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Full text of "Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte"

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Untersuchungen 

zur 

Deutschen  Staats-  und  Rechtsgescliiclite 

herausgegeben 

von 

Dr.  Otto  Gierke, 

ProfenNor  der  Rechte  an  der  l’niTenltlt  Berlin. 

87.  Heft. 

Die  Geschichte  der  Alamannen 

als  Gaugesehiehte 

von 

Julius  Cramer, 

Geh.  Oberjustizrath. 



Breslau. 

Verlag  von  M.  & H.  Marcus. 
l$99. 

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I 


Die 

Geschichte  der  Alamannen 

als 

Gaugeschichte 


Julius  Gramer, 

Geh.  Oberjustizrath. 


Breslau. 

Verlag  von  M.  & H.  Marcus. 
189». 


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Dem  Andenken 

meines  Bruders  Dr.  Hermann  Gramer 

in  Liebe  und  Hochachtung 

gewidmet. 


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Inhalt 

Einleitung  . 


VII-XIV 
XV— XVII 


Srstcs  ßucfr.  Die  Königszeit. 1 

Erstes  Kapitel.  Das  ethnische  Ohergermanlen  und  Kiitlen.  3 
Zweites  Kapitel.  Das  alaman ulselie  Stiumnland.  8 

1.  Der  Ursprung  «ler  Alamannen.  8.  — 2.  Das  dritte  .Taln- 
hnndert  und  die  erste  Hälfte  des  vierten,  ll.  — 3.  Die  Be- 
sitzergreifung. 21-  — !•  Die  zweite  Hälfte  des  vierten  Jahr- 

hnnderts.  23.  — 5.  Alamannen,  juthungische  Sueven,  Lenzer 

and  Andere.  26. 

Drittes  Kapitel.  Die  6 au  Verfassung. 34 

1.  Die  germanischen  Yerfassnngsfornien.  34.  — 3.  Die  ala- 
mannische  erste  Ansicdlung.  :i(i.  — 3.  Die  alamannische  Gan- 
rerfassunR.  44.  — 4.  Die  römischen  Bündnisverträge.  fl5.  — 
Anlage  zu  1 und  3:  Tansendschaften,  Hundertschaften,  Zehnt- 


schalten. CO. 

Viertes  Kapitel,  Die  Gnugeblete. 68 

1.  Die  Gaukönige  und  die  Gaue.  68.  — 3.  Die  rheinischen 
Gane.  69.  — Die  binnenländischen  Gaue.  74,  — 4.  Ueber- 
blick  7 7 . 

Fünftes  Kapitel.  Kriege  nnd  Strclfzüge  (Jahre  350— 377).  80 

j /Ja  Gesammtbüd. g© 

II.  Der  Kaiser  Magnentius  (Jahre  350—3X3). 85 

1.  Der  Herzog  Chnodomar.  85. 

■>,  ///.  JJef  Cäsar  Julian  (Jahr  356),  $8 


VIII 


2.  Die  Kämpfe  in  Gallien.  88. 

IV.  Der  Kaiser  Coiistanlins  (Jahre  •)•>  / — 'V>S), 92 

3.  Die  obern  Alamannengaue.  92, 

V.  Der  Cäsar  Julian  fJa/nr  7 — ■>■'>!>). gjj 

4.  Die  Kampfe  um  das  Eisass  (Jahr  357).  98.  — 5.  Die 
Schlacht  bei  Strassburg;  (Jahr  357).  102.  — 6.  Der  Herbst- 
feldzug am  Main  (Jahr  357).  125.  — 7.  Die  rheinischen  Gaue 
am  Main  (Jahr  358),  128.  — 8.  Der  Zug  durch  das  Main-  und 
Neekargcbiet  (Jahr  359).  130, 

VI.  Die  Kaiser  Constanthts  mul  ■Julian  (Jahre  30) — ilt!.)).  137 

9.  Der  König  Vadoniar.  137, 

VII.  Dir  Kaiser  Valentinian  (Jahre  ■%■’> — 374). 148 

10.  Der  Krieg  in  Gallien.  143,  — 11.  Der  Zug  durch  das 
Neckargebiet.  Die  Schlacht  bei  Solicomnum  (Jahr  368).  149. — 

13.  Die  Burgundionen.  164.  — 18.  Der  König  Makrian.  1C7, 

VIII.  Der  Kaiser  Gratian  (Jahr  1177). 170 

14.  Die  Schlacht  bei  Argentaria.  17(1,  — 15.  Die  Lenzer.  172, 

Sechstes  Kapitel.  Die  /.weite  Aiisicdlnngspcrnide 

des  fünften  Jahrhunderts. 175 

I.  Die  Grundsätze  der  Ammllunq. 175 

1.  Neue  Alamannische  Ansiedlungen.  175.  — 2.  Germanische 
Ansiedlnngen  in  Gallien.  170,  — 3.  Zeit  und  Art  der  ala- 
mannischen  Besiedlung.  178. 

II.  Das  Oiilliru. 1S1 

4.  Der  Einbruch  des  Jahres  409.  181.  — 5.  Die  Bur- 

gundionen.  181.  — C.  Die  Alamannen.  183.  — 7.  Der  Zug  des 
Hunnenkönigs  Attila  (vom  .fahr  451)  184.—  8.  Die  Alamannen 
als  Sieger.  185.  — 9.  Die  Franken  188. 

III.  Das  Domntficbkt. 1S9 

10.  Die  suevische  und  die,  römisch -suevische  Zone.  189.  — 

11.  Niederlagen  an  der  Donau  und  dem  Bodensee.  191,  — 

12.  Der  König  Gibuld.  192.  — 13.  Alamannen  und  Ost- 
gothen.  194.  — 14.  Die  Alamannen  in  Noricum.  200.  — 

15.  Der  Abzug  der  Römer  von  der  Donau.  200.  — 10.  Die 
Bestallungsformel  lur  den  dux  Raetiarum.  201. 

IX.  IJhh  Uibift  des  l)oubs  und  der  )'ovdcrs<  litcri.?. 202 

17,  Die  Ausdehnung  der  Alamannen.  202.  — IS.  Alamannische 
Orte,  903.  — 19.  Zurückweichen  der  Alamannen  vor  den 


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IX 


Bargundiunen.  203.  — 20.  Die  Romanen  in  Currätien.  205.  — 
21.  Züge  nach  Italien.  205.  — 22.  Alemannische  Gaue  und 
Grenzen.  207.  — 23.  Alamannische  Ortsnamen.  207.  — 24.  Eine 
snevische  Wandersage.  201*. 

V.  Das  Alamannien  des  -7.  Jahrhundert 's.  211 

33.  Das  Stammland.  211.  — 2«.  Neualamannien.  213.  — 
27.  Alter  und  neuer  Besitz.  213.-28.  Alamannien  ein  Starnin- 
königthuvn?  215. 

Siebentes  Kapitel.  Die  dritte  Ansiedluinrspcriode.  210 

1.  Zur  Literatur.  21f>.  — 2.  Die  Frankenkönige  Sigibert  und 
Chlodwig.  217.  — 2.  Der  Ostgothenkönig  Tlieoderich.  220.  — 
4.  Ganz  Alamannien  unter  den  Franken  (Jahr  536).  224.  — 
•V  Der  Königszins.  226.  — 0.  Die  Alamannen  in  Italien.  230. 
— 7.  Kein  Stammkönigthum.  238.  — 8.  Die  Lenzer  und  die 
Suevcn.  2 40.  — 9.  Die  dreifache  Bedeutung  des  Sueven- 
namens.  244.  — 10.  Die  alamannischen  Orte  auf  ingen  und 
fränkischen  auf  heim.  24!*.  — 11.  Die  alamannische  und 
schwäbische  Mundart.  255.  — 12.  Das  Gesammtvolk  der 
Sueven  und  ihre  Einzelstämme.  259.  — Erste  Anlat/e  zu 

2.  3.  4:  Die  fränkisch-alamannische  Stammesgrenze  des  Jahres 
496.  264.  — Zweite  Anlage  zu  11:  Grenzen  der  Mundarten. 
1 Schwäbisch -fränkische  Grenze.  269.  — 2.  Alamannisch- 
schwäbisclie  Grenze  von  i,  u gegen  ei,  ou  vor  h,  r.  271.  — 

3.  Alamannisch  - schwäbische  Grenze  von  i,  u vor  folgenden 
Consonanten,  die  nicht  h,  r,  t oder  Nasal  sind.  271. 

Achtes  Kapitel.  Streitfragen.  273 

1.  Zum  Ursprung  der  Alamannen.  273.  — 2.  Ipsa  oppida  ut 
cireumdata  retiis  busta  declinant.  377.  — 3.  Zur  Schlacht  bei 
Strassburg.  279.  — 4.  Zum  Ausgang  der  Juthungen.  281. 

2£u?eites  ßucli.  Die  Grafcrtzeil.  287 

Neuntes  Kapitel.  Die  Grafschaft«  Verfassung.  290 

1.  Der  Ausbau  des  Landes.  2*.*0.  — 2.  Die  Verfassungsformen 
des  alamannischen  Gesetzbuchs.  296.  — 3.  Die  Karolingischen 
Verfassungsformen.  303.  — 4.  Die  Continuität  der  Gaue  und 
Huntareu.  308. 


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X 


Zehntes  Kapitel.  Die  politischen  Verbünde 

Alamanniens.  3 1 2 

1.  Die  Ermittlung  der  Verbände.  312.  — 2.  Die  Ausdrücke 
für  die  Verbände.  317.  — 3.  Die  Eigennamen  für  die  Ver- 
bände. 319.  — 4.  Die  Geschichte  der  Eigennamen.  323. 

Elftes  Kapitel.  Die  politischen  und  kirchlichen 

Verbände.  32<» 

1.  Die  kirchliche  Verfassung.  327.  — 2.  Das  Bisthum  Constanz. 

330.  — 3.  Huntarcn  und  Kapitel.  332.  — 4.  Gaue  und 

Archidiakonate.  338. 

Drittes  ßucl).  Die  alamanniscH- 

fränkischen  Gaue.  343 

Zwölftes  Kapitel.  Uebersieht.  345 

Dreizehntes  Kapitel.  Der  Mattiakcrgau  (t).  34S 

Huntarcn.  1.  Engersgau.  349.  — 2.  Einrich.  350.  — 
3.  Rheingau.  351  (Die  Amtswaldungen  als  Zehntmarken.  352, 
Hinterlandswald,  Kammerforst,  Wälder  über  der  Höhe  als 
Huntarenmark.  353).  — 4.  Kunigessundra.  305  (Mark  Grefen- 
hühe  oder  Wiesbadener  Hühewaldung  und  Meehtilhäuser 
Zent  366). 

Vierzehntes  Kapitel.  Der  luterlahngau.  377 

Huntarcn.  1.  Haigergau.  368.  — 2.  Herborn.  308.  — 

3.  Hadamar.  308.  — 4.  Erdehe.  308. 

Fünfzehntes  Kapitel.  Die  Wettereibn.  370 

Huntarm  und  Zehnt  schuften.  1.  Niedgau.  373  (Zent  oder 
Grafschaft  zum  Bornheimerberg.  374.  Landgericht  Hcusels.  370. 
Grafschaft  Ursel.  376).  — 2.  Kaichen.  377.  — 3.  Büdingen.  377. 

4.  Griindau.  378.  — 5.  Kinziggau.  379.  — 6.  Die  Wälder  des 
Vogelsgebirges.  379. 

Sechszehntes  Kapitel.  Das  Grabfeld.  3SO 

TUeUyaugrafschaflcn.  1.  Das  westliche  Grabfeld.  3s  1 . — 

2.  Tollifeld.  381.  — 3.  Das  östliche  Grabfeld.  381. 

Siebzehntes  Kapitel.  Der  Rheingau.  383 

Huntarcn  und  Zeh  ntscha  flau.  1.  Mark  und  Zent  Gerau.  384.  — 
2.  Zcntgericlit  zu  Oberramstadt.  384.  — 3.  Mark  und  Zent 


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XI 


Heppenheim.  384.  — 4.  5.  Zenten  Zwingenberg  und  Pfung- 
stadt 385. 

Achtzehntes  Kapitel.  Der  Maingau.  387 

Huntaren  und  Zehntschaften.  1.  Phlumgau.  387.  — 2.  Bach- 
gau. 387  (Zenten  Ostheim  und  Umstadt.  388).  — 3.  Rodgau.  388 
(Mark  von  Bieber.  388.  Auheimer  und  Röder  Mark,  Mark 
Babenhausen,  Dieburger  Mark.  389).  — 4.  Das  Freigericht  vor 
dem  Berg  zu  Alzenau  und  das  Landgericht  Krombach.  390. 

Kenn  zehntes  Kapitel.  Der  Lobdengau.  391 
Schriesheimer  und  Kirchheimer  Zent.  392. 

Zwanzigstes  Kapitel.  Der  Kraichgau.  393 

Huntaren.  Anglach-,  Alb-,  Uff-,  Pfinz-,  Würm-,  Glems-, 
Enz-,  Schmie-,  Zaber-,  Murr-Gau.  394. 

Grafschaften.  1.  Die  Thcilgaugrafschaft  Yorchheim.  395. 

— 2.  Die  Theilgangrafschal't  Ingersheim.  395.  — 3.  Die 
Huntarengrafschaft  Anglackgau.  390. 

Einundzwauzigstcs  Kapitel.  Der  Unterneckargau.  397 

Huntaren  und  Zehntscliaften.  1.  Wingarteiba.  398  (Sehefflenz- 
gau  398.  Zenten  Mosbach,  Eberbach,  Mudau.  400;  Rippcrg, 
Amorbach,  Miltenberg,  Thüren,  Buchen.  401).  — 2.  Elzenz- 
gau.  401  (Meckesheimer  oder  Neckargemünder  und  Reicliarts- 
häuser  Zent.  401).  — 3.  Gardachgan.  402.  — 4.  Jagstgau.  402. 
•V  Brettachgau.  402.  — 6.  Sulmanachgau.  402.  — 7.  Schotzach- 
gau. 402.  — 8.  Kochergau.  403.  — 9.  Mulachgau.  403. 

Viertes  ßuclj.  Die  alamannisclien  Gaue  des 

Stammlandes.  405 

Zweiundzwanzigstes  Kapitel,  l'ebersicht.  407 
Dreiundzwanzigstes  Kapitel.  Der  Oberneckargau.  409 

Huntarm.  1.  2.  Die  Huntaren  der  Grafschaft  Neckargau, 
Kirchheim  (?)  und  Vildern.  410.  — 3.  Ramestal.  413.  — 
4.  5.  Die  Huntaren  des  Filsthals,  Filsgau  und  Pleonungotal.  413. 

— 6.  7.  Pfullichgau  und  Swiggerstal.  413. 

Vierundzwanzigstes  Kapitel.  Der  Nagoldgau.  410 

Hunt  arm  und  Zehntschaften.  1.  Glehnntra.  41  s.  — 
2.  Ambrachgau.  418  (Mark  Gültstein.  418).  — 3.  Bibligau.  419 


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XII 


(Mark  Haslach.  419).  — 4.  Sulichgau.  419  (Bildechinger  und 
Eutinger  Mark,  Kirchspiel  Mähringen.  420).  — 5.  Waltgau.  421 
(Mark  Waldahure.  421.  Marken  Schopfloch,  Glatten,  Dornstetten 
oder  das  Waldgeding.  422).  — ('».  Haglegau.  428  (Empfingen 
und  Bierlinger  Mark.  429).  — 1.  Hattenhuntare.  430  (Bisinger, 
Thalheimer,  Müssinger  Mark  431). 

Fün  (und  zwanzigstes  Kapitel.  Der  nürdlielie  Albgau.  4:J:i 

Huntarm.  I.  Affa.  435.  — 2.  Suerzenhnntare.  435.  — 
4.  Burichinga  (Huntarenmark)  436.  — 4.  Munigisingerhuntare 
(Hnntarenmark)  437.  — 5.  Flina.  437. 

Seehsmidzwanziirstes  Kapitel.  Der  Westergau.  4?i9 

Huntarm  und  Grafschaften.  1.  Scherra.  440  (Forst  uff  der 
Scher.  442).  — 2.  Sulz.  444.  — 4.  Rottweil.  444.  — 4.  Purili- 
dinga.  445.  — 5.  Nidinga.  445.  — G.  Aseheim  (Huntaren- 


mark)  446. 

Sieben undzwanzigstes  Kapitel.  Die  Mortenau.  44S 

Hunturen.  1.  2.  Kiuzigdorf  und  Otenheim.  448. 

Achtundzwanzigstes  Kapitel.  Der  lireisgati.  452 

Neun  undzwanzigstes  Kapitel.  Der  Klettgau.  454 

ThcUgaufftafschaftcn.  1.  Albgau.  455.  — 2.  Klettgau.  457. 
Dreissigstes  Kapitel.  Der  llegau.  4G1 


Hnnlarm.  1.  Bargen.  462.  — 2.  Eitrahunta).  462.  — 
•i.  llnterseegau.  462  (Das  Hori.  464). 

‘fünftes  ßueh.  Die  neualamanrtischen  Gaue 

des  zuzeiten  Rälien.  4G5 

Einundreissigstes  Kapitel,  lebersieht.  4G7 

Zweiunddreissigstes  Kapitel.  Der  südliche  Alpgau.  470 

Hunturen  und  ZehntsehafUn.  I.  Linzgau.  471  (Mark 
Theuringen.  474).  — 2.  Schussengau.  474  (Mark  der  Argen- 
gauer  475).  — 4.  Argengau.  475.  — 4.  Alpgau  (Allgäu).  477 
(Zehntschalten  Eglofs,  unterer  Sturz,  oberer  Sturz.  478). 

Drelunddrelssigstes  Kapitel.  Der  Douaiurau  ({).  470 

Hunturen.  1.  Goldincskuntare.  482.  — 2.  Ratoltesbnch. 
482.  — 3.  Krekgau.  482.  — 4.  Tiengau.  482.  — 5.  Erit- 
gau.  484.  — 6.  Muntricheshuntare  (Huntarenmark).  485. 


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XIII 


Vierunddreissigstes  Kapitel.  Der  Illergau.  487 

Huntmen.  1.  Ruadoltesliuntare  488.  — 2.  Rammagau. 
489.  — 3.  Heistergau.  489.  — 4.  Huntare  unbekannten 
Namens  (Dietenlieim?).  490.  — 5.  Nibelgau.  490. 

Fflnfunddreisslgstes  Kapitel.  Der  Östliche  Angstgau.  493 

Huntaren.  Hertishausen.  495.  — 1.  Duria.  495.  — 

2.  Mindilriet.  496.  — 3.  Falaha.  496.  — 4.  Keltenstein.  496. 

Sechsunddrelsslgstes  Kapitel.  Der  Riesgau.  498 

Huntaren.  1.  Drachgan.  501.  — 2.  Alba.  501.  — 

3.  Brenzgau.  501.  — 4.  Hurnia.  502.  — 5.  Sualafeld.  502. 

Sechstes  ßucl).  Die  ßargrafscHafien.  503 
Sieben  nnddrcissigstes  Kapitel,  l’eberslcht.  507 

Aehtunddreissigstes  Kapitel.  Die  westlichen  Baren.  310 

1.  Bertoltsbar.  510.  — 2.  Adalhartsbar.  511.  — 3.  Peribtilos- 
bar.  511.  — 4.  Albuinsbar.  512.  — 5.  Bara.  512.  — 6.  Land- 
?rafschafschaft  Bar.  513. 

Neununddreissigstes  Kapitel.  Die  östlichen  Baren.  513 

1.  Folcholtsbar.  515.  — 2.  Albuinsbar.  516. 

Siebentes  ßuclj.  Die  neualamannisclten  0aue 
des  Slsass.  517 

Vierzigstes  Kapitel,  l’eberslcht.  519 

Mark  Quningisheim  521. 

Einundvierzigstes  Kapitel.  Der  Xortgau.  522 

Huntaren.  1.  Hettengau.  523.  — 2.  Ried.  523.  (Mark 
Romanisheim  523).  — 3.  Hagenau.  523.  — 4.  Sorngau.  523. 
(Marca  Aquilegensis  523).  - - 5.  Strassburg.  523.  — 6.  Speries. 
•V24.  — 7.  Bischofsheim.  525.  — 8.  Horburg.  525.  — 

9.  Sasonia.  525.  — Theikjaugmf schaf tm.  1.  Barr.  526.  — 

2.  Trouie-Kircheim.  526. 

Zweiundvierzigstes  Kapitel.  Der  Sundgau.  528 

Huntaren.  1.  Rnbiaca.  529.  — 2.  Piefferau.  529.  — 

3.  Eisgau.  530.  — 4.  Huninga.  530.  — 5.  Sundgau.  530.  — 


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6.  Thurgau.  530.  — 7.  Kembsgau.  530.  — Gau-  oder  Tluil- 
gaugrafschaft  Ulchicha.  532. 

Genies  ßuch-  Die  neualamanniscl|en  Gaue 

Her  Schweiz.  535 

Dreiundvierzigstes  Kapitel,  lebersieht.  537 

Vlcrundvicrzigstes  Kapitel.  Der  westliche  Augstgau.  538 

Huntaren.  1.  Sisgau.  539.  — 2.  Buchsgau.  540.  — 
3.  Frickgau.  540. 

Filii fiind vierzigstes  Kapitel.  Der  Aargau.  541 

Huntaren.  1.  Lcnzburg.  541.  •—  2.  Rorc  541.  — 3.  Vil- 
vesgau.  542.  — TlieHgaugnifxchaften.  I.  Oberer  Aargau.  542. 
— 2.  Unterer  Aargau.  542. 

Sechsund vierzigstes  Kapitel.  Der  Thurgau.  543 

Huntaren.  1.  Bischofshori.  544.  — 2.  Arbongau  (Huntaren- 
mark)  544.  — 3.  Schwyz  (Huntaren mark)  545.  — 4.  Uri. 
(Huntarenmark)  545.  — 5.  Unterwalden.  545  (Stanz  uud 
Sarnen  540).  — 6.  Oberhasli  (Huntarenmark)  547.  — 7.  Rhein- 
gau. 547.  — 8.  Der  Forst  Arbou.  549.  — TheUgaugraf- 
schaften.  1.  Thurgau.  551.  — 2.  Zürichgau.  551. 

Anhang. 

Sleheimnd vierzigstes  Kapitel  Der  Bau  t'urrätien.  553 

Raetia  üuriensis.  554.  — Herzogthum.  554.  — Gebiet. 
555.  — Gau.  555.  — Scultatiae  (Schultheissereien)  550. 
a.  In  pago  vallis  Drusianae  (Wallgau).  557.  — b.  ln  Planis. 
557.  — c.  Prättigau.  557.  — d.  Scult.  Curicnsis.  557.  — 
e.  Tuverasca.  558.  — f.  Tumiliasca.  558.  — g.  impetinis.  558. 
h.  Endena.  558.  — TlitUgaugrafecluifteii.  Oberrätien  (Lags) 

und  Unten ätien.  558. 


Berichtigungen  und  Zusätze 560 

Zur  modernen  Literatur 566 

Abkürzungen  für  Urkundenbücher 571 

Sachregister 572 

Stämmeregister 574 

Gauregister 576 


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Einleitung. 

Die  Geschichte  der  Alamannen,  die  im  3.  Jahrhundert  aus 
dem  deutschen  Norden  in  den  deutschen  Südwesten  einwanderten, 
und  sich  zwei  Jahrhunderte  darauf  weit  über  ihre  ersten  Sitze 
ausdehnten,  ist  Ansiedlungsgeschichte;  die  Formen  des  Gemein- 
wesens, in  dem  die  Angesicdelten  lebten,  ergiebt  ilneVerfassungs- 
geschiclite,  und  die  feindlichen  wie  freundlichen  Berührungen, 
in  die  sie  mit  Körnern  und  germanischeil  Nachbarstämmen 
kamen,  bewahrt  ihre  politische  Geschichte. 

Die  Alamannen  siedelten  sich  in  Gauen  und  deren  Theilen, 
den  Huutareu  und  Zehntschaften  (Hnntarenmarken  und  Zehnt- 
schaftsmarken)  an,  gaben  ihrer  Verfassung,  der  Gau  Verfassung, 
Gaue  mit  Königen  an  der  Spitze,  Huntaren  mit  Hunnen,  und 
Zehntschaften  mit  Zehntem  zur  Grundlage,  und  handelnd  oder 
leidend  waren  es  Gaue,  einzelne  oder  verbündete,  welche  ihre 
äussern  Geschicke  bestimmten.  Die  Geschichte  der  Alamannen 
ist  somit  Gaugescbichto. 

Will  mau  sic  erkunden,  so  muss  mau  nicht  nur  die 
natürliche  Beschaffenheit  ihres  Landes,  Gebirge  und  Flachland, 
Flüsse  und  Seen,  sondern  auch  die  Gestaltung  kennen,  welche 
die  Ansiedler  dem  Boden  gegeben  haben,  die  Gaue  und  ihre 
Theile.  Diese  Kunde  lehrt  die  Gaugeographie,  sie  giebt  den 
lesten  Rahmen  für  die  Gaugeschichte. 

Nachrichten  über  die  Gaue  sind  aus  dem  4.  und  dann  aus 
dem  8.  und  späteren  Jahrhunderten  überliefert.  Von  den  älteren 
Gauen  sind  nach  den  geschichtlichen  Andeutungen,  welche 
Ammiauus  Marcellinus  giebt,  die  ungefähren  Umrisse  herzustellen. 


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XVI 


Reichlichere  Nachrienten  sind  über  die  jüngeren  vorhanden, 
theils  in  geschichtlichen  Hindeutungen  auf  schon  untergegangene 
Formen,  theils  in  der  Wiedergabe  des  aktuellen  Zustandes  be- 
stehend. Die  gaugeographischen  Arbeiten  aus  dem  Lauf  des 
vorigen  und  unseres  Jahrhunderts  haben  die  jüngeren  Nach- 
richten je  für  einzelne  Staaten,  Nassau,  beide  Hessen,  Baiern, 
Württemberg,  Baden,  Eisass,  die  Schweiz,  zur  Darstellung  der 
Gaue  verwendet.  Fasst  man,  was  sie  geschaffen,  zu  einem 
gemeinsamen  Beobachtungsfeld  zusammen,  scheidet  man  die 
Gaue  von  den  Huntaren,  so  ergeben  sich  die  Anknüpfungspunkte 
für  die  alten  Gaue  des  4.  Jahrhunderts  und  damit  zugleich 
eine  territoriale  Erläuterung  der  Verfassung  und  der  wirtschaft- 
lichen und  politischen  Geschichte  der  Alamannen  aus  der  Zeit 
ihrer  nationalen  Selbständigkeit.  Bis  zu  deren  Ende  im  Jahr 
536  ist  die  Geschichte  der  Gaue  zugleich  die  des  Volksthums, 
und  ich  will  versuchen,  sie  bis  etwa  um  diese  Zeit  zu  erzählen. 
Es  ist  die  Geschichte  des  einzigen  Germanenstammes,  der,  auf 
römischem  Boden  siedelnd,  trotz  seinen  dauernden  Berührungen 
mit  dem  römischen  Gallien,  wo  es  auch  war  von  römischen 
Einflüssen  sich  freigehalten  und  dadurch  den  Südwesten  Deutsch- 
lands und  die  deutsche  Schweiz  dem  deutschen  Volksthum 
gesichert  hat. 

Die  Einverleibung  eines  Theils  von  Alamannien  in  das 
fränkische  Reich,  die  Angliederung  des  anderen  in  den  Jahren 
4!)6  und  336  verwandelte  die  Gau-  in  die  Grafschafts- 
Verfassung,  indem  sie  an  Stelle  der  Könige  Beamte,  die  Grafen, 
setzte.  Aber  die  Elemente  der  Gauverfassung  blieben:  Gaue, 
Huntaren  und  Zehntschaften ; die  ersteren  lösten  sich  jedoch 
später  auf.  Die  Grundlage  der  Grafschaft  war  erst  der  Gau, 
dann  der  Theilgau,  dann  die  Huntare  oder  ein  grösserer  Complex, 
die  Bar.  Die  Huntare  oder  in  ihr  die  Zehntschaften  bewahrten 
ihre  wirtschaftliche  Function.  Auch  hier  ergänzen  sich  für 
die  Erkundung  die  Verfassungslehre  und  das  territoriale  Vor- 
kommen gegenseitig,  und  es  wird  möglich  sein,  den  Entwicklungs- 
gang der  Gaue  von  dem  4.  bis  zum  10.  Jahrhundert  und  weiter 
zu  verfolgen. 


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Die  Darstellung  kann  bei  dem  Zustand  unserer  Quellen 
inhaltlich  nur  eine  ungleichmässige  sein.  Kein  Alamanne  hat 
die  Geschichte  seines  Stammes  geschrieben,  sie  ist  uns  fast 
allein  in  abgerissenen  Notizen  römischer  und  griechischer, 
(rinkischer  und  gothischer  Schriftsteller  überliefert,  in  die  sich 
hin  und  wieder  eine  mehr  ausgeführte  Einzelheit  mischt. 

Eine  Ausnahme  macht  nur  die  zusammenhängende  Dar- 
stellung des  Ammian  aus  den  Jahren  354—377,  an  die  sich 
ergänzend  einige  andere  Nachrichten  anschliessen.  Aus  Ammian 
entnehmen  wir  die  Kunde  dor  Gau  Verfassung,  der  alten  Gaue, 
die  Stellung  der  Gaukönige,  der  Beziehungen  der  Gaue  zu  den 
Körnern  und  ihre  kriegerischen  Unternehmungen  von  vorüber- 
gehenden Erfolgen  und  dauernden  Niederlagen.  Es  ist  die 
nüchterne  Darstellung  eines  Soldaten,  aber  die  eingehende 
Kenntnis«  von  den  Alamannen  des  4.  Jahrhunderts,  dio  sie 
gewährt,  ist  um  so  werthvoller,  als  aus  der  gleichen  Zeit  der 
Zustand  keines  anderen  Germaneustammcs  uns  so  deutlich  vor 
die  Augen  tritt. 

Für  die  Grafschaftsverfassung  bietet  sich  das  fränkische 
Reichsrecht,  sowie  der  Inhalt  des  alamannischen  Gesetzbuchs 
dar,  und  für  die  territorialen  Verbände  ein  ungeheurer  Trümmer- 
hanfe  von  Einzelhachrichten,  aus  denen  sie  wieder  hergestellt 
oder  herzustellen  sind.  Aber  das  Gebäude  kann  nur  noch 
lückenhaft  aufgerichtet  werden.  Hier  fehlen  die  Gaue  oder  ihre 
Ausdehnung  ist  unsicher,  dort  die  Huntaren  oder  ihre  Zu- 
gehörigkeit zu  den  Gauen  ist  ungewiss;  die  Darstellung  der 
Grafschaften  ist  keine  erschöpfende.  Neuere  Schichten  über- 
decken die  älteren  und  lassen  diese  nicht  mehr  erkennen, 
findet  sich  da  kein  Trümmerstück  zur  Ergänzung,  so  muss,  um 
nicht  das  Ergebniss  gänzlich  unbefriedigend  zu  lassen,  eine  sich 
als  solche  aukündigende  Combination  von  immer  zweifelhaftem 
Werth  eintreten.  Ganz  unvollständig  erscheint  bei  dem  heutigen 
Stand  der  Untersuchung  das  System  der  Zehntschaften. 


Erstes  Buch. 


Die  Königszeit. 


c r • m * r , oe»otalo»>*e  d«r  AUm.narn. 


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Erstes  Kapitel. 

Das  römische  Obergermanien  und  Rätien. 

Wandernde  germanische  Kriegshaulen,  die  sich  Alamannen 
nannten,  besetzten  und  besiedelten  im  dritten  Jahrhundert  unserer 
Zeitrechnung  Südwestdeutschland,  im  ethnographischen  Sinn 
einen  Tlieil  von  Germanien,  im  Sinne  des  römischen  Staats- 
rechts römischen  Provincialboden. 

Germanien,  sagt  Tacitus,  wird  von  den  Galliern  durch  deu 
Rhein,  von  den  Raetiern  durch  die  Donau  getrennt.  Germania 
omnis  a Gallis  Raetisque  Rheno  et  Danuvio  fluminibus  separatur. 
Gallien  war  seit  dtn  Eroberungen  Cäsars  in  den  Jahren  58—50, 
Rätien  seit  dem  Siege  der  Brüder  Drusus  und  Tiberius  im 
Jahr  15  v.  Chr.  fester  römischer  Besitz. 

Als  Tacitus  im  Jahr  98  n.  Chr.  sein  Buch  über  Germanien 
mit  jenen  Worten  einleitete,  hatten  die  Römer  bereits  von 
Gallien  aus  den  mittleren  und  oberen  Rhein,  von  Rätien  aus 
die  obere  Donau  überschritten,  hier  das  Decumatenland,  vom 
Rhein  bis  zur  Rhön  80  Beugen  weit,  besiedelt  und  zum  Schutz 
des  grössten  Theils  den  obergermanischen  und  rätischen  Greuz- 
wall  aufgeführt.  Ein  Zusatz  zum  Veroneser  Provinzialver- 
zeiehniss  sagt:  LXXX  leugas  trans  Rhenum  Romani  possederunt 
(Mommsen,  Röm.  Geschichte  5,  137)  und  Tacitus  schildert  den 
Hergang:  „Nicht  möchte  ich,  wie  sie  sich  jenseits  des  Rheins 
und  der  Donau  niedergelassen,  zu  den  Völkern  Germaniens  die- 
jenigen zählen,  welche  das  Decumatenland  bebauen.  Das  loseste, 
aus  Mangel  unternehmungslustige  gallische  Gesindel  besetzte 
den  Boden  zweifelhaften  Besitzes.  Dann  zog  man  den  Grenz- 
wall und  schob  die  Besatzungen  vor,  und  jetzt  ist  er  ein  Vor- 
land des  Reichs  und  ein  Tlieil  der  Provinz.“  Non  numera- 


4 


verim  inter  Germaniae  populos,  quamquam  trans  Rlienum 
Danuviumque  consedeiint,  eos  qui  decumates  agi'os  exercent: 
Lcvissimus  quisque  Gallornm  et  inopia  audax  dubiae  possessionis 
solum  occupavere;  mox  limite  acto  promotisque  praesidiis  sinus 
imperii  et  pars  provinciae  habentur.  Germ.  29. 

Der  obergermanische  Grenzwall  verliess  bei  Rheinbrohl  den 
Rhein,  schloss  die  untere  Lahn,  den  Taunus,  einen  Theil  der 
Wetterau  in  sich,  lief  bis  Grosskrotzenburg  am  Main,  und 
während  dieser  bis  Miltenberg  den  natürlichen  Grenzschutz 
bildete,  von  hier  aus  in  gerader  Linie  bis  Lorch  in  der  Nähe 
des  Hohenstaufen.  Im  Norden  von  Lorch  schloss  sich  in  östlicher 
Richtung  der  rätische  Grenzwall  an,  der  die  Donau  bei  Hien- 
hcim,  gegenüber  von  Eining  traf. 

Das  Gebiet,  das  zwischen  dem  Rhein  und  dem  obergermani- 
schen Grenzwall  lag,  wurde  dem  römischen  Obergermanien,  der 
Strich  zwischen  der  Donau  und  dem  rätischen  Grenzwall  dem 
römischen  Rätien  einverloibt.  Die  Grenze  zwischen  Ober- 
germanien und  Rätien  wurde  so  gelegt,  dass  sie  die  Schweiz 
und  Südwestdeutschland  durchschnitt.  In  der  Schweiz  lief  sie 
vom  Gotthard,  Adula  aus,  den  Wallensee  Rätien  zu  weisend, 
den  Züricher  See  Obergermanien,  über  Pfyn,  ad  Fines  und 
Eschenz,  Tasgetium  zu  dem  Punkt,  wo  der  Rhein  den  Boden- 
soo  verlässt,  theilte  das  gesammte  Seegebiet,  den  Zeller  und 
Untersee  eingeschlossen,  Rätien,  den  Rhein  abwärts  Ober- 
germanien zu,  überschritt  etwa  bei  Tuttlingen  die  Donau  und 
schied  die  schwäbische  Alb  als  x-ätisch  von  dem  Flussgebiet 
des  Neckar  als  obergermanisch  von  einander,  bis  die  Grenzlinie 
in  dem  Kreuzungspunkt  der  beiden  Grenzwälle  bei  Lorch  endete. 

Rätien  umfasste  im  Osten  dieser  Grenzlinie  die  Alpen  der 
Ostschweiz  und  Westösterreichs  sowie  das  Flachland  bis  zur 
Donau  und  darüber  hinaus  bis  zum  rätischen  Grenzwall,  mithin 
die  Thäler  des  oberen  Rheins  mit  seinen  Zuflüssen,  den  Boden- 
see, ferner  die  Gebiete  der  obern  Etsch,  des  Inn,  der  obern 
Donau  etwa  von  Tuttlingen  bis  Eining,  während  die  Donau 
selbst  von  da  bis  Passau  und  der  Inn  selbst  von  Kufstein  bis 
Passau  die  Grenze  der  Provinz  Rätien  bildete.  Gegen  das  Ende 
des  dritten  Jahrhunderts  wurde  sie  in  zwei  Theile  zerlegt,  das 
obere  alpiue  Rätien,  Raetia  prima,  wahrscheinlich  mit  der  Haupt- 


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5 


stadt  Chur  (Curia)  und  das  untere  des  Flachlandes,  Raetia 
secunda  mit  der  Hauptstadt  Augsburg  (Augusta  Vindelicum). 

Obergermauien  begriff  in  sich  die  Alpen  der  westlichen 
Schweiz,  den  Jura,  das  Gebiet  des  rechten  Rheins  vom  Aus- 
fluss aus  dem  Bodensee  bis  Rheinbrohl  abwärts  mit  dem  Schwarz- 
wald, dem  Odenwald,  dem  Quellgebiet  der  Donau  und  den  Fluss- 
tbälern  des  Neckar  in  seiner  ganzen  Ausdehnung,  des  unteren 
Main  und  der  untern  Lahn. 

Zur  Zeit  der  Römer  sassen  in  Obergermauien  einige  Völker- 
schaften, deren  Namen  auch  später  wiederkehren. 

Die  Mattiaker  waren  eingewanderte  Chatten,  deren  Haupt- 
stadt Mattium,  Maden,  Kreis  Fritzlar,  später  die  Malstätte  des 
Hessengaus,  pagus  Hassiae  war.  Incenso  Mattio,  id  genti 
(Chattorum)  caput.  Ann.  I 56.  Das  Gebiet  der  Mattiaker 
umfasste  im  ersten  Jahrhundert  nach  Christus  den  Taunus  und 
bildete  eine  römische  Civitas.  Mattiacorum  gens,  Germ.  29; 
In  agro  Mattiaco,  Ann.  11,  20;  Mattiaticum,  Cod.  Theodos.  10, 
19,  6:  Civitas  Mattiacorum  Tannensium,  Inschrift.  Wiesbaden 
war  ihre  Hauptstadt,  deren  warme  Quellen  schon  damals  be- 
rühmt waren.  Drei  Tage  lang,  erzählt  Plinius,  kochte  der 
Brunnen  und  setzte  an  den  Rändern  Bimstein  an.  Aquae 
Mattiacae,  Ammian  29,  4,  3;  Sunt  et  Mattiaci  in  Germania 
fontes  calidi  trans  Rhenum,  quorum  haustus  triduo  fervet,  circa 
margines  vero  pumicem  faciunt  aquae,  Plinius  hist.  nat.  11,  20. 
Mattiakische  Kügelchen,  Mattiacae  pilae,  verwandte  man  zum 
Färben  grauer  Haare,  Martial  14,  27.  Mau  baute  auf  Silber 
ohne  sonderlichen  Erfolg.  Curtius  Rufus  in  agro  Mattiaco 
recluserat  specus  quaerendis  venis  argcnto,  unde  tenuis  fructus 
nec  in  longum  fuit.  Ann.  11,  20  zum  Jahr  47.  Neuerdings 
hat  man  an  dem  linken  Ufer  der  untern  Lahn  bei  dem  Blei- 
und  Silberbergwerk  Friedrichssegen  die  alten  Halden  entdeckt. 

Dem  Bataverlande  gegenüber  hebt  Tacitns  die  Boden- 
beschaffenheit und  das  Klima  als  günstig  und  den  geweckten 
Sinn  der  Mattiaker  hervor.  Zum  Reich  standen  sie  im  Ver- 
hältniss  der  reichsfreien  Civitates.  Sie  zahlten  keinen  Tribut 
und  keine  Steuer,  stellten  aber  Hülfstruppcn  zum  Heer.  Er 
lobt  ihre  Römertreue.  „Sie  sitzen  auf  ihrem  (Rhein-)  Ufer, 
aber  ihr  Herz  und  Sinn  ist  für  uns.“ 


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Im  Jahr  69  hatten  sich  die  Mattiaker  jedoch  an  dem  Aulstand 
des  Civilis  betheiligt,  indem  sie  mit  Chatten  und  Usipern  das 
ihnen  benachbarte  Mainz  belagerten,  wie  es  scheint,  ohne  Erfolg. 
Als  sie  genug  Beute  gesammelt,  zogen  sie  ab,  wurden  aber  auf 
der  Rückkehr  von  herbeieilenden  römischen  Truppen  geschlagen. 
Hist.  4,  37. 

Die  germanische  Yölkertafel  des  Ptolemaeus  aus  der  Zeit 
des  Antoninus  Pius  (138—161)  timt  der  Mattiaker,  die  erst  im 
4.  Jahrhundert  wieder  auftauchen,  keine  Erwähnung.  Sie  führt 
aber  Völkerschaften  auf,  „die  zwischen  dem  Rhein  und  dem 
Abr.obagebirge,“  nz-i-'j  -z  ' l’r'vvj  v.i\  -.w  ’AjJvojktVov  ipimv  sassen, 
worunter  gewöhnlich  der  Schwarzwald,  hier  aber  die  Gebirge, 
die  vom  Westerwald  bis  zum  Schwarzwald  den  rechten  Rhein 
begleiten,  verstanden  werden.  Es  sind,  so  weit  sie  hier  inter- 
essieren, die  Tenkerer,  Trptgpoi,  die  Ingrioncn,  ’ I—ouuvs;.  die 
Intuorgen,  ’ Ivwjspfoi,  die  Vargionen,  Oja^uovs;,  die  Karitner, 
Kapen««,  die  Uisper,  Outatof,  sowie  die  Oede  der  Helvetier, 
y,  t<7iv  ’ FJ/ju /jtouv  spspoc.  Zeuss  setzt  die  Tenkterer  (Tenkerer) 
etwa  in  den  Korden  des  Westerwaldes,  sieht  in  den  Ingrionen 
die  Bewohner  des  späteren  Engersgau  (am  Rhein  zwischen  Binz 
und  der  Mündung  der  Lahn),  verweist  die  Karitner,  Intuergen 
und  Vargionen  auf  die  Umgebung  des  Taunus  und  erklärt,  die 
Uisper  für  die  (Jsiper,  die  aus  dem  Norden  in  die  Maingegend 
gezogen  seien.  Weiter  hat  er  Mainaufwärts  die  Maruingen, 
M'YfyVjt'—M,  und  nördlich  neben  den  Chatten  die  Tubanten, 
T'/ojtaw <n'.  Die  helvetische  Oede  ist  der  Landstrich  zwischen 
der  Alp  und  dem  Rheine.  Zeuss,  Die  Deutschen  und 
ihre  Nachbarstämme,  305,  90,  99.  Mir  scheinen  jedoch 
unter  den  Vargionen  die  Vangionen  (um  und  hier  gegen- 
über von  Worms),  unter  den  Karitnen  vielleicht  die  Kraich- 
gauer,  unter  den  Uispern  die  Umwohner  der  Wisp,  die  bei 
Lorch  in  den  Rhein  mündet,  verstanden  zu  sein.  Dann  müsste 
man  am  Rhein  aufwärts  schreitend  so  ordnen:  im  Norden  der 
Lahn  Tenkterer  und  Ingrionen  (Engersgauer),  zwischen  Lahn 
und  Main  Wisperthäler,  im  Süden  des  Main  Vangionen  und 
Kraicligauer  und  zwischen  Alb  und  Rhein  die  helvetische  Oede. 
Weitere  Völkerschaften  des  im  3.  Jahrhundert  von  den  Ala- 
mannen besetzten  römischen  Gebiets  werden  nicht  genannt. 

Es  war  das  ganze  Obergermanien  des  rechten  Rheins,  wenn 


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man  von  dem  Strich  nördlich  des  Lahngebiets  absieht,  und  von 
Rätien  der  Antheil  nördlich  der  Donau  bis  Günzburg,  Guntia 
abwärts,  Gebiete  innerhalb  der  beiden  Grenzwälle,  welche  die 
Alamannen  den  Römern  abnahmen.  Nie  mehr  sollten  sie  von 
den  Römern  ausser  Besitz  gesetzt  werden.  Sie  Hessen  sich 
aber  auch  ausserhalb  dieser  Römergienzen  in  der  Rhön,  dem 
Spessart,  dem  Taunus  und  dem  Westerwald,  in  den 
Flussthälem  des  mittleren  Main  und  der  mittleren  Lahn 
nieder.  Von  hier  aus  machten  sie  zwei  Jahrhunderte  lang 
Einfälle  in  das  Rätien  der  rechten  Donau,  das  Gallien  des 
linken  Rheins,  das  nördliche  Italien;  von  da  aus  wurden  sie 
zurückgeschlagen  und  alamannische  Freiheit  und  römische  Herr- 
schaft schwankte  hin  und  her,  bis  sie  Sieger  über  die  Römer, 
bis  sie  Besiegte  der  Franken  wurden. 


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Zweites  Kapitel. 

Das  alamannische  Slantmland. 

1.  Der  Ursprung  der  Alamannen. 

Welches  war  der  Ursprung  dieses  Volkes,  dessen  Name, 
als  es  im  Jahre  213  am  Main  auftrat,  zuerst  genannt  wird? 
War  es  aus  verschiedenen  Stämmen  gemischt  oder  ein  einheit- 
licher Stamm?  Und  wie  ist  der  Stamm  entstanden?  Die 
Meinungen  sind  darüber  verschieden. 

An  die  Spitze  der  Einen  ist  der  Italer  Asinius  Quadratus 
zu  stellen,  der  Verfasser  einer  um  das  Jahr  250,  also  kaum 
ein  Menschenalter  nach  213,  in  griechischer  Sprache  ge- 
schriebenen römischen  Geschichte.  Er  wird  um  das  Jahr  570 
von  Agathias,  I,  6,  der  ihn  einen  genauen  Schilderer  germanischer 
Dinge  nennt,  citirt.  Quadratus  berichtet:  Oi  51  ’AXajuvvoi  Jov- 
TjX'jos»  (andere  Lesart  da tv  ivllpui-oi  **l  [»ifaos;,  xal 

tooto  5'jvavat  aÜTo:;  r(  eiriovopw.  „Die  Alamannen  sind  zusammen- 
gekommene  (zusammengespülte,  durch  Zufall  zusammenge- 
brachte) und  gemischte  Menschen  und  dieses  bedeutet  ihnen 
die  Benennung.“ 

Gleichzeitig  mit  dem  Auftreten  der  Alamannen  ver- 
schwinden aus  der  Geschichte  im  Nordwesten  Germaniens  unter 
Andern  die  Usiper  und  Tenkterer  und  im  Nordosten  die 
suevischen  Semnonen,  Stämme,  die  sich  also  auf  der  Wanderung 
zu  dem  neuen  Volk  der  Alamannen  vereinigt  haben  mögen.  Zeuss 
305  schliesst  daher:  „Das  neue  aus  den  verschiedenen  Theilen 
vereinigte  Gesauimtvolk  wird  sich  den  Bundesnamen  Alamannida 
(communio)  beigelegt  haben,  davon  hiessen  dann  die  an  der  \ er- 
einigung  Theil  nehmenden  Völker  Alamanni.“  In  der  gothischen 
Uebersetzung  das  Evangelium  Johannis  7,  46:  „Es  hat  nie 


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kein  Mensch  (in  omnibus  hominibns)  also  geredet,  wie  dieser 
Mensch“  heisst  es:  „in  allaim  alamannam“  d.  h.  „bei  den  All- 
menschen.“ Johannes  Meyer  in  Birlingers  Alamannia  VII  2til. 
Die  Allmenschen,  die  sich  in  dem  neuen  Volk  zusammenfanden, 
waren  Germanen,  und  wenn  sie  sich  Alamannen  nannten,  so 
drückten  sie  damit  AUyermanen  aus. 

Der  alten  Nachricht  der  alamaunischen  Völkermischung, 
wie  sie  Quadratus  vorgetragen,  steht  eine  neuere  Theorie  der 
Volkseinheit  gegenüber.  Das  einheitliche  Volk  seien  die 
Sneven,  die  nur  den  weiteren  Namen  Alamannen  trügen.  Diese 
Theorie  ftndet  ihren  ersten  Vertreter  in  Jacob  Grimm,  der 
Alamannen  mit  „ausgezeichneten  Männern,  Helden“,  übersetzte, 
und  ist  neuerdings  von  Baumann  mit  anderer  Begründung 
wieder  aufgenommen.  Ehe  ich  auf  die  letztere  näher  eingehe, 
will  ich  versuchen,  sie  durch  die  Darlegung  der  suevischen 
Wohnsitze  im  Südosten  des  Alamannenlandes  zu  widerlegen. 
(Siehe  Abschnitt  5 und  Kapitel  7,  Abschnitt  4 und  5). 

In  der  neuen  Vereinigung  sind  einige  ihrer  ursprünglichen 
Bestandtheile  zu  erkennen,  es  treten  die  Namen  der  Sueven, 
Jnthungen  und  Lenzer  hervor.  Die  Suebi  (dann  Suevi,  auch 
Snavi)  sind  die  Schweifenden,  Nomaden,  nach  Cäsar  Völker 
im  Westen  der  Elbe.  Sueben  waren  es,  die  unter  der  Führung 
des  Ariovist  im  Jahre  58  vor  Chr.  in  Gallien  einbrachen 
und  von  dort  zurückgewiesen  wurden.  Nach  des  Tacitus 
Bericht  vom  Ende  des  ersten  Jahrhunderts  nach  Chr.  waren 
die  Sueben  blutsverwandte  Völker,  die  den  gesammten  Osten 
von  Germanien  einnahmen.  Die  Oder  hiess  der  Suebenfluss, 

IVjTjjjOi  irOTCtJAOi. 

Im  3.  Jahrhundert,  in  dem  sie  als  Theil  der  Alamannen 
auftrateu,  sind  unter  ihnen  Namen  altsuebischer  Völkerschaften 
nicht  zu  erkennen,  und  w’ie  die  Alamannen  als  Allgermanen, 
so  mögen  sie  als  Allsueven  aufzufasseu  sein. 

Zur  Zeit  des  Tacitus  galten  unter  den  Sueben  die  Sem- 
nonen,  welche  zwischen  der  Elbe  und  der  Oder  in  hundert 
Gauen,  centum  pagis,  wohnten,  als  die  ältesten,  als  der  Ur- 
sprung und  die  vornehmsten  aller  Sueben.  Bei  ihnen  ver- 
sammelten sich  seit  uralten  Zeiten  die  Abgesandten  des  Ge- 
sammtvolkes  zur  nationalen  Gütterverelirung  in  einem  heiligen 
Hain.  Nur  gefesselt  durfte  man  ihn  betreten.  Wer  zur  Erde 


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fiel,  musste  sich  hinauswälzen,  denn  hier  war  der  Ursprung 
des  allwaltenden  Gottes,  hier  wurden  ihm  Menschenopfer 
gebracht.  Germ.  39. 

Wie  einst  als  die  ältesten,  so  gelten  die  Semnonen  ge- 
meiniglich auch  als  die  Sueven  der  jüngsten  Zeit,  als  die  An- 
siedler in  Südwestdeutschland,  aber  ihr  Karne  ist  verschwunden 
und  hier  nur  in  dem  Kamen  des  Königs  Semnon  vom  Lalmgau 
erhalten.  Zosimos  I,  68.  Die  Sueven  sind  aber  die  Altvordern 
der  heutigen  Schwaben. 

Wie  die  Kamen  der  Alamannen,  so  sind  auch  die  der 
Jnthungen  und  Lenzer,  Juthungi  und  Lentienses  ohne  Ge- 
schichte, sie  mögen  auf  der  Wanderung  enstanden,  Wander- 
namen sein.  Die  Juthungen  und  die  Sueven  sind,  wie  sich 
zeigen  wird,  ein  und  dasselbe  Volk  mit  doppeltem  Kamen,  und 
der  Umstand,  dass  der  Karne  der  gepriesenen  Semnonen  ver- 
klungen ist,  scheint  besonders  darauf  hinzudeuten,  dass  diese 
nicht  die  einzigen  Altsueven  waren,  die  den  Wanderzug  mit- 
machten.  So  mag  es  zu  erklären  sein,  dass  die  Wandernden 
sich  sowohl  nach  dem  alten  Gesammtnamen  Sueven,  als  auch 
nach  dem  unterscheidenden  Wandernamen  Juthungen  nannten. 
Wie  die  langobardischen,  oder  anglischen  Sueben,  i’oor(poi 
AoqfigjjiapSoi,  -vjr^v.  ' AyyeiXoi,  kann  man  sie  als  juthungisclie 
Sueven  bezeichnen.  Für  den  Ursprung  der  Lenzer  und  ihres 
Namens  fehlt  es  an  jedem  Anhalt.  Dass  die  Juthungen 
(Sueven)  und  Lenzer  Theile  der  Alamannen  ausmachten,  be- 
zeugt Arnmian  ausdrücklich  zum  Jahr  368:  Juthungi  Alaman- 
norum  pars.  17,  6,  1:  zum  Jahr  377:  Lentienses  Alamannorum 
populus.  31,  10,  2. 

Die  juthungischen  Sueven  bildeten  ein  compactes  Ganze 
im  Norden  der  Donau,  die  Lenzer  im  Westen  des  Bodensees, 
und  sie  behielten  auch  in  dem  Alamannenbunde  ihr  Stammes- 
bewusstsein. Die  Juthungen  rühmten  sich  im  Jahr  270  dem 
Kaiser  Aurelian  gegenüber,  ihr  Heer  bestehe  rein  aus  Juthungen 
und  sei  nicht  durch  Zumischung  Anderer  geschwächt ; 00  [iifcGiov, 
JoofhuTi'iuv  xzitaöK : vW  iv  tootoi;  Tai;  zzifjwv  iiajucfai; 

s-wxtcU'/VTK.  Dexippos  de  bell.  Syth.  1.  Bei  den  Ansiedlungen 
des  f>.  Jahrhunderts  und  später  trugen  sie  den  suevischen  Namen 
über  die  Donau  und  den  Bodensee.  die  Lenzer  den  ihrigen  in  die 


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dentsche  Umgebung  und  in  die  Schweiz,  und  bis  auf  den  heutigen 
Tag  haben  die  Schwaben  das  Stammesbewusstsein  bewahrt. 

Ausser  den  Namen  der  juthungischen  Sueven  und  der 
Lenzer  sind  die  der  übrigen  die  Alamannida  bildenden  Völker 
nicht  überliefert,  (siehe  jedoch  den  Schluss  des  Kapitels),  und 
hieraus  mag  zu  folgern  sein,  dass  sie  unter  einander  ver- 
schmolzen sind  und  damit  Eigenart  und  Namen  verloren  haben. 

Während  diese  erhaltenen  Namen  auf  die  Urzeit  oder  die 
der  Wanderung  hindeuten , gehören  andere  als  Gaunamen  der 
Periode  der  ersten  Ansiedlung  an.  Es  sind  die  der  Genossen 
des  Breisgau,  Brisigavi;  des  Buchengau,  Bucinobantes:  des 
Lahngau,  Logiones.  Auch  der  Name  der  Mattiaker,  Mattiaci 
nnd  ihrer  römischen  Civitas  ist  wahrscheinlich  alamannischer 
Gauname  geworden. 


2.  Das  dritte  Jahrhundert  und  die  erste  Hälfte 
des  vierten. 

Unter  welchen  Umständen  die  Alamannen  das  Land  be- 
setzt haben,  die  Schmach  des  Reiches  hat  kein  römischer 
Schriftsteller  berichtet.  Sie  sind  da.  Sie  erscheinen  am  Main, 
sie  sitzen,  ob  durch  Eine  ob  durch  mehrere  Wogen  hingetragen, 
an  der  Donau,  in  der  Nähe  des  Bodensees,  sie  gerathen  mit 
den  Herrn  des  Landes  in  Kämpfe,  überfluthen  die  römischen 
Nachbarländer  oder  werden  von  den  Römern  in  ihren  Sitzen 
heimgesucht.  Hieraus  können  wir  auf  das  Wann  und  Wo  der 
Besitzergreifung  schliessen.  Von  ihrer  Geschichte  lernen  wir 
nur  die  äussere  ihrer  unaufhörlichen  Kämpfe  mit  den  Römern 
kennen,  Erfolge  und  Niederlagen,  und  auch  diese  nur  in  ab- 
gerissenen Notizen,  bis  auf  einen  Theil  des  vierten  Jahrhunderts, 
ans  dem  uns  für  die  Jahre  354 — 377  die  zusammenhängende 
Geschichte  des  zeitgenössischen  Ammianus  Marcellinus  erhalten 
ist.  Was  auch  er  nur  andeutet,  wird  durch  andere  Quellen 
germanischer  Zustände  ergänzt,  nnd  so  können  wir  uns  ein 
Bild  davon  machen,  wie  sie  sich  in  Gauen  häuslich  und  politisch 
eingerichtet,  wie  sie  zu  Herrn  von  Thal,  Wald  und  Berg 
geworden. 


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Die  alamannische  Geschichte  beginnt  im  Westen  und  Norden 
des  Landes. 

Am  3.  August  des  Jahres  213  feierte  die  Brüderschaft  der 
Arvalen  vor  dem  Tempel  der  Juno  in  Rom  den  bevorstehenden 
Aufbruch  des  Kaiser  Caraialla  aus  Rätien  zur  Vernichtung  des 
Feindes,  ad  hostes  exstirpandos,  ein  Ziel,  das  Jahrhunderte 
lang  aufgestellt,  aber  nie  erreicht  wurde.  Er  überschritt  den 
rätischen  Limes,  zog  durch  Feindesland,  barbarorum  fines,  und 
schlug  die  Alamannen,  ein  zahlreiches  Reitervolk,  in  der  Nähe 
des  Main,  oder  erkaufte  von  ihnen,  wie  es  scheint,  den  Ruhm 
eines  Sieges.  Alamannos,  gentem  populosam,  ex  equo  mirifice 
pugnantem,  propeMoenum  devieit.  Aurel.  Victor  deCaes.  21.  2. 
Von  den  Völkern,  die  den  Alamannenbund  bildeten,  waren 
die  Tenkterer  berühmte  Reiter.  Tac.  Germ.  32,  und  die 
Juthungen  berühmten  sich  später  der  Stärke  ihres  Reiterheeres. 
Dexippos  1.  Am  t>.  Oktober  wurde  der  germanische  Sieg 
victoria  Germanica,  von  der  Bruderschaft  in  Rom  feierlich  ver- 
kündet. Acta  fratrum. 

Der  Main  ist  die  erste  Etappe  der  Alamannen,  die  wir 
kennen  lernen.  Der  Name  der  Alamannen  verschwindet  vorab 
und  taucht  erst  im  Jahre  259  wieder  auf.  Aber  unter  den 
Germanen  der  nächsten  Nachrichten  sind  auch  Alamannen  zu 
verstehen.  Noch  zur  Zeit  des  Kaisers  Probus,  berichtet  Vopiscus, 
seien  die  Alamannen  Germanen  genannt.  Vita  Proculi  13,  3. 

Unter  Alexander  Severus  (222  - 235)  brachen  die  Ger- 
manen, eine  Nation,  die  dem  römischen  Reiche  im  Nacken  sass, 
ea  natio  imminebat  rei  publicae  cervicibus,  mit  grossen  Heeren 
über  den  Rhein  und  die  Donau  in  Gallien  und  Rätien  ein,  zer- 
störten die  an  den  Ufern  gelegenen  Lager  und  überschwemmten 
Städte  und  Dörfer.  Der  Kaiser  eilte  aus  dem  Orient  an  den 
linken  Rhein  und  zog  bei  Mainz  ein  Heer  zusammen,  bei  dem 
sich  insbesondere  Parthisehe  und  Maurische  Bogenschützen,  als 
zum  Fernkampf  mit  den  Germanen  geeignet,  befanden,  da  diese 
im  Nahkampf  sich  den  Römern  gewachsen  zeigten;  er  schlug 
auch  eine  Schiffbrücke  über  den  Rhein.  Neben  diesen  Kriegs- 
vorbereitungen leitete  er  aber  auch  Friedensverhandlungen  mit 
den  Germanen  ein,  versprach  ihnen  Alles,  was  sie  bedürften, 
und  vor  Allem  Geld.  Er  leitete  damit  das  System  ein,  von 
den  Germanen  Frieden  zu  erkaufen.  Herodian  drückt  dies  so 


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aus : „Die  Germanen  sind  geldgierig  uud  bei  dem  Friedensschluss 
feilschen  sie  immer  mit  den  Römern  um  Gold.“  Die  Soldaten 
aber,  empört  über  eine  solche  Art  der  Kriegführung,  ermordeten 
den  Kaiser  in  Mainz.  Herodian  6,  7 ; Lampridius  Sever.  59,  1 ; 
Zonaras  12,  15. 

Sein  Nachfolger  Maximlnus  (235  — 238)  führte  die  vom 
Severus  gesammelten  Streitkräfte  über  den  Rhoin,  traf  aber, 
da  sich  die  Germanen  in  den  Schutz  ihres  Landes,  in  Wälder 
und  Sümpfe  zurückgezogen,  auf  keinen  Feind.  30,  40,  50 
römische  Meilen  weit  zerstörte  er  die  reifenden  Saaten  und 
setzte  die  hölzernen  Hütten  der  Dörfer,  vici,  in  Brand.  An 
einem  Sumpf,  in  dem  der  voransprengende  Kaiser  fast  versunken 
wäre,  kam  es  endlich  zur  Schlacht,  in  der  die  Germanen  unter- 
lagen. Zahlreiche  wurden  erschlagen  oder  zu  Gefangenen  ge- 
macht, Heerden  wurden  davongetrieben,  Beute  weggeschleppt. 
Die  Besiegten  ergaben  sich  ihm,  er  schloss  mit  ihnen  Freund- 
schaft und  Bundesgenossenschaft,  'ftXöxv  xai  auaacty/av,  und  liess 
sich  zahlreiche  Mannschaften,  insbesondere  Reiter  für  sein  Heer 
stellen.  Dann  marschierte  er  weiter  nach  Pannonien,  ein  Be- 
weis, dass  es  ihrer  Lage  nach  Alamannen  waren,  gegen  die  er 
gekämpft  hatte.  Herodian  7,  2 und  8;  Capitolinus  10,  4;  13,  3. 

Auch  den  folgenden  Kaisern  Gordian  (238  — 244)  nnd 
Drdus  (249  — 251)  werden  germanische  Siege  zugeschrieben. 
Gallus  ( 251 — 254)  schloss  mit  den  Germanen  einen  Friedensvertrag, 
nach  dem  er  ihnen  einen  jährlichen  Tribut  zahlte,  während  sie  sich 
verpflichteten,  das  Reich  mit  ihren  Verheerungen  zu  verschonen. 
Auch  liess  er  die  Legionen  aus  Germanien  abziehen.  Zonaras 
12,  21;  Zosimos  1,  28. 

Gallimus  (253  —268)  bewachte  sorgfältig  den  Rhein,  hielt 
die  Germanen,  soweit  er  konnte,  vom  Uebergang  ab  oder  trieb 
sie  zurück.  Aber  er  versicherte  sich  dabei  der  Unterstützung 
des  Königs  eines  Germanenstammes,  mit  dem  er  zu  diesem 
Zwecke  ein  Bündniss  abschloss,  srovSdc  ~yU  xiva  t«uv  ry/oopiviav 
3V/j;  l'tpjj.svix'yj.  Zosimos  1,  30;  Eutrop.  9,  8;  Aurel.  Victor 
Caes.  33.  In  den  Jahren  259  und  260  drang  jedoch  ein  ge- 
waltiges Heer  von  Alamannen,  so  werden  sie  ausdrücklich  ge- 
nannt, unter  der  Führung  ihres  Königs  Chrocus  als  Herzog, 
Ckrocus  Alamannorum  rex;  Alamannorum  vis;  collcctam  Ala- 
mannorum  gentem  in  Gallien  ein.  Der  AVeg  der  Verheerung 


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ist  in  das  Gebiet  der  Arverner  zu  verfolgen.  Der  König,  der 
wie  Gregor  berichtet,  auf  den  Rath  seiner  Mutter  alle  altehr- 
würdigen Gebäude  vernichten  liess,  zerstörte  hier  ein  gallisches 
Heiligthum  Vasso.  Weiter  wird  der  Memmatensis  mons  (Mende 
im  Departement  Loz^re)  und  Arles  erwähnt,  wo  er  seinen  Unter- 
gang fand.  (Nach  den  Einzelheiten  scheint  es  derselbe  Zug 
zu  sein,  den  Fredegar  2,  40  im  5.  Jahrhundert  den  Yandalen- 
könig  Chrocns  mit  Sueven  und  Alanen,  Chrocus  Wandalorurn 
rex  cum  Snaevis  et  Alanis  egressus  de  sedibus,  machen  lässt. 
Sein  Weg  ging  über  Mainz,  3*ptz,  Trier  und  Arles.)  Nach 
der  Verheerung  Galliens  zog  das  Alamannenheer  brandschatzend 
nach  Italien,  gelangte  nach  Ravenna  und  bedrohte  Rom,  wurde 
aber  von  Gallienus  auf  dem  Rückwege  bei  Mailand  (angeblich 
10000  gegen  300000  Mann)  geschlagen.  Aurel.  Victor  Caes.  33; 
Gregor  Hist.  Franc.  1,  30  und  32;  Eutrop.  9,  7. 

Inzwischen  hatte  Postumus,  vom  Kaiser  Valerian  zum  dux 
des  limes  transrhenanus  eingesetzt,  258  eine  zehnjährige  selbst- 
ständige Herrschaft  in  Gallien  begründet  und  hatte  wiederum 
die  Alamannen  von  dort  zu  vertreiben;  summotis  omnibus  Ger- 
manicis  gentibus.  Sieben  Jahre  lang  baute  er  im  Barbarenland, 
rn  solo  barbarico,  Kastelle,  die  nach  seinem  Tode  bei  einem 
plötzlichen  Einfall  der  Germanen,  subita  inruptione  Germanorum, 
zerstört  und  von  seinem  Nachfolger  Lollianus  wieder  hergestellt 
wurden.  Treb.  Pollio  tyr.  trig.  3,  6:  5,  4.  Das  Decumaten- 
land  innerhalb  der  beiden  Limes  ist  gemeint,  welches  somit  als 
Wohnsitz  der  alamannischen  Germanen  erscheint.  Der  Einfall 
ist  auf  neue  Alamannenhaufen,  die  über  den  Main  eindrangen, 
zurückzuführen.  Von  einer  Vertreibung  der  Angesessenen  ist 
keine  Rede.  Seitdem  wird  von  Zügen  nach  Gallien  vorab  nichts 
mehr  berichtet. 

Dagegen  tritt  nunmehr  der  Osten  und  Süden  des  Landes 
in  den  Vordergrund,  in  dem  die  Gaue  der  juthungischen  Sueven 
lagen.  Kein  Zweifel,  dass  sie  in  den  Jahren  259  und  260  an 
dem  grossen  Zuge  der  vereinigten  Alamannen  unter  dem  Herzog 
Chrocus  nach  Gallien  und  dem  nach  Italien  Theil  genommen 
hatten:  jetzt  in  den  Jahren  270  und  271  hatten  sie  die  Führung 
zweier  selbstständiger  Unternehmungen,  die  wiederum  auf  die 
Eroberung  Italiens  ausgingen.  Die  zersplitterten  und  durch 
ihre  scheinbaren  Widersprüche  verwirrenden  Nachrichten  neunen 


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sie  während  des  ersten  Zuges  theils  mit  dem  Gesammtnamen 
Alamannen,  theils  Sueven,  theils  Jutlmngen  und  gesellen  ihnen 
bald  ihre  Nachbarvölker,  bald  sogar  die  Sarmaten  zu,  die  man 
unbedenklich  wird  fallen  lassen  dürfen:  während  des  zweiten 
Zoges  werden  sie  als  Alamannen  oder  als  .Tuthungen,  auch  als 
.Markomannen  bezeichnet,  ein  Name,  den  schon  Zeuss  und 
Holländer  als  Alamannen  gelesen  haben.  Als  Sieger  in  der 
entscheidenden  Schlacht  des  Jahres  270  wird  der  Kaiser  Claudius 
(268  — 270),  aber  auch  sein  damaliger  Reitergeneral  Aurelian 
genannt,  der  gegen  das  Ende  des  ersten  Krieges  bereits  als 
Kaiser  (270 — 275)  erwähnt  wird  und  als  solcher  dann  den 
zweiten  führte. 

Der  zeitgenössische  Dexippos  bezeichnet  die  „Juthungen“ 
irrig  als  Scythen,  'looDou-noo;  IV.ü&ok.  Ihre  Heimath  war  die 
linke  Donau.  Aurelian,  der  mit  ihren  Gesandten  auf  dem 
rechten  Ufer  verhandelte,  drohte  ihnen,  er  werde  sie,  den  Fluss 
überschreitend,  in  ihrem  eigenen  Gebiet  aufsuchen,  röv  ’larpav 
vespflavTs;  sv  opots  ’jjMvspo«.  Dexippos  de  bell.  Scyth.  1.  Näher 
wohnten  sie  an  der  obern  Donau,  sv  sä«  wspl  Av  'lotpov  sa/astaf?, 
wo  nach  Zosimos  1,  49  am  Ende  des  ersten  Krieges  die  „Ala- 
mannen“ geschlagen  wurden.  Die  Sitze  der  juthungischen 
Alamannen  umfassten  also  die  schwäbische  Alb,  und  wenn  sie 
wirklich,  wie  sie  sich  nach  Dexippos  rühmten,  ein  Heer  von 
120  000  Mann  hatten,  noch  darüber  hinaus  das  Neckarthal.  Nach 
diesen  Erläuterungen  wird  die  folgende  Erzählung  verständlich 
werden. 

Die  „Juthungen“  lebten  mit  den  Römern  in  Frieden  und 
Bündniss.  Sie  bezogen  einen  Jahrestribut  und  stellten  dafür 
Mannschaft  zum  römischen  Heer.  (Dexippos.)  Da  brachen  sie 
(die  „Alamanneu“)  und  ihre  Nachbarvölker,  ’.-Uapavvot  xal  -A  irpö;- 
vm  wjtou  sllvr;  (Zosimos),  wahrscheinlich  Donau  abwärts 
wohnende  Stämme,  welche  Vopiscus  Sarmaten  nennt,  über  die 
Donau,  bemächtigten  sich  der  dort  gelegenen  römischen  Städte, 
zogen  durch  das  erste  Rätien,  über  die  römische  Strasse  des 
Brenner  und  gelangten  bis  in  die  Nähe  des  Gardasees.  Hier 
trugen  die  Römer  einen  glänzenden  Sieg  davon,  die  Hälfte  der 
„Alamannen“  blieb  auf  dem  Schlachtfelde.  Nach  Aurelius  Victor 
war  der  Kaiser  Claudius  der  Sieger,  seine  Münzen  melden  von 
einer  victoria  Germanica  und  Inschriften  nennen  ihn  Germanicus. 


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Nach  Vopiscus  war  es  unter  der  Regierung  des  Claudius  sein 
Reitergeneral  Aurelian,  der  die  „Sueven“  und  Sarmaten  schlag, 
und  nach  Dexippos  Aurelian,  der  die  „Juthungen“  mit  Heeres- 
macht  besiegte.  Alle  diese  Nachrichten  haben  denselben  ent- 
scheidenden Kampf  im  Auge.  Claudius  adversum  gentem 
Alamannorum  haud  procul  a lacu  Benaco  dimicans,  tantam 
multitudinem  fudit,  ut  aegre  pars  dimidia  superfuerit.  Aurel. 
Victor  epit.  34,  2.  Eqnites  sane  omnes  ante  imperium  sub 
Claudio  Aurelianus  gnbernavit.  — Item  Aurelianus  contra  Suebos 
et  Sarmatas  isdem  temporibns  vehementissime  dimicavit  ac 
florentissimam  victoriam  rettulit.  Flav.  Vopisc.  Aurel.  18,  1 und  2. 
AüpsXtavi;  xoera  xparo;  vixr'a«  tobe  ’loo&ouyifooj.  Dexippos  1. 
Aurelian  verfolgte  die  Fliehenden  bis  zur  Donau,  ein  Theil  ge- 
langte über  den  Fluss  in  die  Heimath,  während  bei  dem  Ueber- 
setzen  ihrer  Tausende  erschlagen  wurden  (Dexippos,  Zosimos). 
Ein  anderer  Tlieil  des  Heeres  wurde  auf  dem  rechten  Ufer 
abgeschnitten.  Hier  setzt  die  Erzählung  des  Dexippos  ein,  der 
Aurelian  bereits  als  Kaiser  bezeichnet. 

Die  Juthungen  schickten  ihm  Gesandte,  die  er  mit  dem 
kaiserlichen  Purpur  bekleidet,  auf  einer  Empore  sitzend,  von 
dem  Pomp  des  ganzen  Heeres  umgeben,  empfing.  „Staunend 
schwiegen  sie  lange,  dann  gab  er  ihnen  die  Erlaubnis  zu  reden.“ 
Und  nun  werden  die  Verhandlungen  in  rhetorischer  Form  wieder- 
gegeben. 

Die  Juthungen  erinnerten  an  die  guten  Beziehungen,  die 
bis  vor  Kurzem  zwischen  beiden  Völkern  geherrscht.  Sie  seien 
nicht  geschlagen,  sondern  dem  Glück  unterlegen.  40  000  Reiter, 
berühmt  durch  ihre  Kriegstüchtigkeit,  führten  sie  ins  Feld,  nicht 
mit  andern  gemischt  und  keine  unkräftigen,  sondern  reine 
Juthungen,  80  000  Mann  Fussvolk,  unbesiegt,  nicht  durch  die 
Beifügung  Anderer  geschwächt.  Kein  Volk  würde  den  Ju- 
thungen und  den  Römern  gewachsen  sein.  Bei  der  Unsicherheit 
einer  Entscheidung  zögen  sie  dem  Kriege  den  Frieden  vor, 
aber  nöthig  sei  es,  dass  die  Römer  zur  Zahlung  gemünzten  und 
ungemünzten  Goldes  und  von  Silber  zurückkehlten.  So  boten 
sie  Bündniss  mit  Tribut  oder  den  Krieg  an. 

Auf  diese  Rede,  welche  au  die  des  Ariovist  erinnert,  warf 
ihnen  der  Kaiser  den  Bruch  des  beschworenen  Bündnisses  vor. 
lieber  ihr  Heer,  Reiterei  wie  Fussvolk,  sei  er  nicht  im  Unklaren. 


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17 


Dem  stürmischen  Angriff  der  Germanen  stellte  er  die  überlegene 
Kriegserfalirnug  der  Römer  gegenüber  und  mahnte  an  das 
Schicksal  der  Scythen  (Gothen),  deren  er  300000,  von  beiden 
Seiten  der  Donau  vereinigt,  geschlagen  habe.  Er  drohte,  die 
Juthungen  in  ihrer  Heimath  auf  der  linken  Donau  heimzusuchen. 

Bestürzt  durch  diese  Worte  des  Kaisers,  sagt  Dexippos, 
und  an  dem  Abschluss  des  Bündnisses  verzweifelnd,  kehrten  die 
Juthungen  zu  den  Ihrigen  zurück.  Der  Ausgang  ist  nicht  zu 
ersehen,  wahrscheinlich  wurde  der  Kaiser  durch  die  einbrechenden 
Vaudaleu  nach  Pannonien  abgerufen.  (In  der  Niebuhrschen 
Ausgabe  des  Dexippos  ist  neben  den  geschlagenen  Scythen  auch 
von  „Alamannen“  die  Rede,  einer  blossen  Conjectur  des  Heraus- 
gebers.) 

Die  „Juthungen“  benutzten  die  Abwesenheit  des  Kaisers 
und  fielen  (als  „Alamannen“  bezeichnet)  noch  in  demselben 
Jahre  in  Italien  ein,  s~t  ’lxaXta;  — — StA  xr(v  t<7>v  'loolfoüffow 
jrcpowwtv.  Dexippos  2.  (Italiae)  urbes  Alamannorum 
vexationibus  affligebantur.  Aurel.  Victor  de  Caes.  35.  Aurelian 
eilte  aus  Pannonien  herbei,  wurde  aber  bei  Placentia  so  ge- 
schlagen, dass  es  beinahe  um  das  römische  Reich  geschehen 
gewesen  wäre.  Tanta  apud  Placentiam  clades  accepta  est,  ut 
Romanum  paene  solveretur  imperium.  Vopiscus  21,  1.  Die 
Alamannen  bedrohten  auch  Rom,  wurden  aber,  nachdem  im 
Januar  271  die  sybillischen  Bücher  zu  Ratlie  gezogen  waren, 
am  Metaurus  und  bei  Ticinum  geschlagen.  Epit.  35,  2. 

Trotz  dieser  Niederlagen  waren  es  wahrscheinlich  die 
Juthungen,  welche  ihre  Nachbarn,  die  Vindeliker  unter  ihre 
Herrschaft  brachten.  Der  Kaiser  befreite  sie  davon.  Vindclicos 
obsidione  barbarica  liberavit.  Vindelicis  juguin  barbaricao  servi- 
tutis  amovit.  Vopisc.  Aurel.  35,  4;  41,  8. 

Auch  auf  den  Münzen  Aurelians  wird  eiue  victoria  Germanica 
gefeiert  und  die  Inschriften  nennen  ihn  Germanicus.  In  seinem 
Triumphzuge  wurden  unter  Andern  „Sueben“,  Vandalen,  Ger- 
manen, Suebi,  Vandali,  Germani  auigeführt.  Vopisc.  Aurel.  35,  4. 

Bis  zum  Tode  Aurelians  herrschte  Ruhe  auf  allen  Grenzen. 
Dann  aber  brachen,  so  hiess  es  in  Rom,  Germanen  über  den  ober- 
germanischen  Limes  ein.  Es  werden  Alamannen  gewesen  sein, 
die  jenseits  des  Limes  sassen.  Sie  bemächtigten  sich  des  Decu- 
matenlandes,  rückten  zum  Rhein  und  über  den  Rhein.  Eine 

Cram  er,  Geschichte  der  Alamannen.  2 


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Episode  dieses  Zuges  wird  es  sein,  wenn  von  Probus  ans  der 
Zeit  vor  seinem  Kaisertum  erzählt  wird,  er  habe  Germanen 
und  Alamannen  weit  vom  Rhein  zurückgetrieben.  Sie  bemächtigten 
sich  aber  dann  Galliens,  seiner  mächtigen  und  reichen  Städte. 
Hier  besiegte  sie  zunächst  Proculus,  der  Gegenkaiser  des  Probus, 
dann  dieser  selbst  (276  — 282).  Limiten!  transrhenanum  Ger- 
mani  rupisse  dicuntur,  occupasse  urbes  validas,  nobiles,  divites 
et  potentes.  Vopisci  Tacitus  33.  Germani  et  Alamanni  (a  Probo) 
longe  a Rheni  summoti  litoribus.  Vopisci  Probus  12,  3.  (Pro- 
culus) Gallis  profuit,  nam  Alamannos,  qui  tune  adhuc  Germani 
dicebantur,  non  sine  gloriae  splendore  contrivit.  Vopisci 
Proculus  13,  3.  Die  Zahl  der  Städte,  die  Probus  ihnen  in 
Gallien  abnahm,  wird  auf  60  oder  gar  70  angegeben,  die  Zahl 
der  dort  Erschlagenen  auf  400  000  Mann.  Dann  verfolgte  er 
ihre  Reste  über  den  Rhein  und  durchquerte  von  der  Lahn  bis 
Rätien  das  Gebiet  der  Alamannen,  die  auch  hier  noch  als  Ger- 
manen bezeichnet  werden.  Zunächst  brach  im  römischen  Heere 
eine  Hungersnoth  aus.  Unendlicher  Regen  strömte  vom  Himmel, 
aber  Regen  mit  Getreide  gemischt,  so  dass  ein  Wunder  die 
Erschreckten  rettete,  die  sich  anfangs  scheuten,  das  himmlische 
Brod  zu  verzehren.  „Die  Reihe  der  schweren  Kämpfe  begann 
bei  den  Logionen,  einem  germanischen  Volk.“  aa/a;  xaptspaj 
i57<uviaato  -pÖTSpov  ulv  -pöc  Aiftiovaf,  stlvo;  l'spuavixov,  d.  h.  bei  dem 
germanischen  Volk  des  Lahngaus,  der  später  pagus  Logenahe 
hiess.  Probus  besiegte  das  Ganvolk,  nahm  ihren  König,  töv 
-o’j-cov  r^oupsvov  Semnon  mit  seinem  Sohne  gefangen,  begnadigte 
die  Fliehenden  und  entliess  sie  nach  Herausgabe  der  römischen 
Gefangenen  und  der  Beute.  Zosimos  1,  67;  Zonaras  12,  29. 
Der  Königsname  Semnon  erinnert  an  die  suevische  Abkunft 
eines  Theils  der  Alamannen. 

Probus  wendete  sich  dann  gen  Süden  und  trieb  die  Ala- 
mannen über  den  Neckar  und  die  Alb  zurück,  reliqnias  ultra 
Nierum  fluvitim  et  Albam  removit.  Aber  nenn  Könige  ver- 
schiedener Gaue,  reguli  novem  ex  diversus  gentibus;  novem 
reges  diversarum  gentium  (gentes  = Gaue;  siehe  3.  Kapitel), 
wohl  die  von  der  Lahn,  dem  Main,  dem  Neckar  und  der  Alb 
mussten  sich  ihm  ergeben.  Er  schloss  mit  ihnen  Frieden,  dessen 
Bedingungen  die  Stellung  von  Geiseln,  die  Herausgabe  aller 
Beute,  die  Lieferung  von  Getreide,  Kühen  und  Schafen  und  die 


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Aushebung  von  16000  Mann  Htilfstruppen  waren,  die  zu  50 
oder  60  unter  die  römischen  Truppenkörper  vertheilt  wurden. 
Er  verlangte  auch,  dass  sieh  die  Alamannen  des  Waffengebrauchs 
enthielten  und  den  Angriffen  anderer  Völker  gegenüber  die 
Hülfe  der  Römer  in  Anspruch  nehmen  sollten,  aber  dies  erschien 
nicht  durchführbar,  „es  sei  denn,  dass  der  römische  Limes  aus- 
gedehnt und  ganz  Germanien  zur  römischen  Provinz  gemacht 
würde.“  Gross  war  die  Beute.  Nicht  nur  was  die  Alamannen 
in  Gallien  erbeutet  hatten,  fiel  wieder  in  die  Hände  der  Römer, 
der  Kaiser  konnte  vielmehr  dem  Senat  berichten:  Wir  liessen 
ihnen  nur  den  Boden,  all'  ihre  Habe  besitzen  wir.  Illis  sola 
reliquimus  sola,  uos  eorum  omnia  possidemus. 

Vom  Decumatenland  zog  Probus  nach  Rätien  und  schlug 
auch  dort  eine  aufständische  Bewegung  nieder. 

Trotz  dieser  Erfolge  nennt  Vopiscus,  dem  wir  diese  Nach- 
richten verdanken  (Vita  Probi  11  — 16),  den  linken  Rhein  das 
römische  Ufer,  den  rechten  Barbarenland,  nostra  ripa,  solum 
barbaricum.  Man  liess  es  ihnen,  aber  Probus  gründete  hier  von 
Neuem  römische  Städte  und  Lager  und  legte  Besatzungen  hin- 
ein, welche  Landanweisungen  erhielten.  Das  hinderte  aber 
nicht,  dass  die  Alamannen  einmal  die  auf  den  Rheininseln  auf- 
geführten Luxusgebäude  in  Brand  steckten,  in  Rheno  Roman as 
lusorias  incendissent.  Vopisci  Bonosus  14.  Dem  Probus  ver- 
dankt der  Rhein,  oder  doch  der  linke  Rhein  die  Reben. 

Nach  dem  Tode  des  Probus  wiederholte  sich  alles  Frühere. 
Die  römische  Macht  im  Decumatenland  wuide  verstärkt  und 
wieder  über  den  Haufen  geworfen.  Verheerend  gingen  bald 
die  Kaiser,  bald  die  Alamannen  über  den  Rhein.  Das  ergeben 
vor  Allem  die  Lobreden  auf  die  Kaiser. 

Diodetian  (285  - 305)  baute  innerhalb  des  Limes  Städte 
und  Castelle  und  legte  Besatzungen  hinein.  Dann  erfolgten 
Vorstösse  der  Alamannen,  die  nur  aus  ihren  Folgen  erkennbar 
sind.  Maximum  (285  — 305)  überschritt  den  Rhein,  bezwang 
die  Aufständischen  und  verheerte  ihre  Gaue  mit  Feuer  und 
Schwert.  Constantia«  I Chlorus  (293  — 306)  durchmass  als 
Cäsar  ganz  Alamannien  von  der  Mainzerbrücke  bis  zum  Donau- 
übergang bei  Giinzburg,  brennend  und  raubend.  Ein  ala- 
mannischer  Gaukönig  gerieth  dabei  in  Gefangenschaft.  So  oft, 
heisst  es  dann  an  einer  späteren  Stelle,  Alamannien  nieder- 

2* 


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getreten  ist,  so  oft  ist  Sarmatien  vernichtet,  so  oft  sind  Juthungen, 
Quaden,  Carpen  geselllagen.  A ponte  Rheni  usque  ad  Danuvii 
transitnm  Guntiensem  deusta  atque  exhausta  penitus  Alamannia-, 
— cum  toties  procnlcata  esset  Alamannia,  toties  obtrita  Sar- 
matia;  Jnthungi,  Quadi,  Carpi  toties  profligati.  (Die  wichtigsten 
der  besiegten  Völker  werden  in  beiden  Ländern  hervorgehoben, 
iu  Alamannien  sind  es  die  Juthungen,  in  Sarmatien  die  Quaden 
und  Carpen.  Siehe  Zeuss  314.)  Vom  Rhein  bis  zur  Donau, 
von  Mainz  bis  Giinzburg,  das  war  also  die  Ausdehnung  der 
festen  Alamannensitze  in  der  Diagonale,  aber  auch  bis  an  die 
Quellen  der  Donau  wurden  die  Provinzen  Germanien  und  Rätien 
wieder  vorgeschoben,  porrectis  usque  ad  Danubii  caput  Germaniae 
Raetiaeque  limitibus  (Paneg.  Constantio  V,  2,  3,  10)  und  noch 
weiter.  Denn  um  300  schlug  der  Kaiser  die  Alamannen  bei 
Langres,  circa  Lingonas  und  tödtete  ihrer  60000  Mann.  Bei 
Windisch  auf  den  campi  Vindonii  oder  Vindonissae  schnitt  er 
ungeheure  Haufen  von  Alamannen  aus  verschiedenen  Gauen, 
immanem  ex  diversis  Germanorum  populis  multitudinem,  die  über 
den  gefrorenen  Rhein  gesetzt  waren,  als  der  Strom  aufthanto, 
ab  und  zwang  sie  zur  Ergebung.  Es  mögen  vorwiegend  die 
benachbarten  Breisgauer  und  Lenzer  gewesen  sein. 

Maximian  wie  Constantius  werden  gerühmt,  dass  sic  beide 
Limes  wiederhergestellt  und  durch  Castelle  und  Besatzungen 
gesichert  haben.  Toto  Rheni  et  Histri  limite  restituta.  Eumen. 
p.  rest.  schol.  18.  Wenn  aber  im  Jahr  289  ein  Redner  dem 
Maximian  zurief:  Was  ich  über  dem  Rhein  sehe,  ist  römisch, 
quiequid  ultra  Rhenum  prospicio,  Romanum  est,  so  entsprach 
das  keineswegs  einem  sichern  und  dauernden  Zustand.  Mamer- 
tinus  paneg.  Maximiano  5 — 7;  Zosimos  2,  34;  Paneg.  Con- 
stantio  V 2,  3,  10;  Paneg.  Constantino  7,  4—6.;  Eutrop.  9,  23. 

Unter  den  römischen  Heerführern,  welche  Constantia  (den 
Grossen  306  — 337)  in  Britanien  zum  Kaiser  ausriefen,  war 
vor  Allen  ein  alamannischer  Gaukönig  Crocus,  der  an  der 
Spitze  von  Hiillstruppen  seiner  Landsleute  stand,  ein  erstes 
Beispiel  der  einflussreichen  Stellung  eines  Alamannen  im 
römischen  Reiche.  Quo  (Constantio)  mortuo,  cunctis  qui  aderant 
adnitentibus,  sed  praecipue  Crocu  Alamannoruin  rege,  auxilii 
gratia  Constantium  comitato,  (Constantinus)  imperium  capit. 
Aurel.  Victor  epit.  41,  3.  Auch  später  hatte  der  Kaiser  viel- 


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fach  Germanen  bei  sich  im  Heer.  Aber  er  führte  auch  viel- 
fache Kämpfe  gegen  Germanen,  und  an  zweien  waren  auch  die 
Alamannen  beteiligt.  Constantin  vernichtete  alamannische  und 
fränkische  Heere  und  zwang  deren  gefangene  Könige  bei  seinem 
Triumphzuge  zum  Kampf  mit  wilden  Thieren  im  Circus.  Später 
vereinigten  sich  Bructerer,  Chamaven,  Cherusker,  Vangionen, 
Alamannen  und  Tubanten  wahrscheinlich  zu  einem  Zuge  nach 
Gallien.  Er  besiegte  sie  in  einer  Schlacht  und  verheerte  ihre 
Gaue.  Die  wilden  Völker  vertrieb  er,  die  gefügigen  behandelte 
er  milde.  Vor  Allem  aber  befestigte  er  die  Rheinlinie,  errichtete 
Castra  und  Castelle,  hielt  eine  Flotte  von  Kriegsschiffen  auf 
dem  Strom  und  baute  Brücken  über  den  Rhein  bei  Cöln  und 
über  die  Donau  zum  raschen  Einmarsch  in  das  Barbarenland, 
Der  Rhein  war  römisch,  der  Neckar  und  Main  barbarisch, 
barbarus  Nicer  et  Moenus.  Zosimos  2,  15;  Eutrop.  10,  3;  Johannes 
Antiochenus  109;  Nazarii  Paneg.  Constantino  18;  Eusebius  vita 
Constantini  1,  25;  Paneg.  Constantino  13,  18,  22. 

(Vergleiche:  A.  Holländer,  die  Kriege  der  Alamannen  mit 
den  Römern  im  3.  Jahrhundert  n.  Chr.,  in  der  Zeitschrift  für 
die  Geschichte  des  Oberrheins,  Bd.  26,  1874,  S.  265  u.  flgde. 
A.  Riese,  das  rheinische  Germanien  in  derantikenLitteratur,  1892.) 


8.  Die  Besitzergreifung. 

Fasst  man  diese  der  ersten  Besitzperiode  von  125  Jahren 
entnommenen  geschichtlichen  Nachrichten  zusammen,  so  ist  es 
ausser  Zweifel,  dass  die  Besitzergreifung  Alamanniens  schon 
in  der  Mitte  des  3.  Jahrhunderts  vollendet  war. 

Der  Wanderzug  der  Alamannen  ging  von  Norden  nach 
Süden.  Als  sie  213  am  Main  angekommen  waren,  hatten  sie 
wahrscheinlich  bereits  das  Lahn-  und  Mainthal  besetzt.  Dass 
sie  sodann  im  Süden  in  weiter  Ausdehnung  sich  angesiedelt 
hatten,  beweisen  die  starken  Heere,  die  sie  schon  256  — 260 
über  den  Mittelrhein  nach  Gallien  und  Italien  gegen  den  Kaiser 


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Gallienus,  270  bis  271  über  die  obere  Dona«  nach  Italien  gegen 
die  Kaiser  Claudius  und  Aurelian  sendeten.  Die  späteren  Ein- 
brüche nach  Gallien  bezeugen  ein  Gleiches.  Für  das  Jahr  296 
ist  die  Ausdehnung  des  Alamannenlandes  vom  Rhein  bei  Mainz 
bis  zur  Donau  bei  Günzburg  und  dann  auch  weiter  bis  zu  dem 
Quellgebiet  der  Donau  bezeugt.  Spezielle  Nachrichten  darüber, 
dass  auch  der  Schwarz wald  und  das  Gebiet  zwischen  dem  Ur- 
sprung der  Donau  und  dem  oberen  Rhein,  bis  wo  er  aus  dem 
Bodensee  fliesst,  von  den  Alamannen  besetzt  sei,  fehlen  für 
dieses  Jahrhundert.  Aber  es  wird  nicht  daran  zu  zweifeln 
sein.  Um  300  weisen  die  Siege  des  Constantius  Chlorus  bei 
Langres  und  Windisch  darauf  hin  und  in  der  Mitte  des  4.  Jahr- 
hunderts ist  auch  hier  alamannischer  Besitz  bekundet. 

Die  Occupation  des  römischen  Decnmatenlandes  begann 
mit  der  Zerstörung  der  zwei  Jahrhunderte  alten,  reichen 
römischen  Kultur.  Städte  waren  den  Alamannen  ein  Gräuel. 
„Sie  meiden  sie  wie  umgitterte  Grabstätten“.  Ipsa  oppida  nt 
circumdata  retiis  busta  decl.inant.  Ammian  16,  2,  12.  (Siehe 
Kapitel  8,  Abschnitt  2.)  Aber  die  Anlagen  des  römischen  Acker- 
baus machten  sie  sich  zu  Nutze.  Die  Gaue,  die  sie  in  dem  er- 
oberten Gebiet  gründeten,  bildeten  selbstständige  Staatsverbände, 
die  völlig  unabhängig  vom  römischen  Reich  waren.  Man  Hess  sie 
vorab  gewähren,  zahlte  ihnen  sogar  Tribut,  um  nicht  durch  sie  be- 
lästigt zu  werden.  Maximinus  war  der  Erste,  der  nach  ihrer  Nieder- 
lage versuchte,  die  Alamannen  durch  Bündniss  an  das  Reich 
zu  ketten;  sie  antworteten  durch  die  grossen  Züge  nach  Gallien 
und  Italien.  Postumus  war  der  Erste,  der  rechts  vom  Rhein 
wieder  Castelle,  Probus  der  Erste,  der  wieder  römische  Städte 
gründete,  aber  sie  wurden  zerstört.  Es  bildete  sich  ein  System, 
das  zwischen  Tributzahlung.  Verheerung  und  Abhängigmachung 
schwankte.  Die  Schöpfungen  der  energischen  Kaiser  waren 
vorübergehend,  jeder  folgende  musste  von  Neuem  beginnen. 
Den  Besitz  des  Landes  selbst  den  Alamannen  zu  nehmen,  ist 
nie  der  Versuch  gemacht. 

Hatte  Taeitus  das  Decumatenland  ein  Vorland  des  römischen 
Reiches  genannt,  so  war  davon  im  dritten  und  nächsten  Jahr- 
hundert selbst  zur  Zeit  des  Probus  keine  Rede  mehr.  Unter 
Postumus  hicss  der  früher  römische  Besitz  Alamannenland, 
solum  birbaricum,  und  selbst  Vopiseus,  der  Geschichtsschreiber 


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des  Probus,  nennt  deu  linken  Rhein  Römerland,  nostra  ripa, 
Romannm  solum  und  das  Alamannische  gleichfalls  solnm  bar- 
baricum.  Neckar  und  Main  waren  Alainannenflüsse,  und  es 
wird  gerühmt,  wenn  wieder  einmal  die  Limes  des  Rhein  und 
der  Donau  hergestellt  sind.  Das  rechtsrheinische  Gebiet 
zwischen  dem  Westerwald  und  dem  Bodensee  war  alamannisches 
Stammland  geworden. 

Aber  es  auszudehnen,  gelang  den  Alamannen  nicht.  Aus 
Gallien,  Italien,  Rätien  wurden  sie  jedesmal  unter  furchtbaren 
Verlusten  zurückgeschlagen.  Dieses  schreckliche  Volk,  sagt 
Ammian,  obwohl  von  seiner  ersten  Kindheit  an  durch  den 
Wechsel  des  Geschicks  wiederholentlich  geschwächt,  wuchs 
eben  so  oft  wieder  zu  jugendlicher  Kraft  heran,  so  dass  man 
meinen  sollte,  es  sei  Jahrhunderte  lang  verschont  geblieben. 
Immanis  natio,  jam  inde  ab  incunabilis  primis  varietate  casuum 
imminuta,  ita  saepius  adulescit,  ut  fuisse  longis  saeculis  aesti- 
matur  intacta.  28,  5.  9. 


4.  Die  zweite  Hälfte  des  vierten  Jahrhunderts. 

Die  folgende  Periode  der  alamannischen  Geschichte  von 
354 — 377  ist  uns  durch  die  Darstellung  des  Ammianus 
Marcellinus  bekannt.  Sie  ist  von  besonderem  Interesse,  da  sic 
eine  Vorstellung  der  Gaue  des  vierten  Jahrhunderts  bietet, 
dadurch  das  ganze  Ansiedlungsgebiet  Alamanniens  kennen  lehrt, 
und  da  sie  zeigt,  wie  die  Gaue  die  Grundlagen  des  politischen 
Lebens  bildeten.  Indem  die  Wiedergabe  der  geschichtlichen 
Entwicklung  einer  späteren  Darstellung  Vorbehalten  bleibt 
(siehe  Kapitel  5),  sollen  hier  daraus  nur  einzelne  Daten  zum 
Vortrag  gebracht  oder  aus  andern  Schriftstellern  ergänzt 
werden,  welche  die  Wohnsitze  der  schon  hervorgehobenen  Be- 
standteile des  Alamannenstammes,  der  Sueven  oder  Juthungcn 
und  der  Lenzer  erkennen  lassen. 

Etwa  in  der  zweiten  Hälfte  des  dritten  Jahrhunderts  hatten 
sich,  wie  es  scheint  unter  Verdrängung  von  Alamannen,  am 


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mittleren  Main  bis  an  den  Limes  Burgundianen  niedergelassen. 
Die  Nachbarschaft  zwischen  beiden  Stämmen,  die  sich  — ein 
bemerkenswerthes  Ergebuiss  der  Völkerwanderung  — später  an 
den  mittleren  Rhein,  an  den  Doubs  und  die  Aare  verpflanzte, 
sollte  für  immer  eine  feindliche  sein.  Schon  vor  203  standen 
sie  um  Grundstücke  im  Nachbarkrieg  von  wechselndem  Erfolg. 
Burgundiones  Alamannorum  agros  occupavere,  sed  sua  quoqnc 
clade  quaesitos.  Alamanni  terras  amisere,  sed  repetunt.  Mamertin 
geneth.  Maximiano  17.  Die  Kriege  setzten  sielt  im  4.  Jahr- 
hundert unter  den  Nachbarvölkern  aus  demselben  Grunde  fort, 
und  Ammian  behandelt  in  drei  Gruppen  von  Nachrichten  die 
Streitigkeiten  und  die  Grenzen. 

Im  Jahre  356  wurde  ein  „rechtsrheinisches“  Volk  (trans- 
rhenana  spatia)  vom  Kaiser  Constantins  von  ltätien  aus,  von 
den  Truppen  des  Cäsar  Julian  wahrscheinlich  vom  Schwarzwald 
aus,  und  von  „feindlichen  Nachbarn“,  flnitimis,  quos  hostes  fecore 
discordiae,  eingeschlossen.  Der  Kaiser  gewährte  ihnen  Frieden, 
pace  data,  zwischen  den  Nachbarn  wurde  der  Gegenstand 
des  Streits  entfernt  und  der  Streit  damit  beigelegt,  sedata 
jurgium  materia  vicinae  gentes  jam  concordabaut.  Im  nächsten 
Jahre  fielen  „Sueven“  in  Rätien  ein,  Suebos  Raetias  incursare, 
und  im  Jahre  358  wiederholten  dies  „Juthungen,  des  Friedens 
und  Bündnisses  vergessend“.  Bei  dieser  Gelegenheit  wird  mit- 
getheilt,  dass  die  Juthungen  einen  Theil  der  Alamannen  bildeten 
und  an  Italien,  dem  Rätien  zugerechnet  wurde,  grenzten; 
Juthungi  Alamannorum  pars,  Italicis  conterminans  tractibus, 
obliti  pacis  et  foederum.  16,  12,  15  und  16:  16,.  10,  20;  17,  6,  l. 
Fasst  man  diese  Berichte  zusammen,  so  ergiebt  sich,  dass  das 
rechtsrheinische  Volk  des  Jahres  356  dem  Stamm  der  Ala- 
mannen angehörte  und  dass  es  speziell  Juthungen  waren  und, 
wie  nicht  zu  bezweifeln,  Sueven;  Nachbarn  einerseits  der  Bur- 
gundionen, andererseits  von  Rätien.  Aber  die  Grenzen  sind 
noch  näher  bestimmt. 

Im  Jahre  35!)  zog  der  Cäsar  Julian  von  Mainz  aus  das 
Mainthal  aufwärts  quer  durch  das  Alamannenland  bis  zum  Limes, 
wo  die  Grenzsteine  der  Römer  und  Burgnndionen  standen, 
ad  regionem,  cui  Capellatii  vel  Palas  (Pfahl,  Pfahlgraben)  nomen 
est,  ubi  terminales  lapides  Romanorum  et  Burgundiorum  con- 
finia  distinguebant.  18,  2,  15.  Der  Limes  selbst  bildete  die 


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Grenze  des  römischen  Decumatenlandes,  die  Burgnndionen  sassen 
also  draussen.  Das  Wort  „Romanorum“,  welches  sich  in  der 
Handschrift  des  Ainmian  findet,  ist  in  den  Ausgaben  seit  1533 
durch  das  Wort  „Alamannorum“  ersetzt  (Nissen  in  der  West- 
deutschen Zeitschrift  6,  332).  Allerdings  führt  jedes  dieser 
Worte  geographisch  zu  demselben  Sinn,  da  359  die  Alamannen 
thatsächlich  an  die  Stelle  der  Römer  getreten  waren.  Vielleicht 
waren  die  Burgundionen  erst  nach  dem  Siege  und  Friedensschluss 
von  356  bis  unmittelbar  zum  Limes  vorgedrungen.  Zum  Jahr  370 
wird  dann  wieder  über  einen  Grenzstreit  berichtet.  Sie  stritten 
seit  lange  um  Salzquellen  und  Grenzen.  (Bnrgnndii)  salinaruin 
fraiumque  causa  Alamaunis  saepe  jurgebant.  28,  5,  11.  Die 
Salzquellen  können  nur  die  von  Schwäbisch-Hall  odei  Kissingen 
sein.  Schwäbisch-Hall,  das  man  gewöhnlich  annimmt,  würde 
bedeuten,  dass  die  Alamannen  über  die  Grenze  des  Limes  hin- 
aus wieder  Ansprüche  erhoben,  was  ja  nicht  unmöglich  ist. 
Ebensogut  kann  aber  auch  Kissingen  gemeint  sein,  im  Norden 
des  Main  ein  nicht  unwahrscheinlicher  Grenzpunkt  zwischen 
dem  Gebiet  der  Burgundionen  und  den  alamannischen  Gauen 
des  Königs  Makrian,  der  Wetteran  und  dem  Grabfeld.  Die 
Kampflustigen  könnten  übrigens  auch  um  beide  Quellen  ge- 
stritten haben. 

Der  Name  Suevtn  tritt  wieder  zum  Jahr  368  hervor.  An 
dem  Feldzug  des  Kaiser  Valentinian  von  diesem  Jahre  nahm 
auch  sein  neunjähriger  Sohn  Gratian  Theil,  dessen  Erzieher 
Ausonins,  der  Dichter  derMosella  war.  Es  wurden  zwei  Schlachten, 
die  eine  bei  Heilbronn  am  mittleren  Neckar  (bei  Solicomnum, 
sonst  Solicinium  genannt,  siehe  Kapitel  5 Abschnitt  5),  dio 
andere  an  der  Quelle  der  Donau  geschlagen.  Ausonius  besingt, 
wie  der  Gott  Danubius  seinen  kühlen  Quell  mitten  im  „Sueven- 
land“  ergiesst,  fontem  mediis  effundo  Suevis,  und  wie  er  dem 
Kaiser  Valens,  der  an  der  untern  Donau  stand,  mittheilen  will, 
dass  die  „Sucven“  durch  Niederlage,  Flucht  und  Brand  zu 
Grunde  gegangen  seien,  caede,  fuga,  flammis  stratos  periisse 
Suevos.  Der  Dichter  empfing  als  seinen  Antheil  an  der  Kriegs- 
beute ein  „suevisches“  Mädchen,  die  schöne  Bissula,  deren 
Heimath  der  Ursprung  der  Donau  war,  in  Suevae  gratiam  vir- 
gunculae;  conscia  nascentis  Bissula  Danubii.  Diese  Mittheilungen 
des  Ausonius  sind  um  so  werthvoller,  als  er  aus  eigener  Kriegs- 


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erfahrung  oder  aus  dem  Munde  seines  Zöglings  und  der  Bissnla 
wusste,  dass  am  mittleren  und  obera  Neckar  und  der  oben) 
Donau  Sucven  ihren  Wohnsitz  liatten.  (Ausonius  4.  und  5. 
Epigramm,  Lieder  der  Bissula  2 praef.:  Uliland  Sucvisch  • ala- 
mannische  Vorzeit,  8,  282  — 284.) 

Noch  zweimal  erscheint  der  Name  der  Juthungen,  um  dann 
völlig  zu  verschwinden.  Im  Jahre  887.  schreibt  der  Erzbischof 
Ambrosius  von  Mailand  (Epist.  24):  Die  Juthungen  verwüsteten 
Rätien  und  gegen  sie  wurden  Hunnen  und  Alanen  herbeigerufen. 
Juthungi  populabantur  Raetias  et  ideo  adversus  Juthungum 
Hunnus  accitus  est.  Die  Herbeigcholten  verheerten  dann  aber 
die  Gaue  Alamanniens  und  bedrohten  Gallien , bis  sie  von 
Valentinian  II.  zurückgedrängt  wurden.  Hunnus  proterebat 
Alamanniam  et  jam  urgebat  Gallias.  . . Yalentinianus  Hnmios 
atque  Alanos  appropinquantes  Galliae  per  Alamanniae  terras 
reflexit.  Zum  letzten  Mal  wird  der  Name  der  Juthungen  im 
Jahre  480  genannt.  Aetius  hegte  den  Plan,  sie  zu  vertilgen, 
Aetius  Jhutingorum  gentem  delcre  intendit.  Chron.  Gail,  anni  452 
zum  Jahr  430.  Er  schlug  sie  auch  sammt  ihren  Nachbarn  an 
der  Donau,  den  Vindelikern  und  Norikern.  Juthungi  per  eum 
debellantur.  Hydatius  zum  Jahr  430.  Nam  post  Juthungos  et 
Notiea  bella,  subacto  victor  Vindelico  etc.  Sidonius  Carmen  VII, 
233  — 235.  (Siehe  Kapitel  i>  Abschnitt  (i  und  Kapitel  8 Ab- 
schnitt 3.) 


•j.  Alamannen,  juthiingisehc  Sucven.  Lenzer  und  Andere. 

Nunmehr  lässt  sich  die  Bedeutung  der  Namen  Alamannen, 
Sueven,  Juthungen  und  Lenzer  geographisch  feststellen. 

Alnmunni,  Ahimininln  ist  der  allumfassende  Name  des 
Stammes  und  seines  Gebietes.  Zumal  Ammian  gebraucht  ihn 
in  diesem  Sinn,  die  Ausdrücke  Sueven  und  Juthungen  hat 
er  je  nur  einmal.  Von  der  östlichen  Grenze  Alamanniens  sind 
insbesondere  zu  fixiren:  Günzburg  an  der  Donau,  der  ober- 
germanische Limes  von  Lorch  bis  Miltenberg  und  entweder 
Schwäbisch-Hall  oder  Kissingcn. 


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27 


Die  Sturm  sind  uns  als  der  Völkertlieil  überliefert,  der 
an  dem  Donauursprung,  an  der  linken  Donau,  an  dem  mittlern 
Neckar  wohnt.  Nach  Ansonius  entspringt  die  Donau  mitten 
im  Suevenland.  Nach  Jordancs  überfüllt  etwa  473  Theodemir 
die  Sneven  in  ihrer  Heimath  an  der  linken  Donau.  Nach  Ammian 
fallen  sie  357  in  Rätien  ein.  Nach  Ausonius  werden  sie  368  in 
ihrer  Heimath  am  mittleren  Neckar  und  am  Donauursprung 
geschlagen. 

Die  Juthungen  erscheinen-  als  die  Nachbarn  Rätiens.  Nach 
Ammian  stossen  sie  357  an  Rätien,  nach  Ambrosius  verwüsten 
sie  387  Rätien,  nach  Hydatius  besiegt  430  Aetius  sie,  sowie 
die  benachbarten  Vindeliker  und  Noriker. 

Die  Sueben  und  die  Juthungen,  als  dasselbe  Volk  unter 
diesen  zwei  Namen  an  den  gleichen  Ereignissen  betheiligt,  sind 
270  und  271  nach  Victor  und  Vopiscus.  Dexippos  und  Zosimos 
Anwohner  der  oberen  linken  Donau  und  nach  Ammian  357  und 
358  Nachbarn  der  Burgundionen  am  Limes,  370  in  Schwäbischhall 
oder  Kissingen,  sowie  356  wahrscheinlich  Angrenzer  vom  öst- 
lichen Abhang  des  Schwarzwaldes. 

Stellt  man  diese  Nachrichten  zusammen,  so  zeigt  sich, 
dass  das  Gebiet  der  Sueven  und  das  der  Juthungen  überhaupt 
dasselbe  ist,  sie  selbst  also  ein  und  dasselbe  Volk  sind.  So 
sagen  auch  Zeuss  315  und  Müllenhof,  deutsche  Alterthums- 
kunde III  221,  315,  316. 

Die  Sitze  der  juthungischen  Sueven  sind  umspannt  im  Süden 
von  der  Donau  von  deren  Ursprung  bis  Giinzburg,  dem  äussersten 
Punkt  des  Alamannenlandes,  im  Osten  von  da  bis  Schwäbisch- 
Hall  oder  Kissingen,  im  Norden  von  da  etwa  bis  um  Heil- 
bronn, im  Westen  von  da  wahrscheinlich  über  den  Ostabhang  des 
Schwarzwaldes  bis  zum  Ursprung  der  Donau.  Das  ist  das  Gebiet 
der  schwäbischen  Alb  und  des  oberen  und  mittleren  Neckar. 
Darüber  hinaus  im  Norden  und  Westen  kommt  nur  der  Ala- 
mannenname vor.  Möglich,  dass  sich  der  suevisehe  Besitz  im 
Norden  noch  weiter  erstreckt  hat,  im  Westen  erhielt  sich  der 
Gegensatz  von  Suevien  und  Schwarz  waldgebiet  bis  tief  in  das 
Mittelalter. 

Die  Juthungen  sind  nach  der  ausdrücklichen  Bekundung 
Awmians  ein  Theil  der  Alamannen,  mithin  sind  es  auch  die  Sueven. 


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28 


Von  den  Lenzem  berichtet  nur  derselbe  Schriftsteller  und 
zwar  zu  den  Jahren  355  und  377.  Sie  hatten  mehrere  Gaue 
und  grenzten  an  Rätien.  Lentiensibus  Alaniannicis  pagis:  Ala- 
mannicus  populus,  tractibus  Raetiarum  confinis.  15.,  4,  1:  31, 
10,  2.  Weiter  siedelten  sie  in  der  Nähe  des  Bodensees,  15,  4,  1 ; 
am  Rhein  31,  10,  4;  um  die  Bergkegel  des  Hegau  und  am  an- 
stossenden  östlichen  Schwarzwald.  31,  10,  Sätze  2,  4,  12 — 17. 

Wie  verhält  sich  zu  diesen  Ergebnissen  der  Inhalt  der 
Peutinger’schen  Tafel  und  die  Völkerverzeichnisse,  das  Veroneser 
und  das  des  Honorius  hinsichtlich  der  Alamannen,  Sueven  und 
Juthungen?,  denn  von  Lenzem  ist  darin  keine  Rede. 

Die  Peutmger' sehe  Tafil,  nach  Männert  aus  der  Zeit  des 
Alexander  Severus  (222  — 235),  nach  Müllenhof  aus  der  Zeit 
nach  271,  aber  auch  nicht  viel  später,  stellt  die  Strassen  des 
römischen  Reiches  dar  und  enthält  in  einem  langen  schmalen 
Grenzstrich,  der  durch  den  Rhein  und  die  Donau  vom  Reich 
getrennt  ist,  die  Namen  einiger  germanischen  Völker.  Die  beiden 
Flüsse  sind  in  einer  geraden,  leise  gewellten  Linie  dargestellt, 
die  sich  links  als  Rhein  in  den  öcean,  rechts  als  Donau  in  das 
schwarze  Meer  ergicsst.  Die  Quellen  liegen  nicht  weit  von 
einander,  und  neben  ihnen  und  dem  Bodensee  zieht  sich  der 
Schwarzwald,  silva  Marciana,  hin.  Die  germanischen  Völker- 
namen, die  hier  allein  interessieren,  sind  in  die  Karte  theils 
roth,  theils  schwarz  eingetragen.  Die  Tafel  liegt  in  einfarbigem 
photographischen  Abdruck,  wie  nach  der  Ausgabe  von  Dr.  Conrad 
Miller  in  den  Farben  des  Originals  (Ravensburg  1888)  vor. 

Die  schwarzen  Buchstaben  tragen  ein  durchaus  anderes 
Gepräge  wie  die  rothen.  Diese  sind  meist  geschweift,  von 
weicherer,  jene  von  schärferer  Zeichnung.  Wo  sich  auf  der 
Karte  kein  Platz  für  weitere  Namen  fand,  sind  die  Buchstaben 
einiger  schwarz  zwischen  die  rothen  anderer  eingetragen,  so  an 
der  mittleren  Donau  schwarz  Jutugi  (=■  Juthungi)  zwischen 
roth  Quadi,  schwarz  Vanduli  zwischen  roth  Marcomanni,  am 
unteren  Rhein  schwarz  Chrestini  (=  Cherusci)  zwischen  roth 
Chauci  und  Chamavi  etc.  Hieraus  und  aus  dem  gesammten 
Charakter  der  Schrift  ergiebt  sich,  dass  von  den  germanischen 
Völkernamen  die  rothen  bei  der  Abfassung  der  Karte  eingetragen, 
die  schwarzen  in  späterer  Zeit  zugesetzt  sind. 


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29 


Koth  steht  eingetragen:  am  rechten  Rheinufer  (abgesehen 
von  Francia  etc.  am  Niederrhein)  Burctnri  (=  Bructuri)  und 
Alamannia  und  am  oberen  linken  Donauufer  Armalausi,  Marco- 
manni,  Quadi,  Bur. 

Die  Namen  stehen  deu  Stationen  der  römischen  Rhein-  und 
der  Neckar-Donau-Militairstrasso  gegenüber  und  werden  dadurch 
ihrer  geographischen  Ausdehnung  nach  festgestellt.  Aber  zwischen 
den  Xaehbarnamen  finden  sich  meist  weite  Lücken  und  diese 
sind  zwischen  ihnen,  so  weit  unsere  Keuntniss  reicht,  aufzu- 
Üieilen. 

Der  Name  Alamannia  steht  rotli  dem  Schwarzwald,  silva 
Marciana,  und  dem  Bodensee  gegenüber  und  erstreckt  sich  von 
Windisch  (Vindonissa)  aus  rheinabwärts  bis  Artalbrunum;  dann 
folgen  von  oberhalb  Coblenz  (Contluentes)  ab  die  Burctnri.  Die 
zwisehenliegende  Lücke  darf  bis  in  die  Gegend  des  Wester- 
waldes der  Alamannia  hingewiesen  werden.  Andererseits  reicht 
dieser  Name  an  der  Neckar- Donaulinie  von  Windisch  bis  Rott- 
weil (Arae  Flaviae)  und  es  folgen  Armalausi  von  Aalen  (Aqui- 
leja)  an.  Die  Lücke  bis  Lorch  (Ad  Litnaui)  am  Kreuzungspunkt 
der  beiden  Grenzwälle  gebührt  ganz  der  Alamannia. 

Ausserhalb  der  beiden  Limes  folgen  die  Armalausi  bis  etwa 
Günzenhausen  (Iciniacum),  die  Mareomanni  von  da  bis  etwa 
zur  Mündung  des  Inn  in  die  Donau  bei  Innstadt  (castellum 
Bojodunum),  die  Quadi  von  da  bis  etwa  Pressburg  (Carnuntum) 
und  von  da  die  „Bur“  bis  etwa  Buda-Pesth  (Aquincum).  Die 
Bnr  sind  nicht  auf  die  Burgundionen  zu  deuten,  die  hier  nie 
gesessen  haben,  es  ist  auch  nicht  mit  Müllenhof  Dur  = Hermunduri 
zu  lesen:  vielmehr  scheint  es,  dass  der  Zeichner  der  Karte  hier 
irrthümlich  die  Bnrcturi  habe  eintragen  wollen,  die  er  dann, 
ohne  diese  Buchstaben  zu  beseitigen,  an  den  Rhein  zwischen 
Cüln  und  Coblenz,  wohin  sie  auch  wohl  nicht  gehören,  ver- 
setzt hat. 

Sonach  erstreckt  sich  nach  der  Peutinger’schen  Tafel  Ala- 
mannia vom  Bodensee  den  Rhein  abwärts  bis  zum  Westerwald, 
und  erreicht  vom  See  ans  über  die  Donau  hinweg  den  Winkel 
der  beiden  Limes.  Der  obergermanische  Grenzwall  wird  in  seinem 
weiteren  Verlauf  die  Grenze  bilden,  da  ausserhalb  die  Arma- 
laasen  sassen.  Man  sieht,  die  Tafel  in  ihrer  ursprünglichen 
Form  hat  nur  die  Alamannia  eingezeichnet ; die  juthungischen 


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30 


Sueven,  die  nur  einen  Theil  der  Alamannen  ausmachten,  ein- 
zutragen, war  kein  Anlass. 

Seit  dem  4.  und  insbesondere  seit  dem  5.  Jahrhundert, 
wurde  aber,  wie  unten  (im  7.  Kapitel)  im  Zusammenhang  dar- 
gestellt werden  soll,  die  Bedeutung  der  Namen  Alamanni, 
Alamannia  und  Suevi,  Suevia  schwankend.  Während  der  Sprach- 
gebrauch den  Namen  der  Alamannen  einerseits  in  der  umfassenden 
Bedeutung  festhielt , setzte  er  ihn  den  Suevennamen  gegenüber 
herab.  Er  unterschied  die  suevischen  Alamannen  von  den  nicht 
sueviscben,  für  die  es  bis  dahin  keinen  gemeinsamen  Namen 
gab,  und  nannte  nunmehr  jene  Sueven,  diese  gegensätzlich  Ala- 
mannen. Dann  aber  dehnte  er  den  Suevennamen  aus  und  nannte 
den  ganzen  Stamm  bald  Alamannen  bald  Sueven.  Vor  dem 
Suevennamen  verklang  auch  der  Juthungenname,  und  seine 
geographische  Localisirung  mag  unsicher  geworden  sein.  So 
kam  es,  dass  dieser  Fortbildung  gemäss  die  Peutinger'sche  Tafel 
später  ergänzt  wurde.  In  die  Lücke  zwischen  den  rothen 
Namen  Burcturi  und  Alamannia  (Mainz  und  Strassburg  gegen- 
über) trug  man  schwarz  ein  : „Suevia“,  (zwischen  die  rothen  Buch- 
staben von  Marcomanni,  die  schwarzen  von  „Vanduli“)  und 
zwischen  die  rothen  von  Quadi  die  schwarzen  von  „Jutugi“ 
(Q  J U L’  .1  T D U G .7  J).  Suevia,  Alamannia  der  ergänzten 
Tafel  bedeutete  nunmehr,  sei  es  Suevieu  und  Alamannicu,  sei 
es  Suevien  oder  Alamannien  und  die  Juthungen  (Jutugi)  waren, 
von  Suevien  getrennt,  aus  Mangel  an  Raum  aut  der  Karte,  an 
die  Donau  zwischen  Passau  (Innstadt)  und  Pressburg,  wo  sie 
nie  gesessen  hatten,  verschoben. 

Der  spätere  Sprachgebrauch  lag  auch  zwei  weiteren  Ur- 
kunden zu  Grunde.  Julius  Honmius,  dem  eine  Karte  aus  der 
Zeit  von  375  vorlag  und  der  im  5.  Jahrhundert  schrieb,  hat, 
soweit  es  hier  interessirt,  folgendes  Völkerverzeichniss:  „Francii, 
Alanii  (=  Alamanni),  Snebi  Langobardi,  Tutuncii,  Burgundioues, 
Arinalausiui,  Marcomanni . . . Quadi.“  Suebi  Langobardi  sind  die 
langobardischeu  Sueven,  -'sjr'fri  W;-;o ßapow,  denen  die  Tutuucii 
(=  Juthungi)  als  juthungische  Sueven  augefügt  sind.  Und  die 
Veroneser  Völkcrtafd  aus  dem  Anfang  des  4.  Jahrhunderts 
führt  unter  den  Völkern,  die  in  der  Kaiserzeit  emporwuchsen, 
den  barbarae  gentes,  quae  pullulaverunt  sub  imperatoribns  auf: 
Cati  (Chatten),  Burgunziones,  Alamanni,  Suevi,  Franci,  Gallo- 


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vaci,  Jotungi,  Armilausini,  Alarcomanni,  Quadi.  Mflllenhof  ent- 
fenit  aus  dieser  Folge,  indem  er  ihnen  einen  anderen  Platz 
anweist,  die  Franci,  Gallovaci,  und  dann  treten  auch  hier 
die  Suevi  Jotungi  (Juthungen)  als  juthungische  Sueven  zu- 
sammen. Es  sind  die  „nachmaligen  Schwaben“,  „dieselben  mit 
dem  Jotungi“  (Müllenhof). 

Neben  den  Alamannen  und  den  juthungischen  Sueven  er- 
geben diese  Urkunden  zugleich  deren  Nachbarn,  soweit  es 
nicht  die  Römer  sind:  im  Osten  die  Armalausen  und  Bur- 
guudionen,  im  Norden  die  Chatten  und  Franken. 

Wenn  auch  nach  späterem  Sprachgebrauch  die  Begriffe 
Alamannien  und  Suevien  sich  decken,  so  ist  doch  niemals, 
weder  vorher  noch  nachher,  der  Ausdruck  Suevien  speciell  auf 
den  Schwarzwald  oder  gar  das  Eisass  ausgedehnt,  vielmehr 
halten  noch  Urkunden  de*  12.  und  späterer  Jahrhunderte  fest, 
dass  Suevien  im  Westen  nur  bis  an  den  Schwarzwald  reicht. 
Die  Jlortenau,  der  Breisgau  und  das  Eisass  sind  nach  ihnen 
nicht  suevisch.  In  einer  Urkunde  werden  im  Jahr  1139  Orte 
in  Alortunagia,  in  Brisegangia,  in  Alsatia  aufgeführt,  und  es 
folgen  dann  in  „Suevia“  Rimigesdorf,  Urslingen,  Villingcn, 
Asckaha,  Gruom,  Steten,  Witerhusen,  so  dass  der  Fuss  des 
Schwarzwaldes  die  suevische  Grenze  bildet:  links  vom  Neckar 
Römlensdorf  im  O.-A.  Oberndorf,  Stetten  im  O.-A.  Rottweil, 
A iedereschbach  im  B.  A.  Villingen,  die  Stadt  Villingen  selbst; 
rechts  vom  Neckar  Wittershausen  im  O.-A.  Sulz,  Irslingeu 
im  O.-A.  Kottweil  und  im  suevischen  Binnenland  Gruorn  im 
O.-A.  Urach.  Wirt.  Urkundenbuch  Nr.  310.  In  einer  Ur- 
kunde von  1215  heisst  es:  Brischaugia  vel  Alsatia  vel  AI ortno wa 
not  „Suevia“  provinciis.  Herrgott.  Gen.  Austr.  II,  Nr.  270. 
Im  Jahr  1280  liegen  Güter  in  Brisgow,  in  Alortnowe  und  in 
.Swaben“.  Zeitschrift  für  Gesch.  des  Oberrheins  9,  474. 
1340  schlossen  die  schwäbischen  Städte  Villingen  und  Rottweil 
ein  Bündniss  mit  Freiburg  im  Breisgau,  in  dem  „Schwaben“ 
und  Breisgau  als  zwei  verschiedene  Provinzen  behandelt 
werden.  Schreiber,  Urkundenbuch  von  Freiburg  I,  348.  Im 
14.  Jahrhundert  fassen  die  Ann.  Mellicenses  die  rheinischen 
Oaugenossen  als  Renenses  den  „Schwaben“  gegenüber  zu- 
sammen. Alon.  Germ.  Sc.  IX.  Stil.  Felix  Fabri  setzt  noch 
am  Eude  des  15.  Jahrhunderts  Brisgaudia  und  Alsatia  „Schwaben“ 


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gegenüber.  Nur  einmal  wird  am  Ende  des  12.  Jahrhunderts 
ein  elsässischer  Ort,  Hagenau,  als  suevisch  bezeichnet.  Ejiis- 
eopus  Argcutine  et  comes  de  Dasburg  Suevo  omnia  sua 
devastant  eique  in  tota  Suevia  cuncta  diripiunt  usque  ad  nrbeui 
imperialem,  qui  Hagenove  dicitnr.  Ann.  Col.  max.  zum  Jalir 
111)8.  Mon.  Germ.  Sc.  17,  806.  (Die  Citate  bei  ßaumann, 
Schwaben  und  Alamannen  in  Forschungen  zur  deutschen  Ge- 
schichte 16  S.  248,  255,  258).  — 

Während  die  Historiker  in  ihren  Darstellungen  nur  von 
den  Alamannen  und  (ihren  Bestaudtheilen)  den  Sueven,  Ju- 
thungen  und  Lenzem  reden,  haben  sich  am  Rhein  aus  der 
römischen  Periode  einige  Völkernamen  (Kapitel  1)  auch 
noch  in  der  alamanniseken  Zeit  erhalten,  insbesondere  die  der 
Mattiaker.  Das  römische  Staatshandbuch,  die  Notitia  dignitatum 
vom  Jahr  400  führt  unter  den  germanischen  Auxiliartruppen 
aus  alamannischem  Gebiet  Brcisgauer  und  Mattiaker  auf.  Es 
ist  berichtet,  dass  die  Ersteren,  deren  Gau  in  zwei  Tlieile  zer- 
fiel, seit  dem  Jahr  354  mit  den  Römern  im  Bftudniss  standen, 
und  dass  ein  solches  die  Stellung  von  Hülfstruppen  in  sich 
schloss  (Ammian  14,  10,  10  und  15).  Die  Truppen  etwa  des  obern 
und  untern  Breisgau,  die  Brisigavi  seniores  waren  in  Hispanien, 
die  juniores  in  Italien  garnisonirt.  Aehnlich  heisst  es  von  den 
Mattiakem:  die  Mattiaei  seniores  stehen  in  Italien,  die  juniores 
und  die  Gallicani  in  Gallien.  Dies  führt  auf  die  Vermuthung, 
dass  die  eingeborene  Bevölkerung  der  romanisirten  civitas 
Mattiacorum  sich  den  eindringenden  Alamannen  angeschlossen, 
ihre  Sitze  bewahrt  und  sie  in  eitlen  Mattiakergau  umgewandelt 
habe,  der  dann  in  die  drei  Tlieile  der  Mattiaei  seniores  und 
juniores,  etwa  des  oberen  und  unteren  rechten  Rheinufers,  und 
der  Gallicani  des  gallischen  Ufers  zerfielen.  Diese  Vermuthung 
wird  zur  Wahrscheinlichkeit,  wenn  man  in  diesem  Gebiet  die 
Namen  der  von  Ptolemaeus  Überlieferten  Ingrionen  und  Uisper 
in  dem  alamannischen  Engersgau  und  dem  Wisperbach  wieder- 
findet und  erwägt,  dass  gerade  hier  (dem  alamannischen 
und  heutigen  Rheingau)  sich  noch  im  vierten  Jahrhundert  nach 
römischer  Art  gebaute  Wohnstätten  (Ammian  17,  1,  7),  also 
römische  Kultur  erhielten.  Ebenso  mögen  die  Karittier  des 
Ptolemaeus  in  den  Kraiclti/aueni  der  späteren  Zeit  zu  suchen 
sein.  So  wird,  abgesehen  von  den  Römern  selbst,  die  cin- 


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geborene  Bevölkerung  nicht  allenthalben  von  den  Alamannen 
verdrängt  sein,  sie  wird  sich  zum  Tbeil  neben  ihnen  oder  mit 
ihnen  vermischt  erhalten,  sich  ihnen  assimilirt  und  ihre  Ver- 
fassung angenommen  haben. 

Ueberblickt  man  zum  Schluss  das  gesammte  alamannische 
Gebiet,  so  zeigt  sich,  dass  am  ganzen  Rhein  Nichtsueven  sassen; 
vom  Westerwald  bis  zum  Kraichgau,  wie  es  scheint,  Reste 
alter  dort  eingesessener  Völker,  während  alle  anderen  ein- 
gewandert sein  mögen;  am  Rhein  weiter  aufwärts  bis  zum 
Bodensee  Breisgauer  und  Lenzer.  Im  Binnenlande  sassen  links 
der  Donau  und  um  den  Neckar  Sueven,  während  es  für  die 
Völker  um  den  Main  und  die  Lahn  an  Anhaltspunkten  für  ihre 
Bestimmung  fehlt. 


Cr  *iue  r,  €»«*oWcht«  der  Alamannen. 


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Drittes  Kapitel. 


Die  Gauperfassung. 

1.  Die  germanischen  Verfassungsformen. 

Die  Gliederung  des  germanischen  Gemeinwesens  stammt 
aus  vorgeschichtlicher  Zeit.  Das  Zahlensystem  lag  ihm  zu 
Grunde,  die  Zahlen  Tausend,  Huudert,  Zehn  (mille,  centum, 
deccm). 

Das  Heer  des  Stammes  zerfiel  in  Abtheilungen  von  1000, 
und  weiter  von  100  und  von  10  Mann,  in  Tausendschaften, 
Hundertschaften  und  Zohntschaften,  jede  mit  einem  Führer  an 
der  Spitze.  Diese  Gliederung  wurde  auf  das  politische  Gemein- 
wesen übertragen,  dessen  hauptsächlicher  Ausdruck  das  Heer 
war,  und  galt  dann  für  Krieg  und  Frieden,  für  die  kriegerischen 
und  die  politischen  persönlichen  Verbände  und  für  die  räum- 
lichen Verbände  der  Wohnsitze.  Nun  wurde  die  Tausendschaft 
ein  Verband  von  Familien,  deren  Häupter  und  Söhne  tausend 
Freie:  Krieger  und  politisch  Berechtigte  waren,  und  wurde  zu- 
gleich das  Gebiet,  das  sie  einnahmen.  Aelinlich  die  Hundert- 
schaft und  die  Zehntschaft.  Jedenfalls  mit  der  festen  Ansiedelung 
ging  die  geschichtliche  Entwickelung  über  die  Zahlen  hinaus, 
aber  sie  blieben  als  Kamen  der  Verbände  und  geben  Zeugniss, 
wie  sie  sich  abstuften:  sie  lassen  die  Hundertschaften  als  Theile 
der  Tausendschaft,  die  Zehntschaft  als  Theile  der  Hundertschaft 
erkennen. 

Die  Tausendsclinft , mille,  nahm  später  den  Kamen  Gau, 
pagus,  an  (der,  als  noch  später  die  Tausendschaft  aufgelöst 
wurde,  auf  die  Hundertschaft  übertragen  wurde).  Au  der  Spitze 
des  Gaues  stand  der  König,  rex,  als  Herrscher,  Richter  und 


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Heerführer.  Der  Gau  war  somit  eine  politische  und  taktische 
Einheit.  Ob,  wie  zur  Zeit  des  Cäsar  und  des  Tacitus,  neben 
dem  König  eine  Gau  Versammlung  gestanden  habe,  mag  dahin- 
gestellt bleiben. 

Jeder  Gau  zerfiel  in  Hundertschaften,  centenae,  und  an 
deren  Spitze,  des  Hundertschaftsgebietes,  wie  der  Hundert- 
schaftsgenossen, stand  der  Hunne,  centenarius,  unter  dem  Befehl 
des  Königs  der  Verwalter  und  Heerführer  der  Hundertschaft, 
unter  dessen  Mitwirkung  ihr  leitender  Richter,  dem  an  der 
Malstätte  (malialstat,  mallus)  der  Hundertschaftsversammlung 
die  Rechtspflege  oblag.  Das  Gebiet  war  zugleich  eine  Hundert- 
schaftsmark,  marca,  die  Genossen  Markgenossen,  denen  iu  der 
Gerichtsversatnmlung  die  Verwaltung  der  Mark  zustand.  Die 
Hundertschaft  war  somit  als  Theil  des  Gaus  eine  politische, 
tactische  und  wirtschaftliche  Einheit. 

Wie  in  der  Tausendschatt,  dem  Gau  die  Hundertschaften, 
schieden  sich  in  dieser  die  Zchntmhaftvn,  decaniae,  unter  der 
Führung  des  Zehnter,  decanus,  jede  in  Dörfern  oder  in  Einzel- 
.'ehüften,  umgeben  von  der  Ackerfiur,  der  Weide,  dem  Wald, 
die  aus  der  Hundertschaftsmark  ansgesondert  waren.  Dies  war 
die  Zehnschaftsmark,  marca,  die  sammt  den  Zehntgenossen, 
ähnlich  wie  die  Hundertschaft  eine  politische,  tactische  und 
wirtschaftliche  Einheit  bildete. 

War  der  Stamm  im  Frieden,  so  waren  die  politische  und 
wirtschaftliche  Seite  von  Gau,  Hundertschaft  und  Zehntsehaft 
iu  Funktion  , so  war  jeder  Gau  autonom.  War  der  Stamm  mit 
Weibern  und  Kindern  auf  der  Wanderung,  im  Kriege,  so  trat 
er  als  Staminheer  unter  die  Führung  eines  Herzogs,  dux.  Das 
Heer  blieb  in  Heergaue,  Heerhundertschaften  und  Heerzehnt- 
H-hafteu  unter  dem  Befehl  ihrer  Führer  getheilt,  und  für  Jene 
Laudgaue  mit  reichlichen  und  fruchtbaren  Hundertschaften  und 
Zehntschaften  zu  gewinnen,  war  die  Sehnsucht  von  Jahr- 
hunderten. 

(Siehe  die  Nachweise  in  der  Anlage  am  Schlüsse  des 
Kapitels.) 


s* 


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3.  Die  alawannlsckc  erst«*  Ansiedelung;. 

Stieben  wir  uns  ein  Bild  der  ersten  Besitzergreifung;  des 
Landes  zu  machen,  welche  einem  siegreichen  Vordringen  ala- 
mannischer  Heerhaufen  folgte. 

Nach  Zerstörung  der  römischen  Städte,  deren  Häusermassen 
und  enge  Gassen  den  Alamannen  ein  Gräuel  waren,  galt  es, 
die  weiten  Landstrecken,  die  jedesmal  dem  Sieger  anheimfielen, 
für  die  Ansiedlung  zu  vertheilen.  Die  Flussthäler  enthielten 
meist  den  fruchtbarsten  Boden,  hier  lagen  die  Gehöfte  der 
Römer,  hier  ihre  cultivirten  Feldmarken.  Man  wird  daher, 
sei  es  gleichzeitig  oder  nach  einander  die  Flussthäler  eines  oder 
beider  Ufer  in  Abschnitte  zerlegt  und  jedem  König  für  seinen 
Heergau  einen  Abschnitt  zugewieseu  haben,  ihm  überlassend, 
das  Hinterland,  Wald,  Sumpf  und  Gebirge  nach  Bedarf  in  Besitz 
zu  nehmen.  Am  rechten  Rhein  vom  Westerwald  bis  zum 
unteren  Bodensee  sind  sieben  solcher  Abschnitte  und  ebeusoviele 
im  Binnenlande  zu  erkennen;  sie  nahmen  vielfach  die  Namen 
der  zugewiesenen  Flüsse  an  und  wurden  Landgaue,  die,  wie 
sich  weiter  ergeben  wird,  Jahrhunderte  lang  sich  als  solche  erhielten 
uud  theilweise  als  geographische  Bezeichnungen  auf  unsere  Zeit 
gekommen  sind. 

Am  rechten  Rhein  waren  es  der  Mattiakergau  (?),  Rhein- 
gau, Kraichgau,  die  Mortenau,  der  Breisgau,  Klettgau,  Hegau, 
im  Binnenlande  an  beiden  Seiten  der  Lahn  der  untere  Lahn- 
gau, am  rechten  Main,  an  der  rechten  Kinzig  und  um  die  obere 
Fulda  der  Buchengau,  am  linken  Main  und  um  ihn  der  Main- 
gau, um  den  Neckar  der  Neckargau  und  Nagoldgau,  in  den 
t^uellgebieten  des  Neckar  und  der  Donau  der  Westergau  und 
an  der  Donau  der  Albgau.  Später  erscheinen  der  Breisgau 
und  Neckargau  je  in  einen  oberen  und  unteren  und  der  Buchen- 
gau in  die  Wetterau  und  das  Grabfeld  getrennt,  so  dass  sich 
die  Gesammtzahl  auf  17  erhob. 

In  jedem  Gaugebiet  wurde  weiter  die  Niederung  getheilt 
und  je  ein  Antheil  einer  Heerhundertschaft,  nach  alamannischem 
Ausdruck  Huntare,  zugewiesen.  Er  wurde  sarnmt  dem  Hinter- 
land ihr  Herrschaftsgebiet.  Auf  den  Gau  kamen  durchschnittlich 


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4—5  Huntaren,  und  diejenigen,  welche  wie  auf  der  Alb  und 
Umgebung  unverändert  blieben,  hatten,  als  sie  ihre  Siedlungen 
bis  zu  den  Naehbarhnntaren  erstreckten,  einen  Flächeninhalt 
von  31/*  — 10  oder  durchschnittlich,  wie  in  den  altnationalen 
Gebieten  des  Nordens,  von  6 Quadratmeilen:  andere  zerfielen 
später  durch  Abzweigung. 

Die  Hnntare  vertheilte  ihr  Gebiet  unter  die  Zehntschalten, 
für  deren  Zahl  und  Grösse  sichere  Durchsehnittsziffern  nicht 
angegeben  werden  können. 

Das  Heer,  welches  dem  Feinde  gegenüber  als  Ganzes  wirkte-, 
lüste  sich  in  seine  Abtheilungen  auf,  um  nunmehr  mit  dem 
Boden  zu  verwachsen.  Nach  dem  germanischen  Brauch  wurden 
die  öffentlichen  Gewalten  der  Organisation  des  Heeres  gemäss 
eingerichtet.  Die  Führer  der  Heeresabtheiluugen  wurden  die 
Obrigkeiten  der  Ansiedler  in  ihren  Abstufungen,  Könige,  Hunnen, 
Zehnter;  die  Malstätten  wurden  bestimmt,  an  denen  die  Mal- 
genossen der  Huntaren  und  Zehntschaften  zum  Dienst  der  Götter, 
zur  Besorgung  ihrer  gemeinsamen  Angelegenheiten,  insbesondere 
zur  Rechtspflege  zusammen  zu  kommen  hatten. 

Das  politische  Gerüst  des  Gemeinwesens  stand  fertig,  als 
man  zum  wirtschaftlichen  Aufbau  überging.  Er  konnte  nur 
von  unten,  vom  Kleinern  zum  Grösseren  erfolgen.  Innerhalb 
der  Zehntschaften  richtete  mau  sich  häuslich  und  wirtschaftlich 
ein.  Denn  die  Besiedelung  setzt  nachbarliche  Beziehung  des 
Ansiedlers  zu  Acker,  Wiese,  Weide,  Wald  und  Wasser  voraus. 
Er  muss  in  ihrem  Bereich  seinen  Wohnsitz  aufschlagen,  der 
Einzelne  entweder  mit  seiner  Familie  mitten  in  seinem  und 
seines  Viehs  Bedarf,  im  Einzelhof,  oder  zusammen  mit  einer 
massigen  Anzahl  von  Familien  im  Dorf  mit  nebeneinander 
gruppirten  Gehöften,  umgeben  von  gemeinschaftlicher  Ackcr- 
und  Wiesenflm-,  — im  Einzelhof  oder  Dorf,  weiter  au  gemein- 
schaftlicher Weide-  und  Waldmark  beteiligt. 

Der  Einzelhof  und  das  Dorf  waren  germanische  Formen 
der  Ansiedlung,  welche  die  Alamannen  mit  sich  brachten : Hof- 
system und  Dorfsystem.  Die  Zehntschaften  lösten  sich  zu 
kleineren  Gemeinschaften  oder  gar  zu  einzelnen  Familien  auf, 
und  während  diese  sich  in  ihrem  Ackerbesitz  isolirtcu,  legten 
jene,  jede  für  sich  ein  Dorf  mit  dem  wirtschaftlichen  Zubehör 
an,  das  charakteristische  Gepräge  der  Massen besiedlung. 


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Das  germanisch e und  also  alamannische  Dorf  bestand  aus 
einer  massigen  Zahl  von  Gehöften  mit  Gebäuden  und  umgebendem 
Hofraum  und  Garten,  die  unregelmässig  gruppirt  neben  einander 
lagen:  es  war  ein  Haufendorf. 

Für  die  Namen,  welche  die  Alamannen  ihren  Dörfern  gaben, 
sind  nach  den  Forschungen  von  Arnold  die  Endungen  auf  ingen, 
weder,  hofen,  ach,  bronn,  beuren,  Stetten,  wang  charakteristisch. 
Von  allen  ist  die  Endung  ingen  am  verbreitetsten.  Sie  ist  die 
speeifische  Ortsnamen -Endung  der  Sueven  und  Lenzer.  Dem 
Nachbarstamm  der  Franken  gegenüber  erklärt  Lampreclit, 
welcher  ihre  spätere  Verbreitung  im  Moselland  untersucht  hat, 
sie  für  wesentlich  alamannisch. 

Die  nächste  Umgebung  des  Dorfes  bildete  die  Acker-  und 
Wiesenflur,  die  mau  aus  römischer  Zeit  vorfand  oder  anlegte. 
Das  zum  Ackerbau  geeignete  Gelände  wurde  in  unregelmässige 
Vierecke,  jedes  in  sich  von  gleicher  Beschaffenheit,  aber  meist 
von  einander  nach  Lage  und  Bonität  verschieden,  in  Gewanne 
getheilt,  jedes  Gewann  nach  der  Zahl  der  ansiedelnden  Familien 
in  gleiche  oder  gleichwertig  Streifen  getrennt,  die  man  während 
eines  Morgens  mit  einem  Paar  Ochsen  pflügen  konnte;  auf  ein 
ausreichendes  Wegesystem  wurde  dabei  keine  Rücksicht  ge- 
nommen. Jeder  Familie  wurde  in  jedem  Gewann  ein  Acker- 
streifen, Morgen,  jurnalis,  juger,  zugewiesen.  So  gab,  über  die 
ganze  Flur  zerstreut,  der  Besitz  jeder  Familie,  die  Hufe,  inansus, 
gleichen  Anthcil  an  jeder  Bodenbeschaffenheit:  jede  Hufe  war 
der  andern  gleich.  Nach  der  Art  dieser  Anlage  war  die  Zahl 
der  Hufen  geschlossen.  Sie  betrug  10  — 30,  so  viel  also  die 
Zahl  der  Hüfner,  das  ist  der  ersten  Ansiedlerfamilien;  jede 
hatte  gleichen  Besitz  in  der  Flur,  der  für  den  Bedarf  einer 
freien  Familie,  für  ihr  Vermögen  au  Hörigen  und  Vieh  zu- 
geschnitteu  war.  Vielleicht  war  aber  dies  System  der  Hufcn- 
nnd  der  Hüfnergleichheit  von  vornherein  dahin  unterbrochen, 
dass  man  den  Königen,  Hunnen,  Zehntem,  dem  Adel  mehrere 
Hufen  überwies.  Die  Gleichheit  des  Besitzes  beschränkte  sich 
nur  auf  das  einzelne  Dorf.  In  den  verschiedenen  Dörfern  waren 
die  Hufen  keineswegs  gleich,  wie  denn  auch  die  Morgen  der 
Gewannen,  sogar  in  derselben  Flur,  nicht  dieselbe  Grösse  hatten. 
Erst  im  Mittelalter  wurden  beide  feste  Ackermaasse,  auf  die 


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man  Zinsen,  Steuern  und  sonstige  Abgaben  legte.  Gewöhnlich 
wurde  die  Hufe  zu  30.  Morgen  gerechnet. 

Die  Ueberweisung  der  Hufe  geschah  durch  das  Loos,  sie 
geschah  zum  Genuss:  ob  ursprünglich  nur  auf  bestimmte  Jahre, 
und  ob  nach  deren  Ablauf  von  Neuem  ausgelost  wurde,  oder 
wie  später  auf  Lebenszeit,  muss  dahingestellt  bleiben.  Der 
Genuss  der  Wiesen  wurde  jährlich  durch  das  Loos  bestimmt. 
So  blieb  die  Flur  in  der  Feldgemeinschaft  der  Dorfgenossen. 

Die  Zerstreuung  der  Hufe  über  die  Flur  und  der  Mangel 
an  Wegen  führte  zu  einschneidenden  Wirkungen  für  die  Be- 
wirtschaftung, zum  Flurzwang.  Zum  Gehen,  zum  Fahren, 
zum  Wenden  des  Pflugs  musste  der  Hüfner  die  Grundstücke 
seiner  Nachbarn  benutzen,  und  damit  dies  ohne  Schaden  ge- 
schehen könne,  musste  die  gleiche  Zeit  für  die  Bestellung, 
Saat  und  Erndte  bestimmt  werden.  Dies  war  nur  möglich,  wenn 
für  gewisse  Schläge  der  Feldflur  dieselbe  Fruchtgattung  vorge- 
schrieben wurde.  Daraus  hat  sich  unter  dem  Wechsel  von  drei 
Schlägen  (Zeigen,  Eschen)  die  Dreifelderwirtschaft  entwickelt. 
Um  die  bestellten  Schläge  und  die  Wiesen  wurden  jährlich 
Zäune  errichtet  und  ausserhalb  der  Zäune  oder  nach  der 
Erndte  stand  die  gesammte  Flur  der  Heerde  der  Dorfgenossen 
offen. 

Mit  der  Zeit  konnte  das  Gleichmass  der  Hufen  durch 
Abackern  verrückt  werden.  Dann  stand  jedem  Genossen  die 
Neuvermessung  durch  das  Seil  (ßebuingsverfahren)  zu.  Mit 
der  Zeit  mochte  auch  das  vertheilte  Land  für  die  Bedürfnisse 
der  wachsenden  Ansiedlerfamilien  nicht  mehr  ausreichen.  Dann 
konnte  mau  im  Anschluss  an  das  Hufenland  neue  Gewannen 
schaffen  und  unter  jene  vertheilen,  ein  Mittel,  das  jedoch  auf 
die  Dauer  nicht  ausreichen  mochte. 

Während  die  ersten  Ansiedler  der  Dörfer  auf  getrennten 
Stätten  Wohnsitze  bauten  und  Feldfluren  anlegten,  die  unter 
die  Hüfner  vertheilt  wurden,  nahmen  sie  zugleich  Weide  und 
Wald  der  Umgebung,  so  weit  sie  ihrer  bedurften,  in  Besitz, 
Hessen  sie  jedoch  ungetheilt.  Wald  und  Weide  und  Wasser 
wurden  zum  Genuss  weder  den  einzelnen  Dorfschaften,  noch 
den  einzelnen  Hüfnern  zugetheilt.  Sie  bildeten  die  gemeine 
Mark  oder  Almend,  an  der  gemeinsam  die  Genossen  des  der 
Zehntschaft  zugewiesenen  Landes  Tlieil  hatten.  Das  Mark- 


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recht  des  einzelnen  Hüfners  galt  als  ein  Tlieil  seiner  Hufe, 
deren  wirtschaftliche  Ergänzung  es  war.  Dem  Umfang  nach 
reichte  es  soweit,  als  er  Bedarf  hatte,  und  nicht  weiter.  Ans 
der  Mark  durfte  Nichts  herausgeschafft,  veräussert  werden. 
In  der  Mark  fand  die  gemeinschaftliche  Heerde  Wunne  und 
Weide,  hier  beholzigte  sich  der  Hüfner  für  Bau,  Heerd  und 
Geräte,  hier  übte  er  die  freie  Pürsch  (Jagd  und  Fischerei), 
hier  schöpfte  er  aus  den  Bächen,  Flüssen,  Seen  zur  Bewässerung- 
der  Felder  und  Wiesen,  tränkte  das  Vieh,  betrieb  Flösserei 
und  Schiffahrt  u.  s.  w. 

Aus  den  Dörfern,  ihren  Feldfluren  und  der  gemeinen 
Almend  setzte  sich  die  Zehntmark  zusammen;  Dörfer,  Feld- 
fluren und  Almend  gab  es  in  allen  Zehntmarken.  Dass  aber 
in  der  That  schou  bei  der  ursprünglichen  Besitznahme  eine 
Reihe  von  Dörfern  mit  ihren  Gewannfluren  in  jeder  Zehntmark 
gegründet  wurden,  das  erweist  auf  der  einen  Seite  die  Volks- 
masse  der  erobernd  Eindringenden,  auf  der  andern  die  geringe 
Zahl  der  Hüfner  eines  Dorfs.  Es  war  auch  beschleunigter 
Anbau  erforderlich.  „Genügende  Erträge  schon  der  nächsten 
Ernte,  sagt  Meitzen  in  seinem  grossen  Werk  über  die  Siedlungen, 
waren  unumgängliche  Anforderung  für  die  Ernährung  dieser 
zahlreichen  mit  Weib  und  Kind  herandrängenden  Schaaren. 
Ueberall  bedeckten  sich  deshalb  die  zuerst  zugänglichen,  frucht- 
baren, leicht  anbaufähigen  Länderstrecken  ganz  in  der  heimischen 
Weise  (des  Nordens)  mit  genossenschaftlichen  Dörfern.“ 

Die  Zehntmarken  lagen  nesterweise  zerstreut,  nur  selten 
mögen  sie  in  den  ebenen  Flächen  des  Flussthals  an  einandei 
gestossen  sein.  Etwa  zwischen  ihnen  oder  um  sie  im  Kranz 
herum,  oder  wo  sie  an  das  Gebirge  stiessen,  in  ihrem  Hinter- 
gründe lag  unbenutzt  und  frei  der  Urwald,  das  Hinterland  der 
Huntare.  Niemand  achtete  sein,  so  lange  die  Zehntmark  liir 
Holz  und  Trift  ausreichte.  Als  aber  die  Bevölkerung  stieg, 
als  die  Heerden  wuchsen,  da  schallten  die  Aexte  der  Genossen 
aller  ihrer  Zehntschaften  tiefer  im  Wald,  da  weideten  sie  das 
Vieh  ferner  ab  von  den  heimischen  Ställen.  Soweit  diese  Be- 
sitzhandlungen reichten,  oecupirten  sie  den  Urwald  iur  die 
Huntare  und  schufen  die  Huntaretmark. 

Wie  in  Grund  und  Boden,  so  konnte  die  Hnntareumark 
auch  in  Nutzungen  bestehen.  Weideten,  jagten,  fischten. 


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schifften  die  Huntarengenossen  in  allen  Zelintmarken,  so  bildeten 
sich  diese  Besitzbandlungen,  die  Geschlossenheit  der  Zehnt- 
marken durchbrechend,  zu  Rechten  der  Huntare  an  Weide 
und  Wasser,  zur  Hnntarenniark  um.  (Lamprecht,  Wirt- 
schaftsleben 1,  1,  S.  255,  28ß  sieht  darin  nur  Hundertschafts- 
reste.) 

Es  scheint  jedoch,  dass  zumal  in  späterer  Zeit  Huntaren 
auch  ohne  Zehntschaften  sich  bildeten,  etwa  indem  ihre  An- 
siedlnng  im  Wald  sich  allmälig  zu  einer  Huntare  auswuchs: 
wenigstens  sind  Zehntschaften  nicht  allenthalben  zu  erkennen. 
Dann  wurde  eben  das  ganze  Gebiet  der  Huntare  Huntareninark. 

Vielleicht  umspannte  die  Ausübung  der  Jagd,  die  freie 
Pürsch,  ein  noch  weiteres  Gebiet,  den  Gau,  wofür  bei  der 
Untersuchung  der  umfangreichen  Freienpürsch  - Gebiete  des 
Mittelalters  sich  gewisse  Anhaltspunkte  ergeben  mögen. 

Zehntmark  und  Huntareninark  entstanden  durch  Besitz- 
ergreifung in  kleinerem  oder  grösserem  Kreise  und  dehnten 
sich  mit  ihr  aus.  Noch  Jahrhunderte  lang  lagen  die  Gebirge 
in  ungemessener  Ausdehnung  öde  da,  vorab  unberührt  und 
werthlos,  weite  Grenzgebiete,  der  Westerwald,  der  Taunus,  der 
Odenwald,  die  Rhön,  der  Spessart,  die  Alb,  der  Schwarzwald. 
Sie  waren  ein  Kapital,  das  erst  eine  spätere  Zukunft  ver- 
werthen  sollte. 

Mehrfach  gab  der  erste  Hunne  seinen  Namen  dem  Ort, 
an  welcheui  die  Malstätte  lag,  und  der  dadurch  Hauptort 
wurde,  sowie  der  Huntare  selbst,  mehrfach  trugen  wenigstens 
der  Hauptort  und  die  Huntare  denselben  Namen.  Die  Zehnt- 
schaft nahm  immer  den  Namen  ihres  Hauptortes  an. 

So  machte  sich  in  neuen  bequemen  Sitzen  der  Stamm  der 
Alamannen  sesshaft,  so  entstand  am  rechten  Rhein  ein  ala- 
mannisches  Gemeinwesen.  Das  etwa  ist  das  Bild  der  ersten 
Ansiedlung. 

Zur  Veranschaulichung  der  den  Verfassungsfonnen  ent- 
sprechenden Ansiedelungsart  mögen  hier  einige  geographische 
Beispiele  aus  verschiedenen  Gegenden  des  alamannischen 
Stammlandes  hervorgehoben  werden,  über  welche  allerdings 
erst  aus  der  Zeit  der  Merovinger  und  des  späteren  Mittelalters 
berichtet  wird.  Dass  sie  sämmtlich  der  Zeit  der  ersten  Be- 
siedlung angeboren,  ist  zwar  nicht  zu  behaupten,  man  wird 


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jedoch  nicht  fehl  gehen,  wenn  man  etwa  die  in  den  Fluss- 
thälern  liegenden  Verbände  auf  sie  znrfickfübrt.  (Siehe 
Kapitel  9,  Abschnitt  4). 

In  dem  seit  dem  Jahr  49ß  alamannisch  gebliebenen  Süden 
des  Stammlandes  ist  die  von  dem  Neckar  und  der  Donau  um- 
gebene Alb  mit  ihrem  Steilabfall  gegen  Nordwesten  ganz  be- 
sonders charakteristisch.  Hier  sind  Flussthäler  und  zwischen 
ihnen  ein  gebirgiges  Hinterland.  Denkt  man  sich  die  Alb  in 
eine  westliche  und  eine  östliche  Hälfte  zerlegt,  so  bieten  sich 
die  Quellgebiete  des  Neckar  und  der  Donau  sammt  dem  Hinter- 
land der  westlichen  Alb  als  das  Gebiet  eines  Gaues,  des 
Westergaus  dar.  Ein  weiterer  Abschnitt  des  Neckarthals 
sammt  dem  der  anstossenden  Nagold  wird  zum  Nagoldgau, 
noch  ein  anderer  mit  dem  Steilabfall  der  östlichen  Alb  zum 
Neckargau  und  ein  der  östlichen  Alb  entsprechender  Abschnitt 
der  Donau  an  ihrer  linken  Seite  zum  Albgau. 

Von  den  6 Huntaren  des  Westergaus  tragen  die  Huntaren 
Nidinga  und  Aseheiui  den  Namen  ihrer  Malstätten  Neidingen 
und  Aschbach,  die  Huntare  Purihdinga  den  ihres  Hunnen 
Purihdo. 

Die  Besiedlung  des  Nagoldgaus  begann,  wie  sein  Name 
anzudeuten  scheint,  im  Quellgebiet  der  Nagold,  setzte  sich  erst 
dann  über  den  Neckar  fort  und  fand  seine  Grenze  unter  dem 
Abfall  der  Alb.  Von  seinen  7 Huntaren  liegen  5 auf  der 
linken,  2 auf  der  rechten  Seite  des  Neckar,  links  die  Huntare 
Waltgau  mit  den  Zehntmarken  Waldach,  Dornstetten,  Schopf- 
loch, Glatten,  die  Huntare  Bibligau  mit  der  Zehntmark  Has- 
lach, die  Huntare  Sülichgau  mit  ihrer  Malstätte  Sülchen  und 
den  Zehntmarken  Bildechingen,  Eutingen  und  (über  dem  Neckar 
gelegen)  Mähringen;  auf  der  rechten  Seite  des  Neckar  die 
Huntare  Haglegau  mit  der  Malstätte  Hagalta  (Haigerloch) 
und  den  Zehntmarken  Bierlingen,  Empfingen  und  Bisingen  und 
die  Hattenhuntare,  nach  dem  Hunnen  Hatto  genannt,  sammt 
den  Zehntmarken  Müssingen  und  Thalheim. 

Im  Neckargau  steigen  dessen  7 Huntaren  aus  dem  Fluss- 
thal den  Abfall  der  Alb  empor  und  erstrecken  sich  noch  über 
deren  Höhenrand  hinaus.  Eine  ihrer  Huntaren,  der  Pfullich- 
gau,  nach  dem  Hunnen  Fulbin  genannt,  hat  die  Malstätte 
Pfullingen,  in  einer  anderen,  deren  Name  nicht  bekannt  ist, 


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(Kapitel  Kirchheim)  liegen  die  Zehntmarken  Bissingen,  Weil- 
heim  nnd  Zainingen,  in  der  Huntare  Filsgau  die  Sadelerhnser 
Mark  (abgegangeu  im  Oberamt  Göppingen). 

Die  Besiedelung  des  Albgaus  wird  von  dem  linken  Donau- 
tlial  ausgegangen  sein.  Als  die  Ansiedler  die  Höhe  der  Alb 
hinaufstiegen,  fanden  sie  deren  Hochrand  von  den  Genossen 
des  Xeckargaus  bereits  besetzt,  so  dass  also  die  Besiedelung 
dieses  Theils  des  Albgaus  die  jüngere  ist.  Von  seinen  5 Hun- 
taren  seien  hier  erwähnt  die  Swerzenkuntarc,  die  des  Swerzo 
mit  der  Malstätte  Schwörzkirch ; die  Bnrichingas,  Huntare  des 
Buricho,  die  zugleich  als  Huntarenmark,  Burichinger  marca 
erscheint,  mit  der  Malstätte  Buringen  (abgegangen);  die 
Mnnigisingerhuntare,  die  des  Munigis.  gleichfalls  wie  es  scheint 
eine  Huntarenmark,  Munigisingcr  marca  mit  der  gleichlautenden 
Malstätte  Münsingen,  dabei  eine  Zehntmark  Auingen. 

Ans  dem  Norden  des  seit  496  fränkisch  gewordenen  ala- 
maunischen  Stammlandes  ist  auf  verschiedenen  Gauen  ange- 
hörige  einzelne  Huntaren  hinzu  weisen,  welche  in  Zehntmarken 
zerfielen.  Die  in  dem  fränkischen  Neckargau  liegende  Huntare 
Wingarteiba,  die  ihren  Namen  den  Rebhügeln  der  sie  ein- 
schliessenden  Flüsse  Tauber  nnd  Main.  Jagst  und  Neckar  ver- 
dankte, umfasste  nach  Nachrichten  des  16.  und  17.  Jahrhunderts 
12  sie  ausfüllende  Zehntmarken,  die  Zenten  Mosbach,  Eber- 
bach, Mudau,  Amorbach,  Walldürn,  Buchen,  Osterburken,  eine 
unbekannte  etwa  um  Boxberg,  ferner  die  Zenten  Königshofen, 
Lauda,  Grünsfeld  und  Bischofsheim.  Die  in  den  Gau  Wetterau 
lallende  Huntare  Niedgan  hatte  die  Zehntmarken  (Zenten, 
Marken.  Landgerichte,  Grafschaften)  Bornheimer  Berg,  Ursel, 
Kronberg,  Hensels.  Einem  Gau,  der  wahrscheinlich  Mattiaker- 
gau  hiess,  gehörte  die  Huntare  (unterer)  Rheingau  an.  Sie 
zerfiel  im  späteren  Mittelalter  in  4 Aemter  mit  Amts- 
waldungen, wahrscheinlich  alten  Zehntmarken,  und  hatte  daneben 
einen  der  Huntare  gehörigen  Wald,  den  Hinterlandswald,  als 
Huntarenmark. 

Noch  seien  hier  aus  der  neualamannischen  Schweiz  zwei 
Huntaren  genannt,  die  zugleich  Huntarenmarken  sind,  im  Thur- 
gau die  von  Schwyz  und  Uri,  deren  Landesalpen  sich  bis  auf 
unsere  Tage  erhalten  haben. 


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44 


In  den  fruchtbaren  Geländen  musste  das  jugendf rische 
Volk  an  Bevölkerung  rasch  zunehmeu.  Bald  reichten  sie  nicht 
mehr  für  den  Bedarf  aus.  Da  regte  sich  von  neuem  die 
Wanderlust,  und  wie  die  Germanen  des  Ariovist.  brachen  die 
Alamannen  des  3.  und  4.  Jahrhunderts  in  Gallien,  Rätien  und 
Italien  ein,  um  dort  reiche  und  reichliche  Sitze  zu  gewinnen. 
Aber  jedesmal  misslangen  die  Versuche,  jedesmal  wurden  ihre 
Heere  mit  grossen  Verlusten  an  Menschen  und  Habe  zurück- 
geschlagen,  die  jedoch  immer  bald  wieder  ausgeglichen  waren. 
Schon  damals  wären  sie  gezwungen  gewesen,  zum  innern 
Ausbau  des  eigenen  Landes  überzugehen,  wenn  nicht  ein  glück- 
licher Umstand  der  Entwickelung  der  Dinge  einen  neuen  An- 
stoss  gegeben  hätte.  Mit  dem  Beginn  des  5.  Jahrhunderts 
wurde  die  Rhein-  und  Donaugrenze  frei  und  führte  fort,  was 
an  überschüssiger  Bevölkerung  da  war. 


3.  Die  alainannische  Oauverfassuug. 

Die  Kunde  von  der  alamannischen  Verfassung  der  zweiten 
Hälfte  des  4.  Jahrhunderts  (354  — 377)  verdanken  wir  der 
römischen  Geschichte  des  Amtnianus  Marcellinus,  der  sich  im 
Gefolge  des  mit  wichtiger  politischer  Mission  betrauten  Magister 
equitum  Ursicinns  in  den  Jahren  355  und  356  in  Gallien,  ins- 
besondere in  Cöln  und  am  linken  Rhein  aufhielt  und  daher 
nach  Anwesenheit  und  Stellung  in  der  Lage  war,  eingehendere 
Kenntniss  von  den  alamannischen  Verhältnissen  zu  nehmen: 
denn  seine  Darstellung  lässt  nicht  die  Vermuthung  aufkommen, 
dass  er  das  alamannische  Germanien  selbst  betreten  habe. 
Seine  Geschichte  der  Alamannen  ist  Kriegsgeschichte,  und  im 
Lauf  der  Erzählung  bringt  er  gelegentlich  vereinzelte  ver- 
fassungsrechtliche Andeutungen,  welche  folgende  Grtmdziüfe  er- 
kennen lassen. 

Alamannien  zerfiel  in  selbständige  Gaue,  piigi,  an  deren 
Spitze  — wie  anzunehmen  erbliche  — Könige,  Gaukönige, 


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45 


reges  standen.  Dass  ihre  Gewalt  durch  eine  politische  Gau- 
versammlung  beschränkt  gewesen  wäre,  ist  nicht  zu  ersehen. 
Von  den  Unterabt  heilungen  der  Gaue,  den  Huntaren  und  deren 
Versammlungen,  den  Zehntschaften  ist  keine  Rede,  aber  die 
reguli,  welche  erwähnt  werden,  sind  als  Hunnen  anzusehen. 
Der  Adel,  optimates,  primates,  erscheint  als  politisch  bevor- 
rechteter Stand.  Für  grössere  Angriffskriege  schlossen  sich 
die  Gaue  unter  der  Führung  eines  Herzogs  zusammen.  Kleinere 
kriegerische  Unternehmungen  führte  jeder  Gau  allein,  und  für 
die  Abwehr  der  Römer  fehlte  es  meistens  an  einem  einigenden 
Baud. 

Die  Germanen  heissen  Germani,  barbari,  der  germanische 
Stamm  wird  mit  seinem  Namen  Ahmanni,  Franci,  Burgundii, 
Quadi  u.  s.  w.  und  generell  als  natio  oder  gens  aufgeführt. 
Xationes  ejusdem  (der  Alamannen)  primates,  Ammian  29,  4,  7; 
Ex  variis  nationibus,  12,  6,  26;  Quadorum  natio,  29,  6,  1; 
Procerum  gentis  der  Quaden,  30,  6,  2;  Quados  et  gentes  cir- 
cumsitas,  29,  6,  6.  Das  Stammgebiet  ist  solum  oder  terra, 
auch  barbaricum.  In  Alamannorum  solo,  17,  1,  11.  Terris 

Alamannorum,  17,  10,  1.  Quadorum  terrae,  29,  6,  2.  In 
barbarico,  18,  2,  14.  Für  seine  Grenzen  und  Orte  kommen  die 
Ausdrücke  barbaros  tines,  barbaricus  locus  vor,  28,  2, 1 und  5.  Die 
Lenzer  und  Juthungen,  welche  als  Völker  von  mehreren  Gauen 
Theile  der  Alamannen  bilden,  werden  als  natio,  popnlus,  pars, 
ihr  Gebiet  als  terrae  bezeichnet:  Ex  hac  natione,  der  Lenzer, 
31,  10,  3.  Gentem,  der  Lenzer,  31,  10,  11.  Lentiensis  Ala- 
mannicus  populus,  31,  10,  2.  Genitales  terras  der  Lenzer, 
31,  10,  17.  Juthnngi  Alamannorum  pars,  17,  6,  1. 

Der  Ausdruck  für  die  Gaue  ist  in  der  Regel  pagus,  aber 
auch  regio,  regnum,  terra,  territorium.  Barbaricos  pagos,  14, 
10,  11.  Leutiensibus  Alamannicis  pagis,  15,  4,  1.  Alamannorum 
pagos,  18,  2,  1;  30,  3,  1.  Hortarii  regis  pagus,  17,  10,  5. 

Ejus,  des  Königs  Suomar,  pagi,  18,  2,  8.  Pago  Vadomarii, 

21,  3,  1.  Pagus  des  Fraomar,  29,  4,  7.  Eorum  regionibns, 

17,  1,  3.  Regione  des  Königs  Hortar,  17,  10,  9.  Hortarii 

regna,  18,  2,  14.  Alamanniae  regna,  20,  4,  1.  Terras  regum, 

18,  2,  15.  Territoria  sna,  des  Königs  Chnodomar,  16,  12,  59. 
Das  GauvoUc  wird,  ebenso  wie  der  Stamm,  mit  natio  oder 

gens,  aber  auch  mit  populus,  plebs  bezeichnet  und  hat  auch 


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46 


Eigennamen.  Buciuobantibus,  quae  gens  est  Alamanna,  21), 
4,  7.  Alamannorum  reges  et  populi,  Gundomad  und  Vadomar, 
14,  10,  14.  Reges  eorumque  populi,  Nachbarn  des  König-*; 
Hortar,  18,  2,  14.  Onmis  ejus  (Gundomadi)  populus;  Vado- 
marii  plebs,  16,  2,  17. 

An  der  Spitze  des  Gaus  und  des  Ganvolks  stand  der  Gau- 
könig, König,  rex.  Alamannorum  reges  Chnodomarius  et  Vestral- 
pus,  Urins  quiu  etiam  et  Ursicinus  cum  Serapione  et  Suomario 
et  Hortario,  16,  12,  1.  Der  Ausdruck  rex  wird  häufig  gebraucht. 
Den  König  der  Burgundioneu  nennt  Ammian  hendinos,  28,  5,  1 4, 
wahrscheinlich  eine  Verwechslung  mit  dem  Hundertschattsfiihrer. 
Die  Könige  waren  von  ihren  Gefolgschaften  umgeben.  Der 
Herzog,  König  Cbnodomar,  hatte  nach  der  Schlacht  bei  Strass- 
burg 200  Gefolgen  um  sich,  die  es  für  Schande  hielten,  den 
König  zu  überleben  oder  nicht  für  ihn  zu  sterben,  wenn  das 
Schicksal  es  wollte.  Sie  ergaben  sich  mit  ihm.  Comites  ejus 
ducenti  numero  fiagitium  arbitrati,  post  regem  vivcre,  vel  pro 
rege  non  mori,  tradidere  se  vineiendos,  16,  12,  60.  Julian  nahm 
vier  Gefolgen  des  Königs  Hortar  fest,  auf  welche  dieser  vermöge 
ihrer  Dienste  und  Treue  ein  besonderes  Vertrauen  hatte,  17,  10,  8. 
Als  der  König  Vadomar  gefangen  wurde,  zwang  man  seine  Ge- 
folgen, sich  von  ihm  zu  trennen,  21,  4,  5.  Die  Gaugenossen 
des  Königs  Makrian  stiessen  mit  den  Schilden  zusammen,  als 
er  zu  einer  Staatsverhandlung  mit  dem  Kaiser  Valentinian 
schritt,  30,  3,  4.  Die  Könige  werden  vielfach  als  Führer  des 
Gauheerbanns  und  als  die  Vertreter  ihres  Gaus  nach  aussen, 
den  fremden  Gauen,  fremden  Stämmen  und  den  Römern  gegen- 
über dargestellt.  Ihrer  richterlichen  Thätigkeit  wird  nicht  ge- 
dacht. Aber  es  ist  kein  Zweifel,  dass  sie  wie  die  principes  des 
Cäsar  und  Tacitus  in  den  zwei  Jahrhunderten  um  Christus  und 
wie  die  Grafen  des  6.  und  späterer  .Jahrhunderte  mit  ihren 
Hunnen  durch  die  Huntaren  zogen  und  in  den  Versammlungen 
der  Huntarengenossen  des  Rechtes  walteten. 

Bei  Ammian  findet  sich  nicht  die  mindeste  Andeutung  dafür, 
dass  die  KünigsgcwuU  beschränkt  gewesen,  dass  eine  politische 
Gauversammlung  neben  den  Königen  gestanden  habe.  In  der 
Erzählung  erscheinen  die  Könige  wie  Selbstherrscher,  aber  auch 
ebenso  bei  Cäsar  und  Tacitus:  allerdings  berichtet  dabei  Jener 
von  einzelnen  politischen  Versammlungen,  und  dieser  schildert 


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47 


die  Gewalt  als  durch  die  Zustimmung  der  Versammlung,  con- 
eilium,  bedingt.  Germ.  12.  Bei  den  Nachbarn  der  Alamannen, 
den  Bnrgnndionen,  wurden  die  Könige  nach  altem  Recht  ab- 
gesetzt, wenn  den  Stamm  Unglück  im  Kriege  oder  Misswachs 
traf,  während  ihr  Stammpriester,  Sinistus  genannt,  lebenslänglich 
und  dem  Schicksal  der  Könige  nicht  unterworfen  war.  Hendinos 
ritu  veteri  potestate  deposita  removetur,  si  sub  eo  fortuna  titn- 
baverit  belli,  vel  segetum  copiam  negaverit  terra.  — — Kam 
sacerdos  apud  Bnrguudios  omnium  maximus  vocatur  Sinistus, 
et  est  perpetuus,  obnoxius  discriminibus  nullis  ut  reges,  28,  5,  14. 
Bei  den  Alamannen  ist  der  Charakter  der  selbstständigen 
Königsgewalt  kaum  zweifelhaft.  Der  einzige  Conflict  zwischen 
der  Köuigs-  und  der  Volksmacht,  von  dem  berichtet  wird,  war 
augenscheinlich  revolutionärer  Art.  Bei  dem  nationalen  Auf- 
schwung vor  der  Schlacht  bei  Strassburg  schloss  sich  das  Volk 
des  Breisgau  dem  Alamannenheer  an,  nachdem  von  den  beiden 
Königen  der  eine  rom  freundliche  Gundomad  ums  Leben  gebracht, 
der  andere  zweifelhafte  Vadoinar,  wie  er  vorgab,  bei  Seite  ge- 
schoben war,  16,  12,  17. 

Mau  wird  davon  ausgehen  können,  dass  ursprünglich  je  ein 
König  an  der  Spitze  je  eines  Gaues  stand.  Makrian  war  der 
König  des  Buchengaus,  seine  Gauleute  hiessen  dieBucinobantes,24, 
4,  7,  wobei  Bant  gleich  Gau  ist.  Es  kommen  jedoch,  wie  es  scheint, 
auch  abweichende  Gestaltungen  vor,  Halbgaue  mit  je  einem 
König  und  mehrere  Gaue  unter  einem  König.  Die  Genossen 
des  Breisgan  waren  nach  der  Kotitia  dignitatum  von  400 
in  Brisigavi  seniores  und  juniores  getheilt,  und  schon  im  4.  Jahr- 
hundert war  der  Breisgau  im  Besitz  der  königlichen  Brüder 
Gundomad  und  Vadomar,  von  denen  jeder  ein  besonderes  (Halb-) 
Gau volk  hatte.  Omnis  ejus  (des  Gundomad)  populus;  Vado- 
marii  plebs  16,  12,  17.  Nachdem  Gundomad  356  ermordet  war, 
ist  861  von  dem  pagus  Vadomarii  21,  3,  7 die  Rede,  wahr- 
scheinlich dem  gesammten  Breisgan,  da  ein  zweiter  König  nicht 
mehr  erwähnt  wird.  Die  Könige  Hortar  und  Suomar  mögen 
jeder,  wenn  man  die  Ausdrücke  des  Ammian  als  exacto  auflässt, 
über  mehrere  Gaue  gesetzt  sein.  Im  Lauf  der  Erzählung  der 
Kriegsereignisse  heisst  es  358:  pagus  Hortarii,  regio  ejus  17, 
10,  5 und  9;  im  nächsten  Jahr  regua  Hortarii,  18,  2,  14.  Von 
dem  König  Suomar  wird  in  der  Mehrzahl  gesagt:  Ejus  pagi 


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Rheni  ripis  ulterioribus  adhaerebant,  18,  2,  8.  Eher  jedoch 
dürften  die  Worte  incorrect  sein.  Von  der  Zahl  der  Gaue  der 
übrigen  Könige  ist  nicht  die  Rede,  so  dass  man  für  sie  die 
Regel:  Ein  Gan,  Ein  König  wird  an  wenden  dürfen.  Nach 
Tacitus  trafen  bei  der  Berufung  zum  König  das  Erbrecht  einer 
Königsfamilie  und  das  Wahlrecht  des  Volks,  letzteres  ausgeübt 
in  einer  Versammlung  — sei  es  des  Stammes,  sei  es  des  Gaus  — 
zusammen.  König  war,  wen  das  Volk  aus  einer  Königsfamilie 
wählte.  So  würde  sich  auch  bei  Ammian  die  Theilung  oder  die 
Zusammenfassung  von  Gauen  für  einzelne  Könige  erklären,  aber 
auch  von  einer  Wahlversammlung  ist  nichts  überliefert.  Dagegen 
sprechen  für  das  feste  Erbrecht  bestimmter  Königsfamilien  eine 
Reihe  von  Umständen. 

Fünfzehn  Könige  werden  mit  Namen  genannt,  von  denen 
Fraomar,  als  regelwidrig  von  dem  Kaiser  Valeutiuian  eingesetzt 
und  wieder  entsetzt,  nicht  in  Betracht  kommt,  28,  4,  7.  Unter 
den  vierzehn  andern  waren  gleichzeitig  ein  Oheim  und  ein 
Neffe  und  zwei  Brüderpaare  Könige  und  ausserdem  der  Sohn 
eines  der  königlichen  Brüder  dessen  Nachfolger.  Bei  den 
übrigen  Königen  geschieht  verwandtschaftlicher  Beziehungen 
keine  Erwähnung. 

Im  Jahr  357  war  von  den  Brüdern  Chnodomar  und 
.Mederieh  der  erste  König,  der  zweite  römische  Geisel  in 
Gallien  und  dessen  Sohn  Agenarich  (Serapio)  König  16,  12, 
23 — 25.  Hederich  war  wohl  ein  von  den  Römern  entsetzter 
König.  Im  Jahr  354  herrschten  die  Brüder  Gundomad  und 
Vadomar  als  Könige,  regii  duo  fratres,  16,  12,  17,  Gundomad, 
356  wegen  seiner  Römertreue  ermordet,  wurde  wahrscheinlich 
von  Vadomar  beerbt,  und  als  dieser  360  nach  Spanien  ver- 
bannt war,  wurde  dessen  Sohn  Vithikab  Nachfolger,  30,  7,  7, 
der  einzige,  der  als  solcher  genannt  wird.  Endlich  waren  359 
die  vollbiirtigen  Brüder  Makrian  und  Hariobaud,  germani  fratres, 
Könige  18,  2,  15,  der  zweite  wird  später  nicht  mehr  erwähnt, 
während  Makrian  bis  374  als  einziger  Herrscher,  also  auch 
wohl  als  Erbe  des  Bruders  erscheint. 

Bei  der  Hälfte  der  Alamannen-Könige  sieht  man  somit 
das  Königthum  an  bestimmte  Familien  gebunden.  Der  Fall 
des  Vithikab  zeigt  den  uns  geläufigen  Erbübergang  vom  Vater 
auf  den  Sohn,  und  die  Seitenverwandten  als  gleichzeitige 


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Könige  erklären  sich  wohl  theils  aus  einer  Theilung  des  Gans 
unter  die  Söhne  des  Vaters,  theils  aus  dem  Erwerb  eines 
weiteren  Gaus  durch  den  König,  nach  dessen  Abgang  dann 
jeder  Gau  je  einem  seiner  Söhne  zugefallen. 

Den  Königen,  reges,  werden  die  Vertreter  der  Könige,  die 
Kiinigsboten,  regales,  gegenübergestellt. 

Bei  den  Quaden  war  der  regalis  Vitrodor  ein  Sohn  des 
Königs  Viduar,  der  sich  mit  dem  subregulus  Agilimuud  und 
anderen  Adligen  den  Römern  unterwarf;  der  regalis  Arahar, 
unter  dem  Adel  hervorragend,  iuter  optimates  excellens,  war 
der  Führer  eines  quadischen  Heerhaufens,  17,  12,  21  und  12. 
Bei  den  Alamannen  traten  in  der  Schlacht  von  Strassburg 
ausser  sieben  Königen  zehn  regales  auf.  Diese,  wie  die 
Könige  zu  Pferde,  wurden  gezwungen,  abzusteigen,  16,  12,  26 
und  34  und  35.  Der  König  Hortar  bowirthete  alle  Könige, 
Königsboten  und  Hunnen,  reges  omnes,  et  regales,  et  regulos, 
18,  2,  13  und  der  regalis  Rando  machte  mit  Leichtbewaffneten 
einen  Raubzug  nach  Mainz,  27,  10,  1.  Die  regales  waren 
also  nicht  nur  adligen,  sondern  königlichen  Geschlechts,  Königs- 
söhne, königliche  Prinzen,  ohne  die  Ehrenvorrechte  des  Königs. 
Sie  vertraten  den  König  als  Herrscher  und  als  Heerführer,  bei 
Strassburg  insbesondere  die  abwesenden  Alamannenkönige,  die 
auf  Grund  von  Bündnissen  Zuzug  leisteten. 

Als  Hunnen  erscheinen  die  ebengenaunten  reguli. 

Wie  Cäsar  die  Ausdrücke  für  die  Obrigkeiten  nach  dem 
Wort  princeps  abstuft,  princeps  pagi  und  princeps  regionis, 
Gail.  6,  22,  so  Ammian  nach  dem  Wort  rex.  Rex,  regalis, 
regulus,  der  König,  der  Königsbote  und  der  Hunne.  Der  Aus- 
druck subregulus  wird  in  der  alamannischen  Geschichte  nicht 
erwähnt,  wohl  aber  in  der  quadischen  und  fränkischen.  — 

Unter  den  Franken  bestanden  dieselben  Verfassungsformen, 
und  da  ist  es  bemerkenswertli , wie  rasch  deren  Kunde  nach 
dem  Wechsel  der  Verfassung  unsicher  wurde. 

Gregor,  der  Bischof  von  Tours,  der  um  577  seine  Geschichte 
der  Franken  schrieb,  unterscheidet  nach  seinem  nur  durch  ihn 
bekannten  Gewährsmann  Sulpicius  Alexander  zwei  Verfassungs- 
periodeu.  Nach  der  ersten  (der  Gauverfassung)  gab  es  an  der 
Spitze  von  Gauen  Könige,  reges,  die  von  königlichen  Prinzen, 
regales,  vertreten  werden  konnten,  an  der  Spitze  von  Zehnt- 

Cramer,  Geschichte  der  Alamannen.  4 


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f>0 


schäften  Zehnter,  subreguli,  und  an  der  Spitze  des  Stammes  ftir 
den  Kriegsfall  Herzoge,  duces;  nach  der  zweiten  (der  Stamm- 
verfassung)  an  Stelle  der  regales  und  duces  Einen  Stammkönig-, 
rex,  der  Franken.  Relictis  tarn  ducibns  quam  regalibus,  aperte 
Francos  regem  habere  (Sulpicius)  designat.  Dem  gelehrten 
Bischof  war  es  nun  unklar,  wieso  Sulpicius  dieselben  Führer 
der  Franken  in  den  Jahren  388  — 392  Marcomerus  und  Sunno, 
die  der  älteren  Periode  angehörten,  bald  als  duces,  bald  als 
regales,  bald  als  subreguli  bezeichnen  konnte.  Um  die  Lösung 
zu  finden,  muss  man  ihre  bleibende  zu  der  vorübergehenden 
Stellung  in  Gegensatz  bringen.  Beide  waren  (dauernd)  könig- 
liche Prinzen,  regales,  und  wie  der  Quade  Agilimund  Zehnter, 
subreguli.  Vorübergehend  waren  sie  in  den  Kriegen  von  388 
und  389,  welche  die  Franken  über  den  Rhein  nach  Gallien 
führten,  Herzöge,  duces:  Marcomero  et  Sunnone  ducibus;  haec 
acta  sunt,  cum  dnces  essent.  Entweder  waren  sie  direct  oder 
als  Vertreter  ihrer  Gaukönige  gewählt.  Gregor  weiss  nicht, 
utrum  reges  fuerint  (nein!),  an  in  vicem  tenuerunt  regnuni. ? 
Daneben  tritt  nun  im  Lauf  der  Erzählung  ihre  Bezeichnung  als 
regales  und,  als  392  die  Woge  des  Kriegs  über  den  Rhein 
zurückschlug,  als  subreguli.  Später  war  Marcomerus  nochmals 
dux  von  Ampsivariern  und  Chatten.  — 

Die  Ätlalinge  der  Alamannen  heissen  (nicht  mehr  wie  bei 
Tacitus  nobiles,  sondern)  optimates  und  priwates.  Sie  werden 
als  militärische  Führer,  als  Gesandte,  als  Väter  von  Geiseln, 
als  römische  üfficiere  oder  als  Vertreter  romfeindlicher  Politik 
genannt,  so  dass  ihre  politische  Stellung  im  Gemeinwesen  deut- 
licher als  bei  dem  älteren  Schriftsteller  hervortritt.  In  grosser 
Zahl  nahmen  sie  an  der  Schlacht  bei  Strassburg  Theil,  optimatum 
series  magna,  ein  Haufe  von  Königen,  Optimaten  und  Gemein- 
freien  machten  einen  letzten  Vorstoss  gegen  die  römischen 
Logionen,  optimatium  globus,  inter  quos  decernebaut  et  reges, 
et  seqnente  vulgo  ante  alios  agmina  nostrorum  inrupit,  18,  12, 
26  und  49.  Die  Könige  Gundomad  und  Vadomar  schickten 
Optimaten  als  Gesandte  mit  Friedensanträgen  au  den  Kaiser 
Constantius,  14,  10,  9.  Bei  dem  Bau  der  römischen  Veste  am 
Berge  Pirus  verhandelten  Optimaten,  welche  ihre  Kinder  als 
Geisel  gegebeu  hatten,  optimates  obsidum  patres,  weil  sie  einen 
Angriff  der  Alamanneu  und  damit  den  Verlust  ihrer  Kinder  be- 


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51 


fürchteten,  28,  2,  5 — 8.  Bitherid  und  Hortar,  zwei  alamannische 
Adalinge,  nationis  ejusdem  primates,  wurden  römische  Officierc, 
später  aber  Hortar  zum  Feuertode  verurtheilt,  weil  er  mit 
Optimaten,  barbaros  optiinates,  gegen  die  Römer  conspirirt 
hatte,  29,  4,  7. 

Vom  Kultus  wird  nur  einmal  des  Einflusses  der  Zeichen- 
deuter gedacht,  welche  den  Kampf  der  Gaue  des  Gundomad 
und  Vadomar  widerriethen.  Dirimentibus  auspicibns  vel  congredi 
prohibente  auctoritate  sacrorum,  14,  10,  9. 

Von  den  vier  Ständen  des  Tacitus  wird  der  der  Gemein- 
freien kaum  hervorgehoben,  z.  B.  sequente  vulgo  im  Gegensatz 
zu  optimates,  16,  12,  49,  der  der  Adalinge  charakterisiert,  der 
der  Freigelassenen  nicht  erwähnt  und  der  der  Hörigen  in  den 
Kriegsgefangenen  vielfach  gezeichnet,  z.  B.  captivi,  17,  10,  4; 
auch  servos,  18,  2,  13. 

Hiermit  ist  Alles  berichtet,  was  über  die  Verfassung  der 
alamanniscken  Gaue  im  4.  Jahrhundert  von  Ammian  überliefert 
ist.  Wir  sehen  sie  aber  auch  zum  Stamm  zusammengeschlosseu. 

In  der  Urzeit  war  es  das  Bewusstsein  gemeinsamer  Ab- 
stammung, verwandtschaftlicher  Beziehung  und  daraus  hervor- 
gegangener gemeinsamer  Geschicke,  das  die  Genossen  zum 
Stamm  einigte  und  diese  Einigung  fand  ihren  regelmässigen 
Ausdruck  in  dem  gemeinsamen  Kultus,  den  der  Stamm  den 
Göttern  weihte.  Im  Uebrigen  waren  die  Gaue  in  Friedeus- 
zeiten  autonom,  sie  hatten  dann,  wie  Cäsar  sagt,  keine  gemein- 
same Obrigkeit.  Wollte  aber  der  Stamm  einen  Krieg  beginnen, 
oder  sah  er  sich  durch  Krieg  bedroht,  so  wählte  er  eine  Obrig- 
keit, welche  den  Oberbefehl  im  Kriege  führte  und  Recht  über 
Leben  und  Tod  hatte.  Es  war  der  Herzog,  dux:  Cum  bellum 
eivitas  aut  inlatum  defendit  aut  infert,  magistratus,  qui  ei  bello 
praesint,  ut  vitae  necisque  habeant  potestatem,  diliguntur.  In 
pace  nullus  est  communis  magistratus,  Gail.  6,  23.  Kultus  und 
Krieg  festigte  die  Zusammengehörigen  zum  politischen  Stamm- 
verband, zur  Civitas. 

Die  Völkerwanderung  fügte  die  alten  Stämme  zusammen 
und  schuf  daraus  neue,  so  die  Alamannen.  Beim  Mangel  ver- 
wandtschaftlicher Zusammengehörigkeit  wurde  dem  neuen  Stamm 
gemeinsamer  Krieg,  gemeinsame  Wanderung  und  Ansiedlung 
zum  einigenden  Band;  beim  Mangel  verwandtschaftlicher  Zu- 

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sammengehörigkeit  fehlte  ihm  aber  das  Innige  und  bei  der 
grossen  Ausdehnung  des  in  Besitz  genommenen  Landes  das 
Geschlossene  der  alten  Stammverbände. 

Während  im  4.  Jahrhundert  das  Stammprincip  bei  dem 
Kultus  der  Burgnndionen  in  dem  lebenslänglichen  Stammpriester, 
Sinistns  (der  im  Gegensatz  zu  ihren  Königen  über  dem  Wandel 
aller  Politik  erhaben  war),  ihren  Ausdruck  fand,  28,  5,  14, 
lässt  bei  den  Alamannen  Nichts  auf  eine  ähnliche  Einrichtung 
scbliessen. 

In  Bezug  auf  ihre  kriegerischen  Unternehmungen,  muss 
man,  wie  schon  Cäsar  undTacitus  gethan,  bellum  und  latrocinia, 
Gail,  6,  23;  bella  et  raptus,  Germ.  14,  zwischen  Kriegen  und 
Raubzügen  unterscheiden. 

Kriege  führten  sämmtliche  oder  doch  eine  grössere  Mehr- 
zahl der  Gaue : an  der  Spitze  der  Gauheere  standen  die  Könige, 
und  über  die  vereinigten  Gauheere  wurden  ein  oder  zwei 
Könige  als  Herzöge,  duces,  gestellt.  Raubzüge  machten  die 
einzelnen  Gaue. 

Die  grossen  Züge,  die  auf  die  Eroberung  Galliens  und 
Italiens  ausgingen,  waren  Angriffskriege , an  denen  wohl  alle 
Gaue  Theil  nahmen,  nationale  Volkskriege.  Je  einem  der 
früheren  von  259  und  260  erscheint  der  Köuig  Chrocus  als 
Herzog.  Er  heisst  der  König  der  Alamannen,  das  Heer  ist 
die  Macht  der  Alamannen,  das  vereinigte  Volk  der  Alamannen, 
Alamannorum  rex,  Alamannorum  vis,  collectam  Alamannorum 
gentem.  Ammian  schildert  aus  seiner  Zeit  vier  Volkskriege. 
Den  seit  etwa  351  unter  dem  Herzogthum  des  Königs  Chnodo- 
mar;  hier  lässt  die  Zerstörung  des  östlichen  Galliens  auf  die 
allgemeine  Betheiligung  der  Gaue  schliessen,  16,  12,  4 und  5. 
Dann  den  Feldzug  des  Jahres  357,  der  mit  der  Schlacht  bei 
Strassburg  einen  vorläufigen  Abschluss  fand.  Hier  ist  die 
Zusammensetzung  des  Heeres  näher  geschildert,  aber  doch 
nicht  mit  völliger  Deutlichkeit.  Es  ist  wahrscheinlich,  dass  an 
dem  nationalen  Feldzuge,  wie  an  dem  sogleich  zu  erwähnenden 
des  Jahres  377,  alle  Gaue  Theil  nahmen.  Neben  den  Ala- 
mannen, deren  Stamm  dem  Heere  das  Gepräge  gab,  standen 
aber  auch  Angehörige  fremder  Stämme  im  Felde.  Ein  Theil, 
doch  wohl  die  Alamannen,  waren  durch  Schutz-  und  Tratz- 
bündnisse  einander  verpflichtet,  ein  Theil,  also  wohl  die 


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Fremden,  geworben.  Die  Gesammtzahl  der  Bewaffneten  betrug 
35000  Mann.  Unter  den  Führern  werden  unterschieden  sieben 
Könige,  von  denen  zwei  Chnodomar  und  Serapio  die  Herzöge 
waren,  zehn  Königsboten  und  eine  grosse  Zahl  von  Adalingen. 
Die  sieben  Könige  waren  alamannische,  und  so  auch,  darf  man 
annehmen,  die  zehn  Königsboten:  die  Gesammtzahl  17  ent- 
spricht auch  der  Zahl  der  Gaue.  Diese  waren  also  nicht  durch 
die  Verfassung,  sondern  durch  zeitliche  Bündnisse  geeinigt,  und 
von  den  17  Gauheerbannen  standen  die  einen  unter  der  Führung 
der  Könige  selbst,  die  andern  unter  der  Führung  der  Königs- 
boten. Alamannisch  wird  auch  der  grösste  Theil  der  Adalinge 
mit  ihren  Leuten  gewesen  sein.  Ductabant  omnes  populos 
Cbnodomarius  et  Serapio.  Hos  sequebantur  potestate  proximi 
reges  numero  quinque  regalesque  decem  et  optimatum  series 
magna  armatorumque  milia  triginta  et  quinque,  ex  variis 
nationibus  partim  mercede,  partim  pacto  vicissitudinis  reddendae 
quaesita.  16,  12.  23  und  26.  Im  Jahr  367  fiel  man  in  drei 
grossen  Haufen,  (Keilen,  cuneis,  cuneatim)  in  Gallien  ein,  und 
es  mag  der  König  Makrian  einer  der  Herzöge  gewesen  sein. 
Ein  Haufe  war  siegreich,  zwei  wurden  geschlagen,  und  es  hatte 
einer  der  letztem  einen  Verlust  von  6000  an  Todten  und  4000 
an  Verwundeten,  27,  1 und  2;  28,  5,  8.  Endlich  zogen  im 
Jahr  377  40000  Mann  aus  allen  Gauen,  pagorum  omnium  incolis 
in  unum  conlectis,  unter  dem  Herzog  Priari,  einem  Lenzer 
König,  in  das  Eisass,  wurden  aber  bei  Argentaria  zurück- 
geschlagen, 31,  10,  5 u.  8—10. 

Wie  die  Alamannen  mit  grossen  Heeresmassen  in  Gallien 
einbrachen,  so  die  Römer  in  das  alamanuische  Gebiet  rechts 
des  Rheins,  und  dann  gestaltete  sich  auf  Seiten  der  Alamannen 
die  Abwehr  zu  Verlheidigu ngskriegen . Der  Cäsar  Julian  überzog 
noch  im  Herbst  des  Jahres  357  die  bei  Strassburg  geschlagenen 
Könige  Suomar  und  Hortar  vom  unteren  Main  und  dem  Taunus, 
und  diese  erhielten  Unterstützung  aus  den  benachbarten  Gauen, 
insbesondere  von  drei  Königen,  17,  1,  13.  Als  Julian  nach 
Abschluss  eines  Waffenstillstandes  im  nächsten  Jahre  wieder- 
kehrte, fanden  Suomar  und  Hortar  aber  keinen  Schutz  mehr 
bei  ihren  Stammgenossen,  17,  10,  und  auch  im  Jahr  359  sah 
Julian,  nachdem  die  Köuige  vom  mittleren  Main  mit  einer 
starken  Schaar,  viribus  magnis,  den  Versuch  gemacht  hatten, 


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ihn  am  Rheinübergang  zu  hindern,  am  Main  und  Neckar  nur 
Könige,  die  sich  ihm  einzeln  ergaben,  Makrian  und  Hariobaud, 
während  Uri,  Ursicin  und  Westralp  sich  wenigstens  der  Für- 
sprache des  Königs  Vadomar  vom  Breisgau  erfreuten,  der  seinen 
Frieden  mit  den  Römern  gemacht  hatte,  18,  2.  Im  Jahr  3(18 
marschirte  der  Kaiser  Valentinian  bis  Solicomnum,  wo  er  auf 
das  alamannische  Heer  stiess,  das  augenscheinlich  die  Heerbanne 
mehrerer  Gaue  umfasste.  27,  10.  Auch  die  Abwehr  der  Ala- 
mannen gegen  die  mit  dem  Kaiser  verbündeten,  einbrechenden 
Burgundionen  vom  Jahr  370  scheint  ein  gemeinsames  Unter- 
nehmen gewesen  zu  sein,  das  sich  aber  bald  auflöste,  29,  5. 
Im  Jahr  374  verwüstete  Valentinian  einige  alamannische  Gaue, 
post  vastatos  aliquos  Alamanniae  pagos,  30,  3,  1,  ohne  dass 
von  einem  Widerstand  die  Rede  wäre. 

Alle  diese  Beispiele  und  zumal  das  des  Heeres  von  Strass- 
burg lehren,  dass  die  Kriegstührung  verfassungsmässig  nicht 
Sache  des  Stamms,  sondern  der  durch  freies  Bündniss  geeinten 
Gaue  war,  dass  das  Gesammtheer  sich  aus  den  Heerbannen  der 
Gaue  zusammensetzte,  und  dass  das  Herzogthum  nicht  etwa 
dauernd  mit  einem  Gau  und  dessen  König  verbunden  war,  sondern 
mit  der  einzelnen  Kriegsunternehmung  wechselte.  Wie  die 
Germanen  des  Tacitus,  so  wählten  auch  die  Alamannen  den 
Herzog  nach  der  Tapferkeit.  Duces  ex  virtute  sumunt, 
Germ.  7. 

Die  Raubziuje  waren  von  geringerem  Umfange,  sie  waren 
Sache  des  einzelnen  Gaus  oder  auch  wohl  mehrerer.  Die  Gaue 
des  Gundomad  und  Vadomar  machten  354,  der  Gau  des  Letzteren 
3(50,  die  Lenzer  Gaue  354,  Juthungen  358,  ein  oder  mehrere 
Gaue  385,  der  Königsbote  Rando  368  Streifziige  in  die  römischen 
Nachbarprovinzen,  um  zu  plündern  und  zu  verwüsten.  Im 
Jahr  359  wurden  die  Gefangenen  befreit,  welche  die  Könige 
Uri,  Ursicin  und  Westralp  auf  ihren  häufigen  Streifzügen, 
excursus,  gemacht  hatten,  und  aus  einem  Gaukampf  der  Lenzer 
entwickelte  sich  im  Jahr  377  der  Krieg,  in  dem  alle  Gaue  die 
Niederlage  bei  Argentaria  erlitten. 

Auch  die  Friedensschlüsse  und  Bündnisse,  welche  die  Römer 
nach  ihren  Siegen  eingingen,  wurden  nicht  mit  dem  Stamm, 
sondern  mit  den  einzelnen  Gauen,  die  sich  unterwarfen,  ab- 
geschlossen. 


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Es  gab  eben  keinen  politischen  Stammverband,  keine  Civitas 
mehr,  die,  wie  in  alter  Zeit  einen  Krieg  hätten  führen,  einen 
völkerrechtlichen  Vertrag  eingeheu  können.  Von  ihr  war  nur 
der  Herzog  als  gewählter  Oberbefehlshaber  übriggeblieben.  Die 
Gaue  waren  wie  im  Frieden,  so  nunmehr  auch  im  Kriege 
autonom. 


4.  Die  römischen  Hündnlssverträge. 

Diese  gewohnheitsreehtlichen  Verfassungsgrundzüge  fanden 
im  Wege  des  Vertrags  ihre  Ergänzung,  wenn  die  Gaue  zu  den 
Römern  dauernd  in  ein  Verhältniss  beschränkter  Abhängigkeit 
traten.  In  allen  Fällen  mit  Ausnahme  eines  einzigen  geschah 
dies  gezwungen.  Rückte  hinreichend  römische  Truppenmacht 
in  den  Gau  ein,  um  Rache  für  Raubzüge  oder  für  Theilnahme 
am  Kriege  zu  nehmen,  so  blieb  dem  Könige  nur  übrig,  um 
Verzeihung  für  das  Vergangene  und  Frieden,  pax,  zu  bitten. 
Demütliig,  ängstlicher  Miene,  gekrümmten  Rückens,  gebeugten 
Knies,  oder  sich  zu  Boden  werfend,  erschienen  nach  der  ständigen 
Erzählung  Ammians  der  König  selbst  oder  seine  Gesandten  vor 
dem  römischen  Heerführer.  Die  der  Könige  Uri,  Ursicin, 
Westralp,  in  deren  Gauen  359  Wohnungen  und  Saaten  verbrannt 
waren,  baten  so  demüthig,  als  hätten  sie  selbst  dies  gegen  die 
Römer  verschuldet.  Das  war  die  Ergebung,  deditio,  die  an- 
genommen wurde.  So  die  der  Lenzer  im  Jahr  377:  post  dedi- 
tionem,  quam  impetravere  supplici  prece,  31,  10,  17. 

Aber  nicht  nur  Verzeihung  und  Friede  wurde  den  Gauen 
gewährt,  sondern  ihnen  auch  ein  Bündnissvertrag,  foedus,  be- 
scheert,  pax  et  foedus,  (obliti  pacis  et  foederum  17.  6,  1), 
welcher,  die  Beziehungen  zwischen  dem  römischen  Reich  und 
dem  Gau,  das  Mass  seiner  Abhängigkeit  feststellte.  Er  wurde 
durch  feierlichen  Eid,  der  seitens  der  Alamannen  nach  germa- 
nischer Art  geschworen  wurde  und  durch  Stellung  von  Geiseln, 
Söhnen  der  Adalinge,  oder  gar  der  Könige,  bestärkt.  Icto 
foedcre  gentium  ritu  perfectaque  sollemnitate,  14,  10,  15.  Ritu 
patrio,  17,  1,  13-  Obsidum,  quos  lege  foederis  tenebamus,  28, 


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56 


2,  6.  Foedus  solemni  ritu  impletum,  30,  3,  7.  Die  föderirten 
Könige  erhielten  der  Sitte  oder  auch  Abrede  gemäss  beim  Ab- 
schluss des  Vertrags,  oder  die  Gaugenossen  auch  dauernd  römische 
Geschenke,  geeignet  ihre  Botmässigkeit  zu  erhalten.  Hortarius 
cum  munerandus  venisset  ex  more,  17,  10,  8.  Certa  et  prae- 
stituta  ex  more  munera  praeberi,  26,  5,  7. 

Das  Biindniss  machte  den  Gau  oder  Stamm  und  deren 
Angehörige  zu  römischen  Bundesgenossen,  socii,  aber  nach 
römischem  Staatsrecht  entweder  reichsunterthänig  oder  reichsfrei. 

Die  reichsunterihänigen  Genie  oder  Stämme,  populi  stipen- 
diarii,  tributarii,  gehörten  der  römischen  Provinz  an  und  verloren 
ihr  Eigenthum  am  Grund  und  Boden,  das  in  römisches  Staats- 
eigenthum, ager  publicus  populi  Romani,  umgewandelt  und  zu 
Besitz  und  Nutzung,  possessio  und  ususfructus,  ausgegeben 
wurde.  Sie  waren  der  römischen  Gesetzgebung,  Besteuerung, 
Gerichtsbarkeit  und  Verwaltung  unterworfen,  während  die 
reichsfreien  Gebiete  nicht  zur  Provinz  gehörten,  Eigenthum  am 
Grund  und  Boden  behielten,  ager  privatus  ex  jure  peregrino, 
habere  possidere,  nach  eignem  Recht  lebten,  suis  legibus  uti, 
d.  h.  beschränkt  autonom  und  frei  von  römischer  Besatzung  und 
Steuer,  d.  h.  immun  blieben.  Dagegen  hatten  sie  politische 
Beziehungen  nur  zum  römischen  Reich , dessen  Sache  aus- 
schliesslich die  auswärtige  Politik  war.  Zum  Reich  standen 
sie  in  ewiger  Wehrgemeinschaft  und  stellten  ihm  Hülfstruppen, 
eine  wichtige  Vermehrung  des  römischen  Heeres,  welche  zugleich 
eine  Annäherung  des  Stammes  an  Rom  einleitete.  (Nach 
Marquardt.) 

Wenn  die  Römer  die  alamannischen  Gaue  mit  Krieg  über- 
zogen, so  konnte  dies  nur  den  Zweck  haben,  sie  für  ihre  Streif- 
züge und  Kriegsunternehmungen  nach  Gallien,  Rätien  und 
Italien  zu  züchtigen  und  sie  die  Macht  des  Reiches  fühlen  zu 
lassen,  um  sie  für  die  Zukunft  von  Gleichem  abzuhalten.  Denn 
die  römische  Macht  reichte  nicht  mehr  aus,  das  Land  rechts 
vrm  Rhein  und  links  von  der  Donau  in  Besitz  zu  behalten  und, 
wie  an  den  andern  Ufern  dieser  Ströme  geschehen,  sich  zu 
assimiliren.  Man  konnte  daher  den  Alamannen  nicht  die 

strengere  Form  der  Abhängigkeit,  die  Reichsunterthänigkeit, 
auferlegen,  vielmehr  musste  die  lockerere  der  Reichsfreiheit  der 
jugendlichen  Kraft  des  Germanenstammes  gegenüber  genügen, 


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57 


die  sich  immer  nur  auf  Zeit,  bis  zum  nächsten  Abfall  bändigen 
liess,  dann  aber  wild  aufbäumte. 

Von  alamannischen  Friedens-  und  Biindnissledingungen 
werden  nur  erwähnt  die  Herausgabe  von  römischen  Gefangenen, 
die  Lieferung  von  Lebensmitteln  für  das  Heer,  von  Fuhrwerk 
und  Baumaterial  für  den  Wiederaufbau  zerstörter  gallischer 
Städte  und  Stellung  junger  Mannschaft  für  den  römischen  Kriegs- 
dienst, auxiliarii  milites,  18,  2,  6.  Der  Kaiser  Probus  liess  sich 
16  000  Mann  stellen,  die  er  zu  50  oder  60  unter  die  Truppen- 
körper verschiedener  Provinzen  vertheilte.  Er  soll  nach  der 
Erzählung  des  Vopiscus  auch  die  Abgabe  der  Waffen  verlangt 
haben,  wogegen  er  den  Schutz  der  Alamannen  gegen  fremde 
Angrifle  Zusagen  wollte,  aber  jene  war  nicht  durchzusetzen. 
Eine  politische  Vertretung  der  föderirten  Gaue  durch  Rom  hätte 
später  den  Burgundionen  gegenüber  von  Werth  sein  können, 
der  Kaiser  Valentinian  verbündete  sich  jedoch  gegen  die  Ala- 
mannen mit  den  Burgundionen,  allerdings  als  er  sich  mit  jenen 
in  dauerndem  Kriegszustand  befand,  28,  5,  8 — 15. 

Ammian  nennt  die  gezwungen  föderirten  Alamannengaue 
niemals  socii,  sondern  hat  nur  einmal  den  Ausdruck  auxiliatorcs, 
14,  10,  14.  Die  föderirten  Könige  waren  Freunde,  Klienten 
des  römischen  Reiches.  Suomarium  regem  amicum  nobis  ex 
pactione;  rex  Vadomarius  ab  Augusto  (Constantio)  in  clientelam 
rei  Romanae  susceptus,  18,  2,  8 und  17.  Fraomar,  von  dem 
Kaiser  Valentinian  zum  König  des  Buchengaus  gemacht,  stand 
später  mit  dem  Rang  eines  Prätor  an  der  Spitze  einer  ala- 
mannischen Cohorte  in  Britannien,  die  sich  durch  ihre  Stärke 
auszeichnete.  Der  König  Vadomar  spielte  eine  politische  Rolle 
in  den  Intriguen  des  Kaisers  Constantius  gegen  den  Cäsar 
Julian,  wurde  verbannt  und  dann  römischer  Statthalter  in 
Phönike,  belagerte  Nicaea  und  kämpfte  gegen  den  persischen 
König  Sapor. 

Das  römische  Staatshandbuch  von  400  führt  an  alamannischen 
Hülfstruppen  auf:  im  Occident  Brisigavi  juniores,  in  Hispanien 
garnisonirend,  Brisigavi  juniores  in  Italien,  Mattiaci  seniores  in 
Italien  (sie  waren  Palasttruppen),  Mattiaci  juniores  und  Mattiaci 
juniores  Gallicani  in  Gallien,  Bueinobantes  in  Italien  (sie  waren 
gleichfalls  auxilia  palatina):  im  Orient  cohors  nona  Alamannorum 
in  Thebais,  ala  prima  und  cohors  quinta  pacata  Alamannorum 


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58 


in  Phoenice.  Ausserdem  geschieht  suevischer,  in  Gallien  an- 
gesiedelter L&ten,  die  unter  Präfecten  standen.  Erwähnung, 
praefecti  laetorum  gentilium  Suevorum  in  der  Lugdunensis 
secunda  und  tertia  nnd  der  Aquitania  prima. 

Der  Zwang  bei  Eingehung  der  Bündnisse  Hess  es  zu 
keiner  Sicherung  der  Bundestreue,  fides,  kommen.  Der  Bundes- 
treue war  fidus,  21,  3,  4.  Der  König  Gundomad  war  fidei 
firmioris,  16,  12,  17.  Das  Bündniss  wurde  gebrochen,  foedus 
frangere,  18,  2,  7;  rupto  concordiae  pacto,  21,  3,  4;  violato 
foedere  31,  10,  2;  pactis  calcatis  28,  2,  7 von  den  Alamannen, 
wenn  die  Gunst  der  Verhältnisse  es  erlaubte,  von  den  Römern, 
wenn  ihre  Politik  es  mit  sich  brachte.  Der  alamannische 
Bundesbrüchige  war  perfidus,  infidus,  malefidus.  Si  perfiduni 
quicquam  egisset,  17,  10,  9;  gentis  motus  infidi,  27,  10,  5: 
malefidam  gentem,  31,  10,  11.  Dass  Hederich  der  Bruder  des 
Königs  Chnodomar,  als  Geisel  in  Gallien  war  und  als  honio 
perfidissimus  bezeichnet  wird  (16,  12,  25),  scheint  auf  ein  mit 
seinem  Gau  abgeschlossenes  Bündniss  hinzudeuten.  Im  Uebrigen 
erzählt  Ammiau  von  später,  seit  354  eingegangeneu  Bündniss- 
verträgen.  Sie  wurden  von  den  Alamannen  durch  die  drei 
allgemeinen  gegen  Gallien  gerichteten  Unternehmungen  der 
Jahre  357,  367  und  377  (Kämpfe  bei  Strassburg,  an  der  Mosel 
und  Marne  und  bei  Argentaria)  gebrochen.  Insbesondere  ver- 
letzten die  seit  354  föderirten  Breisgauer  den  Vertrag,  indem 
sie  357  den  bundestreuen  König  Gundomad  ermordeten  und  an 
der  Schlacht  bei  Strassburg  Theil  nahmen,  sowie  360  nach 
Rätien  einbrachen,  nnd  indem  später  ihr  König  Vithikab  offen 
zum  Aufstand  gegen  die  Römer  schürte;  die  Lenzer,  seit  354 
verbündet,  schlugen  gleichfalls  die  Schlacht  bei  Strassburg  mit 
und  erregten  im  Jahr  377  den  grossen  Aufstand,  der  zur 
Schlacht  bei  Argentaria  führte.  Die  Juthungen  schlossen  im 
Jahr  357  ihr  Bündniss,  brachen  es  aber,  obliti  pacis  etfoederum, 
17,  6,  1,  schon  im  nächsten  Jahr  durch  einen  Streifzug  nach 
Rätien.  Die  Könige  Suomar  und  Hortar,  seit  358  in  Bündniss. 
blieben,  soviel  zu  sehen,  vertragstreu.  Trotz  des  den  Königen 
Makrian  und  Harioband,  Uri,  Ursicin  und  Westralp  359  ge- 
währten Friedens,  pax,  war  Ersterer  Jahre  lang  der  erbittertste 
und  erfolgreichste  Feind  der  Römer,  während  von  den  andern 
nicht  mehr  die  Rede  ist.  Uebrigens  ist  anzunehmen,  dass  den 


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59 


beiden  Ersten  kein  foedus  auferlegt  sei,  wohl  aber,  und  zwar 
.unter  gleichen  Bedingungen“,  den  drei  Letztem.  18,  2,  18 
und  19;  30,  3,  8. 

Nicht  so  vollständig  werden  von  Ammian  die  Bündniss- 
brflehe  der  Römer  mitgetheilt  sein.  Der  Cäsar  Julian  Hess  den 
seit  354  verbündeten  König  Vadoniar  361  aufheben  und  ver- 
bannte ihn  nach  Spanien.  Der  Kaiser  Valentinian  Hess,  entgegen 
dem  368  nach  der  Schlacht  bei  Solicomnum  mit  Gauen  des  Mittel- 
rheins geschlossenen  Vertrag,  im  nächsten  Jahr  Befestigungs- 
werke im  Alamannenland  aufführen,  subradens  barbaros  fines; 
in  monte  Piri,  qui  barbaricus  locus  est;  pactis  calcatis,  28,  2, 
1 und  5 und  7.  Den  Verträgen,  wie  dem  Völkerrecht  zuwider 
liess  er  den  König  Vithikab  ermorden,  was  zu  seinen  Gross- 
thaten  gezählt  wird,  und  ging  in  eigener  Person  auf  den  Fang 
des  König  Makrian  aus.  musste  jedoch  mit  Schimpf  abziehen. 

Ein  f reilrilliges  Bündniss  wurde  374  nur  einmal  zwischen 
ermüdeten  Gegnern  eingegangen,  zwischen  demselben  Kaiser 
und  demselben  König,  der  nicht  zur  Unterwerfung  zu  bringen 
war.  Beide  kamen  zu  diesem  Zweck,  ad  excipiendum  foedus, 
am  rechten  Rhein  in  der  Gegend  von  Mainz  zusammen.  Es 
wurde  feierlich  Freundschaft,  amicitia,  geschlossen.  Makrian 
allein  wird  Bundesgenosse,  socius,  genannt.  Er  blieb  den  Römern 
bis  an  sein  Lebensende  treu.  Dedit  ad  usque  vitae  tempus 
extremum  constantis  in  concordiam  auimi  facinornm  documentum 
pulchrorum,  30,  3,  3—7. 


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Anlage 

zum  dritten  Kapitel,  1 und  2,  Seite  34  und  3(>. 


TauscnäscViaften,  ,Hunderfscl|aften,  2>el\ntscViaffen. 

Bei  Cäsar  und  Tacitus  finden  sich  die  ersten  Andeutungen 
der  verfassungsmässigen  Gliederung,  sowie  die  Namen  der 
Glieder.  Sie  nennen  den  Stamm  civitas,  die  Tausendschaften 
pagus  (Gau).  Die  vielumstrittene  Bedeutung  der  Worte  rex 
und  princeps  kann  hier  dahingestellt  bleiben  und  ebenso, 
welcher  Stufe  das  concilium  angehörte. 

Cäsar  hat  die  räumlichen  und  persönlichen  Tausendschaften 
im  Auge,  wenn  er  jedem  der  hundert  Gaue  der  Sueben  tausend 
Krieger  und  tausend  Ackerbauer  giebt,  die  sich  jährlich  ab- 
wechseln. Hi  centum  pagos  habere  dicuntur,  ex  quibus  quo- 
tannis  singula  milia  armatorum  bellandi  causa  ex  finibus 
educunt.  Reliqui,  qui  domi  manserunt,  se  atque  illos  alunt; 
hi  rursus  in  vicem  anno  post  in  armis  sunt,  illi  domi  remanent, 
Gail.  4,  1.  Die  hundert  Gaue  der  Sueben  wiederholen  sich 
als  Tausendschaften  des  Heeres,  wenn  es  heisst,  sie  ständen 
am  Rhein.  Pagos  centum  Sueborum  ad  ripam  Rheni  consedisse, 
Gail.  1,  37.  Die  Nachricht  von  hundert  Gauen,  die  Cäsar 
erhielt,  lässt  auf  ein  gewaltigeres  Gebiet  der  Sueben  schliessen, 
als  ihm  bekannt  war.  Denn  die  Zahl  der  Alamannengaue 
betrug  zur  Zeit  ihrer  grössten  Ausdehnung  (abgesehen  von  den 
in  Gallien  wiederverlorenen  Sitzen)  und  ihrer  voll  entwickelten 
Ansiedlung  zwischen  dem  Westerwald  und  dem  Gotthard,  den 
Vogesen  und  dem  Lech  nur  neun  und  zwanzig.  Möglich  aber 
auch,  dass  Cäsar  von  den  Hundertschaften  und  Tausendschaften 
der  Sueben  gehört  hatte  und  die  Zahl  hundert  für  die  der 
Gaue  hielt. 

Die  principes  regionum  atque  pagornm,  die  inter  suos  ius 
dicunt,  controversiasque  minuunt,  Gail.  6,  23,  erscheinen  als  die 
Häupter  des  Gaus  und  der  Hundertschaft,  die  wie  auch  zur 


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iränkischen  Zeit  in  den  Hundertschaften  Gerichtsversammlungen 
abhielten.  (Hier  regionum  für  Gaue,  pagornm  für  Hundert- 
schaften?) Endlich  mögen  unter  den  Worten:  magistratus  ac 
[irincipes  . . . gentibus  cognationibusque  hominum,  qui  tum 
nua  coieruut,  quantum  et  quo  loco  visum  est  agri  adtribuunt, 
Gail.  6,  22,  Hundertschaften  (gentes)  und  Zehntschaften  (cogna- 
tiones),  welche  zugleich  wirthschaftliche  Einheiten  darstellten, 
verstanden  sein. 

Am  Ende  des  ersten  Jahrhunderts  unserer  Zeitrechnung, 
150  Jahre  nach  Cäsar  hat  Tacitus  dessen  Nachricht  von  den 
centum  j>agi  auf  die  Semnonen  bezogen,  offenbar  durch  ein 
Missverständnis  von  Hundertschaften  und  Ganen  verleitet, 
Germ.  30.  Die  Häupter,  welche  in  Gauen  und  Dörfern  des 
Rechts  walten,  principes,  qui  jura  per  pagos  vicosque  reddunt,  sind 
die  Häupter  des  Gaus,  die  wie  bei  Cäsar  an  den  Malstätten 
(vicis)  der  Hundertschaft  Gericht  halten.  Unverkennbar  treten 
die  Gerichtsversammlung  der  Hundertschaft  in  den  Worten 
centeni  ex  plebe  comites,  die  Hundertschaft  des  Heeres  als 
Abtheilung  der  Tausendschaft  (des  Gaus)  in  den  Worten  centeni 
ex  singulis  pagis  und  die  Hundortschaften  und  Zehntschaften 
des  Heeres  in  den  engeren  und  weiteren  Sippen,  welche  den 
Keil  bilden,  familiae  et  propinquitates  hervor.  Was  früher  eine 
Zahl  war,  setzt  Tacitus  bei  den  Heerhundertschaften  hinzu,  ist 
jetzt  ein  Name,  quod  primo  numerus  fuit,  jam  nomen  est,  Germ. 
12  und  6 und  7. 

Bei  Ämmian  findet  sich  in  der  zweiten  Hälfte  des  4.  Jahr- 
hunderts pagus  und  rex  als  Gau  und  Gaukönig  häufig  bei  allen 
germanischen  Stämmen,  regulus  als  Haupt  der  Hundertschaft 
einmal  bei  den  Alamannen,  snbregulus  als  Führer  einer  Zehnt- 
schaft einmal  bei  den  Quaden,  18,  2,  13;  17,  12,  21. 

Zur  Zeit  der  Vol!;srtchk  kommt  die  Tausendschaft  als  persön- 
licher Verband  oder  als  dessen  Führer  bei  den  Vandalen 
millenarii,  Ostgothen  millenarii,  thusandifaths,  Westgothen 
thiuphadia,  Sachsen  duces  cum  singulis  milibus  und  bei  den 
Alamannen  milia  vor.  Der  angelsächsische  Beowulf  v.  2196 
und  2995  giebt  in  den  Geschenken  des  Königs  Hygelac  an 
Beowulf  und  an  Wulf  und  Eofar  die  persönliche  und  räumliche 
Tansendschal’t  wieder.  Simrock  übersetzt  30,  52  und  40,  49: 
„Er  schenkte  dem  Sieger  (Beowulf  noch)  Siebentausend  mit 


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Burg  und  Gebieterstubl.  Ihnen  Beiden  war  das  Land  gemeinsam 
und  die  Leute  dazu.“  „Die  Tapfern  (Wulf  und  Eofar)  lohnte 
er  mit  Huuderttausenden  Lands.“  Die  mystischen  centum  pagi 
des  Cäsar  und  Tacitus  finden  sich  in  den  Hunderttausenden  des 
Liedes  wieder. 

Im  Uebrigen  scheint  der  Zahlausdruck  für  den  territorialen 
Begriff  der  Tausendschaft  und  für  sein  Haupt  verloren  gegangen 
zu  sein.  Der  neuere  Ausdruck  ist  Gau  (gothisch  gavi,  alt- 
hochdeutsch gawi,  gewi,  gowi,  altsächsisch  und  altfriesisch  gä, 
gö),  dem  bereits  der  pagus  der  Börner  entspricht.  Das  Tausend- 
haupt wird  damit  zum  Gauhaupt,  Gaukönig,  kuning,  reiks. 

Die  Hundertschaft  findet  sich  bei  den  Nordgermanen, 
hundari,  herad  (Harde),  den  Angelsachsen  hundred,  den  Friesen 
hunderi,  den  Alamannen  huntari  und  centena,  den  Franken 
centena,  am  Niederrhein  hunaria  und  Hondschalt.  Der  Hundert- 
schaftsführer ist  bei  den  Ostgothen  hundafaths,  bei  den  Sachsen 
und  vereinzelt  bei  Franken  und  Alamannen  hunno,  bei  Franken 
Alamannen  und  Baiern  centenarius,  auch  centurio.  Hierher 
gehören  vermuthlich  auch  die  hendinos  der  Burgundionen,  welche 
Ammian  28,  5,  14  für  Könige  hält. 

Die  Zehntschafl  ist  in  ihrem  germanischen  Ausdruck  fast  ver- 
schwunden. Vorwiegend  kennen  wir  die  lateinischen  nach  decem 
gebildeten  Ausdrücke:  decanus,  decania.  Bei  den  Westgothen 
werden  als  Führer  im  Heer  und  Träger  richterlicher  Funktionen 
(ausser  dem  thiuphadus  - millenarins,  dem  quingentenarius  — 
Fünfhundertführer  und  dem  centenarius)  der  decanus,  bei  den 
Langobarden  als  richterlicher  und  polizeilicher  Beamte  der 
decanus,  deganus  erwähnt.  Die  Decane  der  Franken  sind  Auf- 
seher oder  Verwalter  auf  Gütern  des  Königs  oder  der  Grossen 
(Waitz).  Die  folgenden  Stellen,  die  sich  bei  Sickel  finden, 
beweisen  aber  mit  Sicherheit,  dass  sie  wie  Führer  im  Heer,  so 
auch  Kichter  des  öffentlichen  Rechts  waren,  und  dass  ihrer 
Zuständigkeit  auch  ein  Gebiet,  decania,  entsprach. 

Im  Gesetzbuch  der  Baiern  heisst  es  II.  5,  1,  comes  ponat 
ordinationem  suam  super  centurios  et  decanos,  et  unusquisque 
provideat  suos,  quos  regit,  ut  contra  legem  non  facerent.  In 
das  Immunitätsprivileg  für  das  Bisthum  Seben-Brixen  fügte  Otto 
der  II.  (973—983)  die  Worte  seu  und  sive  decanus  ein,  die  in  dem 
Gesuch  nicht  standen,  so  dass  es  heisst:  Ut  nullus  judex  publicus, 


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comes  aut  exactor,  „seu  decanus,“  seu  centinarius  . . . nec 
ullns  judux  publicns  aut  exactor.  „sive  decanus“  ad  suum  placitum 
coustringat.  Aehnlich  in  einer  Urkunde  derselben  Art  von 
Ludwig  dem  Deutschen  (843  — 876)  für  das  sächsische  Kloster 
Wildeshausen,  ut  nullus  comes,  neque  centenarius  vicarius, 
„neque  decanus,“  neque  judex  nec  quislibet  ex  judiciaria  potestate 
potestatem  babuisset,  eos  distringere.  Hincmar  von  Rheims 
bekundet  882  von  der  Praxis  dieser  Beamten,  ut  comites  et 
viearii  vel  etiam  decani  plurima  placita  constituant  et  si  ibi  non 
venerint,  compositionem  ejus  exsolvae  faciant.  Nach  Landau 
ist  der  germanische  Ausdruck  für  den  decanus  nach  alten  Glossen 
Zebaning,  in  Niedersachsen  Tegeder= Zehnter. 

Neben  dem  Zehntführer  im  Heer  und  Gericht  ist  aber  auch 
das  seiner  Zuständigkeit  entsprechende  Zehntgebiet  nachzu- 
weisen. Eine  Königsurkunde  zeigt  die  decania  als  Unter- 
abtheilung einer  Grafschaft  und  wie  es  scheint  einer  Hundert- 
schaftsmark: In  partibus  Karantaniae  (wo?)  in  comitatu  Hart- 
wigi  comitis,  qui  et  ipse  inibi  cognomiue  Waltpoto  (Waldbote, 
Obermärker)  dicitur,  ac  in  decania  Wolframi  decani. 

Wie  schon  angedeutet,  finden  sich  insbesondere  auch  bei 
den  Alamannen  Erinnerungen  an  die  Zahlnamen.  Die  Hundert- 
schaften sind  geblieben,  die  Tausendschaften  und  Zehntschaften 
durch  die  neueren  Ausdrücke  Gau  und  Hark  ersetzt.  Aus 
der  Mitte  des  4.  Jahrhunderts  datiren  die  Bezeichnungen  des 
Ammian  von  pagus  und  rex  für  die  räumliche  Tausendschaft 
und  ihr  Haupt,  sowie  von  regulus  für  den  Führer  der  Hundert- 
schaft; aus  dem  Anfang  des  7.  Jahrhunderts  der  Ausdruck  des 
Pactus  Alamanuorum  generatio  für  den  Zehntverband  im  Heer 
(Sippe):  der  Lite  wurde  vor  der  Heeressippe  freigelassen,  si 
litns  fuerit,  in  heris  generationis  dimissus  fuerit,  2,  45;  aus  der 
Zeit  von  717-71!)  die  Zeugnisse  des  alamannischen  Gesetz- 
buchs. Es  konnte  nicht  mehr  von  Tausendschaften  oder  Gauen 
und  Königen  reden,  weil  sie  nicht  mehr  bestanden,  wohl  aber  von 
Hundertschaften,  centena,  36,  1,  centenarius,  36,  1 und  2 und  3, 
oder  centurio,  28,  3.  Der  generatio  des  Heeres  im  Pactus  ent- 
spricht der  persönliche  und  räumliche  Verband  der  generalogia; 
zwei  Sippen  streiten  über  die  Grenze  ihres  Gebietes,  contentio 
inter  duas  genealogias  de  termino  terrae  eorum,  84.  Das 
Wort  Zehntschaft,  decania,  decanus  kommt,  soviel  ich  sehe,  in 


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Alamannien  niemals  vor.  Seit  dem  8.  Jahrhundert  erscheinen 
in  den  Urkunden  einzelne  räumliche  Hundertschaften  unter  dem 
Namen  huntari  (Huntare),  oder  centena,  deren  Obrigkeit  unter 
der  Bezeichung  hnnno,  centenarius.  Der  Pactus  und  die  Lex 
haben  weiter  den  Ausdruck  marca,  marcha  (Mark)  im  Sinn 
von  provincia  (Provinz  Alamannien,  Pactus  3,  12,  Lex  45,  46, 
37,  2),  aber  die  späteren  Urkunden  verstehen  unter  Mark  das 
Gebiet  der  Hundertschaft  wie  der  Zehntschaft. 

Noch  hundert  Jahre  nach  dem  alamanuischen  Gesetzbuch 
lässt  Ermoldus  Nigellus  die  aus  Hundertschaften  bestehenden 
Tausendschaften  der  Sueven  (hier  der  Alamannen)  über  die 
hellen  Fluthen  des  Rheins  ziehn. 

Alba  Suevornm  veniunt  trans  flumina  Rheni 
Milia  ceutenis  accumulata  viris. 

(Jahr  826;  III,  261;  mon.  Germ.  auct.  II,  494). 

Endlich  stuft  Walafried  Strabo,  der  Abt  von  Reichenau 
(gestorben  849),  also  eine  alamannische  Quelle,  die  Obrigkeiten 
des  fränkischen  Reichs  nach  den  Zahlnamen  ab,  welche  nach 
ihm  dem  Alterthum  entlehnt,  die  Oberen  nach  der  Zahl  der 
ihnen  Untergebenen  bezeiehneten.  Sunt  ipsa  vocabula  ab  auti- 
quitate  mutuata,  in  qua  officia  praelatorum  dicebantur  ex  numero 
subjeetorum,  ut  sunt  chiliarchi  Graeci,  Latini  millenarii 
(Tausendschaften),  centenarii  et  centurioues  (Hundertschaften), 
pentepontarchi  et  quinquageuarii,  (Fünfzigschaften,  sonst  nicht 
bekannt),  decani  et  centuriones  (Zehntschaftcn)  etc.  Walter 
Corp.  jur.  Germ.  3,  526. 

Somit  linden  sich  folgende  Ausdrücke: 

für  die  Tausendschaft  bei  den  Römern  und  zwar  für  die 
Genossen  milia,  für  das  Haupt  rcx,  für  das  Gebiet  pagus; 
bei  den  Germanen  und  zwar  für  die  Genossen  milia,  thiuphadia, 
für  das  Haupt  millenarius,  chiliarchus,  thusendifaths,  thiuphadus, 
rex,  dux,  kuniug,  reiks,  für  das  Gebiet  gavi,  gawi,  gewi, 
gowi,  gä,  gö,  gau; 

für  die  Hundertschaft  bei  den  Römern  und  zwar  für  die 
Genossen  centeni,  propinquitas,  geus,  für  das  Haupt  regulus, 
für  die  Malstätte  des  Gebiets  vicus;  bei  den  Germanen  für  die 
Genossen  centeni,  lür  das  Haupt  centenarius,  eenturio,  hunda- 
faths,  kunno,  für  das  Gebiet  centena,  huntari,  kundari,  herad, 
hunaria,  Houdschaft,  Mark,  marca; 


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für  die  Ztlnitm  Jiaft  bei  den  Römern  und  zwar  für  die  Genossen 
cognatio,  familia,  für  das  Haupt  subregulus;  bei  den  Germanen 
für  die  Genossen  generatio,  genealogia,  für  das  Haupt  decanus, 
Zehaning,  Tegeder,  für  das  Gebiet  decania. 

Die  alamannisehtrti  Bezeichnungen  sind  für  die  Tausend- 
schaft bei  Ammian  rex,  pagus,  in  alamaunischen  Quellen  milia, 
millenarii,  chiliarchi,  Gau ; für  die  Hundertschaft  bei  Ammian 
regulus,  in  alamannisehen  Urkunden  centeni,  eentenarius, 
centurio,  hunno;  centena,  huntari,  marca,  Mark;  für  die  Zelrut- 
schaft  nach  Strabo  decanus,  nach  Urkunden  marca,  Mark. 

Hier  ist  vorwegzunehmen,  dass  die  öffentlich-rechtlichen 
Functionen,  die  in  älterer  Zeit  an  den  Gau  der  Könige  geknüpft 
waren,  in  fränkischer  Zeit  mit  der  Huntare  des  Grafen  ver- 
bunden wurden.  Der  Gau  wurde  damit  obsolet  und  sein  Name 
ging  in  Folge  dessen  auf  die  Hundertschaft  über,  die  nunmehr 
sowohl  Hundertschaft  wie  Gau,  pagus,  hiess,  z.  B.  pagus  Hatten- 
huntare,  ceutena  Eritgau.  Es  sind  sogar  die  meisten  Hundert- 
schaften, welche,  wie  der  Eritgau  die  Bezeichnung  gau  in  der 
Endung  führen. 

Ebenso  wurden  im  Mittelalter  die  gerichtlichen  Functionen 
der  Hundertschaft  vielfach  auf  die  Zehntschaften  übertragen. 
Die  Hundertschaft  verlor  damit  im  Wesentlichen  ihren  Werth 
und  die  Bezeichnung  wurde  auf  die  Zehntschaft  übernommen. 
Es  wurden  daher  nach  dem  lateinischen  centum  (hundert, 
Hundertschaft)  die  Ausdrücke  Cent,  Zent,  Zenderei,  Zendcr, 
centumgrafio,  centurio  für  die  Zehutschaft  gebildet,  und  es  ist 
nur  zufällig,  wenn  sie  an  den  Ausdruck  Zehntschaft  anklingen, 
wie  nur  zufällig  das  lateinische  centum  an  die  deutsche  zehn 
erinnert.  (Das  e in  centum  ist  kurz,  das  in  zehn  lang.)  So 
erklär  t es  sich  auch,  dass  Strabo  in  der  oben  angeführten  Stelle 
sowohl  für  den  eentenarius,  wie  für  den  decanus  den  weiteren 
Ausdruck  centurio  hat. 

Diese  Uebertragung  der  Bezeichnungen  hat  auf  dem  Gebiet 
der  Gaugeographie  und  der  Ver  fassung  zu  grossen  Wirrnissen 
geführt,  weshalb  ich,  wo  es  notli wendig  erscheint,  die  Verbände 
»ach  ihrer  ursprünglichen  Bezeichnung  von  Hundertschaften 
und  Zehntschaften  vorführen  werde. 

Soweit  die  technischen  Ausdrücke.  — 

Cr*  m © r , Geschieht«  der  Alamaauen.  5 


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Von  der  gemeinen  Meinung  sind  Tausendsciiaften  und 
Hundertschaften  als  uralte  Glieder  des  germanischen  Gemein-, 
wesens  nach  Gebieten,  Genossen  und  Führern  anerkannt,  hin- 
sichtlich der  Zehntschaften  ist  dies  jedoch  keineswegs  der  Fall. 

Die  Eigenart  der  Zehntschaft  ist  am  sichersten  da  fest- 
zustellen, wo  sie  in  lebendiger  Function  erscheint  und  geographisch 
geuau  bestimmt  werden  kann.  Dies  ist  in  fränkischen  Gebieten, 
allerdings  erst  in  der  Zeit  des  späteren  Mittelalters  möglich. 
Hier  ist  die  Zehntschaft  (Zent,  Cent)  zunächst  ein  räumliches 
Gebiet  und  zwar  ein  Theil  der  Hundertschaft.  Ihrem  Inhalt 
nach  ist  die  Zent  eine  Mark  und  ein  Gerichtsbezirk,  und  dem- 
entsprechend schwankt  die  Bezeichnung  zwischen  Mark  und 
Zent  oder  Cent. 

Aber  damit  ist  die  Bedeutung  der  Zehntschaft  nicht  erschöpft. 
Wie  die  oben  angeführten  Urkunden  und  technischen  Ausdrücke 
ergeben,  sind  die  decani  auch  Führer  im  Heeres-  und  politischen 
Verband  und  als  solche,  wie  als  Richter  jedesmal  von  geringerer 
Stellung,  unter  dem  Grafen  und  unter  dem  Hunnen  der  Hundert- 
schaft. Die  Führerschaft  setzt  einen  persönlichen  Verband 
gleicher  Ordnung  voraus.  Weiter  ergeben  die  Urkunden,  dass 
sich  die  Zehntschaft  nicht  auf  Franken  und  das  spätere  Mittel- 
alter  beschränkt,  sondern  eine  gemeinsame  germanische  Ein- 
richtung darstellt,  immer  von  derselben  Bedeutung,  auch  wenn 
ihre  Bezeichnung  wechselt. 

In  Bezug  auf  Alamannien  ist  das  Besondere  hervorzuheben, 
dass  es  für  die  Zehntschaft  nur  den  Ausdruck  Mark  hat,  jedoch 
soweit  man  Strabo  auch  als  eine  für  Alamannien  fliessende 
Quelle  betrachten  kann,  den  Führer  auch  decanus  nennt.  Ist 
hiernach  die  Zehntschaft  ein  persönlicher  und  räumlicher  öffent- 
lich-rechtlicher  Verband  (mit  einem  Zehnter  an  der  Spitze)  wie 
der  Gau  und  die  Hundertschaft,  ist  sie  eine  Mark  wie  die 
Hundertschaft,  in  der  sie  als  Theil  enthalten,  so  ist  weiter  zu 
prüfen,  ob  auch  wie  Jene  die  Zehntschaft  auf  die  Ansiedlungs- 
und die  Urzeit  zurückzuführen  ist. 

Die  Hundertschaft,  die  wir  — allerdings  nach  ihrer  voll- 
ständigen räumlichen  Entwicklung  — in  der  Durchschnitts- 
grösse von  sechs  Quadratmeilen  kennen,  war  zu  gross,  um  für 
die  Ansiedlung  und  staatliche  Organisation  die  letzte  Einheit 
zu  bilden.  Dazu  waren  Verbände  von  nachbarlichem  Umfang 


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erforderlich.  Man  fand  sie,  indem  man  die  Zehntschaften  des 
Heeres  zu  Grunde  legte.  In  ihnen  machte  man  sich  ansässig. 

Ein  feinerer  Beweis  hierfür  ist  die  weite  Verbreitung  der 
Zehntschaft  über  die  germanischen  Stämme,  die  bereits  Cäsar 
vorfand;  und  schliesslich  darf  man  auf  die  archaistische  Bezeich- 
nung der  Verbände  hinweisen,  die,  auf  dem  Decimalsystem  be- 
ruhend, die  Zahlnamen  der  Tausendschaft  und  Hundertschaft 
mit  der  kleinsten  Abstufung,  der  Zehntschalt  zum  Abschluss 
bringt. 

Wie  die  Tausendschaft  und  Hundertschaft  ist  die  Zehnt- 
schaft das  der  Urzeit  angehörige,  und  zwar  letzte  Glied  des 
germanischen  Gemeinwesens  nach  Gebiet,  Genossen  und  Führern. 


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Viertes  Kapitel. 


Die  Gaugebiet«. 

1.  Die  Gaukönlge  und  die  Gaue. 

Es  ist  eine  glückliche  Besonderheit  der  alamannischen  Ge- 
schichte, dass  wir  den  Zustand  ihrer  Gaue  aus  zwei  Perioden 
kennen,  aus  dem  4.,  sowie  dem  8.  und  spätem  Jahrhunderten. 
Die  erstem  können  nur  aus  den  Erzählungen  Ammians  fest- 
gestellt werden,  in  denen  er  häufig  die  Ereignisse  nach  dem 
Gau  eines  Königs  bestimmt,  die  letzteren  nach  den  Urkunden 
der  merovingisch-  karolingischen  Zeit.  Die  Ergebnisse  beider 
Untersuchungen  sind  lückenhaft. 

Hier  sollen  die  Zahl  und  die  Lage  der  ammianischen  Gaue 
ermittelt  und  ergänzend  die  Namen  der  späteren  Gaue  daneben 
gestellt  werden.  Wegen  beider  ist  zunächst  auf  die  Karte, 
wegen  der  letzteren  auf  die  Kapitel  12  — 23  und  hinsichtlich 
der  Frage,  ob  der  Verlauf  der  alamannischen  Geschichte  die 
Annahme  einer  Continuität  der  Gauentwicklung  zulässt,  auf  das 
Kapitel  9,  4 zu  verweisen.  Vorwegzunehmen  ist  hier,  dass  die 
älteren  und  jüngeren  Gaue  der  Zahl  und  im  Allgemeinen  auch 
der  Lage  nach  einander  decken. 

Gegen  den  Cäsar  Julian  kämpften  357  bei  Strassburg  sieben 
Könige  und  zehn  Königsboten.  Sie  waren  die  Führer  von 
ebenso  vielen  Gauheerbannen  des  Heeres  und  lassen  auf  sieben- 
zehn Könige  und  Gaue  schliessen  (S.  52),  reges  numero  (septem) 
regalesque  decem,  16,  12,  26.  Die  Namen  der  Könige  waren 
Chnodomar  und  Serapio  als  Herzöge,  Suomar,  Hortar,  Uri,  Ursicin 
und  Vestralp.  Die  Namen  der  Königsboten  sind  nicht  genannt. 
Ausser  diesen  bei  Strassburg  kämpfenden  werden  an  Königen 


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zur  Zeit  des  Julian  noch  vier  andere  erwähnt,  357  — 360 
Gundomad  und  Vadomar,  Makrian  und  Hariobaud  und  zur  Zeit 
des  Gratian  377  Priari,  so  dass  gleichzeitig  11  — 12  Könige 
erscheinen.  Die  weiter  genannten  Fruomar  und  Vithikab  sind 
Nachfolger  schon  bezeichnter  Könige. 

Zosimos  bezeichnet  Einen  Gau  nach  seinem  König  und 
Gauvolk,  es  ist  der  Gau  der  Logionen  unter  dem  König  Semnon 
(der  untere  Lohn-  oder  Lahngau);  Ammian  die  seinigen  nach 
den  Königen,  pagus  Hortarii,  pagus  Vadomarii,  und  andern,  ist 
aber  darin  nicht  vollständig.  Er  hat  nur  den  Namen  Eines 
Ganvolkes,  den  der  Bucinobanten,  des  Buchengaues,  Bucino- 
bantibus  quae  gens  est  Alamanna,  und  nennt  einen  König  Ves- 
tralpus,  der  augenscheinlich  der  König  der  Westalb  ist,  28,  4,  7; 
18,  2,  18.  Ausserdem  sind  aus  der  Notitia  dignitatum  zwrei 
Gauvölker  Brisigavi  und  Mattiaci  (Breisgauer  und  Mattiaker) 
bekannt.  Huntaren  und  Zehntschaften  sind  aus  der  Zeit  des 
4.  Jahrhunderts  nicht  überliefert. 

