Gruppe der logischen Gefühle vorkommen.
Es ist klar, daß diese Beziehung der Gefühle aufB Objekt der
Verbindung der Gefühle einen ganz besonderen Charakter auf-
druckt. Ein Gefühl freudiger Überraschung (die Verbindung
zweier Affektgefühle) hat einen ganz andern Verbindungscha-
rakter als das Gefühl einer Instvollen Möglichkeit (die Verbindung
eines logischen Gefühls mit einem Affektgefühl).
Durch diese Einteilung sind drei Verbindungsmöglichkeiten
gewonnen, die wir der Reihe nach betrachten wollen: die Ver-
bindung von Affektgeftthlen untereinander, die Verbindung von
logischen Gefühlen untereinander und die Verbindung von Affekt-
gef&hlen mit logischen Gefühlen.
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262
Moritz Geiger,
2) Die Verbindung von gegensätzlichen Affektgefühlen.
Ein allgemeines Charakteristikum der Gefühle ist das Sich-
bewegen in Gegensätzen. Es liegt daher die Möglichkeit vor,
daß Bedingungen für gegensätzliche Gefühle — etwa gleich-
zeitig fttr Lust und Unlust — gegeben sind, neben dem Fall, daß
Bedingungen fttr das Entstehen verschiedenartiger Gefühle —
etwa für Lust und Erregung — vorhanden sind. Beide Fälle
müssen gesondert betrachtet werden, da sie ganz verschiedenartige
Verbindungen erzeugen.
Zunächst betrachten wir das gleichzeitige Gegebensein von Be-
dingungen für gegensätzliche Gefühle. Das Problem, wie es
möglich ist, daß im einheitlichen Gefühlszustand eines Moments
gegensätzliche Gefühle enthalten sein können, soll hier unerörtert
bleiben. Gleichsam eine Vorstufe hierzu ist das gleichzeitige Vor-
handensein verschiedener Bedingungen fttr gleichartige Gefühle,
etwa für das Vorhandensein von Lustgefühlen, die auf verschie-
denen Bedingungen beruhen. Hier wird naturgemäß keine Ge-
fühlsverbindung zustande kommen, sondern die beiden Bedingungen
werden sich verstärken, oder zu einem einheitlichen Gefühl zu«
sammenwirken, so daß ein Verbindungsgeftthl entsteht Ein sehr
einfacher Fall ist folgender: Ich habe Hunger und bekomme mein
Lieblingsgericht vorgesetzt. Hier sind zwei Bedingungen fttr Lust
vorhanden; sie bewirken einGeftthl. Ebenso einfache Fälle sind
die einfachen Kontrastgefühle, wo durch Bedingungen vorange-
gangener Unlust die Lust gesteigert wird usw. Nach der Lust-
seite hin ist die Mitfreude z. B. ebenfalls ein Verbindungsgefühl,
keine Gefühlsverbindung, wenn auch ein Verbindungsgeftthl kom-
plizierterer Art als die vorher erwähnten; denn die Bedingung fttr
Lust ist einmal der Tatbestand, über den ich mich freue, und
ferner liegt darin Lust begründet, daß ich mit und in einer an-
dern Persönlichkeit fühle.
Wenn jedoch Bedingungen für gegensätzliche Gefühle vor-
handen sind, so wird in der Regel eine Gefühlsverbindung zu-
stande kommen. Ich ziehe im folgenden, wenn möglich, Verbin-
dungen von Lust mit Unlust als Beispiele heran.
Die Einteilung der gegensätzlichen Gefühls Verbindungen kann
zweckmäßig nach zwei Gesichtspunkten geschehen, nach einem
phänomenologischen und nach einem theoretischen.
Bemerkungen zur Psychologie der Geftihlselemente usw. 263
Der phänomenologische ist der, daß wir die gegensätzlichen
Geftthlsverbindungen einteilen nach dem rein phänomenologischen
Verhältnis des Totalgefühls zu den Partialgefühlen, daß wir die
Art betrachten, wie die PartialgefUhle im Totalgeftthl enthalten
sind. Beim theoretischen muß von den Beziehungen der Gefühls-
bedingungen zueinander und znm gegenständlichen Inhalt ausge-
gangen werden; es muß untersucht werden, in welchen Beziehungen
die Bedingungen der Gefühle zueinander stehen. Diese Beziehun-
gen werden sich natürlich auch im Bewußtsein äußern.
Wir wollen beide Wege einschlagen. Wir wollen die Möglich-
keiten des Verhältnisses von Partialgefühlen zum Totalgefuhl als
rein phänomenologisch in den Vordergrund rücken und danach
unsere Namengebung einrichten, aber dann auch untersuchen, wie
diese Beziehungen der GefUhlsbedingungen zueinander die Form
der Gefühlsverbindung bestimmen.
Totalgefuhl und gegensätzliches PartialgefUhl können in einer
Reihe von Beziehungen zueinander stehen. Voraussetzung der
Gefühlsverbindung ist, wie wir, sahen, daß beide PartialgefUhle
deutlich erkennbar vorhanden sind. Es ist dann möglich, daß das
Totalgefühl als Ganzes keinen der Charaktere der gegensätz-
lichen Gefühle hat, sondern etwas ganz Neues gegenüber den
Partialgefühlen ist, die im Gefühl vorhanden sind. Die beiden
gegensätzlichen Partialgefühle sind etwa Lust und Unlust, wäh-
rend das Totalgefühl weder Lust noch Unlust zeigt. In diesem
Falle wollen wir von einer Gefühls Verschmelzung reden.
Oder der neue Charakter des Totalgefühls kann, je nach Um-
ständen, entweder dem einen oder dem andern der Partialge-
fühle angehören. Das Totalgefühl ist also zwar etwas Neues ge-
genüber den Partialgefühlen, hat aber dennoch den Charakter des
einen der Partialgefühle, und zwar je nach Umständen bald des
einen, bald des andern: Mehrdeutige Gefühlsverflechtung.
Das Totalgefuhl hat also, wenn Lust oder Unlust die gegensätz-
lichen PartialgefUhle sind, zuweilen Lust-, zuweilen Unlustcha-
rakter, ohne daß dadurch am eigentlichen Wesen des Gefühls
etwas geändert ist
Oder er muß, wenn das Gefühl seinem ganzen Charakter nach
dasselbe bleiben Boll, stets einem bestimmten der beiden Gegen-
sätze angehören. Das Totalgefühl kann also nicht den Charakter
entweder des einen oder des andern der Partialgefühle an
264
Moritz Geiger,
sich tragen, sondern nur seiner Katar nach eines bestimmten von
beiden: Eindeutige Gefühlsverflechtung. Es muß also das
Totalgefühl seinem Wesen nach z. B. immer Lust sein.
Hiermit sind jedoch die Möglichkeiten gegensätzlicher Gefühls-
verbindungen in keiner Weise erschöpft. Einmal bleiben noch
einige eigenartige Fälle, die späterhin betrachtet werden sollen;
und fernerhin variiert neben dem Verhältnis der Partialgeftthle
zum Totalgefuhl das Verhältnis der Partialgeftthle zueinander.
Diese Variationen ergeben sich am besten aus dem zweiten Ge-
sichtspunkt, aus der Betrachtung des Verhältnisses der Gefuhls-
bedingungen zueinander.
Das Verhältnis der Gefühlsbedingungen wird bestimmt durch
die Beziehung der Gefühle zu dem Gegenstand. Diese Beziehung
kann — ganz allgemein, nicht nur bei den gegensätzlichen Ge-
flihlsverbindungen — eine vierfache sein. Einmal kann der Ge-
genstand als der Gegenstand, der er ist, beide Gefühlserlebnisse
auslösen, z. B. ein Ton als Ton zugleich lustvoll und erregend
sein. Zum andern kann der Gegenstand zwar beide Gefühle
auslösen, aber nicht, wie im eben angeführten Falle, beide Gefühle
durch seinen sinnlichen Inhalt, sondern durch verschiedene Seiten
an ihm, z. B. das eine Gefühl durch seinen sinnliehen Inhalt,
das andere durch seine assoziativen Beziehungen. Der Inhalt
wirkt dann im zweiten Falle nicht als solcher, sondern symbolisch
als Auslösung einer ganzen psychischen Kette. Das Schild an
der Straße z. B. ist einerseits eine blane, mit Buchstaben ver-
sehene Tafel und hat rein als solche Gefühlswirkungen; anderer-
seits sind vielleicht die Buchstaben der Name einer Straße, die
ich lange gesucht habe. Im letzteren Falle tun die Buchstaben
ihre Wirkung als Symbol.
Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, daß die Beziehung
der Gefühle nicht durch den gegenständlichen Inhalt vermittelt
wird, sondern direkt vor sich geht, daß die Gefühle irgendwie
als Gefühle zusammenhängen. Und hier sind wiederum zwei
Möglichkeiten zu unterscheiden. Es besteht die Möglichkeit, daß
die Gesamtheit der Bedingungen des einen Gefühls, nicht nur der
gegenständliche Inhalt allein, Bedingung für das Entstehen des
andern Gefühls ist. Das erste Gefühl entsteht also hier dadurch,
daß ein Inhalt in irgendwelcher Weise in mein seelisches Leben
eingreift, das zweite Gefühl durch die Art dieses Eingreifens. Das
Bemerkungen znr Psychologie der GefUhlselemente usw. 26f)
ist z. B. der Fall beim Gefühl des Stolzes. Die Lust an der
wohlschmeckenden Speise war einfach dadnrch bedingt, daß der
gegenständliche Inhalt die Bedingungen für die Lust in sich ent-
hält. Beim Stolz ist das anders: nicht die Auszeichnung als
solche, die mich mit Stolz erfüllt, ist lustvoll, sondern sie löst in
mir bestimmte Geftthlserlebnisse, wie das der Erhebung z. B., aus,
die ihrerseits durch die Art ihres Auftretens lustvoll sind. Die
Gefühle, die im Stolz enthalten sind, schließen in ihren Ent-
stehungsbedingungen also zugleich Bedingungen für Lust ein.
Und endlich kann die Beziehung der Gefühle untereinander
derart sein, daß das eine Gefühl die Bedingung für das andere
ist, in einer ähnlichen, wenn auch nur vergleichbaren Weise, indem
der gegenständliche Inhalt Bedingung für das erste ist. Das
zweite Gefühl bezieht sich (vielleicht nur indirekt) auf das erste
und dieses auf den gegenständlichen Inhalt. Ich erinnere z. B.
an das Gefühl einer neuen Möglichkeit. Nicht der Gegenstand
der Vorstellung ist hier neu, sondern die Möglichkeit.
An den Beispielen werden späterhin die verschiedenartigsten
Möglichkeiten noch deutlicher werden.
Wir wollen diese Möglichkeiten der Reihe nach durchgehen,
wenn die Gefühlsbedingungen gegensätzlicher Natur sind.
Der erste Fall, die Auslösung gegensätzlicher Gefühlsbe-
dingungen durch denselben Inhalt, liegt z. B. vor, wenn die Be-
dingungen eines obenerwähnten Beispiels anders gewandt sind:
Ich habe starken Hunger, und es wird mir eine Speise vorgesetzt,
die ich nicht mag. Hier sind Bedingungen der Lust in der Stil-
lung- meines Hungers gegeben, zugleich Bedingungen der Unlust
in meiner Abneigung gegen die Speise. Der Erfolg kann ein
verschiedener sein, je nach der Art und Stärke der Bedingungen.
Die Abneigung kann ganz überwunden sein, dann liegt keine Ge-
fuhlsverbindung vor, sondern eine psychomechanische Auslöschung
der einen Gefühlsbedingung durch die andere, eine Wirksamkeit
des psychologischen Mechanismus, welcher Inhalte, die unter nor-
malen Bedingungen unlustbetont wären, jetzt lustbetont sein
läßt. Diese Erscheinung hat natürlich mit Gefühlsverbindungen
nichts mehr zu tun.
Die Abneigung kann jedoch neben der Befriedigung des Hungers
bestehen bleiben, so daß ich, während ich gierig esse, mich inner-
lich von der Speise wegwende. Hier entsteht eine regelrechte
266
Moritz Geiger,
Gefühlsverbindung. Das Totalgeftthl trägt, je nachdem das eine
oder das andere Gefühl Überwiegt, Last- oder Uniastcharakter.
Daneben bleiben die Partialgeftthle deutlich bestehen. Diese Ge-
fUhlsverbindung gehört also diesem Kennzeichen nach zu der
Kategorie der mehrdeutigen Geftihlsverflechtung; denn das Total-
geftthl kann bald den Charakter des einen, bald des andern
Partialgeftthls zeigen. Daneben ist das Totalgefühl deutlich da-
durch charakterisiert, daß die Partialgefühle in ihm einfach gegen-
einander wirken, so daß der Gesamtcharakter der Lust oder der
Unlust nur durch Überwiegen des einen Gefühls zustande kommt.
Eine derartige Gefühlsverbindung soll als gegensätzliche Gefühls-
Verdrängung bezeichnet werden. Ihre Merkmale sind: 1) sie ist
mehrdeutig, das heißt, es kann sowohl die Lust als auch die Un-
lust überwiegen; 2) die Vereinigung der Gefühle kommt durch
einfaches Gegeneinanderwirken zustande, so daß das stärkere
Uberwiegt. Ein weiteres Beispiel des ersten Falles, daß derselbe
Inhalt entgegengesetzte Bedingungen auslöst, ist folgendes:
Es sei ein Ton gegeben, dem verschiedene andere Töne voraus-
gegangen sind. Der Ton sei »relativ«1) konsonant den voraus-
gegangenen. In dieser Relativität liegt, daß er einesteils konsonant
ist, d. h. Bedingungen der Lust in sich trägt, andererseits aber
auch nicht vollkommen konsonant ist, also auch Bedingungen der
Unlust in sich enthält Der Erfolg ist diesmal keine Geftthlsver-
bindung, sondern ein Verbindungsgef Uhl. Die Lust erscheint gegen-
über der reinen Konsonanz eigenartig bereichert, vertieft Es ist
ja bekannt, wieviel tiefer die relative Konsonanz einer Terz gegen-
über der vollkommeneren Konsonanz einer Oktave ist. Es ist ein
Verbindungsgefühl, das wir mit dem Namen eines » Vertiefungs-
gefühls c bezeichnen wollen. Es tritt Btets als ein Nebenerfolg
ein, wenn zugleich Bedingungen der Lust und der Unlust vor-
handen sind, die zu einem einheitlichen Gefühl zusammenwirken,
also auch bei Gefühlsverschmelzungen (s. unten). Überhaupt sind
sehr viele ästhetische Gefühle Vertiefungsgeftthle.
Wir gehen zur zweiten Möglichkeit über. Ein Beispiel vom
Vorhandensein von Bedingungen für entgegengesetzte Gefühle, bei
dem das eine Gefühl sein Entstehen dem Inhalt selbst, das andere
seiner symbolischen Bedeutung verdankt, ist folgendes: Ich er-
1 Siehe Lipps, Psychologische Stadien.
Bemerkungen wir Psychologie der Gefiihlselemente usw.
267
warte die Ankunft eines Schiffes sehnsüchtig, plötzlich höre ich
den Ton des Nebelhorns, der bekanntlich nicht zn den angenehmsten
Geraaschen gehört. Dieser Ton verkündet mir die Ankunft des
erwarteten Schiffes. Hier liegt die Bedingung der Unlust in dem
Mißton des Nebelhorns, der Lust in der Ankunft des Schiffes, für
die mir der Ton ein Zeichen ist Auch hier tritt keine Gefühls-
Verbindung ein, trotz der Auslösung der Gefühle durch den gleichen
Inhalt. Vielmehr entsteht eine Verminderung der Unlust, die
sogar ganz verschwinden kann, nicht auf dem Wege der Gefühls-
verbindung, sondern auf dem Wege der Verminderung der Quan-
tität der sinnlichen Seite des Inhalts, eine Erscheinung, die übrigens
auch eintritt, wenn ein ziemlich lustbetonter Inhalt das Nahen des
Schiffes verkündete *). Bleibt jedoch die Unlust des Tones neben
der Lust noch bestehen, so tritt keine Gef tthlsverbindung, sondern
eine Gefühlskombination ein; denn wenn auch tatsächlich derselbe
Inhalt die Bedingungen hervorruft, die die beiden Gefühle aus-
lösen, so ist die Verbindung keine in dem Inhalt selbst begründete.
Der Ton des Nebelhorns löst zwar die Unlust aus, aber auf der
andern Seite löst er nicht die Lust aus, sondern mit ihm asso-
ziativ verknüpfte Vorstellungen, die erst ihrerseits Grund der Lust
sind. Das gibt uns das Recht, im Sinne der Gefühlsseite die Lust
und Unlust als aus verschiedenen gegenständlichen Bedingungen
heraus entstanden und die Verbindung demnach als Gefühlskom-
bination zu betrachten. Zudem sind die beiden Gefühle auch im
Erleben vollkommen unabhängig voneinander.
In ganz anderer Weise liegt die zweite Möglichkeit vor — die
Möglichkeit also, daß der Inhalt durch verschiedene Seiten die
entgegengesetzten Gefühle auslöst, bei einer richtigen Gefühlsver-
bindnng von Lust und Unlust: der Sehnsucht. Hier ist es die
eine Seite einer Vorstellung, ihr Inhalt nämlich, der Grund der
Last ist, eine andere Seite, die Grund der Unlust ist. In der
Sehnsucht nach einem fernen Land z. B. ist der Inhalt, die Vor-
stellung des fernen Landes, lustbetont, das Nur-als-Vorstellung-
Vorhandensein, daß die Vorstellung nur Vorstellung und nicht
Wirklichkeit ist, unlustbetont. Die oft gestellte Frage: ob Sehn-
sacht ein Lust- oder Unlustgeftthl ist, beweist, daß sie beides ist
und zugleich beides nicht, sonst hätte die Frage keinen Sinn.
I Vgl. Lipps, über die Quantität in psychischen Gesamtvorgängen.
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268
Moritz Ctoiger,
Die Sehnsacht als Totalgeftthl ist entweder unlnstvoll oder lust-
voll. Sie ist nicht, wie das Mitleid (siehe nnten), weder das eine,
noch das andere, so daß sie nnr znweilen nnlustvoll oder Instvoll
sein könnte, sondern die Sehnsucht als Ganzes ist stets entweder
lastvoll oder anlastvoll. In manchen Arten der Sehnsucht, wie
im Heimweh, tritt der Uniastcharakter stark zutage, während zum
Beispiel die Sehnsucht eines Frühlingsabends an Tiefe die meisten
Lustgefühle übertrifft.
Die Partialgefühle sind noch beide erhalten. Die Lust der
Sehnsucht wie ihre Unlust Bind im Gefühl bei allen Arten der
Sehnsucht stets ausgeprägt. Das Totalgeftthl selbst jedoch ist
etwas vollkommen Neues, in dem die Gegensätze zur Einheit ver-
woben sind, doch so, daß das Totalgefühl als Ganzes den Cha-
rakter des einen der Gegensätze hat. Hier liegen wiederum die
Merkmale der mehrdeutigen Gefühlsverflechtung vor. Doch sind
hier die Gegensätze in ganz anderem Grade miteinander verwoben
(wie schon daraus hervorgeht, daß die Sehnsucht ein Vertiefungs-
gefühl ist), als bei der obenerwähnten Gefühlsverdrängung. Wir
wollen daher diese Art der mehrdeutigen Gefühlsverflechtung die
»mehrdeutige Geftthlsverwebung« nennen. Bei der Gefühlsver-
webung sind also die gegensätzlichen Gefühle nicht einander
gegenüberstehend, sondern ineinander verwoben. Eine mehrdeutige
Gefühlsverwebung ist z. B. auch die Wehmut.
Der dritte Fall, daß die Gesamtheit der Bedingungen für das
eine Gefühl zugleich eine Bedingung für das Entstehen des an-
dern abgibt, liegt bei einer sehr eigenartigen Geftthlsverbindung
vor, für die Neid, Mißgunst, Rachegeftthl usw. Beispiele sind. Das
Gefühl der Lust in der Rache oder Grausamkeit z. B. liegt nicht
etwa darin, daß mich in fremdem Leiden etwas sympathisch be-
rührt, wie in Mitleid, — auch nicht etwa darin, daß ich einfach
fremdes Leid sehe, ohne daß es mir weiter als fremdes Leid
zum Bewußtsein kommt. Dann würde ich mich einfach an dem
Aussehen der Bewegungen des Leidenden freuen, ohne etwas von
seinem Leiden za wissen. Das liegt oft bei der fälschlich so ge-
nannten Grausamkeit der Kinder vor. Sie haben keine Ahnung
von den Leiden der gequälten Tiere, sondern freuen sich an den
Bewegungen als solchen. Bei wirklicher Grausamkeit dagegen ist
Freude an fremdem Leid vorhanden. Es ist gerade Bedingung,
daß das fremde Leid als solches mitwirkender Faktor ist.. Phä-
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Bemerkungen zur Psychologie der ßefUhlselemente usw. 269
nomenologisch ist bei Neid, Rache, Mißgunst usw. eine sehr merk-
würdige Geftihlsverbindung vorhanden: der Charakter des Total-
gefuhls ist stets eindeutig bestimmt, bei der Grausamkeit z. B.
der der Lust, bei dem Neid der der Unlust Das entgegengesetzte
Gefühl — bei der Grausamkeit die Unlust, das Leiden des Opfers —
ist als Partialgeftthl im eigentlichen Sinne nicht bemerkbar. Ich
erlebe bei der Grausamkeit nicht die Unlust des Opfers, nicht so,
als ob sie meine eigene Unlust wäre. Das entgegengesetzte Ge-
fühl macht sich jedoch in doppelter Weise bemerkbar: es ist die
Vorstellung fremden Leidens vorhanden, und diese Gefühlsvor-
stellung ist eng in das Ganze des Gefühls verwoben. Und ferner
macht sich die Unlust nicht nur als vertiefendes Moment bemerk-
bar, sondern drückt sich in nicht näher beschreibbarer, nur erleb-
barer Weise im ganzen Charakter des Gefühls ans, in der Er-
regung, die hervorgerufen wird, usw. Diese Art der Verbindung
der Gefühle hält die Mitte zwischen Gefühlsverbindung und Ver-
bindungsgeftthl. Mit der Geftthlsverbindung haben die Gefühle
gemeinsam, daß das fremde Leiden vollkommen, wenn auch nur
als Gefühlsvorstellung, nicht als wirklich erlebtes Gefühl, erlebt
wird, und seine Wirkung im Totalgefühl vorhanden ist Mit dem
VerbindungsgefUhl teilen sie, daß das dem Totalgefühl entgegen-
gesetzte Partialgeftthl nicht als selbständiges Partialgeftthl erlebt
wird. Das eine Gefühl ist stets dem andern psychologisch voll-
kommen untergeordnet. Diese Art der Mittelstellung zwischen Ge-
ftihlsverbindung und VerbindungsgefUhl wollen wir daher »Gefühls-
subordination« nennen. Auf der Seite der Gefühlsverbindungen
sind dieser Art von Gefühlen am nächsten verwandt Gefühle wie
das Mitleid. Hier ist das fremde Leid tatsächlich eigenes Erleben
(im Partialgeftthl). Auf Seiten der Verbindungsgeftlhle besteht
eine nahe Verwandtschaft, z. B. mit der Wollust in allen ihren
Arten. Hier ist die Vorstellung fremder Unlust vollkommen ver-
schwunden, und nur ihre das Gefühl vertiefenden und modifizieren-
den Wirkungen sind noch erhalten.
Es bleibt noch der vierte Fall Übrig: Die Bedingungen des
einen Gefühls enthalten nicht die Bedingungen des andern in
sich, sondern das eine Gefühl ist als solches Bedingung des andern.
Hier haben wir verschiedene Arten von Verbindungen.
Ein Beispiel ist das Mitleid1). Es ist nicht zu verwechseln
1 Siehe Lipps, Zum Streit Uber die Tragödie.
270
Moritz Geiger.
mit dem oben besprochenen Mitleiden, einem reinen Unlnstgeftthl,
bei dem zndem noch die Bedingungen des dritten Falles vorliegen.
Mitleiden liegt z. B. vor, wenn ich einen mir tenern Mengeheu
sich nnter Schmerzen quälen sehe. Dann »leide ich mit«, d. h.
es sind die in ihm wirksamen Unlustmomente auch in mir als
Uniastmomente wirksam; davon ist das Mitleid grundverschieden.
[Das Mitleid soll natürlich hier nur nach der Lust-Unlustseite hin
betrachtet werden; als Ganzes ist es eine Greftthlsverbindang
höherer Ordnung.] Nach der Lust-Unlustseite liegt in ihm die
Unlust des Mitleidens. Aber gerade dieses Unlustgefühl ist durch
die Ubereinstimmung der fremden und der eigenen Persönlichkeit
Bedingung für Lust Es sind also im Mitleid Bedingungen für
Lust und für Unlust enthalten, während im Mitleiden die Be-
dingungen der Lust ganz zurücktreten. Das Totalgeftthl des Mit-
leids als Ganzes jedoch hat weder Lust- noch Unlustcharakter
Es gibt zum mindesten ein Mitleid, das zwar die Partialgeftlble
der Lust und der Unlust in Bich enthält, selbst aber neutral ist
Das Mitleid ist etwas ganz Neues gegenüber den Gefühlen der
Sympathie und des Leidens, etwas, das sich nicht einfach als die
Summe aus der Unlust des Leidens und der Lust der Sympathie
auffassen läßt Dennoch sind deutlich Lust und Unlust in ihm
enthalten. Es kann je nach Umständen der eine oder der andere
dieser Gegensätze dem Totalgeftthl seinen Charakter aufdrucken,
wie das unlustvolle Mitleid am Bett eines Kranken und das lnst-
volle beim Anhören einer Tragödie beweisen. Das ändert nichts
daran, daß das Mitleid selbst neutral ist, und daß bei den er-
wähnten Gefühlen, bei denen das Mitleid lust- oder unlustbetont
ist, schon Gefühlsverbindungen höherer Ordnung vorliegen. Wir
haben beim Mitleid die Merkmale der Geftthlsverschmelzung, wie
sie oben definiert wurde, als ein neues, neutrales Totalgeftthl, in
dem die gegensätzlichen Partialgeftthle deutlich erhalten sind.
In anderer Weise ist der vierte Fall gegeben, in einer Ge-
fühlsverbindung, für die das Gefühl der Entrüstung als Beispiel
dienen soll. Die Entrüstung ist stets Unlust, solange nicht neue
Bedingungen hinzutreten. Sie gehört also zu den eindeutigen
Gegensatzgeftihlen. Sie ist UnluBt Uber irgendein Tun eines Men-
schen oder vielmehr Unlust Uber die Gesinnung des Menschen,
die sich in diesem seinem Tun ausdrückt. In dieser Unlust liegen
aber zugleich Bedingungen für Lust eingeschlossen. Denn es ist
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Bemerkungen zur Psychologie der Gefilhlselemente uew. 271
keine auf der Oberfläche bleibende Unlust wie beim Arger, son-
dern eine tiefgehende und den Menschen in seinem innersten Kern
packende Unlust, die sich in der Entrüstung äußert. Da nun jedes
seelische Geschehen, das das seelische Leben in weitem Umkreis er-
schüttert, als solches schon Bedingung für Lust ist, so liegt hier also
in der Art der Unlust selbst eine Bedingung für Lust eingeschlossen.
Aber dieses Lustmoment kommt als Partialgeftthl für gewöhn-
lich nicht zum rollen Ausdruck. Es ist vorhanden als Ver-
tiefungsgefühl und äußert sich andererseits aber auch in einer
Modifizierung der Unlust. Es ist vorhanden, ohne jedoch so voll-
kommen heraustreten zn können, wie es bei neutralen oder mehr-
deutigen Gefühlsverbindungen der Fall ist. Treten freilich neue
Bedingungen hinzu, so kann als Geftihlsverbindung höherer Ord-
nung eine lustvolle Entrüstung eintreten. Es gibt ja Leute, welche
diese Bedingungen besonders gut in sich wachzurufen verstehen,
denen es ein Vergnügen ist, sich zu entrüsten.
Die Entrüstung gehört also in ihrer normalen Form zu den ein-
deutigen Gefühlsverflechtungen. Wir wollen wegen der Innigkeit,
mit der die Partialgefühle zu einem neuen, eigenartigen Ganzen
verwoben sind, diese Gefühlsverbindung spezieller als »eindeutige
Geftthlsverwebung« bezeichnen.
Ebenfalls zu den eindeutigen Gefühlsverflechtungen gehört eine
andere Art der Verbindung, wie sie etwa das Lustgefühl in der
Uberwindung einer starken Anstrengung zeigt Der Grundcha-
rakter ist hier Lust, aber die Unlust der Anstrengung ist als Par-
tialgefühl, und zwar unter Umständen sehr klar und deutlich be-
merkbar. Eis liegt keine Verwebung der Gefühle vor wie bei
der Entrüstung, nicht ein ganz neuer Totalcharakter tritt ein,
sondern die Gefühle vereinheitlichen sich nur. Die Anstrengung,
das Unlustvolle in ihr, bleibt, aber die Lust, die in der Anstrengung,
in dem kraftvollen Sichabmühen liegt, tritt selbständig heraus,
ja drückt sogar dem Totalgeftthl den Charakter auf, so daß also
im Gefühl die Lust überwiegt. Ein Uberwiegen der Unlust kann
nicht stattfinden, denn dann verschwindet die Lust als Partial-
gefühl vollkommen, und es liegt keine Gefühlsverbindung vor.
Die geschilderte Art der Gefühls Verbindung sei als »eindeutige
Gefühls Vereinheitlichung« bezeichnet. Ihre Unterschiede von der
»eindeutigen Geftthlsverwebung« sind klar: ein schärferes Heraus-
treten des Gegensätzlichen und das Fehlen eines eigenartigen
272
Moritz Geiger,
Gesamtcharakters (außer demjenigen natürlich, der im Dasein eines
Totalgefühls überhaupt liegt), nur eine enge Verbindung der Par-
tialgeftthle.
Wir haben also an Verbindungen der Gefühle gegensätzlicher
Natur kennen gelernt:
Gefühlsverschmelzung (Mitleid).
Mehrdeutige Gefühls Verflechtungen:
1) Gefühls Verdrängung (unangenehme Speise bei Hunger),
2) Mehrdeutige Gefühlsverwebung (Sehnsucht).
Eindeutige Geftthlsverflechtung:
3) Eindeutige Gefühlsvereinheitlichung (Uberwindung
einer Kraftanstrengung),
4) Eindeutige Gefühlsverwebung (Entrüstung).
Zwischenverbindung zwischen Verbindungsgefuhlen und Ge-
fühls Verbindung:
Gefühlssubordination (Neid).
Verbindungsgefühl:
1} Vertiefungsgefühl (angenehme Dissonanz).
Die Zahlen vor der Gefühlsverbindung beziehen sich darauf,
bei welchem der vier obenerwähnten Fälle der Beziehungen der
GefUhlsbedingungen aufeinander wir die betreffende Gefühlsver-
bindung betrachtet haben.
Wie aus der Tabelle ersichtlich, kommen mehrdeutige Gefühls-
verbindungen nur bei Fall 1 und 2 vor, also nur dann, wenn
beide Gefühle auf denselben gegenständlichen Inhalt bezogen sind.
Das ist vollkommen begreiflich. Denn mehrdeutige Geftthlsver-
bindungen setzen voraus, daß beide Gefühle ihre Rollen in der
Wirkung auf das Ganze vertauschen können. Das ist nur der
Fall, wenn die Gefühle koordiniert sind, wenn sie sich in ganz
gleichartiger Weise auf die Vorstellungsgrundlage beziehen. Bei
den Möglichkeiten 3 und 4, wo das eine Gefühl die Grundlage
des andern bildet, muß eine Vertauschung der Gefühle den Cha-
rakter des ganzen Gefühls ändern. Wir können also in diesen
Fällen nur Gefühls Verbindungen erhalten, die nicht mehrdeutig sind.
Es sind hier stets nur Beispiele von Verbindungen von Lust
und Unlust herbeigezogen worden. Einmal deshalb, weil diese
Verbindungen am leichtesten analysierbar sind (hiervon wird später
genauer die Rede sein!, und dann, weil die Sprache für die Ver-
bindungen von Lust und Unlust mehr als bei den andern Ge~
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Bemerkungen zur Psychologie der Gefuhlselemente usw. 273
fühlsgrundlagen Namen ausgeprägt hat, daher durch Angabe dieser
Namen Mitleid, Sehnsucht usw. ohne weitern Zusatz jeder weiß,
welches Gefühl gemeint ist. Es sind jedoch natürlich die meisten
der genannten Verbindungen bei den andern Gegensätzen auch
vorhanden, selbstverständlich umgebildet nach dem Charakter der
Gegensätze. So ist z. B. — die Beispiele sind wahllos heraus-
gegriffen — die Komik1) nach der Spannungs-Lösungsseite eine
Gefühlsverschmelzung; sie enthält Momente der Lösung in sieh,
indem eine Erwartung erfüllt wird, Momente der Spannung, indem
das Eintretende nicht der Erwartung nach der Seite der psychi-
schen Bedeutsamkeit hin entspricht. Die Komik als Totalgefühl
dagegen ist weder Spannung noch Losung. Nach der SpannungB-
Lösungsseite hin ist das Gefühl beim Essen einer schlecht-
schmeckenden Speise mit hungrigem Magen eine Gefühlsverdrän-
gung: die Befriedigung (Lösung), überhaupt Essen zu haben, kämpft
mit dem Widerwillen (Spannung) gegen die schlechte Speise. Die
Entrüstung über fremde Teilnahmlosigkeit ist eine Gefühlssub-
ordination der fremden Beruhigung unter die eigene Erregung
(wie oben bei Grausamkeit fremden Leidens unter eigene Lust).
Es ist nach der Spannungs-Lösungsseite die Sehnsucht eine ein-
deutige Gefühlsverwebung, — es überwiegt die Spannung stets,
zugleich aber bewirkt hier der Gegensatz von Spannung und
Lösung ein Vertiefungsgefühl.
Die angeführten Beispiele legen zur Genüge dar, daß die ange-
führten Verbindungsformen nicht auf Lust-Unlust beschränkt sind.
3) Die Verbindung von Affektgeftthlen verschiedenen
Charakters.
Die Verbindungen von Affektgefuhlcn verschiedenen Charakters
ordnen sich zum Teil nach ähnlichen Gesichtspunkten, wie die
gegensätzlichen Verbindungen. Auch hier kommt es vor allem
darauf an, wie das Totalgefühl beschaffen ist Es kommen jedoch
anch einige andere Momente in Betracht, die bei den oben be-
trachteten Verbindungen gegensätzlicher Gefühlsgrundlagen eben
wegen der Gegensätzlichkeit sich in anderer Weise äußerten.
Während es z. B. bei der Verbindung gegensätzlicher Gefühle sehr
wohl möglich war, daß das Totalgefühl einen neutralen Charakter
1] Siehe Lipps, Komik and Humor.
Archir für Piychologl«. IV. 18
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274
Moritz (teiger,
gegenüber den gegensätzlichen Gefühlen aufwies (Mitleid), ohne
daß die Verbindung deshalb unter die Verbindungsgefühle ge-
rechnet za werden brauchte, ist das bei der Verbindung verschie-
denartiger Affektgefilhle anders. Hier hat das Totalgeftlhl, wenn
es den Charakter einer Gefuhlsrerbindung haben soll, entweder
den Charakter des einen oder beider Partialgefuhle. Denn nach
dem Prinzip der Abstufong der Elemente muß ein Partialgefilhl
dominieren. Das konnte bei den gegensätzlichen Verbindungen
ein Partialgefllhl sein, das nicht an dem Gegensatz teilhatte, der
in Betracht kam, ein Gefühl, das außerhalb der Gegensätze stand,
sie in sich versöhnte. Es konnte etwa, wenn Lust-Unlust das
Uegensatzpaar war, das Totalgeftlhl den Charakter der Erregung
tragen. Bei der Verbindung von verschiedenartigen Gefühlen
wurde ein drittes Gefühl, das dominiert, nach den Prinzipien, die
wir oben aufgestellt haben, nicht möglich sein. Es würden näm-
lich dann die beiden betrachteten Gefühle gleichen Verbindungs-
wert haben, da sie beide untergeordnete PartialgefUhle sind. Sie
können dann miteinander derart verbunden sein, daß das eine
Gefühl gegenüber dem andern relativ dominiert. Dann hätten
wir eine GefÜhlsverbindung dreier ungleichwertiger Gefühle (des
dominierenden und der untergeordneten) vor uns, also eine Gefühls-
verbindung höherer Ordnung. Und, wie wir oben festsetzten, fällt
dann nicht mehr ihre Verbindung untereinander, sondern ihre
gemeinsame Verbindung mit dem dritten Gefühl unter den Begriff
der Gefühlsverbindung erster Ordnung. Bei gegensätzlichen Ge-
fühlen ist dieser Verbindungswert dadurch ausgeschlossen, daß die
Verbindung der Gegensätzlichkeit keine einfache derart sein kann,
daß etwa Lust und Unlust sieh miteinander verbinden, wie es
etwa Lust und Erregung können. Es wird vielmehr im Totalgeftlhl
sich stets äußern, w ie die Art der Beziehung zwischen Lust und Un-
lust ist, und deshalb dürfen wir nicht einfach in solchen Fällen Lust
und Unlust als PartialgefÜhle von gleichem Verbindungsweg ansehen.
Denn gleicher Verbindungswert setzt gerade voraus, daß die Be-
ziehung der gleichwertigen Partialgefuhle untereinander gleichgültig
ist, daß nur ihr Verhältnis zum Totalgeftlhl in Betracht kommt.
Auch die Analoga zur eindeutigen, wie mehrdeutigen Gefühls-
verflechtung Bind ausgeschlossen, wie durch das eben Gesagte die
Analoga zur gegensätzlichen Gefühlsverschmelzung. Da die in
Betracht kommenden Gefühle Verbindungen verschiedenartiger
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Bemerkungen zur Psychologie der Gefuhlselemente wir. 275
Gefühle sind, etwa von Lust und Erregung, so ist natürlich eine
Vertauschbar keit der Gefühle, ohne daß sich der Gesamtcharakter
des Gefühls ändert, ausgeschlossen. Denn eine Vertausch ung
von PartialgefÜhlen ohne Änderung des Gesamtcharakters ist nur
bei Gefühlen von gleicher Gefühlsgrundlage möglich. Die Aus-
tausch ung von Gegensätzen kann dort den Gesamtcharakter un-
verändert lassen und nur die Richtungsbestimmtheit ändern; bei
verschiedenartigen Gefühlsverbindungen dagegen ist die Vertau-
schung der GefUhle zugleich eine Vertauschung verschiedener Ge-
ftihlBgrundlagen oder Gefllhlscharaktere, wodurch naturgemäß der
Charakter des ganzen Gefühls geändert wird. Deshalb sind
diese Verbindungen alle eindeutig. Oder vielmehr der Gegensatz
von eindeutig und mehrdeutig verliert seine Berechtigung.
Es liegt hier auf andern Momenten der Hauptnachdruck. Es
kommt hier vor allem die Stellung der Partialgeftihle zueinander in
bezug auf das Dominieren im Totalgeftlhl in Betracht. Phänomeno-
logisch unterscheiden sich die Gefühlsverbindungen verschiedener
AflfektgefÜhle hauptsächlich dadurch, daß das Dominieren ein ver-
schiedenartiges sein kann, daß die Partialgeftihle mehr oder weniger
relative Selbständigkeit besitzen können. Damit Hand in Hand
geht die Enge der Verbindung der beiden Gefühle. Die Verbin-
dung wird meist — daß es nicht immer der Fall ist, werden die
Beispiele lehren — eine um so engere sein, je mehr das eine
Gefühl dominierend heraustritt. Dominieren sie dagegen annähernd
gleich, so heißt das, daß sie beide relativ selbständig sind. Sub-
ordination des einen Gefühles unter das andere bedeutet also meist
Vereinheitlichung, Koordination meist Verselbständigung.
Die phänomenologische Einteilung der Gefühlsverbindungen
verschiedenartiger Affektgeftlhle wird demnach zum Hauptgesichts-
punkt die Stufen des Dominierens verlangen. Diese Stufen sind
jedoch nicht im strengen Sinne Stufen der Intensität des Domi-
nierens, denn dann gäbe es so viele Formen der Gefühlsverbin-
dungen wie individuell vorkommende Gefühle: In einer lastvollen
Erregung kann die Erregung bald relativ schwach sein und demnach
wenig, bald relativ stark sein und dadurch mehr dominieren.
Hierum kann es sich nicht handeln. Vielmehr sind die Stufen rein
prinzipiell zu nehmen. Es muß nicht auf die Stufe, sondern auf
die allgemeine Art der Verbindung der PartialgefÜhle in dem
betreffenden Totalgefühl zurückgegriffen werden, durch die eine
18*
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276
Moritz Geiger,
bestimmte Weise des Dominierens eines Partialgetuhls imTotalgeftlhl
bestimmt wird. Hierdurch sind wir wieder auf die Entstehungs-
bedingungen der Gefühle, also auf theoretischen Boden verwiesen.
Allgemein wissen wir aus unserer Erfahrung eins im voraus:
Die Verbindung von Lust-Unlust mit andern AfFektgeftthlen wird
eine ganz andersartige sein als die Verbindung der andern Affekt-
geflihle untereinander. Das beweist schon die eigenartige Stellung,
die Lust und Unlust in der früheren Psychologie eingenommen
haben und zum Teil auch noch in der heutigen Psychologie ein-
nehmen. Lust und Unlust hielt man fllr die einzigen existierenden
GefUhle, zum großen Teil deshalb, weil sie relativ leicht aus dem
GefUhlsganzen herausanalysierbar sind. Das kommt daher, daß Lust
und Unlust als Partialgeftihle immer relativ selbständig bleiben und
sich niemals vollkommen den andern Gefühlen unterordnen, wie
es z. B. Erregung oder Spannung tut. Diese Tatsache wollen wir
als das Prinzip des geringen Verbindungswertes von Lust und
Unlust bezeichnen.
Die engste Form von GefUhlsverbindangen verschiedenartiger
Affektgefühle wird also diejenige sein, in der Lust und Unlust
gar nicht vorkommt, und ich will daher diese Form zunächst be-
trachten. Ein Beispiel davon liegt etwa vor in derjenigen Über-
raschung, die weder angenehm noch unangenehm ist. Sie ist die
Verbindung einer Menge von Gefühlen, unter denen die Hemmung
Uberwiegt. Die andern Gefühle treten, der Hemmung gegenüber,
vollkommen zurück. Sie ordnen sich vollständig unter; es entsteht
ein Gefühl durchaus neuen Charakters, in dem alle jene Gefühle
als Partialgeftihle vorhanden sind. Diesen Typus, der fllr alle
Verbindungen von Affektgeftthlen gilt, die nicht Lust oder Unlust
in sich enthalten, will ich »Gefühls Verdichtung« nennen. Die Merk-
male sind: 1) Das Totalgeftihl hat einen eigenartigen, neuen Cha-
rakter. 2) Es existiert ein deutlich dominierendes Partialgeftihl.
3) Die übrigen Partialgeftihle sind vorhanden, aber relativ schwach.
— Zu den Geftthlsverdichtungen gehört z. B. auch das Gefühl
der Erwartung. Ich denke hier an einen einfachsten Fall der
Erwartung: ich sehe einen Stein fallen und erwarte, sein Auf-
schlagen auf den Boden zu hören. Nicht hierher gehören natür-
lich die Fälle der Erwartung, in denen neben der Spannung, oder
mehr als sie, die Erregung dominierend heraustritt, so vor allem
die Fälle, in denen der Affekt der Erwartung vorliegt.
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Bemerkungen zur Psychologie der Gettthlselemente ubw. 277
Mannigfaltiger sind die GefÜhlBverbindungen von Lnst-Unhi8t
mit sonstigen Affektgefühlen. Hier können wir wieder die Mög-
lichkeiten des vorigen Abschnittes herbeiziehen, nnr daß wir die
zweite nnd die vierte Möglichkeit ausfallen lassen müssen. Die
zweite — der Inhalt ruft die Gefühle durch verschiedene Seiten,
die an ihm wirksam sind, hervor — deshalb, weil eine strenge
Scheidung von der ersten nicht möglich ist, weil es ja stets ver-
schiedene Seiten eines Inhaltes sein werden, die etwa Lust und
Erregung auslösen, da Lust-Unlust ganz andere Entstehungsbedin-
gungen hat als die übrigen Gefühlsgrundlagen.
Die vierte Möglichkeit (das eine Gefühl bezieht sich auf das
andere, wie dieses auf den Inhalt) kommt deshalb nicht in Be-
tracht, da, wenn sich etwa, dem Beispiel des Neides entsprechend,
ein Gefühl der Lust auf eine Erregung bezieht, damit stets noch
andere Gefühle der Lust oder Unlust gegeben sind, die nicht aus
dem Ganzen des Totalgefühls genommen werden können, um es
gesondert zu betrachten. Es wäre z. B. die Entrüstung über ein
rohes Lachen ein solches Gefühl, bei dem von der Unlust nicht
abgesehen werden kann, wohl aber zum Zweck der Ordnung, wie
wir oben sahen, von der Erregung. Wenn man also die Erregung
mit einbezieht, so liegt hier eine Geftlhlsverbindung höherer Ord-
nung vor. Umgekehrt kann man hier auch von der Lust oder
Unluststellung des Gefühls Uberhaupt abstrahieren, wie wir eben-
falls in einem obigen Beispiel taten (Entrüstung Uber fremde Teil-
nahmslosigkeit). Wenn man aber Lust und Erregung in die Ana-
lyse mit einbezieht, so kann man es nur, indem man es voll-
ständig tut, d. h. alle im Gefühl vorhandenen Lust-Unlustmomente
sowohl, als auch die Erregungsmomente berücksichtigt und demnach
das Totalgefühl als Gefühlsverbindung höherer Ordnung ansieht.
Bleiben also noch die beiden Fälle: Die beiden Gefühle be-
ziehen sich auf den Gegenstand oder sie beziehen sich direkt auf-
einander, so daß das eine Gefllhl zugleich die Bedingungen für
das andere in sich enthält.
Zu dem ersten Fall gehört z. B. das Gefühl, das durch ein
leuchtendes Rot ausgelöst wird: lustvolle Erregung. Die Gefllhle
sind in ihren Entstehungsbedingungen koordiniert. Im Totalgefühl
koordiniert die Lust. Die Verbindung ist eine relativ enge, obwohl
auch das ErregungsgefÜhl ziemlich deutlich heraustreten kann.
Eine derartige Verbindung wollen wir »Geflihlskoordination«
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278
Monte Geiger,
nennen; nicht nach ihrer phänomenologischen Erscheinung, denn,
wie gesagt, im Dominieren sind die beiden Gefühle keineswegs
koordiniert, sondern nach ihren Entstehnngsbedingungen. Merkmale
sind : 1) Die Verbindung von Lust oder Unlust mit einem andern
Affektgefuhl. 2) Gleichartige Beziehung auf einen Gegenstand.
3) Dominieren des Lustgefühls. 4) Das Totalgefuhl hat zwar einen
einheitlichen, aber keinen neuen Charakter.
Die Analogie zur zweiten Möglichkeit des vorigen Kapitels
ließe sich allenfalls noch aufrechterhalten bei einer Verbindung,
wie sie z. B. in der freudigen Überraschung gegeben ist. Durch
die Art seines Auftretens löst der Inhalt ein Uberraschungs-
gefühl aus, durch seinen Inhalt, entweder assoziativ oder direkt,
ein Lustgefühl. Es dominiert im Totalgefühl die Überraschung.
Dennoch ist nach dem Prinzip des geringen Verbindungswertes
von Lust und Unlust die Lust relativ selbständig. Beide, Lust
und Überraschung, bilden jedoch ein einheitliches Ganze, doch so,
daß die Lust die Überraschung eigenartig färbt. Wir wollen diese
Verbindung als »GeftLhlsverknüpfung« bezeichnen. Merkmale sind:
1) Verbindung von Lust-Unlust mit andern Affektgefühlen. 2) Aus-
lösung durch denselben Inhalt. 3) Lust-Unlust dominiert nicht,
sondern das andere Affektgeftihl. Man konnte im Zweifel sein,
ob wirklich bei der freudigen Überraschung stets die Überraschung
dominiert Mir scheint das in der Tat der Fall zu sein, die Freude
nur eine Färbung der Überraschung darzustellen. Denn sobald
der Moment der ersten Überraschung vorbei ist, und die Freude
eigentlich erst in ihr Recht tritt, würde ich das Gefühl nicht mehr
Überraschung nennen, zumal da jetzt nicht mehr die Hemmung,
sondern die Erregung fllr den Affekt bezeichnend ist. 4) Lust-
Unlust ist relativ selbständiges Partialgefuhl. 5) Die Verbindung
ist eine enge, aber leicht analysierbare.
Die andere Möglichkeit, daß die Bedingungen des einen Ge-
fühls zugleich Bedingungen des andern sind, liegt bei verschie-
denen Fällen vor:
Eine Art dieser Verbindungen finden wir z. B. in den Gefühlen
der Kraft, der Freiheit, der Schwäche, der Ohnmacht usw. Be-
trachten wir z. B. das Gefühl der Kraft. Die ursprünglichen
Charakteristika sind SpannungsgefUlüe besonderer Art, die Be-
dingungen für Lustgefühle in sich enthalten. In dem Totalgefuhl
bilden beide eine einzige Einheit, in der die Lustgefühle domi-
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Bemerkungen zur Psychologie der Gefiihlselemente usw.
279
nieren. Sie durchdringen sich jedoch gegenseitig und bilden eine
weit engere Einheit, als sie z. B. beim Gefühl der freudigen Über-
raschung vorliegt. Dennoch sind in der Analyse beide Gefühle
sehr wohl voneinander trennbar. Wir wollen diese GefÜhlsver-
bindung »Gefühlsdurchdringung« nennen. Sie charakterisiert sich
dadurch, 1) daß Lust-Unlust mit andern Affektgefühlen verbunden
ist; 2) daß die Verbindung der Gefühle ihrer Richtungsbestimmt-
heit nach eine fest bestimmte ist — es gibt kein unlustvolles Kraft-
gefühl oder lustvolles Schwächegefühl, wie es lustvolle oder unlust-
volle Überraschung gibt; 3) daß die Gefühle eng verwoben sind;
4) daß trotzdem die Trennung beider in der Analyse leicht gelingt.
Eine andersgeartete Form der eben besprochenen Möglichkeit
ist die, daß das Gefühl als solches durch seinen Inhalt nicht die
Bedingungen des zweiten Gefühls in sich enthält, sondern durch
die Art und Starke seines Auftretens, wie z. B. beim Schreck.
Der Schreck (nicht der durch seinen Inhalt unlustvolle, der schon
eine Gefühlsverbindung höherer Ordnung aus der unlustvollen
Überraschung ist) ist eine ubernormal gesteigerte Überraschung
und hierdurch unlustvoll. Die Verbindung der Überraschung mit
der Unlust ist derart, daß die Unlust stark dominierend heraus-
tritt. Die Verbindung ist eine enge bei großer Selbständigkeit
der PartialgefÜhle. Die Verbindung sei mit >Gefuhlsttber-
höhung« nach der Art ihrer Entstehung bezeichnet. Sie unter-
scheidet sich von der Gefühlsdurchdringung durch die Stärke des
Totalgefühls, durch die größere Stärke und Selbständigkeit der
PartialgefÜhle, dadurch, daß sie stets unlustvoll ist, und endlich
durch das stärkere Dominieren der Unlust, als es bei Gefühls-
durchdringungen der Fall ist. —
Ordnen wir die GefÜhlsverbindungen verschiedenen Charakters
nach der Enge der Verbindung des Ganzen, so ergibt sich in
absteigender Enge:
Gefühlsverdichtung (Überraschung).
Gefühlsdurchdringung (Kraft).
Gefühlskoordination (Erregung und Lust im Rot).
GefÜhlsUberhöhung (Schreck).
Gefühlsverknüpfung (freudige Überraschung).
Geordnet nach der relativen Selbständigkeit der nicht domi-
nierenden PartialgefÜhle, mit dem unselbständigsten beginnend:
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280
Moritz Geiger,
GeftlhlsYerdichtung.
Gefühlskoordination.
Gefühlsdurchdringung.
GefÜblsüberhöhung.
GefÜhlsverknüpfung.
Wie man sieht, deckt sich die Enge der Verbindung nur an-
nähernd, nicht vollkommen mit der Unselbständigkeit der Partial-
gefühle.
4) Die Verbindung logischer Gefühle.
Wie bei den Affektgefühlen ist anch hier zu unterscheiden
zwischen den Verbindungen gegensätzlicher Gefühle und denen
verschiedenartiger Gefühle.
Die Verbindungen gegensätzlicher Gefühle der logischen Gruppe
unterscheiden sich von denen der Affektgruppe gemäß den Be-
dingungen, die überhaupt zur Scheidung der beiden Gruppen ge-
führt haben. Die logischen Gefühle werden vom unmittelbaren
Bewußtsein von den Bestimmungen eines Gegenstands nicht ge-
sondert. Dann bestehen zwei Möglichkeiten : entweder die gegen*
sätzlichen Gefühle beziehen sich auf verschiedene gleichzeitige
Erlebnisse, so liegt eine Gefühlskombination, keine Gefühls Verbin-
dung vor. Oder es liegen Bedingungen gegensätzlicher Gefühle
in Beziehung auf denselben Gegenstand vor, so schließen sie sich
gegenseitig aus, wenn sie gleichzeitig gegeben sind und wirken;
denn in demselben Sinne können nicht zwei entgegengesetzte
logische Gefühle auf denselben Gegenstand bezogen sein, da kein
Gegenstand in demselben Sinn entgegengesetzte Bestimmtheiten
an sich tragen kann. Es kann dann keine Gefühlsverbindung,
sondern nur ein Verbindungsgefühl entstehen; denn diese gegen-
sätzlichen Bedingungen werden zusammenwirken zu einem ein-
heitlichen Gefühl. Sind sie nicht gleichzeitig wirksam, sondern
wirken sie abwechselnd nacheinander, so liegt freilich die Mög-
lichkeit der Bildung einer gegensätzlichen Gefühlsverbindung vor.
Bei den AffektgefUhlen war das anders. Sie können wohl
eine Beziehung auf Gegenstände haben, sind aber für die unmittel-
bare Auffassung nicht Bestimmungen dieser Gegenstände. Dem-
entsprechend wirken gegensätzliche Affektgefühle zwar gegenein-
ander, brauchen sich aber nicht notwendig aufzuheben. Wie wir
sehen, können ja die Lust und die Unlust auf verschiedene Seiten
des Gegenstandes gehen, usw. Dadurch kann ein Gegenstand
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Bemerkungen zur Psychologie der Geftthlselemente usw.
281
sowohl lustvoll als unlustvoll sein. Das logische Gefühl trifft
jedesmal den ganzen Gegenstand. Ein Gegenstand ist entweder
z. B. mit dem Bewußtsein der Wirklichkeit oder der Nichtwirk-
lichkeit verbunden. Mit beiden zugleich, das wäre unmöglich.
Bei den Verbindungen von gegensätzlichen logischen Gefühls-
bedingungen haben wir demnach zu unterscheiden zwischen simul-
tanem Wirken gegensätzlicher Bedingungen, das Verbindungsgefühle
ergibt, und dem sukzessiven, aus dem Gefühls Verbindungen entstehen.
Es seien zuerst simultan in Beziehung auf dasselbe psychische
Geschehen Bedingungen entgegengesetzter Art gegeben. Es seien
z. B. Bedingungen gegeben, die auf ein Gefühl der Wirklichkeit
gegenüber einem Tatbestand hinweisen, und andere, die ein Gefühl
der NichtWirklichkeit zu bewirken imstande sind. Wenn beides
nur Bedingungen sind, keine das Gegenteil absolut ausschließen-
den Ursachen des Gefühls, so können sie nicht nebeneinander
bestehen bleiben, es entsteht ein VerbindnngsgefÜhl, das Gefühl
der Möglichkeit. Eine genauere Analyse muß ich mir hier ver-
sagen. Nur bo viel sei bemerkt, daß nur eine Art des Gefühls
der Möglichkeit hier gestreift ist, und daß auch hier als Bedin-
gungen des Gefühls der Wirklichkeit nicht Ursachen für die Wirk-
lichkeit, sondern Gründe für die Annahme der Wirklichkeit vor-
handen sein müssen. Wegen der genaueren psychologischen Ana-
lyse des Tatbestandes verweise ich auf Lipps, Vom Fühlen, Wollen
and Denken. Es entsteht also hier ein Verbindungsgefühl, dessen
Charakteristikum ist, daß es keins der gegensätzlichen Gefühle
zum Grundcharakter hat, daß es als Gefühl etwas vollkommen
Neues mit vollkommen neuem Charakter ist, wenn auch das Be-
wußtsein der Art des Entstehens der Bedingungen für entgegen-
gesetzte logische Gefühle oft damit verknüpft zu sein scheint. Zu
einem vollständig neuen Gefühl haben sich die Bedingungen ver-
schmolzen: Wir können deshalb eine derartige Verbindung als
Verschmelzungsgefühl (nach dem Vorgange von Lipps) bezeichnen.
Nicht immer ist es übrigens notwendig, daß die Bedingungen bei
den Verschmelzungsgefühlen für das Bewußtsein vorhanden sind.
Nehmen wir z. B. die Ähnlichkeit, die aus Bedingungen für Gleich-
heit und Verschiedenheit verschmolzen ist, so gibt es zweifellos
Fälle, wie bei der Ähnlichkeit von Dreiecken, bei denen ich die Be-
dingungen der Gleichheit und der Verschiedenheit ohne weiteres an-
geben kann. Dagegen zeigt sich, daß diese Bedingungen bei der
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Moritz Geiger.
Ähnlichkeit von Rot und Orange z. B. fttr das Bewußtsein nicht vor-
handen sind. Sie sind einfach ähnlich, ohne daß ich imstande bin,
das Gleiche und das Verschiedene der beiden Farben voneinander
zu lösen. Ebenso kann auch in der individuellen Entwicklung
das VerschmelzungsgefUhl dem elementaren Gefühl vorausgehen »).
Zu den Verschmelzungsgefuhlen gehören z. B. Ähnlichkeit,
Wahrscheinlichkeit, Möglichkeit, Gegensätzlichkeit.
Wir müssen bei den Verschmelzungsgefuhlen zweierlei unter-
scheiden: solche, bei denen der neue Charakter des Verschmel-
zungsgefUhls rein ist, d. h. nichts vom Charakter des einen der
GefUhle hat, deren Bedingungen seine Komponenten sind (neutrales
VerschmelzungsgefUhl), und solche, bei denen im Gesamtcharakter
das eine Gefühl Uberwiegt, ohne natürlich dem vollkommen Neuen
und Eigenartigen des Verschmelzungsgefühls Eintrag zu tun (ein-
seitig betontes VerschmelzungsgefUhl). Zu den neutralen Ver-
schmelzungsgefuhlen gehört die Möglichkeit, zu den einseitig be-
tonten die Wahrscheinlichkeit, bei der die Bedingungen für eines
der widerstreitenden Gefühle stärker sind, ferner die Ähnlichkeit,
bei der die Gleichheit, die Gegensätzlichkeit, bei der die Ver-
schiedenheit stärker betont ist.
Um Mißverständnisse auszuschließen, möchte ich darauf hin-
weisen, daß das in dem Lipps sehen Buche vom Fühlen, Wollen
und Denken an der zitierten Stelle erwähnte VerschmelzungsgefUhl
der Gewißheit wohl in der dort erwähnten Hinsicht, nicht aber
in unserem Sinn ein VerschmelzungsgefUhl ist Ein Gefühl kann,
seinem Entstehen nach, ursprünglich das Endergebnis gegenein-
ander wirkender Bedingungen sein, ohne daß im Gefühl selbst
diese einander entgegenwirkenden Bedingungen zum Ausdruck
kommen. Die logische Möglichkeit ist zuweilen die Verschmelzung
aus Geftthlsbedingungen der Wirklichkeit und der Nichtwirklich-
keit. Die Gewißheit, der Gewißheitsentscheid ist, wenn auch
entstanden aus entgegengesetzten Bedingungen, dennoch kein Ver-
schmelzungsgefUhl in unserem Sinn; denn daß und ob der Gewiß-
heit widerstreitende Motive vorausgegangen sind, das äußert sich
vielleicht im Grad der Entschiedenheit, mit der das Gefühl der Ge-
wißheit auftritt. Aber im Moment, wo die Gewißheit zum Erleben
kommt, müssen diese entgegenstehenden Bedingungen unwirksam
1) Siehe z. B. für die Ähnlichkeit die Ausführungen bei Hans Corne-
lius, Psychologie als Erfahrungswissenschaft 1897. I. Kapitel.
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Bemerkungen zur Psychologie der Geftihlselemente usw. 283
geworden Bein, sonst entsteht eben keine Gewißheit. Deshalb
Techne ich die Gewißheit nicht zu den Verschmolz anbefahlen.
Die Bedingungen, die auf entgegengesetzte logische Gefühle
hinwirken, können auch nacheinander wirksam werden. Das ist
z. B. beim Zweifel, bei der Unentschiedenheit der Fall. Bei diesen
Gefühlen liegt einerseits eine Gefühlsdurchdringung vor — davon
soll später die Rede sein, — ferner aber eine Gefühlsverbinduug,
in der die gegensätzlichen Gefühle vorhanden sind, der Gesamt-
charakter jedoch etwas vollkommen Neues ist. Dennoch treffen
hier nicht die Merkmale der Gefühlsverschmelzung zu. Denn dort
bestanden die gegensätzlichen Gefühle nebeneinander, hier ist es
ein Nacheinander. Wenn ich z. B. unentschieden bin, ob ich etwas
tun soll, so bin ich keineswegs gleichzeitig geneigt, das Betreffende
zu tun und nicht zu tun, sondern zunächst betrachte ich das Aus-
führen der einen Möglichkeit als wirklich; doch so, daß ein Gefühl
inneren Widerstrebens vorhanden ist, das mich dazu veranlaßt,
zu der andern Möglichkeit innerlich überzugehen. Es scheint
mir jedoch nicht so zu sein, daß die beiden in Betracht kommen-
den Möglichkeiten gleichzeitig als Willensantriebe im Bewußtsein
sind. Vielmehr ist im Bewußtsein ein Willensantrieb und ein
Gefühl des Widerstrebens dagegen, und nachher der entgegen-
gesetzte Willensantrieb und ebenfalls ein Gefühl des Widerstrebens.
Über beiden baut sich ein Totalgefühl auf, das wir mit dem Namen
der Unentschiedenheit bezeichnen. Diese Art der gegensätzlichen
Gefühlsverbindung, bei der das Totalgefühl einen neuen Charakter
hat, die gegensätzlichen Gefühle jedoch als sukzessiv abwechselnd
dominierende PartialgefÜhle erhalten sind, sei mit dem Ausdruck
» Gefühlsentgegensetzung « bezeichnet.
Hiermit sind die Hauptformen logischer gegensätzlicher Geftihls-
verbindungen erschöpft. Die Verbindungen verschiedenartiger
logischer Gefühle sind wenig mannigfaltig in ihren Formen.
Beziehen sich verschiedenartige logische Gefühle auf denselben
Gegenstand, so gehen sie keine engere Verbindung ein. Zwei
Gegenstände sind neu, ähnlich und wirklich. Das sind so ver-
schiedene Bestimmungen, auf die diese Gefühle sich beziehen, daß
zwischen ihnen keine engere Gefühlsverbindung zustande kommt
als die, welche in ihrer Gleichzeitigkeit gegeben ist.
Eine Beziehung logischer Gefühle aufeinander könnte man an-
nehmen, wo es sich um das Bewußtsein einer neuen Notwendigkeit,
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284
Moritz Geiger,
einer möglichen Ähnlichkeit handelt. Aber die Beziehung ist
sicherlich nicht etwa so beschaffen, daß man einfach sagen
darf : das Gefühl der Ähnlichkeit bezieht sich auf die Gegenstände
nnd das Gefühl der Möglichkeit anf das Gefühl der Ähnlichkeit
Dadurch wäre der Tatbestand keinesfalls richtig beschrieben.
Denn wenn auch das Bewußtsein der Ähnlichkeit einen Gefühls-
bestandteil in sich enthält, so ist es doch gerade das Nichtgeftthls-
mäßige an ihr, die auf den Gegenstand bezogene Seite an ihr,
auf die sich die Möglichkeit bezieht. Wir können also nur sagen :
das Gefühl der Möglichkeit bezieht sich indirekt auf das Gefühl
der Ähnlichkeit. Dieser geringe Zusammenhang, der es fraglich
erscheinen läßt, ob wir überhaupt noch das Recht haben, von
einer Beziehung der Gefühle aufeinander zu reden, ergibt sich
auch phänomenologisch: das Gefühl der Möglichkeit und das der
Ähnlichkeit sind so lose verknüpft, daß jedes Gefühl für sich selb-
Btändig bleibt und nur eine lose Einheit zustande kommt, die wir
als GefÜhlsnebeneinander bezeichnen wollen.
5) Die Verbindung der logischen Gefühle mit Affekt-
gefühlen.
Bei der Verbindung der logischen Gefühle mit den Affektge-
fuhlen sind von den obenerwähnten vier Möglichkeiten der Bezie-
hung der Gefühle zum Gegenstand und zueinander drei vorhanden,
die uns schon oben begegnet sind. Es sind wiederum nur drei
Möglichkeiten, da aas den bei den Verbindungen der Affektgefühle
erwähnten Gründen eine Scheidung zwischen Beziehung beider
Gefühle auf denselben Gegenstand und Beziehung auf verschiedene
Seiten des Gegenstandes nicht möglich erscheint, da natürlich
Affektgefühle und logische Gefühle stets durch verschiedene Seiten
des Inhalts ausgelöst werden.
Entweder beziehen sich also die Gefühle auf denselben Gegen-
stand, oder die Bedingungen des logischen Gefühls sind zugleich
Bedingungen des Affektgefühls, oder das eine Gefühl hat das andere
zum Gegenstand.
Beziehen sich die beiden Gefühle einfach auf denselben gegen-
ständlichen Inhalt, so verbinden sie sich nicht, wie das ja auch
beim Zusammentreffen zweier logischer Gefühle der Fall war.
Ob ein angenehmes Rot ähnlich einem andern ist, ob es neu ist
usw., das mag zwar die Intensität des Affektgefühls beeinflussen,
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Bemerkungen zur Psychologie der Geflihlselemente uaw. 285
bringt aber keineswegs eine Verbindung zwischen den Gefühlen*
zustande.
Sind die Bedingungen des logischen Gefühls dagegen zugleich
Bedingungen des Affektgefühls, so entsteht eine enge Verbindung.
Ein Beispiel ist das früher erwähnte Gefühl des Zweifels. Da
aber hier gegensätzlich logische Gefühle sich mit UnlustgefÜhlen
verbinden, der Zweifel als Ganzes also eine Gefühlsverbindung
höherer Ordnung ist, so wollen wir uns an andere Beispiele halten.
Ehe wir zu diesen übergehen, muß noch eine Besonderheit
dieser Gefühle beachtet werden. Die Gefühle nämlich, die das
Gefühl des Zweifels ausmachen, haben den Charakter logischer
Gefühle, die Unlust ist ein Affektgefühl. Es könnte demnach
zweierlei geschehen, dadurch, daß auf Objekte bezogene Gefühle
und nicht auf Objekte bezogene Gefühle zu einem einzigen Gefühl
vereinigt werden. Entweder die Affektgefühle nehmen teil an der
Beziehung auf die Objekte und werden als Bestimmungen des Ob-
jekts aufgefaßt, oder die logischen Gefühle verlieren ihre Beziehung
auf das Objekt und werden mit den Affektgefuhlen als Zustände
des Subjekts aufgefaßt. In Wirklichkeit tritt nur das letztere ein.
Der Zweifel z. B. wird vollkommen vom Objekt getrennt, wenig-
stens soweit er eine Verbindung mit den Affektgefühlen eingeht. Da-
neben behält er oder kann er wenigstens seinen objektiven Charak-
ter behalten. Ich zweifle z. B., daß mein Lotterielos gewinnen
wird. Hier kann das Zweifelhafte, das eigentlich in der Sache selbst
liegt, durch die Verbindung mit den Gefühlen der Lust und des
Strebens reine Stimmung werden: ich zweifle, daß ich gewinnen
werde. Daneben freilich bleibt der Charakter der Ungewißheit des
Gewinns, der Ungewißheit also als Bestimmung des Objekts, be-
stehen. Aber der eigentliche Affekt des Zweifels ist keine Be-
stimmtheit des Gegenstandes mehr, sondern er bezieht sich auf den
Gegenstand, er haftet an dem Gegenstand. Der Gesamtcharakter
wird durch das Affektgefühl bestimmt, nicht durch das logische
Gefühl. Man kann diese Erscheinung als das Prinzip der Subjekti-
vation logischer Gefühle durch Affektgefühle bezeichnen.
Diese Erscheinung: tritt auch bei den Gefühlsverbindungen erster
Ordnung auf, die uns hier interessieren, z. B. im Gefühl der Sicher-
heit, der Gewißheit.
Dieses Gefühl hat phänomenologisch drei Stufen. Die logisch
verschiedene Bedeutung dieser drei Stufen kommt hier nicht in
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286
Moritz Geiger,
Betracht, uns interessiert nur die psychologische Seite; und von
dieser wiederum nur die Geftihlsseite. In der ersten ist eine Tat-
sache gewiß; ein rein logisches Gefühl ist vorhanden ohne Ver-
bindung mit Affektmomenten. In der zweiten Stufe ist ebenfalls
noch das Bewußtsein der Gewißheit oder Sicherheit einer Tat-
sache vorhanden; daneben aber macht sich deutlich die lustvolle
Gesamtstimmung der Sicherheit bemerkbar, hervorgerufen gerade
durch das Bewußtsein der Sicherheit einer Tatsache. In der dritten
Stufe ist einfach das Gefühl der Sicherheit als Stimmung vorhanden,
ohne ein deutliches Bewußtsein von Objekten, die sicher sind.
Das logische Gefühl der Gewißheit einer Tatsache ist auf der
ersten Stufe ein einfaches Gefühl, keine Gefühlsverbindung. Aber
es sind auch hier schon Bedingungen vorhanden, die unter Um-
ständen affektiv wirken können. Diese Bedingungen sind gegeben
in der mit jedem Bewußtsein der Sicherheit verbundenen Ein-
deutigkeit des psychischen Geschehens, in seinem eindeutigen
Vorwärtsgehen. Kommen neue Umstände hinzu, die die Gefühls-
wirkung dieser Eindeutigkeit verstärken, etwa eine vorausgegangene
Unsicherheit, so tritt der Affektcharakter deutlich heraus. Es ent-
steht dann das Gefühl der Lust der Gewißheit einer Tatsache;
nicht der Gewißheit einer bestimmten Tatsache, sondern Lagt an
der Gewißheit schlechtweg. Die Gewißheit kann sogar als Gewiß-
heit dieser Tatsache sehr unlustvoll sein. Von dieser Gefnhls-
verbindung wird noch die Rede sein.
Die hier in Frage kommende Lust an der Gewißheit ißt eine
Gefuhlsverbindung, bei der die Bedingungen der Gewißheit die
Bedingungen der Lust unmittelbar in sich enthalten. Phänomeno-
logisch trügt diese Gewißheit der zweiten Stufe alle Merkmale der
»GefUhlsdurchdringung« an sich, wie wir sie im Gefühl der Kraft
oder der Freiheit kennen gelernt haben. Wir können sie daher
als »logisch-affektive GefUhlsdurchdringung« bezeichnen.
Geht der logische Charakter ganz verloren - die dritte der
obenerwähnten Stufen — und bleibt nur die Stimmung der
Sicherheit zurück, so haben wir es nicht mehr mit einer Verbin-
dung von logischen und affektiven Gefühlen zu tun, sondern mit
einer rein affektiven Verbindung, eben der rein affektiven GefUhls-
durchdringung. Die logisch-affektive GefUhlsdurchdringung ist also
eine Vorstufe der affektiven. Fast alle GefUhlsdurchdringungen
haben ein zugehöriges indifferentes logisches Gefühl und daher
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Bemerkungen zur Psychologie der Gefiihlselemente ubw.
287
auch eine solche Voretnfe. So z. B. die Gefühle unlustvollen Sich-
kleinfühlens oder Instvollen SichgroßfÜhlens das gegenständliche
Intensitätsgeftthl, der Zwang das Gefhhl der Notwendigkeit nsw.
Es zeigt sich hierin, daß unsere Zweckmäßigkeitsscheidung von
logischen und Affektgeftihlen keinerlei fundamentale psychologische
Bedeutung hat (in Beziehung auf eine Einteilung nach Geiuhls-
grundlagen), sondern sekundären Charakter, und nicht für die
Gefühle selbst, sondern nur flir die Verbindungen der Gefühle
eine zweckentsprechende ist
Endlich noch die letzte Möglichkeit: Ein Gernhl bezieht sich
auf das andere. Hier gilt all das wiederum, was oben in bezug
anf die Gefühle einer neuen Möglichkeit gesagt wurde. Der in
Frage stehende Fall liegt im Gefühl der angenehmen Möglichkeit
vor. In letzter Linie freilich geht die Lust auf die Tatsache,
deren Möglichkeit vorliegt. Sie tut es jedoch durch Vermittlung
des Gefühls der Möglichkeit Die reine Vorstellung des Gegen-
stands ohne das Gefühl der Möglichkeit würde vielleicht nicht
genügen, das affektive Gefühl auszulösen. Hier haben wir, ent-
sprechend oben beim Gefühl einer neuen Möglichkeit ein logi-
sches Gefuhlsnebeneinander, ein logisch-affektives Gefuhlsneben-
einander. Hierher gehört auch das obenerwähnte Gefühl der
angenehmen wie der unangenehmen Gewißheit einer bestimmten
Tatsache. Tritt die unangenehme Gewißheit nach einer Zeit der
Ungewißheit anf, die unangenehm als Gewißheit ist — es tritt dann
die schreckliche Gewißheit ein, die trotzdem oft als Erlösung
gegenüber einer schrecklichen Ungewißheit angesehen wird — ,
so haben wir eine Gefublsverbindung höherer Ordnung vor uns.
6) Zusammenfassung.
Wenn auch mit dieser Zusammenstellung nicht alle möglichen
Gefuhlsverbindungen erster Ordnung erschöpft sind, so sind doch
wohl einige der wichtigsten zusammengestellt Es verschlägt dabei
nichts, wenn sich späterhin andere Einteilungsgesichtspunkte als
zweckmäßiger herausstellen sollten. Diese Arbeit sollte nur ein
erster Versuch sein, auf der Grundlage der Anschauung von der
Mannigfaltigkeit der Gefühle die Gefuhlsverbindungen zu systemati-
sieren. Das Neuland der Gefühlsverbindungen wird nicht bei der
ersten Inangriffnahme vollkommen erobert werden können. Des-
halb glanbte ich es in skizzenhafter, für den tiefer Eindringenden
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288 Moritz Geiger, Bemerkungen zur Psychologie der Geflihlselemente usw.
wohl allzu skizzenhafter Weise wagen zn dürfen, wenigstens einzelne
Gesichtspunkte, die weiterführen können, aufzuzeigen. Die Haupt-
gesichtspunkte, nach denen die Ordnung erfolgte, waren einmal das
Verhältnis von PartialgefÜhl und Totalgefühl und in zweiter Linie
die Beziehung der Partialge fühle zueinander, hzw. zum Gegenstand.
Es ergaben sich hieraus die folgenden Geftthlsverbindungen.
Die Verbindungsgefühle sind, als nur durch die systematische
Ubersicht erfordert, eingeklammert.
I. Verbindungen von Affektgefühlen.
A. Verbindungen gegensätzlicher Gefühle.
1) GefÜhlsverschmelzung (Mitleid).
2) Mehrdeutige GefUhlsverflechtungen.
a. Gefühls Verdrängung (unangenehme Speise bei Hunger].
b. Mehrdeutige GefÜhlsverwebung (Sehnsucht).
3) Eindeutige GefUhlsverflechtungen.
a. Eindeutige Gefühlsvereinheitlichung (überwundene An-
strengung).
b. Eindeutige GefÜhlsverwebung (Entrüstung).
4) Zwischenverbindung zwischen Gefühlsverbindung and
Verbindungsgefühlen.
a. Gefühlssubordination (Rache, Neid).
[5) Verbindungsgefühl: VertierungsgefÜhl.]
B. Verbindungen verschiedenartiger Gefühle.
1) Gefühlsverdichtung (Überraschung).
2) Gefühlsdurchdringung (Kraft).
3) Gefühlskoordination (leuchtendes Rot).
4) GefÜhlsUberhöhung (Schreck).
5) Gefühls Verknüpfung (freudige Überraschung).
II. Verbindungen von logischen Gefühlen.
A. Verbindungen gegensätzlicher Gefühle.
[1) Verschmelzungsgefühl (Möglichkeit).]
2) Gefühlsentgegensetzung (Zweifel).
B. Verbindungen verschiedenartiger Gefühle.
1) GefÜhlsnebeneinander (neue Möglichkeit).
III. Verbindungen logischer Gefühle mit Affektgefühlen.
1) AfFektiv-logische Gefühlsdurchdringung (Gewißheit).
2) Logisch-affektives GefÜhlsnebeneinander (unangenehme
Gewißheit).
[Eingegangen am 15. Hai 1904..
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ARCHIV
FÜR DIE
GESAMTE PSYCHOLOGIE
UNTER MITWIRKUNG
VON
Prof. H. HÖFFDING in Kopenhagen, Prof. F. JODL in Wien,
Prof. A. KIRSCHMANN in Tohonto (Canada), Pbof. E. KRAEPEL1N
in München, Prof. O. KÜLPE in Wübzburg, Dr. A. LEHMANN
iw Kopenhagen, Prof. Th. LIPPS in München, Prof. G. MARTIUS
in Kiel, Prof. G. STÖRRING in Zürich, Dr. W. WIRTH in Leipzig
und Prof. W*. WUNDT in Leipzig
HERAUSGEGEBEN VON
E. MEUMANN
0. PROFESSOR I»KI£ PHILOäOPIlIK A. D. UNIVKRS1TAT ZÜRICH
*
IV. BAND, 3. HEFT
MIT NEI N EIGIKEN IM TEXT
LEIPZIG
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN
1905
Ausgegeben am IX.. Januar 190-',. Digitized by Goo j
Bemerkungen für unsere Mitarbeiter.
Das Archiv erscheint in Heften, deren vier einen Band von
etwa 40 Bogen bilden.
Sämtliche Beiträge für das Archiv bitten wir an die Adresse des
Herrn Professor E. M e u m ann, Zürich, Schmelzbergstr. 53 einzusenden.
An Honorar erhalten die Mitarbeiter: für Abhandlungen
JtdO.— , für Referate Ji 40.— für den Bogen. Von den Abhand-
lungen werden an Sonderdrucken 40 umsonst, weitere Exemplare
gegen mäßige Berechnung geliefert. Von" den Referaten werden
Sonderdrucke nur auf Verlangen geliefert. Die etwa mehr gewünschte
Anzahl bitten wir, wenn möglich bereits auf dem Manuskript an-
zugeben.
Die Manuskripte sind nur einseitig beschrieben und druckfertig
einzuliefern, so daß Zusätze oder größere sachliche Korrekturen
nach erfolgtem Satz vermieden werden. Die Zeichnungen für Tafeln
und Textabbildungen (diese mit genauer Angabe, wohin sie im Text
gehören] werden auf besondern Blättern erbeten ; wir bitten zu beachten,
daß für eine getreue und saubere Wiedergabe gute Vorlagen uner-
läßlich sind. Anweisungen für zweckmäßige Herstellung der Zeich-
nungen mit Proben der verschiedenen Reproduktionsverfahren stellt
die Verlagsbuchhandlung den Mitarbeitern auf Wunsch zur Verfügung.
Tn Fällen außergewöhnlicher Anforderungen hinsichtlich der Ab-
bildungen ist besondere Vereinbarung erforderlich.
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die für Deutschland, Österreich und die Schweiz jetzt amtlich ein-
geführte, wie sie im Du denschen Wörterbuch, 7. Auflage, Leipzig
1902, niedergelegt ist.
Die Veröffentlichung der Arbeiten geschieht in der Reihenfolge,
in der sie druckfertig in die Hände der Redaktion gelangen, falls
nicht besondere Umstände ein späteres Erscheinen notwendig machen.
Die Korrekturbogen werden den Herrn Verfassern von der Ver-
lagsbuchhandlung regelmäßig zugeschickt; es wird dringend um deren
sofortige Erledigung und Rücksendung ;ohne das Manuskript) an die
Verlagsbuchhandlung gebeten. Von etwaigen Änderungen des Aufent-
halts oder vorübergehender Abwesenheit bitten wir, die Verlagsbuch-
handlung sobald als möglich in Kenntnis zu setzen. Bei säumiger
Ausführung der Korrekturen kann leicht der Fall eintreten, daß
eine Arbeit für ein späteres Heft zurückgestellt werden muß.
Die Referenten werden gebeten, Titel,. Jahreszahl, Verleger, Seiteu-
zahl und wenn möglich Preis des Werkes, bzw. die Quelle bespro-
chener Aufsätze nach Titel, Band, Jahreszahl der betreffenden Zeit-
schrift genau anzugeben.
Herausgeber und Verlagsbuchhandlung.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
Von
Henry J. Watt
(Aas dem psychologischen Institut der Universität Würzhnrg.)
Mit 9 Figuren Im Text.
§ 1. Die Aufgabe und die Versuehsanordnung.
Die hier behandelten Reaktiona versuche wurden im Würzburger
Psychologischen Institut im Sommersemester des Jahres 1902 und
im darauf folgenden Wintersemester ausgeführt Es sind Versuche
Ober sogenannte Assoziationsreaktionen gewesen, wobei auf
ein von der Vp. ») gelesenes Reizwort mit einem von ihr ge-
sprochenen Worte reagiert wurde. Dabei waren die Reproduktionen
nicht sogenannte freie, sondern durch bestimmte Aufgaben
eingeschränkte. Wir stellten den Vp. im ganzen sechs Aufgaben,
von denen in der Regel je zwei (= 30 Einzelversuche) au jedem
Vereuchstag erledigt wurden. Die sechs Aufgaben waren
zu dem im Reizwort bezeichneten zu finden: einen übergeordneten
Begriff, einen untergeordneten Begriff, ein Ganzes, einen Teil, einen
koordinierten Begriff, einen andern Teil eines gemeinsamen Ganzen.
Diese Aufgaben sind im folgenden in dieser Reihenfelge als Auf-
gabe'I, II, III, IV, V, VI bezeichnet. Nach jedem Versuch gab
die Vp. alles zu Protokoll, was sie erlebt hatte, und alles,
was sie über ihre Erlebnisse sagen wollte. Alles das wurde sofort
vom Experimentator aufgeschrieben und gelegentlieh durch geeig-
nete Fragen ergänzt. Die zwei Versuchsreihen nahmen gewöhnlich
eine Stunde in Anspruch, zuweilen etwas mehr, zuweilen etwas
weniger, je nach der Länge und Ausführlichkeit des Protokolls, und
1) Vp. Versuchsperson.
Arcfc» tti Ptjebologi«. IV.
19
290
Henry J. Watt,
je nachdem die Vp. überhaupt langsamer oder schneller arbeitete.
Gelegentlich kamen wir auch zu keiner zweiten Reihe, aber es
wurde strenge darauf gesehen, daß keine Aufgabe durch ihre Zeit-
lage benachteiligt wurde. Zwischen den zwei Reihen fand eine
kleine Pause statt, die sich nach den Umständen und nach dem
Reaktionscharakter der Vp. von Zeit zu Zeit veränderte. Es ist
ja bekannt, daß einige Vp. ein besseres Gedächtnis für die Ver-
suche haben, als andere, die sich weniger von vorhergehenden
Aufgaben und Reproduktionen und von Bereitschaften beeinflussen
lassen. Die nötige Vorsicht, daß die Vp. unwissentlich verfuhren,
wurde möglichst durchgeführt.
Die Wörter, die im Sommersemester 1902 benutzt wurden,
stammten aus einer im Institut schon befindlichen, von Herrn Dr.
Ach herrührenden Sammlung. Viele waren zu unsern Zwecken
nicht besonders geeignet. Im Wintersemester ließen wir deshalb
gegen 500 Wörter drucken, die unter die verschiedenen Aufgaben
verteilt wurden. Sic waren sämtlich Hauptwörter, die jeder-
mann geläufig und nicht offenbar zusammengesetzt waren und fast
alle aus weniger als drei Silben bestanden. Dreisilbige Wörter
habe ich deshalb nicht prinzipiell vermieden, weil die zur Auf-
fassung gebräuchlicher Wörter erforderliche Zeit bekanntlich nicht
durchweg von deren Silbenzahl abhängt. Für die Aufgaben, bei
denen es sich um das Ganze oder den Teil handelte, waren sie
natürlich hauptsächlich Bezeichnungen für Gegenstände, bei den
andern kamen Bezeichnungen sowohl von Gegenständen als von
Begriffen nebst einigen geläufigen Eigennamen vor. Im Sommer-
semester stieg die Anzahl der ausgeführten Versuche bis 1362?
und im Wintersemester, das das beste und am meisten benutzte
Material für diese Arbeit geliefert hat, machte jede Vp. gegen
100 Versuche mit jeder Aufgabe. Mit allen sechs Aufgaben
arbeiteten drei Vp., und mit nur zweien eine Vp. Die genaue
Anzahl der Versuche dieses Semesters war 1891.
Den sechs Vp., den Herren Professoren F. Angell und Külpe,
Dr. Dürr, Dr. Orth, Dr. F. Schmidt, K. Schmitt, die mir
meine Arbeit durch ihre Geduld, Hingabe und Freundschaft so
erleichtert und angenehm gemacht haben, wiederhole ich hier
meinen aufrichtigen Dank. Im folgenden ist jede dieser Vp. mit
einer Nummer bezeichnet, die für dieselbe Vp. die ganze Arbeit
hindurch die gleiche bleibt.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
291
Unser Apparat bestand im wesentlichen ans dem Hipp sehen Chrono-
skop1;. dem Achschen Kartenwechsler2) und dem Schalltrichter *). Durch
Stromscbließung im Kartenwechsler bewegt sich das Zeigerwerk des Chrono-
skops, und durch Unterbrechung des Stroms beim Hineinsprechen in den
Schalttrichter steht es still. Auf diese Weise bekommt man am Chronoskop
die zwischen der Erscheinung des Reizwortes und dem ersten ausgesprochenen
Laut verflossene Zeit.
Die einzige Schwierigkeit ist, diese Instrumente so einzurichten, daß
die bloß momentane Strom Unterbrechung, die zwischen der Schraube und der
Blechmembran im Trichter beim Hineinsprechen entsteht, am Chronoskop
eine dauernde wird. Um dies zu ermöglichen, benutzt man zwei Strom-
kreise, von denen der zweite sich nicht nach einer momentanen Unter-
brechung wieder schließen kann. Dieses leistet das Relais, das, wie wir es
benutzt haben, eine Vereinfachung des Cattel Ischen ist4). Unsere ganze
Einrichtung findet man in Fig. 1 dargestellt. Der in ausgezogener Linie
angedeutete Chronoskopstrom geht von der Klemmschraube c Uber die Feder /»,
die, wenn der Magnetstrom unterbrochen wird, die den Anker des Doppel-
magneten tragende Lamelle zurückzieht, und durch den Kern des Magneten
über c' hinaus weiter. Durch die Schraube a wird die Lamelle festgehalten
und eventuell den Magneten genähert. Der andere in unterbrochener Linie
angedeutete Strom, der zugleich der im Schalltrichter benutzte ist und durch
Vibrieren der Membran momentan unterbrochen wird, geht bei d hinein, um-
kreist die Magnetkerne und tritt bei d' aus. Dieser Stromkreis ist von dem
Strom des Chronoskops durch die in der Figur geschwärzten Teile des Relais
isoliert. Der Strom des Trichters wird so eingerichtet, daß die Zugkraft der
Magneten um weniges stärker als die der Feder 6 ist, aber nicht ausreicht,
am den Anker in seiner Ruhelage (die in der Figur gezeichnet ist) anzuziehen.
Wenn man nun den Stromkreis des Trichters schließt und den Anker an die
Magneten drückt, so ist der Stromkreis des Chronoskops ebenfalls geschlossen.
Sobald aber die Membran im Trichter ins Vibrieren kommt, läßt die Zugkraft
der Magneten nach, der Anker wird zurückgezogen und, obgleich der Kontakt
im Trichter sofort wieder hergestellt wird, vermügen die Magneten den Anker aus
der Entfernung nicht wieder an sich zu ziehen. Die momentane Unterbrechung
im Trichter ist dadurch zu einer dauernden im Strom des Chronoskops
geworden.
Im Stromkreis des Chronoskops, der von zehn Meidinger Ele-
menten Eli zunächst zu dem Stromwechsler geleitet ist. stehen der Widerstand
K das ChronoBkop5) GE1 dessen untere Magneten wir benutzt haben, ein
1 Wundt, »Psych. III, S. 391 ff.
2 Ach, Über die Beeinflussung der Auffassungsfähigkeit durch einige
Arzneimittel. Diss. Würzburg 1900. S. 68 ff.
3; Als Membran haben wir auf Empfehlung von Herrn Prof. Meumann in
Zürich statt Lammleder ein dünnes Kupferblech benutzt, welches isoliert am
Gerüst des Trichters angeschraubt wird. Vgl. Wundt. »Psych. III, S. 403.
4 Vgl. Wundt, a. a. 0., S. 403. Nach den Angaben von Prof. KUlpe
vom Mechaniker Sieden topf in Würzburg angefertigt.
5; An dem Chronoskop sind auf Veranlassung von Herrn Prof. KUlpe
zwei Klemmschrauben angebracht, die eine in leitender Verbindung mit dem
Uhrwerk links an der hinteren Platte des Gerüsts (5 in der Fig.), die andere in
19*
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Henry J. Watt,
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 293
Amperometer';, der Achsche Kartenwechsler, das Relais und das Pendel. Das
Amperometer hat dazu gedient, den Strom der Elemente täglich sowohl vor
wie nach den Versuchen zu messen. Im Kartenwechsler wird der Kontakt
hergestellt indem die Platte, die die Karte bedeckt, aufspringt, d. h. in dem
Moment, in dem das gedruckte Wort der Vp. sichtbar wird. Da in diesem
Moment alle andern Kontakte im Stromkreis geschlossen sind, setzt sich
das Zeigerwerk des Chronoskops in Bewegung. Beim Hineinsprechen des
Reaktionswortes in den Schalltrichter wird der Strom in der angegebenen
Weise am Anker des Relais dauernd unterbrochen, und die Zeiger des Ohrono-
skops stehen still. Man hat also die Zeit vom Erseheinen des Wortes an bis
zum Anfang der Reaktion gemessen2).
Im Stromkreis des Schalltrichters, zu dem wir einen durch einen
Rosenbachschen Tellerwiderstand TW*) entsprechend abgeschwächten
Starkstrom EL» benutzt haben, stehen von dem Strom wechslet ausgehend
der Schalltrichter ST und das Relais Ii. Im Trichter geht der Strom durch
die eine Klemmschraube ins Gerüst, auf eine im Innern des Trichters be-
findliche Schraube, die die Membran berührt, Uber, und durch diese an der
andern Klemmschraube hinaus. Die Luftschwingungen, die durch die Ex-
spiration beim Sprechen der Vp. verursacht werden, werfen die Membran von
der Schraube momentan zurück, wodurch der Kontakt gebrochen wird.
Der Schalltrichter war zuweilen etwas träge, zuweilen etwas empfindlich
gegen andere Vibrationen, wodurch wir in einigen Fällen zu lange, zu kurze
oder keine Zeitmessungen im Chronoskop bekommen haben. Dies bringt
aber außer dem Verlust dieser Messungen keine Störung4) mit sich, weil man
ja am Zeiger des Chronoskops sieht, wie die Störung wirkte, ob verkürzend
oder sonstwie, und weil die Unterbrechung am Trichter ja oine plötzliche
sein muß. Es ist eine gewisse Stärke der Luftschwingungen nötig, um die
Membran zu entfernen.
Die Platte des Karten Wechslers wurde vom Experimentator durch
Ziehen einer am Hebel K befestigten Schnur losgelassen. Zwischen den einzelnen
Versuchen hat die Vp. selbBt die Karte durch Druck an dem Hebel h erneuert
und den Anker an die Magneten des Relais gedrückt. Der Experimentator
setzte dann das Uhrwerk des Chronoskops in Bewegung, rief »jetzt« und
isolierter Aufstellung hinten über den Magneten. Durch die letztere
geht eine Schraube, gegen deren platinierte Spitze der vom Magneten bewegte,
den Mitnehmer tragende Hebel gezogen wird, und die so eingestellt sein
kann, daß ein Strom mittels dieses Hebels genau in dem Moment geschlossen
wird, in dem das Zeigerwerk des Chronoskops sich zu bewegen anfangt
Diese Einrichtung (vom Mechaniker Zimmermann in Loipzig in seinen
Katalog XVIII Nr. 107 aufgenommen} ist dazu bestimmt, eine direkte chrono-
graphische Aufnahme der vom Chronoskop angegebenen Zeit zu ermög-
lichen.
1) Von Gebr. Ruhstrat, Göttingen, bezogen.
2) Die ganze von Herrn Privatdozenten Dr. Ach in dankenswerter Weise
selbst bestimmte Latenzzeit des in Göttingen bei Dieterich angefertigten
Kartenwechslers betrug 22,1 it, mittlere Variation 0,3 ff.
3) Von Gebr. Ruhstrat, Göttingen.
4) Die Versuche, bei denen ich keine Zeiten bekommen habe, wiederholte
ich nach einigen Monaten,
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294 Henry J. Watt,
ließ etwa zwei Sekunden später die Karte dnrch Ziehen an der Schnur er-
fleheinen.
Das Pendel1) dient dazu, den Einfluß der Stromstärke auf das Chrono-
skop zu kontrollieren. Diese Rontrollmessnngen wurden vor und nach jeder
Versuchsstunde vorgenommen. Es besteht aus einem 170 cm langen Pendel
das Uber einem Haßstab schwingt Auf dem Maßstab sind zwei Kontakt-
apparate C und C angebracht die in der Figur 2 flir sich dargestellt sind.
Ein mit einem Gelenk e versehener Stift, der auf der Achse f mit einem
Exzenter b schwingt, läßt sich durch die Feder c kontrollieren, so daß, wenn
er aufrecht steht, er gegen die auf dem Messingkeil angebrachte Schraube
gedrückt wird und, wenn er aus der senkrechten Lage gebracht wird, ein
daran befindliches, in der Figur unsichtbares Stäbchen mit der platzierten
Lamelle in Berührung kommt und dnrch die Wirkung des Exzenters an dieser
entlang hinunterfällt Wie man sieht, kann man, indem der Stift hinunter-
geworfen wird, den Strom Offnen oder eventuell seine Richtung verändern.
Fig. 2.
Das Gelenk c an dem Stift b erlaubt dem Pendel in der einen Richtung rba
darüber hinweg zu schwingen, ohne den Kontakt mit a zu lösen, während
das Pendel, wenn es zurückschwingt, den Stift gleich nach c hinunterwirft
Die Kontaktapparate wurden an dem Maßstab so angebracht daß die
Zeit zwischen der Stromschließung und -Öffnung etwa der Durchschnitt der zu
kontrollierenden Zeiten ist. Wir haben mit zwei Zeiten gearbeitet etwa 420 «
und 1000 <s. Für die letztere wurden die Kontaktapparate wie in der Figur
angebracht, der eine mit a dem zum Schwingen eingestellten Pendel zugekehrt
der andere in der entgegengesetzten Richtung. Am Apparat C wird der Strom
an der an der Seite befindlichen Schraube g hinein-, an der hinteren Schraube h
1) Das Pendel ist nach Angaben von Prof. Kiilpe vom Mechaniker
Siedentopf in WUrzburg angefertigt.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie de» Denkens. 295
hinausgeleitet: ron da geht er zu der entsprechenden Schraube h des Appa-
rats C und an der Schraube a hinaus, gegen die sich der Stift anlehnt.
Wenn der letztere bei C senkrecht steht, gibt es also keinen Kontakt, und
ebenso bei C\ wenn der Stift umgeworfen ist. Das Pendel fällt von A nach c,
wirft den daran befindlichen senkrecht gestellten Stift hinunter, wodurch der
Strom geschlossen wird, schwingt nach C und darüber hinweg, ohne den
Eontakt zu lösen, was das schon erwähnte Gelenk ermöglicht, schwingt dann
zurück, wobei diesmal der Stift bei C' hinuntergeworfen und der Kontakt
unterbrochen wird. Am Chronoskop kann man ablesen, wie lange der Strom
durchgegangen ist Außerdem mißt man die Stärke des Stromes am Am-
perometer bei jeder Reihe von Kontrollversuchen.
Der zum Einstellen des Pendels gebrauchte Apparat A (Fig. 3) ist sehr
einfach. Ein Hebel be wird durch Zug an dem mit einer Feder d versehenen
Haken ae losgelassen. Das Pendel, das mittels des Gelenkes b ohne Be-
wegung des Hebels darüber hinaufgezogen werden kann und das * wenn
eingestellt, auf b ruht, fällt, wenn a gezogen wird. Eine Feder e zieht den
Hebel in seine Ruhelage zurück »}.
Bei unsern täglichen Kontrollversuchen haben wir einigen Einfluß der
Stromstärke auf die Chronoskopzeit gefunden. Er trat aber nicht regelmäßig
hervor. Stromstärken von 42, 49, 61, 63 Hilliamp. entsprachen durchschnitt-
lich die Zeiten 986 , 990 , 996 und 1000 a.
1) Der Vorteil dieses Kontrollpendels besteht offenbar in den weiten
Grenzen der dadurch herstellbaren Zeiten. Man kann von ungefähr 60 bis
1800 a und darüber alle Zeitwerte einstellen. Dabei ist die Genauigkeit, wie
chronographische Messungen mit einer Stimmgabel von 106 Schwingungen
am Zimmer mann sehen Kymographion ergeben haben, hinreichend groß.
Bei den beiden Zeiten, die wir bei unsern Versuchen verwandten {418 und
997 o), betrug die mittlere Variation aus 10 Einzelmessungen nicht mehr als 1,6 <x
7
Fig. 3.
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296
Henry J. Watt.
§ 2. Allgemeine Analyse der bei den Versuchen beteiligten
Faktoren.
Bei unsern Versuchen kommen hauptsächlich drei Gruppen
von Einflüssen in Betracht: die Aufgabe, das vorgezeigte Reiz-
wort und die durch diese beiden Faktoren beeinflußte Seele der
Vp. Diese letztere läßt sich für unsere Zwecke wiederum in zwei
Gruppen zerlegen: die vorliegenden Reproduktionstendenzen
und Bereitschaften nebst dem momentanen Bewußtseinsinhalt
nnd alles, was wir die augenblickliche allgemeine Disposition
der Vp. nennen können. Reproduktionstendenzen, Bereitschaften
und Bewußtseinsinhalt lassen sich gut zusammenfassen, und ans
dem letzten Bestandteil können wir alles in die Disposition Ober-
tragen, was Organempfindung und etwaiges damit verbundenes
Gefühl oder Stimmung ist. Damit soll nicht gesagt werden, daß
die Aufgabe und das Reizwort keinen Einfluß auf die Organemp-
findungen oder die Stimmung haben können. Es ist wahrscheinlich,
daß der Ubergang von einer leichten Aufgabe zu einer schwereren,
oder umgekehrt, die Stimmung etwas verändern kann. Eine solche
Einteilung ist aber auch zweckmäßig für diese Untersuchung,
weil sie die Reproduktionen, Reproduktionstendenzen und Bereit-
schaften, um die es sich hier hauptsächlich handelt, für sich
herausgesondert denkt. Der Einfluß der Disposition kann übrigens
von guten Vp. bis zu einem gewissen Grad ausgeschaltet oder
abgeschwächt werden. Es ist offenbar, daß von den dreien, Auf-
gabe, Reizwort und Reproduktionstendenzen, zwei, zu denen die Auf-
gabe gehört, zu einer Reproduktion nicht genügen. Jedes bringt
sozusagen Bewegung in die beiden andern und die Möglichkeit
einer bestimmten Richtung.
Die Methode der sogenannten freien Assoziationen,
wobei nach unserm Schema nnr Reizwort und Reproduktions-
tendenzen zusammen die Reproduktion bestimmen, scheint für die
Untersuchungen nicht sehr zweckmäßig gewesen zusein. Das
in dieser Weise gelieferte Material ist zu mannigfaltiger Art, als
daß es sich gut analysieren ließe. Man weiß eigentlich nicht,
was darin enthalten ist, und es scheint kaum möglich, einen Be-
wußtseinszustand vorzubereiten, in dem jedes Richten der Auf-
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 297
merksamkeit auf irgend etwas unterdrückt wird1). Wenn dem
so ist, was Übrigens eine knrze Selbstbeobachtung zeigt, so ist es
zweckmäßiger, jedes unwillkürliche Richten der Aufmerksamkeit
durch ein aufgegebenes zu vertauschen3). Das läßt sich viel
leichter machen, als es überhaupt zu unterdrücken. So bekommen
wir auch eher das gesuchte Material, das sich überdies besser
und genauer analysieren läßt Unter dem Einfluß einer be-
stimmten Aufgabe ist der Inhalt des Versuches genauer
begrenzt, und der Versuch dehnt sich dann nicht so lange
aus, bis es der Vp. einfällt, an einem beliebigen Erlebnis Halt
zu machen und es anzugeben3). Wir können auf diese Weise
auch besser bestimmen, was in dem Versuch enthalten war.
Trautscholdt, der eine Gruppe von Versuchen in seiner Ar-
beit als Subsumtionsurteile benennt, gibt die sich zwischen
Reizwort und Reaktionswort einschaltenden Erlebnisse überhaupt
nicht an. Wir wissen dann nicht, ob nicht das Reizwort zu-
nächst mit dem Gedanken an das Verhältnis zwischen Begriff und
übergeordnetem Begriff oder dergleichen assoziiert war. Jedenfalls
darf man, wenn z. B. Strahl — Form der Lichtbewegung4) selbst
eine assoziativ bestimmte Reaktion ist, in der Weise, daß Strahl
mit Form der Lichtbewegung assoziiert war und es nur vermöge '
dieser Assoziation reproduziert hat, doch nicht ohne Protokoll
behaupten, daß es auch ein Urteil war. Solche Experimente
mit > freien < Assoziationen könnten vielleicht gut ausgeführt werden,
nachdem wir die verschiedenen Einflüsse und Faktoren, die eine
Reproduktion bestimmen, kennen gelernt haben. Bis dahin liefern
sie ein viel zu großes und mannigfaltiges Material, aus dem wir
die einzelnen Faktoren fast gar nicht für sich herausgreifen können.
Es ist auch gefährlich, weil die Vp. wegen Mangel einer bestimmten
1) Was Trautscholdt (Phil. Stud. Bd. I, S. 214) von seinen Vp. ver-
langt hat — »die aktive Aufmerksamkeit tunlichst zu unterdrücken, den
Willen von der Beherrschung des Gedankenverlaufs abzuziehen und sich
möglichst passiv dem Wechsel der aufsteigenden Vorstellungen hinzugeben«.
2) Vgl. damit Wundt, »Psychologie, Bd. III, S. 684.
3) Vgl. Scripture, Phil. Stud. VII. 1892. S. 60—147 »Über den assozia-
tiven Verlauf der Vorstellungen« im allgemeinen, insbesondere 3. 66: »sobald
er wollte, durfte der Beobachter angeben, welche VorsteUung er assoziiert
hatte« und S. 90, Beispiel H. IV. 88.
4) Trautscholdt, a. a. 0. S. 246
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298
Henry J. Watt,
Richtung der Aufmerksamkeit und unter dem Drange, möglichst
rasch zu reagieren, nicht sagen kann, wie deren augenblickliche
Richtung neben den andern Faktoren zur Bestimmung des Produkts
beigetragen hat. Sie kann sie nicht gut beobachten, weil sie
sowohl was sie ist, als wie sie ist, zugleich beobachten muß.
Es scheint auch leicht vorzukommen, daß die Aufmerksamkeit in
gewisse Richtungen geht, deren sich die Vp. nicht bewußt ist
Das könnte auch der Fall gewesen sein bei solchen Vp., die
angeblicherweise lieber mit Verben auf Verba, mit Substantiven aaf
Substantiva usw. reagieren, und noch mehr bei solchen Versuchen,
wo, von einem Reizwort ausgehend, die Vp. 50 oder 100 Wörter
aufschreiben mußte, von denen vielleicht ein gewisser Prozenteatz
einer Kategorie angehörte l) (z. B. Benennungen von Gegenstanden).
Man ist nicht berechtigt, anzunehmen, daß Vp. gewisse dauernde
Tendenzen haben, bis man den Einfluß der gegebenen oder der
von der Vp. angenommenen mehr oder minder zufälligen Richtung
der Aufmerksamkeit bestimmt hat. Das geschieht am besten, indem
man eine nicht nur formell, sondern auch inhaltlich bestimmte
Aufgabe benutzt. Wir hoffen, im folgenden diese Kritik in ein
besseres Licht zu setzen und das Material zu ihrer Berechtigung
zu finden.
§ 3. Das Einwirken der Aufgabe in der Vorbereitung.
Den Einfluß der Aufgabe schon hier ausführlich beschreiben
zu wollen, würde uns nötigen, vielem vorzugreifen, was wir erst
im Laufe der Entwicklung unserer Resultate zeigen können. Eins
können wir jedoch schon bemerken, nämlich daß die Mehrzahl
der Versuche aus Reaktionen besteht, die eine befriedigende
Antwort auf die Aufgabe bilden. Das zu zeigen, könnte auf den
ersten Blick Überflüssig erscheinen, weil man ja erwartet, daß
derartige Versuche ziemlich glatt erledigt werden, und daß, wenn
man eine Aufgabe stellt, mau eine Antwort darauf bekommen
wird. Doch ist dieser Faktor in Anbetracht seiner Wichtigkeit
auch in dieser einfachen Form nicht unerwähnt zu lassen. In der
1) Vgl. Aschaffenburg, Experimentelle Studien Uber Assoziationen,
Kraepelins Psych. Arbeiten I, S. 255 f. Man bemerke die Unterbrechungen
des Gedankenganges bei seinen Reihenversuchen, was auch Binet kon*
statiert : L'etnde expcrimentale de rintelligence, Paris 1903, S. 63, 69.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
299
Tabelle I gebe ich nur das Resultat aus den Versuchen des Winter-
semesters1), weil die des Sommersemesters, wegen der schon er-
wähnten ungeeigneten Reaktionswörter, kein klares Resultat liefern
konnten. Insoweit als wir sie benutzt haben, mußten wir die
Richtigkeit als Kriterium eines passenden Versuchs nehmen.
Tabelle I.
1
*
Anfg. I
II m
>
v
V!
n
* !
»•
n
%
n
i.
* \
i-
%
Vp. I
86
94
97
96
84
85
85
99
84
100
74
87
vp. n
85
88
97
79
86
35
85
85
83
94
vp. m
86
67
100
47
87
80
86
80
84
79
69
66
Vp. VI
84
80
74
58
n «= die absolute Anzahl der Versuche.
% — Prozentsatz richtiger Versuche.
Aufg. I, II usw. = Aufgabe I, Aufgabe II usw.
Aus der Tabelle sehen wir, daß in der großen Mehrzahl der
Fälle die Aufgabe mit einem ihr und dem vorgezeigten Wort ent-
sprechenden Reaktionswort erledigt wurde. Die zwei Ausnahmen
- Vp. III Aufg. II, Vp. II Aufg. III — werden wir später zu erläutern
Gelegenheit haben.
Wie kommt es aber, daß die Vp. der Aufgabe entsprechend
reagiert? Wir können vorläufig nur den Prozeß beschreiben, wo-
durch die Vp. die Aufgabe aufnimmt. Die Aufgabe wirkt auf die
Vp. ein durch die ganze Versuchsanordnung, aber hauptsächlich
durch die vom Experimentator gegebene Formulierung der Auf-
gabe und die darauf folgende Vorbereitung seitens der Vp. selbst.
Abgesehen von der Gewöhnung an das Experimentieren wirkt die
Aufgabe in ihrem Wechsel von Tag zu Tag und von Reihe zu
Reibe durch die Vorbereitung ein. Vorbereitung ist also alles
das, wodurch sich die Vp. bewußt wird, wie sie auf den Reiz
reagieren soll.
1) In dieser und in einigen andern Tabellen werden die Versuche von
Vp. II Aufg. VI nicht herangezogen, weil sie diese Aufgabe nicht gut ver-
enden und ziemlich verwirrt reagiert hat. Wir meinen nicht, daß das ihre
Reaktionen unerklärlich machen würde, sondern daß, weil sie sich vom Ver-
halten der andern Vp. in unkontrollierter Weise entfernt hat, der Versuch
einer Erklärung mühsam, wenn nicht eitel wäre.
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300
Henry J. Watt,
Allen Aufgaben ist als Vorbereitung gemeinsam die
körperliche Akkommodation. Die Vp. richtet ihren Blick aaf die
Platte, die das Wort bedeckt, mit mehr oder weniger Aufmerk-
samkeit in einem Zustand der Erwartung, die von mehr oder
weniger lebhaften Spannungsempfindungen begleitet wird. Sie
wiederholt ein paar Male innerlich den Titel der Aufgabe: über-
geordneten Begriff, untergeordneten Begriff, Teil finden usw., und
denkt vielleicht an einige Beispiele. Dieser Prozeß ist am Anfang
der Reihe und besonders beim Beginn einer neuen Aufgabe ziemlich
lebhaft im Bewußtsein, nimmt aber mit der Zeit ab, so daß beim
zweiten oder dritten Versuch die Aufgabe nur einmal innerlich
ausgesprochen wird, bis schließlich dies ganz und die bewußte
Spannung fast ganz verschwindet. Es bleibt also nur übrig: die
körperliche Akkommodation, nämlich der Blick auf die Platte, das
Ansetzen des Mundes an den Schalltrichter usw. und ein schwacher
Erwartungszustand. So ist der Verlauf, wenn die Aufgabe leicht
ist, und die Vp. sich an das Experimentieren gewöhnt hat
Wenn die Aufgabe Schwierigkeiten bietet, die die Vp. im
Laufe der Zeit empfindet, dann greift sie nach einem Hilfsmittel.
Sie versucht sich zu vergegenwärtigen, wie der Prozeß formal
vor sich geht. Bei Aufg. II (Untergeord. Begr.) denkt sie etwa
daran, daß das Vorsetzen eines Wortes vor das gegebene die Auf-
gabe löst, oder daß sie ein einzelnes Ding, Wort nennen will;
oder z. B. Vp. III: »unwillkürlich kam ich auf den Gedanken, daß
bei zusammengesetzten Wörtern der zweite Teil oft den Teil be-
zeichnet, wie z. B. Schildrand, Kirchturm. Dann sagte ich mir:
den Teil findet man auf diese Weise.« Vp. III. Aufg. III (Ganzes
zu finden): »ich habe mir vorgenommen, mir das Ding möglichst in
seiner räumlichen und zeitlichen Umgebung vorzustellen«. Vp. III:
»ich hatte den Eindruck, daß der koordinierte Begriff vom Ober-
begriff aus gefunden werden müßte : man tut am besten, sich den
übergeordneten Begriff einfallen zu lassen«. Solche vorhergehende
Überlegungen erleichtern den Versuch wesentlich, wenn sie für
das gegebene Wort passen, oder wenn dasselbe die Vp. durch
andere Assoziationen von ihrer Vorbereitung nicht ablenkt So
Vp. III Aufg. IV (Teil zu finden): »durch den Einfluß des Vorberei-
tungsbeispiels schloß sich an das Reizwort das Reaktionswort wie
ein zweites Beispiel an«. Nach etwaigem Mißlingen solcher Über-
legungen entschließt sich die Vp., sich dem Worte ganz zu Uber-
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
301
lassen oder einfach auf das Auftreten des Wortes ohne weitere
Gedanken aufzupassen. Dies aber geschieht nur, wenn die Vp.
sich so lange in einer Reihe oder Uberhaupt geübt hat, daß weitere
spezielle Überlegungen und Gedanken an Methoden sie nur ablenken
und stören würden. Bei den einfacheren Aufgaben, z. B. Aufg. I
(Ubergeordn. Begr.), wo es keine eigentliche Methode gibt, hilft sich
die Vp. gelegentlich in der Vorbereitung durch Veranschau-
lichung des Begriffs, z. B. durch einen großen oder eisen
kleinen Kreis oder durch eine Masse von Organempfindungen,
einen Gesamtzustand des innerlichen Ausbreitens1), oder sie Bagt
sich: »ieh will mir ein allgemeines Gebiet wählen <. Das sind eigent-
lich nur Versuche, eine allgemeine Richtung der Aufmerksamkeit
oder sozusagen eine allgemeine Reproduktionstendenz anschaulich
zu vergegenwärtigen. Wenn etwa die Vp. in der Vorbereitung an
irgend etwas denkt, was sich nicht im Versuch anwenden läßt,
bleibt das ja ohne Folge, wenn es keine Störung mit sich bringt1);
wenn es gut paßt, z. B. in dem Versuch, bei dem die Vp. an
Genußmittel gedacht hatte und Semmel das Reizwort war, reagierte
sie mit dem Worte Genußmittel fast mechanisch8), mit einem starken
Gefahl der Erleichterung, obgleich die Aufgabe damit nicht sehi
befriedigend gelöst wurde. Der Grad der Bewußtheit der Vor-
bereitung sagt nichts ttber ihren Wert aus. Sie kann sehr bewußt
gewesen und doch schlecht sein. Wenn die Vp. mit der Vorberei-
tung wo sie nötig ist, z. B. am Anfang einer Reihe, nicht fertig4)
geworden ist oder mitten darin vom Reiz überrascht wird, so
leidet der Versuch gewöhnlich darunter.
All das zeigt uns, daß die Vorbereitung wesentlich zur Be-
stimmung der Reproduktionstendenzen und Bereitschaften, die später
1) Solche Veranschaulichungen müssen wohl als Seltenheiten angesehen
werden. Sie werden nicht oft konstatiert. Deshalb darf man auch nicht
denken, daß sie zur Reaktion nöti^ sind.
B) Wie bei Vp. III Maß (Reizwort) — Meter (Reaktionswort). Als Vor-
bereitung habe ieh an die Spezies bei lebenden Wesen gedacht. Dann kam
Maße and ein momentanes Bewußtsein, es paßt nicht. Dann: ja — Meter.
1063 *.
3) Vgl. Giebel. »Da» Reaktionswort kam so momentan, weil ich in der
Vorbereitung an FWgel — Hans gedacht hatte. Als Giebel kam — das paßt
fwno«! and damit: Haus.<
4) Geschirr. > Vollständig verwirrt. Vorbereitung nicht günstig. Habe
das Reizwort selbst ausgesprochen.«
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302
Henry J. Watt,
wirksam werden, beiträgt. Den Verlauf der Vorbereitung vermögen
wir bei einer so einfachen Aufgabe wie das Finden eines über-
geordneten Begriffs kaum zu zerlegen. Bei den schwierigeren Auf-
gaben aber deutet die in der Vorbereitung vergegenwärtigte Vor-
»tcllungsmecbanik darauf hin, wie die Vorbereitung ihren Einfluß
ausübt. Gewisse Gruppen von Reproduktionstendenzen werden
dadurch begünstigt, daß eine formale Reproduktionstendenz
erregt wird, indem die Vp. eine Gesichtsvorstellung, Wortvorstellung
auftauchen läßt, und am besten dann, wenn sie schon weiß, welche
formalen Richtungen bei ihr mit der betreffenden Aufgabe zur
Geltung kommen. Die eine sagt nur »ein weiteres Gebiet nennen«;
die andere »ein Bild von dem Gegenstand auftauchen lassen«,
oder bei einer andern Aufgabe »ein Wort vorsetzen«. Die fal-
schen Versuche lehren dasselbe, in der Weise, daß eine falsche
formale Einstellung entweder die Zeit verlängert, indem die zwei
Einstellungen sich gegenseitig hemmen, oder eine der gestellten
Aufgabe nicht entsprechende Antwort liefert.
Wir werden auch später sehen, wie die allgemeinen Richtungen
der Reproduktionstendenzen und Bereitschaften sich von Aufgabe
zu Aufgabe sehr wesentlich verändern, so daß wir werden an-
erkennen müssen, daß die Beeinflussung, die durch die Aufgabe
hervorgebracht wird, eine sehr wichtige Rolle im Prozeß des
Reproduzierens spielt1). Zweifellos wird von der Aufgabe und
sehr wahrscheinlich auch von gewissen Reizen — bei uns Wörtern —
eine solche allgemeine Richtung oder Einstellung vorbereitet. Man
nehme nicht an, daß die Vp. nur einer aus einer schlechthin von
dem Reizwort erregten Gruppe von assoziierten Vorstellungen fast
zufällig herausgewählten Vorstellung folgt: das ist nur in sehr
beschränktem Maße zutreffend. Vielmehr erweckt die Aufgabe in
ihr eine Einstellung auf ein gewisses Vorstellungsgebiet, visuelles,
1; Vgl. Witasek, Ztschr. für Psych. Bd. XII, S.192: Über willkürliche
Vorstellungsverbindung. »Zwischen dem unanschaulichen und dem an-
schaulichen Inhalt besteht immer eine j?anz bestimmte Relation, vermöge deren
Bie eben einen und denselben Gegenstand zur Vorstellung bringen, anschau-
liche und unanschauliche Vorstellung desselben ( tegenstandes sind. Und diese
Relation muß, wenn der Übergang von der einen zur andern mit Bedacht und
Absicht vollzogen wird, auch vorgestellt werden. In AssoziationsfäUen ist
aber von dem Vorhandensein einer solchen Relationsvorstellung gar nichts
zu merken.« Die ganze Arbeit von Witasek ist eine Bebandlnng des
Wesens der Aufgabe in gewissen Reproduktionen.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 303
akustisches, motorisches usw., wodurch die entsprechenden Vor-
stellungen sehr stark begünstigt werden.
Wir können erwarten, daß die Fälle, die der herrschenden Ein-
stellung entgangen sind, längere Reaktionszeiten haben. Dies
wäre wohl am besten zu sehen, wo die große Mehrzahl der Fälle
einer Klasse gehört. Solche Fälle finden wir in den späteren
Tabellen, Tab. 2 und 3 Vp. II Aufg. I und II At und A2, Tab. 5
Vp. I Aufg. IV Ai , und etwas weniger Tab. 4 Vp. III Aufg. III Ax :
wir sehen im allgemeinen, daß, wo sehr viele Fälle einer Form
vorkommen, die entsprechende Zeit kurz ist, und lang, wo da-
neben sehr wenige Fälle einer andern Form vorkommen. Die
auffallendste Einstellung finden wir freilich bei Vp. II A3 Tab. 5.
Die andern zwei kurzen Reaktionszeiten aber waren sehr leichte
Versuche und wahrscheinlich nur wegen ihrer Geläufigkeit
der Herrschaft der Einstellung entrückt: die Reaktionen waren
Jahr — Monat; Tausend — Hundert.
§ 4. Reproduktionen mit einfacher Richtung.
Wenn wir alle die vorliegenden Versuche der sechs Aufgaben
untersuchen, finden wir darin eine große Mannigfaltigkeit, deren
Einteilung unmöglich zu sein scheint. Wir finden viele, die
vom Anfang bis zum Ende ohne Störung zu verlaufen scheinen.
Bei diesen mögen Wort- oder Gesichtsvorstellungen hie und da im
Verlauf des Prozesses vorhanden sein, aber es wird keine Ab-
weichung von der am Anfang eingeschlagenen Richtung von der
Vp. oder dem Experimentator konstatiert. Die Vp. findet die
Uisung der Aufgabe in der Richtung, wo sie gesucht wird. Solche
Fälle sind weitaus die zahlreichsten und verdienen zuerst unsere
Aufmerksamkeit. Nennen wir sie Reproduktionen mit ein-
facher Richtung und bezeichnen wir sie mit A.
Solche Fälle, wie sie in unsern Versuchen auftreten, lassen
sich in drei Klassen einteilen. Die erste läßt sich wegen ihrer
Einfachheit und Häufigkeit leicht herausgreifen. Bei ihr folgt
gleich auf das Reizwort eine Gesichtsvorstellung, die das
vom Reizworte Bezeichnete vorstellt oder etwas, wozu das vom
Reizworte Bezeichnete in irgendeinem Verhältnis steht, sei es der
Teil oder das Ganze davon, oder sei es damit aus irgendeinem,
g
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Henry J. Watt,
der betreffenden Vp. eigentümlichen Grund assoziiert1). Auf die
Gesichtsvorstellung folgt das Reaktionswort nach einem
Prozeß des Suchens, das mehr oder weniger deutlich in oder an
dem Bilde selbst stattfindet. Dieses bewußte Suchen kann auch
fast gänzlich fehlen, ausgenommen, daß die Vp. nachträglich kon-
statiert, daß das im Reaktionsworte Bezeichnete in der Vorstellung
selbst enthalten war, oder daß sie das Vorgestellte nur genannt
hatte je nach den Umständen und der Aufgabe.
Zweitens kann es vorkommen, daß auf das gegebene Wort
irgendeine Wort Vorstellung2) oder eine Gruppe von Wort-
vorstellungen3) oder bloß ein Zustand der Erinnerung4) oder ein
Zustand der Erinnerung, der Spuren von Wortvorstellungen enthält
oder nicht6), was die Vp. selber vielleicht zu entscheiden nicht
imstande ist6), oder bloß eine Bewußtseinslage7) folgt. Darauf
kommt ein Wort, das darin gewesen sein kann oder nicht, und
dieses Wort bildet das Reaktionswort für den Versuch. Oder
es kann ein Suchen in diesem Erinnerungserlebnis stattfinden,
worauf die Reaktion folgt *). Dies geschieht am häufigsten in
1) Beispiele sind Vp. I. Imbiß. Reaktionswort Speise. Dunkle Vor-
stellung von einem Eßtisch. Hier bat die Bereitschaft auch geholfen. 1673 <r.
Vp. U. Schlitten. >Ich sah einen Schlitten dahinfahren und sagte Fuhrwerk«.
2429 <r. Zahlreiche Beispiele und Erweiterungen dieser Charakteristiken
findet man in § 11 unten.
2] Vp. ITI. Seide. »Sofort Samt und sofort Erinnerung an den vorigen
Versuch. Stoff ausgesprochen. Wie die Erinnerung war, kann ich nicht
mehr sagen.« 805 a. (Der vorhergehende Versuch war: Samt Zuerst die
ABBoaiation Seide. Rcaktionswort Stoff. 1016 a.}
3) Vp. I. Dienst Erinnerung an zwei Wörter von gestern, Amt — Beruf.
Vielleicht dadurch kam ich auf Schreiber. 2812 a.
4) Vp. III. Weber — Handwerker, mit dem Bewußtsein, daß es früher
als Reaktionswort benutzt worden war. Erleichterung dabei. 809 a.
6) Vp. III. Pferd. Erinnerung an die frühere Assoziation Lamm — Tier.
Lamm war aber als Wortvorstellung nicht im Bewußtsein vorhanden, sondern
bloß als Erinnerung und Erleichterung durch das Wort Tier. Die Vor-
bereitung war nicht genügend und nicht beendet
6) Vp. III. Schmiede. »Eine Menge Vorstellungen, die sich gegenseitig
gedrängt haben. Reaktionswort Eisen ausgesprochen. Durch den Begriff
Schmiedeeisen wurde das hervorgerufen, glaube ich. Wie Eisen kam, weiß
ich aber nicht Während ich es aussprach, war es etwas anderes, worauf
meine übrigen Gedanken hingingen.« 1404 o.
7) Verstehen wir vorläufig darunter ein Erlebnis, das noch nicht näher
analysierbar ist.
8) Vp. III. Statue. »Diesmal eine Komplikation dieses Reizwortes mit Ge-
sicht auH einem früheren Versuch). Da dacht» ich nachträglich, waroxn habe
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 805
solchen Fällen, wo die Erinnerung nur eine deutliche psychologische
Elemente nicht enthaltende Bewußtseinslage war.
Unter unsern Experimenten waren dies die zwei durch ein
deutliches, aufs Reizwort folgendes Erlebnis ausgezeichneten Haupt-
gruppen. Sämtliche übrigen in einfacher Richtung erfolgten
Reproduktionen zeichneten sich durch nichts derartiges in
ihrem Verlaufe aus. Bei vielen1) folgte die Reaktion anf das
Wort, während weder Rechenschaft noch Beschreibung gegeben
noch irgendein besonderes Suchen konstatiert werden konnte.
Es kann ein Zögern im Prozeß stattgefunden haben, oder das be-
wußte Bestreben, das Suchen zu konzentrieren und das Wort in
der mit oder nach dem Suchen entstandenen Pause deutlich zu
reproduzieren. Es konnte aber, was die Hauptsache ist, keine
Rechenschaft abgegeben werden, warum dieses und kein anderes
Wort reproduziert wurde, oder was zum Reproduzierten geführt
hatte. Nach dem Reizwort, das vielleicht innerlich ausgesprochen
wurde, erfolgte die Reaktion, der ein Suchen danach oder ihr
innerliches Aussprechen oder eine sich aufdrängende Masse von
dunkeln, von der Vp. nicht näher beschreibbaren Vorstellungen
vorausgegangen sein mag. Vor oder nach der Reaktion kann auch
ein Urteil aufgetreten sein. Solche begleitende Erlebnisse waren
aber allen Gruppen gemeinsam und haben mit dem Wesentlichen
dieser Einteilung nichts zu tun. Sie werden später beschrieben
und untersucht werden.
Die die Gesichtsvorstellungen und die Wortvorstellungen ent-
haltenden Gruppen nennen wir beziehungsweise Az und Die dritte
Gruppe bezeichnen wir mit Au Eine vierte Gruppe A9 wird
zuweilen, wo die Versuche genügendes Material bieten, hinzugefugt.
Das sind die Versuche, bei denen gar nichts Weiteres von der
Vp. konstatiert werden konnte als das Reaktionswort. Um der
ich nicht Nase gesagt? Jetzt kam das Bewußtsein, es kommt jetzt etwas,
was ich früher hätte sagen sollen — Nase.« 936 a.
Vp. III. Mond — Stern. »Eine sofortige und umfassende Erinnerung ohne
Detail an den Versuch, wo ich anf Stern mit Sonne reagierte, und Erinnerung,
daß ich Mond hätte geben sollen. Auf Grund dessen wurde das auftauchende
Wort Sonne unterdrückt und dann Stern gesagt.« 867 a.
Vp. I. Geruch — Wohlgeruch. »Ich dachte dabei an die Einteilung der
Gerüche.« 1742 «r.
1} Vp. I. Aal— Fisch. Sehr befriedigend. Wiederholtes Einprägen
»Übergeordneter Begriff"«. 1029 <r.
Archiv fftr Psychologie. IV. 20
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306
Henry J. Watt.
Gleichförmigkeit willen sondere ich solche Versuche sonst nicht
von denen der Grnppe At.
Verfolgen wir diese Gruppen durch die verschiedenen Aufgaben.
Die erste Aufgabe, einen übergeordneten Begriff zu
dem im Reizwort Bezeichneten zu finden, zeichnet sich durch die
Einfachheit ihres Verlaufs aus. Die folgende Tabelle zeigt uns,
wie die Formen des Versuchsverlaufs sich bei dieser Aufgabe in
bezug auf ihre Häufigkeit geäußert haben.
Tabelle IL
Aufg. I: Überg. Begr. zu finden.
I
Ai n
Ao n
A$ n
4.
Vp. I Me
Ma
m.V.
1201 37
1281
256
1139 31
1254
293
1292 11
1666
544
1195 1
1210 49
1407
276
Vp. II Mc
Ma
m.V.
1778 10
1607
| 464
973 4
1040
182
1323 53
1670
542
4714 4
4913
1604
1468 67
1775
774
Vp. III Me
Ma
m.V.
■ 1100 26
1311
j 381
989 11
976
86
1924 2
1924
395
1080 18
1329
512
1097 46
1345
462
A* = Gesichtsvorstcllung als Mittelglied, Mc = der Zentralwert
At = WortrorsteUung als Mittelglied. Ma = das arithmetische Mittel.
A\ «= ohne derartige Angaben. m. V. = die mittlere Variation.
Aq = ohne jegliche Angabe. Sämtlich in v« angegeben.
Ao wird in A\ mitgerechnet so, daß Ai + A* + Az = Summa.
n = absolute Anzahl der Versuche.
In den folgenden Tabellen bedeutet Mc und Ma die in a
ausgedruckten mittleren Zeiten und m.V. die mittlere Variation
bezüglich Ma. Aus allen Tabellen finde ich, daß in 157 Fällen
Mc < Ma ist, während nur bei 22 Mc > Ma. Bei jenen beträgt der
mittlere Unterschied aus den ersten 59 Fällen 175 a, bei diesen
aus den sieben in denselben Tabellen vorkommenden Fällen nur
45 a. Deshalb habe ich mit Kraepelin1) den Zentralwert in den
Tabellen vorangestellt. Wo die Anzahl der Versuche eine gerade
ist, ist Mc das arithmetische Mittel der zwei Zentralwerte.
1) Über die Beeinflussung einfacher psychischer Vorgänge durch einige
Arzneimittel. Jena 1892. 8. 31. — Aschaffenburg, Experimentelle Studien
Uber Assoziation, I. TeU. Psych. Arbeiten, I. Bd, 2. Heft, S. 217 ff. — Dgl.
Dias. Heidelberg, S. 14. Bei beiden sind ähnliche Ausführungen zu finden.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 307
Die Tabelle zeigt uns, daß im Durchschnitt diejenigen Fälle
die kürzeste Zeit brauchten, wo die Vp. nichts weiter konsta-
tierte *}, d. h. die Form , wenn nicht auch Ax , ist bei allen die
kürzeste. Die sechs Fälle bei Vp. I, die die Zeit von At ver-
längert haben, waren von den andern Aq dadurch unterschieden,
daß ein Urteil Uber das ausgesprochene Wort entweder vor oder
mit dessen Aussprechen gefällt wurde. Geht die Reproduktions-
tendenz also von dem gegebenen Reizwort direkt aus, ohne daß
der in diesem enthaltene Begriff sich zuerst irgendwie veranschau-
licht, so findet die Reproduktion schneller statt. Auffallend ist
die Rolle, die die verschiedenen Formen bei verschiedenen Vp.
spielten. Vp. I und Vp. III zeigen eine Vorliebe fUr einfache,
direkte Reproduktionen, die ziemlich selten bei Vp. II vorkommen.
Diese dagegen arbeitet fast ausschließlich mit optischen Vorstel-
lungen, und zwar in der Weise, daß die Vorstellung nicht bloß
eine Begleiterscheinung im Prozeß ist, sondern daß sie den Begriff
im Bewußtsein der Vp. vertritt oder ersetzt, wenigstens aber so,
daß die Reproduktion in ihr ihren Ausgangspunkt findet Vp. HI
hat eine ziemlich hohe Anzahl von Reproduktionen, die von
Erinnerungen eingeleitet, oder die nicht gefunden worden sind,
bis das Reizwort auf rein assoziativem Wege zu einem derartigen
Ausgangspunkt hinttbergeftthrt hatte.
Die zweite Aufgabe bestand darin, einen untergeordneten
Begriff zu finden. Hier folgt die Tabelle für die unter A ein-
geordneten Fälle.
Tabelle DDL
Aufg. II: Unterg. Begr. zu finden.
< A, n
1'
Aq n
4$ »
Ai n
| Summa n
Vp. I Mc
m.V.
1443 43
1604
474
1238 23
1338
329
1735 7
1991
1654 13
1829
438
1554 63
1693
470
Vp. II Mc
Ma
m.V.
mi 22
2186
1185 11
1Ö96
177
1399 37
1791
694
2956 15
3262
1602
1657 74
2207
1070
Vp. in Mc
Ma
m.V.
1115 19
1257
272
>
977 9
1028
79
1118 3
1501
310
1298 12
1638
625
1174 34
1413
443
1) Vgl. Mayer und Orth, Zur qualitativen Untersuchung der Assozia-
tionen. Zeitschr. f. Psych. XXVI. 1901. S. 1 ff.
20*
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308
Henry J. Watt,
Die Bezeichnungen sind hier dieselben wie die oben gebrauchten.
Wir sehen wieder, daß die Ax -Fälle die kürzesten Zeiten von allen
haben, außer (wie in Tab. II) bei Vp. IL Das rührt daher, daß
diese Vp. in vielen Fällen keine weiteren Erlebnisse angab, auch
wo solche vermutlich dawaren ; obgleich es freilich auch so sein
könnte, daß bei dieser Vp. die gewöhnlichste, aber nicht einfachste
Form die kürzeste geworden ist Eis waren 22 Fälle, wovon die
ersten 11, die unter A0 angegeben sind, zwischen 800 a und 1600 o
liegen. Die nächste Zeitlänge ist 2118 a. Wir können kaum an-
nehmen, daß die Vp. in einer so langen Zeit keine weiteren Erleb-
nisse als die konstatierten hatte. Die Vp. hat, wie schon gezeigt,
eine Vorliebe für Gesichtsvorstellungen und beschreibt sie
sorgfältig, so daß es sehr wahrscheinlich ist, daß, wenn sie » keine
weiteren Erlebnisse« konstatierte, sie oft damit sagen wollte, sie
habe keine Gesichtsvorstellungen gehabt. In dieser Reihe von Fällen
wächst die Dauer der Reaktion bei dieser Vp. mit der UngelSnn>
keit des gegebenen Begriffs. Bei ihren optischen Vorstellungen
ist das auch der Fall. Auch nimmt die Dauer mit der Verwicklung
der Gesichtsvorstellung zu. So auch bei der Form A2: je länger
oder verwickelter die Gruppe von Wortvorstellungen im Bewußtsein
ist, um so länger ist auch die Dauer der Reaktion. In den meisten
^-Fällen bei Vp. III ist ein Urteil vor, mit oder nach dem Aus-
sprechen des Wortes aufgetreten.
Was das Verhältnis der Anzahl der Fälle bei den verschiedenen
Formen betrifft, so sehen wir auch hier, daß die Vp. II lieber mit
Gesichtsvorstellungen arbeitet, obgleich hier nicht so viele kon-
statiert werden. Uberhaupt hat die Anzahl der A3-Fälle abgenommen,
während die der ^2-Fälle und der ^,-Fälle ziemlich stark zu-
genommen hat. Auffallend ist auch die Verlängerung der Reaktions-
zeit in fast allen Versuchen (außer bei Vp. m A3 und Vp. II A:\
dieser Aufgabe. Es nimmt längere Zeit in Anspruch, einen
untergeordneten als einen Ubergeordneten Begriff zu
finden.
Die dritte Aufgabe verlangte ein Ganzes zu einem ge-
gebenen Teil zu finden, und die Versuche sind wie vorher in
der folgenden Tabelle eingeteilt.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denken«.
309
Tabelle IV.
Aufg. HI: Ein Ganzes zu finden.
1! Ax "
Äo n
A$ n
A* n || Summa n
Vp. I Me
Ma
m.V.
1 1387 10
1605
453
1397 5
1441
256
1430 39
1651
468
0
1405 49
1642
467
Vp. ü Me
Ma
m.V.
1457 1
0
1373 29
1617
578
1641 3
1639
262
1379 33
1614
536
Vp. HI Mc
Ma
m.V.
1323 8
1370
421
871 4
955
174
949 23
1169
358
1027 18
1054
179
1001 49
1160
313
A% = mit Gesichtsvorstellung als Mittelglied.
At =» mit Wortvorstellung als Mittelglied.
Ai — ohne derartige Angaben.
Aq = ohne jegliche Angaben.
Die Zeiten sind interessant, und obgleich sie nicht dieselbe
Regelmäßigkeit in allen Fällen zeigen, sind sie doch aus dem
Protokoll erklärlich. Wir sehen hier, daß die Zeiten der Ä2- und
4r Fälle denen der Äx -Fälle fast gleich, oder kürzer als diese sind.
Wir sehen aber zugleich, daß die Häufigkeit von A3 stark zu-
genommen hat, was deutlich zeigt, daß eine Antwort auf diese
Aufgabe durch eine Gesichtsvorstellung sehr erleichtert
wird, oder, wie wir dasselbe mit andern Worten ausdrücken
können, daß die Länge der Zeit, die von der Pause zwischem dem
verstandenen Reizwort und dem auftauchenden Reaktionswort, oder
von dem Suchen nach dem letzteren ausgefüllt ist, beinahe so
lang ist als die Zeit, die bei dieser Aufgabe zu einer Gesichts-
vorstellung nötig ist. Noch anders gesagt heißt es: die größere
Leichtigkeit der Reproduktion durch eine Gesichtsvorstellung ist
der größeren Schwierigkeit der ungewöhnlichen Aufgabe beinahe
äquivalent. Auch bei den ^-Fällen von Vp. III ist die Reaktions-
zeit kürzer als bei den 4 -Fällen. Das kommt daher, daß in
vielen Fällen die von dem Reizwort geweckte Erinnerungs- oder
Wortvorstellungsgruppe mit dem Reaktionswort beinahe identisch
war. Dafür, daß hier eine Erleichterung vorhanden war, spricht
die Tatsache, daß bei dieser Aufgabe von der Form A2 18 Fälle
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310
Henry J. Watt,
richtig und nur 2 falsch waren, während von der vorigen Aufgabe
12 richtig [Mc = 1298 a) und 15 falsch waren. Es fehlt auch nicht
an Fällen (Yp. HI Aq), bei denen die Aufgabe ohne weitere Er-
lebnisse und in kürzerer Zeit als bei A2 erledigt wurde.
Die vierte Aufgabe bestand darin, einen Teil zu einem
gegebenen Ganzen zu finden. Eine ähnliche Tabelle ftir die
4-Fälle folgt.
Tabelle V.
Aufg. IV: Einen Teil zu finden.
At n
An n
4i n
At n
Summa n
Vp. I Mc
Ma
m.V.
1689 15
1722
646
1218 6
1225
102
1331 62
1461
322
1309 1
1372 68
1617
418
Vp. n Mc
Ma
m.V.
830 1
0
1333 72
1391
441
901 1
1327 74
1377
440
Vp. III Mc
Ma
m.V.
1111 9
1090
136
0
1166 26
1236
179
1004 17
1034
120
1118 62
1146
144
Hier sehen wir wieder die Unregelmäßigkeit in bezug auf den
Zeitunterschied zwischen As und Au und diesmal bei Vp. I. Wenn
man aber die Fälle ausscheidet, bei denen ein Zweifel oder eine
Hemmung in der SprechmuBkulatur vorhanden war, oder bei denen
die Vp. viele sich hervordrängende Vorstellungen konstatierte, ohne
daß sie näher angeben konnte, wie diese waren, so bekommt
man Aq, und die Regelmäßigkeit wird wiederhergestellt Was
für Vp. IH in bezug auf A2 und At für die letzte Aufgabe galt, gilt
auch wieder für diese. Bei 8 von den 17 Fällen unter A2 war das
Reaktionswort ein Teil eines zusammengesetzten Wortes, von dem
das Reizwort den andern Teil bildete. Das Reaktionswort kam
also ziemlich spontan und automatisch infolge einer Berührungs-
assoziation mit dem Reizwort, und die Vp. beurteilte ihre Leistung
vor dem Aussprechen des Wortes oder während desselben. Wie
man erwarten konnte, hatten wir einige Fehler in dieser Rubrik,
aber nur sehr wenige. Man sieht, daß bei dieser Aufgabe die
Methode, mit der Gesichtsvorstellung zuarbeiten, bei allen
Vp. weitaus die herrschende ist. Bei Vp. n liefert sie 72 von
74 Fällen.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 311
Bei diesen vier Aufgaben sehen wir, daß die Versuche, bei
denen eine einzelne Tendenz vom Anfang bis zum Ende des Versuchs
verfolgt wurde, sich voneinander in gewisser Beziehung unter-
scheiden. In vielen tritt das Reaktionswort auf nach einer Pause,
die mit nichts oder mit einem gewissen Suchen ausgefüllt sein
kann. Bei andern wird die Aufgabe an der Hand einer Gesichts-
vorstellung erledigt, an der gesucht wird. Bei noch andern
erweckt das gegebene Wort eine oder mehrere Wortvorstellungen
durch irgendeine BeruhrungsasBoziation. Diese Vorstellung selbst
bildet die Antwort auf die Aufgabe und wird vor oder erst nach
einem Prozeß des ßeurteilens ausgesprochen, oder die Vp. sucht
in der Masse von zum Teil dunkeln, zum Teil deutlichen Wortvor-
stellungen und findet darin eine, die als Antwort paßt, oder die
direkt zu einer passenden Antwort leitet. Andere Gruppen,
die sich in dieser Beziehung wesentlich auszeichneten, fanden
wir nicht. Prinzipiell wäre die Existenz von solchen doch
nicht zu leugnen, z. B. solche mit Vermittlungen durch Gehörs-,
Geruchs-, Geschmacks- usw. -Vorstellungen. Sie könnten vor-
kommen, wenn die betreffende Aufgabe eine solche Mechanik
zweckmäßig machte, und wenn die betreffende Vp. eine solche
Mechanik zureichend ausgebildet hätte oder überhaupt besäße.
Das Vorkommen dieser Formen hängt also sehr wesent-
lich von der Natur der Aufgabe ab. In der nächsten Tabelle
wird die Häufigkeit des Vorkommens der vier Formen von Ä im
Prozentsatz gegeben.
Tabelle VI.
Häufigkeit des Vorkommens der Formen in % aller richtigen -4-FäUe.
1 *
4>
Vp.I
II
III
,Vp.I
II
III
Vp.I
II
in
Vp.I
II
III
Aufgabe I
76
12
67
64
24
23
82
V
6
39
II
68
30
66
37
15
26
11
60
20
35
III
22
1
17
9
76
97
60
1
33
IV
|»
3
16 1
10
~8
80
88
47,
-
9
37
I
+ + 4i «= 100.
Hier sehen wir bei der 1H. und IV. Aufgabe ein starkes Ab-
nehmen der Ai -Fälle bei allen Vp. zugunsten der sehr stark zu-
nehmenden ^,-Fälle, obgleich diese verhältnismäßig selten bei Vp. I
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312
Henry J. Watt,
und bei Vp. III fast gar nicht bei den ersten zwei Aufgaben vor-
kamen. Vp. II hatte schon in den ersten, mehr begrifflichen
Aufgaben eine große Vorliebe für Gesichtsvorstellungen, aber in
den letzten zwei sehen wir, daß sie fast exklusiv mit ihnen arbeitet,
bei der dritten sogar in 97 # der richtig ausgeführten Fälle. Wir
konstatieren somit den Einfluß der Aufgabe auf die Vor-
stellungsmechanik bei den beiden Extremen, sowohl wenn die
Vp. keine große Neigung zu Gesichtsvorstellungen hat, als wenn
sie die Neigung in sehr ausgeprägtem Maß und bewußt besitzt.
Natürlich scheint es, daß dies so sein müsse, weil die gegebenen
Wörter in der III. und IV. Aufgabe meistens Gegenstände be-
zeichneten. Von den Gesichtsvorstellungen dürfen wir also nicht
schlechthin sagen, daß sie Begleiterscheinungen gewisser anderer
Erlebnisse seien. Sie können das wohl sein unter gewissen Be-
dingungen, bzw. bei gewissen Aufgaben oder Vorbereitungen. Das
darf uns aber nicht veranlassen, zu behaupten, daß es sich immer
so mit den Gesichtsvorstellungen verhält. Das wäre unter vielen
Fällen, bei denen man aktiv denkt, nicht der Fall. Da werden
die Gesichtsvorstellungen oft Arbeitsplätze für das Denken. Wenn
wir bei einer gewissen Aufgabe konstatiert haben, daß eine Vp.
viele, bzw. keine Gesichtsvorstellungen hat, so dürfen wir auch
hier nicht zu schnell ins Allgemeine gehen, bis wir unter-
sucht haben, was für einen Einfluß die betreffende Aufgabe
auf andere schon daraufhin untersuchte Vp., bzw. andere Aufgaben
auf dieselbe Vp. ausüben.