Der  Zahl  von  siebenzehn  Gauen  aus  der  Zeit  der  Schlacht 
bei  Strassburg  entspricht  in  demselben  (altalamannischen)  Gebiet 
die  Zahl  der  Gaue  des  8.  Jahrhunderts.  Es  sind  acht  am  Rhein  : 
der  Hegau,  der  Klcttgau,  der  Breisgau,  (hier  doppelt  gerechnet, 
wie  der  alte  untere  und  obere  Breisgau),  die  Mortenau,  der 
Kraichgau,  der  obere  Rheingau  und  der  Mattiakergau,  und 
neun  binnenländische  Gaue,  im  Lahnthal  der  untere  Lahngau, 
nördlich  vom  Main  als  Theile  des  alten  Buchengaus  die  Wetterau 
und  das  Grabfeld,  im  Mainthal  der  Maingau,  im  Neckarthal 
der  untere  und  obere  Neckargau  und  der  Nagoldgau,  im  Quell- 
gebiet des  Neckar  und  der  Donau  der  Westergau  und  weiter 
abwärts  im  Norden  der  Donau  der  Albgau. 


2.  Die  rheinischen  Gaue. 

An  den  Rhein  grenzten: 

1.  2.  die  Gaue  der  Lenzer,  von  deren  Königen  Einer,  Priari 
bekannt  ist,  31,  10,  10.  Die  Sitze  der  Lenzer  bestanden  aus 
mehreren  Gauen  und  stiessen  an  Rätien.  Lentiensibus  Ala 


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mannicis  pagis:  Lcnticnses  Alamannicus  populus,  tractibus 
Raetiarum  confinis,  15,  4,  1:  31,  10,  2.  Weiter  lagen  sie  in 
der  Nähe  des  Bodensees,  15,  4,  1,  am  Rhein,  31,  10,  4,  um  die 
Bergkegel  des  Hegau  und  den  östlichen  Abhang  des  anstossenden 
Schwarzwaldes,  31,  10,  Sätze  2,  4,  12  — 17.  Es  waren  die 
späteren  Hegau  und  Klettgau.  Ersterer  stiess  nach  den  späteren 
Urkunden  im  Osten  unmittelbar  an  Rätien,  dessen  westliche 
Grenze  gegen  Obergermanien  in  der  Richtung  von  Pfyn  und 
Eschenz  gen  Norden  zur  Donau  lief.  Die  Römer  hatten  das 
rechtsrheinische  Obergermanien  den  Alamannen  preisgegeben 
oder  preisgeben  müssen,  hatten  aber  die  rätische  Grenze  fest- 
gehalten, um  das  ganze  Seegebiet,  den  Zeller-  und  Untersee 
eingeschlossen,  in  ihrer  Gewalt  zu  behalten,  und  somit  den 
Alamannen  den  Zugang  zum  See  und  damit  zu  dessen  rätischen 
Gestaden  zu  versperren.  Constanz.  Constantia,  war  der  be- 
festigte Platz,  von  dem  aus  die  Lenzer  bedroht  wurden.  Die 
Rheingrenze  des  lenzischen  Gebietes,  Hegau  und  Klettgau, 
reichte  später  von  dem  Ausfluss  aus  dem  Bodensee  bei  Eschenz 
bis  zum  Hauenstein,  Laufenburg  gegenüber,  der  Westgrenze 
des  Klettgaus  (welcher  ursprünglich  den  anstossenden  Albgau 
umfasste). 

3.  4.  Die  Gaue  der  Könige  Oundomad  und  Vadomar,  der 
obere  und  untere  Breisgau.  Ammian  unterscheidet  beide  Gau- 
völker: ommis  ejus  (Gundomadi)  populus  und  Yadomarii  plebs, 
lfi,  12,  17.  Sie  waren  Gallien  benachbart.  Gundomadus  et 
Vadomarius  fratres,  Alamannorum  reges,  confines  limitibus  terrae 
Gallorum,  14,  10,  1.  In  der  Notitia  dignitatum  aus  dem  Beginn 
des  nächsten  Jahrhunderts  werden  breisgauer  römische  Hülfs- 
truppen  aufgeführt,  Brisigavi  seniores,  die  in  Hispanien,  und 
Brisigavi  juniores,  die  in  Italien  garnisonirten.  Weil  damals 
nur  das  Rheinthal  besiedelt  war,  kann  die  Grenze  zwischen  den 
älteren  und  jüngeren  Breisgauern  wohl  nur  von  Osten  nach 
Westen  gelaufen  sein.  Sie  schied  so  das  breisgauer  Oberland 
und  Unterland  und  so  auch  die  Gaue  des  Gundomad  und 
Vadomar. 

Nachdem  Gundomad  357  ermordet  war,  scheint  Vadomar 
der  König  des  gesammten  Breisgau  geworden  zu  sein.  359 
heisst  es,  sein  Gau  lag  den  Raurakern  gegenüber,  Vadomarius 
rex,  cujus  domicilium  erat  contra  Rauracos,  unweit  der  römischen 


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Grenze,  vicinus  limiti,  18,  2,  16  und  17.  Im  Jahr  360  ver- 
heerten Alamannen  ans  dein  Gau  des  Vadomar  die  an  Rätien 
grenzenden  Gebiete  (in  Helvetien);  Alamannos  a pago  Vado- 
marii  exorsos  . . . vastare  confines  Raetiis  tractus.  Julian 
schickte  Truppen  gegen  sie  nach  Säckingen,  prope  oppidum 
Sanctio,  21,  3,  1 und  3.  Der  Nachfolger  des  Vadomar  war 
sein  Sohn  Vithikab,  27,  10,  3. 

Der  Gesammtbreisgau  reichte  am  Rhein  später  von  dem 
Hauenstein  bis  zur  Bleiche  bei  Herbolzheim. 

5.  6.  Weder  Gaue  noch  Gankönige  werden  zwischen  dem 
Breisgau  und  dem  an  der  Mainmündung  zu  suchenden  Gau  des 
König  Suomar  genannt,  man  wird  aber  für  den  König  Chnodomar 
die  spätere  Mortenau.  für  den  König  Serajrio  den  Kraichgau  be- 
stimmen dürfen. 

Clmodomar  war  der  Oheim  des  Serapio.  Wie  sie  in  ver- 
wandtschaftlichen, so  mögen  ihre  Gaue  in  räumlichen  Bezieh- 
ungen gestanden  haben.  Von  den  sieben  alamannischen  Königen 
waren  sie  in  der  Schlacht  bei  Strassburg  die  mächtigsten, 
potestate  excelsiores  ante  alios  reges,  16,  12,  23,  was  sich 
sowohl  auf  die  Bedeutung  ihrer  Gaue  in  der  reichen  Rheinebene, 
als  auch  auf  die  Grösse  ihrer  Gauheerbanne  beziehen  kann, 
welche  bei  der  Nähe  des  Eisass  selbstverständlich  zahlreicher 
vertreten  waren,  als  die  der  entlegenen  Gaue. 

Die  Nachbarschaft  von  Chnodomars  Gau  ist  auch  zum 
Ausdruck  gebracht.  Nach  der  Niederlage  von  Strassburg  konnte 
er  nur  nach  Ueberschreitung  des  Rheins  zu  ihm  zurückkehren, 
non  nisi  Rheno  transito  ad  territoria  sua  poterat  pervenire, 
16,  12,  59.  Zu  bemerken,  dass  sein  Gau  im  Gebiete  rechts 
vom  Rhein  gelegen  sei,  wäre  überflüssig  gewesen,  es  sollte  aber 
gesagt  werden,  dass  den  Flüchtigen  Nichts  wie  das  Bett  des 
Rheins  von  der  schützenden  Heimat,  dem  eigenen  Gau  trenne, 
und  das  weisst  auf  die  Strassliurg  gegenüberliegende  Mortenau  hin. 

Im  Jahr  360  ging  Julian  mit  Truppen  bei  Speyer  über  den 
Rhein,  i~b  NejHToiv  ioi;  Itö  töv  'Pr,vov,  Exc.  ex  Euuapii  hist., 
um  stromaufwärts  durch  den  Kraichgau  und  die  Mortenau  nach 
Basel-Augst  zu  marschiren.  Der  Kraichgau  erscheint  seit  357 
unterworfen  und  darum  Speyer  eine  sichere  Uebergangsstelle. 

Eine  weitere  Bestätigung  für  die  Lage  der  Gaue  von 
Glinodomar  und  Serapio  wird  sich  weiter  unten  aus  der  geo- 


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graphischen  Reihenfolge  ergeben,  in  der  die  sieben  Könige  der 
Strassburger  Schlacht  aufgeführt  werden. 

Die  Mortenau  erstreckte  sich  nach  den  späteren  Nach- 
richten am  rechten  Rhein  von  der  Bleiche  abwärts  bis  an  die 
Oos,  der  Kraichgau  von  da  abwärts  bis  unterhalb  Speyer. 

7.  Die  Gaue  des  Königs  Suomar  werden  als  rechtsrheinische 
in  der  Mehrheit  bezeichnet,  ejus  (Suomarii)  pagi  ripis  ulterioribus 
adhaerebant,  18,  2,  8. 

Ob  er  aber  König  von  mehr  als  Einem  war,  erscheint 
zweifelhaft.  Sein  Besitz  erstreckte  sich  von  der  Grenze  des 
Kraichgaus  abwärts  bis  zum  Main  und  bestand  in  dem  spätem 
oberen  Iiheingau.  Der  Lobdengan  scheint  ein  Theil  desselben 
zu  sein,  könnte  aber  auch  einen  selbständigen  Gau  darstellen, 
so  dass  Ammian  unter  den  Gauen  des  Suomar  den  Lobdengau 
und  den  oberen  Rheingau  verstanden  hätte.  (Siehe  Kap.  14). 

Im  Jahr  358  ging  der  Cäsar  Julian  mit  einer  Schiff- 
brücke über  den  Rhein,  um  die  Könige  Suomar  und  Hortar  mit 
Krieg  zu  überziehen.  Die  Uebergangsstelle  war  wohl  gleich- 
falls Speyer.  Als  er  rheinabwärts  voranzog,  kam  ihm  im  ala- 
mannischeu  Gebiet  der  König  Suomar  mit  den  Seinigen  ent- 
gegen, um  sich  zu  unterwerfen,  in  terris  Alamannorum  rex 
Snomarius  cum  suis,  17,  10,  3. 

Als  Julian  359  zu  seinem  Zug  von  Mainz  nach  Palas  (am 
Pfählgraben)  rüstete,  stellten  entlegenere  Alamannen,  denen  der 
Zug  galt,  an  Suomar  das  Ansinnen,  ihm  den  Rheinübergang 
zu  verwehren.  Als  er  dies  ablehnte,  erschien  ein  Heerhaufen 
gegenüber  von  Mainz,  prope  Mogontiacum,  18,  2,  8. 

Von  den  Gauen  (?)  des  Suomar  erstreckte  der  Lobdengau 
später  sich  auf  der  rechten  Rheinseite  abwärts  von  Speier  bis 
gegenüber  von  Worms,  schloss  den  untern  Neckar  in  sich  und 
begleitete  den  linken  Neckar  von  Neckargemünd  bis  Neckar- 
gartach. Im  Gau  lagen  die  Ruinen  des  römischen  Lopodunum. 
Ladenburg,  das  ihm  den  Namen  gegeben  hat,  der  Hauptstadt 
der  Civitas  Ulpia.  Hier  baute  der  Kaiser  Valentinian  am 
Rhein  dem  heutigen  Altripp  gegenüber  die  Veste  Alta  Ripa 
als  Zwingburg  für  die  Alamannen,  hier  versuchte  er,  auf  dem 
Mons  Pirus,  dem  Heiligeuberg  bei  Heidelberg  eine  zweite  zu 
errichten. 


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Der  (obere)  Rheingau  lag  im  8.  Jahrhundert  am  rechten 
Rhein  gegenüber  von  Worms  bis  Mainz,  am  linken  Main  von 
da  bis  unter  Offenbach.  Am  linken  Ufer,  vielleicht  bei  Rüssels- 
heim oder  Rannheim,  lag  die  zerstörte  Veste  des  Trajan,  die 
Julian  wieder  errichtete,  munimentum.  quod  in  Alauiannorum 
solo  conditnm  Trajanus  suo  nomine  voluit  appellari,  17,  1,  ll. 

8.  An  das  Gebiet  des  Königs  Suomar  stiess  als  ein  anderer 
Gau  der  des  Königs  Hortar,  wahrscheinlich  der  Mattiakergau 
genannt,  Hortari  regis  alterius  pagus;  regione  ejus,  17,  10,  5 
und  9;  Hortarii  regna,  18,  2,  14. 

Als  Julian  nach  dem  Rheinübergang  von  358  die  Ergebung 
des  Suomar  entgegengenommen,  verheerte  er  den  Gau  des 
Hortar  und  legte  ihm  als  Friedensbedingung  die  Stellung  von 
Fuhrwerk  und  Material  für  den  Wiederaufbau  der  römischen 
Rheinstädte  des  linken  Ufers  auf,  zu  denen  insbesondere  die 
seinem  Gau  gegenüberliegenden  Städte  Bingen  und  Andernach, 
Bingium  und  Antennacum,  gehörten,  17,  10,  9;  18,  2,  4.  Als 
ihm  im  nächsten  Jahr  der  Rheinübergang  bei  Mainz  durch 
alamannische  Heerhaufen  verlegt  wurde,  fuhr  er  auf  vierzig 
Fahrzeugen  stromabwärts,  decurrere  per  Humen,  schlug  in 
nächtlicher  Stille  etwa  bei  Biebrich  oder  Schierstein  eine 
Brücke,  stand  dann  überraschend  im  Alamannenland,  in  bar- 
barico,  und  marschirte  durch  den  Gau  des  Hortar,  per 
Hortarii  regna  weiter  in  der  Richtung  nach  Palas,  18,  2,  4 und 
12  und  14. 

Im  Jahr  357  sind  es  die  Höhen  des  Taunus,  die  als  nicht 
zu  entfernt  vom  Main  liegend,  geschildert  werden,  moutium 
vertices  trans  Moeiium,  17,  l,  4 und  6. 

Die  römische  Civitas  Mattiacorum  Taunensium  mit  der 
Hauptstadt  Aquae  Mattiacae,  Wiesbaden,  im  Süden  an  den  Main 
(Castellum  Mattiacorum,  Castel  gegenüber  von  Mainz),  im  Norden 
an  die  Lahn  (in  agro  Mattiaco  bei  Friedrichssegen,  S.  5), 
vielleicht  weiter  an  den  Westerwald  stossend,  hat  wohl  dem  Gau 
den  Namen  gegeben.  Demi  noch  in  der  Notitia  dignitatum  von 
400  finden  sich  unter  den  römischen  HUlfstruppen  Mattiaci 
seniores  lind  Mattiaci  juniores.  Man  darf  daher  annehmen,  dass 
der  Gau  selbst  Mattiakergau  geheissen  habe.  Vielleicht  war 
er  wie  der  Breisgau,  den  älteren  und  jüngeren  Mattiakern  ent- 
sprechend. in  einen  oberen  und  unteren  Mattiakergau  getheilt. 


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woraus  sich  die  mehreren  Gaue  des  Hortar  erklären  würden. 
Der  Gau  lag  später  rechts  vom  Main,  in  der  Nähe  von  Mainz  und 
umfasste  den  Taunus  und  die  untere  Lahn  bis  Nassau.  Am 
Rhein  erstreckte  er  sich  von  Mainz  bis  Linz.  So  mag  man 
nach  späteren  Nachrichten  annehmen. 


3.  Die  binnciilämlisclien  Gaue. 

AVie  aus  der  Zahl  der  in  der  Schlacht  bei  Strassburg  ver- 
tretenen Gaue  deren  Gesammtzahl  siebenzehn  sich  ergab,  so 
zeigt  die  Ziffer  der  von  Probus  gebändigten  neun  Könige  die 
gleiche  Zahl  der  binnenländischen  Gaue  an.  Auf  seinem  Zuge 
von  der  Lahn  nach  Rätien  unterwarfen  sie  sich  ihm,  nachdem 
er  ihre  Gauheere  über  den  Neckar  und  die  Alb  zurückgetrieben 
hatte.  Die  weiteren  Nachrichten  über  diese  Gaue  sind  äusserst 
spärlich  und  knüpfen  sich  wesentlich  an  den  Zug  des  Cäsar 
Julian  von  359,  während  von  dem  ähnlichen  Zuge  des  Kaiser 
Valentinian  von  3(S8  Namen  von  Königen  und  Andeutungen 
ihrer  Gaue  gänzlich  fehlen. 

9.  Zur  Zeit  des  Kaiser  Probus  (276 — 282)  erscheint  der 
Gau  des  König  Semnon  und  seiner  Logionen.  Die  Logionen 
werden  ein  germanisches  Volk  genannt  (S.  18).  Jedenfalls  war 
der  spätere  untere  Lahngau  (Logenahe),  von  Diez  bis  Giessen 
aufwärts  und  im  Norden  bis  zu  den  Höhen  des  Westerwaldes 
reichend,  alamanniscb,  wie  zahlreiche  Ortsnamen  mit  den  ala- 
mannischen  Endungen  und  die  geographische  Lage  zwischen 
dem  Gau  des  Hortar  und  der  gleichfalls  alamannischen  Wetterau 
bezeugen. 

10.  11.  Nördlich  vom  Main  lag  der  Gau  der  Bucinobanten, 
der  einzige  von  Ammian  dem  Namen  des  Gauvolkes  nach  be- 
nannte Gau. 

Die  Bucinobanten  sind  die  Genossen  des  Buchengaus,  wo- 
bei die  Endung  bant  gleich  Gau  ist.  Der  Buchengau  ist  die 
spätere  Buchonia,  ein  weites  AValdgebiet,  welches  das  A'ogels- 
gebirge,  die  hohe  Rhön  und  den  oberen  Lauf  der  Fulda  und 
AVerra,  sowie  die  fränkische  Saale  umfasste.  Bis  zur  Rhön, 


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80  Lengen  von  Mainz  entfernt,  hatte  sich  dereinst  die  Herrschaft 
der  Römer  erstreckt,  von  welcher  der  obergernianische  Limes 
den  grössten  Tlieil  des  Buchenwaldes  preisgab.  Dann  gab  dieser 
das  Gebiet  für  drei  jüngere  Gaue  ab:  die  Wetterau,  das  Grabfeld 
und  den  Saalegau,  und  wenn  man  den  letzteren  wegen  der 
streitigen  Salzquellen  von  Kissingen  als  burgundionisch  ansehen 
kann,  so  bleiben  die  Wetterau  und  das  Grabfeld  als  alamannische 
Gaue  übrig;  erstere  im  Gebiet  der  Wetter,  von  dem  Limes 
quer  durchzogen,  letzteres  zwischen  V ogelsgebirge  und  Thüringer 
Wald,  die  hohe  Rhön  einschliessend,  mit  den  Flussgebieten  der 
oberen  Fulda  und  Werra. 

Die  Buchengauer  werden  es  gewesen  sein,  die  nach  dem 
Tode  des  Postumus  und  dann  wieder  zur  Zeit  des  Probus  über 
den  Limes  einbrachen,  subita  inruptione  Germanorum;  limitem 
transrhenannm  Germani  rupisse  dicuntur,  und  bei  letzterer 
Gelegenheit  zusammen  mit  andern  Alamannen  sich  des  Decu- 
matenlandes  und  Galliens  bemächtigten,  aber  zurückgeschlagen 
und  über  den  Neckar  und  die  Alb  getrieben  wurden  (S.  16  und  18). 

Zur  Zeit  des  Julian  waren  Makrian  und  Hariobaud  Könige 
im  Buchengau,  (wohl  an  den  später  Wetterau  und  Grabfeld 
genannten  Theilen)  und  mit  dem  Verschwinden  des  Hariobaud 
aus  der  Geschichte  erscheint  Makrian  als  einziger  König  der 
Bucinobanten,  wenn  man  von  einem  kurzen  Regiment  des  von 
dem  Kaiser  Valentinian  eingesetzten,  aber  bald  verjagten  König 
Fruomar  absieht. 

Man  muss  an  die  Wetterau  und  speziell  deren  südwestliche 
Hnntare,  den  Niddagau  denken,  wenn  von  der  Nähe  von  Mainz 
die  Rede  ist.  „Die  Bucinobanten  sind  ein  alamanischer  Gau 
gegenüber  von  Mainz,“  Bucinobantibus,  quae  contra  Mogontiacum 
gens  est  Alamanna,  29,  4,  7.  Im  Jahr  371  setzte  Valentinian 
von  Mainz  aus  Truppen  über  den  Rhein,  verfolgte  den  Weg 
über  Wiesbaden,  contra  Mattiacas  aquas  (im  Gau  des  Hortar) 
und  zog  weiter,  nach  der  Lage  in  das  Gebiet  des  Makrian  (den 
Niddagau),  um  ihn  in  seine  Gewalt  zu  bekommen.  Als  ihm 
dies  nicht  gelang,  verwüstete  er  das  feindliche  Land,  den  Buchen- 
gau bis  zum  50.  Meilenstein,  etwa  bis  zum  Vogelsgebirge,  ad 
osque  quinquagesimnm  lapidem  tcrris  hostilibus  inflainmatis  und 
wiederholte  dies  bald  darauf,  29,  4,  3 — 7.  Es  entspricht  auch 
der  Lage  seines  Gebietes,  wenn  er  374  am  rechten  Rheinufer 


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in  der  Nähe  von  Mainz,  prope  Mogontiacum  ...  ad  ipsum 
niarginem  Rheni,  eine  Unterredung  mit  dem  Kaiser  hatte,  30,  3,  4. 

12.  Im  Süden  des  Makriauischcn  Gebietes  zwischen  dem 
Main  von  Gemünden  ab  und  der  Kinzich  bis  Hanau,  wo  beide 
Flüsse  zusammen  kommen  und  weiter  über  den  linken  Main 
von  Miltenberg  bis  Offenbach  und  bis  zur  Wasserscheide  des 
Neckar  erstreckte  sich  der  spätere  Muingau,  dessen  König  nicht 
genannt  ist.  Im  Süden  bei  Miltenberg  stiess  er  an  den  vom 
Hohenstaufen  herablaufenden  Limes,  und  wenn  dieser  im  All- 
gemeinen als  die  Grenze  zwischen  den  aussen  sitzenden  Burguu- 
dionen  und  den  innen  wohnenden  Alamannen  anzusehen  ist,  so 
mag  man  annehmen,  das  weiter  im  Norden  der  Spessart  die 
Grenze  zwischen  beiden  Völkern  gebildet  habe,  und  dass  vom 
Westen  aus  der  Maingau  das  Gebirge  erst  überschritten  habe, 
als  die  Burgundionen  im  Anfang  des  5.  Jahrhunderts  nach  dem 
Rhein  abzogen.  — 

Das  Neckargebiet  zerfiel  im  8.  Jahrhundert  in  4 Gaue,  der 
untere  Neckar  mit  dem  schon  erwähnten  rheinischen  Lobdengau, 
der  mittlere  mit  dem  Neckargau  und  der  obere  mit  dem  Nagold- 
gau und  Westergau. 

13.  14.  Der  jüngere  Neckargau,  der  in  fränkischer  Zeit 
vom  Main  bei  Miltenberg  bis  zum  Neckar  bei  Eberbach  reichte, 
und  von  da  Neckaraufwärts  bis  Neckartenzlingen  sich  erstreckte, 
hatte  etwa  die  doppelte  Grösse  eines  Gaues  und  mochte  daher 
in  eine  obere  und  eine  untere  Hälfte,  einen  untern  und  einen 
obern  Neckargau  geschieden  sein. 

Julian  zog  359  vom  Gau  des  Hortar  aus  quer  durch  das 
Alamannenland  bis  an  dessen  Grenze  bei  Palas  oder  Capellatii 
am  Limes,  und  dieser  wird  damals  auch  die  östliche  Grenze  der 
beiden  Neckargaue  gebildet  haben.  Ein  König  des  unteren 
Neckargaus  wird  nicht  erwähnt,  während  Uri  oder  Ursicin  als 
der  des  obern  anznsprechen  ist. 

In  dem  untern  wurde  368  die  Schlacht  bei  Soliconmum 
(Solicinium)  auf  dem  Schweinsberg  bei  Heilbronn  geschlagen. 

15.  Der  jüngere  Naguhlgau  umfasste  das  Neckargebiet  von 
Kirchentellinsfurt  bis  über  die  Beuge  des  Neckar  unterhalb 
Sulz.  Die  Grenze  war  im  Süden  die  Alb,  im  Norden  die  Stamm- 
grenze von  496.  Nur  die  obere,  unbedeutendere  Hälfte  der 
Nagold  fällt  in  den  Gau,  dem  sie  den  Namen  gegeben  hat,  und 


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es  mögen  vor  der  Scheidung  von  496  noch  Gebiete  der  untern 
Nagold,  und  damit  der  Enz,  Würm  und  Glems  in  den  Nagold- 
gau gefallen  sein,  die  dann  wohl  dem  Kraichgau  zugerechnet 
wurden.  Der  König  des  Gaus  war  Ursicin  oder  Uri,  28,  2,  18. 

16.  Der  Gau  der  Qnellgebiete  des  Neckar  und  der  Donau, 
der  die  westliche  Hälfte  der  Alb  umfasste,  war  im  8.  Jahr- 
hundert der  Westergau  und  sein  König  zur  Zeit  des  Julian  als 
der  dritte  der  von  ihm  heimgesuchten  Könige  Vestralpus,  28,  2 18. 
Diese  Bezeichnung  ist  kein  Eigenname,  sondern  heisst  König 
der  Westalb  oder  des  Westergaus  und  die  Bezeichnungen  für 
diesen  Theil  der  Alb,  für  den  auf  ihr  gelegenen  Gau,  und  für 
dessen  König  geben  in  ihrer  Uebereinstirnmuug  einen  Beweis 
für  die  richtige  Deutung  der  geographischen  Lage  der  sonst  so 
dunkeln  im  Neckargebiet  gelegenen  Gaue,  ihrer  Könige  und 
des  Weges,  den  Julian  vom  Limes  aus  verfolgte.  Die  Reihen- 
folge Vestralpus,  Urins,  Ursicinus,  16,  12,  1,  und  Urins,  Ursi- 
cinus,  Vestralpus  18,  2,  18,  bezeugt  die  Nachbarschaft  des  Uri 
und  Ursicin  mit  dem  Vestralp  (Westeralb). 

17.  Die  östliche  Hälfte  der  Alb  von  ihrer  Höhe  bis  zum 
linken  Ufer  der  Donau  bildete  den  jüngeren  Allgäu.  Die  linko 
Flnssseite  ist  mehrfach  als  die  Heimath  der  juthungischcn 
Sueven  bezeichnet  (siehe  S.  26).  Der  Gau  erstreckte  sich  um 
das  Jahr  300  Donauabwärts  bis  zum  Donauübergang  an  der 
Günz  (Günzberg),  a ponte  Rheni  usqne  ad  Danubii  transitum 
Guntiensem  devastata  atque  exhausta  penitus  Alamannia.  (Des 
Euinenius  Rede  auf  Constantius  I.)  Da  war  zugleich  das  Ende 
Alamanniens,  und  bis  gegenüber  von  Günzburg  reichte  noch  zur 
Zeit  der  Karolinger  der  Albgau.  Von  einem  König  des  Alb- 
gans  wird  nichts  berichtet. 

Die  Marke  zwischen  den  beiden  Gauen  der  Alb,  dem  Alb- 
gau und  Westergau,  sowie  dem  Gau  der  Neckarebene,  dem 
Nagoldgau  bildete  der  hochragende  Zollerberg. 


4.  l'eberblick. 

Von  diesen  Gauen  sind  es  die  der  sieben  Könige  von 
Strassburg,  deren  geographische  Lage  zu  bestimmen  es  noch 
einen  weiteren  Anhalt  giebt.  Als  von  ihnen  zuerst  die  Rede 


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ist,  werden  sie  in  folgender  Anordnung  vorgeführt : „Die  Könige 
der  Alamannen  Chnodomar  und  Westralp,  auch  Uri  und  Ursicin 
mit  Serapio  und  Suomar  und  Hortar  versammelten  ihre  ganze 
Heeresmacht  bei  Strassburg,“  Alamannorum  reges  Chnodomarius 
et  Vestralpus,  Urius  quin  etiam  et  Ursicinus  cum  Serapione, 
Suomario  et  Hortario  in  unum  robore  virium  snarum  omni 
colleeto  consedere  prope  nrbem  Argentoratum,  16,  12,  1. 

Von  ihnen  waren  Chnodomar  und  Serapio  die  mächtigsten, 
potestate  excelsiores  ante  alios  reges.  Sie  wurden  zu  Herzogen 
gewählt,  ductabant  populos  omnes,  Chnodomar  befehligte  in  der 
Schlacht  den  linken,  Serapio  den  rechten  Flügel  des  alamannischen 
Fnssvolks,  23  — 25.  Uri,  Ursicin  und  Vestralp  wrerden  zu- 
sammen noch  einmal  auf  dem  Zuge  des  Julian  nach  Palas 
erwähnt,  pro  Urio  et  Ursicino  et  Vestralpo,  18,  2,  18. 

Danach  ergeben  sich  zwei  Gruppen  einander  benachbarter 
(und  deshalb  wahrscheinlich  zusammen  kämpfender)  Könige,  die 
Gruppe  des  Herzog  Chnodomar  mit  Vestralp,  Uri  und  Ursicin 
(wahrscheinlich  der  linke  Flügel)  oder  die  Gaue  Mortenau, 
Westergau,  Nagoldgau,  oberer  Neckargau,  und  die  Gruppe  des 
Herzog  Serapio  mit  Suomar  und  Hortar  (wahrscheinlich  der 
rechte  Flügel)  oder  die  Gaue  Kraichgau,  oberer  Rheingau, 
Mattiakergau. 

Nachdem  im  Vorstehenden  die  alamannischen  Gaue  des 
4.  Jahrhunderts  umschrieben  sind,  ist  es  auch  möglich,  mit 
Wahrscheinlichkeit  die  Sitze  der  juthungischen  Sueven  nach 
jüngern  Gauen  zu  bestimmen.  Es  werden  die  Gaue  der  linken 
Donauseite,  der  Alb  und  der  obere  und  mittlere  Neckar  sein, 
der  Alpgau,  Westergau,  Nagoldgau  und  die  beiden  Neckargaue. 
In  ihnen  allen  ist  der  suevische,  schwäbische  Name  bis  auf  den 
heutigen  Tag  geblieben. 

Es  erübrigt,  die  buryund'um isehen  Sitze  nach  jüngern  Gauen 
zu  bezeichnen.  Dahin  werden  an  beiden  Ufern  des  Main  etwa 
zu  rechnen  sein,  am  rechten  der  Saalegau  mit  dem  Weringau 
und  dem  Gotzfeld,  am  linken  Ufer,  ausserhalb  der  beiden  Limes, 
das  Folkfeld,  der  Gollachgau,  Badenachgau,  Taubergau,  Jagst- 
gau  und  Mulachgau. 

Als  die  Burgundionen  im  fünften  Jahrhundert  über  den 
Rhein  abzogen,  wurden  ihre  Sitze  frei. 


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79 


Nach  der  obigen  Gaudarstellung  sind  es  fünf  geographische 
Momente,  welche  deutlich  auf  eine  Identität  von  ebensoviel 
Gauen  des  4.  und  des  8.  Jahrhunderts  hindeuten:  die  östliche 
Grenze  des  Gebiets  der  Lenzer  und  des  Hegau,  die  in  beiden 
Jahrhunderten  mit  der  westlichen  des  römischen  Rätien  zusammen* 
fallen;  die  Brisigavi  seniores  und  juniores  und  der  Breisgau, 
der  Bucinobaut  und  die  Buchonia;  die  Königsbezeichnung  Ves- 
tralpus  und  der  Westergau,  sowie  die  Ausdehnung  des  Alamannen- 
landes au  der  Donau  und  die  des  Albgaues  bis  zur  Günz. 
Ausserdem  decken  sieh  die  ammianischen  Gaue,  soweit  sie  sich 
feststellen  lassen,  nach  Zahl  und  Lage  leicht  und  ungezwungen 
mit  den  merowingischen,  und  wenn  ich  sie  in  dem  nächsten 
Kapitel  als  Rahmen  für  die  geschichtlichen  Ereignisse  verwende, 
so  wird  sich  auch  dort  ergeben,  dass  die  Rechnung  ohne  Bruch 
aufgeht.  Ein  die  Frage  der  Identität  abschliessendes  Urtheil 
wird  sich  erst  iin  neunten  Kapitel  fällen  lassen 

Nach  dem  Vorhergehenden  sind  die  Grenzen  des  cdamannischen 
Stammlande»  im  4.  Jahrhundert  so  zu  bestimmen:  im  Süden  und 
Westen  ist  der  Rhein  Grenzfluss  von  seinem  Ausfluss  aus  dem 
Bodensce  bei  Eschenz  bis  abwärts  zum  Westerwald;  im  Norden 
und  Nordosten  bilden  Gebirge  die  Grenze,  der  Westerwald,  das 
Vogelsgebirge,  die  hohe  Rhön,  der  Spessart;  im  Osten  schliesst 
sich  der  obergermauische  Limes  (etwa  von  Miltenberg  bis  in 
die  Gegend  des  Hohenstaufen)  und  die  ganze  alamannischo 
schwäbische  Alb  an  und  im  Südosten  folgt  die  Donau  von  Giinz- 
berg  bis  etwa  Tuttlingen  aufwärts,  von  wo  die  obergermanisch- 
rätischc  Grenzlinie  bis  zum  Ausfluss  des  Rheins  aus  dem  Boden- 
see führt. 


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Fünftes  Kapitel. 

Kriege  und  Streifzüge,  330  — 377- 

I.  Das  Gesammtbild. 

Ammian  erwähnt  die  alamannischon  Geschehnisse  nur,  so- 
weit sie  in  den  Rahmen  der  römischen  Geschichte  seiner  Zeit 
lallen,  in  die  Geschichte  des  Kaisers  Constantius  II.,  des  Cäsar 
und  Kaiser  Julian  und  der  Kaiser  Valentinian  I.  und  Gratian. 
Von  ihnen  ist  der  Cäsar  Julian  sein  Held  und  die  Geschicke, 
welche  unter  ihm  die  Alamannen  treffen,  sind  am  eingehendsten 
gezeichnet,  einmal  weil  sie  in  der  Tliat  die  bedeutendsten  sind 
und  dann  weil  er  an  diesen  Erfolgen  die  Grösse  Julians  zu 
zeigen  bestrebt  ist.  Hier  erkennt  die  Darstellung  die  furchtbare 
Gewalt  der  Alamannen  an,  hier  erhebt  sie  sich  wie  bei  der 
Schlacht  bei  Strassburg  zu  farbenreichem  Gemälde,  hier  zeigt 
sie  aber  auch  die  Demüthigung  der  besiegten  Könige,  die  vor 
dem  glänzenden  Sieger  in  Person  erscheinen.  Wenn  in  diesen 
Schilderungen  die  Tendenz  zur  Vorsicht  mahnt,  so  sind  die 
späteren  Ereignisse  knapper  und  ruhiger  gezeichnet.  Kaum 
erscheint  noch  ein  alamannischer  Name,  und  die  Könige,  die 
den  Römern  furchtbar  werden,  sehen  wir  nicht  in  ihren  Hand- 
lungen, sondern  nur  in  schattenhaften  Umrissen.  Bei  allen 
Ereignissen  hört  das  Interesse  und  die  Darstellung  Ammiaus 
mit  dem  Augenblick  auf,  wo  ein  den  Römern  günstiger  Erfolg 
eingetreten  ist.  „Denn  es  geziemt  sich  nicht,  sagt  er,  die 
Geschichte  in  unbedeutenden  Kleinigkeiten  fortzuspiuuen,“  27, 
2,  11. 

Nur  wenige  Striche  sind  es,  die  Ammian  der  allgemeinen 
Schilderung  der  Alamannen  gönnt.  „Unerschöpflich  ist  ihre 


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81 


Volkskraft,  nach  allen  Schicksalsschlägen  wachsen  sie  wieder 
zu  jugendlicher  Kraft  empor,“  28,  5,  9.  „Sie  meiden  die 
römischen  Städte  wie  die  Grabstätten,“  lti,  2,  12.  Dieses 
Freiheitsgefiihl  bewahrt  sie,  ungleich  den  Franken  und  Burgun- 
dionen vor  römischer  Art.  Niemals,  zeigt  Amuiian  in  zahl- 
reichen Wiederholungen,  hat  eine  Niederlage  sie  entmuthigt; 
sie  warten  ihre  Zeit  ab. 

Nichts  weiss  er  von  ihrem  Volksleben,  sic  sind  ihm  nur 
Krieger.  „Recken  an  Gestalt,  sind  sic  grösser  und  kraftvoller 
als  die  Römer,  wild  und  stürmisch,  von  äusserster  Hartnäckig- 
keit,“ lt>,  12,  47  und  48:  „sie  verschwenden  ihr  Leben  für  den 
Sieg,“  50.  „Nach  Barbarenart  sind  sie  im  Glück  ttbermüthig, 
im  Unglück  demüthig,“  61. 

Im  Lager  sieht  man  sie  trinken  und  das  Haar  roth  färben, 
27,  2,  2;  der  Herzog  trägt  den  Scheitel  mit  feuerfarbenem 
Band  umschlungen,  16,  12,  24.  Vor  dem  Beginn  des  Kampfes 
werden  die  heiligen  Zeichen  befragt,  14,  10,  9.  Unter  die 
Reiter  werden  Fussgänger  gemischt,  16,  12,  37,  die  schon  Julius 
Cäsar  sah,  aber  der  Schlachtgesang,  barritus,  ertönt  bei  Amrnian 
nur  aus  keltischen  Kehlen,  43.  Für  den  Kampf  werden  günstige 
Stellungen  auf  den  Höhen  gewählt. 

Kriegsheere  des  ganzen  Stammes,  aus  allen  oder  doch  der 
Mehrzahl  der  Gaue  gebildet,  brecheu  viermal  in  Gallien  ein, 
um  zu  erobern  und  Sitze  zu  gewinnen.  Zahlreiche  Städte  werden 
bezwungen,  geplündert,  zerstört,  das  Land  verheert,  dann  aber 
werden  die  Eingedrungenen  zurückgeschlagen. 

Raubheere  eines  oder  einzelner  Gaue  ziehen  zahlreich  über 
die  Grenzen,  um  römisches  Besitztlmm  zu  zerstören,  Menschen, 
Vieh  und  Habe  fortzuschleppen.  Wohl  ging  es  dann  über  den 
gefrorenen  Rhein.  Bald  kehren  sie  mit  Beute  beladen  heim, 
bald  wird  sie  ihnen  wieder  abgenommen. 

Zum  Schutz  gegen  die  Alamannen  bauten  dann  Julian  und 
Valentinian  ein  System  von  Befestigungen  am  linken  Rheinufer. 
Der  Strom  selbst  bildet  während  dieser  Periode  die  Grenze 
zwischen  dem  römischen  und  alamannischcn  Besitz.  Links  liegen 
die  gallischen  Ausfallthore  der  Römer:  Mainz  (Mogontiacum) 
mit  dem  Brückenkopf  Castel  (eastcllum  Mattiacorum),  Strassburg 
(Argentoratum),  Basel-Angst  (Augusta  Rauracorum),  Windisch 
(Vindonissa).  In  Rätien  sind  es  Constauz  (Constantia)  und  Augs- 

Gramer,  Geschichte  der  Alatnunuen.  G 


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82 


bürg  (Augusta  Vindelicum).  Die  beiden  Kaiser  verstärkten  die 
Rlieinlinie  auch  auf  dem  rechten  Ufer,  indem  Julian  durch 
Wiederherstellung  der  alten  Veste  des  Trajan  den  unteren  Main 
und  Valentinian  durch  den  Bau  der  Veste  Alta  Ripa  die 
Mündung  des  Neckar  sperrte. 

Trotzdem  bleibt  der  Rhein  der  beste  Schutz  der  Alamannen, 
versagt  jedoch,  wenn  der  Wasserstand  niedrig  ist,  also  die 
Rheiuinseln  zugänglich  macht,  wenn  sich  sonst  Furten  finden 
oder  wenn  der  Uebergang  römischer  Heere  bei  Mainz  oder  Alta 
Ripa  bewerkstelligt  werden  kann.  Sonst  setzen  sie  auf 
Schiffbrücken  über,  heimlich,  wohl  unter  Täuschung  der  Feinde. 
Wird  diesen  die  Absicht  verrathen,  dann  leisten  sie  den 
ersten  Widerstand.  Gelingt  der  Stromübergang,  so  giebt  es  in 
Thälern  und  am  Gebirge  heftige  Kämpfe  von  verschiedenem 
Ausgang,  oder  der  Uebermacht  weichend,  ziehen  sich  die  Ala- 
mannen mit  Weib  und  Kind,  Vieh  und  Habe  in  das  Innere 
zurück,  die  Ansiedelungen  und  die  Ernte  des  Feldes  preisgebend. 
So  lernt  der  römische  Soldat  und  wir  mit  ihm  ein  Weniges 
von  alamannischer  Art  kennen. 

Tagelang  sieht  man  nichts  wie  verlassene  Dörfer  und  Ge- 
höfte, vici,  villae,  17,  10,  7;  17,  1,  7.  Die  Gebäude  sind 
hölzerne  Hütten  von  Zäunen  umgeben,  habitacula,  saepimenta 
fragilium  penatium,  tecta,  18,  2,  15  und  19;  27,  10,  7.  Wir 
hören  wohl  von  ihren  Saaten  und  Ernten,  aber  nicht  wie  sie 
erzielt  wurden.  Ausser  den  Waffen  besitzen  sie  Lebensbedürf- 
nisse, Fruchtvorräthe  und  sonstige  Habe,  wie  sie  bei  Barbaren 
zu  sein  pflegt,  necessitudines  et  fruges  opesque  barbaricas,  18, 
11,  10.  Ein  unwirtliches  Land,  ruft  Symmachus  aus,  ohne 
ehrwürdige  Städte,  mit  Häusern  von  Reisern,  Dächern  von 
Kraut,  qualem  te,  inhospita  regio  invenimus!  ignaram  vetu- 
statis  urbium  ac  virgeis  domibns  et  tectis  herbidis  (zweite  Rede 
auf  Valentinian,  c.  14).  Nur  in  dem  unteren  Rheingau  und 
der  Kunigesundra  sind  die  Gebäude  auf  römische  Art  in  Stein 
sorgfältig  ausgeführt,  domicilia  curatius  ritu  Romano  constructa, 
17,  1,  7,  wahrscheinlich  Ueberbleibsel  römischer  Cultur  aus  der 
Zeit  der  civitas  Mattiacorum  (S.  82).  Hier  sind  die  Gehöfte 
mit  Vieh  und  Frucht  gefüllt  und  man  bekommt  den  Eindruck 
behaglichen  Wohlstandes. 


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83 


Alles  wird  das  Opfer  des  durchziehenden  Heeres.  Was 
sich  an  Menschen  findet,  wird  zu  Gefangenen  gemacht,  was  sich 
widersetzt,  niedcrgestossen,  das  Vieh  fortgeführt;  die  Häuser 
gehen  iu  Flammen  auf,  in  die  Saaten  wird  die  Brandfackel 
geworfen,  soweit  die  Ernte  nicht  dem  römischen  Bedttrfniss 
dient.  In  diesem  Sinn  heisst  es  von  Valentinian  summarisch: 
er  verwüstete  einige  Gaue,  post  vastatos  aliquos  Alamanniae 
pagos,  30,  3,  1,  und  immerhin  giebt  es  iu  fruchtbareren  Gegenden 
reichliche  Beute,  opimitate  praedorum  onusti,  lti,  11,  9. 

Zieht  sich  die  Bevölkerung  zurück , so  verkünden  auf- 
steigende Rauchwolken  den  entfernten  Genossen  das  Herannahen 
der  Römer.  Dann  werden  die  Wege,  welche  durch  Wälder 
und  über  Gebirgspässe  führen,  durch  Verhaue  geschlossen. 
Celsarum  arborum  obsisteute  concaede,  17,  10,  6.  Concaede 
arborum  densa  undique  semitis  clausis,  16,  12,  15.  Oft  sind 
sie  nur  auf  langen  Umwegen  zu  umgehen.  Hinter  ihnen  und 
anschliessenden  Gräben  nimmt  man  Stellung.  Vor  einem  so  um- 
giirteten,  „durch  seine  Dunkelheit  erschreckenden  Walde“  kehrte 
Julian  vorsichtig  um.  Eiu  ander  Mal  führte  ihn  ein  junger 
Alamanne  in  die  Irre  vor  einen  Verhau,  der  fern  ab  von  den 
Ansiedelungen  lag.  Es  scheint  nicht,  dass  es  an  einem  Verhau 
jemals  zum  Kampf  gekommen  ist.  Der  Rückzug  der  Volks- 
massen in  entferntere  Gegenden  und  die  Ungunst  des  Klimas 
bringen  Mangel  und  grosse  Entbehrung  mit  sich  uud  schliesslich 
führt  die  Noth  oder  eine  Niederlage,  bei  der  die  heimischen 
Wälder  sich  für  die  Ueberreste  öffnen,  zur  Ergebung,  zu  Friede 
und  Biindniss. 

Persönlich  in  die  Erscheinung  treten  nur  die  alamannischen 
Gaukönige  und  sie  sind,  so  weit  ich  sehe,  die  einzigen,  nach 
deren  Geschicken  wir  uns  ein  Bild  von  der  Stellung  eines  Gau- 
königs jener  Zeit,  wenigstens  hinsichtlich  seiner  Beziehungen 
zu  den  Römern  machen  können.  Aber  Ammian  der  Römer 
sieht  auf  die  Barbaren,  auf  die  kleinen  Gaukönige  mit  Verachtung 
und  doch  mit  scheuer  Sorge  herab.  Wie  das  Volk  selbst 
immanis  natio,  25,  5,  9,  sind  sie  ihm  immanes,  immanissimi, 
feroces,  von  ungeheurer  Wildheit  und  schrecklich,  rasend  gegen 
das  römische  Reich,  voll  aufgeblasenen  Hochmuths.  Vicinorum 
Galliis  regum  immanitatem,  maxime  omnium  Marciani  formidati, 
30,  3,  3.  Tres  immanissimi  reges,  17,  1,  13.  Ferox  saeviensque 

6* 


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84 


in  damna  Romana,  17,  10,  3.  Reges  tumentes  immaniter,  17, 
10,  10.  Aber  sobald  sie  einzeln  bezwungen,  und  dann  der  über- 
wältigenden Macht  der  Römer  gegenüberstehen,  demüthigen  sie 
selbst  sich  vor  dem  Cäsar  Julian.  Selbst  den  Herzog  Chnodomar 
schildert  Ammian  in  änsserster  Furcht,  bleich,  im  Bewusstsein 
seiner  Schuld  verstummend,  vor  Julian  sich  zu  Boden  werfend, 
und  ihn  um  Gnade  anflehend,  16,  12,  61  und  65.  Aber  hier 
ist  Ammiau  zu  controlliren.  Nach  Libanios,  dem  Freund  des 
Juliau,  tritt  Chnodomar  iu  derselben  Scene  im  vollen  Selbst- 
bewusstsein des  Helden  auf,  so  dass  er  erst  die  Bewunderung, 
dann  den  Zorn  Julians  erregt;  und  man  wird  dieser  Darstellung 
um  so  mehr  Glauben  schenken,  da  sie  dem  Charakterbild  ent- 
spricht, welches  Ammian  im  Uebrigen  von  Chnodomar  entwirft. 
So  mögen  denn  auch  seine  Erzählungen  über  die  Selbstdemüthig- 
ung  anderer  Könige  wohl  übertrieben  und  als  eine  von  Ammian 
dem  Cäsar  Julian  dargebrachte  Huldigung  anzusehen  sein. 

Neben  der  Schablonenhalten  Charakterisirung  der  Gaukönige 
hat  er  doch  die  hervorragenden  von  iliuen  in  das  gebührende 
Licht  gestellt.  Chnodomar  ist  ihm  gross  als  Krieger  wie  als 
Feldherr,  strenuus  et  miles  et  utilis  praeter  ceteros  ductor,  16, 
12,  24;  Vithikab  unternehmend  und  tapfer,  audax  et  fortis, 
27,  10,  3;  Marcian  furchtbar,  formidatus,  terribilis  30,  3,  3;  30, 
7, 11;  und  Vadomar  das  politische  Werkzeug  des  Kaiser  Constan- 
tius  gegen  seinen  Cäsar. 

Von  den  Gemeinfreien  ist  nur  die  Rede,  sofern  sie  die 
Masse  der  Heere  stellen,  und  so  sei  denn  hier  zusammengetragen, 
was  sich  an  Statistik,  unzuverlässig  wie  jede  antike  eben  findet. 
Die  Juthungen  rühmten  sich  nach  Dexippos  270  dem  Kaiser 
Aurelian  gegenüber  eines  Heeres  von  40000  Reitern  und  80000 
Mann  Fussvolk,  aber  der  Kaiser  glaubte  ihnen  nicht.  Probus 
erschlug  um  280  nach  Vopiscus  in  Gallien  400000  Mann, 
Constantius  I.  um  300  nach  Hieronymus  und  Cassiodorus  bei 
Langres  60  000  Mann.  Alle  diese  Ziffern  erscheinen  unglaub- 
würdig. Als  alle.  Gaue  im  Felde  standen,  hatten  nach  Ammian 
die  Alamannen  357  bei  Strassburg  35  000  Mann,  377  bei  Argen- 
taria  40000,  Zahlen,  die  vermöge  ihrer  ungefähren  Ueberein- 
stimmung  sich  gegenseitig  decken.  Dort  war  der  Verlust  auf 
dem  Schlachtfeld  6 — 8000,  im  Rhein  6000,  hier  35  000  Mann. 
Im  Jahr  367  hatte  in  Gallien  von  drei  Heerhaufen  einer  6000 


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85 


Todte  und  4000  Verwundete.  Die  Römer  zählten  bei  Strass- 
burg mindestens  13000  Mann  und  247  Todte  und  377  dem 
besiegten  Heerhaufen  gegenüber  1200  Todte  und  200  Verwundete. 
Die  Zahl  endlich  der  Burgundionen,  welche  im  Jahr  370  gegen 
die  Alamannen  aufbrachen,  wird  von  Hieronymus  auf  80000 
Mann  angegeben. 


n.  Der  Kaiser  Magnentius.  350—353. 

1.  Der  Herzog  ( linodomar. 

Die  Berufung  der  Alamannen  nach  Gallien. 

Seit  einem  Jahrhundert  und  länger  sassen  die  Alamannen 
an  dem  rechten  Rhein,  seit  einem  Jahrhundert  kämpften  sie 
gegen  die  Römer,  angreifend  in  Gallien,  Rätien,  Italien,  sich 
vertheidigcnd  in  ihrem  eigenen  Land,  als  sie  nunmehr  auch  be- 
rufen wurden,  in  die  innere  Politik  des  römischen  Reiches  ein- 
zugreifen. 

Von  den  Sühnen  Constantin  des  Grossen  war  Constantius  II. 
der  Kaiser  des  Morgenlandes.  Als  sein  Bruder  Constans  350 
ermordet  war,  beanspruchte  Constantius  die  Alleinherrschaft 
über  das  gesammte  römische  Reich  für  sich,  während  der  Ger- 
mane Magnentius,  wahrscheinlich  ein  Franke,  sich  Galliens, 
Italiens,  Afrikas  bemächtigt  hatte.  Vergebens  bot  ihm  Constantius 
die  Herrschaft  über  Gallien  an,  und  so  entstand  ein  grosser 
Krieg  über  den  Purpur  des  Reichs. 

Magnentius  hatte  seinen  Bruder  Decentius  zum  Cäsar  (Mit- 
regenten) für  Gallien  ernannt  und  befand  sich  mit  einem  Heer 
von  zuverlässigen  Volksgenossen,  Frauken  und  Sachsen,  und 
von  widerwilligen  Galliern  in  Italien,  als  Constantius  sich  gleich- 
falls nach  germanischen  Bundesgenossen  umsah  und  sich  zu 
diesem  Zweck  an  die  Könige  der  Alamannen  wendete.  Er  bot 
ihnen  für  ihren  Beistand  Lohn  und  erüffnete  ihnen  die  Grenzen 
des  römischen  Reiches  mit  der  Bewilligung,  von  Gallien,  das 
er  zu  beherrschen  hoffte,  so  viel  für  sich  zu  erwerben,  als  sie 
könnten.  Sie  griffen  begierig  zu  und  bewahrten  die  Briefe  mit 


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der  Zusage  des  Kaisers  vorsorglich  als  die  Urkunden  für  ihr 
Recht  auf  Gallien.  Die  Abreden  wurden  vorläufig  geheim  ge- 
halten. (Libanios,  Sokrates.  Die  Darstellung  des  Ammian  über 
diese  Zeit  ist  verloren  gegangen.) 


Die  Herrschaft  der  Alamannen  in  Gallien. 

Unter  der  Führung  des  Königs  der  Mortenau,  Chnodomar, 
der  zum  Herzog  gewählt  wurde,  stürzten  sich  die  Heergaue 
der  Alamannen  auf  das  preisgegebene  Gallien.  Mord,  Raub 
und  Brand  bezeichneten  ihr  Vordringen:  Männer,  Frauen  und 
Kinder  wurden  getödtet  oder  als  Gefangene  fortgeführt,  Vieh 
und  Habe  erbeutet,  die  Ortschaften  verwüstet,  Städte,  Burgen 
und  Castelle  zerstört  und  ihrer  Mauern  beraubt.  Denn  die 
Städte,  sagt  Ammian  bei  diesem  Anlass,  meiden  sie  wie  um- 
gitterte Grabstätten.  Von  den  dem  alamannischen  Oberrhein 
gegenüberliegenden,  so  vernichteten  Städten  werden  genannt: 
Strassburg  (Argentoratum),  Brumath  (Brocomagus),  Selz  (Saliso), 
Elsass-Zabern  (Tres  Tabernae),  Speyer  (Nemetae),  Worms 
(Vangiones),  Mainz  (Mogontiacum),  Bingen  (Bingium),  Coblenz 
(Confluentes)  und  Andernach  (Antennacum). 

„Die  edelsten  Geschlechter,“  so  schildern  die  römischen 
Schriftsteller,  „dienen  den  Barbaren:  Senatoren  mit  dem  Rest 
ihrer  Habe  auf  den  Schultern,  folgen  den  Zügen  der  Gefangenen. 
Wo  die  Mauern  Schutz  gegen  die  Gefangenschaft  gewähren, 
bleibt  den  Einwohnern  das  Feld  vor  den  Thoren  entzogen  und 
sie  werden  von  Mangel  verzehrt.  Bald  wird  die  Zahl  ihrer 
Bewohner  so  gering  sein,  dass  der  Raum  zwischen  den  Mauern 
für  Wohnstätten  und  Erntefeld  ausreicht.  Unsere  Aecker  be- 
stellen die  Barbaren  mit  eigenen  Händen,  die  eigenen  (über 
dem  Rhein)  mit  den  Händen  der  gefangenen  Römer.“  Denn 
im  Rücken  der  raublustigen  Gauheere  dehnten  sich  in  der 
fruchtbaren  Ebene  des  linken  Rheinufers  die  Dörfer  und  Felder 
germanischer  Siedler  aus.  Insonderheit  war  dies  die  erste 
Periode  der  alamannischen  Ansiedlung  des  Eisass,  der  Pfalz 
und  Rheinhessens  bis  Mainz  abwärts.  Barbari,  qui  domicilia 
fiscere  eis  Rhennm,  Amm.  16,  11,8.  Civitates  (wie  oben  Strass- 
burg bis  Mainz)  barbaros  possidentes  territoria  earum  habitare, 
16,  2,  12. 


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Nach  drei  Jahren  wurde  über  die  Weltherrschaft  entschieden. 
Nachdem  der  Centurio  Silvanus,  ein  Franke,  Feldherr  von  hohen 
Fähigkeiten  mit  seinen  Schwerbewaffneten  von  Magneutius  zu 
Constantius  übergegangen  war,  wurde  Jener  bei  Mursa  an  der 
Drau  in  entscheidender  Schlacht  besiegt  und  versuchte  dann, 
sich  nach  Gallien  zurückzuziehen,  aber  die  Alamannen  verlegten 
ihm  die  Alpenpässe.  Beide  Brüder  wurden  geschlagen,  Magnentius 
in  den  cottischen  Alpen,  und  sein  Cäsar  Decentius,  Letzterer 
von  Chnodomar  bei  gleichen  Streitkräften;  beide  brachten  sich 
ums  Leben,  jener  in  Lyon,  dieser  in  Sens. 

Silvanus  und  Julian. 

Nun  war  der  Kaiser  Alleinherrscher  und  nun  galt  es,  den 
von  den  Barbarenheeren  der  Alamannen,  Franken  und  Sachsen 
überzogenen  Osten  von  Gallien  dem  Reiche  wieder  zugewinnen. 
Der  Kaiser,  um  den  sich  Silvanus  nicht  geringe  Verdienste 
erworben  hatte,  bestellte  diesen  zum  Oberbefehlshaber  des  Fuss- 
volkes  und  betraute  ihn  mit  der  schwierigen  Aufgabe.  Silvanus 
durchzog  Gallien,  kam  den  Angriffen  der  Germanen  zuvor,  und 
drängte  sie,  die  bereits  ihr  Selbstvertrauen  verloren,  zurück. 
Dann  wurde  er  der  Gegenstand  einer  Hofcabale,  nahm  als 
letztes  Mittel  zur  eigenen  Kettung  in  Cöln  die  kaiserliche  Würde 
an  und  wurde  hier  im  Auftrag  des  Kaisers  durch  den  Reiter- 
general Ursicinus  beseitigt.  In  dessen  Gefolge  befand  sich 
Ammian,  der  so  Gelegenheit  fand,  alamannische  Angelegenheiten 
in  der  Nähe  kennen  zu  lernen.  355. 

Nach  dem  Tode  des  Silvanus  drangen  Nachrichten  von 
neuen,  über  den  Rhein  setzenden  Germanenschaaren  und  von 
neuen  Verwüstungen  nach  Rom,  die  befürchten  Hessen,  dass 
Gallien  verloren  sei.  Der  Kaiser  ernannte  nun  seinen  Neffen 
Julian  zum  Cäsar  (Mitregenten)  und  übertrug  ihm  den  Schutz 
und  die  Verwaltung  Galliens,  und  dieser  schrieb  über  die  Zu- 
stände, die  er  bei  Antritt  seines  Amts  vorfand,  später  an  die 
Athener:  „Die  Barbaren  (Alamannen,  Franken,  Sachsen)  hielten 
das  ganze  linke  Rheinufer  von  den  Quellen  des  Stroms  (?  vom 
Ausfluss  aus  dem  Bodensee?)  bis  zur  Mündung  in  den  Ocean 
besetzt.  In  einem  Gürtel  von  300  Stadien  (8  deutschen  Meilen) 
Breite  vom  Rhein  ab  hatten  sie  sich  angesiedelt,  aber  dreimal 
so  weit  war  Alles  verwüstet,  so  dass  die  Gallier  nicht  wagen 


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konnten,  ihr  Viel)  auf  die  Weide  zu  treiben.  Etwa  45  Städte 
(alte,  blühende,  reiche,)  dazu  Burgen  und  kleinere  Castelle 
waren  zerstört,  ihre  Mauern  gebrochen.  Andere  Stadtgebiete 
waren  von  den  Bewohnern  verlassen,  wenngleich  von  den  Bar- 
baren noch  nicht  berührt.  So  habe  ich  Gallien  (356)  über- 
nommen.“ Von  Vienne  aus  bestimmte  Julian  Rheims  als  den 
Sammelpunkt  für  die  römischen  Truppen  und  der  Weg,  den  er 
selbst  dahin  einschlug,  über  Autun,  Saulieu,  Anxerre,  Troyes, 
mag  etwa  die  westliche  Grenze  des  germanischen  Machtgebietes 
bezeichnen,  welches  demnach  die  oberen  Flussgebiete  der  Seine, 
Marne,  Maas  und  Mosel  umfasste. 


III.  Der  Cäsar  Julian.  356. 

2.  Die  Kämpfe  in  Gallien. 

Der  Cäsar. 

Julian  war  der  Einzige,  den  der  misstrauische  Kaiser  von 
der  Ermordung  der  eigenen  Familie  übrig  gelassen.  Vierund- 
zwanzig Jahre  alt,  wurde  er  den  Studien  der  Akademie  in 
Athen  entrissen  und  ein  Träumer,  Bewunderer  des  Hellenismus, 
neuplatonischer  Philosoph.  Gegner  des  Christenthums  in  das 
verwüstete,  von  Germanen  überschwemmte  Gallien  versetzt,  um 
dem  darniederliegenden  empor  zu  hellen.  Voll  Geist  und  Feuer 
zeigte  er  sich  „Sommers  im  Feld“  bald  als  genialer  Feldherr, 
milde  und  ernst,  „Winters  im  Tribunal“  als  gerechter  Richter, 
als  erfolgreicher  Organisator.  Immerdar  — bis  auf  seinen 
Tod  — ist  er  vom  Glück  begleitet  gewesen. 

Als  der  Cäsar  im  Dezember  355  von  Rom  nach  Gallien 
aufgebrochen  war,  empfing  ihn  in  Turin  (Taurinum)  die  Nach- 
richt, dass  Cölu,  schon  damals  eine  ansehnliche  Stadt  (Colonia 
Agrippina,  ampli  nominis  urbs),  nach  hartnäckiger  Vertheidigung 
von  den  Franken  eingenommen  und  zerstört  sei.  In  Vienne 
(Vienna)  dagegen  erwartete  ihn  eine  freudige  Aufnahme,  war 
er  doch  gekommeu,  Gallien  aus  seiner  hoffnungslosen  Lage  zu 
erretten,  das  Ende  des  allgemeinen  Elends  herbeizuführen. 


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Hier  blieb  er  bis  zum  nächsten  Sommer,  beschäftigte  sich 
schon  mit  dem  Gedanken,  die  Bruchstücke  Galliens  wieder  zu 
sammeln,  und  traf  mit  grosser  Umsicht  die  Vorbereitungen  für 
den  Krieg. 


Die  Römer  und  Germanen. 

Die  Stellung  der  Germanen  (Alamannen  und  Pranken) 
erhellt  nur  aus  den  Zusammenstössen  ihrer  Heerhaufen  oder 
deren  Spitzen  mit  den  Römern. 

Julian  brach  mit  den  im  Süden  gesammelten  Truppen  im 
Juni  356  nach  Rheims  auf  und  zog,  um  die  Vereinigung  rasch 
zu  vollziehen,  in  Eilmärschen  über  Autnn  (Augustodunum), 
Saulieu  (Sedelaucum),  den  dichten  Wald  von  Auxerre  (Auto- 
sidorum)  nach  Troyes  (Tricassae),  nur  an  den  beiden  letzten 
Orten  seinen  erschöpften  Soldaten  eine  kurze  Rast  gönnend. 

Im  Winter  hatten  die  Germanen  Autun,  eine  alte  umfang- 
reiche Stadt  mit  verfallenen  Befestigungswerken  zu  überrumpeln 
versucht,  ihr  Angriff  war  aber  durch  ausgediente  Veteranen 
von  den  Mauern  aus  abgeschlagen,  während  der  übrige  Theil 
der  Besatzung  (nach  Libanios)  an  einer  anderen  Stelle  einen 
Ausfall  machte  oder  (nach  Ammian)  ganz  unthätig  blieb.  In 
Auxerre  zeigten  sich  schon  umherstreifende  Abtheilungen  der 
Feinde.  Vor  Troyes  warfen  sie  sich  dem  Cäsar  haufenweise 
entgegen,  und  während  er  mit  den  Ganzgepanzerten  und  dem 
Zeug  (cataphractarii  und  ballistarii)  seinen  Truppen  voraneilte, 
kam  es  zu  einer  Reihe  von  Gefechten.  Sah  er  den  Feind  in 
der  Ueberzahl,  so  marschirte  er  mit  geschlossenen  Planken 
weiter.  Fand  er  eine  Anhöhe,  so  besetzte  er  sie,  um  von  da 
aus  sich  auf  den  Feind  zu  stürzen  und  ihn  über  den  Haufen 
zu  werfen.  Andere  ergaben  sich  und  wurden  gefangen  ge- 
nommen, noch  Andere  entkamen,  da  eine  Verfolgung  durch 
Schwerbewaffnete  nicht  möglich  war.  So  stieg  die  Zuversicht 
des  Cäsar,  dass  er  auch  weitern  Angriffen  gewachsen  sein  werde. 
Unter  solchen  Gefahren  gelangte  er  nach  Troyes  und  zwar  so 
unerwartet,  dass  man  ihm  trotz  der  Furcht  vor  den  umher- 
streifenden Feindesmassen  erst  nach  langem  Bedenken  die  Stadt 
öffnete. 

Bei  Rheims  erfolgte  die  Vereinigung  der  Truppen  des 
Cäsar  mit  denen  des  Generals  des  Fussvolks  und  der  Reiterei 


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Marcellus,  welche  für  den  weitern  Feldzug  bestimmt  waren. 
Ursicinus,  General  des  Fussvolks,  erhielt  die  Weisung,  bis  zu 
dessen  Ende  in  der  Gegend  von  Rheims  stehen  zu  bleiben. 

Die  Römer  und  Alamannen. 

Der  Cäsar  erfuhr  hier,  dass  Alamannen  bei  Dieuze  (Deceni- 
pagi,  südöstlich  von  Metz)  ständen  und  beschloss  sie  anzugreifen. 
Auf  dem  Marsch  dahin  fielen  aber  bei  nebeligem  Wetter  ihre 
Haufen  dem  Cäsar  in  den  Rücken,  griffen  zwei  Legionen  des 
Nachzuges  an  und  hätten  sie  fast  aufgerieben,  wenn  nicht  auf 
deren  Geschrei  die  Kameraden  zur  Hülfe  geeilt  wären.  Dieser 
Unfall  zeigte  dem  Cäsar,  dass  er  keinen  Weg  zurücklegen, 
keinen  Fluss  überschreiten  könne,  ohne  eines  alamannischen 
Ueberfalls  gewärtig  zu  sein.  Statt  dieser  Nutzanwendung  des 
Ammian  erzählt  Libanios,  wie  der  Ueberfall  zurückgewiesen 
und  die  Legionen  die  Köpfe  der  Erschlagenen  als  Siegeszeichen 
davon  getragen  hätten.  Von  einem  Angriff  bei  Dieuze  ist  nicht 
mehr  die  Rede. 


Das  Treffen  bei  Brumath. 

Dagegen  lief  nunmehr  die  Kunde  ein,  dass  die  Germanen 
(hier  Alamannen)  im  Eisass  lagerten.  Julian  bemächtigte  sich 
zunächst  Brumaths  (Brocomagus)  und  fand  sich  sofort  einem 
aTamannischen  Heerhaufen  gegenüber,  der  ihm  eine  Schlacht 
anbot. 

Der  Cäsar  stellte  seine  Schlachtreihen  in  Gestalt  eines 
Halbmondes  auf,  der  die  Feinde  auf  beiden  Flanken  umfasste. 
Der  Zusammenstoss  erfolgte  und  die  Umschliessung  wurde  ihnen 
verderblich.  Das  Ergebniss  ist  nur  skizzirt:  Einige  wurden 
gefangen,  Andere  in  der  Hitze  des  Kampfes  niedergemacht, 
der  Rest  entkam  in  der  Schnelligkeit  der  Flucht. 

Das  linke  Rheinufer. 

Nach  diesem  Erfolg  entschloss  sich  der  Cäsar  rheinabwärts 
zu  ziehen,  um  das  vor  zehn  Monaten  an  die  Franken  verlorene 
Cöln  wiederzugewinnen.  Auf  dem  Wege  fand  er  nirgendwo 
Widerstand.  Aber  das  ganze  Rheinufer  war  verheert.  Nirgend 
sah  er  eine  Stadt  oder  ein  Castell,  mit  Ausnahme  von  Coblenz 
(Confluentes),  Remagen  (Rigomagus)  und  eines  einzeln  stehenden 


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Thurmes  bei  Cöln.  Er  rückte  in  das  Gebiet  der  Stadt  ein, 
gewann  die  starkbefestigte  wieder,  urbs  munitissima,  und  sicherte 
so  durch  den  Eindruck,  den  seine  Erfolge  auf  die  fränkischen 
Könige  machten,  dem  Reich  auf  einige  Zeit  den  Frieden. 

Froh  der  Erstlinge  seiner  Siege  führte  er  das  Heer  durch 
das  Gebiet  der  Trevirer  (Trier)  nach  Sens  (Senones),  einer  in 
der  Mitte  von  Gallien  au  der  Yonne  für  seine  weitern  Zwecke 
günstig  gelegenen  Stadt,  und  legte  es  in  die  Winterquartiere. 
In  der  That  konnte  der  junge  Cäsar  mit  Genugthuung  auf  den 
ersten  Feldzug  blicken.  Mit  Kühnheit  und  Glück  hatte  er  die 
Alamannen,  wo  er  sie  traf,  verdrängt,  die  Franken  waren  vor 
ihm  gewichen  und  er  hatte  die  römischen  Waffen  rheinabwärts 
bis  Cöln  gezeigt.  Die  Aufgabe,  Gallien  zu  befreien,  war  jedoch 
noch  nicht  erfüllt.  Frei  war  es  nur,  soweit  der  Arm  der 
Soldaten  reichte,  und  dies  sollte  der  Cäsar  an  sich  selbst  erfahren. 

Die  Belagerung  von  Sens. 

Er  vertheilte  die  Truppen  über  die  Landstädte,  theils  um 
sie  an  die  verlassenen  und  dadurch  gefährdeten  Garnisonorte 
zurückzuführen,  theils  um  in  dem  ausgesogenen  Lande  auf  diese 
Weise  die  Vcrproviantirung  zu  erleichtern.  Auch  die  Besatzung 
von  Sens,  welches  Standquartier  Julians  blieb,  wurde  vermindert, 
die  Langschildener  und  Haustruppen  wurden  verlegt,  Marcellus 
blieb  mit  andern  Truppen  in  der  Nähe  stehen. 

Die  Germanen  (Franken?)  erfuhren  hiervon  durch  Ueber- 
läufer  und  erschienen  plötzlich  in  grossen  Haufen  vor  der  Stadt 
in  der  Hoffnung,  sie  zu  erobern  und  des  Cäsar  sich  zu  be- 
mächtigen. Dieser  Hess  die  Thore  schliessen,  die  Mauern  aus- 
bessern, und  war  selbst  mit  den  Bewaffneten  Tag  und  Nacht 
auf  Vorwerken  und  Bastionen  anwesend,  wüthend,  dass  ihre 
geringe  Anzahl  einen  Ausfall  unmöglich  machte.  Marcellus 
unterliess,  wie  man  glaubte,  aus  Missgunst,  seinem  belagerten 
Feldherrn  zu  Hülfe  zu  kommen,  weshalb  er  später  seines  Postens 
entsetzt  wurde.  Die  Germanen  zogen  aber,  in  der  Kunst  der 
Belagerung  nicht  bewandert,  nach  dreissig  Tagen  ohne  Erfolg 
wieder  ab. 

Nun  trat  für  das  Heer  und  seinen  Feldherrn  Ruhe  ein, 
aber  den  Staatsmann  sah  man  Geschäfte  erledigen,  den  Offleier 


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den  Lagerdienst  erlernen.  Er  lebte  wie  ein  gemeiner  Soldat, 
erhob  sich  um  die  Mitternacht  von  hartem  Lager,  betete  zu 
Mercur  als  dem  Weltgeist,  der  die  Seelen  in  Bewegung  setze, 
und  kehrte  wie  der  grosse  Alexander  zu  seinen  Studien  zurück, 
zu  Philosophie,  Geschichte,  Sprache,  Dicht-  und  Redekunst. 


IV.  Der  Kaiser  Constantius.  354  — 358. 

3.  Die  obern  Alamannen -Gaue. 

Der  Kaiser. 

Schon  das  erste  Kriegsjahr  zeigte,  dass  der  jugendliche 
Julian  es  unternahm,  das  erschütterte  Werk  des  Julius  Cäsar 
wieder  aufzurichten.  Der  Versuch  wäre  eines  Kaisers  würdig 
gewesen.  Aber  Constantius,  sei  es,  dass  er  ihn  für  aussichtslos 
hielt,  oder  dass  er  sich  die  Kraft  dafür  nicht  zutraute,  sei  es 
dass  er  sich  scheute,  das  von  ihm  den  Alamannen  preisgegebene 
Gallien  zu  betreten,  beschränkte  sich  darauf,  einzelne  ihrer 
Gaue  in  ihren  Gebieten  selbst  anzugreifen.  In  jedem  der  Jahre 
354  — 356  leitete  er  derartige  Expeditionen,  die  gegen  die  obern 
Gaue  gerichtet  waren.  Für  die  innere  Lage  von  Gallien  waren 
sie  von  geringer  Bedeutung. 

Unansehnlich  von  Figur,  verstand  Constantius  es  doch,  die 
kaiserliche  Würde  zu  wahren.  Er  war  wenig  regen  Geistes,  aber 
ehrgeizig,  von  unerbitterlicher  Härte  und  Grausamkeit;  miss- 
trauisch hatte  er  ein  aufmerksames  Ohr  für  Verläumdungen. 
furchtsam  war  er  lür  Leben  und  Thron  besorgt.  Fremden 
Verdiensten  gegenüber  war  er  ohne  Anerkennung  und  voll  Neid, 
eigne  erwarb  er  sich  nicht.  „Nie  hat  er  ein  fremdes  Volk,  das 
sich  zum  Kriege  erhoben,  selbst  oder  durch  seine  Feldherrn 
überwunden,  nie  ist  er  in  der  Noth  der  Erste  oder  einer  der 
Ersten  gewesen.“  Das  Glück  lächelte  ihm  nur  in  inneren 
Kriegen. 

Die  kaiserliche  Aufmerksamkeit  wendete  sich  nacheinander 
dem  Breisgau  in  der  Beuge  des  Rheins,  den  aufwärts  gelegenen 


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ienzischen  Gauen  und  den  juthungisch-suevischen  auf  der  Alb 
and  am  Neckar  zu,  welche  durch  häufige  Raubzüge  die  ihnen 
benachbarten  Landstriche  Galliens  oder  Rätiens  verwüsteten. 

Der  Breisgau.  354. 

Der  Kaiser  zog  zunächst  gegen  den  zweigeteilten  Breis- 
<rau  zu  Felde,  an  dessen  Spitze  die  königlichen  Brüder  Gnndomad 
and  Vadomar  standen.  Die  meisten  Wege  waren  noch  mit 
Schnee  bedeckt.  Bei  Kaiseraugst  (Rauracum  bei  Basel)  an* 
gelangt,  versuchte  der  Kaiser,  eine  Schiftbrücke  über  den  Rhein 
zu  schlagen,  stiess  aber  auf  eine  Uebermacht  des  Feindes,  der 
seine  Truppen  mit  einem  Riegen  von  Pfeilen  überschüttete.  Es 
'and  sich  ein  des  Landes  Kundiger,  der  gegen  Bezahlung  Nachts 
dne  seichte  Stelle  im  Flussbette  anzeigte,  durch  die  man  waten 
konnte.  Das  Heer  setzte  über  und  während  die  Aufmerksamkeit 
der  Alamannen  auf  einen  anderen  Punkt  gerichtet  war,  hätte 
sr.au  ihr  Gebiet  unerwartet  verwüsten  können,  wenn  nicht,  wie 
Viele  glaubten,  römische  höhere  Officiere  alamannischcn  Ursprungs 
ihre  Landsleute  durch  geheime  Boten  unterrichtet  hätten.  Ge- 
nannt wurde  der  Befehlshaber  der  Haustruppen,  der  den  römi- 
schen Namen  Latinus  angenommen  hatte,  der  Obcrstallmeister 
Agilo  und  der  Tribun  der  Schildträger  Scndilo. 

Nun  trugen  die  Breisgauer,  vielleicht  weil  ihre  Wahrsager 
abmahnten  oder  die  heiligen  Zeichen  den  Kampf  untersagten, 
den  drohenden  Umständen  Rechnung,  beugten  ihren  Sinn  und 
schickten  Adalinge  ab,  Verzeihung  für  das  Geschehene  und 
Frieden  unter  billigen  Bedingungen  zu  erbitten.  Bei  der  Be- 
raubung im  römischen  Kriegsrath  war  man  geneigt,  ihn  zu 
bewilligen  und  der  Kaiser  berief  eine  Versammlung  des  Heeres, 
um  ihm  die  Umstände  bekannt  zu  machen  und  es  als  Schieds- 
richter entscheiden  zu  lassen.  Von  Officieren  umgeben,  legte 
t von  der  Bühne  herab  dar:  Die  Gaue  und  Könige  der  Ala- 
mannen seien  in  Schrecken  gesetzt,  durch  ihre  Gesandten  bäten 
de  mit  gebeugtem  Nacken  um  Verzeihung  und  Frieden,  deu 
er  für  nützlich  erachte.  Denn  der  Ausgang  des  Krieges  sei 
zweifelhaft,  die  Feinde  würden,  wie  sie  versprächen,  nun  Bundes- 
genossen sein,  ihr  Uebermuth,  der  den  Provinzen  so  oll  ver- 
derblich geworden,  werde  sich  ohne  Blutvergiessen  legen,  denn 


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auch  ein  Gegner,  der  sich  freiwillig  unter  das  Joch  schmiege, 
sei  besiegt. 

Ohne  Vertrauen  zu  dein  Glück  des  Kaisers,  stimmten  die 
Soldaten  zu.  Der  Friede  wurde  gewährt  und  ein  BUndniss 
geschlossen  und  feierlich  nach  germanischem  Brauch  bekräftigt. 
Mehrfach  von  den  Breisgauein  gebrochen,  sollte  er  doch  längere 
Zeit  bestehen. 


Die  Gaue  der  Lenzer.  355. 

Im  nächsten  Jahre  brach  der  Kaiser  mit  dem  Heere  von 
Mailand  (Mediolanum)  auf,  um  die  Lenzer  im  Klettgau  und 
Hegau,  deren  Könige  nicht  genannt  sind,  zu  überwältigen.  Man 
schlug  die  römische  Strasse  an  dem  Lago  Maggiore  vorbei  über 
die  caniuischen  Felder,  cauipi  Caniui,  die  Ebene  des  untern 
Tessin  ein  und  gelangte  von  Bellinzona  aus  über  deu  Bernhardin, 
den  Splügen  und  Chur  nach  Bregenz  (Brigautia).  Von  da  aus 
sollte  zunächst  der  General  der  Reiterei  Arbetio  mit  einem 
Theil  des  Heeres  die  Lenzer  in  ihrem  Gebiet  angreifen,  während 
der  Kaiser  mit  dem  Gros  am  Bodensee  entlang  marschiren 
würde. 

Der  weitere  Bericht  w'ird  durch  eine  Lücke  in  den  Hand- 
schriften des  Anmiian  unterbrochen. 

Dann  sieht  man  den  Arbetio  in  einen  Gebirgskrieg  ver- 
wickelt. Er  gerieth  in  einen  Hinterhalt,  blieb  unbeweglich 
stehen  und  wurde  über  diesen  unverinutheten  Unglücksfall  be- 
stürzt. Die  Lenzer  kamen  hervor  und  machten  mit  Wurf- 
geschossen aller  Art  nieder,  was  ihnen  in  den  Weg  kam.  Von 
Widerstand  war  keine  Rede,  und  ein  schleuniger  Rückzug  die 
einzige  Rettung.  Die  Soldaten  gaben  sich  ohne  Ordnung  und 
Deckung  den  alamannischen  Geschossen  von  hinten  preis  oder 
verloren  sich  in  den  engen  Schluchten,  von  wo  sie,  durch  die 
>i acht  geschützt,  am  andern  Morgen  sich  bei  ihrer  Truppe  wieder 
einfanden.  Zehn  Tribunen  und  eine  nicht  unbedeutende  Anzahl 
Soldaten  wurden  vermisst. 

Durch  diesen  Erfolg  ermuthigt,  umzingelten  die  Lenzer 
das  römische  Lager,  indem  Arbitio  entmuthigt  und  unentschlossen 
sass.  Im  Morgennebel  umschwärmten  Jene  die  Verschanzungen, 
hohnlachten  und  drohten  mit  gezückten  Schwertern  zu  deu 
Römern  hinüber.  Die  Schildträger  rückten  rasch  hinaus,  wurden 


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aber  zuriickgeworfen  und  riefen  nun  laut  nach  ihren  Kameraden. 
Drei  Tribunen  mit  ihren  Cohorteu  folgten  dem  Ruf.  Erst  wehrten 
Alle  den  Angriff  ab,  dann  einem  reissenden  Strom  gleich  auf 
die  Feinde  stürzend,  trieben  sie  nicht  in  einer  Schlacht,  sondern 
in  Einzelgefechten  Alle  in  die  Flucht.  Die  Alamannen  warfen 
die  Schilde  weg  und  wurden  durch  dichtfallende  Schwert-  und 
Speerstösse  niedergemacht.  Viele,  zusammt  den  Pferden  getödtet, 
waren  noch  im  Tode  auf  ihren  Rücken  wie  festgewachsen.  Bei 
diesem  Anblick  strömten  auch  die  Bedenklichen  aus  dem  Lager 
und  unbesorgt  vernichteten  sie  nun  die  feindlichen  Haufen; 
andere  Lenzer  schritten  über  Leichenhaufen  und  entkamen,  von 
dem  Blut  der  Sterbenden  bespritzt,  auf  der  Flucht. 

Der  Kaiser,  welcher  nicht  vor  den  Feind  gekommen  war, 
bewilligte  auch  den  Lenzem  einen  Bttudnissvertrag,  der  nach 
fast  einem  Vierteljahrhundert  als  bestehend  erwähnt  wird,  und 
kehrte  iu  freudigem  Triumphe  an  sein  Hoflager  zurück. 

Die  Gaue  der  jnthungischen  Sueven.  356  — 358. 

Weitere  Feldzüge  galten  den  juthungischen  Sueven.  Ihre 
Darstellung  bei  Ammian  ist  zersplittert  und  dunkel  und  der 
Zusammenhang  der  Dinge  nur  mühsam  zu  erkennen.  Das  erste 
Jahr  ist  nicht  im  Lauf  der  gleichzeitigen  Ereignisse  erzählt, 
sondern  episodisch  bei  der  Schlacht  von  Strassburg  von  357 
eingeschaltet,  um  den  Gegensatz  einer  günstigen  und  einer  un- 
günstigen inilitairischen  Lage  zu  demonstriren.  Darum  sind 
auch  die  Gaue,  um  die  es  sich  handelt,  nur  als  über-  (rechts-) 
rheinische  Gegenden,  transrhenana  spatia  bezeichnet,  16,  12, 
15  und  16.  Aus  einer  Nachricht  von  357  kann  man  folgern, 
dass  es  die  Sitze  der  „Sueven“,  und  aus  einer  zweiten  wird 
es  zweifellos,  dass  es  solche  der  „Juthungen“  waren,  16,  10,  20; 
17,  6,  1. 

Die  Gaue  der  juthungischen  Sueven  erstreckten  sich  im 
Norden  der  obern  Donau  über  die  Alb  (Westergau  und  Albgau) 
und  über  den  obern  und  mittleren  Neckar  (Nagoldgau  und  die 
beiden  Neckargaue).  Begrenzt  wurden  sie  im  Süden  uud  Osten 
von  Rätien,  so  weit  es  noch  im  Besitz  der  Römer  war,  im  Nord- 
osten von  den  ausserhalb  der  Limes  angesiedelten  Burgundionen 
nnd  im  Westen  vom  Schwarz wald  (Oben  Kapitel  2 Abschnitt 
4 und  5,  Kapitel  4 Abschnitt  4). 


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Im  eisten  Jahre  waren  die  Gegner  der  Sueven  dreifach, 
der  Kaiser  Constantius,  der  aus  Ration  kam,  von  dem  aus  an 
beiden  Seiten  der  Donau  ihm  römische  Strassen  zu  Gebote 
standen,  so  dass  er  von  Osten  oder  über  den  Fluss  von  Süden 
oder  in  beiden  Richtungen  einfallen  konnte,  die  Burgundionen, 
die  von  Nordosten  her  den  Limes  zu  überschreiten  hatten,  und 
der  Cäsar  Julian.  Dieser  stand  in  jenem  Jahr  nach  dem  Treffen 
bei  Brumath  am  linken  Rhein  und  zog  mit  seinem  Heer  strom- 
abwärts vom  Eisass  bis  Cöln.  Er  setzte  nicht  über  den  Rhein, 
was  zu  melden  Ammian  nicht  unterlassen  haben  würde,  und 
was  aus  dem  Schreiben  Julians  au  die  Athener  im  Jahr  360 
hervorgeht.  Denn  er  theilte  ihnen  mit,  dass  er  als  Cäsar  dreimal 
den  Rhein  überschritten  habe,  und  das  war  erst  in  den  folgenden 
drei  Jahren  357,  358  und  359.  An  dem  überrheinischen  Unter- 
nehmen nahm  er  also  persönlich  keinen  Theil,  und  doch  sagt 
Ammian  davon:  Der  Cäsar  stand  in  der  Nähe  und  liess  nirgendwo 
Einen  entwischen,  Caesare  proximo  misquam  elabi  permittente. 
Hier  ist  man  auf  Combination  angewiesen. 

In  diesem  Feldzug  war  der  Kaiser  der  Agirende,  Julian 
secundirte  ihm  nur,  wie  diese  Worte  ergeben:  und  so  wird  er 
zur  Unterstützung  des  Kaisers  von  seinen  Truppen  über  den 
Rhein  gesandt  haben.  Dazu  standen  ihm  theils  Abtheil ungen 
seines  Heeres  zu  Gebote,  mit  dem  er  das  siegreiche  Treffen  von 
Brumath  geschlagen,  theils  die  Besatzungen  der  oberen  Rhein- 
Städte,  wie  Kaiseraugst,  Vindonissa  und  auch  wohl  anderer,  die, 
als  zu  Obergermanien  und  damit  zu  Gallien  gehörig,  in  dem 
Bereich  seiner  Macht  standen.  Auch  der  Durchmarsch  durch 
den  Breisgau  stand  ihm  frei,  da  dieser  seit  zwei  Jahren  im 
Bündniss  mit  Rom  war  und  römische  Strassen  sowohl  von  Frei- 
burg, wie  von  Vindonissa  nach  Hiifingen  und  Donaucschingen 
führten.  Von  hier  aus  werden  Truppen  des  Cäsar  den  Fuss 
des  Schwarzwaldes  besetzt  haben,  um  die  Flucht  der  Sueven 
in  das  Gebirge  zu  verhindern.  Dies  zur  Erläuterung. 

Der  Feldzug  von  356  bestand  in  ausgebreiteten  Streifereien 
durch  die  Gaue  der  Juthuugen,  Romanis  per  transrhenania 
spatia  i'usius  volitantibus.  Während  der  Kaiser  von  Rätien  her 
drängte,  die  Trappen  des  Cäsar  am  Schwarzwald  standen  und 
Niemanden  entwischen  Hessen,  fassten  die  Burgundionen  die 
von  zwei  oder  drei  Seiten  Eingeschlossenen  im  Rücken.  Die 


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Römer  sachten  Rache  für  die  Raubzüge  der  Juthungen,  die 
Burgnildionen  machten  zuui  ersten  Male  mit  jenen  gemeinsame 
Sache  gegen  ihre  Nachbarn  und  langjährigen  Feinde.  Schon 
293  berichtet  Mamertiu:  „Die  Burgundionen  besetzten  Acker- 
land der  Alamannen,  wurden  aber  auch  mit  Niederlage  heim- 
gesucht; die  Alamannen  verloren  Landstriche,  gewannen  sie  aber 
wieder.“  Dies  ist  die  erste  Nachricht  von  der  dauernden  Feind- 
schaft zwischen  Burgundionen  und  Alamannen,  jenes  die  erste 
Bekräftigung  der  dauernden  Freundschaft  von  Burgundionen 
und  Römern. 

Niemand  von  den  Juthungen  Hess  sich  sehen,  sein  Eigen 
zu  schützen  oder  sich  zur  Wehre  zu  setzen.  Sie  hatten  die 
Strassen  durch  dichte  Verhaue  gesperrt  und  zogen  sich  in  das 
gebirgige  Innere  auf  die  Alb  zurück,  wo  sic  bei  strenger  Winter- 
kälte ihr  Leben  kümmerlich  fristeten,  sich  endlich  dem  Kaiser 
ergaben  und  ihn  inständigst  um  Frieden  baten.  Er  gewährte 
ihnen  Frieden  und  Biindniss.  Nachdem  dann  die  römischen 
Truppen  abgezogen,  wurde  auch  der  Streit  mit  den  Burgundionen 
beigelegt.  Vielleicht  wurden  damals  die  Grenzsteine  am  Limes 
aufgestellt,  die  im  Jahr  359  der  Cäsar  sah. 

Schon  357  kamen  wiederholendlich  zuverlässige  Botschaften 
an  den  Kaiser,  wonach  „Sueven“  in  Rätien  verheerend  ein- 
gefallen seien,  und  im  nächsten  Jahre  wurde  ein  gleiches  von 
.Juthungen“  gemeldet,  die  sich,  den  Vertrag  von  356  brechend, 
sogar  gegen  die  Gewohnheit  an  die  Besatzungen  der  Städte 
gewagt  hatten.  In  beiden  Jahren  mag  es  nur  der  Albgau 
gewesen  sein,  da  357  die  Könige  vom  Neckar  und  der  west- 
lichen Alb,  wahrscheinlich  mit  grossen  Massen  der  Ihrigen,  bei 
Strassburg  standen  und  im  nächsten  Jahre  den  Cäsar  bei  sich 
erwarten  konnten. 

Der  Kaiser  schickte  den  General  des  Fussvolks  Barbatio 
mit  starker-  Mannschaft,  der  die  Soldaten  anfeuernd,  in  einem 
Treffen,  pugna*  zahlreiche  Juthungen  erschlug,  während  nur  ein 
geringer  Tlreil  sich  durch  die  Flucht  rettete. 


Cr  a n»  • r » 


Geschichte  der  Alamanoea. 


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V.  Der  Cäsar  Julian.  357  — 359. 


4.  Die  Kämpfe  um  das  Eisass.  337. 

Der  Kriegsplan. 

Trotz  der  Erfolge  des  Cäsar  vom  Jahr  35ii  überschwemmten 
starke,  schreckenerregende  Massen  der  Alamannen  im  nächsten 
Jahre  Gallien  zwischen  Rheims  und  dein  Raurakerlaud  (dem 
Obereisass).  Der  Kaiser  Constantius  gewährte  daher  die  Mittel  zu 
einer  grossen  Unternehmung.'  Die  Alamannen  sollten  wie  mit 
der  Zange,  forcipis  specie,  von  beiden  Seiten  gepackt  werden. 
Zu  dem  Zweck  wurde  das  Heer  des  Cäsar  aus  den  Winter- 
quartieren in  Rheims  vereinigt.  Andererseits  stand,  vom  Kaiser 
ans  Italien  gesendet,  Barbatio,  General  des  Fussvolks,  nach 
Ammian  mit  25000,  nach  Libanios  mit  30  000  Mann  und  mit 
Schiffen  zum  Brückenschlag  über  den  Rhein  im  Gebiet  der  Rau- 
raker.  Er  war  von  rohen  Sitten,  hochfahrenden  Entwürfen, 
jedoch  ohne  Thatkraft.  Ein  Intriguant,  erfüllte  ihn  insbesondere 
der  Neid  auf  das  junge  Glück  des  Cäsar. 

Barbatio  durchzog  das  Obereisass  und  schlug  ein  Lager 
am  gallischen  Schutzwall  (Gallicum  vallum)  auf,  nach  Schricker 
(Aelteste  Grenzen  und  Gaue  im  Eisass  in  den  Strassburger 
Studien  II,  310  — 319)  einem  System  von  Gräben  und  Erdauf- 
würfen zwischen  den  Abhängen  der  Vogesen  (der  Hochkönigs- 
burg) und  den  sumpfigen  Niederungen  der  111  und  der  Blindaeh, 
„da  wo  das  Land  in  der  Quer  (der  Rheinebene)  am  aller- 
schmälesten  ist“.  Sie  liefen  von  Kestenholz  auf  Schlettstadt 
und  Schnellenbühl,  von  Rodern  den  Eckenbach  entlang,  wo  noch 
ein  trockener  Graben  von  zwei  Meter  Breite  zu  sehen  ist,  und 
von  Bergheim  auf  Gemar,  schlossen  das  lieber-,  Giesen-  und 
Weilerthal  und  sicherten  damit  die  Vogesenpässe  der  Senke  von 
Markirch  und  der  Steige  im  Weilerthal.  Diese  Verschanzungen 
bildeten  nach  Schricker  die  Grenze  zwischen  Gallia  (Maxima 
Sequanorum)  und  Germania  superior,  und  führten  daher  den 
Namen  Gallicum  vallum  (?).  Seit  der  umfangreichen  Ansiedelung 
der  Alamannen  im  Eisass,  dem  5.  Jahrhundert,  schieden  sie  den 
Sundgau  von  dem  Nortgau,  und  später  das  Bisthum  Basel  von 
dem  Bisthum  Strassburg. 


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90 


Julian  marschirte  mit  seinem  Heer  von  Rheims  ab  und  be- 
zog ein  Lager,  etwa  an  den  Westabhängen  der  Vogesen.  Die 
Alamannen  standen,  wie  anzunchmcn,  zwischen  beiden  Lagern 
und  dann  war  die  Zange  schon  geöffnet.  Es  erschien  nur  uoth- 
wendig,  sie  zu  sehlicssen.  Dazu  wurden  die  sorgfältigsten  Vor- 
bereitungen getroffen. 


Die  Läter. 

Da  schlichen  sich  — ein  Zengniss  für  die  zerrütteten 
Zustände  Galliens  — Läter,  unterworfene  und  in  Gallien  unter 
Andern  bei  den  Trevirern  und  Nemetcm  (Trier  und  Speyer) 
angesiedelte  Germanenhaufeu,  in  Raubzügen  wohl  erfahren,  von 
Norden  her  zwischen  beiden  Heeren  durch,  drangen  bis  Lyon 
(Lugdunnm)  vor  und  machten  überraschend  einen  Angriff  auf 
die  unbeschützte  Stadt.  Man  konnte  jedoch  noch  rechtzeitig  die 
Thore  schliesseu,  und  sie  mussten  sich  auf  den  Raub  beschränken, 
der  ausserhalb  der  Stadt  in  ihre  Hände  fiel.  Auf  ihrem  Rück- 
zuge  liess  sie  der  Cäsar  auf  drei  Wegen  durch  Reiterei  über- 
fallen, niedermachen  und  ihnen  die  Beute  abnehmen.  Andern 
gelang  es  jedoch  unter  Benutzung  der  Pässe  des  Leber-  oder 
Weilerthals,  vermöge  einer  nicht  zur  Ausführung  gelangten 
Anordnung  des  Barbatio,  durch  dessen  Linien  zu  entschlüpfen. 

Hinter  dieser  Episode,  die  sich  wie  ein  Vorspiel  aulässt, 
hinter  dem  Lob  der  Umsicht  des  Cäsar  und  dem  Tadel  des 
Ungeschicks  seines  Nebenbuhlers  verschwindet  in  der  Erzählung 
Ammiaus,  wie  hinter  einer  Wolke,  der  auf  die  Vernichtung  der 
Alamannen  angelegte  Plan  der  beiden  Heerführer. 

Der  ihnen  zugedachten  Einschliessung  entzogen  sich  jene 
rechtzeitig,  indem  sie,  „erschreckt  durch  die  Ankunft  der  römischen 
Heere,“  in  den  Nordvogesen  Schutz  suchten. 

Der  Cäsar  im  Untereisass. 

Als  der  Cäsar  ihnen  folgte,  fand  er  die  Pässe  geschickt 
durch  Verhaue  gesperrt,  zu  denen  mächtige  Stämme  gelallt 
waren;  die  Hütten  der  Ansiedler  standen  leer,  Weiber,  Kinder, 
Vieh,  Lebensbedürfnisse,  Fruchtvorräthe  und  sonstige  „Barbaren- 
habe“ waren  auf  zahlreiche  Rheininseln  geschafft,  die  der  Strom 
in  seinem  uugebändigten  Laufe  am  Untereisass  gebildet  hatte. 
Auch  die  Kähne  waren  hier  in  Sicherheit  gebracht. 

7» 


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1(X) 


Als  die  Römer  sich  dem  Ufer  näherten,  drang  Klagegeheul 
von  den  Inseln  herüber,  Schmähreden  gegen  die  Römer  und  den 
Cäsar.  Um  übersetzen  zu  können,  erbat  sich  dieser  von  Barbatio 
sieben  von  den  Schiffen,  die  letzterer  für  einen  Rheinübergaug 
zusammengebracht  hatte.  Der  aber  liess,  so  erzählt  Ammian, 
um  sich  jeder  Möglichkeit  einer  Hülfeleistnng  zu  entziehen,  alle 
in  Brand  stecken. 

Es  war  schon  die  trockene  Zeit  des  Sommers  eingetreten, 
der  Wasserstand  des  Flusses  sehr  niedrig  und  der  Uebcrgang 
zu  einer  der  Inseln,  wie  sich  aus  der  Aussage  eines  gefangenen 
Kundschafters  ergab,  zu  Fnsse  zu  bewerkstelligen.  Der  Cäsar 
beorderte  dazu  leichtbewaffnete  Cornuten  unter  ihrem  Tribun 
Bainobaudes,  „um,  wenn  das  Glück  ihnen  günstig,  eine  denk- 
würdige Tliat  zu  vollbringen“.  Sie  wateten  durch  die  seichten 
Stellen,  benutzten  dabei  auch  ihre  Schilde  zum  Schwimmen, 
gelangten  so  überraschend  an  die  Insel  und  schlugen  Alles, 
ohne  Unterschied  des  Geschlechts  und  Alters,  nieder  wie  das 
Vieh.  Sie  bemächtigten  sich  sodann  der  Vorgefundenen  Kähne, 
gewannen  das  Fahrwasser  und  wiederholten  die  Metzelei  auf 
andern  Inseln.  Endlich  kehrten  sie,  satt  des  Mordens,  Alle 
nngcschädigt,  reich  mit  Beute  beladen  zurück,  verloren  jedoch 
unterwegs  durch  die  Gewalt  des  Wassers  einen  Thcil  davon. 
Die  übrigen  Inseln  wurden  von  den  Alamanuen  geräumt  und 
Weib  und  Kind  und  Habe  ins  Innere  oder  über  den  Rhein  ge- 
flüchtet. 


Die  Wiederherstellung  von  Zabern. 

Nach  diesem  von  Ammian  aufgebauschten  Erfolg  schritt 
Julian  zur  Wiederherstellung  der  Vertheidigungs werke  von  Elsass- 
Zabern  (Tres  Tabernae),  einer  der  von  den  Alamannen  vor 
einigen  Jahren  zerstörten  festen  Städte,  in  der  Ueberzeugnng, 
dass  die  Veste  sie  von  den  gewohnten  Einfällen  nach  Gallien 
abhalten  würde.  Durch  den  Eifer  der  Soldaten  ging  das  Werk, 
seiner  Vollendung  schneller  entgegen,  als  er  erwartete.  Zur 
Proviantirung  von  Zabern  hatte  der  Kaiser  Getreide  geschickt, 
aber  Barbatio  nahm,  als  die  Transporte  seine  Linien  passirten, 
eigenmächtig  einen  Theil  davon  für  sich,  und  liess  den  Rest  auf 
einen  Haufen  zusammenfuhren  und  verbrennen.  Empört  über 
das  Betragen  des  Barbatio,  liess  der  Cäsar  nunmehr  überall 


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im  Lande  unter  dem  Schutz  verschanzter  Wachtposten  durch 
seine  Soldaten  Proviant  zusammenbringen,  mit  bewaffneter  Hand 
und  grosser  Vorsicht  und  nicht  ohne  Gefahr,  da  lleberraschungen 
der  Alamannen  zu  erwarten  waren.  Aber  die  Krieger  unter- 
zogen sich  mit  Freuden  diesen  Mühen,  „genossen  sie  doch  lieber, 
was  sie  mit  eigener  Hand  sich  verschafft  hatten“. 

Es  war  die  Ernte  von  den  Aockern  der  Alamannen,  die 
nach  dem  Wort  des  Kaisers  deren  Eigenthum  sein  sollten.  Ein 
ganzer  Jahresbedarf  ward  für  Zabern  zusammengebracht,  der 
die  Besatzung  auch  gegen  eine  lange  Belagerung  im  Winter, 
bei  welcher  auf  einen  Entsatz  durch  die  Legionen  aus  dem 
Innern  von  Gallien  nicht  zu  rechnen  war,  sicher  stellte.  Ausser- 
dem ein  Getreidevorrath  für  zwanzig  Tage,  der  zu  einer  Art 
Zwieback,  buccelatum,  verbacken,  für  Expeditionen  bestimmt 
war,  und  von  den  Soldaten  gern  getragen  wurde. 

Barbatio  im  Obereisass. 

Von  der  Vernichtung  der  Schiffe  des  Barbatio  erzählt  auch 
Libanios,  aber  in  einer  glaubhafteren  Version.  Denn  schwerlich 
wird  sich  Jener  freiwillig  der  Mittel  beraubt  haben,  über  den 
Rhein  zu  gehen.  Nach  Libanios  baute  er  zu  diesem  Zweck 
eine  Schiffbrücke.  Die  Alamannen  warfen  aber  schwere  Balken 
ins  Wasser,  welche  durch  ihren  Anprall  die  Brücke  zerstörten 
und  die  Schiffe  zerstreuten,  zertrümmerten  oder  zum  Sinken 
brachten.  Möglich,  dass  dann  Barbatio  einige  gerettete  Schiffe 
zerstörte,  die  ihm  nicht  mehr,  wohl  aber  dem  Cäsar  nützen 
konnten. 

Im  Uebrigen  stand  Barbatio  mit  seiner  Armee  von  -25  bis 
30  000  Mann  noch  untliätig  am  oder  in  der  Nähe  des  gallischen 
Schutzwalls,  als  er  urplötzlich  mit  eiuer  Schnelligkeit,  die  selbst 
dem  Gerüchte  voraneilte,  von  einem  alamannischen  Heer  an- 
gegriffen wurde  und  trotz  der  Ueberzahl  und  der  Kriegsgewandt- 
heit seiner  Truppen  sich  schimpflich  zur  Flucht  wandte.  An 
den  Abzeichen  auf  den  Schilden  der  Flüchtigen  erkannten  die 
Alamannen  zu  ihrem  Triumph  die  Soldaten,  welche  die.  Raub- 
züge nach  Gallien  meist  zum  Stehen  gebracht,  vor  denen  sie 
sich  gefürchtet,  und  wenn  sie  handgemein  geworden,  sich  mit 
Verlusten  hatten  zurüekziehen  müssen.  Die  Flucht  ging  gen 
Süden  weit  über  die  Grenzen  der  Rauraker  hinaus  und  die 


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Alamannen  kehrten,  begleitet  von  dem  grössten  Tlieil  des  Ge- 
päcks und  der  Zugtliiere,  stolz  auf  diesen  glänzenden  Sieg 
zurück.  Barbatio  aber  verlegte  wie  nach  einem  glücklich 
vollendeten  Feldzuge  seine  Truppen  in  die  Winterquartiere,  und 
kehrte  selbst  an  das  Hoflager  des  Kaisers  zurück,  um  hier,  wie 
er  gewohnt  war,  Ränke  gegen  den  Cäsar  zu  schmieden. 

Dieser  war  in  Gallien  nunmehr  auf  seine  eigenen  Streit- 
kräfte angewiesen. 


5.  Die  Schlacht  bei  Strassburg.  .'{'>7. 

Zur  Literatur. 

Der  Cäsar  Julian  selbst  schrieb  über  den  Feldzug  dieses 
Jahres  eine  Darstellung,  die  verloren  gegangen  ist,  und  äusserte 
sich  über  ihn  in  einem  Briefe,  den  er  nach  einigen  Jahren  an 
die  Athener  richtete.  Jene  Darstellung  liegt  der  sehr  aus- 
führlichen Erzählung  des  Arnmian,  16,  12:  17,  1 und  der  kürzern 
Schilderung  des  Rhetor  Libanios  und  einiger  anderer  zu  Grunde. 
Arnmian  und  Libanios  haben  als  Männer  das  Ereigniss  erlebt 
und  haben  daher  als  Zeitgenossen  nähere  Kunde  von  ihm  er- 
halten: ausserdem  stand  der  Letztere,  wie  die  Correspondenz 
des  Julian  ergiebt,  diesem  nahe  und  wird  ans  dessen  Munde 
Einzelheiten  des  Feldzuges  erfahren  haben.  Seine  Schilderung 
findet  sich  in  der  Leichenrede,  die  er  auf  den  Cäsar  nach  dessen 
Tode  im  Jahr  363  hielt.  Arnmian  schrieb  seine  Geschichte  um 
390.  So  erklärt  sich  das  Uebereinstimmende,  wie  das  Abweichende 
in  den  Erzählungen  Beider.  Sie  sind  auch  nicht  ohne  Tendenz 
zu  Ehren  des  Cäsar  Julian,  denn  dieser  ist,  wie  schon  erwähnt, 
der  Held  des  Arnmian  und  der  Todte,  dessen  Ruhm  Libanios 
zu  verkünden  hatte. 

Seitdem  in  neuerer  Zeit  Gustav  Freytag  in  seinen  Bildern 
aus  der  deutschen  Vergangenheit  und  den  Ahnen  die  Aufmerk- 
samkeit darauf  gerichtet,  ist  der  Feldzug  des  Jahres  357  und 
insbesondere  die  Schlacht  bei  Strassburg  mehrfach  behandelt, 
von  Dahn,  Wiegand,  Hecker,  Nissen  und  von  Bornes.  Die  Dar- 
stellungen lassen  jedoch  eine  leidlich  ausgiebige  Nachlese  zu. 


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103 


Die  Oertlichkeit  der  Schlacht  bildet  einen  Gegenstand  des 
Streits.  Dahn  hat  sich  darüber  nicht  ausgesprochen,  Wiegand 
und  Hecker  verlegen  das  Schlachtfeld  in  die  Nähe  der  Stadt  Strass- 
burg, Nissen  und  von  Borries  weiter  nördlich,  zwischen  Brumath 
und  Bischweiler.  Ich  halte  die  Lage  durch  Wiegand  für  fest- 
gestellt und  folge  ihm  in  seiner  Auflassung  und  den  wesentlichen 
Punkten  seiner  Erzählung. 

Das  alamannische  Heer. 

Die  Erbitterung  über  die  Metzelei  auf  den  Rheininseln  und 
die  Vergewaltigung  der  alamannischen  Ansiedler  im  Eisass  einer- 
seits, der  Jubel  über  die  Vertreibung  der  Armee  des  Barbatio 
andererseits  warben  gewaltig  für  ein  grosses  Unternehmen  der 
Alamannen  im  Eisass.  Chnodomar  war  die  Seele  auch  dieses 
Krieges.  Auf  seinen  Ruf  schlossen  alle  alamannischen  Gaue 
ein  Bündniss  zu  Schutz  und  Trutz  und  strömten  von  allen  Seiten 
die  Gauheerbanne  unter  Führung  von  Königen  oder  Königsboten, 
die  Adalinge  mit  ihren  Mannen,  sowie  geworbene  Söldner  fremder 
Stämme,  im  Ganzen  nach  Libanios  30000,  nach  Ammian  35  000 
Mann  zum  Rhein  (S.  52).  Reges  (numero  septem)  regalesque 
decem  et  optimatum  series  magna  armatorumque  milia  triginta 
et  quinque  ex  variis  uationibus  (Gauen  und  Stämmen),  partim 
mercede  partim  pacto  vicissitudinis  reddendae  quaesita,  Amm.  16, 
12,  26. 

In  besonderer  Art  ergriff  der  nationale  Aufschwung  den 
obern  und  untern  Breisgau,  die  beide  seit  354  im  Bündniss  mit 
Rom  standen.  Der  mächtigere  ihrer  beiden  Könige  Gundomad 
wurde  als  romfreundlich  ermordet  und  die  Gaugenossen  machten 
mit  dem  Stamm  gemeinsame  Sache;  auch  das  Gauvolk  des  vor- 
sichtigen König  Vadomar  verband  sich,  wie  er  vorgab,  ohne 
sein  Zuthun,  urplötzlich  mit  den  Schaaren  der  Krieg  beginnenden 
Alamannen. 

Der  Gaukönige  waren  sieben.  Die  weitaus  mächtigsten 
waren  Chnodomar,  der  König  der  Mortenau,  und  sein  Neffe 
Serapio,  der  König  des  Kraichgaus;  Chnodomar  seit  350  der 
Urheber  aller  Unternehmungen  gegen  Gallien,  der  Vernichter 
seiner  Städte,  der  Sieger  über  den  Cäsar  Dicentius,  Serapio 
ein  Jüngling  mit  sprossendem  Bart,  ohne  Vergangenheit,  aber 
an  Thatkraft  seinen  Jahren  voraus.  Sein  Vater  war  Chnodomars 


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Bruder,  Hederich,  ein  erbitterter  Rümcrfeiod,  der  lange  als 
römische  Geisel  in  Gallien  zurückbehalten  war  und  dort,  in 
griechische  Geheimlehren  eingeweiht,  seinem  Sohn,  der  ala- 
mannisch  Agenarich  hiess,  den  Namen  Serapio  gab.  Die  fünf 
anderen  Könige  waren  die  rheinischen  Hortar  und  Suomar  von 
der  Lahn  und  dem  Main  (dem  Mattiakergan  und  dem  Rheingau), 
Westralp  von  dem  Quellgebiet  der  Donau  und  des  Neckar  (dem 
Westergau)  und  Uri  und  Ursicin  vom  obern  Neckar  (dem  Nagolri- 
nnd  obern  Neckargau). 

Ausser  diesen  sieben  Königen,  welche  eben  so  viele  Gaue 
vertraten,  waren  zehn  Königsboten  als  Anführer  im  Heer,  welche 
an  Stelle  der  Könige  ebenso  vieler,  meist  entfernterer  Gaue  im 
Felde  standen,  für  die  Könige  von  der  Lahn  (Lahngau),  dem 
Main  nebst  Nebenflüssen  (Wetterau,  Grabfeld  und  Maingau), 
dem  mittleren  Neckar  (unterer  Neckargau),  der  Donau  (Alb- 
gau)  und  des  Oberrheins  (beide  Breisgaue,  Klettgau  und  Hegau). 
Möglich  übrigens,  dass  die  Führung  der  Gauheerbanne  der  beiden 
erwählten  Herzöge  zwei  Königsboten  anvertraut  war,  und  dass 
dagegen  die  beiden  Breisgaue  nicht  unter  Königsboten,  sondern 
etwa  unter  Adalingen  sich  dem  grossen  Heer  anschlossen,  so 
dass  noch  immer  zehn  Königsboten  blieben. 

Sieben  Könige  und  zehn  Königsboten  entsprechen  der  Ge- 
sammtzahl  der  siebenzehn  Alamannengaue.  Sie  führten  Krieger 
des  ganzen  Alamannenstammes  und  noch  weitere  waren  auf- 
gebrochen  und  wurden  erwartet,  denn  „kein  Waffenfähiger  blieb 
zu  Hause“. 

Den  nördlichen  Gauen  war  als  Stelldichein  der  Kraichgau 
angewiesen,  und  hier  wählten  sie  noch  vor  dem  U eberschreiten 
des  Rheins  die  Herzöge.  Es  konnte  nicht  zweifelhaft  sein,  dass 
Chnodomar  der  eine  war;  als  zweiter  wurde  ihm  Serapio  zu- 
gesellt. 

Der  Uebergang  über  den  Strom  geschah  zu  Schiff  und  die 
Schiffe  blieben  in  Bereitschaft,  sei  es  für  den  Verkehr  mit  dem 
Heimathlande,  für  die  Beförderung  des  Nachschubes,  sei  es  fin- 
den Nothfall.  navigiis  paratis  ad  casus  ancipitos.  Zur  Sicherung 
der  Schiffe  wurde  drüben  im  Land  der  Triboker  bei  den  früheren 
römischen  Castellen  Tribunci  und  Concordia  ein  Lager  aufgeschlagen 
und  ohne  Zweifel  mit  einer  Besatzung  belegt.  Castra,  quae  prope 
Tribuncos  et  Coneordiam  munimenta  Romana  fixit  (Chnodomarius 


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rex)  in  Tribocis.  Eine  römische  Strasse  führte  von  Strassburg 
über  Brumath  und  Selz  nach  Speyer,  auf  welcher  nach  dem 
Itinerar  des  Antoninns  die  Entfernung  von  Brocomagus  (Brumath) 
nach  Concordia  18,  von  da  nach  Noviomagus  (Speyer)  20  Leugen 
betrug,  während  sie  sich  nacli  der  Peutinger 'sehen  Tafel  von 
Brocomagus  nach  Saletio  (Selz)  auf  18,  von  da  nach  Noviomagus 
auf  23  Leugen  belief.  Concordia  und  Selz  treffen  also  zusammen. 
Tribunci  mag  sprachlich  die  nördliche  Grenze  der  Triboci  an- 
denten  nnd  die  würde,  unter  der  Annahme,  dass  sie  sich  in  der 
Grenze  des  späteren  alamannischcn  Nortgaus  erhalten  habe,  an 
den  Selzbach  zu  verlegen  sein.  Der  Platz  der  römischen  Castelle 
wie  des  Alamannenlagers  ist  somit  in  der  Nähe  von  Selz  zu 
suchen,  ungefähr  40  km  von  Strassburg  oder  dem  späteren 
Schlachtfeld.  (Siehe  von  Borries).  Drei  Tage  und  drei  Nächte 
brauchte  das  Heer  zum  Uebersetzen.  zog  dann  die  Rheinebene 
hinauf  und  vereinigte  mit  sich  die  Heerhaufen  der  weiter  oben 
über  den  Fluss  gehenden  südlichen  Gaue.  Dann  nahmen  die 
Könige  in  voller  Stärke  bei  der  Stadt  Strassburg  Stellung. 
Reges  in  unum  robore  virium  suarum  omni  collecto  consedere 
prope  urbem  Argentoratum,  16,  12,  1. 

Die  alamannischc  Gesandtschaft. 

Durch  einen  Ueberläufer  aus  der  Armee  des  Barbatio  erfuhr 
man,  dass  bei  Julian  in  Zabern  nur  13  000  Bewaffnete  zurück- 
geblieben seien,  eine  Nachricht,  die  augenblicklich  der  Wahrheit 
entsprach.  Wie  einst  Ariovist  an  Julius  Cäsar,  so  schickten 
die  Könige  nun  Gesandte  an  Julian,  der  noch  mit  der  Vollendung 
seiner  Befestigungsarbeiten  von  Zabern  und  mit  der  Einheimsung 
der  Ernte  der  im  Eisass  angesiedelten  Alamannen  beschäftigt 
war.  Die  Gesandten  erhoben  Beschwerde  über  die  Fortführung 
der  Ernte.  Der  Kaiser  selbst  habe  ihnen  befohlen,  gallischen 
Boden  zu  besetzen  und  habe  ihnen  das  besetzte  Land  angewiesen. 
Des  zum  Beweise  legten  sie  die  Briefe  des  Kaisers  vor  und 
beschuldigten  den  Cäsar,  dass  er  des  Kaisers  Gebote  nicht 
achte.  Was  geschrieben  sei,  müsse  befolgt  werden.  Somit 
verlangten  sie  die  Räumung  der  Gebiete,  die  sie  im  Kriege 
gegen  Magnentius  durch  ihre  Tapferkeit  und  ihr  Schwert  er- 
worben. Wenn  nicht,  so  würden  sie  den  Krieg  beginnen.  Julian 
beschränkte  sich  darauf,  „über  die  Anmassung  der  Barbaren 


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zu  lächeln,“  hielt  es  aber  gerathen,  unter  Bruch  des  Völker- 
rechts, gleichfalls  wie  Julius  Cäsar,  die  Gesandten  als  Spione 
gefangen  zurückzubehaltcn.  Später,  als  er,  zum  Kaiser  aus- 
gerufen, zum  Krieg  gegen  Constantius  gedrängt  wurde,  hat  er 
dessen  Brief  an  die  Alamannen  öffentlich  verlesen.  (Libanios, 
Sokrates,  Ammian.)  So  hatte  denn  das  Schwert  noch  einmal 
über  Besitz  und  Herrschaft  zu  entscheiden. 

Ort  und  Zeit  der  Schlacht. 

Die  Schlacht  zwischen  den  Alamannen  und  Römern  wurde  bei 
Strassburg,  Argentoratum,  geschlagen  und  danach  wurde  sie  be- 
nannt. In  dem  Brief  an  die  Athener  erwähnt  Julian,  dass  er 
Cöln  und  die  befestigte  Stadt  Strassburg,  tsT/o;  'Ap-jivropa,  ein- 
genommen und  eine  Schlacht  geschlagen  habe,  in  der  Chnodomar 
gefangen  sei.  Ammian  nennt  sie  Argentoratensem  pngnam  und 
spricht  von  Argentoratus,  barbaricis  cladibus  nota:  ab  Argentorato 
cum  pugnaretur : post  Argentoratum,  17,1,1;  15,  1 1,  8 ; 16,  12,  70 ; 
17,  8,  1.  Er  bringt  auch  besonders  die  Nähe  bei  Strassburg 
zum  Ausdruck.  Reges  consedere  prope  urbem : victis  apud 
Argentoratum  und  nochmals  prope  Argentoratum  Ul,  12,  11; 
17,  1,  13;  20,  5,  5,  und  ebenso  Hieronymus  und  Cassiodorus  in 
ihren  Chroniken  apud  Argentoratum  oppidum.  Strassburg,  in 
dessen  Nähe  die  Alamannen  lagerten,  ist  der  eine  feste  Punkt 
zur  Festlegung  der  Oertlichkeit,  der  andere  ist  Eisass -Zabern, 
Tres  Tabernae,  wo  Julian  mit  seiner  Armee  stand.  Amm.  16, 
11,  11;  16,  12,  3 und  insbesondere  17,  1,  1,  ad  Tres  Tabernas 
revertit.  Beide  Städte  waren  durch  eine  römische  Strasse  ver- 
bunden, die  nach  dem  Itinerar  des  Antoninus  II  Beugen  zählte. 
Dieselbe  Ziffer  von  14  Beugen  oder  21  römischen  Meilen  kehrt 
bei  Ammian  wieder,  aber  nicht  als  die  Entfernung  von  Zabern 
bis  Strassburg,  sondern  als  die  von  Zabern  bis  zu  der  Stellung 
der  Alamannen,  welche  die  Römer,  von  Zabern  kommend,  be- 
reits vor  sich  sahen.  Diese  Entfernung  wurde  wenigstens  von 
ihrer  Vorhut  gemeldet.  A loco,  linde  Romana  promota  sunt  signa, 
ad  usque  vallum  barbaricum,  quarta  leuga  signabatur  et  decima, 
id  est  unum  et  viginti  milia  passuum,  16,  12,  8.  Dieses  „Bager 
der  Barbaren“,  vallum  barbaricum  uud  die  „Stellung  in  der  Nähe 
von  Strassburg“,  consedere  prope  Argentoratum,  ist  ein  und 
derselbe  Platz. 


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Die  auffälligen  Angaben  einer  gleichen  Entfernung  zweier 
Punkte  von  Zabern  aus  (Strassburg  und  die  Nähe  von  Strass- 
burg) lenkte  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Strasse  selbst  und 
unter  der  selbstverständlichen  Annahme,  dass  Julian  die  Strasse 
benutzt  habe,  um  an  den  Feind,  vallum  barbaricum  zu  kommen, 
der  prope  Argentoratum  stand,  ermittelte  Wiegand  das  Lager, 
mit  anderen  Worten  die  Oertlichkeit  des  Schlachtfeldes.  Es 
liegt  auf  beiden  Seiten  der  Strasse  auf  den  Höhen  von  Hürtiglieim 
und  Ittenheim,  im  Westen  von  Oberhausbergen.  (Das  zerstörte 
Strassburg  selbst  spielt  in  der  Schlacht  keine  Rolle.  Julian 
knüpft  in  seinem  Brief  an  die  Erwähnung  der  beiden  rheinischen 
Städte  nur  die  Bemerkung,  dass  er  bei  Strassburg  gekämpft 
habe.) 

Uebrigens  ist  keine  der  beiden  Entfernungsangaben  genau. 
Die  Lenge  hat  2,22  km,  so  dass  14  Lengen  31,08  km  ausmachen, 
Die  Länge  der  Strasse  beträgt  aber  in  Wirklichkeit  von  Zabern 
bis  Strassburg  36,5  km  oder  16'/,  Leugen:  von  Zabern  bis  zur 
Musau,  der  entscheidenden  Witte  des  Schlachtfeldes  ungefähr 
29  km  = 13  Leugen,  so  dass  für  den  Abstand  von  Strassburg, 
prope  Argentoratum,  noch  7,5  km  oder  31/*  Leugen  übrig  bleiben. 
Die  Aufstellung  der  Alamannen  erstreckte  sich  etwa  von  Itten- 
heim ab  ungefähr  5 km  das  Musauthal  entlang  in  der  Richtung 
auf  Oberhausbergen,  das  sind  25—30  km  von  Zabern  entfernt. 

Es  sei  auch  hier  noch  die  Lage  des  Schlachtfeldes  zum 
Rhein  erörtert,  dessen  jetziger  Lauf  nicht  massgebend  ist.  In 
früherer  Zeit  hat  hier  sein  Ufer  4 — 5 km  mehr  nach  Westen 
gelegen,  wie  die  noch  vorhandenen  Ränder  der  Diluvialterasse, 
die  Wimpern  des  Rheins,  supercilia  Rheni,  erweisen.  Ammian 
spricht  sich  nur  unsicher  aus.  Als  der  Cäsar  sich  dem  Schlacht- 
feld näherte,  traf  er  auf  einen  Hügel  mit  reifem  Getreide  nicht 
weit  von  den  Ufern  des  Rheins,  collem  a superciliis  Rheni 
haud  longo  intervallo  distantem,  16,  12,  19.  Nach  der  Ent- 
scheidung ging  die  Flucht  der  Geschlagenen  zu  dem  Flusse, 
der  hart  hinter  ihrem  Rücken  vorbeifloss,  ad  subsidia  fluminis 
eorum  terga  verterunt  jam  perstringentis,  16,  12,  54.  Das 
passt  wenig  zu  einer  Entfernung  von  7—8  km,  aber  die  Nachricht 
Ammians  erscheint  auch  wenig  zuverlässig,  da  die  Alamannen, 
welche  den  Kampfplatz  wählten,  sich  nicht  den  Fluss  im  Rücken 
aufgcstellt  haben  werden. 


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108 


Au  der  Römerstrasse  selbst  vollzogen  sich  die  Ereignisse 
des  Tages.  Sie  führt  von  Zabern  im  Nordwest  nach  Strassburg 
im  Südost.  „Von  den  Vogesen  aus  durchzieht  sie  zuerst  Berg 
und  Thal  in  raschem  Wechsel,  überschreitet  sodann  die  Vor- 
berge der  Vogesen,  ein  hochgelegenes  Plateau  bei  Willgottheim 
und  Winzenheim,  senkt  sich  weiter  durch  eine  enge  Thalniulde 
bei  Küttolsheim  und  betritt  sodann  ein  vorgelagertes  niedriges 
Hügelland,  dessen  äussersteu  Rand  gegen  die  Rheinebene  hin 
der  Hausberger  Hölienzug  bildet.“  (Wiegand.)  Dieses  Hügel- 
land bildet  das  Schlachtfeld.  In  der  Nähe  von  Küttolsheim 
zerfällt  es  in  zwei  breite  Höhen,  die  durch  das  flache  Wiesen- 
th'al  des  von  Westen  nach  Osten  fliessenden  Musaubachs  geschieden 
werden,  auf  seiner  linken,  nördlichen  Seite  die  Hürtigheimer 
Höhe,  rechts  im  Süden  die  Ittenheimer  Höhe,  die  sich  mehr 
erhebt  und  an  der  anderen  Seite  zur  Rheinebene  allmälig  abfällt. 
Jede  der  beiden  Höhen  ist  von  der  anderen  zu  übersehen. 

Die  Musau,  jetzt  ein  unbedeutendes  Wässerlein,  lässt  sich 
mit  dem  angrenzenden  Gelände  beider  Höhen  in  drei  Abschnitte 
zerlegen.  In  dem  oberen  bezeichnet  sie  kaum  einen  Einschnitt 
zwischen  den  Höhen,  die  daher  eine  zur  Musau  leicht  geneigte 
Ebene  bilden.  In  den  mittleren  und  unteren  Abschnitt  schneidet 
sie  tiefer  in  das  Gelände  ein,  die  Hürtigheimer  Höhe  fällt  zum 
Bach  gleichmässig  sauft  ab,  während  die  Ittenheimer  Höhe  mit 
Thalrändern  von  etwa  10  Metern  im  mittleren,  etwa  3 Meter 
im  unteren  Abschnitt  aufsteigt. 

Von  Küttolsheim  kommend,  läuft  die  Römerstrasse  in  gerader 
Linie  nach  Strassburg  weiter.  Sie  durchschneidet  im  mittleren 
Abschnitt  schräg  die  Hürtigheimer  Höhe,  das  Musauthal  und  die 
Ittenheimer  Höhe,  letztere,  indem  sie  die  Schiessstätte  der  Strass- 
burger Garnison  links  liegen  lässt,  und  steigt  bei  den  Gehöften 
Musau  vorbei  in  die  Rheinebene  hinab. 

Auf  der  Höhe  von  Itteuheim  erwarteten  die  Alamannen 
den  Feind.  Die  Römerstrasse  verfolgend,  musste  er  sie  über- 
schreiten, ehe  er  in  die  Rheinebene  gelangte.  Die  Höhe  selbst 
mit  den  Thalrändern  der  Musau  im  Vordergrund  bot  eine  günstige 
Stellung,  die  weite  Fläche  des  oberen  Abschnitts  liess  eine  Ent- 
wicklung der  Reiterei  zu.  In  der  Rheinebene  selbst  wären  die 
Chancen  für  beide  Tlieile  gleich  gewesen. 


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109 


Wandert  man  über  die  beiden  Höhen,  so  wird  das  land- 
schaftliche Bild  im  Westen  von  den  Vogesen,  im  Osten  von 
dem  Schwarzwald  geschlossen.  Ihre  Linien  zeichnen  sich  vom 
Horizont  ab,  ihre  Abhänge  blauen  in  die  Ferne.  Die  Münstcr- 
thiirmc  von  Strassburg  zeigen  die  Fortsetzung  der  Römerstrassc 
an.  Iu  der  Nähe,  soweit  im  Sommer  das  Auge  über  die  weiten 
Gelände  der  Höhen  und  des  Flachlandes  schweift,  lachende 
Fluren,  wogende  Kornfelder,  Gerste,  Roggen,  Weizen,  grünendes 
Brachland,  dazwischen  die  Wiesen  des  Musauthales  mit  einzelnen 
Bäumen  besetzt,  im  Osten  Rebberg  an  Rebberg,  ein  Bild 
elsässischen  Bodenreichthums. 

Heute  liegt  das  Schlachtfeld  unter  den  weittragenden  Ge- 
schützen des  Forts  Bismarck.  — 

Noch  bleibt  die  Jahreszeit  festzustellen.  Schon  während 
der  Unternehmung  gegen  die  Rheininselu  war  man  im  Hoch- 
sommer, konnte  man  doch  bei  der  trockenen  Zeit  sie  zu  Fuss 
erreichen,  doctus,  aestato  jam  torrida  tluvium  vado  possc  transire. 
Die  Ernte,  die  im  Eisass  Mitte  Juli  beginnt,  war  im  Wesent- 
lichen beendet,  als  Julian  fouragiren  Hess,  und  später  kamen 
die  Gesandten,  über  den  Raub  der  Ernte  Beschwerde  zu  führen. 
An  dem  Schlachttage  selbst  stand  noch  auf  einem  Hügel  reifes 
Getreide,  collem  opertum  segetibus  jam  maturis,  glühte  rings 
der  Boden  vor  Hitze,  fehlte  es  an  Wasser,  terrae  protimts  aestu 
dagrantes  nullis  aquarum  subsidiis  fultae.  Mau  war  also  in  den 
Hundstagen  des  August,  der  Vollmond  jenes  Monats  fiel  auf 
den  16.  August,  der  Mond  war  bereits  im  Abnehmen  begriffen, 
und  es  stand  eiue  dunkle  Nacht  bevor,  nox  senescente  luna 
nullis  sideribus  adjuvanda,  16,  12,  11.  Am  25.  August  des 
Jahres  357  ging  die  Sonne  um  7 Uhr  unter  und  der  Mond  erst 
um  11  Uhr  4 Minuten  auf,  so  dass  etwa  an  diesem  Tage  die 
Schlacht  geschlagen  ist  (Niessen). 

Der  Anmarsch  des  römischen  Heeres. 

Schon  strahlte  (um  5 Uhr)  die  Sonne  im  Frühlicht,  als  Julian 
von  Zabern  beim  Schmettern  der  Trompeten  mit  seinem  Heer 
auf  brach.  Es  mochten  mehr  als  13000  Mann,  von  denen  der 

l'eberläufer  vor  einigen  Tagen  geredet,  sein,  und  nachdem 
Barbatio  sich  den  Gefahren  entzogen,  war  der  Cäsar  doch 
besorgt,  mit  wenigen,  wenngleich  tapfern  Leuten  gegen  zahl- 


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1 10 


reiche  Schaaren  Stand  halten  zu  müssen.  Das  Fussvolk 
marschirte  langsamen  Schrittes  auf  der  Römerstrasse  und  wurde 
auf  beiden  Seiten  von  Reitergeschwadern  gedeckt,  unter  denen 
auch  Ganzgepanzerte  und  berittene  Bogenschützen,  eine  furcht- 
bare Waffe,  waren.  Es  folgten  Ballisten  und  der  Tross,  wahr- 
scheinlich mit  Proviant  auf  20  Tage. 

Die  vorausgehende  Vorhut  kam,  als  die  Sonne  zum  Mittag 
emporstieg,  auf  dem  Plateau  von  Willgottheim  und  Winzenheim 
an  und  erblickte  über  Küttolsheim  hinaus  die  Schaaren  der 
Alamannen.  Bis  dahin  waren  es  von  Zabern  aus  nach  Anunian 
14  Leugen  oder  21  römische  Meilen,  in  Wahrheit  etwa 
29  km  =13  Leugen.  Die  Sonne  brannte  vom  Himmel  und  die 
Soldaten  waren  vom  Marsch  erschöpft,  hungrig  und  durstig. 

Der  Cäsar  rief  daher  die  Vorhut  zurück  und  verkündete 
den  in  Keilen,  cuneatim  ihn  umgebenden  Truppen  seiue  Absicht, 
ein  Lager  aufzuwerfen,  in  ihm  zu  nächtigen  und  am  andoreu 
Morgen,  wenn  die  Soldaten  durch  Schlaf,  Speise  und  Trank 
gekräftigt,  den  Marsch  auf  den  Feiud  fortzusetzen.  Die  ganze 
Armee  aber,  Führer  wie  Geführte  verlangten  stürmisch,  sofort 
vor  den  Feind  geführt  zu  werden,  und  so  gab  denn  Julian  den 
Befehl  zum  Vorrücken. 

Das  Heer  setzte  sich  in  Bewegung  und  die  Vorhut  stiess 
zunächst  auf  einen  sanft  sich  erhebenden  Hügel  mit  reifem 
Getreide  bedeckt,  aut  dem  drei  alamannische  Reiter  als  Späher 
hielten,  die  von  dem  Nahen  des  römischen  Heeres  Kunde 
geben  sollten.  Sie  zogen  sich  sofort  zurück,  ein  sie  begleitender 
Fussgänger,  der  ihnen  nicht  folgen  konnte,  wurde  gefangen  und 
von  ihm  erfuhren  die  Römer  erst,  dass  die  Alamannen  zum 
Uebersetzen  über  den  Rhein  dreimal  vierundzwanzig  Stunden 
gebraucht  hatten.  Unter  den  vielen  Erhebungen  um  Küttols- 
heim ist  keine,  die  man  ihrer  Erscheinung  nach  mit  Bestimmt- 
heit als  die  gemeinte  bezeichnen  könnte.  Die  Hürtigheimer 
Höhe,  auf  welche  Wiegand  hinweist,  lässt  zwar  den  Ausblick 
nach  allen  Seiten  hin  frei,  aber  es  ist  kaum  möglich,  hier  einen 
Punkt  zu  umschleichen  oder  sich  von  einem  erwarteten  Feind 
überraschen  zu  lassen.  Schon  bei  ihrem  Abstieg  vom  Plateau 
mussten  die  Römer  von  dem  alamannischen  Heer  wahr- 
genommen sein. 


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111 


Die  Schlachtordnungen. 

Als  Jene  nach  weiteren  8 Kilometern  auf  der  Hürtig- 
heimer  Höhe  angekommen  waren,  sahen  sie  sich  bereits  den 
dicht  sich  znsammeudrängendcn  Keilen  der  Alamannen  auf  der 
drüben  liegenden  Höhe  gegenüber.  Beide  machten  halt  und 
unter  den  Augen  des  Gegners  vollzog  sich  auf  jeder  Seite  die 
Aufstellung  in  Schlachtordnung.  Ammian  16,  12.  Prope 
densantes  semet  in  cuneos  nostrorum  conspexere  ductores,  20; 
equitatum  (Romauorum)  vidissent  (Alamanni)  oppositum,  21. 
Beiderseits  war  sie  so,  dass  die  Centren  den  mittleren  Abschnitt 
des  Geländes,  die  Flügel  den  obern  und  untern  einnahmen. 

Nach  Ammian  stellte  Julian  das  Fussvolk  in  das  Centrum 
und  auf  den  linken  Flügel,  in  medio,  49;  aciem  laevam,  27; 
cornu  sinistrum,  37  (im  mittleren  und  untern  Abschnitt).  Es 
bestand  aus  den  Legionen  und  den  Auxiliartruppen.  Unter  den 
ersteren  werden  die  Legion  der  Primanen,  „der  feste  Rückhalt, 
den  man  als  prätorisches  Lager  zu  bezeichnen  pflegt“,  und  die 
kriegserfahrenen  Veteranen,  „die  Tapfern“  hervorgehoben,  bei 
diesen  die  keltischen  Cornuten  (unter  ihren  Tribunen  Baino- 
baudes,  dem  Führer  bei  der  Metzelei  auf  den  Rheininseln,  und 
Laipso)  und  Braccaten,  beide  durch  langen  Kriegsdienst  abge- 
härtet, „schon  durch  ihren  Anblick  Schrecken  erregend“,  und 
ferner  die  germanischen  Bataver  unter  ihren  Königen,  „Retter 
aus  äusserster  Gefahr,  eine  furchtbare  Truppe“.  Primanorum 
legionem,  quae  conflrmatio  castra  praetoria  dictitatur,  49 ; bellandi 
usu  diutino  callantes;  viri  fortes,  32;  socii,  30;  Cornuti  et 
Braccati,  43,  63;  Batavi  cum  regibus,  45. 

Im  ersten  Treftcn,  primam  aciem  peditum,  42,  standen  die 
Truppen  des  Vorkampfes,  die  Antepilanen  (antepilani,  die  vor 
den  Piluinbewaffneten  Triariern  stehenden),  die  Speerträger  und 
ordinum  primi  (ihre  Hauptleute),  „eine  undurchdringliche  Mauer“, 
velut  insolubili  muro  l'undatis,  20;  im  zweiten  Treffen  die  Triarier, 
liostsignanos  in  acie  locati  suprema,  welche  der  Cäsar  durch  die 
Anrede  Waffenbrüder,  commilitones,  auszeichnete,  31,  und  unter 
ihnen  im  Centrum  die  legio  Primanorum.  Wie  im  Uebrigen 
die  Legionssoldaten,  wie  „die  Uebereifrigen,  welche  die  Anord- 
nungen des  Feldherrn  durch  unruhige  Bewegungen  zu  nichte 
machen  konnten“,  33,  vertheilt  waren,  ist  nicht  zu  ersehen;  die 


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112 


Stellung  der  Veteranen  und  Bundesgenossen  wurde  später 
geändert. 

Die  Reiterei  fand  Platz  auf  dem  rechten  Flügel  (im  oberen 
Abschnitt,  der  für  ihre  Entwickelung  sehr  geeignet  war),  equi- 
tatum  onmem  a dextro  latere,  21;  corim  dcxtrum,  37.  In  ihr 
waren  zu  unterscheiden  die  Ganz-  (Manu  und  Ross)  gepanzerten, 
cataphractarii  unter  der  Führung  von  Innoeentius.  die  ganz  in 
Eisen  gehüllten  Kürassiere,  clilianarii,  und  die  berittenen  Bogen- 
schützen, „eine  furchtbare  Waffe“,  sagittarii  formidabile  genus 
armorum,  7;  8;  22. 

Libanios  unterscheidet  so:  Das  Fussvolk  in  dem  Centrum. 
auf  beiden  Seiten  die  Reiterei.  Der  Kern  beider  Waffengattungen 
auf  dem  rechten  Flügel  um  den  Cäsar.  Der  Tross  auf  dem 
Rücken  der  (Hürtigheimer)  Höhe.  Reiske  540,  542.  Augen- 
scheinlich unrichtig  ist,  und  die  weitere  Erzählung  widerlegt  es, 
dass  auch  auf  dem  linken  Flügel  Reiterei  gestanden  habe. 

Während  Julian  unter  der  hochragenden  purpurnen  Drachen- 
standarte, umgeben  von  einer  Leibwache  von  Fussvolk  und  zwei- 
hundert Reitern,  agnito  Caesare  per  purpureum  signum  draconis, 
summitati  iiastae  longioris  aptatum,  39;  Caesar  ducentis  equitibus 
saeptus,  28,  seine  Aufstellung  etwa  im  Centrum  oder  zwischen 
dem  Fussvolk  und  der  Reiterei  nahm,  eilte  er  im  Lauf  des 
Kampfes  immer  dahin,  wo  seine  Anwesenheit  erforderlich  war. 
Den  linken  Flügel  befehligte  Severus,  General  der  Reiterei, 
ein  alter  erfahrener  Soldat,  verständig,  der  Führung  eines  hervor- 
ragenden Feldherrn  gehorsam  folgend.  Der  Führer  des  rechten 
Flügels  ist  nicht  genannt. 

Insgesammt  waren  die  Linien  des  aufgestellten  römischen 
Heeres  von  grosser  Ausdehnung,  die  Massen  zusammengedrängt, 
longitndo  spatiorum  extenta,  in  unurn  coactae  multitudinis  cre- 
britas,  29.  — 

Waren  die  Alamannen,  als  die  Römer  auf  der  Hürtigheimer 
Höhe  ankamen,  bereits  mit  der  Bildung  ihrer  Keile  beschäftigt, 
densantes  semet  in  cuueos,  20,  so  war  die  vollendete  Aufstellung 
der  Schlachtordnung  diese. 

Das  Fussvolk  stand  nach  Keilen  geordnet,  liostes  stetere 
cuneati,  20,  wahrscheinlich  nach  dreien. 

Das  erste  Treffen,  primae  barbarorum  fronti,  34,  bestand 
wahrscheinlich  aus  den  Heerbannen  der  Gemeinfreien,  plebe,  34. 


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113 


Es  zerfiel  in  zwei  Keile  oder  in  einen  linken  Flügel  (das  Centruin 
des  ganzen  Heeres)  unter  dem  Herzog  Chnodomar  (im  mittleren 
Abschnitt)  und  einen  rechten  unter  dem  Herzog  Serapio  (im 
unteren  Abschnitt).  Chnodomarius  auteibat  cornu  sinistrum,  23; 
latus  dextrum  Serapio  agebat,  25.  Jeder  stand  an  der  Spitze 
seines  Heerbannes  und  die  Heerbanne  der  übrigen  Könige  und 
der  Königsboten  und  die  geworbenen  Söldner  fremder  Stämme 
werden  je  einem  der  beiden  Flügel  zugetheilt  sein,  dem  des 
Chnodomar  vermuthlich  die  Heerbanne  des  Westralp,  Uri  und 
Ursicin,  dem  des  Serapio  die  des  Suornar  und  Hortar  (S.  53  u.  78). 
Die  Könige  und  Königsboten  waren  zu  Pferde,  die  Könige, 
vielleicht  auch  die  letztem,  von  ihren  Gefolgen  umgeben,  Chnodo- 
mar in  einer  Zahl  von  zweihundert,  comites  ducenti  numero,  60. 

Das  zweite  Treffen,  von  dem  keine  Rede  ist,  bildete  vcr- 
mnthlich  der  Kriegshaufen  der  Adalinge  sammt  den  ihnen 
folgenden  Kriegern  als  dritter  Keil,  optimatium  globus  ...  et 
sequente  vulgo  49,  eine  Reserve,  wie  die  der  Legion  der  Primanen 
auf  römischer  Seite. 

Als  man  die  Aufstellung  der  römischen  Reiterei  auf  deren 
rechtem  Flügel  sah,  schickten  die  Herzöge,  was  sie  an  erlesener 
Reiterei  besassen,  dichtgedrängt  auf  den  linken  Flügel,  quicquid 
apud  eos  per  equestres  copias  praepollebat,  in  laevo  cornu  loca- 
vere  eonfertum  21.  Ihr  Führer  ist  nicht  genannt.  Unter  die 
Reiter  war  nach  altem  germanischen  Brauch,  den  schon  Julius 
Cäsar  sah,  leichtes  Fussvolk  gemischt,  das  die  Aufgabe  hatte, 
während  des  Kampfes  das  Pferd  des  Gegners  niederzustechen 
und  ihn  selbst  herabzuziehen  und  zu  durchbohren,  22. 

Die  Aufgabe  des  Tages,  die  Römerstrasse  zu  schliessen, 
übernahm  vor  Allen  Chnodomar,  der,  das  Musauthal  und  dessen 
steile  Böschungen  vor  sich,  auf  der  Ittenheimer  Höhe  mit  dem 
Keil  des  Centrums  die  Strasse  zu  beiden  Seiten  besetzte. 
Serapio,  der  neben  ihm  stand,  legte  in  die  sumpfige,  schilfbedeckte 
Niederung  des  Musauthales  „unter  einer  hochliegenden  Wasser- 
rinne“, ö-’  ö/st<ü  iisTsiipo),  Liban.  541  (des  Aquäducts,  der  von 
Küttolsheim  und  der  Suffelquelle  nach  Strassburg  führte,)  einen 
für  den  römischen  linken  Flügel  unsichtbaren  Hinterhalt  von 
dicht  gedrängten  Massen,  welcher  den  Befehl  hatte,  plötzlich 
hervorzudringen,  um  Alles  in  Verwirrung  zu  setzen,  clandestinis 

Gramer,  Geachichto  dar  Alamannen.  £j 


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114 


insidiis  et  obscuris  23;  prope  fossas  armatorum  refertas,  unde 
dispositnui  erat  etc.,  27. 

Die  Römer  hatten  unter  Zurückweisung  des  Feindes  das 
Musauthal  zu  durchschreiten,  dessen  Böschungen  und  die  Höhe 
selbst  zu  ersteigen  und  die  Strasse  zu  forciren. 

Im  oberen  Abschnitt  diente  die  beiderseitige  Reiterei  in 
Abwehr  und  Angriff  denselben  Zwecken. 

In  der  Schilderung  der  Schlacht  treten  diese  Momente  nur 
vereinzelt  hervor,  aber  die  Gestaltung  des  Geländes,  welche 
den  Bericht  des  Ammian  und  Libanios  erläutert,  führt  zu  dieser 
Auflassung. 


Die  Einleitung  des  Kampfes. 

So  lagen  die  Würfel  bereit,  der  Kampfpreis  war  Gallien. 
Dio  Spieler  waren,  hier  ein  junger  Mann  von  20  Jahren,  von 
gedrungener  Gestalt,  geistvollen  feurigen  Augen,  Schüler  des 
Plato,  auf  der  Stufe  des  Throns  der  Welt  stehend,  der  Regent 
Galliens,  von  einzelnen,  noch  nicht  entscheidenden  kriegerischen 
Erfolgen;  dort  ein  Barbar,  Sieger  über  ein  römisch-gallisches 
Heer,  ein  Gaukönig,  jetzt  der  Herzog  des  Heeres,  das  auf 
seinen  Ruf  aus  ganz  Alamannen  zusammengeströmt  war.  Eine 
Reckengestalt  zog  er  vor  dem  Keil  der  Mitte  einher,  wie  Civilis, 
den  Scheitel  mit  feuerrothem  Bande  umwunden,  mit  kühnem 
Vertrauen  auf  die  Riesenstärke  seiner  Arme.  Hoch  sass  er  auf 
schäumendem  Ross,  aufrecht  trug  er  den  gewaltigen  Wurfspeer 
und  strahlte  im  Glanze  der  Waffen,  von  jeher  ein  unternehmender 
Krieger,  jetzt  vor  den  Andern  ein  trefflicher  Herzog.  Vor  dem 
Keil  der  Rechten  der  jugendliche  Serapio,  glühend  vor  Thatkratt. 

Von  jeher  waren  die  Herzoge  in  der  Schlacht  zu  Pferde, 
so  Armin  bei  Idistaviso,  Civilis  bei  Vetera  und  Vada.  Auch 
die  Könige  hatten  dieses  Ehrenrecht.  Aber  auch  die  Königs- 
boten stiegen  beim  Beginn  der  Schlacht  zu  Pferde.  Da  erhob 
sich  ein  unwilliges  Geschrei  unter  dem  Fussvolk:  „Die  Boten 
sollten  von  den  Rossen  steigen  und  ihren  Platz  unter  ihnen 
einnehmen,  damit  sie  nicht  bei  einem  Unglück  all  zu  leicht  das 
Volk  der  Gemeinfreien  im  Stich  lassen  und  sich  selbst  in  Sicher- 
heit bringen  könnten.“  Ein  kritischer  Moment.  Aber  Chnodomar 
brach  dem  Verlangen  die  Spitze  ab,  indem  er  selbst  vom  Thiere 
sprang.  Könige  und  Königsboten  folgten  ihm. 


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115 


Nunmehr  leitete  der  linke  Flügel  des  Severns  den  Kampf 
ein.  Unter  dem  Schmettern  der  Trompeten  marschirte  er  in 
der  Richtung  zur  Ittenheimer  Höhe  voran.  Er  stiess  aber  bald 
auf  die  aus  dem  Mnsauthal  unversehens  auftauchenden  Massen, 
deu  Hinterhalt  des  Serapio,  stutzte  und  blieb  stehen.  Weitere 
unbekannte  Gefahren  fürchtend,  hielt  er  das  Zurückweichen  so 
wenig  für  gerathen,  wie  das  Voranrücken.  Der  Cäsar,  dies 
sehend,  sprengte  mit  seinem  berittenen  Gefolge,  thunlickst  ent- 
fernt von  den  alamannischen  Geschossen,  zu  seinem  linken 
Flügel  und  mahnte  hier  und  bei  anderen  Truppentheilen  zu 
Tliaten  der  Tapferkeit. 

Zugleich  hielt  er  es  für  rathsam,  seine  Aufstellung  zu  ver- 
stärken, indem  er  den  Veteranen  eine  geeignetere  Stellung 
anwies,  aptius  ordinans  32,  und  nunmehr  einen  grösseren  Tlieil 
des  Heeres  dem  ersten  Treffen  (entgegen  dem  ersten  Treffen 
des  Feindes)  anschloss.  Es  waren  die  Auxiliartruppen  der 
Cornuten,  Braccaten  und  Bataver,  letztere  unter  ihren  Königen, 
Majorem  exercitus  partem  primae  barbarorum  opposuit  fronti  34; 
Alamanni  primam  aciem  peditum  accesserunt  und  hier  standen 
Cornuti  et  Braccati,  Batavi  cum  regibus,  42;  43;  45. 

Wiederum  auf  das  Zeichen  der  römischen  Trompeten  rückte 
man  hüben  und  drüben  mit  starker  Macht  heran  und  eiu  Regen 
von  Wurfgeschossen  bezeichnete  den  Beginn  der  Feindseligkeiten. 
Es  entwickelte  sich  nun  ein  Kampf  erst  der  beiderseitigen  Flügel 
und  dann  des  gesammten  Fussvolks. 

Die  Flügel  des  Fussvolks. 

Im  unteren  Abschnitt  des  Musauthals  erfolgte  jetzt  der 
Zusammenstoss  zwischen  dem  Fnssvolk  des  Severus  und  dem 
des  Serapio.  „Der  linke  Flügel  der  Römer,“  berichtet  Ammian, 
„schritt  immer  weiter  vor  und  trieb  die  auf  ihn  eindringeudeu 
Schaaren  der  Alamannen  zurück,  indem  er  mit  lautem  Ruf  auf 
sie  losstürzte.“  Ergänzend  erzählt  Libanios:  „Als  die  Römer 
die  alamannischen  Truppenmassen  des  Hinterhalts  entdeckten, 
warfen  sie  sich  mit  Geschrei  darauf,  vertrieben  und  verfolgten 
sie  und  setzten  fast  die  Hälfte  des  Heeres  in  Verwirrung, 
541.  Die  Flucht  der  Vorderen  wurde  zu  der  der 
Hinteren.“  Severus  durchschritt  also  das  Mnsauthal  und  folgte 
den  Weichenden  zur  Ittenheimer  Höhe  links  der  Heerstrasse. 

s* 


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116 


Der  ganze  Keil  des  Serapio  wurde  hierdurch  erschüttert,  aber 
der  Schlag  war  kein  vernichtender.  Denn  der  Keil  desChnodomar 
wird  die  Zurückgewichenen  aufgenommen  haben. 

Die  Flügel  der  Reiterei. 

In  dem  ebenen,  oberen  Abschnitt  war  es  die  alamannisclie 
Reiterei,  welche  den  Kampf  gegen  die  der  Römer  eröffnete,  ein 
Kampf,  an  dem  secundirend  auch  Abtheilungen  vom  beiderseitigen 
Fussvolk  der  Mitte  entweder  von  vornherein,  oder  durch  den 
Verlauf  darin  verwickelt,  Theil  nahmen.  Angriff  und  Erfolg 
blieben  auf  der  einen  Seite,  die  Abwehr  auf  der  andern. 

Auf  den  Klang  der  Trompeten  rückte  man  mit  grosser 
Macht  gegeneinander  und  der  Kampf  begann  mit  einem  Regen 
von  Geschossen. 

Mit  Ungestüm  stürmten,  vou  ihren  Fusskämpfern  begleitet, 
die  alamannischen  Reiter,  das  Schwert  in  der  Rechten  schwingend, 
auf  die  römischen  Geschwader  ein,  unter  furchtbarem  Geschrei, 
mit  rasender  Wutli,  die  Haare  gesträubt,  die  Augen  im  Zorn 
leuchtend.  Erst  eilte  den  Bedrohten  das  römische  Fussvolk  zu 
Hülfe;  ohne  zu  wanken,  mit  dem  Schild  das  Haupt  deckend, 
scheuchte  es  durch  Schwert  und  Geschoss  den  anrüekenden 
Feind.  Bald  aber  musste  sich  die  Reiterei,  hart  bedrängt,  eng 
Zusammenschlüssen,  und  das  Fussvolk  deckte,  Schild  an  Schild 
heftend,  ihre  Flanken.  Da  entstand  Kampfgewühl,  es  erhob 
sich  dichter  Staub,  und  vor  dem  germanischen  Anprall  hielten 
die  Gegner  bald  Stand,  bald  wichen  sie  zurück.  Alterfahrene 
Alamannenkrieger  sah  man  sich  auf  die  Knie  werfen,  bemüht, 
den  Gegner  niederzureissen;  die  Rechte  stiess  au  die  Rechte, 
Schild  traf  auf  Schild  und  das  Geschrei  hier  der  Jauchzenden, 
dort  der  Getroffenen  drang  zum  Himmel  empor. 

Während  so  das  Gefecht  stand,  geschah  es,  dass  beim 
Wiederordnen  ihrer  Reihen  die  Ganzgepanzerten  ihren  Führer 
Innocentius  und  einen  der  Genossen,  die,  leicht  verwundet,  durch 
das  Gewicht  der  Rüstung  niedergezogen  wurden,  von  den 
stürzenden  Pferden  niedergleiten  sahen.  Da  stob  Alles  aus- 
einander, wo  Jeder  Platz  fand,  die  Vorderen  machten  Kehrt 
und  drängten  auf  die  Hinteren,  die  römischen  Reiter  wichen  in 
ungeregelter  Flucht  zurück,  ja  sie  würden  die  Legionen  nieder- 
geritten haben,  wenn  die  nicht  in  dicht  au  einander  gedrängten 


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11? 

Reihen,  Einer  den  Andern  stützend,  unbeweglich  da  gestanden 
hätten. 

Der  Cäsar,  welcher,  vielleicht  noch  auf  dem  linken  Flügel 
festgehalten,  die  Flucht  der  Reiterei  erfuhr,  sprengte  herbei, 
und  als  man  die  kaiserliche  Drachenstandarte  sah,  machte  ein 
Tribun  mit  seiner  Schaar  halt.  Julian  stammte  sich  wie  ein 
Riegel  den  Flüchtigen  entgegen,  und  es  gelang  seinen,  sei  es 
drohenden  (Libanios),  sei  es  ermunternden  Worten  (Ammian), 
sie  zum  Stehen  zu  bringen.  Sie  fanden  Schutz  in  dem  Schoss 
der  Legionen  und  der  Kampf  konnte  wieder  hergestellt  werden. 
Aber  von  Neuem  zurückgeschlagen,  wurden  sie  auseinander- 
gesprengt. 

Nach  Zosimos  wäre  das  Gefecht  nicht  wieder  erneuert.  Es 
sei  eine  Schwadron  von  sechshundert  Mann  gewesen,  die  sich 
zur  Flucht  gewandt.  Der  Cäsar  habe  sie  dann  in  Weiberkleider 
gesteckt  und  aus  dem  Lager  gewiesen,  und  erst  iu  dem  nächsten 
Feldzug  hätten  sie  sich  durch  Tapferkeit  ausgezeichnet  und  ihre 
Ehre  wieder  hergestellt. 

So  waren  die  beiden  linken  Flügel,  im  unteren  Abschnitt 
der  der  Römer,  im  oberen  der  der  Alamannen  siegreich. 

Die  ersten  Treffen  des  Fussvolks. 

Kaum  waren  die  römischen  Reiter  geschlagen,  so  führten, 
mit  Zuversicht  erfüllt,  Chnodomar  und  Serapio  das  Fussvolk  des 
ersten  Treffens,  ihre  Keile,  soweit  nicht  der  des  letztem  kampf- 
unfähig geworden,  die  Böschungen  des  Musauthals  im  mittleren 
und  unteren  Abschnitt  hinab,  gegen  das  erste  Treffen  der  Römer, 
die  Vortrappen  der  Antipilaneu  und  Speerträger  und  die  Auxiliar- 
truppen,  die  keltischen  Cornuten  und  Braccaten  und  die  germa- 
nischen Bataver.  Die  Kelten  erhoben  den  ihnen  und  den  Germanen 
gemeinsamen  Schlachtgesang,  den  Barritus,  der  mit  leisem  Ge- 
summe beginnend,  allmälig  anschwoll,  und  endlich  erdröhnte,  wie 
die  Meereswogen,  die  an  Felsen  branden.  Sofort  erfolgte  Zusammen- 
stoss  und  Handgemenge,  und  lange  wurde  mit  wechselndem,  auf 
beiden  Seiten  gleichem  Erfolg  gekämpft. 

Bei  dieser  Schlacht  des  Fussvolkes  stellt  Ammian  die 
Kampfesart  beider  Heere  in  Gegensatz:  „Wohl  waren  die  Gegner 
ebenbürtig.  Die  Alamannen  waren  kräftig  und  hühern  Wuchses, 
die  Römer  durch  langen  Dienst  mehr  geschult.  Jene  wild  und 


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118 


ungestüm,  diese  ruhig  und  verständig  und  aul  ihre  Einsicht  ver- 
trauend, während  Jene  sich  auf  ihre  Reekengestalt  verliessen. 
Wurde  der  Börner  durch  das  Uebergewicht  aus  seiner  Stellung 
verdrängt,  so  fasste  er  wieder  festen  Fuss.  Sank  der  Alamanne 
erschöpft  zusammen,  so  liess  er  sich  auf  das  linke  Knie  nieder 
und  fiel  so  den  Gegner  an,  eine  äusserste  Hartnäckigkeit.“ 

Zwei  Stadien  lassen  sich  in  dem  Kampf  der  beiden  ersten 
Treffen  unterscheiden. 

In  dem  ersten  flogen  schwirrend  in  dichten  Mengen  Geschosse 
von  Heer  zu  Heer;  Staub  wallte  auf  und  wehrte  die  Aussicht, 
Walle  stiess  an  Waffe,  Leib  an  Leib.  In  ungestümer  Wuth 
drängten  die  Alamannen  voran,  gcriethen  in  Unordnung,  wurden 
aus  der  Niederung  des  Thaies  zurückgedrängt  und  die  Römer 
schickten  sich,  über  dem  Haupt  die  Schilde  zum  Schilddach  (der 
Schildkröte,  testudo,)  zusammenfügend,  unter  dessen  Schutz  an. 
die  Böschungen  der  Ittenheimer  Höhe  zu  ersteigen.  Da  loderten 
die  Alamannen  wie  Flammen  auf,  stürzten  sich  von  oben  auf 
die  festgefügten  Schilde  und  spalteten  sie  durch  fortgesetzte 
Schwerthiebe  auseinander.  In  diesem  kritischen  Moment  eilten, 
Retter  in  der  Noth,  unter  Trompetenschall  die  Bataver  unter 
Führung  ihrer  Könige  herbei,  ihren  Kriegsgefährten  zu  helfen, 
und  nicht  nur  Römer  und  Gallier,  sondern  auch  Germanen  hatten 
nunmehr  die  Germanen  zu  bekämpfen. 

Der  Kampf  erweiterte  sich  und  nahm  immer  erbitterteren 
Charakter  an.  Unaufhörlich  wurden  Wurfgeschosse  geschleudert, 
erzgespitzte  Pfeile  geschossen  und  immer  wieder  stürzten  sich 
in  schnaubender  Hitze  die  Alamannen  in  den  Nahkampf,  als 
wollten  sie  in  einem  Anfall  von  Raserei  alles  Feindliche  ver- 
nichten. Schwert  traf  gegen  Schwert,  Panzer  wurden  durch- 
hauen  und  Verwundete  erhoben  sich,  ehe  sie  den  letzten  Bluts- 
tropfen vergossen,  zum  Kampfe.  Alamannische  Haufen,  so  ist 
berichtet,  drangen  in  römische  Linien  ein  und  gegentheils  wird 
es  ebenso  geschehen  sein.  So  tobte  der  Streit,  darf  man  an- 
nehmen, wieder  zurück  von  der  Ittenheimer  Höhe,  durchquerte 
die  Niederung,  stieg  auf  der  anderen  Seite  hinauf  und  schwankte 
von  Neuem  her,  von  Neuem  zurück,  ohne  eine  Entscheidung 
zu  bringen. 


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Die  Reserven  des  Fussvolks. 

Plötzlich  brach  ein  Haufe  von  Adalingen  mit  den  ihnen 
folgenden  Kriegern,  unter  ihnen  Könige  mit  Gemeinfreien  tiefer 
als  andere  in  d*e  Reihen  der  Römer  ein,  und  bahnte  sich  einen 
Weg  zu  der  Legion  der  Primanen;  jener,  sei  es  ein  dritter 
Keil  des  Adels,  der  von  vornherein  als  Reserve  zurückbehalten 
war.  und  dem  sich  Könige  mit  den  Ihrigen  angeschlossen,  sei 
es  eine  Masse,  geführt  von  Adalingen  und  Königen,  welche  die 
zwingende  Begeisterung  des  Augenblicks,  das  Verlangen,  die 
siegreiche  Entscheidung  herbeizuführen,  zusammengeballt  hatte; 
diese  als  fester  Rückhalt  der  Reserve  der  Römer  im  Centrum. 
Der  Adel  gab  sein  Leben  für  den  Sieg,  und  war  unaufhörlich 
bestrebt,  die  Linie  der  Legion  zu  lockern.  Diese  stand  dicht- 
gedrängt, in  zahlreichen  Gliedern  unerschütterlich  wie  ein  Thurm, 
und  nahm  mit  fester  Zuversicht  den  Kampf  auf.  Ihrerseits  wie 
Gladiatoren  den  Schwerthieben  ausweichend,  bohrten  die  Primanen 
jedem  Feinde,  der  sich  in  gesteigerter  Wuth  eine  Blösse  gab, 
das  Schwert  in  die  Seite.  Der  Haufe  der  Erschlagenen,  welche 
die  Römer  niederstreckten,  ward  immer  höher,  aber  über  die 
Todten  stiegen  die  Lebenden,  bis  das  Aechzen  der  Sterbenden 
sie  entsetzte  und  der  Schrecken  ihre  Glieder  lähmte.  Müde 
solcher  Arbeit,  wendete  sich  das  alamannische  Heer  zur  Flucht. 
Die  geschulte  Taktik  der  Legion  hatte  gegen  den  Ungestüm 
des  Keils  den  Sieg  davongetragen. 


Die  Flucht. 

Wie  der  Kampf,  so  war  die  Verfolgung  der  Fliehenden 
mörderisch.  Die  wiedergeordnete  römische  Reiterei  und  die 
Trossknechte  hefteten  sich  an  sie,  und  das  Fussvolk  schloss 
sich  unter  der  Last  der  Waffen  ihnen  an.  Die  Leichenhaufen 
hinderten  am  Fliehen,  die  in  dem  Blut  der  Gefallenen  oder  dem 
Morast  des  Musauthals  Ansgleitenden  wurden  von  den  über  sie 
Hinstürzenden  erdrückt.  Die  Verfolgenden  hieben  von  hinten 
auf  die  Fliehenden,  und  wenn  das  Schwert  vom  Hauen  stumpf 
geworden,  diente  es  zum  Niederstossen.  Keines  Grimm,  Keines 
Hand  wurde  vom  Morden  gesättigt.  Keiner  fühlte  Mitleiden 
mit  dem  Flehenden,  Keiner  schenkte  ihm  Gnade. 


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120 


Das  Ziel  waren  der  Rhein  und  über  ihm  die  heimischen 
Gaue,  deren  Höhen  herabschauten.  Die  Masse  der  Flüchtigen 
theilte  sich  und  wälzte  sich  „auf  verschiedenen  Wegen“  zu  dem 
Rettung  verheissenden  Strom. 

Der  nächste  Weg  dorthin,  wo  „der  Rhein  hart  in  ihrem 
Rücken  vorbeifloss“,  schien  der  beste.  Heute  etwa  12  Kilometer 
entfernt,  lag  er  damals  um  etwa  4 — 5 Kilometer  näher,  so  dass 
die  Entfernung  vom  Schlachtfeld  7 — 8 Kilometer  betrug.  Dahin 
etwa  am  südlichen  Abhang  der  Hausberge  über  Oberhausbergen, 
Schiltigheim  und  Bischheim  drängte  sich  ein  Theil  der  Flüchtigen, 
von  den  Römern  bis  an  das  Ufer  getrieben.  Der  Cäsar,  die 
Tribunen  und  andere  Anführer  folgten  der  Jagd.  Wen  das 
Verderben  bis  dahin  nicht  ereilt  hatte,  sprang  in  die  Wellen, 
um  durch  Schwimmen  das  andere  Ufer  zu  erreichen.  Noch  im 
Wasser  wollten  die  römischen  Soldaten  die  Verfolgung  fortsetzen, 
aber  Julian  hielt  sie  durch  sein  Wort  zurück.  Die  Sieger 
schleuderten  Geschosse  aller  Art  den  Schwimmenden  nach  und 
schauten  von  dem  Hochgestade  gemächlich  wie  im  Theater  den 
um  ihr  Leben  Kämpfenden  zu.  Hier  sanken  Durchbohrte  in 
die  Tiefe,  dort  zog  die  Schwere  des  Körpers  hinab,  dort  hingen 
sich  Unerfahrene  an  die  Schwimmenden  und  wurden,  zurück- 
gestossen,  von  den  Wellen  verschlungen.  Andern  endlich  gelang 
es  schwimmend,  auf  den  Schild  gestützt,  den  Fluss  schräg  zu 
durchqueren  und  am  alamannischen  Ufer  emporzusteigen.  Leichen 
und  Waffenstücke  verkündeten  den  abwärts  wohnenden  Alamannen 
das  Schicksal  ihres  Heeres. 

Mit  diesem  Gemälde  giebt  Ammian  seiner  Schilderung  der 
Schlacht  selbst  den  glänzenden  Abschluss  und  vergebens  forscht 
man  bei  ihm,  Wer  ausser  den  Wenigen  gerettet  sei. 

Andere  Wege  führten  die  Flüchtigen  zu  den  Inseln,  die 
von  den  schmälern  Armen  des  ungebändigten  Flusses  zahlreich 
und  in  weiter  Ausdehnung  gebildet  waren.  Libanios  berichtet, 
dass,  Wer  sich  dahin  flüchtete  und  in  den  Wäldern  Schutz 
suchte,  erschlagen  sei.  Doch  wird  es  bei  der  Ausdehnung  des 
Inselgewirrs  gefahrvoll  gewesen  sein,  die  Verfolgung  zu  ver- 
zetteln und  nur  in  vereinzelten  Fällen  mag  es  den  Römern 
gelungen  sein,  den  schwimmkundigen  Alamannen  dahin  zu  folgen. 
So  mögen  die  Inseln  zahlreichen  Mengen  zum  Heil  gewesen  sein. 


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121 


Zuletzt  war  es  das  Lager,  waren  es  die  Schiffe,  welche 
fern  bei  Selz,  wenn  einmal  erreicht,  die  Ueberfalirt  sicherten. 
Zum  Lager  am  Ufer  des  Rheins  entlang  wird  daher  die  Haupt- 
masse der  Geschlagenen  schnellfiissig  und  leichtbewaffnet  mit 
beschwingter  Eile  sich  gewendet  haben. 

Hier  taucht  auch  in  der  Erzählung  ein  verfolgender  Tribun 
mit  seiner  Cohorte  auf.  Mit  der  sinkenden  Sonne  wurde  die 
Verfolgung  auf  allen  Punkten  abgebrochen.  Der  Vorsprung  vor 
dem  durch  zwölfstündigen  Marsch  und  Kampf  in  Hnndstagshitze 
ermüdetem  Heer  des  Cäsar,  welchen  die  Nacht  und  der  folgende 
Tag  gewährte,  wird  ausgereicht  haben,  ans  dem  befestigten 
Hafen  die  Massen  zur  befreundeten  Erde  überzuführen,  ihnen 
Leben  und  Freiheit  zu  sichern.  Belichtet  aber  ist  die  Flucht 
zum  Lager  nur  von  Chnodomar. 

Dieser  verliess,  über  Leichenhaufen  hinwegsetzend,  das 
Schlachtfeld  und  eilte  zu  Pferde,  vermummt,  um  nicht  erkannt 
zu  werden,  von  zweihundert  Gefolgen,  darunter  drei  vertrauten 
Freunden  umgeben,  dem  Lager  zu.  Sein  Gau,  die  Mortenau, 
lag  schräg  gegenüber.  Nahe  dem  Ufer  hatte  die  Schaar  ein 
Altwasser  zu  umgehen,  und  gerieth  dabei  in  den  zähen  Morast, 
wobei  der  Herzog  vom  Pferde  stürzte.  Der  schwere  Körper 
arbeitete  sich  jedoch  heraus  und  man  rettete  sich  auf  eine  wahl- 
bedeckte  Höhe.  Aber  schon  war  Chnodomar  von  den  Ver- 
folgenden erkannt.  Ein  Tribun  und  seine  Cohorte  waren  ihm 
eiligen  Laufs  gefolgt,  und  besetzten,  einen  Hinterhalt  befürchtend, 
den  Rand  der  Höhe.  Da  stieg  Chnodomar  allein  hinab  und 
ergab  sich  aus  freien  Stücken.  Ebenso  seine  Gefolgschaft. 
Denn  der  Gefolge  hält  es  für  eine  Schmach,  seinen  König  zu 
überleben,  und  nicht,  wenn  es  sein  muss,  für  ihn  zu  sterben. 
Dem  Herzog  liess  man  die  Waffen  und  führte  ihn  frei  von 
Fesseln.  Die  Gefolgen  wurden  gebunden. 

Von  dem  Schicksal  des  Serapio  schweigt  die  Geschichte. 
Sein  Name  wird  überhaupt  nicht  mehr  genannt.  Die  andern 
fünf  Alamannenkönige  sieht  man  bald  wieder  in  ihren  Gauen. 
Sie  retteten  sich  also  und  mit  ihnen  grosse  Massen  der  Ihrigen 
nnd  anderer  Gaue,  indem  sie,  wie  anzunehmen,  den  Schutz  des 
Lagers  erreichten  und  von  da  aus  übersetzten. 


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Der  Abschluss. 


Von  Sonnen-Aufgang  bis  -Untergang  war  das  römische  Heer 
in  Thätigkeit  gewesen.  Julian  versammelte  es  auf  dem  Hoch- 
gestade des  Rheins  um  sich  und  wurde  von  den  siegestrunkenen 
Soldaten  zum  Kaiser,  Augustus,  ausgerufen,  eine  Würde,  die  er 
besonnen  ablehnte.  Dann  brachte  man  den  gefangenen  Chnodoniar 
ins  Lager.  Der  glückliche  Gegner  Hess  ihn  vor  sich  in  die 
Heerversammlung  führen.  Hier  fand  eine  Unterredung  statt, 
welche,  so  darf  man  annehmen,  einerseits  die  Verheerung  Galliens 
zum  Gegenstand  hatte,  andererseits  den  Bruch  des  kaiserlichen 
Versprechens,  auf  das  die  Ansiedler  im  Eisass,  und  den  Bruch 
des  Völkerrechts,  auf  das  die  Alamannen  mit  ihrer  Gesandtschaft 
vertraut  hatten.  Der  geschlagene  und  gefangene  Herzog  äussei  te 
sich  mit  edlem  Freimuth,  aber  auch  mit  der  rauhen  Härte  eines 
Barbaren.  So  wird  mau  die  Worte  des  Libanios  aufzufassen 
haben:  „Als  er  zur  Rechenschaft  gezogen,  Edles  redete,  be- 
wunderte ihn  Julian,  als  er  Niedriges  sagte,  verabscheute  er 
ihn“.  Anders  freilich  lautet  die  Erzählung  des  über  den  Eroberer 
und  Verwüster  Galliens  erbitterten  Ammian,  eine  Erzählung, 
die,  an  sich  unglaubwürdig,  durch  die  Mittheilung  des  Libanios 
widerlegt  wird:  „Es  ist  die  Art  der  Barbaren,  demüthig  im 
Unglück,  ganz  anders  aber  im  Glück  zu  sein.  Nach  der  Gefangen- 
nahme durch  den  Tribun  Hess  er  sich,  ein  Sclave  fremden 
Willens,  todtcnbleich,  schweigend  im  Bewusstsein  seiner  Schuld 
dahinschleppen,  wie  anders,  als  er  das  niedergeworfene  Gallien 
mit  Füssen  tretend,  wilde  Drohungen  ausstiess.  Dann  trat  er 
tiefgebückt  vor  den  Cäsar,  warf  sich  ihm  zu  Füssen,  bat  in 
seiner  Muttersprache  um  Verzeihung,  und  es  ward  ihm  geheissen, 
gutes  Muthes  zu  sein.“ 

Wenige  Tage  darauf  wurde  er  mit  einem  Vertrauten,  der 
ihm  vom  Kriege  abgerathen  hatte,  an  das  kaiserliche  Hoflager 
und  von  da  nach  Rom  geschickt,  wo  er  im  Fremdeulager  des 
cälischen  Hügels  in  Lethargie  versunken  starb. 

Das  Heer  wurde  mit  einer  mehrfachen  Reihe  von  Wachen 
umstellt,  und  sank,  gesättigt  durch  Speise  und  Trank,  erschöpft 
in  Schlaf. 

Ueber  die  Schlacht  schreibt  Aurelius  Victor:  „Die  Heer- 
haufen standen  wie  die  Berge,  Blut  floss  in  Bächen,  der  ganze 


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123 


Adel  wurde  niedergestreckt,  der  Herzog  Chnodomar  gefangen.“ 
Der  Cäsar  errichtete  an  der  Stätte  der  Entscheidung  ein  Sieges- 
zeichen und  später  schrieb  er  an  die  Athener:  „Bei  Argentoratum 
habe  ich  nicht  unrühmlich  gekämpft;  ob  die  Kunde  von  der 
Schlacht  zu  Euch  gekommen,  weiss  ich  nicht“.  Er  widmete 
auch,  stolz  auf  seinen  glänzenden  Erfolg,  der  Darstellung  der 
Schlacht  ein  ganzes  Buch,  das  leider  verloren  gegangen  ist. 

Die  Verluste. 

Ammian  giebt  den  Verlust  des  römischen  Heeres  von 
mindestens  13000  Mann  auf  243  Mann  und  4 Tribunen  an, 
darunter  die  Tribunen  der  Cornuten  Bainobaudes  und  Laipso 
und  der  Führer  der  Ganzgepanzerten  Innocentins,  der  durch 
seinen  Sturz  vom  Pferde  den  Anlass  zur  Flucht  der  Reiter 
gegeben  hatte;  bei  der  Hartnäckigkeit  des  Kampfes  eine  un- 
glaubliche Ziffer.  Von  römischen  Verwundeten  wird  Nichts 
berichtet. 

Von  den  30  — 35  000  Alamannen  lagen  nach  Ammian  und 
Zosimos  ßOOO  Todte  auf  dem  Schlachtfeld  (denn  die  Ziffer  des 
Letztem  von  60  000  enthält  offenbar  einen  Schreibfehler),  nach 
Libanios  waren  es.  8000  Mann.  Die  Verwundeten,  welche  man 
erschlagen  haben  wird,  sind  einzurechnen.  Zosimos  berechnet 
die  im  Rhein  Umgekommenen  ebenfalls  auf  6000  Mann.  Ueber 
die  auf  den  Inseln  Erschlagenen  und  über  die  von  Ammian 
erwähnten  Gefangenen  fehlt  es  an  einer  Zahl.  Julian  spricht 
von  1000  Gefangenen,  die  er  in  zwei  Schlachten  und  nach  einer 
Belagerung  gemacht  habe,  von  denen  man  ein  Drittel  auf  die 
Schlacht  bei  Argentoratum  rechnen  könnte.  Hiernach  ergiebt 
sich  eine  Gesammtziffer  von  12 — 16  000  Todten  und  Gefangenen, 
ein  Drittel  oder  die  Hälfte  des  Heeres.  Die  andere  Hälfte  oder 
zwei  Drittel  sind  gerettet.  Von  dem  alamannischen  Heer,  sagt 
Ammian,  blieb  kein  Mann  in  Gallien  zurück. 

Der  Cäsar  liess  alle  Gefallenen  ohne  Unterschied  bestatten 
und  kehrte,  ohne  Mittel,  über  den  Rhein  zu  setzen  und  den 
Krieg  sofort  in  Feindesland  zu  tragen,  nach  Zabern  zurück, 
entliess  nunmehr  die  alamannischen  Gesandten,  die  er  in  Verhaft 
genommen,  und  schickte  von  da  aus  die  Gefangenen  und  die 
Beute  nach  Metz,  Mediomatrici,  zur  Aufbewahrung. 


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Die  politischen  Ergebnisse. 

Ueber  das  Schicksal  der  im  Eisass,  der  Pfalz  und  Rhein- 
hessen angesiedelten  Alamannen  wird  Nichts  berichtet.  Aber 
Ammian  giebt  einige  allgemeine  Andeutungen,  wie  Julian  die 
in  Gallien  angesessenen  Germanen  behandelte.  Nachdem  Jener 
später  von  der  Unterwerfung  einiger  (rechtsrheinischen)  ala- 
mannischen  Gaue  gesprochen,  sagt  er,  Julian  gewann  in  Gallien 
die  von  den  Barbaren  zerstörten  Städte  zurück  und  legte  ihnen 
selbst  Steuern  und  Abgaben  auf.  Post  Alamanniae  quaedam 
regna  prostrata  receptaque  oppida  Gallicana  ante  direpta  a 
barbaris  et  excisa,  quos  tributarios  ipse  fecit  et  vectigales,  20, 
4,  4.  Andererseits  spricht  er  von  linksrheinischen  Läten,  (die 
militairpflichtig  und  steuerfrei  waren),  insbesondere  solchen,  die 
sich  den  Römern  freiwillig  ergeben  hatten.  Adulescentes  Laetos 
quosdam  cis  Rhenuin,  editam  barbarorum  progeniem,  vel  certe 
ex  dediticiis,  qui  ad  nostra  desciscunt,  20,  8,  13. 

In  eine  von  diesen  Kategorien  fallen  die  in  Gallien  wohnenden 
salischen  Franken  und  Chamaven,  die  Julian  358  besiegte  und 
dort  liess,  17,  8,  3—5,  und  wohl  auch  die  oberrheinischen 
Alamannen  des  linken  Ufers.  Noch  später  gedenkt  die  Notitia 
dignitatum  von  400  auch  suevischer  Läten  in  der  Lugdunensis 
secunda  und  tertia  und  eine  Verordnung  von  demselben  Jahr 
stellt  Läten,  Alamannen  und  Sarmaten  als  dienstpflichtig  neben- 
einander, Laetus,  Alamannus,  Sarmata.  Cod.  Theod.  7,  20,  12. 
So  darf  man  mit  Nissen  annehmen,  dass  die  Oberrheiner  auf 
dem  linken  Ufer  geblieben  und  dass  das  nationale  Gepräge  des 
Eisass,  der  Pfalz  und  Rheinhessens  aus  der  Zeit  seit  350 
stammt. 

In  den  nächsten  Jahren,  berichten  die  Geschichtsschreiber, 
stellte  der  Cäsar  Gallien  wieder  her.  Den  darniederliegendcn 
Städten  reichte  er  die  Hand  und  sie  erhoben  sich  wieder.  Oder: 
die  niedergebrannten  Städte  stellte  er  aus  ihrer  Asche  wieder 
her,  und  unter  seiner  Aufsicht  mussten  die  Barbaren  bauen.  So 
lange  Julian  (bis  363)  lebte,  setzte  kein  grösserer  alamannischer 
Heerhaufen  mehr  über  den  Rhein. 

Auf  dem  rechten  Rheinufer  waren  es  die  oberen  alamann- 
ischen  Gaue,  die  sich  wiederum  unterwarfen.  Kein  Schriftsteller 
erwähnt  dies,  aber  es  ist  aus  dem  Schweigen  Ammians,  der  den 


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weiteren  Verlauf  der  Ereignisse  erzählt,  mit  Sicherheit  zu  folgern. 
Denn  er  redet  nur  von  den  widerspenstigen  Gauen,  die  zu 
weiteren  KriegszQgen  führten.  Die  Lenzer  (Hegau  und  Klett- 
gau)  und  die  Breisgauer  nahmen  die  Bündnissverträge,  die  ihnen 
355  und  354  auferlegt  waren,  und  die  noch  377  und  360  als 
bestehend  bezeichnet  werden,  wahrscheinlich  in  drückenderer 
Form  wieder  auf  sich.  Auch  die  Selbständigkeit  der  Gaue  des 
Chnodomar  (der  Mortenau)  und  des  Serapio  (des  Kraichgau) 
erscheint  gebrochen;  es  ist  weder  von  einem  Nachfolger  des 
Chnodomar,  noch  wie  erwähnt,  von  Serapio  die  Rede. 

Dagegen  entzogen  sich  die  mittleren  und  unteren  Gaue  an 
der  Donau,  dem  Neckar,  dem  Main  und  seinen  Nebenflüssen, 
sowie  der  Lahn  den  Folgen  der  Niederlage  im  Eisass. 

Znr  neueren  Literatur. 

Gustav  Freytag,  Bilder  aus  der  deutschen  Vergangenheit 
1866,  I,  95;  Dahn,  Die  Alamannenschlacht  bei  Strassburg,  1880; 
unter  gleichen  oder  ähnlichen  Titeln : Wiegand  in  den  Beiträgen 
zur  Landes-  und  Volkskunde  von  Eisass- Lothringen,  3.  Heft, 
1887;  Nissen  in  der  westdeutschen  Zeitschrift  6,  1887,  S.  319; 
Wiegand,  Eine  Entgegnung,  daselbst  1888,  S.  63;  Hecker  in 
den  Jahrbüchern  für  classische  Philologie  35.  1889,  S.  59;  von 
Borries  im  Jahresbericht  der  neuen  Realschule  zu  Strassburg, 
Herbst  1892,  S.  3;  Wiegand,  Eine  Anzeige  dieser  Schrift  in 
der  Zeitschrift  des  Oberrheins,  ueue  Folge  8,  S.  134;  von  Borries, 
Eine  Entgegnung  in  der  Westdeutschen  Zeitschrift  12,  1893, 
S.  242.  — Siehe  unten,  Kapitel  8,  Streitfragen,  Abschnitt  3 
und  4. 


6.  Der  Herbstfeldzug  am  Main.  357. 

Der  römische  Misserfolg. 

Im  Süden  Alamanniens  durch  die  Unterwerfung  der  oberen 
Gaue  gedeckt,  suchte  der  Cäsar,  auf  den  Eindruck  des  Sieges 
rechnend,  noch  im  Herbst  die  am  mittlern  Rhein  um  den  Main 
gelegenen  Gaue  sich  nnterthänig  zu  machen,  deren  Könige  an 


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der  Schlacht  bei  Strassburg  Theil  genommen  hatten.  Es  waren 
der  obere  Rheingau  des  König  Suomar,  südlich  vom  Main,  und 
der  Mattiakergau  des  König  Hortar,  nördlich  vom  Main  im 
Taunus  gelegen. 

Mainz,  wohl  im  vorigen  Jahre  wiederhergestellt,  wurde 
wieder  die  grosse  Ausfallspforte  gegen  Germanien.  Julian 
schlug  hier  Brücken  über  den  Rhein,  sandte  Fussvolk  und 
Reiterei  hinüber  und  überraschte  die  Alamannen,  die  sich  zu 
dieser  Zeit  völlig  sicher  glaubten.  Zuerst  schickten  beide  Könige 
Gesandte  und  baten  um  Frieden  und  Bündniss,  als  aber  be- 
nachbarte Könige,  von  denen  insbesondere  drei  schreckliche, 
tres  immanissimi  reges,  erwähnt  werden,  (nach  der  Lage  und 
den  Vorgängen  eines  späteren  Jahres  die  vom  Maingau,  der 
Wetterau  und  dem  Grabfeld),  Hülfsmannschaften  sandten,  be- 
drohten sic  die  Römer  mit  einem  Angriff,  so  dass  diese  die 
Gaue  wieder  räumen  mussten. 

Die  alamannischen  Verhaue. 

Die  Alamannen  errichteten  nun,  nach  einer  hinsichtlich  des 
Localen,  wie  der  Ereignisse  sehr  dunkeln  Darstellung  Ammiaus, 
au  beiden  Seiten  des  Main  Verhaue,  rechts  im  Gau  des  Hortar 
wohl  auf  den  Vorhöhen  des  Taunus  Hinterhalte  in  entlegenen 
Schluchten  per  montium  vertices,  17, 1,5;  insidiis,  quas  per  artaloca 
et  latebrosa  struxeraut,  (i,  und  einen  anderen  links,  im  Gau  des 
Suomar,  trans  Moenum  6,  etwa  am  zehnten  Meilenstein  (zehn 
römische  Meilen,  zehntausend  Passus,)  von  Mainz  entfernt,  in 
einem  „dichten,  durch  seine  Dunkelheit  furchtbaren  Wald,“  der 
mit  zahlreichen  Gräben  zur  Aufnahme  von  Kriegern  versehen, 
und  dessen  Zugänge  durch  Eichen-,  Eschen-  und  Tannenstämme 
verbanikadirt  waren.  Ein  Angriff  war  hier  nur  auf  langen, 
rauhen  Umwegen  möglich,  nonnisi  per  anfractus  longos  et 
asperos,  9.  Alle  Verhaue  wurden  besetzt.  Aus  dieser  Schilderung 
liest  man  das  Grauen  der  Römer  vor  dem  germanischen  Walde 
heraus,  das  wie  Cäsar  und  Tacitus  nun  auch  Ammian  verräth. 

Die  Römischen  Angriffe. 

Eines  Nachts  Hess  der  Cäsar  800  Mann  auf  leichten  Böten 
den  Main  hinauffahren,  mit  dem  Befehl  zu  landen,  und  was  zu 
erreichen  sei,  mit  Feuer  und  Schwert  zu  vertilgen.  Die  Reiterei 


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rückte  zugleich  an  der  rechten  Mainseite  vor,  das  Fussvolk 
landete  ebenda  und  erklomm  die  Höhen,  fand  sie  aber  von  den 
Alamannen,  die  sich  noch  vor  Sonnenaufgang  gezeigt  hatten, 
verlassen.  Denn  sie  waren  durch  die  Signale  aufsteigender 
Rauchwolken  über  den  Main  gerufen  und  hatten  sich  auf  dem 
linken  Ufer  mit  ihren  Stammgenossen  vereinigt.  Ungeschützt 
fielen  nun  die  an  Frucht  und  Vieh  reichen  Landhäuser  des 
(untern)  Rheingau  und  der  Kunigeshundra  der  Plünderung  anheim, 
die  Einwohner  wurden  zu  Gefangenen  gemacht,  die  Gebäude 
selbst,  sorgfältig  nach  römischer  Art  in  Stein  gebaut,  nieder- 
gebrannt; opulentas  pecore  villas  et  frugibus;  domicilia  cuncta 
curatius  ritu  Romano  constructa,  7.  So  zerstörte  Julian  die 
Reste  der  römischeu  Kultur,  die  sich  in  diesen  fruchtbaren  Land- 
strich erhalten  hatten  (S.  5 und  32). 

Dieser  selbst  rückte  (von  Mainz  aus?)  mit  Truppen  auf 
der  linken  Mainseite  vor,  machte  vor  dem  Waldverhau  Halt, 
biieb  lange  zaudernd  steheu,  wagte  aber  keinen  Angriff  und 
kehrte  wieder  um. 

Er  stellte  auch  die  weiteren  Operationen  ein.  Tag-  und 
X achtgleiche  (vom  21.  September)  war  längst  vorüber,  tiefer 
Schnee  bedeckte  die  Höhen  und  das  Flachland  und  die  Strenge 
der  Witterung  machte  jedes  kriegerische  Unternehmen  für  die 
Römer  gefahrvoll. 


Die  Trajanische  Veste. 

Aber  ein  wichtigstes  Werk  gelang  dem  Cäsar.  Er  stellte 
schleunigst  und  ohne  auf  Widerstand  zu  stossen,  die  Veste, 
welche  zur  Zeit  der  römischen  Herrschaft  Trajau  (98  — 117) 
gebaut,  und  welche  längst  von  den  Alamannen  zerstört  war, 
wieder  her,  mnnimentum,  quod  in  Alamanuorum  solo  conditum 
Trajanus  suo  nomine  voluit  appellari,  1 1,  belegte  sie  mit  einer 
einstweilen  hinreichenden  Besatzung  und  versah  sie  mit  erbeutetem 
Proviant.  Alles  deutet  hinsichtlich  der  Lage  auf  die  Nähe  von 
Mainz,  etwa  auf  die  Umgebung  von  Rüsselsheim.  Denn  die 
Veste  konnte  nicht  wohl  über  den  10000  Passus  von  Mainz 
entfernten  Verhau  hinaus  liegen,  weil  sonst  die  Arbeit  gestört 
sein  würde  und  bei  späteren  Angriffen  von  Mainz  aus  nicht 
Succurs  gebracht  werden  konnte.  Von  diesem  grossen  befestigten 
Lager  war  sie  ein  auf  alamaunischen  Boden  vorgeschobenes 


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Fort,  das  den  Main  sperrte  und  gleichmässig  den  obern  Rhein-, 
den  Main-,  den  Mattiaker-Gau  und  die  Wetterau  bedrohte.  Noch 
fehlte  ihm  freilich  die  Ausrüstung  an  Wurfmaschinen  und  sonstigem 
V ertheidigungsgeräthe. 

Der  Waffenstillstand. 

Dem  geringen  militairischen  Erfolg  dieses  Herbstfeldzuges 
entsprach  auch  der  politische.  Von  einer  Unterwerfung  der 
Alamannen  war  keine  Rede.  Aber  sie  verstanden  sich  dem 
Sieger  von  Strassburg  gegenüber  zu  einem  zehnmonatlichen 
Waffenstillstand,  der  ihm  die  Trajanische  Veste  sicherte  und 
seine  Rückkehr  über  den  Rhein  gestattete.  Ammian  erzählt 
übertreibend,  die  Alamannen  hätten,  als  der  Bau  der  Veste 
begonnen,  durch  Gesandte  demüthig  um  Frieden  gebeten  und 
dann  seien  die  drei  schrecklichen  Könige,  welche  dem  Suomar 
nnd  Hortar  Hülfe  gesendet,  zitternd  herbeigekommen,  um  den 
bewilligten  Waffenstillstand  nach  alamannischer  Form,  ritu  patrio, 
zu  beschwören.  Die  Eidesformel  lautete,  sie  würden  nichts 
Feindseliges  unternehmen,  sondern  den  Waffenstillstand  bis  zu 
dem  nach  dem  römischen  Belieben  festgesetzten  Tage  beobachten, 
die  Veste  unangetastet  lassen  und  Lebensmittel  herbeibringen, 
sobald  die  Besatzung  ankündige,  dass  es  daran  fehle.  Diese 
Bedingungen  wurden  von  den  Alamannen  innegehalten. 

Nachdem  der  Cäsar  erreicht,  was  er  den  Umständen  nach 
erreichen  konnte,  kehrte  er  in  das  Innere  von  Gallien,  nach 
Paris  zurück. 


7.  Die  rheinischen  Gaue  am  Main.  358. 

Der  obere  Rheingau. 

Das  Jahr  nach  der  Schlacht  bei  Strassburg  brachte  zunächst 
eine  erfolgreiche  Unternehmung  des  Cäsar  gegen  die  salischeu 
Franken  und  die  Chamaven. 

Dann  wendete  er  sich  gegen  die  Alamannen,  deren  ver- 
einigten Angriff  er  nach  der  Niederlage  des  vorigen  Jahres 
befürchtete.  Er  schlug  etwa  bei  Speyer  eine  Schiffbrücke  über 
den  Rhein  und  zog  am  rechten  Ufer  von  Süden  nach  Norden 


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rheinabwärts,  um  nunmehr  den  Gau  des  Königs  Suomar,  den  er 
etwa  Worms  gegenüber  betrat,  und  den  des  Hortar  zur  Unter- 
werfung zu  zwingen.  Der  Marsch  ging  langsam  voran,  da  der 
General  der  Reiterei  Severns,  der  bei  Strassburg  den  siegenden 
linken  Flügel  des  römischen  Fussvolks  commandirt  hatte,  tödlich 
erkrankte,  als  unvermuthet  Suomar  sammt  Gefolgen  vor  Julian 
mit  Miene  und  Aufzug  eines  Flehenden  erschien  und  froh,  wenn 
er  nur  das  Seine  behalten  könne,  mit  gebeugtem  Knie,  ohne 
jeden  Vorbehalt  um  Frieden  bat.  Julian  gewährte  ihn  unter 
Verzeihung  für  das  Vergangene  und  der  Bedingung,  dass  er  die 
Gefangenen  zurückgebe  und  das  Heer  nach  Bedarf  mit  Proviant 
versehe.  Weise  er  sich  darüber  nicht  jeder  Zeit  durch  Empfangs- 
scheine aus,  so  habe  erZwang  zu  gewärtigen.  Suomar  unter- 
warf sich  auch  einem  Büudniss,  dem  er  Treue  bewahrte. 

Der  Matti akergau. 

Der  Zug  ging  weiter  in  den  Gau  des  Hortar.  Da  es  im 
Taunus  an  Wegweisern  fehlte,  so  wurde  ein  junger  Alamaune 
aufgegriffen,  der  sich  als  Wegweiser  anbot,  wenn  mau  ihm  das 
Leben  schenke.  Er  führte  das  Heer  in  einen  tiefen  Wald  vor 
einen  Verhau,  von  dem  es  erst  nach  langen  Umwegen  wieder 
zu  alamaunischen  Ansiedlungen  kam.  Empört  über  diese  Irre- 
führung setzten  die  Soldaten  die  Ernte  auf  den  Feldern  in  Brand, 
nahmen  Menschen  und  Vieh  weg  und  machten  nieder,  wer  Wider- 
stand leistete. 

Der  König  gerieth  in  die  äusserste  Bestürzung.  Die  Massen 
der  römischen  Soldaten  vor  sich,  sah  er  seine  Dörfer  in  Schutt 
und  Asche,  und  auf  dem  Punkte,  Alles  zu  verlieren,  bat  er 
gleichfalls  um  Nachsicht.  Auch  er  wurde  zum  Bünduiss  zu- 
gelassen  und  hatte  zu  beschwören,  dass  er  sich  den  Befehlen 
des  Siegers  unterwerfen  und,  worauf  man  vor  Allem  bestand, 
sämmtliche  Gefangenen  herausgeben  werde.  Als  er  aber  nur 
Wenige  auslieferte  und  kam,  um  das  herkömmliche  Geschenk 
der  Verbündeten  in  Empfang  zu  nehmen,  Hess  der  Cäsar  vier 
von  seinen  Gefolgen,  ihm  besonders  durch  Dienste  und  Ergeben- 
heit vertraut,  in  Haft  nehmen  und  liess  sie  nicht  eher  frei,  als 
bis  alle  Gefangenen  herausgegeben  waren.  Dann  wurde  er 
noch  zu  einer  Besprechung  mit  dem  Cäsar  geladen,  in  der  er 
von  Neuem  durch  den  Anblick  dos  Siegers  gedemiithigt,  ihm 

Criocr,  Geschichte  der  Alamannen.  y 


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mit  angstvollen  Blicken  seine  Ehrfurcht  bezeugte,  jedoch  weiter 
eine  harte  Bedingung  des  Inhalts  auferlegt  erhielt:  Nach  so 
vielen  glücklichen  Erfolgen  sei  es  geboten,  auch  die  von  den 
Alamannen  zerstörten  Rheinstädte  wieder  aufzubauen:  er  habe 
daher  zu  diesem  Zweck  Baumaterialien  und  Fuhrwerke  ans 
seinen  und  der  Seinigen  Mitteln  zu  liefern  (was,  wie  es  scheint 
auch  fräukischen  Königen  auferlegt  war)  und  für  jede  Treu- 
losigkeit mit  dem  Leben  zu  haften.  Die  Lieferung  von  Proviant 
konnte  man  dem  Hortar  nicht  wie  dem  König  Suomar  zumuthen, 
weil  sein  Gebiet  gänzlich  verheert  war. 

„So  mussten,  ruft  Amtnian  aus,  jene  Könige,  sonst  aufgebläht 
von  Hochmuth  und  gewohnt,  mit  dem  Raube  der  Unsrigen  sich 
zu  bereichern,  ihren  Nacken  unter  das  Joch  römischer  Macht 
beugen.  Sie  leisteten  jetzt,  als  wären  sie  unter  tributpflichtigen 
Völkern  geboren  und  aufgewachsen,  unweigerlichen  Gehorsam.“ 

Nach  diesen  Erfolgen  verlegte  Julian  die  Soldaten  in  ihre 
gewöhnlichen  Standquartiere. 


8.  Der  Zug  durch  das  Main-  und  Xeekargcbict.  :J59. 

Der  Wiederaufbau  der  Städte. 

Die  rheinischen  Gaue  waren  bezwungen,  und  es  blieb  dem 
Cäsar  übrig,  auch  die  im  Innern  des  Landes  am  Main,  dem 
Neckar  und  der  oberen  Donau  gelegenen  Gaue  zu  Boden  zu 
werfen. 

Zunächst  besuchte  er  die  zerstörten  und  wieder  aufgebanten 
Städte.  Es  waren  ihrer  sieben,  von  denen  hier  Bingen  (Bingium) 
und  Andernach  (Antennacum),  als  die  dem  Gaugebiet  des  Hortar 
benachbarten  hervorgehoben  werden  mögen.  Mit  ihnen,  so  wie 
den  statt  der  abgebrannten  neu  errichteten  Magazinen  war  man 
fertig.  Die  letzteren  wurden  bereits  mit  Getreide  und  sonstigen 
Vorräthen  gefüllt,  so  dass  der  Bedarf  auf  lange  Zeit  gedeckt 
war.  Nur  die  Mauern  der  Städte  waren  noch  zu  errichten, 
eine  Arbeit,  die  keinen  Aufschub  erlitt,  da  der  Krieg  jeden 
Augenblick  eine  Störung  herbeiführen  konnte.  „Und  dabei  war 
deutlich  zu  bemerken,  sagt  Arnmian,  wie  die  Alamannen  aus 


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131 


Furcht,  die  Römer  aus  Verehrung  gegen  den  Cäsar  das  Werk 
förderten.  Nicht  nur  die  Könige  Hessen  nach  dem  Vertrage 
des  vorigen  Jahres  Baumaterialien  mit  eigenen  Fuhrwerken 
herbeisehaffen,  sondern  auch  die  römischen  Auxiliartruppen,  die 
sonst  vor  derartigen  Geschäften  einen  Widerwillen  hatten,  gaben 
sich  auf  Julians  Zureden  zu  Allem  her,  trugen  Baumstämme 
von  50  Schuh  und  mehr  auf  den  Schultern  herbei  und  leisteten 
bei  den  Bauarbeiten  die  nützlichsten  Dienste.“  (Auch  im  nächsten 
Jahre  nahm  Julian  rheinaufwärts  bis  in  das  Land  der  Rauraker 
eine  Besichtigung  sämmtlicher  Kastelle  vor,  ordnete  Verbesser- 
ungen an  und  setzte  die  von  den  Alamannen  zerstörten  Städte 
in  Vertheidiguugszustand.) 

Die  Vorbereitungen. 

Inzwischen  hatte  der  Cäsar  insgeheim  einen  ihm  ergebenen 
Tribunen,  Hariobaudes,  der  mit  der  germanischen  Sprache  ver- 
trant war,  angeblich  als  Gesandten  an  den  nunmehr  verbündeten 
König  Hortar  geschickt,  um  von  dessen  Gau  aus  die  benach- 
barten Gaue,  mit  denen  man  die  Feindseligkeiten  unmittelbar 
eröffnen  wollte,  zu  erforschen  und  deren  Absichten  zu  ermitteln. 
Er  zog  von  Allem  Kunde  ein  und  erstattete  seinen  Bericht. 

Auf  den  hin  brach  Julian  mit  dem  von  allen  Seiten  für 
den  Feldzug  zusammengezogenen  Heer  bei  günstiger  Jahreszeit 
des  Juli,  in  der  man  von  Gallien  aus  Derartiges  unternehmen 
konnte,  auf  und  rückte  mit  aller  Eile  nach  Mainz.  Seine  Offleiere 
bestanden  hartnäckig  darauf,  über  eine  dort  zu  schlagende  Brücke 
zu  gehen.  Der  Cäsar  wies  dies  aber  auf  das  Bestimmteste  vou 
der  Hand,  indem  er  erklärte,  die  Gaue  befreundeter  Könige 
dürften  nicht  betreten  werden,  damit  nicht,  wie  oft  geschehen, 
die  Plünderungssucht  der  Soldaten  Anlass  zu  einem  jähen  Bruch 
des  Bündnisses  gäbe.  Hier  handelte  es  sich  zunächst  um  den 
Gau  des  Snomar,  der  am  anderen  Rheinufer  südlich  vom  Main  lag. 

Der  Brückenschlag. 

Schon  hatten  Alamannen,  deren  Gaue  den  Besuch  des 
römischen  Heeres  erwarten  konnten,  mit  Rücksicht  auf  die 
nahende  Gefahr  dem  Suomar  das  drohende  Ansinnen  gestellt, 
den  Römern  den  Uebergaug  zu  verwehren.  Auf  seine  Ein- 
wendung, dass  er  allein  zum  Widerstand  zu  schwach  sei,  erschien 

»* 


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eine  starke  Schaar  von  Alamannen  gegenüber  von  Mainz,  um 
jeden  Versuch  der  Römer,  über  den  Fluss  zu  setzen,  mit  aller 
Kraft  zurückzuweisen. 

Angesichts  dieses  drohenden  Widerstandes  unter  eigenem 
schweren  Verlust  eine  Brücke  zu  schlagen,  erschien  dem  Cäsar 
nicht  thunlieh.  Er  grill  daher  zu  einer  Kriegslist. 

Er  bestimmte  anscheinend  eineti  Punkt  für  den  Uebergang, 
liess  hier  Wall  und  Graben  aufwerfen  und  die  Truppen  Zelte 
aulschlagen  und  Lagerfeuer  anzünden.  Die  Alamannen,  die  bis 
dahin  dem  anderen  Ufer  entlang  in  Bewegung  gewesen  waren, 
machten  darauf  gleichfalls  Halt  und  durchwachten  die  Nacht, 
eines  trotzdem  etwa  versuchten  Ucbergangs  gewärtig. 

Der  Cäsar  gab  nun  einigen  Tribunen,  ohne  ihnen  den  Zweck 
und  Ort  ihrer  Bestimmung  bekannt  zu  machen,  den  Befehl,  je 
300  Leichtbewaffnete  mit  Pfählen  bereit  zu  halten.  Es  war 
schon  spät  in  der  Nacht,  als  man  sie  versammelte  und  auf  40 
leichten  Fahrzeugen,  die  man  gerade  zur  Hand  hatte,  einschiffte. 
Der  Befehl  lautete:  in  aller  Stille,  selbst  mit  eingezogenen 
Rudern,  damit  der  Feind  nicht  durch  das  Geräusch  des  Wassers 
aufmerksam  werde,  Strom  ab  zu  fahren  und  Alles  aufzubieten, 
um  am  anderen  Ufer  festen  Fuss  zu  fassen.  Dies  geschah. 

Das  Gelage. 

In  derselben  Nacht  bewirthete  der  König  Hortar,  nicht 
einer  Verschwörung  halber,  sondern  als  Freund  seiner  Nachbarn 
in  seiner  Halle  alle  Könige,  Königsboten  und  Hunnen  des  in 
der  Nähe  liegenden  Alamannenheeres.  Das  Gelage  zog  sich 
nach  germanischer  Sitte  über  die  Hälfte  der  Nacht  hinaus  hiu. 

Jetzt  waren  sie  auf  dem  Heimweg  begriffen,  als  unvermuthet 
römische  Soldaten  auf  sie  stiessen.  Da  sie  aber  beritten  im 
Schutz  der  Nacht  nach  allen  Seiten  auseinanderstobeu,  so  wurde 
keiner  gefangen  oder  getödtet.  Der  Tross  dagegen  und  die 
Sclaven,  die  zu  Fuss  folgten,  wurden  mit  Ausnahme  weniger 
entfliehenden  niedergemacht. 

Nachdem  die  Schwierigkeiten  gehoben,  wurde  die  Brücke 
geschlagen  und  das  Heer  hinübergeführt.  Die  Römer  standen 
nun  auf  alamannischem  Boden. 


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Der  Ort  des  Rheinübergangs. 

Man  wird  annehmen  können,  dass  die  Stelle  des  anscheinend 
vorbereiteten  Uebergangs  oberhalb  Mainz  lag,  um  die  Alamannen 
dahin  zu  locken,  während  die  des  wirklichen  Brückenschlags 
unterhalb  im  Gau  des  Hortar  gewählt  wurde.  Wenn  somit  das 
alamannische  Heer  während  der  Nacht  oberhalb  Mainz  stand, 
so  konnte  der  Cäsar  für  den  Uebergang  seines  in  Mainz  stehenden 
Heeres  eine  möglichst  nahe  Stelle  unterhalb  im  Gau  des  Hortar 
bestimmen.  Man  möchte  an  Mombach- Biebrich,  eine  Stunde 
von  Mainz  entfernt,  oder  eine  halbe  Stunde  weiter  an  Schier- 
stein denken.  Noch  näher  an  Mainz  wird  man  die  Halle  des 
Königs  Hortar  verlegen,  da  seine  Gäste  kaum  wagen  durften, 
sich  weiter  von  dem  Heere  zu  entfernen. 

Als  die  Alamannen  gewahrten,  dass  den  Römern  der  Ueber- 
gang gelungen,  löste  sich  das  Heer  auf,  und  jeder  eilte  in  seinen 
Heimathgau,  um  Weib  und  Kind  und  Habe  tiefer  landeinwärts 
zu  bergen. 


Der  Marsch  zum  Limes. 

Die  Römer  brachen  vom  Rheinufer  auf  und  marschirten 
zunächst  durch  den  Gau  des  Hortar  ohne  die  mindeste  Gewalt- 
thätigkeit.  Der  Grund,  aus  dem  man  den  Gau  des  Suomar  mit 
dem  Durchmarsch  verschont  hatte,  kam  also  bei  dem  ebenfalls 
föderirten  Hortar  nicht  zur  Anwendung. 

Sobald  der  Cäsar  dessen  Gau  hinter  sich  hatte,  betrat  er 
die  Gaue  der  feindlichen  Könige,  und  damit  begannen  die  Feind- 
seligkeiten dieses  Feldzuges,  welcher  dem  Main-  und  Neckar- 
gebiet galt. 

Der  eingeschlagene  Weg  ist  im  Allgemeinen  unschwer  zu 
bestimmen.  Er  ging  im  Mainthal  aufwärts  und  zwar  zunächst 
auf  dem  rechten  Ufer,  da  das  linke  durch  den  zu  schonenden 
Gau  des  Suomar  gesperrt  war.  Von  Wiesbaden,  Aquae  Mattiacae, 
führte  eine  römische  Strasse  nach  Heddernheim  bei  Frankfurt, 
wo  man  bereits  auf  der  südlichen  Grenze  des  Buchengaus  des 
Königs  Makrian  war.  Immer  im  Mainthal  weiter  durchschritt 
das  Heer  quer  den  Maingau  aufwärts,  bis  es  etwa  von  Milten- 
berg an  den  unteren  Neckargau  betrat. 


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Alle  diese  Gebiete  überzog  der  Cäsar  mit  Raub  und  Brand. 
Die  umzäunten  gebrechlichen  Holzhütten  gingen  in  Flammen 
aut.  Die  Menschen  wurden  niedergehauen  oder,  uni  Erbarmen 
flehend,  zu  Gefangenen  gemacht.  So  kam  man  nach  Palas 
(Pohl,  Pfahl)  oder  Capellatium  am  Pfahlgraben,  wo  die  Grenz- 
steine der  Alamannen  und  Burgundionen  standen  (S.  24).  Hier 
an  der  Grenze  des  einstigen  römischen  Besitzes,  jetzt  dem 
äussersten  Alamannenlande,  machte  der  Cäsar  halt  und  schlug 
ein  Lager  auf,  um  die  alamannisehen  Könige,  die  ihr  Erscheinen 
ungesagt  hatten,  mit  militairischem  Glanz  und  dem  Zauber  der 
Cäsarenwürde  zu  empfangeu. 

Die  Könige  des  Buchengaus. 

Zunächst  kamen  die  beiden  Könige  des  Buchengaus,  die 
Brüder  Makrian  und  Hariobaud,  und  hier  zum  ersten  Male 
taucht  der  Name  des  Makrian  auf,  der  den  Römern  ein  Schrecken 
werden  und  sich  nie  unterwerfen  sollte,  während  der  Name  des 
Bruders  wieder  verschwindet.  Makrian  war  ein  Jüngling,  der, 
wie  Hariobaud,  bei  Strassburg  nicht  mitgefochten  und  überhaupt 
noch  kein  römisches  Heer  gesehen  hatte.  Mit  Behagen  erzählt 
Ammian,  wie  der  junge  Barbar  über  den  Reichthum  der  krieger- 
ischen Ausstattung  erstaunte. 

Beide  Brüder  suchten  unerschrocken  dem  Verderben  zuvor- 
zukommen,  das  ihnen  drohte,  wenn  der  Cäsar  in  veränderter 
Richtung  seines  Zuges  auch  ihre  Gaue  in  ganzer  Ausdehnung 
durchzöge.  Sie  baten  daher  besorgt  um  Frieden,  und  der  wurde 
ihnen  nach  langer  Berathung  und  einstimmiger  Entscheidung 
im  Kriegsrath  bewilligt,  vielleicht  weil  es  dem  Plan  des  Zuges 
nicht  entsprach  und  bedenklich  erschien,  sich  noch  weiter  vom 
Rhein  zu  entfernen  und  sich  dem  zweifelhaften  Ausgang  von 
Kämpfen  in  Wald  und  Gebirge  auszusetzen.  Von  Friedens- 
bedingungen ist  keine  Rede  und  auch  später  sieht  man  nicht, 
dass  der  Buchengau  durch  ein  römisches  Biindniss  gefesselt 
worden  (S.  58). 

Die  Gaue  des  Neckargebietes. 

Den  beiden  Königen  folgte  unmittelbar  der  König  Vadomar 
vom  Breisgau.  Er  kam  einmal,  um  dem  Herrn  über  Alamannieu 
zu  huldigen,  dann  aber  auch  mit  Aufträgen  der  Könige  Uri, 


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Ursicin  und  Westralp  vom  Neckar-,  Nagold-  und  Westergau 
versehen.  Diese,  welche  ihre  Heerbanne  selbst  nach  Strass- 
burg geführt  und  dort  gegen  die  Römer  gekämpft  hatten,  mochten 
ganz  besondere  den  herannahenden  Cäsar  fürchten  und  bedienten 
sich  der  Fürbitte  des  Vadomar,  eines  genehmen  Unterhändlers, 
um  Frieden.  Aber  so  leichten  Kaufs  sollten  sie  nicht  davon 
kommen.  Denn  der  Cäsar  fürchtete,  die  Barbaren,  deren  Treue 
schwankender  Art  sei,  möchten  nach  dem  Abzug  des  Heeres 
sich  wieder  aufraffen  und  durch  einen  für  sie  nur  vermittelten 
Frieden  sich  wenig  gebunden  erachten.  Er  zog  daher  von  Palas 
zum  Neckar  und  weiter  Neckaraufwärts,  den  nordwestlichen 
Abhang  der  schwäbischen  Alb  zu  seiner  Linken,  und  verheerte 
die  drei  Gaue,  indem  er  die  Wohnstätten  wie  das  Getreide  auf 
dem  Felde  in  Brand  steckte,  und  Zahlreiche  erschlug  oder  ge- 
fangen nahm.  Da  schickten  die  Könige  Gesandte  und  Hessen 
so  demüthig  bitten,  als  hätten  sie  selbst  dies  gegen  die  Römer 
verschuldet.  Der  Cäsar  gewährte  nun  den  Frieden,  einem  Jeden 
unter  gleichen  Bedingungen.  Insbesondere  wurde  darauf  gehalten, 
dass  sie  sämmtliche  Gefangene,  die  sie  bei  ihren  häufigen  Streif- 
zügen in  Gallien  oder  Rätien  gemacht,  herausgäben.  Die  Be- 
dingungen deuten  auf  ein  Bündniss  hin. 

In  welcher  Richtung  Julian  weiter  marschirte,  ist  nicht 
berichtet.  Er  mag  den  Weg  durch  den  Kraichgau  gewählt 
haben,  um  zum  Rhein,  etwa  nach  Speyer  oder  Mainz  zurück- 
zukehren. Hier  lagen  die  föderirten  Gaue  des  Serapio  und 
Snomar,  die  dem  Ammian  keinen  Anlass  zu  Bemerkungen  gaben. 

Zosimos  hat  eine  sehr  dunkle  Nachricht,  die  sich  wohl  nur 
auf  die  Feldzüge  von  357  —359  beziehen  kann.  Der  Cäsar 
habe  die  Feinde  in  grosser  Schlacht  besiegt  und  über  den  Rhein 
bis  zum  hercynischen  Walde  verfolgt.  Er  habe  dabei  des  Herzogs 
Sohn,  den  er  Badomar  nennt,  gefangen,  und  an  den  Kaiser 
geschickt.  Frieden  habe  er  erst  gewährt,  nachdem  ihm  sämmt- 
liche Gefangenen  ausgeliefert  worden.  Zu  diesem  Zweck,  heisst 
es,  liess  er  nach  den  Angaben  der  Angehörigen  Verzeichnisse 
aufstellen  und  nannte  bei  der  Uebergabe  die  Namen  derjenigen, 
welche  noch  fehlten,  eine  Kunde,  welche  die  Barbaren  auf 
göttliche  Eingebung  zurückführten. 


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Die  politische  Lage. 

Die  Eroberungszüge  des  Cäsar  in  Alamannien  waren  damit 
vollendet  und  hier  war  die  Lage  nun  diese: 

Der  Kaiser  Constantius  hatte  354  — 356  den  Breisgau, 
Klettgau,  Hegau  und  Albgau  unterworfen  und  zum  Bündniss 
gebracht.  Der  Albgau  hatte  sich  dann  357  und  358  wieder 
erhoben  und  war  von  einem  kaiserlichen  General  von  Neuem 
unterdrückt. 

Das  AVeitere  war  das  Verdienst  des  Cäsar  Julian.  Seine 
Kriege  umfassten  einen  Zeitraum  von  vier  Jahren  (356  — 359). 
Dreimal  ging  er  über  den  Rhein. 

Alle  Gaue  erhoben  sich  zu  dem  Zuge  nach  Strassburg  und 
unterwarfen  sich  nach  der  Niederlage  oder  bei  der  Anwesenheit 
des  Cäsar  auf  dem  rechten  Rhein  entweder  ohne  weitern  Zwang 
oder  nach  der  Verheerung  ihrer  Gebiete.  Nur  der  Albgau  war 
bereits  zur  Ruhe  gebracht  und  von  dem  entlegenen  Lahngau 
ist  nichts  berichtet.  Die  Uebrigen  wurden  durch  Bündnis- 
verträge dem  römischen  Reich  angegliedert  oder  kehrten  zu 
ihren  älteren  Verträgen  zurück.  Nur  der  Buchengau  blieb, 
wie  es  scheint,  frei. 

Wie  viel  an  Blut  die  Kriege  gekostet,  wie  viel  Kriegs- 
gefangene der  Kaiser  und  der  Cäsar  in  die  Sclaverei  führten, 
ist  nicht  zu  ersehen.  Der  Cäsar  befreite  20000  Römer,  Männer, 
Frauen  und  Kinder,  die  er  aus  der  Gefangenschaft  nach  Gallien 
zurückführte. 

Die  Alamannen  gewöhnten  sich  bereits  an  die  Beziehungen 
zu  Rom,  sie  stellten  nicht  nur  die  durch  die  Verträge  ihnen 
auferlegteu  Hülfstruppen,  sondern  Hessen  sich  auch  freiwillig 
in  Gallien  anwerben. 

Mit  Recht  konnte  Julian,  360  von  seinen  Soldaten  zum 
Kaiser  ausgerufen,  ihnen  sagen:  „Noch  in  der  ersten  Jugend 
in  eure  Reihen  aufgenommen,  habe  ich  die  unaufhörlichen  Ein- 
fälle der  Alamannen  und  Franken  und  deren  unersättliche  Raub- 
lust unterdrückt.  Mit  eurer  Hülfe  habe  ich  römischen  Heeren, 
so  oft  sie  wollen,  einen  AVeg  über  den  Rhein  gebahnt.  Gallien 
ist  nach  so  vielen  Opfern  an  Menschenleben  und  Verlust  von 
Eigenthum  wieder  hergestellt.  In  einer  Reihe  von  Kriegen 


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gegen  die  verbundenen  Haufen  der  Völker  habt  ihr  mich  besonnen 
und  vorsichtig  erkannt.“ 

Dem  Kaiser  Julian  sollte  noch  das  Nachspiel  eines  unbot- 
mässigen  Gaukönigs  bevorstehen. 


VI.  Die  Kaiser  Constantius  und  Julian.  360—363. 

0.  Der  König  Yadoinar. 

Die  Stimmung  des  Constantius. 

Der  Kaiser  Constantius  hatte  mit  Erstaunen,  Neid  und 
Misstrauen  die  überraschende  und  glänzende  Laulbahn  des  jugend- 
lichen Cäsar  verfolgt.  Bei  sehr  mässigen  eigenen  Erfolgen,  die 
er  einzelnen  Gauen  gegenüber  davon  getragen,  scheute  er  sich 
nicht,  in  seinen  öffentlichen  Edikten  über  die  Schlacht  bei 
Strassburg  vom  Cäsar  zu  schweigen,  und,  während  er  damals 
im  Orient  40  Tagemärsche  entfernt  abwesend  war,  zu  schildern, 
wie  Er  die  Schlachtordnung  aufgestellt,  wie  Er  unter  den 
Vordersten  gestanden,  die  Barbaren  kopfüber  in  die  Flucht  ge- 
jagt und  wie  Chnodomar  Ihm  vorgeführt  sei. 

Von  der  Vernichtung  des  für  Zabern  bestimmten  Proviants 
durch  Barbatio  sagt  Anunian:  „Ob  er  dies  aus  Unverstand  that, 
oder  auf  einen  kaiserlichen  Befehl  hin  sich  solcher  Ruchlosigkeit 
erkühnte,  liegt  zur  Zeit  noch  im  Dunkeln.  Doch  wurde  das 
Gerücht  von  Mund  zu  Mund  getragen,  Julian  sei  nicht  Galliens 
halber  nach  Gallien  geschickt,  sondern  um  ihn  in  den  Anstreng- 
ungen des  Krieges  verderben  zu  lassen.  Hatte  man  doch 
geglaubt,  der  Neuling  würde  nicht  einmal  das  Geklirr  der  Waffen 
ertragen.“ 

Eifersüchtige  Generäle,  wie  Marcellus  und  Barbatio,  frei- 
willige Verleumder,  aufgestellte  Spione  trugen  dem  Kaiser  zu, 
was  dem  Cäsar  zum  Schaden  gereichte,  was  dem  Kaiser  gefiel, 
und  am  Hofe  wurden  die  Erfolge  des  Cäsar  verlacht.  Während 
er  in  seinen  Berichten  nur  Siege  über  die  Alamannen  melden 
konnte,  nannte  man  ihn  Victorinus  (Siegerich). 


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Der  Kaiser  erkannte  aber  wobl  die  Gefahr,  die  der  sieg- 
reiche Cäsar  über  ihn  heraufbeschwören  konnte  und  hegte  den 
Wunsch,  ihn  in  Gallien  zu  beschäftigen  und  ihn  dadurch  inner- 
halb der  gallischen  Grenzen  festzuhalten.  Dazu  bedurfte  er 
eines  Werkzeuges  und  fand  es  in  dein  König  des  Breisgaus. 

Die  Mission  und  Huldigung  Vadomars. 

Dieser,  von  jeher  ein  geschmeidiger,  verschlagener  und  ge- 
waltthätiger  Mann,  stand,  von  Constantius  besiegt,  seit  354  im 
Bfindniss  mit  Rom,  und  hatte  sich  der  persönlichen  Theilnahine 
an  dem  Zuge  nach  Strassburg,  dein  sein  Volk  sich  angeschlossen, 
zu  entziehen  gewusst.  Er  war,  wie  es  scheint,  nach  der  Er- 
mordung seines  Bruders  Gundomad  König  beider  Theile  des 
Breisgau  geworden.  Der  Kaiser  sah  in  ihm  einen  treuen,  ver- 
schwiegenen und  selbsttätigen  Vollstrecker  geheimer  Befehle 
und  beauftragte  ihn  daher,  sogar  wie  es  hiess  schriftlich,  unter 
scheinbarem  Bruch  des  Bündnisvertrages  von  Zeit  zu  Zeit  die 
ihm  benachbarten  Landstriche  Galliens  durch  Einfälle  zu  be- 
unruhigen. 

Aber  besorgt  gemacht  durch  die  glänzenden  Thaten  des 
Cäsar,  kam  er  359  in  dessen  Lager  zu  Palas,  w'olil  weniger, 
um  für  die  drei  Könige  vom  Neckar  Fürsprache  einzulegen, 
als  um  seine  eigene  Person  in  Sicherheit  zu  bringen.  Der 
Kaiser  Constantius  selbst  ermöglichte  ihm  dies,  indem  er  ihm 
einen  Brief  mit  dringenden  Empfehlungen  mitgab.  Da  er  vom 
Kaiser  selbst  in  die  Schutzverwandtschaft  des  Reiches  auf- 
genommen war,  wurde  er,  wie  es  sich  gebührte,  freundlich  auf- 
genommen, und  es  gelang  ihm,  mit  dem  Cäsar  seinen  Frieden 
zu  machen. 


Der  Bruch  zwischen  den  Kaisern. 

Nun  war  zu  den  Erfolgen  des  Cäsar  noch  der  Abschluss 
des  Main -Neckarfeldzuges  gekommen.  Die  Kunde  von  unend- 
lichen Mühen,  glänzenden  Ruhmesthaten,  von  der  Wiederher- 
stellung Galliens,  der  Bändigung  alamannischer  Gaue  war  weit 
zu  den  Nationen  gedrungen.  Das  Alles  brannte  auf  der  Seele 
des  Kaisers,  und  er  hegte  die  Besorgniss,  es  werde  immer  noch 
schlimmer  werden.  Als  er  daher  (360)  zu  einem  Zuge  nach 


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Persien  rüstete,  forderte  er  vom  Cäsar  die  schleunige  Absendung 
von  Truppen  seines  gallischen  Heeres:  es  waren  die  Hülfstruppen 
der  Heruler  und  Bataver,  der  Petulanten  und  Gelten  und  von 
den  Legionen  je  300  auserlesene  Mannschaft. 

Zwei  Gründe  standen  dem  entgegen.  Die  Alamannen 
waren  wieder  bis  zur  Wuth  und  zum  Ausbruch  eines  Krieges 
gereizt,  und  die  Soldaten  weigerten  sich  der  Verwendung  im 
Orient;  im  Lager  der  gallischen  Truppen  fand  man  eine  auf- 
reizende Schrift  mit  den  Worten:  „Unsere  Weiber,  die  wir 
nach  mörderischen  Kämpfen  aus  der  Gefangenschaft  befreit 
haben,  sollen  den  Alamannen  nicht  wieder  dienen“,  und  die 
germanischen  Söldner  hielten  den  Inhalt  ihrer  Kapitulation  ent- 
gegen. Das  Verlangen  des  Kaiser  führte  zum  Bruch;  die  im 
Winterquartier  zu  Paris  vereinigten  Soldaten  erhoben  nach 
germanischer  Art  den  Cäsar  auf  den  Schild  und  riefen  ihn  zum 
Kaiser,  Augustus  aus.  Gezwungen  gab  er  diesmal  nach  und 
liess  sich  von  dem  Heer  huldigen. 

Der  neue  Kaiser  suchte  sich  mit  Constantius  zu  ver- 
ständigen, aber  dieser  lehnte  jedes  Uebereinkommen  ab;  als 
tief  unter  ihm  stehend,  war  ihm  der  Cäsar  ein  Gegenstand  der 
Verachtung.  Keine  der  Neuerungen,  gab  er  ihm  kund,  erkenne 
er  an.  Wenn  ihm  sein  und  der  Seinigen  Heil  lieb  sei,  so  solle 
er  von  seinem  thörichten  Dünkel  ablassen  und  in  die  Schranken 
seiner  Cäsarenwürde  zurückkehren.  Diese  Zumuthung  war 
vergebens. 


Die  Doppelzüngigkeit  des  Königs. 

In  dem  Streit  zwischen  den  beiden  Kaisern  trat  Vadomar 
anscheinend  auf  die  Seite  des  Julian.  Schrieb  er  ihm,  so 

nannte  er  ihn  den  Herrn,  den  Kaiser,  einen  Gott,  dominum 
et  Augustum  et  deuin.  Er  hatte  aber  das  Missgeschick,  dass 
man  bei  seinem  Geheimschreiber  einen  au  Constantius  ge- 
richteten Brief  fand,  in  dem  es  unter  Anderem  hiess:  Dein 
Cäsar  hat  keine  Zucht,  Caesar  tuus  disciplinam  non  habet. 
Man  sah  ein,  dass  diese  Doppelzüngigkeit  für  ihn  verhängnis- 
voll sein  könnte,  und  war  zu  seiner  und  der  Provinz  Sicherheit 
darauf  bedacht,  ihn  unversehens  festnehmen  zu  lassen. 


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Die  Aufrufung  der  Germanen. 

Zu  den  Nachrichten  Ammians,  auf  denen  die  bisherige 
Darstellung  beruht,  treten  nunmehr  auch  einige  Notizen  anderer 
Schriftsteller  hinzu.  Abgerissen  und  schon  darum  dunkel,  ohne 
Erläuterung  der  Thatsachen,  ohne  Anhalt  für  die  Zeitfolge  und 
an  sich  wenig  glaubhaft,  sind  sie  doch  in  die  weitere  Erzählung 
eingeflochten,  wo  es  am  passendsten  geschehen  mochte. 

Wie  einst  dem  Gegenkaiser  Magnentius  gegenüber,  berichtet 
Libanios,  habe  Constantius  nunmehr  zum  zweiten  Male  die  Ger- 
manen durch  Briefe  aufgefordert  und  von  ihnen  als  Gunst  er- 
beten, die  römischen  Provinzen  für  sich  zu  unterjochen.  Ton 
allen  Königen  habe  er  aber  nur  Einen  willig  gefunden,  den 
Vadomar.  Libanios  weiss  auch  von  Gebieten,  die  ihm  zum 
Lohn  überwiesen  seien. 

Constantius  mag  allerdings  die  Germanen  zum  Aufstand 
gegen  Julian  aufgerufen  haben,  aber  an  der  von  keinem  Anderen 
bestätigten  Nachricht  erscheint  wenig  wahrscheinlich,  dass  Jener 
sich  dem  Schimpf  zum  zweiten  Mal  ausgesetzt  habe,  den  er  bei 
der  früheren  Preisgebung  von  Gallien  auf  sich  geladen  hatte. 
Richtig  aber  ist,  dass  Vadomar  seine  Politik  thatsächlich  unter- 
stützte. 


Der  Einfall  in  Rätien. 

Mit  Beginn  des  Frühjahrs  (360)  brachen  überraschend,  da 
sie  bis  dahin  dem  Bündnissvertrag  treu  geblieben  waren,  zahl- 
reiche Alamannen  ans  dem  Gau  des  Vadomar,  — er  selbst 
blieb  wie  bei  dem  Zuge  nach  Strassburg  zu  Hause,  — in  die 
benachbarten  Grenzstriche  Rätiens  ein  und  zogen  verheerend 
und  raubend  weit  umher.  Nach  Eunapius  hätten  sie  dreitausend 
Gefangene  gemacht.  Vadomar,  erzählt  er  weiter,  ohne  dass 
der  Zusammenhang  klar  wird,  habe  dann  dem  Julian  die  Heraus- 
gabe der  Gefangenen  versprochen,  und  habe  dafür  seinen  Sohn 
als  Geisel  gestellt,  aber  das  Versprechen  uicht  erfüllt. 

Die  Niederlage  der  Römer. 

Julian  schickte  von  Paris  aus  den  comes  Libino  mit  Petu- 
lanten  und  Celten,  um  die  Angelegenheit  in  Ordnung  zu  bringen, 
denn  sie  nicht  beachten,  hiess  neuen  Brennstoff  für  den  Krieg 


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herbeitragen.  Dieser-  gelangte  nach  Säckingen,  Sanctio  im 
Breisgau,  während  die  Alamannen  den  Kampf  erwartend,  sich 
in  die  anstossenden  Tliäler  zurückgezogen  hatten.  Die  Römer 
waren  in  der  Minderzahl,  die  Soldaten  verlangten  aber  nach 
dem  Kampf.  Libino  griff  unbesonnen  au  und  fiel  als  der  erste. 
Dieser  Erfolg  erregte  die  Alamannen,  der  Verlust  ihres  An- 
führers erbitterte  die  Römer,  uud  so  kam  es  zu  einem  hart- 
näckigen Zusamnienstoss.  Schliesslich  gab  die  Uebermacht  die 
Entscheidung,  der  Verlust  der  Römer  an  Todten  und  Ver- 
wundeten war  jedoch  geriug.  Unter  dem  Eindruck  dieses 
Sieges  wird  es,  wie  Ennapius  weiter  erzählt,  gewesen  sein,  dass 
Vadomar  seinen  Sohn  zurück  verlangte  und  ihn  auch  erhielt, 
vielleicht,  weil  Julian,  der  schon  einen  Rachezug  plante,  ihn 
in  Sicherheit  wiegen  und  überraschen  wollte.  Er  schickte  ihm 
eine  Gesandtschaft  und  schrieb  dazu,  wenn  er  ihm  auch  den 
Sohn  zurückgäbe,  so  bleibe  Vadomar  doch  verbunden,  die  Ge- 
fangenen auszuliefern.  Weigere  er  sich,  so  möge  er  der  Ahn- 
dung gewärtig  sein. 

Die  Festnahme  des  Königs. 

Es  scheint,  dass  dies  der  Zeitpunkt  war,  au  dem  den  Vado- 
mar sein  Schicksal  ereilte.  Schon  vorher  hatte  Julian  seinen 
Geheimschreiber  Philagrius,  auf  dessen  Klugheit  er  vertrauen 
konnte,  in  Amtsgeschälten  an  die  Grenze  geschickt  und  ihm 
ansser  andern  Aufträgen  ein  versiegeltes  Schreiben  mitgegeben, 
das  er  erst  öffnen  sollte,  wenn  er  einmal  den  Vadomar  in  Gallien 
zu  Gesicht  bekomme.  Er  traf  ihn  auch,  wie  er  unbefangen, 
als  stände  er  und  sein  Gau  im  tiefsten  Frieden  mit  dem  Cäsar, 
mit  Gefolgen  über  den  Rhein  kam,  nach  seiner  Gewohnheit  bei 
dem  Befehlshaber  der  dort  stationirten  Truppen  kurz  vorsprach 
und  vor  dent  Weggehn  zu  einem  Mahl  zusagte,  zu  dem  auch 
Philagrius  geladen  war.  Dieser  sah  den  Vadomar,  öffnete  das 
Schreiben,  wusste  nun,  was  er  zu  thun  hatte  und  setzte  sich 
zu  den  Gästen.  Nach  geendetem  Mahl  packte  er  den  König 
uiit  starker  Faust,  übergab  ihn  zur  Aufbewahrung  einem  Offizier, 
verlas  den  Befehl  des  Julian  und  gebot  den  Gefolgen  des 
Vadomar,  von  denen  im  Schreiben  Nichts  stand,  in  ihre  Heiuiath 
zurückzukehren. 


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Die  Unterwerfung  des  Breisgaus  und  Verschickung 
des  Königs. 

Inzwischen  war  Julian  nach  Eunapius  seiner  Gesandschaft 
auf  dein  Fuss  gefolgt.  Er  eilte  von  Speyer  nach  Kaiser- Augst, 
Kauraeuni,  setzte  hier  in  der  Stille  der  Nacht  mit  leichtbewaff- 
neten Hülfstruppen  über  den  Rhein  und  überraschte  die  Nichts 
ahnenden  Breisgauer,  die,  erst  durch  Waffengetöse  aufgeschreckt, 
nach  Schwertern  und  Geschossen  griffen.  Man  stürzte  sich  auf 
sie,  einige  fielen,  andere  flehten  uni  ihr  Leben,  ergaben  sich 
und  wurden  gefangen  genommen.  Im  Lager  wurde  der  Ge- 
fangene Vadomar  dem  Kaiser  vorgeführt.  Als  er  von  dem  auf- 
gefangenen  Briefe  gehört  hatte,  wagte  er  nicht  mehr,  auf 
Gnade  zu  hoffen,  Julian  schickte  ihn  aber  ohne  ein  Wort  des 
Vorwurfs  nach  Spanien.  Die  Anführer  der  Breisgauer  ver- 
sammelte er  um  sich,  hielt  ihnen  ihren  Abfall  vor,  drohte  ihnen 
für  die  Zukunft  (Libanios)  und,  nachdem  sie  die  Gefangenen 
und  die  Beute  herausgegeben,  gewährte  er  gegen  das  Gelöbniss, 
Ruhe  halten  zu  wollen,  den  Frieden. 

Die  beiden  Kaiser. 

Im  nächsten  Jahre  schickte  Julian  sein  Heer  Donauabwärts 
dem  Constautius  entgegen.  Er  selbst  folgte,  den  Schwarzwald, 
Marcianae  silvae  übersteigend,  dem  Fluss  entlang  bis,  wo  er 
schiffbar  wurde  (bei  Ulm),  und  fuhr  mit  dem  Heer  stromab- 
wärts: „Er  ging  ohne  Halt  voran,  wie  er  gewohnt  war,  sieh 
einen  Weg  durch  Barbarenland  zu  bahnen,  auf  das  Glück  ver- 
trauend, das  ihm  bis  dahin  treu  geblieben.“ 

Constautius  wendete  sich,  nachdem  er  in  Persien  keinen 
Erfolg  gehabt  hatte,  gegen  ihn,  aber  ehe  beide  aufeinander  ge- 
stossen  waren,  starb  er  361  am  Fieber  in  Cilicien.  Julian 
empfing  in  Dacien  die  Nachricht  von  seinem  Tode,  und  dass 
seine  letzten  Worte  ihn  zum  Nachfolger  der  kaiserlichen  Würde 
erklärt  hätten.  Bald  sah  er  sich  in  Constautinopel  als  den 
Herrn  der  Welt.  Erst  jetzt  erklärte  er  sich  öffentlich  für  die 
Verehrung  der  alten  Götter  und  wurde  der  „Abtrünnige“, 
Apostata,  im  Munde  der  Kirche  und  der  Geschichte.  Im  Kriege 
mit  den  Persern  drang  er  363  über  den  Tigris  vor,  fiog  wie 


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bei  Strassburg  in  einer  Schlacht  durch  die  Reihen  der  Kämpfen- 
den hin  und  her  und  fand  durch  einen  Pfeilschuss  seinen  Tod. 

Die  weiteren  Geschicke  des  Königs. 

Die  Laufbahn  des  Vadomar  fand  mit  seiner  Verschickung 
nach  Spanien  keineswegs  ein  Ende.  Der  alte  Alamannenkönig 
wurde  unter  der  Regierung  des  Orientkaiser  Valens  Statthalter 
der  römischen  Provinz  Phönike,  deren  landschaftliche  Schönheit 
und  Städte  Tyrus,  Sidon,  Damaskus  und  Andere  Amniian  her- 
vorhebt. Vadomar  blieb  auch  hier  der  verschlagene  Ränke- 
schmied. Später  war  er  mit  militärischen  Aufgaben  betraut. 
Im  Jahre  365,  in  dem  Procop  sich  zum  Kaiser  aufgeworfen 
und  Thraciens  und  Bithyniens  und  in  letzterm  der  Stadt  Nicaea 
bemächtigt  hatte,  erhielt  er  und  Andere,  mit  der  Belagerungs- 
kunst vertraute,  den  Befehl,  sie  zu  nehmen.  Die  Besatzung 
machte  jedoch  einen  Ausfall  uud  erschlug  einen  grossen  Theil 
der  Belagerer.  Dagegen  besiegte  er  und  der  Comes  Trajanus 
im  Jahr  371  ein  Heer  des  Perserkönig  Sapor,  der  in  das 
römische  Mesopotamien  eingefallen  war,  bei  Vagabanta,  worauf 
Valens  und  Sapor  einen  dem  Krieg  ein  Ende  machenden 
Waffenstillstand  schlossen. 


VII.  Dar  Kaiser  Valentinian.  365  — 374. 

10.  Der  Krieg  in  Gallien. 

Der  Kaiser. 

Mit  dem  Tode  des  Kaiser  Julian  nahm  das  Haus  des 
Constantius  I.  Chlorus  ein  Ende.  Ihm  folgte  das  des  Valentinian. 
Nach  der  Reichstheilung  von  Sirmium  (364)  war  er  der  Kaiser 
des  Abendlandes  mit  den  Hauptstädten  Mailand  und  Trier,  der, 
um  die  Nachfolge  zu  sichern,  (367)  seinen  achtjährigen  Sohn 
Gratian  zum  Mitregenten  als  Augustus  ernannte.  Der  Orient 
wurde  von  Valens,  dem  Bruder  des  Valentinian  regiert.  Die 
beiden  weströmischen  Kaiser  sollten  mit  mächtiger  Hand  in  die 
Geschicke  der  Alamannen  eingreifen,  und  selbst  das  Schicksal 
des  Valens  sollte  dadurch  berührt  werden. 

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Valentinian  war  hart  und  strenge,  grausamer  Gemiithsart, 
aufbrausenden  Zorns,  ein  Manu  gewaltsamer  Mittel.  Von 
majestätischer  Würde,  war  er  ein  Staatsmann  von  umfassender 
Wirksamkeit,  ein  Feldherr  von  Umsicht  und  Entschlossenheit, 
ein  kraftvoller  Kaiser. 

Der  Anlass  zum  Kriege. 

Nach  den  schweren  Verlusten  und  Niederlagen,  die  sie. 
unter  dem  Cäsar  Julian  erlitten,  waren  die  Alamannen,  wenn 
auch  nicht  zu  ihrer  früheren  Höhe,  aber  doch  eiuigermassen 
wieder  zur  Kraft  gelangt,  und  es  ergab  sich  bald  wieder  Anlass 
zu  Streit  und  Kampf. 

Nach  dem  Thronwechsel  fanden  sich  alamannische  Gesandte 
am  Hoflager  des  Kaisers  in  Mailand  ein,  um  den  Tribut  in 
Empfang  zu  nehmen,  der  unter  dem  Namen  von  Geldspenden, 
munera,  der  Gewohnheit  gemäss  in  festen  Leistungen  bestand. 
Was  ihnen  jetzt  angeboten  wurde,  war  aber  so  dürftig,  dass  sie 
es  als  ihrer  unwürdig  hinwarfen.  Vom  Oberhofmeister  Ursacius, 
einem  äusserst  jähzornigen  Mann,  noch  dazu  grob  angefahren, 
reisten  sie  ab,  und  ihre  schimpfliche  Behandlung  brachte  die 
Gaue  in  gewaltige  Erregung.  Sie  brachen  in  Gallien  ein,  ver- 
wüsteten, ein  Gegenstand  des  Schreckens,  die  Grenzbezirke  und 
hatten  sich,  ohne  einen  Mann  zu  verlieren,  bereits  zurückgezogen, 
als  der  Kaiser  Truppen  gegen  sie  aussendete. 

Die  Vorbereitungen. 

Diesem  Raubzug  folgte  367,  zehn  Jahre  nach  der  Schlacht 
bei  Strassburg,  wieder  ein  grosses  Kriegsunternehmen  des  ge- 
sammten  Stammes  nach  Gallien.  Wer  dessen  treibende  Kräfte 
waren,  ist  nicht  zu  ersehen.  Es  treten  jedoch  während  der 
Herrschaft  des  Valentinian  die  Namen  zweier  Alamannenkönige 
hervor,  die  einzigen,  die  überhaupt  genannt  werden,  deren  Hände 
man  auch  hier  als  thätig  erwarten  kann.  Sie  gleichen  den 
Planeten,  die  das  Auge  nicht  sieht,  die  aber  an  der  Wirkung 
erkannt  werden,  weiche  sie  störend  auf  den  Lauf  anderer  aus- 
iibeu.  Beklommenen  Herzens  schildert  Ammian,  wie  die  Könige 
Ruhe  und  Friede  nicht  aufkommen  Hessen.  Im  Norden  war 
es  der  König  Makrian  vom  Buchengau,  der,  nachdem  er  im 
Jahre  35b  in  Julians  Lager  am  Limes  naiv  die  römischen  Watten 


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bewundert  hatte,  erst  nach  länger  als  einem  Jahrzehnt  wieder 
auftaucht,  der  „furchtbare“  Makrian,  der  „wildeste  der  feindlichen 
Könige“,  der  das  Reich  „ohne  Unterlass  und  Mass  durch  Ein- 
fälle iu  fortgesetzter  Verwirrung  erhielt“,  „der  selbst  vor  dem 
Angriff  befestigter  Städte  nicht  zurückscheute“.  Im  Süden  war 
es  der  Sohn  des  vertriebenen  Vadomar,  der  König  Vithikab  vom 
Breisgau,  „ein  junger  Mann,  zart  und  siech,  aber  kühn  und 
tapfer,  der  immerdar  das  Feuer  des  Krieges  schürte“.  Sie 
beide  verfolgte  später  der  Kaiser  mit  ingrimmigem  Zorn.  Aber 
was  der  römische  Geschichtsschreiber  verschweigt,  sind  ihre 
Thaten.  Die  sehen  wdr  nicht.  Und  doch,  wer  kann  nach  ihrer 
geschilderten  Art  zweifeln,  dass  sie  an  dem  grössten  Unter- 
nehmen ihrer  Zeit  mit  Leidenschaft  und  Energie,  vorbereitend 
und  ausführend  Theil  genommen  haben? 

Denn  wie  zu  dem  Zuge  nach  Strassburg  die  Könige  oder 
Köuigsboten  aller  Gaue  mit  35  000  Mann  sich  aufmachten,  so 
werden  auch  jetzt  alle  Gaue  vertreten,  und  die  Gesammtzahl 
der  Krieger  wird  eine  viel  grössere  gewesen  sein.  Betrug  der 
Verlust  bei  Strassburg  6 — 8000  Todte,  die  auf  dem  Felde  lagen, 
so  sollte  sich  jetzt  bei  einem  Drittel  des  Heeres  der  Verlust 
einer  Schlacht  auf  6000  Todte  und  4000  Verwundete  belaufen. 
Die  für  die  Römer  beschwerlichste  Jahreszeit,  der  Winter,  wurde 
gewählt,  und  zum  Schutz  gegen  die  Kälte  führten  die  Alamannen 
Zelte  mit  sich. 

In  den  ersten  Tagen  des  Januar  367  bei  grosser  Winter- 
kälte fiel  das  alamannische  Heer  in  Gallien  ein  und  durchzog, 
in  drei  Keile  getrennt  (cnneatim,  prima  portio,  alter  globus, 
tertius  cuneus),  verschiedene  Gegenden,  ohne  im  Anfang  Wider- 
stand zu  finden. 

Ihnen  entgegenzutreten,  war  die  Aufgabe  des  Charietto, 
dessen  aufsteigender  Lebenslauf  uns  von  Zosimos,  Eunapius  und 
Ammian  bewahrt  ist.  Ein  Germane,  Riese  an  Leib  und  Un- 
erschrockenheit, kam  er,  eho  Julian  Cäsar  von  Gallien  wurde 
(.355),  über  den  Rhein  und  fand  in  der  Gegend  von  Trier  einen 
Haufen  von  Chauken,  die  von  einem  Waldversteck  aus  die 
Umgebung  ausplünderten.  Selbst  an  das  Leben  von  Räubern 
gewöhnt,  schlich  er  sich  Nachts  zu  ihnen  und  schnitt,  so  oft  und 
so  viel  er  konnte,  ihnen  die  Köpfe  ab.  Zuerst  er  allein,  bis 
sich  Kerkio  und  Andere  zu  ihm  gesellten.  Der  Cäsar  Julian, 

Cr  Amor,  Geschichte  der  Alamannen.  10 


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den  er  dann  anging,  verstärkte  sie  durch  salische  Franken  und 
nahm  sie  in  seine  Dienste,  Räuberbande  gegen  Räuberbande, 
und  ihrem  nächtlichen  Treiben  gegenüber  mussten  sich  die 
Chauken  ergeben.  Im  Jahr  358  begleitete  Charietto,  ein  Mann 
von  wunderbarer  Tapferkeit,  viro  fortitudinis  mirae,  den  Cäsar 
auf  seinem  Zuge  gegen  den  König  Hortar,  und  nunmehr  war 
er  Commandeur  in  beiden  Germanien,  per  utramque  Germaniam 
comes.  Zur  gemeinsamen  Kriegsarbeit  mit  seinen  kampflustigen 
Soldaten  forderte  er  den  Comes  Severian,  einen  altersschwachen 
Mann,  auf,  der  mit  zwei  Legionen  bei  Chalons  an  der  Saone 
stand.  Beider  Truppen  wurden  mit  einander  verschmolzen. 

Der  erste  Keil. 

Charietto  griff,  einen  kleinen  Fluss  überbrückend,  den  ersten 
Keil  der  Alamannen  an.  Ein  Hagel  von  Geschossen  aller  Art 
wurde  nachdriicklichst  erwidert.  Als  aber  die  Scharen  im 
Schwertkampf  handgemein  wurden,  da  sprengten  die  Alamannen 
durch  den  Ungestüm  ihres  Angriffs  die  Feinde,  so  dass  sie 
weder  zum  Widerstand  noch  zum  Kampfe  fähig  waren.  Sie 
sahen  den  Severian  durch  ein  Geschoss  schwer  verwundet  vom 
Pferde  stürzen  und  wandten  sich  ängstlich  zur  Flucht.  Auch 
Charietto,  der  sich  kühn  den  Weichenden  entgegenwarf  und 
sie  mit  scheltenden  Worten  aufzuhalten  suchte,  um  den  Schimpf 
abzuwaschen,  fand  seinen  Tod,  durch  ein  Geschoss  durchbohrt. 
Nach  seinem  Fall  ging  auch  die  Fahne  der  Heruler  und  Bataver, 
germanischer  Hülfstruppen,  verloren,  welche  die  Alamannen  unter 
Hohngeschrei  und  Freudensprüngen  schwangen,  bis  sie  nach 
hartnäckigem  Kampf  wieder  erobert  wurde. 

Als  Nachfolger  des  Charietto  schickte  der  Kaiser  von  Paris 
aus  den  General  der  Reiterei  Jovinus,  der  bereits  unter  Julian 
eine  der  gegen  Constantius  ziehenden  Heeresabtheilungen  be- 
fehligt hatte.  Dieser  traf,  den  weitzerstreuten  Alamannen 
gegenüber  mit  kluger  Vorsicht  die  Flügel  seiner  Armee  zusamnien- 
haltend,  endlich  in  der  Nähe  von  Metz  bei  Charpeigne  an  der 
Mosel,  Scarpouna,  die  grössere  Hälfte  der  Feinde,  majorem 
barbarorum  plebem,  überfiel  sie  unvermuthet  und  machte  sie, 
ehe  sie  zu  den  Waffen  greifen  konnten,  bis  auf  den  letzten 
Mann  nieder.  Was  iin  Uebrigen  aus  dem  siegreichen  Keil  ge- 
worden, ist  nicht  zu  ersehen. 


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Der  zweite  Keil. 

Ebensowenig  erfahren  wir  von  dem  Schicksal  des  zweiten. 
Dagegen  erzählt  Animian  mit  Emphase  die  Ueberrumpelung 
eines  ihm  angehöreuden  marodirenden  Haufens,  vastatorius  manus. 
Er  hatte  Gehöfte  geplündert  und  Hess  es  sich  nun  an  dem  Ufer 
der  Mosel  wohl  sein.  Einige  wuschen  sich  im  Fluss,  andere 
tarbten  sich  nach  germanischer  Sitte  das  Haar  roth,  noch  andere 
lagen  dem  Trinken  ob.  Ucberrascht  fielen  sie  den  Geschossen 
und  Schwertern  zum  Opfer  oder  entkamen  über  die  waldbedeckten 
steilen  Berghohen  des  Ufers. 

Der  dritte  Keil. 

Nun  war  allein  noch,  heisst  es,  der  dritte  Keil  übrig. 
Geschickte  Kundschafter  voran,  traf  ihn  Jovinus  nach  be- 
schleunigtem Marsche  bei  Chalons  an  der  Marne,  Catalauui,  in 
schlagfertiger  Stellung.  Er  schlug  ein  Lager  auf,  gönnte  seinen 
Truppen  die  Ruhe  der  Xacht  und  führte  sic  beim  Morgengrauen 
auf  eine  offene  Fläche.  Hier  gab  er  der  Schlachtordnung  eine 
Ausdehnung,  dass  der  minder  zahlreichen  Römer  eben  so  viele 
zu  sein  schienen,  als  der  Alamannen.  Die  Hörner  bliesen  zum 
Angriff  und  der  Kampf  wurde,  als  man  sich  näher  rückte, 
eröffnet.  Da  standen  die  Alamannen,  erzählt  Ammian,  erschreckt 
von  dem  Glanz  der  zahlreichen  Feldzeichen  einen  Augenblick 
wie  gelähmt  da,  bis  sie  sich  wieder  ermannten.  Der  Erfolg 
des  Tages  schien  auf  römischer  Seite  zu  sein,  aber  der  Kampf 
zog  sich  bis  zum  Abend  hin,  und  da  drohte  mit  der  Flucht 
eines  Tribunen  eine  Wendung  einzutreten,  die  Reihen  der  Römer 
widerstanden  jedoch  mit  Muth  und  Kraft.  Erst  die  Xacht  machte 
dem  erbitterten  Kampf  ein  Ende.  Die  Alamannen  zogen  sich 
im  Schutz  der  Dunkelheit  zurück  und  Hessen  6000  Todte  und 
4000  Verwundete  auf  dem  Schlachtfelde  zurück.  Der  Verlust 
des  Jovinus  belief  sich  nur  auf  1200  Todte  und  200  Verwundete. 

Als  er  am  anderen  Morgen  den  Feind  nicht  mehr  vor  sich 
sah,  rückte  er  im  geschlossenen  Viereck  aus  und  folgte  ihm 
über  die  offene,  wellenförmige  Ebene,  holte  ihn  aber  nicht  mehr 
ein.  Allenthalben  stiess  man  auf  Halbtodte  oder  starr  gefrorene 
Leichen,  bei  denen  in  der  heftigen  Kälte  die  Wunden  tüdtlich 
geworden  waren.  Eines  andern  Weges  schickte  Jovinus  einen 

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Tribun  mit  den  Ascariern,  einer  Hoftruppe,  um  die  Zelte  der 
Alamannen  zu  erbeuten.  Dabei  fingen  sie  einen  König  sammt 
geringem  Gefolge  und  erhängten  ihn.  Ueber  diese  Eigenmächtig- 
keit aufgebracht,  wollte  Jovinus  den  Tribun  zur  Strafe  ziehen, 
aber  die  Aufregung  des  Sieges  diente  ihm  schliesslich  zur  Ent- 
schuldigung. 

Der  glückliche  Sieger  kehrte,  vom  Kaiser  eingeholt,  nach 
Paris  zurück. 


Der  Abschluss. 

Hit  diesem  glänzenden  Erfolg  bricht  Ammian  seine  Dar- 
stellung, ähnlich  wie  die  der  Schlacht  bei  Strassburg  ab.  Aber 
die  Reste  der  drei  Keile  machten  den  Römern  augenscheinlich 
noch  viel  zu  schaffen.  Zersprengt  über  Gallien,  wird  sich  ein 
grosser  Theil  zum  und  über  den  Rhein  durchgeschlagen  haben. 
Denn  Ammian  hält  es  doch  für  nöthig,  die  Lücken  seiner  Er- 
zählung durch  die  kühle  Bemerkung  auszufüllen:  „Ausser  diesen 
Treffen  gab  es  viele  andere  in  verschiedenen  Gegenden  Galliens. 
Doch  ist  es  überflüssig,  sie  darzustellen,  denn  es  ziemt  sich  nicht, 
die  Geschichte  mit  unbedeutenden  Kleinigkeiten  fortzuspinnen.“ 


11.  Der  Zu«  durch  das  Neckargebiet.  :i(5S. 

Die  Pläne  des  Kaisers. 

Zur  Sicherung  des  römischen  Reiches  mag  der  Kaiser  schon 
nach  der  Vertreibung  der  Alamannen  aus  Gallien  die  forti- 
ficatorische  Verstärkung  der  Rheinlinie  ins  Auge  gefasst  haben, 
sie  kam  aber  erst  später  zur  Ausführung.  Vorab  erschien  es 
wirksamer,  zum  Angriff  überzugehen.  „Denn  von  einem  Stamm, 
der  sich  immer  wieder  so  schnell  erholte,  waren  stets  neue 
Kriegsunternehmungen  zu  erwarten,  und  die  Soldaten  hatten  bei 
einem  Feinde,  der  bald  demüthig  flehend,  bald  mit  den  heftigsten 
Drohungen  auftrat,  keine  Aussicht  auf  Ruhe  und  Waffenstill- 
stand.“ Valentiniau  beschloss  daher  einen  Feldzng  von  ausser- 
gewöhnlichen  Vorbereitungen  und  ernstem  Nachdruck,  einen 
grossen  Zug  in  das  Innere  des  Alamannenlandes,  wie  ihn  der 


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Cäsar  Julian  mit  so  dauerndem  Erfolge  ins  Werk  gesetzt  hatte. 
Eine  Voraussetzung  dazu  schien  ihm  die  Schwächung  des  Feindes 
durch  die  Beseitigung  des  nationalen  Führers  vom  oberen  Rhein 
und  die  Gewinnung  eines  festen  Uebergangs  über  den  mittleren 
Rhein  zu  sein. 

Die  Ermordung  des  König  Yithikab. 

Den  gefährlichen  König  des  Breisgau  aus  dem  Wege  zu 
räumen,  scheute  Valentinian  kein  Mittel.  Als  trotz  wiederholter 
Versuche  es  nicht  gelang,  ihm  mit  Gew’alt  oder  Verrath  bei- 
zukommen, befahl  der  Kaiser  seinen  Mord.  Der  Diener  des 
Königs  wurde  bestochen  und  durch  dessen  Treulosigkeit  verlor 
er  sein  Leben.  Der  Mörder  flüchtete  auf  römischen  Boden. 
Ammian  führt  diese  Handlung  neben  der  Schlacht  bei  Solicomnum 
als  kaiserliche  Grossthat  auf  und  sagt  weiter:  „Damit  ging 
unerwartet  für  die  Römer  ein  erfreulicher  Hoffnungsstern  auf“. 
In  der  That  liessen  auch  nach  Vithikabs  Tode  für  einige  Zeit 
die  Streifzüge  nach. 

Noch  ein  anderes  Beispiel  römischer  Staatsraison  und  der 
Auffassung  unseres  Berichterstatters  sei  hier  erzählt.  Nach 
einiger  Zeit  bewältigten  die  Römer  einen  raubenden  Heerhaufen 
der  Sachsen  und  bewilligten  ihnen  Frieden  und  ein  Bündniss, 
nach  welchem  sie  Mannschaft  zum  Kriegsdienst  zu  stellen 
hatten.  Als  sie  sorglos  nach  Hause  zurückkehrten,  wurden  sie 
bis  auf  den  letzten  Mann  erschlagen.  „Ein  strenger  Beurtheiler,“ 
sagt  Ammian,  „mag  wrohl  diese  Handlung  als  treulos  und  hässlich 
verdammen,  wenn  er  aber  die  Sache  genauer  überlegt,  es  nicht 
übel  aufnehmen,  dass  eine  verderbliche  Bande  Räuber  endlich 
bei  gebotener  Gelegenheit  zu  Fall  gebracht  ist.“ 

Die  Schriftsteller  des  Feldzugs. 

Von  der  Unternehmung  gegen  die  Alamannen  erzählen  drei 
zeitgenössische  römische  Schriftsteller,  an  deren  Kunde  und 
Zuverlässigkeit  nicht  zu  zweifeln  ist.  Ausser  dem  Historiker 
Ammian  sind  es  Symmachus,  der  zwei  Lobreden  auf  den  Kaiser 
Valentinian  in  dessen  Gegenwart  hielt,  und  Ausonius,  der  be- 
kannte Sänger  der  Mosella,  welcher  den  jungen  Mitkaiser  Gratian, 
seinen  Zögling,  in  den  Krieg  begleitet  haben  mag.  Aus  der 
Darstellung  eines  Jeden  erfahren  wir  ein  anderes  Stück  der 


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Ereignisse  und  in  anderer  Form.  Symniachus  giebt,  fast  erstickt 
in  höfischen  rhetorischen  Wendungen,  die  Besitzergreifung  des 
rechten  Rheinufers,  die  Flucht  der  Alamannen  und  den  Bau 
der  Veste  Alta  Ripa  (ripa  barbariae,  cui  altitudo  nomen  inipo- 
suit  II  4,  heute  Altripp)  in  der  Nähe  von  Lopodnnum  (Laden- 
berg am  Neckar)  wieder  und  spricht  im  Allgemeinen  von  zwei 
Schlachten  des  Kaisers,  von  seinen  Siegen  am  Neckar  (proeliis 
ambolms  I 1 8 : victoriis  tuis  exteruus  fluvius  — Nicer  — publicatur 
II  24);  Ammian  erzählt,  27,  10  in  geschichtlichem  Vortrag  den 
ersten  Tlieil  des  Zuges  ins  Innere  und  das  erste  Zusammen- 
treffen mit  den  Alamannen  in  der  Schlacht  von  Solicomnum 
(Solieinium)  und  Ausonius  hat  in  der  Mosella  einige  Verse  zur 
Flucht  der  Alamannen  über  den  Neckar  und  Lopodunum,  und 
über  die  Quelle  der  Donau.  Hostibus  exactis  Nicrum  super  et 
Lopodunum  et  fonteiu  Histri,  II  423,  424.  Alta  Ripa,  Lopo- 
dunum. Nicer,  Solicomnum,  Fons  Histri  sind  die  einzigen  geo- 
graphischen Namen,  die  erwähnt  werden,  alle  mit  Ausnahme 
von  Solicomnum  ihrer  Lage  nach  sicher.  Aber  auch  von  diesem 
erhellt  die  Lage  am  Neckar,  mag  man  in  der  Besitzergreifung 
des  Rheinufers  und  in  der  Schlacht  von  Solicomnum  die  victoriae 
des  Kaisers  am  Neckar,  oder  in  dieser  Schlacht  und  in  der 
Vertreibung  über  die  Donauquelle  die  arnbo  proelia  sehen.  Nach 
Riese  nennen  die  Handschriften  des  Ammian  den  Schlachtort 
Solicomnum,  während  nach  den  älteren  Ausgaben  die  geläufig 
gewordene  Form  Solieinium  ist.  Gänzlich  fehlen  die  Namen  der 
von  den  Römern  durchzogenen  Gaue  und  die  ihrer  Könige,  und 
keine  Nachricht  sagt,  in  welcher  Richtung  das  Heer  von  der 
Donauquelle  weiter  gezogen  ist. 

Die  Zeit  des  Feldzuges. 

Nach  Ammian  und  Symniachus  fällt  der  Zug  in  das  Jahr  368. 
Schon  in  der  ersten  Rede  des  Letzteren,  die  am  25.  Februar 
des  folgenden  Jahres  gehalten  wurde,  ist  von  den  zwei  Schlachten 
die  Rede,  während  erst  die  zweite  Rede  vom  1.  Januar  370 
Einzelheiten  bringt.  Die  Erbauung  von  Alta  Ripa  begann  zur 
Zeit  der  Alpenschneeschmelzc,  also  etwa  im  Mai,  der  Zug  selbst 
nicht  vor  dem  Juli.  Denn  vor  diesem  Monat,  sagt  Ammian  bei 
einer  anderen  Gelegenheit,  17,  8,  1,  kann  man  von  Gallien  aus 
eine  Unternehmung  gegen  Alamannien  nicht  beginnen.  Das 


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Heer  ging  über  den  Rhein,  als  es  schon  warm  wurde,  anni 
tempore  jam  tempente,  ein  Zeitpunkt,  der  nach  der  Auffassung 
der  an  italisches  Klima  gewöhnten  Römer  später  eintrat,  als 
nach  der  unsern.  Weiter  ist  die  Zeit  der  Ernte  in  Betracht 
zu  ziehen,  denn  die  Römer  nahmen  von  den  Feldern,  aus  den 
gefüllten  Scheuern,  was  zum  Unterhalt  (^forderlich  war,  während 
sie  den  Rest  der  Ernte  in  Flammen  aufgehen  Hessen.  Nach 
Verordnungen  im  theodosianischen  Codex  war  der  Kaiser  am 
4.  April  in  Alzey,  am  21.  April  bis  17.  Juni  in  der  Residenz 
Trier,  am  31.  Juli  in  Worms  und  später  am  30.  September  in 
Cöln,  so  dass  der  Feldzug  die  Monate  Juli,  August  und  September 
ansgefüllt  hat.  Und  nun  zur  Erzählung  der  Ereignisse. 

Der  Bau  von  Alta  Ripa. 

Zur  Zeit  der  römischen  Herrschaft  hatte  der  Kaiser  M. 
Ulpius  Trajanus  (98  — 117)  zur  Deckung  der  Main-  und  der 
Neckarlinie  über  der  Mündung  der  Flüsse  zwei  Vesten  angelegt, 
am  Main  das  sog.  Munimentum  Trajani,  am  Neckar  Lopodunum 
(Ladenburg),  die  Hauptstadt  der  nach  ihm  genannten  Civitas 
Ulpia.  Beide  waren  von  den  Alamannen  zerstört.  Die  Main- 
veste hatte  Julian  357  wieder  hergestellt,  den  Ersatz  für  das 
in  Trümmern  liegende  Lopodunum  plante  elf  Jahre  später 
Valentinian.  Aber  er  sollte  nicht  nur  die  Neckarlinie  sichern, 
sondern  ähnlich  wie  Casteilum  gegenüber  von  Mogontiacum  zu- 
gleich als  Brückenkopf  für  den  Rheinübergang  dienen.  Der  Kaiser 
wählte  dafür  zwischen  den  grossen  Lagern  von  Mogontiacum  und 
Argentoratum  in  der  regio  Nemetensis,  der  Gegend  von  Speyer, 
in  dem  alamannischen  Lobdengau  den  Winkel  zwischen  der 
(damaligen)  Mündung  des  Neckar  in  den  Rhein,  das  Hochgestade 
des  linken  Neckars  in  der  Nähe  des  heutigen  Orts  Neckarau, 
zwei  Stunden  unterhalb  Speyer. 

Völlig  überraschend,  sogar  als  das  Schneewasser  der  Alpen 
den  Rhein  schwellte,  setzte  eine  Abtheilung  Soldaten  Nachts 
schweigend  über  den  Rhein  und  bemächtigte  sich  des  Hoch- 
gestades des  Neckar.  Die  Alamannen  wurden  über  Lopodunum 
hinausgetrieben,  der  Kaiser  aber  unterliess  die  weitere  Ver- 
folgung, da  er  die  Absicht  hatte,  an  dem  bezeichneten  Punkt 
dauernd  festen  Fuss  zu  fassen  und  die  umliegenden  Gaue  für 
sich  zu  gewinnen.  In  dem  Friedensvertrage,  den  er  mit  ihnen 


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schloss,  Hess  er  sich  einen  Streifen  Landes  abtreten,  vielleicht 
so  weit  die  Ebene  reichte;  die  hier  zu  bauende  Veste  streifte 
die  Grenze  der  Barbaren,  aber  schon  der  rnons  Pirns  (der 
Heiligenberg  bei  Heidelberg)  blieb  alamannischer  Boden,  proxiine 
adjuncta  terra,  Sym.  II,  2;  aedificiis  positis  subradens  barbaros 
fines:  in  moute  Piri,  qui  barbaricus  locus  est,  Amm.  28,  2,  1 
und  5.  Zur  Bestärkung  dieses  Vertrages  wurden  uach  Ainuiian 
Söhne  von  Optimaten,  nach  Symmachus  sogar  Söhne  von  Königen 
als  Geiseln  gegeben,  optiraates  Alamanni,  obsiduni  patres,  Amin. 
28,  2,  6;  reguni  liberi  pro  foederibus  otferuntur,  Sym.  II,  23. 

Valentinian  schritt  sofort  zur  Anlage  der  Veste,  die 
Böschungen  beider  Flüsse  wurden  durch  einen  Steiubau,  moles, 
gefestigt,  und  darauf  erhoben  sich  mit  Schiessscharten  versehene 
Mauern  und  Thürme,  zu  denen  man  das  Material  aus  den 
Ruinen  der  sieben  Kilometer  entfernten  Stadt  Lopodunum  zu 
Schiff  abwärts  führte.  So  entstand  auf  der  Erhebung  des  Bodens 
ein  Lager,  eine  Burg,  eine  hochgelegene  Stadt  mit  stattlichen 
Mauern,  soli  tribunal,  castra,  castella,  arx,  celsa  urbs,  moenium 
dignitatem,  wie  Symmachus  II  20,  28,  12,  22,  eine  hohe  Veste, 
munimentum  celsum  et  tutum,  wie  Ammian  28,  2,  2,  sagt.  Die 
Alamannen  selbst  musten  dazu  frohnen.  Nach  dem  Hochgestade 
hiess  sie  Alta  Ripa.  Die  Anlage  fand  unweit  von  Speyer  in 
dem  befestigten  Kriegshafen  für  die  römische  Rheinflotte  ihre 
Ergänzung. 

Im  nächsten  Jahre  zeigte  sich,  dass  die  starke  Strömung 
des  Neckar  der  Veste  zum  Schaden  gereiche  und  sie  mit  der 
Zeit  untergraben  werde,  so  dass  cs  nüthig  sei,  sie  abzuleiten. 
Es  geschah  durch  Rahmen  von  Eichenholz,  die  man,  mit  Steinen 
gefüllt,  an  Pfählen  im  Wasser  befestigte.  Das  Werk  wurde, 
durch  die  Gewalt  der  Strömung  häufig  unterbrochen,  aber  durch 
die  Ausdauer  der  Soldaten,  die  oft  bis  an  das  Kinn  im  Wasser 
standen,  zu  Stande  gebracht. 

Wenn  es  in  späterer  Zeit  nicht  schon  die  Alamannen  waren, 
welche  die  Zwingveste  zerstörten,  so  war  es  der  Rhein  selbst, 
welcher  das  Werk  feindlicher  Menschenhand  vernichtete.  Er 
riss  ein  Stück  von  etwa  400  Meter  Breite  vom  rechten  Ufer 
ab  und  damit  versank  das  Mauerwerk  in  seinen  Wellen.  „Ueber 
die  Stelle  an  der  die  Veste  lag,  fliesst  gegenwärtig  der  Rhein“, 
und  in  ihm  findet  man  stromabwärts  in  Stein  gehauen  Zeichen 


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römischen  Besitzes,  die  allerdings  ihrer  Lage  nach  von  der 

Veste  selbst  nicht  herrühren  (Ohlenschläger).  „Der  Name  der 
verschwundenen  Veste  ist  aber  erhalten  in  dem  Namen  des  in 
der  Niederung  des  linken  Ufers  liegenden  Dorfes  Altripp“ 

(Maurer'). 

Der  Aufmarsch  des  Heeres. 

Während  des  Baus  von  Alta  Ripa  traf  Valentinian  die 
Vorkehrungen  für  den  Feldzug  mit  langsamem  Bedacht.  Wie 
der  grosse  Zug  des  Cäsar  Julian  vom  Jahr  359  dem  Main- 

und  Neckargebiet  galt,  so  dieser  dem  Neckarthal  in  seiner 

ganzen  Ausdehnung  und  dem  Schwarzwald. 

Für  den  Aufmarsch  des  Heeres  wurde  der  linke  Rhein  bei 
Alta  Ripa  bestimmt,  die  Flotte  zum  Transport  herangezogen. 
Trnppenmassen  aller  Waffengattungen  trafen  zusammen,  für 
Waffen  und  Proviant  wurde  eifrig  Sorge  getragen.  Krieggewohnte 
Truppen  strömten  herbei  unter  Führern,  die  durch  Erfahrungen 
und  glänzende  Erfolge  bezeichnet  waren.  Illyrische  (pannonische, 
wie  Ausonius  bestätigt)  und  italische  Legionen  unter  dem  Comes 
Sebastianus,  dem  früheren  Befehlshaber  in  Egypten,  der  Julian 
auf  seinem  Zuge  nach  Persien  begleitet,  Mesopotamien  besetzt 
gehalten  hatte  und  später  in  der  mörderischen  Gothenschlacht 
bei  Hadrianopel  fällen  sollte;  die  Abtheilungen  des  Generals 
der  Infanterie  Severns,  der  seiner  Zeit  neben  Valentinian  als 
Kandidat  des  Kaiserthrons  aufgestellt  war,  und  die  Legion  des 
Jovinus,  der  im  vorigen  Jahre  die  Alamannen  aus  Gallien  zurück- 
geschlagen hatte.  Auch  die  Besatzung  von  Mainz  wurde  heran- 
gezogen. 

In  die  völlig  von  Garnison  entblösste  Stadt  schlich  sich, 
ein  Schimpf  für  die  Kriegsleitung,  Rando,  ein  alamannischer 
Königsbote,  vielleicht  von  dem  unternehmenden  König  Makrian 
gesendet,  mit  einer  für  einen  Raubzug  leicht  gerüsteten  Schaar 
ein,  überraschte  die  Christen  bei  der  Feier  eines  Festes  und 
schleppte,  ohne  Widerstand  zu  finden,  wehrlose  Männer  und 
Frauen  jeden  Standes  und  werthvolle  Habe  mit  sich  fort. 

Der  Marsch  zum  mittleren  Neckar. 

Der  Kaiser,  der  Alles  vorsichtig  anzuordnen  gemeint  hatte, 
traf,  als  das  Heer  versammelt  war,  mit  seinem  neunjährigen 


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Sohn  Gratian,  den  er  bereits  zum  Mitkaiser  ernannt  hatte,  von 
Trier  aus  am  Rhein  ein,  .als  es  schon  warm  wurde,“  führte  es 
bei  Alta  Ripa  über  den  Strom  und  theilte  es  für  den  Marsch 
in  drei  festgeschlossene  Corps.  Er  selbst  führte  das  Centruin, 
das  Jovinns  und  Severus  mit  beiden  Flügeln  gegen  Uebcrfällc 
zu  decken  hatte.  Des  Weges  kundige  Führer  an  der  Spitze, 
übernahm  die  Vorhut  die  Aufklärung  der  Umgegend. 

Als  die  Römer  dereinst  aus  dem  Lande  vertrieben  waren, 
hatten  sie  den  Alamannen  ein  Danaergeschenk  zurückgelassen. 
Ihnen  wurden  die  Heerstrassen  für  den  Verkehr  forderlich,  den 
Römern  aber  blieben  sie  eine  verborgene  Waffe,  die  hervor- 
gezogen wurde,  wann  die  römische  Hand  frei  war.  Solche 
Strassen  führten  von  Speyer  tief  ins  Land  zum  Neckar,  sei  es 
über  Wiesloch  und  Sinsheim  (wo  der  Steinsberg  die  weiteste 
Rundschau  zwischen  Rhein  und  Neckar  gewährte)  nach  Wimpffen, 
oder  nördlich  von  Bruchsal  und  Bretten  und  dann  weiter  über 
Kürnbach  nach  Bückingen  (Heilbronn)  und  andern  Orten.  Die 
Endpunkte  am  Neckar,  Wimpffen,  Bückingen  und  andere  waren 
wiederum  durch  Heerstrassen  am  linken  Ufer  verbunden. 

Auf  und  an  beiden  Seiten  einer  dieser  Strassen  zog  man 
in  breiter  Ausdehnung  durch  das  heute  und  auch  wohl  schon 
damals  so  fruchtreiche  Hügelland  des  Kraich-  und  des  Neckar- 
Gaus,  aber  im  Lauf  mehrerer  Tage  stiess  man  auf  keinen  Feind. 
Die  Wohngebäude  standen  verlassen  da  und  wurden  wie  das 
Getreide  auf  dem  Felde  niedergebrannt.  Nur  den  Lebensbedarf 
führte  man  mit  sich.  Mit  jedem  Schritt  wurden  die  Soldaten 
auf  den  Kampf  erpichter  und  machten  sich  in  Drohungen  Luft, 
als  wären  die  Alamannen  schon  aufgelünden.  So  kam  der 
Kaiser  im  langsamen  Vorrücken  in  die  Nähe  des  Orts  Solicomnum 
(So)icinium),  erhielt  die  Meldung  der  Vorhut,  dass  der  Feind 
in  Sicht  sei  und  Hess  die  Armee  plötzlich  halten. 

Das  Schlachtfeld  des  Schweinsberges. 

Der  Bund  der  alauiannischen  Gaue  (unum  spirantibus  animis) 
hatte  das  offene  Land,  es  mit  Weib  und  Kind  und  Habe  ver- 
lassend, preisgegeben  und  erwartete  nun  den  Feind  auf  einem 
hohen  Berge  mit  geräumigem  Rücken,  montem  praecelsuni; 
ad  editas  subliinitates,  Amra.  27,  10,  !i  und  12.,  auf  dem  sich 
wiederum  eine  Erhebung  befand,  post  montium  terga,  15.  Dei 


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Berg  fiel  rings  durch  zerklüftete  Hügel,  an  denen  hier  das 
Gestein  zu  Tage  trat,  dort  Gestrüpp  stand,  steil  ab  und  erschien 
unzugänglich,  montem  per  confragosos  colles  nndique  praeruptum 
et  invium,  9;  ad  arduos  clivos,  10;  ad  celsiora,  12;  ad  rupium 
objecta;  per  hirta  dumis  et  aspera,  12.  Zu  seinen  Füssen  lag 
ein  Sumpf,  radices  aggerum,  10;  palustres  uligines;  labilem 
limum,  1 1.  Nur  die  Nordseite  des  Berges  lief  in  eine  sanft 
geneigte  Fläche  aus,  septemtrionali  latere,  unde  facilem  habet 
devexitatem  et  möllern,  9 ; arctoam  montium  partein,  quam 
dementer  diximus  esse  proclivem,  10. 

Was  Ammian  so  beschreibt,  ist  der  Schweinsberg  bei  Heil- 
bronn, ein  gen  Westen  in  das  Neckarthal  sich  hinabsenkender 
Ausläufer  der  waldigen  Löwensteiner  Berge.  Sein  Rücken  ist 
flach  und  geräumig,  mit  Eich  wähl  bedeckt.  Im  Westen  springt 
er  halbkreisförmig  vor  (Schlag  Kohlpfad  mit  der  Hölle).  Auf 
dem  Rücken  ist  im  Südosten  eine  weitere  Erhebung  gelagert, 
von  deren  Spitze  ein  Aussichtsthurm  einen  reizenden  Blick  über 
die  Hügelreihen  des  württembergischen  Unterlandes  und  des 
Neckar  im  Grunde  gewährt,  über  Wald,  Rebhügel,  Aecker  und 
Wiesen,  Heilbronn  und  zahlreiche  Dörfer. 

Gen  Norden  senkt  sich  die  Hochfläche  sanft  zum  Thal 
hinab,  das  Wasser  des  Köpferbrunnens  zum  Trappensee  führend, 
fallt  dagegen  gen  Nordwesten  nach  Heilbronn,  gen  Westen 
nach  Sontheim  und  Bückingen,  gen  Süden  nach  Flein  und 
Donnbronn  steil  ab.  Diese  Berghänge  (Ochsenberg,  Riedenberg, 
Membrods)  sind  zu  wohlgerundeten  Hügeln  gegliedert,  deren 
Fuss  nach  der  Ebene  zu  breit  ausläuft.  Das  Gestrüpp  hat  sich 
in  Reben  verwandelt,  und  mit  ihrer  Jahrhunderte  alten  Kultur 
ist  das  früher  zu  Tage  getretene  Gestein,  das  die  Abhänge 
zerklüftet  erscheinen  liess,  verschwunden.  Es  waren  die  horizan- 
talen  Schicbtenköpfe  des  farbigen  Keupermergel  (Leberkies),  der 
abgegraben  und  auf  der  Oberfläche  der  Weingärten  ausgebreitet, 
rasch  verwittert  und  Für  die  Reben  fruchtbaren  Boden  liefert. 
Da  wo  sie  an  den  Rand  der  Hochfläche  reichen,  sind  noch 
Keuperschichten  vorhanden,  aber  auch  ihren  Fuss  hat  man  zu 
Menschengedenken  abgegraben  und  es  sind  jetzt  unersteigliche 
senkrechte  Wände  von  8 — lfi  Meter  zurückgeblieben.  Vom 
Riedenberg  aufwärts  zwischen  ihnen  durch  führt  der  Höllsteig 
auf  die  Hochfläche  zum  Kohlpfad  und  zur  Hölle  weiter. 


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Da  wo  der  Riedenberg  und  Membrods  unten  die  Ebene 
berühren,  finden  sieh  nebeneinander  drei  Wasserflächen  etwa 
100,  30,  80  Schritt  lang.  40,  20,  50  Schritt  breit,  an  den  Rändern 
mit  Weiden  und  Schilf  bedeckt,  in  einer  Gesammtlängenaus- 
dehnung  von  ungefähr  400  Schritten.  In  ihnen  sammelt  sich 
das  Tagwasser  der  Höhen ; die  nördliche  grösste,  die  nicht  ver- 
siegt, soll  eigene  Quellen  und  eine  Tiefe  von  etwa  10  Fuss 
haben.  Jetzt  von  Wiesen  umgeben,  haben  sie,  nach  der  Ge- 
staltung des  Bodens  zu  schliessen,  in  früherer  Zeit  einen  zu- 
sammenhängenden Sumpf  gebildet.  Die  Berghänge  und  die 
Wasserflächen  zu  ihren  Füssen  werden  durch  den  Staufenberger 
Weg  von  der  Ebene  geschieden,  die  sich  in  Aeckern  und  Wiesen 
bis  zum  Neckar  erstreckt. 

Verfolgt  man  den  Schweinsberg  gen  Süden,  so  gelangt  man 
zwischen  ihm  und  dem  Staufenberg,  einem  flachen  mit  Reben 
bedeckten  Kegel,  in  eine  Einsenkung,  die  sich  an  einer  im 
Sommer  wohl  verschwindenden  Wasserlache  vorbei  allmählig 
zum  Aussichtsthunn  erhebt  und  einen  durch  einen  holprigen 
Fahrweg  gebahnten,  weniger  steilen  Aufstieg  gewährt,  als  die 
geschilderten  Berghänge. 

Das  Alles  ist  historischer  Boden. 

Die  Aufstellung  der  Heere. 

Auf  der  Hochfläche  des  Schweinsberg  und  zerstreut  an  den 
Abhängen  standen  die  Heerbanne  der  alatnannischen  Gaue.  Im 
Süden  des  Sumpfes,  zwischen  Schweinsberg  und  Staufenberg, 
wohl  durch  Wald  gedeckt,  lag  ein  Haufe  im  Hinterhalt.  Denn, 
sagt  der  römische  Bericht,  „sie  sahen  keinen  anderen  Ausweg 
zur  Rettung  mehr,  als  dem  Angriff  der  Römer  sich  schnell 
entgegenznwerfen“.  Anders  ausgedrückt:  sie  erwarteten  in 
starker  Vertheidigungsstellung  die  Römer,  deren  Legionen  sie 
unter  sich  am  Neckar  sahen.  Mochten  sie  sich  doch  überzeugt 
halten,  dass  sie  von  da  aus  einen  Angriff  zurückweisen,  die 
Römer  die  Abhänge  hinabstürzen  und  in  der  Ebene  deren  Nieder- 
lage vollenden  würden.  Nur  an  den  Sieg  denkend,  versäumten 
sie,  den  Aufstieg  von  der  Nordseite  zu  sichern,  ex  incauto 
latere,  15,  und  sich  so  eine  Rückzugslinie  offen  zu  halten. 

Solicomnum,  der  Ort,  bei  dem  die  römische  Armee  Halt 
gemacht,  mag  etwa  bei  Böckingen,  wo  verschiedene  Rümer- 


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Strassen  am  Neckar  mündeten,  zu  suchen  sein.  Von  Bückingen 
am  linken,  und  von  Ueiibronn,  Sontheim  und  Flein  am  rechten 
Ufer  sieht  man  in  einer  Entfernung  von  etwa  3 4 bis  1 a Stunde 
die  steilaulsteigenden  Rebhügel  und  über  ihnen  die  Waldbekrönung 
des  Schweinsberg  vor  und  über  sich.  Angesichts  der  Berghänge 
uud  durch  den  Bericht  der  Vorhut  über  den  nördlichen  Zugang 
des  Berges  in  Kenntniss  gesetzt,  beschloss  der  römische  Kriegs- 
ratu  unter  der  Ungeduld  der  Legionen  und  dem  Kriegsgesang 
der  Alamannen,  der  in  die  Ebene  herabschallte,  in  aller  Schnellig- 
keit, den  nördlichen  Zugang  zu  sperren,  den  Schweinsberg  von 
unten  auf  an  seinen  steilen  Abhängen  zu  stürmen,  so  die  Ala- 
mannen,  die  sich  endlich  dem  Angriff  stellten,  auf  der  Hochfläche 
festzuhalten  und  einzuschliessen  und,  wenn  das  Schicksal  es 
vergönnte,  dort  zu  vernichten. 

Für  diese  dem  römischen  Heer  gestellte  Aufgabe  sind  die 
Höhenverhältnisse  von  Interesse.  Der  Neckar  hat  bei  Heilbronn 
eine  Höhe  von  148,  bei  Sontheim  von  154  Meter;  aus  der  sich 
anschliessenden  Ebene  erheben  sich  die  Berghänge  bis  zum 
Hochrande  um  264  Meter,  die  zu  ersteigen  waren,  denn  die 
Hochfläche  selbst  liegt  318,  der  Fusspuukt  des  Aussichtsthurms 
368  Meter  hoch,  während  der  Trappensee  bei  einer  Entfernung 
von  3,'4  Stunden  bereits  zu  183  Meter  über  normal  Null  ge- 
sunken ist. 

Die  Römer  schlugen  nach  ihrer  Gewohnheit  ein  Lager  auf 
und  dann  rief  man  überall  zu  den  Waffen.  Die  Armee  setzte 
etwa  bei  Sontheim  über  den  Neckar,  durchschritt  die  Ebene  uud 
stellte  sich  etwa  auf  dem  Staufenberger  Wege  zu  Füssen  der 
Berghänge  auf,  im  ersten  Treffen  der  Kaiser  und  Severus,  im 
zweiten,  retro,  10,  Jovinus,  dem  auch  der  Knabe  Gratian  bei- 
gegeben war.  Der  Sumpf  blieb  zur  Rechten.  Sebastianus 
marschirte,  wohl  im  Schutz  von  Wäldern,  unbemerkt  über  Heil- 
bronn und  den  Trappeusee,  stieg  in  der  Richtung  zum  Köpfer- 
brunnen empor  und  besetzte  hinter  der  Höhe  des  Aussichts- 
thurms,  post  montium  terga,  15,  das  Hochplateau  im  Norden 
und  Osten. 

Die  Legionen  standen  des  Befehls  des  Kaisers  und  seiner 
Generale  gewärtig,  und  sahen  sehnsüchtig  der  Erhebung  der 
kaiserlichen  Standarte  entgegen,  dem  Zeichen  zur  Eröffnung  des 
Kampfes. 


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15R 


Der  Kaiser. 

Valentiuian  war  der  Ansicht,  es  müsse  sicli  noch  ein  anderer 
Aufstieg  zum  Schweinsberg  finden  lassen,  als  der,  welchen  im 
Norden  die  Vorhut  ermittelt  hatte.  Sonst  zaudernd  und  vor- 
sichtig, ging  er  unbedeckten  Hauptes  durch  die  Centurien  und 
Manipeln,  und  eilte  dann,  ohne  einen  der  höheren  Officiere  ins 
üeheimniss  zu  ziehen,  seine  Trabanten  zurücklassend,  mit  wenigen 
tüchtigen  und  vertrauten  Begleitern  um  den  Fuss  des  Berges 
selbst  in  Augenschein  zu  nehmen,  speculatum  radices  aggerum,  10. 
Auf  unbekanntem  Pfade  an  dem  Sumpf  vorbeisprengend,  würde 
er  seiner  Voraussicht  gemäss  zwischen  Schweinsberg  und  Staufen- 
berg in  der  That  den  unten  vielleicht  versumpften  Aufstieg  zum 
heutigen  Aussichtsthurm  gefunden  haben,  aber  plötzlich  brach 
der  alamannische  Haufe  aus  dem  Hinterhalt,  und  es  wäre  um 
den  Kaiser  geschehen  gewesen,  wenn  er  nicht,  das  äusserste 
Mittel  versuchend,  mit  dem  Pferd  durch  den  Sumpf,  per  labilem 
limum,  11,  gesetzt  wäre  und  sich  mitten  unter  die  Legionen 
gestürzt  hätte.  Und  damit  dem  kaiserlichen  Abenteuer  auch 
nicht  das  Märchenhafte  fehlte:  der  Träger  seines  mit  Gold  und 
Diamanten  besetzten  Helmes  verschwand,  und  weder  Träger 
noch  Helm  sah  man  jemals  wieder. 

Der  Kampf. 

Nun  wurde  das  Zeichen  zum  Kampfe  aufgesteckt  und  die 
Truppen  setzten  sich  in  Bewegung,  voran  zwei  junge  Krieger 
Salvius  und  Lupicinus,  wie  erlesen,  den  gefahrvollen  Kampf 
zu  eröffnen.  Mit  fürchterlichem  Geschrei  die  Ihr  igen  anfeuernd, 
die  Speere  schwingend,  stürzten  sie  zu  den  Abhängen  vor  und 
suchten,  vielleicht  auf  dem  Höllsteig,  uuter  den  Gegeustössen 
der  Alamannen  die  Höhe  zu  erklimmen.  Das  Gros  des  Heeres, 
wohl  das  erste  Treffen,  folgte  und  kletterte  mit  gewaltiger 
Anstrengung  an  Felsen  und  Gestrüpp  bis  zu  der  Hochfläche 
empor. 

Hier  entbrannte  etwa  in  der  Hölle  unter  furchtbarem 
Kriegsgeschrei,  dem  Klang  der  Tuben  und  dem  Gewieher  der 
alamannischen  Pferde  das  Handgemenge,  römische  Taktik  auf 
der  Einen,  Ungestüm  und  Unbedacht  der  Alamannen  auf  der 
anderen  Seite.  Die  Römer  fassten  festen  Fuss,  gewauneu 


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159 


weiteren  Spielraum  und  umfassten  mit  beiden  Flügeln  den 
Feind.  Dieser  widerstand  um  so  ausdauernder,  und  so  stellte 
sich  das  Gleichgewicht  wieder  her.  Hartnäckig  setzte  sich  der 
Kampf  fort,  beiderseits  unter  schweren  Verlusten. 

Endlich  aber  siegte  die  Wucht  der  Römer,  die  Masse  der 
Alamannen  wurde  auseinandergedrängt.  In  völliger  Bestürzung 
drängten  die  Vorderen  auf  die  Hinteren  zurück  und  wurden 
von  Lanzen  und  Wurfspeeren  durchbohrt.  Dann  flohen  alle 
erschöpft  und  Hessen  den  Verfolgern  Rücken  und  Beine  frei. 
Viele  wurden  niedergemacht.  Und  nun  rächte  sich  der  Unbe- 
dacht der  Alamannen.  Ein  Tlieil  der  Flüchtigen  fiel  der  Re- 
serve des  Sebastianus  in  die  Hände,  die  Uebrigen  zerstreuton 
sich  in  dem  Dunkel  der  Wälder. 

Hiermit  bricht  Ammian  seine  Darstellung  ab,  wie  so  oft, 
wenn  er  an  der  für  die  Römer  günstigen  Entscheidung  der 
Kriegszüge  angekommen  ist;  später  fügt  er  an  einer  anderen 
Stelle,  30,  7,  7,  wohl  übertreibend,  noch  bei:  es  gelang  dem 
Kaiser,  die  Alamannen  zu  vernichten  und  nur  wenige  rettete 
iui  Dunkel  eilige  Flucht. 

Hat  sich  eine  Erinnerung  an  den  Kampf  nur  in  der  Dar- 
stellung der  Römer  erhalten?  Zerstreut  auf  der  Höhe  des 
Schweinsberg,  und  insbesondere  da,  wo  der  Kampf  gewüthet 
hat,  liegen  24  Hügelgräber  und  3 Reihengräber.  Von  den 
ersteren  sind  in  früherer  Zeit  8 geöffnet,  ohne  dass  sich  von 
ihrem  Inhalt  Kuude  erhalten  hat,  in  einem  nennten  hat  sich 
nur  Asche  auf  einer  Steinplatte  gefunden.  Vielleicht  geben  die 
anderen  Gräber,  wenn  befragt,  Kunde  von  dem  Geschehenen. 

Der  Schweinsberg  im  17.  Jahrhundert. 

Nicht  dies  einzigemal  war  der  Schweinsberg  Zeuge  krieger- 
ischer Ereignisse.  Als  die  Franzosen  1693  die  Pfalz  zerstört, 
zogen  sie  unter  dem  Dauphin  Ludwig  des  XIV.  südlich  von 
Heilbronn  über  den  Neckar.  Der  Markgraf  Ludwig  von  Baden 
deckte  mit  den  Reichstruppen  die  Stadt,  die  zu  einem  befestigten 
Waffenplatz  ausersehn  war.  Er  legte  auch  auf  der  Höhe  des 
Schweinsbergs  drei  Schanzen  in  Vierecken  mit  eingezogenen 
Seiten  an,  die  von  50  bis  150  Schritt  variirten.  Zwei  von 
ihnen  lagen  da,  wo  der  Ochsenberg  und  der  Riedenberg  an  den 
Hochrand  stossen,  der  dritte  vom  Rande  entfernter,  nördlich 


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von  der  Hölle.  Hier  schlitzte  man  sich  auf  alle  Fälle  gegen 
einen  Angriff  der  Franzosen.  Es  war  in  der  Tliat  da,  wo  die 
Römer  etwa  die  Höhe  des  Schweinsberges  bestiegen  hatten,  und 
wo  die  Entscheidung  fiel.  Aber  schwächlich  war  der  Zusammen- 
stoss  der  beiden  modernen  Heere  in  der  Neckarebene.  Die 
Franzosen  zogen  sich  über  den  Fluss  zurück,  und  man  liess  sie 
gewähren.  Die  Schanzen  waren  umsonst  aufgeworfen.  Ihre 
niederu  Erdaufwttrfe  und  Gräben  sind  noch  heute  zu  sehen. 

Die  Lage  von  Solicomnum. 

Nun  aber  ist  zu  prüfen,  ob  Solicomnum  in  der  Tliat  bei 
Bückingen  gelegen  ist.  Es  spricht  dafür  seine  Lage  einmal 
zwischen  Alta  Ripa  und  der  Donauquelle,  dem  Anfang  und 
dem  Ende  des  Zugs,  dann  am  Kreuzungspunkt  der  römischen 
Strassen  und  weiter  im  Angesicht  des  Schweinsberges.  Dazu 
kommt  der  sprachliche  Zusammenhang  des  Namens  mit  Sol, 
der  Sonne;  übersetzt  doch  Backmoister  Solieinium  mit  Sonnen- 
sang.  Bei  Bückingen  am  Rande  eines  alten  Neckarbettes  befand 
sich  ein  römisches  Kastell,  dessen  Reste  neuerdings  aufgefunden 
sind,  und  weiter,  bis  der  Eisenbahnbau  ihn  zerstört  hat,  ein 
Sonnenbrunnen,  ein  alter  Name,  denn  auch  das  von  Grossgartach 
auf  ihn  zu  führende  Thal  heisst  das  Sonnenbrunnenthal,  und  es 
könnte  nicht  ohne  locale  Bedeutung  sein,  dass  in  Bückingen 
Votivsteine  für  den  unbesiegten  Mithras  und  den  pythischen 
Apollo,  allerdings  unter  Widmungen  für  andere  Gottheiten,  ge- 
funden sind.  Noch  mag  der  Name  des  am  Neckar  gegenüber- 
liegenden Orts  Sontheim  nicht  unerwähnt  bleiben,  der  Südheim 
bedeutend,  neben  Nordheim  in  Schwaben  viellach  vorkommt. 
Auch  in  der  Nähe  von  Sontheim  am  Neckar  liegt,  jedoch  im 
Westen,  ein  Nordheim.  Der  Name  Sontheim  hat  zur  Sonne 
nur  insoweit  Beziehung,  als  Süden,  „Sund“  mit  „Sonne“  zu- 
sammengestellt werden  kann.  (Sanders,  Wörterbuch:  Sonne, 
Anmerkung). 

Während  hiernach  Solicomnum  jedenfalls  am  mittleren 
Neckar  zu  suchen  ist,  hat  man  es  früher  gemeiniglich  an  den 
oberen  Neckar  nach  Sulz  oder  nach  Sülchen,  OA.  Rottenburg, 
dem  Gleichklang  der  Worte  folgend,  verlegt.  Für  Sulz  sprechen 
sich  Richter  und  von  Wietersheim  aus.  Das  Gebiet  um  Rotteu- 
bnrg  bildete  zur  römischen  Zeit  die  Civitas  Sumloeenna,  für 


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161 


deren  Hauptstadt  man  Solicinium  hielt;  zur  alamannischen 
Zeit  den  Sttlichgau  mit  der  noch  heute  erhaltenen  Malstätte, 
dem  Ort  Sülchen ; so  die  beiden  Stalin  und  Uhland.  Sie  stellen 
jedoch  die  Hypothese  mit  grösserem  oder  geringerem  Vorbehalt 
dar  und  weisen  selbst  die  Möglichkeit  nicht  ab,  dass  ein  zweites 
Solicinium  bestanden  habe.  Beiden  Auffassungen  steht  entgegen, 
dass  ein  Berg,  wie  der  von  Ammian  beschriebene,  sich  am  oberen 
Neckar  nicht  anffinden  lässt,  doch  meint  Uhland,  es  lasse  sich 
über  die  Frage  nicht  entscheiden,  bevor  der  versunkene  Kaiser- 
helm wieder  aufgefunden  sei. 

Der  Zug  zum  Donauursprung. 

Vom  Schweinsberg,  an  dessen  Fuss  er  verloren  gegangen, 
zog  das  römische  Heer  nun  aufwärts,  durch  die  Sitze  der  Sneven, 
den  Neckar-,  den  Nagold-  und  den  Wester-Gau  zur  Quelle  des 
Neckar  und  von  da  zur  Quelle  der  Donau.  Verfolgte  es  bis 
dahin  die  geschlagenen  Alamannen,  stellten  sich  ihm  neue 
Heerbanne  auderer  Gaue  entgegen,  und  kam  es  mit  ihnen  von 
Neuem  zu  einer  Schlacht?  Wir  erfahren  von  Ausonius  nur 
von  der  Flucht  der  Alamannen  über  die  Quelle  der  Donau. 
War  cs  an  dem  Ursprung  der  Brigach,  an  dem  der  Brege  oder 
bei  Donaueschingen? 

Mit  keinem  Wort  hören  wir,  aut  welchem  Wege  das  Heer 
wieder  zum  Rhein  gelangt  ist.  Die  illyrischen  und  italischen 
Legionen  des  Sebastianus  werden  die  grosse  Consularstrasse 
eingeschlagen  haben,  die  von  Donaueschingen  gen  Süden  durch 
den  lenzischen  Klettgau  nach  Vindonissa  (Windisch)  führte, 
während  die  übrigen  Truppen  quer  durch  den  Schwarzwald, 
den  Breisgau,  das  Gebiet  des  ermordeten  Königs  Vithikab 
ziehend,  etwa  bei  Freiburg  zum  Rhein  gelangt  sein  mögen,  um 
auch  auf  diesem  Wege  die  Schrecken  der  römischen  Waffen 
zu  verbreiten.  Von  hier  kehrten  sie  in  die  Winterquartiere 
heim,  der  Kaiser  mit  seinem  Sohne  nach  Trier. 

Keine  Ziffer  bezeugt,  wie  gross  das  Heer  der  Römer 
war,  wie  gross  die  vereinigten  Gauheere  der  Alamannen,  wie 
stark  die  beiderseitigen  Verluste  waren.  Mit  all  den  Gauen, 
durch  welche  die  Spur  von  Mord  und  Brand  zog,  werden  er- 
neute Bündnisverträge  mit  erschwerten  Bedingungen  abge- 
schlossen sein. 

Cr»m«r,  Geschichte  der  AUmanneo.  1 ] 


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162 


Dio  Folgen  des  Zuges. 

Ammian  zählt  30,  7,  7,  wie  die  Ermordung  des  Vithikab, 
so  den  Sieg  bei  Solicomnum  zu  den  Grossthaten  des  Valeutinian. 
In  der  Lobrede  des  Symmachus  auf  den  Kaiser  heisst  es:  „Wir 
haben  den  Neckar  nunmehr  als  Geisel  empfangen,  damit  sich 
der  Rhein  des  römischen  Friedens  erfreue.  Jetzt  erst  ist  der 
Neckar  durch  deine  Siege  bekannt  geworden“.  Ausonius  singt 
in  seinen  Epigrammen  die  beiden  Kaiser  Valeutinian  und  Gratian, 
Vater  und  Sohn  an:  „Der  (dritte)  Kaiser  Valens,  der  an  der 
unteren  Donau  gegen  die  Gothen  kämpft,  soll  es  wisseu,  dass 
jetzt  die  ganze  Donau  römisch  ist,  dass  die  Sueven  durch  Nieder- 
lage, Flucht  und  Brand  untergegangen,  dass  der  Rhein  nicht 
mehr  die  Grenze  von  Gallien  ist;“  und  in  seinem  Lied  auf  die 
Mosel  fasst  er  die  Hauptmomente  des  Feldzuges  dahin  zusammen: 
„Die  Mosel,  von  der  Residenz  Trier  herabströmend,  sah  den 
vereinten  Triumphzug  von  Vater  und  Sohn,  als  die  Feinde  über 
den  Neckar  und  Lopodunum  und  über  die  Quelle  der  Donau, 
bis  dahin  der  Geschichte  des  römischen  Reichs  unbekaunt,  ge- 
trieben waren“. 

Augustae  veniens  quod  moenibus  urbis 
Spectavit  junctos  natique  patrisque  triumphos, 

Hostibus  exactis  Nicrum  super  et  Lopodunum 
Et  fontem  Latiis  ignotum  annalibus  Histri. 

In  Wahrheit  waren  aber  weder  der  Neckar  noch  die  Donau- 
Quelle  unbekannt,  in  Wahrheit  wurde  weder  der  Neckar  noch 
die  obere  Donau  römisch,  und  der  Rhein  blieb,  abgesehen  von 
dem  abgetretenen  Streifen  Landes  bei  Alta  Ripa,  was  er  gewesen 
war,  die  Grenze  zwischen  dem  römischen  Reich  und  dem  Ala- 
maunenland. 


Der  Schutz  der  Rheingrenze. 

Nachdem  der  Kaiser  so  das  Ansehen  des  römischen  Reiches 
in  Gallien  und  Alamannien  wieder  hergestellt  hatte,  brachte  er 
nunmehr  den  Plan  des  dauernden  Schutzes  der  Rheingrenze  zur 
Ausführung.  Von  Rätien  bis  zur  Meerenge  am  Ocean  liess  er 
das  linke  Ufer  durch  grosso  Dämme,  Castelle,  Schanzen  und 
Thürme  in  geringen  Entfernungen  befestigen.  Der  Fortdauer 
der  Arbeiten  geschieht  noch  im  Jahr  370  Erwähnung  und  im 


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Jahr  374  wurde  ihre  Reihe  durch  Anlage  der  Veste  Robur 
(Basel- Angst)  am  Ausfluss  der  Ergolz  in  den  Rhein  ergänzt. 

Aber  auch  auf  dem  rechten  Ufer  genügte  ihm  die  Veste 
Alpa  Ripa  nicht  mehr.  Was  am  Main  das  Munimentum  Trajani 
war,  ein  vorgeschobener  Posten  von  Mogontiacum  und  Castellum, 
das  sollte  am  Neckar  der  mons  Pirus,  der  Heiligenberg  bei 
Heidelberg  werden.  Er  lag  nicht  innerhalb  des  um  Alta  Ripa 
abgetretenen  Gebietes,  sondern  im  Alamanuenlande,  in  monte 
Piri,  qui  barbaricus  locus  est.  Unter  offenem  Bruch  des  Bündniss- 
vertrages  von  368,  pactis  calcatis,  28,  2,  7,  Hess  er  im  nächsten 
Jahre  überraschend  die  Fundamente  einer  Veste  legen.  Aber 
die  Alamannen  überfielen  die  Soldaten  und  machten  sie  nieder. 
Dem  gingen  jedoch  vergebliche  flehentliche  Bitten  der  Väter 
der  Geiseln  an  die  Römer  vorher,  von  dem  Unternehmen  ab- 
zustehen. Denn  sie  mussten  fürchten,  dass  ihre  Söhne  den 
Streit  zwischen  beiden  Völkern  mit  dem  Leben  zu  zahlen  haben 
würden,  und  es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  dass  ihre  Furcht  sich 
bestätigt  hat,  wenngleich  Ammian  darüber  schweigt. 

Diese  Schlappe  des  Kaisers  beweist,  wie  unzuverlässig  die 
Erfolge  waren,  die  sich  au  den  siegreichen  Feldzug  knüpften. 

Bissula. 

Ein  für  Schwaben  Erfreuliches  hat  er  gebracht:  die  Kunde 
von  einem  suevischen  Mädchen,  der  ersten  aller  gefeierten 
Schwäbinnen. 

Unter  der  Beute  vom  Donauquell  war  die  schöne  Bissula. 
Sie  fiel  dem  Dichter  Ausonius  zu,  der  sie  der  Freiheit  zurück- 
gab und  (nach  der  Uebertragung  von  Stäliu)  von  ihr  saug: 

Bissula,  jenseit  des  frostigen  Rheins  gezeugt  und  erzogen, 

Bissula,  welche  den  Quell  kennt  von  Danubius  Strom, 

Einst  gefangen  im  Krieg,  dann  losgelassen,  ist  jetzt  sie 

Hohe  Wonne  für  den,  welchem  zur  Beute  sie  ward. 

Zur  Lateinerin  ist  sie  nun  worden;  doch  deutsch  noch  von 

Antlitz, 

Himmelblau  noch  ihr  Aug’,  golden  das  röthlichte  Haar. 

Andre  Heimath  verräth  die  Gestalt,  und  andre  die  Sprache; 

Diese  ein  römisches  Kind,  jene  das  Mädchen  vom  Rhein. 

ii* 


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164 


An  ihren  Maler  sang  er: 

Meine  Bissula,  Maler!  — sie  alinit  nicht  Farbe,  nicht 

Wachs  nach, 

Reize  verlieh  ihr  Natur,  wie  nimmer  der  Kunst  sie  gelingen. 
Mennig  und  Bleiweiss!  geht  und  malet  andere  Mädchen! 
Denn  dies  Farbengemisch  des  Gesichts  — nicht  malen  es 

Hände. 

Mische  doch,  Maler,  wohlan  die  purpurne  Ros'  und  die  Lilje, 
Und  mit  der  duftigen  Farbe  davon  dann  male  dies  Antlitz. 


Literatur. 

Maurer,  Valentinians  Feldzug  gegen  die  Alamannen  in  der 
Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Oberrheins  Bd.  42  S.  303. 
Öhlenschläger,  Alta  Ripa  in  der  Westdeutschen  Zeitschrift  Bd.  1 1 , 
S.  18.  Uhland,  Schriften  zur  Geschichte  der  Dichtung  und 
Sage  Bd.  8 S.  282.  Die  Beschreibung  des  Oberamts  Heilbronn, 
S.  3,  4,  7,  28.  Das  württembergische  Franken,  Zeitschrift  1869, 
Bd.  8 S.  336.  Härle,  die  Kriegsereignisse  des  Jahres  1693  in 
der  Umgegend  von  Heilbronn,  Vortrag  1882. 

Weitere  lokale  Einzelheiten  verdanke  ich  der  Güte  des 
Herrn  Professor  Dr.  Dürr  in  Heilbronn. 


12.  Die  Burgund  innen. 

Das  Bündniss. 

Die  Zurückweisung  der  Alamannen  ans  Gallien,  ihre  Nieder- 
lagen im  eigenen  Lande  am  Neckar  und  der  Donau  reichten 
nicht  aus,  auf  den  römischen  Grenzen  Ruhe  zu  schaffen.  Die 
Alamannen  und  ihr  König  Makrian  fuhren  fort,  durch  unaus- 
gesetzte Einfälle  die  Nachbarprovinzen  in  Verwirrung  zu  halten. 
„Denn  dieses  schreckliche  Volk,  obwohl  von  seiner  ersten  Kind- 
heit an  durch  den  Wechsel  des  Geschicks  wiederholentlich  ge- 
schwächt, wuchs  eben  so  oft  wieder  zu  jugendlicher  Kraft  heran, 
so  dass  man  meinen  sollte,  es  sei  Jahrhunderte  lang  verschont 


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165 


geblieben.“  Valentinian  sann  daher  auf  Mittel,  ihren  Trotz  zu 
brechen  und  kam  endlich  auf  den  Gedanken,  die  Burgundionen 
zu  deren  Vernichtung  aufzurufen.  370. 

Es  war  ein  altes  Mittel  römischer  Politik,  zu  ihrer  Unter- 
stützung Barbaren  heranzuziehen.  Hatte  doch  Constantius  II. 
neuerdings  die  Alamannen  gegen  den  Kaiser  Magnentius  und 
den  Cäsar  Julian  verwendet.  Dann  hatte  er  in  Gemeinschaft, 
wahrscheinlich  nach  vorherigem  Einvernehmen  mit  den  Burgun- 
dionen gegen  die  Alamannen  gekämpft,  und  der  Kampfgenossen- 
schaft war  es  sicher  forderlich  gewesen,  dass  die  Burgundionen 
sich  den  Römern  für  blutsverwandt  hielten.  Der  Cäsar  Julian 
wird  nicht  unterlassen  haben,  als  er  am  Limes  in  der  Nähe 
ihrer  Grenze  stand,  in  ihnen  das  Gefühl  der  Waffenbrüderschaft 
rege  zu  erhalten.  In  der  That  schickten  sie  auch  dem  Valen- 
tinian, als  er  die  Veste  Alta  Ripa  baute,  eine  Gesandtschaft, 
welche  ein  Freundschaftsbündniss  antrug:  als  Verwandte  in 
Frieden  vereint,  wollten  sie  sich  dem  sieggewohnten  Reich  an- 
schliessen  (Symmachus).  Und  werth voll  war  eine  solche  Bundes- 
genossenschaft, denn  sie  waren  ein  streitbarer  Stamm,  unendlich 
reich  an  jugendlicher  Mannschaft  und  furchtbar  für  alle  Nachbarn. 

Wie  sie  mit  den  Alamannen  schon  seit  hundert  Jahren  im 
Grenzstreit  mit  wechselndem  Erfolg  gelebt,  wie  sie  zusammen 
mit  Constantius  gegen  sie  gekämpft,  ist  bereits  (S.  96)  erwähnt. 
Und  wenn  damals  auch  der  Limes  als  Grenze  zwischen  beiden 
Stämmen  festgesetzt  sein  mochte,  so  lagen  sie  doch  wieder  im 
Grenzstreit  zumal  um  die  Salzquellen,  sei  es  von  Schwäbisch- 
Hall,  sei  es  von  Kissingen,  und  hier  trafen  die  Burgundionen 
auf  ihren  alamannischen  Nachbar,  den  König  Makrian,  ihren 
und  der  Römer  gemeinsamen  Feind. 

Alle  diese  Umstände  bestimmten  den  Kaiser,  den  Burgun- 
dionen ein  gemeinsames  Unternehmen  gegen  die  Alamannen 
vorzuschlagen.  Ihren  Königen  schickte  er  durch  sichere  Boten 
Briefe  mit  der  dringenden  Aufforderung,  zu  einer  bestimmten 
Zeit  über  sie  herzufallen.  Er  selbst  werde  mit  Heeresmacht 
über  den  Rhein  kommen  und  sich  den  Aufgescheuchten  entgegen- 
werfen. 

Die  Könige  der  Burgundionen,  von  Ammian  Hendinos  ge- 
nannt (S.  62),  an  welche  Valentinian  sich  w'endete,  wurden  nach 
alter  Gewohnheit  für  das  Geschick  ihres  Stammes  verantwortlich 


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gemacht.  Einen  unglücklichen  Krieg,  einen  Misswachs  büssten 
sie  mit  dem  Verlust  ihrer  Würde,  während  der  Priester  des 
Stammes,  Sinistus  genannt,  lebenslänglich  und  den  Fährlichkeiten 
der  Könige  nicht  unterworfen  war. 

Die  kaiserlichen  Briefe  fanden  bei  den  Hendinos  freund- 
liche Aufnahme. 

Der  Feldzug. 

Sie  schickten  auserlesene  Truppen  ins  Feld,  deren  nach 
Hieronymus  80  000  Mann  gewesen  sein  sollen,  und  zogen,  sei 
es  den  Main,  sei  es  den  Neckar  oder  beide  Flüsse  hinab.  Hier 
stiessen  sie  nur  auf  vereinzelte  Haufen  von  Alamannen,  die  es 
zu  einer  Vereinigung  nicht  gebracht  hatten,  machten  zahlreiche 
Gefangene  und  kamen  noch  vor  der  verabredeten  Zeit  an  das 
Ufer  des  Rheins,  wo  ihr  Erscheinen  keinen  geringen  Schrecken 
erregte.  Denn  der  Kaiser  war  abwesend  und  noch  durch  den 
Bau  der  Grenzbefestigungen  in  Anspruch  genommen.  Er  kam 
auch  nicht  zu  dem  bestimmten  Tage  und  that  Nichts,  um  sein 
Versprochen  einzulösen.  Die  Hendinos  schickten  daher  Gesandte 
an  das  Hoflager  und  verlangten,  um  ihren  Rücken  zu  decken, 
Beistand  für  die  Heimkehr. 

Aber  die  Arbeit,  zu  der  die  Burgundionen  aufgerufon,  war 
gethan.  Sie  hatten  die  Alamannen  geschwächt,  wie  es  nur  ein 
Feldzug  des  Kaisers  hätte  thun  können,  und  die  Bundesgenossen 
heim  zu  geleiten,  nur  um  eine  Zusage  zu  erfüllen,  lag  ausser 
dem  Bereich  römischer  Politik.  Man  suchte  die  Hendinos  mit 
nichtigen  Vorwänden  hinzuhalten,  bis  sie  empört  über  die  kaiser- 
liche Treulosigkeit,  die  Spott  mit  ihnen  getrieben,  wieder  auf- 
brachen. Um  den  Zug  zu  erleichtern,  Hessen  sie  die  alamannischen 
Gefangenen  tödten  und  kehrten,  ohne  Zweifel  von  der  Rache 
der  Alamannen  gefolgt  und  nach  erbitterten  Gefechten  in  die 
Heimath  zurück. 

Ob,  was  der  Kaiser  verbrochen,  die  Burgundionen  an  ihren 
Hendinos  gerächt  haben,  hat  Ammian  nicht  überliefert. 

Während  Valentinian,  der  zu  seinem  Leidwesen  erfuhr,  dass 
Makrian  nicht  in  die  Hände  der  Burgundionen  gefallen  sei, 
ruhig  in  Gallien  blieb,  benutzte  Theodosius,  General  der  Reiterei 
(der  Vater  des  spätem  gleichnamigen  Kaisers),  die  günstige 
Gelegenheit,  von  Rätien  aus  einen  Angriff  auf  die  Alamannen, 


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der  Lage  nach  auf  die  Juthungen  oder  Lenzer  zu  machen. 
Viele  wurden  erschlagen,  zahlreiche  Gefangene  schickte  er  auf 
Befehl  des  Kaisers  nach  Italien,  wo  sie  fruchtbare  Landstriche 
am  Po  erhielten  und  als  reichsunterthänige  Gaue  tributpflichtig 
wurden. 


13.  Der  König  Makrian. 

Die  Jagd. 

Nach  einigen  Jahren  taucht  Makrian,  der  König  des  Buchen- 
gaus, wieder  aus  seinem  mystischen  Dunkel  auf.  Bei  den  ver- 
schiedenen, gegen  die  Alamannen  ergriffenen  Massregeln  war 
seine  Bedeutung  nur  gestiegen,  und  jetzt  erhob  er  sich  wieder 
mit  jugendlicher  Kraft  gegen  die  Römer,  der  furchtbare  Makrian, 
der  selbst  vor  Angriffen  auf  ummauerte  Städte  nicht  zurück- 
scheute 1 

Nachdem  dem  Kaiser  die  Beseitigung  des  Führers  der  ala- 
mannischen  oberen  Gaue,  des  Vithikab  vom  Breisgau,  gelungen, 
beschloss  er  nun,  sich  auch  des  Haupts  der  untern  Gaue,  des 
mächtigen  Makrian,  des  offenen  Feindes  mit  List  und  Gewalt 
zu  bemächtigen,  wie  einst  Julian  einem  versteckten  Gegner, 
dem  Vadomar  gegenüber  gethan.  373. 

Es  wurde  anskundschaftet,  wo  Makrian  in  seinem  Gau  sich 
aufhielt,  und  in  aller  Heimlichkeit  ein  Zug  dahin  vorbereitet. 
Der  Kaiser  kam  dazu  von  Trier  nach  Mainz,  bestimmte  Reiterei 
unter  Theodosius,  Fussvolk  unter  Severus,  und  Hess  den  Soldaten 
einschärfen,  des  Sengens  und  Plünderns  in  Feindesland  sich  zu 
enthalten.  Alles  Gepäck  Hess  man  zurück,  nur  einige  Decken 
für  den  Kaiser  wurden  mitgeführt. 

Er  selbst  führte  die  Truppen  auf  einer  Schiffbrücke  über 
den  Rhein  und  schlug  in  der  Stille  die  Strasse  ein,  die  über  Wies- 
baden, Mattiacae  aquae,  hinaus  in  den  Osten  führte.  Severus, 
mit  dem  Fussvolk  voran  marschirend,  überzeugte  sich  aber  bald, 
das  dieses  an  Zahl  zu  gering  sei,  um  einem  kräftigen  Angriff 
Widerstand  leisten  zu  können,  und  Hess  daher  weiteres  von 
Mainz  kommen.  Unterdess  stiess  man  auf  einen  Trupp  Sclaven, 


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die  zum  Markt  geführt  wurden.  Sie  wurden  uiedergehauen,  um 
das  Geheimniss  nicht  verrathcn  zu  können. 

In  der  Nacht  machte  man  kurze  Rast  und  brach  gegen 
Morgen  unter  der  Führung  von  Kundschaftern  auf,  Theodosius 
mit  der  Reiterei  an  der  Spitze,  Severus  mit  dem  Fussvolk 
folgend.  Schon  kam  man  in  die  Nähe  des  Königs,  als  die  Yer- 
heerungslust  der  Soldaten  Meister  wurde.  Prasselndes  Feuer 
und  lärmende  Rufe  machten  die  Trabanten  des  Königs  aufmerk- 
sam. Auf  einem  leichten  Wagen  konnte  er  entfliehen  und  durch 
eine  Schlucht  sich  über  Hügel  in  Sicherheit  bringen.  „So  kam 
Valentinian  durch  die  Zügellosigkeit  der  Soldaten  um  den  Ruhm 
seiner  Unternehmung.“  „Finster  wie  ein  Löwe,  der,  wenn  ihm 
ein  Hirsch  oder  ein  Reh  entkommen,  die  leeren  Zähne  zu- 
sammenbeisst,“  verwüstete  er  den  Buchengau  bis  zum  fünfzigsten 
Meilenstein,  etwa  bis  an  den  Fuss  des  Vogelsgebirges  und  setzte 
an  Makrians  Stelle  den  Fraomar  als  König  der  Bucinobanten 
ein.  Dann  kehrte  er  nach  Trier  zurück. 

Die  Verwüstungen. 

Der  König  Fraomar  fasste  jedoch  keine  Wurzel  in  seiner 
Stellung.  Der  Buchengan  empörte  sich  gegen  ihn  und  wurde 
zum  zweiten  Mal  von  einem  römischen  Heere  verwüstet.  Dann 
wurde  aber  der  neue  König  mit  dem  Rang  eines  Tribunen  an 
die  Spitze  der  alamannisehen  Cohorte  in  Britaunien  versetzt, 
die  durch  ihre  Stärke  ausgezeichnet  war.  Seitdem  erscheint 
Makrian  wieder  in  seiner  Königswürde. 

Auch  die  Adalinge  Bitherid  uud  Hortar,  primates,  wurden 
zu  römischen  Officieren  gemacht,  Letzterer  später  jedoch  wegen 
eines  hoehverrätherischen  Briefwechsels  mit  Makrian  und  Ada- 
lingen  seines  Stammes,  nachdem  er  unter  der  Folter  ein  Ge- 
ständnis abgelegt,  zum  Feuertod  verurtheilt. 

Nachdem  Valentinian  368  die  Gaue  des  Neckargebiets,  373 
zweimal  den  Buchengau  verwüstet  hatte,  heisst  es  374  wieder: 
er  verheerte  ein  paar  Alamannengaue,  post  vastatos  aliquos 
Alamanniae  pagos.  Es  werden  die  obern  (der  Breisgau  und 
die  Lenzer  Gaue)  gewesen  sein,  in  denen  wohl  der  Geist,  des 
Vithikab  weiter  lebte,  denn  der  Kaiser  baute  dann  die  Veste 
Robur  in  der  Nähe  von  Basel,  prope  Basiliam  munimentum 
Robur.  Wenn  man  von  den  Gauen  des  mittleren  und  unteren 


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Rhein  absieht,  welche  unter  dem  Druck  der  Oberrheinischen 
Besatzungen  standen,  so  waren  es  fast  alle,  welche  sich  gegen 
die  römische  Herrschaft  empörten,  fast  alle,  welche  Yalentinian 
mit  Feuer  und  Schwert  durchzog. 

Das  Bündniss. 

Was  dem  Sturm  nicht  gelungen,  sollte  nun  dem  Sonnen- 
schein gewährt  werden.  Der  Kaiser  wie  der  König  Makrian 
waren  des  langen  Streites  müde.  Valentinian  stand  an  der 
Schwelle  eines  Kriegszuges  gegen  die  Quaden  der  mittleren 
Donau,  und  so  lag  es  im  Interesse  des  Reiches,  von  den  Gallien 
benachbarten  wilden  Königen  vor  allen  nicht  den  gefürchteten 
Makrian  als  Feind  zurückzulassen,  und  dieser  zeigte,  nachdem 
er  vor  fünfzehn  Jahren  in  dem  Lager  des  Julian  zuerst  römische 
Waffen  gesehen  und  ebenso  lange  Sinn  und  Waffen  gegen  sie 
gekehrt,  ohne  zur  Ruhe  gebracht  zu  sein,  impacatum,  sich  nun- 
mehr zur  Annahme  eines  Bündnisses  geneigt.  Der  Kaiser  Hess 
ihn  daher  zu  einer  Zusammenkunft  an  dem  alamannischen  Ufer 
des  Rheins  in  der  Nähe  von  Mainz  einladen,  eine  Aufforderung, 
die  wie  die  Wahl  des  Ortes  für  ihn  vou  grossem  Entgegen- 
kommen war.  374. 

Der  König  machte  sich  in  dem  Bewusstsein,  der  oberste 
Schiedsrichter  über  den  Frieden  zu  sein,  auf  den  Weg.  Das 
Haupt  hochtragend,  erschien  er  unter  den  Schildklängen  seiner 
Gefolgen  am  Ufer  des  Rheins.  Der  Kaiser  setzte  zu  Schiff 
über  und  betrat  gleichfalls  von  einer  starken  kriegerischen  Be- 
gleitung umgeben,  in  dem  Glanze  schimmernder  Feldzeichen 
vorsichtig  das  Land.  Bei  lebhaften  Worten  und  Geberden  der 
Alamannen  und  ruhiger  Haltung  der  Römer  wurden  Gründe  und 
Gegengründe  ausgetauscht,  wurde  lange  verhandelt  und  endlich 
ein  Freundschaftsvertrag  geschlossen  und  feierlich  mit  Eiden 
bekräftigt. 

Dies  Bündniss  war  nicht  wie  alle  frühem  das  Resultat  der 
Ergebung,  sondern  die  Frucht  freier  Vereinbarung  zweier  in 
ihren  Beziehungen  zu  einander  ebenbürtigen  Gegner.  Beschränkte 
sich  der  Vertrag  auf  den  Buchengau  oder  umfasste  er  auch  die 
andern  Gaue,  auf  deren  Führung  die  ausserordentliche  Macht- 
stellung des  Makrian  beruhte?  Nach  dem  weiteren  Verlauf  der 
alamannischen  Geschichte  scheint  Letzteres  nicht  der  Fall  ge- 


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wesen  zu  sein.  Von  den  Bedingungen  schweigt  der  Bericht- 
erstatter. Im  Jahr  400  zählt  die  Notitia  dignitatum  unter  den 
Palasttruppen  auch  Bucinobanten  auf. 

Der  grosse  Anstifter  aller  Unruhen  kehrte  gewonnen  in 
seinen  Gau  zurück,  discessit  turbaruni  rex  artifex  delinitus.  Er 
blieb  den  Römern  ein  treuer  Bundesgenosse,  bis  er  später  den 
Tod  im  Lande  der  Franken  fand.  Als  er  unter  fürchterlichen 
Verwüstungen  dort  eindrang,  wurde  er  von  dem  kriegerischen 
König  Mellobaudes  in  einen  Hinterhalt  gelockt  und  erschlagen. 

In  einigen  Jahren  war  ganz  Alamannien  gegen  die  Römer 
wieder  geeinigt. 


VIII.  Der  Kaiser  Gratian.  377. 

14.  Die  Sehlacht  hei  Argcntaria. 

Die  Vorgeschichte. 

Nach  dem  Tode  des  Valentinian  (375)  hatte  die  grosse  von 
den  Hunnen  ausgehende  Bewegung  die  Gothen  nach  Thracien 
geführt,  wo  sie  den  oströmischen  Kaiser  Valens  hart  bedrängten. 
Sein  Neffe  Gratian,  der  Herr  des  Abendlandes,  traf  im  Jahr  377 
die  Vorbereitung,  ihm  schleunigst  durch  ein  Heer  zu  Hülfe  zu 
kommen.  Diese  Kunde  drang  zu  den  Lenzem  durch  einen 
Gaugenossen,  der  in  Rom  bei  den  kaiserlichen  Schildknappen 
diente,  und  seine  Heimath  besuchte.  Er  versicherte  weiter,  es 
sollten  die  Grenzvölker,  die  sich  zum  Verderben  der  Römer 
verschworen  hätten,  mit  verdoppelter  Kraft  niedergeschlagen 
werden.  Diese  Mittheilung  brachte  die  Lenzer  in  gewaltige 
Erregung.  Seit  fast  einem  Vierteljahrhundert  mit  den  Römern 
zwar  im  Bündniss,  fürchteten  sie  doch,  dass  ihnen  als  unsichern 
Greuzuachbarn  ein  Gleiches  in  Aussicht  stände.  Ihre  Erregung 
machte  sich  zunächst  daliiu  Luft,  dass  im  Februar  plündernde 
Banden  über  den  gefrorenen  Rhein  nach  Gallien  eindrangen, 
aber  nach  beiderseitigen  Verlusten  von  der  Ueberzahl  der 
römischen  Truppen  zurückgeworfen  wurden. 


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Die  Rüstungen. 

Ans  dem  Raubzug  entwickelte  sich  ein  Krieg.  Als  es  be- 
kannt wurde,  dass  ein  grosser  Theil  des  Heeres  bereits  auf  dem 
Marsch  nach  Pannonien  sei,  und  der  Kaiser  sich  mit  ihm 
vereinigen  werde,  riefen  die  Lenzer  alle  Alamannengaue  auf, 
pagorum  omnium  incolis  in  unum  conlectis,  und  auf  ihren  Ruf 
versammelte  sich  ein  Heer  von  40  000  Mann,  w'ählte  den  Lenzer- 
könig Priari,  einen  unternehmenden  und  tapfern  Mann,  den 
Anstifter  dieser  grossen  Erhebung,  zum  Herzog,  und  setzte  in 
das  Eisass  über,  Alles  wie  zur  Zeit  des  Chnodomar,  des  Makrian 
und  Yithikab. 

Der  Kaiser  Gratian,  18  Jahre  alt,  „beredt,  mässig,  kriege- 
risch und  milde,“  Hess,  rasch  entschlossen,  die  Cohorten  wieder 
zurückrufen  und  in  Gallien  zurückbehaltene  Truppen  zusammen- 
ziehen.  Den  Oberbefehl  übergab  er  dem  Nannienus,  einem  alt- 
bewährten verdienstvollen  Krieger  von  besonnenem  Mutli  und 
setzte  ihm  den  Frankenkönig  Mellobaudes,  den  Kommandanten 
der  Haustruppen,  einen  tapfern,  feurigen  Mann,  der  wie  erw'ähnt 
mit  Makrian  in  Streit  gerathen  sollte,  mit  gleicher  Gewalt  zur 
Seite. 


Die  Schlacht. 

Jener  zauderte,  dieser  von  hoher  Kampflust  fortgerissen, 
ertrug  den  Aufschub  des  Angriffs  mit  qualvoller  Ungeduld,  bis 
sich  ihnen  die  Alamannen  bei  Argentaria  (Horburg  an  der  111) 
in  unermesslicher  Menge  entgegenstellten.  Sie  erhoben  schreck- 
lichen Waffenlärm,  auf  römischer  Seite  erschollen  die  Hörner, 
Pfeile  und  Wurfspiesse  eröffneten  die  Schlacht  und  streckten 
Zahlreiche  nieder.  Als  dann  der  Zusammenstoss  erfolgte,  lösten 
sich  nach  heisscm  Kampfe  die  Reiheu  der  Römer  auf.  Jeder 
floh,  wie  er  konnte.  Zerstreute  Haufen  warfen  sich,  das  offne 
Gelände  vermeidend,  auf  waldige  Höhe,  wo  sie  wieder  begannen, 
festen  Fuss  zu  fassen.  Da  brachte,  schon  aus  der  Feme  durch 
den  Glanz  der  Rüstungen  verkündet,  die  Ankunft  des  Kaisers 
mit  frischen  Truppen  die  Entscheidung.  Nunmehr  wendeten 
sich  die  Alamannen  zur  Flucht,  hier  und  dort  leisteten  sie  noch 
verzweifelten  Widerstand.  Nicht  mehr  als  5000  sollen  nach 
Ammian  in  den  Waldnngen  entkommen  sein,  während  der  Ver- 


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lust  gewöhnlich  auf  etwa  30  000  Mann  angegeben  wird.  Unter 
den  Gefallenen  war  der  Herzog  Priari  selbst.  Soweit  die 
dürftige  Darstellung  dieser  grossen,  in  ihren  Entscheidungen 
schwankenden  Schlacht. 


15.  Die  Lenzer. 

Die  Ringwälle. 

Der  Kaiser  führte  das  siegreiche  Heer  auf  der  grossen 
Heerstrasse  weiter,  welche  um  die  Beuge  des  Rheins  in  den 
Orient  führte,  wendete  sich  aber  den  lenzer  Gauen  gegenüber 
links  ab  und  ging  in  der  Stille  über  den  Rhein,  in  der  Hoffnung, 
das  bundesbrüchige  aufrührerische  Volk  zu  vernichten.  Dem- 
gegenüber blieb  den  Lenzern,  die  erst  von  der  grossen  Nieder- 
lage, dann  von  der  Ankunft  des  Kaisers  unterrichtet  wurden, 
und  durch  den  Verlust  der  Ihrigen  in  der  Schlacht  fast  auf- 
gerieben  waren,  nur  übrig,  auf  ihren  Ringwällen  Schutz  zu 
suchen. 

In  der  weiteren  Erzählung  werden  zwei  Gruppen  von  Bergen 
unterschieden,  von  denen  die  einen  tiefer  (in  der  Ebene),  die 
andern  höher  (im  Gebirge)  lagen.  In  den  erstem  erkennt  man 
die  Kegel  des  Hegau,  in  den  anderen  etwa  die  Höhen  des 
Randen. 

Die  erstem  werden  als  gleich  Mauerriegeln  emporsteigende, 
rauhe  Hochwälle,  unwegsam,  ringsum  mit  zerrissenen  Felsen 
bedeckt,  in  einen  Gipfel  auslaufend  geschildert,  das  Ganze  durch 
die  Gunst  der  Oertlichkeit  zur  Abwehr  wie  bestimmt,  aber  frei- 
gelegen, so  dass  es  durch  Wall  und  Graben  eingeschlossen 
werden  konnte.  Colles;  montes;  asperitates  aggerum  prominen- 
tium;  velut  murorum  obicibus;  abruptis  per  ambitum  rupibns; 
obsessos  inviis  cautibus;  editiora;  barbaros,  — — quia  locorum 
iniquitate  (vom  Standpunkt  der  Römer  aus)  defendebantur;  circum- 
vallari  placuit  barbaros;  31,  10,  12—10.  Diese  Kegel  besetzten 
die  Männer  und  brachten  Frauen,  Kinder  und  Habe  dahin, 
entschlossen,  mit  Aufgebot  aller  Kräfte  für  sie  zu  kämpfen. 


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Der  Kaiser  mochte  sich  der  Schlacht  bei  Solicomnum  er- 
innern, der  er  als  neunjähriger  Knabe  beigewolmt  hatte.  Aber 
wenn  dort  die  Höhen  des  Schweinsberges  erstürmt  waren,  so 
war  hier  vermöge  der  steiler  aufsteigenden  Abhänge  die  Aufgabe 
eine  erheblich  schwierigere;  nichts  destoweniger  suchte  der 
Kaiser  sie  zu  lösen.  Bei  einem  der  Kegel  stiegen  aus  jeder 
Legion  erlesene,  erprobte  Krieger,  der  Kaiser  unter  den 
Vordersten,  die  Abhänge  hinan,  als  müsste  ihnen  der  Sieges- 
preis ohne  Kampf  zufallen,  sobald  sie  nur  die  Höhe  erstiegen 
hätteu.  Doch  dauerten  die  Gefechte,  welche  um  Mittag  begannen, 
bis  zum  Dunkel  der  Nacht,  beiderseits  mit  grossen  Verlusten. 
Mordend  wurden  nicht  wenige  der  Angreifer  gemordet,  die 
Rüstungen  des  kaiserlichen  Gefolges,  von  Gold  und  lichten  Farben 
strahlend,  durch  niedergewälzte  Felsstücke  zertrümmert  und 
ihre  Träger  erschlagen. 

Die  Hartnäckigkeit,  mit  der  diese  Mauern  bekämpft  wurden, 
war  verderblich  und  vergebens.  Der  Kriegsrath  berieth  lange 
und  kam  bei  entgegenstehenden  Ansichten  zu  dem  Beschluss, 
die  Waffen  ruhen  zu  lassen,  die  Lenzer  durch  Wall  und  Graben 
einzuscbliessen  und  sie  durch  Aushungern  zu  Paaren  zu  treiben. 

Diese  kamen  dem  jedoch  zuvor.  Sie  zogen  höher  in  das 
Gebirge  hinauf  und  besetzten  hier  steile  Berghohen.  Als  der 
Kaiser  mit  dem  Heer  ihnen  folgte  und  die  Saumwege  besetzte, 
die  hinaufführten,  da  sahen  sie  bald,  dass  die  Zeit  der  Ergebung 
gekommen.  Alios  montes  his,  qnos  ante  insederant,  altiores; 
semites  ducentes  ad  ardna,  31,  10,  16.  Auf  ihr  flehentliches 
Bitten  erlangten  sie  von  dem  nun  zur  Milde  gestimmten  Kaiser 
Frieden  gegen  die  Verpflichtung,  Hülfstruppen  zu  stellen.  Im 
Uebrigen  konnten  sie  uugelährdet  in  die  Heimath  zurückkehren. 

Die  Wirkung  in  die  Ferne. 

Gratian  theilte  seinem  Oheim,  dem  Kaiser  Valens  mit,  dass 
er  die  Alamannen  bewältigt  habe,  und  marschirte  mit  dem  Heer 
nun  dem  ursprünglichen  Plane  gemäss  über  Arbon  (Felix  Arbor) 
am  Bodensee  und  Sirmium  an  der  Save  nach  Thracien.  Valens, 
eifersüchtig  auf  den  glänzenden  Erfolg  seines  Neffen,  beschleunigte, 
um  ihn  nicht  an  dem  erwarteten  Sieg  Theil  nehmen  zu  lassen, 
die  Entscheidung  des  Kriegs.  Es  war  die  gewaltige  Gothen- 
schlacht bei  Hadrianopel,  welche,  eine  zweite  Niederlage  von 


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Cannae,  ihm  das  Lebeu  und  dem  römischen  Heer  über  zwei 
Drittel  seiner  Krieger  kostete.  Die  Alamannen  hatten  durch 
ihren  Zug  nach  Gallien,  die  Lenzer  durch  ihren  Widerstand 
den  Marsch  des  Kaiser  Gratian  nach  Thracien  aufgehalteu. 
Vielleicht  führte  diese  Verzögerung,  die  grosse  Niederlage  der 
Alamannen  ausgleichend,  den  grösseren  Sieg  der  Gothen  bei 
Hadrianopel  herbei. 


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4 


Sechstes  Kapitel. 

Die  ztoeile  ßnsiecUurtgsperiocU  Hes  fünften 
5al|rHuriäerts. 

I.  Die  Grundsätze  der  AnBiedlung. 

1.  Neue  alainnnnische  Niederlassungen. 

lin  Lauf  des  5.  Jahrhunderts  folgten  die  Alanianueu  der 
grossen  Bewegung  der  osteuropäischen  Völker  in  den  Westen, 
drangen  aus  ihrem  Stammland  gen  Westen,  Osten  und  Süden, 
besetzten  theils  erobernd,  theils  friedlich  colonisirend  einen  Theil 
von  Gallien  und  Rätien  und  umspannten  mit  neuen  Ansiedlungen 
ein  Gebiet,  bei  Weitem  grösser  als  ihr  alter  Besitz.  Diese 
zweite  Ansiedlungsperiode  begann,  wie  es  scheint,  mit  dem 
Jahr  407  und  fand  im  Westen  einen  Abschluss  mit  den  Siegen 
der  Franken  über  die  Alamannen  seit  496,  welche  hier  das 
Vorschreiten  der  Besiedlung  hemmten,  die  Bevölkerung  zum 
grossen  Theil  in  den  Süden  trieben  und  so  einen  dritten  Zeitraum 
der  Ansiedlung  einleiteten. 

Das  Neualamannien  des  5.  Jahrhunderts  umfasste  in  Gallien 
am  linken  Rhein  das  Eisass,  die  Pfalz,  Rheinhessen,  die  Rhein- 
provinz bis  Cölu  und  Jülich  abwärts,  das  niederländische  Limburg, 
Luxemburg,  Deutsch-Lothringen,  das  Thal  des  mittleren  Doubs 
bis  zum  Jura;  in  Gallien  und  Rätien  die  deutsche  Schweiz  und 
in  Rätien  weiter  Oberschwaben. 

Darüber,  wie  hier  die  Besitzergreifung  und  Ansiedlung  der 
wandernden  Alamannen  stattgefunden,  sind  nur  ganz  vereinzelte 
Nachrichten  auf  uns  gekommen.  Sie  nahmen  an  den  giessen 
Einbrüchen  der  Völker  des  Ostens,  Germanen  und  anderer,  in 


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Gallien  von  407  und  451  Theil;  wir  verfolgen  sie  in  einzelnen 
Episoden  der  gallischen  und  rätischen  Kämpfe  und  sehen  sie 
dann  angesiedelt,  aber  wir  hören  Nichts  von  ihren  Beziehungen 
zum  römischen  Reich,  zu  den  römischen  Grundbesitzern  und  den 
germanischen  Nachbarn,  die  neben  ihnen  Sitze  erwarben.  Besser 
unterrichtet  sind  wir  über  die  Letzteren,  die  Burgundiouen  und 
Franken  im  Osten  von  Gallien,  deren  Geschichte  mit  der  der 
Alamannen  sich  feindlich  kreuzen  sollte,  und  der  Westgothen 
und  Alanen  im  gallischen  Westen  und  Süden.  Was  wir  über 
diese  vier  Völker  erfahren,  wird  einen  Anhalt  für  die  Unter- 
suchung der  Frage  geben,  in  welcher  Art  die  Alamanneu  sich 
in  den  römischen  Nachbarländern  ansässig  gemacht  haben. 


2.  Germanische  Ansiedlungen  in  Gallien. 

Mit  der  Lage  des  römischen  Reiches  änderte  sich  noth- 
gedrungen  auch  die  Politik  gegen  die  eingedrungenen  Völker  des 
Ostens.  Im  3.  und  4.  Jahrhundert  waren  die  sich  immer  wieder- 
holenden Einbrüche  in  Gallien  zurückgewiesen,  die  Franken 
jedoch  fassten  schon  im  4.  im  Norden  festen  Fuss.  Im  3.  und 
4.  drangen  die  Römer,  wie  dargestellt,  über  den  Rhein,  besiegten 
auf  dem  rechten  Ufer  die  Alamannen  einzeln  in  ihren  Gauen 
und  schlossen  Büudnisse  mit  ihnen  ab,  die  ihnen  ihr  Land  Hessen, 
keinen  Tribut,  aber  römische  Heeresfolge  auferlegten  und  sie 
so  in  lockere  Abhängigkeit  vom  römischen  Reich  brachten. 

Im  5.  Jahrhundert  wurde  dieses  System  auch  auf  Gallien 
angewendet.  Erobernd  drangen  Franken,  Burgundionen  und 
Alanen  ein,  konnten  aber  nicht  mehr  über  den  Rhein  zurück- 
gewiesen werden.  Der  Sieg  gestattete  den  Römern  deren  Duldung 
in  Gallien,  die  Niederlage  liess  den  Franken  den  Boden,  den 
sie  mit  den  Waffen  erworben,  verschaffte  den  Burgundionen  und 
den  (nichtgermaniseben)  Alanen  angewiesene  Sitze.  Die  Büud- 
nisse, welche  die  Römer  mit  den  bis  dahin  freien  Germanen 
schlossen,  nahmen  Letztere  in  das  Reich  unter  dessen  Oberhoheit 
auf  und  verpflichteten  sie  zu  Kriegsdiensten.  Ihr  Recht,  ihre 


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Nationalität  blieben  unangetastet.  So  wurden  aus  den  bis  dahin 
freien,  in  Gallien  eingedrungeuen  Germanen  abhängige  Födoraten 
des  römischen  Reichs.  Aehnlich,  doch  ohne  Niederlage,  ge- 
stalteten sich  die  Beziehungen  der  siegreich  aus  Hispanien 
nach  Gallien  zurückkehrenden  Westgothen  zum  Reich.  Aber 
nach  Jahrzehnten  wurden  die  römischen  Föderaten  zu  Herrn 
Galliens  und  an  den  Bündnissen  fand  das  römische  Reich  in 
Gallien  ein  Ende. 

Die  grossen  Einbrüche  der  östlichen  Völker  hatten  ein 
Herabsinken  der  römischen  Bevölkerung,  insbesondere  der  Grund- 
besitzer (Possessores)  zur  Folge.  Wo  .lene  nach  der  Eroberung 
zur  Ansiedlung  übergingen,  fänden  sie  eine  geminderte  Zahl 
von  Besitzern  und  viel  freies  Land.  Ob  und  wie  weit  sie 
ihnen  dann  Schonung  gewährt  haben,  ist  nicht  zu  ersehen. 
Bei  dem  Abschluss  der  Bündnissverträge,  wird  aber  das  Reich 
den  Ansiedlern  Schonung  auferlegt  haben.  Wo  hingegen  das 
Reich  einem  Stamm  ein  neues  Gebiet  zum  Besitz  anwies,  konnte 
es  diesen  die  Besitzergreifung  im  Ganzen,  etwa  unter  Sicherung 
der  römischen  Possessores,  überlassen,  oder  es  konnte  für  den 
einzelnen  Germanen  einen  Antheil  an  dem  Grundbesitz  des 
einzelnen  Römers  festsetzen.  Bei  einer  solchen  Landzutheilung 
fiel,  wie  dem  römischen  Soldaten  auf  dem  Marsch  ein  Drittel 
der  Wohnung  des  Possessor  als  vorübergehendes  Quartier  ein- 
geräumt wurde,  in  der  Regel  ein  Drittel  seines  gesammten 
Grundbesitzes  dem  germanischen  Ansiedler  zu  Eigenthum,  sors, 
zu.  Dann  sassen  beide  mit  einander  in  Gastfreundschaft,  hospi- 
talitas,  ein  Rechtsverhältniss,  in  dem  sowohl  der  Römer  als 
Wirth,  wie  der  Germane  als  Gast  mit  hospes  bezeichnet  wurde. 
Ob  die  Burgundionen  am  Rhein  in  Hospitalität  lebten,  ist  nicht 
zu  ersehen;  bei  den  verschiedenen  Stadien  ihrer  spätem  An- 
siedl uug  im  Südosten  von  Gallien  bestand  die  Besitzquote  ihres 
Stammgenossen  am  Haus  des  Römers  in  einem  Drittel,  am 
Acker  in  einem  oder  gar  zwei  Dritteln  oder  der  Hälfte,  au 
Wald  und  Weide  ungetheilt  in  der  Hälfte,  zeitweise  auch  an 
Sclaveu  in  einem  Drittel.  Der  Westgothe  bezog  zwei  Drittel 
des  Ackerlandes,  die  Hälfte  von  Wald  und  Weide  ungetheilt, 
während  vom  Haus  keine  Rede  ist.  Auch  die  Alanen  erhielten 
mit  den  Einwohnern  zu  theilende  Grundstücke,  rura  partienda, 
terrae  cum  iucolis  dividendae,  sie  trieben  aber  ihre  wirthlichen 

Cramer,  Geschieht«  der  Alamannen.  12 


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Gastfreunde  mit  Gewalt  aus.  In  Italien  begnügten  sich  Odoaker 
wie  Theoderich  mit  einem  Drittel  des  Besitzes. 

lieber  die  Beziehungen  der  nachbarlich  sich  ansiedelnden 
Germanenstämme  zu  einander  ist  Nichts  zu  ersehen. 


Zeit  und  Art  der  alemannischen  Besiedlung. 

Ehe  ich  dazu  übergehe,  die  spärlichen  Nachrichten  über 
die  Ansiedlung  der  Alamannen  zu  deuten,  seien  hier  einige  all- 
gemeine Bemerkungen  vorangeschickt. 

lieber  den  Beginn  ihrer  territorialen  Ausdehnung  herrschen 
die  verschiedensten  Ansichten.  Genannt  wird  das  Jahr  409  im 
Anschluss  an  den  grossen  Einbruch  der  Barbaren,  das  Jahr  413, 
zusammenfallend  mit  der  Besitzergreifung  des  Mittelrheins  durch 
lie  Burgundioneu,  die  Mitte  des  Jahrhunderts,  das  Jahr  455, 
anknüpfend  an  den  Tod  des  Aötius,  472  im  Gefolge  des  Todes 
des  Ricimer,  des  letzten  Beschützer  des  Westreichs,  und  in 
Bezug  auf  die  Besitzergreifung  der  rechten  Donau,  das  Jahr  496. 

Die  gemeine  Meinung  bestimmt  das  Jahr  409  (oder  407)  und 
erhebliche  allgemeine  Gründe  sprechen  für  diese  Annahme.  Im 
3.  und  4.  Jahrhundert  waren  die  Alamannen,  unerschöpflich  an 
Kraft,  immer  und  immer  wieder  in  die  römischen  Nachbarprovinzen 
eingebrochen,  um  das  Land  zu  erobern,  dessen  fruchtbare  Ge- 
filde, nur  durch  den  Rhein  und  die  Donau  getrennt,  lockend  vor 
ihren  Augen  lagen.  Immer  wieder  zurückgetrieben,  mussten 
Vergangenheit  und  Nachbarschaft  sie  auffordern,  sich  den  Zügen 
des  5.  Jahrhunderts  nach  Gallien  anzuschliessen  und,  sobald  das 
Hinderniss  für  die  Occupation  gefallen,  sich  des  Landes  zu  be- 
mächtigen, das  sie  als  ihre  Domaine  betrachteten.  Dies  geschah 
schon  im  Jahre  409,  als  den  Zügen  der  östlichen  Völker  in 
den  Westen  gegenüber  das  römische  Reich  wehrlos  da  lag. 
Gewiss  blieben  die  Alamannen  nicht  unthätig  daheim,  als  die 
Franken,  ihre  alten  Genossen,  und  die  Burgundionen,  ihre  Erb- 
feinde, am  Rhein  Sitze  erlangt  hatten.  Von  alamannischen 
Einbrüchen  nach  Gallien  hören  wir  zuerst  409,  von  ihrer  An- 
wesenheit 411.  Ist  es  ihnen  schon  damals  gelungen,  sich  hier 
zu  halten,  so  werden  ihnen  Tausende  auf  Tausende  über  den 


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Strom  gefolgt  sein,  kühn  und  emsig,  in  Siedlungen  voran- 
znschreiteu.  Wir  kennen  ihre  Ausdehnung  im  Westen  des 
Rheins  von  den  Vogesen  bis  Cöln  abwärts  und  wir  wissen, 
wann  dein  weiteren  Vorandringen  halt  geboten  wurde.  Es  war 
im  Jahr  49ß,  als  die  Alamannen  sieh  den  Franken  unterwerfen 
mussten  und  später,  als  Massen  ihrer  Ansiedler  über  den  Rhein 
wieder  zuriickströmtcn,  wenn  auch  starke  Reste  in  der  nun 
fränkisch  gewordenen  neuen  Heiniath  zurückblieben.  Fragt  man 
nun,  wie  lange  man  zurückrechnen  muss,  um  zum  Beginn  dieser 
grossen  Kolonisationsepoche  zu  gelangen,  so  wird  man  nicht 
im  Jahr  472,  nicht  um  die  Mitte  des  Jahrhunderts  anhalten, 
sondern  in  die  ersten  Jahrzehnte  zurückgreifen  müssen. 

Die  grossen  Züge  von  409  und  451  unter  Attila  nach  Gallien, 
an  denen  die  Alamannen  sich  betheiligten,  waren  mit  allgemeiner 
Verheerung  verbunden,  und  wo  die  Alamannen  auch  sonst  noch 
ihre  alten  Grenzen  mit  grösseren  Massen  zum  Zweck  der  Er- 
oberung und  der  Colonisation  überschritten , werden  sie  die 
•Städte,  die  ihnen  ein  Gräuel  waren,  zerstört  und  die  römischen 
Besitzer,  die  ihnen  im  Wege  waren,  vertrieben  oder  vertilgt 
haben.  Denn  wo  auch  das  Schicksal  der  Alamannen  zu  verfolgen 
ist,  haben  sie  ihren  Stamm  von  römischer  Mischung  frei  erhalten, 
und  das  setzt  bei  der  überwiegenden  Kultur  der  Römer  deren 
Vernichtung  voraus. 

Abgesehen  von  den  Berichten  über  die  gemeinsamen  Ein- 
brüche von  409  und  451,  spricht  nur  eine  einzige  Nachricht 
von  einem  G'onflikt  der  Alamannen  mit  der  römischen  Reiclis- 
maclit  in  dem  Ansiedlungsgebiet.  430  schlug  Aetius  die 
■Intlmngen  an  der  Donau,  und  wohl  mit  Rücksicht  auf  diesen 
Sieg  (vou  einem  anderen  wissen  wir  nichts)  sagt  Jordanes  von 
Aetius,  er  sei  für  das  Reich  besonders  dazu  geboren,  den  Uober- 
muth  der  Sueven  (und  die  Rohheiten  der  Franken)  durch  grosso 
-Niederlagen  in  die  Unterthänigkeit  des  Reiches  zu  bringen;  rei 
publicae  Romanae  singulariter  natus,  qui  superbiam  Suavorum 
Francorumqne  barbariem  immensis  eaedibus  Romano  imperio 
voegisset,  cp.  34.  Diese  Bemerkung  scheint  sich  also  auf  die 
baue,  seien  es  alte  oder  neue  der  juthungischen  Sueven  an  der 
Donau  zu  beziehen,  und  zu  bezeugen,  dass  die  Sueven  wie  die 
Franken  in  die  Abhängigkeit  von  Föderalen  gekommen  seien. 
Im  l'ebrigen  mögen  sich  bei  der  zweifelhaften  Lage  des  Reichs 

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in  den  ersten  Jahrzehnten  bald  friedliche  Beziehungen  zwischen 
den  alaniannischen  Ansiedlern  und  den  Römern  herausgestellt 
haben.  Waren  doch  die  Alamannen  im  Stamniland  schon  seit 
länger  als  hundert  Jahren,  seit  der  Zeit  der  Kaiser  Constantius, 
Julian,  Valentinian  und  Gratian  an  römische  Bündnisse  gewöhnt, 
wenn  sie  auch  gebrochen  waren,  so  oft  es  anging;  war  doch 
ihr  grosser  König  Makrian  freiwillig  in  die  Bundesgenossenschaft 
mit  dem  römischen  Reich  getreten  und  hatte  sie  treu  gehalten; 
und  hatte  doch  der  Usurpator  Eugeuius  (392  — 394)  die  alten 
Bündnisse  mit  den  alamannischen  und  fränkischen  Königen  der 
Sitte  gemäss  erneuert,  cum  Alamannorum  et  Francorum  regibus 
vetustis  foederibus  ex  more  initis,  Gregor.  Hist.  Franc.,  2,  9, 
und  Stilicho,  der  Vormund  und  Reichsverweser  für  den  Kaiser 
Honorius  395,  ihre  blonden  Könige,  crinigero  flaventes  vertice 
reges,  zur  Sicherung  der  Grenzen  zum  Gehorsam  d.  h.  wiederum 
zum  Bündniss  gebracht,  Claudianus  de  cons.  Stilichou.  21,  203  etc. 
War  es  doch  Herkommen,  dem  Reich  Hülfstruppen  zu  stellen, 
als  Anführer  wie  als  Soldaten  im  kaiserlichen  Heer  zu  dienen. 
Ein  Bündniss  in  Gallien  sicherte  den  Alamannen,  was  sie  er- 
strebt, so  lange  sie  überrheinische  Nachbarn  gewesen,  den 
Besitz  des  Landes,  die  Möglichkeit  ruhiger  Colonisation,  den 
Römern  dagegen  die  Oberhoheit,  wie  die  Gewähr  friedlichen 
Nebeneinanderlebens. 

Will  mau  aber  der  Bemerkung  des  Jordanes  eine  umfassen- 
dere Bedeutung  geben,  so  wäre  das  Schicksal  der  alamannischen 
Einwanderer  eine  spätere  und  gezwungene  Unterwerfung,  wie 
die  der  Franken  und  Burgundionen  gewesen.  Wie  diese  oder 
doch  wie  die  Franken,  werden  sie  behalten  haben,  was  sie  ge- 
wonnen hatten,  denn  der  Mitbesitz  Galliens  konnte  den  Germanen 
nicht  mehr  verwehrt  werden.  Zu  einer  Landtheilung  von  einem 
Drittel,  von  der  wir  auch  bei  den  Franken  nichts  erfahren, 
wird  die  Voraussetzung  gefehlt  haben:  in  ihrem  Gebiet  gab  es 
wohl  keine  römischen  Besitzer. 


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II.  Das  westrheinische  Gallien. 

4.  Der  Einbruch  von  409. 

Im  Jalir  400  hatte  Stilicho  die  Besatzungen  der  gallischen 
Rheingrenze  zurückgezogen,  um  sie  in  Italien  gegen  die  Gothen 
zu  verwenden.  Die  Alamannen,  die  wie  die  Franken  ihm  durch 
das  395  erneuerte  Bündniss  verbunden  waren,  blieben  diesem 
bis  409  treu. 

Die  schon  406  mit  Alanen  und  Vandalen  nach  Gallien 
einbrechenden  Sueven,  die  409  weiter  nach  Hispanien  zogen, 
waren  keine  alaniannischen  (Siehe  Kapitel  7 am  Ende).  Die 
Alamannen  schlossen  sich  aber  dem  grossen  Zuge  der  Barbaren 
von  409  an,  der,  „Quaden,  Vandalen,  Sarmaten,  Alanen,  Gepiden, 
Sachsen,  Burgundionen,  Alamannen  und  Pannonier“  umfassend, 
ganz  Gallien  zwischen  den  Alpen  und  Pyrenäen,  dem  Ocean 
und  dem  Rhein  verwüstend  überschwemmte.  Hieronymus  epist. 
123  ad  Ageruchiam. 

Von  den  Eingedrungenen  waren  es  Alamannen  und  Burgun- 
dionen, die  schon  seit  der  zweiten  Hälfte  des  4.  Jahrhunderts 
am  mittleren  Main  in  nachbarlicher  Feindschaft  gesessen  hatten 
und  deren  Geschichte  in  der  ganzen  weiteren  Entwickelung 
von  einander  bedingt  blieb. 


5.  Die  Burgnildionen. 

Das  gesammte  Volk  der  Burgundionen  verliess  seine  alten 
Sitze,  in  denen  dann  ihr  Name  verschwand.  Wer  sie  ein- 
genommen, erfahren  wir  nicht.  Es  finden  sich  jedoch  jenseits 
des  Pfahlgrabens  zwischen  Schwäbisch-Hall  und  dem  Main  nach 
Arnold  vielfach  Ortsnamen  mit  alamannischen  Endungen,  die 
allerdings  aus  der  Zeit  vor  der  burgundionischen  Einwanderung, 
wie  aus  der  des  Aufbruchs  im  Jahr  409  herrühren  können. 
Bedenkt  man,  dass  in  der  Zwischenzeit  die  Grenze  zwischen 
beiden  Völkern  umstritten  war,  so  ist  zu  vermuthen,  dass,  als 


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sie  frei  geworden,  die  Alamannen  das  burgundionische  Gebiet 
oder  doch  dessen  Grenzstriche,  etwa  das  Main-,  das  Tauber- 
oder das  Saalethal  besetzt  haben.  Bezeichnet  doch  um  die 
Mitte  des  Jahrhunderts  der  Cosmograph  von  Ravenna,  IV,  27, 
neben  Aschaffenburg  auch  Würzburg,  Ascapha  und  Uburzis  als 
eine  alamannische  Stadt. 

Der  Zug  der  Burgund  ionen  an  den  Rhein  wird  von  den 
nördlich  und  südlich  gelegenen  Alamannen  nicht  unangefochten 
geblieben  sein.  Die  Ersteren  finden  sich  dann  411  in  Mainz  in 
politischer  Machtstellung.  Ihr  König  Günther  und  der  Alanen- 
häuptling  Goar  riefen  gegen  den  Honorius  den  Jovinus  als 
römischen  Kaiser  aus,  in  dessen  Heer  sie  in  Gallien  blieben. 
Dann  sieht  man  später  die  Burgundionen  im  Besitz  des  rechten 
und  linken  Rheins  um  Mainz:  das  rechte  Ufer  mögen  sie  schon 
damals  den  Alamannen  abgenommen,  das  linke  den  Römern 
gegenüber  sich  gesichert  haben.  Nach  der  Niederlage  des  Jovinus 
traten  sie  zu  dem  Kaiser  Honorius  in  Beziehungen  und  zum 
römischen  Reich  in  ein  Föderativverhältniss,  das  ihnen  als  alten 
Freunden  der  Römer  4 1 :i  den  Besitz  des  linken  Mittelrhein 
liess.  Burgundiones  partem  Galiiac  obtinuerunt.  Prosper  Aqui- 
tanus  zu  diesem  Jahr.  Hier  gründeten  sie  unter  dem  König 
Gundahar  (Guntiar,  Gundicar)  und  seinen  Brüdern  Godomar  und 
Gislahar  das  Reich  Burganden  des  Nibelungenliedes  mit  der 
Hauptstadt  Worms,  das  am  linken  Rhein  die  Stadtgebiete  von 
Worms,  Speyer  und  Mainz  (die  civitates  Vangionum,  Mogon- 
tiace.isium,  Nemetum),  am  rechten  Rhein  das  Gebiet  des  Oden- 
waldes umfassen  mochte  — „beidentlialb  der  Berge“,  wie  es 
im  Liede  heisst,  d.  h.  zu  beiden  Seiten  des  Rheinthals.  Burgunt- 
hart  wird  703  ein  Waldrevier  in  der  Gegend  von  Heppenheim 
genannt.  Socrates  erzählt  zum  Jahr  430  die  Bekehrungsgeschichte 
der  Burgnndionen  rechts  vom  Rhein. 

Obgleich  Föderaten  der  Römer,  suchten  die  Burgundioneu 
sich  435  der  Belgien  prima  (Hauptstadt  Trier)  zu  bemächtigen, 
wurden  aber  von  Aetius,  dem  kaiserlichen  Statthalter  in  Gallien 
geschlagen.  Er  gewährte  ihnen  zwar  Frieden,  aber  im  nächsten 
Jahr  brachten  im  römischen  Kriegsdienst  stehende  Hunnen  unter 
der  Führung  des  Aetius  oder  auf  sein  Geheiss  ihnen  eine 
zweite  Niederlage  in  Gallien  bei,  die  dem  Könige  Gundahar  und 
20000  Burguudionen  das  Leben  kostete.  Dreissig  Jahre  lang 


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bestand  so  an  beiden  Seiten  des  Rheins  das  Reich  der  Bur- 
guudionen,  dessen  Glanz  und  Untergang  in  sagenhafter  Dar- 
stellung das  Epos  uns  bewahrt  hat.  Im  Jahr  443  wurden  dann 
ihre  Ueberbleibsel  vom  Mittelrhein  versetzt  und  in  der  Sapandia 
(Savoyen)  unter  Landzutheilung  angesiedelt.  Die  rechts- 
rheinischen blieben  wo  sie  waren,  und  zogen  ihren  Volksgenossen 
später  vielfach  in  den  Süden  nach.  (Nach  Jahn). 


6.  Die  Alamannen. 

Auch  die  Alamannen  standen  in  Gallien  auf  Seiten  der 
beiden  Gegenkaiser  des  Honorius.  Constantinus  warb  411  am 
rechten  Rhein  ein  Hülfscorps  von  Alamannen  und  Franken  und 
dieses  folgte  dann  sammt  Burgundionen  und  Alanen  den  Feld- 
zeichen des  Jovinus.  Als  beide  Gegenkaiser  dann  beseitigt 
waren,  werden  die  Alamannen  sich  gleichfalls  dem  Honorius 
zugewrendet  haben,  um  die  Sitze  zugebilligt  zu  erhalten,  deren 
sie  in  Gallien  sich  bemächtigt  hatten. 

Denn  am  unteren  Main  und  im  Odenwald  aus  ihren  Sitzen 
verdrängt,  hatten  die  Alamannen  um  so  mehr  Anlass,  in  Gallien 
Entschädigung  zu  suchen. 

Hier  festen  Fuss  zu  fassen,  ward  ihnen  um  so  leichter, 
als  seit  350  alamannische  Niederlassungen  bereits  im  Eisass, 
der  Pfalz  und  Rheinhessen  bestanden  und  auch  nach  der  Nieder- 
lage bei  Strassburg  unter  römischer  Herrschaft  sich  erhalten 
hatten  (S.  124),  auch  wohl  noch,  als  die  Verheerung  von  409  auch 
über  sie  ergangen  sein  mochte.  Werden  doch  Mainz,  Worms, 
Strassburg  als  damals  zerstörte  römische  Städte  von  Hieronymus, 
epist.  123,  genannt. 

Zunächst  war  es  das  Eisass,  das  409  auch  die  rechts- 
rheinischen Alamannen,  erst  in  der  Ebene,  dann  bis  zum  Kamm 
der  Vogesen  besetzten.  Alisaz,  Fremdsitz  war  sein  Name,  den 
es  entweder  bereits  trug  oder  von  den  ueuen  Ansiedlern  erhielt. 
Dann  gründeten  sie,  soweit  nicht  die  Burgundionen  oder  andere 
Stämme  hindernd  im  Wege  sassen,  zwischen  Maas  und  Mosel 
abwärts  Niederlassungen  und  breiteten  sich  von  da  nach  allen 
Seiten  in  Gallien  aus.  (Zunächst  soll  hier  die  Richtung  nach 


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Norden  verfolgt  werden.)  „Denn  sagt  Arnold,  die  Grenzen  des 
römischen  Reiches  standen  offen,  die  Einwohner  waren  geflüchtet 
oder  vertrieben  und  wer  zuerst  kam,  nahm  das  Land  in  Besitz.“ 
Dies  colonisirende  Vordringen  ist  aber  nur  unter  der  Voraus- 
setzung denkbar,  dass  sie  ihren  Frieden  mit  dem  römischen 
Reich  gemacht  hatten,  ein  Vorgang,  der  auf  römischer  Seite 
um  so  erklärlicher  ist,  als  wie  früher  am  mittleren  Main,  nun- 
mehr am  Rhein  die  alten  Feinde  Alamannen  und  Burguudionen 
wiederum  einander  berührten  und  sich  gegenseitig  in  Schach 
hielten.  Von  Conflikten  zwischen  beiden  Germanenstämmen  ist 
jedoch  nichts  bekannt.  Als  die  Burgundionensitze  seit  443  frei 
wurden,  fielen  sie  ein  zweites  Mal  den  Alamannen  zu,  und 
wenn  Aetius  dies  zuliess,  so  scheint  es  zu  beweisen,  dass  sie 
sich  als  zuverlässige  Bundesgenossen  bewährt  hatten.  Es  er- 
folgte nun  die  Besetzung  der  Pfalz  und  Rheinhessens. 


1.  Der  Zug  des  IliiimenkOnigs  Attila  von  451. 

Die  Entwicklung  germanischer  Niederlassungen  in  Gallien 
erlitt  eine  Störung  durch  den  Alles  aufwühlenden  Zug  des  Hunnen- 
königs Attila.  Er  kam  mit  einem  Heer  östlicher  Völker,  unter 
denen  die  Ostgothen,  den  Main  abwärts  zum  Mittelrhein.  Von 
rechtsrheinischen  Stämmen  schlossen  sich  ihm  unter  andern  Ala- 
mannen, Burgundionen,  Franken  an.  Er  gelangte  unter  Ver- 
heerung vieler  Stadtgebiete,  und  der  Zerstörung  von  Tongern, 
Trier,  Metz  in  das  belgische  Gallien,  bis  ihn  auf  den  cata- 
launischen  Feldern  zwischen  Chalons  sur  Marne  und  Troyes 
Aetius  mit  einem  Heer  von  keltischen  und  germanischen 
Stämmen,  unter  denen  Westgothen,  Burgundionen  und  Franken 
genannt  werden,  schlug.  Das  Heer  des  Attila  wird  auf  500000 
Mann  angegeben.  Der  Gefallenen  auf  beiden  Seiten  sollen 
180000  gewesen  sein.  Dass  die  stammverwandten  West-  und 
Ostgothen  gegeneinander  gekämpft  haben,  wird  ausdrücklich 
erzählt.  In  beiden  Heeren  waren  Burgundionen  und  Franken 
(rechts-  und  linksrheinische),  die  sich  also  auch  einander  gegen- 
über standen,  und  ebenso  mag  es  mit  den  Alamannen  gewesen 
sein.  Bezeugt  ist  die  Theilnahme  zwar  nur  der  rechts- 


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rheinischen  Alamannen  auf  hunnischer  Seite.  Appollinaris 
Sidonius  nennt  in  seinen  Gedichten  als  Attilas  Gefolgen:  „Den 
der  schilfige  Neckar  bespült“,  ulvosa  quem  Nicer  alluit  unda, 
VII,  324,  und  Jordanes  bezeichnet  unter  'den  Völkern  des 
Attila,  die  nach  dessen  Tode  mit  einander  kämpften  „die  Sueven, 
bewundernswert!)  zu  sehen,  wie  sie  zum  Fusskampf  sich  in 
Schlachtordnung  aufstellen“:  cernere  erat,  Suavum  pede  aciem 
struere,  cp.  31'.  Aber  auch  die  linksrheinischen  Alamannen 
konnten  sich  bei  ihrer  Verbreitung  über  das  westliche  Gallien 
der  Parteinahme  nicht  entziehen,  sie  werden  als  durch  die 
räuberisch  einfallenden  Hunnen  bedrohte  Ansiedler,  wie  als 
Befreundete  der  Römer  deren  Partei  genommen  und  mit  ihnen 
gegen  ihre  rechtsrheinischen  Stammesgenossen  gekämpft  haben. 
(Apoll.  Sidon.  Carmina  VII,  319  — 328;  Jordanes  35—39: 
Gregor  2,  7.) 


8.  Die  Alamannen  als  Sieger. 

Nach  dem  Zuge  des  Attila  war  es  der  Tod  des  Aetius  454, 
der  eine  gewaltige  Gährung  in  Gallien  hervorrief.  Die  Germanen 
stürzten  sich  von  Neuem  auf  die  Provinz,  soweit  sie  römisch 
geblieben.  Der  Kaiser  Maximus  sah  455,  dass  die  überzogenen 
Gebiete  verloren  seien,  ernannte  den  Avitus,  den  tapferen 
Unterfeldherrn  und  Kampfgenossen  des  Aetius,  zum  Heermeister, 
magister  militum,  und  diesem  gelang  es,  in  drei  Monaten  die 
Germanen  zurückzuweisen.  So  erzählt  in  einem  auf  den  späteren 
Kaiser  Avitus  am  Jahresanfang  von  456  gehaltenen  Panegyricus 
sein  Schwiegersohn  Apollinaris  Sidonius  (Carm.  VII,  369 — 396): 
Quin  et  Aremoricus  piratam  Saxona  tractus 
Sperabat  . . . 

Francus  Germanum  primum,  Belgamque  secnndum 
Sternebat,  Rhenumque,  ferox  Alamanne,  bibebas 
Romani  ripis  et  utroque  superbus  in  agro 
Vel  civis  vel  victor  eras  . . . 

Legas,  qui  veniam  poscant,  Alamanne,  furori; 

Saxonis  incursus  cessat,  Chattumque  palustri 
Alligat  Albis  aqua;  vixque  hoc  ter  menstrua  totum 
Luna  videt. 


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Diese  Verse  schildern  zunächst,  wie  sächsische  Seeräuber 
sich  an  der  Loiremündung  festgesetzt,  wie  ihre  Nachbarschaft 
die  Armoriker  mit  aufrührerischen  Hoffnungen  erfüllt,  wie  die 
chattischen  Franken  in  die  Germania  prima  und  Belgica  secunda 
eingebrochen,  wie  durch  die  Thatkraft  des  Avitus  den  Kaub- 
zügen der  Sachsen  ein  Ende  gemacht  und  die  chattischen 
Franken  aus  Gallien  vertrieben,  über  den  Rhein  verfolgt  und 
(angeblich)  bis  zur  Elbe  zurückgeworfen  worden,  bis  auf  den 
letzten  Satz  Alles  in  trockenem  Ton.  Sobald  Sidonius  dann 
zu  den  Alamannen  gelangt,  geräth  er  in  poetischen  Schwung; 
zweimal  redet  er  sie  an,  aber  seine  Redeweise  ist  dunkel. 
Wie  er  die  Thaten  der  Sachsen  und  Franken  im  Imperfect  er- 
zählt hat,  so  fahrt  er  in  derselben  Zeitform  fort,  die  politische 
Lage  der  Alamannen  zu  zeichnen:  „Sie  tranken  den  Rhein  auf 
römischen  Ufern  und  stolz  sassen  sie  auf  beiderseitigem  Boden, 
als  Bürger  oder  als  Sieger“,  oder  wie  sie 
. . . trotzig  auf  römischen  Ufern 

Tranken  den  Rhein  und  stolz  auf  linkem  und  rechten  Gefilde, 
Bürger  hier  hiessen,  dort  Sieger. 

Wie  das  utroque  in  agro  beweist,  nennt  der  Dichter  beide 
Seiten  des  Stromes  „des  Römers  Ufer“.  Romani  ripae  sind 
keineswegs,  wie  von  Schubert  annimmt,  „das  linke  Ufer  in 
langer  Ausdehnung,  in  langen  Uferstrecken.“  Beide  Ufer  römisch 
zu  nennen,  war  in  der  Theorie  in  sofern  nicht  ohne  Grund,  als 
die  Föderativverhältnisse  der  rechtsrheinischen  Gaue  eine  Ober- 
hoheit voraussetzten,  thatsäehlich  aber  eine  leere  Phrase,  eine 
alte  fortgesponuene  Fiction.  Die  Verse  bedeuten  also:  Stolz 
sassen  die  Alamannen  an  beiden  Ufern,  auf  beiden  Seiten 
tranken  sie  sein  Wasser,  auf  beiden  bauten  sie  den  Acker;  auf 
dem  rechten  Rhein,  ihrem  Stammland,  waren  sie  Besitzer  ver- 
möge verjährten  Rechts,  drüben  vermöge  Eroberung.  Das  be- 
sagt der  Gegensatz  von  Bürger  und  Sieger. 

Es  ist  klar,  dass  hinsichtlich  des  rechten  Ufers  ein  dauern- 
der Zustand  geschildert  wird,  und  die  Consequenz  der  Darstellung 
fordert  ein  Gleiches  für  das  linke  Ufer,  so  dass  also  auch  hier  der 
Besitz  vermöge  Eroberung  als  ein  schon  hergebrachter  erscheint. 
Dies  findet  seine  Bestätigung  in  dem  Erfolg  der  Thätigkeit  des 
Avitus,  die  darin  bestand:  „Du  schickst  Gesandte,  Alamanne, 
die  um  Verzeihung  für  deine  Wuth  bitten“,  und  das  wird  als 


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18? 

preis  würdig  von  dem  Dichter  besungen.  Wären  die  Alamannen 
erst  jetzt  über  den  Rhein  gekommen  (wie  Jahn  und  von  Schubert 
wollen),  so  wäre  es  ein  Schimpf  für  den  Kaiser  gewesen,  wenn 
er  sich  mit  ihren  Entschuldigungen  begnügt  hätte,  um  so  mehr, 
da  er  die  eingedrungenen  chattischen  Franken,  w'ie  mit  Emphase 
erzählt  ist,  über  den  Fluss  zurückgeworfen  hatte.  Man  muss 
vielmehr  annehmen,  dass  die  Alamannen  von  ihrem  gallischen 
Gebiet  aus  in  den  noch  römischen  Antheil  der  Provinz  einen 
Vorstoss  gemacht,  dass  sie  sich  vor  den  drohenden  militärischen 
Massregeln  des  Avitus  zurückgezogen  und  ihren  Rückzug  mit 
Entschuldigungen  gedeckt  haben.  So  erst  wird  die  Darstellung 
des  Sidonius  deutlich:  Er  preist  die  Macht  der  Alamannen,  die 
den  Rhein  an  beiden  Ufern  beherrschen  und  die  Gewalt  des 
Kaisers,  der  selbst  dieses  stolze  Volk  zu  seinen  Füssen  ge- 
sehen hat. 

Dieser  Auffassung  gegenüber  wird  geltend  gemacht,  dass 
die  Alamannen  noch  nicht  am  linken  Rhein  gesessen  hätten. 
Von  Schubert  hebt  hervor,  noch  455  hätten  die  römischen 
Provinzialen  vom  Rhein  Abgesandte  zur  Kaiserwahl  nach  Arles 
gesendet.  Aber  Sidonius  erzählt  dies  nur  Carm.  VII  524  - 527 
von  zahlreichem  Adel  ans  dem  Gebiet  der  Pyrenäen,  des  tyr- 
rhenischen Meeres,  der  cottischen  Alpen  und  des  Rheins: 

Kumerosa  coisse  nobilitas  visu  est  . . . 

. . . quam  partibus  ambit 
Tyrrheni  Rhenique  liquor  u.  s.  w. 

Jahn  führt  weiter  die  Stelle  Carm.  II.  378,  wonach  Ricimer 
am  Rhein  den  Frieden  hergestellt: 

Gallia,  quod  Rheni  Martern  ligat  iste,  pavore  est. 
und  eine  Bemerkung  des  Procop  (Goth.  I.  12.),  nach  der  die 
Kaiser  Gallien  bis  an  den  Rhein  so  lange  besessen,  als  Rom 
(bis  zur  Auflösung  des  Westreichs  durch  Odoaker)  in  seinem 
alten  Bestand  blieb.  Der  Rhein  ist  jedoch  vermöge  seiner  Aus- 
dehnung einmal  eine  sehr  unsichere  Bezeichnung,  andererseits 
erscheint  es  zweifellos,  dass  vornehme  Römer  sich  auch  irgendwo 
am  Rhein  erhalten,  dass  Ricimer  dort  Acte  der  Oberhoheit  vor- 
genommen und  dass  bei  dem  Föderativverhältniss  der  Alamannen 
der  Strom  noch  immer  als  Grenze  des  römischen  Reichs  be- 
trachtet werden  durfte.  Diese  Stellen  stehn  also  der  Annahme 


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188 


dauernder  alamannisclier  Sitze  am  linken  Rhein  keineswegs 
entgegen. 

So  lebten  die  Alamannen  in  gesicherten  Zuständen  in  dem 
westrheinischen  Gallien,  als  Füderaten  der  Römer,  so  lange 
deren  Reich  dauerte;  selbstständig  und  frei,  seitdem  es  ein  Ende 
genommen.  Die  Burgundionen,  ihre  alten  Feinde  hatten  ihnen 
am  Mittelrhein  Platz  gemacht,  und  wo  sie  dann  vom  Eisass  aus 
in  Gallien  festen  Fuss  gefasst,  hat  Arnold  nach  den  ala- 
mannischen  Ortsendungen  auf  ingen  und  wie  er  weiter  annimmt, 
auf  weiler,  hofen,  ach,  brunn,  beuren,  stetten,  wang  ermittelt. 
„Alamannische  Orte,  sagt  er,  finden  sich  über  das  ganze  Gebiet 
zwischen  Mainz,  Diedenhofen,  Mastricht,  Jülich  und  Köln  zer- 
streut, in  den  Thitlern  des  Rheins,  der  Rahe,  Saar,  Mosel,  Elz, 
Kyll,  Erft  und  Roer  bis  zur  Maas,  selbst  in  die  entlegenen 
Seitenthäler  und  auf  die  Berge  hinauf  um  den  Hundsrück,  den 
Hoch-  und  Idarwald  und  die  Eifel,  ein  Beweis,  dass  der  Strom 
der  Auswanderung  längere  Zeit  angedauert,  und  das  Volk 
wirklich  festen  Fuss  hier  gefasst  hat.“  Dessen  ein  Zeugniss  ist 
zumal  das  grosse  zusammenhängende  Gebiet  der  Orte  auf  ingen, 
das  sich  in  breiter  Ausdehnung  an  beiden  Seiten  der  Mosel 
von  Metz  bis  Trier,  im  Saar-  und  im  Sauerthal  hinzieht.  Aber 
zerstreut  sassen  die  Alamannen,  zwischen  Maas  und  Mosel  mit 
ripuarischen  Franken,  zwischen  Mosel  und  Rhein  mit  chattischen 
Franken  gemischt. 


9.  Die  Franken. 

Fränkisch  sind  die  Orte  auf  heim,  auch  wohl  auf  hach, 
dorf,  feld,  hausen  und  scheid.  In  dieses  Gemeinschaftsgebiet 
drangen  die  Alamannen  von  Süden,  die  ripuarischen  Franken 
von  Norden,  die  chattischen  Franken  von  Osten  vor. 

Denn  die  Letzteren  waren  die  nördlichen  Nachbarn  des 
alamannischen  Stainmlandes,  und  als  hier  die  Züge  und  dauern- 
den Auswanderungen  nach  Gallien  die  Bevölkerung  gelichtet 
hatten,  drangen  die  Chatten  siedelnd  in  bis  dahin  ausschliesslich 
alamannischen  Gegenden  vor.  Orte  mit  chattischen  Namens- 


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189 


eudungen  Anden  sich  am  Westerwald,  im  Lahnthal,  im  Taunus; 
dann  gingen  die  Chatten  die  Thäler  der  Lahn,  Sieg  und  Wied 
entlang  über  den  Rhein,  Hessen  sich  zwischen  Rhein  und 

Mosel  nieder  und  schoben  ihre  Ansiedlungeu  den  Rhein,  die 

Mosel  und  ihre  Seitenthäler  aufwärts  nach  Süden  und  Westen 
bis  in  das  heutige  Lothringen  hinein  voran.  Eine  Episode  dieser 
Entwicklung  war  der  nach  Sidonius  bereits  erwähnte  Einfall 
der  chattischen  Franken  nach  455,  der  sich  am  linken  Rhein 
über  die  Germania  prima  und  Belgica  secunda  erstreckte  und 
von  Avitus  zurückgewiesen  wurde. 

Für  das  colonisirende  Vorandringen  der  Alamannen  in 

Gallien  lässt  sich  das  Ende  bestimmen.  Es  trat  ein,  als  sie 

496  von  den  Franken  besiegt  wurden.  Wie  weit  aber  damals 
der  ripnarische  und  chattische  Besitz  bereits  reichte,  ist  nicht 
zu  sagen,  da  deren  Ansiedluugeu  seitdem  weiter,  tief  in  das 
links-  nnd  rechtsrheinische  Alamannenland  vorgeschoben  wurden. 

Bei  der  Festsetzung  der  Stammgrenze  von  496  blieb  den 
Alamannen  das  Eisass  mit  dem  Nordgau  und  Sundgau,  welche 
durch  spätere  Nachrichten  überliefert  sind. 


III.  Das  Donaugebiet. 

10.  Die  suevischc  und  die  römlsch-suevlsche  Zone. 

Die  Grenze  von  Rätien  zu  überschreiten,  also  etwa  von 
Tuttlingen  abwärts  über  die  Donau  zu  setzen  und  auch  von 
Günzburg  abwärts  sich  an  beiden  Seiten  des  Stromes  zu  ver- 
breiten, wird  für  die  Alamannen  ebenso  lockend  gewesen  sein, 
als  über  den  Rhein  in  Gallien  einzudringen.  Man  wird  daher 
das  erobernde  Vorangeheu  im  Donaugebiet  gleichfalls  an  den 
Zug  der  Donauvölker  und  der  Germanen  von  409  knüpfen 
dürfen.  Die  Nachbarschaft  des  Suevengeliietes  lässt  vermuthen, 
dass  die  Einwanderer  vorwiegend  Sneven  waren.  Wie  in  den 
alten  Sitzen  die  schwäbische  Alb  deren  Namen  trägt,  so  in  den 
neuen  das  Gebiet  von  Oberschwaben  (Beides  erst  seit  neuerer 
Zeit),  und  ich  begreife  unter  Letzterem  auch  den  bairischen  Kreis 


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100 


Schwaben,  der  schon  in  dem  alten  Bisthumskatalog  von  Augsburg 
provincia  Suevia  heisst. 

Baumann  hat  in  seiner  Darstellung  der  „alamannischen 
Niederlassung  in  der  Rätia  sceunda“  zutreffend  geschlossen, 
dass,  wo  sich  im  alamannischen  Gebiet  nur  eine  geringe  Zahl 
von  römischen  Ortnamen  erhalten  hat,  wie  im  Stammland 
und  in  der  Schweiz,  die  Alamannen  als  Eroberer  zerstörend 
eingedrungen  seien,  wo  aber  eine  grössere  Zahl  derartiger 
Orte  geblieben,  die  Einwanderung  eine  von  den  Römern  ge- 
stattete, also  friedliche  gewesen  sei.  Er  nimmt  dies  von  Ober- 
schwaben an,  wo  er  37  solcher  Namen  bezeichnet.  Es  ergiebt 
sich  jedoch,  dass  man  hier  zwei  Zonen  unterscheiden  muss, 
eine  südwestlich-östliche  mit  den  Orten,  welche  nach  den 
Römern  oder  Walchen  (Wälschen)  benannt  sind  und  eine  nord- 
westliche, welche  davon  frei  ist,  und  dass  man  demgemäss  auch 
zwei  Einwanderungsperioden  anzunehmen  hat. 

Die  südwestlich-östliche  Zone  umfasst  die  deutsche  Um- 
gebung des  Bodensees  und  weiter  einen  Landstrich,  welcher 
zwischen  der  Eisenbahnlinie  Friedrichshafen— Ulm,  der  Donau 
und  dem  Lech  liegt.  Die  Namen  gmppiren  sich  hier  so: 

nördlich  vom  Zeller-  und  Ueberlinger-Sec  Walawis  (jetzt 
Walwies),  Walleubrugge  in  der  Nähe,  Walahusen  (Wall- 
liausen),  Walsburon  (abgegangen  bei  Salem),  Wahl  weder  (bei 
Heiligen  berg); 

nördlich  vom  obern  Bodensee  zwischen  der  Bahnlinie 
und  der  Iller  Welschreu ti  bei  Tettnang,  Ad  Rhenum  (Auf 
Rhein  an  der  württembergischen  Argen),  Cassiliacum  (Kiss- 
leg,  OA.  Wangen),  W allmusried  (bei  Kissleg),  Castra  Vemania 
(Gcstratz  an  der  obern  Argen),  Gampodunum  (Kempten), 
Canale  1057  (Känels  bei  Kempten),  Wallenhaus  bei  Ravens- 
burg, Waladorf  (Halidorf,  Aulendorf),  Wallenreute,  Waldsee 
(im  dortigen  Oberamt),  Viana  (Weinstetten  und  Weinhaida, 
OA.  Laupheim),  Gewann  WTallenmoos  bei  Thannheim  im  Iller- 
thal ; 

zwischen  Iller,  Donau  und  Lech  Romisperg  (Rünsberg), 
Sollthürn  und  Ramsoi  (bei  Obergüuzburg),  Castra  Navoae  bei 
Eggenthal,  Coelius  uions  (Kellmünz  an  der  Iller).  Wallenhauseu 
(bei  Weissenborn);  weiter  an  der  Donau  castra  Piniana, 
Phaeniana  (Finningen  bei  Neuulm),  Guntia  (Günzburg),  Castra 


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101 


Fabiana,  Phoebiaua  (Feiningen  bei  Lauingen),  Pomone  (Baum- 
garten bei  Dillingen),  und  im  Lechgebiet  Drusomagus  (Druis- 
lieim  an  der  Schmutter,  Augusta  Vindelicum  (Augsburg), 
Waal  und  Waalhaupten  (bei  Landsberg),  Abodiacum,  Abu- 
zacum  (Epfach),  Römerkessel  (in  der  Nähe),  Ramsau  bei 
Schongan;  Escone-Echt  (bei  Oberndorf),  Ad  frontes  Alpium 
(Pfronten  bei  Füssen). 

Die  nordwestliche  von  Römernamen  freie  Zone  erstreckt 
sich  von  der  rätischen  Grenze  bei  Tuttlingen  donauabwärts  bis 
Ulm  und  reicht  südlich  bis  in  die  Nähe  des  Bodensees,  und 
man  wird  kaum  in  der  Annahme  fehlgehen,  dass  die  Sueven 
um  409  hier  über  die  Donau  eingedrungen  sind,  dass  sie  die 
zusammenhängenden  Ortschaften  zerstört  und  sich  in  neuen 
Wohnsitzen  angesiedelt  haben,  soweit  nicht  der  Wald  und  die 
römische  Zone  Hindernisse  in  den  Weg  legten. 

Solche  Hindernisse  fanden  sich  an  der  Donau  von  Ulm  bis 
Lauingen,  wo  die  römischen  Castra  Piniana  und  Fabiana  dem 
Eindringen  der  Sueven  Widerstand  geleistet  haben  mögen,  an 
der  Linie  Ulm  — Friedrichshafen  und  am  Seegestade,  das  in 
ihrem  Besitz  zu  erhalten,  so  lange  es  möglich,  für  die  Römer 
ein  Gebot  der  Nothwendigkeit  war,  um  die  gesammten  Um- 
gebungen des  Sees  nicht  in  jedem  Augenblick  den  Ueberfällen 
der  Sueven  zu  Wasser  auszusetzen. 

Erst  nach  dieser  zerstörenden  Periode  wird  eine  andere 
friedliche  eingetreten  sein,  in  der  sie  sich  mit  den  Römern  des 
zweiten  Rätiens  ins  Gleichgewicht  setzten,  in  der  sie,  wie  in 
Gallien,  als  Föderatcn  aufgenommen  wurden  und  so  kolonisirend 
in  das  Gebiet  eindrangen,  das  ihnen  bis  dahin  vorenthalten  war. 
Dies  mag  noch  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  ge- 
schehen sein. 


11.  Niederlagen  an  der  Donau  und  dem  Bodensee. 

Noch  vorher  wird  es  gewesen  sein,  als  „Juthungen“  wohl 
von  beiden  Seiten  der  Donau  einen  grossen  Einfall  etwa  in 
die  römische  Zone  machten.  Aetius  bekriegte  sie  „mit  der  Ab- 


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sicht,  sie  zu  vertilgen“  und  schlug  sie  430,  ein  Sieg,  von  dem 
Hydatius  erzählt,  und  den  Sidonius,  als  von  seinem  Schwieger- 
vater Avitus  miterfochten,  feiert.  Aetius  Jliutungorum  gentem 
delere  intendit,  Chron.  Gallica  anni  452  zum  Jahr  430:  Juthnngi 
per  enm  (Aetinm)  debellantur,  Hydatius  zum  Jahr  430. 

X am  post  Jnthungos  et  Norica  bella,  subacto 
Victor  Vindelico,  Burgundio  quem  trux 
Presserat,  absolvit  (Aetius)  junctus  tibi  (Avito). 

Wo  der  Kriegsschauplatz  war,  ist  nicht  gesagt,  doch  kann  es 
nicht  wohl  eiu  anderer  sein,  als  die  Donaugegend,  in  der  die 
besiegten  Völker  Juthungen,  Vindeliker  (Rätier)  und  Noriker 
neben  einander  wohnten  (Siche  Kapitel  8,  Abschnitt  4). 

Zur  Zeit  des  hunnischen  Einfalls  von  451  zerstörten  die 
Alamannen  auch  am  Budensee  gelegene  römische  Orte,  unter 
denen  Arbor  und  Brigantia  genannt  werden.  Auch  der  hunnischen 
Bewegung  folgte  die  Niederlage,  und  beide  römischen  Siege 
mögen  die  Alamannen  von  den  Ufern  des  Sees  zurückgeworfen 
haben. 


12.  Der  König  Gibuld. 

Aber  bald  hört  man  wieder  von  Raubzügen  eines  Gaus  des 
alamaunischen  Königs  Gibuld  oder  Gebaud,  die  im  Osten  bis 
Passau  in  Noricum,  im  Westen  bis  Troyes  in  Gallien  sich  aus- 
dehnten. Er  war  Christ  und  die  Heiligeugeschichte,  die  von 
seinen  räuberischen  Einbrüchen  erzählt,  schildert  ihn  zugleich 
als  demütbigen  Verehrer  des  heiligen  Severin,  der  bald  nach 
dem  Tode  Attilas  452  nach  Rätien  und  Noricum  kam,  wo  er 
482  starb  und  des  heiligen  Lupus,  der  bis  zu  seinem  Tode 
Bischof  von  Troyes  war. 

Der  heilige  Severin  gründete  in  Passau  ein  kleines  Kloster, 
das  er  auf  Bitten  der  Einwohner  hauptsächlich  wegen  der  fort- 
gesetzten Einfälle  der  Alamannen  häufiger  besuchte,  maxime 
propter  Alamannorum  incursus  assiduos,  quorum  rex  Gibuldus 
summa  eum  reverentia  diligebat.  Als  einmal  der  König  mit 
seinen  Alamannen  auf  Passau  zu  zog,  ging  ihm  der  Heilige 
entgegen,  damit  jener  die  Stadt  verschone,  und  machte  durch 


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die  Gewalt  seiner  Rede  einen  so  starken  Eindruck  auf  den  König, 
dass  dieser  ihm  versprach,  sein  Volk  von  der  Zerstörung  der 
römischen  Besitzung  abzuhalten,  und  die  von  den  Seinen  ge- 
machten Gefangenen  ohne  Lösegeld  herauszugeben,  ut  gentem 
suam  a Romana  vastatione  cohiberet  et  captivos,  quos  sui  tenu- 
erunt,  gratuiter  absolveret.  Ein  von  dem  Heiligen  gesandter 
Diakon  empfing  auch,  nachdem  er  viele  Tage  gewartet,  siebenzig 
und  ein  Presbyter  eine  grosse  Menge,  magnam  copiatn,  Ge- 
fangener zurück.  Eugippii  vita  Severiui  cap.  19. 

Ein  Gleiches  gewährte  Gibuld  (Gebaud)  dem  Bischof  Lupus 
von  Troyes,  episcopus  Trecensis,  dem  von  allen  Königen  der 
Völker  grosse  Verehrung  bezeugt  wurde,  insbesondere  von 
dem  König  Gebaud,  ab  omuibus  gentium  regibus  ingens  illi 
revercntiae  adhiberetur  aifectus,  specialius  tarnen  a rege  Ge- 
baudo  — — ; Gebaudus  regia  dignitate  sublimis.  Er  gab  auf 
schriftliche  Bitte  des  Bischofs  Brionen  aus  dem  Stadtgebiet  der 
Champagne,  die  von  Alamannen  gefangen  waren,  die  Freiheit 
wieder,  Brionenses,  quos  Alamannorum  quondam  cepit  immanitas. 
Vita  S.  Lupi. 

Der  König  stand  zu  beiden  Heiligen  in  persönlichen  Be- 
ziehungen. Die  Gefangenen  waren  auf  Streifzügen  gemacht, 
die  weit  über  die  alamannisclie  Grenze  hinausgingen,  im  Osten 
in  der  Gegend  von  Passau,  wo  Gibuld  selbst  zugegen  war,  im 
Westen  in  der  Champagne,  wo  seine  Anwesenheit  nicht  erhellt; 
Lupus  schrieb  ihm,  die  Gefangenen  können  also  auch  in  den 
Gau  des  Königs  verbracht  sein.  Die  Expeditionen  scheinen 
Streifzüge  eines  Gaus  in  die  in  der  Auflösung  begriffenen 
römischen  Provinzen  zu  sein,  an  deren  einem  Gibuld  als  Gaukönig 
theilnahm.  An  einen  nach  zwei  Seiten  geführten  grossen  Krieg, 
bei  dem  er  Herzog  gewesen,  zu  denken,  ist  kein  Anlass.  Von 
Schubert  sieht  unter  der  weiteren  Ausführung,  dass  die  Ala- 
mannen inzwischen  zum  Stammkönigthum  übergegangen  seien, 
in  ihm  den  ersten  bekannten  Stammkönig.  Dass  er  in  die  Reihe 
-aller  Könige  der  Völker“  gestellt  wird,  ist  dafür  nicht  be- 
zeichnend, auch  kaum,  dass  er  „hervorragend  an  königlicher 
Würde“  genannt  wird,  denn  der  Schriftsteller  will  nicht  technisch 
seine  staatsrechtliche  Stellung,  sondern  seine  hervorragende 
Person,  und  damit  den  erfolgreichen  Einfluss  des  Heiligen  auf 
ihn  rühmen.  Jedenfalls  könnte  die  Nachricht  zu  einer  Deutung 

Cr  Am  er,  Gescbicbto  der  Alamannen.  13 


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auf  einen  Stammkünig  nur  verwendet  werden,  wenn  andere 
Mittheilungen  sie  ergänzen  würden  (Siehe  unten  Abschnitt  28  und 
Kapitel  7,  Abschnitt  8). 


Id.  Alamannen  und  Ostgothen. 

Einleitung. 

Die  Alamannen  haben  sich  bis  dahin  in  kriegerischen  und 
politischen  Beziehungen  nur  zu  den  Römern  und  den  Germanen- 
stämmen  der  Franken  und  Burgundionen  gezeigt,  und  die  Ge- 
biete ihrer  auswärtigen  Thätigkeit  waren  Gallien,  Rätien  und 
Italien.  Nunmehr  traten  sie  zu  einem  weiteren  Germanenstamme 
in  Beziehungen,  zunächst  in  feindliche  an  der  mittleren  Donau. 
Es  waren  die  Ostgothen.  Aber  die  flüssigen  Verhältnisse,  welche 
zur  Zeit  der  Völkerwanderung  geschaffen  wie  zerstört  wurden, 
sollten  die  Feindschaft  bald  in  Freundschaft  umwandeln,  bis 
schliesslich  gemeinsame  Geschicke  für  beide  Stämme  verhängnis- 
voll wurden. 

Die  Geschichte  des  ersten  Zusammenstosses  der  „Sueven“ 
(oder  vielmehr  „Suaven“)  mit  den  Ostgothen  an  der  mittleren 
Donau  und  des  Rückschlags  der  Bewegung  zur  Heimath  der 
„verbündeten  Suaven  und  Alamannen“  verdanken  wir  der  Gothen- 
geschichte des  Jordanes  von  der  Mitte  des  6.  Jahrhunderts. 
Seine  Darstellung  in  den  Kapiteln  53  — 55  ist  jedoch  hinsicht- 
lich der  Suavo-  Alamannen  schattenhaft,  und  theilweise  schief 
und  unrichtig.  Unrichtig  ist  seine  Unterscheidung  von  zwei 
getrennten  und  selbstständigen  Gebieten  des  alten  suevischen 
Gesammtvolkes  an  der  mittleren  und  an  der  oberen  Donau; 
schief  seine  Schilderung  des  Verhältnisses  der  Suaven  zu  den 
Alamannen,  schattenhaft  zumal  der  Zusammenhang  der  ersten 
und  zweiten  Hälfte  der  Kriegsereignisse.  Unterrichtet  zeigt 
sich  Jordanes  aber  über  die  geographische  Lage  des  Alamannen- 
landes an  der  oberen  Donau. 

In  Wahrheit  war  dies  das  einzige  „Suavien“.  Die  Ala- 
mannen und  insbesondere  Suaven  zogen  unter  ihrem  König- 
Herzog  Hunimund  (vielleicht  war  der  König  Alarich  ein  zweiter) 


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wohl  über  den  Brenner  nach  Dalmatien  und  Pannonien  an  der 
mittleren  Donau,  wurden  von  dem  Ostgotlienkönig  Theodemir 
geschlagen  und  kehrten  in  ihre  Heimath  zurück.  Sie  brachten 
dann  einen  Bund  der  Donauvölker  gegen  die  Ostgothen  zu 
Stande,  und  als  auch  dieser  unterlegen  war,  zog  Theodemir  in 
das  Gebiet  der  Alamannen  an  der  oberen  Donau  und  brachte 
ihnen  eine  letzte  Niederlage  bei.  Hunimund  erinnert  an  Chnodo- 
mar  die  Kämpfe  und  Niederlagen  au  der  mittleren  Donau  ähneln 
denen  in  Gallien  und  der  Zug  des  Theodemir  in  die  Heimath 
der  Suaven  gleicht  den  Expeditionen  des  Cäsar  Julian  über 
den  Rhein.  Mit  diesem  leitenden  Faden  in  der  Hand  werden 
sich  die  dunklen  Pfade  des  Jordanes  verfolgen  lassen. 

Um  das  Jahr  473,  in  das  etwa  der  letzte  Zug  fällt,  scheint 
die  Macht  der  Römer  in  dem  zweiten  Rätien  schon  gebrochen 
zu  sein.  Sie  werden  gar  nicht  erwähnt.  Die  Darstellung  des 
Jordanes  beginnt  erst,  wo  die  Alamanno- Suaven  in  den  Gesichts- 
kreis des  Gothen  treten  und  geht  dahin: 

Die  mittlere  Donau. 

Unter  dem  Suavien  der  mittleren  Donau  ist  seiner  Lage 
nach  augenscheinlich  die  römische  Provinz  Savia  au  der  Save, 
Savus,  ii hi  die  Stadt  Siszek,  Siscia  verstanden,  denn  es  stiess 
einerseits  (südöstlich)  an  Dalmatien,  andererseits  (nordöstlich) 
war  es  nicht  weit  von  Pannonien  entfernt,  zumal  von  dem 
Theil,  in  dem  damals  die  Gothen  wohnten,  das  ist  um  den 
Plattensee,  lacus  Pelso.  Dalmatia  Suaviac  vicina  erat,  nec 
aPannonios  fines  distabat,  praesertim  ubi  tune  Gothi  residebant. 
Pie  Könige  und  wahrscheinlich  Herzoge  der  Suaven  waren 
Hunimund  und  Alarich;  ersterer  wird  ausdrücklich  als  Herzog 
bezeichnet  und  erscheint  als  die  treibende  Kraft  des  Krieges, 
letzterer  wird  nur  genannt.  Suavorum  reges,  Hunimundus  et 
Halaricus,  jener  auch  Suavorum  dux.  Ueber  die  Gothen 

herrschten  als  Könige  Theodemir  (der  Vater  des  grossen 
Theoderich)  und  Valamir. 

Von  Suavien  aus  zogen  die  suavischen  Herzoge  mit  einem 
Heer  nach  Dalmatien,  raubten  unterwegs  (wo?)  Vieh  der 
Gothen  von  der  Weide,  wurden  aber  auf  der  Rückkehr  beim 
Durchzug  durch  das  Gothenland  am  Plattensee  von  Theodemir 
überfallen  und  geschlagen,  ad  sua  revertans;  in  eorurn  transitu ; 

13* 


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ad  lacuui  Pelsodis.  Hunimund  und  die  Reste  seines  Heeres 
geriethen  in  Kriegsgefangenschaft.  Aber  der  Gothenkönig  war 
ein  mitleidiger  Mann,  amator  miscricordiae.  Nachdem  er  an 
den  Suaven  Rache  genommen,  gewährte  er  ihnen  Verzeihung, 
schloss  also  mit  ihnen  ein  Bündniss,  nahm  den  Herzog  an 
Solinesstatt  an  und  entliess  ihn  mit  den  Seinen  nach  Suavicn, 
remisit  cum  suis  in  Suavia. 

Der  Bund  der  Donauvölker. 

Nach  einiger  Zeit,  erzählt  Jordanes  weiter,  verbündete  sich 
Hunimund  mit  deu  Sciren,  die  damals  über  der  Donau  sassen, 
Scirorum  gente  ineitans,  qui  tune  super  Danubium  sedebant,  und 
überfiel  mit  ihnen  die  Gothen.  In  dem  Kampfe  fiel  deren 
König  Valamir,  aber  die  Suaven  und  Sciren  wurden  geschlagen 
und  die  letzteren  „sämmtllch“  vernichtet.  Es  folgte  ein  Bündniss 
der  Suaven,  Rugier  (über  der  Douau  Noricum  gegenüber);  der 
Reste  der  Sciren,  der  Gepiden  und  Sarmaten  (diese  drei  über 
der  Donau  in  Dacien)  und  eine  Schlacht  am  Fluss  Bolia  (un- 
bekannt) in  Pannonien,  ad  amnem  Boliani  in  Pannoniis.  Das 
Schlachtfeld  röthete  sich  von  dem  Blute  der  Gefallenen  und 
Verwundeten,  10000  Leichen  lagen  zu  Hügeln  aufgehäuft  da. 
Die  Gothen  unter  Theodemir  und  seinen  Brüdern  blieben  die 
Sieger. 

Hunimund  taucht  noch  einmal  in  der  Vita  Severini  c.  22 
auf,  in  der  er  weder  als  Alamaune,  noch  als  König  oder  Herzog 
bezeichnet  wird.  Er  überfiel  mit  geringer  Truppenzahl  Passau, 
Hunimandus  paucis  barbaris  comitatus  oppidum  Batavis  invasit. 
Während  die  Einwohner  bei  der  Ernte  waren , tödtete  er 
40  Mann,  die  als  Besatzung  zurückgeblieben  waren.  Woher 
er  gekommen  und  wohin  er  weiter  gezogen,  ist  nicht  ersichtlich. 

Das  Kapitel  55  des  Jordanes. 

Post  certum  vero  tempus  instand  hiemali  frigore  amnemque 
Danubii  solite  congelato  — nam  istius  modi  fluvius  ille  conge- 
lascit,  ut  in  silicis  modum  pedestrem  vehat  exercitum  plaustraque 
et  traculas  vel  quidquid  vehiculi  fuerit,  nec  cumbarum  indigeat 
lintres  — sic  ergo  eum  gelatum  Thiodimir  Gothorum  rex  cernens, 
pedestrem  ducit  exercitum,  emensoque  Dannbio  Suavis  impro- 
visus  a tergo  apparnit.  Nam  regio  illa  Suavorum  ab  Oriente 


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107 


Baibaros  habet,  ab  occidente  Francos,  a nieridie  Burgundzones, 
a septentrione  Thuringos,  quibus  Suavis  tune  juncti  aderant 
feliam  Alamanni;  ipsique  Alpes  erectos  omnino  regentes,  unde 
nonnulla  fluenta  Danubium  iufluunt  nimio  cum  sonu  vergentia. 
Hic  ergo  taliterque  munito  loco  rex  Tliiodimir  liienris  tempore 
Gotliorum  ductavit  exercitum  et  tarn  Suavorum  gente  quam 
etiam  Alamannorum,  utrasque  ad  invicem  foederatas,  devicit, 
vastavit  et  pene  subegit;  inde  quoque  victor  ad  proprias  sedes, 
id  est  Pannonias  revertens  etc. 

Im  Gegensatz  zu  dem  Gebiet  der  Suavcu  an  der  mittleren 
Donau,  schildert  das  viel  besprochene  Capitel  das  Snavien  an 
dem  oberen  Stromlauf.  In  schleppender  Darstellung,  unklar 
durch  eine  Reihe  eingeschobener  Sätze  und  durch  den  Wechsel 
der  Tempora,  schwerfällig  durch  Wiederholungen,  skizzirt  es 
einerseits  die  geographische  Lage  und  Zustände  der  Alamannen 
(und  insbesondere  der  Suaven)  und  vermischt  andererseits  damit 
den  Lauf  der  Ereignisse. 

Die  obere  Donau,  Land  und  Leute. 

Jordanes  versteht  dem  schwankenden  und  verwirrenden 
Sprachgebrauch  seiner  Zeit  (Mitte  des  6.  Jahrhunderts)  gemäss, 
von  dem  weiter  unten  die  Rede  sein  wird,  einmal  unter  Suavien 
das  ganze  Alainannien,  dann  unter  Suaven  und  Alamannen  zwei 
conföderirte  Völker  und  setzt  richtig  die  Suaven  in  ihre 
historischen  Wohnsitze  an  der  linken  Donau.  Wenn  nun  die 
Suaven  an  dem  linken  Ufer  wohnten,  so  lag  ihm  die  Annahme 
nahe,  dass  die  verbündeten  Alamannen  das  rechte  inne  hätten, 
und  so  stellt  er  es  dar. 

Während  es  von  dem  Suavien  der  mittleren  Donau  im 
Fluss  der  Erzählung  hiess:  Dalmatia  Suaviae  vicina  erat,  wird 
hier  der  Gegensatz  des  Suaviens  der  oberen  Donau  absichtlich 
geographisch  hervorgehoben.  Regio  illa  Suavorum  ab  Oriente 
Baibaros  habet,  ab  occidente  Francos,  a meridie  Burgundzones, 
a septentrione  Thuringos.  Da  hier  das  Präsens  gewählt  ist, 
so  sah  man  darin  zunächst  das  spätere  Einschiebsel  eines 
Kopisten  (aber  die  gesummte  Satzkonstruction  des  Capitals  ist 
mangelhaft),  und  weiter  einen  Zusatz  mit  den  Grenzen  der 
Mitte  des  6.  Jahrhunderts;  es  sind  aber  in  der  Tliat  die  Grenzen 
vor  496.  Zunächst  ist  nnter  der  regio  Suavorum  das  ganze 


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Alamannien  zu  verstehen,  und  während  im  Süden  und  Westen 
zu  beiden  Zeitpunkten  Burgundionen  und  Franken  sassen,  trifft 
docli  die  Lage  der  Thüringer  im  Norden  nur  für  die  Zeit  vor 
49ß  zu,  während  nach  der  Besiegung  der  Alamannen  durch 
die  Franken  unter  Chlodwig  die  Nordgrenze  fränkisch  war, 
Verhältnisse,  auf  deren  Kenntniss  Jordanes  im  Kapitel  57 
anspielt.  Damit  ergiebt  sich  auch  die  Ansiedlung  der  Bajovaren 
über  dem  Lech  (im  Osten  der  Suaven)  bereits  für  die  Zeit  von 
473  oder  doch  vor  496  (nach  Riezler,  nach  dem  sie  wahrscheinlich 
im  Jahr  488  eingezogen  sind,  für  die  Zeit  von  488—520). 

Weiter  behandelt  Jordanes  die  Suaven  und  Alamannen  als 
zwei  selbstständige  conföderirte  Völker:  tarn  Suavorum  gente  quam 
etiam  Alamannorum  invicem  foederatas.  Die  Suaven  wohnten 
am  linken  Ufer,  (von  jeher  bis  gegenüber  der  Günz,  jetzt  vielleicht 
schon  bis  zur  Wörnitz  abwärts),  denn  Theodemir,  welcher  von 
Pannonien  am  rechten  Ufer  kam,  drang  zu  ihnen  über  die  ge- 
frorene Donau  vor;  die  Alamannen  aber  rechts  von  dem  Strom. 
Alamanni  Alpes  erectos  omnio  regentes,  unde  nonnulla  fluenta 
Danubium  influunt  nimio  cum  sonitu  vergentia.  Die  Alpen 
können  die  schwäbische  Alb,  wie  die  schweizer  und  Vorarlberger 
Alpen  sein,  in  deren  Gebiet,  wie  wir  nach  den  älteren  und 
späteren  Nachrichten  wissen,  Alamannen  (im  ursprünglich  weiteren 
Sinn  des  Wortes)  angesiedelt  waren.  Von  der  schwäbischen 
Alb  strömen  keine  „tosenden  Nebenflüsse“  in  die  Donau  (die 
bedeutendsten  sind  die  Lauchert,  Brenz  und  Wörnitz),  während 
diese  Bezeichnung  eher  auf  die  Flüsse  der  Allgäuer  Alpen 
passt,  die  Oberläufe  von  Iller  und  Lech  (denn  die  Isar  und  der 
Inn  sind  niemals  alamannisch  gewesen).  Wenn  also  nach 
Jordanes  Iller  und  Lech  im  Besitz  der  Alamannen  und  im 
Osten  die  Bajovaren  ihre  Nachbarn  waren,  von  denen  wir 
wissen,  dass  ihre  Sitze  bis  au  den  Lech  reichten,  so  folgt,  dass 
die  Alamannen  (im  ursprünglichen  Sinn)  in  derThat  schon  zur 
Zeit  dieses  gothischen  Conflikts  die  Iller  und  den  linken  Lech 
besetzt  hatten,  aber  wohl  noch  nicht  dicht,  denn  die  Hauptmacht 
des  Volkes,  auf  deren  Vernichtung  Theodomir  ausging,  bestand 
in  den  Suaven  auf  der  linken  Donauseite. 


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100 


Die  Ostgothen  an  der  oberen  Donau. 

Theodemir  zog,  so  erzählt  weiter  Jordanes,  einige  Zeit  nach 
der  Niederlage  der  Donauvölker  mit  seinem  Heer  von  Pannonien 
aus  die  Donau  entlang,  emenso  Danubio,  setzte  über  den  ge- 
frorenen Fluss,  und  überraschte  die  Suaven  im  Rücken,  Suavis 
improvisus  a tergo  apparuit.  Aber  sie  erhielten  Zuzug  von  der 
anderen  Seite  des  Flusses,  quibus  Suavis  tune  juncti  aderant 
Alamanni.  Der  Gothenkönig  führte  sein  Heer  daher  zunächst 
an  einen  festen  Platz,  munito  loco,  und  besiegte  dann  das  ge- 
sammte  Heer  der  Suaven  und  Alamannen,  verwüstete  ihr  Land, 
nnterwarf  sie  „beinahe“  und  kehrte  als  Sieger  in  seine  Heimath 
Pannonien  zurück,  tum  Suavorum  gente  quam  etiam  Ala- 
mannorum  — — devicit,  vastavit  et  pene  subegit.  Inde  quoque 
Victor  ad  proprias  sedes,  id  est  Pannonias,  revertens  etc.  (Die 
Auffassung  Baumanns,  Schwaben  und  Alamannen  S.  239,  der 
unter  den  Suaven  die  vannianischen  Sueben  in  Ungarn  versteht 
nnd  nur  einige  Gefolgschaften  der  Alamannen  aus  dem  Westen 
ihnen  zuziehen  lässt,  ist  unhaltbar.  Besiegt  doch  Theodemir 
auch  das  Volk  der  Alamannen  und  verwüstet  ihr  Land,  nicht 
nur  das  der  Sueven). 


Ueberblick. 

Jordanes,  welcher  erst  die  in  Pannonien  angesiedelten 
Suaven  schildert,  ihre  Könige  Hunimund,  den  Herzog,  und 
Alarich  nennt  und  die  Gründe  der  gothisclien  Kriegsführung 
gegen  sie  und  ihre  Genossen  klarstellt,  schweigt  von  dem 
Anlass  des  Zuges  gegen  die  Suavo-Alamannen  und  erwähnt 
auch  ihrer  Könige  nicht.  Dieses  Schweigen  sichert  die  An- 
nahme, dass  der  letzte  Krieg  die  Fortsetzung  des  frühem,  dass 
Hunimand  der  Herzog  der  Suevo-Alamannen  war,  dass  er  mit 
seinen  Stammgenossen  zunächst  in  Dalmatien,  dann  in  Pannonien 
eingebrochen,  mit  den  verbündeten  Donauvölkern  dahin  zurück- 
gekehrt  und  besiegt  war,  und  nun  in  seiner  Heimath  an  der 
oberen  Donau  aufgesucht  nnd  vernichtet  werden  sollte.  Die 
räumliche  Vermittlung  zwischen  den  beiden  Suavien  der  Jordanes 
bildet  das  Auftreten  des  Hunimund  in  Passau,  das  zwischen 
beiden  liegt.  Mommsen  (Jordanes  S.  165)  führt  aus,  die  Dar- 
stellung ergebe  zur  Genüge,  dass  Hunimund  ans  Germanien 


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nach  Dalmatien  gekommen,  und  dass  Jordanes  im  Kap.  53 
Suavia  mit  der  Provinz  Savia  verwechselt  habe.  Nachdem  er 
den  Hunimund  als  Herzog  der  pannonischen  Suaven  habe  anf- 
treten  lassen,  habe  er  für  ihn  als  Herzog  der  alamannischen 
keinen  Raum  mehr  gefunden. 


14.  Die  Alamannen  in  Xoricnin. 

Als  die  Ostgothen  abgezogen,  durften  die  Alamannen 
Noricum  wiederum  als  immer  gelegene  Beute  betrachten.  In 
der  weiteren  Darstellung  der  Vita  Severini  heisst  es:  Ein 

starker  Haufen  Alamannen  verheerte  wild  Alles.  Dann:  die 
Bewohner  von  Quintanis  (Osterhofen  im  zweiten  Rätien),  der 
häufigen  Einfälle  der  Alamannen  müde,  wanderten  nach  Passau 
aus.  Diese  hofften  nun,  das  Volk  beider  Städte  auf  Einen 
Zugriff  ausplündern  zu  können,  aber  Severin  machte  die  Seinen 
dnrch  Ansprachen  stark,  prophezeite  den  Sieg  und  die  Ala- 
mannen wurden  geschlagen.  Noch  einmal  wird  von  Plündern, 
Gefangennehmen  und  Morden  der  Alamannen  berichtet.  Cp.  25, 
27,  31. 


15.  Der  Abzug  der  Römer  von  der  Donau. 

Es  ist  schon  erwähnt,  dass  während  des  Conflikts  zwischen 
Alamannen  undOstgothen,  welcher  Rätien,  Noricum,  Pannonien 
und  Dalmatien  umfasste,  von  den  Römern,  römischen  Besitzern, 
römischen  Städten  und  Castellen  nicht  die  Rede  ist.  Soweit 
sie  sich  aber  unter  Alamannen  und  Bajovarcn  an  beiden  Seiten 
des  Lech  und  um  den  Bodensee  erhalten  hatten,  so  verschwanden 
sie  spätestens  im  Jahre  488,  als  Aonnlfus  auf  Geheiss  seines 
Bruders  Odoaker  die  römischen  Provinzialen  von  den  Donau- 
städten, die  den  Beutezügen  der  Germanen  gegenüber  nicht 
mehr  zu  schützen  und  zu  halten  waren,  wegführte  und  in  ver- 


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201 


scbiedencn  Gegenden  Italiens  ansiedelte.  Universos  jussit  ad 
Italiam  migrare  Romanos.  Provincialibus,  qui  oppidis  super 
ripam  Danubii  relictis,  per  diversas  Italiae  regiones  varias  suae 
permigrationis  sortiti  sunt  sedes.  Vita  Severini  cp.  45.  — 
Das  Ergebniss  dieser  Untersuchung  ist,  dass  es  im  5.  Jahr- 
hundert an  der  Donau  nur  Ein  snevisclies  Volk  gab,  die  ala- 
mannischen  Sueven,  dass  sie  sich  über  das  zweite  Rätien  bis 
zum  Bodensee  und  dem  Lechthal  ausgedehnt  und  hier  die  Römer 
verdrängt  hatten. 


16.  Die  Bestallungsforniel  für  den  dux  Raetiaruni. 

Dieser  Darstellung  widerspricht  völlig  die  Formel,  die  sich 
in  der  Ostgothischen  Formelsammlung  des  Cassiodor  VII,  4 
ans  der  Zeit  von  535  als  Formula  ducatus  Raetiarum  befindet. 
Sie  schildert  die  beiden  Rätien  als  ein  Vorland  und  die  dort 
stationirten  Truppen  als  den  Schild  des  römischen  Reiches. 
Bewohner  sind  die  Provinzialen  und  Soldaten,  die  nach  jus 
civile  leben  sollen;  jenseits  der  Grenzen  wohnen  die  wildesten 
und  rohesten  Völker,  ungebändigt  und  räuberischer  Einfälle  ver- 
dächtig. Der  Verkehr  der  Römer  unter  ihnen  soll  nicht  lässig 
gestattet,  und  die  Germanen  dürfen  nicht  ohne  Prüfung  auf- 
genommen werden.  Die  Grenze  ist  vielmehr  sorgsam  zu  um- 
wandern, und  jeder  Ansturm  der  Germanen  zurückzuweisen. 

Längst  vergangene  Zustände  sprechen  aus  jedem  Wort  der 
Formel,  die  sich  in  der  Kanzlei  erhalten  haben  mag,  jedenfalls 
entspricht  sie  der  Lage  des  zweiten  Rätieus,  zu  keiner  Zeit 
der  ostgothischen  Herrschaft.  Die  Alamannen  waren  bereits 
im  Besitz  von  Oberschwaben,  als  Theoderich,  der  neue  Herrscher 
von  Italien  und  damit  der  beiden  Rätien  (nach  den  fränkischen 
Siegen  seit  496)  ihren  gen  Süden  fliehenden  Volksgenossen  die 
weitere  Ansiedelung  unter  Jenen  gestattete.  Das  geschah  ohne 
Beeinträchtigung  des  Reiches  Italien  an  römischem  Besitz. 
In  der  Lobrede  des  Ennodius  auf  den  grossen  König  heisst  es: 
A te  Alamanniae  generalitas  (die  fliehenden  Alamannen)  intra 
Italiae  terminos  sine  detrimento  Romanae  possessionis  in- 
elusa  est. 


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IV.  Das  Gebiet  des  Doubs  und  der  Vordersehweiz. 

I?.  Die  Ausdehnung  der  Alamannen. 

Nicht  nur  über  den  Rhein  gen  Westen  und  über  die  Donau 
gen  Süden  und  Südosten,  sondern  auch  vom  Eisass  und  Deutsch- 
lothringen, wie  direkt  vom  Stammland  aus  über  den  Rhein  und 
Bodensee  drangen  alamannische  Krieger-  und  Ansiedlerschaaren 
weiter  gen  Süden  vor  bis  Langres,  Besanqon,  den  mittleren  und 
oberen  Doubs,  ferner  in  die  deutsche  Schweiz  und  zwar  in  den 
Jura  bis  zum  Neuchateler-See,  die  Aare  aufwärts  bis  zum 
Thuner-  und  Brienzer-See  und  weiter,  bis  das  Hochgebirge,  der 
St.  Gotthard,  Tödi,  Glirnisch,  Sentis,  Arlberg  und  die  Allgäuer 
Alpen  ihnen  eine  Grenze  setzten.  Wie  weil  bereits  im  Lauf 
des  5.  Jahrhunderts  die  Ansiedlungen  in  den  Voralpen  vor- 
geschoben, ist  nicht  zu  sagen,  erst  in  der  Zeit  der  Merowinger 
und  Karolinger  ist  zu  sehen,  dass  das  Hochgebirge  erreicht 
worden. 

Das  Voranschreiten  der  Alamannen  aus  dem  Norden  in  den 
Süden  fand  sein  Ende,  als  sie  gegen  Südwesten  mit  einem 
anderen  germanischen  Volk  zusammenstiessen,  das  von  Süden 
in  den  Norden  vordrang;  als  sie  gegen  Osten  auf  eine  compacte 
Masse  von  Romanen  trafen,  die  sich  nicht  vertreiben  Hessen. 
Jene  waren  wiederum  die  Burgundionen,  die  sich  als  Nachbarn 
einfanden.  Vom  Mittelrhein  in  das  südliche  Gallien  versetzt, 
wurden  sie  vom  römischen  Reich  443  in  der  Sapaudia  (Savoyen) 
im  Süden  vom  Genfer  See  und  im  Westen  der  grajischen  und 
cottisehen  Alpen  unter  Landzutheilung  angesiedclt  und  dehnten 
sich  von  hier  aus  nach  Westen  und  Norden  zu  457  in  die 
Lugdunensis  prima  und  seit  463  in  die  Viennensis  und  die 
Maxima  Sequanorum,  das  Rhone-,  Saone-  und  Doubsthal  aus. 
Hier  sollte  wieder  eins  von  beiden  Völkern  weichen. 

Es  waren  die  Alamannen,  deren  vor  den  Burgundionen 
zurück  weichende  Fusstapfen  bis  zur  Aare  im  Osten  zu  verfolgen 
sind.  Was  darüber  hinausliegt,  blieb  ihnen  erhalten. 


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203 


18.  Alainannisehe  Orte. 

Als  die  Hunnen  unter  Attila  451  nach  Gallien  zogen, 
waren  die  römischen  Festungen  am  oberen  Rhein  und  im  Süden 
des  Bodensees  noch  erhalten.  Sie  wurden  von  Hunnen  und 
Alamannen  zerstört.  Genannt  werden:  Augusta  Rauracorum 
(Kaiser- Augst),  Vindonissa  (Windisch),  Vitodurum  (Winterthur), 
Arbor  (Arbon),  Brigantia  (Bregenz)  und  andere. 

Später  bezeichnet  der  Kosmograph  von  Ravenna  IV,  26 
unter  Benutzung  des  Gothen  Athanarit  Bazela  (Basel),  Augusta 
(Basel-Augst),  Wrzacha  (Zurzach),  Constantia  (Constanz), 
Bodnngo  (Bodmann),  Arbore  felix  und  Bracantia  als  alamannische 
Städte  und  ebenso  Nantes  (Nancois  le  grand),  Ligonas  (in  der 
Lngdunensis  prima,  Langres),  Bizantia  (Besancon)  und  Mandroda 
(Mandeure),  beide  in  der  Maxima  Sequanorum. 

Ferner  finden  sich  alamannische  Spuren  südlich  von  Be- 
sannen um  Salins  (Salina  Sequanorum).  Hier  lag  nach  Nach- 
richten aus  der  Merowinger  Zeit  die  Thallandschaft  Scodinga, 
Scudingum,  der  pagus  Scudensis  oder  Scotingorum,  der  nach 
den  Scudigni,  Scotingi  genannt  war.  Baumann  sieht  nach  den 
Namen  in  ihnen  Nachkommen  ausgewanderter  Juthungen,  eine 
zweifelhafte  Annahme,  da  sonst  die  juthungischen  Sueven  nur 
die  Suevennamen  mit  auf  die  Wanderungen  nahmen.  (Siehe 
weiter  unten.  Die  weiteren  Hypothesen,  die  Baumann  hieran 
knöpft,  sind  jedenfalls  abzulehnen.  Siehe  Kapitel  8,  Abschnitt  4.) 
In  der  Nähe  von  Pontarlier  liegt  weiter  ein  Ort  Les  Allemands. 
Endlich  ist  hier  an  den  schon  berührten  Ausspruch  des  Sidonius 
zu  erinnern,  nach  dem  Alamannen  vor  dem  Jahr  456  als  „Sieger“ 
auf  dem  linken  Ufer  des  Rheins  angesiedelt  sassen.  Die  in  der 
Nähe  des  Rheines  gelegenen  Orte  sind  alamanniseh  geblieben 
und  ein  Gleiches  ist  seiner  Lage  nach  von  Nancois  le  grand 
anzunehmen,  das  nicht  mehr  erwähnt  ist. 


1H.  Zurück«  eichen  der  Alamannen  vor  den  Burgund  Ionen. 

Aber  Langres  fiel  in  die  Hände  der  Burgundionen.  Gregor 
von  Tours  erzählt  (Hist.  Franc.  II,  23),  dass  Abrunculus  der 
Bischof  von  Langres  den  Burgundionen  wegen  seiner  Franken- 


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204 


freundlichkeit  verdächtig  geworden  und  von  ihnen  verjagt  sei. 
Da  er  nach  dem  Tode  des  Bischof  Sidonius  480,  dessen  Nach- 
folger in  Arverna  (Clermont  Ferrand)  wurde,  so  ergiebt  sich 
die  Zeit  dieser  Nachricht.  Ebenso  wurden  Besan^on  uud  Mandeure 
burgundionisch,  denn  der  Ravennat  IV,  27  bezeichnet  nach 
einer  späteren  Quelle  des  Römers  Castorius  Busuntius  und 
Mendroda  als  den  Burgundionen  angehörige  Orte.  Mit  ihnen 
war  auch  wohl  der  Verlust  des  Gaus  Scudinga  und  der  Umgebung 
von  Les  Allemands  verbunden,  da  nach  einer  weiteren  Nach- 
richt, die  schon  auf  den  Beginn  der  zweiten  Hälfte  des  Jahr- 
hunderts zu  datiren  ist,  der  Jura  die  Grenze  zwischen  beiden 
Völkern  bildete.  Die  Burguudioneu  sassen  damals  im  Westen, 
die  Alamannen  im  Osten  des  Gebirges. 

Denn  nach  Gregors  vita  patruui  I,  2 und  3 gründeten  die 
Heiligen  Lupicinus  und  Romanus  in  den  öden  Gegenden  des 
Jura,  und  zwar  in  dem  Theil  des  Gebirges,  der,  Burgundioncn 
uud  Alamannen  scheidend,  an  das  Stadtgebiet  von  Avenches 
im  Osten  des  Neuchateler-Sees  stiess  (intcr  illa  Jurensis  deserti 
secreta,  quae  inter  Burgundiam  Alamanniamque  sita,  Aventieae 
adjacent  civitati),  drei  Klöster:  Contadiscone  (St.  Claude),  Lau- 
conna  (St.  Lupicin)  und  wahrscheinlich  Romainmotier,  die  beiden 
ersten  auf  der  westlichen  Seite  des  Jura  südlich  von  Salins  und 
Pont  d'Hery,  also  in  Burgundien,  das  dritte  in  Alamannien 
(infra  Alamanniae  terminos;  ihre  Insassen  sind  die  fratres,  quos 
in  illis  Alamanniae  regionibus  diximus  congregatos  esse),  also 
auf  dem  Ostabhange  des  waadtländischen  Jura.  Nach  der 
Vita  St.  Eugendi  fürchteten  sich  aber  die  burgundionischen 
Mönche  von  Contadiscone  wegen  der  Einfälle  der  benachbarten 
Alamannen,  Salz  von  Pont  d'Hery  zu  holen,  wie  sie  gewohnt 
waren;  lieber  bezogen  sie  es  vom  tyrrhenischen  Meer  (dum  diros 
metuant  ac  vicinos  Alamannorum  incursus;  e limite  Tyrrheni 
maris  potius  quam  de  vicinis  Herieusium  (Pont  d’Hery)  locis 
coctile  decernunt  petere  sal.  Zweifellos,  dass  die  Räuber  von 
Alamannien  über  den  Jura  kamen,  um  die  guten  Brüder  auf 
ihrem  Wege  nach  Pont  d'Hery  zu  belästigen. 

Der  Jura  bildete  aber  nicht  die  definitive  Grenze  zwischen 
beiden  Völkern,  die  Alamannen  wichen  bis  zur  Aare  zurück, 
und  diese  Grenzlinie  muss  schon  vor  dem  Jahre  536  bestanden 
haben,  denn  innerhalb  des  fränkischen  Reiches,  dem  damals  die 


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205 


feindlichen  Nachbarn  einverleibt  wurden,  gab  es  wohl  keine 
Grenzstreitigkeiten  mehr.  Ja  die  Burgundionen  scheinen  auch 
über  die  Aare  vorgedrungen  zu  sein,  denn  die  Verzeichnisse 
des  Bisthnms  Constanz  nennen  noch  einen  Landstrich,  der  im 
Westen  an  die  Aare  stösst  (von  Winau  aufwärts  über  Solothurn, 
Aarberg,  Bern,  Münsingen  und  über  den  Thnner-  und  Brienzer- 
See),  das  Archidiaconat  Burgund,  und  es  ist  möglich,  dass  diese 
Bezeichnung  eine  Erinnerung  an  burgundionischen  Besitz  ist, 
der  sein  nationales  Gepräge  durch  spätere  starke  alamannische 
Einwanderung  wieder  verloren  hatte;  denn  auch  hier  reichte 
der  alamannische  Aargau  schon  im  8.  Jahrhundert  bis  an  die 
Aare.  Bezeugt  ist  die  Aare  als  Grenzfluss  in  dem  Prolog  zur 
Vita  St.  Galli  des  Walafried  Strabo  aus  der  ersten  Hälfte  des 
9.  Jahrhunderts:  Mixti  Alamannis  Suevi  partem  Raetiae  inter 
Alpes  et  Histruin,  partemque  Galliae  circa  Ararim  obsederunt. 


20.  Die  Romanen  in  CurrStlen. 

Wie  im  Westen  und  Siideu  auf  die  Burgundionen,  so  stiessen 
im  Osten  die  Alamannen  auf  eine  compakte  Masse  von  Romanen, 
die  sich  am  Rhein  in  Currätien  ihnen  gegenüber  erhielten.  Sie 
waren  und  blieben  römisch.  Erst  im  Lauf  des  9.  Jahrhunderts 
rückten  auch  Massen  von  Alamannen  ein. 


21.  Ziiire  nach  Italien. 

In  die  Zeit,  in  welcher  der  Jura  oder  die  Aare  bereits  die 
alamannische  Westgrenze  bildeten,  fallen  einige  Nachrichten, 
welche  von  Einfällen  der  Alamannen  nach  Italien  Kunde  geben. 
Sie  scheinen  den  Besitz  der  Schweiz  vorauszusetzen. 

Ende  458  besang  Apollinaris  Sidonius  den  Kaiser  Majorian 
(437  — 4(51),  der  damals  noch  Heermeister  war,  wie  die  Ala- 
mannen durch  das  erste  Rätien  ziehend,  die  Alpen  bis  zur 
Oede  des  rätischen  Joches  erstiegen  und  plündernd  sich  bis 
nach  Italien  wendeten.  Von  den  caninischen  Feldern  ent- 


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sandten  sie  ein  Streifcorps  von  900  Mann,  das  auf  Befehl  des 
Heermeisters  durch  Burco  aufgerieben  wurde. 

Conscenderat  Alpes 

Raetorumque  jugo  per  longa  silentia  ductus 
Romano  exierat  populato  trux  Alamannns, 

Perque  Cani  quondam  dictos  de  nomine  campos 
In  praedam  centum  novies  dimiserat  hostes. 

Jamque  magister  eras,  Burconem  dirigis  illuc, 

Exigua  comitante  manu;  sed  sufticit  istud. 

Cum  pugnare  jubes:  certa  est  victoria  nostris 
Te  mandasse  acies.  Carm.  V 373 — 381. 

Die  eaninischen  Felder  sind  das  Gebiet  von  Bellinzona, 
und  damit  ist  der  Weg  gegeben,  den  die  Alamannen  durch  das 
erste  Rätieu  einschlugeu.  Hier  führte  eine  Römerstrasse,  via 
strata,  von  Chur  über  den  Splügen  und  Bernhardin  nach  Bellinzona. 
Sie  überschritt  den  Hinterrhein  bei  Rhäzüns,  stieg  am  Heinzen- 
berg (bei  Thusis)  hinan  und  blieb  fortwährend  in  der  Höhe  der 
linken  Thalseite  bis  Sufers,  die  Schluchten  (Via  mala,  Roffla) 
und  Flussthäler  des  Hinterrheins  tief  unter  sich  lassend. 
Zwischen  Sufers  und  Splügen  existiert  noch  ein  wohl  erhaltenes 
Stück  dieser  via  strata  und  dient  für  Holzfuhren.  Die  weitere 
Linie  über  Splügen  und  Hinterrhein,  über  den  Bernhardin  und 
durch  das  Thal  der  Moesa  über  Roveredo  bis  Bellinzona  war 
so  ziemlich  dasjenige  der  jetzigen  Strasse.  Im  Jahre  355  war 
der  Kaiser  Constantius  von  Bellinzona  aus  dieselbe  Strasse  ge- 
zogen, um  die  Alamannen  zu  bekriegen  (S.  94).  Die  Strasse, 
die  man  jetzt  über  den  Gotthard  nach  Bellinzona  nimmt,  ist 
erst  im  14.  Jahrhundert  angelegt.  Die  schweizerischen  Alpen- 
pässe, Bern  1892,  S.  3,  81;  H.  Dübi,  die  Römerstrassen  in  den 
Alpen,  in  dem  Jahrbuch  des  Schweizer  Alpenclubs,  Jahr- 
gang 21,  1885—86,  S.  324.  — 

Aehnlieh  diesem  Einfall,  erzählt  Gregor  II,  19,  dass  die 
Alamannen  (kurz  vor  474)  einen  Theil  von  Italien  durchzogen, 
aber,  als  sie  zurückkehrten,  von  Odoaker  und  dem  Franken- 
könig Childerich,  mit  dem  er  ein  Biindniss  cingegangen,  unter- 
worfen wurden.  Adovacrius  cum  Childerico  foedus  iniit,  Ala- 
mannosque,  qui  partem  Italiae  privaverant,  subjugerunt.  Die 
Unterwerfung  wird  darin  bestanden  haben,  dass  sie  besiegt  und 
in  ihrem  Föderativverhältniss  festgehalten  wurden. 


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207 


2 3.  Alamannische  Gaue  und  Grenzen. 

Das  Stammland  im  Rücken  schufen  die  Alamannen  drei 
Gaue:  den  westlichen  Augstgau  zwischen  der  Birs,  dem  Rhein 
uud  der  unteren  Aare,  den  Aargau  zwischen  der  Aare  und  der 
Reuss  und  den  Thurgau  zwischen  der  Reuss,  Aare,  dem  Rhein 
nnd  Bodensee  und  um  das  obere  Rheinthal.  Die  beiden  letzteren 
dehnten  sich  allmälig  bis  zum  Hochgebirge  aus. 

Als  dann  in  christlicher  Zeit  Bisthümer  entstanden,  ge- 
hörten der  Augstgau  dem  Bisthum  Basel,  der  Aargau  und 
Thurgau  dem  Bisthum  Constanz,  Burgundien  dem  Bisthum 
Lausanne  an,  während  das  romanische  Currätien  das  Bisthum 
Chur  ansmachte. 

Mit  Hülfe  der  Gau-  und  Bisthumsgrenzen  sowie  der  Sprache 
sind  die  Grenzgebiete  der  drei  Stämme  näher  festzustellen. 

Das  alamannische  Land  hatte  als  Grenzen  im  Norden  den 
Rhein  und  Bodeusee,  im  Westen  die  Birs  und  die  mittlere  und 
obere  Aare,  letztere  vom  Ausfluss  der  Sigger  (unterhalb  Solo- 
thurn) ab  aufwärts,  im  Süden  des  Thuner  nnd  Brienzersee  das 
Haslithal,  erst  später  das  Berner  Oberland,  ferner  das  Sarner- 
thal,  das  Engelbergerthal,  das  Reussthal  bis  gegen  den  Gott- 
hard, das  Lintthal  bis  gegen  den  Tödi  und  Glärnisch,  Appen- 
zell bis  gegen  den  Säntis  und  im  Osten  das  Rheinthal  von 
Montlingen  bis  zum  Bodensee.  Das  ist  von  der  Aare  ab  die 
deutsche  Schweiz. 

In  einer  lausanner  Urkunde  von  1180  heisst  das  Land 
rechts  der  Aare  teutonica  terra,  links  des  Flusses  dagegen 
romania  terra.  Denn  hier  und  im  Rhonethal  lagen  die  bur- 
gundionischen Grenzstriche.  Das  Thal  des  Vorder-  und  des 
Hinter-Rheins,  sowie  des  Oberrheins  von  Chur  bis  Götzis  bei 
Oberried  abwärts  nnd  die  Umgebung  des  Wallensees  waren 
currätisch. 


23.  Alamannische  Ortsnamen. 

Dem  gegenüber  finden  sich  Spuren  der  Alamannen,  speciell 
der  Lenzer  und  Sueven  in  der  ganzen  Schweiz.  Bei  der  Ein- 
wanderung gaben  sie  den  von  ihnen  angelegten  Orten  vielfach 


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20« 


ihre  Namen,  die  für  uns  geschichtliche  Denkmale  ausmachen. 
Die  Namen  blieben,  auch  als  die  Orte  theilweise  burgundionisch 
wurden.  Audi  innerhalb  der  Schweiz  dauerten  die  Wander- 
ungen und  Siedeluugen  weit  über  das  5.  Jahrhundert  hinaus 
fort  und  auch  mit  ihnen  verbreitete  sich  die  nationale  Namen- 
gebung. Wie  an  der  Leitmuschel  die  geologische  Formation, 
so  erkennt  man  an  den  alamannischen,  lenzer  und  suevischen 
Namen,  die  sie  ihren  Orten  gaben,  die  colonisirende  Ausdehnung 
dieses  Stammes  oder  dieser  Stammtbeile. 

Der  alamannische  Name  hat  sich  zumal  bei  Orten  des 
späteren  burguudionischen  Gebiets  erhalten.  Der  Name  der 
Lenzer  ist  über  die  ganze,  der  der  Sueven  über  die  deutsche 
Schweiz  zerstreut,  und  wenn  mail  jeden  einzelnen  nur  als  eine 
Insel  in  lenziseher  oder  suevischer  Umgebung  ansieht,  so  er- 
giebt  sich  doch  aus  ihrer  Zerstreuung,  dass  der  Ansiedlung, 
wie  der  bisherigen  deutschen  in  fremden  Ländern,  ursprünglich 
jeder  politische  Gesichtspunkt  fern  lag,  und  dass  erst  aus  der 
Mischung  von  Lenzem,  Sueven  und  Andern  neue  politische 
Gebilde  erwuchsen. 

Von  den  Orten  alamannischen  Gepräges  haben  sich  in 
später  burgundionischem  Gebiet  der  Schweiz  und  des  anstossenden 
Frankreichs  folgende  erhalten:  Der  schon  erwähnte  Ort  bei 
Fontarlier  Les  Alleinands;  im  Canton  Freiburg  Allemannia  bei 
Piaffeyen;  im  Canton  Waadtland  Allamand  und  Les  Allamands 
d'eu  bas  und  d'en  haut  bei  Rougemont;  im  Canton  Genf  Alle- 
magne;  in  Savoyen  Les  Allemauds  bei  Samoens.  Ausserdem 
im  Thurgau,  Canton  Zürich  Allmann  bei  Zürich. 

Die  Namen  der  Lenzer  gehören  an 

dem  westlichen  Augstgau  im  Canton  Baselland  Lenz 
bei  Sissach; 

dem  Aargau  im  Canton  Bern  Lenzlingen  bei  Grosshöch- 
stetten;  im  Canton  Aargau  Lenzburg  und  dabei  Lenzhardhof. 
Um  Lenzburg  sassen  die  Lenzer  wohl  dichtgedrängt,  denn  es 
war  der  Sitz  einer  Huutare,  des  comitatus  Lenzburgensis  (Episc. 
Const.  I,  1,  91  und  254);  im  Canton  Luzern  Lenzinbach  bei 
Menznau,  Lenzcnhüsli  bei  Sempach; 

dem  Thurgau  im  Canton  Thurgau  Lenzenhaus  bei  Erlen, 
Lenzenhorben  bei  Hüttenweilen,  Lenzwyl  bei  Altnau:  im  Canton 
Zürich  Lenz  bei  Hin  weil,  Lenzen  bei  Fischenthal;  im  Canton 


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209 


St.  Gallen  Lenzle  bei  Ncsslau,  Lenzlingen  bei  Mosnang,  Lenzikon 
bei  Eschenbach. 

Auch  in  später  burgundionischem  Gebiet  finden  sich  lenzer 
Ansiedlungen:  im  Canton  Freiburg  Lentinach  oder  Lentiguy  bei 
Chenans  im  Gebiet  der  linken  Aare;  im  Canton  Wallis  Lens 
bei  Sion  im  Gebiet  der  rechten  Rhone,  und  ebenso  in  dem  Gau 
Cnrrätien,  und  zwar  in  dem  Canton  Graubünden  Lenz,  Lenzer 
Haide  (Lenzerhorn)  südlich  von  Chur. 

Nicht  so  zahlreich  sind  die  Orte,  welche  den  Namen  der 
Stieren  tragen.  Es  gehören  an: 

dem  Aargau  im  Canton  Aargau  Schwabischthal  bei 
Entfelden;  im  Canton  Bern  Schwabenried  bei  Saanen,  Ort- 
schwaben  bei  Beim,  Schwäbis  bei  Thun; 

dem  Thurgau  im  Canton  Aargau  Schwabenberg  bei 
Birmenstorf;  im  Canton  Zürich  Schwabshof  bei  Münchaltorf; 
im  Canton  St.  Gallen  Schwäberg  bei  Gossau,  Schwabsrütho  bei 
Engelburg;  im  Canton  Appenzell  a.  R.  Schwaberg  bei  Gais. 

Der  juthungische  Name  ist  von  den  Sueven  bei  der  Namen- 
gebung der  Orte  nicht  verwendet,  und  darum  ist  es  auch  kaum 
wahrscheinlich,  dass  die  Thallandschaft  Scodinga  auf  sie  zurück- 
zuführeu  ist  (S.  203). 

Darf  man  der  Zahl  dieser  Namen  Gewicht  beilegen,  so 
verdankt  die  deutsche  Schweiz  ihre  nationale  Colonisation  in 
erster  Linie  ihren  nördlichen  Nachbarn,  den  Lenzem,  in  zweiter 
den  entfernteren  Sueven. 


24.  Eine  suevisehe  Wandersasc. 

Ueber  die  Ansiedlung  in  den  Waldstätten  (den  Urkantonen) 
erzählt  das  weisse  Buch  vom  Ende  des  15.  Jahrhunderts,  das 
sich  im  Archiv  zu  Sarnen  befindet:  Uri  war  das  erste  Land, 
welches  von  den  Römern  gefreit  wurde,  dass  ihnen  gegönnt 
ward,  da  zu  reuten  und  zu  wohnen.  Dann  kamen  Römer  nach 
Unterwalden  und  endlich  Schweden,  deren  zu  Hause  zu  viele 
waren,  nach  Schwyz.  Sie  wurden  mit  denselben  Rechten  aus- 
gestattet. 

Creme  r,  Oeechichte  der  Alamannen.  1*1 


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210 


Audi  andere  schweizer  Chroniken  aus  dem  15.  und  16.  Jahr- 
hundert geben  die  Einwanderung  eines  Volkes  aus  dem  hohen 
Norden  noch  zur  Römerzeit  wieder:  Es  waren  Schweden,  die 
von  schwerer  Landnoth  getrieben,  sich  aut'  die  Wanderung  be- 
geben hatten,  endlich  am  Vierwaldstätter  See  Holz,  frische 
Brunnen  und  ähnliche  Verhältnisse,  wie  in  der  Heimath  fanden, 
und  sich  hier  als  freie  Leute  niederliessen,  die  keinem  Herrn 
als  dem  Kaiser  dienten.  Bald  zeichneten  sie  sich  aus  und  halfen 
410  dem  Ostgothenkönig  Alarich  und  dem  Papst,  Rom  den 
Heiden  zu  entreissen  und  wurden  dafür  mit  grossen  Freiheiten 
und  Ehrenzeichen  ausgestattet.  Nun  sind  aber  die  Waldstätte 
erst  im  7.  und  8.  Jahrhundert  kolonisirt  und  noch  im  12.  und 
13.  Jahrhundert  nur  spärlich  bevölkert  gewesen. 

In  der  ersten  Hälfte  unseres  Jahrhunderts  bildete  sich  die 
Herkunft  der  Schwyzer  und  der  Schweizer  von  den  Schweden 
zu  einem  nationalen  Glaubenssatz  aus;  als  jedoch  die  sorg- 
fältigsten Untersuchungen  keinen  Zusammenhang  zwischen  den 
beiden  Völkern  ergaben,  führte  man  die  Sage  auf  den  Gleich- 
klang der  Worte  Schwyzer  (Schwidones)  und  Schweden  (Schwe- 
dones)  zurück.  Dandliker  Geschichte  der  Schweiz,  1884,  I,  308. 

Aber  die  richtige  Deutung  der  Sage  gab  schon  am  Ende 
des  15.  Jahrhunderts  der  Ulmer  Mönch  Felix  Fabri,  ein  ge- 
borener Züricher:  Plurimum  opinio  est,  quod  Suiceri  sive  Sni- 
tenses,  qui  alias  nominantur  Suessii  (Schwyzer),  a Snevia  sint 
exorsi  ....  Suevorum  filii  sunt  (Suiceri),  et  ab  eis  originalitcr 
descenderunt,  unde  hodie  inter  Snevos  computantnr.  Und  weiter: 
Switzeri  finibus  nostris  intrusi  ab  omnibus  finitimis  diffemnt 
moribus  et  lingua,  quam  vis  ob  temporis  longaevitatem  sint 
Suevis  Alsatisque  facti  satis  conformes.  Das  heisst  also:  Vom 
Mutterland  Suevien  (an  der  Donau)  vorgeschoben,  ist  Schwyz 
eine  Colonie  der  Sucven  in  fremder  Umgebung  (ähnlich  wie  die 
andern  oben  genannten  Schwabenorte).  Die  Schwyzer  unter- 
scheiden sich  von  allen  Nachbarn  durch  Sitte  und  Sprache, 
sind  aber  den  sonstigen  Schweizern  und  Elsässern  leidlich 
ähnlich  geworden. 

Die  Uebcrlieferung  hat  dann  in  sagenhaft-kühnen  Ver- 
schiebungen die  Geschichte  bewahrt.  Aus  den  Sueven  wurden 
Schweden,  aus  der  nördlichen  Einwanderung  von  Suevien  die 
Einwanderung  aus  dem  hohen  Norden,  und  die  alamannischen 


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Beziehungen  zu  den  Ostgothen  unter  Theoderich  bis  Vitiges 
von  49t»  — 536  und  die  fränkisch-alanianniscbcu  Züge  nach  dem 
noch  gothischen  Italien  von  553  und  554  (siehe  Kapitel  7) 
wandelten  sich  zu  dem  glänzendsten  Ereigniss  der  Gothenherr- 
schaft, der  Einnahme  Roms  von  410  durch  Alarich  um,  an  der 
die  Schwyzer  Theil  genommen  und  auf  dio  sie  ihre  Freiheit 
znrückführten. 

Die  Erinnerung  an  die  suevische  Einwanderung  bewahrt 
der  Name  von  Schwyz,  wie  der  Name  der  Schweiz. 


V.  Das  Alamannien  des  5.  Jahrhunderts. 

3">.  Das  Stammt  and. 

Das  im  5.  Jahrhundert  von  Alamannen  neu  besetzte  Gebiet 
war  umfangreicher,  als  ihr  Stammland.  Dieses  muss  also  ge- 
waltige Massen  ausgesendet  haben,  welche  die  Wege  in  das 
gelobte  Land  bahnten-,  es  muss  aber  auch  ein  zahlreicher 
Stamm  der  Bevölkerung  zurückgeblieben  sein,  der,  sich  immer 
neu  ergänzend,  immer  neue  Haufen  von  Kriegern  und  Aus- 
wanderern in  die  Sitze  jenseits  der  alten  Grenzen  abgab. 

Gelegentliche  Nachrichten  aus  der  Mitte  des  Jahrhunderts 
zeigen  die  Alamannen  im  Besitz  des  mittleren  Mains,  wo 
Aschaffenburg  und  Würzburg  als  Ascapha  und  Uburzis  von 
dem  Ravennaten  IV,  27  als  ihre  Städte  bezeichnet  werden 
(S.  182)  und  der  Neckar,  da  Sidonius  VII,  324,  325  den  Ala- 
mannenstamm meint,  den  der  schilfige  Neckar  bespült,  ulvosa 
quem  Nicer  alluit  unda  (S.  185). 

Andererseits  ist  im  Anschluss  an  die  Arnoldschen  Er- 
mittelungen (Ansiedlungen  177  und  ttgde.,  209  und  flgde.)  anzu- 
nelimen,  dass  die  Alamannen  den  Westerwald,  die  Lahn,  den 
Taunus  und  den  Buchengau  freiwillig  oder  gezwungen  geräumt 
und  dass  diese  Gebiete  von  den  chattischen  Franken  besetzt 
sind:  ferner  auch  wohl,  dass  jene  vom  untern  Main  und  dem 

u* 


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212 


Odenwald  durch  die  Burgundionen  vertrieben  und  dass  nach 
deren  Abzug  die  chattischen  Franken  gleichfalls  die  Besitz- 
nachfolger geworden  sind. 

Ohne  Zweifel  hatte  dann  die  starke  und  dauernde  Aus- 
wanderung der  Alamannen  ans  diesen  und  anderen  Landstrichen 
des  Stammlandes  eine  grosse  Verminderung  der  Bevölkerung 
zur  Folge,  und  sucht  man  sich  klar  zu  machen,  welchen  Einfluss 
dies  auf  die  Zustände  geübt,  so  wird  man  sagen  müssen,  dass 
eine  rückläufige  Bewegung  der  Ansiedlung  eingetreten  sein 
werde.  Nicht  mehr  der  ganze  der  Kultur  unterworfene  Boden 
blieb  für  das  Bedtirfniss  der  Zurückgebliebenen  erforderlich, 
man  gab  daher  den  überflüssigen  Theil  auf  und  liess  ihn  wieder 
Weide  oder  Wald  werden.  Dies  traf  insbesondere  die  un- 
günstiger und  höher  gelegenen  jüngeren  Huntaren,  die  wohl  ganz 
eingingen,  während  die  älteren  in  den  Flussthälern  sich  er- 
hielten, aber  auf  die  fruchtbarsten  Lagen  zurückzogen.  Mit 
diesen  Einschränkungen  blieben,  abgesehen  von  den  gänzlich 
geräumten  Gebieten,  die  Zustände  constant,  und  es  ist  an  einen 
Umsturz  und  Neuregelung  der  Verhältnisse  nicht  zu  denken. 
Es  blieben,  soweit  sie  der  geminderten  Volkszahl  entsprachen, 
die  Huntaren  mit  ihren  Hunnen  und  die  Gaue  mit  ihren  Königen, 
so  dass  das  Stammland  wieder  auf  den  Punkt  der  Entwicklung 
zurückgeführt  sein  mag,  den  es  eingenommen  hatte,  als  man  nach 
der  ersten  Occupation  heimisch  geworden  war:  dünne  Bevölke- 
rung, reichlicher  Acker,  reiche  Ernten.  Und  unter  diesen 
günstigen  Lebensbedingnngen  mag  im  Laufe  des  Jahrhunderts 
auch  das  Stammland  wieder  emporgeblüht  sein. 

Procop  erzählt,  wie  die  in  Pannonien  zurückgebliebenen 
Vandalen  ihren  409  ausgewanderten  Stammgenossen  den  Grund- 
besitz aufbewahrten,  und  als  diese  429  das  grosse  Vandalen- 
reich in  Afrika  gegründet  hatten,  baten,  man  möge  ihnen  nun- 
mehr das  Land  überlassen,  deren  reichlicher  Ernten  und  hin- 
länglicher Nahrung  sie  sich  erfreuten.  Aber  wegen  der  Wandel- 
barkeit des  Geschickes  schlug  der  König  Geiserich  ihr  Ver- 
langen ab.  Die  Sage  erläutert  die  Fortdauer  der  Dinge  in 
dem  von  den  Wandernden  verlassenen  Laude.  Wie  oit  waren 
in  früherer  Zeit  alamannische  Kriegshaufen  einzelner  Gaue  oder 
des  gesammten  Stammes  über  die  Grenze  gezogen,  um  sich 
draussen  anzusiedeln.  Wie  oft  waren  sie  geschlagen  zurück- 


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gekehrt,  froh,  den  heimischen  Boden  wiederzufinden.  Jetzt 
kehrten  sie  nicht  wieder  und  fanden  draussen  neue  Wohnsitze, 
aber  die  „Sieger“  über  dem  Rhein  sollten  sich  dereinst  doch 
noch  erinnern,  dass  sie  „Bürger“  des  Stammlandes  seien. 


2(>.  Xeualamunnlen. 

Zerstreut  und  dünn  besetzt  wie  hier,  werden  auch  die 
Niederlassungen  Neualamanniens  gewesen  sein  und  das,  je  weiter 
sie  sich  von  den  Grenzen  des  Mutterlandes  entfernten.  Im 
Norden  von  Gallien  verloren  sich  die  alamannischen  Ansied- 
lungen unter  denen  der  Franken;  Niederlassungen  der  Lenzer 
und  Sueven  waren  über  Oberschwaben  und  die  ganze  deutsche 
Schweiz  ausgestreut.  Klaffende  Entfernungen  lagen  zwischen 
den  Wohnstätten  (von  dehiscentibus  domiciliis  spricht  Ennodius 
in  seiner  Lobrede  auf  Theoderich).  Mit  sich  in  das  nunmehr 
alamannisirte  Ausland  nahmen  die  Wanderer  die  heimische 
Verfassung  der  Gaue,  Huntaren  und  Zehntschaf ten;  für  die 
Ansiedlungen  wurden  die  Marken  von  Acker,  Weide  und  Wald 
bestimmt;  schon  jetzt,  so  kann  man  annehmen,  wurden  über 
dem  Rhein,  ausser  andern,  die  wir  nicht  kennen,  weil  sie 
wieder  verloren  gingen,  der  Nord-  und  Sundgau,  der  westliche 
Augstgau,  der  Aar-  und  Thurgau,  um  die  Donau  der  Riesgau, 
der  Donaugau  (?),  der  Iller-  und  der  östliche  Augstgau,  am 
Bodensee  der  südliche  Alpgau  (?)  gegründet  und  Gaukönige 
aus  dem  Adel  gewählt. 


27.  Alter  und  neuer  Besitz. 

Es  war  ein  lockeres  Gefüge  von  autonomen  Gauen,  in  dem 
das  Stamm  1 and  und  die  neuen  Besitzungen  zu  einander  standen. 
Jenes  war  in  früheren  Jahrhunderten  durch  das  nationale  Ver- 
langen, Gallien  und  Rätien  zu  besitzen,  zusammcngelialten. 
l’m  es  zu  verwirklichen,  bildeten  sich  von  Zeit  zu  Zeit  Heere 
des  ganzen  Stammes,  die  hinausgingen,  aber  regelmässig  ge- 


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schlagen  wurden.  Folgte  darauf  der  Angriff  der  Römer  im 
Lande  selbst,  so  waren  es  immer  nur  die  von  der  Gefahr 
zunächst  betroffenen  Gaue,  die  sich  zur  Abwehr  zusammen  - 
fanden.  Noch  an  der  durch  die  Hunnen  hervorgerufenen  Be- 
wegung nahm,  wie  es  scheint,  das  ganze  Mutterland  Theil,  um, 
als  die  Ebbe  eingetreten,  im  Schutz  des  Rheines  und  des 
Bodensees  unangefochten  von  den  Römern  und  unanfeclitend 
still  zu  sitzen.  Jetzt  gab  es  Nichts  mehr,  was  das  Stammland 
einigte. 

Es  bildete  daher  keinen  Kern,  an  den  sich  die  neuen  Be- 
sitzungen hätten  anschliessen  können.  Im  Gegentheil  bildeten 
diese  eine  schützende  Hülle  um  das  alte  Land.  Weniger  auf 
die  Herrschaft,  wie  auf  die  Colonisation  bedacht,  schoben  sie 
ihre  Ansiedlungen  in  den  Machtbereich  anderer  Völker  vor, 
zersplitterten  sich  im  Westen,  Süden  und  Osten  nach  ala- 
mannischer  Art  in  Gaue  und  wurden  bei  deren  weitschichtigen 
geographischen  Lage  nicht  einmal  durch  gemeinschaftliche 
Interessen  zusammen  gehalten.  Die  westlichen  Gaue  standen 
der  römischen  Macht  in  Gallien,  so  lange  sie  bestand,  gegen- 
über, die  östlichen  den  römischen  Besatzungen  erst  in  dem 
zweiten,  dann  in  dem  ersten  Rätien.  Die  südlichen  Gaue  waren 
bereits  mit  den  Burgundionen  an  der  Grenze  feindlich  und 
unterliegend  zusammengetroffen,  im  Osten  sassen  über  dem  Lech 
die  Bajuwaren  und  im  Norden  die  Thüringer  und  Franken 
Bei  den  Nachbarn  war  die  politische  Macht  eoncentrirt,  bei 
den  Römern  in  Gallien  und  in  Rätien,  bei  den  Burgundionen 
und  bei  den  saliscben  und  ripuarischen  Franken,  die  sich  zu 
Stammkönigreichen  zusammengeschlossen  hatten.  Nur  den 
chattischen  Franken  gegenüber,  die  auf  beiden  Seiten  des 
Rheins  noch  in  Gauverfassung  lebten,  war  für  das  anstossende 
alamannische  Alt-  wie  Neuland  ein  gemeinsames  Interesse 
gegeben. 

Im  Lauf  der  Zeit  bildete  sich  ein  Gegensatz  zwischen  den 
Gauen  des  Mutterlands  und  denen  des  neuen  Gebiets  heraus. 
Wenn  auch  beide  Föderaten  der  Römer  waren,  so  waren  doch 
die  rechtsrheinischen  ^tatsächlich  frei  von  römischem  Einfluss 
und  politisch  unabhängig,  während  die  linksrheinischen  in 
Gallien,  wenigstens  so  lange  Aetius  (bis  454)  lebte,  und  die 
Umwohner  des  Bodensees,  so  lange  sich  die  Römer  in  der 


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Rätia  prima  hielten,  der  Gewalt  des  römischen  Reiches  unter- 
worfen blieben.  Der  Gegensatz  trat  zur  Zeit  des  Hunnenzuges 
zu  Tage,  als  die  rechtsrheinischen  auf  hunnischer  Seite  standen, 
die  linksrheinischen,  wie  zu  vermuthen,  den  Römern  treu  blieben. 


*38.  Aliiinannien  ein  Stammktfnlgthuin  ? 

Ist  es  bei  diesem  losen  Zusammenhang  und  bei  dem  Gegen- 
satz der  Interessen  wahrscheinlich,  dass  sich  die  Gaue  zu  einem 
Ganzen  zusammengeschlossen,  dass  sich  über  den  Gaukönigen 
ein  Stammkönig  erhoben,  dass  sich  aus  dem  lockeren  Verband 
der  Gaue  ein  Stammverband,  ein  Stammkönigthnm  entwickelt 
habe?  Es  ist  die  allgemeine  Annahme.  Aber  sprechen  nicht  die 
dargelegten  Erscheinungen  dagegen?  Würde  ein  zum  Stamm- 
königthum  emporstrebender  Gauköuig,  wenn  er  im  römischen 
Bann  stand,  von  den  Rechtsrheinischen  anerkannt  sein,  würde 
er,  wenn  er  aus  deren  Gauen  hervorgegangen,  von  den  Römern, 
so  lange  sie  noch  mächtig,  zur  Herrschaft  über  die  Links- 
rheinischen zugelassen  sein?  Würden  nicht  während  des  Nieder- 
ganges der  römischen  Macht  die  Gegensätze  der  Sitte  und  Kultur 
zwischen  den  weitschichtigen  alamannischen  Landestlieilen  zu 
gross  geworden  sein,  um  eine  dauernde  politische  Einigung  zu 
gestatten  ? 

Kein  Ereigniss  ist  zu  ermitteln,  das  sie  herbeigeführt,  kein 
König,  der  sie  ins  Werk  gesetzt,  keiner,  der  sie  übernommen 
und  fortgesetzt  hätte.  Von  Schubert  hält  den  König  Gibuld 
oder  Gebaud,  der  seine  Machtsphäre  von  Troyes  bis  Passau 
ausgedehnt  habe  (S.  192),  für  einen  solchen  Stammkönig,  aber 
mit  Sicherheit  kann  man  in  ihm  doch  nur  einen  Gaukönig 
sehen,  der  plündernd  bald  in  den  Westen,  bald  in  den  Osten 
der  in  der  Auflösung  begriffenen  römischen  Provinzen  eindrang. 
Kein  Zusammenhang  späterer  Erscheinungen  lässt  rückwärts 
auf  Einigung  schliesseu,  wie  sich  aus  der  weiteren  Darstellung 
der  Thatsacheu  ergeben  wird. 

Den  Alamannen  war  es  nicht  vergönnt,  ihre  Volkskraft 
zum  Reich  zusammenzufassen  und  sie  verloren  darob  Macht 
und  Freiheit. 


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Siebentes  Kapitel. 

Die  dritte  (Ensiedlungspericde. 

1.  Zur  Literatur. 

Die  Untersuchungen  über  die  Beziehungen  der  Alamannen 
zu  den  Franken  und  Ostgothen  sind  durch  von  Scbubert's 
„Unterwerfung  der  Alamannen  unter  die  Franken,  1884,“  im 
Wesentlichen  zum  Abschluss  gebracht. 

Früher  nahm  man  eine  einzige  Entscheidungsschlacht 
■zwischen  den  Alamannen  und  Franken  an,  nannte  sie  die  Schlacht 
bei  Zülpich  und  datirte  sie  auf  das  Jahr  496.  An  die  Stelle 
dieser  einzigen  sind  nun  drei  Schlachten  getreten,  eine  erste 
bei  Zülpich,  deren  Zeit  und  Folgen  nicht  zu  bestimmen,  und 
zwei  weitere  Entscheidungsschlachten,  die  zweite  am  linken 
Oberrhein,  deren  Zeit  sich  nach  der  darauf  folgenden  Taufe  des 
Chlodwig  von  496  ergiebt  uud  die  dritte  ohne  Ortsbezeichnung, 
auf  deren  Zeit  ein  Brief  Theoderichs  schliessen  lässt,  den  von 
Schubert  als  in  die  Jahre  501  — 507  fallend  nachgewiesen  hat. 
Die  erste  Schlacht  ist  gegen  den  König  der  ripuarisclien  Franken 
Sigibert,  die  zweite  und  dritte  gegen  den  Köuig  der  salischen 
Franken  Chlodwig  geschlagen. 

Die  erste  Schlacht  wird  nur  beiläufig  in  der  (um  577  ge- 
schriebenen) fränkischen  Geschichte  des  Gregor  von  Tours  2,  37 
erwähnt;  die  zweite  von  ihm  2,  30  wie  von  dem  fränkischen 
Biographen  des  heiligen  Yedastus  (aus  der  Zeit  von  540 — 667) 
beim  Anlass  von  Chlodwigs  Taufe  vorgeführt,  von  Beiden,  wie 
(496)  von  dem  burgundionischen  Bischof  Avitus  und  (später) 
von  den  Gesta  regum  Francorum  cp.  14  und  15  in  ihren  all- 
gemeinen politischen  Folgen  skizzirt  und  in  der  Chronik  des 
Fredegar  3,  21  (aus  dem  7.  Jahrhundert)  erwähnt;  die  dritte 


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unter  Andeutung  ihrer  Veranlassung  in  dem  Brief  des  Theoderich 
(in  Cassiodors  Variae  2,  41)  und  in  der  Lobrede  des  Ostgothen 
Ennodius  auf  den  König  (Fertig  2,  281)  in  seinem  thatsfichlichcn 
Ergebniss  dargelegt. 

Die  Erfolge  der  Franken  führten  zu  einer  Theilung  von 
Alamannien,  bei  der  ihnen  der  Norden  zuflel;  ob  schon  nach 
der  zweiten  oder  dritten  Schlacht,  bleibt  allerdings  dunkel. 
Nach  den  angeführten  Quellen  ist  anzunehmen,  dass  sich  der 
Erwerb  des  Nordens  an  die  zweite,  die  Vertreibung  der  Ala- 
mannen aus  ihm  an  die  dritte  Schlacht  anschloss. 

Die  Beziehungen  des  Südens  zu  dem  Ostgothenkönig  Theo- 
derich und  seinen  Nachfolgern  sind  aus  dem  mebrerwälinten 
Brief,  den  Cassiodor  in  den  Variae  2,  41  nebst  anderen  Erlassen 
mittheilt  und  aus  der  Geschichte  des  Byzantiner  Agathias  1,  6 
(etwa  vom  Jahr  570)  zu  entnehmen.  Letzterer  hat  auch 
1,  6 — 22  und  2,  1 — 14  die  spätere  Geschichte  der  Alamannen 
und  Franken  geschrieben. 


2.  Die  Fraukenkönige  Sigibert  und  Chlodwig. 

Die  Schlacht  bei  Zülpich. 

Zerstreute  Niederlassungen  der  Alamannen,  der  ripuarischen 
und  chattischen  Franken  lagen  in  der  Rheinprovinz  im  Gemenge 
(S.  188).  Als  sie  einander  näher  rückten,  musste,  wie  Arnold 
vermnthet,  der  Kampf  ausbrechen. 

Die  Alamannen  drangen  bis  vor  die  Mauern  von  Cöln,  der 
Hauptstadt  des  ripuarischen  Reiches  und  dessen  König  Sigibert 
trat  ihnen  bei  Zülpich,  apud  oppidum  Tulbiacense,  entgegen. 
Es  wurde  ihm  das  Knie  durchschossen,  wesshalb  er  der  Lahme 
genannt  wurde,  und  diesem  Umstande  verdanken  wir  die  Nach- 
richt des  Gregor.  Wir  wissen  weder  von  der  Zeit,  noch  von 
dem  Ausgang  der  Schlacht.  Sigibert  lebte  noch  um  507 — 511. 

Die  Schlacht  am  linken  Oberrhein.  496. 

Nach  dieser  ersten  folgte  eine  Entscheidungsschlacht,  welche 
Gregor  und  der  Biograph  des  Vedastus  im  Wesentlichen  über- 
einstimmend schildern. 


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Die  Gegner  waren  die  salischen  Franken  unter  ihrem  Stainm- 
köuig  Chlodwig  und,  wie  nach  ihren  Sitzen  zu  vermuthen,  die 
chattischen  Franken  auf  der  einen,  die  Alamannen  auf  der 
anderen  Seite.  Die  politischen  Folgen  der  Schlacht  machen  es 
wahrscheinlich,  dass  von  den  letzteren  die  den  Franken  benach- 
barten, diesseits  wie  jenseits  des  Rheins  gelegenen  Gaue  theil- 
nahmen,  und  zwar  stromaufwärts  bis  au  die  Morteuau  und  den 
Nortgau,  beide  ausgeschlossen.  Es  waren  Nichtsueven  wie 
Sueven,  auch  wenn  man  auf  die  unsichere  Ausdrucksweise  der 
Gesta  c.  14:  bellum  contra  Alamannos  Suevosque  kein  Gewicht 
legen  will  (S.  unten  Abschnitt  7).  Sie  folgten  den  Befehlen 
eines  Gaukönigs,  rex,  der  ohne  Zweifel  zum  Herzog  gewählt 
war,  aber  eben  so  wenig  wie  früher  Chuodomar.  Serapio  und 
Priari  so  genannt  wird.  Nicht  einmal  sein  Name  ist  überliefert. 

Chlodwig  brach  mit  seinem  Heer  von  Soissons,  seiner  Haupt- 
stadt, auf  und  kehrte  nach  der  Schlacht  Uber  Toul  und  Rheims 
dahin  zurück,  ad  patriam.  Er  wollte  über  den  Rhein  gehn, 
fand  aber  die  Alamannen  schon  auf  dem  linken  Ufer,  und  hier 
kam  es  zu  einer  mörderischen  Schlacht  aui  linken  Oberrheiu. 

Der  Erfolg  schien  auf  Seiten  der  Alamannen  zu  sein,  das 
Frankenheer  war  der  Vernichtung  nahe.  Da  gelobte  Chlodwig, 
falls  er  siegen  werde,  den  Glauben  der  Christen  anzunehmen. 
Nun  sprang  die  Entscheidung  zu  Gunsten  der  Franken  um;  die 
Alamannen  wandten  sich  zur  Flucht.  Gregor  erzählt:  „Als  sie 
ihren  König  fallen  sahen,  gaben  sie  sich  in  die  Gewalt  des 
Chlodwig,  Chlodouechi  se  ditionibus  snbdunt,  und  sprachen : 
Nicht  weiter  verderbe  das  Volk,  schon  sind  wir  dein,  jam  tui 
sumus.  Und  jener  hielt  ein  im  Kampfe,  ermahnte  das  Volk, 
gewährte  ihm  Frieden  und  kehrte  heim,  cum  pace  regressus.“ 
Nach  dem  Leben  des  Vedastus  nahm  er  die  Alamannen  sammt 
ihrem  König  in  seine  Gewalt  auf,  Alamannis  (sic!)  cum  rege 
in  ditionem  coepit.  Im  nächsten  Winter  nahm  Chlodwig  die 
Taufe. 

Nur  diese  interessirt  die  beiden  Schriftsteller,  von  den 
politischen  Folgen  der  Schlacht  erfahren  wir  bei  ihnen  nichts 
Weiteres.  Die  Gesta  sagen  darüber  c.  15:  Chlodwig  nahm  die 
Alamannen  gefangen  oder  machte  sie,  ihr  Land  unterwerfend, 
tributpflichtig.  Alamannos  cepit  vel  terram  eorurn  sub  jugo 
tributarios  constituit.  Als  der  Bischof  A vitus  den  König  zu  der 


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Taufe  beglückwünschte,  erwähnte  er,  dass  dieser  das  neulich 
gefangene  Volk  freigelassen  habe,  solutus  a vobis  adhuc  nuper 
populus  captivns.  Es  ist  also  auf  eine  milde  Behandlung  zu 
schliessen.  Da  wir  sehen,  dass  der  Herzog  oder  doch  das 
Heer  der  Geschlagenen  sich  ergiebt,  in  ditionem,  tui  sumus, 
und  dass  später  der  alamannische  Korden  unter  der  Herrschaft 
der  Franken,  der  Süden  in  der  Gewalt  der  Ostgothen  stand, 
so  wird  damals  der  Korden  den  Franken  als  Siegesbeute  unter 
Tributpflicht,  aber  im  Allgemeinen  milden  Bedingungen  zuge- 
fallen  und  der  Süden  ausserhalb  ihres  Machtbereichs  geblieben 
sein.  Den  Vertrag,  welcher  zu  diesem  Ergebniss  führte,  wird 
Chlodwig  mit  den  geschlagenen  und  sich  unterwerfenden,  auto- 
nomen Gauen,  eben  den  nördlichen,  geschlossen  haben,  wie  wir 
von  den  Römern  des  4.  Jahrhunderts  es  wissen. 

Die  damals  gezogene  Grenze  wurde  in  Folge  der  späteren 
Ereignisse  die  fränkisch- alamannische  Stammgrenze  und  dem- 
gemäss auch  die  Grenze  der  anstossenden  Bisthümer.  Sie  ist 
es  auch  im  Ganzen  für  fränkische  und  alamannische  Stammesart 
bis  auf  den  heutigen  Tag  geblieben.  Sie  bestand  etwa  in  einer 
westlich  - östlich  verlaufenden  Linie,  welche  die  Lage  von 
Lmlwigsburg  dem  Süden  zuwies.  In  die  nördliche  Hälfte  der 
Franken  fielen  die  von  den  Alamannen  in  Gallien  begründeten 
Besitzungen  mit  Ausnahme  des  Eisass,  und  am  rechten  Rhein 
die  nördlichen  Gaue  bis  zum  Kraichgau  und  dem  unteren  Keckar- 
gau,  diese  eingeschlossen;  in  die  südliche  der  Alamannen  das 
Eisass  und  über  dem  Rhein  die  Mortenau,  der  Kagoldgau,  der 
obere  Keckargau  und  der  Riesgau,  sowie  die  davon  südlich 
gelegenen  Gaue  Deutschlands  und  der  Schweiz  (Siehe  die  genauere 
Grenzlinie  in  der  ersten  Anlage  am  Schluss  des  Kapitels). 

Nach  anderthalb  Jahrhunderten,  als  die  Schlacht  am  Ober- 
rbein  schon  sagenhaft  geworden,  schrieb  Fredegar  im  Anschluss 
an  die  Darstellung  des  Gregor:  „Als  die  Alamannen  ihren  König 
fallen  sahen,  zogen  sie  heimathlos  neun  Jahre  umher,  fanden 
aber  keinen  Stamm,  der  ihnen  gegen  die  Franken  Beistand 
leistete.  Da  unterwarfen  sie  sich  dem  Chlodwig.“ 

Die  Schlacht  um  501  — 507. 

Kachdem  Chlodwig  inzwischen  (500)  auch  die  Burgundionen 
tributpflichtig  gemacht  hatte,  ergiebt  sich  die  weitere  Entwick- 


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lung  zunächst  aus  dem  berühmten  Brief,  den  Tbeoderich,  der 
grosse  König  der  Ostgothen,  uni  501  —507  über  die  Verhält- 
nisse der  Alamannen  an  Chlodwig  richtete.  Jener  war,  seitdem 
sein  Vater  Theodemir  die  Sueven  in  ihrer  Heimath  an  der 
Donau  heimgesucht,  wo  sie  ihre  Ansiedlungen  bereits  zum  Lech 
vorgeschoben  hatten  (S.  198),  nunmehr  der  König  von  Italien  ge- 
worden. Der  Inhalt  des  Briefes  lässt  folgende  ihm  vorher- 
gehende Ereignisse  erkennen. 

Die  alamannischen  Gaue  des  Nordens  hatten  die  Ver- 
pflichtungen gebrochen,  die  ihnen  durch  Chlodwig  auferlegt  waren, 
und  dadurch  seinen  Zorn  erregt,  perfidia  excessus  (S.  58); 
motus  vestros.  Er  führte  daher  das  Volk  der  Franken  zu  neuen 
Kämpfen  und  „schmetterte  die  alamannischen  Gaue  durch  höhere 
Tapferkeit  zu  Boden“,  gentem  Francorum  in  nova  proelia  con- 
citastis  et  Alamannicos  populos  causis  fortiori bus  inclinatos 
victrici  dextra  snbditistis.  Wann  und  wo  dies  geschehen,  ist 
nicht  zu  ersehen.  Der  König-Herzog,  der  Adel  der  Gaue  fiel, 
es  fiel  „unzähliges“  Volk  durch  das  Schwert  oder  wurde  kriegs- 
gefangen, sufficiat  innumerabilem  nationem  partim  ferro  partim 
servitio  subjugatura.  Die  kampfesmüden  Ueberbleibsel  flohen  in 
das  zweite  Rätien,  das  „Gebiet  des  Tbeoderich“,  fessas  reli- 
quias  . . . qui  nostris  finibus  caelantur  exterriti,  und  suchten 
dessen  Fürsprache,  defensionem,  nach. 

Ennodius  in  seiner  Lobrede  auf  den  Gothenkönig  ergänzt 
dies  Bild:  Die  Alamannen  verloren  ihren  König-Herzog,  regem 
perdidisse.  Sie  flohen  ihr  Vaterland,  und  die  Masse  der  (nörd- 
lichen) Alamannen  strömte  in  das  „Gebiet  von  Italien“  und 
fand  hier  seitens  des  Königs  Aufnahme  ohne  Schädigung 
römischen  Besitzes,  a te  Alamanniae  generalitas  intra  Italiae 
terminos  sine  detrimento  Romanae  possessionis  inclusa  est. 


8.  Der  Ostgothenköiiig  Theuderich. 

Die  Vermittlung. 

Dies  war  die  politische  Lage,  in  der  Tbeoderich  dem  Chlodwig 
eine  Gesandtschaft  schickte  und  seinen  Brief  übergeben  Hess. 
Schwager  des  Chlodwig,  dessen  Schwester  Audefleda  er  zur 
Gemahlin  hatte,  sprach  er  als  Verwandter  zum  Verwandten, 


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erkannte  den  Zorn  des  Chlodwig  als  berechtigt  an  und  trag 
ihm  die  Bitten  der  Alamannen  vor,  die  ihn  um  das  Geschenk 
des  Lebens  baten,  de  vitae  munere  supplicare.  Er  verstärkte 
sie  durch  die  Fürsprache  des  Verwandten,  zu  der  sie  ihre  Zu- 
flucht genommen,  ad  parentum  vestrorum  defensionem  respicite 
confngisse,  nnd  bat  um  freundliche  Gewährung  dessen,  was 
Verwandte  sich  zuzugestehen  pflegen,  quod  sibi  gentilitas  com- 
muni  remitiere  consuevit  exemplo.  Im  Uebiigen  empfahl  er 
ihm  Mässigung  und  Bestrafung  nur  der  Schuldigen,  und  verhiess 
ihm,  wie  es  scheint,  im  Anschluss  hieran  mündliche  Eröffnungen 
seiner  Gesandten,  damit  er  auf  seiner  Hut  sein  könne.  Nur 
wie  beiläufig  bemerkt  er,  dass  die  Flüchtigen  in  seinem  Gebiet 
Aufnahme  gefunden,  nostris  finibus  caelantur  exterriti,  dass 
Chlodwig,  wenn  den  Bitten  willfährig,  von  der  Seite  Beunruhigung 
nicht  zu  befürchten  habe,  die,  wie  er  wisse,  zu  ihm,  dem  Gothen- 
konig,  gehöre,  nec  sitis  solliciti  ex  illa  parte,  quam  ad  nos 
eognoscitis  pertinere;  und  selbst  das  Reich  Italien,  regnum 
Italiae,  erwähnt  er,  allerdings  in  der  verbindlichen  Form,  dass 
es  an  den  Erfolgen  des  Chlodwig  Theil  nehme. 

Es  wird  hiernach  klar,  dass  Theuderich,  als  die  aus  dem 
Norden  fliehenden  Alamannen  ihn  um  Schutz  anflehten,  in 
Besorgniss  vor  den  Erfolgen  Chlodwigs  im  nördlichen  Gallien 
und  gegen  die  Burgundionen  und  Alamannen,  die  Gelegenheit 
ergriff,  ihm  ein  Halt  im  Siegeslauf  zuzurufen,  und  dass  er  seine 
Vermittlung  mit  der  durch  die  Alamannen  erbetenen  Fürsprache, 
keineswegs  aber  mit  seiner  Herrschaft  über  Rätien  motivirte, 
in  dem  sich  die  Flüchtigen  befanden.  Sie  hätte  ihm  ja  ein 
Recht  auf  Schutz  gegeben,  das  die  blosse  Fürbitte  ausschloss. 
Der  König  von  Italien  mochte  wohl  ein  Recht  auf  das  zweite 
Rätien  auspreehen,  das  zu  Italien  gehörte,  so  lange  beide  Ge- 
biete römisch  waren.  Aber  jenes  war  seit  Menschengedenkeu 
alamannisch  (S.  198)  und  der  Rechtsanspruch  erhielt,  wie  es 
scheint,  erst  durch  die  Zustimmung  der  Alamannen  einen  that- 
sächliehen  Inhalt.  Theoderich  berief  sich  also  nicht  auf  das 
Schutzrecht,  welches  ein  eignes  Gebiet  gab,  sondern  deutete 
nur  an,  dass  er  nunmehr  gewillt  sei,  Rätien  als  sein  Gebiet 
zu  behandeln,  eine  leise  und  verständliche  Drohung.  Auch 
hoffte  er  augenscheinlich  noch,  mit  seinem  Schwager  sich 
friedlich  zu  verständigen. 


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Welche  mündliche  Aufträge  Theoderich  seinen  Gesandten 
gab,  und  welches  das  Ergebniss  der  Verhandlungen  war,  ist 
nicht  berichtet.  Aber  auch  von  einem  jetzt  ausgebrochenen 
Conflikt  mit  Chodwig  ist  nichts  bekannt,  und  da  dieser  sich 
scheuen  mochte,  die  von  dem  Christengott  zweimal  gewährten 
Siege  über  die  heidnischen  Alamannen  durch  einen  Kampf  mit 
dem  grösseren  Gegner  auf  das  Spiel  zu  setzen,  und  der  ala- 
mannische  Süden  sich  in  ostgothischem  Schutz  befand,  so  ist 
anzunehmen,  dass  er  mit  dem  Erfolg,  den  er  bereits  erreicht 
hatte,  sich  begnügte. 

Der  Norden  national-fränkisch. 

Der  ihm  seit  i'.Hi  zugehörige  Norden  wurde  durch  die  Ver- 
nichtung, Vertreibung  und  Auswanderung  der  Alamannen  wohl 
im  Wesentlichen  frei  und  für  die  Besiedelung  der  Franken 
offen.  Eine  massenhafte  fränkische  Einwanderung  ergoss  sich 
dahin,  die  fränkische  Verfassung  wurde  eingeführt  und  das 
Land  nach  Bevölkerung,  Sitte  und  Sprache  alliuälig  frankisirt. 

Für  das  alamannischc  Volksthum  ging,  nachdem  schon 
früher  der  Westerwald,  das  Lahnthal,  der  Taunus,  der  Buchen- 
wald, der  untere  Main  und  der  Odenwald  eingebüsst  waren, 
nunmehr  auch  das  Gebiet  des  mittleren  Main,  des  untern  und 
mittlern  Neckar  und  am  linken  Rhein  Alles,  was  ausserhalb 
der  elsässischen  Vogesen  lag,  verloren.  Dies  von  der  Masse 
der  Alamannen  verlassene  Land  scheidet  damit  aus  der  ala- 
mannischcn  Geschichte  völlig  aus. 

Der  Süden  unter  den  Ostgothen. 

Andererseits  erhellt,  dass  der  Schutz,  den  Theoderich  in 
bedrängter  Zeit  den  Alamannen  gewählte,  zu  einem  dauernden 
Schutz-  und  Oberhoheits- Verhältnis  geworden  ist.  Er  machte 
sie  tributpflichtig,  aber  sie  bewahrten  ihre  Nationalität  und  ihr 
Recht.  Agathias  erzählt:  Toömu;  Hsoospt/o;,  i,vtm  x«  tr(;  Sopraisi;; 
'1-aXtaj  sxfAre t,  g«  s'lpvj  •i~'z\urlrlv  xcrrrjxoov  zl/t 

- ö s3«.ov,  und  noch  aus  der  Zeit  von  530>  fügt  er  hinzu,  sie 
hätten  bei  einer  Verfassungsveränderung  das  väterliche  Recht 
(Privatrecht)  behalten.  Nvioxx  ok  ctuTot?  st ■>»  ;xsv  toö  /cd.  zavpex, 
1,  (J  und  7. 


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223 


Die  ostgothische  Oberhoheit  beschränkte  sich  nicht  auf 
Kätien,  sondern  erstreckte  sich  auf  den  ganzen  alamannischen 
Süden.  Das  neue  Reich  Italien,  regnuni  Italiae,  Italiae  termiui, 
Latiare  imperium  umfasste  die  obere  Donau  und  den  oberen 
Rhein,  konnte  doch  der  ostgothische  Herrscher  Italiens  aus 
eigenem  Gebiet,  wie  Karpfen  von  der  Donau,  so  nunmehr 
Salmen  vom  Rhein  (bis  aufwärts  zum  Rheinfall  von  Schaffhausen) 
für  seinen  Tisch  beziehen.  Destinet  carpam  Danubius,  a Rheno 
veniat  anchorago.  Cassiodor  III,  4 etwa  von  534. 

Soweit  dieses  Land  bereits  früher  von  Alamannen  besetzt 
war  (sine  detrimento  Romanae  possessionis),  hielt  Theoderich 
es  zur  weiteren  Ansiedlung  der  Volksgenossen  offen,  die  aus 
dem  fränkisch  gewordenen  Norden  herbeiströmten,  um  neue 
Wohnsitze  zu  erwerben  und  ihre  Nationalität  zu  retten,  und 
es  ist  ohne  Grund,  dies  Gebiet  auf  Ration,  oder  gar  auf  einen 
Tiieil  des  zweiten  Rätiens  zu  beschränken. 

So  trat  eine  vollständige  Umwälzung  der  Verhältnisse  ein. 
Alamanuiens  Gebiet  wurde  um  die  Hälfte  geschmälert,  und  die 
ans  den  nördlichen  Gauen  vertriebenen  oder  geflüchteten  Be- 
wohner wurden  nun  Ansiedler  in  den  südlichen,  deren  weite 
und  dünn  besetzte  Gebiete  genügenden  Raum  Hessen.  Wenn 
nicht  schon  die  neuen  Niederlassungen  vom  Anfang  des  Jahr- 
hunderts eine  Mischung  von  Sueven  und  Nichtsueven,  und 
Genossen  verschiedener  Gaue  herbeigeführt  hatten,  so  trat  sie 
jedenfalls  jetzt  ein,  wo  in  den  Lücken  der  festen  Ansiedlungen 
die  Flüchtlinge  sich  festsetzten,  so  wie  sie  der  Zufall  herbei- 
führte. Die  Flnthwelle,  welche  der  fränkische  Sieg  über  das 
Land  ansbreitete,  bedeutete  ihm  eine  dritte  Ansiedlungs- 
periode, welche  das  Land  unter  dem  Frieden  gewährenden 
Schutz  des  Gothenkönigs  rasch  zur  Bliithe  brachte.  Einige 
Jahre  später  schildert,  allerdings  in  rhetorischer  Darstellung, 
Ennodins  in  der  Lobrede  auf  den  König  die  Entwicklung 
Alamanniens  unter  der  Herrschaft  Theoderichs  mit  den  Worten: 
„Die  Flucht  aus  der  Heimath  war  nicht  ohne  Verlust,  aber  sie 
schlug  zum  Glück  der  Alamannen  ans.  Denn  statt  ihres 
Sumpflandes  erhielten  sie  reichen  Boden,  gewohnt  sich  dem 
Karst  zu  fügen.  An  Stelle  vereinzelter  dehnen  sich  nunmehr 
(lichtere  Ansiedlungen  aus.“  A te  (Theodorico)  Alamauniae 
generalitas  intra  Italiae  terminos  sine  detrimento  Romanae 


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possessionis  inclusa  est  . . . Cui  feliciter  cessit,  fugisse  patriam 
suam,  nam  sic  adepta  est  soli  nostri  opulentiam.  Adquisistis, 
quae  noverit  ligonibus  tellus  adquiescere,  quamvis  non  con- 
tigerit  damna  neseire  . . . Ulvis  liberata  (generalitas)  gratu- 
latur  terram  incolens,  quae  bactenus  debiscentibus  domiciliis 
solidioris  scboeni  (Messseil)  emergebat  beneficio.  So  wurden 
die,  welche  die  Provinz  mit  steter  Verwüstung  beimgesucht, 
die, Hüter  des  latiseben  Reichs  und  mit  Recht  nennt  man  den 
König  Theoderich  „ Alamannicus“.  Facta  est  (generalitas)  Latiaris 
cnstos  imperii  semper  nostrorum  populatione  grassata  . . . Rex 
meus  sit  jure  Alamauuicus.  von  Schubert,  78. 