Was die Wortvorstellungen (A2) betrifft, so merken wir bei
der zweiten Aufgabe eine Vermehrung. Das können wir in keiner
andern Weise erklären, als daß diese veränderte Aufgabe, einen
untergeordneten Begriff statt eines übergeordneten zu finden, eine
ans Wort anknüpfende Erinnerung in der Form einer Gruppe
von Wortvorstellungen leichter auftauchen ließ, weil man nach
etwas Speziellerem als dem Gegebenen Buchen mußte. Jedenfalls
kamen bei allen Vp. keine Fälle des einfachen Vorsetzens eines
Wortes an das gegebene vor, die man unter diese Rubrik {A^}
bringen konnte. Es gab wenige zusammengesetzte Wörter bei
dieser Form, und die vorhandenen waren mit Hilfe obenerwähnter
Erinnerungen und Wortvorstellungen gefunden, was dafür spricht,
daß die Antworten aus diesen hauptsächlich akustischen Wortvor-
stellungen als einfache, nicht als zusammengesetzte, herausgetreten
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Experimentelle Beiträge za einer Theorie de» Denkens. 313
sind. Wenn die zusammengesetzten Wörter nur durch einen Ge-
danken an das Vorsetzen während des Versuches oder nur durch
die bewußte oder unbemerkte Tendenz zum Vorsetzen veranlaßt
wurden, rechnete ich die entsprechenden Fälle der Form Ax zu.
Bei Vp. III bleibt die Häufigkeit des Vorkommens von A2 ziemlich
konstant in allen Aufgaben.
Tabelle VII.
Aufg. V: Einen koordinierten Begriff zu finden.
A\ n
A3 n A3 n
Vp. I Mc
Ma
m.r.
1283 3
1295 69
1 65
1448 2 1 0
1448 3
159
Vp. n Mc
Ma
m.V.
1053 15 i 1086 8
1021 16 1124
255 ; 211
1311 36
1475 49
476
1645 10
1882 9
710
Vp. III Mc
Ma
m.V.
1072 26
1099 41
238
831 3
986 5
247
948 1
1
Vp. VI Mc
Mo
in. V.
A3 =
1127 21
1227 26
291
mit Gesichtsvoi
1448 13
1492
416
rstellung als Mi
1203 11
1367 29
346
Ittelglied.
1268 5
1614 5
508
A{3) = mit Gesichtsvorstellung als Nebenerscheinung.
■4« *= mit Wortvorstcllung als Mittelglied.
Ax = ohne derartige Angaben.
n = absolute Anzahl der Versuche. Unter n in einor Linie mit Ma
die Anzahl der einen Oberbegriff enthaltenden Versuche, die
sich in der betreffenden Ax-, A$- usw. -Weise auszeichneten.
Vgl. Tab. Xn bis XV unten.
Von den schon erwähnten Aufgaben unterschieden sich die
fttnfte und sechste insofern, als sie nur eine gewisse Anzahl
von Versuchen lieferten, die sich wie die andern Aufgaben ein-
teilen lassen. Es kommen einige vor, die sich nicht so gut wie
die andern beschreiben lassen, anch wenn wir es versuchen
wollten, weil dazu ihr Protokoll nicht ausführlich genug ist; diese
Versuche werden später für sich behandelt werden, wenn wir zur
Betrachtung der einzelnen Aufgaben kommen.
Hier sehen wir wieder, wie der ¥onnAx allgemein die kürzere Zeit
entspricht; ausgenommen die Vp. III, bei der die wenigen Fälle (4),
in denen eine kurze Reaktionszeit vorkommt (A3, A2), ziemlich das
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314
Henry J. Watt,
Gepräge von Ax tragen, d. h. die Gesichtsvorstellung bei dem
Prozeß war mit Ausnahme eines Falles ziemlich unwesentlich: Kom-
pott— Salat, optische Vorstellung des in Kristallschalen servierten
Salats sehr lebhaft 770 a. Auch haben wir bei Äx 4 Fälle einer Zeit-
länge unter 770 a und bzw. 5 und 9 unter 831 und 948«;.
Mit .4<3) bezeichne ich diejenigen Fälle, bei denen das Bild nur
Nebenerscheinung war und keine wesentliche Rolle im Prozeß
gespielt hat. Auf Grund verschiedener Andeutungen dürfen wir
behaupten, daß, wenn die Vorstellung nur Nebenerscheinung
im Prozeß ist, die Reaktion schneller erfolgt als sonst.
Bei Vp. II, dem stark visuellen Typus, verhält es sich so, und bei
Vp. VI A3 ist die kleinste Reaktionszeit 943 a, und es sind zwei
Fälle unter 1000a, bei A{3) dagegen 882a und drei Fälle unter
1000a. — Sowohl Mc als auch Ma sind trotzdem bei Vp. VI A^)
größer als bei A3. Andere Grunde hätten eine Verlängerung
der Zeit veranlassen können, wenn z. B. die Vorstellung — ob-
schon Nebenerscheinung — den Verlauf des Versuches irgendwie
gestört hätte. Bei A{3) kamen tatsächlich fünf FäUe vor, bei denen
irgendeine Störung vorhanden war; bei den andern A3 nur einer.
Wir sehen schließlich, daß Vp. I und in zu ihrem Verhalten bei
den ersten zwei Aufgaben zurückgekehrt sind. Dasselbe kann
auch von Vp. II gesagt werden, der sich Vp. VI ziemlich an die
Seite stellt.
Tabelle VIII.
Aufg. VI: Einen koordinierten Teil zu finden.
A3 n
A^ n
Vp. 1 Me
Ma
m.V.
2220 1
1638 4
1627 29
101
0
Vp. II Me
Ma
m.V.
| 1601 4
2114 0
1096
1601 23
1882 0
720
4307 1
0
Vp. IE Me
m.V.
893 7
861 13
72
3071 1
1460 7
1401 11
326
1022 9
1096 10
229
Vp. VI Me
Ma
m.V.
1 1666 2
1666 5
1 482
1223 3
1325
144
1507 18
1734 26
481
0
Erläuterung vgl. Tab. VII.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 315
Hier sehen wir, wie es bei der VI. Aufgabe (einen andern
Teil eines gemeinsamen Ganzen zu finden) steht. Daß die Ge-
sichtBvorstellnngen enthaltenden Versuche ebenso stark überwiegen,
wie bei den Aufgaben Ol und IV, davon kann hier keine Rede
sein. loh gebe unter der Anzahl der Versuche, denen die vor-
gelegten Zeiten entsprechen, noch die Anzahl der Versuche, die
der betreffenden Form überhaupt angehörten, obgleich sie nicht
ebenso einfach wie die andern waren. Die lange Zeit bei
Vp. m rührte von langem Besinnen und Nichtfindenkönnen her;
die entsprechende Zeit bei Vp. I ist wohl ebenso zu deuten. Die
bei Vp. III eigentümliche Kürze der A2 den andern gegenüber
erscheint hier wieder wie bei den Aufgaben III, IV, V.
Fig. 4.
Die sechs vorhergehenden Tabellen werden in Fig. 4 in der Form
von Kurven zusammengestellt Die Form bringt die Hauptsache
zur Anschauung, nämlich den regelmäßigen Einfluß, den die
Veränderung der Aufgabe auf den qualitativen Inhalt
des Keaktionsverlaufes jeder Versuchsperson hat. Be-
sonders auffallend bei Ax und As ist die Weise, wie auch die
Extreme (Vp. HI und Vp. H) in ihren Veränderungen überein-
stimmen. Es erhärtet nur die Resultate, daß Vp. VI in immer
übereinstimmender Weise bei der V. und VI. Aufgabe auftritt, ob-
gleich sie nicht wie die andern Vp. in solchen Aufgaben vorher
geübt war.
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316
Henry J. Watt,
"» > •» K *J &>
3-
=3
Fignr 5 zeigt den Ein-
fluß der Aufgabe anf
die Länge der Reaktions-
zeit bei den verschiede-
nen Formen von A. Auch
hier sieht man wieder, daß
die Vp. sehr übereinstimmen,
nnd daß die sechste Vp. sich
ebenso wie vorher verhält.
Wenn kein Fall der be-
treffenden Form vorkommt,
so verschwindet die Kurve
natürlich. Trotzdem zeigt
die Darstellung der Durch-
schnittszeiten für alle rich-
tigen 4-Fälle, daß die Ver-
änderungen aller Vp. sehr
ähnlich sind.
^«5^ uiJiftNx«^ £ §5. Spezielle Analyse des
Reaktionsverlaufs.
Ich gehe zu einer Be-
schreibung der einzelnen
Stadi en des Prozesses über.
Auf den Vorschlag des Herrn
Prof. Külpe habe ich, nach-
dem ich mit den Versuchen
über die einzelnen Aufgaben
zu Ende gekommen war, jede
Vp. Reihen von Versuchen
f* machen lassen, bei denen
I sie je ein bestimmtes Sta-
1 dium des Reaktionsverlaufes
zum Gegenstand b e s o n d e r s
genauer Beobachtung
machen sollte. Zu diesem
s£ Zwecke definierte ich vier
Stadien, deren Hervor-
e> n * ^ ^ j£
°» o. S
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 317
hebtiDg mir als die zweckmäßigste erschien: die Vorbereitung
zum Versuche, das Erscheinen des Reizwortes, das Suchen
nach dem Reaktionswort (wenn ein solches Uberhaupt statt-
fand), und endlich das Auftauchen des Reaktionswortes. Die
Vp. hatten sich auf meine Mitteilung, daß sie jetzt ein bestimmtes
dieser Stadien genau beobachten sollten, um hernach darüber mög-
lichst detaillierte Auskünfte geben zu können, auf das betreffende
Stadium vorher einzustellen, was in derselben Weise vor sich ging
wie die vorher geschilderte Vorbereitung. Der Erfolg war sehr
deutlich. Die Beschränkung auf eine bestimmte Phase des kompli-
zierten Reaktionsverlaufs ermöglichte eine sorgfältigere und er-
giebigere Anwendung der Selbstbeobachtung. Das Fraktionieren
des Bewußtseinsbestandes dürfte sich auch sonst bei kompli-
zierten Aufgaben sehr empfehlen. Mit jeder Vp. machte ich für
jedes Stadium wenigstens drei Versuche. Die folgenden Schilde-
rungen bauen sich auf aus den Aussagen der Vp. während der
regelmäßigen Versuchsreihen und der näheren Untersuchung der
Stadien, wobei die letzteren niemals im Widerspruch zu den
früheren Ergebnissen ohne Fraktionierung standen, sondern eine
Ergänzung und nähere Ausführung derselben lieferten.
Nachdem ich schon oben (§ 3] das erste Stadium zur Genüge geschildert
habe, darf ich gleich mit dem zweiten anfangen. Was geschieht, nachdem
das Reizwort erschienen ist?
Äußerlich zunächst: Von der Vorbereitung aus dauert die Spannung,
die in der Erwartung entsteht, bis zum Erscheinen des Wortes fort und
erreicht dort ihren Hübepunkt Die Spannung findet gewöhnlich rasch ein
Ende durch die Reproduktion. Bei Vp. I wurde diese Spannung öfters kon-
statiert Sie ist natürlich am größten am Anfang einer Reihe und gelegentlich
nach einer falschen Reproduktion oder beim Auftreten eines mehrdeutigen
Wortes. Bei Vp. III kommen die Spannungsempfindungen ziemlich selten
vor. Diese Vp. konstatiert das Eintreten einer ruhigen Pause ohne Spannung,
oder einer Hast und Unruhe mit Spannung nach dem Erscheinen des
Reizwortes, gelegentlich auch, was sie >ein ruhiges Zurücktreten vor dem
Worte< nennt und Fixieren desselben. Die folgenden Aussagen geben
eine weitere Schilderung dieses Stadiums. Vp. III: »Mit dem Verständnis
lag bereits der nötige (Ubergeord.) Begriff vor.« > Darin bestand die Apper-
zeption von Klavier, daß der Begriff Instrument auftauchten »Im Augen-
blick, wo ich das Wort verstehe, habe ich das Bewußtsein , ich weiß
schon, was ich zu sagen habe« oder »ich woiß, was ich will.« »Ich hatte
den Eindruck eines gewissen Zwanges, als wenn ich vorher wußte, was zu
sagen wäre.« Diese Eindrücke werden ziemlich oft von Vp. DU konstatiert
Vp. I : »Die volle Bedeutung des Wortes war schon bei der bloßen optischen
Wahrnehmung da. Es ist mir nicht zum Bewußtsein gekommen, daß ich das
Wort ausgesprochen hatte, oder daß die Bedeutung in irgendwelcher Vor-
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318
Henry J. Watt,
Stellung explizite gegeben war.« Aber »ein unwillkürliches, innerliches
Aussprechen des Reizwortes, nnd zwar, wie ich es selbst aussprechen würde,
und damit gleichzeitig verbunden das Verständnis.« »Es scheint, als wenn
dieser Komplex von Schrift-, Sprech- nnd Lautbild das Verständnis voll-
endete. Sonstige Repräsentation des Verständnisses gab es nicht.« Das
scheint der Verlauf und Charakter dieses Stadiums bei Vp. I fast immer zu
sein. Vp. II und Vp. VI konstatieren auch ein innerliches Aussprechen des
Wortes. Vp. III, die das Wort sonst nicht innerlich auszusprechen scheint,
sagt auch einmal: »Im Verständnis von Ostern (Anfg. V) war die Überleitung
au Pfingsten schon gelegen, als wenn ich bloß das Wort innerlich nachzu-
sprechen brauche, damit etwas anderes sich anschließe«. Vp. III: »Es war
keine Pause1) zwischen dem Erscheinen des Reizwortes und dem Verständnis
da, doch dauerte es ziemlich lang, bis das Verständnis ganz dawar. Hit
dem vollen Verständnis war der Anstoß zur Assoziation gegeben.« Bei
Aufg. I (Übergeord. Begr.) konstatiert Vp. II: »In einer Klasse von Versuchen
ist der Begriff schon mit dem Verständnis des Wortes da, in der andern
kommt das Verständnis erst mit einer Assoziation oder Vorstellung.« Wieder:
»Das Verständnis kam durch eine Art Veranschaulichung.« Vp. VI konstatiert
neben einem Bewußtsein der Wortbedeutung und der Aufgabe häufige Gefühls-
zustände dem Reizworte gegenüber, die eventuell mit Organempfindungen
verknüpft waren. Vp. III sagt, daß der Akt des Verständnisses bei den
Aufgaben I und U [übergeord. Begr. und untergeordn. Begr.) anfänglich der-
selbe sei, daß sie aber bei dieser den Begriff sich ausbreiten lasse, und bei
jener rasch über den Akt des Verständnisses hinwegsehe mit der Frage:
»Was gibt's für Arten?« Ob und wie die verschiedenen Aufgaben diesen
Akt des Verständnisses beeinflußt haben, vermögen wir auf Grund unseres
Materials nicht zu entscheiden.
AU drittes Stadium habe ich das Suchen nach einem Worte be-
zeichnet. Ein Suchen findet nicht immer statt. Vp. I, Aufg. I, macht die
allgemeine Bemerkung: »Ich habe meistens das Bewußtsein, daß die Wörter
kommen, ohne daß ich sie gerade gesucht habe. Sie kommen als etwas
Selbständiges, was mich betrifft, Fremdes. Nur selten habe ich das Bewußt-
sein einer Richtung dorthin.« »Den Gang zu diesem Worte kann ich nicht
beschreiben.« Das Suchen selbst kann Vp. I nicht näher beschreiben. Sie
konstatiert bei .di-Fällen eine dunkle Masse von sich hervordrängenden Vor-
stellungen, sie wisse nicht, welche. Vp. I meint, daß, wenu das Wort nicht
bald kommt, späteres Warten umsonst ist. Sie konstatiert auch gelegentlich
eine kleine Leere des Bewußtseins, in der sich etwas wie eine Wiederholung
der Aufgabe antreffen ließ. Dieses Bewußtsein der Aufgabe konstatiert auch
Vp. III, aber es ist so undeutlich , daß sie nicht sagen kann , wie es war.
Dieses Bewußtsein wird aber nur Belten konstatiert. Vp. II sagt wenig Uber
das Suchen aus. Sie besinnt sich gewöhnlich, findet das Gesuchte aber am
liebsten in einem Bilde. Wenn kein Bild da ist, und wenn irgendeine Schwierig-
keit entsteht, dann hilft sie sich vorwärts mit einer Fragestellung wie: »Was ist
das?« oder »Warum?« Vp. III konstatiert, daß der Begriff 'Aufg. I) schon
eher dawar, als ein Wort dafür, oder daß sie sich bewußt ist, daß ihr
1) Ein typischer Fall bei Vp. III Aufg. IV : Körper. Verstanden. Pause.
Optische Vorstellung. Darauf der Versuch, möglichst rasch einen Teil heraus-
zusuchen. Dann Bein.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
319
das richtige einfallen wird, oder »der Begriff war da als Masse, aus
der man etwas heraussuchen konnte«. Eine ungefähre allgemeine Beschreibung
ron A\ bei Vp. III ist das folgende Protokoll eineB Versuches: »Ein Hasten
vorhanden. Dann taucht der Begriff auf. Eine Pause folgt, wo er formuliert
wird. Das Wort kommt unerwartet mit einem Bewußtsein der Richtigkeit,
wenn es ausgesprochen wird.«
Bei der Aufgabe II (untergeordn. Begr.) ist das Suchen etwas ausgeprägter,
und zwar, weil die Aufgabe eine etwas schwierigere ist Vp. III: »Im Ver-
ständnis war kein Anhaltspunkt zu Assoziationen. Dann kam die Frage:
'Was ist denn eine Arznei?1 Das ging nicht. Auch mit Veranschaulichung
nicht Dann: 'Was für Arzneien gibt es?' Wortvorstellungen, und damit eine
Erinnerung und das Reaktionswort« Diese Fragestellung kam ziemlich oft
bei Vp. D und Vp. III vor. Zur Beseitigung der Ratlosigkeit und Verlegenheit
mußte Vp. I die Vorbereitung erneuern oder die Richtung des Suchens durch
den Gedanken an das Anhängen eines Wortes an das Reizwort bestimmen.
Das bringt eine Erleichterung mit sich. Die Spannung hält bis zum Suchen
an und wird besonders deutlich bei einer Mehrheit von Reproduktions-
tendenzen bzw. Bereitschaften. Das Suchen kann auch bestehen in einer
gespannten Leere, bei welcher der Vp. etwas nicht näher zu Beschreibendes
vorschwebt. Diese Leere wird durch das auftauchende Wort verdrängt. Das
innerlich ausgesprochene Reizwort scheint auch zuweilen eine Rolle im Suchen
zn spielen, wobei es noch nachklingen kann. »Ich weiß, waB kommt, ich
weiß den untergeordneten Begriff schon« kommt auch bei dieser Aufgabe vor.
Bei der dritten Aufgabe (ein Ganzes zu finden) ist der Verlauf des Suchens
und sein Charakter im wesentlichen derselbe. Es kann in verschiedenen
Graden der Intensität vorhanden sein oder gar nicht, z. B. wo das Wort sich
aufdrängt, ohne daß die Vp. etwas dabei denkt. So kommt bei Vp. III öfters
dm Reaktionswort zuerst, darnach dessen Rechtfertigung. Das Suchen kann
auch bloß durch das Bewußtsein dessen, was zu sagen wäre, vertreten, durch
ein Bewußtsein der Aufgabe unterstützt, oder es kann der Bestimmung der
Reaktion durch eine Frage nachgeholfen werden. Das Suchen kann zuweilen
peinlich werden. Es wird besonders ausgeprägt durch das Auftreten anderer
Reproduktionstendenzen, worunter die Vp. vielleicht nach etwas anderem
gesucht, als sie ausgesprochen hat, sei es, daß sie wußte, was sie wollte,
»ei es, daß sie von diesem »Etwas« nichts Näheres angeben konnte, oder
daß sie eine andere Richtung nur in einer andern Einstellung des motori-
schen Apparats verspürte. Vp. III konstatiert in einer Reihe von Versuchen
zwei große Klassen. In der einen folgt der Gesichtsvorstellung eine Pause,
hierauf mit einem Sprunge das Wort, in der andern ist der Prozeß kon- <
trauierlich. In einem Falle trat das Suchen nicht auf, weil das Reaktionswort
ichon in der Vorbereitung als Beispiel benutzt worden war. Das Bewußtsein
des kommenden Wortes oder dessen, was die Vp. sagen will, ist von Wort-
vorstellungen nicht begleitet, sondern ist nur ein Bewußtsein der Erleichterung,
«twa wie bei »Na ja!«
Von der vierten Aufgabe (einen Teil zu finden) ist nichts wesentlich
Neues anzugeben. Bei der näheren Untersuchung dieser Aufgabe sagte die
Vp. III daß das Suchen mit einer nochmaligen Apperzeption beginnt, wenn
die der Berührungsassoziation entsprechende Apperzeption mißlungen ist
Die Richtung Uber eine Gesichtsvoretellung hinweg scheint bei dieser Auf-
gabe sehr stark und sicher zu sein, so daß andere Tendenzen daneben selten
wr Geltung kommen.
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320
Henry J. Watt,
Bei der fünften Aufgabe konstatiert Vp. I wie Vp. III bei der vierten,
daß sie nach einer falschen Richtung des Suchens mit besonderer Betonung
wieder auf das Reizwort blickte, als ob von diesem die Anregung zur rich-
tigen Reproduktion ausgehen müßte. Vp. VI, die bei dieser Aufgabe neu
hinzugetreten ist, gibt als Suchen einen nicht näher zu charakterisierenden,
eventuell mit Unruhe und Organempfindungen verbundenen Zustand an und
konstatiert, sie habe schon im Suchen gewußt, daß sie etwas Bestimmtes wolle.
Als viertes und letztes Stadium habe ich das Auftauchende»
Reaktionswortes im Bewußtsein bezeichnet. In Verbindung mit der
oben besprochenen Spannung gibt Vp. I an: »Das Aussprechen geschah mit
einer starken Exspiration, die mit einer gewissen Erleichterung verbunden
war, wahrscheinlich weil früher der Atem angehalten war.« Die Exspiration
ist nicht so stark, wenn das Experiment kürzer ist, und nimmt mit der Übung
ab. Einmal konstatierte Vp. I : »Die Exspiration war groß, auch wenn die
Erregung nicht so groß war. Ich glaube, es war eine Art Hemmung voraus-
gegangen, eine gegenseitige Hemmung von mehreren Reproduktionstendenzen.
Die Exspiration war vielleicht auch von einem Zweifel an der Richtigkeit der
Antwort verursacht.« Vp. III hat keine Spannungsempfindungen beim Warten
auf das Wort, Vp. I bewegt ihre Augen beim Finden des Wortes regelmäßig
von der Platte nach unten.
Das Reaktionswort selbst tritt in zweierlei Weise auf: entweder wird es
wirklich ausgesprochen, oder nicht. Vp. I konstatiert dies einmal als bloßes Laut-
gebilde ohne Betätigung des Sprachapparates und lokalisiert es in der Gegend
des Kehlkopfes. Oftmals, wie namentlich bei glatten und kurzen Reaktionen,
ist das nicht der Fall, und wird das Reizwort ohne vorhergehende akustisch-
motorische Vorstellungen ausgesprochen. Es kann sich auch direkt an ein
Bild anschließen. So bei Vp. IH. Das Reaktionswort kommt eigentlich sel-
tener bei ihr vor dem Aussprechen als mit demselben. Der Sinn des kom-
menden Wortes ist öfters vor dem Worte selbst da und zeigt sich schoo
bald nach Anfang des Versuchs, wie oben gezeigt wurde. Einmal merkte
sie die Artikulation des ersten Buchstabens des Wortes in der Zunge, bevor
sie mit dessen Artikulation Uberhaupt anfing. So auch fiel ein andermal
das Wort vor dem Aussprechen motorisch, aber nicht akustisch ein J). Vp. II
spricht auch gelegentlich das Reaktionswort erst innerlich aus, oder sieht es
als gedrucktes Wort. Bei Vp. III tritt das Wort vor dem Aussprechen öfter
akustisch als in anderer Weise auf.
Die Art nnd Weise, wie das Wort subjektiv auftritt, variiert sehr stark
Vp. HI konstatiert, daß es mit dem Bewußtsein eines Zwanges wider Willen
ausgesprochen oder mit aufdringlicher Kraft gekommen ist Der Einfloß
geläufiger Wortverbindungen auf die Reproduktionen zeigt sich darin, daß
die Worte, welche sich anbieten, mit großer Leichtigkeit auftreten. Vp. III
spricht das Wort sehr oft unwillkürlich aus und hat dem Reizwort gegenüber
verschiedene Erlebnisse, Lust oder Unlust, Überraschung usw. Alle Vp. be-
schreiben das Aussprechen des Wortes von Zeit zu Zeit als »ziemlich auto-
matisch«, »kam von selbst«, »kam überraschend«, »zwangsweise«, »unwillkür-
lich«, »mit einer großen Erleichterung«, usw.
Vorläufig dürfte vorstehendes als Beschreibung der einzelnen Stadien
und ihres Verlaufs im allgemeinen wohl genügen.
1) Die Wort Vorstellungen dieser Vp. sind viel mehr motorisch als op-
tisch oder akustisch.
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Experimentelle Beitrüge zn einer Theorie des Denkens.
321
§ 6. Reproduktionen mit mehrfacher Richtung.
a) unbewußte und bewußte Richtungen.
Bis jetzt haben wir nur diejenigen Fälle behandelt, bei denen
eine einzige Tendenz vom Anfang bis zum Ende verfolgt wurde.
Dies schien mir zwecks Unterscheidung der Formen des Versuchs-
verlaufs einfacher, nicht nur weil die aus einer Reproduktions-
tendenz bestehenden Formen viel zahlreicher sind, sondern auch
weil die andern Fälle Mischungen der Formen zeigen und es sich
vorher gerade darum handelte, jene Formen des Versuchsverlaufes
für sich in ihrer Eigenart hervortreten zu lassen. Die andern
Fälle, die in nicht kleiner Zahl bei diesen Versuchen vorkamen,
zeichneten sich dadurch aus, daß bei den einen die Vp. zunächst
»nach etwas anderem suchte«, oder daß »ihr etwas anderes
vorschwebte«, ohne daß sie angeben konnte, wie dieses andere
war, bei den andern, daß die Vp. nach etwas anderem Be-
stimmten suchte, es aber »nicht finden konnte«, oder daß sie
etwas anderes schon hatte, es aber aus irgendwelchen Gründen
verwarf oder durch die Stärke der andern Tendenz verhindert
war, es zu benutzen'). Jene Fälle bezeichnen wir m\tB, diese mit C.
Es kam bei diesen Fällen dieselbe Reproduktionsmechanik vor, die
wir oben (§ 3) besprochen haben, so daß wir darauf nicht näher
einzugehen brauchen. Die folgenden Tabellen Air die verschiedenen
Aufgaben zeigen, wie die Dauer der Reaktion sich zu den Ten-
denzen verhält, und die Häufigkeit des Vorkommens der drei Arten
A, B und C. Unter J, B und C sind sämtliche durch die
Verschiedenheit der Reproduktionstendenzeil ausgezeichneten Fälle
eingeordnet, ohne auf die bei ihnen häufig vorkommenden Unter-
arten, z.B. Aif B3l C2 usw., einzugehen. In den Tabellen sehen
wir, daß bei allen Vp. und Aufgaben die Formen B und C
eine längere Zeit in Anspruch nehmen als A, und C mei-
stens eine längere Zeit als B. Bei andern aber, nämlich Aufg.I
Vp. n, Aufg. iv Vp. i, n, m, Aufg. in vp. m, Aufg. vi vp. in,
finden wir, daß B eine längere Dauer hat als C. Von jenen gibt
es im großen und ganzen
427 A, 76 B, 74 C,
von diesen 338 A, 26 B, 43 C.
1) Mit diesen Ä-, B- nnd C- Fällen vergleiche man Wnndts Trieb-,
Willkür- nnd Wahlhandlungen. -Psych. III. S. 256. Begleitende Gefühle
sind wir nicht imstande aus nnsern Versuchen anzugeben.
ArehiT för Psychologie. IV. 21
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322
Henry J. Watt.
Bei einigen andern Fällen ist B nach Ma durchschnittlich
kürzer als A — Vp. m, Anfg. I, II nnd Aufg. II, Vp. II. Von
diesen liegen vor:
154 A, 13 B, 26 C.
Diese Zeitverhältnisse bewähren sich gewöhnlich auch, wenn
man A, B nnd C in die ihnen zugehörigen Unterarten einteilt
Tabelle DC.
Aufg. I. Aufg. II.
Oberg. Begr. zu finden. Unterg. Begr. zu finden.
1
A | B
C
A
B
C
!
Vp. 1 Mc
Ma
m.V.
1210 49
1407
276
2059 17
2106
735
2480 13
2397
647
1664 63
1693
470
1826 20
1915
460
2601 9
2875
833
Vp. II Mc
Ma
m.V.
1468 67
1775
774
2948 3
2817
227
1663 4
1788
562
1667 74
2207
1070
1869 1
2630 4
2691
547
Vp. III Mc
Ma
m.V.
1097 46 jl531 6
1346 j 1317
462 663
1612 11
2166
1188
1174 34
1413
443
1246 6
1337
316
1639 12
1865
743
Bei Aufg. I, Vp. I C, kommen Fälle vor, bei denen die wie
bei A2 einleitende Assoziation der Aufgabe nicht entsprach und
verworfen werden mußte. Die Länge von Aufg. I , Vp. II B, igt
nur daraus zu erklären, daß sie längere Zeit nach dem nicht ge-
fundenen andern suchte, wogegen bei C das zuerst Gesuchte ziem-
lich schnell aufgetreten ist. Diese Mehrheit der Tendenzen ent-
steht zum Teil aus dem von verschiedenen Vp. öfters konstatierten
Bestreben, bei der Aufg. I einen möglichst nahe liegenden, bei der
Aufg. II einen möglichst speziellen Begriff zu finden. Die Dauer
von B hängt von Verschiedenem ab : von der Intensität des Suchens '}
nach etwas anderem, von der Art und Weise, wie das tatsächlich
1) Vgl. Balg. Ich sachte nach ewas anderem, ich weiß nicht was — sagte
»Kind«. 1530 a.
Kagout. Ich suchte nach dem (nachträglich eingefallenen] Wort »Gericht«,
das nicht einfiel. Sagte dann »eßbarer Gegenstand«.
Aussatz. Erinnerte sich an Naeman. Der Name fiel aber nicht ein.
Sagte Krankheit. 3027 a.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie de» Denkens. 323
anggesprochene Wort auftritt: erscheint es von selbst1) oder drängt
es sich anf, dann ist die Reaktion ceteris paribns kurzer; muß es
gesucht werden, dann ist sie um so viel länger ; endlich hängt die
Dauer offenbar gelegentlich von der Beschaffenheit des Ausgespro-
chenen *) ab, in der Weise, daß längere oder abstraktere und we-
niger geläufige Wörter oder ein Wort mit Adjektivum längere Zeit
zur Reproduktion (wie auch bei Ä) in Anspruch nehmen. Bei C
gilt das meiste von dem eben Gesagten und außerdem, daß die
Dauer von der Geläufigkeit3) der andern verworfenen, bzw. ver-
nachlässigten Reproduktionstendenz abhängt. Pausen, Verlegenheit,
Überlegung im Aussprechen usw. verlängern die Reaktion natürlich
überall und immer.
Tabelle X.
Aufgabe: Aufgabe:
Ein Ganzes zu finden. Einen Teil zu finden.
B
C A
B
C
Vp. I Mc
Ma
m.V.
1405 49
1642
467
2135 11
2463
814
2436 17
2608
896
1372 68
1517
418
2278 5
2224
266
1676 10
1857
472
vp. n Mc
Ma
m.V.
1379 33
1614
536
0
3437 1
1327 74
1377
440
1979 3
3361
915
1889 1
vp. in Mc
Ma
m.V.
llOOl 49
lneo
j 313
1616 6
1849
544
1397 11
1600
646
1118 62
1146
144
1494 7
1492
346
1085 13
1344
430
Der Charakter des ans mehreren Reprodnktionstendenzen bestehenden
Verlaufs ist bei den nächsten zwei Aufgaben (ein Ganzes zu einem gegebenen
Teil and einen Teil eines gegebenen Ganzen zu finden) im wesentlichen
derselbe. Vp. I ist sich der Tendenz wenig bewußt ; sie sagt etwa, sie habe
nach einem gewissen Worte gesucht, das ihr aber nicht einfiel. Das Bewußt-
sein der andern Reproduktionstendenz kann sehr dunkel sein, und Vp. I gibt
1) Kellner. Zunächst suchte ich nach etwa »junger Hann«, sagte aber
Diener das war von vornherein in Bereitschaft). 1311 a.
2) Vgl. z. B. die folgenden langen Reaktionswörter:
Psychisches Verhalten. 2765 <r.
Apothekcrmittel. 2059 <r; bei denen sonst nichts die Länge der Re-
aktion Erklärendes vorlag.
3 Aal. Wollte »Vogel« sagen; sagte »Fisch«. 861 c.
21*
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324
Henry J. Watt,
einmal an: >Ich bemerkt« an einer andern Einstellung des motorischen
Apparats, daß die Richtung nach etwas anderem ging, ich weiß nicht, wo-
nach«, oder »auch drängte sich etwas anderes auf, ich weiß nicht was«.
So kann es sein, daß die Vp., wenn die andere Tendenz ein Bild enthält,
ein die Aufgabe befriedigendes Wort mit Hilfe des Bildes nicht hat finden
können, dann aber ein solches direkt und für sich sucht und findet» , oder
»etwas anderes taucht plötzlich auf und verdrängt die zunächst gesuchte
Richtung«. Vp. IH drückt sich so aus: >Ich bin mir bewußt, daß mir etwas
anderes vorgeschwebt ist.« >Ich suchte etwas anderes in der Richtung nach
Service. Ich fand aber kein richtiges Wohin.« Im folgenden Beispiel
müssen wir das Gesichtsbild als Zeichen einer andern Tendenz nehmen.
Orchester: »Ich hatte ein ganz anderes Bild als das, wozu das Wort Violine
gehört Ich hatte ein lebhaftes Bild der Orgelpfeife, als ich Violine aus-
sprach, und ein lebhafteres Bewußtsein, daß das gar nicht zum Bild paßt,
was ich sagte.« Wie aus einigen Beispielen, aus der Länge usw. hervorgeht,
müssen wir in dem zum Bewußtsein gekommenen Doppelsinn*) eines Reiz-
wortes die Anfänge einer zweiten Tendenz sehen.
C läßt sich nicht immer deutlich von B unterscheiden, zuweilen wegen
mangelhaften Protokolls. Das andere Gesuchte kommt auch gelegentlich
nachträglich oder während des Aussprechens zur Geltung, so daß es von
der Form B zu C übergeht, und die Vp. selbst vermag nicht immer anzugeben,
wo dieses Deutlichwerden der andern Richtung eingetreten ist, noch viel
weniger, dasselbe klar auszudrücken. In den meisten Fällen wird die erste
Reproduktionstendenz oder das, was sie lieferte, verworfen. Es ist schwer,
genau zu bestimmen, was dieses Verwerfen eigentlich ist. In vielen Fällen
gibt die Vp. nur an, es sei ihr klar geworden, daß der Ubergeordnete
Begriff, der Teil zu abstrakt , zu allgemein, koordiniert, zu viel usw., d. h.
ein falsch Gesuchtes sei. Das kann begleitet sein und in den eben zitierten
Formen ist es gewöhnlich von mehr oder weniger Wortvorstellungen: Nein,
paßt nicht, geht nicht, usw. neben den obigen Bruchstücken begleitet. Das
Verwerfen kann auch eine einfache Aversion oder einfach eine die vorher-
gehende beseitigende Bewußtseinslage3) sein. Eine Überlegung, die keine
als solche vorhandene bewußte Verwerfung des Eretgesuchten enthält4), oder
eine Verwerfung der Richtung selbst, so etwa wie »in der Richtung oder
nach dem und dem wäre es zuviel« leistete auch zuweilen denselben Dienst.
1) Stufe. Dunkles Bild einer Treppe. Wollte »Treppe«; kam nicht dar-
auf. Suchte und suchte und sagte schließlich »Leiter«. Das Wort war in
größerer Bereitschaft, ich wollte es aber nicht sagen.
2) Vgl. den Fall »Bäckerei«. Ein Wort mit B anfangend hat sich aufge-
drängt; unterdrückt mit Gefühl der Anstrengung. Dann das Wort »Weck«
(es scheint als eine besondere Leistung, daß ich das herbeibringe;. »Weck«
war vom Anfang an, aber nur dem Begriffe nach da.
3) Vp. HL Kreis. Bei der Vorstellung eino Bewußtseinslage der Un-
sicherheit wegen der Einfachheit der Vorstellung. Sah keinen Teil zunächst
Dann »Wenn keine Teile dasind, muß man sie machen«. Dies nur ein
Gedanke. Segment.
4) Vp. I. Zunge. Dachte zunächst an MuBkel. Dann der Gedanke
»Die ganze Zunge ist ein Muskel« (»was das Verwerfen ausmachte«). Sodann
»Fleisch« ausgesprochen.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denken». 325
Wenn Gesichtsvorstellungen vorhanden sind, kann die Konzentration mit
oder nach dem Verwerfen wechseln. Daß der Wechsel der Konzentration
einem Verwerfen vorausging oder ein Verwerfen bildete, habe ich nicht fest-
stellen können. Nach der Verwerfung tritt häufig eine Pause ein.
Das Bestreben, obgleich nicht ausgesprochen, ist auch hier wieder, ein
ingcs Ganze zu finden, d. h. der Aufgabe gründlichst nachzukommen.
Interferenzwirkungen zweier Reproduktionstendenzen sehen
wir in den folgenden Beispielen:
Vp. I. Zimmer. Stuhl und Tisch gaben Tusch. 1530 er.
Vp. in. Kloster. Optisches Bild einer Nonne, wollte aber Mönch
aussprechen; die beiden gaben Nönch. 1107 a.
Vp. III. Flinte. Ich wollte Hahn sagen, Schoß drängte sich
mir auf, so daß ich zu Schahn kam. 986 a.
Vp. m. Haus. Türe und Stuhl = Stür. Türe war dem Be-
griffe nach und Stuhl dem Worte nach vor dem Aussprechen da.
Keine Vorstellung. 1012 a.
Hier sehen wir, daß die Reaktionsdauer für diese vier Fälle
kürzer ist als die durchschnittliche bei der betreffenden Vp. für
C bei diesen Aufgaben, weil die zwei Tendenzen einander in ihrer
Wirksamkeit nicht wesentlich haben hemmen können.
Tabelle XI.
Aufg. V: Koord. Begr. Aufg. VI: Koord. Teil.
Ä
B
C
A
B
C
Vp. I Mc
Ma
m.V.
1328 72
1421
366
1664 8
1974
586
2868 4
3569
1644
1606 54
1743
504
1998 3
2344
713
3343 7
3342
179
Vp. VI Mc '1241 64
Ma 1350
m.V. \ 368
1530 2
295
2076 5
2117
700
1579 31
1778
467
1820 2
331
2325 10
2386
413
Vp. III Mc
Ma
m.V.
1049 45
1155
290
1458 13
1623
539
2786 8
2591
862
994 28
1300
317
3308 2
251
1316 3
2288
1617
Die nächsten zwei Aufgaben bieten bei B nichts prinzipiell
Neues. In vielen Fällen gab ein Doppelsinn des Reizwortes
Anlaß zu der zweiten Tendenz, und in vielen war ein Suchen
nach einer zweiten Richtung vorhanden, von der aber kein Wort
einfiel. Es bedarf kaum einer Erwähnung, daß eine Tendenz ftir
sich verworfen werden kann. Die Pause und der Hemmungs-
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326
Henry J. Watt,
zustand nach dem Prozeß des Yerwerfens werden, besonders wenn
sie ausgeprägt sind, durch eine Rückkehr zn der Aufgabe oder
durch eine betonte Frage gelöst1). Das folgende Beispiel ist
interessant auch in bezug auf die Selbständigkeit der zweiten
Tendenz und ihre augenscheinliche Unabhängigkeit von der ersten.
»Bembrandt« — Bewußtseiu von der Wortbedeutung und schwa-
ches optisches Bild der Niederlande auf der Karte. Eigentüm-
licher Zustand, der als Suchen nach dem Namen eines bekannten
niederländischen Malers (Rubens) zu bezeichnen ist. Nicht ein-
gefallen. Lebhafte Unruhe, ausgedrückt durch Organempfindungen
in der Brust und Spannungsempfindungen in der Stirnhaut, und
unter dem Einfluß der langen Pause aussprechen von »Uhde«.
(Wie ich dazu gekommen bin, weiß ich nicht. Eine Beziehung
zwischen beiden besteht nicht.)
Nach dem Prozeß des Verwerfens findet im allgemeinen mehr
oder minder starke Hemmung statt, die sich in der obenerwähnten
Pause zeigt oder darin, daß einige Zeit nichts anderes aufkom-
men will.
Ich gebe auf der folgenden Seite eine Figur, die, wie Fig. 5 für
die 4-Fälle, anschaulich zeigt, wie sich die Länge der Reaktionszeit
bei den B- und OFällen und um so mehr schließlich bei allen rich-
tigen Fällen jeder Aufgabe mit der Aufgabe verändert. Die Tabelle
leidet darunter, daß verhältnismäßig wenige Fälle der zwei Formen
B und C vorkamen. Die Kurven jedoch stimmen sichtlich mitein-
ander überein, und die für sämtliche richtigen Fälle jeder Auf-
gabe ist ebenso deutlich wie die oben gegebene für die ^4-Fälle.
Damit steilen wir den durchgehenden Einfluß der Aufgabe2)
1) KajUte. Im ersten Augenblick die Erwartung eines besonderen,
ergänzenden Begriffs; dann kam nichts. Dann eigentliches Besinnen. Was
ist eine KajUte? Begriff > Kabine <. Verworfen mit der Überlegung: »Das
ist dasselbe«. Dann unklar der Begriff »Schiff« und nun eine ganz ausfuhr-
liche Überlegung: »Was gibt es für andere Teile?« »Kohlenraum« nach
einiger Zeit.
2) Dieser Einfluß der Aufgabe ist schon von sehr vielen Psychologen
unter verschiedenen Namen — Interesse u. dgl. — konstatiert worden. Die
neueren Untersuchungen Uber die motorischen Einstellungen und einige
andere Arbeiten, wie Mlinstcrberg, »WUlkürliche und unwillkürliche
Vorstellungsverbindungen«; Flournoy, »Sur les temps de lecture et
doniission«, L'annee psych. 1895. p. 4ö ff, usw. sind experimenteU nahe daran
gekommen. M uns t erb e rg jedoch war durch sonstige Voreingenommenheiten
daran verhindert, dieses unter andern deutliehen Ergebnissen seiner Arbeit
hervorzuheben. S. besonders a. a. 0., Beiträge I., S. 106.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie deß Denkens.
327
auf die Länge der Re-
aktionszeit bei jeder
Form des Verlanfes fest.
Man könnte nun einen
großen Einwand vorbringen
gegen die Behauptung, daß
die Aufgabe sowohl die
Häufigkeit des Vorkommens
der Unterarten von A als
die Länge der Reaktionszeit
jeder Form des Verlaufes
überhaupt beeinflußt, näm-
lich folgenden : daß wir gar
keine Differenzierung
zwischen dem Einfluß
der Aufgabe und dem
der einzelnen Wörter,
die bekanntlich bei jeder
Aufgabe wechselten, gemacht
haben. Man könnte behaup-
ten: das, was hier der Ein-
fluß der Aufgabe genannt
wird, ist nichts anderes als
der Einfluß der stetigen
Veränderung der Reizwörter,
so daß es sich mit wenig
verändertem Ausdruck würde
sagen lassen: >Die Wörter
wechseln ja von Aufgabe
zu Aufgabe, und damit
verändert sich die Häufig-
keit des Vorkommens der
Formen und die Länge der
Reaktionszeit. Der Einfluß
der Aufgabe bleibt wohl
bei jeder Aufgabe der näm-
tiehe, was die Theorie, daß
die Verschiedenheit der Vor-
bereitung gar nichts an dem
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328
Henry J. Watt,
inhaltlichen Verlauf der Reaktion ändert, nur bestätigen würde.« An
diesem Punkt unserer Analyse scheint dieser Einwand wohl sehr
berechtigt ; man kann jedoch verschiedenes darauf erwidern. Dazu
ist es aber nötig, einige unserer unten entwickelten Resul-
tate jetzt schon vorwegzunehmen:
1) Wir finden unten (§ 10), daß die Geschwindigkeit einer Re-
produktion bei jeder Vp. im allgemeinen mit ihrer Geläufigkeit zu-
nimmt. Wenn wir nun eine Ziffer fllr jeden Grad von Geläufigkeit
bei jeder Aufgabe aufstellen, indem wir die Durchschnittszeit aller
Vp. bestimmen (was man z. B. bei der V. Aufgabe schon in der
Tabelle1} findet), so ergibt sich daraus, daß die Kurven sich in
sehr ähnlicher Weise verhalten, wie die eben vorgeführten Kurven,
so daß wir sagen dürfen: Der Einfluß der Aufgabe ist unab-
hängig von dem Grade der Geläufigkeit der betreffenden
Tendenzen. In der Figur 8 haben wir nämlich drei (vier) Kur-
ven, die drei (vier) Grade der Geläufigkeit darstellen. Man kann
aber noch in jeder dieser Kurven den Einfluß der Veränderung der
Aufgabe sehen. Man vergleiche Figur 8 mit dem letzten Teil
von Figur 6. Folglich ist die Wirkung der Aufgabe unabhängig
wenigstens von der Geläufigkeit der von ihr beeinflußten Repro-
duktionstendenzen.
2) Wir haben schon den Einfluß der Veränderung der Aufgabe
auf die Häufigkeit des Vorkommens der Formen Ai} Aiy A3 ge-
zeigt Man könnte nun meinen, daß die Prozentsätze aller rich-
tigen Reaktionen, die sich bei A> B und C finden, einen ähnlichen
Einfluß der Aufgabe zeigen würden, wenn der Einwand gegen uns
richtig wäre, weil es sich ja da um die Anzahl der erregten Repro-
duktionstendenzen handelt. Es ist nun sehr wahrscheinlich, daß
die Möglichkeit des Vorkommens eines B- oder G-Falles vom Reiz-
worte selbst abhängt, weil es sich um Reproduktionstendenzen
handelt, die an das Reizwort angeknüpft sind. Zeigen wir doch
weiter unten2), daß die siegende Tendenz bei diesen Reproduk-
tionen (B-Fälle) mit zweiter, unbewußter Tendenz von der Geläufig-
keit, d. h. von der größeren Reproduktionsgeschwindigkeit der
siegenden Tendenz selbst abhängt. Also würde die Häufigkeit
des Vorkommens der A-, B- und C-Fälle von den Reizwör-
tern selbst abhängen und nicht von dem Einfluß der Aufgabe.
1} TabeUe XX. 2) Tabelle XXI.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
329
In der Figur 7 haben wir
die Häufigkeitskurven der A-, B-
und C-Fälle unter den verschie-
denen Aufgaben zur Darstellung
gebracht. Wir finden keine
Regelmäßigkeit von der Art
der früheren. Auch die Art und
Weise, wie Vp. VI in der Tabelle
auftritt, hat an sich gar keine
Spur von der Regelmäßigkeit der
früheren Kurven. Wir finden
aber hier den Einfluß der
Wörter selbst. Dieser zeigt
keine Ähnlichkeit mit dem, was
wir den Einfluß der Aufgabe ge-
nannt haben. Um so schwächer
also wird damit der gegen uns
erhobene Einwand.
Anmerkung. Die Unterscheidung
zwischen dem Wesen der Aufgabe und
dem der Reproduktionstendenzen ist
«ehr notwendig, weil es bis jetzt in der
Psychologie die allgemeine Tendenz
gewesen ist, die Aufgabe im Sinne von
bloßen Reproduktionstendenzen zu
interpretieren und schematisch darzu-
stellen. Da* sieht man besonders klar
nun Beispiel in einer Arbeit wie der
von J. H. Bair, The practice Curve1.
Hier hat der Verfasser Untersuchungen
in einer Weise gemacht , die sehr ge-
eignet wäre, Licht auf die Wirkung der
Anfgabe zu werfen. Da er aber Auf-
gabe und Reproduktionstendenz nicht
voneinander gesondert hat, so begeg-
net er großen Schwierigkeiten, wenn
er eins seiner Resultate, that special
practice gives general ability, as well
u special (S. 66), oder »the Curve M N
representa the practice effect one
order practised has on the time re-
quired to do another order as yet not
practised< erklären will. Dieses Resultat
lj Psych. Rev. Vol. V. Monog.-Suppl. 2, 1902.
■i
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330
Henry J. Watt,
deutet er im Sinn einer Meinung MUnsterbergs'], so daß er sogar zu
dem folgenden allgemeinen Ausdruck kommt: there is probably no such thing
as interference [S. 68;. Dies ist aber eine falsche Entwicklung des sehr
wichtigen Resultats von Münsterberg, und es ist zu viel verlangt, daß
die so deutlichen Ergebnisse Uber die Hemmung von Beproduktionstendenzen
von Müller und Pilzecker, deren Werk Bair nicht zu kennen scheint, bei-
seite gesetzt werden sollten. Wir dürfen Übrigens bei solchen Untersuchungen
über Reproduktionstendenzen nicht vergessen, daß wir Aufgaben nicht überall
aufzudecken vermögen.
b) Verschiedenes Uber die Tendenzen.
Wir haben schon im allgemeinen den hemmenden Einfluß einer
zweiten wirksam werdenden Reproduktionstendenz und die von der-
selben verursachte Verlängerung der Reaktionsdaucr betrachtet.
Solche Hemmungen machen sich aber auch fühlbar in andern als den
zwei Gruppen B nnd C; namentlich in A treten sie in verschiedener
Weise hervor. Es kamen mehrere Fälle vor, bei denen die Vp.
eine Menge von sich hervordrängenden Vorstellungen
konstatierte. Bei Anfg. I konstatiert Vp. I eine solche Masse
von sich hervordrängenden Vorstellungen, sie weiß nicht welchen,
und dazu, daß in solchen Fällen die Spannung groß sei. Bei
Aufg. II konstatiert Vp. I diese Fälle von Tendenzen in einzelnen
Fällen. Die durchschnittliche Dauer für die Form Ax ist: Mc 1443a,
Ma 1604 a (43 Fälle). Für die Fälle mit einer Fülle von Vorstellungen
beträgt sie: Mc 1557, Ma 1671 (11 Fälle), also eine Verlänger-
ung von bzw. 114 a und 67 a. Bei Vp. I, Aufg. III1) und IV3)
zeigt sich wieder diese Fülle von Reproduktionstendenzen, bei der
vierten (einen Teil zu finden) allerdings häufiger. Bei Vp. m
(Aufg., einen Teil zu finden) haben wir eine vollständige Hemmung.
»Welt«: »So viele Vorstellungen im Bewußtsein, daß keine sich
verdichtet hat. Ich suchte nach einem Worte; keines gefunden;
Versuch aufgegeben.« So konstatiert auch Vp. VI, Aufg. II, ein
1) Vgl. S. 9 in der Bai rächen Arbeit: »He [nämlich Münsterberg)
believes that the sensori-motor im pulse does not divido like an electric cur-
rent inversely proportional to the resistance, but the whole impulse goes
in one direction and that direction is determined by habit«. Vgl. Münster-
berg, GedächtnisBtudien Teil I, Beiträge Heft IV, 1892.
2) Brett. Die Vorstellung eines BretteB. Konnte mir lauge Zeit kein
zugehöriges Ganzes nennen. Allerlei Vorstellungen schienen Bich vorzu-
drängen. Starke Aufmerksamkeit und dann Schrank. 4173 a.
3) Welt. Eine ungeheure Fülle andrängender Vorstellungen. Ich sagte
mit einem gewissen Trotz Stern und dachte, es ist gleichgültig, waB ich
sage. Deutliche Empfindung der Hemmung. 2514 a. (Aufg. IV.)
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
331
Konkurrieren verschiedener Vorstellungen, von denen aber keine
ins Bewußtsein trat, oder wieder ein eigentümliches Bewußtsein,
als wollten verschiedene Wortvorstellungen im Bewußtsein auf-
tauchen. Vp. I: »Hering: Sofort der Oberbegriff Fisch, und es
drängten sich so viele Vorstellungen vor, daß es lange Zeit zu nichts
kam. Butte« — 2295 a (lang). Vgl. auch den interessanten Fall
Aufg. V. »Eifer: Tugend war der Oberbegriff. Ich suchte nach
etwas anderem, Gegensätzlichem, Koordiniertem. Verschiedenes
drängte sich vor, und währenddessen habe ich Tugend aus-
gesprochen.« 1365 a. Hier sehen wir, wie verschiedene Tendenzen
einander so hemmen können, daß eine Vorstellung, die eigentlich
mit schwacher motorischer Tendenz im Bewußtsein da ist, die
andern überwindet und hervorbricht Mit Ausnahme von Vp. I,
Aufg. I, sind die Fälle, bei welchen diese Fülle von Tendenzen
konstatiert wird, nicht sehr zahlreich. Alle aber zeichnen sich
durch eine über der Durchschnittsdauer liegende Reak-
tionsdan er aus. Es können sich auch viele Tendenzen auf das-
selbe Objekt richten, und zwar in der Weise, daß sie alle dazu
beitragen, das Reaktionswort herbeizufuhren, und jede für sich auf
dasselbe gerichtet ist. »Bart: Reaktionswort Haupt. Sehr zweifel-
haft. Ich gebrauche Haupt nicht, sondern nur Kopf. Ich würde,
glaube ich, nicht darauf gekommen sein, wenn nicht einer von
meinen Bekannten Bart, der andere Haupt hieße. Optische
Vorstellung eines Vollbartes.« Verschiedene Vermittlungen kommen
der Vp. öfters ins Bewußtsein. Erst allmählich lernt die
Vp. kennen, wie ihre Reproduktionen motiviert sind.
Nach einer Gesichtsvorstellung kann das Reaktionswort auch noch
begrifflich vermittelt werden. Die Vp. findet gleichsam die An-
regung zur richtigen Reproduktion an dem Bilde, blickt aber vom
Bilde weg, um das Wort auftauchen zu lassen. Wenn mehrere
Keproduktionstendenzen dasselbe Reaktionswort herbeiführen, so
scheint es natürlich, daß sie sich gegenseitig verstärken, was aus
dem oben gegebenen Beispiel Bart -Haupt hervorgeht, wobei wir
nach der Vp. annehmen müssen, daß Bart allein Haupt nie bei
der betreffenden Aufgabe reproduziert hätte, wenn die Reproduk-
tion nicht unterstützt gewesen wäre. Es scheint an der Hand der
wenigen Beispiele1), die vorliegen, sehr wahrscheinlich, daß die
1) Mappe. Optisches Bild einer Briefmappe. Hatte den Eindruck, als
ob durch BerührungsaHsoziation Brief herbeigeführt wäre, aber auch »der
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332
Henry J. Watt,
Reaktionsdauer vieler gleichgerichteten Reproduktionstendenzen
länger ist als die einer gleichstarken einzigen, und zwar je nach
der Quantität der Erlebnisse, die sie hervorrufen.
§ 7. Tendenzen, die nach dem Aussprechen zum Bewußtsein
kommen.
Am Anfang unserer Versuche wurde die Vp. gebeten, gleich nach dein
Versuch alles zu Protokoll zu geben, was irgendwie den Versuch be-
einflußt habe, und es wurde ihr leider gesagt, daß das, was etwa nach dem
Aussprechen zum Bewußtsein käme, nicht von Belang sei. Ich habe aber
gefunden, daß eine im Versuche selbst nicht znm Bewußtsein
gekommene Reproduktionstendenz im Aussprechen des Re-
aktionswortes einfallen kann. Leider habe ich wenige solche Fälle
im Protokoll. Das beste Beispiel ist folgendes: Brust: kolossalo Tendenz,
»Bauch« zu sagen. Zurückgedrängt durch die logische Überlegung etwa: das
ist koordiniert. Damit war das Bewußtsein vorhanden, was richtig sei. Das
Wort kam erst, als es ausgesprochen wurde, nämlich Körper. .Organismus',
wenn es gekommen wäre, wäre ebenso gut gewesen (und es war tatsächlich
mit Körper im obigem Zustand gegeben1)). Mit einem solchen dürfen wir
die zahlreichen Fälle vergleichen, bei denen die Vp. konstatiert, daß sie einen
näherliegenden2) Begriff" nach oben oder nach unten, ein engeres Ganze usw.
hätte geben können. Wenn auch die Vp. sich irrt in der Meinung, daß sie
etwas anderes hätte angeben können, so will sie doch damit sagen, daß
andere vorhandene Reproduktionstendenzen , wenn sie unterstützt worden
wären, die Aufgabe eher befriedigt hätten. Es kann uns nicht wundern, daß
die als besser angesehene Tendenz nicht zur Geltung kam, weil es sich hier
nicht um bessere oder schlechtere Äußerungen handeln kann, sondern um
stärkere oder schwächere Tendenzen. Wir können uns nicht denken, daß
Brief liegt in der Mappe, ist ein Teil«. Zum Bewußtsein gekommen, daß die
Zerteüung von Briefmappe als solche nicht falsch ist wie früher. 1193 c.
Stadt — Haus. Optisch vermittelt und auch zum Teil begrifflich. Ich hatte
den Eindruck eines Häuserkomplexes als Stadt, und ganz hemmungslos schloß
sich Haus daran als Teil. 758 <r.
Daumen— Hand. Hier (wieder) eine Erleichterung. Nachträglich ist es
mir eingefallen, daß der frühere Versuch Gesicht— Hand mir während des
Versuchs eingefallen ist und die Erleichterung hervorgebracht hat. 760 <r.
Dabei sagt die Vp. : Die Anstrengung und die Zeit vom Auftauchen des
Begriffa biB zum Auftreten des gegebenen Wortes scheint mir nicht klein zu
sein, bo daß ich eine Erleichterung sofort fühle.
1) Vgl. Vp. III. Schwester: Wie ich das Wort »Vater« aussprach, war
der Begriff Verwandte da und zugleich ein Bewußtsein des Nichtganzpasscus,
und als Grund dafür ist mir gleich danach der Begriff Bruder eingefallen,
den ich eigentlich hatte aussprechen wollen.
2) Vgl. was Wreschner (Experim. Studien über die Assoziation, Allg.
Ztschr. f. Psychiatrie. 57. 1900. S. 284 Uber seine Patientin sagt, daß sie sich
eng an den Inhalt des Reizwortes anklammert und selbst, wenn sie ihn über-
schreitet, nur an das Nächstliegende denkt.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
333
eine Reproduktionstendenz eher wirksam sein könnte, als eine zweite ebenso
starke, aber minderwertigere, ohne daß dieses Wertmoment aktuell im Be-
wußtsein wirkte und die objektiv wertvollere Tendenz unterstützte. Die
allgemeinere, breitere Tendenz ist gerade wegen ihres häufigen Vorkommens
stärker und kommt deshalb leichter zur Geltung.
Zuweilen wird eine andere Bedeutung des Reizwortes bewußt;
wir können aber nach unserem Protokoll nicht feststellen, ob die zweite
Bedeatungstendenz schon im Verlauf des Versuches anfing. So kann auch
dort, wo ein Ubergeordneter Begriff oder ein Ganzes (bei der Koordination
von Begriffen und Teilen) eine Rolle spielt, das gewöhnlich als Mittelglied
auftretende Element erst im Aussprechen oder nachträglich zum Bewußtsein
kommen. Dies geschieht häufig, wenn die wirksame Reproduktionstendenz
fflr sich irgendwie sehr stark ist. »Löwe: Habe Möwe zwangsweise repro-
duziert. Viel später kam der Begriff Tier.< 826 a. »Schwester: Wie ich das
Wort Vater aussprach, war der Begriff Verwandte da.< Das kommt nicht
so gelten vor, ist aber schwer vom Urteil über die Richtigkeit der Repro-
duktion zu unterscheiden. Die Aufgabe begrenzt gewöhnlich die möglichen
Reproduktionstendenzen entweder vor dem Versuch in der Vorbereitung, oder
wenn sie sich massenweise aufdrängen. Eine starke Reproduktionstendenz
kann diesen Einfluß der Vorbereitung momentan verdrängen, so daß sich
die Aufgabe erst nach ihrem Auftreten im Bewußtsein, bzw. nach dem Aus-
sprechen wieder geltend macht. Es gibt aber sonst viele Fälle, bei denen
die Aufgabe schon wirksam gewesen ist und in einem Akt des Urteilens
sich wieder am Ende des Versuches zeigt.
Eine interessante Form des Einflusses einer zweiten Tendenz ist das
Korrigieren während des Aussprechens. Vp. III. »Religion: Bud-
dhismus. Ich wollte , Buddha* sagen und im Aussprechen habe ich es korri-
giert« Dieselbe Vp. konstatiert, daß dies verschiedene Male vorgekommen
ist. So: Wache — Polizei+mann, Teich— See, »und .Rose' habe ich hinzugefügt
auf Grund einer Anschauung, bei der ich einen Teich mit Rosen bedeckt
vor mir hatte. Ich habe ,See' ausgesprochen ohne eine Ahnung, glanbe
ich, von dem, was folgt, auf Grund der äußeren Assoziation , Teich— See'.«
924«.
§ 8. Spezielle Analyse der fünften und sechsten Aufgabe.
(Einen koordinierten Begriff oder einen andern Teil eines gemein-
samen Ganzen zn finden.)
Diese zwei Aufgaben sind in ihrer Wirkung von den andern
so verschieden, daß ich gewisse Fragen, die sich auf sie be-
ziehen, insoweit unberührt gelassen habe, als sie diese Aufgaben
betreffen. Es schien mir besser, diese Aufgaben fiir sich zu be-
handeln, da die obige1) Auseinandersetzung anders sehr ver-
wickelt geworden wäre. Diese Aufgaben bieten aber nichts
den auf Grund der andern gemachten Behauptungen Wider-
Ii § ö.
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334
Henry J. Watt,
sprechendes, and man wird guttun, ihnen all das Obige voraus-
gesetzt zu denken, damit wir uns hier kurzer fassen können. Wir
haben bis jetzt nichts Uber die Wirkung schwieriger oder ver-
wickelter Aufgaben behauptet, und solche sind diese beiden in
gewissen Beziehungen. Wir wollten aber nur mit den einfachen
anfangen, um auf Grund ihrer etwaigen Analyse zur Untersuchung
der andern fortschreiten zu können.
Die Einteilung der Verlaufsformen A, B, C, Au A^, A3} die wir
oben gemacht haben, gilt auch hier. Was aber diese Aufgaben von
den andern unterscheidet, ist das häufige Vorkommen von Ver-
mittlungen.
a. Die fünfte Aufgabe.
Tabelle XU
Aufg. V: Koord. Begr.
n
Ai V
n
A*V
n
Bt V
n
QV
n
Afe
Ma
m.V.
1338
1338
55
2
1322
1415
330
65
1448
1448
160
2
1664
1974
586
8
2868
3569
1644
4
V = Vermittlung vorhanden.
Ich gebe hier eine Übersicht Uber die Reaktionszeiten bei Vp. I. Ax bedarf
keiner weiteren Bemerkung. Mit V bezeichne ich die Vermittlung, genauer
den Oberbegriff, der im Versuch vorhanden war. Er ist wohl gewöhnlich als
Wortvorstellung zu denken. Aus dem Protokoll der Vp. I ist nicht ersicht-
lich, wo im Laufe des Versuches der Oberbegriff vorkommt Sie weiß dies
auch selbst nicht genauer anzugeben. Der Oberbegriff kann ja eine ganz
bestimmte Stelle1) im Verlaufe des Versuches einnehmen. Wir müssen es
uns aber wohl so denken, daß der Oberbegriff, weil er nicht absolut
nötig zur Reproduktion eines koordinierten Begriffes ist (vgl. Ax in der
Tabelle), obwohl er ein bestimmtes Stadium der Reproduktion bilden kann,
im allgemeinen eine von dem Reizwort erweckte, der andern, nämlich der
Versuchsreproduktion parallel gehende Reproduktion ist, die hauptsächlich
zur Rontrolle der Versuchsreproduktion dient. Er kann in allen
Stadien des Versuches auftreten, vom ersten (vgl. obiges Beispiel «) ) bis zum
letzten und nach diesem. Man beachte in der Tabelle die äquivalente
Regelmäßigkeit der schon in § 5 festgestellten Zeitlängen. In Ax wurde
eine Zeitlänge weggelassen, weil das Suchen3) darin sehr lang und
eine Vermittlung doch vorhanden war. wenn auch nicht genau so wie bei
1) Dachs: Hier war zunächst nach Dachs die Wortvorstellung »anderer
Iiuud« da und die Tendenz, ein einfaches Wort dafür zu finden, usw.
2) Geheimnis: Langes Suchen nach einer Koordination. Kein Ubergeord-
neter Begriff vorhanden. Die Tendenz, einfach etwas Offenes zu finden.
34% a.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 335
den A\ f-Fällen. Auffallend ist auch, wie wenige Gesichtsvorstellungen diese
Vp. hier hatte, was sie veranlaßte zu sagen, daß bei diesen Versuchen das Bild
überhaupt keine Rolle spiele. Es verhält sich das aber wohl kaum so, wie wir an
den andern Vp. sehen. Auch kam ein Fall *) vor, bei dem das Bild so dunkel
und unausgeprägt dawar, daß die Vp. es nur als > vielleicht vorhanden«
»ngab; die Zeit war 1210 c, also relativ kurz. Das Bild hat der Reproduk-
tion auch nicht wesentlich geholfen.
Tabelle XIII.
AufS- V- Vp. II.
Ai
n
AV
n
As
n
A*V
n
Ai
n
Ma
m.V.
1053
1021
255
15
1139
1430
527
3
1311
1475
476
36
1852
2042
611
4
1658
1971
707
9
B (4 Fälle) = 2876. C (1 Fall) = 9402. Ai2) {1 Fall) = 1087.
A(3) (8 Fälle) = 1124; Mc = 1085; m.V. = 211.
^3), A(i) bedeutet, daß Bild bzw. Wortvorstellung usw. keine wesentliche
Rolle in der Reproduktion gespielt hat. Wir sehen hier schön, wie diese
Formen kürzer sind, als die andern von ähnlicher Art. Von den Ober-
begriffen ist hier wenig zu bemerken. Soweit das Protokoll reicht, mUssen
wir sagen, sie sind wie bei Vp. I. Es ist aber auffallend, daß solche Fälle
fast gar nicht vorkamen. Es sind nur 7 Fälle bei dieser Vp. In vielen
Fallen bildet gewissermaßen die Gesichtsvorstellung den Ober-
begriff; sie begrenzt das Feld des Suchens für die Vp. und zeigt sich in
einer etwas andern Gestalt als Anhaltspunkt für Reproduktionen, als bei den
andern Aufgaben. Die Vp. wird gleichsam in ein gewisses beschränktes Ge-
biet«; hineinversetzt, wo sie ruhig suchen darf. So auch ziemlich bei A2.
Aas der Tabelle sieht man, wie die Vermittlung den Versuch
wesentlich verlängert, wie die A»- und ^-Formen länger Bind als die
entsprechenden ^-Formen, und ebenso, wie B und C länger als A sind.
Tabelle XIV.
Aufg. V. vp. m.
| Ax n
Ai V n
Bi n
Bi V n
Q n
(\V n
Mc
Ma
m.V.
' 1072 26
jl099
| 238
1049 13
1271
376
1179 7
1475
559
1618 4
1724
318
2786 1
2291 5
2881
961
A{2) ;3 Fälle) = 986. 4(3) V = 2006. A3 V = 975. A2 «= 948.
B(3) V = 1990. a2 = 867. C2 V - 2669.
1) Schwan— Ente. Kein ausgeprägter Hintergrund. Vielleicht ganz dunkel
das Bild eines Teiches. Die Ente ist nicht im Bilde gewesen. 1210 a.
2) Rubin: Einen Fingerring mit rotem Stein habe ich gesehen; an einem
andern Finger einen Ring mit grünem Stein; Smaragd. 2229 a. Knie: Ich
fahr mit Blicken nach unten und sagte Wade. Socke: Ich dachte an das
Lied : >Zu Lauterbach hab' ich mein1 Strumpf verlor'n«. Strumpf. 1632 a.
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336
Henry J. Watt,
Die Zeiten fiir Vp. III sind regelmäßig. Auch hier ist die Funktion
des Oberhegriffs im Protokoll nicht deutlich. Er kann eine ganz
unbestimmte Stellung im Versuch einnehmen, kann beim Aussprechen auf-
treten, ja sogar nicht selten nach dem Aussprechen, und kann endlich die
Stelle des Vermittelnden einnehmen und wesentlich zur Reproduktion des
Ausgesprochenen dienen. Als solcher ist er wohl als die Bestimmung der Re-
produktionstendenz durch die Bereitschaft der Aufgabe zu betrachten, aber
mehr im Sinne der Frage1), wo das bestimmende Moment des Reizwortes
mit der Aufgabe5) verbunden wird, was leicht zu einer Reproduktionstendenz
führt.
Tabelle XV.
Aufg. V. Vp. VI
| ÄX n
Ai V n
A, V n
A2 «
Mc
Ma
m. V.
! 1135 22
| 1221
283
1224 2
1224
130
1448 13
1492
416
1203 11
1367
346
1091 1
1268 5
1614
508
Bei Vp. VI gibt es im ganzen nur 6 Fülle, bei denen ein Mittelbegriff
vorhanden war. Vp. VI gibt die Aufeinanderfolge der Erlebnisse genau an,
so daß kein Zweifel mehr obwalten kann, daß die Rolle, die der Oberbegriff
als vermittelnder Anhaltspunkt für die Reproduktionen bei der Aufgabe
Bpielt, verschwindend klein ist, und die Ansicht, die wir bei Betrachtung der
Versuche von Vp. I aufgestellt haben, wird damit gerechtfertigt. Auch
wenn der Oberbegriff vorkommt, kann er nur etwas Nebensäch-
liches sein, während die Reproduktion am meisten durch irgendeine
Berührungsassoziation3) bestimmt wird. Es besteht zwischen der Anzahl
der einen Oberbegriff enthaltenden und der falschen Fälle keine Beziehung,
die wir ersehen konnten.
Das Bild kommt auch hier in seinem Verhalten dem Oberbegriff sehr
nahe; es kann gleichsam den Oberbegriff bilden. Z.B. »Fleiß: Bild von
einem Zensurbogen, auf dem das Wort stand , Fleiß', in einer Rubrik stand
,Note vier', und dann sagte ich .Faulheit'.« Dies kann in verschiedenen
Graden geschehen, bis schließlich nichts mehr gemeinsam bleibt als der
Hintergrund oder die Tatsache, daß die Vp. jedesmal die Bilder vor sich
sah (was eigentlich nichts ist).
Die Fehler bei dieser Aufgabe sind ziemlich dieselben wie bei den
andern. Sie hat jedoch etwas ihr Eigentümliches, was aus der Art der
Aufgabe leicht verständlich ist , nämlich der übergeordnete Begriff wird
häufig ausgesprochen oder als Reaktionswort angegeben. Dabei wird
öfters konstatiert, daß die Vp. dies nicht gewollt hat, aber es nicht hat
1) Vgl. unten S. 348 f.
2) Vgl. Klavier: Begriff Instrument ziemlich ausgesprochen da. Zither.
969 o.
3} Hegel: Akustisch -motorische Wortvorstellung »Philosoph«. Zustand
innerer Unruhe, aus welchem die akustisch - motorische Wortvorstellung
»Schölling« auftrat. Das Auftreten von »Sendling« mehr von der verbalen
Assoziation »Hegel und Schölling« bedingt. 1094 a.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
337
unterdrücken künnen. Wie zu erwarten war, sind die Zeiten bei solchen
Fehlern im allgemeinen kurzer als die übrigen. Vp. VI: Übergeord. Begr.
losgesprochen 2; 1475 a. Sonstige fehlerhafte Reaktionen (13) Mc 1617 <rt
Afal674<x. Vp. III: Übergeord. Begr. ausgespochen (7) Mc 956 <r, Ma 1018 o.
sonstige (10) Mc 1156 a, Ma 1367 a.
Sonst zeigen diese Fehler im ganzen, sowie die vom Sommersemester
da^elbe Gepräge, wie bei den andern Aufgaben. Viele werden durch die
ablenkende Kraft eines Bildes verursacht, viele »drängen sich auf« oder sind
berührungsassoziativ herbeigeführt. Soweit wir sie analysieren künnen, sind
sie alle durch die ReproduktionBgeschwindigkeit oder die motorische Kraft
der Tendenzen bestimmt. Bei den wenigen Versuchen vom Sommersemester,
die mit dieser Aufgabe ausgeführt wurden, sind alle Fälle mit einer
Vermittlung oder, anders gesagt, mit dem Oberbegriff im Durchschnitt
länger, als die entsprechenden Fälle {Ai, A3 usw.) ohne den Oberbegriff.
Die Talle At, A9 usw. verhalten sich zueinander wie bei den andern Auf-
gaben. Das Protokoll über die Funktion des Oberbegriffes im Versuch war
nicht genau genug, um eine Ansicht darüber zu ermöglichen. Vp. IV kon-
statiert bei einem gewissen Versuch »Der Mittelbegriff war schwach, , Grün-
specht — übergeordneter Begriff Vogel— Meise4, weil er diesmal leichter zu
finden ist.«
b. Die sechste Aufgabe.
Die Vermittlung ist gemäß der Aufgabe ein irgendwie re-
präsentiertes Ganze, und das wird wie bei der letzten Aufgabe in
den Tabellen ausgedrückt, aber diesmal mit einem O. In den
verschiedenen Rubriken bedeutet G, daß das Ganze durch Wort-
vorstellungen oder Bewußtseinslagen u. dgl., aber nicht durch eine
Gesichtsvorstellung vertreten war.
Tabelle XVI.
Aufg. VI : Einen koordinierten Teil zu finden.
Vp. I.
\AG
n
A{3} Q n
n
a3o
n
C
n
Me
;
i 1504
25
1848 15
1638
4
1991
9
3343
7
Ma
1 1579
1877
1627
1973
3342
mV.
i 483
508
102
543
179
B(i = 2344.
Im allgemeinen verhält es sich hier ebenso wie vorher. Das
Ganze kann Vp. I nicht genau in dem Versuch lokalisieren.
Sie sagt selbst darüber aus: »Das Bewußtsein vom Ganzen und
von dem andern Teile kommen ziemlich gleichzeitig. Zuweilen
kommt nicht einmal das Ganze ausdrücklich, sondern ich drücke
es erst später aus.« Eine allgemeine Betrachtung der Fälle lehrt
Archi* fftr PiycfcolofU. IV. 22
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338
Henry J. Watt,
uns dasselbe. Es gibt Fülle, bei denen das Reizwort1) selbst
augenscheinlich die Reproduktion bestimmt hat, andere, bei denen
'die Stellung2) des Ganzen nicht deutlich ist, und andere, bei denen
sie ein bestimmtes Stadium3) im Versuch ausgefüllt hat. Die
Zeiten steigen mit der dieser Vp. eigenen Regelmäßigkeit
Die Vermittlung ist hier schon etwas nötiger als in dem
letzten Falle. Es kommen Reproduktionen vor, die ohne das
gleichzeitige Bewußtsein eines Ganzen nicht richtig genannt werden
könnten. Dies erfordert aber nicht, daß das Ganze eine bestimmte
Stelle in dem Verlauf des Versuches einnehme. Wie bei der letzten
Aufgabe dient auch hier die Reproduktion des Ganzen zur Kontrolle
der Versuchsreproduktion; aber hier kann sie die Reproduk-
tion richtig machen, ja sie ist dazu geradezu nötig4), obgleich eine
Gesichts Vorstellung dieselbe Funktion Übernehmen kann. In ihr
wird das Ganze wirklich oder nur potentiell vorgestellt, und sie
dient zugleich als Anhaltspunkt fllr Reproduktionstendenzen5).
Tabelle XVII.
Anfg. VI. Vp. m.
1
n
At 0
„
M
n
A,
n
G
n
Me
893
7
1632
4
1460
7
1022
9
1316
3
Ma
861
1906
1401
1096
2288
m.V.
72
567
326
229
1617
B = 3308; m.V. 251.
1} Vgl. Mittwoch-Donnerstag ah Teile der Woche, ohne Bild. 946 ff.
2) Küche — Zimmer (Wohnzimmer). Bild einer Küche. Vielleicht war
Haus ein Bestandteil des Suchens als Ganzes; wie es repräsentiert war, ob
als Wort oder als Richtung, kann ich nicht genau sagen. 1709 a.
3) Keller— Gewölbe, als Teile eines Hauses. Hans war hier deutlich das
Ganse. Undeutliche Vorstellung von einem Souterrain eines Hauses vor-
handen. 2367 a.
4) Eule— Athen, als Bestandteil der Phrase: Eulen nach Athen tragen.
1604 <r.
6) Eine nähere Untersuchung der Versuche mit Vp. II will ich hier nicht
geben. Diese Versuche waren in bezug auf das Protokoll minderwertig, weil
sich die Vp. die Bedeutung dieser Aufgabe nicht ganx klar machen konnte.
Ich gebe aber in den andern Tabellen die Werte für diese Vp. an, weil
sie unsern Maßstab für die Beschaffenheit der richtig ausgeführten Akte
bilden.
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«
Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 339
Bei At kam zuweilen irgendeine Erinnerung») an frühere ähnliche Ver-
gliche, bei denen die Vp. ein Ganzen nicht angibt, weil sie es vermutlich
als in dem früheren Versuch enthalten oder als selbstverständlich voraussetzt.
Der Einfluß geläufiger Verbindungen zeigt sich auch hier, indem sie schnelle
Reaktionen veranlassen, nach deren Erledigung das Ganze reproduziert und
der Versuch gerechtfertigt-) wird* Bei A\ ist die Sache etwas zweifelhafter.
Im allgemeinen kommt die Rechtfertigung3) nachträglich. Einige aber waren
»ach hier nicht gerechtfertigt4). Bei einigen ist es schwer, zu sagen, ob die
Aufgabe gelöst worden ist oder nicht.
Die Zeiten bei Vp. III sind so regelmäßig, daß eine weitere Erwähnung
wohl Uberflüssig erscheint
Tabelle XVIII.
Anfg. VI. Vp. VI.
-J
n
4.
n
isö
n
B
n
<h n
Mc
Ma
m.V.
1666
1666
482
2
1507
1734
481
18
2388
2499
284
3
1820
1820
331
2
2394 10
2364
390
a 0 = 2423. Cus) G = 3158.
Wie bei der fünften Aufgabe kamen die Vermittlungen bei Vp. VI viel
seltener vor. Wie vorher gesagt, gibt diese Vp. die Aufeinanderfolge der
Erlebnisse möglichst genau an. Aus ihrem Protokoll ist mir aber nicht recht
klar, ob die Vermittlung in den Fällen, in welchen sie vorkam5), zur Re-
produktion nötig war oder nicht; doch kann es sein. Die Gesichtsvorstellung
funktioniert häufig als das Ganze, und bei nur zwei richtigen Fällen«; fehlt
1} Sonne. Erinnerung an den früheren Versuch mit Stern usw., dann
sofort Mond. 814 <r. Baum — Strauch; diese habe ich vorher, als ich einen
koordinierten Begriff finden sollte, als Beispiele in der Vorbereitung benutzt
Nachträglich kam als Ganzes Wald. 1447 a.
2) Vgl.Pieron, Revue phü. aoütl903. 8.148. L' Association mediate. »Les
pretendues associations par contiguite sont presque toujours des associationa
de parties d'un meme tout entre elles ou avec le tout Et sous cette
forme il ne Berait paß difficile de soutenir, qu'au fond Tassociation par
contiguite pure et simple est toujours mädiate.« Was also falsch ist
3) Vgl. unser Beispiel Baum— Strauch, oben.
4) Gabel. Messer hat sich mit einem gewissen Zwang sofort aufge-
drängt. 786 a.
6) Vgl. Treppe. Akustisch-motorische Wortvorstellung Stiege. Sprechen
des Wortes Geländer mit dem Bewußtsein der Richtigkeit und rein akustisch
Stiegenhaua. 1214 <r.
6) Gabel. Bewußtseinslage, die als blitzartige Erinnerung, das Wort schon
vorher gesehen zu haben, zn bezeichnen ist Messer mit dem Bewußtsein
der Richtigkeit 1184 a. Semester. Akustisch-motorische Wortvorstellung,
Halbjahr. Bewußtsein, daß das Semester zurzeit geschlossen ist Bewußt-
sein der Aufgabe und Sprechen des Wortes Trimester mit Bewußtsein der
Richtigkeit 2148 «r.
22*
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Henry J. Watt,
ein Ganzes vollkommen. Eb ist deshalb zweifelhaft, ob diese Fälle als richtig
zu bezeichnen sind. Es ist anch fraglich, ob hier die Stellang der Aufgabe
allein genügt, eine Antwort zn ermöglichen, deren Richtigkeit man ohne weiteres
annehmen kann. Wir können z. B. den folgenden Versuch kaum als richtig
zulassen: Schrank: Bewußtsein der Aufgabe verbunden mit eigentümlichen
Organempfindungen in der Brust Aussprechen von Kasten. 1488 e. Das könnte
ein richtiger Versuch gewesen sein, wenn ein Ganzes im Bewußtsein vor-
handen gewesen wäre. Die Zeiten sind hier auch regelmäßig. Bei den Ver-
suchen des Sommersemesters wiederholt sich alles, was für die fünfte
Aufgabe über sie gesagt wurde; es wurden nur wenige Versuche gemacht
Diese Betrachtung zeigt ans mit größter Deutlichkeit den Anteil,
den Assoziation nnd Reproduktion in unserem gewöhnlichen Denken
spielen. Wir sehen unten (S. 343 ff.), daß Aufgaben die später wirksam
werdenden Reproduktionen bis zu einem hohen Grade bestimmen,
und daß eine richtige Reproduktion durch die vorhergehende
Einprägung der Aufgabe ohne Wiederholung während des Ver-
suches hervorgebracht werden kann. Hier sehen wir, daß die
Einprägung der Aufgabe die Reproduktion in etwas bestimmen
kann, was richtig ist oder werden kann. Wir meinen, daß
dieses Verfahren den Verlauf des Denkens bei allen schwierigeren
Aufgaben, bei allen eigentlichen Problemen darstellt. Man stellt
sich die Aufgabe, man fangt an, an das Problem zu denken.
Verschiedenes wird reproduziert, man versucht, es zu rechtfertigen,
und verwirft es, wenn das nicht gelingt. Man könnte es für das
Normale halten, daß man den Reiz und die Aufgabe analog unsere
Versuchen miteinander verbände, und daß dieser Komplex das
Richtige reproduzieren würde. Es scheint Tatsache zu sein, daß
nur das von einem Reiz oder von einer Zusammenfugung von
Reiz und Aufgabe reproduziert werden kann, was früher damit in
Verbindung gewesen ist. Das eben geschilderte Verfahren ist eine
Methode, Reproduktionstendenzen zustande zu bringen,
die sich von einer Aufgabe bestimmen lassen.
Die Fehler bei dieser Aufgabe waren zumeist Reproduktionen des
koordinierten Begriffes. Das ist natürlich, wenn wir uns daran erinnern, daß
die zwei Aufgaben keinen Unterschied der Reproduktion zu bedingen brauchen,
und daß nur die Anwesenheit einer Vermittlung das eine zum andern machen
kann. Viele andere Fehler waren von sich aufdrängenden Tendenzen ver-
ursacht Bei den Fällen, in welchen mit dem Ganzen reproduziert wurde,
war die Reaktion natürlich kürzer als die durchschnittliche Reaktionszeit für
die Fehler. Sonst bieten die Fehler nichts Bemerkenswertes.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
341
§ 9. Bereitschaft,
a. Die Perseverationstendenz der Vorstellungen.
Vorstellungen, die vor kurzem im Bewußtsein gewesen sind,
haben für eine gewisse Zeit die Eigenschaft, sehr leicht und schnell
selbst wieder ins Bewußtsein zu treten oder sich reproduzieren zu
lassen. Diese Eigenschaft besitzen sie bei verschiedenen Indi-
viduen1) in verschiedenen Graden. Man nennt sie die Perseve-
rationstendenz der Vorstellungen und man sagt, solche
Vorstellungen befinden sich in Bereitschaft2). Wir können im
allgemeinen ziemlich sicher behaupten, daß die Geschwindigkeit
von Reproduktionen größer ist, wenn sie in Bereitschaft sind. Die
gewöhnlichste Form ist jene, bei der auf ein später in der-
selben Reihe vorgezeigtes oder in der nächsten Reihe auf ein
anderes Reizwort mit dem bei einem früheren Versuch reprodu-
zierten Reaktionswort oder mit dem Reizwort desselben reagiert
wird. Bei einigen Fällen wird die Reproduktionsgeschwindigkeit
bedeutend größer, wenn die Tendenzen in Bereitschaft sind, auch
wenn die Perseverationstendenz schon einige Tage alt ist. Ich
habe alle Fälle der Aufgabe Übergeord. Begr. nicht nur an demselben
Vereuchstage, sondern auch, wo überhaupt ein Reaktionswort mehr
als einmal in allen Versuchen derselben Vp. gebraucht wird, unter-
sucht3) und konstatiere die Vergrößerung der Reproduktions-
geschwindigkeit bei 70 # der Fälle (26). Daß es nicht bei
allen Fällen vorkommt, erklärt sich hauptsächlich daraus, daß das
Auftauchen eines für ein anderes Reizwort gebrauchten und viel-
leicht jetzt nicht ganz passenden Reaktions wortes geradezu hem-
mend wirken kann. Die Wirkung der Perseveration tritt aber
1] Wir sehen hier davon ab, einen prinzipiellen Unterschied zn machen
zwischen der Perseverationstendenz und der Bereitschaft der Vorstellungen.
Es ist noch nicht experimentell bewiesen worden, daß Vorstellungen un-
motiviert oder von selbst ins Bewußtsein treten künnen; eB mag wahr-
scheinlich sein. Im Begriff der Perseverationstendenz also muß man für
spätere Forschung die Möglichkeit der gesetzmäßigen Aufeinanderfolge und
des freien Steigens der Vorstellungen für sich oder auf Anlaß zum ersten-
mal erlebter Empfindungen denken. (Vgl. K U 1 p e , Psychologie. § 29. 2.)
2} MUH er und Pilzecker, Experimentelle Beiträge zur Lehre vom
Gedächtnis. Ztechr. f. Psych. Erg.-Bd. I. 1900. S. 58.
3) Die Perseverationstendenz einer Vorstellung ist also von der Geläufig-
keit einer Reproduktionstendenz zu unterscheiden, bei der dieselben Reiz-
und Reaktionswörter aufeinander folgen.
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Henry J. Watt,
doch nicht immer in der Reaktionsdauer deutlich hervor, weil ihre
absolute Wirksamkeit von dem inhaltlichen Verlauf der Vorstellungen
sehr verdeckt werden kann. Das Reizwort weckt vielleicht eine
Gesichtsvorstellung oder gibt Anlaß zu einer Reproduktionstendenz.
Im letzteren Falle jedoch trägt die in Bereitschaft liegende Ten-
denz mit mehr oder weniger Leichtigkeit den Sieg davon und
zeichnet sich im allgemeinen durch die Selbständigkeit ihres Auf-
tretens aus.
Das Vorausgehende wird sehr deutlich illustriert durch sechs Ver-
suche von Vp. III, welche ich hier folgen lasse:
18. November 1902. Aufgabe : Übergeord. Begr.
91. Birne: Frucht nach einiger Zerstreutheit; Vorbereitung nicht
gut. Ruhe. Mit dem Wort war der Prozeß abgeschlossen.
936 a.
92. Tabak: Frucht ausgesprochen. Ruhe wieder vorhanden. Mit
Frucht gemeint etwas, was man verwenden kann. Bewußt,
daß das nicht recht stimmt 872 a.
93. Senf: Als ich Senf auffaßte, drängte sich Frucht vor. Bewußt,
daß es besser paßt, aber noch nicht gut. Bild von Senfkörnern.
Wort »Frucht« kam zwingend. 811 a.
94. Honig: Wider Willen »Frucht«. Ganz unklare Beziehung,
dazwischen »Sttß« und »Honig«. Ich wollte Frucht unter-
drücken. 2353 a.
95. Schnaps: Ich habe an Flüssigkeit gedacht nnd habe »Frucht«
ganz unwillkürlich ausgesprochen. 808 a.
96. Spinat: Das erste, was mir einfiel, waren die Beziehungen zu
den andern Reizwörtern. Meine Aufmerksamkeit ruht auf dem
Reizwort, und ich verstehe es deutlich und bin mir der Be-
ziehungen zu Senf usw. und der Leichtigkeit, mit der der
übergeord. Begriff kommen könnte, bewußt, und dann kommt
dieses Wort Frucht unwillkürlich. 929 a.
Bei dem nächsten Versuch gelang es der Vp., das wieder auf-
getauchte Wort »Frucht« zu unterdrücken und sich wieder Frei-
heit zu verschaffen. Diese Fälle lehren, daß es für solche Ver-
suche unzweckmäßig ist, derselben Kategorie angehörende Reiz-
wörter aufeinander folgen zu lassen.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 343
Ein ganz anderes Bild bekommen wir von einer ähnliehen
Reihe von Versuchen bei einer andern Vp., die ein verschwindend
kleines Versnchsgedächtnis hatte nnd zum Teil vielleicht deshalb
diese Hemmungen der in Bereitschaft liegenden Reproduktionsten-
denzen nicht zeigt.
18. November 1902.
Nr. 83. Linsen: Gesichtsvoretellung, Frucht. 1748a.
21. November 1902.
Nr. 95. Senf : Gesichtsvorstellung, Frucht. 1530 a.
Nr. 96. Tabak : Gesichtsvorstellung, Frucht. 1181a.
Nr. 97. Honig: Gesichts Vorstellung, Frucht 819 a.
9. Dezember 1902.
Nr. 121. Mehl: Gesichtsvorstellung, Frucht. 989a.
Im letzten Falle sehen wir, wie die Perseveration sich er-
halten hat.
b. Die Perseverationstendenz der Aufgabe.
Wir haben in unserer Besprechung der Vorbereitung gesehen,
wie die Einprägung der Aufgabe die Richtung der Aufmerksam-
keit bestimmt. Man könnte nun annehmen, daß entweder diese
Vorbereitung vollständig genüge, um nach dem Erscheinen des
Reizwortes jede falsche Reproduktionstendenz zu hemmen, oder daß
dies nicht geschehe, sondern daß nach dem Reiz immer wieder
eine Wiederholung der Aufgabe stattfinden müsse, während die
Vorbereitung nur dazu diene, dies möglich zu machen. Jenes
wäre ein idealer und Zeit ersparender Zustand und liegt z. B. bei
vollständiger Einübung auf eine einfache Reaktion vor. Bei
unBern Versuchen aber konnte von einem hohen Grade der Übung
nicht die Rede sein. Hatten wir doch sechs verschiedene Auf-
gaben und weniger als hundert Reizwörter für jede, die nur aus-
nahmsweise und dann nur einmal wiederholt wurden, welche Fälle
hier auch nicht in Betracht gezogen werden. Es würde nun trotz-
dem nicht gelingen, nach jedem Reizwort ein Bewußtsein der
Aufgabe nachzuweisen. Die Vp. gibt in der Regel jedesmal an,
wenn ein Bewußtsein der Aufgabe dawar1), und viele Versuche
sind so beschrieben worden, daß man ein solches Bewußtsein nicht
1) In der näheren Untersuchung von Aufg. I konstatiert die Vp. »keine
Wiederholung der Aufgabe« ubw.
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344
Henry J. Watt,
hineinlesen könnte. Vgl. bei Vp. VI, die sonst öfters ein Bewußt-
sein der Aufgabe konstatiert und Bich als einen sehr genauen und
sorgfältigen Beobachter erwiesen hat Ein häufiger Versuchsver-
lauf ist: Kupfer. Bewußtsein der Wortbedeutung. Unwillkürliches
Sprechen »Blei«. 923 a.
Vp. III gibt öfters die folgende Beschreibung des Versuchsverlaufes: »Mit
dem Verständnis lag bereits der nötige Begriff schon da«. Damit vergleiche
man das oben öfters konstatierte Bewußtsein: »Ich weiß schon, was kommt«.
Im allgemeinen unterscheidet Vp. III auoh zwischen den Fällen, bei denen
nach dem Reizwort eine merkbare Pause eintritt, und Fällen, bei welchen
sich der Gedankengang sofort an das Wort anschließt. Ein meiner
Meinung nach zwingender Beweis für die Möglichkeit einer richtigen Repro-
duktion mit bloß dem Reizworte vorausgehender Vorbereitung auf die Auf-
gabe1} ist ein solcher Fall wie der oben angegebene: Löwe: »Habe Möwe
zwangsweise reproduziert; viel später kam der Begriff Tier«, d. h. der Vp.
ist es erst spät zum Bewußtsein gekommen, inwiefern der Versuch richtig
war. Solche Fälle sind häufig, und bessere ließen sich unter weiteren Ver-
suchen finden, weil die Lautähnlichkeit, wie man leicht einsieht, sehr wahr-
scheinlich die Verbindung zwischen Löwe und Möwe begünstigt hat. Das ist
aber kein Nachteil; wir haben oben solche und ähnliche Fälle (^3, A£ reichlich
konstatiert und besprochen. Daß der Versuch richtig ist, kann man nicht
leugnen; es ist aber ein Grenzfall, der für viele bei allen Aufgaben typisch
ist.« Ich gebe nun noch ein Beispiel, Aufg- IV: Dom: »Chor« ausgesprochen
mit Bewußtsein der Richtigkeit und dem Bewußtsein, daß es so rasch kam,
weil es ein Bestandteil von »Domchor« ist (ein in WUrzburg sehr häufig ge-
hörtes Wort), Erinnerung, daß ich Chor schon vorher einmal reproduziert
habe«. 864 s. Es kann kein Zweifel mehr obwalton, daß die Vorbereitung
die vorliegenden Reproduktionstendenzen nach der einen oder der andern
Richtung hin begünstigen kann, seien dieselben schon stark berührungs-
assoziativ oder mehr direkt von der Aufgabe selbBt erregt. Aber obgleich
möglich und häufig vorkommend, sind solche Reproduktionen wie Löwe-
Möwe, Dom — Chor usw. nicht die Reget Auch können wir nicht annehmen,
daß bei allen Versuchen, bei denen kein Bewußtsein der Aufgabe kon-
statiert worden ist, auch keines vorhanden war. Die Vp. kann es als etwas
1 Vgl. die Arbeit von MUnsterberg »Über willkürliche und unwillkür-
liche Vorstellungsverbindungen« in seinen »Beiträgen«, Heft I. Es liegt noch
kein Grund vor, anzunehmen, daß eine gewisse Art des psychologischen
Verlaufs die unerläßliche Bedingung des logischen Denkens sei. Wir müssen
uns im Gegenteil nur nach der Leistung richten und brauchen nicht anzu-
nehmen, daß eine gewisse Geschwindigkeit der Reproduktion und Weise der
Apperzeption wesentliche Bedingungen eines logischen Aktes sind. Ich finde
keinen logischen Unterschied zwischen der ersten, langsamen, verzögerten
Reproduktion einer Vorstellung und der verkürztesten, wie dem angegebenen
Beispiel Löwe— Möwe. Es ist aber bei vielen Psychologen üblich geworden,
von einem Denken zu sprechen, das mechanisch eingeübt ist, im Gegensatz
zu einem aktiven, neuen, wertvollen Denken. Dies ist ein vulgärer Unter-
schied, der die psychologische Analyse und das Experiment wenig angeht.
Vgl. z. B. Royce, Psych. Review 1902, S. 113 ff.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 345
Selbstverständliches nicht in das Protokoll gegeben haben. Heine Vp.
waren aber mehr oder weniger Psychologen vom Fach und dazu sorgfältige
und gewissenhafte Beobachter. Es kann auch in minimalem Grade vorhanden
gewesen und bis zur Protokollierung vergessen worden sein.
Vp. I konstatiert in der näheren Untersuchung der Stadien nach dem
Erscheinen des Reizwortes eine kleine Leere im Bewußtsein, in der noch so
etwas wie eine Wiederholung der Aufgabe sich antreffen ließ. Die gewöhn-
lichen Reihenversuche, bei denen eine Wiederholung der Aufgabe
angegeben wird, sind nicht zahlreich. Ich finde in diesen Fällen bei
Vp. I, II, III, daß der Wiederholung bei zwei Fällen ein langes Suchen und
eine Disorientierung, bei vier Fällen eine Hemmung infolge der Perseveration
der vorhergehenden Reihe und Aufgabe, bei zwei Fällen eine falsche oder un-
befriedigende Reproduktion, bei drei Fällen ein Vergessen der Aufgabe voran-
geht. Bei einem von zwei ähnlichen Fällen vertiefte sich die Vp. in die
Betrachtung einer Gesichtsvorstellung, als ob sie sonst nichts zu tun hätte.
Nor bei einem FaUe (Vp. I, Aufg. U) wird kein besonderer Grund für die
Wiederholung der Aufgabe angegeben. Vp. VI, Aufg. V, dagegen konstatiert
eine Wiederholung bei 9 Fällen von 81 im ganzen. Es läßt sich nichts aus
den Zeiten 1208, 2164, 1826, 936, 1127. 1880, 834, 1056. 2060 a, Mittel 1456 a,
Mittel für die ganze Aufgabe (richtige Fälle) 1419 <r schließen. Bei derselben
Vp., Aufgabe VI (einen andern Teil eines gemeinsamen Ganzen zu finden), ist
die Aufgabe während des Versuches bei 23 aus 74 Fällen wiederholt worden.
Bei 8 Fällen darunter geht die Wiederholung einer Veränderung der Repro-
dnktionsrichtung voraus, bei dreien ein Verwerfen früherer Richtungen. Bei
3 Fällen folgt die Wiederholung der Aufgabe auf irgendeine Störung oder
Ablenkung. Bei 6 Fällen folgt sie auf eine Gesichtsvorstellung des vom
Reizwort bezeichneten Gegenstandes, und aus den sämtlichen 23 Fällen geht
eine Gesichtsvorstellung, d. h. etwas, was sie wahrscheinlich aufgehalten oder
abgelenkt hat, 14 mal der Wiederholung der Aufgabe voraus. Es sind nun über-
haupt nur 27 Fälle, bei denen eine Gesichtsvorstellung bloß des Reizwortes
allein auftaucht Nur bei 3 Fällen kommt also die Wiederholung gleich
nach dem Reizwort und dem Protokoll nach wenigstens unmotiviert, und
zwei von diesen sind der erste und dritte Versuch der Aufgabe. Bei 14 Fällen
ist die Wiederholung der Aufgabe vorteilhaft gewesen, d. h. sie bringt die
richtigen Reproduktionstendenzen wieder zur Geltung. Daß sie bei 6 Fällen
nach einer Gcsichtsvorstellung vorhanden war, läßt sich in derselben Weise
erklären, wenn man annimmt, daß die Vp. irgendwie von dem Bilde gefesselt
oder aufgehalten wurde oder sich wieder in Bewegung nach einer Tendenz
bringen mußte. Nur bei zwei Fällen liegt eine Veränderung der Reproduktions-
richtnng in ihr. Es ist wohl möglich, daß es einer Vp. gut dünkt, oder, anders
gesagt, daß sie es sich als Aufgabe setzt, die Aufgabe zu wiederholen; man
kann ihr dies nicht verwehren. Dagegen gibt diese Vp.3} eher die Aufein-
1) 15 von den 26 falschen Fällen (Vp. VI, Aufg. VI) gehören hierher,
d. h. eine Gesichtsvorstellung des vom Reizworte Bezeichneten war vorhanden.
2j Diese Vp. VI war davon Uberzeugt, daß die psychologische Analyse
nur in einer Aufzählung psychologischer Elemente (Wahrnehmung, bzw. Emp-
findung, Vorstellung, Gefühl und Bewußtseinslage) bestehen dürfe, und fühlte
«eh deshalb verhindert, über ihre Erlebnisse so auszusagen, wie sie sich der
unbefangenen Darstellung zeigten. Ich finde, daß eine solche erzwungene
Analyse große praktische Nachteilo hat.
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Henry J. Watt,
anderfolge der deutlichen psychologischen Erlebnisse zum Protokoll als
die ihr bewußten Beziehungen zwischen denselben, was ich mehr bei den
andern zwei Vp. angetroffen habe.
Abgesehen davon scheint es den Tatsachen eher zn entsprechen,
daß die normale Reproduktion anf Grand der regelmäßigen
Vorbereitung ohne Wiederholung der Aufgabe während
des Versuches vor sich geht, es sei denn, daß die Vp. irgendwie
aus dem vorbereiteten Gebiet von Reproduktionstendenzen hinaus-
geruckt worden ist. Für eine Erklärung dieser Störungen müssen
wir uns auf die den Einfluß einer Aufgabe überwiegende eigene
Stärke vieler Reproduktionstendenzen und die hemmende Per-
severationstendenz einer früheren Aufgabe1) berufen. In beiden
Fällen ist die Dauer des Versuches länger, wenn es der Vp. doch
gelingt, richtig zu reproduzieren. Wir sehen also, daß die
Einwirkung der Aufgabe in der Vorbereitung zu einer
richtigen Reproduktion genügt, daß aber die Perseve-
rationstendenz und die neue dadurch verursachte Ent-
wicklung der Aufgabe nachweisbar ist. Die Aufgabe
wirkt fast in derselben Weise aufs neue ein, wie sie zum ersten-
mal eingewirkt hat durch gewisse Wortvorstellungen, z. B. unter-
geordneter Begriff, Ubergeordneter Begriff, Teil, Ganzes finden usw.
Diese verschwinden, wenn die Aufgabe sich wieder geltend ge-
macht hat. Wir sehen also auch hier, wie in der Besprechung
der Einwirkung der Aufgabe in der Vorbereitung, den Wechsel
je nach den Umständen zwischen der wirksamen Aufgabe
und gewissen Vorstellungen, die sie zur Wirksamkeit bringen.
Wir könnten sagen: Die Vorstellung wird Aufgabe, indem
sie dauernd und in der oben (§ 3) geschilderten Weise
wirksam wird; die Aufgabe wird Vorstellung oder als
solche bewußt, wenn sie nicht mehr einwirkt oder wenn
sie wieder zur Wirksamkeit gelangen soll.
Die Wiederholung der Aufgabe kann nun in andern
Formen zum Bewußtsein kommen, indem sie im Bewußtsein näher
bestimmt wird. Schon in der Vorbereitung haben wir solche Be-
1) Einhorn: »Starke Tendenz, .Nashorn' auszusprechen. Ich mußte diese
Tendenz Uberwinden und noch einmal mir klar machen, daß ich den Uberg.
Begriff zu suchen hatte. Säugetier«. 3129 er.
Sultan: »Starke Tendenz ,von Marokko' zu Bagen. Mußte die Tendenz
überwinden und die Vorbereitung wiederholen. Sagte .Herrscher'. Tendenz,
auch , Fürst 4 zu sagen.«
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. H47
Stimmungen kennen gelernt. Es scheint mir aber zweckmäßig,
sie hier ausführlicher zn behandeln, weil sie nicht bloß Bestand-
teile des bewußten Verlaufes, sondern auch wirksame Faktoren
darin sind.
Ihr Vorhandensein scheint nicht so sehr von der Mangelhaftigkeit der
Vorbereitung als von der eigentümlichen Schwierigkeit der be-
treffenden Aufgabe abzuhängen. Mit den früheren Wiederholungen
der Aufgabe haben sie gemeinsam, daß sie besonders leicht nach der ersten
empfundenen Unwirksamkeit der Vorbereitung oder Schwierigkeit der Auf-
gabe eintreten; öfters bringen sie eine große Erleichterung1) mit sich. Eine
formale Bestimmung der Aufgabe ist besonders häufig bei Aufg. II (Unter-
geord. Begr.), weniger bei Aufg. IV (Teil). Bei jener kommt es daher, daß
die Vp. auf das Zusammensetzen von Wörtern, das im Deutschen nicht zu
vermeiden ist, als die leichteste Lösung der Aufgabe verfällt. Z. B. der erste
solche Fall bei Vp. I: Beweis: »Geometrischer Beweis. Ich hatte mir in der
Vorbereitung gesagt, daß man so speziellere Begriffe gut bildet« Dann später
in derselben Reihe: Zeug: »Gesucht, und es wollte mir nichts einfallen (ich
suchte ein einfaches Wort). Kam auf die alte Methode (Zusammensetzung),
*agte Seidenzeug.« So geht es weiter durch die ganze Aufgabe. Hie und
da tritt der Gedanke an das Zusammensetzen nach dem Reizwort auf. Bei
Vp. I bildet von 93 Versuchen nur in 33 Fällen ein wirklich einfaches Wort,
in 38 ein zusammengesetztes, in 5 ein Adjektiv und ein Substantiv das
Reaktionnwort, und in 17 war das Reizwort im Reaktionswort vorausgesetzt.
In nur 12 Fällen aber wurde ein Gedanke an das Zusammensetzen konstatiert,
in einem Falle schon in der Vorbereitung, in 5 Fällen nach irgendeinem
Hindernis (vgl. oben), in 6 Fällen nach dem einfachen Gedanken an die Me-
thode. Es kamen natürlich Fülle vor, bei welchen das Reaktionswort zu-
sammengesetzt war, ohne daß seine Form als solche psychologisch2) bestimmt
wurde. Vp. II konstatiert nicht, wie ihre Wörter entstanden sind. Aus
47 richtigen Reproduktionen bei Vp. III (unter den falschen kommen nur
2 FäUe vor, in denen das Reaktionswort kein einfaches war8) ) , bildet das
Reaktionswort in 24 Fällen ein einfaches Wort, in 22 eine dem Reizworte
vorgesetzte Silbe und in einem ein Adjektiv. In 2 Fällen wird eine Vor-
bereitung auf das Zusammensetzen konstatiert, und einmal tritt es bewußt
nach einem Hindernis auf. In solchen eben genannten Fällen tritt das
Zusammensetzen leicht von selbst auf, weil es eben einer Erleichterung des
Prozesses entspricht
Bei der Aufgabe, einen Teil zu finden, ist es auch eine erleichternde Me-
thode, ein Reaktionswort auf Grund von Berührungsassoziation zu finden, z. B.
1) Fluß: »Man kann einen Eigennamen nennen. Das war eine plötzliche
Erleuchtung. Dann Main. Weiß nicht, ob der Begriff Eigenname oder der
Name Main zuerst dawar.« Vgl. Million: ». . . Richtung repräsentiert durch
die akust-motor. Vorstellung: kleinere Zahl.«
2) Vp. I Theorie— Lichttheorie, ohne eine bewußte Anknüpfung an das
frühere Verfahren (vorsetzen). Pause mit allerlei Vorstellungen gefüllt, von
denen ich nichts sagen kann. 2010 a.
3) Deshalb kann man um so mehr auf eine Erleichterung und Sicherung
durch die formale Bestimmung des Reizwortes schließen.
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848
Henry J. Watt,
Fuß — Fußnagel. Wagen— Wagenrad. Wenn die Vp. (wie Vp. III) auf ein
solches Verfahren verfällt, entstehen gelegentlich Schwierigkeiten, weil es
nicht immer gelingen will, und infolgedessen methodische Richtungsbestini»
mungen. Was von der Wiederholung der Aufgabe gesagt wurde,
gilt auch hier.
Solche Erlebnisse sind kein wesentlicher Teil einer richtigen
Reproduktion; sie finden aber öfters statt, wenn der Zustand der
Wirksamkeit der Aufgabe nicht genügt, die Reaktion befriedigend
zu lösen. Die eben geschilderte Form könnte man passend
nennen: eine Veränderung in der Weise der Wirksamkeit
der Aufgabe. Wird diese Art und Weise schon in der Vor-
bereitung verändert, dann genügt dies vollständig. Sonst läßt sich
unter den betreffenden Umständen die Schwierigkeit der gewöhn-
lichen Weise empfinden, und die zu der Veränderung der Wirk-
samkeit der Aufgabe nötigen Vorstellungen werden alsbald repro-
duziert. Es sind wahrscheinlich auch andere Gründe, als die rein
objektiven, für solche Störungen und Veränderungen im Verlauf
des Versuches maßgebend gewesen, z. B. zufällige individuelle
Motivierungen, die sich unserer und der Beobachtung der Vp. ent-
ziehen.
Eine andere Weise, in der sich die etwaige Unfähigkeit der Aufgabe und
der vorhergehenden Reproduktionstendenzen, sich eindeutig zu bestimmen, zeigt,
ist das Auftreten eines Erlebnisses während eines Versuchsverlaufes, in dem eine
Frage irgendwie ausgedrückt wird, gewöhnlich in der Form von Wortvoretel-
lungen. Am häufigsten tritt dies bei den Aufgaben, einen untergeordneten Begriff
und einen Teil zu finden, auf. In gar mancher Hinsicht ist diese Erschei-
nung den eben besprochenen sehr ähnlich, und ich darf deshalb einiges zu-
sammenfassen. Ich finde sie nach einem Hindernis (Vp. U und IU), oder wo
im Verständnis kein Anhaltspunkt zu Reproduktionen gegeben war, oder
wenn die Vp. das Gesuchte nicht gleich findet. Vp. UI konstatiert, daß der
Übergeordnete Begriff sich aus dem Akt des Verständnisses entwickelt, während
sie bei dem untergeordneten Begriff rasch Uber den Akt des Verständnisses hin-
wegsieht, und die Frage: »Was gibt es für Arten V« darauf folgt Dies hängt wohl
damit zusammen, daß diese Aufgabe schwieriger ist. Fast alle andern Fälle
(bei wenigen habe ich bloß die Frage ohne Erklärung konstatiert) lassen sich
so formulieren: Wo findet man den Gegenstand (Ganzes zu finden)? oder
(namentlich bei Vp. H) fangen sie assoziativ an, z. B.: Was tust du jetzt?
Was ist meine Pflicht? usw. Bei der Aufgabe »koordinierter Begriff«, die sich
wegen der ziemlichen Verwicklung ihres Verlaufes in vielen FäUen mit den
andern Aufgaben nicht gut vergleichen läßt, dient die Frage dazu, den
gefundenen Oberbegriff im Verhältnis zu dem Reizwort und der Aufgabe
festzuhalten, z. B. Lerche — Singvogel. »Was für andere Singvögel gibt es?«
Der Frage geht gewöhnlich eine Pause voraus, was irgendein Hindernis
andeutet
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 349
Doch deutet die Frage als solche noch auf keine radikale Ent-
gleisung hin, sondern auf eine Verbindung der vorhandenen Aufgabe
mit einem noch unbeweglichen Anhaltspunkt für Reproduktions-
tendenzen, um die Bewegung darüber hinweg zu erleichtern und
zu befördern. Der Frageprozeß will die Wirksamkeit der
Aufgabe stärken und beschleunigen und scheint einer guten
Reproduktion sehr günstig zu sein, eben weil er, wie gesagt, die
Aufgabe und den Reiz in diesem bewußten Erlebnis verknüpft.
Die Quelle für die zur Reaktion nötige Wirksamkeit haben
wir: in der Wiederholung der Aufgabe, falls der Anteil der Auf-
gabe an dem schon verlaufenen Prozeß falsch oder ungenügend
gewesen ist; in der nochmaligen Apperzeption des Reizwortes1),
falls dies nicht richtig aufgefaßt worden ist; in der bewußten Ver-
bindung der Aufgabe mit dem Wort oder dem vom Worte gelie-
ferten Ausgangspunkt für Reproduktionen, falls beide ins Stocken
gekommen oder irgendwie unbeweglich geworden sind.
Die Richtung kommt gelegentlich so zum Bewußtsein, wie bei den oben-
erwähnten, häufigen Fällen. >Ich weiß schon, was ich will«, »Ich weiß, was
kommt, ist richtig« usw. Bei der fünften Aufgabe2, Koordination des Be-
griffes, kann der Oberbegriff lediglich als Richtung und nicht, wie gewöhnlich,
«1* mehr oder weniger deutliche Wortvorstellung zum Bewußtsein kommen.
Das Bewußtsein des Kommenden wird nur von Vp. III konstatiert, aber da
»ehr oft; bei ihr kommt das Reaktionswort am häufigsten ohne vorhergehende
WortvorBtellung, d. h. es tritt erst als ausgesprochenes auf. Bei Vp. 1 kommt
es häufiger nach der Wortvorstellung.
Diese Erscheinung ist wahrscheinlich nur ein Teil des Prozesses des
Bewoßtwerdens des Reaktiooswortes, weil es in einem Versuche vorkommt,
bei dem weder die Wirksamkeit der Aufgabe noch das Einwirken des Reiz-
wortes mangelhaft gewesen ist.
1) Wenn das Wort verlesen war und dergleichen. Vgl. auch Vp. I
Koord. Begr. nähere Untersuchung ;. Die Tendenz war . . . Wie das nicht
gleich gelang, so habe ich beobachtet, daß ich wieder mit besonderer Be-
tonung auf das Reizwort blickte, als wenn von diesem die Anregung zur
richtigen Reproduktion ausgehen müßte.
2) Bei dieser Aufgabe tritt überhaupt der Oberbegriff auf. wenn eine Be-
stimmung der Richtung nötig ist. Daß diese nicht immer nötig ist, sehen
wir daran, daß die Fälle, bei denen kein Oberbegriff auftritt, sondern der
koordinierte Begriff ohne weiteres gefunden wird, zahlreich sind.
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350
Henry J. Watt,
§ 10. Die Geläufigkeit der Reproduktionen.
Die von verschiedenen Psychologen gemachte Beobachtung
daß die Dauer einer Reproduktion von ihrer Geläufigkeit ab-
hängig ist, wird in unsero Versuchen bestätigt. Wir fassen in
den folgenden drei Tabellen die Tatsachen für sämtliche Aufgaben
zusammen, wobei die Dauer und die Anzahl aller Reaktionen der
betreffenden Vp. unter den betreffenden Häungkeitsgrad eingeordnet
sind. Geringes Interesse bietet es, zu wissen, welche Wörter bei
diesen Reaktionen als Reizwort und Reaktionswort dienten. Diese
wurden natürlich bis zu einem gewissen Grade nach den Umständen,
Kreis, Stadt, Studienfach, Alter usw., verschieden sein. Es genügt
schon, den Satz aufstellen zu dürfen, daß bei verschiedenen Auf-
gaben die Reproduktionsgeschwindigkeit von der Geläu-
figkeit entschieden abhängig ist.
Tabelle XIX.
Bevorzugteste Re-
Nächst bevorzugte
Alle andern rich-
aktion, allen Vp.
Reaktion, zwei Vp.
tigen Fälle, d. h.
Aufg.
Vp.
imeinaa
m
I
gemeinst
in
einer Vp. eigen
n
Mc
Ma
n
Mc
Ma
n
I
1 I
9(10) 1024
1012
18
1372
1517
52
1671 1874
II
10
966
1131
19
1135
1355
43
1748 2267
III
10
1046
1240
11
1039
1163
42
1276 1628
I
2
1627
1627
9
1471
1510
71
1557 2169
II
II
2
1868
1868
8
1440
2495
48
1820 2245
I 111
2
960
960
3
1232
1378
47
1236 1540
I
8
1134
1251
12
1282
1549
57
1855 2163
III
II
8
1137
1282
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1376
1386
17
1345 1998
III
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874
1026
1 14
967
1067
44
1191 1394
I
7
1103
1263
18
1456
1563
58
1490 1653
IV
II
6(7)
1113
1074
14
1419
1528
58
1425 2061
III
7
1012
1026
i 18
1162
1148
47
1120 1268
1) Vgl. die Versuche von Ebbinghaus, Über das Gedächtnis, 1885, S.77;
Müller und Pilzecker, a. a. 0., z.B. S. 24 »daß bei Steigerung der Wieder-
holungszahl neben einem Anwachsen der relativen Trefferzahl zngleich eine
Abnahme der durchschnittlichen Trefferzeit stattfindet« nsw. Wumit,
6Psych. III. S. 467. Besonders Thumb und Marbe, Experim. Untersuch,
über die psych. Grundlagen der sprachlichen Analogiebildung, S. 46.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 351
Tabelle XX.
J
Bevorzugteste Re-
aktion , allen Vp.
gemeinsam.
Nächst bevor-
zugte Reaktion,
3 Vp. gemeinsam
Nächst bevor-
zugte Reaktion,
2 Vp. gemeinsam
Einer Vp.
eemein^üiu
n Mc Ma
n Mc Ma
n Mc Ma
n Mc Ma
Aufg. V
[Vp. I
vp. n
vp. in
Vp. VI
Mittel
10 993 1099
10 856 1031
8(101063 1040
10 984 1146
9 1123 1196
9 947 1088
8 987 1191
6 1148 1246
1174
13 1472 1503
23 1273 1600
16 1197 1310
19 1168 1314
52 1379 1786
39 1521 1746
34 1375 1606
26 1464 1639
1710
1089
1403
*
51
Vp. I
Vp. u
vp. m
1 Vp. VI
2 1563 1563
1(2) 1698 1598
2 825 825
2(1) 2086(1184) 825
5 983 990
2 1080 1080
6 833 844
5 1223 1536
10 1624 1916
6 1890 2569
11 1316 1396
8 1589 1716
47 1920 2070
19 1936 2070
14 1482 1986
28 1982 2035
Aus den Tabellen sehen wir, daß der Satz für Ma durchweg in 16, fttr
Mc in 10 der 20 Reihen gilt Genauer ausgedrückt, kommen für Me nur 10
Ausnahmen aus 48 Fällen des Übergangs von einem Grade der Geläufigkeit
zum andern vor; für Ma in derselben Weise nur 6, wovon 4 mit denen von
Mc übereinstimmen. Wenn wir bei Aufg. I Vp. in zwei Fälle, bei denen
die Vp. eine Verlängerung durch Zögern beim Aussprechen und eine von
dem vorhergehenden Versuche störende Perseverationstendenz konstatierte,
außer acht lassen, sinkt die Dauer auf Mc 940 <r und Ma 1068 <r. Bei Aufg.
U, Vp. I, waren beide Reproduktionen von andern Reproduktionstendenzen
gehemmt In dem einen Falle war die Nebentendenz vielleicht und zum
Teil die Verlängerung durch die Stellung des Versuches am Anfang der
zweiten Reihe bedingt. Der andere Fall dauerte 1466 er, wodurch also die
Regelmäßigkeit wiederhergestellt wird, obgleich die zweite Tendenz noch
da ist Bei Aufg. U, Vp. IL, Ma waren zwei Fälle durch ein vergebliches Suchen
verlängert; bei dem einen ist die Vp. zunächst zu der Aufgabe der eben
erledigten Versuchsreihe zurückgekehrt, bei dem andern war sie von einer
durch das Reizwort hervorgerufenen Erinnerung lange Zeit gefesselt So-
bald die Hemmungen gelöst waren, kam sie auf das ausgesprochene Reak-
tionswort Lassen wir die beiden Fälle weg, so sinkt die durchschnittliche
Länge der Zeit auf Mc 1211 a und Ma 1556 <r, welche Zeiten freilich kleiner
sind als die den allen Vp. gemeinsamen Reaktionen entsprechenden Zeiten.
Von letzteren aber kommt ein Fall vor {A\) 1136 a. Bei Aufg. m, IV und
V sind die Ausnahmen, die ausschließlich Mc angehören, selten und sehr
klein. Von Aufg. VI, Vp. I, gehören die zwei allen Vp. gemeinsamen Re-
aktionen in die Form A3 O, die sämtlichen drei Vp. gemeinsamen Reaktionen in
die Form Ax Q. Bei dieser Vp. aber ist die durchschnittliche Länge von A3 O
(9 Fälle) Mo 1991 <r, Ma 1973 er, von At O £6 FäUe) Mc 1604 <r, Ma 1579 0,
d. h. sie unterscheiden sich voneinander dadurch, daß die ersten vermittelst
einer Gesichtsvorstellnng, die andern direkt gefunden waren. Aus früheren
Betrachtungen solcher Fälle wissen wir, daß die Ja -Fälle im allgemeinen
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352
Henry J. Watt,
länger sind, als die anf direktem Wege reproduzierten. Alle solche Ein-
flüsse, deren Ausschaltung die augenscheinliche und auffallende Regel-
mäßigkeit zu einer durchgehenden macht, sind zugleich solche, die in ihrem
Wesen und Wirken von der Geläufigkeit der in den betreffenden Fällen znr
Geltung kommenden Reproduktionen unabhängig sind. Nur in der zuletzt
erwähnten Gruppe ist das nicht schlechthin anzunehmen. Wir sollten eher
erwarten, daß die geläufigeren Reproduktionen auf dem raschesten Wege
zur Geltung kommen. Das wäre durchweg der Fall, wenn die Geläufigkeit
allein die Reproduktionsgeschwindigkeit bestimmte. Aber auch die Aufgabe üt
bei uns, wie oben gezeigt, ein sehr wichtiger Faktor, obgleich sie, wie unsere
Tabellen zur Genüge beweisen, auch der Geläufigkeit Spielraum bietet. Es
ist aber sehr wohl denkbar, daß eine Reproduktion allen Vp. gemeinsam
wäre, ohne daß sie im mindesten eine Reproduktionsschnelligkeit zeigte.
Bei Aufg. Übergeord. Begr., Vp. I, II und III, kommt die Reproduktion Stiefel -
Kleidung vor mit Formen und Zeiten für die betreffenden Vp. bzw. A% 1135 <s.
A3 2570 a , A3 2120. Die entsprechenden Durchschnittszeiten sind för
die drei Vp. bzw. Me 1024 a Ma 1012 a, Mc 966 a Ma 1131a, Me 1016a
Ma 1240 a. Das ist also keine geläufige Reproduktion, sondern eher eine, bei
uns wenigstens, eindeutig bestimmte Reaktion, und wir können nicht erwarten,
daß eindeutig bestimmte Reaktionen als solche auf gleiche Weise verlaufen 1
Daß trotzdem die Gültigkeit des Satzes von der Geschwindigkeit der geläufigen
Reproduktionen bei uns so aufiällt, kann ihn nur annehmbarer machen.
Anderweitige, diesen Satz störende Einflüsse treffen doch möglicherweise alle
Fälle wenigstens unabhängig von ihrer Geläufigkeit. Übrigens tritt die
Gültigkeit des Satzes so deutlich in unsern Tabellen hervor, daß sie andere
mögliche Einwände, wie z. B. den verkürzenden Einfluß der Bereitschaft bei
ungeläufigen Reproduktionen, den störenden Einfluß von allerlei Umständen
auf wirklich geläufige Reproduktionen, wie sie tatsächlich vorkommen, ent-
kräften kann. Unser Maßstab für die Geläufigkeit ist eben die Häufigkeit
des Vorkommens bei den verschiedenen Vp., und mit demselben wird der
Satz bestätigt.
Wenn man für alle Aufgaben diese Durchschnittszeiten aller
Vp. für jeden Grad der Geläufigkeit sucht und die dabei erhal-
tenen Ziffern in Kurven zur Anschauung bringt, so erkennt mau
wieder deutlich den Einfluß der Aufgabe neben dem der
Geläufigkeit, was eine Vergleichung mit den schon oben aus-
geführten, diesen Einfluß der Aufgabe darstellenden Kurven nm
so mehr bestätigt, als man dabei findet, wie tibereinstimmend der
1) D. h. die Gemeinsamkeit einer Reaktion muß nicht in jedem Fall auf
eine Geläufigkeit derselben hinweisen. — Vgl. Münsterberg, a. a. 0. S. 111 •
»Unsere Versuche zeigten nämlich, daß die eindeutigen Beziehungeurteile
wesentlich schneller abliefen, als die unbeschränkten Beziehungsuiteile«. Es
wäre schwierig, Eindeutigkeit ganz und gar von der Geläufigkeit experimen-
tell zu trennen. — Vgl. Cattell, Psychometrische Untersuchungen, Teil DI-
Wundts Studien, Bd. IV, S. 246: > C weiß ebensogut als ß, daß 5 + 7» 12
eindeutig ist, braucht aber V10" länger, es sich ins Gedächtnis zu rufen« usw
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
Korvenabfall in den verschiedenen Figuren ist. In der Fignr sind
die Ordinalen Zehntelsekunden und die Abszissen Aufgaben.
n bedeutet die allen Vp. gemeinsamen, n— 1 die allen Vp. außer
einer gemeinsamen Reaktionen, usw.
™ Au/$aJ>cn I M w ir t n
Fig. 8.
Wenn die Geläufigkeit einer Reproduktion in dieser Weise für
die Dauer der Reaktion bestimmend ist, dürfte man außer dem
bereits Gefundenen nocb anderes erwarten, nämlich, daß B- und
C-Fälle eine kürzere Zeit in Anspruch nehmen, je geläufiger
die reproduzierte Vorstellung bei der betreffenden Vp. ist. Die
Zeit müßte im Durchschnitt kürzer sein, wenn das betreffende Re-
produzierte zweimal vorkommt, und, wenn es dreimal vorkommt,
kürzer als bei zweimaligem Vorkommen, usf. Das dürfen wir auch
für die .4-Fälle erwarten und um so mehr für die falschen Fälle,
die ja so oft durch die Stärke der Reproduktionstendenz verur-
sacht werden.
Um diese Folgerungen zu prüfen, habe ich einige Tabellen
aufgestellt.
Archiv für Psychologie. IV. 23
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Henry J. Watt.
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Experimentelle Beiträge au einer Theorie des Denkens.
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356 Henry J. Watt,
Tabelle XXIII.
Die Geläufigkeit der Vorstellungen bei den einzelnen Vp.
Aufgabe V
j
Aufgabe VI
1— !—
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2
3
j n Mc Ma
n Mc Ma !| n Mc Ma
n Mc Ma
n Mc Ma
Vp. I B+C 11 1763 2600
A :67 1323 1434
2 4077(1297] 4077
5 1515 1525
9 3335 3000
41 1606 1736
1 3424 3424
13 1613 1764
Vp. n JS+ C
A
F
16 1818 2040
41 1035 1147
9 1461 1301
3 17% 1882
4 1232 1012
8 949 967 ,
26 1044 1325
23 1271 1618
3 966 1087
1 858 1087
3 797 803
Vp.ni B+Cl
A
6 1828 1769
53 1303 1357
1 2869 2869
1 978 978
11 2285 2222
29 1579 1793
27 1739 2155
1 1313
1 1143
1 3050
1 1737
1 1486
Die Zahlen über den Vcrtikalkolumnen geben an, wie oft das betreffende
Reaktionswort bei der Vp. in jeder Aufgabe reproduziert wurde. Da eine
Trennung der B- und C-Fälle deren Anzahl sehr verringert hätte, werden
hier B- und C-Fälle zusammengerechnet, und unter 1 geben Mc und Jlfa die
durchschnittliche Dauer der B- und C-Fälle an nach Abzug derer, die in den
andern Vertikalkolumnen vorkommen. In derselben Weise werden die
F- (falschen) Fülle gerechnet.
Bei den B+ C- Formen 6nde ich, daß bei sieben aus allen 13 Fällen die
zweimal vorkommende Reaktion sowohl für Mc als für Ma entschieden
kleiner, und bei 5 Füllen größer ist, als die einmal vorkommende. Von
diesen gehören drei den letzten zwei Aufgaben an. Viermal ist sowohl Mc
wie Ma in der dritten Rubrik kürzer als in der zweiten, während die zwei
übrigen Fälle länger sind. In der vierten sind zwei länger und zwei kürzer.
Von den übrigen sind Mc und Ma einmal länger nnd einmal kürzer, und
einmal Mc kürzer und Ma länger. Tab. XXII, Aufg. III, Vp. HI B + C ist
das regelmäßigste Beispiel. Bei den A -Fällen sind zugleich Mc und Ma in
19 Fällen kürzer: neunmal im ersten, siebenmal im zweiten und dreimal in
andern Graden, wogegen Mc und Jlfa in elf Fällen länger sind : viermal im
ersten, dreimal im zweiten, dreimal im dritten und einmal im vierten (trade.
Die übrigen 7 Fälle, wovon fünf im ersten Grade sind, schwanken. Es sind
hier im ganzen 37 Fälle. Bei den falschen Fällen endlich werden die
Zeiten in 13 aus den 19 Fällen mit der Geläufigkeit kürzer sowohl für Mc
wio für Ma. Unsere Erwartung wurde damit im großen und ganzen erfüllt
Wie läßt sich aber die. plötzliche, auffallende Verlängerung der Zeit in
den höheren Graden, wenn die Reaktion viele Male vorkommt, erklären?
Dazu müssen wir uns an verschiedenes erinnern. Wenn die Reproduktion
sich oft und stark aufdrängt, wird sie störend, weil sie sich öfters zu
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Deukene. 357
unpassender Zeit geltend macht >), wenn sie nicht der Hemmung ausgesetzt
wird, indem sie sich nur durch ihre größere Kraft und gegen die Tendenz
der Aufgabe wirksam erweist. Obgleich wir im allgemeinen finden, daß die
Reproduktion je geläufiger desto schneller ist, haben wir doch keinen Grund
so der Annahme, daß eine Reproduktion, die von einem Reiz ausgeht, not-
wendigerweise von der Geschwindigkeit derselben Reproduktionstendenz, die
von einem andern Reiz ausgeht, beeinflußt werde. Dies könnten wir nur
erwarten, wenn die Reize einander funktionell ähnlich sind, was sie bei
diesen Aufgaben Behr gut sein könnten.
Es wäre nun interessant, zu wissen, ob bei den Fällen, wo mehrere
Reproduktionstendenzen wirksam sind, die eine die Reaktion bestimmt, weil
sie eine größere Geschwindigkeit oder Geläufigkeit wie die andern gehabt
hat In denjenigen Fällen, bei denen eine Fülle von Vorstellungen oder
ReproduktionBtendenzen konstatiert wurde, Bind wir nicht imstande, dies
wahrscheinlich zu machen. Nur einmal haben zwei Vp. gleich reagiert. Es
handelte sich hauptsächlich um eine Gruppe bei einer einzigen Vp., und
dabei läßt uns die Art der betreffenden Aufgabe (II) nicht einmal eine
große Übereinstimmung in der Reaktion erwarten. Die sonst konstatierten
Fälle sind wohl zu wenige und zu zerstreut. Die B- Fälle jedoch, die
eine große Ähnlichkeit mit diesen haben, aber nur eine andere Tendenz,
nicht viele, enthalten, eignen sich wegen ihrer größeren Häufigkeit bei allen
Aufgaben mehr zu einer solchen Untersuchung. Dabei ergibt sich folgendes
Resultat Bei 36 Fällen ist eine gewisse Geläufigkeit der wirksam
gewordenen Tendenz nachweisbar, und zwar darin, daß diese Reproduktion
entweder auf das betreffende Reizwort bei verschiedenen Vp. oder mehrere
Maie bei derselben Vp. auf ein anderes Reizwort oder beides in verschiedenen
Graden der Häufigkeit folgte. Eine Reproduktion auf ein und das-
selbe Wort , die bei vier Vp. vorkam , verlief in 1179 a, 6, die bei dreien
vorkamen, in durchschnittlich 1641 «r, 16, die mehr als einmal auf verschie-
dene Reizwörter bei derselben Vp. vorkamen, in durchschnittlich 1948 a
und 10, die anf dasselbe Reizwort nur bei zwei Vp. und nicht weiter vor-
kamen, in durchschnittlich 2623 <r2]. Das Vorkommen mehrere Male und bei
mehreren Vp. wird immer als Vorkommen in derselben Aufgabe verstanden.
Bei 8 Fällen ging die Tendenz zunächst nach einer falschen oder einer in
der vorhergegangenen Reihe zur Anwendung gekommenen Aufgabe. Hier
ist der Einfluß der Aufgabe wieder offenbar. Es bedarf auch nicht der Unter-
suchung, ob wir eine Geläufigkeit der Aufgabe nachweisen können. Daß sie
vorhanden ist versteht sich von selbst, und es ist ja natürlich, daß der Ein-
fluß der richtigen Aufgabe bevorzugt wurde und verstärkend wirkte.
Bei 10 Fällen kamen zwei Bedeutungen des Reizwortes zum Be-
wußtsein. In 7 Fällen davon ging die Vp. zu der von allen, in zweien zu
der von allen Vp. mit Ausnahme einer einzigen angenommenen Bedeutung
öber. Einmal stand sie in ihrer Auffassung des Reizwortes allein, obgleich
die andere Bedeutung, die ihr im Bewußtsein war, gerade die von allen
andern Vp. angenommene war. Das betreffende Reizwort war Alter, das
die Vp. als ein substantiviertes Adjektiv auffaßte. Viermal wurde das
Wort verlesen. Das Richtige kam aber gleich zur Geltung. Siebenmal
1} Vgl. die Reihe von Fällen oben S. 342 f.
2; Für diese Zahlen ist Ma allein berechnet.
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358
Henry J. Watt,
hat eine besondere Leistung seitens der Vp. einen Znstand der Hemmung
gelöst: dreimal durch Unterdrückung, einmal durch Verlassen der andern
Richtung für sich, zweimal durch eine »energische Anwendung der Aufmerk-
samkeit«. Ein anderes Mal >ein Nachlaß, als wenn die vorhergehende Hem-
mung gewaltsam aufgehoben wurde; es muß stimmen« (nämlich das Reaktions-
wort}. Bewußtsein einer gewissen Willktirlicbkeit in der Begriffsbestimmung,
etwa: Ach was, es muß so gehen. Zweimal kam die wirksame Repro-
duktion mit dem Eindruck des Zwanges oder Uberraschend, woraus wir
auf eine ursprüngliche Stärke der Tendenz schließen dürfen, und zweimal
war die wirksame Reproduktionstendenz in Bereitschaft. Bei 33 Fällen
fiel dasjenige, worauf die zweite Tendenz eich richtete, nicht ein, oder, mit
andern Worten, die Vp. suchte so lange, daß sie nachträglich zu Protokoll
geben mußte, sie habe es nicht gefunden. Die Tendenz war zu schwach,
es Uber die Reproduktionsschwelle zu erheben; sie war unterwertig >). In
14 solchen Fällen (sämtlich bei Aufgabe II) griff die Vp. nach einer andern
Methode, der schon erwähnten mechanischen Metbode des Vorsetzens oder
des Anhängens eines Wortes oder einer Silbe an daB Reizwort ubw. Das
war eine entschiedene Erleichterung der Aufgabe, was gleichwertig ist
mit einer Verstärkung der wirksamen Tendenz. Von den Übrigen kann
man aus dem Protokoll nichts weiter sagen; sie waren aber offenbar durch
die Stärke der wirksamen Reproduktion bestimmt.
Es bleiben damit im ganzen etwa 13 Fälle unerklärt. Bei dreien hat
eine lebhafte Vorstellung, bei einem eine geläufige Berührungsassoziation der
wirksamen Reproduktionstendenz viel geholfen. Einmal ging die Repro-
duktion aber gegen die Richtung der lebhaften Gesichtsvorstellung. Zu diesen
und den andern Fällen können wir ans dem Protokoll nichts Erklärendes
finden.
Es aind aber im ganzen wenige Fälle, die da übrigbleiben, und daß ein
notwendigerweise so bedingtes Protokoll, wie das unsrige, in allen Fällen
Auskunft geben werde, können wir nicht erwarten. Wir müssen also an-
nehmen, daß diese wie aUe Reproduktionen erstens durch die in der Vor-
bereitung oder durch etwaige Wiederholung wirksam werdende Kraft der
Aufgabe und zweitens durch die relative Stärke der einzelnen erregten Re-
produktionstendenzen bestimmt wurden. Ceteris paribus entscheidet
zwischen zwei Tendenzen die eigene Stärke und nicht eine
Wahl oder die Apperzeption. Dahin geht unsere ganze Beweisführung.
Fassen wir das Resultat dieses Abschnittes zusammen! Erstens
haben wir gefunden, daß, je mehr die verschiedenen Vp. in einer
Reaktion auf einen bestimmten Reiz in derselben Aufgabe Uber-
einstimmen, um so geschwinder diese Reaktion bei jeder Vp. statt-
findet. Die wenigen Ausnahmen vermochten wir auch zu erklären.
Geläufigkeit können wir aber auch noch in einer andern Form
beobachten. Dieselbe Reaktion kann bei derselben Vp. auf ver-
schiedene Reize folgen. Demgemäß finden wir zweitens, daß die
Reaktion bei allen großen Klassen um so geschwinder stattfindet, je
1) Müller und Pilzecker, a.a.O. S. 34 ff.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
359
öfter die betreffende Reaktion in derselben Aufgabe bei je einer
Vp. auf verschiedene Reize folgt. Die Unregelmäßigkeit, die wir
da gefunden haben, daß nämlich bei derartigen Versuchen wie
den nnsrigen die Reaktion öfters länger dauert, wenn sie sehr
oft auf verschiedene Reizwörter folgt, haben wir der Interferenz-
wirkung von sich aufdrängenden unpassenden Tendenzen zuschreiben
können. Drittens haben wir uns gefragt, ob eine Tendenz um so
schneller andere Tendenzen stören und beseitigen kann, je ge-
schwinder sie ist. Dazu erinnern wir wieder daran, daß unser
zweiter Satz im allgemeinen für die B- und C-Fälle zusammen-
genommen, für die J-Fälle und etwas deutlicher, wie zu erwarten,
für die falschen Fälle und deshalb auch für alle Fälle im großen
und ganzen gilt. In Anbetracht dieser Resultate haben wir nun die
ß- Fälle untersucht. Diese B- Fälle sind dadurch charakterisiert,
daß sie neben der in der Reaktion sich kundgebenden Tendenz noch
eine Tendenz enthalten, welche die Vp. nicht näher zu charakteri-
sieren imstande ist. Es ist nun von mehreren Psychologen1) be-
hauptet worden, daß bei einem solchen Falle, in dem mehrere mög-
liche Verbindungen dem Bewußtsein zu Gebote stehen, eine Apper-
zeption eine dieser Verbindungen auswählt und sie in den Blick-
punkt des Bewußtseins erhebt. Das ganze Resultat unserer Unter-
1) Trautachoidt, Wundts Studien, Bd. I, S. 248. Wundt, Logik,
1880, Bd. I, S. 25: Die aktive Form der Apperzeption, »bei der unter ver-
schiedenen sich darbietenden Vorstellungen eine bestimmte ausgewählt
wird« usf. Vgl. damit Physiol. Psych., 3. Aufl., Bd. II, S. 381 : »indem die
Apperzeption aus einer Mehrheit bereit liegender assoziativer Verbindungen
die geeigneten auswählt. Alles Denken ist daher innere Wahltätigkeit.«
Das wird in der 5. Auflage allem Anscheine nach nicht mehr aufrecht-
erhalten. Vgl. »In noch höherem Maße ist das natürlich unter den meist viel
komplizierteren Verhältnissen der gewöhnlichen Tätigkeit der aktiven Auf-
merksamkeit der Fall, wo sich unter Umständen zahlreiche assoziativ ge-
hobene Vorstellungen darbieten können, unter denen dann eine bestimmte,
den gegebenen intellektuellen Bedingungen entsprechende stärker gehoben
and demzufolge apperzipiert wird, aber von dem Gefllhl begleitet ist, daß
neben diesem noch andere Apperzeptionsmotive vorhanden waren. In
diesen Fällen hat also die aktive Apperzeption die Merkmale einer Will-
kür handlnng.« Bd. in, S. 345. Wenn man unter Wahl den Inbegriff der
Vorgänge, wodurch eine ReproduktiotiBtendenz zur Wirksamkeit bestimmt
wird, versteht, so muß man sich davor hüten, den Anschein zu erwecken,
als wenn unter Wahl ein von andern prinzipiell verschiedener Einfluß ver-
standen würde. Dem Begriff der Wahl ist nun etwas derartiges aufgeprägt
worden. Dazu gibt er also den psychologischen Tatbestand nicht exakt
genug wieder und ist deshalb zu verwerfen.
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360
fienry J. Watt,
Buchung der -B-Fälle bewegt sich in der Richtung, daß wir sagen
müssen: unter gleichen Umständen entscheidet zwischen
rerschiedenen sich darbietenden Vorstellungen nicht eine
apperzeptive Wahl1), sondern die eigene, durch Wieder-
holung gewonnene Stärke der Reproduktionstendenz.
Einer der »gleichen Umstände« ist, wie nebenher bemerkt sei, die
Einheit der Aufgabe, der sich diese Vorstellungen darbieten. Daß
diese Aufgabe an der Reproduktion der wirksamen Tendenz teil-
nimmt, würde niemand weniger als ich bestreiten, aber ich kann
nicht einsehen, daß es uns erlaubt ist, irgendeine andere Hypo-
these anzunehmen als die, daß der die Reproduktion begün-
stigende Einfluß der Aufgabe allen sich darbietenden
Vorstellungen zuteil wird.
Man könnte dagegen einwenden, daß unter den am Ende von
§ 6 erwähnten A -Fällen, bei welchen viele Tendenzen sich auf-
drängten, nur ein Fall durch eine Geläufigkeit seiner Reaktion
irgendwie eine Erklärung fand, und daß unter den besprochenen
B- Fällen zweimal (unter andern ziemlich gleichen Fällen) die
Hemmung durch eine energische Anwendung der Aufmerksamkeit
aufgehoben wurde. Gegen den ersten Einwand kann ich nur er-
widern, daß unser Material nicht groß genug zu einer hinreichenden
Erklärung war. Wir sind aber zu der Annahme berechtigt, daß
ähnliche Fälle in ähnlicher Weise sich erklären lassen. Gegen
den zweiten Einwurf könnte man nur vorbringen, daß die Aussage
einer Vp., wenn es sich um etwas Objektives handelt, nur einen
heuristischen Wert hat, bis etwas objektiv Erklärendes gefunden
wird. Mit andern Worten gesagt, sie dient als eine Quelle von
zu prüfenden möglichen Erklärungen; aber das gefundene Objek-
tive geht hier gegen die Aussage der Vp.
1) Ob bei den sogenannten Wahlreaktionen etwas vorhanden ist
was man mit dem Namen Wahlakt fixieren darf, ist eine andere Frage.
Vgl. Kraepelin und Merkel, »Beobachtungen bei zusammengesetzten Re-
aktionen«, Studien, X, 499 ff., und Wundts Aufsatz daselbst Rein Name
und keine Wahrnehmung (S. 495) wird jedoch diesen Wahlakt als einen nicht
durch die Stärke der Reproduktion selbst, ceteris paribus, bedingten fest-
stellen können.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
361
§ 11. Die Gesichtsvorstellunsen.
Die Eigenschaften und Funktionen der Gesichtsvorstellongen
sind sehr interessant, und es wird sich lohnen, sie durch die ver-
schiedenen Aufgaben bei den verschiedenen Vp. zn verfolgen. —
Ich gebe also eine kurze Beschreibung der Gesichtsvorstellungen
bei jeder Aufgabe für jede Vp. Im folgenden werden die
Versuche, welche solche Vorstellungen enthalten, im Prozentsatz
aller Versuche und die Vp. angegeben.
Vp. L Aufg. I. 18,6 %.
Das Sachen findet kaum im Bilde statt, vielmehr ist das Bild eigentlich
eine verstümmelte Vorstellung des vom Reizwort Bezeichneten. In nur einem
Falle» (einem falschen, und so wird es verständlich) gehörte das BUd mehr
zum Reaktionswort; Vp. konstatierte dabei, sie glaube, daß das Bild sich
aus dem Sachen entwickelt habe. Wenn die Aufmerksamkeit eine andere
Richtung erhält, soll sich das Bild auch zuweilen verdunkeln.
Aufg. II. 10 f..
Die Vorstellung ist hier seltener, dunkel und flüchtig. Sie kann noch
das Reizwort zum Ausdruck bringen, was aber der eigentlichen Tendenz der
Reproduktion weniger dienlich ist. Natürlich kommen bei dieser Aufgabe mehr
Pille vor, bei denen das Bild in naher Beziehung zum Reaktionsworte steht,
weil es hier möglich ist, daß mittels einer Gesichtsvorstellung das von der
Vp. nur noch zu Nennende auf direktem Wege hervorgerufen wird. Also
leiitet die Vorstellung *) hier mehr, obgleich ihre Wirksamkeit öfters von der
Methode des Vorsetzens beeinträchtigt wird. Beides hängt von der Natur
der Aufgabe ab. Vp. I konstatiert noch, daß alle Bilder farblos sind.