4.  Ganz  Alaitiannien  unter  den  Franken  •'>:{<!. 

Der  Ostgothenkönig  Vitiges  und  der  Fraukenkönig 
Theudebert. 

Die  grossen  Könige  aus  der  Zeit  der  Völkerwanderung, 
Chlodwig  und  Theoderich  waren  todt  und  eine  neue  Generation 
herangewachsen,  als  wiederum  die  Geschicke  der  Alamannen 
durch  Gothen  und  Franken  bestimmt  wurden. 

Das  von  Theoderich  in  Italien  errichtete  Ostgothenreich 
war  in  dem  Kampf  gegen  den  oströmischen  Kaiser  Justinian 
erschüttert.  „Die  Gothen  kämpften  nicht  mehr  um  Herrschaft 
und  Ruhm;  sie  liefen  Gefahr,  Italien  selbst  und  Alles  zu  ver- 
lieren.“ Beide  Theile  bewarben  sich  um  die  Bundesgenossen- 
schaft dnr  Frauken.  Von  ihrem  unter  Chlodwigs  vier  Sühnen 
vertheilten  Reich  stand  Austrasien,  das  Gebiet  um  den  Mittelrhein 
und  die  Loire  mit  der  Hauptstadt  Rheims  und  später  Metz,  darunter 
auch  der  früher  alamannische  Norden,  dem  grössesten  der 
Nachfolger  Chlodwigs,  dem  kühnen  und  unternehmenden  König 
Theudebert  zu,  und  ihn  gewann  der  König  der  Ostgothen  Vitiges, 
indem  er  den  alamannisch  gebliebenen  Süden,  welcher  unter  der 
Oberhoheit  der  Ostgothen  stand,  preisgab,  -h  "AKauavixov  --svo* 
ohpiesav.  Theudebert  bemächtigte  sich  seiner,  -wj  ’AJ.aixaviov 
i'itvoi  uir b I ötIIuiv  ä'fsiuivov  BsoSqilspTO*  'x'j-h;  e/stptuaato.  So  stellt 
Agathias  den  Hergang  dar:  Die  Ostgothen  übergaben  nicht  das 


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225 


Land,  wozu  die  blosse  Oberherrschaft  sie  wohl  nicht  berechtigt 
haben  würde,  sondern  zogen  sicli  aus  ihm  zurück,  so  dass  es 
der  Besitzergreifung  der  Franken  offen  lag. 

Aber  die  Alamannen  wichen  nur  der  Gewalt.  Theudebert 
unterwarf  die  Alamannen,  heisst  es  an  einem  anderen  Orte. 
xcrrsjTps'iato,  I,  tj  und  4. 

So  wurde,  es  war  im  Jahr  536,  das  frühere  alamannische 
Stammland  sammt  den  neuen  Erwerbungen  wieder  vereinigt. 
Aber  während  der  Norden  seit  einem  Menschenalter  nach  Recht 
und  Verfassung  dem  fränkischen  Reich  einverleibt  und  durch 
die  eingeströmte  Frankenbevölkerung  frankisirt  war , liess 
Theudebert  dem  Süden  das  väterliche  Recht,  d.  h.  das  Privat- 
recht,  und  damit  die  Nationalität,  und  begnügte  sich,  die  fränkische 
\ erfassung  einzuführen.  Nduiua  Sä  ai-oü  jfot  piv  iroo  xsl  -cftpez, 
rh  i i -;z  sv  xoivii»  imxpavoöv  ~z  xat  äpyov  rf,  «hpcrjftx^  stox-cu 
ntas«. 

Es  scheint  aber,  dass  er  den  Alamannen  ihre  Gaukönige 
liess.  wenn  auch  mit  der  durch  sein  eigenes  Künigthum  be- 
schränkten Macht,  und  ebenso  ihr  Heer  unter  nationalen  Herzögen. 
>So  mag  die  Nachricht  des  Agathias  zu  verstehen  sein,  dass  er 
die  alamannischen  Brüder  Leuthar  und  Buzelin,  welche  (als 
Könige  und  Herzoge)  an  der  Spitze  ihres  Volkes  standen,  in 
ihrer  Stellung  beliess,  wodurch  sie  später  (552)  auch  unter  den 
Kranken  von  grossem  Einfluss  waren.  Toötu»  Ss  t«ö  avope  (Aeu- 

xa’t  BowaXivo;)  fprrtv  (552)  uhv  äosX'fib,  xxt  io  y$vci*  ‘AXapavcö, 
Vjviuiv  oz  -apü  <Vpzy;'ji;  tisyttrzqv  sfyet/jv,  ibc  xal  toö  acsstspoo  sbvou? 
Vi-'-ibai,  Bsooißfpvoo  rpotep'jv  (556)  iwtp^uyövtoi. 

Auch  ihre  Religion  liess  ihnen  Theudebert.  Dem  recht- 
gläubigen Christenthum  der  Franken  gegenüber  schildert  Agathias 
mn  570  den  Cultus  der  Alamannen:  „Bäume  und  Bäche,  Hügel 
mul  Schluchten  verehren  sie  und  opfern  ihnen  Pferde  und 
Ochsen  und  unzählig  Anderes,  indem  sie  den  Thieren  die  Köpfe 
abschneiden.  Aber  der  Verkehr  mit  den  Franken  zieht  schon 
die  Verständigeren  herüber,  und  ich  denke,  in  Kurzem  wird 
dies  bei  Allen  der  Fall  sein.“ 

Zunächst  aber  rächten  die  Alamannen  au  den  Gothen  die 
Auslieferung  ihres  Landes,  indem  sie  in  deren  Gebiet  in  Italien 
einfielen.  Im  Jahr  537  zogen  Sueven  über  den  Brenner  nach 
Venetien  und  brandschatzten  so,  dass  König  Vitiges  den 

Cfhmer,  Oeecbicbt«  der  Alamannen.  15 


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Provinzialen  die  Jahressteuer  erlassen  musste.  Cassiodor  Variae 
XII,  7.  Wie  es  scheint  wird  derselbe  Zug  weiter  in  XII,  28 
erwähnt.  „Die  jüngst  erfolgte  Zurückweisung  des  alamanuischen 
Ueberfalls  geschah  so  rasch,  dass  es  zu  einer  Vernichtung 
gothiseher  Unterthanen  nicht  gekommen  ist.“ 


5.  Der  Königszins. 

Es  scheint,  dass  zur  fränkischen  Zeit  den  Hufen  der  Ala- 
mannen ein  Zins  für  den  König  auferlegt  wurde,  census,  tri- 
bntnm,  und  zwar  gesondert  für  den  Norden  und  den  Süden, 
wohl  im  Anschluss  an  die  Geschicke  beider  Landestheile,  von 
denen  der  Norden  496,  der  Süden  536  unter  fränkische  Herrschaft 
kam.  Die  Nachrichten  darüber  entstammen  der  Karolinger- 
zeit, in  welcher  der  Zins  fortbestand. 

Der  Königszins  des  Nordens,  die  Osterstufe. 

Zu  Grunde  zu  legen  ist  die  Nachricht  der  Gesta  regum 
Francorum  cp.  15  über  die  Unterwerfung  des  Nordens  von  496: 
(Clodoveus)  Alamannos  cepit,  vel  terram  eorurn  sub  jugo  tribu- 
tarios  constitnit. 

Der  Zins,  generell  als  tributum  oder  census  bezeichnet, 
hicss  steora  (Steuer)  oder  ostarstuopha  (ostarstuapha , oster- 
stopha),  auch  stopha  (stofa,  stoffa,  stoffen)  oder  modius  regis. 
I)a  aber  die  Osterstufc  und  die  Stufe  als  Verschiedenes  ange- 
sehen wird,  so  soll  jede  für  sich  behandelt  werden. 

Die  Osterstufe  wurde  zu  Ostern  erlegt.  Sie  kommt  vor 
am  linken  Rhein  in  Nersten  (Nierstein)  im  Nahegau,  in  Weissen- 
burg  im  Speyergau  und  in  Flagesstatt  (wohl  abgegangen,  und 
nach  der  Reihenfolge  der  Urkunden  in  derselben  Gegend).  In 
Flagesstatt  lag  sie  auf  dem  mansus  ingenuilis  und  betrug  einen 
Frischling,  ein  Lamm  im  Werth  von  einem  solidus,  zwei 
Hühner,  zwölf  Eier,  fünf  Karren  Holz  u.  s.  w.,  in  Nersten 
vier  Denare,  ein  Huhn,  zehn  Eier,  zwei  Karren  Holz;  in 
Weissenburg  wurde  sie  in  Geld  erlegt  und  hiess  daher  Oster- 


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227 


gelt.  Lorscher  Urknndcnsammlung  III.  3672  und  3675; 
Weissenburger  Sammlung  S.  30.3. 

Am  rechten  Rhein  erscheint  sie  in  dem  Jahre  889  und  in 
folgenden  später  ostfränkischen  Gauen,  und  zwar  den  alt-ala- 
mannischen,  dem  Grabfeld  (mit  der  Huntare  Tullifeld)  und  dem 
untern  Neckargau  (mit  der  Huntare  Wingarteiba),  den  alt- 
burgundionischen im  Norden  des  Main,  dem  Sala-  und  Werin- 
Gau  und  dem  Gützfeld,  im  Süden  des  Main,  den  Waldsassi, 
dem  Tauber-,  Badanach-,  Iphi-,  Gollach-,  Mulach-,  .Jagst-  und 
Kochergau.  Hier  kommen  die  Bezeichnungen  tributum  oder 
census,  steora  oder  ostarstuopha  vor.  Sie  wurde  de  partibus 
oder  a pagis  orientalium  Franchorum  (vel  de  Slavis)  ad  fiscum 
dominicuni  erhoben.  Sie  bestand  iu  Honig  oder  Gewändern 
oder  in  anderen  Gegenständen.  Schon  Pippin  (König  seit  7.31), 
ibui  folgende  Könige  und  zuletzt  923  Heinrich  I.  haben  darüber 
zu  Gunsten  der  bischöflichen  Kirche  zu  Würzburg  verfügt. 
Wirtembergisches  Urkundenbuch  ',  Nr.  163;  II,  S.  438. 

Die  Stufe,  auch  Königsseheilel,  modius  regis  genannt,  kommt 
vor  am  linken  Rhein  856  in  Worms,  782  in  Speyer,  in  Weissen- 
burg,  857  in  Metz,  unter  Ludwig  dem  Frommen  iu  den  Vogesen 
(westlichen  fränkischen  AntheilsP).  Von  Worms  heisst  es: 
modius  regis,  quod  vulgari  nomine  stuofehom  appellatur,  auch 
sonst  wird  stuffkorn  erwähnt.  Die  Stufe  wird  also  auch  in 
Scheffeln  gedroschenen  Getreides  aus  der  Scheuer  (nicht  nach 
Garben  vom  Feld  als  Ertragsquote)  entrichtet.  In  den  Vogesen 
hatten  die  Förster  die  Stufe  zu  liefern,  hi  (forestarii,  qui  forestum 
in  Yosago  provident),  qui  stoffam  persolvant,  wahrscheinlich  iu 
jagdbaren  Thieren  (siehe  unten).  Der  Pflichtige  der  Stufe  hiess 
nach  einer  alten  Glosse  zur  Lex  saliea  stopharius,  qui  censurn 
regi  solvit. 

Am  rechten  Rhein  wird  der  modius  regis  912  im  Lahngau 
nnd  914  in  dessen  Huntam  Heiger  erwähnt. 

Siehe  die  Nachweise  bei  Waitz  deutsche  Verfassungs- 
geschichte II,  2,  254;  IV  115;  Schröder,  die  Franken  und  ihr 
Recht,  S.  72:  Lamprecl.t,  deutsches  Wirthschaftsleben  I,  1,  105. 

Es  decken  sich  also  Osterstufe  und  Stufe  nach  dem  Aus- 
druck, nach  dem  Verbreitungsgebiet  zumal  am  linken  Rhein 
nnd  nach  bestimmten  Beträgen  des  Wirthschaftsbetriebs  (ge- 
schlagenem Holz,  gedroschenem  Getreide,  Frischlingen,  Lämmern 

15* 


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228 

und  Hühnern,  Eiern  und  Honig)  oder  Gewändern  und  Geld. 
Fasst  man  die  Gebiete  beider  zusammen,  so  ergiebt  sich  am 
linken  Rhein  alamannischer  Besitz  vom  5.  Jahrhundert,  am 
rechten  Rhein  altalamannischcr  Boden,  und  jenseits  der  beiden 
Limes  die  früher  burgundionischeu  Sitze,  die  wohl  von  Alamannen 
eingenommen  waren.  Das  ist  der  Norden,  der  496  den  Franken 
zufiel. 

Nach  diesem  ist  die  Meinung  älterer  Germanisten  nicht 
unwahrscheinlich,  dass  Chlodwig  den  unterworfenen  Alamannen 
(des  Nordens)  die  Osterstufe  als  Köuigszins  auferlegt  habe,  und 
es  mag  ferner  geschlossen  werden,  dass  sie  sieh  auf  den  Hufen 
derjenigen  Alamanuen  erhalten  habe,  die  auch  nach  501  im 
Norden  sitzen  blieben.  Und  so  mag  sie  als  eine  Abgabe  be- 
stimmter Hufen  geblieben  sein. 

Demselben  alamannisch-fränkischen  Norden  gehörte  eine  noch 
weitere  Abgabe  anderer  Begründung  an,  der  Medem,  eine  dem 
König  als  Obereigenthümer  unbebauten  Landes  zustehende  Er- 
tragsqnote  des  Rottlandes.  Sie  ist  jedenfalls  erst  später  von 
praktischer  Bedeutung  geworden  und  wird  im  Kapitel  9,  Ab- 
schnitt 1,  ihre  Darstellung  finden. 

Der  Königszins  des  Südens. 

Theoderich,  so  berichtet  Agathias,  hielt  die  Alamannen  zur 
Steuerzahlung  an.  (S.  222). 

Census  oder  tributum,  ohne  irgend  eine  andere  Bezeichnug, 
als  des  Königs  oder  des  Grafen  ist  über  den  ganzen  Süden, 
Alamannia,  Wirt.  102,  verbreitet.  Dieser  Zins  ruht  insbesondere 
in  Deutschland  auf  Hufen  des  Nagold-  und  Westergaus,  Wirt.  T9 ; 
er  kommt  vor  in  zwei  Grafschaften  der  Bertholdsbar,  Mon. 
Boica  31,  1,  60;  im  Breisgau,  Wirt.  79  und  102,  Urkunden- 
buch von  St.  Gallen  312;  in  der  Huntare  Eritgau,  Wirt.  102, 
in  den  östlichen  Gauen  Alamanniens,  in  finibus  Alamannicis 
sub  eoa  (Iller-,  Angst-,  Ries-Gau?),  Wirt.  102;  im  Illergau, 
Mon.  Boica  31,  1,  10  und  seiner  Huntare  Nibelgau,  Gail.  49; 
auf  Hufen  des  östlichen  Alpgans,  Wirt.  79;  in  der  Schweiz  im 
Aargau,  Gail.  527,  auf  Hufen  des  Thurgau,  Wirt.  79,  Gail.  328 
und  in  Voralberg,  Gail.  662. 


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229 


Der  Zins  war  des  Königs;  in  einzelnen  Fällen  war  er  einem 
Grafen  zu  seinem  Einkommen  übertragen,  und  die  Urkunden 
reden  von  ihm,  wenn  der  König  einen  Tlieil  des  Zinses  an  eine 
Kirche  oder  ein  Kloster  schenkte.  Schon  Pippin,  (König  seit 
751)  und  noch  Karl  der  Grosse  887  haben  darüber  verfügt, 
Gail.  312  und  662.  Jahr  766  in  marcha  Nibalgauge  ....  sicut 
debuemus  regi  et  comite  servire,  ....  censum  quod  ceteri  paginsi 
nostri  faciunt  regi  aut  comiti,  Gail.  49;  Jahr  828  in  pago 
Brisichaua  ....  censum,  quod  ad  fiscum  persolvi  und  quod  annis 
singulis  fisco  inierri  solebant,  Gail.  312;  Jahr  829  cum  partibus 
regis  tributum  exigeretur,  Gail.  328;  Jahr  839  tributuni  ex 
ministerio  Chuonradi  comitis,  ....  ex  portione  ministerii,  quod 
Raban  comes  habet,  ....  partem  tributi,  quae  ad  nostrum 
exigitur  opns,  Wirt.  102;  Jahr  867  de  Argengeuve  ....  de 
tali  censu,  sicut  illorum  antecessores  nostris  (des  Königs  Ludwig) 
antecessoribus  persolverunt,  Gail.  527;  Jahr  887  quodam  censu, 
quod  ad  regium  jus  pertinebat,  Gail  662. 

Der  Zins  ruhte  auf  der  Hufe.  Jahr  817  censum  de  mansis 
XLVII  in  verschiedenen  Gauen,  Wirt.  79;  Jahr  829  unam 
hobam  . . . tributum  im  Thurgau,  Gail.  328.  Die  pflichtige 
Person  hiess  tributarius,  Gail.  328.  Jahr  828  werden  im  Breis- 
gau sechszehn  liberi  homines  als  solche  aufgeführt,  Gail.  312. 

Der  Tribut  war  ein  fester.  Im  Jahr  766  sollte  er  im  Nibel- 
gau  in  einem  Fall  geleistet  werden,  wie  von  den  anderen  Gau- 
genossen, censum,  quod  ceteri  paginsi  faciunt,  Gail.  49;  im 
Jahr  867  im  Argengau,  so  wie  er  den  Vorgängern  des  Königs 
entrichtet  war,  Gail.  527.  Worin  aber  des  Königs  Zins  bestand, 
ist  für  Alamannien  nicht  überliefert.  Nur  in  zwei  Fällen,  in 
denen  der  Zins  dem  Kloster  St.  Gallen  übertragen  war,  liegt 
eine  Abrede  des  Klosters  mit  den  Pflichtigen  über  die  Art  der 
Leistnng  vor.  Im  Jahr  766  sollten  die  vier  Söhne  des  Marulf 
im  Nibelgau  den  census  in  wilden  Thieren,  in  silvaticas  feras, 
leisten,  wenn  es  möglich  wäre,  sonst  aber  wie  die  übrigen  Gau- 
genossen, Gail.  49,  und  in;  Jahr  328  sollte  der  tributarius 
Gisalmar  von  seiner  einen  Hule  im  Thurgau  den  ganzen  Ertrag 
an  Wein  bis  zu  15  Sielen  sammt  einem  Frischling,  eine  tremissa 
werth,  liefern,  wenn  der  Wein  gerathen  ist,  si  fertilitas  vini 
fiierit,  sonst  aber  7 Malter  Korn  und  30  Sielen  Bier,  Gail.  328. 


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230 


Es  scheint  hiernach,  dass  der  Königszins  des  Südens  nicht  in 
einer  Ertragsquote  der  Hufe,  sondern  wie  die  Osterstufe  des 
Nordens  in  bestimmt  fixirten  Leistungen  bestand.  Als  Ergänzung 
der  Osterstufe  mag  er  nach  53 6 den  Alamannen  des  Südens 
auferlegt  sein,  falls  er  nicht  etwa  die  alte  Steuer  des  Theoderieh  ist. 


<>.  l)ie  Alamannen  in  Italien. 

Der  Herzog  Bnzelin.  549. 

Die  Alamannen  scheinen  sich  rasch  an  die  fränkische  Herr- 
schaft gewöhnt  zu  haben.  Sie  folgten  unter  Buzelin,  ihrem 
Herzog,  dem  Heer  des  Königs  Theudebert  549  nach  Italien. 
Dieser  kam  so  allerdings  zunächst  den  bedrängten  Gothen  zu 
Hülfe,  wie  diese  536  gehofft  hatten,  eroberte  jedoch  einen  grossen 
Theil  von  Oberitalien  für  sich  und  konnte  im  nächsten  Jahre 
dem  Gothenkönig  Vitiges  die  Theilung  von  Italien  vorschlagen. 
Als  er  dann  selbst  nach  Gallien  zurückkehrte,  Hess  er  die  Herzöge 
Buzelin  und  Haming  zurück,  um  den  Krieg  fortzuführen,  ad 
subjiciendam  Italiam,  wie  Paulus  Diaconus  *2,  2 berichtet. 
Später  plante  er  einen  Zug  nach  Byzanz,  um  den  Kaiser  Jnstinian 
zu  entthronen,  der  sich  immer  noch  Fraucicus  und  Alamannicus 
nannte.  Der  weitere  Verlauf  der  Ereignisse  ist  unklar.  Nach 
Procop  3,  33  und  4,  24  besassen  die  Franken  von  Italien  noch 
550  Venetien,  einen  Theil  von  Ligurien  und  die  cottischen  Alpen 
uud  noch  im  Jahr  553  scheinen  sie  im  Besitz  der  letzteren 
gewesen  zu  sein  (Agathias  2,  3).  Aber  das  Geschick  der 
Gothen  war  im  Niedergang.  Grosse  Kämpfe  der  Feldherrn 
des  Kaiser  gegen  die  Gothen  erfüllten  Italien.  Beiisar  schlug 
ihren  König  Vitiges  und  führte  ihn  gefangen  nach  Byzanz.  Es 
folgten  Kämpfe  gegen  den  König  Totila  von  wechselndem  Erfolg 
uud  unter  dem  wechselnden  Besitz  von  Rom,  bis,  von  Narses 
geschlagen,  er  und  der  letzte  König  Teja  fielen.  Die  über  die 
nördliche  Hälfte  von  Italien,  Tuscien,  Ligurien,  die  Ebenen  dies- 
seits und  jenseits  des  Po  zerstreuten  Gothen  hoben  keinen  König 
mehr  auf  den  Schild;  ein  Theil  wartete  die  Entwicklung  der 


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Dinge  ab.  die  am  Po  Angesiedelten  dagegen  planten  die  Fort- 
setzung des  Krieges. 

Die  Herzöge  Buzelin  und  Leuthar.  552. 

Zu  dem  Zweck  wendeten  sie  sich  352  an  ihre  früheren 
Kampfgenossen,  die  austrasischen  Franken.  Aber  der  feurige 
Theudebert  war  todt  und  sein  Sohn  und  Nachfolger  Theudebald 
ein  kränkelnder  junger  Mann.  Vor  dem  Könige  und  seinen 
Grossen  baten  die  gothischeu  Gesandten  das  befreundete  Nach- 
barvolk um  Hülfe,  damit  sie  nicht  von  den  Römern  erdrückt 
würden;  liege  es  doch  im  eigenen  Interesse  der  Frauken,  die 
Macht  der  Römer  nicht  noch  anwachsen  zu  lassen.  Denn  sie 
würden  die  Waffen  gegen  die  Franken  kehren,  wenn  sie  die 
Gothen  vernichtet  hätten.  Als  der  König  jedoch  kein  Verlangen 
verspürte,  die  Sorgen  der  Gothen  auf  sich  zu  laden,  da  traten 
gegen  die  Meinung  des  Königs  Theudebald  die  Gaukönige  und 
Herzoge  der  Alamannen,  die  Brüder  Buzelin  und  Leuthar,  die 
vermöge  ihrer  Stellung  auch  unter  den  Franken  von  grossem 
Einfluss  waren  (S.  225),  auf  und  setzten  die  Annahme  des 
Biindnissvertrages  durch.  Sie  selbst  wurden  als  Herzöge  zur 
Führung  des  Krieges  berufeu  und  brachten  ein  Heer  von  72  000 
Mann,  Franken  und  Alamannen  zusammen.  Mit  ihm  rückten 
sie  zunächst  zum  Po  vor  (553).  So  zogen,  wenn  auch  unter 
fränkischem  Namen,  noch  einmal  alamannischc  Herzoge  und  ein 
Heer  von  Alamannen,  mit  Franken  gemischt,  nach  Italien  zur 
Eroberung  des  Landes,  wie  im  3.  und  4.  Jahrhundert,  wo  den 
Vorfahren  Gallien  oder  auch  Italien  der  Kampfpreis  gewesen  war. 

Die  Herzoge,  voll  Verachtung  auf  den  Eunuchen  Narses 
herabsehend,  waren  nach  der  Schilderung  des  Byzantiners 
Agathias,  I,  7 und  20,  des  Vertrauens,  dass  sie  ganz  Italien 
und  Sicilien  unterwerfen  würden,  und  dass  dann  ihre  eigene 
Stellung  nicht  dieselbe  bleiben  würde.  Bald  sollte  es  sich  zeigen, 
dass  sie  als  die  zu  Hülfe  Gerufenen  ein  Uebergewicht  über  die 
Gothen  beanspruchten  und,  je  weiter  sie  vordrangen,  die  Leitung 
der  gothischen  Angelegenheiten  in  die  Hand  nahmen,  so  dass 
diese  die  Befürchtung  hegen  mussten,  die  Franken  würden, 
Sieger  über  die  Römer,  Italien  nicht  den  Gothen  herausgeben, 
sondern  hier  ein  fränkisches  Reich  gründen;  vielleicht,  darf  man 


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ergänzen,  ein  Reich  alamannischen  Gepräges,  das  sich  ans  Ala- 
mannen, Franken  und  Gothen  zusammensetzen  würde. 

Die  Alamannen  am  Po  und  in  der  Aemilia.  553. 

Nach  der  Niederlage  des  Gothenkönig  Teja  am  Mons 
lactarius  in  der  Nähe  des  Vesuv  suchte  Narses  sich  in  den 
Besitz  der  von  den  Gothen  noch  bewahrten  Orte  zu  setzen. 
Der  südlichste  war  die  starke  Veste  Cumae  in  Campanien,  wo 
auf  steiler  Höhe  am  Meer  Aligern,  der  Bruder  des  Teja,  den 
Schatz  der  Gothen  hütete.  Eine  lange,  hartnäckige  Belagerung 
war  ohne  Erfolg,  auch  als  von  der  berühmten  Grotte  der  Sybille 
aus  ein  Theil  der  Befestigungswerke  unterminirt  und  zum  Sturz 
gebracht  war.  Als  dann  die  Meldung  kam,  dass  die  Franken 
und  Alamannen  bereits  am  Po  ständen,  Hess  Narses  eine  Ab- 
theilung seines  Heeres,  in  dem  sich  römische  Legionen,  germanische 
Heruler  und  Warnen  sowie  Hunnen  unter  nationalen  Herzögen 
befanden,  vor  Cumae  zur  Fortsetzung  der  Belagerung  zurück, 
zog  selbst  mit  einer  andern  nach  Tuscien,  nahm  Florentia, 
Centumcella,  Volaterra,  Pisa  und  Luna,  die  sich  ohne  Weiteres 
ergaben,  und  Luca,  das  ihn  durch  eine  Belagerung  aufhielt, 
ein  und  schickte  Legionssoldaten  und  Heruler,  den  grössten 
und  stärkeren  Theil  des  Heeres  zur  Aemilia,  um  dem  Feind 
gegenüber  zu  treten  oder  ihn  doch  aufzuhalten.  In  Parma 
wurde  jedoch  eine  Abtheilung  Heruler  unter  ihrem  Herzog 
Fulkaris  von  Buzelin  überrumpelt  und  nieder  gemacht  und  auf 
diesen  Erfolg  hin  standen  die  Gothen  der  Aemilia  und  Liguriens, 
die  früher  zum  römischen  Bündniss  gezwungen  waren,  auf  und 
schlossen  sich  den  Heerhaufen  des  Buzelin  und  Leuthar  an, 
denen  sie  durch  germanische  Abkunft,  Sitte  und  Lebensart  ver- 
bunden waren.  Gothen,  Franken  und  Alamannen  strömten  nach 
Parma  zusammen  und  vor  ihnen  zogen  sich  die  Römer  schleunigst 
nach  Faveutia  zurück. 

Der  Herbst  ging  zu  Ende  und  die  Wintersonnenwende 
stand  bevor,  als  Narses,  durch  die  Ergebung  von  Luca  frei 
geworden,  sich  nach  Ravenna  begab,  um  das  Heer  aus  dem 
Felde  zurückzuziehen  und  in  die  befestigten  Winterquartiere 
zu  legen.  Damit  war  den  Germanen  die  Möglichkeit  eines 
Massenaugriffs  genommen  und  sie  scheinen  den  für  sie  zu 


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grösseren  Unternehmungen  so  geeigneten  Winter  nicht  benutzt 
zu  haben. 

Inzwischen  war  Aligern,  der  Befehlshaber  von  Cumae,  er- 
bittert über  das  selbstsüchtige  Verhalten  der  alamannisehen 
Herzöge,  zu  dem  Entschluss  gekommen,  die  Stadt  und  ihre 
Schätze  den  Römern  zu  übergeben  und  in  Italien  mit  ihnen 
friedlich  zu  leben.  Narses  nahm  ihn  und  seine  Gothen  mit 
offenen  Armen  auf  und  versprach  reichen  Lohn.  Er  schickte 
den  Aligern  nach  Caesena,  das  von  den  Germanen  belagert 
wurde,  damit  sie  sähen,  dass  er  aus  eigenem  Antrieb  zu  den 
Römern  übergegangen  sei.  Er  zeigte  sich  ihnen  von  einer 

hohen  Stelle  der  Mauer  aus  und  höhnte,  sie  brauchten  sich 
nicht  zu  beeilen,  Cumae  zu  entsetzen,  denn  es  sei  mit  seinen 
Reichthümern  bereits  in  den  Händen  der  Römer,  sammt  den 
Insignien  der  gothischen  Herrschaft.  Sollte  noch  einmal  ein 
gotbischer  König  gewählt  werden,  so  hätte  er  Nichts,  um  in 
königlicher  Würde  zu  erscheinen.  In  Wahrheit  bekundeten  die 
Insignien  den  ächten  König.  Dagegen  schalten  ihn  die  Ger- 
manen den  Verräther  des  eigenen  Stammes.  Narses  schöpfte  mit 
freigebiger  Hand  aus  dem  Gothenschatz,  um  sich  die  Treue  seiner 
Bundesgenossen,  der  Heruler,  Warnen,  Hunnen  und  nun  auch  der 
Gothen  des  Aligern  zu  erhalten.  Und  die  Feinde  schwankten, 
ob  sie  nach  dem  Fall  des  südlichen  gothischen  Bollwerkes  und 
ihrer  Schatzkammer  den  Krieg  fortsetzen  sollten.  Aber  die 
Meinung  siegte,  dass  das  Unternehmen  weiter  zu  führen  sei. 

Die  Alamannen  in  Unteritalien.  554. 

Bei  Beginn  des  Frühlings  554  zog  Narses  seine  Truppen 
in  Rom  zusammen,  während  die  Germanen,  die  Hauptstadt  ver- 
meidend, sich  über  die  Breite  der  Halbinsel  zerstreuten  und, 
die  Orte  verheerend  und  entvölkernd,  bis  Samnium  vordrangen. 
Hier  theilten  sich  die  Heerhaufen  der  beiden  Herzöge.  Buzelin 
wandte  sich  zum  tyrrhenischen  Meer  und  durchzog  Campanien, 
Lucanien  und  Bruttium  bis  an  die  Meerenge  von  Rhegium, 
Leuthar  am  adriatischen  Meer  Apulien  und  Calabrien  bis 
Hydruntum.  Mordend,  sengend,  und  plündernd,  bezeugten  die 
christlichen  Franken  doch  den  Gotteshäusern  ihre  Ehrfurcht, 
während  die  heidnischen  Alamannen  sie  vom  Dach  bis  zum 
Fundament  zerstörten,  oder  mit  dem  Blut  der  Erschlagenen 


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besudelten  und  ihre  Kostbarkeiten  entführten.  Die  Körper  der 
getüdteten  Thiere  Hessen  sie  unverscharrt  auf  den  Feldern  liegen. 

Die  Rückkehr  des  Deutbar. 

Es  wurde  Sommer  und  damit  begann  für  die  Germanen 
die  Gefahr  des  italischen  Klimas.  Leuthar  beschloss  daher,  mit 
der  gesammelten  Beute  heimzukehren  und  malmte  unter  Hinweis 
auf  die  Wechsel  fälle  des  Glücks  den  Buzelin,  ein  Gleiches  zu 
tliun.  Dieser  hatte  sich  den  Gothen  eidlich  verpflichtet,  mit 
ihnen  gegen  die  Römer  die  Entscheidungsschlacht  zu  schlagen, 
und  als  sie  ihm  Hoffnung  machten,  ihn  zu  ihrem  König  zu 
wählen,  entschloss  er  sich,  mit  seinem  Heerhaufen  zu  bleiben. 
Als  Leuthar  mit  dem  seinigen  abzog,  versprach  er,  ihm  aus  der 
Heimath  Ersatztruppen  zu  schicken. 

Er  gelangte  ohne  Unfall  bis  Umbrien,  wo  er  bei  Fannm 
am  adriatischen  Meer  ein  Lager  aufschlug.  Seine  Vorhut  von 
3000  Mann  wurde  hier  das  Opfer  eines  Hinterhalts  römischer 
und  hunnischer  Truppen,  die  unter  der  Führung  des  Artabanes 
und  des  Hunnenherzogs  Uldach  in  Pisaurum  standen.  Hier 
erschlagen,  dort  in  das  Meer  geworfen,  dort  fliehend,  verbreitete 
die  Vorhut  Lärm  und  Verwirrung.  Sofort  stellte  Leuthai'  sein 
gesammtes  Heer  in  Schlachtordnung  auf,  ein  Moment,  den  zahl- 
reiche Gefangene  benutzten,  zu  entfliehen  und  von  der  Beute, 
so  viel  sie  konnten,  in  die  römischen  Kastelle  wegzuführen. 
Artabanes  und  Uldach  fühlten  sich  jedoch  zu  schwach,  um  die 
Herausforderung  anzunehmen.  Die  Germanen  kehrten  daher  in 
das  Lager  zurück  und  brachen,  sich  nicht  weiteren  Verlusten 
aussetzend,  zur  Aemilia  auf,  um  weiter  zu  den  cottischen 
Alpen  zu  gelangen  Mach  beschwerlichem  Marsch  kamen 
sie  über  den  Po  nach  Venctien  und  hoflten  in  ihrer  Stadt  Ceneta 
von  den  Strapazen  ausruhen  zu  können.  Auf  dem  langen  Wege 
war  von  der  Beute  weniges  übrig  geblieben,  und  sie  sagten  sich 
mit  Schmerz,  dass  es  der  schweren  Mühe  nicht  werth  sei.  Dann 
brachen  die  Folgen  der  Strapazen  und  des  Klimas,  Pestilenz 
und  Fieber,  aus  und  rafften  das  ganze  Heer  dahin.  So  ging 
Leuthar  mit  den  Seinen  elend  zu  Grunde. 

Die  Schlacht  bei  Capua. 

Bereits  begann  der  Herbst,  als  Buzelin  in  Unteritalien  die 
Nachricht  erhielt,  dass  das  Heer  des  Narses  in  Rom  versammelt 


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sei.  Er  beschloss  mit  allen  Streitkräften  die  endliche  Entscheidung 
herbeizuführen  und  marschirte  zu  dem  Zweck  in  Eilmärschen 
nach  Campanien.  Die  Trauben  reiften,  und  da  Narses  alle 
Zufuhr  von  Lebensmitteln  abschnitt,  so  verbreitete  sich  durch 
den  Genuss  von  Trauben  und  Most  im  Heer  die  Dysenterie. 
Lieber  kämpfen,  so  hiess  es  jetzt,  sei  es  mit  welchem  Erfolge, 
als  durch  die  Krankheit  verzehrt  werden!  Von  dem  Untergang 
seines  Bruders  wusste  Buzelin  uoch  nichts,  aber  es  wunderte 
ihn,  dass  die  versprochene  Hülfe  noch  nicht  da  sei,  und  er  be- 
fürchtete schon,  dass  ihm  ein  Unfall  zugestossen.  Er  bezweifelte 
jedoch  nicht,  dass  er  bei  seiner  Ueberzahl  an  Truppen  den 
Sieg  davon  tragen  werde;  denn  es  waren  ihm  von  den  72  000 
Mann,  die  ausgezogen,  noch  30000  geblieben,  während  auf 
römischer  Seite  18000  Mann  standen. 

In  der  Nähe  von  Capua  am  Casulinus,  der  sich  in  Windungen 
durch  die  Ebene  ins  Meer  zieht,  schlug  Buzelin  das  Lager  auf. 
Die  Brücke,  die  über  den  Fluss  führte,  wurde  durch  einen 
hölzernen  Thurm  mit  Besatzung  gedeckt.  Ein  hoher  Wall  mit 
Pallisaden  und  einem  engen  Ausgang  schützte  die  andere  Seite. 
Im  Inneren  waren  die  Fuhrwerke,  bis  zur  Nabe  mit  Sand  be- 
deckt, zur  Wagenburg  zusammengefügt.  So  mochte  der  Herzog 
meinen,  er  könne  die  Zeit  zum  Angebot  oder  zur  Annahme  der 
Schlacht  nach  eigenem  Ermessen  bestimmen:  „Wir  kamen  nach 
Italien,“  rief  er  den  Seinen  zu.  „Ob  wir  es  festhalten,  ob  wir 
rühmlos  ein  Ende  finden,  in  unsere  Hand  ist  es  gelegt.“ 

Narses  führte  das  ganze  römische  Heer  aus  Rom  und  er- 
richtete sein  Lager  in  der  Nähe  des  germanischen.  Der  Lärm 
eines  jeden  drang  in  das  andere.  Hoffnung  und  Furcht  bewegte 
beide  Theile  und  die  Städte  Italiens  bangten,  wem  der  Sieg, 
und  wessen  Partei  sie  selbst  dann  zufallen  würden. 

Die  Germanen  fouragirten  unter  den  Augen  der  Römer  und 
Narses  liess  durch  seine  Reiter  die  Fuhrleute  niederhauen  und 
ihre  Gespanne  aufheben.  Ein  mit  Heu  beladener  Wagen  wurde 
brennend  an  den  Brückenthurm  geschoben,  setzte  diesen  selbst 
in  Brand  und  zwang  dessen  Besatzung,  ihn  zu  verlassen,  so 
dass  die  Römer  sich  der  Brücke  bemächtigten.  Vor  Wuth  rasend, 
verlangen  die  Germanen,  sofort  in  den  Kampf  geführt  zu  werden, 
und  vergebens  weissagen  die  alamannischen  Seher,  der  Tag 


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werde  dem  ganzen  Heer  verderblich  sein.  Schon  greifen  sie 
zn  den  Waffen. 

Narses  war  bereits  zu  Pferde  gestiegen,  uni  sein  Heer  anf- 
znstellen,  als  ihm  ein  vornehmer  Heruler  vorgeführt  wurde,  der 
einen  seiner  Sklaven  zur  Strafe  für  ein  Vergehen  getödtet  hatte. 
Nach  heiliger  Satzung  musste  die  Schuld  gesühnt  sein,  ehe  die 
Schlacht  beginnen  konnte.  Als  der  Heruler  es  für  sein  heimisches 
Recht  erklärte,  den  Sklaven  nach  seinem  Gefallen  zum  ab- 
schreckenden Beispiel  zu  tödten,  und  sich  hartnäckig  seiner  That 
rühmte,  überwies  Narses  ihn  dem  Lictor,  der  ihn  durch  einen 
Schwertstoss  in  die  Weichen  tödtete.  Das  erfüllte  nun  die 
Heruler  „als  Barbaren“  mit  Unwillen  und  sie  beschlossen,  sich 
von  dem  Kampf  fern  zu  halten.  Narses  aber  rief,  unbekümmert 
um  die  Heruler,  Wer  des  Sieges  theilhaftig  sein  wolle,  solle 
ihm  folgen.  Da  versprach  Sindual,  der  Herzog  der  Heruler,  in 
der  Einsicht,  dass  die  Seinen  im  Moment  der  Kampferöftnung 
nicht  zurücktreten  dürften,  ohne  sich  dem  Vorwürfe  des  Abfalls 
auszusetzen,  er  werde  sie  beruhigen  und  sie  baldigst  herführen ; 
worauf  Narses  erklärte,  er  könne  die  Aufstellung  des  Heeres 
nicht  verzögern,  w’erde  ihnen  aber  ihren  Platz  offen  halten. 

Dann  ordnete  er  die  Hauptmasse  seines  Heeres,  das  Fuss- 
volk,  Legionen  und  Bundesgenossen,  als  Phalanx  und  behielt 
in  der  Mitte  einen  Raum  für  die  Heruler  vor:  in  das  Vorder- 
treffen vor  die  Feldzeichen  (antesignani)  stellte  er  bis  zu  den 
Füssen  Gepanzerte,  mit  starken  Helmen  Bewaffnete,  sie  alle  in 
geschlossenen  Gliedern.  Hinter  der  Hauptmasse  fanden  die 
Leichtbewaffneten:  Bogenschützen,  Schleuderer,  zum  Plänkler- 
dienst bestimmt,  ihren  Platz. 

Beide  Flügel  deckte  er  durch  die  Reiterei,  mit  Schild  und 
Wurfspeer,  umgehängtem  Bogen  und  Schwert,  sowie  mit  langer 
macedonischer  Lanze  bewaffnet.  Narses  selbst,  von  einer  Leib- 
wache umgeben,  nahm  seine  Stellung  auf  dem  rechten  Flügel. 
Weiter  an  beiden  Seiten,  hinter  Wald  versteckt,  stellte  er 
römische  Truppen  unter  Valerius  und  Artabanes,  die  sich  un- 
versehens auf  den  heranstürmenden  Feind  werfen  sollten. 

Zw'ei  herulische  Ueberläufer  meldeten  diesem,  die  Heruler 
seien  abgerückt  und  dadurch  Alles  in  Verwirrung  gerathen. 
Auf  das  hin  führte  Buzeliu  sein  Heer  aus  dem  Lager  direkt 
gegen  die  Römer.  Ohne  Ordnung,  sich  überstürzend  stürmen 


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die  Germanen  herbei,  als  wollten  sie  im  ersten  Anlauf  die  Feinde 
älter  den  Haufen  rennen.  Sie  werfen  sich  im  Keil,  einem 
Eberkopf  vergleichbar,  unter  Geheul  auf  den  Feind,  durchbrechen 
das  Vordertreffen,  ergiessen  sich  in  die  herulische  Lücke  und 
die  Vordersten  bahnen  sich  den  Weg  durch  die  geschlossenen 
Reihen  bis  an  die  hinterste.  Einige  drängen  noch  weiter  vor, 
als  wollten  sie  das  römische  Lager  überrumpeln.  Dabei  war 
das  Blutvergiessen  nur  gering. 

Da  Hess  Narses  die  berittenen  Bogenschützen  auf  beiden 
Flügeln  eine  Schwenkung  machen  und  die  breite  Masse  des 
Keils  mit  Pfeilen  überschütten;  von  rechts  und  von  links  kreuzten 
sich  die  Geschosse  und  die  Eingeschlossenen  konnten  ihnen  weder 
aasweichen,  noch  überhaupt  sehen,  woher  sie  kamen.  Denn 
zugleich  gingen  die  Schwerbewaffneten  zum  Angriff  über. 

Jetzt  rückten  auch,  von  ihrem  Herzog  beschwichtigt,  die 
Heruler  unter  Sindual  heran  und  stiessen  zunächst  auf  die 
Germanen,  welche  die  römischen  Reihen  durchbrochen  hatten. 
Es  kam  hier  zum  Nahgefecht.  Jene,  überrascht,  hielten  sich 
von  den  beiden  Ueberläufern  für  betrogen,  fürchteten  weiteren 
Hinterhalt  und  wandten  sich  zur  Flucht,  auf  der  sie  verfolgt 
and  zum  Theil  niedergemacht  wurden.  Die  Masse  der  Heruler 
tückte  in  den  ihnen  vorbehaltenen  Platz  der  Schlachtordnung 
ein,  und  die  Phalanx  war  damit  geschlossen. 

So  stand  der  germanische  Keil,  nunmehr  selbst  eingekeilt, 
seiner  Stosskraft  beraubt,  und  jetzt  von  allen  eingreifenden 
Truppen  bedrängt,  da.  Schwerter  drangen  ein,  Geschosse 
«urden  geworfen,  Pfeile  entsendet.  Von  allen  Seiten  wurde 
gemordet.  Die  Germanen  wurden  erschüttert  und  vernichtet, 
«n  Sieg  der  Phalanx  gegen  den  Keil.  Was  den  Waffen  ent- 
ging, wurde  in  den  Casulinus  gejagt  und  kam  in  ihm  um. 

So  fand  Buzelin  und  sein  ganzes  Heer  den  Untergang, 
»nr  fünf  Mann  sahen  die  Heimath  wieder.  Die  Römer  gaben 
ihren  Verlust  auf  80  Mann  an,  die  bei  den)  Ansturm  des  Keils 
gefallen  waren.  Es  zeichneten  sich  auf  römischer  Seite  fast 
alle  Legionen  aus,  und  von  den  Bundesgenossen  die  unter 
Sindual  und  Aligern,  dem  „Verräther“.  Es  kämpften  Gothen  gegen 
Gothen,  Germanen  gegen  Germanen,  hier  Alamannen,  Frauken, 
Gothen,  dort  Heruler,  Warnen  und  Gothen,  sowie  Hunnen. 


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Nach  der  Niederlage  zogen  sich  siebentausend  gothische 
Krieger,  die  au  verschiedenen  Orten  lagen,  den  Angriff  der 
Römer  furchtend,  nach  Campsac,  einem  wohl  versorgten  Berg- 
kastell (wohl  Conza  in  Samnium)  zurück.  Sie  erlitten  unter  der 
Führung  eines  Hunnen  Regnaris  die  Belagerung  des  Narses. 
Als  sie  im  nächsten  Frühjahr  555  sich  ergaben,  schickte  er  sie 
nach  Byzauz  zum  Kaiser  Justiuiau. 

Für  die  Gothen  bedeutete  der  Ausgang  des  Krieges  das 
Ende  ihrer  Herrschaft  und  ihres  Volksthums. 

Für  die  Alamannen  (in  der  Vereinigung  mit  den  Franken) 
war  der  Krieg  in  Italien  das  letzte  grosse  Unternehmen  unter 
selbstständiger  Führung  alamannischer  Herzöge,  rühmlos  lur 
die  eine  Hälfte  des  Heeres,  tragisch  für  die  andere,  der  Ab- 
schluss der  heroischen  Zeit  der  Alamannen.  Die  weitere  ge- 
hörte im  Wesentlichen  der  Kolonisation  an. 


7.  Kein  Stainiukönisrthuin. 

Die  lockeren  Beziehungen,  welche  verfassungsmässig  zwischen 
den  einzelnen  Gauen  herrschten,  das  weitschichtige  Gebiet  und 
die  mangelnde  Interessengemeinschaft,  welche  sich  während  der 
zweiten  Ansiedlungsperiode  bis  zur  Katastrophe  von  496  zwischen 
dem  Stammland  und  den  einzelnen  Gebieten  Neualamanniens 
herausstellten,  hatten  mich  den  Uebergang  der  Alamannen  zum 
Stammkünigthum  bereits  bezweifeln  lassen.  (S.  213—215). 

Auch  die  Unsicherheit  über  die  Stellung  des  König  Gibuld, 
der  als  erster  bekannter  Stammkönig  in  Anspruch  genommen 
wird,  (S.  192)  fördert  die  Entscheidung  nicht. 

Die  Erörterung  kann  erst  hier  wieder  aufgenommen  werden. 

Der  nächste,  der  als  Stammkönig  in  Betracht  kommen 
könnte,  ist  der  Gegner  Chlodwigs  von  496.  Gregor  und  der 
Biograph  des  Vedastus  nennen  ihn  rex,  der  erstere  lässt  ihn 
fallen,  der  zweite  sich  ergeben.  Aus  dem  Erfolg  der  Schlacht, 
der  Unterwerfung  der  nördlichen  Gaue  habe  ich  geschlossen, 
dass  der  König  nur  diese  unter  seiner  Führung  vereinigt  habe, 
dass  er  mithin  deren  Herzog,  dux  gewesen  sei,  im  Uebrigen 


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ein  Gaukönig,  der  ebenso  wie  die  Herzöge  Chnodoniar,  Serapio 
und  Priari  nur  rex  genannt  werde. 

Ebenso  nennen  Theoderieh  und  Enuodius  den  Gegner  von 
501  — 507,  der  nach  beiden  gefallen  ist,  rex.  Er  war  der 
Führer  im  zweiten  Kampf  gegen  Chlodwig.  Einen  Stammkönig 
konnte  dieser  im  Norden  nicht  dulden.  Sollte  sich  seit  496 
der  Süden  zum  Stammkönigtum  vereinigt  haben?  Es  wäre  uicht 
unmöglich,  denn  seit  dieser  Zeit  lag  dazu  ein  dringender  Anlass 
und  bei  dem  verkleinerten  Gebiet  die  Möglichkeit  vor,  aber  es 
fehlt  dafür  an  jedem  Anhalt.  Jedenfalls  wäre  dies  Stamm- 
königthum von  kurzem  Bestand  gewesen.  Denn  auch  im  Süden 
konnte  Theoderieh  keinen  alamannischen  Stammkönig  dulden. 
In  der  That  hatte  der  gefallene  König  keinen  alamannischen 
Nachfolger,  wie  sich  aus  Ennodius  ergiebt,  der  es  für  ein  glück- 
liches Geschick  der  Alamannen  erklärt,  einen  König  (Theoderieh) 
zu  besitzen,  nachdem  sie  verdient,  ihn  (den  gefallenen  Ala- 
mannenkönig) verloren  zu  haben;  Theoderieh  sei  in  Wahrheit 
Alamannicus,  wenn  auch  ein  anderer  (der  Kaiser  in  Byzanz) 
sich  so  nenne.  Cui  (Alamanniae  generalitati)  evenit  habere 
regem,  postquam  mernit  perdidisse  ....  Rex  mens  sit  jure 
Alamannicus,  dicatur  alienus.  Hier  ist  Theoderieh  als  Nach- 
folger des  gefallenen  letzten  Alamannenkönigs  gedacht.  Es 
würde  dem  Gedankengang  des  Enuodius  am  Besten  entsprechen, 
wenn  man  in  diesem  einen  Stammkönig  sehen  könnte.  Aber 
die  Stelle  ist  durchaus  rhetorisch  und  daher  nicht  zu  ver- 
werthen. 

Der  nächsten  Häupter,  die  unter  der  fränkischen  Herrschatt 
erwähnt  werden,  sind  schon  zwei,  Buzelin  und  Leuthar,  ala- 
mannische  Gaukönige  und  Herzöge,  als  solche  von  dem  Franken- 
könig Theudebert  bestätigt  und  von  seinem  Nachfolger  Theudebald 
überkommen.  Sie  scheinen  sog.  Amtsherzöge  zu  sein  (Kapitel  9, 
Abschnitt  2). 

Nach  dem  früher  Entwickelten  darf  man  es  daher  für 
innerlich  unwahrscheinlich  erklären,  dass  die  Alamannen  — 
vielleicht  abgesehen  von  den  letzten  Jahren  — zum  Stamm- 
königthnm  iibergegangeu  seien,  jedenfalls  fehlt  es  dafür  an  einem 
Anhalt.  Vielleicht  war  es  die  Selbstständigkeit  und  der  Mangel 
an  Zusammenhalt  ihrer  autonomen  Gaue,  denen  sie  gegenüber 
der  gefestigten  Gewalt  des  fränkischen  Stammkönigs  Chlodwig 


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ihre  Niederlage  verdankten.  Dem  spätem  fränkisck-alamannischen 
Stammherzogthum  ist  kein  alamannisehcs  Stammkönigthum  vor- 
hergegangen, aus  dem  es  sich,  wie  man  wohl  angenommen 
hat,  hätte  entwickeln  können. 


8.  Die  Lenzer  und  die  Sueven. 

Die  Orte,  welche  in  der  Schweiz  den  Namen  der  Lenzer 
und  Sueven  tragen,  sind  bereits  verzeichnet  (S.  208  und  209).  Aber 
sie  umspannen  nicht  nur  dort  ein  weites  Colonisationsgebiet, 
sondern  finden  sich  auch  zahlreich  in  Süddeutschland,  werden  dort 
wie  hier  aus  dem  5.  und  nach  den  verhängnisvollen  alamannischen 
Niederlagen  aus  dem  6.  Jahrhundert  stammen  und  sich  auch 
später  noch  von  den  neuen  Sitzen  aus  weiter  verbreitet  haben. 
Man  wird  diese  Ortsnamen  nicht  in  der  alamannischen  Heimath 
suchen,  aber  sie  begleiteten  die  Wandernden  in  die  Fremde  und 
wurden  hier  Nichtlenzern  und  Nichtsueven  gegenüber  zum  unter- 
scheidenden Merkmal.  So  wurden  sie  Urkunden  der  voran- 
schreitenden Colonisation  beider  Theilvölker  und  sind  es  bis  auf 
den  heutigen  Tag  geblieben.  Wir  finden  beide  Namen  von  der 
Heimath  aus  im  Westen  und  Osten  (in  Süddeutschland),  sowie 
im  Süden  (in  der  Schweiz).  Gegenseitig  einander  kreuzend,  ist 
in  der  Schweiz  der  Lenzername,  in  Süddeutschland  der  Sueven- 
name  überwiegend.  Die  Lenzer  gründeten  in  beiden  Ländern 
neue  Huntaren,  von  den  Sueven  tragen  ganze  Landstriche  in 
Süddeutschland  den  Namen  und  wo  man  weiter  auf  Gruppen 
lenzischer  oder  suevischer  Namen  stösst,  wird  man  auf  massen- 
hafte Einwanderung  jedes  dieser  alamannischen  Theilvölker 
schlicssen  dürfen. 

Von  den  sonstigen  Alamannen  sind,  abgesehen  von  einigen 
schweizerischen  Orten  des  Alamannennamens  selbst,  ähnliche 
Ansiedlungsspuren  nicht  zu  entdecken,  und  es  ist  hervorzuhebeu, 
dass  auch  alamannische  Gau-  oder  Huntarennamen  in  dem  neuen 
Gebiet  nicht  verwendet  sind.  Ob  das  vielfache  Vorkommen 
derselben  Ortsnamen  im  Alt-  wie  Neu-Alamanuien  auf  eine  Ver- 
wandtschaft ihrer  Bewohner  zu  deuten  sei,  könnte  nur  eine  sehr 
eingehende  Untersuchung  ergeben. 


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241 


Die  Orte  lenziscben  Namens. 

Von  dem  gezwungenen  Auszug  aus  der  Heimath,  welcher 
auf  die  Niederlagen  vom  Ende  des  5.  und  dem  Anfang  des 
6.  Jahrhunderts  folgte,  wurden  die  Lenzer  nicht  betroffen. 

Ihr  latinisirter  Name  Lentienses,  den  sie  bei  Ammian 
führen,  hat  sich  in  ihren  Ansiedlungen  in  der  Form  von  Lenz 
oder  Linz  erhalten. 

Es  scheint,  dass  sie,  wie  in  der  Schweiz  die  Huntare  Lenz- 
burg, so  im  östlichen  Anschluss  an  den  Hegau  zwei  neue  Huntaren 
gegründet  haben,  die  sich  am  Bodensee  bis  zum  Schlissen  er- 
streckten, den  Unterseegau  und  den  Linzgau,  von  denen  der 
Letztere  sammt  der  Malstätte  Liuz,  BA.  Pfullendorf  ihren  Namen 
trägt  (Siehe  Kapitel  28). 

Weiter  heissen  Orte  nach  den  Lenzern  in 

Lothringen,  K.  Forbach,  Lenzweilerhof; 

Obereisass,  K.  Gebweiler,  Linzersmatt; 

Baden,  BA.  Neustadt,  Lenzkirch;  BA.  Lahr,  Lenzis- 
hurg;  und  (schon  genannt)  BA.  Pfullendorf,  Liuz; 

Württemberg,  OA.  Waldsee,  Lenzers;  OA.  Wangen, 

Lenzers: 

Baiern, 

K.  Schwaben,  BA.  Kempten,  Lenzfried;  BA.  Sont- 
hofen, Lenzen:  BA.  Oberdorf,  Lenzer; 

K.  Oberbaiern,  BA.  Mühldorf,  Lenz  und  Lenz- 
feichten; BA.  Altötting,  Lenzen;  BA.  Rosenheim,  Lenzmühle; 

K.  Niederbaiern,  BA.  Bogen,  Lenzing:  BA.  Pfarr- 
kirchen, Lenzloh  und  Lenzhub;  BA.  Vilshofen,  Linzing;  BA. 
Passau,  Lcnzingerberg;  BA.  Wolfstein,  Lenzmühle; 

K.  Mittelfranken,  BA.  Neustadt  a.  A.,  Lenzen- 
liaus;  BA.  Ansbach,  Lenzersdorf; 

K.  Unterfranken,  BA.  Ochsenfurt,  Lenzenbronn; 

K.  Oberfranken,  BA.  Hochstedt  a.  A.,  Lenzen- 

niühle. 

Die  Orte  suevischen  Namens. 

Die  Sueven  wurden  nur  theihveise  von  den  verhängniss- 
vollen  Ereignissen  berührt.  Sie  büssten  zwar  den  unteren 
Neckar  ein,  hatten  aber  schon  vorher  in  compacten  Massen 

Cr»  m er*  Geschiohte  der  Alemannen.  16 


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242 


das  ihnen  benachbarte  Land  abwärts  der  Donau  und  über  dem 
Strom,  sowie  Gebiete  der  Schweiz  besetzt,  und  während  die 
übrigen  flüchtenden  Alamannen  sich  ansiedelnd  in  den  neuen 
Gauen  verloren,  musste  ihre  Bedeutung  immer  mehr  hervor- 
treten. Anderswo  dagegen  mischten  sie  sich  mit  Frauken  und 
Bajuvaren  und  Missten  dabei  ihr  Volksthum  ein. 

Die  lateinische  Form  des  Namens  Suave:  Suebus,  Suevus, 
Suaevus  war  dem  althochdeutschen  Suapa  entlehnt.  Nach  dem 
mittelhochdeutschen  Swabe  hat  sich  die  heutige  Form  Schwabe 
gebildet,  die  sich  auch  in  den  Ortsnamen  findet. 

In  der  alten  Suevenheimath  ist  nur  einziger  Name  ihres 
Gepräges  zu  verzeichnen,  Schwabach  im  württembergischen 
Oberamt  Weinsberg. 

Im  Uebrigen  finden  sich  ihre  Namen  zunächst  im  Osten 
und  Süden  an  beiden  Ufern  der  Donau. 

An  der  linken  Seite  der  Donau 

in  Württemberg,  im  Riessgau,  OA.  Ellwangen, 
Schwabsberg;  es  blieb  mit  dem  Riessgau  sueviseh.  Die  Ge- 
biete der  weiteren  Orte  wurden  fränkisch  oder  bajuvarisch; 
in  Baiern  und  zwar  im 

K.  Oberfranken,  BA.  Staffelstein,  Schwabthal; 

K.  Mittel  franken,  BA.  Rothenburg  an  der  Tauber, 
Schwabcnmiihle  und  Schwabsroth;  BA.  Gunzenhausen,  Schwabeu- 
mühle;  BA.  Weissenburg,  Schwabenmühle;  BA.  Schwabach, 
Schwabach. 

K.  Oberpfalz,  BA.  Beiingries,  Schwabstetten, 
BA.  Amberg,  Schwabenhof;  BA.  Kemnath,  Schwabeneggaten : 
BA.  Neunburg  v.  W,,  Sclnvabach;  BA.  Roding,  Schwabenhof; 
BA.  Stadtamhof,  Schwabelweis. 

K.  Niederbaiern , BA.  Viechtach,  Schwabwies. 

An  der  rechten  Seite  der  Donau  muss  man  das  obere  Ge- 
biet, das  bis  zum  Lechthal  (dieses  eingeschlossen  bis  zum 
Ammersee)  reicht,  und  das  untere  unterscheiden. 

Im  oberen  < lebe  t heisst  das  wlirttembergische  und  bairische 
Land  bis  zum  Lech  noch  heut  zu  Tage  Oberschwaben  oder 
Schwaben,  das  bairische  Land  bis  zum  Lech  ist  der  administrative 


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243 


Kreis  Schwaben.  An  Olten  sind  bis  zum  Animersee  zu  ver- 
zeichnen: 

iu  Württemberg,  im  südlichen  Alpgau  BA.  Wangen, 
Schwabenbauer,  Schwabenhof. 

in  Baiern,  im  Augstgau  und  zwar  im 

K.  Schwabeu,  BA.  Augsburg,  Sehwabegg,  Sckwab- 
münchcu,  Schwabmühlhausen,  Schwabaich;  BA.  Kaufbeuren, 
Schwabisbofeu ; BA.  Kempten,  Schwabelsberg; 

K.  Oberbaiern , BA.  Schongau , Sckwabmflhle, 
Schwabuiederhofen,  Schwabsoien,  Schwabbruck;  BA.  Landsberg, 
Schwabhausen;  BA.  Friedberg,  Schwabhof,  Schwabstadt. 

Der  durch  diese  Orte  bezeiehnete  Landstrich  blieb  mit 
'lern  Augstgau  suevisch,  aber  im  Osten  trat  eine  Mischung  mit 
Bajuvaren  ein.  „Eine  grössere  Menge  Alamannen,  sagtRiezler 
in  der  Geschichte  Baierns  I,  61,  haben  sich  mit  den  Baiern 
vermischt.  Im  Südosteu  von  Oberbaiern  und  im  Westen  von 
deutsch  Tyrol  tragen  Sprache  und  Art  der  Bewohner  ein  stark 
alamannisches  Gepräge.  Eine  Linie  von  Augsburg  nach  dem 
Ammersee,  weiter  über  den  Kochelsee,  die  Leutasch,  Lermoos, 
Teils,  das  Otzthal,  Finstermünz  bis  zur  Malserheide,  ja  vielleicht 
bis  .Merau  bezeichnet  die  Ostgreuze  eines  Landstrichs,  wo  Ala- 
mannen mit  Baiern  streckenweise  besonders  im  Süden,  vielleicht 
das  germanische  Element  ausschliesslich  vertraten.“ 

Die  Orte  des  unteren  Gebieten  fielen  der  Herrschaft  der 
Bajuvaren  anheim;  in 

K.  Oberbaiern,  BA.  Dachau,  Schwabhausen; 
BA.  München  I,  Schwabing;  BA.  München  II,  Schwabbruck; 
BA.  Erding,  Schwabelsöd,  Schwabersberg,  Schwabstetten, 
Schwäbl;  BA.  Ebersberg,  Schwaben,  Schwaberswegen;  BA. 
Miesbach,  Schwabenham;  BA.  Rosenheim,  Schwabering; 

K.  Niederbaiern,  BA.  Kelheim,  Schwabbruck. 
Auch  gen  Westen,  donauaufwärts,  den  Schwarzwald  und 
die  Vogesen  wendeten  sich  die  Sueven. 

Im  Grossherzogthum  Baden  liegen  im  erweiterten  Hegau, 
BA.  Pfullendorf,  Schwablishausen ; im  Klettgau  die  Halbinsel 
Schwaben  (Suabona  im  9.  Jahrh.)  bei  Rheinau,  beide  im  Land 
der  Lenzer;  im  Westergau,  BA.  Neustadt,  Schwabenhof;  im 
Breisgau,  BA.  Wolfach,  Schwabach;  BA.  Freiburg,  Schwaben- 
Iwf:  im  Lobdengau,  BA.  Heidelberg,  Schwabenheim;  im  Tauber- 

16* 


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244 


gau,  BA.  Tauberbischofsheim,  Schwabhausen ; Alles  mit  Aus- 
nahme des  letzten  Ortes  altalamannischer  Besitz. 

Im  nenalamanuischen  Gebiet,  dem  elsässischen  Nordgau 
sind  K.  Zabern , zwei  Schwabenliof  und  K.  Weissenburg, 
Schwabweiler  zu  verzeichnen.  (Auch  weit  über  alamannische 
Grenzen  hinaus  liegen  Orte  des  suevischen  Namens  über  ganz 
Deutschland  zerstreut,  einer  in  Coburg-Gotha,  zwei  in  Weimar- 
Eisenach,  drei  im  Grossherzogthum  Hessen,  zwei  im  Königreich 
Sachsen,  elf  in  Preussen  und  einer  in  Mecklenburg-Schwerin. 


ft.  Die  dreifache  Bedeutung  des  Siievcnnamens. 

Die  geschichtliche  Stellung  der  Sueven. 

Die  Herkunft  der  Sueven,  das  Gemeingefühl,  welches  sie 
sich  auch  innerhalb  des  alamannischen  Stammes  bewahrt  hatten, 
die  Kraft,  die  sie  in  ihren  früheren  Zügen  nach  Italien,  in  der 
Theilnahine  an  den  grossen  gallischen  Unternehmungen,  in  der 
fortgesetzten  Beunruhigung  Rätiens,  sogar  der  mittleren  Donau 
gezeigt  hatten,  und  nunmehr  ihre  Ausdehnung  nach  Süden  und 
Osten  und  die  Stetigkeit  ihrer  politischen  Zustände,  während 
der  alamannische,  grösstentheils  nichtsuevische  Norden,  zu- 
sammenbrach, — alle  diese  Umstände  mögen  es  erklären,  dass 
auch  die  Namengebung  für  den  Stamm  der  Alamannen  eine 
wesentlich  andere,  als  die  alte  wurde,  und  dass  die  Bedeutung 
des  Namens  der  Sueven  sich  erweiterte. 

Wie  wir  gesehen  haben,  war  die  Bezeichnung  für  den 
Stamm,  der  aus  der  Wanderung  hervorgegangen,  Alamannen, 
und  für  den  südöstlichen  Theil  Sueven  oder  Juthungen;  der 
Name  Sueven  war  der  historische  Yölkername,  uns  aus  der  Zeit 
des  Cäsar  und  Tacitus  bekannt;  die  Namen  Alamannen  und 
Juthungen  waren  Wandernamen  (S.  8 — 10,  26,  27).  Der  Völker- 
name blieb  und  seine  Bedeutung  wuchs,  die  Wandernamen  ver- 
schwanden oder  erlitten  doch  ihre  Bedeutung  mindernde  Aende- 
rungen.  Die  Bezeichnung  Juthungen  lindet  man  seit  ihrer 
Niederlage  von  4.'10  nicht  mehr,  es  sei  denn,  dass  die  Huntare 
Scndinga  im  Jura  ihren  Namen  das  Mittelalter  hindurch  be- 
wahrt hat  (S.  203,  200). 


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245 


Hinsichtlich  der  Namen  Alamannen  und  Sueven  ist  zeitlich 
und  räumlich  ein  dreifacher  Sprachgebrauch  zu  unterscheiden. 

Sueven,  ein  Theil  der  Alamannen. 

Der  Name  Alamannen  behielt  die  alte  den  Stamm  umfassende 
Bedeutung,  wie  zur  Zeit  der  Römer,  so  zu  der  der  gothischen 
and  fränkischen  Herrschaft,  durch  das  ganze  Mittelalter  in  der 
amtlichen  und  kirchlichen  Sprache  und  zu  allen  Zeiten  in  der 
Feder  der  Geschichtsschreiber.  Daneben  drückt  der  Name 
Sueven  die  alte  Beschränkung  auf  den  Südosten  des  Landes 
ans.  Die  erste  Form  des  Sprachgebrauchs  war  mithin : Sueven 
ein  Theil  der  Alamannen,  oder  wie  Ammiau  sagt:  Jutlningi 
pars  Alamannorum,  17,  6,  1.  Zn  den  älteren  Nachrichten  des 
zweiten  Kapitels  treten  folgende  hinzu:  Von  den  Kämpfen  des 
Jahres  496  heisst  es  bei  Gregor  bellum  contra  Alamannos: 
Alamanni  terga  verteiltes:  in  der  vita  Vedasti  (7.  Jahrhundert) 
Alamannus,  gentem  ferocem;  cum  Alamanni  ad  caedem  inhiarent: 
Alamannis  cum  rege  u.  s.  w.,  von  den  Kriegern  des  Jahres  um 
501—50  7 bei  Cassiodor  Alamannicos  populos,  Alamannum  acerri- 
mnni,  -bei  Ennodins  Alamanniae  generalitas.  Cassiodor  lässt 
537  Sueven  über  den  Brenner  nach  Italien  einbrechen  und  be- 
zeichnet sie  später  als  Alamannen.  Incursio  Suavorum;  Ala- 
mannorum nuper  fugata  subreptio,  XII,  7 und  28. 

Alamannien  schloss  noch  immer  die  östlichen  Gaue  (der 
Sueven)  in  sich,  grenzte  an  den  Lech  und  an  die  Noriker  oder 
Bojoaren  z.  B.  im  8.  Jahrhundert:  Rex  Carlus  venit  in  fines 
Alamannorum  et  Beiweriorum  ad  flunien,  quod  appelatur  Lech 
(Mon.  Germ.  SS.  I,  33,  34,  vergl.  64).  Im  9.  Jahrhundert 
schied  der  Lech  Bajoarios  ab  Alamannia,  (SS.  II,  449),  im 
13.  Jahrhundert  die  Noriker  von  den  Alamannen.  In  confinio 
-N'oricorum  et  Alamannorum,  quae  Lycus  fluvius  determiuat  (Vita 
Gregor.  VII).  Die  Stadt  Augsburg  lag  im  10.  Jahrhundert 
nach  der  Vita  Udalrici  in  proviucia  Alamannorum,  in  der  auch 
die  Iller  floss. 

Daneben  war  der  Suevenname  im  3.  und  4.  Jahrhundert 
an  Stammland  auf  den  mittleren  und  oberen  Nekar  und  auf  die 
schwäbische  Alb  beschränkt  (S.  27)  und  dehnte  während  der 
zweiten  und  dritten  Ansiedlungsperiode  sein  Namensgebiet  auf 
das  Land  südlich  der  Donau,  auf  „Oberschwaben“,  tota  regio 


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240 


Suevorum  (Mon.  Germ.  SS.  IV,  :i 8 7 , 399,  400)  aus.  Das  Bis- 
thuni  Augsburg  hatte  zwischen  der  Iller  und  dem  Lech  die 
Provinz  Suevia.  So  reichte  das  Suevenland  vom  mittleren  Neckar 
bis  zum  Lech  und  hier  ist  es  und  nirgendwo  anders,  wo  die 
Sueven  sich  heute  mit  Stolz  Schwaben  nennen. 

Sueven  und  Alamannen. 

Mit  der  grossen  Umwälzung  der  Geschicke  des  Stammes 
verdunkelte  sich  aber  diese  ursprüngliche  Bedeutung  der  Namen. 
Der  Sprachgebrauch  schmälerte  den  Namen  Alamannen,  so  dass 
dem  Stamm  in  zweiter  Form  nun  zwei  Bestandtheile  gegeben 
wurden:  Sueven  und  Alamannen.  Sie  wurden  von  einander 
unterschieden,  wohnten  neben  einander,  waren  verbündet  oder 
überhaupt  vermischt.  Procop  sagt:  -z  ö*4p  xat 

"A/.apawoi,  iT/'jpz  sbvr,.  Jordanes  sagt  von  dem  Kampf  der  Ost- 
gothen unter  Theodemir:  Suavis  tune  juncti  aderant  etiam  Ala- 
manni;  (Theodemir)  tarn  Suavorum  gentem,  quam  etiam  Ala- 
mannorum,  utrasque  ad  invicem  foederatas,  devicit.  Cp.  55.  Nach 
Jordanes  wohnten,  wie  oben  dargelegt,  die  Sueven  nördlich,  die 
Alamannen  südlich  von  der  Donau  bis  an  den  Lech.  In  der 
Gesta  regum  Francorum  c.  11  heisst  es:  Bellum  contra  Ala- 
mannos  Suevosque.  Der  Fortsetzer  Fredegers,  schreibt  im 
8.  Jahrhundert:  Carlus  Martell  Rhenum  fluvium  transiit,  Ala- 
mannosque  et  Suavos  lustrat,  usque  Danubium  perarcessit,  illique 
transmeato  flnes  Bavarienses  oeenpavit  (Bouquet  II,  454):  Wala- 
fried Strabo  im  9.  Jahrhundert:  Mixti  Alamannis  Suavi  (das 
Weitere  unten.  Mon.  Germ.  SS.  II,  2 — 3)  und  der  Romane 
Hugo  von  Flavigny  im  11.  Jahrhundert:  Snavia  et  Alamannia, 
Waitz,  V,  165,  Anm.  3. 

Sueven  oder  Alamannen. 

Daneben  bildete  sich  ein  dritter  Sprachgebrauch,  welcher 
dem  Namen  Sueven  einen  erweiterten  Sinn  beilegte.  Man 
nannte  den  Stamm  Sueven  oder  Alamannen,  das  Ganze  mit 
dem  einen  oder  anderen  Namen  bezeichnend,  und  dieser  Sprach- 
gebrauch wurde  der  herrschende.  Schon  im  Jahr  400  ge- 
brauchen die  Notitia  dignitatum  und  der  Dichter  Claudianus 
die  Worte  abwechselnd  und  in  gleichem  Sinn,  Letzterer  in 
Cons.  Stilichonis.  Im  6.  Jahrhundert  sagt  Gregor  von  den 


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247 


Sueven  in  Gallaecien:  Snebi  id  est  Alamanni,  I,  2;  im  7.  der 
Ravennat:  Patria  Snevornm,  quae  et  Alamannorum  patria. 

IV,  26,  im  8.  Paulus  Diaconus:  Suavia  hoc  est  Alamannorum 
patria  undSuavorum  boc  est  Alamannorum  patria:  über  dasselbe 
Ereigniss  vom  Jahr  709  erzählen  die  Ann.  8.  Amandi:  Pippinus 
pervexit  in  Suavis  contra  Vilario,  die  Ann.  breves  S.  Galli: 
Pippinus  Alamanniam  ingreditur,  und  die  Ann.  8.  Col.  Sen.: 
Pippinus  pervexit  in  Alamanniam  contra  Witbarinm  ducem. 
(Mon.  Germ.  SS.  I,  6,  8,  11,  22,  23,  64,  102).  Endlich  der 
Fortsetzer  des  Fredegar:  Suavia,  quae  nunc  Alamannia  dicitur 
(Bouquet  II,  458). 

Im  9.  Jahrhundert  war  die  Kaiserin  Hildegard  nach  Ein- 
hart de  gente  Suavorum,  nach  Thegan  nobilissiini  generis  Suavorum 
puella,  nomine  Hildegarda,  quae  erat  de  cognatione  Gotefreiii, 
ducis  Alamannorum.  (Mon.  Germ.  SS.  453,  590) : Ludwig  der 
Deutsche  gab  nach  der  Cont,  prima  Adonis  seinem  Sohn  Carl  III. 
Alamanniam  et  Curwalam.  der  gleich  darauf  rex  Suavorum  ge- 
nannt wird.  Im  10.  Jahrhundert  nennt  Hartniann  in  der  vita 
Wiboradae  die  Alamannen  zugleich  Suaven,  Alamanni,  qui  et 
Suevi  (M.  G.  SS.  IV,  452),  und  nach  Balther  brachte  der 
heilige  Fridolin  die  Reliquen  des  Hilarius  nach  Säckingen  in 
Alamannien  und  in  Alamanniae  quandam  insnlam  (im  Rhein) 
ibique  Suevorum  fidei  se  commendans  (Mon.,  Badische  Quellen 
I,  5,  11). 

Dieses  Material,  das  sich  bei  Baumann  „Schwaben  und 
Alamannen“,  aber  ohne  Unterscheidung  der  verschiedenen 
sprachgebräuchlichen  Bedeutungen  der  Worte  befindet,  könnte 
nach  ihm  noch  bis  ins  11.  und  13.  Jahrhundert  fortgesetzt 
werden.  Es  -seien  daraus  weiter  Zeugnisse  dafür  erbracht,  dass 
auch  im  amtlichen  Leben  Alamannisch  und  Suevisch  ein  und 
dasselbe  bedeutete.  Im  11.  Jahrhundert  hiess  der  Gegenkönig 
Rudolfs  bei  Ekkehard  von  Würzburg  indigena  Suaviae  und 
dux  Alamannorum,  bei  Lambert  von  Hersfeld  dux  Suevorum 
(M.  G.  SS.  VI,  202,  203;  IX,  199,  226).  Vom  1 1.  Jahrhundert 
an  wurden  die  alamannnisclien  Herzöge  vorwiegend  duces 
Suevorum  oder  Sueviae  genannt.  Die  lex  Alamannorum  vom 
8.  Jahrhundert  wurde  auch  als  lex  Suevorum  bezeichnet; 
Güter  wurden  1003,  1077,  1083,  1094  secundum  legem  (leges) 
Alamannicorum  oder  Alamannicam  (Wirt  I,  238,  Neug.  II,  825, 


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248 


Zeitschrift  des  Oberrheins  IX,  215),  1080,  1 142,  1228  secundmn 
legem,  jus  Suevorum  (M.  G.  SS.  XX,  65Ö,  Wirt,  II,  18,  Mon.  Boica 
VI,  519,  X,  22)  behandelt.  1144  wurde  ein  Grenzstreit  zwischen 
dem  Kloster  Einsiedeln  und  den  Leuten  von  Schwyz  entschieden : 
Alamannorum,  quibus  ejusdem  terrae  jurisdictio  pertinet,  judicio 
und  Suevorum,  qui  et  Alamanni  dicuntur,  lege  ac  judicio  (Herr- 
gott Gen.  Austr.  II,  196,  Nro.  246).  Im  13.  und  14.  Jahr- 
hundert war  aus  der  lex  Alamannorum  Swäbe  e,  Swäbe  reht, 
schwäbisches  Landrecht  geworden;  das  Weisthum  der  Stadt 
Winterthur  von  1297  berief  sich  auf  Swabenreht,  1311  wurde 
es  in  Schwyz  und  Einsiedelu,  1357  im  Breisgau  angewendet 
(Waitz  V,  150 — 151;  Bluntschli,  Rechtsgeschichte  von  Zürich 
I,  233,  Schröder  in  Haupts  Zeitschrift  XIII,  167,  168).  Auch 
das  schwäbische  Recht  des  Vorstreits  war  nach  Lambert  ein 
peculiare  Suevorum  privilegium,  nach  Bernold  durch  eine  lex 
Alamannorum  gegeben.  (M.  G.  SS.  V,  226,  278). 

Schon  im  9.  Jahrhundert  gab  Walafried  Strabo  eine  Er- 
klärung für  den  Doppelnamen  des  Stammes.  Er  nahm  eine 
Mischung  von  Alamannen  und  Sueven,  deren  Namen  uralt  seien, 
zu  Einem  Stamm  an,  und  führte  von  beiden  Nameu  den  der 
Alamannen  auf  den  Gebrauch  der  römisch  redenden,  den  der 
Sueven  auf  die  Gewöhnung  der  germanisch  redenden  Nachbarn 
zurück.  Terra,  quam  nos  Alamanni  vel  Suevi  incolimus.  . . . 
Quia  mixti  Alamannis  Suevi  partem  Germaniae  ultra  Danubium, 
partem  Raetiae  inter  Alpes  et  Histrum,  partemque  Galliae 
circa  Ararim  obsederunt,  antiquorum  vocabulorum  veritate  servata, 
ab  incolis  nomen  patriae  derivemus  et  Alamanniam  vel  Sueviam 
nominemus.  Nam  eorum  sint  duo  vocabula,  unarn  gentem  signi- 
ficantia;  priori  nomine  nos  appellant  circumpositae  gentes,  quae 
latinuin  habent  sermonem,  sequenti  usus  nos  nuncupat  barba- 
rorum (Prolog  zur  vita  S.  Galli,  M.  G.  SS.  II,  2—3). 

Der  Rückgang  der  Namensgebiete. 

Seit  der  Steigerung  des  suevischen  oder  schwäbischen  Namens 
in  der  eben  gezeichneten  zweiten  und  dritten  Periode  kehrte 
derselbe  allmälig  zu  seiner  ursprünglichen  Bedeutung  zurück  und 
auch  für  den  alamannischen  Namen  trat  der  Niedergang  ein. 

Von  dem  Herzogthum  Alamannien  oder  Suevien  wurde 
schon  im  7.  Jahrhundert  das  Herzogthum  im  Eisass  abgezweigt, 


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und  jedenfalls  seitdem  verschwanden  hier  beide  Namen.  Vom 
12.  Jahrhundert  ist  urkundlich  nachgewiesen,  dass  der  Sueven- 
name  nur  im  Osten  des  Schwarzwaldes  verbreitet  war  (S.  31). 
Im  Jahr  1488  schlossen  Fürsten,  Ritter  und  Städte  Südwest- 
deutschlands unter  kaiserlichem  Schutz  zu  Esslingen  den  „schwä- 
bischen Buud“  zur  Aufrechterhaltung  des  Landfriedens.  Die 
Schweizer  verweigerten  den  Beitritt,  und  es  ging  aus  den  Streitig- 
keiten beider  Theile  der  „Schwabenkrieg“  hervor,  dessen  für 
die  Schweizer  günstiger  Ausgang  in  dem  Frieden  zu  Basel  1499 
thatsächlich  die  Unabhängigkeit  der  Schweiz  vom  Reich  herbei- 
führte. Damit  schied  aus  ihr  auch  der  Name  Schwaben. 

Um  dieselbe  Zeit,  1495  und  1512  erfolgte  zur  Aufrecht- 
erhaltung der  Rechtsordnung  die  Einteilung  des  Reiches  in  4, 
dann  in  10  Kreise.  Unter  ihnen  war  der  „schwäbische  Kreis“, 
der  abgesehen  von  Enclavtn  Alamannien  bis  an  den  rechten 
Rhein  umfasste,  dann  bis  zu  seiner  Auflösung  (1802  bis  1806) 
den  Namen  Schwaben  an  ihn  knüpfte  und  ihn  somit  auch  staats- 
rechtlich und  dauernd  der  Schweiz  entzog.  Im  Verlauf  dieser 
Zeit  war  auch  der  Name  der  Alamannen  im  Volksbewusstsein, 
wie  Baumann  sagt,  „im  Grossen  und  Ganzen  verschollen“. 

Wie  dann  im  13.  — 15.  Jahrhundert  die  Entwicklung  der 
Sprache  zur  „schwäbischen“  Mundart  wiederum  das  Gebiet  des 
alten  Sueviens  zu  Tage  treten  Hess,  wie  sich  der  Ausdruck 
Schwaben  auf  dasselbe  zurückzog.  und  wie  im  Anfang  unseres 
Jahrhunderts  der  fast  verklungene  Name  der  Alamannen  neben 
dem  der  Schwaben  wieder  zum  Leben  gerufen  wurde,  soll  im 
Abschnitt  11  dargestellt  werden. 


10.  Die  alainatniisehen  Orte  auf  Ingen  und  fränkischen 

auf  heim. 

Ortsnamenendungen. 

Auf  die  Wanderungen  und  Ausiedlungen  der  Alamannen 
und  Franken  werfen  die  Ortsnamenendungen  bemerkenswertke 
Schlaglichter. 

Arnold  erklärt  für  alamannisch  die  Endungen  ingen,  weiler, 
hofen,  ach,  brunn,  beuren,  Stätten,  wang,  für  fränkisch  heim,  bacli, 


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2f>0 


dorf,  hausen,  scheid,  von  denen  als  alamannische  ingen  und  als 
fränkische  heim  bis  auf  Schiber  und  Witte  allgemeine  Anerkennung 
gefunden  haben.  Sie  finden  sich  in  Massen  an  beiden  Seiten  des 
Rheins,  ingen  auch  insbesondere  in  der  deutschen  Schweiz,  während 
heim  hier  nur  ganz  vereinzelt  vorkommt,  wohl  ein  Beweis,  dass  die 
Franken  nicht  in  die  letztere  vorgedrungen  sind.  Die  hier  ver- 
breiteten anderen  Endungen  dürften  daher  auch  alamannische  sein, 
eine  Feststellung,  die  auch  für  die  gleichen  Endungen  in  Deutsch- 
land von  Erheblichkeit  sein  würde.  Eine  bezügliche  Unter- 
suchung steht  aber  noch  aus. 

Die  Endungen  ingen  und  heim  sind,  abgesehen  von  Arnold, 
von  Lamprecht  für  die  Moselgegenden,  von  Bohnenberger  für 
das  schwäbische  Albgebiet,  und  von  Riese  für  ihre  gesanunte 
Ausdehnung  (von  der  Schweiz  jedoch  nur  für  die  Umgebung 
des  Rheins  und  des  Bodensees)  untersucht.  Letzterer  stellt 
darüber  eine  Karte  her,  die  einzusehen  mir  vergönnt  war  und 
welche  in  verkleinertem  Massstab,  aber  noch  nicht  abgeschlossenem 
Zustand  sich  in  den  nassauischen  Annalen  Bd.  29  für  1897, 
S.  48  befindet.  An  sie  knüpft  das  Weitere  an. 

Die  alamannischen  Orte  auf  ingen. 

Patronymisclien  Ursprungs  erscheinen  die  Ortsnamen  auf 
ingen  in  grossen  compakten  Massen  im  Stammland  und  bei  den 
über  die  bisherigen  Grenzen  sich  ausdehnenden  Alamannen  ver- 
breitet. 

Im  Stammland  zeigt  sich  zunächst,  dass  abgesehen  vom 
Breisgau,  (mit  ganz  geringer  Ausnahme)  die  Rheinebene,  der 
Schwarzwald  und  der  Odenwald  von  Namen  auf  ingen  frei  sind. 
Aber  Eine  dichte  Masse  füllt  das  Gebiet  der  Lenzer  und  Sueven 
aus,  den  Rhein  vom  Ausfluss  aus  dem  Bodensee  bis  zum  Alb- 
bach  im  Süden,  den  östlichen  Fuss  des  Schwarzwalds  im  Westen, 
die  Donau  im  Südosten,  die  Alb  und  den  obergermanischen 
Limes  im  Osten  als  Grenze,  während  sie  im  Norden  mit  der 
alamannisch-fränkischen  Grenze  von  490  abschneidet.  Es  sind 
an  400  Namen,  im  Allgemeinen  gleichmässig  vertheilt  und  nur 
auf  der  Höhe  der  Alb  gehäufter  (die  Zahlen  sind  überall 
Minimalziffern). 

Von  den  Grenzen  ist  die  des  Schwarzwaldes  näher  ins 
Auge  zu  fassen.  Die  Natur  machte  ihn  zur  Grenze  von  Suevien, 


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als  dessen  äusserste  Orte  nach  S.  31  Villingen,  Niedereschach, 
Stetteu,  Rünilinsdorf  ermittelt  sind,  und  ebenso  zur  Grenze  des 
Ansiedlungsgebiets  der  Orte  auf  ingen.  Im  Süden  dringt  am 
meisten  Löffingen.  Bräunlingen,  Wolterdingen  in  den  Wald  vor. 
Im  Uebrigen  wird  die  Brigach  und  Esclmch,  der  Heimbach,  die 
Steinach  und  der  Glattbach  nicht  überschritten.  Die  äussersten 
Ort«  sind,  mit  den  Suevenorten  sich  deckend,  Villingen,  Flötz- 
lingen,  Dunningen,  Waldmössingeu  und  dann  weiter  Ober-, 
Vnter-Ifflingen,  Böffingen,  Dettlingen,  Schietingen,  Gundringen, 
Effringen  (nur  Göttelfingen  weiter  westlich).  Auch  sie  wird 
man  als  suevische  Grenzorte  ansprechen  dürfen. 

Dem  Massencharakter  gegenüber  tragen  die  Namen  der 
Rheinebene  im  Breisgau  den  des  Landstrichs  oder  der  Gruppe. 
Zusammenhängend  mit  der  grossen  Masse  zieht  sich  am  Rhein 
vom  Albbach  ab  bis  zur  untern  rechten  Wiese  ein  Strich  von 
11  Namen  und  es  folgen  dann,  mehr  oder  weniger  zusammen- 
gedrängt, Gruppen  von  18  Namen  in  der  Beuge  des  Rheins, 
Hasel  gegenüber,  von  5 Orten  um  Müllheim  und  von  24  Orten, 
wo  die  Rheinebene  sich  bei  Freiburg  verbreitert.  Und  damit 
ist  das  nördliche  Ende  des  Breisgaus  erreicht.  Alles  wohl  ein 
Beweis,  dass  die  Ebene  des  Breisgau  von  den  Gauen  der 
Lenzer  aus  in  verschiedenen  Zeitfolgen  besiedelt  worden. 

Im  Norden,  wo  die  suevischen  Sitze  an  die  Grenze  Ton 
496  stossen,  schliesst  sich,  nur  durch  eine  schmale  Zunge  ver- 
bunden, auf  fränkischer  Seite  links  vom  Neckar,  den  Stromberg 
und  Heuchelberg  im  Süden,  Westen  und  Norden  umkreisend, 
eine  Gruppe  von  42  Orten  an. 

Dann  aber  tritt  eine  grosse  Lücke  ein,  die  abgesehn  von 
durchaus  vereinzelten  Beispielen  in  dem  gesammten  Main-, 
Eulda-  und  Werragebiet,  einem  zahlreichen  Vorkommen  der 
Eudung  ingen  erst  wieder  an  der  Lahn  Platz  macht. 

Im  Lahnthal  bis  Wetzlar  aufwärts  und  an  der  Dill  befinden 
sich  12  Orte,  dichter  gedrängt  an  der  mittleren  Stufe  des 
'Vesterwaldes  25,  und  schon  über  alamannisches  Herrschafts- 
gebiet hinaus  an  der  unteren  Nister  und  Sieg  17  Orte. 

Die  Orte  auf  ingen  in  A ’eualamannien  deuten  auf  ala- 
tnannische  Wanderungen  und  Siedlungen  des  5.  und  6.  Jahr- 
hunderts, sowie  auf  Namensfortpflanzuugen  in  späterer  Zeit. 


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Die  Lenzer,  die  schon  die  Rheinebene  des  Breisgau  occupirt 
hatten,  wandelten  sammt  anderen  Alamannen  gen  Süden  in  die 
Schweiz,  wo  zahlreiche  Orte  auf  ingen,  igen,  ikon,  iken  von 
ihnen  Zeugniss  ablegen.  Lenzer  waren  es  vor  Allen,  welche, 
den  Hegau  im  Osten  überschreitend,  die  Gelände  des  Zeller-, 
Ueberlinger-  und  Obersees  bis  zum  Schüssen  mit  40  Orten  auf 
ingen  übersäeten,  in  der  Schweiz  wie  hier  am  Bodensee  in 
neuen  Huntaren  oder  vielfachen  Orten  zugleich  ihre  Lenzer- 
namen der  Nachwelt  übermachend.  Dieses  Volk,  von  dem  die 
Geschichtsschreibung  nur  einige  Raubzüge  und  Kämpfe  gegen 
die  Kaiser  Constantius  und  Gratian,  unter  denen  allerdings 
die  Führung  eines  grossen  alamannischen  Krieges,  aufbewahrt 
hat  (S.  92—95,  170 — 173),  trug  sich  selbst  in  die  Bücher  der 
Siedlungsgeschichte  ein,  und  Lenzer  vor  Allen  waren  die  Coloni- 
satoren  der  deutschen  Schweiz  und  der  südlichen  Hälfte  von  Baden. 

Ein  weiteres  Gebiet  der  Besiedlung  ist  ein  Strich  von 
etwa  10  Kilometer  Breite  der  sich  südlich  der  Donau  von  der 
Grenze  der  lenzer  Gaue  etwa  bei  Leibertingen  bis  Donauwörth 
hinzieht,  und  sich  Iller-  und  Lech-  aufwärts  bis  Memmingen 
und  Sehwabmünchen  fortsetzt,  74  Namen,  ein  Gebiet,  das  vor- 
wiegend auf  die  über  die  Donau  kommenden  Sueven  zurück- 
zuführen sein  wird.  Während  der  Suevennamc  sich  noch  weiter 
östlich  findet  (S.  242,  243),  scheint  hier  die  Endung  ingen  unter  der 
herrschenden  bairischen  Endung  ing  sich  verloren  zu  haben. 

Im  Osten  finden  sich,  voraussichtlich  vorwiegend  suevischer 
Einwanderung,  der  Riesgau  mit  80,  und  die  Mittelläufe  des 
Kocher  und  der  Jagst  mit  20  Namen. 

Grösser  als  das  neualamannisclie  Namensgebiet  in  Deutsch- 
land rechts  des  Rheins  ist  das  überrheinische.  Hier  zieht  sich 
ein  grosser  und  dichter  Namenseomplex  an  beiden  Seiten  der 
Mosel  von  Metz  bis  Trier  hin,  der  im  Norden  das  Sauerthal, 
im  Süden  das  ganze  Saarthal  umfasst,  und  an  der  sich  im 
Westen  zahlreiche  vereinzelte  Namen  schliessen.  Frei  von  ingen 
sind  dagegen  die  Rheinlande  im  Osten  des  Complexes,  Rhein- 
hessen, die  bairische  Pfalz  und  das  Eisass. 

Die  fränkischen  Orte  auf  heim. 

Die  Orte  auf  heim  an  beiden  Seiten  des  Rheins  kommen 
nicht  in  so  grossen  zusammenhängenden  Massen  vor,  wie  die 


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auf  ingen,  sondern  gehn  in  grösseren  oder  kleineren  Gruppen 
von  der  unteren  Maas  und  dem  unteren  linken  Rhein  aus, 
dringen  bis  an  die  Mosel  heran  und  schliesscn  sich  an  der  oberen 
Saar  in  zwei  kleineren  Haufen  der  grossen  Masse  von  ingen 
an.  Daun  folgt  eine  grosse  Gruppe,  die  sich  von  Bingen  aus 
die  untere  Nahe  aufwärts  zieht,  Rheinhessen  erfüllt,  sich  in 
kleinere  Gnippen  durch  die  Pfalz  nach  dem  Eisass  hinzieht, 
und  hier  in  schmäleren  und  breiteren  zusammenhängenden 
Strichen  im  Wesentlichen  die  Rheinebene  einnimmt. 

An  der  rechten  Rheinseite  sind  es  grössere  oder  kleinere 
Gruppen  oder  Striche,  welche  sich,  ohne  irgendwo  zu  einem 
umfangreicheren  Complex  zusammenzutreteu,  über  ganz  Ala- 
mannien  — ohne  die  Schweiz  — ausdehnen.  Insbesondere  finden 
sich  im  Anschluss  an  den  rheinhessischen  Complex  oder  in  zu- 
satnmenhaugslosen  Gruppen  Orte  auf  heim  in  der  ganzen  Aus- 
dehnung der  Rheinebene. 


Ergehn  isse. 

Wie  sind  nun  einerseits  die  alemannischen  massenhaften 
Orte  auf  ingen  und  die  Lücken,  die  sich  in  den  beiderseitigen 
Rheinebenen  und  im  Maingebiet  u.  s.  w.  befinden,  zu  erklären, 
andererseits  das  mehr  gruppenartige  Vorkommen  der  fränkischen 
Orte  auf  heim  und  welche  Folgerungen  sind  für  die  Siedlungen 
daraus  zu  ziehn? 

Die  Massen  der  ingen  im  Stammland  um  Donau  und  Neckar 
und  um  den  Westerwald  lassen  die  Endung  als  die  eigenthiim- 
liehe  der  Alamannen  erkennen  und  sie  auf  die  Zeit  der  ersten 
Ansiedlungsperiode  zurückführen.  Die  zweite  und  dritte  Periode 
führten  die  Namensendung  im  Westen,  Süden  und  Osten  weit 
über  die  alten  Grenzen  hinaus.  Selbstverständlich  pflanzten 
sich  von  den  ursprünglichen  Ansiedlungscentren  aus  die  Namen 
auch  noch  in  späterer  Zeit  fort.  Wenn  auch  die  Hauptmasse 
auf  die  Gebiete  der  Lenzer  und  Sueven  fällt,  so  zeigt  doch  der 
Westerwald  und  in  der  zweiten  Periode  die  Moselgegend,  dass 
es  die  volkstümliche  Ortsendung  nicht  dieser  Volkstheile,  sondern 
der  Alamannen  überhaupt  war.  Es  muss  durch  gemeinsames 
Geschick  auf  der  Wanderung  schon  eine  Annäherung  oder  gar 
ein  Zusammenschluss  der  verschiedenen  Volkstheile  zu  „Ala- 


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mannen“  stattgefunden  haben,  als  mit  der  ersten  Ansiedlung 
den  Orten  das  Gepräge  der  gemeinsamen  Nameusendung  aul- 
gedrückt wurde. 

Bemerkenswerth  ist  zunächst,  dass  im  Stammland  der  ge- 
sammten  rechten  Rheiuebene  mit  Ausnahme  des  Breisgau  die 
Endung  ingen  fehlt,  und  man  könnte  dies  im  Gegensatz  zu  dem 
gleichfalls  ingen-freien  Maingebiet  auf  die  Annahme  zurückführeu, 
dass  dort  die  schon  in  römischer  Zeit  angesiedelten  Völker- 
schaften geblieben  seien,  und  dass  eine  Aneignung  der  ala- 
maunischen  Endung  nicht  erfolgt  wäre.  Zu  den  S.  5 und  32 
genannten  könnten  hier  noch  die  Neckarsueven  gezählt  werden. 
Nach  den  Worten  einer  Inschrift  „Sueba  Nicreti“  hat  Zange- 
meister die  Namen  der  „civitas  Ulpia  S.  N.“  zur  civitas  Ulpia 
Sueborum  Nicretum  ergänzt,  der  von  Trajan  geschaffenen  civitas 
um  Lopodunum,  dem  späteren  Loblengau  (S.  72.  127,  151). 
Wahrscheinlich  sind  diese  Sueven  Ueberbleibscl  der  Sueven 
vom  Heer  des  Ariovist  oder  des  Nachschubs  der  hundert 
Suevengaue  vom  Jahr  58  v.  Chr.  Caesar  Gail.  I,  37  und  51. 
Haben  sie  sich,  wie  anzunehmen,  bis  zur  Alamauuenzeit  er- 
halten, so  werden  sie  sich  am  Neckar  mit  den  Sueven  des 
3.  Jahrhunderts  nachbarlich  berührt  haben,  und  wie  das  badische 
Oberland  vorwiegend  den  Lenzem,  so  wäre  die  Neckarumgebung 
des  badischen  Unterlandes  zumal  den  Sueven  zuznschreiben. 

Wie  dem  auch  sei,  so  wrerden  die  Orte  auf  ingen  in  der 
rechten  Rheinebene,  wenn  sie  hier  überhaupt  verbreitet  waren, 
und  in  dem  Main-,  Fulda-  und  Werragebiet  mit  dem  Eindringen 
der  Franken  verschwunden  sein. 

Es  ist  schon  hervorgehoben,  dass  die  grosse  Masse  aut 
ingen  um  die  Donau  und  den  Neckar  im  Norden  (abgeselm 
von  der  grossen  Gruppe  um  den  Heuchel-  und  Stromberg)  mit 
der  Grenze  von  49ti  abschneidet.  In  die  nördliche  Hälfte  des 
Alamannenlandes  drangen  die  Franken,  sowfeit  es  nicht  schon 
geschehen  war,  ein  und  vor  ihnen  verschwanden  die  ala- 
mannischen  Ansiedlungen  oder  doch  ihre  Namen,  w'elche 
fränkischen  Platz  machten.  Aber  die  Franken  verschmähten 
den  weniger  ergiebigen  Boden  und  nahmen  für  sich  das  Beste. 
So  sind  die  gebliebenen  Alamanuennamen  am  Westerwald,  so 
die  verschwundenen  am  Rhein  und  Main  und  weiter  zu  erklären. 


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Am  Huken  Rhein  blieben  die  alamannischen  Ansiedlungen 
und  Ortsnamen  um  die  Mosel  bestehen;  vielleicht,  weil  hier 
bereits  vor  496  eine  Mischung  mit  Franken  stattgefunden  hatte, 
und  die  Ansiedlungen  und  deren  geläufige  Namen  durch  die 
nunmehr  herrschenden  Franken  und  deren  neue  Genossen 
aufrecht  erhalten  wurden.  Ob  neben  ihren  Dörfern  und 
Namen  auch  die  Alamannen  selbst  geblieben  sind,  muss 
dahingestellt  werden.  Dagegen  drang  das  fränkische  heim  bis 
an  die  Grenze  von  496  vor  und  nahm  weiter  im  alamannischen 
Süden  das  Eisass  eiu,  während  die  alamannischc  Sprache  sich 
erhielt,  so  dass  also  auch  die  Alamannen  selbst  geblieben  sind; 
eine  Erscheinung,  die  nach  meinem  Dafürhalten  noch  der  ge- 
nügenden Erklärung  harrt.  (Siehe  über  die  neuere  Theorie,  nach 
der  die  Endungen  iugen  und  heim  nicht  den  Stämmen  der 
Alamannen  und  Franken,  sondern  den  verschiedenen  Zeiten  der 
Ortsgründungen  angehören;  Schiber,  Die  fränkischen  und  ala- 
maunischen  Siedlungen  in  Gallien,  insbesondere  in  Eisass  und 
Lothringen,  1894,  und  Witte,  Ueber  das  deutsche  Sprachgebiet 
in  Lothringen,  in  Kirchhoffs  Forschungen  zur  deutschen  Landes- 
und Völkerkunde,  Band  X,  Heft  4,  1894). 


11.  Die  alamannischc  und  schwäbische  Mundart. 

Ueber  die  Entwicklung  der  Sprache  der  zur  Alamannida 
vereinigten  Völkerbestandtheile  können  nur  Vermuthungen  aus- 
gesprochen werden.  Mit  der  Bildung  des  Stammes  wird  sich 
ans  den  Sprachen  der  einzelnen  Theile  eine  gemeinsame,  die 
alamannische  Sprache  gebildet  haben,  uicht  ohne  provinzielle 
Eigenarten,  die  sich  bei  der  Ansiedlung  nach  Gauen  Vorbehalten 
oder  gebildet  haben  werden.  Insbesondere  werden  auch  Sueven 
und  Lenzer,  deren  geschichtliche  Individualität  so  vielfach  in 
den  Vordergrund  der  alamannischen  Geschichte  tritt,  und  die 
auch  seit  den  Ereignissen  von  496,  jedes  Volk  für  sich,  der 
feste  Kern  blieben,  an  den  sich  die  Flüchtlinge  des  Nordens 
anschlossen  und  mit  denen  sie  weiter  wunderten,  innerhalb  des 
grossen  alamannischen  Sprachgebiets  sprachlich  gegliedert  geblieben 
sein.  Und  ebenso  die  an  beiden  Seiten  des  Rheins  gelegenen 


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Gaue,  die  schon  durch  die  Gebirge  des  rechten  Ufers,  den 
Schwarzwald  u.  s.  w.  von  den  übrigen  isolirt  waren. 

Unterrichtet  sind  wir  aber  über  eine  sprachliche  Beweguug 
des  13. — 15.  Jahrhunderts,  welche  Baiern,  Franken  und 
Thüringer  ergriff  und  sich  auf  einen  Theil  von  Alamaunien 
übertrug.  Das  Charakteristische  dieser  Bewegung,  soweit  sie 
hier  interessirt,  besteht  darin,  dass  sie  die  Laute  i,  u,  iu  zu  ei 
und  ou  entwickelte.  Es  entstand  neben  der  alten  Mundart  eine 
neue  und  man  nannte  die  neue  die  suevische  oder  schwäbische, 
die  alte  seit  1803  die  alauiannische  Mundart,  nachdem 
damals  Hebel  seine  „alamannischen  Gedichte“  in  letzterer 
geschrieben  hatte.  Die  Ausdrucksweise  erinnert  an  die  ältere 
Namensform,  welche  Alamannen  und  Sueven  in  Gegensatz 
brachte  (S.  246). 

Man  suchte  nun  zunächst  die  geographische  Grenze  der 
neuen  Mundart  festzustellen,  und  sie  wurde  von  Birlinger,  dann 
von  Baumann,  Bremer  und  Piper  umschrieben.  Alle  stimmten 
hinsichtlich  des  Nordostens  wesentlich  überein,  während  im 
Südwesten  Birlinger  ein  engeres  Gebiet  und  jeder  der  drei 
andern  ein  weiteres,  aber  von  den  übrigen  abweichendes  Ge- 
biet fand. 

Fischer  wies  dann  1895  nach,  dass  beide  Mundarten  durch 
eine  ganze  Reihe  von  sprachlichen  Merkmalen  unterschieden 
seien  und  dass  jedes  sein  besonderes  Verbreitungsgebiet  habe. 
Er  bezeichnete  die  Baumaunsche  Grenze  als  „nur  eine  von 
mehreren  mögliche,“  kam  zu  dem  Schluss,  „dass  von  einer  Ein- 
heit des  schwäbischen  Sprachgebiets  nimmermehr  die  Rede  sein 
könne“  und  sprach  generell  aus,  „dass  ein  Causalzusammeuhang 
zwischen  Abstammung  und  Sprache  aus  der  Betrachtung  der 
Sprachgeschichte  und  Sprachgeographie  nicht  nachzuweisen  sei.“ 

Bohnenberger  nahm  die  Untersuchung  1897  wieder  auf, 
indem  er  das  sporadische  Vorkommen  derselben  Sprach- 
erscheinung  ausschloss,  den  „geschlossenen  Lautbestand“  zu 
Grunde  legte  und  die  Grenze,  von  ei  und  ou  gegen  i und  u 
nachwies,  „die  schon  deshalb  besonderes  Interesse  beanspruchen 
dürfe,  weil  sie  die  beiden  Haupttheile  der  (schwäbisch-ala- 
mannischen)  Gesammtmundart  von  einander  trenne.“  Er  fand 
zwei  Grenzlinien,  eine  nordöstliche  von  i,  u gegen  ei,  ou  vor  h, 
r und  eine  südwestliche  i,  u vor  folgenden  Consonanten,  die 


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nicht  h,  r,  t oder  Nasal  sind,  Grenzlinien,  die  weiter  im  Süden 
der  Donau  Zusammentreffen.  Beide  sind  in  die  Karte  einge- 
tragen. (Siehe  die  genaueren  Linien  in  der  zweiten  Anlage 
am  Schluss  des  Kapitels).  Die  erstere  trifft  im  Wesentlichen 
mit  der  Baumannschen  Linie  überein. 

Es  möge  einem  Laien  gestattet  sein,  neben  diese  sprach- 
wissenschaftlichen Ergebnisse  einige  geographische  und  geschicht- 
liche Thatsachen  zu  stellen,  welche  im  Lauf  dieser  Unter- 
suchungen zu  Tage  getreten  sind. 

Abgesehen  von  Baumann,  welcher  Schwaben  und  Ala- 
mannen für  ein  und  dasselbe  erklärt,  geht  keiner  der  genannten 
Forscher  von  einem  geschichtlichen,  geographischen  Begriff 
Sueven  oder  Schwaben  aus.  Bilden  aber,  wie  ich  nachzuweisen 
gesucht  habe,  die  Schwaben  nur  einen  Theil  der  Alamannen, 
so  entsteht  sofort  die  Frage,  wie  verhält  sich  die  sprachliche 
Neuerung,  welche  sich  an  den  Namen  der  Schwaben  knüpft, 
nach  Gebiet  und  Trägern  zu  den  Sueven  der  alten  Zeit? 

Im  Anschluss  an  die  sprachliche  Bewegung  der  Nachbar- 
slämme,  hat  sie  zunächst  neualamannisches  Gebiet  im  Osten 
(Augsburg),  und  dann  die  suevischen  Gaue  des  Stammlandes 
ergriffen,  im  Norden  der  Donau  die  Alb  mit  dem  Alb-  und 
AVestergau  und  die  Neckarebene  weiter  mit  dem  Nagold-  und 
obern  Neckargau  bis  an  die  Stammesgrenze  von  496  und  noch 
darüber  hinaus. 

Was  insbesondere  den  AVestergau  betrifft,  so  fand  auf  der 
Höhe  der  westlichen  Alb,  wo  sie  sich  zum  oberen  Neckarthal 
hinabsenkt,  der  Lautwandel  ei,  ou  vor  h,  r sein  Ende,  während 
der  vor  den  übrigen  Cousonanten  bis  zur  alten  Suevengreuze, 
dem  östlichen  Fuss  des  Schwarzwaldes  (S.  31  und  251)  vor- 
drang. 

Weiter  umfasste  die  Bewegung  alle  die  Gebiete,  die  in 
Neualamannien  als  suevisch  zu  betrachten  sind,  an  der  linken 
Donau  den  Riesgau,  an  der  rechten  von  Tuttlingen  oder  Frie- 
dingen ab  nicht  nur  den  Strich  der  Orte  auf  ingen  von  10  Kilo- 
meter Breite,  sondern  darüber  hinaus  in  dem  Flachland  das 
Gelände  (das  allerdings  nicht  als  suevisch  nachzuweisen)  bis  an 
den  südlichen  Alpgau,  also  etwa  den  Donau-,  Iller-  und  Augstgau. 
Die  Grenze  bildet  das  zum  Bodeusee  herabsinkende  Terrain: 
der  Altdorfer  AVald,  das  Gebiet  des  Schüssen  von  der  AVolfegger 

Gramer,  Oeecbicht«  der  Alamannen.  ‘ 1 


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258 


Ach  ab,  und  die  Wasserscheide  zwischen  der  Aitrach  und  der 
unteren  Argen,  so  wie  weiter  das  Gebiet  der  Allgäuer  Alpen. 

Sucht  man  im  Sinn  von  Fischer  und  Bohnenberger  nach 
„Hindernissen  des  Sprachverkehrs“,  welche  den  Fortgang  der 
sprachlichen  Bewegung  hemmten,  so  waren  es  dort  das  obere 
Neckarthal,  hier  die  Umgebung  des  Bodensees,  welche  eine 
selbstständige  Cultur-  und  Interessensphäre  darstellten,  an  deren 
Grenzen  wie  weiter  an  dem  Schwarzwald  und  den  Allgäuer 
Alpen  benachbarte  sprachliche  Einflüsse  ein  natürliches  Ende 
fanden.  Damit  sind  wir  an  den  Grenzen  des  Sueventhums 
angekommen. 

Denn  alle  Gebiete,  welche  in  Alamannien  früher  nicht 
suevisch  waren,  machten  die  Bewegung  nicht  mit,  sondern  be- 
hielten die  alten  Mundart  bei,  das  Eisass,  die  Rheinebene,  die 
Schweiz  und  die  unmittelbar  an  die  Sueven  stossenden  Lenzer. 
Die  Lenzer  insbesondere  blieben  ihr  treu  in  der  Heimath,  dem 
Klettgau  und  Hegau,  und  in  ihren  jüngeren  Ansiedlungen  am 
nördlichen  Bodensee,  dem  Gebiet  der  früheren  Huntaren  Unter- 
seegau und  Linzgau,  und  das  gesammte  weiter  zum  Bodensee 
gravitirende  oder  in  den  Allgäuer  Alpen  isolirte  Gebiet  des  Alp- 
gau, für  den  man  daher  gleichfalls  westliche  Einwanderung  in 
Anspruch  nehmen  mag,  gesellte  sich  zu  ihnen  im  Haften  an 
dem  Alten. 

Wenn  hiernach  das  Gebiet  der  Spraehneuerung  thatsächlich 
mit  dem  der  Sueven  zusammenfftllt,  so  kann  dies  doch  nach 
tausend  Jahren  nicht  ein  Spiel  des  Zufalls  sein.  Nein,  denn 
in  demselben  Bereich  haben  auch  die  Sueven  sich  tausend 
Jahre  und  länger  in  den  Schwaben  erhalten;  der  Begriff  des 
Sueventhums  ist  bei  den  Schwaben  lebendig  geblieben,  wie  der 
des  alten  Baiern-  und  Frankenthums  bei  den  heutigen  Baiern 
und  Franken.  Das  geschichtliche  Bewusstsein  des  Schwaben- 
thums hat  sich  stark,  innig  und  spröde  erhalten,  während  das 
des  Lenzerthums  verschwunden  ist;  lebhafter  und  stolzer  er- 
halten, als  bei  den  Baiern  und  Franken.  Das  schwäbische 
Stammesbewusstsein  hat  sich  nicht  nur  im  Gegensatz  zu  diesen, 
sondern  auch  zu  der  alamannischen  Nachbarbevölkerung  der 
Lenzer  und  Anderer  unterscheidend  geltend  gemacht  und  hier 
den  alten  Gegensatz,  wie  zwischen  Sueven  und  Nichtsueven,  so 


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259 


zwischen  Schwaben  und  Nichtschwaben  aufrecht  erhalten,  wie 
dies  vielfach  noch  zu  erkennen  ist. 

Wir  kennen  das  Gebiet  des  alten  Sueviens  und  die  Gebiete 
der  die  beiden  Mundarten  trennenden  Sprachmerkmale.  Fällt 
mit  dem  suevisch- schwäbischen  in  der  That  der  Bereich  des 
herrschenden  schwäbischen  Stammesbewusstseins  zusammen? 
Am  mittleren  Neckar,  auf  der  Alb,  im  nördlichen  Oberschwaben 
nennt  sich  Jeder  mit  Stolz  einen  Schwaben,  und  noch  wäre  es 
Zeit,  die  genaueren  Grenzen,  bis  an  welche  schwäbisches  Be- 
wusstsein reicht,  festznstellen,  ehe  in  dem  steigenden  Völker- 
verkehr das  Erbe  der  Vorfahren  verschwindet.  Gehört  doch  das 
Gebiet  des  Stammesbewusstseins  zur  Geschichte  von  Schwaben. 

Aber  schon  heute,  so  will  mich  bedunken,  darf  man  sagen, 
dass  neben  Baiern  und  Franken  die  Suevo- Schwaben  die  Träger 
der  Sprachneuerung  im  suevisch-schwäbischen  Gebiet  geworden 
sind,  und  dass  die  Bewegung  speciell  am  Schwarzwald,  in  der 
Bodenseenähe  und  an  den  Allgäuer  Alpen  in  Wahrheit  ein  Ende 
desshalb  gefunden,  weil  hier  das  Schwabenthum  aufhörte,  und 
ihm  nichtschwäbische  Stammtheile  sich  entgegenstellten.  Hic 
Suebiae  finis. 


12.  Bas  Gesa m int volk  der  Sueven  und  ihre  Einzelstimme. 

Nachdem  die  Geschichte  der  alamanniseken  Sueven  dar- 
gestellt, sei  auch  der  verwandten  Stämme  gedacht,  welche  den 
Suevennamen  auf  ihren  Wanderungen  bewahrt  haben. 

Die  Sueben,  später  Sueven,  auch  Suaven  sind  die  Völker 
der  schweifenden  Lebensart  (swiban  - schweifen);  althochdeutsch 
heissen  sie  Suapa,  mittelhochdeutsch  Swabe,  nach  der  Wesso- 
brunner  Handschrift  auch  Ziuuari  (Ziuvari),  die  Verehrer  des 
Ziu,  des  Gottes  des  Kriegs. 

Tacitus  sagt  am  Schluss  des  1.  Jahrhunderts  nach  Chr.: 
Die  Sueben  sind  nicht  Ein  Stamm  wie  die  Chatten  oder  Tenkterer. 
Sie  haben  den  grössten  Theil  von  Germanien  inne,  zerfallen  in 
besondere  Stämme  mit  eignen  Namen,  obgleich  sie  insgesammt 
Sueben  genannt  werden.  (Sueborum)  non  una  ut  Chattoruin 

17* 


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260 


Tenctorumve  geus;  majorem  cuim  Germaniae  partem  obtinent, 
propriis  adliuc  nationibus  nominibnsque  discreti,  quamquam  in 
commune  Suebi  vocentur.  Germ.  38.  Cäsar  (im  1.  Jahrhundert 
vor  Chr.)  kannte  die  Sueben,  die  westlich  der  Elbe  bis  au  den 
Wald  Bacenis  (den  Harz)  wohnten  (später  Chatten  und  Hermun- 
duren), das  Volk  der  „hundert  Gaue“  (S.  60);  hier  waren  die 
Sitze  der  Sueben  des  Ariovist,  von  denen  die  Suebi  Nicretes 
wahrscheinlich  abgezweigt  sind  (S.  254).  Ptolemäus  (im  2.  Jahr- 
hundert nach  Chr.)  unterschied  i’ouijjtot  Aa^Jkpoot,  !oof,ßoi 
WftsiXoi  und  -wr'ju  l’siivovej,  von  denen  nach  seiner  Völker- 
stellung die  ersten  zwischen  Rhein  und  Elbe,  die  zweiten  am 
Mittellauf  der  Elbe,  die  letzten  von  der  Elbe  bis  an  den  Sueben- 
fluss, die  Oder,  pi/pi  t«jü  Äuijßoo  wohnten. 

Nach  Tacitus  hatten  die  Sueben  Skandinavien  und  den 
ganzen  Osten  von  Deutschland  inne.  Im  Westen  ihres  Gebiets 
nennt  er  die  bekannteren  Stämme,  an  der  linken  Elbe  die  Lango- 
barden, Hermunduren,  Markomannen,  zwischen  der  Elbe  und 
Oder  in  der  Havelgegend  das  grosse  Volk  der  Senmonen,  das 
jis^a  süv<>;  des  Strabo,  das  Land  der  „hundert  Gaue“  des  Tacitus 
(S.  61).  Sie  waren  der  Mittelpunkt  der  Sueben  (S.  9)  und  in 
„ihrem  heiligen  Hain,  sagt  Zeuss  erneuerten  die  Suebenstämme 
zu  bestimmten  Zeiten  in  grauser  Feier  ihre  Verbindung“. 

Die  Markomannen  zogen  im  Jahr  9 vor  Chr.  vom  Main 
nach  Böhmen,  von  wo  aus  ihr  König  Marobod  im  Norden  der 
Donau,  um  Elbe  und  Oder  ein  Suebenreich  bildete,  das  unter 
Anderen  Semnonen,  Langobarden,  Lugier  umfasste.  Im  Jahr  17 
nach  Chr.  von  Armin  geschlagen,  zog  er  sich  zu  den  Marko- 
mannen zurück,  wurde  hier  von  dem  Gotonen  Catualda  vertrieben, 
und  dann  wurden  die  Gefolgleute  Beider  (barbari  utrumque 
comitati;  Suebi)  im  Jahr  21  von  den  Römern  zwischen  der 
March  und  Waag  angesiedelt  und  unter  die  Herrschaft  des 
Quaden  Vannius  als  König  gestellt,  — die  sogenannten  vanni- 
ani sehen  Sueben.  Zeus  identifleirt  sie  mit  den  Quaden.  Dies 
Suebenreich  erhielt  sich  unter  den  Schwestersöhnen  des  Vannius, 
dem  Vangio  und  Sido,  als  der  Oheim  nach  dreissig  Jahren  ver- 
trieben und  mit  seinem  Anhang,  secuti  elientes,  in  Pannonien 
angesiedelt  wurde.  Tac.  Ann.  II  45,  63;  XII  29,  30. 

Der  Name  der  Semnonen,  zur  Zeit  des  Markomannenkrieges 
(166—180)  zuletzt  genannt,  verschwindet  seitdem  aus  der  Ge- 


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261 


schichte  nnd  es  liegt  nahe,  sie  in  den  Sueven  unbekannter  Herkunft, 
welche  später  in  grossen  Massen  auftraten,  zu  vermnthen. 

Solche  waren  zunächst  die  Sueven,  welche  mit  den  Alamanntn 
213  am  Main  erschienen.  Unter  ihnen  ist  auch  im  3.  Jahr- 
hundert der  Semnonenname  in  dem  König  Semnon  des  Unter- 
lahngans erhalten,  allerdings  in  dem  nichtsuevischen  Alamannen- 
gebiet (S.  18  und  7 4).  Baumann  hält  sogar  sämmtliche  Alamannen 
für  Sueven  (Siehe  Kapitel  8,  Abschnitt  1). 

Massenhafte  Sueven,  wie  ihre  Geschichte  erweist,  waren 
weiter  die  Sueven,  welche  406  in  Gemeinschaft  mit  den  Alanen 
und  Vandalen  nach  Gallien,  von  da  409  nach  Hispanien  zogen 
(S.  181),  mit  den  Vandalen  Galläcien  einnahmen,  und  im  Stamm- 
königthum nach  deren  nnd  der  Alanen  Abzug  unter  erbitterten 
Kämpfen  von  wechselndem  Erfolg  mit  den  Eingesessenen  und 
mit  den  AVestgothen  einen  grossen  Theil  von  Hispanien  eroberten, 
bis  sie  585  von  diesen  unterworfen  wurden.  Gregor  von  Toure 
ist  der  einzige,  der  über  ihre  Herkunft  redet;  er  hält  sie  für 
Alamannen:  Vandalos  secuti  Suevi,  id  est  Alaraanni,  Galliciam 
adprehendunt,  2,  2,  und  bezeichnet  sie  auch  in  der  weitern 
Erzählung  als  solche.  Aber  er  ist  hierin  sehr  wenig  zuverlässig, 
denn  es  ist  kaum  glaubhaft,  dass  die  Alamannen,  die  sich  über 
Gallien  und  Rätien  ausbreiteten,  zu  gleicher  Zeit  starke  Heeres- 
körper nach  Hispanien  hätten  entsenden  können.  Zeuss  hebt 
auch  hervor,  dass  die  galläcischen  Sueven  niemals  Jnthungen 
genannt  würden,  und  dass  die  Endungen  ihrer  Königsnamen 
Rechila,  Maidras,  Audica  bewiesen,  dass  das  Volk  nicht  zum 
oberdeutschen  Zweige  der  (alamannischen  und  vannianischen) 
Sueven  gehöre.  Er  selbst  hält  sie  für  die  Semnonen. 

Es  wird  immerhin  zweifelhaft  bleiben,  ob  die  alamannischen 
oder  galläcischen  Sueven  auf  die  Semnonen  zurückzuführen  seien; 
können  sie  doch  auch  von  noch  andern  Sueven  Ostdeutschlands 
abstammen. 

Ein  weiteres  suevisches  Volk  sind,  seit  Plinius  bekannt,  die 
Warnen  (A'arini,  Verini,  AVarni,  Aöapvoi,  Guerni),  die  auch  unter 
dem  Namen  Suari,  Nordsuavi  auftraten.  Ursprünglich  im  Norden 
der  Semnonen,  woher  wohl  ihr  Name  Nordsuaven,  an  der  rechten 
Elbe  angesessen,  wurden  sie  später  an  die  linke  verpflanzt. 
Ihre  Geschicke  sind  die  typischen  der  Zeit  der  A'ölkerwanderung. 
Zunächst  treten  ihre  auswärtigen  Beziehungen  hervor.  Der 


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262 


Westgothenkönig  Theoderich  II  (453  — 466),  der  mit  seinem 
Feldherrn,  cliens,  dem  Warnen  Aiulf  oder  Agrivulf  in  Hispanien 
einen  Tlieil  der  galläcisclien  Sueven  unterworfen  hatte,  setzte 
diesen  über  sie.  Aiulf  — als  suevischer  Warne  ein  Stamui- 
ver  vandter  — verständigte  sich  mit  ihnen,  animnm  ex  Suevonim 
suasionibus  commutans,  und  fiel  von  Theoderich  ab.  Die  übrigen 
im  änssersten  Galläcien  unabhängig  gebliebenen  Sueven  hatten 
aber  den  Maidras  zum  König  gewählt  und  Aiulf  starb,  ehe  er 
zum  Königthum  gelangte,  dum  regnum  Suevorum  sperat.  Jordanes 
c.  44;  Hydatius  180,  187.  Um  die  Wende  des  Jahrhunderts 
forderte  der  grosse  Ostgothenkünig  Theoderich  neben  den  Königen 
der  Heruler  und  Thüringer  auch  den  der  Warnen  (rex  Gnar- 
norum)  zur  Absendung  einer  gemeinschaftlichen  Gesandtschaft 
an  den  kriegslustigen  Frankenkönig  Chlodwig  auf.  Cassiodor 
Variae  3,  3.  Dann  aber  fielen  die  Warnen  dessen  austrasischen 
Nachfolgern  anheim.  Theodebert  unterwarf  sie,  die  „Nordsuaven“, 
Norsavorum  (Norsuavorum,  Nordsuavorum)  gentis,  nach  den 
Thüringern  431,  aber  noch  453  kämpfte  ein  „Warne“  an  der 
Spitze  von  warnischen  Hülfstruppen  unter  Narses  in  Italien 
gegen  das  fränkisch-alamannische  Heer(S.  232).  Es  war  Yakkar, 
äusserst  hervorragend  und  kriegsliebend,  und  nach  seinem  Tode 
sein  Sohn  Theodebald.  Agathias  I,  21. 

Als  später  die  Sachsen  aufbrachen,  um  sich  mit  den  Lango- 
barden unter  Albuin  in  Italien  568  zu  vereinigen,  wies  der 
Frankenkönig  Sigibert  (561 — 575;  auch  sein  Vorgänger  Chlotar 
wird  genannt)  den  Warnen  die  Sitze  der  Sachsen  an,  Suavos 
et  alias  gentes  in  locis  (Saxonum)  posuerunt,  sprach  sie  aber 
diesen  wieder  zu,  als  sie  aus  Italien  zurückkehrten.  Die  Warnen 
wollten  nur  einen  Theil  herausgeben,  und  es  entstanden  nun 
erbitterte  Kämpfe,  die  nach  zwei  mörderischen  Schlachten  den 
Ueberlebenden  zur  Genüge  Raum  zum  friedlichen  Zusammen- 
leben Hessen  (um  575).  Gregor  5,  15;  Paul.  Diacon  2,  6.  Als 
die  „Warnen“  595  gegen  den  Frankenkünig  Childebert  rebellirten, 
schlug  er  sie  der  Art,  dass  nur  wenige  übrig  blieben,  ut  parunt 
ex  eis  remausisset.  Fredegar  15. 

Die  nachbarlichen  Beziehungen  zu  den  Sachsen  zeigen  sich 
in  der  Nachricht  über  einen  Zug  des  Pippin  von  748.  Er  führte 
sein  Heer  durch  Thüringen  nach  Sachsen  zu  den  Grenznachbarn, 
den  Nordsueven,  fines  Saxonum,  rpios  Nordosquavos  vocant. 


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263 


Anna],  Mettens.  Sie,  die  Suavi  Transbadani  (jenseits  der  Bode) 
hatten  jedoch  ein  anderes  Recht  als  die  Sachsen.  Wituk.  1,14. 
Andererseits  gehen  ihre  Beziehnngen  zu  den  Thüringern,  deren 
nordöstliche  Landestheile  sie  sammt  den  Angeln  bewohnten,  aus 
ihrem  Volksrecht  von  802  hervor,  welches  die  Bezeichnung  Lex 
Angliorum  et  Werinorum,  hoc  est  Thuringorum  führt. 

Das  Gebiet  der  Warnen  war  das  Werenofcld.  Zur  Zeit 
Karls  des  Grossen  wird  die  Werinesvilla  erwähnt,  das  heutige 
Wernsdorf  zwischen  Weissenfels  und  Teuchtern.  Aber  wahr- 
scheinlich wurde  dieser  Theil  ihres  Gebietes  zwischen  Saale  und 
Elster  im  9.  Jahrhundert  von  Wenden  eingenommen,  denn  schon 
im  nächsten  war  der  Name  der  Warnen  verklungen.  Dagegen 
ist  der  Name  eines  ihrer  Gaue  überliefert,  der  des  Nordschwaben- 
gaus, auch  Suevon  genannt.  Er  scheint  im  10.  und  11.  Jahr- 
hundert in  zwei  Grafschaften  zerfallen  zu  sein,  bildete  aber  im 
12.  die  Grafschaft  Aschersleben  mit  vier  Goschaften  und  Ge- 
richten Eilwardesdorf  (südlich  Groningen),  Vrevelo  (zwischen 
Halberstadt  und  Wegeleben),  Weddersleben  und  Aschersleben. 
Es  werden  sich  also  die  Sitze  der  Warnen  über  das  Gebiet  der 
Saale  von  der  Elster  bis  zur  Bode  erstreckt  haben.  Schröder 
Zeitschrift  der  Savigy Stiftung  VII,  20 ; V,  23 ; Rechtsgeschichte  244. 

Endlich  ist  noch  von  Sueven  in  Flandern  die  Rede,  über 
deren  Herkunft  nichts  zu  sagen  ist.  Vita  S.  Eligii:  Annal. 
Vedast.  ad  a.  880. 

(Das  weitere  Material  bei  Zeuss.) 


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Erste  Anlage 

zum  siebenten  Kapitel,  2,  3 und  4,  Seite  219,  222,  224. 


Die  fränl*isdi*alatnannisclieStammesgrenze  t>on496. 

lieber  die  Anordnung:  der  Grenze  ist  nur  zu  sagen,  dass 
der  Sieger  sie  zog.  Wir  kennen  auch  den  damaligen  Zustand 
der  von  ihr  getroffenen  Gegenden  nicht.  Waren  sie  schon  be- 
siedelt oder  nicht?  Mit  Bestimmtheit  wird  man  dies  nur  von 
der  fruchtbaren  Neckarebene  annehmen  können. 

Wir  können  die  Grenze  erst  aus  Nachrichten  des  8.  oder 
9.  Jahrhunderts  hersteilen.  War  sie  damals  noch  dieselbe,  wie 
496,  oder  war  sie  mittler  Weile  durch  Einwanderung  und  Be- 
siedlung von  hüben  und  drüben  verändert?  Denn  da  seit  ö36 
dev  Süden  wie  der  Norden  dem  fränkischen  Reich  angehörte,  so 
wird  die  Grenze  einer  gegenseitigen  Ansiedlung  nicht  mehr  im 
Wege  gestanden  haben. 

Verfolgt  man  sie  nach  den  Nachrichten  des  8.  und  9.  Jahr- 
hunderts, so  scheint  sie  sich  an  Gebirge  und  Flüsse  im  Westen 
(an  die  Vogesen  und  die  Gebiete  der  Moder,  der  unteren  Zinsei, 
der  oberen  Sauer  und  der  Selz  im  Eisass,  an  Schwarzwald- 
gebiete, die  untere  Murg  und  die  Oos  in  der  Mortenau)  und  im 
Osten  (an  den  Welzheimer  Wald,  die  Frankenhofer  Höhe,  den 
Hesselberg,  die  Sulzach  und  Wörnitz  im  Riesgau)  anzuschliessen, 
aber  in  der  Mitte  durchschneidet  sie,  wie  willkürlich  gezogen, 
die  Enz,  Nagold,  Würm,  Glems,  den  Neckar,  dann  den  Kocher, 
die  theils  unbesiedelteu  Limpurger  und  Ellwanger  Berge  und 
die  Jagst,  und  ihr  Zug  geht  im  Allgemeinen  von  Westsüdwest 
gegen  Ostnordost,  als  wäre  es  darauf  angekommen,  eine  compacte 
Masse  des  Alamannenlandes  von  ihm  loszutrennen.  Der  scheinbare 
Gegensatz  löst  sich,  wenn  man  in  den  einzelnen  Theilen  des 
Grenzgebiets  oder  der  Grenzlinie  das  Ergebniss  vorangeschrittener 
Ansiedlung,  mit  anderen  Worten  schon  bestehende  Gaugrenzen 
sieht.  Aber  auch  bei  ihnen  mögen  seit  496  Verschiebungen 


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vorgekommen  sein,  z.  B.  bei  dem  Nagoldgau  (S.  7fi),  dessen 
ursprüngliche  Nordhälfte  im  unteren  Nagoldthal  erst  durch 
spätere  fränkische  Einwanderung  fränkisch  geworden  sein  mag, 
wodurch  sich  auch  die  hier  tief  nach  Süden  ausladende  Grenz- 
linie erklären  würde. 

So  kennen  wir  also  nicht  die  Grenze,  wie  sie  496  lief, 
sondern  wie  sie  sich  durch  massenhaften  Abzug  der  Alamannen  und 
massenhaften  Einzug  der  Franken,  und  durch  spätere  Besitz- 
veränderungen bis  in  das  8.  und  9.  Jahrhundert  gestaltet  hatte, 
und  wie  aus  den  Gaugrenzen  zugleich  die  Stammesgrenze  und 
damit  die  Sprachgrenze  geworden  war.  Die  Gaugrenzen  und 
die  Stammesgrenze  lernen  wir  aber  aus  urkundlichen  Nach- 
richten kennen,  und  jene  sind  uns  specieller  überliefert  durch 
die  kirchlichen  Verzeichnisse  über  die  Bisthümer,  welche  sich 
seit  der  Durchführung  des  Christenthums  den  Gaugrenzen  an- 
geschlossen  hatten. 

Auf  fränkischer  Seite  stiessen  an  die  Stammesgrenze  von 
Deutsch-Lothringen  aus  der  Saar-,  Blies-,  Speyer-,  Kraicli-,  untere 
Neckar-  und  Kochergau  und  die  Bisthümer  Speyer,  Würzburg 
und  Eichstätt,  auf  alamaunischer  der  Nortgau,  die  Mortenau, 
der  Nagold-,  obere  Neckar-  und  Riesgau  und  die  Bisthümer 
Strassburg,  Constanz  und  Augsburg. 

Schon  vor  der  Niederlage  von  496  hatten  die  chattischen 
Franken  den  Mattiaker-,  den  Lahn-,  den  Buchengau,  und  auch 
vielleicht  ganz  den  obern  Rhein-  und  den  Maingau  in  Besitz 
genommen.  Dann  496  verloren  die  Alamannen  auf  dem  rechten 
Rhein  den  Lobden-,  Kraich-,  unteren  Neckar-  und  Kochergau 
und  auf  dem  linken  alle  Gaue,  die  sie  seit  fast  einem  Jahrhundert 
gegründet  (mit  Ausnahme  des  Eisass)  und  sie  alle,  Nachbarn 
der  Franken,  mögen  an  den  Schlachten  und  ihren  Folgen  Theil 
gehabt  haben,  während  es  scheint,  dass  die  südlichen  Gaue  es 
nicht  für  ein  Stammesinteresse  gehalten  haben,  sich  ihnen  gegen 
die  entfernt  wohnenden  Franken  anzuschliossen. 

Im  Einzelnen  verlief  die  Grenze  längs  folgender  alamannischcr 
Grenzorte : 

Eisass. 

Bisthum  Strassburg. 

Es  war  in  Archipresbyterate  (gleich  Landkapiteln)  getheilt, 
deren  Grenzpfarreien  von  den  Vogesen  an  aufgeführt  sind.  Die 


266 

Archibresbyterate,  Pfarreien  und  deren  die  Grenze  nocli 
specieller  zum  Ausdruck  bringende  Filialen  befinden  sich  in 
den  Bisthumsverzeichnissen  bei  Würdt wein  Nova  subsidia  VIII, 
105,  148,  128,  287. 

Nortgau. 

Archipresbyterat  Zabern:  Dagsburg,  Garburg,  Lützelburg, 
Pfalzburg,  Weschheim,  Graufthal  (Vogesen). 

Archipresbyterat  Oberhagenau:  Diefenbach,  Lützelsteiu 

(Gebiet  des  Moder):  Wingen,  Lichtenberg,  Oberbronn  (Gebiet 
der  unteren  Zinsei):  Obersteinbach,  Lembach  (Gebiet  der 

oberen  Sauer). 

Archipresbyterat  Niederhagenau:  Görsdorf,  Dieffenbach, 
Niederkatzenhauseu,  Sulz,  Hatten,  Selz,  Winzenbach  (Gebiet 
der  Selz). 


Baden. 

Marienau. 

Archipresbyterat  Ottersweier:  Ottersdorf,  Iffezheim,  Sand- 
weier (in  der  Rheinebene):  Sinzheim,  Steinbach,  Bühl,  Bühler- 
tlial,  Kappel  (bei  Windeck),  Ottersweier,  Sasbach,  Achern, 
Oberacliern,  Kappel  bei  Rodeck  (am  Fass  des  Schwarzwald 
mit  Ausnahme  vom  Bühlerthal,  Sasbach,  Kappel  bei  Rodeck. 
welche  im  Gebirge  liegen).  Die  Grenze  bildet  die  untere  Murg 
bis  Rastatt  aufwärts,  die  Oos  bis  zu  ihrer  Quelle,  und  verläuft 
von  da  über  die  Höhen  bis  zur  Hornisgrinde,  von  da  die 
badisch- württembergische  Landesgrenze  entlang  bis  Enzklüstcrle, 
im  Jahr  496  ohne  Zweifel  ödes  Gebiet. 

Württemberg. 

Bisthum  Constanz. 

Siehe  die  Diöcesanurkunden  unten  Kapitel  11,  Abschnitt  2, 
und  über  die  Grenzorte  P.  F.  Stalin  Geschichte  Württem- 
bergs I,  65. 

Xwjübhjttii. 

Landkapitel  Herrenberg.  OA.  Calw.:  Enzklüstcrle,  (die 
Enz)  Hiilmerberg,  Meistern,  Agenbach,  Oberkollwangen,  Breiten- 


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267 


berg-,  Liebeisberg,  Altbulach,  Kohlersthal,  (die  Nagold)  Holz- 
bronn, Deckenpfronn,  Dachtel;  OA.  Nagold:  GAltlingen. 

Landkapitel  Böblingen.  OA.  Böblingen:  Deufringen,  Aid- 
lingen, (die  Würm)  Döttingen,  Darmsheim,  Dagersheim,  Sindel- 
frngen. 

Keckaryau. 

Landkapitel  Cannstatt.  OA.  Leonberg:  Gerlingen,  (die 
Glems)  Ditzingen  rechts  der  Glems  (siehe  unten),  Münchingen: 
OA.  Ludwigsburg:  Möglingen,  Pflugfelden,  Geisnang  (das 

heutige  Ludwigsburg),  Harteneck,  Ossweil . (der  Neckar) 
Poppenweiler;  OA.  Marbach:  Siegelhausen,  Weiler  zum  Stein; 
OA.  Welzheim:  Nellmersbach,  Hertmannsweiler,  Oeschelbrunn. 

Bisthum  Augsburg. 

Siehe  Steichele,  das  Bisthum  Augsburg. 

Riesgau. 

OA.  Backnang:  Kallenberg,  Lutzenberg,  Schöllhütte:  OA. 
Welzheim:  Klaffenbach,  Kaisersbach;  OA.  Gaildorf:  Altersberg, 
Frickenhofen,  Untergröningen,  (der  Kocher)  Wegstetten:  OA. 
Aalen:  Adelmannsfelden;  OA.  Ellwangen:  Bühlerzell,  Klapper- 
schenkel, Matzengehren,  Borsthof,  (die  Jagst)  Treppelm ülile. 
Ellenberg;  OA.  Crailsheim : Matzenbach,  Gunzach,  Wüldershub. 
Neostädtlein. 

Italern. 

BA.  Feuchtwangen:  Ober-,  Unter-Ampfrach,  Zumhaus,  (die 
Wörnitz)  Breitenau,  Dorfgütingen,  (um  die  Sulzach)  Feucht- 
vcangen,  Dentlein;  BA.  Dinkelsbühl:  Dürrwangen,  Amelbruch, 
Dorfkemmenathen,  Michelbach,  Mittelhofen,  Gerolfingen,  (um 
die  Wörnitz)  Reichenbach,  Fürnheim:  BA.  Nördlingen:  Seglohe, 
Schopflohe,  Beizheim,  Munningen,  Laub,  Wechingen,  Holz- 
kirchen,  Fessenheim,  Rudelstetten,  Bühl,  Schrattenhofen, 
Heroldingen;  BA.  Donauwörth:  Harburg,  Ebermergen,  Wörnitz- 
stein,  Berg,  (und  an  der  Donau)  Zirgesstein,  Donauwörth, 
Altisheim. 

Znm  Riesgau  gehörte  der  Welzheimer  AVald  und  die  Franken- 
böfer  Höhe,  während  die  Limpurger  und  Ellwanger  Berge  sammt 
dem  Kocher  und  der  Jagst  von  der  Grenze  durchschnitten  wurden. 
Das  Gebiet  der  Sulzach  und  Wörnitz  blieb  alamannisch. 


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268 


Vom  Rhein  an  bis  zum  obergermanischen  Limes  war  es 
altalamannisches  Gebiet,  das  nunmehr  nördlich  der  Stammgrenze 
fränkisch  wurde.  Ausserhalb  der  beiden  Limes  hatten  im  Norden 
die  Burgundionen  gesessen,  deren  Gebiet  wohl  theil  weise  von 
den  Alamannen  eingenommen  war  (S.  78,  181),  im  Süden  in 
der  Ausdehnung  etwa  von  Lorch  bis  Gunzenhausen  (S.  29—31) 
die  Armalausen.  Sie  haben  nur  ihren  Namen  der  Geschichte 
gelassen  und  was  aus  ihnen  geworden,  wissen  wir  nicht.  Die 
altburgundionischen  Sitze  fielen,  so  mag  man  annehmen,  auf  die 
fränkische,  die  armalausischen  auf  die  alamannische  Seite.  — 

Die  Stammesgrenze  als  solche  ist  weiter  urkundlich  bezeichnet. 

Das  Bisthum  Constanz  reichte  (den  Bisthümem  Speyer  und 
Würzburg  gegenüber)  im  Norden  bis  an  die  Grenze  der  Ala- 
mannen und  Franken,  versus  aquilonem  usqne  ad  marcam 
Francorum  et  Alamannorum.  Diplom.  Friedrich  I.  von  1155, 
Wirt.  352. 

Die  Huntaren  Würm-  und  Glemsgau  waren  fränkisch.  In 
ersterer  lag  das  Kloster  Hirsau  an  der  Nagold.  1057.  Mona- 
sterium  in  provincia  Theutonica  Francia  in  pago  Wiringowe. 
quod  Hirsaugia  (Hirschau,  OA.  Calw)  nuncupatum  est.  Wirt.  233. 
Ferner  Heimsheim,  OA.  Leonberg.  965.  In  confinio  Franciae 
et  Alamanniae  in  villa  Heiuibogesheim.  Saxo. 

Im  fränkischen  Glemsgau  lagen  Gerringen  und  Tizingen 
(Gerlingen,  Dizingen  um  die  Würm,  OA.  Leonberg)  nach  den 
Lorscher  Urkunden  5354—5356,  5363,  5364  aus  den  Jahren 
856 — 871,  während  nach  dem  Hirsauer  Codex  Gerringen  in  Suevia 
lag,  und  nach  den  Diöcesantabelien  Dizingen  rechts  der  Glems 
als  constanzisch,  links  der  Glems  als  speyerisch  bezeichnet  wird. 

Cannstatt  am  Neckar  fiel  in  das  alamannische  Gebiet.  746. 
Karlomannus,  cum  vidisset  Alamannorum  infidelitatem,  cum  exer- 
citu  fines  eorum  irrupit  et  placitum  instituit  in  loco,  qui  dicitur 
Condistat.  Annal.  Mettens. 

Weiter  zog  sich  die  Grenze  von  der  Quelle  der  Wieslauf 
(auf  der  Ebni  nordwestlich  von  Welzheim  über  Kaisersbach  und 
Altersberg)  zum  Steigersbach,  einem  Zufluss  des  Kocher.  1027. 
usque  Cochinaha  et  per  ascensum  ejus  Steigirisbach  et  sic  per 
continia  Francorum  et  Suevorum  usque  ad  fontem  Wisilaffa. 
Wirt.  219. 


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Zweite  Anlage 
zum  siebenten  Capitel,  11,  Seite  255. 


Grenzen  der  Jltundarlen, 

1.  Schwäblsch-friiliklsehc  Grenze. 

Die  nach  den  Nachrichten  des  8.  und  9.  Jahrhunderts  uns 
bekannte  Stammesgrenze  wird  auch  die  alamannische  (suevische) 
und  fränkische  Mundart  geschieden  haben.  Heute  steht  das 
schwäbische  ei  (oi,  oa)  dem  fränkischen  ai  und  a gegenüber. 
Nach  Bohnenbergers  Ermittlungen  für  Württemberg  fallen  jedoch 
die  Stammes-  und  Sprachgrenzen  nicht  mehr  allenthalben  zu- 
sammen. Während  die  Strecken,  auf  denen  beide  identisch 
sind,  einen  neuen  Beweis  für  die  Richtigkeit  der  erstem  bilden, 
zeugen  die  abweichenden  von  einer  Verschiebung  der  letztem. 

In  Württemberg  decken  sich  beide  Grenzlinien  von  der 
Hornisgrinde  bis  zur  Würm,  während  von  der  Würm  bis  zur 
Jagst  die  Sprachgrenze  nach  Norden,  von  der  Jagst  bis  gegen 
die  Würnitz  nach  Süden  verschoben  ist. 

Dass  von  der  Hornisgrinde  über  die  Nagold  bis  zur  Würm, 
die  Sprachgrenze  die  alte  geblieben  ist,  erklärt  sich  wohl  aus 
der  Stabilität  der  Lebens-  und  Verkehrsverhältnisse  im  Schwarz- 
wald. 

Dass  dagegen  das  schwäbische  Sprachgebiet  von  der  Würm 
über  den  Neckar  bis  etwa  Murrhardt  weit  nach  Norden  ver- 
schoben ist,  am  linken  Neckar  das  Strohgäu  in  sich  sehliesst  und  bis 
gegen  die  Enz  reicht,  nnd  am  rechten  Ufer  den  grössten  Tlieil 
der  Oberämter  Marbach  und  Backnang  umfasst,  dafür  ist,  wie 
Bohnenberger  sagt,  „kaum  je  eine  genügende  Ursache  aufzu- 
zeigen'1: denn  es  ist  nicht  daran  zu  denken,  dass  die  Alamanneu 
etwa  durch  Einwanderungen  den  herrschenden  Franken  diese 
Landstriche  der  Neckarebene,  die  Kornkammern  des  Landes, 
entzogen  hätten.  Dem  gegenüber  mag  ein  colonisirendes  Vor- 


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270 


dringen  im  Waldgebirge  (dem  Welzhcimer  Wald,  der  Franken- 
liofer  Höhe,  den  Limpurger  und  Ellwanger  Bergen)  den  Grund 
für  die  Grenzverschiebungen  zwischen  Murrhardt  und  der  Wörnitz 
gegeben  liaben,  wofür  die  Ellwanger  Berge  ein  Beleg  sind. 
Denn  in  ihnen  sind  drei  Grenzlinien  zu  unterscheiden:  zunächst 
die  Stammesgrenze,  die  über  Bühlerzell,  Klapperschenkel,  Matzen- 
gehren, Borsthof,  (die  Jagst)  Treppelmühle,  Matzenbach,  Gunz- 
ach, Wäldershub,  Neustädtlein  lief,  und  die  nördliche  Grenze 
von  einem  Theil  des  Bannforstes  Yirngrnnd,  welchen  der  Kaiser 
Heinrich  II.  1024  dem  Kloster  Ellwangen  schenkte.  Sie  ver- 
lief zwischen  Kocher  und  Jagst  im  Norden  der  Stammesgrenze 
(Bühlerzell,  Kottspiel,  den  Nestel-  oder  Aisenbacli  aufwärts,  Hoch- 
tünn,  über  den  Bergrücken  nach  Gauchhausen,  nördlich  von 
Hegenberg,  den  Sulzbach  abwärts  bis  zur  Jagst),  im  Süden  der 
Stammesgrenze  von  der  Jagst  aus  (Stimpfach,  Matzenbach,  Ellen- 
berg u.  s.  w.).  Wirt.  217.  Der  P’orst  wird  vom  Kloster  Ell- 
wangen bis  an  diese  Orte  besiedelt  worden  sein  und  so  wird 
es  sich  erklären,  dass  die  dritte,  die  schwäbische  Sprachgrenze 
von  Kottspiel  bis  Stimpfach  mit  geringen  Abweichungen  (siehe 
unten  Nr.  2 und  3)  sich  der  Forstgrenze  anschloss.  Diese  wurde 
so  massgebend,  dass  Uber  die  Stammgrenze  hinaus  an  der  linken 
Jagst  die  Schwaben,  an  der  rechten  die  Franken  bis  zur  Forst- 
grenze vordrangen. 

Die  heutige  schwäbisch-fränkische  Sprachgrenze  verläuft 
innerhalb  Württembergs  auf  schwäbischer  Seite,  wie  folgt, 

1.  Die  Stammesgrenze  ist  auch  Sprachgrenze: 
von  der  Hornisgrinde  bis  zur  Nagold  über  Gompel- 

scheuer,  Aichelberg,  Meistern,  Agenbach,  Oberkollwangen, 
Breitenberg,  Liebeisberg,  Altbulach; 

von  der  Nagold  bis  zur  Würm  über  Stammheim, 
Gedungen,  Ostelsheim,  Simmozheim. 

2.  Die  Sprachgrenze  ist  nach  Norden  verschoben: 
von  der  Würm  bis  zur  Glems  über  Schafhausen, 

Benningen,  Malmsheim,  Eutesheim,  Weissach,  Eberdingen,  Rieth; 

von  der  Glems  bis  zum  Neckar  über  Markgröningen, 
Thamm,  Geisingen ; 

vom  Neckar  bis  zum  Limes  über  Pleidelsheim,  Höpfig- 
heim, Mundelsheim,  Gemrichheim  (Mundelsheim),  Winzerhausen, 


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271 


Lembach,  Hof,  Klein-A spach,  Rietenau,  Reichenberg,  Ellen- 
weiler, Siebenknie,  Fautsbach; 

vom  Limes  bis  zum  Kocher  über  Mettelberg,  Neustetten, 
Houkliug: 

vom  Kocher  bis  zur  Jagst  über  Laufen,  Kohlwald, 
Kottspiel , BUhlerthann,  Frohnroth,  Rosenberg,  Geiselroth, 
Grimberg ; 

3.  Die  Sprachgrenze  ist  nach  Süden  vcrschobeu: 
von  der  Jagst  bis  gegen  die  Wömitz  über  Sperrhof, 
Stimpfach,  Dankoltsweiler,  Eichenrain,  Deutstetten. 


2.  Alaninniiisch-schwäblsche  Grenze  von  I,  u gegen  el, 
ou  vor  h,  r. 

Alamannisch  Schiltach  (?)  gegen  schwäbisch  Schenkenzell— 
Fluorn  gegen  Röthenberg,  Peterzell  — Hochmöfflngen  gegen 
Dornhan,  Weiden — Altoberndorf,  Böchingen  gegen  Aistaig,  Boll, 
Brittheim— Harthausen,  Böhringen,  Gösslingen  gegen  Trichtingen, 
Leidringen,  Tübingen  — Schömberg,  Ratshausen  gegen  Daut- 
ffiergen,  Dotternhausen,  Thieringen  - Reichenbach,  Egesheim, 
Kiinigsheim , Renquishausen , Kölbingen,  Friedingen  gegen 
Bärenthal.  Irrendorf — Buchheim,  Worndorf  gegen  Thalheim  — 
Boll,  Mindersdorf,  Aach,  Linz,  Denkingen  gegen  Krumbacb, 
Rast,  Wald — Pfrungen,  Esenhansen,  Frohnhofen,  Wolpert- 
schwende  gegen  Burgweiler,  Fleischwangen,  Ebenweiler,  Es- 
bach  — Baindt,  Einthürnenberg,  Immenried,  Kisslegg gegen  Berga- 
treote  (?),  Zicgelbach,  Diepoldshofen , Engerazhofen— Missen, 
Beuren,  Menelzhofen,  Rohrdorf  gegen  Urlau,  Friesenhofen. 


Alamaniiisch-schwitbische  Grenze  von  i,  u vor  folgenden 
l'onsonatiten,  die  iiidit  li,  r,  t oder  Nasal  sind. 

Alamannisch  Schiltach  (?)  gegen  schwäbisch  Schenken- 
zell— Aichhaldeu  gegen  Röthenberg,  Fluorn,  Winzeln  — Schön- 


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272 


bronn,  Locherhof  gegen  Sulgau,  Sulgen,  Dunningen— Mariazell, 
Fischbach  mit  Sinkingen,  Weilersbach , Dauchingen  gegen 
Flözlingen,  Niederescbach,  Deisslingcn — Weigheim,  Thalheim, 
Esslingen  gegen  Trossingen,  Schura,  Seitingen  mit  Oberdacht, 
Tuttlingen  — dann  jenseits  der  badischen  Grenze  wieder 
Pfrungen,  Esenhausen,  Frohnhofen,  Wolpertschwende  gegen 
Riedhausen,  Fleischwangen,  Ebenweiler,  Esbach,  Schindelbach  — 
weiterhin  in  Baindt,  Wolfegg,  Kisslegg  jedenfalls  alamannisclier 
Laut,  vielleicht  auch  in  Einthürneu,  Immenried  — sicher  wieder 
Beuren,  Menelzhofen,  Rohrdorf  gegen  schwäbischen  Laut  in 
Urlau,  Friesenhofen. 

(Nach  Bohnenberger:  lieber  Sprachgrenzen  und  deren  Ur- 
sachen, insbesondere  in  Württemberg.  Württ.  Vierteljahreshefte 
für  Landesgeschichte  VI,  1897,  S.  161  u.  flgd). 


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Achtes  Kapitel. 

Streitfragen. 

Die  nachstehend  behandelten  Fragen  sind  so  grundlegend 
für  die  alamannische  Geschichte  oder  einzelne  ihrer  Theile,  dass 
es  unumgänglich  erscheint,  auch  die  entgegenstehenden  An- 
sichten einer  eingehenden  Besprechung  zu  unterziehen. 


I.  Zum  Ursprung  der  Alamannen. 

Der  S.  8 und  9 vorgetragenen  Meinung,  dass  die  Ala- 
mannen ein  Mischvolk  seien,  steht  die  Ansicht  gegenüber,  sic 
hätten  von  jeher  Einen  Stamm  gebildet.  Sie  findet  ihren  Haupt- 
vertreter in  Jakob  Grimm,  welcher  in  den  Alamannen  die 
Nachkommen  der  alten  Sueven,  zu-  denen  schon  Ariovist  ge- 
hörte, und  sprachlich  die  Leute  und  Nachkommen  des  Mannus 
als  „Deutsche“  sieht.  Der  in  dem  Namen  liegende  Begriff: 
Männer,  Menschen  werde  durch  das  Vorgesetzte  ala-  verstärkt 
und  bedeute  „rechte,  tüchtige  Männer“.  Neuerdings  hat 
F.  L.  Baumann  (Schwaben  und  Alamannen,  ihre  Herkunft  und 
Identität,  in  den  Forschungen  zur  deutschen  Geschichte,  Bd.  16, 
S.  216 — 277)  dieser  Theorie  eine  andere  Grundlage  gegeben. 
Ihm  sind  die  Alamannen  die  alten  suevischen  Semnonen.  Seine 
Ausführungen,  die  vielfach  Anklaug  gefunden  haben,  sind 
folgende. 

Die  Sueven  nahmen  gegen  das  Ende  des  ersten  Jahrhunderts 
nach  Chr.  ganz  Ostdeutschland  in  verschiedenen  Völkerschaften 
ein;  die  älteste,  vetustissima,  waren  die  Semnonen,  ein  Volk  von 
hundert  Gauen,  in  deren  Land  sich  ein  dem  Gott  des  Krieges 
Zin  seit  alteu  Zeiten  geweihter  heiliger  Hain  befand.  In  ihm 

Cr  am  er,  Geschichte  der  Alemannen.  ly 


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274 


brachten  die  sämmtlichen  Snevenstämme  dem  Gott  jährlich  Opfer 
dar,  den  Hain  aber  durfte  Niemand  ungefesselt  betreten.  Die 
Semnonen  hielten  sich  demgemäss  für  das  Haupt  der  Sueven, 
caput  Sueborum.  Soweit  Tacitus  in  Kap.  39  der  Germania. 

Es  gab  also,  schliesst  Baumann,  ursprünglich  nur  Einen 
Suebenstamm,  eben  die  Semnonen.  Sie  hiessen  somit  damals 
einfach  Sueben.  Als  dann  jüngere  Aeste  sich  abzweigteu 
(Hermuuduren,  Markomannen,  Langobarden  u.  s.  w.),  bekamen 
diese  unterscheidende  Beinamen  und  legten  dem  Mutterstamm 
den  Semnonennamen  bei.  Dieser  ist  ein  hieratischer  und  heisst 
von  der  lithurgischen  Anwendung  der  Fessel  im  Ziuhain 
„Fessler“.  Sie  selbst  haben  aber  desshalb  schwerlich  aufgehört, 
sich  schlicht  und  einfach  Sueben  zu  nennen.  Als  sie  nun  im 
letzten  Viertel  des  2.  Jahrhunderts  aus  ihren  Wohnsitzen  an 
der  Spree  gen  Süd  westen  wandel  ten,  Hessen  sie  den  Semnonen- 
namen fallen,  tauchten  den  Hermunduren  gegenüber,  durch  die 
sie  von  Osten  her  bedrängt  wurden,  auf  und  nahmen  dann 
Sitze  am  Main,  wo  sie  mit  Garacalla  zusammenstiessen.  Als 
sie  das  Land  des  Ziuhains  verliessen  und  die  Anwendung  der 
Fessel  damit  unmöglich  wurde,  ward  der  Namen  Fessler  (Sem- 
nonen) hinfällig  und  die  Hermunduren  nannten  sie  daher  „Leute 
des  Alah,  „Alahmannen“  d.  h.  Leute  des  Götterhains  des  Ziu. 
Der  Name  wurde  den  Römern  bekannt  und  auch  diese  nannten 
die  semnonischen  Sueben,  auf  die  sie  am  Main  stiessen,  Ala- 
manni,  während  diese  selbst  den  Suebennamen  beibehielten. 
Daraus  folgert  dann  Baumann  die  Identität  der  Sueben  oder, 
wie  sie  seit  dem  4.  Jahrhundert  genannt  wurden,  der  Sueven 
mit  den  Alamannen,  die  Einheit  des  Stammes  und  die  Einheit 
ihrer  Sprache. 

Diese  Hypothese  leidet  an  Unwahrscheinlichkeit  und  ist 
in  sich  widersprechend:  Der  Satz,  dass  die  Nachbarn  den 
Völkernamen  geben,  ist  zweimal  augewendet.  Die  Ursueben 
werden  zunächst  von  den  Jnngsucben  Semnonen,  dann  von  den 
Hermunduren  Alahmannen  genannt.  Warum  sollten  sie  den 
hieratischen  Namen  der  Fessler  (Semnonen)  fallen  lassen,  der 
sie  als  die  Hüter  des  allgemeinen  suebischen  Ziuhaiues  aus- 
zeichnete, als  caput  Sueborum  charakterisirte?  Unrichtig  aber 
ist,  dass  mit  der  Fessel  der  Name  Fessler  hinfällig  wurde, 
denn  es  ist  gerade  eine  Eigenschaft  der  Namen,  dass  sie  ihre 


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275 


Veranlassung  überdauern.  Der  Breisgau  führt  seinen  Namen 
fort,  auch  wenn  er  seit  tausend  Jahren  aufgehört  hat,  ein  Gau 
zu  sein.  Wenn  aber  in  dem  Anfhören  der  Fesselung  ein  Anlass 
vorlag,  den  Seinnonen  einen  anderen  Namen  zu  geben,  so  war 
es  doch  unmöglich,  dafür  die  uralte  Alah  zu  Grande  zu  legen. 
Denn  die  Beziehung  zur  Alah  war  ebenso,  wie  die  zur 
Fesselung,  gelöst.  Und  wie  endlich  sollten  die  Römer,  die, 
wie  wir  wissen,  länger  als  ein  Jahrhundert  die  Semnonen 
Semuonen  nannten,  dazu  kommen,  der  Namengebung  durch  die 
Hermunduren  sich  anzuschliessen  ? 

Alamannen  und  Suoven  sind  nicht  dasselbe  Volk  und  zur 
Zeit  der  Wanderung  oder  Ansiedlung  fallen  auch  ihre  Namen 
keineswegs  zusammen,  wie  das  später  allerdings  geschah. 

Lässt  man  die  innere  Glaubwürdigkeit  der  Banmannschen 
Idee  dahingestellt,  so  muss  man  doch  sagen,  dass  sie  sich  jedem 
Beweise  entzieht.  Eins  aber  muss  bewiesen  werden,  dass  der 
Suevennamen  vom  3 und  4.  Jahrhundert  ab  das  ganze  Stamm- 
land. und  vom  5.  ab  das  ganze  Nenalamannien  umfasst  habe. 
Der  Verfasser  hat  diesen  Beweis  angetreten,  aber  nichtgeführt. 

Er  lässt  die  Geschichte  der  Namen  Alamannen  und  Sueven 
ausser  Acht. 

Er  berücksichtigt  nicht,  dass  nach  der  ersten  Namensstufe 
„Sueven  ein  Theil  der  Alamannen“  (S.  245)  der  Suevenname  im 
Stammland  nur  vom  Neckar  bis  zur  Alb  reicht,  in  Neualamannien 
nur  Oberschwaben  umfasst  und  dass  er,  abgesehen  von  ver- 
einzeltem Vorkommen,  weder  am  östlichen  Ufer  des  Rheins 
(insbesondere  am  Schwarzwald),  noch  dominirend  in  der  Schweiz, 
wo  der  Lenzername  als  der  herrschende  anznnehmen  ist,  noch 
im  Eisass  vertreten  ist  (S.  27,  31,  208,  209,  243  und  244). 

Banmann  erkennt  auch  die  zweite  Namensstufe:  „Sueven 
und  Alamannen“  nicht  an,  indem  er  die  meisten  Nachrichten 
(S.  246).  als  bedeutungslos  hinstellt,  ln  der  Nachricht  des 
Prokop  seien  nicht  die  alamannischen  Sueven,  sondern  die  Almen 
der  Bojoaren  gemeint:  Sueven  und  Alamannen  seien  hier  zwei 
selbstständige,  nicht  verbundene  Ganze,  sl)vr(,  also  keines- 

wegs Eidgenossen.  Dass  jedoch  die  alamannischen  Sueven  ge- 
meint sind,  geht  aus  ihrer  bereits  nachgewiesenen  Nachbarschaft 
zu  den  Thüringern  hervor  (S.  197,  198).  In  der  Nachricht 
des  Jordanes  versteht  Baumann  unter  den  Sueven  die  vanni- 

is’ 


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276 


aniseben  an  der  Waag,  denen  die  Alamannen  (vom  Rheiu  und 
der  oberen  Donau)  zugezogen  seien:  es  seien  lediglich  einzelne 
Gefolgschaften  gewesen,  denn  für  den  gesammten  Stamm  erscheine 
der  Weg  dahin  doch  zu  weit.  Es  ist  auch  hier  schon  gezeigt, 
dass  es  Sneven  und  Alamannen  von  und  an  der  obern  Donau 
waren  (S.  199).  Von  der  Stelle  des  Hugo  von  Flavigny  nimmt 
Baumann  an,  es  sei  nicht  sicher,  ob  er  unter  „Suavia  et  Ala- 
mannia“  nicht  Deutschland  verstände;  aber  wie  sollte  gleich- 
wertig Snevien  neben  Deutschland  aufgeführt  werden  ? Ferner, 
es  sei  der  Angabe  des  fern  wohnenden  Romanen  kein  Gewicht 
beizulegen.  Man  wird  dies  doch  thun  müssen,  da  er  zweifellos 
eine  verbreitete  Meinung  wiedergiebt.  Das  Zeugniss  des  Fort- 
setzers des  Fredegar  ist  nicht  angefochten. 

Nachdem  Baumann  so  von  der  ersten  Namensstufe  abgesehen 
hat,  und  der  zweiten,  wie  mir  scheint,  nicht  gerecht  geworden, 
schildert  er  mit  vollen  Zügen  die  dritte  (S.  246),  indem  er 
Zeugnisse  vom  6.  bis  12.  Jahrhundert  häuft.  Jetzt  ist  auch 
die  Schweiz  in  den  Bereich  des  Sueven-  oder  Schwabennamens 
einbezogen,  es  fehlen  jedoch  nach  wie  vor  das  östliche  Ufer 
des  Rheins  (insbesondere  der  Schwarzwald)  und  das  Eisass. 
Aber  was  nützen  diese  an  sich  so  interessanten  Beweismittel 
der  Baumann'schen  Hypothese?  Die  Identität  von  Sueven  und 
Alamannen  ist  nicht  mit  Zeugnissen  aus  dem  6.  bis  12.  Jahr- 
hundert zu  erweisen,  wenn  die  des  3.  bis  5.  das  Gegen theil 
ergeben. 

Die  Abbröckelung  der  Namensbedeutung  von  Suevien  oder 
Schwaben  (S.  248)  schildert  dann  Baumann  so:  Das  Eisass 
wurde  eine  besondere  Provinz  und  stellte  sich  Alamannien  gegen- 
über. Die  Rheinalamannen  des  rechten  Ufers  „vergassen  ihr 
Schwabenthum“,  die  Schweizer  „bekannten“  es  noch  im  14.  Jahr- 
hundert, und  waren  sich  seines  bis  ins  15.  „bewusst“,  aber  am 
Ende  dieses  Jahrhunderts  „nahm  unseliger  Weise  das  Wort 
Schwaben  einen  falschen  Begriff  an“.  Der  Gründung  des 
„schwäbischen  Bundes“  gegenüber  „verleugneten  die  Schweizer 
ihre  ethnographische  Zugehörigkeit  zum  Schwabenstamm“.  Aber 
bei  beiden  Theilen  „rührte  sich  das  historische  Gewissen  gegen 
die  Verfälschung  des  Schwabennamens“,  denn  der  Schwank  von 
den  sieben  Schwaben,  der  im  16.  Jahrhundert  in  die  jetzige 
Form  gegossen  sei,  zähle  zu  den  Sieben  auch  die  der  „ala- 


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277 

manuischen  Mundart“  angehörigen,  den  Allgäuer,  den  Seehasen 
und  den  schweizerischen  Nestelschwab. 

Wer  sind  denn  nun,  wenn  man  sich  auf  den  geschichtlichen 
Standpunkt  Baumanns  stellt,  heute  die  Schwaben?  Ich  meine 
diejenigen,  die  „ihr  Schwabenthum  nicht  vergessen  haben“,  die 
sich  seines  „bewusst“  sind  und  die  es  „bekennen“.  Ohne  das 
würde  der  Begrifl  des  heutigen  Schwabenthums  völlig  in  der 
Luft  schweben,  da  Baumann  ihn  an  das  wahrhafte  Suevengebiet, 
das  er  nicht  anerkennt,  nicht  knüpfen  kann. 


2.  Ipsa  oppida,  ut  cimmidata  retiis  busta  dcclinant. 

Es  ist  von  Interesse,  festzustellen,  ob  diese  Bemerkung 
Ammians  sich  an  einen  speciellen  Anlass  knüpft  oder  derartig 
allgemeinen  Inhalts  ist,  dass  sie  einen  Charakterzug  der  Ala- 
mannen wiedergiebt,  und  auch  für  spätere  Besitznahmen  von 
Land  verwendet  werden  kann.  Nissen  ist  der  ersten  Ansicht, 
während  ich  der  letzten  gefolgt  bin. 

Als  der  Cäsar  Julian  im  Jahr  356  in  Rheims  anwesend 
wrar.  wurde  ihm  berichtet,  dass  die  Alamannen  die  Stadtgebiete 
des  Eisass,  der  Pfalz  und  Rheinhessens,  Strassburg,  Brumath, 
filsass-Zabern,  Selz,  Speyer,  Worms  und  Mainz  besetzt  und 
auf  dem  Lande  sich  angesiedelt  hätten.  Audiens.  . . . civitates 
barbaras  possidentes  territoria  eorum  habitare.  Warum  sie  nicht 
auch  die  Städte  bewohnten,  sucht  er  durch  ein  Bild  zu  er- 
läutern : nam  ipsa  oppida  ut  circumdata  retiis  busta  declinant, 
16,  2,  12,  (S.  86).  Weiter  erzählt  Ammian  von  den  Hunnen, 
sie  kennten  kein  festes  Haus,  aedificiis  nullis  uuquam  tecti, 
und  fügt  zur  Erläuterung  ähnlich  hinzu,  sed  haec  velut  ab  usu 
communi  discreta  sepnlcra  declinant,  31,  2,  4.  In  beiden  Fällen 
ist  das  Bild  dasselbe,  um  aber  zu  erklären,  bedarf  es  vorab 
selbst  der  Erklärung:  Die  Gräber  sind  umgittert,  oder  was 
dasselbe  sagt,  vom  gemeinen  Gebrauch  geschieden.  Man  mag 
sie  nicht  (in  der  Umgebung  des  Lebens,  kann  man  hinzufiigen). 
So  mag  der  Hunne  kein  festes  Haus,  der  Alamanne  keine  Stadt. 
Sie  sind  ihnen  widrig.  Damit  sind  Sitten  der  Alamannen  und 
Hunnen  berichtet  und  aus  ihrem  Empfinden  heraus  erklärt. 


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278 


Wenn  der  Hunne  kein  Gebäude  errichtet  und  der  Alauiaune 
keine  Stadt  bewohnt,  so  entspricht  es  ihrer  wirtschaftlichen 
Stufe  als  Nomade  oder  Ackerbauer,  und  aus  dieser  Stufe  ent- 
springt ihr  Widerwillen  gegen  häusliches  und  städtisches  Leben, 
ihr  Unabhängigkeitsgefühl  oder  „der  Freiheitsdrang  unserer 
alamannischen  Vorfahren“,  eine  Auffassung,  die  Nissen  jedoch 
als  moderne  Anschauung  zurück  weist. 

Er  trägt  dagegen  in  das  Bild  noch  ein  fremdes  Moment 
hinein,  das  nur  auf  den  Fall  der  Alamannen  passt,  indem  er 
an  den  Verkauf  eines  römischen  Landguts  erinnert.  Das  darauf 
befindliche  Grab  wird  als  res  extra  commercium  von  dem  Be- 
sitzwechsel nicht  berührt  und  ist,  unverletzlich : es  wird  „ge- 
schont“. Die  Schonung  ist  für  Nissen  in  dem  Bilde  das  tertium 
comparationis  und  er  kommt  im  Anschluss  an  gewisse  geschicht- 
liche Voraussetzungen  zu  folgenden  Ergebnissen:  Die  Besitz- 
nahme des  Landes  sei  unter  Zustimmung  des  Kaisers  Constantius 
vergleichsweise  friedlich  erfolgt.  Das  linke  Rheinufer  sei  von  den 
Römern  an  die  Deutschen  übergegangen,  bis  auf  die  Städte. 
Die  des  Eisass,  der  Pfalz  und  Rheinhessens  seien  durchweg, 
wie  es  scheine,  der  Zerstörung  entgangen.  Sie  seien  eben  wie 
Gräber  geschont  und  diese  Zurückhaltung  erkläre  sich  aus  der 
wirthschaftlichen  Entwicklung  u.  s.  w. 

Dieser  Auffassung  sind  aber  folgende  Thatsachen  entgegen 
zu  halten.  Im  Jahr  350  war  Gallien  im  Besitz  von  Magnentius. 
Für  Constantius  war  es  also  Feindesland.  Er  wollte  es  als 
Kaiser  erwerben  und  benutzte  dazu  die  Alamannen,  denen  er 
Land  versprach.  Ihre  Besitznahme  erfolgte  aber  nicht  „ver- 
gleichsweise friedlich“,  sondern  sie  mussten  das  Land  und  ins- 
besondere die  befestigten  Städte  erobern,  C'aesari  mandaverunt, 
ut  terris  abscederet  virtute  sibi  quaesitos  et  ferro,  16,  12,  3. 
Für  eroberte  Städte  kannten  die  Alamannen  keine  Schonung, 
und  der  Kaiser  wird  sie  von  ihnen  auch  nicht  erwartet  haben. 
Dass  sie  Zabern  durch  hartnäckige  Angriffe  zerstörten,  ist  ins- 
besondere bezeugt.  Tres  Tabernas  munimentum  obstinatione 
Subversion  hostili,  16,  11,  11. 

Die  Alamannen  hassten  die  Städte;  sie  eroberten  und 
plünderten  sie  und,  statt  sich  in  ihnen  niederzulassen,  zerstörten 
sie  die  eroberten.  Das  war  ihre  Eigenart. 


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8.  Zur  Schlucht  bei  Strass bu re. 

Zur  Literatur. 

Entgegen  meiner  Auffassung  über  die  Quellen,  ans  denen 
Ammian  und  Libanios  geschöpft  (S.  102),  geht  Herker  davon 
aus,  dass  beide  nur  die  schriftliche  Darstellung  des  Julian  be- 
nutzt haben,  und  er  folgt  bei  Abweichungen  der  „Ehrlichkeit 
und  Glaubwürdigkeit-  des  Ammian  und  verwirft  dagegen  die 
„Verlogenheit“  des  Libanios. 

Es  ergiebt  sich  aber,  dass  die  Widersprüche,  die  Hecker 
findet,  zum  Theil  gar  keine  sind.  Die  alamannischen  Gesandten 
beriefen  sich  nach  Libanios  (Reiske  540)  auf  die  Briefe  des 
Kaisers  Constantins,  der  ihnen  Gallien  zusprach,  nach  Ammian 
16.  12,  3 auf  das  Schwert,  durch  das  sie  Gallien  erobert.  Tn 
der  Tliat  ist  beides  richtig,  wie  eben  dargelegt.  Der  eine 
Schriftsteller  wählt  für  seine  Darstellung  das  eine,  der  zweite 
das  andere  Moment,  und  die  des  Libanios  entspricht  dem  Briefe 
Julians  an  die  Athener  und  wird  also  auch  wohl  in  dessen 
Werk  Uber  die  Schlacht  gestanden  haben.  Hier  müsste  mithin 
Ammian  und  nicht  Libanios  der  unzuverlässige  sein.  Aehnlicli 
ist  es  mit  dem  Ende  der  Verfolgung.  Ammian  lässt  es  am 
Hochgestade  des  Rheins,  56,  Libanios  auf  den  Inseln.  542,  cin- 
treten.  Man  floh  auf  verschiedenen  Wegen,  per  diversos 
tramites,  51,  hier  zum  Hochgestade,  dort  zu  den  Inseln.  So 
mag  sich  auch  der  Hinterhalt  hinter  der  Wasserleitung  ö“’ 
i/rr«j>  usTimp.ii)  des  Libanios,  541,  und  an  den  Gräben,  fossae 
des  Ammian,  27,  erklären. 

In  anderen  Fällen  ist  der  eine  Schriftsteller  vollständiger 
als  der  andere.  Ammian  schildert  in  zwei  Absätzen  erst  das 
Halten  des  Severus  und  dann  seinen  Erfolg,  27  und  37,  Libanios 
nur  den  letzteren,  541.  Dieser  spricht  von  dem  Gepäck  und 
dem  Eingreifen  der  Trossbuben,  542,  Ammian  schweigt  darüber. 
Ammian  malt  die  Flucht  der  römischen  Reiterei,  37,  Libanios 
die  des  alamannischen  Fussvolks  aus.  541;  Ammian  gebraucht 
bei  der  Reiterei  die  Phrase:  „Die  ersten  hinderten  die  letzteren 
ini  Fliehen“,  primi  fugientium  postremos  impcdiunt.37,  und  Libanios 
bei  dem  Fussvolk:  „Die  vordersten  rissen  die  weiter  hinten 

stehenden  in  die  Flucht  hinein“,  7->-pr(c  7->YV  «xouoj;»  cr,c  t<öv 


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280 


-ptlrzu uv  t r(v  -mv  oeuTspa»,  541.  Julian  wird  die  Wendung  nur  einmal 
gebraucht  haben  und  Wer  hat  sie  nun  an  den  unrichtigen  Platz 
gebracht?  Oder  war  dies  eine  bei  Schlachtenschilderungen 
geläufige  Form?  Ammiau  wendet#  sie  bei  der  Schlacht  von 
Solicomnum  noch  einmal  an:  „Die  vordersten  mischten  sich 

unter  die  hintersten“,  miscentur  ultimis  primi,  27,  10,  15. 

Wirkliche  Widersprüche  liegen  endlich  in  zwei  Fällen  vor. 
Nach  Libanios  wartete  Julian  mit  dem  Aufbruch  von  Zabern, 
bis  ihm  berichtet,  dass  30  000  Alamannen  über  den  Rhein  ge- 
setzt seien,  541,  eine  ganz  unhaltbare  Nachricht,  während  er 
nach  Ammian  erst  auf  dem  Schlachtfclde  erfuhr,  dass  sie  drei 
Tage  und  drei  Nächte  zum  Uebersetzen  gebraucht  hätten,  10. 
Der  gefangene  Chnodomar  benahm  sich  nach  Ammian  demüthig, 
nach  Libanios  stolz.  Ich  habe  schon  S.  122  nachzu  weisen  ge- 
sucht, dass  die  letzte  Nachricht  die  innerlich  wahrscheinliche 
sei,  und  darf  wohl  folgern,  dass  die  Verurtheilung  des  Libanios 
durch  Hecker  nicht  begründet  ist. 

Zum  Schlachtfeld. 

Der  (S.  106)  auch  von  mir  vertretenen  Ansicht  gegenüber, 
Julian  habe  von  Zabern  aus  die  römische  Strasse  nach  Strass- 
burg verfolgt  und  die  Alamannen  nicht  weit  von  dieser  Stadt 
geschlagen,  ist  von  Borries  der  Meinung,  der  Cäsar  habe  von 
Zabern  aus  die  römische  Strasse,  die  über  Brumath  nach  Selz 
führte,  bis  Weitbruch  benutzt  und  das  Schlachtfeld  sei  zwischen 
Brumath  und  Bischweiler,  näher  zwischen  Weiersheim  und 
Gries  gelegen.  Diese  Ansicht  hat  vermöge  einer  Reihe  von 
topographischen  Einzelheiten  sehr  viel  Ansprechendes,  scheitert 
aber  an  zwei  Umständen,  einmal  an  dem  Ried,  das  die  Ala- 
mannen hier  im  Rücken  gehabt  hätten  und  in  dessen  (für 
die  damalige  Zeit  nach  Wiegand  anzunehmendem)  Sumpf  stecken 
geblieben  sein  würden,  statt  flüchtig  an  den  Rhein  zu  ge- 
langen, und  sodann  an  der  weiten  Entfernung  von  Strass- 
burg. Zwar  sagt  Nissen,  der  gleichfalls  das  Schlachtfeld 
etwa  nach  Bischweiler  verlegt,  unter  prope  oder  apud  Argento- 
ratum  könne  ebenso  gut  eine  deutsche  Meile  wie  das  drei-  und 
vierfache  verstanden  werden.  Aber  entscheidende  Schlachten 
werden  in  allen  Zeiten  nach  Orten  der  Nachbarschaft  benannt, 
und  wenn  deren  Namen  noch  nicht  weltbekannt  sind,  so  werden 


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sie  es  eben.  Wenn  Nissen  sagt,  dem  Ammian  wie  seinen 
Lesern  seien  äusserst  wenige  Namen  aus  barbarischen  Gegenden 
bekannt  gewesen,  und  er  habe  daher  die  Ortsbestimmungen  prope 
und  apud  im  weiteren  Sinne  verwendet,  so  ist  zu  bemerken, 
dass  Ammian  und  seine  Leser  ja  schon  die  Namen  Brocomagus, 
Brnmath,  kannten,  wo  der  Cäsar  bereits  vor  einem  Jahr  den 
Alamannen  eine  siegreiche  Schlacht  geliefert  hatte,  16,  2,  12, 
und  Brocomagus  wäre  der  passende  Name  auch  für  die  zweite 
Schlacht  gewesen,  wenn  sie  in  seiner  Nähe  geschlagen  worden. 
Ammian  hat  ihr  jedoch  nicht  erst  nach  30  Jahren  künstlich 
den  Namen  gegeben,  sondern,  als  sie  vor  den  Thoren  der  Stadt 
Strassburg  geschlagen,  wird  ihr  von  selbst  der  Strassburger 
Name  zugefallen  sein,  pugna  prope  urbem  Argentoratum. 

Aber  bedeutet  denn  urbs  nur  die  Stadt?  Kann  unter  dem 
Wort  nicht  auch  das  Stadtgebiet,  die  civitas  von  Strassburg 
verstanden  werden?  Von  Borries  zeigt,  dass  sie  nach  der 
Notitia  Galliarum  und  der  Notitia  dignitatis  civitas  Argentora- 
tensium  oder  tractus  Argentoratensis  hiess,  und  bestimmt  deren 
Gebiet  von  der  Grenze  der  Maxima  Sequanorum  bis  zum  Selz- 
bach. So  wunderlich  nun  auch  in  der  Provinz,  die  seit  400 
Jahre  römisch  war,  die  Bezeichnung  einer  grossen  Schlacht 
nach  einem  geräumigen  Gebiete,  nein  nicht  nach  dem  Gebiete, 
sondern  nach  seiner  Nachbarschaft  ist,  enthält  doch  der  Ge- 
danke von  Borries’,  die  Schlacht  sei  in  der  Nähe,  prope  oder 
apud  civitatem  Argentoratensium  geschlagen,  eine  Unmöglichkeit, 
denn  Bruinath  oder  Bischweiler  liegen  nicht  in  deren  Nähe, 
sondern  mitten  darin.  Auch  haben  für  die  Nähe  der  Stadt 
Strassburg  selbst  Hieronymus  und  Cassiodorus  das  unzweideutige 
Wort  apud  Argentoratum  oppidum. 


4.  Zum  Ausgang  der  Juthungen. 

Baumann,  der  die  Juthungen  nicht  für  identisch  mit  den 
Sueven , sondern  für  einen  Tlieil  des  Suevo  - alamannischen 
Stammes  hält,  „wie  die  Lentienser  und  Bucinobanten“,  erzählt 
von  dem  Niedergang  dieses  Theils  fern  von  der  Heimath,  und 


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giebt  damit  der  alemannischen  Geschichte  des  5.  Jahrhunderts 
eine  umfassende  Grundlage,  neben  welcher,  wenn  sie  begründet 
wäre,  meine  Darstellung  über  die  Ansiedlung  im  Donaugebiet 
(S.  189  — 201)  nicht  aufrecht  erhalten  werden  könnte. 

Was  wir  wissen,  ist  aus  folgenden  Notizen  zu  entnehmen : 

Tiro  Prosper  erzählt  zum  Jahre  429:  Aetius  Juthingorum 
gentem  delere  intendit. 

Apollinaris  Sidonius,  dessen  Grossvater  und  Vater  praefecti 
praetorio  Galliarum  waren,  wurde  der  Schwiegersohn  des  Avitus, 
eines  Kriegsgenossen  des  Aetius,  und  als  Jener,  455  zum  Kaiser 
gewählt,  bei  Beginn  des  nächsten  Jahres  das  Consulat  erworben 
hatte,  schilderte  sein  Schwiegersohn  die  Grossthaten  des  Avitus 
und  damit  die  des  Aetius,  an  denen  er  betheiligt  war,  in  einem 
Lobgedicht.  Sidonius  wurde  später  praefectus  der  Stadt  Rom 
und  dann  Bischof  bei  den  Arvernern,  so  dass  Gregor  2,21 
von  ihm  sagen  kann:  Er  war  ein  Mann  von  dem  vornehmsten 
Adel  nach  seiner  Stellung  in  der  Welt  und  von  einer  der  ersten 
Familien  Galliens  abstammend.  so  dass  er  die  Tochter  des 
Kaisers  Avitus  sich  zur  Gattin  erwählen  konnte.  Vir  secunduni 
saeculi  dignitatem  nobilissimus  et  de  primis  Galliarum  senatoribus, 
ita  ut  flliam  sibi  Aviti  imperatoris  in  matrimonium  sociaret. 

Die  feiernden  Worte  des  Sidonius  auf  Aetius  und  Avitus 
in  seinem  Carmen  VII,  panegyricus  dictus  Avito  Augusto, 
238—235  lauten  dahin: 

Nam  post  Juthnngos  et  Norica  bella,  subacto 
Victor  Vindelico,  Belgam,  Burgundio  quem  trux 
Presserat,  absolvit  (Aetius)  jnnctus  tibi. 

Sidonius  ist  vermöge  seiner  Stellung  und  durch  seine  ver- 
wandtschaftlichen Beziehungen  zu  Avitus  ein  Kundiger  ersten 
Ranges  und  um  so  mehr  von  untadlicher  Zuverlässigkeit,  als  er 
in  diesen  drei  Versen  die  Thateu  seines  Schwiegervaters  nicht 
wie  ein  Poet  schildert,  sondern  wie  der  nüchternste  Chronist 
aufzählt,  und  es  erscheint  daher  die  Kritik,  welche  Baumann 
an  den  von  Sidonius  erwähnten  Thatsachen  übt,  von  vornherein 
verfehlt.  Aber  auch  seine  einzelnen  Einwendungen  seien  gehört. 

Zwischen  dem  vindelikischcn  und  burgundiouischen  Feldzug 
fehle  der  Krieg  gegen  die  ripuarischen  Franken;  aber  Avitus 
wird  an  ihm  nicht  theilgenouimen  haben.  Keine  andere  Quelle 
nenne  die  Burgundionen  als  die  Bedrücker  Belgiens;  Sidonius 


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283 


ergänzt  mithin  die  übrigen  Mittheilnngen.  Vindeliker  hätten  als 
solche  seit  Jahrhunderten  nicht  mehr  existirt:  aber  Vindeliker 
ist  der  geschichtliche  Name  für  die  Bewohner  des  zweiten 
Rätiens.  Vindeliker  und  Noriker,  seit  zwei  Jahrhunderten 
Patrioten  des  Rönierreichs,  sollten  sich  gegen  dieses  erhoben 
haben?;  so  lässt  sich  eine  positive  Nachricht  nicht  beseitigen 
und  man  kann  an  Steuerdruck,  Mangel  an  Schutz  oder  dergl. 
denken.  Sie  sollten  sich  mit  ihren  Feinden,  den  Juthungen  ver- 
bündet haben?  Das  ist  nicht  gesagt.  Dann  heisst  es  wider- 
sprechend, Sidonius  habe  wohl  einen  nicht  gerade  bedeutenden 
Feldzug  zn  einem  grossen  Krieg  aufgebauscht  und  vielleicht, 
verführt  durch  die  Namen  Juthungen  und  Noren  (siehe  unten), 
in  gutem  Glauben  an  die  ferne  Donau  versetzt:  aber  keins  von 
beiden  ist  geschehen.  Der  Kriegsschauplatz  wird  allerdings  für 
den  unbefangenen  Leser  in  der  Donaugegend  sein,  wo  die  be- 
siegten Völker  Juthungen,  Vindeliker  (Rätier)  und  Noriker 
nebeneinander  wohnten,  wie  es  S.  192  dargestellt  ist.  Unan- 
getastet geht  aus  der  Kritik  Baumanns  nur  die  Nachricht  hervor, 
dass  Aetius  und  Avitus  die  Juthungen  — irgendwo  — ge- 
schlagen habe. 

Bauniann  wendet  sich  dann  zu  den  Mittheilungen  des  Hydatius, 
des  Bischofs  von  Gallaecion,  dem  wir  zuverlässige  Notizen  zur 
Geschichte  seiner  Zeit  verdanken.  Seine  Nachrichten  lauten 
zum  Jahr: 

430.  Per  Aetium  coinitem  haud  procul  de  Arelati  quaedam 
Gothorum  mauus  extinguitur.  Juthungi  per  eum  similiter  debel- 
lantur  et  Nori. 

431.  Aetius  dux  utriusque  uiilitiae  Noros  edomat  rebel- 
lantes.  (Hydatius  episcopus)  ad  Aetium  duceni.  qui  expeditionein 
agebat  in  Gallis,  suscepit  legationem. 

432.  Susperatis  per  Aetium  in  certamine  Francis  et  in 
pace  susceptis,  Censorinus  mittitur  ad  Suevos  in  Hispaniam. 

Aus  Hydatius  ist  also  zu  entnehmen,  dass  Aetius  siegreiche 
Expeditionen  unternahm:  430  gegen  die  Gothen  in  Arles  und 
gegen  die  Juthungen  und  Noren,  431  eine  zweite  gegen  die 
Noren  und  eine  weitere  in  Gallien,  432  gegen  die  Franken, 
während  von  den  Videlikern  nicht  die  Rede  ist.  Sie  verschwinden 
auch  gänzlich  aus  der  Beweisführung  Baumanns. 


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284 

Er  sieht  nun  in  den  Noren  des  Hydatius  nicht  Noriker  der 
Donau,  denn  die  hiessen  ausnahmslos  Norici,  niemals  Nori,  und 
von  dem  Römer  Hydatius  dürfe  nicht  vermuthet  werden,  dass 
er  die  Namen  abendländischer  Provinzen  nicht  recht  gewusst 
habe.  Sidonius  spricht  von  Norica  bella,  und  dem  im  äussersten 
Spanien  wohnenden  Hydatius  wird  man  schon  eine  Incorrektheit 
zu  Gute  halten  können. 

Wenn  aber  auch  die  Nori  Noriker  seien,  so  sei  doch  der 
Krieg  an  der  Donau  zeitlich  unmöglich.  Nach  Hydatius  fällt 
in  das  Jahr  430  der  Krieg  des  Aetius  gegen  die  Gothen  bei 
Arles  und  gegen  die  Juthungen  und  Noren  (Noriker),  in  das 
Jahr  431  der  zweite  Kampf  gegen  die  Noren  und  die  Rückkehr 
des  Aetius  nach  Gallien.  Baumann  meint  nun,  Aetius  habe 
Hin-  und  Rückweg  nicht  durch  Helvetien  nehmen  (da  es  schon 
alamannisch  gewesen),  oder  den  Weg  nur  um  den  Preis  eines 
Krieges  erzwingen  können,  den  Hydatius  kaum  verschwiegen 
haben  würde.  Für  den  Umweg  über  Italien  nach  dem  Juthungen- 
land,  Rätien  und  Noricum  und  zurück  reiche  aber  die  nach 
Hydatius  zu  berechnende  Zeit  nicht  aus.  Die  Voraussetzung, 
dass  das  helvetische  Alamannien  den  Römern  feindlich  gewesen, 
erscheint  jedoch  als  eine  ebenso  willkürliche,  wie  die  Annahme, 
dass  Hydatius,  dem  wir  keine  Geschichte,  sondern  nur  Notizen 
zur  Geschichte  verdanken,  über  einen  Krieg  hätte  berichten 
müssen. 

Nach  diesen  negativen  Ausführungen  drängt  sich  dem  nun- 
mehr zu  den  positiven  übergehenden  Baumann  der  Schluss  auf, 
dass  Aetius  die  Noren  und  Juthungen  nicht  an  der  Donau, 
sondern  in  Gallien,  und  zwar  auf  dem  Wege  von  Arles  in  das 
Gebiet  der  Ripuarier  besiegt  habe. 

In  der  angegebenen  Richtung  findet  er  einen  pagus  Wares- 
corum  und  südlich  davon  den  schon  erwähnten  pagus  Scutingorum. 
Im  ersteren  sassen  die  germanischen  Warasci,  Warasti,  früher 
am  oberpfälzischen  Regen,  Regnurn,  genannt  Naristi,  Narisci, 
nach  Baumanu,  wie  er  glauben  möchte,  die  Nori  des  Hydatius, 
eine  kürzere  Form  für  Naristi.  Wären  die  Besiegten  des  Avitus 
Naristen,  so  würden,  dünkt  mich,  die  Kriege  bei  Sidonius  wohl 
Narista  bella  heissen,  nicht  Norica;  die  Form  Nori  und  Norici 
ist  für  sie  nicht  nachzuweisen. 


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285 


In  dem  zweiten  pagus  dagegen,  der  Thallandschaft  Scodinga, 
Scudingum,  dem  pagus  Scudensis  oder  Scodingorum,  der  nach  den 
Scudigni,  Scotigni  genannt  ist,  sieht  Banmann,  wie  der  Name  zeige, 
Juthungen,  nicht  eiue  Colonie  derselben,  sondern  die  Reste  des 
ausgewanderten  Volkes  selbst  (Siehe  dagegen  oben  S.  203  und 
209  und  vergleiche  über  beide  Huntaren  Zeuss  584  — 586). 
Wenn  er  weiter  ausführt,  diese  Scudigni  seien  die  Alamannen, 
welche  die  Mönche  von  St.  Contadisco  belästigt  haben  (S.  204), 
so  ist  das  wohl  nicht  anzunehmen,  denn  ganz  von  Burgundionen 
umgeben  (wenn  sie  nicht  bereits  vertrieben  waren),  konnten 
doch  die  Scudigner  nicht  wagen,  ein  burgundionisches  Kloster 
zum  Gegenstand  ihrer  Raubzüge  zu  machen. 

Sind  diese  Fäden,  so  fein  ausgesponnen,  nicht  haltbar,  so 
darf  ich  mich  darauf  beschränken,  darzustellen,  zu  welchem 
Gewebe  sie  verknüpft  sind. 

Die  Juthungen,  sagt  Baumann,  wanderten  407  oder  413  nach 
Gallien  in  das  Land  der  Sequaner  aus;  die  Naristen  schlossen 
sich  ihnen  an.  Sie  besetzten  unter  andern  Langres,  Besan^ou, 
Nancois  le  grand  und  Maudeure  (S.  203).  Aber  Aetius,  der 
Wiederhersteller  der  alten  Reichsgrenzen,  schlug  sie,  bereitete 
den  Juthungen  schon  bei  dem  ersten  Angriff  das  Loos  der 
Burgunder,  er  rottete  sie,  wie  es  scheint,  grösstentheils  aus; 
die  Xaristi-Noren  machten  einen  zweiten  Feldzug  nöthig.  In 
Folge  der  totalen  Niederlage  der  Juthungen  fielen  die  genannten 
Orte  wieder  an  das  Reich  (in  Wahrheit  fielen  sie  an  die  Burgun- 
dionen),  die  Reste  der  Besiegten  wurden  in  die  öden  Juraberge 
von  Salins  verpflanzt.  Rings  umgeben  von  Romanen,  konnten 
sie  ihre  Nationalität  nicht  retten  und  gingen  frühzeitig  unter 
den  Romanen  auf.  Durch  den  Auszug  der  Juthungen  war  das  Ge- 
biet an  der  Donau  mindestens  halb  entvölkert,  sie  wurden  durch 
keine  Einwanderer  ersetzt.  So  kam  es,  dass  das  Land  rechts 
der  Donan,  trotz  seiner  Offenheit  und  Schutzlosigkeit  von  den 
Alamannen  bis  nach  der  Schlacht  von  496  nicht  besetzt,  sondern 
nur  wiederholt  mit  Raubzügen  heimgesucht  wurde. 

Soweit  die  Baumannsche  Juthungenhypothese.  Sie  soll  mit 
der  Auswanderung  des  Juthungenvolkes  einerseits  die  Ent- 
völkerung ihrer  Heimath  und  deren  Besiedlung  erst  nach  496, 
andererseits  die  Besitzergreifung  und  Niederlage  der  Juthungen 
in  Gallien,  sowie  die  Ansiedlung  des  Restes  der  Scudigni  und 


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286 


im  Uebrigen  das  Verschwinden  der  Jnthungeu  ans  der  Geschichte 
erklären.  Banmanu  last  das  kräftigste  der  Alamanncuvölkcr 
im  Jura  verkümmern,  während  es  als  Suevenvolk  kolonisirend 
weit  um  sich  griff  und  den  Suevennameu  über  den  hinsterbenden 
Namen  der  Alamannen  erhöhte. 


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Zweites  Buch. 


Die  Grafenzeit. 


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Neuntes  Kapitel. 

Die  Grafschaftsuerfassung. 

1.  Der  Ausbau  des  Landes. 

Wie  im  3.  und  4.  Jahrhundert  im  Stammland,  so  erfolgte 
im  5.  und  6.  die  Besiedelung  in  Neualamannien.  Es  wurden 
Gaue,  Huntaren,  Zehntsehaften  gegründet.  Die  zehn  neuen 
Gaue,  welche  alamaunisch  blieben,  grenzten  an  Flüsse  oder 
schlossen  sie  ein.  Es  waren  in  Deutschland  im  Norden  der 
Donau  der  Biesgau,  im  Süden  des  Flusses  der  Donaugau  (?), 
der  Illergau,  der  östliche  Augstgau,  am  Bodensee  und  in  Voral- 
berg  der  südliche  Alpgau,  speziell  im  Eisass  der  Nortgau  und 
Sundgan,  in  der  Schweiz  der  westliche  Augstgau,  der  Aargau 
und  Thurgau.  Schon  im  8.  Jahrhundert  zerflei  der  Aargau  in 
den  obern  und  untern,  und  der  Thurgau  in  den  Thurgau  und 
Zürichgau.  In  den  Zehntsehaften  und  Huntaren  entwickelten 
sich  die  Marken.  Es  ist  (S.  223)  bereits  erwähnt,  dass  im  Anfang 
des  ti.  Jahrhunderts  Ennodius  es  pries,  wie,  von  zahlreichen 
einwandernden  Stammesgeuossen  befruchtet,  das  Alamaunenland 
unter  der  friedenschützenden  Herrschaft  des  König  Theoderich 
von  dichten  Ansiedlungen  bedeckt  war.  Mag  in  diesen  Worten 
auch  rhetorische  Uebertreibung  enthalten  sein,  so  ist  doch  an- 
zunehmen, dass  das  Land  in  seinen  besten  Lagen,  den  Ebeneu, 
bald  mit  Dörfern  ilbersäet  war.  Es  waren  Gewannfluren,  die 
sich  um  sie  ausdehnten.  In  dieser  Richtung  hebt  Meitzcn  von 
den  ueualamannischen  Landstrichen  die  Flächen  zwischen  der 
Donau,  der  Iller  und  dem  Lech,  die  Bezirke  von  Kempten, 
Immenstadt,  Bregenz,  die  Umgebungen  des  Bodensees,  die  Rhein- 
ebene des  Eisass  und  die  Vorderschweiz  bis  an  die  Hänge  der 
Hochalpen  hervor. 

Cr  » liier,  Ueschiohte  (1er  Alamannen.  ly 


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290 


Dann  kam  eine  Zeit,  in  der  das  besiedelte  Flachland  zur 
Herberge  und  Unterhaltung  der  wachsenden  Bevölkerung  nicht 
mehr  ausreichte.  Die  alte  Gewöhnung,  über  die  Grenzen  zu 
gehen,  war  nunmehr  ausgeschlossen ; die  kriegerische  Kraft  der 
fränkisch  gewordenen  Alamannen  war  gebrochen,  und  Franken, 
Burgundionen  und  Baiern  hatten  unter  der  Oberhoheit  des 
fränkischen  Reichs  friedliche  Nachbarschaft  zu  halten.  Man 
musste  also  zu  dem  inneren  Ausbau  des  Landes  übergehen;  der 
Wald,  das  grosse  bis  dahin  unfruchtbare  Kapital  des  Landes 
wurde  durch  Rodung  der  Kultur  zinsbar  gemacht,  im  Anfang 
wohl  im  Wege  freier  Besitznahme,  dann  unter  Zustimmung  der 
Berechtigten,  der  Markgenossen  oder  des  fränkischen  Königs, 
eine  Entwickelung,  die  in  verschiedenen  neben  einander  her- 
laufenden  Formen  sich  bis  tief  in  das  Mittelalter  erstreckte. 

Die  Siedlung  im  Wald  geschah  einmal  in  der  alten  genossen- 
schaftlichen Form  des  Dorfsystems.  Wo  es  dem  jungen  Nach- 
wuchs zu  enge  wurde,  da  lichtete  er  mit  Feuer  und  Axt  den 
benachbarten  Markwald  der  Zehntschaft  oder  Huntare,  gewann 
neues  Saatland  und  baute  zu  dem  Mutterdorf  ein  Tochterdorf, 
dem  im  Lauf  der  Zeit  sich  wohl  weitere  anschlossen.  Ihnen 
wurde  das  neue  Feld  überwiesen,  während  Weide  und  Wald 
der  Zehntschaft  oder  der  Huntare  gemeine  Mark  blieb.  Oder 
mau  überliess  fremden  Einwanderern,  sich  in  ihr  den  Wohnort 
und  den  Acker  zu  schaffen.  Während  so  der  Wald  und  mit 
ihm  sein  Begleiter,  der  Sumpf  sich  zurückzog,  schoben  sich  die 
Wohnstätten  und  Saatfelder  voran,  verliessen  die  Ebene,  wo 
diese  nicht  mehr  Raum  bot,  und  stiegen  die  Hügel  empor,  wo 
sie  zum  Ausbau  lockten. 

Neben  den  Gewanndörfern  entwickelte  sich  das  Hofsystem 
weiter.  Der  Einzelhof  hatte  zwar  das  Ackerland  ausserhalb 
des  Hufenlandes,  aber  daneben  Theil  an  der  gemeinen  Mark. 
Nun  wurden  Höfe  von  grossem  Umfang  geschaffen,  von  Acker- 
land, Wiese,  Wald  und  Weide  umgeben,  und  diese  durch  Ein- 
zäunung von  der  Mark  erst  thatsächlich,  dann  rechtlich  aus- 
geschlossen, Rodungen  mit  Bifang.  Es  waren  die  Grossen  und 
Reichen,  die  derartige  Bilange  anlegten;  sie  bauten  darin  einen 
Herrenhof  (Frohnhof)  und  gaben  an  ihre  Hörige  und  an  Freie 
Land  zur  Bewirthschaftung  in  eigenen  Höfen  gegen  Zins  aus. 
Daraus  entsprang  die  Grundherrlichkeit,  ein  System,  dass  im 


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291 


Anschluss  an  das  Beeilt  der  fränkischen  Könige,  das  unbebaute 
Land  in  Besitz  zu  nehmen,  eine  grosse  Ausdehnung  gewann. 

Die  Ausübung  dieses  Rechts,  des  Bodenregals,  erwies  sich 
wirkungsvoll  sowohl  für  genossenschaftlichen  Besitz,  wie  für  die 
Anlage  von  Höfen.  Die  Könige  übertrugen  es  an  Gemeinden 
(Nachbarn),  und  zwar  im  fränkischem  Norden  unter  Auferlegung 
des  Medern,  der  Abgabe  einer  Ertragsquote  von  wenigstens 
einem  Siebentel.  Nachweisbar  ist  der  Medern  am  linken  Rhein 
in  der  Moselgegend,  südlich  im  Saar-,  Trier-,  Nahegau,  Worms- 
feld, Hundsrück,  Trechhere,  nördlich  im  Bietgau  und  Mainfeld; 
am  rechten  Rhein  um  die  Lahn,  den  Main  und  den  untern 
Neckar  im  Engersgau,  Lahngau  (mit  Haiger),  Wetterau,  Lobden- 
gau,  (Schröder  die  Franken  und  ihr  Recht).  Die  Könige  legten 
aber  auf  unbebautem  Boden  auch  eigne  Höfe  an,  oder  übertrugen 
ihn  zu  demselben  Zweck  in  grossen  Massen  durch  Schenkungen, 
Rodungsprivilegien  an  den  Herzog,  die  Grafen  und  sonstige 
Grosse,  an  die  Kirche  und  insbesondere  an  die  Klöster,  und  bis 
zum  10.  Jahrhundert  erstanden  königliche  und  sonstige  welt- 
liche, wie  kirchliche  Frohnhüfe  sammt  den  abhängigen  Höfen 
der  Zinsleute. 

Das  Recht  der  Krone  ging  mit  der  erstarkenden  Landes- 
herrlichkeit an  die  Landesherrn  über  und  1291  verbot  ein  Reichs- 
gesetz als  ihnen  gehörig  die  Occupation  noch  unbesetzten 
Grenzlandes  Freie  Markgenossen  trugen  ihnen  und  andern 
Grundherrn  ihre  Hufen  auf,  um  deren  Schutzes  sicher  zu  sein 
und  erwarben  ihren  Besitz  gegen  Zins  zurück.  Als  Obermärker 
gewannen  die  Laudesherrn  auch  über  das  Markland  eine  ein- 
flussreiche oder  gebietende  Stellung.  Markland  und  Hofesland 
ging  in  einander  über,  Freiheit  und  Hörigkeit  schmolzen  zur 
Untertänigkeit  zusammen. 

Neben  Gewanndörfern  und  Höfen  gab  es  noch  ein  drittes 
System,  das  der  Weiler.  Während  die  Dörfer  ursprünglich 
10  — 30  Wohnstätten,  Hufen  und  Hüfner  zählten,  bestand  der 
Weiler  aus  3 — ß Höfen.  Wie  dort  die  äusserste  Regelmässig- 
keit in  Gewannen  und  Ackerstreifen  und  Gleichheit  des  Besitzes 
herrschte,  so  hier  Willkür  nach  Lage  und  Maas,  auch  nach  der 
Form  der  einzelnen  Ackerstücke;  sie  war  eine  streifen-  oder 
auch  blockartige.  Nur  die  Gemenglage  war  dieselbe.  Während 
die  Dörfer  das  Flachland  aufgesucht  hatten,  fanden  sich  die 

19* 


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Weiler  „meist  in  den  durch  geringere  Fruchtbarkeit  oder  Un- 
ebenheit ungünstigen  Oertlichkeiten“.  Mit  dem  Hofsystem 
theilten  die  Weiler  die  verhältnissmässige  Nähe  des  Acker- 
besitzes, allerdings  im  Gemenge  durchbrochen  durch  den  der 
Nachbarn  an  Wiesen,  Weiden  und  Wald. 

Die  Weiler  liegen  insbesondere  auf  Hochebenen  und  an 
oder  in  den  Gebirgen,  und  durchbrechen  auch  die  Anlage  der 
Gewanndörfer,  man  darf  also  im  Allgemeinen  annehmen,  dass 
sie  erst  nach  der  Occupation  der  freien  Ebenen  und  des  günstig 
gelegenen  Waldes  entstanden  sind. 

Meitzen  sehliesst  wesentlich  aus  der  Regellosigkeit  und 
Willkür  ihrer  Anlage,  dass  sie  der  Anordnung  eines  Machthabers 
(Vaters,  Grundherrn)  entsprungen  seien  und  stellt  einen  genossen- 
schaftlichen Ursprung  in  Abrede,  aber  die  Gemenglage  der 
Grundstücke  lässt  doch  auch  die  Annahme  genossenschaftlichen 
Ausbaus  Zu,  bei  dem  die  geringere  Beschaffenheit  der  Grund- 
stücke dem  Belieben  des  einzelnen  Anbauers  einen  weiten  Spiel- 
raum liess. 

Grössere  Höfe  wurden  durch  Theilung  vielfach  zu  Weilern, 
Weiler  wuchsen  vielfach  zu  Dörfern  heran. 

Die  Weiler  waren  eine  charakteristische  Ansiedlungsform  der 
Alamannen  und  Baiern  und  der  Ausdruck  Weiler,  villa,  vilare 
war  zumal  bei  Jenen  eine  weitverbreitete  Endung  der  Ortsnamen. 

Nach  Meitzen  finden  sich  von  Ge  wannfluren  scharf  abgegrenzte 
Weilergebiete  im  Stammlande,  und  zwar  dem  Odenwald  und 
Schwarzwald,  wie  in  Neualamannien,  hier  wesentlich  ausserhalb 
der  beiden  Limes,  ein  Beweis,  welche  fruchtbareren  Landstriche 
die  Römer  des  Schutzes,  und  welche  geringeren  die  Alamannen 
im  3.  Jahrhundert  der  Ansiedlung  werth  hielten.  Die  aussen 
gelegenen  Landstriche  waren  schon  im  3.  Jahrhundert  die  Sitze 
der  Burguudioncn  und  der  Armalausen  und  erscheinen  im  5.  Jahr- 
hundert von  den  Alamannen  bis  zur  Wörnitz,  und  darüber  hinaus 
von  den  Baiern  eingenommen.  Die  fruchtbaren  Thäler  des  Main 
und  der  Tauber  gehören  dem  Gebiet  der  Gewannfluren  an,  mit 
Weilern  dagegen  sind  von  Alamannen  bedeckt  (ohne  übrigens 
Gewanndörfer  völlig  auszusehliessen):  zwischen  dein  Main  und 
der  Donau  das  grosse  Plateau,  das  sich  von  Miltenberg  aus  zur 
Tauber  erstreckt,  der  mittlere  und  obere  Lauf  der  Jagst  und 
des  Kocher,  die  hohenloher  Ebene,  das  Härdtl'eld  und  — nur 


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203 

auf  einer  kleinen  Strecke  über  die  Limes  eindringend  — der 
Welzheimer  Wald  und  das  Aalbuch  bis  Ulm ; ferner  im  Süden 
der  Donau  in  Oberschwaben,  in  Vorarlberg  und  der  Schweiz. 
Hier  finden  sich  nach  der  Riese’sehen  Karte  (S.  250)  zusammen- 
hängende Mengen  von  Orten  mit  der  Endung  weiler,  und  zwar 
an  den  Abhängen  des  Schwarzwaldes,  im  Norden  der  Donau 
jenseits  der  Limes  und  an  beiden  Seiten  des  oberen  Bodensees, 
sowohl  in  Oberschwaben  (abgesehen  von  dem  die  Donau  be- 
gleitenden Strich  der  Namen  auf  ingen,  S.  252)  wie  in  der 
Schweiz. 

Die  Gewöhnung  der  Siedlung  in  Dörfern,  Weilern  und 
Einzelhöfen  ist  geblieben.  Nach  der  württembergischen  Statistik 
von  1881,  bei  der  ich  „Städte,  Pfarrdörfer  und  Dörfer“  zu 
Dörfern,  „Pfarrweiler  und  Weiler“  zu  Weilern  zusamnienreclme, 
gab  es 


in  den  Kreisen 

Dörfer, 

Weiler, 

Einzelhöfe 

Neckar 

396 

269 

138, 

Schwarzwald 

51 1 

342 

277, 

Jagst 

409 

1082 

528, 

Donau 

524 

1552 

1644. 

Die  Weilerzone  der  Baiern  erstreckt  sich  im  Norden  der 
Donau  über  die  Altmühl,  Rezat,  Naab,  den  Regen,  den  bairischen 
Wald  und  den  zwischen  Regensburg  und  Passau  zur  Donau 
abfallenden  Plateaurand,  und  an  der  anderen  Seite  des  Flusses 
über  den  Südosten  von  Nieder-  und  Oberbaiern.  Von  hier 
dringen  die  Weiler  südlich  und  östlich  in  die  offenen  Thäler, 
hier  lagern  sie  auf  vortrefflichem,  selbst  für  Gewannfluren  ge- 
eignetem Boden. 

Zu  den  Rodungen  im  Wald  und  zu  den  Weileranlagen,  die 
bis  auf  das  6.  Jahrhundert  zurückzuführen  sein  werden,  gesellte 
sich  die  innere  Umgestaltung  der  Zehntmark  und  die  Auflösung 
derHufenverfassung.  welche  schon  aus  den  Urkunden  des  8.  Jahr- 
hunderts zu  entnehmen  sind. 

In  den  Zehntmarken  waren  die  Gehöfte  der  Dörfer  und 
deren  Gewannfluren  von  jeher  in  dem  ausschliesslichen  Besitz 
der  Gemeinschaft  der  Dorfgenossen  und  die  Nachbarschaft  brachte 


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294 


es  mit  sich,  dass  sie  die  Tlieile  der  Mark,  welche  sich  anschlossen, 
vor  den  anderen  Zehntgenossen,  dann  gleichfalls  ausschliesslich 
zur  Benutzung  zogen.  Es  lag  im  gegenseitigen  Interesse  der 
Dörfer,  sich  hier  gewähren  zu  lassen.  So  musste  sich  für  den 
einzelnen  Ort  das  Bewusstsein  ausschliesslichen  Besitzes,  aus- 
schliesslichen Rechts  entwickeln,  und  damit  trennte  sich  Dorf, 
Flur  und  nahe  Mark  als  Dorfmark  von  der  Zehntmark  los  und 
ergab  sich  die  politische  Organisation  des  Dorfs:  Versammlung 
der  Dorfgenossen,  Vorsteher  (Heimbürgen)  und  Dorfmark- 
zuständigkeit. 

Eine  ähnliche  Erscheinung  musste  sich  hinsichtlich  des 
Besitzes  des  einzelnen  Hüfners  herausstellen.  Das  Gehöft  wurde 
wohl  immer  als  sein  Eigen  betrachtet.  Mit  der  Zeit  schied  auch 
seine  Hufe  aus  dem  genossenschaftlichen  Besitz  aus  und  wurde 
sein  Eigen,  vorbehaltlich  der  Beschränkungen,  die  sich  ans  dem 
Flurzwang  und  aus  dem  Weiderecht  der  Genossen  ergaben. 

Damit  hörte  innerhalb  der  Dorfmarken  die  mit  der  Hufen- 
verfassung verbundene  Gleichheit  des  Besitzes  auf.  Die  Hufe 
wurde  theilbar.  Die  Eltern  vertheilten  sie  gleicbinässig  unter 
ihre  Kinder  und  es  gab  dann  halbe,  viertel,  sechstel,  achtel 
Hufen.  Dabei  wurde  jeder  einzelne  Gewannstreifen  getlieilt, 
erst  der  Länge(Splisstheile),  dann  auch  derBreite  nach(Trummer). 
„Erst  gesplisst  und  dann  getrumpft.“  Bisher  Zubehör  der  Land- 
hufe wurde  das  Markrecht  von  ihr  losgelöst.  Hufe  und  Hufen- 
theile  einerseits,  das  Markrecht  andererseits  wurde  vcräusserlich. 
Dieser  Neigung  zur  Zertheilung,  der  das  später  recipirte  römische 
Erbrecht  entgegenkam,  hat  unsere  Zeit  die  unendliche  Zer- 
splitterung des  Grund  und  Bodens  im  Alamannen-  wie  im  Franken- 
lande zu  verdanken.  Die  Beweglichkeit  des  Besitzes  führte 
weiter  hier  zur  Minderung,  dort  zur  Häufung  desselben  und 
erweiterte  den  Gegensatz  von  Klein-  und  Grossgrundbesitzern. 
Hatte  innerhalb  der  Dorftlur  der  Adel  bereits  einen  grösseren 
Landbesitz,  so  konnte  einen  solchen  auch  der  Reiche,  der  ver- 
möge seiner  Hörigen  und  seines  Viehs  die  Mittel  zum  wirth- 
schaftlichen  Grossbetrieb  hatte,  erwerben  und  ihn  durch  Rodung 
steigern.  Die  alamannischen  Gesetze  des  7.  und  8.  Jahrhunderts 
unterscheiden  den  Adel,  primi,  die  sonstigen  Grossgrundbesitzer, 
mediani  und  die  Kleingrundbesitzer,  minoflidi. 


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295 


Je  dichter  die  Bevölkerung  der  Zehntsehaften  und  Huntare, 
je  ausgedehnter  ihre  Besitznahme  wurde,  umsomehr  mussten 
die  Genossen  einander  entfremdet,  um  so  weiter  der  Weg  zu 
der  einigenden  Malstätte  werden.  Dann  schied  man  den  Verband 
in  zwei  Huntarm  und  es  gab  dann  statt  der  Einen  zwei  Huntaren- 
marken  mit  zwei  Malstätten,  und  statt  des  Einen  zwei  Hunnen. 
Oder  es  zogen  die  Genossen  oder  die  Grossen  aus  bewohnter 
Umgebung  in  die  Wildniss  von  Wald  und  Gebirge  hinaus,  siedelten 
sich  hier  rodend  an  und  bildeten  erstarkt  aus  den  neuen  Zehnt- 
marken mit  ihren  Dörfern  eine  neue  Huntare.  Die  Zahl  der 
Huntaren  eines  Gaues  vermehrte  sich  und  während  die  altern 
in  den  Flussthälern  und  Ebenen  zu  suchen  sind,  finden  sich  die 
jüngern  in  hohem,  weniger  fruchtbaren  Lagen.  Auch  in  fremden 
Gauen  sind  Ansiedlungen  benachbarter  Gaugenossen  zu  finden 
(Wirtemb.  Urkundenbuch  Nro.  132).  Die  Zehntsehaften,  Huntaren 
und  Gaue,  die  ursprünglich  isolirt  gelegen  hatten,  von  herrnloseu 
Waldgebieten  umgeben,  hatten  sich  einander  genähert,  aus  den 
Grenzgebieten  wurden  Grenzlinien,  und  der  Besitz  erstarrte  nun 
in  festen  Grenzen. 

Meitzen  findet,  dass  Oberdeutschland  zwar  Dorfmarken  von 
Weide  und  Wald  sowohl  genossenschaftlicher  wie  grundherr- 
licher Art  kennt,  dass  sich  dort  aber  „im  Wesentlichen  nur  in 
einem  wenig  ausgedehnten  nordwestlichen  Landstrich  marken- 
ähnliche Organisationen,  d.  h.  Wald  und  Weideländereien,  an 
welchen  die  Einwohner  verschiedener  Ortschaften  Nutzungs- 
rechte ausüben  und  für  welche  eine  besondere  genossenschaft- 
liche Verfassung  und  Verwaltung  besteht“,  befinden.  Gemeint 
sind  die  Marken,  die  ich  Zehnt-  und  Huntarenmarken  benenne. 
Die  Grimm'schen  Weisthümer,  welche  Meitzen  als  Quelle  benutzt, 
weisen  jedoch  solche  für  den  grössten  Theil  des  alamannischen 
Stammlandes  nach,  für  den  Westerwald,  den  Taunus  und  auch 
nach  Meitzen  selbst  für  die  Wetterau,  sowie  die  Gebiete  zwischen 
Main,  Neckar  und  Rhein  und  für  den  Schwarzwald.  Es  kann 
sich  also  nur  um  das  suevische  Gebiet  vom  Neckar  und  der 
Alb  und  um  das  deutsche  Neualamannien  handeln,  und  da  will 
ich  für  Oberschwaben  an  die  marcha  Argungaunensium,  Wirt.  132, 
und  die  grosse  Mark  Theuringen  am  Bodensee,  marcha  Duringas, 
Gail.  219  erinnern.  Es  dürfte  jedenfalls  bei  diesem  sonst  noch 
nicht  behandelten  Gegenstand  ausser  dem  Schweigen  der  Grimm'- 


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296 


sehen  Sammlung  noch  nähere  Untersuchung  abzu warten  sein. 
Vielleicht  auch,  dass  hier  früher  als  anderswo  eine  Aufteilung 
der  grossem  Marken  zu  Dorfmarken  stattgefuuden  hat.  Jeden- 
falls sind  jene  in  der  Schweiz  noch  jetzt  zu  finden. 


2.  Die  Verfassungsformen  des  alauiannisehen  Gesetzbuchs. 

Seitdem  im  Jahr  536  der  Süden  des  Landes,  welcher  allein 
den  Namen  Alamannien  bewahrte,  dem  fränkischen  Reich  an- 
gegliedert w'ar,  blieb  ihm  das  Stammesrecht,  soweit  es  nicht 
durch  Reichsrecht  abgeändert  wurde  (S.  225). 

Die  politischen  Formen,  welche  der  Zeit  der  Ansiedlung 
und  Freiheit  entsprochen  hatten,  gingen  in  fränkischer  Zeit  der 
Zersetzung  entgegen,  und  neue  entstanden,  dem  Bedürfnis  der 
Macht,  der  gesteigerten  Bevölkerung,  der  intensiveren  Cultur 
entsprechend.  Der  Gau,  der  Träger  des  Königthums,  wurde 
zur  Grafschaft  eines  fränkischen  Beamten,  welcher  nunmehr  die 
politischen  Functionen  übertragen  wurden. 

Was  sich  diesen  Entwicklungen  gegenüber  als  Stammes- 
recht erhielt  oder  bildete,  trug  den  Namen  Fhaat,  wie  wir  aus 
einer  Urkunde  des  König  Ludwig  von  867  erfahren,  welcher 
einigen  Bewohnern  des  Argengaus  auf  ihr  Ansuchen  das  volle 
Recht  der  Alamannen  verlieh,  ut  eis  liceret,  habere  plenam 
legem,  quae  vulgo  dicitur  Phaat,  sicutceteri  Alamanni.  Wirt.  142. 

Als  erste  amtliche  Sammlung  alamannischen  Rechts  ist  der 
Pactus  Alamannorum  aus  dem  Ende  des  6.  oder  dem  Anfang 
des  7.  Jahrhunderts  in  5 Fragmenten  auf  uns  gelangt.  Eine 
umfangreichere  ist  die  Lex  Alamannorum,  die  in  einer  Versamm- 
lung des  Alamannenstammes  unter  dem  Vorsitz  ihres  Herzogs 
zu  Stande  gekommen  ist.  Es  heisst  in  ihr:  Sic  convenit  duci 
et  omni  populo  in  publico  concilio,  Lex  41.  Post  conventum 
nostrum,  quod  conplacuit  cunctis  Alamannis,  Lex  37.  Ausserdem 
hat  in  einer  St.  Galler  Handschrift  aus  dem  Jahr  793  die  Lex 
die  Einleitung:  Convenit  enim  majoribus nato  populo  Allamannorum 
una  cum  duci  eorum  Laufrido  vel  citerorum  populo  adunato, 
Lex  1.  In  zwei  Handschriften  trägt  sie  die  Uebersclirift:  Lex 


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297 


Alamannorum,  qui  temporibus  Lanfrido  filio  (Gotofrido)  renovata 
est.  Lantl'ried  war  der  letzte  Herzog  der  ersten  Epoche  des 
Herzogthums,  welcher  7.10  starb.  Die  Mehrzahl  der  Hand- 
schriften hat  noch  einen  späteren  Prolog:  Incipit  lex  Ala- 

mannorum, quae  temporibus  Hlodharii  regis  una  cum  prineipibus 
suis,  id  sunt  33  episcopis  et  34  ducibus  et  72  comitibus  vel 
tetero  populo  constituta  est.  Sie  wäre  also  in  einer  Reichs- 
versammlung von  dem  fränkischen  König  Ohiothar  bestätigt; 
dieser  könnte  nur  Chlothar  IV.  sein,  welcher  717 — 719  regierte. 
Da  der  Herzog  Lantfrid  im  Kampf  mit  der  Reichsgewalt  erlegen 
war,  so  mochte  man  Bedenken  tragen,  seinen  Namen  an  der 
Spitze  der  Lex  zu  lassen  und  ersetzte  daher  Lantfrids  Namen 
durch  die  Wendung  temporibus  Hlodharii.  So  Brunner.  Chlothar 
kann  aber  auch  nicht  als  Zeitgenosse  des  Lantfrid  angesehen 
werden,  da  zwischen  Beiden  der  Herzog  Nebi  724  erwähnt  wird, 
so  dass  als  Abfassungszeit  nur  die  Regierung  des  730  gestorbenen 
Herzog  Lantfrid  bleibt. 

Nach  dem  Stammesrecht  zerfielen  die  freien,  also  politisch 
berechtigten  Alamannen  in  drei  Klassen,  in  die  Minoflidi  (die 
auf  ihrer  Fleet  Sitzenden)  oder  Liberi,  Gemeinfreie,  Kleinbesitzer 
mit  einem  Wergeid  von  160  solidi,  in  die  Mediani,  oder  Medii, 
den  niederen  Adel,  Mittelfreie  mit  einem  Wergeid  von  200  solidi 
und  in  die  Primi,  den  hohen  Adel  mit  einem  Wergeid  von  240 
solidi.  Während  die  zwei  ersten  Klassen  in  beiden  Rechts- 
qnellen  erwähnt  werden,  wird  der  Primi  nur  in  dem  Pactus 
gedacht,  so  dass  sie  zur  Zeit  der  Lex  bereits  verschwunden 
waren.  Pactus  II  36 — 40;  Lex  60. 

Das  Land  wurde  eine  Provinz  des  fränkischen  Reiches, 
infra,  extra  provinciam,  Lex  7,  24;  es  kommen  in  demselben 
Sinn  die  Ausdrücke  marcha,  termini  vor,  foris  marcha,  Pactus 
•J,  15;  extra  marcha,  Lex  46;  extra  termiuos,  45;  foris  ter- 
minum,  38;  später  auch  provincia  Alamannia  und  pagus  Ala- 
mannia  oder  Alamannorum. 

Die  Provinz  bildete  ein  Herzogthum,  dueatus  Alamanniae, 
dueatus  Alamannicus,  später  auch  dueatus  Sueviae,  das  der 
Einheit  des  Reichs  gegenüber  die  Selbstständigkeit  des  Stammes 
vertrat  und  daher  von  starken  Königen  unterdrückt  wurde, 
später  wieder  erstand  und  nochmals  verschwand.  Buzelin  und 
Deutbar  um  550  mag  man  als  Beamte  und  Heerführer  der 


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Könige  (S.  225),  als  Amtslierzüge  anseben,  die  späteren  waren 
Stammberzüge.  In  einer  ersten  Periode  der  zweiten  Hälfte 
des  6.  Jahrhunderts  bis  zu  Karl  Marteil  um  730  sind  neun 
Herzoge  sicher  nachzuweisen  und  nach  den  vereinzelten  Jahres- 
zahlen ihres  Lebens  ist  anzunehmcn,  dass  je  ein  Einziger  regiert 
hat,  dass  er  also  Herrscher  über  ganz  Alamannien  war.  Von 
Lantfrid,  dem  letzten  Herzog,  ist  dies  ausdrücklich  bezeugt:  er 
ist  der  dux,  der  cum  omni  populo,  cunctis  Alamannis  die  Lex 
erliess.  Siehe  P.  F.  Stalin  I,  78 — 82. 

Der  fränkische  König  bestätigte  den  Herzog  und  war  nach 
der  Lex  sein  Herr,  dessen  Interesse  jener  zu  wahren  hatte. 
Regi  domini  suo;  utilitatem  regis  implere,  35,  aber  andererseits 
hatte  der  Herzog  den  Charakter  eines  nationalen  Landesherrn. 
Seine  Stellung  wird  als  eine  Herrschaft,  regnum  35  bezeichnet. 
Den  Unterthanen  gegenüber  war  Er  der  Herr,  sein  Eigenthum 
das  des  Herrn,  res  dominicae,  32.  Seine  Person,  sein  Bote,  sein 
Hof,  sein  Eigenthum  waren  besonders  geschützt,  28—35.  Er 
konnte  im  Interesse  der  Landesvertheidigung  und  des  Land- 
friedens das  Heer  entbieten,  si  dux  exercitum  ordinaverit,  26; 
er  bestellte  unter  Mitwirkung  der  Huntarenversammlung  die 
Hunnen,  judex  a duce  per  conventionem  populi  constitutus,  41, 
hatte  wie  der  König  ausserordentliche  Gerichtsbarkeit,  17,  23, 
42,  43,  und  gebot  und  verbot  bei  einer  Strafe  von  12  solidi, 
dem  Herzogsbann,  27.  So  hatte  das  Herzogthum  eine  Art 
bundesstaatliche  Stellung  innerhalb  des  Reichsverbandes  und 
wurde  als  die  Reichseinheit  verletzend  von  Carl  Martell  um 
730  beseitigt. 

Erst  mit  dem  Erlöschen  der  Karolinger  fand  das  Herzog- 
thum 917  seine  Wiederherstellung,  verlor  aber  in  den  Händen 
der  Hohenstaufen  seine  selbständige  Bedeutung,  als  bei  ihnen 
Königthum  und  Herzogthum  zusammenfiel.  Mit  Conradin 
nahm  es  1268  sein  Ende.  In  der  Zwischenzeit  von  730  — 917 
und  seit  1268  war  Alamannien  reichsunmittelbar,  und  gingen  die 
Functionen  des  Herzogs  auf  den  König  über. 

Zu  dem  Herzogthum  Alamannien,  später  auch  Schwaben 
genannt,  gehörte  ursprünglich  sowohl  das  Eisass,  als  auch 
Currätien.  Sie  wurden  aber  im  Lauf  der  Zeit  davon  getrennt 
und  bildeten  eigne.  Ducate,  um  dann  wieder  dazu  geschlagen 
zu  werden.  Getrennt  scheinen  sie  schou  im  7.  Jahrhundert  zu 


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sein.  Erst  nach  dem  Ende  der  ersten  Periode  des  alamannischen 
Herzogthums  von  730  sind  darüber  Nachrichten  vorhanden,  ein 
Beweis,  dass  die  Bezeichnung  ducatus  den  Ländern  blieb. 

Zunächst  kommen  die  Reichstheilungen  der  Könige  in 
Betracht.  Bei  der  Theilung  Carl  Martells,  gestorben  741,  er- 
hielt Karhnann  Auster,  Suavia,  que  nunc  Alemannia  dicitur, 
atqae  Thoringia,  Pippin  der  Kleine  Burgundia,  Neuster  et 
Provincia.  Hier  ist  unter  Suevia  noch  das  Eisass  und  Cur- 
rätien  mitverstanden.  In  der  Theilung  Karls  des  Grossen  von 
806  ist  dagegen  vom  Ducatus  Curia  die  Rede.  Die  Theilung 
Lndwigs  des  Frommen  von  829  bestimmte  Karl  den  Kahlen 
zum  dux  super  Alisatiam,  Alamanniam,  Riciam  oder  theilte  ihm 
terra  Alamannia  et  Redica,  oder  das  regnum  Alisacinsae  et 
Coriae  zu  (nach  den  Aunal.  Weiss.  und  Nant.  und  Thegan. 
Bicia,  Redica,  Coria  ist  Currätien).  Nach  dem  Vertrag  von 
Verduu  von  843  erhielt  Ludwig  der  Deutsche  Alamanniam, 
oder  totam  Germaniam,  id  est  . . . Alamanniam  sive  Rhaetiam, 
ultra  Rhenuin  (am  rechten  Rhein)  omnia,  citra  Rhenum  vero 
Xemetum,  Vangium  et  Moguntiam  civitatem  pagosque  sortitos 
{also  nicht  das  Eisass);  er  herrschte  in  Alamannia  et  Coria 
(Historia  regum  Franc.,  Cont.  Erceubr.,  Annal.  Bert,  und  Nant.). 
In  den  Ann.  Bert,  wird  833  Alamannia  neben  Helisatia,  839 
Ducatus  Elisatiae  und  Ducatus  Alamanniae  neben  Curia,  in  den 
Ann.  Xant.  869  Coria  neben  Alamannia  genannt,  in  dem  Galler 
Irkundenbuch  No.  675  im  Jahr  890  Alamannia  vel  (copulativ) 
Alisatia. 

Diesen  die  drei  Länder  unterscheidenden  Sprachgebrauch 
fand  die  zweite  Periode  des  Herzogtums,  beginnend  mit  dem 
•Dihr  917  vor.  Sie  wurden  wohl  unterschieden,  aber  nicht  von 
einander  getrennt.  Alamannien  und  Eisass  hatten  Einen  Herzog. 
So  heisst  es  1002  Dux  Alamanniae  et  Alsatie,  1126  Dux  Sueviae 
?el  Alsatiae,  1138  im  Wirt.  Urkundenbuch  III  S.  466  Friderici, 
ducis  Sucvie  porro  et  Alsatie,  während  die  gleichzeitige  Nach- 
richt der  Annal.  Colon.  Rec.  2,  S.  758  Conradus  dux  Alemanniae, 
irater  Friderici  ducis  Alsatie  (nach  Weitz)  auf  einem  falschen 
Ausdruck  beruht:  der  damalige  Herzog  war  Friedrich  II.;  sein 
Bruder  Conrad,  der  auch  den  Herzogstitel  der  Hohenstaufen 
lührte,  war  der  spätere  Kaiser  Konrad  III.  Für  Currätien 
finden  sich  wohl  die  Ausdrücke  provincia  Raetia,  provincia 


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Raetiae  Curiensis,  provincia  Curevala,  ducatus  Curiensis,  aber 
es  blieb  bis  zum  Erlöschen  des  Königshauses  der  Hohenstaufen 
mit  dem  Herzogthum  Schwaben  verbunden,  allerdings  vermöge 
der  seit  dem  10.  Jahrhundert  entstehenden  Herrschaften  immer 
lockerer.  Planta  Geschichte  von  Graubünden  S.  39,  40.  Ein- 
mal wird  der  Herzog  als  Raeticarum  vel  Jurensium  partium 
dux  bezeichnet,  Folcuin  c.  12,  S.  «0. 

So  war  Alamannien,  in  früheren  Zeiten  ein  Conglomerat 
autonomer  Gaue,  die  sich  nur  vorübergeheud  zu  Kriegszwecken 
verbanden,  in  fränkischer  Zeit  und  im  Mittelalter  eine  politische 
Einheit  auf  nationaler  Grundlage  geworden  und  schon  erschien 
es  den  Nachbarvölkern,  zumal  den  Italienern,  Burgundern  und 
Franzosen  als  die  Verkörperung  Deutschlands:  Alamanni,  Ala- 
mannia  wurde  der  Name  für  die  Deutschen,  für  Deutschland, 
Alamannia  stellte  mau  Gallia  und  Italia  gegenüber,  die  Regna 
Alamanniae  wurden  das  römische  Reich  deutscher  Nation,  und 
Reges  Alamannorum,  Alamannici,  Alamanniae  die  deutschen 
Könige.  Auch  die  Suevi,  die  Schwaben  nahmen  an  dieser 
Namenserweiterung  Theil,  bis  beide  Namen  sich  gleichwertig 
neben  die  alten  der  Germani  und  Teutoniei  stellten  und  wie  im 
Ausland  so  auch  in  Deutschland  selbst  Verbreitung  fanden. 
Noch  heute  werden  wir  in  Frankreich  Allenmnds,  Allemagne 
genannt. 

(Siehe  die  Citate  bei  Waitz  III,  32  und  354;  IV,  678, 
V,  7,  10,  129,  156,  165—167;  VII,  104  flgde.).  — 

Ausser  der  provincia  und  dem  rex  und  dux  erwähnt  die 
Lex  an  Verbänden  und  deren  Beamten  die  Grafschaft,  locus  39 
(später  comitatus  und  ministerium),  den  Grafen,  comes  (häufig) 
und  dessen  Boten,  missus  comitis,  36  Absatz  1 und  3;  die 
Huntare,  centena,  36,  und  deren  Hunnen,  centenarius  36,  Ab- 
satz 1,  2,  3,  centurio,  27,  judex,  22,  36,  39,  41,  42;  die  Zehnt- 
schaft des  Heeres,  heris  generatio,  Paetus  II,  45,  und  die  an- 
gesessene Zehntschaft,  genealogia,  Lex  81. 

Jede  Huntare  hatte  Einen  Hunnen.  Da  aber  eine  Mehrheit 
von  Hunnen  in  der  Grafschaft  vorkommt,  a judicibus  loci,  39, 
ab  aliis  judicibus,  41,  so  ergiebt  sich,  dass  die  Grafschaft  der 
Lex  aus  mehreren  Huntaren  bestand.  Nicht  die  Grafschaft, 
sondern  jede  Huntare  hatte  ihre  Versammlung,  conventio  populi. 
41,  conventus,  36,  Absatz  1,  placitum  (placitus),  36,  Absatz  l 


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uud  3,  mallus,  36,  Absatz  2.  Sie  trat  an  der  Malstätte,  Ding- 
slätte,  mallus  publicus  17,  der  Huntare  zusammen. 

Der  Graf,  dessen  Stellung  der  Verfassung  das  charakte- 
ristische Gepräge  gab,  war  ein  über  die  Grafschaft  gesetzter 
Beamter,  der  von  dem  Herzog  (König)  ernannt  und  entsetzt 
wurde.  Er  entbot  auf  Befehl  des  Königs  oder  Herzogs  oder 
selbständig  den  Heerbann  der  Grafschaft  zur  Wahrung  des 
Landfriedens,  und  war  der  Führer  des  Aufgebots.  Er  verwaltete 
die  Grafschaft,  übte  die  Polizei,  erhob  Steuern,  Zölle  und 
Strafgelder  (fredus,  bannns)  und  übte  die  ordentliche  Gerichts- 
barkeit als  Vorsitzender  des  Gerichts  nnd  als  Vollstrecker  des 
Urtheils.  Er  gebot  und  verbot  bei  einer  Strafe  von  6 solidi, 
Grafenbann,  Lex  27  und  epitome  8.  Die  Lex  erwähnt  im 
Uebrigen  nur  seiner  gerichtlichen  Funktionen,  36,  Absatz  1,  2, 
3;  38.  Er  wurde  durch  seinen  Boten,  missus,  vertreten,  36. 

Der  Hunne  war  der  Beamte  der  Huntare.  Er  wurde  vom 
Herzog  unter  Zustimmung  der  Huntarenversammlung  ernannt, 
a dnee  per  conventionem  populi  judex  constitutus,  41,  nach  Auf- 
hebung des  Herzogthums  vom  Grafen.  Er  war  der  ausführende 
Beamte  des  Grafen.  Als  solcher  verkündete  er  das  Aufgebot 
zum  Heerbann,  zog  die  öffentlichen  Einkünfte  ein  und  vollstreckte 
die  gerichtlichen  Urtheile  in  Straf-  nnd  Civilsachen.  Er  bannte 
hei  einer  Strafe  von  3 solidi,  Hunnenbann,  epitome  legis  9.  Im 
Uebrigen  war  er  bei  der  Leitung  des  Gerichts  und  hervorragend 
hei  der  Rechtssprechung  betheiligt. 

Das  Geruht  wurde  nach  altem  Brauch  in  jeder  Huntare  an 
der  hergebrachten  Malstätte,  seenndum  consuetudinem  antiquam 
in  omni  centena,  36,  in  publico  mallo  17  abgehalten.  Es  be- 
fand in  der  Huntarenversammlnng,  in  der  zu  erscheinen  jeder 
Huntarengenosse  bei  einer  Strafe  von  12  solidi  verpflichtet  war. 
Gerichtssitzung,  placitum,  eonventus  war  alle  8 oder  14  Tage, 
j®  nachdem  der  Friede  in  der  Provinz  geringer  oder  besser  war. 
Her  Tag  war  der  Sabbath  oder  welcher  andere  Tag  dazu  be- 
stimmt wurde.  Diese  durch  die  Lex  36  bestimmten  Gerichts- 
sitzungen waren  die  echten  oder  ungebotenen  Dinge.  War  es 
erforderlich,  so  konnten  noch  weitere,  die  gebotenen  Dinge  un- 
besetzt werden.  Vorher  angesagt  wurde  aber  jedes  Ding. 

Zur  Haltung  der  Gerichte  bereiste  der  Graf  die  verschiedenen 
Huntaren  sejner  Grafschaft.  Das  Gericht  war  daher  das  Grafen- 


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302 


gericht,  das  Gericht,  coram  comite,  ante  comitem,  36,  Absatz  2 
und  3;  38.  Seine  Anwesenheit,  so  wie  die  des  Hunnen  der 
bestimmten  Huntare  war  erforderlich.  Der  Graf  hatte  den 
Vorsitz,  der  Hunne  den  Mitvorsitz.  Coram  comite  et  coram 
centenario,  36,  Absatz  1.  Ante  judice  sno.  Illo  centenario,  qni 
praeest,  Absatz  2.  Der  Graf  konnte  durch  seinen  Boten  ver- 
treten werden.  Coram  comite  aut  suo  misso;  misso  comitis; 
missus  comitis,  36,  Absatz  1,  2,  3.  Der  Hunne  lud  den  Be- 
klagten, ut  ille  judex  illum  distringat,  36,  Absatz  2. 

Er  war  zugleich  der  Gesetzsprecher,  esago,  welcher  in  der 
Lex  nur  den  allgemeinen  Beamten-Namen  judex  führt.  Als 
solcher  machte  er  der  Huntarenversammlung  den  Urtheilsvor- 
schlag,  judicium.  Er  war  der  judex  constitutus,  ut  causas  judicet. 

— Si  just.e  judicaverit,  — — si  contra  legem  judicavit 

injuste  judicaverit,  41,  Absatz  1:  (Die  Partei,  welche)  illius,  qni 

ad  judicandum  constitutus  est,  judicium  contemnit: Just  um 

judicium,  Absatz  2;  Cognoscat  judex,  42.  Dieser  Vorschlag 
konnte  durch  die  Worte:  Non  recte  judicas  gescholten  werden, 
wodureh  die  Sache  anderen  Hunnen  der  Grafschaft,  aliis  judicibus, 
41,  Absatz  2,  zum  Urtheilsvorschlag  überwiesen  wurde.  Sie 
bildeten  dann  ein  Collegium,  das  z.  B.  auch  eine  unerlaubte 
Ehe  trennte,  a loci  judicibus,  3‘J.  Die  anfechtende  Partei  oder 
der  angefoehtene  Hunne,  welcher  bei  deren  Vorschlag  unterlag, 
zahlte  dem  Anderen  10  solidi.  Der  Vorschlag  wurde  durch  die 
Zustimmung,  Vollbort  der  Versammlung  zum  Urtheil  erhoben 
und  durch  den  Grafen  oder  den  Hunnen  vollstreckt.  Es  ist  die 
gemeine  Meinung,  dass  der  Hunne  und  der  judex  ein  und  die- 
selbe Person  sei,  und  dass  Jener  vermöge  seiner  gerichtlichen 
Thätigkeit  zugleich  die  Bezeichnung  judex  führe. 