Vp. II, Aufg. I. 73 X
In der Regel ist das Bild eine Vorstellung des vom Reizwort Bezeich-
neten, zuweilen jedoch nur des damit Assoziierten; z. B. Fieber: > Dunkles Bild
eines Fingers, der auf dem Puls liegt«, oder Schweiß: »Bild einer Stirne«
usw. Nur selten sind die Bilder betont, da ja kein Moment im Versuche
vorliegt, welches Betonung hervorbringen könnte. Mehrere werden als
schwach und dunkel konstatiert und viele nicht näher beschrieben; es ist
jedoch wahrscheinlich, daß sie ziemlich deutlich waren. Das Bild scheint
zumeist das Verständnis des Wortes zu verdeutlichen; daß es wesentlich
dazu beitragt, die Reproduktionstendenz zu bestimmen, kann man nicht immer
sicher behaupten, obgleich es vorkommt. Z. B. Sichel : Bild einer mähenden
Bäuerin; sah die Hand und die Sichel: Handwerkszeug. Bei einigen falschen
Fitten hat die Vp. direkt ans dem Bilde selbst etwas genannt Die Zeiten
steigen von 765 o (schwaches Bild) und 780 a«) (deutliches Bild) bis 6794 o, wo
die Vp. lange Zeit vom Bilde gefesselt worden war.
1) Beichte: Bild einer Kirche und eines Beichtstuhles: Kirche.
2) Z.B. Gebäude: Flüchtiges Bild des hiesigen neuen Universitätagebäudes ;
sagte Kollegienhaus.
3) Adler: sah in den Lüften einen Adler hoch, sagte Vogel. 780 a.
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362
Henry J. Watt,
Aufg. II. 62,6 X-
Bei den meisten Fällen hat die Vp. nnr das zn nennen, was im Bilde
deutlich gegeben war; z. B. Schlange: Schwaches Bild einer hinkriechenden
Natter, nnd bei mehreren wird das Oesachte an dem Bilde selbst gefunden,
wo der Prozeß des Suchens stattfindet — Speise: »Eine weiße, gedeckte
Tafel mit allerlei Speisen. Ich suchte eine heraus und sagte Braten« 3647 3,
oder Gebäck: »Ich suchte einen Wecken heraus und sagte Mundbrot. Bild
von einem Bäckerladen« 1614 a. Deshalb sind die Bilder viel deutlicher und
ausgeprägter, die Aufgabe erlaubt, daß sie sich an ganz individuelle Objekte
anlehnen. Den komplizierten Bildern entsprechen, wie auch in der ersten
Aufgabe, längere Reaktionszeiten. Natürlich wirken geläufige Wörter, auch
wenn eine Gesichtsvorstellung mitwirkt, beschleunigend, ebenso der Grad der
Deutlichkeit, mit dem eine einzige Reproduktionstendenz aus dem Bilde
hervorgehen kann. Vgl. oben den Versuch »Speise«.
Vp. III, Aufg. I. 2 *.
Nur zweimal in 86 Versuchen! Schach: »Optische Vorstellung des
Brettmusters ; eine Zeitlang damit beschäftigt, dann das klare Verständnis
von Schach. Spiel.« 1729 a. Stiefel: »Optische Vorstellung eines Stiefels,
Kleidungsstück. Zögern im Aussprechen.« 2120 <x.
Auch wenn sie vorhanden sind, wio man sieht, sind die Vor-
stellungen von keiner Bedeutung für den Versuch. In der spezielleren
UnterBuchung der Stadien des Versuchsverlaufes bei dieser Vp. waren die
optischen Vorstellungen häufiger. Warum es so war, ist nicht deutlich;
vielleicht, weil die Versuche mit* geschärfterer Aufmerksamkeit und größerem
Bedacht ausgeführt wurden. Interessant sind: »Natter: Lebhafte optische
Vorstellung einer Natter. Das Spezielle an Natter kam nicht, nur die all-
gemeine Vorstellung eines gekrümmten Reptils, nicht die eines individuellen.
So war eo ipso der Begriff Schlange gegeben.« Spatz: Optische Vorstellung
eines grauen Vogels. An dem Vogel waren die Merkmale zu finden, die
zum Ubergeordneten Begriff gehörten.
Aufg. II. 3 *.
Bei diesen drei Fällen bestimmen die optischen Vorstellungen durch die
in ihnen enthaltenen Farbenvorstellungen die Richtung der Reproduktion.
Reizwörter: Bier, Zettel, Saft. Optische Vorstellungen: eines braunen Ge-
tränkes, eines weißen Papierfetzens, eines gelben Saftes. Reaktionswörter:
Met, Stimmzettel, Zitronensaft.
Vp. I, Aufg. III. 64 %.
Hier ist nichts Besonderes zu erwähnen.
Die folgende Tabelle für die III. Aufgabe für alle Vp. habe ich zusammen-
gestellt, um zu zeigen, wie der im Reizwort gegebene Teil und das gefundene
Ganze sich in bezug auf Deutlichkeit und Häufigkeit des Vorkommens in
der Gesichtsvorstellung verhalten. Ich habe mich darin bestrebt, auch
immer nach den Aussagen der Vp.1) Uber den Grad der Deutlichkeit
der Bilder zu urteilen. Wo dies nicht möglich war. habe ich ihn nach der
1] Auch Binet hat die Beschreibungen der Gesichtsvorstellungen ob-
jektiv kontrolliert und hat gefunden, daß die Intensität einer Vorstellung
ihrem Alter fast immer umgekehrt proportional war. L'etude experimentale de
Tintelligence S. 114 ff., bes. S. 120.) Die Aussage ist hier wohl noch zuverlässiger.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
363
Art der Beschreibung der Geeichtsvorstellung geschätzt. Viel Wert lege
ich allerdings anf die Genauigkeit der Unterscheidung zwischen den klaren
und den unklaren Ganzen nicht; einen gewissen Wert aber besitzen die
Zahlen immerhin. Es ist unverkennbar, daß der Teil viel öfter klar als un-
klar, verschwommen, schwach usw. ist, und daß zugleich das derselben Ge-
Bichtsvoratellnng zugehörige Ganze überwiegend, jedoch nicht immer, klar ist.
In einer erheblichen Anzahl von Fällen war das Ganze unklar, und noch
häufiger war es überhaupt nicht vorhanden. Anch von der andern Seite
betrifft derselbe Grad von Klarheit in den meisten Versuchen sowohj
den Teil als das Ganze. In den Fällen, bei denen das Ganze zu der Teil-
voretellnng nicht vorhanden war. ist wohl .meistenteils auch ein begriffliches
Suchen oder noch eine Reproduktionstendenz deB reproduzierten Wortes
neben der von der GeBichtsvorstellung ausgehenden vorhanden zu denken.
Bei Vp. II waren 41 % solcher Fälle falsch, was noch deutlicher zeigt, wie
zuverlässig die Gesi chtsvorstellungen als Führer zu der richtigen
Reprodnktionstendenz sind, wenn sie nur zur Geltung kommen. Mit vier
Ananahmen waren alle dieee falschen Fälle bei Vp. II entweder Reproduk-
tionen des Ubergeordneten Begriffes (14,6 % = 10 Fälle) oder des Namens
Tabelle XXIV.
Anfg. III.
Vp.
Teil klar
I
II
III
in
%
Gan-: G.
zes un-
klar : klar
Kein
Gan-
zes
Kein
Teil,
Gan-
zes
klar
Teil unklar
in
63
87,6
83,6
28
26
48
17 |18
14.6 48 41
9,5 26
1,6
6
I 6 •
16,5
1,6
6
Gan
zes
klar
I
G.
un-
Kein
Gan-
klar i zes
Kein Son-
Teil. jstige
opt.
Vor-
Gan-
zes
un-
klar
stel-
lgen.
#
aller
Ver-
suche
= 100*
1,6
7,5
ö
7.5
1.5
2,6
13
8
4
54
81
48
für den Stoff, aus dem der Gegenstand des Reizwortes gemacht war. Damit
soll aber nicht gesagt sein, daß andero Reproduktionstendenzen nicht zu-
verlässig sind. Sie können das wohl sein, wie bei Vp. I und III ; bei diesen
ist das Ganze öfter in der Vorstellung als nicht, und die Anzahl der falschen
Reproduktionen ist viel kleiner. Man könnte dagegen einwenden, daß die
Vp. II sich die Aufgabe vielleicht nicht so gut eingeprägt oder die
logischen Bedingungen derselben nicht so gut verstanden habe. Das mag
zutreffen, reicht aber nicht aus. In Tabelle XXV, Aufgabe IV, sehen wir, daß
89,6 % der Fälle Gesichtsvorstelinngen enthielten, nur 9 % (7; dieser Fälle
den jetzt behandelten analog waren, worunter 6.5 % (5) falsche Reproduk-
tionen, drei untergeordnete und zwei übergeordnete Begriffe waren. Im
ganzen waren nur acht Fälle mit Gesichtsvorstellungen (10,6 %) falsch. Bei
75 °4 aller Fälle waren sowohl das gegebene Ganze wie der gefundene Teil
deutlich vorgestellt und alle richtig; d. h. es sind bei weitem nicht so viele
falsche Fälle bei der rV Aufgabe überhaupt, oder, mit andern Worten, die
Aufgabe ist leichter. Wo die Vorstellungen durchaus zur Geltung kamen,
da verschwanden die falschen Reproduktionen; wo nicht, wie unter der
Rubrik »Teil klar, kein Ganzes«, in 48 % der eine Gesichtavoratellung
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364
Henry J. Watt,
enthaltenden Fälle waren dagegen 41 yl falsch, und unter der Rubrik bei der
IV. Aufgabe »Ganzes klar, kein Teil« 9 * 6,5 % falsch) bleiben die Verhält-
nisse (48 : 36) fast genau dieselben. Hätte aber die Vp. sich fester an ihre
Gesichtsvorstellungen gehalten, dann hätte sie nicht so viele falsche Repro-
duktionen gebracht. Bei Vp. I, Aufg. III, sind nur drei von Gesichtsvor-
stellungen begleitete Reproduktionen falsch, wovon zwei in diese Rubrik
(Teil klar, kein Ganzes/ fallen. Auch die einzige falsche Reproduktion bei
Aufgabe IV gehört hier hinein. Bei Vp. IH verschwanden die falschen Repro-
duktionen völlig, wo sowohl Gegebeues als Gefundenes wie beim Über^an^e
von der 1H. zur IV. Aufgabe vorgestellt wurden. In der Rubrik »Kein Ganzes,
bzw. kein Teil« sind sie noch zu finden, obgleich sie auch aus andern Gründen
sonst vorkommen.
Ich habe oben auf die Beschreibung einer Gesichtsvorstellung
von Vp. in hingewiesen, bei der sie angegeben hat, daß darin
nnr das Seh langen artige vertreten war. Dasselbe kommt
auch häufig bei Vp. I vor, obgleich ihre Vorstellungen oft individuell
und klar ausgeprägt sind. Z. B. Fell: »Vorstellung eines stark
behaarten Oberkörpers (ganz undeutlich). Welchem Tier es ge-
hörte, weiß ich nicht. « Getreide: »Flüchtiges Bild eines Roggen-
oder Weizenfeldes ; die Art nicht deutlich. « Maul : »Tier. Dunkle
Vorstellung von einem ganz undefinierbaren Tier. Es könnte
ein Ochs, Pferd, Hund gewesen sein mit besonderer Betonung
des Kopfes und der Mundgegend1).« Zu sagen, wie die Vor-
stellung »wirklich« im letzteren Falle war, wäre nach der Be-
schreibung sowohl für die Vp. selbst als noch mehr für andere
gewagt, obgleich man behaupten könnte, sie wäre doch etwas
Bestimmtes, entweder Hund oder Pferd und entweder ein ge-
wisser Hund oder ein gewisses Pferd, gewesen. Behaupten
kann man es, aber angesichts solcher Beschreibungen wie der
eben gegebenen nicht beweisen. Allenfalls darf man zugeben,
daß tatsächlich und für die betreffende Vp. die Gesichts-
vorstellung als eine allgemeine gegolten hat. Man
könnte aber auch behaupten, daß Begriffe, insofern sie nicht
bloß Namen oder Wörter sind, psychologisch rein nicht existieren,
d. h. ohne daß Anklänge zur Reproduktion gewisser untergeord-
neter Begriffe oder Individuen oder gewisser, dem Individuum
allein gehöriger Eigenschaften vorhanden sind, und daß Begriffe
als solche keine reine psychologische Existenz haben, ebensowenig
lj Für ähnliche Beispiele vgl. Binet, L'etude experimentale de l'intelli-
gence. Paris 1903. S. 113, 143, 160, 153. Es sind in dem Buche auch sonst
viele interessante Beobachtungen enthalten.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
365
wie (nach der hier bekämpften Ansicht) Begriffsvorstellungen. Daß
beide psychologisch als allgemein gelten können, wäre dabei nicht
ausgeschlossen, and daß Begriffe eine Berechtigung außer der prak-
tischen haben und allgemeine Vorstellungen nicht, hat mit der
Frage nichts zu tun.
Vp. II hat im allgemeinen sehr lebhafte Vorstellungen, die sie gleichsam
plastisch umformt, und auf deren verschiedene Teile sich ihr Rück beliebig
richtet. Selbst Bewegungen kommen darin vor, und oft fühlt die Vp., daß
und wo sie selbst im Bilde sei, und daß sie sich darin bewegt habe. So
verändert sich auch bei Vp. 1 und III die Aufmerksamkeit oder die Betonung
des Bildes. Interessant ist es, wie eine optische Vorstellung eine andere
Bedeutung erhält, indem sie sich verbreitert. Flamme: optische Vor-
stellung einer einzelnen Flamme nnd dann zugleich eine breitere optische
Vorstellung: Feuer. Die Vp. kann von der Lebhaftigkeit ihrer Vorstellungen
irregeführt werden oder lange dabei stehen bleiben oder an einem Tag eine
größere Lebhaftigkeit der Vorstellungen als am andern haben. Daß das
Wort gelegentlich etwas anderes bezeichnet als das, worauf der Blick sich
richtete, ist schon oben unter B und C besprochen (S. 324 .
Tabelle XXV.
Aufg. IV.
Ganzes klar
Kein
Gan-
Ganzes unklar
Vp.
in
9i
i -
Teil
klar
Teil
un-
klar
Kein
Teil
zes,
Teil
klar
in
Jl.
Teil
klar
Teil
un-
klar
Kein
Teil
li
54.5
32
4,5
18
3
36,5
17
15
4,5
u 1
87
75
3
9
3
5
1
1
64
47
8,5
8,5
15
10.5
8,ö
2
Kein j Son-
7.CS,
Teil
un-
klar
6
opt. !
Vor-
stel-
lgen. |
aller
Ver-
suche
= 100*
- 78
89,5
3
- 10,5 65
Das meiste des oben Uber die dritte Aufgabe Gesagten kann man hier wieder
an der Tabelle sehen, so daß sieh eine Wiederholung alles dessen nicht lohnt.
Auffallend ist die Abnahme der Fälle, bei denen das Ganze klar vorgestellt'
wurde, und die entsprechende Zunahme der unklar vorgestellten Ganzen.
Auch iBt die Abnahme der Fälle, bei denen das Ganze klar nnd der
Teil unklar vorgestellt wurde, unverkennbar, ebenso wie die Zunahme
derjenigen, bei denen unter denselben Umständen der Teil klar war. Das
alles deutet auf eine Schwierigkeit, die im Vorstellen des Ganzen
liegt, und eine Leichtigkeit dagegen, die im Vorstellen des Teiles
liegt und auch dem Protokoll nach empfunden worden ist. Was
sonst noch unter die optischen Vorstellungen kommt, sind solche Vorstel-
lungen, die sich weder als Teil noch als Ganzes gut bezeichnen lassen. Z. B.
Farbe: >Die Vorstellung einer Farbe, vielleicht Gemälde, vielleicht Spek-
trum. Bloß ein Nebeneinander von Farben. Ol.« Oder Steuer. »Dunkles Bild
von dem Amtsgebäude hier in WUrzburg. wo man Steuern bezahlt. Ausgabe.«
Flamme: »Vorstellung eines Holzstoßes, der in Brand ist: Feuer« usw.
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366
Henry J. Watt,
Hier wird wieder die Allgemeinheit des Bildes konstatiert, z. B. Strauß:
»Dunkles Bild eines Blumenstraußes. Art der Blume selbst in keiner Weise
bewußt. Die Bilder sind öftere so dunkel, daß die Einzelheiten nicht
zu erkennen sind, und daß sie als allgemein gelten können.« Was
oben von der Veränderung der Aufmerksamkeit, der Bewegung im Bilde usw.
gesagt wurde, gilt auch hier. Vp. I gibt an, daß ihre Bilder ziemlich klar
sind, daß jedenfalls der Teil in den meisten Fällen betont ist Sie meint,
daß durch das Bild ein Wort gefunden werde, und in der Regel, aber nicht
immer entspreche das Wort dem betonten Teile. Die Vorstellungen von Vp. II
sind sehr klar und ausgeprägt. Vp. in hatte dem Erlebnis optischer Vor-
stellung gegenüber den Eindruck, daß da ein Auseinandertreten der Teile
selbst sei; inwiefern die Vorstellungen klare und deutliche Bilder seien, künne
sie nicht sagen, sie könnten wohl teilweise auch begriffliche Teilgruppen
sein. Ihre Wortreaktionen sind öfters durch anderweitige gleichgerichtete
Reproduktionstendenzen neben der direkt aus der Vorstellung hervorgehenden
herbeigeführt Der Begriff kann »ebenso deutlich oder deutlicher« als das
Bild werden, in welchem Falle der Teil im Bilde nicht betont wäre; wie oft
es der Fall war, läßt sich nicht feststellen; wahrscheinlich nicht oft, weil
es kaum einen Zweifel gibt, daß dies von der Stärke der andern gleich-
gerichteten Reproduktionstendenz und nicht von der Beschaffenheit ihrer
Vorstellungen als solcher oder nach ihrer Funktion in dieser Aufgabe abhängt.
Tabelle XXVI.
Gesichts-
Gesichts»
Gesichts-
Gesichts-
Prozent-
vorstd. vom
vorst. d.vom
vorst von
vorst von
satz
Reizwort
Rktswort
beiden
etwas bei-
aller Ver-
Bezeichne-
Bezeichne-
nachein-
des Um-
suche der
ten allein
ten allein
ander
fassendem
Aufgabe
>
Vp. I
1
2,5
3,6
«SP
Vp. u
23,5
14
14
48.6
66,5
s
Vp. III
67 (4!
33 2)
7
<
tVp. VI
60
7
9
21,5
64
>
Vp. I
28
3
10
59
52
Vp. u
18
5
77
82
3
Vp. III
9
9
82
17
<
Vp. VI
47
2
7
44
78,5
In dieser Tabelle finden wir ein etwas ähnliches Verhalten der Ge-
sichtsvorstellungen wie bei den letzten zwei Aufgaben. Wir sehen, daß
das Reizwort am meisten vertreten ist, daß etwas sowohl Reizwort als
Reaktionswort Vorstellendes häufig gebraucht wird, aber bei weitem nicht
so oft, wie bei der IU. und IV. Aufgabe. Die Anzahl der Gesichtsvorstel-
lungen enthaltenden Versuche Uberhaupt hat auch stark abgenommen.
Das alles hängt mit der Beschaffenheit der Aufgabe zusammen. Ob-
gleich wir bei Vp. I für Aufg. V so wenige Vorstellungen finden, was sie
veranlaßt auszusagen, daß das Bild bei dieser Aufgabe keine Rolle spielt
finden wir sie doch häufig bei Vp. II und VI, obgleich ihre Rolle kleiner ist
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
867
Bei dem Prozeß des Findens der Reproduktionstendenz verändert sich
in vielen Fällen die Aufmerksamkeit an demselben Bilde, oder ein zweites
Bild stellt sich neben das erste mit irgendeinem gemeinsamen begrifflichen
Hintergrund1}, ohne daß die Bilder zusammen eines bilden, oder die Repro-
duktionstendenz findet im ersten Bilde Platz *j und wächst in ihrer eigenen
Form daraus hervor. Vp. VI hat ziemlich schwache und verschwommene
Bilder.
Hit der sechsten Aufgabe hat sich nichts Wesentliches verändert.
Wir merken die Zunahme der Vorstellungen im ganzen in den Versuchen,
die Abnahme der das Reizwort allein veranschaulichenden Gesichtsvoretellnng
zugunsten der sowohl Reiz- als Reaktionswort umfassenden. Jede Vp. hat
eine erhebliche Anzahl von Vorstellungen. Daß Vp. III so wenige hat, hängt
wohl damit zusammen, daß sie den andern Teil unrichtigerweise Öfters
wie den koordinierten Begriff, d. h. durch den Vermittlungsgedanken an den
Oberbegriff, gefunden, oder sonst das Ganze zu den beiden Teilen als
System von Dingen begrifflich und nicht anschaulich gegenwärtig ge-
habt hat
Bei Vp. II geht bei dieser und bei andern Aufgaben eine Überlegung
der Veränderung der Aufmerksamkeit im Bilde zuweilen voraus, z. B. Baum :
»Bild bloß vom Stamm, nicht vom Blätterdach. Habe mich einen Moment
besonnen: soll mein Blick aufwärts oder abwärts gleiten? Dann schaute ich
herunter und sagte Wurzel.« Sonst ist hier nichts Neues zu konstatieren.
Aus alledem ersehen wir, wie die Beschaffenheit nnd die
Funktion der Vorstellungen von der Aufgabe abhängig
ist Sie können, wie wir gesehen haben, in jeder Gestalt nnd Be-
schaffenheit auftreten, als bloße Begleiter der vorhandenen Reiz-
wörter oder als Ausgangspunkt3) für Reproduktionen, je nach der
Aufgabe. Jedoch scheint, weil die Mehrzahl der Fälle bei diesen
sechs Aufgaben so ist, die Annahme eher der Wahrheit zu ent-
sprechen, daß jede Vorstellung irgendeinen Einfluß auf die Re-
produktion ausübt, sei es als Ausgangspunkt dafür, oder indem sie
die einen oder die andern Reproduktionstendenzen unterstützt
oder hemmt. Man darf auch deshalb, weil die Vorstellungen
irgendeiner Vp. bei irgendeiner beliebigen (oder keiner!) Aufgabe so
1) Pfeife: »Bild von einer langen Pfeife im Hunde; dann Bild von einer
Zigarrenspitze. Beide waren im Munde, aber nicht in demselben Munde.«
2) Lerche: »Bild von einer aufsteigenden Lerche. Als sie in einer gewissen
Höhe war Baumhöhe), sah ich eine Nachtigall auf dem Baume sitzen.
Nachtigall.«
Schwein: Ich sah ein Schwein in einem Stalle. Ich schaute mich im
Stalle um. Dann fand ich kein anderes Tier im Stalle. Neben daran war
ein anderer 8tall, darin eine Kuh.
3) Vgl. Payot, Comme la Sensation devient idee. Rev. Phil. 31. p. 632:
»Cette image elle-merae Tesprit la neglige pour le mot et il ne se sert d'elle
que comme image d'appui, de contrdle«. Das ist etwas zuviel gesagt.
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368 Henry J. Watt,
und so sind, nicht annehmen, daß die Vp. einen besonderen1)
Typus bildet, auch wenn die Wiederholungen derselben Ver-
suche dasselbe Resultat ergeben. Es könnte bei gewissen Auf-
gaben vorkommen (wie auch bei uns einige Male beinahe der Fall
war), daß dieselbe Vp. gar keine Gesichtsvorstellungen hätte, die
später bei andern Aufgaben deren eine Fülle erlebte. Verall-
gemeinernd dürfen wir sagen: Kein sogenannter Typus darf
ohne Beziehung auf die Aufgabe, wie sie auch sein
mag, beschrieben, oder gar aufgestellt werden.
§ 12. Das Urteil im Versuch.
Während des Aussprechens des Reaktionswortes oder danach, oder auch
nach einer falschen Reproduktion vor dem Ende des Versuches tritt leicht ein
Urteil Uber die betreffende Reaktion auf. Das ist die Regel, wenn die Re-
produktion hauptsächlich durch die Stärke der ReproduktionBtendenz selbst,
mehr oder weniger unabhängig von der Aufgabe, bestimmt worden ist. Unter
solchen Fällen kommen natürlich viele falsche Reproduktionen vor. Das
Urteil tritt auch sonst auf, wird aber wenig konstatiert, weil seine Erschei-
nung nicht so sehr vom Charakter des Versuches selbst bedingt ist, nicht so
rasch erfolgt und deshalb gewöhnlich nicht in den Versuch hineingehört.
Wenn aber die Wortreproduktionstendenz sehr stark und aufdringlich ist,
macht sich der vorbereitete Anteil der Aufgabe am Prozeß wieder geltend.
Das kann wie bei Aufg. I und II, den einfacheren, in einem Urteil bestehen :
oder es kann sich so gestalten wie bei Aufg. V, daß der das Reiz- und
Reaktionswort umfassende Oberbegriff auftritt und Befriedigung bzw. Un-
zufriedenheit mit sich bringt; oder es kann sich, wahrscheinlich auf Grund
einer andern im Verlauf des Versuches dagewesenen Reproduktionstendenz2),
eine Bewußtseinslage bilden, daß das Reaktionswort etwas Engeres
Näheres usw. hätte sein können. Natürlich können auch zwischen der Wort-
vorstellung und dem Aussprechen derselben Überlegungen und Urteile auf-
treten.
Bei Vp. III finde ich zwei Gruppen von Versuchen: bei der einen
kommt das ausgesprochene Wort und darauf die Rechtfertigung der Repro-
duktion; bei der andern, bei der die eigene Kraft der von der Aufgabe
erregten Reproduktionstendenzen das Bewußtsein bzw. die kontollierende
Kraft der Aufgabe nicht verdrängt hatte, kommt ein vielleicht der Recht-
1) Du gas, Rev. Fhil. 39. p. 288. Types d'images. 1) Quelques uns
enjolivent et ornent leurs representations. 2) Quelques uns les simplifient,
les reduisent ä un detail expressif et net. Man vergleiche dazu den Unter-
schied zwischen den Vorstellungen der III. und denen der IV. Aufgabe.
Ribot, Rev. Phil. 32. 1891. p. 380. Enquete sur les idees g6ne>ales. >0n
pense le tout (general) au moyen de la partie concretu Solche Charakteri-
sierungen haben ja ihren relativen Wert, aber man muß sehr vorsichtig sein,
wenn man Vorstellungstypcn aufstellen will.
2 Vgl. oben § 7.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
369
fertigung äquivalenter Prozeß zuerst und dann daB auszusprechende oder
ausgesprochene Wort Z. B. Aufg. V : Durst— Pause. Zustand der Sicherheit
und Bewußtsein »was kommt ist ganz sicher bestimmt«. Hunger 868 <r. Oder
wieder: »was ich früher mit Unrecht sagte, kann ich jetzt mit Recht sagen«,
wobei sich die Vp. dieses Etwas noch nicht bewußt war. Es möchte gewagt
scheinen, diesen Prozeß») eine Rechtfertigung vor dem Aussprechen zu
nennen. Er ist aber jedenfalls ein Prozeß, der dieselbe Befriedigung wie
ein auf Grund einer vollendeten Reproduktion gefälltes Urteil bringt
Bei nicht wenigen Versuchen sagt die Vp. im Protokoll, nachdem sie
das Reaktionswort angegeben hat: »ich meinte darunter so und so«. Ich
gebe eine Reihe von Beispielen.
Darunter gemeint:
Kleine Ferien.
Ein Gesamtvorgang, bei
dem man klettert
Duft inklusiv.
Der ganze Apparat.
Elektrische Anlage.
Rumpf (auf Grund einer
Gesichtsvorstellung)
Teil der Zeit.
Rechtfertigung gelingt
nicht
Begriffserweiterung als
Rechtfertigung.
Der ganze Eisenbahn-
betrieb.
Alles, was darauf und
darunter ist
In den letzteren Fällen sehen wir, wie eine starke Reproduktionstendenz,
z. B. Stunde, Tag. das Wort geliefert hat, dessen Sinn in einer Weise auf-
gefaßt wurde, die der Aufgabe entsprach. Ich habe zufälligerweise zwei sehr
lehrreiche Versuche von Vp. I. Ich wiederholte einige Versuche, bei denen
ich das erstemal wegen Störung des Apparats keine Zeitmessung bekam,
einige Monate, nachdem ich die betreffende Aufgabe mit der Vp. durchgeführt
hatte. Ich gebe von der Vp. zuerst den betreffenden Versuch und dann
seine spätere Wiederholung.
Aufg. 1U, 1. Dezember 1902:
Maul — Mund. Als Mundhöhle gemeint, Maul als die Öffnung.
Aufg. III, ö. März 1903:
Maul — Mund. Ich meinte Gesicht. Das war ein einfaches Ver-
sprechen. 1262 er.
Hier sehen wir deutlich, wie eine vorliegende und als stärker anzunehmende
Reproduktionstendenz sich gegen die Absicht und das Bedeutungsbewußtsein
1) Vgl. Claparede. L'assoc. des idees. p. 229. »On sent deja dans
quelle direction se fera la r6ponse«. Auf Grund davon sagt er: »le senti-
ment de la relation precede l'induit et est evoquö lui-meme par Tinducteur.
Cette forme est assez delicate ä apercevoir: peut-etre möme sa realite de-
iuande-t-elle ä ötre confirm6e«.
Archiv flkr Psychologie. IV. 24
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Aufg. III
Vp. I
Aufg. IV
Vp. III
Aufg. III
Vp. IH
Reizwort:
Ferien
Stange
Reaktionswort :
Monat
Klettern
Duft
Spritze
Draht
Genick
Gerüche
Feuerspritze
Leitung
Kopf
( Fahrt
Welt
Stunde (der Fahrt)
Tag
Theater
Schauspieler
( Schaffner
Eisenbahn
1 Brücke
Fluß
370
Henry J. Watt,
der Vp. aufgedrängt hat Wie vorsichtig müssen wir dann sein, wenn wir
die Aussage einer Vp. für die Erklärung irgendeiner Erscheinung nehmen.
In den meisten der angegebenen Fälle entspricht das Reaktionswort bis zu
einem gewissen Grade dem gewollten Sinn und wird als solches, angenommen
und ausgesprochen : bei andern kommt das Wort zuerst, und sein Sinn wird
so aufgefaßt, daß die Aufgabe, wenn irgend möglich, befriedigt wird.
In allen Fällen ist es nur eine Sache des Grades. Unter dem Begriff Sinne
können wir also wohl nur die Richtung der stärksten oder später am passendste»
gefundenen Tendenz und besondere etwa darin enthaltener Vorstellungen ver-
stehen. Aus unserer Betrachtung der B- und C- Fälle ergibt sich ohne weiteres,
wie es einen Widerspruch zwischen dem Reproduzierten und dem gewollten
Sinne geben kann, wenn das Vorhandensein einer Mehrheit von Reproduktions-
tendenzen nur dunkel und ungenau zum Bewußtsein kommt. Wenn die
Reaktion mit dem gewollten Sinne Übereinstimmt, muß er von einem Gliede
der Richtung vertreten werden. Ich verweise hier zurück auf das häußg
von Vp. III konstatierte Bewußtsein des Kommenden und auf die B- Versuche
von Vp. I, bei denen sie z. B. konstatierte, daß sie nach etwas anderem
»etwa so und so« suchte. Die Fälle lassen sich kaum anders erklären als
dadurch, daß eine Reproduktionstondenz als solche erkennbar
ist, bevor das zu Reproduzierende vorhanden ist. Aus dem
Protokoll können wir nicht bestimmen, wie dieses Erkennen ist Wenn das
Bewußtsein »ich weiß, was kommt« zum Teil aus Wortvorstellungen besteht,
machen diese Wortvorstellungen das Bewußtsein des spezielleren noch
Kommenden sicher nicht aus. Wenn z. B. die Wortvorstellungen »weiß«
oder »sicher« dagewesen wären, wurden sie ein Bewußtsein der Sicherheit
feststellen, aber ohne Verhältnis zu dem, worüber man sicher war. Ein Ge-
fühl ist es wohl auch nicht, weil keines konstatiert wird. Wir müßten denn
annehmen, daß es mehr Teile im Verlauf einer Reaktion gibt, als die,
die wir mit Az, A$ hervorgehoben haben, weil jedesmal doch ein anderes
Kommendes bewußt und gemeint wird.
In vielen Fällen also wird das Gesuchte tatsächlich U-Fälle z. B.) repro-
duziert, in andern wird ein anderes (B- Fälle z. B.) vom Gesuchten als ver-
schieden Erkanntes reproduziert, und bei noch andern wird etwas reproduziert,
das bis zu seinem Auftreten und nachher vielleicht als Vertreter des Gemeinten
gilt. Es scheint auch zweifellos zu sein, was aus dem Versuch Maul— Mund
und andern hervorgeht, daß innerhalb gewisser Grenzen gewisse Reproduktions-
tendenzen in den ersten Stadien ihres Auftretens einander gleich, mit an-
dern Worten in ihrer Besonderheit nicht erkennbar sind.
§ 13. Verschiedenes.
1) Geläufige Wortverbindung.
Wie oben bei der Besprechung der Form A7 auseinandergesetzt
wurde, spielte der Einfluß geläufiger Wortverbindungen bei den
Versuchen eine ziemlich große Rolle. Jedoch läßt er sich nicht
überall feststellen, weil die Vp. selbst nicht immer ganz oder doch
wenigstens einigermaßen sicher war, ob ein solcher Einfluß
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 371
zu konstatieren war. Wir selbst dürfen es nicht unter-
nehmen, nach der bloßen Beschaffenheit der Reiz- und Reaktions-
wörter festzustellen, wo er vorhanden war und wo nicht. Es gibt
manche Fälle, die äußerlich entschieden das Gepräge einer Wort-
ergänzung oder Wortverbindung tragen, die aber psychologisch
gar keine solchen sind: z. B. Aufg. II Theorie-Lichttheorie, See-
Nordsee (mit Hilfe einer Gesichtsvorstellung gefunden), Stuhl-Bein,
Nuß-Kern, Wagen-Rad. Bei der einen Vp. können solche Fälle
durch die Wortverbindung bestimmt sein und bei den andern
nicht. Wo es also zweifelhaft ist, dürfen wir nicht entscheiden.
Bei Aufg. VI, Vp. III, habe ich eine Reihe von zwölf Wortver-
binduogen erhalten, die eine durchschnittliche Dauer von Ma 957,
Mc 997 geben, während die durchschnittliche Dauer für die ganze
Aufgabe Mc 1143, Ma 1446 a ist. Wir dürfen deshalb annehmen,
daß der Einfluß von Wortverbindungen, wo er frei spielen kann,
d. h. keine bestimmte Vorstellungsmechanik durchzumachen oder
keine andern Tendenzen zu überwinden hat, die Reaktionsdauer
entschieden verkürzt.
Dasselbe zeigen uns die Kriterien des Einflusses von Wort-
verbindungen bei den Vp. Solche sind: die Erleichterung, die
eine schon auf das in der Wortverbindung vorhandene Wort ge-
richtete Reproduktionstendenz erfährt; die allgemein gefühlte Er-
leichterung der Reproduktionen; daß die Beziehungen zwischen
Heiz- und Reaktionswort nicht im Bewußtsein waren; daß die
Aufmerksamkeit sich auf etwas anderes im Bilde als auf das
vom Reaktionswort Bezeichnete gerichtet hatte ; daß das Reaktions-
wort sich ans Reizwort wie verbunden anschloß, z. B. Tag —
Nacht; daß das Reaktionswort sich aufdrängte; daß das Reprodu-
zierte sich gar nicht rechtfertigen läßt. Eine Vp. sagte gelegentlich,
sie wisse , daß das Wort so rasch gekommen sei , weil eine ge-
läufige Verbindung bestehe. Natürlich kommt cb auch vor, daß das
Gepräge der Redewendung unverkennbar ist, z. B. Motte und
Kost Die Vp. wird nach und nach geübter im Erkennen dessen,
wodurch das Wort herbeigerufen wurde. Eine Vp. konstatierte
eines Tages, daß ihr erst jetzt der Unterschied zwischen Be-
rlihnmgsassoziationen und anderweitigen Reproduktionen ein-
gefallen sei: er läge darin, daß jene gleich nach dem Reiz auf-
tauchen, während diesen eine Pause, die durch ein Besinnen oder
eine Frage ausgefüllt sei, vorausgehe.
24*
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372
Henry J. Watt,
2) Vermittlungen.
-
a. Klangähnlichkeit.
Reproduktionen nach Klangähnlichkeit sind nicht häufig bei unsern
Versuchen, wie nach der Beschaffenheit der Aufgaben zu erwarten ist. Je-
doch kommen sie in vereinzelten Fällen vor: z. B. Vp. III Photograph— Tele-
graph $89 a) , eine falsche Antwort, die die Vp. gemacht hat, ohne den Sinn
des Reizwortes, ob es Mensch oder Apparat bezeichnete, aufzufassen. Bei
andern, Dachs — Fuchs (831 <r), Duft — Luft, wirkte die Klangähnlichkeit nur
als Beihilfe. Die Zeiten für diese Reproduktionen sind sehr kurz, weil die Vor-
stellungen eigentlich ohne weiteres ineinander übergehen. Wir sehen uns
aber nicht veranlaßt, dies irgendwie als eine Assoziationsgruppe zu be-
trachten. Die Reproduktion wird erleichtert, weil die Wörter vieles gemein-
sam haben, und durch das Apperzipieren und vielleicht schon Artikulieren
des einen viel für das andere vorbereitet wird.
b. Kontrast.
Wie zu erwarten war, haben unsere Aufgaben keinen besonderen Anlaß
zu Reproduktionen von Begriffen geboten, welche zum Reizwort im Ver-
hältnis des Kontrastes stehen. In der fünften Aufgabe aber kommen ver-
schiedene Fällo vor, die zunächst äußerlich, d. h. nach dem bloßen Verhältnis
des Reizwortes und des Reaktionswortes zueinander, als Beispiele von »Kon-
tra8tas8oziationen< aufgefaßt werden konnten, und an ihrer Hand milchte
ich die Frage nach der Existenz und dem Wesen einer Assoziation durch
Kontrast behandeln. Ich habe eine Reihe solcher Fälle zusammengestellt
mit den Reiz- und Reaktionswörtern der verschiedenen Vp. und jeder für
diese Frage wesentlichen Vermittlung, wo es eine solche gegeben hat.
Ich entschuldige mich nicht wegen der Auswahl oder, wenn ja, nur damit,
daß sie eben eine dem äußeren Anscheine nach gemachte Auswahl ist, wie
bei Versuchen aus früherer Zeit, bei denen kein Protokoll aufgenommen
wurde oder bei denen die Vp. selbst erst nach längerer Zeit, Monaten, Jahren,
zu entscheiden hatte, welcher Art eine Reproduktion war, ob Subsumtion,
Kontrast, Wortergänzung, aus der Jugend und dergleichen mehr.
Aus der Tabelle XXVII ergibt sich, daß die Vermittlung ein die beiden
Wörter zusammenfassender Oberbegriff, eine nicht näher analysierbare Bewußt-
seinslage, eine Gesichtsvorstellung oder ähnliches gewesen sein kann. In den
übrigen Fällen ist keine Vermittlung konstatiert oder vorhanden. Für unsere
Frage kommt der Oberbegriff als Vermittlung nicht in Betracht, wie gegen-
sätzlich auch die Wörter zueinander sein mögen, z.B. Nacht —Tag. So auch
die Aufzählung violer möglicher Begriffe und Bewußtseinslagen. Das Be-
wußtsein des Gegensatzes kann nicht im ganzen dasselbe sein, wie das Be-
wußtsein des logischen Kontrastes zwischen zwei IJegriffen, weil der zweite
Begriff in bewußter Form in jenem Falle noch nicht daist. Es ist auch
nicht bloß die Verkündigung der sich regenden Reproduktionen, wie bei dem
»ich weiß, was kommt« , weil es vor demselben und ohne dasselbe erlebt
werden kann. Es scheint vielmehr, daß daB Reizwort mit einem Bewußtsein
des Kontrastverbältnisses assoziiert ist, und daß aus beiden eine bestimmte
Richtung, eventuell ein Bewußtsein derselben (s. den Fall Kind Vp. III in
der Tabelle; entsteht. Insofern ist der Prozeß in seiner Wirkung dem der
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Experimentelle Beiträge zn einer Theorie des Denkens. 373
Tabelle XXVII.
Die Assoziation durch Kontrast.
Reizwort
Vp.I
vP.n
vp. m
Vp. VI
Brauerei
Verna.
Weinberg
Kelterei
Oberbegriff
Weinhandel
Eigentüml. Be-
wußtseinzustand
Demokrat
Venn.
Aristokrat
Oberbegriff
Aristokrat
Aufzähl. v.Wört.
Eifer
Venn.
Faulheit
Fleiß
Venn.
| Faulheit
Bild eines Zensurbogens, auf
Note 4 nebeinander stehen
dem Fleiß und
Faulheit
Ohne weiteres
Fremde
Venn.
Oberbegriff
Einheimische
Heimat. 1024 a
Ohne Weiteres
Heimat rgatzeg
Bewßts.d.Gegen-
Geheimnis
V«».
Offenbarung
Bewußtsein des (
3egensatzes:etwi
18 Offenes finden.
Gennß
Venn.
Ungenuß
Fand nichts, da
an Ungenuß
M
Venn.
Vater
Oberbegriff
Vater. 778 a
Greis finden'
Das and. Extrem
Kunst
Venn.
Wissenschaft
Oberbegriff
Wissenschaft
Wissenschaft
Ein Bewußtsein
d. Zugehörigkeit
Wissenschaft
Ohne weiteres
Nacht
Venn.
Tag
Oberbegriff
Tag. 704 a
Tag [Kontrastes
Bewußtsein des
Tag
Ohne weiteres
Oberst
Venn.
Unterst j
Bild einer Leiter. Zwei Enden
Prosa
Verna.
Poesie
Oberbegriff
Poesie
Schwanz
Venn.
Kopf
Oberbegriff
Kopf
An einem Bilde
gefunden
Kopf
Bild. Nicht der
einzige Grund
Schwester
Venn.
Bruder
Oberbegriff
Bruder. 659 a
Bruder
Unwillkürlich
Venn. = Vermittlung zwischen Reiz- und Reaktionswort.
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374
Henry J. Watt,
Wiederholung der Aufgabe ähnlich. Hierher wäre der Fall von Vp. II, Ge-
nuß—Ungenuß, zu zählen, allein dieses Bewußtsein des Kontrastverhältnisses
und seiner Bildung durch »un< ist sehr spät nach dem Reizworte reprodu-
ziert worden. An einer Gesichtevorstellung kann das angeblich Gegensätzliche
gefunden werden, indem der Blick sich nach dem entsprechenden Teil bewegt
Es gibt aber viele Fälle, -bei denen man nichts Erklärendes vorfindet. Was
sollen wir von diesen sagen? Wenn eine Assoziation durch Kontrast wirk-
lich besteht, so wären solche Fälle gerade die gewünschten, die zu erwar-
tenden. Das bringt uns auf die Hauptschwierigkeit: Wenn es eine
wirkliche Assoziation durch Kontrast gibt, kann sie nur als solche die Re-
produktion einleiten, nicht durch ein Bewußtsein des Kontrastverhältnieses
Wir könnten ja ein Bewußtsein einer Bestimmtheit im Auftauchenden und
ein Bewußtsein, daß das, was kommt, im Verhältnis des Kontrastes mit dem
Reizwort steht, verstehen (vgl. oben : ich weiß, daß das, was kommt, richtig
ist). Das ist aber etwas ganz anderes als der Gedanke an das Konstrast-
verhältnis im allgemeinen. Der Gedanke an die Richtigkeit der Reproduktion
kann nicht die richtige Reproduktion hervorrufen. Dann steht der Gedanke
an das Kontrastverhältnis auf derselben Stufe mit einer Reproduktion des
übergeordneten Begriffes, wie in dem Versuch : Nacht. Ein zu etwas im Ver-
hältnis des Kontrastes stehender Begriff: Tag.
Was wäre aber zu erwarten, wenn Kontrast eine »Assoziation« zwischen
Bewußtseinsinhalten wäre? Sie müßte zunächst beschleunigend auf die Re-
produktion wirken, und es bliebe dies experimentell festzustellen. Aber wie ?
Soll man gleich geläufige Wörter geben und eine größere Geschwindigkeit
der Kontrastreproduktion zu bestätigen suchen? Die Bedingungen zu solchen
Versuchen sind undenkbar, weil jede konstatierte Zunahme der Reproduk-
tionsgeschwindigkeit mit vollem Recht einer bestehenden größeren Geläufig-
keit zugerechnet würde. Es ließe sich aber vielleicht feststellen, daß tat-
sächlich gleich geläufige Reproduktionen fester sind, wenn sie zugleich
Kontrastassoziationen enthalten, oder daß solche jüngere Tendenzen ebenso
fest Bind wie ältere, usw. Dann müßte sich ergeben, daß das Verhältnis des
Grades der Festigkeit einer Normalreproduktion zu dem einer Vergleichs-
reproduktion kleiner ist, als das Verhältnis ihrer Reproduktionsgeschwindig-
keiten. Nur so könnte man zeigen, daß Kontrast wirklich assoziierend wirkt
und nicht selbst bloß ein Reproduzierendes und Reproduziertes ist. Die
Schwierigkeiten, die man bei solchen Versuchen zu beseitigen hätte, sind
zahllos, z. B. die Ausgleichung der Werte der andern mit dem Kontrast
vorhandenen »Assoziationen« usw. Es müßte auch, wenn es eine Assoziation
durch Kontrast gibt, möglich sein, eine Assoziation zwischen Bewußtseins-
inbalten zu konstatieren, die noch nie zusammen im Bewußtsein gewesen
sind.
So geht alles teils in die Reproduktionstendenz und teils in das Problem
der Perzeption oder die Entstehung von Reproduktionstendenzen über. Tag
und Nacht z. B. folgen als Erlebnisse aufeinander so oft, bis ein Bewußtsein
des Kontrastes zwischen ihnen entsteht. Durch Ausfall von Gliedern in dem
Verlauf der Reproduktion, was wir bestätigen können, wird ein Bewußtsein
des Kontrastverhältnisses mit Tag assoziiert und die Reproduktion von Nacht
bestimmt. Endlich fällt auch dieses Mittelglied aus, und Tag— Nacht wird
eine geläufige Reproduktionstendenz.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des DenkenB. 375
Gewöhnlich wird die Assoziation durch Kontrast für eine Asso-
ziation durch Ähnlichkeit gehalten1). Wenn aber diese Asso-
ziation durch Ähnlichkeit ein etwaiges Bewußtsein der Ähnlichkeit m
als Mittelglied enthält, so gilt dafilr das eben Gesagte. Z. B. Vp. III :
Krücke. »Diesmal ein Ähnlichkeitsbewußtsein da. Es gibt noch
so etwas ähnliches wie Krücke. Stelze.« Wirkliche Fälle einer
Ahnlichkeitsassoziation finde ich kaum unter den Versuchen.
Aufg. V, Vp. III: Motte. »Die äußere Ähnlichkeit des ums Licht
Schwirrens. Fliege« — bietet keine Schwierigkeit. Es ist eben
eine Reproduktion mittels eines Ubergeordneten Begriffes. Vgl. Vp. I:
>Ich habe das Wort Malve (Reizwort) nicht innerlich ausgesprochen.
Es war mir, als wenn Möwe da war. Ich war mir bewußt, daß
das falsch war. Vogel.« 1064 a. Vp. I: Tafel. »Ich habe heute das
Wort table gesehen und übersetzt und dies hat Tisch reprodu-
ziert.« 971 o.
Der folgende Versuch bietet etwas mehr. Aufg. V, Vp. I:
Tulpe. »Mohn als Bestandteile eines Blumenbeetes. Eigentümlich
ist es, daß ich auf Mohn kam. Es drängten sich viele Vorstellungen
vor. Ein gewisses undeutliches Bild einer Tulpenblttte war vor-
banden. Das verschwommene Bild der Tulpenblttte hat als
solches Mohn reproduziert.« Hier hat wohl das Wort Tulpe in
Verbindung mit der Aufgabe Anlaß zu der Reproduktion der ver-
schwommenen Gesichtsvorstellung gegeben, die ihrerseits Mohn
reproduziert hat. Eine dunkle Gesichtsvorstellung kann auch als
übergeordneter Begriff gelten oder eine ähnliche Rolle spielen.
Man wendet gewöhnlich dagegen ein, daß Vorstellungen doch
immer etwas Bestimmtes sind und gar nichts Allgemeines an sich
haben, daß wir eine allgemeine Vorstellung, z. B. eines Hundes,
unmöglich haben können. Wir haben aber schon gesehen [§ 11],
daß wir die Existenz eines Allgemeinen an den Vorstellungen
nicht ableugnen dürfen. Es ist also verständlich, daß eine solche
Vorstellung zwei voneinander verschiedene, schon mit ihr assoziierte
Wortvorstellungen reproduzieren könnte, bzw. von der einen re-
produziert werden und die andere alsdann reproduzieren könnte.
1) Max Offner, Die Grandformen der Vorstellungsverbindungen.
Phil. Monatshefte. Bd. 28. 1892. S. 613 ff. B. Bourdon, Les Resultats deB
Theories contemporaines sur l'association des idees. Rev. Phil. Tome 31.
1891. p. 681.
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376
Henry J. Watt,
c. Geföhlsvermittlung.
Unter den Versuchen finde ich drei Fülle, bei denen eine Gefühlsvermitt-
lung vorhanden zu sein scheint.
Aufg. V. Vp. VI. Geheimnis. Bewußtheit der Aufgabe. Eigentümlicher
Zustand. Es ist mir komisch vorgekommen. Es war ein Zustand der Über-
raschung, weil statt eines konkreten Begriffes der Begriff Geheimnis auf-
getaucht ist (d. h. als Reizwort). Aus diesem Zustand heraus ist das Wort
»Nein« zu erklären, was ich unwillkürlich aussprach. 1763 a.
Aufg. V. Vp. III. Dutzend. Der Eindruck des Komischen durch eine
Erinnerung, die »zwei Dutzend« herbeiführte. Zwei ausgesprochen. Hier
zum ersten Male bin ich feBt Überzeugt, daß etwas Gefühlartiges die Asso-
ziation vermittelt hat. 1301 o.
Aufg. VI. Vp. III. Kartoffel. Schwierigkeit in der Ergänzung, als wenn
nichts Schönes einfallen würde. Dann »doch«, und Hering war da. Hier ein
stimmungsmäßiges Koordinierendes. Kartoffel nicht als Kraut, sondern als
Gericht, als wenn man sich einer gewissen Ärmlichkeit gegenüber befindet
1479 <r.
Es liegen hier zu wenige Beispiele vor, als daß wir uns eine Be-
sprechung der Möglichkeit oder des Wesens einer Gefühlsvermittlung er-
lauben könnten. Der erste Versuch ist der reinste, weil in den zwei
andern Bewußtseinslagen vorhanden sind. Die kleine Zahl solcher Ver-
mittlungen läßt sich ja aus dem Charakter unserer Anfgaben und der arbeits-
mäßigen Natur solcher Experimente im allgemeinen erklären. Aber eine
Assoziation kann das Gefühl wohl kaum sein. Es könnte einen Teil des
Reizes bilden oder selbst ein Glied einer Reihe von Reproduktionen sein
und so zum Reaktionswort Uberführen.
d. Ohne Vermittlung.
Endlich kann ein Bewußtseinsinhalt ohne irgendeine oder ohne eine
bemerkte Verroittelung auftreten. Vgl. den Versuch Rembrandt — Uhde oben
(S. 326). Bei der Behandlung der Formen B und C haben wir gezeigt, daß
eine von einem gegebenen Reiz erweckte Reproduktionstendenz sich erat
ziemlich viel später verwirklichen kann, so daß sie sich mehr oder minder
in den Strom der bewußten Erlebnisse eindrängt. Es läßt sich denken, daß
dies sich zeitlich weit ausdehnen könnte. Als Grenzbegriff bildet es vielleicht
die sogenannte freisteigende Reproduktion. Je weiter eine reproduzierte
Vorstellung von der reproduzierenden zeitlich entfernt läge, um so mehr
würde es scheinen, daß sie von selbst in das Bewußtsein gekommen
wäre.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
877
§ 14. Die einzelnen Aufgaben.
1) Die erste and die zweite Aufgabe: einen übergeordneten
bzw. untergeordneten Begriff zu finden.
Tabelle XXVIH
Die Durchschnittszeiten der Reaktionen jeder Aufgabe.
Aufgabe I
Aufgabe II
Vp. I
Vp. II
Vp. III
Vp. 1
Vp. II
Vp. III
Me
Ma
ir 1
in. v .
1414 79
1720
619
1431 74
1818
799
1157 63
1486
625
1782 92
1857
569
1732 79
2261
1081
1225 51
1508
534
In Übereinstimmung mit der Tabelle konstatieren die drei Vp.,
natürlich ohne zu wissen, wie die Reaktionszeiten waren, von
selbst eine größere Leichtigkeit bei der ersten Auf-
gabe1). Vp. I: »Untergeordnete Begriffe werden nngerne gesucht«.
Vp. II: »Untergeordnete Begriffe sind schwerer zn finden.« Vp. HI:
»Übergeordnete Begriffe sind leichter zu finden.«
Aus der Tabelle sehen wir noch, daß die mittleren Variationen
bei Vp. I und III kleiner sind für die zweite als für die erste
Aufgabe; daß also die Reaktionszeiten größere Verschiedenheit
untereinander bei der zweiten Aufgabe zeigen, darf man nicht
als den Grund der mittleren Verlängerung der Reaktionszeit dieser
Aufgabe annehmen. Die Zeiten sind verlängert worden, aber sie
sind in ihre Zeitgrenzen mehr in der zweiten, als in der ersten
Aufgabe eingeschränkt. Auch sehen wir, daß die Mittelwerte über-
all kürzer sind in der ersten Aufgabe. Die kürzesten Zeiten sind
bei der zweiten Aufgabe um 100 a höher als die kürzesten der
1) Vgl. Cattell, Psychometrische Untersuchungen. Teil III. Wundts
Studien, Bd. IV, S. 249. »Die schwierigsten Assoziationen scheinen die zn
sein, wo zum Klassenbegriff ein Beispiel und wo zum Verbum ein Subjekt
zn suchen ist.«
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378
Henry J. Watt.
andern Aufgabe, nnd die Anzahl der falschen Fälle im allgemeinen
nimmt bei der zweiten ziemlich stark zu:
Aufgabe I
Aufgabe II
Vp.I
* R. % F.
94 : 6
96 : 4
Vp. II
* R. X F.
88 : 12
79 : 21
Vp. III
fi R. % F.
74 : 26
47 : 53
Das alles wird auch in den Versuchen vom Sommersemester von
den Vp. konstatiert und objektiv bestätigt.
Tabelle XXIX.
Die Durchschnittszeiten der Reaktionen jeder Aufgabe nach den
Versuchen des Sommersemesters.
Aufgabe I
Aufgabe II
Vp. I
Vp. II
Vp. IV
Vp. I
Vp. II
Vp. IV
Mc
1097 77
1087 44
2295 96
1857 41
1290 30
2733 59
Ma
1400
1150
2532
1916
1401
2731
m.V.
414
244
778
474
670
676
Vp. IV sagt: »Die Gattungsbegriffe sind viel leichter zu finden.
Man braucht sich nur an eine Definition zu halten, z. B. Schreiner
— ist ein Holzarbeiter. « Vp. I sagt, daß sie den Eindruck habe, das
Suchen sei ein anderes bei der zweiten, als bei der ersten Aufgabe.
Dort wäre es eine Hemmung. Was die Grenzen der mittleren Variation
betrifft, so sieht man, daß sie hier bei der zweiten Aufgabe weiter
sind, nur bei der Vp. IV sind sie enger. Die auffallend große
Anzahl falscher Fälle ist wohl dadurch zu erklären, daß die Reiz*
Wörter nicht sehr geeignet und oft sehr schwierig waren.
Den Grund dieser festgestellten Verlängerung der
Reaktionszeit bei der zweiten Aufgabe haben wir wohl darin zu
suchen, daß die erste Aufgabe durch eine gewöhnlich eindeutig
bestimmte Reproduktion rasch erledigt wird, während die zweite
eine Menge von Reproduktionen1} erregt, die sich alsbald in der
1 Vgl. Trautscholdt, a. a. 0., S. 249: »In anderen Fällen wird man
eich des Aufsteigens mehrerer assoziierter Vorstellungen klar bewußt und
muß erst eine derselben als Urteilsprädikat auswählen« Müller und
Pilzecker, a. a. 0., S. 166: »Eine nicht unwesentliche Rolle dürfte die
effektuelle Hemmung bei denjenigen Assoziationsreaktionen spielen, wo die
Vp. ein Wort oder Wortaggregat eine Frage) zugerufen erhält, für welches
das Reaktionswort (die Antwort) nicht eindeutig bestimmt ist«. Dagegen
MUnsterberg, a. a. 0., 8. 94 ff.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 379
oben gezeigten Weise zu der Reaktion bestimmen milssen. Wir
haben ja gesehen, daß eine Yp. bei der zweiten Aufgabe eine
Reihe von Fällen konstatiert bat, bei denen eine Fülle von Re-
produktionatendenzen oder von »Vorstellungen« vorhanden war,
die sie nicht näher beschreiben konnte. Gegen diese Auffassung
ist der schwere Einwand zu erheben, daß wir keine Vermehrung
der B- und C-Fälle im Verhältnis zu den .4-Fällen in unsern Ta-
bellen haben feststellen können. Wir müssen deshalb die Fälle
einer Fülle von Reproduktionstendenzen als eine dieser Aufgabe
eigentümliche Klasse ansehen. Aber die von uns festgestellten
Eigenschaften dieser Aufgabe, z. B. die Länge der Reaktionszeit,
beruhen nicht darauf, weil ja die Mehrzahl der Versuche keine
Menge Bich aufdrängender Vorstellungen konstatieren läßt, und
weil gerade derjenige Grund1) fehlt, der uns erlaubt hätte, der-
artiges anzunehmen. Unsern früheren Erörterungen gemäß können
wir nur bestätigen, daß diese Aufgabe nicht denselben Einfluß
auf die Geschwindigkeit der Reaktion hat, wie Aufg. I. Eine Er-
klärung dafür könnten wir darin vermuten, daß wegen des selteneren
Gebrauchs dieser Aufgabe der Grad der Zeitersparnis für die Re-
produktionen, den man bei ihr annehmen könnte, nicht so groß ist.
Tabelle XXX.
Die Form des Reaktionswortes bei der zweiten Aufgabe.
Form
Vp. I
Vp. II
Vp. III
X - Reizwort
39 %
30 %
23 %
Adj. + Subst.
5
4
0
Richtige Fälle
X ;Reizwort)
8
1
0
Adj. (Reizwort;
9
0
1
Einfaches Wort
34
44
24.5
X - Reizwort
0
2
1
Einfaches Wort
5
12
29,5
Falsche Fälle <
Aufgegeben
0
6
15
Sinnlos
o
0
5
Sonst
0
1
1
X- Reizwort bedeutet, daß das Reaktionswort ein zusammengesetztes
Wort war, in dem das Reizwort ein Element bildete. Wenn das Reizwort
in Klammern steht, wird damit angedeutet, daß es nicht ausgesprochen wurde.
1) Vgl. die Erörterungen von Müller und Pilzecker Uber ihre Treffer-
metkode und den verschiedenen Rechnungswert von Uber- und unterwerfen
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380
llenry J. Watt,
Die Tabelle XXX zeigt, wie häufig die verschiedenen obener-
wähnten Formen des Reaktion» Wortes vorkamen. Wir sehen, daß
die Verhältnisse bei den richtigen Fällen von Vp. zu Vp. ziemlich
konstant sind. Auffallend ist auch, daß das einfache Wort ver-
hältnismäßig viel häufiger unter den falschen, als unter den rich-
tigen Fällen vorkommt Wenn es aber schwierig ist, ein einfaches
Reaktionswort zu finden, was wir daraus schließen können, daß
die Vp. so oft nach einer schematischen Methode greift, so ist ee
fast selbstverständlich, daß das einfache Wort häufiger Fehler mit
Bich bringt. Es sind das die sich aufdrängenden Reproduktionen,
und die typische Form der Reaktion ist ein Wort, hier gewöhnlich
ein Substantiv. Nichtbeachtung von Schwierigkeiten verursacht
naturlich auch Fehler.
Tabelle XXXI.
Die Dauer der entsprechenden Reaktionen.
Die Form
des Reaktionswortes
Vp. I
Vp. II
Vp. 1
III
Mc
Ma
Mc
Ma
Mc
Ma
X- Reizwort
1738
17fiö
1716
2241
1115
1312
Adj. Subst.
2449
23Ö7
1360
2069
X (Reizwort)
! 2181
2888
1940
2745
Adj. (Reizwort)
; 1590
1528
977
977
Einfache» Wort
1479
1597
1820
2073
1266
1679
Tabelle XXXI zeigt, wie die Zeiten sich bei den verschiedenen
Formen des Reaktionswortes verhalten. Daß Vp. III den andern
zweien gegenüber eine Verlängerung der Zeit bei dem einfachen
Wort hat, hängt wohl damit zusammen, daß sie Zusammensetzung
immer vermeiden wollte und Anstoß daran uahm, so daß B- und
C- Fälle, bei denen die erste Tendenz nach einem zusammen-
gesetzten Reaktionsworte ging, ziemlich häufig unter dieser Rubrik,
nämlich der der einfachen Wörter, vorkamen. Auch gibt es unter
Reproduktionstendenzen a. a. 0., S. 34 ff.). Unsere zweite Aufgabe im Gegen-
satz zu der ersten wäre dafür ein gutes Beispiel. B- und C- Fälle wären
dann die Überwertigen Reproduktionen, die Fälle der Fülle von Repro-
duktionstendenzen die unterwertigen. Wenn die Eigenart der zweiten Auf-
gabe auf der Menge der vorhandenen Tendenzen beruht, sollten wir eine
große Vermehrung der J3- und C- Fälle gegenüber den ^-Fällen erwarten.
Diese finden wir aber nicht.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 381
den einfachen Reizwörtern ziemlich viele der Form Aiy was bei
der Vp. II auch der Fall ist. Den assoziativ gebundenen Anhalts-
punkt für Reproduktionen bilden ja in häufig Gruppen von
Wortvorstellungen , die ein einfaches Wort leicht liefern. Die
^43-Form (Gesichtsvorstellung) begünstigt die Reproduktion von
einfachen Wörtern in keinem merklichen Grade. Es ist, wie bei
den andern zwei Vp., bei Vp. III natürlich, daß der Fall, bei
welchem ein Notbehelf angewandt wurde, länger dauert. Eine
vollkommene Regelmäßigkeit können wir jedoch hier nicht erwarten.
Viele zusammengesetzte Wörter werden ja als einfache reprodu-
ziert. Immerhin ist das Resultat, vielleicht gerade in seiner Un-
regelmäßigkeit, nicht ohne Wert.
Die Fehler bei diesen Aufgaben.
In der ersten Aufgabe, in der wir wenige Fehler finden, sind
sie meistens auf zufällige Störungen zurückzufahren , wie die nach-
wirkende Einstellung auf die frühere Aufgabe, die eigene Stärke
irgendeiner Reproduktionstendenz, die ablenkende Kraft einer
Gesichtsvorstellung usw. In einigen Fällen hat Vp. III wegen des
hemmenden Einflusses einer in Bereitschaft liegenden, aber nicht
passenden Reproduktion, wegen allgemeiner Hemmung oder Mangel
an Reproduktionstendenz einen Versuch mit einer mehr oder
minder sinnlosen Reaktion beendet. Gelegentlich spricht die Vp.
das Reizwort selbst aus. Das ist aber nicht immer als eine
Reproduktion des Wortes durch das Wort selbst zu betrachten1).
Z. B. »Hagel. Wollte etwas sagen. Hatte ein Bewußtsein von Ahn-
lichkeitsbeziehungen zu andern Dingen. Habe dann ein Wort
im Kopf gehabt, daß das Allgemeine in Hagel wiedergab. Habe
aber Hagel ausgesprochen.« Dies ist wohl durch die motorische
Tendenz der Vorstellung selbst und durch die ablenkende Kraft von
unpassenden und unklaren Vorstellungen zu erklären. Vergleiche man
damit das oben konstatierte innerliche Aussprechen des Reizwortes
gleich nach seiner Erscheinung. Dagegen: >Sorge. Wortvorstellung
1, Vgl. Van der Plaats, Vrije Woordassociatic, S. 44, wo er gegen
Abc haffenburgs Gruppe von >sinnlosen Assoziationen« argumentiert.
>Eine Wiederholung des Reizwortes kann nicht als Assoziation aufgefaßt
werden. Viele sprechen doch daa Reizwort innerlich oder laut aus, bevor
sie die Assoziation selbst aussprechen. Fällt ihnen nun eine Assoziation
nicht gleich ein. so wiederholen sie eben das Reizwort.«
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882
Henry J. Watt,
, Gemütsbewegung * mit dem Bewußtsein, daß es richtig wir.
Sorge aber unwillkürlich ausgesprochen. Sorge hat eine Er-
innerung an den Roman von Sudermann aufgerufen. Es hängt
damit zusammen, daß ich Sorge ausgesprochen habe. < Hier haben
wir es mit einer wirklichen Reproduktion zu tun.
In der zweiten Aufgabe kommen neben den schon für die erste
erwähnten Gründen ftir fehlerhafte Reaktionen noch folgende vor:
bei Vp. II einige Fälle, bei denen die Vp. als untergeordneten
Begriff die Antwort auf die Frage » woraus ?* angab. Fahne—
Tuch, Torte — Teig, und dergleichen mehr- Bei ihr finden wir
auch sechs Fälle, bei denen sich keine Reproduktionstendenz Uber-
wertig machen konnte und sie den Versuch aufgab. Entweder
fand Bie nichts, oder verurteilte und verwarf die Richtung, in der
sie suchte1). Bei 25 Fällen von Vp. III waren die Fehler haupt-
sächlich Ubergeordnete Begriffe und Synonyme oder rein auf Grund
von lautlicher Bertihrungsassoziation reproduzierte Wörter. Hem-
mung kann ja den Versuch unter solchen Umständen sehr ver-
längern, sogar bis 6235 a.
Die aufgegebenen Versuche von Vp. III lassen sich in der-
selben Weise wie bei Vp. II erklären. Auch kommen drei Fülle
von Aussprechen des Reizwortes vor. In einem Falle war da*
Reizwort auf Grund einer Bewußtseinslage ausgesprochen. Eine
kurze Reaktion war: Fleiß. »Habe ganz automatisch, ohne dabei
zu denken, Pe ausgerufen.« 695 a. Natürlich lassen sich solche
und ziemlich allgemein, alle falschen Fälle nicht erklären außer
im Sinne der bei den früheren Betrachtungen aufgestellten Sätze.
Einen Anhaltspunkt zu Erklärungen derartiger Versuche haben wir
in unserem Material ja nicht, weil die Reaktionen bei den falschen
Fällen erst recht unter den verschiedenen Vp. auseinandergehen.
Die faschen Fälle des Sommersemesters verhalten sich im ganien
in derselben Weise.
1) Z. B. Sprichwort. Habe an zwei Sprichwörter gedacht. »Cliacun
pour Boi< und ein zweites, aber verschwommenes. Hatte gleich die Vor-
stellung von Salomon der hat viele Sprichwörter gemacht). Habe mir ge-
sagt: >Ich kann kein Sprichwort angeben«. Aufgegeben.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 383
2) Die dritte und die vierte Aufgabe: ein Ganzes zu finden
und einen Teil zu finden.
Tabelle XXXII.
Die Durchschnittszeiten der Reaktionen jeder Aufgabe.
Aufgabe III
Aufgabe IV
Vp. I
Vp. II
Vp. III
Vp. I
Vp. II Vp. III
Ma
171 > V.
1729 77
1972
1359 34
1667
589
1100 66
1279
413
. _
1448 83
1624
434
1341 78 ' 1119 72
1459 j 1215
516 232
Im Einklang mit der Tabelle sagen die Vp. hier wieder von
sich selbst aus, daß das Finden eines Teiles zu einem gege-
benen Ganzen viel bequemer und angenehmer ist, als umgekehrt.
Vp. III fügt auch hinzu: »Ganzes zum Teil ist mehr analytisch,
wie beim Finden eines übergeordneten Begriffes, Teil zum Ganzen
mehr synthetische Die Vp. fühlen sowohl, daß die eine Auf-
gabe leichter ist, als auch, daß die andere schwerer ist Aus der
Tabelle sehen wir, daß die Zeiten bei der vierten Aufgabe kürzer
sind, als bei der dritten, ausgenommen den Zentralwert bei Vp. III.
Dieser ist auch bei Vp. II in der vierten Aufgabe kaum kleiner.
Auffallend ist wieder die Verkleinerung der mittleren Variationen.
Damit geht eine merkwürdige Tatsache Hand in Hand. Bei der
dritten Aufgabe liegen die Höhepunkte der Frequenzkurven für
sämtliche richtigen Fälle bei den Vp. bzw. im
11., 10., 8. Hundert a,
während sie bei der vierten Aufgabe bzw. im
11. und 13., 13., 11. Hundert a
liegen. Diese gehen steil und scharf hinauf zum Höhepunkt, jene
langsamer. In Aufg. IV erreicht die Kurve ihren Höhepunkt bzw. in
2, 2, 1 Hundert o,
in Aufg. III dagegen in
4, 6, 4 Hundert a.
Damit hängt es zusammen, daß die mittleren Variationen bei
der dritten Aufgabe so groß sind, und zugleich, daß die mittlere
Variation nach oben so auffallend groß, die nach unten dagegen
-
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384
Henry J. Watt,
so klein ist. Der mittlere Wert liegt auch bei Aufgabe IV
ziemlich in dem Hundert, in das der Höhepunkt der Frequenzkurve
fallt: bei der andern dagegen um bzw. 6, 3 und 3 Hunderte höher.
Wir haben einen zweiten, aber ziemlich viel niedrigeren Höhepunkt
auch da, wo der Mittelwert liegt.
Der Tatbestand ist also dem bei den ersten zwei Aufgaben er-
wähnten ähnlich. Bei Aufg. IV handelt es sich augenscheinlich
um die Reproduktion eines einzigen Teiles einer Mannigfaltigkeit.
Man könnte darin den Grund des höheren Wertes des Höhepunktes
der Frequenzkurve der vierten Aufgabe finden wollen. Das Argu-
ment aber scheitert in genau derselben Weise wie bei der zweiten
Aufgabe. Dazu ist Aufg. IV von allen Vp. leichter und ange-
nehmer gefunden worden, während die Aufgabe mit der scheinbar
eindeutig bestimmten Richtung schwieriger gefunden wird. Man
könnte erwidern, daß die Mannigfaltigkeit der möglichen Rich-
tungen, die Zweideutigkeit der Lösung bei Aufg. HI vorliegt. Das
ist aber wieder nicht zutreffend, weil Fälle einer Fülle von Repro-
duktionstendenzen bei Aufg. IV (nicht HI) konstatiert werden, und
das Verhalten der B- und C~ Fälle dagegen spricht.
Hier stehen wir vor einem Dilemma. Wir haben die in Ma
wenigstens deutliche Verlängerung der durchschnittlichen Re-
aktionszeit bei der dritten Aufgabe zu erklären. Dafür kann
man das Argument von der Mannigfaltigkeit der möglichen Rich-
tungen anführen, das aber für verfehlt gehalten werden muß. Dann
muß man sagen: Das Vorkommen einer empfundenen Fülle von
Reproduktionstendenzen ist eine eigentümliche Erscheinung, die
aber gar nichts mit der Anzahl der vorhandenen Richtungen zu tun
hat, weil es sich ja hier nicht etwa um eine hinzugetretene dritte
Tendenz, sondern um die Häufigkeit des Vorkommens einer schon
zuweilen konstatierten zweiten Tendenz handelt. Kein gefundenes
Datum hindert, daß eine zweite Tendenz 50 % häufiger bei einer
Aufgabe als bei einer andern vorkommt. Daß der ganze Tat-
bestand einfach eine Folge der Zusammenstellung von Versuchen
verschiedener Art ist, kann man auch nicht behaupten, weil wir
dieselben Eigentümlichkeiten an den Aufgaben oft auch bei ein-
facheren Formen (A^ , Az , s. Figur 5 ) finden. Die Erörterungen
von Müller und Pil zecker haben ihre Berechtigung. Sie er-
lauben udb aber nicht, eine Hemmung jeder Reproduktionstendenz
durch jede andere vorhandene Tendenz, wie man zuweilen ange-
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 385
nommen bat, vorauszusetzen. An der Regelmäßigkeit unserer
Daten kann man keinen Anstoß nehmen. Es wäre eine traurige
Täuschung, wenn wir trotz solcher Regelmäßigkeiten doch za der
Annahme gedrängt würden, jeder Versuch ließe sich nur an und
für siefe untersuchen.
Deshalb müssen wir eine ander* Theorie zu Hilfe nehmen,
and zwar die achon angedeutete. Wir haben nämlich bei den
Aufgaben LH und IV gefunden, daß der Versuch bei Au fg. III
oft geschwinder verläuft, daß er aber als schwieriger
empfunden wird, während der Versuch bei Aufg. IV im
allgemeinen länger dauert, bzw. der Höhepunkt der Fre-
quenzkurve höher liegt, aber als leichter empfunden wird.
Dies steht in schönem Gegensatz zu den früheren zwei Aufgaben und
es ließe sich so formulieren: Bei Aufg. III ist die Reproduk-
tion an sich geschwinder, die Aufgabe aber bewirkt nur
eine geringe Zeitersparnis. Bei Aufg. IV dagegen ist die
Reproduktion an sich langsamer als bei Aufg. III, aber
die Aufgabe selbst kann eine größere Zeitersparnis her-
?orbringen, und zwar so, daß diese größer ist als der
Nachteil der Reproduktionsgeschwindigkeit bei Aufg. III.
Im Sommersemester konstatierte Vp. I, daß es ihr leichter schien,
?om Ganzen auf den Teil als umgekehrt zu kommen. S. auch Vp.IV.
Tabelle XXXIII.
Sommersemester.
Aufgabe HI
Aufgabe IV
Vp. I
Vp. n
Vp. IV
Vp. I
Vp. II
Vp. IV
Ma
w. V.
1646 26
1805
627
1532 16
1853
615
r
2121 63
2241
1190
1760 26
1866
626
1672 21
1791
673
2126 42
2412
863
P
4 | 64 | 27 0
15 16
F = absolute Anzahl der falschen Reaktionen.
Die Tabelle XXXIII ist auch sonst abweichend. Nur bei Vp. II
ist die durchschnittliche Ziffer Ma bei der vierten Aufgabe kürzer.
Bei Vp. I ist sie in der großen Mehrzahl der Fälle (73*) kürzer.
Bei Vp. IV ist sie durchgehends länger als bei Aufg. m. Daß sie
nicht reagiert wie die andern, kann man aus dem Folgenden sehen:
Besen— Stiel. >Ohne weiteres. Das ist ein sehr geläufiger Ausdruck
ArekW ftr Ptyebologi«. IV. 26
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386
Henry J. Watt,
;nian schreibt ja Besenstiel). < 2917 a(\). Diese Zeit ist ungemein
lang für einen geläufigen Ausdruck. Weil dies weiter nicht (im
Protokoll usw.) erklärt wird, müssen wir es auf sich beruhen lassen.
Die Anzahl der falschen Fälle nimmt bei allen Vp. bei der vierten
Aufgabe ab, bei Vp. IV allerdings nur 3 %. Diese Unregelmäßig-
keit gegenüber den Versuchen des Wintersemesters ist wohl wie-
der auf die ungeeigneten Reizwörter zurückzuführen.
Die Verhältnisse hei den falschen Fällen des Wintersemesters
zeigen uns auch, daß die vierte Aufgabe leichter ist
Vp. 1
F. R. F.
56 3
72 1
Aufg.m 86:14 56 3 5 1 35 : 65 39 43 52 80 : 20 34 11 24
Aufg.IV 99: 1 72 1 1 85:15 95 6 6 80 : 20 43 10 19
Unter dem Zeichen für die Vp. steht links das Verhältnis der
Anzahl aller richtigen Versuche der Aufgabe zu der der falschen, in
Prozentsätzen ausgedrückt; rechts die absoluten Anzahlen aller
protokollierten, Gesichtsvorstellungen enthaltenden richtigen und
falschen Versuche, zuletzt der Prozentsatz der letzteren. Wir merken
die relative und absolute Abnahme bei der vierten Aufgabe. Es wäre
doch zu erwarten, daß die Gesichtsvorstellungen, die eine so große
Rolle bei diesen zwei Aufgaben spielen, bei der leichteren Aufgabe
zunehmen. Man vgl. auch das unten (S. 388) angeführte Protokoll.
Schon Home1) hat in seinem Gesetz des natürlichen Verlaufs
der Vorstellungen behauptet, daß es uns ein Vergnügen sei, vom
Ganzen zu den Teilen überzugehen, und umgekehrt unangenehm.
Steinthal1) dagegen stellt die folgenden drei Sätze auf: 1) daß
1 Henry Homo (Lord Karaes}, Elements of Criticism. 7. ed. 1788
Vol.I p. 2öf. »Grandeur wbich makes a deep impression, inclines us, in
running over any series, to proeeed from small to great, rather than from
great to small; but order prevails over that tendency, and affords great
pleasure as well as facüity in passing from a whole to its parte, and from
a Bubject to its Ornaments, which are not feit in the opposite course. Ele-
vati on touches the mind no Iobs than grandeur doth; and in raising the mind
to elevated objects, there is sensible pleaaure : the course of nature, however,
hath still a greater influence than elevation; and therefore, the pleaaure of
falling with rain, and descending gradually with a river, prevails over that
of mounting upward. But where the course of nature is joined with ele-
vation, the effect mnst be delightful : and hence the Singular beauty of smoke
ascending in a calm morning.
2) Steinthal, Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft.
Erster Teil. S. 161.
Vp. II
F. R. F.
vp. in
F. R F.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 387
die Seele leichter aus dem angewöhnten Znstand in den gewohnten
zurückkehrt als umgekehrt; 2) denn die Seele folgt leichter dem
Gange der wirklichen Bewegung, als sie die rückläufige Bewegung
Tollzieht; 3) das selbständige Objekt reproduziert schwerer das
unselbständige, z. B. das Ganze reproduziert schwerer die Teile
als umgekehrt Denn im Gedanken des Ganzen ruht die Seele,
während die Vorstellung des Teiles sie zum Ganzen treibt, ohne
welches er gar nicht zu denken ist.
Dies wird von Trautscholdt *) bestätigt mit einer durchschnitt-
lichen Zeit für den gefundenen Teil von 901 a, für das gefundene
Ganze von 608a (subtrahierte »Assoziationszeiten«). Die Reproduk-
tionen, die er als Teile bezeichnet hat, sind aber kaum mit den
andern, den Ganzen, zu vergleichen.
Auch Cattell2) war noch nicht auf das Richtige gekommen.
Er sagt: »Man wird erkennen, daß es nicht länger dauert, eine
Stadt zu nennen, wenn ein Land gegeben ist, als umgekehrt: *in
diesem Fall ist in Wirklichkeit eine Wahl nicht nötig. Denn es
gibt in jedem Land eine bestimmte Stadt, die man fast unwill-
kürlich nennt« usw. Das kann so sein; nichts hindert, daß irgend
etwas mit irgend etwas verbunden sei, was für ein logisches Ver-
hältnis auch immer zwischen ihnen obwalte. Das drückt aber nur
die Gleichwertigkeit assoziativer Verbindungen unter allen Umstän-
den aus. Die Reproduktion vieler Wörter unter dem Einfluß
einer Aufgabe ist anders bedingt, als die bloße Reproduktion
von irgend etwas, sei das Induzierte der Teil zu dem Gegebenen
oder sonst etwas. Die bloße Assoziation hat als solche nichts mit
der Bedeutung des Reproduzierten für das Reproduzierende zu tun.
Wir haben hier einen experimentellen Beleg für die Ausfüh-
rungen von Schmidkunz3), in denen er der analytischen Phan-
tasie der synthetischen gegenüber den Vorzug zuspricht.
1) Trautscholdt, Wundts Stndien Bd. I, S. 244.
2; Cattell, Psychometrische Untersuchungen, Teil III. Wundts Studien
Bd. IV, S. 247.
3) Schmidkunz, Analytische und synthetische Phantasie, Halle 1889,
S.91: >Das Bisherige hat uns bereits hinreichend darüber aufgeklärt, welcher
Weg, ob der synthetische oder der analytische, uns zu einem deutlicheren
nnd lebhafteren Bilde all der verborgenen Fäden führt, die in der dar-
stellenden Natu) oder in der zu reproduzierenden Kunst von einem Punkt
zun andern, vom Einzelnen zum Ganzon und wieder zurück laufen. Es war
die Analysis, welche hier tiefer eindringt.«
25*
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388
Henry J. Watt,
Im Einklang mit unserem Resultat könnte man die vorgeführten
Ansichten etwas voneinander trennen. Der Weg vom Ganzen
zu den Teilen, der analytische Weg von Bchmidknnz, entspräche
dann mit seiner größeren Leichtigkeit der leichteren Aufgabe IV,
während Steinthal recht hätte, insofern man das Ganze in ähn-
licher Weise wie den Ubergeordneten Begriff als den natürlichen
Ruhepunkt betrachtete, da der Teil das Ganze implizite einschließt
nnd nur dadurch existiert. Diese Leichtigkeit, das Ganze zu finden,
wäre dann wieder in den bei dieser Aufgabe niedriger liegenden
Höhepunkten der Frequenzkurven zu sehen. Das praktische Ver-
halten oder die Aufgabe hat jedoch teilweise das letztere Uberwogen.
Vp. I macht die Bemerkung: »ich habe den Eindruck, daß es
leichter ist, den Teil zu finden, wenn die Gegenstände kleiner sind«.
Der betreffende Versuch war: Schwert. »Dunkles Bild einer Schwert-
klinge« 1102 <y, und em vorhergehendes: Laden. »Bild eines kleinen
Ladens. Gesucht nach irgendeinem Inhalt. Gedacht an Gewürz
und dergleichen. Fiel aber nicht darauf. Sagte Gewölbe. Wahr-
scheinlich wollte ich Gewürz sagen. Unangenehme Spannung.« 2571a.
Ich habe demzufolge eine Reihe von Versuchen bei jeder Vp. her-
ausgesucht, bei welchen die Reizworte Bezeichnungen für kleinere
Gegenstände waren. Ich finde aber keine wesentliche Verminderung
der Reaktionzeit bei ihnen. Die durchschnittliche Zeit ist kaum,
wenn auch ein wenig, kleiner als die sämtlicher Versuche der
Aufgabe. Umgekehrt finde ich nicht, daß die Versuche mit einer
Zeit von mehr als 2000 a immer Reizwörter haben, die größere
Gegenstände bezeichnen. Solche Wörter kommen ja vielfach vor,
aber die Länge der Zeit ist wohl nicht schlechthin aus der Größe
des vom Reizwort bezeichneten Gegenstandes zu erklären. Der-
gleichen sind Kreis, Welt, Schlacht, Drache, Erde, Wirtschaft, Ge-
birge, Land, Laden, Schule, Ausstellung, Forst, Brief, Gewehr,
Kloster, Mappe, Himmel usw.
So auch bei der andern Aufgabe. Vp. I macht hier wieder die
Bemerkung bei dem Versuch: Tisch. »Dunkle Vorstellung eines
Tisches im Zimmer.« Zimmer. »Sobald die Gegenstände größer
werden, wird es schwieriger für mich, ein Ganzes zu finden. Ich
glaube, daß meine Bilder begrenzt sind, und daß es leichter ist,
bei kleinen zu einem Ganzen Uberzugehen, als bei größeren. So
hatte ich bei dem Reizwort Seil Schwierigkeiten, weil es (Seil) so
lang war.« Ich habe nun die Versuche wie bei der andern Auf-
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie deß Denkens.
389
gäbe untersucht. Es sind aber nicht schlechthin die größeren
Gegenstände, die am meisten Schwierigkeiten bieten, sondern die
mehr oder minder selbständigen. Ein Wort wie Brocke wurde
sehr schwierig gefunden. Yp. I: Brücke. »Deutliche Vorstellung
einer Brücke Uber einen Fluß. Ich konnte kein Ganzes finden.
Habe schließlich Verbindung gesagt (= übergeord. Begr.).« 4624 a.
Vp. II: Brücke. »Ich stand auf einer Brücke und habe mich nach
allen Seiten umgeschaut. Habe das Ganze nicht gefunden. Unlust-
geftihl dabei.« 18714 *(!). Vp. IH: Brücke. »Optische Vorstellung
von Häusern, die jenseits der Brücke stehen, und dann auf einmal
Stadt« 2069 a.
3) Die fünfte und die sechste Aufgabe: einen koordinierten
Begriff bzw. einen andern Teil eines gemeinsamen Ganzen zu finden.
Uber die fünfte Aufgabe sagt Vp. I aus: »es scheint, als ob
diese Art von Versuchen sehr bequem, am bequemsten ist«, und
Vp. HI: »ich habe den Eindruck großer Leichtigkeit bei diesen
Versuchen. Das andere Wort springt heraus«, und wieder: »Alles
scheint wie aus der Pistole zu kommen«.
Sehen wir zu, ob das objektiv bestätigt wird.
Tabelle XXXIV.
Die Durchschnittszeiten der Reaktionen jeder Aufgabe.
Anfagbe V
Vp. I
Vp. II
Vp. ni -
Vp. VI
Me
1338 84
1312 81
1197 66
1220 61
Ma
1694
1612
1421
1419
m.V.
492
662
530
442
Für Vp. I ist die durchschnittliche Zeit Ma dieser Aufgabe kürzer,
als die irgendeiner andern Aufgabe, und für Vp. II ebenso, außer
bei der vierten Aufgabe. Für Vp. III ist sie kürzer, als die der
ersten zwei Aufgaben, länger als die der dritten und vierten. Bei
Vp. II aber nimmt die Frequenzkurve dieser Aufgabe ihren An-
fang um 200 o früher als die der vierten Aufgabe, bei Vp. III um
100 a früher als die andern zwei Aufgaben. Der Zentralwert bei
Vp. II und Vp. I ist bei dieser Aufgabe am kleinsten, bei Vp. IH
ist er nur kleiner als der der zweiten Aufgabe.
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390
Henry J. Watt,
Der Prozentsatz der falschen Fälle: Vp. I 0^, Vp. H 6
Vp. III 21,5 Vp. VI 20 ist kleiner bei dieser Aufgabe aU
bei allen andern für alle Vp. anßer Vp. III, für welche der Prozent-
satz bei dieser Aufgabe 1,5 % größer ist, als bei der dritten and
der vierten Aufgabe.
Wir dürfen also nicht behaupten, daß diese Aufgabe die
leichteste von allen sei: sie ist aber jedenfalls eine der leich-
testen. Gerade das Gegenteil aber habe ich am Beginn der
Versuche erwartet, weil es mir sehr wahrscheinlich zu sein
schien, daß die Reproduktion mittels des Oberbegriffs regelmäßig
stattfinden müßte. Das ist aber, wie wir gezeigt haben, keines-
wegs der Fall, und auch wenn das regelmäßig, wie bei Vp. I, zu
geschehen scheint, ist die durchschnittliche Zeit doch kürzer als
bei den andern Aufgaben. Das bekräftigt unsere Behauptung,
daß der Oberbegriff nur eine Nebenerscheinung im Prozeß
ist. Wenn das nicht so wäre, wären die Zeiten durchschnittlich viel
länger gewesen, und in der Tat können die Versuchsreproduktion
und Reproduktion des Oberbegriffes nebeneinander verlaufen, ohne
sich gegenseitig viel zu hemmen.
Das Obige wird weder im Protokoll noch objektiv bei den Ver-
suchen des Sommersemesters bestätigt. Ich gebe hier die
Tabelle XXXV
Sommersemester.
Aufgabe V
Aufgabe VI
Vp. I
Vp. II
Vp. III
Vp. I
Vp. n
Vp. IV
Mc
1857 11
1445 40
2461 65
i 2389 13
1601 29
2949 26
Ma
2071
1676
2649
1 2294
2097
3343
m. V.
688
676
508
562
1014
dafür, ohne weitere Bemerkung außer der, daß die Reizwörter auch
hier wieder nicht sehr geeignet waren, und, was wichtiger ist, daß
wir dieselben Reizwörter das ganze Semester hindurch und für
alle Aufgaben benutzt haben, so daß allerlei Störungen dage-
wesen sein können und auch zum Teil als Erinnerungen usw. u
spüren sind. Auch das Protokoll vermag uns keinen Aufschluß
über den Tatbestand zu geben, so daß in Anbetracht der großen
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Experimentelle Beiträge zu einor Theorie des Denkens. 391
subjektiven und objektiven Übereinstimmung der Versuche dieser
Aufgabe während des Wintersemesters wir an deren Resultat gar
nicht zu zweifeln brauchen.
Die sechste Aufgabe.
Tabelle XXXVI.
Aufgabe VI
Vp. I
Vp. II
, — .
Vp. III
Vp. VI
Mc
1699 64
1745 28
1316 33
1888 43
Ma
1946
2002
1511
1920
m.V.
658
839
565
507
Aus der Tabelle ersehen wir, daß die Reaktionszeiten bei allen
Vp. (Sommer und Winter) ziemlich viel länger als die der fünften
Aufgabe sind. Das ist wohl zum Teil auf die Notwendigkeit der
Vermittlung, des Ganzen, im Versuch zurückzuführen. Bei allen
Vp. ist die Frequenzkurve höchst unregelmäßig. Sie zeigt kaum
einen deutlichen Höhepunkt und wird hier und da plötzlich unter-
brochen. Der höchste Punkt in der Kurve kommt später als bei der
fünften Aufgabe, und bei Vp. VI nimmt sie ihren Anfang 400 a später.
Sie zeigt deutlich den Einfluß einer Störung. Bei andern Vp. nimmt
sie ihren Anfang eher, wenn auch schwächer. Der Prozentsatz
der Fehler bei den verschiedenen Vp.: Vp. I 13 #, Vp.II 62
Vp. in 44 %, Vp. VI 42 #, ist auch viel größer. Das läßt sich
durch eine dieser Aufgabe eigentümliche Schwierigkeit kaum völlig
erklären. Wir müssen uns daran erinnern, daß wir ein Reprodu-
ziertes nicht als der Aufgabe entsprechend betrachten können,
wenn es nicht bewußt als Teil eines Ganzen aufgefaßt wurde. Ein
solches Versäumnis hing nicht von einer Vergeßlichkeit seitens
der Vp. ab, sondern von der empfundenen Schwierigkeit, etwas als
Teil eines Ganzen anzusehen, was man selbst als Ganzes oder als
etwas Selbständiges zu betrachten pflegt '). Vp. I macht eine Be-
merkung darüber anläßlich des folgenden Versuches. > Mauer.
Garten, als Teil eines Anwesens. Ziemlich deutliches Bild einer
Mauer, die einen Garten abschließt. Das Suchen dauerte etwas
1] Vp. I. Beere— Frucht. Bewußtsein, daß es falsch ist. Ich suchte
nach etwas anderem. Fand nichts, weil es schon etwas Selbständiges ist
2721 <r.
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392
Henry J. Watt,
lang. « 4164 a. Es ist eben ein großer Unterschied zwischen den
Fällen, bei denen man gewohnt ist, etwas als Teil zu betrachten (z. B.
Schnabel), and den Fällen, bei denen man gar nicht geneigt ist,
etwas als Teil zu betrachten. Das ist ein wesentlicher Unterschied
zwischen der gegenständlichen und der begrifflichen Koordination
(d. h. zwischen der VI. und der V. Aufgabe). Vergleiche man
damit die folgenden: Seife — Waschwasser, Löffel — Messer. Da-
gegen wurde als leicht empfunden: Sonne — Mond als Teile des
Planetensystems. Wenn man aber die Reizwörter mit den Reaktion s-
würtern der Zeitlänge nach einordnet, sieht man keine Zunahme
der Dauer mit der Selbständigkeit. Das hätten wir auch nicht
erwarten können : wir müssen die Aussage der Vp. im einzelnen
Falle stehen lassen und uns damit begnügen. Im Gegensatz zu
der früheren also ist diese Aufgabe keine geläufige, während wir
doch nicht sagen können, daß die Reproduktionstendenz irgend-
wie an sich ungünstig gestellt ist. Jedoch liegt öfters, wie wir
gesehen haben, ein dem Prozeß wesentlicher Teil außerhalb der
einfachen Kooperation von Aufgabe und Reproduktionstendenz, wie
wir sie bei den andern Aufgaben gefunden haben.
Über die Fehler ist nicht viel Neues zu sagen. Störungen
und Hemmungen gingen ihnen meistenteils voran; die Vp.
war vielleicht von einem interessanten oder lebhaften Bild oder
von einer sich aufdrängenden oder in Bereitschaft liegenden Repro-
duktionstendenz abgelenkt. Unter allen kommt die Angabe des
übergeordneten Begriffes am häufigsten statt des Ganzen oder des
andern Teiles vor. Das hängt wohl damit zusammen, daß die
Aufgabe, den übergeordneten Begriff zu finden, eine starke Perse-
verationstendenz besitzt. Vp. II klagt sogar einmal darüber, daß
ihr das Reizwort so gattungsmäßig vorkam. Ich finde aber nicht,
daß im allgemeinen die fälschliche Reproduktion des Ubergeord-
neten Begriffes merklich kürzere Zeit dauert, als fälschliche Re-
produktionen anderer Art. Wo der Versuch aufgegeben wurde,
ist der Grund nur in der Unfähigkeit, eine befriedigende Repro-
duktionstendenz zu finden, in einer Hemmung oder einem Urteil
über die vorhandene Tendenz zu sehen. Wie oben, so können wir
auch hier nicht alle Fälle erklären. Daß die Fehler sämtlich auf
der größeren oder kleineren Geschwindigkeit und Stärke der be-
treffenden Reproduktion oder auf einer momentanen falschen Auf-
fassung der Aufgabe beruhen, kann man nicht leugnen. Auch kann
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 393
das Reproduzierte bis zu einem bestimmten Punkt ins Bewußt-
sein kommen, wie wenn es das wirklich der Aufgabe Entsprechende
wäre. Die Aufgabe braucht nicht jedesmal ersetzt zn werden.
Sie kann einfach durch die Kraft der sich aufdrängenden Repro-
duktionstendenz verdrängt werden. Es ist auch wohl möglich, daß
die Aufgabe von der Vp. selbst falsch hergestellt wird und des-
halb natürlich Fehler bewirkt Als Fehler dieser Gattung sind die
Ton Vp. II bei Aufgabe HI so oft angegebenen Antworten auf die
Frage woraus? zu betrachten. Die Fehler vom Sommersemester
bieten nichts Neues.
Ist die Länge der Reaktionszeit bei falschen Reaktionen ein
Kriterium dafür, daß sich die Vp. mehr oder weniger bemUht
hat, richtig zu reagieren?
Tabelle XXXVII.
Die Dauer der richtigen und der falschen Fülle im Verhältnis
zueinander.
• Aufg. 1
Auf?. II
Aufg. III
Aufg. IV
Aufg. V
Aufg. VI
Vp. I JfJ 1Ö2
Ma 1 202
140
117
108
117
88
88
108
109
Vp. 11 Mc
Ma
97
134
98
82
107
108
140
176
262
Vp.ni Mr\
117
101
117 118
122 108
107
11H
94 103
106 109
Vp. VI Jf, !
«% Ma ||
130
122
129
124
Die Zahlen geben die Dauer der falschen Fälle im Prozenteatz der Dauer
der richtigen Fälle an.
Ich habe die Fehler aller Aufgaben daraufhin untersucht, finde
aber kein einheitliches Resultat. Die verhältnismäßig lange Dauer
falscher Fälle bei allen Aufgaben einer Vp. hätte angedeutet, daß
sie sich mehr als die andern Vp. bemüht hätte, richtig zu rea-
gieren, indem sie länger der Kraft sich aufdrängender Reaktionen
widerstanden wäre. Eine solche lange Dauer ist aber in
Tabelle XXXVII nicht zu finden, obgleich wohl nicht jedes
Resultat ganz unerklärlich wäre. Wir weisen also einfach wieder
auf die größere Mannigfaltigkeit der Faktoren bei den falschen
Fällen hin.
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394
Henry J. Watt,
§ 15. Zusammenfassung.
1) Individuelle Unterschiede.
Im fünften Paragraphen haben wir viele Angaben der Vp. ge-
bracht, die zu der Frage Anlaß geben, ob sich die betreffende
Vp. mehr an die motorische oder an die sensorische Reaktions-
weise1) gehalten hat. Vp. I z. B. spricht das Reizwort nach seinem
Erscheinen fast regelmäßig zuerst innerlich aus, ebenso wie das
Reaktionswort vor der Reaktion. Bei kurzen und glatten Reaktionen
jedoch fällt letzteres öfters weg. Die Lautbilder sind hier akustisch-
motorisch; aber die Vp. beschreibt sie als rein oder Uberwiegend
akustisch. Vp. III dagegen spricht das Reizwort nach seinem Er-
scheinen gar nicht und das Reaktionswort vor dem Aussprechen
nur selten innerlich aus. Ihre Lautbilder sind ebenfalls akustisch-
motorisch, jedoch vorwiegend motorisch. Das Reaktionswort tritt
öfters überraschend oder mit dem Bewußtsein eines Zwanges auf,
und die Vp. weiß in der Reaktion oft schon sehr früh, was sie
zu sagen hat. Die Reaktion wird gewöhnlich erst im Aussprechen
gerechtfertigt, und diese Vp. macht nicht selten sinnlose und ver-
frühte Reaktionen. Wie sie sagt, fängt sie zuweilen an, das Reiz-
wort auszusprechen, noch bevor es ihr klar ins Bewußtsein ge-
kommen ist. Sie beobachtet auch einmal eine Einstellung; des
motorischen3) Apparats auf ein Wort vor dem Auftreten des Wortes
im Bewußtsein. Vp. II verhält sich im allgemeinen mehr wie
Vp. I. So viel lehrt uns die bloße Aussage der Vp.
Diese Unterscheidung ist insofern eine begründete, als wir
sehen, daß die eine Vp. scheinbar viele auf das erste Stadium des
Versuches oder auf die Apperzeption sich beziehende Erlebnisse
angibt, während diese Erlebnisse bei der andern Vp. wegfallen,
was freilich keineswegs immer der Fall ist. Man kann aber diesen
1} Vgl. Wandt, &Psych. M, S. 420 ff.
2] Aafg. IV. Garten. Diesmal habe ich die zwangsweise Artikulation
von z in der Zangenspitze gefühlt, and zwar halb artikuliert, bevor ich über-
haupt anfing, das Reaktionswort auszusprechen Zaun. 969 <r.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 395
Unterschied in der Reaktionsweise auch objektiv beobachten und
man hat dafür kürzlich eine nene Methode eingeführt. Danach
ordnet man alle Versuche nach der Größe der Reaktionszeit in
regelmäßige, passend kleine Zeitabschnitte. Die Anzahl der Ver-
suche bei den Zeitabschnitten ergibt dann eine Kurve, die den
Zusammenhang zwischen allen Versuchen sehr gut darstellt.
Dies haben wir auch mit unsern Versuchen für jede Aufgabe
und jede Vp. vorgenommen (s. Figur 9). Nur die Kurve für
Aufg. VI, Vp. II, fehlt aus schon angegebenen Gründen (S. 299).
Man wird nun häufig in der Figur eine verfrühte und eine ver-
spätete Reaktion finden, und im allgemeinen ist erstere Weise
bei Vp. HI viel ausgeprägter als bei den andern, was mit den
obigen Angaben gut übereinstimmen würde. Auf diese Weise
könnte man zu der Meinung kommen, daß Vp. III motorisch,
Vp. I und Vp. II dagegen sensorisch angelegte Typen seien. Das
wäre auch ein gut zusammenfassender Ausdruck für viele Eigen-
tümlichkeiten der Vp.
Viele der sonstigen Unterschiede zwischen den Vp. wurden
schon erwähnt. Im allgemeinen lassen sie sich folgendermaßen
charakterisieren. Vp. I hat nur mittelstarke Reproduktions-
tendenzen, aber die Aufgabe hat bei ihr eine kräftige und
nachhaltige Wirkung, und die Perseverationstendenz kommt ihr
zu Hilfe, sobald sie sich des Mangels an Wirksamkeit der
Aufgabe bewußt wird. Die Aufgabe kann die Reproduktions-
tendenzen zu ihren Zwecken gut verwerten. Die Vp. macht des-
halb nur wenige Fehler und gibt wenige Versuche ungelöst auf.
Vp. III dagegen hat sehr starke Reproduktionstendenzen, und die
Aufgabe hat öfters nicht die nötige Kraft, ihr Aufkommen ge-
nügend zu dirigieren, die falschen zu hemmen und die richtigen
zu verstärken. Viele dringen trotz der Vorbereitung und der
starken Wirksamkeit der Aufgabe durch. Vp. II dagegen hat
keine besonders starken Reproduktionstendenzen ; die Wirksamkeit
der Aufgabe ist noch schwächer, und sie vermag wegen unklaren Ver-
ständnisses nicht immer die richtige Wirksamkeit herzustellen, und
selbst wenn sie daist, ist sie meist nicht genügend sicher und
stark. Vp. VI ist mehr wie Vp. I, nur daß bei ihr die Repro-
duktionstendenzen verhältnismäßig etwas stärker sind als bei
Vp. I.
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Experimentelle Beitrüge zu einer Theorie des Denkens. 397
Die aus unsern Lese-, Bog. Erkennung« versuchen erhaltenen
Daten lasse ich in einer Tabelle folgen.
Tabelle XXXVHI.
Die Leseversuehe.
vP.
Anzahl der
Versuche
Mo
m.V.
Gipfel der
Strenungskurve
1 1
1 -
415
79
390
n
102
411
66
390
m
94
444
56
390 = 410
rv
30
525
66
420 = 600
2) Die Reaktionsweise.
In unserer Figur bemerkt man nicht nur zwei Gipfel, sondern
in den meisten Euren deren mehrere. Bei Vp. I sind die meisten
Gipfel etwa 0,3*, zuweilen nur 0,2* voneinander entfernt. Bei
Vp. H beträgt der Zwischenraum ebenfalls häufig 0,3', und bei
Vp. m ist es etwas unbestimmter, weil es bei ihr im allgemeinen
nicht so viele Gipfel gibt, aber die zwei Perioden 0,2' und 0,3«
sind doch zu erkennen. Insofern könnte man von einer Perio-
dizität in der Streuungakurve reden. Wir geben zu, daß die
Anzahl der Versuche, aus denen diese Kurven gewonnen wurden,
nicht »ehr groß ist. Auffallend ist noch, wie oft die Gipfel bei
den verschiedenen Aufgaben in ihrer absoluten Stellung mitein-
ander tibereinstimmen (s. besonders Vp. II). In den Streuungs-
kurven kann man zugleich Charakteristiken für die verschiedenen
Aufgaben finden wie, daß die Kurve der zweiten Aufgabe etwas
später anfängt, und daß der zweite Gipfel etwas deutlicher als der
erste ist. Bei der dritten Aufgabe zeigt sich der erste Gipfel etwas
früher als bei der vierten, was wir in Beziehung zu der Frage
der Schwierigkeiten dieser Aufgabe schon oben besprochen haben.
Bei den übrigen Aufgaben sieht man, wie früh schon die Kurven
anfangen.
Nun fragt es sich, ob wir berechtigt sind, aus so wenigen Ver-
suchen eine Regelmäßigkeit herauszulesen. Wir haben viele Gruppen
von Faktoren gefunden und könnten wohl sagen: wenn die Fak-
toren bei den Versuchen so verschieden und mannigfaltig sind, so
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398
Henry J. Watt,
kann man ans einer derartigen Zusammenstellung aller Versuche
schwerlich Neues gewinnen. Aus den Streuungskurven Schlüsse zu
ziehen, ist aber, wie gesagt, zu einer Methode geworden, die
gewisse Vorteile neben denen des arithmetischen Mittels bzw. der m. V.
und des Zentralwertes haben soll, und die betreffenden Forscher1)
haben wichtige Schlüsse auf Grund ihrer Kurven gezogen. Wir
könnten vielleicht mit demselben Recht unsere Periodizität behaup-
ten. Dies veranlaßt uns, die Methode im allgemeinen zu besprechen.
Wenn die Anzahl der Faktoren, die die Länge der Reaktions-
zeit bestimmen, begrenzt und nicht variabel ist, sollte man er-
warten, daß sich die Zeiten in einer Streuungskurve alle symme-
trisch entweder um einen oder um mehrere Werte scharen.
Das tun sie aber bekanntlich nicht. Wären in den meisten Ver-
suchen viele Faktoren zu gleicher Zeit wirksam, in andern aber
ein anderer Faktor zu späterer Zeit, dann dürfte man einen hohen
Gipfel zu jener Zeit und zu dieser Zeit einen zweiten niedrigeren
Gipfel in der Kurve erwarten. So konnte eine Art Periodizität
entstehen. Tatsächlich findet man ähnliches, wie man in den von
Alechsieff*) angegebenen Kurven sofort sehen kann. Wenn man
die Gipfel dieser Kurven etwas genauer verfolgt, so findet man
verschiedenes Bemerkenswerte. Ich will ein wenig darauf ein-
gehen, weil bei Alechsieff, im Gegensatz zu den früheren
Arbeiten, die den Unterschied zwischen den Reaktionsweisen be-
handelt haben, das Material klarer dargestellt und zugänglicher ist
Aus allen seinen Tabellen stellte ich alle Kurven jeder Vp. in je
eine Tabelle zusammen, worin nur die allen Kurven gemeinsamen
Gipfel zum Vorschein kamen.
Ich fand erstens, was auch Alechsieff hervorgehoben hat,
daß bei den verkürzten Reaktionen nur ein einziger Gipfel
vorkommt, und zwar bei 150 oder 154 a, zweitens, daß sehr viele
der andern Kurven ihre Gipfel in Perioden von 20 oder 30 a
erreichen. Bei Vp. Alechsieff erfolgen die Perioden bei den
verlängerten und natürlichen Reaktionen fast regelmäßig in Perioden
von 20 ff. Dem scheinen sich Vp. Buch und Koch anzuschließen.
Dagegen brauchen Vp. Savescu und Almy etwa 30 a zu einer
Periode. Eigentümlich ist es, wie fast genau dieselbe Ein hei ts-
1} Alechsieff, Reaktionszeiten bei Durchgangsbeobachtungen. Wandte
Studien, XVI, S. lff. Wundt, »Psych., HI, S. 421 ff.
2; a. a. 0., am Schlosse des Bandes.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
399
Ziffer bei den die Gipfel angebenden Zahlen wiederkehrte. Bei
vielen Reihen kehrte anch die Periode immer an derselben abso-
luten Stelle wieder. Es kamen wohl Abweichungen vor, trotzdem
wurde die Größe der Periode beibehalten, s. z. B. Vp. Savescu.
Dabei bemerkte ich, wenn ich die Versachsreihe mit der Versuchs -
anordnung verglich, daß eine Periode scheinbar aufwärts oder
abwärts geschoben werden kann, wenn die Reize in ihrer
Qualität oder Quantität verändert werden. Diese brauchen aber
nicht bei jeder Veränderung des Reizes verschoben zu sein, son-
dern mutmaßlich nur da, wo die mehr physiologischen Bedingungen
der Reaktion dadurch verändert werden.
Man könnte nun daraus verschiedene Schlüsse ziehen.
Zunächst ist die motorische oder die verkürzte Reaktion nur die
verktlrzteste. Doch kann man dabei noch von nichts Absolutem
sprechen. In den von Wundt mitgeteilten Bergemann sehen
Versuchen ') scheint die Reaktion noch kurzer als 150 a zu sein,
etwa 100 a. Die verkürzte Reaktion wäre dann eine Reaktion
unter möglichst großer Konstanz des Reizes und Einfachheit der
Aufgabe und Einübung von beiden. Ich sage Aufgabe, weil
die Unterschiede des Reaktionsverlaufes nicht einfach vorgefunden,
sondern auf Grund der besonderen Vorbereitung erfolgt sind. Wundt
erklärt z. B. 3), daß bei der motorischen Reaktion »mit der Perzeption
des Eindrucks auch schon die impulsive Apperzeption der Reaktions-
bewegung ausgelöst wird, während die deutliche Apperzeption des
Eindrucks erst nachfolgt. So wird man annehmen dürfen, daß die
im Fall maximaler Übung bei beiden Reaktionsweisen übrigbleiben-
den Unterschiede die Zeit zweier sukzessiver Apperzeptionsakte
von einfachster Beschaffenheit repräsentieren.« Das wäre richtig,
wenn man in vielen Versuchen bloß vorfände, daß der be-
treffende Apperzeptionsakt fortgefallen sei. Dem ist aber nicht
so, man bereitet vielmehr dieses Fortfallen vor. In beiden Fällen
bat man nicht nur zwei verschiedene Reaktionen, sondern auch
zwei verschiedene Aufgaben. Deshalb kann von einem bei der
^nsorischen Reaktion vorhandenen vollständigen Willensvorgang
und einem die muskuläre Reaktion ausmachenden bloßen Reflex3)
nicht wohl die Rede sein. Die Reaktionen sind in beiden
1} Wundt, a. a. 0., S. 421.
2) i. a. 0., S. 420.
3) a. a. 0., S. 427.
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400
Henry J. Watt,
Fällen ebensosehr Willensvorgänge oder von einer Aufgabe ab-
hängige Vorgänge. Dafür spricht auch die Tatsache, daß bei
Alechsieff) die natürliche Reaktion ebenfalls einen sehr symme-
trischen und dem der verkürzten Reaktion ähnlichen Verlauf nimmt1).
Das ist vielleicht durch die sich den vorliegenden Gewohnheiten
anpassende Aufgabe und die einigermaßen konstant bleibenden
Reaktionsumstände zu erklären. Die Symmetrie des Verlaufs ist
also ziemlich unabhängig von dem Charakter der Reaktion 7 sei
diese ursprünglich sensorisch oder motorisch (s. Alechsieff,
Fig. 1 und 2). Die eingeübt sensorische Reaktion dagegen zeigt
viele Gipfel, welche andeuten, daß bei verschiedenen Versuchen
die Anzahl der Faktoren und ihre Stellung in der Reaktion
verschieden gewesen sind, wie wir es auch für die Mittelglieder
unserer V. und VI. Aufgaben gezeigt haben (§ 8). Die Reaktion
kann demnach je nach Art der Aufgabe in irgendeine der oben-
erwähnten Perioden fallen. Die absoluten Zeiten der Perioden aber
bleiben dabei dieselben. Wie schon gesagt, scheint diese abso-
lute Stellung der Perioden von einer Veränderung im Reize bin
und her geschoben werden zu können,
Man muß deshalb sehr vorsichtig verfahren. Die Form
einer Kurve ist noch kein Beweis, daß in dem einen Reaktiona-
verlauf ein Faktor vorhanden war, der dem andern fehlte. Wir
müssen zuerst wissen, bei welcher Zeit das Vorhandensein des be-
treffenden Faktors, der sicher nicht in allen Fällen im Protokoll
verzeichnet ist, anzunehmen ist. Man sollte denken, daß bei ge-
nügender Übung die Streuuiigskurve für irgendeine Aufgabe,
vorausgesetzt, daß die Reize qualitativ und quantitativ immer
gleichwertig gehalten werden können, ebenso symmetrisch aua-
fallen müßte, wie die für die verkürzte Reaktion, deren einfache
Aufgabe sich gleichbleibt Unter dieser Voraussetzung konnte
man wohl mit Heranziehung des Protokolls Behauptungen über
die Dauer eines Aktes nach einer Subtraktion der Gesamtresultate
aufstellen. Es ist aber zu betonen , daß wir vorläufig die Dauer
eines Aktes nicht unabhängig von der ihn vorbereitenden Autgabe
ausdrücken dürfen, bis vielleicht weitere Forschung durch Ver-
1) Wundtß Erklärung davon scheint mir nicht plausibel (a. a. 0., S. 4221
Es ist nicht wahrscheinlich, daß ein solcher Unterschied der Reaktioasweise,
wie der der motorischen und sensorischen Reaktionen sein soll, von einer
Vergrößerung des zufälligen Fehlers von 6 a gana verwischt wird.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
401
gleichung vieler Aufgaben uns gelehrt haben wird, daß die Dauer
eines Aktes unabhängig von der Aufgabe ist. Keinesfalls darf
man aus der bloßen Form der Kurven entnehmen, daß in der einen
Reaktion (der sensorischen) etwas prinzipiell Neues vorhanden
ist, was nicht im wesentlichen schon in der andern (der motorischen)
enthalten war. Jedoch kann man annehmen, wenn der Verlauf
der Streuungskurve irgendwelche Eigentümlichkeiten zeigt, daß
eine Verschiedenheit entweder der Aufgabe oder des Reaktions-
verlaufs (vgl. unser Äu Äi} Ät oben) oder beider vorliegt. In
diesem Sinne wäre die Streuungskurve ein Hilfsmittel zur Diagno-
stik der Reaktion. Insofern als beide Kurven bestimmten Aufgaben
entsprechen, haben sie denselben Wert. Aus Alechsieffs Kurven
scheint jedoch hervorzugehen, daß eine Verwicklung der Aufgabe,
wie die sensorische Form der Reaktion sie enthält, nicht so gleich-
mäßig und konstant durchgeführt werden kann.
Tabelle XXXIX
Aufg. I. Vp. n.
Reaktionszeit
Anzahl
750
6
830
3
910
4
990
8
1070
6
1150
3
Anzahl
Klasse
1230
1310
6
63 M Mc
1390
7
— 1323
1470
2
1550
4
1630
4
Reaktionszeit
Anzahl
Klasse
1710
1
10 Ai Mc
1790
5
= 1778
1870
1
1960
1
2030
2
2110
2
Reaktionszeit
Anzahl
Klasse
2190
1
2270
2
2350
1
2430
1
2610
1
2590
1
Reaktionszeit
Anzahl
Klasse
2670
1
2750
2830
1
2910
3BMc
2990
-2948
3070
2
Anzahl = Anzahl der Versuche, deren Dauer zwischen die zwei betreffen-
den Zeiten fallt; z. B. 5 Versuche lagen zwischen 750 a und 830 a. Unter
Klasse wird die Anzahl der Fälle in der Klasse Ax, usw. und der
Zentralwert derselben angegeben. Die Abstände zwischen den Zeiten ent-
sprechen dem wahrscheinlichen Fehler; hier betragt er z. B. 78, rund 80 <r.
Are kW ftr Pijcholotf*. IV. 26
I
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402
Henry J. Watt,
Tabelle XL.
Vp. I. Aufg. IV.
Reaktionszeit
Anzahl
Klasse
900
1
933
1000
1
1033
2
3
1100
7
1133
3
1166
3
Tipak t inns7.pit
Anzahl
Klasse
1 1200
2
64,
1233
2
Mc =»
1266
4
1218
4
62.4
6
8itfc =
1366
4
1331
1400
1433
3
1466
Anzahl
Klasse
Kluse
1500
2
1533
2
1
1600
2
io d
1633
Jfc«=
15 A
1666
6
1676
,3fc «=
1700
1689
1733
2
1766
1
Reaktionszeit
Anzahl
Klasse
1800
1833
1
2133
3
1866
2
1900
1933
1966
3
2000
2033
2066
1
Reaktionszeit
Anzahl
Klasse
2100
2166
1
2200
2233 1 2266
1 1
bBMc^i
2300
1
J278
2333
2366
Tabelle XLI.
Vp. IH. Aufg. IV.
Reaktionszeit
700
725
750
775
800
825
850
875
Anzahl
1
1
1
1
1
3
2
Klasse
Reaktionszeit
900
925
960
975
1000
1025
1050
1076
Anzahl
1
2
1
4
6
6
4
Klasse
17 At Mc = 1004. 13 GMc «= 1085
Reaktionszeit
1100
1125
1160
1175
1200
1225
1250
1275
Anzahl
10
3
6
6
1
2
2
3
Klasse
9AtMc
=»1111
26^3#c-=1165
Reaktionszeit
1300
1325
1350
1376
1400
1425
1450
1475
Anzahl
1
2
1
1
1
1
2
Klasse
7 BMc 1494
Reaktionszeit
Anzahl
1600
1525
1560
1575
1600
1625
1660
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 403
Ich habe nun zur Illustration dieser Kritik drei fast zu-
fällig herausgegriffene Versuchsreihen in Streuungskurven dar-
gestellt, wobei der wahrscheinliche Fehler als Zeiteinheit zugrunde
gelegt wurde. Die Tabellen XXXIX-XLI enthalten das Resultat.
Unter jedem Zeitabschnitt steht die Anzahl der Falle, die darin
vorkamen, und darunter wieder der Zentralwert irgendeiner von
uns bestimmten Klasse von Versuchen, der auch in den betreffen-
den Zeitabschnitt fallt. Davor steht die Anzahl von Versuchen in
der betreffenden Klasse.
Wie man sieht, haben wir nichts weniger als eine symmetrische
Kurve. Doch kommen mehrere höhere Gipfel vor, in deren Nähe
der Zentralwert der einen oder der andern Klasse nicht selten
liegt Gipfel kommen aber auch ohne eine zugeordnete Klasse
vor, z. B. Tab. XXXIX, 990 a, 8 Fälle.
Dieses Resultat bestätigt, was wir behauptet haben, daß
eine unregelmäßige Streuungskurve kein einheitliches Ganzes bildet.
Die Streuungskurve bildet aber ein gutes Hilfsmittel zur Diagnostik
der Versuchsreihe, indem die Höhe und Lage der Gipfel als eine
Bestätigung für die Einteilung der Versuche betrachtet werden kann,
oder indem diese Gipfel als Fingerzeig zur Aufdeckung änderet'
Versuohsarten dienen.
3) Die Reaktionen und die Frage der Subtraktion.
Wir kommen jetzt auf die Frage der Subtraktion bei Reaktions-
versuchen im allgemeinen. Für kompliziertere Reaktionen sind
die muskuläre und die sensorielle Reaktion der Ausgangspunkt
gewesen. In den Verlauf der letzteren glaubte man andere intel-
lektuelle Akte einfügen zu können, die ihre Dauer um eine
entsprechende Größe verlängern müßten. So erhielt man die
sogenannten Erkennungs-, Unterscheidungs- und Assoziations-
reaktionen1). Auf Grund von Subtraktion der Zeiten der einfacheren
Reaktionen von denen der komplizierteren glaubte man in den
Differenzen die Erkennungs-, Unterscheidungs- und Assoziations-
zeiten sehen zu dürfen, wobei man den Maßstab für diese Akte
natürlich nur in der formalen Definition derselben finden konnte.
Es lassen sich gegen dieses Verfahren naheliegende Bedenken
1) Für eine zusammenfassende Darstellung der Frage, des Argument»
dafür und der Literatur ». Wundt, »Psych., in., S. 450 ff.
26*
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404
Henry J. Watt.
erheben. Zunächst bürgt eine bestimmte Versuchsanordnung noch
nicht dafür, daß das im Bewußtsein wirklich vorkommt, was man
als Unterscheidung usw. definiert hat Der Verlauf der Reaktion
ist erst daraufhin zu untersuchen. Es bestehen mehrere Möglich-
keiten. Der erwartete Akt könnte erstens vielleicht außerhalb statt
innerhalb des Verlaufs des Versuchs vorkommen, was der Fall wäre,
wenn nur die Verschiedenheit der vorausgehenden Vorbereitung den
psychologischen Unterschied zwischen den Reaktionen bildete. In
dem Falle wäre es falsch, die Unterschiede der Reaktionszeiten
mit etwaigen Unterschieden im Inhalt der Versuche verschiedener
Aufgaben zu identifizieren. Zweitens braucht überhaupt kein
eigentümlicher Unterscheidungsakt vorzukommen. Natürlich kann
drittens auch eine wirkliche Unterscheidung erfolgen, aber in
qualitativ und vermutlich auch zeitlich verschiedener Form *). Bevor
wir Reaktionszeiten voneinander subtrahieren, müssen wir sicher
sein, daß die gefundenen Unterschiede der Zeiten eindeutig Unter-
schieden im Verlauf der Reaktionen entsprechen. Diese Sicher-
heit gibt uns nicht einmal das Protokoll. Die Vp. kann aus
ein einigermaßen zuverlässiges Protokoll über ihre eigenen Erleb-
nisse, aber nicht über deren Bedeutung oder über die Rolle, die sie
im Versuch spielen, geben. Das kann erst durch das Sammeln
und Vergleichen vieler das betreffende Erlebnis enthaltenden Ver-
suche ermittelt werden, wobei man das betreffende Erlebnis mit
den vorausgehenden und nachfolgenden zusammenzustellen bat
Es wäre offenbar bedenklich, einen ideal vollständigen Reak-
tionsverlauf für die Erkennungsreaktion und einen gleichen for
die Assoziationsreaktionen aus vielen unvollkommenen Versuchen
aufzubauen, die entsprechenden Durchschnittszeiten voneinander zu
subtrahieren und diese dann als Assoziationszeiten zu betrachten.
Wir müssen erst viele Versuche sammeln, in denen wir denselben
Inhalt vorfinden. Für diese wären wir berechtigt, eine durchschnitt-
liche Dauer zu berechnen. Auf diese Weise hätten wir sowohl
Qualität wie Quantität der Elemente im Verlauf der Reaktion
fixiert. Die Selbstbeobachtung kann natürlich nicht in allen Fallen
gleichmäßig eingehend und zuverlässig sein, aber hinreichende
1) Diese« Bedenken scheint auch Wandt zuzugeben, indem er sagt, »diB
sich auch die der Selbstbeobachtung gegebene qualitative Beschaffenheit der
Akte (Erkennungs- usw. -Akte) mit dem Grad ihrer Zusammensetzung mehr
oder weniger erheblich verandern wird«. 5Psych., I1L, S. 462.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 405
Exaktheit wäre nur auf diese Weise zu gewinnen. Derartiges
haben wir, wenn auch in noch sehr unvollkommener Weise, mit
unsern At-} A^-, ^-Fällen erstrebt. Bei solchem Verfahren wurde
eine symmetrische, aus einem einzigen Gipfel bestehende Streuungs-
kurve ein gutes Kriterium ftir die Gleichartigkeit des Inhalts der
Reaktion sein. Dies ist aber immer nur innerhalb derselben Auf-
gabe auszuführen, weil wir noch keine Ahnung haben, in welcher
Weise verschiedene Aufgaben die einzelnen Teile eines Versuchs-
Verlaufs beeinflussen.
Für die Ausführung des Subtraktionsverfahrens scheint ein
Schema wie das folgende1) bestimmend gewesen zu sein.
S bezeichnet den Beginn der Reizung und M das Reaktionsende
der Nervenbahn, SC das sensorische und MC das motorische
Zentrum. Der Kreis S—SC—MC—M würde also den Verlauf
der motorischen Reaktion darstellen. ApC bezeichnet das Apper-
zeptionszentrum, so daß der Verlauf 8— SC— ApC— MC— M die
sensorische Reaktion wiedergeben würde. Die Assoziationsreaktion
kommt etwa zustande, indem die Strecke ApC— MC zu den
beiden ApC — V und V—MC erweitert wird, wo V eine Vorstellung
bezeichnen soll. Ein auffallender Fehler liegt in diesem Verfahren.
Man nimmt nämlich immer an, daß die in dem jeweils er-
weiterten Verlauf ausgefallene Strecke, z. B. SC — MC oder
ApC — MC, ignoriert werden kann. S — SC — ApC — MC — M sei
die Erkennungsreaktion, und S — SC — ApC — V — MC — M die Asso-
ziationsreaktion. Wenn jene von dieser subtrahiert werden soll,
muß das Verhältnis der Dauer von ApC — MC zu der von ApC — V
und V — MC zusammen berücksichtigt werden. Im Subtraktionsver-
fahren kann ApC — MC wenigstens nicht als gleich Null gelten.
1 ) Vgl. Erdmann nnd Dodge, Untersuchungen über das Lesen, Kap . IX
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40>
nenry J. Watt,
Der Verlauf vieler Versuche deutet darauf hin, daß dieses
Schema etwas zu vollständig ißt. Viele Reproduktionen kommen,
ohne daß sie gesueht werden, Uberraschend, zwangsweise, sie
drangen sich auf (s. oben § 5). Was aus dem Schema in diesem
Falle ausfallen soll, ist schwer zn bestimmen. Das Wort wird
wohl immer von der Vp. apperzipiert. Darauf kommt aber manch-
mal das Reaktionswort, ohne daß es vorher alB akustische oder
motorische Wortvorstellung aufgetreten wäre. Der Verlauf der
Bahn von ApC an ist wenigstens sehr verkürzt oder »unbewußt«
zu denken im Vergleich zu dem Fall, bei dem ein peinlich langer
Prozeß des Sachens stattfindet, ohne daß bestimmte Vorstellungen
dabei bemerkt werden, und bei dem das Wort als akustische oder
motorische Vorstellung vor seinem Aussprechen auftritt. Dies
ganze Schema ist eine allzu mechanische Auffassung, die
dem wirklichen Verlauf der Assoziation sehr wenig entspricht, ab-
gesehen davon , daß der dem Schema . zugrunde liegende Ver-
lauf ohne Rücksicht auf den sich von Versuch zu Versuch ver-
ändernden Charakter des Reaktionsverlaufs konstruiert worden ist,
wie wir schon erwähnt haben.
Das Schema berücksichtigt auch nicht den Einfluß der voraus-
gehenden Vorbereitung auf den ganzen Verlauf der Reaktion.
Wir haben als wahrscheinlich gefunden, daß verschiedene Aufgaben
den Inhalt des Verlaufs verschieden gestalten und die Länge der Re-
aktionszeiten in verschiedenem Grade beeinflussen. Es ist unklar,
wie man die ganze Dauer der Reaktion auf die verschiedenen Teile
der Bahn verteilen soll, auch wenn man annimmt, daß die Vorbereitung
sie alle gleichmäßig beeinflußt, was nicht wahrscheinlich ist. Man
müßte erst ähnliche Gruppen von Versuchen bei verschiedenen
Aufgaben, die in der obenerwähnten Weise gesammelt worden
sind, vergleichen. Dabei könnte man eine vollkommene Gleich-
heit des Verlaufs derselben Versuchsart bei verschiedenen Auf-
gaben kaum erwarten. Eine solche aber annähernd zu erreichen
und eine solche Vergleichung wäre nötig, bevor man sichere Be-
hauptungen Uber die Dauer irgendeines Aktes aufstellen könnte.
Dann ließe sich vielleicht der verkürzende Einfluß der Aufgabe
von den rein mechanischen Prozessen in der Reaktion trennen
und eine Bestimmung Uber die Dauer verschiedener Teile erzielen.
Es kommt noch etwas hinzu, was das Subtraktionsverfahren
bedenklich macht. Wir haben oben (Fig. 8, S. 353) festgestellt, daß die
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
407
Geläufigkeit einer Reproduktion von der Aufgabe unabhängig
ist, d. h. die Geläufigkeit übt für sich einen verkürzenden Einfluß
auf die Reaktion aus. Ich habe nicht festgestellt, ob die Zunahme
der Geläufigkeit stets den Ausfall irgendwelcher Prozesse im Ver-
such mit sich bringt, oder ob sie die Dauer des Übergangs von
dem einen Punkt zum andern für sich verkürzt. Das wäre aber
erst festzustellen, ehe man das Subtraktionsverfahren für suver-
liisaig halten dürfte. Mit diesem Faktor hat nooh keiner der
Forscher gerechnet, die das Subtraktionsverfahren angewendet
haben.
Obgleioh es nicht ausgeschlossen ist, daß das Subtraktions-
verfahren schließlich anwendbar wäre, meinen wir, daß seine bis-
herige Anwendung den Wert der in dieser Weise berechneten
Resultate eher vermindert und den späteren Forschern den Zugang
zu den experimentellen Daten und irgendeinen sicheren Vergleich
der Resultate fast unmöglich gemacht hat.
4) Einteilung der Assoziationen.
Es gibt viele Einteilungen der Assoziationen und Kritiken dieser
Einteilungen. Die wichtigsten Kritiken sind wohl die von Orth1)
und die von Cl aparede*). Jener hat Nachdruck auf die un-
psychologische Natur der früher aufgestellten Einteilnngen von
Trautscholdt, Kraepelin, Aschaffenburg, Munsterberg,
Ziehen und Wreschner gelegt und sie verurteilt, weil sie logisch
und nicht rein psychologisch, nicht aus dem Gegenstande selbst
geschöpft sind. Er entwirft selbst eine Einteilung >auf Grund
eines umfangreichen Materials, gewonnen durch Versuche«. Er ver-
steht unter Assoziation »das Hervorrufen von Bewußtseinstatsuchen
durch andere«, und die Einteilung beruht zunächst auf der Unter-
scheidung zwischen Assoziationen ohne eingeschobene Bewußtseins-
vorgänge3) bzw. mit solchen, nnd Assoziationen ohne beglei-
tende Bewußtseinsvorgänge bzw. mit solchen. Dagegen erhebt
Claparede4) den Einwand, daß, obgleich eine rein psychologische
1) Orth, Kritik der Assoziationseinteilnngen. Zeitachr. f. päd. Psych.
III. 1901. S. 104.
2; Claparede, L'aaaociation de» idees. Paris 1903, S. 206 ff.
3) Vgl. Mayer und Orth, Ztschr. für Phys. und Psych. 26. 1901. S. 1 ff.
4) a. a. 0., S. 220. La forme logique a aussi un interöt psychologique.
II n'est pas indifferent que le snjet ait on non conscience de oette forme.
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408
Henry J. Watt,
Einteilung nötig sei, man nicht vergessen dürfe, daß die logische
Form auch psychologisch wichtig sei. Es sei nicht gleichgültig,
ob die Vp. sich dieser Form bewnBt sei oder nicht. Er versteht
unter Assoziation dasselbe wie Orth und entwirft selbst eine ziem-
lich verwickelte Einteilung der Assoziationen, die von Selbstbeobach-
tung während einer Reihe von Versuchen unterstützt worden ist.
Wenn wir nach den meisten Einteilungen Assoziation definieren
als >das Hervorrufen von Bewußtseinstatsachen durch andere«, so
haben wir freilich das Recht zu dieser Definition; aber man darf
immerhin fragen, ob eine solche Definition zweckmäßig ist. Man
kann zunächst fragen, welche in der ganzen Reihe hervorgerufener
Bewußtseinsinhalte man damit meint, und warum gerade diese.
Wenn der Inhalt z. B. ein Reaktionswort ist, ist er freilich zum
Teil dadurch bestimmt, daß ein Reizwort vorherging. Aber die
hervorgerufene Reaktion ist nur qualitativ bestimmt, sonst nicht.
Sie kann zeitlich sehr weit von dem Reiz entfernt liegen und
kann dazn in einem variabeln, durch das Reizwort nicht eindeutig
bestimmten Verhältnis stehen. Außerdem können noch andere
Vorstellungen sich zwischen Reiz- und Reaktionswort einschieben,
bei denen gleichfalls eine Beziehung zum Reizworte anzunehmen
ist. Es ist mir nicht klar, wie man unter solchen Umständen über-
haupt eine brauchbare Einteilung, besonders eine solche, bei der
der Wert der Assoziation oder die besondere Beziehung zwischen
Reiz und Reaktion berücksichtigt wird, hat erwarten können.
Man könnte ebensogut eine Einteilung nach dem Werte der Asso-
ziationen, die zwischen zwei in einem Buche aufeinander folgen-
den Substantiven vorliegen, versuchen1). Eine solche Einteilung
würde sich einfach nach der Anzahl der gewollten Kategorien und
gar nicht nach dem Sachverhalt richten können.
Daher scheint es uns, zunächst wenigstens, zweckmäßiger, Asso-
ziation anders zu definieren. Assoziation ist hiernach das,
wodurch es erst möglich wird, daß ein Erlebnis von
einem andern reproduziert werde. Diese Definition hat
den Vorteil, daß sie den Gegenstand bestimmt, den sie definieren
will, aber zugleich dessen Beschreibung und Analyse der Forschung
1) Aschaffenburg, Experimentelle Stadien Uber Assoziationen, I.Teil.
Kraepelins Psych. Arb. I. S. 220: »Ich habe mich . . . darauf beschränkt, die
Beziehungen von Reiz und Reaktion festzustellen, wie sie sich im Sprechen
widerspiegeln«.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 409
Uberläßt, wie es heutzutage unserem Ausgangspunkt entsprechend
sein sollte. Reproduktion kennen wir als Tatsache, aber Asso-
ziation kennen wir nicht, und wir können sie noch sehr wenig be-
grifflich bestimmen. Zugleich wird diese Definition brauchbar für
jede Aufeinanderfolge von Reproduktionen, wie lang diese auch
sei, weil sie sich nur damit wiederholt. Sie bezieht sich auf jede
Art von Reaktion. Damit wird auch eine Einteilung oder Be-
schreibung gewisser Reproduktionen (sogenannter Assoziationen) je
nach den Umständen nicht ausgeschlossen. Unsere Arbeit hat
eine solche zu geben versucht Diese wird aber den Details der
Arbeit überlassen, weil sie keine Einteilung ist, die gleich einen
allgemeinen Wert zu haben beanspruchen könnte, und vor allem,
weil sie nur die Bedingungen für die Reproduktion angibt.
Es scheint zunächst aus unsern Experimenten hervorzugehen, daß
irgendein Erlebnis auf ein anderes assoziativ folgen kann, wenn
Assoziation zwischen ihnen vorausgesetzt wird. Die einzige For-
derung ist, daß sie miteinander assoziiert seien, und die Qualität
der Erlebnisse scheint diese Möglichkeit auf keine Weise zu be-
grenzen. Zentral erregte Erlebnisse aber können auch aufeinander
folgen, ohne daß das Spätere vom Früheren reproduziert werde1),
wie wir bei unserer Betrachtung der mehrere Reproduktions-
tendenzen enthaltenden Versuche oben gesehen haben. Ein sol-
cher Fall würde sich etwa so darstellen lassen ; A a b c d a ß,
wobei A der Reiz ist, ab cd die erste Reihe von Erlebnissen, die
von A reproduziert werden, a ß die zweite Reihe; a wird aber nicht
von d reproduziert oder veranlaßt, sondern von A. Das sollte
nach der Beschreibung der B- und C- Fälle klar sein.
Nach dieser Betrachtung und nach unsern Versuchen wird
man leicht einsehen können, wie die Assoziationen einzuteilen sind.
Wir sehen von der Möglichkeit frei steigender zentraler Empfin-
dungen oder Vorstellungen hier ab, weil, wie wir oben angedeutet
haben, diese zum Teil vielleicht gut als Grenzfalle unter die B-
und C- Fälle gebracht werden können.
Jede Assoziation ist ebenso innere1) wie äußere, weil es, soviel
1} Oeshalb sage ich oben bei der Bestimmung des Gegenstandes bzw.
Definition »von einem andern reproduziert« und nicht »auf ein anderes ge-
folgt«.
2) Max Offner, Die Grundformen der Vorstellungsverbindungen, S. 66.
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410
Henry J. Watt,
wir wissen, nur eine Art von Assoziationen gibt, die dadurch
hergestellt wird, daß zwei Erlebnisse zusammen1) im Bewußtsein ge-
wesen sind. Daß das aber keine ausreichende Erklärung für die Re-
produktion ergibt, haben wir schon zur Genüge gesehen. Wir haben
den Einfluß der Aufgabe, der andern vom Reiz oder von reprodu-
zierten Erlebnissen in Gang gebrachten Reproduktionen, der Gefühle
usw. auf die Bestimmung der Reproduktion erkannt. Demzufolge
müssen wir sagen: Wo es sich um unmittelbar aufeinander folgende
Erlebnisse handelt, wird das Spätere nie vom Früheren durch
den Wert der inhaltlichen Beziehungen zwischen ihnen
reproduziert. Seine Reproduktion aber kann begünstigt, be-
nachteiligt oder ausgeschlossen werden, wenn ein vorhergehendes
Moment (wie die Aufgabe, ein Gefühl usw.) darauf wirksam wird,
aber nur auf Grund eines früheren bewußten Zusammendenkens
(am meisten in der Form Ax) oder einer Methode, die zu solchem
fuhren könnte {A3, A2 usw.). Welche Form bestimmend wird,
hängt von der Geschwindigkeit der sie ausmachenden Reproduk-
tionstendenzen ab. Die einzige Bedingung für die Entstehung einer
Assoziation, die wir denken können, ist also einfach die, daß die
zwei Erlebnisse zusammen im Bewußtsein gewesen sind. Man
kann sie auch Kontiguität oder Simultaneität nennen. Was wir
als Reproduktionsgeschwindigkeit untersucht haben, und jeden
Vorteil, den eine Reproduktion durch ihre Perservation usw. ge-
winnt, fuhren wir auf Assoziation zurück, weil wir eine genaue
Scheidung des Anteils der mitwirkenden Faktoren nicht vornehmen
können. Dabei hat die Assoziation je nach den Umständen gegen
oder für den Wert der Reproduktion einen Einfluß.
5) Der Versuch als Urteil.
Alle unsere Versuche sind Urteile gewesen, wie man leicht
einsehen kann. Wir dürfen also auf Grund dieser unserer Versuche
Aufschluß Uber die Natur des Urteils erwarten.
Es leuchtet zunächst ein, daß die bloße Reproduktion, die
bloße Aufeinanderfolge von Erlebnissen keine hinreichende
Bedingung für ein Urteil ist. Beispiele sind kaum nötig. Die
Aufeinanderfolge der Wortvorstellungen Pferd, Tier ist noch kein
1) Darunter ist auch daB Nacheinander innerhalb einer wohl etwas
variabeln Zeitetreclce zn denken.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 411
Urteil, und die von Pferd Mensch steht damit in keinem Wider-
spruche. Alles, was nnr vermöge der eigenen Kraft von Repro-
duktionstendenzen geschieht, ist noch nicht Urteil. Das sieht man
deutlich an allen Gedächtnisversuchen und dergleichen1).
Wir müssen jedoch zugeben, daß Reproduzieren bzw. Erleben
eine notwendige Bedingung fiir ein Urteil ist Aber auf welches
Subjekt bezieht sich das? Offenbar kann das Reproduzieren,
bzw. Erleben nur das des betreffenden Urteilenden sein. Mein
Erlebnis kann ein Urteil bei einem andern veranlassen, aber nur
insofern, als es sein Erlebnis wird. Daß das Erlebnis, welches
ich habe, zugleich Urteil oder Urteilserlebnis bei mir wird, ist
damit noch gar nicht gesagt. Wenn dem so ist, haben wir zu-
nächst zu fragen, unter welchen Bedingungen des Reproduzierens
bzw. Erlebens ein Erlebnis Urteil wird. Es ist zunächst offen-
bar, daß es überhaupt kein Urteil gäbe, wenn das Reproduzieren
oder die Aufeinanderfolge der Erlebnisse etwas streng Gesetz-
mäßiges wäre, in dem Sinne, daß auf eines nur ein bestimmtes
anderes unter allen Bedingungen folgen könnte. Das können wir
auch am Verhalten unserer Vp. den schnellen Reproduktionen
gegenüber sehen. Wird die Reproduktion bis zu einem gewissen
Grade aufdringlich, dann ist die Vp. nicht mehr geneigt, das Er-
lebnis Uberhaupt als Urteil anzusehen. In unserem zweiten3) Bei-
spiel ist ein Zustand vorhanden, der dem der einzig möglichen
Reproduktion annähernd gleich ist. Eine solche Neigung der Vp.
kann man durch alle Reihen von Versuchen verfolgen. Je mehr
die Reproduktion von der Beschaffenheit eines Reproduktionsmotivs
selbst, abgesehen von andern Einflüssen, bestimmt wird, desto
mehr neigt das Erlebnis dazu, rein psychologische Bedeutung zu
haben. Demzufolge möchten wir den Satz aufstellen: Was den An-
teil des Faktors der bloßen Reproduktion im Urteil betrifft, ist es
eine notwendige Bedingung zum Zustandekommen eines Urteils,
1/ Vgl. Wandt, »Psych., in., S. 680.
2j Aufgabe III. Zwei aufeinander folgende Versuche:
Spritze. Wort hat sich aufgedrängt ohne daß ich etwas dabei gedacht
habe. Ich wollte es unterdrücken. Gleichzeitig der Begriff des Spritzen-
hauses da. Wort doch ausgesprochen : Feld. 662 o.
Donner. Habe gar keine Vorstellung gehabt Ich habe das Wort Donner
betrachtet und mich gewundert, als das Wort Feld ausgesprochen wurde.
o. (Feld war in starker Bereitschaft aus einem früheren Versuch.;
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412
Henry J. Watt,
daß mehr als eine Reproduktion anf das betreffende Reiz-
erlebnis folgen kann. Viele Reproduktionstendenzen brauchen
nicht in jedem Fall erregt gewesen zn sein, anch nicht eine mög-
licherweise richtige, falls die tatsächlich wirksam gewordene falsch
war, sonst würde die Möglichkeit eines falschen Urteils anch
verschwinden, was ebenso schlimm wäre.
Wie wird dieser Znstand znm Urteil? Marbe1) hat das Urteil
nntersncht, und er hat gefunden, daß, wenn man die Anwendbar-
keit der Prädikate richtig oder falsch anf die betreffenden Reak-
tionen als Kriterium eines Urteils nimmt, man zwischen Reiz nnd
Reaktion nnter den protokollierten Erlebnissen nichts findet, was
sie im Gegensatz zu andern zu Urteilserlebnissen stempeln könnte.
Das findet man auch noch, wenn man Handlungen und Protokolle
untersucht, die einen Prozeß des Urteils wirklich verkörpert und
beschrieben haben. Es gibt nach Marbe deshalb kein psycho-
logisches Kriterium eines Urteils3), nichts, was man aufweisen
kann, das ein Erlebnis zum Urteil3) machte. Eine Absicht des
Erlebenden ist nach Marbe für das Urteil doch wesentlich, aber
er hat keine psychologisch nachweisen können4).
Dieses Resultat ist außerordentlich wichtig. Es ist eine un-
widerlegliche Kritik aller derjenigen Theorien, die behaupten, daß
in jedem Urteil das und jenes als bewußtes Erlebnis psychologisch
vorhanden ist oder sein muß. Sei es eine Zerlegung eines Ganzen
in seine Teile, sei es eine eigenartige Verbindung von Assoziationen,
sei es eine eigentümliche Inhärenz des Prädikats im Subjekt, es
ist einerlei. Sobald man behauptet, das sei im Verlauf des
1) Marbe, Experimentell-psychologische Untersuchungen Uber das Urteil.
2; a. a. 0., S. 94.
3) Vgl. Wundt, »Psych., III., S. 680f. Wundt geht in seiner Kritik
der »provozierten sogenannten Urteile« als Kunstprodukte des Experiments
zu weit, so weit, daß man sich zn wundern beginnt, daß Uberhaupt »ein im
normalen Verlauf des Denkens gebildetes ursprüngliches Urteil« noch von
jemand gefällt wird. Urteile sind doch nicht so seltene Vorkommnisse und
können sicher wiederholt werden. Aber Wundt betont mit Recht, daß
nicht jede »Assoziation« ein Urteil ist, wie MUnBterberg behauptet.
Beiträge I, S. 91.
4) a. a. 0., S. 52. Marbe drtickt sich weiterhin noch folgendermaßen
aus: »daß, wenn wir die Urteile auch als Erlebnisse bezeichnen können,
welche nach der Absicht des Erlebenden mit andern Gegenständen Uberein-
stimmen sollen, doch irgendwelche Absichtlichkeit im Bewußtsein des Er-
lebenden nicht nachweisbar zu sein braucht«. S. 64.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 413
Urteils notwendig psychologisch vorhanden, so ist ein Resultat
wie das Mar besehe vernichtend. Unsere Untersuchung erlaubt
uns aber, auf etwas hinzudeuten, was nicht zwischen die Er-
scheinung des Reizes und die Reaktion fallt , und was die bloße
Aufeinanderfolge von Erlebnissen, die wir in einer Analyse von
Urteilsprozessen finden, zu Urteilen macht und sie von bloßen
Aufeinanderfolgen unterscheidet, nämlich die Aufgabe. So viel
darf man von dem Standpunkt der reinen Selbstbeobachtung aus
behaupten.