Die  Zehnt  schuft  wird  in  zwei  Formen  vorgeführt.  Vor  der 
Zehntschaft  des  Heeres  wurde  der  Lite  freigelasseu,  litus  in  heris 
geuerationis  dimissus,  Pactus  II,  45,  und  zwei  angesessene 
Zehntschaften  stritten  mit  einander  über  die  Grenze  ihres  Besitz- 
thums, contentio  inter  duas  genealogias  de  termine  terrae  eorum, 
Lex  81. 

(Siehe  die  fränkische  .Reichs-  und  Gerichtsverfassung  von 
Solim  und  die  deutsche  Rechtsgeschichte  von  Schröder  und  von 
Brunner.) 


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3.  Die  karolingischen  Verfassungsformen. 

Während  in  der  Königszeit  zumal  der  Gau  und  die  Huntareu 
die  festen  geographischen  Grundlagen  der  Verfassung  bildeten, 
fiel  in  der  Grafenzeit  zunächst  die  Grafschaft  mit  dem  Gau 
zusammen,  man  darf  sie  daher  — bei  Einem  Grafen,  mehreren 
Huntaren  und  Hunnen,  — die  Oauffrafsduift  nennen. 

Als  solche  haben  sich  in  der  Erinnerung  erhalten  die  Gau- 
grafschaft  des  nördlichen  Albgaus,  Jahr  1127  comitatus  Alpium, 
Wirt.  290,  und  die  des  Breisgaus,  Jahr  870  und  1095  comitatus 
Brisigauge  oder  Brisiguensis,  Gail.  Nr.  555  und  Bad  V,  Nr.  15. 
Die  Gaugrafschaft  wurde  der  Beginn  einer  langdauernden 
geographischen  Entwicklung  der  Grafschaft,  die  sich  in  zwie- 
facher Richtung  bewegte. 

Die  Eine  vollzog  sich  innerhalb  des  Gaubezirks  ans  sach- 
lichen, administrativen  Gründen  und  daher  durchaus  systematisch. 
Als  die  Bevölkerung  zunahm  und  die  Ansiedlungen  sich  aus- 
delmten,  erschien  die  Verwaltung  einer  Gaugrafschaft  durch 
Einen  Grafen  nicht  mehr  ausreichend.  Man  zerlegte  sie  daher 
in  zwei  oder  drei  Grafschaften  mit  je  Einem  Grafen,  mehreren 
Hnntareu  und  Hunnen,  in  TfieUgattgrafiehaften  z.  B.  den  Klett- 
gau  in  den  engern  Klettgau  und  westlichen  Albgau,  den  Aargau 
in  den  obern  und  untern,  den  Thurgau  in  den  engern  Thurgau 
und  Zürichgau,  und  als  dann  auch  diese  zu  umfangreich  er- 
schienen, löste  mau  sie  auf  und  machte  die  Huntaren  mit  Einem 
Grafen  und  Einem  Hunnen  zur  Huntan-nyraf schaft,  z.  B.  die 
Hattenhuntare,  comitatus  et  centena  Alfa.  Man  kam  daher 
von  dem  Satz:  Ein  Gau,  Eine  Grafschaft,  zu  dem:  Ein  Theil- 
gau,  Eine  Grafschaft  und  dann  zu  dem:  Eine  Huntare,  Eine 
Grafschaft.  Auch  wurde  die  zweite  und  dritte  Form  combinirt, 
von  den  zwei  Theilgaugrafschaften  blieb  Eine  bestehen,  während 
die  andere  sich  in  Huntarengral'schaften  auseinanderlegte.  So 
wurde  der  obere  Neckargau  augenscheinlich  in  Theilgaugraf- 
schaften getheilt,  von  denen  wir  den  Namen  der  Einen,  gleich- 
falls Neckargau  kennen,  während  an  Stelle  der  anderen,  nicht 
überlieferten  nur  die  Huntaren  genannt  werden.  Wurde  die 
Huntare  selbst  getheilt,  so  war  die  Theilung  der  Grafschaft 
die  Folge. 


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304 


Die  andere  Richtung  der  Entwicklung  lief  neben  der  ersten 
her.  Sie  ging  über  die  Grenze  des  Gaus  hinaus  und  ist  auf 
politische  Gründe  zurückzuführen,  auf  den  Wunsch,  in  einzelnen 
Grafenfamilien  eine  grosse  Macht  zu  vereinigen.  Die  Gestaltung 
der  neuen  Grafschaften  war  daher  eine  unterschiedliche;  man 
schuf  wiederum  grosse  Grafschaften,  indem  mau  zu  diesem 
Zweck  einem  Gau  mehrere  Huntaren  hinzufügte,  oder  mehrere 
Huntaren  verschiedener  Gaue  zusammen  zu  einem  Ganzen  ver- 
band. Da  ihnen  die  geschichtliche  landschaftliche  Bezeichnung 
fehlte,  so  wählte  man  dafür  den  Namen  ihres  Grafen  in  der 
Zusammensetzung  mit  Bara,  z.  B.  die  Bertholtsbar,  Jahr  11  OS 
Para,  comitatus  Bertholdi,  Schweizer  Quellen  3,  74;  Jahr  880 
comitatus  Peretoldespara,  Gail.  653;  Jahr  880,  961,  999  comi- 
tatus Bara,  Gail.  614,  Wirt.  185,  Bad.  37.  Dies  waren  die  in 
Deutschland  um  Neckar  und  Donau  gelegenen  Bargrafschaften, 
die,  wie  sie  entstanden,  dann  wiederum  in  Huntarengrafschatteu 
zerfielen.  Vielfach  vereinigte  man  auch  mehrere  der  letzteren 
in  der  Hand  Eines  Grafen,  ohne  dass  sie  als  Eine  Grafschaft 
bezeichnet  wären,  z.  B.  Albertus  comcs  duos  comitatus  habuit 
antiquos  valde  Haigerloch  et  Hohenberg  (die  alteu  Huntaren 
Haglegau  und  Scherra.  Glossator  des  Mathias  von  Neuenburg). 

So  verdrängten  die  Theilgau-  oder  die  Bargrafschalten  die 
Gaugrafschaften,  und  wurden  wieder  von  den  Huntarengraf- 
schaften  abgelöst.  Von  den  geographischen  Grundlagen  der 
Königszeit  blieb  also  nur  die  Huntare.  Gab  es  in  der  Graf- 
schaft nur  Eine  Huntare,  so  fiel  das  Collegium  der  Hunnen 
(S.  302)  hinweg  und  es  musste  an  diesem  Punkte  eine  Ver- 
fassungsänderung eintreten.  Die  einzelnen  Phasen  der  Ent- 
wicklung lassen  sich  zeitlich  nicht  feststellen.  Zur  Zeit  der 
Karolinger  gab  cs  keine  Gaugrafschaften  mehr,  der  Begrift'  des 
Gaus  war  damals  schon  obsolet  geworden,  und  in  buntem  Neben- 
einander bestanden  Theilgau-,  Bar-  und  Huntareugrafsehaften. 

Es  ergiebt  sich  sonach,  dass  die  Grafschaft  geographisch 
ein  Begriff  von  mannigfaltiger  Gestaltung  war.  Wollte  man 
versuchen,  ein  Bild  der  alamannischen  Grafschaften  zu  zeichnen, 
das  allerdings  nur  ein  lückenhaftes  sein  könnte,  so  würde  es 
von  Generation  zu  Generation  ein  anderes  werden. 

Karl  der  Grosse  wird  gelobt,  dass  er  jedem  Grafen  nur 
Eine  Grafschaft  bewilligt  habe.  Gesta  Caroli  1,  13,  Mon. 


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305 


Germ.  2,  736,  was  wohl  nur  heissen  kann,  dass  er  den  Umfang 
der  bestehenden  Grafschaften  gewahrt  und  keine  durch  Zufügung 
anderer  vergrößert  habe.  — 

Soweit  auf  der  Grundlage  der  Grafschaften  und  ihrer  Ab- 
theilungen, der  Huntaren,  Zehntschaften  und  Dorfschafteu  die 
karolingische  Gerichtsverfassung  sich  auf  baute,  mögen  ihre 
Grundzüge  hier  dargestellt  werden.  Zunächst  gestaltete  Karl 
der  Grosse  sie  für  das  gesammte  Reich  reformirend  in  den 
Jahren  770 — 775. 

Es  wurde  hohe  und  niedere  Gerichtsbarkeit  unterschieden, 
die  erstere  über  Blut,  Freiheit  und  Eigen,  die  letztere  au  Haut 
und  Haar,  über  Geld  und  fahrendes  Gut.  Karl  liess  jene  dem 
Grafengericht  der  Huntarenversammlung  und  übertrug  diese 
einem  Hunnengericht.  Weiter  ordnete  er  lebenslängliche  Schöffen 
in  jeder  Huntare  an,  die  in  der  Zahl  von  sieben  als  festes 
Kollegium  fungirten. 

Für  das  Grafengericht,  als  echtes,  ungebotenes  Ding, 
blieb  die  allgemeine  Dingpflicht  der  Huntarengenossen;  es  blieb 
das  Vollgericht,  dessen  Gerichtsversammlungen  auf  drei  placita 
jährlich  festgesetzt  wurden.  Die  Schöffen  hatten  den  Urtheils- 
vorschlag  und  die  Vollbort  (Zustimmung)  der  Versammlung  blieb 
erforderlich. 

Das  Hunnengericht,  als  gebotenes  Ding,  bestand  aus  dem 
Hunnen  und  den  Schöffen,  wurde  das  Schöffengericht,  neben 
dem  sich  die  Anwesenheit  der  Huntaren  erübrigte.  Die  Sitzungen 
waren  minus  placita. 

In  Alamannien  fand  das  Schüffeneolleg  einen  Anknüpfungs- 
punkt an  dem  Colleg  der  Hunnen  (S.  302),  das  nach  der  Lex 
bei  Berufungen  gegen  den  Urtheilsvorschlag  und  bei  der  Trennung 
ungültiger  Ehen  fungirte,  ab  aliis  judicibus  41,  a loci  judicibus  39, 
aber  trotzdem  behauptete  sich  der  Gesetzsprecher,  esago,  hier 
in  seiner  Stellung  noch  im  8.  und  9.  Jahrhundert,  allerdings 
mit  Unterordnung  unter  den  Grafen. 

Für  die  weitere  Entwicklung  der  Gerichtsverfassung  ist 
zwischen  Grafschaften  mit  mehreren  Huntaren  (Theilgaugraf- 
schaften,  Bargrafschaften)  und  mit  einer  (Huntarengrafschaften) 
zu  unterscheiden. 

In  ersteren  durchzog  der  Graf  die  Huntaren,  um  mit  den 
Genossen  an  der  Malstätte  einer  jeden  das  hohe  oder  Land- 
er a m e r , Geschichte  der  Alamium?u,  20 


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gericht  abzuhalten,  während  der  Hunne  mit  den  Schöffen  das 
Niedergericht  jeder  Huntare  bildete.  Dieses  übte  auch  als 
Nothgericht  bei  handhafter  That  die  Blutgerichtsbarkeit  aus. 

In  den  Hnntarengrafschaften  hielt  auf  der  Einen  Malstätte 
der  Graf  oder  ein  von  ihm  eingesetzter  Landrichter,  der  oft  ein 
Hunne  war,  das  hohe  Gericht  ab,  wogegen  die  niedere  Gerichts- 
barkeit auf  die  Zehntschaften,  auch  wohl  auf  die  Dorfschaften, 
deren  Vorsteher  und  Schöffen  überging.  An  diese  Niedergerichte 
der  Zehntschaften  wurde  auch  wohl  der  Blutbann  und  die  Ge- 
richtsbarkeit über  Eigen  übertragen,  so  dass  dem  Hochgericht 
nur  die  Verkündigung  des  Weisthums  verblieb,  wegen  deren 
man  sich  alle  paar  Jahre  versammelte,  bis  auch  dies  in  Ver- 
gessenheit gerieth. 

In  den  Huntaren-,  Zehnt-  und  Dorfmarken  versammelten 
sich  jährlich  die  Markgenossen  zu  Märkerdingen  in  Angelegen- 
heiten der  gemeinen  Mark.  Ihre  Gerichtsbarkeit  wurde  uuter 
dem  obersten  Märker  durch  die  Gesammtheit  der  Genossen  oder 
durch  Markschöffen  ausgeübt. 

Eine  systematische  Darstellung  der  Obrigkeiten  des  fränk- 
ischen Reiches  giebt  Walafried  Strabo,  der  Bischof  von  Reichenau 
(gestorben  849)  in  einer  Stelle,  deren  hinsichtlich  der  Zahlnamen 
bereits  S.  fi4  und  65  gedacht  ist.  Um  die  Stellung  der  Obrig- 
keiten zu  charakterisiren,  setzte  er  sie  in  Parallele  mit  den 
kirchlichen  Behörden,  und  zwar  den  Grafen  mit  dem  Bischof  (?), 
dessen  Boten  mit  dem  Chorbischof,  den  Hunnen  mit  dem  Erz- 
priester der  Taufkirche,  den  Zehnter  mit  dem  Presbyter,  die 
Unterbeamten  mit  den  Diakonen,  Subdiakonen  u.  s.  w.  „Die 
Grafen,  comites,  sagt  er,  setzen  ihre  Boten,  inissi,  über  das 
Volk  der  Grafschaft,  und  diese  entscheiden  geringere  Sachen, 
während  jene  die  bedeutenderen  (nach  ihrem  Ermessen)  sich 
Vorbehalten.  (Es  sind  Sachen  der  höheren  Gerichtsbarkeit  ge- 
meint.) Die  Hunnen,  centenarii,  centuriones,  vicarii  werden  für 
den  pagus  (hier  die  Huntare)  bestellt  (Fünfzigschaften  und  deren 
Vorsteher,  quinquenarii,  von  denen  weiter  die  Rede  ist,  kommen 
in  Alamannien  nicht  vor).  Unter  den  Hunnen  stehen  die  Zehnter, 
decani,  centuriones,  welche  die  niedere  Gerichtsbarkeit  ausüben.“ 
Die  weiter  genannten  Unterbeamten  sind  jedenfalls  zum  Theil 
alamannisch.  Es  sind  „die  collectarii,  quaterniones,  duumviri, 
Untergebene  der  Hunnen,  welche  durch  ihren  Zahlnameu  be- 


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307 

künden,  dass  sie  auch  geringer  sind  als  die  Zehnter“.  Nur  die 
Funktionen  der  collectarii  sind  bezeichnet.  „Sie  berufen  die 
Genossen  zur  Versammlung,“  sind  also  Büttel.  Comites  missos 
'Uos  praeponunt  popularibus,  qui  minores  eausus  determinent, 
ipsis  majora  reservent.  Centenarii,  qui  et  centuriones  et  vicarii, 
qui  per  pagos  statuti  sunt.  . . Decani  et  centuriones,  qui  sub 
ipsis  vicariis  qnaedam  minora  exercent.  . . Sub  ipsis  ministris 
centenariorum  sunt  adhuc  minores,  qui  collectarii,  qnaterniones 
et  duumviri  possnnt  appellari,  quia  colligunt  populnm  et  ipso 
numero  osteudunt,  se  decanis  esse  minores. 

Die  Urkunden  der  Karolinger  Zeit  gaben  für  die  Verbände 
und  Obrigkeiten  Alamanniens  noch  andere  Bezeichnungen  wieder. 
Für  den  Grafen,  comes,  scheint  der  Ausdruck  grafio  nicht  vor- 
zukommen. Die  Grafschaft,  gewöhnlich  comitatus,  hiess  auch 
ministerinm  z.  B.  Jahr  817,  Gail.  226,  und  im  13.  Jahrhundert 
im  Eisass  comitia,  comecia.  Als.  dipl.  480  und  786.  Der 
Hunne,  centenarius,  trug  noch  wie  früher  die  Namen  centurio, 
Jahr  830,  877, 80,  885  sub  comite  et  ceuturione,  Gail.  332,  693, 
und  judex  64t;  ferner  wie  bei  Strabo  auch  die  Bezeichnung 
vicarius,  in  Deutschland  Jahr  807,  837,  838,  860,  874,  887, 
Gail.  No.  195,  369,  377,  470,  581,  657,  in  der  Schweiz  Jahr 
s47,  Gail.  No.  402:  ferner  tribunus,  in  Deutschland  Jahr  764, 
Gail.  42,  speziell  dem  Eisass  Jahr  728,  Pardessns  II.  No.  543, 
in  der  Schweiz  Jahr  779,  789  (ein  tribunus  und  ein  judex),  863 
(sub  comite  et  tribuuo),  Gail.  85,  120,  494:  tribunus  Arbonensis, 
\ Jahrhundert,  Vita  S.  Galli;  endlich  Schultheiss  in  der  deutschen 
•Schweiz  Jahr  772  sculdatio,  Jahr  789  scultaiczns,  Gail.  No.  62, 
121,  in  Currätien  Jahr  817  escultaizo,  Jahr  800  -820  scultaizus, 
Gail.  224,  354;  hier  kam  auch  960  die  Schnltheisserei  als 
Huntare  vor,  centena  et  scultatia  Curiensis,  von  Mohr  Cod.  dipl. 
Haet.  In  dem  deutschen  Alamannien  scheint  die  Bezeichnung 
Schultheiss  nicht  aufzutreten. 

Die  über  das  ganze  Gebiet  von  Alamannien  (und  Franken) 
ausgedehnte  Grafschaftsverfassung  erhielt  sich  bis  zum  12.  Jahr- 
hundert. Dann  wurde  sie  zunächst  in  ihrer  territorialen  Grund- 
lage durch  ausgedehnte  Immunitätsherrschaften  durchbrochen, 
welche  mit  der  Erwerbung  der  hohen  Gerichtsbarkeit  aus  den 
Grafschaften  ausschieden.  Diese  wurden  auch  ihrem  Charakter 
nach  verändert,  indem  das  Lehens  wesen  aus  dem  gräflichen 

20* 


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308 


Beamten  einen  erblichen  Vasallen  machte,  der  sieh  dann  zum 
selbständigen  Landesherrn  umgestaltete.  Die  Grafschaftsgebiete, 
so  weit  sie  noch  neben  den  Immunitätsgebieten  bestanden,  lösten 
sich  entweder  in  ihre  mit  der  hohen  Gerichtsbarkeit  ausgestatte teu 
Zehntschaften  auf,  oder  verschwanden  durch  vielfache  Verände- 
rungen in  neuen  Territorien  unter  Landesherrn,  auf  welche  die 
gräfliche  Gerichtsbarkeit  überging,  oder  sie  blieben  mit  der 
hohen  Jurisdiction  im  Besitz  der  gräflichen  Landesherrn.  So 
haben  sich  zumal  in  Oberschwaben  landesherrliche  Grafschaften 
bis  zur  Auflösung  des  Reichs  im  Jahr  1806  erhalten. 

Auch  Marken  jeder  Art  sind  trotz  aller  Aufteilungen  bis 
auf  unsere  Tage  bestehen  geblieben  (Schröder,  Lehrbuch  der 
deutschen  Rechtsgeschichte  und  Zeitschrift  der  Savignystiftung 
für  RG.  XI,  244). 


4.  Die  fontinuität  der  Gaue  und  Iluntaren. 

Erst  jetzt  kann  die  Frage  der  Continuität  der  Gaue  und 
Huntaren  sammt  ihren  Zehntschaften  zum  Abschluss  gebracht 
werden. 

Für  die  Königszeit  ist  bereits  geschildert,  wie  die  Ala- 
mannen seit  der  Mitte  des  ,3.  Jahrhunderts  in  dem  neuen  Land 
sesshaft  waren  und  von  den  Römern  des  Besitzes  nicht  mehr 
entsetzt  wurden;  wie  die  Gaue  eine  politische  Einheit  bildeten, 
und  die  Huntaren  mit  ihren  Zehntschaften  eiu  fest  umschriebenes 
Ganze,  eine  wirthschaftliehe  und  administrative  Einheit  dar- 
stellten. Dann  konnten  die  Gaue  der  alten  und  die  der  neuern 
Zeit  (des  4.  und  8.  Jahrhunderts)  vergleichend  neben  einander 
gesetzt,  die  alamannische  Geschichte  im  Rahmen  dieser  Gaue 
erzählt,  und  die  Zustände  des  Stammlandes  während  der  Aus- 
wanderung des  5.  Jahrhunderts  dargestellt  werden.  Bis  dahin 
war  für  die  freien  Alamannen  kein  Anlass  an  dem  territorialen 
System  ihrer  alten  Gaue  und  Huntaren  Veränderungen  vor- 
zunehmen, wenn  auch  der  Rückgang  der  letzteren  nicht  zu  ver- 
kennen war. 

Dann  trat  der  grosse  Umschwung  um  die  Wende  des  5. 
und  6.  Jahrhunderts  ein.  Der  alamannische  Xorden  und  ins- 


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309 

besondere  der  des  Stammlandes  wurde  von  grossen  Massen  von 
Alamannen  geräumt  und  feindlich  von  Franken,  der  Süden 
friedlich  von  flüchtigen  Stammgenossen  überschwemmt  und  be- 
siedelt, und  weiter  ging  536  auch  der  Süden  in  das  fränkische 
Reich  auf. 

Wenn  nun  496  im  Norden  die  Franken  das  aiamannische 
Königthum  in  das  Beamtenthnm  von  Grafen  umwandelten,  und 
die  Hunnen  beibehielten,  deren  Amtsbezirke  gleichfalls  Gaue 
und  Huntaren  waren,  werden  sie  da  neue  Gaue  und  Huntaren 
sammt  Zehntschaften  geschaffen  haben?  Neue  Huntaren,  welche 
an  die  Stelle  der  noch  bestehenden  traten?  Im  Gegentheil 
muss  man  annehmen,  dass  sie  die  Vortheile  eines  bestehenden 
wirthschaftlichen  Systems,  das  dem  Bedürfnis  und  dem  Ge- 
deihen von  Menschen  und  Vieh  diente,  nicht  anfgaben  und  das 
Erbe  alamannischen  Besitzes,  wo  sie  ihn  vorfanden,  antraten. 
Blieben  aber  die  Huntaren  in  ihrem  Bestand,  so  konnten  neue 
Gaue  nur  gebildet  werden,  wenn  die  Huntaren  zu  neuen  Gau- 
einheiten grupjiirt  wurden.  Die  Franzosen  warfen  während  der 
Revolution  alle  historischen  Bezirke  über  den  Haufen  und  setzten 
eine  Neuschöpfung  an  deren  Stelle,  ein  systematischer  Radika- 
lismus, für  den  sich  im  5.  Jahrhundert  kein  Platz  findet.  Die 
Franken  werden  es  somit  um  500  im  Norden  bei  dem  bestehenden 
territorialen  System  gelassen  haben.  Die  Gaue  blieben  dieselben, 
wie  die  Huntaren.  Aber  das  Gebiet  der  Gaue  war,  da  die 
schlechter  gelegenen,  jüngeren  Huntaren  verschwanden , an 
seinen  Grenzen  vielfach  ins  Freie  gefallen  und  wenn  die  massen- 
haft eindringenden  neuen  Ansiedler  sie  wieder  in  Besitz  nahmen, 
werden  die  Gaue  an  ihren  Rändern  vielfach  verschoben  sein. 

Der  Süden  blieb  um  500  von  feindlicher  Einwirkung  frei 
und  alamannisch.  Die  flüchtigen  Einwanderer  vom  Norden 
waren  befreundete  Stammgenossen,  denen  in  den  weiten  Gebieten 
des  Eisass,  Süddeutschlands  und  der  Schweiz  Raum  zur  Be- 
siedlung gewährt  wurde,  sei  es  unter  Aufnahme  in  den  Mitbesitz 
an  geräumigen  Huntaren.  sei  es  unter  Ueberweisung  unbebauter 
Waldstrecken.  Aber  man  räumte  vor  den  Flüchtlingen  weder 
den  Besitz,  noch  richtete  man  neue  Gaukönigreiche  ein.  Im 
südlichen  Stammlande  traten  dieselben  Verhältnisse  ein  wie  im 
Norden,  und  die  neualainannischen  Gaue  mögen  erst  jetzt  zum 
Gebirge  sich  fortgesetzt  und  dann  ihre  definitiven  Grenzen  ge- 


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fanden  haben.  Diese  Entwicklungen  fallen  in  die  kurze  ost- 
gothische  Zeit  (496 — 536)  und  als  auch  der  Süden  dann  an 
das  fränkische  Reich  kam,  blieb  ihnen  „ihr  väterliches  Recht“. 
Zu  einem  Umsturz  der  Gaue  war  kein  Anlass. 

Seitdem  war  innerhalb  des  fränkischen  Reiches  in  dem 
südlichen  Alamannien  die  Entwicklung  der  Dinge  eine  wesentlich 
friedliche.  Die  Colonisation  des  Landes  vollzog  sich  im  inneren 
Ausbau,  und  dessen  Geschichte  gehört  auch  die  Theilung  der 
Gaue  und  Huntaren  an,  welche  nur  innerhalb  derselben  neue 
Grenzen  schuf.  Kein  störendes  Ereigniss  trat  mehr  ein. 

Hiernach  lässt  sich  der  Gang  der  Entwicklung  der  Gaue, 
Huntaren  und  Zehntscbaften  so  fassen:  Die  Schilderung  der 
Gaue  von  der  Mitte  des  4.  Jahrhunderts,  die  sich  aus  Ammian 
gewinnen  lässt,  darf  auf  die  Zeit  der  ersten,  festen  Besiedlung, 
die  Mitte  des  3.  Jahrhunderts  zurückbezogen  und  bis  zum 
Ende  des  4.  Jahrhunderts  erstreckt  werden.  Denn  in  diese 
Zeit  fällt,  abgesehen  von  den  schweren,  aber  immer  wieder 
ausgeglichenen  Verlusten  an  Menschenleben,  welche  die  unglück- 
lichen grossen  Kriege  mit  sich  brachten,  kein  Geschehniss, 
welches  auf  die  naturgemässe  Gaubildung  von  Einfluss  hätte 
sein  können.  Die  Huntaren  erweiterten  sich  allmälig  an  Umfang 
und  die  Gaue  mit  ihnen. 

Die  Entwicklung  wurde  aber  mit  dem  Beginn  des  5.  Jahr- 
hunderts, der  Zeit  der  grossen  Wanderung,  rückläufig.  Die 
Zurückbleibenden  zogen  sich  auf  die  ihrem  Bedürfniss  genügenden, 
älteren,  fruchtbaren  Huntaren  zurück  und  damit  schmälerte  sich 
der  Umfang  der  Gaue,  welche  die  überflüssigen  Grenzstriche 
der  Wildhiss  Zurückgaben.  Die  über  dem  Rhein  und  der  Donau 
neu  gegründeten  Verbände  mögen  von  ähnlicher  Dichte  der 
Bevölkerung  und  ähnlicher  Ausdehnung  gewesen  sein.  Die 
rapide  Einwanderung  um  500  liess  dann  im  Norden  wie  im 
Süden  Gaue  und  Huntaren  in  ihrem  Bestände  unberührt,  schuf 
aber  neue  Huntaren  hinzu  und  dehnte  so  die  Gaue  aus,  bis 
ohne  trennende  Waldöden  Gau  an  Gau  stiess.  Die  Neubildungen 
an  den  Grenzen  werden  vielfach  zu  Verschiebungen  der  alten 
verwischten  Grenzen  geführt  haben.  Seitdem  gab  es  keine 
Grenzverrückungen  mehr,  sondern  nur  noch  Theilungen  der 
Verbände. 


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Gaue,  Hilmaren  und  Zehntschaften  erhielten  sich  also 
constant,  so  weit  nicht  die  Auswanderung  des  5.  Jahrhunderts 
sie  räumlich  einschränkte  und  das  Einströmen  neuer  Ansiedler 
um  den  Anfang  des  6.  Jahrhunderts  sie  etwa  zu  neuen  Grenzen 
ausdehnte. 


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Zehntes  Kapitel. 

Die  politischen  "©erbäncle  Ollamanniens. 

1.  Die  Knnlttluiu;  der  Verbünde. 

Ans  alamannischem  Gebiet  — von  dem  fränkisch  gewordenen 
Norden  sehe  ich  in  diesem  und  dem  nächsten  Kapitel  ab  — 
sind  zahllose  Urkunden  über  Veräusserung  von  unbeweglichem 
Eigen  aus  dem  8.  und  späteren  Jahrhunderten  auf  uns  gekommen, 
von  den  Königen  ausgestellte  Urkunden,  vor  dem  Grafen  und 
Hunnen  auf  der  Malstätte  aufgenommene  und  Privaturkunden 
mit  6 oder  7 Zeugen,  wie  letztere  in  dem  ersten  Kapitel  des 
alamannischen  Gesetzbuchs  für  Vergabungen  an  Kirchen  vor- 
geschrieben waren.  Massen  dieser  Urkunden  sind  veröffentlicht, 
und  es  seien  hier  von  den  Sammlungen  des  vorigen  Jahrhunderts 
die  Urkundenbücher  Neugarts  über  Alamannien,  Schöpflins  über 
das  Eisass,  sowie  der  Codex  des  Kloster  Lorsch,  aus  diesem 
Jahrhundert  die  Urkundenbücher  Dümges  über  Baden,  Kauslei-s 
über  Württemberg,  der  bairischen  Academie  über  Baiern  und 
Wartmanns  über  das  Kloster  St.  Gallen  erwähnt. 

In  diesen  Urkunden  sind  die  Grundstücke  nach  Orten  und 
diese  in  den  meisten  Fällen  nach  Gauen,  Huntaren,  Marken  in 
den  verschiedensten  Formen  (Baumann,  Gaugrafschaften  S.  8 — 17) 
bezeichnet  und  auf  diesem  Material  beruht  unsere  Kenntniss 
der  Letzteren,  die  Gaugeographie. 

Um  Gaue,  Huntaren,  Marken  und  Grafschaften  festzustellen, 
dürfte  man  nur  alle  die  Orte  zusammenlesen,  welche  als  in 
demselben  Verband  liegend  verzeichnet  sind,  wenn  die  Gattung 
der  Bezirke  in  allen  Fällen  zu  erkennen  und  das  Verzeichniss 
der  Verbände  und  Orte  im  Wesentlichen  vollständig  wäre.  Aber 
keines  von  beiden  ist  der  Fall. 


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813 


Das  Material  der  Urkunden  ist  ein  lückenhaftes,  bei  dem 
der  Zufall  eine  grosse  Rolle  gespielt  hat.  Er  hat  es  gewollt, 
dass  eines  Orts  nnd  des  Verbandes,  dem  er  angehörte,  Erwähnung 
geschieht,  da  in  ihm  eine  Vergabung  vorgekommen;  er  hat  es 
herbeigeführt,  dass  gerade  diese  Urkunde  erhalten,  und  dass 
von  den  vielen  in  den  zahlreichen  Archiven  verborgenen  gerade 
diese  veröffentlicht  ist.  Andere  Orte,  selbst  andere  Bezirke 
sind  uns  dagegen  nicht  überliefert,  oder  ihre  Urkunden  harren 
noch  der  Veröffentlichung. 

Hinsichtlich  der  Erforschung  von  Gauen  und  Huntarm  aus 
dem  Inhalt  der  Urkunden  sind  drei  Stadien  zu  unterscheiden. 

Zunächst  ist  festzustellen,  welchem  Ortsnamen  der  Urkunden 
der  Name  der  Jetztzeit  entspricht,  eine  in  den  Urkundensumm- 
lungen übernommene  Arbeit,  die  öfter  ohue  Ergebniss  ist,  da 
der  Ort  abgegangen  oder  nicht  zu  ermitteln  oder  zweifelhaft 
zu  bestimmen  ist. 

Dann  sind  die  Orte  zusammenzustellen,  welche  demselben 
Bezirk  angehören.  Es  kommt  aber  vor,  dass  derselbe  Ort, 
durch  Eine  Urkunde  diesem,  durch  eine  andere  jenem  Verband 
zngewiesen  wird,  so  z.  B.  Aichstetten  OA.  Leutkirch,  das  980 
als  Ort  des  Illergaus,  1043  als  Ort  des  Nibelgaus  aufgeführt 
ist;  ein  Widerspruch,  den  man  wohl  durch  Unterstellung  eines 
Irrthums  oder  einer  Grenzverrückung  zu  lösen  versucht  hat. 
Aber  der  Fall  ist  durchaus  normal.  Jeder  Ort  gehört  zwei 
Verbänden  an,  einem  höheren,  dem  Gau  und  einem  niedrigeren, 
der  Huntare;  so  Aichstetten  dem  Illergau  als  dem  Gau,  dem 
Nibelgau  als  der  Huntare.  Derartige  Doppelbezeichnungen  sind 
die  besten  Wegweiser  für  die  Feststellung  von  Gauen  und 
Hnntaren. 

Ein  anderer  Fall  ist  der,  in  welchem  derselbe  Ort  zwei 
Verbänden  gleichen  Ranges  angehört,  als  Grenzort  zur  Hälfte 
dem  einen,  zur  Hälfte  dem  andern,  so  z.  B.  Dusslingen  OA. 
Tübingen,  das  durch  die  Steinlach  in  zwei  Theile  zerlegt  wurde; 
Jahr  888.  In  pago  Hattenhunta  et  Sulichgeiuua  in  comitatibus 
Peringarii  et  Eperhardi  villa,  que  dicitur  Tuzzilinga,  Wirt.  162. 
Ebenso  ist  Schaffhansen  und  die  Enge  dem  Klettgan  und  Hegau, 
Trossingen  OA.  Tuttlingen  den  Huntaren  Scherra  und  Nidinga, 
Hayingen  OA.  Münsingen  den  Huntaren  Affa  und  Swerzenhuntare 


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und,  wie  es  scheint,  Kempten  den  Huutaren  Allgäu  und  Nibel- 
gau  gemeinsam. 

Andere  Specialitäten  sind  zwei  Namen  für  denselben  Bezirk : 
Arbongau  heisst  auch,  wie  anzunehmen,  Waldrammireshuntare 
und  derselbe  Name  für  drei  Verbände:  Der  nördliche  Albgau 
(rauhe  Alb),  die  westliche  Theilgaugrafschaft  Albgau  (Schwarz- 
wald) und  der  östliche  Alpgau,  (jetzt  das  Allgäu). 

Ist  der  Verband  des  Orts  nicht  angegeben,  wohl  aber  dessen 
Grafenname  und  ist  dessen  Grafschaft  aus  andern  Urkunden 
bekannt,  so  kann  auf  diese  Weise  auch  die  Lage  des  Orts  in 
der  Grafschaft  festgestellt  werden. 

Hier  einige  typische  Beispiele  der  Bezeichnung  der  Lage 
von  Orten  in  verschiedenen  Verbänden,  und  zwar 
in  Herzogthümern : 

764.  In  ducato  Alamannorum  in  pago  Brisigaviensi 
(Breisgau)  in  fines  vel  in  marcas  Binubheime,  Neug.  41. 

815.  In  pago  Alsacense  ct  in  pago  Algagense  (Eisass, 
Huntare  Eisgau)  in  Bethoniscnrte,  Stricker  376; 
in  Gauen: 

790.  In  pago  Prisigauia  (Breisgau)  in  loco  Witraha, 
Gail.  126: 

829.  In  pago  Turgauve  (Thurgau)  in  locis  Seheim  et 
Turbatun  snb  comite  Erchanbaldo,  Gail.  326; 
in  Huntaren: 

789.  In  pago,  que  dicitur  Hattenthuntari  in  villa  que 
dicitur  Hacliinga,  Gail.  123; 

860—61.  In  pago  Linzigouve  in  loco  Keranberg.  Actum 
snb  Oadalricho  comite,  Gail.  475. 

873.  In  pago  Linzgowe  in  comitatu  Odalrici  in  villa, 
quae  vocatur  Eilingo,  Gail.  57  3. 

Diejenigen  Orte,  welche  nach  dem  Gau  bezeichnet  sind, 
werde  ich  Gauorte,  die  nach  der  Huntare  bezeichneten  Huntaren- 
orte,  nennen,  und  ähnlich  von  Theilgauorten  und  Barorten 
reden. 

Zum  dritten  sind  die  Gaue  von  den  Huntaren  zu  scheiden. 

Der  Gau  war  räumlich  gleich  dem  Inbegriff  seiner  Huntaren, 
deren  Zahl  durchschnittlich  sechs  betrug.  Begreift  nach  den 
Urkunden  ein  Bezirk  räumlich  den  Umfang  mehrerer  anderen 
in  sich,  so  ist  ersterer  der  Gau,  und  sind  letztere  die  Huntaren. 


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315 


Diese  einfache  Form  reicht  aber  bei  unseren  lückenhaften  Quellen 
nur  in  einigen  Fällen  zur  Bestimmung  aus.  Denn  folgende  sind 
zu  unterscheiden: 

Gau  und  Huntaren  sind  bekannt  und  decken  sich  urkundlich, 
der  normale  Fall,  der  anscheinend  im  Nort-  und  Sundgau  des 
Eisass  vorliegt. 

Gau  und  einzelne  Huntaren  sind  bekannt,  aber  es  erscheint 
geographisch  nicht  abzuweisen,  dass  der  Gau  sich  weiter  er- 
streckte, als  beurkundet  ist,  und  dass  er  noch  benachbarte 
Huntaren  umfasst  habe,  deren  Gauzngehörigkeit  nicht  urkundlich 
belegt  werden  kann,  so  die  Gaue  Nagold-,  Alb-,  Illergau  und 
andere.  Von  dieser  Erweiterung  eines  Gaus  um  weitere  Huntaren 
ist  die  Theilung  einer  Huntare  in  zwei  oder  mehrere  zu  unter- 
scheiden. So  die  Theilung  des  Filsgaus  und  der  Goldineshuntare. 

Der  Gau  ist  seinem  Umfang  nach  bekannt,  aber  nur  ein 
Theil  seiner  Huntaren.  So  die  Gaue  Hegau,  Thurgau,  Aargau. 

Der  Gau  ist  seinen  Grenzen  nach  bekannt,  aber  keine  der 
Huntaren  ist  überliefert.  So  die  des  Breisgau  und  des  Klett- 
gau.  Es  ist  anzunehmen,  dass  sie  sich  lange  Zeit  als  Gau- 
grafschaften (und  bis  auf  den  heutigen  Tag  als  Landschaften) 
erhalten  haben,  so  dass  ihre  Namen  und  nicht  die  der  Huntaren 
in  die  Urkunden  aufgenommen. 

Der  Gau  ist  unbekannt,  und  es  kommen  in  einer  Gegend 
nur  neben  einander  liegende  Bezirke  vor,  also  Huntaren  ohne 
Gau.  So  die  Huntaren  zwischen  Bodensee  und  Donau,  als  deren 
Gau  der  südliche  Alpgau,  und  der  von  mir  so  genannte  Donau- 
gau anzusehen  sind. 

Die  Marken  sind  vielfach  aus  der  Lorscher  Sammlung  be- 
kannt. Es  sei  angeführt  zu  den 
Huntarenmarken: 

772.  In  pago  Alamannorum  in  Burichinger  rnarca  et 
in  Megingen  etc.,  3275; 

Zehntmarken ; 

769.  In  pago  Alamannorum  in  Bildachinger  marca,  3238. 

Aebnliches,  wie  von  den  Gauen  und  Huntaren,  ist  von  den 
Grafschaften,  comitatus  zu  berichten.  Die  Ortsbezeichnungen 
nach  Grafschaften  kommen  in  dieser  Art  vor: 
in  Gailgrafschaften: 

1127.  In  comitatu  Alpium  Schälkalingin,  Wirt.  297; 


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316 


870.  In  Agaringun  in  comitatu  Prisigauge,  Gail.  553; 
in  Theilgaugrafscliaften: 

1004.  In  villa  Scaffhnsa  in  (dem  engeren)  pago  Clec- 
gouva,  Schaff h.  17; 

801.  In  snperiori  pago  Aragauginse  in  villa  Peroltes- 
vilare,  Gail.  486: 

in  Bargrafschaften ; 

838.  In  pago  Perctoltcspara  in  villa  quod  dicilur 
Pacheim,  Gail.  370; 

838.  In  pago  Albunespara  in  centena  Ruadolteshuntra 
in  villa  Patinhova,  Gail.  373; 

881.  In  Alamannia  in  comitatu  Nidinga  in  pago  Bereh- 
toltesbara  in  villa  G'heninga,  Gail.  015; 

in  Huntarengrafschaften : 

1002.  In  villa  Beroa  in  comitatu  montium,  qui  vocatnr 
Serrae  (Scherra),  Oberrhein.  Zeitschrift,  IX,  212,  218: 

961.  In  comitatu  Muntricheshuntara  in  vico  Rutelinga. 
Wirt.  185; 

873.  In  ducatu  Alamannico  in  pago  Linzgoue  in  comitatu 
Odelrici  comitis  in  villa  Eilinga,  Gail.  573; 

817.  In  villa  Filisininga  Ingoltiswis  sub  Karamanno 
comite,  Gail.  320. 

Um  Grafschaften  und  Huntaren  zu  untersclieiden,  ist  wie 
bei  Gauen  und  Huntaren  zu  verfahren  und  es  ergiebt  sich  als 
Resultat: 

Gaugrafschaften  und  deren  Huntaren  decken  sich,  anscheinend 
wie  in  dem  Nort-  und  Sundgau  des  Eisass. 

806.  In  Elisatio  eomitatus  duo. 

Die  Gaugrafschaft  ist  bezeugt,  aber  nur  ein  Tlieil  ihrer 
Huntaren,  wie  in  den  Gauen  nördlicher  Albgau  und  Illergau. 

Ebenso  die  Theilgaugrafscliaften,  wie  (die  engern)  Neckargau, 
Klettgau,  obere  und  untere  Aargau,  ZUrichgau,  Thurgau. 

Die  Theilgaugral'schaft  ist  bekannt,  aber  keine  ihrer  Huntaren, 
so  der  westliche  Albgau  und  der  (engere)  Klettgau. 

Bei  den  Bargrafschaften  scheinen  die  Huntaren  Berehtolds, 
vielleicht  auch  die  der  Perithilosbar  sämmtlich,  die  der  übrigen 
nur  theilweise  bekannt  zu  sein. 

Die  Huntarengrafschaften  lallen  mit  den  Huntaren  zu- 
sammen. 


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317 


*2.  Die  Ausdrücke  für  die  Verbände. 

Der  Ausdrücke  für  Gaue  und  Huntaren,  sowie  für  Graf- 
schaften sind  gar  viele;  in  den  meisten  Fällen  sind  es  dieselben,  so 
dass  in  der  Regel  nicht  zu  sehen  ist,  um  welche  Art  von  Bezirken 
es  sich  handelt. 

Technisch  waren  ursprünglich  die  Ausdrücke  Gau  oder  pagus 
für  den  grösseren  Bezirk,  Huntare  oder  centena  für  dessen  Theil, 
Gau  und  Huntare  nur  in  der  Zusammensetzung  mit  dem  Eigen- 
namen z.  B.  Brisigovia,  Hattenhuntare.  In  dieser  Eigenschaft 
wird  das  Wort  pagus  durch  Ammian,  Huntare  und  centena 
durch  die  Wortbedeutung,  centena  auch  durch  die  lex  Alam.  36 
erwiesen.  Huntare  und  centena  haben  ihre  technische  Bedeutung 
bewahrt,  Gau  und  pagus  dagegen  verloren. 

Dazu  trat  später  der  technische  Ausdruck  für  die  Graf- 
schaften aller  Art  comilatus,  (comicia),  ministerinm,  und  ins- 
besondere für  die  geschilderte  grosse  Grafschaft  bara,  z.  B. 
comitatus  Linzgouve;  ministerinm  Frumoldi  comitis;  Perihtilin- 
para. 

Dann  verschwanden  die  Gaue  mit  ihren  Grafen  an  der 
Spitze,  und  die  Bezeichnungen  Gau,  pagus  wurden  frei.  All- 
mälig  wurde  die  Verfassung  der  Huntaren  ihnen  in  sofern 
ähnlich,  als  nunmehr  sie  den  Grafen  an  ihrer  Spitze  (Huntaren- 
grafschaften)  hatten.  So  wurde  innerhalb  der  Huntare  das 
Bild  des  Gaus  in  einem  hervorragenden  Zuge  wieder  hcrgestellt, 
die  Huntare  wurde  gleichsam  Gau,  und  so  nahm  sie  neben  der 
eignen  auch  dessen  Bezeichnung  Gau  oder  pagus  an,  z.  B.  pagus 
Hattenhuntare,  pagus  Alfa,  pagus  Linzgau.  Nunmehr  hiessen 
alle  Huntaren  „pagi“,  und  soweit  sie  nicht  im  Namen  die 
Huntarenbezeichnung  behielten,  auch  „Gaue“.  Die  Theorie  unter- 
schied daher  pagi  majores  (Breisgau)  und  pagi  minores  (Linz- 
gau). 

Damit  ist  aber  die  Verallgemeinerung  der  Bezeichnungen 
Gau  und  pagus  noch  nicht  erschöpft.  Die  Herzogthümer  Ala- 
maunien,  Eisass  und  Currätien,  die  Bar-  und  die  Theilgaugraf- 
schaften  wurden  pagus  (pagus  Alamannorum,  pagus  Alamanniae, 
pagus  Alsacense,  pagus  Raetiae,  pagus  Bertoldespara,  pagus 


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318 


Zuricligowa)  genannt.  Gau  und  pagus  bedeuteten  also  schliesslich 
jede  Art  von  Bezirk  bis  zur  Huntare  herab. 

Von  ähnlichen  Zweideutigkeiten  sind  andere  Ausdrücke, 
welche  seltner  zur  Bezeichnung  für  Gaue,  Huntaren  und  Graf- 
schaften Vorkommen. 

Das  Wort  pageHus  hat  die  Entwicklung  des  pagus  mit- 
gemacht.  Pagclli  sind  sowohl  Gaue,  so  754  der  Breisgau,  787 
der  Hegau,  849  die  Mortenau,  wie  Huntaren,  so  836  die  Alfa, 
854  die  Goldineshuntare,  853  die  Uronia,  1155  die  Bischof shöri, 
wie  auch  Halbgau-  und  Bargrafschafteu,  so  861  Aargau,  854 
und  874  die  Bertoldsbar. 

Prorimia  ist  sowohl  ganz  Alamannien,  wie  der  Gau:  976 
Mortenau  und  Breisgau,  wie  die  Halbgaugrafschaft:  884  Thur- 
gau, 1050  Zürichgau  und  wie  die  Huntare:  610  Eisgau. 

h’ci/io  Alamanniae  Bara  1030  ist  die  Bargrafschaft. 

Finit  ist  der  Ausdruck  für  den  Gau:  752  Anis  Prisegau- 
giensis  und  ebenso  für  die  Huntare:  791  Finis  Arbonensis. . 

Tal  (Thal)  bedeutet  die  Huntare:  853 — 1258  Vallis  Urania 
(Uri),  770—826  Eitrahuntal,  861  Pleonungertal,  1275  Swiggers- 
tal.  1080  Ramestal. 

Hitna  bezeichnet  die  Halbgaugrafschaft:  779  Thurgau,  744 
Zürichgau:  die  Bargrafschaft:  pagus  et  situs  Perahtoltespara, 
die  Huntare:  783  Linzgau,  788  Arbongan,  855  Waldrammis- 
huntare.  Es  wechselt  auch  745  situs  Thurgau,  situs  Zürichgau 
als  Halbgaugral'schaftcn  und  pagus  Arbongau  als  Huntare. 
Situs  hat  ferner  die  allgemeine  Bedeutung  von  Gegend:  759/760 
pagus  Bertoltesbara  et  situs  Vildira  und  828  pagus  Durgauve 
et  situs  Waninetale  (falls  letzteres  nicht  eine  Huntare  sein 
sollte). 

Locun  bezeichnet  die  Huntare:  806  Ratoltesbuch,  949  Nidinga; 
sonst  unbestimmt  den  Ort. 

Mnrai  ist  der  Ausdruck  sowohl  für  die  Huntare  (Hnntaren- 
mai’k):  769—804  Munigisingerhuntare,  766  Nibelgau,  772,  774 
Burichinga,  792  Muutricheshuntare,  805  Arbnna,  als  auch  für  die 
Zehntschaft  (Zehntschaftsmark)  767—788  Bildachingen,  752—844 
Theuringen,  861  marca  Argengaunensium.  Sie  heissen  sämmtlich 
marca. 

.Man  sieht,  einen  festen  Anhalt  für  die  Cliarakterisirung 
der  Verbände  geben  die  technischen  Ausdrücke  huntare  oder 


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31<l 

eentena  (auch  das  gleichbedeutende  Thal)  und  bara.  Alle  andern 
sind  vieldeutig  und  es  sollen  daher  zur  sichern  Unterscheidung, 
wo  sie  nothwendig  ist,  die  Gaue  im  alten  Sinn  nunmehr  Gross- 
gaue geuannt  werden. 


3.  Die  Kltreiniameu  der  Verbände. 

Die  Namen  der  Gaue,  Huntaren  und  Grafschaften  tragen 
im  Stammland  (3.  und  4.  Jahrhundert)  und  in  Neualamannien 
(5.  und  6.  Jahrhundert)  dasselbe  Gepräge,  wesshalb  nicht 
zwischen  beiden  Gebieten  unterschieden  zu  werden  braucht. 
Eine  Reihe  davon  ist  bis  auf  unsere  Tage  geblieben. 

Der  seit  496  Alamanuien  bildenden  Grossgaue  (Currätien 
eingeschlossen)  waren  achtzehn.  Die  Namen  schlossen  sich  au 
römische  Benennungen,  an  Weltgegenden,  Berge  und  Flüsse  au. 

Mimische  Xd  men : Breisgan  (mons  Brisiacus),  Riesgau  (Rhätia 
secunda),  der  östliche  Augstgau  (Augusta  Vindclicum),  der  west- 
liche Augstgau  (Augusta  Rauracorum),  Currätien  (Raetia  Curi- 
ensis). 

Weltgegendm:  Westergau,  Sundgau,  Nortgau. 

Berge : Breisgau  (mons  Brisiacus),  Hegau  (Höhengau),  Alb- 
gau  (rauhe  Alb),  Alpgau  (Allgäu). 

Flüsse:  Neckargau,  Nagoldgau,  Illcbica  (Ul),  Lahngau, 
Illergau,  Thurgau,  Aargau.  Nicht  überliefert  ist  der  Name 
eines  Gaus,  den  ich  Donaugau  genannt  habe. 

Nicht  erklärt  sind  Mortenau  und  Klettgau.  Der  westliche 
Augstgau  und  Baselgau,  der  Suntgau  und  Illchica  sind  Doppel- 
namen für  die  zwei  Gaue. 

Geblieben  sind  7 Namen:  Ortenau  (Mortenau),  Breisgau, 
Klettgau,  Hegau,  Riesgau,  Thurgau,  Aargau,  Currätien. 

Der  Huntaren,  die  nur  theilweise  bekannt  sind,  mögen  über 
hundert  gewesen  sein.  Sie  trugen  ihre  Namen  nach  Flüsseu 
und  Thälern,  nach  Bergen,  nach  Wald  und  Feld,  nach  den 
Namen  von  Orten,  also  wohl  ihrer  Malstätten,  und  nach  den 
Namen  ihrer  Gründer,  also  wohl  ihrer  ersten  Hunnen. 

Flüsse:  Filsgau,  Ramestal  (Rems),  Ambrachgau  (Ammer), 
Eitrahuntal  (Eitrach),  Brenzgau,  Schussengau,  Argengau,  Nibel- 


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320 


gau,  Miudelriet  (Mindel),  im  Eisass  Zorngau,  in  der  Schweiz 
Rheingau.  Dahin  gehören  auch  in  Deutschland  Alfagau  (Wasser- 
gau), Flina  (nach  Buck  Alluvium?),  Unterseegau  (am  Bodensee), 
im  Eisass  Ried  (Niederung). 

Thal:  Ramestal  (Rems),  Pleonungertal,  Swiggerstal,  Eitra- 
huutal  (Eitrach),  Urania  vallis  (Thal  von  Uri). 

Berge:  Scherra  oder  Serrae.  1092  In  comitatu  montium, 
qui  vocatur  Serrae,  Oberrhein.  Zeitschrift  9,  S.  215,  218;  1095 
In  rupibus,  quae  propter  asperitatem  videntur  Serrae  vocari; 
ebenda  S.  219  (Nach  Birlinger  Skiir,  Serrae,  gleich  Säge,  Fels- 
zacken am  Wasser.  Es  sind  die  Kalkl'clsen  des  oberen  Donau- 
tlials  bis  Sigmaringen  gemeint,  dio  wie  ungefüge  Säulen  auf- 
steigen):  Alpgau  (östlicher  Allgäu). 

Wald:  Waltgau,  Ratoldesbuch  (Buchenwald);  Drachgau 
(nach  Buck  keltisch  Schlehengau),  Haistergau  (nach  Buck  junger 
Buchenwald). 

Fehl:  Vildira  (Fildern). 

Malst cilttn:  Pfullichgau  (Pfullingen),  Sulichgau  (von  dem 
römischen  Sumloeenne,  Sülchen),  Haglegau  (Haag,  Haigerloch), 
Burichinga  (Bnrichingen  abgegangen),  Munigisingerhuntaro 
(Münsingen),  Swerzenhuntare  (Schwörzkirch),  Muutriches- 
huntare  (Munderkingen),  Nidinga  (Neidingen),  Aseheim 
(Ober-,  Unter-Eschach),  Bargen  (Bargen),  Eritgau  (Ertingen), 
Tiengau  (Hohentengen),  Heistergau  (Heisterkirch),  Linzgau 
(Linz),  Hurnia  (HUrben);  speciell  im  Eisass  Huningengau 
(Hüningen);  Plefferau  (Perouse),  Rubiaca  (Rufach),  Barga 
(Barr),  Tronie  (Traenheim)  oder  Kircheim  (Kirchheim),  Bischofls- 
lieim  (Bischolfsheim),  Strassburg?  (Strassburg),  Hagenau  (Hagen- 
au), Hettengau  (Hatten);  in  der  Schweiz  Arbongau  (nach  dem 
römischen  Arbor  felix),  Vilvesgau  (Willisau),  Sissgau  (Sissach), 
Frickgau  (Frick).  Von  diesen  hier  genannten  Orten  und  H unt&ren- 
narnen  sind  zurückzuführen  auf 

IWsanmnamm:  Buriehingen  und  Burichinca  (Buricho), 
Münsingen  und  Munigisingerhuntare  (Munigis),  Schwörzkirch 
und  Swerzenhuntare  (Swerco),  Munderkingen  und  Muntriches- 
huntare  (Muntrich),  im  Eisass;  Hatten,  Hettingau  (Hatto). 
Ferner  sind  Huntaren,  nicht  aber  deren  Malstätten,  nach  Personen 
genannt:*  Purihdinga  (Purihdo),  Glehuntra  (Hleo),  Hatten- 
huntare  (Hatto);  Ruadolteshuntare  (Ruadolt),  Goldineshuntare 


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321 

(„Goldwin“),  Ratoltesbuch  (Ratolt);  in  der  Schweiz  Wald- 
rainmishuntare  (Waldram).  Im  Ganzen  also  8 Personennamen 
mit  der  Huntaren-Endung.  Ausserdem  sind  nur  noch  4 Huntaren 
gelegentlich  als  centena  bezeichnet;  839  Oentena  Krecgow,  838 
Centena  Ruadolteshuntra.  839  Centena  Eritgauua  und  990 
Centena  Erigeuue  et  Apphon.  Ihnen  schliesst  sich  in  der 
Schweiz  Bischoffishori  (Heri  nach  Buck  Kirchspiel,  Gerichts- 
sprengel) an. 

Es  bleiben  von  Huntarennamen  zu  erklären;  Bibligau,  Krek- 
gau,  Ramrna,  Falaha,  Duria,  Keltenstein,  Eisgau,  in  der  Schweiz 
Rore,  Buchsgau  und  andere. 

Doppelnamen  für  dieselbe  Huntare  sind  Flina  und  (aller- 
dings nur  umschreibend)  pagus  prope  Ulmam;  Tronie  und  Kirch- 
heini;  in  der  Schweiz  Arbongau  und  Waldrammeshuntare. 

Erhalten  haben  sich  bis  auf  unsere  Zeit,  soweit  ich  sehe, 
nur  Scherra  („auf  der  Scher“),  Vildira  (Fildern),  der  östliche 
Alpgau  (Allgäu),  in  der  Schweiz  Frickgau.  Ausserdem  zeugen 
die  zahlreichen  Ortsnamen  von  ihnen,  die  oben  als  Malstätten 
aufgeführt  sind. 

Nicht  überliefert  sind  die  Namen  für  die  Huntaren, 
denen  folgende  Landkapitel  entsprechen:  Kirchheim  (im  Gross- 
Neckargau),  Rottweil  (die  Grafschaften  Rottweil  und  Sulz, 
iui  Gross- Westergau),  Dietenheim  (mit  der  späteren  Grafschaft 
Marsstetten  im  Gross-Illergau),  die  Huntare  des  elsässer  Gross- 
Nortgau,  als  deren  Malstätte  Strassburg  erscheint,  Huntaren 
der  Grossgaue  Mortenau  und  Breisgau,  und  in  der  Schweiz 
zahlreiche  der  Grossgaue  Thurgau  und  Aargau. 

Jede  Grafschaft  hatte  einen  Namen  und  wurde  auch  wohl, 
sei  es  allein,  sei  es  daneben  mit  dein  Namen  des  jeweiligen 
Grafen  bezeichnet. 

Die  Namen  der  Grafschaften  waren  ihrer  Art  nach  ver- 
schieden. Die  Gauyrafschaften  trugen  den  des  Grossgaus; 
als  diese  obsolet  geworden,  blieb  der  Name  des  Gaus  als  land- 
schaftliche Bezeichnung,  und  die  Landschaften  wurden,  eine 
geschichtliche  Reminiscenz,  auch  noch  weiter  wie  Gau- 
grafschaften benannt,  z.  B.  87o  und  1095  comitatus  Breisgau, 
1049  comitatus  Suntgau,  1127  comitatus  Alpium  (der  rauhen 
Alb).  Bei  Bildung  der  TheilyaiiyrufscJuiftcn  behielt  die  eine 
den  Namen  des  Grossgaus,  während  die  andere  einen  neuen 

C r ft  m • r , Go»chicbte  der  Alamannen.  21 


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322 


Namen  annahm,  oder  sie  wurden  nach  anderen  Merkmalen 
unterschieden.  So  zerfiel  der  Klettgau  in  die  Theilgaugraf- 
schaften  Klettgau  und  Albgau,  der  Thurgau  in  die  Theil* 
gaugrafschaften  Thurgau  und  Zürichgau,  die  seit  867  als 
comitatus  Thurgau,  oder  seit  965  als  comitatus  Zürichgau 
erwähnt  werden,  und  der  Aargau  theilte  sich  in  die  obere  und 
untere  Grafschaft,  von  denen  816  und  894  der  superior  pagus 
et  comitatus  Aragouve  überliefert  ist.  Vom  oberen  Neckar- 
gau ist  die  Eine  gleichnamige  Theilgaugrafschaft  bekannt,  960 
und  976  comitatus  Neckargau,  während  an  Stelle  der  zweiten 
sich  nur  Namen  von  Huntarengrafschaften  bieten.  Die  Huntaren- 
grafschaften  wurden  allgemein  nach  den  Huntaren  genannt.  So 
heissen  comitatus  die  Huntaren  schon  799  Hiirben,  861  Linz- 
gau, 887  Nidinga,  961  Alfa  und  Muntricheshuntare,  1040  Bargen 
1084  Aseheim,  1282  Graveschaft  in  Tiengowe,  speciell  im  Eisass 
schon  662  Illnach,  801  Strassburg,  866  Eisgau,  im  12.  Jahr- 
hundert Throne-Kircliheim,  1266  Hettengau,  wann?  Barr,  in  der 
Schweiz  1027  Rore. 

Di  % Bargraf  schäften,  886  comitatus  Peretoldespara,  Gail.  653; 
880,  961,  999  comitatus  Bara,  Gail.  614,  Wirt.  185,  Bad.  37, 
aus  einer  grösseren  Anzahl  von  Huntaren  auch  aus  verschiedenen 
Grossgauen  willkürlich  zusammgesetzt,  entbehrten,  wie  schon  er- 
wähnt, in  Folge  dessen  einer  landschaftlichen  Bezeichnung  und 
wählten  daher  den  Namen  ihres  Grafen  in  der  Zusammensetzung 
mit  Bara.  Um  Neckar  und  Donau  gaben  die  Grafen  Bertolt, 
Perithilo,  Adalhart,  Albuin  im  Westen,  Folcholt  und  Albuin 
im  Osten  der  Bertoltsbar,  Perithilosbar,  Adalhartsbar,  der 
westlichen  Albuinsbar,  der  Folcholtsbar  und  der  östlichen 
Albuinsbar  die  Namen. 

Die  Bertoltsbar,  welche  als  Amtsgebiet  spätestens  in  der 
Mitte  des  8.  Jahrhunderts  verschwand,  ist  als  geographische  Be- 
zeichnung ihres  früheren  Bezirks  in  den  Urkunden  noch  bis  890 
zu  verfolgen-,  ein  Theil,  die  Landgrafschaft  Bar,  das  fruchtbare 
Gelände  im  Quellgebiet  der  Donau  und  des  Neckar,  hat  den 
Namen  der  Bar  bis  auf  den  heutigen  Tag  übertragen.  Viel- 
leicht führten  anch  noch  andere  Grafschaften,  die  mehr  als  eine 
Huntare  umfassten,  die  Bezeichnung  Bar  mit  dem  Namen  ihres 
Grafen,  aber  es  ist  nicht  überliefert.  Die  Grösse  des  Gross- 


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Neckargaues  (des  oberen  uud  unteren)  legt  die  Vermuthung 
nahe,  dass  er  gleichfalls  eine  Bargrafschaft  gewesen  sei. 

Schliesslich  ist  noch  ein  Name  zu  erwähnen,  der  in  allen 
Arten  von  Verbänden  vertreten  ist,  Albgau  oder  Alpgau.  Aib 
oder  Alp  ist  der  Name  von  Gebirgen  und  von  Flüssen.  Als 
Gebirgsname  bezeichnet  er  zwei  Grossgaue,  auf  der  schwäbischen 
Alb  den  nördlichen  Albgau,  auf  den  Höhen,  die  den  Bodensee 
ini  Norden  und  Osten  begleiten,  den  südlichen  Alpgau,  dessen 
Name  in  der  Huntare  Alpgau  (Allgäu)  erhalten  ist.  Als  Fluss- 
narne  gehört  er  im  Schwarzwald  der  Alb  an,  welche  der  Theil- 
gaugrafschalt  Albgau  den  Namen  gegeben  hat,  und  weiter  giebt 
es  bei  Karlsruhe  eine  Alb  und  eine  fränkische  Huntare  Albgau. 


4.  Die  Geschieht«  der  Eigennamen. 

Als  mit  der  Entwicklung  der  Verfassung  die  Huntare 
allmälig  an  die  Stelle  der  Grossgaue,  der  Theilgaue  und  der 
Baren  trat,  verloren  deren  Namen  den  amtlichen  Charakter. 
Sie  lebten  aber  als  geschichtliche  und  landschaftliche  weiter 
fort,  und  zumal  die  der  Grossgaue,  als  Zeugnisse  von  der  Zeit 
der  Ansiedlung  und  der  Selbständigkeit  des  Stammes;  sind  doch 
die  Hälfte  von  ihnen  im  Munde  des  Volkes  geblieben.  Die 
Erinnerung  blieb  so  lebendig,  dass  die  Urkundenschreiber  bei 
der  Ortsbestimmung  nicht  immer  den  Namen  des  actuellen 
Verbandes  eintrugen,  sondern  den  des  alten  Grossgaues  vor- 
zogen. Diesem  Umstand  haben  wir  (abgesehen  von  Ammiati) 
überhaupt  die  Kenntniss  der  Gaue  zu  verdanken,  müssen  dabei 
aber  in  den  Kauf  nehmen,  dass  uns  öfter  die  Namen  der  Theil- 
gaue, in  einigen  Fällen  selbst  die  der  Huntaren  fehlen,  vielfach 
andererseits  aber  auch  wohl  das  ganze  Gebiet  eines  Grossgaues  und 
die  zugehürenden  Huntaren  nicht  zu  erkennen  sind.  So  wissen  wir 
von  dem  Gross-Breisgau,  aber  nicht  von  seinen  Huntaren,  von 
dem  Gross-Klettgau,  aber  nur  von  seinen  Theilgauen,  von  dem 
Gross-Thurgau  und  dem  Gross-Aargau,  ihren  Theilgauen,  aber 
uur  von  einem  Theil  ihrer  Huntaren,  von  dem  Hegau  und  gleich- 
falls nur  von  einigen,  der  Mortenau  und  Einer  seiner  Huntaren. 
Wir  erfahren  von  dem  Nagoldgau,  aber  nicht,  ob  die  neben 

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seinem  urkundlich  bezeugten  Gebiet  liegenden  Hattenhuntare 
und  Glehuntare  ihm  angehörten.  Und  so  in  vielen  anderen 
Fällen. 

# Aber  einen  Verband  gab  es  doch,  der  in  der  Erinnerung 
der  nachfolgenden  Generationen  Namen  und  Gebiet  von  Gross- 
gauen auslöschte. 

Es  war  eine  jüngere  Schicht,  die  Bargrafschaften.  In 
dem  Gebiet  der  Bertoltsbar  ist  das  des  Gross -Westergaus, 
in  dem  der  Folcholts-  und  östlichen  Albuinsbar  das  des  öst- 
lichen Gross -Alpgaus  nur  schwer  zu  erkennen,  der  von  mir  so 
genannte  Donaugau  gar  nicht.  Da  zwischen  Donau  und  dem 
Bodensee,  abgesehen  vom  Gross -Illergau,  Gau-  und  Theilgau- 
namen  nicht  erhalten  und  die  Namen  der  Barorte  nur  spärlich 
gesäet  sind,  so  reden  die  Urkunden  hier  nur  von  H untaren. 
Hier,  bei  meist  zahlreichen  Huntarenorten  sind  die  Gebiete 
der  Huutaren  unschwer  festzustellen,  während  da,  wo  der 
Gross  - Westergau  und  seine  der  Zugehörigkeit  nach  zweifel- 
haften Huntaren  von  der  vielbekundeten  Bertoltsbar  überdeckt 
sind,  die  Schwierigkeiten  am  grössesten  erscheinen. 

Mit  der  durch  die  Zunahme  der  Bevölkerung  gebotenen 
Thoilung  der  Verbände  ergab  sich  auch  in  Berg  und  Thal  die 
Erweiterung  der  Ansiedlungen,  und  mit  ihr  die  Ausdehnung 
der  Namensgebiete.  Man  denke  an  die  Grossgaue,  deren 
Ebenen  die  Alb,  den  Schwarzwald,  den  Altdorfer  Wald  um- 
gaben, welche  die  Berge  der  Schweiz,  die  Vogesen  im  Rücken 
hatten.  Besonders  characteristisch  tritt  dies  an  den  Gauen 
hervor,  deren  Namen  an  Flüsse  sich  anlehnten.  Der  Gross- 
Neckargau  stieg  aus  dem  Thal  den  Steilabfall  der  östlichen 
Alb  empor  und  nahm  auch  dahin  seinen  Namen  mit.  Der 
Gross- Nagoldgau  überschritt  den  Neckar,  und  sein  Name  fand 
sich  auch  jenseits  des  Letzteren.  Der  Gross-Thurgau  dehnte 
sich  von  der  Ebene  der  Thur  bis  zum  Hochgebirge  aus,  der 
Gross-Aargau  folgte  dem  Lauf  des  Flusses  aufwärts,  und  die 
Gaunamen  folgten  dahin.  So  giebt  die  Bezeichnung  nach 
Flüssen  eiuen  bedeutsamen  Anhalt  für  die  Richtung,  welche 
die  Besiedelung  des  Landes  genommen.  Andererseits  zog  sich 
der  Name  des  Gross -Klettgau  auf  den  Osten,  die  Theilgau- 
grafschaft  Klettgau,  der  Name  des  Gross -Thurgau  auf  den 
Osten,  die  Theilgaugralschaft  Thurgau  zurück  und  heutzutage 


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325 


mögen  die  Cautone  Thurgau  und  Aargau  sich  etwa  auf  die- 
selben Gebiete  an  den  unteren  Läufen  der  Flüsse  zurückgezogen 
haben,  welche  die  Grossgaue  im  5.  Jahrhundert  ursprünglich 
eingenommen  haben.  Vom  Namen  des  südlichen  Gross -Alpgau 
ist  nur  der  der  Huntare  Alpgau  (Allgäu)  übrig  geblieben. 

Von  den  Huntaren  haben  noch  im  Mittelalter  zwei  ihr 
Namensgebiet  erweitert  Scherra,  wenn  der  Forst  uff  der  Schär, 
der  im  Süden  und  Westen  weit  über  den  Umfang  der  Scherra 
hinausging,  eine  Wahrheit  ist,  (siehe  *26.  Kapitel)  und  die  öst- 
liche Huntare  Albgau,  die  als  Allgäu  im  Norden  statt  bis 
Kempten  nunmehr  bis  Memmingen  hinabreicht.  Dagegen  sind 
bis  auf  vier  (S.  3*21)  alle  Huntarennamen  verschwunden, 
während  zahlreiche  Ortsnamen,  die  oben  als  Malstätten  auf- 
geführt sind,  von  ihnen  zeugen. 

Schon  vor  dem  13.  Jahrhundert,  iu  welchem  die  Grafen 
die  Landeshoheit  ihrer  Grafschaften  erwarben,  hatte  sich  der 
Brauch  eingeführt,  diese  nach  dem  Sitz  der  Grafen  zu  be- 
nennen. Damit  verschwanden  die  alten  Namen,  aber  ihre 

Gebiete  blieben  vielfach  als  neu  benannte  Grafschaften.  Als 
Beispiele  aus  dem  Herzen  Alamanniens  seien  hier  die  sechs 
Grafschaften  genannt,  aus  deren  Bestandteilen  sich  die 
heutigen  Hohenzollerschen  Lande  zusammensetzen. 

Es  sind  die  Huntare  Haglegau,  dann  Grafschaft  Haiger- 
loch,  die  Hattenhuntare,  dann  Grafschaft  Zollern,  die  Huntare 
Burichinga,  dann  Grafschaft  Gammertingen,  die  Huntare  Affa, 
dann  Grafschaften  Veringen  und  Grüningen,  die  Huntare  Ra- 
toltesbuch,  dann  Grafschaft  Sigmaringen,  die  Huntare  Scherra, 
dann  Grafschaft  Hohenberg. 

Abgesehen  vou  Stücken  der  Grafschaft  Hohenberg,  lässt  die 
Gestalt  der  Hohenzollernschen  Lande  noch  heute  verwischt  die 
Umrisse  der  Huntaren  erkennen.  Noch  heute  geben  die  könig- 
lichen und  fürstlichen  Titel  der  Hoheuzollern  die  alten  Graf- 
schaften ihres  Hauses  w’ieder:  Graf  zu  Hohenzollern  (Fürst  von 
Hohenzollern,  für  die  Grafschaft  Zollern),  Graf  zu  Sigmaringen 
und  Veringen,  Herr  zu  Haigerloch  und  Werstein  (für  die  Graf- 
schaft Haigerloch). 

Aus  der  bisherigen  Darstellung  geht  zur  Genüge  hervor, 
dass  eine  Wiederherstellung  der  Gaue,  Theilgaue,  Huntaren 
und  Marken  sowie  deren  Orte  nach  dem  lückenhaften  Material 


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der  Rechtsurkunden  allein  nicht  möglich  ist.  Da  bieten  aber 
ein  ergänzendes  Hilfsmittel  jüngere  Grenzbeschriebe  von  Marken, 
Gerichtsbezirken,  Grafschaften  u.  s.  w.,  aus  welchen  auf  die  Zu- 
stände der  Grafenzeit  zurückgeschlossen  werden  mag,  ferner  die 
kirchlichen  Verbände,  Archidiakonate  und  Kapitel  sowie  deren 
Orte,  diese  ein  Hilfsmittel,  mit  dem  allerdings  viel  Missbrauch 
getrieben,  und  das  daher  in  Misscredit  gerathen  ist.  Die  Theorie 
der  Uebereinstimmung  von  politischen  und  kirchlichen  Verbänden 
ist  vielfach  aufgegeben  und  Baumann,  selbst  ein  Anhänger  hin- 
sichtlich des  Bisthums  Constanz,  nennt  sie  „anrüchig“,  von 
Thudichum  „ein  altes  Märchen“.  Wie  Baumann  will  ich  ver- 
suchen, für  Constanz  die  Theorie  mit  den  erforderlichen  Ein- 
schränkungen wieder  zu  Ehren  zu  bringen,  indem  ich  den 
Entwicklungsprocess  von  Gauen  und  Archidiakonaten,  von 
Huutaren  und  Kapiteln  neben  einander  verfolge. 


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Elftes  Kapitel. 

Die  politischen  und  kirchlichen  Verbände. 

1.  Die  kirchliche  Verfassung. 

In  Alamannien  verbreitete  sich  das  Christenthum  im  Laufe 
des  siebenten  Jahrhunderts.  Aus  der  Zeit  seiner  ersten  Ein- 
führung wird  die  Doppelbedeutung  des  Wortes  pagus  her- 
rühren, das  die  Gaugenossen  zugleich  als  Heiden  bezeichnet. 
In  der  ersten  Hälfte  des  8.  Jahrhundert,  zur  Zeit  des  Erlasses 
des  alamannischen  Gesetzbuchs  nahm  die  Kirche  im  Gemein- 
wesen bereits  eine  bevorzugte  Stellung  ein;  der  Gottesdienst, 
ihre  Diener  und  ihr  Eigenthum  waren  durch  hohe  Bussen  und 
AVergelder  geschützt.  Die  Tödtung  eines  Bischofs  wurde  wie 
die  des  Herzogs  mit  dem  Tode  bestraft.  Wer  einen  Pfarrer 
tödtete,  zahlte  ein  Wergeid  von  600  Schillingen,  einen  Diacon 
oder  Mönch  400,  während  das  Wergeid  eines  Adeligen,  primus 
240,  eines  Mittelfreien,  medius  200,  eines  Gemeinfreien,  mino- 
flidus  IfiO  Schillinge,  bei  Frauen  das  Doppelte,  das  Wergeid 
eines  Freigelassenen  80  Schillinge  betrug.  Es  scheint  keine 
Heiden  mehr  gegeben  zu  haben;  das  Gesetzbuch  37  unter- 
scheidet Christen  und  Heiden  nur,  wo  es  vom  Auslande  spricht. 

In  das  siebente  Jahrhundert  fallen  also  auch  die  Anfänge 
der  kirchlichen  Organisation,  in  eine  Zeit,  in  welcher  Gaue 
und  auch  wohl  die  Gaugrafschaften  bereits  verschwunden  waren. 

Im  Mittelalter  zerfiel  Alamannien  in  Bisthümer,  Archi- 
diakonate  und  Landkapitel,  von  denen  die  mittleren  die 
jüngsten  sind.  Man  wird  annehmen  dürfen,  dass  sich  die 
kirchlichen  Verhältnisse  hier  nicht  anders  entwickelt  haben  als 
in  Franken  nach  Quellen  des  8.  und  9.  Jahrhunderts. 


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328 


Abgesehen  von  den  Kathedralkirchen  in  den  Bischofs- 
städten fanden  sich  auf  dein  Lande  Taufkirchen  (tit.uli  majores : 
ecclesiae  baptismales,  plebes,  baptisteria)  und  um  sie  zerstreut 
auf  den  Gütern  der  Grundherrn,  in  Klöstern  u.  s.  w.  kleinere 
Kirchen  (tituli  minores:  oratoriae,  capellae,  basilicae,  ecclesiae). 
In  letzteren  wurde  Gottesdienst  gehalten  und  auch,  abgesehen 
von  den  hohen  Festtagen,  Messe  gelesen;  in  den  Taufkirchen 
wurden  weiter  die  Taute  und  die  übrigen  Sacramente  gespendet 
und  an  hohen  Festtagen  ausschliesslich  hier  Messe  gelesen. 
Somit  war  die  Taufkirche  der  Mittelpunkt  des  Gottesdienstes, 
woraus  sich  der  Pfarrzwaug  aller  Eingesessenen  der  Taufkirehe 
gegenüber  entwickelte. 

Leiter  der  Taufkirche  war  der  Erzpriester,  Archipresbyter, 
welchem  die  Aufsicht  über  seine  Gehülfen  und  die  Vorsteher 
der  kleineren  Kirchen,  sowie  die  geistliche  Leitung  der  Ein- 
gesessenen zufiel. 

Jenes  Aufsichtsrecht  blieb  auch,  als  mit  dem  fortschreitenden 
Bedürfnis  die  kleineren  Kirchen  die  Stellung  der  Taufkirchen 
(Vollkirchen)  erhielten,  als  sich  ihre  Bezirke  gegen  die  der 
historischen  Taufkirche  abschlossen  und  Parochien  bildeten  und 
als  in  Folge  dessen  ihre  Vorsteher  die  Bezeichnung  presbyter 
parochianus,  rector  ecclesiae,  plebanus  — Plärrer  erhielten; 
die  historische  Gruppe  der  Kirchen  und  ihrer  Parochien  liiess 
christianitas,  decania,  decanatus,  capitulum  rurale  — Land- 
kapitel, und  sein  Vorsteher,  den  sich  der  Bischof  aus  den 
Pfarrern  wählte,  decanus  ruralis,  archipresbyter  — Erzpriester. 
Er  hielt  monatlich  mit  den  ihm  untergebenen  Geistlichen  Ver- 
sammlungen ah,  in  denen  diese  Rechenschaft  über  ihre  Amts- 
führung, über  den  kirchlichen  Zustand  ihrer  Gemeinden  ab- 
statteten und  in  denen  Bussen  für  kirchliche  Vergehungen  dem 
Bischof  vorgeschlagen  wurden  und  ihr  Vollzug  überwacht  ward. 
Die  sonst  gäng  und  gäbe  Theorie  ging  nun  dahin,  dass  das 
Landkapitel  mit  der  Huntare  Zusammenfalle. 

Die  Regierungsgewalt,  jurisdictio,  über  die  Landkapitel 
stand  dem  Bischof  zu,  der  sich  dabei  der  Hülfe  des  Archdiakons 
bediente.  Wie  es  scheint,  gab  es  ursprünglich  in  jeder  Diöcese 
nur  einen  Archidiakon,  den  ersten  Diakon  der  Kathedralkirche. 
Abgesehen  von  gewissen  Functionen  an  dieser,  hatte  er  als 
Gehülfe  des  Bischofs  das  Aufsichts-  und  Disciplinarstrafrecht, 


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insbesondere  über  die  niederen  Kleriker,  und  vertheilte  den 
Unterhalt  au  die  Geistlichen.  Er  ert heilte  Censuren  und  hatte 
das  Recht  der  Excommunikation.  Die  geistliche  Gerichtsbarkeit 
hatte  er  gegen  Eingriffe  der  weltlichen  Richter  zu  schützen, 
und  das  kirchliche  Vermögen  unterstand  seiner  Obhut  u.  s.  w. 
Einer  Mehrheit  von  Archidiakonen  in  dem  Bisthum,  mithin 
einer  geographischen  Eintheilung  in  mehrere  Archidiakonate 
geschieht  erst  im  9.  Jahrhundert  Erwähnung,  zugleich  wird 
aber  auch  den  Archidiakonen  Missbrauch  ihrer  Stellung  und 
Habsucht  bei  der  Verwaltung  der  ihnen  anvertrauten  Parochien 
vorgeworfen  und  es  wurden  die  Bischöfe  zu  einer  gesteigerten 
Aufmerksamkeit  auf  sie  gemahnt,  ein  Beweis  dass  die  Ein- 
theilung in  mehrere  Bezirke  schon  eine  ältere  war.  Man 
nimmt  aber  au,  dass  sie  erst  im  11.  Jahrhundert  vollendet  sei. 

Seit  dem  13.  Jahrhundert  wurden  die  Archidiakonate 
wieder  eingezogen  und  Aufsicht  und  Visitation,  welche  sich  zu 
einem  selbständigen  Recht  der  Arehidiakone  entwickelt  hatte, 
ging  wieder  an  die  Bischöfe  über.  Im  alamannischen  Gesetz- 
buch ist  von  Archidiakonen  keine  Rede.  Die  Vorstellung,  dass 
wie  die  Kapitel  den  Huntaren,  so  die  Archidiakonate  den  Gauen 
entsprächen,  war  früher  gleichfalls  eine  verbreitete. 

(Nach  Richter -Dove,  Lehrbuch  des  katholischen  und  pro- 
testantischen Kirchenrechts  §§  137,  138,  141;  Hinschius, 
System  des  katholischen  Kirchenrechts  II  §§  8H  und  HO). 

Es  waren  vier  Bisthümer,  welche  sich  über  das  alamannisch 
gebliebene  Gebiet  des  Südens  erstreckten,  Constanz,  Strassburg, 
Basel  und  Augsburg,  deren  Sitze  sämmtlich  (Vindonissa, 
Windisch  für  das  spätere  Constanz)  schon  zu  römischer  Zeit 
bestanden.  Die  räumliche  Eintheilung  des  Landes  zu  Bis- 
thümern  kam  erst  mit  dem  7.  Jahrhundert,  als  dem  der 
Christianisirung,  und  wird  damals  erfolgt  sein,  als  noch  Gaue 
oder  Gaugrafschaften  bestanden,  was  im  nächsten  Jahrhundert 
nicht  mehr  der  Fall  war.  Denn  die  4 Bisthümer  fallen 
allenthalben  mit  Gauen  (Grossgauen)  und  die  Bisthumsgrenzen 
mit  Gaugrenzen  zusammen.  Die  Diöcese  Strassburg  besteht 
aus  den  Gauen  Mortenau  und  Xortgau,  Basel  ans  dem  Sund- 
gau und  westlichen  Augstgau,  Augsburg  aus  dem  östlichen 
Augstgau  und  Riesgau;  Constanz  aus  den  übrigen  alamannischen 
Gauen  bis  an  deren  Grenzen.  An  die  alamannischen  Bisthümer 


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stiessen  im  Norden  die  fränkischen  Speyer,  Würzburg  und 
Eichstätt,  im  Südwesten  das  burgundionische  Lausanne,  im 
Südosten  das  romanische  Chur. 


2.  Das  Bisthuni  Constanz. 

Mit  den  weiteren  Untersuchungen  werde  ich  mich  auf 
das  grosse  in  der  Mitte  der  andern  liegende  alamannische  Bis- 
thum Constanz  beschränken  und  zwar,  soweit  es  die  Ver- 
gleichung von  Huntaren  und  Ruralkapiteln  angeht,  auf  den 
deutschen  Antheil,  da  für  eine  Inbetrachtnahme  der  schweizer- 
ischen Huntaren  ein  geeignetes  Material  nicht  vorliegt. 

Der  Sitz  des  Bisthums  soll  um  600  von  Yindonissa  (Win- 
disch)  nach  Constanz  verlegt  sein.  Eine  Urkunde  Friedrichs  I. 
von  1155  bezeichnet  als  die  Grenzen  des  Bisthums  Constanz: 
im  Osten  gegen  das  Bisthum  Augsburg  die  Iller  bis  zur 
Donau  und  diese  bis  zur  Stadt  Ulm,  im  Norden  gegen  die 
Bisthümer  Würzburg  und  Speyer  die  fränkisch- alamannische 
Stammesgrenze,  usque  ad  marcam  Francoruin  et  Alamannorum 
(S.  264),  im  Westen  gegen  das  Bisthuni  Strassburg  den 
Schwarzwald  und  die  Bleiche  (bis  zum  Rhein,)  als  Grenzbach 
zwischen  der  Strassburger  Mortenau  und  dem  Constanzer 
Breisgau,  gegen  das  Bisthum  Basel  von  der  Mündung  der 
Bleiche  den  Rhein  aufwärts  bis  zur  Mündung  der  Aare, 
gegen  das  Bisthum  Lausanne  die  Aare  bis  zum  Thuner-See 
und  dann  (im  Süden  und  Südosten)  die  Alpen,  gegen  das  Bis- 
thum Chur  rheinaufwärts  die  Grenzen  des  Gau  Cnrrätien  bis 
zur  Stadt  Montigels  (Montlingen,  Canton  Appenzell).  Neug.  866: 
Wirt.  352.  Die  Bemerkung  der  Urkunde,  dass  die  Bisthums- 
grenzen von  dem  König  Dagobert  festgesetzt  seien,  wird  für 
sagenhaft  erklärt  (Rettberg,  Kircheugeschichte  Deutschlands 
II  100  u.  flgde.)  und  mit  Recht,  da  von  einem  constitutiven 
Act  des  Königs  keine  Rede  sein  kann;  diese  Grenzen  sind 
keine  willkürlich  gezogenen,  sondern  sie  entsprachen  durch- 
aus den  äusseren  Grenzen  der  Grossgane.  Die  Regierung 
Dagoberts  I.  fiel  in  die  Jahre  623  — 639,  in  das  7.  Jahr- 
hundert, das  als  die  Zeit  der  Bisthumseintheilungen  gefunden 
wurde.  (Siehe  weiter  Kapitel  46  Abschnitt  7.) 


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L'eber  die  Gliederung  des  Bisthums  in  Archidiakonate  und 
Kapitel  und  über  die  Orte,  die  den  einzelnen  Bezirken  an- 
gehören, sind  wir  durch  kirchliche  Steuerregister  des  13.  und 
14.  Jahrhunderts,  welche  in  dem  Freiburger  Diöeesanarchiv 
seit  1861  von  dem  Decan  Haid  veröffentlicht  sind,  genau 
unterrichtet.  Die  Register,  von  der  grössten  Bedeutung  für 
die  (langeographie,  sind  folgende: 

1.  Der  Liber  decimationis  cleri  Constantiensis  pro  Papa 
de  anno  1274  (Archiv  I).  Unter  Pabst  Gregor  X.  wurde  im 
Jahr  1274  auf  der  zweiten  Synode  zu  Lyon  ein  Kreuzzug  und 
für  dessen  Kosten  eine  Besteuerung  des  Klerus  beschlossen. 
Jeder  Inhaber  einer  kirchlichen  Pfründe  sollte  6 Jahre  lang 
von  1274 — 80  den  zehnten  Theil  seines  Einkommens  opfern, 
halbjährlich  nach  eigner  eidlichen  Angabe.  Den  Einzug  der 
Steuer  im  Bisthum  Constanz,  welche  ausser  im  Jahre  1275 
auch  noch  1276  und  77  erhoben  wurde,  beurkundet  der  über 
decimationis.  Der  Kreuzzug  kam  „leider“,  sagt  der  Heraus- 
geber, nicht  zu  Stande. 

2.  Der  Liber  quartarum  in  dioecesi  Constantiensi  de  anno 
1324  (Archiv  IV  3—41),  ein  Verzeichniss  des  kirchlichen 
Zebenden,  von  dem  der  Bischof  den  4.  Theil  bezog,  entweder 
jährlich  zu  */4,  oder  alle  4 Jahre  zu  liefern. 

3.  Der  Liber  bannalium  in  dioecesi  Constantiensi  de  anno 
1324  (IV  42 — 62),  ein  Register  über  die  Bannalpflicht,  welche 
dem  Archidiakon  zu  entrichten  war. 

4.  Der  Liber  taxationis  ecclesiarum  et  beneficiorum  in 
dioecesi  Constantiensi  de  anno  1353  (V  1—65);  ein  nicht  voll- 
ständiger Pfarrbeschreib,  enthaltend  Einkommen  und  Lasten 
der  Pfründen. 

5.  Der  Liber  marcarum  von  1360-70  (V  66 — 118),  in 
welchem  Kapitel  und  Klöster  nur  im  Allgemeinen  genannt  sind. 

Alle  diese  Register  ordnen  ihren  Inhalt  nach  Archidia- 
konaten,  Kapiteln,  Pfarreien  und  Orten,  und  erst  in  einem 
Katalog  von  1519  finden  sich  keine  Archidiakonate  mehr,  da 
sie  inzwischen  aufgehoben  und  durch  das  gemeinsame  bischöfliche 
Generalvikariat  ersetzt  waren. 

Das  Constanzer  Archidiakonats-,  Landkapitel-  und  Orts- 
Register  ist  von  Jakob  Manlius,  eineu  Bregenzer  Canonicus, 
Rath  Maximilians  II.  und  Historikus  (lebte  zwischen  1540  bis 


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90)  nach  dem  Stande  seiner  Zeit  zusammengestellt  und  findet 
sich  bei  Pistorins  Rer.  Germ.  T.  TU.  bei  Clin.  F.  Sattler 
Abhandlung  von  den  Ruralkapiteln  und  bei  Neugart  Epis- 
copatus  Constantiensis  T.  I.  S.  XOY  abgedruckt. 


3.  Ilimtaren  und  Kapitel. 

Ziehen  wir  nun  auf  Grund  dieses  Materials  erst  die  älteren 
Landkapitel  mit  den  Huntaren,  dann  die  jüngeren  Archi- 
diakonate  mit  den  Gauen  in  Vergleichung.  Es  ist  dabei  der 
älteste  über  deeimationis  von  1274  zu  Grunde  zu  legen. 

Im  Bisthum  Constanz  gab  es,  abgesehen  von  dem  Kapitel 
der  Bischofsstadt,  65  Kapitel  (Ruralkapitel,  Landkapital,  De- 
kanate), von  denen  4G  auf  Deutschland,  19  auf  die  Schweiz 
fielen.  Ihre  Bezeichnung  war  nach  dem  jedesmaligen  Wohn- 
sitz des  Decans  eine  wechselnde,  und  erst  seit  dem  lt>.  Jahr- 
hundert wurden  ihre  Namen  nach  einem  grossen  Ort  stehend. 
Für  die  Vergleichung  mit  Huntaren  fallen  von  den  deutschen 
Kapiteln  weg  5 des  Breisgau,  .'i  des  Klettgau  und  die  Kapitel 
Kirchheim  und  Dietenheim,  deren  entsprechende  Huntaren  nicht 
bekannt  sind,  so  dass  also  :tfi  Kapitel  und  auf  der  anderen 
Seite  41  bekannte  Huntaren  für  unsern  Zweck  übrig  bleiben. 
Nach  zahlreichen  Orten  sind  die  Grenzen  der  Kapitel  zu  be- 
stimmen, während  die  Zahl  der  Huntarenorte  von  41  (Argen- 
gau)  bis  herab  zu  1 schwanken ; sie  sollen  daher  bei  jeder 
Huntare  angegeben  werden.  Fallen  die  Orte  Einer  Huntare 
ausschliesslich  in  den  Bereich  der  Orte  Eines  Kapitels,  so  ist 
es  zunächst  möglich,  dass  sich  die  beiden  Verbände  decken. 
Sind  der  Huntarenorte  nur  wenige,  oder  ist  es  gar  nur  ein 
einziger,  und  wiederholt  sich  dieselbe  Erscheinung  an  einer 
Reihe  von  Huntaren  und  Kapiteln,  so  dürfen  wir  aunehmen, 
dass  Huntare  und  Kapitel  zusammenfallen.  Ohne  Weiteres  ist 
dies  klar,  wenn  zahlreiche  Orte  Einer  Huntare  vorliegen. 

Bei  der  Vergleichung  von  Huntaren  und  Kapiteln  stellen 
sich  nun  folgende  Formen  des  Verhaltens  heraus: 

1.  Die  Orte  Einer  Huntare  liegen  im  Bereich  Eines 
Kapitels  in  11  Fällen; 


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333 


Hnntaren: 

Pleonmigotal  3 Orte, 
Filsgau  2, 

Glchuutra  l . 

Haglegau  2. 

Waltgau  2. 

Aselieira  2, 

Burichinga  a, 

Munigisingerlmntare  7, 
Flina  4, 

Eritgau  lü, 

Heistergau  «. 


Kapitel : 
Geislingen; 

— Göppingen ; 

— Böblingen ; 

— Haigerlocb; 
Dornstetten ; 
Villingen; 
Troclitelfingen ; 
Münsingen ; 
Blaubeureu; 
Saulgau ; 
Waldsee. 


2.  Die  Orte  zweier  Hnntaren  liegen  im  Bereich  Eines 
Kapitels  in  3 Fällen: 


Huntaren : 
Kottwoil  14,  | 

Sulz  3,  j 

Goldineshuntare  2,  | 
Ratoltesbueh  4,  | 

Krekgau  1,  | 
Tiengau  1,  j 


Kapitel: 

Rottweil; 

Mösskirch; 

Mengen. 


Es  ist  anzunehmen,  dass  die  Eine  dem  Kapitel  entsprechende 
Hnntare  sich  in  zwei  gespalten  habe. 


3.  Die  Orte  dreier  Huntaren  liegen  im  Bereich  von  zwei 

Kapitel : 

| Egebrechtshofen, 

| lsny. 

Ursprünglich  wird  der  Argengan  dem  Kapitel  Egebrechts- 
liofen,  der  Nibelgau  dem  Kapitel  lsny  entsprochen  haben.  Der 
Alpgau  (Allgäu)  wird  aber  bei  seiner  späteren  Gründung  im 
Gebirge  sich  über  einen  Theil  beider  Kapitel  ausgedehnt  haben. 
Der  Argengau  reichte  auch  durch  Tettnaug  in  das  Kapitel 
Ravensburg. 

4.  Die  Orte  von  vier  Huntaren  liegen  im  Bereich  von  zwei 
Kapiteln  in  einem  Fall: 


Kapiteln  in  einem  Fall: 
Huntaren : 
Argengau  41, 
Oestlicher  Alpgau  8. 
Nibelgau  29, 


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334 

Huntaren : Kapitel : 

Scherra  19,1 

Purihdinga  2, 1 Ebingen, 

Nidinga  4,  ( Geisingen. 

Eitrahuntal  2,  J 

Scherra  hat  das  Kapitel  Ebingen  für  sich  und  theilt  sich 
mit  den  3 übrigen  Huntaren  in  das  Kapitel  Geisingen,  das 
grösste  von  Allen.  Es  ist  anzunehmen,  dass  letzteres  ursprüng- 
lich Einer  Huutare  entsprach,  die  sich  in  drei  zerlegte.  Ausser- 
dem wird  Scherra  rodend  in  das  Gebiet  von  Geisingen  ein- 
gedruugen  sein. 

5.  Die  Orte  Einer  Huntare  liegen  im  Bereich  von  zwei 
Kapiteln  in  2 Fällen: 

Huntaren : Kapitel : 

| Reichenau, 

Untererseegau  12;  - |Stockach. 

| Engen. 

Bargen  2;  - jStein. 

Die  Kapitel  werden  ursprünglich  der  Huntare  entsprochen 
haben  und  dann  zerlegt  sein.  Reichenau  war  exempt,  was 
seine  Trennung  von  Stockach  herbeigeführt  haben  w'ird. 

6.  Die  Orte  zweier  Huntaren  liegen  im  Bereich  von  zwei 

Kapiteln  in  einem  Fall: 

Huntaren:  Kapitel: 

Fildern  7,  | _ | Esslingen, 

Ramestal  3,  | ( Cannstatt. 

Je  ein  Kapitel  wird  ursprünglich  sich  mit  einer  Huntare 

gedeckt  haben  und  dann  werden  die  Kapitel  unter  sich  anders 
abgegrenzt  worden  sein.  In  Folge  dessen  hatte  der  Südeu  von 
Fildern  das  Kapitel  Esslingen  für  sich  und  theilte  sich  mit 
Ramestal  in  das  Kapitel  Cannstatt. 

7.  Die  Orte  zweier  Huntaren  liegen  im  Bereich  von  drei 

Kapiteln  in  einem  Fall: 

Huntaren;  Kapitel: 

Linzgau  40,  | 

Schussengau  4. 1 


| Ueberlingen, 
J Theuringen, 

( Ravensburg. 


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335 


Bei  zunehmender  Bevölkerung  der  2 Huntaren  werden  die 
2 entsprechenden  Kapitel  in  3 zerlegt  worden  sein.  In  das 
Kapitel  Ravensburg  drang  auch  der  Argengau  ein.  (Siehe 
Baumann  29,  51,  55). 

8.  Die  Orte  von  fünf  Huntaren  liegen  im  Bereich  von  fünf 
Kapiteln  in  einem  Fall: 

Huntaren : Kapitel : 

Affa  9,  Riedlingen, 

Suerzenhuntare  1 1 , Ehingen, 

ilunterishuntare  7,  • — Munderkingeu, 

Ruadolteshuntare  3,  Biberach, 

Ramma  5,  Laupheim. 

Hier  hat,  wie  auch  in  dem  nächsten  Fall,  eine  völlige  Ver- 
werfung der  Schichten  von  Huntaren  und  Kapiteln  stattgefunden. 
Die  beiden  ersten  Huntaren  liegen  links,  die  drei  letzten  rechts 
der  Donau.  Wenn  im  Anfang  auf  jede  ein  Kapitel  gekommen 
ist,  so  hat  augenscheinlich  später  eine  planmässige  Neuaufteilung 
der  letzteren  stattgefunden,  bei  welcher  die  Huntaren  Affa, 
Suerzenhuntare,  Munterishuntare,  Ruadolteshuntare,  als  Complex 
gedacht,  einerseits,  mit  den  Kapiteln  Riedlingen  links  der  Donau, 
Ehingen  und  Munderkingen  an  beiden  Ufern  der  Donau  als 
Complex  andererseits  sich  decken.  Es  bleibt  aber  noch  ein 

nordöstliches  Stück  der  Ruadolteshuntare  übrig,  welches  nun  in 
das  Kapitel  Biberach  fällt,  dessen  Rest  sammt  dem  Kapitel 
Laupheim  dem  Rammagau  entspricht. 

9.  Die  Orte  von  sechs  Huntaren  liegen  in  dem  Bereich 
von  vier  Kapiteln  in  einem  Fall: 

Huntaren:  Kapitel: 

BibliSau  Herrenberg, 

Ambrachgau  1, 

Sulichgau  4,  _ Rottenburg, 

Hattenhuntare  5,  Hechingen, 

Pfullichgau  2,  Reutlingen-Urach. 

Swiggerstal  3. 

Hier  mögen  sich  die  Verhältnisse  so  entwickelt  haben.  Der 
Bibligau,  der  lang  am  Neckar  sich  hin  erstreckende  Sulichgau 
und  die  Hattenhuntare  werden  ursprünglich  entsprechende 
Kapitel  gehabt  haben.  Ebenso  ein  später  in  die  Huntaren 
Pfullichgau  und  Swiggerstal  getrennter  Bezirk,  der  im  Wesent- 


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liehen  Ein  Kapitel  hatte,  das  erst  nach  1324  in  die  2 Kapitel 
Reutlingen  und  Urach  getheilt  wurde.  Zwischen  den  Bibligau 
und  obern  Sulichgau  (richtiger  oberen  Theil  des  Sülichgau's) 
schob  sich  eine  neue  Huntare,  der  Ambrachgau  ein  und  es  er- 
folgte dann  eine  kirchliche  Neueintheilung  dieses  Huntaren- 
complexes  dahin,  dass  der  Bibligau  und  obere  Ambrachgau  das 
Kapitel  Herrenberg,  der  untere  Ambrachgau  und  der  obere 
Sulichgau  das  Kapitel  Rottenburg,  der  mittlere  Sulichgau  und 
die  Hattenhuntare  das  Kapitel  Hechingen,  der  untere  Sulich- 
gau, der  Pfullichgau  und  das  Swiggerstal  das  Kapitel  Reut- 
lingen-Urach bildeten.  Bei  dessen  Theilung  nach  1324  umfasste 
dann  das  Kapitel  Reutlingen  den  unteren  Sulichgau  und  den 
Pfullichgau,  das  Kapitel  Urach  das  Swiggerstal. 

Damit  sind,  abgesehen  von  ganz  localen  Abweichungen, 
welche  nicht  ins  Gewicht  fallen  (z.  B.  Karbaeh  und  Weiler 
bei  Baumann  29),  die  Beziehungen  sämmtlichcr  41  Huntaren 
und  36  Kapitel  nach  dem  Zustand  von  1274  dargestellt,  ln 
14  Fällen  (zu  Nr.  1 und  2)  findet  man  die  Orte  einer  oder 
zweier  Huntaren  (und  es  sind  dabei  solche  mit  14,  lü,  9, 
8 Orten)  innerhalb  der  Grenzen  eines  Kapitels,  so  dass  man 
hier  folgern  kann,  es  decken  sich  bei  Einer  Huntare  die 
Grenzen,  oder  bei  zwei  Huntaren  deren  äussere  Grenzen  mit 
Einem  Kapitel.  In  ähnlicher  Weise  fallen  in  8 weiteren  Fällen 
(zu  Nr.  3—9)  die  äussern  Grenzen  eines  Complexes  von  Hun- 
taren mit  einem  Complex  von  Kapiteln  zusammen.  Diese 
Identität  der  engern  Grenzen  zu  1 oder  der  weitern  zu  2 — 9 
ist  also  in  allen  Fällen  zutreffend,  so  dass  sich  der  weitere 
Schluss  rechtfertigt,  ursprünglich  seien  Huntare  und  Kapitel 
eins  gewesen  und  eine  theil  weise  Disharmonie  sei  erst  das  Er- 
gebnis* einer  geschichtlichen  Entwickelung. 

Damit  werden  wir  zunächst  in  das  7.  Jahrhundert,  die 
Zeit  der  Christiauisirung  Alamanniens,  zurückersetzt.  Die 
Kapiteleintheilung  ist  keine  gemachte,  sondern  eine  gewordene. 
Die  Trägerin  einer  neuen  Religion,  die  christliche  Kirche, 
welche  die  Herzen  der  Germanen  gewinnen  wollte  und  sich 
ihren  Vorstellungen  und  Gebräuchen  pfleglich  anschmiegte, 
baute  die  Taufkirche  an  die  Malstätte,  wo  die  Huntare  sich 
zu  versammeln  gewohnt  war  (Scbwörzkirch,  Hoisterkirch);  zu 
den  gottesdienstlichen  Akten  der  Taulkirche  berief  sie  die 


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337 


Huntarengenosscn,  nicht  die  Leute  aus  fremden  Huutaren,  die 
durch  Wald  und  Gebirge  getrennt  waren  und  andere  ihnen 
liebe  und  bequeme  Versammlungsorte  hatten.  Der  Erzpriester 
vereinigte  die  Geistliehen  desselben  Bezirks  um  sich  und  übte 
mit  ihnen  die  geistliche  Aufsicht  über  die  Huntarengenossen, 
mit  denen  sie  in  weltlichem  Verbände  und  in  Verkehr  standen. 
Mit  anderen  Worten:  Die  auf  die  Missionsthätigkeit  liinge- 
wiescue  Kirche  schonte  die  Interessen,  die  der  Hnntaren verband 
geschaffen  hatte.  Wie  selbstverständlich  wurde  das  Kapitel 
eins  mit  der  Huntare  und  blieb  es  auch,  wenn  diese  rodend 
sich  ausdehnte.  Beispiele  sind  die  1 1 Fälle  zu  Nr.  1.  In 
Friesland  hiess  die  Taufkirche  Gaukirche,  in  Alamannien  lautete 
die  Adresse  an  den  Erzpriester:  Archipresbytero  pagi  illius 
salutem  (Sohin,  Fränkische  Verfassung  I 203),  und  Walafried 
Strabo,  welcher  84!»  als  Abt  des  alemannischen  Klosters 
St.  Gallen  starb,  konnte  bei  Vergleichung  der  weltlichen  und 
kirchlichen  Aemter  noch  damals  den  Centenar  in  dieselbe  Linie 
mit  dem  Erzpriester  stellen:  centenarii,  qui  per  pagos  statuti 
sunt,  presbyteris  plebeji,  qui  baptismales  ecclesias  tenent  et 
minoribns  praesunt  presbyteris,  conferri  queuut.  Walter,  Corp. 
jur.  Germ.  3,  527.  Gau  und  pagus  ist  hier  immer  in  dem  Sinn 
von  Huntare  zu  nehmen. 

Dieser  ersten  Periode  der  Einheit  von  Huntare  und  Kapitel 
folgte,  dann  eine  weitere,  in  der  die  Entwickelung  entweder 
der  politischen  oder  der  kirchlichen  Verbände  durch  Anpassung 
an  die  Steigerung  der  Bevölkerung  und  des  Verkehrs  fortschritt, 
während  der  geographisch  entsprechende  andere  Theil  in  seinen 
Grenzen  erstarrt  blieb.  Die  Huntaren  entwickelten  sich  durch 
Theilnng  (oben  S.  295),  wozu  die  Nr.  2 — 4,  9 Beispiele  liefern, 
die  Kapitel  durch  Theilung  einzelner  oder  Neuaufteilung 
mehrerer,  so  zu  Nr.  5—9.  Dieser  Prozess  ist  aus  dem  (späteren) 
über  decimationis  von  1275  zu  entnehmen. 

Die  Kapitelentwicklung  hatte  damit  aber  ihren  Abschluss 
noch  nicht  gefunden.  Der  über  quartarum  von  1324  hatte  noch 
Ein  Kapitel,  wo  der  über  marcarum  von  1360—70  schon  die 
beiden  Kapitel  Reutlingen  und  Urach  aufführte.  1324  gab  es 
noch  Ein  Kapitel,  damals  Egebrechtshofen  genannt,  dem  Argen- 
gau  und  etwa  Alpgau  (Allgäu)  entsprechend,  an  dessen  Stelle 
im  über  taxationis  von  1353  zwei  erschienen:  decanatus  Sig- 

Cr  «wer,  Geschichte  der  Alemannen.  2* 


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marscell,  locus  in  Lindaugia  und  decanatus  Grunenbach,  locus 
in  Stoffen.  Im  16.  Jahrhundert  wurde  dann  ersteres  in  die 
Kapitel  Lindau  und  Bregenz,  letzteres  in  die  Kapitel  Stiefen- 
hofen und  Weiler  zerlegt.  Endlich  wurde  im  Jahr  1788  das 
Kapitel  St.  Blasien  neugegründet. 

Wo  die  ursprüngliche  Einheit  des  einzelnen  Kapitels  mit 
der  einzelnen  Huntare  geblieben,  oder  wo  aus  einer  Huntare 
durch  Theilung  ein  Complex  mehrerer  gebildet  ist,  können 
die  dunklen  Grenzen  der  Huntare  oder  des  Huntarencomplexes 
nach  denen  des  Kapitels  ergänzt  werden:  Nr.  1,  2 — 4,  9. 
Aehnlich  dienen,  wenn  ein  Kapitel  getheilt  oder  mehrere  neu 
aufgetheilt  werden,  deren  Complexgrenzen  zur  Feststellung  der 
Grenzen  der  Huntaren;  Nr.  5 — 9.  Besonders  bemerkenswert!) 
ist  Nr.  8.  Nr.  9 enthält  eine  Combination  von  Fällen  der 
Theilung  von  Huntaren  und  Kapiteln. 

Was  von  Huntaren  und  Kapiteln,  das  gilt  nach  verbreiteter 
Annahme  auch  von  Zehntschaften  und  Kirchspielen. 


4.  Gaue  und  Archidiakonate. 

Die  constanzer  Archidiakonatseintheilung  ist  gleichfalls  aus 
dem  über  decimationis  von  1275  bekannt.  Es  gab  10  Archi- 
diakonate, davon  6 in  Deutschland,  4 in  der  Schweiz  (die  ich 
hier  mit  einbeziehe)  und  es  kommen  auf  sie  11  oder  12  Gaue, 
davon  9 oder  10  in  Deutschland,  2 in  der  Schweiz.  Gau 
(Grossgau)  und  Archidiakonat  decken  sich,  oder  der  Archi- 
diakonat  umfasst  mehrere  Gaue  oder  ein  Gau  mehrere  Archi- 
diakonate. Diese  Regeln  haben  aber  auch  ihre  Ausnahmen. 

1.  Dem  Gross-Breisgau  wie  dem  Gross-Klettgau  entspricht 
völlig  je  ein  gleichnamiger  Archidiakonat. 

2.  Die  Grossgaue  Hegau,  Westergau  und  Nagoldgau  sind 
zu  Einem  Archidiakonat  zusammengefasst,  dem  man  den  Nemen 
Vor’m  Wald,  Ante  Nemus  (vor  dem  Schwarzwald,  von  Con stanz 
aus  gesehen),  gegeben  hat.  Ob  die  Huntaren  Goldineshuntare 
und  Ratoltesbuch  (gleich  dem  in  den  Archidiakonat  fallenden 
Kapitel  Mösskirch)  dem  Hegau  in  Wahrheit  angehören,  oder 


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330 

etwa  einem  Donaugau  (?),  ist  jedoch  unsicher.  Im  Norden  ist 
auch  — jedenfalls  ohne  geographischen  Anlass  — der  nördliche 
Antheil  der  Huntare  Filderen  und  die  Hnntare  Ramestal,  (gleich 
dem  Kapitel  Cannstatt),  welche  schon  zum  Gross- Neckargau 
gehören,  dem  Archidiakonat  zugelegt.  Er  war  der  grösste  in 
Deutschland  und  wurde  1275  von  dem  Domprobst  zu  Constanz 
als  Archidiakon  verwaltet.  Wahrscheinlich  schon  damals,  jeden- 
falls aber  schon  1324  nach  den  Registern  dieses  Jahres  schied 
sich  der  Archidiakonat  nach  Gebirge  und  Ebene  in  den  obern, 
also  gleich  den  Grossgauen  Hegau  und  Westergau,  und  in  den 
untern  Archidiakonat,  also  gleich  dem  Gross-Nagoldgau. 

3.  Der  Archidiakonat  Albgau,  Circa  Alpes  oder  Alpensis, 
der  Osten  der  schwäbischen  Alb,  umfasste  den  Gross-Neckar- 
gau, mit  Ausnahme  der  beiden  genannten  Hnntaren  und  den 
nördlichen  Gross-Albgau.  Letzterer  ist  im  Süden  urkundlich 
nnr  bis  zur  Donau  nachzuweisen.  Der  Archidiakonat  erstreckte 
sich  aber  nach  dem  Süden  der  Donau  auf  die  Huntaren  Krekgau, 
Tiengan,  Eritgau,  Munterishnntare  und  Rnadolteshuntare,  deren 
Grossgau  dem  Namen  nach  nicht  überliefert  ist  (Donaugau?) 
Es  waren  die  Kapitel  Mengen,  Saulgau  und  die  Antheile  von 
Mnnderkingen  nnd  Ehingen  rechts  der  Donau. 

4.  Der  Archidiakonat  Illergau  wird  im  Allgemeinen  dem 
Gross-lllergau  entsprochen  haben,  von  dem  jedoch  nur  die  in  der 
Nähe  der  Iller  gelegene  Striche  bekannt  sind.  Der  Archidiakonat 
besteht  aus  den  Kapiteln  Dietenheim , Laupheim,  Biberach, 
Waldsee,  ob  aber  die  den  drei  letzteren  entsprechenden  Hun- 
taren Rammagau  und  Heistergau  dem  Illergau  oder  welchem 
andern  Grossgau  (Donaugau?)  angehörten,  ist  nicht  bekannt. 
Die  Huntare  Nibelgau  (Kapitel  Isny)  dagegen  bildete  urkundlich 
einen  Bestaudtheil  des  Illergaus,  ist  aber  dem  Archidiakonat 
zu  Gunsten  des  nächsten  entzogen. 

5.  Der  Archidiakonat  Allgäu.  Allgovia  umfasste  ausser  der 
Huntare  Nibelgau  einen  Bezirk,  dessen  Grossgauname  nicht 
überliefert  ist  und  zwar  die  Hnntaren  Alpgau  (Allgäu),  Argen- 
gau.  Schussengan,  Linzgau,  und  es  ist  die  Frage  aufzuwerfen, 
ob  nicht  der  Archidiakonat  den  Gaunamen  Alpgau  erhalten  hat? 

t».  In  der  Schweiz  zerfielen  deren  zwei  Grossgaue  Thurgau 
und  Aargau  je  in  zwei  Theilgaugrafschaften ; der  Thurgau  schon 
im  8.  Jahrhundert  in  die  Grafschaften  Thurgau  und  Zürichgau 

22  * 


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340 


und  der  Aargau  in  die  Grafschaften  des  untern  und  des  obern 
Aargan.  An  diese  Theilgaugrafschaften  knüpfte  die  Bildung 
der  Archidiakonate  an.  Es  wurden  Archidiakonate  Thurgau, 
Zürichgau,  Aargau  (gleicli  dem  untern)  und  Burgund  (gleich 
dem  obern  Aargau)  geschaffen,  die  Grenzen  aber  theilweise  ver- 
schoben. Die  Kapitel  Mellingen  und  Bremgarten  links  der 
Reuss  gehörten  zur  Grafschaft  Zürichgau,  sind  aber  zum 
Archidiaconat  Aargau  gelegt.  Die  Huntaren  Luzern  (?), 
Schwyz,  Uri,  Stanz,  Sarnen,  Theile  der  Grafschaft  Ziirich- 
gau,  sind  dem  Archidiakonat  Aargau  zugewiesen.  Hier 
umfasste  das  grosse  Kapitel  Luzern,  das  von  dem  Vier- 
waldstätter See  bis  zum  Gotthard  reichte,  die  Sechstel, 
sexturiatus,  Luzern,  Uri,  Schwyz,  den  unfern  pagus  Stanz 
und  den  obern  pagus  Sarnen  (das  sechste  Sechstel  ist  nicht  er- 
sichtlich). Die  beiden  letztem  bilden  heute  denCanton  Unterwalden 
mit  den  Hälften  Nidwalden  (Stanz)  und  Obwalden  (Sarnen). 

Uebersieht  man  diesen  Stoff,  so  zeigt  sich,  dass  der 
Archidiakonatseiutheilung  die  Gaueintheilung  zu  Grunde  gelegt 
ist,  dass  jene  sich  aber,  abgesehen  von  Breisgau  und  Kiettgau 
mit  dieser  nicht  völlig  deckt,  sondern  im  Einzelnen  sich  Ab- 
weichungen gestattet  hat.  Ohne  die  Grossgaugrundlage  ist  im 
Uebrigen  keiner  der  Archidiakonate  und  man  darf  daher  auch 
für  den  Archidiakonat  Allgäu  einen  gleichnamigen  Grossgau 
annehmen.  Es  scheint,  dass  Ein  Grossgau  zwei  Archidiakonaten, 
dem  Vor’m  Wald  und  dem  der  schwäbischen  Alb  zugetheilt  ist 
und  ich  werde  jenen,  da  auch  sein  Name  fehlt,  den  Donaugau 
nennen.  (Es  ist  der  zweifelhafte  zwölfte  Grossgau).  Aus  den 
Abweichungen  ist  zu  folgern,  dass  die  Zeit  der  Grossgaue  und 
Gaugrafschaften  bereits  zu  Ende  war,  als  man  an  die  Archi- 
diakonatseintheilung  herantrat.  Vielleicht  schuf  man  im  Anfang 
grössere  Bezirke,  von  denen  sich  die  zwei  Antenemus  und 
Circa  Alpes  erhalten  haben,  und  verwandelte  dann  die  andere 
in  die  Gebiete  einzelner  Grossgaue  oder  gar  Theilgaugrafschaften, 
wie  wir  sie  kennen.  Jedenfalls  ist  die  Archidiakonatseiutheilung 
im  Gegensatz  zu  der  gewordenen  Kapiteleintheiluug  eine  plan- 
massige,  die  ich  dem  8.  oder  9.  Jahrhundert  zuschreiben  möchte. 

Für  das  lückenhafte  Material,  das  zum  Aufbau  von  Gauen 
und  Huntaren  zu  Gebote  steht,  bilden  hiernach  die  bekannten 
Grenzen  der  Archidiakonate  und  Landkapitel  eine  äusserst 


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wichtige  Ergänzung  und  es  erscheint  gerechtfertigt,  zur  Aus- 
füllung der  Lücken  an  der  kirchlichen  Eintheilung  so  lange  fest- 
zuhalten, als  nicht  entgegenstehende  urkundliche  Nachrichten 
oder  sonstige  Umstünde  es  verbieten. 

Ob  dieses  Ergebniss  auch  für  andere  Bisthümer  als  das 
von  Constanz  zu  trifft,  habe  ich  nicht  untersucht  und  muss  es, 
auf  Eiuzeiforschung  verweisend,  dahingestellt  sein  lassen.  In 
allen  Fällen  wird  man  die  ursprüngliche  Identität  von  Huntaren 
und  Kapiteln  annehmen  und  die  Kapitel  als  Zeugnisse  vom 
ältesten  Zustand  der  Huntaren  zu  Grunde  legen  können.  Im 
Uebrigen  wird  es  darauf  ankommen,  wie  weit  die  spätere 
Disharmonie  beider  Arten  von  Verbänden  vorangeschritten  ist. 
Zeigt  sie  sich  geringer,  wie  in  den  Fällen  des  Abschnitts  3, 
Nr.  1—7  oder  auch  8,  so  wird  die  Vergleichung  sich  fruchtbar 
erweisen,  zeigt  sie  sich  grösser,  wie  in  dem  Fall  Nr.  9,  so  ist 
ein  Resultat  nicht  zu  erwarten.  Aehnlich  werden  die  Beziehungen 
zwischen  Gauen  und  Archidiakonaten  sein,  nur  dass  die  Archi- 
diakonate  künstlich  geschaffen  sind. 


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Die  alamanniseh- 
frankisehen  Gaue. 


Zwölftes  Kapitel, 
öebersiclil. 

Nach  den  Schilderungen  Ammians  vom  4.  Jahrhundert 
konnten  die  alamannischen  Gaugebiete  jener,  der  ersten  Periode 
in  ihren  allgemeinen  Umrissen  dargestellt  werden  (Kapitel  4, 
S.  69 — 79.)  Es  folgte  dann  fast  ein  halbes  Jahrtausend,  erst 
nach  dessen  Ablauf  auf  Grund  der  Urkunden  der  Merowinger- 
und  Karolinger- Zeit,  des  8.  und  späterer  Jahrhunderte  wieder 
ein  Bild  der  geographischen  Gestaltung  gegeben  werden  kann, 
welche  in  Anknüpfung  an  die  alten  Gaue  (S.  308 — 311)  er- 
folgt war. 

Diese  zweite  Periode  der  territorialen  Gestaltung  war  in 
allen  Theilen  Alamanniens  dieselbe,  im  Stammland  wie  in 
Neualainanuien,  in  den  seit  496  fränkisch  gewordenen,  wie  in 
den  alamannisch  gebliebenen  Gauen,  und  es  kann  aus  allen 
Gegenden  des  Landes  übereinstimmend  nachgewiesen  werden, 
wie  die  Entwicklung  der  Gaue,  Huntaren  und  Zehntsehaften 
vor  sich  gegangen,  und  welche  Formen  das  Verhältniss  zwischen 
ihnen  und  den  Grafschaften  angenommen  hat.  Rei  der  Lücken- 
haftigkeit des  Materials,  bei  dem  verschiedenen  Charakter  der 
bisherigen  gaugeographischen  Arbeiten  und  bei  dem  Umfang 
des  Gebiets  kann  die  Bearbeitung  aber  nur  eine  unvollständige 
und  ungleichmässige  sein.  Ich  habe  mich  zwar  bemüht,  die 
Grossgaue,  wo  die  Nachrichten  von  ihnen  fehlen  oder  spärlich 
sind,  zu  ermitteln,  die  Zugehörigkeit  der  Huntaren  zu  den 
Gauen  und  die  Beziehungen  dieser  Verbände  zu  den  Graf- 
schaften zu  erhellen,  bin  mir  aber  bewusst,  dass  selbst  ein  ge- 
neigter Leser  meiner  Führung  nicht  immer  folgen  wird.  Von 
den  Zehntsehaften  kann  ich  nur  einige  Beispiele  geben.  Eine 


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niß 


erschöpfende  und  gleichmässige  Darstellung  des  Entwicklungs- 
ganges innerhalb  der  Gaue  wird  erst  möglich  sein,  wenn  zahl- 
reiche geschichts-  und  lokalkundige  Kräfte  nach  gemeinsamem 
Plan  Zusammenwirken. 

Zu  befürworten  ist  auch  hier,  dass  im  8.  Jahrhundert  die 
Grossgaue,  vielleicht  mit  wenigen  Ausnahmen,  längst  ver- 
schwunden waren,  und  dass  die  jüngern,  etwa  in  Wald  und 
Gebirge  angelegten  Huntaren  wohl  in  keinem  Gauverband  ge- 
standen haben:  sie  werden  aber  doch  dem  landschaftlichen 
Gebiet  eines  Gaus  oder  seinem  Hinterland  zuzurechnen  sein. 

Den  Gegenstand  der  folgenden  Darstellung  wird  das 
alamannische  Gebiet  bilden,  sowohl  das  seit  496  fränkisch  ge- 
wordene (abgesehen  von  den  linksrheinischen  vorübergehenden 
Erwerbungen  der  Alamannen j,  wie  das  alamannisch  gebliebene. 
Für  dieses  gesammte  Gebiet  ergeben  sich  folgende  Grenzen: 
Im  Westen  der  Rhein  von  Linz  bis  aufwärts  Selz,  das  Gebiet 
der  Vogesen,  Basel,  die  Birsig,  die  Aare  von  (gegenüber) 
Solothurn  bis  zum  Thunersee,  im  Süden  die  Furka,  der  Gott- 
hard, der  Tödi,  der  Säntis,  das  Rheinthal  bei  Montlingen, 
der  Bregenzer  Wald,  im  Osten  die  Gebiete  des  Lech,  der 
Wörnitz  und  der  mittlern  Altmühl,  der  oberen  Jagst,  der  Erfa, 
des  Main  von  Lohr  abwärts,  des  Spessart,  der  Hassberge  und 
Gleichberge,  der  obern  Werra  bis  Schmalkalden  und  der  Ab- 
dachung des  Thüringer  Waldes  zu  ihr,  im  Norden  die  Rhön, 
das  Vogelsgebirge,  der  Taunus,  der  hohe  Westerwald  bis  an 
die  Sieg  um  Kirchen  und  bis  an  den  Rhein  bei  Linz. 

Unter  Gauorten,  Theilgauorten,  Huntarenorten,  Barorten 
verstehe  ich  im  Folgenden  nur  diejenigen  Ortschaften,  deren 
Lage  in  den  Urkunden  ausdrücklich  nach  der  Zugehörigkeit  zum 
Grossgau,  Theilgau,  zur  Huntare,  Bar  bezeichnet  ist. 


In  diesem  dritten  Buch  sollen  zunächst  die  alamannisch- 
fränkischen  Gaue  behandelt  werden,  die  ich  so  nenne,  weil 
ihre  Grundlage  alamannisch  blieb,  als  sie  seit  496  fränkisch 
wurden.  Sie  reichten  am  rechten  Rhein  von  dem  Westerwald 
bis  zur  fränkisch -alamannischen  Stammesgrenze  jenes  Jahres 
(S.  264—268).  Der  Westerwald,  Taunus,  Odenwald,  das 


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Yogelsgebirgc,  die  Kliüii,  der  Spessart  und  die  südmaiuischen 
Hochflächen,  der  Rhein,  die  Lahn,  die  obere  Fulda  und  Werra, 
der  untere  und  mittlere  Neckar  sind  die  Gebirge  und  Flüsse, 
welche  die  Gaue  in  ihrer  Individualität  geschaffen  haben.  Es 
sind  ihrer  vier  nordmainische  Grossgaue,  der  Mattiakergau, 
der  Unterlahngau,  die  Wettereiba  und  das  Grabfeld  und  fünf 
südlich  vom  Main,  der  Rheingau,  der  Lobdengau,  der  Maingau, 
der  Kraichgau,  der  untere  Neckargau.  Der  Name  Mattiaker- 
gau hat  ergänzt  werden  müssen.  Die  Gaue,  welche  östlich 
von  der  Wettereiba  lagen  (Saalegau,  Weringau),  von  dem 
Maingau  (Waldsassi,  Gotzfeld,  Folkfeld)  und  von  dem  unteren 
Neckargau  (Tauber-,  Badanach-,  Iphi-,  Gollachgau),  schliesse 
ich  von  der  Darstellung  aus.  Sie  waren  wohl  ursprünglich 
burgundionische  Sitze,  die  im  5.  Jahrhundert  von  den 
Alamannen  theilweise  eingenommen  und  dünn  bevölkert  sein 
mochten,  aber  im  nächsten  Jahrhundert  von  den  Franken  be- 
setzt wurden  (S.  78,  181,  268),  so  dass  es  zweifelhaft  er- 
scheint, ob  die  Gestaltung,  welche  jene  etwa  dem  Lande 
gegeben  haben,  in  fränkischer  Zeit  geblieben  ist. 

Quellen  für  die  alemannisch-fränkischen  Gaue  sind  Krower,  Geschichte 
des  Rheinischen  Franzicns;  C.  F.  Stälin,  Wirtembergiscbe  Geschichte, 
Theil  I,  S.  312  u.  flgde:  Büttger,  Iliücesan-  und  Gaugrenzen  Norddeutsch- 
lands. Theil  I,  welcher  die  nordmainischen  Gaue,  und  Schultze,  welcher  die 
südmaimschen  Gaue  behandelt  (die  fränkischen  Gaue  Badens,  die  fränkischen 
(iaugrafsehaften  Starkeuburgs  und  Württembergs) 


Dreizehntes  Kapitel. 

Der  JltaHiakergau  (?). 

Der  im  Norden  des  alamannisclien  Stammlandes  an  den 
Rhein  stossende  Grossgau  mag  diesen  Namen  getragen  und 
der  Ausdehnung  der  civitas  Mattiacornm  entsprechend,  am 
rechten  Rhein  das  Gebiet  vom  Westerwald  und  Taunus  bis 
zum  Main  eingenommen  haben;  das  sind  die  Huntaren  Engers- 
gau.  Einrich,  Rheingau  und  Kunigessundra.  Des  Ptolomäns 
Ingriouen  scheinen  die  Engersgauer,  die  Uisper  die  Umwohner 
der  Wisp,  mithin  die  Bewohner  des  Einrich  und  des  Rheingau 
zu  sein.  Zur  Zeit  des  Ammian  war  Hortar  der  König  des 
Mattiakergaus  (S.  5,  C,  73). 

Der  Engersgau  und  Einrich  gehörten  im  Bisthum  Trier 
dem  Archidiakonat  des  heiligen  Lubentius  in  Dietkirchen  an, 
ersterer  dem  Dekanat  Cunolstein-Engers,  letzterer  dem  Dekanat 
Marvels:  der  Rheingau  und  die  Kunigessundra  im  Bisthum 
Mainz  den  Mainzer  Collegialstiften,  ersterer  des  heiligen  Moritz, 
letztere  des  heiligen  Petrus  ausserhalb  der  Mauern. 

Zum  Bisthum  Trier  gehörte  auch  der  dem  Engersgau  und 
Einrich  im  Osten  anstossende  Gross- Unterlahngau.  und  zum 
Bisthum  Mainz  die  dem  Rheingau  und  der  Kunigessundra  im 
Osten  anstossende  Gross- Wett ereiba.  Dagegen  erscheint  der 
nördlich  vom  Engersgau  gelegene  Avalgau.  welcher  bereits 
dem  Bisthum  Cöln  angehörte,  danach  von  der  Zuhammen- 
gehörigkeit mit  den  vier  alamanischen  Huntaren  ausgeschlossen. 

Landschaftlich  haben  diese  und  die  anstossende,  der  Gross- 
Wettereiba  augehörige  Huntare  Niedgau  das  Gemeinsame,  dass 
sie  aus  den  Ebenen  des  Rhein  und  Main  und  den  zum  Wester- 
wald oder  Taunus  aufsteigenden  Geländen  bestehen. 


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Für  den  letzteren  ist  mons  Taunus  der  römische  Name 
(Tacitus  Ann.  I 5(1;  XII  58),  der  erst  im  vorigen  Jahrhundert 
wieder  aasgegraben  ist  und  seitdem  den  deutschen  fast  völlig 
verdrängt  hat.  Der  deutsche  Name  ist  die  „Höhe“,  der  für 
die  Strecke  vom  Niederwald  bis  zur  Nidda  und  Wetter  ur- 
kundlich nachweisbar  ist  und  sich  hier  erhalten  hat.  Hier  ist 
die  Wasserscheide  zwischen  der  Lahn  einerseits  und  dem 
Rhein  und  Main  (Nidda,  Wetter)  andererseits  und  da,  wo  die 
Wasser  zum  Rhein  und  Main  herunterfliessen,  ist  man  „vor 
der  Höhe“.  Die  Stromebenen  und  dies  Gelände  vor  der  Höhe 
sind  das  gesegnete  Culturland  des  Rheingau,  der  Kunigessundra 
und  des  Niedgau. 

Hier  einige  Nachweise.  Im  Kheingau  heisst  es  1191  rilva  Hobe  juxt« 
villam  Eherbach;  1211  Happen  in  Hohen  situ;  1327  jnger  vinee  an  der 
Hobeu  situui  I bei  Eltville';  1347  unser  Walt,  das  die  Hohe  heisst  von  der 
Wallaf  bis  Lorch;  1416  stiess  ein  zwischen  Hattenheim  und  Hallgarten 
streitiger  Wald  an  die  Hohe.  Noch  heute  heisst  Hausen  vor  der  Höhe. 
In  der  Kunigessundra  lag  Frauenstein  in  der  »Herrn  Uoe  von  Nassauwe" 
und  1360  bezeichneten  die  Oralen  von  Nassau  ihre  »Oraveschaft  diesyt  der 
Höhe“;  hier  lag  die  Mark  Orefenhöhe  oder  Wiesbadener  Höhewaldung,  hier 
der  Bezirk  um  Schlosshorn  an  oder  auf  der  Hohe  (Orimin  IV  MiS,  I 356, 
ä67).  In  dem  Niedgau  war  es  die  Höhemark  oder  die  hohe  Mark  und  die 
■Stadt  Hoenberg  1192,  (Homburg),  welche  deu  Namen  trugen  und  noch  jetzt 
lühreu  Homburg.  Holzhausen.  Kodheim.  Fauerbach  den  Zusatz  »vor  der 
Höhe.* 

Im  Rheingau  setzte  man  dem  Namen  der  Höhe  (im  Sinn 
von  Vorhöhe)  den  Namen  U eberhöhe  entgegen,  eine  Gebirgs- 
partie,  die  den  Flussgebieten  tlieils  der  Wisper  (zum  Rhein), 
theils  der  Aar  (zur  Lahn)  angehört.  Die  Leute  der  Ueberhöhe 
iiiesseu  135t>  „die  Lude  zwischen  der  Hüe  und  Arde“  (Aar) 
and  ihre  Ansiedlungen  waren  die  „15  ftberhöhischon  Dörfer“. 


Hunt»  reu. 

l.  Engei  sgau. 

Die  Gau  oder  pagus  genannte  Huntare  hatte  einen  sehr 
variirenden  Namen:  Engeris,  Engiris,  Engris.  Engeres,  Angris, 
Anger,  Angeres,  Angeris,  Ingens,  seit  1371  Engers,  immer  mit 
der  Endung  gau. 


815  wird  der  Gau  auch  comitatns  Sconenberg  genannt.  In 
der  Urkunde  Konrads  I.  heisst  es:  curtem  nostraui  Nassowa 
(Nassau)  cum  Omnibus  rebus  ...  in  utroque  latere  fluminis 
Logene  in  duobus  illis  comitatibus  Sconenberg  et  Marvels. 
Diese  Grafschaften  sind  der  Engersgau  und  der  Einrich.  Den 
ersten  Namen  Engersgau  hat  die  Huntare  von  dem  Ort  Engers, 
der  also  wohl  ihre  ursprüngliche  Malstätte  war.  Die  Lage  von 
Sconenberg  ist  nicht  ermittelt  (Schöneberg?). 

Der  Engersgau  fiel  mit  dem  Dekanat  Cunolst ein- Engers 
zusammen,  umfasste  also 

iin  Westen  den  Rhein  von  Linz  bis  zur  Lahn,  im  Norden  die  Grenz- 
orte Linz,  Ohlenberg,  Neustadt.  Peterslahr.  Horrhausen,  Puderbaeh,  Schöne- 
berg,  Niederwambach,  Allmersbach,  Höchstenbach,  Dreifelden,  Hartenfels, 
welche  zugleich  die  alauiannischc  Nordgrenze  andeuten,  im  Osten  Harten- 
fels, Dreifelden,  Kiickerod,  Maxsain,  Helferskirchen,  Wirges,  Montabaur, 
Uciligenroth,  Kirchähr,  Holzappel,  Dörnberg  und  im  Süden  von  da  über 
Nassau  und  Kms  zur  Mündung  der  Lahn. 

Huntarenorte  sind 

Kreis  Linz:  Hünningen,  Leutesdorf; 

Kr.  Neuwied:  Rodenbach,  Meinborn,  Niederbieber,  Heddersdorf; 

Kr.  Koblenz;  Irrlich,  Heimbach; 

Kr.  Unterwesf erwähl:  Nassau,  Wirges,  Krümmel. 

2.  Einrich. 

Die  ältesten  Namensformen  waren  7 DO,  882,  880  Heinrichi. 
Henrike,  Enrichi,  sonst  Einriche,  auch  vereinzelt  Einrichi  und 
Einrieha.  Die  Huntare  wurde  pagus,  einmal  1160  provincia 
genannt.  Als  Grafschaft  führte  sie  aucli  nach  ihrer  Malstätte 
Marvels  (Marien fei»,  dem  Hauptort  des  gleichnamigen  Dekanats) 
die  Bezeichnung  815,  1031,  1030  comitatus  Marvels,  auch  mit 
dem  Zusatz  in  pago  Einrieha.  Die  Rechtsurkunden  ergeben 
folgende 

Huntarenorte: 

Kr.  St.  Goarshausen:  Oberlabnstein,  Rraubach,  Camp,  Gemmericli. 
Marienlels,  Obertiefenbach,  Dettendorf,  Wellmich,  Dahlheim; 

Kr.  L'nterlahn:  Nassau  (S.  oben),  Arnstein,  Katzenelnbogen. 

Nach  dem  Weisthum  von  1361  (Grimm  VI,  745)  war  das 
Landgericht  auf  dem  Einrich  lehnrührig  von  dem  PfaJzgrafen 
bei  Rhein  und  im  Lehnsbesitz  zweier  Grafen  von  Nassau  und 
zweier  Grafen  von  Katzenelnbogen.  Es  liiess  daher  „das  laut- 
gericht  der  vier  liern  uf  dem  Einriche“,  das  abgehalten  wurde 
„an  der  stat,  die  man  nenuit  zum  Thorne“  (wohl  in  Marienfels). 


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351 

In  Lehnsreversen  des  15.  Jahrhunderts  hiess  es:  Ein 

Viertheil  an  der  Vierherrn  Gericht  off  dem  Einrich;  ein  Zweitheil 
an  der  Granesschaft  zu  Eynrich,  die  man  nennet  das  Vierherrn 
Gericht  uff  dem  Eynrich.  Der  Bezirk  dieses  Vierherrngerichts 
war  eben  der  Einrich,  als  dessen  Grenzen  nach  dein  Weisthum 
erscheinen  die  linke  Lahn  von  Oberlahnstein  bis  aufwärts 
Langenau  und  Anistein,  dann  der  Dörsbach  bis  zu  seinem 
l’rsprung  bei  Huppert,  der  Westengiebel  der  Kirche  von 
Kemel,  die  Wisper  bis  in  den  Rhein  (Markung  C’aub):  der 
Rhein  abwärts  bis  Oberlahnstein. 

3.  Rheingau. 

Die  Huntare  Rheingau  (im  Gegensatz  zu  dem  Gross- 
Rheingau  der  untere  Rheingau,  im  Volksmund  das  Rheingau 
genannt),  wurde  im  Süden  vom  Rhein  begrenzt  und  zwar  vom 
Ausfluss  der  Waldaff  (Walluf)  bei  Niederwalluf  bis  zu  dem  der 
Wisper  bei  Lorch  (genauer  bis  Lorchhausen).  Von  da  ab 
schloss  sie  im  Nordwesten  das  Wisperthal  in  sich,  stieg  bis 
Kemel  empor,  erreichte  im  Westen  das  linke  Ufer  der  Aar 
(Langenschwalbach)  und  von  da  die  rechte  Seite  der  Waldaff, 
welche  sie  zu  ihrem  Ausfluss  begleitete. 

Die  so  ungefähr  umschriebene  Landschaft  zerfiel  in  drei 
Stufen,  die  Ebene  am  Rhein,  die  ans  ihr  ansteigende  „Höhe“ 
und  weiter  im  Norden  die  „Ueberhöhe“  und  aus  dieser  Boden- 
gestaltung wird  sich  ein  in  den  Hauptziigen  leidlich  gesichertes 
Bild  der  Gauentwicklung  des  Rheingaus  ergeben. 

Die  Besiedlung  wird  in  der  Rheinebene,  am  Strom  auf 
dem  fruchtbaren  Ackerland,  für  Gewannfluren  geeignet,  be- 
gonnen haben,  hier  werden  die  ältesten  Dörfer  gebaut  sein, 
heute  die  grossen  Orte  des  Rheingaus.  Die  Höhe  und  Ueber- 
höhe wird  mit  Wald  bedeckt  sein.  Noch  1578  unterscheidet 
eine  Urkunde  die  Vorderwaldte  und  die  Hinterwaldte  der 
erstem.  Dann  stiegen  allmählig  die  Ansiedlungen  die  Höhe 
empor.  In  der  Ebene  wie  an  der  Höhe  waren  es  die  durch 
ihren  Weinbau  berühmten  Orte  und  die  Höhe  wie  die  Ebene 
hat  Goethe  im  Auge,  wenn  er  ruft 

Za  des  Rheins  gestreckten  Hügeln. 

Hochgesegneten  (jebreiten, 

Auen,  die  den  Fluss  bespiegeln, 

Weingeschmückten  Landeswciteu ! 


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Hier  haben  sieh  Spuren  genossenschaftlichen  Verbandes 
lange  erhalten,  die  man  auf  Zehntmarken  deuten  mag.  Denn 
aus  dem  12.  Jahrhundert  haben  wir  Nachrichten  über  die 
administrative  Eintheilung  des  Landes  in  Aemter,  welche  aus 
Marken  hervorgegangen  waren,  die  theilweise  als  Waldinarken 
(Amtswaldungen)  noch  bestanden,  während  die  Feldmarken 
bereits  unter  die  Dörfer  oder  Komplexe  von  Dörfern  als  Dorf- 
marken ausgeschieden  waren.  Solcher  Aeinter  oder  Zenten, 
welche  auch  die  Träger  der  Zentgcrichtsbarkeit  waren,  gab  es 
vier,  deren  Hauptorte  als  Stadt  oder  als  Flecken,  deren  andere 
Orte  als  Dörfer  bezeichnet  werden.  (Siehe  unten.) 

1.  Das  Oberamt  (obere  Amt)  Eltville.  Dazu  gehörte 

ausser  Eltville  am  Rhein  Niederwalluf,  das  seit  dem  Rhein- 
austritt von  1625  abgegangeue  Steinheim,  Erbach  und  Hatten- 
heim, an  der  aufsteigenden  Höhe  Oberwalluf,  Neudorf,  Rauen- 
thal, Kiedrich.  Die  Amtswaldung  wurde  in  vier  Marken 
zerlegt:  Erbach,  Hattenheim,  Kiedrich  erhielten  je  eine, 
Eltville  und  seine  kirchlichen  Filialen  Niederwalluf,  Steinheim, 
Oberwalluf,  Neuhof,  Rauenthal  die  vierte.  Eltville  gerieth  mit 
Rauenthal  in  lange  Streitigkeiten,  die  1518  dahin  entschieden 
wurden,  dass  sie  hinsichtlich  der  Beede,  des  Gerichtszwangs  und 
des  Schützens  geschieden  wurden,  hinsichtlich  der  Mark  aber 
sollten  sie  nngeschieden  sein,  und  die  Trift,  Wasser,  Wald 
und  Weyd  bei  ihrem  alteu  Herkommen  verbleiben.  Nieder- 
walluf soll  erst  1713  von  Eltville  geschieden  sein. 

2.  Das  Mittelamt  Winkel.  Dazu  gehörten  ausser  Winkel 
am  Rhein  Oestrich,  Mittelheim  und  aut  den  Anhöhen  Hall- 
garten. Johannisberg  und  Stephanshausen.  Später  wurde  der 
Sitz  des  Mittelamts  nach  Oestrich  verlegt.  Die  Amtswaldung 
blieb  bestehen.  Ausserdem  besassen  Oestrich  und  Mittelheim 
bis  1386  eine  gemeinschaftliche  Feld-  und  Waldmark,  die 
damals  geschieden  wurde,  die  Feldmark,  „als  igliehs  dorf  daz 
bizher  behüt  und  beschützet  hait“,  die  Waldmark  sammt  den 
landesherrlichen  Lasten  und  Diensten  aber  dergestalt,  dass  auf 
Mittelheim  ein  Fünftel,  auf  Oestrich  vier  Fünftel  fielen. 

3.  Das  Unteramt  Geisenheim.  Dazu  gehörte  ausser  Geisen- 
heim am  Rhein  Riidesheim  und  Assmannshausen  und  auf  den 
Anhöhen  Eibingen  und  Anihausen.  Der  Sitz  des  Amts  wurde 
später  nach  Riidesheim  verlegt.  Die  Amtswaldung  blieb  be- 


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353 


stehen.  Im  Uebrigen  stand  Rüdesheini  als  Mntterort  mit 
Eibingen  und  Aulhausen  noch  1384  in  besonderer  Mark- 
gemeinschaft. 

4.  Das  halbe  Amt  Lorch,  dessen  Hauptort  mit  seinem 
Tochterort  Lorchhausen,  beide  am  Rhein,  in  gemeinsamem 
Besitz  ihrer  Amts  Waldung  war. 

Die  Aiutsw'aldungen  sind  erst  in  unserem  Jahrhundert  zur 
Theilung  gekommen. 

Die  vier  Zehntmarken,  auf  die  aus  ihren  Resten,  den 
späteren  Aemtern,  zurückzusch Hessen  ist,  bildeten  sammt  ihrem 
Hinterland  zur  alamannischen  Zeit  die  Huutare  Rheingau  und 
es  erscheint  nicht  unwahrscheinlich,  dass  in  dieser  Zeit  zum 
Schutz  des  damals  besiedelten  Landes,  insbesondere  der  Höhe, 
das  Gebück  angelegt  ist,  eine  germanische  Befestigungsart,  die 
schon  Cäsar  (Gail,  li,  17)  beschreibt.  Das  Rheingauer  Gebück 
zog  von  Niederwalluf,  die  Waldaff  aufwärts  (Oberwalluf,  Neu- 
dorf) zwischen  dem  Kloster  Tiefenthal  und  Schlangenbad  hin- 
durch, vor  Hausen  vorbei,  durch  den  Mapper  Hof,  über  Weissen- 
thurm zur  Wisper,  und  die  Wisper  abwärts  bis  Lorch. 

Die  Malstätte  des  Rheingau  war  auf  der  Lützelau,  einer 
Rheininsel  bei  Winkel,  die  für  alle  Dinggenossen  vermöge  des 
Rheins  zugänglich  und  also  günstig  gelegen  war.  178U  liess 
der  Fluss  von  ihr  nur  geringe  Ueberblcibsel  bestehn,  die  seither 
auub  verschwunden  sind. 

Das  Hinterland  des  Gaus  jenseit  des  Gebücks  wird  lange 
Zeit  in  unberührtem  Wald  dagelegen  haben,  bis  die  Genossen 
der  Zehntmarken  antingen,  ihn  nach  Bedarf  zur  Weide  und  zur 
Beholzung  zu  benutzen,  zunächst  die  Wälder  links  der  Wisper 
auf  der  Höhe,  die  man  später  den  Hinterlandswald  und  den 
Kammerforst  nannte,  und  dann  die  Wälder  über  der  Höhe. 
Keine  der  Zehntschaften  ergrifl  ausschliesslichen  Besitz  und  der 
gemeinsame  Besitz  Aller  führte  dahin,  die  Wälder  als  Mark 
der  Huntare  des  Landes  anzusehen.  Bei  dem  entlegenen 
Kammerforst  kam  es  wohl  nicht  über  die  Benutzung  durch  die 
Anlieger  hinaus,  und  als  er  in  fränkischer  Zeit  dem  Boden- 
regal des  Königs  und  dann  des  Landesherrn  anheimfiel,  wurde 
er  Bannforst,  vorbehaltlich  der  durch  die  Besitzhandlungen  der 
anliegenden  Ortschaften  entstandenen  Rechte  an  Holz  und 
Weide,  welche  fixirt  und  in  Urkunden  des  lt>.  Jahrhunderts 

C/luter,  Geschichte  der  Alamannen.  23 


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354 


anerkannt  wurden.  Der  Kammerforst  schied  damit  aus  der 
Markgenossenschaft  aus. 

Im  Hinterlandswald  dagegen  und  über  der  Höhe  trat  zur 
Benutzung  von  Wald  und  Weide  der  allmälige  Ausbau;  die 
Besiedlungen  erfolgten  wohl  im  Hofsystem,  denn  später  hatte 
fast  jede  der  zu  Dörfern  erstarkten  Anlagen  einen  andern 
Grundherrn.  Sie  erstreckten  sich  bis  zur  Schneeschmelze  bei 
Kemel,  bis  zum  Pfahlgraben.  So  weit  dehnte  sich  der  Rbein- 
gau  aus. 

Zur  fränkischen  Zeit  wurde  er  eine  Grafschaft,  sein  Graf 
war  der  Rheingaugraf  oder  Rheingraf,  comes  de  Rinegowe, 
comes  Reui  oder  de  Reno,  und  die  Lützelau  wurde  der  mallus, 
das  placitum,  die  insula  comitis. 

Die  Entfernung  der  Ueberhöhe  von  der  einzigen  Malstätte 
im  Rhein,  und  die  mit  deren  Besuch  verbundene  Belästigung 
mochte  die  Schaffung  einer  zweiten  Malstätte  wünschenswerth 
erscheinen  lassen.  Sie  wurde  in  Bärstadt  errichtet  und  damit 
der  Rheingau  in  den  vorderen  und  den  hinteren  getheilt.  Der 
vordere  umfasste  nunmehr  die  Ebene  und  die  Höhe:  die  vier 
Zehntschaften  (vier  Aemter)  und  den  bis  auf  den  heutigen  Tag 
sogenannten  Hinterlaudswald  links  der  untern  Wisper,  also  die 
Zehntmarken  und  die  Huntarenmark  mit  der  Grafeninsel,  der 
hintere  die  Ueberhöhe  zwischen  der  obern  Wisper,  der  Aar  und 
der  oberen  Waldaff  mit  den  „fünfzehn  überhöhischen  Dörfern“. 
Es  waren  Niedergladbach,  Obergladbach,  Langenseifen,  Fisch- 
bach, Hausen,  Bärstadt  (die  Malstatt),  Wambach,  Hettenhain, 
Ramschied,  Langensehwalbaoh,  Lindschied,  Heimbach.  Hier 
im  Norden  reichte  die  Grenze  bis  gen  Kemel  an  den  Westen- 
giebel. Drei  weitere  Dörfer  Selhan,  Förtelbach,  Niederamstadt 
sind  abgegangen. 

Mit  dieser  Theilung  schieden  sich  im  Wesentlichen  die 
Geschicke  beider  Theile,  und  den  bevorzugten  Bewohnern  des 
gesegneten  vorderen  Rheiugaus  waren  die  andern  (im  Anfang) 
des  14.  Jahrhunderts)  „die  Lude  über  Hüe“,  oder  nach  einem 
Weisthum;  „die  do  sind  und  kommen  von  der  Höe  und  von  der 
Aide“  (Aar),  die  „U eberhöher“. 

War  mit  dieser  Scheidung  auch  die  Theilung  in  zwei 
Grafschaften  verbunden?  Bodmann  behauptet  es  auf  Grund 
einer  Urkunde  von  1025,  nach  welcher  der  Kaiser  Konrad  II. 


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355 


comit&tum  Nederne  in  pago  Reinicgoune  an  das  Kloster  Fulda 
übertrag.  Nass.  113;  das  sei  die  Grafschaft  Nehren  im  hintern 
Rheingau  mit  der  Dingstätte  Nehren,  an  deren  Stelle  später 
Bärstadt  getreten  sei.  Zunächst  wurde  bestritten,  dass  es  einen 
Ort  Nehren  im  Rheingau  gegeben  habe:  Saner  hat  aber  ur- 
kundlich nachgewiesen,  dass  der  Erlen  hof  auf  der  Ueberhohe 
im  16.  Jahrhundert  auch  den  Namen  Hof  Nehren  getragen 
habe.  Es  sind  jedoch  nicht  die  mindesten  Beziehungen  des 
Klosters  Fulda  zur  Ueberhohe,  nicht  besondere  Grafen  dieses 
Gautheils  bekannt,  während  z.  B.  nach  einer  Urkunde  von 
1489  das  Erzstift  Mainz  hier  die  Gerichtshoheit  ausübte.  Es 
ist  daher  wahrscheinlicher,  dass  nach  der  Ansicht  Landaus 
und  von  Schenk«  unter  Nederne  nicht  Nehren,  sondern  Netra, 
und  unter  dem  pagus  Reinicgouue  nicht  der  Rheingau,  sondern 
der  Ringgau  in  Thüringen  zu  verstehen  sei,  so  dass  mithin 
Bärstadt  der  ursprüngliche  Mallus  des  hinteren  Rheingau  und 
nicht  erst  ein  späterer  wäre. 

Im  Jahre  1498  besass  das  Erzstift  Mainz  wohl  seit  einem 
halben  Jahrtausend  die  Landeshoheit  Uber  den  gesamniten 
Rheingau  und  die  Rheingaugrafschaft  war  vom  8.  bis  zum 
Ausgang  des  13.  Jahrhunderts  im  Lehnsbesitz  ansehnlicher 
Geschlechter.  Die  „Rheingrafen“  hatten  ihre  Burg  Rheinberg, 
castrum  Rinberg  im  hintern  Gau.  Der  Erzbischof  belieb  den 
Rheingrafen  mit  der  Gerichtshoheit  und  der  Burg  nud  der  König 
gab  ihm  Bestallung,  die  Bannleihe,  das  Recht  der  Rechtsver- 
waltung. Aus  dem  Anfang  des  13.  Jahrhunderts  heisst  es  in 
einem  Urbar:  Ab  imperio  habet  in  benefieio  bannum  in  Rinchouue 
super  cometiam  ...  Ab  archiepiscopo  Mogontino  habet  in  bene- 
ficio  cometiam  in  Rinchowe  et  castrum  Rinberg.  Orig.  Nass.  125. 
Aber  der  Rheingraf  trat  mit  Ausbildung  der  Landeshoheit  dem 
Vertreter  des  Erzbischofs  im  Rheingau,  dem  Vicedom  (Vitz- 
thum) gegenüber  in  den  Hintergrund.  — 

Nur  in  dem  vordem  Rheingau  wissen  wir  von  Markver- 
bänden. Hier  war  es  der  Wohnsitz,  der  persönliche  Freiheit 
und  Antheil  an  der  Markgenossenschaft  gewährte.  Hier  machte 
die  Luft  frei,  hier  herrschte  die  Freiheit  des  Zugs  und  hier 
wurde  1279  auf  eine  Klage  der  Abtei  Eberbach,  welche  für 
ihre  Angehörigen,  omnes  in  confinio  residentes,  gleiches  Mark- 
recht mit  den  Burgern  verlangte,  gegen  diese,  die  universitates 

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villarnm,  erkannt,  dass  der  Abt  und  Convent,  qui  similiter  sunt 
incole  Rinichowie,  vom  Markreeht  nicht  auszuschliessen  sein, 
a nemoribus.  pascnis  et  aquis  seu  aliis  communibus  juribus,  que 
Marke  dicuntur,  non  essent  excludendi.  Urkundenbuch  von 
Eberbacli  471. 

Einige  von  den  hier  geschilderten  Rechtsverhältnissen  sind 
in  dem  Rheingauer  Weisthum,  nach  Bodmann  und  Grimm  aus 
dem  Jahr  1324.  nach  Sauer  aus  dem  14.,  wenn  nicht  aus  dem 
13.  Jahrhundert,  und  in  dem  sogenannten  Rheingauer  Landrecht 
beurkundet.  Letzteres  ist  nach  Brunner  eine  Uebersetzung 
niederländischer  Rechtsquellen,  insbesondere  des  Drenter  Land- 
rechts von  1412,  in  welche  Rheingauer  Oertlichkeiten  und 
Obrigkeiten  eiugesetzt  sind.  Nach  Brunner  ist  füglich  nicht 
zu  glauben,  dass  dies  Landrecht  im  Rheingau  jemals  praktisch 
angewendet  worden  sei,  doch  wird  sein  Inhalt  immerhin  als  ein 
kundiges  Zeugniss  des  Uebersetzers  über  Rheingauer  Zustände 
anzusehen  sein. 

Das  Weisthuin  sagt:  Unser  herre  von  Mentze  und  syn 

stifft  ist  der  oberste  her  und  faut  (Vogt)  zu  Rinkauwe  und  der 
termenyen  ...  (es  folgen  die  Grenzen  des  vorderen  und  hinteren 
Rheingaus).  Eine  gleiche  Erklärung  liess  der  Erzbischof  sich 
1489  auf  einem  „dinglichen  Tag*  der  „Hubeuer  und  Lantman 
der  fünlzehen  Dorf“  abgeben,  „der  in  dem  Dorf  Berstadt 
Mcntzer  Bisthumbs  uf  eyme  fryhen  platz  vor  der  Kirchen 
daselbst“  abgehalten  wurde. 

Unsere  herre  (heisst  es  im  Weisthum  weiter)  sin  abge- 
scheiden  walt  hait  mit  namen  der  forst  (der  Kammerforst),  dass 

nyman  darin  hawen  sal und  mag  yderman  in  dem 

Rinckauwe  swyn,  die  sie  in  iren  husern  zu  irer  noitturll  slahen 
und  essen  wollen,  in  den  forst  triben  und  nit  mer. 

„Auch  hain  wir  (die  Leute  des  Rheingaus)  den  andern 
wald  zu  Ryngawe  und  waz  darzu  gehört,  herbracht  manne, 
burgmanne,  dienstmanne,  hovismanne,  und  die  weyde  in  allen 
weiden  (eine  der  Handschriften  hat  „leiden“)  zuschen  der 
Wisper  und  der  Waldaffe  von  gots  gnaden  und  des  guten  sant 
Martins.  . . . Und  sal  nyman  das  holz  uss  dem  Ringawe 
furen.“  Der  andere  Wald  ist  nicht  etwa  der  Hinterlandswald, 
sondern  im  Gegensatz  zu  dem  erzbischöflichen  Kammerforst 
der  gesammte  „andere  Wald  zu  Rheingau  und  was  dazugehört“, 


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also'  im  gesummten  Rheingau.  Das  ist  dann  noch  einmal  bei 
dem  Weiderecht  gesagt,  das  an  „allen  Wälden“  .zwischen  der 
Wisper  und  Waldaff,  also  wiederum  im  gesammten  Rheingau 
zusteht.  Wald  und  speciell  die  Waldweide  sind  als  Mark 
charakterisirt  und  die  Markweide  auf  Gott  und  den  Heiligen, 
der  Markwald  auf  das  Herkommen  zurückgerührt. 

Während  zwischen  Wisper  und  Waldaff  den  Gaugenossen 
die  Wald  weide  zustand,  gebührte  daselbst  dem  Herrn  die  Jagd 
und  Fischerei : „Auch  bekennen  wir,  dass  der  wiltbann  und  die 
fischereie  yn  dem  Rinckauwe  unsers  obgenannten  herrn  ist“. 
Oberste  Lehnsförster  waren  erst  die  Grafen  von  Nassau,  dann 
1347  über  „unsere  (?  des  Erzbischofs)  Walt,  der  die  Hohe 
heisset,  von  der  Waldaff  bis  Lorch“  die  Herren  von  Walluf 
(Das  war  Wald,  der  in  Wahrheit  dem  Land  Rheingau  gehörte.) 

„Und  yglich  statt  und  dorf  ir  abegesclieiden  mark  hait, 
die  mogent  sie  bestellen  zu  allem  ihrem  netze;  so  wann  sio 
die  weide  offent,  so  sin  sie  inen  allen  offen.“  Also  wiederum 
Markwald,  aber  nicht  von  der  Mark  des  Landes,  dem  Hinter- 
landswald ist  die  Rede,  sondern  von  den  Sondermarken  und  es  wird 
ausgedrückt,  dass  ihren  Märkern  gleiche  Nutzungen  zustehen. 
Unter  „yglich  statt  und  dorf“  und  „ir  abegesclieiden  mark“ 
wird  man  also  die  Amtsorte  sammt  den  Amts  Waldungen,  oder 
Mutter  und  Tüchterorte  sammt  den  ihnen  gemeinsamen  Marken, 
oder  die  Einzelorte  mit  Dorfmarken  verstehen  müssen. 

Was  hier  statt  und  dorf,  heisst  im  Rheingauer  Landrecht 
flecken  und  dorf.  Sein  Artikel  1 spricht  zunächst  von  der 
gemeinen  Landschaft  des  Rheingaus,  die  über  „Sachen,  das 
Land  berührend“,  auf  der  Lützelau  zur  Hagensprache  zusammeu- 
kommt,  und  sagt  dann:  „Desgleichen  mag  jeder  flecken 

und  dorf  Zusammenkommen  und  ihre  Marke  berichten,  alls 
im  wald  und  waid,  holz  und  trifft,  weg  und  Steg  und  anders 
zu  thun,  als  dick  des  noth  ist  im  Lande  (Rheingau)  und  in 
ihren  marken  (der  Flecken  und  Dörfer),  aber  gegen  die 
Herrlichkeit  des  guten  S.  Martins  und  des  Ertzbischof  zu  Menz 
sollen  sie  keinen  Verbund  machen.“ 

Es  gab  also  im  vordem  Rheingau  als  älteste  Marken  die 
vier  Zehntmarkeu,  als  jüngere  die  Huntarenmark,  den  Hinter- 
landswald,  als  jüngste  die  Dorfmarken  (mehrerer  oder  einzelner 
Dörfer).  Erhalten  blieben  der  Hiuterlandswald  und  drei  von 


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den  Amtswaldungen  bis  in  die  20er  Jahre  unseres  Jahrhunderts 
und  im  Uebrigeu  die  Dorfmarken,  in  welche  sich  alle  andern 
Marken  aufgelöst  haben. 

Dagegen  ist  Bodmann  450  der  Meinung,  dass  noch  in  der 
ersten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  alle  zwischen  der  Waldaff 
und  Wisper  zum  Rheingau  gehörigen  Waldungen  der  ganzen 
Landschaft  gemein  (Huntarenmark)  gewesen,  und  dass  erst  in 
der  Zeit  von  1131 — 1158  eine  Theilung  des  ganzen  Wald- 
bezirks vor  der  Höhe  unter  jede  selbständige  Gemeinde  (zu 
Dorfnark)  erfolgt  wäre.  Von  den  Amtswaldungen  spricht  er 
nicht.  Er  fuhrt  als  Beweis  der  bisherigen  Zusammenbörigkeit 
an,  dass  die  „gemeine  Landschaft  im  Rheingau“,  incolae  ipsius 
provinciae,  die  comproviuciales  nach  einer  Urkunde  von  1131, 
Nass.  184,  für  die  Anlage  der  Abtei  Eberbach  Grund  und 
Boden  geschenkt  habe.  Aber  abgesehen  davon,  dass  die  incolae 
nur  im  Gegensatz  zu  den  gleichfalls  schenkenden  Ministerialen 
so  genannt  sind,  also  nicht  nothwendig  als  die  auf  derLiitzelau 
vertretene  Landschaft  anfzufassen  sind,  so  ist  vom  Wald  über- 
haupt keine  Rede.  Die  incolae  gaben  für  die  Anlage  des 
Klosters  die  Baustätte,  ipsum  tündum  monasterii,  und  das  Thal 
her,  das  zwischen  den  beiden  Strassen  lag,  von  denen  die  eine 
gegen  Kiedrich  aufwärts,  die  andere  nach  Hattenheim  abwärts 
führte,  der  Erzbischof  gab  eine  halbe  Hufe  und  zwei  seiner 
Ministerialen  noch  eine  halbe  Hufe  Wiesen  mit  einer  Mühle 
und  Weiuberg.  Schenkungen,  die  dann  in  der  Urkunde  mit  den 
Worten  quiequid  utilitatis  in  agris,  vineis,  pratis  et  ortis  in 
eadein  valle,  zusammengefasst  sind,  also  Kulturland,  das  nicht 
mehr  im  Markverband  stand.  Während  hier  Schenkungen,  sei 
es  der  Landschaft,  sei  es  Einzelner  vorliegen,  sind  von  1158 
und  1173  Nachrichten  über  Schenkungen  von  Gemeinden  vor- 
handen, (Bodmann  455),  also  von  Stücken  ihrer  Dorfmark. 
Hattenheim  übergab  1158  dem  Kloster  einen  „Wald“,  der  an 
das  1131  geschenkte  Thal  anstiess  (die  Urkunde  liegt  nicht 
vor);  Erbach  beurkundete  1137,  dass  die  ville  (Everbach), 
iuhabitatores  universi,  divites  pauperes  et  mediocres  ein  Stück 
Wald,  silva  contigua  monasterio  übertrügen,  et  in  hac  silva 
nullus  nostrum  privatum  habebat  aliquid,  sed  communiter  perti- 
nebat ad  omues  ville  nostre  incolas.  Wenn  1131  keine  ge- 
meine Waldmark  sich  über  das  Land  Rheingau  erstreckt  hat, 


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so  folgt  also  auch  nicht,  dass  seitdem  eine  Theilung  statt* 
gefunden  hat. 

Soweit  die  Mark  des  vordem  Rheingaus.  — 

Als  die  Hubener  und  Landleut  des  hintern  1489  die 
Landeshoheit  von  Mainz  anerkannten,  war  von  Marken  keine 
Rede.  Sie  behielten  sich  aber  „alle  Rechte  vor,  welche  der 
Landbrief,  der  zu  Eltvill  liegt,  nieer  oder  mynner  inhalt“.  Das 
war  wahrscheinlich  das  Weisthum.  Sie  erkannten  weiter  die 
peinliche  Gerichtsbarkeit  des  Erzstifts  an.  Eine  weitere  Ur- 
kunde von  1491  nennt  das  Gericht  der  fünfzehn  Dörfer  „das 
Lantgericht,  das  wie  von  Alters  her  zu  Berstatt  bleiben  soll“, 
und  bestimmt,  dass  sie  den  Galgen  zu  errichten  und  dass  iglich 
Hussgesess  ein  Huhn,  drei  Kumpf  Haber  oder  statt  des  Huhns 
9 Binger  Heller  zu  leisten  habe.  Bodmann  697. 

1489  war  die  Landeshoheit  über  den  hinteren  Rheingau 
bereits  streitig.  Der  Landgraf  von  Hessen  hatte  sie  in  An- 
spruch geuommen  und  den  dinglichen  Tag  zu  verhindern  ge- 
sucht. Mau  sieht  ihn  dann  auch  im  Besitz,  abgesehen  von 
Ober-  und  Niedergladbach,  die  mainzisch  blieben  und  dann 
zum  Unteramt  geschlagen  wurden.  Der  Blutbann  blieb  gleich- 
falls dem  Erzstift  und  dies  fand  seinen  Ausdruck  darin,  dass 
die  Verbrecher  an  das  Gericht  zu  Eltville  abgeliefert  werden 
mussten.  — 

Die  Verfassung  des  vorderen  KJieingaus  (denn  von  dem 
hinteren  ist  nichts  Weiteres  bekannt)  hatte  sich  im  Lauf  des 
Mittelalters  so  gebildet:  An  der  Spitze  der  Gemeinde  standen 
Schultheiss  und  Schöffen,  welche  niedere  Gerichtsbarkeit  hatten 
und  mit  oder  ohne  Zuziehung  der  Gemeinde  auf  öffentlicher  Strasse, 
vor  der  Kirche  oder  sonst  auf  der  gewöhnlichen  Dingstätte 
handelten.  Urkunden  über  Auflassung  von  Grund  und  Boden 
in  dieser  Form  liegen  aus  dem  13.  Jahrhundert  zahlreiche  vor, 
z.  B.  1262  und  1286  in  Büdesheim  coram  sculteto  et  scabinis, 
in  strato  publico  de  Hattenheim  ante  ecclesiam,  oder  coram 
scbulteto,  scabinis  et  universitate  villarum  de  Hattenheim  auf- 
genommen. 

In  Bezug  auf  die  Aemter  spricht  das  Weisthum  von  dem 
amptmann  (des  Herrn  von  Mentz)  und  den  scheffen  des  gerichts 
und  von  der  (mit  Fuhrwerk  zu  erreichenden)  malestad  des 
Begriffs  (der  hier  nur  die  Malstatt  des  Amts  sein  kann,  da 


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man  die  Malstatt  auf  der  Insel  Lützelau  nicht  mit  Pferd  und 
Wagen  erreichen  konnte).  Das  Amt  umfasste  1463  seine  Ge- 
meinden und  wurde  von  deren  Bürgermeistern  und  Räthen  ver- 
treten. (Siehe  unten). 

Die  Landschaft  des  Rheingaus  bestand  1225  aus  villanis 
in  pago  Reni,  1226  aus  Adel  und  Burgern  des  Gaus  und  den 
Orten  vor  der  Höhe,  milites  et  conprovinciales  de  Rinecouwe 
et  de  villis  circa  montes  sitas,  1279  ans  der  Gesammtlieit  der 
Rheingauorte,  universitates  villarum  Rinichouie.  Eberbacher 
Urkundenbuch  138,  245,  472. 

„Der  Landtag  zu  Lützelauwe“,  wie  das  Weisthum,  „die 
gemeine  Landschaft  des  Ringaws“,  wie  das  Landrecht  sie 
nennt,  hatte  inzwischen  nicht  nur  durch  die  Abtrennung  des 
hintern  Gaus  an  Bedeutung  verloren.  Der  Landtag  war  aus  einem 
Grafengericht,  das  alle  Einwohner,  die  „Lantrecht“  hatten,  zu 
den  Versammlungen  vereinigte,  zu  einem  Bischofsgericht  ge- 
worden, das  nach  einem  späteren  Zusatz  zum  Weisthum  aus 
dem  „Vitzthum  und  allen  schnltheissen  und  Schöffen  in  dem 
Rinckauwe“  bestand.  Es  wurde  ihm  auch  der  Blutbann  abge- 
nommen und  auf  die  Zenten,  Aemter,  (Amtmann  und  Schöffen) 
übertragen,  so  dass  sich  seine  Thätigkeit  auf  allgemeine  Landes- 
angelegenheiten und  die  Civilgerichtsbarkeit  beschränkte,  bis 
man  etwa  im  14.  Jahrhundert  den  Landtag  nach  Eltville  ver- 
legte. Nach  einer  Urkunde  von  1463  waren  Vertreter  und 
Bestandtheile  des  Landes  „Bürgermeister,  Rethe  und  Gcmeynd 
der  vier  Ampt  Eltuil.  Oesterrieh,  Geysenheim  und  Lorch.“ 
Bodmann  514. 

Neben  diesen  Obrigkeiten  bestanden  weiter  Haivgeräthe 
(Haingerichte)  als  Gerichte  über  die  Mark,  die  aus  alten 
Märkerversammlungen  hervorgegangen  waren,  und  adlige  und 
bürgerliche  Mitglieder  unter  erzbischöflicher  Obmannschaft  ver- 
einigten, eine  Zusammensetzung,  die  fortwährend  zu  Irrungen 
und  zu  Aenderungen  ihrer  Art  führte.  Als  erste  Urkunde 
darüber  liegt  eine  erzbischöfliche  Verordnung  von  1494 
(Köhler  88)  vor,  welche  zur  Beseitigung  dieser  Irrungen  vor- 
schrieb: es  sollten  aus  den  Aemtern  zween  vom  Adel,  drei  von 
der  Bürgerschaft  (nach  Gelegenheit  der  Sachen  aber  auch  mehr) 
dazu  gegeben  werden,  also  doch  wohl  Amtsbaingeräthe.  Konnte 
man  sich  nicht  zu  einem  einmülhigeu  Schluss  vereinigen,  so 


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sollten  die  Aemter  ein  Gutachten  abgeben,  eventuell  der  Erz- 
bischof selbst  entscheiden. 

Der  Bauernkrieg  führte  auch  im  Rheingau  zu  einem  allge- 
meinen Aufstand.  Die  Bauern  versammelten  sich  als  „gemeine 
Landschaft“  auf  dem  Wachholder  vor  dem  Kloster  Eberbach, 
stellten  ihre  Forderungen  in  28  Punkten  auf.  unter  denen  die 
Freiheit  von  Wald  und  Wildbann  und  die  Selbstständigkeit  der 
Haingeräthe  war  und  setzten  sie  auch  durch,  mussten  sich  aber 
bald  dem  Heer  des  schwäbischen  Bundes  unterwerfen  und  unter 
Anderm  anerkennen,  „dass  sie  sich  alles  Jagens  und  Weydwerks, 
auch  Fischerei  in  Bächen  gänzlich  enthalten  wollten.“  Nachdem 
sie  „durch  den  Bund  von  Schwaben  aller  ihrer  Freyheiten,  Be- 
gnadigung auch  Amts,  Gerichts  und  Raths  entsetzt,  auch  dieselbe 
zu  nnsern  (des  Kurfürsten  von  Mainz)  Händen  und  Gewalt 
gestellt,  uns  dann  über  dies  alles  eine  öffentliche,  schriftliche 
Bekanntniss  zugestellt“,  erliess  der  Kurfürst  Albrecht  „die 
Neue  Ordnung  und  Regiment  der  Landschaft  des  Rheingaus“ 
von  1527  (Sclmnks  Beiträge  zur  Mainzer  Geschichte  I,  4, 
S.  385),  deren  Charakter  aus  dessen  Art  1 hervorgeht:  „ Hin- 
füliro  sollen  alle  hohe  und  niedere  Aemter,  Gericht  und  Rath 
von  uns  jeder  Zeit,  besetzt  und  entsetzt  und  alle  Geboth,  Ver- 
botli,  Bescheid  und  Befehl  nicht  anders  ausgehn,  dann  von 
unsertwegen  und  in  unserm  Nahmen.“ 

Sechszehn  Gemeinden  (Stadt  und  Flecken)  wurden  vertreten 
durch  Schultheiss  und  Rath  (von  4 — 7 Personen).  Eine  gemeine 
Versammlung  konnte  bei  Grösse  der  Sachen  der  Vizedom  an- 
ordnen. Zwölf  Dinggerichte  mit  niederer  Gerichtsbarkeit  wurden 
„in  Zeit  und  Mahlstatt  rein  Herkommens“  abgehalten.  Die  alte 
Dingpflicht  wurde  für  die  Dingtage  beibehalten,  jeder  Unterthan 
musste  bei  Strafe  erscheinen.  Richter  waren  der  Schultheiss 
und  sieben  (in  der  Stadt  Eltville  14)  Schöffen.  Dinggerichtc 
hatten  im  Oberamt  Eltville,  Erbach,  Hattenheim,  Kiedrich. 
Rauenthal;  im  Mittelamt  Oestrich  mit  Mittelheim,  Winkel  mit 
Johannisberg,  Hallgarten:  im  Unteramt  Rüdesheim  mit  Eibingen, 
Geisenheim,  Assmannshausen,  und  im  halben  Amt  Lorch  dieses. 
Johannisberg  und  Eibingen  hatten  als  Anführer  des  Aufstandes 
ihre  Gerichte  verwirkt  und  waren  jenes  zu  Winkel,  dieses  zu 
Rüdesheim  gelegt,  denen  sie  je  einen  Schöffen  gaben.  Schultheiss 
und  Rath  hatten  ausserdem  je  Walluf  und  Neudorf;  Oestrich 


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und  Mittelheim;  Johannisberg.  Der  Zug  der  Gerichte  ging  au 
die  Oberhöfe  Eltville,  Rüdeslieim  und  Lorch.  Hier  erholten 
sich  die  Dinggerichte  auch  Raths. 

An  der  Spitze  des  Amts  stand  der  Oberschultheis,  der  in 
treulichen  (erheblichen)  Sachen  zu  Zeiten  und  mit  Genehmigung 
des  Vicedoms  das  Auitsgebot  machte.  Wurde  in  Stadt  oder 
Flecken  Rath  oder  Gericht  gehalten,  so  sollte  der  Oberschultkeiss 
dabei  sein. 

lieber  das  gesammte  Land  war  die  hohe  Gerichtsbarkeit 
dem  Gericht  der  Stadt  Eltville  übertragen.  Erzbischöfliche 
Oberbeamte  waren  der  Vizedom,  der  Untervizedom,  der  Land- 
schreiber und  der  Waldpote  (Fiscal).  Bei  Grösse  der  Sachen 
konnte  der  Vizedom  eine  gemeine  Versammlung  berufen,  ihre 
Rathschläge  hören,  und  ihr  dann  seine  eigenen  Entschliessungen 
eröffnen. 

Neben  den  ordentlichen  Gerichten  blieben  die  Haingerätbe 
über  die  Wald-  und  Feldmark  bestehn,  „Feld-  und  Hengeräthe, 
nämlich  Wald,  Weyd,  Wasser,  Wege,  Stege  und  dergleichen, 
samuit  allen  demjenigen,  was  daran  hängt.“  Die  waren  ver- 
schieden nach  der  Art  der  Mark,  der  Gemeinde-  (dorf-)  mark, 
Amtsmark,  Landesmark.  Der  Urtypus  war  das  Haingeräth  für 
die  Gemeindemark,  das  Particularhaingeräth.  „Wir  ordnen, 
dass  nun  hinführo  aus  und  von  dem  Adel  zween  oder  einer, 
wo  man  die  oder  derer  in  selben  Flecken  haben  mag,  von 
Vater  und  Mutter  rittermässig  gcbohren,  zween  aus  dem  Rath, 
sammt  dem  Schultheissen  daselbst  dazu  verordnet  werden.“  Sie 
hegen  das  „Gericht  in  Unserm  Namen  im  Beisein  des  Vize- 
doms, Untervizedoms  oder  Landschreibers“  und  sie  erkennen 
„bis  auf  Unser  Wiederänderung,  Meinung  und  Bescheid“.  Der 
Zug  ging  an  ein  benachbartes  Haingericht  gleicher  Ordnung 
oder  an  das  Generalhaingericht. 

Anderer  Art  war  „des  Raths  Unterhengeräth“,  das  wo  es 
in  Gebrauch  gewesen,  bestehen  bleiben  sollte.  Es  hatte  Maass 
und  Gewicht  und  „alles  was  man  an  Essensspeise  zu  feilem 
Kaut  trägt“,  zu  beaufsichtigen  u.  s.  w. 

Von  den  Amtswaldungen  und  dem  Hinterlandswalde,  also 
von  Amts-  und  Landeshaingeräthen  ist  in  der  Verordnung  keine 
Rede.  Sie  werden  somit  bei  ihrem  frühem  Bestand  belassen  sein. 


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363 


Die  Amtsüaingeräthe  des  Mittel-  und  Unteramts  bestanden 
nach  Köhler  aus  den  Haingeräthen  der  zum  Amt  gehörigen 
Gemeinden  und  dem  Oberschultkeissen  des  Amts  als  Obmann ; 
das  allgemeine  Haingerfith  aus  den  Haingeräthen  des  Landes 
unter  der  Obmannschaft  des  Vizedoms  und  des  weitern  landes- 
herrlichen Beamten.  Es  wurde  jährlich  und  ausserdem  in 
besonderen  Fällen  gehegt  und  hatte  die  Aufsicht  über  sämmtliche 
Waldungen  und  Haingeräthe,  traf  allgemeine  Anordnungen  und 
legte  Streitigkeiten  bei. 

Die  Vernachlässigung  der  Wälder  und  lang  dauernde 
Streitigkeiten  zwischen  den  adligen  und  bürgerlichen  „Hain- 
geräthen“ (Mitgliedern)  führten  zu  einer  Haingerichtsordnung 
von  1732,  welche  zwischen  dem  Partikular-  und  General-Hain- 
gericht  unterscheidet. 

Die  Partikular-  (Gemeinde-)  Haingerichte  waren  wie  früher 
zusammengesetzt,  nur  kamen  jetzt  Ober-  und  Unterschultheiss 
jeden  Orts.  Die  Adligen  hatten  die  Direktion,  nur  mussten  sie 
in  Person  erscheinen,  wenn  nicht,  so  konnten  die  bürgerlichen 
Haingeräthe  in  eiligen  Geschäften  das  Gericht  allein  hegen. 
Die  Stimme  eines  Adligen  sollte  soviel  gelten  als  zwei  Stimmen 
eines  Bürgerlichen,  aber  nicht  eher  majora  gemacht  werden, 
als  in  dem  Fall,  dass  entweder  ein  Adliger  zu  vier  Bürger- 
lichen (den  zwei  Schulteissen  und  zwei  Käthen)  oder  zwei 
Bürgerliche  zu  den  zwei  Adligen  übertreten  würden“,  sonst, 
also  bei  itio  in  partes,  hatte  die  Obmannschaft,  Vizedom,  Ge- 
waltsbot und  Landschreiber,  oder  das  Generalhaingericht  zu 
entscheiden.  Der  Zug  ging  bei  nicht  appellabler  Summe  an 
dieses,  sonst  an  die  bischöflichen  Gerichte. 

Das  Generalhaingericht  konnte  nur  von  dem  Vizedom  be- 
rufen werden.  Es  bestand  aus  dem  gesummten  Adel  des 

Landes,  so  weit  er  mit  freiadligen  Gütern  angesessen  war  und 
aus  den  Oberschul  theissen  joden  Orts.  Hier  war  das  Stimm- 
recht ein  gleiches,  aber  bei  itio  in  partes  sollte  die  Obmann- 
schaft, eventuell  die  Landesregierung  entscheiden. 

1737  folgte  eine  Verordnung  Philipp  Karls  und  in  den 

70er  Jahren  unter  Joseph  Emmerich  eine  Vereinfachung  der 
Verfassung.  Es  blieb  der  Vizedom,  das  Land  wurde  in  zwei 

Aemter  Eltville  und  Riidesheim  getheilt,  und  ihnen  für  die 

Verwaltung  je  ein  Amtskeller  und  für  die  Justizpflege  je  ein 


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364  ‘ 

Amtsvogt  vorgesetzt.  Die  Mark-  und  .Privatwaldungen  wurden 
forstmässig  abgeschätzt  und  in  Schläge  eingetheilt  und  im  Jahr 
1773  eine  neue  Haingerichtsordnung  erlassen,  die  sich  auf 
beide  Arten  von  Waldungen  erstreckte  und  vorab  die  vom 
Jahr  1732  bestätigte. 

Die  Partikularhaingerichte  sollten  nun  aus  zween  (oder 
einem)  von  Adel  der  Gemeinde,  dem  Schultheiss  und  drei  von 
der  Gemeinde  zu  wählenden  lebenslänglichen  bürgerlichen  Bei- 
sitzern (die  wegen  Fehltritts  vom  General  haingericht  entsetzt 
werden  konnten,)  bestehen.  Der  Aelteste  vom  Adel  hatte  den 
Vorsitz,  in  dessen  Abwesenheit  der  Schultheiss.  Das  Gericht 
wurde  jeden  ersten  Montag  des  Monats  auf  dem  Rathhaus  ge- 
hegt. Ein  Waldschütz  wurde  bestellt,  die  Frevel  nach  der 
Bussordnung  gerügt.  Der  älteste  adlige  und  bürgerliche  „Hain- 
geräth“  führte  die  Kasse. 

Im  Generalhaingericht  war  Beisitzer  Jeder  von  Adel 
(im  Besitz  von  sitz-  und  stimmberechtigtem  Gut)  und  jeder 
Schultheiss  des  Landes.  Die  Obmannschaft  bildeten  der 
Vizedom  und  die  beiden  Amtskeller,  von  denen  der  Erstere, 
eventuell  ein  besonders  Ernannter  den  Vorsitz  hatte.  Das  Gericht 
versammelte  sich  jährlich  am  1.  Oktober  auf  dem  Rathhaus  zu 
Eltville.  Es  erkannte  in  erster  Instanz  (mit  besondern  Modi- 
ti cationen),  wenn  ein  Partikularhaingericht  belangt  wurde;  die 
Appellation  ging  an  die  erzbischöflichen  Gerichte.  Das 
Generalhaingericht  selbst  konnte  nur  vor  einer  Regierungs- 
commission  belangt  werden.  Es  bestimmte  jährlich  ein 
Partikularhaingericht,  das  die  Frevel  im  Hinterlandswald  nach 
einer  Rügetaxe  zu  thätigen  hatte.  Die  Einnahme  der  von 
einem  adligen  und  bürgerlichen  Haingeräth  verwalteten  Kasse 
bestand  in  den  »Straf-  und  Holzgeldern  des  Hinterlandswaldes 
und  der  Mittel-  und  Unteramtswaldungen.  Vor  allen  hatte 
das  Gericht  die  Waldordnung  aufrecht  zu  erhalten,  wozu  ein 
Forstmeister  und  ihm  untergeordnete  Förster  bestellt  waren. 

In  unserem  Jahrhundert  fand  jedoch  die  nassauisch  ge- 
wordene Regierung,  dass  die  Haingerichtsordnung  von  1772 
ihren  Erwartungen  nicht  entsprochen  habe.  Die  Wälder  seien 
verlallen,  Forst  und  Waldfrevel  ganz  übermässig.  Aber  weder 
das  Verbot  der  Ausfuhr  von  Holz  in  das  Ausland  noch  eine 
neue  Forstorduung  waren  von  Einfluss.  Man  hob  daher  1808 


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365 


die  Haingerichtsverfassung  als  fehlerhaft  und  verwickelt  auf, 
unterstellte  die  Wälder  der  Regierung  und  dem  Forstamt 
and  theilte  schlieslich  den  Hinterlandswald  und  die  Amts- 
waldungen unter  die  Gemeinden  auf. 


Literatur. 

Grimms  Weisthümer  I 534,  IV  572,  das  Rheingauer  Land- 
weisthum von  1324,  Brunner,  die  Quellen  des  sog.  Rheingauer 
Landrechts,  Zeitschrift  der  Savignystiftung  III  87;  Köhler, 
Alte  Waldmark  und  Heingerathe  im  Rheingaue,  1792:  Bod- 
®»nu,  Rheingauische  Alterthümer,  2 Bnde.  1819;  Bär,  Ge- 
schichte der  Abtei  Eberbach,  2 Bnde.  1855,58:  Rossel, 
Lrknndenbuch  der  Abtei  Eberbach,  2 Bnde.  1862/70. 


4.  Kunigcssundra. 

Diese  als  pagus  und  909  einmal  als  comitatus  bezeichnete 
Hnntare  Kunigessundra.  Kunigessuntere  oder  Kunigeshundera, 
Knnigeshuntra  stiess  im  Westen  an  den  Rheingau  und  erstreckte 
sich  von  dem  Ausfluss  der  Waldaff  am  rechten  Rhein  bis  zur 
Mündung  der  Kriftel  am  rechten  Main.  Sie  nahm  den  ent- 
sprechenden Theil  der  Höhe  ein,  so  dass  das  Weisthum  von 
Frauenstein  (Grimm  IV  568)  mit  Recht  sagen  kann : „dass  sie 
genannt  wird  der  Herren  Hoe  von  Kassauwe“,  d.  h.  der  Grälen 
mn  Nassau  Höhe,  oder  1360  die  Grafschaft  „diesyt  der  Höhe“, 
wenngleich  einige  ihrer  Urte  über  die  Höhe  hinaus  lagen.  Die 
Lrafen  Adolf  und  .Johann  von  Nassau  bestimmten  1353  die  Grenze: 
»Zum  ersten  geet  unsere  Graveschaft,  Herrschaft  und  Gerichte 
ail:  (im  Osten),  da  die  Crufftel  springet  (die  Kriftel  bei  Wald- 
kriftel) und  die  Crufftel  (in  dem  untern  Lauf  jetzt  Schwarze- 
hach)  inne  biz  in  den  Hayn,  und  (im  Sttdeu)  den  Mayu  ab  biz 
iu  den  Rine  und  den  Rin  inne  biz  mitten  in  die  Waldaffa  und 
(im  Westen)  die  Waldalfa  uf  bis  gen  Wambach  an  den 
hangenden  Stein“;  ande  rs wo  (Grimm  I 555)  heisst  es:  (im 
Worden)  „von  der  Waldoff  bis  an  Polgrabeu,  den  Polgraben 


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36fi 


uss  bis  gen  Selbach,  zu  Selbach  usshene  bis  an  den  Westen- 
giebel, da  gehet  ein  wasser,  heisst  die  Dusch  (Daisbach),  die 
Dusch  inhene  bis  gen  Eppenstein  an  dene  hangenden  stein,  da 
verluset  die  Dusch  ihren  namen,  von  dem  hangenden  steine  an 
bis  an  die  Crüftel.“ 

Die  Malstätte  der  Kunigessundra  war  der  noch  heute  be- 
stehende Hof  Mechtilhausen ; hie  wurde  die  hohe  Gerichtsbarkeit 
geübt.  1306  In  campo  dicto  Wizerfelt,  in  quo  curia  dicta  Mech- 
tildistnla  stat;  Lagerbucb  von  Altenmünster.  1360  Die  hoisten 
gerichte  über  hals  und  heubt  zuschen  der  Crüffte)  und  der 
Waldoffen  horent  zu  Mechtelnhausen  in  den  hoff.  Die  Grafen 
von  Nassau  trugen  die  Grafschaft  vom  Reich  zu  Lehn  und  von 
ihnen  die  Herrn  von  Eppstein  die  hohe  Gerichtsbarkeit  als 
Afterlehn.  Heinrich  VI.  Godofrido  de  Eppinstein  bannum  con- 
cessit  super  comeciam  Mechtiidehusen.  Die  Huntare  zerfiel 
in  zwei 

Zentschaften, 

an  welche  dann  die  Zentgerichtsbarkeit  gebunden  wurde,  und 
zwar  im  Westen  die  Mark  Grefenhölie  oder  Wiesbadener  Höhe- 
tvaldung.  die  im  Besitz  der  Grafen  von  Nassau,  „als  der  herren 
hoe  von  Nassauwe“  (Frauensteiner  Weisthum)  blieb. 

Es  waren  vor  der  Hübe  die  Orte  Georgenborn,  Frauengtein,  Dotzheim, 
Niederwalluf,  Schierstem,  Biebrich,  Mosbach,  Erbenheim,  Wiesbaden,  Bier- 
stadt, Kloppenheim,  Sonnenberg,  Rainbach,  Hessloch,  Auringen,  Naurod, 
Niedernhausen,  Königshofen,  Niederseelbach,  Engenhahn;  über  der  Höbe 
Wehen,  Neuhof,  Orlen,  Idstein. 

Im  Osten  die  Me.chtilhämer  Zerit  oder  „ Lantyericht , deren 
oberster  herr  und  fauth  ein  herr  zu  Eppstein  war“  (Mechtil- 
häuser  Centweisthum  von  1479)  mit  den  in  dem  Weisthum 
angegebenen  Orten 

Kostheim,  Hochheini,  Massenheim,  Delkenheim,  Wallau,  Breckenheim, 
Nordenstadt,  Igstadt,  Madenbach,  Langenhain  und  Diedenbergen.  Als 
altere  Huntarenorte  sind  Wicker,  Weilbach  und  Lorsbach  zu  verzeichnen. 
Flörsheim  wurde  beim  Verkauf  an  Mainz  1270  vom  Lanlgericht  ab- 
gesondert. (Grimm,  Woisthümer  1 554;  IV  568.  Bodmann,  Rbeingauische 
Alterthümer  48,602). 


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Vierzehntes  Kapitel. 

Der  H n I e rl afyn g a u. 

Nach  der  Lahn,  Logana  sind  zwei  Grossgaue  genannt, 
der  obere  Lahngau,  der  ausserhalb  des  Gebiets  des  alten 
alamannischen  Stammlandes  im  Bisthum  Mainz  lag,  und 
der  untere  Lahngau  im  Bisthum  Trier. 

Letzterer  zur  Zeit  des  Probus  der  Gau  der  Logionen  und 
ihres  Königs  Semnon  (S.  18,  74),  später  gewöhnlich  pagus 
Logenahe  oder  Logenehe,  einmal  821  inferior  Lognahi  und  in 
einer  älteren  päpstlichen  Urkunde  von  738  provincia  Lognais 
genannt,  umfasste  das  Lahnthal  von  Diez  bis  aufwärts  Giessen 
(Rödgen),  stieg  rechts  bis  zur  Höhe  des  Westerwaldes  empor 
and  erstreckte  sich  links  tief  in  den  Taunus. 

Grossgauort«  sind  folgende: 

An  der  rechten  Lahn 

Unterlahnkreis:  Diez,  Hambach; 

Kr.  Limburg:  Ablbach,  Dorndorf,  Hadamar.  Lahr; 

Kr.  Westerburg:  Niederbach,  Herschbach.  Sek.  Westernohe: 

Oherlabnkreis:  Steeten.  Arfurt,  Aumenau,  Seelbach; 

Kr.  Wetzlar:  Niedergirmes.  Asslar,  Werdorf,  Holzhausen,  Breitenbach, 
Niederlemp,  Erda,  Blasbacb,  Kinzenbach. 

An  der  linken  Lahn 

Unterlahnkreis:  Lohrheim,  Oberneisen,  Hahnstetten,  Kaltenholzhausen, 
Burgschwalbach,  Dörsdorf; 

Kr.  Goarshausen : Ketteubach ; 

Kr.  Ijmburg:  Limburg,  Heringen,  Dauborn,  Nieder-,  Oberbrechen, 
Niederaelters,  Würges; 

Cntertaunnskreis:  Walsdorf,  Bermbach; 

Oberlahnkreis:  Ennerich,  Villmar,  Traisfurt,  Gladbach,  Weilburg, 

Ahausen,  Selters,  Möttau,  Altenkirchen; 

Kr.  Wetzlar:  Burgsolms,  Bonbaden,  Neukirchen,  Oberwetz,  Scliwalbach, 
Reiskirchen,  Nauborn,  Steindorf.  Niederkleen,  Dornholzhausen,  Kleinrechten- 
bacb,  Münchholzhausen,  Wetzlar,  Garbeuheim. 

Kr.  Giessen:  Grossenlinden,  Leihgestern,  Hansen,  Rödgen. 


II  mit  amt. 

I.  Haigergau. 

781.  In  pago  Logenahe et  in  Heigrelie  (Haiger,  Dillkreis). 

M13.  Cura  curtc  nosfra  (Konrads  I).  que  Haigera  noininatur  in  pago 
Heigera  etiam  uuncupato. 

313.  Kine  Urkunde  des  Krzbisekofs  Kberhard  zu  Trier,  erneuert  1048, 
unisehreibt  die  terininatio  eccleaie  ad  Ueigeriu,  die  dann  mit  dem  eomitatus 
in  Heigero  marca  zusammen  zu  fallen  scheint.  Die  Umschreibung  ist 
äusserst  detaillirt.  Der  Haigergau  oder  die  Grafschaft  Haiger  umfasste 
danach  die  obere  Dill.  Stücke  vom  oberen  Gebiet  der  Mister  (der  grossen, 
kleinen  und  Hor-Mister).  und  einen  Landstrich  der  mittleren  Sieg  mit  dem 
llellerbach;  in  den  Gau  tiel  auch  das  predium  liherorum  viroruin  (der 
Freie  und  der  Hinken- Grund)  und  die  Höhe  des  „Westerwaldes“,  der  hier 
zum  ersten  Mal  genannt  wird.  Eher  werden  die  späteren  Kirchspiele 
orientiren,  welche  der  Taufkireho  Haiger  entsprechen.  Es  sind  Ebersbach, 
Haiger,  Dresseindorf,  Bürbach,  Neunkircheu,  Kirburg,  Daaden.  Gebhards- 
hain zum  Theil,  Kirchen,  Freusburg,  vielleicht  auch  Niedertischbach.  Ur- 
kunden bei  Böttger  I. 

Der  Verband  Haiger  war  also  Huntare,  Huutarenmark 
und  Grafschaft,  was  man  auch  von  den  drei  folgenden  wird 
anuehnien  können. 


2.  Herborn. 

In  derselben  Urkunde  wird  auch  die  an  die  Grafschaft 
Haiger  anstossende  Herbore  marca,  sonst  auch  Herber  Mark 
(Herborn  Dillkreis)  erwähnt.  Zum  Sprengel  der  Kirche  Herbom 
gehörten  die  späteren  Kirchspiele  Driedorf,  Emmerichen  hain, 
Veukirch,  Marienherg. 


3.  Hadamar. 

1221  wird  die  comecia  de  Hadamara  (Hadamar  Kr.  Lim- 
burg) oder  die  Vogtei  von  Rotzenhalm  genannt. 

4.  Kr  de  he. 

Der  pagus  Erdehe,  auch  pagus  Hardehe,  oder  Erdeher 
marca,  Ardeher  marca,  charakterisirt  sich  durch  diese  Bezeich- 
nungen als  Huntare  und  Huntarenmark.  Kr  nimmt  den  Süd- 
osten des  Grossgau  ein. 


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369 


"90.  In  Erdeher  marca  et  in  Wertorph  (Werdorf,  Kr.  Wetzlar). 

Ohne  Datum.  In  Ardclter  marca  Oberendnrph  (Oberndorf  im  Dillkreis'. 

Ohne  Datum.  Pagua  Erdebe  — in  L'rnftorph  (Krofdorf,  Kr.  Wetzlar), 
in  Waldgermice  (Waldgirmes.  Dillkreis),  — in  Breitenbach  (Kr.  Wetzlar), 
— in  Kiwarn  (Nauborn  das  ),  — iu  Albodesbusen  (Albshausen  das.),  — in 
Holzhuseti  (Uolzhausen  das.),  — iu  Bannmadrn  fllonbaden  das.).  Urkunden 
lei  Büttger  I. 

Huntarenorte : 
an  der  rechten  Labil 

Kr.  Wetzlar:  Werdorf,  Holzbausen,  Breitenbacb,  Krofdorf; 

Dillkreis:  Oberndorf; 

Kr.  Biedenkopf:  Waldgirmes; 
an  der  linken  latlin: 

Kr.  Wetzlar:  Honbaden,  Albsbausen,  Nanhorn.  Münchholzhausen. 

Davon  sind  Urossgau-  und  zugleich  Huntarenorte  Werdorf.  Holx- 
haisen.  Kreitenhaeb,  Nauborn.  Münchholzhausen. 

Die  Krdehe  lag  sonach  an  beiden  Seiten  der  Lahn.  An 
der  linken  reichte  sie  wohl  so  weit  wie  der  Grossgau  selbst,  und 
umfasste  damit  an  beiden  Seiten  den  Kreis  Wetzlar  und  an- 
liegende Stücke  des  Dillkreises  (Oberndorf)  und  des  Kreises 
Biedenkopf  (Waldgirmes). 

Siche  zu  1,  2,  3 Heyn  der  Westerwald  8.  1»,  34,  07  und  dessen 
schriftliche  Mittheilungcu.) 


Gramer,  Geschichte  der  AUiaanocti. 


24 


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Fünfzehntes  Kapitel. 

Die  !ö)ett<?r<?iba. 

Die  Bucinobantes  Ammians  21»,  4,  7 waren  die  Genossen 
des  Bacinobant,  des  Buchengaus,  der  spätem  Buchonia.  welche 
im  Norden  des  Main  das  Vogelsgebirge,  die  Rhön,  die  Hass- 
berge und  den  Spessart,  die  Thäler  der  Kinzig,  Nidda  und 
Wetter  oder  die  Gross- Wettereiba,  die  oberen  Thäler  der  Werra 
und  Fulda  oder  das  Gross-Grabfeld,  und  das  'Thal  der  fränkischen 
Saale  oder  den  Gross-Saalegau  umfasste,  lieber  die  Zuge- 
hörigkeit dieser  Grossgaue  zur  Buchonia  einige  Urkunden: 

Ohne  Datum  ln  pngo  Weiltereiba  iu  Buchonia  juxt«  Fulinesbach 
Sleraffa  (Altenschlirf  Kr.  I.autnrbach),  Büttgor  I,  213. 

750  Vulta  (Fulila)  in  silva  Buchonia  . . . mnnasterium  in  pago  ürap- 
fehl  super  Huviuin  Fulda,  Biittger  1 237. 

S37  In  pago  Grapfeld  in  silva  Buchonia  villa,  quae  dicitur  Motten 
(Motten  Lg.  Brückenau),  nötiger  f,  23».) 

»37  In  pago  Salagevve  unam  capturam  in  Buochnnia  infra  torminos 
duorum  fluminum  Fliedena  (linker  Nebenfluss  der  Fulda)  et  Dulha  (rechter 
Nebenfluss  der  Saale)  in  Chizziher»  marca  et  silva  llurdorph,  Schannat 
Vetus  Buchonia  ld«. 

Wetterau  und  Grabfeld  waren  im  4.  Jahrhundert  die 
Gaue  des  Makrian  und  Hariobaud,  während  der  Saalegau 
burgundionisch  gewesen  zu  sein  scheint  (S.  74). 

Der  erste  der  genannten  Grossgaue  hat  seinen  Namen 
von  dem  Fluss  Wetter,  von  dem  aus  die  Ansiedlungen  sich 
ausgebreitet  haben  werden.  Meist  Wettereiba  oder  Wetder- 
eiba  geschrieben,  heisst  er  heute  die  Wetterau.  Sie  wird  als 
pagus  bezeichnet,  73s  und  1071»  als  provincia,  ‘.'09  als  regio. 

Sie  hat  auch  als  Grafschatt  wohl  den  Namen  Malstatt 
getragen. 

1043  schenkte  der  Kaiser  Heinrich  III.  dem  Kloster  Fühl«  comitatuin 
Maelstut  in  Wetereib«,  quam  comes  Uertoldus  habere  visu«  est. 


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371 


1046  Prnedium  dictum  Wirenn  f Wehrlicim  Kr.  Usingen)  -situm  in 
;jgo  Weterciba  in  comitatu  Malstat. 

1007  Mausos  in  loco  Wulncstat  ( ( (berwiillctadt  Kr.  Kriedbcrg)  et  in 
pago  Wethereibe  at<|ue  in  comitatu  Malstat. 

1007  Güter  in  dem  Dorf,  genannt  Kebeie  (.Marköbel  Kr.  Kriedborgl 
mul  deme.  dar.  do  beizat  liintbacb  (Himbach  Kr.  Hödingen)  und  in  deine, 
dar  do  heizet  Herebeim  ( I. Angenbergheim  dag.).  gelegen  in  der  Wedrebe  in 
der  Grafschaft  Uertboldes;  die  Grafschaft  heizet  .Malstadt. 

lotU  Predinm  in  villis  Atueue  (zweifelhaft  ob  Ober-,  Niederohmen 
Kr.  Grünberg,  das  auch  zum  Lahngau  gerechnet  wird),  Fischbruunen 
■Fischbom  bei  Orb),  Strathcim  (Stratheimcr  Hof  Kr.  Friedberg)  in 
.»mitatu  Malstat  sitnm. 

Malstat  ist  eine  Oertlirhkeit  bei  Kauernheim  Kr.  Friedberg,  das 
Mahlstetter  Feld  ein  Gemarkungstbeil  von  Weckesheim  und  die  Mahlstctter 
Strasse  eine  von  Melbach  kommende  zwischen  Bauernheim  und  Dormasseu- 
beim  durchziehende  alte  Strasse.  Itöttger  I.  ü 7 ; Thudichnm.  Kaichen,  16. 

Die  Grafschaft  Malstat  ist  also  jedenfalls  fiir  den  Süden 
der  Wettereiba,  und  auch  fiir  den  Norden  nachgewiesen,  wenn 
man  Amene  für  Ober-,  Niederobmen  ansieht  (und  letzteres  ist 
nach  dem  weiter  Folgenden  anzunehnten).  Als  ihr  räumlicher 
Mittelpunkt  erscheint  Malstat  bei  Baueinheim  und  der  Name 
zeigt  an,  dass  es  eine  Gerichtsstätte  war.  Die  Grafschaft  Malstat 
ist  somit  ein  jüngerer  Name  für  den  Grossgau  oderTheilgau  Wetter- 
eiba, und  es  drängt  sich  die  Verniuthung  auf.  dass  in  Malstat 
bei  Rauemheim  ein  oberstes  Gericht  für  die  Hnntaren-  oder 
Zentgerichte  des  Gatts  oder  Theiigaus  bestanden  habe,  ähnlich 
wie  für  den  benachbarten  Hessengan  ein  solches  in  Maden  am 
Fuss  des  Gudensbergs  (Wotansberg,  Kt.  Fritzlar)  angenommen 
wird. 

Sind  diese  Verniuthungen  richtig,  so  ist  doch  zu  bemerken, 
dass  Maden  und  Malstat  als  Gaumittelpunkte  wohl  die  einzigen 
Fälle  in  Franken  wären.  In  Alamannien  kommen  derartige 
gar  nicht  vor. 

Dazu  kommt,  dass  die  Wettereiba  (sammt  ihrer  Huntare 
Niedgau)  bis  tief  in  das  Mittelalter  eine  Gaugrafschaft  ge- 
blieben ist,  wiederum  ein  einziger  Fall.  Lehnsherr  über  die 
Grafschaft  des  Gaus  war  der  Pfalzgraf,  Lehnsträger  waren 
104.3  bis  1 17t)  die  Grafen  von  N bringen,  (insbesondere  auch 
über  den  Niedgau  nach  Sauer,  Nassau  Urkundenbuch  S.  128) 
deren  Sitz  in  Niirings,  heute  Falkcustein  im  Niedgau 
war;  später  waren  es  die  Grafen  von  Münzenberg.  Dann 

44* 


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372 


1256,  1272  und  1274  verlieh  der  Pfalzgraf  einzelnen  ihrer 
Erben  die  coniecia  Wedrebiae,  eoniecia  in  Wederabia  sita  oder 
bestätigte  eine  donatio  propter  nuptias  in  coniecia  de  Surnigis 
(soll  heissen  Xuringes).  Die  Grafschaft  wurde  nunmehr  also 
nach  der  Wettereiba  oder  nach  ihren  früheren  Grafen  von 
Nüringen  bezeichnet,  wozu  dann  als  dritter  Name  Malstat 
kommt. 

Die  Abhänge  des  Taunus  im  Westen,  das  Gebiet  des 
Vogelsgebirges  im  Xorden  und  sainmt  der  Fulda  im  Osten, 
das  Kinzigthal  und  den  Main  im  Süden,  füllte  der  Gau  Wetter- 
eiba die  schöne  und  fruchtbare  Ebene  aus,  welche  die  Wetter, 
Nidda  und  Nidder  durchfliessen. 

Gauorte  waren 

K r.  Usingen:  Fachbuch,  Usingen  Wehrb&ch; 

Landkr.  Frankfurt:  Niederurael,  Heddernheim.  Praunheim,  Jluusen; 

Kr.  Friedberg:  Gamlnich,  Trais  • Miinzenberg,  Butzbach,  Griedel. 

Oppershofen,  Steinfurth.  Södel,  Heyenheini,  Hochweisel.  Obenuörleu 
Wisselsheim,  Ockstadt,  Hauernhcim,  Fauerbach.  Ossenheim,  Strassheim. 
Oberrusbach,  Oberwüllstndt,  Assenheim,  NiedenrBllstadt,  Itodheim.  Petter- 
weil, Heldenber-.-en,  Hendel,  Büdesheim,  Altenstädt.  Kouimelhausen.  Vilbel; 

Kr.  Nidda:  Birklar,  Muschenheim.  Langsdorf,  Hungen,  Bellersheim, 
Trais-Harloff,  l'tphe,  Obbornhofen,  Echzell,  Bingenheim,  Daueruheim, 
Kallstadt,  Effolderbach,  Selters,  Burgheiiu; 

Kr.  Schotten:  l.ardenhach,  Laubach,  Ulfa; 

Kr.  Giessen:  Lieh,  Dorfgüll,  Grüningen.  Holzheim,  Eberstadt; 

Kr.  Griinherg:  l^ueckborn.  Oberohmen; 

Kr.  Alsfeld:  Udenhausen; 

Kr.  Lauterbarh:  IJellershausen,  Altenschlirf,  Salz; 

Kr.  Fulda:  Urossenlüder,  Ober-  und  Unter  Bimbach; 

Kr.  Schlüchtern;  Salmünster; 

Kr.  Geinhausin:  Orb; 

K.  Büdingen:  Niedermockstadt,  Hodenbach.  Enzheim,  Leustadt,  Lind- 
heim, Düdelsheim; 

Kr.  Hanau.  Oberdorfelden,  Kossdorf,  Ostheim,  Marköbel,  Wachen- 
buchen, Hochstadt. 

(Für  das  ganze  Kapitel  sind  die  Schriften  Thudicliums  verwendet: 
Die  Geschichte  des  freien  Gerichts  Kaichen  18ä8;  die  Gau-  und  .Mark- 
verfassung in  Deutschland  186(1  nnd  die  unvollendet  gebliebene  Keclitt- 
geschichte  der  Wetterau,  - Theile  (1867 — 8£>). 


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373 


Huntaren  und  Zehn  (schäften. 

l.  Niedgau. 

Dass  der  Niedgau  eine  Huntare  der  Gross -Wettereiba 
war,  geht  aus  den  Urkunden  über  Orte  hervor,  die  bald  dem 
einen,  bald  dem  anderen  Bezirk  zugeschrieben  werden. 

1132  ln  pago,  qui  in  Wettereiba  dicitur,  in  Prumheim  (Praunheim), 
in  l'rselo  (Nioderursel).  in  Hetdernheiin  (Heddernheim),  in  Husun  (Hausen), 
alle  im  Landkreis  Frankfurt).  Büttger  1 2 in. 

115»  Inne  der  Wederauwe  in  Petterwil  (Petterweil),  Büdesheim 
(Büdesheim)  und  Vilbel  (Vilbel,  alle  im  Kreis  Friedberg).  Büttger  das. 
Andererseits 

Ttn;  In  pago  Nitachgowe  in  villa  Uraella  (Oberursel)  et  in  Steorstat 
iStierstadt.  beide  im  Obertaunuskreis).  Nass.  32. 

it)7  In  pagn  Nitachgowe  in  (Irsella  et  Caldenbach  (Kablbach  das.) 
Nass.  33. 

»4»  In  pago  Nitachgowe  in  Ursellare  marca  in  Bommersheim 
i Boramersheim  das.'  et  in  Caltenbach.  Nass.  Ol. 

»02  In  pago  Nitachgowe  in  villa  Phetterenheim  (Heddernheim  Landkr 
Frankfurt;.  Nass.  41. 

»25  In  pago  Nitahgewe  in  villa  l’etrina  (Petterweil  Kr.  Friedberg'. 
Büttger  I 227. 

»04  In  pago  Nitachgau  et  in  Filwila  (Vilbel).  Nass.  Oft. 

Der  Niedgau,  nach  der  Nidda  genannt.,  die  ihn  im  Osten 
berührt  und  in  der  südlichen  Ballte  durchfliesst,  gewöhnlich 
Nitachgowe  geschrieben,  als  Gau  oder  pagus  bezeichnet,  um- 
fasste die  Abdachung  der  Höhe  zum  Main  zwischen  der  Kriftel 
im  Westen,  der  Wasserscheide  von  Main  und  Lahn  (Feldberg) 
im  Norden,  dem  Erlenbach,  der  mittleren  Nidda,  Vilbel,  Fechen- 
heim und  Oftenbach  im  Osten  und  dem  rechten  Main  von  da 
bis  zur  Mündung  der  Kriftel  im  Süden: 

Huntarcnorte  waren 

Kr.  Höchst:  Sindlingen,  Zeilsheim,  Lnterliederbneh.  Höchst.  Schwan- 
heim,  (iriesheim,  Eschborn; 

Stadtkreis  Frankfurt:  Bockenkeim; 

Landkr.  Frankfurt:  Ködelheim.  Hausen.  Praunheim,  Heddernheim, 

Xiederursel ; 

Kr.  Obertaunus:  Hornau,  Schwaibach,  Nieder-,  Oherhochstadt,  Stier- 
»tadt,  Oberursel.  Obersteden,  Bommersboiin.  Kablbach,  Kirdorf.  Seulberg; 

Kr.  Kriedberg:  Petterweil,  (Iber-Niedererlenhaeb.  Ober-Niedereschbaeh, 
Floppet, heim,  Dortelweil,  Vilbel.  Haarhehn. 

Es  scheint,  dass  der  Niedgau  drei  alte  Zehntschaften  hatte, 
da  wir  im  Mittelalter  eben  soviel  Verbände  sehen,  welche 


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;!74 


zusammen  den  Niedgau  ausiüllten : es  waren  in  der  Mainebene 
und  im  Gebiet  der  unteren  Nidda  die  Zent  oder  Grafschaft 
zum  Bornlieimerberg,  und  zur  Höbe  emporsteigend  zwischen  der 
Kriftel  und  dem  Liederbach  die  Mark  Eichelberg  und  das  Land- 
gericht Heuseis,  sowie  zwischen  dem  Liederbach  und  der 
mittleren  Nidda  die  marca  Ursellare  oder  der  pagus  Ursella, 
vielleicht  zusanunenfallend  mit  der  Höhenmark,  deren  Name 
wohl  später  in  Folge  von  Thcilungen  eine  räumlich  beschränktere 
Bedeutung  als  „hohe  Mark“  angenommen  hat.  Als  die  östliche 
und  südliche  Grenze  der  letzteren  hat  sich  bis  in  unser  Jahr- 
hundert die  Nidda  erhalten,  so  dass  ursprünglich  wahrscheinlich 
ihr  unterer  Lauf  die  Grafschaft  zum  Bornheimerberg  einerseits 
und  das  Landgericht  Heuseis  und  die  Grafschaft  Ursel  anderer- 
seits geschieden  hat. 

Die  Zent  oiler  ( irnfttchiifi  zum  llornheimerberi /. 

Die  Zent,  über  welche  seit  dem  l-l.  Jahrhundert  Nach- 
richten vorliegen,  umfasste  nicht  die  freie  Reichsstadt  Frankfurt  , 
sie  und  „ihre  Burger,  zu  Frankfurt  und  Bonames  gesessen“, 
standen  ausserhalb  der  Zent,  aber  die  iStadt  hatte  zu  ihr  ver- 
fassungsmässige Beziehungen. 

Die  Zent  oder  Grafschaft  hatte  „eine  Terminei,  welche 
m Dorfe  des  heiligen  römischen  Reiches  umfasste,“ 

cs  waren  die  Orte  in  oder  an  der  rechten  Mailichen  e liornheini 
Griesheim,  Kockenhrim,  Ginnheim.  Kekenheim,  Preungesheim,  .Seckbach, 
Bergen  (mit  Knklieim),  Bisclmfsheim,  Fechenheim,  die  Orte  über  dem 
Main:  Oherrad  und  Ottenbach,  und  die  Orte  de»  unteren  Nidiiageliicts 
Nied.  Hannen.  Eschersheim.  Hassenheim.  Vilbel  und  Gronau.  Alle  gehörten 
dem  Niedgau  an  mit  Ausnahme  der  beiden  linksmninischeu  Oherr.id  und 
Offenbach.  von  denen  das  erste  in  den  Gross- Rheingatt,  das  zweite  in  den 
Oross-Maingau  fiel.  Sie  werden,  ebenso  wie  die  Orte  der  rechten  Nidda, 
erst  später  zur  Zent  gezogen  sein. 

„Die  Grafschaft  zum  Bornheimerberge  und  die  Dorfe  darin 
waren  des  Königs",  sagt  das  Weisthum  von  1803:  „Wasser 
und  Weide  waren  des  Königs,  Niemandes  sonst:  dem  Könige 
solle  man  dafür  dienen,  Niemanden  weiter“;  „man  dienet  dem 
König  auf  seinen  Reisen  und  Kriegen“  und  hatte,  wenn  der 
König  oder  die  Königin  in  Frankfurt  lagen,  „aus  den  Reichs- 
wäldern dem  Reiche  Holz  in  die  Küche“  zu  führen.  Das  Reich 
hatte  dagegen  die  Dorfe  zu  schirmen.  Die  Zent  war  also  wie 
Frankfurt  reichsfrei. 


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Jedes  Dorf  Latte  seine  abgetlieilte  Mark,  „seine  Ter- 
terminei“,  Wasser.  Wälder,  Weide:  gemeinsam  sollen  sie  einen 
Hirten  haben  in  jeglichem  Dorf,  keinen  gesonderten  (d.  h. 
Niemand  soll  ohne  den  Dorfhirten  weiden).  Wo  es  ohne  Schaden 
geschehen  könne,  möge  des  Dorfes  gemeiner  Hirt  auf  das 
andere  Dorf  fahren,  nicht  aber  in  die  Holzmark“  (ein  Beweis, 
dass  die  Zent  eine  Weidegemeinschaft  gewesen  war). 

Jedes  Dorf  hatte  (wohl  ausser  einem  höfischen  Gericht) 
ein  Heimgericht,  bestehend  aus  dem  Zentgrafen  uud  den 
Schöffen.  Es  verwaltete  das  Dorf,  bestellte  die  Heimbürgen 
als  Vermögensverwalter,  gab  Holz  aus,  hegte  die  Weide,  setzte 
Hirten,  Schützen,  Wächter,  zog  Gräben  um  das  Dorf  u.  s.  w. 
Es  hatte  die  niedere  Gerichtsbarkeit,  entschied  auch  über  eigen 
Gut;  der  Heimbürge  vollstreckte  die  Urtlieile.  Der  Zug  ging 
an  .des  heiligen  Reiches  zu  Bornheimerberg  Lantgericht“  als 
Oberhof.  Wem  dann  das  Urtheil  gefallen,  der  solle  den  Zent- 
grafen (den  Richtern  des  Lautgerichts)  geben  ein  Viertel  Weins 
nächst  dem  besten,  als  man  zu  Frankfurt  feil  findet,  und  solle 
der,  dem  das  Urtheil  entfallen  ist.  dann  wiedergeben.“ 

Malstätte  des  Lantgerichts  war  der  Berg  bei  Bornheim, 
ein  Hügel,  der  zum  Mainthal  abtiel.  Hier  „möge  der  König 
alle  richten  von  Recht  Uber  Hals  und  Haupt“,  es  war  mithin 
ein  kaiserliches  Landgericht  mit  hoher  Gerichtsbarkeit.  Um 
das  Jahr  1200  war  es  noch  ganz  „frei  und  erblos“.  Es  sass 
ihm  vor  von  Reichswegen  der  Landvoigt  der  Wetterau  und  der 
kaiserliche  Schultheiss  zu  Frankfurt. 

Die  alte  Zugehörigkeit  zur  Wettereiba  und  deren  Huntare 
Niedgau  klingt  auch  in  einer  Formel  nach,  die  sich  noch  1 4 1 f* 
erhalten  hatte.  Der  Verurtheilte  welcher  Urphede  schwur, 
hatte  zu  geloben,  dass  er  sein  Lebtag  bei  20  Meilen  nahe 
Frankfurt  und  der  Wetterau  nicht  kommen,  gehn,  wandern  oder 
stehen  solle  noch  wolle.  Aber  schon  vorher  war  die  in  der 
Hand  des  Reichs  vereinigte  Richtergewalt  theilweise  an  den 
Herrn  von  Hanau  übergegangen,  woraus  langdauernde  Kämpfe 
hervorgingen.  Hier  sei  nur  noch  hervorgehoben,  dass  Urtheiler 
die  Vorsteher  der  19  Dorfe  waren,  die  „Zentgrafen  am  Soss“, 
ein  Beweis,  wie  das  Landgericht  aus  der  Zent  hervorgegangen. 

(Siehe  zur  Geschichte  des  Gerichts  Euler  in  den  Mit- 
theilungen des  Vereins  für  Geschichte  und  Alterthumskunde  in 


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376 

Frankfurt  a.  M.  I,  281;  Schärft',  die  Grafschaft  Bornheimer 
Berg  in  dem  Archiv  für  Frankfurts  Geschichte  und  Kunst 
V,  282—360). 

bau  Ltniilfferirht  Hrusr'ls, 

Zwischen  dem  Daisbach  und  der  Kriftel  lag  die  Mark  des 
Eichelbergs,  umfassend 

den  Hof  zu  Heute)«,  und  die  Orte  Nieder-Ober joabach,  Oberseelbach 
Fritzi«<  Mühl,  Ehlhalden,  Leuzetihain. 

Das  Landgericht  Heuseis  schloss  die  Mark  in  sich  und 
erstreckte  ihr  Gebiet  im  Osten  bis  an  den  Liederbach.  Die 
Malstätte  war  auf  freiem  Felde  beim  Hof  zu  Heuseis  nächst 
Vockenhausen  (zwischen  Eppstein  und  Nieder josbaeh). 

Das  lamdgericlit  umfasste  Eppstein  Schloss  und  Stadt,  Hof  Heuael» 
Hausen  an  der  Sonn.  Bremthal,  Vockenhausen,  Nieder-,  Ober-,  Josbaeh, 
Ehlhalten,  Wald-Kriftel,  Ruppertshain,  Fischbacli  am  Reiss,  Riidershof, 
Hornau,  Kolkheim  Hof  Oimbach.  Oberliederbach,  Lorsbach. 

Di?  ( iraf schaff  Ursel. 

Im  Jahre  792  als  pagus  Ursella,  848  Ursellare  marca 
(Oberursel)  bezeichnet,  war  sie  1271  die  grafschaft,  genannt 
ursele,  Nassau  Urkbuch  25,  61;  Hessen  Archiv  8,  240.  Viel- 
leicht fiel  die  Grafschaft  mit  der  Höhemark  in  ihrer  ursprüng- 
lichen Ausdehnung  zusammen.  Denn  Höhemark  heisst  die 
Mark  vor  der  Höhe,  die  sich  in  ihrer  ganzen  Ausdehnung 
vom  Rheingau  bis  zur  Nidda  erstreckte,  und  da  im  Westen 
das  Landgericht  Heuseis  austiess,  so  mag  von  dem  Liederbach 
bis  zur  Nidda  die  Höhemark  sich  erstreckt  und  mit  der  Mark 
oder  dem  Gau  Ursel,  dessen  Malstätte  Ursel  etwa  in  der 
Mitte  lag,  zusammengefallen  sein.  Von  dieser  ausgedehnten 
Höhenmark  wäre  dann  die  heut  zu  Tage  sogenannte  „hohe 
Mark“,  das  mittlere  sehr  beträchtliche  Stück. 

Zwischen  dem  Liederbach  und  der  Nidda  lagen  vor  der 
Höhe  fünf  Marken,  die  durch  Theilung  aus  einer  einzigen 
entstanden  sein  werden.  Es  sind  von  Westen  nach  Osten  die 
Cronberger  (mit  10  Orten),  die  hohe  Mark  (mit  33  — 37),  die 
Haard  (mit  3),  die  Seulberg  - Erlenbacher  (mit  7)  und  die 
Rodheimer  Mark  (mit  2 Orten).  Sie  reichten  von  dem  „Fluss 
oder  Wasserstrom  der  Nidda“  bis  zum  Feldberg  und  seiner 
nördlichen  Abdachuug  und  füllten  sammt  den  beiden  andern 


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377 


Zentschaften  die  Huntare  Niedgau  aus.  Sie  bestanden  bis  in 
dieses  Jahrhundert. 

(Thudichum  Rechtsgeschiehte  der  Wetterau  I l «2 — :ii4). 

2.  Kaichen. 

Die  Grafschaft  Kaichen,  12U3  coniecie  in  Kucliene  ge- 
nannt. war  wolil  eine  Mark  und  Zehntschaft  des  Grossgaus. 
Sie  bestand  aus  18,  Kaiser  und  Reieli  unmittelbar  unterworfenen 
Dörfern.  In  jedem  der  bedeutenderen  wählten  die  freien  Nach- 
geburen  (Nachbarn)  auf  ein  Jahr  einen  Dorfgrefen.  der  mit 
der  ganzen  Gemeinde  oder  in  einzelnen  Orten  mit  Schöffen  die 
niedere  Gerichtsbarkeit  ausübte.  Der  Zug  ging  an  das  freie 
Gericht  zu  Kaichen,  das  sich  als  ein  kaiserliches  unabhängig 
bis  zum  15.  Jahrhundert  erhielt,  wo  es  unter  die  Gewalt  der 
Burggrafen  von  Friedberg  kam.  Dingpflichlich  waren  die 
Besitzer  einer  Hufe  Landes,  die  durch  sieben  Wahlmänner 
einen  obersten  Grefen  wählten,  der  mit  zwölf  Urtheilstindern, 
den  Dorfgrefen  viermal  im  Jahre  tagte.  Das  Gericht  hatte 
den  Blutbann  und  war  zuständig  über  freies  Eigen.  Gegen 
seine  Entscheidungen  gab  es  keine  Berufung. 

(Thudichum  Geschichte  der  freien  Grafschaft  Kaichen.) 

3.  Büdingen. 

Der  Büdinger  Mark-  und  Gerichtswald  stand,  sei  es 
Huntaren-,  sei  es  Zehntmark,  in  der  Gemeinschaft  von  17 
Ortschaften  im  Gebiet  des  Seemenbachs  und  seiner  Zuflüsse, 
deren  jede  ausserdem  gesonderte  Dorfmarken  an  Acker.  Wiese, 
Weide  und  Wald  hatte.  Zwischen  einzelnen  bestand  Koppel- 
weide. 

Das  Gebiet  der  Mark  zerfiel,  seit  wann  ist  nicht  ersicht- 
lich, in  zwei  Gerichtsbezirke,  in  den  des  Gerichts  Büdingen 
mit  13  und  den  des  Gerichts  Wolfenborn  mit  4 Ortschaften. 
Ersteres  bestand  im  Mittelalter  (bei  Dingpflicht  aller  voll- 
jährigen Männer)  aus  zwölf  den  Dörfern  entnommenen  lebens- 
länglichen Schöffen  unter  dem  Vorsitz  des  herrschaftlichen 
(meist  Isenburgischen)  Amtmanns  und  hatte  die  hohe  Gerichts- 
barkeit. Oberhof  war  das  Stadtgericht  Frankfurt,  dann  das 
Reichskammergericht.  Jm  16.  Jahrhundert  trat  an  die  Stelle 


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das  isenburgische  Kanzlei-  und  Holgericht  und  den  Schöffen 
blieb  nur  die  Verkündigung  in  Strafsachen. 

Das  Gericht  Wolfenborn,  noch  im  13.  Jahrhundert  im 
Besitz  von  Kaiser  und  Reich  und  gleichfalls  wohl  mit  der 
hohen  Gerichtsbarkeit  ausgestattet,  wurde  ebenso  isenburgisch 
und  war  im  vorigen  Jahrhundert  nur  mit  geringen  Strafsachen 
befasst. 

Thudichuin  Rechtsgeschichte  der  Wetterau  I,  1 — 161). 

4.  Gründa. 

An  der  Gründauer  Mark,  auch  Gerichtswald  genannt, 
waren  s Orte  betheiligt,  denen  auch  die  Fischerei  in.  der  an- 
stossenden  Kinzig  zustand.  Die  Aufsicht  über  die  Mark  führten 
zwei  Märker.  Zwischen  einzelnen  der  Orte  bestand  Koppel- 
weide. 

Die  Markgemeinden  bildeten  das  Gericht  Grfindan,  judieium 
de  Grindaba,  seit  dem  13.  Jahrhundert-  erwähnt.  Es  bestand 
uuter  dem  damals  kaiserlichen,  später  landesherrlichen  Amt- 
mann oder  Schultheiss  aus  dem  Zehntgrafen  (centurio,  Zent- 
grave.  Czingrefe)  und  1 1 aus  den  Orten  gewählten  Schöffen 
(Schöpfen).  Der  Name  des  Zentgraven  lässt  die  Mark  auch 
als  eine  Zehntmark  erkennen.  Der  Galgen  bei  Xiedergrinda 
deutet  auf  die  hohe  Gerichtsbarkeit. 

In  einem  Privileg  von  14!I5  nennt  Kaiser  Maximilian  die 
isenburgischen  Gerichte  von  Büdingen,  Wolfenborn.  Grindau 
(und  jenseits  der  Kinzig  Selboldt)  die  „hohen  Gerichte“  und 
gestattet,  dass  die  „missthetige,  schedliche  oder  verdachten 
leuth  im  beywesen  zweier  schelten  des  gericht  zu  Büdingen 
befragt  und  durch  die  schellen  zu  Büdingen  in  ihrer  gewöhn- 
lichen ratstuben  abgeurthcilt  würden.“ 

Damit  fiel  der  Blut  bann  der  vier  alten  isenburgischen 
Gerichte  weg  und  wurde  dem  neuen  isenburgischen  Hof-  und 
Kanzleigericht  in  Büdingen  übertragen,  das  statt  auf  der  Mal- 
stätte nunmehr  in  der  Rathstube  verhandelte,  von  den  büdinger 
Schöffen  zwei  zur  Untersuchung  zuzog  und  ihrer  Gesammtzahl 
wohl  nur  die  Verkündung  des  hofgerichtlichen  Unheils  iiberliess. 

Ob  die  jenseit  der  Kinzig  gelegenen  Gerichte  Sclbold  (mit 
Merholz),  Altenhasla  und  Somborn  zur  Wettereiba  gehört,  und 
ob  sie,  wie  Thudichum  annimmt,  mit  dem  Gericht  Gründau 


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vor  dem  13.  oder  12.  Jahrhundert  ein  Ganzes  gebildet  haben, 
erscheint  zweifelhaft. 


5.  Kinziggau. 

Die  Wettereiba  überschritt  mit  ihrer  Huntare  Kinziggau 
die  Kinzig.  Auf  dem  linken  Ufer  lag  der  Grossgauort  Orb. 

1004  Praediiim  situm  in  pajjo  i|>nxlam  Wettereiba  Orbacha  'Orb  Kr. 
Gelnhausen.  In  dessen  Nahe  der  Kinziggau. 

»76  (juasdam  propiietatis  loca.  videlicet  Wertbeim  (Wirtheim,  Kr. 
Gelnhausen),  Cassele  (Kassel  das.).  Hosti  (Höchst  das.)  in  pago  Kinzecbewes. 
nötiger  1.  216,  217. 

Heber  die  weitere  Ausdehnung  der  Huntare  ist  Nichts  zu 
ersehen. 


6.  Die  Wälder  des  Vogelsgebirges. 

An  ihnen  beanspruchten,  nachdem  die  Ritter  von  Riedesel 
sie  im  ltt.  und  17.  Jahrhundert  als  ihr  Eigenthum  in  Besitz 
genommen  hatten,  die  umliegenden  Ortschaften,  wie  von  Alters 
her,  umfangreiche  Holzberechtigungen  gegen  ein  geringes 
Forstgeld  und  die  Schweinemast.  Sie  waren  zu  Zenten  oder 
Gerichten  gruppirt:  Moos  (mit  10  Orten),  Schlechtenwegen 
(mit  s).  Engelrod  (mit  10),  Lauterbach  (mit  8),  Oberohmen 
i mit  7 Orten)  und  kleineren:  Stockhausen,  Landenhausen  und 
Freiensteinau.  Die  Rechte  wurden  geschmälert  und  bestritten, 
bis  1843  ein  Vergleich  geschlossen  wurde,  wonach  der  Bezug 
des  Jahresholzes  als  „ein  auf  dem  hus  ruhendes  dingliches 
Recht“  anerkannt  wurde.  Das  Bauernhaus  bezog  nun  2 Klafter, 
das  Hintersiedlerhaus  l\4  Klafter  Brennholz,  das  Forstgeld 
wurde  für  das  Klafter  Buchenholz  auf  2 FI.  4ö  Kr.  festgesetzt. 

(Zu  No.  4 — G Thudichum  Rechtsgeschichte  der  Wetterau  II). 


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Sechzehntes  Kapitel. 

Das  Grabfeld. 

Das  Grabfeld  ist  der  zweite  Grossgau,  welcher  in  dem 
alten  Gau  der  Bucinobanten,  der  spätem  Buclionia  lag.  Es 
ist  uns  dreigetheilt  überliefert:  das  westliche  Grabfeld,  das 
östliche  Grabfeld  und  das  Tollifeld  haben  theils  nach  dem 
Namen,  theils  nach  ihrer  geographischen  Lage  ursprünglich 
ein  Ganzes,  einen  Grossgau  gebildet,  der  dann  in  die  drei 
Theile,  in  drei  Theilgaugrafschaften  zerfallen  ist.  Das  west- 
liche und  östliche  Grabfeld  heissen  pagus  Grapfeld  oder  Grap- 
felda, Grabfelde  oder  Graffelde. 

Das  Grabfeld  dehnte  sich  um  die  Wasserscheide  zwischen 
der  Weser  und  dem  Main  aus.  Die  Rhön,  die  Hassberge, 
die  Gleichberge,  die  westliche  und  südliche  Abdachung  des 
Thüringer  Waldes  waren  seine  Gebirge,  die  obere  Fulda  von 
der  Quelle  bei  Gersfeld  bis  Hersfeld  abwärts,  die  obere  Werra 
von  dem  Ursprung  bei  Eisfeld  über  Hildburghausen,  gegen 
Schleusingen.  Meiningen,  Wasungen  bis  gegen  Schmalkalden 
einerseits,  die  obere  Kinzig  bis  Steinau  abwärts,  die 
obere  Saale  bis  Kissingen  (eingeschlossen)  abwärts,  die 
Baunach,  Rodacli  (mit  Kreck),  Itz,  Steinach,  alle  mit  Aus- 
nahme der  Kreck  in  ihren  Oberläufen,  andererseits  waren 
seine  Flüsse.  Der  Name  Grabfeld  hat  sich  in  der  Umgebung 
von  Mellrichstadt  und  Römhild  bis  auf  den  heutigen  Tag 
erhalten. 


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3«1 


Tlicllgauirrafschaftoii. 

1.  Das  westliche  Grabfeld. 

Es  umfasste  die  obere  Kinzig,  die  Fulda  (im  t^uellgebiet 
an  beiden  Ufern,  weiter  abwärts  das  rechte  Ufer)  mit  der 
Fliede  und  der  linken  Ulster  und  reichte  im  Osten  bis  zur 
Rhön. 

Theilgauorte  waren 
Uuterfranken:  Muttau; 

Kr.  Schlüchtern:  Uttrichhausen,  Oberkallbaeh.  Steinau; 

Kr.  Gersfeld:  Wirkers; 

Kr.  Kulda : Fulda.  Dittershausen.  Friesenbauseu ; 

Kr.  Htinfeld:  Hiinfeld,  Kusdorf,  Grosseutaft,  Eiterfeld.  Soisdorf, 

Giesenhain; 

Kr.  Hersfehl.  Herfa. 


•2.  Tollifeld. 

Der  pagus  Tollifeld  (Tollifeldum),  auch  Tullifeld,  schloss 
sicli  im  Nordosten  an  das  westliche  Grabfeld  an.  Er  umfasste 
die  Wasserläufe  der  oberen  Fulda  und  oberen  Rosa. 

Theilgauorte : 

Unterfrankeu : Simmershausen,  Wendershausen; 

Weimar:  Kaltensundheim,  Kaltennordheim,  Fischbach,  Wieseuthal; 

Meiningen:  Kaltenlengsfeld,  Rossdorf. 

3.  Das  östliche  Grabfeld. 

Es  wird  ausdrücklich  als  Grabfeld  orientalis  und  neben 
pagus  auch  als  provincia  bezeichnet.  Es  schloss  im  Westen  an 
Tollifeld  und  das  westliche  Grabfeld  an  und  umfasste,  was  (ab- 
gesehn  von  der  Kinzig)  dem  Main  und  der  Werra  tributär  ist. 

Theilgauorte : 

Weimar:  Stetten.  Ostheim  vor  der  Rhön; 

Unterfranken:  Deubach,  Fladungen,  Xordheitn.  Stockholm,  Mellrichstadt. 
Oberwaldliehrungen,  Sondbeim,  Oberstreu.  Heuduugen,  Hahra,  Oberellbach, 
Wegfurt,  Hohenroth,  Salz,  MUnrierstadt , Grossweukheiin,  Kissiugeu, 
Waldaschach,  Kothhausen,  Irmelshausen,  Waltershauseu,  Wülfershausen. 
Saal,  Ottelmannshausen,  Grosseibstadt.  Königshofen,  Alslcben,  Melkers- 
hausen,  Urossbardorf,  Hirkenfeld ; 

Kr.  Schmalkalden:  Hessles; 

Weimar:  U eimershausen; 

Meiningen:  Helmers,  (irumbach,  .Schwallungen.  Wasungen,  Oberkatz, 
Solz,  Walldorf,  llerpf,  Meiningen,  Sulzfeld,  Bauerbach.  Untermassfeld,  Ein- 


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382 


hausen,  Behlried,  Marisfeld,  T.engsfcld.  Themar,  Jüchsen.  Bibra, 
Troststadt,  Dingsleben,  Behrungen.  Westhausen,  Hcldburg, 
Brünn,  Neubrnnn,  Effelder.  Mupperg; 

('«bürg:  Steinach; 

Kr.  Scbleusingeu:  Vessr«,  Ahlstädt,  Altendambach.  E 
Wichhausen,  Kohr,  Kühnhansen; 

Coburg:  Zella.  Mehlis. 

Eine  Huntair  des  östliclien  Grabfeldes  ist 
Parhii/i-v.  wohl  mit  der  Malstadt  Baringe. 

7 SU  In  pngo  Paringen  et  in  villis  istis  Sundheim  et  in  No 
Fladungen ; 

Ohne  Datum  In  ürapfelde  et  in  villa  Baringe. 

HuDt&renorte: 

Meiningen:  Behningen; 

Unterfranken:  Fladungen,  Nordheim; 

Weimar:  Sondheim  vor  der  Rhön. 

Der  dritte  Grösst/«/»  des  alten  Badnobant  und  dei 
war  der  Suutei/uit.  der  unterhalb  Kissingen  das  Saa 
Umgebungen  ausftillte.  Er  war  burgundionisch,  wen 
Grenzort  Kissingen  als  die  Salzquellen  ansehn  kann, 
die  Alamannen  und  Burgundionen  stritten.  (S.  *2ö. 


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Siebenzehntes  Kapitel. 

Der  Kleingern. 

Der  Gross-Rheingau,  zur  Unterscheidung  von  der  Huutare 
Rlieingau  (dem  Niederrheingau)  auch  der  obere  genannt, 
1013  superior  Rijiicgowe,  in  alter  Zeit  der  Gau  des  Königs 
Suomar  (S.  72),  lag  in  dem  Winkel  des  rechten  Rhein  und 
des  linken  Main.  Ihm  entsprach  der  Mainzer  Archidiakouat 
St.  Victor.  Die  südlichsten  Gauorte  am  Rhein  waren  Bürstadt 
und  Hemsbach,  der  östlichste  am  Main  Schwanheim,  die  Grenze 
reicht  aber  dort  bis  an  Lampertheim,  liier  bis  an  Ottenbach 
heran.  Bis  zu  diesen  Endpunkten  nahm  der  Rheingau  die 
Rhein-  und  die  Mainebene  ein  und  drang  von  Westen  und 
Norden  in  den  Odenwald  ein,  ihn  soweit  besiedelnd,  als  seine 
Bäche  dem  Rhein  zufliessen.  Der  Melibocus  und  Felsberg  und 
ihre  Abdachung  zum  Rhein  sind  rheingauisch  und  es  sei  von 
den  Flüssen  hier  nur  die  Weschnitz  genannt,  die  bei  Weinheim 
in  die  Rheinebene  tritt.  Das  Gebiet  der  in  den  Main  sich  er- 
giessenden,  der  Gersprenz,  der  Mümling,  der  Bieber,  ist  main- 
gauisch. 

Im  Kheingau  sind  Gauorte : 

Kr.  Grossgerau:  ßischofsheim,  Geinsheim . Dornheim.  Leeheim.  Er- 

felden, Goddelau.  Gernsheim ; 

Kr.  Offenbach:  bangen,  BUrgel; 

Kr.  Darmstadt:  Eberstadt,  Pfungstadt; 

Kr.  Bensheim:  Seeheim.  Bickenbach,  Bensheim,  Schwall  heim,  Hausen, 
Rohrheim  (Gross- Klein-;,  Bobstadt,  Hofheim,  Wattenheiin,  Bürstadt; 

Kr.  Heppenheim:  Heppenheim.  Fürth,  Liebersbach; 

B.  A.  Weinheim:  Hemsbach. 


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384 


lliintaren  und  Zelintschaftrii. 

1.  Die  Mark  und  Zent  Gerau. 

Die  .Mark  umfasste  nach  dem  Markweisthum 
sechszehn  Orte  (zwischen  Grossgerau  und  Arheiligei 
der  Ebene  angehörten.  Das  gemeine  Märkergoding 
gewonlicher  Zeit  abgehalten.  Der  Märker,  der  nicl 
zahlte  Strafe  und  sollte  sein  Markrecht  verlieren,  e 
dass  er  „Ehehaften  und  nottringlich  Ursachen“  dem  St 
vorher  angezeigt  hatte.  Der  Graf  von  Katzenelle 
Obermärker  bestellte  die  Mark. 

Die  Mark  und  die  Zent  Gerau  werden  in  alte 
räumlich  gedeckt  haben.  Nach  dem  Zentweisthum  G 
das  Landgericht,  dessen  oberster  Herr  und  Vogt  de 
von  Hessen  war,  und  dessen  Beisitzer  nach  rheiuga 
Bergschäden  hiessen,  die  hohe  Gerichtsbarkeit  (Grin 
4H4,  V,  7 17). 

•2.  Das  Zcntgericht  zu  Oberramstadi 

„So  weyt  dies  landtgericht  gehet,  über  halss 
aber  wasser  und  weydt,  von  Newkirclien  (Neunkii 
biss  gehn  Stoxstatt  (Stockstadt)  ein  messcrode  (eine 
in  lthein,  also  weyt  der  ring  dieser  zenth  gehet.“  ( 
Malstätte  war  der  Landberg  bei  Oberramstadt,  der  o 
und  Herr  der  Gral  zu  Katzenellcnbogcn,  die  Schöf 
Bergscheffeil  (Grimm  1,  4S4). 

3.  Die  Mark  und  Zent  Heppenheim 

Die  Mark  Heppenheim  wurde  als  von  Alters  hei 
bezeichnet,  als  sie  773  der  Abtei  Lorsch  geschei 
descriptio  uiarchae  sive  terminns  sylvae,  quae  ] 
Hephenheim,  sicut  semper  ex  tempore  antiquo  snb 
regibus  ad  eandem  villaui  tenebatur.  Sie  mag  urspri 
Zwingenberg  ab  in  der  Kheiuebene  und  dem  Od« 
gesammten  Süden  des  Kheingaus  eingenommen  habei 
Huntare  und  Huntarenmark  gewesen  sein.  Die  \ 
‘ >rte  grnppirten  sich  um  die  Lauter,  den  Stadtbach,  die 


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385 


die  an  der  Bergstrasse  bei  Bensheim,  Heppenheim,  Weinheim 
ans  dem  Gebirge  in  die  Ebene  treten.  (Weinheim  gehörte 
bereits  dem  Lobdengau  an). 

Das  Weisthum  von  1430  zeigt  die  Mark  als  Zent.  Zent- 
volk  und  Zent-  oder  Bergschöfl'en  versammelten  sich  auf  der 
Malstätte  des  Landberges  bei  Heppenheim,  um  als  Landtag 
die  hohe  Gerichtsbarkeit  zu  üben.  Den  Vorsitz  führte  ein 
herrschaftlicher  Amtmann.  Seit  dem  16.  Jahrhundert  scheinen 
7 Schöffen  aus  dem  Rath  zu  Heppenheim,  7 aus  dem  zu 
Bensheim  genommen  zu  sein,  auch  pflegte  der  Schultheiss  und 
Stadtschreiber  von  Heppenheim  Zentgraf  und  Zentschreiber  zu 
sein.  Die  niedere  Gerichtsbarkeit  stand  den  einzelnen  Laudes- 
herrschaften zu,  die  an  der  Mark  betheiligt  waren.  Thudichum 
führt  33  Orte  unter  vier  Herrschaften  auf  (Grimm  I 469). 
Auch  Zwingenberg  war,  wie  dessen  Weisthum  ergiebt  zu 
früherer  Zeit  „gen  Heppenheim  centhbar  gewesen“. 

4.  5.  Die  Zenten  Zwingenberg  und  Pfungstadt. 

Später  aber  lagen  zwischen  den  Marken  Heppenheim  und 
Oberramstadt  die  Zenten  Zwingenberg  und  Pfungstadt,  beide, 
wie  es  scheint,  Dorfmarken,  die  mit  hoher  Gerichtsbarkeit 
ausgestattet  waren.  In  beiden  war  der  Landgraf  zu  Hessen 
der  Gerichtsherr.  Er  hatte  in  der  Zwingenberger  „centh 
oberste  herrschaft  und  gebott  über  hals  und  über  liaupt,  über 
leib  und  leben,  über  ehr  und  glimpff  und  über  alle  centhbaren 
sacheu,  auch  gebot  und  verbot  zu  machen,  hoch  und  nieder,  über 
wasser  und  weyd“  u.  s.  w.  Auch  der  centhgraf  und  die  centh- 
und  laudschöpffen  werden  erwähnt.  Aehnlich  in  der  „cent  und 
landgericht  Pfungstadt“.  Hier  gab  es  einen  centhgrafen,  berg- 
schöffen  und  centhbüttel  (Grimm  I,  477,  483;  Thudichum 
Rechtsgeschichte  der  Wetterau  I,  322). 


Gramer,  Ocachichto  der  Alamannen. 


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Achtzehntes  Kapitel. 

Der  Htaingcm. 

Der  Gross- Maingau  umfasste  das  Gebiet  des 
Offenbach  bis  Lohr,  auf  der  einen  Seite  den  üstlicl 
wald,  auf  der  auderen  den  Spessart;  genauer  den  < 
soweit  dessen  Bäche  (Biber,  Gersprenz,  Mümling)  z 
den  Spessart,  soweit  dessen  Gewässer  nach  Westen 
fliessen.  Hier  waren  Mespelbrunn,  Wintersbach,  Kr 
maingauisch;  auch  Dorf-  und  Stadt-Prozelten.  Die  A 
des  Spessart  gegen  die  südöstlichen  Alainecke  (Wert 
Rothenfels)  mit  den  Orten  Hasslach,  Breitenbruni 
bäum,  Bischbrunn,  Lindenfurt  gehörten  dagegen  de 
sassengau  an.  Im  Korden  bildete  die  Kinzig  di« 
soweit  nicht  der  Kinziggau  der  Gross -Wettereiba 
deren  linkem  Ufer  erstreckte  (S.  379). 

Dem  Maingau  entsprach  der  Mainzer  Archidia 
Peter  und  Alexander  zu  Aschaffenburg,  und  nach  d 
zirk  ist  der  Gauumfang  näher  festzustellen,  da  die 
nicht  sehr  zahlreich  sind. 

Uftuortü : 

Kr.  Offenbach:  Dörnigheim.  Kleinnuheiin,  Seligenstadt,  Ma 

Kr.  Dartiistadt:  Messel; 

Kr.  Dieburg:  Roden  (Ober-,  Nieder-).  Umstadt,  Grossbiebe 

Kr.  Bensbeim:  Schlierbach; 

Kr  Ate  baffe  u bürg:  Aschaffenburg. 


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387 


Huntaren  und  Zehnt  schäften. 

1.  Pliluuigau. 

Die  Hnntare,  welche  ihren  Namen  von  dem  Pflaumbach  er- 
hielt, der  gegenüber  von  Aschaftenburg  in  den  Main  sieh  er- 
giesst,  lag  am  linken  Ufer,  der  Odenwaldseite  des  Main.  Der 
Phlumgau  erstreckte  sich  aber  auch  zur  Mümling,  ein  Beweis, 
wie  die  Ansiedlung  von  der  Mainebene  in  das  Gebirge  vordrang. 

S.  Jahrhundert.  In  pago  I’hlumgowe  in  Villa  Roden  (in  der  Zent 
Ostheim) ; 

795.  In  villa  Bibincbeim  (Biebigheim  in  der  Gemarkung  Wcnigen- 
umjladt)  in  pago  Phlumgowe; 

819.  Miehlenstadt  .Michelstadt)  in  pago  I'lumgowe; 

H20.  Qninticha  (König)  in  pago  I’lumgowe ; 

Die  beiden  ersten  Orte  im  Gebiet  des  l’Haunibach,  die  beiden  letzteren 
in  dem  der  Mümling. 

Als  eine  Zehntschaft  im  Südwesten  des  Phlumgaus  ist  die 
Bodauteiner  Mark  zu  betrachten,  die  unter  dem  Herrn  zu 
Rodenstein  als  Obermärker  das  Gebiet  zwischen  der  linken 
Gersprenz  von  Krumbach  bis  Wersau  abwärts  und  dem  Fels- 
berg (bei  Beedenkirchen)  in  sechs  Flecken  und  den  Neben- 
orten ausmachte.  Nach  dem  Weisthum  von  1457  stand  dem 
Märker  am  Wald  Bauholz,  vier  Wagenpferd  Brennholz  („und 
wann  er  das  verbrennt,  mag  er  mehr  holen“)  und  Windfall 
u.  s.  w.  zu,  die  Weide  war  zwischen  den  Gemeinden  gethcilt. 
Das  Märkergeding  und  Gericht  wurde  unter  dem  Vorsitz  des 
Zentgrafen  zu  Kodenstein  uff  der  Ebberbach  abgehalten. 
(Grimm  IV,  537). 

Im  9. —11.  Jahrhundert  erfolgte  eine  Theilung  des  Phlum- 
gaus, der  südliche  Theil  behielt  den  Namen  Phlumgau,  der 
nördliche  nahm  den  Namen 

2.  Bachgau 

an  und  wurde  die  Grafschaft  Bachgau. 

11.  Jahrhundert.  Unam  hobam  in  pago  Baggetve  in  comitatu  Sigfridi 
in  Osthemero  marca  (Ostheimer  Mark); 

11.  Jahrhundert.  In  pago  Pachgowen  in  Bibiukeiin  (Biebigheim); 

1381.  Hot  zu  Hausen  bei  Rödern  (wo?)  im  liachgau; 

1267.  In  Bachgowe  in  villia  Plumheim  (I’Haumheim),  Rode  (beide  in 
der  Zent  Ostheim),  Slirbach  (Schlierbach)  et  in  Langestat  (Laugenstadt; 
beide  im  15.  Jahrhundert  in  der  Zent  Umstadt). 

25* 


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388 

Der  Baehgau  setzte  sich  hiernach  aus  den  Zen 
heim  und  Umstadt  zusammen,  welche  ursprünglich  Zehnt 
gewesen  sein  mögen. 

Zu  der  Zent  und  Grafschaft  Ostheim  gehörten  la 
thurn  von  1623  sechszehn  Orte,  über  welche  das  La 
(Zentgraf  und  wahrscheinlich  12  Landscheffen)  mit  der  1 
„under  dem  spielhuse  zu  Ostheim“  die  hohe  Gericl: 
ausübto.  In  den  einzelnen  Orten  gab  es  auch  Dorff-  u 
gericht  (wie  im  Niederrheingau  S.  362),  in  denen  dt 
graff  von  Ostheim,  gewicht,  eitlen  und  maas“  besichtigt 

Die  Zent  Umstadt  umfasste  im  15.  Jahrhundert  si 
zwanzig  Orte:  über  das  Zcntvolk  war  das  Landgt 
Umstadt  auch  für  höhere  Gerichtsbarkeit  zuständig- 

3.  Rodgau. 

Die  Huntare  ist  zwar  nicht  urkundlich  überliefert, 
ihren  Namen  auf  ein  Landkapitel  Rodgau  übertragen, 
linken  Hain  sich  von  Bürgel  bis  Aschaffenburg  ei 
Der  Name  hat  sich  in  der  volkstümlichen  Form  Ru 
die  Mark  von  Roden  erhalten,  welche  sammt  den  Ma 
Bieber  und  Auluim,  der  Obermark,  der  Mark  von  Bai 
das  Landkapitel  Rodgau  ausfüllten.  Diese  Marken  u 
wohl  die  Mark  von  Dieburg  wird  man  als  Zehntma 
Huntare  Rodgau  ansehen  können. 

Die  Mark  von  Bieber,  uuch  Bibraner  Mark,  Byg 
umfasste  um  die  Büche  Bieber  ( Bybra)  und  Rodau  (1 
Orte  Heusenstamm,  Bieber,  Offen baclt,  Bürgel,  Run 
Mühlheim,  Rembrücken,  Obersthausen,  Hausen,  Län 
Dietesheim.  Nach  dem  Weisthum  von  1385  war  „wai 
uud  weide  den  merkern  zu  rechtlichem  eigen,  und  hat 
nymaud  zu  leiten,  weder  von  konige  odir  von  keysc 
von  bürgern  oder  von  steden,  dann  sie  ihr  recht  t 
Auch  die  Bybra  die  baclt  als  fry  ist,  das  ein  iglic 
drin  mag  geen  tischen  u.  s.  w.“ 

„Eyn  igliclter  gewertet-  man,  der  gewert  wil  sin, 
han  32  morgen  wesen  und  eckir,  eine  hobestad  nn 
hobstad  mag  er  bauwen  ltush  und  schüren,  bachuslt,  g 
einen  wenschopp,  obe  er  iz  bedarff,  und  mag  sinen 
freden  (einfriedigen)  uss  der  marg.“  „In  siute  hole 


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389 


han  32  schafe“  und  sal  die  tryben  vor  sinen  rechten  jares- 
hirten“  (Gemeindehirten).  „Kein  man  sal  keine  sunderunge 
han  mit  keime  liirte.“ 

Das  Märkerding  wurde  am  Dienstag  nach  dem  18.  Tage 
(von  der  Ladung  an)  abgehalten  „und  ist  als  fry,  da*  nymande 
dar  geboden  ist“  (Niemand  verpflichtet  ist,  zu  erscheinen). 
Zur  Beschlussfassung  reichte  die  Anwesenheit  von  drei  Märkern 
aus.  „Auf  den  tag  sal  man  meister  und  foyd  kysen“  (Märker- 
meister und  der  Vogt,  Obermärker).  „Wir  wysen  myn  herren 
von  Falkenstein  vur  einen  rechten  gekaren  (gekorenen)  foyd, 
nit  vor  einen  geboren  foyd;  die  wile  das  er  den  merkern  recht 
und  ebin  tut,  so  han  sie  in  lieb  und  wert;  dede  er  abir  den 
merkern  nit  recht  und  ebin,  sie  mochten  einen  andern  setzen.“ 

„Der  merker-sclieffin  sollen  sin  zwölf  off  diss  stule  zu  Bebra 
(der  Schöffenstuhl  zu  Bieber  bestand  aus  12  Markschöffen). 
Zwene  sollen  sin  von  Ofenbach  und  us  ydem  dorffe  einre,  ane 
uss  Kymprucken,  die  sollen  der  merket-  recht  wysen“.  Sie 
hatten  auch  über  die  Rügen  zu  entscheiden  (Weisthum  von 
1385.  Grimm  I,  512). 

Die  Aulieimtr  Mark  hatte  fünf  Markdörfer,  die  Obtrmark 
drei  (Zellhausen,  Mainflingen  und  Klein -Welzheim). 

Die  Bäder  Mark  und  Zent  (der  „Ruggau“)  bestand  aus  acht 
Dörfern.  Obermärker  waren  der  Erzbischof  von  Mainz  und  der  Herr 
von  Hanau.  Das  Märkerding  wurde  in  Oberroden  abgehalten;  acht 
Märkerschöffen  setzten  viermal  im  Jahre  die  Bussen  an.  Das 
Landgericht,  dessen  Gerichtsherr  der  Erzbischof  von  Mainz 
war,  dingte  auf  der  Malstätte  zu  Niederroden.  Hier  erkannten 
Zentgraf  und  14  „Landschöffen  und  Rechtwyser“  auch  Uber 
Haupt  und  Hals.  In  beiden  Gerichten  waren  die  Schöffen 
nach  bestimmten  Ziffern  aus  den  einzelnen  Dörfern  gezogen. 
(Weisthümer  von  1430  und  aus  dem  16.  Jahrhundert,  Grimm 
IV,  542—547). 

Die  8 Dörfer  der  Mark  Babenhamen  und  die  8 der  Röder 
Mark  standen  in  gegenseitiger  Weidegemeinschaft,  ein  Beweis 
für  ursprüngliche  Zusammengehörigkeit  der  Marken.  (Weisthum 
von  1355,  Grimm  IV  547). 

An  der  Didmrger  Mark  hatten  14  Dörfer  Theil.  Oberster 
Märker  war  der  Erzbischof  von  Mainz.  Das  Märkerding  tagte 
„vor  der  mulen  zu  Stockauwe  an  der  Zymmern  Strassen  vor 


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300 


der  stad  zn  Dicppui  g,  da  ytzunt  die  inerkerstulle  (Mär 
stent“,  und  es  wurde  das  Recht  gewiesen,  und  „umb 
nutzbarkeit  willen  der  marcken,  die  zu  bestellen,  ii 
halten,  als  ir  dann  wole  noit  were.“  (Weisthum 
Grimm  IV,  533). 

4.  Vom  rechten  Ufer  des  Main  sind  Huntaren  n 
liefert.  Hier  sind  aber  nördlich  vor  Aschaffenburg  z 
gerichte  mit  Zentgrafen  und  Schelfen  zu  bemerken. 

Das  Freigericht  vor  dem  fierg  zu  Alzenau,  auch 
gericht  Welmitzheim  oder  das  Gericht  Sonneborn  gei 
vierzehn  Orten  und  das 

Landgericht  Krumhach  (Weisthum  von  14U6,  Gri 

(Siehe  Thudichuni,  Rechtsgeschichte  der  Wc 
S.  324  — 330). 


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Neunzehntes  Kapitel. 

Der  Cobdengau. 

Der  Lobdengau  umfasste  die  Rheinebene  um  den  unteren 
Neckar  und  anstossende  Theile  des  Odenwalds,  im  Norden  bis 
Lampertheim  und  Weinheim,  im  Süden  bis  zum  Leimbach. 
Nach  der  Hauptstadt  Lopodunum  (Ladenburg)  der  civitas  Ulpia 
Sueborum  Nicretum  genannt,  ist  er  als  Sitz  der  Neckarsueben 
anzusehen:  im  4.  Jahrhundert  war  Suomar  der  König  des  Gaus 
(S.  254,  72). 

Gauorte: 

BA.  Weinlieim:  Weinheim.  Gromachsen.  Heddesheim; 

BA.  Heidelberg:  Dossenheim,  Schwabenbeiiuer  Hof,  Haudschuchsheim, 
Wieblingen,  Eppelheim.  Heidelberg.  Bergheim,  Gretizliol'.  Iiohrhach; 

BA.  Mannheim:  Fendenheim,  Wallstadt.  Schaarhof,  Ilvesheim.  laiden- 
borg.  Schriesheim.  Mannheim,  Seckenheim,  N'eckarhausen; 

BA.  Schwetzingen:  Elingen.  I’lankstadt,  Schwetzingen,  Oftersheim; 

BA.  Wiesloch:  Xassloch,  Walddorf.  Wiesloch.  Dielheim,  Baicrthal, 
Hohenharter  Hof. 

Der  Lobdengau  zerfiel  in  zwei  Zehntschaften.  Am  rechten 
Neckar  lag  die  Schriesheimer  Zent  von  20  Orten  mit  grossem 
Zentwald  im  Odenwald.  Das  Zentgcricht  wurde  in  Gross- 
sachsen, später  in  Schriesheim  abgehalten.  Mannheim  und 
Edingen  wurden  durch  den  veränderten  Lauf  des  Rhein  und 
Neckar  von  der  Zent  losgerissen.  Weinheim,  Schönau,  Laden- 
bürg  standen  im  Mittelalter  ausserhalb  der  Zentgemeinschaft. 
Am  linken  Neckar  lag  die  Kirchheimer  Zent  von  ist  Orten  mit 
der  Malstätte  Kirchkeim,  später  Leimen.  Heidelberg,  Mann- 
heim, Wiesloch  waren  ansgeschieden.  Beide  Zentgeriehte  hatten 
Zentschultheiss  und  aus  den  einzelnen  Orten  genommene  Zent- 
schöffen.  — 

(Siehe  Schultze,  Fränkische  Gaue.  Badens,  S.  7tt— 84). 


392 


Ob  der  Lobdengau  jemals  mit  dem  Gross-Rheingau  oder 
dem  Gross-Kraichgau  eins  gewesen,  ist  nicht  ersichtlich.  Es 
scheint  aber,  dass  er  zur  Zeit  der  Bisthumsgriindungen  in  dem 
politischen  Zusammenhang  etwa  einer  umfassenden  Grafschaft 
mit  den  benachbarten  H untaren  Elsenzgau  und  Gardachgau 
gestanden  habe,  welche  ursprünglich,  wie  die  Urkunden  er- 
weisen, zum  Gross-Neckargau  gehörten.  Denn  die  drei  Verbände 
waren  die  einzigen  auf  dem  rechten  Rheinnfer,  welche  dem 
Bisthum  Worms  einverleibt  wurden.  (Siehe  über  den  Elsenz- 
und  den  Gardachgau  Kapitel  21).  Man  mag  die  drei  Gaue 
daher  einem  der  alten  Grossgaue  gleichstellen. 


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Zwanzigstes  Kapitel. 


Der  KraicVigau. 

Das  Bisthum  Speyer  hatte  am  rechten  Rhein  drei  Archi- 
diaknnate  des  heiligen  German,  des  heiligen  Guido  und  der 
heiligen  Dreieinigkeit.  Sie  wurden  begrenzt:  im  Westen  vom 
Rhein  (südlich  von  Schwetzingen  his  zur  Stammesgrenze  von 
496),  im  Süden  von  dieser  bis  zum  Neckar  (S.  266,  z 6 7 ),  im 
Osten  vom  linken  Neckar  (gegen  Ludwigsburg  bis  zum  Einfluss 
des  Leinbach  bei  Neckargartach),  im  Norden  etwa  von  dem 
Leinbach  und  dem  Gebiet  des  Kraichbachs.  Nur  ein  Land- 
kapitel, das  von  Backnang  überschritt  den  Neckar,  den  Murr- 
fluss aufwärts  zum  Murrhardter  Wald  verfolgend. 

Dieser  speyerische  Besitz  entsprach  etwa  dein  Umfang 
eines  Grossgaus,  es  befanden  sich  aber  in  ihm  nicht  weniger 
als  elf  politische  Verbände,  welche  den  Namen  Gau  führten, 
unter  denen  der  Name  des  Grossgaus  nicht  ohne  Weiteres  zu 
erkennen  ist.  Es  ist  jedoch  der  Name  Kraichgau.  wie  sich 
als  wahrscheinlich  ergeben  wird.  Dieser  setzte  vielleicht  den 
Namen  der  Karitner  des  Ptolemäus  (S.  s)  fort,  er  war  der 
grösste  der  10  Gaue  und  sein  Name  lebt  im  Munde  des  Volkes 
weiter,  während  sich  im  Uebrigen  nur  der  Name  des  kleineren 
Zabergau  erhalten  hat.  Der  Grossgau  war  zur  Zeit  der  Römer- 
Kämpfe  gegen  den  Cäsar  Julian  dem  König  Serapio  unter- 
than  (S.  71). 

Uaaorte  des  Kraichgau  waren: 

BA.  Sinsheim:  Eschelbronn,  Weiler,  llirkeimuerliof : 

BA.  Eppingcn:  Adelshofen,  Kppingcn.  Landshansen,  Tiefctibach; 

BA.  Bruchsal:  Bruchsal,  Forst,  < liier-,  Untergrombach,  Heidelsheim, 
Jäklingen,  Mingolshoim.  MUnzesheitu.  Oberöwisheim,  Odeiiliviiu.  < lestnugeri, 
tbstadt.  Zeutcrn; 


304 


ISA . Breiten : Bahnbrücken,  Bauerbach,  Flehingen,  Gochsheiia,  Gondel«- 
heim,  Kirnbach,  Menzingen,  Neibsheim,  Rettigheim,  Rinklingen,  Sickingen, 
Wössingen ; 

OA.  Maulbronn:  Eckertsweiler  Hof,  Oetisheiin.  Schiitzingen. 

Yon  diesen  Orten  werden  folgende  zugleich  in  den  An- 
glachgau, Uffgau  und  Enzgau  gesetzt,  und  zwar  in  den  An- 
glachgau  Heidelsheim  und  Mingolsheim  (BA.  Bruchsal),  in  den 
Uffgau  Oberöwisheim  (BA.  Bruchsal),  in  den  Enzgau  Oetisheim 
(OA.  Maulbronn),  Helmsheim  und  Ubstadt  (BA.  Bruchsal). 
Diese  weite  Ausdehnung  der  Kraichgaunamen  über  drei 
andere  Gaue  gestattet,  den  Kraichgau  als  den  Grossgau, 
die  drei  anderen  und  weitere  Verbände  als  dessen  Huntaren 
anzusehen. 


II  u n t are n. 

Diese  sind  der  Anglach-,  Alb-,  Uff-,  Pfinz-,  Würm-, 
Glems-,  Enz-,  Schmie-  und  Zaber-Gau  zwischen  Rhein 
und  Neckar  und  der  Murrgau  an  beiden  Seiten  des  Neckar. 

Ihre  Lage  wird  im  Allgemeinen  durch  die  Flüsse  be- 
zeichnet, nach  denen  sie  genannt  sind.  Eine  Ausnahme  macht 
nur  der  Uffgau,  der  um  Baden-Baden  und  Rastatt,  und  der 
Anglachgau,  der  um  den  Kraichbach  und  Saalbach  lag. 

Abgesehen  von  dem  Anglach-,  Uff-,  und  Enz-Gau,  haben 
auch  die  übrigen  Huntaren  durch  gemeinsame  Orte  iu  Ver- 
bindung gestanden,  so  dass  man  wohl  Theilungen  der  Huntaren 
annehmen  kann,  dergestalt,  dass  derselbe  Ort  einmal  nach  der 
ungeteilten  Huntare,  das  andere  Mal  nach  dem  Theil  der 
neuen  Huntare  bezeichnet  wurde.  So  wird  z.  B.  Gemmiugen 
(BA.  Eppingen)  einmal  zum  Anglachgau,  ein  andermal  zum 
Enzgau  gerechnet,  Lienzingen  (OA.  Maulbronn)  zum  Enzgau 
wie  zum  Schmiegau;  Berghausen  (BA.  Durlacb)  zum  Albgau 
wie  zum  Pfinzgau,  Knielingen  und  das  Kloster  Gottesau  (BA. 
Carlsruhe)  zum  Albgau  wie  zum  Uffgau,  Bünniglieim  (OA. 
Besigheim)  zum  Murrgau  wie  zum  Zabergau.  Alle  diese 
Abzweigungen  lassen  auf  eino  intensive,  immer  steigende  Be- 
siedlung des  von  der  Natur  gesegneten  Grossgaus  schliessen, 


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395 


ebenso  wie  die  Uebersclireitung  des  Neckar  auf  die  Erschliessung 
der  Murr  und  des  Murrhardter  Waldes. 

Der  Murrgau,  der  hier  im  Süden  an  die  Stammesgrenze 
stiess,  hatte  im  Norden  folgende  Grenzorte:  Bönnigheim, 

Gemrichheim,  Oberstenfeld,  Sulzbach  und  Murrhardt,  welche  mit 
der  nach  Norden  (vom  Neckar  bis  zum  Limes  S.  270)  vorge- 
schobenen alamannisch-fränkischen  Sprachgrenze  übereinstimmen. 
Dieser  Umstand  mag,  entgegen  dem  S.  26!»  Ausgesprochenen, 
doch  darauf  hindeuten,  dass  die  Besiedlung  des  Murrgau  von 
alamannischer  Seite  erfolgt  sei,  und  dass  die  Einwanderer  ihre 
Mundart  mit  sich  gebracht  haben. 

Man  wird  etwa  annehmen  können,  dass  der  Uffgau,  Enzgau, 
Murrgau,  die  grösseren  Verbände,  getheilt,  und  dass  die  anderen, 
kleineren  von  ihnen  abgezweigt  sind. 


Grafschaften. 

Im  10.  und  11.  Jahrhundert  erscheint  der  Gross-Kraichgau 
in  drei  Grafschatten  getheilt,  in 

1.  Die  Theilgaugrafschaft  Vorchheim, 
deren  Sitz  im  Uffgau  am  Rhein  lag. 

1080  Comitatum  pertinentem  ml  locurn  Voreehheini; 

1102  In  pago  Uffgowe  in  comitatn  Vorecbheim  Herimanni  comitis; 

Das  Kloster  Gottesau,  das  bereits  als  in  dem  Uffgau  und 
Albgau  liegend  verzeichnet  ist,  lag  zugleich  in  comitatu  Vorech- 
heim.  Dieser  mag  auch  die  weitere  Abzweigung  des  Uffgau, 
den  Albgau  und  den  räumlich  anschliessenden  Pfinzgau  umfasst 
haben. 

2.  Die  Theilgaugrafschaft  Ingersheim, 

deren  Sitz  Gross-,  Kleiu-Ingersheim  (OA.  Besigheim)  im  Murr- 
gau war. 

978.  In  comitatu  Ingerisheim; 

1037.  Eberhardus  comes  de  Ingerisheirn; 

1075.  Monasteiium  in  pago  Wiringowe  (VVürmgan)  dicto,  in  comitatu 
Ingirisheim,  quod  Hirsaugia  (Hirschau  OA  Calw)  nuncupatum  est  ; 

Ohne  Datum.  Invilla  Nussdorf  (OA.  Vaichingen)  in  Entagowe  in 
comitatu  Iugersheim. 


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Die  Grafschaft  umfasste  also  urkundlich  den  Mu 
gau,  'Würmgau,  und  man  wird  die  anstossendeu  2 
Abzweigung  des  Murrgau),  Glemsgau  und  Schu: 
rechnen  können. 

3.  Die  Huntarengrafschaft  Anglachg 

Während  die  Grafschaften  Vorchheim  den  Süd 
Grafschaft  lngersheim  den  Südosten  des  Grossgaus 
bleibt  für  den  Norden  die  Huntaren-Grafschaft  Ang 
Das  etwa  scheint  die  Entwicklung  des  Gross-K 
sein,  dessen  Urkunden  hinsichtlich  der  Zugehörigkt 
zu  den  einzelnen  Verbänden  mehrfach,  theils  sclieii 
wirklich  sich  widersprechen. 


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Einundzwanzigstes  Kapitel. 

Der  &ntern<?cltargau. 

Der  Neckargau,  ein  Name,  der  sich  um  den  Neckar  von 
•Vckargemünd  aufwärts  bis  Nürtingen  findet,  mag  ursprünglich 
ein  einheitliches  Gebiet  gebildet  haben,  er  wurde  aber  durch 
die  Stammesgrenze  von  496  in  zwei  Theile  zerlegt,  dergestalt, 
dass  die  untere  Hälfte  fränkisch  wurde,  die  obere  alamannisch 
blieb.  Ein  unterscheidender  Ausdruck  für  beide  Theile,  zwischen 
die  sich  dann  der  dem  Gross- Kraichgau  ungehörige  Murrgau 
»diob  (S.  395),  ist  nicht  überliefert. 

Der  Unterneckargau  umfasste  urkundlich  die  Huntaren  Win- 
earteiba,  Elsenzgau,  Gardachgau,  Sulmanachgan  und  Schotzach- 
gau, von  denen  die  erstere  nach  ihren  Rcbhügeln  („euphemistisch 
aufzufassen“,  sagt  Schultze),  die  anderen  nach  Nebenflüssen  des 
Neckar  (Gardach  ist  der  alte  Name  für  den  Leinbach)  ge- 
nannt sind. 

Die  nach  dem  Neckargnu  bczeichnctcn  Orte  gruppiren  sich  auf  die 
Huntaren  vortheilt,  wie  folgt: 

1.  Wingarteiba. 

BA.  TaubcrbUcliofäheim:  Berolzhcim; 

BA.  Eberbach:  Neckargeraeh; 

BA.  Mosbach  rechts  vom  Neckar : I, obrbach,  Bituiu.  Neckarziimnerti ; 
links:  Ohrigheim,  Haasmcrslieim; 

OA.  Neckarsulm:  Böttingen,  Uundelslicim.  Duttenherg,  Offenau, 
Tiefenbach. 

2.  Elseuzgau. 

BA.  Heidelberg:  Mockoshoim ; 

BA.  Sinsheim:  Bargen,  Kirclmtt. 

3.  Gardacligau. 

OA.  Ueilhronn:  Ober-,  UnteKisesheim. 

4.  Sulmanachgau. 

OA.  Heilbronn:  Heilbronn; 

OA.  Weinstcrg:  Sulzlmch. 


3!  »8 


5.  Schotzachgau. 

OA.  Besigheim:  Laufen. 

Ausser  den  genannten  fünf  wird  man  nach  ü 
phischen  Lage  auch  den  Jagstgau  und  den  Bret 
Huntarcn  des  Grossgaus  anznseheu  haben,  so  dass  < 
das  Neckargebiet  von  Neckargemünd  aufwärts  bis 
und  Ottmarsheim  an  beiden  Seiten  des  Flusses,  im 
Neckar  das  Gebiet  der  Elsenz  und  des  Leinbachs,  ii 
Neckar  den  Landstrich  bis  zum  Limes  (von  Mi 
Murrhardt)  und  nördlich  darüber  hinaus  bis  zum 
Erfa,  zur  mittleren  Tauber  und  zur  mittleren  Jag 


lluntareii  und  Zehntscbafteii. 

1.  Wingarteiba. 

Diese,  der  nordöstliche  Theil  des  Neckargaus, 
Norden  den  linken  Main  um  Miltenberg  und  Burgstadt, 
Abdachung  des  Odenwaldes  zum  Neckar,  das  Gebie 
und  gen  Osten  das  Gebiet  der  Erfa,  rückte  im  S 
Nähe  der  Jagst  vor,  und  überschritt  im  Westen 
in  einem  unten  ersichtlichen  schmalen  Landstrich. 

Huntarenorte: 

BA.  Tauberbischofsheira  links  der  Tauber:  Schweigern,  S 
Witteladt; 

BA.  Adelsheim:  Unterkessacb,  Seckuch,  Eichholzheim: 

BA  Buchen:  Altheim,  Rinschheitn,  Buchen,  Hctting 
Wttlldilrn,  llardheira; 

OA.  Neckarsulm:  Guudelsheim; 

BA.  Mosbach  rechts  vom  Neckar:  Scheffleuz,  Aue 

Neckarburken,  Mosbach,  Butzbach,  Ncckarzimmeru.  Neck 
Lohrbach,  Robern;  links  vom  Neckar:  Hassmersheim,  Asba< 
Mörtelstein,  Breitenbronn. 

Mehrere  von  diesen  Orten  werden  auch  als  im  Gau  \ 
Wertheim  am  Main)  liegend  in  den  Urkunden  aufgefiihrt, 
Irrtlium  beruhen  kann,  wenn  nicht  etwa  der  Name  Waldsass 
weitere  landschaftliche  Bedeutung  hat  Asbach  wird  auch 
bezeichnet. 

Als  eine  Abzweigung  von  der  Wingarteiba  e 
Schefl'leitfyau  mit  den  Orten: 

BA.  Mosbach:  Ober-,  Mittel-,  Uuterschcfflenz,  Dali 
Mosbach , 


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liA.  Adelshi'jm : Eiclioliheim  der  Zent  Buchen; 
ausserdem  mit  dem  nicht  zu  ermittelnden,  wold  abgegangenen  Lubosbach. 
De«  Schefflenzgau  wird  die  Zenten  Mosbach  und  Buchen  umfasst  haben. 

Iin  16.  und  17.  Jahrhundert  zerfiel  die  Weingarteiba  in 
acht  Zimten,  die  wahrscheinlich  auf  alte  Zehntmarken  und 
Zehntschaften  Zurückzufuhren  sind.  Es  sind  Zenten  mit  einer 
Mehrzahl  von  Orten,  die  zwischen  9 — 30  variiren.  Die  Ur- 
kunden geben  folgendes  Bild  ihrer  Gerichtsverfassung. 

Für  die  niedere  Gerichtsbarkeit  gab  es  in  den  einzelnen  Ge- 
meinden Untergerichte  (Ruggerichte),  die  aus  dem  Schultheissen 
und  sieben,  oder  an  den  grösseren  Orten  vierzehn  Schöffen  be- 
standen. Hinsichtlich  ihrer  Zuständigkeit  heisst  es  z.  B.  „es 
wurde  in  peinlichen  und  bürgerlichen  Sachen  gerügt.“  „Was 
alsdann  zenttällig,  wird  am  Zentgericht  abgehandelt  und  aus- 
getragen,“ Daher  auch  der  Karne  Vorgerichte. 

Wohl  für  die  Gemeinden  jeder  Zent  gab  es  ein  Ober- 
gericht (Oberhof),  bei  denen  die  Untergerichte  sich  Raths  er- 
holten und  an  welche  von  diesen  der  Zug  ging. 

Ein  gemeinsames  Obergericht  hatten  die  Gemeinden  der 
Zenten  Mosbach,  Eberbach  und  Mudau  zu  Lohrbach.  Es  be- 
stand aus  1 2 Richtern,  von  den  die  Zenten  Mosbach  6,  Eberbach 
4,  Mudau  2 stellten.  Viermal  im  Jahr  an  einem  Montag  nach 
bestimmten  Heiligentagen  hielt  man  ungeboten  Ding,  daher  der 
Käme  „Selbstbottengericht  zu  Horbach“.  „Solche  Zwölf  haben 
sonst  alle  Sachen  auszuweisen,  ohne  allein  ausgenommen  die 
vier  Zentartikel.“  „Wa  die.  üntergericht  der  Sache  nit  genug 
verständig,  wird  die  für  die  Zwölf  gewiesen  gen  Lorbach,  und 
müssen  ihr  zween  Gerichtsmänner  (des  Üntergericht«)  Klag 
und  Antwort  für  die  gewelten  Zwölf  tragen.  Darfiir  ist  der- 
jenig,  so  der  Sachen  verlustig  wird,  ihnen  beeden  einen  Schilling 
zu  geben  schuldig.“  „Wa  daun  die  Zwölf  das  IJrtheil  auch  nit 
aussprechen,  so  weisen  sie  wieder  hinter  sich  (an  das  Unter- 
gericht) und  folgend«  von  dannen  gen  Eberbach“ „für 

ihren  Oberrichter.“  Dieser  war  das  Landgericht  zu  Eberbach, 
das  unter  dem  Vorsitz  des  dortigen  Schultheissen  aus  33  Land- 
oder Zentschöffen  bestand. 

Mit  der  hohen  Gerichtsbarkeit  waren  Zentgerichte  des 
Zentgebiets  ausgestattet,  deren  jedes  einen  landesherrlichen 
Gerichtsherrn  hatte.  Die  Zenten  wurdet!  nach  ihrem  Hauptort 


400 


genannt,  zugleich  dem  Sitz  des  Gerichts,  dessen  Schultheiss  der 
Vorsitzende  war.  Die  Zahl  der  Zentschüffen  wird  mehrfach 
auf  12  angegeben,  in  zwei  Fällen  auf  33  und  38.  Einzelne 
der  Orte  wählten  dazu  Richter,  in  der  Regel  einen  oder  zwei 
und  „gaben  sie  in  den  Ring“,  so  dass  unterschieden  wurden 
„Dorffe,  die  Richter  in  Ring  geben  und  die  keine  Richter 
geben“:  jene  werden  die  Mutterdörfer  sein.  Ein  Zentschreiber 
vervollständigte  das  Gericht. 

Viermal  im  Jahr,  Dinstags  oder  Mittwochen  nach  gewissen 
Heiligentagen  wurden  „Ordinari-  oder  Selbstbotten  - Zentrug- 
gerichte“ oder  „Frygericbte“  abgehalten,  in  einzelnen  Fällen 
hatte  sich  die  Dingpflicht  aller  Zentangehörigen  erhalten.  Sollte 
ein  Termin  ausfallen,  so  wurde  abgekündet.  Von  gebotenen 
Dingen  ist  keine  Rede. 

Zuständig  waren  die  Zentgerichte  für  „die  vier  Zentartikel“, 
die  „vier  hoho  Fälle  für  Zentbar-  und  Malefizsachen“.  Es 
waren  z.  B.  Diebstahl,  Mordt,  bindbar  Wunden,  Prantgeschrei ; 
oder  Steinwurff,  Brennen,  Diebstall  und  Mortgeschrei;  oder 
Mordt,  Mordtgeschrei,  fliessende  Wunden,  Todtschlag,  Diebstall, 
Schmach-  und  Scheltwort;  oder  auch  Kriminalsachen  und  was 
Ehr  und  Glimpf  belangt. 

Die  zweite  Instanz  bildete  für  einen  Complex  von  Zenten 
das  Zentobergericht  (der  Zentoberhof). 

Die  drei  Zenten  vom  Südwesten  der  Wingarteiba  Mosbach, 
Eberbach  und  Mudau  waren  der  Zahl  ihrer  Ortschaften  oder 
der  Zahl  ihrer  Zentschöfien  nach  die  bedeutendsten.  Mosbach 
hatte  30  Orte,  Eberbach  18  Orte  an  beiden  Seiten  des  Neckar, 
Mudau  29  Orte.  Wie  ein  Gericht  II.  Instanz  für  Sachen  der 
niedern  Gerichtsbarkeit  in  Lorbach,  so  hatten  sio  ein  solches 
für  Zentartikel  in  Mosbach.  Es  war  der  „Zentoberhof“  oder 
„das  Landgericht“,  bestehend  aus  dem  Schultheiss  der  Stadt 
Mosbach  als  Zentgraf  und  38  Schöffen,  von  denen  die  Stadt, 
12  ihrer  Rathsglieder  und  13  Flecken  der  Zent  je  zwei  Richter 
in  den  Ring  gaben;  nach  der  Zusammensetzung  des  Gerichts 
Zentgericbt  erster  Instanz  und  nach  seinen  Namen  zugleich 
das  Zentobergericht.  Aehnlich  hatte  die  Zent  Eberbach  ein 
„Landgericht“  von  33  Land-  oder  Zentschüffen  unter  dem  Vor- 
sitz des  Schultheissen  von  Ebersbach,  das  zugleich  Zent-  und 


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401 


wie  schon  erwähnt,  Obergericht  über  das  Selbsbottengericlit  zu 
Lorbach  war. 

Im  Nordwesten  lagen  die  Zenten  Ki/i/iny  mit  10  Orten 
und  einem  Zentgericlit  von  Zentgrafen  und  Zentscliöffen, 
Amorbach,  auch  die  untere  Zent  genannt,  mit  24  Orten  und 
J/t7 tenbery  mit  13  Orten.  Die  Stadt  Miltenberg  selbst  war 
.zne  dem  Zentgericlit  befreyet“,  hatte  aber  zwei  Zentscliöffen, 
einen  aus  dem  Kath,  einen  au>  der  Bürgerschaft  zu  stellen, 
«■in  Ueberbleibsel  alter  Zentzugehcirigkcit,  aus  der  die  selbst- 
ständige Gerichtsverfassung  der  Stadt  hervorgegangen  war. 

Im  Osten  lagen  die  Zenten  Thiir  n ( Walldürn)  mit  22  und 
Ituclun  mit  20  Orten  (die  S.  43  noch  genannten  Zenten  Burken 
[Osterburken],  um  Boxberg  geholten  dem  Jagstgau,  die  Zenten 
Königshofen,  Lauda,  Grünsfeld  und  Bischofsheim,  alle  an  der 
Tauber,  mit  dieser  dem  Taubergau  an). 

|Siehe  die  Urkunden  bei  Schultz:  Fränkische  Gaue  Bndetig,  S.  UO — lo.r> 
lifi— 140;  Fränkische  Gaugrafschaften  s 2U5— lloii 

2.  Elseiizgiiu.  k 

Er  umfasste  das  Gebiet  der  Elsenz  vom  Quell  bis  zur 
Mündung  sammt  der  Umgebung  ihrer  Nebenflüsse,  des  Birken- 
bachs,  Schwarzbachs  und  Lobbachs. 

Muntarenorte : 

BA.  Heidelberg:  Xerkargemüml,  Gaiberg.  Ilammenthal.  Müncbzell. 
'•auangelocb,  Reilsheim,  Meckeshoim; 

BA.  Kberbacb:  Schwarzach,  Neunkinhen; 

BA  Mosbach:  Breitenbroim,  Aglasterhanscn.  1 luudenxell.  Asbach; 

BA.  Sinsheim:  Reicbartshausen,  Ilelmo. ult.  Waibsladt,  Zuzenhausen, 
Daisbach.  Sinsheim,  Immelbäuser  Hol.  Sleiusberg.  Steinsfart,  Birkenauer 
Uof.  Reihen; 

BA.  Eppingen:  Elsenz,  Iltliugcn.  Beiwangen.  Gcmmiageu.  Schlüchtern. 

Daudenzell  und  Asbach  werden  auch  in  der  Weingat teiba  at.fgcführi 

Im  Elsenzgau  sind  zwei  Zenten  zu  vermerken.  Die 
ilcekculinmer  o<h  r Xerkuiycm iin > I ■ r /.<  nt  mit  2t)  Orten  uni  die 
untere  Elsenz.  Das  Zentgericlit  wurde  erst  in  Meckcshcim, 
später  in  Neckargemünd  abgehalten.  Ferner  die  Ji'icliarts- 
liaiucr  Zcut,  die  mit  18  Dorfscli.il ten  den  Nordosten  des  Elsenz- 
gaus  ausfüllte.  Sie  liiess  der  Meckesheimer  gegenüber  auch  die 
obere  Zent  und,  da  das  Zentgericlit  in  der  oberen  Stube  des 

Cr  unter,  Ueaohicbte  .1er  Alamannen 


s 


402 


Rathhauses  in  Reichartshauseu  abgehalten  wurde,  die  Stüber 
Zent. 

(Siehe  Schulze,  die  fränkischen  Gaue  Badens,  S.  85—90). 

3.  Gardachgau. 

Er  lag  aui  linken  Neckar  im  Gebiet  des  Leinbachs,  früher 
der  Gardach. 

Huntarenorte: 

BA.  Sinsheim:  Richen  (auch  Helmstadt  wird  genannt,  das  jedoch 
mitten  im  Elsenzgau  lag); 

BA.  Eppingen:  Schlüchtern; 

OA.  Brackenheim:  Massenbachhausen,  Schweigern,  Klingenberg, 

Nordheim ; 

OA.  Heilbronu:  Ober-,  Unterensishcim,  Böllinger  Hof,  Neckargartach, 
Frankenbach,  Grossgartach,  Bückingen. 

Dass  der  Elsenz-  und  Gardachgau  zur  Zeit  der  Bisthums- 
gründungen mit  dem  Lobdongau  wahrscheinlich  iu  politischem 
Zusammenhang  gestanden,  ist  S.  392  ausgeführt. 

4.  Jagstgau. 

Die  Huntare  ging  von  der  mittleren  Tauber  aus  und  be- 
gleitete die  mittlere  und  untere  Jagst  in  schmaler  Ausdehnung 
auf  beiden  Ufern. 

Huntarenorto: 

OA.  Mergentheim:  Adolzhausen,  Markelsheim,  Rengershausen; 

OA.  Ktinzelsau:  Bieringon,  Berlichingen; 

BA.  Adelsheim:  Buchsen; 

OA.  Ncckarsulm:  Widdern,  MöckmUhl,  Jagstfeld; 

BA.  Sloshach:  Herbolzheim,  Allfeld. 

5.  Brettachgau. 

Die  Huntare  ist  an  dem  unteren  Kocher,  der  Brettach 
und  der  Sulni  zu  verfolgen. 

Huntarenorte: 

OA.  Oehringen:  Möglingen; 

OA.  Neckarstilm:  Langenbeutingen,  Erleubach. 

6.  Sulmanachgau 

am  rechten  Neckar  im  Sulmthal  hat  den  einzigen  Ort  Neckarsulm. 

7.  Schotzachgau 

an  dem  gleichen  Ufer  mit  dem  Ort 

OA.  Besigheim:  Ilsfeld. 


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403 


Im  4.  Jahrhundert  schied  der  Limes  die  Sitze  der  Alamannen 
und  Burgundionen.  Es  war  dies  jedenfalls  da.  wo  Julian  im 
Jahre  338  ihre  Grenzmarken  sali,  also  von  Miltenberg  in  süd- 
licher Richtung.  L’eber  den  Limes  hinaus  war  dann  (wenn 
nicht  Kissingen)  Schwäbisch -Hall  ein  streitiger  Grenzpunkt. 
Nach  dem  Abzug  der  Burgundionen  überschritten  die  Huntaren 
des  Unterneckargau  (die  Wiugarteiba  und  der  .Tagstgau)  den 
Limes,  während  andere  (der  Brettach , Sulmanach-  und 
Schotzachgau)  im  Osten  ihn  berührten.  Aber  hier  befinden 
sich  über  den  Limes  hinaus  um  die  Mittelläufe  des  Kocher 
und  der  Jagst,  oder  in  der  Umgebung  von  Hall  Orte  mit  der 
alamannischen  Endung  in  gen.  und  es  seien  daher  der  Koclier- 
gau  und  der  Mulacligau,  der  sich  von  ihm  abzweigte,  als 
alamannische  hier  dargestellt,  und  zwar  im  Anschluss  an  den 
Unterneckargau,  dessen  Genossen  vorwiegend  die  Ansiedler  ge- 
weseu  sein  mögen  (S.  9G,  143,  1G5,  181,  252). 

8.  Kochergau. 

Die  Huntare  umfasste  die  Mittelläufe  beider  schon  ge- 
nannten Flüsse  und  erstreckte  sich  im  Süden  bis  zur  Stanimes- 
grenze  von  496,  mit  folgendenden  Huntarenorten : 

OA.  Oehringcn : Lang'ibeutingen  (auch  im  Brettacligau  liegend  ge- 
nannt). Ueliringen.  1‘falilbach ; 

OA.  Hall:  Kupfer,  Buch  lei  Sulzdorf.  Weitheim ; 

OA.  Uerabronn:  Lobenhausen  (bei  Ouggatadt  . 

OA.  Uaildorf:  Oberrolb. 

Vermöge  des  gemeinsamen  <*rts  l.angcnbeutingen  konnte 
man  den  Brettacligau  auch  für  einen  Theil  des  Kochergaus 
halten. 

9.  Mulacligau. 

Die  Huntare  lullte  den  Südosten  des  Kochergau  aus.  Hier 
lagen  die  Orte  beider  im  Gemenge.  Gemeinschaftlich  war  beiden 
der  Ort  Westheim,  so  dass  der  Mulacligau  als  Abzweigung  vom 
Kochergau  erscheint. 

Huntarenorto: 

OA.  Hall:  Westheim,  Srilkcnbnrg,  Altdorf  (Gross-,  Klein-); 

OA.  Gerabronn : BegODbar.h  Ober-,  Unter- 1,  Schmal  leiden; 

OA.  Crailaheim:  Gauchhausen  (bei  L'nternspiu-li),  Gerbertshofen  (bei 

Wtipertsliofen),  Matzenbach. 


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Viertes  Buch. 

Die 

alamannischen  Gaue 
des  Stammlandes. 


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Zweiundzwanzigstes  Kapitel. 

^Übersicht* 

Das  Gebiet  der  hier  zusammengefassten  altalamannischen 
Gane  dehnt  sich  am  rechten  Rhein  von  der  Stammesgrenze 
von  49  6 bis  an  den  Bodensee  aus.  Es  wird  von  der 
schwäbischen  Alb,  dem  Schwarzwald  und  dem  Randen  be- 
herrscht. Der  Rhein,  der  mittlere  und  obere  Neckar,  die 
obere  Donau  sind  seine  Flüsse.  Die  Besiedlung  ging  von 

deren  Thälern  aus  und  folgte  den  Läufen  der  Nebenflüsse  in 
die  Gebirge  aufwärts. 

Die  schwäbische  Alb  wird  durch  eins  ihrer  Doppelthäler, 
das  von  der  Schlicht  aus  (zwischen  Hansen  und  Burladingen) 
die  Starzei  gen  Norden  über  Hechingen  in  den  Neckar, 
die  Fehla  und  Lauchert  gen  Süden  bei  Scheer,  unterhalb 
Sigmaringen,  in  die  Donau  fuhrt,  in  zwei  Hälften  getheilt,  die 
Westalb  und  die  Ostalb.  Als  Grenzmarke  jenes  tiefen  Ein- 
schnitts erhebt  sich  der  Zollerberg. 

Die  Westalb  trug  den  Westergau,  dessen  Gaukönig  Wester- 
alb (Yestralpus  S.  77)  war.  Der  entsprechende  Gauname  für  die 
Ostalb  würde  Ostergau  gewesen  sein;  er  ist  aber  nicht  vor- 
handen oder  mag  verloren  gegangen  sein,  der  Gau  hiess  Alb- 
gau.  Zu  Füssen  der  Alb  im  Norden  lagen,  dem  Albgau 
benachbart,  der  Neckargau,  und,  an  den  Westergau  stossend, 
der  Nagoldgau.  Diese  vier  Gaue  bildeten  das  Gebiet  der 
Sueven,  das  sich  nach  Norden  zu  am  Neckar  über  die 
Stammesgrenze  fortsetzte. 

Um  den  Schwarz  wähl  gruppirten  sich  durch  die  Bleiche 
getrennt,  die  Mortenau  und  der  Breisgau ; um  den  Schwarzwald 
(von  der  Murg  ab)  und  den  Randen  der  Klettgau  und  Hegau, 
die  beiden  letzten  die  Gaue  der  Lenzer. 


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408 


Die  Mortenau  gehörte  dem  Bisthum  Strassburg,  die  übrigen 
Gaue  dem  Bisthum  Constanz  an.  Mit  dem  Breisgau  uuAKlett- 
gau  fielen  die  gleichnamigen  Archidiakonate  zusammen.  Die 
übrigen  Gaue  fanden  in  den  grossen  Archidiakonateu  Vormwald 
und  Albgau  Platz. 

Die  Mundart  ist  im  Neckar-  und  Nagoldgau.  sowie 
dem  östlichen  Tlieil  des  Westergau  und  im  Albgau  schwäbisch, 
im  Uebrigen  alam&nnisch. 

Bearbeitungen  sind  C.  F.  Stälin,  Wirtembergische  Ge- 
schichte I,  279  u.  flgde.;  Baumann  die  Gaugrafschaften  im 
Wirtembergischen  Schwaben.  Mit  dem  Ausdruck  Gaugraf- 
schaften habe  ich  eiuen  anderen  Begriff'  verbunden  (S.  303), 
als  Baumanu  gethan  hatte.  Fr  versteht  S.  7,  8 unter  Gau- 
grafschaften überhaupt  die  selbständigen  Grafschaften  der 
fränkischen  und  späteren  Zeit  und  zwar  die  im  alamannischen 
Württemberg.  Walther  Schnitze  hat  im  Sinn  von  Baumann 
die  Untersuchungen  iu  den  Gaugrafschaften  des  alamannischen 
Badens  fortgesetzt  und  sie  dann  auf  die  fränkischen  Gaue  bis 
an  den  Main  ausgedehnt  (S.  347). 


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Dreiundzwanzigstes  Kapitel. 

Der  Obernecl^orgau. 

In  dem  Grossgau,  der  am  Neckar  von  der  Stammesgrenze 
von  496  bis  aufwärts  Nürtingen  urkundlich  zu  verfolgen  ist, 
decken  sich  die  Gauorte  mit  denen  von  zwei  Huntaren,  des 
Filderngaus,  pagus  uf  Vilderen  (oder  des  Gebiets  des  Kapitel 
Esslingen  und  des  Westens  vom  Kapitel  Cannstatt)  und  einer 
Huntare,  deren  Namen  nicht  bekannt  ist.  (welche  mit  dem 
Kapitel  Kirchheim  zusammenfiel). 

Es  ist  aber  anzunehmen,  dass  der  Grossgau  eine  weitere 
Ausdehnung  hatte  oder  im  Lauf  der  Zeit  erhielt.  Denn  die 
Grenzen  der  benachbarten  Grossgaue  waren  im  Westen  neckar- 
aufwärts  der  Gross-Nagöldgau,  irn  Süden  der  Gross-Albgau, 
im  Osten  der  Gross-Kiesgau  (Siehe  die  Kapitel  24,  25,  36). 
Den  Raum  zwischen  ihnen  musste  also  der  Gross-Neckargau 
ausfüllen.  Es  war  dies  der  Nordosten  des  Bisthums  Constanz 
und  insbesondere  der  nördliche  Theil  des  Archidiakonats  Alp- 
gau, dem  jedoch  das  zum  Archidiakonat  Vormwald  gezogene 
Kapitel  Cannstatt  als  zweifellos  grossneckargauisch  hinzu- 
zufügen ist,  und  es  ergiebt  sich  demnach  als  Gaugebiet  der 
Neckarabschnitt  von  der  fränkisch  - alamanuisehen  Grenze, 
Poppenweiler  und  Ossw’eil  (S.  207)  abw'ärts  bis  etwa  Neckar- 
tenzlingen aufwärts,  das  Thal  der  unteren  Rems,  das  Thal  der 
Fils  und  der  Steilabfall  der  Alb  bis  auf  die  Höhe  selbst  hinauf. 

Bemerkenswerth  ist  dabei  einmal,  dass  erst  in  diesem 
Gebiet  die  Reihe  der  Ortschaften  beginnt,  deren  Namen  den 
Zusatz  Neckar  — trägt  (wobei  allerdings  von  Neckarhauseu 
bei  Sulz  im  Nagoldgau  abzusehen  ist):  Neckar  - Tenzlingen, 
Neckar  - Thailfingcn,  Neckar -Hausen,  Neckar  - Groningen,  und 
sodann,  dass  die  südliche  Grenze  nicht  da  ist,  wo  die  Alb  nach 
Nordwesten  abfallt,  sondern  auf  der  Hochebene  selbst,  so  dass 


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410 


deren  Rand  zum  Neckargau  gehörte,  während  im  Uebrigen  die 
Hochebene  grossalbgauisch  war. 

Aus  diesem  so  umgrenzten  Gebiet  folgt  auch  die  Besiedlungs- 
geschichte des  Gaus.  Man  ergriff  zuerst  von  den  fruchtbaren 
Flussthälern  des  Neckar,  der  Rems  und  der  Fils  Besitz  und 
jede  an  die  Alb  stossende  Huntare  arbeitete  sich  dann  in  den 
Thälern  der  Nebenflüsse  zur  Höhe  empor,  den  Rand  der  Alb 
meilenweit  besetzend.  Als  dann  der  Gross- Albgau  von  der 
Donau  aus  das  Hochplateau  der  Alb  besiedelte,  fand  er  von 
dem  Rand,  der  geographisch  zum  Albgau  gehören  würde,  sich 
ausgeschlossen.  Die  Genossen  des  Neckargaus  waren  ihm  zuvor- 
gekommen. 

Dem  Neckargau  gehörten  ausser  den  genannten  zwei  noch 
weitere  fünf  H untaren  zu:  zunächst  an  Neckar  und  Rems 
Ramestal  (Osten  des  Kapitels  Cannstatt),  an  der  Fils  der  Filsgau 
und  Pleonungotal.  Der  Name  Filsgau  deutet  den  Weg  der 
Besiedlung  des  Thals  an.  Die  Huntare  wird  ursprünglich  den 
gesammten  Lauf  des  Flusses  umfasst  haben,  bis  man  den  oberen 
Theil  als  Huntare  Pleonungotal,  Kapitel  Geislingen  abzweigte 
und  dadurch  die  Huntare  Filsgau  auf  den  unteren  Lauf,  Kapitel 
Göppingen  einschränkte.  Weiter  am  Neckar  die  Huntare 
Swiggerstal,  Kapitel  Urach  und  die  Huntare  Pfullichgan,  Kapitel 
Reutlingen,  soweit  in  dieses  nicht  die  Huntare  Sulichgau 
hineinragte. 

In  der  Grafen znt  zerfiel  dann  der  Grossgau  in  Theilgau- 
grafschaften,  von  denen  eino  den  Namen  Neckargau  behielt. 
Er  ist  in  Urkunden  von  900  und  976  in  comitatn  Neckergeuue, 
Wirt.  184  und  189  erhalten;  1046  und  1059  waren  Wernher, 
dann  Eberhard  seine  Grafen.  Die  Namen  der  übrigen  Theil- 
gaugrafschaften  sind  verloren.  Huntarengrafschaften,  comitatns 
waren  bereits  861  Pleonungotal,  938  Pfullichgan,  1080  Ramestal, 
im  Anfang  des  12.  Jahrhunderts  Swiggerstal. 


Huntare  n. 

1.  2.  Die  Huntaren  der  Grafschaft  Neckargau, 
Kirchheim  (?)  und  Vildern. 

Die  Theilgaugrafschaft  Neckargau,  aus  den  Kapiteln  Kirch- 
heim, Esslingen,  West-Cannstatt  bestehend,  umfasste  urkundlich 


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411 


das  Neckargebiet  von  Nürtingen  bis  Neckargröningen.  Sie  liiess 
Gau,  pagns  und  3 mal  960,  976,  1046  comitatns. 

Etwa  894  Pagns  Necbarionsis,  quae  lingna  Diutisca  Neckargowe  ab 
incolis  nuncupatur.  In  den  Jiiraculis  S.  Walpurgis  nach  Stftlin  I 304. 

960  nnd  976  In  comitatu  Neckergemie.  Wirt.  184  und  189. 

Der  Name  der  Hnntare,  welcher  das  Kap.  Kirclilieim  ent- 
spricht, ist  nicht  bekannt.  Die  Huntare  der  Kap.  Esslingen 
nnd  West-Cannstatt  ist  der  pagns  uf  Vilderen,  der  Filderngau. 

Das  Kapitel  Kirclilieim  lag  an  beiden  Ufern  des  Neckar 
von  Neckarhausen  bis  Plochingen  und  erreichte  mit  dem  Lauter- 
thal die  Alb. 

Die  Urkunden,  die  vom  Theil-Neckargau  im  Kapitel  Kirclilieim  handeln, 
sind  folgende: 

"69  In  pago  Alemannorum  et  Nechorgowc  in  Wilheim  (Woilheim 
OA.  Kirchheiin)  et  in  Bissiiigen  (Bissingen  das.)  et  in  Osingen  (Iesingen 
das).  I,aur.  8228. 

781  In  pago  Xeckergowe  in  Bissinger  marca.  I,anr.  2455., 

792  In  pago  Ntckergowe  in  Adininger  marca  (Oethlingen  OA.  Kirch- 
beim).  Laur.  2414. 

SOS  In  pago  Alemannornm  in  Xeckergowe  in  Wilbeimer  marca  (Wil- 
beim)  in  loco  Skeninbol  (unbekannt).  Laur.  3227. 

sfi  t In  pago  Xekkerganne  in  locis  Xabcra  (Nabern  OA.  Kirclilieim), 
Bissingen  (Bissingen  das.),  Uilheim  (Weilheim  das.)  Nidliuga  (Xeidlingen 
das  ).  Wirt.  126. 

960  Chirilieim  (Kirclilieim)  in  ducatu  Alamnnniae  in  comitatu  Nccker- 
geuue.  Wirt.  18  t. 

976  Ebenso,  Bestätigung  der  vorigen  Urkunden.  Wirt.  189. 

1046  Curtem  Xivritingen  (Nürtingen)  situm  in  pago  Nechergouue  in 
comitatu  Werinliarii  comitis.  Wirt.  227. 

1059  Villa  Kiricheim  (Kirclilieim)  in  pngo  Nechergowe  in  comitatu 
F.berhardi  comitis.  Wirt.  232. 

1158  Pridium  Niordinge  (Nürtingen)  in  pago  Nikkerga.  Wirt.  314. 

Theilgau-  und  zugleich  Huntarenorte  rechts  vom  Neckar  waren  somit: 

OA.  Nürtingen:  Nürtingen; 

OA.  Kirchheim:  Oethlingen,  Kirclilieim,  Iesingen,  Bissingen,  Nabern, 
Weilheim.  Xeidlingen. 

Der  Huntare  Vihbrn  in  den  Kapiteln  Esslingen  und  West- 
Cannstatt  entsprach  das  Gebiet  des  linken  Neckar  etwa  von 
Neuenhaus  bis  über  Ossweil.  Die  Kapitel  Esslingen  und 
Cannstatt  dehnten  sich  auch  noch  am  rechten  Ufer  aus,  Ess- 
lingen Filsanfwärts  etwa  bis  Reichenbach,  Cannstatt,  soweit  es 
hier  in  Betracht  kommt,  vielleicht  Remsaufwärts  bis  Waiblingen, 
denn  hier  lag  noch  der  Neckargauort  Oetfingen.  Der  Huntaren- 


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412 


nanie  ist  in  der  jetzigen  Landschaft  der  Fildern  er 
Bezeichnung,  die  sich  jedoch  auf  den  linken  Neckar 
Stuttgart  zurückgezogen  hat. 

Die  hierher  bezüglich™  Urkunden  des  Neckargau«  sind 
für  das  Kapitel  Esslingen: 

StCtl  In  Alamaimia  IlcUilinga  (Esslingen)  in  pago  Nech 
fluvium  Xechra.  Wirt.  141. 

Etwa  1132  I’redium  in  pago  Nekkergaugiao  Chunit 
OA.  Esslingen).  Rotulus  S.  Petrinus  bei  Leichtlen  Zähri 
Stalin  I 3o4. 

für  den  Westen  des  Kapitel  Cannstatt: 

789  ln  pago  Neckergowe  in  villa  Zazenhusen  (Zazenhat 
statt).  Laur.  2418. 

780  In  pago  Neckergowe  in  villa  Ussingen  (Oeffingen  das 
SOG  In  pago  Neckergowe  in  Gruonicheim  (Ncckargrönit 
wigsburg).  Laur.  2401. 

Tlieil  gauorte 
jinks  vom  Neckar: 

OA  Esslingen:  Köngen,  Esslingen; 

OA.  Cannstatt:  Zuzenhusen; 

OA.  Ludwigsburg:  Neckargröningen; 

rechts  vom  Neckar: 

OA.  Cannstadt:  Oeffingen. 

Ucber  den  Fildemgau,  pagus  uf  Vilderen,  das  terri 
reden  folgende  Urkunden: 

1279  In  Oswile  (Ossweil  OA.  Ludwigsburg)  et  in  Ro 
Stuttgart)  sito  iu  Vilderen.  Oberrheinische  Zeitschrift  III  33 
1291  Villam  Moeringen  (Möhringen  das.)  super  Vilder 
XIV,  1 15  und  120. 

1291  lilieuingen  ( Plieningen  das.)  et  Aehtertingen  (Echt 
super  Vildern.  Das.  XIV,  119. 

1292  Uf  den  Vildern  ano  Aehtordingen.  Das.  XIV  206 

1292  Territorium  dictum  Vilderen, deeimas  apud 

in  Blieningen  Das.  XIV.  2Ü8. 

Ebenso  wiril  zum  pagus  uf  Vilderen  Stetten  OA.  Stutt 
hausen  OA.  Esslingen  verzeichnet.  Cart.  Salem.  I 321;  Ban 
Huntarenorte 
im  Kapitel  Esslingen: 

OA.  Esslingen:  Neuhausen; 

OA.  Stuttgart:  Stetten,  Echterdingen,  Plieningen,  Hü 
im  Kapitel  Cannstatt: 

OA.  Cannstatt:  Ossweil. 

Mithin  lagen  auch  Esslingen,  Stuttgart,  Cannstatt,  Lud\ 
Huntarc  Vildern,  welche  zusammen  mit  der  Huutare  Ramestt 
spater  den  Kern  der  Gratschaft  Wirtemberg  ausmachte. 


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413 


3.  Ramestal. 

Die  Huntare,  der  Thalgau  der  Kerns,  deckte  sich  mit  dem 
Osten  des  Kapitel  Cannstatt,  das  Remsaufwärts  bis  über 
Schorndorf  reichte. 

Die  Bezeichnung  der  Huntare  ist  pagus,  1080  comitatus. 

loso  Praedia  in  pago  Kamesdal  sita  videlicet  Winterbaoh  (Winterbach 
OA.  Schorndorf)  et  Weibilingen  (Waiblingen  das.)  in  comitatu  Popponis. 
Wirt.  283. 

Huntarenorte: 

OA.  Schorndorf;  Waiblingen,  Winterbach. 

4.  5.  Die  Huntaren  des  Filsthals,  Filsgau  und 
Pleonungotal. 

Der  Huntare  Filsyau  im  Gebiet  der  unteren  Fils  bis 
Gross-Eislingen  aufwärts  entsprach  das  Kapitel  Göppingen. 

Sie  heisst  Gau  und  pagus. 

861  In  pago  qui  dicitur  Feliwisgawe  iu  villa  nuncupata  Isininga 
(Gross-Eislingen  OA.  Göppingen).  Wirt  136. 

1112  In  loco  qui  dicitur  Schopflooh  (Sckopfloch  abgegangen ; Schopf- 
locher  Acker“  bei  Betzgenried  OA.  Göppingen)  in  pago  Philiskove.  Wirt.  315. 

Huntarenorte : 

OA.  Göppingen:  Betzgenried,  Gross-Eislingen. 

Die  Huntare  Plemunyotal,  der  Thalgau  des  Pleon,  im 
Gebiet  der  oberen  Fils  entsprach  dem  Kapitel  Geislingen. 

Der  Gau  wird  auch  als  pagus  und  86 1 comitatus  be- 
zeichnet. 

861  Talem  locura  qnalem  visu«  sum  habere  in  pago  nomine  Pleonun- 
gotal,  ipaum  locum,  qui  vulgo  dicitur  Wisontessteiga  (Wiesensteig  OA. 
Geislingen)  juita  tluuien,  quod  vocatur  Filisa  ^Fils);  quodque  est  si'um  in 
(»riubingaro  marca  (Gruibingen  OA.  Göppingen)  in  comitatu  Wariuharii 
omitia.  — — Nec  non  locum  in  ipsa  marca  trado  in  loco  qui  dicitur 
Tiofeutal.  (Dieser  Ort  ist  abgegangen,  aber  nacii  Hausier  giebt  es  jetzt 
°och  ein  Tiefenthal  auf  Jliiblhauser  Markung  OA.  Geislingen).  Wirt.  136. 

Huntarenorte : 

OA.  Göppingen:  Gruibingen; 

OA.  Geislingen:  Mühlhausen,  Wiesensteig. 

Die  Huntare  ist  die  spätere  Grafschaft  Helfenstein 

6.  7.  Pfullichgau  und  Swiggerstal. 

Vielleicht  bildeten  beide  uns  bekannte  Huntaren  summt 
entsprechenden  Kapitel  ursprünglich  ein  Ganzes.  Das 
Kapitel  wird  im  über  quartarum  von  1360  — 70  jedoch  schon 


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414 

in  zweie  zerlegt  aufgeführt,  die  später  die  Kapitel  Reutlingen 
und  Uraeli  liiessen.  Möglich,  dass  dieser  Theilung  eine  gleiche 
der  H untere  vorausgegangen  war,  so  dass  nunmehr  der  Hnntarc 
Pfullichgau  das  Kapitel  Reutlingen,  der  Huntare  Swiggerstal- 
gau  das  Kapitel  Urach  entspricht.  Man  muss  jedoch  von  dem 
Kapitel  Reutlingen,  was  rechts  und  links  vom  Neckar  liegt, 
insbesondere  Kirchentellingsfurt,  das  zum  Sulichgau  gehörte, 
wegnehmen. 

Der  Pfullichgau,  des  Fnlhin  Gau,  dessen  Name  in  dem 
der  Stadt  Pfullingen  erhalten  ist,  lag  an  beiden  Seiten  des 
Neckar  von  Kirchentellinsfurt  bis  Mittelstadt  und  füllte  am 
rechten  Ufer  das  Thal  der  Echatz  aus.  Die  Huntare  heisst 
Gau,  pagus  und  einmal  938  comitatus. 

938  Der  König  Otto  verschenkte  in  Alemannia  in  comitatu  comitis 
Herimanni  in  pago  Pfullichgouue  in  loco  Hoheuouua  (Houau  DA.  Reut- 
lingen) qnandaiu  piscationein,  hactenus  ad  regiam  potestntem  pertinentem, 
a natatorio  tiuminis  Aclieza  (Echatz)  nuucupati,  quem  circummanentes 
abusive  nomine  lacum  (Gewann  Entensee  hei  Pfullingen)  appellant  cum 
fundo  et  alveo  ipsins  fluminis  etc.  Wirt.  180. 

Huntarenorte: 

OA.  Reutlingen:  Pfullingen,  Honau. 

Die  Huntare  ist  die  spätere  Grafschaft  Achalm. 

Das  Swiggerstal,  der  Thalgau  des  Swigger,  lag  gleichfalls 
an  beiden  Seiten  des  Neckar  von  Neckartenzlingen  bis  unter 
Neckarthailfingen  und  gehörte  im  Uebrigen  dem  Gebiet  der 
Erms  an. 

Die  Huntare  heisst  pagus  und  einmal  im  12.  Jahrhundert 
comitatus. 

1276  Tettingen  (Dettingen  OA.  Urach)  situtn  in  Swigerstal.  Liber 
deciinationis  im  Freiburger  Diöcesanarchiv  I,  78. 

Anfang  des  12.  Jahrhunderts:  ltuderchingeu  (ltiederich  OA.  Urach), 
quod  situm  est  iu  pago  Swiggerstal  in  comitatu  Eginonis  comitis.  C'od. 
Hirsau.  RI.  34  b. 

Aus  derselben  Zeit:  Metzingen  (Metzingen  OA.  Urach)  iu  Swiggerstal 
Ebenda  Bl.  44. 

134t  Hasslach,  Schlaitdorf  (OA.  Tübingen),  Hart  hausen  (OA.  Stuttgart), 
Aich,  Orötziugcn,  Neckartenzlingen,  Neckarthailfingen,  Altdorf  (OA.  Nür- 
tingen), Bempflingen,  Mittelstadt  (OA. Urach).  Nürtinger Oberamtsbeschreibung 
102  nach  Raumann  117. 

Zu  dem  Kapitel  Urach  gehörte  auch  Bleichstetten  OA.  Urach,  aut 
der  Alb  gelegen. 


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415 


1102  Quicquid  supra  Alpes  habere  videor  in  loco,  qui  Bleichstetin 
dicitur.  Wirt  263. 

Die  Beziehung  supra  Alpes  ist  rein  geographisch,  ohne  Beziehung  auf 
den  ürossalbgau. 

Huntarenorte 
links  vom  Neckar: 

OA.  Tübingen:  Hasslach,  Schlaitdorf; 

OA.  Stuttgart:  Harthausen; 

OA.  Nürtingen:  Aich,  Grötzingen; 
am  Neckar: 

OA.  Nürtingen:  Neckartenzlingen,  Neckarthailtingen; 

rechts  vom  Neckar: 

OA.  Nürtingen:  Altdorf; 

OA.  Urach:  Bempflingen,  Mittelstadt,  Riedericb,  Metzingen,  Dettingen. 

Später  ist  Swiggerstal  die  Grafschaft  Urach. 


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Vierundzwanzigstes  Kapitel. 


Der  Nagoldgau. 

Innerhalb  des  Gross- Nagoldgau  lagen,  urkundlich  nach- 
zuweisen, fünf  H untaren,  der  Bibligau,  Ambrachgau,  Sulichgau, 
Waltgau,  Haglegau. 

Ihrer  geographischen  Lage  nach  schlossen  sich  dem  Gross- 
gau ferner  die  Hattenhuntare  und  die  Glehuntare  an;  sie 
mögen  ihm  also  auch  angehört  haben,  falls  man  nicht  an- 
nehmen sollte,  dass  beide  Huntaren  als  solche  erst  nach  Auf- 
lösung des  Grossgauverbandes  gegründet  seien. 

Wie  der  Name  bezeugt,  sind  die  ersten  Ansiedlungen 
im  Gebiet  der  Nagold  zu  suchen.  Vielleicht  umfasste  der 
Grossgau  ursprünglich  den  ganzen  Flusslauf,  aber  die  fränkisch- 
alamannische  Grenze  des  Jahres  496  war  es  wohl,  die  ihn  auf 
den  oberen  Lauf  einschränkte,  bis  dahin,  wo  die  Nagold  die 
Tainach  aufnimmt.  Die  Grossgaugenossen  werden  sich  zu- 

nächst in  den  reichen  Fluren  der  Umgegend,  dem  Bibligau, 
Ambrachgau,  dem  nördlichen  Sulichgau,  dem  südlichen  Waltgau 
links  des  Neckar  angesiedelt  haben  (S.  76,  265).  Hier  unter- 
scheidet man  noch  heut  zu  Tage  das  kornreiche  „obere  Gäu“, 
das  sich  in  weiter  Ausdehnung  von  Herrenberg  bis  Horb  er- 
streckt, von  dem  westlich  anstossenden  „Schlehen-“  oder 
„Heckengäu“,  das  im  Norden  von  Dornstetten  bis  znr 
Stammesgrenze  reicht.  Nachdem  dann  zunächt  der  Sulichgau 
den  Neckar  überschritten,  werden  am  rechten  Ufer  die 
Huntaren  Haglegau  und  Hattenhuntare  gegründet  sein.  Die 
Glehuntare,  die  erst  im  Jahre  1007  erwähnt  wird,  ist  als  eine 
dem  Schöubuch  abgewonnene  Koduug  anzusehen. 

Der  Gross-Nagoldgau  umfasste  von  der  Stammgrenze  im 
Norden  bis  zum  Schwarzwald  im  Westen  und  zur  schwäbischen 


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Alb  im  Süden  den  Abschnitt  des  Neckar,  der,  die  grosse  Biegung 
von  Norden  nach  Osten  umfassend,  sich  von  unterwärts  Sulz 
bis  unterhalb  Kirchentellinsfurt  erstreckte. 

Den  Huntaren  entsprachen  in  folgender  Art  die  Gebiete 
von  Kapiteln: 

der  Glehnntare  das  Kapitel  Böblingen, 

dem  Bibligau  und  nördlichen  Ambrachgau  das  Kapitel  Herren- 
berg, 

dem  südlichen  Ambrachgau  und  dem  Sulichgau  das  Kapitel 
Rottenburg, 

dem  Sulichgau  weiter  Theile  des  Kapitel  Hechingen  und 
Reutlingen, 

dem  Waltgau  das  Kapitel  Dornstetten, 
dem  Haglegau  das  Kapitel  Haigerlocb, 

der  Hattenhuntare  und  einem  Theil  des  Sulichgaus  das  Kapitel 
Hechingen. 

In  der  fränkischen  Zeit  wurde  der  Gau  aufgelöst.  Denn 
nicht  er,  sondern  fünf  seiner  Huntaren  werden  als  Grafschaften 
bezeichnet:  Glehuntare,  Bibligau,  Waltgau,  Haglegau  und 
Hattenhuntare. 

Die  Bezeichnungen  für  den  Grossgau  sind  Gau  und  pagus. 
Die  über  ihn  sprechenden  Urkunden  sind,  nach  den  Huntaren 
geordnet,  folgende: 

Im  bibligau 

961  In  pago  Xagelekeuue  in  vico  Chuppinga  (Kuppingen  OA. 
Herrenberg)  Wirt.  1S5. 

Im  Ambrachgau 

s«l  In  pago  Xaglachgowe  in  villia  Mulenhusen  et  Keistodingen 
Mühlhausen  und  Kaistingen,  jetzt  Gewanne  der  Gemarkung  Herrenberg). 
Laur.  8632. 

883  In  pago  Xaglacbgowe  in  villis  Mulenbausen  et  Keistodinga. 
Laur.  3638. 

871  In  pago  Xaglachgowe  Keistodinga  et  Mulenhusa.  Laur.  3534. 
868  In  pago  Xaglachgowe  in  villa  Giselstede  (Giiltstein  (JA.  ilerren- 
berg).  Laur.  3535. 

868  In  pago  Xageldacgowe  in  Giselstedir  mann.  Laur.  2575. 

Im  Sulichgau 

780,  791  In  pago  Xaglagowe  in  villa  Bildacbingen  (Bildechingen 
OA.  Horb).  Laur.  2012,  2013,  3528. 

Im  Waltgau 

770  In  pago  Xaglachgowe  in  villa  Toruestat  (Dorustetten  OA.  Freuden- 
*tadt).  Laur.  3531. 

Cmair,  Geschichte  der  Alamannen.  27 


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770  Iu  pago  Naglachgowe  in  Glndeheimer  marca  (Glatten  OA.  Freuden- 
stadt'.  Laur.  3530. 

779  In  pago  Naglachgowe  in  villa  Gundirichinga  (Güudringen  OA. 
Horb).  Laur.  1529. 

Im  Haglegau 

889  Duas  curtes  Pirninga  (Gierlingen  OA.  ilorb'  (et  Erichingat  dictas 

in  pagis  (Turgaue  et)  Nagoltguue.  Wirt.  163. 

Hiernach  sind  Grossgauorte: 

OA.  Herrenberg:  Kuppingen,  Herrenberg,  Giiltstein; 

OA.  Horb:  Giindringen,  Bildechingcn,  Bierlingen; 

OA.  Freudeustadt : Dornstetten,  Glatten. 


Huntaren  und  Zehntschaften. 

1.  Glehuntra. 

Der  Glehuntra,  Huntare  des  Gleo,  entsprach  das  Kapitel 
Böblingen,  das  den  Schönbuch  von  der  Stammesgrenze,  Sindel- 
fingen  im  Norden,  Steinenbronn  im  Osten,  Weil  im  Schön- 
buch im  Süden,  Gärtringen  im  Westen,  in  sich  schloss:  Vai- 
hingen auf  den  Fildern,  das  dem  Kapitel  Böblingen  angehörte, 
wird  man  nach  seinem  Zunamen  zu  dem  Filderngau  zu  rechnen 
haben. 

Die  Glehnntare  trug  die  Bezeichnungen  der  Huntare,  des 
pagus  und  des  comitatus. 

1007  IiOcura  Holzgerningn  (Holzgerlingen  OA.  Hüblingen)  in  pago 
Glehuntra  et  in  comitatu  Hugouis  comitis.  Wirt.  206. 

2.  Ambrachgau. 

Der  Ambrachgau,  im  Süden  des  Kapitel  Herrenberg,  im 
Norden  des  Kapitel  Rottenburg  gelegen,  umfasste  das  Gebiet 
der  Ammer.  Die  Huntare  führte  nur  die  Gaubezeichnnng. 

779  In  Awbrachgowe  in  Mulenbusen  et  in  Waldowe,  in  Heistodingen. 
Laur.  3638  (Mühlhausen  und  Kaistingen  sind  Gewannen  der  Markung  Herren- 
berg,  wo  wahrscheinlich  auch  Waldowe  zu  suchen  ist). 

Also  Huntarenort:  das  jetzige  Herrenberg. 

Reusten  OA.  Herrenberg  war  die  Malst&tte  des  Ambraehgau: 

Vor  1138  Haec  traditio  facta  est  in  campo  Husten  praesente  comite 
Hugone  et  filio  ejus  Hcnrico.  Schenkungsbuch  von  Reichenbach  Wirt.  II,  409. 

Die  Zeh  ul  mark  (tii  Unfein  (OA.  Herrenberg)  fiel  in  die 
Huntare. 

868  In  pago  Nageldacgowe  in  Giselstedir  marca.  Laur.  2575. 


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8.  Bibligau. 

Dem  Bibligau  entsprach  das  Kapitel  Herrenberg,  wenn  man 
das  Ammerthal  davon  ausnimmt.  Die  Huntare  sties  im  Norden 
an  die  Stammesgrenze,  umfasste  den  oberen  Lauf  der  Nagold, 
reichte  im  Westen  bis  zum  Schwarzwald,  schloss  im  Osten 
Gedungen,  Dachtel,  Deckenplronn  und  im  Süden  Haiterbach 
und  Hochdorf  in  sich,  während  Herrenberg  schon  im  Ambrach- 
zau  lag. 

Die  Huntare  wird  als  Gau,  pagus,  comitatus  bezeichnet. 

966  ln  pago  Bibligowe  in  villa  Chuppinga  {Kuppingun  OA.  Herren- 
berg) in  comitatu  Anseltni.  Wirt.  187. 

Hnntarenort : 

OA.  Herrenberg:  Kuppingun. 

Die  Zfhnltnark  Haslach  wird  erwähnt: 

775  In  Haselacher  marca  (Haslach.  OA.  Herrenberg).  Laur.  3616. 

4.  Sulichgau. 

Dem  Sulichgau  entsprachen  zunächst  das  Kapitel  Rotten- 
barg. abgesehen  von  dem  Gebiet  der  untereu  Ammer;  dann 
dem  Neckar  nahe  gelegene  Theile  des  Kapitel  Hechingen  (der 
Bezirk  auf  deu  Härdten)  und  des  Kapitel  Reutlingen  (Kirchen- 
tellinsfurt). Die  Huntare  lag  an  beiden  Seiten  des  Neckar- 

thals, links  von  Bildechingen  bis  unter  Tübingen,  rechts  von 
Bieringen  bis  unter  Kirchentellinsfurt. 

Die  Huntare  wird  als  Gau,  pagus,  comitatus  bezeichnet. 

Jahr?  Villa  Argossingen  iu  Sultigowe  (?).  Hirschauer  Traditionsbuch 
Bl.  <10.  Stalin  I 310  liest  mit  Kecht  in  Sulichgowe,  du  Argossingen  das 
heutige  Ergenzingen  OA.  Rottenburg  ist. 

Andere  Namensformen  des  12.  Jahrhunderts  sind  Argozingen,  Argo- 
zingon,  Argozzingen,  Ergozingin  nach  <lem  Schenkuugsbuch  von  Keichenbacb 
Wirt.  II  S.  306,  405,  407,  416,  417. 

888  ln  pago  Uattinhunta  et  Sulihgeiuua  in  comitatibus  Peringarii  et 
Eperhardi  villa,  quae  dicitnr  Tuzzilinga  (Dusslingen  OA.  Tübingen).  Wirt. 
162.  Dusslingen,  von  der  durchtiiussemlen  Steinlach  in  zwei  Hälften  und 
demnach  zwischen  den  beiden  Naehbarhnntaren  getheilt,  gehörte  kirchlich 
dem  Kapitel  Hechingen  an. 

1007  Locum  Kirihbeim  (Kirchentellinsfurt  OA.  Tübingen)  dictum  in 
pago  Sulichgowe  et  in  coiuitatu  Hessini  comitis.  Wirt.  208.  Die  Orte 
Kirchheim  nud  Tbälinsfurt  sind  zu  dem  Einen  Ort  Kirchentellinsfurt  zu- 
sammengewaebsen. 

11.  Jahrhundert.  In  Alamannia  in  pago,  quem  ex  villa  Sulichi  (Sülchen 
OA.  Rottenburg)  Sulichgeuwe  vocant  antiquitus.  Leben  des  heiligen  Menrad, 

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gestorben  861,  in  den  späteren  Interpolationen  bei  Hormannus  Contractus 
genannt:  comes  de  Snlgen,  filius  comitis  de  Sulgen.  Stalin  I 310. 

1057  Predium  Sulicba  (Sülchen),  norainatutn  in  pago  Sulicligowe  in 
comitatu  Hessonis  comitis  situm.  Wirt.  230. 

Huntarenorte 

OA.  Rottenburg:  Ergenzingen.  Siilchen; 

OA.  Tübingen:  Dusslingen  halb,  Kirchentellinsfurt. 

Drei  Zehntmarh-n  sind  in  der  Hnntare  nachzuweisen,  die 
Bildechinger,  die  Eutinger  und  die  Mähringer  Stark,  die  beiden 
ersten  links,  die  letzte  rechts  vom  Neckar. 

Die  Bihlnliingcr  Mark  wird  10  mal  erwähnt,  davon  einmal 
als  in  dem  Gross -Nagoldgau  liegend;  die  villa  Bildachingeu 
oder  der  Ort  ohne  Zusatz,  aber  gleichfalls  im  Gross- Nagoldgau 
liegend,  zweimal. 

Die  Eutinger  Mark  wird  einmal  neben  der  Bildechinger 
genannt  (beide  im  OA.  Horb). 

780  In  pago  Alamannorum  in  Bildaehinger  marca  et  in  Udinger 
(Eutinger)  marca  (OA.  Horb).  Laur  3230. 

Weiter  767—783.  In  pago  Alamannorum  in  Bildaehinger  marca. 
Laur.  3231—3238. 

791  In  pago  Naglachgowe  in  Bildechinger  marca.  Laur.  2013. 

' 780  In  pago  Naglachgowe  in  Bildichiugen.  Laur.  2012. 

791  In  pago  Naglagowe  in  villa  Bildachingen.  Laur.  3528. 

Eine  weitere  Zehntschaft  der  Huntare  war  das  Kirchspiel 
Mähringen  auf  den  Härdten  (OA.  Tübingen),  von  dessen  Mark  aller- 
dings Nachrichten  nicht  vorhanden  zu  sein  scheinen.  Aber  lange 
erhieltsich  das  darauf  hindeutende  „Kirspel-  und  zulanfende  Gericht“ 
Mähringen,  das  1762  ein  uraltes,  in  Vergessenheit  gerathenes 
genannt  wird.  Das  Gericht  war  für  die  Orte  des  Kirchspiels 
zuständig,  für  Mähringen,  Immenhausen,  Ohmeuhausen,  Wank- 
heim,  Jettenburg.  Die  Richter  wurden  aus  den  Kirchgängern, 
den  Kirchspielleuten  gewählt.  Der  Schultheiss  von  Mähringen 
war  der  Stabhalter  des  Gerichts,  das  weiter  aus  24  Richtern 
bestand  und  an  Sonn-  und  Feiertagen  nach  der  Messe  dingte. 
Nach  dem  Verlassen  der  Kirche  wählte  der  Schultheiss  die 
Richter,  indem  er  sie  innerhalb  der  Kirchhofsmauer  ergriff  und 
ihnen  gebot,  stille  zu  stehen.  Wer  aber  zwei  Schritte  vom 
Kirchhof  entfernt  war,  dem  konnte  der  Schultheiss  nicht  mehr 
gebieten.  „Es  geschah  dick,  dass  die  Richter  von  der  Kirche 
gingen,  vor  und  ehe  die  Mess’  bis  zu  End’  beschehen,  und  dass 
man  Gewalt  anlegen  musste,  ein  Gericht  zusammen  zu  bringen. 


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Mancher  wäre  das  Urtheil  und  Rechtsprechung  gern  vertragen 
gewesen.“  Man  gab  den  Richtern  daher  2,  später  5 Schilling 
Heller  (4  — 10  Kreuzer). 

Das  Gericht  wurde  auch  von  den  dem  Kirchspiel  benach- 
barten Orten  in  Anspruch  genommen,  wenn  die  Parteien  sich 
verglichen  hatten,  ihr  Recht  in  Mähringen  zu  suchen.  Der 
Beklagte,  der  dann  nicht  erschien,  musste  Strafe  zahlen.  „Es 
war  ein  gross  Ding  um  dasselbe  Gericht,  das  man  von  wydem 
gesucht,  und  etliche  Dörfer  ir  urteil  da  gesucht.“  Da  werden 
Kusterdingen,  Wannweil  und  Kirchentellinsfurt;  Nehren,  Duss- 
lingen,  Derendingen,  Windelsheim  (wo?)  und  Bühl  genannt. 
Daher  auch  der  Name;  „Zulaufendes  Gericht“,  ein  Gastgericht 
für  Fremde,  Manche  gaben  ihm  auch  den  Namen  eines  Land- 
gerichts. (Georg  David  Beger:  Von  dem  gantz  in  Ver- 
gessenheit gerathen  gewesenen  uralten  Kirspel-  und  zu- 
laufenden Gericht  zu  Mähringen,  Reutlingen  1762.  Auszüge 
bei  Gayler  1840  S.  117;  Oberamtsbeschreibung  Tübingen 
S.  438:  Baumann  Gaugral'schaften  S.  121,  128,  135;  Thudich- 
um  Beilage  zur  Allgemeinen  Zeitung  vom  2.  Mai  1883). 

5.  Waltgau. 

Der  Huntare  Waltgau  entsprach  das  Kapitel  Dornstetten 
(oder  Horb).  Sie  füllte  den  Raum  zwischen  dem  Schwarzwald 
(Reichenbach  bis  Losburgj  und  dem  Neckar  (unterhalb  Sulz  bis 
unterhalb  Horb)  aus.  In  der  einzigen  Urkunde,  die  von  ihr 
spricht,  heisst  sie  Gau  und  comitatus. 

781  In  Waltgowe  in  comitatu  Geroldi  comitis  in  villa  Gladeheim 
(Glatten  OA.  Freudenstadt)  et  in  Tornigestat  (Dornstetten,  daselbst). 
Chron.  Gottwicense  S.  099,  842  und  Auszug  in  Laur.  3637. 

H unteren orte 

OA.  Freudenstadt:  Dornstetten  und  Glatten. 

Der  Waltgau  zerfiel  mindestens  in  vier  Zehntmarken: 
Waldahure,  Schopf  loch.  Glatten  und  Dornstetten  oder  Wald- 
geding. 

Die  Mark  Waldahure,  wohl  mit  dem  Hanptort  (Ober-, 
Unter-)  Waldach  im  Waldachthal  (OA.  Freudenstadt). 

782  In  pago  Alemanuie  in  Waldahure  marca  et  (und  zwar)  in  villa 
Tungelingen  (Thumlingen  OA.  Freudeustadt)  et  in  Daleheim  (Ober-,  Unter- 
thalheim  OA.  Nagold)  et  in  llezestetten  (Grünmetstetten  OA.  Horb). 
Laur.  3305. 


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Die  Marl:  Schopfloch  (OA.  Freudenstadt). 

772,  779  Iu  pago  Aleinannorum  in  Scopfolder  marca  in  Bertoldesbare 
Laur.  3270. 

807  In  pago  Alemanio  in  Sebopflochheimer  marca.  I.aur.  3297. 

Beide  Schopfloch  OA.  Freudenstadt. 

Die  Mark  Glattm  (OA.  Freudenstadt). 

766,  783.  791  In  pago  Alemannoruin  in  Glatheimer  marca.  Laur. 
3281-84. 

770  In  pago  Naglacbgowe  in  üladeheimer  marca.  Laur.  3530. 

Die  Mark  Domstettm  oder  das  Wahh/edhig. 

Sie  führte  den  ersten  Namen  nach  der  Stadt  Dornstetten 
OA.  Freudenstadt.  In  der  Lorscher  Sammlung  der  zweiten 
Hälfte  des  8.  Jahrhunderts  ist  bald  von  der  Stadt,  bald  von 
der  (Zehnt-)  Mark  die  Rede.  Die  Stadt  heisst  Tornestat,  villa 
Tornigestat,  Tornegestat,  villa  Stedden.  Ihre  Lage  ist  be- 
zeichnet nach  folgenden  Grossgauen,  in  pago  Alemanie  oder 
Alamannorum,  in  pago  Naglacbgowe  (Laur.  3531),  in  pago 
Westergowe  (wahrscheinlich  irrig,  3803),  nach  der  Bar- 
grafschaft in  Bertoldesbaren  (3271),  und  nach  der  Huntare  in 
Waltgowe  (3637).  Nach  der  Stadt  heisst  die  Mark  Torni- 
gesteter  marca  (8  mal),  Tornigestater  marca  (2  mal),  Torniges- 
steter  marca  (2  mal),  Tornigavisteter  marca  (lmal),  und  man 
wird  nicht  zweifeln,  dass  sie  eine  Zehntmark  war,  wenn  man 
bedenkt,  dass  aus  ihr  13  Vergabungen  an  das  Kloster  Lorsch 
vorkamen. 

Es  scheint,  dass  die  Stadt  schon  damals  auch  eine  aus  der 
Zehntmark  ausgeschiedene  Stadtmark  hatte.  Denn  es  heisst: 
In  Dornstetten  (das  ist  wohl  in  seiner  Stadtmark)  besitzt  das 
Kloster  Lorsch  5 Höfe,  einen  Herreuhof  uud  4 Hörigenhöfe, 
von  denen  jeder  einen  Frischling  im  Werth  von  3 Denaren, 
15  Maas  Bier  uud  1 Huhn  zu  liefern  hat.  In  Tornegestat 
sunt  hübe  5,  una  in  dominico,  4 serviles,  quarum  unaquaque 
solvit  1 friscinc,  tres  denarios  valentem,  15  sitnlas  de  cervisa, 
pullum  1.  Laur.  3656. 

Die  übrigen  Urkunden  enthalten  nur  Vergabungen  aus  der 
Zehntmark  an  das  Kloster,  bei  denen  folgende  auch  sonst  ge- 
bräuchliche Formeln  verwendet  wurden : 

.Ich  schenke  dem  Kloster,  was  ich  in  der  Dorustetter  Mark  etwa 
besitze,  auch  mit  dem  Zusatz:  .an  Hufen,  Wiesen,  Wald.  Wasser  und 
Gebäuden“ ; oder  .an  bebautem  oder  unbebautem  Land,  boweglichera  oder 


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nnbeweglichein  Vermögen  besitze“ ; oder  .50  Morgen  Ackerland,  ein  Gehöft 
mit  Gebäuden  und  eine  Hufe“.  Ego  dono  in  Tornigesteter  mar  ca  quidquid 
ibidem  habere  visus  sinn,  wol  mit  dem  Zusatz  in  mansis,  pratis,  silvis, 
aqnis.  domibns,  edificiis.  oder  in  terris  cultis  et  in  incultis,  rebus  mobilibus 
et  immobilibtis,  oder  jnrnales  50  de  terra  aratoria,  curium  et  mansum  cum 
edificiis,  immer  stipulatione  snbnixa. 

Im  15.  Jahrhundert  wurde  die  Zehntmark  nach  ihrem 
Gericht  „Waltgeding“  genannt  und  ihre  damaligen  Rechts- 
zustände sind  in  einem  Weisthum,  der  „Verkündigung  des 
Waldgedings“,  vermuthlich  von  1456,  und  einigen  anderen 
Urkunden  verzeichnet,  die  sich  in  Grimms  Weisthümern  I 
380—388  befinden. 

In  der  Ahe  (beim  Dorf  Aach)  nimmt  der  Glattbach  zwei 
andere  Bäche  auf,  den  Stockerbach  und  Ettenbach.  Hier,  wo 
die  drei  Flnssthäler  zusammenstossen,  lag  die  Malstätte  der 
Zehntmark.  In  den  Thälern  selbst  oder  ihrer  Umgebung  lagen 
die  Markdörfer:  Halhvangen  am  Glattbach  (hier  auch  Kübel- 
bach genannt),  Untermusbach  und  Gründel  (Grünthal)  am 
Slockerbach,  Wittlensweiler  am  Ettenbach,  Aach  an  der  Ver- 
einigung der  Bäche,  und  weiter  Dietersweiler  nnd  Benzingen; 
sie  bildeten  das  Kirchspiel  Grünthal  und  besetzten  das  Gericht, 
sind  also  wol  die  ältesten  Dörfer  in  der  Mark.  Ausserdem 
gehörte  Dornstetten  zur  Mark,  das  ihr  ja  schon  im  8.  Jahr- 
hundert den  Namen  gab.  „Dieses,  heisst  es  in  dem  Weisthum, 
sind  die  dörfflin  und  weyler,  die  gehörent  zusammen  inn  das 
gericht,  lenger  und  ellter  denn  Dornstetten  die  statt.“ 

Das  Gebiet  der  Mark,  „die  wyttraichi  und  gewaltsami, 
die  jnn  das  gericht  gehört“,  ging  aber  noch  weiter.  „Sie  hebt 
an  (im  Osten)  by  dem  se  (See)  under  Bittelbrunn  (OA.  Horb) 
nnd  gät  (im  Westen)  bis  uff  den  waldt  (Schwarzwald)  by  dem 
steinin  Crütz  und  fallet  dann  an  (im  Süden)  in  dem  Dierstein 
under  Glatthaim  (Burg  Thürstein  unter  Glatten)  und  gat  (im 
Norden)  biss  an  den  Dürrenbach  zwischen  den  zweien  Mues- 
pachen“  (zwischen  Ober-  und  Unter-Musbach). 

Diese  4 Grenzpunkte  des  Waldgedings  fielen  in  die  noch  näher 
bezeichneten  Grenzlinien  eines  Wildbannes  des  Markgrafen  von 
Baden,  welcher  das  Waldgeding  umfasste,  aber  die  Glatter  und 
Schopflocher  Mark  einschloss.  Die  Grenzlinie  des  Wildbannes 
berührte  (im  Osten)  im  OA.  Horb  Bittelbronn,  Salzstetten  nnd 
Lützenhard,  (im  Norden)  im  OA.  Freudenstadt  den  Glattbrunnen 


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zwischen  Unter-  und  Ober-Musbach,  (im  Westen)  die  Mündung 
des  Thonbach  in  die  Murg  bis  Baiersbronn  (dieses  ausge- 
schlossen), den  Forbach  aufwärts  bis  (im  Süden)  Lossburg.  die 
Glatt  bis  zur  Burg  Thierstein  unter  Glatten,  Schopfloch  und 
Bittelbronn.  Ein  Theil  dieses  Wildbannes,  wohl  vom  Mark- 
grafen erworben,  war  dann  im  Besitz  des  Grafen  von 
Württemberg. 

Nach  einem  Grenzbeschrieb  von  1(101  standen  Waldting- 
steine  von  Waldach  aufwärts  am  Beutenbach,  bei  Lossburg,  und 
es  sollte  sich  ein  dritter  an  der  Schopflocher  Ziegelhütte 
befinden. 

Soweit  das  Gebiet  der  Zehntmarken,  insbesondere  des 
Waldgedings. 

Die  „verkhündigung  des  waldgedings“  führt  in  die  ältesten 
Zeiten  zurück.  Die  sieben  genannten  Dörfer  waren  die  Ur- 
dörfer  der  Mark.  Nur  aus  ihnen  wurden  die  Richter  des  Ge- 
dings  gezogen.  Das  Weisthum  giebt  einerseits  das  genossen- 
schaftliche Recht  der  autonomen  Mark  wieder  und  zwar  in 
ganzem  Umfang  das  „der  armen  lütt  uss  den  vorgenannten 
(7)  dörtfern  und  wylern“,  und  daneben  gewisse  Markrechte,  an 
denen  auch  „die  burger  von  Dornstetten“,  der  jüngeren  Stadt, 
betheiligt  waren,  das  Weide-  und  das  Jagdrecht  und  das  aus 
der  Markgemeinschaft  entspringende,  gegenseitige  Schutzrecht.. 
Von  den  andern  später  gegründeten  Orten  ist  überhaupt  nicht 
die  Rede.  Im  Uebrigen  werden  die  Rechtsverhältnisse  der 
Stadt  nicht  dargestellt.  Sie  waren  jedoch  dieselben,  wie  die 
der  älteren  Markgenossen  und  haben  sich  bis  in  unser  Jahr- 
hundert erhalten  (das  Königreich  Württemberg  .'5,  288). 

Neben  dem  Recht  der  Mark  wird  auch  das  Recht  der  frv 
aignen  Güter  dargestellt.  Andererseits  weisen  die  Urkunden 
das  Recht  des  Landesherra  und  Obermärkers,  wie  es,  das  der 
Unterthanen  beschränkend,  sich  im  Lauf  der  Zeiten  entwickelt 
hatte.  „Die  wittraichi  und  gewalltsami,  die  in  das  gericht 
gehört,  die  sol  ein  her  hon,  der  Dornstetten  innhät“.  Das 
waren  in  raschem  Wechsel  die  Markgrafen  von  Baden  seit 
1218  die  Grafen  von  Urach-Fürstenberg,  seit  1308  die  Grafen 
von  Hohenberg  und  seit  1320  die  von  Württemberg.  Sie 
wurden  durch  den  Amtmann  von  Dornstetteu  vertreten,  der  in 
dem  Schloss  der  ummauerten  Stadt  seinen  Sitz  hatte. 


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42.'» 


Nach  dem  Weisthum  sollen  die  armen  Leute  der  tlrdörfer 
(es  waren  Freie  und  Unfreie),  und  die  12  Richter,  die  aus 
ihnen  gezogen  würden,  „jars  zwürent“  zum  Maitag  und  St.  Gallen- 
tag oder  8 Tage  vorher  oder  nachher  zu  ungebotenem  Ding  in 
das  Waldgericht  kommen,  das  unter  dem  Vorsitz  des  Amt- 
manns von  Dornstetten  in  der  Ahe  abgehalten  wurde.  Hier 
sollte  man  zu  Gericht  sitzen,  „ob  Beigensteinn  hus  an  dem 
lioflin  und  anders  niendert,  es  were  denn  Unwetter,  so  mags 
ein  amptmann  ziehen  linder  ein  obtach.“  Beigensteins  Haus  ist 
heute  das  Wirthshaus  zur  Sonne.  Vor  ihm  auf  der  Land- 
strasse, die  an  den  Glattbach  stösst,  wurde  das  Märkerding 
abgehalten,  und  bei  Unwetter  zog  man  sich  in  eine  Art  Veranda 
zurück,  die  in  der  Front  der  Sonne  angebracht  ist.  Noch 
andere  Umstände  deuten  auf  eine  alte  Dingstätte  hin.  Hier 
war  eine  Freistätte  für  Uebelthäter.  Bis  in  die  20  er  Jahre 
unseres  Jahrhunderts  war  im  oberen  Stock  der  Sonne  das 
Rathszimmer  und  noch  wird  dort  ein  Kästchen  an  der  Wand 
gezeigt,  das,  wie  man  hört,  gegen  die  Verfolgung  schützte,  sobald 
es  mit  der  Hand  ergriffen  wrar.  Im  unteren  Stock  war  das 
Wirthszimmer,  in  dem  bis  zur  gleichen  Zeit  alle  Hochzeiten 
des  Kirchspiels  Grünthal,  dem  die  7 Markorte  angehörten,  ge- 
feiert werden  mussten. 

In  den  zwei  Jahresgerichten  hatten  die  Richter  das  Weis- 
thtim  zu  „verkhünden,  unnsserm  gnädigen  Herrn  (von  Dorn- 
stetten) sin  herrlikheit,  denn  bürgern  von  Dornstetten  und 
denn  armen  lütten,  die  in  das  gericht  gehörent,  wü  recht  und 
fryheiten.“  Ein  solches  Weisthum  ist  das  vermuthlich  im 
Jahre  1456  niedergeschriebene. 

Die  armen  Leute  hatten  „alda  zu  rügen  uff  den  aid,  wass 
ruegbar  ist  vor  denn  elltern,  es  sye  an  holltz,  an  veld,  an 
wasser,  an  waiden,  oder  an  freuein.  allss  ferr  denn  die  wyttraichi 
und  gewallttsammi  gäth.“  Die  Richter  hatten  die  Rügung  der 
Frevel  vorzunehmen  und  „recht  zu  sprechent  um  erb  und  umb 
aigen  unnd  umb  die  güeter,  die  da  gehörent“  zu  den  Mark- 
dörfern. 

„Wer  es,  das  den  lütten  uff  die  gericht  inn  der  Ahe  nit 
gericht  mücht  werden“,  so  hat  der  Amtmann  ein  „affterting  auf 
den  9ten  Tag  genn  Dornstetten  an  denn  kreben“  zu  gebieten. 
„Were  öch  sach,  das  man  vor  unfrid  oder  Unwetter  inn  dem 


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426 


kreben  nit  bliben  möcht,  so  ist  das  gericht  so  starckh  au  im 
selbs,  ehe  das  underwegen  belibe,  so  soll  man  das  gericht  ziehen 
under  die  glockschnur,  und  soll  da  richten,  uns  (bis)  das  jeder- 
mann gnueg  gericht  wurt.“  Der  Kläger  konnte  aber  in  das 
Afterding  nur  dann  gebieten,  wenn  er  in  das  Waldgericht  für- 
geboten  hatte. 

Des  armen  Mannes  „Recht  und  Freiheit“  war  ein  anderes, 
wenn  es  sich  um  „fry  aigene  Gueter“  und  ein  anderes,  wenn 
es  sich  um  sein  Recht  an  der  Mark  handelte. 

„Weres,  ob  einem  armmann  notli  angieng,  so  mag  er  fry 
aigene  güeter  versetzen  oder  verkhoffen,  unnd  die  niessen,  wie 
inn  gelüst  unnd  gelangt,  unnd  ob  im  eben  were,  er  möcht  die 
niessen  über  Rin,  dass  soll  im  nieman  weren,  doch  soferr  das 
er  daruss  die  gesetzten  stüren  geb,  denen  sy  dann  daruss  ge- 
liörent.“ 

Das  Märkerrecht  dagegen  hatte  das  Innehaben  eines  Hauses 
zur  Voraussetzung,  für  das  jährlich  zwei  Viertel  Haber,  genannt 
Waldhaber,  an  den  Herrn  von  Dornstetten  geliefert  werden 
musste.  „Gelüst  den  arm  mann,  er  mags  abbrechen  und  in  ein 
anders  (dorff)  füehren,  und  ers  in  sie  alle  gebringt:  gelangt  in, 
er  mags  füehren  inn  die  statt,  da  soll  es  denn  inne  beliben.“ 

Der  arme  Mann  hatte  gegen  Lieferung  des  Waldhabers 
das  Recht,  „zu  nüessen  wun,  weiden,  holtz,  veldt  unnd  wasser 
und  sich  daruss  zu  ernehren,  wie  er  mag.“  Er  konnte  auch 
„holtz  für  denn  waldt  gebringen:  der  mags  dem  geben,  wem  er 
will,  darumb  soll  im  nienmn  nichts  thun.“ 

Er  hatte  weiter  das  Recht,  „Haiden  zu  rneigen“  (auf  dem 
wildbewachsenen  Land  zu  mähen). 

Zwei  Sägmühlen  waren  in  der  Mark.  Es  w-ar  gestattet, 
„auf  einer  darzu  gueten  hofstatt“  eine  weitere  zu  bauen. 
Einige  Wasser  waren  gebannt,  im  Uebrigen  hatte  der  arme 
Mann  das  Recht  „visch  zu  fallen,  dass  er  in  seinem  hus  isset.“ 
Kur  mit  des  Amtmanns  Willen  durfte  er  sie  verkaufen. 

Nach  der  Darstellung  der  „Verkhündigung“  waren  den 
Burgern  der  Stadt  und  den  armen  Leuten  die  Weide  und  die 
Jagd  gemein. 

„Den  bürgern  von  Dornstetten  unnd  allen  den.  die  in  das 
waldgericht  gehürent,  ein  gemein  ferdt  vihcwaid  ist,  unnd  die 
statt  unnd  jegkliche  dürfflin  zusammen  fahren  mögent,“ 


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427 


Wie  auch  sonst  im  Nagoldgau  (siehe  meine  Grafschaft 
Hohenzollern  171),  so  sind  auch  in  der  Mark  des  Waldgedings 
Reste  der  freien  Pürsch  nachzuweisen. 

Geber  das  Jagdrecht  der  Burger  von  Dornstetten  und  der 
Markgenossen  in  den  Wildbannen  des  Markgrafen  von  Baden 
und  des  Grafen  von  Wiirtemberg  verhalten  sich  ausser  der 
Verkhündigung  ein  „urthel  von  der  Obermunspach  wegen,  an- 
betreffend das  waldgeding“  ohne  Jahreszahl,  so  wie  eine 
..Kundschaft  des  Gerichts  in  der  Ahe“  von  1400. 

Von  dem  Wildbann  des  Markgrafen  von  Baden  heisst  es: 
„die  von  Dornstetten  und  welche  inn  das  waltding  gehörent, 
mügent  wohl  hetzen  über  land  schwiun  und  beren  und  sust  hasen, 
hunr,  füchs,  aichhern  fähen,  oder  wass  sie  wollent,  ussgenommen 
rotbwild,  — doch  dass  sie  kliein  wild  schwein  noch  rechhag 
machen  sollen“:  und  von  dem  Wildbann  des  Grafen  von 
Wirtemberg:  „Sie  hand  recht,  zu  jagen  und  zu  fiihen  allerhandt 
wildtprechtz,  es  syen  vogel,  aichhürn,  schwin,  beren,  fuchs  oder 
wölff,  wie  es  genannt  ist,  — ohn  allein  rothwild,  dass  sind 
hßrsch,  binden  und  reher,  dass  solient  sie  nit  vähen,  denn  mit 
eins  amptmanns  von  Dornstetten  willen.  Welcher  aber  ouch 
über  jär  einen  hund  hett,  der  mag  wohl  einen  hasen  fähen  oder 
wie  viel  er  gefähen  mag,  die  er  in  sinem  hus  isset,  doch  soll 
er  kheinen  verkhoffen.“ 

Das  Recht  der  Jagdfolge,  so  lange  die  Verfolgung  dauerte, 
ist  anerkannt;  das  Recht  des  Jagdherrn  gebührte  dem,  auf 
dessen  Gebiet  das  Wild  fiel,  im  Bezirk  des  Markgrafen:  „Sie 
solient  von  eim  beren  das  höpt  und  von  einem  hawenden  schwin 
und  einer  lienen  (Bache)  öeh  das  höpt  geben  und  von  einem 
frischling  nuntz  (nichts),  unnd  soll  man  dem  schwin  die  obren 
hinder  sich  biegen  unnd  hinder  denn  obren  das  höpt  abschniden“; 
im  Gebiet  des  Grafen  von  Wirtemberg:  „von  eim  beren  das 
haupt  und  ein  hand,  item  von  eim  hawenden  schwin  die  Schulter 
mit  zwain  rippen,  dass  das  wildprett  fürschlacb,  item  von  einer 
lienen  das  höpt,  item  von  einem  frischling  nichtz.“ 

Soweit  „von  des  jagens  wegen.“ 

Die  Genossenschaft  der  Mark  äusserte  sich  auch  in  der 
Hülfsbereitschaft  für  Noth  und  Gefahr. 

Wollten  die  Burger  ihr  Schloss  in  Dornstetten  „bessern 
mit  zunen  (einzäunen),  so  sollten  sie  ein  oder  zwei  Tage  zunen, 


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428 


und  dann  die  armen  Leute  ihnen  helfen.  Auf  Mahnung  sollte 
man  zu  Hülfe  eilen,  „weres,  dass  die  burger  vou  Dornstetten 
vintschafft  hetten,  und  ihnen  oder  den  dörfflin  einem  wurt  ihr 
vicli  genommen  oder  burger  oder  arm  me  lütt  gefangen,  oder 
sust  geröpt  wurden.“  — 

Die  Auflösung  der  Mark  erfolgte  erst  in  unserm  Jahr- 
hundert. Die  Stadt  Dornstetten,  heisst  es  in  dem  „Königreich 
Württemberg“  3.  288,  genoss  mit  Aach,  Benzingen,  Böffingen. 
Glatten,  Hallwangen,  Stockerhof,  Untermusbach,  Wittlensweiler 
grosse  Holzgerechtigkeit,  das  sog.  Waldgeding  mit  Gericht  in 
der  Ach,  bis  es  1834  vom  Staat  abgelöst  wurde.“  Von  den 
sieben  Urdörfern  fehlen  Grünthal  und  Dietersweiler,  dazu  ge- 
kommen sind  Böffingen  und  Glatten. 

fi.  Haglegau. 

Mit  dem  Haglegau  fiel  das  Kapitel  Haigerloch  zusammen. 
Die  Grenzen  bildeten  im  Westen  und  Norden  der  Neckar,  im 
Süden  der  Abhang  der  Alb.  Die  Grenzlinien  zwischen  Neckar 
und  Alb  wurden  gegen  Südwesten  durch  die  Orte  Vöhringen 
und  Isingen,  im  Osten  durch  die  untere  Starzei  und  die  obere 
Eyach  angezeigt. 

Die  Bezeichnungen  für  die  Huntare  sind  Gau,  pagns, 
comitatus. 

Man  bat  in  dem  Wort  Haglegau  und  in  dem  Namen  seiner 
Malstätte  Hagalta  bis  dahin  Schreibfehler  für  Naglegau  und 
Nagalta  gesehn,  diese  Bezeichnungen  mit  dem  Nagoldgau  und 
der  Stadt  Nagold  identificirt  und  dadurch  den  Haglegau  und 
Hagalta  um  seine  Anerkennung  gebracht.  Stäliu  der  Aeltere 
I,  302;  Wirt.  228;  Baumann,  Gaugrafschaften  138. 

Die  Urkunden  sind: 

104«  In  pago  Haglegowe  dirtu  in  villa  Dahan  (abgegangcn.  wohl  in 
der  Herrschaft  Werstein  und  in  der  Nähe  von  Empfingen,  OA.  Haigerloch) 
in  comitatu  Auselmi  comitis.  Wirt.  228.  Der  Ort  Dahun  scheint  mit  Taha 
identisch  zu  sein,  welche  beide  weiter  erwähnt  werden. 

1240  Hugo  nobilis  de  Werstein  (Heirschaft  Werstein  OA  Haigerloch) 
curtem  nostram  in  Dahun.  Schiuid  Hohenberg  32. 

772,  77U,  799.  In  pago  Alaiuunnorum  in  Amphinger  niarca  (Em- 
pfingen) — — in  Taha,  — — in  loco  Taha in  villa  Taha.  Laur.  3203, 

3268,  3301. 

860  l'erahtiant  schenkt  au  St.  Gallen  in  villa  Tatinse  (Dettensee, 


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OA.  Haigerloch).  Actum  in  Tatinse  publice  — — - sub  Thiotiricho  comite. 
Gail.  22«. 

S«1  Actum  est  in  villa  Hagnlta  (Haigerloch).  Laur.  3532. 

Malstätten  waren  somit  Hagalta  und  Tatinse.  Ein  Stadt- 
viertel von  Haigerloch  heisst  heute  noch  der  Haag. 

Die  Namen  Haglegau  und  Hagalta  verschwinden  später 
und  es  tritt  für  die  Hnutare  (als  Grafschaft)  und  die  Stadt  der 
Name  Haigerloch  an  die  Stelle;  ob  er  sprachlich  von  den  alten 
Formen  abzuleiten  oder  ein  neuer  Name  für  ..die  beiden  Städte“ 
Haigerloch  ist,  die  sich  in  und  neben  dem  Haag  bildeten,  lasse 
ich  dahingestellt. 

13.  und  14.  Jahrhundert  Heigirlo.  Haigerloch,  llaygerloch.  Schmid 
Hohenberg  26,  29  u.  s.  w. 

Der  Zollergraf  Albert  der  Minnesänger,  gestorben  129«,  wird  im 
11.  Jahrhundert  erwähnt.  Albertus  coines  de  Hohenberg  et  de  Haigerloch 
duoa  comitatus  habuit  antiquos  valde,  scilicet  Haigerloch  et  Hohenberg. 
Matthiae  Neoburgensis  chronica  ed.  Studer  bei  Baumann  129;  Schmid  Graf 
Albert  von  Hohenberg  I,  3S5. 

Auch  die  Malstätte  hiess  nun  Haigerloch. 

1095  Haec  traditio  facta  est  in  Castro  Heigerlocli  in  pracsentia  militum 
Arnoldi  de  Owingen  (Owingen  OA.  Haigerloch)  et  Arnoldi  de  Kilchberg 
(Kirchberg,  OA.  Sulz)  et  Adalberti  de  Wildorf  (Weildorf  OA.  Haigerloch) 
et  Mauegoldi  de  Ahusin  (Anhauser  Mühle  OA.  Sulz,  Alles  Orte  der  Graf- 
schaft Haigerloch).  Notit  fund.  St.  Georg.  Oberrhein.  Zeitschrift  9,  219. 

Der  einzige  Ort,  der  ausdrücklich  als  dem  Haglegau  an- 
gehörig genannt  wird,  ist  somit  das  abgegangene  Dahun  oder 
Taha,  OA.  Haigerloch. 

Zwei  Zehntmarken,  die  von  Empfingen  und  die  von  Bier- 
lingen  lagen  im  Haglegau. 

Die  Empfimjer  Mark  wird  in  den  Lorscher  Urkunden  von 
~T2  — 7G9  11  mal  bezeichnet.  In  pago  Alemannorum  oder  in 
pago  Alemanniae  Amphinger  oder  Emphinger  marca.  Laur. 
3261  — 3269,  3301,  3656.  Der  Ausdruck  pagus  der  Urkunde 
von  792;  In  pago  Amphinga  in  Amphinger  marca.  Laur.  3802 
ist  inkorrekt.  Emptinger  Feld  ist  eine  von  der  Mark  übrig  ge- 
bliebene Gewann-Bezeichnung  auf  der  Markung  Dettensee.  Als 
zur  Mark  gehörig  werden  772  ausser  Amphinga,  Emphinga 
noch  AVila  (Weildorf),  Taha  und  Fiscina  (Fischingen,  alle  im 
OA.  Haigerloch)  und  Muleheim  (Mühlheim  am  Bach  OA.  Sulz) 
aulgeführt. 

Zur  Bierlinger  Mark  rechnet  Baumaim  S.  141  die  ganze 


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430 


Pfarrei  Bierlingen,  nämlich  die  Orte  des  Oberamt  Horb: 
Möhringen,  Felldorf,  Börstingen,  Weitenburg,  Sulzau  und  wahr- 
scheinlich Bieringen  und  Wachendorf  und  des  OA.  Haigerloch: 
Imnau,  Kremensee,  Hüfendorf. 

Das  Kapitel  Haigerloch  und  damit  der  Haglegau  gehörten 
auch  dem  System  der  Baren  an  (Kapitel  37). 

In  die  Bertoltebar  fielen: 

772  In  pago  Alamannoruin  in  Bcrtoldesbaren  Wisunstetten  (Wiesen- 
stetten  OA.  Horb)  item  et  Huliheim  (Mühlheim  OA.  Sulz).  Laur.  3278. 

782  In  pago  Alamaunorum  iu  Bertoldesbare  in  Muliheim.  Laur.  3273. 

In  die  Perithilosbar  fielen: 

785  In  paco  Pirihteloni  in  villia  Altheim  (abgegangen,  Altheimer  Thal 
bei  Bergfelden  OA.  Sulz)  et  Hoolzaim  in  loco  qui  dicitur  Lahha  (Holtz- 
haim,  abgegangener  Hof  dea  Kloatera  Kirchberg,  Gcwanu  Lachenhalden  und 
Lachenbrunnen  zwischen  Bergfelden  und  Kirchberg).  Gail.  102. 

780  In  pago  Pcrihtilinpara  in  Petarale  (aonat  Betberane  im  Reichen- 
bacher Schenkuugsbuch  Wirt.  II,  S.  409;  Bctra  OA.  Haigerloch),  in  Purrom 
(wahrscheinlich  im  Beurenthal  bei  Wittershausen  OA.  Sulz),  in  Usingum 
(Isingen  OA.  Sulz),  in  Wildorof  (Weildorf,  OA.  Haigerloch),  in  Mereingum 
(Mühringen  OA.  Horb)  etc.  Galt.  108. 

Heute  ist  der  Norden  uud  der  Süden  des  Haglegaus  oder 
der  Grafschaft  Haigerloch  württembergisch  (die  Herrschaft 
Balingen  seit  1403),  die  Mitte,  die  Hohenzollernschen  Herrschaften 
Haigerloch  und  Werstein,  bildet  den  Bezirk  des  preussischen 
Oberamts  Haigerloch. 


7.  Hattenhuntare. 

Mit  der  Hattenhuntare  (Huntare  des  Hatto)  deckt  sich  das 
Kapitel  Hechingen,  wenn  man  dessen  nördlichen  Theil,  den  Bezirk 
auf  den  Härdten,  davon  ausschliesst.  Es  bleibt  für  die  Huntare 
ein  Abschnitt  der  Thalebene  zwischen  dem  Abfall  der  Alb  und 
dem  Neckarthal,  der  Neckar  selbst  wird  von  ihr  nicht  errreicht. 
Es  fallen  also  in  sie  der  Zollerberg  mit  seiner  Umgebung,  die 
mittlere  Starzei  — nach  dem  über  decimationis  von  1275 
Cella  (Mariazell)  und  Slate  (Schlatt,  OA.  Hechingen)  einge- 
rechnet— bis  Rangendingen  das.  abwärts,  und  das  obere  Stein- 
lachthal  bis  Dusslingen  OA.  Tübingen. 

Die  Hattenhuntare  ist  jünger  als  der  Sulichgau.  Dieser 
hatte  schon  den  Neckar  überschritten,  blieb  aber  in  dessen 
Nähe:  das  weitere  Stück  der  Ebene  um  die  obere  Steinlach 


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bis  zur  Alb  wurde  dann  von  den  Ansiedlern  der  Hattenhuntare 
in  Besitz  genommen. 

Diese  wird  als  Huntare,  pagus  und  comitatus  aufgeführt. 
Mössingen  und  Ofterdingen  waren  ihre  Slalstätten. 

77 'i  In  pago  Alemannorum  in  Dalaheimer  rnarca  (Tlialheim  OA. 
Kcttcnburg)  in  Hattenhuntare,  quiquid  habere  videor.  Laur.  3243. 

78U  In  pago,  que  dicitur  liattenhuntari  in  villa,  que  dicitnr  Hachinga 
( Ueehingen).  Actum  in  villa  publice  Masginga  (Mössingen  OA.  Rottenburg). 
Galt  123. 

S17  gehörten  zum  Diensteinkommen  eines  Grafen  Cunthard  (eines 
Hattenhuntaregrafen  (?)  Güter  in  Biesingen  OA.  Hechingen),  in  ministerio 
Cunthardi  comitis  ad  Pisingas  (Biesingen  in  OA.  Hechingen).  Gail.  226 
Wirt.  79. 

S73  In  pago  Alemannorum  in  Daleheimer  rnarca  portionem  meam  in 
ecclesia  illa,  quae  ibidem  constructa  est  in  Hattenhundre.  Laur  3240. 

888  In  pago  Hattinhunta  (et  Suligeiuua)  in  Peringarii  (et  Eperbardi) 
villa  quae  dicitur  Tuzzilinga  (Dusslingen,  OA.  Tübingen,  das  also  zwischen 
den  beiden  Naehbarhuntaren  getheilt  war,  übrigens  dem  Kapitel  Hechingen 
angehürte).  Wirt.  162. 

Nach  1085  erscheint  der  erste  beglaubigte  Zollerynt/',  comes  Friedericus, 
de  Zolra,  Friedrich  I.  genannt  Haute  als  Beklagter  in  placido,  quod  erat 
Oftirdingen  (Ofterdingen  OA.  Kottenburg).  Wirt.  II  S.  398. 

Huutareuorte  sind  hiernach 

OA.  Hechingen:  Biesingen; 

OA.  Rottenbnrg:  Mössingen,  Thalheim,  Ofterdingen; 

OA.  Tübingen:  Dusslingen  halb. 

Als  zugehörig  zur  Perithilosbar  werden  im  Gebiete  der  Huntare  weiter 
aulgeführt : 

786  In  pago  Perihtilinpara  in  his  locis:  — — in  Pisingura,  in  Hah- 
bingum,  in  Wassingum  (Bisingen,  Hechingen,  Wessingen,  OA.  Hechingen). 
Gail.  108. 

Für  die  Huntare  sind  drei  Zehnt  marken  vermerkt,  die 

Bmtu/er,  ThaUu-imer  und  Möxshtger  Mark. 

789  In  Bisinger  rnarca.  Laur.  3287. 

Die  Daleheimer  rnarca  wird  ausser  in  den  2 schon  genannten  Lorscher 
Urkunden  noch  l3mal  in  den  Jahren  765 — 873  aufgefiihrt.  3239,  3141,  3242, 
3244—3253. 

774,  777  In  Messinger  rnarca  (Mössingen  OA.  Kottenburg).  Laur. 
3285,  3286. 

Näheres  ist  von  diesen  Zehntmarkeu  nicht  zu  sehen. 

Die  Hattenhuntare,  die  spätere  Grafschaft  Zollern  oder 
Hohenzollern  ist  die  Wiege  des  Hohenzollerngeschlechtes,  wie 
der  Käme  bezeugt,  welcher  dem  in  ihr  gelegenen  Zollerberg 
entlehnt  ist.  Das  Steinlachthal  ging  im  14.  und  am  Anfang 


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des  15.  Jahrhunderts  an  Württemberg  verloren.  Der  Rest  war 
mit  einem  Theil  der  Huntare  Burichinca,  der  späteren  Graf- 
schaft Gammertingen  verschmolzen  und  bildete  seit  dein  Jahr 
1623  die  fürstliche  Grafschaft  Hohenzollern,  dann  das  Fürsten- 
thum Hohenzollern  - Hechingen , dann  das  hohenzollernsche 
Oberamt  Hechingen  (Siche  meine  Grafschaft  Hohenzollern). 


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Fünfundzwanzigstes  Kapitel. 

Der  nördliche  (Jlbgau. 

In  dem  auf  der  Ostalb  urkundlich  nachgewiesenen  Albgau 
lagen  an  der  linken  Donau  zwei  ausdrücklich  als  Huntaren 
bezeichnten  Bezirke,  an  der  linken  Lauchert  die  centena  Alfa 
und  östlich  an  sie  anstossend  die  Suerzenhuntare.  Der  Albgau 
war  daher  ein  Grossgau  und  man  darf  ihm  nach  seiner  geogra- 
phischen Lage  zwischen  Donau  und  dem  Steilabfall  der  Alb 
die  weiteren  Huntaren  Burichinga,  Munisigingerhuntare,  Flina 
zurechnen. 

Der  Gross -Albgau  fiel  in  den  constanzer  Archidiakonat 
Circa  Alpes,  (Rauhe  Alb)  der  sich  allerdings  nach  Norden  und 
Süden  zu  weiter  erstreckte,  und  in  ihm  deckten  sich  die 
Huntaren  und  Kapitel  in  folgender  Art:  Huntare  Burichinga 
und  Kapitel  Trochteliingen,  Munigisingerhuntare  und  Kapitel 
Münsingen,  die  Huntaren  Affa  und  Suerzenhuntare  und  die 
Kapitel  Riedlingeu,  Munderkingen  und  Ehingen,  soweit  sie  an 
der  linken  Donau  lagen  (S.  355),  die  Huntare  Flina  und  das 
Kapitel  Blaubeuren.  Die  westliche  Grenze  bildete  der  Ein- 
schnitt in  der  Alb,  die  nördliche,  soweit  die  Burichinga  l eichte, 
der  Steilabfall  der  Alb  selbst,  während  sich  bei  der  Gründung 
der  Munigisingerhuntare  und  der  Flina  auf  der  Höhe  der  Alb 
bereits  ein  dem  Neckargau  ungehöriger  Rand  der  Hochebene 
vorgeschoben  fand  (S.  410). 

Die  linke  Donau  bildete  die  südliche  Grenze  des  Gross- 
gaus  und  seiner  Huntaren  Affa,  Swerzenhuntare  und  Büna, 
somit  die  Grenze  des  Stammlandes  gegen  Rätieu  (S.  79).  Die 
Huntare  Büna  überschritt  jedoch  von  der  Illermündung  bis 
Laib  den  Fluss  in  geringer  Ausdehnung,  die  erst  eingetreten 
sein  mag,  als  Rätien  im  5.  Jahrhundert  alamannisch  geworden 

Crinir,  Ueeohichte  der  Alamannen.  28 


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434 


war.  Auch  im  Osten  ist  Laib  als  alemannischer  Grenzort  anzusehen, 
während  um  das  Jahr  300  das  weiter  abwärts  gelegene  Günz- 
berg  als  das  Ende  Alamanniens  bezeichnet  war.  (S.  19). 

Die  Besiedelung  des  Albgau  wird  von  zwei  Seiten  erfolgt 
sein.  Einmal  von  der  Neckarebene  aus  Uber  die  Hattenhuntare 
weg,  dann  von  der  Donau  aus;  von  beiden  Seiten  wird  man 
zur  Höhe  der  Alb  emporgestiegen  sein. 

Was  die  Grafschaften  angeht,  so  lebte  der  Albgau  als 
Gaugrafschaft  in  der  Erinnerung  noch  1127  fort;  als  comitatus 
wurden  bereits  bezeichnet  778  Burichinga,  854  und  966 
Swerzenhuntare,  904  Munigisingerhuntare  und  961  Affa. 

In  den  Urkunden  wird  die  Alb  auch  als  geographischer 
Bezirk  zur  Bezeichnung  der  Orte  verwendet  und  ich  rechne 
dahin  folgende; 

1102  Quicquid  supra  Alpes  habere  vidcor  in  loco,  qui  Blcichstetin 
(Bleichstetten,  OA.  Urach)  dicitur.  Wirt.  262.  Der  Ort  liegt  auf  der  Höhe 
der  rauhen  Alb,  gehört  aber  der  neckargauischen  lluntare  Swiggerstal  an. 

1068  Fraedium  iu  Villa et  in  Alpibus  in  loco  Weichstetten  (»b- 

gegangen,  Flurgegend  von  Laichingen  OA.  Münsingen)  et  Tennesheim 
(nicht  zu  ermitteln).  Not.  fund  St.  Georg.  Oberrheinische  Zeitschrift  9, 
20t.  Laichingen  liegt  in  der  Flina. 

Soll  dagegen  der  Grossgau  bezeichnet  werden,  so  heisst  er 
Gau,  pagus,  1127  comitatus. 

Die  Urkunden  des  Gross -Albgau  sind  nach  Huntaren  und  Kapiteln 
getheilt  diese: 

1.  Affa,  Kapitel  Eiedlingen. 

1093  Villa  Touwondorf  (Daugendorf  OA.  Riedlingen)  in  pago  nomine 
Uuf  un  Albun.  Wirt,.  243,  bei  Neugart  829,  wo  dieselbe  Urkunde  gelesen 
wird  Vnhnalbun. 

2.  Suerzenhnntare,  Kapitel  Ehingen: 

1127  In  comitatu  Alpiuin  est  locus  sylvaticus,  aquis  irrigens,  de 
quarum  profluvio  nomen  accipit  Urspring  (Urspring  OA.  Blaubeuren).  Ad- 

jacet  Castro  et  villae  Sch&lkalingin  (Schelklingen  OA.  Blaubeuren). 

ilansos  apud  Wagenweng  (Musehonwang,  OA.  Blaubeuren)  et  apud  Schel- 
kaliug.  Facta  est  traditio  apud  villam  Ehingin  (Ebingen).  Wirt.  290. 

1309  und  1329  Algew.  Die  Urkunde  handelt  von  Leibeignen  de» 
Grafen  Conrad  von  Schelklingen.  Baumann  71. 

1261  Fagus  ufen  Albe  mit  Vrankenhouen  (Frankenhofen  OA.  Ehingen1 
Pressei  IJlmer  Urkundenbuch  I 114  bei  Baumann  71. 

Grossgauorte  sind 

OA.  Riedlingen:  Daugendorf; 

OA.  Blaubeurcn:  Urspring,  Schelklingen,  Muschenwang; 

OA.  Ehingen:  Ehingen. 


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435 


Hnntaren. 

1.  Affa. 

Die  Huntare  Affa,  der  „Wassergau“,  deckte  sich  mit  dem 
Kapitel  Riedlingen  und  dem  Westen  des  Kapitels  Munderkingen. 
An  natürlichen  Grenzen  hatte  sie  im  Westen  die  Lauchert,  im 
Südosten  die  Donau  etwa  von  Sigmaringendorf  bis  oberhalb  Zell. 

Sie  heisst  pagus,  pagellus,  854,  961  comitatus,  990  centena. 

836  In  pago  qui  dicitur  Appba  in  villi»  nuncupatis  Altheim  (Altheim 
OA.  Kiedliugen),  Hruodininga  (Riedlingen),  Waldhusir  (Wald  hausen  das.) 
et  Ostheim  (abgegangen  bei  Grüningen  das  ).  Wirt.  109. 

851  In  comitatu  Ruadolti  comitis  palatii,  in  pagello  Affa  in  villa 
Antolvinga  (Andelfingen  das.).  Wirt.  131. 

004  In  pago  Appha  in  villa  Merigisinga  (Miirsingen  das  ),  in 
Fridingon  (Friedingen  das  ),  in  Zuiualtnn  (Zwiefalten  OA.  Müusingen),  in 
Uonoigon  (Ganingen  das.),  in  Heingon  dimidium  (Hayingen  das.)  Wirt.  175. 

961  In  comitatu  Affa  in  loco  Alzheim  (Altheim  OA.  Kiedlingen). 
Wirt  216. 

900  Centena  (Erigeuue  et)  Apphon.  Bad.  93. 

1016  (Ergoja  et)  Aphou  Wirt.  259. 

Hnntarenorte: 
im  Kapitel  Riedlingen: 

OA.  Kiedlingen:  Waldhausen,  Altheim,  Andelfingen,  Riedlingen, 
Friedingen ; 

im  Kapitel  Munderkingen: 

OA.  Riedlingen:  Miirsingen; 

OA.  Miinsingen : Zwiefalten,  Ganingen,  Hayingen. 

Da  Hayingen  auch  zur  Swerzenhuntare  gerechnet  wird,  so  werden 
die  beiden  Hnntaren  den  Ort  halbirt  haben,  wie  die  Hattenhuntare  und 
der  Sulichgau  Dusslingen. 

Später  zerfiel  die  Affa  in  eine  westliche  Grafschaft  Veringen 
und  eine  östliche  Grüningen. 

2.  Suerzenhuntare. 

Die  Huntare  des  Swerzo  bestand  aus  Theilen  der  Kapitel 
Munderkingen  und  Ehingen  und  erstreckte  sich  an  der  linken 
Donau  von  Zell  bis  unterhalb  Oepfingen. 

Sie  erscheint  als  Huntare,  pagus,  854  pagellus  und  854, 
966  comitatus. 

854.  In  comitatu  Charonis  comitis  in  pagello  Suercenhnntare  in  villa 
Muotinga  (Mundingcn  OA.  Ehingen),  Stetiheim  ; Stetten  das.),  Stiutzinga 

28* 


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430 


Altsteusslingen  das.)  et  iu  Heiginga  (Hayingen  OA.  Miinsingen  zur 
Hälfte  hier,  zur  HSlfte  in  Affa)  et  Uuiltzinga  (Ober-,  Unterwilsingen  das.). 
AVirt.  191. 

960.  Iu  pago  Suerzza  in  comitatn  Gotefredi  iu  villa  Alemuntinga 
(Allmendingen  OA.  Ehingen).  AVirt.  197. 

Die  Malstättc  der  Huntare  war  nach  ihrem  Namen  Sehwörzkirch  (OA. 
Ehingen). 

Huntarenorte  sind  somit 

OA.  Mttnsingen:  Hayingen  halb,  Ober-,  Unterwilsingen; 

OA.  Ehingen:  Mnndingen.  Stetten,  Altsteusslingen,  Allmendingen, 
Sehwörzkirch. 

Im  Bereich  der  Hnntare  auch  die  S.  434  genannten  Orte. 

3.  Buriehinga. 

Der  Huntare  des  Buricho  entsprach  das  Kapitel  Trochtel- 
fingen,  das  tlieils  im  Killer-,  Felda-  und  oberen  Lauchart-Thal, 
theils  auf  der  Höhe  der  Alb  lag. 

Die  Huntare  wird  als  pagus,  772  und  774  als  marea  nnd 
778  als  comitatus  bezeichnet.  Sie  war  Huntarenmark. 

772  In  pago  Alemaunorum  in  Burichinger  marca  et  in  Burdlaidingen 
(Burladingen  OA  Hechingcn)  et  in  Alegingen  (Mayingea,  Haigingcn,  ein 
abgegangener  Weiler  bei  Bnrladingen)  et  in  Merioldingen  (abgegangen,  jetzt 
Gewann  Mertiugen  zwischen  Stetten  unter  Hollstein  und  Meldungen)  et  in 
Mulichingen  (Meldungen  OA.  Sigmaringen)  et  AVillimundingen  (AA'illmandiui'en 
OA  Reutlingen)  et  Gencgingeu  (Genkingen  das.)  et  Gauzolfingen  (Gausel- 
fingen, OA  Hechingen).  Gaur.  3275. 

772  In  pago  Burchincas  in  Villa  Willamundincas.  AVirt.  14. 

773  ln  pace,  qui  dicitur  Burichyngas.  Gail.  70. 

773  In  paco,  qui  dicitur  Burichingas.  Actuum  in  villa  publici,  qui 
dicitur  AVillimundingas.  AVirt.  15. 

774  In  pago  Alemannorum  in  Burichinger  marca.  Laur.  3276. 

776  In  pago  Buriehinga  in  villa  Gcnchingen.  Laur.  3623. 

77»  In  comitatu  Erkenberti  in  Buringen  (Burladingen)  et  Erphinga 
(Erpfingen  OA.  Reutlingen),  Alerioldinga  (abgegangen  I et  Mutilistat  (Meidel- 
stetten  OA.  Münsingen).  Laur.  3640. 

8»5  In  villa  Untinga  (Undingen  OA.  Reutlingen)  vel  in  villa  Genchinga. 
Actum  in  pago  I’urihinga  in  villa  quae  vocatur  Untinga  publici.  Signum- 
Ercanperti  comitis.  Gail.  185  und  II  S.  382. 

Nach  dem  über  dccimationis  von  1275  gehörten  zum  Kapitel  Trochtcl- 
fingen  auch  Jungentlml  (Jungingen).  Kilchwiler  (Killer),  Husen  (Hausen ). 
also  das  Killerthal  im  OA.  Hechingen. 

Huntarenorte 
im  Fehlatluil : 

OA.  Hechingen:  Burladingen,  Gauselfingen; 


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437 


aut  der  llülie  der  Alb: 

OA.  Hämmerlingen : Meldungen ; 

OA.  Reutlingen:  Erpfingen.  Willmandingen,  Undingen,  Genkingen  ; 

OA.  Münsingen:  Meideisstetten. 

Später  war  die  Burichinga  die  Grafschaft  Gammertingen. 

4.  Munigisingerhuutare. 

Der  Huntare  des  Munigis  entsprach  das  Kapitel  Mönsingen. 
Sie  wird  als  Hnntare,  pagus,  904  als  comitatus,  769—804  als 
marca  bezeichnet;  sie  war  Huutarenniark. 

768—804  Munigesinger  marca  (15  mal)  oder  Munigisinger  marca  (4  mal). 
Villa  Munigesinga.  In  Munigesinger  marca  in  Villa  Dragolvingen  (Trail- 
fingen  OA.  Urach)  et  in  Seburc  (Seeburg  OA.  Urach).  In  Munigesinger 
marca  et  in  Bernoldesbach  oder  Bertoldesbach  (nicht  zu  ermitteln).  Laur. 
3206,  3207,  3209—12,  3214  — 25. 

904  In  pago  Munigisingeshuntare  in  comitatu  Arnold  in  locis  nuu- 
cupatis  Taffa  (Dapfen  OA.  Miinsingen)  et  Ecchenhusa  (abgegangener  Ort 
bei  Urafeneck  OA.  Münsingen)  et  in  Egilinga  (Egliogen  OA.  Miinsingen) 
Wirt.  174. 

961  In  Munigiseshuntare  in  Villa  Potinga  (Büttingen  OA.  Münsingen). 
Wirt  185. 

Huntarenorte 

OA.  Urach:  Seeburg,  Trai! fingen; 

OA.  Münsingen:  BUttingen,  Münsingen,  Eckenhausen  bei  Grafeneck 
Dapfen.  Eglingen. 

In  Taffa.  Ecchenhusa  und  Egilinga  war  königlicher  Grundbesitz,  quid- 
quid  regiae  potestatis, quidquid  hactenus  ad  regiain  ditiouem  pertine- 

bat, der  daun  zum  Genuss  des  Grafen  bestimmt  war.  posthanc  ad  comitatum 
Uium  cedebat  und  im  Jahr  904  von  Ludwig  dem  Kind  an  das  Kloster  St. 
Gallen  geschenkt  wurde.  Er  bestand  in  ccclesia  ot  ccteris  rebus  omnibus, 
tarn  domibus,  quam  aliis  aedificiis,  maucipiis,  terris,  agris,  pratis,  paseuis, 
silvis,  aquis,  aquarum  decursibus,  viis  et  iuviis.  tributis  omnibus  etc. 
Wirt.  174. 

5.  Flina. 

Die  Flina  umfasste  das  constanzer  Kapitel  Blaubeuren. 
Sie  lag  an  der  linkeu  Donau  von  Oberdischingen  bis  gegen- 
über von  Laib,  überschritt  jedoch  bei  Ulm  vom  Einfluss  der 
Iller  bis  Laib  den  Strom;  daher  auch  der  umschreibende 
Xame  pagus  prope  Ulmarn.  Die  Huntare  wird  nur  als  pagus 
bezeichnet. 

Von  der  Flina  redet  die  Urkunde  über  die  Gründung  des  Klosters 
Wiesensteig  vom  Jahr  861.  tpiartum  locum  in  altero  pago,  qui  dicitur 


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438 


Flina,  hoc  est  villam  lllam,  qui  dicitur  Hohonatat  (Hohenstadt  OA.  Geis- 
lingen) quicquid  infra  marcam  ipsius  villae  est  abBqne  loco  qui  dicitur 
Uneisteti  (abgegangen  zwischen  Westerheim  und  Laichingen  OA.  Münsingen). 

Um  1106  Eggingin  (Eggingen  OA.  Blaubeuren)  in  pago  prope  UJmam. 
Wirt.  307. 

Hnntarcnorte 

OA.  Geislingen:  Hohenstadt; 

OA.  Münsingen:  zwischen  Westerheim  und  Laichingen; 

OA.  Blaubeuren:  Eggingen; 

OA.  Ulm:  Ulm. 

Nicht  mehr  zum  Flinagau,  sondern  zum  Brenzgau  gehörte  Fleinheim 
1356  Flyn)  OA.  Heidenheim. 


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Sechsundzwanzigstes  Kapitel. 

Der  {fijestergau. 

Zwischen  den  Grossgaucn  Nagoldgau,  Mortenau,  Breisgau, 
Klettgau,  Hegau  und  Albgau  lagen  das  Gebiet  der  westlichen 
schwäbischen  Alb  und  die  anstossenden  Flussthäler  des  oberen 
Neckar  und  der  oberen  Donau,  Berg  und  Thäler,  von  denen 
man  ohne  Weiteres  annehmen  kann,  dass  sie  einen  Grossgau 
bildeten.  Es  entsprach  ihm  die  nördliche  Hälfte  des  oberen  Archi- 
diakonats  Vormwald  (S.  339).  Seine  natürlichen  Grenzen  waren 
im  Westen  der  Sehwarzwald,  im  Nord  westen  der  Steilabfall 
der  schwäbischen  Alb,  im  Osten  der  Einschnitt,  der  sie  in  eine 
westliche  und  östliche  Hälfte  scheidet,  im  Süden  die  Gelände, 
welche  die  Donau  umgeben. 

Dieser  Grossgau  war  der  Westergau,  der  Gau  der  west- 
lichen Alb,  der  Gau  des  Königs  der  westlichen  Alb,  des  Königs 
Vestralpus.  (S.  42,  77). 

Die  spärlichen  Urkunden  Uber  diesen  Gau  gehören  sätntntlich  der 
Lorscher  Sammlung  an. 

767  In  pago  Westergowe  in  Tornegasteter  marca  (Dornstetten). 
Laur.  3803. 

770  In  pago  Westergowe  in  Rosdorpher  marca  (unbekannt;  man  hat 
daher  statt  Rosdorph  willkürlich  Rohrdorf  OA.  Horb  gelesen).  Laur.  3293. 

782  In  pago  Alemanniae  in  Westergouue  in  Corgozsinga  (Gössliugen 
OA.  Rottweil).  Laur.  3306.  Der  Ort  heisst  793  Cozninga,  Gail.  135. 
Man  hat  statt  Corgozsinga  auch  Eorgozsinga  oder  Argozsiuga  (Ergenzingen 
OA.  Rottenburg)  conjekturirt. 

Für  die  Bestimmung  des  Gaus  scheiden  die  beiden  ersten  Urkunden 
aus.  Denn  Dornstetten  gehört  nach  Urkunden  von  770  und  783  dem  Gross- 
Nagoldgau  und  seiner  Huntare  Waltgau  (siebe  dieselbe)  an.  und  Kosdorf 
ist  nicht  zu  ermitteln.  Die  Conjekturen  zu  den  Urkunden  von  770  und  782 
sind  ebenso  zu  verwerfen,  da  die  gemuthmassten  Orte  gleichfalls  im  Gross- 
Nagoldgau  liegen.  Es  bleibt  also  nur  Gösslingen  OA.  Rottweil  zur  ur- 
kundlichen Feststellung  des  Bezirks. 


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440 


Nach  dem  Aufhüren  der  Gaugrafschaft  Westergau  trat  an 
deren  Stelle  die  Bertoltsbar,  die  auch  die  Huntaren  Waltgau 
und  Haglegau  umfasste.  Es  ist  daher  erklärlich,  dass  der  viel- 
genannte Name  der  Bar  den  des  Westergans  fast  verdrängte, 
und  es  mag  auch  der  Schreiber  der  Lorscher  Urkunden  von 
767  die  Grenze  der  Bar  mit  der  des  Grossgaus  verwechselt  und 
daher  Dornstetten  in  den  Westergau  verlegt  haben. 

Wenn  die  Grenzen  des  Grossgaus  sich  nach  denen  seiner  schon 
genannten  Nachbargaue  bestimmen,  so  sind  seine  Huntaren  auf 
der  Westeralb  und  im  Donauthal  Scherra,  im  Donauthal  weiter 
aufwärts  Purihdinga  und  Nidinga,  im  Neckarthal  die  Huntare 
des  Kapitel  Rottweil  (mit  Gösslingen),  deren  Name  nicht 
bekannt  ist  (mit  den  späteren  Grafschaften  Sulz  und  Rottweil), 
und  die  dem  Schwarzwald  abgewonnene,  erst  im  11.  Jahrhundert 
erwähnte  Huntare  Aseheim. 

Die  Huntare  Scherra  schliesst  das  Kapitel  Ebingen  in  sich 
und  theilt  sich  mit  Purihdinga  und  Nidinga  in  das  Kapitel 
Geisingeu,  während  Nidinga  weiter  und  Aseheim  im  Kapitel 
Villingen  liegen. 

Huntarengrafschaften  waren  bereits  Scherra  875,  889, 

1092,  Nidinga  881,  Aseheim  1084,  1095.  Ob  letztere  als 
Huntare  noch  dem  Grossgauverband  angehört  hat  oder  erst 
nach  dessen  Auflösung  gegründet  ist,  erscheint  nach  ihrer  Lage 
im  Gebirge  zweifelhaft. 


Huntaren  und  Grafschaften. 

1.  Scherra. 

Die  Huntare  Scherra  (niemals  heisst  es  Scherragau)  um- 
fasste das  Kapitel  Ebingen  und  den  Osten  des  Kapitels  Geisingen 
oder  das  Donauthal  etwa  von  Tuttlingen  an  bis  oberhalb  Sig- 
maringeu  und  die  Westalb  mit  dem  für  Nordwesten  und  Nord- 
osten schon  angegebenen  Grenzen  des  Grossgaus.  Im  Westen 
sind  als  äussersto  Orte  Trossingen,  Schürzingen,  Frommem 
angegeben. 

Eine  Urkunde  von  10U5  leitet  die  Namen  Scherra  von  serrne  ab,  nach 
Birliuger  skär,  Säge,  FeUzackeu  atu  Wasser,  im  Donautbal  und  .Bärenthal 


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441 

losgewaschene  und  isolirt  sich  erhebende  ungefüge  Felsblöeke.  Hier  hat 
man  die  ersten  Ansiediungeu  zti  suchen,  die  dann  auf  die  Hübe  der  Alb 
emporgestiegen  sind. 

Die  l'rkunden  sind: 

843  Ad  ecclesiam,  que  instructa  est  in  honore  sancte  Verenae  in 
loco  qui  vocatur  Bure  (Strassberg  OA.  Gammertingen)  in  pago  qui  vocatur 

Seerra  quiequid  proprietatis  in  Alamannia  v'sus  sum  habore in 

Scberzinga  (SchBrzingen  OA.  Spaiehingen),  in  Richinbah  (Reichenbach 
OA.  Spaiehingen).  in  Trossinga  (Trossingen  OA.  Tuttlingen),  in  Muleheim 
Mühlheim  OA.  Tuttlingen),  in  Hesstete  (Messtetten  OA.  Balingen),  in 
Storzinga  (Storzingen  OA.  Gammertingen),  in  Hebinga  (Ebingen  OA. 
Balingen).  Actum  in  Bure.  Wirt.  109. 

8G1  In  Scherrun  in  locis  Purron  (Beuron  OA.  Sigmaringen),  Puach- 
beim  (Buchheim  BA.  Hügskirch)  et  in  Fridingum  (Friedingen  OA.  Tuttlingen) 
Gail.  485. 

875  Adelbertus  comes  in  suo  comitatu,  qui  dicitur  Schtrra,  in  loco 
qui  vocatur  Filisininga.  (Vilsingen  OA.  Sigmaringen).  Gail.  587. 

889  Arnolfus  rex.  — — quasdam  res  jnris  nostri  in  pago  Perich- 
toltesbara  in  villa  Esginga,  quae  ad  comitatuin  Adalperti.  qui  Seerra  dicitur, 
usque  buc  pertinebant.  Bud.  15.  Der  Künig  Arnulf  versclieukte  oin  Gut 
in  Esginga,  welches  bis  dabin  zn  dem  Einkommen  des  Grafen  von  Scherra 
gebürte.  Esginga  braucht  daher  nicht  in  der  Grafschaft  zu  liegen,  und 
liegt  nicht  darin,  mag  es  Douaueschingen  oder  Riodöschingen  (BA.  Hütingen) 
sein  (Waitz,  deutsche  Verfassungsgeschichte  IV,  141,  142). 

889  Arnolfus  rex  — — quandum  capellam  in  pago,  qui  vocatur 
Seerra,  in  comitatu  Adelberti  in  locoNusbilinga  (Nusplingen,  OA  Spaiehingen). 
Seng.  810. 

1092  In  villa  Beroa  (Beuron  OA.  Sigmaringen'  sita  in  comitatu 
montium,  qui  vocatur  Serrae. 

1095  Cella  apud  Parmam  (verschrieben  für  Beroa)  in  rupibus,  quae 
Propter  asperitatem  videutur  Serrae  vocari. 

1095  In  pago  Serrarum  apud  villulam  Eusigesheim  in  loco  qui  dicitur 
Oberenholz. 

Die  3 letzten  Urkunden  in  der  Notitia  fund.  des  Klosters  St.  Georgen 
Oberrhein.  Zeitschrift  IX.  S.  212,  218,  219. 

Um  1200  In  Scherrum  Husen  (Hausen  BA.  Stetten  am  kalten  Harkt), 
Truckolvingen  (Truchtelfingen  OA.  Balingen).  Emmern  ^ Frommem  OA. 
Balingen),  Vilsilingen  (Vilsingen  OA.  Sigiuaringon).  Arx  Geschichte  von 
St.  Gallen  I,  404  nach  Stalin  I 309. 

1283  Redditus  molendini  de  Werbenwag  (Werenwag  BA.  Stetten)  et 
redditus  in  oppido  nostro  Stetten  (Stetten  am  kalten  Harkt  BA.  Stetten). 
Scbmid  Hon.  Hohenberg  93. 

Huntarenorte  sind  im 
1.  Kapitel  Ebingen: 

OA.  Balingen:  Frommer«,  Truchtelfingen,  Ebingen,  Hesstetten; 

OA.  Spaiehingen,  Nusplingen,  Reichenbacb,  SchBrzingen; 


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442 


BA.  Stetten  am  kalten  Markt:  Werenwag,  Hausen,  Nusplingen, 

Stetten: 

OA.  Sigmaringen:  Vilsingeu,  Benron; 

OA.  Gammertingen : Storzingen; 

2.  Kapitel  Geisingen: 

BA.  Mösskirch : Buchheim; 

OA.  Tottlingen:  Friedingen,  Mühlheim.  Trossingen  (Trossingen  ist 
ans  zwei  selbständigen  Dörfern,  Ober-  und  Unter-Trossingen  zusammen  - 
gewachsen.  Das  eine  gehört  hierher,  das  andere  zur  Hnntare  Nidinga). 

Huntaren Grafschaft,  comitatus  montium  war  die  Scherra 
bereits  875,  889,  1092.  Später  war  sie  die  Grafschaft 

Hohenberg. 

136t  Comitatus  et  totnni  dominium  de  Hohenberg  war  Gegenstand 
einer  Verfügung  des  Grafen  Rudolf  III  von  Hohenberg.  Mon.  Hohen- 
berg 770. 

In  der  zweiten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  erzählt  Mathias  von 
Neuenburg:  Albertus  comes  de  Hohenburg  et  de  Haigerloch  duos  comitatus 
habuit  valde  antiquos,  scilicet  Haigerloch  et  Hohenberg. 

Neben  dem  neueren  Namen  Hohenberg  hat  sich  aber  auch  der  alte  als 
Landschaft  „uff  der  Schär“  erhalten. 

1393  sprach  der  Herzog  Leopold  von  seinem  Nutzen  uff  der  Schär, 

1409  von  seiner  vest  Hohenberg,  die  da  gelegen  ist  an  der  Sclieer. 
Mon.  Hohenberg  770. 

1491  — 1500  bezeugte  Gallus  Oheim  in  der  Chronik  von  Reicbenan 
S.  19  die  Lage  zweier  Orte  uff  der  Schär,  allerdings  unrichtig.  Es  waren 
Burchingeu  oder  Burladingeu  und  Ringingen  OA.  Hechingen.  die  nicht  der 
Scherra.  sondern  der  Huntare  Burichinga  im  Gross-Albgau  angehörten. 

Noch  heut  zu  Tage  wird  der  Ort  Harthausen  (OA.  Gammertingen) 
„Harthausen  an  der  Scher“  im  Gegensatz  zu  „Harthanseu  bei  Feldhausen 
(OA.  Gammertingen)  genannt,  von  denen  das  erste  im  Gebiet  der  Scherra, 
das  andere  im  Bezirk  der  Burichinga  lag,  ein  Beweis,  wie  die  alte 
Scherragrenze  im  Volksbewusstseiu  sich  erhalten  hat. 

Dagegen  steht  die  Stadt  Scheer  OA.  Saulgau  in  keiner  geographischen 
Beziehung  zu  der  Scherra.  Back,  Oberdeutsches  Flumamenbuch  236  erklärt 
den  Namen  als  „an  Klippen  klebend“,  aber  die  Klippen  von  Scheer  gleichen 
nicht  den  Felszacken  des  oberen  Donauthals.  Möglich,  dass  in  der  Stadt 
Scheer  eine  Ansiedlung  von  ausgewanderteu  Genossen  der  Scherra  zu  finden 
ist,  welche  sich  in  der  benachbarten  Huntare  Ratoltesbucb  niederliessen. 

Von  besonderem  Interesse  ist  schliesslich  der  hohenbergische  „For.it 
uff  drr  Mur",  dessen  Grenzbeschreibung  vom  Ende  des  14.  oder  dem  Anfang 
des  15.  Jahrhunderts  vorliegt.  Schinid,  Mon.  Hohenbergica  No.  »90  und 
dazu  die  Karte  in  seiner  Geschichte  der  Grafen  Zollern- Hohenberg. 

Nach  dieser  Grenzbeschreibuug  umfasste  der  Forst  zunächst  die  ganze 
Scherra,  deren  Grenzen  gegen  Nordosten  (Steilabfall  der  Alb,  Gross-Nagold- 
gau), gegen  Osten  (Einschnitt  in  die  Alb,  Gross-Albgau)  und  Südosten 
(Gross-Douaugau)  genau  die  seinen  waren.  Gegen  Westen  begriff  er  aber 


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443 


auch  einen  Theil  der  Huntaren  Pnrihdinga,  Nidinga  und  das  Kapitel  Rott- 
weil bis  an  den  Neckar  in  sich,  umfasste  also  bis  zum  Neckar  im  Westen 
noch  einen  grossen  Theil  des  Westergans. 

Innerhalb  dieser  Landschaft  nahmen  die  Grafen  von  Hohenberg  .Forst“ 
in  Anspruch  d.  h.  den  Wildbann,  das  ausschliessliche  Jagdreckt  im  Gegen- 
satz zur  „freien  Pürsch“,  dem  freien  Jagdrecbt.  Es  lagen  aber  grosse 
Bezirke  der  freien  Pürsch  in  dieser  Landschaft,  sowohl  in  als  ausserhalb  der 
alten  Scherra.  die  freie  Pürsch  der  Städte  Ebingen,  Balingen  und  Hottweil 
rechts  des  Neckar  (Meine  Grafschaft  Hohenzolleru  266,  273),  so  dass  der 
„Forst  uff  der  Scher“,  was  Raum  und  Recht  angeht,  theilweise  eine  blosse 
Prätension  war.  Wenn  aber  das  angesprochene  Gebiet  über  das  der  alten 
Scherra  hinausging,  so  mag  darin  ein  Nachklang  an  die  Zusammengehörigkeit 
der  Westergaugebiete  enthalten  sein. 

Die  Beschreibung  des  Forstes  umfasst  das  Kapitel  Ebingen  und  den 
Osten  der  Kapitel  Geisingen  und  Rottweil.  Von  den  unten  zu  nennenden 
Grenzorten  gehörte  aber  eine  Reihe  benachbarten  Kapiteln,  Gauen  und 
Huntaren  an,  so  Emmiugen  dem  Kapitel  Engen  (Gross-Hegau),  Erzingen 
und  Engstlatt  dem  Kapitel  Haigerloch  (Gross -Nagoldgau  und  Huntare 
Haglegau),  Burladingen  und  die  Orte  des  Killer-  und  Fehlathals  dem 
Kapitel  Trochtelfingen  (nördlicher  Gross-Albgau  und  Huntare  Burichinga) 
Vehringenstadt  und  Vehringendorf  dem  Kapitel  Riedlingen  (nördlicher 
Gross-Albgau  und  der  Huntare  Ada)  und  Rohrdorf  dem  Kapitel  Mösskirch 
(Gross-Donaugau  und  Goldineshuntare).  Nicht  mehr  auf  der  Höhe  der  Alb, 
wie  die  Nachbarorte,  sondern  in  der  Ebene  liegt  Engstlatt,  Alles  ein  Be- 
weis, dass  die  angegebenen  Grenzorte  ausserhalb  der  Grenzlinie  liegen 
(Vergl.  Baumann  24).  Mit  diesem  Vorbehalt  ist  die  Grenzbeschreibung 
auch  für  die  Grenzen  der  Scherra  im  Nordwesten.  Nordosten  und  Südwesten 
Ton  Wichtigkeit. 

Als  Grenzorte  des  Forstes  auf  der  Scher  sind  von  Süden  aus  angegeben 

Emmingen,  Bussendorf,  Immendingen.  Esslingen  (alle  BA.  Möhringen), 
Lupfen  (OA.  Tuttlingen),  Schaltenburg,  der  Stecbbach  ab  bis  zur  Necker- 
furt  (zwischen  Trossingen  OA.  Tuttlingen  und  Dauchingen  BA.  Villingen), 
Neckar  ab  bis  in  die  Schlichen  (Schlichem,  die  gegenüber  von  Epfendorf  OA. 
Oberndorf  mündet),  diese  hinauf  bis  in  die  Schwarzacli  (südlich  von  Böhringen : 
Zimmern  unter  der  Burg  bis  in  die  Nähe  von  Schömberg  OA.  Rottweil), 
Degwingen,  (Dautmergen?  von  hier  aus  die  alte  Scherragrenze)  Dütt- 
maringen  (Dormettingen,  alle  OA.  Rottweil),  Ertzingen  (Erzingen),  Engs- 
latt  (Engstlatt)  in  die  alte  Zollerstaig  (bei  Zollersteighof,  alle  OA.  Balingen), 
in  das  Killerthal  (die  obere  Starzei  mit  Jungingen,  Killer,  Starzein,  Hausen, 
alle  OA.  Hechingen)  untz  gen  Burlawdingen  (Burladingen  das.)  und  in  die 
velg  (Fehla  über  Gauselfingen  das.),  ab  gen  Nuffran  (Neufra)  bis  in  die 
Lauchert,  Lauchert  ab  (Hermcntingen)  bis  Feringen  (Vehringenstadt  und 
Vebringendorf,  alle  OA.  Gammertingen),  weiter  Lauchert  ab,  Yssykofen 
(abgegangene  Burg  zwischen  Jungnau  und  Hornstein),  Gorhen  (Gorheim, 
alle  OA.  Sigmaringen),  Uber  Donau,  Rohrdorf  (Rohrdorf),  Bucho  (Buchheim), 
TUningen  (Denningen,  alle  OA.  Mösskirch),  Emmingen  (BA.  Möhringen;  bis 
hierher  die  alte  Scherragrenze). 


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444 


2.  Sulz. 

Die  Grafschaft  Sulz  mit  der  Stadt  Sulz  gehörte  nach  dem 
über  decimationis  von  1275  dem  Norden  des  Kapitel  Rottweil 
an.  Die  Grenzen  waren  im  Norden  der  Waltgau,  im  Osten 
der  Haglegau,  im  Süden  die  Grafschaft  Rottweil,  im  Westen 
der  Schwarzwald. 

Der  Name  der  Huntare  ist  urkundlich  nicht  überliefert. 
Denn  in  der  einzigen  Urkunde  ohne  Jahr:  Villa  Argossingen 
in  Sultzgowe  Hirschauer  Traditionsbuch  Bl.  99  muss,  da 
Argossingen  Ergeuzingen  OA.  Rottenburg  ist  und  im  Sulich- 
gau  liegt,  statt  Sultzgowe  Sulichgowe  gelesen  werden.  (Siehe 
Sulichgau  S.  419). 

Die  MalstÄtte  ist  Sulz. 

7‘JO  Actum  in  villa  Sulza  pnblici sub  Geralde  comife.  Wirt.  37. 

Grafen  von  Sulz  werden  wiederholt  erwähnt. 

1099  ist  der  cornes  Alvicus  de  Sulzo  unter  den  Stiftern  des  Klosters 
zu  Alpirslmch.  Wirt.  254. 

1125  wird  er  regionis  illius  (des  Alpinbacher  Stiftungsbezirks'i  cornes 
genannt.  Wirt.  362. 

114«  wird  ein  nnderer  Graf  Alewig  von  Sulz  bei  der  Vergabung  von 
Gütern  in  Hausack  und  .Eiubach  im  Kiuzigthal  an  der  Spitze  der  Zeugen 
aufgeführt;  Oberrlieiu.  Zeitschrift  IX  224  und 

um  1200  stand  den  Grafen  Hermann  von  Sulz  und  seinem  Sohn  Alwig 
die  causa  judicialis  villae  Dornban  (Dorntian  OA.  Sulz)  zu.  Besold,  doc. 
rediviva  253  (Baumann  160). 

Uundertenorte  sind : 

OA.  Sulz:  Sulz.  Dornhan. 

OA.  Oberndorf:  Alpirsbach. 

3.  Rottweil. 

Den  Süden  des  Kapitel  Rottweil  füllte  die  Grafschaft  Rott- 
weil aus,  deren  ursprünglicher  Huntarenname  nicht  bekannt  ist. 
Ihr  Gebiet  wird  mit  dem  der  Rottweiler  freien  Pürsch 
zusammenfallen,  deren  rechts  vom  Neckar  gelegener  Tlieil 
von  den  Grenzen  des  Forstes  auf  der  Scher  umspannt  wird. 

Die  Pürsch  war  das  Gebiet  der  Stadt  Kottweil;  Grenzpunkto  rechts 
vom  Neckar  waren  Zeplenkan,  Böhringen,  Harthausen,  Trieblingen, 
Bocbingeu,  links  vom  Fluss  Oberndorf.  Hochmüssingen,  Fluoru,  Aickhalden. 
Sulgau,  Sulgcn,  Tischneck,  Niedereschach,  Deissliugeu  --  im  Norden  lag 
die  Grafschaft  Sulz,  im  Westen  die  Morteuau,  im  Süden  Aseheim,  im 
Osten  Sclierra. 


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445 


Grafen  der  Grafschaft  Rottweil  waren  die  Zähringer, 
Herzog  Bertold  II.  1099,  Conrad  1140  und  später  Glieder  des 
Hauses  Teck,  von  dem  der  König  Rudolph  von  Habsburg 
zwischen  1273 — 1291  das  Geleite  und  die  Gerichtsbarkeit  in 
der  Stadt  Rottw'eil  und  in  deren  Gebiet,  genannt  freie  Piirsch, 
sammt  Zubehör  kaufte,  theoloneum  et  jurisdictionem  apud 
Rotwil  ac  bona  sive  possessiones  dictas  Biirsse  (cum)  eorum 
pertinentiis,  Rechte  die  später  an  seine  Bürgin,  die  Stadt 
Rottweil  übergingen.  Die  freie  Pürsch,  in  Wahrheit  ein 
freier  Jagdbezirk,  war  das  Gebiet  der  Malefizgerichtsbarkeit 
des  Grafen,  das  Pürschgericht  hatte  seine  Malstätte  „unter 
der  Linden  auf  der  mittlern  Stadt“  im  nördlichen  Theil  des 
Dorfes  Altstadt  „an  der  freien  offenen  kaiserlichen  Strasse.“ 
Baumann  163.  Meine  Grafschaft  Hohenzollern  265. 

4.  Purihdinga. 

Die  pagus  genannte  Huntare  lag  innerhalb  des  Kapitels 
Geisingen  und  innerhalb  des  Forstes  auf  der  Scher.  Eine 
einzige  Urkunde  erwähnt  zwei  ihrer  Orte,  so  dass  die  Grenzen 
nicht  näher  festzustellen  sind. 

791  In  pago  qui  dicitur  Purihdinga  in  villa  Dirboheim  (Diirbheim 
OA.  Spaichingen)  et  in  silla  Speichingas  (Spaichingen). 

Huntarenorte 

OA.  Spaichingen:  Spaichingen,  Diirbheim. 

5.  Nidinga. 

Die  Huntare  lag  um  Donaueschingen , ein  Theil  im 
Kapitel  Villingen,  ein  andrer  im  Kapitel  Geisingen.  Nur 
Trossingen  wurde  von  dem  Forst  auf  der  Scher  berührt.  Die 
Grenzen  sind  nur  nach  den  Orten  der  Nidinga  ungefähr  zu 
bestimmen. 

Die  Bezeichnungen  sind  881  comitatus,  und  949  locus. 

870  Actum  in  Nidinga  (Neidingeu  HA.  Donaueschingen)  publice, 
tiall.  551. 

881  In  Alamannia  in  comitatu  Nidinga  in  pago  Herechtoldesbara  in 
villa  Chenoinga  (Klengen  HA.  Villingen).  tiall.  Gl 5. 

949  l’redium  quäle  iu  villa  Drossinga  (Trossingen  OA.  Tuttlingen) 
habuimua,  jam  ad  locum  Nidinga  pertinens.  Wirt.  182. 

1296  Ich  Hainrich  der  Nidinger  von  Fiirstenberg  — — habe  ver- 
kauft   mein  gut,  das  ze  Haiudingen  (Hondingen  HA.  Donaueschingen) 

lit.  Fürstenberg  I.  642 


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446 


Huntarenorte 

BA.  Donauesehingen:  Hondiugen,  Xeidiogen; 

BA.  Villingen:  Klengen; 

OA.  Tuttlingen:  Trossingen  (Trossingon  ist  aus  zwei  selbständigen 
Dörfern,  Ober-  und  Untertrossingen  zusammengewachsen,  Baumanu  15-'. 
Das  eine  gehört  hierher,  das  andere  zur  Scberra). 

6.  Aseheim. 

Die  Huntare  machte  den  westlichen  Theil  des  Kapitel 
Villingen  ans,  ihre  Orte  lagen  in  den  Gebieten  der  Eschach 
und  der  Brigach,  von  denen  die  erstere  einen  Zufluss  zum 
Neckar,  die  letztere  zur  Donau  bildet.  Ihre  Grenzen  werden 
mit  denen  des  Kapitels  übereinstimmen,  soweit  nicht  im  Osten 
die  durch  die  untere  Brigach  getrennte  Nidinga  hineinreichte; 
im  Norden  stiess  die  Grafschaft  Rottweil,  im  Süden  die  Tbeil- 
gaugrafschaft  Alpgau,  im  Westen  ohne  Grenzen  der  Schwarz- 
wald an. 

Der  Name  wird  von  Asch  (Ober-Eschach  BA.  Villingen) 
abgeleitet.  Die  Bezeichnung  ist  nur  comitatus. 

10» 4 In  pagum  Bara,  in  comitatu  Aseheim  in  quendam  monticulum 
nigre  Silvae,  qui  locus  propter  situtu  terrae  dici  potest  et  est  ipse  vertex 
Aiemanniao  (gemeint  ist  der  ltossberg,  nahezu  3200  Fass  Uber  der  Sleeres- 
fiäche.)  Notitia  fundationis  des  Klosters  St.  Georgen,  Oberrhn.  Zeitschrift 
IX  198. 

1094  Liberi  de  Aschaha  (Eschach  BA.  Villingen).  Daselbst  IX  213. 

1095  In  pago  nomine  Bara  in  comitatu  Aseheim,  in  silra,  quam 
dicunt  nigrum.  juxta  Humen  Briganam  (Brigach),  in  honore  St.  Georgii 
(St.  Georgen  BA.  Villingen)  inonasterium  aedificaveruut.  Bulle  Papst 
Urban  II,  Scböpflin  Als.  dipl.  228. 

1108  König  Heinrich  V.  ebenso:  Cella  in  pago  nomine  Bara  in 
comitatu  Aseheim,  in  Sylva  quae  dicitur  Nigra  juxta  Humen  Brigaham  in 
honore  Dei  omnipotentis  et  St.  Georgii  martyris.  Bad  28. 

1139  und  1179  nennen  lnnocenz  fl  und  Alexander  III  unter  den 
praedia  des  Klosters  auch  Aseheim.  Oberrhein.  Zeitschrift  IX,  213. 

Huntarenorte 

BA.  Villingen:  Eschach.  St.  Georgen. 

Die  Huntare  war  zugleich  Huntarenmark.  „In  der  Baar, 
sagt  Gothein  in  seiner  Wirtschaftsgeschichte  des  Schwarzwalds, 
I,  85,  gehörte  der  Schwarzwald  und  der  Riedstreifen  an  seinem 
Rand  als  gemeinsame  Allmende  dem  ganzen  Gau,  der  insofern 
eine  einzige  Markgenossenschaft  bildete.  Der  Mittelpunkt  der- 
selben war  — — Aasen.“  (Da  Aasen  im  Gebiet  der  Nidinga 
lag,  so  scheint  Aseheim  eine  Abzweigung  von  ihr  zu  sein). 


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447 


„Die  Bauern  von  Aasen  waren  desshalb  auch  die  geschworenen 
Feinde  der  Klöster,  die  doch  fern  von  ihrem  Dorfe  Rodungen 
und  Besiedlungen  Vornahmen,  von  St.  Georgen  und  Tennenbach. 
So  lebhaft  sie  ihre  Ansprüche  bald  auf  dem  Wege  der  Gewalt, 
bald  auf  dem  des  Rechts  geltend  machten,  mussten  sie  jedoch 
stets  den  Besitztiteln  der  Dynasten  weichen,  von  denen  auch 
die  Klöster  gegründet  oder  ausgestattet  waren.  Die  Gemeinde 
Dürrenbach  traf  über  eine  meilenweit  von  ihr  entlegene  Wald- 
allmende im  Kirnachthal  eine  Grenzentscheidung  mit  dem 
Tennenbacher  Gut  in  Roggenbach.  Sie  hat  offenbar  diese 
Waldstriche  aus  der  Landesallmende  als  ihren  Antheil  erhalten.“ 


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Siebenundzwanzigstes  Kapitel. 

Die  Mtorlenau. 

Die  Mortenau,  jetzt  Ortenau,  im  4.  Jahrhundert  der  Gau 
des  König  Chnodoinar  (S.  71),  war  ein  Grossgau,  der  das 
rechte  Rbeinthal  und  den  nördlichen  Schwarzwald  einnahin, 
und  zwar  von  dem  Oosbach,  der  alamanniscb-fränkischen  Grenze 
im  Norden,  bis  zur  Bleiche,  dem  Grenzfluss  gegen  den  Gross-, 
Breisgan  im  Süden.  Das  Rheinthal  und  die  hier  einmündenden 
Flussthäler  des  Gebirges,  des  Sandbach,  der  Acher,  Rench, 
Kinzig,  Schütter  und  anderer  bis  zur  unteren  Elz  und  der 
Bleiche  waren  die  Etappen  der  Ansiedlung,  von  denen  aus  der 
Schwarzwald  bezwungen  wurde.  Gen  Osten  reichte  der  Gau 
bis  dahin,  wo  er  mit  den  Rodungen  der  am  oberen  Neckar 
liegenden  Huntaren  Waltgau,  Sulz,  Rottweil  zusammenstiess. 
Hier  bildete  die  Hornisgrinde,  der  Kniebis  und  die  Wasser- 
scheide zwischen  der  Rench  und  dem  Harmersbach  gegen  die 
Wolfach  die  Grenze. 

Die  Mortenau,  als  pagus,  861  als  pagellus,  926  als  provincia 
bezeichnet,  scheint  sich  lange  als  Gaugrafschaft  erhalten  zu 
haben.  961  heisst  sie  in  geschichtlicher  Erinnerung  noch 
comitatns  Mortenouua,  und  so  mag  es  gekommen  sein,  dass  die 
Urkunden  die  Bezirke  übertragener  Grundstücke  nach  dem 
Grossgau,  nicht  nach  seinen  Huntaren  bezeichneten,  jedoch  mit 
einer  Ausnahme  in  den  unten  angeführten  Urkunden  von  926 
und  1070. 


II  u ii  t a r e n. 

1.  2.  Kinzigdorf  und  Otenheim. 

Nach  der  Urkunde  von  1070  lag  in  comitatu  Chinzidorö 
(Kinzigdorf,  später  die  Stadt  Offenberg)  und  zwar  in  Otenheim 


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440 


(OteDheim  BA.  Lahr)  das  praedium  und  castrum  Ulmena  (das 
also  nicht  etwa  Ulm  BA.  Oberkirch  sein  kann).  Die  Ueber- 
tragung  wurde  vor  dem  Grafen  Luitfrid  auf  der  Malstätte 
Otenheim,  comitiis  ejus  Otenheim  habitis,  verlautbart.  926  er- 
scheint auch  Kinzigdorf  als  publicus  mallus,  (der  unter  der 
Linde  war).  Somit  gab  es  eine  Grafschaft  Kinzigdorf,  die  aus 
zwei  Huntaren : Kinzigdorf  und  Otenheim  mit  den  gleichnamigen 
Malstätten  bestehen  mochte.  Bemerkenswerth  ist  noch,  dass 
926  an  dem  Rechtsact  auf  der  Malstätte  Kinzigdorf  nach  dem 
Ausdruck  der  Urkunde  nicht  die  Genossen  der  Huntare,  sondern 
die  des  Grossgaus,  und  nicht  nur  die  der  Mortenau,  sondern 
auch  die  des  benachbarten  Gross-Breisgau  Theil  nahmen.  Kinzig- 
dorf und  der  benachbarte  Weiler  Uffhofen  waren  der  Mittel- 
punkt einer  Mark,  die  sich  später  in  zwei  sonderte,  in  die  alte 
Mark  mit  Kinzigdorf,  Uffhofen,  Ort'euberg  und  den  Reborten 
Zell,  Weilersbach  und  Vessenbach  und  in  die  Griesheimer 
Mark  mit  Griesheim,  Bühl,  Weier  und  Waltersweier;  die  Ge- 
nossen der  letztem  Mark  standen  nur  untereinander  in  Flur- 
gemeinschaft. Seit  dem  16.  Jahrhundert  wurde  Kinzigdorf  mit 
der  Burg  der  Zähringer  Herzoge,  dem  castrum  Offenburg,  zur 
Stadt  Offenburg  verschmolzen.  Gothein  Wirthschaftsgeschichte 
des  Schwarzwalds,  I,  208.  — 

In  kirchlicher  Beziehung  gehörte  die  Mortenau  zum  Bisthum 
Strassburg  und  theilte  sich  in  die  Archipresbyterate  Otters- 
weyer, Offenburg  und  Lahr.  Im  Norden  grenzte  das  Bisthum 
Speyer,  im  Osten  und  Süden  das  Bisthum  Constanz  an.  Im 
Gegensatz  zu  diesem  specifiscli-alamannischen  Bisthum  mag 
dann  die  dem  elsässischen  Bisthum  Strassburg  angehörige 
Mortenau  auch  im  Gegensatz  zu  Alamannien  gedacht  sein, 
z.  B.  Alsacinse,  Mortenavia,  Alamannia.  Test,  breve  Fulradi 
bei  Schricker  Eisass  S.  320.  Siehe  auch  die  Urkunde  von  736. 

Die  Bleiche  als  Grenze  zwischen  der  Mortenau  und  Breis- 
gau wie  zwischen  den  beiden  Bisthümern  wird  in  der  Urkunde 
von  1155  geschildert. 

Leber  die  Mortenau  reden  folgende  Urkunden: 

763  Monasteriolura  in  Nigra  Silva  in  marca  Ettinheim  (Euenheim'! 
in  loco  nuneupato  mouachorum  Cella  super  fluvio  Undussa  (Unditz)  — — 
Ouidquid  Ernust  in  Alamannia  vel  in  Mordunouva  visus  est  habere.  — — 
In  Mordunova  in  villa,  quae  dicitur  Clupinheim  (Kippenheim  BA.  Ettenheim). 
Xcug.  39. 

Crimtr,  Geschieht«  «1er  Alamannen.  ‘jy 


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4f>0 


777  Re*  per  loca  diversa,  tarn  in  Alisacius  quamqnae  in  Mordinnauia. 
— — Quantum  cumque  in  Alieacios  at  Mordenauia  et  Brisegauia.  Wirt.  18. 

777  (In  Alsacis  seu)  in  Morthenauia  — Frosenheim  (Friesenheim 
BA.  Lahr)  — — Scofheim  (Schopfheim  das.)  — — oinnia  in  Alsacinse, 
Mortenauia,  Alamannia.  Wirt.  19. 

845  Othenhen  (Ottenheim  das.),  Nunnenwilre  (Nonnenweier  das.), 
Gundeneswilre  (nicht  bekannt)  in  pago  Martinhauga.  Schöpflin  Alsatia 
diplomatica  101. 

861  Situm  in  pagellia  (Prisigaugense,  Aragaugense)  Mortinausinse 
(Sasonia)  — in  saltu  Ska  (nicht  bekannt).  Gail.  487  und  Nr.  7 S.  386 
Thl.  II. 

866  In  Mortenogowa,  Wirt.  141. 

888  In  pago  Mortunouua  vocato  in  comitatu  Eberhardi  in  loci» 
Ouuanheim  (Auenheim  BA.  Kork)  et  Baldanheim  (nicht  bekannt)  Als.  120. 

902  In  Mortnowa  in  Hichenheim  (Ichenheim  BA.  Lahr)  et  in  Witti- 
limbach  (Wittelbach  das.)  et  in  Uaminisburst  (Gamshurst  BA.  Achem).  Bad. 
5 und  mit  dem  Jahr  903  Als.  128. 

926  Acta  est  chartula  in  publico  tnallo  in  oppido  quod  dicitur  Chincih- 
dorf  (Kinzigdorf,  später  die  Stadt  Offenburg)  corara  frequentiam  populi 
utriusque  provinciae  tarn  Mortinangiae  quam  Brisigoviae,  qui  praesentes 
fuerunt.  Neng.  714. 

961  In  comitatu  Morteuouna  in  Villa  Tuntelingo  (unbekannt).  Wirt.  185. 

974  In  villa  Badelesbach  (unbekannt)  in  Mortauova.  Als.  153  und 
unter  dem  Jahr  997  Als.  175. 

979  Situm  in  Mortenhouue.  Neug.  773;  Als.  161. 

1009  Monasterium  quod  vocatur  Offoniswilare  (Scbuttem,  BA.  Lahri 
et  est  constitutum  in  pago  Mortngaugensc  super  fluvium  Scbuttem.  Bad.  15. 

1057  In  Mortenowa.  Bad.  19. 

1070  Vir  militaris  Sigifridus  praedium  l’lmena  (unbekannt)  dietntn 
ejusdemque  nominis  castellum  in  comitatu  Chinziluiorff  (Kinzigdorf,  später 
Offenburg)  et  Otenheim  (Ottenheim  BA.  Lahr)  situm  Argentinensis  (Strass- 
burg) ecclesiae  procuratrici  tradidit.  Huic  actioni  pio  assensu  cum  legali- 
judicum  suorum  laudatione  Luitfridus  comes  affuit.  Acta  sunt  sub  Lnitfrido 
predicto  comite,  comitiis  ejus  Otenheim  habitis.  Als.  221. 

1139  Monasterium  Genbacbcensis  (Gengenbach),  quod  in  pago  Mortuna- 
gensi  juxta  fluvium  Kinzicha  situm  est.  — — In  Mortunagia  Gengenbacb. 
Cella  (Zell  BA.  Gengenbach),  Steinach  (BA.  Haslach),  Hademarsbach 
(Harmersbach  BA.  Gengenbach),  Richenbach  (Reichenbach  das.)  et  quartam 
partem  Gerolteshecke  (Geroldseck  BA.  Lahr),  Norderaha  (Nordrach  BA. 
Gengeubach1,  Ichenheim  (Ichenheim  BA.  Lahr),  Scopfheim  (Schopfheim  das.). 
Kinsdorf  (Kinzigdorf,  später  Offenburg),  Lincgisen  (Lim  BA.  Bischofsheim). 
decimas  otiam  curtis  Tutsuelt  (Tutschfelden  BA.  Kenzingen).  ln  Brise- 
gaugia  Nuwershusen  (Neuershauscu  St.  und  BA.  Freiburg),  Wirt.  310. 
Tutschfelden  ist  hier  ausdrücklich  und  im  Gegensatz  zum  Breisgau  als  Ort 
der  blortenau  aufgeftihrt.  Da  es  rechts  von  der  Bleiche  liegt,  so  erscheint 
eiue  Urkunde  von  973,  Tuttersvelda  in  pago  Brisikeuue,  Wirt.  188,  irrig 


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1155  Grenzzug  des  Bisthums  Constanz:  Ad  Üccidentem  per  Silvam 

Nigra m Swarzwalt  in  pago  Brisgowe  inter  Argentinensem  episcopatum 
(Bistbum  Strassburg)  usque  ad  tiuvium  Bleichaha,  qui  dirimit  Mortenawe  et 
Brisgowe,  iode  per  decursnm  cjnsdem  aquae  usque  ad  Khenuin  fluvium. 
Neug.  866;  Wirt.  852. 

Gauorte  sind  hiernach : 

BA.  Achern:  Sasbachried,  (lamshurst, 

BA.  Bischofsheim:  Linz; 

BA.  Kork  : Auenhcim ; 

BA.  Offenburg  : Kinzigdorf; 

BA.  Gengenbach:  Keichenbach,  Gengenbach,  Nordrach,  Zell,  Har- 

mersbach ; 

BA.  Haslach;  Steinach; 

BA.  Wolfach:  Kinkenbach; 

BA.  Lahr:  Ichenheim,  Ottenheim,  Nonnenweier,  Schlittern,  Nieder-, 
Oberschopfheim,  Friesenheim,  Geroldseck,  Wittelbach; 

BA.  Euenheim:  Kippenheim,  Ettenheim; 

BA.  Kenzingen:  Tutschfelden. 

(Schultze,  Gaugrafschaften  des  alamannischen  Badens,  8.  8—36.) 


29* 


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Achtundzwanzigstes  Kapitel. 

Der  ßreisgau. 

Der  Breisgau,  nach  dem  mons  Brisiacus  der  Römer  (Alt- 
breisach) genannt,  ein  Gauname,  der  sich  erhalten  hat,  hatte  im 
4.  Jahrhundert  den  Gundomad  und  Vadomar,  dann  den  Vadomar, 
dann  den  Vithikab  zu  Königen  (S.  70).  Er  nahm  das  Rhein- 
thal und  den  anstossenden  südlichen  Schwarzwald  ein.  Mit  ihm 
deckte  sich  der  constanzer  Archidiakonat  Breisgau.  Von  dem 
Grossgau  ist,  soweit  ich  sehe,  nicht  eine  einzige  seiner  Huntaren 
bekannt,  während  der  Archidiakonat  aus  den  Kapiteln  Freiburg, 
Endingen,  Breisach,  Neuenburgund  Wiesenthal  bestand.  Die  Gau- 
orte lagen  dicht  gedrängt  im  Rheinthal,  an  der  westlichen  und  süd- 
lichen Abdachung  des  Schwarzwaldes,  und  in  den  Thälern  der  in 
den  Rhein  mündenden  Flüsse  und  deren  Nebenflüsse:  der  Bleiche, 
Elz  (mit  der  Dreisam),  der  Neumagen,  dem  Snlzbach,  Klem- 
bach,  der  Kander,  Wiese,  Wehra  und  Murg  und  fehlten  völlig 
im  Osten,  so  dass  hier  die  Grenze  nicht  nach  den  Orten  her- 
gestellt werden  kann.  Der  Grenzbestimmung  dient  aber  der 
Umfang  des  Arcliidiakonats  Breisgau  und  der  angrenzenden 
Archidiakonate  Klettgau  und  Vormwald,  wie  des  Theilgan  Alb 
und  der  Huntaren  Aseheim  und  Rottweil.  Während  im  Westen 
und  Süden  der  Rhein  von  der  Bleiche  und  ihrer  Mündung  in 
die  Elz  bis  aufwärts  über  die  Murgmündung  Grenzfluss  war. 
trat  im  Norden  die  Grenze  gegen  die  Mortenau  (die  Bleiche 
mit  Tutschfeldeu,  Wirt.  188  und  310)  und  die  Biegung  der  Elz 
(bei  Oberprechthal)  ein,  im  Osten  die  sich  anschliessende  obere 
Elz  und  weiter  die  Wasserscheide  zwischen  der  Dreisam  und 
der  Brege,  der  Feldberg  und  die  Wasserscheide  zwischen  der 
Murg  und  der  Alb.  Hier  ist  der  äusserste  „Gauort“  des 
Breisgau  Nollingen  BA.  Säekingen.  Gail.  15. 


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453 


Im  Uebrigen  die  Gauorte  einzeln  aufzurühren,  liegt  hiernach 
kein  gaugeographisches  Interesse  vor.  Schnitze,  welcher  nicht 
unterscheidet,  ob  die  Orte  ausdrücklich  nach  dem  Gau  bezeichnet 
sind  oder  nicht,  hat  weiter  im  Südosten  Säckingen  selbst  und 
iin  Bezirksamt  Schönau  Hepschingen  und  Schönau  und  sonst 
über  den  ganzen  Breisgau  zerstreut  eine  grosse  Anzahl  von 
Orten.  S.  52—113. 

Der  Breisgau,  immer  pagus  und  nur  einmal  pagellus  und 
provincia  genannt,  wird  sich  nach  Beseitigung  des  Gaukönig- 
thums lange  als  Gaugrafschaft  erhalten  haben.  Noch  870,  1004, 
1095  wird  er  als  comitatus  bezeichnet:  in  comitatu  Prisegauge, 
Gail.  553;  in  comitatu  Brisichgowe,  Herrgott  Gen.  Habsb.  II.  97; 
in  comitatu  Brisaguensi,  Neugart  episc.  Constanc.,  S.  46,  und 
so  mag  es  sich  erklären,  dass  die  Orte  nach  dem  Grossgau  und 
nicht  nach  seinen  Huntaren  genannt  sind.  Die  Bezeichnungen 
comitatus  Breisgau  mögen  jedoch  nur  eine  geschichtliche  Er- 
innerung enthalten,  denn  schon  im  9.  Jahrhundert  und  später 
werden  comitatus  einzelner  Grafen  mit  Ortschaften  genannt, 
welche  auf  eine  Mehrzahl  von  Grafschaften  und  also  Huntaren 
schliessen  lassen,  z.  B.  888  und  898  die  Grafschaft  des  Wulfun, 
Gail.  666  und  716;  die  Grafschaft  des  Birthilo  in  den  Jahren 
962  und  993,  Bad.  26  b und  12,  in  den  Jahren  990,  994,  995, 
Neug.  785,  792,  796;  die  Grafschaft  des  Diethelm  gleichzeitig 
im  Jahr  771,  Neug.  771  u.  s.  w.,  so  dass  es  wahrscheinlich  möglich 
sein  würde,  bei  Zusammenstellung  des  gesanmiteu  weitschichtigen 
Urkundenmaterials  (S.  314)  und  des  Umfangs  der  kirchlichen 
Kapitel  Grafschaften  und  Huntaren  zu  ermitteln. 


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Neunundzwanzigstes  Kapitel. 

Der  Klettgau. 

Klettgau  und  Hegau  waren  die  Gaue  des  Lenzer;  Priari 
war  zur  Zeit  des  Ammian  König  über  einen  derselben.  (S.  69.) 
Der  Albgau  und  der  Klettgau,  beides  grössere  Gebiete,  liegen 
neben  einander  im  Schwarzwald.  Der  Bezirk  eines  jeden  wird 
durch  zahlreiche  Orte  bezeichnet,  aber  drei  Urkunden  reden 
von  vier  Orten  des  Klettgaus,  die  mitten  im  Albgau  lagen. 
Daraus  geht  hervor,  dass  jener  der  Grossgau  war  und  dass  er 
in  zwei  Theile  zerfiel,  den  Klettgau  im  engeren  Sinn  und  den 
Albgau. 

Diese  Auffassung  wird  durch  die  kirchliche  Eintheilung  be- 
stätigt. Mit  dem  Gross  Klettgau  stimmte  der  Archidiakocat 
Klettgau  überein,  und  es  entsprachen  die  Kapitel  Waldshut 
(von  dem  1788  das  Kapitel  St.  Blasien  abgezweigt  wurde)  und 
Stühlingen  dem  Albgau,  das  Kapitel  Neunkirch  dem  Klettgau 
im  engeren  Sinne. 

Huntaren  des  Grossgaus  sind  nicht  bekannt,  denn  die  beiden 
Gaue,  die  erst  allmälig  dem  Schwarzwald  abgerungen  sind  und 
in  die  Wildniss  hinein  sich  erweitert  haben,  sind  doch  in  dem 
uns  überlieferten  Umfang  zu  ausgedehnt,  um  als  solche  an- 
gesehen zu  werden. 

Seit  dem  11.  Jahrhundert  erscheint  der  Albgau,  durch  die 
Schwarzach  - Schlucht  getrennt,  in  den  oberen,  die  Land- 
grafschaft Stühlingen,  und  in  den  unteren  Albgau,  die 
Herrschaft  Haueustein  getheilt,  wohl  die  alten  Huntaren  des 
Albgau. 

Wenn  der  Klettgau  und  Albgau  keine  Huntaren  waren,  so 
ist  es  glaubhaft,  dass  sie  je  aus  mehreren  Huntaren  bestehende 
Theilgaugrafsehaften  waren,  von  denen  (ähnlich  wie  der  Tbur- 


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455 


gau  und  Zürichgau)  bei  der  Auflösung  des  Gross-Klettgau  der 
eine  dessen  Namen  Grafschaft  (Landgrafschaft)  Klettgau  be- 
wahrte, der  andere  den  zusammenfassenden  Namen  des  Albgaues 
annahm.  In  der  That  werden  beide  auch  als  comitatus  be- 
zeichnet. 

Die  Grenze  des  Gross-Klettgaues  bildeten  im  Westen  die 
Wasserscheide  zwischen  der  Murg  und  der  Alb,  im  Süden  der 
Rhein  von  da  bis  Schaffhausen  aufwärts,  im  Osten  der  Randen, 
im  Norden  etwa  der  obere  Lauf  der  Wutach. 

Die  Grenze  der  Grafschaft  Klettgau  giebt  das  Vidimus 
eines  kaiserlichen  Lehnsbriefes  von  1490  (Meyer,  Geschichte 
des  schweizerischen  Bnndesrechts,  I 193)  dahin  an:  Die 

Grenze  fängt  im  Osten  an  „in  dem  Urwerf  vor  Schaffhausen, 
geht  von  da  den  Rhein  ab  bis  zur  Mündung  der  Wuthach,  ver- 
folgt diese  aufwärts  bis  zum  Schleitheimer  Bach,  diesen  bis 
zum  Randenburgor  Egg  und  läuft  von  da,  „so  vil  dan  mit  wasser 
und  schnee  gegen  der  grafschaft  in  Cleggow  vlüsset“  zur  Enge 
und  von  dieser  „bis  vornen  in  die  gassen,  die  gen  Schafliusen 
hinin  gehet  und  den  graben  (die  jetzige  Katzensteige)  hinab  biz 
wider  in  das  Urwerf.“ 

Die  Wutach  und  der  Schleitheimer  Bach  bildeten  zugleich 
die  Grenze  zwischen  den  Grafschaften  Klettgau  und  Albgau. 


Theilgaugrafsehaften. 

1.  Albgau. 

Der  Name  rührt  entweder  von  dem  Flusse  Alb,  der  bei 
Albbruck  in  den  Rhein  fällt,  oder  von  der  Alp,  einem  hohen 
Gebirgsrücken  westlich  von  Stühlingen  her,  und  wird  Albgau 
geschrieben.  Die  Bezeichnungen  sind  Gau  und  pagus,  1071  und 
1112  comitatus  und  1150  provincia. 

Die  Zugehörigkeit  zum  Gross-KletUjuu  weisen  folgende  Urkunden  nach: 

912  ln  loco  Municbinga  (Münchingen  ÜA.  Bonndorf)  dicto  in  pago 
Clethgeuve.  Neug.  680;  Gail.  765. 

976  Lutwanga  in  pago  Cleggou,  in  der  Handschrift  in  Albegon 
corrigirt.  Casus  Mon.  Petrishus.  I,  14  in  den  Mon.  Germ,  script  20,  631. 
„Lutwanga  scheint  abgegangen  zu  sein,  wenn  es  nicht  etwa  in  Ober-  oder 
Unterwangen  bei  Bonndorf  fortbcstehen  sollte“;  Baumann  der  Albgau  in  der 
Zeitschrift  des  historischen  Vereins  für  Schwaben  und  Neuburg  II,  14. 


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456 


1087  Zeugen  de  pago  Cletgouwe  de  llodelingin,  de  Lienheim  (Rüd- 
lingen  UA.  Schaffhausen  und  Lienheim  BA.  Iestetten,  beide  in  der  Graf- 
schaft Klettgau),  de  Witelsperk  (abgegaugon  Witlisberg  bei  Höchenschwand 
BA.  Blasien),  de  Berouva  (Berau  BA.  Bonndorf);  de  pago  Brisgaugiensi 
U.  s.  w.  Schaffh.  7,  2. 

Die  Urkunde  fährt  also  Zeugen  aus  dem  Klettgau  und  aus  dem 
Breisgau  auf  und  man  ist  berechtigt,  ihr  hinsichtlich  der  Heimath  der 
Zeugen  Glauben  zu  schenken,  mithin  anzunehmen,  dass  Witlisberg  und 
Berau  im  Gross-Kletgau  lagen.  Baumann  (das  Kloster  Allerheiligen  in 
den  Quellen  zur  Schweizer  Geschichte  III)  ergänzt,  da  beide  Orte  auch  in 
dem  Albgau  liegen  „de  pago  Albigouwe“  und  vor  späteren  Namen  „de  pago 
Eregouve“  und  „de  pago  Undersce*,  willkürliche  Interpolationen. 

Sonach  sind  Orte  des  Grossklettgau  in  der  Grafschaft  Albgau : 

BA.  Bonndorf:  Münchingeu,  Ober-,  Unterwangen,  Berau; 

BA.  Blasien : Witlisberg  bei  Höchenschwand. 

Nach  der  Grafschaft  Albgau  selbst  sind  Orte  bezeichnet  wie  folgt: 

777  In  pago  Alpengowe  in  villa  Lutinga  (Luttingen  BA.  Waldshut). 
Laur.  3627. 

781  In  Alpagauia  in  villa  Wizia.  Actum  in  villa  Wizia  (Weitzen 
BA.  Stühlingen). 

814  In  pago  Alpagauia  in  villa  qui  dicitur  Birchinga  (Birkingen 
BA.  Waldshut).  Actum  in  villa  Biridorf  (Birndorf  das.)  Gail.  213. 

844  In  pago  Alpegouve  in  villa  quao  dicitur  Tezzilnheim  (Detzeln 
BA.  Waldshut).  Neug.  308. 

855  In  pago  Alpagouwe  in  villa  nuncupata  Luzheim  (Lausheim  BA. 
Bonndorf).  Gail.  442. 

858  Actum  apud  Tuoingen  (Thiengen  BA.  Waldshut)  coram  populo 
Alpegonense.  Rheinau. 

858  Cellam  quae  dicitur  Alba  (Cella  Alba,  an  deren  Stelle  das  Kloster 
St.  Blasien  getreten),  quae  sita  cst  in  pago  Alpigowe  Neug.  382. 

861  In  Alpegowe  in  villa  Alaftin  lAlpfen  BA.  Waldshut)  Neug.  402. 

866  In  Alpegouuo  cella  quae  dicitur  Alba,  Alapfa,  Waldcbilcha 
(Waldkirch  BA.  Waldshut).  Neug.  437. 

873  In  pago  Alpigove  in  villa  nuncupata  Gurtwila  (Gurtweil  das.). 
Neug.  474. 

874  In  Pirithorf  (Birndorf  BA.  Waldsbut)  in  pago  Alpicauge  — — 
ab  istis  villis  id  est  ab  ipsa  Pirithorf  et  Pirihchinga  (Birkingen  BA.  Walds- 
but et  Chuchilipach  (Kuchelbach  das.)  nec  non  et  Puah  (Buch  das.),  Ezili- 
wilare  (Etzwiel  das.)  et  Haidwilare  (Hechviel  das  ).  Gail.  585. 

885  In  pago  Alpegoue  et  in  Chuchelebacharo  marcho  (Kuchelbach 
BA.  Waldshut.)  — — quod  in  Alolfun  est  (Alpfen  das ) — — in  Chucbile- 

bach in  Piridorf  (Birndorf  das.),  — — in  Churtwila  (Gurtweil  BA. 

Waldshut)  et  Araberge  (Hügel  zwischeu  Gurtweil  und  Waldshut).  Actum 
in  Curtwila.  Gail.  643. 

890  In  Alpagouvo  — — Egipetingum  (Ewatingen  BA.  Bonnderf). 
Gail.  674. 


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457 


894  Proprietatem  in  Alpigauge  in  loco  qui  dicitur  Curtwila.  in 
Tuotelingun  (Dietlingen  BA.  Waldshut),  in  Ballenholz  (Bannholz  das.',  in 
Tiufherreshusun  (Tiefenbäuaern  BA.  Blasien).  Gail.  691. 

912  In  Alpegeave  locum  Sreininga  (Schwaningen  BA.  StUhlingen). 
Gail.  767. 

917  Wilheim  situm  in  Alpegeave  — — in  Alouplia  (Alpfen  BA. 
Waldshut).  Actum  in  Alpegerve  in  Villa  Eperolfuigga  (Ehertingen  BA. 
Stthlingen).  Neug.  719. 

948  Cnrtem  Sueninga  (Schwaningen  BA.  StUhlingen)  in  pago  Alpe- 
gouue.  Wirt.  181. 

1071  In  villa  Ekkingon  f Obereggingen  BA.  StUhlingen)  in  pago  Alpe- 
gouue  et  in  comitatu  Uerhardi  comitis.  Bad.  21. 

1106  In  pago  Alpegouve  in  comitatn  Ottonis  in  loco  Amelgerisfelth 
Amertsfeld  bei  Grafenhausen  BA  Bonndorf).  Schaffh.  44. 

1112  Quicquid  proprietatis  habere  videor  in  loco  Wilare  (Weiler  BA. 
Bonndorf).  Ipsnm  vero  predium  in  pago  Albigouwe  in  comitatu  Bertoldi 
situm  est. 

Um  1123  Burzilun  (BUrgleu  BA.  Waldshut)  wird  der  Alpegowia  zuge- 
theilt.  Zapf.  Monum.  anec.  I,  466  nach  Neugart  Üonst.  XXV. 

1150  Zwischen  den  Klöstern  St.  Blasien  und  Schaffhausen  ist  ein 
Streit  entstanden  de  monte  quodam  Stouplien  (Hochstaufen,  südlich  von 
Schluchsee  BA.  Blasien).  Anwesend  ist  bei  Schlichtung  des  Streits  auch 
comes  illius  provincie  Rudolfus  de  Lenzoburch  (Lenzburg  Ct.  Aargau). 
Schaffh.  71. 

Grafschaftsorte  des  Albgaus  sind  hiernach 

BA.  W'aldshut:  Luttingen,  Buch,  Hechwiehl,  Etzwiehl,  Birkingen, 

Bimdorf,  Kuchelbach,  Ober-,  Unteralpfen.  Waldkirch,  Bannholz,  der  Hoch- 
’taufen,  Gurtweil,  Burgien,  Thiengen,  Weilheim,  Dietlingeu,  Detzeln; 

BA.  Stühlingen:  Obereggingen,  Eberfingen,  Weitzen.  Schwaningen; 

BA.  Bonndorf:  Weiler,  Amertsfeld  bei  Grafenhausen,  Lausheim, 

Ewatingen ; 

BA.  Blasien:  St  Blasien,  Tiefenhäusern. 

(Siehe  Tumbült.  Die  Grafschaft  des  Albgaus,  Zeitschrift  für  die  Ge- 
schichte des  Oberrheins  46,  152.) 

2.  Klettgau. 

Die  Theilgaugrafsckaft,  auch  Kletgau,  Chletgau,  Cleggau 
und  ähnlich  geschrieben,  wird  als  Gau  und  pagus,  844,  1023, 
1067  als  comitatus  bezeichnet. 

806  Csque  ad  Kenum  fiuviuin  in  confinio  Cletgowe  et  Hegowe  in 
locum  qui  dicitur  Enge  (Schlucht  oberhalb  Schaffhausen)  Neug.  158. 

844  In  pago  Cleggouve  in  villa  Louchiringa  (Lauchringen  BA.  Walds- 
but).  Actum  in  pago  Chlegouve  in  comitatu  Adelberti  coram  Gozberto 
»mite,  Neug.  308;  Rheinau  6. 


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458 


871  In  pago  Oblegowe  in  villa,  qui  (lieitur  Altenburcb  (Altenburg 
BA.  Waldshut)  et  in  silva  Lotstetin  (Lotstetten  das.).  Actum  in  villa 
Jesteten  (Jestettcn  das.)  Neug.  442;  Rheinau  11. 

87G  In  pago  Chlegowe  in  villa,  quae  vocatur  Lozestetin  et  in  Raffo 
(Rafz  A Bülacli  Ct.  Zürich)  et  in  pago  Chleggowe  in  villa  quae  dicitur 
Arcingen  (Erzingen  BA.  Waldshut)  et  in  villa  Balba  (Balm  das.)  et  in 
Jestetin  et  in  Houestetin  (Hofstetten  Ct.  Schaffhausen)  et  partem,  quem 
habuit  in  Suabona  (Halbinsel  Schwaben  bei  Rheinau).  Rheinau  14. 

876  In  pago  Cleggouve  in  locis  Wizwiia  (Weissweil  BA.  Waldshut) 
et  Arcingen  (Erzingen  das.).  Rheinau  19. 

878  Aehnlich  wie  die  Urkunde  von  876  Rheinau  14.  Dazu  noch  als 
Orte  des  Klctgau  Trasmundingen  (Trasadingen  Ct.  Schaffliausenl  et  Reh- 
pergin (Rechbcig,  BA.  Waldshut).  Rheinau  26. 

892  Actum  in  pago  Chleggouwe  in  villa  Altenburch  coram  Gozperto 
comite.  Rheinau  22. 

912  In  villa  quae  dicitur  Hasala  (Haslach  bei  Wilcbingen  Ct.  Schaff- 
hausen; in  pago  Chleggowe  et  in  villa  Ostrolvingen  (Osterfingen  das',.  Actum 
in  villa  Hasala.  Rheinau  25. 

1023  Wizzinburc  (Weissenburg.  zerstört«  Burg  bei  Weissweil  BA. 
Waldshut)  situin  in  pago  Chegeuve.  Rheinau  30. 

1045  In  villa  Schafhusen  (Schaffhausen)  et  in  eomitatu  Odalrici 
comitis  atque  in  pago  Cbletgouvi.  Schaffh.  2. 

1049  In  pago  Clechgovo  Getlieliuga  (GScblingen  Ct.  Schaffhausen), 
Sibilinga  (Siblingen  das.),  Hovestat  (Hofstetten  das.),  Heidestat  (wo'-*). 
Aldenburg  (Alteuburg  BA.  Waldshut),  Balba  (Balm  das.),  Swabouva  (Halb- 
insel Schwaben),  Rafla  (Rafz  Zürcher  Bezirk  Bülacli),  Wolfenesriuti  ( abge- 
gangen), Wilechinga  (Wilchingen  Ct.  Schaffhausen),  Haselaha  (Haslach 
Schloss  das.),  Arzinga  (Erzingen  BA.  Waldshut),  Wizwiia  (Weissweil  das  ), 
Locbringa  (Lauchringen  das.).  Rheinau  31. 

1056  Pertoldus  eowes  rnansum  in  villa  Wicssa  in  Cleccouve.  Schaffh.  4. 
Die  Deutung  von  Wiessa  auf  Wiechs  BA.  Engen  ist  unmöglich,  da  Wiechs, 
im  Kapitel  Engen  zweifellos  im  Gebiet  des  Gross-Hegau  und  der  Huntare 
Bargen  liegt.  Im  Ucbrigen  ist  Wiessa  nicht  zu  ennittclp. 

1067  Praedium  suum  in  pago  Cletgouve  et  Hegowe  in  romitatibus 
Gerungi  et  Ludowici  coinitum  siti.  Schaffh.  6. 

1087  Zeugen  de  pago  Cletgouwe  Geruugus  coines  de  Rodelingin 
(Rüdlingen  Ct.  Schaffhausen),  de  Lienheim  (Lienheim  BA.  Waldshut  u.  s. » 
Schaffh.  7,  2 (Siehe  Albgau). 

1092  Coines  Burchardus  de  castello  Xellenburk  erklürt  das  monastcrium 
S.  Salvatoris  in  pago  Cletgouvc  in  villa  Scafhusa  (Schaffhausen)  super  litu“ 
Reni  a progenitoribus  meis  constructum,  videlicet  Eberhardo  ei  religiöse 
comite  in  eodem  monasterio  monacho  Dei  gratia  facto.  Schaffh.  7. 

1094  In  villa  Scaffhusa  in  pago  Clecgouva.  Schaffh  17. 

1095  Praedia  in  Clectgouve  in  villis  llallaugia  superiori  et  inferiori 
(Ober-  und  Unterballau  Ct.  Schaff  hausen).  Schaffh.  26. 

1120—24  item  Sclmffb.  56. 


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459 


1125  Griezhein  et  in  Riuti,  (Uriessen  und  wahrscheinlich  die  Reute- 
höfe dabei  BA.  Waldshut),  que  arabe  site  snnt  in  pago  Cleggouve.  Rheinau 
3t  und  47. 

Ohne  I)atnm:  In  pago  Chleggonve  in  Arzingin,  Wizinburg,  Wiswilo 
(wie  oben).  Rudelingin  (RUdlingen  Ct.  Schaffhausen),  Buchperch  (Buchberg 
das  ).  Rheinan  44. 

Orte  der  Grafschaft  Klettgau  sind  hiernach: 

Ct.  Zürich.  Amt  BUlach:  Rafz; 

Ct.  Schaffhausen:  Buchberg.  RUdlingen,  Hofstetten,  Enge,  Schaff- 
hausen.  Wilchingen,  Trasadingen,  Ober-,  Unterhaliau,  Gächlingen,  Siblingen, 
Haslach; 

BA.  Waldshut:  Lienheim,  Lauchringen,  Rechberg,  Griesson,  Erzingen, 
Lotstetten,  Balm,  Iestetten,  Halbinsel  bei  Rheinau,  Altcnburg. 

Die  Enge  bildete  die  Grenze  zwischen  dem  Klettgau  und  dein  Hegau. 


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Dreissigstes  Kapitel. 


Der  Kegau. 

Mit  dem  Hegau  der  Lenzer  (jetzt  auch  Höhgau)  deckten 
sich  die  Kapitel  Engen  und  Stein  und  der  rechts  der  Donau 
gelegene  Antheil  des  Kapitel  Geisingen.  Für  den  Gau  und 
den  Complex  dieser  Kapitel  bildete  die  Grenze  im  Süden  der 
Rhein,  wo  die  äussersten  Gauorte  die  Enge  bei  Schaffhausen 
und  Oehningeu  BA.  Radolfzell  waren,  im  Osten  eine  süd- 
nördliche Linie,  welche  die  Hegauorte  Oehningen  und  Frie- 
dingen (BA.  Radolfzell),  Reuthe  (BA.  Stockach)  und  Hon- 
stetten (BA.  Engen)  einschloss,  im  Norden  die  Nähe  der  Donan 
oder  der  Fluss  selbst,  im  Westen  der  Randen  in  seiner  östlichen 
Abdachung.  Die  siidnürdliche  Linie  schloss  sich  augenscheinlich 
an  die  römische  Grenzlinie  Ad  lines-Tasgetium  (Pfyn-Ober- 
Unter- Eschenz)  an.  welche  Obergermanien  von  Rätien  trennte, 
denn  Tasgetium,  an  dem  Punkt  gelegen,  wo  der  Rhein  ans 
dem  Bodensee  tritt,  lag  auch  Oehningen  gegenüber,  so  dass  die 
angedeutete  östliche  Hegaugrenze  zugleich  die  westliche  von 
Rätien  war.  (S.  3,  70). 

Nicht  nur  seine  Grösse  und  die  Zahl  der  ihm  entsprechenden 
Kapitel  charakterisiren  den  Hegau  als  Grossgau,  es  sind  anch 
zwei  seiner  Huntaren  durch  ihre  Lage  im  Gebiet  des  Hegaus 
und  eiue  davon  auch  durch  urkundliche  Ueberlieferung  bezeichnet. 
Eitrahuntal  und  Bargen.  Andere  sind  nicht  bekannt.  Eine 
spätere  Erweiterung  des  Hegau  war  der  Unterseegau. 

Der  Grossgau  wird  als  Gau  und  pagus,  806  einmal  als 
pagellus  bezeichnet:  auch  die  (Huntaren?) -Grafschaften  der 
einzelnen  Grafen  werden  als  comitatus  1067,  1090,  1094  er- 
wähnt, und  ebenso  1040  der  comitatus  Bargen. 


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461 


Ueber  den  Grossgau  sprechen  folgende  Urkunden: 

787  In  pago  Egauinsse  in  Villa  que  dicitur  Slat  (Schlatt  BA.  Engen) 
et  in  Jlulinusa  (Mühlhausen  das  ),  vel  in  Hegingas  (Ehingen  BA.  Engen), 
nec  non  et  in  Walasingas  (Welschingen  das.),  vel  in  Gundihhinova  (Utten- 
hofen  BA.  Blumenfeld),  eciam  et  in  Usa  (Hausen  BA.  Radolfzell).  Actum 
Sisinga  villa  (Singen  das.).  Gail.  111. 

788  In  pago  Hegaugense  in  locis  Witartingas  (Weiterdingen  BA. 
Blumenfeld)  seu  et  in  Oningas  (Oehningen  BA.  Radolfszell).  Gail.  115. 

806  Usque  ad  Renum  ffuvium  in  confinio  Chletgowe  et  Hegowe  in 
locrnn  qni  dicitur  Enge  (Ct.  Schaffhausen).  Neug.  158. 

806  In  tertio  loco  qui  dicitur  Chirihheim  (Kirchen  BA.  Möhringen) 
’nper  fluvium,  qui  dicitur  Eitarhaha  (Eitrach)  vel  in  situ  pagellis  Heganvi. 
Gail.  190. 

846  In  pago  Hegouve  in  locis  Morinishusun  (Merishausen  Ct.  Schaff- 
bausen) et  in  Bersiningum  (Berslingen  Thal  das.)  Actum  in  villa  Rammes- 
heim  (Ramsen  das.)  Gail.  400. 

866  In  Hadalongcella  (Buch  das.)  in  pago  Heegewa.  Wirt.  141. 

892  In  pago  Hegowe  in  villa  Buetiugen  (Bietingen  das.).  Neug.  600. 
Rheinau  23. 

997  In  villa  Toginga  (Thaingen  das.)  in  pago  Hegou.  Wirt.  198. 

1067  Praedium  in  pago  (Cletgouve  et)  Hegowe  in  comitatibus  (Gerungi 
et)  Lodowici  comitum.  Allerh.  Schaffh.  6. 

1071  In  villa  (Ensinshain,  Ensisheim  Kreis  Gebweiler,  Ober-Elsass  ct) 
in  Persiniugin  (oben)  in  comitatu  Lndewici.  Rheinau  33. 

1083  Biberacha  (Bibern  Ct.  Schaffhausen)  in  pago  Hegowe.  Cbronicon 
Scbaafh.  S.  240  nach  Neug. 

1087  Testes  de  pago  Hegouvensi  de  Grizpach  (Griesbach  Ct.  Schaff- 
bausen), de  Singin  (Singen  OA.  Radolfzell),  de  Houerhusen  (nicht  zu  er- 
mitteln), de  Slato  (Schlatt  BA.  Engen),  de  Gielingen  (Gailingen  Ct. 
Gonstanz),  de  Engin  (Engen).  Schaffh.  7,  2. 

1090  In  villa  Fridinga  (Friedingen  BA.  Radolfzell)  in  Hegowe  in 
comitatu  Ludowici.  Schaffh.  7,  3. 

1092  Uodewicus  comes  de  Stofiln  (Hohenstoffeln  BA.  Blumenfeld) 
Schaffh.  15. 

1093  ln  pago  Hegouwa  in  loco  Biberacha  (Bibern  Ct.  Schaffhausen) 
Schaffh.  16. 

1094  In  pago  Hegouva  in  comitatu  Ludowici  in  loco  Wieseholza 
Wiesholz  Ct.  Schaffhausen).  Schaffh.  24. 

1101  In  pago  Hegowa  in  comitatu  Lodewici  in  locis  ze  Ruti  (Rcuthe 
BA.  Stockach),  ze  Hohensteti  (Honstetten  BA.  Eugen).  Wirt.  261. 

Um  1106  Actum  apud  Kammisheim  (Ramsen  Ct.  Schaffhausen)  in 
pago  Hegowo  in  comitatu  Udalrici  comitis  de  Ramersperch.  Wirt.  248; 
Rheinau  44;  Baumann  83,  Anm.  2. 

Ohne  Datum:  In  pago  Hegouve  in  villa  Morinshusin  (Merishausen  das.) 

Ganorto  sind  hiernach: 

Ct  Schaffhausen : Enge  Griesbach.  Merishausen,  Berslinger  Thal, 

Bibern,  Thaingen,  Buch,  Ramsen,  Wiesholz; 


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BA.  Constanz:  Gailingen,  Bietingen,  Oehningcn,  Singen,  Friedinge^ 
Hausen; 

BA.  Stockach:  Reuthe; 

BA.  Engen:  Honstetten,  Engen,  Ehingen,  Welschingen.  .Mühlhausen. 
Schlatt. 

BA.  Blumenfeld:  Uttenhofen,  Weiterdingen,  Hohenstoffeln; 

BA.  Möhringen:  Kirchen. 


II  u ii  t a r e n. 

1.  Bargen. 

Die  Huntare,  etwa  im  Westen  der  Kapitel  Engen  ond 
Stein  gelegen,  wird  als  comitatus  bezeichnet. 

1040  In  comitatu  Bargen  (Bargen  BA.  Engen)  in  Villa  Lanha  (Lohn 
Ot.  Schaffkausen J.  P.  Uartmann  Annales  Hcremi  S.  130.  Siehe  Neugart 
Hioec  Const.  S.  XXXVIII. 

Hnntarenorte: 

BA.  Engen:  Bargen; 

Ct.  Scliaffhausen:  Lohn. 

2.  Eitraliuntal. 

Die  Huntare,  etwa  im  Kapitel  Geisingen  rechts  der  Donau 
gelegen,  wird  als  pagus  und  Thal  bezeichnet. 

T70  In  |iago,  qui  dicitur  Eitraliuntal  (nach  dem  Nebenfluss  der  Donau, 
der  Eitrach)  in  vilia,  qui  dicitur  Auwolvinca  (Aulfingeu  BA.  Möhringen). 
Gail.  57. 

«06  In  tertio  loco,  qui  dicitur  Chiriliheim  (Kirchen  das.)  super 
fluvium,  qui  dicitur  Eitarhalia  vel  in  situ  pagcllis  (sic),  qui  dicitur 
Hegauvi.  Gail.  190. 

Iluntarenorte: 

BA.  Möhringen:  Aulfingen,  Kirchen. 

3.  L’nterseegau. 

Die  alamannisch-römische  Grenze  zwischen  dem  Hegau  und 
Kätien  wird  mit  den  Bewegungen  des  5.  Jahrhunderts  in  Weg- 
fall gekommen  sein.  An  ihnen  nahmen  insbesonder  die  Lenzer 
den  lebhaftesten  Theil.  Das  beweisen  die  Orte  Lenzer  Namens 
im  Westen  und  Süden  ihrer  Heimath,  aber  auch  im  Osten,  dauu 
im  Anschluss  an  das  Lenzer  Gebiet  der  Orte  auf  ingen  die 
40  Orte  derselben  Enduug.  die  sich  im  Norden  der  Bodensee- 
gebiete bis  zum  Schüssen  finden,  und  endlich  die  Gemeinschaft 


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der  „alamannischen“  Sprache,  die  sich  bei  den  Lenzem  und  ihren 
südlichen  wie  östlichen  Nachbarn  erhalten  hat  (S.  208,  241, 
252,  257).  Aber  noch  direktere  Spuren  der  Zusammen- 
gehörigkeit der  Lenzer  und  insbesondere  des  Hegaus  mit  dem 
Osten  sind  zu  erkennen.  Nach  der  Tradition  des  Mittelalters 
erstreckte  sich  das  Gebiet  des  Hegau  bis  aufwärts  nach 
Constanz,  denn  der  Hegau  hat  nach  dem  Schaft hauser  Chronisten 
Rüger  I 14‘J  „by  der  Costanzer  Rhynbruggen,  nach  lüt  der  alton 
Grafen  von  Nellenburg  marckbrieffen,  angefangen  und  sich  dem 
Rin  nach  durchnider  erstreckt  biz  an  das  Urwerl',  da  der  Land- 
grafschaft  Kleckgöw  hohe  Oberkeit  anfacht“.  Von  den  Neueren 
erklärt  Baumann  in  dem  Vorwort  der  Quellen  zur  schweizer 
Geschichte  III,  dass  der  Unterseegau  (bis  aufwärts  gegenüber 
von  Constanz)  stets  ein  Bestandteil  der  Hegaugrafschaft  ge- 
bildet habe,  und  ebenso  Schultze,  Gaugrafschaften  des 
alamannischen  Badens  220.  Für  diese  Gemeinschaft  ist  auch 
der  Bannforst  Hori  zu  verwerten,  der  teils  dem  alten  Hegau, 
theils  dem  im  Osten  anstossenden  Unterseegau  angehörte.  Und 
nicht  nur  der  Unterseegau,  sondern  auch  dessen  östlicher  Nachbar, 
der  Linzgau,  mit  seiner  Malstätte  Linz  weist  vermöge  des 
Namens  auf  die  Lenzer  hin. 

Es  erscheint  daher  nicht  unwahrscheinlich,  dass  der  Unter- 
seegau eine  Erweiterung  des  Gross-Hegau  aus  der  Zeit  des 
5.  Jahrhunderts  darstellte  und  dass  er  als  neugeschaffene 
Huntare  dem  Gaukönigthuni , spater  der  Gaugrafschaft  des 
Hegau  augeschlossen  wurde,  während  der  Linzgau  zu  dem 
benachbarten  Grossgau,  dem  südlichen  Albgau,  zu  rechnen  ist. 

Der  Unterseegau  umfasste  den  Ueberlingcr  See  (im  Westen 
von  Ueberlingen  ab),  den  Untersee  bis  zum  Ausfluss  des  Rheins 
und  die  zwischen  beiden  Seen  liegende  hohe  Landzunge,  sowie 
die  Insel  Reichenau,  endlich  das  Hügelland  um  Stockach,  die 
Kapitel  Reichenau  und  Stockach. 

Die  Bezeichnungen  sind  Gau  in  der  Endung  und  pagus, 
jede  sechs  Mal  in  ebenso  viel  Urkunden,  und  so  wechselnd  auch 
die  Bedeutung  von  Gau  und  pagus  ist,  so  ist  es  doch  immer 
ein  politischer  Verband,  den  diese  Worte  andeuten.  Es  ist 
daher  nicht  ersichtlich,  wesshalb  Baumann  und  Schultze  den 
l'nterseegau  nur  für  einen  topographischen  Begriff  erklären. 


4fi4 

816  Monasterii  Sintleozesavia  (Kloster  Reichenau  BA.  Constanz,  dessen 
Gründer  Sintlioz)  quod  est  situm  in  dncatn  Alamanniae  in  pago  videlicet 
(Undresine.  Neug.  188. 

839  Quandam  villnin  constitntam  sab  jnre  fisci  vocabulo  Potamicus 
Bodmann  BA.  Stockach),  quae  est  sita  in  pago  Huntarseue  et  appellatnr 

Tetingas  (Dettingen  BA.  Constanz) et  hobas  sitas  in  villa,  quae 

appellatnr  Alaholuesbah  (Allensbach  das.) Terras  quae  in  Luzzilonsteti 

(Ijtzelstetten  das  ),  Uualahuuis  (Wahlwies  BA.  Stockach),  Nanzingas  (Nen- 
zingen  das.)  esse  noscantur  nostra.  Bad.  3. 

860  Villulam  nomine  Mechinga  (Möggingen  BA.  Constanz),  quae  est 
sita  in  pago  Untarsee  et  mansum  in  villa,  quae  dicitur  Chutininga  (Güttingen 
das.).  Gail.  477. 

886  (Siehe  Urkunde  von  839).  Quandam  villam  constitntam  suh  jure 
fisci  vocabulo  Potamicus,  quae  est  sita  in  pago  Unterseue  et  appellatnr 

Tettingas et  hobas  in  villa,  quae  appellatnr  Alolvesbach,  et  tributum 

quod  Kadpold  ad  supradictum  fiscum  persolvebat  ab  his  locis,  quae  Uualavuis, 
Lutternninga  (Liggeringen  BA.  Constanz)  et  Roehrnang  (Röhrnang  das.) 
nominantur.  Terras,  quae  in  villis  Lucilonstete,  Uualavuis  et  Nancingas 
esse  noscuntur.  Bad.  13. 

892  Augiensis  monasterii  (Kloster  Reichenau)  in  pago  Untarsee, 
Bad.  19. 

1094  In  pago  l’ndersee  in  comitatu  Ludowiei  in  loco  Orsinga  (Or- 
singen BA.  Stockach).  Schaffb.  23. 

Huntarenorte: 

BA.  Constanz:  Reichenau,  Allensbach,  Litzelstetten,  Dettingen. 
Möggingen,  Güttingen,  Liggeringen,  Röhrnang; 

BA.  Stockach : Bodmann,  Wahlwies,  Orsingen,  Nenzingen. 

Sehr  bemerkenswerth  für  die  Geschichte  dieser  Gebiete  ist  das  llort, 
heute  das  Höri,  ein  Bannforst,  dessen  Besitz  der  bischöflichen  Kirche  zu 
Constanz  durch  eine  Urkunde  des  Kaiser  Friedrich  I.  von  1155  bestätigt 
wurde.  Wirt.  362.  Das  Hori  gehörte,  wie  schon  bemerkt,  theils  dem  alten 
Hegau,  theils  dein  Unterseegau  an  Seine  Grenzen  waren  im  Hegau  Eigel- 
tingen,  Aach,  Fluss  und  Stadt,  bis  Kicsalingen,  Ramsen,  Flüsschen  Biber 
bis  zum  Eintluss  in  den  Rhein  bei  Bibern,  der  Rhein  bei  Oehningen  (bis 
dahin  im  Gebiet  der  Kapitel  Engon  und  Stein  und  des  Hegau).  Dann  tritt 
die  Grenze  in  die  Kapitel  Reichenau  und  Stockach  und  den  Unterseegau 
ein.  Sie  umkreist  den  Schienenberg  und  berührt  den  Zeller  See  bis  Radolf- 
zell, Staringen,  Wahlwies  bis  wieder  Eigeltingen. 

Der  pagellus  Biskoffeshori,  der  in  derselben  Urkunde  erwähnt  wird, 
lag  im  Thurgau. 


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eualamannisehe 

Gaue 

des  zweiten  Rätiens. 


C r .1  m e r , Ue»cluoht«  der  Aiam^nnen. 


30 


Einunddreissigstes  Kapitel, 
fclebersicht. 

Von  dem  Theil  des  zweiten  Rätiens,  den  die  Alamannen 
im  5.  Jahrhundert  besetzten,  dem  Neualamannien  rechts  des 
Rheins,  sind  die  Grossgauverhältnisse  durch  die  Urkunden  nur 
lückenhaft  überliefert.  Im  äussersteu  Osten  sind  an  beiden 
l'fern  der  Donau  der  Riesgau  und  der  östliche  Augstgau  (beide 
dem  Bisthum  Augsburg  angehörig)  nachzuweisen  und  weiter  in 
dem  Strich  an  beiden  Seiten  der  unteren  Iller  der  Illergau, 
von  dessen  Huntaren  nur  Eine,  der  Nibelgau,  feststeht.  Wie 
weit  sich  der  Gross- Illergau  gen  Westen  erstreckte,  welche  die 
anderen  Grossgaue  Oberschwabens  waren,  ist  unbekannt.  Man 
sieht  nur  eine  Anzahl  von  Huntaren,  die  anscheinend  ohne  den 
Zusammenhang  höherer  Verbände  gewesen  sind;  verdunkelt 
oder  verlöscht  ist  die  Erinnerung  an  die  Grossgaue  durch  die 
jüngere  Schicht  der  Bargrafschaften.  Hier  tritt  an  die  Stelle 
der  Urkunden  die  Combination,  allerdings  nur  mit  unsicherer 
Gewährleistung  ihrer  Ergebnisse. 

Die  Gestaltung  Oberschwabens,  die  Sprache  und  die  kirch- 
liche Eintheilung  geben  Anhaltspunkte.  Oberschwaben  dacht 
sich  theils  in  wellenförmigen  Erhebungen  nach  Süden  zum 
Rodensee,  theils  in  flacher  Ebene  nach  Norden  zur  Donau  ab, 
aber  das  Relief  ist  nicht  prägnant,  und  man  kann  daher  nicht, 
wie  bei  der  Alb,  ohne  Weiteres  sagen,  dass  die  Grenzen  des 
Grossgau  der  Wasserscheide  folgen  werden. 

Mit  dieser  fallt  jedoch  ungefähr  die  Sprachgrenze  des 
O.— 15.  Jahrhunderts  zusammen,  so  dass  an  der  südlichen  Ab- 
dachung die  alamannische,  an  der  nördlichen  die  schwäbische 
(suevische)  Mundart  herrscht,  eine  Unterscheidung,  die  auf  den 

30* 


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Gegensatz  von  Xichtsueven  und  Sueven  zurückzuführen  ist 
(S.  255  u.  flgde.,  271),  und  ein  Anhalt  dafür,  dass  die  Abdachung 
zum  Bodensee  von  den  gleichsprachigen  Gauen  des  lenzischen 
Hegau  und  Klettgau,  sowie  des  Breisgau,  der  Mortenau,  viel- 
leicht auch  von  den  schweizer  Gauen,  die  Abdachung  zur  Donau 
von  den  gleichsprachigen  Gauen,  dem  Albgau,  der  östlichen 
Hälfte  des  Westergaues,  dem  Nagoldgau,  dem  Xeckargau  und 
anderen  nördlich  gelegenen,  besiedelt  ist. 

Auf  der  Abdachung  zum  Bodensee  stiess  im  Westen  an 
den  Hegau  (alamannischer  Mundart),  dessen  neualamannische 
Erweiterung,  die  Huntare  Unterseegau  mit  den  Kapiteln 
Reichenau  und  Stockach  des  Archidiakonats  Vormwald,  von 
der  bereits  S.  462  die  Rede  war. 

Der  im  Osten  anstossende  Archidiakonat  Alpgau  (Algovia, 
Allgäu)  erstreckte  sich  weiter  über  die  Abdachung  zum  Boden- 
see in  dessen  Xorden  und  Osten,  und  da  alle  Archidiakonate 
(mit  Ausnahme  des  Vormwald)  Xamen  von  Grossgauen  tragen, 
so  kann  man  für  den  entsprechenden  Grossgau  den  gleichen 
Xamen  Alpgau  annehmen  (S.  339,  340);  den  südlichen  im 
Gegensatz  zu  dem  nördlichen  der  schwäbischen  Alb. 

Die  Urkunden  kennen  nur  den  Xamen  einer  Huntare 
Alpgau  (Allgäu)  in  den  nach  ihr  benannten  Allgäuer  Alpen. 
Als  Ansiedlung  im  Gebirge  mag  sie  jüngerer  Zeit  angehöreu,  und 
von  der  Xachbarhuntare  des  Gaus  (dem  Argengau)  erst  ab- 
gezweigt sein,  als  der  Gau  und  der  Gaugrafschaftsverband  schon 
aufgelöst  war,  die  Huntaren  nicht  mehr  nach  dem  Gau,  sondern 
nach  dem  eigenen  Xamen  bezeichnet  wurden,  und  der  Gross- 
gauname zur  Bezeichnung  der  neugeschaffenen  Huntare  aus- 
reichte. 

Legt  man  auch  für  die  Abdachung  zur  Donau  die  Archi- 
diakonatseintheilung  zu  Grunde,  so  zeigt  sich,  dass  die  Donau- 
ebene südlich  von  Friedingen  bis  Ulm  in  zwei  Abschnitte,  in  zwei 
Gaue,  zerfiel,  deren  unterer,  der  Illergau,  im  Umfang  des  gleich- 
namigen Archidiakonats  sammt  der  in  den  Xaehbarareliidiakonat 
Allgäu  verlegten  Huntare  Xibelgau,  deren  oberer  ein  dem 
Namen  nach  unbekannter  Gau,  den  ich  in  Analogie  von  Rhein- 
und  Neckargau  den  Donaugau  nennen  will,  war.  Letzterer  ist 
theils  mit  dem  Alb-  und  dem  Neckargau  in  den  Archidiakonat 
Circa  Alpes  (Rauhe  Alb),  theils  mit  dem  Hegau,  Westergau 


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m 


und  Xagoldgau  iu  den  Archidiakouat  Ante  Nemus  (Vormwald) 
aufgegangen. 

So  ergeben  sich  als  neualamannische  Grossgaue  im  zweiten 
Rätien  am  Bodensee  der  südliche  Alpgau  (Allgäu)  alamannischer 
Mundart  und  an  der  Donau  der  Donaugau  (?),  Illergau,  östliche 
Augstgau  und  Riesgan,  alle  (mit  einer  Abweichung  im  Illergau) 
schwäbischer  Mundart. 

Die  Namen  des  Angstgau  und  des  Riesgau  geben  römische 
Namen  wieder:  jener  den  von  Augusta  Videlicum  (Augsburg), 
dieser  von  Raetia. 

Das  Bisthnm  Augsburg  unterschied  in  seinen  Einteilungen 
an  der  rechten  Donau  Suevia,  welches  dem  Augstgau,  an  der 
linken  Donau  Raetia,  welches  dem  Riesgau  entsprach.  Aber 
im  Mittelalter  erhielt  sich  der  Name  Ries  auch  iu  Suevia. 
Nach  Aventins  Chronik  sagte  man:  Augsburg  im  Riess,  nach 
einer  Augsburger  Chronik  von  1483:  Die  statt  Augspurgk  im 
obern  Riess. 

Von  Bearbeitungen  sind  für  Baden  ■Schnitzes,  für  Württemberg 
Baumanns  Gaugrafsehaften.  für  Baiern  von  Pallhausens  Nachtrag  zur 
Urgeschichte  Baierns,  vou  Längs  Baierus  Gaue  und  Steichelcs  Bisthum 
Augsburg  zu  nennen. 


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Zweiunddreissigstes  Kapitel. 

Der  südliche  (Jlpgctu. 

Um  den  Grossgau  im  Norden  und  Osten  des  Bodensees  zu 
finden,  muss  man  von  dem  Archidiakonat  Alpgau  (Allgäu)  aus- 
gehen (S.  468),  von  dessen  Namen  auf  den  gleichen  des  Gross- 
gans zurückzusehliessen  ist. 

Der  Archidiakonat  umfasste  die  Kapitel  Ueberlingen. 
Theuringen,  Ravensburg,  Lindau,  Bregenz,  Weiler,  Stiefenhofen 
und  Isnv. 

Davon  scheidet  hier  das  Kapitel  Isny  mit  der  Huntare 
Nibelgau  aus,  welche  urkundlich  dem  Gross- Illergau  angehörte 
(S.  468).  Es  bleiben  für  den  Gross-Alpgau  die  Kapitel  Ueber- 
lingen und  Theuringen  (von  letzterem  die  südlichen  zwei  Drittel) 
mit.  der  Huntare  Linzgau,  die  Kapitel  Theuringen  (nördliche 
Drittel)  und  Ravensburg  mit  der  Huntare  Schussengau,  das 
Kapitel  Lindau  mit  der  Huntare  Argengau,  die  Kapitel  Bregenz. 
Weiler  und  Stiefenhofen  mit  der  Huntare  Alpgau.  An  den 
Grenzen  drang  aber  die  Hnntare  Argengau  in  die  Kapitel 
Bregenz  (mit  der  Stadt  Bregenz),  Weiler  (mit  Niederstaufen 
und  Opfenbach)  und  Ravensburg  (mit  Tettnang)  ein.  Die 
politischen  wie  die  kirchlichen  Bezirke  lagen  auf  der  südlichen 
Abdachung  zum  Bodensee  im  „alamannischen“  Sprachgebiet 
(S.  257,  271).  Der  Gross-Alpgau  mit  den  Huntaren  Linzgau. 
Schussengau,  Argengau,  Alpgau  hatte  als  Grenzen:  im  Süden 
den  Bodensee,  im  Westen  die  Schüssen,  im  Norden  die  Bomser 
Höhe,  den  Altdorfer  Wald  und  die  obere  Argen  und  umfasste 
weiter  im  Norden  und  Osten  die  Allgäuer  Alpen  mit  dem  Quell- 
gebiet der  Iller  und  dem  Bregenzer  Wald.  Die  umgebenden 
Grossgaue  waren  der  erweiterte  Hegau,  Donau-  und  Illergau, 
der  östliche  Augstgau,  Currätieu  und  der  Thurgau. 


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471 


Die  letzte  Besiedelung  ist  den  Allgäuer  Alpen  zu  Tlieil  ge- 
worden. Sie  erfolgte  von  Westen  aus,  wie  die  gleichen  Grafen  und 
die  Entwickelung  der  kirchlichen  Verbände  ergeben  und  die  Ge- 
meinsamkeit der  alamannischen  Mundart  zurfickschliessen  lässt. 
Denn  im  9.  Jahrhundert  hatten  der  Linzgau,  der  Argengau  und 
der  Alpgau  dieselben  Grafen.  Noch  1324  gab  es  ein  Kapitel 
Egebrechtshofen,  das  sich  über  die  H untaren  Argengau  und 
Alpgau  erstreckte;  1353  war  es  schon  in  zwei;  Lindau  (für 
den  Argengau)  und  Grünenbach  (für  den  Alpgau)  getheilt  und 
bei  zunehmender  Bevölkerung  wurde  dann  im  16.  Jahrhundert 
das  Kapitel  Lindau  wiederum  in  zwei : Lindau  und  Bregenz, 
und  ebenso  das  Kapitel  Grünenbach  in  zwei:  Weiler  und  Stiefen- 
hofen, zerlegt.  Weiter  schliesst  sich  die  „alamaunische  Mund- 
art“ an  den  Hegau  an  und  nimmt,  wie  sich  weiter  zeigen 
wird,  im  Norden  und  Osten  der  Huntare  Alpgau  ein  Ende, 
damit  zugleich  die  Grenze  der  westlichen  Einwanderung  und 
Besiedlung  andeutend. 

Wenn  diese  äusserste  im  Gebirge  gelegene  Huntare  den- 
selben Namen  trägt,  wie  der  Grossgau,  so  mag  sich  das  damit 
erklären,  dass  der  Gaugrafschaftsverband  wohl  schon  aufgelöst 
war  und  die  einzelnen  Bezirke  bereits  Huntarengrafschaften 
waien,  als  die  dichtere  Besiedelung  der  Allgäuer  Alpen  in 
Angriff  genommen  und  hier  die  neue  Huntare  geschaffen  wurde. 
Da  reichte  der  Name  des  Grossgaues,  der  im  Uebrigen  bereits 
vacant  geworden  war,  zur  Bezeichnung  der  neuen  Huntare  aus. 


Huntarcn  und  Zehntscliatten. 

1.  Linzgau. 

Der  Linzgau  ist  der  Gau  der  Lenzer,  Lentienses.  Linz 
war  die  Malstätte  und  das  Flüsschen,  an  dem  sie  lag.  Bis 
zum  Schüssen  trugen  die  lenzischen  Ansiedler  die  Ortsendung 
ingen  (S.  252),  und  sie  mögen  der  Huntare  ihren  Stammnamen 
gegeben  haben,  indem  sie  einem  neu  gegründeten,  fremden 
Grossgau  sich  anschlossen.  Die  Huntare  stiess  im  Süden  an 
den  Bodensee  von  Ueberlingen  (eingeschlossen)  bis  zum  Schussen- 


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472 


ausfluss,  im  Osten  an  die  untere  Schüssen  bis  aufwärts  etwa 
Amtszell  OA.  Ravensburg,  im  Nordosten  von  da  bis  Riedhausen 
OA.  Saulgau,  im  Nordwesten  von  da  bis  Ueberlingen. 

Der  Huntare  entsprachen  das  Kapitel  Ueberlingen  und  die 
südlichen  zwei  Drittel  des  Kapitels  Theuringen. 

Die  Bezeichnungen  sind  Gau,  pagus,  neunmal  comitatus, 
783  zweimal  situs.  Später  bildete  die  Huntare  die  Grafschaft 
Heiligenberg. 

771  In  pago  Linzgauvia  in  villa  Ailingas  (Ober-,  Unter-Ailingen 
OA.  Tettnang)  et  in  alio  loco,  qui  dicitur  Scuzna  (Ort  an  der  Schüssen). 
Actum  Helingas  villa  (Ailingen).  Gail.  59. 

778  In  pago  Linzcauvia  in  villa,  que  dicitur  Fisbabc.  Actum  in 
Fiscbbnhc  villa  publici  <,Fischbach  OA.  Tettnang).  Gail.  84. 

779  In  pago  Linzgauginse  in  villa  qui  dicitur  Perinadingas  (Berma- 
tingen BA.  Salem).  Gail.  87. 

783  In  situ  vel  in  pago  Lincaugiensi  in  villa,  que  dicitur  Aldonpurias 
(Altenbeuren  BA.  Salem).  Neug.  84. 

783  In  pago  vel  in  situ  Linzgauwa  in  villa  qui  dicitur  Duringas 
(Ober-,  Unter-Theuringen  OA.  Tettnang).  sub  Ruadbetto  comite.  Gail.  100. 

786  In  pago  Dinzguugiensi  in  villa  qui  dicitur  Chnuzesvilare  (Gunzen- 
haus?  OA.  Tettnang).  Actum  in  villa  Duringas  (Theuringen)  publici. 
Gail.  106. 

788  In  Linggauia  situm  Gaerrinberg  (Giihrenberg  BA.  Heiligeuberg' 
in  loco  nuueupante  Houusteti  (wo?).  Actum  in  villa  Perahtmoiingas  (Ber- 
matingen BA.  Salem)  publice  sub  Kuadberto  comite.  Gail.  119. 

816  ln  pago  Linzgeuve  et  in  loco  qui  voeatur  Werinpertivilare 
(Wermetsweiler  bei  Markdorf  BA.  Meersburg),  qui  dicitur  esse  iu  marclia 
Duringas.  Actum  in  Cella  Majunia  (Mannzell  OA.  Tettnang)  sub  Odalricho 
comite.  Gail.  219. 

816  In  pago  Linzgaue  in  territorio  pertinente  ad  villam  Duringa 
(Theuringen).  Wirt.  74. 

826  In  pago  Liuzgauge  et  in  locis  nuneupatis,  videlicet  in  Stetiu 
(Stötten  BA.  Meersburg)  et  in  Scugginuothorf  (Schiggendorf  BA.  Heiligeu- 
berg.)  Gail.  314. 

844  In  Liutzgauge  et  in  loco  qui  uominatur  Wickinhusa  (Wiggen- 
hausen OA.  Tettnang)  in  Turingaro  marca  (Thouringen).  Gail.  390. 

849  In  Linzgauve  in  ville  Wildorf  (Weildorf  BA.  Salem),  in  Lindol- 
veswilare  (wo?)  et  in  Wintarsulaga  (Wintersulgen  BA.  Heiligenberg). 
Gail.  408. 

860 — 61  In  pago  Linzigouvo  in  loco  qui  dicitur  Keranberg  (G8hren- 
berg  BA.  Heiligenberg).  Actum  in  Roekanburra  (Roggenbeuren  BA.  Meers- 
burg), sub  Oadalrieho  comite.  Gail.  475. 

861  In  comitatu  Linzigauge  in  loco  Eigileswilare  (Eggenweiler  OA 
Tettnang).  Gail  479. 


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473 


864  In  pago  Linzgauge  in  vilia,  que  dicitur  Adaldrudowilare  (ab- 
gegangen).  Gail.  605. 

766  In  pago  Linzgauie  in  vilia  qne  ilicitnr  Sikkinga  (Ober-,  l’nter- 
Siggingen  BA  Heiligenberg)  publice  sub  Oadalricho  coinite.  Gail.  517. 

873  In  dncatu  Alamannico  in  pago  I.inzgoue  in  coinilatu  Odalrici 
comitis  in  vilia.  qua  vocatur  Eilinga  (Über-.  Unter- Ailingen  OA.  Tettnang), 
in  vilia  quae  dicitur  Throoanteswilare  (Trutzenweiler  OA.  Kavensburg)  et 
ad  Haboneswilare  (Happenweiler  das.'.  Gail.  573. 

879  In  pago , qui  dicitur  Linzgauge  et  in  locis  nuncupatia 
Pruantesunilare  et  Eilingum  et  Habenuuilare  (wie  oben)  Wirt.  155. 