Aber man könnte uns erwidern: wir geben zu, daß das, was
wir für das Urteil wesentlich finden, in einem Protokoll nicht
nachweisbar ist Wir haben auch nicht behauptet, daß es
immer nachweisbar sei, sondern wir glauben, daß irgendein
Prozeß der Zerlegung, eine Bedeutungsvorstellung, worauf sich
sowohl Subjekt wie Prädikat beziehen, oder dergleichen mehr
wirklich vorhanden sei, ohne daß wir es immer beobachten können.
Daun hat man aber den Standpunkt der reinen Selbstbeobachtung
rerlassen. Man ist von diesem, einem konszientialistischen, zu einem
realistischen Standpunkt Ubergegangen, wo man indirekt fest-
stellen kann, daß etwas erlebt worden sei, was sich nicht be-
obachten läßt, auch wenn man die Selbstbeobachtung äußerst vor-
sichtig und genau ausfuhrt. Dieser Standpunkt wäre aber doch erst
zu rechtfertigen.
Hat man das getan, so kann man dazu fortschreiten, das Wesen
und den Vorgang des Urteils von diesem realistischen Standpunkt
aus zu erforschen und zu beschreiben, was man auch ohne Vor-
urteil in bezug auf den Standpunkt auszufuhren versuchen sollte.
Ans einem konszientialistischen Standpunkt heraus aber darf man
keine Prozesse aus allgemeinen Gründen konstruieren, die für das
Urteil wesentlich sein sollen, und die in genau protokollierten Ver-
suchen nicht zu finden sind.
Bleibt man auf dem letzteren und beschränkteren Standpunkt
stehen, so hat man mit Marbe kein psychologisches Kriterium
eines Urteils und mit uns ein einziges, die vorausgehende Vor-
bereitung auf die Reaktion oder die Aufgabe, es sei denn, daß
man zeigen könnte, daß die Untersuchungen und die Resultate
talsch sind. Gehen wir Uber diesen Standpunkt hinaus, so werden
wir vielleicht andere Kriterien eines Urteils entdecken, neben
denen das eben angeführte als gleichberechtigt stehen wird.
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414
Henry J. Watt,
Solche sind aber an der Hand sorgfältig ausgeführter Experimente
noch zu entdecken.
Es kommen während des einzelnen Versuchs auch Urteile über
die Urteile vor, und vieles wird dabei zu Protokoll gegeben, was eine
Untersuchung beansprucht Nennen wir diese Urteile der Ein-
fachheit wegen sekundäre Urteile. Wir haben schon gesehen,
wie das sekundäre Urteil während des Aussprechen des Wortes und
danach auftreten kann. Wir haben zugleich auf Grund des Proto-
kolls behauptet, daß es auch vor der Versuchsreproduktion (d. b.
bevor das auszusprechende Wort klar apperzipiert worden ist) auf-
treten kann. Das Urteil kann in dem Falle richtig sein, aber es
kann auch leicht falsch sein. Z. B. »ich habe Mut ausgesprochen
in dem Glauben, daß ich etwas Richtiges hatte«. »Das Wort
kam mit großer Selbstverständlichkeit; es wurde aber ausge-
sprochen mit dem Bewußtsein, daß es falsch war«. »Das Wort
hat sich zuerst mit großer Leichtigkeit aufgedrängt Unmittel-
bar nach dem Aussprechen Zweifel. Zuletzt direktes Bewußt-
sein, daß es falsch ist.« »Im Begriff ,Bahn< (Reizwort) lag be-
reits der Begriff Verkehrsmittel. Ausgesprochen mit dem Be-
wußtsein, daß es richtig sei, nachträglich bewußt der falschen
Aufgabe«, nsw. Das zeigt uns also ziemlich deutlich die mögliche
Verwechselung zwischen der Art und Weise, wie die Repro-
duktion sich vollzieht, und dem Bewußtsein von deren Richtigkeit,
worin dies auch bestehen mag. Dazu sagt Vp. TO aus: »im Aus-
sprechen habe ich ein Bewußtsein, ob es (das Wort) sich recht-
fertigen läßt, bevor es ausgesprochen wird; wenn nicht, dann rUhle
ich eine Hemmung, wenn ja, dann bin ich ganz ruhig im Aus-
sprechen«. Zuverlässig aber ist dieses Bewußtsein als Kriterium
der Richtigkeit nicht, weil, wie die Versuche uns zeigen, eine rich-
tige Reproduktion gehemmt und nachher als richtig erkannt werden
kann, während andererseits eine selbstverständlich und richtig
scheinende Reproduktion später als falsch erkannt werden
kann.
Also macht dieses Bewußtsein die psychologische Bedingung
eines (sekundären) Urteilserlebnisses nicht aus, obgleich es ein
Urteil veranlassen kann. Es ist aber augenscheinlich kein direktes
Urteilsbewußtsein, sondern nur ein assoziiertes oder symbolisches.
Zuerst muß die Verbindung zwischen Richtigkeit und Ruhe im'
Aussprechen und zwischen Falschheit und dem Zustand der
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 415
Hemmung gefunden und gemacht werden. Damit wird die Er-
klärung nor anderswohin verschoben.
Wir haben bei unserer Betrachtung der fünften und der sechsten
Aufgabe gesehen, wie nötig die Kontrolle der Versuchsreproduktion
durch die Reproduktion eines Oberbegriffes, bzw. eines Ganzen
war. Dafür seien noch einige Beispiele vorgeführt. Aufgabe V,
Vp. VI, Motte. »Unwillkürliches inneres Sprechen ,und Rost* mit
dem Bewußtsein, daß diese Wörter Teile einer biblischen Redensart
seien. Aussprechen von Rost mit dem Bewußtsein der Richtigkeit«.
Hier hätte das Wort »fressen« genügt, um diese Reproduktion
zu rechtfertigen. Vergleiche man dagegen: Aufgabe V, Vp. HI,
Schwan. »Fisch drängt sich auf, ohne daß ich den Mittelbegriff
angeben kann, und im Aussprechen der Eindruck, es ist nicht
richtig, ich mußte einen Spezialfisch nennen. Und unmittelbar
danach , Beide sind im Wasser'.« Hier hat die nachträgliche
Reproduktion den ersten Eindruck beseitigt und die Reproduktion
gerechtfertigt. So wieder Aufgabe VI, Vp. VI.: Stein. »Brot mit
dem Bewußtsein der Unrichtigkeit, nachträglich die Bewußtseins-
lage, die als Erinnerung an die Versuchung Christi, daß die Steine
Brot werden, zu bezeichnen ist«. Vergleiche man dagegen: Auf-
gabe VI, Vp. I, Eule — Athen als Bestandteile der Phrase »Eulen
nach Athen tragen« *). In diesen Fällen ist das, was die Repro-
duktion richtig oder falsch erscheinen ließ, die vom Reizwort
und Reaktionswort ausgehende Reproduktion im Lichte
der im Bewußtsein vorhandenen Aufgabe. Für solche vom
Reizwort und Reaktionswort zusammen ausgehenden Reproduktionen
müssen wir auch die vielen Fälle ansehen, bei denen folgendes
konstatiert wird. »Ich hatte das Bewußtsein, daß das falsch war:
es ist das Ganze«. »Es ist der übergeordnete Begriff. Ich bin in
die alte Aufgabe zurückgefallen« usw. So auch Aufgabe V, Vp. ni:
»Während des Aussprechens ein lebhaftes Bewußtsein der Nicht-
zusammengehörigkeit von Photograph (Reizwort) und Telegraph.
Photograph habe ich dem Sinne nach absolut nicht aufgefaßt.
Ich war mir nicht bewußt, daß es kein Apparat ist, sondern ein
Mensch.«
1) Ein gewöhnlicher Fall ist: Aüfg. VI, Vp. VI. Salz. Kartoffeln. Ich
wollte das Wort ablehnen. Dann doch Sprechen des Wortes Kartoffeln mit
dem Bewußtsein, daß beide Speisen sind.
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Henry J. Watt,
So finden wir hier wieder, was wir schon für den Versach an
sich festgestellt haben. Da mußte das Reaktionswort sowohl von
dem Reizwort als von der Aufgabe bestimmt werden, um als
Urteil gelten zu können. Hier gehen Reiz- und Reaktionswort
zusammen, um unter dem noch dauernden Einfluß der Aufgabe
noch weiter reproduzierend zu wirken. Die das Urteil ausmachenden
Reproduktionen müssen von der Aufgabe selbst ausgehen, oder die
Aufgabe muß mit ihnen zusammengehalten werden, in welchem
Falle die Verträglichkeit oder Unverträglichkeit dieser Faktoren mit-
einander das Urteil charakterisiert, das sich wieder in irgendeinem
Akt, fast immer einer Reproduktion, wie ja, nein, kundgeben kann.
Damit wird das selbstverständlich, was auch experimentell be-
stätigt wird, daß die bloße Ersetzung eines Bewußtseinsinhaltes
durch einen andern oder die bloße Unverträglichkeit genügt, ein
(sekundäres) Urteil zu bilden. Demnach wäre ein Urteil oder
ein Denkakt eine Aufeinanderfolge von Erlebnissen, deren Aus-
gang von dem ersten Glied, dem Reiz, durch einen psychologischen
Faktor, der als bewußtes Erlebnis vorangegangen ist, aber als
feststellbarer Einfluß noch fortdauert, bedingt worden ist.
6) Zur Theorie des Denkens.
Es könnte behauptet werden, daß die Grundlage einer solchen
Untersuchung wie diese die Voraussetzung relativ selbständiger
und reproduzierbarer Vorstellungen ist. Man könnte das vielleicht
noch bestimmter ausdrucken, und wir wollen nicht leugnen, daß
wir psychische Vorgänge öfters mit Namen bezeichnet haben, die
ihnen, kritisch betrachtet, nicht genau entsprechen. Das ist aber
durch die Tatsache bedingt, daß man für den betreffenden Gegen-
stand den nächsten besten Namen benutzen muß, bis man fest-
gesetzt hat, welcher mit Worten schon fixierte Begriff dem Gegen-
stand am besten entspricht Dieser Tatbestand fordert von uns
am Ende und gemäß der experimentellen Untersuchung ein
kritisches Sichten unserer Voraussetzungen und unserer Begriffe.
Die Annahme der Selbständigkeit und Reproduzier-
barkeit der Vorstellungen ist sehr alt und einflußreich,
und es ist deshalb nicht zu verwundern, daß eine Darstellung
experimenteller Befunde über den Zusammenhang der Vorstellungen
noch unter ihrem Einfluß steht. Wir fühlen uns nicht ver-
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
417
anlaßt, hier näher auf diese Theorie oder auf ihre vielen Folge-
rungen einzugehen. Sehen wir lieber den heutigen Zustand
der experimentellen Psychologie etwas näher an. Was ist
ihr Resultat, und was dürfen wir auf dessen Grund behaupten?
Wir haben zahlreiche Untersuchungen Uber das Gedächtnis, Uber
Assoziation, über die Eigenschaften der Vorstellungen und der-
gleichen mehr, und wir finden darin viele Resultate formuliert, bei
denen sehr oft von Gesichtsvorstellnngen, Wortvorstellungen, Ge-
fühlen und anderem gesprochen wird. Man neigt deshalb begreif-
licherweise zu der Meinung, unser Denken bestehe aus solchen
aneinandergereihten und scharf voneinander getrennten Elemen-
ten, besonders weil wir gewohnt sind, diese, zumal die Wortvor-
stellungen, als etwas ganz scharf Begrenztes wie das gedruckte
Wort auf dem Papier anzusehen. Trotzdem wäre es wohl rich-
tiger, zu behaupten, daß wir die Grenzen zwischen den Erlebnissen
verschied ner Momente nicht ziehen und ihren besonderen Charak-
ter oft nur in ganz allgemeinen Ausdrücken angeben können.
Solche Angaben unterscheiden sich häufig in keiner Weise von
der Beschreibung der Wahrnehmungen, mit andern Worten, sie
beziehen sich auf Verhältnisse, die nicht psychologischen Charak-
ters sind. Es steht aber fest, daß wir viele Bewußtseinszustände
im allgemeinen mehr oder weniger genau charakteri-
sieren können und etwas Uber die Verhältnisse dieser Zustände
zueinander und zu gewissen Bedingungen des Erlebens schon
wissen. Mau hat daher versucht, einen so präzisen Ausdruck wie
den folgenden : in der Psychologie kennen wir nur Wahrnehmungen,
bzw. Empfindungen, Vorstellungen, Gefühle und Bewußtseinslagen
— zu formulieren und in diesem Sinne zu interpretieren: Unser Er-
leben bestehe nur aus solchen. Ein solche Umkehrung des Satzes
ist nicht erlaubt, wenn der erste auch zutreffend sein sollte, und
ist jedenfalls, was auch die allgemeineren Gründe dafür sein
mögen, sehr verfrüht. Ein Verfahren wie das letztere ist es
gerade, das so viele Philosophen und Psychologen so lange Zeit
betrieben haben. Die einigermaßen einheitlichen Bewußtseins-
zustände, die man feststellen konnte, hat man sich als die Bau-
steine des später gebauten und mit dem Mörtel der Assoziation
zusammengeklebten Bewußtseins vorgestellt. Die Entstehung solcher
Theorien in früheren Zeiten ist erklärlich, da ihre Verteidiger keine
oder nur eine sehr schlechte Psychologie besaßen. Wenn wir
ArchiT för Psychologie. IV. 27
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Henry J. Watt,
aber experimentelle Psychologie treiben wollen, müssen wir ans
vor der Versuchung hüten, irgendeine Theorie von vornherein ver-
teidigen zu wollen. Wir dürfen nur auf unserem experimentellen
Befund unsere Hypothesen aufbauen.
Was ist denn der Tatbestand? In dem vorgefundenen Be-
wußtsein treffen wir hier und dort in einer Art deutliche und
ausgeprägte Zustände, die wir mehr oder weniger gut be-
schreiben können. Wir sind dabei durch nichts veranlaßt, zu
denken, daß wir zwischen solchen deutlich abgrenzbaren Erleb-
nissen kein Bewußtsein gehabt haben. Wir können noch vieles über
diese deutlichen Zustände aussagen, was direkt oder indirekt zur
Bestimmung ihrer Beschaffenheit und Wichtigkeit beiträgt. Wir
gehen also von dem Psychischen, das wir kennen, aus,
analysieren die gesammelten Beobachtungen und experimentellen
Daten und nähern uns allmählich der Feststellung etwaiger ein-
heitlicher Zustände und deren regelmäßiger Aufeinanderfolge als
einem fernen Ziele. Wir gehen immer von einem schon konti-
nuierlichen Psychischen aus. Es ist also keine Aufgabe der
Psychologie, das erlebte Psychische am Ende einer Untersuchung
wiederherzustellen. Es genügt, gezeigt zu haben, daß die Bei-
träge zu seiner Analyse begründet sind.
Das ist die Grundlage dieser Arbeit. Wir haben zwei Grenzen
aufgestellt, den Moment der Einwirkung des Reizwortes und den
des Aussprechens des Reaktionswortes. Aus vielen Versuchen und
Aussagen haben wir ferner mit Hilfe von uns als wesentlich er-
scheinenden Momenten deren Aufeinanderfolge festgestellt. Unsere
gewonnenen Resultate lassen uns diese Momente und ihre Auf-
einanderfolge noch wichtiger erscheinen. Deshalb dürfen wir unsere
Terminologie in diesem Sinne zu rechtfertigen suchen.
Reproduktion wäre demnach die Reproduktion eines solchen Mo-
ments von einem andern aus, Assoziation wäre in ähnlicher Weise
zu deuten, usw. Dies ist die Methode der Forschung, bei der wir
einsehen, wie wir uns nur langsam den Kenntnissen nähern, die
uns Aufschluß über möglicherweise zu findende unanalysierbare
Einheiten geben können. Dabei ist unsere Hoffnung auf sehr
exakte Resultate selbstverständlich anfangs nur klein. Wenn wir
lange Zeit darauf verwenden müssen, Sammlungen von durch zwei
bekannte Momente a—e ausgezeichneten Aufeinanderfolgen zu
machen, so kommen wir nicht so bald zu unsern Resultaten, als
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Experimentelle Beitrüge zu einer Theorie des Denkens. 419
wenn wir gleich Aufeinanderfolgen von Einheiten a — b sammeln könn-
ten und dabei sicher wären, daß o und b unmittelbar beieinander
lägen. Mit unserer Methode verbinden wir auch die Annahme,
daß, wenn a—e sich wiederholt, die etwaigen dazwischen liegen-
den Einheiten sich in derselben Weise wie früher wiederholen.
Diese Annahme ist jedoch nicht absolut sicheT. Wir nehmen nur
nichts wahr, was dagegen spricht, wie es beim Aufeinanderfolgen
derselben Reiz- und Reaktions Wörter der Fall ist, bei denen wir
oft wissen, daß die Mittelglieder verschieden gewesen sind. Wir
könnten auch zu wichtigen Resultaten kommen, wenn diese An-
nahme falsch wäre, nämlich zu Resultaten, die von den zwischen
deutlichen Momenten vorkommenden Stufen unabhängig wären.
Jene könnten uns dann Aufschluß über diese geben, usw.
Eine solche Grundlage beraubt uns auch nicht des Rechtes, dar-
auf eine psychologische Theorie des Denkens aufzubauen. Das
wäre nur dann der Fall, wenn etwaige Theorien Uber »Assoziation«
schon eine Grundlage in gefundenen und bestätigten Einheiten hätten.
Unseres Wissens ist das aber nicht der Fall, und indem wir
zuerst festzustellen suchen, was die Grundlage jeder möglichen
Theorie des Denkens allein sein kann, glauben wir auf Grund
unserer Versuche berechtigt zu sein, eine solche Theorie anzu-
bahnen. Der Ausgangspunkt unserer Untersuchung kommt somit
zum Ausdruck in der Bezeichnung: Theorie des Denkens.
Welches sind nun unsere Resultate, wenn wir hier noch ein-
mal alles zusammenfassen dürfen? Wir haben gefunden, daß
jedes unserer Ergebnisse dahin weist, daß unter gleichen Be-
dingungen diejenige Reproduktionstendenz wirksam wird, die auf
Grund häufigerer Wiederholung eine größere Reproduktionsgeschwin-
digkeit besitzt. Es hat sich gezeigt, daß in vielen Fällen, und
gerade da, wo es sich um die Möglichkeit einer Wahl handelte,
fast- jeder bestimmende Faktor außer einigen Ausdrücken der Vp.
auf Seiten der Reproduktionstendenz und keiner auf Seiten einer
wählenden Apperzeption und derartiger Tätigkeiten zu finden war.
Wir haben auch Ähnlichkeit und Kontrast als Gründe für Repro-
duktionen an sich nicht zugelassen, weil wir keinen experimen-
tellen Befund hatten, der den Gebrauch solcher Wörter in ihrem
richtigen und nicht in einem metaphysisch abgeblaßten1) Sinn
1) Vgl. Wundt, a. a. 0., S. 659. Ob Kontiguität im letzten Grande nur
mittels Ähnlichkeit definierbar sei, ist keine psychologische Frage. Vgl.
27*
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420
Henry J. Watt,
erlaubt hätte. Alle Reproduktionstendenzen müssen wir also mit
einer gewissen, vielleicht auf Grand anderer Einflüsse wechseln-
den Stärke behaftet denken.
Wir haben sodann festgestellt, daß die Aufgabe, die wohl selbst
■ als ein größeres und stärkeres Reprodnktionsmotiv zu denken ist,
ein sehr wichtiger Faktor ist bei der Bestimmung der Reproduktions-
tendenzen, der Länge der Reaktionszeit und des qualitativen In-
halts des Reaktionsverlaufes. Sie hat eine so große und konti-
nuierliche Wirksamkeit, daß wir diese nicht ohne weiteres mit ihren
bis jetzt bekannten Äußerungen gleichstellen dürfen. Das sehen wir
auch daran, daß die Herrschaft falscher Aufgaben erst in ihren
Wirkungen ihr Vorhandensein erkennen läßt. Daß eine Aufgabe
wirksam geworden ist, erklärt wohl auch manche Fälle von Über-
raschung und sonstigen intellektuellen Gemütsbewegungen: durch
das Nebeneinandersein bloßer Vorstellungen ließen sie sich nicht
erklären. Die Aufgabe übt einen so bestimmenden Einfluß auf
ein möglicherweise großes und sich stetig veränderndes Gebiet
aus, daß, wenn man sich dieses in Form aller der von ihr be-
stimmbaren Reproduktionstendenzen denkt, man sie nicht bloß
eine motorische Einstellung1) nennen darf. Soweit wenigstens
ihre Wirksamkeit mit der Stärke von Reproduktionstendenzen zu
rechnen vermag, ist sie für einen ersten wie für alle weiteren
Versuche bestimmend.
Wir haben auch diesen Faktor, die Aufgabe, von den an die
Reizwörter gebundenen Reproduktionstendenzen trennen können,
so daß uns keine Verwechselung oder einfaches Ersetzen des einen
durch den andern vorgeworfen werden kann.
Welche Theorien stehen uns nun zu Gebote? Zunächst ist
jede Theorie, die mit den bloßen Assoziationen bzw. Repro-
duktionstendenzen, zumal ihrer physiologischen Umdeutung aus-
zukommen hofft, mit unsern experimentellen Resultaten un^er-
ßourdon, Les Resultats deB Theories contemponines sur l'association des
Idees. Rov. Phil. 31. (1891\ p. 684 und 593. Ch. Dumont. Contiguite"
dans l'association des idees. Rev. de Metaph. et de Morale. XIV. 1895.
p. 298. >Ed droit les idees ne peuvent s'associer par contiguitc, car les
idees ne peuvent utre contigues les unes aux autres dans l'esprit inetendu.
En fait les associations par contiguitc se reduisent ä l'association par ressem-
blance de temps et de lieu.« Vgl. Hüfler, Psych. 1897, S. 168, und noch
viele andere.
1; Wie Ebbinghaus das vorzuschlagen scheint. Psych. Bd. 1. S. 682.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 421
einbar. Positive physiologische Ergebnisse, die als Grundlage
dienen künnten, fehlen fast vollständig. Daß wir gewisse Gebiete,
die zum Vorkommen gewisser Vorstellungskreise notwendig sind,
lokalisieren können, kann man nicht leugnen, ebensowenig wie
daß die Reproduktionstendenzen eine gewisse physiologische Grund-
lage haben. Aber keine Zellen- und Fasertheorie hat für eine einiger-
maßen vollständige Schematisiernng ausgereicht. Solche Schema-
tisierungen haben immer etwas Künstliches an sich, und wenn a, b
und c die betreffenden Vorstellungen bezeichnen sollen, ist man
immer genötigt, noch unzählige ms und m anzuhängen, um die
Richtung des Denkens und dergleichen auszudrücken. Noch
weniger finden wir etwas der Aufgabe physiologisch Entsprechen-
des. Eine andere Art forschender Spekulation1) in der Physio-
logie wird vielleicht hier für uns Wert haben. Daß wir aber ftlr
psychologische Befunde keine physiologische > Erklärung« haben, ist
nach dem heutigen Stande unserer Kenntnis kein großer Mangel,
obgleich viele anderer Meinung sind. Man verwechselt auch leicht
das Produkt seiner Erklärungsungeduld mit seinem Wissen.
Wir glauben nun in den hier hervorgehobenen Tatsachen auch
das empirische Fundament der Wun dt sehen Apperzeptionslehre,
soweit sie sich auf das Denken bezieht, sehen zu dürfen. Wir
nehmen an, daß es unter denselben Umständen, nämlich Stärke
der Reproduktionstendenz, Beeinflussung durch eine Aufgabe,
jeder Vorstellung gleich möglich sei, in den Blickpunkt des Be-
wußtseins zu treten. Die Apperzeption übt also keinen unter-
scheidenden Einfluß auf die von derselben Aufgabe abhängenden
Reproduktionstendenzen aus. Wir haben dagegen festgestellt, daß
eine gewisse Geschwindigkeit den Reproduktionstendenzen an sich
zuzuschreiben ist, daß die Aufgabe wahrscheinlich alle ihr unter-
worfenen Tendenzen gleich befördert, und daß verschiedene Auf-
gaben in verschiedenem Maße auf ihre Reproduktionstendenzen
einwirken. Das sind die Prozesse, die vorausgesetzt werden, wenn
eine Vorstellung in den Blickpunkt des Bewußtseins eintritt. Da-
bei kann von einer aktiven, von der Apperzeption ausgehenden
Hemmung ebensowenig, wie von einem sich von dem der Repro-
duktionstendenzen prinzipiell unterscheidenden befördernden Einfluß
der Apperzeption die Rede sein. Was bleibt dann übrig? Im
1) Vgl. Hans Driesch. Die Seele als elementarer Naturfaktor. Leipzig
1903.
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422
Henry J. Watt,
allgemeinen haben wir nur verschiedene Kreise von Einflüssen
nnd ihre wechselnde Gruppierung und Zusammenwirkung und
einen relativ konstanten Bewußtseinszustand1), den wir
in gewisser Hinsicht charakterisieren können. Dieser ist die Be-
dingung der Zusammenwirkung jener und als solcher ist er außer-
ordentlich wichtig. Es bleibt darin genug übrig, dem Wundtschen
Begriff noch die Bedeutung und den Wert zu geben, die ihm zu-
geschrieben worden sind.
Wir sind von dem erlebten, ganz kontinuierlichen Bewußtsein
ausgegangen, und gerade diese Kontinuität fehlt den Elementen
der Analyse, die sie doch immer voraussetzen. Dieses Bewußt-
sein ist auch wohl die Bedingung der Entstehung komplexerer
Faktoren, deren einen wir in der Aufgabe gefunden haben. Es
ist eine Bedingung des Denkens, aber nicht das Denken selbst.
Das Denken ist demnach das Zusammentreffen und -wirken
verschiedener Gruppen von Faktoren in einem sie verbindenden
Bewußtsein, worunter der, den wir die Aufgabe genannt haben,
einen maßgebenden Einfluß auf die Aufeinanderfolge der andern
ausübt und die Art und Weise ihres Auftretens in vieler Hin-
sicht bestimmt. Es ist wahrscheinlich, daß es erst durch
wiederholtes Zusammenwirken so weit kommt, daß sich eine Auf-
gabe aus bloßen Aufeinanderfolgen von Vorstellungen usw.
entwickelt und voll bewußt wird, ohne daß die Vorstellungen,
die dazu fuhren, dadurch ihre Einheitlichkeit und Selbständigkeit
verlieren. Wir hätten uns den Verlauf dabei vielleicht so zu
denken, daß zuerst durch einige gewohnheitsmäßige Reproduktionen
eine Aufgabewirksamkeit entstanden wäre, die dann als solche
zum Bewußtsein käme und durch die dabei entstehenden Vor-
stellungen und durch ihre eigenen Wirkungen verändert würde.
Das ist jedenfalls ein Prozeß, den eine Aufgabe, die nicht nur
eine Wirksamkeit überhaupt bleibt, sondern als solche in der Form
von Vorstellungen zum Bewußtsein kommt, immer durchmacht.
Wir gelangen auch zu interessanten Vermutungen Uber die Eigen-
schaften der Vorstellungen in einem unentwickelten Bewußtsein,
wenn wir den Prozeß der Entstehung einer Aufgabe umkehren,
soweit wir das auszudenken vermögen.
In diesem Sinne werden keine unveränderlichen Vorstellungen
1) Er küante auch gut eine Grüßo oder Zeitstrecke genannt werden.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 423
angenommen, sondern sich stetig verändernde nnd sich dem Ein-
fluß von Aufgaben immer mehr fügende Komplexe. Zu diesem
Resultat wurden wir durch unsere Untersuchungen über die
Reproduktionstendenzen gefuhrt, und in der gemeinsamen Wirkung
in einem (psychologisch, nicht logisch) einheitlichen Bewußtsein,
das wir Apperzeption nennen dürfen, müssen wir alle die ver-
borgenen Schätze finden, die man im Begriff der Wahl und der
freien Spontaneität so andauernd gesucht hat
Schließlich bleiben bo drei ziemlich definierte Gebiete:
das der Reproduktionstendenzen selbst, die elementare Grundlage
aller andern, das der Aufgabe und das des Zusammenbewußtwerdens
und -wirkens von dieser und Inhalten, die relativ selbständig sein
können. In das erste gehört die sog. Wahl einer apperzeptiven
Tätigkeit, in das zweite alles, was von der Apperzeption im Her-
bartschen Sinne noch1) zum Begriff der Apperzeption gerechnet
wird, und als drittes und als die eigentliche Apperzeption bleibt
der Kern der Wnndtschen Apperzeption stehen.
7) Insuffizienz des Bewußtseins.
Wir sind in unserer Untersuchung von dem Protokoll nnserer
Yp. und unsern experimentellen Daten ausgegangen. Das
Protokoll beruht ja auf den Bewußtseinsinhalten der Vp., die sie
möglichst bald beschrieben und in Worten ausgedrückt haben.
Durch Zusammenstellung nnd Yergleichung der Aussagen, durch
Gruppierung der Aufeinanderfolgen, sowie durch ein entsprechendes
Verfahren mit den zugehörigen experimentellen Daten sind wir dazn
gekommen, verschiedenes über die Erlebnisse unserer Vp. und über
das Psychische im allgemeinen zu behaupten, obgleich wir dabei
wenig Rücksicht auf die Individualität der Vp. oder der Erlebnisse
genommen haben. Unsere Behauptungen beziehen sich trotzdem
auf die einzelnen Vp. und die einzelnen Erlebnisse oder deren Auf-
einanderfolgen. Wir haben dabei nicht etwa auf die physiologischen
Bedingungen des Erlebens geschlossen, sondern auf Eigentümlich-
keiten der Erlebnisse, die den Vp. und uns im allgemeinen noch
unbekannt waren. Wir behaupten auch Verschiedenes Uber
psychische Faktoren, denen wir eine Wirksamkeit und Merkmale zu-
schreiben, die in keiner Weise aus dem Protokoll der Vp. hervorgehen.
1 Was in der 5. Auflage von Wundt mir nicht wenig zu sein scheint.
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424
Henry J. Watt,
Dieses Verfahren wird zu einem sehr wichtigen Problem
für uns, indem wir daran denken, daß es darauf hinausläuft, den
Charakter von Erlebnissen indirekt festzustellen, d. h. weiter und
anders, als sie sich unmittelbar im Bewußtsein der Vp. kundgeben.
Unter Bewußtseinsinhalt verstehe ich im folgenden das, was
ich unmittelbar in meinem Bewußtsein vorfinde; Erlebnis sei zu-
gleich alles andere, was auch als psychisch zu denken ist, wobei
natürlich nicht ausgeschlossen ist, daß es schon znra Teil Bewußt-
seinsinhalt geworden ist.
Die allgemeine Frage ist: Darf man durch Verarbeitung
seiner Erfahrungen Behauptungen aufstellen Uber das, was nicht
als solches ein Bewußtseinsinhalt gewesen ist, abgesehen von der
Beziehung, in welcher das Objekt dieser Behauptungen zu dem
Bewußtseinsinhalt stehen mag ? Es kann ja ganz verschieden da-
von sein oder auch nur in bezog auf das, worüber man die betref-
fenden Behauptungen aufstellt, nicht als solches bewußt erfahren
worden sein. In dieser allgemeinen Frage sind sehr viele spezielle
Fragen enthalten. Wir müssen unser Gebiet zuerst abgrenzen.
Mit der Frage nach etwas von unserem Bewußtsein ganz Ver-
schiedenem und ganz Unabhängigem haben wir hier natürlich
nichts zu tun. Wir können also an derartig formulierten Problemen
einer Außenwelt oder der physiologischen Bedingungen des Be-
wußtseins als solcher und dergleichen mehr vorbeigehen. Auch
das Problem des fremden Seelenlebens, das psychologischer An-
nahme nach meinem eigenen Bewußtsein gleichartig ist, geht uns
hier nichts an. Die Psychologie macht im Einklang mit dieser
Annahme gleichen Gebrauch von der Erfahrung eines jeden.
Weiter würde es uns weuig nützen, anzunehmen, daß etwas
außerhalb meines Bewußtseins gerade so existiert, wie es in mei-
nem Bewußtsein ist, weil damit jedes Problem verschwindet, und
noch mehr, weil es den Tatsachen nicht entsprechen kann. Die
Frage ist vielmehr: Wie kann ich von etwas Erfahrenem mehr
behaupten, als ich mir direkt bewußt geworden bin?
Die allgemeine Tatsache, daß wir gegenwärtige Bewußt-
seinsinhalte als schon dagewesen denken, ist fast die umgekehrte
Frage: Wie läßt sich ein Bewußtseinsinhalt setzen, der als außer-
halb meines jetzigen Bewußtseins existierend nicht gedacht werden
kann? Wir können uns damit nicht ohne Erklärung zufrieden
geben. Die Tatsache, daß ein früher im Bewußtsein Gewesenes
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
425
wieder im Bewußtsein ist, kann nichts erklären, weil aus dem
bloßen Wiederdasein nie ein Bewußtsein von Gewesenem entstehen
könnte. Irgendeine Ordnung der Inhalte des Bewußtseins wurde
es ebenfalls aus demselben Grunde nicht erklären, und eine
Verschiedenheit der Quellen der Erlebnisse leistet ebensowenig.
Wir erleben alles, was uns gegeben wird, aber wir bekommen
dabei nie eine weitere Erkenntnis, wenn sie nicht in demselben
Grade gegeben und Inhalt des Bewußtseins wird. Wenn Vor-
stellungen, ohne irgendeine Spur ihrer Vergangenheit in ihrem
Inhalte zu haben, in uns auftauchen, so können wir sie nicht
in die Vergangenheit zurückvcrlegen. Jede Erweiterung des Be-
wußtseinsinhaltes ist uns auf den ersten Blick ebenso unver-
ständlich, weil wir ja nicht annehmen können, daß Bewußtsein
ohne weiteres aus nichts entsteht. Zur Erkennung einer Vor-
stellung muß irgendeine Reproduktion außer der Vorstellung
selbst da sein. Es können nicht zwei Empfindungen, z. B. die eine
von Rot, die andere von erkanntem Rot, existieren. Sonst hätten
wir ja zwei Qualitäten von Rot. Zu sagen, daß die zum zweiten
Male wahrgenommene Vorstellung ihren alten Begleiter reproduziert,
ist auch nicht als Erklärung der Erkennung zulässig, weil dieser
Prozeß allein ja nie ohne weiteres Erkennung ausmachen könnte.
Er wurde höchstens neue Inhalte, neue Erlebnisse geben, aber
nicht eine Erkennung gewisser Vorstellungen ausmachen. Die
fnndamentale Schwierigkeit ist hier, die sinnvolle Ver-
knüpfung von Vorstellungen nach ihrem Inhalt zu erklären. Dies
ist zugleich die psychologische Form der Frage: Wie
läßt sich ein Inhalt als Erweiterung unserer Erkenntnis anderer Er-
lebnisse, die diesen nicht als solchen enthalten, auf diese andern
Erlebnisse beziehen?
Verschiedene Tatsachen haben diese allgemeine Frage
innerhalb der Psychologie aufgebracht. Das Problem ist erst kürz-
lich klar ausgedruckt worden, und zwar in Beziehung zu einigen
unerwarteten Beobachtungen über das Verhältnis der Methode der
ebenmerklichen Unterschiede zu der der mittleren Ab-
stufungen der Empfindungsunterschiede *). Eine von F e ch n e r her-
stammende Annahme besagt, daß die ebenmerklichen Empfindnngs-
1) Klilpe, Congres de Psych. Paris 1900. Ament, Über das Ver-
hältnis der ebenmerklichen zu den übermerklichen Unterschieden. Diss.
Würzburg 1900.
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426
Henry J. Watt,
unterschiede, die mit einer Skala relativ gleicher Reizunter-
schiede parallel gehen, gleiche Größen sind. Wir finden aber,
wenn wir die mittlere Stufe zwischen zwei in der Reihe ebenmerk-
licher Unterschiede weiter auseinander liegenden Empfindungen
feststellen, daß die Anzahl cbenmerklicher Unterschiedsstufen in
in der unteren Hälfte größer ist als die Anzahl der Unterscbieds-
stufen in der oberen Hälfte, nämlich der zwischen der mittleren
Stufe und der intensiveren Empfindung. Wir schließen daraus,
daß die ebenmerklichen Unterschiede nicht gleiche Größen sind.
Das dürfen wir, weil bei dem Fall der mittleren Abstufungen die
Empfindungsunterschiede tatsächlich in bezog auf ihre Größe ver-
glichen wurden, während im andern Falle die Empfindungen nur
in bezug auf ihre Unterscheidbarkeit und nicht in bezng auf die
Größe dieses Unterschiedes verglichen wurden. Dieser Unterschied
hat aber doch eine Größe gehabt, und der Kern der Untersuchung ist,
daß wir diese Größe, die nicht als solche zum Bewußtsein kam,
indirekt bestimmen zu können glauben. Ferner: »Insbesondere
kommt es vor, daß ein Beobachter bei Buchstaben, die ihm gezeigt
worden sind, zwar deren Anzahl und ein paar von ihnen auch
ihrer lautlichen Beschaffenheit nach zu nennen weiß, aber von
ihrer Farbe keine Ahnung hat. So zweifellos es ist, daß er
die Buchstaben sämtlich irgendwie farbig gesehen hat, so unzu-
reichend muß demnach ein Bewußtsein heißen, welches von
diesen seinen Inhalten keine Kunde zu geben vermag«
Solche Betrachtungen bringen uns in ein allgemeines Gebiet, von
dem unsere Untersuchung ausgeht. Wir können viele ähnliche Bei-
spiele anfahren, aber es seien einige Erwägungen vorangestellt.
Wir brauchen kaum zu erwähnen, daß das Protokoll bei psycho-
logischen Versuchen kein erschöpfendes ist. Belege finden sich
fast bei jedem Versuche. Aber was bedeutet das? Protokoll ist
eine in Worten wiedergegebene Selbstbeobachtung, und Selbst-
beobachtung ist das Bewußtsein von Erlebnissen, das in allen einiger-
maßen komplizierten Fällen auf Reproduktion angewiesen ist und
alle Mängel und Unvollkommenheiten derselben teilt. Deshalb
müssen wir uns immer daran erinnern, daß es an der zugrunde
liegenden Reproduktionstendenz liegen kann, wenn eine Vor-
stellung in einem bestimmten Moment nicht im Bewußtsein ist
1) Külpe, Philosophie der Gegenwart in Deutschland, S. 102. Vgl.
Einleitung in die Philosophie. 3. Aufl. 1903. S. 273 ff.
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Experimentelle Beitrüge zu einer Theorie des Denkens. 427
Nun kommt noch etwas hinzu. Wir haben an unsern eigenen
Versuchen gelernt, wie wichtig und bestimmend für Reproduktionen
das Vorhandensein einer Aufgabe ist. Daß zu bestimmten Zeiten
gewisse Reproduktionen stattfinden und andere ausbleiben, babcu
wir nur durch die vorhandene Aufgabe erklären können, und durch
sie haben wir auch den überraschenden Mangel an Hemmung bei
Versachsreproduktionen erklärt. Wir haben ferner gesehen, daß der
Verschiedenheit der Wirksamkeit der Aufgabe die Verschiedenheit
in der Menge der Fehler zuzuschreiben ist. Aus alledem geht
hervor, daß die Vollkommenheit von Reproduktionen auf der Be-
schaffenheit der Reproduktionstendenzen für sich und auf der Wirk-
samkeit der sie beeinflussenden Aufgabe beruht. Das trifft genau
für das Protokoll und die Selbstbeobachtung zu. Wir müssen also
vorsichtig sein, wenn wir behaupten, daß, weil etwas, was im
Protokoll fehlt, vermutlich erlebt gewesen sein müsse, es wegen
Mangels einer Aufgabe nicht bewußt gewesen sei. Fällt denn die
Grenze zwischen dem Erleben und dem Bewußtsein mit der
zwischen der Möglichkeit und der Unmöglichkeit einer Reproduktion
bzw. Selbstbeobachtung zusammen? Es kommt nicht bei jeder-
mann die zum Beschreiben nötige Aufgabe in genügendem Grade
vor. Wir unterscheiden zwischen unsern Vp., obgleich wir des-
halb einem »schlechten« Beobachter nicht im mindesten Un-
aufrichtigkeit zutrauen. So wird das Verfahren, aus einem
Mangel im Protokoll auf einen gleichen im Bewußtseinsinhalt zu
schließen, höchst bedenklich. Wir sagen demgemäß: Entweder
ließ sich das Erlebte durch nichts im Bewußtsein im Moment
der Selbstbeobachtung Vorhandenes reproduzieren, oder das Vor-
handene konnte es einfach nicht reproduzieren, oder die vorhan-
dene Aufgabe der Beschreibung war nicht wirksam genug, diesen
Reproduktionen einen Vorteil vor andern zu geben, oder endlich
die Vp. hat tatsächlich nicht alles angegeben, was sie hätte an-
geben können. Auf diesen Tatbestand haben , wir in unsern
näheren Untersuchungen methodologisch Rücksicht genommen, in-
dem wir die Aufgabe der Beschreibung eingeschränkt und
zergliedert haben1).
In derselben Weise kann man die Tatsache erklären, daß die
Vp. oft nicht weiß, warum und wie sie zu gewissen Vorstellungen
1] S. oben § 5.
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428
Henry J. Watt.
gekommen ist. Z. B. Vp. I. : Man wird erst im Laufe der Zeit des
inneren Zusammenhangs im Verlauf der Erlebnisse bewußt. Außer-
dem finden wir folgendes im Protokoll: Vp. I »Ich habe dann
Mann gesagt, ohne daß ich den Gang zu diesem Worte beschrei-
ben kann«. »Wie ich auf Feder gekommen bin, weiß ich nicht«.
»Ich weiß nicht, wie das Wort gekommen ist« . Vp. III: »Kopf
habe ich ausgesprochen, ohne daß ich jetzt weiß, warum«. »Ge-
bäude drängte sich auf und wurde unterdrückt, ohne daß ich daa
Bewußtsein hatte, warum, oder daß es mit Recht unterdrückt
wurde«. Vp. VI: »Die Beziehung zwischen zwei aufeinander
folgenden Wortbedeutungserlebnissen kann ich nicht angeben«. Wir
haben auch wenig Grund, anzunehmen, daß die Beziehungen zwischen
Erlebnissen, auch wenn es solche gibt, der Vp. zum Bewußtsein
kommen und beschreibbar sind. Die Betrachtung der 7?-Fälle zeigt
uns augenscheinlich, daß zwei Vorstellungen von demselben Reiz
und derselben Aufgabe reproduziert werden und aufeinander folgen
können, ohne daß eine Verbindung zwischen ihnen anzunehmen
ist. Daraus wird zum Teil erklärlich, daß die Vp. öfters von Repro-
duktionen überrascht wurde. Solche »Erklärungen« der Repro-
duktionen und Beziehungen zwischen Erlebnissen beruhen wohl
auf Reproduktionen, die aus der Zeit der Entstehung der Prozesse
stammen. Als Reproduktionen haben sie ihre eigene Aufgabe zur
Bedingung, die man die Aufgabe der Erklärung nennen kann.
Man sieht ein, daß es sich bei dieser Aufgabe um frühere, von
den jetzt erlebten ausgehende Reproduktionen handelt.
Vieles scheint auch erst im Laufe der Zeit zum Bewußtsein zu
kommen, wobei man aber nicht entscheiden kann, ob es früher
erlebt wurde oder nicht. Vp. I: >Um das Wort zu finden, habe ich
auf die Wand geblickt. Ich weiß, daß ich in den früheren Ver-
suchen immer wieder weggeblickt habe, um besser zu finden.« »Ich
spreche das Wort innerlich, wenn ich lese: ob ich das sonst tue,
weiß ich nicht«.
Eine ähnliche Aufgabe läßt sich für das Vergleichen von
Bewußtseinsinhalten anführen. Es leuchtet ein, daß jede Vor-
stellung sich von andern Vorstellungen abgrenzen muß. Man kann
diese Grenzen aber nicht vorführen, und diese sind auch nicht als
solche Inhalte der Vorstellungen selbst. Um Inhalte des Bewußtseins
zu werden, müssen entsprechende Reproduktionstendenzen und Auf-
gaben gebildet werden. Es kann sein, daß dies im betreffenden
■
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 429
Falle nicht möglich ist, und daß wir durch andere Methoden, wie
bei den ebenmerklichen Unterschieden, Bestimmungen1) über die
Erlebnisse machen können. Das ändert jedoch wenig. In allen
Fällen ist das Verfahren ein indirektes. Durch Her-
Stellung von Reproduktionstendenzen und Aufgaben kommen wir
erst zu unserer Kenntnis der Erlebnisse, indem sie in dieser Hin-
sicht die unmittelbaren Inhalte anderer Erlebnisse werden, die sich
auf sie inhaltlich beziehen.
Damit sind wir auf einen allgemeineren Boden gekommen. Wir
sehen, daß die Erweiterung unseres Bewußtseins auf der Zunahme
der Reproduktionen beruht, so daß, auch wenn wir eine Vorstellung
erleben, wir sie in vieler Hinsicht erst zum Bewußtsein bringen,
indem wir anderes reproduzieren, das sich darauf inhaltlich be-
zieht. Das Merkwürdige ist eben, daß sich dies auf die be-
treffende Erfahrung inhaltlich bezieht. Wir verstehen es ohne
weiteres, daß peb rech z. B. reproduziert, wenn wir voraussetzen,
daß diese zwei Wortvorstellungen früher zusammen gelernt wurden.
Was wir nicht ohne weiteres verstehen, ist, daß auf die Vorstel-
lung rot das Wort Rot folgt, so daß dieses Wort rot eine ganz
eigentümliche Bedeutimg und Richtung für uns erhält.
Wir haben nun in unserer Untersuchung einen Faktor im Ver-
lauf des Denkens hervorgehoben, der gerade zu der Bestimmung
der sinnvollen Aufeinanderfolge der Erlebnisse beiträgt und dabei
noch andere Einflüsse hat. Wir haben auch das Mechanische in
Verbindung mit diesem Faktor gesehen, wie z. B. im Wachsen der
Geläufigkeit der Reproduktionstendenzen. Wir könnten dann sagen :
die Reproduktionstendenzen sind das eigentlich Mechanische im
Denken, und die Aufgabe ermöglicht die sinnvolle Beziehung
der Vorstellungen aufeinander. Sie wird durch Vorstellungen zur
Wirksamkeit bestimmt und gibt sich kund im Bewußtsein für sich
in der Form von Vorstellungen, z. B. >Teil finden < usw. Sie kommt
sonst aber nur insofern zum Bewußtsein, als sie anderes
von ihr Beeinflußtes zum Bewußtsein bringt. Sie bildet den sinn-
vollen Zusammenhang unter den von ihr reproduzierten oder aufge-
nommenen Vorstellungen. Wie wir gesehen haben, tritt vor und nach
dem Reiz worte mit vorausgegangener Vorbereitung eine Pause ein,
1 Vgl. Wundts Erklärung des >Merkelechen Gesetzes«. 5Psycb. I.
S.646f.
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430
Henry J. Watt,
entweder des Wartens anf das Reizwort oder des Wartens auf
die gesachte oder auftauchende Vorstellung usw. Solche Pausen
mit darauf folgenden Reproduktionen werden charakteristisch für
eine Aufgabevorstellung, oder umgekehrt stammen aus ihnen auch
Aufgabevorstellungen als ihre Namen. Dabei könnte man aber
nichts anderes zur Erklärung dieser Zustände angeben, als viel-
leicht eine derartige Aufgabevorstellung oder, wenn eine solche nicht
existiert , die Reproduktionen, die aus ihr hervorgehen. Dieser letz-
tere Prozeß beschreibt genau, was Marbe1) Bewußtseinslage
genannt hat. Eine Aufgabe wäre demnach ein Bewußtseins-
zustand, der nur existiert, um eine gewisse sinnvolle Reihe von
Reproduktionen zu bestimmen, und nur durch diese anzugeben ist,
ja nur als diese ins Bewußtsein kommt; eine Bewußtseinslage
wäre dasselbe ohne einen bestimmten Namen. Für die Aufgabe
kann man sowohl den Namen als auch den Sinn des von ihr
Reproduzierten angeben. Dabei läßt sich dieser Sinn oder die
sinnvolle Beziehung mit andern Beziehungen vergleichen, wie wir
in der Besprechung der Vorbereitung gefunden haben: diese aber
machten sie nicht notwendig wirksamer, obgleich sie gewöhnlich
dazu verwendet werden und das auch gelegentlich hervorbringen.
Ein anderer Gesichtspunkt bringt uns auf unsere Schluß-
betrachtung. Es ist ja selbstverständlich, daß die durch die
Aufgabe zustande gebrachte sinnvolle Verknüpfung zwischen der
Wahrnehmung (Erlebnis, Reiz) und dem sich darauf beziehenden
Bewußtseinsinhalt (Reaktion) besteht. Danach können wir behaup-
ten: In jedem Reiz — und irgendein Erlebnis, worüber wir etwas
aussagen, ist auch in diesem Sinn ein Reiz — liegt alles, was
unter dem Einfluß irgendeiner Aufgabe in der dadurch
bestimmten Reaktion in sinnvoller Beziehung genau zum
Ausdruck kommt. Wenn das Erlebnis dasselbe bleibt und die
zu einer Reaktion nötigen Bedingungen erfüllt werden, nnd wenn
dabei Genaues darin zum Ausdruck kommt, z. B. Rot oder diese
und jene Größe, dann müssen wir sagen: In dem Erlebnis liegt
schon, bevor diese Bedingungen erfüllt werden, Rot, die nnd jene
Größe, die und jene Qualität oder Eigenschaft. Damit haben wir,
abgesehen von den schon erwähnten Schwierigkeiten des Ver-
1) Vgl. K Harbe, Experirnentell-psych. Untersuchungen Uber das Urteil.
1901. S. 11 f. J. Orth, Gefühl und Bewußteeinslage. 8. 69 ff.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens.
431
fahrens, die Möglichkeit festgestellt, daß etwas in einem
schon mehr oder minder zum Bewußtsein gekommenen Erlebnis
Torhanden ist, ohne schon zum Bewußtsein gekommen zu sein.
Der Vorteil des experimentellen Verfahrens dem Protokoll
gegenüber ist, daß wir diese Bedingungen des in einer Reaktion
zum Bewußtsein Kommens erfüllen können.
8) Ober allgemeine Vorstellungen und Begriffe.
Wir haben oben viele Angaben der Vp. über Gesichtsvorstel-
hmgen (§ 11) und das mehr unbestimmte Bedeutungsbewußtsein
§ 5) mitgeteilt. Es dürfte sich wegen der großen, verwirrenden
Verschiedenheit der Meinungen lohnen, auf die hierin liegenden
Probleme etwas näher einzugehen.
Es hat lange gedauert, bis man in der Aufzählung des Vorge-
fundenen zwischen den allgemeinen Begriffen und den allgemeinen
Vorstellungen unterschieden hat1), und man hat sich vielfach durch
die Angabe über das eine auch in bezug auf das andere bestim-
men lassen. Zur Abgrenzung des Gebiets wollen wir uns von den
drei Begriffen: Wort, Begriff und Vorstellung leiten lassen.
Die Vorstellung ist uns in der Form von Gesichts- und Wort-
vorstellungen, von denen wir hier ausgehen, gut bekannt, wenn
sie auch nicht ebenso genau definiert ist Wir sehen einstweilen
ganz davon ab, den Begriff der Vorstellung unterzuordnen2). Man
zweifelt nicht daran, daß ganz genau bestimmte Vorstellungen vor-
kommen. Ich habe oben einige sehr genaue und lebhafte ange-
geben (§ 11). Diese vielleicht öfter vorkommende Genauigkeit
der Vorstellungen und die Schwierigkeit, welche Vorstellungen, zu-
mal unbestimmte und dunkle, einer ungeschulten Selbstbeobachtung
bieten, hat wohl die entschiedenen Behauptungen 3) veranlaßt, daß
diese Art allein vorkommt, wenn wir von theoretischer
1} Vgl. Otto Liebmann, Zur Analysis der Wirklichkeit. 2. Aufl.
über die ExiBtenz abstrakter Begriffe. S. 487.
2j Wundt, 5 Psych. III. S. 574 ff. Vom Standpunkt der experimentellen
Psychologie kann die Unterordnung noch nicht durchgeführt werden.
Bin et b Bestreben, Begriffliches und Vorgestelltes, wie wir sie in der Selbst-
beobachtung finden, sorgfältig zu unterscheiden, kann die experimentelle
Forschung nur fördern. A. a. 0., S. 84 ff.
3) Berkeley, Principles of human knowledge, Introd. §10. Hume,
Treatise on human Nature. Book 1. part. 1. § 7 usw.
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432
Henry J. Watt,
Voreingenommenheit absehen, die erklärt, daß Vorstellungen nur
als individuell bestimmte Gebilde möglich sind. Die oben (§ 11)
mitgeteilten Beispiele allgemeiner Vorstellungen machen, insofern
das Protokoll verschiedener Vp. eine Garantie dafür ist, ihr Vor-
kommen sehr wahrscheinlich. Demnach wäre die Ansicht, wonach
auf Grund der Selbstbeobachtung nur bestimmte Vorstellungen vor-
kommen sollen, als beschränkt und vielleicht etwas dogmatisch zu
bezeichnen.
Der Ursprung der allgemeinen Vorstellung möge hier un-
berücksichtigt bleiben. Die allgemeine Ansicht *), wonach die Ver-
schmelzung vieler ähnlicher Vorstellungen die gemeinsamen Teile
herausheben und die vereinzelt vorkommenden verdunkeln soll,
enthält wohl einige Wahrheit. Es ist aber nicht sicher, daß die-
jenigen Vp., welche unbestimmte allgemeine Vorstellungen haben,
sie durch die Verschmelzung ganz konkreter Vorstellungen er-
halten haben. Es ist wahrscheinlich, daß einige Vp. nur unbe-
stimmte, andere Vp. dagegen bestimmte und vielleicht nur solche
Vorstellungen haben2).
So weit reicht Air uns die Tatsächlichkeit. Man hat aber diese
Beschaffenheit der Vorstellungen öfters aus allgemeinen Grün-
den bestimmen wollen. Was läßt sich nun darüber sagen?
Es ist offenbar, daß eine Vorstellung nicht ganz bestimmt ist,
weil sie diese und nicht zugleich eine andere iBt, oder weil sie
individuell ist. Ein Begriff ist auch individuell, aber er ist deshalb
in keiner Weise weniger allgemein.
Taine3) behauptete, daß die farblose unbestimmte Vorstellung
nicht die allgemeine abstrakte Idee, sondern nur ihre Begleiterin
sei. Wir haben diese Ansicht, daß unsere Vorstellungen unsere
Worte und Gedanken bloß begleiten, schon oben (§ 11) bekämpft,
und wir wollen darüber hier nicht weiter diskutieren. Wir haben
keinen Gruud, anzunehmen, daß Gesichtsvorstellungen unfähiger
als Wortvorstellungen sind, Sinn zu haben und im Verlauf der
Gedanken allein zu arbeiten. Wie dem auch sein mag, so sind
wir jedenfalls nicht imstande, den Sinn und das bloße Bild für
sich behandeln und noch weniger, wenn das Uberhaupt möglich
1) Taine, De l'Intelligence. Pari» 1897. II. S. 259, 260. Gegen diese
Theorie erhebt Binet Bedonken. A. a. 0., S. 146 ff.
2) Vgl. James, Psych. IL 8. 66 ff. ftir Beispiele.
3) A. a. 0., S. 260.
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Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. 433
ist, sie voneinander abtrennen zn können. Es kann wohl sein,
daß man, wenn man sich die Aufgabe stellt, sich eine Vorstellung
zn vergegenwärtigen und zn beobachten, dabei findet, daß sie in
jeder beobachteten Richtung ganz bestimmt wird1), und daß das
in dieser WeiBe beobachtete Bild nichts bedeutet. Aber dies be-
weist noch nicht, daß es mit den Vorstellungen im allgemeinen so
ist. Um so mehr wird eine Beobachtung von Gesichts Vorstellungen,
wie sie im Verlauf des Denkens oder des Versuchs vorkommen,
gefordert.
Es ist nicht selbstverständlich, daß, wenn eine Vp. nicht alles
genau beschreiben kann, was die Vorstellung enthält, diese des-
halb allgemein ist. Das einzige Kriterium, das wir bis jetzt da-
für haben, ist die Beschreibung und die allgemeine Behauptung der
Vp. Von dieser Unvollkommenheit der Selbstbeobachtung rührt
es her, daß diejenigen Ansichten, welche die Allgemeinheit
oder Unbestimmtheit der Vorstellungen als einzige Möglich-
keit behaupten, sich alle auf beobachtete Vorstellungen be-
schränken. Die Selbstbeobachtung allein aber verschafft uns be-
kanntlich keine genügende Sicherheit über die Beschaffenheit der
erlebten Vorstellung. In einer der obigen entgegengesetzten Rich-
tung bewegt sich die schon erwähnte Ansicht, wonach jede Vor-
stellung ganz bestimmt ist. Wenn man sich an die bekannte
Unbestimmtheit vieler Vorstellungen erinnert, leuchtet es ein, daß
reale psychische Gebilde, die ganz bestimmt sein müssen,
obgleich sie als solche nicht erkannt werden, die Voraussetzung
dieser Theorie sind. Derselbe Gegensatz der Theorien ließe sich
auch für die Begriffe durchführen.
In der Analyse des Reaktionsverlaufs (§ 5) habe ich viele An-
gaben der Vp. gebracht, die uns etwas Aufschluß über den Be-
griff geben können. Unsere zwei ersten Aufgaben waren begriff
lieh. Um nun einen übergeordneten Begriff zu dem Reizwort als
untergeordnetem Begriff zu reproduzieren, war es wohl meistens
nötig, das Reizwort ebensosehr als Begriff zum Bewußtsein kommen
zn lassen, wie dies im Verlauf des gewöhnlichen Denkens geschiebt
Wir dürfen daher einiges Protokoll darüber erwarten. Die
Vp. sind nun darüber einig, daß das Wort und dessen Verständnis
nicht ein und dasselbe ist. Vp. I: »Die volle Bedeutung des
1} VgL Binet, ». ». 0., S. 89.
AicWt fftr Paychologi«. I?. 28
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434
Henry J. Watt,
Wortes war schon bei der bloßen optischen Wahrnehmung da. Es
ist mir nicht zum Bewußtseiu gekommen, daß ich das Wort aus-
gesprochen hatte, oder daß die Bedeutung in irgendwelcher Vor-
stellung explizite gegeben war« — oder: »Mit dem innerlichen
Aussprechen des Reizwortes war gleichzeitig verbunden das Verständ-
nis«. »Es scheint, als wenn dieser Komplex von Schrift-, Sprech-
und Lautbild das Verständnis vollendet «. In diesen Zitaten ist es
nicht ganz klar, ob neben dem Wortbild ein keine deutlichen
Elemente enthaltendes Verständnis vorhanden war. Vp. III spricht
sich klarer dafür aus: »Es war keine Pause zwischen dem Er-
scheinen des Reizwortes und dem Verständnis da, doch dauerte es
ziemlich lang, bis das Verständnis ganz dawar. Mit vollem Ver-
ständnis war der Anstoß zur Assoziation gegeben.« Dagegen ist
der Fall, in welchem Laut-, Schrift- und Sprechbild nicht das Ver-
ständnis geben, sondern eine bloß lautliche oder sinnlose Assoziation,
ja gut bekannt Vp. III konstatiert oft, daß der Begriff oder der
Sinn des kommenden Wortes eher dawar, als das Wort selbst,
und Vp. I suchte einmal nach einem spezielleren Begriff, »dem
Glied einer bestimmten Gemeinschaft« , aber der Gedanke daran
enthielt keine Worte. Auch Erinnerungen ohne Worte kommen
vielfach vor. Ein Oberbegriff, sagt eine Vp., war als Richtung,
nicht als Wort, vorhanden. Das bloße Wort also repräsentiert
den Begriff nicht
Man behauptet auch, daß dieses Verständnis etwa eine Masse
von dunkeln Assoziationen sei, seien es Wortassoziationen
oder andere. Das ist aber ebenfalls nach dem Protokoll nicht selbst-
verständlich. Man hört nichts von solchen im Verständnis Hegen-
den Massen von Assoziationen, obgleich wohl später im Suchen
nach einem Reaktionswort sich viele auf einmal aufdrängen können.
Das folgende Protokoll, Vp. III: »Im Verständnis war kein An-
haltspunkt zu Assoziationen. Dann kam die Frage, was ist denn
eine Arznei?' Das ging nicht Auch mit Veranschaulichungen
ging es nicht. Dann ,was für eine Arznei gibt es?' (Wortvor-
stellungen), und damit eine Erinnerung und das Reaktionswort« —
deutet darauf hin, daß das Verständnis eines Begriffes, wie es sich
der freien Selbstbeobachtung bietet, etwas anderes ist als dunkel
anklingende Assoziationen oder eine bestimmte Anzahl derselben.
Doch muß hier eine Methode der experimentellen Bestimmung noch
ausgebildet werden. Das Protokoll meiner Versuche reicht leider
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Experimentelle Beitrüge zu einer Theorie des Denkens. 435
für eine begründete Meinung nicht ans. Eine analysierende Selbst-
beobachtung in dieser Richtung ist äußerst schwierig. Das wenige
aber, was wir haben, und die Schwierigkeit in der Behandlang der
Bewußtseinslagen und des Bedeutungsbewußtseins und dergleichen
in der Psychologie im allgemeinen lassen vermuten, daß viele
Beschreibungen dessen, was vor sich geht, wenn man einen Be-
griff denkt, dem Vorgefundenen nicht entnommen wurden, sondern
den Forderungen einer Theorie entsprechen sollen, oder Kon-
struktionen des wahrscheinlichen Verlaufs der Verarbeitung der
Erfahrung sind. Auch die Abhängigkeit der Begriffe und Urteile
von den Worten ist angesichts unserer tatsächlichen Kenntnis viel
zu entschieden ausgedruckt worden1).
Es sind wahrscheinlich sehr wenige Personen, die einen Be-
griff irgendwie psychologisch vollziehen. Wenn man einen Be-
griff denkt und darauf die Definition und alle Merkmale reprodu-
ziert, so fragen wir: inwiefern ist es richtig, dieses Bewußtsein
des Begriffs mit den zur Definition gebrauchten Worten und dem
während der Reproduktion Erlebten zu identifizieren, oder alle diese
letzteren in das Bewußtsein des Begriffes realiter zu verlegen? Wie
wir schon erwähnt haben, ist es nicht anzunehmen, daß die später
reproduzierten Uber- oder untergeordneten Begriffe schon immer
im Verständnis des Reizwortes angedeutet liegen, obgleich das
doch vorkommt Ebensowenig ist es selbstverständlich, daß »fttr
das Denken des Begriffs des Kreises, welches in Urteilen geschieht,
das Denken des Begriffs des Kreises gänzlich vollzogen ist« 2). Es
kann psychologisch wohl in der Absicht3) schon vollzogen sein,
als eine Reproduktion, die später verstanden wird, und die in dem
ihr anhaftenden Sinne der logischen Vollkommenheit entspricht.
Aber wir haben noch keinen Grund, die Existenz eines einheit-
lichen psychologischen Analogons des logischen Begriffs anzunehmen,
und wir wissen psychologisch so gut wie nichts von der Beschaffen-
heit des Bedeutungsbewußtseins, das ein Begriffswort begleitet.
1] Erdmann, Logik. S. 223 ff. Binet wül Beispiele für wortloses
Denken bringen, a. a. 0., S. 106. Die Aufgabe {force directrice) wäre nach
ihm ein sicheres Beispiel.
2 Stör ring, Zur Lehre von den Allgemeinbegriffen. Phil. Stud.
Bd. XX. S. 335.
3j Volkelt, Erfahrung und Denken. S. 366. Vgl. Binet, L'etude ex-
penmentale de lintelligence. Binet führt dafür das Wort >intentionisme«
ein. A. a. 0., S. 164.
28*
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436 Henry J. Watt, Experimentelle Beitrüge zu einer Theorie de« Denkens.
Wenn wir jetzt zu der allgemeinen Vorstellung zurück-
kehren, dürfen wir fragen: warum spricht man ihr die Allgemein-
heit oder die Funktion der Allgemeinheit ab? Die Gesichts Vor-
stellung entspricht Welleicht nicht ganz der Bestimmtheit des
logischen Begriffs, aber sie könnte wohl seine Merkmale reprodu-
zieren, ebensogut wie eine Wortvorstellung. Sie ist sehr wahr-
scheinlich in dieser Hinsicht psychologisch ebenso fähig, wie die
Wortvorstellung, und es kann wohl sein, daß die allgemeine Vor-
stellung bei vielen Personen oft die Rolle einer begrifflichen Wort-
vorstellung oder noch mehr die der begrifflichen Bewußtseinslage
spielt, und daß nur die einmal eingeschlagene Richtung die Bevor-
zugung der Worte erklärt. Es ist deshalb wünschenswert, daß
möglichst viele Beispiele dieser Art gesammelt werden, bis
sich unsere Kenntnisse genügend erweitert haben werden. Dann
erst werden wir genau wissen, ob die begriffliche Bewußtseinalage
für das Begriffswort und die allgemeine Vorstellung eine notwen-
dige Rolle spielt und inwiefern die stellvertretende Funktion der
Erlebnisse ein eigentümliches und nicht ganz allgemeines psycholo-
gisches Merkmal ist. Es scheint uns, daß dies aus logischen Über-
legungen zu sehr als Eigentümlichkeit der den Begriff begleiten-
den Vorstellungen gilt. Um so mehr ist es nötig, alles vom Stand-
punkt der vorausgehenden und kontrollierenden Vorbereitungen
(Aufgaben) zu untersuchen1). Wir müssen vor allem nicht suchen,
die Beschaffenheit psychischer Zustände aus allgemeinen Gründen
zu bestimmen, sondern nur aus der vorgefundenen Natur der sich
unserem Auge bietenden Gebilde dürfen wir auf etwaige tiefer
liegende Bestimmungen schließen. Dabei muß man sich klar-
machen, ob man nur das, was man erlebt, klärt und ordnet, oder
ob man das Erlebte durch die Annahme von uns unabhängiger psy-
chischer Gebilde, deren Wesen und Wirken durch unsere Beobach-
tung nicht beeinflußt wird, zu vervollständigen und zu erklären
sucht. Das tut not.
1) Binet nimmt einen ähnlichen Standpunkt ein. Er hat sehr wahr-
scheinlich recht, aber der Name »intentionisme« drückt nicht da« Richtige
ana and ist jedenfalls vorläufig etwas überflüssig.
Eingegangen am 15. Mai 1904.)
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UNTER MITWIRKUNG
vox
Prof. H. HÖFFDING in Kopenhagen, Prof. F. JODL in Wien,
Prof. A. KIRSCHMANN in Toronto (Canada), Prof. E. KRAEPEHN
in München, Prof. O. KÜLPE in Würzburg, Dr. A. LEHMANN
in Kopenhagen, Prof. Th. LIPPS in München, Prof. G. MARTIUS
ts Kiel, Prof. G. STÖRRING in Zürich, Dr. W. WIRTH in Leipzig
und Prof. W. WUNDT in Leipzig
HERAUSGEGEBEN VON
F. MEUMANN
o. PROFESSUR PER PHILOSOPHIE A. D. UNIVERSITÄT ZI R1CH
IV. BAND, 4. HEFT
MIT VIER FIOULIEN IM TEXT
LEIPZIG
VERLAG VON WILHELM ENGELMANN
1905
Ausgegeben am 21. Februar JHOö.
Bemerkungen für unsere Mitarbeiter.
Das Archiv erscheint in Heften, deren vier einen Band von
etwa 40 Bogen bilden.
>Im Interesse einer vollständigen Berichterstattung Uber neue
Erscheinungen im ganzen Gebiet der Psychologie , psychologischen
Erkenntnistheorie, sowie der Anatomie und Physiologie des Nerven-
systems und der Sinnesorgane bittet die Redaktion um geh*. Ein-
sendung aller Separatabzüge, Dissertationen, Programme, Mono-
graphien usw. an die Adresse der Redaktion Zürich V, Schmelz-
bergstraße 53, oder an die Verlagsbuchhandlung von Wilhelm
Engelmann, Leipzig, Mittelstraße 2.<
An Honorar erhalten die Mitarbeiter: für Abhandlungen
.,#30. — , für Referate Jt 40. — für den Bogen. Von den Abhand-
lungen werden an Sonderdrucken 40 umsonst, weitere Exemplare
gegen mäßige Berechnung geliefert. Von den Referaten werden
Sonderdrucke nur auf Verlangen geliefert. Die etwa mehr gewünschte
Anzahl bitten wir, wenn möglich bereits aufdem Manuskript an-
zugeben.
Die Manuskripte sind nur einseitig beschrieben und druckfertig
einzuliefern, so daß Zusätze oder größere sachliche Korrekturen
nach erfolgtem Satz vermieden werden. Die Zeichnungen für Tafeln
und Textabbildungen (diese mit genauer Angabe, wohin sie im Text
gehören) werden auf besondern Blättern erbeten ; wir bitten zu beachten,
daß für eine getreue und saubere Wiedergabe gute Vorlagen uner-
läßlich sind. Anweisungen für zweckmäßige Herstellung der Zeich-
nungen mit Proben der verschiedenen Reproduktionsverfahren stellt
die Verlagsbuchhandlung den Mitarbeitern auf Wunsch zur Verfügung.
In Fällen außergewöhnlicher Anforderungen hinsichtlich der Ab-
bildungen ist besondere Vereinbarung erforderlich.
Die im Archiv zur Verwendung kommende Orthographie ist
die für Deutschland, Osterreich und die Schweiz jetzt amtlich ein-
geführte, wie sie im Du den sehen Wort erb uch, 7. Auflage, Leipzig
1902, niedergelegt ist.
Die Veröffentlichung der Arbeiten geschieht in der Reihenfolge,
in der sie druckfertig in die Hände der Redaktion gelangen, falls
nicht besondere Umstände ein spateres Erscheinen notwendig machen.
Die Korrekturbogen werden den Herrn Verfassern von der Ver-
lagsbuchhandlung regelmäßig zugeschickt ; es wird dringend um deren
sofortige Erledigung und Rücksendung (ohne. das Manuskript) an die
Verlagsbuchhandlung gebeten. Von etwaigen Änderungen des Aufent-
halts oder vorübergehender Abwesenheit bitten wir, die Verlagsbuch-
handlung sobald als möglich in Kenntnis zu setzen. Bei säumiger
Ausführung der Korrekturen kann leicht der Fall eintreten, daß
eine Arbeit für ein späteres Heft zurückgestellt werden muß.
Die Referenten werden gebeten, Titel, Jahreszahl, Verleger, Seiten-
zahl und wenn möglieh Preis des Werkes, bzw. die Quelle bespro-
chener Aufsätze nach Titel, Band, Jahreszahl der betreffenden Zeit-
schrift genau anzugeben.
Herausgeber und Verlagsbuchhandlung.
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Uber das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke.
Von
Dr. Kate Gordon.
(Aus dem psychologischen Institut der Universität Würzburg.)
Mit zwei Figuren im Text
Während die experimentelle Psychologie im allgemeinen auf
dem Gebiete des Gedächtnisses schon ganz bedeutende Unter-
suchungen Yorgenommen hat, ist verhältnismäßig sehr wenig über
dag sogenannte affektive Gedächtnis oder Uber den Einfluß, welchen
Lost bzw. Unlust auf die Erinnerungsprozesse ausübt, gearbeitet
worden. Dies ist aber in keinem Sinne eine einfache Frage, die
man a priori oder auf der Stelle beantworten kann; wir können
in ihr z. B. die folgenden Probleme isolieren: 1) Gibt es ein rein
affektives Gedächtnis? 2) Haben die Erinnerungsprozesse als
solche einen affektiven Ton — sind sie angenehm oder unange-
nehm? 3) Ist die Erinnerung an angenehme Erfahrungen selbst
eine erfreuliche Erinnerung oder nicht? 4) Hat die affektive Be-
tonung eines Eindrucks einen nachweisbaren Einfluß auf die Er-
innerung an ihn in bezug auf die Leichtigkeit, die Genauigkeit,
die Dauerhaftigkeit solcher Erinnerung usf.? Man könnte weiter
mit einem affektiv betonten Material alle schon entdeckten Gesetze
des Gedächtnisses von neuem prüfen. Das Verhältnis zwischen Ge-
dächtnis und Affekt ist also kein einfaches. Die folgenden Versuche
bieten einen kleinen Beitrag zur Lösung eines dieser Probleme
dar. Sie beschränken sich auf eine Frage aus dem Gebiete der
visuellen Erfahrungen, ob nämlich die Annehmlichkeit bzw.
Unannehmlichkeit gewisser visueller Erlebnisse einen
Einfluß auf die Genauigkeit der Erinnerung an diese
Erlebnisse hat.
Die Auswahl des Materials für einen solchen Versach mußte
aus zwei Gründen eine gewisse Schwierigkeit darbieten: erstens
Arthir für Piycholotfo. IV. 29
438
Kate Gordon,
weil eine genügend schwierige Aufgabe fürs Gedächtnis zn stellen,
und zweitens weil eine wirklich affektive Betonung zu sichern
war. Als solches Material, d. h. als Objekt der Erinnerung haben
wir Reihen von Bildern gebraucht, und um die Wirkung dieser
Bilder auf das Gedächtnis zu prüfen, haben wir genaue wörtliche
Beschreibungen derselben von den Versuchspersonen zu Protokoll
geben lassen.
I. Erste Versuchsanordnung.
Die erste Versuchsanordnung wurde folgendermaßen vorge-
nommen. Die Vp. saß 2 Meter von einem großen grauen Schirm
entfernt und schaute in eine vierseitige, in dem Schirm befindliche
Öffnung von 17 x 17 cm hinein. Eine Reihe Figuren wurden eine
naeh der andern für je 3 Sekunden gezeigt. Die Experimente
wurden bei Tageslicht ausgeführt und deswegen bei wechselnder
Helligkeit. Zur Feststellung des Tempos diente eine Weckeruhr,
nach der die Karten, worauf die Figuren gezeichnet waren, rasch
der richtig erinnerten Punkte in jedem Bilde zu bestimmen. Jede
unabhängige Tatsache oder Bestimmung, die die Vp. bemerkt und
wiedergegeben hatte, d. h. jeder Punkt, der mir als klares selb-
ständiges Moment im Bewußtsein zu sein schien, wurde als eins
gerechnet, und je größer die Zahl solcher richtig angegebenen Punkte
war, als desto besser oder genauer wurde die Erinnerung an das Bild
gerechnet. Als Beispiel einer solchen Schätzung nehmen wir Figur 1,
deren Farben rot und gelb waren, und ihre Beschreibung von Vp. D.
exponiert und wieder entfernt
wurden. Nach jeder Expo-
sition mußte Vp. sagen, was sie
gesehen und erlebt habe. Die
Vp. gab es mündlich an, und
Verf. schrieb das Protokoll,
welches sie danach der Vp. zur
Kontrolle vorlas.
Fig. 1.
Znr Schätzung der so ge-
wonnenen Protokolle ist mir
kein besseres Mittel eingefallen,
als ein willkürlicher Uberschlag
der in jeder Beschreibung ent-
haltenen Faktoren, um die Zahl
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Über das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke. 439
Vp. D. sagte: > Angenehm. Ein schiefstehendes Kreuz, dessen
Balken nicht gleich dick waren, sondern in der Mitte schmäler
wurden. Das Kreuz war goldgelb and der Hintergrund rot. Das
ganze Bild war viereckig. Es waren vier rote Dreiecke, die die
vom Kreuz gebildeten Winkel ausfüllten. Angenehm wirkte die
leuchtende, gesättigte Beschaffenheit der Farben, besonders das
leuchtende Goldgelb. Die Zusammenstellung der Farben war an-
genehm, sie erinnerte an Sonnenstrahl und Morgenrot.«
Die Ausnutzung dieses Protokolls ergab:
I. Als Zahl der richtig angegebenen Punkte 10, nämlich
1) ein Kreuz,
2) daß es ein schiefstehendes ist,
3) die Balken waren nicht gleich dick, d. h. sie
wurden schmäler,
4) sie wurden in der Mitte schmäler,
5) das Kreuz war gelb,
6) die Farbe wurde weiter bestimmt als leuchtendes
Goldgelb,
7) das ganze Bild war viereckig,
8) das Kreuz bildete mit dem Hintergrunde Dreiecke,
9) diese betrugen vier,
10) und waren rot1). ,
II. Als Assoziation haben wir
1) die Erinnerung an Sonnenstrahl und Morgenrot.
III. Als Grund des Gefallens
1) Beschaffenheit der einzelnen Farben,
2) Zusammenstellung der Farben.
Dreißig solche farbige Figuren wurden gezeigt. Da die Figuren
nicht alle gleich schwierig in ihrer Auffassung erschienen, haben
die Vp. nachträglich die Bilder nach der Geläufigkeit der Wahr-
nehmung in drei Klassen geteilt. Als Vp. dienten die folgenden,
denen ich hier meinen Dank ftir ihre Freundlichkeit ausdrücken
1) Diese Schätzung ist, wie schon gesagt, ein willkürlicher Überschlag.
Die ganze Aufgabe ist, zu sagen, welche Punkte als unabhängige Einzel-
heiten zählen sollen. Ich habe versucht, alle modifizierenden Wörter zu
rechnen, nur mußte ich mich in acht nehmen, denselben Punkt nicht zweimal
zu zählen; denn es kam oft vor, daß die Vp. denselben Inhalt in andern
Wörtern wiederholte, oder daß sie einen Punkt bezeichnete, der in einem
andern angerechneten notwendigerweise eingeschlossen war.
29*
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440
Kate Gordon,
möchte: Herrn Prof. Kttlpe bezeichne ich als Vp. K., Herrn Dr.
Dtlrr als D., Herrn Dr. Scheunert als S., Herrn Dr. Abbott
als A., Herrn Dr. Watt als W., Fräulein Dr. Nanu als N., and
Fräulein Remick als R. Die ersten drei Vp. sind Deutsche.
A. und B. Amerikaner, W. Schottländer und N. Rumänin. Alle
hatten vorher als Vp. gedient, und die vier ersten waren schon
in ästhetischen Versuchen geübt. Die Experimente fanden im
Wintersemester 1903—04 im psychologischen Institut in Wunburg
statt, und es ist mir ein Vergnügen, Herrn Professor Kttlpe für
die freundlichste Förderung, die er mir in jeder Richtung gegeben
hat, zu danken.
Die folgende Tabelle I zeigt die zusammengestellten Resultate
von drei Vp., denen ich sämtliche Bilder der Reihe nach vor-
zeigte. Die drei Klassen L Schwer, II. Mittelschwer, HL Leicht
entsprechen der Schwierigkeit der Auffassung der Bilder.
Tabelle I.
Vp.
Gefällig
Indifferent
Mißfällig
n
M
mV
n
M
mV
n
M
mV
L
Schwere <
|W.
2
3
10,5
8
0,5
1,3
1
0
8
3
2
8,1
0,8
2
Kluse
! D.
4
10,7
1,2
0
4
Summa
9,7
1 II
8,3
1,4
II.
w.l
.0
12,2
2,4
4
9,2
0,8
1 2
12,5
0.5
Mittlere
S.
6
8,6
1,6
8
9,7
1,7
1
8
Klasse
D.ü 5
11,6
2,9
3
13
2,6
8.6
1,9
Summa
10,8
2,2
l _
10,6 ,
1,7
9.7
u
UL
r W.
4
14,5
2,2
1
7
0
Leichte
3
8.3
1,5
6
9
1,6
13
Klasse
D.
4
8,2
0.7
2
9.5
0,5
1
8,5
Summa
110,1
1,4
:
8,5
I
: i
Die erste vertikale Zahlenreihe gibt unter n die Zahl der Experi-
mente, die zweite unter M die Durchschnittszahlen der jeweils
erinnerten Punkte, und die dritte unter m V die mittlere Variation
in diesen Werten an. Wir sehen in der schweren Klasse, daß
die »gefälligen« Figuren durchschnittlich 9,7 erinnerte Punkte ge-
liefert haben, die »mißfälligen« 8,H, daß dieser Unterschied aber
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über das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke. 441
durch die Schwankungen wieder ausgeglichen wird. Wir können
hier keine Vergleichung mit den »indifferenten« Figuren vornehmen,
weil von Vp. S. und D. keines von den schweren Bildern als
gleichgültig bezeichnet wurde. In der mittleren Klasse finden wir
für die gefalligen 10,8, die indifferenten 10,6, und die mißfälligen 9,7,
die gleichfalls bei der Berücksichtigung der mV nicht als von-
einander wesentlich verschieden gelten können.
Drei Wochen nach der ersten Exposition wurden diese Bilder
noch einmal gezeigt und dieselbe Aufgabe gestellt. Damit die Vp.
nicht von vornherein sicher wären, eine bestimmte Figur schon
gesehen zu haben, habe ich bei den Wiederholungen immer ganz
neue Figuren in die Reihen gemischt Die folgende Tabelle Ia
gibt die erreichten Resultate:
Tabelle Ia (Wiederholungen)1).
Vp-
Gefälli
g Indifferent
i
Mißfällig
n
31
mV\
n
M
mV
n
M
mV
I. / w.
Schwere { S.
Klasse ( D.
0
0
4
11.1
0,4
1
0
0
11,6
l
0
12
12
2
Summa
i 1
_
1 II
IL / W.
Mittlere I S.
KlasBe ( D.
5
5
4
13,6
13,8
11,7
1,6
1,7
1,1
3
5
3
9,8
13,6
11
3,1
1,8
1
1
1
1
13
10
7
Summa
13
M ||
11,4
1,9
10
III. / W.
laichte < S. !
Klasse ( D. ,
6
2
16
12,6
9
1,4
1
! i
:J
12
10,7
11
1,7
0
0
2
10,5
2,6
Summa \ | 12,5 | 1,4 j | 11,2 j|
Da die Zahl der Versuche nicht genügte, habe ich 50 andere
Bilder angefertigt. Diese waren von ähnlicher Natur und Schwierig-
keit wie die früheren, nur waren sie ohne Farben, einfach schwarz
und weiß. Die Resultate sind in den Tabellen II und IIa mit-
geteilt.
1) Mehrere Versuche fehlen hier, weil die Vp. nicht an den richtigen,
ftlr die Wiederholungen angesetzten Tagen kommen konnten .
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442
Kate Gordon.
Tabelle IL
Vp.
Gefällig
Indifferent
MißfSllif
n
M
Af
mV
! n
M
mV
I.
Schwere <
Klasse
' K.
11
«/,»>
9 7
77
07
0
I W.
1 D-
> s.
8
9
6
12
9,7
11,8
1.2 1
i,7 :
2,2
7
3
1 3
10,4
8,3
9,3
1,7
0,4
1,7
0
0
1
9
Summa
Inn
1,9
u u
8,9
1
II. 1
Mittlere «
Klasse
' K.
14
10
a v/
2 1
4
9
0,5
5
6
W.
4
10,2
1,7
8
9,6
2,2
1
12
1?
11
1
7
8,2
1,6
3
9,6
1,1
\i
8,2
2,8
8,7
2,9
1
8
Summa |j
93
1,9 '
8,8
i» |
8.9
ra. |
Leichte •
Klasse i
' K.
o
6
11
1,8
I
10
9,9
i W.
5
12
0,8
3
10
0,6
0
1 D.
3
12,3
1,6
5
8
1.6
1
8
i s.
4
9,7
2,1
5
7,6
1,1
4
.9,7
3i
Summa | | 9,1 ! 1,2 j
Die Versuche wurden mit zwei Vp. wiederholt. Die Resul-
tate sind in Tabelle IIa zusammengestellt
Tabelle IIa (Wiederholungen).
Vp.
Gefällig
1
Indifferent
Mißfällig
n
M
mV
n
M
mV
n
M
mV
I. Schwere j K.
Klasse j S.
7 12
4 16
4
2,5
2
3
11
15,3
1,4
1
1
14
15
Summa ||
14 | 3,2
13,1 0,7 j
14,6
II. Mittlere (K.
Klasse j S.
8
8
11,7
13,6
2,2
3
6
6
12
10,1
2,3
1,8
5
11,2
\*
Summa
12,6 2,6
1 *
11 | 2 5
1
III. Leichte JK.1; 1
Klasse )S.|. 2
14
12
1
2
1 2
12
10
4
1
' 10
6
12,8
12,6
LS
2.6
Summa
13
II
11
2,5 || ; 12,7 | 2i
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Über das Gedächtnis fUr affektiv bestimmte Eindrücke. 443
Nach diesen Tabellen I, Ia, II, IIa müssen wir entscheiden,
daß kein wesentlicher allgemeiner Unterschied der M
zwischen den gefälligen, mißfälligen nnd gleichgültigen
Klassen bei nnsern Versnchen erkennbar ist Aber bei diesen
Versuchen haben sich folgende Schwierigkeiten geltend gemacht:
Erstens fehlte ein objektives Kriterium dafür, daß die Zahl der
möglichen Punkte oder die Komplexität der verschiedenen Bilder
vergleichbar ist Zweitens sind diese Punkte von ganz verschie-
dener Art und möglicherweise verschiedener Wichtigkeit Drittens
wurden die Bilder in ihren apperzeptiven Verhältnissen und
ihren assoziativen Möglichkeiten sehr verschieden empfunden.
Viertens ist es vorgekommen, daß zwei Figuren, obwohl sie in
andern Beziehungen ganz gut vergleichbar waren, ganz unähnlich
in bezug auf die Schwierigkeit ihrer Beschreibung sein konnten.
Das Suchen nach richtigen Wörtern und das Streben, passende
Ausdrücke zu finden, können große Unterschiede in die Erleb-
nisse der Vp. hineinbringen. Um diesen Einwänden gegen die
Methode zu begegnen, habe ich weitere Versuche mit der folgenden
Einrichtung unternommen.
II. Zweite Versuchsanordnung.
Diese Experimente fanden im Dunkelzimmer mit Hilfe eines
Projektionsapparats statt. Die Beleuchtung des visuellen Feldes
war deswegen viel gleichförmiger geworden. Anstatt einer Expo-
sition von drei Sekunden wurden die Figuren diesmal nur eine
Sekunde gezeigt. Bei einer Exposition von drei Sekunden hatte
die Aufmerksamkeit zu viel Gelegenheit zu Abschweifungen, auch
kamen bei dieser Expositionszeit zu wenig Fehler vor, d. h. die
Eindrücke waren so vollständig, daß verhältnismäßig wenig ver-
gessen wurde und bei den Wiederholungen fast alle Figuren so-
fort wiedererkannt wurden, ohne den möglichen Unterschieden
einen freien Spielraum zu erlauben.
Als Material der Erinnerung brauchte ich solche Formen wie um-
stehende Figur 2. 40 vierseitige Karten waren in genau übereinstim-
mender Form in neun quadratische Felder geteilt, aber für jede Karte
war eine verschiedene Farbenzusammenstellung arrangiert Die Kar-
ten waren aus Pappbrett und die ausgeschnittenen Felder mit farbigen.
Gelatineplättchen überzogen. Das vergrößerte Bild dieser farbigen
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444
Kate Gordon,
r i
Fig. 2.
Felder wurde vom Projektionsapparat auf einen Schirm geworfen.
Für diese Farbenkombinationen wurden nur sieben verschiedene
Farben gebraucht, leicht erkennbare Nuancen von Rosa, Rot,
Orange, Gelb, Grün, Blau und Violett. In jeder einzelnen Figur
wurden gewöhnlich nur drei bis vier verschiedene Farben ange-
wandt. Die Vp. saß 7 Meter weit von dem Schirme, und das ganze
Bild maß in seinen Diagonalen 1,15 Meter. Diese Verhältnisse gaben
als Gesichtswinkel 9,4°. Um zu finden, ob dies ftlr die Vp. zu
groß sei, um alles ganz deutlich in einer Sekunde zu sehen, wurde
jede der sieben Farben in jeder von den vier äußersten Stellungen,
d. h. den vier Ecken, für je eine Sekunde gezeigt. Die Vp. mußten
den Mittelpunkt fixieren und haben dabei im indirekten Sehen alle
Farben leicht erkannt. Ein mit Leuchtfarbe bestrichener Fleck anf
dem Schirm diente durch den ganzen Versuch als Fixationspunkt.
Das Tempo wurde mit einem photographischen Sekundenverschlusse
reguliert, und diese Vorrichtung vor und nach jeder Stunde nach
den Schlägen eines auf eine Sekunde eingestellten Metronoms ge-
prüft. Die Aufgabe blieb dieselbe: die Vp. mußte nach Vor-
zeigung jeder Kombination sagen, ob sie die Zusammenstellung
angenehm, unangenehm oder gleichgültig finde, und dann die ge-
sehenen Farben nennen und ihre Stellungen angeben. Um nun
die Schwierigkeiten der wörtlichen Beschreibung für alle Vp. mög-
lichst gleich zu machen, habe ich die einzelnen Farben zuerst
gezeigt und bin mit den Vp. einig geworden, wie sie die Nuancen
nennen und mit welchen Wörtern sie die verschiedenen Stellen
andeuten sollten. Wir haben sie folgendermaßen bezeichnet:
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Über das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke. 445
Links
Mitte
Rechts
oben
oben
oben
w * 1
Links
Rechts
Mitte
Zentrum
Mitte
Links
Mitte
Rechts
unten
unten
unten
Auf diese Weise konnten alle Beschreibungen in denselben
Ausdrucken und in streng vergleichbarer Form gemacht werden.
Eine von Vp. E. gegebene Beschreibung lautet z. B.: »Gefällig.
Zentrum orange, rechts Mitte orange, links Mitte rosa, Mitte unten
und Mitte oben erschienen orange, links unten, glaube ich, blau.
Anordnung undurchsichtig. Farbenzusammenstellung und einzelne
Farben gefallig. Auffassung schwierige
Die Anordnung bei diesem Versuch zeigt folgende Vorzüge
gegenüber der vorhergehenden: Nicht nur sind die äußeren Be-
dingungen, d. h. die Beleuchtung und die Dauer der Exposition
konstanter, auch die Natur der Aufgabe selbst ist gleichförmiger
geworden. Die allgemeine Form der Figur und die Form, Zahl,
Größe und Einrichtung der Einzelfelder bleiben konstant. Die
Außwahl der Farben ist geringer geworden, und die Art der Proto-
kollierung gleichmäßiger und einfacher.
Bei der Ausnutzung dieser Protokolle sind die folgenden Regeln
beobachtet worden :
1) Jede Farbe, die richtig genannt und lokalisiert wird, zählt
drei Punkte, einen für den richtigen Namen, einen für die
richtige horizontale Reihe und einen für die richtige verti-
kale Reihe. So konnten für jede Figur 27 Punkte in Be-
tracht kommen.
2) Wenn man eine Farbe richtig genannt, aber die Stelle falsch
angegeben hatte, wurde nur ein Punkt gerechnet.
3) Wenn die richtige Farbe in die richtige Reihe, vertikal oder
horizontal, lokalisiert worden war, so galt dies zwei Punkte.
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446
Kate Gordon,
4) Die vierte Regel bezieht sich auf die Ähnlichkeit zwischen
Rosa und Rot, Blan und Violett, Gelb nnd Orange. Wenn
Rot mit Rosa, Blan mit Violett verwechselt wurde (z. B. statt
Orange die Vp. Gelb für die betreffende Stelle angab), so
habe ich dies als zwei Punkte gerechnet, weil Vp. die rich-
tige Stelle für die Farbe angegeben, aber nicht die rich-
tige Nuance bezeichnet hat.
Unter Beachtung dieser Regeln sind Tabelle III und HI a ge-
wonnen. Die Resultate sind nach den zu Protokoll gegebenen
Urteilen Uber die Schwierigkeit der Auffassung in zwei Klassen
geteilt. Die Reihe von 40 Figuren wurde mit fünf Vp. durch-
geführt.
Tabelle III.
Vp.
Gefällig
Indifferent '
Mißfällig
n
M
mV
w
M
mV
n
M
mV
s.
10
20
5
1 15
20
6
I. i A.
Schwere < K.
Klasse j R.
\ n. ;
1
14
11
6
13,5
14,4
21
14,1
2,5
2,7
2,5
2,7
0
! 8
0
4
13
15,7
1,8
3,7
1 6
2
9
9
i
15,3
10,5
20,6
15,6
3,2
3,5
2,6
4,6
Summa1} |
15,7
2.* Ii 1
1 15,5
3,4
S.
3
22,6
5,8
•
21,2
5,9
n. i a.
Leichte l K.
Klasse j R.
' N.
11
6
12
7
23,4
19,8
24,8
23,5
3
2.1
2,2
2,5
4
4
2
6
23
19,2
24
18,8
2,5
1,2
1
2,8
9
' 1
6
5
22
24
25,5
21,2
8,1
2
4,1
Sauima1; j
22.8
2.4
21,2
W Ii
23,1
Eine Woche später wurden dieselben Figuren wieder gezeigt
und von vier Vp. beschrieben.
l; Ohne Vp. S. Um eine durchschnittliche Vergleichung der verschie-
denen Vp. zu machen, müssen wir Vp. S. auslassen, weil die mißfälligen
Fälle bei ihr fehlen. Ihre Resultate flir die gefälligen und indifferenten
Fälle stimmen mit denen der andern Vp. Qberein.
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Über das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke. 447
Tabelle Iüa (Wiederholungen).
Vp.
Gefällig
1 . Indifferent
Mißfällig
n
J/
«/ 1'
M
mV
n
3f
mV
(a
Schwere l ^
Klasse R
n
Ö
8
3
23
20,4
14,7
22
4,2
4,7
2,5
16
3
6
25,4
16
13,6
1,9 !
5,6
2,1
5
\ 6
1 5
20,6
13
21,8
2,4
3,6
2,6
Summa [ohne R.)
19,3
3,8 ,
18,3
3,2
Snmma (ohne S.)
19
I
1 II
18,4
2,8
»• (!:
Leichte < —
Klasse f ™
\ R.
7
15
! 13
1 «
26,5
25,2
19,9
24,8
0,6
1,6
1,9
2,1
5
3
6
26,2
25
19,3
1,1
2,6
2,1
7
1
15
26,5
22
26,6
0,7
0,7
Summa (ohne R.)
23,8
1,3
23,5
1,6
Summa (ohne S.)
23,3
1,8
;
26
Bei Vp. S. fehlen hier die mißfalligen und bei Vp. R. die
indifferenten Fälle, und wir können deswegen nicht einen allge-
meinen Durchschnitt aufstellen, aber die Resultate von diesen Vp.
stimmen, soweit sie reichen, mit denen der andern Uberein. In
den Tabellen III nnd lila können wir ebensowenig wie in
den vorhergehenden einen wesentlichen Unterschied
zwischen den gefälligen, mißfälligen und indifferenten
Fällen entdecken.
III. Nebenergebnisse.
Die Erforschung der Genauigkeit der Erinnerung ist bei diesen
Versuchen die Hauptsache gewesen, aber aus den Protokollen ist
auch eine Reihe anderer Ergebnisse zu ersehen. Die Vp. haben
nicht nur ihre ästhetischen Urteile und ihre Beschreibungen zu
Protokoll gegeben, sondern auch sonstige Erlebnisse, die sie ge-
habt hatten, z. B. Assoziationen »), die Motive des ästhetischen Ur-
teils, und bei den Wiederholungen haben sie gesagt, ob die
Figuren wohlbekannt oder neu waren, nnd, wenn bekannt, welches
affektive Urteil sie früher abgegeben zu haben glaubten.
1) Anf S. 439 ist der Fall von Vp. D. schon erwähnt.
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448
Kate Gordon,
1) Die folgenden Prozente deuten die Rolle an, die der
assoziative Faktor gespielt hat, d. h. die Zahlen geben in Pro-
zenten der Figurenzahl die Fälle merklicher Assoziationen.
Diese Tabelle beruht nur auf den früheren Versuchen, weil der
assoziative Faktor bei den späteren fast ganz zurücktrat. Dabei
habe ich die Fälle, in denen die vorgezeigten Figuren Erinnerungs-
bilder reproduzierten (in der Tabelle kurz »Erinnerungsbilder«
genannt), von denen gesondert, in denen sie Wortvorstellungen
anregten (in der Tabelle kurz »Wortvorstellungen« genannt).
Tabelle IV.
Gefällig
Indifferent
Mißfällig
Vp.
Er-
Wortvor-
stellungen
Er-
Wortvor- i
Stellungen •
Er-
Wortvor-
stellungen
innerungs-
bilder
innerungs-
bilder
innerungs-
bilder
—
K.
S.
w.
D.
80*
125 s
35 *r
58 s
129 s
37 s
14 s
80 s
42 s
40*
bis
(K)S ;
33*
150 s
25s
125 s
Bei den Wiederholungen:
K.
S.
93*
114 s
l
30s
81 s
31*
100 s
Es ist hier gar keine durchgehende Tendenz zu finden. Bei
Vp. K., W. und D. haben die gefälligen und bei Vp. S. die miß-
fälligen die größte Anzahl der Assoziationen. Bei W. haben die
gefälligen weniger Erinnerungsbilder, aber mehr Wortvorstellungen
erregt, und bei D. ist diese Tendenz umgekehrt Wir bemerken
aber bei W. und D. zugleich ein interessantes Verhältnis zwischen
Erinnerungsbildern und Wortvorstellungen: sowie die Zahl der
einen sich vergrößert, vermindert sich die Zahl der andern
1 Jedenfalls wird man hiernach nicht ohne weiteres sagen dürfen, daß
Lust die assoziativen Funktionen fördere, während Unlust sie hemme.
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Über das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrucke. 449
2) Die Gründe des Gefallens und Mißfallens lassen sich unter
die folgenden Kategorien bringen:
a) Gründe des Gefallens:
1) Beschaffenheit der einzelnen Farben: Nuance, Glanz,
Sättigung1) und emotionelle Stimmung.
2) Zusammenstellung der Farben.
3) Geschickte Zeichnung.
4) Symmetrie und Einheit der Figur.
5) Regelmäßigkeit.
6) Unregelmäßigkeit unter Umständen.
7) Bedeutung oder Inhalt — assoziativer Faktor.
8) Neuheit.
9) Wiedererkennen.
b) Gründe des Mißfallens:
1) Beschaffenheit der einzelnen Farben: bestimmte Nuancen
wurden ohne weiteres mißfällig gefunden, Vp. S. schätzt
z. B. Orange nicht
2) Zusammenstellung der Farben.
3) Unbestimmtheit der Form.
4) Unregelmäßigkeit.
5) Sinnlosigkeit «).
3) Das Wiedererkennen der früher gesehenen Figuren ist
gleich gut für die gefälligen, mißfalligen und gleichgültigen. Bei
den ersten Versuchen wurden fast alle Bilder sofort wieder-
erkannt; bei der späteren Anordnung, wo die Figuren von gleicher
Form waren, wurden fast alle vergessen, und weder in dein
leichteren noch im schwereren Falle gab es einen nachweisbaren
Unterschied zwischen affektiven und affektlosen Eindrücken.
4) Ferner gibt es eine Tendenz, die wir als die Neigung, sich
an frühere Eindrücke in einem günstigen Lichte zu erinnern, be-
schreiben können. Die Vp. wurden, wenn sie ein Bild schon ge-
sehen zu haben glaubten, gefragt, was sie damals als affektive
Wirkung erlebt hatten. Manchmal konnten sie sich an diese nicht
1) In dieser Beziehung stimmt die Selbstbeobachtung meiner Vp. Uberein
mit den Ermittelungen Cohns über >GefUhlston und Sättigung der Farben«.
Philos. Stud. XV.
2) Diese Kategorien stimmen mit den von KUlpe in Am. Journ. of l'sych.
Vol. XIV. S. 227 ff. angegebenen Uberein.
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450
Kate Gordon,
erinnern, und manchmal haben sie die richtige Antwort gegeben,
aber in nenn Fällen wurde die affektive Wirkung in der Erinnerung
verbessert, und nur in drei Fällen hat das Gegenteil gegolten.
Vp.
Das erste Urteil
Was Vp. früher geurteilt
zn haben glaubte
1)
N.
mißfällig
etwas gefällig
2)
D.
mißfällig
indifferent
3)
D.
relativ angenehm
angenehm
4)
S.
nicht angenehm
mindestens nicht unangenehm
5)
K.
interessant, aber indifferent
gefällig
6)
K.
indifferent
gefällig
7)
K.
mißfällig
indifferent
8)
K.
indifferent
gefällig
9)
K.
indifferent
gefällig
1)
2)
3)
K.
K.
K.
gefallig
teilweise gefällig
indifferent
indifferent
nicht gefällig
eher mißfallig
Auf diesen »Erinnerungsoptimismus« komme ich im folgenden
zurück.
5) Eine letzte Beobachtung ergibt sich, indem wir die ange-
nehmen, unangenehmen und indifferenten Eindrücke registrieren,
worin alle Vp. bei ihrem Urteile Ubereinstimmten. Die Zahl dieser
Eindrücke ist sehr klein, kaum größer, als sie der bloße Zufall
ergäbe, aber der interessante Punkt ist der, daß eine Uberwiegende
Gleichförmigkeit des Urteils nur bei den angenehmen Eindrücken
hervortritt. In der ersten Versuchsanordnung (flir Tabelle I und Ia),
in welcher 30 Bilder drei Vp. gezeigt wurden, stimmten alle
Uberein bei sechs gefallenden Bildern, bei einem indifferenten und
einem mißfälligen Bilde. Für Tabelle II und IIa wurden 50 Bilder
vier Vp. gezeigt, und alle stimmten Uberein bei vier gefallenden
Bildern, keinem indifferenten und keinem mißfalligen Bilde. In der
zweiten Versuchsanordnung wurden 40 Figuren fünf Vp. gezeigt,
und alle stimmten Uberein bei drei gefallenden Bildern, keinem in-
differenten und keinem mißfälligen Bilde. Dies Resultat ist ein interes-
santes Gegenstück zu Eowalewskis Mitteilung, wonach sich seine
Vp. in größerer Zahl auf ein Übel, als auf ein Gut vereinigten1).
I Kowalewaki. Studien zur Psychologie des Pessimismus. 1904. S. 93 ff.
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Über das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke. 451
IV. Zur Erklärung der Resultate.
In einer Untersuchung Uber das Gedächtnis für angenehme und
unangenehme Eindrücke haben wir es mit zwei Faktoren zu tun,
welche zueinander im Gegensatz zu stehen scheinen: einerseits
müssen wir ein Material benutzen, welches vollständig und ver-
schiedenartig genug ist, um eine das Gefühl genügend ansprechende
Wirkung auf die Vp. auszuüben; andererseits müssen wir uns be-
mühen, eine gewisse Gleichartigkeit und Ähnlichkeit des Materials
beizubehalten, um eine für die Bearbeitung der Resultate er-
forderliche Vergleichbarkeit der verschiedenen im Gedächtnis zu
behaltenden Figuren herzustellen. In der zweiten Form unserer
Versuche schienen die Figuren genug Verschiedenartigkeit und
Vollständigkeit zu enthalten, um einen positiv angenehmen oder
unangenehmen Eindruck zu machen, und sie boten zu gleicher Zeit
die (schon oben erwähnten) Vorteile objektiver Gleichförmigkeit,
größerer Beständigkeit der Beleuchtung und der Art und Dauer
der Exposition, Gleichartigkeit in der allgemeinen Form und Größe
der Figuren, wie auch in der Form, der Anordnung und Größe
der Teile dar. Die Auswahl der Farben war mehr geregelt und
einige Unzulänglichkeiten in der Beschreibung der Figuren ver-
mieden. Trotz dieser Vorsichtsmaßregeln zeigten die verschiedenen
Farbenanordnungen noch einige Differenzen in der Schwierigkeit
der Aufgabe1) für die Vp. Da aber verschiedene Personen in
1) Wenn alle Vp. darin Übereingestimmt hätten, welche Figuren leicht
und schwer, welche angenehm, gleichgültig and unangenehm seien, hätten
wir ein objektiveres Merkmal für nnsere Klassifizierung gehabt, aber das war
nicht der Fall: von 40 Figuren gab es fünf, von welchen alle sagten, sie
wären leicht, keine, von denen alle sagten, sie wäre schwer; dann gab es
drei, von welchen alle urteilten, sie wären angenehm, keine, die allgemein
indifferent oder unangenehm erschien. Ks gab keinen einzigen Fall, in welchem
zwei Ubereinstimmende Urteile der Vp. auf ein gleiches Objekt gofallen wären,
z. B. keine Figur, welche alle Vp. leicht und zugleich angenehm gefunden
hätten. Die Tabellen der ersten Versuchsanordnung zeigen keine bemerkens-
werte Differenz zwischen der Erinnerung an schwierige und an leichte Figuren,
und dies mag der Tatsache zugeschrieben werden, daß die Vp. die Ein-
teilung der Figuren in »schwere« und »leichte« erst nach den Versuchen
machten und dabei eine bemerkenswerte Unsicherheit ihres Urteils zeigten.
In der zweiten Versachsanordnung hingegen wurden diese Urteile unmittel-
bar mit der Beschreibung der Figur gegeben, und in den Tabellen III
und lila ist die Differenz zwischen den für »schwere« und »leichte« Objekte
erhaltenen Werten augenscheinlich.
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452
Kate Gordon,
■
diesen Schwierigkeiten nicht übereinstimmten, können wir das
Kriterium derselben nur in dem individuellen Urteil jeder Vp. für
ihren eigenen Fall finden.
Es würde zweifellos von Interesse sein, die Natur und die
Grunde dieser Differenzen zu analysieren und unsere Resultate
z. B. nach der Schwierigkeit des Auffassens, der Einpräglich-
keit und des Reproduzierens usw. zu klassifizieren. In der vor-
liegenden Untersuchung haben wir uns aber nur auf die erste
dieser Schwierigkeiten als Basis der Klassifizierung beschränkt.
Unsere Tabellen (III und niaj zeigen also zwei Einteilungs-
gesichtspunkte, beide gegründet auf das individuelle Urteil der
Vp., den GefÜhlseindruck und die relative Leichtigkeit oder
Schwierigkeit des Auffassens der Figuren. Diese Tabellen zeigen,
daß, wenn die Figuren zum erstenmal vorgeführt wurden (Tabelle III),
die Erinnerung an die leichte Klasse im Übergewicht war, und
daß, wenn die Experimente wiederholt wurden (Tabelle III), dieses
Übergewicht zwar noch bestand, aber weniger ausgeprägt als das
erstemal.
In keiner dieser Tabellen aber zeigt sich eine merkliche
Differenz fllr angenehme, indifferente und unangenehme Objekte.
Dies sieht auf den ersten Blick so aus, als müßten wir annehmen,
daß Wohlgefallen und Mißfallen keinen besonderen Einfluß auf
den Gedächtnisprozeß haben. Wir müssen jedoch hier zwischen
einem direkten und indirekten Einfluß des Wohlgefallens bzw.
Mißfallens auf den Gedächtnisprozeß unterscheiden1). Ein direkter
Einfluß würde in der unmittelbaren Steigerung der Tendenz
zur Assoziation und Reproduktion bestehen, ein indirekter Einfluß
würde sich dagegen fühlbar machen, wenn Wohlgefallen bzw. Miß-
fallen die Aufmerksamkeit anziehen oder abstoßen und dadurch
erst auf das Gedächtnis wirken würden. Bei unserer Unter-
suchung hatten solche indirekten Einflüsse sehr wenig Spielraum,
weil von der Vp. ausdrücklich verlangt wurde, ihre Aufmerk-
samkeit auf jede vorgezeigte Figur zu richten und sie möglichst
genau zu beschreiben, ob sie ihr gefiel oder nicht.
Die folgenden zu Protokoll gegebenen Beobachtungen scheinen
anzudeuten, daß die Vp. solchen indirekten Einflüssen gelegent-
lich ausgesetzt waren. Vp. K. sagt von Figur 27: »Mißfällig
1} Vgl. KUlpe. Gruudriß dor l'sych. S. 217 f.
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Über das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke. 453
es machte mir Mühe, die Aufmerksamkeit damit zu
beschäftigen. Ich hatte eine Neigung zu Überwinden, davon fort-
zugehen.« Vp. K. Figur 34: >Sehr gefällig Auffassung
etwas erschwert durch das kontemplative Verhalten.« Vp. N.
Figur 34: »Die Aufmerksamkeit wollte sich auf das Gefallen
richten.« Vp. S. Figur 25: »Der Versuch, das Detail einzuprägen,
wurde durch die ästhetische Wirkung vereitelt recht an-
genehm.« In allen vier Fällen, drei gefälligen und einem mißfälligen,
liegt in dem affektiven Element die Anregung, die Aufmerksam-
keit von ihrer Aufgabe abzulenken, aber die bewußten Bemühungen
der Vp., dieser treu zu bleiben, scheinen erfolgreich gewesen zu
sein, da die Resultate in den obigen Fällen normal sind. In der
überwiegenden Mehrheit der Experimente ist eine solche Wirkung
auf die Aufmerksamkeit nicht berichtet worden, doch kann man
wohl annehmen, daß unter gewöhnlichen Umständen die Aufmerk-
samkeit durch Gefälligkeit und Mißfälligkeit eines Eindrucks von
ihm abgelenkt oder angezogen werden kann.
Ein kurzer Uberblick einiger Erörterungen Uber den Zusammen-
hang zwischen Gedächtnis und Gefühl kann dazu beitragen, unsere
Resultate zu den Ansichten anderer in Beziehung zu setzen.
Ribot1) hat die Frage aufgeworfen, ob es einen affektiven
Gedächtnistypus in dem Sinne gibt, wie wir von einem motorischen,
akustischen oder visuellen Typus des Gedächtnisses sprechen.
Er ist überzeugt, daß dies der Fall ist, und sagt: »II existe un
type affectiv aussi net, aussi tranche que le type visuel, le
type auditif et le type moteur. II consiste dans la reviviscence
aisee, complcte et preponderante des representations affectives.«
Ribot ist weder auf die Bedingungen eines solchen Gedächtnis-
typus näher eingegangen, noch auf die Beziehungen zwischen
einem affektiven und einem affektlosen Typus. Außerdem hat
Ribot in einem besonderen Kapitel seines Buches über die Ge-
fühle und die Assoziation der Vorstellungen zu der Frage Stelluug
genommen, ob jene einen fördernden Einfluß auf die Assoziation
haben. Diese Frage wird gleichfalls mit voller Entschiedenheit
bejaht. Er hebt zwei Fälle hervor, das sogenannte Gesetz der
Gefuhlsübertragung und die Assoziation von verschiedenartigen
Vorstellungen durch gleichartige, ihnen anhaftende Gefühle.
l; Psychologie des Sentiments S. 166.
Archiv Ar Pijcholofi«. IV.
30
454
Kate Gordon.
Titchener ') bestreitet die Ribotscbe Lehre und zitiert Spencer,
Bain, James, Hüffding zur Unterstützung seiner Behauptung,
daß die Vermittlung zwischen vergangenen und gegenwärtigen
geistigen Prozessen immer durch Vorstellungen, nie durch Gefühle
bewirkt wird, und daß es einen rein affektiven Typus nicht gibt.
Horwicz2) scheint etwas Ahnliches zu meinen, wenn er
schreibt: »Die Erinnerung an Schmerzen gelingt nur in dem Maße,
als die Erinnerung an die entsprechenden Bewegungen gelingt.
Wenn ich mich z. B. an Zahnschmerzen erinnern will, muß ich
erst die Haltung oder Bewegung annehmen oder mir vorstellen,
die ich während der Schmerzen anzunehmen pflege Nicht
das Gefühl an sich iBt der elementare Faktor der Erinnerung, son-
dern das Gefühl in seiner notwendigen Verbindung mit Bewegungs-
gefühl und der daraus folgenden Gefühlsmodifikation. Das Gefühl
ist nicht unmittelbar, sondern nur mittelbar Träger der Assoziation.«
Der folgende Absatz von Fauth3) bietet einen ganz andern
Hinweis auf diese Beziehung: »Vielleicht ließe sich durch eine
genaue allseitige Untersuchung über das Wesen der Gefühle das
Geheimnis der Assoziation Uberhaupt mehr aufklären, besonders
wenn man annimmt, daß in den Gefühlen die Seele nicht bloß
erscheint, sondern daß sich darin ihr innerstes, einheitliches Wesen
offenbart. So muß doch z. B. jede Assoziation zweier oder mehrerer
Empfindungen irgendein Gefühl des Wertes dieser Form der Ver-
bindung erzeugen. Mag diese Assoziation nun als Ganzes oder
als Allgemeines angeschaut oder erlebt werden, das Gefühl des
Wertes, das gerade dieses Ganze, dieses Allgemeine begleitet,
wird doch wohl der Reiz sein, welcher die Seele antreibt, sobald
ein Teil der Assoziation oder Verknüpfung im Bewußtsein auf-
getaucht ist, willkürlich oder unwillkürlich auch den andern Teil
der Assoziation zu suchen und zu erzeugen.«
Schließlich müssen wir noch über diesen allgemeinen Zusammen-
hang zwischen Gefühl und Assoziation Störring*) zitieren: »Über
den Einfluß der Gefühle auf die Assoziation von Vorstellungen
können wir schnell hinweggehen, da bekannt ist, daß Gefühle im
allgemeinen die Assoziation von Vorstellungen verstärken. Hat
1) Phil. Rev. IV. S. 65 ff.
2) Psychologische Analysen. Bd. I. S. 319.
3) »Das Gedächtnis«. Kap. 21. 8. 199.
4} Zur Lehre vom Einfluß der Gefühle usw. Phil. Stnd. XII. S. 614.
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Über das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke. 455
eine im Blickpunkt des Bewußtseins stehende Vorstellung eine
starke GefUhlsbetonung, so überträgt sich diese Geftlhlsbetonuug
nicht nur auf die mit ihr im Blickpunkt stehenden Vorstellungen,
sondern die Assoziation dieser beiden Vortellungen untereinander
wird auch eine innigere. Es wird eben mehr psychophysische
Energie auf diese Assoziation verwandte
Unsere Ansicht Uber den Einfluß des Gefühls auf das Gedächt-
nis, wonach er sich nur indirekt, nicht direkt kundgibt, mag zur
Versöhnung des scheinbaren Konflikts der eben angeführten An-
sichten dienen. Wir geben zu, daß bei manchen Personen der
Einfluß der Lust und Unlust auf die Aufmerksamkeit vorherrschen-
der ist als bei andern, während wir die Existenz eines affektiven
Typus im engeren Sinne dahingestellt sein lassen, da unsere Ver-
suche keinen Beitrag zu dieser Frage liefern. Zugleich können
wir mitTitchener und Horwicz insofern Ubereinstimmen, als ein
direkter, die Reproduzierbarkeit eines Eindrucks verstärkender
Einfluß der Gefühle nicht nachgewiesen werden konnte, sondern
vielmehr die indifferenten den gefühlsbetonten Vorstellungen in
dieser Hinsicht ganz gleichgestellt waren. Vielleicht würde dem
Sinne von Fauths Behauptung keine Gewalt angetan, wenn man
sie in derselben Art zu interpretieren versuchte. Ein Gefühl, be-
hauptet er, ist immer der Antrieb zu einem Akt der Assoziation;
unsere Ansicht würde dabin gehen, daß ein Gefühl in der Regel
dahin strebt, die Bedingungen des Aktes der Assoziation an-
zuregen. Ebenso mußten wir unsere Resultate mit Störrings
Ansicht in Übereinstimmung bringen. Wenn er meint, daß der
affektive Wert einer Vorstellung die Assoziation mit einer andern
befestigen kann, so würde das, von der GefÜhlsübertragung abge-
sehen, allerdings dadurch geschehen können, daß die Gefühls-
betonung eine größere Eindringlichkeit bedingt. Aber freilich, nur
von einer Regel kann hier gesprochen werden. Unter Umständen
lenken Lust und Unlust auch von der Einprägung eines Eindrucks
und einer Assoziation seiner Terle miteinander ab. Wir suchen
uns das Unangenehme fernzuhalten und versinken zuweilen in
einen Zustand passiver Lust, der die Reproduzierbarkeit des in
diesem Zustande Genossenen nicht nur nicht steigert, sondern viel-
mehr herabsetzt.
Bisher haben wir nur im allgemeinen von dem möglichen
Einfluß des affektiven Wertes auf das Gedächtnis gesprochen; und
30*
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456
Kate Gordon.
jetzt haben wir nnn noch zwei Autoren zn erwähnen, welche
die Frage eines differenzierten Effekts der Lust und Unlust auf-
geworfen haben, ob nämlich die eine oder die andere dem Ge-
dächtnisprozeß günstiger sei.
Colegrove1) hat eine Statistik Uber diesen Fall angestellt.
Er legte einer großen Anzahl von Weißen, Indianern und Negern
einen Fragebogen vor, auf dem sich folgende Frage befand:
> Erinnern Sie sich besser an Angenehmes oder Unangenehmes?«
Um Colegroves Resultate in eine entsprechendere Form zu bringen,
stellte Kowalewski2) sie in folgender Tabelle dar. »Faßt man
alle Altersstufen (welche Colegrove unterschieden bat) zusammen,
so ergibt sich als durchschnittlicher Prozentsatz der Stimmen, die
ftir eine bessere Lusterinnerung sprechen,
bei den weißen Männern 61,5 % ,
> i > Weibern 58,8 % ,
> » Indianern 36,9 % ,
» » Indianerinnen 54,2 % ,
» » Negern 48,2 % ,
» » Negerinnen 81,4 % . <
Kowalewski3) teilt auch eigene Resultate mit: »Ich selbst
habe mit 124 Knaben urM 146 Mädchen im Alter von 10 — 13 Jahren,
die einen gleichartigen Schulunterricht genießen, die Colegrove-
sche Enquete wiederholt. Dabei habe ich aber meine Frage von
vornherein so gestellt, daß bei den Kindern kein Zweifel Uber
ihren Sinn bestehen konnte. Ich formulierte sie in folgender
Weise: , Woran kannst du dich klarer und deutlicher erinnern, an
Freuden oder an Leiden ? ' Vom Versuchsleiter wurden außerdem
zweckentsprechende Erläuterungen gegeben. Die Resultate meiner
Ermittlungen sind aus folgender Tabelle ersichtlich:
Gesamtzahl
der
Stimmen
Stimmen
für bessere
LUBt-
erinnerung
Stimmen
für bessere
Unlust-
erinnerung
Prozentsatz
der Stimmen
zugunsten der
Lasterinnerung
Knaben
124
86
38
69,4 %
Mädchen
146
99
47
67,8 % «
1) Memory, Ch. 6 , pag. 256.
2) Studien zur Psycho), des Pessimismus. S. 108.
3 Ebenda, S. 109 f.
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Über das Gedächtnis flir affektiv bestimmte Eindrücke. 457
Er schließt: »Jedenfalls kann ich in Übereinstimmung mit
Colegrove sagen, daß im jugendlichen Alter die bessere Last-
erinnerung mit fast 70 # vertreten ist. Vermutlich werden die
Prozentsätze, die sich aus Colegroves Enquete ergeben haben,
bei genauerer Nachprüfung auch für die höheren Altersstufen eine
annähernde Bestätigung erfahren, so daß im Durchschnitt unsere
Erinnerung eine ausgesprochen optimistische Tendenz zu haben
scheint <
Diese Schlußfolgerungen scheinen auf den ersten Blick den
unsrigen zu widersprechen. Um diesen Widerspruch aufzuheben,
können wir zunächst daran erinnern, daß die Methode von
Colegrove und Kowalewski eine statistische und keine eigent-
lich experimentelle ist. Die Selbstbeobachtung der Vp. hat hier
keine Rolle gespielt, während bei unserer Untersuchung die Fest-
stellung der Beobachtungsbedingungen und Aussagen als Haupt-
voraussetzung für die Zuverlässigkeit der Ergebnisse galt. So-
dann aber läßt sich der scheinbare Widerspruch auch durch eine
genauere Einsicht in die Natur der Resultate beseitigen oder auf-
klären. In unserem Falle haben wir die Neigung ermittelt, den
Wert des früher Erlebten in der Erinnerung zu steigern. Der
»Erinnerungsoptimismus« besteht dann darin, daß wir unsere
früheren Erfahrungen für angenehmer halten, als sie wirklich
waren, und nicht darin, daß dieselben besser behalten worden
sind. Statt daher mit Colegrove und Kowalewski zu sagen,
daß wir uns besser (d. h. klarer und deutlicher] unserer ange-
nehmen Eindrücke erinnern, würde ich betonen, daß wir die
Neigung haben, uns in der Erinnerung einen früheren Eindruck
angenehmer vorzustellen. Das Gedächtnis brauchte dann für an-
genehme Eindrücke nicht besser zu sein, weil der Vp. in der
Erinnerung eine größere Zahl von Eindrücken angenehm erscheint.
Unter diesem Gesichtspunkte würde über den Erinnerungsoptimismus
zwischen den beiden Resultaten kein Widerspruch bestehen.
Übrigens ist es aber auch wohl möglich, daß die von Kowa-
lewski zusammengestellten und gefundenen Ergebnisse durch den
Unterschied der Einprägungsbedingungen sich erklären lassen, der
für seine und meine Vp. zweifellos bestanden hat. Jene konnten
dem natürlichen Einfluß der Gefühle nachgeben, diese hatten alle
Eindrücke, welcher Gefühlston ihnen auch anhaften mochte, mit
gleicher Sorgfalt sich anzueignen. Nimmt man an, daß im
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458 Kate Gordon, Über das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke.
allgemeinen die Lust eine lebhaftere Beschäftigung mit den sie
begleitenden Eindrücken einleitet, als die Unlust, so würde sich
die relativ bessere Erinnerung an das Angenehme in jener Statistik
ebensogut wie der Mangel eines solchen Vorzugs für die Lust-
eindrücke bei unsern Experimenten verstehen lassen.
Zum Schluß möchte ich sagen, daß die theoretische Bedeutung
unserer Untersuchungen auf der gegenwärtigen Stufe unserer
Kenntnis der affektiven Prozesse und deren Beziehungen zum
Geistesleben im allgemeinen nur eine Sache der Mutmaßung sein
kann. Das Beste, was man von einer so begrenzten und elemen-
taren Untersuchung hoffen kann, ist, daß sie dazu beitragen kann,
einige der Schwierigkeiten dieses Behr komplizierten Problems
aufzudecken und vielleicht auf eine brauchbare Methode für ferneres
Arbeiten hinzuweisen.
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Bemerkungen zu vorstehender Abhandlung.
Von
O. Külpe.
Der interessante Versuch, den die Verfasserin der vorstehenden
Arbeit gemacht hat, das Problem des Verhältnisses der Gefühle
znm Gedächtnis zu klären und nach einer gewissen Richtung
zu lösen, hat mich dazu angeregt, einige allgemeinere Betrach-
tungen über dieses Problem und damit zusammenhängende Fragen
anzustellen.
Ist uns eine Empfindung E gegeben, so kann der Einfluß eines
Lust- oder Unlustzustandes, der sich an E knüpft, a priori ein
außerordentlich mannigfaltiger sein. Die Dauer von E, seine Leb-
haftigkeit, seine Beziehung zu andern Bewußtseinsinhalten kann
von der Natur des L oder ü abhängen. Ferner kann die Perse-
verationstendenz und Reproduzierbarkeit, die Reproduktionstendenz
und Assoziabilität dadurch bedingt sein. Auch seine Bedeutung
für die Aufmerksamkeit, für das Wollen und Handeln unter-
liegt vielleicht diesem Einfluß. Von allen diesen Möglichkeiten
soll hier nur die an zweiter Stelle aufgeführte näher diskutiert
werden.
Die Perseverationstendenz , Bereitschaft, Reproduzierbarkeit
von E kann ebenso wie Beine Reproduktionstendenz, die Festigkeit
seiner Assoziation mit andern, seine Assoziabilität gefordert oder
gehemmt, gesteigert oder verringert werden. L und U können,
wenn sie überhaupt einen Einfluß darauf haben, gleichsinnig
oder ungleichsinnig wirken, und diese Wirkung ist als eine
direkte, unmittelbare oder als eine indirekte, mittelbare denkbar.
Was hier für ein E aufgeführt ist, gilt auch für einen ^-Kom-
plex, der als Ganzes zum Träger eines L oder U geworden ist,
oder für einen Teil dieses Komplexes, mit dem sie in Ver-
bindung stehen.
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460
0. Külpe.
Die Versuche von K. Gordon haben es mit solchen Kom-
plexen zu tun. Sie sind teils lustbetont, teils indifferent, teils un-
lustbetont gewesen. Die Beschreibung dieser Komplexe, die Aus-
sage über ihre Beschaffenheit unmittelbar nach dem Verschwinden
der sie hervorrufenden Reize hat den Maßstab für ihre gedächtnis-
mäßige Aneignung und Einprägung gebildet. Die Bestandteile
der Eindrucke waren hierbei die Reproduktionsmotive für die der
Beschreibung dienenden Worte. Die Zahl der bezeichneten selb-
ständigen Elemente eines Komplexes galt als direkter Ausdruck
für die Größe der Gedächtnisleistung, für die Stärke der Repro-
duktionstendenz, die den Eindrücken zuzuschreiben war. Hatten
L oder U einen Einfluß darauf, so mußten sie diese Tendenz,
d. h. die Zahl der angegebenen Elemente vergrößern oder ver-
ringern. Weder das eine noch das andere trat ein. L und U
hatten demnach keinen nachweisbaren Einfluß auf die Repro-
duktionstendenz der Eindrücke bzw. ihrer Bestandteile.
Dadurch, daß die Aufgabe, eine Beschreibung zu geben, all-
gemein für die Versuche gestellt wurde, konnte ein etwaiger
Einfluß von L oder U nicht wohl verdeckt werden. Die Versuchs-
umstände erlaubten eine Besserung ebenso wie eine Verschlech-
terung der tatsächlichen Leistung. Hatten daher L und Ü eine
selbständige und eigenartige Bedeutung für den Reproduktions-
vorgang, so war diese innerhalb der für alle Fälle gleichmäßig
bestehenden Aufgabe hervorzutreten imstande. Wie sich der
Unterschied der Schwierigkeit in der zweiten Versuchsgruppe
deutlich in der Differenz der gefundenen Durchschnittswerte aus-
drückte (vgl. S. 446 f.) , so hätte sich auch der Unterschied des
Oefilhlstons darin offenbaren können.
Auf andern Gebieten hat man längst angenommen, daß die
Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit eines Eindrucks die Durch-
führung der an ihm zu lösenden Aufgaben nicht verändere.
Empfindlichkeit und Unterschiedsempfindlichkeit für Reize, die auf
das Konstatieren und Vergleichen von Reizen und Reizunter-
schieden gerichtet sind, werden nach allgemein herrschender An-
sicht (die durch Kowalewski nicht erschüttert worden ist) von
den dabei auftretenden Gefühlen nicht beeinflußt. Auch hier
spielen Perseveration und Reproduktion eine nicht unerhebliche
Rolle. Ebensowenig vermögen Lust und Unlust die Ausführung
bestimmter wissenschaftlicher Aufgaben zu modifizieren, solange
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Bemerkungen zu vorstehender Abhandlung. 461
die Aufgabe selbst unvenrückt erhalten bleibt. Und wenn man
von dem Wollen und Handeln verlangt, daß es nach Prinzipien
und nicht nach zufalligen Lustmomenten sich richte, so ist hier
gleichfalls die Vorstellung maßgebend, daß eine Unabhängigkeit
von den Gefühlen, die an die Motive oder Ziele geknüpft sein
mögen, erreichbar ist.
Die Ergebnisse von K. Gordon reihen sich daher in eine
große Gruppe von Tatsachen ein, die man unter dem Sammel-
namen einer Emanzipation des Intellekts und des Willens
von den Gefühlen der Lust und Unlust zusammenfassen
könnte. Je einfacher und durchsichtiger die Aufgabe und die
Mittel zu ihrer Lösung sind, um so leichter wird diese Emanzi-
pation werden. Damit ist ein wirklicher Einfluß der Gefühle auf
den Ausfall solcher Aufgaben nicht ausgeschlossen. Aber unsere
Versuche scheinen zn lehren, daß er kein unmittelbarer, sondern
ein mittelbarer und daß er kein einsinniger, sondern ein mehr-
sinniger ist und sein kann. Beides hängt miteinander zusammen.
Ein unmittelbarer gesetzmäßiger Einfluß müßte einsinnig sein, so-
fern er von einer und derselben Bedingung ausgeht. Ein mittel-
barer Einfluß dagegen kann mehrsinnig sein je nach der Be-
schaffenheit des Mittels oder der Mittel, durch welche er wirkt.
Lost und Unlust gewinnen zuweilen einen Einfluß auf die intellek-
tuellen Funktionen, indem sie die gestellten Aufgaben befestigen
oder schwächen. Die Lust am Eindruck kann zur Lust an der
gestellten oder an einer andern Aufgabe werden und demnach
die Lösung jener befördern oder beeinträchtigen. Das nämliche
gilt von der Unlust. Es besteht also kein einfacher, prinzipieller
Gegensatz in der Wirkung von L und Ü auf die intellektuellen
Prozesse l). Wahrscheinlich wird der bei der Deutung von Ergeb-
nissen der Ausdrucksmethoden sich empfehlende Unterschied
zwischen aktiver und passiver Lust und Unlust auch hier durch-
zuführen sein. Doch soll nicht bestritten werden, daß wenigstens
regelmäßig ein gegensinniger Verlauf des Lust- und Unlusteinflusses
sich zeige.
Aber noch nach einer andern Richtung sind unsere Versuche
von Bedeutung. L und U tragen, wie K. Gordon mitgeteilt hat,
1) Dies wichtige Ergebnis ist auch bei der Übersieht über den assozia-
tiven Faktor S. 448 hervorgetreten.
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4H2
0. Kiilpe,
zum Wiedererkennen der mit ihnen verbunden gewesenen Eindrücke
nichts bei (vgl. S.449). Die indifferenten Vorstellungen werden genau
bo gut oder so schlecht wiedererkannt, wie die angenehmen und un-
angenehmen. Insbesondere aber ist es nie vorgekommen, daß sie an
ihrer Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit erkannt worden wären.
Daraus geht doch wohl hervor, daß L und U derjenigen quali-
tativen Mannigfaltigkeit entbehrt haben, die sie zu einem Vehikel
des Wiedererkennens tauglich machen würde. Annehmlichkeit und
Unannehmlichkeit als solche sind nicht genügend differenziert, um
als Reproduktionsmotive für Besonderheiten der Vorstellungswelt
wirken zu können. Diese Schlußfolgerung, die gegen die
pluralistische Lust- und Unlusttheorie im extremen Sinne
vernehmlich spricht, ohne freilich die einfache Lust- Unlust-
theorie in ihrer strengen Form notwendig zu machen, erläutert
auch die vorhin geschilderten Ergebnisse unserer Versuche. Die
Reproduktion von Aussagen Uber einen bestimmten Eindruck, die
wechselseitige Assoziation seiner Bestandteile, die Individualität
des Ganzen würden durch charakteristische L und ZT, die sich mit
dem Komplex oder einzelnen Teilen desselben verknüpfen, wesent-
lich gewinnen können. Daß sie auf die Erinnerung und Be-
schreibung keinen unterstützenden Einfluß geübt haben, zeigt
ebenfalls, daß sie der dazu erforderlichen Eigenart entbehrt
haben.
Ich bin schon wiederholt für die Wahrscheinlichkeit einer ein-
fachen Lust-Unlusttheorie eingetreten1) und finde in der eben er-
wähnten Tatsache ein neues Argument dafür. Dazu läßt sich aber
noch auf eine vielbesprochene Erscheinung hinweisen, die nach
meiner Ansicht zu der gleichen Annahme fuhren muß, nämlich die
sogenannte GefUhlsübertragung. Die Gefühlsanalogie zwischen den
heterogensten Vorstellungen kann so groß sein, daß die an der
einen von ihnen haftende Gefühlsbetonung ohne weiteres auf die
andere Ubergeht. Ebenso kann die Assoziation zweier Vorstel-
lungen bewirken, daß die der einen zukommende Annehmlichkeit
anch zu einer Eigenschaft der andern wird. Dafür gibt es sonst
keine Beispiele in der Welt der Empfindungen. Die Herbstzeit-
lose erscheint mir nicht grtin, weil ich sie stets im Verein mit
1) Vgl. Grundriß der Psychol. S. 246 ff.; Vierteljahreachr. f. wiss. Philo*.
XXIII. S. 174. S. auch Orth. Gefühl und Bewußteeinalage. 1903.
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Bemerkungen zu vorstehender Abhandlung 463
grünen Wiesen wahrnehme. Die Weichheit eines Klanges bleibt
trotz aller Analogie mit einem weichen Tasteindruck ein qualitativ
von ihm ganz abweichendes Phänomen und läßt sich nicht etwa
auf ein Kissen »Ubertragen«. Die Lehre von der Mehrdimensio-
nalität der Gefühle wird natürlich durch diese Betrachtungen nicht
berührt.
Zum Schluß möchte ich noch auf einen Mangel der Versuche hin-
weisen, den die Verfasserin der vorstehenden Arbeit nicht genügend
hat hervortreten lassen. Die in den Tabellen I — III aufgeführten
Mittelwerte beziehen sich für jede Vp. auf verschiedene Objekte,
weil nicht nur die GefUhlsurteile individuell stark variiert haben,
sondern auch die Angaben über die relative Schwierigkeit der
Auffassung ganz auseinandergegangen sind. Es ist nicht ausge-
schlossen, daß das letztere z. T. daran lag, daß die Vp. nicht
immer dasselbe unter dieser Schwierigkeit verstanden. Ordnet
man eine Reihe von Figuren nach den Graden relativer Schwierig-
keit, so kann diese bald in der sinnlichen Auffassung des Bildes
und seiner Teile, bald in der Einprägung der Elemente und ihrer
Anordnung, bald in der Beschreibung des Wahrgenommenen ge-
runden werden. Auch wenn ausdrücklich nur die Schwierigkeit
der sinnlichen Auffassung bestimmt werden sollte, mochte doch
ein anderer Gesichtspunkt sich gelegentlich vordrängen. Außer-
dem ist freilich diese Schwierigkeit den individuellen Differenzen
sehr ausgesetzt. Für mich bezog sie sich in der II. Versuchs-
anordnnng namentlich auf die Zahl der erkennbaren Farbenunter-
schiede und auf die Anordnung derselben. War die Mannigfaltig-
keit der wahrgenommenen Farben klein und deren Anordnung
durchsichtig, irgendwie geometrisch bestimmbar, so erschien mir
das Objekt »leicht«. Es ist verständlich, daß diese Kriterien eine
große subjektive Schwankungsbreite gewähren.
Nun ist aber der Umstand, daß die in den Tabellen zusammen-
gefaßten Zahlen für die einzelnen Vp. von verschiedenen Objekten
herstammen, nicht unbedenklich. Die vorgezeigten Figuren mußten
normalsinnigen Vp., die wir sämtlich waren, wesentlich gleichartig
erscheinen. Das subjektive Urteil Uber die Schwierigkeit konnte
auf einer Selbsttäuschung beruhen und war ja eine rein relative
Angabe, die nicht nnr in allgemeinen Annahmen, sondern auch
und hauptsächlich in den jeweils vorausgegangenen Versuchen
ihren Maßstab hatte. Wir wissen nicht, wieviel von den gefundenen
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464 0. KUlpe, Bemerkungen xu vorstehender Abhandlung.
Werten von der Verschiedenheit der zugrunde gelegten Objekte
abhängt. Unser Material war zu klein, um diese Frage beant-
worten zu können. Hier besonders wird eine künftige Fortsetzung
unserer Versuche zu ergänzen und zu bessern haben, und ich kann
nur wünschen, daß wir diese der geschickten und tüchtigen Ver-
fasserin der vorstehenden Abhandlung zu danken haben werden.
(Eingegangen am 12. Oktober 1904.)
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■
Weiteres zur »Einfühlung«.
Von
Th. Lipps.
Witasek will die Einfühlung, die ein sich Fühlen in einem
von mir unterschiedenen sinnlich Wahrgenommenen oder sinnlich
Wahrnehmbaren ist, ersetzen durch die Mit Vorstellung eines
Psychischen in einem sinnlichen Gegenstand.
Hier ist zuerst die Frage am Platze, was diese Mitvorstellung
besagen, d. h. worin das Mitvorstellen bestehen soUe. Die Meinung
scheint diese, oder kann zunächst diese sein: Wenn ich eine
Gebärde sehe, so ist mit der Wahrnehmung der Gebärde die an-
schauliche Vorstellung eines Psychischen, etwa die Vorstellung von
Stolz oder Trauer u. dgl., durch Erfahrung, oder nach dem Gesetz
der »Kontiguität«, assoziiert.
Gesetzt jemand ist dieser Meinung, so besteht für ihn die Auf-
gabe, zu zeigen, wie solche Assoziation möglich sei, oder wie sie
zu stände kommen könne. Solange diese Aufgabe nicht erfüllt ist,
ist die fragliche Meinung eine leere Behauptung. Niemand aber
hat bisher einen Weg gezeigt, auf dem die Assoziationen der
»Berührung« oder der »Kontiguität«, die hier vorausgesetzt wären,
zustande kommen könnten. Und niemand wird ihn zeigen. Es
gibt keinen solchen Weg1).
In jedem Falle genügt dieser Begriff der Assoziation nicht Daß
mir eine Gebärde als Ausdruck des Stolzes oder der Trauer er-
scheint, oder, besser gesagt, daß sie für mich oder für mein Bewußt-
sein Stolz oder Trauer tatsächlich ausdrückt, und daß, indem ich
die Gebärde wahrnehme, damit die Vorstellung von Stolz oder
Trauer sich assoziiert oder assoziiert ist, diese beiden Behaup-
tungen besagen nicht das gleiche.
1} Siehe .Grundlegung der Ästhetik« S. 112 ff.
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4B6
Th. Lipp».
Wenn ich einen Stein sehe, so ist mit dieser Wahrnehmung
die Vorstellung der Härte, der Glätte usw. assoziiert. Aber darum
sage ich doch nicht, der gesehene Stein, oder der Stein, so wie
ich ihn sehe, »drücke« Härte oder Glätte »aus«. Umgekehrt:
Von dem, was ich wahrnehme, wenn ich den Stein betrachte, sage
ich, es ist hart oder glatt. Dagegen sage ich von der Gebärde
nicht, sie »ist« traurig oder stolz; und wenn ich etwa so sage,
dann weiß ich, daß ich mich nicht korrekt ausdrücke. Ich weiß,
es wäre richtiger, wenn ich sagte, die Gebärde ist eine Gebärde
»des« Stolzes oder »der« Trauer. Dies aber heißt wiederum:
sie ist eine solche, die Stolz oder Trauer ausdrückt.
Mit einem Worte, zwischen der Gebärde und dem Psychischen,
das für mich in derselben »liegt«, besteht eine Beziehung eigener
Art, insbesondere eine Beziehung von anderer Art, als die asso-
ziative Beziehung zwischen der optischen Wahrnehmung des Steines
und der Vorstellung seiner Härte oder Glätte und ähnlichen, über-
haupt eine Beziehung, die von aller bloßen Assoziation grundsätz-
lich verschieden ist. Es besteht zwischen der Gebärde und dem,
was sie ausdrückt, die Beziehung, die ich wegen ihrer Eigenart
zunächst mit einem allgemeinen Namen, nämlich dem Namen der
symbolischen Relation, bezeichne. Die besondere Art der symbo-
lischen Relation wiederum, die hier in Frage steht, bezeichne ich
speziell als symbolische EinfUhlungsrelation, oder kurz als Relation
der Einfühlung.
Daß die Beziehung des Eingefühlten zu demjenigen, in das es
eingefühlt ist, keine einfache Assoziation sei, dies habe ich selbst
ehemals nicht erkannt. Ich bezeichnete selbst gelegentlich diese
Beziehung als assoziative Beziehung. Ich tat dies im Gegensatze
zu Volkelt, der von vornherein leugnete, daß es sich hier um
eine Assoziation der gewöhnlichen Art handle. Ich muß jetzt
Volkelt recht geben. Die Einftlhlungsbeziehung oder Einfuhlungs-
relation ist in der Tat eine Beziehung durchaus eigener Art. Sie
ist insbesondere auch eine Beziehung von besonderer Innigkeit.
Sie darum mit Volkelt als »Verschmelzung« zu bezeichnen,
möchte ich doch aus den gelegentlich angeführten Gründen auch
weiterhin ablehnen.
Im oben angeführten Beispiele einer Assoziation war mit einer
sinnlichen Wahrnehmung die Vorstellung eines sinnlich Wahr-
nehmbaren assoziiert. Die Sache ändert sich aber nicht, wenq
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Weiteres zur »Einfühlung«.
4H7
wir mit einer sinnlichen Wahrnehmung die Vorstellung einen Psy-
chischen assoziiert denken.
Ich sehe etwa ein Ding, und weiß, irgend jemand wünscht
dasselbe zu besitzen, oder hat sich darüber gefreut, oder hat über
das Dasein desselben sich geärgert. Dann ist zweifellos ftlr mich
mit der Wahrnehmung des Dinges die Vorstellung dieses psychischen
Tatbestandes assoziiert. Aber wiederum »drückt« mir das Ding
nicht Freude, Wunsch, Arger »aus«.
Was nun ist eigentlich das Besondere dieses »Ausdrückens«?
Zweifellos liegt ja darin etwas Eigenartiges. Und dies Eigen-
artige muß festgestellt werden.
Die nächste Antwort auf die gestellte Frage lautet: Das Aus-
drücken ist in jedem Falle ein Intendieren oder Meinen. Jeder-
mann versteht es und findet es in der Ordnung, wenn ich sage: Die
Gebärde der Trauer »meint« die Trauer, oder sie »zielt« auf
die Trauer oder richtiger auf die Kundgabe derselben »ab«; sie
ist nicht »um« ihrer selbst, sondern »um« der Trauer »willen« da.
Statt zu fragen, was die Gebärde ausdrücke, fragen wir auch,
was sie »wolle«.
Dieser Sachverhalt nun wird verständlich und einzig verständ-
lich, wenn wir die Einfühlungsrelation so bestimmen, wie ich sie
bestimmt habe: Ich sehe die Gebärde und erlebe in der Wahr-
nehmung derselben eine Tendenz oder einen Antrieb zu einer be-
stimmten Art des inneren Verhaltens oder der psychischen Ein-
stellung, nämlich derjenigen, die jedermann mit dem Namen
Trauer bezeichnet. Ich erlebe die Tendenz »in« der Wahr-
nehmung, d. h. der Akt der Wahrnehmung, oder genauer, der Akt
der Auffassung des Wahrgenommenen, und diese Tendenz, traurig
gestimmt zu sein oder mich traurig zu fühlen, dies beides ist ein
einziger ungeteilter psychischer Akt. Die fragliche Tendenz ist
in dem Wahrnehmungsakt ursprünglich oder instinktiv, vermöge
einer wunderbaren und nicht weiter zurückftihrbaren Einrichtung
meiner Natur, unmittelbar eingeschlossen.
Dies Eingeschlossen sein der »Tendenz«, mich traurig zu fühlen,
in dem Wahrnehmungs- oder Apperzeptionsakt kann ich aber
weiter auch so bezeichnen: Der Akt der Wahrnehmung selbst
zielt, vermöge dieser Einrichtung, über sich selbst hinaus zum
Erleben oder zum Vollzug jener inneren Einstellung.
Dieser Sachverhalt ist unmittelbar deutlich in andern Fällen
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468
Th. LippB,
des »Auedrucks«. Ein Satz, den ich höre, drückt ein Urteil aus.
Dies heißt zweifellos: Er zielt auf einen Urteilsakt, der in mir
zustande kommen soll. Ich soll so urteilen, wie es der Satz aus-
sagt. Auch dies »Sollen« ist eine in der Wahrnehmung oder Apper-
zeption des Satzes unmittelbar liegende Tendenz. Ich bezeichne
dieselbe als ein »Sollen«, weil sie nicht eine spontan in mir ent-
stehende, sondern in dem Satze ftlr mich liegende, in der Auf-
fassung des Satzes, dieses von mir unterschiedenen Gegen-
standes meiner Wahrnehmung, unmittelbar eingeschlossene
Tendenz ist.