890  Udalrico  cuidam  coroiti  de  Lintzgouwe Omne»  principes  de 

tribua  comitatibns.  id  est  de  Turgeuve.  de  Lintzgonve  et  de  Rnaetia  Curiensi 
cum  reliqun  popnlorum  multitudine  comitatus  divisernnt  terminuin  inter 
Durgeove  et  Rhingeuve.  Gail  860. 

892  In  pago  Linzgowe  in  vilia  Heichenstege  (Aicbstegen,  jetzt  Löwen  - 
tbal  OA.  Tettnang).  Laur.  2470. 

913  De  Linzgenve.  Gail.  774. 

973  In  eomitatu  Linzihkeuue  Tvzindorf  (Daisendorf  BA.  Meersburg), 
Turinga  (Theuringen  OA.  Tettnang'.  lliutin  (Reute  das.'.  Wirt.  188. 

1018,  1027,  1040  ebenso.  Wirt  214,  220,  223. 

1058  In  vilia  quae  vocatur  Ouueltingcn  (Uhldingen  BA.  Salem)  in 
nago  Linzgowe  in  eomitatu  Ottonis  couiitis.  Casus  Peterbus.  Mon.  Germ, 
script.  20,  042. 

1094  In  pago  Linzigouva  in  eomitatu  Ottonis  in  loec  Urenonva  (Uruau 
BA.  Ueberlingen).  Sckaffh.  20. 

11’ 7 Pagns  Linzgo  mit  Pfruwanga  (Pfraugen  OA.  Saulgau).  Mon. 
Germ  script.  20,  661. 

1121  In  pago  Linzgouwe  in  eomitatu  Hartmanni  comitis  partem  villae, 
que  dicitur  Pfruwanga  cum  prediolo  Tauerna  (Täfern  BA.  Heiligenberg) 
vocitato.  Wirt.  274. 

1135  Villa  Frichingen  (Frickingen  BA  Heiligenberg)  in  pago  Linzgowe 
in  eomitatu  Heinrici  comitis.  Casus  Peterhus.  Mon.  Germ,  script.  20,  667. 

1143  Pagus  Linzon  das.  20,  673. 

1151  Horinguncella  (Horgenzell  BA.  Ravensburg)  et  caetera  in  pago 
Linhgowe.  Wirt.  II,  S.  440. 

1158  In  pago  Lienzegowe  in  vilia  Lctistetin  (Leustetten  BA.  Heiligen- 
berg). in  Liupretisruti  (Lippertsreute  BA.  Ueberlingen),  in  vilia  Odiltiugcn 
(Uhldingen  BA  Salem),  in  Menzilshusin  (Mendlishausen  BA.  Salem). 
Wirt.  366. 

1272  Pagus  Linlzegoe  mit  Tepfenhart  (Tepfenhart  BA.  Salem), 
Adilristi  (Adelsreute  BA.  Meersburg).  Curt.  Salem  III,  102. 

1282  Der  Landrichter  der  Grafschaft  Heiligenberg  nennt  sich:  in  pago 
Lienzego  sive  per  totum  coinitatnm  comitis  Sancti  Muntis  judex  provincialis, 
oder  anch:  per  totum  Sancti  Montis  coinitatura  judex  provincialis  in  pago 
qui  dicitur  Linzigoe  constitutus.  Das.  111  92,  150;  Baumann  51. 


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474 


Huntarenorte: 

BA.  Ueberlingen:  Lippertsreute; 

BA.  Heiligenberg:  Wintersulgen.  Frickingen,  Leustetten,  Scbiggendori. 
Ober-,  Unter-Siggingen,  Gührenberg,  Taferu ; 

BA.  Salem:  Weildorf,  Altenbenren,  Jlcndlishausen,  Uhldingen,  Ber- 
matingen, Tepfenhart-, 

BA.  Meersburg:  Daisendorf,  Stetten,  Wermetsweiler,  Roggenbeuren. 
Urnau,  Adelsreute; 

OA.  Tettuang:  Mannzell,  Fisckbach; 

OA.  Saulgau:  Pfrungen; 

OA,  Ravensburg:  Uorgenzell,  Trutzenweiler,  Happenweiler,  Reutte; 
OA.  Tettnang:  Ober-,  Unter- Theuringen,  Eggonweiler,  Ober-,  Unter- 
Ailingen,  Gunzeuhaus  (?)  bei  Kehlen,  Wiggenhausen,  Schnetzenhausen. 
Aichstegen,  jetzt  Löwenthal. 

Den  Südosten  des  Linzgau  nahm 

die  Mark  Theuringen 

mit  der  gleichnamigen  Malstätte  ein. 

752  Ego  Mothari  dono  de  curtis  raeis  portionem,  hoc  sunt  quod  vocatura 

est  curtis  meus  Duringas  (Ober-,  Unter-Theuringen  OA.  Tettnang. 

Actum  locum  publice  in  ipse  Dnringas.  Gail.  10. 

783  ln  pago  vel  in  sito  Linzgauwa  in  villa  qui  dicitur  Duringas. 
Gail.  100. 

783  Actum  in  villa  Duringas  puplici  sub  Crodberto  comite.  Gail.  100 

»16  Propriolum per  loca  determinata,  idest:  A üuviola  Mulibach 

usqne  in  Chrumbenbach  et  de  illo  usque  in  Fisbach  quod  ipse  situs  est  in 
fisco  nostro,  qui  cadit  in  Huvium  Scuzna  et  ex  utraque  parte  ripae  ejusdem 
tiuminis  — — Prodiclum  propiolum,  quod  est  situm  in  pago  Liuzgaue  in 
territorio  ad  villatn  Duringa.  Wirt.  74.  Die  Bäche  sind  nach  Bauuiann  53 
nicht  zu  bestimmen. 

»10  In  pago  Linzgeuve  et  in  loco  qui  vocatur  Werinpertivilare 
(Wermetsweiler  bei  Markdorf  BA.  Meersburg),  qui  videtur  esse  in  raaroha 
Duringas.  Actum  in  Cella,  quae  nuncupatur  Majonis  cella  (Mannzell 
OA.  Tettnang)  publici  — sub  Odalricho  comite.  Gail.  219. 

Um  817  Quicquid  in  loco  Thuringarimarcho  visus  sum  habere,  excepto 
hobam  in  loco  qui  dicitur  Kelinga  (Kehlen  OA.  Tettnang).  Gail.  231. 

844  Quod  trado  est  situm  in  pago  Lintzgaugc  et  in  loco  qui  nominatur 
Wickinhusa  (Wiggenhausen  OA.  Tettnang)  in  Turingarro  marcho.  Gail.  390. 
844  Quicquid  in  Turingaro  marcha  visi  sumus  habere.  Gail.  392. 
Markorte  sind: 

BA.  Meersburg:  Wermetsweiler  bei  Markdorf; 

OA.  Tettnang : Theuringen,  Mannzell,  Wiggenhausen,  Kehlen. 

2.  Sciiussengau. 

An  den  Liiizgau  stiess  im  Osten  der  Sciiussengau,  der  den 
Altdorfer  Wald  in  sich  einschloss.  Er  umfasste  das  Kapitel 


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Ravensburg  (aber  ohne  die  Umgebung  von  Tettnang,  die  dem 
Argengau  angehörte)  und  das  nördliche  Drittel  des  Kapitel 
Theuringen.  Er  heisst  Gau  und  pagus,  einmal  8 1 *>  fiscus. 

»16  Iu  tisco,  qui  dicitnr  Szuznigauue.  Wirt.  74  und  I S.  413.  Der 
Rest  der  Urkunde  bezieht  sich  auf  den  Liuzgau. 

ll>»7  In  pago  Suacengonve  Kodolfus  de  Waltbusin  (Ober-,  Unter- 
Waldhausen  OA.  Saulgau).  Sckaffh.  7,  2. 

1152  Heriwigeruti  (Kahlen  OA.  Ravensburg),  Kiuwinsperc  (Rimmers- 
berg  das.).  Itunoldisperc  (wahrscheinlich  in  Weissenau  das.  aufgegangen) 
in  pago  Scuzengow.  Wirt.  337. 
lluntarenortc : 

OA.  Saulgau:  Ober-,  Unter-Waldbausen; 

OA.  Ravensburg:  Ritnmcrsburg,  Rahlen,  Weissenau  ('?). 

Die  Mark  dry  Argengauer. 

»61  Dedit  eoniis  Chuonratug  in  coiuitatu  Liuzigauge  in  loco 
Eigilesnuiiare  ^Eggcnweiler  OA.  Tettnang)  nnam  basilicam  et  casam  cum 
curte  ceterisque  edificiis  ac  de  terra  culta  60  jugera  in  Foroste  (Forst 
OA.  Ravensburg)  et  novale  in  niareba  Argungauueusium  inter  Kigilcsuuillare 
et  Forastum  et  Kotinbahc  (Rothenbach  OA.  Waldsee)  situm  etc.  Wirt.  132. 

Courad  scheint  der  Graf  des  Argengaues  gewesen  zu  sein  (»56, 
Wirt.  125).  Nachdem  er  eine  Kirche  in  Eggenweiler  und  einen  Hof  in  Forst 
übertragen  bat,  folgt  ein  Neubruchacker  in  der  Mark  der  Argengauer  Er 
bezeichnet  sie  als  zwischen  dem  entfernten  Eggenweiler  im  Einzgau,  Forst 
and  Röthenbach  (beide  im  Altdorfer  Wald)  gelcgeu  Die  Bezeichnung  nach 
Eggenweiler  ist  alierdiugs  sehr  vage,  aber  der  Schreiber  der  Urkunde  kulipft 
an  die  schon  genannten  Orte  Eggenwciler  und  Forst  an  und  lügt  Röthenbach 
hinzu.  Die  Urkunde  scheint  zu  erweisen,  dass  Genossen  des  Argengaues 
in  den  Schussengau  eingt wandert  sind  und  sich  iu  dem  zugehörigen  Alt- 
dorfer Wald  eine  Mark  gerodet  haken,  welche  den  Namen  der  Gründer 
bewahrt  hat. 


3.  Argengau. 

Der  Argengau  erstreckte  sich  am  Bodensee  von  Bregenz 
bis  Langenargen  und  umfasste  die  Gebiete  der  oberen  und  der 
unteren  Argen,  der  letzteren  bis  aufwärts  etwa  daliin,  wo  sie 
württembergisclies  Territorium  berührt.  Im  L’ebrigen  dem 
Kapitel  Lindau  entsprechend,  trat  der  Argengau  mit  der  Um- 
gebung von  Tettnang  bis  zum  Schüssen  in  das  Gebiet  des 
Kapitel  Ravensburg,  mit  der  Stadt  Bregenz  in  das  Kapitel 
Bregenz,  mit  dem  Ort  Opfenbach  iu  das  Kapitel  Weiler  ein. 
Die  Bezeichnung  der  Iluiitare  ist  Gau,  pagus,  802  ministerium, 
1112  comitatus. 


476 


Jil  In  bago  Argunensi.  Wirt  13. 

773  In  pago  Argoninse  in  vilari,  quod  dicitur  Haddinvilare  (Hatzen- 
weiler  OA.  Wangen)  et  in  villa,  qui  dicitur  Argona  (Langenargen  OA. 
Tettnang).  Actum  Arguna  villa  publice.  Neug.  5t. 

794  In  pago  Argunensis  in  insula  vel  loco  qui  dicitur  Wazzerpnruc 
(Wasserburg  BA.  Lindau),  — — in  Mittenbnch  (Mitten  das.).  Actum  in 
villa  Arguna  puplice  — in  praesente  Buadperto  comite.  Gail.  152. 

799  In  pago  Arconessa  in  villa,  que  dicitur  Katineshova  (Batten- 
weiler OA.  Tettnang).  Actum  in  loco  qui  dicitur  Wazzerburuc  sub  Roadberto 
comite.  Gail.  15(1.  ' 

802  In  ministerio  Adalribco  comitis  in  Liubililnnaba  (Leiblacb; 
Voralberg),  quod  situm  est  inter  Hregantia  castrum  (Bregenz)  et  inter 
flnvium  qui  voeatur  Ascaba  (Flüsschen  Eschach,  bei  Lindau  mundend)  et  in 
alio  loco  Oawicca  (Gwiggeu.  Voralberg)  et  in  tertio  loco,  qui  voeatur 
Hohinwilari  (Uobenweiler  das.)  Actum  in  I’regancia  Castro  publici.  Gail.  1 04. 

805  Rcttenauwia  (Ober-,  Unter  Reitenau  BA  Lindau.  Gail.  171. 

809  In  pago  Argunense  in  villa  nuncupata  Crimoltcsbora  (abgegangen). 
Actum  in  Wazzerpurc  sub  Odalricbo  comite.  Wirt.  04. 

815  In  pago  Argunense  et  in  locis  inseitis  subditis,  id  est  in 
Uuazzarpurc  et  in  Arguna  (Langenargen  OA.  Tettnang)  in  Haddinuuilare 
(Hatzenweiler  OA,  Wangon)  et  in  Ziegalpach  (Ziegelbach,  Vorarlberg),  in 
Suuarzinbach  (Schwarzenbach  OA  Wangen)  et  ruanguu  (Wangen)  sub 
Odalricbo  comite.  Wirt.  72. 

834  In  Argungaue  in  loco  qui  dicitur  Engelbertisriuti  (Englisreute 
OA.  Ravensburg).  Actum  ad  Rirscacliin  (nicht  zu  bestimmen)  publice  sub 
Huadchario  comite.  Wirt.  92. 

839  In  loco  Patahinuuilare  (Bettensweiler  OA.  Wangen).  In  pago 
Argungoge  in  villa  Apl’ulhouua  (Apflau  OA.  Tettnang)  — — et  ad 

Leimouuo  (Lcimnau  das.)  — — et  in  Oberindorf  (Oberdorf  das.) ad 

Argunam.  Actum  in  ipso  Patecbinuuilare  (Bettensweiler  OA.  Wangen)' 
publice  sub  Cboanrate  comite.  Wirt.  104. 

856  In  Argungoue  in  loco  que  dicitur  Nidironuuangun  (Niederwangen 
OA.  Wangen).  Actum  in  Suuarzunpac  (Schwarzenbach  das.)  sub  Chuonrato 
comite.  Wirt.  125. 

860  De  Aragungeuue  — in  Sigehartesuuilare  (Siggenweiler  OA 
Tettnang).  Actum  in  Uuazzarbureh  publice  sub  Uadalricho  comite. 
Wirt.  130. 

861  Dedit  comis  Chuonratus  novale  in  marclia  Argungaunensium  ctc. 
Wirt.  132.  Siehe  die  Urkunde  unter  der  Huutare  Scbussengau. 

861  In  pago  Argengauue  in  loco  qui  dicitur  Arguna.  Actum  in 
Uuassarburc  publice  sub  Uudalricho  comite.  Wirt.  135. 

Nicht  nach  861.  In  pago  Argauge  et  in  loco  qui  dicitur  Arguna. 
Actum  in  Uuazzarbureh  publice.  Wirt.  134. 

667  De  Argengeuuve.  Wirt.  142. 

882  In  Argangauge  videlicet  in  Tetinauc  (Tettnang)  — — et  in 
Hasalacha  (Haslach  OA.  Tettnang)  — — ad  Liutouam  (Liudau).  Actum 
in  Wazzarburc  public.  Notavi  Uodalricum  comitem.  Wirt.  157. 


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477 


905  In  Uuolramtnesuuilare  (Ober-,  Unter- Wolfertsweiler  OA. 
Tettnang)  in  pngo  Argungeuue.  Actum  in  Pacenhouan  (Neuravensburg  ? 
OA.  Wangen).  Wirt.  177. 

909  In  Tagebretesuuilare  (Dabensweiler  OA.  Wangen).  Actum ' in 
Pacenhouan  publice.  Notavi  comitem  Odalricum.  Wirt.  1 78. 

Um  1100  Loci  qui  dicuntnr  Baldericheswilare  ( Baldensweiler  OA, 
Tettnang),  Wisericheswilare  (Wiesertsweiler  das.),  Dietmundeswilare  (Diet- 
mannsweiler  das.)  et  sunt  in  pago  Aringoensi.  Stalin  Cod.  trad.  Weingart 
major  34. 

1112  In  comitatu  ad  Pacinhoven  in  rilla  Rodinwilare  (Rudenweiler 
OA.  Tettnang)  et  Tentinwilare  (Dentenweiler  das  ).  Schweiler  Quellen  III,  84. 

1122  Hilteneswilare  (Hiltensweiler  OA.  Tettnang  . Escericheswilare  (unbe- 
kannt , Bleichun  (Bleichnau  das.  , Langenouva  inferior  et  superior  (Unter- 
und  Uber  Langensee  das.),  llaprehteswilare  (Rappertsweiler  das.},  Wielandes- 
wilare  (Wielandsweiler  das.),  Erchenarteswilare  (Echetweiler  das.),  Steini- 
bach  (Steinenbacb  das/,  Rodolfesriet  (Ober-,  Unter-Russenried  das.},  Roden- 
wilare  Rudenweiler  das.).  Schweizer  Quellen  III.  98. 

Danach  sind  Huntarenortc: 

OA.  Wangen:  Wangen,  Niederwangen,  Hatzenweiler.  Schwarzenbach, 
Neuravensburg  (?},  Bettensweiler,  Dabensweiler; 

OA.  Tettnang:  Haslach,  Ober  , l'nter-Russenried,  Siggenwciler,  Baldens- 
weiler, Dietmannsweiler,  Tettnang,  Wiesertsweiler,  Rappertsweiler,  Stcinenbach, 
Laimnau,  Oberdorf,  Langenargen,  Apflau,  Rattenweiler,  Ober-,  Unter-Lnngen- 
see,  Hiltensweiler,  Wolfertsweiler,  Wielandsweiler,  Bleichnau,  Rudenweiler, 
Dentenweiler; 

BA.  Lindau:  Opfenbach,  Eggatsweiler,  Ober-,  Unter-Ruitnau,  Ricken- 
bach, Flüsschen  Aeschach,  Lindau,  Mitten,  Wasserburg; 

Vorarlberg:  Hohenweiler,  Gwiggen,  Laiblach,  Bregenz. 

4.  Alpgau  (Allgäu). 

Die  urkundlich  nachzuweisenden  Orte  des  Alpgaucs  fallen 
sämmtlich  in  das  Kapitel  Stiefenhofen. 

Die  Anbauer  zogen  über  die  Argen,  drangen  zur  oberen 
Iller  bis  zu  ihrem  Quellgebiet  vor  und  dehnten  sich  vom  Boden- 
see im  Westen  bis  etwa  zum  Grünten  im  Osten  aus.  Im  Süden 
ging  es  grenzenlos  ins  Gebirge;  wie  weit  der  Alpgau  hier  im 
Kapitel  Bregenz  reichte,  ist  urkundlich  nicht  zu  sehen. 

Die  Bezeichnungen  sind  Gau,  pagus  und  1243  comitatus. 

817  Ego  Wisirih  trado  ad  coeuobium  Sti  tiulli  unaiu  cellam  in  pago 
Albigaugeuse  sitani,  que  vocatur  Wisirihis  cella  (vielleicht  Zell  bei  Staufen 
BA.  Sonthofen;  . Gail.  229. 

839  Trado  ud  monasterium  Sli  Gnlli  in  villa,  que  dicitur  Xordbovun 
Nordhofen,  Currelat  zu  Southofeu.  iu  dieses  aufgegaugen).  Gail.  320. 

868  Quicquid  quidam  homo  Chn  lolt  nomine  de  pago  Albekeuve  habere 
visus  est  iu  loco,  qui  dicitur  Stoufen  .Staufen  BA.  Sonthofeu).  Gull.  542. 


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839  Cellulam  appellatam  Aldrici  cella  (nicht  zu  bestimmen),  quae  in 
ducatu  Alamanniae  sita  est  in  pago  Albigoi.  Neug.  292. 

905  (906)  ln  pago  Albcgeuwe  in  loco  Fiscinu  (Fischen  das.;,  Gail.  744. 

995  Lutwanga  (nach  Neugart  Langenwangen  bei  Fischen)  in  pago 
Albegou.  Neug.  797. 

Fm  1150  Zü  Alhegouwa  in  Nortwang  (Ortwang  HA.  Sonthofen,  und 
zu  Routy  > Heute  das.).  Schaffh.  (Quellen  zur  Schweizer  Geschichte  III,  135. 

1243  Comitatus  in  Alpigowo.  HouiUard-Hreholles  VI  86. 

Huntorenorte  sind  sonach: 

HA.  Sonthofen:  Staufen,  Zell  (?  .Ortwang,  Reute  beide  bei  ßteichach  . 
Nordhofen  abgegangen  bei  Sonthofen  . Fischen,  Langenwangen  bei  Fischen. 

Die  weiteren  Nachrichten  beginnen  erst  wieder  im  13.  Jahr- 
hundert, wo  in  dem  Alpgau  drei  staatliche  Verbände  zu  unter- 
scheiden sind.  Sie  stellen  sich  als  Zdmtschaftm  dar,  deren 
Bewohner  als  Freie  sich  erhielten.  Die  westliche  ohne  Namen 
hiess  in  späterer  Zeit,  wo  ihr  ein  Stück  des  Nibelgaues  zu- 
gelegt wurde,  Eglofs  oderMeglofs,  d.  h.  zum  Eglofs,  OA.  Wangen, 
und  soll  hier  schon  so  bezeichnet  werden,  die  mittlere  und  die 
östliche  waren  die  Bezirke  des  unteren  und  des  oberen  Sturzes. 
Es  crgiebt  sich,  dass  die  Orte  der  beiden  Stürze  mit  dem 
Kapitel  Stiefenhofen  zusammen  fallen,  so  dass  die  im  Kapitel 
Weiler  liegenden  als  die  des  Eglofs  anzusehen  sind. 

Hiernach  waren  die  Sitze  der  Freien,  über  welche  wir  aus 
der  Zeit  vom  14.  bis  zum  Beginn  unseres  Jahrhunderts  unter- 
richtet siud, 

in  Eglofs:  Gestraz,  Heimkirch,  Röthenbach,  Ebratzbofen,  Scbeidegg, 
Kopf  ob  Ruggstcig  und  Mügger»; 

im  inilirtu  Stur::  Rentershofen  bei  Stiefenhofen,  Knechtenhofen,  Keiti 
und  Hinterreute,  alle  drei  bei  Staufen,  Wcissnch,  Kirchdorf,  Wiederhofen, 
Aigis,  Missen,  llörlas  halb; 

im  oberen  Sturz,  dem  Illerthal:  Börlas  halb,  im  Hof,  Rieggis, 

Gopprechts,  Freundpolz,  Wohlmuths,  diese  fünf  um  Niedersonthofen, 
Lampprechts  bei  Immenstadt,  Blaichach,  Gnnzctried,  Rieden,  Sonthofen. 
Schweineberg,  Ofterschwang,  Muderpolz,  Tiefenbach,  Sigiswang,  Kirwang. 
Holsterlang,  Fischen.  Hinnang,  Schöllang,  Oberstdorf; 

iu  den  drei  Gebieten  mehrfach  auch  Orte  in  der  Fmgebung  der  ge- 
nannten. 

Es  ist  schon  erwähnt,  dass  der  Alpgau  innerhalb  des  ala- 
mannisehen  Sprachgebiets  liegt  und  es  ist  hier  zuzufügen,  dass 
der  obere  Sturz  noch  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  ihm  ange- 
hört. Die  Sprachgrenze  umfasst  auf  alamannischer  Seite  von 
der  Adelegg  aus  Bolsternang,  Oberwengen,  Weitnau,  Eckarts. 
Diepholz  und  jenseits  der  Iller  Maiseistein,  Kauheuzell,  Burg- 


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479 

berg,  Hindelang  (Banmann  Forschungen  571),  eine  Grenze,  die 
da  läuft,  wo  die  Sitze  des  oberen  Sturzes  ihr  nordöstliches  Ende 
finden.  Hier  machte  die  suebisch- schwäbische  Sprachneuerung 
an  der  Grenze  eines  Gaues  halt,  den  man  nach  seinem  ge- 
schichtlichen Zusammenhang  mit  dem  Westen  (S.  4fi8)  für  nicht- 
schwäbischen  Ursprungs  halten  muss. 

Die  innere  Organisation  der  Freien  von  Eglofs  und  den 
beiden  Stürzen  war  es,  vermöge  deren  die  Freiheit  der  Ge- 
nossen den  Anfechtungen  der  erstarkenden  Landesherrn  gegen- 
über im  Mittelalter  wenigstens  theilweise  blieb.  Hier  sei  nur 
noch  mitgetheilt,  dass  der  Graf  Hartmann  von  Grüningen  1243 
die  Grafschaft  im  Alpgau  mit  der  Burg  Eglofs  oder  Meglofs 
und  allem  Zubehör  zu  Capua  an  den  Kaiser  Friedrich  II.  und 
das  Reich  verkaufte,  comitatus  in  Albegowe  cum  Castro  Mege- 
lolves,  hominibus,  possessionibus  et  omnibus  pertinentiis.  Dieser 
Bezirk  Eglofs  gehörte  nach  seinen  Huntarenorten  Willatz, 
Siggen,  Eisenharz  dem  Nibelgau  und  dem  damit  überein- 
stimmenden Kapitel  Isny  an;  dann  mit  dem  Alpgau  verbunden, 
gab  er,  wie  es  scheint,  einmal  deren  westlicher  Zehntschaft, 
dann  aber  der  Huntare  Alpgau  selbst  den  Namen  Eglofs.  Der 
Alpgau  wurde  damit  die  Grafschaft  Eglofs,  der  gegenüber  der 
Name  Alpgau  in  seiner  amtlichen  Bedeutung  zurücktrat. 

Je  mehr  letzteres  geschah,  um  so  mehr  erweiterte  sich 
schon  im  Mittelalter  das  landschaftliche  Namensgebiet  des  Alp- 
gau. Er  war  nach  den  Alpen  benannt,  wurde  zum  Algäu  oder 
Allgäu.  Aus  den  Alpen  wurden  dann  die  Allgäuer  Alpen  und 
mit  dem  Gebirge  schritt  der  Name  über  die  Grenzen  der 
Huntare  Alpgau  hinaus  links  der  Iller  in  das  vorliegende 
Berg-  und  Hügelland  bis  Kempten,  Wangen,  Kisslegg,  rechts 
der  Iller  in  die  Ebene  bis  Memmingen,  Kaufbeuren  und  zum 
Lech.  „Dem  Allgäu  gemeinsam,  sagt  Baumann,  der  Erforscher 
und  Geschichtsschreiber  des  Allgäu,  ist  den  Bedingungen  des 
Bodens  entsprechend  das  Einödwesen  (das  Hofsystem),  bei  dem 
jeder  Bauer  Haus,  Acker,  Weide  und  Wald  als  geschlossenes 
Ganzes  besitzt,  Viehzucht  und  das  schindelbedeckte  Landeru- 
haus,  während  in  dem  benachbarten  Oberschwaben  an  deren 
Stelle  Dorf,  Ackerbau  und  Strohdach  tritt.“ 

Nach  Uaumann:  Der  Alpgau,  seine  Grafen  und  freien  bauern  und 
die  Geschichte  des  Allgäu. 


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Dreiunddreisigstes  Kapitel. 

Der  Donaugau.  (?) 

Der  auf  Grund  der  orographischen  Gestaltung  Ober- 
schwabens, des  schwäbischen  Sprachgebiets  und  der  kirchlichen 
Eintheilung  von  mir  angenommene  Gross- Donaugau  mag  aus 
dem  Archidiakonat  Vormwald  das  Kapitel  Mösskirch  mit  den 
Huntaren  Goldineshuntare  und  Ratoltesbuch , nnd  aus  dem 
Archidiakonat  Albgau  das  Kapitel  Mengen  mit  der  Huntare 
Krekgau  und  Tiengau,  das  Kapitel  Saulgau  mit  der  Huntare 
Eritgau  und  den  Antheil  des  Kapitel  Munderkingen  rechts  der 
Donau  mit  der  Muntricheshuntare  umfasst  haben.  Diese 
politischen  Verbände  charakterisiren  sieb  sämmtlick  als  Hun- 
taren, die  Goldineshuntare,  Muntricheshuntare  und  Ratoltesbuch 
nach  den  zu  Grunde  liegenden  Personennamen  Goldwin,  Muntrich 
und  Ratolt,  die  beiden  ersten  auch  nach  ihrer  Endung,  der 
Krekgau  und  Eritgau  nach  ihrer  urkundlichen  Bezeichnung  als 
centenae  und  der  Tiengau  nach  seinem  mit  der  Malstätte  Hohen- 
tengen  übereinstimmenden  Namen,  und  es  erscheint  daher  aus- 
geschlossen. in  einem  dieser  Verbände  den  verlorenen  Namen 
des  Grossgaues  zu  finden. 

Dies  gilt  insbesondere  auch  in  Bezug  auf  die  Goldines- 
huntare und  den  Eritgau.  Allerdings  erstreckte  jene, 
wenn  man  den  Urkunden  und  deren  zunächst  sich  bieten- 
der Auslegung  Glauben  schenken  soll,  sich  fast  über  das 
gesammte  Gebiet.  Worndorf  BA.  Stockach  und  Krumbach 
BA.  Mösskirch  gehörten  nach  einer  Urkunde  von  'J93  und 
Herbertiugen  OA.  Saulgau,  wenn  Heripretinga  in  einer  Urkunde 
von  854  dahin  zu  deuten  ist,  der  Huntare  des  Goldwin  an, 
aber  man  wird  diese  Deutung  von  Heripretinga  aufgeben  oder 


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4«1 

einen  Irrthum  annehmen  müssen,  da  die  Huntareneigenschaft 
nach  dem  Namen  nicht  zweifelhaft  ist  und  es  im  Uebrigen 
keine  Huntare  von  solcher  Grösse  giebt.  Der  Eritgau 
trägt  neben  der  vieldeutigen  Bezeichnung  Gau  und  pagus 
in  Urkunden  von  839  und  990  die  einer  centena  und  in 
einer  späteren  von  1209  die  einer  provincia  Erigaugie.  Aber 
abgesehn  von  weiter  unten  hervorzuhebenden  Bedenken  gegen 
die  letzte  Urkunde,  ist  centena  die  technische  Bezeichnung,  da- 
gegen das  seltnere  Wort  provincia  von  derselben  Vieldeutigkeit 
wie  Gau  und  pagus  (S.  318).  Es  bleibt  daher  nur  übrig,  dem 
Grossgau  für  den  unbekannten  einen  erdichteten  Namen  zu 
geben. 

Der  Donaugau  hat  nach  den  ihm  zügerechneten  Huntaren 
und  Kapiteln  als  Grenzen:  im  Norden  den  nördlichen  Albgau, 
die  Donau  von  oberhalb  Sigmaringen  bis  unterhalb  Munder- 
kingen,  im  Osten  die  angenommene  Grenze  des  Illergaus,  etwa 
das  Gebiet  des  Sulzbachs,  den  Federsee  und  den  Altdorfer  Wald, 
im  Süden  die  des  südlichen  Albgaus  und  des  erweiterten  Hegaus, 
nahezu  die  Sprachgrenze  (vom  Altdorfer  Wald  über  Pfullendorf, 
das  ausserhalb  liegen  bleibt,  bis  Sentenhart  und  Krumbach),  im 
Nordwesten  den  Westergau  mit  der  Scherra,  Worndorf  zum 
Donaugau  ziehend. 

Vielleicht  weist  die  Kapiteleintheilung  den  Weg  zur  Ent- 
stehung der  westlichen  Huntaren.  In  dem  Kapitel  Müsskirch 
scheiden  sich  die  Huntaren  Goldineshuntare  und  Ratoltesbuch, 
in  dem  Kapitel  Mengen  die  Huntaren  Krekgau  und  Tiengau; 
sie  mögen  ursprünglich  je  eine  Huntare  gebildet  haben.  In  dem 
Kapitel  Saulgau  ist  die  Huntare  Eritgau  uugetheilt  geblieben 
und  auch  für  die  Muntricheshuntare  in  dem  Kapitel  Munder- 
kingen  rechts  von  der  Donau  ist  eine  Abzweigung  nicht  zu 
erkennen. 

Huntarengrafschaften  waren  bereits  die  Muntricheshuntare 
961,  Eritgau  961,  1016,  1282,  der  Tiengau  1282.  Später  lassen 
sich  mit  dem  Grenzfluss  der  Ostrach  unterscheiden  die  Graf- 
schaften Sigmaringen  (mit  Theilen  von  Goldineshuntare,  Ratoltes- 
buch,  Krekgau  links  der  Ostrach)  und  die  Grafschaft  Friedberg 
(mit  Theilen  von  Krekgau  rechts  der  Ostrach,  Tiengau,  Eritgau, 
Muntricheshuntare).  Vergleiche  Baumann  74  — 79). 


Crioiir,  Geschichte  der  Alamannen.  31 


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482 


H u n t a r e n. 

1.  2.  Goldineshuntare  und  Ratoltesbuch. 

Beide  dem  Kapitel  Mösskireh  entsprechend,  mögen  ur- 
sprünglich ein  Ganzes  gebildet  haben. 

Die  GoMineshuntare  lag  im  Westen  von  Mösskireh  um! 
nahm  den  Westen  des  Kapitel  Mösskireh  ein. 

Die  Bezeichnungen  sind  pagus,  pagellus  und  Huntare. 

854  In  comitatu  Udalrici  comitis  in  pagelio  Goldineshuntare  in  vill.i 
Heripretinga  (Herhertingen,  OA.  Saulgau  liegt  durch  andere  Hnntaren  von 
der  Goldineshuntare  getrennt,  deren  Erwähnung  liier  wahrscheinlich  irrig 
ist).  Wirt.  121. 

993  ln  villis  Worndorff  (Worndorf)  et  Crumaclm  (Krumhach,  beide 
BA.  Mösskireh)  dictus  in  pago  Goldineshunderc  vocato  ac  coinitatu  Mar- 
quardi  comitis.  Neug.  788. 

Iluntarenorte 

BA.  Mösskireh:  Worndorf;  Krumhach. 

Der  Gau  liatolttxbuch  lag  etwa  zwischen  Mösskireh,  Sig- 
maringen,  Mengen,  Pfullendorf  und  umfasste  den  Osten  des 
Kapitel  Mösskireh. 

Die  Bezeichnungen  sind  Gau,  pagus. 

806  In  loco  qui  dicitur  Katolvespuah.  Gail.  190. 

1056  Villam  Santanhart  .Sentenhart  BA.  Mösskireh;,  in  Rasta  ,Kast 
das.)  in  pago  Katoltespuoch.  Schaffh.  4. 

1087  Zeuge  Bertholdus  de  Bietelschiess  (Bittelschiess  OA.  Sigmaringcn 
ex  Radoltsbachergovia.  C'hronicon  Schaffh.  Oder  de  pago  Ratoldesboch 
Bertoldus  de  Bittelscheiss.  Schweizer  Quellen  III,  17;  Schaffh.  7,  2. 

1094  In  pago  Ratolveshuch  in  villa  Maingen  .Mengen  OA.  Suulgau 
unam  aream.  Oberrhein.  Zeitschrift  IX,  217. 

Huutarenorte 

BA.  MiisBkirch:  Sentenhart,  Rast; 

OA.  Sigmaringen:  Bittelschiess; 

OA.  Saulgau:  Mengen  (Siehe  jedoch  den  folgenden  Abschnitt  . 

3.  4.  Krekgau  und  Tiengau. 

Zwischen  dem  Kapitel  Mösskireh  mit  der  Goldineshuntare 
und  dem  Ratoltesbuch  im  Westen  und  dem  Kapitel  Saulgan 
mit  dem  Eritgau  im  Osten  lag  das  Kapitel  Mengen  mit  den 
Huntaren  Krekgau  und  Tiengau  mitten  inne.  Der  Krekgau  ist 
nach  2 Urkunden  gesichert: 

819  König  Ludwig  schenkt  dem  Kloster  Buchau  quandam  vill.ua 
proprietatis  uostrue  sitam  in  centena  Krecgow  votier  Kretgow  nuncup.it* 


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4S3 


quae  vocatur  Maginga  Mengen  OA.  Saulgan)  et  ecelesiam  in  villa  Sulogau 
(Saulgan).  Wirt.  82. 

995  In  Rapirgahnsa  (Repperweiler  OA.  Saulgau)  in  pago  Creggow. 
Casus  Mon.  Petrish  I,  14,  in  Mon.  germ.  script.  30,  681. 

Während  Mengen  819  im  Krckgau  lag,  sollte  es  1094  im  Ratoltesbucli 
und  1209  im  Eritgau  liegen. 

1094  In  pago  Ratolvesbueli  in  villa  Maingen  unam  aream.  Oberrhein. 
Zeitschrift  IX,  217. 

1209  wurde  die  Ueberrtragung  von  819  vom  König  Otto  in  folgender 
Form  bestätigt : 

(Juundam  villam,  in  provincia  Erigaugie  (Eritgau’  sitam,  quae  appellatur 
Maingen  et  ecelesiam,  quae  dicitur  Suligen.  Wirt.  544. 

Den  Urkunden  von  819  und  995  gegenüber  kann  auf  die 
in  den  Urkunden  von  1094  und  1209  abweichend  dargestellte 
Lage  von  Mengen  kein  Gewicht  gelegt  werden.  Jene,  die 
altern,  sind  von  einander  unabhängig,  und  bezeugen  durch  ihre 
Uebereinstimmung  den  Krekgau;  diese  sind  3 und  4 Jahrhunderte 
jünger  und  widersprechen  einander.  Der  Rechtsakt  von  1209, 
welcher  den  von  819  corrigiren  will,  war  vermöge  seiner  Zeit 
und  als  Urkunde  der  entfernten  kaiserlichen  Kanzlei  um  so 
leichter  einem  Irrthum  ausgesetzt,  als  der  miterwähnte  Ort 
Saulgau  zweifellos  im  Eritgau  lag. 

Dagegen  erklärt  Baumann  75—78  (nach  dem  Vorgang  von 
Stalin  I 293  und  der  Württembergischen  Urkundensammlung) 
das  Wort  „Krekgau“  der  beiden  älteren  Urkunden  für  Schreib- 
fehler, überträgt  „Mengen  im  Eritgau“  aus  der  von  1209  in  die 
von  819,  lässt  also  819  den  Eritgau  Mengen  in  sich  ein- 
schliessen,  1094  aber,  bei  Unterstellung  einer  Gauverschiebung, 
den  Ratoltesbuch  den  Ort  umfassen.  Der  Annahme  desselben 
Schreibfehlers  in  beiden  Urkunden  von  819  und  995  widerspricht 
jedoch  ihre  Selbstständigkeit,  da  sie  weder  sachlich  noch 
zeitlich  in  irgend  einem  Zusammenhang  stehn,  und  weiter  steht 
der  Zugehörigkeit  von  Mengen  zum  Eritgau  die  Existenz  des 
Tiengaues  im  Wege.  Denn  zwischen  dem  Krekgau  (Mengen 
und  Repperweiler)  einerseits  und  dem  Eritgau  andererseits  lag 
der  Tiengau. 

1282  Urauesehaft  in  Tiengau  und  Ergowe  (Eritgau).  Wirt.  Jahr- 
bücher 1827,  160. 

Der  Name  Tiengau  ist  von  der  Malstätte  Dieugen,  jetzt 
Hohentengen,  abzuleiten,  und  während  der  Tiengau  noch  1477 
erwähnt  wird,  hat  die  Gaubezeichnung  sich  als  „Göge“  oder 

31’ 


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„Gege“  bis  heute  erhalten.  Wenn  Baumann  auch  dem  Tiengau 
das  Dasein  als  Gau  vorenthält  und  in  ihm  nur  einen 
geographischen  Begriff  sieht,  der  sich  aus  der  Mark  Hohen- 
tengen  entwickelt  habe,  so  ist  zu  entgegnen,  dass  die  Endung 
gau  charakteristisch  für  den  Grossgau  wie  für  die  Huntare  ist, 
dass  der  Tiengau  eine  (Huntaren-)  Grafschaft  war  und  dass  erst 
von  ihr  der  Name  Göge  als  geographischer  Begriff  übrig  ge- 
blieben ist. 

Die  Huntaren  Krekgau  und  Tiengau  werden  aus  einer 
einzigen  hervorgegangen  sein,  welcher  das  Kapitel  Mengen 
entsprach.  (S.  333.) 


5.  Eritgau. 

Dem  Eritgau  entsprach  das  Kapitel  Saulgau.  Ertingen, 
OA.  Kiedlingen,  ist  als  seine  Malstättc  zu  betrachten. 

Die  Bezeichnungen  sind  Gau,  pagus,  830,  900,  916,  1101, 
1016,  comitatus,  1209  provincia. 

839  Ex  centena  Eritgaouue  et  ex  ministerio  Chuonradi  comitis. 
Wirt.  102. 

892  In  pago  Eritgeuue  in  loco  qui  dicitur  Pusso  (der  Hussen  OA. 
Kiedlingen).  Wirt.  158;  Gail.  684. 

902  Pagus  Erichgewe.  Herimanni  Augiensis  chronicon  in  Mon. 
Germ,  script.  V 111.  Buochaugiense  coenohium  .Buchau  OA.  Kiedlingen  . 

961  In  comitatu  üerekeuue  in  viilia  Tatunhusa  .Dutthausen  OA 
Ehingen  (?),  Meringa  (Möhringen  OA.  Kiedlingen).  Tiermuntingn  Dtirr- 
mentingen  OA  Riedlingen),  Cella  (Zell  das.),  Nunnnnuuilare  'Nonnenweiler 
OA.  Saulgau',  Moseheim  (Moosheim  das.),  Wirt,  186. 

990  Ex  ccntena  Eriggeuue  (et  Apphon).  Bad.  32. 

995  In  Rapirgahusa  ( Kepperweiler  OA.  Saulgau  in  pago  Eregou, 
richtiger  Creggou.  Casus  Mon.  Petrish.  I 14  in  Mon.  Germ,  script.  20,  631 ; 
Siehe  oben  Krekgau.  Wirt.  198. 

1016  Pro  comitatu  in  Erigauue.  Bad.  S.  15. 

1016  Ex  Ergoja.  Wirt.  213. 

Vor  1054  In  pago  Alamannicae  Erichgewe.  Herrn.  Contr  surn 
Jahr  902. 

1096  Pagus  Heriggou  mit  den  Orten  Tussin,  Watte,  Waldu,  Steuowe. 
Chron.  Isuense  bei  Hess.  Mon  Guelphica  276,  Bautnanu  76. 

1101  In  pago  Ileregowa  sub  comitatu  Manegoldi  in  Villa  que  dicitur 
Pulsier  (Bolstern  OA.  Saulgau).  Wirt.  261. 

1209  Villam  in  provincia  Erigaugie  que  appellatur  Maingen  .Mengen 
OA.  Saulgau)  et  ecclesiam  in  villa  que  dicitur  Sulegeu  (Saulgau).  Wirt.  541. 
(Siehe  Wirt.  82  und  oben  Krekgau' 

1282  Graveschuft  in  .Tieiigowe  und)  Ergowe.  Baumann  76. 


üig  -ize.  I ( >o  .Ji 


lluntaren  sind  hiernach 

OA.  Saulgau:  Boistern,  Moosbeim,  Nonnenweiler,  Repperweiler; 

OA.  Riedlingen : Buchau,  Dürrmentingen.  der  Bussen,  Möhringen,  Zell; 
man  wird  auch  nach  dem  Qleichklang  hierher  rechnen  können:  Ertingeu  und 
Erisdorf; 

OA.  Ehingen:  Dattbausen  ist  der  Lage  nach  unmöglich. 

Buck,  Erichgnu  und  Erringen.  Wirt  Vierteljuhrsschrift  1878,  S.  100.) 

6.  Muntericheshuntare. 

Der  Huntare  Muntrichs  mit  der  gleichlautenden  Malstätte 
(Munderkingen  OA.  Ehingen)  entsprach  das  Kapitel  Munder- 
kingen,  soweit  es  rechts  der  Donau  lag. 

Sie  wird  als  Huntare,  pagus,  792  Mark,  961,  980  comitatus 
bezeichnet. 

792  Infra  mnrcha  illa  qui  voeatur  Muntharibeshuntari  constructa  Villa 
nnncupante  qni  dicitur  Pillinthor  (nicht  zu  ermitteln).  Gail.  134;  Wirt.  40. 

841 — 72  Baratt  in  comitatu  Caldarici.  Gail  503  Barahdorf,  Parg- 
dorf  iu  Sauggart  aufgegangen  nach  Raumann 

892  Acta  in  pago  Munteriheshuntere  in  Villa  Dietereskirihn  ^Dieters- 
kirch  OA.  Riedlingen  . Gail.  684;  Wirt.  Iü8. 

961  In  comitatu  Muntricheshuntera  in  vicis  Rutelinga  .Reutlingen- 
dorf  OA.  Ri<dlingeu!,  Adalharteshona  Aderzhofen  OA.  Riedlingen).  Parch- 
durf.  Wirt.  185. 

980  In  pago  Mundricheshundera  in  comitatu  Hartmanni  in  villis 
Thietereschiricha  et  Pargdorf.  Gail.  816;  Wirt.  193. 

Hnntarenorte: 

OA.  Ehingen:  Munderkingen; 

OA.  Riedlingen:  Reutlingendorf,  Aderzhofen,  Dieterskirch,  Sauggart. 


Vierunddreissigstes  Kapitel. 

Der  Sllergau. 

Zwei  Orte  des  Oberamts  Leutkircli,  Rieden  und  Aichstetten, 
werden  in  den  Urkunden  bald  als  dem  Illergau,  bald  als  dem 
Nibelgau  zugehörig  bezeichnet: 

Um  980  In  pago  Ilrcgowe  hoc  est  apud  Eichstatt  — — et  Kieilin. 
Mon.  Germ,  script.  20.  636. 

797  In  villa  qui  dicitur  Eichsteti.  Actum  in  villa  uf  Hora  Leut- 
kirch)  in  Nibelcoge  ante  Steinharto  comite  dem  Grafen  des  Xibelgaus'. 
Wirt.  49;  Gail.  144. 

86t  In  pago  Xibilkeuue  et  loco  qui  dicitur  Ottrammesriohd  nach 
Neugart  Rieden).  Wirt.  133. 

1043  In  pago  Nibelgowe  — — in  loco  Eichstat.  Wirt.  225. 

Einer  dieser  Bezirke  ist  also  der  Grossgau,  der  andere 
eine  Huntare.  Grossgau  ist  der  Illergau,  eine  Auffassung, 
welche  seine  grosse  Ausdehnung  am  Fluss  von  Kempten  bis  zur 
Mündung  erweist  und  welche  durch  die  Bezeichnung  eines 
Archidiakonats  gleichen  Namens  nachdrücklich  unterstüzt  wird. 

Illergauorte  linden  sich  an  beiden  Ufern  des  Flusses;  an 
dem  rechten  Ufer  kann  der  Gau  aber  nur  bis  zur  Roth  reichen,  an 
der  bereits  Orte  des  benachbarten  Gross-Augstgaues  lagen,  im 
Norden  wurde  er  durch  die  Flina  des  Gross-Albgaus  von  der 
Donau  getrennt:  am  linken  Ufer  begleiteten  eine  grössere  Zahl 
von  Illergauorten  die  Iller,  erstreckten  sich  aber  nicht  weit  gen 
Westen.  Sie  bezeichnen  mit  Sicherheit  zwei  fluntaren  als  dem 
Illergau  angehörig.  Die  eine,  deren  Name  nicht  bekannt  ist, 
nahm  das  Kapitel  Dietenheim  an  der  linken  Iller  ein,  hatte  aber 
auch  Orte  an  der  rechten:  die  andere  war  der  Nibelgau  an  dem 
linken  Flussufer.  Man  wird  aber  ihrer  Lage  auf  der  nördlichen 
Abdachung  Oberschwabens  und  in  dem  schwäbischen  Sprach- 
gebiet nach  auch  die  Huntaren  Rammagau  und  Ruadoltes- 


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4*7 


huntare,  beide  an  der  Donau,  und  Heistergau  im  Binnenlande 
dem  Illergau  zureclinen. 

Das  rechte  Ufer  der  Iller  gehörte  dem  Bisthum  Augsburg 
an,  das  linke  mit  den  genannten  Hnntaren  dem  Archidiakonat 
lllergan  des  Bisthums  Constanz,  jedoch  mit  Ausnahme  der 
Huntare  Nibelgau,  die  zum  Nachbararchidiakonat  Allgäu 
gezogen  ist.  Von  den  Huntaren  entsprachen  die  namenlose  dem 
Kapitel  Dietenheim,  die  Kamma  den  Kapiteln  Laupheim  und 
Biberach  (deren  letztere  auch  die  östliche  Hälfte  der  Ruadoltes- 
lmntare  an  der  Donau  umfasste),  der  Heistergau  dem  Kapitel 
Waldsee,  der  Nibelgau  dem  Kapitel  Isuy.  Die  westliche  Hälfte 
der  Ruadolteshuntare  gehörte  theils  dem  Kapitel  Ehingen  rechts 
der  Donau  und  damit  dem  Archidiakonat  Albgau,  theils  dem 
Kapitel  Mundei  kingen  an  (Siehe  über  die  Neuaufteilung  der 
benachbarten  Kapitel  S.  33.')). 

Der  Gross-Illergau  umfasste  hiernach  im  Osten  das  Iller- 
gebiet von  Kempten  abwärts  bis  zur  Mündung  in  die  Donau, 
im  Norden  den  Strom  aufwärts  bis  etwa  Rottenacker.  Von 
da  lief  im  Westen  die  Grenze  über  den  Federsee  zum  Altdorfer 
Wald.  Im  Süden  sind  die  obere  Argen,  die  Adelegg  und 
Kempten  zu  nennen.  Der  Grossgau  gehörte  der  nördlichen 
Abdachung  Oberschwabens  zur  Donau  an,  überstieg  aber  auch 
die  Wasserscheide  zum  Bodensee  (die  Adelegg,  die  beiden 
Argen).  Sie  ist  zugleich  die  schwäbisch-alamannische  Sprach- 
grenze, die  quer  durch  die  Huntare  Nibelgau  läuft.  (S.  257, 
258,  271,  272.)  Bei  der  Besiedelung  werden  von  Norden  die 
Sneven,  von  Westen  und  Süden  die  Lenzer  oder  andere  nicht 
suevische  Alamannen  eingedrungen  sein. 

Von  der  Grafschaftsentwickelung  ist  zu  bemerken,  dass  die 
Gaugrafschaft  Illergau,  comitatus  Ilregau,  noch  1040  in  der  Er- 
innerung geblieben,  und  dass  als  Huntarengratschaft  der  Ramma- 
gau  894,  1100,  1127,  1 137  und  der  Nibelgau  1094  bezeichnet  ist. 

l'rkundeu  Uber  den  Oross-Hlergau: 

83i  In  pago  Hilargowe.  Neng.  805. 

833  Monaaterium  in  pago  Hilargaoe  — — Canipidona  ^Kempten) 
Neng.  806. 

833  In  Ueimortingo  marcu  .Ueimertingon,  HA.  Illertisson)  in  pagn 
gui  dicitur  llargouve.  Wirt.  läo. 

Pa  gas  Hilargoweusis  mit  Chyrclitorf  .Kirchdorf  UA.  Leutkirch) 


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488 


und  Mosebrunge  Feldflur  Moosbrugg  bei  Moosbausen  OA.  Leutkirch  Mon. 
ßoica  81,  Nr.  100:  Mon.  Germ,  script.  23,  615. 

Um  980  In  pago  Ilregowe,  hoc  est  apud  Eichstatt  (Aichstetten  OA. 
Leutkirch)  et  Breitinbacli  (Breitenbuck  das.),  Kiedin  Rieden  das.)  et  Husin 
(Hausen  das.)  atquc  Steiubacb  .Steinbuch  BA.  Memmingen)  Mon.  Germ 
script.  20,  636. 

1040  In  comitatu  Ilregouue  Erolfesheim  Erolzheim  OA.  Biberacli  . 
Wirt.  223 

1087  Zeugen  de  pago  Hilargouve:  Otto  de  Cbircliberk  ;Kirehberg 
OA.  Laupheim),  Honricus  de  Baldesheim  ^Ober-,  Uuter-Balzbeim,  das 
Schalt  1).  7,  2. 

1090  Pagus  Ilirgowe  mit  Adelgiseshouen  (Auttagersliofen  OA.  Laup- 
heim), Oberrhein.  Zeitschrift  IX.  210. 

Ohne  Jahr  Castrum  Campidouense  ^Kempten)  — — puganos  Hilargau- 
genses.  Goldast  Rer.  Alam.  script.  I,  198  Stalin  I,  297). 

Gauorte 

in  der  Huntare  des  Kapitel  Dietenheiin, 
links  in  der  Iller  in  Württemberg: 

OA.  Laupheim,  Auttaggershofen,  Ober-,  Unter- Balzheim,  Kirchberg: 

OA.  Bibernch:  Erolzheim ; 

OA.  Leutkirch:  Kirchdorf.  Moosbrugg  bei  Mooshausen; 
rechts  des  Iller  in  Baiern: 

BA.  Illertissen:  Tllertissen.  Heimertingen; 

im  Nibelgau 

links  der  Iller  in  Württemberg: 

OA.  Leutkirch:  Aitrach,  Breitenbach.  Rieden,  Aichstetten,  Hausen: 
rechts  der  Iller  in  Baiern : 

BA.  Memmingen:  Steinbach: 
links  der  Iller  in  Baiern : 

BA.  Kempten:  Kempten. 


II  u n t a r e n. 

1.  Ruadoltesh untare. 

An  der  rechten  Donau  etwa  von  Rottenacker  bis  abwärts  zur 
Westernach  sich  hinziehend,  lag  die  Huntare  des  Ruadolt  in 
Gebieten  der  Kapitel  Munderkingen,  Ehingen,  Biberacli. 

Die  Bezeichnungen  sind  Huntare  und  centena. 

838  In  pago  Albunespara  in  centena  Ruadolteshuntra  in  villa 
Patinhova  (Bettighofen  OA.  Ehingen)  et  in  villa  Tussa  (Ristissen  OA. 
Ehingen.).  Acta  traditio  in  Patinhova  publice  — — in  Patihovun  et  in 
eonfinio  alterius  villae  Pilaringa  Kirchbierliugen  OA.  Ebingen).  Gail.  372. 





480 


838  In  villa  Patinliova  in  pago  Albunespara  in  centena  Ruadoltes- 
bnntre.  Acta  in  villa  Patinhova  pnblice.  Gail.  373. 

Huntarenorte: 

OA.  Ehingen:  Betiighofen,  Kirchbierliugeti,  Ristissen. 

2.  Raininagau. 

Die  Huntare  scheint  das  Gebiet  der  mittleren  und  unteren 
Riss,  der  Dümach,  Rottum,  Westernach,  der  mittleren  und 
unteren  Roth  und  den  Winkel  zwischen  Donau  und  Iller  (bis 
gegen  Illerrieden)  oder  die  Kapitel  Biberach  und  Laupheim 
eingenommen  zu  haben,  soweit  nicht  die  Ruadolteshuntare  sie 
von  der  Donau  verdrängt  hat.  Die  Bezeichnungen  sind  Gau 
und  pagus  und  viermal  comitatus. 

778  In  pago  qui  dicitur  Rammackeuui.  Actum  in  villa  qui  dicitur 
Loupbeim  .Laupheim)  publici  — suli  Stcnhartu  cornitc.  Gull.  22. 

894  in  pago  Ratnmakeuve  in  comitatu  ArnulA  in  loco  et  villa  norai- 
tiata  Sconenpirch  Sehönebilrg  OA.  Laupheim  . Gail.  694. 

1060 — 1090  In  pago  .Ueisterechgowe  et!  Rammichgowe.  Zenas  Trad. 
Wizenburg.  303. 

1087  Zeuge  de  pago  Ratnesgowe:  liertoldu«  de  Sunemotingin  Ober- 

oder Unter-Sulmetingen  OA.  lliberachl.  Schnffh.  7,  2. 

1093  In  pago  Rammescouue  in  villa  Dallmaaaingen  Dellmensingen  OA. 
Laupheim).  Not.  fund  St.  Georgii,  Oberrhein.  Zeitschrift  IX,  212. 

1100  Ochsenhusen  .Ochsenbausen  OA.  Iliberach),  qui  locus  situs  est 
in  pago  Ramechgowe  in  comitatu  Hartmanni  Rozze.  — Hatto  de  Ochsen- 
busen. Wirt.  256. 

1127  Prediitm  Hatcnpnrc,  Hatinpurch  — — in  monasterio  Hossen- 
buaen  Acta  in  cella  Hossehusen  in  comitatu  Diepoldi  .Ochsenhausen  mit 
der  dabei  gelegenen  Parcelle  Hattenburg  OA.  Biberach).  Wirt.  292. 

1137  Ohsenhusen  .dasselbe)  in  pago  Ramechgowe  in  comitatu  Bozze. 
Wirt.  307. 

Huntarenorte: 

OA.  Laupheim:  Dellmensingen,  Laupheim,  SckiiuebUrg; 

OA.  Biberach : Ober-  oder  -Unter-Sulmetingen , Üchsenhauseu  mit 
Hattenburg. 

3.  Heistergau. 

Die  Huntare,  welcher  das  Kapitel  Waldsee  entsprach,  um- 
fasste das  Hochgelände  und  den  Aulendorfer  Tann,  und  reichte 
im  Süd  westen  an  den  Altdorfer  Wald,  im  Nord  westen  au  die 
obere  Schüssen.  Das  Gebiet  der  oberen  Riss,  der  obereu  Um- 
lach,  das  Wnrzacher  Ried  füllten  sie  aus.  Der  Name  wird 
Ton  der  Haister,  der  jungen  Buche,  abgeleitet.  Die  Bezeich- 
nungen waren  Gau  und  pagus. 


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805  In  Heistilingauue  et  in  Wangas  (Wengen  OA.  Waldsec)  et  in 
Holtdorf  Hochdorf  das.)  et  ad  Villare  (Weiler  das  . Gail.  186. 

925  Walalise  Waldsee),  Liutbrahtesriute  Lippertsweiler  OA.  Wald- 
seel,  Heistinikircben  (Heisterkircb  das.).  Zeuss  Trad,  Wizeuburg  297.  298. 

1060 — 90  In  pago  Heistereehgowe  et  Kammieligowe).  Zeuss  da« 
303,  353. 

Vor  1126  Haistirgouwe  mit  Ruggozeswilare  Rugetsvveilcr  OA.  Wald- 
see) Mon.  Germ,  script,  10,  114. 

1159  Heistirgow.  Mon.  Germ.  ae.ript.  20,  628,  629. 

1358  Haisterkilch  (Heisterkirch  OA.  Waldsee  et  Rutibeistergo  Reute 
das).  Liber  tax.  in  Frcibnrger  Diöeesauarcliiv  5,  10. 

Huntarenorte : 

OA.  Waldsee : Hocbdorf,  Weiler,  Lippertsweiler,  Rugetsweiler.  Reute. 
Waldsee,  Heisterkircb,  Wengen. 

4.  Die  Huntare  unbekannten  Namens. 

Das  Kapitel  Dietenheim  umfasste  die  Haslach  und  die 
(württembergische)  obere  Roth  und  reichte  an  der  Iller  von 
Mooshausen  bis  abwärts  gegenüber  Vöhringen.  Die  hier  ge- 
legene Huntare  besass  aber  auch  an  der  rechten  Iller  einen 
entsprechenden  Strich  bis  zur  (bairischen)  Roth,  der  abwärts 
wohl  bis  an  die  Donau  stiess,  soweit  nicht  die  Flina  um  Ulm 
das  Terrain  besetzt  hatte  (S.  437). 

Ortsnamen  der  Huntaren  sind  nicht  überliefert.  Es  finden 
sich  hier  nur  Namen  des  Grossgaus,  die  S.  4ss  aulgerührt  sind. 

fi.  Nibelgau. 

Mit  dem  Nibelgau,  nach  der  Niebel  (Eschach)  genannt, 
deckte  sich  das  Kapitel  Isny.  Seine  Flüsse  waren  die  linke 
Iller  von  Kempten  bis  unterhalb  des  Orts  Aitrach,  die  Aitracli 
mit  der  Eschach  (Niebel)  und  der  Wurzaeher  Ach  sanimt  der 
Gebrazhofer  Roth,  die  obere  Wolfegger  Ach,  der  Oberlauf  der 
unteren  Argen  mit  dem  Karbach  und  der  Mittellauf  der  linken 
oberen  Aigen.  Die  Grenzen  waren  im  Osten  die  Iller,  im 
Norden  und  Nordwesten  Aitrach,  Baierz,  Arnach,  im  Westen 
Karsee,  der  Karbach,  im  Süden  von  dessen  Mündung  die  untere 
Argen  bis  Prassberg  und  von  da  zur  oberen  Argen  (Deuclielried 
gehörte  schon  zum  Argengau),  diese  bis  Malaichen  und  von  da 
eine  westöstliche  Linie  über  Bolsterlang,  Wengen,  Rechtis  bis 
Kempten  an  der  Iller.  Die  Bezeichnungen  des  Nibelgau 
waren  Gau  und  pagus.  Das  Kemptener  Gebiet  und  die 


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Umgebung;  von  Eglofs  wurden  von  der  Huntare  abgezweigt  und 
der  Rest  hiess  im  14.  Jahrhundert  comitatus  in  Cil  oder  die 
Grafschaft  Leutkirch. 

766  Confessi  summ  ante  Cozperto  praeside  ot  ante  paganos  nostroa. 

quicqnid  in  pago  Nibalgaugensi  habuimus, omnia  qnicquid  in 

ipsa  marchu  (der  Villa)  Nibalgaugo  — — tradimus.  Actum  in  Nihalgauia 
villa  publica  (Leutkirch'.  (lall.  49. 

788  In  Nibulgania.  Actum  in  ipsa  ecclesia  Nibulgauia  Leutkirch)  sub 
■Stainhardo  comite.  Gail.  117. 

797  In  villa  qui  dicitur  Eibsteti  Aichatetten  OA.  leutkirch)  et  in 
alio  loco,  qui  vocatur  Asinwanga  , (Ausnang  das.)  Actum  in  villa  qui  dicitur 
uf  Hova  (Leutkirch)  in  Nibalcoge  ante  Stainharto  comite  et  postea  ante 
Hiranharto  judice.  Wirt.  19;  Gail.  141. 

809  In  Nioulgauva.  Actum  in  villa  Nibulgauva  tLentkircb  publice 
»ub  Rifoino  comite.  Wirt.  55;  Gail.  168. 

805  In  Nibalgauia.  Actum  ad  ecclesiam  in  Nibulgania  Leutkirch' 
publice  sub  Waningo  comite.  Gail.  183. 

812  In  pago  qtiod  dicitur  Nibulgauia.  Actum  in  villa.  quae  dicitur 
uf  Hova  sub  Waningo  comite.  Gail.  210. 

820  In  Xibalgauge  in  loco  qui  uf  Hora  Leutkirch).  Actum  in  loco 
qui  dicitur  uf  Hova.  Actum  in  Laubia  Lanben  ÜA.  Leutkirch  sub  Koachario 
comite.  Gail.  252. 

824  In  pago  Nibalgauge  in  loco  qui  dicitur  Hasalpuruc  (Haselburg 
OA.  Leutkirch).  Actum  in  villa  l'fbova  publice  sub  comite  Uunningo. 
Wirt.  88  und  89. 

824  In  pago  qaod  dicitur  Nibntgogi  in  loco  Katbotizella  (Kisslegg 
OA.  Wangen).  Actum  iu  villa  uf  Hova  sub  Waningo  comite.  Gail  279. 

824  In  pago  Xibalgauve  in  loco  Kntpotescella.  Actum  in  villa  uf 
Howa  sub  Waningo  comite.  Gail.  280. 

827  In  Nibalgauue  ad  Chirichun  (Leutkirch).  Actum  in  Xibalgauue 
publice  I'naningo  comite.  Wirt  91. 

834  Iu  pago  Nibalgauue  et  in  loco  Wintirstete  juxta  aqua  Ascbaa 
(Winterstetten  an  der  Eschach  OA.  Leutkirch)  et  in  t'roninperc  .abgegangen). 
Actum  in  I'rallon  (Urlau  OA.  Leutkirch  . Gail.  852. 

849  In  pago  Nibulgauge  — — snb  Pabonc  comite  et  Hunoldo 
centenario.  Gail.  406. 

853  In  pago  Xibalgaugiensi  in  loco  t'barabacli  (Karbncb  OA.  Wangen). 
Wirt.  119. 

860  In  Xibalgauve  in  loco  qui  vocatur  Cruottinberc  (abgegangen). 
Actum  uf  Hovon  ad  publicam  ecclesiam  — sub  comite  Gozberto.  Gail.  47o. 

860  In  pago  Nibilgouve  in  loco  nuueupato  Hupoldcscella  (Frauenzdl 
OA.  Memmingen;  sub  Cozberto  comite.  Gail.  474. 

861  In  pago  Nibilkeuuc  et  loco,  qui  dicitur  Ottrammesriohd  (nicht  zu 
ermitteln'.  Actum  in  Koto  (llerruth  OA.  Wangen)  publice  sub  Cozberto 
«juiite.  Wirt.  133. 

»65  Iu  Nibalgaugensi  pago  iu  loco  qui  vocatur  Hettinesriobt  .Uettis- 


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ricd  BA.  Memmingen).  Actum  in  Liutoltesperg  (Luttolsberg  OA.  Leutkirch) 
publice.  Gail.  515. 

872  In  Nibilgange.  Actum  in  Roten  (Herroth  OA.  Waugen)  publice 
sub  ( 'ozperto  coinite.  Gail.  558. 

980  In  pago  Nibilgouve  in  vico  Suarceusee  Schwarzeusee  BA.  Lindau) 
in  comitatu  Adelberti.  Wirt.  193. 

1043  In  pago  Nibelgewe  in  locis  Ritilines  Riedlings  OA.  Ijeutkircli 
et  Wegesaza  latgcgangen)  in  Bilva  Arinanc  (Amach  OA.  Waldsee),  in  loco 
Eicbstat  (Aichstetten  OA.  Leutkirch).  Wirt  226. 

1094  In  pago  Niebilgouua  in  comitatu  Heinrici  ze  demo  Willeberis 
(Willatz  OA.  Wangen),  Isinhartis  (Eisenltarz  das.).  Siggun  (Siggen  das.), 
Egilsvendi  (Alleschwende  das.).  Schaffh.  25. 

1111  — 1110  Insula  in  pago  Xibilgouwe,  que  vocatur  Rotse  (Röthsee 
OA.  Wangen).  Wirt.  268. 

1311  Comitatum  in  Oil,  videlicet  castrum  Cil  cum  attinentiis.  Grafschaft 
Leutkirch.  Historischer  Verein  für  Schwaben  und  Neuburg  1835,  S.  72. 

1313  Castrum  in  Oil  cum  comitatu  et  oppido  dicto  Leutkirch  auf  der 
Haide.  Banmanu  S.  33,  42. 

Für  Leutkirch  und  Kisslegg  kommen  wechselnde  Ausdrücke  vor  Für 
ersteres  l'fhova,  Villa  Nibulgauia,  Nibalgauwe  ad  chirichun  und  Lintchirichun. 
für  letzteres  Ratbotizella,  Lutteraun.  Oella,  Zell  im  Amt,  Zell  bei  Kisslegg. 
Kisslegg.  Baumannn  S.  33-42. 

Als  Huntarenorte  sind  hiernach  zu  verzeichnen: 

OA.  Leutkirch:  Rieden,  Aichstetten,  Lauben,  Riedlings,  Willeratshofen 
Leutkirch,  Ausnang,  Almishofen,  Luttolsberg,  Haselburg,  l'rlau,  Winterstetten 
an  der  Eschach; 

OA.  Waldsee:  Amach; 

OA.  Wangen:  Rötbsee.  Herroth,  Kisslegg.  Zaisenhofcn.  Lauterseebacb. 
Karbach,  Alleschwende.  Willatz,  Siggen,  Eisenharz ; 

BA  Memmingen:  Hettisried,  Krauenzell; 

BA.  Kempten:  Wangen  au  der  unteren  Argen; 

BA.  Lindau:  Schwarzensee. 


Fünfunddreissigstes  Kapitel. 

Der  östliche  Qugsigau. 

Zwischen  der  Donau  und  den  Allgäuer  Alpen,  der  Iller 
und  den  beiden  Ufern  des  Lech  weisen  die  Urkunden  eine  Reihe 
von  Verbänden  auf,  die  vorwiegend  sich  entlang  den  Gebieten 
der  parallel  laufenden,  in  die  Donau  mündenden  Flüsse  zu  er- 
strecken scheinen,  deren  Lage  jedoch  nur  unsicher  durch  die 
Namen  weniger  Orte  bezeichnet  ist.  Von  ihnen  liegen  die  Orte  des 
Augstgaus  und  des  Ogesgaus  im  Gemenge.  Der  Name  August- 
gau (so  832,  839,  887  und  ohne  Jahr,  Aogustgau  ohne  Jahr, 
pagns  Augustaginsis  oder  Augustensis  825,  1123)  ist  auf  die 
römische  Hauptstadt  des  zweiten  Rätiens  Augusta  Vindelicum 
(Augsburg)  zurückzuführen.  Es  ist  aber  nicht  wahrscheinlich, 
dass  die  Alamannen  diesen  Namen  der  lateinischen  Urkunden, 
Augnstgau,  gebraucht,  sondern  zu  vermuthen,  dass  sie  ihn  ihrer 
Sprache  assimilirt  und  ihn  ügesgau  oder  ähnlich  genannt  haben; 
denn  die  Urkunden  reden  888  von  dem  Ogas-,  897  von  dem 

Ouges-,  930  von  dem  Ongis-,  1111  von  dem  Ogesgau 

und  letztere  Form  ist  in  die  Gauliteratur  übergegangen. 

Die  Orte  sowohl  des  Augustgaus,  wie  die  des  Ogesgaus  liegen 
an  beiden  Ufern  des  Lech,  von  Kaufbeuren  bis  Donauwörth  an 
dem  linken,  von  Augsburg  bis  zum  Ammersce  an  dem  rechten, 
und  dabei  findet  sich  der  Ogesgau  auch  in  der  Nähe  von 
Aichach  und  fasst  eine  Grafschaft  Herteliusa  in  sich.  Die 

Ausdehnung  beider  und  der  ältere  Gebrauch  der  historischen 
Form  Augustgau,  der  jüngere  der  volkstümlichen  Form  Oges- 
gau führen  zu  der  Annahme,  dass  Augustgau  und  Ogesgau  ein 
und  derselbe  Verband  ist.  Lang  und  v.  Pallhausen  halten  da- 
gegen jeden  dieser  Gaue  für  einen  besonderen.  Sie  und  andere 


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494 


nennen  jenen  den  Angstgau,  ein  Wort  einer  von  mir  nicht  nach- 
zuweisenden Form,  das  zwischen  Augustgau  und  Augsburg  die 
Mitte  hält.  Hier  sei  Augstgau  als  gemeinsamer  Name  für  die 
angeblich  beiden  Gaue  gewählt  und  zwar  mit  dem  Zusatz  des 
„östlichen“,  da  es  in  der  Schweiz  (Kapitel  44)  einen  anderen 
„westlichen“  Augstgau  gab,  der  nach  Augusta  Rauracorun), 
später  Kaiseraugst,  den  Namen  trug. 

Der  östliche  Augstgau  erscheint  vermöge  der  Herleitung 
seines  Namens  und  seiner  Grösse  als  der  Grossgau,  der  ins- 
besondere im  Osten  das  Machtgebiet  der  Alamannen  bis  um  die 
obere  Paar  und  an  den  Ammersee  ausgedehnt  erscheinen  lässt, 
wohl  schon  gemischter  alamannischer  und  bairischer  Bevölkerung 
(siehe  S.  243).  Seine  Huntaren  waren  zwischen  Iller  und 
Lech:  Duria,  Mindilriet,  Falaha  und  Keltenstein,  die  sich  als 
Huntarengrafschaften  von  ihm  schieden,  neben  denen  der  Augst- 
gan  mit  seiner  rechts  vom  Lech  liegenden  Huntare  Herteshausen 
als  Theilgaugrafschaft  zuriickbiieb.  Insbesondere  wird  der 
Keltenstein  !>30  als  comitatus  bezeichnet  und  in  einer  allerdings 
verdächtigen  Urkunde  neben  dem  Augstgau,  in  pago  Augustgowe 
et  Gildinstein,  aufgeführt.  Ebenso  löste  sich  Hertishausen  im 
11.  Jahrhundert  als  comitatus  Herteshusa  von  der  Theilgau- 
grafsehaft  ab. 

Von  der  Theilgaugrafschaft  Augstgau  : August-  und  Ogesgau  reden 
folgende  Urkunden: 

Ohne  Jahr  Iu  pago  Aogustgoue.  Juvavia  S.  S5. 

Ohne  Jahr  lu  Augustkow  ad  Durigfeld  Diirgcteld,  TUrkeulVld  ' 
UA.  Bruck)  unweit  des  Ammersees.  Juvavia  S.-  39. 

825  lu  pago  Augastagiuse  villae  Kirinisvilla  (Würishofen  BA.  Mindel- 
heim)  et  Munciacum  (Schwabmüucheu  BA.  Augsburg).  Goldast  K.  Al.  11 
S.  42. 

s32  Cella  Stetiwnng  (Stütlwang  11A.  Kaufbeuren),  quae  est  sita  in 
ducatu  ,Vlemanniae  iu  pago  Augustkowe.  Reg.  1 7,  nicht  unverdächtig 

839  lu  pago  Augustgoi  cellula  llerilescella  (Uirschzell  BA.  Kaul- 
beureu  . Xeug.  292. 

ss 7 In  pago  Augustgowe  et  Gildinstein.  Verdächtige  Keuiptener 
Urkunde  nach  Lang  74.  — 

sss  Urosesbusa  .Grosshausen  BA.  Aichach)  iu  pago  Ogasgouuae  in 
comitatu  Kuudolti  comitis.  Jion.  Boica  28\  »3. 

897  Iu  loeo  Forzhcim  (Pforzen  BA.  Kaufheureu),  Zugcilinga  (Schlingen 
das.)  et  llugehus  (Hensen?  das.)  in  pago  Ougesgowe,  comitatu  Arboui- 
quos  l’erthold  coines  prius  in  beneficium  teuebat.  Reg.  I 25. 


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495 


03()  Io  Villa  Husa  (Hausen?  BA.  Mindelheiui)  io  pago  Uugiskcuue  in 
comitatu  Ruodperti  comitis.  Xeug.  310,  nacli  Lang  venlkclitige  Urkuude. 

1073  Moringen  (Möring  BA.  Friedberg)  in  pago  Owesgowo  in  comitatu 
Arnoldi.  Mon.  Boica  20*,  203. 

1111  In  loco  qui  dicitur  Mardingen  (Märtingen  BA.  Donauwörtli)  in 
prorincia  Suevia  in  pago  Ogesgouve.  Hund.  Metrop.  1,  303. 

1123  Louctorf  l Lanchdorf  I ! A Kaufbeuren)  in  pago  Augustensi.  Xeug. 
hist,  silvae  nigrae. 

Ausserdem  ist  der  Ort  Ochesgau  (Oxesgau)  auf  der  Strasse  von  Hain 
nach  Donauwürth  zu  beachten.  I-ang  7t. 

Danach  sind  Theilgauorte 
links  des  Lechs: 

BA.  Kaufbeuren:  Hirschfeld,  Stüttwang,  Heusen  (?),  Pforzen,  Schlingen 
Lauchdorf ; 

BA.  Mindelheim:  AVürisliofen,  Hausen  (?); 

BA.  Augsburg:  Schwabmlincheu; 

BA.  Donauwürth:  MSrtingen,  Ochesgau; 
rechts  des  Lechs : 

BA.  Aichach:  Grosshausen  bei  Haslangkreit; 

BA.  Friedberg:  Möring; 

BA  Bruck:  Dilrgefeld  (Türkenfeld ? . 

Innerhalb  des  durch  die  Orte  rechts  des  Lechs  «»gezeigten 
Gebietes  lag  um  die  obere  Paar  die 

Huntare  Herteshauseu. 

Anfang  des  11.  Jahrhunderts:  Quidam  comes  oflicio  nomine  Adalbero 

— — a loco  Cbiuback  Kühbach  BA.  Aicbacb)  in  comitatu  Herteshusa 
Hcretshausen  das.  . Mon.  Boica  II,  520;  31*.  2*7. 

Huntarenoite: 

BA  Aicbacb:  Heretshausen.  Kühbach. 


Hiintarcn  link*  des  Lech*. 

1.  Duria. 

Im  Gebiet  der  Roth  und  Gönz,  der  oberen  Jlindel. 

80*  In  loco  ad  Koto  (Uber  oder  l'nterrotb  BA.  lilertisseiij  in  pago 
qui  rulgo  Duri»  nuntupatur.  Mul  Boica  2»*.  116.  Bautnann  siei-t  der  ge- 
meinen Meinu-.g  zuwider  in  Botj  OU-r-  oder  l nierrctn  lei  IatngeiiLeufcacb 
B-A  Aug-burg.  da*  aber  geographisch  eher  dem  Gebiet  d-  r H ut.tare  Mii.del- 
riet  oder  Falaha  znzuweuen  sein  wird. 

lö"3  C urt.«  :t  AletL.:.Lia  pago  Duria  et  in  comitatu  Manegoldi 
vomitis  aita.  nostme  Mas  :e  Xa-.h  Beumann  die  tümissh-'n  castra  Xavoae. 


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40fi 


1007  Locus  Suntheim  (Southeim  BA.  Memmingen)  dictna  in  pago 
Durihin.  Mon.  Boica  28*,  387. 

1046  Curtis  Mindclhoiin  (BA.  Miudelheim:  in  pago  Duria.  Kernling 
1'rkunilenbuch  zur  Geschichte  der  Bischöfe  von  Speier  34. 

Huutarenorte: 

BA,  Illertissen:  Ober-,  Unterrath. 

BA.  Memmingen:  Sontheim; 

BA.  Kaufbeuren:  Eggentlial; 

BA.  Mindclheim:  Mindelheim. 

(Baumann.  Alam.  Niederlassung  in  der  Kaetia  secunda,  Ztschrft 
Schwaben  und  Neuburg  II  174;  Kornbeck,  Geschichte  de»  Duriagaus 
Wilrtt.  Vierteljabrsschrift  1881,  197. 

2.  Mindilriet. 

Nachweisbar  im  unteren  und  mittleren  Gebiet  der  Mindel 
( M indel hei m ausgeschlossen ). 

1095  In  episcopatu  Augustensi  in  pago  Mindilriet  praediam  apud  villam 
Choringen  (Knöringen  BA.  Günzburg),  in  vicis  Mathesowa  (Mattiiea  BA. 
Mindclheim)  et  Weinga  nicht  zu  ermitteln).  Oberrhein.  Zeitschr.  9,  218. 

Huntarenorte : 

BA.  Giinzburg:  Knöringen; 

BA.  Mindelheim:  Mattsies. 

3.  Falaha. 

Um  die  Zusam. 

890  In  pago,  qui  dicitur  Falaha  in  comitatuu  Otgozi  in  Villa,  quae 
rocatur  Logena  (Laugna  BA.  Wertingen).  Cod.  dipl.  Fuld.  S.  291. 

Uuntarenort : 

BA.  Wertingcn:  Laugna. 

4.  Keltenstein. 

Die  Huntare  Keltenstein  umfasste  oberhalb  Kaufbeuren 
urkundlich  den  Bezirk  zwischen  der  Keltnach  und  Wonach  und 
den  Orten  Biesenhofen  und  Rudertshofen;  nach  von  Pallhauseu 

S.  73  weiter  nicht  nur  die  Strecke  bis  Füssen  und  Steinach, 
sondern  von  da  noch  die  des  kahlen  oder  kalten  Gebirges  hin- 
durch bis  zum  Ursprung  des  Lechs  und  der  Iller  und  bis  zum 
Curischen  Ries  (Raetia  Curiensis). 

837  In  pago  Augustgowe  et  Gildinatein.  Verdächtige  Kemptem-r 
Urkunde  bei  von  Lang  74. 

839  In  pago  Keltenstein  in  loco  qui  dicitur  Hrnodoldishova  (Rndolts- 
holen  BA.  Oberdorf).  Neug.  292. 

930  ln  Villa  Buo*cnhova  (Biesenhofen  BA  Oberdorf)  in  pago  Keltin- 
»tein  in  comitatu  Kuodperti  comitia.  Neug.  812. 


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497 


Ohne  Jahr.  Invenit  rex  Pippinus  in  ipso  loco  Ticino  (d.  h.  in  der 
Xihe  ron  Ourrätien  oder  von  St.  (lallen)  pagum,  qui  vocatur  Keltinatein: 
inter  coetera  ergo  mnnificentiae  dom»  dedit  ei  (beato  Magno)  totum  ipsnm 
saltuni  cum  marcha  Dieser  Wald  mit  seiner  Mark  heisst  noch  heute  der 
Holzgau  (zwischen  dem  l'raprung  des  Lech  und  der  Iller.  Uoldast 
R.  Alam.  I 198,  250. 

Huntarenorte: 

BA.  Oberdorf:  Bissenhofen.  Rudoltshofen. 

(Die  Urkundeu  nach  Lang,  von  Pallhausen,  Steichele). 


Crtntr,  üetohicht«  dar  Alamannen. 


32 


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Sechsunddreissigstes  Kapitel. 

Der  Riesgau. 

Schon  nach  seiner  Ausdehnung  ist  der  pagus  Rezia  (Rexia, 
Rezi,  Rehtsa,  Retiensis,  einmal  territorium  Retiense,  auch  ohne 
nähere  Bezeichnung  Retia,  Rhecia,  Rieze,  niemals  mit  der 
Gauendung)  ein  Grossgau.  Urkundlich  gehörten  ihm  Gauorte 
in  folgenden  Grenzen  an : im  Westen  Aalen  am  Kocher  und 
Schnaitheim  an  der  Brenz,  im  Süden  Donauwörth  an  der  Donau, 
im  Osten  Solnhofen  an  der  Altmühl,  im  Norden  Wassertrüdingen 
an  der  Wörnitz. 

In  dem  Grossgau  sind  als  Huntaren  nachzuweisen:  im 
Westen  der  Brenzgau,  links  der  oberen  Brenz  auf  dem  Härdt- 
feld,  in  welchen  der  Grossgauort  Schnaidtheim  fiel,  und  die 
Huntare  Hurnia,  rechts  der  oberen  Brenz,  denn  Herbrechtingen 
lag  nach  einer  Urkunde  von  866  in  dem  Riesgau  und  nach 
einer  anderen  von  779  in  dem  comitatus  Hurnia;  im  Osten  die 
Huntare  Sualafeld,  die  nach  Urkunden  von  876  und  898  dem 
pagus  Retiensis  angehörte.  Da  im  Uebrigen  der  Riesgau  im 
Bisthum  Augsburg  lag,  so  wird  man  auch  den  Drachgau  (Augs- 
burger Kapitel  Gmünd),  und  den  Albagau  (Augsburger  Kapitel 
Guffenstadt)  ihm  zurechnen  können. 

Die  Grenzen  des  Riesgau  lassen  sich  hiernach  so  be- 
stimmen: im  Norden  die  Stammesgrenze  von  496  von  Kallen- 
berg (Kocher  und  Jagst  durchschneidend)  bis  zur  Sulzach 
(S.  267);  im  Nordosten  die  Altmühl  abwärts  bis  Solnhofen 
(hier^  einzig  bekannter  Ort);  im  Osten  von  da  zur  Donau 
(an  einem  Punkte  zwischen  Neuburg  und  Donauwörth):  im 
Süden  von  da  die  Donau  aufwärts  bis  Leib,  (wo  der  Gross- 
Albgau  aufhörte);  im  Westen  über  die  Alb  weg  (Aalbuch)  zum 
W clzheimer  W ald. 


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409 


Die  Gründung  des  Gaus  ist  auf  das  5.  Jahrhundert  zurück- 
zuführen. Er  war  alamannisch.  Dann  aber  wurde  496  die 
Stammesgrenze  durch  den  Gau  gelegt.  Das  Gebiet  westlich 
der  Wörnitz  blieb  alamannisch;  das  Gebiet  östlich  mit  Suala- 
feld  wurde  als  fränkischer  Antheil  abgezweigt  und  demnächst 
national  fränkisch.  Urkunden  von  868  und  1053,  welche  den 
Riesgau  im  Gegensatz  zum  Sualafeld  zeigen,  setzen  dies  voraus. 

Der  westliche  Rest  des  Riesgau  wurde  damit  Theilgau- 
grafschaft.  Nichts  destowenigcr  umfasste  das  Bisthum  Augs- 
burg beide  Theile,  deren  alte  Zusammengehörigkeit  sich  noch 
836  zeigte.  Damals  brachte  der  Abt  Rabban  von  Fulda  die 
Gebeine  des  Märtyrer  Venantius  aus  Italien  nach  Deutschland, 
wo  sie  allenthalben  mit  Kreuz  und  Fahnen  begleitet  wurden. 
Die  Baiern  gingen  mit  bis  Solnhofen  in  regione  Sualafeldoni, 
und  hier  nahmen  die  Alamannen  sie  in  Empfang;  um  sie  bis 
Hassarod  (Herrieden)  zur  Brücke  der  Altmühl  zu  begleiten,  wo 
eine  Procession  von  Ostfranken  ihrer  wartete  (Leben  des  Abts 
Rabban  bei  Kremer  195). 

Nach  einer  Nachricht  des  10.  Jahrhunderts  wurde  dann 
die  kirchliche  Consequenz  der  politischen  Trennung  gezogen, 
Sualafeld  von  Augsburg  getrennt  und  zum  Bisthum  Eichstedt 
geschlagen:  v.  Pallhausen  Nachträge  zur  Urgeschichte  Baierns; 
Steichele  Bisthum  Augsburg  II  567;  Rettberg  Kirchengeschichte 
II  348). 

Der  Grossgau  wird  iu  folgenden  Urkunden  erwähnt  (die  dem  Riesgau 
und  Sualafeld  gemeinschaftlichen  fiuden  sich  unten ! unter  Huntare  5 
Sualafeld); 

Ohne  Jahr.  Ketiense  territorium.  Uermanni  Aug.  Chron.  9,  104. 

Ohne  Jalir.  l’raedia  in  his  villis  Lobezingcu  ij.iibsingen  BA.  Nürd- 
lingen',  Vuabingin  (Wechingen  das.),  Uzmaniugen  (Utzmemmingcn  OA. 
Neresheira),  Bromestat  (Brachstadt  BA.  Dillingen),  Kutenstat  (Rudelstetlen 
HA.  Xürdlingen),  quod  est  in  pago  Reziae.  Fuld.  22. 

Ohne  Jahr.  Iu  pago  Rexiae  in  villn  nunenpata  Schneiten  juxta  ftuvium 
Brenze  (Schnaitheim).  Fuld.  49. 

Ohne  Jahr.  In  Riezha  in  Villa  Rumeringa(Reimlingen  BA.  Nördlingeu). 
L.iur.  3066. 

762  Villam  quae  dicitnr  Thininga  (Deiningen  BA.  OJürdlingen)  sitara 
in  pago  Rezi  super  tluvio  qui  vocatur  Agira  (Eger).  Fuld.  19. 

777  Cella  infra  Alamannia  quae  dicitur  Aribertingas,  ubi  sanctus 
Veranus  requiescit.  Wirt.  l». 

777  Cella  qui  dicitur  Haribostiug,  ubi  sanctus  Verauus  requiescit. 
Wirt.  19. 

3S* 


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500 


779  Carolus  rex  Villa  noetra  llagrebertingas,  «bi  sanctns  Carann« 
marfbur  corpore  reqniescit;  — — in  loco  Hngrobortiugas;  — — infra  ipst 
lim-  llagrebertingas  super  fiuvium  Hranzia  in  docato  Alainannorum  in 
comitato  Hurnia.  hoc  est  in  fisco  nostro  llagrebertingas.  Wirt.  23. 

866  ln  Alamannia  — llarbrittinga  in  pago  Kebtsa,  ubi  sanctns  Veranus 
requiescit.  Wirt.  141. 

Nach  allen  Urkunden  von  777  bis  800  liegt  der  heilige  Veranus  au 
dem  Ort  begraben,  der  nach  der  Urkunde  von  779  an  der  Brenz  liegt  K* 
ist  also  Herbreehtingen  au  der  Brenz  OA.  Heidenheitn  gemeint,  und  die 
Grafschaft  Hurnia  ist  nach  detn  benachbarten  Uiirben  das.  benannt. 

Zum  Jahr  »41  Comites  — — in  Ketiense  occuruut  cum  exereitu. 
Anna).  Fuld.  Fertz  M.  G.  Scr.  I,  392. 

Zum  Jahr  »711  Carlmnnnus  et  Hludovicus  atque  Karolus.  Hludowici 
regis  filii,  in  pagu  Retiense  convenientis  pateruum  inter  se  regnum  diviserunt. 
Das.  I 391. 

898  Curtis,  que  dicitur  Nordilinga  (Nördlingen)  in  pago  Rctiensi 
coustituta.  Steichele  3,  556. 

910  Apud  Altheim  (Hohen-,  Niedcr-Altlieim  BA.  Nördlingen)  in  pago 
Ketia.  Synodus  Altheimensis  bei  Fertz  Mon.  IV  555. 

1007  Locus  Teegingen  dictus  (Deggingen  BA.  Nördlingen)  in  pago 
Rieze  et  in  comitatu  Sigehardi  comitis  situs,  Mon.  Boica  28,  239. 

1016  Abbatia  in  Rhecia  in  comitatn  Sigehardi  comitis  Teggingen  dicia 
(Deggingen  11A.  Nördlingen).  Mon.  Boica  28,  288. 

Um  1016  Regalis  curia  in  Retia  sita  Nordelingen  (Nördlingen)  dicta. 
Fertz  Mon.  9,  261. 

1030  Locus  Vueride  (Donauwörth)  dictus  situs  in  pago  Rieze  ia 
comitatu  Friderici.  Mon.  Boica  31,  103. 

1268  Inter  üanubium  et  terminos,  qui  Rieszhalde  dienntur.  Mon. 
Boica  33*,  nach  Steichele  III  558  wohl  die  Absenkung  der  den  Kiesgau 
begrenzenden  Höhen  um  Höchstädt  und  Dillingen  gegen  das  Donauthal. 

1263  Castrum  quod  Lapis  vocatur  (Schenkenstein)  in  terminis  Retie 
juxta  Bophingen  (Bopfingen  OA.  Neresheim)  situm.  Mon.  Boica  33*.  102. 

V Reichsstadt  Aalen  in  Riess.  Wegelin  Landvogtei  in  Schwaben, 
Urkunden  161. 

Im  12.  Jahrhundert  liiess  die  Alb  Alpes  Retianae,  1429  «Ries  Kenia- 
provincia  Sueviae“.  Bacmeister  Alamannische  Wanderungen  67. 

Grossgauorte 

OA.  Aalen:  Aalen,  Bopfingen; 

OA.  Heidenheim:  Schnaitheim,  Herbreehtingen; 

OA.  Neresheim:  I’tzmemmingen; 

BA.  Dinkelsbühl:  Karlsbrunn,  Frankenhofen,  Irsingen,  Wörnitzturt 
zwischen  Irsingen  und  Wassertrfidingen; 

BA.  Nördlingen:  Wechingen,  Lüpsiugen,  Deiningen,  Nördlingen,  Rudels- 
Stetten,  Reimlingen,  Hohen-,  Niederaltheim,  Deggingen; 

BA.  Diliingen:  Brachstndt; 

BA.  Donauwörth:  Donauwörth. 

(Siehe  weiter  unten  S.  602). 


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501 


Huntareu. 

1.  Drachgau. 

Dem  Drachgau  (Gau  und  pagus)  entsprach  das  Kapitel 
Gmünd  und  später  die  Waibelhube  (Baumann  93).  Die  Hnntare, 
welche  im  Norden  an  die  Stammesgrenze  stiess,  umfasste  den 
Welzheimer  Wald  und  die  Frickenhofer  Höhe,  das  Leinthal 
und  das  Thal  der  oberen  Rems. 

<83  In  pago  Drachgowe  in  villa  Muniolvinga (Mulfingen  OA.  Gmünd). 
Laar.  3622. 

805  In  pago  Drachgowe  in  Manolfingen.  Laur.  3621. 

847  In  pago  Trachgowe  in  Villa  Ucchinga  (Iggingen  das.) 
I<anr.  3618. 

Unntarenorte 

AO.  Gmünd:  Jlulfingen,  Iggingen. 


2.  Alba. 

Ueber  den  pagus  Alba  spricht  nur  eine  einzige  Urkunde. 

1125  In  Augustensi  episcoptu  in  pago  Albae  praedium,  quod  Hanbisin 
dicitur  (Anbausen  OA.  Ueidenlieim).  Wirt.  286. 

Es  liegt  in  dem  Augsburger  Kapitel  Guft'enstadt.  Pallhansen  115 
liest:  .in  pago  Albec"  und  bildet  auf  Grund  eiuer  weiteren  Urkunde  bei 
lioldast  1143  „Stoufun  in  pago  Albeketve“,  einen  Albekgau.  Diese  Urkunde 
vom  Jahr  868  findet  sich  jetzt  auch  Gail.  342,  bezieht  sich  aber  auf  Staufen 
im  südlichen  Alpgau  (Allgäu). 


3.  Brenzgau. 

Der  Brenzgau  lag  auf  dem  Härdtfeld  links  der  oberen 
Brenz  und  wohl  auch  rechts  des  oberen  Kocher. 

Ohne  Jahr.  In  pago  Rexiae  in  villa  nuncupata  Schneiten  juxta  fluvium 
Brenze  (Schnaitheim  OA.  Heidenheim)  Fuld.  49. 

Ohne  Jahr.  In  Brenzegewe  in  villa  Cbuochheiin  (Gross-  oder  Klein 
kuchen  OA.  Neresheim)  et  Norderenhusen  (unbekannt).  Fuld.  55. 

Ohne  Jahr.  Reichsstadt  Aalen  im  Ries  Wegelin  Urk.  161  (im  Brenz- 
gau  (?).  * 

Huntarenorte: 

OA.  Aalen:  vielleicht  Aalen; 

OA.  Neresheim:  Gross-*oder  Klein-Kuchen; 

OA.  Heidenheim:  Schnaitheim, 


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502 


4.  Hurnia. 

Die  Huntare  Hurnia,  nur  comitatus,  ist  rechts  der  mittleren 
Brenz  nacbzuweiseu. 

779  Carolus  rex:  Villa  nostra  Hagrebertingas  super  fluviuw  Brauzia 
(Uerbrechtingen  OA.  Heidenheim)  in  docato  Alamannomui  in  coinitato 
Hurnia  (Hürben  das.).  Wirt.  23. 

866  In  Alemannia  Harbrittinga  (Uerbrechtingen)  in  pago  Rehtsa. 
Wirt.  141. 

Huntarenorte: 

OA.  Heidenheim:  Herbrechtingen,  Hürben. 

5.  Sualafeld. 

Das  Sualafeld  lag  links  der  Wernitz  und  erstreckte  sich 
bis  in  das  Thal  der  Altmühl. 

Die  Urkunden  zeigen: 

1.  Das  Sualafeld  als  Huntare,  und  zwar  des  Riesgaus 

793  Wemdinga  (Wemding  I1A.  Donauwürtb)  in  pago  Sualafeld. 
Urkunde  Karl  des  Grossen.  Wemding  in  Riess. 

Zum  Jahr  876  Sualifeld  (Solnhofen  RA.  Weissenburg)  in  pago  Retiensi. 
Anna).  Fuld. 

898  Sualafeld  in  pago  Retiensi.  Urkunde  des  Kaisers  Arnulf. 

898  Wemding  und  Nördlingeu  in  pago  Retiensi.  Hund.  Metrop.  I 
248,  249. 

Diese  Urkunden  bei  v.  Pallhausen  114,  131. 

2.  Andere  lassen  den  Riesgau  als  alamnnnischen  Theilgau,  das  Suala- 
feld  als  fränkische  Grafschaft  erkennen. 

868  De  rebus  St.  Nazarii  martyris  inter  Itetiam  et  Swaleveldon  in 
loeis  (des  Riesgau)  Buila  (Bühl  BA.  Nürdlingeu ) et  Humilinga  (Reimlingen 
daselbst;  des  Sualafeld)  et  Gunzenlieim  (Gunzenheim)  et  Mundilinga 
(MUndling)  et  Ranheim  (Ranhoim,  alle  drei  im  BA.  Donauwürtb 
Steichele  III  656. 

1053  Kaiser  Heinrich  III.  schenkt  dem  Bisthum  Eichstatt  einen  Forst 
und  Wildbann.  forestum  sitnm  in  comitatn  Friederici  comitis  in  pago 
Recia,  et  in  cotnitatn  Ohnnonis  comitis  in  pago  Swaiaveldortini.  Steichele  III 
550.  Danach  fallen 

in  den  Riesgau  (Diilcese  Augsburg)  Wachingen  (Wechingen),  Beiles  - 
beim  (Belsheim),  Husen  (Hausen).  Segelowu  (Seglolie,  alle  in  BA.  Nürd- 
lingen),  Vranchenhof  (Frankenhofen),  Urningen  Irsingen)  Wunebaldi  (jetzt 
Karlsbrunn),  Rintgazza  (Rindsgasse,  ehemalige  Furt  der  Wiiruitz  von 
Wassertriidingen  nach  Irsingen),  liinc  ad  fontetn.  tibi  sluo  provinciae  divi- 
duntur,  Swovia  quidem  et  Franconia  (am  Vilsbrunn  oder  am  Rockinger  Bach); 

in  den  Gau  Sualafeld  (Diöcese  Eichstätt)  Rodungen  (Rückingen  am 
Hesselberg,  Uanteresheim  (Lentcrshcim),  Sweiningen  (Ober-,  Unter* 
Schwaningen),  Trahemotingeu  (Alten-Triidingen),  Magerichesheim  (Ober- 


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Megersheim),  Gnozeaheim  (Gnozheim),  Kirsenloch  (Kirscheniobe,  Thal 
zwischen  Heidenheim  und  Spielberg,  alle  im  BA.  Dinkelsbühl). 

Xach  beiden  T'rkunden  waren  Theilgauorte  des  Riesgau: 

BA.  Nördlingeu : Seglohe,  Hausen,  Belsheim.  Wechingen,  Bühl.  Keim- 
lingen, 

während  in  die  Huntare  oder  den  Gau  Sualafeld  zwischen  Wörnitz  und 
Altmühl  fielen : 

BA.  DinkelsbUhl:  Lentersheim,  Altentrüdingen,  Röckingeu,  Obennegers- 
heim, Kirschenlohe,  Gnotzheim,  Ober-,  Unterschwaningen ; 

BA.  Donauwiirtb:  Wemding,  Ranheim,  HUndling,  Gunzenheim; 

BA.  Weissenburg:  Solnhofen. 


Sechstes  Buch. 

Die  Bargrafsehaften. 


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Siebenunddreissigstes  Kapitel. 

fclöbersicht. 

Die  Grundzüge  der  Bargrafscliaften  sind  bereits  geschildert 
(S.  304,  31«,  317,  322).  Die  Namen  Bara,  Para  darf  man  nicht, 
wie  Birlinger  thut,  mit  den  Bezeichnungen  Gau,  Bant,  Feld, 
Eiba,  Huntaro  zusammenstellen,  denn  diese  gehören  der  Zeit 
der  Gauverfassung,  Bara  der  Zeit  der  Grafschaftsverfassung  an. 
Bar  wird  von  Grimm  auf  eine  Einöde,  unbebautes  Land,  von 
Förstemann  auf  einen  baumentblössten,  zum  Gottesdienst  be- 
stimmten Waldraum,  von  Wackernagel  auf  ein  eingehegtes 
Land,  Grenze  gedeutet,  Erklärungsversuche,  aus  denen  man  den 
allgemeinen  Begriff:  Bezirk,  Gebiet,  abziehen  mag.  Specieller 
nennt  Birlinger  die  Bara  einen  Gerichtsbezirk,  Baumann  eine 
Dingstätte  (Schranne),  im  weiteren  Sinn  ein  Landgericht,  einen 
Grafenamtsbezirk;  aber  der  Gerichtsbezirk  oder  die  Dingstätte 
ist  doch  nur  eine  Huntare,  die  Bar  dagegen  ein  Grafschafts- 
bezirk, der  sich  aus  einer  Mehrzahl  benachbarter  aber  will- 
kürlich verbundener  Huntaren  zusammensetzt.  Die  Baren 
werden  mehrfach  mit  comitatus  und  dem  vieldeutigen  pagus  oder 
pagellus,  aber  niemals  mit  dem  Ausdruck  Gau  näher  bezeichnet. 

Ueber  die  Baren  reden  Urkunden  (die  sich  in  den 
Sammlungen  von  Neugart,  Württemberg,  Lorsch,  St.  Gallen  und 
im  Wesentlichen  zusammengestellt  bei  dem  älteren  Stalin  und 
Baumann,  und  zwar  über  die  Bertoltsbar  sehr  zahlreich,  be- 
finden) aus  dem  8.  und  1).  und  vereinzelt  bis  zum  12.  Jahr- 
hundert, also  aus  der  Zeit,  aus  der  überhaupt  die  Gauurkunden 
stammen.  Sie  zeigen  die  Baren  um  den  Neckar  und  die  Donau 
(vereinzelt  auch  um  die  Wutach)  sowohl  im  Stammland,  wie  in 
Neualamannien  und  weisen  als  neualamannische  und  als  Graf- 


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50« 


schaftsgebiete  auf  eine  Entstehungszeit  erst  nach  Einführung 
der  fränkischen  Verfassung,  also  nach  536,  hin.  Weiter  sind 
von  den  Grafen,  deren  Namen  die  uns  bekannten  sechs  Baren 
tragen,  vier  nachzuweisen.  Sie  stammen  aus  dem  8.  und 
9.  Jahrhundert,  und  da  sie  voraussichtlich  die  ersten  Grafen 
ihrer  Baren  waren,  so  darf  man  die  Entstehung  dieser  Baren 
in  die  Zeit  dieser  beiden  Jahrhunderte  verlegen.  Sie  sind 
mithin  die  neueste  Schöpfung  auf  dem  Gebiet  der  politischen 
Verbände,  und  wo  sie  bestanden,  haben  sie  die  Erinnerung  an 
die  geschichtlichen  Grossgaue  verdunkelt  oder  gar  ansgelöscht, 
so  dass  der  Umfang  des  Westergau  und  Illergau  unklar  und 
der  Name  des  Gaus,  den  ich  Donaugau  genannt  habe,  ver- 
schwunden ist. 

Es  gab  ursprünglich  zwei  Baren.  Die  Bertoltsbar,  die  sich 
über  die  Thalgebiete  der  an  die  Westalb  anschliessenden  Flüsse, 
des  oberen  Neckar  und  der  oberen  Donau,  erstreckte  und  in 
ähnlichem  Umfang  weiter  donauabwärts  an  beiden  Ufern  die 
Folcholtsbar.  Die  erstere  wird  in  der  Zeit  von  741 — 890,  die 
letztere  805  erwähnt.  Diese  Baren  stellten  neben  anderem 
Grafenbesitz  die  Hausmaclit  des  alamannischen  Herzoggeschlechts 
dar.  Bertolt,  der  Graf  der  Bertoltsbar,  der  724  erwähnt  wird, 
war  der  Enkel,  Bruder  und  Neffe  von  drei  Herzogen,  des 
Gotefried,  Nebi  und  Lantfried;  dagegen  ist  Folcholt,  der  Graf 
der  Folcholtsbar,  nicht  zu  ermitteln.  Das  Herzoghaus  wurde 
um  730,  vielleicht  erst  748,  gestürzt,  und  dann  sieht  mau  die 
beiden  Baren  zersplittert.  An  die  Stelle  der  Bertoltsbar  sind 
drei  Baren  getreten,  die  Bar  des  Adalhart  (Graf  763 — 775,  die 
Bar  769  erwähnt),  des  Perihtilo  (Graf  770 — 786,  Bar  785  und 
786)  und  des  Albuin  (Graf  842,  Bar  851),  und  von  der  Folcholts- 
bar ist  schon  788—838  eine  zweite  Albuinsbar  abgezweigt. 

Von  den  Theilbargrafen  der  Bertoltsbar  war  Perithilo  ein 
Sohn  des  Bertolt,  während  in  der  Folcholtsbar  ein  Abkömmling 
desselben,  ein  zweiter  Bertolt,  und  dann  dessen  Söhne,  die 
Grafen  Chadaloh  und  Wago,  und  ein  Enkel,  ein  dritter  Bertolt, 
gegen  das  Ende  des  Jahrhunderts  und  gegen  den  Anlang  des 
nächsten  stark  begütert  waren.  Dagegen  ist  eine  Verwandschaft 
des  Adalhart  und  der  beiden  Albuin  nicht  zu  erkennen.  Es  ist 
daher  ersichtlich,  dass,  wie  schon  Baumann  als  wahrscheinlich 
angenommen  hat,  der  grosse  Besitz  des  Herzogliauses  mit  dessen 


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500 


Sturz  zersplittert  worden,  und  es  scheint  ferner,  dass  nur  Theile 
davon  den  Familienmitgliedern  gelassen,  andere  an  Fremde 
übertragen  sind.  Trotzdem  aber,  sagt  Stalin,  „blühte  das  ge- 
stürzte Herzogsgeschlecht  in  grossen  Grundbesitzern,  welche  oft 
die  Grafenwürde  bekleideten,  noch  lange  fort,  besonders  auf  dem 
Schwarzwald  und  in  Oberschwaben  und  gelangte  durch  die 
Gattin  Hildegard,  welche  Karl  der  Grosse  aus  ihm  wählte,  bald 
aufs  Neue  zu  Glanz  und  Macht.“ 

Die  Bezeichnung  Bertoltsbar  und  Bar  hat  sich  in  den  Urkunden 
bis  in  das  12.  Jahrhundert,  und  für  die  Quellgebiete  von  Donau 
und  Neckar  als  „Baar“  bis  heute  erhalten;  die  anderen  Baren 
erscheinen  dann  wieder  in  die  alten  H unteren  als  H unteren- 
grafschaftcn  umgewandelt  und  ihre  Namen  sind  vergessen.  Die 
Meinung  Baumanns,  dass  mit  der  Auflösung  der  Baren  diese 
„kleineren  Gaue“  erst  entstanden,  widerlegt  sich  mit  der 
Geschichte  der  Gauentwickelung  im  ganzen  Alamannenland. 
H unteren  bestanden  seit  der  Ansiedelnngszeit,  sie  wurden  nur 
um  Donau  und  Neckar  eine  Zeit  lang  zu  Baren  zusammen- 
gefasst. 

(Birlinger,  Alamannischc  Sprache  14;  Baumami,  Gangrafschaften  4 — 8, 
121;  Stalin  der  Aeltere  I,  242.  die  Stammtafel  243.) 


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Achtunddreissigstes  Kapitel. 

Die  westlichen  ßaren. 

1.  Bertoltsbar. 

Bertolt,  welcher  der  Bar  den  N amen  gegeben  hat,  war  der 
Bruder  des  Herzogs  Nebi,  beide  werden  zum  Jahr  724  vou 
Hermannus  Contractus  erwähnt,  der  von  ihnen  als  a Bertlioldo 
et  Nebi  principibus  redet.  Sie  bringen  den  heiligen  Pirmin  zu 
Karl  Marteil.  der  ihm  die  Insel  Reichenau  zur  Anlage  eines 
Klosters  überweist.  Die  Vita  Meginhardi  dagegen  führt  die 
Errichtung  des  Klosters  auf  den  Befehl  Bertolts  zurück,  verlegt 
sie  aber  in  die  Zeit  des  Pippin,  jussu  Perhatoldi  nobilissimi 
Alemannorum  temporibus  Pippini,  regis  Franchorum.  In  keiner 
dieser  Urkunden  wird  er  dux  genannt. 

Die  Bertoltsbar,  Bertoldespara,  Perahtoltispara,  Perachtoltes* 
bara  und  ähnlich  wird  zuerst  741/47  in  der  Vita  S.  Galli  in 
den  Mon.  Germ,  script.  II  21  als  Peratholtespara,  dann  in 
Urkunden  von  750/60  bis  S'.io  erwähnt,  also  erst  in  der  Zeit 
ihrer  Auflösung,  als  landschaftliches  Gebiet,  und  wird  gemeiniglich 
als  pagus,  763  pagus  et  situs,  886  als  comitatus  bezeichnet. 
Sie  umfasste,  wie  schon  erwähnt,  an  die  Westalb  stossende 
Gebiete  der  oberen  Donau  und  des  oberen  Neckars,  fünf 
H untaren  des  Gross -Westergaus,  welche  die  Scherra  im  Halb- 
kreise umschlossen,  nämlich  Purihdinga,  Nidiuga,  Aseheim. 
Rottweil,  Sulz  und  zwei  Huntaren  des  Gross-Nagoldgaus, 
nämlich  Waltgau  und  Haglegau. 

lu  ilmeu  werden  folgende  Baiorte  genannt: 

1.  Purilidingu 

OA.  Spaichingeu : Spaichingeu,  Aldingen; 

OA.  Tuttlingen:  Sehura,  Weigheim,  Gunniugeu,  Seitingeu,  das  Kied- 
thal,  Wurmlingen. 


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öl  1 


2.  Nidinga 

BA.  Donaueschingen:  Mundelfingen,  Belila,  Hausen  vor  Wald,  Pfohren, 
Donaueschingen,  Wolterdingen,  Heidenhofen,  Ober-,  Unterbaidingen; 

BA,  Villingen:  Klengen,  Biesingen. 

3.  Aseheim 

BA.  Donaueschingen:  Baehheim; 

BA.  Neustadt:  Göschweiler,  Löffingen. 

1.  Kottweil 

OA.  Rottweil:  Deislingen,  Flötzlingon,  Kottweil,  Dietingen; 

OA.  Oberndorf:  Oberndorf. 

6.  Sulz 

OA.  Sulz:  Bickelsberg,  Brittheim,  Sulz. 

6.  Haglegan 

OA.  Sulz:  Mühlheim; 

OA.  Horb:  Wiesenstetteu. 

7.  Waltgau 

OA.  Haigerloch:  Priorsberg; 

OA.  Freudenstadt : Schopfloch. 

2.  Adalliartsbar. 

Diese,  ein  Tlieil  der  Bertoltsbar  im  Süden  der  Westalb, 
findet  sich  in  einer  Urkunde  von  769  (Adalhartespara),  der 
Graf  Adalhart  selbst  in  Urkunden  von  763  bis  77ö,  so  dass 
man  die  in  letzteren  anl'geführten  Orte  seines  Amtsbezirks  der 
nach  ihm  genannten  Bar  zurechnen  darf.  Die  Barorte  lagen 
in  zwei  Huntaren  des  Westergaus  und  einer  des  Klettgaus 
(westlichen  Albgaus),  so  dass  hier  das  Gebiet  der  Bar  in  das 
Wutachthal  reichte. 

1.  Puribdinga 

OA.  Tuttlingen:  Weigheim; 

BA.  Villingen:  Baldingen. 

2.  Nidinga 

BA.  Donaueschingen:  Wolterdingeu. 

3.  Albgau 

BA.  Bonndorf:  Achdorf. 

3.  Perihtilosbar. 

Sie  findet  sich,  ein  Tlieil  der  Bertoltsbar,  785  als  pagus 
l’irihteloni,  786  als  pagus  Piritiloni  und  pagus  Perihtiliupara, 
der  Graf  Pirihtilo  in  Urkuuden  770—78  bis  786.  Die  in  der 
Bar  und  seiner  Grafschaft  liegenden  Orte  gehörten  theils  der 
früheren  Bertoltsbar  in  den  Huntaren  Purihdinga,  Kottweil, 
Haglegau,  theils  auch  der  früheren  Adalliartsbar  in  der  Huntare 


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512 


Purihdinga  an,  theils  sind  ihnen  die  Huntaren  Scherra,  Hatten- 
lmntare  zugefügt.  Pie  Perihtilosbar  war  mithin  die  Westalb 
mit  ihrer  Umgebung  im  Süden,  Westen  und  Norden,  aus  drei 
Huntaren  des  Westergaus  und  zweien  des  Nagoldgaues  bestehend. 

Barorte : 

1.  Scherra 

OA.  Kottweil:  Dormettingen, 

OA.  Spaichingen:  Daiiingen,  Schorzingen,  Egesheim,  Steinweiler  bei 
Spaichingen. 

2.  Purihdinga 

OA.  Spaichingen:  Diirbheiin; 

OA.  Tuttlingen:  Riethcim,  Seitingcn. 

3.  Rottweil 

OA.  Kottweil:  Dunningen,  der  Eberbach  bei  Dunningen; 

OA.  Oberndorf:  Thalhausen,  Seedorf. 

4.  Jlaglegau 

OA.  Sulz:  das  Keurenthal,  Isingen,  Bcrgfeldeu,  Kirchberg; 

OA.  liaigerloch  : Betra,  Weildorf; 

OA.  Horb:  Mübringen. 

ö.  Hattenhuntare 

OA.  llechingen:  Biesingen,  Wessingen,  Hechingen. 

4.  Albuinsbar. 

Erst  im  Jahr  851  wird  wieder  eine  Bar  erwähnt,  die 
Albunespara,  welcher  ein  Gral  Albuin,  der  842  die  Scherra  inne 
hatte,  den  Namen  gegeben  haben  kann. 

Barorte . 

1.  Aseheim  in  der  Albunespara 

BA.  Neustadt:  Röthenbach  851.  Gail.  414. 

2.  Scherra  in  der  Grafschaft  des  Alboin,  sub  Alboino  comite  M2. 
Wirt  10«. 

OA.  Spaichingen:  Nusplingen; 

OA.  Balingen:  Winterlingen ; 

OA.  Sigmaringen:  Erohnstetten. 

Haben  die  von  einander  entfernten  Huntaren  Aseheim  und 
Scherra  zur  Albuinsbar  gehört,  so  wird  mau  auch  die  dazwischen 
liegende  Nidinga  und  Purihdinga  dazu  rechnen  müssen,  so  dass 
die  Bar  die  Wcstalb  und  deren  Süd  westen,  Theile  des  Wester- 
gaues, umfasst  hätte. 

5.  Bara. 

Die  Gebiete  der  genannten  vier  Baren  werden  von  843  an 
landschaftlich  als  die  Bar,  Bara,  Para  bezeichnet  und  daneben 
nur  noch  der  Name  der  Bertoltsbar  bis  890  weiter  geführt. 


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513 

Die  gewöhnliche  Bezeichnung  ist  pagus  Bara,  pagus  Para, 
auch  880,  961,  999  comitatns  Bara,  eine  Reminiscenz  an  die 
Einzelbaren,  ferner  blos  Bara,  Para,  Bare,  Bar;  S43  ist  von 
tota  Para,  1030  von  der  regio  Alamanniae  Bara  und  1237 
von  der  provinciola  illa,  que  Bare  vulgo  dieitur,  die  Rede  (die 
Urkunde  von  843  Wirt.  108  gilt  zwar  als  gefälscht,  wird  aber 
ihrem  topographischen  Inhalt  nach  richtig  sein). 

Barorte: 

1.  Scherra 

OA.  Spaichingeu:  Wehingeu; 

OA.  Tuttlingen:  Tuttlingen  (oder  zur  Purihdiuga?). 

2.  Purihdinga 

OA.  Tuttlingen:  Tuttlingen?;  ' 

HA.  Engen:  MiShringen; 

BA  Douaueschingeu:  Ippingeu  (oder  zur  Nidinga  ?). 

3.  Nidinga 

BA.  Donaueschingen:  Ippingen?,  Woliren,  Heidenhofen; 

IJA.  Villingen:  Dttrrheim,  Villingen  (oder  zu  Aseheim?). 

4.  Aseheim 

BA.  Neustadt:  Lilffingeu; 

BA.  Villingen:  Villingen?,  St.  Ueorgen. 

5.  Kottweil 

DA.  Kottweil:  Deisslingen,  Bösingeu,  Feckenhausen,  Kottweil,  Irsliugeu 
und  ein  Zimmern; 

OA.  Oberndorf:  Seedorf,  Wald-  oder  Hoeliniilssiiigen,  Epfendorf,  Obern- 
dorf, Steighof,  Harthausen,  Böchingen. 

C.  Haglegau 

OA.  Sulz:  Binsdorf; 

OA.  Haigerloch:  Empfingen; 

OA.  Horb:  Bierlingen. 

Die  Landschaft  Bara  umfasste  also  die  Huutaren  der 
früheren  Einzelbaren  mit  Ausnahme  von  Albgau,  Waltgau, 
Sulz,  Hattenhuntare,  und  von  der  Scherra  ist  nur  Ein  hoher 
gelegener  Ort  Wehingen  (776  Meter)  zu  verzeichnen.  Streicht 
man  aber  die  Orte  der  zweifelhaften  Urkunde  von  843  (es 
sind  Wehiugen,  Tuttlingen,  Möhringen,  Deisslingen,  Binsdorf, 
Empfingen,  Bierlingen)  so  bleibt  die  Landschaft  der  Quell- 
gebiete von  Donau  und  Neckar  übrig,  die  man  auch  heute  die 
Haar  nennt. 


6.  Die  Landgrafschaft  Bar. 

Aus  dem  Süden  der  Landschaft  Bar  wurde  zwischen  1007 
und  1083  wiederum  eine  Grafschaft  gebildet,  comitatus  de  Bare, 

Cratae  r,  Geschichte  der  Alamannen.  33 


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r»l  4 


die  Landgrafschaft  Bar,  deren  Inhaber  1094  und  lios  wiederum 
ein  Berchtold,  ein  schwäbischer  Herzog  der  zweiten  Periode 
aus  dem  Geschlecht  der  Zähringer,  war.  1108  In  pago  Para 
in  comitatu  Bertoldi  dncis.  Im  Jahr  1283  ging  der  comitatus 
de  Bare  von  dem  Grafen  Hermann  von  Sulz  an  den  Grafen 
Heinrich  von  Fürstenberg  über.  Die  Landgrafschaft  erhielt 
sich  bis  1 SOG. 

Der  jüngere  Stälin  I 252;  l'rk.  von  Schaffhansen  19;  liamnann  160; 
Fürstenberg  I 5»2,  586). 


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Neununddreissigstes  Kapitel. 

Die  östlichen  ßarett. 

1.  Folcholtsbar. 

Die  Folcholtsbar  wird  in  einer  einzigen  Urkunde,  Wirt. 
60,  und  zwar  erst  805,  also  nach  Auflösung  der  Bar,  wo  ihr 
Name  als  Landschaft  weiter  lebte,  erwähnt.  Die  Grafen 
Chadaloh  und  Wago  übertrugen  quiequid  in  pago  Folcholtes- 
para  visi  sumus  habere,  excepto  in  Heidgauwe  (Heidgau  OA. 
Waldsee)  et  in  Antarmarhingas  (Emerkingen  OA.  Ehingen). 
Vorher  hatten  sie  in  derselben  Urkunde  Besitz  an  einer  Reihe 
von  Orten  ohne  Barbezeichnung  veräussert  und  man  wird  mit 
Baumann  68  annehmen  dürfen,  dass  die  Vergabung  von  Gütern 
an  einzelnen  Orten  und  der  generell  in  der  Bar  gelegenen  als 
zwei  Wendungen  für  dieselbe  Sache  aufzufassen  sind.  Ausser 
dieser  Schenkung  von  805  haben  Bertolt  II.  (Perathold  und 
seine  Gattin  Gersinda),  dann  seine  genannten  Söhne  Chadaloh 
und  -Wago  und  später  der  Sohn  des  Chadaloh,  der  Graf 
Bertolt  III.  (Pertold),  sämmtlich  Abkömmlinge  des  alten 
Herzoggeschlechts,  weiter  Güter  von  grösserem  Umfang,  in 
derselben  Gegend  gelegen,  in  den  Jahren  790,  817,  824,  842 
(Wirt.  38,  80,  90,  105)  an  das  Kloster  St.  Gallen  geschenkt, 
so  dass  man  auch  sie  als  der  Folcholtsbar  angehörig  wird 
betrachten  können. 

Danach  waren  Barorte  (die  ansichern  der  Urkunde  von  805  sind  mit  * 
bezeichnet) 

links  der  Donau  in  den  Huntaren 

1.  Affa 

OA.  Riedlingcu:  ‘Grüningon,  ‘Daugendorf. 

2.  Swerzeuhuntare 

OA.  lliiusingen:  ‘Erbstetten,  ‘Ober-,  ‘Unterwilziugen; 

33* 


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516 


OA.  Ebingen:  Uuterraarchthal  (wenn  nicht  Obermarchthal).  Mühlheim. 
Urötzingen. 

rechte  der  Donau 

3.  Eritgau 

OA.  Riedlingen:  Henauhof  hei  Ituchnu,  ‘Seckirch,  ‘der  Bussen.  L'n- 
lingen,  ‘Möhringen,  ‘Zell. 

4.  Muntricheshuntare 

OA.  Riedlingen:  Reutlingendorf,  Dieterskirch,  ‘Ober-,  ‘Untenvachingen. 
Obermarchthal  (wenn  nicht  Untormarchthal). 

5.  Ruadoltesbuntare 

OA.  Ehingen:  Emerkingen. 

6.  Heistergau 

OA.  Waldsee:  ‘Hochdorf,  ‘Weiler,  Ober-,  Uutercssendorf.  ‘Wangen, 
Uaidgau. 

Die  Folcholtsbar  gelierte  somit  links  der  Donau  zwei 
Huntaren  des  nördlichen  Albgaus,  rechts  der  Donau  vier 
Huntarcn  des  Donaugaus  an. 

2.  Albuinsbar. 

So  wenig  wie  Folcholt  ist  Albuin  bekannt.  Die  Urkundeu 
der  Albuinsbar  datiren  von  788—838,  also  aus  derselben  Zeit, 
wie  die  der  Folcholtsbar.  Diese  und  die  Orte  beider  Baren 
liegen  iui  Gemenge,  so  dass  man  annehmen  kann,  die  Folcholts- 
bar  sei  damals  schon  aufgelöst,  und  die  Albuinsbar  von  ibr 
abgezweigt. 

Iu  letzterer  (auch  Albuincsbar,  Albuinipara,  Albinespara)  siud  folgende 
Barorto  zu  verzeichueu : 

1.  Swerzeiihuntarc,  liuks  der  Donau 

OA.  Miinaingeu:  llayiugeu  (zur  Hälfte  auch  iu  Afl'a,  in  der  sonst 

keine  Orte  der  Albuiusbar  verzeichnet  siud),  Escheubach  (abgegaugeu). 
Bergach. 

2.  Ruadoltesbuntare,  rechts  der  Douau 

OA.  Ebingen:  Bettighofeu,  Alt-  oder  Kirchbiorlingeu,  Ristisseu. 

Somit  an  jeder  Seite  der  Donau  eine  Huntare,  hier  des 
Albgaus,  dort  des  Dunaugaus,  die  aus  dem  Gebiet  der  Folcbolts- 
bar  herausgenommen  sind. 


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Siebentes  Buch. 

Die 

neualamannisehen 
Gaue  des  Eisass. 


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Vierzigstes  Kapitel. 

Hebcrsicfy. 

Etwa  30 — 50  Jahre  nach  der  Zeit,  die  wir  durch  die 
Schilderungen  Ammians  kennen,  nach  dem  Beginn  des  5.  Jahr- 
hunderts, drangen  die  Alamannen  über  den  Rhein  und  siedelten 
sich  in  Gallien  an.  Im  Lauf  des  Jahrhunderts  durch  die 
Franken  zurückgedrängt,  blieb  ihnen  das  Eisass  in  der  ungefähren 
Ausdehnung  der  Jetztzeit:  im  Osten  der  Rhein,  im  Norden  die 
Selz,  im  Westen  die  Höhe  der  Vogesen,  im  Süden  „das  obere 
Becken  der  TU,  die  Landskron  und  der  Lauf  der  Birsig“. 

Der  Anfangsvoeal  des  Namens  Eisass  wechselte  von 
A zu  E,  auch  I.  Die  älteste  Form  ist  Alsatius.  Alesaciones 
(bei  Fredpgar  580— ß 10),  eine  spätere  Alisaeinse  und  ähnlich 
(ß93 — 8ßO),  eine  jüngere  Elisaeinse,  Elisaze  und  ähnlich  fvon 
797  an),  anrh  kommt  817  Illisacia  vor.  Der  letzteren  Form 
entsprechend  wurde  der  Name  bis  auf  Schöpflin  von  dem  Illfluss 
hergeleitet,  während  man  jetzt  annimmt,  die  Alisacen  seien,  im 
Gegensatz  zu  den  rechtsrheinischen  Alemannen,  die  in  der 
Fremde  (al)  Sitzenden,  eine  Bezeichnung,  die  nach  Ermoldus 
Nigellus  von  den  Franken  herrühren  soll  (cui  nomen  Ilelisaz 
Francus  habere  dedit),  aber  mit  demselben  Recht  den  in  die 
Fremde  Einwandernden  selbst  zugeschrieben  werden  kann. 
(Vergl.  S.  124.) 

Als  Verband  wurde  das  Eisass  mit  ducatus,  pagus  oder 
provincia  bezeichnet,  z.  B.  728  und  83t»  ducatus  Alsacensis  oder 
Elisatiae;  898,  12.  Jahrhundert  und  1 199  pagus  Helisacensis, 

Heilisacensis,  Alsatieusis,  Elisazen-,  999  und  1153  provincia 
Alsacia,  Alsatia. 

Aus  der  Gestaltung  des  Landes  ergiebt  sich,  dass  die 
Bcsiedeluug  im  Rheinthal  begann  und  erst  allmählich  zu  den 


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Höhen  der  Vogesen  emporstieg.  Zwei  Gaue  wurden  gegründet, 
der  Nortgau  und  der  Sundgau,  den  rechts  rheinischen  Gauen 
Mortenau  und  Breisgau  gegenüber,  alle  von  ähnlicher  Aus- 
dehnung. Eine  ursprünglich,  wie  es  scheint,  römische  Yer- 
theidigungslinie  am  Kegel  der  Hohkönigsburg,  der  Eckenbach. 
der  ihn  begleitende  Landgraben  und  die  Blindachquelle,  beides 
Zuflüsse  der  lll,  bildeten  die  Grenze  zwischen  dem  Nort-  und 
Sundgau.  Dieselbe  Linie  schied  und  scheidet  noch  heute  die 
Bisthümer  Strassburg  und  Basel.  Jenes  bestand  aus  dem  links- 
rheinischen Nortgau  und  der  gegenüberliegenden  Mortenau,  dieses 
aus  den  linksrheinischen  Gauen  Sundgau  und  Augstgau,  und 
die  gleiche  Grenze  scheidet  bis  zum  heutigen  Tag  das  Ober- 
und Unter-Elsass,  jedoch  mit  der  Ausnahme,  dass  die  Blindach- 
quelle zum  Ober-Elsass  gezogen  ist.  „Man  sol  wissen“,  heisst  es 
in  Pfyffers  Habsburg-österreichischem  Urbarbuch,  „das  die  lant- 
grafschaft  von  oberen  Elsaze  an  der  birse  (Birs)  fallet  an  unde 
gabt  nach  der  lengi  unz  uffen  den  eckenbach,  nach  der  breite 
aber  von  dem  Rin  unz  litten  den  virsten  des  gebirges,  das  da 
heisset  der  Wesechen.“  Noch  ein  dritter  kirchlicher  Verband 
reichte  in  den  Südwesten  des  alten  Eisass  hinein,  das  Erz- 
bisthum  Bisanz  (Besancon). 

Wie  über  dem  Rhein,  zerfielen  die  Gaue  in  H untaren,  eine 
Bezeichnung,  die  uns  jedoch  aus  dem  Eisass  nicht  aufbewahrt 
ist,  und  Marken.  Nach  Schlicker  entsprechen  im  Nortgau  der 
Huntare  Hagenau  im  Allgemeinen  die  Archipresbyterate  (Land- 
kapitel) Hagenovia  superior  und  inferior  des  Bisthum  Strassburg, 
im  Sundgau  der  gleichnamigen  Huntare  das  Baseler  Dekanat  Sunt- 
gaudiae  und  der  Huntare  Eisgau  das  Baseler  Dekanat  Elsgaudiae 
und  das  Besanconer  Landkapitel  Besancon.  Ob  im  Uebrigen 
die  Untereintheilungen  der  drei  Bisthümer  für  die  Feststellung 
der  Huntarengrenzen  zu  verwerthen  sind,  lasse  ich  dahin- 
gestellt sein. 

Wie  seit  der  fränkischen  Zeit  das  Eisass  erst  dem  ala- 
mannischen  Herzogthum  angehörte  und  dann  ein  eignes  dar- 
stellte, ist  bereits  geschildert  (S.  2ÜS).  Die  Entwicklung  der 
Grafschaften  war  dieselbe,  wie  am  rechten  Rhein.  Unter  den 
Grafschaften,  welche  Ludwig  der  Deutsche  s7ü  bei  der  Theilung 
von  Mersen  erwarb:  in  Elisatio  comitatos  duos  sind  wahr- 
scheinlich der  Nortgau  und  der  Sundgau  verstanden,  wenngleich 


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in  seinem  Antheil  unter  den  Städten  noch  „Strastburg“,  unter 
den  comitatus  noch  Elischowe  (der  Eisgau,  siehe  Kapitel  42, 
Hnntaren  3)  erwähnt  wird.  Mon.  Germ.  Leges  1,  517. 

Gedacht  sei  hier,  weil  sie  sich  in  den  Nort-  wie  in  den 
Sundgau  erstreckte,  der  Mark  Qiiuiwiinluim  (Königsheim),  eines 
königlichen  Fiskus  den  Karl  der  Grosse  dem  Kloster  Leberau 
Ubergab. 

774  In  pago  Alaacen.se  cx  nmrca  fisco  nostro  (Jnningishaiin. 

843  Kunigesheim. 

834  Kx  mnrckn  fisci  Pomni  Karnli,  <jui  (jnuningisliaim  dicitnr  in 
pago  Alsacensi. 

Grandidier  Kglise  Strash.  e>7,  117.  1S5. 

Die  Mark  lagerte  sich  um  den  Stophanberch  (774,  im 
romanischen  Patois  der  Nachbarschaft  Estuphin  d.  i.  Stauffen- 
berg),  dessen  Kegel  seit  Jahrhunderten  mit  der  Hohkönigsburg 
gekrönt  ist,  welche  den  Namen  der  Mark  Quningisheim  bewahrt 
hat.  Weit  hinaus  in  die  Rheinebenen  weist  der  Berg  mit  seiner 
Burg  die  alte  Grenze  des  Sund-  und  Nortgans  auf.  Hier 
dehnte  sich  die  Mark  an  beiden  Seiten  der  Leber  aus  von 
Kinzheim  im  Osten  bis  Markirch  im  Westen,  und  es  werden 
als  ihre  Orte  genannt  Kinzheim,  Wanzell,  Leberau,  La  Hingrie, 
die  drei  Kombach,  Markirch  und  St.  Blasien  oder  Heiligkreutz. 

Die  hier  niedergelegte  Auffassung  der  Ganentwicklung, 
welche  deren  in  dem  alamannisehen  Deutschland  und  der 
Schweiz  gefundene  Regeln  auch  auf  das  Eisass  anwendet,  weicht 
von  der  Darstellung  Schrickers  in  dem  Aufsatz  „Ael teste 
Grenzen  und  Gaue  im  Eisass“  (Zeitschrift  Strassburger  Studien 
1884  II,  S.  305—402),  dessen  gaugeographisches  Material  hier 
benutzt  ist,  in  wesentlichen  Punkten  ab. 


Einundvierzigstes  Kapitel. 


Der  Hortgau. 

Der  Nortg&u  umfasste  das  heutige  Untereisass  bis  au  die 
Selz  und  vom  Obereisass  noch  die  Blindachquelle. 

OOS  In  Nortgowa  niiam  ciirtim  qtti  dicitnr  Chunnengeshova  (Königs- 
hofen bei  Strassburg).  Als.  d.  12H. 

SI2U  lu  pago  ljcilizacensi  in  cnmitatu  Nordgouva  et  villa  Senebreddi- 
(unbekannt).  Als.  d.  130. 

999  Allodiutn,  qttod  vocabulnin  sortitum  est  Tluitelenheim  (DBttlen 
heim  Ct,  Mölsheim)  in  prnvincia  Alsacia  in  pago  qnoque  Xortgewi  pro)«' 
cenobium,  quad  dicitnr  Altorff  Altdorf  das.).  Als  d.  170. 

1065  Duas  villas  Horhfeld  (Hoehfeldcn)  et.  Schweichusen  .Schweig 
hausen  Ct.  Hagenau)  dictus  cinu  foresto  Heiligenforst  nominato  in  cotnitatn 
Gerhard i comitis  in  pago  Nortcowe  situs.  Als.  d.  21S. 

1074  Ad  Scerlenheim  (Scherlenheim  Ct.  Hocbfelden).  ad  Mellesheiin 
(Melaheim  das.),  ad  Wluenesheim  (Wilwisheim  das.  . ad  Lnpenstein  l.np- 
stein  Ct.  Zabern),  ad  Mnmncnheiin  (Mommenheim  Ct.  llrumnth),  ad  Ibtr- 
destede  (Berstett  Ct.  Trucbtersbeim).  ad  Uotdenesheim  (Gottcsheim.  Ct 
Zabern'.  ad  Ostcrnuilare  (unbekannt),  ad  Wiccbersbeim  .Wichersheim  CI 
Hocbfelden),  ad  Willingishusen  (Wilshausen  das.),  atl  Bossendorf  ( llossendorf 
Ct.  Horhfelden).  ad  Ricbeneahoven  lieichsbofen  Ct.  Niederbronn),  ad  Muten- 
linsen  in  pago  Nortgoae  in  cotnitatn  Gerlmrdi  eomitis.  Als.  d.  223. 

10«5  Tres  partes  eeclesiae  Hochfelden  (Hocbfelden)  sitae  in  paff0 
Nortgmve  dicto.  Als.  d.  264. 

1153  In  allodio,  qnod  dicitnr  Altorpb  (Altdorf  Ct.  Mölsheim)  in  quo 
Hugo  abbatiain  constnmf.  in  ptovincin  Alsatia,  in  pago  qnoque  Nortliffast’ 
in  coinitatu  Kberliardi.  nunc  auteni  baeredis  sui  Hugoni?  silo.  Al«  d.  2s’.'. 

Gattorte  des  Nortgau  sind  hiernach 

Ct.  Niederbronn:  Reichshofen; 

Ct.  Hagenau:  Schweiglinusen; 

Ct.  Ilrtiinath:  Mommenheim; 

Ct.  Hocbfelden:  Wilwisheim.  Melsbeim,  Wilshausen,  Wiebelsheim. 

Scherlenheim.  Dossenheim,  Hocbfelden,  Mtitzenlinusen; 

Ct.  Zabern:  l.upstein,  Gottcsheim; 

Ct.  Trucbtersbeim:  Berstett; 

bei  Strassburg:  Königshofen; 

Ct  Molsheim:  Düttlenheim,  Altdorf. 


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523 


II  ii  n t a r c n. 

1.  Hettengau. 

Im  Norden  der  unteren  Sauer. 

1266  üraveschaft  irnmo  Hettenkouue.  Ala.  d.  I 639. 

Huntarenorte  im  Hettengau  sind 

Ct.  Sulz  u.  Wald:  Hatten,  Oberbetschdorf,  Niederbetscbdorf,  Ritters- 
hofen,  Schwabweiler,  Reimersweiler,  Kiihlendorf,  Lentersweilcr.  Als.  ill.  II 
126,  240. 

2.  Ried. 

Zwischen  Hagenau  und  dem  Rhein. 

1266  Cirnvcschaft  imme  Ried.  Als.  d.  I 639. 

Huntarenorte  im  Ried  sind 

Ct.  Seht:  Reinheim; 

Ct.  Bischweiler:  Röschwong,  Roggenheitn,  Forstfeld.  Kauclienbcim, 
Ciiesenbeim.  Sesenheim.  Rtinzenbeim,  Altenheim,  Stattmatten,  Dalhtinden, 
Dengelsheim.  Als.  ill.  II  243. 

Sesenheim  mit  Drusenlteim  u.  s.  w.  lag  758  auch  in  der 
.1 Inh  lioiiunnnheim,  die  somit  einen  Theil  der  Huntare  Ried 
bildete.  Als.  d.  2h. 

3.  Hagenau. 

Die  Umgebung  von  Hagenau. 

1035  Iii  dueatu  Conraili  in  pago  Ha  gen  owe  (Hagenau)  in  abbatia 
Surburg  ( Surburg)  in  comitatu  Hugonis  prineipis  Alsatiae.  Königshofen 
Chronik. 

Huntarenorte 

Hagenan,  Surburg. 

4.  Sorngau. 

Die  Umgebung  von  Zabcrn. 

690—724  Terra  mea  in  Ioe.o  eognoininante  monte  cottnne  (Monsweiler 
an  der  Zorn  Ct.  Zabern)  in  pago  Sornagnuginse.  Trad.  Wizenb.  39. 

Huntarenorte 

Ct.  Zabern:  Monsweiler. 

In  der  Huntare  lag  827  die  w mriv  Aquih  tmsis  mit  Schwein- 
heim,  Hattmatt,  Dossenheim,  Ottersthal,  Maursmünster,  Pertz 
Diplom.  I 204. 

5.  Strassburg. 

Die  urkundlich  nachzuweisenden  Orte  der  Huntare  Strass- 
bnrg  liegen  zwischen  dieser  Stadt  und  Zabern. 


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524 


7:19  Acta  in  civitate  Argentoratinse  (Argentoratum,  Strassburg/ 
publice  — Luitfrido  citice.  Trad.  Wizenb.  10,  11. 

1S01  Infra  nova  civitate  Argentoratinse.  Cod.  d.  Fuld.  171. 

082  Infra  Argcntinaiu  civitatein,  quae  rnstice  Strazbnrg  vocatur  alio 
nomine,  vel  in  suburbio  ipsins  civitatis  (Strassb.  lirk.  45). 

Civitas  ist  dio  Stadt,  suburbium  deren  Gebiet,  beides  zusammen  die 
Huntare.  Später  wird  sie  als  comitia,  comitatns,  comicia  oder  Grafschaft 
jedoch  ohne  Namen  bezeichnet. 

1236  Proventns  villarntn  comitiae  aeqnaliter  dividentnr.  Als.  d.  480. 

1275  Bonis  in  comitatn  et  extra.  Als.  d.  702. 

1293  Bonis  ad  cotniciara  spectantibus.  Als.  d.  786. 

Etwa  1348  Kedditus  villao  Kutzclsheim  et  villarntn  comitatns,  qnae 
vulgariter  grafschaft.  Lehnsbuch  des  Bischof  Bertold  von  Bucheck.  Be- 
zirksarchiv Strassburg  G.  377. 

Die  in  dieser  Urkunde  aufgezeichneten  Orte,  also  Huntarenorte,  sind 
ausser  Strassburg: 

Ct.  Truchtersheim:  Dilgensheim  (Dingsheim),  Criegesheim  (Griesheim). 
Fnlcriegesheim  (Pfulgriesheim),  Pfetteusheim  (Pfettishoiin),  Berstette  (Ber- 
stett),  Druchtershcim  (Truchtersheim),  Boiheim  (Behlenheim),  Dossenheim 
(Dossenheim),  llimmelolzheim  (eingegangen)  prope  Wessenheiin  (Fessenheim  ■ 
Kutzelsheim  (Küttolsheim).  Dttelnheim  (ItteluheimX  Niigiirte  (Neugart- 
heim),  Avenheim  (.Avenheim),  Franchenheim  (Klcinfrankenheim),  Offenlii'im 
(Offenheim); 

Ct.  Maursmünstcr:  ('rafftele  (Krasstntt).  Knörsheiin  (Knörsheitn). 
Zeinheim  (Zeinheim); 

Ct.  Zubern:  Meinolzheitn  (Hiinnnlzhcim).  Luitenbeim  (Littenheim) 

Lupfenatein  (Lupstein),  Waltohlwisheim  (Waldolwisheim  ; 

Ct.  Hnchfelden:  Fridesheim  (Friedolsheim),  Wnilermiitzheim  Mutzen- 
hausen  ?). 

Ferner  nicht  zu  ermittelnde  Orte  BBtenheim,  Uettingen. 


6.  Sjteries 

wird  auf  die  Umgebung  von  Börscli  Ct.  Rosheim  gedeutet. 

Nach  einer  unächten  von  662  tlatirten  Urkunde  aus  dem  12.  Jahr- 
hundert verlieh  der  König  Dagobert  einer  Strassburger  Kirche  drei  Höfe, 
darunter  einen  in  pago,  qui  nuncupatur  Spcries  (oder  Species)  et  in  comitatn 
Bargense  (Barr).  Strassburger  Urk.  1. 

Im  Chroniken  Ebersheim  des  12.  Jahrhunderts,  S.  13,  in  dem  diese 
Urkunde  verwerthet  ist,  heisst  cs:  Tercia  (curtis  vero  uilra  Ararim  in 
comitatn  Barga  (Barr)  sita  est,  qne  Spcries  dicitur.  Auf  der  anderen  Seite 
wird  S|iccies  ultra  Ararim  auf  Spiez  jenseits  dnr  Aare  am  Thuncr  See 
gedeutet  (Fritz,  das  Territorium  des  üistlmms  Strassbnrg). 

Huntarenorte 
Ct.  Kosheim:  Börsch. 


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r>25 


7.  Bischofsheim. 

Die  Gegend  von  Biscliofsheim  Ct.  Rosheini. 

Dieselben  Urkunden  wie  unter  G.  Sperics  haben  In  pago,  qui  dicitur 
Bischofisheiiu  et  in  comitatu  Chücheim  (Kircliheim  Ct.  Wasselnlicim)  und 
Biscovesheim  in  comitatu  Tronic. 

Huntarenorte 

Ct.  Rosheim ; Biscliofsheim. 

Ct.  Wasselenheim : Kircliheim. 

8.  Horburg 

an  der  oberen  Blindach. 

Jahr?  Grusenheim  (Grussenheim  Ct.  Amlolsheim)  in  comitatus  Hor- 
hurgensis  (Horburg  das.)  ct  praefoeturae  Markolshemianae  (Markolsheim 
Ct.  Markolsheim)  finibus.  Als.  ill.  II  72. 

Huntarenorte 

Ct  Andolsheim:  Grussenheim,  Horburg; 

Ct.  Jlarkolsheim:  Markolsheim. 

9.  Sasonia. 

Eine  Urkunde  von  861  (Gail.  487,  correeter  Bd.  II  S.  386) 
meldet  von  pagellis  Prisigaugense,  Aragaugense,  Morinauginse, 
Sasonia  und  verschiedene  darin  gelegenen  Orten,  von  denen 
der  letzte,  der  also  wohl  in  der  Sasonia  lag,  Anheim  heisst. 
Nach  Neugart,  welchem  Wartmann  beitritt,  ist  der  pagellus 
zwischen  Breisach  und  Schlettstadt  zu  suchen : Oberhalb 
Breisach  liegt  Obersaasheini,  in  der  Nähe  von  Schlettstadt) 
Sassenheim,  zwischen  beiden  auf  badischem  Ufer  Sasbach. 
Anheim  ist  nach  Neugart  Ohnenheim  Ct.  Markolsheim,  und 
ich  habe  danach  die  auch  ihrer  Lage  im  Nort-  oder  Sundgau 
nach  unsichere  Huntare  in  den  erste,™  und  in  die  Umgebung 
von  Markolsheim  gelegt. 


Grafschaft  en. 

Als  frühere  GamjraJschajt  ist  der  Xortyati  nach  der  Urkunde 
von  *J29  in  comitatu  Nortgouve  beglaubigt. 

Als  Tlmlgawjrafsdutfhn  erscheinen  die  Grafschaften  Barr- 
und  'Ironie- Kircheim. 


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52ß 

Barr. 

Von  dem  comitatus  Bargense,  dem  comitatus  Bara  (Barr) 
ist  nur  eine  ihrer  Huntaren  bekannt:  Speries  (Börsch).  Sieiie 
die  Urkunden  von  662  und  aus  dem  12.  Jahrhundert,  bei  der 
Huntare  Speries). 


Tronie-  Kirclieini. 

Diese  Tlieilgaugrafschaft  umfasste  die  Rheinebene  von 
Wassclnheim  (Marlenheim  -Kirchheim)  bis  Schlettstadt  (Onsch- 
weilcr)  aufwärts.  Uir  Doppelname  erklärt  sieh  damit,  dass  sie 
bald  nach  Tronie  (heute  Tränheim),  bald  nach  dem  Nachbarort 
Kircheim  (heute  Marlenheim -Kirchheim)  bezeichnet  wurde. 
Von  der  Huntare  Bischofsheim  heisst  es  einmal,  sie  liege  in 
der  Grafschaft  Tronie,  ein  andermal,  sie  liege  in  der  Grafschaft 
Kircheim,  sie  war  also  eine  Huntare  der  Tlieilgaugrafschaft 
Tronie-Kircheim.  Deren  weitere  Huntaren  sind  nicht  bekannt. 

Jahr?  Hex  Dagobertus  apud  municipium  tune  Troniam  quasi  Trojatu 
novam  Kircheim  dictum  sibi  domicilium  fixe  rat.  Vita  St.  Florentii.  Grantii- 
dicr  Hist,  de  l'Egl.  de  Strassb.  No.  22. 

662  Iu  pago,  qui  dicitur  llischotislieim  \ Ct.  Koskeim)  et  in  comitatn 
Chilcheim.  Strassb.  (’rk.  l. 

817  Actum  Thronie  seu  Kilikheim  in  comitatn  Wurardi.  Als.  d.  82 

728  In  pago  Troningorum.  Siehe  unten. 

12.  Jahrhundert  Iliscovesheini  in  comitatu  Tronie.  Chrou.  Ebersheim  13. 
Ebenso  lageu  die  Orte  Orschweiler,  Ebersmünster,  Huttenheim  nach  der 
folgenden  Urkunde  von  728  in  der  Grafschaft  Tronie,  nach  der  von  817  in 
der  Grafschaft  Kircheim.  Als.  d.  9,  82. 

Nach  der  Urkunde  von  728  bestanden  22  Orte  iu  ducatu  Alsacensi, 
seu  in  pago  Troningorum  et  in  pago  Alsegauginse,  also  entweder  in  der 
Grafschaft  Tronie-Kircheim  oder  in  der  Sundgauor  Huntare  Eisgau.  I)»- 
yoii  fallen  ihrer  Lage  nach  in  den  pagus  Troningorum  folgeude  Orte,  die 
zugleich  mit  Orten  der  Grafschaft  Kirchheim  nach  der  unten  folgenden 
Urkunde  von  817  im  Gemenge  lagen. 

Ct.  Schiltighcim:  Wiclierebint  (Ilreuschwickersheim); 

Ct.  Erst  ein:  Hyppenesheim  (Hipsheim); 

Ct.  Benfeld:  Hittenheim  (HUtteuheim); 

Ct.  Schlettstadt:  Otalesviler  (Orschweiler),  Selastat  (Schlettstadt). 

Fern  von  diesen  Orten  wird  im  Norden  weiter  aufgeführt:  Diosesbeiui 
(Dossenheim  Ct.  Trucbtcrsheim  nicht  weit  von  Jlarlenhcim  - Kirchheim, 
Dossenheim  gehörte  übrigens  nach  der  Urkunde  von  1848  der  Huntare 
Strassburg  an).  Die  übrigen  728  genannten  Orte  fielen  in  den  Sundgau. 

12.  Jahrhundert.  Est  praefatus  locus  (Abbatia  Novieutensis,  Ebers- 
beim,  Eüersmüuster  Ct.  Schlettstadt)  iu  Gcrmaniae  fiuibus,  inter  Reiium  et 


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Vogasutu  in  pago  Alsaciense  in  comitatu  videlicet  Tlironie.  Chron.  Ebcrsli; 
(irandidier  II  No.  425,  S.  10. 

Hl 7 Im  comitatus  Kircbcim  liegend  werden  im  gefälschten  Privileg 
Ludwig  des  Frommen  für  das  Kloster  Ebershoim  aufgefülirt:  usque  ad 
alveum  Eggenbach  et  alveum  Ille  4 III)  Hnrium: 

Ct.  Öberehnheim:  Valva  (Walf); 

Ct.  Erstein:  l'tenheim  (Uttenheim),  Northus  ^Korthausen),  Lumerslieim 
(Limersbeim),  Hnndenesheim  iHindisbeinC ; 

Ct.  Iienfeld:  Chagenheiin  (Kogenheim),  Sarmeresheim  (Sermersheim), 
iliddcnhcin;  (Hüttenheim); 

Ct.  Scblettstadt:  Oleswilre  (ürsebweiler),  Scerewilre  (Scherweiler), 
Xovientem  sive  Ebersheim  (Ebersmiinster); 

Ct.  Markolsheim:  Niveratesbeim  (Kiffern  eingegangen,  Kapelle  in  der 
It'arrei  Schwobsheim  . Bablenbeim  illaldesheim  . Muoteresbolz  (Uiittersbolz), 
Witenesbeim  tWittisheim),  Hiltesbeim  (Hilsenbeim). 

Orte  der  Tbeilgaugrafsehaft  Tbrouie-Kirchheim  sind  also: 

Ct.  Wasselnheim:  Marlcnheim-Kirchbeim; 

Ct.  Schiltigbeim:  Breusehwickersheitn ; 

Ct  Koslieim:  Bischofsheim; 

Ct.  öberehnheim:  Walf; 

Ct.  Erstein:  Uttenheim,  Nortbauseu,  Limersbeim,  Hiudisbeim.  Hipsbeim; 

Ct.  Beut'eld:  Kogenheim,  Sermcrsheira,  Hiittenbeim; 

Ct.  Scblettstadt:  Orschweiler,  Scblettstadt,  Scberweiler,  Ebersmünster; 

Ct.  Slarkolsbcim:  Nifl'ern  bei  Scbwobsheim,  llaidesheim,  Miittersholz, 
Wittisheim,  Hilsenheim; 

Ist  Tronie  im  5.  Jahrhundert  burgundionisehes  Herrschalls- 
gebiet gewesen?  — von  Tronje  Hagen!  Der  Hecke  des 
Nibelungenliedes  ist  der  Sage  nach  in  Marlenheim  geboren. 

Als  Himtarenyraf'sthal'ti  >1  sind  nach  der  Bezeichnung  comitia, 
comitatus,  Graveschaft  die  Huntarcn:  seit  1236  Strasslmrg,  seit 
U26ü  Ried  und  Hettengan,  ohne  Jalir  Horburg  beurkundet. 


Zweiundvierzigstes  Kapitel. 

Der  SunHgau. 

Der  Gross-Sundgau  hatte  die  Ausdehnung  des  heutigen 
Obereisass  ohne  die  Blindachquelle  und  umfasste  ausserdem 
vermöge  seiner  Huntareu  Eisgau  und  Pfefferau  die  Umgebung 
von  Mömpelgart  und  Beifort. 

898  Ad  monasterium  Saudi  (jregorii,  uuod  est  constructum  in  pago 
lleliaacensi  in  parto  ipsius  pagi.  que  vocatur  Sundgeuui  — — partem 
proprietatia  inee  in  pago  quod  vocatur  Helisaceusi  in  Villa,  quo  nominatur 
Egisheim  (Egisheim  Ct.  Winzenheim)  et  Duringheim  (Türkheim  das.). 
AU.  d.  124. 

903  Lutfredus  in  Sunckouue  Souuenisheim  ;Sebwobon  Ct.  Altkirch), 
Hugo  in  Eigenesheim  (Egisheim  Ct.  Winzenheim).  AU.  d.  128. 

1024  In  loco  Steinebrunno  (Ober-,  Nieder-Steinbrunn  Ct.  Landser)  in 
pago  Suntgowe  in  comitatu  Ottonis.  AU.  d.  194. 

1199  Predium  Hostheim  dictum  (wo?)  in  pago  Elesazen,  in  comitatu 
Suutgowe  situm.  Als.  d.  206. 

Uauorte  sind  also: 

Ct.  Winzenheim:  Egisheim,  Tiirkbeim; 

Ct.  Landser:  Schwoben; 

Ct.  Altkirch : Ober-,  Nieder-Steinbrunn. 

Es  hat  auch  in  dem  Gross-Sundgau  eine  Huntare  desselben 
Namens  gegeben.  Siehe  unten. 

Im  12.  Jahrhundert  zog  sich  der  Name  Sundgau,  in  räum- 
licher U ebereinst immung  mit  einem  Dekanat  Suntgaudiae  des 
Bisthums  Basel  auf  das  Gebiet  südlich  der  Thur  und  nördlich 
von  der  Huntare  Eisgau  (Plirt,  lTuutrut,  Delle;  siehe  unten) 
zurück,  und  diente  zur  Bezeichnung  der  hier  gelegenen  vorder- 
österreichischen  Besitzungen  im  Eisass:  Sundgau  Eusisheim  oder 
auch  Suudgau  Eisass,  oder  bloss  Sundgau. 

1298  In  castris  iu  .Saugovia.  AU.  d.  810. 

1333  Der  leudern,  die  in  (dem  Johauuos  vou  Hahvilro  pflegen  i“ 
auntgowe)  zu  hürent  und  die  nah  geschribeu  staut  suntgüwe  Enscsheii» 
Cart.  llulh.  177. 


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529 

1338  Sunggow  Elsaz  und  Brisgow  (Bezeichnung  für  die  vorder- 
österreichischen  Länder  an  beiden  Seiten  de«  Rheins).  Cart.  Mulh.  194. 

1347  Altkirchae  (Altkireh)  in  Sundgovia.  Als.  d.  1017. 

1358  Jura  et  statuta  oppidi  Dolenais  in  Sundgovia.  So  in  der  Ueber- 
schrift  der  Urkunde,  während  die  Stadt  im  Context  Dela  vUelle  Ct.  Solo- 
thurn Schweiz)  genannt  ist.  Als.  d.  1081.  Delle  heisst  in  einer  Urkunde 
von  728  Datira.  Als.  d.  9. 

1361  Alsatia  specintiui  et  Sundgovia.  Als.  d.  1109. 

1387  ln  Elisas  und  in  der  Suntgaw.  Als.  d.  1210. 

1402  Bartenhemium  (Hattenheim  Ct.  Ensisheiiu  vicum  Suinlgoviae 
Als.  d.  1245. 

1411  In  Eisass  und  in  Suntgow.  Als.  d.  1260. 

1458  Im  Eisass  und  Sundgaw.  Als.  d. 

1510  Wir  Maximilian,  von  Gates  Gnaden  ervelter  Römischer  keyser 
bekennen,  dass  wir  — — Wilhelm  Herrn  zu  Uappoltstein  zu  uuserm 
obristen  hauptmann  und  landvogt  in  unsere  vordem  Lunden  Ellsass, 
Sunkcw,  Breysgew,  der  vier  stet  an  dem  Rein,  an  dem  Schwartzwald 
und  vas  darzu  gehört,  zusamt  unser  statt  Villingen  aufgenommen  haben 
Als.  d.  1442. 

Der  Name  Suudgau  in  dieser  engern  Bedeutung  hat  sicli 
noch  bis  heute  erhalten. 


H ii  n t a r e n. 

Als  solche  sind  die  folgenden  zu  1 — 4 beurkundet,  die 
weiteren  zu  5-7  zu  erschliessen. 

1.  Rubiaca. 

Dem  Namen  nach  dio  Umgebung  von  Rufacli  Kreis 
Gebweiler  inmitten  des  Oberelsasses. 

Angeblich  662.  In  pago,  <jui  vocatur  Rubiacii  .Rufacli)  ot  in  coiuitatu 
Ilchicha  (siehe  uuten).  Strassb.  Urk.  1. 

i.  Pfefferau. 

Die  östliche  Umgebung  von  Beifort.  Dass  die  Pfefferau 
dem  Sundgau  augehörte,  ist  nicht  ausgedrilckt. 

792  In  pago  Pfefferauga  in  marca  Roabach  ' Happach  Dcp.  llaute- 
Saflue).  Als.  d.  67. 

1394  Ze  Perrusen  (französisch  Perouse).  Stoffel  Topograph.  Wörter- 
buch des  Ubereisass. 

Huutarenorte: 

Dep.  Haute-Saöne:  Perouse,  Roppach. 

Cr*  ui  er,  Geschichte  der  Alamannen.  34 


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r>30 


3.  Eisgau. 

Die  Huntare  umfasste  den  Südwesten  des  Obereisass  (und 
deckte  sich  liier  mit  dem  baseier  Dekanat  Elsgaudiae)  und 
weiter  die  Umgebung  von  Pruntrut,  Delle,  Mömpelgart  uud 
fiel  liier  mit  dem  Bisanzer  Landkapitel  Besaufen  zusammen. 

Etwa  610  Ymerius  ex  provincia  Alsegnudiae  oriundus.  Tronillat  I 35. 

7.’ 8 In  dneatu  Alsacensi  — — in  pago  Alsegaugensi  mit  dem  Ort 
Datira  in  fine  Datirenai.  (Delle  Ct.  Solotlmrn  Schweiz).  Als.  d.  9. 

815  In  pago  Alaacense  et  in  pago  Algagense  in  loco,  qui  dicitur 
Betlionis  curte  (Bethoncourt,  Ct.  d'Audinconrt,  Doubs).  Gefälschtes  Privileg 
Karls  des  Grossen;  Tenlet  Inventaires  et  documeuts,  Paria  18G3. 

866  und  884  In  Algaugensi  comitatu  mit  curtis  Jlitia  (Courtemaiche 
hei  Pruntrut).  Trouillat  I No.  61,  67. 

870  wird  in  dem  Vertrage  von  Mersen  unter  den  comitatus  Eliscliowe 
erwähnt.  Mon.  Germ.  Lege«  I 517. 

1040  In  pago  Algogiensi  — — altare  S.  Ypoliti  (St.  Hippolyte  Ct. 
de  Doubg)  et  altare  de  Domno  Potro  (Dampierre  sur  le  Doubs)  illudque  de 
S.  Mauricio  (St.  Maurice  sur  le  Doubs).  Trouillat  I No.  111,  S.  171. 

1781  Vogtie  ze  Elscowe,  Oberrhein.  Zeitschrift  IV  357. 

1283  Advocatia  de  Ayogia.  A.  n.  0. 
lluntareuorte : 

Courtemaiche,  Delle,  Bethoncourt,  St.  Hippolyte,  Dampierre,  St.  Maurice 

4.  Huninga. 

Die  Umgebung  von  Hüningen,  welches  die  Maistätte  war. 

828  Actum  Huuiligu  villa  publice.  Gail.  313. 

1131  Hemiannus  — — praediuin  suum  in  pago  lluniiigen  situm  in 
comitatu  Adelherti.  Schiiplliu  Cod.  dipl.  hist.  Zariugo-Bad.  V S.  79. 
Huntareuort: 

Hüningen. 

5.  ti.  7.  Sundgau.  Thurgau.  Kembsgau. 

In  das  noch  freie  Gebiet  zwischen  den  Huntaren  Rubiaca. 
Ffefferau,  Eisgau  und  Huninga  mögen  nach  zwei  viel  be- 
sprochenen urkundlichen  Stellen  (siehe  Schricker  S.  392—400) 
weitere  drei  Huntaren  zu  verlegen  sein,  die  man  Simdgau, 
Thurgau,  Kembsgau  nennen  darf. 

Nach  der  Erzählung  des  Fredegar  theilten  596  bei  dein 
Tode  des  Königs  Childebert  II.  seine  Söhne  das  fränkische 
Reich.  Theudebert  erhielt  Austrasicn  mit  der  Hauptstadt  Metz, 
Theuderich  das  Reich  des  Guntram  in  Burgund  mit  der  Haupt- 
stadt Orleans,  dazu  auch  nach  dem  besonderen  Willen  seines 


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r>Hi 


Vaters  das  Eisass,  in  dem  er  aufgewachsen  war:  cum  Teudericus 
Alcsaciones,  ubi  fuerat  enutritus,  preceptum  patris  seu  Childe- 
berti  tenebat.  Im  Jahr  610  wurde  er  aber  von  Theudebert 
mit  Krieg  überzogen  und  von  dessen  Heer  umzingelt,  und  trat 
so  gezwungen  und  von  Schreck  erfüllt  das  Eisass  durch  Ver- 
trag an  Theudebert  ab.  Quactus  atque  conpulsus  Theudericus 
timore  perterritus  per  pactionis  vinculum  Alesatius  ad  parte 
Theudeberti  firmavit,  auch  die  Suggentenser,  Turenser  und 
Campanenser,  die  er  öfter  zurückverlangte,  verlor  er,  etiam  et 
Suggentensis  et  Turensis  et  Campanensis,  quos  saepius  repetibat, 
idemque  amisisse  visus  est.  Fred.  37.  Theuderich  besass  also 
das  Eisass  und  musste  es  abtreten;  seine  Versuche  die  Sugge- 
tenser  u.  s.  w.  zurück  zu  erwerben  (repetibat)  waren  ver- 
geblich. Die  Suggetenser,  Turenser  und  Campanenser  bildeten 
somit  einen  Theil  des  Eisass. 

Um  das  Jahr  1000  nahm  Aimonius,  ein  Mönch  von  Fleury, 
diese  Nachricht  in  seine  Darstellung  de  gestis  Francorum  auf, 
aber  in  einer  Form,  welche  zu  Missverständnissen  führte:  „Der 
Vertrag  der  Brüder  ging  dahin,  dass  Theuderich  die  Grafschaft 
des  Eisass  und  die  der  Sugitenser,  Turonenser  und  Camponenser 
abtrat  und  Theudebert  alle  Rechte  an  ihnen  erwarb.  Conventus 
fratrum  hujusmodi  fuit,  ut  Alesatio  d Sugetensi,  Turonensi 
quoque  ac  Campanensi  eomitatu  Thcodericus  cederet  et  ad  Theo- 
debertum  jus  omnium  hoi  um  transiret.  Aim.  III,  96.  Da 
hiernach  die  drei  letztgenannten  Grafschaften  ausserhalb  des 
Eisass  zu  liegen  scheinen,  so  hat  man  sie  auch  dort  gesucht 
und  den  comitatus  Sugetensis  mit  dem  lothringischen  Gau 
Sointensis  (Saintois),  den  comitatus  Turonensis  mit  dem  Thurgau 
der  Schweiz  und  den  comitatus  Campanensis  mit  der  Campania, 
dem  Weichbild  etwa  der  Städte  Troyes  oder  Augusta  Rauracorum 
identiticirt,  so  dass  Theuderich,  was  nicht  sehr  wahrscheinlich, 
den  Rückerwerb  von  drei  von  einander  getrennt  liegenden  Graf- 
schaften ins  Auge  gefasst  hätte. 

Vorwiegend  hat  man  jedoch  die  drei  Grafschaften  der 
Nachricht  des  Fredegar  gemäss  im  Eisass  selbst  gesucht,  und 
da  ergiebt  sich  dann  mit  Wahrscheinlichkeit  Folgendes: 

Die  Suggentenses  oder  der  comitatus  Sugitensis  sind  die 
Genossen  des  Sundgau.  Darunter  ist  eine  Huntare  dieses 
Namens  zu  verstehn,  welche  südlich  von  der  Thur  mit  dem 

34* 


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Dekanat  Suntgaudiae  zusammeniällt  (S.  520)  und  den  Namen 
Sundgau  bis  heute  bewahrt  hat.  W ie  nach  Auflösung  des  süd- 
lichen Gross-Alpgaus  und  nachdem  seine  liuntaren  selbständige 
Grafschaften  geworden,  der  Name  Alpgau  für  die.  jüngst  in  den 
Allgäuer  Alpen  eingerichtete  Huntare  blieb  (S.  471),  so  wird 
man  das  Verhältniss  der  Huntare  Sundgau  zum  gleichnamigen 
Grossgau  zu  denken  haben.  Man  siedelte  sich  erst  spät  in  den 
Hochvogesen  an,  und  da  die  umgebenden  Huntarengrafschaften 
ihre  eigenen  Namen  führten,  so  genügte  es,  den  neuen  gleich- 
artigen Verband  nach  dem  historischen  Grossgau  zu  bezeichnen. 

Die  Turenses  oder  der  comitatus  Turonensis  erklären  sich 
als  die  Huntare  Thurgau  (Thur  ein  linker  Nebenfluss  der  111) 
und  die  Campanenses  oder  Campanensis  comitatus  als  die 
Huntare  Kembsgau  (Kembs  Ct.  Landser,  nördlich  von  Hüningen), 
wobei  zu  bemerken  ist,  dass  im  Uebrigen  von  einem  elsässischen 
Thur-  und  Kembsgau  Nachrichten  nicht  vorliegen. 

Wir  sehen  nicht,  dass  zwischen  den  drei  Huntaren  andere 
lagen,  und  es  ist  daher  begreiflich,  dass  Theuderich  gerade  den 
Complex  der  drei  Verbände  zurückzuerwerben  versuchte. 


(»  r a f s e h a f t e n. 

Dass  der  Sundgau  eine  Gtingrafschaft  war,  ergiebt  (wenn 
nicht  die  Huntare  Sundgau  gemeint  sein  sollte)  die  Reminiscenz 
in  der  Urkunde  von 

101«  In  pago  Elisazen  in  comitatu  Suntgowe  situm.  Ala.  <L  SOS. 

In  dieser  Gaugrafschaft  wird  auch  ein  nach  der  oberu  111 
genannter  comitutun  Illchkhn  oder  lllvchik  erwähnt,  dessen 
Hauptort  das  heutige  Illzach  Ct.  Habsheim  (Azich  oder  Hilziacum) 
zu  seiu  scheint. 

Urkundlich  lag  in  der  Grafschaft  Illchicha  die  Huntare 
Rubiaca. 

Angeblich  062.  ln  pago,  qui  vocatnr  Rubiaca  et  in  comitatu  llchich*. 
Strassburg.  l'rk.  1. 

SIT  ljuae  marclia  (Sulza)  cst  sita  in  comitatu  Illechik.  Im  ge- 
fälschten Privileg  Ludwig  des  Frommen  für  Ebcrsmiinstcr.  Nach  dieser 


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533 


Urkunde  umspannte  die  marco  Sulza  in  jugo  moutis,  qui  Peleus  dicitur  (dem 
Sulzer  Belchen)  Metzeral,  Stossweier,  Sigolsheim  und  Rädersdorf. 

1040  In  Alsntio  juxta  Rhenum  in  coiuitatu  qui  pertinet  ad  locum 
Azich  (Illzach)  situm.  AU.  d.  198;  bei  Trouillat  I 167  lautet  der  Text  ad 
locum  Ilzicha  situm. 

835  llilciaoo  (Illzach)  palatio  regio.  Als.  d.  97.  Illzach  eine  könig- 
liche Pfalz,  die  von  Ililla,  der  111,  den  Namen  erhalten  und  auf  die  Graf- 
schaft Illchicha  übertragen  haben  mag. 

Pie  Crkunde  von  1040  hat  weiter  die  Orte  Rnodinsheim  (Riedisheim 
Ct.  Habsheim),  Habkensheim  (Habsheim),  Blatzheim  (Blotzheim  Ct. 
Hüningen).  Binningen  (Binningen  an  der  Birsig  bei  Basel). 

Die  Orte  der  Grafschaft  Illchicha  umfassen  hiernach  den  Gross-Suudgau, 
im  Norden  in  der  Umgehung  von  Sigolsheim,  im  Westen  in  der  von  Metzeral 
nnd  Stossweier,  im  Süden  in  der  von  Rüdersdorf  nud  Basel,  und  zwar 

Ct.  Kaisersberg:  Sigolsheim; 

Ct.  Münster:  Stossweier.  Metzeral; 

Ct.  Sulz:  Sulz; 

Ct.  Ptirt:  Rädersdorf; 

Ct.  Hiiningen:  Binningen,  Blotzheim; 

Ct.  Habsheim:  Hahsheim.  Riedisheim,  Illzach. 

Diese  Orte  schliessen  urkundlich  die  Huntare  Rubiara 
(Rufach)  und  räumlich  die  Huntare  Huninga  in  sich,  und  man 
wird  bei  dieser  Ausdehnung  annehinen  können,  dass  die  Graf- 
schaft Illchicha  nur  ein  anderer  landschaftlicher  Name  für  die 
Gaugrafschaft  Sundgau  ist.  Sollte  dies  nicht  der  Fall  sein,  so 
wäre  sie  als  Theilgaugrafschaft  aufzufassen. 

Als  Huulttmigraftrlnift  ist  866,  877  und  884  der  Eisgau, 
comitatus  Algogiensis,  comitatus  Elischowe  genannt,  nachdem  er 
etwa  610  die  Bezeichnung  pro vincia  Alsegandiae  getragen  hatte; 
und  ferner  nach  der  dunklen  Nachricht  etwa  vom  Jahr  1000 
der  Sundgan,  Thurgau  und  Kembsgau  als  Sugetensis,  Turonensis 
und  Campanensis  comitatus  bezeichnet. 


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Achtes  Buch. 

Die 

neualamannisehen 
Gaue  der  Schweiz. 


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Achtes  Buch. 

Die 

neualamannischen 
Gaue  der  Schweiz. 


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Dreiundvierzigstes  Kapitel. 

^Übersicht. 

Vom  Beginn  des  ft.  Jahrhunderts  ab  drangen  die  Alamannen 
von  Norden  her  über  den  Rhein  und  den  Bodensee  und  siedelten 
sich  in  der  Vorderschweiz  an,  gen  Süden  voranschreitend,  bis 
sie  nach  Jahrhunderten  das  Hochgebirge  erreichten.  Das  Gebiet, 
soweit  sie  es  den  Burgundionen  gegenüber  behaupteten,  lässt 
sich  durch  folgende  Grenzen  umschreiben:  im  Westen  Basel, 
die  Birsig,  die  Aare,  im  Süden  der  Thuner  See,  die  Furka,  der 
Gotthard,  Tödi,  Säntis,  im  Osten  das  untere  Rheinthal,  im 
Grossen  die  deutsche  Schweiz.  Hier  gründeten  sie  drei  Gross- 
gane,  den  Augstgau,  Aargau  und  Thurgau,  von  denen  der 
erstere  sammt  dem  elsässischen  Sundgau  das  Bisthum  Basel 
bildete,  während  die  beiden  letzteren  den  Archidiakonaten 
Burgund.  Aargau,  Zürichgau  und  Thurgau  des  Bisthum  Constanz 
angehörten.  Die  ( 'onstanzer  Bisthumsgrenzen,  denen  von  Basel 
nnd  Lausanne  gegenüber,  schildert  das  Diplom  Kaiser  Friedrichs  I. 
von  11  oft  so: 

Inter  Basiliensem  episcopatnm.  tilii  tfurius  Rjeichaha  (Bleiche  zwischen 
Morfenau  nnd  üreisgan)  cadit  in  Rrlinuni  et  sic  per  ripani  Rheni  inter 
silvant  8warzwalt  usque  ad  Humen  Are  (Aare)  ac  deinde  inter  Lausanensem 
episcopatum  per  ripam  Aree  usi|iie  ad  lncuin  Tnnse  (Tliuner  See),  inde  ad 
Alpes  et  per  Alpes  nd  fine»  Uetie  Cnriensis  ad  rillam  Montigels  (Montlingen 
(’t.  St  Gallen).  Wirt.  3&2.  Montigels  am  linken  Rhein  war  hier  die  Siid- 
grenze  des  Bisthums  Constanz.  mithin  Alamanniens  gegen  das  Bisthum  und 
den  Gau  Cnrrätien. 

Eine  Bearbeitung  der  schweizer  Gaue  findet  sich  in  Johannes  Meyer 
Geschichte  des  schweizerischen  Bundesrechts  l 102. 


Vierundvierzigstes  Kapitel. 


Der  westliche  Qugstgau. 

Der  Angstgau  hat  seinen  Namen  von  der  Römerstadt 
Angnsta  Rauraracofum , heute  Kaiserangst  und  Baselaugst  am 
Rhein.  Im  Süden  und  Osten  durch  die  untere  Aare,  im  Norden 
durch  den  Rhein  von  der  Aaretniindnng  bis  Basel  abwärts,  im 
Westen  durch  die  Birs  und  „nach  einer  auf  eine  Urkunde 
Heinrichs  II.  von  1004  zu  stützenden  Ansicht  durch  die  Birsig 
begrenzt,  derart,  dass  die  Grenze  durch  die  jetzige  Stadt  Gross- 
Basel  hindurch  ging“  (Quellen  der  Schweizer  Geschichte  III. 
S.  IV),  wurde  er  von  den  Grossgauen  Sundgau,  Breisgau. 
Klettgau,  Aargau  umschlossen.  870  wird  ein  Baselgau  er- 
wähnt, nach  Bnrckhardt  der  nach  seiner  grössten  Ortschaft 
benannte  Augstgau.  Die  Bezeichnung  ist  nur  Gau  und  pagus. 

762  In  fine  Angustinse  — — in  viila  Angboma  ^unbekannt).  Actum 
in  Augusta  (Angst)  publici.  Gail.  15. 

704  In  pago  Augustannginse  et  in  fine  Methimise  et  in  fine  Streme 
(beiilc  unbekannt).  Actum  in  atrio  Sti  Gerinani  ail  villn.ni  Helme  pnblice 
(Möhlin  bei  Rheinfelden).  Trouillat  I s:t. 

82»  In  pago  Augnscauginse  et  in  villis  Firinisvilla  (Fiillinsdorf  bei 
Liestal)  et  in  Munciaco  (Munzach  das.).  Actmn  in  Angnsta  civitate  (Augst) 
puhlici.  Gail.  271  (In  den  Jahren  891  und  894  wird  ancli  eine  viila 
Angusta  in  pago  Aragowe  erwähnt,  Gail.  284,  295). 

843  erhielt  bei  der  Theilung  von  Vordun  Lothar  I das  Eisass  mit 
Hasel  und  dem  Augstgau,  870  hei  der  Theilung  von  Mersen  Ludwig  der 
Deutsche  ausser  anderen  Bisthümern  Basula  und  anderen  Gatten  Basalchowa. 

1041  Heinrich  III.  schenkte  der  Kirche  zu  Basel  queudam  nostrae 
proprietatis  comitatum  Augusta  vocatum  (Augst)  in  pago  Ongestowe  et 
Sisgowe  ait  um,  Trouillat  1 174.  Der  comitatus  Augusta  wareine  königliche 
Domaine  (uostr&e  proprictatis),  deren  Besitz  früher  einem  Grafen  zum 
Einkommen,  comitatus,  überwiesen  war.  Waitz,  Deutsche  Verfassung«- 
gesebiebto  IV  ic». 

Gauorte  sind  hiernach: 

Basel,  Augst,  Möhlin,  Füllinsdorf,  Munzach. 


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530 


II  ii  n t a r e n. 

Der  Augstgau  zerfiel  in  drei  Huntaren,  den  Sisgau  im 
Westen  nnd  in  der  Mitte  des  Augstgans,  den  Buclisgau  im 
Süden  und  den  Friekgau  im  Osten.  Die  Zugehörigkeit  der 
Huntare  Sisgau  steht  urkundlich  fest.  Augst  lag  nach  der 
Urkunde  von  1041  im  Augstgau  und  in  dem  Sisgau,  Möhlin 
nach  der  von  704  im  Augstgau  und  nach  der  unten  folgenden 
von  1048  im  Sisgau. 

Die  Namen  der  drei  Huntaren  finden  sich  in  den  deeanatus 
Sisgandiae,  Buchsgaudiae,  Frickgaudiae  wieder. 

1.  Sisgau. 

835  Honolteswilaro  (Onetzwile,  heute  Oberdorf  an  der  Ilanenstein- 
strasse)  in  pago  Sisigaugensi.  Trouillat  I 100. 

1041  Coinitatum  Augusta  (Augst)  in  Ougestowc  et  Sisgowe. 
Trouillat  I 174. 

1048  In  pago  Sysgowe  in  villis  Meliu  (Möhlin)  et  Qurbelin  (Görbel, 
Hof  bei  Rbeinfelden)  in  coinitatu  Hodolti  comitis.  Trouillat  I 17SI. 

Huntarenorte : 

Augst,  Möhlin  uud.  Görbel  bei  Rbeinfelden,  Oberdorf  bei  Waldenburg. 
Audi  den  Namen  von  Sissach  wird  man  hierher  stellen  können. 

Zum  deeanatus  Sisgaudiae  gehörte  insbesondere  die  Hingebung  von 
Rbeinfelden  (Möhlin,  Olsberg,  Mägden). 

Das  durch  die  Huntarenorte  bezeichnete  Gebiet  des  Sisgau 
wurde  später  durch  die  gleichnamige  Landgrafschaft  umfasst. 

Nach  einer  Urkunde  von  1303  hatte  die  Lantgrafeschaft  im  Siagewe 
diese  Grenzen:  im  Westen  die  Birs  bis  zur  Mündung  iu  den  Rhein,  im 
Norden  den  Rhein  bis  aufwärts  zum  Einfluss  der  Ergolz.  Die  Grenze 
reichte  soweit  »in  den  Rin,  als  ein  man  uf  eim  rosse  mit  ein)  speer  gelangen 
mag.“  Im  Osten  worden  Buus,  Wcgenstetteu,  Rathenfluh  als  Grenzorte 
bezeichnet,  im  Süden  (gegen  die  Huntare  Buchsgau)  Oltingeu,  Waldenburg, 
Nünningen,  Beinwyl  bis  zur  Birs.  Boos  Urkundenbuch  I 300,  307.  Auch 
von  der  benachbarten  lantgrafschaft  von  ober»  Elsaze  (Obereisass)  heisst 
es,  sie  fahet  an  derBirse  an.  Pfyffer  Habsburg-Oestorreiehisches  Urkunden- 
buch  26. 

1418  verpfändete  der  Landgraf  Otto  vou  Thierstein  der  Stadt  Basel 
seine  landgräflichen  Rechte  in  den  Ämtern  Homburg,  Waldenburg  und 

Liestal, alle  meine  rechtuuge,  die  ich  meiue  ze  habende  an  der  lant- 

LTaffscbaft  im  Sisgöw.  Liestaler  Archiv, 

1439  Die  Grafschaft  im  Sissgöw.  Liestaler  Archiv. 

1468  Die  lantgrafeschaft  im  Sissgöw,  darinne  Bratteleu  (Pratteln) 
gelegen.  Liestaler  Archiv. 


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540 


Als  Landgerichte  der  Landgrafschaft  werden  in  der  Urkunde  von  1363 
aufgeführt,  zunächst  am  Rhein  das  niderste  uf  Birserein  und  Mnttentze 
ander  der  eichen  bei  Muttenz  (und  nach  einer  Urkunde  von  1453  die  Ding- 
statte  zu  Augst  „enet  dem  Steg,  so  über  die  Ergentz,  Ergolz  geht*),  das 
ohreste  uf  Erfenmatto  (das  für  die  Landgrafschaften  Sissgau  und  Frickgau, 
sowie  für  die  von  der  erstem  abgezweigte  Herrschaft  Rheinfelden  zuständig 
war);  ferner  in  den  höher  gelegenen  Thoileu  der  Laudgrafschaft  die  Land- 
gerichte .uf  Glünggisbühel  bi  Sissach,  bi  Rinapurg  uf  der  matten  tRiinep- 
burg)  und  ze  Nünningen  uffe  dor  Huben.“  Sie  werden  wenigstens  tlieil- 
weise  als  alte  Malstätten  der  Huntare  Sisgau  anzusehen  sein. 

2.  Buchsgau. 

Die  Südgrenze  des  Buchsgau  war  die  des  Grossgaus,  die 
Aare,  die  Nordgrenze  der  Kamm  des  Jura.  Mit  welchen  Orten 
hier  der  Sisgau  au  den  Buchsgau  stiess.  ist  nach  der  Urkunde 
der  Landgrafschaft  Sisgau  von  13(13  bereits  dargestellt. 

lOSO  (Juendam  romitatuui  Itarichingen  (wo?)  in  pago  Buchsgowe 
situm.  Trouillat  I 208.  Wahrscheinlich  ein  als  Grafeneinkommen 
dienender  Hof. 

1428  werden  in  einer  Buchsgauer  rrkuude  als  nördliche  Grenzorte 
aufgeführt:  der  niedere  Hauensteiu  bei  I.äufelfingen,  Eptingen,  Dingenbruck. 
Beinwyl.  Solothurner  Wochenblatt  1820,  330. 

3.  Frickgau. 

Die  Grenzen  des  Grossgaus  im  Norden,  Osten  und  Süden. 
Rhein  und  Aare  waren  auch  die  der  Huntare.  Gegen  Westen 
stiess  sie  an  den  Sisgau. 

Zu  926  In  pago.  quem  Friccouve  dicunt.  Kkkehardi  Casus  Sti. 
Galli  64. 

Später  wurde  der  Frickgau  eine  Landgrafschaft  desselben 
Namens,  der  auch  noch  heute  im  Friekthal  und  dem  Ort  Frick 
erhalten  ist. 


Grafschaft  e n. 

Aus  der  Grafschaftsentwicklung  sind  nur  die  beiden  Land- 
grafschaften Sisgau  und  Frickgau  anzuführen. 

(Hettsler,  Verfassungsgeschichte  der  Stadt  Basel  im  Mittel- 
alter  S.  16—29;  Burckhardt  die  Gauverhältnisse  im  alten 
Bisthum  Basel  und  die  Landgrafschaft  im  Sissgau,  in  den 
Beiträgen  zur  vaterländischen  Geschichte  des  historischen 
Vereins  zu  Basel  XI. 


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Fünfundvierzigstes  Kapitel. 

Der  dargau. 

Die  Aare  schloss  von  der  Reussmündung  im  Norden,  dann 
im  Westen  und  Süden,  durch  den  Thuner-  und  Brienzer  See 
hindurch  bis  zu  ihrem  Ursprung  im  Berner  Oberland  den  Gross- 
Aargau  ein  und  hat  ihm  den  Namen  gegeben.  Die  östliche 
Grenze  gegen  den  anstossenden  Gross-Thurgau  bildete  die  Reuss 
(Siehe  Näheres  iin  nächsten  Kapitel.) 

Der  Gross-Aargau  heisst  Gau  und  pagus,  zweimal  pagellus, 
einmal  regio,  z.  B.: 

703  In  Argouwe  regione.  Neug.  3». 

778  In  pagello  Aragaugenae.  Neug.  69. 

831  In  pago  Argauginse.  Gail.  338. 

861  In  pagellis Aragaugenae.  Gail.  487. 

886  In  pago  Aragenve.  Gail.  650. 

Im  8.  Jahrhundert  waren  die  südlichsten  Orte  Schcrzlingen  und  Spiez 
au  Thuner  See.  Sie  bestanden  schon  763.  Neug.  39. 


li  ii  ii  t a r e n. 

Nur  drei  linde  ich  verzeichnet. 

1.  Lenzburg. 

Comitatus  Lenzburgensis.  Episcopatua  Couat.  I,  I,  91  und  354. 

•2.  Rore. 

Die  Huutare  war  1027  eine  Grafschaft,  in  der  damals  das 
Kloster  Muri  gegründet  wurde. 


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542 


10'J7  Monasteriuui  iu  loco  qui  Mure  dicitur  iu  pago  Argoia.  in 
comitatu  Koro.  (Quellen  zur  Schweizer  Geschichte  Muri  III,  1. 

1114  Mouasterium  in  pago  Argouve,  qnod  Mure  uuncupatuiu  esi 
Muri  14. 

I>oide  Huntarcu  lageu  im  Kapitel  Mellingen. 

3.  Vilvesgau. 

Uüh  Tn  viila  liilueshusa  (Wolhausen)  in  comitatu  Walteri  couiitis.  iu 
pago  (juo4|uo  Vilvesgeuuo  (Willisau)  sitos.  Ncug.  799. 

Die  Orte  liegen  in  dem  Kapitel  Willisau. 


Grafschaf  tc  n. 

Bereits  im  9.  Jalirliuudert  sind  im  Grossgau  zwei  Tlieil- 
gaugrafscliafteii  zu  unterscheiden,  eine  obere  mit  dem  Arcln- 
diakonat  Burgund,  und  eine  (nicht  genannte  untere)  Grafschaft, 
die  mit  dem  Archidiakonat  Aargau  zusammenfiel,  so  weit  im 
Osten  der  Gross- Aargau  reichte  (S.  339).  Der  oberen  Graf- 
schaft und  dem  Archidiakonat  Burgund  entsprechen  die  Kapitel 
Winau,  Aarberg,  Münsingen,  der  unteren  Grafschaft  und  dem 
Archidiakonat  Aargau  (soweit  letzteres  im  Gross-Aargau  lag) 
die  Kapitel  Burgdorf,  Willisau,  Itusswil,  Aarau,  Mellingen, 
sowie  die  Huutaren  Lenzburg,  Rore,  Vilvesgau  und  andere  nicht 
bekannte. 

816  ln  superiori  pago  Aragaugins«.  Gail.  4s6. 

8‘J4  Iu  superiori  Aragouvc  in  comitatu  Heparhardi.  — — ln  superiori 
pago  et  comitatu.  Gali.  695. 

Nach  diesen  Erkunden  lageu  in  der  oberen  Grafschaft  Langenthal. 
Kcrreuried,  Küren,  Lyssaeh,  Käriswil,  l'etiugen,  Kigel,  Alberswil,  Uonur- 
kingeii,  Radetfingen,  Eichi. 

Die  untere  Grafschaft  umfasste  somit  das  Gebiet  der 
Sempaclier,  Boldegger  und  Hallwiler  Seen  bis  zur  Reuss. 

Neben  den  comitatus  Lenzburg  und  Rore  wird  auch  ein 
Couiitat  des  Grafen  Cliadaloh  mit  einer  villa  Augusta  erwähnt. 

891  In  pago  Aragouve  in  comitatu  Chadalohi  in  Villa  Ausjusta 
Gail.  694. 

Meyer  I,  195,  196). 


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Sechsundvierzigstes  Kapitel. 

Der  Thurgau. 

Der  Gross-Thurgau  hat  seinen  Namen  von  der  Thur  (Dura), 
deren  Gebiet  die  von  Norden  eiudringcnden  Alamannen  also 
zunächst  besiedelt  haben.  Der  Bodensee  (Ober-  und  Untersee), 
der  Rhein  bis  zur  Einmündung  der  Aare  bildeten  die  Grenze 
im  Norden;  die  Reuss  vom  Ursprung  ab,  Wangen  im  Cantou 
Schwyz  waren  thurgauiseh,  Sebänis  zwischen  dem  Züricher  und 
dem  Wallensee,  dieser  und  Gützis  am  Rhein  waren  currätisch. 
Im  Osten  reichte  der  Thurgau,  wenn  der  Rheingau  ihm  zu- 
zuzählen ist  (siehe  unten),  soweit  das  Rheinthal  am  rechten 
Ufer  sich  ausdehnte. 

Im  Westen  stiessen  der  Thurgau  und  der  Gross-Aargau 
an  einander.  Engelberg  wird  in  Urkunden  von  1122  und  1124 
zum  Thurgau  gerechnet,  eine  Bestimmung,  der  wohl  der  Vorzug 
vor  der  Nachricht  von  Tschudi,  Schweizer  Chronik  von  1534, 
zu  geben  ist:  „Zwüscheu  Gersow  (Gersau)  und  Wättgis 

(AVäggis),  also  dass  Gersow  zum  Thurgöw  und  Wätgis  zum 
Ergöw  gehöret,  und  von  demselben  ort  durch  den  Waldstättcrsee 
hinüber  bis  an  die  Treib  und  damit  dem  Hochgebirg  (Uriroth- 
stock)  nach,  so  Uri  und  Underwalden  ouch  Engelberg  (also  zum 
Aargau?)  von  einanderen  scheidet.“  Von  Luzern  bildete  weiter 
die  Reuss  bis  zu  ihrem  Einfluss  in  die  Aare  die  Grenze  zwischen 
dem  Thur-  und  Aargau  und  von  da  weiter  schied  die  Aare,  bis 
sie  im  Rhein  mündet,  den  Thurgau  von  dem  Augstgau. 

Im  Süden  und  Südosten  lagen  die  Furka,  der  Gotthard, 
Tödi  und  Säntis,  sowie  das  Rheinthal  bis  Mömlingen  abwärts. 

Der  Grossgau  trägt  die  Bezeichnung  pagus  und  auch  im 
Gegensatz  zu  seinen  Huntaren  und  Grafschaften  situs,  z.  B.  744 


In  pago  Durgaugensc,  Gail.  10;  75l>  In  pago  Durgaui,  Gail.  -24: 
7!»!>  In  pago  Arbonensi  vel  in  sito  Durgogensi,  Gail.  85;  einmal 
provincia:  884  Durgaugiensis  provincia,  Gail.  038. 


li  II  II  t a I*  0 II. 

Als  solche  sind  Bischofsliori,  Arbongau,  Schwyz,  Uri,  Unter- 
walden und  wahrscheinlich  Oberhasli  und  Rheiugau  zu  erseheu. 

1.  Bischofsliori. 

Die  Huntare  wird  in  einer  Urkunde  von  1155  dreimal 
pagellus  Biskoffesliori  genannt,  ihre  Grenzen  werden  beschrieben. 
Wirt.  352,  siehe  auch  Jahr  854 : Quicquid  habuerunt  in  Biscoffes 
hori.  Wirt.  121.  Die  Huntare  nahm  die  Umgebung  von  Constanz 
und  den  Osten  des  Kapitel  Steckborn  ein,  mit  den  Orten 
Münsterlingen,  Tägerwilen,  Triboldingen  und  anderen. 

Die  Bischofsliori  war  1155  eine  dem  Bisthum  zinspflichtige 
Markgenossenschaft,  in  der  Fremde  nur  mit  Erlaubniss  des 
Bischofs  Grundbesitz  erwerben  konnten  (Gothein,  Wirtschafts- 
geschichte des  Schwarz waldes  I,  71). 

2.  Arbongau. 

Der  Arbongau  wurde  nach  dem  Römerort  Arbor  am  Boden- 
sec  genannt.  Die  Huntare  fiel  mit  dem  Kapitel  St.  Galleu 
zusammen,  soweit  dieses  nicht  im  Osten  dem  Rheingau  entsprach. 
In  den  Galler  Urkunden  des  8.— 10.  Jahrhunderts  werdeu 
aber  nur  Orte  in  der  Kühe  des  Bodeusees  bis  St.  Gallen  auf- 
gefuhrt.  Appenzell  war  noch  nicht  besiedelt. 

Die  Huntare  trägt  die  Bezeichnungen  Gau,  pagus,  marca, 
situs,  Anis,  und  ihre  Zugehörigkeit  zum  Gross-Thurgau  wird  öfter 
hervorgehoben:  der  gewöhnliche  Ausdruck  ist  pagus  Arbonensis. 

SU  In  pago  Arbnncauwe,  Gail.  204;  837  In  pago  Arbungaue,  Gail. 
301;  805  In  marca  Arbuna,  Gail.  134;  775  In  pago  Thurguugia  in  Arboneusi 
pago,  Gail.  73;  ähnlich  797,  Gail.  144;  779  In  pago  Arbonensi  vel  in  sito 
Durgogensi,  Gail.  85;  788  In  pago  Durgaugensi  et  in  sito  Arbonensi.  Gail 
117,  119;  791  ln  pago  Turgaugense  et  in  fine  Arbonense,  Gail.  130. 

Als  Huntareuurte  werdeu  aul'geluhrt:  Eguach,  Buch,  Arbou,  Steinach, 
Rorschacli,  alle  am  Ufer  des  Sees;  Goldach,  Berg,  Mürswil,  Gommers« il 
und  St.  Gallen. 


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In  St.  Gallen  errichtete  in  der  ersten  Hälfte  des  7.  Jahr- 
hunderts Gallus  eine  Anzahl  Zellen  um  eine  Peterskirche,  in 
denen  er  mit  seinen  Schülern  nach  den  Lehren  des  Columban 
asketisch  lebte.  Aus  diesen  Zellen  entwickelte  sich  nach  seinem 
Tode  das  Kloster,  von  dem  aus  die  Umgebung  bekehrt  wurde. 
Der  heilige  Gallus  und  das  nach  ihm  benannte  Kloster  nahm 
bald  einen  national-alamannischen  Charakter  an. 

Der  Grafenfamilie  des  Arbongaus,  welche  der  Niederlassung 
Schutz  gewährte  und  ihre  politische  Stellung  förderte,  gehörte 
in  der  ersten  Hälfte  des  nächsten  Jahrhunderts  der  Graf 
Waidram  au  (Rettberg,  Kirchengeschichte  II,  41,  45,  111—114). 
Es  scheint,  dass  dieser  Graf  Waidram  es  war,  nach  welchem 
der  pagus  Arbonensis  zugleich  den  Namen  Waldrammislnintare 
annahm,  denn  um  die  gleiche  Zeit  werden  die  Orte  Rorschach 
und  Goldach  als  in  der  einen,  wie  in  der  anderen  Huntare 
liegend  aufgeführt,  und  Hefenhofen  und  wahrscheinlich  auch 
Kesswil,  die  im  Bezirk  des  Arbongau  liegen,  als  der  Waldrams- 
huntare  angehörig  bezeichnet.  Den  Forst  Arbon  siehe  unten. 

850  In  pago  Arbouensi  inter  Coldahun  (Goldach)  et  Roracachun 
( Korschach)  situm.  Actum  in  monasteriu  Sti  dalli  sub  Uodalricho  comite. 
Gail.  40«. 

852  In  pago  Turgaugeusi,  <iuod  tarnen  specialitor  dicitur  Wald- 
rammisliuutari  in  villa  Hebinhova  tllefenhofcn).  Actum  in  monnsterio  Sti 
Galli  sub  Odnlrieo  comite.  Gail.  41«,  420. 

855  In  pago  Durgaugensi  et  in  situ  Waldrammishuudnri  in  loco 
Cotinuowilare  (nicht  zu  bestimmen)  — — villa  Uorscaho  seu  Coldahun. 
Actum  in  Coldahun  sub  Odalricho  comite.  Gail.  444. 

880  In  Chez-  (zinwilare  ergänzt  von  Wartmaun,  Kesswil)  in  Wald- 
rammeshnndare.  Actum  in  tnonasterio  St.  Galli  publice  sub  Adalberto 
comite.  Gail.  478. 

3.  4.  5.  Schwyz.  Uri.  Unterwalden. 

Die  drei  Waldstätte  waren  Huntaren  und  führten  deren 
Bezeichnung  Thal,  vallis.  Mit  ihnen  deckten  sich  Landkapitel. 
Sie  haben  als  „Urcantone“  ihr  Gebiet  bewahrt. 

Schwyz  hiess  nniversitas  vallis  de  Switz,  sein  Kapitel 
Schwyz. 

973  erscheinen  die  dem  Canton  Schwyz  ungehörigen  Orte  des  Zürich- 
gaus (siehe  unten),  im  Süden  des  Züricher  Sees:  Bach,  Freyenbach,  Alt- 
Rapperswyl,  Siebneu,  Knti,  Wangen  (diese  3 in  der  March)  und  im  Norden 
des  Vierwaldstätter  Sees:  Schwyz.  Wirt.  188. 

Im  Mittelalter  zerfiel  die  Huntare  in  vier  Viertel. 

Cr*m  er,  Ueacbichte  der  Alamannen.  35 


Uri  liiess  pagellus,  vallis,  Universitas  vallis  Uraniae,  seine 
Malstätte  war  unter  der  Linde  in  Altdorf,  sein  Kapitel  liiess 
Uri  oder  Altdorf. 

853  Cnrtim  nostram  Turegum  in  ducatu  Alamauniae  in  pago  Dur- 
gaugense, id  est  pagellnm  Uroniae.  Neug.  349. 

857  In  valle  lTrania.  Neug.  349. 

972  Uronia,  Urania.  Neug.  817. 

1258  war  der  Graf  Rudolph  von  Habshurg  während  des  Interregnnins 
von  Schwyz,  Uri  und  Unterwalden  zum  capitaneus  seu  protector  erwählt 
und  überwies  die  Güter  zweier  Verurtheilter  per  sententiam  difnnitivam 
cum  consensu  et  conniventia  universitatis  vallis  Uranie  der  Abtei  in  Zürich. 
Acta  snnt  haec  sub  tilia  in  Altorf.  Neug.  96  6. 

Als  Uuntarenorte  sind  Altorf,  Bürglen,  Attinghausen,  Erstfeld,  Silenen 
genannt. 

Im  Mittelalter  zerfiel  es  in  zehn  Genossame. 

Auch  Unterwalden  bildete  noch  nach  Urkunden  des  13.  Jahr- 
hunderts eine  Einheit,  Universitas  vallis  Unterwalden,  war  aber 
schon  damals  getheilt  in  Unterwalden  mit  dem  (Kern-)  Wald, 
zusammenfallend  mit  dem  pagus  Stanz,  dem  Kapitel  Stanz  und 
dessen  zwei  Kirchspielen  Stanz  und  Buochs,  und  in  Unterwalden 
ob  dem  Wald,  zusammenfallcnd  mit  dem  pagus  Samen,  dem 
Kapitel  Sarnen  und  dessen  zwei  Kirchspielen  Kerns  und  Sarnen. 
Unterwalden  war  also  eine  Huntare,  die  in  zwei  zerlegt  wurde 
und  gewisse  Angelegenheiten  als  gemeinsame  beibehalten 
haben  wird. 

Die  Bevölkerung  bestand  in  den  drei  Waldstätten  aus  Freien 
und  Hörigen,  aus  weltlichen  und  geistlichen  Grundherren  und 
bildete  in  Schwyz  und  Uri,  und  ohne  Zweifel  auch  in  Unter- 
walden, Markgenossenschaften. 

Es  gab  Dorfmarken  (in  Schwyz  unter  der  Leitung  von 
Dorfzweiern  oder  Dorfvierern),  ob  auch  Zehntmarken,  die  etwa 
den  angegebenen  Huntarentheilen  entsprachen,  muss  dahingestellt 
bleiben;  aber  in  Schwyz  und  Uri,  und  auch  wohl  in  Unter- 
walden Hunturmmarken,  Gemeingut  der  Landschaft  an  Wiesen, 
Waldungen,  Alpen. 

Markgenossen  waren  durch  Geburt  oder  Aufnahme  in  das 
Landrecht  Freie  wie  Unfreie,  in  Schwyz  die  „gemein  Laundlüt“, 
„gemein  Nachpuren“;  sie  waren  „an  velt,  wasser,  holz,  wnnn 
und  weide  des  Landes“  berechtigt,  trugen  die  Lasten  des  Landes 
und  bildeten  die  Landsgemeinde,  welche  über  die  Mark  verfügte 


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Ö47 


und  die  öffentliche  Gewalt  inne  hatte.  Unter  ihr  standen  zwei 
oder  später  vier  Amtmänner,  von  denen  Einer  (nach  der  Be- 
seitigung der  Reichsvögte)  als  Landammann,  vallis  judex,  die 
Geschäfte  des  Landes  führte.  Nicht  vollberechtigt  waren  die 
„sunder  Personen“,  die  Hintersassen  und  Ausleut.  Aehnlich 
wie  diese  aus  der  Mark  hervorgegangene  Verfassung  war  die 
von  Uri  und  wohl  auch  die  der  beiden  Theile  von  Unterwalden. 

In  Uri  zerfällt  die  Landsmark  räumlich  in  zwei  Thäler, 
welche  durch  die  Schlucht  der  Schöllenen  geschieden  sind.  Im 
unteren  Thal  von  Uri  ist  ein  grosser  Theil  des  ebenen  Landes 
in  Privateigenthum  übergegangeu,  während  Wald,  Alpen  und 
einige  Allmenden  in  der  Nähe  der  Dörfer  Gemeingut  geblieben 
sind,  dessen  Nutzung  vielfach  einzelnen  Kirchgängen  (Kirchen- 
gemeinden) überlassen  ist;  die  Weiden  des  oberen,  des  Urseren- 
thales,  sind  der  Korporation  der  Nutzniesser  von  Urseren 
überwiesen. 

(Maurer,  Einleitung  292,  302 — 322;  La veleye  - Bücher, 
Ureigenthum  126.) 


6.  Oberliasli. 

Auch  die  Landschaft  Oberliasli  wird  als  Huntare  anzusehen 
sein.  Sie  besteht  aus  sechs  Gemeinden:  Meiringen,  Hasliberg, 
Schattenhalb,  Innertkirchen,  Gadmen  und  Guttannen,  welche 
als  allgemeines  Landschaftsgut  die  Aaralp,  Grimsel,  Handeck 
(und  das  Grimselspital)  besitzt. 

(Schatzmann,  Die  Alpeuwirtschaft  der  Landschaft  Oberliasli.) 

7.  Rheingau. 

Das  untere  Rheinthal  von  Currätien  (Götzis)  an  bis  zu  den 
Mündungen  des  Flusses  bildete  die  Huntare  Rheingau.  Sie  lag 
an  seinen  beiden  Ufern,  am  linken,  wo  Montlingen  nach  der  Ur- 
kunde von  1155  bereits  (S.  330,  534)  als  Grenzpuukt  des  Bisthums 
Constanz  gegen  Currätien  genannt  ist,  am  rechten,  soweit  die 
Ebene  reicht,  zum  grössten  Theil  dem  Kapitel  St.  Gallen  des 
Archidiakonats  Thurgau,  zum  geringeren  dem  Kapitel  Bregenz 
des  Archidiakonats  Allgäu  zugehörig,  so  dass  der  Rheingau  als 
Huntare  wahrscheinlich  mit  dem  Gross-Thurgau  und  nicht  mit 
dem  Gross-Alpgau  verbunden  war. 

Der  Rheingau  wird  Gau,  pagus  und  980  comitatus  genannt. 

35* 


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548 


890  In  pago  Kingouve  curtem  Lnstenouvam  (Lustnau).  Gail.  680. 

904  In  Riugovve  in  loco  Farniwang  (Bernegg).  Gail.  788. 

967  In  pago  Ringuovve  in  villa,  cujus  vocabnlum  est  Thornbiura. 
Actum  in  loco  Tborrenbiurra  (Dornbirn).  Xeug.  740. 

980  In  pago  Ringovvo  in  comitatu  Adalberti  in  vicis  utriusque  ripae 
(der  Dornbirner  Ach)  Hohstedi  (Höchst,  links)  et  Torromburra  (Dornbirn 
rechts  vom  Fluss).  Wirt.  193. 

Nimmt  man  dazu  Montigels  (Montlingen)  als  die  Südgrenze  Ala- 
manniens,  hier  des  Rheingans,  so  ergeben  sich  als  dessen  Huntarenorte 

links  vom  Rhein  Montlingen  uud  Bernegg; 

rechts  vom  Rhein  Lustnau,  Höchst,  Dornbirn,  sodass  der  Rheingau 
das  Rheinthal  an  beiden  Ufern  bis  an  die  Appenzeller  und  Vorarlberger 
Alpen  auszufüllen  scheint. 

Als  die  Trennung  des  Rheingaus  vom  Thurgau  längst  statt- 
gefunden, wurde  im  Jahr  890  die  Grenze  zwischen  beiden 
Verbänden,  welche,  da  der  Rheingau  beide  Ufer  des  Rheins 
umfasste,  auf  dessen  linker  Seite  liegen  muss,  bei  Gelegenheit 
eines  Eigenthumsstreits  um  Güter  des  Klosters  St.  Gallen  nach 
Vernehmung  zahlreicher  Zeugen  festgestellt.  Gail.  680.  Was 
in  der  Urkunde  Thurgau  genannt  wird,  ist  speciell  dessen 
Huntare  Arbongau,  so  dass  man  den  einen  Namen  auch  für  den 
andern  setzen  kann. 

Die  Grenze  lief  de  Schwarzunegka,  ubi  aquao  adbuc  ad  nos  (St.  Gallon) 
vergunt,  et  inde  usque  ad  Manen  in  medium  gurgitem  Rheni,  et  inde  usque 
ad  lacum  Podamicum. 

Von  diesen  Orten  sind  Sehwarzeneck  und  Manen  streitig.  Ein 
Schwarzenegg  oberhalb  des  Kirchdorfs  Haiden  auf  der  Berghöhe  Kaien 
kann  nicht  das  gemeinte  sein,  da  es  ausser  jeder  geographischen  Be 
Ziehung  zum  Rheintbal  steht,  wohl  aber  Ober-  und  Unter-Schwarzenegg  • 
ein  Alpen-  und  Weidestrich  am  westlichen  Abhang  der  Berghohen  Fähnern 
und  Kamor,  von  wo  die  Wasser  nach  St.  Gallen  iliessen.  Der  Name 
Manen  wird  auf  den  Plural  von  Mond,  auf  Man  zurückgeführt  und  als  die 
darunter  zu  verstehenden  Orte  kommen  Maningeu  (jetzt  Meiningen),  Mon- 
tigels (jetzt  Montlingen)  und  Monsteiu  in  Betracht.  Meiningen  ist  nicht 
zu  berücksichtigen,  da  es  am  rechten  Rhein  liegt  und  schon  zu  Cürrätien 
gehörte,  welches  bis  Götzis  hinabreichte;  Montliugen  nicht,  weil  eine  von 
da  zum  Bodensee  reichende  Rheingrenze  Bernegg,  das  nach  der  Urkunde 
von  904  zum  Rheingau  gehörte,  nusscblicssen  würde,  so  dass  nur  Monstein 
bleibt.  In  seiner  Nabe  tritt  ein  Ausläufer  der  Appenzeller  Berge,  ein 
senkrecht  abfallender  Felsen  von  30 — 60  Fuss  Höhe  bis  hart  an  den  Rhein 
heran  und  bildet  einen  natürlichen  Abschluss  des  ganzen  linksrheinischen 
Thaies. 

Die  aus  den  Zeugenaussagen  sich  ergebende  Grenze  des 
Thurgau  und  Rheingau  lief  also  von  Ober-  und  Unter-Schwarzen- 


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540 


egg  am  westlichen  Abhang  der  Wasserscheide  gegen  St.  Gallen 
zu  dem  bei  Monstein  vorspringenden  Felsen,  um  den  sich  der 
Rhein  windet,  „bis  zur  Mitte  des  Rheins“,  und  diese  blieb 
Grenze,  „bis  wo  er  in  den  Bodensee  fliesst“,  von  dem  Felsen 
bei  Monstein  bis  zum  See  noch  heute  die  Grenze  zwischen  dem 
Canton  Appenzell  und  Vorarlberg. 

Innerhalb  des  Gebiets  des  Rheingaus,  dessen  westliche  Grenze  so 
bezeichnet  ist.  lagen,  so  wurde  durch  die  Zeugen  bekundet,  auch  die  Guter, 
welche  dem  Kloster  St.  Gallen  gehörten,  oder  an  denen  es  Weiderechte 
hatte:  a rivo  Eichibach  (nach  Neugart  und  von  Ars  Eichberg  in  der  Pfarrei 
An)  usque  ad  Scrienespnch  (nncb  Neugart  Umgegend  von  Eichberg,  nach 
von  Arx  und  Mooser  Schweinsberg  neben  Oberried  und  Hontlingen)  excepto 
liermentines,  qui  specialis  terminus  est  (unbekannt),  exceptisque  nemoribus 
(an  denen  jedoch  Weiderechte  zustanden)  Uobolo  (Kobelwald),  Thiot- 
poldesouva  (I)iepoldsau),  Iberinesouva  (Nengart  vennuthet  Widnau,  von 
Arx  Au)  et  Palgaa  (Balgach),  so  dass  das  Kloster  am  linken  Rhein  von 
Oberried  bis  Balgach  berechtigt  war. 

Die  gesammteu  Huntareuorto  umfassten  aber  die  Rheinebene  beider  Ufer 

links  vom  Rhein  Oberried,  Kobelwald.  Hontlingen,  Diepoldsau,  Widnau, 
Balgach,  Bernegg,  Monsteiu; 

rechts  vom  Rhein  Lustnau,  Höchst,  Dornbirn.  Das  letztere  gehörte 
dem  Kapitel  Bregenz,  alle  andern  dem  Kapitel  St.  Gallen  an. 

Der  Ford  Arbon. 

Nicht  nur  die  vorwiegend  kirchliche  Zugehörigkeit  würde 
für  die  politische  des  Rheingau  zum  Thurgau  sprechen,  sondern 
auch  der  Umfang  des  Forst  Arbon,  wenn  er,  wie  wohl  behauptet 
wird,  sich  über  beide  Verbände  erstreckt  hätte. 

Die  schon  erwähnte  Urkundo  Friedrichs  I.  von  1155,  welche  die  Grenzen 
des  Bisthums  Uonstanz  verzeiebnete,  umschrieb  auch  die  des  Arboner  Forstes. 

Sunt  termini  foresti  Arbonensis  ad  Humen  Salmasa  (die  Saluisach), 
inde  per  decursum  ejus  aqune  ad  Humen  Steinaha  (die  Steinach,  beide 
münden  zwischen  Romaushorn  und  Rorschach  in  den  See ; statt  der  Steinach 
scheint  jedoch  der  Ort  Steinbrunn  gemeint  zu  sein),  inde  ad  locum  Mola 
(Mühlen),  inde  ad  Humen  Sydronam  (Sitter),  inde  ad  albam  Sydronam  (den 
Weissbach,  Nebenfluss  der  Sitter),  inde  per  decursum  ipsius  Huminis  ad 
montem  liimelberg  (in  der  Pfarrei  Gonten),  inde  ad  Alpem  Sambatinam 
(Säntiser  Alp  am  Säntiser  See  und  dem  Hohenkasten),  inde  per  flrstum  (den 
First  des  Hohenkasten,  Kantor,  Fähnern)  usque  ad  Rheuum,  ubi  in  vertice 
rupis  similitudo  lunae  jussu  Dagoberti  regis,  ipso  praesente,  sculpta  cernitur 
ad  discernendos  tenninos  Burgundie  et  Curiensis  Rhetie,  inde  per  medium 
Khenum  usque  in  lacum  (den  Bodensee),  inde  ad  gemundas  (zur  Mündung) 
ad  praedictum  fluvium  Salmasa.  Neug.  800,  Wirt.  352. 


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Der  Forst  umfasste  somit  die  Umgebung  von  St.  Gallen  und  Appenzell 
zwischen  dem  See  und  dem  Rhein.  Wo  aber  stiess  er  auf  den  Rhein?  und 
da  erhebt  sich  der  Streit  zum  zweiten  Mal  um  Montigels  (Hontlingen)  und 
Manen  (Monstein). 

Die  Urkunde  von  1155  spricht  an  zwei  Stellen  von  dem  fränkischen 
König  Dagobert  aus  der  ersten  Hälfte  des  7.  Jahrhunderts,  und  wider- 
sprechend von  den  Bewohnern  des  Rheinthals  zu  seiner  Zeit.  Nach  der 
zweiten,  eben  citirten  Stelle  sind  es  ad  Rhenum  die  benachbarten  Bur- 
gundionen und  Currätier,  denen  er  selbst  anwesend  mondförmige  Grenz- 
zeichen auf  die  Höhe  von  Felsen  einhauen  lässt,  nach  der  ersten,  welche 
die  Grenze  des  Bisthums  Coustanz  'S.  330,  534)  im  Süden  und  Südosteu  ad 
Alpes  et  per  Alpes  ad  fines  Retie  Curiensis  ad  villara  Montigels  (Möm- 
lingen) laufen  lässt,  sind  es  hier  die  Alamannen,  deren  conatanzer  Bis- 
thumsgrenzen  er  den  anstossenden  Currätiern  gegenüber  testsetzt.  Die 
letztere  Nachricht  ist  die  richtige,  da  — möge  die  alte  Bisthumseinrichtung 
von  Dagobert  herrühren  oder  nicht  — diese  bis  1155  und  länger  fortdauerte 
Dass  dagegen  die  Burgundionen  jemals  im  schweizerischen  Rheinthal 
gesessen,  widerspricht  aller  Wahrscheinlichkeit  und  allen  Nachrichten.  Sie 
hätten  dann  von  den  Currätiern  vertrieben  werden  müssen,  denn  diese 
sassen  zur  Zeit  der  Karolinger  im  oberen  Rheinthai  und  tun  den  Vorder- 
und  Hinterrhein,  die  Burgundioneu  dagegen  um  die  Rhone.  Die  späte 
Nachricht  über  die  Burgundionen  ist  daher  ungetchichtlicb  und  Dagobert 
selbst  als  die  Verkörperung  ehrwürdigen  Alterthums  aus  uuserer  Urkunde 
zu  beseitigen;  und  ebenso  fällt  die  Setzung  der  Grenzzeichen  durch  den 
König  als  durchaus  sagenhaft  weg. 

Aber  die  Nachricht  Uber  das  Bestehen  von  mondförtnigen  Grenzzeichen 
ist  doch  ohne  Weiteres  nicht  mit  zu  verwerfen.  Setzten  doch  die  Alamannen 
und  Burgundionen  schon  4 Jahrhundert,  um  ihre  Gebiete  zu  begrenzen, 
am  obergermanischen  Limes  Grenzsteine.  Amminn  18,  2,  15.  Die  Mond- 
zeichen weisen  auf  Montlingen  und  Monstein  beide  ad  Rhenum  hiu,  deren 
Namen  von  der  Form  der  Zeichen,  similitudo  lunae,  herrühren  könnten. 

Dass  Montlingen  der  gemeinte  Grenzoit  des  Forstes  sei,  ist  wenig 
wahrscheinlich,  denn  bereits  die  Urkunde  von  890  lässt  eine  umfangreiche 
Besiedlung  des  Rheinthals  erkennen.  Dagegen  glaubt  Pupihofer  am  Fuas 
der  Fähnern  — zwar  nicht  ad  Rhenum,  aber  per  firstum  — die  Mond- 
zeichen zu  finden.  Hier  erhebt  sich  eine  knieförmig  hervortretende  Felsen  - 
terrasse,  die  als  steile  Felswand  abfällt  und  als  Bildsteinfels  bezeichnet  ist; 
den  Namen  Bildstciu  tragen  auch  die  bei  und  unter  dieser  Felswand  liegenden 
Alpenweiden,  bei  denen  von  einem  Bildstock,  von  welchem  der  Name  sonst 
etwa  herrühren  könnte,  nichts  bekannt  ist.  Ob  damit  da»  Problem  gelöst 
ist,  mag  dahin  gestellt  bleiben.  Aber  es  sei  darauf  aufmerksam  gemacht, 
dass  von  hier  aus  die  Grenz  - Beschreibung  des  Forstes  (wenn  man  die 

Dagobertscheu  Mondzeichen  weglässt):  per  firstum  usque  ad  Rhenum. 

inde  per  medium  Rhenum  usque  in  lacum  mit  der  der  Thurgau- 
Rheiugaucr  Grenze  von  890  übereinstimmt:  „de  Schwarzuuogka  usque  ad 
Mauen  (Monstein)  in  medium  gurgitem  Rheni  et  inde  ad  lacum  Podumicum*. 


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So  darf  inan  denn  den  Kuss  der  Appenzeller  Alpen  bis  wo  sie  bei  Honstein 
vorspringen,  für  die  östliche  Grenze  des  Arboncr  Forstes  halten,  welche  mit 
der  Thurgau-(Arbon)  Rheinganer  iibereinstimmte  und  den  Namen  des  Arboner 
Forstes  rechtfertigt.  Sein  Umfang  ist  mitliiu  ohne  Bedeutung  für  die  Zu- 
gehörigkeit des  Rheingau  zum  Gross  - Thurgau. 

(Siehe  in  den  Schriften  des  Vereins  für  Geschichte  des  Bodensees  und 
»einer  Umgebung.  Heft  6 und  Ö,  die  Aufsätze  von  Pupihofer,  Meyer  von 
Knonau  und  Mooser  über  die  Grenze  zwischen  dem  Rheingau,  Currätien  und 
Thurgau). 


Grafschaften. 

Schon  bei  Beginn  unserer  Urkundennachrichten  (744)  be- 
stand im  Gross -Thurgau  eiu  nach  Zürich  (Turicum)  genannter 
situs  Zurichgauvia,  ursprünglich  wohl  eine  blosse  Huntare.  Int 
9.  Jahrhundert  erscheint  dann  der  Gross-Thurgau  von  Nord- 
westen nach  Südosten  in  zwei  Tlttilgaugraßchafhn  zerlegt,  eine 
Grafschaft  Thurgau  im  Gebiet  der  Thur,  und  eine  Grafschaft 
Zürichgau  im  Gebiet  des  Züricher  und  Vierwaldstetter  Sees. 
(Siehe  oben  3.  Schwyz.)  Als  geschichtliche  Erinnerung  blieb 
aber  der  Name  Thurgau  dem  ganzen  Umfang  des  alten  Gross- 
gaus, wie  zahlreiche  nach  dem  Tlmrgau  benannte  Orte  erweisen. 

Die  Grenze,  welche  etwa  von  der  Töss  gebildet  wurde, 
wies  der  Grafschaft  Thurgau  die  den  Kapiteln  St.  Gallen, 
Steckborn,  Winterthur,  Frauenfeld,  Wil  entsprechenden  Huntaren 
(also  den  Arbongau,  die  Bischofshori  und  andere  nicht  bekannte) 
zu,  der  Grafschaft  Zürichgau  die  den  Kapiteln  Regensburg, 
Bremgarteu,  Zürich,  Wetzikon,  und  bei  ihrer  späteren  Besiedelung 
Schwyz,  Uri,  Stanz,  Sarnen  entsprechenden  gleichnamigen 
Huntaren.  In  beiden  Grafschaften  waren  demgemäss  regelmässig 
verschiedene  Grafen. 

744  In  pago  Durgaugeuso  in  sito  Zurichgauvia.  Gail.  10,  11;  775 
ebenso  Gail.  77,  Sö. 

S70  In  pago  Durgeuve  vel  ut  nunc  dicitur  Zurichgcnvve.  Gail.  54S 

»93  In  pago  Durgouve  et  in  Zuriehgouve.  Gail.  689.  — 

873  Sub  Adalherto  comite  Durgaugensi.  Gail.  572. 

»75  Adalbertus  comes  in  suo  comitatu.  ijui  dicitur  Durgauge.  Gail.  588 

876  Adalberto  comite  in  Durgouve.  Gail.  595. 

878,  »79  In  comitatu  Turgeuwo.  Gail.  608,  613. 

8»7  Adalberto  comite  in  Durgouwc.  Gail.  617,  618. 


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898  In  pago  Turgoue,  comitatu  Adelperti.  Gail.  716. 

912  In  pago  Tuhrkoueusi,  comitatu  t'odalrici.  Gail.  709.  — 

875  Zurigaugensis  comitatus.  Gail.  586. 

898  In  pago  Thurico,  comitatu  Adalgozzi.  Gail.  716. 

903  Purchart,  marchio  Thnringionuin.  Gail.  726. 

905  In  comitatu  Zurihgouue.  Meng.  760. 

973  In  comitatu  Zurihkevve.  Wirt.  188. 

1040  In  comitatu  t'iurihogouue.  Wirt.  223. 

1050  Eberliardus  cornes  Turegic  provincie.  Schaffli.  3. 

1127  In  pago  Zurichgowa.  Schaffli.  04. 

1282  Zurichgaudia.  Neug.  1028. 

Bia  zum  .lahr  1000  linde  ich  in  der  Galler  Sammlung  ala  südlichste 
Ürtc  verzeichnet: 

in  der  Grafschaft  Thurgau: 

St.  Gallen,  Goasau,  Obcrglatt.  Wattwil,  Oberhelfenscliwil; 

in  der  Grafschaft  Zürichgau  im  Gebiet  des  Züricher  Sees:  Kalten- 
bruum-u,  Utztiach,  Wangen,  Lachen,  Altendurf,  PfSfhkon,  Freyenbach,  Bach. 
Hausen,  Affoltern. 

Neben  diesen  beiden  Theilgaugrafsclmften  ist  weiter  der 
980  als  Hinilareiitjrtifsclutff  genannte  Rlieingau  zu  erwähnen. 

(Meyer  I,  194,  195). 


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Anhang. 


Siebenundvierzigstes  Kapitel. 

Der  Gau  Gurräliert. 

Wie  sich  in  der  Nachbarschaft  der  Alamannen  die  Gau- 
verhältnisse bei  den  Romanen  (Walchen,  Wälschen)  entwickelt 
haben,  möge  hier  einer  vergleichenden  Betrachtung  unterworfen 
werden.  Manche  Analogien  stellen  sich  dabei  heraus,  und  die 
alamannischen  Einrichtungen  sind  geeignet,  an  einigen  Stellen 
Licht  auf  die  dunkeln  romanischen  zu  werfen. 

Nachdem  Drnsus  im  Jahr  15  vor  Chr.  Rätien  und 
Vindelicien  erobert,  wurde  aus  beiden  die  römische  Provinz 
Raetia  gebildet,  die  etwa  um  das  Jahr  300  nach  Chr.  in  zwei 
getheilt  wurde,  in  die  südliche,  alpine  Raetia  prima  und  in  die 
nördliche  Raetia  secunda  der  Ebene,  zwischen  denen  der 
Bodensee  und  der  Saum  der  Alpen  bis  zum  Inn  die  Grenze 
bildete. 

Nachdem  die  Alamannen  im  5.  Jahrhundert  die  Raetia 
seennda  bis  zur  Iller  und  zum  Lech,  die  Raetia  prima,  soweit 
der  Gross-Thurgau  (sammt  dem  Rheingau)  reichte,  besetzt 
hatten,  kamen  beide  Rätien  493  unter  die  Herrschaft  des  Ost- 
gothenkönigs Theodericli,  der  ihnen  die  weitere  Besiedlung  ge- 
stattete, einen  dux  Raetiarum  an  die  Spitze  der  beiden  Provinzen 
stellte,  und  im  Uebrigen  die  römischen  Einrichtungen  und  das 
römische  Recht  bestehen  liess.  So  kamen  die  Rätien  536  an 
die  Franken. 

In  der  Raetia  prima  war  die  Stadt  Cur,  Curia  Raetorum, 
ein  römischer  Stadtbezirk,  civitas,  als  solche  der  Sitz  des 


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römischen  praeses  provinciae  und  auch  wohl  der  gothiselien 
Herrschaft  und  wurde  nach  der  Ausbreitung  des  Christenthums 
seit  dem  4.  Jahrhundert  der  Sitz  eines  Bischofs,  dessen  Spreugel 
südlich  von  dem  alamannischen  Bisthum  Constanz  die  romanische 
Bevölkerung  im  Westen  und  Südwesten  der  Rätia  prima  bis 
zum  Arlberg  und  Meran  umfasste.  Die  weltliche  und  geistliche 
Macht  dieses  Sprengels,  der  Raetia  Curicnsis,  eines  Gaus  und 
eines  Bisthnms,  vereinigte  sich  in  der  Hand  des  Bischofs,  der 
als  weltlicher  Herr  wie  der  römische  Statthalter  präses,  später 
rector,  als  geistlicher  episcopus  hiess.  Er  war  vom  fränkischen 
König  bestätigter  Würdenträger  des  Reichs.  Abgesehn  hiervon 
wurde  die  Doppelwürde  Jahrhunderte  lang  in  dem  Haus  der 
Victoriden,  bedingt  von  der  Bischofswahl,  erblich  und  erinnert 
durch  ihre  Erblichkeit  an  die  Stellung  der  alamannischen 
Gaukönige. 

Wie  der  alamannische  Gau  in  Huntaren  mit  Hunnen  an 
der  Spitze,  so  zerfiel  die  Raetia  Curiensis  in  Schultheissereien 
(scultatia)  mit  Schultheissen  als  Vorstehern  (scultatius,  scultaizus). 

An  den  Malstätten  dieser  Bezirke  versammelten  sich  die 
freien  Grundbesitzer  (boni  homines)  zur  Gerichtsversanmilnng 
(placitum),  in  der  auch  unter  ihrer  Zustimmung  der  Schultheis» 
von  dem  Präses  ernannt  wurde.  Hier  hielt  in  grösseren  Sachen 
der  Präses  oder  sein  Stellvertreter  (judex  publicus)  unter  Zu- 
ziehung des  Schultheissen,  in  kleineren  dieser  selbst  Gericht  ab. 
und  nach  dem  System  der  persönlichen  Rechte  wurde  den 
Romanen  römisches  Recht,  dem  Alamannen  alamannische» 
gewährt.  Hier  treten  allenthalben  die  Analogien  alamannischer 
Rechtszustände  zu  Tage. 

Wie  die  Merowinger  dem  alamannischen  Königthuui,  so 
machte  um  die  Jahre  805  oder  806  Karl  der  Grosse  dem 
Rektorat  der  Bischöfe  ein  Ende,  erklärte  Currätien  zum  Herzog- 
thum (ducatus)  eines  Herzogs  (dux)  und  führte  die  fränkische 
Grafschaftsverfassung  ein.  Er  zerlegte  es  in  zwei  Grafschaften 
(comitatus)  mit  je  einem  Grafen  (comes)  an  der  Spitze:  ge- 
wöhnlich war  der  Herzog  zugleich  einer  dieser  Grafen,  oder 
vereinigte  wohl  auch  beide  Grafschaften  in  seiner  Hand.  Zugleich 
führte  der  Kaiser  das  Schöffengericht,  bestehend  ans  dem  Grafe» 
und  sechs  Schöffen,  ein.  Als  Conrad  I.  917  das  Herzogtum 
Alamannien  wiederherstellte,  vereinigte  er  mit  ihm  das  von 


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Currätien,  so  dass  seitdem  currätische  Herzöge  nicht  mehr  Vor- 
kommen. (Siehe  im  Uebrigen  S.  299). 

Die  Urkunden  dieser  und  der  späteren  Zeit  geben  ein 
deutliches  Bild  von  den  Gau  Verhältnissen  Currätiens. 

Das  Gebiet  hiess  Raetia,  Retia,  Raecia  Curiensis  oder 
Curwalhen,  Curowala  und  trug  die  letztere  Bezeichnung  nach 
der  romanischen  oder  wälschen  Sprache  seiner  Bewohner,  der 
Curwalchen.  Sie  war  in  Unterscheidung  von  den  benachbarten 
Alamannen  zumal  im  Norden  bis  in  das  14.  und  15.  Jahr- 
hundert und  länger  im  Gebrauch.  Aber  schon  im  9.  Jahr- 
hundert drangen  die  Alamannen  zahlreich  in  das  Land  ein: 
das  Gaster  Land  (die  Umgebung  des  rätischen  Wallensee)  war 
schon  damals  ganz  germanisch.  Sonst  finde  ich  folgende  Mit- 
theilungen über  die  Zahl  von  Romanen  und  Alamannen,  die  in 
einzelnen  Urkunden  auftreten.  In  Vorarlberg  kamen  800  bis 
807  1 „ Alamannen  auf  */#  Romanen,  um  817  ungefähr  */4  zu  3jt ; 
von  820—850  nahezu  •/,  zu  2 870 — 890  ungefähr  die  Hälfte. 

Im  Oberrheiuthal  und  im  Sarganser  Land  scheint  die  Ger- 
manisirung  langsamer  vor  sich  gegangen  zu  sein.  Nach 
Grabser  Urkunden  kamen  847  nur  4—5  Alamannen  auf  17  bis 
18  Romanen,  858  3 bis  4 auf  13  bis  14  und  in  Oberrätien  er- 
scheint um  diese  Zeit  die  Bevölkerung  noch  nahezu  uuver- 
mischt  romanisch. 

Das  Land  bildete  einen  Gnu:  Pagus  Raetiae,  pagus  Raetiae 
Curiensis,  pagus  Curiorum  (die  Mehrzahl  mit  Rücksicht  auf 
die  beiden  Grafschaften),  pagus  Curwallense,  pagus  Recia,  quod 
alio  nomine  Curwala  appellatur,  eine  Provinz:  Provinzia  Raetia, 
provincia  Raetiae  Curiensis,  provincia  Curevala;  ein  Herzog- 
thum: Ducatus  Curiensis;  es  wird  auch  missbräuchlich  Graf- 
schaft genannt:  Comitatus  Retia,  comitatus  Curiensis. 

Der  Herzog  hiess  dux  super  Raetiam,  wird  auch  als  Mark- 
graf marchio  bezeichnet,  und,  wenn  Inhaber  beider  Grafschaften, 
als  comes  Retiarum. 

Nachdem  schon  im  8.  Jahrhundert  der  Yinstgau  (Vallis 
Venosta,  das  Unterengadin  und  das  obere  Etschthal  bis  Meran) 
unter  den  Grafen  von  Tirol  gestellt  und  dadurch  von  Currätien 
in  politischer  Beziehung  getrennt  war  (aber  kirchlich  im  Bisthum 
Cur  vereinigt  blieb),  umfasste  Currätien  das  Vorder,  Hinter- 
und Oberrheinthal  (dieses  abwärts  bis  Götzis  bei  Oberried), 


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556 


im  Nord  westen  Scliänis,  den  Wallensee,  das  Seezthal;  die  Thäler 
der  rechten  Nebenflüsse  Albula,  Landquart,  111  und  das  Thal 
des  oberen  Inn  (Oberengadin),  im  Osten  und  Süden  bis  zu  den 
Alpenpässen  des  Arlberg,  der  Bernina,  Maloja,  des  Septimer, 
Splügen,  Bernhardin,  Lukmanier,  also  allenthalben  bis  zur 
Wasserscheide. 

Bemerkenswerth  ist,  dass  das  Gericht  zu  Rankwyl,  ur- 
sprünglich das  Gericht  des  Schultheissenbezirks  Vallis  Drusiana 
(Wallgau,  Vorarlberg,  siehe  unten)  als  kaiserliches  Landgericht 
eine  räumliche  Zuständigkeit  hatte,  welche  nicht  nur  ganz 
Currätien,  sondern  auch  das  nördlich  davon  gelegene  Gebiet 
umfasste,  welches  der  Raetia  prima  durch  die  Einwanderung 
der  Alamannen  entzogen  war.  Denn  in  dem  Diplom  des  Kaiser 
Friedrich  III.  von  1465,  dessen  Inhalt  auch  in  der  Rankwyler 
Landgerichtsordnung  von  1579  wiedergegeben  ist,  heisst  es  in 
lapidaren  Zügen:  „Das  fry  landtgericht  zu  Rankwyl  in  Müsinen 
(einem  Hügel  an  der  Frutz,  der  ursprünglichen  Malstatt),  das  über 
sich  durch  Churwalhen  bis  an  den  Settinann  (Septimer),  gegen 
dem  Etschland  bis  auf  den  Arienberg,  und  auf  der  andern  seyten 
bis  an  den  Walensee  und  das  Reyntal  abe  bis  an  den  Bodin- 
see  mit  sambt  dem  hindern  Bregenzer  Wald,  dem  Tannberg 
(dem  obersten  Lechgebiet)  und  was  in  denselben  Starken  ge- 
legen ist,  geet,  zu  richten  hat.“ 

Die  Schultheissereim,  scultatiae  des  Gaus,  führten  weiter, 
gleichfalls  wie  in  Alamannien,  die  Bezeichnungen  Gau,  pagus, 
centena:  Centena  et  scultatia  Curiensis,  Prättigau,  Wallgau, 
pagus  vallis  Drusianae. 

Dass  in  dem  Gau,  in  welchem  Staat  und  Kirche  sich  in 
derselben  Spitze  vereinigten,  ursprünglich  auch  die  staatlichen 
und  kirchlichen  Bezirke,  scultatiae  und  decauatus,  zusammen- 
fielen, erscheint  wie  selbstverständlich.  Es  waren  ursprünglich 
ihrer  sechs.  Während  aber  jeder  der  Dekanate  in  seinem 
Umfange  blieb,  theilten  sich  zwei  Scultatien  in  vier,  so  dass 
die  Gesammtzahl  acht  geworden  ist.  Alles  ähnlich  wie  in 
Alamannien. 

Die  ohne  Zweifel  aus  ältester  Zeit  des  Bisthums  stammendeu 
Dekanate  ergeben  sich  aus  einer  Einnahmerodel  des  Bisthums 
Cur  aus  dein  13.  Jahrhundert  und  ihr  Umfang  aus  dem  Yer- 
zeiclmiss  der  zugehörigen  Pfarrkirchen  aus  den  Jahren  1320, 


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557 


1330  und  1525;  die  Schultheissereien,  zusammenfallend  mit  den 
jüngeren  bischöflichen  Ministerien  zur  Verwaltung  der  Einkünfte 
(ministro  autem  id  est  sculthaeio),  aus  einer  Einkünfterodel  des 
11.  Jahrhuuderts.  Der  Decanate  bezw.  der  • bischöflichen 
Ministerien,  welche  zugleich  die  staatlichen  Schultheissereien 
waren,  werden  folgende  aufgeführt: 

1.  Decanatus  vallis  Drusianae  (Drususthal). 

Damit  zusammenfallend 

a)  Ministerium  in  pago  vallis  Drusianae,  oder  des  Widich- 
goire,  des  Wallgau,  umfassend  Vorarlberg,  soweit  es  cuirätisch 
ist,  und  Lichtenstein:  es  lag  also  am  rechten  Rhein.  Die  Mal- 
stätte des  Bezirks  war  Vinomna,  Rankwyl.  Schultheissen,  die 
einzigen,  deren  Namen  überhaupt  überliefert  werden,  waren  817 
Folcoin  und  in  demselben  Jahrhundert  Aurelianus  (Gail.  224,  354). 
Aus  dem  Schultheissengericht  Rankwyl  hat  sich,  wie  erwähnt, 
das  grosse  kaiserliche  Landgericht  gleichen  Namens  entwickelt. 

Es  folgen  zwei  Dekanate,  welche  als  durch  den  Langarns 
(Landquart)  „Unter“  und  „Ueber  der  Landquart“  geschieden 
bezeichnet  werden.  Es  ist  aber  nur  der  Ausfluss  der  Landquart 
in  den  Rhein  gemeint,  nicht  deren  Lauf  durch  das  Prättigau, 
welches  dem  oberen  Bezirk  angehört. 

2.  Decanatus  sub  Langaro,  oder  infra  Langarum  (Unter- 
halb der  Landquart). 

Damit  zusammenfallend 

b)  Ministerium  ln  Planis,  Im  Boden,  umfassend  den  Kreis 
Meyenfeld,  Oberrheinthal,  Sarganscr-  und  Gaster-Land  bis 
Schänis.  Es  lag  also  am  linken  Rhein. 

il.  Decanatus  Curiensis,  supra  Langarum  (Oberhalb  der 
Landquart). 

Er  wurde  staatlich  getheilt  und  enthielt 

c)  ein  Ministerium,  dessen  Name  nicht  überliefert  ist, 
dessen  entsprechende  Schultheisserei  aber,  wie  ihr  Name  aus- 
weist, der  Prättigau  (Bretenkowe  1222,  Brettigew  1344, 
Brettengöw  1348)  war.  Auch  Davos  mag  dazu  gehören; 

d)  Ministerium  Curisinum,  dessen  entsprechende  Schult- 
heisserei besonders  als  centena  et  scultatia  Curiensis  bezeichnet 


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ist,  umfassend  die  heutigen  Kreise:  Fünf  Dörfer,  Schantigg, 
Chur,  Rhäziins  und  einen  Theil  der  Kreise  Churwaiden  und  Trins. 

4.  Decanatus  sitpra  Stimm  oder  Ob  dem  (Flimser)  Wald, 
oder  in  Montanis,  Oberland. 

Damit  zusammenfallend 

e)  Ministerium  Tuvcrasca,  umfassend  Grub,  Lugnetz  und 
Dissen  tis  (Vorderrhein). 

5.  Decanatus  super  Curtralde,  oder  Ultra  Curtraldiam. 
oder  Ob  CJturtralden,  oder  supra  sa.rum  vel  lapidem,  ob  dem  Stein. 
eine  von  Motta  Palousa  hinabziehende  dolomitische  Felswand, 
die,  nachdem  bei  Tiefenkasten  der  Oberhalbsteiner  Rhein  (die 
Julia)  sieh  mit  der  Albula  vereinigt,  die  Eingangspforte  zu 
Oberhalbstein  bildet.  Der  Dekanat  wurde  staatlich  getheilt 
und  zerfiel  in  das 

f)  Ministerium  Tumiliasca,  umfassend  Domleschg,  das  den 
Namen  bewahrt  hat,  Heinzenberg,  Schams  und  Hinterrhein,  und 

tj)  Ministerium  Impetinis,  umfassend  das  Albulathal  nnd 
Oberhalbstein. 

6.  Decanatus  Vallis  Engadinae  oder  Thal  Engadin. 

Damit  zusammenfallend 

h)  Ministerium  Endena,  umfassend  das  Oberengadiu. 

Die  von  Karl  dem  Grossen  geschaffenen  zwei  Grafschaft cn 
wurden  wieder  von  der  alten,  inneren  Grenzlinie  des  Gaues,  der 
Mündung  der  Landquart,  geschieden.  Es  geht  dies  hervor  aus 
zwei  Urkunden  des  Kaiser  Heiurich  III.  vom  12.  Juli  1050, 
nach  denen  die  südliche  Grafschaft  des  Grafen  Otto  sich  bis 
zur  Landquart  und  zu  der  durch  Ragaz  messenden  Tamina 
(usque  ad  fluvium  Langarum,  — — usque  ad  Tuminga,  quae 
fluit  per  Regaciem)  erstreckte,  während  die  nördliche  de> 
Grafen  Eberhard  den  Berg  Ugo  und  den  Argafluss  zwischen 
Buchs  und  Grabs  in  sich  schloss  (a  monte  Ugo,  wo?  usque  ad 
fluvium  Arga,  qui  fluit  inter  Bugu  et  Quaravede).  Namen 
haben  die  Grafschaften  nicht  gehabt  oder  sie  sind  doch  aus  den 
Urkunden  nicht  zu  ersehen,  sie  werden  nach  dem  Namen  des 
Grafen  bezeichnet,  hier  z.  B.  comitatus  Ottonis  comitis,  comitatus 
Eberhardi  comitis.  Neuerdings  nennt  man  sie  Ober-  und  Unter 


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rätien.  Zu  letzterem  gehörten  die  Schultheissereien  Vallis 
Drusiana  (Wallgau),  In  Planis,  Prättigau,  zu  ersterem  Scultatia 
Curiensis,  Tuverasca,  Tumiliasca  (Domlesehg),  Impetinis,  Endena 
(Engadin).  Diese  Grafschaft  Oberrätien  wurde,  abgesehen  vom 
Obereugadin,  im  Mittelalter  in  der  Grafschaft  Lags  erhalten, 
deren  Begrenzung  1309  wie  folgt  angegeben  ist:  „von  dem  wasser, 
das  heisset  Laugwar  unz  uf  dem  Sepmen  (Septimer)  ze  St.  Peter 
(Hospiz),  von  dannen  unz  ze  Fürkel  (Bernhardin?),  von  dannen 
nnz  uf  Agren  (Graina-Pass),  von  dannen  uns  zuo  dem  kruize 
uf  Luggenmein  (Lukmanier),  von  dannen  unz  uf  Crispalt,  von 
dannen  unz  uf  Wespeh  (Panixer-Pass),  von  dannen  unz  uffen 
Furkel  (Furkla  auf  der  Sagenser  Alp),  von  dannen  nnz  an 
Wartenstein  (Burg  bei  Pfävers),  von  dannen  unz  hin  wider  in 
die  Langwar,  da  sie  in  den  Bin  gat.“ 

(Nach  P.  C.  Plauta,  Das  alte  Rätien,  Berlin  1872  und  Die  currätischen 
Herrschaften.  Bern  1881  (mit  einigen  Abweichungen).  Ferner  A.  Niischler, 
Die  Gotteshäuser  der  Schweiz.  Erstes  lieft,  Bisthum  Chur,  Zürich  1864.) 


Berichtigungen  und  %usäize. 


Zu  Seite  5 und  32.  Zu  den  in  der  Zeit  der  Römer  am 
Rhein  und  untern  Neckar  sitzenden  Völkern,  welche  sich  noch 
in  der  alamaunischen  Zeit  dort  erhalten  haben  mögen,  gehören 
auch  die  Suebi  Nicretes,  über  welche  S.  254  berichtet  ist. 

Zu  S.  10.  Der  Name  der  juthuugischen  Sueven  wird  als 
Suebi  Tutuncii  in  dem  Völker  verzeichniss  des  Honorius,  als  Suebi 
Jotungi  in  der  Veroneser  Völkertafel  aufgeführt  (S.  30, 31).  Much 
und  Banmann  ziehn  weiter  eine  in  Köln  gefundene  Weihinschrift 
heran:  „Matribus  Suebis  euthungabus“,  aber  dem  letzten  Wort 
fehlt  der  Anfangsbuchstabe.  „Wie  das  Wort  zu  vervollständigen, 
ob  zu  (L)euthungabus,  (T)euthungabus  oder  anders  muss  leider 
dahingestellt  bleiben.“  Ihm  im  Rheinischen  Museum  für  Philologie, 
Neue  Folge  45  S.  649.  — Die  Bemerkung  über  die  Bedeutung 
der  Bur  ist  dahin  zu  berichtigen,  dass  darunter  die  Buri,  Nachbarn 
der  Quaden  zu  verstehn  sind. 

Zu  S.  32.  Unter  den  alamannischcn  Auxiliartruppen  des 
römischen  Staatshandbuches  sind  auch  die  Bucinobantes  geuannt- 

Zu  S.  43.  Die  Wingarteiba  hatte  nur  8 Zenten.  Siehe 
S.  401. 

Zu  S.  60.  Der  alamannischen  Gaue  waren  nicht  29, 
sondern  27. 

Zu  S.  63.  Die  Karenthanische  Mark  wurde  976,  definitiv 
995  oder  1002  als  eignes  Herzogthum  Kärnthcn  von  dem 
Herzogthum  Baiern  abgezweigt.  Schröder,  Deutsche  Rechts- 
geschichte  S.  382. 