Genau so nun wie der Satz ein Urteil, so drückt die Gebärde
der Trauer Trauer aus, d. h. das »Ausdrücken« ist in beiden
Fällen in demselben Sinne gemeint. Also wird eB auch in beiden
Fällen den gleichen Tatbestand bezeichnen; d. h. auch daß die
Gebärde der Trauer Trauer ausdrückt, besagt, ihre Auffassung
schließe die Tendenz zum Erleben oder Vollzug des »Ausgedruck-
ten« in sich. Auch in diesem Falle darf ich die Tendenz als ein
Sollen bezeichnen: Ich darf sagen, ich »soll« Trauer fühlen.
Auch hier eben ist die Tendenz zu dieser inneren Einstellung
nicht etwas aus mir, d. h. aus meinen eigenen traurigen Erleb-
nissen Stammendes, sondern etwas, das in der Wahrnehmung
eines von mir unterschiedenen Gegenstandes liegt. Sie iBt ein
von dem Gegenstande her an mich ertönender Ruf, eine Auf-
forderung oder Zumutung, die er an mich stellt
Damit ist das Eigentümliche bezeichnet, das in dem Worte
»Ausdrücken« liegt, und seinen spezifischen Sinn ausmacht. Viel-
leicht findet jemand, daß andere Wendungen den Sachverhalt
besser beschreiben, als die von mir gebrauchten. In jedem Falle
steht es dem Psychologen nicht an, über das Wesen der Ein-
fühlung zu urteilen, ehe er sich über das in dem Begriffe des
»Ausdrucks« liegende Eigentümliche — und daß in dem Be-
griffe etwas Eigentümliches liegt, das über die bloße Assoziation
hinausgreift, kann niemand zweifelhaft sein — volle Rechenschaft
gegeben hat.
Nach dem Obigen erscheint die Unterscheidung zwischen
»direkten« und »assoziativen« Faktoren in der Wirkung des
ästhetischen Objektes als im Grunde unzulässig. Es ist aber nicht
nur das Spezifische des ästhetischen Objektes, daß in ihm mit dem
sinnlich Wahrgenommenen ein Psychisches in ganz besonderer
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Weiteres zur »Einfühlung«.
469
Weise, die von aller Assoziation grundsätzlich verschieden ist,
verknüpft erscheint, sondern wir müssen allgemeiner sagen: Es
gehört Uberhaupt alles dasjenige, was mit dem wahrgenommenen
ästhetischen Objekt lediglich durch Assoziation im gewöhnlichen
Sinne dieses Wortes zusammenhängt, nicht zum ästhetischen
Objekt als solchem.
Ist mir etwa ein Bild von lieber Hand geschenkt, so kann
zwischen dem Bilde und der »lieben Hand« die innigste Assozia-
tion bestehen. Aber mit dem ästhetischen Wesen des Bildes hat
dies nichts zu tun.
Es genügt auch nicht, daß etwa nur die eindeutigen und not-
wendigen Assoziationen als Faktoren in der ästhetischen Wirkung
eines Gegenstandes angesehen werden. Was sind das, eindeutige
nnd notwendige Assoziationen? In unserem Falle wird man sagen,
die Assoziation zwischen dem Bilde und dem Umstände, daß es
mir von lieber Hand geschenkt worden ist, sei keine eindeutige
und notwendige, d. h. in dem Bilde selbst »liege« davon nichts.
So nimmt in der Tat Ettlpe, soviel ich sehe, die eindeutigen und
notwendigen Assoziationen. Aber, daß etwas in einem sinnlich
Wahrgenommenen unmittelbar »liegt«, darin »liegt« eben jeder-
zeit mehr als eine bloße Assoziation.
Die liebe Hand, von der ich hier rede, oder das, was sie zur
> lieben« Hand macht, ist wiederum ein Psychisches. Aber nehmen
wir nun ein Beispiel, in welchem ein Physisches mit einem sinn-
lich wahrgenommenen Objekt assoziiert ist.
Mit der Vorstellung eines schweren Körpers, der ohne Unter-
stützung in der Luft schwebt, ist die Vorstellung des Fallens ver-
knüpft. Und diese Verknüpfung ist so notwendig, als irgendeine
Assoziation sein kann. Dies hindert doch nicht, daß die Kunst
schwebende Körper darstellt. Und die Erfahrung zeigt, daß der
Gedanke des Fallens hier ästhetisch gar nicht in Frage kommt.
Antwortet man darauf, für die ästhetische Betrachtung sei eben
diese Assoziation keine notwendige, sie sei es so wenig, daß sie
in solcher Betrachtung überhaupt nicht bestehe oder nicht zur
Wirkung komme, so liegt darin nichts anderes als das Zuge-
ständnis, daß auch die notwendigsten Assoziationen für das
ästhetische Objekt bedeutungslos sein können. Und dies wiederum
heißt, daß die Erfahrungsassoziationen rein als solche ästhetisch
überhaupt nichts zur Sache tun. Wir können mit Bezug auf die
Archiv f&r PsycLologi«. IV. 31
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470
Th. Lipps.
erwähnte Assoziation wiederum sagen: Sie ist ästhetisch bedeutungs-
los, weil, mag sie so notwendig sein wie sie will, in dem
Schweben nichts vom Fallen »liegt«.
Hiergegen wendet man vielleicht ein: Aber wir interpretieren
doch die flächenhafte Darstellung körperlicher Objekte in einem
gemalten oder gezeichneten Bilde dreidimensional. Die perspek-
tivische Ansicht eines Hauses etwa repräsentiert uns das an sich
nicht perspektivisch verschobene Haus. Und dies hat doch in
einer Erfahrungsassoziation seinen Grund. Zugleich ist solche
dreidimensionale Umdeutung ästhetisch keineswegs irrelevant.
Sie ist eine wesentliche Voraussetzung des ästhetischen Eindruckes,
den ich von dem Bild gewinnen soll. Ich gebe gleicherweise der
kleiner gezeichneten Gestalt im Hintergrunde des Bildes auf Grund
von Erfahrungsassoziationen ihre wirkliche Größe. Und wiederum
hat dies für die ästhetische Betrachtung des Bildes entscheidende
Bedeutung.
Aber hier muß ich eben der Meinung, der Zusammenhang
zwischen dem Bilde und dem, was es »vorstellt«, sei ein lediglich
assoziativer im gewöhnlichen Sinne des Wortes, widersprechen.
Dies heißt nicht, daß auch hier Einfühlung vorliege. Die wirk-
liche Gestalt des perspektivisch dargestellten Hauses oder die
wirkliche Größe der verkleinert gezeichneten Person wird in das
Wahrgenommene gewiß nicht »eingefühlt«. Wohl aber darf ich
sagen: ich »sehe« sie unmittelbar »darin«; oder wiederum: sie
»liegt« für mich darin. Ich sehe nicht das, was ich sehe, und
knüpfe daran die Vorstellung des wirklichen Sachverhaltes, so
wie ich an die Wahrnehmung des schwebenden Körpers die Vor-
stellung des Fallens oder an die optische Wahrnehmung des
Steines die Vorstellung seiner Härte knüpfe, sondern »in« dem
flächenhaften Bild, das ich mit dem sinnlichen Auge sehe, denke
ich den dreidimensionalen Körper, oder stellt sich dem geistigen
Auge der dreidimensionale Körper dar. Ich »sehe« ebenso, näm-
lich mit demselben »geistigen Auge«, in dem verkleinerten Bilde
den Menschen, der an sich nicht verkleinert, sondern ebenso groß
ist, als wenn er im Vordergrunde stände. Was ich mit dem sinn-
lichen Auge sehe, ist mir Repräsentant oder Symbol des da-
mit Gemeinten oder vom geistigen Auge »Gesehenen«. Es »drückt«
mir nicht etwas »aus«, aber es bedeutet mir etwas. Kurz es
besteht auch hier zwischen dem, was ich sehe, und dem, was ich
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Weiteres zur »Einfdhlungc.
471
nicht sehe, und was doch zum ästhetischen Objekt mit hinzu-
gehört, eine Art der symbolischen Relation. Mag beim Zu-
standekommen derselben die Erfahrung noch so sehr beteiligt sein,
so ist dieselbe doch nicht einfach gleichbedeutend mit erfahrungs-
gemäßer Verknüpfung. Die fragliche symbolische Relation ist
nicht dieselbe, wie diejenige, die zwischen einer Gebärde und
dem, was sie ausdruckt, besteht, sondern sie ist die symbolische
Relation zwischen »Erscheinung« und dem, was >darin erscheint,
oder darin gedacht wird. Aber auch diese symbolische Relation
ist ihrem letzten Grunde oder eigentlichen Kerne nach etwas von
jeder bloßen Erfahrungsassoziation grundsätzlich Verschiedenes.
Jetzt können wir genauer sagen, welcher Art unter allen Um-
ständen die Beziehung sein muß, die zwischen der sinnlich wahr-
genommenen Komponente des ästhetischen Objektes einerseits und
dem, was sonst zum ästhetischen Objekt gehören soll, besteht. Sie
ist jederzeit eine symbolische Relation. Und die Relation zwischen
jener Komponente und dem in dem Objekt »ausgedrückten«
Psychischen ist diejenige Art der symbolischen Relation, die
den besonderen Namen »Einftthlungsrelation« trägt.
Das Studium der symbolischen Relationen und insbesondere das
Studium der Einfllhlungsrelation, die Besinnung darüber, was das
spezifische Wesen der »Bedeutung«, und insbesondere darüber,
was das spezifische Wesen des »Ausdruckes« ausmacht, wird für
alle weitere Stellungnahme zum Begriffe der Einfühlung, und dem-
nach auch zum Begriffe der ästhetischen Sympathie, überhaupt
for jede Stellungnahme zur Frage, was außer dem in der Wahr-
nehmung unmittelbar Gegebenen zum ästhetischen Objekt gehöre
oder dasselbe konstituiere, unerläßliche Bedingung sein.
Dieses Studiums der symbolischen Relation und insbesondere
der Einfllhlungsrelation wird sich vor allem wohl oder übel
Witasek befleißigen müssen.
Auf Kttlpes experimentelle Widerlegung des Satzes, daß der
Kern alles ästhetischen Genusses in der ästhetischen Sympathie liege
oder Genuß dieser Sympathie sei, komme ich an anderer Stelle.
Aber ich darf wohl hier schon die Erwartung aussprechen, daß
der Tag kommen wird, wo K. Uber solche »experimentelle Psycho-
logie« ebenso denken wird, wie ich es jetzt schon zu tun mir
erlaube.
31*
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472
Tb. Lipps.
Ich habe oben an Witasek die Frage gerichtet, wie er sich
das Mitvorstellen eines Psychischen »in der sinnlichen Wahr-
nehmung eines ästhetischen Objektes denke, oder was dies
Psychische an das sinnlich Wahrgenommene binden solle. Jetzt
stelle ich die weitere Frage, was denn unter der »anschau-
lichen« Vorstellung eines Psychischen von ihm verstanden sei?
Zweifellos stelle ich eine Farbe so anschaulich als möglich vor,
wenn ich sie wahrnehme. Im übrigen hat derjenige die anschau-
lichste Farbenvorstellung, bei dem sich die vorgestellte Farbe,
d. h. das Vorstellungsbild derselben, der wahrgenommenen, oder
dem Wahrnehmungsbilde derselben, am meisten nähert Das volle
Schauen der Farbe ist das sinnliche Schauen.
Statt dessen kann ich auch sagen: Die Farbe ist anschaulich
vorgestellt in dem Maße, als ich sie »erlebe« oder als sie sich in
mir oder meinem Bewußtsein der »erlebten« nähert. Das »Erleben«
des sinnlich Wahrnehmbaren ist das Wahrnehmen desselben.
Nun, ebenso ist die Vorstellung eines Psychischen eine anschau-
liche in dem Maße, als die Vorstellung sich dem Erleben nähert
oder in dasselbe Übergeht. In der Tat scheint mir die Erklärung
Witasek s, im ästhetischen Objekt sei mit dem sinnlich Wahr-
genommenen die »anschauliche« Vorstellung eines Psychischen
verknüpft, das Zugeständnis, daß die bloße Vorstellung eines
Psychischen als Grund eines ästhetischen Genusses ihm nicht ge-
nügt, sondern daß er mehr, nämlich ein Erleben desselben,
fordert
Freilich Witasek definiert die »Anschaulichkeit« der Vor-
stellung anders. Sie ist ihm offenbar dies, daß ich von dem Vor-
gestellten ein Bild habe, daß der vorgestellte, genauer gesagt,
der in der Vorstellung gemeinte oder gedachte Gegenstand in
meinem Bewußtsein durch ein Bild eben dieses Gegenstandes,
nicht etwa durch ein bloßes Wort oder Wortbild repräsentiert sei.
Indessen in einem solchen Bilde »schaue« ich den damit ge-
meinten oder dadurch repräsentierten Gegenstand doch eben nur
in dem Maße »an«, als dies Bild mit dem Gegenstand überein-
stimmt Und dies heißt: in dem Maße, als ich darin den Gegen-
stand erlebe.
Mag nun aber das Wort »anschaulich« diesen oder jenen Sinn
haben, in jedem Falle findet im ästhetischen Genuß ein solches
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Weiteres zur »Einfühlung«.
473
Erleben statt oder — so wollen wir zunächst sagen — es kann
darin stattfinden. Anch Witasek hat zweifellos schon in dem
Leiden einer Person, die in einem Roman oder Drama auftritt,
sich bedrückt oder bekümmert, von der frohen Zuversicht einer
andern sich gehoben oder »angesteckt« gefühlt Und er wußte
dabei sein Gefühl von der bloßen Vorstellung, auch der möglichst
»anschaulichen« Vorstellung, daß irgendwo in der Welt ein Gefühl
des inneren Druckes oder Kummers oder des Gegenteiles sich
finde, oder daß irgendwo in der Welt Zuversicht gefühlt werde'
sehr wohl zu unterscheiden.
Es gibt aber sogar Menschen, die von den Leiden und Nöten,
der Not und dem Kummer einer epischen oder dramatischen Ge-
stalt zu Tränen »gerührt« werden.
Vielleicht sagt man, dies letztere sollte nicht Bein. Solches
Verhalten sei kein eigentliches ästhetisches Verhalten mehr. Mag
es so sein. Aber warum eigentlich? Darauf muß die Antwort
lauten : weil das künstlerisch dargestellte Leiden gar nicht um
seiner selbst willen da ist. D. h. es ist nicht dazu da, damit es
für sich allein mit- oder nacherlebt werde.
Ich sage deutlicher, was ich hiermit meine. Unlust ist nicht
etwas, das irgendwo in der Welt für sich vorkäme oder ein
selbständiges Dasein hätte. Sondern Unlust stammt immer aus
einer Quelle oder Wurzel in einer Gesamtpersönlicbkeit So ist
es nicht nur an sich, sondern auch für mich. An der Unlust, wie
an jedem Gefühl überhaupt, hängt für mich die fühlende und in
dem Gefühl sich kundgebende Persönlichkeit Demgemäß
ist auch das volle Miterleben der Unlust notwendig jederzeit Mit-
erleben einer Gesamtpersönlichkeit Dies heißt zunächst: Ich kann
Unlust positiv miterleben; d. h. sie kann zu meiner eigenen Un-
lust werden, nur unter der Voraussetzung, daß ich auch diese Ge-
samtpersönlichkeit positiv mitzuerleben vermag. Die Unlust etwa,
die einem bloßen Irrtum entstammt, die sinnlose, in keiner Weise
gerechtfertigte Unlust, der blinde Arger oder dergleichen weckt
in mir, vorausgesetzt, daß mir dieser Grund der Unlust bekannt
ist, kein Mitleid. Ich kann den blinden Ärger innerlich nicht
»mitmachen«, weil ich die Blindheit, der er entstammt, und die
ihn charakterisiert, nicht mitmachen kann. Angesichts solcher
Unlust kann ich also auch nicht >gerührt« in Tränen zerfließen.
Gesetzt aber, irgendwelche Unlust ist nicht sinnlos, sonde rn an
f
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474
Th. Lipps,
sich menschlich wohl berechtigt, zugleich von so tiefgehender Art,
daß sie besser als Sorge, Kummer, innere Not, Angst, vielleicht
Verzweiflung bezeichnet wird. Dann sind zwei Möglichkeiten,
daß ich zu Tränen gerührt werde, also die Unlust in möglichster
Stärke innerlich miterlebe. Einmal: In der dargestellten Gestalt
fehlt jedes Moment der Kraft, deB Kampfes, der inneren Gegen-
wehr, des Trotzes, des Humors und dergleichen; knrz es fehlt in
ihr alles das, dessen Miterleben mein Mitleid hindern kann und muß,
bloßes Mit-Leiden zn sein. Zum andern: Diese Momente fehlen
iu der dargestellten Gestalt nicht, sie finden aber in mir keinen
genügend starken Widerhall. Ich erlebe also diese Momente nicht
oder nicht in gleicher Stärke mit. Ich fühle den Kummer, die
Sorge usw., aber nicht in gleichem Maße die innerliche Kraft der
Persönlichkeit, welche die Unlust in sich erlebt. Ich bin dazu
nicht imstande, weil ich selbst kraftvollerer innerer Erregungen
oder Verhaltungsweisen unfähig, weil ich allzu weicher Natur bin.
In diesen beiden Fällen wird und muß es schließlich dazu
kommen, daß ich von der bloßen Tatsache der »Unlust«, d. h.
des Kummers, der Sorge usw., ganz und gar hingenommen oder
ihr widerstandslos hingegeben bin, daß ich also lediglich diese
»Unlust« nachfühle oder miterlebe, oder lediglich das Leid mit-
erleide.
Schließlich unterliegen freilich die beiden hier unterschiedenen
Möglichkeiten der gleichen Voraussetzung. Sic laufen auf die
gleiche »Weichheit« hinaus. Nur die weiche Natur wird den Mangel
der Kraft, des Kampfes, des Stolzes usw. in der dargestellten
Person ertragen. Die weniger weiche Natur fordert dergleichen.
Sie wendet sich darum vielleicht von der Gestalt, die nichts der-
gleichen verrät, ab. Dann kommt es wiederum zu keinem Mit-
fühlen des Leidens.
Was ich hier sage, hat allgemeinere Bedeutung. Wir fordern,
daß in dem Kunstwerk jederzeit ein Mensch uns gegenübertritt.
Ein »Mensch«, das heißt aber nicht: ein Wesen, das bloß unter
dem Unglücke leidet, oder über beglückende Erlebnisse sich freut.
»Mensch sein« beißt nicht, Erlebnissen und ihrer Unlust- oder
Lustwirkung einfach hingegeben sein, sondern zum »Mensch sein«
gehört, daß ich zu den Erlebnissen auch etwas aus mir hinzu-
füge, es gehört dazu Aktivität, irgendeine Weise, in den leiden
und Freuden oder ihnen gegenüber spontan sich zu betätigen.
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Weiteres zur > Ein tu Ii Jung«.
475
Der »Mensch«, das ist der wollende, der innerlich arbeitende, auch
der sich wehrende, der weiterstrebende, der kämpfende nnd
ringende, auch der denkende ; es ist der so oder so Uber das Schick-
sal überlegene oder sich erhebende usw.
Solche Menschen nun fordern wir in der Kunst. Wir fordern,
wo in den Gestalten einer Dichtung Schmerz oder Lust uns ent-
gegentritt, also Bitteres oder Süßes uns zum Miterleben auffordert,
anch etwas von dem Salz, das in solcher Aktivität der Persönlich-
keit, solcher inneren Arbeit liegt; wir fordern ein Quantum von
Stahl und Eisen, irgendwelche feste Bestandteile, etwas von
dem, was wir im positiven Sinne des Wortes Charakter nennen.
Dies besteht eben in solchen festen Bestandteilen oder schließt
anch solche in sich.
Und wo nun dergleichen nicht fehlt, und wir es verspüren und
miterleben, oder innerlich mitmachen, da ist das weiche wider-
standslose Miterleben des Unglücks und ebenso das weiche wider-
standslose Miterleben des einer Person widerfahrenden Glückes
ausgeschlossen. Wir schmelzen nicht dahin, weder in der einen,
noch in der andern Art des Miterlebens, sondern fUhlen uns zu-
gleich zusammengefaßt, wollend, aktiv, innerlich arbeitend, viel-
leicht Uberlegen. Jenes Salz hindert das reine Gefühl der Bitter-
keit oder Süßigkeit; das Miterleben der festen Bestandteile wirkt
dem Zerschmelzen oder Zerfließen entgegen. Uberkommt uns doch
für einen Augenblick die Rührung, so schämen wir uns leicht dieser
Rührung. Diese Beschämung entstammt dem Bewußtsein einer
Schwäche; und diese Schwäche liegt in dem Mangel dessen, was
ich soeben als das Salz, als Stahl und Eisen, oder als die festen
Bestandteile bezeichnet habe.
Man versteht, warum ich dies alles im gegenwärtigen Zusammen-
hang sage. Man verurteilt die Rührstücke, und mit gutem Grunde.
Und von da aus nun könnte der > Ästhetiker« weiter schließen und
sagen: Rührung ist zweifellos volles Miterleben. Wer beim An-
blick des traurigen Geschickes, das dem Helden oder der Heldin
des Dramas widerfahrt, in Tränen zerfließt, der erlebt zweifellos
dies traurige Geschick mit. Er stellt sich nicht bloß vor, daß
irgendwo Trauer sei. Aber dies Zerfließen in Tränen ist eben
nicht das Richtige. Also besteht auch die ästhetische Wirkung,
welche ein Kunstwerk üben soll, oder, was dasselbe sagt, es be-
steht die ästhetische Wirkung, welche das Kunstwerk, falls es
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476
Th. Lipps,
wirklich ein solches ist und als solches genossen wird, tatsächlich
übt, nicht in solchem Erleben.
Dies aber wäre ein übler Schluß. Nicht darin besteht der
Fehler des Rührstückes, daß es zum vollen Miterleben zwingt,
sondern darin, daß dasjenige, was es uns miterleben läßt, nichts
Volles, sondern etwas Einseitiges ist. Sein Fehler besteht nicht
im »zu viel«, sondern im »zu wenig«. Es gibt uns Leiden oder
Freuden, traurige oder erfreuliche Geschicke, aber es gibt uns
neben diesem, was Menschen widerfährt und von ihnen erlebt
werden kann, nicht auch einen Menschen. Es gibt uns nicht die
Würze, das Salz, den Stahl und das Eisen, die festen Bestandteile,
die zum Menschen gehören und erst den Charakter konstituieren.
Ja, es gibt uns schließlich vielleicht nicht einmal das Schicksal,
so wie wir es kennen, sondern ein positives oder negatives Ideal
eines solchen, ein reines Unglück oder Glück, wie es in der Welt
nicht vorzukommen pflegt, nnd darum uns unverständlich ist, oder
unverständlich sein sollte.
Und nicht dies ist der Fehler bei demjenigen, der sich rühren
läßt, daß das unglückliche oder glückliche Geschick einer dar-
gestellten Person ihn so stark ergreift, sondern der Fehler ist,
daß ihm die Fähigkeit fehlt, das, was als Salz in Unlust und
Freude wirkt, mitzuerleben und so eine Reaktion gegen die schmel-
zende Hingabe in sich zu erleben. Oder der Fehler ist, daß er
seiner weichen Natur zufolge sich mit einem Kunstwerke, das
solche schmelzende Hingabc fordert, begnügt, nnd nicht dies Salz
oder das, was diese Reaktion in ihm bewirken müßte, von dem
Kunstwerk fordert; daß er nicht, wo es ihm versagt bleibt,
vom Kunstwerk sich abwendet.
Rührung ist also allerdings kein ästhetisches Verhalten; aber
nicht darum, weil es ein allzu volles Miterleben wäre, sondern
darum, weil es ein einseitiges und insbesondere ein salzloses oder
knochenloses Miterleben, oder weil es das widerspruchslose Mit-
erleben eines salzlosen oder knochenlosen Kunstwerkes ist. Oder
umgekehrt, das ästhetische Verhalten, das die Rührung ausschließt,
ist nicht ein minder volles Miterleben, sondern es ist ein voll-
ständigeres Miterleben; oder es ist das Miterleben dessen, was ein
inhaltlich vollständigeres Kunstwerk bietet; eines Kunstwerkes,
dem auch das Salz oder die Knochen nicht fehlen. Es ist ein
Miterleben, in welchem ein Gegeneinanderwirken der Akte des
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Weiteros zur »Einfilhlung«.
477
Miterlebens stattfindet, weil in ihm nicht bloß ein leidvolles oder
erfreuliches Schicksal, sondern zugleich ein Mensch miterlebt
Mit Obigem ist nnn auch schon gesagt, wie es zu beurteilen
ist, wenn Witasek gewissermaßen triumphierend meint, wer den
Anfang des »Faust« auf der Bühne sehe, der mache doch nicht
nacheinander die Angst, Not, Verzweiflung durch, die Faust fühle,
sondern er habe in Betrachtung alles dessen einen ästhetischen
Genuß. Ich meine, nach dem vielen, was bisher schon über die
ästhetische Einfühlung gesagt worden ist, hätte WitaBek diese
Bemerkung unterlassen müssen.
Ich sage dazu noch einmal: Gewiß erlebt der Zuschauer im
Theater alle diese inneren Vorgänge in der Person des Faust
mit, aber er erlebt in sich noch etwas mehr. Die Gemüts-
verfassungen des Faust sind doch eben nicht in der Luft
schwebende Dinge, sondern sie sind Gemütsverfassungen dieser
bestimmten Person. Und dies heißt, daß der Zuschauer diese
Person miterlebt, und zwar genau so, wie er sie sieht und aus
den Gemütsverfassungen und den Weisen, wie dieselben sich
kundgeben, herausliest. Und das ist eine Persönlichkeit, die
Kraft in sich trägt, Tüchtigkeit, inneren Reichtum und Größe, das
ist der Faust, der immer strebend sich bemüht.
Diese Kraft, diese Größe, Tüchtigkeit, diesen inneren Reich-
tum, dieses strebende sich Bemühen, diese innere Arbeit in einem
Menschen erleben wir aber nicht neben der Sorge oder Ver-
zweiflung, sondern unmittelbar darin. Noch mehr, dies Mit-
erleben der Persönlichkeit ist die Basis alles sonstigen Mit-
erlebens. Es ist der herrschende Grundklang in dem reichen
Akkord unserer ästhetischen Sympathie. Dies Bild stimmt auch
insofern, als jene einzelnen Affekte der Sorge, der Verzweiflung
usw. auf diesen Grundklang hinweisen. Ja ihre eigentliche
Funktion ist es, darauf hinzuweisen, und, indem sie dies tun,
diesen Grundklang, den »Menschen«, im positiven Sinne dieses
Wortes, uns reicher, größer und als volleren Menschen erscheinen
und in uns miterleben zu lassen, als Menschen, der nicht nur
Sorge, Verzweiflung überhaupt, sondern Bolche Sorge und solche
Verzweiflung fühlt und eben darin als solchen Menschen
sich ausweist
Und erleben wir nun so in uns# diesen Menschen,' und diese
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Th Lipp»,
Größe, Kraft, Tiefe und Weite eines Menschen, dann erleben wir
natürlich nicht Kummer und Verzweiflung, so gewiß und im
gleichen Sinne, wie derjenige, der einen mächtigen Akkord hört,
nicht einen einzelnen der auf dem Grundklang aufgebauten Klänge
hört, sondern eben den Akkord, oder, wenn man lieber will, nicht
das einzelne in dem Akkord enthaltene Intervall, sondern die Ein-
heit der Intervalle, die im Akkord in eines sich verweben.
Dabei mag das einzelne Intervall für sich dissonant sein. Dies
hindert doch nicht, daß der Akkord konsonant sei. Dies ist dann
freilich eine Konsonanz eigener Art, nämlich eine solche, die die
Dissonanzen in sich aufgenommen hat.
So verhindert auch der Umstand, daß Sorge und Verzweiflung
des Faust für uns Uulustaffakte sind, nicht, daß unser Gesamt-
erlebnis, vermöge der inneren Bereicherung, Ausweitung, Hinaus-
hebung Uber* uns selbst, die in ihm den beherrschenden Grund-
klang ausmacht, für uns lustvoll ist, nicht lustvoll, wie ein gutes
Mittagessen für uns lustvoll sein kann, wohl aber so, wie es alle-
mal solche durch das Miterleben von Not und Verzweiflung ver-
mittelte Ausweitung, Bereicherung, Hinaushebung Uber uns selbst
ihrer Natur nach ist.
Freilich Witasck gehört zu den sonderbaren Gemütern, für
welche »Lust« allemal dieselbe Sache ist. Er kennt keine quali-
tativen Verschiedenheiten der Lust. Und so ist es kein Wunder,
wenn er die Lust, die aus der Anteilnahme, nicht an Kummer und
Verzweiflung, sondern an Kummer und Verzweiflung eines solchen
Menschen uns erwächst, — da sie nun einmal zweifellos von
der Lust an einem guten Mittagessen deutlich sich unterscheidet —
nicht versteht. Solcher schmerzliche Genuß kann für ihn,
wenn er konsequent ist, Uberhaupt nicht existieren.
Jenes Miterleben des Menschen, der auch in tiefster Not und
Kümmernis, und da vielleicht erst; recht, als Menschen sich dar-
stellt, das Miterleben menschlicher Größe, die auch in Not und
Kümmernis, und da vielleicht erst recht, sich offenbart, das ist
die ästhetische Sympathie, die Külpe experimeutell aus der Welt
geschafft hat. Ich vermute, sie wird aller KUlpeschen Experi-
mentierkunst und allem Mißverständnis des Sinnes der »experi-
mentellen Psychologie« zum Trotz das bleiben, was sie ist, näm-
lich der Kern alles ästhetischen Genusses überhaupt.
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Weiteres zur > Einfühlung«.
479
Zu allem dem muß schließlich noch hinzugefügt werden : Ästhe-
tische Einfühlung, ästhetisches Miterleben, ästhetische Sympathie
ist ästhetische Einfühlung, ästhetisches Miterleben, ästhe-
tische Sympathie, und schlechterdings nur dies. Sie ist Einfüh-
lung, Miterleben, Sympathie, die in der ästhetischen Betrach-
tung sich ergibt. Das will heißen: Nicht ich, der ich jetzt, oder
wenn ich den Faust lese, an meinem Schreibtische sitze, auch
nicht ich, der ich, wenn ich den Faust aufgeführt sehe, auf einem
bestimmten, bequemen oder unbequemen Platze im Theater sitze,
nicht ich, der ich mittags zu Mittag und abends zu Abend esse,
nicht ich, der ich in die tausendfältigen Interessen des praktischen
Lebens verflochten bin, kurz nicht dies »reale« Ich erlebt die
Sorge und Bekümmernis des Faust mit, wohl aber das Ich, das
der Person des Faust und seinem Schicksal und der Weise, wie
er es erlebt und innerlich verarbeitet, betrachtend hingegeben ist
und betrachtend darin aufgeht.
Gehe ich aber betrachtend in dem Faust auf, dann bin ich in
diesem Moment nur dies betrachtende Ich. Und dies betrachtende
Ich ist in dem Faust oder ist der Faust; es ist ganz und gar in
ihm und ist nur in ihm. Es lebt in ihm. Kein Wunder, wenn es
sein Erleben miterlebt. Dagegen ist jenes andere, das reale loh,
jetzt gar nicht da; es ist zurückgeblieben. Das betrachtende Ich,
das man auch ein ideelles nennen mag, erlebt mit, was da irgend
mit zu erleben ist, d. h. vor allem die Persönlichkeit des Faust,
auf die alles, was sie in sich erlebt, hinweist. Das ist dann
natürlich ein völlig anderes Erleben, weil ein Erleben in einer
ganz andern Sphäre und unter Voraussetzung einer ganz andern
inneren Einstellung, als diejenige ist, die im praktischen Leben in
mir stattfindet. Insbesondere ist auch die Sorge und Verzweiflung
eine andere Sorge und Verzweiflung, als wenn ich besorgt bin
Uber ein Unglück, das mir, dem realen Ich, in der wirklichen
Welt widerfahren könnte; oder wenn ich an der Möglichkeit meiner
realen Existenz verzweifle. Es ist eben Miterleben und ästhe-
tisches Miterleben.
Das Gefühl, das bei solchem Miterleben in mir ist, ist nicht »Ernst-
gefuhl«, wenn man unter einem solchen ein Gefühl versteht, das sieh
mir aus meinen praktischen Lebensbeziehungen ergibt. Damm ist
es doch himmelweit davon entfernt, > Phantasiere fühl« zu sein, vor-
ausgesetzt, daß man sich unter diesem Wort Uberhaupt etwas denken
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480
Th. Lipps,
kann. Es ist Ernstgefühl, d. h. wirkliches Gefühl, aber in dieser
besonderen Sphäre, nnd damit ein Ernstgefühl von diesem be-
sonderen Charakter. Es gibt eben nicht nnr zwischen Himmel und
Erde allerlei, von dem die Schulweisheit der Philosophen, sondern
es gibt auch in des" Menschen Brost noch allerlei, insbesondere
allerlei Weisen sich zu fühlen, von denen die Schulweisheit einiger
Psychologen und Ästhetiker sich nichts träumen läßt. Es gibt ins-
besondere, als etwas, Tomit nichts sonst in der Welt vergleichbar
ist, das ästhetische Mitgefühl oder Miterleben, es gibt, als etwas
Eigenartiges neben jeder sonstigen Sympathie, die ästhetische
Sympathie.
Witasek zitiert ein Wort, das ich an anderer Stelle den-
jenigen gegenübergehalten habe, die das Besondere der ästhe-
tischen Einfühlung oder ästhetischen Sympathie nicht sehen oder
einer Theorie zuliebe nicht sehen dürfen. Ich bitte an der be-
treffenden Stelle, man möge in dem Satze »Ich fühle mich strebend
in der Säule« jedes Wort in strengem Sinne nehmen. Witasek
nun scheint hier zunächst dies, daß ich mich strebend fühle,
streng genommen zu haben. Aber der Satz lautet: ich fühle mich
strebend in der Säule. Und daß ich in der Säule mich so fühle,
da« ist etwas ganz anderes, als wenn ich sonst mich strebend
fühle; etwas ganz anderes, als wenn ich etwa das Streben fühle
nach Vollendung einer Korrektur, die der Drucker nachdrücklich
fordert.
Trotz dieses meines Widerspruches gegen Witasek glaube ich
doch nicht an die Schärfe des Gegensatzes zwischen Witasek
und mir. Und ich glaube ganz und gar nicht an die Schärfe des
Gegensatzes zwischen Külpe und mir. Auch Witasek kanu
eben doch offenkundige Tatsachen nicht leugnen. Und Külpe
kann neben den angeblich experimentell gefundenen Tatsachen sich
denjenigen Tatsachen nicht verschließen, die jeder mit seinen ge-
sunden eigenen Augen sieht Es kommt doch nun eben einmal
vor, daß Menschen gerührt werden ; es kommt vor, daß Menschen
weinen mit den Weinenden und sich freuen mit denen, die sich
freuen. Es gibt Mitfreude und Mitleid, z. B. tragisches Mitleid.
Und wer dergleichen fühlt, fühlt es eben. Er stellt sich das
Gefühl nicht bloß vor. Wer von einem Rührstück gerührt wird,
mag ein Weichling heißen. Und vielleicht verdient derjenige, der
tragisches Mitleid fnhlt, den gleichen Nameq. Dies heißt dann
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Weiteres zur »Einfühlung«.
481
doch nur, es fehlt ihm an der Kraft des inneren Widerstandes oder
der inneren Reaktion. Je weniger also ich Widerstand übe, desto
eher verfalle ich dem vollen Erleben des dargestellten Affektes.
Und dies heißt: Mag man anch sagen, der in einem Kunstwerke
dargestellte Affekt, oder allgemeiner, das in ihm dargestellte Psy-
chische, werde von dem ästhetischen Betrachter nur »vorgestellt«.
Dann ist doch in jedem Falle diese Vorstellung nicht eine bloße
Vorstellung, sondern eine solche, welche die Tendenz zum vollen
Erleben in sich schließt
Und damit nun bin ich zufrieden. Wie weit diese Tendenz zum
vollen Erleben wird, dies wird jedesmal davon abhängen, in
welchem Grade ich in das Kunstwerk betrachtend mich versenke
oder mich hineinlebe. Und in diesem Punkte sind ja gewiß große
individuelle Unterschiede nicht ausgeschlossen. Der eine kann es
weniger als der andere.
Ich bin aber nicht nur damit zufrieden, daß man die Ein-
fühlung zunächst als eine »Tendenz« des vollen Miterlebens be-
zeichne, die im gegebenen Falle bald mehr, bald minder sich
verwirklicht, sondern ich fordere auch, daß man dies tue.
Man vergesse doch auch nicht den Gegensatz der positiven und
der negativen Einfühlung. Auch darauf muß ich hier der Mißver-
ständnisse der ästhetischen Einfühlung wegen, die nicht aufhören
zu wollen scheinen, mit einem Worte eingehen.
Zur Illustrierung dieses Gegensatzes habe ich gelegentlich ein-
ander gegenübergestellt die Einfühlung in die Gebärde des edeln
Stolzes und die Einfühlung in die Gebärde des dummen Hochmutes.
In beiden Fällen besteht der Tendenz nach ein Miterleben; in beiden
Fällen ist mir durch die Wahrnehmung der Gebärde zugemutet,
in bestimmter Weise mich innerlich einzustellen und zu fühlen;
das eine Mal in der Weise des edeln Stolzes, das andere Mal in
der Weise des dummen Hochmutes. Beide Male dringt das Ge-
fühl, das für mich in der Gebärde liegt, in mich ein. Aber das
eine Mal, beim edeln Stolz, um von mir frei aufgenommen zu
werden. Es ist in mir eine natürliche Sehnsucht, mich stolz zu
fllhlen oder stolz fühlen zu können. Diese Sehnsucht begegnet
der Aufforderung, welche die Gebärde des edeln Stolzes an mich stellt,
mich so zu fühlen. Darum erscheint dieselbe nicht als »Zumutung»,
sondern als freies Sichausleben meines eigenen Wesens.
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Th. Lipps.
Das andere Mal dagegen sträubt sieh der tiefste Grund meines
Wesens gegen die Zumutung, mich so zn fühlen, wie es die Gebärde
»will«. Ich setze mich mehr oder minder heftig gegen den Hoch-
mut, der in mich eindringt und von mir miterlebt werden soll.
Jenen edeln Stolz verspüre ich darum als eine Lebensbejahnng,
die ich gern innerlich in mir vollziehe; diesen dummen Hochmut
dagegen als eine abzuweisende Lebensverneinung.
In keinem Falle aber stelle ich bloß vor. In jedem Falle
erlebe ich. Nur dort eine freie, obzwar aus dem Objekt stam-
mende und durch dasselbe in mir angeregte — in diesem Sinne
nicht »spontane* — Betätigung meiner selbst; im andern Falle
einen Eingriff in mein Selbst. Ich erlebe im letzteren Falle das
in mich Eingreifende nicht als etwas, zu dem mein eigenes Weseu
ja sagt, sondern ich erlebe es eben als Eingriff, den ich abwehre.
Auf diesem Boden nun, meine ich, kann ich mich mit meinen
Herren Gegnern finden. Aber das ist eben nicht der Boden der
Vorstellung, weder der anschaulichen noch der unanschaulichen,
sondern der Boden der Einfühlung, der ästhetischen Sympathie, der
positiven und der negativen. — Man könnte diese negative Sym-
pathie auch ästhetische Antipathie nennen.
Ich unterziehe aber die Tatsache der Einfühlung im folgenden
noch einer weiteren Betrachtung. Ich erinnere zunächst zur Klä-
rung dieser Tatsache, ich hoffe zum Überfluß, an Tatsachen, die
niemand leugnet. Ich meine die Tatsache der unwillkürlichen,
automatischen oder instinktiven Nahahmung.
Ich greife das trivialste Beispiel solcher Nachahmung heraus.
Es ist dies dasselbe triviale Beispiel, von dem ich auch in der
jetzt im Erscheinen begriffenen zweiten Auflage meiner »Ethischen
Grundfragen« ausgehe. Der Begriff der Einfühlung ist ja eben-
sowohl ein ethischer wie ein ästhetischer Grundbegriff; nur daß
in der Ethik die Einfühlung als praktische, in der Ästhetik als
ästhetische in Betracht kommt.
Gähnen wirkt ansteckend oder suggestiv. Ich sehe einen Men-
schen gähnen; und dies veranlaßt mich zu gähnen. Ich gähne
unwillkürlich mit. Den Sinnen stellt sich hier die Nachahmung
dar als äußere Nachahmung. Aber dieser äußeren liegt eine
innere Nachahmung zugrunde. Der körperliche Vorgang des
Gähnen» vollzieht sich bei mir, weil die innere Zuständigkeit,
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Weiteres zur > Einfühlung«.
483
Verfassung, Einstellung, Verhaltungsweise in mir da ist, aus welcher
dieser körperliche Vorgang, die äußerlich sichtbare Gähnbewegung,
naturgemäß hervorgeht. Dieser innere Zustand wird in mir durch
die optische Wahrnehmung des Gähnens eines andern ins Dasein
gerufen. Ich stelle diesen inneren Zustand nicht vor, sondern ich
erlebe ihn. Er ist in mir da.
Ein Seitenstttck nun zu dieser unwillkürlichen Nachahmung,
ja schließlich nur ein spezieller Fall derselben ist die Einfühlung,
von welcher ich in diesem Zusammenhange rede. Dieselbe ist
gewiß nicht dieselbe Sache, wie das instinktive Nachgähnen. Aber
es liegt ihr dieselbe allgemeine psychologische Tatsache zugrunde.
Das Allgemeine, was uns jenes Gähnen lehrt, ist dies, daß die
sinnliche Wahrnehmung der körperlichen Folgeerscheinungen einer
psychischen Zuständigkeit, Weise, sich innerlich zu betätigen und
zu fühlen, eben diese psychische Zuständigkeit in mir zu
wecken »tendiert«. Nun dies Allgemeine liegt auch bei der Ein-
fühlung vor. Die innere Verfassung oder Zuständlichkeit aber, die
innere Weise, sich zu betätigen oder zu fühlen, welche die sinn-
lich wahrgenommene Gebärde der Trauer zur körperlichen Folge-
erscheinung hat, ist die Trauer. Es muß also in mir, wenn ich
die Gebärde der Trauer sehe, die Tendenz entstehen zur Verwirk-
lichung der inneren Zuständlichkeit, Verfassung, Weise, mich zu
betätigen und zu fühlen, die man Trauer nennt.
Natürlich hätte ich im obigeu an die Stelle des unwillkürlichen
Nachgähnens irgendwelche sonstige instinktive Nachahmungen, die
Nachahmung etwa von Grimassen, von halsbrecherischen Be-
wegungen usw., anführen können. In der Tat gilt von aller un-
willkürlichen Nachahmung das, was oben Uber das unwillkürliche
Nachgähnen gesagt wurde. Solche Nachahmung pflegen wir Ge-
bildeten, von Anstandsrücksichten Beherrschten, wir, die wir uns in
der Gewalt haben, in der Regel zu unterlassen, d. h. wir unter-
lassen die äußere Nachahmung. Aber eiue Art oder ein Grad der
inneren und dann weiterhin auch eine Tendenz der äußeren
Nachahmung fehlt nie, nur daß sie durch die Gegentendenzen, die
wir Anstandsrücksichten und dergleichen nennen, im Sehach gehalten
wird. Beweis für das Dasein der Tendenz ist dies, daß bei Sug-
gestibeln, d. h. bei solchen, bei welchen die in uns wirkendeu
Hemmungen oder Gegentendenzen fehlen, oder mindere Kraft haben,
auch die äußere Nachahmung widerstandslos sich vollzieht. Immer
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484
Th. Lipps.
ist doch auch dabei die Nachahmung notwendig zunächst eine
innere. Ohne diese wäre ja die äußere Nachahmung ein voll-
kommenes Wunder. Man müßte, um sie verständlich zu machen,
zu magischen Vorstellungen seine Zuflucht nehmen.
Statt innerer Nachahmung nun kann ich ebensowohl sagen:
inneres Nacherleben. Die innere Nachahmung besteht darin, daß
ich die der äußeren Bewegung zugrunde liegende innere Zustiind-
lichkeit nicht vorstelle, sondern in mir erlebe. Und solches innere
Nacherleben ist »Einfühlung«.
Beachten wir diesen Sachverhalt, so erscheint die Einfühlung,
und dies, daß die Einfühlung zunächst der Tendenz nach und dann
weiterhin je nach Umständen mehr oder minder tatsächlich eiu
Erleben ist, als eine selbstverständliche Sache.
Zu dem gleichen Ergebnis, wie im vorstehenden, werde ich
nun aber auch auf anderem Wege geführt. Die Behauptung, ein
Objekt werde dadurch für mich erfreulich, daß ich, indem ich es
wahrnehme, ein Psychisches vorstelle, ist gewiß nicht in dem
Sinne gemeint, daß jedes Psychische, das ich bei der Wahrneh-
mung eines Objektes mit vorstelle, dies Objekt ästhetisch erfreu-
lich macht. Auch wenn ich dummen Hochmut vorstelle, stelle ich
etwas Psychisches vor. Aber die Gebärde des dummen Hochmutes
ist ästhetisch nicht erfreulich. Es müßte denn sein, daß etwas
anderes, Positives, hinzutritt, ein Moment etwa, wodurch dieser
dumme Hochmut mir in humoristischem Licht erscheint.
Allgemein gesagt: die Vorstellung eines Psychischen kann nur
erfreulich sein, wenn das Psychische selbst, sei es an sich oder
durch etwas anderes, das in ihm sich ausspricht, erfreulich ist.
Oder sollte etwa die Meinung Witaseks sein, die Vorstellung
eines Psychischen sei allemal erfreulich? Dagegen würden doch
die Tatsachen allzu lauten Widerspruch erheben.
Nehmen wir in jedem Falle der Einfachheit wegen an, Wita-
sek meine, wenn er den ästhetischen Genuß auf die Freude an
der Vorstellung eines Psychischen zurückführt, allemal die Vor-
stellung eines erfreulichen Psychischen. Er behaupte also, die
Mitvorstellung eines erfreulichen Psychischen bei der Wahrneh-
mung eines sinnlichen Objektes mache dies Objekt ästhetisch
erfreulich. Dann rede ich nicht noch einmal davon, daß die
Verbindung des Psychischen mit dem Sinnlichen eine Verbindung
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Weiteres zur »Einfühlung«.
485
von besonderer Art sein muß, wenn das ästhetische Wohlgefallen
zustande kommen soll. Mag die Verbindnng sein, welche sie will.
Wohl aber erhebt sich jetzt für uns die Frage, ob wirklich die
Vorstellung eines erfreulichen Psychischen ohne weiteres selbst
erfreulich sei?
Darauf muß ich antworten, daß ich davon nichts weiß. Die Er-
innerung an eine Freude, an irgendwelches lustvolle innere oder
psychische Verhalten ist, soviel ich sehe, keineswegs ohne weiteres
lustvoll. Ich kann mich ärgern darüber, daß ich mich freute. Ich
kann beschämt sein darüber, daß ich stolz war. Ich kann mir vor-
stellen und mir eine vollkommen »anschauliche« Vorstellung davon
machen, daß eiue läppische » Auszeichnung « in mir dasselbe Ge-
fühl der befriedigten Eitelkeit weckte, wie es bei solcher Gelegen-
heit in andern zu entstehen scheint, und kann dabei ein Gefühl
der Selbstverachtung haben.
Nur unter einer Voraussetzung allerdings ist für mich das vor-
gestellte Psychische erfreulich, nämlich wenn ich es billige. Es
ist unweigerlich unerfreulich, wenn ich es mißbillige. Und es ist
in solchem Falle um so unerfreulicher, je »anschaulicher« ich
es mir vorstelle.
Daß ich aber eine vergangene Freude billige, dies heißt, daß
ich mich jetzt wiederum freue, nicht über die vergangene Freude,
sondern Uber eben das, worüber ich ehemals mich freute. Billige
ich ehemaligen Stolz, Trotz, oder was es sonst sein mag, so fühle
ich jetzt, indem ich mir den Gegenstand des Stolzes und Trotzes
und die Situation, unter welcher ich stolz oder trotzig war, ver-
gegenwärtige, sie innerlich wiederum ins Dasein rufe, auch wieder-
um Stolz oder Trotz. Dies liegt im Sinne der Billigung. Die
Billigung ist tatsächliche Einstimmigkeit meines gegenwärtigen
Wesens und Verhaltens mit dem, was ich billige.
Und ebenso muß ich nun auch das in einem andern vorge-
stellte psychische Verhalten billigen, d. h. innerlich mitmachen,
wenn es für mich lustvoll sein soll.
Vielleicht nennt Witasek die Vorstellung hier jedesmal eine
anschauliche. Nun, danu ist völlig klar: Wi taseks anschauliche
Vorstellungen eines Psychischen sind keine bloßen Vorstellungen,
sondern Erlebnisse. Siud sie dies nicht, so sind sie nicht Gegen-
stand der Lust.
Areliir für Psychologie. IV. 32
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486
Th. Lipp»,
Von hier aas komme ich aber weiter auf einen Gegensatz
zweier verschiedener Klassen von ästhetischen Gefühlen, den
Witasek statuiert. Wenn ich mit der Wahrnehmung des Moses
des Michel Angelo die »Vorstellung« des heiligen Zornes verbinde,
so ist das Gefühl der Lust, das ich auf Grund davon an dem
Moses habe, für Witasek, wenn ich nicht irre, ein Vorstellungs-
gefühl. Erzählt dagegen ein Dichter, sein Held habe sich irgend-
wie innerlich verhalten, er sei etwa in heiligen Zorn geraten, dann
nennt er die Freude, die mir daraus erwächst, ein Urteilsgefuhl.
Und diese Urteilsgefuhle nennt er auch Wertgefuhle.
Hier nun wird Witasek zunächst guttun, den Ausdruck
»Urteilsgefuhle« zu beseitigen. Unter UrteilsgefUhlen wird schwer-
lich jemand etwas anderes verstehen als die intellektuellen Ge-
fühle der Gewißheit, des Zweifels usw.
Doch lassen wir dies. Wertgefuhle sind für Witasek, ge-
nauer gesagt für Meinong, und darum auch für Witasek, Ge-
fühle, die sich knüpfen an das Bewußtsein, daß etwas sei, daß,
wie ich sagen würde, ein Gegenstand oder eine Relation zwischen
Gegenständen, bzw. Teilgegenständen gelte, daß es sich irgendwo
in der Welt wirklich oder tatsächlich so und nicht anders verhalte.
VorstcllungsgefUhle dagegen sind Gefühle, die sich knüpfen ein-
fach an einen vorgestellten Gegenstand. Jenes »daß«, — daß etwas
sei oder daß eine Relation gelte — , nennt Witasek auch, wiederum
nach dem Vorgang Meinongs, ein »Objektiv«. »Objektive« sind
das, was im Urteile bejaht oder verneint wird. Nun, bejahen oder
verneinen kann ich nur Geltungsansprüche. »Objektive« sind also
Geltungsansprtiche, d. h. Ansprüche von Gegenständen oder Rela-
tionen, geltende zu sein.
Aber auch dies nur nebenbei. Was mich an dieser Stelle einzig
interessiert, das ist die Frage, wie es mit dem Meinong- Wita-
sekschen Gegensatz der »Vorstellungsgefühle« und der »Urteils-
gefuhle«, insbesondere soweit beide ästhetische Gefühle sein sollen,
tatsächlich bestellt sei. Ich bemerke gleich: Meine Meinung geht
dahin, daß es um diesen Gegensatz sehr übel bestellt sei.
Nehmen wir einmal an, eben das, was ein Plastiker, etwa
Michel Angelo in seinem Moses, plastisch darstellt, werde von
einem Dichter erzählt oder in Worten dargestellt Dann ist das
Gefühl, das der Dichter weckt, für Witasek ein Urteilsgefuhl.
Warum? Nun, weil ich mich freue, »daß' nach Aussage des
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Weiteres zur »Einfühlung«.
487
Dichters etwaB geschehen ist, »daß« etwa seinen Worten zufolge
Moses in heiligen Zorn ausgebrochen ist. Aber wenn ich nun dies
>daß« weglasse und einfach sage, ich freue mich Uber den vom
Dichter mir mitgeteilten heiligen Zorn des Moses, dann scheint
mein Gefühl kein Urteilsgeiuhl mehr ; es scheint znm Vorstellunga-
gefühl geworden. Ich freue mich Uber diesen vom Dichter mir mitge-
teilten heiligen Zorn genau so, wie ich mich Uber den vom Plastiker
plastisch dargestellten oder > mitgeteilten« heiligen Zorn freue.
Aber, so sagt man vielleicht, meine Freude beruht im ersteren
Falle doch zweifellos nicht darauf, daß ich mir den Zorn vorstelle,
sondern darauf, daß der Dichter mir sagt, er habe stattgefunden,
und daß ich, was der Dichter sagt, annehme oder hinnehme. Und
diese Annahme oder Hinnahme, dies Geltenlassen dessen, was der
Dichter sagt, muß als eine Art von Urteil bezeichnet werden.
Aber wenn es so ist, dann vollziehe ich angesichts der pla-
stischen Gestalt ganz gewiß auch ein Urteil. Und ich vollziehe
unter der von mir gemachten Voraussetzung ihr gegenüber genau
dasselbe Urteil.
Das Urteil, so sagte ich vorhin, ist das Bewußtsein der Geltung
eines Gegenstandes oder einer Relation zwischen Gegenständen
Es ist das Bewußtsein der Wirklichkeit oder Tatsächlichkeit eines
Gegenstandes oder Sachverhaltes. Nun, zweifellos habe ich gegen-
über der Mitteilung des Dichters eine Art von Wirklichkeitsbewußt-
sein. Aber genau dasselbe Wirklichkeitsbewußtsein habe ich, und
womöglich noch eindringlicher, angesichts der Statne. Der Zorn
des Moses hat für mich eindringlichere Realität, wenn ich ihn ans
der plastischen Gestalt, als wenn ich ihn aus den Worten des
Dichters herauslese.
Doch gehen wir dieser Sache etwas genauer nach. Ich weiß,
daß der Mephisto Goethes eine rein dichterische Gestalt ist, daß
es einen Mephisto nie gegeben hat, daß also auch nie von ihm die
Worte gesprochen worden sind, die Goethe ihn sprechen läßt.
Dennoch kann ich darüber streiten, wie Mephisto dem Faust oder
dem Herrn an einer bestimmten Stelle antwortet. Ich kann sagen,
er antwortet »tatsächlich« so, und nicht etwa so.
Und es ist wohl zu beachten, daß ich damit nicht etwa ein
Urteil fällen will Uber meine oder über Goethes Phantasietätigkeit,
sondern ich fälle es Uber die Person des Mephisto. Ich will
zunächst nicht sagen : I c h stelle mir jetzt in meiner Phantasie den
32*
488
Th. Lipps,
Mephisto so vor. Vorstellen kann ich mir ja ebensowohl jede be-
liebige andere Antwort des Mephisto. Tue ich dies aber, so weiß
ich, die Antwort des Mephisto lautet tatsächlich nicht so, wie
ich sie mir vorstelle, sondern vielleicht vollkommen entgegengesetzt.
Ebensowenig aber will ich mit meiner Behauptung sagen,
Goethe habe in seiner Phantasie den Mephisto in dieser bestimm-
ten Weise antworten lassen. Diese Deutung meiner Behauptung
ist schon dadurch widerlegt, daß ich ja sage, Mephisto > ant-
wortet«, d. h. daß für mich oder mein Bewußtsein die Antwort
des Mephisto nicht etwa der Vergangenheit, sondern der unmittel-
baren Gegenwart angehört. Dagegen ist die Phantasietätigkeit
Goethes zweifellos eine vergangene Tatsache.
Andererseits rede ich doch auch wiederum nicht von dem histo-
rischen Mephisto, sondern von dem Goeth eschen, oder richtiger
gesagt von dem Mephisto der Dichtung. Aber dieser hat eine
eigentümliche Daseinsweise. Er ist zweifellos ehemals von Goethe
ins Dasein gerufen. Aber nachdem er einmal ins Dasein gerufen
und in den Worten der Dichtung zur künstlerischen Darstellung
gekommen ist, hat er eine Art von Wirklichkeit; was er tut und
sagt, ist in gewissem Sinne eine gegen jeden Zweifel feststell-
bare > Tatsache«. Und mein Bewußtsein von dieser Tatsache,
mein Bewußtsein, es sei um die Reden und Handlungen des
Mephisto tatsächlich, oder es sei um sie »in Wirklichkeit« so und
nicht anders bestellt, kann ein Urteil heißen. Ein solches Urteil
fälle ich nicht nur in diesem bestimmten Falle, sondern es liegt
für mich ein solches in jeder Aussage einer Dichtung.
Zugleich aber muß ich hinzufügen, der plastische oder in einem
Gemälde dargestellte Vorgang, die plastisch oder malerisch darge-
stellte Lebensäußerung etwa, hat diese Wirklichkeit nicht minder,
das Bewußtsein davon ist ein völlig gleichartiges »Urteil«.
Hiermit uun sind wir auf eine psychologische Tatsache gestoßen,
die einige Wichtigkeit besitzt, die darum die Psychologie ausdrück-
lich anerkennen sollte. Es ist ein Verdienst Meinongs, in seinem
Buche über »die Annahmen« auf diese und verwandte Tatsachen
ausdrücklich hingewiesen zu haben. Ich meine mit dieser Tatsache
eben jene in den Worten der Dichtung oder in den Formen eines
plastischen Bildwerkes und dergleichen liegenden Quasi-Urteile.
Meinong uuu hat diese Quasi-Urteile Annahmeu genannt. Damit
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Weiteres zur > Einfühlung.
4M
hat doch Mein o ng dieselben schwerlich verstündlicher gemacht. In
der Tat ist ja die Annahme im eigentlichen Sinne, insbesondere im
Sinne der wissenschaftlichen Annahme, etwas ganz anderes. Weder,
wenn ich den Dichter sagen höre, Moses sei in einen heiligen
Zorn geraten, noch auch wenn ich diesen heiligen Zorn in dem
plastisch dargestellten Moses unmittelbar finde, mache ich die
• Annahme«, oder »fingiere« ich gar, Moses sei in einen
solchen heiligen Zorn geraten oder sei jetzt von heiligem Zorn
erfüllt. Sondern in jenem Falle höre ich, in diesem Falle sehe
ich, daß es so sich verhält.
Dagegen können wir das fragliche Wirklichkeitsbewnßtsein
wohl bezeichnen als ein »Hinnehmen«. Besser ist es vielleicht,
wir lassen auch diesen Ausdruck und sprechen statt dessen von
einem außerlogischen Wirklichkeits- oder Tatsächlichkeitsbewußt-
sein. Berücksichtigen wir den Umstand, daß dasselbe vorzugsweise
ästhetische Bedeutimg hat, so können wir es auch das ästhetische
Wirklichkeits- oder Tatsächlichkcitsbewußtscin nennen. So wollen
wir es in der Tat der Kürze halber im folgenden nennen.
Welchen Namen aber wir der in Rede stehenden Tatsache
geben mögen, in jedem Falle müssen wir uns darüber klar sein,
worin sie besteht. Die Antwort auf diese Frage nun muß lauten:
Dies Wirklichkeitsbewnßtsein ist nichts als das einfache und un-
bestrittene Dasein eines Gegenstandes Air mich überhaupt. Ein
Gegenstand hat diese ästhetische Wirklichkeit, dies heißt: er steht
einfach als etwas von mir Unterschiedenes da vor mir, oder mir
gegenüber, und ich nehme ihn ohne weitere Frage hin, so wie er
eben da vor mir steht. Die ästhetische Wirklichkeit ist diese ein-
fach »fraglose« Gegenständlichkeit oder »Objektivität«, das
einfache und unbestrittene Gegebensein als Gegenstand meines
Denkens. Das Bewußtsein davon ist das Erleben dieses Sach-
verhaltes.
Dies Wirklichkeitsbewnßtsein ist wohl zu unterscheiden von
jedem empirischen Wirklichkeitsbewußtsein. Das letztere beruht
auf Erfahrung, d. h. letzten Endes auf eigener oder fremder Wahr-
nehmung. Und dies gilt von der ästhetischen Wirklichkeit nicht.
Sie ist nicht in der Erfahrung begründet; sie ist überhaupt nicht
im eigentlichen Sinne des Wortes »begründet«. Sondern, ich
wiederhole, sie ist mit dem einfachen und unbestrittenen Dasein
eines Gegenstandes für mich gegeben, oder sie ist das einfache,
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Tb. Lipp«,
von keiner Frage nach dem Rechte des Daseins behelligte Dasein
für mich; sie ist dies ruhige Gegenständlichsein.
Da sie nichts anderes ist als dies, so eignet jedem Gegenstand,
der für mich da ist, oder von mir gedacht wird, an sich, d. h.
abgesehen von jeder Frage nach dem Rechte dieses Daseins, solche
ästhetische Wirklichkeit. Damit aber ist zugleich gesagt, daß die
ästhetische Wirklichkeit aufgehoben werden kann. Sie wird es,
Bobald das Dasein des Gegenstandes nicht mehr unbestritten ist,
sobald also das Recht dieses Daseins in Frage gestellt wird.
Letzteres aber ist beispielsweise immer der Fall, wenn ein
Gegenstand mir als bloßer Phantasiegegenstand erscheint. Er
erscheint mir als solcher, oder ist für mich ein solcher, d. h. ich
habe das Bewußtsein, daß ich diesen Gegenstand willkürlich ins
Dasein rufe.
Dies Bewußtsein nun ist ein Bewußtsein meiner Tätigkeit. Und
dies Tätigkeitsbewnßtsein setzt, wie jedes Tätigkeitsbewußtsein
überhaupt, einen Widerstand voraus, oder setzt etwas voraus, wo-
gegen ich tätig bin. Dasjenige aber, wogegen ich in der Her-
vorbringung von Phantasiegegenständen tätig bin. ist die Erfahrung,
genauer gesagt, die erfahrungsgemäße oder > empirische« > Forde-
rung« von Gegenständen.
Ich stelle etwa einen goldenen Berg vor, d. h. ich verbinde die
Elemente oder Teilgegenstände, »Gold« und »Berge« genannt, zu dem
Gesamtgegenstande, der den Namen »goldener Berg« trägt. Hier
fordert die Erfahrung eine andere Verbindung. Sie fordert, daß
ich Gold denke nicht in Gestalt von Bergen, sondern in anderer
Gestalt, etwa von Goldmünzen oder Goldbarren oder Goldgeräten
usw. ; und sie fordert , daß ich Berge denke nicht als aus Gold,
sondern als aus Erde und Gestein bestehend. Das Bewußtsein
dieser Forderung oder richtiger dies »Forderungserlebnis« nun
schließt zugleich in sich eine Tendenz zur entsprechenden Kombi-
nation der Vorstellungselemente. Und diese Tendenz steht der
Vorstellung des goldenen Berges entgegen und macht, daß dieser
Gegenstand nicht mehr unbestritten für mich da ist. Wenn ich
ihn vorstelle, so tue ich dies willkürlich, d. h. widerrechtlich, oder
im Gegensatz zu jener Forderung.
Es kann aber unter bestimmten Umständen auch geschehen,
daß das Dasein eines Gegenstandes, der tatsächlich " ein bloßer
Phantasiegegenstand ist, für mein Bewußtsein nicht begleitet ist von
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Weitere« zur »Einfühlung«.
491
dem Bewußtsein, derselbe sei von mir ins Dasein gerufen. Es
begegnet etwa einem Dichter, daß die von ihm erdichteten Ge-
stalten auftreten, ohne daß er weiß, wie ihm geschieht. Sie gind
eben da und erfreuen sich eines unbestrittenen Daseins. Dann
eignet ihnen eben damit jene ästhetische Wirklichkeit. Der Dichter
sagt und darf sagen, die Gestalten sind da, ich weiß nicht woher;
und sie sind so, wie sie sind ; und sie gerieren sich so und nicht
anders.
In solchem Falle sprechen wir wohl von dichterischer » Inspi-
ration <. Diese Inspiration hat den Charakter einer Mitteilung.
Es ist dem Dichter so, wie wenn diese Gestalten von einer fremden
Macht ihm eingegeben und vor sein Bewußtsein hingestellt worden
seien.
Dies nun fuhrt uns darauf, [daß jede tatsächliche Mittei-
lung durch andere in gleicher Weise Gegenstände in der Weise
vor mich hinstellen kann, daß ihnen für mein Bewußtsein ein un-
bestrittenes Dasein eignet. Jemand berichte mir über eine Sache,
von der ich nichts weiß, und keine Erfahrung mir je etwas gesagt
hat. Dann veranlaßt er mich, in dieser oder jener Weise Gegen-
stände oder Teilgegenstände zu einem Gesamtgegenstand zu ver-
einigen, oder zueinander in Relation zu setzen. Auch die Gegen-
stände oder Sachverhalte, die so für mich zustande kommen,
können Phantasiegegenstände sein, d. h. der empirischen Wirklich-
keit entbehren. Und sie brauchen auch für mein Bewußtsein
nicht wirklich zu sein. Ich frage vielleicht gar nicht darnach, ob
sie wirklich sind oder nicht. Es »interessiert« mich gar nicht,
wie es sich damit verhält. Aber sie stellen sich mir auch nicht dar
als etwas, das durch mich ins Dasein gerufen wäre; sondern sie
sind einfach da, und ihr Dasein ist zunächst ein unbestrittenes.
Dies hindert nicht, daß auch die »ästhetische Wirklichkeit«
solcher mitgeteilter Gegenstände uns verloren gehen oder auf-
gehoben werden kann. Die empirische Wirklichkeit widerspricht
vielleicht dem Mitgeteilten und nötigt mir, weil ich davon weiß,
Gegenvorstellungen auf; dann ist die ästhetische Wirklichkeit
wiederum dahin.
Einen einzigen Fall aber gibt es nun, in welchem diese Gefahr
unbedingt ausgeschlossen ist. Dieser Fall liegt vor in der ästhe-
tischen Mitteilung, d. h. in der Mitteilung, welche mir das
Kunstwerk, etwa die Dichtung, macht. Betrachte ich das Kunstwerk
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Th. Lipp»,
nur als solches, ist also meine Betrachtung eine rein ästhe-
tische, so gilt von ihr, was von aller ästhetischen Betrachtung
Überhaupt gilt. D. h. es liegt in der Natur derselben, die Frage
nach der empirischen Wirklichkeit oder NichtWirklichkeit dessen,
was das ästhetische Objekt mir sagt oder mitteilt, absolut auszu-
schließen. Die Frage etwa, ob das, wovon der Epiker erzählt, in
der empirischen oder historischen Wirklichkeit sich zugetragen
habe oder nicht, hat für die ästhetische Betrachtung gar keinen
Sinn. Es kommt eben hier nicht die empirische, sondern einzig und
allein die ästhetische Wirklichkeit in Frage. Die ästhetische Be-
trachtung lebt nur in dieser Region, die von der Region, der die
empirische Wirklichkeit und NichtWirklichkeit angehört, absolut
geschieden ist.
Diese ästhetische Wirklichkeit dessen, was der Dichter mit-
teilt, besteht aber nicht nur, sondern sie ist eine unbedingte. Es
ist ein Vorzug des Dichters vor dem Historiker und vor jedem,
der empirische Tatsachen mitteilt, daß wir ihm unbedingt
»glauben«, d. h. daß wir, was er sagt, ohne die Stellung einer
Rechts- oder Berecbtigungsfragc einfach hinnehmen; es sei denn,
daß die Folgerichtigkeit der dichterischen Mitteilung selbst den
Glauben aufhebt. Aber dieser Glaube ist eben ästhetischer Glaube.
Er ist jenes einfache > Hinnehmen«.
Diesen Glauben nennen wir auch »Überzeugtsein«. Das echte
Kunstwerk der Dichtkunst redet überzeugend zu uns. Die > Uber-
zeugung«, die in dieser jedermann vertrauten Wendung gemeint
ist, ist genau das, was ich oben als ästhetisches Wirklichkeits-
bewußtsein bezeichnete. In unserm Haben oder Erleben derselben
bestehen die »Urteilsakte«, die wir in der innerlichen Aneignung
eines dichterischen Kunstwerkes vollziehen.
Hiermit raeine ich das Wesen der Quasi-Urteile, die in den Aus-
sagen der Dichtung liegen, bezeichnet zu haben. Ich muß aber
wiederum hinzufügen : Genau solche »Urteile« liegen in den »Aus-
sagen«, ich meine: in den Formen und Farben der Werke der Bild-
künste, und weiter in den Formen der Architektur, kurz in jedem
Kunstwerk überhaupt. Wir fordern von beliebigen sonstigen Kunst-
werken, etwa vom plastischen Kunstwerk, genau die gleiche Über-
zeugungskraft wie vom Kunstwerk der Dichtung; wir »glauben«
an das, was uns das plastische Kunstwerk sagt, genau in dem
Sinne, wie wir an das glauben, was die Dichtung, insbesondere
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Weitere» zur »Einftihinng«.
493
die epische Dichtung, uns mitteilt. Wir glauben daran ebenso
unbedingt.
Freilich sagt das plastische Bildwerk, was es zu sagen hat,
nicht in Worten. Es sagt nicht in sprachlichen Lauten und Laut-
komplexen, »daß« das menschliche Individuum, das in ihm dar-
gestellt ist, dies oder jenes tue, etwa einen Diskus zu werfen im
Begriffe sei, oder »daß« es so oder so innerlich sich verhalte und
fühle, etwa von einem freien, leichten, kraftvollen Lebensgcftlhl
durchströmt sei; es verwendet als Mittel des Ausdrucks nicht Sätze
in Aussageform mit einem sprachlichen Subjekt und Prädikat,
sondern es verwendet dazu genau die Ausdrucksinittel, die nun
einmal ihm als plastischem Kunstwerk spezifisch eigen sind.
Man sollte aber allmählich gelernt haben, das, was in irgend-
einer Weise ausgedruckt ist, von den Mitteln des Ausdruckes zu
unterscheiden. Man sollte insbesondere allmählich gelernt haben,
das in einem Satze ausgesagte Urteil von dem Satze oder der
Aussage zu unterscheiden.
Die Satzform ist für den Sinn zufällig, d. h. sie ist das Mittel
der Kundgabe eines Sinnes, wenn dieser Sinn einmal sprachlich
kundgegeben werden soll, so wie Gebärden, Formen, Farben, Töne
das Mittel der Kundgabe sind, wenn einmal in Gebärden, Formen,
Farben, Tönen kundgegeben werden soll. Freilich geben zugleich
alle diese Ausdrucksmittel das und nur das kund, was sie ver-
möge ihrer besonderen Eigenart kundgeben können. Aber das
Bewußtsein jener ästhetischen Wirklichkeit oder Tatsächlichkeit
vermögen sie alle in gleicher Weise, d. h. insbesondere mit gleich
»überzeugender Kraft«, in uns zu wirken. Und nennen wir dies
Bewußtsein ein Urteil, so sind sie alle im gleichen Sinne Träger
von Urteilen.
Zugleich müssen wir sagen: Daß in irgendeinem Kunstwerke
irgend etwas ausgedrückt oder »dargestellt« ist, oder daß irgend-
wie in dem, was eine Kunst den Sinnen unmittelbar darbietet,
etwas anderes, nicht sinnlich Wahrnehmbares »liegt«, dies besagt
alleraal und unweigerlich, daß wir ein solches ästhetisches Wirk-
lichkeits- oder Tatsächlichkcitsbewußtsein haben. Alles, was in
einem Kunstwerke, welcher Gattung es immer angehöre, »liegt«,
ist für uns ein ästhetisch Wirkliches oder Tatsächliches, oder ist
Inhalt eines »Urteils« von der Art, wie sie in den Aussagen der
Dichtung liegen. Wir können dies auch so ausdrücken: Die
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Th. Lipp»,
»Sprache« der Plastik und jeder Kunst überhaupt ist eine Sprache
im selben Sinne wie die Sprache des Dichters oder der Dichtung.
Hiermit nun ist der Gegensatz zwischen ästhetischen Vorstel-
lungsgefühlen und ästhetischen Urteilsgefuhlen, den Witasek sta-
tuiert, völlig hinfällig geworden. D. h. es gibt keinen Unterschied
zwischen Gefühlen der ästhetischen Befriedigung, insbesondere der
Freude an einem Kunstwerke, der darauf beruhte, daß ich das
eine Mal ein Psychisches — oder auch Nichtpsychisches — nur
vorstellte, das andere Mal ein Bewußtsein der Wirklichkeit oder Tat-
Sachlichkeit des Vorgestellten hätte. Sondern alle Freude an einem
Kunstwerk ist jederzeit in gleichem Sinne Urteilsgefühl, wenn man
das ästhetische Wirklichkeits- oder Tatsächlichkeitsbewußtsein ein
»Urteil« nennt; jedes Gefühl dieser Art ist in gleicher Weise nicht
UrteilBgefiihl, wenn man jenem Bewußtsein den Namen des Urteils
verweigert, und diesen Namen — wozu man gewiß berechtigt,
und mehr als berechtigt ist — dem logischen oder Erkenntnis-
urteil reserviert.
Bleiben wir aber hier dabei, jenem ästhetischen Wirklichkeits-
oder Tatsächlichkeitsbewußtsein den Namen eines Urteils zu geben.
Dann erhebt sich die neue Frage, wieso denn die Gefühle, die solche
Urteile voraussetzen oder an ihnen hängen, durch das Urteil als
solches bedingt seien oder sich daraus ergeben. Darauf antworte
ich sogleich: Alle sogenannten »UrteilsgefUhle« entstehen nicht
aus einem Urteil als solchem; sie sind also insofern nicht Urteils-
gefühle, sondern sie haften unmittelbar an dem Erleben des-
jenigen, was in dem Urteil bejaht wird, oder was für mich die
Wirklichkeit oder Tatsächlichkeit besitzt, die ich im Akt des
Urteilens anerkenne oder »hinnehme«.
Dies will in den verschiedenen Fällen Verschiedenes besagen:
Ich freue mich etwa, daß ich materielle Mittel besitze oder be-
sitzen werde. Ich habe sie jetzt nicht in Händen; aber ich
weiß, daß ich sie besitze. Dann freue ich mich Uber die unmittel-
bar erlebte Macht, die mir diese materiellen Mittel geben oder geben
werden. Ich habe das Gefühl des Könnens, der innern Weite und
Freiheit.
Diese Freiheit ist die Freiheit des Disponierens oder Schaltens.
Dazu bemerkt man vielleicht: Ich habe Lust am Reichtum, auch
wenn ich darüber jetzt nicht disponiere, wenn ich vielleicht gar
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Weiteree zur »Einfühlung«.
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nicht darüber disponieren will. Ich »weiß« nnr, daß ich frei
disponieren kann. Und dies genügt für meine Lust.
Aber hier liegt eine Zweideutigkeit vor. Sie liegt im Begriffe
des Könnens und damit zugleich in dem des Disponierens. Ich
weiß, daß ich disponieren kann, d. h. ich weiß, daß gewissen
äußeren Vorgängen, zunächst solchen an oder in meinem Körper,
nämlich denjenigen, in welchen das » Disponieren <, äußerlich be-
trachtet, oder in welchen die äußere » Willenshandlung < des
> Disponierens € besteht, kein physisches Hindernis entgegenstehen
würde.
Was aber den eigentlichen Sinn des Könnens ausmacht, ist
nicht dieser physische Sachverhalt, sondern etwas völlig anderes,
ein iuueres Erlebnis; das Erlebnis, das ich Freiheit nenne und
das in meinem Freiheitsgeftthl von mir erlebt wird.
Und dies mein Erlebnis, Freiheit genannt, kommt in mir zu-
stande in einem tatsächlichen inneren Disponieren. Ich vollbringe
es innerlich oder lediglich »in meinen Gedanken«. Aber dies
heißt nicht, daß das Disponieren ein bloß gedachtes ist,
sondern daß die äußeren, d. h. die körperlichen Vorgänge, auf
welche die Tätigkeit des Disponierens, die an sich ein lediglich
innerlicher Vorgang ist, zielt, bloß gedachte sind. Zugleich ist
mein Disponieren nicht ein ausgeführtes, d. h. nicht ein Dispo-
nieren in einzelnen Akten, sondern ein abstrakt allgemeines.
D.h. ich stelle mich innerlich dem Reichtum so gegenüber,
wie ich es naturgemäß tue, wenn ich einen einzelnen Akt des
freien Disponierens vollbringe. Ich erlebe, d. h. vollziehe das
innere Verhalten oder die innere Einstellung gegenüber dem ge-
wußten Besitz, in welchem das allgemeine Wesen des freien Dis-
ponierens besteht, soweit dies meine Tätigkeit, also ein innerer
Vorgang ist. Und dabei fühle ich mich frei. Ich erlebe dies,
daß ich mich frei oder durch nichts gehindert in solcher Weise
innerlich zu meinem Besitz stellen kann oder darf. Dies drücke
ich auch so aus: Ich fühle mich ihm gegenüber als Herrn.
Damit bezeichne ich eine jetzt erlebte Beziehung oder innere Stel-
lungnahme zu dem gewußten Besitz. Ich weiß nicht etwa nur,
daß ich diese innere Beziehung, diese Weise, zum Besitz innerlich
mich zu stellen, in mir erfahren, daß ich dies GefUhlserlebnis
haben, daß ich die Freiheit, die Herrschaft, das Können verspüren
werde, wenn ich einmal äußerlich disponiere, d. h. die dem
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496
Th. Lipps,
inneren Disponieren entsprechenden änßeren Akte vollbringe, oder
daß mir ein solches inneres Erlebnis znteil werden würde, falls
ich einen solchen Akt vollbrächte, sondern dasselbe findet sich
jetzt in mir. Die Freiheit, das Können, die Herrschaft gehören
der unmittelbar erlebten Gegenwart an. Ich erlebe oder fühle
sie. Und indem ich sie erlebe oder fühle, fühle ich Lust.
Und freue ich mich ein andermal, daß ich eine Tat glücklich zu
Ende gefuhrt habe, so freue ich mich, weil ich die Vollendung der-
selben jetzt wiederum innerlich erlebe, oder weil ich sie nach-
erlebe«, dies >nach< im zeitliehen Sinne genommen. Ich habe
auch hier ein Gefühl des kraftvollen Könnens, in dessen Natur es
liegt, lustgefärbt zu sein, oder mit einem Worte, ich habe ein Ge-
fühl des Stolzes. In diesem ist beides nicht nur gewußt, sondern
tatsächlich gefühlt, die Tat d. h. dasjenige, worin die »Tat« als
Bewußtscinsvorgang betrachtet bestand, genauer gesagt, dasjenige,
was daran eigentlich >mein Tun« war, das innere Verhalten oder
die innere Einstellung oder Beziehung zu der Sache, die in der
Tat oder durch dieselbe verwirklicht wurde und verwirklicht
werden sollte, einschließlich der besonderen Art, wie dies Tun erlebt
wurde, d. h. einschließlich der Kraft und Freiheit, und gefühlt
wird damit zugleich die allem dem eigene Lustfärbung.
Und das gleiche gilt, wenn ich mich freue, weil ich weiß, daß
ich eine bestimmte edle oder kühne Tat tun werde. Ich freue mich
dann, weil ich sie jetzt nicht äußerlich, aber innerlich »tue«. Ich
vollbringe oder erlebe nicht die äußere, wohl aber die innere
Willenshandlung. Ich nehme das Wollen und Vollbringen, kurz
das innere Tun und Erleben voraus, antizipiere die innere Leistung;
ich erlebe sie nicht >nach<, sondern »vor«. Und ich fühle auch
hier wiederum tatsächlich die Kraft und Freiheit dieses inneren
Tuns. Und indem ich dieselbe fühle, fühle ich sie als lustgefärbt.
Was uns diese Fälle lehren, müssen wir aber verallgemeinern
und auch auf scheinbar ganz anders geartete Fälle ausdehnen.
Wir müssen sagen: Freue ich mich, daß irgendwo in der Welt
irgend etwas geschieht, und ist für diese Freude mein Wissen von
der Tatsächlichkeit des Geschehens Bedingung, so wurzelt allemal
meine Freude in einem gegenwärtigen tatsächlichen Erleben. Die
Freude ist niemals Freude an dem »daß«, oder an der Tatsache
;ils solcher. Sie wurzelt nicht in meinem Wissen oder Urteil als
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Weiteres zur > Einfühlung«.
497
solchem, sondern sie wurzelt — so können wir uns zunächst allge
mein ausdrücken — in meinem »Genießen«.
Ich muß die gewußte Tatsache irgendwie »genießen«, wenn
sie für mich lustvoll sein soll. Könnte ich sie nicht »genießen«,
oder wäre nicht an ihr etwas, das Gegenstand meines »Genusses -
sein kann, so könnte ich mich zwar freuen, daß ich die Tatsache
erkenne, die Tatsache selbst aber bedeutete mir nichts. Alle
Freude an einem Gewußten überhaupt ist in Wahrheit Freude an
eiuem Genießen, sei es einem eigenen oder einem fremden. Und
dieser Genuß ist allemal mein eigener gegenwärtiger Genuß, sei
es ein unmittelbar eigener, sei es ein miterlebter fremder. In
beiden Fällen ist der Genuß ein Genuß in Gedanken. D. h. er
ist ein Genuß der nur gedachten oder gewußten Tatsache. Aber
der Genuß selbst ist darum doch nicht bloß gedacht, sondern tat-
sächlich erlebt. D. h. es vollzieht sich in mir, oder es wird von
mir erlebt oder vollbracht die innere Verhaltungswcise oder
die Tätigkeit, in welcher jeder »Genuß« besteht.
Hier rede ich zunächst wiederum in Beispielen: Ich freue mich
etwa, »daß« heuer der Wein gut geraten ist oder geraten wird.
Für solche Freude gibt es allerlei mögliche Motive. Ich bin etwa
selbst Liebhaber eines guten Weines. Dann genieße ich jetzt den
Wein, d. h. ich antizipiere den Genuß, den ich haben werde, wenn
ich ihn trinken werde. Ich nehme das Genießen desselben voraus.
Dies heißt nicht, daß ich den Wein jetzt körperlich oder äußer-
lich »genieße«. D. h. ich führe ihn jetzt nicht zum Munde, bringe
ihn nicht in Berührung mit meinen Lippen, meiner Zunge, mit
dem Gaumen. Dazu wäre erforderlich, daß ich den Wein jetzt
sichtbar und greifbar vor mir hätte.
Aber zur innern »Tätigkeit« des »Genießeus« bedarf es
dessen nicht. Dazu genügt, daß ich den Wein und den angenehmen
Geschmack desselben denke und betrachte. Auch den gedachten
Geschmack kann ich genießen, d. h. ich kann innerlich mich ihm
zuwenden, ich kann ihn innerlich erfassen und mir zu eigen macheu,
und ich kann dies tun ähnlich frei, bereitwillig, begierig, wie ich
ihm mich zuwenden, ihn erfassen, mir ihn innerlich zu eigen
machen würde, wenn der Wein sichtbar und greifbar vor mir
stände. Und indem ich dies tue, fühle ich Lust oder erlebe ich
die Tätigkeit, die ich innerlich vollbringe, und die von
jenem körperlichen Vorgaug aufs allerstrcugste zu scheiden
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498
Th. Lipps.
ist, als eine lustvolle oder lustgefarbte, vielleicht als eine be-
glückende.
Dies Genießen ist wiederum ein Genießen >in Gedanken«.
Aber dies >in Gedanken« heißt auch hier nicht, das Genießen selbst
ist ein nur gedachtes. Sondern gedacht ist das, was ich genieße,
oder dasjenige, dem ich in so eigentümlicher Weise innerlich mich
zuwende. Das Genießen selbst dagegen, diese eigentümliche innere
Zuwendung, diese freie, bereitwillige, begierige Erfassung und
innerliche Aneignung ist eine tatsächliche und erlebte, eine jetzt
von mir vollbrachte innere Tätigkeit Ich betone noch einmal
den Gegensatz dieser Tätigkeit, die meine Tätigkeit ist, und der
körperlichen Vorgänge, die weder meine Tätigkeit, noch über-
haupt eine »Tätigkeit« sind, sondern Geschehnisse in dem von
mir sinnlich wahrgenommenen Dinge, das ich »meinen
Körper« nenne.
Oder aber ich freue mich, daß der Wein gut geraten ist oder
geraten wird, weil ich weiß, daß andere ihn genießen oder ge-
nießen werden. Auch indem ich dies weiß, genieße ich, oder er-
lebe ich das Genießen. Ich sympathisiere mit dem Genießen
anderer, mit ihrem freien oder begierigen und darum lustvollen
oder lustgefärbten Sichzuwenden zu dem Geschmack oder inner-
lichen Sichaneignen desselben. Indem ich aber damit sympathi-
siere, mache ich es innerlich mit. Vielleicht findet solches Genießen
jetzt in andern gar nicht statt. Dann kann von einem »Nach-
machen« desselben nicht eigentlich geredet werden. Aber mein
inneres Erleben des fremden Genießens ist davon, ob es in andern
tatsächlich stattfindet, nicht abhängig. Es genügt, daß ich weiß,
es könne in andern stattfinden.
Oder ich freue mich über die fragliche Tatsache, weil die
Weinproduzenten davon etwas haben, einen Zuwachs ihres Be-
sitzes, den sie genießen können. Dann genieße ich diesen Besitz,
d. h. ich erlebe in mir das reichere Können, die größere Freiheit
des innerlichen Verhaltens, erlebe alöo eben dasjenige, worin für
jene das innerliche Genießen des Besitzzuwachses besteht.
Und jedesmal hat meine Freude an der gewußten Tatsache
in solchem Erleben ihre Wurzel.
Oder andere Beispiele: Freue ich mich der edeln Tat, die eiu
anderer begangen hat, so tue ich dies, weil ich die fremde Tat
miterlebe, so wie ich die begangene eigene Tat nacherlebe. Freue
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Weitere« zur »Einfühlang«.
499
ich mich der edeln Tat, die ein anderer in der Zukunft tun
wird, dann geschieht dies, weil ich auch das zukünftige fremde
Tun zu antizipieren vermag.
Reden wir aher jetzt allgemeiner. Im obigen ist, wie man sieht,
zunächst vorausgesetzt, daß man den doppelten oder dreifachen
Sinn des Wortes »Genuß« wohl auseinanderzuhalten wisse. Viel-
leicht versteht man unter dem Genuß einfach die Lust. Ich sage
wohl, der angenehme Geschmack oder ein Kunstwerk bereite mir
Genuß, und meine damit einfach dies, daß die Gegenstände Lust
in mir wecken. Von dem Genuß in diesem Sinne nun redete ich
oben nicht Sondern ich meinte mein »Genießen«. Und ich
verstand darunter wiederum nicht das »Genießen« im Sinne des
Essens oder Trinkens oder, allgemeiner gesagt, irgendwelcher
körperlicher Vorgänge, sondern ich meinte es im Sinne des inner-
lichen Genießen».
Und dies nun ist eine Tätigkeit, und, wie alle »Tätigkeit«,
eine innerliche Tätigkeit. Es ist die Tätigkeit oder Weise der
inneren Betätigung meiner selbst, ohne die es kein Lustgefühl gibt.
Dies Genießen aber ist entweder »sinnliches« Genießen, d. h. Ge-
nießen eines Sinnlichen, oder es ist Selbstgeuuß; und es ist beide-
mal idiopathisches oder sympathisches Genießen; »sympathisches
Genießen«, d. h. Genießen in einem andern. Anders gesagt: Das
Genießen ist entweder ein rein subjektives oder es ist ein objekti-
viertes Genießen.
Darauf gehe ich etwas näher ein. Was ist der Grund der
sinnlichen Lust, d. h. der Lust an einem sinnlich wahrgenommenen
oder wahrnehmbaren Gegenstande? Man sieht sofort, daß auch
diese Frage doppelsinnig ist. Demgemäß erlaubt sie eine doppelte
Antwort. Man antwortet vielleicht zunächst: der Gegenstand. Und
diese Antwort ist gewiß berechtigt. Aber die Lust entsteht doch
nicht einfach, weil der Gegenstand irgendwo in der Welt da ist.
Sondern der Gegenstand muß, wenn ich Lust an ihm fühlen soll,
auch für mich dasein. D. h. ich muß ihn erfassen, mich ihm
zuwenden, ihn mir innerlich aneignen, auf ihn »merken«.
Und dabei nun kann es geschehen, daß diese Tätigkeit der
Zuwendung, Erfassung, innerlichen Aneignung, kurz diese Tätig-
keit der »Aufmerksamkeit« von mir erlebt wird als eine freie,
bereitwillige, begierige. Als solche wird sie tatsächlich erlebt
s
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500
Th. Lipps,
werden, wenn die Erfassung, innerliche Aneignung eines solchen
Gegenstandes meinem Wesen, meiner psychischen Organisation oder
Verfassung, einer in mir liegenden Disposition oder natürlichen
Betätigungsrichtung, oder mit dem uns geläufigsten Ausdruck, wenn
sie einem in mir vorhandenen »Bedürfnis« entspricht oder gemäß ist.
Diese freie oder begierige Erfassung des sinnlich wahrnehm-
baren Gegenstandes nun ist das, was ich hier als das (positive)
Genießen eines sinnlichen Gegenstandes bezeichne. Und in diesem
»Genießen« hat die Lust an dem Gegenstande ihren Grund, so
gewiß sie andererseits in dem Gegenstande ihren Grund hat.
Richtiger wäre: Sie hat in dem Gegenstand ihren »Grund« oder
ist darin »begründet«, und sie wurzelt in jenem meinem Genießen.
Dem Genuß eines von mir unterschiedenen Gegenstandes nun
habe ich oben den Selbstgenuß gegenübergestellt.
Auch dabei müssen wir aber wieder von dem Genuß im Sinne
der Lust unterscheiden den Genuß im Sinne des Genicßeus, an dem
die Lust haftet. Nehmen wir das Wort Genuß im erstoren Sinne,
dann ist der Selbstgenuß die Lust an mir oder meinem »Selbst«-.
Das Ich aber, das ich hier als Selbst bezeichne, der Kern des Ich,
das Ich schlechtweg, ist Tätigkeit. Ich werde meiner rein oder
für sich inne einzig in meinem Tätigkeitsgefühl.
Damit ist dann schon gesagt, daß der Genuß des Selbst, wenn
wir von jetzt an als »Genuß« ausschließlich das »Genießen« be-
zeichnen, worin die Lust »wurzelt«, eben diese Tätigkeit ist.
In der Tat gibt es keine Weise, mich zu genießen, als indem ich
mich betätige. Sich genießen heißt sich betätigen. Und die Lust,
die in solcher Selbstbetätigung wurzelt, ist Lust am eignen Selbst
oder ist Selbstwertgefllhl. Alles Selbstwertgefühl oder alles Selbst-
gefühl im positiven Sinne des Wortes ist Lust aus der unmittelbar
erlebten Selbstbetätigung.
Jetzt nun scheint es, als ob Lust an den von mir unterschie-
denen sinnlichen Gegenständen und Selbstwertgefühl gar nicht
grundsätzlich sich unterschieden.
In der Tat ist bei beiden das, woran die Lust »haftet«, oder es ist
in beiden Fällen die »Wurzel« der Lust Selbstbetätigung. Darum
besteht doch zwischen beiden ein voller Gegensatz. Dort, bei der
Lust an sinnlichen Gegenständen; ist die Tätigkeit Tätigkeit der
Erfassung eines Gegenstandes, und die Lust beruht darauf, daß
die Tätigkeit der Erfassung eines solchen Gegenstandes, oder
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Weitere« zur »Einfühlung«.
501
die hinsichtlich ihres Gegenstandes, oder durch denselben
qualitativ bestimmte Auffassungstätigkeit, einem Bedürfnis des auf-
fassenden Ich gemäß ist.
Neben dieser einfach auffassenden Tätigkeit gibt es aber noch
eine andere Tätigkeit; eine Tätigkeit höherer Stufe.
Jene Tätigkeit des Erfassens ist eine rezeptive Tätigkeit; oder
war lediglich als solche gemeint Sie ist die einfache Erfüllung
der Forderung des zufallig sich mir darbietenden Gegenstandes,
für mich Gegenstand zu sein. In dieser Tätigkeit bin ich also
gegenständlich bestimmt und zugleich an den zufälligen Umstand,
daß jetzt dieser, jetzt jener Gegenstand sich mir zur Erfassung
darbietet, gebunden.
Dagegen ist die Tätigkeit der höheren Stufe, etwa die Willens-
tätigkeit im engeren Sinne, spontane Tätigkeit. Jede eigentliche
»spontane« Tätigkeit aber ist wählende Tätigkeit Sie ist »frei«
in diesem Sinne: zu ihr oder in ihr bestimme ich mich selbst
und fühle mich als mich selbst bestimmend.
Beide Arten der Tätigkeit nun können lustgefarbt oder unlust-
gefärbt sein. Die erstere, die Tätigkeit des einfachen Erfassens
eines Gegenstandes, weil ein solcher »zufallig« sich zur Erfassung
darbietet, ist wie gesagt das eine oder das andere, je nachdem die
Erfassung eines solchen Gegenstandes eine meinem natürlichen
Bedürfnis gemäße ist. Hier bestimmt also die Natur des Gegen-
standes, der erfaßt werden soll, und der Umstand, daß ein so ge-
arteter Gegenstand sich mir jetzt eben zur Auffassung darbietet,
die Lust oder Unlustfärbung der Tätigkeit.
Dagegen ist die Lnst- oder Unlustfärbung der freien oder spon-
tanen Tätigkeit bestimmt durch die Art, wie die Tätigkeit in sich
selbst geartet ist, ob überhaupt und wie ich irgendwelchen Gegen-
ständen gegenüber tätig bin und mich tätig fahle.
Dies läßt sich genauer bestimmen. Die fragliche höhere oder
eigentlich »spontane« Tätigkeit ist lustvoll in dem Maße, als sie
Tätigkeit, nämlich positive Tätigkeit ist D. h. lustgefärbt ist
die kraftvolle, die vielseitige, oder die reiche und weite, und die
in sich selbst einstimmige Tätigkeit, welches auch immer die
Gegenstände dieser Tätigkeit sein mögen. Alle Schwäche, Enge
oder Armut, jede Gegensätzlichkeit der Tätigkeit in sich selbst ist
ja Negation der »Tätigkeit«.
Und diesem Gegensatz nun entspricht eine entgegengesetzte
ArcfciT Ar PtyehologU. IV. 33
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502
Th. Lipp«,
Weise der Beziehung der Lust. Dort ftthlen wir sie als gegen-
ständlich bestimmt, oder in der Natur des Gegenstandes begründet.
Wir erleben sie als Lust an dem erfaßten Gegenstand. Hier
dagegen kann ich die Lust fühlen als Lust an der Weise der
inneren Tätigkeit oder Betätigung meiner selbst. Mit einem Wort :
Die Lust ist dort Gegenstandswertgcftlhl, hier kann sie zum Selbst-
wertgefübl oder, kürzer, zum Selbstgefühl werden. Welche Be-
dingung noch erfüllt sein muß, wenn die Lust bewußterweise auf
das Selbst bezogen sein soll, darüber wird weiter unten ein Wort
zu sagen sein.
Noch eine Möglichkeit der Lust scheint hierbei übersehen. Ich
freue mich nicht nur an sinnlichen Gegenständen, und lege
andererseits mir Wert bei, sondern ich freue mich auch über
Psychisches außer mir. Aber dieses Psychische außer mir ist das
objektivierte Psychische in mir, es ist in einem andern erlebte,
oder in eine sinnliche Erscheinung eingefühlte eigene innere Tätig-
keit oder Weise der Selbstbetätigung.
Es ist also der Gegensatz zwischen Lust an sinnlichen Gegen-
ständen und Selbst wertgefUhl erschöpfend. D. h. es gibt keine
dritte Möglichkeit der Lust »an« etwas. Nur müssen wir hinzu-
fügen : Das Selbst ist entweder nur das eigene Selbst, oder ist
das von mir unmittelbar erlebte Ich; oder aber es ist das objekti-
vierte, in einem sinnlich Wahrgenommenen erlebte Ich oder Selbst.
Es braucht wohl zum obigen nicht hinzugefugt zu werden,
daß die Unterscheidung der »rezeptiven« und der »spontanen«
Tätigkeit nicht gemeint ist als Unterscheidung zweier sich aus-
schließender Möglichkeiten. Jede menschliche Tätigkeit ist bald
mehr rezeptiv bald mehr »spontan« oder wählend. Die rein
rezeptive Tätigkeit ist ein Idealfall. Es »kann« also auch jede
Tätigkeit zum Selbstwertgeftthl Anlaß geben. — Im übrigen sieht
man leicht, daß im obigen eine wichtige Frage nur gestreift
ist. Hier kommt es zunächst darauf an, daß auch die Lust an
sinnlichen Gegenständen in einer Tätigkeit »wurzelt«.
Unser obiger allgemeiner Satz lautete: Immer, wenn unsere
Freude dadurch bedingt ist, daß wir wissen oder zu wissen glauben,
das Erfreuliche finde wirklich oder tatsächlich statt, oder habe
stattgefunden, oder werde stattfinden, so beruht die Freude in
Wahrheit auf einem unmittelbaren Erleben, nämlich einer un-
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Weiteres zur »Einfühlung«.
mittelbar erlebten inneren Tätigkeit, auf der Tätigkeit des
»Genießens«.
Dazu müssen wir nun hinzufügen: Diese Tätigkeit ist allerdings
allemal zunächst eine gewußte, aber diese wird eben bald
mehr bald minder zugleich zur unmittelbar erlebten.
Daß es so ist, zeigen zunächst die Tatsachen von der oben
angeführten Art. Ich erlebe oder fühle, so sagte ich oben, wenn ich
>weiß«, daß ich etwas besitze oder besitzen werde, die Macht, das
Können, die Freiheit des Disponierens, ich erlebe die allgemeine
innere Einstellung oder Weise der inneren Tätigkeit, die das ge-
meinsame Wesen alles freien Disponierens ausmacht. Hier weiß
ich also zunächst, daß ich Freiheit des Disponierens habe. Aber
indem ich davon weiß, erlebe ich sie. Ebenso » weiß « ich zunächst,
daß ein anderer dies oder jenes genießt oder genießen wird. Aber
wiederum gilt: Indem ich davon weiß, genieße ich. Mag es sich
in diesem Punkte bei andern anders verhalten; was mich angeht,
so verhält es sich zweifellos so, wie ich sage.
Es geschieht dies aber zugleich nach einem allgemeinen
psychologischen Gesetz. Dies besagt: Jede, sei es eigene, sei
eB fremde, innere oder psychische Verhaltungsweise,
von der ich weiß, oder von deren Wirklichkeit ich ein
Bewußtsein habe, ist der Tendenz nach die ent-
sprechende tatsächliche eigene innere Verhaltungsweise.
Dieses psychologische Gesetz ordnet sich wiederum ein oder unter
dem psychologischen Grundgesetz, das wir so formulieren
können: Alles, von dem ich weiß, ist der Tendenz nach
von mir erlebt. Jedes Wissen zielt oder tendiert über sich
hinaus zum Erleben des Gewußten1).
Dabei besagt das Wort »Tendenzc genau das, was es auch
sonst, etwa in der Physik, besagt. D. h. jedes Wissen, und ins-
besondere jedes Wissen um ein Psychisches wird zum Erleben des
Gewußten, wenn und soweit kein Hindernis besteht, oder nichts
der Verwirklichung der Tendenz entgegenwirkt und schließlich sie
tinmöglich macht.
Hier nun haben wir es nur mit dem Wissen um ein Genießen,
allgemein gesagt um eine psychische oder innere Tätigkeit zu tun.
1 Vgl. Leitfaden der Psychologie S. 163 ff.; 170ff.; 173; 214; 234 f.; 282.
33»
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504 Th. Lipps,
Damm genügt uns in diesem Zusammenhang jenes minder allge-
mein gefaßte Gesetz.
Vielleicht nnn weiß ein Psychologe nichts von dem soeben for-
mulierten allgemeinen psychologischen Grundgesetz, vielleicht weiß
er auch nichts von der Gültigkeit der spezielleren Formulierung, mit
der wir uns hier begnügen wollen. Dann verweise ich auf einige
der Tatsachen, auf die ich in anderem Zusammenhange zur Er-
härtung dieses Gesetzes hingewiesen habe1].
Ich habe etwa einen Entschluß gefaßt und weiß davon. Dann
besteht in mir eine Tendenz, bei dem einmal gefaßten Entschluß
zu »bleiben« ; d. h. mich jetzt wiederum ebenso zu entschließen. Der
Entschluß, von dem ich weiß, schließt die Tendenz in sich, mein
gegenwärtiger tatsächlicher Entschluß zu sein. Ich muß Gegen-
motive haben, wenn ich mich anders entschließen soll. Und auch,
wenn ich solche habe, lasse ich den gefaßten Entschluß nicht ohne
Widerstreben fallen. Ich belasse es nicht ohne Widerstreben bei
dem bloßen Wissen davon; oder beim bloßen »Urteil«.
Ich verspüre ebenso ein Widerstreben, ein Urteil aufzugeben,
das ich einmal gewonnen habe, und dessen ich mich erinnere, eine
Theorie etwa aufzugeben, die ich einmal mir gebildet habe, und
von der ich weiß. Hier schließt der Akt des Urteilens, von dem
ich weiß, die Tendenz in sich, jetzt wiederum von mir erlebt, d. h.
vollzogen zu werden. Mein Wissen von dem Urteilsakt tendiert
auf das Erleben, d. h. den Vollzug desselben.
Und nicht anders verhält es sich, wenn ich von einer Weise
eines andern, sich innerlich zu verhalten, weiß. Auch dies Wissen
ist der Tendenz nach ein entsprechendes Erleben, d. h. ein ent-
sprechendes Verhalten.
Höre ich einen Satz, so weiß ich oder glaube zu wissen, daß
derjenige, der ihn ausspricht, ein bestimmtes Urteil fällt. Ich ur-
teile: Dies Urteil wird gefällt. Hier nun bezweifelt niemand, daß
in mir eine Tendenz besteht, das von dem andern ausgesprochene
Urteil in mir selbst zu erleben, d. h. eine Tendenz, dies Urteil
auch meinerseits zu vollziehen. Einfacher gesagt: Eis besteht für
uns alle die Tendenz, an Behauptungen anderer zu glauben. Der
zwingende Beweis dafür ist, daß wir an die Behauptungen an-
derer tatsächlich glauben, wenn wir keine Gegengründe haben.
1) Leitfaden der Psychologie S. 171, 173. Vgl. »Vom Fühlen, Wollen
und Denken« S. 89 ff.
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Weiteres zur »Einfühlung«. 505
Ebenso besteht in mir eine Tendenz, den Willen, den ein
anderer in Worten oder sonstwie kundgibt, mir zu eigen zu machen.
Jemand gebe zu erkennen, er wolle, daß ich dies oder jenes tue,
dann erfülle ich seinen Willen, d. h. ich will, was er will, sofern
ich keine Gegenmotive habe.
Diese Tatsachen nun leugnet niemand. Sie wären aber ein
unbegreifliches Wunder, wenn sie nicht auf einem allgemeinen
Gesetze beruhten. Und dies allgemeine Gesetz kann nur das oben
ausgesprochene sein. Ich wiederhole : Jedes psychische Verhalten,
sei es ein eigenes oder fremdes, von dem ich weiß, ist der Ten-
denz nach mein entsprechendes eigenes gegenwärtiges Verhalten.
Das Wissen, von dem ich hier redete, ist ein empirisches
Wissen. Es ist ein Wissen davon, daß in der empirisch wirklichen
Welt ein Psychisches stattfand bzw. stattfindet. Was aber von
diesem gesagt wurde, gilt nun auch, wenn das »Wissen« nur ein
ästhetisches Wissen ist. D. h. wenn es in jenem »ästhetischen
Wirklichkeits- oder Tatsächlichkeitsbewußtsein« besteht, von dem
oben die Rede war.
Um nun dies zu verstehen, müssen wir die weitere Frage stellen,
warum oder auf Grund wovon denn das Wissen von einem
psychischen Verhalten die Tendenz des Erlebens in sich schließe.
Darauf müssen wir antworten: Nicht das Wissen als solches
tnt dies, sondern das unangefochtene oder unbestrittene Dasein
für mich, das demjenigen eignet, von dessen Wirklichkeit oder
Tatsächlichkeit ich weiß.
Weiß ich, daß etwas ist oder stattfindet, so sind damit die
Gegenvorstellungen, daß etwas anderes an seiuer Stelle sei oder
stattfinde, abgewiesen. Und nun gilt das allgemeinste psycho-
logische Grundgesetz, für welches auch das oben ausgesprochene
allgemeine psychologische Grundgesetz nur eine speziellere Fas-
sung ist, daß nämlich in jeder Vorstellung irgendeines
Gegenstandes oder Sachverhaltes an sich die Tendenz
liege, zum vollen Erleben desselben zu werden1). Sie
liegt darin an sich, d. h. die fragliche Tendenz besteht tatsäch-
lich, wenn die Vorstellung des Gegenstandes für sich besteht Und
l; Leitfaden der Psychologie S. 141 Anm. und später.
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506
Th. Lipps,
dies wiederum heißt, wenn sie nicht durch Gegenvorstellungen,
die eine gleichartige Tendenz in sich schließen, aufgehoben ist
Stelle ich einen Gegenstand oder Sachverhalt vor und zweifle
an seiner Wirklichkeit, oder ist er für mich ein nur möglicher
Gegenstand oder Sachverhalt, so ist er für mich mit der Negation
behaftet. Indem ich ihn vorstelle oder, richtiger, denke, denke ich
ihn zugleich als einen solchen, an dessen Stelle ein damit unver-
träglicher Gegenstand oder Sachverhalt für mich da zu sein das
Recht oder das gleiche Recht hätte. Und damit liegt zugleich in
der Tendenz jenes Gegenstandes oder Sachverhaltes, von mir erlebt
zu werden, die gleichartige Tendenz dieses andern Gegenstandes
oder Sachverhaltes, kurz eine Gegentendenz. Und dies Ineinander
beider Tendenzen ist gleichbedeutend mit der Aufhebung der einen
durch die andere.
So geschieht es, daß ich auch Gegenstände vorstellen kann,
ohne daß in ihnen die Tendenz des vollen Erlebens liegt. Ich be-
merke ausdrücklich : Daß es solche Gegenstände ftlr mich gibt,
nicht, daß in andern Fällen die Tendenz des Erlebens besteht,
ist das psychologisch zu Erklärende. Eis ist so, weil das Bestehen
der Tendenz das Primäre, das Nichtbestehen derselben das Sekun-
däre ist; gleichbedeutend mit einem Aufgehobensein durch Gegen-
tendenzen.
Daß die Tendenz des vollen Erlebens eines vorgestellten Gegen-
standes besteht, sofern sie nicht durch Gegen tendenzen aufge-
hoben ist, dies können wir aber auch kurz so ausdrucken: Sie
besteht, wenn die Vorstellung eines Gegenstandes frei oder von
Gegenvorstellungen unangefochten ist Dies aber macht nun eben
das Wesen jener ästhetischen Wirklichkeit oder Tatsächlichkeit
aus. Das Bewußtsein derselben ist das rückhaltlose und zweifels-
freie Hiugegebensein an einen Gegenstand oder Sachverhalt Das-
selbe schließt also die Tendenz des vollen Erlebens allemal in sich.
Hiermit nun ist das Verhältnis der Vorstellungs- und Urteils-
gefühle deutlich. Sie sind beide in gleicher Weise Gefühle aus
der bald mehr, bald minder sich verwirklichenden Tendenz des
vollen Erlebens eines vorgestellten Gegenstandes. Das »Urteil«
tut dabei nur Bofern etwas zur Sache, als es die.Tendenz des vollen
Erlebens, die in jeder Vorstellung — genauer in jedem Denken —
eines Gegenstandes potentiell oder implizite liegt, expliziert, frei
macht, aktuell werden läßt. Sie läßt dieselbe aktuell werden, in
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Weiteres aar »Einfühlung«.
507
dem Sinne, daß sie die Vorstellung des Gegenstandes von dem
Gewicht der Gegenvorstellungen befreit, oder in dem Sinne, daß
sie das Gleichgewicht] zwischen einer Tendenz und ihren Gegen-
tendenzen, in welchem beide sich wechselseitig aufheben, zu-
gunsten der ersteren aufhebt.
Nebenbei bemerkt, diese Aufhebung eines solchen Gleich-
gewichtszustandes, oder diese Befreiung einer Tendenz des vollen
Erlebens kann auch durch affektive Momente bewirkt werden.
Dann wird die Tendenz zum positiven oder negativen Wünschen,
zum Begehren oder Verabscheuen. Was dabei gewünscht oder be-
gehrt wird, ist eben das volle Erleben eines vorgestellten Gegen-
standes !).
Die Anschauung, die ich im obigen vertrete, suche ich noch
durch folgende Bemerkungen zu bestätigen. Es handelt sich uns
hier um die Lust an Psychischem. Dieses Psychische ist eine
psychische Tätigkeit oder Betätigungsweise. In solcher Lust an
einer psychischen Tätigkeit nun steht die Lust der Tätigkeit nicht
gegenüber, so wie bei der Lust an einem Sinnlichen, etwa an
einem Geschmack, die Lust allerdings dem Geschmack gegenüber-
steht. In letzterem Falle ist die Lust, wie jederzeit, meine Lust,
eine Ichbestimmtheit; der Geschmack dagegen ist eine Gegenstanda-
bestimmtheit. Nicht der Gegenstand ist lustig oder erfreut, son-
dern ich; und nicht ich bin süß oder wohlschmeckend, sondern
der mir gegenüberstehende Gegenstand. Der Gegensatz, der hier
stattfindet, ist also kein geringerer als der zwischen dem Ich und
der vom Ich unterschiedenen und ihm gegenüberstehenden gegen-
ständlichen Welt.
Dagegen ist alle psychische Tätigkeit Tätigkeit des Ich. Was
das Wort Tätigkeit meint, kann nie anders gegeben sein als im
Tätigkeitsgeftthl. Und dies ist Ichgefuhl. Ich fühle mich tätig.
Allgemein ausgedrückt: Auch die Tätigkeit ist, ebenso wie die
Lust, eine Ichbestimmtheit. Freilich bezeichnen beide Worte ver-
schiedene Ichbestimmtheiten. Aber beide sind eines in dem Ich,
dessen Bestimmtheiten sie sind. Sie sind verschiedene mögliche
Seiten der Qualität des Ich oder der Weise, wie das Ich gegeben
ist oder erlebt wird. Sie verhalten sich zueinander analog, wie der
1) Leitfaden der Psychologie 8. 202 ff.. 234 i.
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508
Th. Lipps,
Farbenton einer Farbe und die Helligkeit sich zueinander ver-
halten. Auch diese Bestimmtheiten der Farbe sind verschiedene
Bestimmtheiten, aber sie sind in der Farbe eines. Sie sind ver-
schiedene Seiten an der Farbe oder der Qualität des Empfindungs-
inhaltes, den ich Farbe nenne. Ebenso, sage ich, sind Lust und
Tätigkeit verschiedene Seiten des Icbgefühls oder der jederzeit
einheitlichen Weise, wie ich mich erlebe.
Und wenn es nun so ist, dann hat es keinen Sinn, von einer
tatsächlich gefühlten oder erlebten Lust an einer nur vorgestellten
oder gewußten Tätigkeit, also au einem nur vorgestellten oder
gewußten Psychischen, überhaupt zu reden. Es hat dies ebenso-
wenig Sinn, als es Sinne hätte, von einer Helligkeit zu reden, die
an einer nicht empfundenen, sondern nur vorgestellten oder ge-
wußten Farbe empfunden würde. Sondern so gewiß die Hellig-
keit einer nur vorgestellten oder gewußten Farbe selbst nur eine
vorgestellte bzw. gewußte Helligkeit sein kann, so auch kann die
Lust an einem nur vorgestellten oder gewußten Psychischen, d. h.
an einer nur vorgestellten oder gewußten inneren Tätigkeit oder
Betätigungsweise nur eine vorgestellte oder gewußte Lust sein.
Oder umgekehrt, so gewiß die empfundene Helligkeit einer Farbe
Helligkeit einer empfundenen Farbe, oder so gewiß mit der Hellig-
keit einer Farbe zugleich auch der Farbenton Inhalt einer Emp-
findung ist, so gewiß ist die jetzt erlebte Lust an einer
psychischen Tätigkeit Lust an einer erlebten psychischen Tätig-
keit. Um eine tatsächlich erlebte Lust an Psychischem handelt
es sich aber in diesem Zusammenhange.
Den gleichen Sachverhalt wende ich im folgenden noch etwas
anders. Manche Psychologen reden von Lust und Unlust, als
seien dieselben selbständige Bewußtseinserlebnisse. Sie lassen
diese »Gefühle« wie Personen auf einem Theater erst für sich auf-
treten, dann untereinander oder mit Vorstellungen sich assoziieren
oder zu Komplexen sich zusammenschließen, auf das Vorstellungs-
leben wirken usw.
Nun, solche selbständige Bewußtseinserlebnisse, Lust und Un-
lust genannt, gibt es nicht. Sondern es gibt lediglich das Ich,
das in der Tätigkeit oder dem TätigkeitsgefUhl unmittelbar ge-
geben ist, und es gibt allerlei nähere Bestimmungen, Charaktere
oder Färbungen des Ich oder des TätigkeitsgefÜhls. Solche
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Weiteres zur »Einfühlung«
509
Färbungen Bind Last und Unlust Lust und Unlust bezeichnen
einen Grundgegensatz in der Färbung des Tätigkeitsgefühls.
Andere Grandgegensätze, die mit diesem sieb kreuzen, sind etwa
die der objektiven Bestimmtheit und der Willkür, der Freiheit und
der Gebundenheit in verschiedenem Sinne dieses Wortes.
Und nun achten wir wiederum auf die oben unterschiedenen
beiden Möglichkeiten: Die fragliche »Tätigkeit« ist entweder dasein-
fache Auffassen oder sich Aneignen, wodurch etwas für mich zum
Gegenstand wird, es ist diese rezeptive Tätigkeit, oder aber sie ist
spontane Tätigkeit, etwa die Tätigkeit des Verstandes, die Tätig-
keit des Nachdenkens, Überlegens usw. oder die auf Verwirk-
lichung eines vorgestellten Zieles gerichtete > Willenstätigkeit«.
In jener rezeptiven Tätigkeit genüge ich nur einfach der Forderung
oder dem Anspruch des Gegenstandes, aufgefaßt und dadurch
für mich znm Gegenstande zu werden. In dieser spontanen
Tätigkeit wähle ich zwischen Gegenständen. Dabei ist voraus-
gesetzt, daß dieselben schon für mich Gegenstände seien.
Und alle Lust nnn ist eine Färbung jener oder dieser Tätig-
keit. Alle erlebte Lust ist eine Färbung oder, ohne dies Bild,
eine Eigentümlichkeit, eine Modalität, ein charakteristischer Zug
an oder in der erlebten Tätigkeit. Bezeichnen wir sie als Lust
an der Tätigkeit, so sollten wir uns bewußt sein, daß dies »an«
einen doppelten Sinn haben kann. Es kann einmal gleich-
bedeutend sein mit »angesichts« oder »gegenüber«. Eine Lust an
der Tätigkeit in diesem Sinne nnn gibt es nicht. Die Lust an der
Tätigkeit würden wir darum richtiger Lust in der Tätigkeit
nennen. Ich fühle mich tätig, und fühle mich darin, d. h. in
dieser Tätigkeit, beglückt. Auch die Lust, die ich in der rezep-
tiven Erfassung eines sinnlichen Gegenstandes fühle, ist Lust in
dieser Tätigkeit. Sie ist aber zugleich, weil sie gefühlt wird in
der Tätigkeit, durch welche ich den Gegenstand mir »gegenüber-
stelle« und dadurch für mich zum »Gegenstand« mache, Lust
gegenüber dem Gegenstand oder angesichts desselben.
Hier wird man nun aber erwidern: Auch wenn ich Lust habe
an mir, d. h. an meiner spontanen Tätigkeit, z. B. an einem
kühnen und gegen alle Hindernisse sich behauptenden Entschluß,
oder an meiner Erkenntnistätigkeit, wenn ich auf dergleichen stolz
bin, so ist doch die Tätigkeit auch ein »Gegenstand«, auf den
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510
Th. Lipps,
ich die Lust beziehe, oder > angesichts« dessen ich Lust
ftihle.
Dies ist richtig, und auch nicht. Es ist zunächst richtig.
Und da in dem Moment, in welchem ich tätig bin, die Tätig-
keit nicht Gegenstand für mich sein kann, so folgt daraus, daß
ich niemals Lust an mir haben kann in dem Moment, wo ich dazu
ein Recht hätte. Dies will beispielsweise sagen: Tue ich eine
stolze Tat, d. h. eine Tat, auf die ich stolz sein darf, so kann ich
mich nicht stolz fühlen, während ich die Tat tue. Gewiß fühle
ich mich beglückt in meinem Tun. Aber das GlücksgefÜhl ist
für mein Bewußtsein nicht auf mein Tun bezogen; sondern es
kann einzig bezogen erscheinen auf das, was durch mein Tun ge-
tan wird, auf die Verwirklichung des Zieles meines Tuns. Helfe
ich einem Menschen mit Opferung eigener Interessen, so freue
ich mich, während ich dies tue, nicht über mein Tun, sondern
darüber, daß dem Menschen geholfen wird. Erst hinterher kann
ich mein Tun betrachten und meine Freude an diesem Tun haben,
d. h. darauf stolz sein.
Es gibt, allgemein gesagt, kein Selbstgefühl, das als solches
von mir erlebt würde, außer in der rUckschauenden oder in der
vorausschauenden Betrachtung oder in der Betrachtung eines
andern. Das letztere Selbstgefühl ist das sympathische oder das
objektivierte Selbstgefühl. Ich kann mich etwa stolz fühlen in der
Tat, die ich getan habe, oder in der Tat, die ich tun werde; und
andererseits in dem stolz emporragenden Felsen, oder in den
Taten, die das Heer meines Vaterlandes vollbringt, und dergleichen.
Sofern auch die Tat, die ich vollbracht habe oder vollbringen
werde, oder sofern auch meine eigene Vergangenheit oder Zukunft
Objekte sind — das absolute Subjekt ist das gegenwärtige Ich —
kann auch der darauf gerichtete Stolz objektiviert heißen. Unter
Voraussetzung dieses weiteren Begriffes der Objektivierung können
wir sagen: Es gibt kein Selbstgefühl, das nicht objektiviertes
Selbstgefühl wäre.
Damit nun scheine ich mit dem vorhin Gesagten in direkten
Widerspruch getreten. Lust, so sagte ich erst, ist eine Färbung
der Tätigkeit, jetzt erlebte Lust also eine Färbung der jetzt er-
lebten Tätigkeit. Und jetzt sage ich: Es gibt keine Lust an mir
oder meiner Tätigkeit, außer wofern die Tätigkeit, also auch das
Ich objektiviert oder für mich Gegenstand ist.
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Weiteres zur »Einfühlung«.
511
Dieser Widerspruch nun findet seine Lösung in der Natur des
Ich, insbesondere der Tatsache der Identität des Ich.
Ich, der ich eine bestimmte Tat vollbrachte, bin ich, der ich
jetzt diese Tat, and in derselben mich, denke und betrachte. Jenes
Ich ist mit diesem identisch. Nicht in jedem Sinne. Manches,
das dem vergangenen Ich angehört, ist mir jetzt > fremd«, ich kann
mich nicht »hineinfinden« ; oder ich finde darin mich, das gegen-
wärtige oder das jetzt erlebte Ich nicht »wieder«. Aber dies hindert
nicht, daß das vergangene Ich ich ist, d. h. das jetzt unmittelbar
erlebte Ich, nicht etwas von demselben Verschiedenes.
Dieser Sachverhalt ist eine unmittelbare Bewußtseinstatsache.
Ich erlebe diese Identität
Und ich erlebe sie, genau soweit ich das vergangene Ich gegen-
wärtig habe, d. h. genau soweit ich es denke und betrachte.
Ich bin dann betrachtend in ihm. Je voller ich das vergangene
Ich apperzipiere oder »anschaulich« vorstelle, je mehr ich es
apperzeptiv durchdringe, desto mehr bin ich darin. Das Apper-
zipieren des eigenen vergangenen Ich ist ein »Sich versetzen« oder
»-versenken« in dasselbe. Und das Ich, das dabei versetzt wird,
ist allemal das gegenwärtige.
Indem aber das gegenwärtige Ich in dem vergangenen Ich ist,
vollbringt es die Tätigkeit desselben. Freilich so, wie es in der
besonderen Beschaffenheit des gegenwärtigen Ich liegt, d. h. ge-
gebenenfalls widerstrebend oder sich widersetzend. Und die Lust
bzw. Unlust, die ich fühle, ist die Lust- oder Unlustfärbung der
Betätigung dieses gegenwärtigen Ich, das als dies gegenwärtige und
mit der Eigenart des gegenwärtigen in die Vergangenheit versetzt
ist und demnach zugleich als das vergangene sich betätigt. Ich
ftlhle Lust ond Unlust in der Betrachtung des vergangenen Ich
genau in dem Maße, als diese Betrachtung wirkliche und volle Be-
trachtung, d. h. volle »Versetzung« ist. Ich erlebe die vergangene
Lust, wie ich die vergangene Tätigkeit erlebe, deren Färbung die
Lust ist, d. h. so, daß ich sie in mein gegenwärtiges Ich aufnehme
oder hineinnehme. Und ich nehme sie hinein, so wie ich sie eben
als dies gegenwärtige Ich hineinnehmen kann, nämlich zustimmend
oder mich widersetzend. In jenem Falle fühle ich Lust, in diesem
Falle Unlust an der vergangenen Lust bzw. Unlust, genauer an
der vergangenen lustgefärbten bzw. unlustgefärbten Tätigkeit.
Im ersteren Fall ist die Identität qualitative Identität der zeitlich
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512
Th. Lippe,
getrennten lebe, im letzteren Falle tritt an die Stelle die quali-
tative Entzweiung des identischen Ich in sich seihst In jedem
Falle bleibt die eigenartige numerische Identität des Ich bestehen.
Wundert man sich darüber, daß hier numerische Identität statt-
findet bei aufgehobener qualitativer Identität und zeitlicher Nicbt-
identität, so erinnere man sich etwa an die Melodie, die auch, ab
eine und dieselbe Melodie, an dieser Stelle ihres Verlaufes quali-
tativ diese, an einer andern Stelle jene ist. Freilich diese
Identität der Melodie wurzelt, wie jede Identität überhaupt, in der
Identität des Ich, vielmehr sie ist im letzten Grunde nichts als
diese.
Ich rede noch etwas genauer: Jene qualitative Identität ist
nicht das, was wir sonst so nennen mögen, d. h. sie ist nicht
Gleichheit Sie ist dies so wenig, als jene Entzweitheit Ver-
schiedenheit ist. Gleichheit und Verschiedenheit erkennen wir.
Wir rinden sie, indem wir Gegenstände denken und denkend ver-
gleichen. Gleichheit nnd Verschiedenheit sind Denkkategorien
oder logische Kategorien. Hier aber handelt es sich um ein Er-
lebnis. Die Einheit, die hier in Frage steht, ist zunächst Einheit
des gegenwärtigen, also des unmittelbar erlebten Ich mit dem ver-
gangenen Ich. Indem aber das Ich, das mit dem vergangenen
als eines erscheint, erlebt wird, ist notwendig auch die Einheit
erlebt: Ich erlebe mich oder fühle mich eins mit mir, so wie ich
ehemals war. Und dies wiederum schließt in sich, daß auch das
Ich, womit ich mich, d. h. das gegenwärtige Ich, eins fühle, er-
lebt oder gefühlt wird. Jede Art der Einheit zwischen gedachten
Gegenständen ist gedacht oder gewußt. Und umgekehrt, jede
Einheit, die nicht eine bloße gewußte, sondern erlebte ist, ist eine
Einheit zwischen Erlebtem.
Und ebenso ist jene Entzweiung nicht gewußte Zweiheit von
Gegenständen, sondern erlebte Entzweiung: Ich fühle mich in mir
entzweit. Und so gewiß diese Entzweiung erlebt ist, so gewiß
ist das »Zweierlei« erlebt, d. h. auch hier ist das gegenwärtige
und das vergangene Ich erlebt
Mag ich mich aber mit dem vergangenen Ich eins , oder ent-
zweit fühlen, oder mag ich mich, indem ich das vergangene Ich
gegenwärtig habe, in mir — dem Ich, das beides zumal ist —
oder mit mir eins oder entzweit fühlen, in jedem Fall ist da»
vergangene Ich gedacht also gegenständlich, mir gegenüberstehend,
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Weitere» zur »Kiiifiihlnng«.
513
und doch zugleich erlebt. Dies ist seltsam. Aber dies Selt-
same macht eben das Wesen der Identität des Ich aus. Es liegt
in ihr dies, daß — in den beiden oben unterschiedenen Fällen —
das vergangene, also gegenständliche Ich erlebt ist. Es ist erlebt,
eben indem es gegenständlich ist. Es ist in mir, oder ist ich,
eben indem es mir gegenübersteht, und jedesmal in dem Maße,
als es als ein solchergestalt mir Gegenüberstehendes betrachtet
wird. Fühle ich mich mit dem vergangenen Ich entzweit, so ist
mir allerdings das vergangene Ich noch in einem besonderen Sinne
gegenständlich«, nämlich qualitativ. Es ist dies in der eigentüm-
lichen Weise, die ich nur so zu bezeichnen weiß : das vergangene Ich
dringt in mein gegenwärtiges ein, um von diesem, sofern es eben
nicht das gegenwärtige sein kann, abgewiesen, d. h. gefühlsmäßig
negiert zu werden. Dies heißt zugleich, es wird jetzt erlebt, und
es wird nicht erlebt. Es wird erlebt eben als das eindringende
und abgewiesene, oder als ein solches, das auch wiederum nicht
erlebt werden kann.
Und ebenso wie das vergangene Ich, so kann ich auch ein
zukünftiges Ich oder eine Tätigkeit des zukünftigen Ich, von der
ich weiß, in mich restlos aufnehmen, oder es jetzt positiv miter-
leben und ein andermal als in mich eindringend erleben, und es
abweisen, kurz negativ miterleben. Auch hier findet die merk-
würdige Tatsache statt, daß das betrachtete Ich, also das Ich, das
fllr mich Gegenstand ist, in sich selbst und in dem Maße, als es
Gegenstand der Betrachtung ist, ein erlebtes ist.
Und mit diesen beiden Möglichkeiten ist endlich völlig gleich-
artig die dritte: das Betrachten des fremden Ich oder des an ein
sinnlich Wahrgenommenes außer mir gebundenen Psychischen.
Es ist ein Betrachten und als Gegenstand Haben und eben damit
ein Erleben. Es ist das gleiche positive oder negative Miterleben.
Dies speziell nennen wir »Einfühlung«, und das positive Mit-
erleben nennen wir Sympathie, das negative mögen wir Anti-
pathie oder antipathisches innerliches Miterleben nennen.
Von solcher Sympathie weiß ich nicht, sondern ich fühle sie
oder erlebe sie. Und daß ich sie erlebe, heißt zugleich, daß ich
das erlebe, womit ich sympathisiere. Und die Lust aus der Sym-
pathie ist die Lustfärbung der Sympathie oder die Lustfärbung
der inneren Tätigkeit, in welcher das Sympathisieren besteht.
Um noch einmal auf das Witaseksche Beispiel zu kommen.
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514
Th. Lipp».
Nicht die Sorge des Fangt wird in mir zur lustvollen Sache, son-
dern das Sympathisieren mit ihr, das positive Hiterleben des in
solcher Weise sorgenden Faust.
Das hier Vorgebrachte bedurfte vielleicht, um vollkommen ein-
dringlich zu werden, einer weitergehenden Überlegung. Aber das
Gesagte genügt vielleicht, um anzudeuten, daß die Frage der Ein-
fühlung, wie schließlich jede psychologische Frage, zurückführt
auf die Fundamente der Psychologie.
Zum Verständnis dieser Fundamente ist aber vor allem eine
Einsicht erforderlich, nämlich die Einsicht, daß Psychologie treiben
in erster Linie heißt : alle Begriffe von sich abtun, die anderswoher
genommen sind als aus dem Gegenstand der Psychologie, d. h.
aus den jeweilig betrachteten Bewußtseinserlebnissen. Es gilt hier
das Baconsche oder im Baconschen Sinn genommene: Wenn
ihr nicht werdet, wie die Kinder, so werdet ihr nicht in das
Himmelreich kommen. Psychisches, wenn darunter Bewußtseins-
leben, also letzten Endes das Ich verstanden wird, ist etwas mit
nichts sonst in der Welt Vergleichbares; kein Wunder, wenn dies
auch von der Betrachtung des Psychischen oder der »anschau-
lichen Vorstellung« desselben gilt. Was in alle sonstigen oder
irgendwoher sonst geholten Begriffes nicht hineinpaßt, kann psy-
chologische Tatsache sein. Es fordert dann seinen psycholo-
gischen Begriff. Mag insbesondere die »anschauliche Vorstellung <
sonst vom Erleben noch so weit entfernt sein, dies hindert nicht,
daß die anschauliche Vorstellung eines Psychischen ein Erleben
ist. Und die anschauliche Vorstellung eines Psychischen, die in
der ästhetischen Betrachtung stattfindet, ist genau diese, und keine
andere Weise des Erlebens.
Ich komme jetzt noch einmal auf die »Wertgefühle« zurück
und betone darin das Wort >Wert«. Was heißt das: Ich habe
das Gefühl oder Bewußtsein — nicht der Lust, sondern des
>Wertes« ?
Nicht jede Lust an einem Gegenstand oder Sachverhalt, dem
ich Wirklichkeit oder Tatsächlichkeit zuerkenne, ist nach Aussage
meines Sprachgefühls ein Wertgefühl. Daß eine edle Tat ge-
schieht, dies hat Wert oder ist eine wertvolle Sache, nicht aber der
angenehme Geschmack einer kandierten Frucht. Kurz gesagt, sinn-
liche Annehmlichkeit ist nicht Wert. Die Psychologie sollte, so
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Weitere» zur »Einfühlung«.
515
meine ich, es ein für allemal unterlassen, Wertgefühl and Lust-
gefühl, mag anch dies letztere auf einem Urteil beruhen, oder ein
Urteil voraussetzen, einander gleichzustellen.
Sondern Wert kann nur Psychisches haben. Und aller Wert
eines Psychischen ist Wert einer innerlichen Selbstbetätigung oder
Weise der Aktivität. Alles Wertgeftthl entsteht, indem ich solche
Aktivität erlebe, sei es idiopathisch oder sympathisch, aus meinen
eigenen inneren Widerfahrnissen heraus geboren, oder durch die
Wahrnehmung fremder Lebensäußerungen ins Dasein gerufen und
darum >in einem andern« objektiviert.
Dies Gefühl der Aktivität nennen wir Selbstgefühl. Das Ge-
fühl der starken, reichen und freien, d. h. mit sich selbst einstim-
migen Aktivität ist das positive Selbstgefühl oder das Selbstgefühl
im prägnanten Sinne. Solches Selbstgefühl ist in sich lustgefärbt
oder ist eine Art des Lustgefühls. Nicht irgendeine Art des-
selben, sondern seine höchste Art. Alles positive Wertgefühl ist
also entweder in mir selbst begründetes, oder objektiviertes posi-
tives Selbstgefühl.
Und derart ist nun insbesondere alles ästhetische Wertgefühl.
Dasselbe entsteht, indem ich in einem sinnlichen Objekt mich
selbst positiv betätige. Es ist Gefühl der Betätigung oder des
Sichauswirkens meiner selbst in einem sinnlichen Objekt. Es
besagt, daß ich meines Menschseins in dem sinnlichen Objekt
oder in der betrachtenden Hingabe an dasselbe innewerde. Die
Höhe des ästhetischen Wertes ist die Höhe dieses Innewerdens
meines Menschseins, der Kraft, des Reichtums und der inneren
Freiheit desselben. Der Genuß des schönen Obje'ktes ist die Be-
friedigung der in mir wohnenden Sehnsucht, irgendwie mich posi-
tiv als Mensch zu fühlen.
Endlich füge ich den vorstehenden Darlegungen noch zwei, die
Einfühlung betreffende Bemerkungen hinzu. Die erste ist von
entscheidender psychologischer und erkenntnistheoretischer
Bedeutung. Alles Eingef Uhlte ist der Tendenz nach für mich ein
empirisch Wirkliches. Und umgekehrt, alles Bewußtsein, daß es
ein Psychisches außer mir gebe, mein Bewußtsein etwa, daß ein
Gefühl der Freude in einem andern tatsächlich sich finde, ist seinem
Ursprünge nach Einfühlung, oder ist Objektivierung eines durch
eine fremde Lebensäußerung in mir geweckten eigenen Gefühles.
f
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516
Th. Lipps.
Indem die Einfühlung die Tendenz des Eingefühlten, mir als
etwas empirisch Wirkliches zu erscheinen, in sich schließt, wird
die Einfühlung zu einer Erkenntnisquelle. Sie ist die Quelle für
all mein Bewußtsein der Wirklichkeit eines Psychischen außer
mir, so wie die innere Wahrnehmung die Quelle ist für die Er-
kenntnis des Psychischen in mir, die sinnliche Wahrnehmung die
Quelle der Erkenntnis des Sinnlichen außer mir.
Jener Satz, daß die Einfühlung die Tendenz des Eingefühlten,
mir als wirklich zu erscheinen, oder subjektiv gewendet, daß die
Einfühlung der Tendenz nach empirisches Wirklichkeitsbewußtsein
ist, ist aber wiederum eine Spezialisierung eines allgemeinsten
psychologischen Grandsatzes, der unmittelbar neben jenes oben-
erwähnte allgemeinste psychologische Grundgesetz tritt und dieses
ergänzt, nämlich des Satzes, daß jeder vorgestellte Gegen-
stand, an sich betrachtet, die Tendenz in sich BchLießt,
für mich ein empirisch wirklicher zu sein. An sich be-
trachtet, dies heißt wiederum, wenn die fragliche Tendenz von
Gegentendenzen, d. h. von gleichartigen Tendenzen der Gegen-
vorstellungen, befreit ist1).
Die Einfühlnng hat nun aber, wie wir sahen, dies Eigentüm-
liche, daß in ihr die Vorstellung des Eingefühlten von solchen
Gegentendenzen befreit ist. Es liegt dies, wie wir sahen, in dem
Umstände, daß das Eingcfühlte .ästhetische Wirklichkeit« besitzt.
Daraus ergibt sich, daß dem Eingefühlten die Tendenz, als empi-
risch wirklich zu erscheinen, allgemein eignen muß. Dies dürfen
wir auch so ausdrücken: Alles ästhetisch Wirkliche tendiert, für
mich ein empirisch Wirkliches zu sein.
Diese Tendenz und die oben behauptete Tendenz alles ästhe-
tisch Wirklichen, ein von mir voll Erlebtes zu sein, gehen Hand
in Hand. Ja sie bezeichnen zwei Seiten einer und derselben all-
gemeinsten psychologischen Grundtatsache.
Doch müssen wir nun zu jener Tendenz des Eingefühlten, als
ein empirisch Wirkliches zu erscheinen, noch einen einschränkenden
Zusatz machen. Soll ein ästhetisch Wirkliches für mich tatsäch-
lich ein empirisch Wirkliches werden, so ist noch eines voraus-
gesetzt, nämlich die empirische Apperzeption, oder die Frage
nach der empirischen Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit.
1: Leitfaden der Tsycholotfie S. 218 ff.
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Weiteres zur »Einfühlung«.
517
Diese Frage nun ißt bei der ästhetischen Betrachtung aus-
geschlossen. Darum kann in ihr die bezeichnete Tendenz sich
nicht verwirklichen. Hier ist der Punkt, wo sich Ästhetische und
praktische Einfühlung voneinander scheiden1). Die letztere ist die
mit dem Bewußtsein der Wirklichkeit des Eingefühlten verbundene.
Die ästhetische Einfühlung ist davon frei. Der Gegensatz der
empirischen Wirklichkeit and NichtWirklichkeit ist bei ihr aufge-
hoben im unmittelbaren Erleben.
Die zweite der Bemerkungen, die ich oben ankündigte, betrifft
den Gegensatz der Gefühle, die ich einfühle und habe in einem
Gegenstände, und derjenigen, die ich habe angesichts eines
Gegenstandes. In der Einfühlung ist mein Gefühl oder mein un-
mittelbar erlebtes inneres Verhalten das Gefühl oder Verhalten
des Gegenstandes, in welchen ich mich, oder meine innere Be-
tätigung einfühle. Fühle ich mich strebend in der Säule, so ist
mein Streben das Streben der Säule.
Von diesem meinem Streben in der Säule nun ist grundsätzlich
verschieden mein Streben nach etwas; etwa nach physischer Auf-
richtung oder nach Zertrümmerung der Säule. Oder ein anderes
Beispiel : Fühle ich mein Lachen, d. h. meine Freude und innere
Heiterkeit, ein in das Blau des Himmels, dann lacht dieses Blau
des Himmels. Ich lache in ihm; mein Lachen ist sein Lachen.
Davon wiederum grundsätzlich verschieden ist dies, daß ich Uber
etwas lache oder an etwas meine Freude habe, durch etwas in
einen Zustand innerer Heiterkeit versetzt werde.
Noch einen anders gearteten, aber doch analogen Fall füge
ich geflissentlich hinzu: Wenn ich sage, ich glaube an Gott, oder
an eine historische Tatsache, so heißt dies, ich halte Gott oder
die historische Tatsache für wirklich. Einen davon völlig ver-
schiedenen Sinn dagegen hat es, wenn ich sage, ich glaube an
eine Behauptung, die ich höre. Dies will nicht sagen, ich glaube,
daß die Behauptung wirklich stattfinde, sondern, was ich tatsäch-
lich meine, würde ich richtiger ausdrücken in dem Satze: Ich
glaube in der Behauptung, d. h. mein Glaube ist der in der Be-
hauptung liegende oder darin zum Ausdruck kommende. Er ist
der Glaube an den in der Behauptung behaupteten Sachverhalt.
1) Über diesen Gegensatz vgl. Ethische Grundfragen, 2. Aufl. (im Er-
scheinen begriffen). Erster Vortrag.
Archiv für Puyehologrie. IV. H4
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518
Th. Lippe.
Dieser Gegensatz nun wird uns verständlich, wenn wir uns des
Wesens der Einfühlung erinnern, und gleichzeitig uns bewußt
werden, was im Unterschiede davon die Lust an etwas, das Stre-
ben nach etwas, das Glauben an einen Gegenstand oder Sach-
verhalt eigentlich besagen will.
Habe ich Lust > an < einem Gegenstande, so bin ich durch den
Gegenstand bestimmt, die Lust ist in dem Gegenstand > gegründete,
sie »gilt< von ihm; die Lust, das will sagen: Die innere Tätig-
keit der Zuwendung, die, weil sie Tätigkeit der Erfassung eines
solchen Gegenstandes ist, Lustfärbung an sich trägt, ist von dem
Gegenstand gefordert; sie ist die Erfüllung einer objektiven, d. h.
einer Gegenstandsforderung. Ebenso ist mein Streben nach einem
Gegenstand ein Streben um des Gegenstandes willen, d. h. ein im
Gegenstand begründetes oder von ihm gefordertes. Es ist wieder-
um die Erfüllung einer Gegenstandsforderung. Und mein Glaube
an eine Tatsache endlich ist die Erfüllung der Forderung eines
Gegenstandes oder Sachverhaltes, für mich ein geltender zu sein.
Es ist die Anerkennung einer solchen Forderung. Die Beziehung
zwischen Gegenständen und mir, die ich hier kurz als Erfüllung
einer Gegenstandsforderung bezeichne, macht den spezifischen Sinn
der Lust an etwas, des Strebens nach etwas, des Glaubens an
etwas aus.
Von dieser Beziehung nun ist die Beziehung zwischen mir und
dem sinnlichen Gegenstand, in welchem ich Lust fühle, strebe,
glaube, durchaus verschieden. Hier ist nicht die Rede von einer
Forderung des Gegenstandes. Sondern die Einfühlung besagt, wie
wir gesehen haben, daß die Auffassung eines sinnlichen Gegen-
standes in sich selbst zugleich die Tendenz ist, mich in bestimmter
Weise innerlich zu betätigen, daß, letzten Endes vermöge eines
nicht weiter zurückftthrbaren Instinktes, dies beides, die Erfas-
sung eines sinnlichen Gegenstandes und eine bestimmte Weise
meiner eigenen inneren Betätigung, ein und derselbe Akt ist, eine
einzige innere Betätigungsweise.
Jene Beziehung zwischen der Forderung von Gegenständen und
meiner Erfüllung oder Anerkennung ist eine logische, wenn dies
Wort im weiteren Sinne genommen wird. Dem logischen Gebiet
in diesem weiteren Sinne gehört jedes Objektivitäts- oder Gegen-
standsbewußtsein, oder jedes Bewußtsein des Begrtindetseins in
einem Gegenstande an.
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Weiteres zur »Einfühlung f.
519
Diese Einfühlungsbeziehung dagegen ist eine rein psycho-
logische. Sie ist, wie gesagt, die Einheit oder das Ineinander
meines Erfassens und einer anderweitigen, darüber hinaus-
gehenden Art meiner inneren Betätigung. Das Bewußtsein jener
Beziehung, etwa das Bewußtsein der Lust an einem Gegenstand,
setzt die »Apperzeption« des Gegenstandes, nämlich die Apperzeption
im Sinne der einfachen Erfassung, voraus, d. h. es setzt voraus,
daß der Gegenstand für mich Gegenstand oder von mir gedacht
ist. Sie ist eine Wechselbeziehung zwischen dem mir gegenüber-
stehenden Gegenstand und mir. Die Einfühlungsbeziehung dagegen
ist in der Erfassung des Gegenstandes zugleich mitgegeben oder
liegt im Akt der Erfassung unmittelbar enthalten. Indem jene
Weisen meiner Betätigung, die Heiterkeit, das Streben, der
Glaube, an diese Erfassung gebunden oder mit den Akt der-
selben ein einziger Akt sind, nehme ich dieselben, nehme ich
also mich, der in solcher Weise sich betätigt, d. h. mich, den
Heiteren, Strebenden, Glaubenden, in den erfaßten Gegenstand
hinein, kurz, fühle mich oder diese Betätigungsweise meiner in den-
selben ein.
So entsteht der Gegensatz zwischen der Lust angesichts eines
Gegenstandes oder dem Gegenstand gegenüber, und der Lust in
dem Gegenstand ; zwischen dem Strebeu nach dem Gegenstand und
dem Streben in demselben ; zwischen dem Glauben an einen Satz,
d. h. dem Glauben, daß der Satz existiert, und dem Glauben
in einem Satze, d. h. dem Glauben, daß dem im Satze Gemeinten
Geltung zukommt, kurz der Gegensatz zwischen Erlebnissen an-
gesichts, und Erlebnissen in einem Gegenstande.
(Eingegangen am 29. November 1904.)
34*
Experimentelle Untersuchung der visuellen und
akustischen Erinnerungsbilder, angestellt an Schul-
kindern.
Von
R. H. Pedersen, M. S.,
Lehrer an der VolköBchule in Kopenhagen.
Mit 2 Figuren im Text)
Seit Charcot auf Grundlage von Studien Uber pathologische
Fälle zum erstenmal die Aufmerksamkeit auf die verschiedenen
Gedächtnistypen hinleitete, ist eine große Literatur über diesen
sowohl in psychologischer als in pädagogischer Beziehung höchst
interessanten Gegenstand erschienen. Durch zahlreiche Unter-
suchungen ist die Existenz der von Charcot aufgestellten Hanpt-
typen: des indifferenten, visuellen, akustischen und motorischen
Typus mit Sicherheit festgestellt; es ist aber noch nicht mit der-
selben Sicherheit entschieden, wie verbreitet jeder von diesen
gefunden wird. Der indifferente Typus wird als der häufigst
vorkommende angenommen. Kucksichtlich des akustischen und
visuellen Typus herrscht etwas Uneinigkeit, die meisten Psycho-
logen aber sehen den ersten als den gewöhnlichsten an. In reiner
Form soll er nach Ribots Meinung selten sein. Der motorische
Typus wird fttr den seltensten gerechnet, vielleicht doch mit Un-
recht, indem er weniger beachtet gewesen ist als die andern und
der schwierigst zugängliche für Untersuchungen ist.
Die endliche Lösung dieser wie anderer hierhin gehörenden
Fragen, z. B. ob die Typen willkürlich durch Übung ausgebildet
werden können, welche Ansicht Meumann vertritt1), oder ob sie
wesentlich durch erbliche Anlagen bestimmt sind, wie Ribot
I E. Meuraann, Über Ökonomie und Technik des Lernen». Leipzig 1903.
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Expertin. Untersuchung der viBuellen und akustischen Erinnerungsbilder. 521
meint, wird offenbar von der Möglichkeit, ob sichere Bestimmungs-
methoden sich finden lassen, abhängen. Solche ganz zuverläs-
sige Methoden sind wohl noch nicht bekannt, man darf aber
hoffen, daß das Problem, jedenfalls was den visuellen and
akustischen Typus betrifft, in naher Zukunft gelöst werden
kann.
In dem Folgenden werden in Kürze einige Arbeiten von rein
experimentaler Natur zur Bestimmung der verschiedenen Typen
erwähnt werden.
Ein häufig benutztes Verfahren geht darauf aus, durch Hilfe
von diktierten Wörtern die Art der Assoziationen, welche bei den
Versuchspersonen erweckt werden, zu untersuchen. Die Methode
ist von Ribot1) und Dugas2) benutzt worden.
Ribot Btellt auf Grundlage seiner Untersuchungen drei Typen
auf : den konkreten, den auditiven und den- typographisch-visuellen
Typus. Der erste ist dadurch charakterisiert, daß das abstrakte
Wort ein Bild erweckt, in der Regel ein visuelles, nicht aber
Wortlaut oder Wortbild. Der Typus ist allgemein unter Frauen
und Kindern. Der typographisch-visuelle Typus kennzeichnet sich
dadurch, daß wesentlich nur das gedruckte Wortbild erweckt
wird.
Von dieser Methode kann man kaum erwarten, daß sie sehr
exakt ist, sie wird unter keinen Umständen gegenüber Personen
angewandt werden können, welche die Analyse ihres Bewußtseins-
zustandes nicht gewohnt sind.
Folgende Methode ist von Stetson ') und A. Netschajeff4)
angewandt worden. Es wurde den Versuchspersonen eine Reihe
von Fragen vorgelegt, aus deren Beantwortung die verschiedenen
Typen hervorgehen sollten. So stellte Netschajeff folgende
Fragen an seine Versuchspersonen, alle Schüler in verschiedenem
Alter:
1 Ribot, Enqcte sur leB ldeee gencrales. Revue philosoph. 1891.
2; Dugas, Recherche» expcriincntales sur les difterents types d'imagett
Revue philosoph. 1895.
3 Stetson, Typos of Imagination. Psychologie*] Review. Juli 1896.
4j A. Netschajeff, Experimentelle Untersuchungen über die Gedächtnis-
entwicklung bei Schulkindern. Zeitschrift für Psychol. und Physiol. der
Sinnesorgane. XXIV. S. 321; und A. Netschajeff, Über Memorieren.
Sammlung von Abhandlungen aus dem Gebiete der pädagogischen Psycho-
logie und Physiologie. 1902.
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522
R. H. Pederscn,
1) Wie finden Sie es leichter, eine Lektion zn lernen — leise
oder mit lanter Stimme?
2) Wie finden Sie es leichter, eine Schularbeit zu lernen — nach
dem Buche oder nach dem Gehör?
3) Was ziehen Sie vor, wenn Sie eine Lektion nach dem Buche
präparieren — dieselbe schweigend durchzulesen oder die Wörter
nachzusprechen?
4) Erinnern Sie sich, auf welcher Seite des Boches die Lektion
abgedruckt ist, wenn Sie Ihre Aufgabe hersagen? Erinnern Sie
sich vielleicht, ob die Lektion rechts oder links abgedruckt war?
5) Stellen Sie sich die Lettern des Buches vor, wenn Sie eine
Lektion hersagen?
Der Verfasser stellt durch Analyse der Antworten sieben Typen
auf, nämlich außer den vier früher erwähnten einen motorisch-
akustischen, einen visuell -motorischen und einen visuell -akusti-
schen Typus.
Aach diese Methode scheint nicht besonders sichere Resultate
geben zu können, besonders wenn sie wie hier an Kindern oder
ganz jungen Leuten angewandt wird.
Mehr exakt ist J. Cohn1) zu Werke gegangen. Er benutzte
ein Schema, bestehend aus zwölf Buchstaben, geordnet in vier
Reihen. Die Buchstaben wurden in einer gewissen Zeit unter
verschiedenen Bedingungen gelesen. 1) Die Buchstaben wurden
laut von den Vp. gelesen ; k2) die Vp. betrachteten die Buchstaben,
indem sie die Sprech bewegung unterdrückten; 3) die Buchstaben
wurden unter gleichzeitigem Hersagen eines Vokals gelesen;
4) unter gleichzeitigem Zählen von 1 bis 20; oder 5) unter Her-
sagen einer komplizierten Zahlenreihe.
Bei der Untersuchung darüber, durch welche Bedingungen das
beste Resultat unter den zwei ersten Versuchen erreicht würde»
und wieviel der störende Einfluß nuter den übrigen Versuchen
den verschiedenen Vp. gegenüber sich geltend machte, glückte es
dem Vcrsuchsleiter, dieselben in visuelle und akustisch-motorische
zu unterscheiden.
Von den erwähnten Methoden ist keine, die sich besonders zur
1 J. Cohn, Experimentelle Untersuchungen Uber das Zusammenwirken
des akustisch-motorischen und des visuellen Gedächtnisses. Zeitschrift für
Psycho!, und Fhysiol. der Sinnesorgane. XX. S. 161.
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Experim. Untersuchung der visuellen and akustischen Erinneron^sbikler. 523
Anwendung gegenüber Vp. eignet, welche nicht darin gettbt sind,
ihren Bewußtseinszustand zu analysieren, oder im psychologischen
Experiment so gettbt sind, daß sie imstande sind, gewisse Vcr-
suchsbedingungen zu befriedigen, wie z. B. die von J. Cohn be-
natzten. Ungeübten Personen gegenüber mnß die Methode von
einer solchen Beschaffenheit sein, daß man nur von ihnen ver-
laugt, was sie unter ganz gewöhnlichen Verhältnissen gewohnt sind
zn leisten. Besonders schwierig ist das Verhältnis Kindern gegen-
über, deren Aussage über ihren psychischen Zustand man nicht
Glauben schenken kann. Soll man deshalb eine Methode zum Ge-
brauch für diese finden, so muß man dazu die Forderung stellen, daß
sie nichts für sie Ungewohntes oder Neues fordert; denn solches
würde, besonders den schwach begabten Kindern gegenüber, deren
psychischen Zustand zu untersuchen nicht weniger interessant
ist, leicht ein falsches Bild der faktischen Verhältnisse geben
können.
Mit diesen Forderungen vor Augen, habe ich eine Reihe Ver-
suche über die Genauigkeit der Gesichts- und Gehörserinnerungs-
bilder der Kinder angestellt und daraus Schlüsse rücksichtlich der
Typen gezogen, zu welchen sie gehören. Die Versuche betreffen
jedoch nur den visuellen und den akustischen Typus. Die Vp.
waren Knaben, Eleven in der Volksschule im Alter von 10 bis
11 Jahren. Sie waren folglich wohlgeübt im Lesen und Schreiben.
Bei der Untersuchung der Gesichtserinnerungsbilder verfuhr ich
folgendermaßen: Aus einem englischen Lexikon wählte ich etwa
500 Wörter zu sieben Buchstaben, wie z. B. Borough, fifthly, anights,
samtlich Wörter, welche schwierig auszusprechen sind, und deren
Orthographie ziemlich verschieden von der Aussprache ist; sie
waren natürlich den Kindern ganz unbekannt. An jedem Ver-
suchstage wurden aufs Geratewohl 15 Wörter ausgesucht, nie
mehr, damit die Kinder nicht müde würden, und jedes Kind
erhielt ein Blatt Papier, auf welches die Wörter geschrieben
werden sollten. Darauf überzeugte ich mich davon, daß die
Kinder von ihren Plätzen deutlich die Stelle der Klassentafel, auf
welche ich schreiben wollte, sehen konnten, wonach eine große
Pappplatte vor der Tafel aufgestellt wurde, damit die Kinder
nicht sehen konnten, waB ich darauf schrieb. Dann schrieb ich
mit Kreide eins der ausgewählten Wörter mit großen, deutlichen
Buchstaben, und nachdem ich ein Signal gegeben und zur
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524 R- H. Pedersen,
weiteren Sicherheit mich davon überzeugt hatte, daß alle Kinder
ihren Blick gegen die Tafel gerichtet hatten, wurde die Papp-
platte weggenommen. Die Kinder betrachteten das Wort einige
Sekunden (5 oder 10), wonach die Platte wieder vor die Tafel ge-
stellt wurde, und die Kinder das Wort niederschrieben. Anf diese
Weise wurde fortgefahren, bis alle 15 Wörter geschrieben waren.
Die Expositionszeit war, wie gesagt, teils 5, teils 10 Sekunden;
denn ich wollte gern wissen, ob 10 Sek. ein besseres Resultat
als 5 Sek. gäben. Um die Übung zu eliminieren, stellte ich
den einen Tag Versuche mit 5 Sek., den folgenden solche mit
10 Sek. an.
Um den Einfluß der Übung zu finden, habe ich das Versuchs-
material für beide Versuchszeiten in vier gleichgroße Teile geteilt
und die Fehler in Prozent für jedcB Viertel berechnet. Die
Prozentzahlen sind hier, wie überall, von der Anzahl der falsch
geschriebenen Buchstaben im Verhältnis zu sämtlichen Buch-
staben berechnet. In der Tabelle I und II wird das Resultat ge-
funden. Was das Kind Nr. 24 betrifft, so ist keine Berechnung an-
gestellt; die erwähnten Tabellen sind etwas später als die Übrigen
berechnet, und in der Zwischenzeit war das Material für dieses
Kind verloren gegangen. Für die Berechnung der Durchschnitts-
zahlen von Fehlern hat dies jedoch keine Bedeutung.
Die Durchschnittszahlen für die vier Viertel sind für die Ver-
suche mit 5 Sek. bzw. 5,03, 4,13, 3,19 und 2,97 Prozent, was
mit dem allgemeinen Übungsgesetze Ubereinstimmend ist. Man
kann die Übung nach der ersten Hälfte als abgeschlossen be-
trachten. Dagegen zeigen die Versuche mit 10 Sek. einige Un-
regelmäßigkeiten, denn die Fehler für die vier Teile sind bzw.
3,54, 3,88, 2,79 und 3,19 Prozent. Hier haben also andere Fak-
toren als die Übung Einfluß auf das Resultat gehabt. Die Zeit
ist wahrscheinlich zu lang gewesen, und die Kinder haben nicht
das Interesse so lange bewahren können. Deshalb habe ich die
Versuche mit 5 Sek. für die folgenden Berechnungen zugrunde
gelegt.
In den Tabellen HI und IV findet man das Kesultat beider
Versuchsreihen. Die Anzahl der Fehler variiert von 0,18 % bis
10,53 %. Vergleicht man die Tabelle m und IV, so sieht mau,
daß nur Nr. 9 und Nr. 20 größeren Nutzen von der längeren Zeit
gehabt haben, was offenbar damit in Verbindung steht, daß
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Experim. Untersuchung der visuellen und akustischen Erinnerungsbilder. 527
sie recht langsam lesen; die andern zeigen nur geringen Fort-
schritt oder sogar Rückgang.
Die mittleren Fehler für sämtliche Schüler sind für die zwei
Expositionszeiten 4,08 bzw. 3,54. Der ganze Fortschritt bei den
Versnchen mit 10 Sekunden beträgt also nur 0,54 % und rührt
wahrscheinlich von den akustischen Kindern her. Denn wenn die
in dem Folgenden gemachte Einteilung der Kinder in visuelle und
akustische benutzt wird (was jedoch in Betracht der Unregelmäßig-
keiten, welche Tabelle II bei der Berechnung der Übung zeigte,
nur mit einigem Vorbehalt gemacht werden darf), und wenn man
die Durchschnittszahlen der beiden Expositionszeiten nimmt, so
bekommt man untenstehendes Resultat:
Visuelle: Akustische:
5 Sekunden: 2,85 # 5,86 %
10 Sekunden: 2,82 % 4,59 %.
Man bemerkt, daß nur die akustischen Kinder aus der längeren
Zeit Vorteil haben; die visuellen machen ebensoviel Fehler bei
den Versuchen mit 10 Sek. als bei denen mit 5 Sek. Dies kann
dadurch erklärt werden, daß die visuellen beim wiederholten
Lesen des Wortes in den 10 Sek. Bich vom Wortlaut stören lassen,
weil die Wörter anders ausgesprochen als buchstabiert werden.
Ein Typus kommt ja nur selten in reiner Form vor. Außer den
Erinnerungsbildern, welche vorherrschen und den Typus bestimmen,
werden gewöhnlich auch Bilder aus andern Sinnesgebieten sich
geltend machen, aber weit weniger stark als jene. Der Visuelle
wird sich also nicht ausschließlich, sondern nur überwiegend der
Gesichtsbilder bedienen; auch akustische und motorische Bilder
gehen, aber in schwächcrem Grade, in seine Erinnerungsbilder ein.
Die akustischen Kinder dagegen, welche das Wortbild ins
Lautbild umsetzen, werden beim wiederholten Lesen des Wortes
in den 10 Sek. von keiner störenden Einwirkung beeinflußt Im
Gegenteil, sie müssen bei der Wiederholung auch einigen Nutzen
aus dem Gesichtsbild ziehen, und deswegen machen sie weniger
Fehler in den lang exponierten, als in den kurz exponierten -Wörtern.
Bei der Untersuchung Uber die Gehörserinnerungsbilder be-
nutzte ich ebenfalls den Kindern unbekannte Wörter, welche
sieben Buchstaben enthielten, deren Orthographie aber mit der
Aussprache ganz übereinstimmte. Jeden Versuchstag suchte ich
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528
Ii. H. Pedereen,
15 Wörter aus. Jede» Wort wurde einmal recht laut, langsam
und deutlich den Kindern vorgesprochen, und dann von diesen
niedergeschrieben. Bei der Berechnung der Fehler nahm ich
natürlicherweise auf Verwechselungen der Laute, die ein normales
Ohr schwer unterscheidet, keine Rücksicht. Die Prozeutzahlen
der Fehler liegen zwischen 1,12 und 10,56 %.
Die Tabellen III und V bilden die Grundlage zur Unterscheidung
der visuellen und akustischen Kinder, wozu uns die folgende Be-
trachtung fuhrt. In den Versuchen mit den Sehwörtern konnten
die Kinder, wenn sie die Wörter niederschrieben, sowohl von den
Gesichts- als von den Gehörserinnernngsbildern sich leiten lassen.
Die akustischen, welche in Ubereinstimmung mit dem Wortlaut
schreiben, hatten während des Niederschreibens nur geringen
Nutzen von den Gesichtsbildern, welche sie sogleich in Lautbilder
umsetzten, und sie mußten folglich mehr Fehler begehen bei den
Sehwörtern, welche nicht ihrer Orthographie gemäß ausgesprochen
werden, als bei den Gehörwörtern, bei welchen das Lautbild ge-
nügt. Das akustische Kind ist geneigt, bei den Sehwörtern stumme
Buchstaben zu vergessen, gleichlautende Buchstaben, wie c und s,
b und p, zu verwechseln usw. Die visuellen Kinder dagegen,
welche meistens nach dem Gesichtsbild schreiben, sind mehr vor
diesen Fehlern geschützt, und machen weniger Fehler in den
Sehwörtern als in den Gehörwörtern. Bei den letzteren sind sie
in einer schwierigen Lage, weil sie nicht daran gewöhnt sind, sich
nach dem Lautbild zu richten. Macht also ein Kind weniger
Fehler in den Seh Wörtern als in den Gehörwörtern, so ist es visuell;
wenn dagegen das Umgekehrte der Fall ist, akustiBch. Vergleicht
man Tabelle III mit Tabelle V, was ohne weiteres erlaubt werden
kann, weil die zwei Durchschnittszahlen der sämtlichen Prozent-
zahlen der Fehler für Seh- nnd Gehörwörter (wie die Tabellen
zeigen) ungefähr einander gleich sind (4,08 bzw. 4,04 %), dann
geht daraus hervor, daß die ersten 16 Schüler die wenigsten Fehler
in den Seh Wörtern machen, weshalb sie als überwiegend visuell
zu betrachten sind. Die übrigen sind überwiegend akustisch.
Nimmt man die Durchschnittszahlen der Fehler für die visuellen
und die akustischen, so bekommt man folgendes Resultat:
Visuelle:
Akustische:
Sehwörter: 2,85 %
Gehörwörter: 4,03 %
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Experim. Untersuchung der visuellen and akustischen Erinncnmpsbilder. 529
Was die Gehörwörter betrifft, sind also die Visuellen und die
Akustischen einander gleich. Obwohl man hätte erwarten können,
daß die ersteren den letzteren nachstehen werden, ist der Befnnd
jedoch deswegen nicht als unrichtig zn betrachten; denn es ist
möglich, daß die Visuellen trotz ihrer vorherrschenden Gesichts-
erinnerungsbilder gleichwohl ebenso gute Gehörserinnerungsbilder
wie die Akustischen besitzen können.
Bei den Sehwörtern machen die Visuellen 1,18 % weniger
Fehler, die Akustischen 1,80 % mehr als bei den Gehörwörtern.
Übrigens streitet das Resultat gegen die gewöhnliche Annahme,
daß die meisten Menschen akustisch sind. Es ist möglich, daß
die hier angewandte Methode den Gesichtserinnerungsbildern ein
zu großes Gewicht im Verhältnis zu den Gehörserinnerungsbildern
gewährt, aber die Nichtubereinstimmung kann auch darin ihren
Grund haben, daß der indifferente Typus in den beiden Typen
enthalten ist. Auch ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß
die Verbreitung der Typen in den verschiedenen Ländern sehr
verschieden ist. Falls der Unterricht großen Einfluß auf die Aus-
bildung der Typen hat, ist es nicht unwahrscheinlich, daß unter
den Dänen die Visuellen in der Mehrzahl sind.
Nachdem ich die Kinder auf diese Weise in visuelle und
akustische gesondert hatte, stellte ich für mehrere Unterrichts-
fächer eine Berechnung der Zensuren an, welche die Kinder im
Lanfe des ganzen Schuljahres bekommen hatten, um zu sehen, ob
es möglich wäre, zwischen dem oben gefundenen Ergebnis nnd
den Leistungen der Kinder in den verschiedenen Fächern eine
Ubereinstimmung zu finden. Zwar sind die Zensuren gewöhnlieh
ein minderwertiges Material, um daraus sichere Schlüsse zu ziehen,
wenn aber die Durchschnittszensuren des ganzen Jahres zugrunde
gelegt werden, dann ist zu erwarten, daß man ein annähernd treues
Bild von dem Stand der Leistungen der einzelnen Kinder bekommt.
Außerdem habe ich selbst die Zensuren gegeben (ausgenommen
die fttr Schreiben und Zeichnen), und ich habe mich immer be-
müht, bei jeder Prüfung die Kenntnisse der Kinder genau zu be-
urteilen. Auch wird die Bemerkung nicht Überflüssig sein, daß
den Kindern niemals häusliche Arbeit aufgegeben wurde. Sie waren
also darauf angewiesen, sich ihre Kenntnisse in den Unterrichts-
stunden zu erwerben; sie arbeiteten folglich alle unter denselben
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530
R. H. Pedersen,
Bedingungen, und die Zensuren sind, so weit als möglich, eine
Beurteilung ihrer Beanlagungeu, und darauf kommt es in diesem
Zusammenhang an. Die Berechnung des Versuchsmaterials habe
ich erst am Schlüsse des Schuljahres angestellt, damit die Resultate
derselben auf mein Zensurgeben keinen Einfluß ausüben könnten.
Die Zensuren findet man in Tabelle VI. Die benutzte Zensuren-
skala umfaßt 19 Zensuren, von welchen 18 die beste, 0 die
niedrigste ist. Im folgenden werden die Zensuren überall mit
Zahlen bezeichnet. Einem Schüler, Nr. 13, sind keine Zensuren in
drei Fächern gegeben, weil er einen großen Teil des Jahres krank
gewesen war. ,
Nimmt man die Durchschnittszensuren jedes Faches, so bekommt
man folgendes Resultat:
Visuelle:
Akustische:
Orthographie :
12,7
11,2
Geschichte:
12,6
15,0
Geographie :
13,6
13,8
Naturgeschichte:
14,6
15,5
Zeichnen :
13,1
11,9
Schreiben :
12,9
12,3
Bezüglich der Orthographie sind, wie zu erwarten war, die
Visuellen die geschicktesten; dagegen werden sie in Geschichte
von den Akustischen übertroffen. Auch letzteres ist sehr ver-
ständlich, denn Geschichte ist hauptsächlich akustischer Natur.
Was Geographie und Naturgeschichte betriff*, sind beide Teile
einander mehr gleich, was damit Ubereinstimmt, daß die zwei
Fächer mehr gleichmäßig Gesichts- und Gehörserinnerungsbilder
in Anspruch nehmen. Doch dürfte man erwarten, daß die Visuellen
die Akustischen übertreffen würden, weil das visuelle Moment in
beiden Fächern überwiegt.
Auch für Zeichnen und Schreiben ist eine Zensurenberechnung
angestellt. Denn vorausgesetzt, daß eine Person, welche einem
Typus angehört mit Bezug auf die Worterinnerungsbilder, auch
demselben Typus in seinem übrigen Erinnerungsgehalt zugehörig
ist, darf man vermuten, daß die Visuellen den Akustischen in den
beiden Fächern überlegen sind1). Die erwähnten Fächer machen
1) Obwohl Prof. Heumann in >Über Ökonomie und Technik des
Lernens« die Ansicht vertritt, daß man in seinen gegenständlichen Vor-
stellungen einem andern Typus als in seinen wörtlichen angehören kann.
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Prozentzahlen der Fehler
bei den Sehwörtern
Prozentzahlen der Fehler
bei den Gehörwörtern
Orthographie
Zeichnen
s
2 Schreiben
S l Geschichte
N Naturgeschichte
Geographie
Durchschnittszensuren >
für sämtliche Unter-
richtsfächer mit Aus-
nahme von Zeichnen
und Schreiben / 1
531
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Ö32 R. H. Pedersen.
indessen nicht nur Anspruch anf die visuellen Erinnerungsbilder,
sondern auch auf die motorischen, welche hier nicht beurteilt
werden können. Das Resultat zeigt, daß die Visuellen ein geringes
Ubergewicht haben, jedoch sehr unbedeutend, was das Schreiben
betrifft. In diesem Fach herrscht aber auch das motorische Ele-
ment so sehr vor, daß das visuelle ganz in den Hintergrund tritt.
0
12 3'iS0789 iQ
Fig. L
Die graphischen Darstellungen in Figur 1 und 2 geben eine
gute Übersicht Uber das Verhältnis zwischen den Durchschnitts-
zensuren für die Schüler und den Resultaten der Versuche, be-
treffend ihre Gesichts- und Gehörscrinnerungsbilder.
darf man jedoch annehmen, daß das gewöhnlich nicht der Fall ist, nnd daß
der Typus , wenn es stattfindet, nnr wenig ausgeprägt sei. Solche Fälle
werden von Ballet (Ballet, Le laugage interieur) zu dem indifferenten
Typus gerechnet.
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Kxperim. Untereuehun°: der visuellen und akustischen Erinnerungsbilder. 533
Die Prozentzablen der Fehler sind bei den Sehwörtern auf der
Abszissenachse und bei den Gehörwörtern auf der Ordinatenaehse
abgesetzt. Betragen z. B. die Gesichts- und Gehörsfehler eines
Kindes 3 bzw. 4, so wird sein Standpunkt mit Bezug auf die zwei
Sinnengebiete durch den Durchschnittspunkt zwischen der Abszisse 3
und der Ordinate 4 bestimmt. Ist die Abszisse des Punktes kürzer •
/ 2 J '/ 5 (, 7 $ o lO
Fig. 2.
als die Ordinate, dann ist das Kind visuell, im entgegengesetzten
Fall akustisch. Jedem Punkt ist die Durcbschnittszensur des
Kindes in Zahlen beigefügt.
Fig. 1 stellt allein das Verhältnis für die Orthographie dar und
zeigt im ganzen eine recht gute Übereinstimmung zwischen den
Versuchsresultaten und der Fertigkeit der Kinder bezüglich dieses
Faches. Man sieht, daß die Visuellen in Orthographie die besten
Archiv für Psychologie. IV. 35
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534 K- H. Pedersen, Exper. Untersuch, d. vis. u. akuat. Erinnerungsbilder.
sind. Nur zwei Kinder (Nr. 3 und 8 in den Übriges Tabellen),
welche die Prozentfehler 2.20 und 1,90 für Gesichtebilder, 2,79
und 2,48 für Gehörsbilder haben, sind Ausnahmen. Ihre Zensuren
sind 9 bzw. 11.
Die in Fig. 2 angeführten Zensuren sind als Durchschnitt der
Zensuren aller Fächer, mit Ausnahme von Zeichnen und Schreiben,
berechnet, und es geht daraus hervor, daß sich hier dasselbe Ver-
hältnis wie in Fig. 1, wenn auch weniger ausgeprägt, geltend
macht. Die Kinder, welche bei den Versuchen am wenigsten
Fehler machten, zeigten sieh auch beim Unterricht als die geschick-
testen. Man bemerkt, daß die obenerwähnten zwei Schüler wieder
eine Ausnahme bilden, denn ihre Zensuren sind 13 und 12.
Es scheint folglich, daß die Versuchsresultate ein annäherndes
Maß für die Tüchtigkeit der Kinder bezüglich des Unterrichts
geben. Da die Sicherheit der Erinnerungsbilder wesentlich von
dem während des Sinneseindruckes und während der Erinnerung
gegenwärtigen Aufmerksamkeitsgrade bedingt ist, geben die Ver-
suche auch einige Auskunft Uber die Fähigkeit der Kinder, ihre
Aufmerksamkeit zu konzentrieren. Obenerwähnte Ubereinstimmung
zwischen Versuchs- und Unterrichtsresultatcn führt deshalb zu der
Annahme, daß es den Kindern, welche beim Unterricht zurück-
stehen, an dieser Fähigkeit fehlt Die Frage, ob diese Kinder
mit gutem Erfolg unterrichtet werden können, leitet uns also auf
die noch tiefer liegende Frage: Können sie in genügendem Grade
ihre Aufmerksamkeit konzentrieren lernen? Diese Frage wird
von Prof. Meumann bejahend beantwortet. Die in dem Labora-
torium in Zürich vor kurzem angestellten Untersuchungen zeigen,
daß die Aufmerksamkeit außerordentlich geübt und entwickelt
werden kann. Ist dies der Fall, dann darf man auch die Hoffnung
hegen, daß die Kinder, sogar die schlecht begabten, weit größeren
Nutzen aus dem Unterricht ziehen lernen können, als heutzutage
geschieht.
(Eingegangen am 20. Dezember 1904.
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Referate.
Jahresbericht über die Literatur m Kiltnr- ud Gesellschafte-
lehre ans dem Jahre 1903 »).
Von
A. Vierkandt (Gr.-Lichterfelde).
Die hierher gehörigen Werke können ihr Problem von der systematischen
oder von der historischen Seite her in Angriff nehmen. Im ersteren Falle
geht man mehr geradlinig, im letzteren mehr anf Umwegen anf daa für uns
in Betracht kommende Ziel, eine allgemeine Theorie der Kultur und Gesell-
schaft, los. Aber auch hier zeigt sich vielfach, daß der geradeste Weg nicht
immer der kürzeste ist; denn die Systematiker verlieren leicht den Boden
der Erfahrung unter den Füßen, während die Historiker durch das Schwer-
gewicht ihres Stoffes zwar in ihren Bewegungen gehemmt werden, aber da-
für auch gleichsam in einer festen Leitung gehen. Jedenfalls zeigt auch die
Literatur des verflossenen Jahres, wie wichtig ein Zusammenarbeiten beider
Richtungen ist; sie deutet aber auch darauf hin, wie ein Verständnis für
dieses Ineinandergreifen und ein Verlangen danach immer reger wird. Es
scheint kaum zweifelhaft, daß für die Weiterentwicklung der Geisteswissen-
schaften gerade hier der entscheidende Punkt liegt
Wir beginnen mit einigen systematischen Werken:
1) Rudolf Eisler, Soziologie. Die Lehre von der Entstehung und Ent-
wicklung der menschlichen Gesellschaft. Leipzig, J. J. Weber,
1903. M. 4.-.
Dieses Werk enthält, freilich nur in summarischer Form, einen ziemlich
erschöpfenden Gesamtüberblick Uber die wichtigsten Gesichtspunkte und
Fragen und die wenigen gesicherten Resultate, die auf dem gesamten Ge-
biet der Kultur- und Gesellschaftalehre in Betracht kommen. Auch die
wichtigste Literatur ist angegeben. Da absolute Vollständigkeit auf diesem
Gebiete unmöglich ist, so wird es jedem Fachmann leicht fallen, hier und
da wichtige Lücken aufzuspüren. Andererseits ist das Büchlein in seiner
knappen Form so vielseitig, daß es für jeden Laien und jeden Vertreter
einer Geisteswissenschaft eine Fülle von Anregung und Belehrung bietet.
Es zerfällt in drei Teile : eine allgemeine Soziologie, welche die wesent-
lichsten psychischen Zusammenhänge und Beziehungen innerhalb der Gruppe
behandelt; einen Abschnitt, der den wichtigsten Kulturgütern gewidmet ist;
und einen solchen, der sich mit den hauptsächlichsten einzelnen Formen der
1} Mehrfach ist zum Zweck der Abrundung weiter zurückgegriffen.
Arckiv fftr Pijcholoji«. IV. LiUntar 1
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2
Literatlirbericht.
Gesellschaft beschäftigt Besonders erfreulich ist die Einschaltung des
zweiten Teils, der in den meisten derartigen Büchern fehlt Er befaßt sich
einerseits mit den primitiven Stadien der hier bebandelten Kulturgüter und
ihrer psychologischen Grundlage, andererseits mit den Wechselwirkungen,
die zwischen einem einzelnen Kulturgut und der gesamten Kultur besteben.
Der erste Teil handelt hauptsächlich vom Geselligkeitstrieb, dem Verhältnis
zwischen dem Einzelnen und der Gesamtheit dem Gesamtbewußtsein, der
Kausalität und dem Zweckbewußtsein; dankenswert wäre hier eine etwas
eingehendere Erörterung der einfachsten sozialpsychologischen Vorgänge wie
des Mitteilungstriebes, der Einfühlung, der Sympathie und der Nachahmung;
gute Literatur ist ja glücklicherweise darüber vorhanden. Bei dem dritten
Teile, welcher Familie, Horde, Stamm, Stände- und Parteibildung und den
Staat behandelt ist für den Historiker die Heranziehung primitiver Verhält-
nisse, <L h. der Zustände der heutigen Naturvölker, sehr beachtenswert
Eingehendere psychologische Erörterungen über die in Betracht kommenden
Motive und Kräfte der vorliegenden Formen der Vergesellschaftung fehlen
leider auch hier.
Weniger vielseitig, aber dafür selbständiger gehalten ist das folgende Buch :
2) Ernst Victor Zenker, Die Gesellschaft U.Band: Die soziologische
Theorie. Berlin, Georg Reiner, 1908. M. 3.—.
Dieser Teil soll nach dem Vorwort die eigentliche soziologische Theorie
des Verfassers enthalten »). »Ich habe mich auch bei diesem Bande«, heißt
es, »so weit wie möglich bemüht eine allgemeine Orientierung Uber alles bis-
her Geleistete zu geben und die Resultate der einzelnen Forscher so viel
wie möglich zusammenzufassen.« Hinter dieser Ankündigung bleibt der In-
halt freilich etwas zurück. Zenker behandelt nur eine Auswahl von Fragen
und Ergebnissen der Soziologie und trifft dabei nicht immer das Wich-
tigste. Ein erster Abschnitt handelt kurz von den Aufgaben und Me-
thoden der Soziologie, ein zweiter von den seelischen Grunderscheinungen
der Gesellschaft ein dritter von den sozialen Kräften und Gesetzen. Von
Gesetzen werden in dem letzten Abschnitt nur eine Anzahl ziemlich trivialer
Analogien zu gewissen physikalischen Gesetzen behandelt Eigentlich zeigt
sich in diesem Teile, auch in dem ersten Abschnitt hauptsächlich nur, wie
viel unfruchtbare Arbeit bis jetzt — man denke nur etwa an den Streit
über die organische Natur der Gesellschaft — auf diesem Gebiet ver-
schwendet ist. Am ertragreichsten ist der zweite Abschnitt, insbesondere
seine Erörterung über die grundlegenden Kräfte der Vergesellschaftung.
Zenkers Theorie, daß die Gesellschaft keinerlei Kunstprodukt sondern ein
natürlicher Ausfluß des Geselligkeitstriebes ist, ist nun freUicb nicht so neu,
wie er meint, und die daran geknüpfte Erörterung der Frage, wie weit
höhere Bewußtseinsprozesse, zielbewußtes Wollen und ideale Motive das
Leben der Gesellschaft beeinflussen, ist leider ebenso summarisch gehalten,
wie die voraufgehende Diskussion; denn auch bei ihr müssen wir, wie oben.
1) Der erste Teil, 1899 erschienen, handelt von der »Entwicklung der
Gesellschaft«, d. h. von der Famlien-, Stammes- und Staatenbildung, ihren
Ursachen und Formen. Wir brauchen auf ihn nicht einzugehen, da die vor-
liegende Veröffentlichung ein abgeschlossenes Ganzes für sich bildet
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Literatur beriebt.
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beklagen, daß bo wichtige Erscheinungen wie Mitteilungstrieb, Nachahmung,
Sympathie und Einfühlung gar nicht behandelt sind. Immerhin bewegen wir
uns hier wenigstens anf einem gesunden Boden. — Das Buch ist, wie gesagt,
origineller als das Kompendium von Eisler; trotzdem erinnert ein großer
Teil seines Inhalts, wenn wir ihn mit dem genannten Werk und den meisten
später zu erörternden historisch fundierten Untersuchungen vergleichen, uns
daran, eine wie große Menge der sogenannten soziologischen Erörterungen
sich auf sterilem Boden bewegt und sich um mehr oder weniger scholastische
Fragen bemüht, während ringsum die grüne Weide lockend da liegt.
In verstärktem Maße empfangen wir diesen Eindruck von den folgenden
beiden Veröffentlichungen:
3) Rudolf Holzapfel, Wesen und Methode der sozialen Psychologie.
Archiv für systematische Psychologie. 1903. S. 1—67.
3a) Panideal. Psychologie der sozialen Gefühle. Leipzig, Johann
Ambrosius Barth, 1901. M. 7.—.
Die Abhandlung nimmt sich wie eine Art einleitendes Programm zu dem
Buche aus, das umgekehrt als eine weitere Ausführung derselben und als
eine Probe für ihre Intentionen gelten kann. Holzapfel legt vor allem
Gewicht auf die Selbstbeobachtung: »Nur diejenigen Philosophen, welche
selbst Vieles und Bedeutendes erlebt haben, werden von der Hervorhebung
gemeinsamer Momente der einem größeren Sozialgebiet angehörenden Kom-
plexe zur Hervorhebung gemeinsamer Momente der einem stets kleineren Ge-
biet angehörigen Komplexe, somit von den allgemeinsten zu immer spezielleren
und individuelleren Abstraktionen schreiten können; ist doch die Soziologie
und die Koordinationspsychologie ursprünglich und unmittelbar auf Selbst-
beobachtung angewiesen. Dieses Konkretisieren ist eine Mitbedingung
der Annäherung der sozialen Wissenschaften an das ästhetische und theo-
retische Vollendungsmaximum abstrakter Kunst. Nur durch ein solches
Konkretisieren können die sozialen Wissenschaften ins volle Menschenleben
bestimmend und lenkend eingreifen.« In der Hauptsache bietet die Abhand-
lung für eine solche systematische Selbstbeobachtung ein ausführliches
Schema, an das dann einige kurze Ausführungen in durchaus skizzenhafter
Form sich anschließen. Leider ist die Abhandlung sehr schwerverständlich
geschrieben. Die Mühe, ihren Inhalt vollständig zu erfassen, würde der Er-
trag wohl kaum lohnen. Sicherlich ist ihr Grundgedanke nicht unrichtig,
wenn schon Behr einseitig; denn gerade die in der historischen Betrachtungs-
weise wurzelnden Produktionen zeigen uns, wie sehr das angehäufte Er-
fahrungsmaterial der Beseelung auf Grund der Selbstbeobachtung bedarf;
nnd die Gleichartigkeit der menschlichen Natur Uber aUe Zeiten und Räume
darf heute als so gesichert gelten, daß der Übertragung der Ergebnisse der
Selbstbeobachtung auf fremde Völker und Zeiten, wofern es sich nur um
hinreichend elementare Prozesse handelt, keine grundsätzlichen Bedenken
entgegentreten. Aber dieser Gedanke ist auch wohl kaum völlig neu, und
wichtiger als seine Aussprache ist seine Durchführung.
Den Versuch einer solchen bietet nun freilich das vorhegende Buch,
aber auch bei ihm müssen wir, und zwar noch mehr, über seine außerordent-
lich schwere Verständlichkeit klagen. In der bekannten Art von Avenarius
geschrieben, Btrotzt es von Definitionen und von Fremdwörtern, die das
1*
4
Literaturbericht.
Eindringen anf jeder Seite mehr erschweren. So lesen wir z. B. S. 127 :
»Unterschiedsgraduell hygiopsychische menBchheitsdegeneresc enzharmonische
Bühgungsfreiheit«, nnd S. 142: »Unterschiedsgraduell hygiopsychische mensch-
beitsentwickJungsharmonische Moralrefonn«. Die Grundabaicht des Baches
ist Lösung der Frage: Wie erreicht die Menschheit ein Maximum der
Vollendung? Dasu soll die Frage beantwortet werden: Wie entstehen im
Bewußtsein ideale Werte? Die Durchführung behandelt, und zwar stets auf
dem Wege der reinen Deduktion, die folgenden Themata: Einsamkeit, Sehn-
sucht, Gebet, Gewissen und Kunst Soweit dem Referenten das Verständ-
nis gelungen ist, scheinen ihm die Ausführungen des Verfassers von einem
ungewöhnlichen Talent der Selbstbeobachtung zu zeugen. Insbesondere die
psychologische Zergliederung der bestimmenden Motive für die Entwicklung
des Gewissens, für den Kunstgenuß und das Kunstschaffen lesen sich recht
anregend. Ohne Zweifel von großer Bedeutung für die zukünftige Soziologie
ist auch das vom Verfasser vielfach behandelte Thema von der unpersön-
lichen Vergesellschaftung: Ideale Güter, insbesondere Kunst und Philosophie,
treten zumal zu dem Einsamen in ein ähnliches und doch so völlig ver-
schiedenes inneres Verhältnis wie andere menschliche Wesen. Aber wieviel
Leser werden sich die Mühe geben, solche Goldkörner in einem solchen
Boden zu suchen?
Von den systematischen wenden wir uns jetzt zu den historischen Unter-
suchungen, bei denen uns durchweg der frisohe Erdgeruch ihrer empirischen
Grundlage wohltuend berührt. Wir beginnen mit zwei kleinen Arbeiten, die
den Klassenbewegungen anf höherer Kulturstufe gewidmet sind.
4} Rudolf Broda, Esquisse d'une histoire naturelle des partis poütiques.
Paris, Guillaumin et Co., o. J.
4a) Gustav Schmoller, Klassenkämpfe und Klassenherrschaft Sitzungs-
berichte der Königl. Pr. Akad. d. W. LXXX. 1903.
Die französische Arbeit hat sich ein interessantes Thema gewählt;
und die Art wta sie es in Angriff nimmt zeugt von einer gesunden und
zutreffenden Denkweise. Leider ist die Arbeit aber weniger wissenschaft-
licher als journalistischer Natur. Der VerfaBBer behandelt die Tatsache der
poutischen Parteien im 8inne der Marxistischen Geschichtsauffassung. Die
Überzeugungen der politischen Parteien, sagt er in der Einleitung (8. 11),
haben ihre einfache Grundlage. Die Zeitungen derselben Richtung äußern
sich über dieselben Fragen stets Übereinstimmend. Handelt es sich dabei
um ein allgemeines Problem, so ist diese Gleichheit ein einfacher Ausfluß
der gleichen politischen Denkweise; handelt es sich um eine aktuelle und
praktische Frage, so entstammt sie der Tatsache, daß Überzeugungen auf
diesem Gebiet einfach ein anderer Ausdruck für Wünsche und Bestrebungen
sind; denn die Tendenzen einer Partei bestimmen ihre Werturteile. Die
eigentliche Untersuchung beginnt mit der interessanten Frage: Wie ent-
stehen politische Ideale? Leider lautet die Antwort darauf, die vorzüglich
an den beiden Idealen der Freiheit und der Gleichheit abgeleitet und zugleich
erläutert wird, etwas kurz: Sie entstehen als Reaktion auf einen starken Druck
und als daraus hervorgehende starke Bedürfnisse großer Mengen, ganzer
Schichten innerhalb einer Gesellschaft. Eine Vertiefung dieser Antwort hätte
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Literaturbericht.
5
nicht so fern gelegen : Die politischen Ideale sind zusammenhängende Aus-
drucke für moralische Gebote, welche noch nicht die Anerkennung der ge-
samten Gesellschaft, sondern erst die einer einzelnen Schicht in ihr gefunden
haben. Oft setzen sie sich im Laufe ihrer Entwicklung durch, bisweilen auch
nicht Auf unserer Kulturstufe scheint das hauptsächlich davon abzuhängen,
ob solche Ideale wirklich sittlichen Wert haben, d. h. ob sie wirklich das
Gedeihen der Gesamtheit fördern, oder ob sie, wie das bei den Idealen rück-
ständiger Parteien, die, in ihrem Besitztum bedroht, sich an sie anklammern,
meist der Fall, nur gruppenegoistische Bedeutung besitzen. Aber gerade auf
diese wichtige Frage: Wann siegt ein Ideal; hängt das nur von seinem
inneren Wert ab, oder und in welchem Maße sprechen äußere Faktoren mit?
erhalten wir leider keine Antwort. — In das politische Leben verwickelt
werden diese Ideale aus zwei Gründen: entweder handelt es sich bei den
Partei beetrebungen, wie etwa bei dem Anarchismus, um rein prinzipielle
Fragen, oder um solche von praktischer Bedeutung. Beide Gründe können
auch zugleich wirksam sein, da dieselbe politische Frage sowohl praktisch
Beteiligte wie praktisch Unbeteiligte zu erregen vermag, über die näheren
Modalitäten erhalten wir leider auch hier keine Auskunft. — Weiter wird
die Frage erörtert: Wann entstehen Parteien? Vorbedingung dafür ist das
Bestehen von einzelnen Klassen, Schichten oder Ständen innerhalb einer
Gesellschaft. Aber dieses genügt an sich noch nicht, vielmehr hält im all-
gemeinen die natürliche Ehrfurcht vor dem Bestehenden den Geist der
Kritik in Schranken. Vorzüglich zwei Kräfte können diese aber durch-
brechen : das energische Aufwärtsstreben einer tieferen Schicht und die ver-
zweifelte Erregung einer besitzenden Klasse, die sich durch neue Institutionen
in ihrer Position bedroht fühlt Im einzelnen erhält weiter die Partei Uberall
ihr Gepräge durch dasjenige der ganzen Gesellschaft, der sie angehört, wie
durch die Rasse, den Kulturtypus usw.
Eine verwandte Frage behandelt die kleine vorläufige Veröffentlichung
von Gustav Schmoller. Klassenkämpfe entstehen nur zu besonderen
Zeiten mit erhöhtem Wandel der bestehenden Zustände. Eine Klassen-
herrschaft sowohl im sozialen und wirtschaftlichen wie im rechtlichen Sinne
entsteht daraus häufig, aber nicht immer. In der Neuzeit ist die Tendenz
zu ihrer Entwicklung sehr beschränkt worden durch folgende Faktoren:
durch ein verfeinertes Rechtsgefühl und die wachsende Ausbildung von
hemmenden Rechtsinstitutionen und Verfassungsformen; durch die steigende
Macht der öffentlichen Meinung; durch die Tatsache, daß die heutigen
sozialen Klassen zwar stärker organisiert, im Kampfe oft sogar egoistischer
als früher geworden, aber doch auch weiter gespalten als früher sich gegen-
wärtig mehr in Schach halten; und endlich durch die politische Arbeits-
teilung, welche besondere Stände und Klassen geschaffen hat, die ihre
Lebensarbeit dem staatlichen und öffentlichen Interesse widmen. Als Haupt-
hemmungsgründe erscheinen also, in der Sprache der soziologischen Ab-
straktion ausgedrückt, erstens ideale Faktoren wie das Rechtsbewußtsein
und die Macht der öffentlichen Meinung, zweitens der Mechanismus der
gegenseitigen Lähmung und drittens die Vermehrung der unparteiischen
Elemente, der sogenannten liberalen und verwandten Berufsarten. Die zu-
nehmende Wirksamkeit der idealen Faktoren ist jedenfalls in der Haupt-
sache auf diese beiden letzten Momente zurückzuführen, insbesondere auf
Vermehrung der bei jeder einzelnen Streitfrage Unbeteiligten, zu denen
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Literaturbericht.
nicht nur die oben genannten Berufearten, sondern auch alle nicht gerade
engagierten Parteien gehören. In vergrößerten Dimensionen tritt ans hier
wieder die bekannte grundlegende Tatsache aller Moral entgegen: Die
moralische Forderung setzt sich deswegen durch, weil es neben den Han-
delnden Zuschauer gibt, und weil die Rolle zwischen beiden fortwährend
wechselt derart, daß jeder einzelne schließlich sich dem in den Zuschauern
herrschenden Geiste nicht zu entziehen vermag.
Was bei diesen Dingen das brennendste Interesse erregt, ist die Frage
nach dem Mechanismus, durch den sich die sittliche Kraft allmählich durch-
setzt — eine Frage, die naturgemäß im Rahmen der eben besprochenen
Skizze nicht beantwortet werden kann. Günstiger steht es in dieser Be-
ziehung mit der folgenden monographischen Darstellung:
5; A. Hellwig, Das Asylrecht der Naturvolker. Berliner Juristische Bei-
träge, herausgegeben von Dr. J. Kohler. Berlin, R v. Deckers
Verlag, 1903. M. 4.—.
Das hier behandelte Asylrecht bezieht sich auf Verbrecher, auf Sklaven
nnd auf Stammesfremde. Bei sehr vielen Stämmen finden diese drei Gruppen
von Menschen unter gewissen Bedingungen und an gewissen Örtlichkeiten
einen Schutz gegen die sie Verfolgenden, und zwar im Falle des Verbrechens
teils gegen die Sippe des Geschädigten, teils auch gegen die Staatsgewalt
selbst, falls diese bereits die Strafgewalt ausübt Die Stätten sind nament-
lich Heiligtümer und die Räume des Häuptlings oder anderer angesehener
Personen. Häufig ist der Gerettete zu gewissen Leistungen verpflichtet:
der Sklave bleibt in der Botmäßigkeit seines Herrn, der Fremdling in be-
stimmter Abhängigkeit von dem Herrscher, nnd der Verbrecher muß ihm eine
Lttsungssumme zahlen, wofür er dann eventuell die völlige Bewegungsfreiheit
zurückgewinnt. In vielen Fällen wird das Asyl auch nur vorübergehend be-
nutzt, namentlich von Verbrechern so lange, bis der Blutdurst der geschä-
digten Sippe sich so weit beruhigt hat, daß sie für ein angebotenes Wer-
geid empfänglich wird.
Die Wirkungen dieses Asylrechts für die Gesamtheit sind Überwiegend
nützlicher Art. Denn dieses Recht ist vorwiegend auf einer bestimmten
Stufe der Gesittung ausgeprägt, nämlich da, wo der Häuptling oder die Geist-
lichkeit bereits eine gewisse Macht besitzen, und andererseits die Blutrache
schon Uberwiegend verderblich wirkt, während zu ihrer Unterdrückung die
Macht des Herrschers noch nicht ausreicht. Unter diesen Umständen wird
durch das Asylrecht der verheerenden Wirkung der Blutrache Einhalt getan,
und fremde Fürsten und Besitzer von Sklaven werden durch die drohende
Gefahr, die Ihrigen zu verlieren, zu einer milden Behandlung veranlaßt Ein
Ubermäßiger Mißbrauch des Rechts ist nicht zu befürchten, weil seine Inan-
spruchnahme ja auch manche Nachteile mit sich bringt
Die Ursachen der Einrichtung stehen jedoch keineswegs mit diesem
Nutzen in direktem Zusammenhang, sie beruhen vielmehr auf dem Vorteil,
die sie einzelnen gewährt, besonders dem Häuptling und der Priesterschaft
Beide gewinnen durch Ausübung des Schutzrechts zunächst unmittelbar
an Macht; beide verstärken ihre Macht ferner durch Vermehrung derjenigen
Personen, die ihrer Botmäßigkeit mehr oder weniger stark unterstellt sind.
Beide gewinnen eventuell an Geld. Endlich wird durch den Zuwachs von
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Literaturbericht.
7
stammesfremden Männern auch die Webxhaftigkeit des Stammes erhöht, was
wiederum für dessen Häuptling von Vorteil ist Hierin liegen offenbar, wie
der Verfasser auch meint, die Hauptantriebe für die Ausbildung des Insti-
tuts, wenn schon an unmittelbar bewußte Erwägungen wohl wenig zu denken
ist. Weiter fragt sich aber, welche Rolle dabei ideale Motive spielen.
Religiöse Beweggründe können dabei kaum primär wirksam gewesen sein,
weil man den Geistern und Göttern nur solche Interessen zuschreibt, die
bereits die lebenden Menschen besitzen. Wie ist es aber mit der Rücksicht
auf das Gedeihen des Stammes durch das Heranziehen kampffähiger Männer
und durch die Einengung der Blutrache? Auch hieran als ein Motiv denkt
der Verfasser in manchen Fällen; und dem Herausgeber Köhler schwebt
vielleicht dieser Punkt vor, wenn er in seinem Vorwort die Auffassung des
Verfassers als stellenweise zu rationalistisch bezeichnet. Ob er das mit Recht
tut? Eine sehr zuverlässige Quelle sagt uns von den eingeborenen Stämmen
Zentralaustraliens, daß dort Stammesinstitutionen auf Grund freier Diskussion
der Stammesältesten häufig abgeändert werden»). Im ganzen ist diese Fragi«
noch nicht völlig spruchreif.
Die genannten Motive für die Ausbildung des Asylrechts finden nun
«inen wichtigen Anknüpfungspunkt in dem religiösen Vorstellungskreis, der
in Wirksamkeit tritt, sobald das Asylrecht auf die Verstorbenen und die
Geisterwelt Uberhaupt Ubertragen wird, und der wohl meistens erst der
neuen Einrichtung den nötigen Respekt sichert. Auch dieser Fall bestätigt
wieder den alten Satz von dem Mangel an Spontaneität als einer wesent-
lichen Eigenschaft der menschlichen Kultur: die vorhandenen egoistisch-
utili tarischen Motive, obwohl doch stark genug, schaffen die ihnen gemäße
Institution nicht spontan, sondern gestutzt auf anderweitige Seiten der
Kultur. Eine weitere Grundlage für die Entwicklung des Asylrechts bildet
offenbar auch die Billigung der ganzen Gesellschaft : bei der noch schwachen
Macht des HäuptUngs und der Priesterschaft gedeiht sie nur da, wo die
Sympathien des Publikums auf der Seite des Flüchtenden sind. Daraus er-
klärt sich wesentlich, daß wir wenig von Ubermäßigen Mißbräuchen dieses
Hechts erfahren.
Eine sehr interessante Erscheinung an diesen Dingen ist die Teilung
der Gewalten, die uns hier auf primitiven Stufen der Kultur entgegentritt
Häuptling oder Häuptling und Priesterschaft auf der einen Seite, der ganze
Stamm auf der andern Seite, bei höher gestiegenen Völkern, wie z. B. den
Abessiniern, auch Adel und Priesterschaft auf der einen, der König auf der
andern Seite halten sich gegenseitig in Schach und begünstigen dadurch die
Herausbildung von Hemmungen gegen den schrankenlosen Mißbrauch der
Gewalt 2).
1) Spencer and Gillen, The Native Tribes of Central Australia.
pag. 11. London, 1899.
2] Nur anhangsweise können wir hier das folgende Buch namhaft machen:
Rechtsverhältnisse von eingeborenen Völkern in Afrika und
Ozeanien. Beantwortungen des Fragebogens der Internationalen Vereinigung
für vergleichende Rechtswissenschaft und Volkswirtschaftslehre zu Berlin.
Bearbeitet im Auftrage der Vereinigung von S. R. Steinmetz. Berlin,
Verlag von Julius Springer, 1903. Die Persönlichkeit des Verfassers ließ
auf abschließende eigene Betrachtungen hoffen. In kritischer Reserve [hat
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Literaturbericht.
Der Einblick in den psychologischen Mechanismus wird uns in dieser
Abhandlung freilich dadurch erschwert, daß es sieh hier um entlegene Zu-
stände handelt, die innere Rekonstruktion auf Grund der Selbstbeobachtung
und Wahrnehmung des täglichen LebenB also erschwert wird. Anders ist
das bei den folgenden Untersuchungen, die der Gegenwart gelten. Wir
führen zunächst ein Werk an, das es sich so recht zur Aufgabe macht,
diesen Mechanismus, der Uberall der Entwicklung von Kulturgütern zugrunde
liegt, an einem einzelnen Problem aufzudecken.
6) Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus. Erster und zweiter Band.
Leipzig, Duncker & Humblot, 1902. M. 20.—.
Den Inhalt der bis jetzt erschienenen beiden Bände des Werkes macht
der Versuch aus, wie man kurz sagen kann, den Siegeszug des Kapitals,
den es auf dem gewerblichen Gebiete vorzüglich seit der Mitte des vorigen
Jahrhunderts angetreten hat, festzustellen und zu erklären, oder, wie man es
auch formulieren kannte, den Geist des modernen K apitalismus zu er-
fassen. Der Begriff Kapitalismus ist dabei nicht im Sinne des Fabrik-
betriebes, sondern alß Gegensatz zum Handwerk gemeint Für das letztere
charakteristisch ist die enge Verbindung zwischen der Arbeit und der Persön-
lichkeit: das Können ist mehr instinktiver Natur, beruht nur auf Tradition
und unmittelbarer Nachahmung, ist demgemäß mit der ganzen Persönlichkeit
verwachsen. Ebenso ist äußerlich der Betrieb des Handwerks eng mit dem
Familienleben des Meisters verknüpft. Die kapitalistische Wirtschaftsweise
dagegen ist streng unpersönlich; alle von ihr vorgenommenen Tätigkeiten
sind lediglich Mittel zum Zweck des Profits. Sie können demgemäß beliebig
variiert werden, stehen daher der Persönlichkeit fremd gegenüber; sie wer-
den mit möglichst weit ausgreifender Berechnung ausgewählt, so daß ein
ausgeprägter Rationalismus ebenfalls dieser Form eigen ist Daher fehlt
ihrer Tätigkeit auch jener mystische Hauch, der zumal in älteren Zeiten
und aueh bei den primitiven Völkern dem Handwerk eigen ist: die Leistung
erscheint nicht mehr als ein Ausfluß übernatürlicher, zauberhafter Kräfte,
sondern beruht auf Hilfsmitteln, deren Handhabung lehrbar ist und sich des-
wegen unabhängig von der Person verbreiten kann. Der Gegensatz dieser
beiden Wirtschaftsformen bildet daher, wie man sieht, einen speziellen Fall
der von Tön nies so feinsinnig durchgeführten Gegenüberstellung von Ge-
meinschaft und Gesellschaft
Die ersten beiden Bände versuchen nun, näher betrachtet die folgenden
vier Fragen zu beantworten: Wie ist der Kapitalismus entstanden? Wie
weit hat er sich durchgesetzt? Durch welche Mittel hat er dieses Ziel er-
reicht? Und warum konnte er es durch diese Mittel erreichen? Die Ant-
worten darauf lauten in Kürze folgendermaßen :
1) Die Entstehung des Kapitalismus hat gewisse äußere und gewisse
innere Bedingungen zur Voraussetzung, nämlich einerseits vor allem eine
dieser jedoch davon Abstand genommen und sich auf Voranschickung und
gelegentliche Einschaltung orientierender und erläuternder Bemerkungen bei
den einzelnen Abschnitten beschränkt So ist das Buch eine vorzüglich
arrangierte, sehr wertvolle Materialsammlung, auf die unser Bericht leider
nicht eingehen kann.
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Literaturbericht.
9
genügende Anhäufung von Metallgeld in einzelnen Händen, andererseits den
kapitalistischen Geist Die Anhäufung von Metallgeld in einzelnen Familien
weist zuletzt auf sehr entlegene Zeiten zurück; sie reicht teils bis in da»
klassische Altertum hinein, teils beruht die Bildung nener Vermögen auf der
Grundrente der Großgrundbesitzer. Außerordentlich verstärkt wurde diese
Konzentration aber vor allem durch die Kolonialwirtschaft des sechzehnten
und siebenzehnten Jahrhunderts, welche in diesem Zusammenhange lediglich
als ein einziges großes Raub- und ErpresBungssystem erscheint, das die
christlichen Europaer gegen die wehrlosen Eingeborenen von drei Erdteilen
verübten. Subjektiv entsprang der Kapitalismus aus einem erhöhten Begehren
nach dem Golde und dem völlig neuen Gedanken, dieses durch berechnende
wirtschaftliche Operationen zu stillen. Das Anschwellen jenes Verlangens
führt Sombart in der Hauptsache auf die Verweltlichung des ausgehenden
Mittelalters zurück. Zunächst suchte man es aber auf außerwirtschaftlichem
Wege, vorzüglich durch das Goldgräbertum und die Alchemie, zu befriedigen
— phantastische Mittel, bei deren Ergreifen alle möglichen Motive, auch
solche mystischer Natur, mitgesprochen haben. Das Erwachen des wirtschaft-
lichen Rationalismus dagegen bleibt im einzelnen unaufgeklärt Man kann
nur sagen, daß es bei Leuten niederen Standes vor sich ging, wie denn der
Erwerbstrieb eine spezifisch plebejische Seelenstimmung ist und daß es sich
namentlich im Verkehr mit Stammesfremden vollzogen haben wird.
2) Die Leistungen des Kapitalismus bestehen, wie hier nicht weiter
aaszuführen ist darin, daß er auf dem gewerblichen Gebiete — und nur
diesem gelten die beiden bis jetzt veröffentlichten Bände — das Handwerk
nach der Meinung des Verfassers auf der ganzen Linie und ohne Ausnahme
besiegt und mehr oder weniger dem Untergang entgegengeführt hat
3) Durch welche Mittel ist ihm dieses gelungen? Er hat die Kultur-
Verhältnisse, die er bei seiner Geburt vorfand und die ihm ungünstig waren,
sowohl auf dem geistigen wie auf dem wirtschaftlichen Gebiete in der ent-
schiedensten Weise zu seinen Gunsten umzuwandeln gewußt Er hat zu-
nächst die Rechtsordnung im kapitalistischen Sinn umgestaltet Sombart
stellt sich hier durchaus auf den Standpunkt, daß sich die Rechtsordnung
den wirtschaftlichen Verhältnissen, genauer gesprochen den wirtschaftlichen
Interessen der oberen, führenden Schichten anpaßt Selbst wo sie das im
einzelnen noch nicht getan hat, ist ihr Widerstreit mit den dominierenden
Interessen vergeblich: das Gesetz wird entweder umgangen oder direkt
durchbrochen, wobei dann die Behörde ein oder mehrere Augen zuzudrücken
pflegt
Von den Umgestaltungen auf wirtschaftlichem Gebiete, die nach Som-
barts Darstellung der Kapitalismus bewirkt hat, führen wir hier nur die
folgenden an: zunächst die Erscheinung der Landflucht, durch welche ihm
die Reservearmee von Arbeitskräften zugeführt wurde. Sie beruht negativ
auf der Auflösung des alten patriarchalischen Geistes, auf dem Erwachen
des Individualismus, der eine notwendige Folge des ganzen mit dem Kapital
eng verquickten Rationalismus ist teils von der Stadt aus in das Land ein-
dringt teils dort selbst als Folge des wirtschaftlichen Rationalismus ent-
steht Positiv entsprang sie der Anziehungskraft der großen Städte, die
Werner Sombart vor allem anf das vermehrte Bedürfnis nach individueller
Freiheit zurückfüht, nach der Befreiung von dem Zwange der Sippe, der
Nachbarschaft, der Herrschaft. Daneben ist wahrscheinlich aber doch auch
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Literaturbericht.
die Schätzung der Großstädte als vermeintlicher oder wirklicher Trägerinnen
des Kulturfortschritte und eine Art von Einfühlungsprozeß als Grund anzu-
führen, der den einzelnen die dynamische Grüße der Stadt in sich mit er-
leben läßt und dadurch sein Selbstgefühl steigert Einen zweiten wichtagen
Faktor bildet die Umgestaltung des Bedarfs, die sich namentlich nach den
vier Richtungen der Vergrößerung, der Verfeinerung, der Vereinheitlichung
und der Mobilisierung hin vollzieht Bei dem zweiten Punkte interessiert
uns besonders die führende Rolle, die nach des Verfassers Meinung die
moderne Technik der kapitalistischen Produktionsweise bei der Umge-
staltung unseres Geschmackes spielt Alles, was man Kunsthandwerk nennt
und was nach seinem künstlerischen Gehalt wirklich auf den ersten Teil
dieses Ausdrucks Anspruch hat, ist nach Sombart eminent kapitalistisch;
und in die Technik dieses Kapitalismus fühlen und leben wir uns so ein,
daß er uns unbewußt unsern Geschmack völlig beherrscht Im heutigen
Kunsthandwerk sind die Amerikaner führend, weil sie allem dieser domi-
nierenden Stellung der Technik gerecht werden. Die andern Völker werden
ihnen folgen. >Wir werden lernen, das schön zu finden, was technisch
vollendet ist, sei es eine neue Art der Gläserbearbeitung, sei es eine neue
Bruckenkonstruktion oder Wartehalle, sei es die Form eines Schiffs oder
Wagens, die Gestalt eines Möbels, dessen Schnitt und Politur mit den Mitteln
einer vollendeten neuen Technik hergestellt sind. Daß sich in dieser Rich-
tung der einzig gangbare Weg zeigt, haben auch die verständigen unter
den kunstgewerblichen und ästhetischen Fachschriftstellern längst einge-
sehen. Und Männer wie Bode und Lessing betonen gerade im Hinblick
auf die wunderbaren Erfolge der Amerikaner immer wieder, daß allein aus
den Bahnen der modernen Technik heraus die neuen Grundformen und
Regeln für den Kunstgeschmack hervorwachsen können. ,In der Maschine',
sagt ein anderer hervorragender Sachverständiger, , liegt der Stil der Zukunft'.
Und es ist wirklich reizvoll, zu beobachten, wie rasch sich unser Geschmack
unmerklich mit den Wandlungen der Technik wandelt, bis er mit einem
Male das eben noch Verehrte unerträglich, das von der neuen Technik ge-
lieferte Neue, das erst mit Reserve aufgenommen wurde, selbstverständlich
schön findet So haben wir uns heute an die glatten, der modernen Ma-
schinentechnik angepaßten Möbelformen so sehr gewöhnt daß wir die einer
Handwerkerzeit entsprungenen Schnitz- und Einlegearbeiten kaum noch an-
sehen mögen.« (II, 317.) — Auf einem ähnlichen kausalen Zusammenhange
beruht das, was der Verfasser die Urbanisierung unseres Bedarfs nennt
Unser Geschmack geht von dem Derben, Soliden und Dauerhaften mehr
zum Gefälligen, Leichten, Graziösen über, vorzüglich deswegen, weil, wie es
z. B. für das Schuhwerk ein Blick auf die verschiedenen Zustände des
Bodens zeigt, die äußeren Bedingungen sich in der Weise geändert haben,
daß wiederum in der einen wie in der andern Epoche das Angenehme mit
dem Nützlichen zusammenfällt — Wir erwähnen nur noch die Gründe, die
der Verfasser für die von ihm so genannte Mobilisierung des Bedarfs an-
fuhrt. Mit diesem Ausdruck bezeichnet er die Tatsache, daß die Mode bei
uns sich viel intensiver als bei andern Völkern und zu andern Zeiten geltend
macht, indem sie sich über eine unabsehbare FUlle von Gebrauchsgegen-
ständen erstreckt, von absoluter Allgemeinheit geworden ist und vor allem
ein rasendes Tempo angeschlagen hat. Einen wesentlichen, aber doch nur
einzelnen Grund für die letzte Erscheinung sieht Werner Sombart in
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Literaturbericht.
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jener allgemeinen Hast des modernen Lebens, die er wiederum direkt aus
dem Geist des Kapitalismus ableitet, der mit seinem rastlosen Jagen nach
immer neuen Formen des Profits das ganze Seelenleben angesteckt hat.
Aber die entscheidenden Gründe fllr die Umgestaltung der Mode sucht
Sombart anderswo. Er läßt dabei durchaus die bekannte Theorie von der
Mode gelten, welche diese bekanntlich auf das Streben der höheren Schichten
zurückführt, sich von den unteren durch gewisse Äußerlichkeiten zu unter-
scheiden, und auf das fortwährende Nachdrängen der letzteren, welches
diesen Vorsprung immer wieder aufhebt. Aber seine Deutung geht Uber
diese allgemeine Erklärung hinaus, indem sie viel konkretere Tatsachen auf-
deckt, welche diesen allgemeingültigen Mechanismus in der Gegenwart in
besonderer Weise ausgestalten. Seine Theorie, welche er gleichzeitig in
einer besonderen kleinen Schrift veröffentlicht hat1], kommt in der Haupt-
sache darauf hinaus, »daß die Mitwirkung des Konsumenten auf ein Minimum
beschränkt bleibt, daß vielmehr durchaus die treibende Kraft bei der
Schaffung der modernen Mode der kapitalistische Unternehmer ist Die
Leistungen der Pariser Damen und des Prinzen von Wales tragen durchaus
nur den Charakter der vermittelnden Beihilfe« (Wirtschaft und Mode, S. 19).
Die tonangebenden Firmen haben nämlich ein rastloses Bestreben, immer
neue Muster auf den Markt zu bringen, und demselben Bestreben müssen
auch die sämtlichen Händler bis in das kleinste Dorf hinab sich anschließen,
wefl nun seinerseits das Publikum ebenfalls bis in die einfachsten Verhält-
nisse hinein nach dem Allerneuesten verlangt Die großen Firmen aber
streben nach fortwährendem Wechsel nicht nur, weil das Publikum es
wünscht sondern auch weil auf dem Gebiet des Musterwechselns am ehesten
noch sich ein Vorsprang vor dem Konkurrenten ohne Mehrkosten erringen
laßt and weil der rasche Wechsel die Menge des Absatzes erhöht Wie
man sieht setzt diese Erklärung die allgemeine Empfänglichkeit für die
Mode und die Existenz tonangebender Produzenten, die als solche direkt
wenigstens von einer Anzahl maßgebender Persönlichkeiten und von da ab
indirekt stufenweise abwärts anerkannt werden, durchaus voraus.
Dieser kurze Überblick über den Inhalt erweckt hoffentlich schon eine
Vorstellung von der Methode des Verfassers. Mit Recht sagt der Verfasser
von sich, daß sein Werk eine vermittelnde Richtung zwischen der soge-
nannten historischen Schule und der abstrakten Nationalökonomie, z. B. der
österreichischen Schule, innehält Sombart will die wirtschaftlichen Er-
scheinungen psychologisch verständlich machen und auf gewisse relativ ein-
fache Bewußtseinsvorgänge zurückführen. Aber diese Erklärungsweise soll
den wechselnden historischen Umständen doch so angepaßt sein, daß sie
auf abstrakte Allgemeingültigkeit verzichten muß. In diesem Sinne spricht
Werner Sombart von einer historischen Psychologie. Psychologisch ist
seine Erklärungsweise, insofern er als letzte Ursache für das soziale Ge-
schehen nur die »Motivationen lebendiger Menschen« (Bd. 1. S. XVin) gelten
laßt Dabei können natürlich nur durchschnittliche Bewußtseinsvorgänge
von typischer Bedeutung gemeint sein. Sollen diese nicht gar zu abstrakt
ausfallen, so muß bei ihrer Aufstellung, wie gesagt, den wechselnden
1) Werner Sombart, Wirtschaft und Mode. Ein Beitrag zur Theorio
der modernen Bedarfsgestaltung. Grenzfragen des Nerven- und Seelen-
lehens. Heft XII. Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1902.
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Literaturbericht.
geschichtlichen Verhältnissen Rechnung getragen werden. In (liefern Sinne
bezeichnet der Verfasser in der Tat seine Untersuchung als »einheitlich ge-
ordnete Erklärung aus den das Wirtschaftsleben einer bestimmten Epoche
prävalent beherrschenden Motivreihen der führenden Wirtschaftssubjekte«
Bd. I. S. XXI). Da sich durchaus nicht alle allgemeinen Tendenzen einea
Zeitalters in derselben Richtung zu bewegen brauchen, vielmehr Sonder-
bildungen auf dem Gebiete der Motivationen auftreten können, so muß eine
derartige Untersuchung solchen Erscheinungen gegebenenfalls Rechnung
tragen. (Eine Anwendung dieser Regel sollen die folgenden Bände ent-
halten, welche sich mit der Entwicklung und den Zuständen der Landwirt-
schaft befassen sollen, bei der die Herrschaft des kapitalistischen Geistes
durch andere Tendenzen gekreuzt wird.) Derartige Tendenzen wirken stets
unter gewissen objektiven Bedingungen, welche nicht nur festzustellen, son-
dern bei deren Untersuchung auch darauf zu achten ist, ob sie primär oder
sekundär sind, <L h. ob sie wirklich unabhängig von der zu betrachtenden
Tendenz bestehen oder erst (wie z. B. das moderne Bedürfnis nach Ab-
wechslung auf dem Gebiete des Bedarfs) aus den prävalierenden Tendenzen
ihrerseits hervorgegangen sind. »Von den Wirtschaftstheoretikern wird man
so lange Gedankenreihen verlangen müssen , die heute ganz aus der Mode
gekommen zu sein scheinen« (Bd. I, S. XXV).
Das Werk strebt, wie man sieht, eine eigenartige Verbindung der
historischen und der systematisch -psychologischen Betrachtungsweise an.
Im Prinzip verdient dieses Bestreben die grüßte Beachtung; wie eingangs ge-
sagt, liegt gerade hier der entscheidende Punkt für die moderne Weiterentwick-
lung der Geisteswissenschaften. Lehrreich ist in dieser Beziehung z. B. ein
Vergleich mit dem bekannten Buche Simmeis: »Philosophie des Geldes«
Auch hier werden gewisse Eigenarten des modernen Lebens charakterisiert,
die dabei völlig abstrakt aus dem Wesen des Geldes deduziert werden.
Bei allem gebührenden Respekt vor der dialektischen Virtuosität Simmels
kann man doch kaum zweifeln, welcher von beiden Wegen verheißungs-
voller ist
Für den Psychologen wird das Werk daher seine große Bedeutung auch
dann behalten, wenn die Fachmänner, die Nationalökonomen und Historiker,
gegen seinen Inhalt mancherlei kritische Bedenken vorzubringen haben
sollten. Welchen Gewinn der Psychologe auf alle Fälle aus ihm ziehen
kann, wollen wir zum Schluß hier kurz andeuten. Für dasjenige unfertige
Gebiet, das man wohl als historische Psychologie bezeichnen kann, kommt
namentlich die von Werner Sombart gelieferte Charakteristik des mo-
dernen Zeitgeistes in Betracht. Abi seinen Kern bezeichnet er einen gewissen
Rationalismus. Zu demselben Ergebnis war, wie ihm hier einzuschalten ver-
gönnt sein mag, der Berichterstatter früher durch einen Vergleich zwischen
den Natur- und Kulturvölkern gelangt 1). Indem hier diese Tatsache auf dem
Wege einer systematisch-historischen Betrachtung gewonnen wird, erscheint
sie uns um so viel näher gerückt und begreiflicher gemacht, weil wir gleich-
«am in den Mechanismus ihrer Entstehung eingeweiht werden. Auf dem
wirtschaftlichen Gebiete hat dieser Rationalismus, wenn wir dem Verfasser
glauben dürfen, seinen Ursprung, und eine Fülle von geschichtlich bedingten
Umständen mußte dabei zusammenwirken: eine ungewöhnliche Steigerung
1) Vier k and t, Natur- und Kulturvölker. S. 332, 34ö, 407.
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Literaturbericht.
13
des Goldduretes, die Möglichkeit der Ausbeutung der Kolonien, das moderne
Buchführung»- und Rechnungswesen sowie die Existenz genügender Massen
Metallgeldes. Von diesem seinem Entstehungsherd ans hat dann der
Rationalismus sich erst über die gesamte materielle und geistige Kultur aus-
gebreitet und jenes stolze Selbstgefühl erzeugt, das z. B. in der Welt-
anschauung Nietzsches kaum noch Spuren seines Ursprungs an sich
trägt. In engen Zusammenhang mit diesem Rationalismus rückt dann der
Verfasser genau so, wie es der Berichterstatter in der genannten Unter-
suchung getan hat«), die beiden Eigenschaften des Individualismus und der
Atomisienmg, die zusammen in so vielen Fällen zerstörend gewirkt haben. —
Eine Uberaus wichtige Form dieses Rationalismus ist die aus seiner sche-
matisierenden Tendenz entspringende Neigung, das Individuum zu miß-
achten. Sombart weist nur gelegentlich auf diesen Zug bin. Wir möchten
hinzufügen, daß sich diese Eigentümlichkeit auf dem wissenschaftlichen Ge-
biet in der noch heute nicht überwundenen prinzipiellen Zurücksetzung der
beschreibenden oder historischen Wissenschaften gegenüber den systema-
tischen außerordentlich stark betätigt hat. Wie sehr die ganze Entfaltung
der Wissenschaften, d. h. die Rationalisierung der Überzeugungen und Ein-
sichten, mit der Entwicklung des Rationalismus zusammenhängt, bedarf wohl
keines Wortes, und das wird entsprechend auch für die Schatten gelten
müssen, die hier und dort dieses Aufblühen begleiten: der rechnerische Geist
kann eben der in Rede stehenden Gefahr kaum entgehen, weil die quantitative
Betrachtungsweise die Vernachlässigung der individuellen Unterschiede zur
Voraussetzung hat.
Besonders von Interesse für den Soziologen ist ferner der Gesichtspunkt
des Mangels an Spontaneität in der Entwicklung der menschliehen Dinge,
der diese Darstellung einerseits bereits als selbstverständliche Voraussetzung
beherrscht, wie er andererseits als ihr Ergebnis erscheint So hat der Geist
des Kapitalismus sich nicht spontan aus sich selbst heraus entwickelt, [son-
dern verdankt seine Geburt dem Zusammentreffen einer Reihe von in diesem
Sinne zufälligen Umständen. So bestimmt durchweg nach dieser Darstellung,
wie wir eben Bähen, die herrschende Technik den Geschmack: das ästhetische
Fühlen erscheint also wiederum nicht als etno spontane Funktion, sondern
als eine Art Spiegelung objektiver Zustände oder, besser gesagt, als ein Er-
gebnis nachträglichen Einlebens in diese. So folgt das Recht, mag es wollen
oder nicht wollen, den wirtschaftlichen Zuständen nach. So wird selbst das
sittliche Leben in diesen Strudel hineingezogen. Der ganze Kreis der patri-
archalischen Gefühle wird unbarmherzig durch den Kapitalismus zerstört.
Vor allem diese destruktive Wirkung tritt in den vorliegenden beiden Bänden
zutage; die schaffende Seite des Prozesses wird nur gelegentlich gestreift,
z. B. da, wo es sich um das neue Klassenbewußtsein des Proletariers
handelt
Wir können die hier betonten Tatsachen als das Überwiegen der objek-
tiven Gebilde der Kultur Uber die subjektiven Vorgänge bezeichnen. Dem
Soziologen ist ja die Vorstellung vertraut, daß das Wesen der Kultur vor
allem in einer Reihe von objektiven, festen Formen besteht, die der Willkür
des einzelnen entzogen sind, und die mit wachsender Höhe der Gesittung
extensiv und intensiv an Gewicht zunehmen. Es stimmt durchaus zu dieser
S. 360.
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Literaturbericht.
Auffassung, wenn Werner Sombart bei einer Vergleichung zwischen der
Wirtschaftsform des Handwerks und derjenigen des Kapitalismus dem letz-
tern einen höheren Grad von Objektivität zuerkennt: bei dem Handwerk ist
der Prozeß der Produktion noch eng mit der Persönlichkeit verschmolzen,
so wie auch sein Können nur durch die Person überliefert wird, während
beides bei der kapitalistischen Unternehmung gleichsam auf eine Reihe von
Formeln gebracht und so in einen Mechanismus verwandelt wird, den ein
jeder, falls er die nötigen Kenntnisse besitzt, handhaben kann. Demgemäß
ist z. B. auch die Berufsehre bei dem Handwerker in ganz anderer Weise
ausgeprägt als bei dem Unternehmer; ein wesentlicher Beweggrund der Red-
lichkeit, der dort sehr wirksam ist, ist hier erheblich abgeschwächt.
Man könnte diese schwer anzufechtende Überzeugung von der Präva-
lenz der objektiven Momente als eine Einräumung gegenüber der materia-
listischen Geschichtsphilosophie bezeichnen. Aber freilich würde
sie für sie einen Sieg bedeuten, dessen sie kaum froh werden könnte; denn
er stellt gar zu sehr die innere Leere und Armseligkeit wenigstens der ge-
bräuchlichen Form dieser Theorie ans Licht Man kann sagen, Sombart
steht ihr ähnlich gegenüber wie Simmel in seiner Philosophie des Geldes:
er anerkennt sie äußerlich, um sie innerlich zu überwinden, indem er die
objektiven Erscheinungen der Wirtschaft ihrerseits wieder in eine Reihe von
Bewußtseinsprozessen auflöst
Endlich interessieren den Soziologen noch die vielen Fälle von Wechsel-
wirkungen innerhalb der sozialen Gruppe, für die dieses Buch Material
bietet. Zunächst Wechselwirkungen zwischen objektiven Kulturgütern und
den Bewußtseinszuständen der einzelnen: indem z. B. die Rechtsformen in
einem Punkte den kapitalistischen Tendenzen nachgeben, passen sie an dieser
Stelle das Gesamtbewußtsein ihnen mehr an ^ was dann wiederum zu einer
Stärkung des kapitalistischen Geistes, von da zu einer Rückwirkung auf das
Recht usw. führt. Die ganze moderne Wirtschaft hat sich offenbar in sol-
chen Wechselwirkungen stufenweise entfaltet: jede objektive Einrichtung
setzt bereits ein gewisses Maß entsprechender Gesinnung voraus und wirkt
dann verstärkend auf diese, die ihrerseits wieder die objektiven Institutionen
verstärkt usw. Dabei ist freilich zu beachten, daß bei diesen Wechsel-
wirkungen die führende Rolle durchweg, wie eben erörtert, die objektiven
Gebilde innehaben. — Sodann beobachten wir Wechselwirkungen zwischen
den Individuen der Gruppe, und zwar namentlich zwischen dem Publikum
und den Produzenten: in der Entwicklung des kapitalistischen Geistes gehen
die letzteren voraus und stecken dann das Publikum in einem solchen Grade
an, daß sie durch dessen Resonanz in ihrer eigenen geistigen Verfassung
wiederum bestärkt werden. Auch hier sind die beiden Partner nicht gleich
wirksam, sondern die führende Rolle liegt bei dem Produzenten.
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Literaturbericht.
15
Wir kommen jetzt zn einigen kleinen, sehr anregenden nnd verdienst-
vollen Arbeiten aas dem Gebiete des Kriegswesen».
7; Reisner Freiherr von Lichtenstern, Taktische Probleme. Jahrbücher
für die deutsche Armee und Marine. 1903, Januar — Juni. I. Die
Psychologie der Entscheidung in der Schlacht. S. 31 — 14. II. Die
Feuerüberlegenheit S. 383-405. III. Neue Taktik — neue Aus-
büdung. S. 515—626.
7 a) Die Macht der Vorstellung im Kriege. Sonderdruck aus den Jahr-
büchern für die deutsche Armee und Marine. Berlin, A. Bath, 1902.
M. 1.—.
7b) C. von B— K., Zur Psychologie des großen Krieges. DI. Statistik und
Psyche. Wien und Leipzig, Wilhelm Braumüller, 1897.
Die an erster Stelle genannte Reihenfolge von Abhandlangen liefert
wertvolle Beiträge zur angewandten Psychologie des Wollens und der Über-
zeugung. Ihre psychologischen Ergebnisse sind um so beachtenswerter, weil
sowohl dieser wie der an dritter Stelle genannte Verf. der wissenschaftlichen
Psychologie fern stehen, in ihren Urteilen also keineswegs von ihr beeinflußt
sind ; um so bemerkenswerter ist ee, daß sie sich zu Ansichten gedrängt sehen,
die den populären und noch heute auch bei den meisten Vertretern der ein-
zelnen Geisteswissenschaften herrschenden ins Geeicht schlagen. Das psycho-
logische Ergebnis der ersten der in Rede stehenden Abhandlungen ist, kurz
gesprochen: Die Handlungen werden weniger von den Tatsachen selbst als
von den von ihnen ausgehenden Eindrücken, insbesondere von sinnfälligen
und gefüülsBtarken Vorstellungen bestimmt; und Analoges gilt auch von den
sie bestimmenden Überzeugungen. Überzeugungen wie Handlungen entstehen
also vorwiegend auf irrationaler Basis. Zweck des Krieges, sagt die
erste Abhandlung, ist nicht, den Gegner zu vernichten, sondern seinen Willen
zu beugen oder zu brechen. Dieses geschieht , das Zurückgehen erfolgt nicht
aus logischen Gründen, sondern »meistens infolge psychischer Eindrücke«
(S. 35], d. h. infolge von irrationalen, insbesondere starke Affekte einflößenden
Eindrücken. Entsprechendes gilt natürlich auch vom Sieg; daher die uner-
meßliche suggestive Wirkung einzelner Persönlichkeiten, wie etwa der Jung-
frau von Orleans oder Napoleons I. Ähnlich heißt es in der zweiten Ab-
handlung: die Urteile und Überzeugungen von der taktischen Lage einer
Truppe sind »subjektiver, also unlogischer Natur« (S. 383), denn der aus der
Gefahr entspringende Affekt führt zu übertriebenen Vorstellungen. — Für
den Sieg ist nicht die tatsächliche Überlegenheit, sondern die Vorstellung
davon entscheidend. — Nur beiläufig weisen wir auf den beachtenswerten
Gedanken der dritten Abhandlung hin: Die neue Kampfesweise, welche die
einheitliche Leitung im Gefecht sehr erschwert, im einzelnen wegen der Feuer-
wirkung unmöglich maeht, demgemäß vom einzelnen eine viel größere Selb-
ständigkeit fordert, verlangt auch eine entsprechende neue Ausbildung, welche
diesem Bedürfnis der Selbständigkeit Rechnung trägt.
Der Grundgedanke der zweiten Abhandlung ist wiederum: Die ent-
scheidenden Handlungen in der Schlacht gehen aus Überzeugungen hervor,
die infolge von AffekteinflÜBsen auf völlig irrationaler Grundlage erwachsen.
Der Verf. weist auf die zahlreichen Fülle hin, in denen einzelne Truppen-
teile in der Schlacht trotz unmittelbarer Nähe des Feindes und starker
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Litcraturbericht.
Hilfsbedürftigkeit der eigenen Truppe eine völlige Untätigkeit zeigten, die für
die populäre Denkweise geradezu unbegreiflich ist Man sagt sich »ange-
sichts dieser und anderer auffälliger Vorgänge, daß es im Kriege etwas geben
muß, das bestehende Nachteile schwächt oder Mißerfolge vertieft oder ver-
breitert, das allen wichtigen Vorkommnissen eine Bedeutung gibt, die Über
das Tatsächliche hinausgeht Dieses geheimnisvolle Etwas verbindet oder
beherrscht alles, erhöht hier die Willenskraft in wunderbarer Weise, während
es dort den Willen lähmt und die Tatkraft unterbindet. Der Grund dieser
Erscheinungen ist ein seelischer. Er besteht in dem bestimmenden Einfluß,
den starke Vorstellungen, die von Gefühlen festgehalten und
hervorgehoben werden, auf das Urteil und die Willenskraft ausüben
In diesem eingeengten Seelenznstand erleidet das Urteil, das Wägen
mehr oder minder Einbuße« (S. 3). Diese Vorgänge werden namentlich an
zwei Erscheinungen erläutert, erstens an dem hartnäckigen Haftenbleiben des
Führers an seiner Vorstellung, aweitens an der zu frühen Annahme eines
Erfolges oder Mißerfolges. »Im entern Falle drängt sich einem Führer aus
irgend einem Grunde eine bestimmte Vorstellung mit solcher Ausschließlich-
keit auf, daß er darüber etwas Naheliegendes, Entgegenstehendes nicht mehr
aufzunehmen fähig ist und vollständig übersieht. Diese Erscheinung bewirkt
Urteilslosigkeit, die oft als Bätsei bezeichnet wird, und die denn auch bei
einem ruhigen Nachdenken und einem unbeeinflußten Urteil keinem begegnen
könnte« (8. 4). Im zweiten Falle eilt »die Phantasie, die ja immer tätig ist,
den Ereignissen voraus; denn gerade in der Gefahr hat der Mensch die Nei-
gung, die Bedeutung der Dinge zu übertreiben« (S. 4). Es kommt dann je
nachdem zu einem unnötig frühen Rückzüge oder zu einem kühnen Vor-
wärtsgehen, das objektiv nicht berechtigt, aber oft von Erfolg begleitet ist.
— »Auch diese Betrachtungen« , beißt es am Ende, »führen uns also zu dem
Schlüsse hin, daß im Kriege nicht ,rohe Kräfte sinnlos walten', sondern daß
wenig beachtete Unterstrümungen riesige Erfolge herbeiführen helfen und
oft rätselhafte Niederlagen erklären« (8. 18). — Wie zutreffend die hier ent-
wickelten Anschauungen sind, bedarf für den Psychologen keines Wortes.
Man kann aber auch an diesem Beispiel erkennen, wie wenig überflüssig für
den Betrieb der Geisteswissenschaften die Kenntnis der Psychologie ist; denn
die meisten Forscher der einzelnen Gebiete beginnen höchstens, sich aus
den einschlägigen Irrtümern der rationalistischen Popularpsyehologie zu be-
freien.
Anhangsweise sei uns hierbei gestattet, auf das viel ältere, an dritter
Stelle genannte Werk hinzuweisen. Es zerfällt in zwei Abhandlungen. Die
erste zeigt — die sachliche Richtigkeit der Erörterungen hier wie überall
vorausgesetzt — , daß die relative Menge der Verluste in den Schlachten in
den letzten Jahrhunderten abgenommen hat, und zwar nicht nur für die
ganze Dauer der Schlachten, sondern auoh für gleiche Zeiträume. Verbes-
serte Waffen erzielen also heute eine verminderte Wirkung; dagegen ist
die Rückwirkung der Schlachten eine stärkere geworden: während in früheren
Zeiten auch der blutigste Sieg in der Regel keinen unmittelbaren Gewinn
brachte, der Unterlegene häufig sich sofort wieder aufraffte, und das blutige
Spiel lange hin- und herschwankte — »der Grundzug der Zeit lag in der Blu-
tigkeit, Ungewißheit und in der Ergebnislosigkeit der Schlachten« — , heftet
sich heute Sieg oder Niederlage dauernd an dasselbe Heer: die Rückwir-
kungen von Sieg und Verlust sind so gestiegen, daß der Krieg einen ein-
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Literaturbericht.
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heitlichen und in der Regel raschen Verlauf nimmt Es zeigt sich mit andern
Worten heute eine viel größere Stetigkeit in der Kriegführung und eine
größere Beeinflußbarkeit der Massen in den Schlachten. Für den psycho-
logischen Theoretiker liegt die Versuchung nahe, den Grund jenes Wandels
in allgemeinen Änderungen des durchschnittlichen Bewußtseinszustandes zu
suchen. Man könnte sagen: die Stetigkeit des Bewußtseins, der Zusammen-
hang zwischen den einzelnen Akten hat Uberhaupt in den letzten Jahrhun-
derten zugenommen, demgemäß ist auch die dauernde Wirkung des einzelnen
Schlachtvorganges eine viel stärkere als früher. Der Verf. ist jedoeh vielmehr
geneigt, vorwiegend an technische Gründe zu denken, nämlich an den Er- *
satz des alten Berufsheeres durch das heutige Volksheer, welches wegen
seiner Ungewohntheit viel sensibler geworden ist Sicherlich in diese Rich-
tung weist das Ergebnis der zweiten Abhandlung: die Marschleistungen der
Heere bei Beginn der Kriege sind trotz der Verbesserungen der Wege in den
letzten Jahrhunderten nicht gestiegen, sondern gesunken.
8) Hermann Reich, Der Mimus. Ein literar-entwicklungBgeschichtlicher
Versuch. Bd. I. Erster und zweiter Teil. Berlin , Weidmannsche
Buchhandlung, 1903. M. 24.-.
8a) Georg Jacob, Türkische Literaturgeschichte in Einzeldarstellungen.
Heftl. Das türkische Schattentheater. Berlin, Mayer und Müller,
1900. M.3.60.
8b) Enno Littmann, Arabische Schattenspiele. Berlin, Mayer und Müller,
1901. M. 2.80.
Das an erster Stelle genannte Werk erwähnen wir hier kurz wegen
seines weiten Gesichtskreises. An sich bewegt es sich streng in der rein
geschichtlichen Betrachtungsweise. Es erörtert eingehend die komisch-reali-
stische Dichtungsart des klassischen Altertums und ihre Ausbreitung über
benachbarte Völker und spätere Zeiten. Diese Dichtungsart hat bei den Grie-
chen und Römern eine bis in die Philosophie hineinreichende Bedeutung be-
sessen, die bisher vollständig verkannt wurde ; sie hat sich von dort aus Uber
den Orient mindestens bis nach Indien ausgebreitet, hat sich in Ostrom bis
zu dessen Fall behauptet und danach das türkische Schattenspiel, den Kara-
göz, in eingreifender Weise beeinflußt, hat endlich in Italien da* ganze Mittel-
alter hindurch weiter gelebt und hat in der Neuzeit in ganz Westeuropa in
(restalt der komischen Figur in der Posse und im Puppentheater bis in die
Gegenwart nachgewirkt Für den Soziologen liegt die Bedeutung des Werkes
vorzüglich in dem Gesichtspunkt der Kontinuität räumlich und zeitlich
weit getrennter Erscheinungen. Für den Völkerkundigen ist es heute von
vornherein wahrscheinlich, daß ähnliche Kulturgebüde an verschiedenen Stellen
der Erdoberfläche nicht gesondert voneinander entstanden sind, sondern
einen gemeinschaftlichen Ursprung besitzen; die historischen Disziplinen be-
ginnen dagegen erst, sich mit dieser Anschauungsweise zu befreunden. Für
die Ästhetik liefert das Werk mindestens wertvollen Stoff für die Lehre vom
Wesen des Komischen. Man fühlt sich an die Theorie des Überlegenheits-
knhir ftr P«yehologi*. IV. Literatur. 2
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Literaturbericht.
gefühles des Betrachters erinnert, wenn man sieht, welche Stoffe die Volks-
komik jahrtausendelang in Gestalt des Mimns mit Vorliebe benutzt hat:
nämlich körperliche und geistige Gebrechen niedriger Art sowie den Durch-
bruch der natürlichen Triebe durch die Schranken des Konventionellen, den
letztern vorzüglich in obszöner Zuspitzung.
In anschaulicher Form übermitteln uns denselben Eindruck die hier ge-
nannten Schriften von Georg Jacob und Littmann, welche uns Proben
der komischen türkischen Volkspoesie, vorzüglich des Karagözspieles, bieten.
Von der Bedeutung dieser Veröffentlichungen auch für die systematische
Kunstwissenschaft hat Jacob ein ausgeprägtes Bewußtsein, wie die fol-
gende Stelle zeigt: »Ich habe mich bemüht, den einzelnen Erscheinungen der
Karagözkomik nicht vermittelst eines fertigen Schemas Gewalt anzutun, son-
dern sie nach den am meisten hervortretenden Einheiten zu gruppieren, die
ihre vermutliche Entstehungsursache sind. So glaube ich am ersten einen
Einblick in ihren Werdeprozeß und ihre Technik zu erlangen. Auf diesem
Wege allein können wir schließlich zu einer befriedigenden Theorie der Komik
gelangen, nicht durch Spekulation und Analysen der kompliziertesten Kunst-
produkte auf diesem Gebiet« (S. 66}. Mag man auch die hier ausgesprochene
Anschauung nicht völlig teilen, so wird man sie doch nicht einfach von der
Hand weisen können. Mag man z. B. auch die von Lipps gegen die Über-
legenheitstheorie gemachten Einwendungen für zutreffend erachten, so bean-
sprucht doch die Tatsache, daß die primitiven Stoffe der Komik mit der
Überlegenheit des Zuschauers in engem Zusammenhang stehen, mindestens
für das Verständnis der Entwicklung des Kunstsinnes eingehende Beachtung.
Wie sehr die abstrakte Betrachtungsweise bei der Deutung höherer Kunst-
gebilde in die Irre gehen kann, dafür führen wir hier noch das folgende Bei-
spiel an. Nach Reich stammt die Figur des Narren bei Shakespeare aus
dem alten Mimus und dessen mittelalterlichen Umbildungen. Wie unendlich
viel ist über die Bedeutung und die innere Notwendigkeit dieser Figur unter
der stillschweigenden Annahme ihrer spontanen Entstehung im Bewußtsein
des Dichters geschrieben worden; und wie anders erscheint sie hier unter
dem Gesichtspunkte einer historischen Nachwirkung, die sich mehr vermöge
eines gewissen Beharrungsvermögens als einer inneren Notwendigkeit geltend
macht — Hier wie an anderer Stelle werden wir in diesem Werk an die
eigentümliche Verquickung niederer und höherer Elemente im Leben der
Kunst gemahnt. Besonders lebhaft weist uns darauf die vom Verf. gelegent-
lich erörterte bekannte Tatsache hin, daß in Deutschland im Gegensatz zu
andern Ländern das höhere Lustspiel nicht hat gedeihen wollen, weil es nicht
an den Hanswurst anknüpfen konnte, da dieser bekanntlich von der Bühne
vertrieben war. Soziologisch besteht diese Verquickung vorzüglich darin,
daß für die große Masse des Publikums vor allem die gröberen Faktoren
der Kunstwirkung in Betracht kommen. Entwlcklungsgeschichtlich aber be-
tätigt sie sich darin, daß die höheren Kunstarten und Kunstregungen einer
unermeßlich langen Vorgeschichte bedürfen, die sich durchaus in den Nie-
derungen bewegt: an durchaus trivialen Stoffen hat sich zunächst der Kunst-
sinn entfaltet, und erst an diesen massiven Stützen hat sich dann das feinere
ästhetische Leben emporgerankt.
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Literaturbericht.
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9j J. N. B. He witt, Orenda and a definition of religion. American Anthro-
pologist 1902. S. 33— 46.
9a) George A. Dorsey, Wichita Tales. Journal of American Folklore.
1902. S. 216-239.
9 b) The Dwamiah Indian Spirit Boat and ita uae. Bulletin of theFree
Museum of Science and Art. III. (1902). S. 227—238.
9c) Sartori, Die Speisung der Toten. Programm des Gymn. zu Dortmund.
1903.
Die modernen Anschauungen Uber die Natur des religiösen Lebens ent-
fernen sich von den älteren vorzüglich in drei Richtungen: Erstens erkennt
man, daß das religiöse Leben viel mehr praktischer als theoretischer Natur
ist, seinen Schwerpunkt mehr in Handlungen als in Vorstellungen hat Zwei-
tens beginnt man, für seine primitiven Stufen seinen Mittelpunkt mehr unter
den Menschen als unter den Gottern, nämlich vorzüglich bei den Priestern
und Beschwörern als den mit schaffenden Zauberkräften ausgestatteten Per-
sonen zu suchen. Drittens würdigt man mehr die Bedeutung der unmittel-
baren sinnfälligen Anschauung beim Kultus, wie sie vorzüglich bei deu
ekstatischen Zuständen, aber auch bei manchen wahrscheinlich damit zusammen-
hängenden Gebräuchen sich betätigt: durchweg wird hier die Übersinnliche
Welt in dramatischen Darstellungen, mag nun der agierende Priester in der
Ekstase von der Realität seiner Bilder Uberzeugt sein, oder mag er als bloßer
Gaukler eine geschickte Vorstellung geben, in unmittelbarer Realität dem
gläubigen Publikum vor die Augen gestellt Diesem veränderten Wesen der
modernen Anschauungen entsprechen die drei erstgenannten Aufsätze. Von
der größten allgemeinen Bedeutung ist der an erster Stelle genannte.
Unmittelbar beziehen sich seine Untersuchungen nur auf die Irokesen; sie
gestatten jedoch eine jedenfalls weitgehende Verallgemeinerung. Mit dem
Worte »Orenda« bezeichnen diese Indianer eine Art mystischer Universal-
kraft, die alle wichtigen und einflußreichen Ereignisse des täglichen Lebens
zustande bringt, und deren Träger jedesmal der betreffende verursachende
Gegenstand ist. Das Aufziehen der Sturmwolke, die Hitze des Tages, die
durch das Zirpen der Heuschrecke verursacht werden soll, die erfolgreiche
Wirksamkeit eines Medizinmannes — alles beruht auf der Betätigung des
Orenda, mit welchem das betreffende Wesen behaftet ist Das GlUck oder
Unglück des Jägern hängt davon ab, ob sein Orenda oder das seiner Jagd-
beute stärker ist. Das Wort Orenda hat weder mit den Bezeichnungen für
Macht und Stärke, noch mit denjenigen für Seele, Geist, Leben usw. etwas
zu tun. Jedenfalls sehen wir, wie hier das religiöse Interesse viel weniger
theoretische Vorstellungen ausprägt als sich wichtigen und naheliegenden
Handlungen zuwendet Demgemäß definiert der Verf. die Religion »als ein
System von Worten, Handlungen und Kunstgriffen oder eine Verbindung
davon, angewandt zur Erlangung von Vorteilen oder zur Abwendung von
Übeln durch den Gebrauch, die Ausübung oder die Gunst des Orenda eines
oder mehrerer anderer Körper«.
Ein Seitenstück hierzu bildet die an zweiter Stelle genannte Mono-
graphie von Dorsey. Sie enthält eine Reihe von Ursprungsmythen, die
in der Gestalt einer Art Geschichte der Menschheit sich auf die Entstehung
der wichtigsten Dinge und Kunstfertigkeiten beziehen. Alle schöpferischen
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Literaturbericht.
Leistungen beruhen auf einer besonderen Zauberkraft der handelnden Per-
sonen. An sich erscheint die Zauberkraft hier als eine allgemeine Gabe aller
Mensehen, die nur in besonderen Fällen gesteigert ist.
Die Bedeutung des dramatischen Elementes im primitiven religiösen Leben
zeigt uns die an dritter Stelle genannte Abhandlung. Sie beschreibt eine
Zauberzeremonie zum Zweck der Krankenheilung, bei der eine Reise in die
Unterwelt, durch welche die Seele des Kranken aus ihr zurückgeholt werden
soll, von vier Schamanen in einer völlig dramatischen Aufführung, die
mehrere Tage dauert, dargestellt wird1).
Eine breite Kluft, welche dem Fortschritt der neueren religionspsyeho-
logischen Anschauungen entspricht, trennt diese Arbeiten von der Abhand-
lung Sartorie über die Speisung der Toten. Hit außerordentlichem Fleiß
ist hier eine Fülle von Gebräuchen zu einer Art entwicklungsgeschichtlichen
Bildes zusammengestellt. Freilich auf die Art der Entwicklung im einzelnen
ist der Verf. wenig eingegangen; insbesondere hat er der Möglichkeit der
Verschiebung der Motive weniger Rechnung getragen, als es wahrscheinlich
angebracht ist. Denn es scheint, daß durchweg die Beschäftigung mit den
Toten zuerst der Furcht vor ihnen entsprang, und daß sich erst allmählich
eben dadurch, indem so die Aufmerksamkeit und das Gefühlsleben den Toten
zugewandt wurde, andere Regungen aus dieser dunkeln Unterlage entwickelt
haben. Bei der psychologischen Erklärung der Erscheinungen fällt dem Leser
ein gewisser Rationalismus in der Betrachtungsweise auf; so wenn es z. B.
auf Seite 6 heißt: »Bei allen diesen Gebräuchen liegt der Gedanke zugrunde,
daß der Tote selbst an den Gelagen Anteil und Freude hat; sein Geist wird
gegenwärtig gedacht in diesem Augenblicke bedarf die Seele offen-
bar ganz besonders ihrer Versöhnung es muß ihr deutlich gemacht
werden, daß man die Gemeinschaft mit ihr noch immer nicht als aufgelöst
betrachtet«. Oder auf Seite 18: »Solange die Leiche noch im Hause steht,
den Blicken der Überlebenden erreichbar, kann bei diesen der Gedanke
dauernder Trennung von dem geliebten Toten nicht völlig Platz greifen;
erst wenn die Erde die Reste bedeckt, kommt die Gewißheit des Abschiedes
ganz zum Bewußtsein. Aber auch jetzt noch bleibt eine gewisse Verbindung
zwischen Toten und Lebenden. Diese haben willkürlich Uber den Leib des
Verstorbenen verfügt Sie sind seiner Seele dafür Genugtuung schuldig.
Sie müssen ihr zeigen, daß sie sie nicht haben beleidigen wollen, daß sie
vielmehr auch jetzt noch eine Angehörigkeit anerkennen und von dem Hin-
geschiedenen erwarten, daß auch er sich seiner Pflichten gegen den bisherigen
Verband bewußt bleibt.« Freilich ist es viel leichter, diesen Übelstand beim
Namen zu nennen, als ihm abzuhelfen. Wir haben auch lediglich auf ihn
hingewiesen, um daran zu erinnern, in welch hoffnungsloser Weise unser
sprachliches Handwerkszeug in der rationalistischen Denkweise befangen wU
— eine Tatsache, in der eins der schwersten Hemmnisse für deren Besei-
tigung liegt.
1) Die vorstehenden drei kurzen Referate sollen nur eine Probe von
dem Geiste der einschlägigen Literatur geben ; eingehender gedenkt der Be-
richterstatter diesen Gegenstand in dem nächsten Überblick zu bebandeln.
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Literaturbericht.
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Noch stärker in den Bahnen deB Rationalismus wandelt die folgende
Schrift:
10) L. Darapsky, Altes und Neues von der Wünschelrute. Leipzig, P.
Leineweber, 1903. M. 1.60.
Aus Zauberstäben und -raten hat sich die Wünschelrute erst im Mittel-
alter herausspezialisiert. Damals wurde sie jedoch nur für die Entdeckung
bergmännischer Bodenschätze verwendet Erst in der Neuzeit benutzt man
sie zum Quellensuchen, daneben auch für andere Zwecke, z. B. zur Ausfindig-
machung von Verbrechern. Interessant ist die Fülle verschiedener Erklä-
rungsweisen in der Neuzeit: neben der ZurtickfÜhrung auf die behexenden
Kräfte des Bösen finden wir rein physikalische Theorien in gewisser Ver-
wandtschaft mit der Lehre vom Magnetismus und mystische Erklärungs-
weisen, welche eine besonders konzentrierte Willenskraft für eine hinreichende
Ursache halten. Schade, daß der Verf. in diesen Dingen überall nur einen
Ausfluß besonderer menschlicher Torheit erblickt. Daß an dieser Dumm-
heit« auch die alten Griechen ihren reichlichen Anteil hatten, würde ihn viel-
leicht nicht irre machen. In der Tat aber steht diese Auffassungsweise nicht
höher als die Urteilsweise des typischen Lehrers, der jedes Jahr bei allen
seinen Schülern eine ganz erstaunliche Dummheit, eine wunderbare Unfähig-
keit, die einfachsten Regeln der Mathematik und der Grammatik zu verstehen
und zu beachten, entdeckt. Überall beruht dieBe Auffassungsweise auf einer
Überschätzung des logischen Niveaus der Menschheit Stehen wir selbst
darin so viel höher als alle andern Zeitalter, so beruht dieser Vorzug viel-
mehr auf Erziehung, Tradition und Einübung, als auf gesteigerter Spon-
taneität des eigenen Denkens. Gerade die Geschichte der religiösen und
abergläubischen Vorstellungen predigt uns immer unabweisbarer, daß der
Irrtum eine allgemeine und normale Eigenschaft der menschlichen Natur ist
11) Wolfgang Dröber, Kartographie bei den Naturvölkern. Dias. Erlangen,
1903.
Primitive Kartenzeichnungen sind bei den Naturvölkern weit verbreitet.
Das ist nicht wunderbar, da zunächst die Vorbedingungen dafilr, wie der
Verf. im ersten Abschnitt ausführt, in Gestalt der Zeichenkunst, der Sinnes-
schärfe, des Orientierung«- und Schätzungsvermögens und einfacher Orts-
kenntnisse Uberall vorhanden sind. Ebensowenig fehlt es, wie wir ergänzend
hinzufügen mOchten, in der Regel an den inneren Bedingungen, nämlich an
einem gewissen praktischen Bedürfnis, das sich aus der Beweglichkeit dieser
Menschen meist von selbst ergibt
Die einfachsten Kartenzeichnungen knüpfen an die AuBdracksbewegungen
an; wir können auch bei ihnen zwischen hinweisenden und nachahmenden
unterscheiden, von denen die ersteren meist zugleich flächenhafte, die letz-
teren meist plastische Gebilde sind. Ein in den Sand gezeichneter Pfeil ge-
hört der ersteren Klasse, verknotete Halme oder über den Weg gebogene
Ruten gehören der letzteren an. Wir können namentlich von den plastischen
Zeichnungen uns vorstellen, wie sie sich ganz allmählich auf einem orga-
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Literaturbericht.
machen Wege entwickelt haben. »Man knickt z. B. die Zweige auf dem
Pfade, zunächst um sich Raum zu schaffen, und dann zweckbewußt, um den
Weg zu markieren« {Karl von den Steinen). — Aus diesen primitiven Ge-
bilden entwickeln sich dann zwei Reihen von höheren, nämlich die Sand-
karten und die Reliefkarten; die letzteren Bind vorzüglich in der Südsee ein-
heimisch, und ihre bekanntesten Vertreter bilden die sog. Stabkarten, bei
denen eine Anzahl Blattrippen der Kokospalme dazu dienen, vorzüglich die
Meeresströmungen und andere Richtungen zu markieren.
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1) Otto St oll, Soggestton und Hypnotismus in der Völkerpsychologie. 2. um-
gearb. u. verin. Aufl. X, 738 S. gr. 8°. Leipzig, Veit & Co., 1903.
M. 16.-; in Halbfrz. geb. M. 18.60.
Den Hauptinhalt des vorliegenden Buches machen die pathologischen Er-
scheinungen des religiösen Lebens in ihrer Verbreitung über die ganze Erd-
oberfläche aus. Es kommen namentlich in Betracht die visionären und ek-
statischen Zustände sowie diejenigen der Besessenheit, die Anästhesie bei
Folterungen, endlich ansteckende Wach Suggestionen, die die Grundlage für
den Glauben an Wunder bilden. Ausführlich werden diese Erscheinungen
für das gesamte Gebiet der Naturvölker, kursorisch auch für das der höheren
Religionen besprochen. Als Ethnologe ist der Verfasser naturgemäß mehr
auf dem enteren Gebiet zu Hause, während fttr das letztere manche ein-
dringende Monographien, wie z. B. die Arbeiten von Rhode und Roscher Uber
die griechische Religion und diejenige von Gunkel und Weinel Uber die
Ekstase im Urchristentum, unbenutzt geblieben sind. Die behandelten Er-
scheinungen werden zunächst ausführlich geschildert und sodann einer theo-
retischen Erklärung unterzogen. Diese ergibt, daß, von den Wachsuggestionen
abgesehen, die Vorgänge teils auf Hypnose, teils auf Epilepsie zurückzuführen
sind. Die Abgrenzung zwischen beiden Erscheinungsreihen ist vorzüglich
deswegen so schwer, weil die epileptischen Anfälle bekanntlich nachgeahmt
werden kOnnen, und die weit verbreiteten Priesterschulen der Naturvölker
Anleitung genug dazu geben. Die hypnotischen Anfälle werden teils durch
eintönige und starke Sinnesreize, wie wilde Musik, leidenschaftliche Tänze,
starke Gerüche, teils durch verbale Suggestionen in Gestalt von Zauberformeln
nnd Gesängen, teils auf Grund der EinUbung durch willkürliche Auto-
suggestionen ausgelöst Der Priester glaubt sich in solchen Zuständen in
unmittelbarem Verkehr mit der Geisterwelt; häufig führt er auch ein förm-
liches Drama auf, indem er abwechselnd mit seiner eigenen die Rolle ver-
schiedener Dämonen spielt, oder auch, wie in den Zuständen der Besessen-
heit, mit einem einzigen bOsen Geist sich dauernd identifiziert. Der Inhalt der
hypnotischen Bewußtseinszustände ist überall bestimmt durch die Erwartung,
mit der in sie eingetreten wird, d. h. durch die in dem betreffenden Milieu
verbreiteten religiösen Vorstellungen, die auf diese Weise in solchen Erlebnissen
für den Zuschauer dramatische Anschaulichkeit, für den Agierenden plastische
Realität gewinnen und so nach beiden Seiten hin ein wichtiger Beweis für
die Richtigkeit der herrschenden Anschauungen werden.
Unter diesem teleologischen Gesichtspunkte ist das Buch für Psychologen
und Soziologen besonders interessant Es gewährt uns einen lehrreichen Ein-
blick in den Mechanismus der Selbsterhaltung der religiösen Systeme. Was
einmal für wahr gilt, wird in diesen Zuständen vom Priester und der
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Literaturbericht.
Gemeinde erlebt, worin dann ein neuer Beweis für seine Richtigkeit liegt. Dieser
Mechanismus gründet sich, wie man sieht, vorzüglich auf die Wechselwirkungen
zwischen dem einzelnen und seiner Umwelt: der herrschende Glaube bestimmt
den Inhalt der hypnotischen Zustande bei dem einzelnen, und dessen Er-
lebnisse verstärken wiederum den Glauben der gesamten Gruppe. Im engem
Sinne teleologisch bedeutsam geworden sind diese Vorgänge für die gesamte
Entwicklung der Religion bis zu ihrer höchsten Hohe. Der Glaube an ihre
Richtigkeit und die daraus fließende Begeisterung zum Handeln würde nicht
gedeihen, wenn nicht durch diese Erlebnisse die blasse Theorie sich fortwährend in
Realitäten umsetzte. Insbesondere ist auch der höchste Aufschwung, den das
religiöse Leben im frühen Christentum gewonnen hat, ohne diesen Mechanismus
ebenso undenkbar, wie das schon für die Entwicklung der Prophetie beim
alten Israel gilt Die sittlichen Anschauungen und Forderungen der großen
Prediger hätten diese selbst und durch sie die Massen nicht zu begeistern
vermocht, wären sie nicht in Gestalt ekstatischer Zustände anscheinend un-
mittelbar dem Walten der Gottheit entflossen. Das Christentum hätte die
Welt nicht so erobert, hätten seine Märtyrer nicht durch die vermeintliche
unmittelbare Hilfe Gottes die Kraft zum Ertragen ihrer Leiden gefunden. Es
ist äußerst interessant, in der einschlägigen Literatur zu verfolgen — leider
ist dies, wie gesagt, in diesem Buche nur wenig geschehen — , wie bei diesen
Zuständen Wert des Inhaltes und Stärke des ekstatischen £ustandes in um-
gekehrtem Verhältnis zueinander stehen. Je stärker ausgeprägt der eigent-
liche hypnotische Charakter, desto trivialer ist der Inhalt-, je mehr dieser sich
veredelt, desto mehr ermäßigt sich die Abnormität des Zustandes; sowie ja
auch die junge christliche Kirche prinzipiell solchen irregulären Vorgängen
ablehnend gegenüber stand. Aber gerade die sittlich höchsten Leistungen
des religiösen Bewußtseins schöpfen, wie gesagt, ihre Wirkungskraft noch
aus derselben Quelle, wie die Unsummen trivialer oder verderblicher Lehren.
Es würde eine äußerst interessante Aufgabe sein, diese Zustände in ihren
letzten Verzweigungen und Ausläufern einmal monographisch bis in die Mystik
und den Pietismus hinein zu verfolgen. Nur vorübergehend freilich erhebt
sich dieser Mechanismus zu Leistungen von solchem Wert Einen viel breiteren
Raum nehmen auch auf den höheren Stufen rein pathologische Erscheinungen
ein, wie die Besessenheitsepidemien des Mittelalters oder eine ganze Reihe
von Kreuzigungs- und Mordekstasen bei neuzeitlichen Sekten, die häufig mit
deu ärgsten sexuellen Ausschweifungen verbunden waren.
Die letzten Kapitel des Buches beschäftigen sich mit außerreligiösen Vor-
gängen der Neuzeit, bei denen sich ansteckende Wachsuggestionen geltend
machen, die zu Massenerscheinungen führen. Ein längeres Kapitel ist der
französischen Revolution gewidmet und befaßt sich mit den Erscheinungen
gesteigerter Leichtgläubigkeit, kritikloser Überzeugungen, enthusiastischer und
fanatischer Massenhandlungen, akuter und chronischer Mordekstasen ganzer
Massen u. a. m. Den Stoff der übrigen Kapitel bilden Modetorheiten und
ihnen ähnliche Dinge, die teils dem Gebiet der eigentlichen Mode, teils dem-
jenigen des wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens angehören. Eine
theoretische Erörterung der Suggestion bildet den Abschluß des Ganzen.
Auf diese letztere gehen wir hier noch etwas ein, weil sie uns von typi-
scher Bedeutung zu sein scheint für die Bedeutung der Psychologie für die
Geisteswissenschaften. Auch derjonige, der diese Bedeutung hartnäckig be-
streitet, wird durch Fälle wie den hier zu besprechenden vielleicht doch in
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Literaturbericht.
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seiner Überzeugung schwankend gemacht werden. Es gibt bekanntlich eine
ausgedehnte Popularpsychologie, die ein unbewußtes Besitztum der nicht
psychologisch geschulten Forscher bildet Unser Fall zeigt nun recht deutlich,
wie trübend ihre Irrtümer wirken können.
Hier handelt es sich nämlich um den Irrtum, als ob unsere Überzeugungen
im allgemeinen durch logische Ursachen, unsere Handlungen durchweg durch
Zweckniäßigkeitserwägungen planmäßig bestimmt sein mußten. Wo das nicht
der Fall ist, glaubt St oll den Begriff der Suggestion anwenden zu müssen.
Das Wesen der suggestiven Einwirkung schildert er nämlich mit den Worten
(S. 702): »Indem das Eindringen einer neuen Vorstellung in unsere Gedanken-
welt deren Richtung in einer vom Willen unabhängigen Weise, also zwangs-
inäßig bestimmt und lenkt, bedingt sie für einen gegebenen Zeitabschnitt eine
gewisse Einseitigkeit des Denkens und Urteilens«. Als suggestiv bestimmt
sollen danach anscheinend alle diejenigen Urteile und Handlungen gelten, bei
denen, in der Sprache Wundts ausgedrückt, ein Abwägen zwischen ver-
schiedenen Möglichkeiten ausgeschlossen ist: also die gesamten triebartigen
Handlungen und rein assoziativ zustande gekommenen Überzeugungen würden
hierhin gehören. Ein Blick auf eine Anzahl von St oll gegebener Beispiele
stimmt in der Tat dazu, zeigt aber zugleich, wie der Verfasser Überall den
Mangel der höheren, regulierenden Einflüsse als etwas Abnormes, gleichsam
als einen pathologischen Defekt auffaßt Von den Beschlüssen des franzö-
sischen Konvents in der großen Revolution z. B. sagt er (S. 617): »Aus der
Natur dieser wichtigen Beschlüsse allein wäre der Nachweis einer Beteiligung
suggestiver Einflüsse an ihrem Zustandekommen nicht möglich, denn nackt
zusammengestellt erscheinen sie lediglich als das Produkt vernunftgemäßer
Überzeugung. Mit aller Deutlichkeit geht aber das suggestiv-enthusiastische
Element aus der Schilderung hervor, wie diese Beschlüsse zustande kommen.
Diese zeigt nämlich, wie der Affekt der Begeisterung einen stärkeren Anteil
an ihnen hat als die nüchterne Erwägung.« Die Tatsache des sogenannten
Tropenkollers, der, wie Stoll selbst anführt, durchweg zutage tritt wo bei
der Ausübung der Macht tieferstehenden Elementen gegenüber jegliche Kon-
troUe und jegliche Schranke fehlt, gehören nach ihm ebenfalls zu den Sug-
gestiverscheinungen; denn es »verwirrt das Bewußtsein unbeschränkter und
unkontrollierbarer Gewalt Uber Leben nnd Tod das normale Empfinden völlig«
(S. 649). Auf Suggestion beruht es ebenso, wenn es der bekannten Therese
Humbert viele Jahre lang gelungen war, mit den unwahrscheinlichsten An-
gaben eine große Reihe von gescheiten Leuten um ungeheuere Geldsummen
zu prellen (S. 656;. In Wirklichkeit lassen sich ähnliche Fälle starker Leicht-
gläubigkeit doch wohl recht häufig beobachten. »Nur auf dem Wege der an-
steckenden imitativen Suggestion ferner ist es möglich, daß unsere Damen
in diesem Jahre sich alle erdenkliche Mühe geben, ihrem Körper da Buckel
aufzusetzen, wo er keine hat, in einem andern Jahre dagegen sogar die
natürlichen Buckel ihres Leibes gewaltsam platt zu drücken.« — Die günstige
Auffassung, welche die Optimisten von der Wirklichkeit hegen, beruht eben-
falls auf Suggestion: »Ein Blick in die Krankensäle eines Hospitals oder auf
die Melancholiker eines Irrenhauses, die in beständigem psychischen Schmerz
sich härmen, müßte ihnen, bestände nicht der Zwang der Suggestion, zeigen,
daß die Zweckmäßigkeitslehre sich nicht aufrechterhalten läßt« (S. 703). —
Nur noch ein besonders instruktives Beispiel. Der wissenschaftliche Dilettan-
tismus, wie er sich z. B. in dem Versuche, die mexikanische Kultur aus
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Literaturbericht.
Griechenland abzuleiten, in der Falbechen Theorie oder Jägerschen Seelen-
riecherei n. a. kundgibt, ist ebenfalls suggestiv veranlaßt: »Das suggestive
Moment dokumentiert sich dabei aufs klarste darin, daß solche Leute nicht
nur zu einer wissenschaftlich-kritischen Fragestellung selbst unbefähigt sind,
sondern daß sie sich gegen die wirkliche, nüchterne wissenschaftliche Arbeit
auf dem betreffenden Gebiete geflissentlich und demonstrativ ablehnend ver-
halten« (8. 673).
Überall zeigt sich in diesen Beispielen dieselbe Überschätzung des durch-
schnittlichen logischen und ethischen Niveaus der menschliehen Natur. Wer
sich einigermaßen selbst zu beobachten versteht, weiß, wie selten seine Über-
zeugungen wirklich durch logische Kräfte, seine Entschlüsse und Handlungen
durch klare Zweckmäßigkeitserwügungen und rein ethische Motive bestimmt
sind. Wer mit derselben Beobachtungsgabe jemals in einem Kollegium tätig ge-
wesen ist, weiß auch, daß bei dessen KoUektivbeschlttssen derartige Leistungen
noch viel seltener sind. Wissenschaftliche Probleme auf dilettantischem Wege
anzufassen, unwahrscheinlichen Behauptungen im Stile der Therese Humbert
zum Opfer zu fallen, die einfachsten widersprechenden Tatsachen der Er-
fahrung zugunsten einmal gefaßter Meinungen zu Ubersehen, ist nichts Außer-
gewöhnliches, nichts Abnormes oder Pathologisches, sondern ein Grundzug der
menschlichen Natur. Aus diesen Tatsachen, deren Untersuchung heute noch
in den ersten Anfängen liegt, entstammen vorzüglich die bekannten Schwierig-
keiten einer befriedigenden Definition des Begriffs der Suggestion. Vorläufig
und für Zwecke wie diejenigen des vorliegenden Buches könnte man viel-
leicht von Suggestion Überall da sprechen, wo infolge fremder Einwirkung
oder lediglich aus inneren Ursachen heraus die Überzeugungen und Hand-
lungen ein entschiedenes Herabsinken unter das sonstige Niveau der Persönlich-
keit und einen inneren Widerspruch mit deren Gesamtart zeigen, also gleich-
sam ein fremdes Ich in dem eigenen Ich offenbaren. Im Grunde hat dies
offenbar auch St oll vorgeschwebt; schon die hier genannten Beispiele weisen
darauf hin. Am deutlichsten aber beweist es das von ihm angeführte Bei-
spiel eines verstorbenen französischen Physikers, der sich zugleich nebenher
in der Konchyliologie einen hervorragenden Namen gemacht hatte. Ganz zu-
fällig durch ein Erlebnis in der Kinderzeit war er zu dem letzteren Interesse
gekommen, das ihn dann fortgesetzt und während seiner letzten Lebensjahre
ausschließlich beschäftigte. >Daß es sich wirklich in diesem Falle nicht bloß
um eine allgemeine Neigung zu zoologischen Studien, sondern um eine spezi-
fische Form der Suggestion handelte, beweist der Umstand, daß er sich gegen-
über andern, sonst häufig im Bereiche der Liebhaberei liegenden zoologischen
Zweigen vollständig gleichgültig verhielt« (S. 714). Also gleichsam ein fremder
Blutstropfen in seinem Körper. A. Vierkandt [Groß-Lichterfelde).
2) L. Frobenius, Das Zeitalter des Sonnengottes. I. Bd. Mit 1 TafeL XII,
420 S. gr. 8°. Berlin, G. Reimer, 1904. M. 8.—.
Dieser Band enthält die Anfänge einer vergleichenden Mythologie im
großen Stile. Die früheren derartigen Versuche, die sich durchweg auf die
indogermanischen Völker beschränkten, überragt der hier begonnene vor allem
durch die Weite des Gesichtskreises, nämlich die Hereinziehung der gesamten
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Literaturbericht.
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Völker der Erdoberfläche in die Untersuchung, sowie durch deren weit vor-
sichtigere und kritischere Art In diesem einleitenden ersten Bande stellt
der Verfasser vor allem eine Anzahl universell verbreiteter Typen von Mythen
zusammen, indem er ihre besondere Ausgestaltung bei den einzelnen Völkern
in einer großen Menge von Beispielen meist in ziemlich wortgetreuer An-
lehnung an die Quellen vorführt. Die Deutung tritt dem Stoff gegenüber in
den Hintergrund, so daß dieser Band auf alle Fälle das Verdienst einer an-
regenden Materialsammlung besitzt
Von den behandelten Typen ist wohl am einheitlichsten trotz seiner
universellen Verbreitung gestaltet derjenige des Walfischmythus, wie wir ihn
aus dem alten Testament in der Geschichte von Jonas kennen: ein See-
ungeheuer verschlingt den Helden, oft auch alle Menschen und schwimmt mit
seiner Beute von Westen nach Osten ; der Held wird, nachdem er häufig das
Herz des Ungetüms verwundet und in dem Gefängnis seine Haare eingebüßt
hat, schließhch eventuell samt allen Insassen ans Licht gespien. Verwandt
damit sind die Mythen von Arion und von Polykrates. — Ein weiterer be-
handelter Typus ist derjenige der Jungfrauengeburt: eine Jungfrau wird
schwanger, indem sie etwas verschluckt einen Fisch, eine Kiefernadel, eine
Beere u. dgl. m. ; an Stelle des Verschluckens tritt auch wohl die ein-
fache Anhexung durch einen Zauberer. Der Geborene ist durchweg ein großer
Held. Oft kommt noch ein Aussetzungsmythus hinzu: die Jungfrau samt
ihrem Kinde wird in einem Kasten eingesperrt, der dem Meere Uberantwortet
wird und schließlich ans Land treibt — Weiter erwähnen wir die Mädchen-
angelmythe: ein Jüngling verleiht einen Fischhaken, der dabei verloren geht
Er gerät darüber in Zwist mit dem Verleiher und sucht den Haken in der
See. Auf dem Meeresgrund trifft er ein Mädchen, welches den Haken ver-
Bchluckt hat und wieder von sich gibt in der Regel dann auch von ihm
geheiratet wird. Der Angelhaken wird oft durch eine Harpune, durch einen
Pfeil, ja gelegentlich durch ein Rindenstück ersetzt Ferner sei die Schwanen-
jungfraumythe genannt: eine Jungfrau, die wohl auch die Gestalt eine« Fisches
oder Vogels hat legt beim Baden ihre Gewänder, eventuell ihre Flügel oder
Flossen ab; diese werden ihr von einem Manne geraubt der sie dann unter
Ausnutzung der Situation zur Frau gewinnt. Später findet sie aber das Ver-
lorene wieder und scheidet für immer. — Endlich behandelt das Buch eine
Anzahl Mythen, welche sich auf das Liebesleben von Sonne und Mond und
auf das Eheverhältnis von Himmel und Erde beziehen.
Alle diese Typen sind, wie gesagt universell verbreitet Der Grund davon
kann entweder in einer spontanen Entstehung an verschiedenen Orten oder
in einer Ausbreitung von einem einzigen Zentrum aus gesucht werden. Im
enteren Falle muß ein einheitlicher Entstehungsgrund für die vielfachen
Wiederholungen derselben Erscheinung angenommen werden ; daher verbietet
sich dann die ZurUckfUhrung der Mythe auf historische Ereignisse, was ohne-
hin übrigens auch aus inneren Gründen der Fall sein wtlrde; denn wir wissen,
wie außerordentlich schwach die Tradition und die historischen Interessen
bei allen primitiven Völkern entwickelt sind. Es würde daher nur übrig-
bleiben, auf Naturereignisse zurückzugreifen. Einen Hinweis auf den Ursprung
könnte man nun, und das würde auch für den zweiten Fall gelten, in der
Tatsache erblicken, daß in vielen Einzelgestaltungen dieser Mythen ein deut-
licher Bezug auf die großen Erscheinungen des Himmelslebens, insbesondere
auf das Versinken der Sonne im Meere und ihr Auftauchen aus ihm, sowie
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Literaturbericht.
auf ihre zu verschiedenen Zeiten verschieden gestaltete Bahn am Himmel
zu erkennen ist. Ob dieser Hinweis zwingend ist, laßt sich heute kaum
entscheiden; auch nicht auf dem Wege psychologischer Rekonstruktion.
Frobenins meint allerdings, daß das Schauspiel von Sonnenauf- und -unter-
fang und Nachtgröße in den Tropen einen ganz Überwältigenden Eindruck
gemacht haben müsse (S. 35] und demgemäß mehr als jeder andere Vorgang
zur Erzeuguug aller dieser Typen befähigt gewesen wäre. Aber sein ganzes
Buch ist so kritisch gehalten, daß er selbst seiner Erklärung nur den Wert
einer Wahrscheinlichkeit beimißt Die Theorie ist, wie gesagt, in dem vor-
liegenden Bande nur angedeutet. Ihr Hauptgesichtspunkt ist derjenige einer
unermeßlichen historischen Kontinuität in den heutigen Mythen. Nicht nur
die moralisierenden Fabeln bei den höheren Kulturvölkern werden, wie das
heute wohl allgemein angenommen wird, auf frühere harmlose Formen zurück-
geführt, sondern auch für die meisten sogenannten Erklärungsmythen, welche
den Ursprung irgendeines Gebildes oder irgendeiner Eigenschaft aus einem
einmaligen Ereignis ableiten, nimmt Frobenins eine ähnliche nachträgliche
Anpassung gegebener älterer Stoffe an. Allerdings ist er weit von jener
Schematisierungswut entfernt, die alle Mythen auf eine einzige Quelle zurück-
führen möchte; vielmehr sind für ihn die solaren Erscheinungen nur der
Hauptausgangspunkt der Mythendichtung gewesen. Von hier aus hat die
Mythologie sich dann vorzüglich in vier allgemeinen Typen entwickelt: der
heroische Typus schildert die großen Taten eines Heldenjiinglingn. dessen
solare Natur vielfach noch durchschimmert; der animalistische Typus bietet
uns anscheinend nur Tierfabeln, denn der ursprüngliche Kern ist hier infolge
eines beschränkteren Interessenkreises völlig Uberwuchert durch die Teil-
nahme an dem Leben der Tiere; der kosmologiscbe Typus umgekehrt vertieft
seinen Stoff zn weit ausgesponnenen Vorstellungen Uber den ersten Ursprung
der Dinge; der epische Typus endlich ist uns von manchen Kulturvölkern
hinlänglich bekannt. Eine Abzweigung von ihm bildet das einfache Märchen.
Der Grundgedanke dieser ganzen Theorie, der sich wohl in Wechsel-
wirkungen mit dem Durcharbeiten des Stoffes entwickelt, jedenfalls an ihm
bewährt hat, ist die stillschweigende Üb erzeugnng von dem Mangel an
Spontaneität als der wichtigsten von den für die Mythenbildung in Betracht
kommenden Eigenschaften des menschlichen Bewußtseins. Schon die älteste
Zeit der Menschheit hat ein für allemal die grundlegende Arbeit auf dem
Gebiete des Mythus getan. Sie hat die großen, gewaltigen Typen umschrieben
und fixiert, die dann eine unermeßliche Fülle von Abwandlungen erlebt haben,
die sich Uberall den herrschenden Interessenkreisen und der gegebenen
Denkweise angepaßt und dadurch mit dem Denken und Fühlen einer un-
ermeßlichen Reihe von Geschlechtern aufs engste verschmolzen haben. Für
die Religion wie für die Kunst sind sie bis auf den heutigen Tag von grund-
legender Bedeutung geblieben. Auch hier scheint sich zu bewahrheiten, was
auf so vielen Gebieten heute sichergestellt ist, daß die Wurzeln unserer
Kulturgüter in die entlegensten Zeiten zurückreichen, und diese schon damals
entscheidende Impulse für ihre spätere Gestaltung empfangen haben.
A. Vierkandt (Groß-Lichterfelde).
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Literaturbericht.
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3) Kar] Lange, Sinnesgenttsse und Kunstgenuß. Beitrüge zu einer sensu-
alistischen Kunstlehre. VIII, 100 S. gr. 8°. {Grenzfragen des Nerven-
und Seelenlebens, herausgeg. von Loewenfeld und Kurella, Heft XX.)
Wiesbaden, J. F. Bergmann, 1903. M. 2.—.
Die Abhandlung zerfällt in zwei Hauptabschnitte. Der erste behandelt
die Physiologie des Genusses und den Kunstgenuß, der zweite die Kunst
Im ersten Abschnitt werden die folgenden Punkte besprochen.
1) Die Physiologie des Genusses.
Die aktiven Bewegungen unserer Blutgefäße und damit auch unsere
ftefüblszuatände werden durch das vasomotorische Nervensystem reguliert.
Dabei können die vasomotorischen Vorgänge und damit die Affekte und damit
wieder die Genüsse teils durch periphere (sinnliche), teils durch zentrale fgeistige)
Vorgänge ausgelost werden. Ferner kann eine affektive Gefäßbewegung
ilurch chemische Einwirkung auf das Blut Alkohol, Morphium usw. und durch
mechanische Einwirkung auf den Kreislauf (Tanzen, Rennen usw.) verursacht
werden. Alle diese Mittel benutzen die Menschen, um sich Genüsse zn ver-
schaffen; so ruft man durch Sinneseindrllcke der verschiedensten Art (Ge-
schmacksempfindungen, Gerüche, Farben, Töne usw.) Behagen hervor; Kaffee,
Tee, Alkohol usw., sowie Tanzen, Turnen, Bergsteigen usw. sind Genuß-
mittel, welche eine große Rolle im Leben spielen.
2) Die Affekte als Genußmittel.
Es ist nun festzustellen, auf welche Weise die verschiedenen Arten von
Genußmitteln uns Genuß verschaffen, und da ergibt sich, daß die Eindrücke,
denen wir uns hingeben, um einen Genuß zu erleben, vasomotorische Vor-
gänge sind, auf der Verengerung oder Erweiterung der Blutgefäße beruhen,
d. h. also Gemütsbewegungen Bind (vgl. darüber des Verfassers >Über Gemüts-
bewegungen«, Leipzig, 1887;. Es ist nun von größter Bedeutung, darüber klar
zu werden, welche Affekte uns Genuß bereiten und welche nicht, und Lange
gibt darauf die Antwort, daß fast alle Gemütsbewegungen und Stimmungen im-
stande sind, Genuß zu gewähren. Daß die Freude Genuß bietet, bedarf keiner
weitern Erläuterung. Auch der Zorn ist mit Genuß verbunden; dies äußert sich
besonders im Leben der Naturvölker, in welchem der Kampf ein großes Genuß-
nüttel bildet Selbst der Angst und dem Schrecken fehlt der Genuß nicht;
kann man nämlich die emotionellen Angstphänomene erleben, ohne sich in
Wirklichkeit einer ernsten Gefahr auszusetzen, mit klarem Bewußtsein der
Sicherheit der Situation, so ist die Angst vielleicht nicht weniger genußreich,
al« die vorhin erwähnten Affekte (vgl. z. B. den Genuß an schaurigen Ge-
spenstergeschichten). Der Angst steht die Spannung sehr nahe, wegen des da-
mit verbundenen Genusses einer der gesuchtesten Affekte, was die Beliebtheit
aller Arten von Spiel zeigt. Selbst der Kummer ist unter Umständen nicht ohne
Genuß; man denke etwa an die Wollust der Tränen. Endlich sind die Ek-
stase und die Bewunderung zwei mit Genuß verbundene Affekte, die ja ge-
rade im ästhetischen Genuß mit eine große Rolle spielen. Einzig der Affekt
der Enttäuschung scheint nie von Genuß begleitet zu sein.
Es kann also wohl als feststehend betrachtet werden, daß unsere Genuß-
zostände zum großen und wesentlichen Teil aus unsern Gemütszuständen
stammen; sie hängen also von vasomotorischen Veränderungen ab. Wohl
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30
Literaturbericht.
ist es möglich, daß wir auch Genuß empfinden können ohne das, was man
gewöhnlich Gemütsbewegung nennt, aber jedem Genuß wird doch wahr-
scheinlich eine vasomotorische Veränderung zugrunde liegen von derselben
Art, wie die, welche unsere Gemütsbewegungen repäsentieren.
Neben dieser allgemeinen Bedingung der Genußeraeugung gibt es noch
andere, welche für die künstlerische Erregung des Genußlebens von der
größten Bedeutung sind; es sind dies die Anwendung der Abwechslung und
die Erregung der sympathischen Stimmung.
S) Die Abwechslung als Genußmittel.
Jeder Genuß hat seinen natürlichen Abschluß, man wird schließlich ab-
gestumpft gegen ihn. Da, wo es sich darum handelt, einen dauernden Genuß-
zustand zu erhalten, ist die erste Aufgabe, für Veränderung zu sorgen. Die
Unlust aus Mangel an Abwechslung kann entweder in Abstumpfung oder in
Müdigkeit bestehen, deren erstere aus den perzipierenden Nervenelementen,
deren letztere aus dem vasomotorischen Zentrum stammt. Diesen Erscheinungen
der Abstumpfung und der Ermüdung beugt man nur durch den Wechsel der
genußerregenden Eindrücke vor.
Aber in manchen Fällen bildet Uberhaupt die Abwechslung an sich ein
Genußmittel, besonders wenn die Abwechslung in gesetzmäßig bestimmter
Form gegeben wird, wie z. B. im Rhythmus. Dessen Reiz besteht in be-
ständig wiederkehrender Spannung mit darauf folgender Lösung. Nun soll
aber nicht gesagt sein, daß jede Abwechslung genußbringend ist, wohl aber
wäre es wünschenswert, einmal die Gesetze Uber die Wirkung der Abwechslung
hinsichtlich der Lust- und Unlustgefühle zu ermitteln.
Die starke emotionelle Wirkung der Abwechslung kann nun noch dadurch
erhöht werden, daß man beim Wechseln der Eindrücke gelegentlich einen
unterlaufen läßt, der nach den gegebenen Voraussetzungen gar nicht zu er-
warten war. Dadurch entsteht die Überraschung, ein Mittel, das sich in der
Kunst großer Beliebtheit erfreut (vgl. Heine}, das aber mit viel Vorsicht ver-
wendet werden muß, da die Überraschung leicht zur unangenehmen Ent-
täuschung werden kann.
4) Die sympathische GefUhlacrregung.
Es ist eine höchst bemerkenswerte Tatsache, daß man von einer Gemüts-
bewegung ergriffen werden, in eine Stimmung versetzt werden kann dadurch,
daß man diese Stimmung bei andern beobachtet. Diese Übertragbarkeit der
Gemütsbewegungen bezeichnet man als Sympathie. Alle Gemütsbewegungen
können ansteckend wirken (man denke an das Ansteckende der Freude oder
die Übertragbarkeit von Furcht und Schrecken von einem einzelnen auf eine
ganze Volksmenge, etwa bei einer Panik). Das, was ansteckend wirkt, sind
die körperlichen Erscheinungen, da sie das einzige für andere Bemerkbare
an der Gemütsbewegung sind. »Ein in der Tiefe der Seele versteckter Affekt
hat keine Möglichkeit, ansteckend auf die Umgebung zu wirken, wohingegen
eine fingierte Gemütsbewegung oft ebenso ansteckend wirkt, wie eine echte.«
Diese Übertragbarkeit der Gemütsbewegungen spielt eine große Rolle in
der Kunst. Es ist einleuchtend, daß plastische, oder gemalte, oder mimische,
oder mit Worten geschilderte Gemütsbewegungen in uns eine sympathische
Wirkung hervorrufen, und wir sind so imstande, durch die Kunst uns eine
Menge von genußreichen Stimmungen zu verschaffen, die uns im gewöhnlichen
Leben nicht immer zur Verfügung stehen.
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Literatarbericht.
31
Im zweiten Hauptabschnitt: »Die Kunst« treffen wir folgende Gedanken :
Das Genußverlangen der Menschen hat an der Natur allein nie völlige
Befriedigung gefunden; wo nun die Natur versagt, tritt die Kunst ein. Sie
ist aus dem Bestreben, dem ewig regen Drange nach Genuß entgegenzukommen,
entsprungen. Jedes Henschenwerk, das seinen Ursprung in dem bewußten
Streben hat, einen Genuß durch das Auge oder das Ohr hervorzurufen, nennen
wir Kunstwerk. Als Genußmittel, die in der Kunst Anwendung finden, haben
wir die Schaffung von Abwechslung und das Hervorrufen von Gemüts-
bewegungen auf sympathischem Wege kennen gelernt; eine Sonderstellung
unter den Affekten kommt der Bewunderung (Ekstase) zu, so daß wir diese
als drittes künstlerisches Genußmittel den beiden obengenannten anreihen
dürfen. Demnach ist die KunBt zu definieren als der »Inbegriff der mensch-
lichen Werke, welche durch Abwechslung, sympathische Stimmungserregung
oder Erweckung von Bewunderung Genuß gewähren«.
Der Verfasser geht nun einzelne Kunstzweige, wie die Dekoration, die
Malerei, die Dichtung und die Bühne mit Rücksicht auf die drei Genußmittel
im speziellen durch. Da diese Kapitel prinzipiell nichts Neues mehr bieten,
sondern nur die Anwendung der vorgetragenen Ideen auf einzelne Fälle ent-
halten, so möge hier dieser kurze Hinweis darauf genügen.
W. Nef (Trogen .
4} Alfred Lichtwark, Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken.
5. Auflage. Mit 16 Abbildungen. 136 S. gr. 8<>. Berlin, B. Cassirer,
191)4. Geb. in Leinw. M. 4. — .
Nach einer Einleitung, welche einige Winke des Verfassers über die
künstlerische Erziehung der Jugend enthält, gibt das Büchlein zehn Unter-
haltungen Uber Gemälde im Hamburger Museum, welche Lichtwark mit
einer Schulklasse geführt hat. Diese Unterhaltungen sind mit den einzelnen
Fragen des Lehrers und den Antworten der Schüler wiedergegeben und bieten
so unmittelbar ein Muster dafür, wie ein Lehrer mit seiner Klasse Übungen
in der Kunstwerkbetrachtung vornehmen kann. Es ist zu wünschen, daß das
Büchlein besonders bei den Lehrern eine große Verbreitung finde.
W. Nef (Trogen).
ö) Max Runge, Das Weib in seiner geschlechtlichen Eigenart. Nach einem
in Göttingen gehaltenen Vortrage. 4. Auflage. IV, 38 S. gr. 8».
Berlin, J. Springer, 1900. M. 1.—.
Dem Weibe kommt infolge seiner ganzen Konstitution eine gewisse
Schwäche und Schutzbedürftigkeit zu; dies zeigt sich besonders während der
periodisch wiederkehrenden Menstruation, dann aber bei der Verrichtung seiner
eigentlichen Berufsarbeit, bei der Schwangerschaft, beim Gebären und Säugen
des Kindes, während welcher Zeit die Leistungsfähigkeit des Weibes gegen-
über der Außenwelt erheblich herabgesetzt ist. Dabei entwickelt sich das
Weib aber doch erst durch das Vollziehen seiner Berufstätigkeit (durch die
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32
Literaturbericht.
Fortpflanzungevorgänge) zu seiner vollen Eigenart Mit dem weiblichen Ge-
schlechtsleben hängen auch geistige Eigenschaften zusammen, welche dem
Weibe eigentümlich sind, so vor allem die Neigung zur Täuschung und zum
Trug, welche wohl daraus entsteht, daß die Scham dem Weibe die Ver-
heimlichung seiner sexuellen Vorgänge, wie Menstruation, Schwangerschaft,
gebietet Auch der Hang des Weibes zum Putz und zur Gefallsucht hängt
mit dem Geschlechtsleben zusammen. Der gewaltigste Instinkt des Weibes
ist der Mutterinstinkt, und darauB leiten sich die größten Tugenden und Fähig-
keiten des Weibes her, vor allem Mitleid und Menschenliebe, Teilnahme und
Geduld für Unglückliche und Kranke. Fragt man nun, ob das Weib für seine
Berufsarbeit (die Kinderzeugung) ebenso vollkommen ausgerüstet sei, wie der
Mann für die seinige, so muß dies verneint werden; den Beweis für diese
Behauptung erbringen die Anatomie, Physiologie und Pathologie. Aus allem
diesem ergibt sich nun, daß die Frauenbewegung im Irrtum ist wenn sie eine
völlige Emanzipation des Weibes verlangt. »Weder Erziehung noch Lebens-
weise, weder die hochgeschraubteste Kultur noch größte Unkultur werden je
imstande sein, die spezifische Eigenart des Weibes auszulöschen.« Dabei ver-
wahrt sich aber Runge, als Gegner der Frauenbewegung hingestellt zu
werden, wenn er »auf die natürlichen Anlagen und Schranken, die sich aus der
geschlechtlichen Eigenart des Weibes ergeben, hinweise«.
W. Nef (Trogen).
6) Frau Marie Brühl, Die Natur der Frau und Herr Professor Runge. Eine
Erwiderung auf die Schrift »Das Weib in seiner geschlechtlichen
Eigenart« von Dr. Max Runge, Geh. Medizinalrat zu Göttingen. 29 S.
gr. 8». Leipzig, H. Seemann Nachf., 1902. M. —.75.
Diese Schrift wendet sich in ziemlich aufgeregter Webe gegen die oben
angezeigte von Runge. Marie Brühl tadelt an Runge hauptsächlich seine
einseitige Auffassung von der Berufstätigkeit der Frau. Nicht die Vollziehung
der Fortpflanzungstätigkeit ist der natürliche Beruf des Weibes, sondern das
Streben nach Vollkommenheit und dann allerdings auch die Pflege des Kindes .
Auch tritt die Verfasserin eifrig für die Gleichheit der Rechte von Frau und
Mann ein. W. Nef (Trogen).
7} Johanna Elberskirchen, Die Liebe des dritten Geschlechts. Homo-
sexualität eine bisexuelle Varietät keine Entartung — keine Schuld.
38 S. gr. 80. Leipzig, M. Spohr, 1904. M. 1.—.
Die Verfasserin vertritt mit großem Eifer den Standpunkt daß die Homo-
sexualität und die Liebe des Homosexualen keine Entartung, keine Psycho-
pathie und keine Schuld seien. W. Nef (Trogen).
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Vient de paraSlre le 1" Mai 1904
1
A LA LIBEAIRIE MASSON ET C4e
120, BOULEVARD SAINT GERMAIN, PARIS (6.)
L'MNfiE PSYCHOLOGIQUE
Publice par M. A. BIN ET
Directeur du Laboratoirc de Psychologie de la Sorboune.
AVEC LA COLL ABORATION DE
MM. Baldwin, Beaanis, Blum, Gas ton Bonnier, Bourdon,
Boutroux, Bouvier, Capitan, Claparede, Demoor, Deniker, Durkeim,
Ebbinghaus, Fere, Flournoy, Fredericq, Fuster ;M1";,
Van Gehuchten, Giad, Gley, Grasset, Henneguy, Henri,
Lacassagne, Leuba, Malaper t, Martin,
Metchnikoff, H. Michel, Philippe, Pitres, Poincare, Regia,
Renault d'Allonnes, Ribot, Serieux, Simon, H. de Varigny,
Warren, Zwaardemaker.
Sea-ctairc de la rvlaction: J. L ARG VIER DES BANCELS
SOMMAIRE DU TOME X
Editorial
MEMOIRE* ORIGINAL'X
V. Henri: L'origine psychologique des uotions de force, energic et mauere.
A. Bin ET: L'imagiuation littcraire. Portrait de Paul Hervieu.
A. BlNET : La graphologie et «es revelations sur Tage, lc sexe et riutelligcnce.
Lecaii.lox: Psychologie d'unc Araignec.
H- Miciiel: Ren vier et Spencer.
Bourdon: Un oas de trouble de la pereeptiou stcreognostique.
LarüLIER. Kxperienccs sur la memoire.
FlrB: ObservatioDS sur Tasjocialion des idees.
BlNET: Sommairc des travaux m cours ä la Socicte de Psychologie de Vatfant.
Zwaardemakkr: Experiencc sur leg Uraitcs de lauditiuii.
Bertillon: Methode pour reconuaitre nnc phygiouomie.
REVUES GE>' ERALES
Hexnegcy: Revue annucllc de Cytologie.
Van Gebuchten: Revue annucllc* d' Anatomie du Systeme uerveux. — A propo«
de la loi de Waller.
Fredericcj: Revue annuelle de Physiologie du Systeme nerveux.
PrritEs: Revue annucllc de Pathologie uerveusc. La Psychastenie.
Orasset: La grandeur et la decadcncc du Neurone.
Den'ICKER: Revue annuelle d'Authropologie.
Serieux: Revue annuelle de Pathologie mentale.
Simon: Resume clinique de Psychiatrie.
Blum: Revue annuelle de Pedag.jgie normale.
Demoor: Revue annuelle de Pedagogie des auormaux.
Malapert: Revue annuelle de Philosophie et de Monlc.
Leuna: Revue annucllc de Psychologie religicusc. Definition de cette scienec.
H. de Varigny: Chronique psyehologique.
A. BlNET: Revue annuelle des'crreurs de Psychologie.
ANALYSES
Compte rendu analytique et critique de nenibreux ouvrages et memoires de
Psychologie.
TABLES BIBL10GRAPH1QUES
contenant environ 3.000 numeros d'ouvrages sc rapportant a la Psychologie.
UN volumc in-S" 15 francs.
(Ce journal est pass6 du fondg de la Librairie Schleicher Frercs ü la Librairic
Masson et Cic.
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Inhalt des 1. und 2. Heftes.
Abhandlungen:
HEBT, E., ud<1 E. Melmanv, Über einige Grundfragen der Psychologie der
Übuugsphänonieuc im Bereiche des Gedächtnisses. ' (Mit einer Figur
im Text) 1
Geich: Moritz, Bemerkungen zur Psychologie der GefühUelementc und
Gefühlsverbindungen 233
Litcraturbcxieht:
Vicrkandt, AM Jahresbericht über die Literatur zur Kultur- und Gesellschaft»-
lehre aus dem Jahre 1903
Stoll, Otto, Suggestion und Hypnottsmus der Völkerpsychologie (A. Vicr-
kandt)
Frobeniua, L., Das Zeitalter des Sonnengottes. (A. Vierkandt) 88
Lange, Karl, SiunesgcnQssc und Kunstgenuß. (W. Ncf) 29
Lichtwark, Alfred, Übungen in der Metrachtung von Kunstwerken.
(W. Xef) . . . . \ 31
Kungc, Max, Da« Weib in seiner geschlechtlichen Ki^enart. (W. Xtf) 31
Brühl. Marie, Die Natur der l;ra i und Herr Professor Runge. (W. Srf) 32
Elbcrskirchcu , Johanna, Die Liebe des dritten Geschlechts. (W. Nef) 32
Verlag von Wilhelm Engelmann in Leipzig.
Grundriss
\^ der
HEILPÄDAGOGIK
von
Dr. Theodor Heller,
Direktor der heilpädagognchen Anstalt Wien-Grinzing.
Mit 2 Abbildungen auf einer Tafel,
gr. 8. 1904. Jt 8.-; in Leinen geb. Jf 9.—.
Studien
• nir
• *" * * . i
Blindenpsychologie
von
Di Th. Heller,
Direktor der ucilpädagogitschcn Anstalt Wien-üriniing.
Mit drei Figuren im Text.
gr. 8. 1904. .M 3.-.
• Druck roa Br«Hko»f * HirLl in Uipiig.
Referate.
DTheodorLipps, Leitfaden der Psychologie. IX, 349 S. gr. 80. Leipzig,
Wilhelm Engelmann, 1903. M. 8.— ; geb. M. 9.—.
Lipps hat diesen »Leitfaden der Psychologie« zunächst für die Hörer
seiner Vorlesungen bestimmt. Für den Anfänger sind gewisse Abschnitte,
die man unbeschadet des Zusammenhanges überschlagen kann, mit einem
Sternchen versehen.
Der »Leitfaden« ist ein Buch von ganz eigenartigem Charakter. Dem
Hörer der Vorlesungen des Verf. mag er nützliche Dienste leisten, aber für
den Anfänger Uberhaupt ist er nicht geeignet, und zwar deswegen nicht,
weil er alles das alß gegeben voraussetzt, was dem Anfänger in allererster
Linie zu wissen not tut: Kenntnis der auf experimenteller Basis zu gewin-
nenden Tatsachen. Dagegen ist die logische Behandlung eines gewissen
Tatsachenmaterials so sehr in den Vordergrund gerückt, daß ein Amänger
leicht in den Glauben kommen kann, es handle sich für den Psychologen in
erster Linie um Reflexionen und erst in letzter Linie um exakte Beobachtung
und Sammlung von Tatsachen.
Die eigenartige, anf logische Sichtung des Stoffes hinausgehende Dar-
stellung läßt es kaum zu, einen kurzen Oberblick des Inhaltes zu bieten.
Denn die einzelnen Erörterungen und Begriffsbestimmungen greifen so sehr
ineinander Uber, daß ein Auszug doch kein richtiges Bild vom Ganzen zn
geben vermöchte. Wir beschränken uns deshalb darauf, nur so viel herbei-
zuziehen, als zur Charakterisierung der Eigenart des Buches dient, zur Fest-
stellung der Vor- und Nachteile des eingeschlagenen Verfahrens in der Be-
handlung des psychologischen Stoffgebietes.
Die Psychologie faßt Lipps auf als »die Lehre von den Bewußtseins-
inhalten oder Bewußtseinserlebnissen als solchen«. Die Beschaffenheit eines
Bewußtseinserlebnisses wird schließlich an einem Bild veranschaulicht. »Ein
BewuBteeinserlebnis ist eine Linie mit zwei Endpunkten. Der eine Endpunkt
ist der so oder so beschaffene Inhalt, der andere Endpunkt, hesser der An-
fangspunkt, ist. das Ich. Die Linie zwischen beiden Punkten ist das .Mein-
sein4 Bewußtseinserlebnisse sind Linien, die von einem einzigen
Punkte, dem Ich, ausgehen nnd am andern Ende einen Inhalt tragen« (S. 3).
Im Zusammentreffen aller Linien in dem einen Punkte, dem Ich, besteht die
»Einheit des Bewußtseins«. Mit Wundt betrachtet Lipps die Psychologie
als eine Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung und scheidet sie so von
Naturwissenschaft und Mathematik. Ihre Aufgabe besteht in einer »Analyse,
Vergleichung, systematischen Ordnung der vorgefundenen Inhalte nnd der
Erzeugung der etwa in ihnen unmittelbar auffindbaren Gesetzmäßigkeit«
Archiv fftr Psychologie. IV. Literatur. 3
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34
Literaturberieht.
(8. 5). Man sollte meinen, damit wäre alles empirisch Erreichbare angegeben.
Aber es macht gerade eine der Eigentümlichkeiten der in Rede stehenden
Psychologie ans, daß sie noch eine zweite Aufgabe darin erblickt, die vor-
gefundenen Inhalte in einen Kausalzusammenhang einzuordnen.
Jene erste Aufgabe wird die phänomenologische, oder die rein beschreibende
genannt, diese die erklärende. Da diese letztere Aufgabe den psycholo-
gischen Standpunkt von Lipps ganz eigenartig beeinflußt hat, wollen wir
etwas bei ihr verweilen. Über die Notwendigkeit der »erklärenden« Aufgabe
der Psychologie äußert sich Lipps S. oft, S. 181 ff. und auch im Schluß-
kapitel S. 335 ff. »Kausalität ist ihrer Natur nach Kausalität zwischen objektiv
Wirkliebem Ein physisches «Erlebnis' E stellte sich ein unter den
begleitenden und vorangehenden Umständen U.« Ein solches Erlebnis bleibt
aber an ein schlechthin unabhängig von mir existierend gedachtes U
geknüpft Das heißt, U und E sind »Gegenstand des Bewußtseins der
objektiven Wirklichkeit« (8.182). Die Notwendigkeitsbeziehung ist aleo un-
abhängig von dem Individuum überhaupt und seinen zeitlichen Zuständen. Da-
gegen enthält das Bewußtsein der subj ektiven Wirklichkeit keine Notwendig-
keitsbeziehung. Unsere Bewußtseinserlebnisse sind vom Individuum abhängig
und von seinen augenblicklichen Zuständen. »Und da nun Bewußt-
seinserlebnisse aU solche aller Ursächlichkeit widerstreiten, so bedarf es des
Hineindenkens eines Realen, dessen Erscheinungen sie sind, und das kausal
verknüpft werden kann« (S. 184). Und weiter: »Dabei bleibt doch wiederum
der unmittelbar erlebte Zusammenhang, soweit nicht auch er einer Umdenkung
bedarf, bestehen. Er wird in das psychisch Reale, da eben doch auch
dies nur das umgedachte unmittelbar Gegebene ist, hineingenommen.« Lipps
setzt so eine kausale, unbewußte Unterströmung, aus der zuweilen einzelne
Wellengipfel ins kausallose Bewußtseinsleben hinaufragen. Und diese Unter-
strömung wird deswegen postuliert, weil unser ErklUmngsbedUrfnis sie ver-
lange. Wir möchten aber fragen, wsb denn das psychisch Reale für
die kausale Erklärung psychischer Vorgänge positiv leistet?
Das psychisch Reale liegt nicht in unserem Bewußtsein, gehört also nicht
in den Bereich unserer Erfahrung. Und was man davon zu wissen vermeint,
ist doch, wie Lipps selber bemerkt, bloß das umgedachte Bewußtseins-
leben. Also eine Verdoppelung, eine reine Konstruktion. Ferner: Im Be-
wußtseinsleben herrscht subjektive Freiheit, nicht Notwendigkeit Dies ist
aber offenbar der wesentliche Charakter alles Psychischen Uberhaupt, also auch
des psychisch Realen. Der ihm angedichtete Notwendigkeitscharakter wider-
spricht der Natur des Psychischen, so wie es unserer Erfahrung gegeben ist;
und was unserer Erfahrung nicht gegeben ist kann nicht zu ihrer Erklärung
dienen — oder dann kann es alles erklären. Somit nützt das psychisch
Reale der .Psychologie wenig. Auf die vollendete Kausalerklärung des
psychischen Lebens, die uns gestatten würde, psychische Vorgänge voraus
zu konstruieren, müssen wir verzichten. Von den ursächlichen Faktoren
eines geistigen Vorganges sind stets nur wenige der inneren Beobachtung
zugänglich. Die Natur und Wirksamkeit der übrigen sind der Beobachtung
entzogen. Nehmen wir dennoch solche an und mit dem Anspruch, daß bei
einer vollständigen Kenntnis derselben das psychische Geschehen restlos
kausal zu erklären wäre, so folgen wir einem metaphysischen Postulat näm-
lich dem der kausalen Bestimmtheit des ganzen Weltzusanimenhanges. Aber
seine Übertragung auf das empirische Gebiet der Psychologie ist bloß die
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Literaturbericht.
35
Anerkennung der Forderung einer kausalen Erklärung, nicht die aus-
geführte Erklärung selbst; denn wir vermögen nicht für alle Glieder der
Kausalibnnel bestimmte Werte einzusetzen. Die Forderung ist formell, aber
nicht inhaltlich erfüllt, und deshalb hat Bie keinen Wert fUr eine wirkliche
Erklärung. Metaphysische Spekulationen sollten Überhaupt in eine Psychologie
von rein empirischem Charakter nicht einfließen, aber noch viel weniger Ein-
fluß auf sie gewinnen. Diesem Grundsatz scheint Lipps nicht gefolgt zu
«ein, und wir gewinnen den Eindruck, als ob die Konstruktion des psychisch
>Bealen« weniger dem Bedürfnis des praktischen Forschers als dem des
Metaphysiken entsprungen sei. Das »tatsächliche Gebundensein der Be-
wußtseinserlebnisse an das Gehirn ist denkbar nur unter der Voraussetzung
des Panpsychismus oder des universellen psychophysischen Parallelismus
(S. 836).« Die metaphysische Annahme eines psychophysischen P. fordert
natürlich ein Psychisches, das ebenfalls einen Kausalzusammenhang dar-
bietet Man mag mit einer solchen Weltanschauung sympathisieren, aber
der Psychologe sollte sich doch nicht darum kümmern. Das metaphysische
Urteil des Philosophen wird für den Psychologen leicht ein hinderndes Vor-
urteil, demzufolge die Dinge nicht immer so gesehen werden, wie sie wirk-
lich sind, sondern so, wie man sie für gewisse Zwecke gern haben möchte.
Zwar bringt Lipps die metaphysischen Bemerkungen in einem Schlußkapitel
und trennt sie so räumlich vom psychologischen Teile des Buches. Aber die
räumliche Trennung ist keine inhaltliche. Dies beweist die Aufnahme des
psychisch »Realen«. Ein vorbildliches Muster für die scharfe Sonderung von
psychologischen und philosophischen Problemen hat Wund t in seiner Psycho-
logie gegeben, und wir glauben, daß dies das einzig richtige Vorgehen für
eine ersprießliche Weiterentwicklung der Psychologie als Erfahrungswissen-
schaft sei.
Wir nehmen den Faden des Referates wieder auf. In der Beschreibung
der psychologischen Methoden unterscheidet Lipps das rein psychologische
Experiment vom psychophysischen. Unter dem letzteren versteht er die als
Reiz-, Ausdrucks- und Reaktionsmethoden bekannten Hilfsmittel der Be-
obachtung. Während aber diese Methoden dem Experimentalpsychologen
unbedingt in erster Linie stehen, gewinnt für Lipps das »rem psycholo-
gische« Experiment einen dominierenden Wert Worin besteht nun dasselbe?
»Ich realisiere in mir gewisse Gedanken oder Vorstellungsbedingungen und
überzeuge mich davon, was daraus folgt. Die Möglichkeit solchen Experi-
mentierens gibt der psychologischen vor jeder sonstigen Beobachtung einen
spezifischen Vorzug« (S. 13). Gegen den Vorwurf, daß die Erinnerung wegen
der gesetzmäßigen Täuschungen, denen sie ausgesetzt ist, ein unzweckmäßiges
Forschungsmittel sei, bemerkt Lipps: »Was einmal erlebt wurde, ist eine
fertige Tatsache, die der Erinnerung ebenso standhält, wie physikalische Tat-
sachen, die jetzt eben beobachtet wurden.« Insofern die Erinnerung sich auf
soeben stattgehabte Erlebnisse bezieht, ist gegen ihre Benutzung nichts
einzuwenden ; denn in dieser Form wird sie ja gerade bei den vorhin »psycho-
physisch« genannten Methoden verwendet. Die Anwendung des Experimentes
in der Psychologie verfolgt gerade den Zweck, die Erinnerung als unmittel-
bare zu einem brauchbaren Forschungsmittel zu machen. Wo dies nicht
möglich ist, da können Erinnerungen an längst vergangene Erlebnisse nie
und nimmer zuverlässige Resultate liefern. So weit sind wir wohl mit Lipps
einverstanden. Aber etwaB ganz anderes als die Erinnerung an
3*
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36
Literaturbericht.
ein soeben stattgehabtes Erlebnis ist die willkürliche Er-
zeugung eines psychischen Vorganges aus Erinnerungsele-
menten. Wenn Lipps sagt: »Ich realisiere in mir gewisse Gedanken oder
Vorstellungsbedingtinge ii und Uberzeuge mich davon, was daraus folgt«, so
ist das ein Experiment, wodurch nicht eigentlich das Wesen des
Psychischen, sondern das Wesen des Logischen untersucht wird.
So ist beispielsweise jeder Schluß nichts anderes als die Folge gewisser rea-
lisierter Vorstellungsbedingungen, die in den Prämissen enthalten sind. Von
diesen, und nur von diesen Vorstellungsbedingungen ist die Folgerung ab-
hängig. Das ist .die log iß che Notwendigkeit, die sich gerade deswegen
kontrollieren läßt, weil wir die Bedingungen derselben Ubersehen. In einem
psychischen Vorgang dagegen wirkt außer solchen sicher angebbaren Vor-
stellungsbedingungen noch die ganze veränderliche Konstellation des Be-
wußtseins mit, die unserer Beobachtung nicht vollständig zugänglich ist.
Übersieht man dies, so läuft man eben Gefahr, ein logisches Schema, eine
reine Konstruktion für einen realen psychischen Vorgang anzusehen. Die
Gefährlichkeit solchen > Experimentierens« beweisen alle spekulativen Psycho-
logen. Der einzige Gewinn, der aus einer solchen rein »psychologischen«
Methode für den erwächst, der sie praktiziert, besteht darin, daß er sich
eine gewisse Originalität sichert. Beseitigung des Originalitätsbestrebens
ist aber nicht der unbedeutendste Erfolg gerade der» experimentellen
Methoden.
Unter der Bezeichnung »komparative Psychologie« versteht Lipps weiter
die Psychologie »der auf niedrigerer Kulturstufe Stehenden« : die Psychologie
des Kindes und die des Tieres und ferner die Völkerpsychologie sowie die
Psychologie der abnormen Erscheinungen.
Als allgemeinste Gattungen von Bewußtseinsinhalten werden Empfin-
dungen und Gefühle unterschieden. Dabei werden die Empfindungs- und Vor-
stellungsinhalte scharf von den Empfindungen und Vorstellungen geschieden.
»Der empfundene Ton ist ein Empfindungsinhalt. Die Empfindung des Tones
ist die unmittelbar erlebte Beziehung zwischen mir und dem
Ton« (S. 16). Eine solche Unterscheidung anerkennen wir, aber bloß als
logische, nicht als psychologische. Das psychisch Ungeschiedene mag wohl
logisch zerlegt werden, aber die logische Zerlegung ist keine psychische
Unterschiedenheit
Während die Empfindungsinbalte absolut »gegenständliche« Inhalte sind,
haben die Gefühle die Bedeutung unmittelbar erlebter »Qualitäten oder Be-
stimmtheiten des Ich«. Demnach ist jedes Gefühl ein Ichgefübl. Die Emprin-
dungeinhalte und Gefühle unterscheiden sich oft auch dadurch, daß manche
Empfindungsinhalte räumlich ausgedehnt sind, »das Ich dagegen wird erlebt
als schlechthin räum- und ortlos«.
Dann gibt es aber noch andere Bewußtseinsinhalte. »Zwischen das Ich
und das absolut Gegenständliche treten in die Mitte die unmittelbar
erlebten Beziehungen meiner auf Gegenständliches, alle Ichbeziehungen.«
Lipps nennt sie auch Relationen. »Diese Beziehungen sollten weder als Ge-
fühl noch als empfunden bezeichnet werden. Sie sind einfach .erlebt'.« Auch
hier will es uns scheinen, als ob Produkte logischer Reflexion zu psychischen
Tatsachen hypostasiert werden.
Die einzelnen Sinnesgebiete werden — ein bemerkenswerter Gegensatz zu
andern Kompendien der Psychologie — möglichst kurz abgetan (S. 24—33).
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Literaturbericht.
37
Dafür widmet Lipps den komplexen Erscheinungen des Seelenlebens erhöhte
Aufmerksamkeit Es werden ausfuhrlich erörtert: Aufmerksamkeit und Be-
wußtsein, Assoziation und Gedächtnis, die Apperzeption fS. 63—124), die Er-
kenntnis (mit einem Abriß der Logik), der Wille, die Gefühle und schließlich
noch : besondere psychische Zustände. Dabei entwickelt der Verf. einen um-
fassenden Begriffsapparat mit peinlich genau ausgeführten Distinktionen und
Definitionen. Eine allseitige logische Verarbeitung gegebenen Materials ist
nach unserer Meinung die Hauptleistung des Buches. Man darf daher durch
das Studium desselben nicht eine Mehrung psychologischen Wissens oder
Anregung zur Ausführung psychologischer Experimente erwarten. Dessen-
ungeachtet ist in einer Zeit, wo die experimentell gewonnenen Tatsachen
ins Unübersehbare sich häufen, das Bedürfnis nach logischer Sichtung nnd
Ordnung des Materials groß genug, um auch eine Arbeit wertvoll erscheinen
zu lassen, die diesem Bedürfnis entspricht Die gründliche logische Verar-
beitung des Stoffes läßt zuweilen interessante neue Synthesen er-
scheinen, wodurch Tatsachen, die bisher verschiedenen Regionen unseres
Wissens angehörten, in Uberraschende Beziehung zueinander gebracht werden
und so neue Gesichtspunkte der Betrachtung erschließen. So stellt
Lipps z.B. das Gesetz auf: Teile eines Ganzen verlieren im Ganzen nach
Maßgabe der Innigkeit der Einheitsbeziehung und des Umfanges des Ganzen
ihre Selbständigkeit (S. 74). Unter dieses Gesetz kann nun das Web er-
sehe subsumiert werden als ein »Gesetz der Relativität der psychischen Quan-
tität: Wachstum eines Ganzen um gleiche Teile ist ein um so geringeres
Wachstum der psychischen Quantität des Ganzen, je größer dies Ganze ist«.
Und weiter (S. 77 ff.) werden dann eine Reihe einzelner Fälle erwähnt die in
jenem allgemeinen Satz synthetisch zusammengefaßt erscheinen. >In diesen
Zusammenhang gehören im übrigen vielfache, zum Teil scheinbar weit von-
einander abliegende Tatsachen. Ein Objekt unter vielen gleichen ist mir
relativ bedeutungs- oder eindruckslos. Im Vergleich damit hat dasjenige,
was einzig in seiner Art ist d&* Unikum oder das Seltene, das Außerordent-
liche, kurz das, was mir nicht als eines unter vielen erscheint, erhöhte Ein-
drucksfähigkeit Wir reden von einem Seltenheits- und können reden
von einem Einzigkeitswert Oder: In einem räumlich begrenzten Objekt,
einer gleichgeiärbten Fläche etwa, , verlieren' sich die inneren Teile nach
allen Seiten hin im Ganzen. Dagegen können die Grenzteile, die an eine
von ihnen verschiedene Umgebung stoßen, in dieser Richtung nicht in
gleichem Grade sich ,verlieren4. Daher die Grenzteile für uns ein beson-
deres Gewicht einen besonderen ,Ton' oder Nachdruck haben. Dem ent-
spricht in einer Reihe sich folgender gleichartiger Objekte die besondere
Eindrucksfähigkeit des ersten und letzten Elementes. Es besteht hier eine
Tendenz der Initial- und Finalbetonung. Diese hat u. a. unmittelbare Be-
deutung für das Gedächtnis. Das erste und das letzte in einer Reihe von
Objekten, die nebeneinander oder nacheinander vorgezeigt werden, Anfang
nnd Ende eines Gedichtes, einer Erzählung usw., prägen sich besonders sicher
ein. Ein besonderer Fall jener Tendenz ist die Tendenz der Betonung des
ersten und letzten Elementes einer einfachen Verbindung von Taktschlägen
oder Silben, woraus die einfachen rhythmischen Einheiten, die Trochäen,
Jamben, Daktylen, Anapäste usw. hervorgehen. Darauf kommen wir zurück.
Damit gleichartig ist das besondere Gewicht der Priorität, d. h. die be-
sondere Bedeutung, die für uns derjenige hat, der eine Leistung zuerst
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Literaturbericht.
rollbracht, z. B. eine Entdeckung zuerst gemacht, einen Gedanken zuerst aus-
gesprochen hat; auch die besondere Bedeutung eines Geschlechtes Auch
hier tritt der initialen Betonung eine finale Betonung gegenüber. Auch der
Letzte eines Geschlechtes, oder derjenige, der eine Leistung; zum letzten Male
vollbracht hat, steht uns besonders eindrucksvoll vor Augen. Endlich und
vor allem gehört in diesen Zusammenhang die .Abstumpfung' oder ,Er-
mUdnng* auf Grund der Gewohnheit oder des häufigen Erlebens eines Gegen-
standes oder einer Tatsache. Diese Abstumpfung ist nichts anderes als jenes
Sichverlieren oder jene Einbuße an Eindrucksfähigkeit die jedem Tel eines
Ganzen im Ganzen widerfährt. Das ,Gewohnte' erleidet diese Einbuße nicht
überhaupt, sondern innerhalb des Zusammenbanges, in dem es uns Öfter be-
gegnet ist, in den es also innig sich hat verweben können. Das Gewohnte
bleibt eindrucksvoll, vielmehr es ist vermöge seiner »dispositionellen Ener-
gie' eindrucksvoller, als wenn es kein Gewohntes wäre, wenn es uns in un-
gewohntem Zusammenhange begegnet Die Brille vor den Augen des Ge-
lehrten fallt uns nicht auf. Die Brille vor den Augen eines Tieres würde
uns in höchstem Maße auffallen. Der Grund liegt in der Vereinheitlichung:
Was öfter in einem Zusammenhang uns begegnet, hat sich mit diesem Zu-
sammenhang immer inniger vereinheitlicht; es , verliert' sich also immer mehr
darin. Was zunächst in einem bestimmten Zusammenhang ein «Gewohntes*
geworden, d. h. seiner Eindrucksfähigkeit verlustig gegangen ist, kann dann
weiterhin auch in andern nnd zuletzt in allen möglichen Zusammenhängen
eindruckslos werden. Die Bedingung ist, daß es auch in diesen andern Zu-
sammenhängen immer wieder uns begegnet ist Dabei ist aber zu bedenken,
daß es einen Zusammenhang gibt, in welchen alle unsere Erlebnisse ein-
treten, nämlioh den Zusammenhang mit den Körperempfindungen, die uns in
jedem Augenblick unseres Lebens zuteil werden, und mit der uns individuell
eigentümlichen, überall wiederkehrenden Weise des Vorstellens, Denkens.
Verhaltens.«
Wir enthalten uns, weiter auf den Inhalt des Buches einzugehen, nach-
dem seine Eigenart bisher deutlich zum Ausdruck gekommen ist. Es sei
nochmals wiederholt, die Schwächen des Buches scheinen uns darin zu liegen,
daß metaphysische Spekulationen auf die vermeintlich empirische Wissenschaft
Einfluß gewinnen, und daß ferner Produkte logischer Reflexionen allzu leicht zu
psychischen Tatsachen gestempelt werden. Wertvoll dagegen sind manche
allgemeine Sätze, die durch Synthese mannigfacher Tatsachen neue Gesichts-
punkte darbieten. Dr. 0. Messmer (Rorschach).
2; Friedrich Jodl, Lehrbach der Psychologie. Zweite Auflage in zwei
Bänden. XX, 436 u. X, 448 S. gr. 8». Stuttgart, J. G. Cotta
Nachfolger, 1903. M. 14.— ; geb. M. 18.—.
Die erste Auflage von Jodls Psychologie erschien 1896 in einem Bande.
Die Vorzüge des Werkes waren schon damals: die Berücksichtigung einer
umfangreichen Literatur, auch derjenigen zur Psychologie des Auslandes,
große Klarheit und Eleganz der Darstellung, zahlreiche Seitenblicke auf An-
wendungsgebiete der Psychologie, insbesondere auf die Ethik und Ästhetik.
Die gegenwärtig vorliegende zweite Auflage ist nach allen diesen Richtungen
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Literaturbericht.
hin bereichert worden, die Disposition des Werkes and der Standpunkt des
Verf. lind dagegen gleich geblieben. »Die erhebliche Vermehrung des Um-
fängst — so sagt der Verf. selbst — »ist nicht durch eine Erweiterung des
Planes bedingt, sondern lediglich durch vielfache Aufnahme neuen Stoffes
zur Verdeutlichung und genaueren Ausführung des Gegebenen erwachsen
(die Auflage ist etwa um 10 Druckbogen vermehrt). In den Literaturangaben
ist hier und da gestrichen worden, ihre Vermehrung ist eine beträchtliche,
es sind etwa 500 Nummern gegen die erste Auflage hinzugekommen. Jodls
Psychologie ist in der ersten Auflage so vielfach rezensiert worden, daß es
überflüssig sein dürfte, in einer Fachzeitschrift noch einmal auf ihre mannig-
fachen Vorzüge und Eigentümlichkeiten zurückzukommen. Es sei hier nur
bemerkt, daß merkwürdigerweise bei dem Kapitel > Raumsinn des Ohrs«
noch immer eine Berücksichtigung der aasgezeichneten Arbeit von Bloch
fehlt Bloch, Das binaorale Hören, Zeitschr. f. Ohrenheilkunde von Knapp
and Moos, XXIV. 1893), während die minderwertige Untersuchung von
MUnsterberg Uber das gleiche Thema angeführt wird. Der Standpunkt
Jodls bleibt auch in der gegenwärtigen Auflage im ganzen ein vermittelnder,
vermittelnd zwischen mancherlei gegensätzlichen Lösungen psychologischer
Einzelfragen und zwischen den methodischen Gegensätzen der heutigen Psy-
chologie; der Verf. steht selbst wesentlich auf dem Standpunkte der Psycho-
logie der Selbstwahrnehmung, zieht aber auch die experimentell-psychologi-
schen Ergebnisse in umfassendem Maße heran.
E. Meumann (Zürich.
3) Dr. W. Heinrich, Die Aufmerksamkeit und die Funktion der Sinnes-
organe. Ztschr. f. Psych, u- Phys. d. Sinnesorg. 1896. 9. S. 342— 388
11. S. 408-430.
Die Untersuchung bezieht sich auf die Tätigkeit der Sinnesorgane bei
der Aufmerksamkeit Es galt daher zuerst den Akkommodationsznstand des
Auges, speziell die Änderungen der Pupille und der Linse bei den Ände-
rungen der Aufmerksamkeit zu studieren. Die Untersuchung umfaßte Fest-
stellung der Größe der Pupille mit Hilfe des Ophthalmometers, das hinter
dem Perimeter so angebracht wurde, daß seine Achse mit der Sehachse zu-
sammenfiel, und zwar beim zentralen Fixieren, beim seitlichen Sehen und beim
Rechnen.
Die Untersuchungen führen zu folgenden Resultaten:
Wenn nicht der zentral gesehene Punkt fixiert, sondern die Aufmerk-
samkeit einem seitlich gelegenen zugewendet wird, so ändert sich der Ak-
kommodationszustand des Auges, trotzdem der Abstand der angeschauten
Objekte derselbe bleibt wie der der zentral gesehenen. Die Änderung offen-
bart sich in der Vergrößerung der Pupille und in der Abflachung der Linse.
Das Auge besitzt daher die Fähigkeit, auf Entfernungen paraxial liegender
Objekte zu akkommodieren, wenn auch die Akkommodation keine genaue, son-
dern mit von der Lage des axialen Fixierzeichens abhängig ist. Die par-
axiale Akkommodation hat zur Folge das Zusammenfallen der ersten, auf die
Einfallebene senkrechten Brennlinie mit der Retina; dabei ist die Akkom-
modationsbreite geringer als die axiale ond nimmt mit der Krümmung der
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40 Literaturbericht.
Linse anfangs ab, and dann nimmt sie von einem gewissen Winkel an, anter
welchem das Licht einfällt (40°— 60°) zu; die Brennlinien nehmen mit dem
Einfallswinkel und mit der Zunahme der Krümmungsradien der Linse an
Größe zu, was mit dem Einfallswinkel abnehmende Sehschärfe bedingt, und
der Winkel, unter welchem die gebrochenen Strahlen konvergieren, nimmt
mit dem zunehmenden Radius der Linse ab, wodurch bei nicht ganz voll-
kommener Akkommodation die ZerstreuungseUipsen verkleinert werden. Wird
die Aufmerksamkeit nichtoptischen Eindrücken zugewendet, so wird das
Auge akkommodationslos, es kann sogar eine noch größere Öffnung der Pu-
pille und Abflachung der Linse eintreten, wie bei der Anschauung der Ob-
jekte im peripheren Teile des Gesichtsfeldes; dabei ändert sich die Konver-
genz der Augenachsen, die sich der Parallelstellung nähern. Es läßt sich
noch die auffallende Beobachtung bei der Messung der PupUlenöffimng
machen, daß sich die Pupille nie in Ruhe befindet, sondern ihre Größe be-
ständig ändert. Die Ursache dieser kleinen Schwankungen ist durch die
kleinen Schwankungen in der Krümmung der Linse bedingt. Diese Beob-
achtung wird zu der Abspannung der Akkommodation zu rechnen sein,
welche eintritt, wenn die Aufmerksamkeit anderswo abgewendet wird.
F. Biske (Zürich).
4) Alfred Binet, Attention et adaptation. LAnnee psychologique. VI.
1900. S. 248 ff.
Der Verf. stellte sich die Aufgabe, nicht eine allgemeine Theorie der
Aufmerksamkeit zu geben, sondern die individualpsychologische Frage zu
beantworten: wie können wir wissen, ob eine Person eine Btarke oder schwache
Aufmerksamkeit bat? Seine Absicht ging also vornehmlich darauf, Methoden
zur Messung individueller Aufmerksamkeitsleistungen zu finden. Zu diesem
Zwecke wurden 11 Kinder einer ecole primaire clcmentaire in Paris unge-
fähr zwei Monate lang daraufhin geprüft, welche Kraft ihre willkürliche Auf-
merksamkeit besitze ; unter diesen waren 6 sehr intelligente und 6, von denen
man sicher sagen konnte, daß sie unintelligent seien. Die beiden Gruppen
wurden beständig miteinander verglichen, es sollten also zugleich die
Beziehungen zwischen Aufmerksamkeit und Intelligenz ge-
prüft werden, und die Aufmerksamkcitsprüfungen galten als ein Mittel
der Intelligenzprüfung. Absichtlich hatte der Verf. die Kinder von dem
Lehrer nicht nach dem Gesichtspunkt ihrer verschiedenen Aufmerksamkeits-
leistungen auswählen lassen, weil er diesen für einen unbestimmteren und
variableren hielt als den des Unterschiedes ihrer Intelligenz; ebenso wurde
nicht nach dem Fleiß oder der Arbeitslust gefragt, sondern nach der »natür-
lichen Intelligenz«. Das Alter der Schüler variierte zwischen 9»/s und 13 Jah-
ren, die meisten waren 11 Jahre. Der Verf. teilt eine eingehende allgemeine
Charakteristik der Schüler mit, die nach seinen Angaben von dem Klassen-
lehrer entworfen wurde. Alle Prüfungen waren individuelle, am einzelnen
Schüler vorgenommen, zur gleichen Tageszeit (2—4 Uhr nachmittags). Alle
Prüfungen galten der willkürlichen Aufmerksamkeit, die Prüfungsmittel
wurden so gewählt, daß sie für die Aufmerksamkeit schwierige Leistungen
enthielten, dagegen keine große Leistung des Verständnisses erforderten.
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Literaturbericht..
41
Daß nun der Verf. dieses erste Problem mit dem zweiten, der Adap-
tation, kombinierte, hatte darin seinen Grund, daß die ersten Intelligenz-
prttfungen stets eine größere Differenz der Begabungen zu ver-
raten schienen als spätere Wiederholungen oder längere Fortsetzung desselben
Prüfungsverfahrens. Das Resultat leitet B inet von der verschieden schnellen
Anpassungsfähigkeit der Schüler her. Der intelligente Schüler hat bessere
and schnellere Adaptation an eine gegebene Aufgabe, der
weniger intelligente aber kommt ihm bei wiederholtem Arbeiten an
Adaptation gleich und leistet dann oft ebensoviel wie der erstere.
Es ist nun von großem Interesse, dem ganzen Verfahren Binets nach-
zugehen. Dasselbe erscheint als ein suchendes, tastendes, und es ist beson-
dere wertvoll, daß Binet auch die weniger erfolgreichen Intelligenzprlifungen
in aller Ausführlichkeit mitteilt, um so mehr können andere Experimentatoren
von seinem Vorgehen profitieren. Zuerst wurde die sensibilite tactile ge-
prüft; verwendet wird die Web ersehe Zweispitzenmethode, mit der äußer-
lichen Modifikation, daß nicht der Tasterzirkel, sondern Kartons mit ent-
sprechenden ausgeschnittenen Spitzen verwendet wurden, Der Verf. schreibt
dies Verfahren irrtümlich Herrn V. Henri zu — ich habe es schon vor zehn
.Jahren in Leipzig verwendet. Resultat: die Leistungen der Gruppe der in-
telligenten Kinder sind hierbei beträchtlich bessere als die der Nichtintelli-
genten, jene haben annähernd doppelt so viel richtige Urteile, dagegen unter-
scheiden sich beide Gruppen nicht in dem Gange des Urteils für die größeren
Werte (3 und 4 cm). Binet meint infolgedessen: >man muß also, um die
beiden Gruppen unterscheiden zu können, ihnen eine Arbeit von einer ge-
wissen Schwierigkeit aufgeben« . Worin beßteht nun die Überlegenheit der
Intelligenten? In der größeren Feinheit des Hautsinns, oder in der besseren
Aufmerksamkeit, oder der schärferen Interpretation der Sinneseindrücke ?
Verf. gibt an dieser Stelle noch keine Antwort, sie lautet später zugunsten
der Aufmerksamkeit. Der nächste Versuch kontrollierte den vorigen durch
Einschieben von Vexierversuchen — das Hauptresultat bleibt dasselbe wie
vorher. Der dritte Versuch wiederholt den zweiten nach einer Pause von
14 Tagen. Auch jetzt besteht noch der Unterschied in den Leistungen der
beiden Kindergruppen, allein die Leistungen der Unintelligenten haben so
zugenommen, daß sie den Intelligenten sehr nahe kommen, überhaupt haben
alle Vp. bei den beiden Wiederholungen ihre Leistungen verbessert, die Un-
intelligenten aber weit mehr als die Intelligenten; von den drei oben als
möglich hingestellten Deutungen zur Beantwortung der Frage, worin dieser
Fortschritt besteht, erklärt Binet die Deutung als Aufmerksamkeitsfort-
schritt für unwahrscheinlich, weil die Aufmerksamkeit der Kinder gerade
bei den ersten Versuchen am lebhaftesten sei. Es ist jedoch klar, daß der
Verf. hier die Übungseffekte und die Intelligenzleistungen nicht genug aus-
einanderhält. Sodann wurden die Reaktionszeiten beider Kindergruppen
gemessen. Buccola hatte behauptet, die Reaktionszeiten seien geradezu
ein Dynamometer der Aufmerksamkeit, wie könnte man sie also bei einer
speziellen Prüfung der Aufmerksamkeit umgehen? Binet nahm also 26 ein-
fache nnd 25 Wahlreaktionen von jedem Schüler auf (Schallreaktionen . Die
einzelnen Reaktionen wurden nicht durch ein Signal angekündigt, weil der
Verf. der Ansicht war, daß Unterschiede in der Leistungsfähigkeit der Auf-
merksamkeit auf diese Weise besser hervortreten würden. Ähnlich wie früher
Patrizi fand Binet, daß die Reaktionszeiten anfangs lang waren, sich
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Litoraturbericht.
dann verkürzten, dann wieder länger wurden. Bei den einfachen Reaktionen
fand sich in den Zeiten kein deutlicher Unterschied zwischen Intelligenten
nnd Nichtintelligenten, bei den Wahlreaktionen (bei denen auf einen von
zwei verschiedenen Gehörsreizen reagiert wurde, auf den andern nicht) trat
ebenfalls kein charakteristischer Unterschied in den Zeiten hervor, wohl
aber in gewissen Nebenumständen, z. B. darin, daß die Fehlreaktionen bei
den Unintelligenten länger dauerten. Es wurde nun ein (schwierigerer} Ver-
such mit drei Signalen ausgeführt, hierbei werden die Unterschiede zwischen
beiden Gruppen schon fast ganz verwischt, weil die unintelligenten Kinder
sich dem Versuch mehr angepaßt haben. Wir werden nun sehen, daß diese
Erscheinung in nahezu allen weiteren Experimenten Binets hervortritt; sooft
ein Versuch wiederholt oder längere Zeit fortgesetzt wird, in dem anfangs die
minderbegabten Kinder weniger leisteten, kommen diese allmählich den be-
gabten bei, und es verwischen sich die charakteristischen Merkmale der
Minderbegabung. Deutet man diese Erscheinung mit Binet als Adaptations-
phänomen, so ist in der Tat in der schnelleren Adaptation das
eigentliche Merkmal der Intelligenz zu suchen.
Von den weiteren Intelligenzprtifungen Binets sollen nun nur noch
die erfolgreichen genauer hehandelt werden. Die nächste Versuchsgruppe
besteht in dem Zählen von Punkten. Zuerst sollten acht Reihen von kleinen,
mit Tinte auf Papier dicht nebeneinander gezeichneten Punkten gezählt
werden, ohne Unterstützung durch Zeigen mit dem Finger oder Bleistift.
Es ergibt sich ein deutlicher Unterschied zugunsten der intelligenten Kinder.
Bei einer Modifikation des Versuchs: Zählen mehrerer Punktlinien (mit Zeit-
messung dnrch den Experimentator) ergibt sich, daß die Anzahl der Fehler
bei beiden Gruppen von Kindern fast gleich ist, aber die Grüße der Fehler
ist geringer bei den Unintelligenten. Nunmehr wurde die Aufgabe er-
schwert, indem unregelmäßig zerstreute Gruppen von Punkten zu zählen
waren; hierbei tritt wieder die Überlegenheit der Intelligenten hervor. Bei
einer Wiederholung deB Versuchs nähern sich wiederum die Unintelligenten
den übrigen Kindern sehr an. [Diesen test hält Binet für sehr brauchbar.1
Beide Erscheinungen sind charakteristisch, das Adaptieren der Minder-
begabten ebenso wie das deutlichere Hervortreten der Begabungsunterschiede
bei jeder Komplizierung der Leistung — wir werden sehen, daß gerade das
letztere Faktum für die Deutung der Ergebnisse von Wichtigkeit ist.
Eine vierte Gruppe von Versuchen bezieht sich auf das Auffassen
von Reizveränderungen. Hierzu verwendet Binet ein von ihm in sehr
sinnreicher Weise verbessertes Metronom, das er als den »batteur« bezeichnet
Es besitzt ein Zählwerk, man kann während des Ganges die Geschwindig-
keit verändern, und das Pendel hält automatisch an nach einer Zahl von
Schlägen, die vorher festgestellt werden kann. Erster Versuch: Bemerken
die beiden Gruppen von Kindern eine geringe Veränderung in der Geschwin-
digkeit der Sukzession der Schläge in gleich feiner Weise? Der Versuch wurde
lOmal wiederholt, die Geschwindigkeiten der Schläge wechselten von 0,196
bis 0,226 Sek. Resultat: es zeigt sich kein wesentlicher Unterschied zwi-
schen beiden Gruppen. Derselbe Versuch wurde zu einer Suggestion der
Geschwindigkeitsveränderung benutzt. Resultat: es zeigt sich keine ent-
schiedene Differenz zwischen der Suggestibilität der Intelligenten und Nicht-
intelligenten.
Die nächste Versuchsreihe verwendet das Zählen von Metrono m-
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Literaturbericht.
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schlügen bei verschiedener Geschwindigkeit derselben. Zwei Versuche
werden gemacht; der erete ergibt, daß dieser test sich vortrefflich
bewährt, die Unintelligenten machen fünfmal so viel Fehler als die Intelli-
genten. (Die Zahl der zu zählenden Schläge variierte zwischen 5 und 20,
die Geschwindigkeit war ö Schläge in der Sekunde; fünfmalige Wiederholung
des Versuchs.) Zweiter Versuch, acht Tage später: diesmal waren 10 Reihen
Schläge zu zählen, Geschwindigkeit der Schläge die gleiche wie vorher. Das
Resultat ist dasselbe wie früher: die Unintelligenten haben bedeutende Fort-
schritte gemacht, statt der nach dem ersten Versuch zu erwartenden 30
machen sie nur 18 Fehler.
Die nächste Versuchsreihe verwendete Kopieren (eines Textes) als
Prüfungsmittel ; es sei sogleich bemerkt, daß diese Methode sehr inter-
essante Resultate lieferte. Die verschiedenen Individuen besitzen eine
sehr verschiedene Fähigkeit, eine gewisse Zahl von Eindrücken zugleich zu
merken, ohne daß sie wieder hinzusehen brauchen, beim Abschreiben von
Ziffern merkt sich der eine vielleicht fünf, ein anderer zwei usf. Der erstere
hat natürlich einerseits einen größeren Umfang der Aufmerksamkeit, anderer-
seits mutet er seinem Gedächtnis (unmittelbarem Behalten) mehr zu. Um dies
zu kontrollieren, befolgte Binet das sinnreiche Verfahren, daß z. B. beim
Kopieren von 60 einfachen Zahlen (nebeneinandergeschrieben) die Kinder in
der linken Hand einen Karton hielten, den sie jedesmal aufdeckten, wenn
sie eine Anzahl Ziffern niedergeschrieben hatten, und zudeckten, wenn sie
wieder auf die Vorlage hinsehen mußten. Der Experimentator kann so direkt
beobachten, wieviel Ziffern der Schüler jedesmal merkt. Resultat: die unintelli-
genten Kinder sehen viel Öfter hin, merken also auf einen Blick viel weniger
als die intelligenten (3,6 im Mittel gegen 2,8 bei den ersteren). Dieselbe Über-
legenheit ergibt sich, wenn man Gruppen von Ziffern von 2 bis 5 zusammen-
ordnet und sie kopieren läßt. Noch deutlicher zeigen sich diese Unterschiede
beim Kopieren von Sätzen. Es wurden inhaltlich leichtere und schwie-
rigere Sätze kopiert In beiden Fällen zeigt sich die Überlegenheit der in-
telligenteren Kinder, aber obgleich bei den schwierigeren Sätzen diese Über-
legenheit eigentlich zunehmen sollte, nimmt sie ab; wiederum, weil bei
der Wiederholung des Versuchs die Minderbegabten sich mehr angepaßt
haben. Die Wirkung der Adaptation kompensiert also die der inhaltlichen
Erschwerung. Interessant ist noch, daß auch die Fraktionen der Satzteile
bei den Intelligenten viel sinngemäßer sind als bei den Nichtintelligenten;
die ersteren haben 3, die letzteren 13 unlogische Satzteilungen. Auch in
diesem Punkte verwischen sich bei Wiederholung des Versuchs die Unter-
schiede. Beim nächsten Versuch, Kopieren einer Zeichnung, blicken die In-
telligenten öfter hin, sie zeichnen aber genauer.
Sehr ergebnisreich ist die nächste Versuchsreihe mit dem Durchstrei-
chen von Buchstaben in einem gedruckten Text. Die Methode ist
wesentlich die Kraepelinsche, obgleich Kraepelin dabei nicht genannt
wird. Verf. bemerkt, daß man dabei zweierlei beobachten und voneinander
trennen müsse, die Schnelligkeit der Arbeit und ihre Exaktheit. Läßt man
nur einen Buchstaben durchstreichen, so tritt mehr die Schnelligkeit, wenn
man mehrere Buchstaben aufgibt, so tritt mehr die Exaktheit hervor und
die Geschwindigkeiten gleichen sich merklich ans. Da wir schon sahen
(Reaktionsversucbe), daß die Schnelligkeit der Arbeit kein Charakteristikum
der Intelligenten Ist, so gibt Binet 6 Buchstaben, die jedem Kinde links
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Literaturbericht.
oben auf das Blatt geschrieben wurden ; die Arbeit wurde 10 Minuten lang
betrieben, nach jeder Minute hatte der Schiller eine Marke zu machen. Re-
sultat: betrachtet man die Anzahl durchstrichener Buchstaben, so ist diese
die gleiche für beide Kindergruppen, betrachtet man aber den Fortschritt
beider Gruppen in der Zeit, so sieht man, daß die Intelligenten wesentlich
schneller fortschreiten, Bie haben also eine schnellere Adaptation.
Dieser Unterschied tritt nicht nur in den Mittelzahlen hervor, sondern er
kehrt bei jedem Individuum wieder; ferner machen die unintelligenten
Kinder uogefähr viermal so viel Fehler beim Durchstreichen als die intelli-
genten; endlich vermindern die intelligenten im Fortgang der Arbeit ihre
Fehler um Vs» die unintelligenten um Vs- Auch das beweist die schnellere
Adaptation bei den ersteren. Eine Wiederholung des Versuchs mit den
gleichen Buchstaben zeigt nun wieder die uns bekannte Erscheinung: die
unintelligenten Kinder nähern sich den intelligenten erheblich an, sie machen
größere Fortschritte als diese, sie haben also langsamere Adaptation, wenn
sie diese aber erreicht haben, so kommen sie in ihren Leistungen den intel-
ligenten nahezu gleich. Eine Wiederholung des Versuchs mit neuen
zn durchstreichenden Buchstaben sollte nun speziell prüfen, ob eine fest
gewordene Assoziation (das Merken der zu durchstreichenden Buch-
staben) von der einen Gruppe schneller verlassen werden kann als von der
andern. Merkwürdigerweise verlangsamt dieser Wechsel mit den Buch-
staben die Arbeitszeit bei beiden Gruppen nahezu in gleicher Weise. Man
sollte erwarten, daß die schnell adaptierenden intelligenten Kinder auch einen
schnellen Wechsel der Adaptation hätten, aber der Versuch ist eben nicht
rein; es handelt Bich nicht bloß um den Wechsel der Anpassung, sondern
zugleich um Aufgeben einer befestigten Assoziation, und diese war bei de
intelligenteren Kindern offenbar die festere. (Die Festigkeit einer Assoziation
offenbart sich in der Schnelligkeit, mit der sie arbeitet, und der Schwierig-
keit, mit der sie wechselt). Die Festigkeit der alten Assoziationen ist nun
bei den intelligenten Kindern offenbar das Uberwiegende Phänomen, denn
sie machen bei diesem Wechsel der Buchstaben mehr Fehler als die un-
intelligenten Kinder (intelligente 29,8, unintelligente 16,8 Fehler!). Verändert
man den Versuch so. daB geläufige und neue Buchstaben gemischt werden,
so bleibt wiederum die Zahl der durchstrichenen Buchstaben gleich, aber die
intelligenten Kinder machen jetzt weniger Fehler, die festeren Assoziationen
wirken jetzt im günstigen Sinne nach.
Die nächste Versuchsreihe sollte den Bewußtseinsumfang feststellen; wie
viele Ereignisse kann ein Individuum zugleich auffassen? Oder, wie weit kann
die Aufmerksamkeit eines Schülers für gewisse Eindrücke so abgeschwächt«
werden, daß sie einem automatischen Ablauf der Vorgänge Platz macht?
(Unter automatischer Tätigkeit soll dabei im psychischen Sinne eine Aktivität
niederer Ordnung verstanden werden, welche von Bewußtsein begleitet oder
nicht begleitet sein kann, die aber keiner Willensanstrengung oder Über-
legung nnd keiner neuen Anpassung bedarf). Den Schülern werden drei
Zahlen aufgeschrieben und alsbald wieder verdeckt, zu diesen haben sie jedes-
mal eine hinzuzufügen, sie haben also bei jeder Addition jedesmal die voraus-
gehenden Zahlen im Gedächtnis festzuhalten. Sie schreiben sechs Minuten
lang diese Vermehrung von drei nebeneinander stehenden Ziffern um eine
auf. Resultat: die Anzahl der aufgeschriebenen Ziffern ist nicht charakte-
ristisch für die intelligenten Kinder, sondern nur für die Individuen, bei
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Litoraturbericht.
45
denen sie bedeutend variieren (der langsamste Schüler schreibt 40, der
schnellste in der gleichen Zeit 96 Ziffern). In der Anzahl der Fehler stehen
wiederum die intelligenten Rinder günstiger da (13,5 gegen 17 bei den un-
intelligenten).
Zuletzt prüfte Binet noch besonders die Geschwindigkeit der
geistigen Prozesse bei beiden Schülergruppen. Wir sahen bisher, daß sie
kein Charakteristikum der Intelligenz bildet; bestätigt Bich das bei besonders
darauf gerichteten Versuchen? 20 Zahlen werden so rasch als möglich ge-
lesen und die Lesezeit gemessen; Resultat: kein Unterschied zwischen beiden
Gruppen. Zweiter Versuch dasselbe, aber zu jeder Zahl wird eine addiert;
wiederum tritt kein Unterschied zwischen Intelligenten und Nichtintelligenten
hervor. Das Resultat ist also wiederum ein negatives für die psychi-
schen Zeiten, es bestätigt sich also das Ergebnis der Versuche mit Reak-
tionszeiten, Lesen, Zählen, Zählen mit Addieren, Kopieren. Bemerkenswert
ist noch, daß der schnellste von Binets Schülern zugleich der unintelli-
genteste war.
In einer Schlußbetrachtung wirft Binet zunächst die Frage auf:
haben wir hier wirklich die willkürliche Aufmerksamkeit untersucht? Diese
bloße Frage beweise, wie schwierig es sei, die willkürliche Aufmerksamkeit
im Experiment zu fassen. Zuerst sei daher die Frage beantwortet: als was
erscheint die willkürliche Aufmerksamkeit in diesen Versuchen?
Binet antwortet: als eine Anpassung an einen neuen Geistes-
zustand (Tätigkeit), die um so deutlicher hervortritt, je mehr Schwierigkeit
die neue Tätigkeit dem Individuum darbietet. (Man vergl. die ähnliche Auf-
fassung bei Rageot, dieses Archiv Bd. UI, S. 228 ff., Referate). Als die
beiden Hauptresultate seiner Untersuchung bezeichnet Binet selbst:
die Versuche zeigen eine durchgreifende Verschiedenheit der intelligenten
und nichtintelligenten Schüler bei den erstmaligen Prüfungen, die sich bei
jeder Wiederholung desselben Experimentes vermindert oder verschwindet,
und diese Überlegenheit der Adaptation zeigt sich überraschenderweise
schon bei ganz einfachen Tätigkeiten. (Dagegen ist zu bemerken, daß diese
Tätigkeiten gar nicht so einfach sind, die Leistungen sind einfache,
nicht die psychischen Prozesse, durch die sie zustande kommen!) Die ver-
wendeten tests lassen sich in zwei Gruppen teilen, solche, welche den Unter-
schied der intelligenten und nichtintelligenten Schüler zeigen, und solche,
die das nicht tun; zu den letzteren gehören: Auffassung der Geschwindig-
keit von Metronomschlägen, Lesegeschwindigkeit bei kurzer Exposition und
Reaktionszeitmessungen, vor allem zeigen sich alleGeschwiudigkeitsmessungen
als ungeeignet zur Aufdeckung der Intelligenz. Zu den ersteren gehören
alle übrigen Prüfungsmittel. Verf. geht dann die einzelnen tests durch und
zeigt, wie weit sie zu einer mit den Schulleistungen zusammen-
treffenden Charakteristik der Schüler führen. Die Adaptationsverhältnisse
beider Gruppen werden in zwei sehr lehrreichen Kurven dargestellt.
Der Referent glaubte auf die Untersuchung Binets genauer eingehen
zu müssen, weil die Intelligenzprüfung eines der schwierigsten Kapitel der
Kinderpsychologie und experimentellen Pädagogik ist.
E. Meumann (Zürich).
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Literaturbericht.
6) C. G. Jung und Fr. Riklin, Diagnostische Assoziationsstudien. 1. Bei-
trag: Experimentelle Untersuchung Uber Assoziationen Gesunder.
Vorwort: Über die Bedeutung von Assoziationsversuchen, von Prof.
Bleuler- Burghülzli (Zürich). Journal flir Psychologie und Neuro-
logie, Bd. III. 1904.
Daß Vorwort von Bleuler behandelt die Bedeutung der Assoziationen
im psychischen Leben überhaupt und ihren Wert für die Diagnose des Irren-
ärzte*. Die von Jung und Riklin ausgeführten Experimente liegen uns
noch nicht in abgeschlossener Darstellung vor; wir gewinnen vorläufig bloß
einen Einblick in die allgemeine Versuchsanordnung und die Einteilung der
Assoziationen.
Das Vorwort von Bleuler reizt den Psychologen zum Widerspruch.
Da wird die Assoziation zum Teil richtig als das hingestellt, was sie wirk-
lich ist, als »ein Grundphänomen der psychischen Tätigkeit« (S. 51). Zun .
andern Teil aber wird ihr Wesen i iiischlich mit dem Denken identifiziert.
»Daß unsere Denkgesetze nur Regeln des Assoziationsverlaufes seien, wird
sonderbererweise noch bestritten« (S. 61). Wir mochten aber doch den scharfen
Unterschied zwischen assoziativen und logischen Vorgängen einer gefähr-
lichen Verquickung gegenüberstellen. Unsere Denkvorgänge tragen das auf-
fallende Kennzeichen der dichotomisch en Gliederung an sich, das
den Assoziationen nicht zukommt. Ein Denkakt ist jedesmal relativ abge-
schlossen, wenn eine Zweigliederung sich vollzogen hat. In unverkennbarer
Weise manifestiert sich diese Gesetzmäßigkeit in der sprachlichen Form, die
man bildlich als die Versteinerung des Denkens bezeichnen konnte. Zunächst
zeigt sie sich darin, daß der einfachste, fertige Gedankenausdruck, der Satz,
zwei Vorstellungen (oder Begriffe) enthält: Subjekt und Prädikat. Und
dann liegt wiederum ein Beweis für die Qualität des Denkens in seinen
abgekürzten Ausdrucksformen, wie sie bestehen zwischen Attribut und Sub-
jekt, Adverb und Verb oder Objekt und Verb (siehe Wundte Logik, I. Bd.
2. Aufl. S. 59ff.). Der Gedankenverlauf ist natürlich nach einer Zweiteilung
noch nicht abgeschlossen, aber das logische Denken wählt sich nach je zwei
Gliedern doch stets eine Art Ruhepunkt. Das ist nun bei den Assoziationen
ganz und gar nicht der Fall. Denn eine assoziative Reihe kann sich beliebig
in die Länge ziehen und Uberall abbrechen, sie gehorcht nicht dem Gesetze
der Zweiteilung. Das Denken und die Assoziation sind aber nicht immer realiter
voneinander getrennt, denn es ist richtig, was Bleuler bemerkt: »Wahr-
nehmen, Denken, Handeln hört auf, sobald das Assoziieren gehindert ist«.
Das heißt aber nur, daß die Assoziation für die genannten Vorgänge die
Grundlage biete, nicht aber, daß sie mit diesen Vorgängen selbst identisch
sei. Aus Bausteinen errichtet man ein Gebäude, ohne jene ist dieses un-
möglich. Aber die Bausteine in ihrer Gesamtheit sind noch nicht das Ge-
bäude.
Aber die Unzulänglichkeit der Begriffe ist für eine experimentelle Arbeit
lange nicht so bedeutend und folgenreich, wie im Gebiete reiner Begriffs-
wissenschaften, wo der rein logische Gang der Untersuchung ausschließlich
von den Eigenschaften des einmal angenommenen Begriffes abhängig ist.
Die experimentelle Methode hat es so unmittelbar mit den Tataachen selbst
zu tun, daß der Wert der Beobachtungen durch allgemeine, vorangeschickte
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Literaturbericht.
47
BegrirTsertfrterungen nicht beeinträchtigt wird. Wir gehen daher auf die all-
gemeine Versuchsanordnung Ubor. Die Assoziationen wurden erzeugt durch
Zurufen eines Reizwortes. Im ganzen sind 400 verschiedene Reizwörter be-
natzt worden. In der Form oder im Sinne ähnliche Reizwörter wurden ver-
mieden, damit die Vp. sich nicht nach zwei bis drei Reaktionen auf ein be-
stimmtes Gebiet einstelle. Auch Dialektwörter fanden Verwendung, um den
ungebildeten Vp. entgegenzukommen. Es ließ sich aber beobachten, »daß
die ungebildeten Vp. das Dialektwort schlechter verstanden und mühsamer
verarbeiteten als das schriftdeutsche Wort, und daß sie sich meist bemühten,
Schriftdeutsch zu reagieren«. Die Erklärung für die etwas paradoxe Er-
scheinung liegt darin, >daß das Schweizerdeutsch eine rein akustisch-moto-
rische Sprache ist, die höchst selten gelesen oder geschrieben wird
Der Schweizer ist daher nicht gewohnt, seine Wörter als Einzelindividuen
zu empfinden, sondern kennt sie bloß im akustisch-motorischen Zusammen»
hang mit andern.« Die Anordnung der Versuche war folgende: »Zuerst
worden 200 Reaktionen ohne weitere Bedingungen aufgenommen
Noch 200 Reaktionen wurden mit der Vp., sofern es möglich war, sofort ein-
geteilt Das Ergebnis des Versuches wurde getrennt in ein erstes
and zweites Hundert und getrennt aufgeschrieben.« Zweite Versuchsreihe:
>100 Reaktionen, welche unter der Bedingung der inneren Ablenkung auf-
genommen wurden. Die Vp. wurde aufgefordert, ihre Aufmerksamkeit mög-
lichst konzentriert dem sog. ,A-Phänomen' (Cordes) zuzuwenden und da-
neben oder doch möglichst rasch, d. h. mit der gleichen Promptheit wie beim
ersten Versuche, zu reagieren.« (A-Phänomen = die Summe derjenigen
psychologischen Phänomene, welche unmittelbar durch die Perzeption des
akustischen Reizes hervorgerufen wurden.) Dritte Versuchsreihe, jeweils am
zweiten Tage aufgenommen: »Sie bestand aus 100 Reaktionen und erfolgte
anter der Bedingung der äußeren Ablenkung Die Vp. mußte gleich-
seitig mit Metronomschlägen Bleistiftstriche von zirka 1 cm Länge ausführen.«
So wurden für jede Vp. durchschnittlich 300—400 Assoziationen gewonnen.
Ihre Zahl beträgt im ganzen 12 400.
In der Einteilung der Assoziationsformen schlössen sich die Verfasser
an das von Aschaffenburg aufgestellte Schema an. »Wir haben diesem
System den Vorzug vor andern gegeben, weil dasselbe nach unserer subjek-
tiven Ansicht das heuristisch wertvollste ist« Der Übersicht halber »geben
die im zweiten Teil veröffentlichten Tabellen bloß die Zahlen der Haupt-
groppen wieder«. Und dies sind folgende:
I. Innere Assoziation. 1) Koordination. 2) Prädikative Beziehnng.
3) Kausalabhängigkeit IL Außere Assoziation. 1) Koexistenz. 2) Iden-
tität 3) Sprachlich-motorische Form. III. Klangreaktion. 1) Wortergiin-
zung. 2) Klang. 3) Reim. IV. Restgruppe. 1) Mittelbare Reaktion. 2) Sinn-
lose Reaktion. 3) Fehler. 4. Wiederholtes Reizwort. A. Perseveration.
B, Egozentrische Reaktion (tanzen — mag ich nicht). C. Wiederholung.
D. Sprachliche Bindung: 1) Gleiche grammatikalische Form. 2) Gleiche Silben-
zahl. 3) Alliteration. 4) Konsonanz. 6) Gleiche Endung.
Man darf den psychologischen Versuchen der Psychiater mit Interesse
entgegensehen. Die Leistungsfähigkeit des psychologischen Experimentes
wird durch sie aufs beste bewiesen. Dr. O. Messmer (Borechsch.)
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48
Literaturbericht.
6; E. Ackerknecht. Die Theorie der Lokalzeichen. Ihr Verhältnis zur
empiristischen und nativistischen Lösung des psychologischen Baum-
problems. Mit 6 Figuren. VIII, 88 S. gr. 8° Tübingen, J. C. B.
Mohr, 1904. M. 2.-.
Die Frage nach der psychologischen Entstehung unseres Baunibewußtseina
wurde zuerst mit der Aufstellung der Lokalzeichentheorie in folgender Weise
entwickelt1):
Der Begriff des Lokalzeichens hat die konstituierenden Merkmale, daß
es ein Leitfaden, ein Motiv ist, das die Seele veranlaßt, ihre raumbildende
Tendenz auf einzelne Empfindungsinhalte anzuwenden ; daß es mit dem quali-
tativen Empfindungsinhalt bzw. mit dem ihn vermittelnden Nervenprozeß un-
vermischbar und unvertauschbar sein muß, und daß die Lokalzeichen — innerhalb
eines Sinnorgans — ein Keihensystem bilden müssen. Diese Lokalzeichen —
Nebenempfindungen — haben am Anfang unserer Erfahrung noch nicht räumlich
gedeutet werden können, d. h. daß ein »lokaler Lernkursus« nötig ist. Die
Hautlokalzeichen präsentieren sich in der Harmonie der Mitempfindungen, die
bei der Beizung einer einzelnen Hautstelle zn dem Haupteindruck selbBt hinzu-
kommen. Die Lokalzeichen des HautsinnB lernen wir erst lokal verstehen
durch Assoziationen mit den Gesichtsempfindungen. Trifft ein besonders
intensiver, unsere Aufmerksamkeit erregender Beiz einen seitlichen Teil der
Netzhaut, so pflegt er sofort eine solche Bewegung des Auges hervorzubringen,
daß der betreffende Beiz die empfindlichste Stelle des Auges, d. h. die Netz-
hautgrube, trifft. Diese Hervorbringung beruht auf einem physiologischen
Mechanismus, in welchem nach dem Prinzip der Reflexbewegung die Beizung
jeder bestimmten Netzhautstelle auf verschiedene Fasern der motorischen
Augennerven so Ubertragen wird, daß für jede eine besondere unvertausch-
bare Bewegungsgruppe entsteht. So bekommt man durch Regulierung für
jeden Punkt der Netzhaut eine von allen andern möglichen Bewegungs-
empfindungen des Auges hinsichtlich ihrer Bewegungsgröße und -richtung
verschiedene Bewegungsempfindung. Es wird sich später an jeden Netzhaut-
punkt durch Assoziation unmittelbar auch der Trieb zn der bestimmten Größe
der Bewegung knüpfen niüSBen, so daß Beine Beizung begleitet erscheint von
einer ihr allein im Unterschied von allen andern eigentümlichen Bewegungs-
tendenz, die ihrerseits wieder eine entsprechende, ihr allein eigentümliche
Bewegungsvorstellung reproduziert. Damit hat man jenes fein abgestufte
Baumschema, in das man die einzelnen Empfindungsinhalte der Netzhaut
ausbreitet. Gegen diese Entwicklung der Lokalzeichentheorie läßt sich das
einwenden, daß die lokale Deutung der Hautlokalzeichen nicht von Asso-
ziationen mit Gesichts- bzw. Muskelempfindungen abhängig zu sein braucht;
daß dieso Lokalzeichen nicht Empfindungskomplexe einer Beiho von Haut-
nerven zu sein brauchen, und daß sie mit der Spannung und Unterlage der Haut
nichts zu tun haben. Die Gesichtslokalzcichen sind richtige Lokalzeichen;
nun kann die Annahme eines »lokalen Lernkursus« vermißt werden.
Nachdem wurde die Lokalzeichentheorie auf diejenige Weise dargestellt2},
daß unsere Baumvorstellung aus der Verbindung einer qualitativen Mannig-
faltigkeit peripherischer Sinnesempfindungen mit den qualitativ einförmigen
Innervationsgefühlen, welche sich durch ihre intensive Abstufung zu einem
Ii Lotze. 2) Wundt
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intensiven Größenmaß eignen, hervorgeht Hierdurch ist die Möglichkeit ge-
geben, daß die Mannigfaltigkeit der Lokalzeichen in ein Kontinnam von
gleichartigen Dimensionen geordnet, d. h. in die räumliche Form gebracht
werde. Dabei macht gleichzeitig die qualitative Verschiedenheit der in die
Raumform gebrachten Lokalzeicheu die Unterscheidungen der einzelnen
Richtungen und Lagen im Räume möglich. Gegen diese Darstellung läßt sich
das einwenden, daß von einer Mitwirkung motorischer Momente, auch in
Gestalt von Innervation erfühlen, bei der Entstehung unserer Anschauung im
Gebiete des Gesichtssinnes nicht die Rede zu sein braucht
Der moderne Nativisuius macht die Annahme1), daß uub die raumliche
Qualität in gewissen besonderen Sinnesernpfindungen gegeben ist, so gut wie
z. B. die Farbenqualität Das nati vis tische Lokalzeichen ist ein physisches
Moment ein Nervenprozeß so gut wie derjenige, der die Anschauung einer
Farbe unserem Bewußtsein aufdrängt. Und zwar ist das Lokalzeichen ge-
nauer der Nervenprozeß, dessen unmittelbare psychische Folge die Anschauung
eines ausgedehnten Ortes ist Der Raum, sowohl als absolute Ausdehnung
wie als räumliche Ordnung, bildet einen Teilinhalt gewisser Sinneeempfindungen,
so daß das Raumbewußtsein ebenso ursprünglich ist wie das Farbenbewußtsein.
Es ist nötig, in den Sinnesgebieten des HautsinneB und des Gesichtssinnes
vorzugsweise Systeme von gleichartigen LokationBinotiven anzunehmen, und
es ist im Grund der Hautsinn, der die Basis unserer Raumanschauung bildet
Die Empfindung eines ausgedehnten Ortes ist eine letzte Tatsache der genetisch-
psychologischen Analyse des Raumbewußtseins. Man darf als äußerst wahr-
scheinlich annehmen, daß die in Sinnesorganen bestehende Isolierung der
Fasern im einzelnen Falle auch zur Isolierung der Eindrucke benutzt wird,
d. h. daß der isolierte Faserverlauf ein Mittel ist jene verschiedenen Lokal-
zeichen hervorzubringen. Die kleinsten Reiznuancen und Empfindungsnuancen
der lokalen Distanzempfindung im Gebiet des Hautsinnes kommen uns erst
zum Bewußtsein, wenn wir sie wiederholt ins Licht unserer besonderen Auf-
merksamkeit gerückt haben. Dies ist einer jener rein psychischen Prozesse,
die bei der Ausbildung unseros Raumbewußtseinse eine so große Rolle spielen.
Im Gebiet des Gesichtssinnes ist es — dank der nahezu schematischen An-
ordnung der nervösen Grundlage — experimentell ermöglicht, die Erregung
eines Netzhautzapfens und damit wohl auch einer Primitivfaser des Sehnervs
als das letzte Atom des Sehfelds zu konstatieren. Die Eigentümlichkeit der
korrespondierenden oder identischen Punkte der beiden Netzhäute ist es, daß
wir infolge der Gleichheit ihrer Lokationsmotive mit ihnen stets einfach sehen
müssen, daß ihre Eindrücke in gewissen Fällen verschmelzen. In der Tat-
sache des Plastischsehens, dieser sinnlich-optischen Perzeption von Tiefen-
unterschieden, liegt ein Moment selbBtändiger,dreidimensionaler Raumansc hau u ng
des Gesichtssinnes vor, was auch der Gesichtswahrnehmung an sich — d. h.
abgesehen vom binokularen Sehen — zu inhärieren scheint. Der Begriff des
Lokalzeichens hat innerhalb der nativistischen Raumtheorie eine Stelle als
physischer Nervenprozeß, der sich konstant für jede Stelle des Nervensystems —
im Gebiet des Haut- und Gesichtssinnes vorzugsweise — mit jenem veränder-
lichen Nervenprozeß assoziiert, welcher an derselben Stelle dem qualitativen
Inhalt der wechselnden Empfindung zugrunde liegt. F. Biske (Zürich .
1 James, Stumpf, Höfler.
AxchiT für Psychologie. IV. Literatur. 4
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Literaturbericht.
7} G. Hey man 8, Über Unterschiedssehwellcu bei Mischungen von Kontrast-
farben. Zeitschr. f. Psych, n. Phys. d. Sinnesorg. 1903. 32. S.38— 49.
Da diese Untersuchung in einem gewissen Zusammenhang mit den Arbeiten
Uber psychische Hemmung steht, so empfiehlt es sich, zuerst auf diese hin-
zuweisen »).
Mit dem Worte psychische Hemmung wird die Tatsache bezeichnet, daß
ein Bewußtseinsinhalt durch das gleichzeitige Gegebensein eines andern
Bewußtseinsinhaltes einen Intensitätsverlust erleidet. Um die Gesetze dieser
Erscheinung zu ermitteln, wurden Versuche angestellt, die sich dem folgenden
Schema einordnen : es wurde für eine bestimmte Empfindungsqualität erstens
die einfache Reizschwelle, sodann die durch gleichzeitige Einwirkung eines
in verschiedenen Intensitäten zur Anwendung gelangenden zweiten Reizes
erhöhte Reizschwelle bestimmt ; jene einfache wurde von je einer dieser er-
höhten Reizschwellen subtrahiert, und es wurde gesucht, welche Beziehung
zwischen den so erhaltenen Hemmungswirkungen und den entsprechenden
Intensitäten des hemmenden Reizes besteht. Die Versuche im Gebiete der
Farbenempfindungen wurden mittels eines Rotationsapparates mit Sektor-
scheiben angestellt. Aus diesen geht hervor, daß die Hemmungskraft eines
Farbenreizes, an den eben gehemmten Farbenreizen gemessen, proportional
seiner Intensität wächst. Die Beziehung zwischen der einfachen Reizschwelle
für eine bestimmte Farbe r0 und der durch Beimischung eines zweiten Farben-
reizes von der Intensität R erhöhten Reizschwelle rR muß sich demnach durch
folgende Formel darstellen lassen: rH — r0 -f- h Ä, in welcher h eine Konstante,
den Hemmungskoeffizienten, vorstellt. Die mittleren Hemmungskoeffizienten
für die verschiedenen Farben als Aktivreize geben ein Maß für die hemmende
Kraft, welche diesen Farben irgendwelchen passiven Farbenreizen gegenüber
zukommt; und die reziproken Werte der mittleren Hemmungskoeffizienten für
die verschiedenen Farben als die Passivreize geben ein Maß für den Wider-
stand, welchen diese Farben der Hemmung durch irgendwelche aktive Farben-
reize entgensetzen. Es läßt sich demnach aus den Versuchsergebnissen noch
folgende gegenseitige Abhängigkeit ausdrücken: die Heinmungskräfte sind
den Hemmungswiderständen, und beide den reziproken einfachen Reizschwellen
proportional. Aus dem kann man schließen, daß auch das, was als Reiz-
schwelle gemessen zu werden pflegt, nicht elirainierbaren oder nicht eliminierten
nemmungswirkungen zugeschrieben werden muß.
Das Ziel der vorliegenden Untersuchung war die Bestimmung der bei der
Mischung von Kontrastfarben sich ergebenden Unterschiedsschwellen. Das
Versuchsverfahren bestand darin, daß je zwei Kontrastfarben (Rot und Blau-
grün, Braungelb und Blau, Weiß und Schwarz) in verschiedenen Verhältnissen
gemischt werden, und für jede Mischung die zur Erzielung eines ebenmerklichen
Unterschiedes erforderte Ersetzung der jeweilig letzteren durch die jeweilig
erstere Farbe nach der Methode der Minimaländerungen, mittels rotierender
Sektorscheiben, ermittelt wurde. Aub den Versuchen läßt sieh folgende Gesetz-
mäßigkeit der Ergebnisse ermitteln: bei der Mischung von Rot und Blaugrün,
und ebenso bei derjenigen von Braungelb und Blau, erreicht die Unterschieds-
1) Zeitschr. f. Psych. 21.
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Literaturbericht.
51
schwelle bei einem Bolchen Mischungsverhältnis, welches ein reines Grau er-
gibt, ein Minimum, von welchem sie nach beiden Seiten hin regelmäßig an-
steigt; bei der Mischung von Weiß und Schwarz läßt die Unterschiedsschwelle
von der dunkelsten bis zur hellsten Nuance eine durchgehende Zunahme er-
kennen; und zwar in jedem Falle wächst die Unterschiedsschwelle von dem
Minimum an proportional denjenigen Beträgen, von welchen Stücke der einen
durch solche der andern ersetzt worden sind. Bei der Mischung von Rot
und Blaugrün wird die Unterschiedsschwelle von Rot bei einem Mischungs-
verhältnis von 66° rot und 405° blaugrün minimal = 3,83°. Sie steigt von
diesem Punkte an um 0,025° für jeden Grad Blaugrün, der durch Rot, und um
0,027° für jeden Grad Rot, der durch Blaugrün ersetzt wird. Bei der Mischung
von Braungelb und Blau wird die Unterschiedsschwelle von Braungelb bei
einem Mischungsverhältnis von 214,4° Braungelb und 146,6° Blau minimal =
2,92". Sie steigt von diesem Punkte an um 0,018° für jeden Grad Blau, der
durch Braungelb, um 0,021 ° für jeden Grad Braungelb, der durch Blau ersetzt
wird. Bei der Mischung von Weiß und Schwarz wird die Unterschiedsschwelle
von Weiß bei möglichst reinem Schwarz minimal = 0,16°. Sie steigt von diesem
Punkte an um 0,011 ° für jeden Grad Schwarz, der durch Weiß ersetzt wird.
Es läßt sich jede Mischung von Kontrastfarben, in welcher eine Farbe
überwiegt, als eine solche von Grau mit einem bestimmten Werte von dieser
Farbe ansehen. Die aus diesen Versuchen auf diese Weise für vollständig
kompensierte Mischungen gefundenen Unterschiedswerte der betreffenden
Farben bestimmen den Sättigungsgrad einer Farbe, welcher dazu erforderlich
ist, sie eben wahrnehmbar zu machen; und die für andere Mischungen ge-
fundenen Unterschiedswerte der Farben bestimmen die Süttigungsdifferenzen,
welche dazu erfordert sind, Farben von bestimmten Sättigungsgraden eben
von andern unterscheiden zu können. Vergleicht man diese absoluten Unter-
schiedsschwellen mit den entsprechenden Sättigungsgraden, so scheinen sie
dem Gesetze der Konstanz der relativen Unterschiedsschwelle wenig zu ge-
nügen. Berechnet man aber zuerst die Hemmungskoeffizienten für die Wirkung
des durch Mischung zweier Komplementärfarben bei vollständig kompensierten
Mischungen hervorgebrachten Grau anf jede dieser Farben, so läßt sich aus
diesen für jede der andern Mischungen die totale Hemmungswirkung des
dubei verwendeten Grau berechnen ; zieht man dieselbe von der entsprechenden
Unterschiedsschwelle ab und teilt den Rest durch den Betrag der beigemischten
Farbe, so ergeben sich die Hemmungskoeffizienten für die Wirkung von einer
Farbe auf sie selber. Die Übereinstimmung zwischen den verschiedenen für
je eine Farbe gefundenen Werten bestätigt die Annahme, daß die Hemmungs-
wirkungen mehrerer in eine Mischung eingehender Komponenten sich addieren,
und berechtigt zu dem Schluß, daß die HemmungBtheorie von diesen Tatsachen
genaue Rechenschaft zu geben vermag. F. Biske (Zürich).
8i H. Piper, Über Dunkeladaptation. Zeitschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnes-
org. 1903. 31. S. 161-219.
In dieser Untersuchung soll der allgemeine zeitliche Verlauf der Adaptation
ohne eingehende Berücksichtigung der lokalen Empfindlichkeitsdifferenzen
der Netzhaut festgestellt werden. Die Versuche wurden so angeordnet, daß
durch einen Apparat von der Beschaffenheit einer Camera abscura ein Bild
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Literaturbericht.
der durch eine Glühlampe beleuchteten Kartonfläche in der Größe eines
Quadrates von 10 cm Seite auf eine Milchglasscheibe entworfen wurde, deren
Helligkeit durch eine Irisblende variiert werden konnte. Die Versuchsperson
befand sich in einem völlig dunkeln Raum, und ihr Auge wurde in dem kon-
stanten Abstand von 30 cm von der leuchtenden Scheibe der Camera ge-
halten. In passenden Zeitintervallen wurden Bestimmungen der eben noch
wahrnehmbaren Lichtintensität vorgenommen. Um einen Oberblick Uber den
Verlauf der Empfindlichkeitszunahme zu gewinnen, war es nötig, daß jede
Messungsreihe mit der einer maximalen Helladaptation entsprechenden Mindest-
empfindlichkeit des Sehorgans begonnen wurde. Es stellte sich heraus, daß
in ziemlich weiten Grenzen, unabhängig von der Dauer des Hellanfenthalts
und von der Intensität der einwirkenden Sonnenstrahlung, stets annähernd
die gleiche Helligkeit des Versuchslichtreizes als Anfangsschwellenwert ge-
funden wurde. Bemerkenswert ist die Erscheinung, daß, wenn man bei Be-
stimmung einer Schwelle von unterschwelligen Werten zu größeren Licht-
intensitäten Ubergeht, man zu einer solchen, welche plötzlich auffallend hell
im Gesichtsfeld auftaucht, gelangt; man kann dann ziemlich erheblich den
Lichtreiz wieder abschwächen, bis man die jetzt gültige, scharf einstellbare
Schwelle findet. Bei den Versuchen wurde der letzte geringere Schwellen-
wert als gültig angenommen. Die reziproken Zahlen dieser Schwellenintensitäten
sind dann die Empfindlichkeit« werte der Retina. Zuerst wurde bei den Unter-
suchungen binokular beobachtet Sieht man von den Verschiedenheiten des
Verlaufes der Empfindlichkeit bei einzelnen Personen ab, so ergibt sich die
allgemeine physiologische Regel, daß die Empfindlichkeit der Retina bei
Dunkelaufenthalt, vom Zustand guter Helladaptation ausgehend, in den ersten
10—12 Minuten langsam, dann aber schnell zunimmt und nach längerer oder
kürzerer Zeit ein Maximum erreicht, auf dem sie stehen bleibt. Dabei erweist
sich der Charakter des Adaptationsverlaufs, d. h. die Steilheit der Steigung und
mit gewissen Einschränkungen die absolute Höhe der Empfindlichkeit, für eine
bestimmte Person stets als gleich. Nach 40—60 Minuten dauerndem Licht-
abschluß geht der Adaptationsverlauf in mehr oder weniger ausgesprochen
scharfer Biegung in eine äußerst langsame, aber stetig fortgesetzte Steigung
Uber. Nach 8 ständiger Adaptationszeit Ubertraf die Netzbautempfindlichkeit
die nach 1 Stunde erreichte noch um fast das Doppelte. Was das Maß der
Empfindlichkeitszunahme bei Dunkelaufenthalt betrifft, so ergeben einige Ver-
suche Zahlen, die eine rund 100 mal größere Empfindlichkeitszunahme nach
etwa 1 stündigem Dunkelaufenthalt angeben. Man kann zwei Typen des
Adaptationsverlaufs unterscheiden, von denen der eine durch eine sehr schnelle
und meistens auch hochgradige Empfindlichkeitszunahme, der andere durch
langsame und in der Regel weniger ausgiebige Adaptation unterscheidbar ist,
wobei der Verlaufstypus der Adaptation, ihre Geschwindigkeit und Größe
als unabhängig von den Typendifferenzen des Farbensinnes zu betrachten
sind. Normale wie anormale Trichromaten, sowie auch Dichromaten können
ebensogut dem Typus der schnellen und ausgiebigen, wie der langsamen und
geringen Adaptation angehören. Bei monokularer Beobachtung beträgt der
Empfindlichkeitswert des einen Auges stets annähernd die Hälfte des bino-
kularen. Bei Beobachtung mit beiden Augen im Zustande vorgeschrittener
Dunkeladaptation summieren sich also die beiden Lichtreize; dabei tritt diese
Erscheinung erst nach etwa lö Minuten dauerndem Dunkelaufenthalt hervor,
so daß der Satz der binokularen Reizaddition für das helladaptierte Auge
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Literaturbericht.
53
nicht gilt Beachtet man den Verlauf der Empfindlichkeitesteigerung bei
binokularer Dunkeladaptation, aber monokularer Beobachtung, und den bei
ausschließlicher Dunkeladaptation des einen Auges und Beobachtung mit diesem
allein, so ergibt sich, daß die Adaptation jedes Auges sich unabhängig von
der des andern vollzieht, was im Einklang mit der Annahme steht, daß die
Empfindlichkeitszunahme bei Dunkelaufenthalt sich vermutlich in der Netz-
haut abspielt Aus der Tatsache, daß bei monokularer Dunkeladaptation die
Beizaddition ausbleibt, gleichgültig, ob das Hellauge mit beobachtet oder
nicht, ist zu schließen, daß die unterschwelligen Erregungen des Hellauges
nicht so weit geleitet werden, um die des Dunkelauges verstärken zu können.
F. Biske (Zürich).
9) H. Piper, Dr. med., Über die Abhängigkeit des ReizwerteB leuchtender
Objekte von ihrer Flächen- bzw. Winkelgröße. Zeitachr. f. Psych,
u. Phys. d. Sinnesorg. 1904. 32. S. 98—112.
Es ist bekannt, daß die Größe des Objektes fllr dessen Sichtbarkeit von
erheblicher Bedeutung ist derart, daß bei gleicher Flächenintensität der Objekte
kleinere unterschwellig bleiben, größere dagegen wohl wahrnehmbar sind.
Nach den Untersuchungen verschiedener Forscher kann man dem Verhältnis,
in welchem Flächengröße und Schwellenhelligkeit des Objektes stehen, so-
lange es sich um Flächengrößen handelt, deren Netzhautbilder die Fovea
centralis nicht überschreiten, die mathematische Formulierung geben: dag
Produkt von Flächengröße des Netzhautbildes und Lichtintensität ist eine
konstante Größe.
Es war interessant zu untersuchen, wie sich in dieser Beziehung die
Netzhautperipherie verhält Bei den Schwellenbestimmungen wurde ein Apparat
von der Beschaffenheit einer Camera obscura benutzt, in welchem die Linse
das Bild einer leuchtenden Kartonfläche auf eine Milchglasscheibe entwarf,
dessen Helligkeit durch eine vor der Linse angebrachte graduierte Irisblende
meßbar variiert werden konnte, und welches den Lichtreiz bildete, an dem
die Empfindlichkeit des Auges gemessen wurde. Die Reizobjekte wurden bei
allen Versuchen mit weit peripheren Netzhautteilen beobachtet derart daß
der innere Rand des Netzhantbildes mindestens 20°— 26° von der Fovea ab-
lag. Benutzt man den Lichtschwellenwert als Indikator des Reizwertes eines
Objektes für das Auge, so ergibt sich aus den Messungen, daß dieser Reiz-
wert für die Peripherie der dnnkeladaptierten Retina abhiingig ist von der
Größe des leuchtenden Objektes bzw. seines Netzhautbildes, derart, daß größere
Objekte niedrigere Schwellenwerte haben als kleine, und zwar annähernd so,
daß das Produkt des Lichtschwellenwertes mit der Wurzel der Flächengröße
des Netzhautbildes bezüglich der Wahrnehmbarkeit des Objektes eine konstante
Größe ist
Um auch für die helladaptierte Netzhautperipherie festzustellen, wie sich
die Lichtschwellenwerte bei Beobachtung verschieden großer Objekte zu-
einander verhalten, ist zu bemerken, daß die sämtlichen Bestimmungen bei
unverändertem Empfindlichkeitszustand der Netzhaut vorgenommen werden
müssen, wenn die für verschieden große Reizobjekte gefundenen Schwellen-
werte quantitativ untereinander vergleichbar sein sollen. Dieser Forderung
gerecht zu werden, war bei dunkeladaptiertem Auge möglich, da die Netzhaut
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54
Literatlirbericht.
nach Va — 3A stündlichem Dunkelaufen thatt einen ziemlich konstant bleibenden
Zustand maximaler Empfindlichkeit erreicht; bei helladaptiertem Auge ist das
aber fast nicht möglich, denn in der Zeit, welche zwischen den einzelnen im
Dunkeln vorgenommenen Schwellenmessungen verstreicht, hat sich die Empfind-
lichkeit der Retina im Sinne der Dunkeladaptation verändert Trotzdem die
Beobachtungen so angestellt wurden, daß dieser Fehler sich in dem Sinne
geltend macht, daß die Differenz der Reizwerte sich als noch zu groß dar-
stellt, zeigt Bie doch im Vergleich zu den bei Dunkeladaptation gewonnenen
Feststellungen einen ganz geringen Wert, so daß demnach der Einfluß der
Größe des Objekts auf seinen Lichtschwellenwert für die helladaptierte Neta-
hautperipherie als minimal betrachtet wird. F. Biske (Zürich).
10) H. Piper, Dr. med., Über das Helligkoitsverhältnis monokular und binokular
ausgelöster Lichtempfindungen. Zeitschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnes-
org. 1903. 32. S. 161-176.
Von gewissem Interesso ist die Frage, ob sich die beiden monokularen
Netzhauterregungen zur Auslösung einer einzigen stärkeren Helligkeits-
empfindung summieren, oder ob dies nicht erfolgt, d. h. ob wir mit zwei
Augen heller sehen als mit einem, oder ebenso hell. Es erschien wünschens-
wert, dieser theoretisch interessanten Frage durch quantitative Messungen
nachzugehen; der gegebene Weg hierfür war der, Gleichheiten zwischen einer
monokular und einer binokular gesehenen Helligkeit einstellen zu lassen und
dann die objektiven Lichtintensitäten der beiden Felder zahlenmäßig zu ver-
gleichen.
Bei solchen Messungen werden die Versuche mit Hilfe eines camera-
artigen Apparates so angeordnet, daß der Beobachter das eine Feld binokular,
das andere aber monokular sehen konnte. Der Beobachter hatte nun die
Helligkeiten des binokular und des monokular gesehenen Feldes miteinander
zu vergleichen und die Intensität des einäugig gesehenen so lange durch Ver-
stellung der diesem zugehörigen Irisblende lindern zu lassen, bis beide Felder
gleich hell erschienen. Ist dies erreicht, so verhalten sich die Lichtintensitäten
beider Felder zueinander wie die Quadrate der zugehörigen Blendendurchmesser;
die Empfindlichkeit des einen Auges verhält sich aber zu der beider Augen
zusammen umgekehrt proportional den Lichtintensitäten, welche von den von
einem und den von beidon Augen beobachteten Feldern nach Gleichheits-
einstellung ausgestrahlt werden.
Schon die Ergebnisse qualitativer und ganz roher Versuche deuten darauf
hin. daß, wenn man mit gut hell adaptierten Augen eine mehr oder weniger
stark lichtreflektierende Flüche, etwa den hellen Tageshimmel, beobachtet und
dabei abwechselnd das eine Auge schließt und öffnet, man im Moment des
Lidschlusses einen ganz zarten Schatten sich Uber die Fläche legen sieht, der
im Moment des üffnens verschwindet und einer ebenso minimalen Erhellung
Platz macht; diese Helligkeitsunterschiedo sind verhältnismäßig sehr schwach,
für manche Augen kaum wahrnehmbar. Die quantitativen Messungen be-
stätigen das Resultat, daß man bei Helladaptation mit zwei Augen ganz außer-
ordentlich wenig heller sieht als mit einem.
Es ergeben sich dagegen viel größere Unterschiede, wenn die Versuche
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Literaturbericht.
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bei guter Dunkeladaptation der Augen angestellt werden; die Intensität der
Felder kann erheblich herabgesetzt werden, so daß sie für das helladaptierte
Auge unterschwellig sein würde; der subjektive Helli^keitseindruck war in-
dessen so groß wie früher. Sind beide Felder auf gleiche Lichtintensität
gebracht, so erscheint stets das monokular beobachtete beträchtlich dunkler
als das binokular gesehene; diese Erscheinung tritt ein, gleichgültig, ob das
rechte oder das linke Auge das monokular beobachtende ist Es wurden wiederum
Gleichheiten zwischen der monokular und der binokular gesehenen Helligkeit
eingestellt, indem die zum dunkleren, einäugig beobachteten Felde zugehörige
Blende erweitert wurde, und die Beobachtungen wurden bei verschiedenen
absoluten Lichtintensitäten eingestellt. Es zeigte sich, daß bei Dunkeladaptation
die mit zwei Augen beobachteten Objekte durchschnittlich um das 1,6—1,7 fache
heller erscheinen, als die mit einem gesehenen, und bei ganz geringen ab-
soluten Lichtwerten Ubertrifft die binokulare Empfindlichkeit die monokulare
annähernd um das Doppelte.
Macht man mit der Kopfbewegung in einer mittleren Lage Halt, so daß
die beiden inneren Hälften der Felder nur monokular gesehen werden können,
nämlich die des linken Feldes nur vom linken, die des rechten nur vom
rechten Auge, die beiden äußeren Feldhälften aber binokular sichtbar sind,
so erscheinen die beiden inneren Hälften der Felder beschattet, die beiden
äußeren aber heller; durch Kopfbewegung kann man die Schatten beliebig
nach rechts oder links wandern machen; die Grenze zwischen dem hellen
und dem beschatteten Teile jedes Feldes ist durch einen besonders dunkeln
senkrechten Streifen markiert Der dunkle Streifen zwischen binokular und
monokular gesehenen Feldhälften ist noch sichtbar, wenn der Unterschied
zwischen den Helligkeiten der beiden Feldhälften nicht wahrnehmbar wird,
was bei Beobachtung unter den Bedingungen der Helladaptation der Fall sein
kann; nur erscheint er nicht in so dunklem Kontrast zum Hell des Feld-
grondeB. F. Biske (Zürich).
11 Gisela Schäfer, Wie verhalten sich die Helmholtzschen Grundfarben zur
Weite der PupUle. Zeitschr. f. Psych, u. Phys. d. Sinnesorg. 1903. 32.
Über den Einfluß farbiger Lichter auf die Pupillenweite liegen einige
Arbeiten vor, die zu dem Ergebnis geführt haben, daß die Farben gleicher
Helligkeit der Pigmentpapiere sich in bezug auf ihre Wirkung auf das pupillen-
verengende Zentrum als motorisch äquivalent erweisen '], und daß mit der
Änderung der Helligkeitswerte des monochromatischen Lichtes bei einer
Heizung derselben Netzhautstelle auch eine äquivalente Änderung der pupillo-
motorischen Wirkung einhergeht-;.
Die folgenden Versuche bestehen darin, daß auf einem Feld von ge-
gebener Größe ein Weiß aus zwei Komplementärfarben gemischt und mit einer
bestimmten Netzhautstelle betrachtet wurde. Nimmt man nun eine der Farben
weg, so vergrößert sich die Pupille. Es fragt sich, ob eine Reaktion etwa
wesentlich schwächer ist, wenn die zurückbleibende Farbe eine Grundfarbe
ist als wenn sie dies nicht ist. Die Versuche wurden so ausgeführt, daß die
Farben auf der Netzhaut gemischt wurden, indem aus einem Spektrum durch
1) Dr. M. Sachs. 2) G. Abelsdorff.
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Literaturbericht.
einen Spalt des Schirmes eine der Grundfarben hindurch gel aasen und dann
der zweite Spalt so verschoben und beiden Spalten solche Breite gegeben
wurde, daß das Mischfeld weiß erschien. Die jeweilige Weite der Pupille
wurde mittels des Zerstreu ungskreises gemessen, den die Strahlen eines
Lichtpunktes vor demselben Auge bildeten, das zur Beobachtung des
MischfeldeB benutzt wurde. In einem vollständig dunkeln Kaume wurde
eine große Zahl von Versuchen angestellt, und zwar sowohl mit hell- als mit
dunkeladaptiertem Auge. Es erwies sich, daß Grün immer den größten
Zerstreuungskreis hatte, Rot den kleineren, die Mischfarben den kleinsten;
ebenßo gab das Violett immer einen größeren Zerstreuungskreis als Gelb, nnd
die Mischfarbe hatte wieder den kleinsten. Dabei hatte die Mischfarbe des
ersten Farbenpaares einen kleineren Zerstreuungskreis als die des zweiten.
Da die Grandfarben Rot und Violett im Vergleich mit ihren Komplementär-
farben pupillomotorisch verschieden wirken, so kann man folgern, daß die
Grandfarben als solche keine speziellen Wirkungen üben.
F. Biske (Zürich)
12) AI fr. Lehmann, Versuch einer Erklärung des Einflusses des Gesichts-
winkels auf die Auffassung von Licht und Farbe bei direktem
Sehen. (Archiv f. d. ges. Physiologie. 1885. 36. S. 580-639.)
Es ist bekannt, daß der Gesichtswinkel einen bedeutenden Einfluß bei
der Auffassung der Lichtnnterschiede hat; wenn der Gesichtswinkel eines
Objektes bei gegebener Beleuchtung so klein ist, daß es eben wahr-
genommen werden kann, beim kleineren Gesichtswinkel eine stärkere
Beleuchtung erforderlich wird, um das Objekt sichtbar zu machen.
Hieraus wurde der Satz abgeleitet, daß Gesichtswinkel nnd Helligkeit sich
gegenseitig ergänzen»).
Etwas durchaus Entsprechendes gilt für die Farbenanffassung; bei einer
gegebenen Lichtstärke wird man nicht imstande sein, die Farbe eines Ob-
jektes unter einem gewissen Gesichtswinkel richtig aufzufassen. Bei ver-
schiedenen hierauf bezüglichen Untersuchungen zeigte sich noch, daß die Be-
schaffenheit des Hintergrundes großen Einfluß auf die Gesichtswinkel der
Sichtbarkeit verschiedener Farben hatte. Um den Kontrast gegen den Grand
vollständig eliminieren zu können, wurden Versuche gemacht, Pigmente von
verschiedenem Farbenton, aber von derselben Helligkeit und Sättigung dar-
zustellen. Man kann z. B. einem gelben Pigment so viel von einem
schwarzen zusetzen, daß die Mischung sich ebenso dunkel zeigt, wie ein
vorgelegter roter Färbestoff. Von Schwarz und Weiß kann man darauf ein
Grau darstellen, das dieselbe Helligkeit hat wie das Rot nnd das gemischte
Gelb. Fügt man nun etwas von diesem Grau zu dem Rot, so kann sich
die Helligkeit nicht verändern, weil die zwei vorher gleich hell waren, da-
gegen aber wird die Sättigung geringer, nnd es scheint, als müsse man die
Mischungsverhältnisse so anordnen können, daß das Rot dieselbe Sättigung
erhält wie das Gelb. Wenn dieses erreicht ist, so hat man ein gelbes und
ein rotes Pigment, die sowohl dieselbe Sättigung als dieselbe Helligkeit
haben. Aus den Versuchen in bezug auf die Ordnung der Sichtbarkeit der
1) Förster.
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Literaturbericht.
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verschiedenen Farbtöne, die mit solchen Pigmenten auf schwarzem Grand
angestellt wurden, kann man die Schlußfolgerung ziehen, daß Rot von allen
Farben diejenige sei, die sich unter dem kleinsten Gesichtewinkel auffassen
läßt; danach folgen die andern in folgender Ordnung: Blau, Gelb, Grün.
Der Umstand, daß die Farben unter sehr verschiedenen Gesichtswinkeln sicht-
bar werden oder aufhören sichtbar zu sein, kann nur durch die Annahme
erklärt werden, daß große Differenzen in der Empfänglichkeit der Netzhaut
für Einwirkungen der verschiedenen Farbenstrahlen stattfinden. Und man
muß alsdann annehmen, daß die Empfänglichkeit am größten ist für Rot,
kleiner für Blau und Gelb, und am kleinsten für Grün1).
Hierbei ist jedoch zu bemerken , daß die farbigen Objekte allerdings in
der angegebenen Reihenfolge als farbige sichtbar werden, aber keineswegs
in ihrem rechten Farbentone. Orange zeigte sich auf schwarzem Grunde
beim kleinen Gesichtswinkel rot, und erst bei einem größeren Gesichtswinkel
trat es als orange hervor. Grün zeigte sich auf schwarzem Grunde zuerst
hell bläulich, und erst darauf erschien es als deutlich grün2).
Ein näher formuliertes Gesetz Uber das Verhältnis zwischen Gesichts-
winkel und Stärke der Beleuchtung, welches erfordert wird, damit eine Licht-
oder Farbenempfindung soll entstehen können, ist noch nicht aufgefunden.
Ob Beleuchtungsintenaität und Gesichtswinkel einfach reziprok wären,
— woraus folgen würde, daß eine gewisse Summe Strahlen auf die
Netzhaut fallen müßte, um eine Lichtempfindung hervorzurufen, es aber
gleichgültig wäre, ob diese Summe Uber einen größeren oder kleineren Raum
der Netzhaut verteilt würde — , läßt sich nicht umstoßen. Denn ist es be-
kannt, daß die Entfernungen eines Objektes einen nicht unwesentlichen Ein-
fluß auf die Funktion unseres Auges ausüben, indem dabei die Akkommo-
dation und zum Teil die Adaptation der Iris bestimmt ist. Folglich läßt es
sich sehr wohl denken, daß diese Verhältnisse eine Komplikation des Ge-
setzes bewirken können, so daß die Annahme einer konstanten Lichtmenge
vollkommen richtig sein kann, ohne doch eine genaue Reziprozität zwischen
Lichtstärke und Gesichtswinkel zu bedingen. Soll es also gelingen, die
rechte Erklärung des gegenwärtigen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Ge-
sichtswinkel und Stärke der Beleuchtung zu finden, so müßte zuerst unter-
sucht werden, wie das ins Auge gelangende Licht sich auf der Netzhaut
verteilt, wenn der Abstand des Auges vom Objekt verändert wird. Es wird
allgemein angenommen, daß die Lichtstärke des Netzhautbildes konstant ist,
unabhängig von dem Abstand zwischen Objekt und Auge, wenn die Be-
leuchtung des Objektes gegeben ist. Dieser Satz stützt sich auf die Be-
trachtung, daß die das Auge treffende Lichtmenge und das Areal des Netz-
hantbildes immer in demselben Verhältnis abnehmen. Betrachtet man
nämlich einen Gegenstand unter einem gewissen Gesichtswinkel, so sind da-
mit die Ausdehnung und die Lichtstärke des Netzhautbildes gegeben. Wird
der Abstand des Objektes vom Auge nmal so groß, so wird die das Auge
treffende Lichtmenge ~- von der ursprünglichen werden, aber gleichzeitig
1
verringert sich der Gesichtswinkel zu - , so daß das Areal des Bildes zu
tt
des ursprünglichen wird. Als Folge davon wird die Lichtstärke auf jeder
1) Bull. 2) Aubert.
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Literaturbericht.
Flächeneinheit konstant sein. Hierbei ist vorausgesetzt, daß ein Punkt im
Raumo »ich auf der Netzhaut wie ein Punkt abbildet. Ißt dies dagegen
nicht der Fall, so wird die lineare Große des Bildes nicht in demselben
Verhältnis abnehmen, wie der Abstand zunimmt, und folglich wird die
Lichtstärke des Netzhautbildes nicht konstant sein. Indessen haben die
Untersuchungen Uber die Irradiationserscheinnngen zu dem Nachweis ge-
führt, daß ein Punkt im Räume strenggenommen niemals sich aU Punkt
auf der Netzhaut abbildet Es wird daher die erste Aufgabe sein, als Folge
davon die Lichtverteilung im Netzhautbilde darzulegen.
Betrachtet man zwei gleich große Quadrate, ein schwarzes auf weißem
Grunde und ein weißes auf schwarzem Grunde, so fällt es gleich in die
Augen, daß das weiße größer als das schwarze zu sein scheint, und das in
desto höherem Grade, je kleiner der Gesichtswinkel ist, unter welchem mau
die Figuren betrachtet. Dieses Phänomen beruht auf dem Umstände, daß
das Bild auf der Netzhaut durch Zerstreuungskreise gebildet wird, indem die
in die Randpunkte des Bildes fallenden Strahlen sich über Zirkel zer-
streuen, in deren Mittelpunkten die Intensität am grüßten sein muß, und
von da nimmt sie gegen die Peripherie ab. Wie aber das Licht im Zer-
streuungszirkel verteilt ist, wird von den optischen Verhältnissen abhängig
sein, welche die Zerstreuung bedingen. Von solchen kann bei dem Auge in
Frage kommen: Zerstreuung wegen der Dispersion, wegen der monochroma-
tischen Abweichung und durch die unvollständige Akkommodation. Denken
wir uns, daß ein einzelner Strahl des weißen Lichtes das Auge trifft, und
daß dieses für Strahlen von mittlerer Brauchbarkeit akkommodiert ist, so
werden diese sich in einem Punkte der Netzhaut vereinigen. Die übrigen
Strahlen werden sich in Kreisen vereinigen, und da sie alle geringere Hellig-
keit haben, weil sie sich Uber ein ziemlich großes Areal zerstreuen, so wird
die Helligkeit in den äußersten Kreisen der Zerstreuungszirkel allmählich
abnehmen. Unter monochromatischer Abweichung faßt man die Zerstreuungen
zusammen, welche Lichtstrahlen von bestimmter Brecbbarkeit dadurch er-
leiden, daß die brechenden Medien des Auges nicht von solchen Flächen
begrenzt werden, die erforderlich sind, um homogenes Licht nach der
Brechung in einem Punkt zu sammeln, daß ferner die brechenden Medien
nicht zentriert sind, und daß die Linse eine strahlige Struktur hat. Es läßt
sich annehmen, daß in denjenigen Zerstreuungszirkeln, in denen das Licht
auf Grund der angeführten verschiedenen Umstände zugleich verteilt wird,
die Lichtstärke im Mittelpunkte am größten sein und ziemlich schnell gegen
die Peripherie abnehmen muß. In dem durch unvollständige Akkommodation
entstehenden Zerstreuungszirkel wird die Lichtstärke ungefähr durchweg
gleichförmig sein. Im Gegensatz zu den durch Dispersion und mono-
chromatische Abweichung hervorgebrachten Zerstreuungszirkeln, deren Radius
in einem gegebenen Auge als konstant betrachtet werden kann, müssen die
Zerstreuungszirkel der unvollkommenen Akkommodation veränderliche Radien
haben. Aber auch für ein Auge im gegebenen AkkoraniodationszuBtand muß
der Radius variabel sein; da die Zerstreuungszirkel nämlich Bilder der Pu-
pille, und daher von der Größe derselben abhängig sind, so muß jede
Reizung des Auges, wodurch die Pupillenweite verändert wird, auch den
Radius der Zerstreuungszirkel verändern.
In bezug auf die Lichtverteilung im Zerstreuungszirkel, wenn alle drei
Verteilungsprinzipien gleichzeitig auftreten, ergibt sich als die einfachste und
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Literaturbericht.
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wahrscheinlichste Annahme diese, daß die Lichtstärke im Zentrum des Zirkels
am größten sein muß und von da allmählich gegen die Peripherie abnimmt
Für die Berechnung der Lichtverteilung im Rande des Netzhautbildes eine»
Quadrates ist es gleichgültig, ob man jeden Strahl in der Höhe des Quadrates
über einen Zirkel mit bestimmtem Radius sich zerstreuen läßt, oder jeden
derselben für sich allein Uber den auf die Seite rechtwinkligen Diameter
ihres eigenen Zerstreuungszirkels verteilt. Man kann auch ungefähr an-
nehmen, daß das Licht auf jedem der auf die Ränder des Bildes recht-
winkligen Diameter der Zerstreuungszirkel gleichmäßig vom Zentrum gegen
die Peripherie abnimmt. Für die Berechnung der Lichtverteilung ist es also
nötig, nur die Intensitäten zu summieren, die durch Aufeinanderlagerung der
in der Richtung senkrecht zur Seite nacheinander folgenden Diameter ent-
stehen. Bezeichnet man die Intensität des Strahles mit i, den Radius des
Zerstreuungszirkels mit %, so ist die Intensität in jedem Punkte des irradiierten
Bildrandes in der Entfernung x vom äußeren Peripheriepunkte im Abstand *
senkrecht zum Rande gerechnet:
J'= 2 -'U
für Punkte zwischen der äußereu Peripherie und dem ideellen Rand, und
für Punkte zwischen dem ideellen Rand und der inneren Peripherie.
Es ist noch die Irradiation des Grundes zu berücksichtigen nötig, wenn
der Grund nicht als absolut schwarz betrachtet werden kann. In solchem
Falle wird nämlich das vom Grunde kommende Licht Uber das Netzhautbild
des Objektes irradiieren, so wie dieses Uber jenes irradiiert. Die zugehörigen
Gleichungen erhält man aus den früheren, wenn für t die Intensität des
Grundes «, und für x die Abscisse 2 % — x , um von demselben Anfangs-
punkte zu rechnen, substituiert werden :
für die äußeren Punkte, und
V+ä)
für innere Punkte.
Da die Intensität im irradiierten Rande die Summe der Intensitäten
werden muß, die Grund und Objekt jedes für sich hervorbringen würden, so
hat man
1 x2 .
4r + = y V2 (»-«)+«
für äußere Punkte und
^+*«+('*-Ä-*1)(<— !
für innere Punkte.
In einer mathematischen Bestimmung der Lage der Grenze zwischen dem
Objekt und dem Grunde muß folgende Voraussetzung angenommen werden:
Wenn unser Auge aus irgendeinem Grunde genötigt wird, im kontinuier-
lichen Lichtubergange eine künstliche Grenze aufzufassen, so wird diese
Grenze da eingesetzt, wo der Unterschied zwischen den empfundenen In-
tensitäten in den Punkten des Objektes und der Grenze gleich diesem ünter-
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Literaturbericht.
schied in den Punkten der Grenze und des Grandes ist. Ist die objektive
Intensität in der Grenze Jr, im Objekt und Grande dagegen « und «, so
wird nach dem psychophysischen Gesetze
Da, wie die Erfahrung lehrt, das Objekt vergrößert erscheint, so darf
man vermuten, daß die künstliche Grenze in Punkten zwischen der äußeren
Peripherie und dem ideellen Rande sich finden wird, folglich
Löst man diese Gleichung mit Rücksicht auf x und beachtet, daß der Zu-
wachs / des Netzhautbildes gegeben ist durch t = * — x, so erhält man für t
folgenden Ausdruck:
Da die Annahme, daß die Grenze zwischen dem ideellen Rand und der
inneren Peripherie liegt, zu einer Absurdität führen würde, so ist es be-
wiesen, daß ein helles Objekt auf dunkelm Grunde durch die Irradiation
immer vergrößert erscheinen muß. Außerdem ist es aus der Gleichung er-
sichtlich, daß der Zuwachs t des Netzhautbildes unabhängig ist von dem
wahren Gesichtswinkel des Objekts, folglich erscheint das Objekt desto mehr
vergrößert, je kleiner der Gesichtswinkel wird. Aus einer großen Anzahl in
dieser Beziehung angestellter Versuche erwies sich, daß die Irradiation von
ungleicher Stärke für die verschiedenen Augen war, sie variierte auch für das-
selbe Individuum ein wenig von einem Tage zum andern, aber der Zuwachs
des Gesichtswinkels, den das Objekt durch die Irradiation erhält, d. h. der
Zuwachs des Netzhantbildes, war unter den gegebenen Verhältnissen un-
abhängig von dem Abstand zwischen dem Objekt und dem Auge1).
In der Gleichung, die einen Ausdruck filr den Irradiationszuwachs des
Netzhautbildes gibt, kommen außer der konstanten Größe * zugleich die
variabeln a und i vor. Setzt man für t verschiedene Werte in Funktion
von tt , so erhält man filr t :
«bscc, 2a, 3 « , 4a, 26 « , 106 a , OO ff.
<=-0, 0.09 x, 0.14 x, 0.19 a, 0.43 x, 0.37 x, x.
Es zeigt sich dadurch bewiesen, daß auch der experimentell gefundene
Satz von dem Zunehmen der Irradiationswerte mit zunehmender Lichtstärke
eine Konsequenz der Theorie ist Es ist einleuchtend, daß, wenn die Irra-
diationszunahme zugleich mit « wächst, während a konstant ist, sie auch mit
abnehmenden « wachsen muß, während t konstant ist
In dem Falle, wenn die Breite des ideellen Netzhautbildes im Vergleich
mit den Zerstreuungszirkeln nur klein ist, werden die Lichtverhältnisse des
Bildes von dem bisher Behandelten verschieden werden. Ist die Breite des
Bildes 6, so wird die Intensität für Punkte von der äußeren Peripherie bis
zur Entfernung b dieselbe wie früher sein; von der Entfernung bis zum
ideellen Rande dagegen wird sie um
(♦ — a)
2 "
1) Plateau.
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Literaturbericht.
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kleiner, folglich:
_ b{2x-b) ..
J* + Az—a-\ 2x? ~ (* — «)•
Auf analogo Weise kann man einen Ausdruck für die Lichtverteilung
innerhalb der Grenzen des Objektes finden. Dies ist indessen hier ohne
Bedeutung, deshalb kann man sich darauf beschränken, das Maximum der
Intensität au bestimmen, welches in den Mittelpunkt des Objektes fällt Die
Intensität des Objektes im Mittelpunkte ist:
die Intensität des Grundes dagegen:
die volle Intensität wird also:
Für 6<2* gibt diese Gleichung JM 4- AM <• , für 6 = 2* dagegen
Aber erst, wenn die Breite des Netzhautbildes dem Diameter 2 z des Zer-
streuungswinkels gleich geworden ist, wird das Bild auf einem einzelnen
Punkte, nämlich im Mittelpunkt, die Lichtstärke erreichen, die es — ohne
Lichtzerstreuung — Uberall gehabt haben würde. Die vorhin ausgeführten
Berechnungen Uber die Irradiation bei großen Objekten gelten also für
b^2x.
Da b in beiden letzten Ausdrücken für JM + AM vorkommt, wird die
Intensität von den verschiedenen Punkten von b abhängig, und es dürfte folg-
lich zu untersuchen sein, welchen Zuwachs die Irradiation dem Bilde gibt,
wenn b variiert, während alle andern vorkommenden Größen konstant sind.
In Analogie mit dem vorbin Entwickelten muß man annehmen, daß die In-
tensität, die gleichsam die Grenze bildet zwischen dem, was zum Grunde,
und dem, was zu dem irradiierten Objekt gerechnet wird, bestimmt ist
durch die Gleichung J= y a [JM -fr- AM) , wo « die Intensität des Grundes,
JM + AM die Maximalintensität ist. Hier sind also zwei Möglichkeiten, denn
die Grenze kann entweder in den Punkten von der äußeren Peripherie bis
zur Entfernung b oder von der Entfernung bis zum ideellen Rande fallen,
und für jeden der beiden Fälle erhält man eine besondere Formel zur Be-
rechnung der Lage derselben. Im ersten Falle hat man:
«+i.|,.-.,-|/.[.+ *(i-i)7.-.,],
wonach der Zuwachs des Netzhautbildes t = * — x wird :
Im zweiten Falle ist:
woraus
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Literaturbericht.
Da man fUr große Werte von b haben muß />s — 6, muß man also
die erste Gleichung anwenden, solange man mit verhältnismäßig großen
Werten von b zu tun hat; und sobald man durch abnehmende b zu einem
Werte von / < * — b kommt, so muß man fiir diesen und alle kleineren
Werte von b die zweite Gleichung anwenden. Setzt man in den Gleichungen
re 1
-r = -,.r, nnd nacheinander 6 = 2x, 6=1.8* usf.. so erhält man für / und
t öl
fllr die scheinbare Breite des Objektes, die der Summe des ideellen Netz-
hautbildes und des Irradiationszuwachses nach beiden Seiten gleich sein
muß, a = b + 2t:
6 = 2*, 1.8, 1.6, 1.0, 0.3, 0.01;
»=0.504*, 0.606, 0.510, 0.546, 0.654, 0.555;
« = 3.01», 2.81, 2.62 , 2.09, 1.61, 1.12.
Die Tabelle zeigt, daß der Zuwachs / bis zu einer gewissen Grenze mit
dem abnehmenden Werte von b wächst Die Tabelle zeigt ferner, daß «
viel langsamer als 6 abnimmt. Während nämlich b zu einem seiner
ursprunglichen Größe verringert wird, nimmt « kaum zn ^ ab. Die schein-
bare Grüße eines Objektes ist also, innerhalb nicht gar zn weiter Grenzen,
konstant, unabhängig von dem Gesichtswinkel derselben, wenn dieser nui
klein ist. Die Sätze selbst sind experimentell vorlängst festgestellt1}.
Man kann nun die durch Versuche und theoretisch festgestellten Ergeb-
nisse dieser Untersuchungen Uber die Irradiation der hellen Objekte auf
dunkelm Grunde in folgender Übersicht sammeln:
1) Für Objekte, die unter einem so großen Gesichtswinkel gesehen
werden, daß ihre ideellen Netzhautbilder größer sind, als der Diameter der
Zerstreuungszirkel, ist die Irradiationszunahme für ein gegebenes Auge in
bestimmtem AkkommodationBzustand konstant, unabhängig von dem Gesichts-
winkel des Objektes, solange das Verhältnis zwischen der Helligkeit des
Grundes und des Objektes y konstant ist.
2) Nimmt das Verhältnis -"- ab, sei es nun, daß * zunimmt, während «
konstant ist, oder daß « abnimmt, während t konstant ist, so wird die
Irradiationszunahme wachsen, und das Entgegengesetzte findet also statt,
wenn — wächst,
i
3) Fiir Objekte, die unter einem so kleinen Gesichtswinkel gesehen
werden, daß die lineare Ausdehnung des ideellen Netzhautbildes kleiner ist
als der Diameter des Zerstreuungswinkels, wird, vorausgesetzt daß kon-
stant ist, die Irradiationszunahme dergestalt mit abnehmendem Gesichts-
winkel wachsen, daß die scheinbare Größe des Objektes konstant ist.
Man kann die Konsequenzen der nachgewiesenen Irradiationsgeeetze mit
Rücksicht auf die Sichtbarkeit farbloser Objekte entwickeln, und dabei die
Bedingungen, unter denen ein Objekt uns sichtbar werden kann, festzustellen
snchen. Die Annahme, daß ein Objekt sichtbar sein wird, wenn es eine
1) Volkmann, Aubert.
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Litoraturbericht.
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bestimmte Menge Licht in das Auge wirft, gleichviel, ob diese Lichtmenge ein
größeres oder kleineres Areal der Netzhaut trifft, gibt in Verbindung mit
den Irradiationsgesetzen die Mittel an die Hand, auf dem Wege der Berech-
nung eine Formel für die gegenseitige Abhängigkeit des Gesichtswinkels und
der Lichtstärke aufzustellen. Man kann in bezug auf die Sichtbarkeit eines
Objektes folgende Bedingungen aufstellen : Eine Lichtempfindung wird ent-
stehen künnen, d. h. ein Objekt wird sichtbar werden, wenn die Lichtmenge,
die von demselben in» Auge gelangt, nur nicht unter einen gewissen
Hinimumswert herabsinkt, oder sich über ein Areal verbreitet, das eine ge-
wisse Größe Uberschreitet. Findet letzteres statt, so daß die Beleuchtung
eines jeden Netzhautpunktes unter eine gewisse Größe herabsinkt, so muß
die ganze ins Auge gelangende Lichtmenge in einem der Größe des Areals
entsprechenden Verhältnis vermehrt werden, wenn das Objekt wieder sicht-
bar werden soll. Solange nicht entweder das Objekt oder der Grund ver-
ändert wird, der Abstand des Lichtgebers von beiden sei, welcher er wolle,
wird das Verhältnis zwischen den von jeder Arealeinheit von denselben re-
flektierten Lichtmengen und folglich zwischen der Beleuchtung des Netz-
hautbildes und des Augengrundes, .• , konstant sein, wodurch die Irradia-
donszunahme unverändert bleibt. Betrachtet man nun vorerst das Objekt
in einem so großen Abstand, daß die scheinbare Größe desselben unver-
ändert ist, so wird auch das irradiierte Netzhautbild eine konstante Aus-
dehnung d haben. Ist die lineare Ausdehnung des ideellen Netzhautbildes 6,
und ist die Beleuchtung desselben, die Lichtstärke auf jedem Flächenelement, *,
so wird die ganze ins Auge gelangende Lichtmenge 6*i sein. Von dieser
maß nun ein Teil sich unserer Auffassung entziehen, der nämlich, der über
die scheinbare Grenze des Objektes zerstreut wird. Da die verlorene Licht-
roenge, in dem Falle der Objekte unter sehr kleinem Gesichtswinkel, außer-
ordentlich gering ist, weil der größte Teil des Areals, Uber welches das Licht
zerstreut wird, als dem Objekt angebörig aufgefaßt wird, und weil ein Teil
des irradiierten Lichtes vom Grunde den Verlust ersetzt, so ist es möglich,
anstatt die Formeln zu entwickeln, die ganze Lichtmenge b*i als innerhalb
der scheinbaren Grenzen des Objekts wirksam zu betrachten. Das Objekt
wird unsichtbar werden, wenn b* » =» M , wo Af die ebenmerkliche Lichtmenge
ist. Hat man in einem andern Falle b^ t, = Jf, so wird b* t«=6J t, . Da
aber -—- = *! , wo * und *i die Abstände des Auges vom Objekt bezeichnen,
i „t
nnd -r- = — -, wo « und ett die Entfernungen der Lichtquellen vom Ob-
t, «5
jekt bezeichnen, so wird *« = «!«, . Das Resultat ist also, daß für sehr
kleine Gesichtswinkel das Produkt des Abstandes des Auges und der Licht-
quelle vom Objekt konstant sein wird, wenn das Objekt eben unsichtbar ge-
worden ist. Anders stellt sich die Sache, wenn das Objekt unter einem so
großen Gesichtswinkel betrachtet wird, daß &>2s, in welchem Falle das
Netzhautbild durch die Irradiation einen konstanten Zuwach» erhält, und
folglich von dem Areal, Uber welches das Lieht zerstreut wird, ein kleinerer
Teil als im ersten Falle als dem Objekt angehörig aufgefaßt wird. Da der
Abstand des äußersten Punktes der Zerstreuung von der scheinbaren Grenze
des Objektes nur von * und — abhängig ist, so läßt sich beweisen, daß für
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Literaturbericht.
dasselbe Auge, in gegebenem Zustand und bei unverändertem Verhältnis
auf jeder Linie rechtwinklig auf eine der Seiten des ideellen Netzhaut-
bildes eine Lichtmenge k i des vom Objekt irradiierten Lichtes verloren geht
und ein Zuwachs an Licht h o vom irradiierten Grund erhalten wird, wo k
und *t unabhängige Konstanten sind. Da der Perimeter des Netzhautbildee
4 6 ist, so verliert das Objekt im ganzen die Lichtmenge 4 b ki und erhält
Abkta. Und da die ursprüngliche Lichtmenge des Objekts i ist muß ea
folglich unsichtbar werden , wenn b*i — 4bki + 4bkitt = M, wo M die
Lichtmenge bedeutet, die noch fallen kann, ohne eine Empfindung zu erregen.
Durch Vergleichung der Verhältnisse im andern Fall entsteht:
b*i-4bki + ibkia~b\il-4blkii+4blklai.
Da
so erhält man
a
T
g,
±_
Ii
3
*,<*?(«, - 4 es) «=»*</*(! — 4 e), wo
Nimmt man nun an , daß durch einen einzelnen Versuch die zusammen-
gehörenden Werthe «t und «t bestimmt sind, so zeigt diese Formet daß das
Produkt ad mit abnehmenden Werten für s wachsen wird. Löst man die
Gleichung mit Rücksicht auf e , so läßt sich e bestimmen, wenn man will-
kürlich zwei Paar zusammengehörender Werte von s und d wählt, natürlicher-
weise nur solche, für welehe das Produkt * d wächst, und diese für * und d,
«i und d\ einsetzt. Ist c auf diese Weise gefunden, wird man imstande
sein, den Wert von s für jeden beliebigen Wert von « zu berechnen, wenn
man die Formel mit Rücksicht auf a auflöst und für st und d\ ein Paar der
durch Versuche bestimmten zusammengehörenden Werte substituiert
Man kann die theoretischen Entwicklungen durch folgende Versuche
prüfen :
d
8
res
berechn.
s
A 60
1060
54000
60
914
54 840
80
679
54320
B 100
597
59 700
8
150
420
63000
448
200
347
69400
356
250
278
69500
294
300
243
72900
252
400
192
76800
8
Aus dieser Tabelle ist es ersichtlich, daß die Produkte «« sich in zwei
Gruppen A und B fallend zeigen; in der ersten sind die Produkte konstant,
in der letzten wachsen sie dagegen mit den abnehmenden Werten von «, was
das Ergebnis der theoretischen Betrachtungen war. Die Werte fUr s und o
unter y und tf sind zur Berechnung von c benutzt, welches in Verbindung
mit y danach die »berechneten« s ergeben hat. Offenbar sind die berech-
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Literaturbericht.
65
neten s mit einem konstanten Fehler behaftet, der davon herrühren muß,
daß die zur Berechnung benutzten * beide zu groß sind.
Als praktisches Resultat dieser Untersuchungen kann man also als Ab-
hängigkeitsverhältnis zwischen dem Gesichtswinkel und der Lichtstärke
folgende Gesetze aufstellen:
1) Für kleine Werte des Gesichtswinkels gilt die Formel: sas^a,.
2) Werden die Gesichtswinkel so groß, daß 1) nicht zutrifft, indem als-
dann das Produkt s u wächst, so gilt die Formel: *,of — 4 c«; =«' «* d — 4 c).
Die zwei Gesetze müßten ebensowohl^ die Farbenauffassung der Objekte
gelten, wenn die Helligkeiten der Farben konstant wären. Wenn man nur
die Helligkeiten der Farben bei verschiedenen objektiven Beleuchtungen
kennen würde, so würde man imstande sein, anzugeben, ob der Kontrast bei
einer gewissen Beleuchtung groß oder klein sei, und man würde demnach,
wenn auch nur unvollkommen, den Einfluß derselben würdigen können.
Wenn es sich außerdem dabei herausstellte, daß es für eine oder mehrere
Farben gewisse Grenzen gäbe, innerhalb welcher man die Beleuchtung
variieren könnte, ohne daß die Helligkeit der Farben im wesentlichen Grade
sich änderte, so würde der Kontrast der Farben sich also auch nicht ändern,
and daraus würde man wiederum folgern, daß die fflr die Sichtbarkeit des
Objekts geltenden Gesetze auch für die Auffassung der Farbe zwischen den
bestimmten Grenzen der Beleuchtung gelten würden. Es wurde eine größere
Reihe quantitativer Bestimmungen der Helligkeitsänderungen der Farben bei
wechselnder objektiver Beleuchtung ausgeführt. Es wurden dazu die sechs
Pigmente benutzt, deren Sättigungen allgemein als denjenigen der Spektral-
farben zunächststehend betrachtet werden und die fast alle nur in einem
bestimmten Farbentone vorkommen wegen ihrer festen chemischen Zasammen-
setzung, nämlich reines Karmin, Zinnober, Bleichromat, Zinkchromat, Schwein-
rartergrün und Ultramarinblau. Zu einer Bestimmung der relativen Hellig-
keiten der Pigmentfarben kann man bei den verschiedenen Beleuchtungen
die Farben mit einer weißen Fläche vergleichen, die von derselben Licht-
quelle wie die Pigmente beleuchtet wird, deren Helligkeit aber durch Bei-
mischung von einer meßbaren Menge Schwarz verändert wird. Die Unter-
suchungen wurden mit einer Sektorscheibe angestellt, und es war die Auf-
gabe, die Anzahl A* von Graden Weiß zu finden, welche in Verbindung
mit 360° — -4° Schwarz ein Grau von derselben Helligkeit wie die der be-
trachteten Farbe geben würde.
Beleuchtung
0.23
1.3
51
490
2500
10000
Karmin
8
10
71
94
74
93
rot
Zinnober
46
61
117
128
134
136
orangerot
Bleichromat
107
101
194
207
229
242
orangegelb
Zinkchromat
253
239
312
318
292
298
gelb
Schweinfurtergrün
170
169
131
156
148
163
grün
Ultramarin
97
93
73
80
65
83
blau
Aus dem Vergleiche zeigt sich, daß Grün und Blau relativ — im Verhält-
nis zum Weiß bei derselben Beleuchtung — dunkler werden, wenn die Be-
leuchtung zunimmt, alle die andern dagegen heller. Dies stimmt mit dem
Archiv fftr Psychologie. IV. Lit*r»tnr. 5
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66
Literaturbericht.
als Resultat von den Versuchen anderer Abgeleiteten l). Aber demnächst
geht aus diesen Versuchen hervor, daß die Helligkeitsvariationen nur recht
hervortreten bis zn der Lichtstärke 61, welche der Beleuchtung in einem
gegen Norden kehrenden Zimmer zur Mittagszeit an einem dunkeln reg-
nerischen Herbsttage entspricht. Hieraus kann man den Schluß ziehen,
daß die fUr die Sichtbarkeit von Objekten gefundenen Gesetze mit großer
Annäherung auch für die Farbenauffassung bei allen höheren Beleuchtungs-
graden bis zu 10 000 gelten werden , welche der Beleuchtung eines Gegen-
standes entspricht, der im Schatten in einem Zimmer steht, das der vollen
Mittagssonne im Sommer durch eine große Fensteröffnung ausgesetzt ist
Zu einer Erklärung der Veränderungen des Farbentones, denen die Farben
bei abnehmendem Gesichtswinkel unterworfen sind, scheint die folgende Be-
trachtung geeignet Da die Lichtstärke des Netzhautbildes bei abnehmendem
Gesichtswinkel fortwährend geringer wird, wenn der Winkel anfänglich nur
klein ist 80 steht es zu erwarten, daß die Farben bei abnehmendem Ge-
sichtswinkel ganz dieselben Veränderungen des Farbentones zeigen werden,
die sich geltend machen, wenn der Gesichtswinkel konstant ist, während die
Beleuchtung bis zur Unmerklichkeit herabsinkt. Eine solche Übereinstimmung
scheint aber in der Tat auch stattzufinden, indem die Angaben verschiedener
Beobachtungen Uber die Variationen des Farbentones bei abnehmendem Ge-
sichtswinkel mit denen bei abnehmender Beleuchtung Ubereinstimmen ».
F. Biske (Zürich .
13) Edward L. Thorndike, An introduetion to tbe theory of mental and
social measurements. 212 Seiten. New York, The Science Press.
1904.
Das Werk von E. L. Thorndike kommt einem dringenden Bedürfnis
der experimentellen und angewandten Psychologie entgegen; einem theore-
tischen und praktischen Bedürfnis, denn es fehlte bisher in der experimentell-
psychologischen Literatur an einer allgemeinen Theorie der psychischen Mes-
sungen und an einer Anleitung der Studierenden zur Anwendung raathema-
tischer Prinzipien auf die quantitative Verwertung der Resultate des psycho-
logischen Experiments. Das vorliegende Werk ergänzt diese Lücke, und
zwar sowohl fUr das psychologische Experiment als fUr das gesamte Stu-
dium sozialer Erscheinungen.
Der Verf. äußert sich in folgender Weise selbst über Absicht und Plan
seines Werkes. Die Erfahrung hat zur Genüge dargetan, daß die Vorgänge
des menschlichen LebenB, insbesondere auch die des Geisteslebens, einer
quantitativen Bestimmung zugänglich sind und ein geeignetes Material für
eine quantitative Wissenschaft« darbieten. Die direkte Übertragung von
Methoden, die in den physikalischen Wissenschaften oder in der allgemeinen
Statistik ausgebildet worden sind anf die komplexen und variabeln Vorgänge
des menschlichen Lebens, hat zn rohen und oft trügerischen Messnngen
geführt. Es war ferner bisher schwierig, die Studierenden zum Gebrauch
mathematischer Methoden in der Psychologie anzuhalten, weil die Werke,
1) Helmholtz, Chodin. 2) Aubert, Chodin.
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Literaturbericht.
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auf die man &ie verweisen mußte, entweder zu abstrakt mathematisch oder
zu speziell waren und die Prinzipien psychologischer Messung in der Regel
nicht beachteten. Die Absicht Thorndikes iet nun. ganz speziell ein Buch
für Studierende der Psychologie und noch mehr für Studierende der An-
wendungsgebiete der Psychologie zu bieten, sie damit in die Prinzipien psy-
chischer Messungen und statistischer Rechnungen einzuführen und zum Ge-
brauch solcher Prinzipien anzuleiten, damit sie fähig sind, »quantitative Evi-
denz nnd Beweisführung kritisch zu prüfen und ihre eigenen Untersuchungen
exakt und logisch auszuführen«. Hierbei hat Thorndike ganz besonders
gewisse Gebiete der angewandten Psychologie im Auge gehabt er wendet
eich mehr an die Studierenden der Nationalökonomie, Soziologie und der
Erziehungswissenschaften als an die reinen Psychologen. Daher ist z. B.
suf anthropologische Messungen und Statistik großer Wert gelegt. Die ersten
Kapitel behandeln die allgemeinen Prinzipien der »Messung eines Individuums«
and der Messungen eines kollektiven Ganzen oder der Massenmessungen.
Hierbei geht der Verf. der Anwendung von Zahl nnd graphischer Darstellung
in allen bekannteren psychologischen, pädagogischen, sozialpädagogischen
und verwandten Experimenten nach. In diesen Kapiteln ist die Darstellung
durchweg zu wenig eindringend, sie hat mehr den Wert einer ersten Orien-
tierung des Studierenden alB den eines die wissenschaftlichen Prinzipien selbst
fördernden Werkes. Der Verf. scheint aber durchweg den Charakter des
Lehrbuches wahren zu wollen, er bleibt deshalb bei den allgemeinen, oft
den allgemeinsten Anweisungen stehen, und geht wenig ins Detail. Die
pädagogische Tendenz des Werkes tritt auch darin hervor, daß den einzelnen
Kapiteln Aufgaben angehängt sind. Die nächsten Kapitel enthalten die
Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung und ihre Anwendung auf psy-
chische Messungen, die Berechnung von Mittelwerten und Durchschnitts-
zahlen, den Gebrauch von Häufigkeitstabellen, die Theorie der Beobachtungs-
fehler, die allgemeinen Fehlerquellen bei Messungen u. a. m. Sehr nützlich
ist ein besonderes Kapitel, das den Leser zu weiteren Studien der einschlä-
gigen Literatur anleitet; hierbei wird außer der psychologischen Literatur
warum ist die psychophysische so wenig herangezogen ?) berücksichtigt : die
Erziehungswissenschaft, die Nationalökonomie, die Anthropometrie, die
Lebensstatistik, die Biologie und die allgemeine Methode der Statistik.
Im Anhang werden Tabellen mitgeteilt und dann die Losungen der vor-
her im Text aufgestellten Probleme gegeben, die mit fortlaufenden Nummern
bezeichnet sind.
Es wäre sehr zu wünschen, daß die deutsche psychologische Literatur
bald um ein ähnliches Werk wie das von Thorndike bereichert würde.
E. Meumann (Zürich).
14 Hubert Merk er, Tanbstummblind, eine psychologische Skizze. (Ab-
gedruckt in »Hochland«, Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens,
der Literatur und Kunst. Herausgeber K. Muth.) Kempten, Ver-
lag von Josef Kösel. 1904.
La Mettrie erwägt in seiner »Histoire naturelle de Tarne« die Mög-
lichkeit der Taubstummenblindheit und behauptet, daß »höhere« psychische
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Literaturbericht.
Funktionen bei damit Behafteten schlechthin unmöglich seien. Diesem Er-
gebnis logischen Konstruierens entsprechen keineswegs die besonders in der
Neuzeit vorliegenden Fakta. Fälle wie der der Laura Bridgman oder Helen
Keller zeigen, zu welchem Grade psychischer Reife selbst Individuen ge-
langen können, bei denen Tast- und Bewegungsempfindungen für die der
»höheren« Sinne eintreten müssen. Weit frappanter dürfte sich dies aber
zeigen an der 19jährigen Marie Heurtin in der Schwesternanstalt (!) zu
Larnay (Frankreich), deren Bildungsgang Verfasser in großen Zügen kenn-
zeichnet mit der ausgesprochenen Absicht, zur Kenntnis des Falles >in aller
Welt« beizutragen. Auch wir müssen wünschen, daß das an Marie Heurtin
iresammelte Tatsachenmaterial bald tranz in das Licht der Wissenschaft
gerückt werde, — vornehmlich Philosophen und Pädagogen haben ein
eminentes Interesse daran. Bis zur definitiven und erschöpfenden Prüfung
des Falles gebietet jedoch die Vorsicht, die Vollwertigkeit der höheren Be-
griffe eines taubstummblind geborenen Individuums in Zweifel zu ziehen und
sich vor Schlüssen zu hüten, die ebenso gewagt sein konnten, wie die des
eingangs erwähnten Sensualisten. Dr. Ernst Ebert (Dresden).
15) Thoodor Heller, Grundriß der Heilpädagogik. Mit 2 Abbildungen auf
einer Tafel. X, 366 S. gr. 8<>. Leipzig, Wilhelm Engelmann, 1904.
M. 8.— ; geb. M. 9.-.
Hellers Grundriß der Heilpädagogik will Lehrern eine Unterweisung in
der Beobachtung von Anzeichen geben, nach denen man aus dem Verhalten
erkrankter Schüler möglichst richtig und zeitig genug auf die Art ihrer Leiden
schließen kann. Sind Uberhaupt erst die im verborgenen schleichenden Ge-
fahren, ehe es zu spät, entdeckt, so läßt sich ihnen auch durch schnelles
Hinzuziehen eines umsichtigen Arztes der gefährlichste Stachel nehmen. Die
Entdeckung von Anomalien wird mit Hilfe der hier gegebenen Anweisung
sehr erleichtert Rascher wird eine genaue Umgrenzung ihres Grades und
ihrer Art und Weise erfolgen; und wenn nun das Krankheitsbild nach jeder
Richtung hin klargestellt, braucht der Lehrer den Leidenden nicht nur ärzt-
licher Pflege zu überlassen, er trachtet vielmehr danach, mit seinem Unter-
richt das Seine zur Heilung des erkannten pathologischen Verhaltens bei-
zutragen. Wirksame Ergänzung medizinischer und pädagogischer Arbeit, das
eben ist Zweck und Ziel dieses Grundrisses. Damit erweist sich auch durch-
aus seine Notwendigkeit. Denn sieht der Arzt auch den Schüler mit seinem
für die Beobachtung von Krankheitsbildern geschärften Blicke, so kann er
ihn doch — auch als Schularzt — ungleich seltener als der Lehrer zu Gesicht
bekommen, ja möglicherweise gerade dann nur, wenn der Zustand des Er-
krankten nicht die charakteristischen Zeichen des pathologischen Bildes deutlich
erkennen läßt. Dann muß der Lehrer dem Arzte die Beschreibung liefern.
Dies wird er richtig nur dann kOnnen, wenn er weiß, auf welche Merkmale
er zu achton hat: was wichtig, was bedeutungslos.
Welche Pädagogik aber dem Kinde angemessen, kann wiederum der
Arzt, sofern ihm das pädagogische Gebiet Überhaupt fern liegt, nicht abwägen.
Wo er nur ganz allgemein »mäßige Beschäftigung« anempfehlen kann, da
wird der Lehrer wiederum an die frühere Ausbüdungsweise seines erkrankten
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Literaturbericht.
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Pfleglings anzuknüpfen suchen, ihn seiner ihm ebenfalls von früher her be-
kannten Eigenart entsprechend behandeln. Wie aber, ohne ihm zu schaden,
dazu gehört reiche Erfahrung. Solche ist, an einzelnen gewonnen und dann
doch in allgemeiner Fassung, in dem Grundriß dargestellt und niedergelegt
worden.
In früherer Zeit stand der Glaube an die Bildungsunfähigkeit schwach-
sinniger Kinder so unerschütterlich fest, daß uns nirgends berichtet wird, es
sei ein Versuch, sie durch Erziehung und Unterricht zu fördern, unternommen
worden.
»Die Simpel oder Tölpel . . . trieben sich auf den Straßen und öffent-
lichen Plätzen herum und waren häufig die Zielscheibe der rohesten Späße.
Die Internierung Schwachsinniger diente ausschließlich den Zwecken der
öffentlichen Sicherheit, und es kam nicht selten vor, daß geistig abnorme
Kinder auf ausdrückliches Verlangen ihrer nächsten Angehörigen in Gewahr-
sam gebracht wurden, weil man sich mit ihnen nicht zu helfen wußte.«
Der Salzburger Goggenmos gründete 1828, der Schweizer Guggenbühl
Ende der dreißiger Jahre eine Anstalt zur Pflege jugendlicher Schwachsinniger.
Der englische Minister Gordon in Bern veranlaßte eine Untersuchung des
menschenfreundlichen Unternehmens Guggenbühls. Nach dieser Untersuchung
als Scharlatan gebrandmarkt, starb Guggenbühl 1863; seine Anstalt war ge-
schlossen worden. GnggenbühlB Fehler bestand darin, sich zu viel von dem
heilpädagogischen Verfahren versprochen zu haben, nämlich leichte, voll-
ständige Rettung der Erkrankten.
So mußte sich durch viele Irrtümer die neue Wissenschaft Bahn brechen.
Wenn dieser Versuch einer neuen Begründung: Wilhelm Wundt gewidmet ist,
so weist damit der Verfasser anf den Mann hin, dessen Lebenswerk not-
wendig war, um die heutigen Erfolge zn erzielen. Auch jetzt noch ein Anfange-
stadium, doch ein in richtiger wissenschaftlicher Harmonie wohlbegrttndeteB !
Das läßt sich an der Hand des hier niedergelegten Erfahrungsgehalts am
treffendsten nachweisen. Solches zu sammeln, war in reichem Maße Gelegen-
heit vorhanden.
Mit welchem Nachdruck freie Liebestätigkeit an dem Werke der Für-
sorge für die gefährdete, verlassene und verwahrloste Jugend im stillen weiter
gearbeitet hat, geht daraus hervor, daß man bereits am 1. Oktober 1898 in
Preußen 678 Erziehungsanstalten errichtet hatte, die diesen Zweck verfolgten,
Uber 100 Millionen Mark ohne Staatszuwendungen aufbrachte und 40626
Zöglingen solche Pflege angedeihen ließ. Staatliche und Provinzialanstalten
traten hinzu. Ein eigenes preußisches FUrsorgegesetz ist am 1. April 1901
in Kraft getreten.
Aus der Fülle der für die Heilpädagogik besonders in Betracht kommenden
Talle dürften die Erörterungen Uber den Unterricht als therapeutische
Maßregel als besonders wertvoll hervorgehoben werden.
Nach Anerkennung des Rechts, das anch ein epileptisches Kind auf Er-
werbung der notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten hat, wird zugestanden,
daß »die natürliche Schonnngsbedürftigkeit solcher Kinder« den Unterricht
nicht bloß zu einem sehr schwierigen, sondern auch verantwortungsvollen
macht »Dabei ist die Auffassungsfähigkeit der Patienten fortwährenden
Schwankungen unterworfen; überdies setzt der in den meisten Fällen un-
aufhaltsame geistige Verfall der Schüler den Bemühungen des Lehrers ein
nahes Ziel. Trotz dieser nicht unbeträchtlichen Schwierigkeiten und der oft
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Literaturbericht
sehr geringen Unterrichtserfolge ist die hinreichende Beschäftigung jagend-
licher Epileptiker von großer Bedeutung, weil hierdurch am ehesten jenen
Angstgefühlen begegnet werden kann, die in vielen Fällen auch in der anfalls-
freien Zeit vorkommen. Besteht auch keine Erinnerung an den Anfall selbst
so prMgen sich doch bisweilen die Vorzeichen desselben dem Gedächtnis ein.
Das Kind beobachtet sich selbst, die geringste unangenehme Sensation er-
weckt die Angst vor einem neuen Anfall. Werden diese zur Hypochondrie
neigenden Kinder zweckmäßig beschäftigt, so kann ihrem Denken eine andere
Richtung gegeben werden. In diesem Sinn ist der Unterricht tatsächlich als
eine therapeutische Maßregel anzusehen.« Doch nicht allein diese prophylak-
tische Wirkung, den Angstgefühlen vorzubeugen, vermag solcher Unterricht
auszuüben, ihm kann noch ein viel höherer Wert zukommen. Moralischer
Minderwertigkeit epileptischer Kinder kann gesteuert werden. Erweisen sich
doch in vielen Fällen die schlechten Charaktereigenschaften dieser Kinder
nur als ein Produkt verfehlter Erziehung. >Die Angehörigen fürchten die
Übeln Folgen jeder Aufregung und lassen daher dem Willen des Kindes
freien Lauf.«
Die so wichtige Überbürdungsfrage kommt namentlich bei choreatischen
Kindern zur Sprache, welche nur zu leicht wegen ihrer vermeintlichen Nach-
lässigkeit bestraft werden, wodurch das Übel nur noch verschlimmert wird. —
Überbürdung oder Übertreibung kann auch leicht bei gymnastischen Übungen
vorkommen, also gerade bei Anwendung eines Mittels gegen die schädlichen
Wirkungen starker geistiger Anspannung. Bei diesem so wichtigen Heil-
mittel empfiehlt Heller ausdrücklich Vorsicht, damit die Gesundheit der
Zöglinge nicht beeinträchtigt werde (S. 323). Auf gymnastische Übungen legt
Heller für die gesamte geistige Entwicklung der Schwachsinnigen hohen
Wert. Sie bieten nach seiner Erfahrung das wirksamste Mittel zur Behebung
tikartiger und choreiformer Bewegungen. Sie dienen als > Hemmungsgymnastik < .
Eine Ergänzung und Vervollkommnung der gymnastischen Übungen er-
blickt H e 1 le r im Handfertigkeitsunterricht Allerdings Bind bei ihm namentlich
anfangs nicht unwesentliche Schwierigkeiten zu bewältigen ; eignen sich doch
die für den Handfertigkeitsunterricht normaler Kinder aufgestellten Lehrpläne
in der Regel nicht für schwachsinnige Schüler, »weil sie die Fähigkeit, räum-
liche Gebilde der verschiedenen Art anschaulich aufzufassen, ab gegeben
voraussetzen, während der heilpädagogische Handfertigkeitsunterricht die
bezüglichen Kenntnisse in vielen Fällen erst ausbilden maß«. Auch der
praktische Wert des Handfertigkeitsunterrichts ist ein sehr großer, weil er
den Schüler nicht allein für die Verrichtung des täglichen Lebens geschickt
macht, sondern auch eine Vorschule für die Erlernung bestimmter Handwerke
werden kann, Arbeitsfreudigkeit hervorruft und den Gefahren des Müßig-
gangs steuert
Heller muß in dem Bestreben, möglichst vollständig sein Thema zu be-
handeln, wiederholt auf schon oft behandelte Themata zu sprechen kommen.
Hierbei ist sein Geschick zu bewundern, oft scheinbar recht nebensächliche
Dinge (Abnagen der Fingernägel ; in systematischen Zusammenhang zu
einer ganzen Gruppe krankhafter Erscheinungen zu bringen und eine derartige
Rubrizierung zu rechtfertigen.
Hin und wieder lassen sich wohl andere als die von Heller angeführten
Gründe für daB Zustandekommen der von ihm beobachteten Erscheinungen
geltend machen. S. 117 sagt II eller z. B.: »Einzelne Buchstaben werden
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Literaturbericht.
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beim Schreiben weggelassen, aber durch andere ersetzt, anch Unterstellungen
von Buchstaben kommen vor. Nach meinen Erfahrungen kommt das Schreib-
stammeln in der Regel dadurch zustande, daß sich das Kind beim Schreiben
die Wörter lautierend vorspricht, wodurch die Mängel seiner Aussprache auch
auf die Schriftsprache übertragen werden.«
Ob dieser von Heller angeführte Grund bei Kindern die Regel bildet,
erscheint deshalb fraglich, weil Erwachsene ihren Zustand bei derartigem
fehlerhaften Schreiben so analysierten, daß sie ihre Aufmerksamkeit, während
die Finger mechanisch die Buchstaben niederschrieben, bereits auf eine fol-
gende Silbe bzw. ein folgendes Wort gerichtet hätten. Die Tatsache, an
andere Wortabschnitte oder an andere ganze Wörter als die augenblicklich
verlangten zu denken, erklärt das Weglassen einzelner Buchstaben, das Er-
setzen durch andere wie Unterstellungen von Buchstaben sehr wohl.
Von hohem Interesse ist das reichlich benutzte zuverlässige statistische
Material. Wie sehr vermag es, namentlich wo physiologische Abnormitäten
als Ursachen geistiger Defekte in Betracht kommen, die Diagnose zu er-
leichtern! So, wenn William Hill >bei fast allen geistig zurückgebliebenen
Kindern im Earslwood-Asyl eine mehr oder minder ausgesprochene Behinderung
der Nasenatmung« fand. Immerhin darf bei keinem Versuche, »Charakter-
bilder imbeziller Individuen durch Anführung ihrer hervorstechendsten Eigen-
schaften zu entwerfen«, vergessen werden, »daß diejenigen, welche nach
Maßgabe Ubereinstimmender Merkmale ein nahezu gleichartiges Verhalten an
den Tag legen«, . . . »sich in Wirklichkeit voneinander sehr wesentlich unter-
scheiden«.
Auch die wichtigen Erfordernisse, die in Anwesenheit schwachsinniger,
sehr oft mit Scharfblick für die Sonderbarkeiten der Personen ihrer Umgebung
ausgestatteter und zum Nachäffen ihrer Stimme und Haltung aufgelegter Kinder
an den Erzieher herantreten, vor allem die Selbstbeherrschung, werden ent-
sprechend gewürdigt.
Eine Vermehrung der Abbildungen wäre gerade bei dem Zweck des
Buches, nicht medizinisch Vorgebildeten als Anleitung zu dienen, sehr zu
wünschen. Hi eise her (Heidelberg).
16) Theodor Heller, Studien zur Blindenpsychologie. Mit 3 Figuren im
Text. VII, 136 S. gr. 8<>. Leipzig, Wilhelm Engelmann, 1904.
M. 3. — .
Th. Heller, der Direktor der heilpädagogischen Anstalt zu Wien-Grin-
zing, gibt in dem vorliegenden Bändchen seine Untersuchungen an Blinden
neu heraus, die zum erstenmal 1895 im XI. Bande von Wundts Philos.
Studien erschienen waren. Der Inhalt ist im wesentlichen derselben geblieben
wie in der früheren Abhandlung, er ist bereichert um daB neue Kapitel: »Zur
Geschichte der Blindenpädagogik«, um ein Namen- und Sachregister und neue
Literaturangaben. H ellers Studien haben sich offenbar schon in der früheren
Form viele Freunde erworben, sie führen in vortrefflicher Weise in die psy-
chologischen Hauptfragen des Seelenlebens der Blinden ein, sie analysieren
den Mechanismus des Tastens der Blinden, bobandeln den Tastraum, das
Lesen und Schreiben der Blinden u. a. m., was auch den Blindenlehrer für
die Praxis interessieren muß. Die Analyse des »Ferngefühls« der Blinden
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Literaturbericht
and der Nachweis der interessanten »Snrrogatvorstellnngen«, mit denen der
Erblindete ähnliche Leistungen wie der vollsi?nige Mensch vollbringt, wurde
wohl zum erstenmal durch den Verf. in befriedigender Weise gegeben. Wir
können die kleine Schrift auf das wärmste empfehlen.
E. Meumann (Zürich).
17) Robert Lincoln Kelly, Psychophysical tests of normal and abnormal
cbildren. Studies from the psychophysical Laboratory of the Uni-
versity of Chicago. Comm. by Prof. J. R. Angell. ThePsycho-
logical Review. X. 4. July 1903.
Die Versuche, von denen Kelly berichtet, wurden ausgeführt an Schü-
lern der »Elementarschule der Universität von Chicago« und in der »Chicago
Physiological School«. Die Kinder der ersteren Schule sind normal und
stammen aus durchschnittlich guten Verhältnissen, die der letzteren sind
schwache und zurückgebliebene Schüler, die aber immerhin noch als erzieh-
bar gelten, bei vielen von ihnen liegen vererbte körperlich-geistige Schäden
vor. Der Verf. hielt es mit Recht bei der Unsicherheit der meisten tests
für notwendig, recht zahlreiche Prüfungsmittel zu verwenden. Diese lassen
sich in drei Klassen teilen: 1) Die gewöhnlichen Prüfungen der Sinnestätig-
keit; 2) Muskelprüfungen, einschließend zahlreiche Formen motorischer Koor-
dination, an denen zugleich motorische Ermüdung untersucht wurde; 3) spe-
zielle Prüfung der vorwaltenden Form der Vorstcllungstätigkeit , der emo-
tionellen Reaktionsweise u. a. m. Hiermit wurden für die Schüler der erst-
genannten Schule körperliche Untersuchungen Uber das Gewicht, Größe,
Vitalkapazität und Dynamometerleistung verbunden. Die Zwecke der Ver-
suche waren die folgenden: 1) Es sollten >psychische Daten« gewonnen
werden zur »Bestimmung des fruchtbarsten pädagogischen Fortschritts« für
jedes Kind; 2; es sollten Kennzeichen gefunden werden, durch die sich das
abnorme Kind sicher von dem normalen unterscheiden ließe; 3] es galt wo-
möglich einen Ersatz zu finden für daB gegenwärtig übliche, zugestandener-
maßen pädagogisch und psychologisch unzureichende Zensurwesen; endlich
sollte im allgemeinen eine gründlichere Kenntnis von dem geistigen Leben
des Kindes angebahnt werden.
Betrachten wir zunächst die sensorischen tests an normalen Kindern.
Der Verf. betont mit Recht, es sei erstaunlich, daß trotz der Einfachheit der
Prüfung der kindlichen Sinne oft große Defekte derselben den Eltern und
Erziehern verborgen bleiben. Von 53 Kindern der Elementarschule hatten
drei ernstliche Sinnesdefekte, ungenügende Sehschärfe hatte ein Kind, 61 n
waren anastigmatiscb ; es fanden sich zwei Fälle von so ausgesprochener
Farbenblindheit, daß die Kinder dadurch beim Unterricht behindert wurden;
die Mädchen hatten eine fast gleichmäßig niedrigere Geschmacksschwelle als
die Knaben, Veilchengeruch wurde von den Mädchen, Gewürznelken von den
letzteren besser erkannt; Verf. meint, der ästhetische Geruch trenne sich hier
von dem praktischen. Sauer wird von den Hnuptgeachinäckon merkwür-
digerweise am schlechtesten erkannt, namentlich bei den Knaben, s/s yon
ihnen kennen keine Bezeichnung dafür; die allgemeineren Bezeichnungen
sauer, bitter usw. sind den Kindern bekannter als die spezielleren, wie Zitronen-
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Literaturbericht.
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geschmack u. dgl. Schwache Geschmäcke werden oft verwechselt, wobei der
mimische Ausdruck im Sinne der Verwechslung eintritt (also wohl durch die
Vorstellung von dem Geschmack und deren GefUhlston, nicht durch den Reiz
bestimmt wird).
Vergleichen wir damit den Auafall der sensorischen Prüfungen an ab-
normen Kindern. Die »Kinder« standen im Alter von 10—22 Jahren. Der
Verf. hebt hervor, wieviel Mühe und Sorgfalt solche Versuche erfordern,
es ist notwendig, erst das Vertrauen der Kinder zu gewinnen. Unter zwölf
von diesen Kindern hatten sechs Defekte in der Farbenwahrnehmung, nur
zwei (Mädchen) hatten eine korrekte Farbenbenennung. Blau und Grün
, werden öfter verwechselt als Rot und Gelb; auch die Namen für Rot, Karmin
und Braun sind die geläufigeren. Was die Farbenschwelle betrifft, so scheint
Rot die niedrigste Schwelle zu haben, dann folgen Grün, Blau, Gelb. Die
Vorliebe für bestimmte Farben war nicht sehr ausgeprägt, das Wohlgefällig-
keitsurteil scheint sich oft durch nebensächliche individuelle Erfahrungen be-
stimmen zu lassen. Das Gehör war nur in drei Fällen normal, das Erkennen
der höheren Töne blieb weit hinter dem des normalen Erwachsenen zurück.
Fast die Hälfte der normalen Kinder hatte ferner herabgesetzte Sehschärfe,
fast alle Astigmatismus, die Empfindlichkeit und Unterscbiedeempfindlichkeit
für Geschmack war sehr herabgesetzt, ebenso für Schmerz- und Temperatur-
reize. Die Ermüdung nach dem Unterricht, mit dem Dynamometer kontrol-
liert, ergab sich bei den Schwachen als sehr beträchtlich. Die Zweispitzen-
schwelle ist relativ groß, 10 mm auf der Spitze des Zeigefingers, am Unter-
arm 50—60 cm.
Der Vorstellungstypus wurde nach der Methode des unmittelbaren Be-
haltens unter verschiedenen Bedingungen geprüft, die Reproduktion wurde
von 10 zu 10 Sekunden wiederholt. Die Kinder zeigen sehr verschiedene
Vorstellungstypen, doch genügt die Anzahl der geprüften Kinder nicht, um
ein allgemeines Urteil Uber die Verteilung der Typen bei Kindern zu ermög-
lichen. Interessant für die allgemeine Gedächtnispsychologie ist, daß die
Fehler dabei eine bestimmte Ordnung einhalten ; nach den ersten 10 Sekunden
überwiegen die Verstellungen, nach den zweiten die Auslassungen, dann das
Hinzufügen, — alBO wenn das Gedächtnis ganz unsicher wird, kommen die
Hinzufügungen !
Die motorische Koordination sollte geprüft werden durch das Sortieren
von buntfarbigen Kugeln und Karten von verschiedener Form und Farbe;
ein anderes Mal sollten die Kinder mit einem Fingerglied und mit dem Ober-
arm die kleinste mögliche Bewegung machen (accuracy); beide Prüfungen
sind — zumal an Kindern — von recht zweifelhaftem Wert, — das Sortieren
ist doch nicht annähernd bloß eine »motor coordination« ! Sodann folgen
Prüfungen in der Bewegungsgeschwindigkeit. In allen diesen tests zeigten
sich die abnormen Kinder den normalen unterlegen. Beide Gruppen von
Kindern stimmten darin Uberein, daß sie mehr Zeit gebrauchten für das Sor-
tieren der Farben als der Formen. Sehr merkwürdig ist die folgende Beob-
achtung: Beide Gruppen von Kindern sortieren Formen schneller mit der
linken Hand, die Farben mit der rechten Hand, sie haben ferner feinere Be-
wegungswahrnebmnngen mit einem größeren als mit einem kleineren Gelenk,
ebenso bewegen sie das größere Gelenk schneller. Verf. folgert daraus, daß
die größeren und weiteren Bewegungen der Arme dem kleineren Kinde adä-
quater sind als die feineren und kleineren Bewegungen der Finger; zieht man
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Literaturbericht.
ferner in Betracht, daß alle Messungsergebnisse des Verf. mit dem zuneh-
menden Alter der Kinder eine fast gleichmäßige Zunahme der Bewegungs-
werte zeigen, so liegt die pädagogische Folgerung nahe, daß Spiele, welche
die Arme beschäftigen, für die kleineren Kinder naturgemäßer sind als Zeich-
nen, Modellieren u. dgl.
Im allgemeinen vertritt Kelly die Ansicht, daß längere Zeit fortgeführte
individuelle tests wertvoller seien als Durchschnittswerte aus großen Zahlen
einmaliger Prüfung, entweder also einfache und lang durchgeführte oder ein-
malige, dann aber recht mannigfach zusammengesetzte Prüfungen. Kelly
widerspricht mit Recht einigen tests von Kirkpatrick und bezweifelt
deren Brauchbarkeit; die tests sollten ferner alle Grundeigentümlichkeiten
der Kinder berühren, sonst geben sie ein falsches Bild ihrer Leistungen.
Bezüglich der Gemütsbewegungen und anderer geistiger Zustände der
abnormen Kinder wird bemerkt, daß andauernde Beobachtungen mehr zum
Ziele führen als das Experiment; es fehlt ihnen im allgemeinen die Inten-
sität der psychischen Erlebnisse der normalen Kinder, dagegen läßt sich
keine Fähigkeit entdecken, die ihnen völlig fehlte.
Aus der Zusammenfassung der Resultate, die Kelly gibt, läßt sich noch
folgendes hervorheben: Große Harmonie in den psychischen Reaktionen ist
Anzeichen einer normalen Konstitution, das umgekehrte Verhalten verrät eine
neuropathische Veranlagung. Der Vorstellungskreis eines Kindes soll nach
Kelly mehr Ausdruck seiner Umgebung als eigener Tätigkeit sein. Mit Recht
betont der Verf., daß das mechanische Sammeln von tests ohne genaue Prü-
fung des Sprachschatzes, der Gewohnheiten und der Umgebung des Kindes
keinen wissenschaftlichen Wert hat. Von den materialen Resultaten sei noch
erwähnt, daß der Tastsinn in seiner Entwicklung dem Farbensinn vorauseilt
und lange Zeit der dominierende Sinn bleibt (eine Zeitgrenze ist nicht an-
gebbar;. Daß die gröberen und umfangreicheren Bewegungen sich vor den
den feineren entwickeln, sahen wir schon, interessant aber ist noch, daß sich
diese Eigentümlichkeit der Kinder bei den Schülern der Elementarschule bis
zum letzten Jahre der Schulzeit verfolgen ließ. Das Wach st um in der Be-
wegungsgeschicklichkeit wächst gleichmäßig mit der Intelligenz, das gilt für
die durchschnittliche aufsteigende Entwicklung aller Kinder nnd für die In-
dividuen. Je geringer die Intelligenz, desto mehr tritt die Ermüdungsfähig-
keit hervor. Die Neigung, rhythmisch zu arbeiten, ist stark ausgeprägt.
Vielleicht ist der Berührungssinn empfindlicher an der linken Hand bei rechts-
händigen Individuen, und umgekehrt. E. Meumann (Zürich.
18) L. J. Delaporte, Philosophische Untersuchungen Uber die nicht-enkli-
dischen Geometrien. 1395. Paris, C. Naud, 1903.
Die allgemeine Geometrie nimmt u. a. die zwei folgenden Postnlate an:
daß man durch einen Punkt außerhalb einer Geraden nur eine zu dieser parallele
Gerade ziehen kann; und daß zwei nicht parallele Geraden sich nur in einem
Punkte schneiden können1).
1J Euklid.
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Literaturbericht.
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Es sind in neuerer Zeit einige spezielle geometrische Untersuchungen an-
gestellt worden, die statt dieser Postulate aufzustellen versuchen: daß das
erste Postulat richtig ist, dagegen die zwei Geraden sich in zwei Punkten
schneiden können1}; — oder daß man durch einen Punkt außerhalb einer
Geraden ganze Büschel diese nicht schneidender Geraden ziehen kann, daß
dagegen das zweite Postulat richtig sei2].
Diese speziellen geometrischen Untersuchungen unterscheiden sich von
der allgemeinen Lehre Uber die Geometrie durch die Definition der Geraden
und der Ebene. In den ersten Untersuchungen versteht man unter einer
Geraden auf einer Ebene das, was in der allgemeinen Geometrie als eine
geodätische Linie auf der positiven Fläche einer Sphäre verstanden wird;
in den zweiten Untersuchungen versteht man darunter das, was in der all-
gemeinen Geometrie als eine geodätische Linie auf der negativen Fläche einer
Sphäre verstanden wird.
Die andern mathematischen Untersuchungen, die n-dimensionalen Geo-
metrien genannt, sind eigentlich gewisse spezielle Erweiterungen der Algebra,
die nicht einer geometrischen Interpretation fähig sind. Die von diesen Unter-
suchungen, deren Deduktionen sich auf geometrisch vorstellbare Figuren be-
ziehen, bilden einen Teil der allgemeinen Geometrie.
F. Biske (Zürich).
19) W. Marshall, Die Tiere der Erde. Eine volkstümliche Übersicht Uber
die Naturgeschichte der Tiere. Über 1000 Abbildungen und 25 farbige
Tafeln nach dem Leben. Vollständig in 50 Lieferungen zu 60 Pfennig.
4°. Stuttgart, Deutsche Verlagsanstalt, 1903.
r
An Nichtzoologen wendet sich Marsh all mit seinem Werke »Die Tiere
der Erde«. Schon viele habeu es unternommen, solcher Art ihre Wissen-
schaft vorzutragen, wie hier der gelehrte Fachmann. Doch recht verschieden
sind diese Versuche ausgefallen. In dem vorliegenden Werke ist von vorn-
herein ein Grundsatz befolgt, der allen Zuhörern und Lesern, den Zoologen
wie den Nichtzoologen, das Verständnis wesentlich erleichtert. Mars hall führt
nns nämlich zunächst einmal die in möglichst günstiger und charakteristischer
Stellung nicht gemalten, sondern photographisch aufgenommenen Tiere
ihrer äußeren Erscheinung nach vor Augen. So gewinnen wir eine lebendige
Anschauung; wir sehen, um dann zu hören. Eigentlich machen wir den
Streifzug des Jägers und des Naturforschers nochmals mit. Marshall hält
es eben fllr unbedingt wichtig, »die Übereinstimmung der Lebensweise der Tiere
mit ihrer äußeren Gestaltung« zu betonen. Dies ist zweifellos gut volks-
tümlich und führt rasch zum Ziel. — Wer nun Tierpsychologie treibt, weiß
auch, daß in derselben das Hauptinteresse einigen wenigen Tierreihen auf
Kosten aller andern zugewandt werden muß. Denn sonst ist es ja gar
nicht möglich, gründliche Beobachtungen anzustellen, und — dies wieder
zugestanden — bleibt es doch gewiß auch durchaus wünschenswert, den Blick
auf das große Ganze nie völlig zu verlieren. Sich bloß die Natur freu de
1) Riemann. 2; Lobatschewsky.
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Literatlirbericht.
zu bewahren, reicht für den wissenschaftlichen Betrieb nicht ans; die Tatsachen-
kenntnis muß durchgängig und also vollständig aufgefrischt und bei den
Einzeldarstellungen mit verwertet werden. Wie und wo kann dies aber
leichter erfolgen als an der Hand eines wohlgeordneten naturkundlichen
Materials!
Die Anordnung der Gesamtdarstellung ist eine Btreng wissenschaftliche.
Sie täuscht uns in angenehmer Weise die Führung durch einen ideal ange-
legten zoologischen Garten vor; dazu noch in Begleitung eines gemütvollen
Kenners der zur Schau gestellten Gruppen und ihrer Sonderheiten. Niemals
fehlt bei aller Objektivität, mit welcher uns der Reihe nach die Tiere ge-
schildert werden, ein Hinweis darauf, wie der Mensch zu ihnen von den
frühesten Zeiten an Stellung genommen, ja unter Umständen sie göttlich ver-
ehrt hat, etwa einen Apisstier oder ein goldenes Kalb. Wichtiger noch bleibt,
welche verwandten, auch uns Menschen eigenen Merkmale oft so ausgeprägt
bei diesem oder jenem Tier auftreten/ daß wir zur gründlicheren Erforschung
unserer selbst solche durch einzelne Fähigkeiten sich auazeichnenden Wesen
eingehend studieren müssen. Z. B. den Adler mit seinen scharf ausgeprägten
Sehwerkzeugen und der so feinen Durchbildung des Nervus opticus. Oder
die Katze mit manchen bei uns Menschen unauffindbaren Verästelungen und
Verzweigungen des Nervus acusticus. Einseitige Bevorzugungen, die zurück-
wirken auf die Intelligenz dieser Geschöpfe.
Zuweilen sind dergleichen Beziehungen noch erst wenig klargelegt, und
ein einzelner kann sich, will er ein vollständiges Werk wie das vorliegende
liefern, nur auf die Berichte anderer verlassen. So bleibt gewiß einiges
immer noch zu verbessern; auch liefert die Wissenschaft stets neues Be-
obachtungsmaterial ; in letzter Zeit wohl am auffallendsten Uber unser treues
Haustier, das Pferd, welches sich gegenüber unserer bisherigen Meinung
als noch viel verständiger gezeigt hat, sobald es entsprechend behandelt
wird.
Wie Beobachtungen im kleinen, so werden auch ergänzende Berichte neuer
Forschungsreisen stets nachzuliefern bleiben. Erwägt man alles dies, so fällt erst
recht die gleichmäßige, lebensfrische Behandlung aller Tiergruppen in dem vor-
liegenden Werke auf; sie bringt den noch so weit auseinandergehenden Sonder-
liebbabereien einzelner Tierfreunde Verständnis entgegen. In jeder Beziehung
kann die Beschäftigung mit dem vorliegenden Werke gute Dienste erweisen ;
für jede tierpsychologische Einzelforschung wird sie, .wie gesagt, gerade da-
durch wertvoll, daß sio zum Verständnis des Gesamtbildes, das wir heute von
der Tierwelt haben, beiträgt, daß sie deshalb auch von neuem lehrt, wie
auf ihre Erforschung, Einteilung, Anordnung im großen Rücksicht zu
nehmen ist.
Die Farben der Buntbilder Bind gut abgetönt und verdecken nichts von
den charakteristischen Körperformen, wie dies sonst leider häufig der Fall ist.
Die ganze Ausstattung ist durchaus preiswürdig und geschmackvoll.
Hi eise her (Heidelberg).
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Literaturbericht.
77
20) D. Fr. Naumann, Die Erziehung zur Persönlichkeit im Zeitalter des
Großbetriebes. (Rede, gehalten am 26. Februar 1904 im Berliner
Lehrerverein.) 19 S. gr. 8<>. Berlin, Buchverlag der »Hilfe«, 1904.
M. 0,26.
Nur ein kleines Schriftchen, doch recht bedeutsam von Inhalt! »Ge-
staltung der Persönlichkeit aus dem Naturprodukt«, das der Mensch anfäng-
lich darstellt, ist nach N. Kern und Stern aller Erziehertätigkeit und muß
dies im laufenden Jahrhundert der Großbetriebe immer mehr werden.
»Persönlichkeit« dabei verstanden nach Kant als Unabhängigkeit vom Mecha-
nismus im weiteren Sinne, also nicht nur als Eigenschaft der Intelligenz.
Man meine nicht, daß die Annäherung an das Persönlichkeitsideal bei der
merklichen Abnahme der Selbständigkeitsformen und der fortschreitenden
»Entpersönlichung der Arbeitsweise durch den Großbetrieb« unmöglich und
dafür etwa zu erstreben sei die »Gewinnung gehorsamer Verwendbarkeit
des einzelnen im unaufhaltsam wachsenden Großbetriebe« des Staats und des
wirtschaftlichen Lebens, wobei der einzelne blutwenig daran ändern kann,
daß er nach vorhandenen Schemas bewertet wird. Schon um ihrer dauern-
den Existenz willen muß den Großbetrieben alles daran gelegen sein, daG
das Persönlichkeitsideal die ihm gebührende Zentralstellung behält; alle Ver-
feinerung und Komplizierung der verschiedenen Großbetriebe kann nach-
haltig nur ausgenutzt werden bei gleichzeitigem »Fortschreiten der Menschen-
entwicklung«. N. kennzeichnet nun unter Exemplifizierung auf sozial-
politische Tatsachen in großen Zügen, wie weit und in welchen Formen die
Erziehung zur Persönlichkeit auch im Großbetriebszeitalter möglich ist. Er
empfiehlt als Muster die doppelte Methode des Liberalismus gegenüber dem
modernen Staatsgroßbetrieb und formuliert dieser gemäß — Seite lö — seine
Forderungen für die Schule in zweifacher Weise. Freilich vermag die 8jäb-
rige Schulzeit nur propädeutisch zu wirken und muß sich meist damit be-
gnügen, hauptsächlich im sogenannten Gesinnungsunterricht den jugendlichen
Individuen zur klarbewußten Aneignung des Persönlichkeitsprinzips zu ver-
helfen und in ihnen den Willen zu begründen, es als Prinzip des Rechts
jederzeit zu verteidigen. Die Erziehung zur Persönlichkeit im Zeitalter des
Großbetriebs wird allerdings nur solchen gelingen, die selbst hohen Per-
sönlichkeitswert besitzen, — eine Tatsache, die wiederum sorgfältigste Er-
ziehung der Erzieher erheischt.
Die Fülle des Stoffes nötigte den Vortragenden zu knappster Fassung
desselben; immerhin vermißt Referent ungern die Andeutung der Richtlinien,
in welchen sich die Erziehung zur Persönlichkeit in dem so Uberaus wich-
tigen nachschulpflichtigen Alter zu bewegen hat
Dr. Ernst Ebert (Dresden).
21) Anton Seitz, Willensfreiheit und moderner psychologischer Determi-
nismus. 62 S. Köln, Verlag von J. P. Bachem, 190i.
Der Verfasser steuert gleich im Anfang auf seine Sonderstellung in bezug
auf das zu behandelnde Problem los, eine Auffassung, die er als einen »rela-
tiven Indeterminismus und Indifferentismus« bezeichnet, »den man ebensowohl
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78
Literaturbericht.
relativen Determinismus nennen könnte«. Zunächst werden die »Schranken
des Indeterminismus« dargelegt. Der Indeterminismus sei nicht im Sinne einer
ursachlosen Selbstbestimmung zu verstehen. Und andererseits bestehe die
Willensfreiheit nicht bloß bei einer ganz gleichmäßigen Neigung des Willens
zum Guten wie zum Bösen oder überhaupt allen Beweggründen gegenüber.
Diese Auffassung wird als »absoluter Indeterminismus oder Indifferentismus«
gebrandmarkt. »Absolut frei kann nur das eine durchaus vollkommene und
in keiner Beziehung abhängige göttliche Wesen sein. Alle außergöttlichen
Wesen, also auch der Mensch, sind nur relativ frei. Der menschliche Wille
ist kein absoluter Anfang der Bewegung; er ist einem höheren Gesetzgeber
physisch und moralisch unterworfen, nicht nur indi reckt, insofern er nie
ohne eine an eine somatische Grundlage und eine bestimmte Entwicklungs-
zeit gebundene Erkenntnis sich betätigen kann, deren Umfang nnd Inhalt
durch innere und äußere Verhältnisse : Naturanlage, Bildung und Erziehung,
Lebensverhältnisse n. dgl. bestimmt ist und ohne fortgesetzte Übung er-
schlaffen muß, wie jede Anlage durch Nichtgebrauch verkümmert, sondern
anch direkt, insofern er, wie jede geschaffene Existenz, im Bestand nnd
in der Forterhaltung seiner Natur und außerdem noch durch positive, natür-
liche und übernatürliche Zielbestimmung abhängig ist« (S. 4'. Hier ist also
eine Determination des menschlichen Willens in mancherlei Beziehung aus-
drücklich konstatiert. Und doch soll der Wille unter Umständen sich »frei«
zeigen, und dies nicht nur bei einer »Indifferenz des Gleichgewichts«, son-
dern auch dann, »wenn die stärksten Gründe zusammen auf einer Seite
sich finden«. Das wird im zweiten Abschnitt ausgeführt, unter dem Titel
»Scheinfreiheit des Determinismus«. »Der springende Punkt im Streit mit
dem Determinismus liegt nicht darin, ob Uberhaupt bestimmte Gründe auf
den Geist einwirken, sondern ob sie so einwirken, daß der Geist unter ver-
schiedenen, selbst in verschiedener Heftigkeit auftretenden Bestimmunga-
gründen in der Regel wenigstens eine selbständige Auswahl zu treffen
vermag« (S. 6 . Der Determinismus lasse den Menscbengeist »selbsttätig, aber
nicht selbständig seine Lebensäußerungen entfalten«. Von diesem Stand-
punkt aus sieht sich der Verfasser gezwungen, das Vorhandensein eines
von den Beweggründen verschiedenen Aktivitätsprinzips anzu-
nehmen. Dieser »relative Indeterminismus« wird mit einer konstitutionellen
Monarchie verglichen, »insofern der Wille nie ohne Motive handeln kann,
aber doch mit souveräner Macht den Motiven seine Zustimmung erteilt oder
versagt; der absolute Indeterminismus käme gleich einem politischen Abso-
lutismus oder Despotismus, einer reinen Willkürherrschaft, der absolute
Determinismus einer republikanischen oder demokratischen Verfassung, deren
Oberhaupt, die Persönlichkeit, nur als Vollzugsorgan eines drängenden Volks-
willens — der Motive und des Charakters — in Betracht käme« {S. 12). Nun
folgt die positive Begründung des eigenartigen Standpunktes als ethi-
scher, psychologischer und metaphysischer Beweis. In der negativen Be-
gründung zieht der Verf. zuerst gegen den Motivendetermiuismus und dann
gegen den Charakterdeterminismus zu Felde. Und endlich »den Schlußstein
zur posisiven nnd negativen Begründung der Willensfreiheit bildet die psy-
chologische Analyse derselben, d. h. die Erläuterung des Herganges bei der
freien Willensentscheidung nach Untersuchung der Elemente der freien Hand-
lung: des Willensvermögens und der Aktivität desselben« (S. 43). Und dieser
Hergang interessiert uns am meisten. »Die Willensfreiheit im psychologi-
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Literaturbericht.
79
achen, d. h. für den normalen Menschen empirisch festzustellenden Sinne
kann man demnach definieren als die Fähigkeit eines vernünftigen Geistes,
nach selbstbestimmter Norm unter den gleichen Verhältnissen zwischen ver-
schiedenen, das Maß der natürlichen Kraft nicht Ubersteigenden Richtungen
seiner Tätigkeit eine überlegte Wahl zu treffen Unerläßliche
Vorbedingung der Willensfreiheit ist ein von der Erkenntnis vorgelegter
Beweggrund, der jedoch erst durch das vom freien Willen ihm eingeräumte
Gewicht den nötigenden Charakter eines Bestimmungsgrundes erhält« (S. 62 .
DieBe Auffassung berührt uns in doppelter Hinsicht sonderbar. Einmal sind
die Motive, die ihre Motivkraft erst vom freien Willen empfangen müssen,
vorher Uberhaupt noch keine Motive gewesen. Und sodann ist der psy-
chologische Vorgang bei der Übertragung jener Motivkraft sehr rätselhaft,
der Verf. bleibt die Erklärung dazu schuldig. Und zweitens ist das postu-
lierte Aktivitätsprinzip eine auffallende Annahme. Nach demselben trifft der
Wille eine selbständige Auswahl unter den Motiven (die dann allerdings
keine Motive mehr sind), er handelt also unmotiviert, d.h. eben im Sinne
des absoluten Indeterminismus. So kommt der zur vordem Tür hinaus-
gejagte Gesell durch ein Hintertürchen wieder hereingeschlichen. Damit ist
der Arbeit ihr Urteil gesprochen: ;Der »relative Indeterminismus« ist nicht
das, was er sein will, und das Ziel war nur scheinbar erreicht. Immerhin
bietet die Abhandlung eine umfassende Darstellung aller in Frage kommen-
den Probleme und behält um dieser Zusammenstellung willen einen großen
Wert Dr. 0. Messmer (Rorschach;.
22) Raoul Richter, Der Skeptizismus in der Philosophie. 1. Bd. XXIV,
364 S. gr. 8°. Leipzig, DUrrsche Buchhandlung, 1904. M. 6,-.
In dem vorliegenden ersten Bande seiner historisch-kritischen Monographie
gibt der durch sein Nietzschebuch vorteilhaft bekannte Verfasser eine Ge-
samtdarstellung der Entwicklung und der Lehren des griechischen Skepti-
zismus. Dabei fällt der Schwerpunkt, dem systematisch-philosophischen Inter-
esse des Werkes entsprechend, auf die ausfuhrliche Kritik des skeptischen
Standpunktes, der daher fast zwei Drittel deB Textes ausschließlich gewidmet
sind. Der Verfasser geht zunächst den Spuren der beginnenden Skepsis in
den Anfängen der Erkenntnistheorie nach und schildert sodann die Haupt-
vertroter der pyrrhonischen und akademischen Skepsis {Kap. 1 . Hieran
schließt sich eine die hauptsächlichsten Gesichtspunkte geschickt zusammen-
stellende Gesamtschilderung der skeptischen Grundlehren (Kap. 2;. Von einer
gemäßigteren skeptischen Haltung der mittleren Akademie, worin der Verf.
mit andern den Unterschied zwischen pyrrhonischer und akademischer Skepsis
setzt, kann nur hinsichtlich der Wahrscheinlichkeitstheorie die Rede sein;
im allgemeinen huldigt die akademische Skepsis einem negativen Dogmatismus
mit absichtlich destruktiven Tendenzen. Außer durch seine unbestrittene
Originalität und strengere Konsequenz erweist sich der Pyrrhonismus durch
seine Hervorkehrung des subjektivistischen und relativistischen Standpunktes
als die systematisch wertvollere Ausgestaltung der skeptischen Weltbeur-
teilung; der Probabilismus der Akademie findet im Relativismus seinen An-
knüpfungspunkt. Man darf demnach die Lehren der pyrrhonischen und der
akademischen Skepsis noch einheitlicher behandeln, als der Verfasser es tut.
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80
Literaturbericht.
Die mit großer Umsicht and eindringlichem Scharfsinn bis ins einzelne sieg-
reich durchgerührte Kritik der skeptischen Position — und zwar vom Boden
des gemäßigten Realismus wie dem des extremen Idealismus aus — verdient
alles Lob. In der Ausfuhrung richtet sie sich freilich vorwiegend gegen die
These völliger Unerkennbarkeit der Dinge (dogmatischer Negativismus, Nihi-
lismus), während die Quintessenz der griechischen Skepsis nicht so im abso-
luten Zweifel (Verzweifeln) an der Möglichkeit der Erkenntnis, als vielmehr
im relativen Zweifel (Unentschiedenheit), in der Behauptung der Möglichkeit
sicherer, unbestreitbarer Erkenntnis beruht. Die skeptische Inox^ bedeutet
demgemäß nicht daB Enthalten von jeglichen Urteilen, sondern nur von allem
bestimmten Urteil und jeder absoluten Beurteilung, daher ihr Kern: die
Leugnung der irgendwo und irgendwann erreichten Wahrheit, weniger eine
widerlegbare Theorie als eine habituelle Denkweise bezeichnet
Verträgt sich der skeptische Wahrheitsbegriff auch mit einer fortge-
schrittenen Auffassung, so scheitert, wie der Verfasser richtig zeigt, alle dog-
matische Skepsis an der Tatsächlichkeit gesetzmäßiger Beziehungen zwischen
den Erscheinungen. Wenn die Skepsis die Erkenntnis der tatsächlichen Be-
schaffenheit der Dinge leugnet, so ist es nicht unumgänglich nötig, derselben
eine extrem realistische Erkenntnistheorie zuzuschreiben, wie der Verfasser
hier und a. a. 0. zu erweisen sucht Schon die Behauptung der Unerkenn-
barkeit der Dinge an sich schließt die unskeptische Behauptung der Existenz
von Dingen an sich ein: eine Inkonsequenz in der Verwertung der skepti-
schen Isostbenie, die man den besseren Vertretern der Skepsis nicht zutrauen
darf. Das vom Verfasser aufgestellte Wahrheitskriterium des unüberwind-
lichen Überzeugungsgefühls , dessen Vorhandensein die Skepsis jedenfalls
leugnen würde, falls sie der Unüberwindlichkeit nicht durch Aufstellung
negativer Instanzen (als Möglichkeit der Beeinflussung und Veränderlichkeit
des Wahrheitsgefühls) den Boden abgraben könnte, ist auch nach der besten
Überzeugung des Verfassers nicht imstande, den Streit zwischen dem kriti-
schen Realismus und dem extremen Idealismus in der Erkenntnistheorie zum
Austrag zu bringen. Auf die dennoch in Aussicht gestellte Lösung der Frage
im 2. Bd. unseres Werkes darf man aufrichtig gespannt sein. Vollkommen
darf man dem Verf. darin recht geben, daß, gleicht man den Lehrgehalt der
pyrrhonischen und der akademischen Skepsis gegeneinander aus, sich eine
Theorie des Positivismus oder phänomenaliBtischen Empirismus ergibt, die
allen Anforderungen des Lebens und der Wissenschaft völlig Genüge leistet.
Der 2. (Schluß-) Band wird die skeptischen Lehren der Renaissance (Mon-
taigne u. a.), diejenigen der Aufklärungszeit (Home) und der Philosophie
der Gegenwart (Mach. Nietzsche) bebandeln, woran — als zweiter Teil
des Ganzen — sich eine Besprechung der partiellen Skepsis Pasc als, der
Mystiker und endlich Kants anreihen soll. Wie die skeptische Isostbenie
als Methode, so kann das gehaltreiche Werk allen zur Lektüre empfohlen
werden, die an dem einseitigen Vorurteil von der Unfruchtbarkeit und Wissen-
schaftsfcindlichkeit eines begründeten Skeptizismus und seiner Verwechslung
mit einem nihilistischen Agnostizismus noch festhalten ; ganz besonders aber
kann es dem Dogmatismus aller Schattierungen als »heilsames Zuchtmittel
ira Dienste der Wahrheit« ans Herz gelegt werden : zum Heil der Philosophie
als dem systematischen Versuch einer wissenschaftlichen Begründung unserer
Wertschätzungen. Dr. F. Rose (Bonn1.
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Verlag von Wilhelm Engelmann in Leipzig.
Psychologische Arbeiten.
Herausgegeben von
Emil Eraepelin
Professor in München.
Bisher erschienen:
Erster Band. Mit 13 Figuren im Text. 1896. J[ 17.—.
Inhalt: Vorwort. — Eraepolin, D«r psychologische Versuch in der Psychiatrie. — Oehrn, Ex-
perimentelle Studien rar Individualpeychologie. — Bettmann. Ueber die Beeinflussung einfacher
psychischer Vorgänge durch körperliche and geistige Arbeit — Aschaf fenburg, Experimentelle
Stadien aber Associationen. — Amberg, üeber den Einfluss von Arbeitspensen nnf die geistige
Leistungsfähigkeit — Hoch und Eraepelin, Ueber die Wirkung der Theebestandtheile nnf körper*
Iii he und geUtige ArbeiL Mit H Figuren im Text. — Loewald, Ueber die psychischen Wirkungen
des Broms. — Roemer. Beitrag zur Bestimmung zusammengesetzter Iteactionszeiten. Mit 4 Figuren
im Text — Aechaffenbnrg. Priktische Arbeit unter Alkoholwtxkug. Mit 1 Figur im Text —
BiTors und Eraepelin, Ueber Ermüdung und Erholung.
Zweiter Band. Mit 8 Tafeln und 9 Figuren im Text 1899. JK 20.—.
Inhalt: Aschaffenburg, Experimentelle Studien über Associationen in der Erschöpfung. —
Micbelaon, Untersuchungen über die Tiefe des Schlafes. Mit & Figuren im Text. — Weygandt,
Ueber den Einfluss des Arbeitswechsels auf fortlaufende geistige Arbeit, — Cron und Eraepelin,
Ueber die Messung der AuffassungsfahigkeR. — Haehnel, Die psychischen Wirkungen des Trionale.
Mit 1 Figur im Text. — von Voss, Ueber die Schwankungen der geistigen Arbeitsleistung. Mit
1 Figur im Text — Gross, Untersuchungen ftber die Schrift Gesunder und Geisteskranker. Mit
8 Tafeln und 1 Figuren im Text — Gross, Zur Psychologie der traumatischen Psychose. —
Reis, Ueber einfache pathologische Versuche an Gesunden und Geisteskranken. — Weygandt,
Röroer'a Versuche ftber Nahrungsaufnahme und geistig« Leistungsfähigkeit
Dritter Band. Mit 1 Tafel und 41 Figuren im Text. 1901. uT25.— .
Inhalt: Diehl, Ueber die Eigenschaften der Schrift bei Gesunden. Mit 1 Figur im Text —
Vogt, Ueber Ablenkbarkeit und Gewöhnung« flh igkeit — Ach, Ueber die Beeinflussung der Auffassung».
fehigkeit durch einige Arzneimittel. — Final, Sur Untersuchung der Auffassungsfahigkeit und Merk*
fahigkeit Mit I Abbildung im Text. — Gross, Ueber das Verhalten einfacher psychischer Reaetioaea
in epileptischen Verstimmungen. — Eurx und Eraepelin, Ueber die Beeinflussung psychischer Vor*
ginge durch regelmäßigen Alkoholgonuss. Mit 'i Figuren im Text — 8ehnelder, Ueber Auffassung
und Merkfahigkeit beim Altersblödsinn. — Lindley, Ueber Arbelt und Rahe. — Mayer, Ueber die
Beeinflussung der Schrift durch den Alkohol. Mit einer Tafel. — Oseretzkowsky und Eraepelin,
Ueber die Beeinflussung der Muskelleistung durch verschiedene Arbeitsbedingungen. Mit 36 Fig. Im Text
Vierter Band. Mit 5 Tafeln und 13 Figuren im Text 1904. J$ 27.—.
Inhalt: Rftdin, Ueber die Dauer der psychischen Alkoholwirkung. — Weygandt, Ueber die
Beeinflussung geistiger Leistungen durch Hungern. Mit einer Figur im Text — Bolton, Ueber die
Beziehungen zwischen Ermüdung, Baumsinn der Haut und Muskelleistung. — Aschaffenburg,
Experimentelle Studien ftber Associationen, ni. Theil: Die Ideeaflncht Mit 3 Figuren im Text —
Mlesemer, Ueber psychische Wirkungen körperlicher und geistiger Arbeit Mit 1 Tafel. — Eafemann,
Ueher die Beeinflussung geistiger Leistungen durch Behinderung der Naeenatbmung. Mit 2 Figuren
im Text — Hylan und Eraepelin, Ueber die Wirkung kurzer Arbeitszeiten. — Rftdin, Auf-
fassung und Merkfahigkeit unter Alkoholwirkung. — Beinhold Krauss, Ueber Auffassung- und
Merk-Versuche bei einem Falle von polyneuritischer Psychose. — Gustaf Heft man, Ueber die Be-
ziehungen zwischen Arbeitsdauer und Pausenwirkung. Mit 6 Figuren im Text — G. Lefmann, Ueber
psychomotorische Störungen in Depresaionazustanden. Mit Tafel 11 -V und 1 Figur im Text
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Vient de parat Ire le 1er Mai 1904:
A LA LIBRAIRIE MASSON ET Cie
180, BOULEVARD SAINT-GERMAIN, PARIS (6«)
L'ANNfiE PSYCHOLOGIQÜE
Publiee par M. A. BIN ET
Directeur da Laboratoire de Psychologie de la Sorbonne.
AVEC LA COLLABORATION DE
MM. Baldwin, Beaunis, Blum, Oaston Bonnier, Boardon,
Boutroax, Bouvier, Capitan, Claparede, Demoor, Deniker, Darkeim,
Ebbinghaus, Fere, Flournoy, Fredericq, Fuster M"' ,
Van Gehuehten, Oiad, Gley, Grasset, Henneguy, Henri,
Lacassagne, Leuba, Malapert, Martin,
Metohnikoff, H. Mio hei, Philippe, Pitres, Poincare, Begis,
Renault d'AUonnes, Bibot, Serieux, Simon, H. de Varigny,
SecrStaire de la rSdaction: J. LAROUIER DES BANCELS
SOMMAIRE DU TOME X
Editorial
MEMOIRE 8' ORIGINAL X
V. Henri: L'origine psychologique des notions de force, energie et mauere.
A. Binet: L'imagiuaüon litteraire. Portrait de Paul Henrieu.
A, Binet: La graphologie et ses revelationg sur Tage, le i«e et 1'intelligence.
Lecaillon: Psychologie d'une Araignee.
IL Michel: Renourier et Spencer.
Bourdon: Uq cai de trouble de la percepuon stereognostique.
Largüier: Experiences sur la m6moire.
FiRB: Observations sur l'association des idees.
Binet: Sommaire des travaux en cours ä la Socieli de Psychologie de Venfant.
Zwaardemaker : Experience sur les limites de l'audition.
Berti llon: Methode pour reconnattre une physionomie.
RKVUES GENERALES
Henneout: Revue annuelle de Cytologie.
Van Gehüchten: Revue annuelle d' Anatomie du Systeme nerveux. — A propos
de la loi de Waller.
Fredericq: Revue annuelle de Physiologie du Systeme nerveux.
Pitres: Revue annuelle de Pathologie nerveuse. La Psychastenie.
Grasset: La grandeur et la decadence du Neurone.
Denicker: Revue annuelle d'Anthropologie.
Seriecx: Revue annuelle de Pathologie mentale.
Simon: Rcsume clinique de Psychiatne.
Blum: Revue annuelle de Pedagogie normale.
Demoor: Revue annuelle de Pedagogie des anormaux.
MALAPERT: Revue annuelle de Philosophie et de M orale.
Leuba: Revue annuelle de Psychologie religieuse. D6finition de cette tcience.
H. de Variqny: Chroniaue psychologique.
A. Binet: Revue annuelle des erreurs de Psychologie.
ANALYSES
Compte rendu analytique et critique de nombreux ouvrages et memoires de
Psychologie.
T ARLES BIBLIOGRAPHIQUES
contenant environ 3.000 numeros d'ouvrages se rapportant k la Psychologie.
UN volume in-8° 15 francs.
(Ce journal est pass6 du fonds de la Librairie Sohleicher Freres & la Librairie
Masson et Cie.)
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Verlag von Wilhelm Eucelmann in Leipzig,
Neuigkeiten!
Grundriss
der
HEILPÄDAG-OGIK
von
Dr. Theodor Heller,
Direktor der hcilpädapogisclien Anstalt Wien • Griiuting.
Mit 2 Abbildungen auf einer Tafel,
gr. 8. HMJ4. Jt 8. — ; in Leinen geb. Jt 9—.
Studien
zur
Blindenpsychologie
von
Di Th. Heller,
Oireklor «1er li-;ilpaJago(tisc!iou Anstalt Wicii Griiuiiic.
Mit drei Figuren im Text,
gr. H. 1904. .// 3._.
Grundlinien
einer
Psychologie der Hysterie
von
Willy Hellpach,
l)r nt^l ut phil-, Nervenarzt in Karlsruhe.
gr. S. 1904. .// 9.— ; in Leinen geb. .H 10.—.
Die Mneme
als erhaltendes Prinzip
im Wechsel des organischen Geschehens
von
Richard Scinon.
8. 1904. .// 6.- : in Leinen geb. Jt 7.-.
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Inhalt des 3. Heftes.
Seil«
A bhandlu ng:
Watt. Henry J., Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denket«.
Mit 9 Figurcu im Text " 289
Literaturbericht:
Lipps, Theodor, Leitfaden der Psychologie. (0. Mesumer) 33
Jodl, Friedrich, Lehrbuch der Psychologie. Zweite Auflage in zwei
Bänden. (E. Mcumann.) 38
Heinrich, W., Die Aufmerksamkeit und die Funktion der Sinnesorgane.
(F. Düke) 39
Bin et, Alfred. Attention et adaptalion. (E. Mcumann) 40
Jung, C. G., und Riklin, Fr., Diagnostische Assoziaüonsstudieu. 1. Bei-
trag: Experimentelle Untersuchung über Assoziationen Gesunder.
Vorwort: Über die Bedeutung von Assoziatiousversuchen, von Prof.
Blculcr-Burghölzli. (0. Messmcr.) 46
Ackerknecht, E., Die Theorie der Lokalzeichen. (F. Biske) 48
Hevmans, G., Über Unterschicdsschwcllcn bei Mischungen von Kontrast-
farben. (F. Bisb) 50
Piper. H., Über Dunkcladaptation. (F. liisk*) 51
Piper. H, Über die Abhängigkeit des Reizwertes leuchtender Objekte von
ihrer Flüchen- bzw. Winkelgröße. (F. Büke) 53
Piper. H. , Über das Helligkcitsverhältnis monokular und binokular aus-
gelöster Lichtempfindungen. (F. Bükrl 64
Schiifcr, Gisela. "Wie verhalten sich die Hclmholtzschen Grundfarben zur
Weite der Pupille. (F. Büke) 55
Lehmann, Alfr., Versuch einer Erklärung des Einflusses des Gesichts-
winkels auf die Auffassung von Licht und Farbe bei direktem
Sehen. (F. Bükr) 56
Thorndikc, Edward L.. An intraduetion to the theory of mental and
social measurements. (E. Mrumann) 66
Merker. Hubert, Tan bstunimblind, eine psychologische Skizze. (Ernst
FJxrt) ' 67
Hellcr, Theodor, Grundriß der Hcilpadagogik. (Uidsehcr) 68
Heller, Theodor, Studien zur Blindenpsychologie. (E. Mcumann) ... 71
Kelly, Robert Lincoln, Psychophysical tests of normal and abnormal
children. Studies from the psychophysical I.aboratory of the Univer-
sity of Chicago. (E. Mcumann) 72
Delaporte, L. J.. Philosophische Untersuchungen über die nicht-euklidischen
Geometrien. (F. Bükt) 74
Mars ha 11, W., Die Tiere der Erde. Kinc volkstümliche Übersicht über
die Xaturgeschichte der Tiere. Über 1600 Abbildungen und 25 farbige
Tafeln nach dem Leben. ( IJi'lsc/irr) 75
Naumann. Fr.. Die Erziehung zur Persönlichkeit im Zeitalter des Groß-
betriebs. ( Ent*t FJ>< rh 77
Seit/.. Anton. Willensfreiheit und moderner psychologischer Determinis-
mus. /" M< s>vt<n . 77
Richter. Raoul. Der Skeptizismus in der Philosophie. 1. Bd. (F. Hose) 70
l>rn\ w.u l:r. ilkr.j.r & Härtel in Leipzig.
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Referate.
1) Nikolaj Loßkij, Die Grundlagen der Psychologie vom Standpunkte
des Voluntarismus. Deutsch von E. Kleuker. 221 S. gr. 80..
Leipzig, Johann Ambrosius Barth, 1904. M. 6.—.
Der Grundgedanke des Werkes ist der, daß alle Veränderungen im Be-
wußtsein, die wir auf unser Ich beziehen, nach dem Typus der Willensband-
iungen verlaufen. Wird doch das Ich geradezu definiert als die Substanz,
die unmittelbar alle ihre Zustande als ihre Handlungen empfindet Um
den Willenscharakter aller auf daß Ich bezogenen Erlebnisse darzutun, ver-
sacht Loßkij in engem Anschluß an die durch Pfänder (»Phänomenologie
des WollenB«) gegebene Analyse der Willensvorgänge sämtliche Bewußtseins-
tatsachen in zwei Gruppen zu bringen: in solche, die ich unmittelbar als
»meine« empfinde, und solche, die ebenfalls unmittelbar als »mir gegebene«
aufgefaßt werden. »Meine« psychischen Zustünde sind nach L. zugleich die-
jenigen, welche durch mein Zutun, durch mein aktives Kingreifen entstehen;
alle Elemente dagegen, die ohne ausgesprochene Strebung, also bei passivem
Verhalten, in mir auftauchen, sind als »gegebene« zn betrachten. Die Be-
griffe »meine« Zustände und »durch mich hervorgebrachte« Akte fallen dem-
uach vollständig zusammen; ebenso die Begriffe »gegebene« und »ohne mein
Zutun« entstandene Zustände. Irgendeine seelische Erscheinung gehört also
entweder zu den »meinen« nnd ist in diesem Fall durch eine von dem Gefühl
der Aktivität begleitete Strebung erzeugt, oder sie gehört zu den »gegebenen«
Zuständen und ist dann nicht durch mich erzeugt, sondern unmittelbar die
Strebung eines fremden Ich, die von mir empfunden wird.
Dagegen ist zweierlei zu bemerken : Einmal dürfte es nicht ohne weiteres
richtig sein, daß bloß Strebungen als »mein« empfunden werden. Es gibt
im Bewußtsein zweifellos Elemente, die unmittelbar als zu meinem Ich ge-
borig aufgefaßt, als Ichvorgänge erlebt werden, ohne auch zugleich als Wil-
lensakte empfunden zu werden. Dahin sind z. B. Empfindungsqualitäten und
Gefühle zu rechnen. Durch besondere Richtung der Aufmerksamkeit können
solche Zustände größere Klarheit erlangen; aber das dabei erlebte Aktivitäts-
and Spannungsgefühl bezieht sich auf den Akt der Apperzeption, nicht auf
die Qualität des ZuStandes selbst und kann daher nicht zur Stütze der Loß-
kij sehen Hypothese dienen. Es ist Uberhaupt irreführend, wenn die Begriffe
»mein« und »gegeben« kontradiktorisch einander entgegengesetzt werden.
Denn der Gegensatz von »gegeben« ist nicht »mein«, sondern »durch mich
hervorgebracht«.
Die zweite Behauptung Loßkij s, daß die »mir gegebenen« psychischen
Arehir ftr Pijchologie. IV. LiUmtur (J
82
Literaturbericht.
Zustande Strebungeu fremder Ich seien (oder — wie es Verfasser ausdrückt
— daß die >mir gegebenen« Bewußtseinszustände »meine« Zustände anderer
Ich seien), ist mystisch und reicht stark in die Metaphysik hinein. Dem Ich
wird hierdurch ausdrücklich die Fähigkeit der Intuition zugesprochen, d. h.
die Fähigkeit, die aktiven Zustände fremder Ich direkt zu empfinden. Als
Betspiel wird die Autohypnose herangezogen, bei welcher Strebungen des
einen Ich (also »meine« Strebungen) die Ursache der Entstehung von Stre-
bungen in einem andern Ich, nämlich in einem hypothetischen Unterbewußt-
sein, Zellen- oder Rückenmarksbewußtsein, bilden, welch letztere Strebungen
dann durch mein Ich als »gegebene« Zustände erlebt werden. So soll all-
gemein dem Ich als substantieller Einheit eine Vielzahl von fremden sub-
stantiellen Einheiten gegenüberstehen, in denen ebenfalls Strebungen statt-
finden, die von denselben ab) »meine« Bewußtscinszustünde empfunden, in
der unmittelbaren Auffassimg durch mich aber als »gegebene« Zustände be-
trachtet werden.
Wenn nun auch die Einordnung der Bewußtseinserscheinungen in die
beiden Gruppen der »meinen« (richtiger: der »von mir hervorgebrachten«) und
der »mir gegebenen« Zustände für die psychologische Analyse wertvolle
Dienste zu leisten geeignet ist und solche dem Verfasser bei seinen Unter-
suchungen unbestritten geleistet hat, so durfte es aber kaum gelingen, auf
Grund dieser Unterscheidung sämtliche subjektiven Erlebnisse des Bewußt-
seins empirisch auf Strebungen zurückzuführen. Darum dürfte auch die
Definition der Psychologie in der Form, wie sie L. gibt, entschieden zu eng
sein. Er sagt nämlich : »Die Psychologie ist die Wissenschaft von der subjektiven
Welt; die subjektive Welt ist der Inbegriff »meiner1 Bewußtseinszustände«.
Die Untersuchung der »gegebenen« Zustände weist L. der physiologischen
Psychologie und den übrigen Naturwissenschaften zu, weil jene Zustände wegen
ihrer Gegebenheit nicht zum Ich, sondern zur objektiven Welt gehören.
Damit spricht L. den »gegebenen« Zuständen geradezu jeden subjektiven
Charakter ab und entfernt sich weit von der Auffassung Wundts, auf die
er sich in andern Stücken gern beruft; ja, er mißversteht in diesem Punkt
Wundt so sehr, daß er behauptet, die konsequente Durchfuhrung der Wundt-
schen Auffassung weise der Psychologie die Bearbeitung der gesamten Wirk-
lichkeit zu und mache die Naturwissenschaft vollkommen Uberflüssig. Ver-
fasser bißt dabei ganz außer acht, daß die objektiven Bewußtseinstatsachen
sowohl eine psychologische als auch oine naturwissenschaftliche Bearbeitung
zulassen, deren beiderseitige Ziele total voneinander verschieden sind.
Die Ersetzung der gebräuchlichen Begriffe »bewußt« und »unbewußt«,
bzw. »Bewußtsein« und »Unbewußtsein«, durch die Ausdrücke »gewußt« und
»ungewußt« dürfte immerhin eine Klärung der Begriffe zur Folge haben;
doch geht Verfasser wohl zu weit, wenn er sich daraus einen großen sach-
lichen Nutzen verspricht, schon aus dem einfachen Grunde, weil eine scharfe
Grenze zwischen dem »Gewußten« und dem »Ungewußten« gar nicht zu ziehen
ist und unseres Erachtens die von Wundt eingeführten Bezeichnungen Ap-
perzeption und Perzeption, in ihrer richtigen Bedeutung genommen, weit bessere
Dienste leisten mögen als die vorgeschlagenen neuen Ausdrücke.
Wichtiger dünkt uns die Affektenlehre Loßkijs. Er legt darin ein
Hauptgewicht auf die EmpfindungHkomponenten, die mit den Ausdrucks-
bewegungen verbunden sind, und betrachtet sie nicht als bloße Begleiter-
scheinungen, sondern als notwendige Bestandteile eines jeden Affektes. »Die
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Literaturberkht.
Unterdrückung der körperlichen Äußerungen der Affekte«, behauptet Ver-
fasser, >wird vom Erlöschen de» Affektes selbst begleitet« Damit neigt L.
bewußterweise zur Auffassung von James hin, der in den körperlichen Ans-
drucksbewegungen nicht die Folgen, sondern die Ursachen de» Affektes er-
blickt Seine Lehre unterscheidet sich von der James sehen nur durch die
starke Betonung der Strebungs- oder Willensakte, welche den Affekt be-
gleiten. Der Affekt wird definiert ab eine rudimentäre instinktive Willens-
handlung, die eine große Menge innerkörperlicher Reaktionen enthält
welch letztere angeborene Zweckmäßigkeit besitzen, d. h. der Erfahrung der
Vorfahren entsprungen sind. Offenbar lassen sich in dieser Definition zwar
die grobsinnlichen Affekte leicht unterbringen, weniger gut oder gar nicht
aber solche Affekte, die mehr in einem bloßen Wechsel von Gefühlen be-
stehen und nach außen nicht zur Geltung kommen. Die Geftihlskomponenten
der Affekte werden von L. fast ganz vernachlässigt
Eine Besprechung der Kapitel Uber Persönlichkeit, Lust und Un-
lust, Charakter u. dgl., die manche gute Beobachtung enthalten, können
wir füglich unterlassen, da wenig neue Gesichtspunkte darin vorkommen.
Es genüge, darauf hingewiesen zu haben.
Wenngleich das Werk als Ganzes von Mängeln nicht frei ist und von
seinem Ziel, die Psychologie auf voluutaristischer Grundlage aufzubauen,
noch recht weit entfernt sein dürfte, so bUdet es dessenungeachtet eine wert-
volle Bereicherung der psychologischen Literatur, weU es sich vor allen
Dingen auszeichnet durch eine Fülle feiner psychologischer Beobachtungen
und guter Analysen. J. Köhler (Rehbach).
2) Harald Höffd in g, Philosophische Probleme. 109 S. gr.8». Leipzig,
0. R. Reisland, 1903. M. 2.40.
Vier Hauptprobleme sind es, mit denen sich die Philosophie beschäftigt :
I. Das psychologische, II. Das logische, HI. Das kosmologische,
IV. Das ethisch-religiöse Problem. In klarer, anschaulicher Weise sucht
der Verfasser die gemeinsamen Grundgedanken in diesen vier Problemen zu
entwickeln. Zunächst betont er die innige Wechselbeziehung zwischen Per-
sönlichkeit und wissenschaftlicher Forschung: Einheit gehört zur Persönlich-
keit und zwar Einheit der Vorstellungen, Gefühle und Bestrebungen, Ein-
heit erstrebt die wissenschaftliche Forschung, indem sie einen Standpunkt
sucht von dem aus das Einzelne sich als Glied eines großen Zusammen-
hangs erweist So erzeugt die Persönlichkeit in der Wissenschaft ein ob-
jektives Abbild ihrer selbst — Einheit und Zusammenhang. Die Aufgabe
der philosophischen Forschung besteht darin, das Unzusammenhängende in
der Erfahrung als Unterschiede der Zeit, des Ortes, der Qualität der Indi-
vidualität zu Überwinden. Die Diskontinuität in den Dingen steht dem wissen-
schaftlichen Einheitastreben aber nicht feindlich gegenüber, sondern stellt ihm
vielmehr stets neue Aufgaben, löst gebundene Kräfte aus und bringt in
Wissenschaft und Leben neue Inhalte.
I. Das Bewußtseinsproblem (psychologisches Problem). Der Per-
sönlichkeitsbegriff bUdet das Grundproblem der Psychologie. Derselbe
läßt vor allem die Frage auftauchen : Bildet unser Bewußtsein ein Kontinuum,
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Literaturbericht.
oder ist es bloß eine Summe von Fragmenten? Das Ziel des Verfassers geht
nun darauf hinaus, die zweite Möglichkeit zu widerlegen. In erster Linie
spricht für die Totalität des Bewußtseins der Umstand, daß die psychischen
Elemente niemals isoliert vorkommen, sondern bloß in Zusammenhängen ge-
geben sind. Ein solcher Zusammenhang aber kann nicht ein Produkt der
Elemente sein, da sie nur infolge des Zusammenhangs als diese oder
jene Empfindungen auftreten. Für die ursprüngliche Einheit des Bewußt-
seins spricht ferner der Totalitätszusammenhang, der in dem Vorgang der
Assoziation wirksam ist, wodurch die Vorstellungen unmittelbar mitein-
ander verknüpft werden, weil keine Vorstellung für sich allein existiert
Insofern nun Bewußtsein und Persönlichkeit nicht als Produkte gegebener
Elemente aufgefaßt werden können, andererseits aber ihr Wesen sich als ein
beständiges Zusammenfassen nicht anfänglich selbst erzeugter, sondern
gegebener Elemente dokumentiert, entsteht eine unauflösbare Antinomie.
So sehr aber auch die Psychologie den synthetischen Charakter des Be-
wußtseinslebens betonen mag, so ist sie doch nicht imstande, einen fertigen
Persönlichkeitsbegriff zu bilden. Sie kommt Uber Beobachten, Experimentieren
und Analysieren nicht hinaus. Darum bleibt der Persönlichkeitsbegriff stets
ein Problem.
Zu einem vollkommenen Verständnis im Gebiete des Bewußtaeinslebens
gehörte eigentlich der Nachweis eines ununterbrochenen Zusammenhangs aller
Elemente. Es müßten zu diesem Zweck die psychischen Tatsachen auf solche
Elementarvorgänge zurückgeführt werden können, von denen aus — wie im
Gebiet des Naturgeschehens — die Entwicklung der augenblickliehen Zu-
stände aus vorhergehenden und zukünftiger Zustände aus gegenwärtigen als
bloße äquivalente Umsätze zu deuten wären. Diesem Ziel Bteht die Diskon-
tinuität im Gebiet des psychischen Geschehens entgegen, die zum Ausdruck
kommt in unbewußten Zuständen: in Ohnmächten und traumlosem Schlaf,
sowie in den qualitativen Unterschieden zwischen den verschiedenen Ele-
menten des Bewußtseins. Zur Beseitigung dieser Diskontinuität stehen zwei
Wege offen: entweder man führt die psychischen Vorgänge auf physio-
logische zurück, oder man ergänzt die Lücken der psychischen Kausalreihe
durch hypothetische Verbindungsglieder.
Der erste Weg, der von Avenarius und MUnsterberg beschritten
worden, führt zur Aufhebung der Psychologie als Wissenschaft und ist um
deswillen verfehlt, weil auf demselben das Rätsel ungelöst bleibt, wie physio-
logische Zustände psychische Symptome haben und wie quantitative Gleich-
artigkeiten auf der einen Seite qualitative Ungleichartigkeiten auf der andern
Seite erzeugen können.
Der zweite mögliche Weg zur Beseitigung der Diskontinuität wird von
Höffding selbst betreten. Die Tatsache des festen Zusammenhangs des
Bewußtseinsinhaltes beim Erinnern und Vergleichen, dann aber auch die
innige Abbiingigkeitsbeziehung aller seelischen Regungen von einem höch-
sten Zweck, wie sie bei charakterfesten Persönlichkeiten deutlich hervor-
tritt, veranlassen den Verfasser, den Begriff einer potentiellen psychi-
schen Energie als Verbindungsbegriff einzuführen, einen Begriff, der nach
Analogie des physischen Energiebegriffs gebildet ist, aber nicht mehr aus-
drücken soll wie die Begriffe >Spur«, »Möglichkeit«, »Disposition«. Volle
Einsicht in den Zusammenhang von Physischem und Psychischem könne viel-
leicht dann gewonnen werden, meint Verfasser, wenn es möglich wäre, einen
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Literaturbericht.
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Energiebegriff zu bilden, ans dem sich der psychologische wie der natur-
wissenschaftliche Energiebegriff als spezielle Formen ableiten ließen. So ist
es schließlich die Identitätshypothese, welche am ungezwungensten das
innige Zusammengehören der physischen und der psychischen Reihe von Zu-
stünden verständlich macht Sie ist zugleich die eigentliche Arbeitshypo-
these beim psychischen und physiologischen Problem, indem sie die Auf-
gabe stellt, beide Reihen von Erscheinungen derart wissenschaftlich zu be-
arbeiten, daß jede von ihnen möglichst vollständig und kontinuierlich dar-
gestellt werde, wobei die Glieder der einen Reihe als Symptome von Gliedern
der andern Reihe zu betrachten sind (Parallelhypothese).
Überall aber, wo psychische Erscheinungen auftreten, wird psychische
Arbeit verrichtet, weil solche Erscheinungen stets eine Synthese voraus-
setzen, die in der Kombination der Bewußtseinselemente besteht Darum
erscheint der Willensbegriff als Begriff der psychischen Aktivität über-
haupt und bildet deshalb in der psychischen Reihe den Fundaniental-
begriff.
II. Das Erkenntnisproblem (logisches Problem). Verständnis der
Geschehnisse kann auf drei Arten gewonnen werden: 1) durch Aufsteigen
von den Erscheinungen zum Begriff, 2) durch Schlüsse aus Begriffs Verbindungen,
3) durch Herleitung der Erscheinungen aus andern Erscheinungen (Kausali-
tät). Aus der ursprünglich elementaren Form des Kausalitätsbegriffs, der
nur ein Sukzessionsverhältnis ausdrückt, entstand allmählich der ideale
Kausalitätsbegriff, welcher die Wirkung znr Fortsetzung der Ursache macht
und in seiner letzten Form in den Entwicklungsbegriff Ubergeht
Dadurch, daß ein erkenntnistheoretisches Prinzip dem psychischen Be-
dürfnis nach Einheit und Kontinuität der Erfahrung entgegenkommt, ist seine
objektive Gültigkeit noch nicht erwiesen; denn die Befriedigung jenes Be-
dürfnisses läßt sich auch in mythischer oder spekulativer Form ermöglichen.
Fundamentale Erkenntnisprinzipien müssen ihre Bedeutung nach zwei Rich-
tungen hin darlegen, nach der subjektiven und nach der objektiven Seite;
nach der subjektiven, insofern unser Bewußtsein keine seinem Wesen fremde
Erkenntnis zu gewinnen vermag, nach der objektiven, insofern die zn be-
arbeitenden Erscheinungen als dem Dasein Uberhaupt angehörig zu betrach-
ten sind. Die Prinzipien haben den Zweck, Verständnis gewinnen zu helfen.
»Djre Wahrheit besteht in ihrer Gültigkeit, und ihre Gültigkeit in ihrem
Arbeitswert« Der Begriff der Wahrheit ist ein symbolischer Begriff, da
er nicht Deckungsgleichheit sondern Beziehungsähnlichkeit zwischen den
Vorgängen im Dasein und der Auffassung in unserem Bewußtsein bedeutet.
Darum können wir unsere Gedanken mit dem absoluten Sein der Dinge direkt
nicht vergleichen.
Zwischen dem Dasein und unserer Erkenntnis besteht ein irrationales
Verhältnis, weil im sinnlich wahrnehmenden Subjekt die Qualitäten jeder-
zeit als unmittelbare Tatsachen bestehen bleiben, selbst wenn in der phy-
sischen Welt alle Qualitäten sich auf Quantitäten reduzieren ließen. Ähn-
liches gilt von dem idealen Kausalitätsbegriff, insofern mit dem Nachweis
eines Äquivalenz Verhältnisses zwischen Ursache und Wirkung unsere Erkennt-
nis nicht abgeschlossen sein kann, denn es kommt bei jenem Begriff nicht
bloß auf die Äquivalenz, sondern ebensosehr auf die Richtung der Ver-
änderungen an, weshalb eine kausale Abhängigkeit stets rationales und
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Literatarberich t.
Zeitverhältnis zugleich ist, indem ein Zustand nicht bloß ans, sondern auch
nach einem andern erfolgt
Die Erkenntnis, die wir vom Dasein gewinnen, ist selbst wieder ein
Teil dieses Daseins. Das Erkenntnisproblero wäre daher dann lösbar, wenn
ein Dasein mittels eines seiner Teile ausgedrückt werden könnte. Da dies
aber ausgeschlossen ist, so ist ein erschöpfender Wirklichkeitsbegriff nicht
möglich.
DU. Das Das ein spr ob 1 em (kosmologisches Problem). Infolge stetigen
Werdens unserer Erkenntnis ist eine vollendete Welttotalität nicht denkbar.
Der Umstand, daß die Erkenntnis als Teil des Daseins unfertig ist, konnte
damit in Verbindung etehen, daß die Welt in gleicher Weise in beständigem
Wachsen und Fortschreiten begriffen wäre wie Erkenntnis und Persönlich-
keit selbst Jeder Versuch einer Weltanffassung bedarf einer Analogie,
welche darin besteht, daß ein einzelnes uns zugängliches Gebiet benutzt
wird, um die Totalität des Daseins dadurch auszudrücken. Die Erscheinung,
auf welche sich diese Analogie gründet, kann als das Urphänomen be-
zeichnet werden. Als Urphänomen kann dienen das Leben, das Denken oder
die Materie. Die dogmatische Metaphysik bedient sich eines solchen Ur-
phänomens, ohne dasselbe zuvor wissenschaftlich untersucht zu haben. Ist
nun anch die Wahl desselben stets von persönlichen Momenten abhängig,
so darf es zum Aufbau eineB metaphysischen Systems nur benutzt werden,
wenn es kritisch beleuchtet ist, und wenn zugleich ein reichhaltiger wissen-
schaftlich durchgearbeiteter Stoff zur Verfügung steht.
Was ferner das Dasein selbst betrifft, so muß eB bis zu einem gewissen
Grade unserm Verständnis zugänglich sein, denn andernfalls vermochten wir
uns mit unsere Fähigkeiten und Methoden nicht in der Welt zu orientieren.
Da nun jedes Verständnis aber nicht bloß selber in einem inneren Zusammen-
hange besteht, sondern anch einen solchen in den Dingen voraussetzt, anf
die es sich erstreckt, so folgt daraus, daß auch im Dasein eine innere Einheit
vorhanden ist Diese Einheit im Dasein nötigt uns, die alles verbindende
Kausalität als ein Urphänomen anzunehmen, welche Annahme der Vielge-
staltigkeit der Formen des Daseins nicht widerspricht, wenn man mit dem
Kritischen Monismus im Dasein eine kämpfende Einheitsgewalt vorans-
Betzt, welche durch fortschreitende Entwicklung über das Sprunghafte und
Widerstrebende hinwegfuhrt. Offen bleibt natürlich die Frage, ob die als
wirklich angenommene Entwicklung des Daseins als ein rhythmisches Wieder-
kehren früherer Formen oder als ein Fortschreiten zu größerer Vollkommen-
heit zu denken sei. Bei der positiven Bestimmung des Einheitsprinzips ent-
steht der Zwiespalt zwischen Materialism ub und metaphysischem Idealie-
mus. Die beiden Richtungen entspringen dem Versuch, den Totalzusammen-
hang im Dasein entweder durch Analogie mit dem räumlich Aasgedehnten
oder durch Analogie mit den geistigen Erscheinungen zu erklären. Die
Schwierigkeit der Frage besteht darin, daß unsere Erfahrung uns überhaupt
nicht Elemente genug zur Lösung des Daseinsproblems bietet Der Kritische
Monismus sucht daher die Unlösbarkeit des Problems darauf zurückzuführen,
daß er eine Grandeigenschaft des Daseins annimmt, die wir nicht kennen.
Wäre sie uns bekannt, so würden wir auch vielleicht verstehen, wie aus
dieser Grundeigenschaft sowohl Geist als Materie entspringen.
Das Unvollendete des Daseins weist uns schlieOlich anf eine Ethik hin.
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Literaturbericht
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War« das Dasein fertig, bo wäre eine Ethik überflüssig. Denn alle Ethik
verlangt eine Arbeit, für welche in einer ewigen Vollkommenheit keine
Stelle wäre.
IV. Das Wertungsproblem (ethisch-religiöses Problem). Was eine Be-
friedigung herbeiführt oder einem Bedürfnis abhilft, besitzt Wert Indem
es erstrebt wird, bildet es einen Zweck. Die Norm aber ist die Tätigkeit,
welche zur Erreichung des Zwecks dient. Damit postuliert Höffding ein
der Kant sehen Ethik entgegengesetztes Verhältnis der Begriffe Zweck, Wert,
Norm. Die Werte können individuell und zeitlich verschieden sein. Bei der
Abschätzung der Werte gegeneinander ergibt sich die Notwendigkeit, analog
dem Begriff des Urphänomens im Daseinsproblem einen Grundwert auf-
zustellen. Dieser Grundwert hängt davon ab, je nachdem man im indi-
viduellen Leben die Lebenstotalität oder das Recht der einzelnen
Augenblicke und Triebe betont — oder im sozialen Znsammenleben die
Selbstbehauptung oder die Hingebung an die Spitze stellt Ein dem
Einheitsbedlirfnis der Persönlichkeit entsprechender Ausgleich zwischen dem
Widerstreit der Totalität des Lebens und dem augenblicklichen Triebe ist
dadurch möglich, daß jeder Augenblick und jede Fähigkeit den angemesse-
nen Platz und das gebührende Recht erhält, so daß kein Element des per-
lichen Lebens nur als Mittel, sondern auch zugleich als Zweck betrachtet
wird, jedoch in stetem Hinblick auf den Totalzusaminenhang. Die gleiche
Harmonie (Gerechtigkeit) läßt sich zwischen der individuellen und der sozialen
Lebenstotalität erstreben. Ein logisches Hinüberfuhren eines Grundwertes
zu einem andern ist nicht möglich. Es sind psychologische und geschicht-
liche Bedingungen, welche den Grundwert bestimmen; und es können daher
auch die ethischen Forderungen nicht als allgemein geltende Gesetze auf-
gestellt werden, sondern es ist eine Individualisierung derselben vorzunehmen,
damit die Ethik sich nicht selbst an ihrem Satz versündige, daß die Persön-
lichkeit stets Zweck, niemals bloß Mittel sei
Die Diskontinuität und das Verlorengehen so mancher Werte im Leben
bedingen psychologisch die Religion. Sie besteht in einem Glauben an
die Fortdauer der Werte trotz ihres empirischen Untergangs. Das Haupt-
Bächliche der Religion ist nicht ein intellektuelles, sondern ein Gefühls- und
Willensinteresse. Der Glaube an die Kontinuität der Werte besitzt insofern
selbst einen Wert, als er den Mut des Menschen stärkt und den Ansporn
gibt neue Werte für verloren gegangene zu suchen.
Indem so alle vier philosophischen Probleme sich als unlösbar erweisen,
finden wir trotzdem einen Weg, der vorwärts führt insofern die Diskonti-
nuität in der Erfahrung unserm Forschen und Denken stets neue Horizonte
eröffnet neue Aufgaben stellt und es neue Zwecke finden läßt
J. Köhler (Rehbach).
3} H. Thoden van Velsen, System des religiösen Materialismus. I. Wissen-
schaft der Seele. X, 467 S. gr. 8<>. Leipzig, 0. R. Reisland in Komm.,
1903. M.9.-.
Das Resultat oder, besser gesagt der Kernpunkt vorliegender phsycho-
logischer Darstellungen wird auf S. 1 so angegeben: »{Die Seele) ist ein Wesen,
das aus zwei andern Wesen zusammengestellt ist, nämlich dem bewußten.
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Literaturbericht.
fühlenden, denkenden, wollenden Geiste und einem den Geiat umringenden
Wesen, dem Gedächtnis, daa von den zentralen Regionen des Nervensystems
derartig bewegt wird, daß es Bilder empfängt, dieGeistesbilder heißen können«.
In einem späteren Teil des Buches wird dann weiter ausgeführt: »Lehrt uns
dieErscheinungswelt, daß Tätigkeiten, Bewegungen immer Wesen voraussetzen,
die bewegen, dann müssen auch unsere Tätigkeiten Fühlen, Denken, Wollen,
Bewußtsein ein oder mehrere Wesen voraussetzen, die tätig sind« (S. 384).
Dieses Wesen ist der Geist oder das Ich, und die folgenden Paragraphen
sollen »beweisen« die Einheit, Ungeteiltheit, Selbständigkeit und Iden-
tität dieses Geistwesens; es »ist ein Atom von beschränkter Größe«
(446), also materiell. Ebenso ist das Gedächtnis »wesentlich«, d. h. materiell-
stofflich (413), ja, es ist »körperbildend«, »die wahre matrix der Körperteile«,
»weil es die Begriffe unserer Körperteile bewahrt« (433); es hat »höchstwahr-
scheinlich eine sphärische Form« und ist unveränderlich in seinem Wesen. —
Aber auch die Vorstellungen nnd Begriffe (letztere als Gruppierungen ähnlicher
Vorstellungen) haben »Länge, Breite und Tiefe« (424), sie sind ebenfalls
stofflich-materiell. Natürlich wohnt diese aus zweierlei Stoffen zusammen-
gesetzte nnd mit einer »bestimmten, absoluten Größe« begabte Seele »irgend-
wo im Gehirn« (426).
Ein Hauptargument für die Materialität und Ortlichkeit der Vorstellungen
(bzw. Begriffe) ist dem Verf. die Verdunkelung, »Überschattung« gewisser Vor-
stellungen durch eine oder einige andere, im natürlichen und hypnotischen
Schlaf oder bei gewissen geistigen Erkrankungen. Dieser Gedanke der Über-
schattung wird originell-interessant in der Anwendung auf die Erscheinung
des Todes (im 6. Teil des Buches) : Der Tod ist von psychologischem Stand-
punkte aus nichts anderes als eine Vorstellung, die wie jede andere inten-
sive oder andauernde Vorstellung langsamer oder schneller die übrigen Vor-
stellungen Uberschattet, wie es im Schlafe und ähnlichen Zuständen auch
geschieht Doch wird der Tod, oder vielmehr die bestimmte alles überschattende
Vorstellung gewiß auch nicht dauernd die Welt der übrigen Vorstellungen ver-
dunkeln, sondern die Seele wird, da ihre Vorstellungen und Begriffe körperbildend
sind, sich einen neuen Leib bilden, nachdem sie »wahrscheinlich« einen andern
Weltkörper aufgesucht, um dort ihre Arbeit fortzusetzen; die spiritistischen
Erscheinungen sind dann vielleicht Wirkungen von einem andern Planeten
aus »mittels Elektrizität ohne Draht« (466). — Man denkt bei diesen letzten
Erörterungen bisweilen an Fechners metaphysische Schriften, zumal anch
die Diktion daran erinnert und etwas Ergreifendes hat
Reich ist das Buch übrigens an historischen Überblicken nnd Kritiken.
Die letzteren sind freilich mitunter recht sonderbarer Art Ein Beispiel für
mehrere: Wundts Definition der Freiheit (in Ethik, Abschn. III, Kap. I,
S. 397 ff.): »Freiheit ist die Fähigkeit eines Wesens, durch selbstbewußte
Motive unmittelbar in seinen Handlungen bestimmt zu werden. Daa Gegen-
teil der Freiheit ist Zwang, welchen wir Uberall da voraussetzen, wo die un-
mittelbaren Ursachen des Handelns außerhalb des Selbstbewußtseins liegen,«
wird mit folgenden Argumenten abgewiesen : »Das Vermögen zur Freiheit und
die Freiheit sind Begriffe verschiedener Bedeutung. Wir haben das Vermögen
zu tanzen, deshalb tanzen wir aber noch nicht« (247). » Von Willensentwicklung
kann keine Rede sein . . . Wille ist einfach ein Begriff, n. zw. ein Artbegriff . . .
der die Vorstellungen unserer Fähigkeiten Wollen in sieb faßt« (249). Dies
gegen Wundts Erklärung vom Bewußtsein seiner selbst: »der eigenen, durch
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Literaturbericht.
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die vorangegangene Willensen twicklung bestimmten Persönlichkeit bewußt
sein.« — Endlich S. 253, es sei doch unrichtig, zu behaupten: Freiheit sei
Bestimmtheit; >wenn ich von einer Passion frei bin, bin ich doch von dieser
Passion nicht bestimmt«. Dem gegenüber stellt der Verf. seine Definition:
»Freiheit ist ein Begriff, der die Vorstellungen vieler Tätigkeiten Nichtwollen
(verneinen, trennen) zusammenfaßt Unser Begriff ist also zuerst negativ. Daß
ich etwas nicht will, daß ioh etwas abweise, dadurch werde ich frei. Ich
vrül keine Külte. Ich will keine Menschenvergötterung. Ich entferne die
Vorstellung des Hasses von mir. Ich verneine meinen Freund. Dadurch bin
ich frei« (263 f.). Als ob die beiden Definitionen einen gemeinsamen Gegen-
stand hätten! — Weiter unten heißt es: »Die Fähigkeit, bestimmter Vor-
Stellungen bewußt zu sein, und das Aufhören damit beweist das Wählen des
Geistes, seine Freiheit« (279) und S. 288: der Geist »wählt die Motive. Er
steht ihnen selbständig gegenüber« usw.
Es wäre wohl zu wünschen, daß die auf vorliegenden psychologischen
Präliminarien sieh aufbauende ReligionsphiloBophie strikter im Beweisen und
strenger in der Gedankenführung wäre, wenn sie etwas anderes sein will als
ein religiöses Glaubensbekenntnis. C. Vogl (Leislau).
4) P. H. Siewers, Mechanismus und Organismus. Ein Versuch zur Er-
klärung der LebenBtätigkeit 40 S. gr. 8°. Essen a. d. Ruhr,
G. D. Bädeker, 1904 M. 1.20.
Der Verfasser sucht mit Hilfe mathematischer Kombinationen das DaBeins-
problem zu lösen. Nach dem Vorgange Kants nimmt er Kraftzentren an,
in denen zwei entgegengesetzte Kräfte, die Anziehungskraft + * und die
Abstoßungskraft — &, tätig sind, außerdem aber noch eine dritte Kraft, die
Triebkraft p, wirkt, und zwar so, daß ihre Wirkung jenen beiden Kräften
gleichzeitig entgegengesetzt ist und mathematisch der Proportion Genüge
leistet:
4- k : p : = p : — k.
Aus dieser Gleichung folgt:
!»-•*,
d. h. p ist eine imaginäre Kraft. Nichtsdestoweniger soll diese Größe sehr
reell sein. Denn gerade sie soll — als imaginäre Kraft — den Unterschied
zwischen Lebendigem und Leblosem bedingen. Solcher Unmöglichkeiten
enthält die Schrift trotz ihres geringen Umfangs noch viele, so daß sie mehr
als Spielerei mit momentanen Einfällen denn als ernste philosophische
Leistung zu betrachten ist. J. Köhler (Rehbach).
5) Dr. Ch. H. Judd, Einige Erscheinungen des binokularen Sehens. The
Psychological Review. 1897. Vol. IV, 4. p. 374—390.
Es war interessant zu untersuchen, wie sich bei unveränderter Akkom-
modation der Augenlinsen, aber veränderlicher Konvergenz der Augenachsen
die Empfindung des binokularen Sehens gestaltet Der zur Untersuchung
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Literaturbericht.
verwandte Apparat bestand aus zwei ebenen Spiegeln, die unter verschiede-
nen Winkeln gegeneinander geneigt werden konnten. Zuerst konvergierten
die Augen auf das Bild eines leuchtenden Punktes bei der Lage der beiden
Spiegel in einer Ebene. Es wurden dann die ßpiegel in der einen oder andern
Richtung gegeneinander geneigt und wieder der Bildpunkt fixiert Die Akkom-
modation der Augenlinsen bleibt dabei unverändert, die Konvergenz der
Augenachsen ist aber größer oder kleiner geworden. Bei größerer Konver-
genz der Augenachsen erseheint der Punkt näher, bei kleinerer dagegen
weiter. Bei der Anwendung eines leuchtenden Objektes statt eines leuch-
tenden Punktes scheinen die Dimensionen de« Objektbüdee bei näherer
Entfernung kleiner, bei weiterer dagegen größer zu sein.
DieBe Untersuchungen erlauben zu schließen, daß die scheinbare Größe
des Objektes von der Kombination des Sehwinkels und der Entfernung des-
selben abhängig ist, wobei die letzte zum größeren Teile durch die Empfindung
der Konvergenz der Augenachsen als durch die der Akkommodation der
Augenlinsen gegeben ist F. Biske (Zürich).
6) Dr. med. Loeser, Ober den Einfloß der Dunkeladaptation auf die spezi-
fische Farbenschwelle. Zeitschr. f "Psych, u. Physiol. d. Sinnesorgane.
1904. 36. S.l— 18.
*
Es war interessant, die Abhängigkeit der Farbenschwelle vom Adapta-
tionszustand zu untersuchen. Dazu wurden die Versuche mittels eines camera-
artigen Apparates mit zwei Irisblenden angestellt, wobei ein bestimmtes
farbiges Licht der einen Blende, mit einem farblosen der andern verglichen
werden konnte. Die Schwellenbestimmung gestaltete sich in der Weise, daß
die beiden Blenden so weit geüffnet wurden, bis die eine mit Sicherheit als
die farbige erkannt werden konnte, ohne daß es möglich war, durch weitere
Öffnung der andern Blende, also durch Vermehrung der Helligkeit den Farben-
unterBchied wieder auszugleichen. Die Intensität der Farbe war dann dem
Quadrat des Blendendurchmessers proportional.
Für den allgemeinen Typus der adaptiven FarbenempfinoUichkeitsänderung
ergibt sich aus den Versuchen folgendes: Schon in den ersten Bruchteilen
einer Minute vom Moment guter Belladaption ab tritt eine bedeutende Zu-
nahme der Farbenempfindlichkeit ein, die nach etwa 10 Minuten ihr Maxi-
mum erreicht, dann allmählich abnimmt, und nach etwa 46 Minuten wird ein
definitiver Zustand erreicht wo die Farbenempfindlichdeit keine größeren
Veränderungen mehr erleidet. In quantitativer Beziehung bestehen für die drei
untersuchten Farben: Rot Grün und Blau gewisse Differenzen, indem die
Farbenempfindliohkeit, nachdem sie ihr Maximum erreicht hat mit der fort-
schreitenden Dunkeladaptation am wenigsten abnimmt für Rot, etwas mehr
für Grün und am meisten für Blau. F. Biske : Zürich i.
7) J. Franklin Messenger, M. A., Die Wahrnehmung der Zahl. The
Psychological Review. 1903. Nr. 22. p. 1—44.
Wie kommt man zur Erkenntnis, wieviel Objekte man sieht wenn man
sie alle auf einmal wahrnimmt? Der Prozeß der Erkenntnis ist feigen der:
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Literaturbericht.
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1) Die Wahrnehmung des unteibaren Ganzen, 2) die Zerlegung de» Ganzen
in seine Teile, 3) die Assoziation der Teile mit der bekannten Zahlenreihe.
Die Bezeichnung der Zahl, ebenso wie anderer Qualitäten, ist der Name
fttr eine gewisse Eigenschaft, nämlich die Zerlegbarkeit in bestimmte Teile
des Objektes. F. Biske (Zürich).
8) L. Luciani, Physiologie des Menschen. Übersetzt und bearbeitet von
S. Baglioni und H. Winterstein. Mit einer Einführung von
M. Verwbrn. 1. u. 2. Lieferung. 8. 1—322. Jena. Gustav Fischer,
1904. Jede Lieferung M. 4.-.
In ungefähr 12 Lieferungen Boll Lucianis »Physiologie des Menschen«
in der deutschen Übersetzung erscheinen; die beiden ersten Lieferungen im
Umfang von 322 Seiten liegen vor. Es wird sieh also, wenn die Ausgabe
▼ollendet ist, eher um ein Handbuch als um ein bloßes Lehrbuch der Physio-
logie handeln, und dem entspricht es, wenn der Verfasser sein Publikum
weniger unter den Studierenden als unter den fertigen Ärzten sucht, denen er
die Gelegenheit bieten wilL sich über den momentanen Stand irgendwelcher
Spezialfragen aus der Physiologie deB Menschen zu orientieren. In der Tat
wird das Werk diese Aufgabe erfüllen, wenn in den folgenden Lieferungen
dieselbe Gründlichkeit zum Ausdruck kommt, mit der in den zwei ersten die
Physiologie des Blutes und des Kreislaufs behandelt ist — Ich will an dieser
Stelle kein genaues Referat nnd auch keine eingehende Kritik über das bis-
her Gebotene geben, sondern will nur einiges hervorheben, was für das Buch
besonders charakteristisch und was für den Psychologen von besonderem Wert
ist Erstens scheinen mir sehr charakteristisch die lebensvollen, fesselnden,
belehrenden Darstellungen der Historie der Physiologie des Kreislaufs (nnd
der Atmung, welche der Darlegung der heute geltenden Lehren eingefügt
sind. Zweitens sehe ich einen großen Vorteil in der Fülle der Abbildungen,
zumal der graphischen Darstellungen von Vorgängen. Freilich ist zu sagen,
daß eine ganze Anzahl von Figuren technisch auffällig hinter dem zurück-
bleibt, was wir heute in Büchern zu sehen gewohnt sind, z. B. die Figuren 26,
34, 64, 148. Drittens findet der Psychologe, welcher Versuche über die
Zirkulation des Menschen zu unternehmen wünscht, die dazu dienenden Apparate,
die verschiedenen Sphygmomanometer, Sphygmographen, Plethysmographen
beschrieben und auch kritisiert. Vorangestellt ist dem Ganzen auf etwa
60 Seiten eine »allgemeine Physiologie«, d. h. es werden einzelne prägnante
Erscheinungsweisen der Ernährung, des Stoffwechsels, der Erregbarkeit aus
dem gesamten Organismenreich hervorgehoben. Meiner Meinung nach ist
mit solch einer Einleitung für das Verständnis der menschlichen Physiologie
nichts gewonnen. Will man durchaus durch eine Einführung die Physiologie
des Menschen als einen Spezialteil der Physiologie »an sich«, der Lehre vom
Leben, abgrenzen, so soll man sagen, was den Lebensprozeß gegenüber
andern Prozessen charakterisiert, man soll ihn von den Phänomenen der toten
Natur scharf zu unterscheiden versuchen, anstatt daß es, wie hier und anders-
wo, von vornherein heißt: das Leben ist gekennzeichnet durch den Stoff-
wechsel, den Kraftwechsel, die Erregbarkeit, die Fortpflanzung, Funktionen,
für die man dann einige Beispiele herzählt, die den Namen »allgemeine
Physiologie« bekommen. R. Hüber (Zürich).
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Literaturbericht.
9} J. Breuer, Studien Uber den Vestibularapparat Sitzuugsber. der
Kaiserl. Akad. d. Wiss. in Wien. Mathem.-naturwiss. Klasse. Bd. 112,
Abt. III. Sitzung vom 6. Novbr. 1903. — 80 S., 2 Taf.
Den Hauptinhalt der Schrift bilden anatomische und physiologische
Untersuchungen, die die Auffassung des Vestibularapparates als Organ der
Lage- und Bewegungsperzeptionen von neuem bekräftigen; den Schluß bildet
eine Verteidigung der Auffassung gegen Hensens Einwände.
Das erste Kapitel enthält Daten Uber die Anatomie der Bogengänge und
deren Deutung im Sinne der Theorie. Dieser Theorie zufolge bilden Winkel-
bcschleunigungen den Reiz der Crlstae acnsticae, die Reizeffekte sind Empfin-
dungen von Winkelgeschwindigkeiten, welche den Reiz Uberdauern; die Er-
regung der Cristae kommt zustande durch Verschiebung der Endolymphe.
Unerklärt blieb bisher die Nachdauer der Empfindung Uber die Zeit des
Bewegungsreizes hinaus, nachdem die ursprüngliche Erklärung, die Endo-
lymphe ströme entsprechend ihrer Trägheit noch eine Zeitlang nach dem
ersten Bewegungsanstoß weiter, wegen der Engigkeit der häutigen Bogen-
gänge und entsprechend großer Reibung der Endolymphe an den Wandungen
fallen gelassen war.
Breuer zeigt nun, daß die Haare der Sinnesepithelien an den Cristae
untereinander durch eine Zwischenmasse zu der oft bestrittenen und als
Kunstprodukt bezeichneten »Cupula terminalis« wirklich verbunden sind.
Frei von Zwischenmasse bleiben die Haare nur an ihren Ursprüngen aus den
Epithelien. und daher bildet die Cupula eine Platte, welche von der Crista
durch einen schmalen, nur von den untersten Haar stücken durchzogenen
Zwischenraum getrennt ist und so auf diesen HaarstUcken schwebt. Dadareh
kann die Cupula als Ganzes von der bewegten Endolymphe verschoben wer-
den, indem die Haarträger sich biegen. Sie zerren dabei an den Neuro-
epithelien, und wenn man sich vorstellt, daß die Elastizität der Ilaare be-
schränkt ist, so wird es begreiflich, daß die Erregung der Epithelien durch
Zerrung unter allmählicher Abnahme so lange nachdauern muß, bis durch die
vorhandenen elastischen Kräfte die erfolgte Durchbiegung der Haare wieder
völlig ausgeglichen ist.
In der Engigkeit der Bogengänge, die die Ausgiebigkeit der Endolymphe
bewegung stark beschränkt, sieht Breuer einen Schutz für die nur lose be-
festigte Cupula, die leicht durch heftige Strömungen losgerissen werden
könnte, und so findet er es begreiflich, daß die Bogengänge keineswegs
der Größe der Tiere proportional an Lumen gewinnen, sondern stets relativ
eng bleiben.
Die Cristae sind zum Teil äußerst kompliziert gebaut, ebenso die Am-
pullen und Bogengänge; es ist darüber sowie Uber die physiologische Be-
deutung des Baues im Original nachzulesen.
Im zweiten und dritten Kapitel sind physiologische Experimente be-
schrieben. Es wird die für die Theorie des Vestibularapparates sehr wichtige
Angabe von C. J. König Uber den Effekt der Kokainisierung der Bogengänge
bestätigt: durch lokale Kokainisierung lassen sich bei Tauben ohne Ver-
letzung die häutigen Bogengänge ausschalten, und das Resultat der Vergiftung
ist das gleiche wie nach Exstirpation, nämlich Pendeln des Kopfes und ge-
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Literatarberieht.
93
^wisse Gangstörungen. Breuer zeigt nun ferner, daß auch die »galvano-
tropische Reaktion« (galvanischer Schwindel) durch die Kokainisierung ver-
loren geht, nnd daß hei einseitiger Anästhesie dieselbe allmähliche Kopf-
drehung um 180° zustande kommt, die für einseitige Labyrinthexetirpation
charakteristisch ist Die gewohnliche galvanotropische Reaktion, Seitenneigung
des Kopfes zur Anode von der Kathode fort, bezieht sich auf das ganze
Labyrinth; isolierte Reizung einzelner Ampullen ist nur schwer möglich;
dennoch gelingt es Breuer, festzustellen, daß sich durch Reizung der
Ampulla externa horizontale Kopfwendung erzielen läßt.
Im vierten Kapitel setzt sich Breuer mit Hensen auseinander, indem
er dessen einzelne Einwände gegen die Lehre vom statischen Sinne Punkt
für Punkt kritisiert. R. Hüber (Zürich).
10) Dr. Hermann Schneider, Die Stellung Gassendis zu Descartes.
67 S. Leipzig, Kommissionsverlag der Dürrschen Buchhandlung,
1904. M. 1.60.
Verfasser bietet unter den Titeln: 1. Lebenslauf. 2. Discours und Exercita-
tiones paradoxicae. 3. Meditationes und Disquisitio metapbysica. 4. Psycho-
logie. 5. Ethik. 6. Physik — eine vergleichende Charakteristik der genannten
Denker, die in ihrem Resultat von der geläufigen Auffassung nicht wesent-
lich abweicht. Die flüssig geschriebene Arbeit bemüht sich meist erfolgreich,
den allgemeinen Gefahren dieser — als Dissertationsthemen immer noch reich-
lich beliebten — Gegenüberstellungen verwandter oder zeitgenössischer Geister
aus dem Wege zu gehen. Nur an einem Hauptpunkt scheint der Autor der
Versuchung: Unterschiede in Gegensätze umzudeuten und künstliche Be-
ziehungen zu konstruieren, unterlegen zu sein, indem er, unter Vernach-
lässigung der kritischen Tendenz des methodischen Skeptizismus Descartes1,
diesen, als dogmatisch, in Kontrast zu dem relativen Skeptizismus Gassendis
setzt Demzufolgo soll dann im Widerspruch zu ausdrücklichen Aufstellungen
Descartes1 nicht nur das Gewißheitskriterium der clara et distincta percep-
tio, sondern auch die idea Dei (ohne die kein [Zweifel und daher auch keine
Erkenntnis möglich sei) der ersten, grundlegenden Einsicht des lumen natu-
rale, nämlich der Selbstgewißheit des Denkenden (cogito, sum) als dogmatische
Voraussetzung dienen. Umgekehrt erhält vielmehr das Gewißheitskriterium
erst aus der Unmittelbarkeit der intuitiven Selbsterkenntnis seine Würde,
während Gott, weit entfernt die erste Gewißheit erschüttern zu können, erst
nachträglich als Stütze der Richtigkeit der erkenntnistheoretischen Erörterung
auftritt Nicht Descartes, welcher die logische Evidenz des 1. n. von der
klaren und anschaulichen Evidenz mathematischer Einsicht wohl zu trennen
weiß {vgl. Desc. ed. Cousin 2, 293), scheint hier einen zwiespältigen Begriff
von der cogitatio zu besitzen. Die Lehre von den ideae innatae Ubernimmt
der Verfasser in der zu weit gehenden Fassung (als fertig eingeborener Be-
wußtseinsinhalte) der Med., ohne Berücksichtigung der einschränkenden Er-
läuterungen in den Briefen und Responsionen.
Dr. Fr. Rose (Zürich).
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94
Literaturbericht.
11) Hans Lindau, Unkritische Gänge. VTII, 192 S. 80. BerKn, Egon
Fleischet u. Cie., 1904. M. 2.-; geb. M. 3.-.
In »einem Vorwort bemerkt der Verf. zur Rechtfertigung des Titels
»unkritische Gänge«, daß er mehr auf Erweckung von Lust und Liebe zu
den besprochenen Dingen ausgehe »als auf verstandesmäßige Sonderung und
Regelung ihrer schwachen Seiten«. Man wird ihm darin beistimmen, >daß
diesem Verfahren ein ebenso sicheres Daseinsrecht zukommt«, wie den un-
vermeidlichen »kritischen Gängen« durch die Literatur. In dem vorliegenden
Bande bietet nun Hans Lindau Essays Uber Philosophen, Historiker und
verschiedene Schriftsteller der Gegenwart. Zuerst wird Kurd Lasewitz
gewürdigt, Lindau sucht in ihm vor allem die seltene Vereinigung dichte-
rischer und philosophischer Begabung in das rechte Licht zu rücken. Es folgt
Wilhelm Bölsche, den Lindau den unermüdlichen Erzieher zum Natur-
genuß nennt, richtiger wäre es vielleicht gewesen, die hervorragende Bega-
bung B (Usch es für Popularisierung auch schwieriger moderner naturwissen-
schaftlicher Theorien zu betonen. In dem nächsten Essay »Der Genuß der
Sprache« wird Mauthners Werk in etwas zn unkritischer Weise gelobt.
Es folgt eine vortreffliche Charakteristik von Lamprechts deutscher Ge-
schichte, eine ebenso verständnisvolle wie liebenswürdige Charakteristik von
Paulsen, und ein ästhetischer Essay Uber Adolf Wilbrandt Ein glück-
licher Griff Lindaus war es, Jules Case und Anatole France zn be-
handeln. Diese beiden französischen Schriftsteller verdienen es, dem weiteren
deutschen Publikum bekannt zn werden. Zuletzt wird Nicole als ein Apostel
des Friedens besprochen. E. Heumann (Zürich).
12] Jos. W. Nahlowsky, Das Duell, sein Widersinn und seine moralische
Verwerflichkeit Zweite Auflage. 39 S. Langensalza, Herrn.
Beyer u. Söhne, 1904. M. —.00.
Schon der Titel sagt, welchen Standpunkt der Verf. zur Duellfrage ein-
nimmt, er verwirft das Duell als logisch widersinnig, weil es gar kein Mittel
zur Ehrenrettung sei, nnd als nnmoralisch. Nahlowsky empöehlt, nach-
dem er das Duell vor dem Forum des praktischen Verstandes und vor »dem
obersten Gerichtshof der Moral« betrachtet hat, eine Anzahl direkter und
indirekter Mittel zur Bekämpfung des Duellunwesens.
E. Meumann (Zürich).
13) Ch. Brunot, Untersuchung über die soziale Solidarität als Prinzip der
Gesetze. Seanc. et Ar. de l'Acad. d. sc. mor. et pol. 1903.
63. An. pag. 305—364.
Die Hauptidee ist die folgende: Alles, was jemand erreicht hat, was er
besitzt, verdankt er der Gesellschaft; folglich ist ein jeder moralischer Schuld-
ner der Gesellschaft, die das Recht hat, von ihm die Schuld zu verlangen,
nicht aber sie nur als Gnade zu erhalten. Die Anhänger dieser Idee
suchen Garantie gegen die soziale Ungerechtigkeit, um die Gesellschaft vor
Zerfall zu bewahren. F. Biske (Zürich).
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Literaturbericht.
14) Theos ophischer Wegweiser, Monatsschrift zur Verbreitung einer
höheren Weltanschauung und zur Verwirklichung der allgemeinen
Menschenverbrüderung. — Hedaktion: A. Weber, Leipzig. —
Probenummer aus dem V. Jahrgang).
Referent hat geduldig von jeder der etwa 30 Seiten des Heftchens
Kenntnis genommen, sich also der Reihe nach »vertieft« in: Denkwürdige
Aussprüche des brahminischen Philosophen Rainakriachna. — Die Religion
der Erkenntnis. — Buddha als Sämann. — Etwas aus Leo Tolstois Tage-
buch. — Das Kind und seine Erziehung. — Die zwei Asketen. — Auf der
Höhe (Theosophisches Gedicht). Das unverkennbar ernste pädagogische
Streben der meisten Mitarbeiter nach »Veredlung«, »Aufklärung«, »Verwirk-
lichung des Kulturideals der geistigen Menschenverbrliderung« in allen
Ehren, doch fiat justitia! Wissenschaftlich ernst zu nehmen sind der-
artige Darbietungen, in denen die Anschauungen morgenländischer Togis
and abendländischer Mystiker grundlegend zu sein scheinen, doch nicht.
Im Übrigen mag folgender kleine Ausschnitt aus dem spezifisch pädagogi-
schen Artikel den Geist des Ganzen bezeugen : »Die(se) okkulte Psychologie,
welche die Präexistenz und Wiederverkörperung der Menschenseele lehrt,
erklärt uns das Wesen des Kindes und erhöht außerordentlich unsere Achtung
vor ihm. Sie unterrichtet uns darüber, daß die Kinder nicht die Geschöpfe
ihrer Eltern sind. Die Eltern tragen nur zum Aufbau des Körpers des Kindes
bei. Die Funktion der Mutter vor der Geburt ist ebenso wie nach der Ge-
burt, wenn die Mutter das Kind ernährt, nur Ernährung, nicht Erschaffung.
Die Kinder sind nicht innerlich unmündige Wesen, sondern Menschenseelen,
welche schon viele Kulturperioden durchlebt und viele Erfahrungen gesam-
melt haben. Sie haben schon oft einen erwachsenen Körper gehabt.«
Sapienti sat! Dr. E. Ebert (Dresden).
15) Geheimwissenschaftliche Vorträge zur Einführung in die
okkulte Philosophie. Herausgegeben von Arthur Weber,
Leipzig.
a. Heft 5 : Karma, das Gesetz der Wiedervergeltung und Har-
monie im Weltall.
b. Heft 6: Der verlorene Sohn. (Ev. Lucae 15).
c. Heft 7: Die Lebendigen und die Toten.
(Verf. aller drei »Vorträge«: H. Rudolph).
Traktätchen, aus demselben Geist und demselben ethischen Bestreben
hervorgegangen wie der eben charakterisierte »Theosophische Wegweiser«,
— Materien, die besser in Annalen apokrypher Wissenschaften eingehend
besprochen werden. Dr. E. Ebert (Dresden).
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96
Literaturbericht.
16) Philosophische Bibliothek, neu herausgegeben von dem Verlag der
Dürrschen Bachhandlang, Leipzig, 1904.
Bd. 3: Aristoteles1 Metaphysik, Ubersetzt and mit einer Ein-
leitung and erklärenden Anmerkungen versehen von Dr. theol.
Eng. Rolfes. Zweite Hälfte. Buch Vm. bis XIV. M. 2.50.
Bd. 43: Immanuel Kants Logik. Ein Handbuch zu Vor-
lesungen, (zuerst) herausgegeben von Gottlob Benjamin Jäsche,
Dritte Auflage. Neu herausgegeben, mit einer Einleitung, sowie
einem Personen- uud Sachregister versehen von Dr. Walter
Kinkel. M. 2.-.
Bd. 69: 6. W. v. Leibniz, Nene Abhandlangen Uber den
menschlichen Verstand. Ins Deutsche Ubersetzt, mit Einleitung,
Lebensbeschreibung des Verf. und erläuternden Anmerknngen ver-
sehen von C. Schaarschmidt Zweite Auflage. M. 6.— .
Wir haben die gegenüber den früheren v. Kirchraannachen Aasgaben
zum Teil sehr wesentlich verbesserten Werke der Dürrschen Philosophi-
schen Bibliothek schon früher hier ausführlicher besprochen (vgL dieses
Archiv Bd. IU, Heft 4) ; es sei deshalb hier nur kurz darauf hingewiesen,
daß die obenerwähnten drei neuen Bände in dem gleichen Sinne aufgefaßt
werden müssen, nur der Leibnizband scheint ein einfacher Wiederabdruck zu
sein. Die Logik Kants ist von Kinkel mit einer ausführlichen Einleitung
versehen worden, in der namentlich der Abschnitt »Die Stellang der Logik
im System Kants« eine wertvolle Beigabe zur Einführung für die Leser ist.
E. Meamann (Zürich).
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Zeitschriftenschau
I. Nene Zeitschriften :
1) Bote der Psychologie, der Kriminalanthropologie and des
Hypnotismus (Wiestnik psichologii, Kriminalantropo-
logii i hipnotisma). So heißt die neue Zeitschrift, welche in
Petersburg von Prof. Bechterew and Prof. Serebrenni kow
herausgegeben wird und den psychologischen Problemen gewidmet
ist Es ist die erste Zeitschrift in Rußland, die sich speziell mit
den psychologischen Wissenschaften beschäftigt In den bereits
erschienenen fünf Nummern findet sich eine Reihe von Aufsätzen,
die teils für den weiteren gebildeten Leserkreis bestimmt sind, teils
originelle Beiträge zur allgemeinen und experimentellen Psychologie
enthalten. Wir berichten über dieselben, soweit sie für den Leser-
kreis des Archivs Interesse haben.
A. Was ist Suggestion? von Prof. Bechterew.
Alle bisherigen Definitionen der Suggestion sind nach dem Verf. unge-
uügend. Er bespricht die Definitionen von Lefevre, Liebault. Bern-
heim, Löwenfeld, Forel, Wandt, Schrenck-Notzing, Vincent,
Mirschlaff, Baldwin undSiddis. Er kritisiert näher die Definition von
Siddis, nach welcher »die Suggestion ein Eindringen irgendwelcher Vor-
stellung in das Bewußtsein ist; nach größerem oder geringerem Widerstand
des Individuums wird sie ohne Kritik angenommen und ohne Beurteilung,
fast automatisch realisiert«. Auch diese Definition sei unvollständig, weil
die Suggestion nicht immer mit Widerstand verbunden ist. Aber auch der
motorische Automatismus gehört nicht zu den unentbehrlichen Eigenschaften
der Suggestion. Das Wesen der Suggestion besteht nach dem Verf. nicht
in diesen oder jenen äußeren Eigentümlichkeiten, sondern in der eigenartigen
Beziehung des suggerierten Inhalts zum »Ich« des Subjekts während des
SuggerierenB. Unsere Wahrnehmung kann aktiven und passiven Charakter
haben. Bei der aktiven Wahrnehmung beteiligt sich das Ich des Subjekts,
welches die Aufmerksamkeit je nach dem Inhalte unseres Denkens auf diese
oder jene Erscheinungen lenkt, welche dann, nachdem sie vom Bewußtsein
bearbeitet worden sind, zum festen und bleibenden Besitz unseres »Personal-
bewußtseins« werden. Diese Art des Wahrnehmens liegt allen unsern Über-
zeugungen zugrunde. Außerdem wird vieles von uns ohne die Beteiligung
unseres Ichs wahrgenommen, nämlich wenn unsere Aufmerksamkeit auf irgend
etwas konzentriert ist oder im Zustande der Zerstreutheit sich befindet In
solchen Fällen dringt der Wahrnehmungsinhalt nicht in unser Personalbewußt-
Arohir ftr Payehologi«. IV. Litentor. 7
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98
Literaturboricht.
sein ein, sondern in ein anderes Gebiet unseres psychischen Lebens , welches
der Verf. »Allgemeinbewußtsein« nennt, und welches vom Peroonalbewußt-
sein unabhängig ist, obgleich bei gewissen Bedingungen die Produkte des
Allgemeinbewußtseins ■ in das Personalbewußtsein Ubergehen können. Die
Suggestion bezieht sich auf die Einwirkungen auf solche Seiten unseres Seelen-
lebens, die dem Allgemeinbewußtsein gehören, und dadurch wird sie von der
Überzeugung unterschieden, welche vermittelst der Mitwirkung des Personal-
bewußtseins zustande kommt. Die Suggestion wird durch das unmittelbare
Eindringen der suggerierten Vorstellung in die Bewußtseinsspaäre, die mit
dem Ich des Subjekts unkoordiniert ist, bedingt, und deshalb bat das letz-
tere Uber die Suggestion keine Macht. Suggestion und Überzeugung sind
zwei Grundformen der gegenseitigen Beeinflussung der Menschen. Der Be-
fehl und das Beispiel lassen sich leicht auf die Suggestion einerseits und auf
die Überzeugung andererseits zurückfuhren. So wirkt das Kommando nicht
nur durch die Furcht vor den Folgen des Nichtgehorchens, sondern auch
unmittelbar durch die Suggestion.
B. Über Massenhalluzinationen und -Illusionen, von Dr.
Nikitin.
In der psychologischen Literatur gibt es fast keine Beobachtungen von
kollektiven Sinnestäuschungen, die von den Psychologen oder Psychiatern
gemacht worden wären. Deshalb ist die psychologische Seite dieser Erschei-
nungen noch nicht genug untersucht worden. Der Verf. war in der glück-
lichen Lage, einen sehr interessanten Fall der Massenülusion beobachten zu
können, der er vom Anfang an bis zu Ende beiwohnte.
Vor einem Jahre hat die russische Regierung einen längst verstorbenen
Mönch (Seraph in aus Sarovo) zum Heiligen ernannt. (In Kußland werden
auch die Heiligen von der Regierung ernannt). Aus ganz Rußland strömten
Volksmengen dem RloBter in Sarovo zu. Eines Tages hat der Verf. um einen
Brunnen, dessen Wasser für heiliges galt, eine Gruppe von etwa 20 Bauern
und Bäuerinnen versammelt gesehen, die lebhaft ins Wasser blickten. Die
Menge wuchs schnell. Einer der Bauern rief aus: »Es wurde uns gesagt,
daß am Brunnengrunde zwei Gesichter sichtbar sind«. Diese Worte haben
auf die Versammlung mächtig gewirkt. Da der blaue Himmel, der sich im
Wasser widerspiegelte, die Umrisse des Brunnengrundes deutlich zu sehen
verhinderte, war Uber den Köpfen der Zuschauer ein schwarzer Schal aue-
gebreitet. Plötzlich rief eine Bäuerin aus: »Da sehe ich den Pater Seraphin«!
Die Illusion wurde allgemein und sie dauerte 10—15 Minuten. Der Verf.,
der auch in den Brunnen blickte, hat keine Illusion gehabt Die Menge
wuchs immer mehr, bis etwa zu 40 Personen; die Zahl der Frauen war Über-
wiegend. Die Illusion dauerte, bis eine Frau, die keine Bäuerin war, sagte,
sie sehe bloß Menschenköpfe, die sich im Waaser widerspiegeln, weiße Steine,
sonst nichts mehr. Die Rlusion verschwand und kehrte später nicht mehr
wieder.
Bei der Ausfrage der Bauern und Bäuerinnen, die die Illusion gehabt
haben , zeigte sich , daß das Bild nicht von allen in gleicher Weise gesehen
wurde. Alle haben zwar den heiligen Seraphin gesehen, aber einige haben
ihn in ganzer Größe, andere als Brustbild, andere nur das Gesicht gesehen.
Die Figur war auch nicht von allen an demselben Orte gesehen. Die Einzel-
heiten deB Illusionsbildes waren also different, eine Erscheinung, die für die
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Literaturberirht.
99
Erklärung der Illusion Verf. für besondere wichtig hält Die Illusion fand
unter folgenden Umständen statt:
1) die daran Beteiligten waren ganz ungebildet,
2) sie waren sehr ermüdet (manche haben Hunderte und Tausende von
Kilometern durchwandert),
3) sie waren hungrig (viele fasteten),
4) sie bilden eine Menge und
5) sie waren alle in der gleichen Stimmung, die für die Sinnestäuschungen
günstig war.
Der wichtigste Umstand war, daß die Pilger eine Menge bildeten, so
daß Autosuggestion durch die gegenseitige Suggestion unterstfitzt wurde.
Die Gegensuggestion von der Seite der Frau, deren Stimmung zur Illusion
nicht genügend vorbereitet war, hat der Massenillusion ein Ende gemacht.
G. Die geistige Arbeitsfähigkeit minderjähriger Verbrecher
von Dr. Schtscheglon.
Der Verfasser hat an den minderjährigen Verbrechern aus dem.
Petersburger Gefängnis und an den gleichaltrigen Schülern der Peters-
burger Gewerbeschule psychologische Versuche angestellt. Es ergab sich,
daß die Zeit der einfachen und der Wahlreaktion bei den Verbrechern
länger war. als bei den Schülern des gleichen Alters und der gleichen ge-
sellschaftlichen Stellung. Auch die mittlere Variation war bei den ersteren
großer. Die Schnelligkeit der intellektuellen Prozesse (gemessen durch die
Anzahl der in einer Minute gelösten arithmetischen Aufgaben) oder, mit
andern Worten, die Schnelligkeit des Verlaufs der einfachsten und geläufig-
sten Assoziationen erwies sich im Vergleich mit den Nichtverbrechern eben-
falls kleiner. Die Anpassung an die geistige Arbeit, die Fähigkeit, schnell
die maximale intellektuelle Leistung zu entwickeln, ging bei den jugend-
lichen Verbrechern schwieriger vonstatten, als bei den Schulkindern. Die
Aufmerksamkeit während der Arbeit war bei den Verbrechern mehr schwankend,
das Gefühl der Ermüdung entwickelte sich bei ihnen früher und steigerte
sich schneller. Endlich die Fähigkeit für das Behalten und die Reproduktion
der Wörter erwies sich bei den minderjährigen Verbrechern weniger voll-
ständig als bei den Nichtverbrechern.
D. Über einige Eigentümlichkeiten des Seelenlebens der
Blinden, von Dr. Krogius.
Der Verfasser hat seine Versuche an zwanzig blinden und achtzehn
sehenden Mädchen im Alter von 10 bis 19 Jahren angestellt Die Ver-
suchsbedingungen waren insofern gleich, als die geistige Entwicklung
und der Bildungsgrad der sehenden und der blinden Mädchen ungefähr
dieselben waren. Die Blinden und die Sehenden (mit verbundenen 'Augen)
wurden zu dem mit der Bewegung verbundenen Tasten verschiedener ein-
facher, aus Karton hergestellter Figuren zuerst mit einem, dann mit zwei
Fingern derselben Hand, und endlich mit zwei Fingern beider Hände, und dann zur
Reproduktion dieser Figuren mit den mit Kohlenpulver eingeriebenen Finger-
spitzen aufgefordert Die Versuchspersonen reproduzierten die Figuren ein-
mal mit derselben Bewegung, mit der die Figuren wahrgenommen wurden,
das andere Mal wurden die Figuren, die mit der Bewegung zweier Finger
wahrgenommen wurden, mit der Bewegung nur eines Fragen reproduziert
1*
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100
Literaturbericht.
In allen diesen Fällen reproduzierten die sehenden Mädchen ihre Taatwahr-
nehmangen viel genauer als die blinden. Besondere scharf zeigte sich dieser
Unterschied bei solchen Versnchen, wo die Versuchsperson die Figur mit
einer andern Bewegung, als sie ursprünglich wahrgenommen wurde, repro-
duzierte. Diesen Unterschied erklärt der Verf. dadurch, daß bei diesen Tast-
und Bewegungsempfindungen der Sehenden die Gesichtsvorstellungen eine
große Rolle spielen: die Tastempfindungen werden durch die Gesichtsvor-
stellungen interpretiert.
Der Gesichtssinn wird bei den Blinden durch den Gehörssinn ersetzt.
Die Töne wurden von den blinden Mädchen besser und exakter lokalisiert
als von den sehenden. Die Worte, die der Benennung der Gesichtsvorstel-
lungen (Farben) dienen, interessieren die Blinden sehr; sie haben mehr oder
weniger richtige Vorstellungen von der Gefühlswirkung verschiedener Farben,
wofür den Blinden die metaphorischen Ausdrücke, wie rosige Brille, graue
Tage, und namentlich die Gedichte besonderen Dienst erweisen.
Da die Zahl der Wahrnehmungen, die die Blinden von der Außenwelt
erhalten, viel geringer ist als bei den Sehenden, so wird jeder neue Ein-
druck, ceteris paribus, besser von den Blinden apperzipiert Die Versuche,
die der Verf. über das Gedächtnis (G.-Methode) der Bunden gemacht hat,
bestätigen diese Ansicht Die sinnlosen Silben, die sinnlosen Wörter und
die Gedichte werden von den Blinden schneller erlernt als von den Sehenden.
Das Verhältnis der Anzahl der Wiederholungen, die zum Erlernen von den
Blinden und Sehenden gebraucht wurden, war: für die sinnlosen Silben
57,2 : 100, für die sinnvollen Wörter 54,2 : 100.
Am Schluß der Untersuchung wird vom Verf. das starke Interesse der
Blinden für religiöse Fragen und Kunst hervorgehoben.
Außerdem finden wir in der neuen Zeitschrift noch folgende bemerkens-
werte Artikel, über die später berichtet werden soll:
Die biologische Bedeutung der Psychik, von Bechterew.
Über die Kraft des kindlichen Gedächtnisses, von Netschajeff.
Leibniz1 Lehre vom unbewußten Seelenleben, von Serebrenniko w.
Die Bedeutung des Experimentes in der Psychologie, von Lasurskij.
Die Ähnlichkeitsassoziation, von Netschajeff.
Die Mängel der traditionellen Klassifikation der psychischen Erschei-
nungen, von Loßkij.
Experimentelle Beiträge zur Assoziationsfrage , von Korolkow, u. a.
R. Segal (Zürich).
2) The american Journal of Religious Psychology and Edu-
cation, ed. by Stanley Hall, with the Cooperation of Jean
Du Buy, Clark University; George A. Coe, Northwestern Uni-
versity; Theodore Flournoy, Universität Genf; James H.
Leuba, Bryn Mawr College; Edwin D. Starbuck, Earlham
College; R. M. Wenley, University of Michigan, and others.
Clark University Press, Worcester, Mass. Vol. I. Nr. 2. Nov. 1904.
Diese neue amerikanische Zeitschrift widmet sich der Psychologie des
religiösen Lebens und der religiösen Erziehung der Kinder. In der vor-
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Literaturbericht.
101
Hegenden Nummer berichtet zuerst F. A. Lombard Uber die Pädagogik in
der Missionstätigkeit; sodann gibt S. W. Raneon einen Beitrag zur Psycho-
logie des Gebets und der Gebetswirkung. Cl. D. Royse behandelt das
schwierige neutestamenüiche Problem : Paulus1 Bekehrung. James H. Leuba
gibt einen sehr instruktiven Überblick über die Probleme der Religions-
psychologie. Edwin D. Starbuck behandelt die Gefühle und ihre Rolle
im religiösen Leben. Über die beiden letztgenannten Abhandlungen werden
wir im Archiv noch ausführlicher berichten. Die Zeitschrift bringt ausführ-
liche Literatnrberichte Uber religionBwisBenschaftliche, theoretische und prak-
tische Werke.
3) Kind und KunBt, illustrierte Monatsschrift zur Pflege der Kunst im
Leben deB Kindes. Herausgegeben unter Mitwirkung erster Autoren
und Kttnstler von Hofrat Alexander Koch. Verlag von AI. Koch,
Darnstedt
Seit Herbst 1904 erscheint unter Redaktion von Alexander Koch diese
nach Text und Dlustrationen glänzend ausgestattete Zeitschrift, die wohl die
führende Rolle in der Bewegung der Erziehung des Kindes zur Kunst ein-
nehmen wird. Auf einzelne ästhetisch - psychologisch und pädagogisch
interessante Ausführungen der Zeitschrift werden wir in den Literatnr-
berichten zurückkommen.
U. Übersicht über den Inhalt
der neuesten Nummern älterer Zeltschriften :
1) Psychologische Arbeiten, herausgegeben von Emil Kraepelin.
IV, 4. Leipzig, Wilh. Engelmann, 1904.
Inhalt des vierten Heftes: Rein hold Krause, Über AuffasBungs- und
Merkversuche bei einem Falle von polyneuritischer Psychose. GuBtav HeU-
man, Über die Beziehungen zwischen Arbeitsdauer und Pausenwirkung.
G. Lefmann, Über psychomotorische Störungen in Depressionszuständen.
2) Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik, herausg.
von Hans Gross. Leipzig, F. C. W. Vogel. XVm. 1. Dez. 1904.
Inhalt des Heftes: Fei kl, Beitrag zur forensischen Kasuistik der soli-
tären Erinnerungstäuschungen. Bauer, Ein Fall angeblicher Kleptomanie.
Placzek, Experimentelle Untersuchungen Uber die Zeugenaussagen Schwach-
sinniger. L o h s i n g , Reflexionen über den Fall eines Jugendlichen. Kleinere
MitteUungen: a. von Dr. P. Näcke in Hubertusburg: 1) Jurisprudenz und
klassische Bildung, 2) Eine auf ein Gefängnis geprägte Plakette, 3) Selbst-
mord bei Tieren, 4) Gelehrtenzwist; b. vom Anstaltsarzt Dr. Dost in Hubertus-
burg: Zwei Fälle von Lysolvergiftung. Es folgen Besprechungen von Näcke,
Lohsing und H. Gross.
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102
Literaturbericht.
3; The American Journal of Psychology, ed. by Stanley Hall,
E. C. Sanford, E. B. Titchener. Worcester, Maas., Louis N.
Wilson. Vol. XVI. 1. January 1905.
James Ralph Jewell, The psychology of dreatns. Lill ien J. Martin,
Psychology of aesthetics. Alexander F. Chamberlain, Primitive hearing
and »hearing words«. Edgar James Swift, Memory of a skillful act.
Litterature.
4) The Psychological Review, ed. by J. Mark Baldwin, Howard
C. Warren, Charles H. Judd. New York, The Macmillan Com-
pany. Vol. XII. 1. January 1906.
William James, The experience of activity. Th. H. Haines and
J. C. Williams, The relation of perceptive and revived mental material as
shown by the subjective control of Visual after-images. O. M. Stratton,
From the University of California Psychological Laboratory. J. E. Brand,
The effect of verbal Suggestion upon the estimation of linear magnitudes.
G. S. Manchester, Experiments on the unreflective Ideas of men and women.
5) The Journal of Philosophy, Psychology and Scientific Me-
thods. Vol. II. 2. January 1905. The science Pre&B. Lancaster PA.
William James, The thing and ita relations. Society s: the fourth
meeting of the american philosophical association. Notes and News.
6] The Journal of mental Pathology, ed. by Louise 6. Robinovitch.
State Press, publishers New York. Vol. VI. Nr. 1—4.
6. Biancone, On some diagnostic difficulties in a case of lesion of the
spinal cord. Mingarrini and Perueini, Two casee of familiär heredo-
spinal atrophy (Friedreichs Type). Pietro Timpano, A case of left
hemiplegia with right hemianesthesia of traumatic origtn without organic
lesion of the spinal cord. Editorial: the function of the tbyroid and para-
thyroid bodics. Litterature.
7) Mind, ed. by G. F. Stout London, Williams and Norgate. N.S. Nr. 63.
January 1905.
H. H. Joachim, »Absolute« and »relative« truth. J. H. Leuba, On
the psychology of a group of Christian mystics. H. W. B. Joseph, Prof.
James on humanism and truth. Alfred Sidgwick, Applied axioms.
B. A. P. Rogers, The meaning of the time direction. H. MaeColl, Sym-
bolic reasoning. Discussions: J. Solomon, The paradox of Psychology.
Critical Notices etc.
8} Brain, a Journal of neurology, ed.by R. Percy Smith, M.D. PartCVIl
Vol. 27. Autumn 1904.
W. B. War ring ton, On the cells of the spinal ganglia, and on the
relationship of their histological Btructure to the axonal dietribution.
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Literaturbericht.
103
Gordon Holmes, On certain tremora in organic cerebral lcsions. Fr. E.
Batten, The pathology of infantile paralysis. H. Mackay, On so-called
facial bemihypertrophy. Reviews.
9) Revue Philoeophique de la France et de FEtranger. Dir. par
Th. Ribot. Paris, F. Alcan. XXX. 1. Janvier 1906.
A. F o u i 1 1 6 , La raison pure pratiqne doit-elle ötre critiquee ? G. Spiller,
De la methode dan» les recherches des lois de l'ethique. Vernon Lee,
Essais d'esthetiqne empiriqne: l'individu devant r«uvre d'art Revue
generale : G. Richard, Le conflit de la sociologie et de la morale philo-
sopbique. Analyses et comptes rendns. Observations et documents:
H. Meunier, Un cas d'attention precoce a des Bensations esthötiques. Revue
deB pgriodiques 6trangers. Le V. Congres international de Psychologie.
10} Revue de Philosophie. Directenr E. Peil lau be. V. 1. Januar 1905.
X. Moisant, La pensee philosophique et la pensee mathematique (1. articlej.
P. Duhem, La theorie pbysiqne. IX. la loi physique. Ch. Huit, Les notions
dinfini et de parfait (fin). Revue critique: P. Vignon, Doctrines et opinions
relatives ä la philosophie biologique (l.article). Discussion: Comte de Vorges,
L'abstraction, deuxieme replique ä M. V. Bernies. Periodiques. Analyses
et comptes rendns. L'enseignement philosophique : agregation de philosophie.
L'enseignement de la philosophie au College de France. Chronique etc.
Fiches bibliographiques.
11) Journal de Psychologie normale et pathologique. Direc teure:
Dr. Pierre Janet, Dr. Georges Du maß. Paris, F. Alcan. I.
Nr. 5. 8ep — Oct 1904.
Pierre Janet, L'amnesie et la dissociation des Souvenirs par Emotion.
S olli er, Le langage psychologique. Notes et discussions: F. Houssay,
üne curieuse illusion d'optique. Kahn et Carteron, Eiperiences de dynamo-
metrie. Bibliographie.
12) Archive« de Psychologie, publiees par Th. Flournoy, Ed. Cla-
parede. Geneve, E. KUndig, Editeur. IV. Nr. 14. Nov. 1904.
M. C. Schuyten, Comment doit-on mesurer la fatigue des ecouers?
Th. Flournoy, Sur le panpsychisme comme une expUcation des rapporta de
l'äme et du corps. C. A. Strong, Sur le panpsychisme. A. Ledere, La
genese de l'emotion esthetique. G. Sergi, Les illusionB des psycbologuea.
Faits et discussions: Ed. Cl aparede, Steräoscopie monoculaire paradoxale.
A Lemaitre, Suicide par intoxication philosophique. Th. Flournoy,
A propos d'un songe proph6tique realise\ Bibliographie.
13) L'annäe Psychologique, publice par Alfred Binet. X. annee.
Paris, Maason et Cie, Editeurs, 1904.
Note de la direction. 1. Memoires originaux: A Binet, La creation
htteraire. Portrait psychologique de M. Paul Hervieu. Lecaillon, La
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KU
Literatiirbt'riehf.
biologie et la psychologie d'uue arraignee. Board on et Dide, Un cas
d'amnfoie continue, avec asymbolie tactile, complique d'autres troubles.
A. Binet. Sommaire des travaux en cours 4 la Societe de psychologie de
l'enfant. Larguier des Bancels, Methodes de memorisation. A. Binet,
Questions de techniqae cephalometrique. H. Michel, Herbert Spencer et
Charles Renouvier. Zwaardemaker, Sur la sensibilite de l'oreille aux
differentes Tanteors deB sons. A. Binet, La graphologie et ses revelations
sur le sexe, Tage et l'intelligence. 2. Revues generales: F. II cn neguy, Revue
de Cytologie. A. van Gehachten, La loi de Waller. L. Fredcriqu,
Revne generale sur la phyBiologie da Systeme nerveux. Grasset, Neuro-
path ologie. P i t r e s , La psychasthenie. J. D e n i k e r , Revue danthropologie.
E. Blum, Revne de pedologie. Demoor et de Croly, Revae de pedagogie
des anormaax. Simon, Resum6 cliniqae d'alienation mentale. Melapert,
Revue generale de philosophie et de morale. H. de Varigny, Chronique
psychologique. Binet, Revue aanoelle des erreurs de psychologie.
3. AnalyBes bibliographiqnes. 4. Table bibliographique.
14) Archivio di Fisiologia, diretto e pubblicato dal Giulio Fano.
Firenze. Vol. IL 2. Gennaio 1905.
LaccariaTreves e F. Maiocco, Osservazioni sull'apnea degli uccelli.
De Marc his, II simpatico cervicale concorre all' innervazione vaso-morrice
del cervello? Pio Marfori, Sul composti organici del fosforo. M. N.
Vasehide, La physiologie au congres britanniqne de Cambridge pour
Favancement des Bciences. Ginseppe Levi, SulTorigine delle cellule ger-
minali. G. Rossi e 0. Scarpa, Sulla viscositä di alcuni colloidi inorganici.
Casimiro Donizelli, Di alcnne modificazioni al cronoscopio di
Hipp. Paolo Enriques, U numero dei cronosoni nelle varie specie ani-
mali e le cause della sua variabilitA. Gilberto Rossi, La viscosita e
l'acione denaturante del calore in soluzioni di siero-albumina.
16) Die Musik, herausgegeben von Bernh. Schuster. Schuster & LUffler,
Berlin und Leipzig. 4. Jahr, Heft 7. Erstes Januarheft 1906.
Die Zeitschrift »Die Musik« widmet sich seit kurzem auch der Musik-
ästhetik. Das vorliegende Heft enthält eine musikästhetische Abhandlung
von Dr. H. Resser: Musikgenuß und Organempfindungen. Auch zur M usik-
theorie bringt die Zeitschrift zahlreiche Abhandlungen von Komponisten,
die als Aufschlüsse Uber die musikalischen Mittel und Wege, mit denen der
einzelne Komponist seine Tonwirkungen zu erreichen Bucht, großes musik-
theoretiBches Interesse haben. Dahin gehört Felix Weingartners Ab-
handlung: >Die Laienpartitur«. Weingartner tritt hier einigen neuerdings
hervorgetretenen Vorschlägen zur Vereinfachung der Partitur entgegen,
und gibt für eine neuartige Notierung verschiedener Orchesterinstru-
mente den Komponisten, den Verlegern und dem Publikum beherzigens-
werte Winke. Hugo Conrat gibt eine Studie: Joseph Haydn und das
kroatische Volkslied, die mehr musikgeschichtliche Bedeutung hat Tapp er t
behandelt die Tänze in LeoncavalloB »Roland von Berlin«. Das nächste
Heft der Zeitschrift wird ein Richard Strauß -Heft sein.
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Bei der Redaktion sind folgende Schriften eingegangen, die
unsern Referenten auf Wunsch znr Verfügung stehen*):
Hermann Heister, Gedanken über das Denken. Stuttgart, Strecker u.
Schröder. 1904.
A. Builingcr, Hegels Phänomenologie des Geistes, auf ihren kürzesten
und leichtverständlichsten Ausdruck reduziert. München, Theodor
Ackermann. 1904.
A. Meinung, Untersuchungen zur < Jegenstandstheorie und Psychologie.
Leipzig, Johann Ambrosius Barth. 1904.
Ottmar Dittrich, Uber Wortzusammensetzung auf Grund der neufranzö-
sischen Schriftsprache. Habilitationsschrift. (Leipzig. Halle, Mux Nia-
mey er. 1904.
»
Robert E. Park, Masse und Publikum. Eine methodologische und sozio-
logische Untersuchung. Dissertation. (Heidelberg.1 Bern, Lack und
Grünau. 1904.
F. E. Otto Schultxc, Akustische, psychologische und ästhetische Unter-
suchungen zum Fall Madeleine G. Stuttgart, Hoffmann 1904.
Franz Roberts, Die Schlaftänzerin Madeleine G. München, Birk &
Comp. 1904.
Egon Frulell, Novalis als Philosoph. München, F. Bruckmann. 1904.
Mario Panixza, Compendio di Morfologia e Fisiologia comparate del
Systema Nervoso. (170 Abb.) Roma. E. Löscher & Cie. 1903.
Ausgewählte Briefe von und an Ludw. Feuerbach von Wilh. Bolin.
Bd. I u. IL Leipzig, Otto Wigand. 1904.
Natur und Kunst, Briefwechsel zwischen William Shakespeare und Ma-
dame Gäches-Sarrante. Nach authentischen Quellen herausgegeben
von H. B. Zürich, Caesar Schmidt. 1904.
K. W. Scripture, Über das Studium der Spracbkurven. Ostwalds Annalen
der Naturphilosophie IV. 1904. Sep.
3/. C. Schwjtcn, Pacdologisch Jaarboek. V. Jahrgang. 1904. Leipzig,
Fr. Brandstetter.
Mary, Whiion Calkim, An introduetion to psychology. New York. The
Macmillan Company. 1902.
Hermann Dimmlcr, Aristotelische Metaphysik. Kempten und München,
Jos. Kösel. 1904.
A. Sickinger, Der Unterrichtsbetrieb in großen Volksschulkörpcrn. Mann-
heim, J. Beusheimer. 1904.
Karl Groos, Die Anfange der Kunst und die Theorie Darwins. Hessische
Blätter für Volkskunde. JII. 2 3 1904. Sep.
— Fortsetzung im nächsten Heft. —
* Die Schriften werden in der Reihenfolge aufgezahlt, in der sie eingegangen
sind.
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Inhalt des 4. Heftes.
Abhandlungen: ?0ite
Gordon , Katf., Cbrr das Gedächtnis für affektiv bestimmte Eindrücke.
Mit zwei Figuren im Text 437
KÜLl'K, ()., Bemerkungen zu vorstehender Abhandlung ... 459
Linvs, Tu.. "Weiteres zur > Einfühlung» 465
Pkdebsex, IL H.. Experimentelle Untcrsxichuug der visuellen und akustischen
Erinnerungsbilder, angestellt an Sehulkindern. Mit zwei Figuren
im Text 520
Literaturbericht:
Nikolaj Loßkij, Die Grundlagen der Psychologie vom Standpunkte des
Voluntarismus. (J. Köhltri ' 81
Harald Hüffding. Philosophische Probleme. tJ. Kühler) 83
H. Thoden van Velzcu, System des religiösen Materialismus. I. Wissen-
schaft der Seele. (C. VogO 87
P. II. Siewers, Mechanismus und Organismus. Ein Versuch zur Erklärung
der Lebenstätigkeit. (J. Köhler) 89
Ch. II. Judd. Einige Erscheinungen des binokularen Sehens. (F. Biske) . K9
Loescr, Über den Einfluß der Dunkcladaptation auf die spezifische Farben-
schwclle. Biske) 90
J. Franklin Messenger, Die Wahrnehmung der Zahl. (F. Biske) ... 90
L. Luciani, Physiologie des Menschen. Lief. 1 u. 2. <li. H>>hn\ ... 91
J. H reu er. Studien über den Vcstibularapparat. (Ii. Hoher) 92
Hermann Schneider, ■ Die Stellung Gasscndis zu üescartes. (Fr. Hose) . 93
Hans Lindau, Unkritische Gänge. (F. Heitmann) 94
Jos. W. Xahlowsky, Das Duell, sein "Widersinn und seine moralische
Verwerflichkeit! (F. Heitmann) 94
Ch. Bruno t, Untersuchung über die soziale Solidarität als Prinzip der Ge-
setze. (F. Biske) 94
Thcosophischer Wegweiser, Monatsschrift zur Verbreitung einer höheren
Weltanschauung und zur Verwirklichung der allgemeinen Menschcu-
verbrüderung. (F. Fheii) 95
Geheimwissensehaftliche Vorträge zur Einführung in die okkulte
Philosophie. Heft 5-7. (F. Fbert) 95
Philosophische Bibliothek: Bd. 3. Aristoteles1 Metaphysik. - Bd. 43.
Immanuel Kants Logik. — Bd. 69. G. W. v. Lcibniz, Neue Abhand-
lungen über den menschlichen Verstand. (F. Heitmann) 96
Zeitschriftenschau 97
T? i \ r%\\ f\ v*"Pv* f\i i m *\ r\ die ihren gesamten Bucherbedarf zu
OUL/Ilv/l XI Cvlllvlt'j ausserordentlich günstigen Beding-
— -■— — 1 uugen bezichen wollen, erhalten
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III. Jahrgang 1905 soeben erschienen)
des
Neuen Vereins für deutsche Literatur. Berlin SW. 61,
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= Diesem Heft Hegt der Verlagsbcrlcht für 1904 von Wilhelm Engel-
mann in Leipzig bei. =
^ Quem
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