Zn  S.  63  unten.  Statt  generalogia  ist  zu  lesen:  genealogia. 

Zu  S.  70.  Die  alte  Westgrenze  des  Klcttgau  war  nicht 
Hauenstein,  sondern  die  Wasserscheide  zwischen  Alb  und  Murg, 
etwa  Laufenburg  gegenüber.  Siehe  S.  455. 


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501 

Zu  S.  77.  Der  Albgau  erstreckte  sich  zur  Zeit  der 
Karolinger  donauabwärts  nicht  bis  gegenüber  von  Günzbnrg, 
sondern  bis  gegenüber  von  dem  höher  gelegenen  Leib.  Siehe  S.  434. 

Zu  S.  78.  Zu  den  burgnndionischen  Sitzen  des  linken 
Main  werden  auch  die  Gebiete  der  späteren  Gaue  Waldsassi, 
Iphigau,  Kochergan  gehören. 

Zu  S.  144.  Im  Jahr  385  brachen  die  Alamannen  in 

Gallien  und  gleichzeitig  in  Rätien  ein.  Ammian  26,  4,  5. 

Zu  S.  157.  Die  Höhendifferenz  zwischen  dem  Neckar  und 
dem  Hochrand  des  Schweinsbergs,  die  von  den  Römern  zu  er- 
steigen war,  betrug  nicht  264,  sondern  164  Meter. 

Zu  S.  192.  In  dem  zweiten  Vers  des  Sidonius  fehlt  das 
Wort  Belgani.  Er  heisst:  Victor Vindelico,  Belgain,  Burgundio 
<iuem  trux. 

Zu  S.  219.  In  die  nördliche  Hällte  der  Franken  fiel  auch 
der  Kochergan. 

Zu  S.  225.  Die  Brüder  Buzelin  und  Lothar  wurden 
durch  die  Unterordnung  unter  das  fränkische  Königthum, 
wie  S.  297  gesagt  ist,  Beamte  und  Heerführer  der  fränkischen 
Könige,  sind  mithin  als  Amtsherzöge  anzusehen. 

Zu  S.  250—255.  Nach  dem  Aufsatz  von  Ehrenbergs:  die 
Ortsnamen  auf  ingen  in  Schwaben  und  insbesondere  Hohen- 
zollem,  sowie  nach  dessen  giitigst  zur  Verfügung  gestellten 
weiteren  thatsächlichen  Mittheilungen,  ergiebt  sich  Folgendes: 

Ein  Strom  von  Ortsnamen  auf  ingen  ergiesst  sich  durch 
Deutschland  und  die  deutsche  Schweiz,  bis  er  in  dem  Stamm- 
gebiet der  Alamannen  und  Baicrn  seine  grösste  Stärke  erreicht. 
I)a  sie  von  Norden  nach  Süden  eingewandert,  so  ist  anzu- 
nehmen, dass  der  Strom  die  Richtung  von  Norden  nach  Süden 
genommen.  Er  umfasst  etwa  2350  Namen,  zu  welchen  auch 
die  verwandten  auf  ing  und  ungen  eingerechnet  sind,  und 
welche  sich  so  gruppiren: 

l.  Norddeutschland,  mit  Ausnahme  von  Holstein  und  dem 
Königreich  Sachsen  links  der  Elbe,  etwa  245  (davon  in  Holstein 
etwa  3 auf  ing  und  in  der  Provinz  Sachsen  18  auf  ungen); 
und  zwar  Holstein  9,  Reg.-Bez.  Stade  11  (davon  Kr.  Roten- 
burg 5),  RB.  Lüneburg  58  (davon  Kr.  Fallingbostel  22), 
RB.  Magdeburg  31  (davon  Kr.  Salzwedel  3,  Osterburg  3, 
Stendal  5,  Gardelegen  9,  Neulialdensleben  4),  Braunschweig  18 

Cr»m«r,  Geschichte  der  Alamannen.  36 


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(davon  Kr.  Helmstedt  7),  RB.  Hildeslieiut  12,  RB.  Hannover  15 
(davon  Kr.  Hannover  6),  RB.  Merseburg  18  (meist  bei  Sanger- 
liausen,  Querfurt,  Eckartsberga),  RB.  Erfurt  18  (meist  bei 
Langensalza,  Worbis,  besondere  Nord  hausen),  Königreich 
Sachsen  3,  Kurhessen  und  Waldeck  21  (alle  hierher  oder  auch 
zu  2 ?),  RB.  Osnabrück  1 1 (davon  Kr.  Hingen  5,  Osnabrück  4), 
RB.  Arnsberg  20  (davon  Kr.  Soest  8).  Im  Uebrigeu  in  Ost- 
elbien  etwa  40,  davon  in  Anhalt  4,  in  den  RB.  Potsdam  5. 
Frankfurt  a.  0.  1,  Stettin  4,  Köslin  2,  Königsberg  6,  Gum- 
binnen 3. 

2.  Alamannisches  Franken  (im  Norden  der  Stammesgrenze 
von  496)  rechts  des  Rheins  etwa  231,  und  zwar  Thüringen  2s 
(alle  hierher  oder  auch  zu  1 ?),  davon  Meiningen  9,  Weimar  7 
(darunter  7 auf  ungen  eingeschlossen),  Rheinlande  12,  RB.  Wies- 
baden 22  (davon  im  Ober-  und  Unterwesterwaldkreis  13),  Ober- 
hessen 9,  Starkenburg  3,  Unterfranken  28  (darunter  9 auf 
ungen  eingesehlossen),  Mittelfranken  23  (davon  um  Dinkels- 
bühl 10),  Württemberg  64,  Baden  42.  Ferner  links  des  Rheins 
(ohne  Eisass)  etwa  496  (davon  in  Lothringen  und  Luxem- 
burg 422). 

3.  Alamannien  (im  Süden  der  Stamm esgrenze  von  496)  etwa 
1082,  und  zwar  Württemberg  408,  Baden  217,  Hohenzollern  3s. 
Baicrn  (Schwaben -Neuburg)  etwa  140,  Eisass  29,  deutsche 
Schweiz  etwa  250. 

4.  Bairisches  Stammgebiet  (Oberpfalz,  Nieder-,  Oberbaiern) 
250  und  mehr  auf  ing.  — 

Von  den  2350  Orten  auf  ingen  sind  diese  250  zu  4 als 
eigenthümlich  dem  bairischen  Stamm  zuzuschreiben  und  scheiden 
daher  aus.  Es  bleiben  2100  auf  ihren  Ursprung  zu  untersuchen. 

Daboi  kommen  in  Bezug  auf  mehr  als  1800  Namen 
Alamannen  und  chattische  Franken  in  Betracht,  Auf  die 
Heimath  der  Alamannen,  welche  sie  ausschliesslich  besiedelten 
und  auch  seit  dem  Jahr  496  — abgesehen  von  sporadischen 
Einsprengungen  der  Franken  — inne  behielten,  also  auf  das 
Gebiet  südlich  der  Stannnesgrenze,  fallen  davon  1082,  auf  die 
Heimath  der  clmttischen  Franken  (Kurhessen  und  Waldeck) 
nur  21.  Legt  man  das  Vcrhältniss  dieser  Ziffern  als  charakteristisch 
für  jeden  der  beiden  Stämme  zu  Grunde,  so  wird  man  die  231 
und  496  Namen  auf  ingen  in  den  ihnen  gemeinsamen  Gebietet, 


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sowohl  den  alamannischen  rechts  vom  Rhein,  in  welche  die 
Franken  massenhaft  eindrangen,  als  auch  den  Gebieten  links 
vom  Rhein,  welche  beide  Stämme  im  Gemenge  besiedelten 
(S.  222,  188),  zum  weitaus  überwiegenden  Antheil  den  Ala- 
mauneu,  und  nur  zu  einem  geringfügigen  den  chattischen  Franken 
zuschreiben  dürfen.  Zu  Gunsten  der  letzteren  ändert  sich  aber 
einigermaassen  das  Verhältniss,  so  bald  man  berücksichtigt, 
dass  die  Mattiaker  eingewanderte  Chatten  waren  (S.  5,  73), 
so  dass  die  21  ingen  des  R.  B.  Wiesbaden,  oder  gar  die  34 
der  Sieg,  Nister,  Dill,  Lahn  (S.  251)  ihrer  Herkunft  nach  auf 
die  Chatten  zurückzuführen  sein  werden,  — zugleich  eine 
überraschende  Bestätigung  der  Nachricht  des  Tacitus. 

Dafür,  dass  die  Orte  aus  der  Ansiedlungszeit  herrühren, 
geben  Beispiele  aus  dem  alamannischen  und  fränkischen  Württem- 
berg und  dem  alamannischen  Hohenzolleru  weitere  Anhalts- 
punkte. In  beiden  Ländern  sind  die  ingen  in  jeder  Art  grösserer 
Wohuplätze  hervorragend.  Auf  1807  Dörfer  fallen  382  auf 
ingen;  auf  149  Städte  37;  auf  2035  selbstständige  Gemeinden 
428;  auf  1628  Pfarrcrte  380;  die  auf  ingen  haben  viellach 
ausnehineud  grosse  Sprengel  mit  4 oder  noch  mehr  Filialen. 
Von  den  18  ältesten  Kirchen  der  Jahre  741-794  trägt  die 
Hälfte  die  Endung  ingen.  Von  den  300  sogen,  alamaunischen 
Friedhöfen  liegt  etwa  die  Hälfte  bei  Orten  auf  ingen.  Die 
meisten  Orte  auf  ingen  findet  man  in  weiten  Thälern,  Ebenen, 
Hochflächen  und  bequemem  Hügelland.  Wie  die  kirchlichen 
Sprengel,  so  scheinen  auch  die  Markungen  von  grösserem 
Umfang  zu  sein,  wenigstens  kommen  in  Hohenzolleru  auf  Städte 
und  Dörfer  durchschnittlich  881  ha;  auf  die  auf  ingen  dagegen 
1270  ha;  von  den  absolut  grössesten  12  Markungen  von  1827 
bis  3013  ha  fallen  9 auf  ingen,  und  von  den  grössesten  je  5 der 
4 Oberämter  16  auf  ingen.  „Auf  Grund  dieser  Thatsaehen,  der 
Häufigkeit  der  ingen  an  sich,  ihrer  unverhältnissmässig  grossen 
Zahl  unter  den  Dörfern,  Städten  und  überhaupt  unter  den  selbst- 
ständigen Gemeinden,  ihrer  grossen  Markungen  und  ihrer  vortheil- 
haften  örtlichen  Lage  findet  von  Ehreuberg,  dass  sie  die  wichtigsten 
unserer  Ansiedlungen,  insbesondere  unserer  Dorfansicdlungen, 
sind“.  Die  ingen  finden  sich,  wo  Land  gut  und  reichlich,  zu 
Gewannflnren  geeignet  war;  man  konnte  sie  nur  gründen,  als 
mau  die  Wahl  hatte,  das  ist  zur  Zeit  der  Einwanderung,  und 

36* 


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564 


diese  bevorzugten  Orte  haben  ihre  Lebensfähigkeit  bewahrt; 
unter  den  abgegangenen  Orten  sind  die  auf  ingen  die  weuigst 
zahlreichen.  Andererseits  findet  unter  Weilern,  Höfen,  Einzel- 
häusern, die  einer  späteren  Zeit  angehören  werden  (S.  292), 
sich  die  geringste  Zahl  von  ingen,  es  kommen  in  Württemberg 
und  Hohenzollern  auf  8142  Wohnplätze  dieser  Art  nur  92 
auf  ingen. 

Wie  die  250  Orte  auf  ing  für  die  Baiern,  so  sind  die  1800 
auf  ingen  in  den  Gebieten  zu  3 und  2 vorwiegend  charakteristisch 
für  die  Alamannen. 

AVie  sind  aber  die  245  Orte  auf  ingen  in  Norddeutschland 
links  der  Elbe  aufzufassen,  die  räumlich  mit  den  alamannischen 
im  Zusammenhang  stehen?  Orte  auf  ingen,  die  weniger  in 
compacten  Massen,  als  in  aufgelösten  Gruppen  bestehen?  Da 
möchte  ich  nur  ein  Problem  hinstellen.  Ist  hier,  mag  man 
fragen,  das  Gebiet  zn  suchen,  von  dem  die  Alamannen  oder 
doch  ein  Theil  von  ihnen,  wie  die  Mattiaker  von  den  Chatten, 
ausgegangeu?  Sind  hier  die  AVohnsitze  ihnen  verwandter 
Stämme  zu  vermuthen? 

Dagegen  sind  die  weiteren  40  Orte  auf  ingen,  die  zerstreut 
rechts  von  der  Elbe  liegen,  „wohl  alle  Entlehnungen  aus  dem 
AVesten,  in  Folge  von  Colouisationen,  die  von  dort  ausgegangen 
sind,  und  neuere  Schöpfungen.“ 

Zu  S.  273.  Der  Aufsatz  Baumanns  Schwaben  und  Ala- 
mannen liegt  in  zwei  Fassungen  vor,  die  ältere  in  den 
Forschungen  zur  deutschen  Geschichte,  die  neuere  in  den 
Forschungen  zur  schwäbischen  Geschichte.  Bei  Besprechung 
der  Doppelnamen  Sueben  und  Alamannen  heisst  es  nicht,  die 
Seumomen  hätten  auf  der  Wanderung  diesen  ihren  Namen 
fallen  lassen  (wie  ich  S.  274  irrig  dargestellt  habe),  sondern  sie 
selbst  hätten  sich  ausschliesslich  Sueben  genannt,  sowohl  im 
Mutterlande,  wie  später  am  Rhein  und  an  der  Donau.  Auf  die 
Deutung  des  Namens  der  Semuonen  als  „Fessler“  ist  Baumaun 
später  nicht  mehr  zurückgekommen.  Hiernach  modificiren  sich 
somit  meine  Bemerkungen  S.  274.  Dagegen  bleibt  Baumann 
bei  der  Erklärung  des  Namens  der  Alamannen  als  Leute  des 
Götterhains,  der  alah.  „So,“  heisst  es,  „nannten  die  Her- 
munduren ihre  von  Osten  herandrängenden  Feinde.  Ihnen  als 
langjährigen,  unmittelbaren  Nachbarn  der  Semnonen,  von  denen 


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565 


sie  ja  nur  die  Elbe  geschieden  hatte,  ihnen  als  Sueben  Wal' 
aber  der  Hain  des  suebischen  Nationalgottes  Ziu  im  Semnonen- 
lande  der  Götterhain  xit  4$o yj(»,  sie  konnten  darum  den  nobilissimi 
et  vetustissimi  Sueborum,  als  deren  Name  durch  ihren  Auszug 
aus  dem  alten  Ziulande  hinfällig  geworden,  keinen  be- 
zeichnenderen Namen  schöpfen,  als  den  der  Alamanna,  der 
Leute  von  Zins  alah,  wenn  sie  im  neuen  Namen  auch  die 
Herkunft  ihrer  Feinde  ausdrücken  wollten.“  Es  war  jedoch 
kein  Name,  weder  der  Semnonen,  noch  der  Sueben,  hinfällig 
geworden,  und  es  war  somit  kein  Anlass,  weder  für  die  Her- 
munduren, ihnen  einen  neuen  Namen  zu  schöpfen,  noch  für  die 
Römer,  den  neuen  Namen  zu  adoptiren.  — In  den  Forschungen 
zur  schwäbischen  Geschichte  515  citirt  Baumann  eine  Stelle  bei 
Suidas  (Küster  : 1 , 294),  nach  der  die  Rheinfranken  das  Land 
der  Alamannen  eingenommen  haben:  tr(v  -jr(v  t<üv  “AXfkvröv,  oG; 
xott  ir(wova;  xai.vjT.v.  Zeuss  317  und  Baumann  halten  die 
Letzteren  für  die  Semnonen,  Much  dagegen  für  Senonen.  Wären 
es  die  Semnonen,  so  würde  die  Nachricht,  die  doch  jünger  ist, 
als  das  Jahr  496,  der  Baumann'schen  Theorie  von  dem  Ver- 
schwinden des  Semnonennamens  widersprechen. 

Zu  S.  285.  In  den  Forschungen  zur  schwäbischen  Ge- 
schichte S.  535  erklärt  Baumann  die  Scotingi  allerdings  für 
Alamannen,  giebt  aber  im  Uebrigen  die  Ableitung  ihres  Namens 
von  dem  der  Juthungi  auf.  Aus  dem  Wortlaut  der  Stelle  ist 
nicht  zu  ersehen,  ob  damit  auch  die  Hypothese  von  der  Aus- 
wanderung der  Juthnngen  nach  Gallien  und  ihrer  dortigen,  fast 
völligen  Vernichtung  durch  Aetius  in  Wegfall  kommen  soll. 

Zu  S.  298.  Erst  nachdem  das  alamannische  Herzogthum 
um  730  aufgehoben,  wurde  das  Herzogtlmm  Currätien  806  oder 
vorher  von  Karl  dem  Grossen  geschallen  und  von  Konrad  I. 
bei  Wiederherstellung  des  alamannisclien  Herzogthums  im  Jahr 
917  mit  diesem  vereinigt,  so  dass  seitdem  besondere  currfttische 
Herzoge  nicht  mehr  Vorkommen.  Siehe  S.  554. 

Zu  S.  331.  Der  über  decimationis  datirt  nicht  von  1274, 
sondern  von  1275. 

Zu  S.  340.  Das  Kapitel  Bremgarten  liegt  nicht  links, 
sondern  rechts  der  Reuss.  Das  Kapitel  Mellingen  fällt  hier  weg. 


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%ur  modernen  ßileratur. 


Alpenpässe,  die  schweizerischen  1892. 

Arnold,  Siedlungen  und  Wanderungen  der  deutsche»  Stämme  1875. 

— Deutsche  l'rzeit  1879. 

— Fränkische  Zeit  1881. 

Bacmeister,  Alemannische  Wanderungen  1807. 

Bär,  Diplomatische  Geschichte  der  Abtei  Eberbnch  im  Kheingntl,  2 Ilde. 
1855—58. 

— Natürliche  Beschaffenheit  und  Cultur  des  Rheinguus  in  mittleren 
Zeiten,  in  Beiträge  zur  Mainzer  Geschichte  2.  1790. 

Baumann,  Der  Alpgau,  seine  Grafen  und  freien  Bauern. 

— Die  a1nmauni8ehe  Niederlassung  in  Raetia  secunda;  beide  in  Zeit- 
schrift des  historischen  Vereins  für  Schwaben  und  Neuburg,  2.  1875. 

— Schwaben  und  Alamannen,  ihre  Herkunft  und  Identität,  in  Forschungen 
zur  deutschen  Geschichte  10,  1870  S.  215 — 277. 

— Die  Gaugrafschaften  im  Wirtembergischen  Schwaben  1879. 

— Die  Geschichte  des  Allgäus,  2 Bde.  1882. 

— Forschungen  zur  Schwäbischen  Geschichte  1899  (auch  die  theils  ura- 
gearbeiteten  ersten  drei  Schriften  enthaltend). 

Becker,  Die  Itheinübergänge  der  Römer  bei  Mainz  in  Annalen  des  Vereins 
für  nasaauische  Altcrthuinskunde  und  Geschichtsforschung  10,  1870 
S.  157—222. 

Bernhardt,  Geschichte  Roms  von  Valerien  bis  Diocletians  Tode  1867. 

Birlinyer,  Die  alamannischc  Sprache  rechts  des  Rheins  1868. 

— Das  rechtsrheinische  Alamannien,  Grenzen,  Sprache  und  Eigenart 
1890,  in  Kircbhoffs  Forschungen  zur  deutschen  Volkskunde  4,  1890. 

— Alemannia  Zeitschrift  für  Sprache,  Literatur  und  Volkskunde  des 
Elsasses  und  Oberrheins  19  Bde.  1873 — 92. 

Bodmann,  Rheingauische  Alterthiimer  2 Bde.  1819. 

Bohnenbcrycr,  Die  Ortsnamen  des  schwäbischen  Albgcbiets  nach  ihrer  Be 
deutung  für  die  Besiedlungsgeschichte,  in  Württembergische  Viertel- 
jahrshefte 9,  1880  S.  15. 

— Ucber  Sprachgrenzen  und  deren  l'rsachcn,  insbesondere  in  Württem- 
berg, daselbst  Neue  Folge  0,  1897  S.  161. 

Bomhak,  Geschichte  der  Franken  unter  den  Merovingern  1863. 


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567 


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lichkeit,  im  Jahresbericht  der  neuen  Realschule  zu  Strassbtirg  1392. 

— Eine  Entgegnung,  in  Westdeutsche  Zeitschrift  0,  1887  8.  242. 

Billiger,  Diöcesan-  und  Gaugrenzen  Norddeutschlands  1,  1875. 

Brunner,  Deutsche  Ueclitsgcschiclile  2 Ilde.  1887—92. 

— Die  Quellen  des  sog.  Rheingauer  Landrechts,  in  Zeitschrift  der 
Savignystiftuug  3,  87. 

Bucl',  Oberdeutsches  Namensbuch  1880. 

— Erichgau  und  Erringen,  in  Wiirttembergische  Vierteljahrshefte  C. 
1878  S.  100. 

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grafschaft im  Sissgan,  in  Beiträge  zur  vaterländischen  Geschichte, 
berattsgegeben  vom  historischen  Verein  zu  Hasel  11. 

Crnmer,  Die  Grafschaft  Hohenzollern  1873. 

Dahn,  Die  Könige  der  Germanen  8 Udo.  1801—99. 

— Die  l'rgescbichte  der  germanischen  und  romanischen  Völker  2 Bde. 
1880—81. 

— Die  Alamannenschlacht  bei  Strassburg  (357)  1880. 

Jluinlliker,  Geschichte  der  Schweiz  1.  1884. 

I htfii,  Die  Römerstrassen  in  den  Alpen,  im  Jahrbuch  des  Schweizer  Alpen- 
dtlbs  10,  1885  80  S.  324. 

Humberk,  Geographia  pagormn  cisrhenanorum  1818. 

Dankrr,  Zum  Alamannenkriege  Carneallns  und  der  angeblichen  Alamannen 
scblacht  des  Claudius  Gothieus  am  Gardasee,  in  Annalen  des  Vereins 
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rov  F/irenherg,  Die  Ortsnamen  auf  ingen  in  Schwaben  und  insbesondere 
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Euler,  Zur  Geschichte  des  Gerichts  zum  Bornheimcr  Berg,  in  Mittheiluugen 
des  Vereins  fiir  die  Geschichte  und  Alterthumsknnde  in  Frankfurt 
n.  M.  1,  281. 

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Freiburger,  Diücesanarchiv  1,  4,  6 seit  1801. 

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Fritz,  Das  Territorium  des  Bistbums  Strassburg  mul  seine  Geschichte  1884. 

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des  Römischen  Westreichs  1844. 

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Hurte,  Die  Kriegsereignisse  des  Jahres  1093  in  der  Umgegend  von  Heilbronn, 
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Hecker,  Die  Schlacht  bei  Strassburg,  in  Jahrbücher  für  classisehe  Philologie 
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— Geschichte  der  Frobnhüfe  in  Deutschland  1862 — 63. 

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Meyer  Johannen,  Geschichte  des  schweizerischen  Bundesrechts  1. 

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Currätien  und  Thurgau,  Aufsätze  in  don  Schritten  des  Vereins  für 
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Mialloteski,  Die  Verfassung  der  Land.ilpen  und  Forstwirthschaft  in  der 
deutschen  Schweiz  vom  13.  Jahrhundert  ab  1878. 

Miller,  Peutingersche  Tafel  1888. 

Monansen,  Die  Schweiz  in  römischer  Zeit,  in  Mittheilungen  der  antiquarische!1 
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Xeugart , Episcopatus  Uonsfanciensis  1852. 

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Ohlenxehliujer,  Alta  Ripa,  in  Westdeutsche  Zeitschrift  11  S.  18. 

wh  Palimann,  Nachtrag  zur  Geschichte  der  Baiem  1815. 

Planta,  Das  alte  Rätien  1872. 

— Geschichte  von  GranbUnden  1872. 

— Die  curTätischen  Herrschaften  1881. 

Pnpilai/er,  siehe  Meyer  von  Knonau. 

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Richter,  Das  weströmische  Reich  1865. 

Riehtcr-Dore,  Lehrbuch  des  katholischen  nnd  protestantischen  Kireheu- 
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Riese,  Das  rheinische  Germanien  in  der  antiken  Literatur  1802. 

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Rauer,  Das  Weisthum  des  Rheingaus,  in  Annalen  für  nassauische  Alter- 
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Scharff,  Die  Grafschaft  Bornheimerherg,  in  Archiv  für  Frankfurts  Geschichte 
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Schutzmann,  Die  Alpenwirthschaft  der  Landschaft  Oberhnsli,  in  Schweizerische 
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Schricker,  Aeltcste  Gtenzon  und  Gaue  im  Eisass,  in  Strassburger  Studien  2, 
1884  S.  305. 

Rchrinler,  Lehrbuch  der  deutschen  Rechtsgeschichte  1889. 

— In  der  Zeitschrift  der  Savigystiftung  für  Rechtsgeschichte: 

— Die  Franken  und  ihr  Hecht  2,  S.  1. 

— Das  Gesetzsprecheramt  und  Priesterthum  bei  den  Germanen  4,  S.  215. 

— Zur  Kunde  der  deutschen  Volksreclile  7,  S.  17. 

— Besprechung  von  Lamprechts  deutsches  Wirtschaftsleben,  3.  Ab- 
schnitt 11  S.  244. 

wh  Schubert,  Die  Unterwerfung  der  Alamuuneu  unter  die  Franken  1884. 


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Sch  ult  :e,  Walther,  Die  Gaugrafachaften  des  alamanniscben  Badens  1896. 

— Die  fränkischen  Gaue  Badens  18'Jfi. 

— Die  fränkischen  Gaugrafschaften  Rheinhaierns,  Kheinhessens,  Starken- 
hurgs  und  des  Königreichs  Württembergs  1897. 

Sahnt,  Die  fränkische  Reichs-  und  Gerichtsverfassung  t,  1871. 

Stalin,  (J.  F.  Wirtembergische  Geschichte  1,  1842. 

Stalin,  P.  F.  Geschichte  Württembergs  1.  1882. 

Strichele,  Das  Bisthum  Augsburg. 

Thudichum,  Geschichte  des  freien  Gerichts  Kaichen  in  der  Wetterau  1858. 

— Die  Gau-  und  Markverfassung  in  Deutschland  1860. 

— Rechtsgeschichte  der  Wetterau,  ein  Band  1857  und  zwei  Hefte 
1874,  1885. 

Tumhiilt,  Die  Grafschaft  des  Alpgaus,  in  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des 
Oberrheins  46,  1892. 

t’hland,  Schriften  zur  Geschichte  der  Dichtung  und  Sage  8,  S.  282. 

Vogel,  Historische  Topographie  des  Herzogthums  Nassau  1836. 

Watte,  Deutsche  Verfassungsgeschichte  8 Bde.  1875 — 1878. 

Weller,  Die  Ansiedlungsgeschichte  des  wiirttembcrgiaehen  Frankens  rechts 
vom  Neckar,  in  wUrttembergiscke  Viertejjahrshofte  für  Landes- 
geschickte,  Neue  Folge  3,  1894. 

— Die  Besiedlung  des  Alamannenlandes,  das.  7,  1898. 

von  Wietersheim,  Geschichte  der  Völkerwanderung  6 Ilde.  1859 — 64. 

Wigand,  Die  Alamanuenscblaeht  vor  Strassburg  357,  in  Beiträge  zur  Landev 
und  Volkskunde  von  Elsass-Luthringeu  3,  1887. 

— Dazu  eine  Entgegnung,  in  Westdeutsche  Zeitschrift  ts.ss  S.  6:1. 

— Dazu  eine  Anzeige,  iu  Zeitschrift  des  Oberrheins,  Neue  Felge  8 
S.  134. 

Witte,  Uober  das  deutsche  Sprachgebiet  in  Lothringen,  in  Forschungen  zur 
deutschen  Landes-  und  Völkerkunde  10,  Heft  4,  1894. 

Württemberg,  das  Königreich,  vom  statistisch -topographischen  lliireao 
3 Bde.  1884—86. 

Wiirttombergische  Oberamtsbeschreibungon. 

Württembergiscbe  Vierteljahrshefte  für  Landcsgeschichtc  seit  1878. 

Zangemcisler,  Zur  Geschichte  der  Neckarlündor  in  Römischer  Zeit,  in  Heidel- 
berger Jahrbücher  3,  1893  S.  4. 

Zeus»,  Die  Deutschen  und  ihre  Nuchbarstiimino  1837. 

Von  den  während  des  Drucks  erschienenen  Arbeiten  Wellet» 

(Alaiuanucnland),  Baumanns  ^Forschungen),  von  Ehrenbergs  , .Ortsname» 

haben  die  beiden  letzten  iu  den  Zusätzen  noch  verwendet  werden  können 


I 


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Abkürzungen  für  Arkundenbücher. 


Codex  Laureshamensis  3 HUe.  176«  (Auszug  in  den  Wiirtembergischeu  Ge- 
schichtsquellen  2).  Gaur. 

Dimge,  Hegest»  Badensia  1336.  Had 

Kutmlrr,  Wirtembergisebes  l'rkundenbuch  1649 — 89.  Wirt. 

Monument. i Boica.  Mon.  Hniru. 

Xcuijiirl,  Codex  diplomaticns  Alemauniae  et  Burgiindiae  Transjuranne  inter 
tines  dioeeesis  Constanciensis  2 Ilde.  1791 — 95.  Xeug. 

Smier,  Xassauixchex  l'rkundenbuch  3 Bde.  18«5 — 87.  Xass. 

SeliuHnal,  Corpus  tradit'onum  Fuldenaium  1724.  Kuld. 

Sehöjifliti,  Alsatia  diploniatica  2 Bde.  1872—75.  Als.  dipl. 

Urkunden  zur  Gesebichte  des  Klosters  Allerbeiligen  in  SchafThausan,  in  den 
(Quellen  zur  Schweizer  Geschichte  III.  Schaffh. 

HVirtmuim,  l'rkundenbuch  der  Abtei  St.  Gallen  3 Bde.  1863 — 82.  Gail, 
und  Andere. 


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Sachregister. 

Ansiedlung  Erst«  Periode  (3.  und  4.  Jahrhundert)  im  Stammlnnd : 
Lahn-  und  Hainthal  21,  Rhoin-  und  olieros  Donauthal  22;  Bild  der  Besitz- 
ergreifung 36 — 43;  Eisass,  die  Pfalz,  Hhoinhessen  36,  277— 278 ; am  Po  167; 
Keine  Städte  86,  277 — 278.  Zweite  Periodo  (6.  Jahrhundert)  in  Neu- 

alamanuieu:  Grundsätze  der  Ansiedlung  175 — 180;  Westrheinisches  Gallien 
181  — 189;  Donangebiet  189 — 201;  Doubsgebiet  und  Vorderschweiz  203 — 811; 
ganz  Alainannicn  des  5.  Jahrhunderts  211 — 215;  Königszins  220 — 230. 
Hedem  291.  Dritte  Periode  seit  496  südlich  der  Stammesgrenze:  Der 
Ausbau  des  Landes  289 — 296. 

Gaue  des  4.  Jahrhunderts  68 — 79;  des  5.  und  0.  Jahrhunderts  213; 
Gaue,  Huntaren  und  Zehntschaften  des  8.  und  späterer  Jahrhunderte 
343 — 552;  Gaue  und  Archidiakonate  338 — 341;  Huntaren  und  Kapitel 
332 — 338;  Continuität  der  Gaue  und  Huntaren  308—311;  Gangeographisches 
312—326. 

Heer,  Germanisches:  34.  35;  lleergane  30,  60 — 67.  Alamatmisehes : 
44 — 60;  Kriege,  Raubzilge  52 — 54;  römischo  Hiilfstrnppen  32,  560;  Keil- 
ordnung bei  Strassburg  112,  113,  in  Gallien  145 — 148,  bei  Capua  237; 
Schlachten:  in  Gallien  bei  Argentaria  Horburg  an  derlll)  17»,  Argentoratum 
(Strassburg'  102 — 125,  279 — 2S1,  Brocomagus  (Brumath)  90,  Catalauni 
(Catalaunische  Felder)  181,  circa  Lingonas  (Langres)  20,  am  Oberrhein 
(Jahr  490)  217—218,  wo?  (Jahr  601—606)  219.  Scarponna  (Cbarpeigne  an 
der  Mosel)  146,  Tnlbiacnm  (Zülpich)  217;  atn  rechten  Rhein  bei  Solicoinnum 
(Solicininm,  auf  dem  Schweinsberg  bei  Heilbronu)  154 — 161;  in  Italien  am 
lacus  Benacns  (Gardasee)  16,  bei  Placentia,  am  Metaurus,  bei  Ticiuum  17; 
in  Pannonien  am  lacus  Pelsodis  (Plattonsee)  195,  196,  am  Fluss  Bolia  196. 

Kirche,  christliche.  Verfassung  327 — 330;  Bisthum  Oonstanz  330 — 341. 

Mundarten,  alamannische  und  schwäbische  256 — 259,  395,  467 — 469; 
Grenzen:  schwäbisch  - fränkische  269  — 271,  alemannisch - schwäbische 

271—272.  487. 

Ortsenduugen,  alamannische  ingen  249 — 255,  561 — 561,  fränkische 
heim  249,  252 — 256. 

Religion,  alamannische  51,  93,  225,  235. 

Römische  Orte  und  Werke.  Am  linken  Rhein;  vernichtete  und  wieder 
aufgebaute  Städte  86,  130,  Mediomatrici  Metz),  123,  Trcs  Tabernac  (Elsass- 
Zaberu)  100 — 101,  105,  106,  109,  123,  Brocomagus  (Brumath  90,  Argentaria 


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573 


(Horburg  an  der  111)  170,  Uallicum  valluro  98,  Lugdunum  (Lyon)  99;  Aus- 
fallsthore  gegen  die  Alamannen  Mogontiacum  (Mainz)  mit  dem  Brückenkopf 
Casteilum  Mattiacorum  (Castel),  Argentoratum  (Strassburg),  Augusta  Rau- 
racorum  (Basel-Augst),  Viudonissa  (Windisch),  Constantia  (Constanz)  81; 
Castelle,  ThUrme,  Dämme,  Schanzen  an  der  Rheinlinie  21,  131,  162,  Tribunci, 
Concordia  104,  Robnr  163;  am  rechteu  Rhein  Munimentum  Trajanum  (Riissels- 
heim  ?)  127,  128,  Mons  Pirus  (Heiligenberg  bei  Heidelberg)  162,  Alta  ltipa 
Altripp)  150 — 152,  Civitas  Ulpia  Sueborum  Nieretum  254,  Lopodunum 
Ladenburg)  150,  151,  162,  Sanctio  (Säckingen)  141;  Castelle.  Städte  im 
Decumatenlaud  14,  19,  21,  Solicommmi  (Soliciniuin  bei  Heilbronn)  154,  156, 
160,  161,  Limes  obergermanischer  und  rätischer  4,  deren  Wiederherstellung 
19,  20,  Palas  oder  Capellatium  24,  134;  in  Rätien  Transitus  Guntiensis 
(Giinzburg)  19,  Augsburg  5,  81,  andere  Orte  im  Donangebiet  und  der 
Schweiz  190,  191,  203,  Curia  (Chur)  553;  Grenzorte  Ad  fincs  (Pfyn),  Tas- 
getium  (Eschenz)  4,  460  u.  s.  w. 

Politische  Geschichte  des  3.  Jahrhnuderts  und  der  ersten  Hälfte  des 
vierten  11 — 22,  der  zweiten  Hälfte  des  vierten  23—26,  80 — 174,  dos 
5.  Jahrhunderts  181 — 206,  217  — 219,  des  6.  Jahrhunderts  219  — 226, 
230 — 238 ; die  frünkisch-alamannische  Staminesgreuze  (des  Jahres  496)  222, 
204—268. 

Stände.  Adalinge,  Gemeinfreie,  Hörige  50,  51. 

Statistik  84. 

Verfassung.  Germanische  Gauverfassuug  31,  35,  60—67,  Heergaue> 
Laudgaue  35.  Alamannischc  Gauverfassung  im  Stammland  44—55,  in  Neu- 
alamannicn  213;  Römische  Bündnissverträge  65—59;  kein  Stammkönigthum 
215,  230 — 240;  Grafscliaftsvorfassung  des  alamanuisehcn  Gesetzbuchs  (Phnat) 
296 — 302,  der  Karolinger  303 — 308. 


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Stämmeregister. 

Alamannen.  Ursprung  uml  Name  8-11,  273—277,  504,  505.  Orts- 
namen 203,  208,  211. 

Alamauuischo  Könige : Agenarieb  (Serapio)  104.  Alarich  195. 

Buzelin  (fränkiselier  Amtslierzog)  225,  230—237,  239,  561.  Chnodomar 
(Herzog)  71,  85,  80,  103,  114,  121,  122.  Chrocus  (Herzog)  13.  Crocus  20. 
Fraomar  108.  Gibuld  192 — 194.  Guudomad  70,  93,  103.  Hortar  73.  104, 
129,  132,  133.  Hariobnud  75.  134.  Hunimund  195— 200.  Lothar  (l'ränkisclier 
Amtsherzog)  225,  231 — 234,  561.  Makriau  (Herzog)  75,  133,  134,  144.  145. 
107 — 170.  I’riari  (Herzog'  09,  171,  172.  Semnou  18,  74.  Serapio  (Agenarieb, 
Herzog'  71,  103,  104,  144.  Suoinar  72,  73,  104,  129.  Uri  76.  101,  135.  Ursiein 
70,  104.  135.  Vadomar  70,  93,  103,  134,  135,  137 — 143.  Vestralpus  77, 
104,  135.  Vitliiknb  70,  145,  149.  Regales:  Hederich  104.  R ndo  153. 
Alamaunische  Adalinge.  Githerid  108.  Hortar  108. 

Alamanniscbe  ältere  Gauvölker.  Breisgauer  70.  üueinobanten  74—76. 
Ingrionen  6.  Karituer  6,  71.  Logiouen  74.  Mattiaker  5,  73.  Suebi  Nicretes 
254.  Vargionen  0.  Uisper  6. 

Alanen  181.  Häuptling  Goar  182. 

Armalausen  29 — 31,  208. 

Burgundionen.  Am  Limes  24,  30,  31,  78.  164 — 167,  268.  Schwäbisch- 
11  all  oder  Kissingen  25.  Saalegau  und  andere  Gaue  75,  78,  501.  Im  west- 
rheinischen Gallien  181,  282.  In  der  Sapaudia  183,  202.  Zuriickwcicbcn 
der  Alamannen  203 — 205.  Heudiuos  40,  62,  165.  Sinistus  100.  König 
Günther  182. 

Huri  29?,  560. 

Franken.  Chattische,  ripuarische.  salische,  30,  31,  179,  188,  211,  212, 
218,502,  663  Fränkisch  der  alanianuische  Norden  222,  ganz  Alamaunien  224. 
Könige:  Childerich  200.  Chlodwig  218 — 222.  Mellob&udes  170.  Sigibert 
217.  Theudebald  231.  Theudebert  224,  239.  Amtslierzöge  Buzeliu  225. 
230—237,  239,  5G1  und  Lothar  225,231—234,  501.  Fränkisch-alamanniscbe 
Kämpfe  217—220,  224,  225,  230 — 238.  Königszins  226 — 230. 

Heruler  233 — 237.  Herzöge:  Fulearis  232.  Sindual  236. 

Hunnen  184.  185,  233.  Köllig  Attila  184,  185.  HerzOge:  Uldach  234. 
Regnaris  238. 

Läten  99,  124. 

Lenzer  (Lentienses)  10,  28,  09,  70,  240.  Ortsnamen  208,  209,  240, 
241.  König  (Herzog)  l'riari  69,  171,  172.  Kämpfe  94,  95,  170—174. 


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n < : > 


Markomannen  28,  30,  31. 

Noriker  200.  282,  283. 

Ostgothen.  An  der  mittleren  Donau  104,  196.  Könige  Theodemir 
195—200,  Vaiamir  195.  In  Italien  Könige:  Alarieh  210,  211.  Teja  232. 
Theuderich  220—224.  230.  Vitiges  224,  230.  Herzog  Aligern  232,  233. 
Der  alemannische  Süden  ostgothisch  222—225. 

Quaden  28,  30,  45,  181. 

Räter  3 — 5,  Grenze  gegen  den  Hegau  400,  Curwnlckcn  554,  Currätien 
205,  553 — 559. 

Römische  Kaiser.  Aureliauus  15 — 17.  Aritus  185,  282.  Caracaila  12. 
Claudius  15,  16.  Constautinus  der  Grosse  20.  Constantinus  (Gegenkaisor 
des  Honorius;  183.  Constantius  I.  Chlorus  19.  Constantius  II.  24.  92—97, 
137  — 142.  Decius  13.  (Decentius  Cäsar  85).  Diocletiauua  19.  Eugenius 

180.  Gallienus  13.  Gallus  13.  Gordianus  13.  Gratianus  154,  157, 
170  — 174.  Honorius  182,  183.  Joviuus  182,  183.  Julianus  Cäsar  88 — 92, 
98—137,  Kaiser  139 — 143.  Magneiitius  85  — 87.  Majorianus  205.  Maximi- 
nianus  19.  Maxiininus  13.  Maximus  185.  Postumus  14.  Probus  17 — 19. 
Proeulns  18.  Severus  12.  Valens  173.  Valentiuianus  143  — 170.  Va- 
lerianus 14. 

Römische  Staatsmänner  und  militairische  Führer.  Aetius  179,  184, 
185,  191,  282,  283.  Aonulfus  200.  Apollinaris  Sidonius  282.  Arbetio  94. 
Avitus  (später  Kaiser)  185,  282.  Aurelianus  (später  Kaiser)  15 — 17, 
Ifainohaudes  100,  111.  Rarbatio  97—102,  137.  Rnreo  206.  Charietto  145, 
146.  Hariobaudes  131.  Innocentius  112,  116.  Jovinus  146 — 148,  154,  157. 
I.ibino  140,  141.  Lollianus  14.  Marcellus  90,  91.  Odoakcr  200,  206. 
Postnmus  (später  Kaiser)  14.  Severianus  146.  Sebastianus  153,  157,  159. 
Severus  (Fussvolk'  153.  Severus  (Reiterei)  112.  129.  Siivanus  87.  Stilicho 

181.  Theodosius  166.  L'rsicinus  magister  equitum  44.  I rsicinus  (Fuss- 
volk)  90. 

Sueven  (Suebi,  Sttevi,  Suavi;  Sucvia,  Suavia)  Gesanun tvolk : Ziuuari 
259.  Einzelstämme:  Alamannisehe  Sueven  (siche  unten).  Flandrische  263. 

Gailäcische  261.  Jutbaugische  (siehe  unten).  Suebi  Nicretes  254.  Sein- 
nmien  9,  260,  274.  Vsnnianische  Sueben  260.  Warnen,  Nordsuavi  261.  — 
Alamannisehe  oder  Jutbungiscbe  Sueven  (Schwaben),  9,  261,  Alahmannen? 
274.  Suebi  Tutuncii,  Suebi  Jotungi,  Suebi  Euthungi?  10,  15 — 17,  26,  27, 
30,  560.  Gebiet  15  — 17,  24—27,  30,  31,  95—97,  179—185,  189—192,  198, 
201.  Ausdehnung  209,  240 — 241.  Ortsnamen  209 — 211,  211 — 244.  Die 
drei  suevischen  Namensstufeu  215—248.  Feldzüge  15 — 17,  95 — 97, 

153—164,  194—200,  281—286.  Rissula  25,  163,  164. 

Scudingcr  203.  204,  284,  285. 

Teukerer,  Tenkterer  6,  8, 

Usiper  8. 

Vandalen  181.  König  Cbrocus  14. 

Vargionen  6. 

Vindeliker  282.  283. 

Warasker  (Naristeu)  284. 


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Gauregisfer. 

1.  Gaue  (Grossgaue). 


Aargau 

541 

llaingau 

70,  387 

Albgau.  nördlicher 

77,  433 

Mattiakergan  (?) 

73.  346 

Alpgau,  siiiiliclicr 

470 

Mortenau 

71,  448 

Augstgau.  östlicher 

493 

Nagoldgau 

76,  416 

Augstgau,  westlicher 

53S 

Neckargau,  oberer 

70,  m 

Uroisgau 

70,  452 

Neckargau,  unterer 

76.  397 

Itucinobant  (siehe  Grabfeld 

Nortgau 

und  Wettereiba) 

74 

Rheingau  (oberer) 

72,  383 

Donaugau  (?) 

479 

Riesgau 

49s 

Grabfeld  (siehe  Bucinobant) 

75,  380 

Suudgau  (siehe  lllchicha) 

528 

Hegau 

70,  461 

Thurgau 

543 

lllchicha  ? (siche  Sundgau) 

632 

Unterlahngau 

74,  377 

Illergau 

486 

Westergan 

77,  439 

Klettgau 

70,  454 

Wettereiba  (siche  Buci- 

Kruiehgau  66, 

71,  393 

nobant) 

75,  370 

Lobdeugau 

72,  391 

2.  Huntaren. 

Affa 

435 

Dieteuheiu)  ? (Kapitel) 

490 

Alba 

501 

Dracbgau 

501 

Albgau  (Kraichguu) 

394 

Duria 

495 

Alpgau  t.Allgäu) 

477 

Einrich 

350 

Aiubracbgau 

418  , 

Eitra  lmii  tu] 

462 

Anglachgau 

394 

Elscnzgau 

401 

Arliongau 

544 

Eisgau 

530 

Argcngau 

475 

Engcrsgau 

6,  349 

Aseheim 

446 

Euzgau 

394 

Bachgau 

387 

Erdehe 

368 

Bargen 

462 

Eritgau 

484 

Bibligau 

419 

Ealaba 

496 

Bischofslieim 

525 

Eilsgau 

413 

Bischofsbori 

544 

Elina 

347 

Brenzgau 

501 

Frickgau 

540 

Brettnebgau 

402 

Gardacligau 

402 

Buchsgau 

540 

Glehuutra 

418 

BurickingA 

436 

Gleuisgau 

394 

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577 


Goldineshuntare 

482 

Hatoltesbucb 

482 

Hadamar 

368 

Kheingau  (schweizerischer) 

547 

Hagenau 

623 

Kheingau  (unterer) 

351 

Haglegau 

428 

Ried 

523 

Haigergau 

368 

Rore 

541 

Hattenkuntare 

430 

Rodgau 

388 

Heistergau 

489 

Rottweil 

444 

Herborn 

368 

Ruadolteshuntare 

488 

Hertcshausen 

495 

Rubiaca 

529 

Hettengau 

523 

Sarnen 

546 

Horburg 

525 

Sasonia 

525 

Huniriga 

530 

Schefflenzgau 

398 

Humia 

502 

Scberra 

440 

Jagatgau 

402 

Schmiegau 

394 

Keltenstein 

496 

Schotzachgau 

402 

Kembsgau 

530 

Schuasengau 

474 

Kinzigdorf 

448 

Schwyz 

545 

Kinziggau 

379 

Sisgau 

539 

Kirchheim  ? (Kapitel) 

410 

Sorngan 

523 

Kocliergau 

304 

Speries 

624 

Krekgau 

482  ' 

Stanz 

546 

Kunigessundra 

365 

Strasaburg 

523 

Lenzburg 

541  | 

Sualafeld 

503 

Linzgau 

471 

Suerzeuhuntare 

435 

Mindilriet 

496 

Sulichgau 

419 

Hulachgau 

403 

Sulmanachgau 

402 

Uuuigiaingerhuntaro 

437 

Sulz 

444 

Muntricheshuntarc 

485 

Sundgau 

530 

Murrgau 

394 

Swiggeratal 

413 

Nibelgau 

490 

Thurgau 

530 

Nidinga 

445 

Tiengau 

482 

Niedgau 

373 

l'ffgau 

394 

Oberhaali 

547 

Unterseegau 

462 

Otenheim 

448 

Unterwalden  (siehe  Sarnen  und 

Pfefferau 

529 

Stanz) 

545 

Ptinzgau 

394 

Uri  (Urania) 

545 

Pfullichgau 

413 

Vildern  (Fildern) 

410 

Phlumgau 

387 

Vilvesgau 

542 

Pleouungotal 

413 

\V  altgau 

421 

Purikdinga 

445 

Wingarteiba 

398 

Kameatai 

413 

WUrmgau 

394 

Kammagau 

489 

Zabergau 

394 

3. 

Huntarenmarken. 

Arbongau 

543 

Erdehe 

368 

Aaeheim 

443 

Haigcr 

368 

Buricbinga 

436 

Herborn 

368 

Cr  am  er,  Geschichte  der 

' Aiamanoen. 

37 

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578 


3lunigisiugcrhuntare 

437 

Kheiugau  (unterer) 

353 

3Iuntricheshnntarc 

485 

Schwyz 

545 

Oberhasli 

547 

Uri 

545 

4.  Zehntscliaften. 

(Zenten  = Z, 

Zehutmarkeu, 

Starken  = 31,  Gericht  = G.) 

Alpenau  vor  dem  Berg 

G 390 

31cchtilhausen  ZG 

366 

Amorhach  Z 

401 

3Ieckeshciin  (siehe  Neckar- 

Arbon  Forst 

549 

geiniind)  Z 

401 

Aqnileiensis  inarca 

623 

3Iiltenberg  Z 

401 

Argengauer,  Mark  der 

475 

Mosbach  Z 

400 

Anlieim  M 

389 

3Iössingen  31 

431 

Babenliausen  31 

389 

3tudau  Z 

400 

Bieber  3t 

388 

Xeckargemiind  (siehe  Heckes* 

Bierlingeu  31 

429 

heim)  Z 

401 

Hildeebingen  31 

420 

Oberramstadt  ZG 

384 

Bisingen  31 

431 

Ostheim  Z 

38« 

Bornbeimer  Berg  ZG 

374 

Pfungstadt  Z 

385 

Buchen  Z 

401 

Quningisheim  31 

521 

Büdingen  3IG 

377 

Keichartshauseu  Z 

401 

Dieburg  31 

389 

Rheinganer  Amtswaldungen  3IZ 

352 

Dornstetten  (siehe  Wald- 

Ripperg  Z 

401 

geding)  31 

422 

Roden  31Z 

389 

Eberbach  Z 

400 

Romauisheim  31 

523 

Eglofs  Zehntschaft 

478 

Schopfloch  31 

422 

Empfingen  31 

429 

Schriesheim  ZM 

392 

Eutingen  31 

420 

Sturz,  oberer,  Zehntschaft 

478 

Gerau  31Z 

384 

Sturz,  unterer,  Zehntschaft 

478 

Glatten  31 

422 

Thalheim  31 

431 

Grcfenliühe  (siebe  Wiesbadener 

Theuringen  31 

474 

Höhewaldung)  31 

360 

Thüren  (Walldürn)  Z 

401 

Grüudau  31G 

378 

Umstadt  Z 

388 

Gülsteiu  31 

418 

Ursel  31 

376 

llaslacb  31 

411) 

Vogelsgebirge,  33'älder  des,  31 

379 

Heppenheim  3IZ 

384 

Wnldahure  31 

421 

Heuseis  G 

376 

Waldgeding  (siehe  Dorn- 

Hori Forst 

464 

stetten)  31 

422 

Kaichen  G 

377 

Wiesbadener  Höhewalduiig 

Kirchheim  Z 

392 

(siebe  Grefeuhöhe;  31 

366 

Krombach  G 

390 

Zwingeuberg  Z 

385 

31ähringen  G 

420 

5 

. Theilgaugrafscliafteu. 

Aargau,  oberer 

542 

Barr 

526 

Aargau,  unterer 

542 

Grabfeld,  östliches 

381 

Albgau,  westlicher 

455 

Grabfeld,  westliches 

381 

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Ingershoim 

395 

Thurgau 

551 

Illchicha  ? 

532 

Tollifeld 

381 

Klettgau 

457 

Tronie-Kirchboim 

526 

Neckargau 

410 

Vorchheim 

395 

Riesgau 

499 

Zürichgau 

551 

6.  Bargrafschaften. 

Ailulharts  lur 

511 

Bar  Landgrafschaft 

513 

Albuinsbar,  westliche 

512 

Bertoltsbar 

510 

Albuinsbar,  östliche 

516 

Folcholtsbar 

515 

liara 

512 

Peribtilosbar 

511 

7.  Raetia 

Curiensis. 

Gau  Currätien 

555 

Prettigau 

557 

Scullatiae  (Schulthoissereiou). 

Tumiliasca 

558 

Im  Boden  (siehe  Iu  Planis) 

557 

Tuverasca 

558 

Cnriensis 

557 

Wallgau  (siche  Drusiana  vallis) 

Endena 

558 

Theiltjaugra/schaften. 

Drusiana  rallis  (siehe  Wallgau) 

557 

Oberrätien  (Lags) 

558 

Impctiuis 

558 

Unterrätien 

558 

In  Planis  (siehe  Im  Boden) 

557 

37" 


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Druck  von 


Otto  Hi  Niger  in  AltvMicr. 


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Uutersuchu  ngen 

zur 

Deutschen  Staats-  und  Rechtsgeschichte 

herausgegeben 

von 

Dr.  Otto  Gierke, 

Professor  der  liechte  an  der  tlnlTcrsitiU  Berlin 

58.  Heft 


Das 

deutsche  Grunderbreeht 

in  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft 

von 

Dr.  Eugen  v.  Dultzig, 

(■erlehtsaftseiisor,  Hllfnarbeiter  am  Kgl.  Disclpllnarhofe  zu  Berlin 




Breslau 

Verlag  von  M.  & H.  Marcus 
1899 


m-  : ,v  w k 


Das 


deutsche  Grunderbrecht 

in  Vergangenheit, 
Gegenwart  und  Zukunft 


Dr.  Eugen  v.  Dultzig, 

Cerlehtnaüsessor,  Hilfsarbeiter  am  Kgl.  Diseipllnarhofe  tu  Berlin 


Breslau 

Verlag  von  M.  & H.  Marcus 
tsi«) 


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Vorwort. 

Oftgebrauchte  Citate  abermals  anzuführen,  ist  keine  ange- 
nehme Aufgabe.  Und  so  hätte  ich  denn  meinen  Lesern  die 
Wiederholung  des  alten  Worts  „habent  sua  fata  libelli“  gern 
erspart,  wenn  es  nicht  auf  dies  Buch  so  zuträfe,  dass  sich 
schlechterdings  nichts  Besseres  sagen  lässt.  Ja,  das  Buch  hat 
seine  Schicksale  gehabt!  Schon  zur  Referendararbeit  erhielt 
der  Verfasser  das  Anerbenrecht  als  Thema  gestellt.  Die  unge- 
wöhnlich glänzende  Beurtheilung,  die  der  Arbeit  zu  Theil  wurde, 
ermuthigte  ihn  dazu,  das  Schriftchen  au  einer  Dissertation  aus- 
zuarbeiten und  zu  vertiefen.  Krankheit  und  starke  ander- 
weitige Beschäftigung  stellten  sich  aber  diesem  Vornehmen 
hindernd  in  den  Weg,  und  es  dauerte  fast  drei  Jahre  bis  die 
inzwischen  zu  einem  Buche  angewachsene  Abhandlung  der 
Berliner  Falkultät  abgeschlossen  vorgelegt  werden  konnte. 
Abermals  wurde  ihr  das  Prädikat  „sehr  gut“  zu  Theil.  Aber 
auch  jetzt  war  es  dem  Werke  noch  nicht  beschieden,  sofort 
unter  die  Druckerpresse  zu  gehen;  es  fand  sich  nicht  sofort 
ein  Verleger  und,  als  er  sich  fand,  waren  inzwischen  so  viele 
neue  Erscheinungen  auf  dem  behandelten  Gebiete  zu  ver- 
zeichnen, dass  eine  abermalige  Umarbeitung  nöthigwar.  Durch 
dieselben  Gründe,  welche  bei  der  ersten  Umarbeitung  hindernd 
wirkten,  durch  starke  anderweitige  Beschäftigung  trat  auch 
diesmal  eine  Verzögerung  ein,  und  auch  als  das  Manuskript 
fertig  war,  wollte  es  das  nicht  endende  Missgeschick,  dass  über 
der  Geburt  dieses  Buches  waltete,  dass  der  Druck  geraume 
Zeit  liegen  bleiben  musste.  Und  so  wird  denn  jetzt,  wo  das 
Buch  endlich  in  die  Welt  hinausgeht,  ein  zweites,  klassisches 
Wort  an  ihm  fast  zur  Wahrheit,  das  horazische:  „Nonum  pre- 
matur  in  annum“. 


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VI 


Es  wäre  mir  eine  Freude,  wenn  die  Abklärung,  die  Horaz 
als  Folge  solcher  Liegezeit  rühmt,  der  Arbeit  anzumerken 
wäre.  Andererseits  aber  bitte  ich  um  Nachsicht,  wenn  einige 
Erscheinungen  der  allerletzten  Zeit  nicht  berücksichtigt  sein 
sollten.  Es  ist  mir  wohl  nicht  zu  verargen,  wenn  ich  danach 
strebte,  endlich  vor  die  Oeffentlichkeit  zu  treten.  Eine  Um- 
arbeitung hätte  sich  ausserdem,  abgesehen  davon,  dass  die 
sonstige  Arbeitslast  des  Verfassers  dazu  keine  Zeit  liess,  nur 
auf  neue  Polemik  gegen  andere  Ansichten  beschränken  können. 
In  diesem  Punkte  aber  bekenne  ich  mich  zu  dem  Grundsätze, 
dass  es  die  beste  Polemik  ist,  seine  eigenen  Ansichten  eingehend 
historisch  zu  begründen.  Und  dies  zu  thun,  habe  ich  mich 
redlich  bemüht. 


Berlin,  im  August  1899. 

Der  Verfasser. 


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Inhalt. 

Einleitung. 

A)  Geschichtlicher  Thell. 

I.  Die  bisherige  Ableitung  des  Anerbenrechts  aus  der  hof- 
rechtlicben  Unteilbarkeit  der  Güter  und  die  Gedenken 
gegen  diesen  Erklärungsversuch. 

1)  Anerbenrecht  findet  sich  auch  auf  freien  Gütern  und 

in  Ländern,  die  kein  Hofrocht  kennen.  § t.  . . . 4 — 16 

3)  Die  Unteilbarkeit  selbst  wurzelt  nicht  im  Hof- 
recht. § 2 16—25 

3)  Die  Unteilbarkeit  reicht  nicht  aus,  um  die  Eigen- 
tümlichkeiten des  Anerbenrechts  zu  erklären; 
namentlich  erklärt  sie  nicht  die  bauerrechtlichen 
Bemessungsgrundsätze  bei  den  Abfindungen.  § 3.  . 25—34 

II.  Neuo  Ableitung  des  Anerbenrechts  aus  dem  Hauseigenthum. 

1)  Geschichtlicher  Nachweis  des  Gedankens  des  Haus- 
eigenthums 

a)  bei  den  anderen  arischen  Völkern  § 4 . . . 34 — 47 

b)  bei  den  Deutschen  § 5 47—56 

insbesondere  aus  der  gesammten  Ent- 
wicklung des  deutschen  Erbrechts 

und  zwar 

i)  bei  der  Reihenfolge  der  Berufenen 

(Parentelenordnung)  § 6 . . . . 56 — 80 

p)  in  der  Behandlung  der  Weiber  § 7 80 — 87 

7)  in  der  Behandlung  der  ansgesteuerten 

Söhne  § 8 87—88 

2)  Der  Gedanke  des  Hauseigenthums  noch  heute  fort- 
lebend. § 9 88 — 95 

3)  Dor  Einfluss  dieses  Prinzips  auf  Höhe,  Fälligkeit, 

Vererblichkeit  u.  s.  w.  der  Abfindungen.  § 10  . . 95 — 107 

4)  Die  Art  der  Entwiklung  des  heutigen  Anerbenrechts 

aus  dem  Hauseigenthum.  § 11 108 — 123 

5)  Die  Schicksale  des  so  gebildeten  Anerbenrechts  seit 

der  Reception  bis  zur  Neubelebnng  der  geschicht- 
lichen Rechtswissenschaft.  § 12 123 — 134 

6)  Die  Schicksale  des  Anerbonrechts  in  unserem  Jahr- 
hundert. Die  Höfegesetze:  § 13 134 — 143 


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VIII 


III.  Spezielle  Widerlegung  der  abweichenden  Ansichten  von 
Brentano  und  Fick  Uber  die  Entwicklung  des  Erbrechts 
und  Anerbenrechts:  § 14 143—159 

lt>  Dogmatischer  Thcil. 

Das  heutige  gemeine  Anerbeorecht  und  die  Höfegesetze. 

I.  Rechtliche  Natur  des  Auerbenrechts 

a)  des  objektiven  (Sachliches  oder  persönliches 


Sonderrecht?)  § 15 160 — 163 

b)  des  subjektiven  cL  b.  des  Anspruches,  Anerbe 

zu  sein  § 16 163 — 166 

II.  Geltungsgrund  des  Anerbenrechts  § 17 166 — 170 

III.  Geltungsumfang  des  Anerbenrechts.  (Sachliche,  zeitliche 

uud  örtliche  Grenzen)  § 18 170  — 178 

IV.  Geltungskraft  des  Anerbenrechts  (Jus  cogens  oder  dis- 
positivum?) § 19 178 — 182 

V.  Vererbung  nach  Anerbenrecht  im  einzelnen: 

1)  Universal-  oder  Singularsuccession  § 20  ...  182 — 185 

2)  Der  Kreis  der  Berufenen.  Berücksichtigung  der 

unehelichen  Kinder,  der  Kinder  ciues  Interims- 
wirthes  und  Leibziicbters.  (Entstehung  der 
Interimswirthschaft).  § 21 185 — 197 

3)  Auswahl  aus  diesem  Kreise.  Wer  wird  Anerbe  und 

Abfindling  ? § 22  197—202 

4)  Rechtliche  Natur  der  Abfindung.  (Kein  Civilerbthcil, 
auch  nicht  vom  Allod,  sondern  ein  Ersatz  des  Erb- 

theils).  Ihre  Berechnung.  § 23  202 — 210 

5)  Erwerb,  Fälligkeit  und  Vererbung  der  Abfindungen. 

Das  Recht  dos  Beisitzes  d.  h.  der  Verpflegung  auf 

dem  Hofe.  § 24  . . 210 — 216 

6)  Wirkung  der  Abfindung,  hinsichtlich  der  Schulden 

und  hinsichtlich  des  Erbrechts.  § 26  217 — 220 

VI.  Collision  des  Anerbenrechts  und  Pflichttheilsrechts.  § 26  . 220 — 223 

VII.  Die  Rechtsmittel  des  Anerben  und  der  Abündlinge.  (.Klagen 

und  Pfandrechte).  § 27  223 — 226 

VIII.  Die  Erlöschungsgründe  des  Auerbenrechts: 

(Klageveijährung,  Ausheirath,  Unfähigkeit  zur  Landwirth- 

schaft).  § 28  227—230 

IX.  Collision  des  Anerhenrocbts  und  des  ehelichen  GUterrechts. 

(Die  Ent wickl uug  des  ehelichen  Güterrechts).  § 29  230 — 239 


U)  KechtKpolitischer  Theil. 
l>e  lege  ferenda. 

I.  Uebersicht  über  die  Bewegung  für  Schaffung  eines  neuen 
Grunderbrechts.  Die  agitatorischen  Angriffe  dagegen  uud 

ihre  Haltlosigkeit.  § 30  240—216 

II.  Allgemeine  Gründe  gegen  ein  besonderes  Grunderbrecht : 


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IX 


1)  .Gleiches  Recht  für  alle*.  Historische  und  rechts- 
politische Beleuchtung  dieses  Postulats.  § 31.  . . 

2)  Das  Prinzip  der  wirtschaftlichen  Freiheit.  § 32.  . 

III.  Wirtschaftliche  Gründe  gegen  das  Auerbenrecht.  Es  soll 

wirthschaftliche  Erschlaffung  verbreiten,  die  Unsittlichkeit 
fördern  und  die  Agrarverfassung  versteinern.  § 33.  . . . 

IV.  Massgebender  Grund  für  das  Anerbenrecht:  seine  Ueber- 

einstimmuug  mit  der  Volksilberzeugung.  § 34 

V.  Die  angebliche  Ungerechtigkeit  des  Anerbenrechts.  § 35. 

VL  Wirthschaftliche  Gründe  für  eine  Aenderung  des  Erbrechts: 

1)  Die  allgemeine  Ueberschuldung  der  Landwirtschaft, 
hervorgerufen  durch  das  geltende  unzweckmässige 
Erbrecht,  namentlich  die  Civiltheilung.  § 36.  . . . 

2)  Die  Schäden  der  Kealtheilung  (Besitzzersplitterung, 

Zwergwirthschaft  und  Uoberschuldung,  Zerreibung 
des  Mittelbesitzes,  Beschränkung  der  Kinderzahl, 
Zerstörung  des  Familienlebens).  § 37 

VII.  Dio  Vorschläge,  eine  Aenderung  des  Erbrechts  zu  umgehen: 

1)  Begünstigung  der  Uebergabsverträge.  § 3tt.  ... 

2)  Ausdehnung  der  Testirfreiheit.  § 39 

VIII.  Die  Gestaltung  des  künftigen  Anerbenrechts 

a)  im  Allgemeinen: 

1)  Reichsrecht  oder  Landesrecht?  § 40 

2)  Intestaterbrecht  oder  Höferolle? 

a)  Fakultative  Höforolle.  § 41 

b)  Höferolle  mit  Einschreibung  vou  Amts- 
wegen. § 42 

3)  Für  alle  Güter  oder  nur  für  Bauerngüter?  § 43.  . 

b)  im  Ein zelnen: 

1)  Rechtliche  Coustrnktion  des  Anspruches  des  An- 
erben. § 44  ....  , 

2)  Begrenzung  des  Kreises  der  Berufenen.  § 45  . . . 

3)  Majorat  oder  Minorat?  § 46 

4)  Bemessung  der  Abfindungen: 

a)  Berechnung  desllofwerthes  (Ertragswerth  oder 

Verkaufswerth?)  § 47 

b)  Gewährung  eines  Voraus?  § 4«  . . . . 

5)  Auszahlungsmodus  der  Abfindung:  (Rentenschuld 

oder  Hypothek?).  Verzinsung  und  Vererbung  der- 
selben. Sicherungsmittel  der  Abfindungen.  Ver- 
bältniss  von  Anerbenrecht  und  Pttichttheilsrecht.  § 49. 

6)  Anerbenrecht  und  eheliches  Güterrecht  in  Zu- 
kunft. § 50 

IX.  Verknüpfung  des  Anerbenrochts  mit  Verschuldungs-  und 
mit  Veräusserungsboschränkungen.  Surplusresorvat  und 
Vorkaufsrecht.  § 51 


246—251 

252—255 

256—266 

266—273 

274—278 

278—296 

296—307 

307—315 

315—319 

319-323 

323-326 

326—329 

330—333 

333—336 

336—338 

339—341 

341—347 

347—352 

352-355 

355—357 

357—362 


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Die  ländliche  Erbfolge  ist  schon  seit  Jahren  ein  Gegen- 
stand allgemeinsten  Interesses.  Theoretiker  und  Praktiker, 
Juristen  und  Nationalökonomen,  Gelehrte  und  Laien,  Regierungs- 
1 eilte  und  Volksmänner  haben  sich  mit  ihren  Fragen  beschäftigt; 
selbst  die  Tagespresse  hat  sich  der  Sache  bemächtigt.  Und  in 
der  That  giebt  es  kaum  etwas  Wichtigeres  heutzutage.  An 
der  richtigen  Gestaltung  des  bäuerlichen  Erbrechts  hängt  Ge- 
deih und  Verderb  des  ganzen  bäuerlichen  Standes,  hängt  die 
Entscheidung  darüber,  ob  wir  nach  einigen  Menschenaltern  noch 
ein  gesundes,  kaufkräftiges  Landvolk  neben  der  Industrie  der 
Städte  haben  werden,  oder  ob  die  Bauern  im  Kampfe  mit  der 
Geldwirtschaft  der  Städte  erliegen,  und  wir  zu  einem  Industrio- 
und  Handelsstaate  werden  nach  dem  Muster  Englands  und  des 
späteren  römischen  Reichs.  Die  Wichtigkeit  des  Bauernstandes 
nachzuweisen  ist  überflüssig;  er  bildet  nicht  nur  das  feste  Boll- 
werk gegeu  alle  politische  und  wirtschaftliche  Revolution,  wie 
niemand  klarer  erkennt  und  ansspricht  als  die  heutige  Social- 
demokratie;  er  bildet  auch  das  Blut  im  Staatskörper.  Staaten 
ohne  Bauernstand  sind  vom  Marke  enthöhlte  Bäume,  die  über 
Nacht  zusammenbrechen  können.  Die  Geschichte  des  römischen 
Reiches  lehrt  dies  mit  einer  erschreckenden  Deutlichkeit.  Nicht 
von  den  Germanen  ist  am  letzten  Ende  das  römische  Reich 
vernichtet  worden,  sondern  durch  seinen  eigenen  Männermangol, 
durch  das  Fehlen  einer  körperlich  kräftigen,  in  gesunder  Arbeit 
nach  jeder  Richtung  gestählten  Bevölkerung,  wie  sie  einmal 
mir  eine  selbständige  Bauernschaft  bietet.  Nun  zeigt  sich  zwar 
heute  diese  Gefahr  der  reinen  Beschäftigung  mit  Industrie  und 
Handel  erst  selten  in  beängstigender  Weise.  Aber  einmal  ist 
dabei  zu  berücksichtigen,  dass  noch  das  Land  genügend  be- 
völkert ist,  um  fortwährend  neuen  Zuzug  zu  liefern  und  die 

v.  Dult  zig,  GrunderbrecbL  1 


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2 


Lücken,  welche  das  markverzehrende  Leben  der  Städte  reisst, 
wieder  auszufüllen  Und  ausserdem  rückt  dafür  eine  zweite 
Gefahr  des  reinen  Industrie-  und  Handelsstaates  schon  heute 
in  bedrohliche  Nähe.  Solche  Staaten  sind  auf  den  Export  an- 
gewiesen. Die  cnltivierten  Völker  schliessen  sich  aber  mehr 
und  mehr  ab,  und  um  die  gar  nicht  oder  halb  Cultivierten, 
ist  infolgedessen  der  Wettbewerb  schon  ein  so  starker  ge- 
worden. dass  er  vielfach  recht  wenig  erfreuliche  Formen  an- 
genommen hat  und  mit  rücksichtsloser  Gewalt  und  Ein- 
schüchterung arbeitet.  Mit  mathematischer  Sicherheit  muss 
darum  der  Zeitpunkt  eintreten,  wo  einerseits  keine  neuen  Ab- 
satzgebiete mehr  vorhanden  sind,  während  andererseits  die  vor- 
handenen sich  mehr  und  mehr  auf  eigene  Fttsse  stellen,  sodass 
ein  Export  immer  weniger  möglich  wird.  Daun  aber  ist  die 
heutige  Industrie  zum  grössten  Teil  dem  allmählichen  Hunger- 
tode ausgeliefert;  die  Landwirtschaft  wird  aber  inzwischen 
soweit  vernichtet  sein  oder  ihre  Produktion  so  sehr  auf  die 
Industrie  eingerichtet  haben,  dass  auf  sie  allein  sich  die  Volks- 
wirtschaft nicht  wieder  wird  stützen  lassen.  Wirtschaftlich 
bestandfähige  Staaten  sind  darum  nur  diejenigen,  in  denen 
soviel  Landwirtschaft  vorhanden  ist,  dass  der  grössere  Teil  der 
heimischen  Industrie-Erzeugnisse  im  Lande  selbst  verbraucht 
wird.  Und  gerade  hierin  liegt  die  für  alle  Zeiten,  selbst  für 
die  einer  etwaigen  sozialistischen  Weltordnung  dauernde  Wichtig- 
keit des  Bauernstandes. 

Ebenso  wichtig  aber,  wie  die  Frage  des  bäuerlichen  Erb- 
rechts ist,  ebenso  schwierig  erweist  sie  sich.  Der  jahrelang 
über  sie  schon  währende  Streit  der  sachkundigsten  Männer  ist 
ein  redendes  Zeugnis  dafür.  Und  zwar  betrifft  diese  Schwierig- 
keit nicht  nur  die  zukünftige  Regelung  der  Grundfolge,  worüber 
man  ja  am  ehesten  verschiedener  Ansicht  sein  kann;  sie  findet 
sich  auch  bei  der  Erforschung  ihres  gegenwärtigen  Zustandes. 

Der  alte  Nachteil  des  deutschen  Rechts,  seine  locale  Zer- 
splitterung tritt  hier  in  einer  AVeise  zu  Tage,  dass  man  auf 
den  ersten  Blick  verzweifeln  möchte,  grosse  Prinzipien,  die 
allein  in  die  Darstellung  Licht  und  Ruhe  bringen  können, 
herauszuflnden. 

Dieser  AVirrsal  zu  entrinnen,  giebt  es  nur  ein  Mittel,  das 
fast  nie  bei  der  Behandlung  schwieriger  rechtlicher  Fragen  ver- 


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3 


sagt:  man  muss  sich  der  Geschichte  als  Leiterin  an  vertrauen. 
Was  die  Grundlage  des  ganzen  Institutes  nach  historischer 
Erkenntnis  gewesen  ist,  das  eignet  sich  auch  als  oberstes 
Princip  und  als  Grundlage  für  die  dogmatische  Behandlung 
der  heutigen  Zustände.  Ja  noch  mehr.  Was  Jahrtausende 
hindurch  bestauden  hat,  das  ist  auch  ein  fester  Boden  für  die 
Zukunft,  und  so  gewinnt  auch  der  Gesetzgeber  den  Halt,  nach 
dem  man  bisher  vergeblich  gesucht  hat. 

Lassen  wir  deshalb  die  Geschichte  ihr  Führeramt  antreten. 


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Geschichtlicher  Theil. 


§ i. 

Wenn  man  nach  den  Wurzeln  sucht,  aus  denen  das  An- 
erbenrecht  entsprossen  ist,  so  pflegt  man  in  erster  Reihe  die 
Unthcilbarkeit  der  Bauerngüter  zu  nennen. 

Und  da  diese,  — wenigstens  zu  der  Zeit,  wo  sie  das  An- 
erbenrecht hervorgetrieben  haben  soll,  — sich  nur  im  Holrechte 
noch  fand,  so  gilt  bis  jetzt  allen  Autoren  ausnahmslos  das  An- 
erbenrecht als  ein  Produkt  des  Hofrechts. 

Der  Gedankengaug,  wie  er  sieh  übereinstimmend  bei 
Miaskowski,  Stobbe,  Frommhold  u.  a.  findet,  ist  dabei  folgender: 

In  den  hofrechtlichen  Verhältnissen,  um  die  es  sieh  hier 
handelt,  wurde,  wie  überhaupt  jedes  Recht  am  Gute,  so  auch 
das  Erbrecht  lediglich  durch  den  Leihecontrakt  begründet  und 
geregelt. 

Ueber  die  Bedingungen  des  Leihecontraktes  hatte  aber 
der  Gutsherr  als  der  Verleihende  freie  Hand. 

Sein  Interesse  diktierte  deshalb  die  Vertragsbedingungen. 
Das  Interesse  der  Grundherrschaft  ging  aber  lediglich  darauf, 
„den  bäuerlichen  Grundbesitz,  sowie  den  Bauernstand  prästations- 
fähig zu  erhalten;“1)  da  nun  diese  Prästationsfälligkeit  nur 
durch  möglichstes  Zusammenhalten  der  Bauerngüter  gewähr- 
leistet werden  konnte,  so  drängte  „die  Erwägung,  dass  eine 
Theilung  des  dienenden  Gutes  eine  Minderung  der  Leistungs- 
fähigkeit desselben  bewirken  prasste,  zur  Anerkennung  der 


')  Miaskowski,  Bd.  2,  S.  135. 


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Einerbfolge“2)  und  es  kam  in  die  Leihecontrakte  die  Be- 
stimmung, dass  die  Güter  nur  an  einen  Nachkommen  und 
zwar  an  einen  Sohn  zu  vererben  seien.3)  Uebereinstimmend 
wird  deshalb  auch  von  dem  so  entstandenen  Anerbrechte  gesagt, 
dass  es  nicht  im  Interesse  der  Bauernfamilie,  sondern  des 
Bauerngutes  geschaffen  sei.4) 

Diese  Ansicht  ist,  abgesehen  von  ihrer  geschichtlichen  Be- 
deutsamkeit, schon  aus  dem  Grunde  wichtig,  weil  aus  ihr  die 
zahlreichen  Gegner  einer  Wiederbelebung  des  Anerbenrechts 


a)  Frommhold,  Beiträge  S.  28.  — Ebenso  Hiaskowski  a.  a.  O. 

3)  Stobbe.  Privatrecht,  Bd.  V,  S.  375ff.  — Frominhold,  Anerbenrecht 
S.  11;  Hiaskowski  a.  a.  O.  — — Die  älteren  Schriftsteller  stellen  den 
Entwickelungsgang  etwas  anders  dar,  doch  so,  dass  er  im  Resultat  auf 
dasselbe  hinauskomnit.  Nach  ihnen  hatten  ursprünglich  die  Bauern,  die  auf 
Anerbengütern  sassen.  überhaupt  kein  Erbrecht,  da  sie  Leibeigene  oder 
Lassbaneru  waren  Auf  der  ^tatsächlichen  Rechtsübung  fussend,  hätten 
dann  die  Gerichte  ihnen  ein  Erbrecht  zugesprochen,  und  die  Landesherren 
diesen  Gerichtsgebrauch  gebilligt,  oder  direkt  ein  Erbrecht  neu  verliehen. 
Doch  hätten  sio  weder  vergessen  machen  können,  noch  wollen,  dass  die 
Güter  an  sich  den  Bauern  nicht  gehörten,  sondern  ihnen  nur  geliehen  seien, 
als  geliehene  aber  weder  frei  veräusserlich,  noch  theilbar  seien.  Auch  die 
älteren  Autoren  leiten  also  die  Eigenthümlichkeiten  des  Bauernrechts  aus 
dem  Umstande  ab,  dass  cs  sich  um  geliehene  Güter  handelte,  also  aus 
dem  Hofrecht.  Vgl.  Frank,  S.  3 ff.,  Koken  S.  1 ff. 

4)  Mit  besonderer  Schärfe  ist  der  erwähnte  Gedankengang  auch  in  den 
Motiven  zum  ersten  Entwürfe  des  Eiuführungsgesetzes  des  bürgerlichen  Ge- 
setzbuchs auBgedrückt.  „Das  Auerbeurecht“,  heisst  es  dort,  „ist  aus  den 
Hof-  und  Territorialrechten  des  Mittelalters  hervorgegangen  und  hat  seine 
Grundlage  in  dein  Interesse  der  Grund-  und  Landesherren  an  der  Erhaltung 
eines  hinsichtlich  der  Zinsen  und  Frohneu  leistungsfähigen  Bauern- 
standes ....  Später  trat  wohl  auch  der  Gesichtspunkt  hinzu,  dass  eine 
singuläre  Vererbung  im  Interesse  der  bäuerlichen  Familien  liege.  Zunächst, 
aber  und  für  lange  Zeit  stand  dieser  Gedanke  in  zweiter  Linie;  die  fis- 
kalischen und  grundherrlicben  Interessen  überwogen.“  (Zu  Art.  83  d.  E.  G.) 
— Aehnliches  meint  auch  Stobbe  mit  dom  „Zweckgedanken“,  den  er  dem 
Anerbenrechte  unterschiebt.  — Vgl.  auch  Frommhold,  Anerbenrecht  S,  9,  10, 
Miaskowski  a.  a.  O.  — Neuerdings  haben  Brentano  und  Fick  diesen  Ge- 
sichtspunkt besonders  in  den  Vordergrund  gerückt.  (Brentano,  Vorwort, 
S.  XX  ff..  Fick  S.  25  ff.,  weuiger  scharf  ).  Sic  behaupten  sogar,  dass  die 
Gutsherren,  die  Einzelerbfolge  auch  da  durchgesetzt  hätten,  wo  sie  nicht 
von  vornherein  in  den  Leiheverträgen  stand. 


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6 


eines  ihrer  vornehmsten  Kampfmittel  schmieden,  Ist,  sagen  sie, 
das  Anerbenrecht  aus  bäuerlichen  Verhältnissen  erwachsen, 
denen  die  wirthschaftliche  und  rechtliche  Abhängigkeit  von 
einem  Herrengut  eigentümlich  war,  so  dient  es  vorzugsweise 
den  Interessen  dieser  Gutsherrschaft,  so  findet  es  seine  Stütze 
auch  lediglich  in  dem  Dasein  jener  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnisse, in  dem  Sitzen  der  Bauern  auf  geliehenem  Boden, 
kurz  in  der  Hofhörigkeit.  Mit  deren  Fortfall  in  unserem  Jahr- 
hundert, mit  der  Verwandlung  aller  Bauern  in  Eigentümer 
ihres  Bodens,  ist  es,  losgelöst  vom  mütterlichen  Grunde,  zu 
einem  geschichtlichen  Ueberbleibsel  ohne  innere  Daseins- 
berechtigung geworden,  das  einer  gerechten  Vernichtung  an- 
heimfällt.5) 

Allein  der  Anschauung,  welche  das  Anerbenrecht  lediglich 
aus  dem  Hofrechte  ableiten  will,  kann  nicht  beigetreten  werden. 
Es  muss  bei  dieser  Ansicht  zunächst  befremden,  dass  es  viele 
Güter  giebt,  die  dem  Anerbenrechte  unterstehen  und  nach- 
weislich niemals  einem  Hofverbande  angehört  haben. 
Paulsen  in  seinem  Schleswig-Holsteinischen  Privatrecht  berichtet 
von  den  Bondenstellen  auf  der  Geest,  dass  auf  sie  ein  strenges 
Anerbenrecht  Anwendung  findet.  Bonden  sind  aber  altfreie 
Bauern.  Ebenso  unterstehen  die  „Freyengüter“  zu  Sickte  dem 
Erbrechte  der  männlichen  Stammerben.6) 


s)  Vgl.  Brentano,  Vorwort  S.  XXXVII  ff.  — In  besonders  vollendeter 
Form  findet  sich  die  Schlussfolgerung  in  den  eben  erwähnten  Motiven  wieder- 
gegeben. 

°)  Vgl.  Noltcnii,  Diatribe,  S.  K-C.  — Weitere  Freigüter,  die  dem  An- 
erbenrechte unterstehen  sind  die  Hagengilter  zu  Wiembeck.  Diese  sind 
uacb  Führer  S.  156  erbfrei  und  stehen  iure  dominii  pleni  zu.  lieber 
ihre  Vererbung  wird  nnu  im  Hagenweisthum  gesagt:  dass  hinfürter  die 
Huefe  und  Hagengüter  nicht  zerteilet,  sondern  es  sollen  dieseGüter 
bei  dem  Besitzer  des  Hofes  und  Gutes,  dabey  die  Hufe  befunden, 
verbleiben  und  die  Brüder  und  Schwestern  daraus  kauffen.  — 
Führer  S.  177  unterstellt  alle  freien  Güter  dem  Anerbeurecht.  — Ebenso 
bezog  sich  in  Lüneburg,  Hoya  und  Diepholz  das  Anerbenrecht  auf  alle,  auch 
die  freien  Bauerngüter  (§  2 und  3 der  Lüneburger  Polizeiordnung  vou  161s 
bei  Oppermann  S.  12  und  13).  Es  wurde  dies  sogar  1728  durch  ein  be- 
sonderes Reskript  noch  ausdrücklich  bestätigt:  .Die  auf  die  Grafschaft 

HnyR  extendirte  Constitution,  dass  der  älteste  Sohn  . . in  denen.  .Gütern 


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7 


Bei  den  Verhandlungen  des  23.  Juristentags  (Bd.  2,  S.  77) 
hat  ferner  schon  Eneccerus  auf  Tirol  verwiesen, (U)  wo  allgemein 
noch  heute  ein  sehr  strenges  Anerbenrecht  besteht,  ohne  dass 
je  irgendwo  eine  nennenswerthe  Gutsunterthänigkeit  gegolten 
hätte.  Auch  aus  den  neuen  Untersuchungen  über  Bayern  geht 
hervor,  dass  das  Anerbenrecht  oder,  besser  gesagt,  eine  dem 
Anerbenrecht  entsprechende  Uebung  sich  gleichermassen  wie 
auf  den  ehemals  hofhörigen  Gütern  auch  auf  solchen  findet,  die 
von  altersher  frei  waren.  So  gilt  in  Ober-  und  Niederbayern 
allgemein  der  ungetheilte  Uebergang  auf  einen  Erben  und  doch 
gab  es  hier  nach  einer  Statistik  im  vorigen  Jahrhundert  7361 
nicht  grundnnterthänige  Familien,  ja  zu  Anfang  dieses  Jahr- 
hunderts sollen  die  freien  Höfe  nach  einer  anderen  Statistik, 
sogar  15  °/#,  d.  h.  zwischen  */,  und  */?  aller  Höfe  betragen  haben. 
(Fick,  S.  19).  Das  Gleiche  lässt  sich  auch  für  einzelne  Gegen- 
den Nieder-  und  Oberbayerns  feststellen.  So  ist  z.  B.  eine  der 
reichsten  Gegenden  Niederbayerns  und  zugleich  ein  der  Hoch- 
burgen des  Anerbenrechts  das  Rotthal.  Hier  hat  aber  die 
Grundherrschaft  nie  besondere  Macht  gehabt.  Abgaben  und 
Scharwerke  waren  im  vorigen  Jahrhundert  zwar  vorhanden; 
dies  scheinen  jedoch  keine  aus  der  Grundunterthänigkeit  fliessen- 
den Leistungen  gewesen  zu  sein,  sondern  Reallasten.  Denn 
die  Dienste  waren  sehr  gering.  Ausserdem  aber  werden  die 
dortigen  Bauern  von  einem  damaligen  Schriftsteller,  Hazzi, 
ausdrücklich  als  ein  kräftiges,  freies  Geschlecht  geschildert,  und 
das  darf  man  dem  Gewährsmanne  um  so  eher  glauben,  als  er 
sonst  nicht  geneigt  ist,  die  Lage  der  Landwirthe  zu  günstig 
anzusehen.  (Fick,  S.  72).  Nicht  anders  liegen  die  Dinge  in 
anderen  Theilen  Bayerns.  AVas  zunächst  die  Oberpfalz  an- 
betrifft, so  herrscht  hier  der  ungetheilte  Erbgang  bei  allen 
landwirtschaftlichen  Anwesen  im  Gebiete  der  Kemptener 
Rechte  (Fick,  S.  119).  Es  mangelte  aber  hier  keineswegs  an 
freien  Gütern,  ganz  freien  oder  lediglich  zinspflichtigen  (Fick, 


succedieren  Holle,  ist  auch  von  denen  Bauernhöfen,  welche  keinen 
Gutsherrn  haben,  zu  verstehen,  welches  auf  euie  . . . getbane  Anfrage 
hiermit  nachrichtiich  ohnverhalten  wird.“ 

*• ) Vgl.  auch  Grünberg  bei  Schtnoiler,  Jahrbuch,  Jahrgang  XX, 

S 79  ff. 


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S.  117)  demgemäss  ist  denn  das  Anerbenreclit  aucli  im  Land- 
rechte  bereits  vorgeschrieben,  galt  also  auch  für  die  freien 
Güter  und  zwar  nach  „alter  Gewohnheit.“  (Pick,  S.  110). 
Ebenso  ist  das  Anerbrecht  im  Amtsbezirke  Nördlingen  schlecht- 
hin üblich;  auch  hier  aber  gab  es  von  alters  her  freieigene 
oder  nur  zins  pflichtige  Güter.  Besonders  schlagend  ist  aber 
das  Beispiel  des  Amtsgerichtsbezirks  Wemding.  lieber  diesen 
sagt  der  oben  erwähnte  Hazzi:  „Ferner  sind  da  keine  Laudemien 
(obwohl  die  Beamten  seit  einiger  Zeit  Laudemien  aufbringen 
wollen,  so  wissen  die  Saalbücher  doch  von  keiner  Grund- 
barkeit),  keine  grundherrlichen  Consense  ad  alienandum  oder 
bypothecandum , kein  Hoffuss  oder  Gebundenheit  der 

Güter;  jedes  Grundstück  ist  eigen  und  frei.“  Und  doch  gilt 
hier  die  ungetheilte  Vererbung.  Sie  hat  auch  im  vorigen  Jahr- 
hundert gegolten.  Was  Hazzi  von  Ausstattung  der  Kinder  mit 
Grundstücken  berichtet,  bezieht  sich,  wie  schon  der  Ausdruck 
„Heirathsgut“  zeigt,  nicht  auf  wahre  Realtheilung,  sondern  auf 
Ausstattung  der  Kinder  mit  sogenannten  „walzenden“  Grund- 
stücken. Ganz  undenkbar  ist  es  jedenfalls,  dass  noch  in  diesem 
Jahrhundert,  wie  Pick  vermuthet,  die  Grundherrschaft  so  er- 
starkt sei,  um  ungetheilte  Vererbung  durchzusetzen.  Das  Ab- 
kommen des  „walzenden“  Gutes  ist  dagegen  eine  ganz  gewöhn- 
liche Erscheinung.  Indessen,  selbst  wenn  die  ungetheilte 
Vererbung  erst  in  diesem  Jahrhundert  sich  eingebürgert  hätte, 
so  wäre  das  ein  besonders  starker  Beweis  dafür,  dass  sie  nicht 
aus  dem  Hofrecht  und  der  Gebundenheit  erwachsen  sein  kann, 
(Fick.  S.  94).  Für  Mittel-,  Ober-  und  Unterfranken  kann  auf 
die  Gebiete  von  Bayreuth,  Ansbach,  Bamberg  und  Würzburg 
verwiesen  werden.  Sie  alle  kennen,  ganz  oder  strichweise,  die 
ungetheilte  Vererbung.  Sie  alle  kennen  aber  auch  freie  Güter. 
Bamberg  regelt  die  für  ungetheilte  Vererbung  typische  Gnts- 
übergabe  sogar  in  seinem  Landrecht,  erkennt  sie  also  aus- 
drücklich auch  bei  vollfreien  Gütern  an.  Und  für  Würzburg 
hebt  Fick  selbst  die  grosse  Zahl  der  freien  Grundstücke  hervor 
und  betont,  dass  hier  selbst  auf  grundunterthänigen  Gütern  die 
Grundhörigkeit  nicht  sehr  streng  war.  (Fick,  S.  161.  179, 
188,  209,  (210). 

Ausser  aus  Holstein,  Mitteldeutschland,  Tirol  und  Bayern 
mangelt  es  auch  aus  den  östlich  der  Elbe  gelegenen  Gegenden 


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nicht  an  Beispielen  von  freien  Gütern  die  mit  Anerbenrecht 
behaftet  sind.  In  Niederschlesien  z.  B.  besassen  die  Bauern 
ihr  Gut  zu  Eigentum;  der  Gutsherrschaft  standen  daran  keine 
dingliche,  sondern  nur  obrigkeitliche  Rechte  zu:  namentlich  hatte 
sie  bei  der  Auswahl  des  Gutsnachfolgers  keine  Mitwirkung. 
Dennoch  war  auch  hier  ungetheilter  Uebergang  unter  Ueber- 
nahme  des  Gutes  zu  niedrigerer  Taxe  üblich.  (Vgl.  Knapp 
und  Kern,  S.  69  ff.) 

Sonach  hat  sich  das  Anerbenrecht  in  der  That  auch  für 
eine  grosse  Zahl  freier  Güter  herausgebildet.  Aber  ausser 
diesen  giebt  es  noch  eine  grosse  Zahl  von  halbfreien,  die  unbe- 
zweifelt  nach  Anerbenrecht  vererbt  werden  und  von  denen  es 
doch  sehr  wahrscheinlich  ist,  dass  sie  ursprünglich  ganz  frei 
waren.7) 


')  Z.  B.  die  Hägergiiter  zu  Stadtoldendorf!.  Schon  der  Name  „Häger- 
güter“ spricht  für  ihre  einstige  Freiheit.  Mit  diesem  Namen  werden  Güter 
bezeichnet,  welche  lediglich  in  einem  Mark  verbände  für  Holzung  oder 
Weide,  keinem  Hofverbando  stehen.  Vgl.  die  „Hagengiiter“  der  vorigen 
Anmerkung.  AJIerdiugs  pflegte  sich  der  Obermärker  später  oft  eine  Guts- 
lierrlichkeit  anzumassen,  jedenfalls  aber  handelte  es  sich  nie  um  ge- 
liehenen Besitz.  Dass  cs  auch  liier  so  gegangen  und  der  Obermärker  der 
Hägergüter,  nämlich  der  Abt  des  Klosters  Amelunxboro,  sich  erst  all- 
mählich seine  späteren  Hechte  angemasst  hat,  geht  aus  den  bei  Nolten 
uns  aufbehaltenen  Hägergerichtsprotokollen  hervor.  Der  Weg,  auf  dem 
diese  Entwicklung  sich  vollzog,  war  danach  derselbe,  den  alle  Ober- 
märker wie  die  Gerichts-  und  Voigteiherru  gegangen  sind,  um  die 
Grundherrlichkeit  zu  erwerben:  Die  MarkgenosBen  pflegten  vorm  Märker- 
ding die  Geschäfte  über  ihre  Güter,  wie  Verkauf,  Verpfändung  u.  a.  in.  zu 
verlautbarcu.  Das  Hecht  des  Zuschaueus,  was  den  Obermärkern  dadurch 
erwuchs,  verkehrten  diese  in  ein  Consensrecht,  aus  dem  sie  dann  eine  Grund- 
herrlichkeit ableiteten.  In  den  genannten  Hägergerichtsprotokollcn  (vgl. 
Nolten  S.  121  bis  131)  liegt  jener  allmähliche,  folgenschwere  Uebergang 
von  Znschaue-  in  Zustimmuugsrecht  noch  deutlich  zu  Tage,  und  es  ist 
namentlich  erkennbar,  wie  sich  die  Hägerleute  gegen  jene  Vermischung 
wehren.  Sie  behaupten:  „Alle  Veränderungen  sollen  dem  Kloster,  doch 
ohne  Entgelt,  durch  den  Hägervoigt  augemeldet  werden;  welcher  solches 
nicht  thun  würde,  der  solle  vom  Hägervoigt  zur  Wroge  gesetzet  werden.“ 
(Also  Strafe,  nicht  Nichtigkeit).  Der  Abt  dagegen  behauptet  die  Nichtig- 
keit jedes  ohne  seine  Genehmigung  geschlossenen  Contraktes.  Er  sagt: 
„Die CouUriuation  aller Contrakte  behielten  sie  ihnen  vor.  . . etc.“  Dieser 
Zwiespalt  zwischen  der  Auffassung  der  Häger,  die  sich  auf  alten  Gebranch 


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Die  coDsequenten  Vertheidiger  der  Ansicht,  welche  den 
Ursprung  des  Anerbenrechts  ini  Hofrecht  sucht,  haben  aller- 
dings gegen  diese  befremdende  Thatsache  gleich  einen  Einwand 
bereit.  Das  Anerbenrecht  ist  eben  auf  solchen  freien  Gütern 
nicht  ursprünglich,  vielmehr  auf  sie  erst  nach  dem  Beispiele 
hofhöriger  Güter  übertragen,  weil  sie  „mitten  unter  den  Gütern 
lagen,  die  nach  Anerbenrecht  vererben  und  der  praktische 
Nutzen  desselben  doch  bald  einleuchten  musste.“  (Frommhold, 
Anerbenrecht  S.  11). 

Dieser  Entwickelungsgang  erscheint  dort  glaublich,  wo  das 
Anerbenrecht  durch  Gesetz  eingeführt  wurde. 

Allein  es  wird  sich  weiter  unten  zeigen,  dass  das  Anerben- 
recht nirgends  auf  Gesetz  beruht,  sondern  älter  ist  als  die  ge- 
setzgebende Thätigkeit  der  deutschen  Staaten. 


stützte  uml  sicher  die  ursprüngliche  war.  und  zwischen  der  neuen  Auf- 
fassung, die  der  Abt.  durchdriicken  wollte,  führte  zum  Prozesse.  Der  Abt 
gewann  mit  folgender  Begründung,  die  in  charakteristischer  Weise  ersehen 
lässt,  wie  aus  dem  Zuschauereclit  namentlich  vor  gelehrten  Richtern  das 
Consensrecht  wird  : Es  seien  „die  Handlungen  über  solche  Hägergiiter,  oder 
dieselben  betreffend,  vor  dem  Kloster  jedesmal  zur  Perfektion  ge- 
bracht, von  selbigem  auch  zu  allen  Zeiten  ein  Häger-Voigt  in  Stadtolden- 
dorff  gehalten  und  an  denselbigen  entweder,  oder  immediate  an  das  Kloster 
die  Hägergüter  betreffende  Handlungen  von  denen  Einwohnern  der  Stadt 
Oldendorff  gebracht  und  folglich  von  dem  Kloster  die  Confirm  ation 
darüber  ertheilet  etc.  etc.“  — So  wie  es  sich  hier  einmal  besonders  nnch- 
weisen  lässt,  ist  es  bekanntlich  bei  sehr  vielen  Gütern  gegangen.  Vgl. 
unter  andern  auch  Fick,  S.  20  ff.  Viole,  die  später  hofliürig  sind,  waren 
ursprünglich  frei,  und  haben  aus  jenen  Zeiten  meist  ein  freieres  Besitzrecht 
gerettet.  So  geht  es  zum  Beispiel  alle  deu  zahlreichen  Gütern,  von  denen 
Nolten  noch  ausser  deu  Oldendorffer  Hägergütern  Protokolle  mittheilt.  Ihre 
Inhaber  erfreuen  sich  sämmtlich  einer  so  grossen  Bewegungsfreiheit,  dass 
es  einem  schwerfällt,  zu  glauben,  es  handle  sich  hier  wirklich  um  geliehene 
Güter.  Selbst  von  den  am  wenigsten  freien,  den  „Lactgütern“  des  Amts 
Wintzenburg  (Nolten,  S.  136),  wird  gesagt,  dass  sie,  „wenn  nur  die  Auf- 
tragt oder  Verfassung  für  öffentlichen  Laetengerichten  geschieht,  alicniert 
oder  veräussert  werden  können.“  Es  bestand  also  nicht  der  Brauch,  irgend 
welchen  Conscns  einzuholen,  sondern  nur  den  Contrakt  gerichtlich  zu  ver- 
lautbareu,  wie  das  ja  auch  bei  zweifellos  freien  Gütern  meist  geschehen 
musste.  Ja  auch  dieser  Brauch  war  zweifelhaft.  Denn  es  wird  gesagt. 
„Und  obwohl  vorher  im  Brauch  oder  vielmehr  Missbrauch“  (vom  Standpunkt 
des  Aufzeichners!  D.  V.)  „gewest,  dass  die  Laetgüter  ohne  Vorbewusst 
des  Laetengerichtes  versetzet  oder  verpfändet  werden  können  . . . etc.“ 


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11 


Jedenfalls  ist  es  ganz  sicher  bei  vielen  freien  Anerbgütern, 
nicht  durch  Gesetz  eingeführt,  sondern  beruht  auf  Gewohnheit. 
(Vgl.  Anin.  8).  Soll  deshalb  die  gegnerische  Erklärung  von 
der  Entstehung  des  Anerbenrechts  auf  freien  Gütern  bei  allen 
zutreffen,  so  müssen  die  Gegner  auch  der  gewohnheitsrechtlichen 
Entwicklung  die  bewusste  Nachahmung  hofrechtlicher  Ver- 
erbungsgrundsätze aus  praktischen  Rücksichten  zu  Grunde  legen. 
Das  wird  aber  sofort  unwahrscheinlich,  wenn  man  sich  ver- 
gegenwärtigt, wie  dann  im  Einzelnen  die  gewohnheitsrechtliche 
Entwicklung,  so  wie  die  Gegner  sie  behaupten,  sich  vollzogen 
haben  müsste.  Hier  und  da  müsste  dann  eines  schönen  Tages 
der  Freibauer  sich  gesagt  haben:  „Mein  Gut,  das  nach  altem 

Brauch  eigentlich  unter  meine  Söhne  getheilt  werden  sollte, 
das  will  ich,  wie  es  mein  Nachbar  praktischer  thut,  nur  einem 
Sohne  hinterlassen.“  Nun  wissen  wir  aber,  dass  die  Bauern  kaum 
heute  von  der  herkömmlichen  Vererbungsart  abweichen  und  das 
jedenfalls  nicht  gethan  haben  zu  den  Zeiten,  wo  das  Anerbenrecht 
auch  für  die  von  uns  genannten  freien  Güter  entstanden  sein  muss ; 
dort  stammt  es  nämlich  spätestens  aus  dem  17.  Jahrhundert, 


8)  Bei  den  Bondenstellen  auf  der  Geost  ist  im  IS  Jahrhundert  das 
Anerbenrecht  althergebrachtes  System,  das  nur  in  seinen  Modalitäten 
festgestellt  ist  durch  eine  Verordnung  von  1777.  In  Lüneburg  fand  die 
oben  (Anm.  6)  citierte  Polizeiverordnung  von  1618  das  Anerbenrecht  schon 
vor  (Vgl.  unten  Anm.  21).  — Die  bei  Noltcn  citierten  Roddein  stammen 
aus  dem  17,  spätestens  18.  Jahrhundert  und  erwähnen  das  Anerbenrecht 
als  uralten  Brauch.  — Das  Anerbenrecbt  für  die  freien  Güter  des  Hocb- 
stifts  Kempten  beruht  ebenfalls  auf  altem  Brauch;  Art.  92  der  Landes- 
ordnung des  Fürsten  Johann  Erhard  aus  dem  Ende  des  16,  Jahrhunderts 
sagt  nämlich: 

Wir  wüllen  nach  altem  Herkommen  und  Gebrauch, 
damit  die  gelegenen  Güter  unzortrennt  den  Mannspersonen 
oder  Stämmen  verbleiben,  dass  die  Frauenbilder  oder  Tüchter  mit 
fahrender  Hab  oder  Geld  sich  hintenanweisen  zu  lassen,  schuldig 
sein  sollen  (Fick  S.  119.) 

Daraus  ergiebt  sich  trotz  Ficks  gegenteiliger  Meinung  einmal,  dass 
damals  ein  wahres  Anerbenrecht  bestand.  Dafür  ist  entscheidend  der  Aus- 
druck „unzertrennt“.  Es  ergiebt  sich  aber  ferner  die  gewohnheitsrechtliche 
Entstehung  des  Anerbeurechts.  Warum  die  Worte  „nach  altem  Herkommen“ 
auf  Unwahrheit  beruhen  sollen,  ist  nämlich  nicht  ersichtlich.  Fick  behauptet 


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12 


d.  li.  aus  einer  Periode,  wo  es  mehr  noch  als  heute  allgemeine 
Anschauung  war,  dass 

„wer  selig  will  sterben, 
sein  Gut  muss  lassen 
den  rechten  Erben“, 

wo  mithin  der  Bauer  vor  jeder  Aenderung  der  für  sein  Gut 
althergebrachten  Erbfolge  zurück  schrak.  Aber  selbst  wenn  die 
Bauern  den  Eingriff  gewagt  hätten,  so  wäre  wegen  der  bei 
Anerbenrecht  unumgänglichen  Verletzung  der  Pflichttheile  das 
Testament  oder  der  Uebergabevertrag  der  Vernichtung  anheim- 
gefallen. Nie  und  nimmer  hätten  die  romanisierenden  Gerichte 
die  Hand  geboten,  das  Anerbenrecht,  dass  sie  oft  ausrotteten, 
wo  es  bodenständig  war,  anszudehnen  auf  Güter,  wo  es  bisher 
nicht  gegolten  hatte.  Und  dass  die  Sache  auch  bis  an  die 
Gerichte  kam,  dafür  hätten  schon  die  Miterben  gesorgt.  Denn 
es  ist  notorisch,  dass  Bauern  und  Bauernkinder  auf  dem,  was 
sie  für  Recht  halten,  auch  gegen  die  nächsten  Verwandten  un- 
nachsichtig bestehen : und  das  hätten  sie  umsomehr  im  Erbrecht 
gethan,  wo  alte  Gewohnheiten  sich  am  zähesten  und  mit  den 
grössten  lokalen  Verschiedenheiten,  ohne  Rücksicht  darauf,  was 
beim  Nachbarn  gilt,  erhalten  haben. 

Mehr  schon  kann  mau  sich  vorstellen,  dass  ein  ganzes 
Dorf  bei  Eesstellung  seines  Rechts  von  dem  Theilungssystem 
überging  zum  Anerbenrecht,  das  sich  bei  Nachbarn  als  praktisch 
erprobt  hatte.  Denn  im  solchen  Falle  war  es  ja  nicht  nur  der 
einzelne,  der  sich  dem  Brauche  entgegenstemmte  und  sein  Gut 


zwar,  solche  Phrasen  seien  in  der  damaligen  Gesetzessprache  typisch  ge 
wesen,  wenn  es  galt  eine  Neuerung  eiuzuftibreu.  Allein  er  hat  für  diese 
befremdliche  Behauptung  den  Beweis  vergessen.  Im  Gegenteil  seine  eigenen 
sonstigen  Mitteilungen  iiocr  damalige  Gesetze  zeigen,  dass  man  der  Zeit 
gar  nicht  ängstlich  war,  beim  Eingriff  in  alten  Brauch  dies  öffentlich  nus- 
znsprecheu  (Vgl.z.  B.  S.  st  und  289).  Der  Verf.  kämm  das  auch  aus  seinen 
eigenen  Erfahrungen  bestätigen.  Die  Gesetzgeber  verschweigen  nicht  allein 
die  Neuerung  nicht,  sie  weisen  vielmehr  ausdrücklich  darauf  hin  und  be- 
tonen die  Weisheit  des  gesetzgeberischen  Eingreifens.  Ja.  es  kommt  sogar 
umgekehrt  vor,  dass  selbst  bei  Anlehnung  an  alten  Brauch  dies  gar  nicht 
erwähnt  wird  und  man  erst  anderweit  erfährt,  es  habe  früher  schon  dasselbe 
gegolten.  (Vgl.  Anm.  21  und  und  § 12  a.  E.)  Jedenfalls  muss  einem 
positiven  Zeugnisse  gegenüber  der  strikte  Beweis  der  Unwahrheit  verlangt 
werden,  und  der  ist  nicht  erbracht. 


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dem  rechten  Erben  entzog.  Es  soll  auch  ähnliches  vorgekommen 
sein,  namentlich  im  Schwarzwald.  (Vgl.  Gothein,  Wirthschafts- 
geschichte  des  Schwarzwalds  S.  298  ff.)  Aber  dann  handelte 
es  sich  eben  nicht  mehr  um  gewohnheitsrechtliche  Bildung, 
sondern  um  Gesetzgebung;  die  Aufnahme  des  Satzes  ins 
Weisthum  war  dann  nicht  wie  sonst  Beurkundung  des  Gewohn- 
heitsrechts, sondern  die  Ausübung  der  Satzungsgewalt.  Bei 
solcher  Thätigkeit  ist  nun  die  Prüfung  des  Für  und  Wider 
einer  Vorschrift  nicht  nur  das  Wahrscheinliche,  sondern  sogar 
das  Regelmässige. 

Aber  bei  rein  gewohnheitlicher  Entwicklung  entspricht 
das  bewusste  Wählen  zwischen  zwei  Rechtssystemen  nach 
praktischen  Gesichtspunkten , welches  die  Gegner  hier 
jener  Entwicklung  unterschieben  müssen,  ihrem  Wesen  kaum 
in  den  heutigen  Verhältnissen,  wo  doch  auch  nur  der  Gebildete 
dazu  erzogen  wird,  bewusst  und  leitend  die  Entwicklung  der 
Dinge  zu  beeinflussen;  für  die  Perioden,  um  die  es  sich  hier 
handelt,  ist  jenes  Wählen  ganz  unglaublich,  um  so  unglaublicher 
als  die  praktischen  Gesichtspunkte,  welche  die  bewusste 
Aenderung  im  Gewohnheitsrecht  herbeigeführt  haben  sollen, 
wirtlischaftlicho  waren  und  es  erst  eine  Eigenheit  der 
neuesteu  Zeit  ist,  alle  Dinge  und  vor  allem  Rechtssysteme 
nach  ihrer  wirthschaftlicheu  Wirkung  zu  beurthcilen.8) 


9j  Wir  treten  iliunit  in  bewussten,  noch  öfter  zu  betonenden  Gegensatz 
sowohl  zu  dem  Jheringschen  „Zweck  im  Recht*,  wie  auch,  namentlich  auf 
dem  vorliegenden  Gebiete,  zu  Brentano  (Zukuuft  de  1895,  Nr.  50),  der 
das  ganze  Eigentums-  und  Erbrecht  aus  dem  wirtschaftlicheu  Zweckge- 
daukeu  der  „pfleglicheren“  Behandlung  der  vererblichen  Gegenstände 
ableitet.  Difflcilc  est  satiram  non  scribere;  es  ist  schwer  sich  heissender  Be- 
merkungen zu  enthalten,  über  die  weitschauende  wirtschaftliche  Vorbedacht- 
samkeit,  welche  nach  Brentano  die  eben  zur  Viehzucht  Ubergegangenen 
Nomaden  gehabt  haben  müssen.  Es  genügt  vielleicht  zu  fragen,  ob  der 
Erbgang  in  Waffen  und  Gerade,  welcher  nach  Brentano  (A  A.  0.  S.  495) 
der  erste  gewesen  sein  soll,  vielleicht  auch  auf  dem  Gedanken  der  pfleg- 
licheren Behandlung  beruht  und  ob  das  Eigentum  an  der  Ehefrau  uud  au 
Bklavcu,  das  nach  Brentano  dem  Vieheigen  noch  vorangegangen  ist,  dem 
gleichen  Gedanken  seine  Entstehung  verdankt.  Gegen  dts  reine  „Eigentum“ 
an  der  Ehefrau  Hesse  sich  auch  wohl  manches  sagen.  Indessen  eine  allge- 
meine Widerlegung  Brentanos  soll  wenigstens  vorläufig  nicht  gegeben 
werden.  Im  Verlaufe  der  gegenwärtigen  Abhandlung  wird  sich  die  Wider- 
legung daraus  ergeben,  dass  sich  das  gemeiue  Erbrecht  und  das  Grund- 


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Auch  trifft  auf  die  von  uns  genannten  freien  Anerbengüter 
die  Voraussetzung  nicht  zu,  welche  die  Gegner  naturgemäss  für 
die  von  ihnen  behauptete  Entwicklung  machen  müssen,  dass 
nämlich  die  Güter  mitten  zwischen  hofhörigen  Gütern  gelegen 
haben.  Die  Bondenstelleu  auf  der  Geest  z.  B.  bilden  eine 
durchaus  compakte  Masse,  von  der  Paulsen  die  zusammen- 
hängenden Gebiete  der  Plünischen  Aemter,  der  Aemter  Sege- 
berg,  Travendahl  und  der  Propstei  Preetz  hervorhebt.  Wo 
aber  diese  Bondenländereien  von  hof hörigen  Gütern,  den 
königlichen  Festestellen,  unterbrochen  werden,  konnten 
sie  ihr  Erbrecht  auch  nicht  nach  deren  Muster  ausbilden,  da 
auf  diesen  überhaupt  eine  Vererbung  nachweislich  nach  ihrem 
Muster  (vergl.  Paulsen  a.  a.  O.)  erst  im  18.  Jahrhundert  ein- 
geführt ist,  als  für  die  Freibauern  das  Anerbenrecht  längst 
fcststand. 

Gauz  unerklärt  lässt  aber  die  gegnerische  Darstellung,  wie 
sich  das  Anerbenrecht  auf  freieu  Gütern  hat  bilden  können,  die 
nicht  nur  nicht  zwischen  geschlossenen  Hofgütern  liegen,  sondern 
sogar  von  Realtheilungsgegendeu  umgeben  werden.  Und  auch 
das  kommt  vor.  Im  Würzburgischen  z.  B.,  wo  nach  unseren 
obigen  Ausführungen  die  meisten  Güter  ganz  frei  oder  nur  zins- 
pflichtig waren  (Fick  S.  210/211),  und  wo  im  allgemeinen  real 
getheilt  wird,  finden  sich  mitten  in  diese  Gebiete  eingesprengt 
Gegcuden  mit  ungetheilter  Vererbung.  Hier  kann  doch  wahrlich 
nicht  von  der  Nachahmung  des  dem  Anerbenrecht  huldigenden 
Hofrechtes  gesprochen  werden. 

Ist  sonach  die  Ansicht,  w'elche  das  Anerbenrecht  immer 
und  überall  aus  Hof  hörigkeitsverhältnissen  ableitet,  schon  recht 
zweifelhaft,  wenn  man  den  Blick  lediglich  auf  die  deutschen 
Verhältnisse  richtet,  so  erscheint  sie  völlig  unglaublich,  wenn 
man  erfährt,  dass  das  Anerbenrecht  in  Ländern  gilt  und  ent- 
standen ist,  wo  es  hot  hörige  Verhältnisse  wie  die  deutschen 
nicht  gibt.  Bei  den  Völkern  des  Pendschab  z.  B.  (vgl.  Köhler, 
Ztschr.  f.  vgl.  Rechtsw.  Bd.  7,  S.  206)  findet  sich  das  An- 


erbrecht weit  besser  und  mit  weit  geringeren  bedenken  aus  anderen  und 
grösseren  Prinzipien  erklären  lassen,  denn  aus  der  wirtschaftlichen  Zweck- 
mässigkeit. 


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erbenrecht  weit  verbreitet,  und  zwar  bei  Gütern,  die  auch  nicht 
nach  einem  der  dort  bekannten  Leiherechte,  sondern  zu  freien 
Eigen  besessen  werden,  mit  höchstens  öffentlich-rechtlicher 
Belastung.  So  ist  „in  einigen  Gegenden  des  Kangrabezirkes 
ein  weitgehendes  Erstgeburtsrecht  in  Uebung,  so  dass  die 
jüngeren  Brüder  fast  gauz  zurückgesetzt  werden.“  „In  Spiti 
übergiebt  der  Vater  dem  erwachsenen  Sohne  das  Grossgut  und 
zieht  sich  selbst  auf  das  Kleingut  zurück.“  In  Rajputana  sind 
„die  jüngeren  Söhne  auf  blosse  Unterhaltungsansprüche  redu- 
ciert.“  In  anderen  Bezirken  des  Kangradistrikts  giebt  es 
Güter,  „die  als  untheilbar  gelten  und  auf  den  jüngsten  Sohn 
erben“.  (Köhler  a.  a.  O.) 

Ebenso  ist  das  Anerbenrecht  bekannt  im  altindischen 
dharma-Recht,  das  hof hörige  Verhältnisse  nicht  anerkennt  und 
seine  Vorschriften  an  Bauern  richtet,  die  Herren  auf  ihrem 
Grund  und  Boden  sind. 

Als  Regel  wie  Güter  zu  vererben  sind,  wird  es  hier 
zwar  hingestellt,  wenn  „Mann  theilte  sein  Gut  unter  seine 
Söhne.“  Allein  wie  wenig  diese  Regel  stets  durchgeführt  wurde, 
dafür  ist  Beweis,  dass  jener  Satz  zu  den  umstrittensten  des 
altindischen  Rechts  gehört.  Man  liess  dem  ältesten  oder 
jüngsten  einen  Additionaltheil  zukommen,  oder  gab  dem 
ältesten  zwei  Theile,  während  die  übrigen  Söhne  je 
einen  Theil  erhielten,  oder  man  gestattete  nach  der  Seniorität 
die  Auswahl  gewisser  Gegenstände.10)  Alles  das  weist,  wenn 
nicht  direct  auf  ein  Anerbenrecht,  so  doch  auf  eine  dem  An- 
erbenrecht sehr  ähnliche  Rechtsübung  hin,  welche  im  alten 
Indien  weit  verbreitet  gewesen  sein  muss. 

Ist  sonach  das  Anerbenrecht  auch  in  Ländern  entstanden, 
welche  eine  ganz  andere  wirthschaftliche  und  namentlich 
agrarische  Organisation  hatten  und  haben,  als  Deutschland  zur 
Zeit  der  Hofverfassnng,  so  ist  es  wahrscheinlicher,  dass  jenes 
nicht  in  dieser  wurzelt,  sondern  dass  es  einer  Quelle  entstammt, 
die  älter  und  Deutschland  mit  jenen  Landen  gemeinsam  ist. 
Gemeinsam  ist  aber  nur  der  Grundstock  des  Rechts. 

So  wird  man  unabweislich  zu  der  Annahme  gedrängt,  dass 
das  Anerbenrecht  aus  jenem  Grundstöcke  des  Rechts  hervor- 


’°)  Vgl.  Leist,  Jusgeutium  S.  416. 


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gewachsen  ist  und  seine  Entstehung  den  ältesten  Rechtsgedanken 
verdankt  die  allen  arischen  Völkern  gemeinsam  sind. 

Und  in  der  Tliat  lässt  sich  auch  positiv  naehweiscn,  dass 
die  Ansicht,  welche  das  Auerbenrecht  lediglich  ans  dem  Hof- 
recht ableitet,  falsch  ist.  Sie  entspringt  dem  doppelten  Irrthum, 
dass  das  Auerbenrecht  allein  aus  der  Uutheilbarkeit  entsprossen 
sei,  und  dass  diese  Uutheilbarkeit  lediglich  ein  Institut  des 
Hofrechts  sei. 

Beides  ist  nicht  richtig. 


§ 2- 

Beginnen  wir  zunächst  mit  der  Behauptung,  dass  die  Un- 
teilbarkeit der  Güter  ein  Institut  des  Hofrechts  sei. 

Gierke  hat  in  seinem  Genossenschaftsrecht  überzeugend 
nachgewiesen,  dass  der  Gedanke  der  Unteilbarkeit  des  Grund- 
besitzes ein  uralter  ist.  Zunächst  wurde  jene  thatsächlich  ein- 
geführt, denn  in  den  Zeiten  der  alten  Agrarverfassung,  wo 
noch  strenge  Feldgemeinschaft  herrschte  und  einem  jeden  sein 
Land  für  bestimmte  Jahre  zugewiesen  wurde,  nach  deren  Ab- 
lauf die  Feldmark  neu  verteilt  wurde,  zu  diesen  Zeiten  konnte 
natürlich  von  einer  Teilung  der  Hufe  wie  überhaupt  von  einer 
privaten  Verfügung  darüber  keine  Rede  sein. 

Es  war  aber  auch  zu  solcher  Teilung  gar  kein  Bedürfnis 
vorhanden,  weil  genug  Land  da  war,  es  den  leer  ausgehenden 
unter  mehreren  Söhnen  zuzumessen11),  und  cs  hätte  sich  selbst 
bei  rechtlicher  Erlaubthcit  eine  solche  Teilung  thatsächlich  ver- 
boten, weil  die  Hule  das  Mindestmass  dessen  war,  wovon  eine 


")  Ein  positives  Zeugnis  solcher  Uebung  fimlet  sich  in  Irlanil.  Der 
Tod  eines  Clangenosseti  bildete  einen  Keehtsgrund  eine  Neuverteilung  des 
gesummten  Clanlandes  vorzunehmen,  das  den  einzelnen  Clangenossen  nur 
auf  kurze  Zeit  zur  Nutzung  ausgegeben  war.  Hei  der  Neuverteilung  durfte 
jeder  der  nun  zu  vollberechtigten  Clansmauucn  gewordenen  Sühne  des  Ver- 
storbenen ein  Landloos  verlangen  und  erhielt  auch  eins.  Die  historischen 
Eigentümlichkeiten  des  nationalirischen  Erbrechts,  des  eustouie  of  gnvelkind. 
wie  die  gleiche  Berücksichtigung  aller  Sühne  unter  gänzlichem  Ausschluss 
der  Witwe  und  der  weiblichen  Descendenz  von  der  Erbschaft,  erklären  sich 
aus  diesem  alten  Brauche.  iVgl.  Moritz  Jaft'e,  Bodenrocht  und  Bodenver- 
teilung iu  Irland.) 


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Familie  sich  ernähren  konnte.  Alle  diese  Momente  blieben 
noch  lange  Zeit  wirksam  als  die  Agrarverfassung  zu  ver- 
steinern begann  und  durch  das  allmähliche  Abkommen  der 
periodischen  Neuverteilung  des  Ackerlandes  sich  ans  der  Sonder- 
nutzung ein  Sondereigentum  entwickelte. ia)  Allein  diese  Nach- 
wirkungen des  alten  Eigentums  der  Gemeinde,  welche  Gierke 


'-)  Die  hier  zu  Grande  gelegte  Auffassung  von  der  Entwickelung  des 
Privateigentums  an  Grund  und  Boden  ist  heute  wohl  die  herrschende.  Fast 
von  allen  wird  als  das  Ursprüngliche  das  Eigentum  des  Markvorbandes  au- 
genommen, das  von  strenger  Feldgemeinschaft  getragen  wurde,  und  aus  dem 
sich  erst  allmählich,  fassend  auf  der  Sondernutzung,  ein  Sondereigen  heraus- 
gebildet hat.  Die  Vermutung,  die  Jnama-Sternegg  in  seinem  „Hofsystoin* 
hier  nud  da  durchblieken  lässt,  es  sei  der  Markverband  erst  ein  Erzeugnis 
späterer  Zeiten,  diese  Vermutung  hat  er  später  selbst  fallen  lassen.  Die 
herrschende  Ansicht  stützt  sieh  für  deutsche  Verhältnisse  auf  die  bekannten, 
Stellen  Caesars  und  Tacitus  über  deutsche  Ackerverfassung.  Es  muss  zu 
gestanden  werden,  dass  zu  dieser  Ansicht  die  unbefangene  Uebersetzung 
jener  Autoren  nach  dem  Texte,  den  ihre  neuesten  kritischen  Ausgaben 
bieten,  am  besten  stimmt.  Die  abweichende  Deutung,  die  Jnama-Sternegg 
a.  a.  0.  der  Tacitusstelle  zu  geben  versucht,  kann  nur  durch  eine  überaus 
gezwungene,  teilweis,  wie  bei  spatium,  direkt  falsche  Uebersetzung  erreicht, 
werden,  die  Jnama-Sternegg  heute  wohl  selbst  nicht  mehr  vertritt.  Indessen 
immerhin  ist  die  Uebersetzung  der  Tacitusstelle  namentlich  bei  ihren  un- 
sicherem Texte  etwas  zweifelhaft,  und  die  herrschende  Ansicht  stände  des- 
halb auf  ziemlich  schwachen  Füssen,  wenn  nicht  die  vergleichende  Rechts- 
geschichte ihr  in  neuester  Zeit  kräftige  Stützen  nntergefügt  hätte. 

Fast  bei  allen  arischen  Völkern  nämlich  finden  sich  Reste,  welche  auf 
einen  Zustand  hinweisen,  wo  der  Stamm  das  in  Besitz  genommene  Iiand  an 
die  Geschlechter  als  Eigentümer  verteilt  hatte,  und  diese  es  an  die 
einzelnen  Haushaltungen  nur  zur  Nutzung  austhaten.  Man  muss  dabei 
bedenken,  dass  die  arischen  Völker  in  alle  Sitze,  in  denen  sie  heute  wohnen, 
als  Eroberer  eingerückt  sind.  Die  eiuzigo  Organisation  aber,  die  ein 
wanderndes  Eroberervolk  haben  kann,  ist  die  nach  der  Blutsgemeinschaft, 
nach  Geschlechtern,  da  für  eine  dingliche  und  räumliche  Organisation  die 
Unterlagen  fehlen.  Diese  einzigen  fertigen  Organisationen,  der  Stamm,  das 
Oeschlechtergeschlecht  (vgl.  Leist,  ins  glutium  S.  38«  etc.)  und  die  Einzel- 
geschlechter nahmen  deshalb  das  Land  in  Besitz,  den  Stamm  als  Obereigen- 
tümer und  die  Geschlechter  als  die  wirklichen  Eigentümer.  Andere  Rechts- 
subjekte waren  gar  nicht  da;  der  einzelne  war  und  bedeutete  nur  etwas  als  Ge- 
schlechtsaugehöriger; das  dorfweise  angesiedelte  Geschlecht  war 
deshalb  das  wahreRechtsubject  des  ihm  zugewiesenenDorflandes. 

Diese  Zustände  werden  bewiesen  durch  Verhältnisse,  wie  sie  heute 
noch  im  Pandschab  sich  finden,  wo  noch  immer  das  Dorf  aus  Geschlecbta- 
genossen  besteht  und  alle  Dorfeinwohner  untereinander  verwandt  sind. 

v,  Dultzii*,  Gründer  brecht.  2 


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IS 


treffend  unter  dem  Namen  Gesamtrecht  zusammenfasst,  waren 
es  nicht  allein  welche  eine  Unteilbarkeit  des  Grundeigentums 
herbeiführten ; sondern  andere  Einflüsse  halfen  dazu  mit. 

Während  der  Umwandlung  der  Agrarverfassung  nämlich  hatte 
sich  eine  weitgehende  Verdinglichung  aller  Rechtsverhältnisse 
herausgebildet.  Wer  Gemeindegenosse  war,  hatte  früher  Land 
fordern  können,  so  dass  Gemeindeangehörigkeit  und  Landbesitz  als 

Es  wird  dort  noch  vielfach  der  gilt,  der  Verwandtscliaftskreis.  in  dem 
mau  nicht  heiraten  darf,  mit  dem  Dorfe  identifiziert  (vgl.  Köhler  S.  233). 
Bei  anderen  arischen  Völkern  besteht  jener  Zustand  allerdings  nicht  mehr, 
aber  er  wird  für  frühere  Zeiten  durch  unwiderlegliche  Zeugnisse  belegt. 
Namentlich  sind  es  die  Iren,  die,  solange  sie  eine  nationale  Rechtsordnung 
gehabt  haben,  d.  h.  bis  ins  17.  Jahrhundert,  auf  jenem  ursprünglichen 
Standpunkte  verblieben  sind,  wo  der  Stamm  das  Landgebiet  an  die 
Geschlechter,  die  Clans,  als  Eigentümer  verteilte,  die  es  nur  zur 
Nutzung  Weitergaben  an  die  einzelnen  Clangecossen.  welche  schon 
wegen  der  stets  wieder  vorgenommenen  Neuverteilungen  nur  in  leichten 
Hütten  darauf  umherwolmten  (Moritz  Jaffe  a.  a.  O.  S.  10:11  fl')  Auch  in 
den  slavischeu  Rechtsgebieten  haben  sich  ähnliche  Verhältnisse  noch  lango 
erhalten.  Die  durch  Blutsverwandtschaft  verknüpfte  Sippe  wohnte  zu- 
sammen in  einem  Dorfe  und  hatte  alle  Dinge  gemeinsam.  (Vgl.  Leist 
Inscivile  S.  408  nach  Schiemann,  neuerdings  namentlich  Lutschitzky  bei 
Sehmollcr  de  1806  S.  174  175  ff.)  In  Indien  endlich  finden  sich  gleichfalls 
zahlreiche  Spuren  jener  Urzustände.  Noch  spät  fallen  dort  Dorfgeuosseu- 
scliaft  und  Geschlechtsgenossenschaft  zusammen  (Leist,  Insgentium  S.  37, 
30,  300,  388)  deshalb  heisst  auch  das  Gemeindehaus  „sabha“,  was  sprachlich 
dentisch  mit  Sippe  ist. 

Diese  Wahrnehmungen  bei  den  meisten  arischeu  Völkern  sprechen 
dafür,  dass  es  sich  hier  um  ein  allgemeinarisehes  Recht  handelt.  Und 
hält  man  mit  diesem  Ergebnis  die  bestimmten  Nachrichten  Caesars 
zusammen,  so  wird  man  nicht  mehr  zweifeln,  dass  auch  bei  unseren 
Vorfahren  einst  das  Eigentum  an  Grund  und  Boden  lediglich  den  zumeist 
dorfweise  angesiedelten  Geschlechtern  zugestanden  hat. 

DieWeiterentwickelung  richtete  sich  zunächst  darauf,  dass  die  wenigstens 
meistens  dorfweise  sitzenden  Geschlechtsgenossenschaften  sich  in  Markgenossen- 
schaften verwandelten.  Die  Verhältnisse  wurden  eben  stabiler,  die  Geschlechter 
siedelten  sich  in  festen  Häusern  an  und  blieben  für  die  Dauer  auf  dem 
ihnen  zugefallenen  Lande.  So  gewann  der  örtliche  und  dingliche  Zusammen- 
hang ein  Vorgewicht  vor  dem  persönlichen,  und  schliesslich  wurde  der 
letztere  ganz  vergessen  oder  durch  die  Zeit  zerstört,  nnd  es  blieb  nur  der 
erstere,  der  Markverband.  Dieser  rlieilto  nun  ebenso  wie  die  alte  Ge- 
scblechtsgenossenschaft  seiue  Landmark  an  die  einzelnen  Hausväter  aus  zur 
Nutzung,  zunächst  mit  periodischer  Neuvortheilnng.  Als  aber  diese  abkam. 
musste  sich  die  Sonderuutzung  vou  selbst  in  Soudereigen  verwandeln. 


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identisch,  als  Zubehör  voneinander  erscheinen  mussten.  Jetzt 
wurde  aus  dem  Begriffe  des  Zubehörs  die  umgekehrte  Con- 
sequenz  gezogen,  dass  der  Landbesitz  die  Gemeindeangehörigkeit 
gab.  Anf  ihm  hafteten  Rechte,  auf  ihm  lasteten  Pflichten  ; und 
namentlich  letzterer  Umstand  war  es,  der  bei  der  mangelnden 
Scheidung  von  Privat-  und  öffentlichem  Recht  für  die  Er- 
haltung der  Unteilbarkeit  der  Hufen  wesentlich  mitwirken  musste. 


Immer  aber  blieb  ein  Tlicil  des  Gemeindelandes  nnvertheilt.  An  ihm  lebte  das 
alte  Gesamte  igelt  thum  als  ein  redendes  Zeugnis  von  dem  früheren  Rechtszustamle 
fort.  Xio  konnte  deshalb  in  Vergessenheit  gerntheu  und  ist  cs  auch  nicht, 
dass  ursprünglich  alles  Land  eigentlich  der  Markgenossenschaft  znstand. 

Gerade  dieser  wichtigste  Abschnitt  in  der  Entwickelung  des  Privat- 
eigeuthums  ist  es  nun,  der  nicht  in  deutschen  Zeugnissen  uns  belegt 
ist.  Dafür  ist  er  für  das  slaviscbe  Itechtsgebiet  genau  beglaubigt. 
Ja,  iu  einem  anderen  arischen  Rechtsgebiete  vollzieht  er  sich  sozusagen  vor 
Unseren  Augen.  Tn  l’eudschab  rinden  sich  noch  heute  alle  Entwickelungs- 
stufen neben  einander:  1)  Zamindari,  Gesanimtreeht  der  Gemeinde  mit  Ge- 
summt wir  titsch  aft,  4)  Pattidari,  Vertheilung  des  Dorflaudes  unter 
Vorbehalt  periodischer  Neuvertheilung  an  die  Geschlechter  im  Dorf 
zur  Nutzung.  Darunter  vielleicht  noch  wieder  Vertheilung  des  taraf 
einer  ganzen  Familietigenosseusehaft  als  pattis  an  die  einzelnen  Familien. 
3)  Bhayachara.  Hier  ist  der  I’rivatbositzstand  definitiv.  Ueberall  aber 
bleibt  unausgesehieden  eine  gemeine  Mark,  eine  Almende.  (Vgl.  Köhler 
a.  a.  0.  8.  löüff. 

So  hat  sieh  der  Besitz  an  Grund  und  Boden  von  der  grösseren 
Einheit  auf  immer  kleinere  herunter  bis  zum  Hause  gezogen  (vgl 
Kollier  a.  a.  0.)  Der  Gang  ist  dabei  nicht  bei  allen  arischen  Völkern 
genan  der  gleiche  gewesen.  Es  findet  sich  Ueberspringen  eines  Mittel- 
gliedes. Aber  überall  hat  man  das  Gefühl  gehabt,  dass  das  Eigenthnin 
eigentlich  nicht  dein  Einzelnen  zustund.  Die  Griechen  haben  sich  stets 
daran  erinnert,  dass  tler  zeitige  Besitzstand  auf  einer  Vertheilung  durch 
den  Stamm  ruhe,  und  haben  es  deshalb  nicht  für  rechtswidrig  gehalten  zur 
Behebung  von  inzwischen  eingetretenen  Uobelständen  eine  „Nenvertheilung*, 
einen  ivHziu.'i;  auzuordnen.  (Vgl.  Leist,  Jnsgentium,  S.  00  und  anderswo). 
Seihst  die  Römer,  bei  denen  die  Grundeigenthumsordnung  von  Anfang  an 
erbeblich  fester  scheint  (vgl.  Leist,  Juscivile  S.  321 ),  haben  doch  noch 
später  nicht  vergessen,  dass  alles  Grundeigenthum  auf  staatlicher  Zuweisung 
beruht,  eine  Theorie,  die  noch  in  den  Pandekten  erscheint.  Bei  den 
Deutschen  vollends,  wo  bis  in  die  jüngste  Zeit  Zeugen  des  Gesamintrechts 
in  tlcn  bei  Griechen  und  Römern  unbekannten  Almenden  fortlebten,  wo 
ferner  bis  in  die  jüngste  Zeit  das  Gesanimtreeht  durch  Verordnungen  der 
Markgenossenschaft  über  Bewirthscliaftung  der  Gcmeiudefelder  sich  be- 
thiitigte,  iu  Deutschland  bestand  noch  mehr  Anlass,  die  Erinnerung  daran, 
wem  eigentlich  das  Eigenthum  der  Felder  gebührte,  wach  zu  erhalteu. 


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Die  öffentlichen  Lasten,  selbst  die  Dingpflicht,  — von  der 
Wehrpflicht  gar  nicht  zu  reden  — erforderten  nämlich  einen 
vermögenden  Mann.  Noch  unter  Karl  dem  Grossen  sind  Ge- 
setze erlassen,  um  die  Gemeinfreien  nicht  zu  oft  zu  der  Ding- 
pflicht heranzuziehen,  weil  diese  in  der  That  eine  Last  wer. 
Nicht  anders  kann  es  in  älteren,  kapitalärmeren  Zeiten  ge- 
wesen sein. 

Der  Gemeinde  lag  es  deshalb  daran,  dass  ihre  Mitglieder 
ansehnliche  Leute  waren,  und  sie  musste  es  zu  verhindern 
suchen,  dass  durch  Zertheilung  von  Grund  und  Boden  auf 
einem  Gute,  das  bisher  nur  einen,  aber  stattlichen  Manu  er- 
nährte, nunmehr  zwar  mehrere,  aber  proletarische  Existenzen 
sassen,  die  ihr  weder  im  Gericht  noch  im  Krieg  die  schuldigen 
Dienste  leisten  konnten. 

So  nimmt  den  auch  Heusler  in  seinen  Institutionen  an, 
dass  auch  im  Landrechte,  gerade  um  den  Bestand  der  gerichts- 
fähigen Leute  zu  erhalten,  die  Gemeinde  über  den  Güterstand 
eine  weitgehende  Kontrolle  ausübte;  er  bezieht  sich  auf  Ssp. 
I,  34,  welcher  als  Grenze  der  Zerstücklung  ansetzt:  dass  einer 
bei  Verkauf  seines  Gutes  doch  wenigstens  eine  halbe  Hufe 
und  Hofstatt  behalte,  wovon  er  dem  Richter  seines  Rechts 
pflegen  könne.13)  Deutlicher  kann  es  nicht  ausgesprochen 


ls)  So  sehr  wir  hier  wie  anderwärts  mit  den  Heusler'schen  Auslassungen 
einverstanden  sind,  und  so  sehr  man  ihm  recht  geben  muss,  wenn  er  be- 
hauptet, dass  beschränkte  Theilbarkeit  auch  im  Landrechte  hergebracht  ge- 
wesen sei,  namentlich  mit  Rücksicht  auf  die  Dingpflicht,  so  kann  man  ihm 
doch  nicht  soweit  folgen  anzunehmen,  dass  die  gerichtliche  Auflassung  ent 
standon  sei  aus  einem  dem  Gerichtsherren  znstehenden  Conseusrecbt.  Wir 
schliessen  uns  deshalb  bis  auf  Weiteres  der  Brunnerschen  Ansicht  an,  dass 
die  gerichtliche  Fertigung  der  Geschäfte  über  Grundbesitz  zuriiekgeht  auf 
das  Bestreben,  das  unanfechtbare  Gerichtszeugnis  zu  gewinnen,  wonach 
also  die  Thätigkeit  des  Gerichts  eine  wesentlich  zuschauende  ist.  ( Vgl. 
oben  Anm.  7).  War  allerdings  einmal  eine  solche  gerichtliche  Fertigung 
eingeführt,  so  musste  das  Widerspruchsrecht  auch  des  Gerichtsherrn  — 
und  nur  ein  solches,  nicht  ein  positives  Conscnsrecht  machen  die 
Heusler'schen  Anführungen  wahrscheinlich  — , so  musste  das  Widerspruchs- 
recht des  Gerichtsherrn  ebenfalls  in  der  gerichtlichen  Verhandlung  geltend 
gemacht  werden,  weil  sonst  eine  Verschweigung  am  Recht  eintrat  Auch 
diese  Wirkung,  die  Heusler  hervorhebt  und  die  zeigt,  dass  cs  sich  um 
keinen  Consens  handelt,  denn  dieser  kann  durch  Verschweigen  nicht  ver- 


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21 


werden,  dass  die  Untheilbarkeit  oder  beschränkte  Theilbarkeit 
eines  Gutes  w urzelt  in  der  gerade  auf  freien  Gütern  bestehenden, 
nicht  dem  Hofrecht,  sondern  dem  Landrecht  ent- 
wachsenen Dingpflicht. 

Auch  heute  sind  es  denn  die  öffentlichen  Lasten  die, 
z.  B.  in  Indien,  für  freie  Güter  Untheilbarkeit  und  Einerbfolge 
zeitigen.14) 

Ist  sonach  die  Untheilbarkeit  ein  auch  im  Landrechte 
seit  alters  bekanntes  Institut,  so  kann  es  anderseits  nicht  ge- 
leugnet werden,  dass  sie  in  manchen  Gegenden  früh  verschwunden 
ist  und  sich  nur  in  hofrechtlichen  Verhältnissen  erhalten  hat. 

Daraus  aber,  dass  sie  dort  vorzugsweise  noch  angetroffen 
wird,  folgt  noch  gar  nicht,  dass  sie  auch  aus  eigentlich  hof- 


loren gehen,  da  ohne  ihn  überhaupt  nichts  zustande  kommt,  — auch  diese 
Wirkung  mochte  die  geiichtliche  Auflassung  empfehlenswert!)  erscheinen 
lassen,  aber  entstanden  ist  sie  daraus  ebensowenig  wie  daraus,  dass  das 
gleichartige  Widerspruchsrecht  der  Erben  durch  sie  gehoben  werden  konnte. 
Ob  ein  Widerspruchsrecht  der  Gcrichtsgemeinde  oder  des  Gerichtsherrn  be- 
stand, hat  eben  mit  der  Frage  nach  dem  Ursprünge  der  gerichtlichen  Auf- 
lassung nichts  zu  thun.  Es  kann  bestehen,  wo  es  jene  nicht  giebt,  und  es 
kann  fehlen,  trotzdem  jene  gebräuchlich  ist.  Gerade  wie  das  Widcrspruchs- 
recht  der  Erben  auch  an  Orten  bekannt  ist,  wo  jene  hei  Veräussemngen 
nicht  mitwirken  (v.  Amira.  Erbenfolge  S.  105)  und  wo  diese  nicht  gerichtlich 
geschehen.  — Es  soll  übrigens  nicht  verschwiegen  werden,  dass  die  Heusler- 
sche  Auffassung,  die  Auflassung  aus  des  Richters  Hand  sei  die  fnrmge- 
rechteste  gewesen,  unterstützt  wird  durch  zwei  Weistümer,  die  wir  aus 
ihrer  Vergessenheit  hei  Nolten  eutreisseu  wollen.  Die  Freidings  Artikeln 
zu  Bettmar  (Nolten  S.  15T/158)  besagen:  Nach  vorausgegangenen  gehörigen 
Urtheilen  „tritt  der  Verkäufer  oder  der  das  Land  versetzet,  herfür  und 
greiffet  mit  der  Hand  in  des  Richters  Huth,  welches  dem  uralten 
Gebrauch  nach  der  Verlass  ist.“  Hierauf  fährt  der  Versprecher  fort: 
„Das  Gut  ist  verlassen  und  hat  koinen  Herrn  als  den  Richter,  so 
frage  ich  weiter,  ob  Kauffcr  nicht  soll  hervortreten  und  solches  aus 
des  Richters  Hand  wieder  empfangen?“  Der  Richter,  nach  ge- 
höriger Umfrage,  „affirmat“.  „Dor  Kauffer  tritt  darauf  hervor  und 
greifft  mit  der  Hand  in  des  Richters  Huth,  wodurch  er  die 
Possession  des  Guthes  ergreiffet.“  — ■ Ebenso  findet  os  sich  in  den  Frei- 
dingsartikeln von  Giesen  und  Emmerko  boi  Nolten  S.  181. 

M)  Vgl.  Köhler  a.  a.  O.  S.  206/207 : „Ansätze  der  Primogenitur  sind 
nicht  selten,  insbesondere  so,  dass  der  älteste  in  die  erbliche  publi- 
zistische Stellung  einrückt.  So  erbt  in  Rohtak  der  älteste  Sohn  eines 
lambardari  sein  Lambardarrecht.“  Vgl.  über  den  Gebrauch  in  Spiti : ebenda. 


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rechtlichen  Ideen  entstanden  ist.  Denn  es  ist  bekannt,  dass  im 
Hofrecbte  auch  landrechtliche  Rechtsgedanken  eine  grundlegende 
Rolle  spielen.  Es  kann  deshalb  sehr  wohl  etwas,  das  im 
Hofrechte  gilt  aus  einem  in  dieses  aufgenommenen  landrecht- 
lichen Grundsatz  entsprungen  sein. 

Und  so  werden  wir  denn  auch  bei  unserer  Frage  in  der 
That  sehen,  dass  die  Untheilba rkeit  im  Hofrechte  aus 
eigentlich  landrechtlichen  Prinzipien  vielleicht  nicht 
entstanden,  aber  mindestens  durch  deren  Eindringen  in  das 
Hofrecht  erhalten  worden  ist.  Namentlich  die  aus  dem  Land- 
rechte herübergenommene  Dingpflicht,  die  in  jenem  massgebende 
Rücksicht  auf  deren  ungeschmälerte  Erfüllung  war  es  auch 
hier,  die  eine  der  Gütertbeilung  feindliche  Strömung  hervorrief 
oder  unterstützte. 

Zunächst  freilich  war  es  der,  immerhin  auch  dem  landrecht- 
lichen Gedanken  von  dem  Gesammteigenthume  des  Markver- 
bandes analoge,  stets  fortlebende  Gedanke  von  dem  ursprüng- 
lichen Eigenthum  des  Herrn  an  den  gesammten  Hofgütern,  der 
die  Gebundenheit  herbeiführte.  Es  traf  mit  diesem  Gedanken 
sofort  aber  auch  hier  zusammen  die  Rücksicht  auf  die  Erhaltung 
der  Lasten  und  Dienste,  welche  auf  dem  Grundeigenthnni 
ruhten,  wenn  es  sich  zunächst  auch  nur  um  die  von  unseren 
Gegnern  betonten  hofrechtlichen  Dienste  handelte. 

Besonders  deutlich  tritt  diese  Tendenz  des  Theilungsver- 
botes  hervor  in  dem  Weisthum  bei  Grimm  IV,  5 IG. 

Es  handelt  sich  hier  um  die  Rechte,  welche  dem  Kloster 
Herrenalb  im  Schwarzwald  an  den  Höfen  zu  Ottersweiler  im 
Büchlerthal  zustehen. 

Diese  Höfe  hatte  das  Kloster  au  4 Bauern  ausgethan  und 
dabei  in  der  loeatio,  dem  Leihebriefe,  festsetzen  lassen:  quod 
quatuor  praedictae  personae  bona  ipsaheredibus  suis  pl  uri  bus 
dividere  non  deberent.  Allein  man  liess  von  der  Strenge 
nach,  denn  das  Weistlmm  bemerkt  dazu:  quod  nec  hodie  fieri- 
debet,  nisi  de  claustri  super  hoc  requisitä  et  obtentä  processerit 
voluntatc.  Quod  si  factum  fuerit  et  obtentum.  ut.  predicta  bona 
pluribus  dividautur,  quatuor  tarnen  inter  eos  principaliores 
tenebuntur  ad  pensionein  annuam  persol vendam. 


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23 


Konnte  man  also  das  Prinzip  der  Unteilbarkeit  auch  nicht 
ganz  starr  durchrühren,  so  war  der  Gedanke,  dass  das  Grund- 
stück den  Lasten  und  Diensten  als  Unterlage  diene  und  des- 
halb möglichst  in  unversehrtem  Bestände  erhalten  werden  müsse, 
— dieser  Gedanke  war  noch  stark  genug,  wenigstens  in  An- 
sehung der  Dienste,  eine  künstliche  Ungetheiltheit  neben  der 
faktischen  Theilbarkeit  zu  erzeugen.  Dieser  Ausweg  der  Be- 
stellung eines  Zinsträgers  für  die  geteilten  Güter  musste 
denn  auch  oft  beschritten  werden.15) 

Seine  mächtigste  Stütze  aber,  ohne  welche  es  der  theilungs- 
freundliehen  Zeitströmung  noch  schneller  erlegen  wäre,  erhielt 
das  Theilungsverbot  im  Hofrechte  gerade  dadurch,  dass  auf 
hofhörige  Güter  in  weitem  Umfange  landrechtliche 
Grundsätze  übertragen  wurden. 

Es  hing  dieser  Vorgang  zusammen  mit  der  Ausbildung  von 
Hofgemeinden,  welche  als  jüngere  Nachbildung  der  älteren  land- 
rechtlichen Gemeinden  und  durch  dieselben  Rechtsgedanken 
hervorgetrieben,  sich  hinter  dem  Grundherren  einschoben  und 
einen  Tlieil  der  Functionen  des  Gesamtrechts,  welche  ursprünglich 
jener  allein  ausgeübt  hatte,  an  sich  nahmen. 

Insbesondere  waren  es  gerade  die  Aufgaben  der  öffentlichen 
Gewalt,  welche  so  zum  grössten  Tlieil  vom  Grundherrn  auf  die 
Gemeinde  übergingen,  Polizei  und  Gerichtswesen. 


15)  Z.  B.  Grimm  IV,  720,  § 16  (Hottenbach  zwischen  Bemcastel  und 
Harstein).  Auch  weiset  der  Schöffen,  dass  auf  eim  jeglichen  gut  ein  haupt- 
mann sein  soll,  des  des  lehtnherren  kneeht  sein  zins  ausrichten  soll  auf 

St.  Martinstag undt  hat  ein  hauptmann  mitgemeiner,  die  zu 

den  giitern  geerbt  sein  ....  — II,  181  (Bavengirsburg  im  Huusriiek)  ein 
icglich  empfenglich  gut,  das  von  ein  gestockt  und  gestaint  und  ver- 
theilt ist,  in  vier  fiinf  oder  mehr  ....  soll  doch  bei  einem  bodenzinss 
bleiben  und  sollen  dieselbigen  ein  hauptmann  stellen,  den  boden- 
zins  ausrichten.  — Strassburger  Verordnung  bei  Schiltor-Gambs,  Dissertatio 
de  Bonis  Iauderaialibus  S.  20:  „Wer  sin  eigen  oder  sin  erbe,  es  sy  men  oder 
wib  zu  erbe  lihet,  von  der  Hofherrn  wandluugc  soll  man  keinen  Erschatz 
geben;  wo  aber  an  suslichen  Erb  zwen  oder  me  zu  erbe  kmnent,  w öl  len 
die  ir  erbe  teilen,  das  mögen  sie  wol  tliun  one  den  Hofherrn,  also 
das  sy  dem  Hofherrn  einen  hofesesser  usser  in  gebent,  der  es  emphahe 
von  ihr  aller  wegen  und  imo  Erschatz  gebe,  ob  er  Erschatz  geben  soll, 
und  einen  zins.  — 


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24 


Seitdem  lasteten  die  öffentlichen  Pflichten,  vor  allem  die 
Dingpflicht  auf  dem  Grundstück.  Und  dass  auch  hier  gerade 
sie  es  am  ersten  war,  die  sich  als  ein  Damm  gegen  die  Zer- 
splitterung erwies,  dafür  sind  ein  lebendiges  Zeugniss  die  viel- 
fältigen Mittel,  mit  denen  man  wenigstens  für  das  Gerichtswesen 
noch  eine  künstliche  Einheit  der  Güter  herbeizurühren  suchte, 
als  man  ihre  thatsächliche  Trennung  dem  Zuge  der  Zeit  ent- 
gegen nicht  mehr  hindern  konnte.  Die  uns  in  zahlreichen  Hof- 
roddeln  aufbehaltenen  Gebote,  einen  „Träger“  oder  „Haupt- 
mann“ aufzustellen,  der  die  Güter  „zu  Ring  und  Ding“  trage, 
sie  lehren  uns,  mit  welcher  Kraft  selbst  zu  den  ungünstigsten 
Zeiten  gerade  die  nicht  dem  Hofrechte  entsprossene  Dingpflicht 
auf  die  Untheilbarkeit  der  Güter  hinwirkte. 

Mit  Recht  konnte  deshalb  Gierke  sagen,  dass  die  Untheil- 
barkeit nicht  allein  im  Interesse  des  Grundherrn,  sondern  ebenso 
und  vielleicht  noch  mehr  in  dem  der  Hofgemeinde  festgchalten 
wurde,  und  mit  Recht  legt  er  hierbei  auf  den  landrecht- 
lichen Gesichtspunkt  der  öffentlichen  Lasten  das  Hauptgewicht, 
wenn  er  schreibt:  Es  war  „ebenso  sehr  die  Gemeinde,  wie  die 
Grundherrschaft  an  der  Erhaltung  des  Gutes  in  der  Familie 
an  seiner  Besetzung  mit  einem  wehrhaften  und  gerichtsfähigen 
Manne,  und  an  seiner  fortdauernden  Tragfähigkeit  für  die 
öffentlichen  Lasten  interessiert.“ 

Fassen  wir  nun  die  Ergebnisse  dieses  Abschnittes  zu- 
sammen, so  ist  die  Untheilbarkeit  zwar  im  Hofrechte  besonders 
ausgebildet,  allein  der  Gedanke  der  Untheilbarkeit  selbst  ist 
nicht  aus  ihm  entsprungen. 

Dass  uns  positive  Zeugnisse  seines  Daseins  nur  in  hof- 
rechtlichen Quellen  erhalten  sind,  rührt  daher,  weil  wir  über  die 
Gestaltung  der  Hofgemeinden  fast  von  der  ersten  Zeit  ihres 
Bestehens  an  unterrichtet  sind,  über  das  Landrecht  aber  uns 
Zeugnisse  aus  einer  gleich  jugendlichen  Periode  desselben 
mangeln. 

Gleichwohl  haben  die  alten  Rechtsgedanken,  wie  sie  einst 
bei  der  Bildung  der  landrechtlichen  Gemeinden  thätig  waren, 
auch  am  Aufbau  der  Hofgemeinden  gearbeitet  und  uus  so  in 
diesen  ein  verjüngtes  Abbild  jener  hinterlassen,  an  denen  wir 
die  alte  Gestaltung  jener  ermessen  können;  aber  etwas  durch - 


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gängig  neues  sind  sie  nicht.  Dass  dem  so  ist,  lässt  sich  für 
viele  Einzelheiten  der  Hofgemeindeordnung  urkundlich  belegen, 
z.  B.  für  die  Schöffenverfassung,  lür  die  Gestaltung  der  Al- 
mende u.  a.  m.:  für  die  Untheilbarkeit  ist  es  wenigstens  wahr- 
scheinlich, wie  oben  gezeigt,  und  muss  deshalb  bis  zum  Gegen- 
beweis als  richtig  angenommen  werden. 

§ 3. 

Wie  auf  dieser  Grundlage  der  Untheilbarkeit  die  Einerb- 
folge entstanden  ist.  lässt  sich  unschwer  ausmalen. 

Und  gerade  weil  dies  so  leicht  ist,  deshalb  sind  so  viele 
in  den  oben  erwähnten  Irrthum  verfallen,  aus  der  Untheilbarkeit 
und  der  Untheilbarkeit  allein  das  Anerbenrecht  mit  allen  seinen 
Eigenthümlichkeiten,  insbesondere  auch  den  Umstand  erklären 
wollen,  dass  die  Miterben  nicht  Erbtheile,  sondern  Abfindungen 
erhalten. 

Allein  wie  es  überhaupt  nicht  wahrscheinlich  ist,  dass  ein 
so  bedeutender  Theil  des  Rechts  wie  das  bäuerliche  Erbrecht 
mit  allen  seinen  Eigenheiten  nur  aus  einer  Wurzel  entstanden 
ist,  wie  es  sich  vielmehr  auf  den  verschiedensten  Gebieten  er- 
weist, dass  erst  viele  Kanäle  zusammen  fliessen  mussten,  um 
einen  Strom  zu  bilden,  so  ist  auch  für  das  bäuerliche  Anerben- 
recht die  Meinung,  welche  alle  seine  Besonderheiten  aus  der 
Gebundenheit  der  bäuerlichen  Hufen  herleitet,  in  mehrfacher 
Hinsicht  anfechtbar. 

Zunächst  müsste  man  nämlich  bei  dieser  Ansicht  annehmen, 
dass  die  Einerbfolge  ein  nothwendiges  Correlat  der  Untheilbarkeit 
sei.  Dann  muss  es  aber  sofort  auffallen,  wenn  sich  Anerben- 
recht findet  ohne  Untheilbarkeit  oder  vor  ihrer  Einführung,  und 
doch  haben  wir  das  zu  verzeichnen. 

In  Bayern  nämlich  wurde  die  Untheilbarkeit  erst  1616 
eingeführt  und  auch  da  noch  nicht  für  den  Fall  der  Erbtheilung. 
Trotzdem  war  schon  damals  die  stets  auf  Einerbfolge  hin- 
weisende Gutsübergabe  alter  Brauch.15.)  Ebenso  findet  sich  in 


15*)  Fick  S.  26  und  27.  S.  28.  — Die  diesbezügliche  Stolle  des  Kom- 
mentars der  Polizeiverordnnng  lautet:  Commune  enim  est  in  plebe 

rustica,  ut  seniores  coloni  ...  uni  ex  liberis  vel  haeredibus  bonum  suum 


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2Ö 

Oesterreich,  namentlich  in  den  deutschen  Gegenden  Böhmens 
und  .Schlesiens  hergebrachtermasscn  die  ungeteilte  Vererbung 
mit  Bevorzugung  des  Uebernehmers,  trotzdem  die  Theilung  zu- 
lässig war  und  sogar  von  den  Gutsherrn  begünstigt  wurde.1’*) 
Ferner  aber  müsste  man  bei  der  behaupteten  Wechsel- 
beziehung zwischen  Einzelerbfolge  und  Unteilbarkeit  erwarten, 
dass  dort,  wo  diese  sich  noch  erhalten  hat,  auch  jene  sich 
findet.  Aber  auch  das  trifft  keineswegs  zu.  Wenn  wir  auch 
abseheu  von  solchen  Stellen,  welche  gerade  der  Erben  halber 
eine  Theilung  der  sonst  untrennbaren  Güter  gestatten,  wie  es 
z.  B.  der  Hubspruch  von  Hessigheim  am  Neckar  aus  dem 
Jahre  1424  thut1B)  — wenn  wir  von  solchen  Aeusserungen 
auch  abseheu  und  sie  eben  als  allmählich  eingeschliehene  Aus- 
nahmen von  dem  Prinzip  der  Gebundenheit  betrachten,  so  fällt 
schon  mehr  ins  Gewicht  folgende  Stelle:  „Dar  Kinder  ader 

Erven  van  einem  Havesgude  unvertegen  weren,  de  mögen  dat 
Gut  nich  splettern  oder  erffdeilen  und  in  ander  Hände  bringen, 
sondern  mögen  dat  versetten  und  Pennynge  up  nemmen. 
und  ehren  Erffdeyl  affwilligen,  vorbehaltlich  dem  Hoffherren 
alle  Gerechtigkeit  daran.“  Doch  auch  von  diesen  Worten  mag 
zugegeben  werden,  dass  der  darin  angegebene  Rechtssatz  nicht 
gerade  darnach  aussieht,  als  ob  er  aus  einfachen  Zeiten  stammt 
und  auf  hohes  Alter  Anspruch  hätte.  Gleichwohl  giebt  der 
Ausspruch  zu  denken  und  zeigt  wenigstens  soviel,  dass  der  be- 
hauptete Zusammenhang  zwischen  Unteilbarkeit  und  Anerben- 
recht so  eng  nicht  ist,  als  man  ihn  oft  hat  hinstellen  wollen.17) 
Es  kommt  aber  ein  Zweites  hinzu. 


empbyteuticum  cedant,  sed  pro  se  et  uxore  sua  nnimam  quandam  pensionem 
. . . silii  reservent,  quae  reservatio  dicitur  .ein  Austrag." 

Vgl.  Grünberg  bei  Scbinollor,  Jahrbuch  XX.  S.  23 ff.,  natucutlich 
S.  29  und  31,  S.  30  und  sä. 
lc)  Grimm  VI,  31L  § 21. 

'~)  Vgl  darüber,  dass  Unthcilhnrkeit  und  Auerlienrecht  nicht  notb- 
wendig  zusnmmengebüren.  auch  Frommhold,  Anerbenrecht  S 9.  — Vgl. 
auch  das  Soimscr  Lnndreeht  von  1612.  E»  hat  für  Landgüter  dicGchotc 
der  l n t heil barkeit  und  rnvcraiisserlichkeit.  Gleichwohl  hat  es  nicht 
F.incrbfolge,  sondern  bestimmt  in  § 30  .Wenn  der  Landsiedel  und  Mit- 
erben viel  werden,  so  sollen  sie  auf  Begehren  des  Lehnsherrn  einen  Stamm 


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Wenn  wirklich  das  Ai.erbenreclit  allein  durch  die  Unteil- 
barkeit hervorgetrieben  wäre,  so  müsste  man  es  zunächst  für 
wenigstens  ziemlich  so  alt  halten  als  diese  und  ferner  an- 
nehmen, dass  mit  dem  zunehmenden  Verschwinden  der  Ge- 
bundenheit auch  das  Anerbenrecht  mehr  und  mehr  Boden  ver- 
loren habe.  Beides  trifft  nicht  zu.  Es  finden  sich  nirgends 
sehr  alte  Zeugnisse  für  das  Anerbenrecht  im  heutigen  Sinne, 
vielmehr  hat  es  den  Anschein,  als  ob  dieses  erst  jüngeren 
Datums  wäre.  Aber  auch  die  Ansicht,  dass  die  Einerbfolge 
bei  der  fort  und  fort  zunehmenden  Theilbarkeit  der  Güter  in 
gleichem  Masse  abgekommen  wäre,  ist  ein  Irrthum. 

Allerdings  finden  sich  in  den  Weisthümcrn  erstaunlich 
wenig  Stellen,  welche  auf  ein  wahres  Anerbenrecht  hinweisen.18) 


unter  ilinen  ausmachen,  also  das»  durch  denselben  aus  einer  Hand  die  Zinsse 
oder  Pacht  jedes  Jr.br  eiimuitlich  und  nicht  zerlhcilet  mögen  gereichet 
werden.“  Vgl.  auch  die  in  Amu.  lfi  citier'en  Quellen,  welche  die  Frage 
ebenso  wie  das  .Solmser  Laudreclit  lösen. 

ts)  Solche  sind  Grimm  IV,  591,  § 5 Bingen  a Rh.  1425:  Item  oh  sich 
begehe,  dass  ein  mannwercker  oder  mehe  ahgingen  von  toidts  wegen  und 
erben  Hessen,  iss  sy  man.«  oder  frauwen  persone,  so  sal  solieh  mnnwerke 
gefallen  sein  ttf  den  ältesten  und  nelisten  erben  unvertheylt  und  der 
ader  die  »ollent  mannwercker  seyn.  — Ebenso  Landrecht  von  Loen  in  Westfalen 
v.  1303  und  1Ö47  ((irimm  III,  151  §§  50  und  53).  — II,  763  (Willlch  bei 
Krefeld  1490).  Item  anno  1499  up  der  tinsshank  in  Willik  haint  sie  ge- 
sprochen und  gewist:  so  wanneer  ein  hafsmann  stirft,  zo  der  neistcr  tins- 
bank,  soll  der  elsto  soen  koemen  und  untfungen  dat  guet  weder  an  die 
band  und  stacn  in  dem  eid  sins  vaders.  — Ein  Anerbenrecht  des  Jüngsten, 
aber  nur  an  Haus  und  Hof.  gehen  I,  233  und  V,  00,  $ 20.  — Hierzu 
kommen  noch  aus  Sommer.  Rheinland-Westfalen,  Bd.  II,  die  unten  citierten 
Hofsreclite  von  Kyner,  Drechen  und  Berge  (S.  io  daselbst)  und  die  Kssen- 
schen  Hofsrechte  (S.  220),  welche  alle  zwar  erst  in  späteren  Texten  (1717) 
aufbehalteu  sind,  aber  einer  früheren  Zeit  entstammen.  Ferner  die  in 
Amu.  7 citierten,  bei  Nolten  ahgedruckteu  WeistUmer,  sowie  das  in  Aum.  0 
mitgetheilte  Haegenweisthum  zu  Wieinbock.  — Endlich  sind  hierher  zu 
setzen  die  bei  Frommhold,  AnerheureeUt  S.  12  stehenden  beiden  Urkunden 
von  1297  und  1314.  Es  sind  allerdings  lediglich  Vertragsurkunden,  können 
aber  als  Zeugnisse  einer  gleichzeitigen  Rechtsübung  gelten.  Der  Wortlaut 
ist:  Urkunde  vou  1297:  Quod  post  mortem  ipsorum  in  perpetuum  senior 
beres  ipsorum  eadem  bona  possideat  indivisa  qui  etiam  heres  suis 
coberedibus  aliis  recompeusam  talem  lauere  teuebitur.  ut  eadem 
bona  sine  eornm  praojudieio  possideat  indivisa.  Urkunde  von  1314:  hec 


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28 


Allein  in  späterer  Zeit  ist  dieses  Institut  über  weit«  Flächen 
verbreitet  und  hat  noch  heute  einen  nicht  unbeträchtlichen 
Geltungsunifang.  Die  conscquenten  Vertheidiger  der  Ansicht, 
dass  das  Anerbenrecht  allein  der  Untheilbarkeit  entsprossen 
sei,  sehen  sich  deshalb  zu  der  Behauptung  gedrängt,  dass  neue 
Einflüsse  nach  der  Zeit  der  Weisthümer  die  Untheilbarkeit 
wieder  befestigt  und  so  auch  dem  Anerbenrecht  zu  neuem 
Leben  verholfen  hätten.  Dies  ist  die  Meinung  von  Miaskowskil!<) 
und  auch  Gierke  scheint20)  dieser  Anschauung  zu  huldigen, 
wenn  er  schreibt:  (Bd.  2,  S.  83,  Text  und  Anm.  12).  „Und 
auf  allen  Stufen  erhielten  sich  trotz  der  im  Allgemeinen  stetig 
vordringenden  freien  Theilbarkeit  einzelne  Reste  der  alten 
aus  dinglicher  Zusammengehörigkeit  folgenden  Theilungs- 
erschwerungen,  welche  demnächst  als  äussere  Anknüpfungs- 
punkte für  eine  neue  theilungsfeindliche  Gegenströmung 
dienen  konnten,  deren  treibender  innerer  Grundgedanke  freilich 

ein  ganz  anderer  war, der  Gedanke  eines 

öffentlichen  Interesses.“ 

Allein  diese  Annahme  kann  die  weite  Verbreitung  des 
Anerbenrechts  nach  der  Zeit  der  Weisthümer  doch  nicht  er- 
klären. Denn  dies  öffentliche  Interesse,  d.  h.  die  Anschauung, 
dass  der  Bauernstand  als  Steuer  und  Rekrutenquelle  erhalten 
werden  müsse,  ist  zwar  lange  sehr  mächtig  gewesen  und  hat 
viel  für  die  Conservirung  des  Anerbenrechts  gethan,  aber  sic 
hat  nicht,  wie  es  nach  der  obigen  Darstellung  scheint,  an  noch 
bestehende  Reste  des  alten  Anerbenrechts  angeknüpft  und  es 
verallgemeinert,  so  dass  ihm  so  sein  nachmaliger  weiter  Bestand 
verliehen  wurde,  sondern  sie  hat  diesen  weiten  Bestand  überall 
vorgefunden.  Für  Bayern  ist  eben  dargethan,  dass  die  unge- 
teilte Vererbung  dort  älter  ist,  als  die  ersten  Gesetze,  welche 


bona  post  uiortcm  predicti  W.  S.  senior  filius  eins  pessidebit  et  illius  filii 
senioris  senior  filius  et  sic  in  infinituin,  ita  ut  semper  maueaut  indivisa 
npud  nimm. 

K)  Bd.  1,  S.  172;  Bd.  2.  S.  135. 

leb  sage  .scheint“.  Denn  iibor  das  Ancrbenrccht  fallen  bei  Gierke 
nur  gelegentliche  Bemerkungen  ab,  wie  das  dem  Plane  seines  Werkes  ja 
durchaus  entspricht.  Kine  ähnliche  Stelle  wie  die  citierte  findet  sich  Bd.  2 
S.  202,  203. 


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29 


die  Untheilbarkeit  wieder  anffrischten.  Für  Oesterreich  ist  das 
einzige,  was  sich  aus  den  Grüuberg' sehen  Studien  mit  Sicher- 
heit ergiebt,  dass  ungetheilter  Uebergang  uuter  Bevorzugung 
des  Uebernehmers  dort  üblich  war,  bovor  Theilungsverbote  und 
Gesetze  über  die  bäuerliche  Erbfolge  erlassen  wurden.  Und 
was  den  Nordwesten  und  seine  Landesordnungen  aus  dem 
17.  und  18.  Jahrhundert  anbetrifft,  so  setzen  diese  alle  das 
Anerbenrecht  voraus,  bestätigen  und  befestigen  es,  aber  sie 
schaffen  es  nicht  neu21)  und  führen  es  nirgends  eiu,  wo  es  nicht 


S1)  Schon  die  Lippesehe  Polizeiverordnung  von  1620  fand  Anerbenrecht 
vor.  Denn  sic  setzt  fest,  wie  hoch  der  Betrag  der  Abfindung  sein  soll, 
geht  also  davon  aus,  dass  Abfindung  und  fiinzelerbfolge  au  sich  bestehen 
und  regelt  nur  deren  Modalitäten.  So  lantet  denn  auch  ihre  Bestimmung: 
.dass  ein  gemeiner  Meyer,  der  mehr  als  ein  Kind  nuszustatten  hat,  an 
barem  Uelde  nicht  über  100  Rthlr.  . . . zum  Brautschatze  mitgeben  soll.“ 
Die  Begriffe  „ausstatteu“  und  .Brautschatz“  und  der  Fall  des  Ausstattens 
und  damit  das  ganze  bäuerliche  Erbrecht  sind  souach  älter  als  die  Polizei- 
verordnung und  werden  von  dieser  als  gegebene  benutzt.  — Fast  denselben 
Wortlaut  hat  die  Landesor  Inung  des  .Divus  Augustns“  (bei  Nolten)  d.  h. 
des  Braunschweiger  Herzogs  August  von  1633  bis  1666:  „Wer  seine  Kinder 
aus  seinen  Gütern  aussteneru  will.“  Auch  hier  ist  also  der  Begriff 
„Aussteuer“  schon  vor  der  Landesordnung  gegeben.  In  gleicher  Weise  be- 
schränken sich  alle  Polizeiordnungen  und  Landesordnungen  darauf,  au 
einzelnen  Bestimmungen  des  Anerhenrechts  herumzuändern,  z B.  hinsichtlich 
der  Person  des  Anerben  — wie  die  Lippesche  Verordnung  von  1782,  die 
Lüneburger  Edikte  von  1690  und  1702,  — oder  hinsichtlich  der  Höhe  der 
Abfindung,  — wie  die  citierte  Lippesche  Polizeiordnung,  die  Lüneburger 
Verordnung  von  1618,  — den  Grundstock  des  Anerhenrechts  aber  setzen 
sie  immer  als  bestehend  voraus.  Einzelne  Landesordnungen  beziehen  sich 
noch  ausdrücklich  auf  bestehenden  Brauch : so  Wolffenbüttler  Statut,  art.  16; 
„Es  soll  dem  jüngsten  Sohn,  oder,  wenn  der  nicht  will,  dem  nächsten  vor 
ihm  her.  nach  Landes-sittlichen  Gebrauch  seine  Miterben  ablegen 
und  ihm,  das  Haus  zu  behalten,  vergönnet  werden.“  Oder  sie  lassen 
wenigstens  durch  ihren  Wortlaut  erkennen,  dass  sie  alte  Gewohnheit  vor- 
finden; so  Polizeiordnung  f ir  Lüneburg,  Diepholz  und  Hoya,  von  1618; 
„Xacudem  ....  Zerreissung  der  Höfe  und  Koten  allbereit  vorlängst 
verboten  werden.“  (Ein  älteres  gesetzliches  Verbot  als  1618  ist  aber 
nicht  bekannt  und  war  früher  auch  nicht  bekannt)  Ferner  Redintegraledikt 
für  Lüneburg  von  1699:  „Ob  zwar  auch  in  unsenn  Fürstenthum  Lüneburg 
und  denen  Grafschaften  Hoya  von  denen  Inhabern  der  Meyer-,  Erben-, 
Zins-  und  Schillings-Güter  prätendieret  und  für  eiu  Recht  gehalten 
werden  wollen,  dass  bey  Absterben  eines,  mehrere  Söhne  hinterlassenden 


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schon  galt.  Es  bleibt  also  nur  zweierlei  übrig:  entweder  die 
Weisthilmer  erwähnen  nur  zufällig  das  Anerbenrecht  nicht, 
obwohl  sic  gerade  das  Sueeessionsrccht  sonst  sehr  sorgfältig 
ordnen;  das  ist  nicht  gerade  wahrscheinlich,  — oder  cs  hatte 
thatsäcldich  in  den  Tagen  der  Weisthümer  nur  eine  beschränkte 
Ausdehnung,  war  aber  damals  schon  im  Zuge,  sich  die  weiten 
Gebiete  zu  erobern,  die  es  kurz  nach  der  Zeit  der  Weisthümer 
lange  vor  Beginn  der  Periode  der  Landesordnungen  beherrscht. 
Dann  aber  entstammt  es  einer  Zeit,  wo  die  Untheilbarkeit  der 
Güter  im  Absterben  und  von  eng  umgrenzter  Geltung  war  und 
ein  so  allgemein  verbreitetes  Institut  nicht  mehr  hervorbringen 
konnte.  Der  Gedanke  ist  mithin  unabweislich,  dass  noch  andere 
Bausteine,  als  die  weit  später  erst  wiedergefundene  Untheil- 
barkeit zum  Bau  des  Auerbenrechts  verwendet  sein  müssen. 

Endlich  aber  — und  das  ist  der  wichtigste  Grund,  warum 
die  Theorie  von  der  Untheilbarkeit  nicht  zureicht  — vermag 
diese  Theorie  das  Institut  der  Abfindung  gar  nicht  zu  erklären, 
im  Gegentheil,  sie  ist  geeignet,  ein  ganz  falsches  Licht  darüber 
zu  verbreiten.  Denn  wenn  die  Untheilbarkeit  feststeht,  so 
kann  allerdings  nur  einer  in  das  Gut  suceedieren:  aber  die 
Miterben  bekommen  dann  auch  aus  dem  Gute  Nichts.  Das  ist 
zunächst  daun  selbstverständlich,  wenn  die  Untheilbarkeit,  wie 
die  Gegner  wollen,  getragen  wurde  durch  das  Fortleben  des 
Gedankens,  dass  eigentlich  das  Gut  dem  Bauern  gar  nicht  ge- 
höre. Denn  dann  fiel  es  weder  in  natura  noch  dem  Werthe 
nach  in  die  Erbschaft.  Aber  auch  wenn  jener  Gedanke  nicht 
der  Grund  der  Untheilbarkeit  war,  so  brachte  diese  allein  das 
gleiche  Ergebnis  zuwege.  Sic  Hess  zwar  Civiltheilung  übrig: 


Coloni,  das  durch  solchen  Todesfall  erledigte  Meier- Recht  und  mit 
selbigeu  der  Hof  oder  Kote  nach  Unterschied  der  Oerter  entweder  dem 
ältesten  oder  jüngsten  solcher  Söhne  uothwendig  anfallen 
müssen“  etc.  (soll  künftig  die  Wahl  des  liutsherrn  entscheiden).  Oder 
endlich,  es  lässt  sich  anderweit  nachweisen,  dass  vor  der  betreffenden 
Landesordnung  schon  das  Anerbenrecht  hergebracht  war.  So  hei  der  Lippe- 
sehen  Verordnung  von  1782,  welche  in  ganz  Lippe  das  Krstgcburtsreeht 
einführte,  obschon  bereits  1<0.">  ein  Unheil  «les  flot'gerichts  dahin  ergangen 
war:  „Als  nach  der  gräflich  Lippeschen  Gewohnheit  der  älteste  Sohn  seinen 
Eltern  iu  bonis  suceedieren,  seine  Miterben  aber  absteuern  muss.“  — Vgl. 
auch  unten  Anm.  23  und  oben  Aum.  8. 


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31 


allein  die  Civiltheilung  ist  ein  erst  sehr  allmählich  und  viel 
später  eingedrungener,  künstlicher  Rechtsbehelf.  Er  passt  wohl 
in  Zeiten  der  Geldwirthschaft,  aber  nicht  in  die  hier  in  Betracht 
kommende  Periode  der  Natural  wirtlischaft.-1*)  Nirgends,  wo 
die  Untheilbarkeit  festgehalten  wurde,  finden  wir  deshalb  in 
jenen  Tagen  Civiltheilung,  weder  im  Landrechte  bei  den  noch 
lange  geschlossenen  Grafschaftsgauen , noch  im  Lehurechte. 
Und  auch  bei  den  Bauerngütern  sehen  wir  überall,  wo  die 
Untheilbarkeit  streng  besteht,  die  Folgerung  aus  ihr  ge- 
zogen, dass  die  Miterben  nur  aus  anderen  theilbaren  Gütern 
„mit  gereitem,  fahrenden  Gut“  ausgestattet  und  abgefundeu 
werden  dürfen,  nicht  aber  aus  dem  Hauptgut.'--) 

Allein  dies  ist  keineswegs  der  Character,  den  die  Abfindung 
immer  hat:  in  den  weitaus  meisten  Fällen  wird  sie  vielmehr 
auch  vom  Hauptgute  geleistet,  ohne  dass  doch  dabei  ein  gleiches 
Erbrecht  aller  Miterben  nach  unseren  heutigen  Begriffen  be- 
stände, vielmehr  trotz  bestehenden  strengen  Anerbenrechts. 
Vor  allem  aber  ist  jenes  spätere  Anerbenrecht,  welches  die 
Lundesordnungen  vorfanden,  stets  mit  dieser  Art  der  Abfindung 
verknüpft.  Zunächst  muss  für  diese  Behauptung  der  Beweis 
angetreten  werden. 

Schon  die  meisten  der  oben  citierten  Wcisthiimer,  welche 
überhaupt  ein  Anerbenrecht  gewähren,  schreiben  die  eben  ge- 
kennzeichnete Art  der  Abfindung  vor: 


Pns  höchste,  wozu  man.  aber  auch  erst  später,  kam,  war  eine 
Konto.  So  z.  lj.  das  gotlfindische  Landrecht  I,  -s,  § s (hoi  Ficker,  ltd.  II, 
S.  354):  „Dann  weun  er  (d.  h.  der  Sohn)  (heilen  will  (nämlich  mit  dem 

Vater),  dann  nehme  er  seinen  Kopftheil  von  den  Fahrnissen  nach  Rechnung. 
Atier  der  Vater  behalte  seinen  Hof  ungetheilt  und  gehe  diesem  Sohne 
I’achtzinse  davon  und  seinen  Kopftheil  und  der  Sohn  bestimme  selbst 
iilier  «ich  zu  fahren,  wohin  er  will.“ 

a)  Cirimtn  III.  550,  § 7 : Item  wann  vatter  und  mutter  ein  kiud  bey 
«ich  bestatten  und  insetzen,  es  sey  sühn  oder  dochter,  so  soll  das  die  andern 
geachwester  aus  und  abbestatten  mit  gcrciten  gittern  und  das  schaffgut 
nicht  zerrcissen.  — Ebenso  I,  30  i l Wyler):  es  darf  nur  mit  „fahrendem“ 
(Jute  beraten  werden.  — Ebenso  1.  Min,  j io  (Lege«  familiär  S.  Petri).  Der 
Sohn  bekommt  das  Land,  welches  uutheilbar  ist,  allein.  Die  Tochter  wird 
au«  «lern  anderen  Vermögen  ausgestaltet.  — Vgl.  auch  Maurer,  Fronhöfe 
B'l.  IV,  § 73«.  — So  war  es  auch  nach  dem  rügenschen  Landgelirauch, 
worüber  vgl.  GSde,  S.  35  ff. 


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32 

„I,  283  (Thannegg  und  Fischingen  i.  südlichen  Thur- 
gau) ....  hat  der  jüngst  son  das  recht,  dass  er  sines 
vaters  herberg,  hus  und  hof  besitzen  soll,  ob  er  will,  und 
den  anderen  geschwüsterikhen  dafür  zugeben  für  iren  ta.il 
nach  erkenntnuss  bider-liitheu.“ 

„V,  61,  (Moelinbach  i.  Aargau)  — was  darnach  die 
hauser  und  wilstein  belangen  tuot,  soll  das  geschwisterte, 
welches  dieselben  besitzt,  den  anderen  geschwisterten,  es 
sien  buoben  oder  meitlin,  nach  bidcruiaun  lüt  er- 
kannt nusz  hinausgeben,  was  si  den  erkennen  mögen.“ 
Doch  auch  sonst  findet  sie  sich  zahlreich,  wo  etwas  modi- 
fiziertes Anerbrecht  herrscht. 

„111,  273,  § 23,  (Lauenstein  zwischen  Hameln  und 

Elze) Der  so  die  anderen  abfiuden  wollte,  soll 

ihuie  für  jeden  morgen  3 fi.  oder  wann  er  sich  mit  gehle 
nicht  wollte  abfiuden  lassen,  von  jedem  morgen  2 hl  zn 
zinse  geben,  oder  wie  sich  freunde  mit  einander  ver- 
gleichen.“ 

„V,  75  (Bttnzen  i.  Aargau)  ....  soll  der  bruoder  die 
besitung  zuo  den  gütern  vorus  haben  und  dieselbig 
sine  sch  wüster  und  iren  emann  ....  umb  iren  ge- 
bürenden  teil  nach  billigkeit  und  biderbeu  litten 
erkenntniss  davon  erkoufen.“ 

Vor  allen  aber,  wie  gesagt,  sind  es  die  Quellen  aus  späteren 
Geltungstagen  des  Anerbenrechts,  welche  die  Abfindung  in 
dieser  Gestalt  immer  aufweisen,  so  z.  B.  schon  die  Hofrechte 
von  Ohr  und  Chor  (bei  Sommer  II,  S.  194): 

„ . . . . welche  Ihr  andere  Schwester  und  Bruder,  die 
dem  Gut  gleich  sein,  ihre  Gerechtigkeit  und  rtlialquot 
abgelden  und  eine  billiche  Erstattung  thuen  sollen  nach 
Gelegenheit  des  Guts  und  Erkenntniis  des  Hol'f- 
gerichts.“ 

Ebenso  die  Essener  Hobsrechte  (ebenda  S.  220): 

„.  . . affguiden  na  Gelegenheit  des  Guides  und  dat 
nach  Werdierung  des  liavesschulteu  und  Haves.* 
Ebenso  das  oft  citierte  Hagenweisthum  zu  Wiembeck: 

„Wird  gefragt  ob  die  Söhne  und  Töchter  nach  dein 
tödlichen  Hintritte  ihrer  Eltern  die  Hagengiiter  gleich 
erben,  oder  ob  der  Besitzer  der  Huefe  seine  anderen 


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Brüder  und  Schwestern  aus  den  Hagengütern  aus- 
steuern  und  ihnen  dieselben  mitgeben  möge. 
Hierüber  ist  erkannt,  dass  hinfürter  die  Hnefe  und  Haegen- 
güter weiters  nicht  zertheilet,  sondern  es  sollen  diese 
Güter  bei  dem  Besitzer  des  Hofes  und  Gutes,  dabey  die 
Hufe  befunden  verbleiben  und  die  Brüder  und  Schwestern 
daraus  kaufen.“ 

Noch  besser  aber  lassen,  wie  betont,  die  Landesordnungen 
erkennen,  dass  bei  Beginn  ihrer  Zeit  in  die  Abfindung  überall 
der  Gutswerth  eingerechnet  wurde,  ja  öfter  sogar  kleine  Theile 
des  Guts  selbst  mit  zur  Abfindung  gegeben  wurden.  Denn 
theils  übernahmen  die  Landesordnungen  selbst  den  alten  Brauch,-3) 
die  Abfindung  nach  dem  Gutswerthc  zu  bestimmen,  theils  be- 


*>)  Vgl.  die  oben  citierto  Lüneburger  Polizeiordnung  von  1618,  die, 
wie  oben  bemerkt,  an  alten  Brauch  aukuiipfte,  im  § 2:  .Sondern  wofern 

solche  Aecker  und  Wiesen  alte  Erbgüter  sein,  so  sollen  diejenigen,  so  auf 
den  Höfen  und  Koten  bleiben,  die  anderen,  unangesehen  sie  gleich  ihnen  darzu 
berechtigt  sein,  mit  einem  ziemlichen  Heide,  wie  sie  sich  dessen 
unter  sich  oder  durch  ihre  Gutsherren,  Nachbarn  und  Freunde 
vereinbaren  können  und  mögen,  ablegen,  oder,  da  sie  dergestalt  nicht 
zu  vergleichen,  unsere  Beamte,  wie  hoch  die  anderen  nach  Gelegenheit 
dos  Hofes  und  der  Koten,  auch  deren  Besitzer  Vermögens,  mit  Gelde 
abzufinden,  normieren  und  setzen.“  — — Man  beachte,  wie  stark  der 
Ausdruck  au  die  eben  im  Text  wiedergegebenen  Hofsrechte  und  Hagen- 
weisthiimer  anklingt.  Es  lehrt  dies  wiederum,  dass  hier  die  Gesetzgebung 
an  altes,  bis  zu  ihren  Zeiten  fertgetragenes  Recht  anknüpfte  und  die  Ge- 
wohnheit nur  mit  der  sichernden  Autorität  des  Gesetzes  umkleidete. 

Pass  übrigens  die  Polizeiordnung  auch  den  Gutswert  in  das  „ziemliche 
Geld“  einrechnet,  woran  ja  der  Wortlaut  noch  Zweifel  übrig  lassen  könnte, 
ergiebt  sich  hier  mit  Deutlichkeit  daraus,  dass  die  Polizeiordnnng  bei  den 
Schillingshavergütern  als  Gegensatz  zu  den  in  § 2 behandelten  freien  Gütern 
hervorhebt,  es  dürfe  dort  der  Anerbe  .seinen  Miterben  wegen  Aecker 
und  Wiesen  nichts  geben,  donn  sie  nicht  ihm,  sondern  dem  Gutsherrn 
zuständig  sind.“  — Auch  die  bei  Wiegand  mitgetheilten  Landesordnungen 
beziehen  bei  Berechnung  der  Abfindung  das  Gut  mit  ein.  Auch  in  Bayern 
war  nach  Fick  die  Einrechnung  hergebracht.  Ebenso  in  Schlesien  nach  den 
citierteu  Darlegungen  von  Knapp  und  Kern,  und,  nach  dem  ebenfalls  bereits 
angezogenen  Aufsatze  von  Grünberg,  allgemein  auch  in  Tirol,  dagegen  in 
den  böhmischen  Kronländem  nur  bei  den  überhaupt  von  rochtswegen  ver- 
erblichen Gütern.  Ueberall  erfolgt  jedoch  die  Einwerfung  des  Gutes  nur 
zu  einer  Freundscbaftstaxe.  Civiltheilung  liegt  also  nicht  vor. 

t.  Dultslg,  Gründer  brecht.  3 


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35 

ganze  übrige  Gebäude  des  Rechts  sich  aufthttrmt.  Es  gilt  des- 
halb lediglich,  sie  zu  erklären. 

Es  ist  von  jeher  der  Gedanke  des  deutschen  Rechts  ge- 
wesen, dass  die  Familie  eine  Genossenschaft  unter  der,  aller- 
dings ziemlich  unbeschränkten,  Leitung  des  Vaters  bildet,  und 
dass  das  Hansvermögen  dieser  Genossenschaft  und  nicht  dem 
Vater  gehört. 

Es  soll  gleich  hier  einer  falschen  Auffassung  vorgebengt 
werden.  Man  hat  der  Lehre  vom  Familieneigenthum  entgegen- 
gehalten, der  Begriff  der  Familie  sei  unbestimmt;  es  sei 
schwankend,  welche  Verwandten  noch  zur  Familie  gezählt  werden 
könnten.  Das  ist  richtig,  sofern  man  sein  Augenmerk  lediglich 
auf  den  persönlichen  Familienverband  richtet.  Allein  dann 
vergisst  man,  dass  in  Deutschland  und  überhaupt  im  alten 
Recht  alle  Verbände  dinglich  radiziert  waren  oder  wurden. 
Den  äusseren  greifbaren  Mantel  für  den  Familienverband 
gab  nun  das  Haus  ab.  Ja,  der  dingliche  Verband,  den  das 
Zusammen  wohnen  im  Hause  hervorbrachte,  wurde  die  Haupt- 
sache. Und  in  der  That  konnten  ja  bei  ihm  nie  Zweifel  über 
seine  Begrenzung  entstehen,  die  bei  Berücksichtigung  des  ledig- 
lich persönlichen  Zusammenhanges  der  Familie  unausbleiblich 
waren.  Lediglich  die  Thatsache  des  Zusammenlebens  im  Hause 
war  deshalb  entscheidend  für  das  Mitrecht  aui  Familienvermögen; 
der  aus  dem  Hause  Ausgeschiedene  darbte  dieses  Rechts,  er 
verlor  seine  Stellung  als  Gesammthäuder  und  besass  nicht  ein- 
mal ein  Erbrecht,  wie  sich  weiter  unten  (§  7)  noch  näher  zeigen 
wird.  Das  Rechtssubjekt,  dem  das  Hausvermögen  zustand,  war 
deshalb  nicht  so  sehr  das,  was  wir  heute  mit  Familie  bezeichnen, 
als  vielmehr  die  Haushaltung,  d.  h.  die  unter  dem  deutschen 
Kunstausdruck  „Wcre“  begriffene  Gesaumitheit  der  im  Hause 
zusammenwohnenden  Verwandten,  mögen  dies  nun  Eltern  und 
Kinder,  oder  Brüder  untereinander,  oder  Brüder  mit  ihren 
Kindern  und  Keffen  sein.  Es  ist  deshalb  richtiger  statt  von 
Familieneigenthum  von  „Haushaltungs-“  oder  „Hauseigenthum“ 
zu  reden.28) 


Das  ist  genau  dasselbe,  was  auch  Heusler  in  seinen  Institutionen 
Bd.  I,  S.  227  sagt: 

„Von  Anfang  der  deutschen  Geschichte  au,  sehen  wir  die  in  einem 

3* 


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39 


eigener  Haushaltungen  von  einander  theilen,  kommt  der 
Grund  und  Boden  an  neue  Rechtssubjekte,  nämlich  an  neue 
Haushaltungen,  und  dann  wird  auch  tür  jede  ein  eigenes 
Feuer  entzündet.  So  lange  aber  auch  nur  einige  der  Brüder 
in  ungetheilten  Gütern  sitzen  bleiben,  brennt  das  alte  Feuer 
fort,  weil  das  alte  Rechtssubjekt,  nämlich  der  alte  Haushalt, 
und  die  in  ihm  sitzende  und  verkörperte  Genossenschaft  fort- 
dauert, nur  die  Ausscheidenden  entzünden  neue  Feuer.10) 

Aus  alledem  erweist  sich  die  eingangs  aufgestellte  Be- 
hauptung, dass  nach  altarischer  Auffassung  das  eigentliche 
Rechtssubjekt  für  Landbesitz  die  in  einer  Haushaltung  geeinte 
Familie  ist.  Ob  man  deshalb  sagen  kann,  das  sie  Eigenthümerin 
des  Landes  gewesen  sei,  erscheint  zweifelhaft.  Denn  wie  Leist 
in  seinen  trefflichen  Werken  stets  betont,  ist  es  immer  gefährlich, 
mit  heutigen  fertigen  Rechtsbegriften  an  jene  Zeiten  heran- 
zutreten, wo  in  einem  Rechtsinstitute  vieles  vereint  war,  was 
heute  streng  geschiedeu  wird,  wo  namentlich  die  Keime  von 
Privat  und  öffentlichem  Recht  noch  ungetrennt  bei  einander 
lagen.  Man  wird  nur  sagen  können:  Die  Felder  und  Aecker 
„gehörten“  der  Familie,  der  Vater  hatte  sie  zu  verwalten. 

Dass  in  späteren  Zeiten  hieraus  sowohl  ein  Privateigen- 
thum der  Familie,  wie  ein  solches  des  Vaters  entstehen  konnte, 
ist  leicht  ersichtlich;  es  richtete  sich  eben  danach,  ob  man  da- 
rauf Werth  legte,  wer  den  Grundbesitz  nach  aussen  vertrat, 
oder  wem  er  nach  innen  eigentlich  zustand.  Das  deutsche  Recht 
hat  dem  letzteren  Punkte  das  entscheidende  Gewicht  beigemessen, 
andere  Rechte,  wie  das  römische  und  griechische,  dem  ersteren. 
Sie  haben  deshalb  ein  Privateigenthum  des  Hausvaters  aus- 
gebildet, aber  auch  bei  ihnen  finden  sich  zahlreiche  Recht- 
sätze, welche  sich  daraus  am  ungezwungensten  erklären  lassen, 
dass  ehemals  die  Ländereien  nicht  dem  Vater,  sondern  der  in 
der  Hausgenossenschaft  lebenden  Familie  zustanden. 

So  haben  für  das  römische  Recht  schon  die  römischen 
Juristen  selbst  das  Erbrecht  der  sui  aus  einem  ehemaligen 


Vgl.  Leist,  Jusgentium  S.  415  ff. 


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40 


Familieneigenthum  abgeleitet.30)  Und  in  der  That  lässt  sieb 
der  Umstand,  dass  der  Sohn  ohne  Antretung  Erbe  und  Herr 
der  Erbschaft  ist,  am  besten  dann  verstehen,  wenn  er  schon 
bei  Lebzeiten  des  Vaters  Mitherr  des  Vermögens  ist.  Doch 
auch  im  griechischen  Rechte  wird  man  die  Behandlung  der  nicht 
streitigen  und  streitigen  Erbschaft,  die  Thatsache,  dass  der  Sohn 
und  ebenso  der  Enkel  ohne  Anrufung  der  Gerichte  mit 
xsost;  in  das  Seinige  einschreitet,31)  während  die  übrigen  Erben 
der  gerichtlichen  Einweisung  bedürfen,  — alles  dies  wird  man 
am  besten  daraus  begreifen,  dass  dem  Sohne  eben  die  Erbschaft 
nicht  überwiesen  zu  werden  braucht,  weil  er  sie  schon  bei  Leb- 
zeiten des  Vaters  hat. 

Aber  auch  der  römische  Satz,  dass  der  Sohn  nur  dem  V ater 
erwirbt,  fusst,  ebenso  wie  die  Behandlung  des  emancipatus  im 
Erbrechte,  auf  einem  anfänglichen  Gesammteigenthum  der 
Familie  oder  der  Hausgenossenschaft.  Denn  nach  den  Regeln 
des  Gesammteigenthums  fällt  dasjenige,  was  die  Gesammthäuder 
in  ihrer  der  Gesammtheit  gewidmeten  Thätigkeit  erwerben,  an 
diese  Gesammtheit,  hier  an  die  Familie.  So  ist  es  noch  heute 
in  Armenien  und  Russland,  wo  das  Familieneigeuthum  und  die 
Familiengenossenschaften  in  höchster  Blüthe  stehen.32)  So  war 
es  nicht  anders  ursprünglich  in  Latium.  Auch  hier  fiel  alles 
von  den  Söhnen  Erworbene  an  die  Familie.  Als  dann  später 
die  Römer  an  die  Stelle  der  Familie  als  Rechtssubjekt  den 
Hausvater  setzten,33)  da  veränderte  der  alte  Rechtssatz  sich 


*')  Paulus,  libro  2 ad  Sabinum.  (Es.  11  de  libet  post.  2S,2): 

In  suis  hcredibus  evidentius  apparet  continuationem  doininii  eo  rem 
pcrduccre,  nt  nulla  videatur  hereditas  fuisse,  quasi  olim  hi  dotnini  cssent. 
qui  etiarn  vivo  patre  quodammodo  dotnini  existimantur  . . . iiaque 
post  mortem  patris  nou  hereditatem  suscipere  videntur,  sed  magi* 
liberam  bonorum  admiuistrationem  cousequuntur. 

(Vgl.  Leist,  Jus  civile  ä.  130.) 

31)  Vgl.  Leist,  Jus  civile  S.  191  und  anderswo;  auch  Jus  gentiuiu, 
variis  locis. 

Vgl.  über  die  Armenier  Leist,  Jus  civile  S.  198  ff  , namentlich 
S.  500  Annt.  3.  Ueber  die  Russen  vgl.  ebenfalls  Jus  civile,  S.  502  Anm.  5 
(nach  Mackenzie  Wallace,  Russland),  neuerdings  auch  den  Aufsatz  von 
Lutscbitzky  bei  Scbmollor,  Jahrbuch  de  1890  S.  105  ff. 

*>;  Vgl.  über  diesen  Hergang  Leist,  Jus  civile. 


Digiti; 


41 


von  selbst  in  den  heute  geltenden:  Der  Sohn  erwirbt  alles  dem 
V ater. 

Vornehmlich  jedoch  ist  es  die  im  späteren  römischen  Erb- 
recht so  fremdartig  anmuthende  Behandlung  des  emancipatus, 
die  sich  nur  dann  verstehen  lässt,  wenn  man  ein  ursprüngliches 
Gesammteigenthum  der  im  Hause  geeinten  Familie  annimmt. 
Der  emancipatus  ist  eben  nichts  anders  als  der  deutsche  ab- 
getheilte  Sohn,34)  der  seinen  Antheil  am  Familienvermögen 
herausnimmt  und  damit  wirtschaftlich  und  rechtlich  aus  dem 
Verbände  des  Hauses  ausscheidet.  Er  kann  deshalb  wenn  der 
Vater  stirbt,  am  verlassenen  Haus  vermögen  keinen  Antheil  er- 


st) Man  könnte  liier  einwenden,  die  Behandlung  des  emancipatus  könne 
schon  deshalb  nicht  zu  Rückschlüssen  auf  ursprüngliche  Rechtsätze  ver- 
wendet werden,  weil  das  ganze  Institut  der  Emancipation  eine  relativ  späte, 
künstliche  Bildung  sei.  Allein  daun  verwechselt  man  die  Form  mit  der 
Sache.  Die  Form  der  Emancipation  ist  eine  spezifisch  römische  Erfindung, 
die  Sache,  das  Abteilen  oder  Aussteuern  der  Söhne  ist  eine  alte,  bei  allen 
arischen  Völkern  auffindbare  Sitte.  Ursprünglich  schieden  auch  iu  Latium 
die  Söhne  einfach  durch  Herausnahme  ihres  Hausanteils  aus  dem  Zusammen- 
leben im  dinglichen  Ilausverbande  aus.  Das  persönliche  Gewaltverbaltnis 
zum  Vater  und  dessen  Lösung  war  dabei  ganz  Nebensache.  Dass  die 
Söhne  später  das  persönliche  Verhältnis  zum  Vater  in  erster  Reihe  lösen 
mussten,  kam  daher,  dass  die  Römer  überall  an  die  Stelle  des  alten  ding- 
lichen Hausverbandes  das  persönliche  Verhältnis  zum  pater  familias  in  den 
Vordergrund  rückten  und  dio  dingliche  Genossenschaft  durch  die  persönliche 
ersetzten.  Dadurch  kam  ja,  wie  im  Texte  gezeigt,  der  Satz  auf : Der  Sohn 
in  väterlicher  Gewalt  erwirbt  alles  dem  Vater.  Hatte  früher  das  einfache 
Ausscheiden  aus  dem  dinglichen  Gesamteigentum  genügt,  um  den  aus- 
geschiedenen  Gesamthänder  nicht  mehr  für  das  Gesamtvermögen,  die  Familie, 
erwerben  zu  lassen  und  ihn  wirtschaftlich  selhständlich  zu  stellen,  so  konnte 
jetzt  der  gleiche  Zweck  uur  dadurch  erreicht  werden,  dass  auch  das  persön- 
liche Gewaltverhältuis  gelöst  wurde,  du  der  Mohn  erst  danach  für  Bich 
erwarb.  Diese  persönliche  Loslosuug  ist  also  eine  neue  spezifisch  römische 
Schöpfung,  die  damit  verknüpfte  dingliche  Vermögeusabteilung  aber  eine 
alte  Sitte,  und  gerade  aus  dieser  folgt,  wie  sich  gleich  zeigen  wird,  die 
erbrechtliche  Sonderstellung  des  emancipatus,  die  wir  zu  Rückschlüssen 
verwerten.  — Dass  die  ursprünglich  zusammengehörige  persönliche  Eman- 
cipation und  dingliche  Vermögensausscheidung,  nachdem  sie  einmal  bestanden, 
auch  einzeln,  das  eine  ohne  das  andere,  Vorkommen  konnten  und,  besonders 
später,  oft  vorgekommen  sind,  ist  uns  wohl  bekannt. 


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halten,  da  dies  in  der  Hand  derjenigen  consolidiert,  die  zu 
Lebzeiten  des  Vaters  den  Mitbesitz  daran  hatten,  der  emau- 
cipatus  aber  aus  dem  Mitbesitze  ja  ausgeschiedeu  ist.  Fasst 
man  dagegen  den  Uebergang  des  Vermögens  beim  Tode  des 
Vaters  nicht  als  eine  auf  Miteigenthum  der  Söhne  beruhende 
Ccnsolidation,  sondern  als  einen  wahren,  nach  verwandtschaft- 
lichen Beziehungen  erfolgenden  Erbgang  auf,  so  ist  es  schlechter- 
dings nicht  ersichtlich,  warum  der  emancipatus  nicht  auch  erbt, 
da  er  doch  auch  verwandt  ist.  Die  später  versuchte  Erklärung, 
er  sei  im  Rechtssinne  nicht  mehr  verwandt,  da  die  vom  Rechte 
allein  anerkannte,  künstliche  agnatische  Verwandtschaft  auf  der 
väterlichen  Gewalt  beruhe  und  aus  dieser  ja  der  emancipatus 
ausscheide,  — diese  Erklärung  übersieht,  dass  es  offenbar  das 
Herausnehmen  des  Vermögens  und  nicht  das  Ausscheiden  aus 
der  väterlichen  Gewalt  und  Agnation  ist,  welches  den  eman- 
cipatus des  Erbrechts  beraubt ; denn  sonst  könnte  er  nicht  durch 
einfaches  Einwerfen  des  herausgenommenen  Vermögens  wieder 
zur  Erbschaft  gelangen,  sondern  nur  durch  Wiedereintritt  in 
die  Agnation.1') 

Wenn  die  römischen  Juristen  sagen,  dies  Einwerfen  sei 
deshalb  nothwendig,  weil  der  emancipatus  für  sich  erwerbe,  die 
nicht  emancipierten  Kinder  aber  lediglich  für  den  Vater  er- 
worben hätten,  au  der  von  ihnen  miterarbeiteten  Verlassenschaft 
deshalb  der  emancipatus  nicht  ohne  Gegenleistung  theilnelimen 
dürfe:  so  ist  es  offenbar,  dass  dies  die  bei  den  römischen  Juristen 
so  oft  vorkommende  Art  ist,  mit  allgemeinen  Zweckmässigkeits- 


®)  Es  entgeht  uns  nicht,  dass  diese  Zulassung  des  emancipatus  gegen 
Einwerfung  seines  Vermögens  nur  als  prätorisches  Recht  beglaubigt  ist. 
Wenn  wir  sie  gleichwohl  aus  uralten  Rechtsprinzipien  erklären,  so  geschieht 
dies  deshalb,  weil  es  ziemlich  sicher  ist  (vgl.  Leist,  Jus  civile),  dass  der 
Prätor  bei  seiner  Reform  des  Erbrechts  lediglich  uraltem,  allen  arischen 
Völkern  gemeinsamem  Rechtsbrauche,  der  vom  particuläreu,  römischen  Civil- 
recht  eine  Zeit  laug  offiziell  nicht  anerkannt  war,  aber  thatsäcblich  überall 
noch  eine  grosse  Macht  entfaltet  und  durch  Testameuto  oder  pro  heredc 
usucapio  sich  verwirklicht  hatte,  auch  wieder  zu  gesetzlicher  Geltung  ver- 
halt. Auch  heute  zeigt  sich  ja  besonders  in  der  uns  beschäftigenden  Materie 
des  Anerbeurechts,  wie  lange  sich  vom  offiziellen  tiesetzesrecht  abweichende 
Gewohnheiten  erhalten  können,  um  schliesslich  wieder  Gesetzeskraft  zn 
erlangen.  Dass  es  in  Rom  ebenso  gegangen  sei,  hat  doch  gewiss  nichts 
Unwahrscheinliches. 


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43 


und  Billigkeitserwägungcn  ein  Institut  rechtfertigen  zu  wollen, 
dessen  historische  Entstehung  man  nicht  mehr  verstand.  Viel- 
mehr zeigt  jener  Einkauf  in  die  Erbschaft  deutlich,  dass  es  die 
dingliche  Mitgliedschaft  am  Hausvermögen,  nicht  die  persön- 
liche Zugehörigkeit  zum  väterlichen  Gewaltkreis  ist,  welche 
Theilnahme  an  der  Verlassenschaft  mit  sich  bringt,  und  dass 
sie  deshalb  vom  emancipatus  wieder  erworben  werden  muss. 
Ohne  diese  Annahme,  dass  die  Erben  deshalb  Erben  sind,  weil 
sie  in  dinglicher  Mitgliedschaft  zum  Haus  vermögen,  im 
Gesammteigenthume  daran  stehen,  lässt  sich  eben  die  Behandlung 
des  emancipatus  nicht  befriedigend  erklären.'**) 

Zur  Zeit  der  römischen  Juristen,  wo  der  Gedanke  des 
Familieneigenthums,  wenn  auch  nicht  ganz  verloren,  im  geltenden 
Rechte  doch  im  allgemeinen  nicht  mehr  anerkannt  war,  jeden- 
falls nicht  mehr  lebendig  fortwirkte,  zu  dieser  Zeit  erschien 
deshalb  begreiflicherweise  die  erbrechtliche  Stellung  des  eman- 
cipatus immer  als  ein  fremdartiges  Institut.  Losgelöst  vom 
mütterlichen  Boden,  ja  im  Widerspruche  mit  den  Grundlagen 
des  neuen  Rechts  ist  es  denn  auch  einem  langsamen  Absterben 
anheimgefallen. 

Ausser  diesen  in  den  späteren  Rechtszustand  fremdartig 
und  zum  Theil  unverstanden  hineinragenden  Ueberbleibseln  des 
früheren  Gesammteigenthums  giebt  es  aber  für  das  römische  und 
griechische  Gebiet  noch  ausserhalb  des  eigentlichen  Rechts 
liegende  Erscheinungen,  die  beweisen,  dass  auch  diese  Völker 
von  dem  Gedanken  beherrscht  sind,  das  Hausvermögen  stehe 
im  Gesammteigenthum  der  im  Hause  vereinten  Familienmit- 
glieder. 

Wenn  nämlich  auch  die  Partikularrechte  der  einzelnen 
arischen  Stämme  einen  alten  Rechtssatz  nicht  mehr  anerkannten, 
vergessen  konnte  er  darum  nicht  werden.  War  er  doch  schon 
dadurch  geheiligt,  dass  er  von  den  Vätern  aus  der  Vorzeit  über- 
kommen war;  umkleidete  ihn  doch  ferner  die  hohe  Autorität 
des  alten  vorstaatlichen  Rechts,  das  man  sich  als  auf  dem 
Willen  der  Gottheit  selbst  beruhend  dachte.36)  So  galt  es  zu- 


36*)  Für  die  ursprüngliche  Gleichheit  von  Emancipation  und  Vermögens- 
abteilung  auch  Fick  S.  280  und  282. 

“)  Vgl.  Leist,  Jusgentium  S.  313  ff.  und  anderswo. 


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nächst  für  fromm,  solchen  alten  Sätzen  auch  ferner  nachzuleben ; 
später,  als  die  Religion  nicht  mehr  solche  Macht  ausübte,  ver- 
wandelten sich  solche  Forderungen  der  Frömmigkeit  in  einfache 
Gewohnheiten  der  Sitte.  Ja,  die  alten  Rechtsgedanken  steckten 
den  Völkern  so  tief  in  Fleisch  und  Blut,  dass  sie  selbst  ihren 
erleuchtetsten  Geistern  sich  unbewusst  in  die  philosophischen 
Systeme  mischten,  wenn  sie  über  die  vernünftige  Regelung  der 
menschlichen  Verhältnisse  nachdachten,  weil  ihnen  eben  eine 
Regelung  als  die  naturgemässeste  und  selbstverständliche  er- 
scheinen musste,  welche  jene  ererbten  Anschauungen  und  Rechts- 
gedanken verwirklichte.  Sehr  vieles,  was  deshalb  in  späteren 
Zeiten  trotz  abweichender  positiver  Rechtsnormen  als  sacrale 
oder  als  Anstandspflicht  erscheint,  oder  was  von  den  Philosophen 
gefordert  wird,  ist  ursprünglich  ein  Rechtsgrundsatz  gewesen. 

Zahlreich  finden  wir  aber  bei  Griechen  und  Römern  das 
Postulat,  das  Vermögen  im  Interesse  der  Familie  zu  verwenden, 
der  es  eigentlich  gehöre. 

Bei  den  Griechen  tritt  es  ihrer  Anlage  entsprechend  vor- 
nehmlich als  philosophisches  Ideal  auf:  und  zwar  ist  es  kein 
Geringerer  als  Aristoteles,  der  uns  als  Ergebniss  weiser  Welt- 
betrachtung eine  Stellung  des  Familienvaters  ausmalt,37)  die 
genau  dem  entspricht,  was  in  den  indischen  Sntras  Rechtens 
ist,  und  was  wir  als  den  ursprünglichen  Zustand  bei  allen 
Ariern  voraussetzen  dürfen.  Der  Hausvater  hat  die  Verfügung 
über  das  Vermögen.  Aber  wie  er  Vermögen  erwirbt  nicht  um 
seiner  selbst  willen,  sondern  um  die  ihm  anvertraute  Familie 
daraus  zu  ernähren,  so  soll  er  es  auch  lediglich  zu  diesem 
Zwecke  verwenden.  (Vergl.  Leist,  Jusgentium  524.  vgl.  auch 
S.  521/522.)  Das  Vermögen  ist  deshalb  um  des  Hauses  willen 
da,  es  soll  ihm  nicht  entfremdet  werden,  weder  unter  Lebenden 
noch  von  Todeswegen.  Das  Vermögen  gehört  sonach  eigentlich 
der  im  Hause  geeinten  Familie.  Was  der  Vater  daran  hat. 
beschränkt  sich  im  Grunde  genommen  auf  seine  pflichtmässige 
V erwaltung. 


®)  Ueber  die  Lehre  des  Aristoteles  handelt  eingehend  Leist,  Jus 
gentinm  S.  517  ff. 


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45 


Und  die  Quintessenz  der  aristotelischen  Betrachtungen  ist 
denn  auch  der  Ausspruch: 

iV  uiv  oov  rr,  xoivtovta  (xoüto  5‘sotiv  oixi<fJ ot 

ixsv  -;ip  Ttüv  t«>»  sxotvaivouv  r xvtujv  (hatten  alle  Dinge 
gemeinsam). 

Bei  den  Römern  hat  sich  der  alte  Gedanke  vom  Gesammt- 
eigenthume  des  Hauses  weniger  in  das  Gewand  einer  philo- 
sophischen Forderung,  als  in  das  einer  sacralen  und  sittlichen 
Pflicht  gekleidet.  Der  aus  jenem  Gesauimteigenthum  fliessende 
Satz,  dass  der  Vater  zwischen  seinen  Söhnen  das  Gut  kraft 
seiner  Verwaltungsmacht  zwar  theilen,  aber  es  ihnen,  als  am 
Gute  neben  ihm  selbstständig  berechtigten  Personen  nicht  ganz 
entziehen  kann,  dieser  Satz  wurde  vom  Gesetzesrecht  mit  seiner 
libera  testamenti  factio  nicht  anerkannt.  Aber  trotzdem  blieb 
es  stets  zunächst  eine  sacrale,  dann  eine  sittliche  Pflicht,  das 
Vermögen  seinen  Kindern  nicht  zu  entfremden.  Und  wie  frucht- 
bar dieser  Gedanke  auch  im  Rechte  blieb,  lehrt  die  Geschichte 
des  Notherbenreehts:  war  er  doch  noch  viele  Jahrhunderte, 
nachdem  die  zwölf  Tafeln  die  Verwerfung  des  alten  Rechts- 
Begriffes  vom  Familieneigenthum  besiegelt  hatten,  mächtig  genug, 
dass  auf  ihn  gestützt  der  Centumviralgerichtshof  die  Testamente 
derer  cassieren  konnte,  welche  das  officium  ihren  nächsten 
Verwandten  gegenüber  nicht  beobachtet  hatten.  Denn  immer 
noch  galten  dem  Volksbewnsstsein  die  Familienmitglieder  so 
sehr  als  die  Mitherren  des  Gutes,  hatten  so  sehr  ein  eigenes 
Recht  auf  dessen  Besitz,  dass  nur  ein  Wahnsinniger,  der  für 
Sitte  und  Recht  kein  Gefühl  mehr  hatte,  ihnen  das  Gut  ent- 
ziehen konnte,  und  dass  darum  ein  solches  Testament  den  color 
insaniae  an  der  Stirn  trug. 

So  wie  wir  nun  hier  für  die  Römer  und  Griechen  aus  den 
späten  Ucberbleibseln  aufgedeckt  haben,  dass  auch  ihre  Rechts- 
systeme einst  von  dem  Gedanken  des  Familienvermögens  aus- 
gegangen sind  und  erst  in  jüngerer  Zeit  mit  dem  Individual- 
vermögen  zu  rechnen  beginnen,  so  lässt  sich  die  ursprüngliche 
Bekanntschaft  mit  dem  Familieneigenthum  für  alle  arischen 
Stämme  nach  weisen.  Ja  bei  einigen  besteht  das  Hauseigen- 
thum noch  bis  auf  den  heutigen  Tag. 

Es  wurde  oben  schou  (bei  Anm.  32)  auf  die  armenischen 
und  russischen  Verhältnisse  hingewiesen. 


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In  Armenien  bildet  noch  heute  das  Haus  eiuen  fest- 
geschlossenen Verband,  dem  alles  Vermögen  gehört.  Alles  was 
deshalb  die  Hausangehörigen  erwerben,  erwerben  sie  der  Ge- 
meinschaft. Das  Hausvermögen  steht  unter  der  ziemlich  unbe- 
schränkten Verfügung  des  Hausvaters;  dennoch  hat  er  nicht 
das  Eigenthum  daran;  denn  er  kann  es  schon  unter  Lebendeu 
nicht  im  Ganzen  veräussern,  von  Todeswegen  hat  er  darüber 
aber  überhaupt  keinerlei  Verfügung.  Vielmehr  tritt  in  die  ihm 
zustehende  Verwaltung  kraft  eigenen  uncntziehbaren  Rechts 
sein  ältester  Sohn  ein.  Und  dass  auch  dieser  nicht  etwa  Allein- 
erbe und  -eigenthümer  ist,  geht  daraus  hervor,  dass  er  auf 
Verlangen  mit  seinen  Geschwistern  und  eventuell  Neffen  ab- 
theilen muss;  es  sind  also  alle  im  Hause  vereint  lebenden 
Familiengenossen  am  Vermögen  Gesanimtliänder.  (Vgl.  Leist 
Jus  civile  S.  497  n.  498.) 

Ueber  die  russischen  Verhältnisse  sagt  Mackenzie  Wallace 
in  seinem  Bucho  über  Russland  (Uebersetzung  von  ltüttger 
2.  Aufl.  1880)  Seite  105  u.  109 

„Die  Familien,  die  zu  einem  grossen  Gemeinwesen  gehören, 
leben  nicht  nur  zusammen,  sondern  haben  fast  alle  Dinge 
gemeinsam.  Jedes  Mitglied  arbeitet  nicht  für  sich,  sondern 
lur  den  Haushalt,  und  sein  ganzer  Verdienst  fällt  dem  Familien- 
schatz zu  . . . das  Haus  mit  allem,  was  darin  ist,  gehört  nicht 
dem  Chasjäin  (Wirtli,  Hausvater),  sondern  der  kleinen 
Hausgenossenschaft;  und  folglich  erben  dieselben  nicht  wenn 
der  Chasjäin  stirbt  und  das  Hauswesen  aufgelöst  wird,  sondern 
sie  kommen  in  den  persönlichen  Besitz  dessen,  was 
ihnen  bisher  gemeinsam  gehört  hatte.“ 

Aehnliches  berichtet  Lutschizky  aus  Südrussland. 

So  dauert  also  noch  heute  in  Armenien  und  Russland  das 
alteGesammteigenthum  der  Hausgenossenschaft  fort.  Das  wunder- 
barste Zengniss  aber  für  die  unverwüstliche  Lebenskraft  jenes 
Rechtsprinzipes  ist  es,  wrenn  dasselbe  noch  heute  in  lebendiger 
Anwendung  ist  in  demjenigen  Lande,  das  sich  am  frühesten 
und  entschiedensten  unter  allen  arischen  Gebieten  vom  Familieu- 
eigenthum  abgewendet  hat,  und  dessen  Recht  in  seiner  klassischen 
Zeit  sich  der  consequentesten  Durchführung  des  Individual- 
eigenthums rühmen  durfte:  auch  in  Italien,  von  wo  aus  doch 


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der  Begriff  des  Invidnaleigens  den  Siegeszug  durch  die  Welt 
angetreten  hat,  giebt  es  noch  heute  Hauseigenthum. 

Sombart  S.  29 2 sagt  nämlich  über  die  Familienorganisation 
im  Aternerlande: 

„Fast  durchgehends  steht  hier  die  gesammte  Hausgemein- 
schaft — familia  in  diesem  Sinne  — unter  einem  Pater  familias, 
den  sogenannten  Capoccia,  der  mit  beinahe  unumschränkter 
Gewalt  ausgestattet  ist ; das  Vermögen  gehört  allen  Familien- 
mitgliedern gemeinsam,  und  wird  ausschliesslich  vom  Haus- 
herrn verwaltet  . . . Die  Verrichtungen  der  verschiedenen 
Arbeiten  in  der  Wirthschafl  sind  nach  Jahrhunderte  alten  Tradi- 
tionen streng  unter  die  einzelnen  Familienmitglieder  getheilt.“ 

Ebenso  ist  es  in  allen  Gegenden  Italiens,  wo  die  alte  her- 
gebrachte Form  des  bäuerlichen  Grundbesitzes,  die  Mezzadria,1*) 
in  ungeschwächter  Kraft  besteht. 

§ 5. 

In  dieser  Erkenntnis,  dass  alle  arischen  Stämme  ursprünglich 
von  einem  Gesammteigenthum  der  Hausgenossen  am  Hausgute 
ausgegangen  sind,  liegt  schon  ein  starker  Beweis  dafür,  dass 
es  auch  bei  den  Germanen  nicht  anders  gewesen  sei.  Allein 
es  lässt  sich  auch  direkt  für  das  deutsche  Recht  nachweisen,  dass 
in  ihm  jenes  Rechtsprinzip  lebt. 

Vornehmlich  sind  es  auch  hier  die  Vererbungsgrundsätze, 
welche  wir  zu  jenem  Nachweis  verwerthen  müssen. 

Schou  von  jeher  ist  darauf  hingedeutet  worden,  dass  das 
unentziehbare  Erbrecht  der  Kinder  in  einem  Gesammteigenthume 
wurzeln  müsse.  Besonders  aber  v.  Amira  gebührt  das  Verdienst, 
diesen  Zusammenhang  aufgedeckt  und  auch  bei  denjenigen 


**)  Denn  Sombart  S.  2'Jl  sagt  über  die  Vererbung  der  Mczzadria: 
.Stirbt  das  Haupt,  der  Familie,  so  gehen  die  Verpflichtungen  und  Rechte 
auf  die  Erben  über,  sofern  sie  mit  dem  Verstorbenen  eine  Haus- 
gemeinschaft bildeten.“ 

Also  noch  in  ganz  alter  Weise  folgt  hier  das  Erbrecht  aus  der  ding- 
lichen Hausgemeinschaft,  d.  h.  aus  dem  Mitbesitz  und  Miteigentum  ati 
Grund  und  Boden,  und  ist  eigentlich  gar  kein  Erbrecht,  sondern  (Konsolidation 
Durchaus  altertümlich  wird  der  Kreis  der  erbberechtigten  Familienmitglieder 
durch  das  Zusammenleben  im  Hause  begrenzt. 


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deutschen  Stämmen  quellenmässig  belegt  zu  haben,  wo  mau  bisher 
an  der  Unentziehbarkeit  des  Erbrechts  zweifelte.  ®)  Seine  Aus- 
führungen sind  so  vortrefflich,  dass  wir  uns  lediglich  darauf 
beschränken  können,  das  Wesentlichste  daraus  mitzutheilen  und 
im  Uebrigen  auf  sein  Werk  verweisen  dürfen. 

Am  wichtigsten  ist  das  Gebiet  des  salfränkischen  Hechts, 
weil  einerseits  für  dieses  das  unentziehbare  Erbrecht  der  Kinder 
am  längsten  geleugnet  ist,  und  weil  es  andererseits  sehr  gegen 
die  frühere  Geltung  des  Hauseigenthums  spräche,  wenn  dies  in 
dem  alterthüinlichen  Rechte  der  Salier  nicht  aufzufiuden  wäre. 

Nun  wird  allerdings  allgemein  zugegeben,  dass  später  in 
den  fränkischen  Gebieten  ein  auf  Hauseigenthum  deutendes, 
unentziehbares  Erbrecht  der  Kinder  gilt.  Allein  dies  soll  aus 
der  Verfangenschaft  entstanden  sein,  und  die  Verfangenschaft 
selbst  soll  nicht  in  einem  ehemaligen  Gesammteigenthum  der 
Kinder  wurzeln,  sondern  ein  gewohnheitsrechtlicher  Niederschlag 
von  fränkischen  Eheverträgen  sein.  Wir  halten  diese  Auf- 
fassung für  äusscrlich;  schon  Huber  (S.  45)  hat  mit  Recht  darauf 
hingewiesen,  dass  mit  der  Bezugnahme  auf  die  Eheverträge 
eigentlich  gar  nichts  gesagt  ist;  es  ist  damit  nur  der  Weg  an- 
gegeben, den  die  gewohnheitsrechtliclie  Entwicklung  genommen 
hat.  Als  eigentliche  Aufgabe  des  Rechtshistorikers  aber  ver- 
bleibt es  dann  immer  noch,  die  Gründe  aufzndecken,  warum 
die  Rechtsbildung  jenen  AVeg  gegangen  ist.  Und  da  sind  wir, 
wie  Huber  es  schon  mit  Beschränkung  auf  burgundisehes  und 
alamannisches  Recht  ausgesprochen  hat  (S.  45  ft.),  mit  Heusler 


®)  In  jenem  bekannten  Werke  über  .Erbenfolge  und  Verwandtschntts- 
gliederung“,  da*  mit  der  enormen  Quellenkeuntnis  Amiras  und  seiner  ge- 
wohnten Beherrschung  auch  des  philologisch-sprachlichen  Matciials  ge- 
schrieben ist.  — Auch  Huber  bat  den  Begriff  des  Hausverinögens  und  die 
Rcchtsgemeinschaft  zwischen  Vater  und  Sühnen  betont.  Er  meint  zwar 
trotz  aller  Anrechte  der  Sühne  halte  das  Familiengut  nur  im  Eigenthume 
des  Vaters  gestanden.  Jene  hätten  nur  ein  liecht  auf  Mitgenuss  gehabt. 
Allein  derartig  beschränkte  Einzelrechte  lassen  sich  sehr  wohl,  wie  sich 
weiter  unten  zeigen  winl.  mit  dom  Gesammteigenthum  vereinen.  — Ganz 
als  .Gütergemeinschaft“  oder  .Miteigenthum*  bezeichnet  das  Verhältnis 
von  Vater  und  Kindern  Ficker  bei  deu  Burgundern  (§  43s  ff.  S.  123  ff),  bei 
dcu  Langobarden  637),  im  gothländischcn  Hecht  (§  öll)  und  sonst 
4U1  und  öfsj. 


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tu 


in  seinen  Institutionen  allgemein  der  Ansicht,  dass  die  Ver- 
fangenschaft sicli  mit  innerer  Nothwendigkeit  ans  dem  Fauiilien- 
eigenthum  entwickelt  hat  und  dass  sie,  ebenso  wie  das  Erben- 
wartrecht  in  Sachsen,  das  Anerbenrecht,  das  Stammgütersystem 
und  manches  andere  Gebilde  des  deutschen  Erbrechts,  in  dem 
einen  fruchtbaren  Gedanken  der  Hausgenossenschaft  mit  Haus- 
eigenthum  wurzelt.  Es  ist  aber  auch  vor  allem  gar  nicht 
richtig,  dass  unentziehbares  Erbrecht  der  Kinder  in  fränkischen 
Gebieten  erst  zur  Zeit  der  Verfangenschaft  gilt. 

Schon  verschiedene  bei  Gregor  von  Tours  und  anderswo 
mitgetheilte  alte  Entscheidungen  von  Prozessen,  in  denen  Erben 
Vergabungen  ihrer  Eltern  aufechten,  lassen  auf  ein  unentzieh- 
bares Erbrecht  zu  damaliger  Zeit  schliessen.4")  Besonders 
jedoch  die  Formeln  und  die  fränkischen  Urkunden  vom  ti.  bis 
0.  Jahrhundert  zeigen,  dass  die  Erben,  um  eine  Vergabung  von 
Todes  wegen  oder  Veräusserung  unter  Lebenden  rechtskräftig 
zu  machen,  mindestens  zustimmen  mussten,  weil  ihnen  sonst  ihr 
Erbrecht  nicht  entzogen  werden  konnte.41)  Für  diejenigen  Thcile 
fränkischen  Rechtsgebietes,  welche  unter  der  Herrschaft  der 
lex  Ribuaria  standen,  ist  es  sogar  gesetzlich  bezeugt,  dass  eine 
Vergabung  auf  den  Todesfall,  eine  Affatomie,  überhaupt  nur 
zulässig  war,  siquis  procreationem  tiliorum  vel  filinrum  non 
lmbuerit.  (lex  Rib.  tit.  Ls  cit.)  (Vgl.  Amira  S.  53  54). 

Dass  aber  das  Erforderniss  der  Zustimmung  der  Kinder 
zur  Veräusserung  des  Hausgutes  im  fränkischen  Rechte  auf 
wahrer  gesummter  Hand  daran  beruhte,  ergiebt  sich  daraus, 
dass  diese  Zustimmung  regelrecht  nicht  nur  durch  Worte, 
sondern  durch  Mithand  ein4'-)  erklärt  werden  musste,  indem 
die  Kinder  die  Traditionsurkunde  selbst  schrieben  oder 
wenigstens  mit  unterschrieben  und  ev.  auch  untersiegelten. 
Es  ergiebt  sich  ferner  auch  aus  der  Ausdrucksweise  der  Urkunden. 
So  bemerkt  Kr.  1K4  der  älteren  Urkunden  aus  Fulda,  der  Vater 
und  der  mit  Unterzeichnete  Sohn  hätten  die  Vergabung  mit 
gesummter  Hand  vorgenommen,  (qui  communibus  manibus 


*q  Vgl.  v.  A mim  S.  öS  uml  55. 

41)  Vgl.  v.  Amira  S.  55  f. 
a)  Nachweisungtm  bei  Amira  S.  55. 

v.  Dultilg,  Uruntlvrbrecht.  4 


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r.o 


hanc  traditionem  fecerunt.)43)  So  redet  n.  86  der  Formeln  bei 
Roziere  von  einem  „eonsorcium“  in  welchem  der  Erblasser  und 
seine  Kinder  miteinander  in  Bezug  auf  die  alodis  stehen,  und 
aus  der  ein  Theilhaber  per  praecessionem  mit  seinem  Vermögeus- 
antheile  heraustreteu  kann,  während  die  übrigen  in  der  Gemein- 
schaft sitzen  bleiben.  Weitere  Beispiele  von  einer  auf  Gesammt- 
eigenthum  weisenden  Ausdrucks  weise  der  Urkunden  bietet 
v.  Amira  S.  58. 

In  gleicher  Weise  lässt  sich  für  das  angelsächsische 
Rechtsgebiet  ein  unentziehbares  Erbrecht  der  Kinder  und  nächsten 
Verwandten  belegen.  Dass  dies  auch  hier  in  einem  Gesammt- 
eigenthume  wurzelte,  ist  an  sich  wahrscheinlich,  es  sprechen  dafür 
aber  auch  manche  positive  Anzeichen.  Hierhin  ist  zunächst 
wieder  das  Mithandeln  der  Einspruchberechtigten  bei  der  Ver- 
gabung zu  zählen.44)  Ferner  aber  wird  in  c.  23  der  hist.  Rames. 
erzählt,  wie  in  einem  Prozesse  jemand  eine  Veräusserung  seines 
verstorbenen  Bruders  mit  Erfolg  anficht.  Das  Merkwürdige 
dabei  ist,  dass  er  dies  nur  auf  die  Hälfte  thut.  Hätte  er  kraft 
Erbrechts  angefochten,  so  hätte  er  die  ganze  Vergabung  auf- 
heben  dürfen,  da  er  aufs  Ganze  Erbe  ist.  Wenn  er  nur  zur 
Hälfte  die  Aufhebung  durchsetzt,  so  ergiebt  sich  daraus,  dass 
er  kraft  Miteigenthums  anficht,  welches  ihm  ja  nur  zur  Hälfte 
zusteht.  Dass  dies  Miteigenthum  nach  festgeschiedenen  Quoten 
eine  spätere  Aenderung  des  ursprünglichen  Gesammteigenthums 
ist,  hat  Amira  mit  Recht  vermuthet.  Denn  auch  bei  den  Sal- 
franken,  bei  denen  ja  ursprünglich  auf  Grund  Gesammteigen- 
thums ohne  feste  Quotentheilung  die  ganze  Vergabung  angefochten 
werden  konnte,  finden  sich  später  Strömungen,  welche  die  An- 
fechtung nur  auf  eine,  dem  geschiedenenMiteigenthum  entsprechende 
Quote  zulasseu  wollen.4'’) 

Für  ursprüngliches  Gesammtcigenthum  der  Hausgenosseu- 
schaft  bei  den  Angelsachsen  bietet  jedoch  einen  weiteren  Anhalts- 


4 3)  Der  Aussteller  der  Urkunde  ist  allein  der  Vater,  ein  Zeichen 
dafür,  dass  dies  an  sich  noch  kein  Beweis  dessen  ist,  dass  der  Sohn  nicht 
mitgehandelt  hahe. 

44)  Vgl.  v.  Amira  !S.  106  ff. 

*■’’)  Vgl.  die  verschiedenen  Entscheidungen  der  Prozesse  bei  (iregor 
v.  Tours  und  bei  BrGquigny-Pardessus,  welche  Amira  8.  öS  und  65  mittbeilt. 


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51 


punkt  die  altnationale  Benennung  der  Blutsverwandtschaft  und 
ihre  Scheidung  in  „Herren“  und  „Nichtherren“.4*)  Denn  die 
Benennung  der  Herren  ist  auf  diejenigen  Blutsverwandten  be- 
schränkt, welche  nach  v.  Amira  den  näheren  Erbenkreis  bilden, 
d.  h.  Kinder,  Eltern  und  Geschwister.  Das  sind  aber  alles 
Verwandte,  die  wir  noch  später  häufig  in  einer  Hausgenossenschaft 
vereint  finden.47)  Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  gewinnt  ihre 
Benennung  als  Herren  eine  ungeahnte  Bedeutung:  denn  sie 
kann  sich  dann  nur  auf  ihre  Herrschaft  am  Erbe  und  Hausgut, 
ihr  Gesammteigenthum  daran  beziehen.  Alle  anderen  Verwandten 
die  zum  Erbe  gelangen,  greifen  darauf  als  Nichtherren:  sie  haben 
es  nicht  schon,  sondern  müssen  es  erwerben. 

Dass  im  sächsischen  Recht  das  Beisprnchsrecht  der 
nächsten  Erben  allgemein  galt,  ist  unbestritten.  Ueber  die 
Bewerthung  dieser  Thatsache  aber  sagt  v.  Amira  treffend:  „Ein 
Recht  der  Magen,  welches  die  Verfügungsgewalt  des  Erblassers 
bei  dessen  Lebzeiten  von  Anfang  an  in  dem  Masse  band,  dass 
er  ohne  ihren  Beirath  keine  gültige  Veräusserung  vornehmen 
konnte,  drängte  das  Mehr,  was  er  vor  den  Erbwarten  voraus 
hatte,  auf  ein  blosses  Vertretungsrecht  zusammen.  Er  veitritt 
die  Gesammtheit  der  einspruchsberechtigten  Magen  mit  Ein- 
schluss seiner  selbst  in  der  Ausübung  der  Herrschaft,  welche 
ihnen  allen  gemeinschaftlich  zusteht,  nach  aussen.“ 

Wenn  wir  deshalb  auch  bei  den  Friesen  ein  unentzieh- 
bares  Erbrecht  der  nächsten  Verwandten  finden,  so  dürfen  wir 
annehmeu,  dass  es  hier  ebenfalls  auf  dem  Grunde  einer  Ver- 
niügensgemeinsehaft  zwischen  diesen  Verwandten  ruhte.  Und 
dass  diese  Vermögensgemeinschaft  ein  Gesammteigenthum  war, 
dafür  liegen  gerade  im  friesischen  Rechte  besonders  starke 


**)  VgL  v.  Amira  S.  77  ff.  — Die  Etymologie  ist  allerdings  unsicher. 
Sie  hat  aber  innere  Wahrscheinlichkeit  für  sich 

47)  Daran  ändert  es  auch  nichts,  wenn  mau,  was  sehr  zweifelhaft  ist, 
auch  die  Eiterugeschwister  unter  die  „Herren“  rechnet.  Denn  auch  diese 
können  mit  ihren  Neffen,  denen  gegenüber  sie  als  Erben  in  Betracht 
kommen,  in  einer  Hauagenossenschal't  sitzen.  Es  kommt  dies  vor,  wenn 
verlieirathete  Brüder  unabgetbeilt  beieinander  bleiben.  ln  deutschen 
Kechtsgehieten  war  dies,  anders  als  in  Armenien  und  Südrusslaud.  nicht 
gewöhnlich  und  daher  mag  es  uueh  kommun,  dass  es  zweifelhaft  ist,  ob  die 
Elterngeschwister  ihren  Neffen  gegenüber  Herren  oder  Nichtherreu  sind. 

■4* 


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Zeugnisse  vor.  Abgesehen  von  der  auch  hier  sich  findenden 
Scheidung  des  Verwandtenkreises  durch  seine  Namen  in  Herren 
und  Nichtherren,  wird  gerade  das  Verhältniss  zwischen 
Eltern  und  Kindern,  nicht  nur  das  zwischen  Geschwistern 
als  gesammte  Hand  aufgefasst.  Denn  wie  bei  Geschwistern, 
die  in  ungetheiiten  Gütern  sitzen,  für  den  Fall,  dass  einer  von  ihnen 
ein  Verbrechen  begeht,  ihr  Haus  zum  Schaden  aller  nach  dem 
Brokmerbriefe  zerstört  wird,  so  gilt  das  nämliche,  wenn  Eltern 
und  Kinder  das  Haus  in  ungetheilter  Gemeinschaft  besitzen. 
Diese  Zerstöruug  des  ganzen  Hauses  anstatt  des  auf  den  Ver- 
brecher entfallenden  Theils  ist  aber  ein  Zeichen  des  Gesammt- 
eigenthums,  welches  den  Grundsatz  hat,  dass  Schulden,  auch 
Delictssehulden,  eines  Gesammthänders  das  ganze  Gesammtgut 
ergreifen  und  nicht  nur  auf  einem  etwaigen  Theilc  des  Ver- 
brechers hängen  bleiben.  Auf  Gesammteigenthum  gehende  An- 
deutungen enthalten  auch  die  Bflstrigoer  Küren.  Die  Eltern 
des  Todtschlägers  müssen  für  dessen  T hat  Busse  zahlen.  Was 
ihnen  entzogen  wird,  wird  aber  nicht  als  ihr  Vermögen,  sondern  als 
das  des  Todtschlägers  aufgelässt.  Deshalb  sollen  die  öffent- 
lichen Beamten  die  Abtheilung  vornehmen  und  dann  den  Antheil 
des  Todtschlägers  an  sich  nehmen.  (Vergl.  Amira  S.  184.) 
Noch  weiter  geht  das  Westerwolder  Landrecht.  Hier  stehen 
nämlich  den  Kindern  sogar  schon  vor  der  Abschichtung  und 
noch  während  der  Lebenszeit  ihrer  Eltern  gewisse  Verfügungs- 
rechte an  dem  im  Besitze  ihrer  Eltern  befindlichen  Gute  zu: 
sie  sollen  das  halbe  Gut  und  den  „vorderen“  oder  „äusseren“ 
Herd  versetzen  können.  Das  dürften  sie  doch  gewiss  nicht, 
wenn  ihnen  nicht  schon  bei  Lebzeiten  der  Eltern  ein  Miteigen- 
thum ain  Gute  gebührte.  Ausserdem  machen  auch  Regeln  der 
Deichpflicht  und  noch  manche  andere  Andeutungen  die  Annahme 
nothwendig,  dass  zwischen  Eltern  und  Kindern,  und  zwischen 
Geschwistern,  „den  gesipptesten  ii.  Händen“,  ein  Gesammteigen- 
thum am  Hausgutc  bestanden  habe. 

Das  Resultat,  welches  wir  bei  der  Durcheil  ung  der  nieder- 
deutschen Rechtsgebiete  an  der  Hand  Amiras  gewonnen  haben, 
wird  nun  durch  eine  Musterung  der  oberdeutschen  Rechtsquellen 
bestätigt. 

Namentlich  ist  es  die  lex  Baiuvariorum,  welche  das  Ver- 
hältniss zwischen  Vater  und  Söhnen  scharf  als  Gesammteigenthum 


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53 


auffasst  In  ihr  ist  der  Fall  behandelt,  wo  ein  Vater,  der 
Söhne  hat,  zu  seinem  Seelenheil  sein  Gut  an  die  Kirche  ver- 
gaben will.  Nach  den  Regeln  des  Gesainmteigenthums  darf 
dies  der  Vater  nicht  ohne  Zustimmung  und  Mitwirkung  der 
Söhne,  da  zu  Verfügungen  über  die  Substanz  des  Gesammtgutes 
alle  Gesammthänder  zugezogen  werden  müssen.  Will  er  aber 
diese  Zuziehung  der  Söhne  umgehen,  so  kann  er  dies  nicht 
andere  erreichen,  als  indem  er  die  Gesammthand  mit  ihnen  löst 
und  die  Grundtheilnng  vornimmt.  Dann  vermag  er  zwar  sein 
Gut  ohne  jene  zu  vergaben,  aber  nur  den  auf  ihn  entfallenden 
Tlieil.  Genau  so  finden  wir  es  in  tit.  I cap.  I lex  Baiuvariorum: 
„Ut  siquis  über  persona  voluerit  et  dederit  res  suas  ad  ecclesiam 
pro  redemptione  animae  suae,  licentiam  habeat  de  portione 
sua,  postquam  cum  filiis  suis  partivit.“ 

Dass  die  hier  in  Anwendung  auf  den  einzelnen  Fall  ver- 
anschaulichte Regel  im  bairischen  Recht  allgemein  gegolten  hat, 
und  dass  nicht  etwra  durch  Vergabungen  zu  anderen  Zwecken 
den  Kindern  ihr  Erbrecht  ohne  Grundtheilnng  entzogen  werden 
konnte,  ergiebt  sich  ohne  weiteres  aus  der  Erwägung,  dass  in 
allen  germanischen  Rechtsgebieten  die  Verfügungsfreiheit  zu 
Gunsten  der  Kirche  am  grössten  war.  Wenn  also  nicht  einmal 
für  diesen  Fall  das  bairische  Recht  die  starren  Consequenzen 
des  Familien-  und  Gesammteigenthums  aufgiebt,  so  ist  es  von 
ihnen  bei  anderen  Veräussernngen  erst  recht  nicht  abgewichen.47*) 

Gleich  die  lex  Burgundionum  lässt  denn  auch  erkennen, 
dass  schlechthin  für  jeden  Fall  unentgeltlicher  Veräusserung 
dieselben  Satze  gegolten  haben. 

Tit.  I cap.  I lex  Burg,  lautet  nämlich:  „.  . . decrevimus, 
ut  patri,  etiam  antequam  dividat,  de  comniuni  facultate  et 
de  labore  suo  cuilibet  donare  liceat,  absque  terra  sortis 
titulo  acquisita,  de  qua  prioris  legis  ordo  servabitur“. 

Aus  der  Stelle  ergiebt  sich,  dass  nach  altem  Recht  („prioris 
legis  ordo“)  für  das  ganze  Hausgut,  — nicht  nur  für  das  Loosland,  — 
die  Regel  galt:  der  Vater  dürfe  allein  nichts  vergaben,  antequam 


47*)  Vgl.  hierüber:  Sigmund  Adler,  „Ueber  das  Erbeuwartrecht  nach 
den  ältesten  bayrischen  Rccbtaquellen*  und  die  Besprechung  dieses  Werkes 
von  Hübner  in  der  Zsclir.  f.  Hgescb.  Germ.  Abt.  Bd.  14  S.  157. 


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dividat  (bevor  er  die  Grundtkeilung  vomiuunt).  Dieser  Rechts- 
satz ist  aber,  wie  oben  beim  bairischen  Rechte  ausgeführt,  eine 
Folge  der  gesammten  Hand  zwischen  Vater  und  Kindern;  mit- 
hin muss  auch  für  das  burgundische  Gebiet  das  ursprüngliche 
Bestehen  dieser  Gesammthand  angenommen  werden.47b)  Uebrigens 
ist  noch  später  der  Gedanke  des  Miteigenthums  der  Kinder  in 
den  burgundischen  Tochterrechten  lebendig  gewesen.  Es  zeigt 
dies  die  merkwürdige  Bildung  der  legitime  avite  und  paternelle. 
Die  legitime  avite  ist  nicht  etwa  ein  „grossväterliches“  Erbtheil. 
sie  ist  vielmehr  ein  Gut,  über  das  der  Vater  überhaupt 
nicht  verfügen  kann.  Die  Hälfte  des  Vermögens  betragend, 
steht  sie  nämlich  schon  bei  Lebzeiten  des  Vaters  im  Eigent  hum 
der  Kinder.  Die  Confiseation  des  Vermögens  der  Kinder  trifft 
deshalb  schon  bei  Lebzeiten  des  Vaters  ihren  Antheil  an  der 
avite,  und  umgekehrt  ergreift  die  gegen  den  Vater  verhängte 
Vermögenseinziehung  die  avite  gar  nicht,  ähnlich  wie  es  oben 
bei  den  Rüstrigoer  Küren  vermerkt  wurde.  Die  legitime  pater- 
nelle dagegen  ist  ein  wahrer  Pflichttheil.  Sie  beträgt  abermals 
die  Hälfte  des  dem  Vater  allein  gehörigen  halben  Vermögens, 
also  ein  Viertel  des  Ganzen.  Kur  in  sie  findet  wahrer  Erb- 
gang statt.  Der  Anfall  der  avite  wird  dagegen  im  Rechte  von 
Nyon  (3,  5,  2 § (!)  gar  nicht  als  Succession  anerkannt.  ( Vgl. 
Ficker  Bd.  2 S.  361/362.) 

Was  endlich  den  Geltungsbereich  der  lex  Alamannorum 
anbetrifft,  so  ist  uns  ein  Zeugniss  für  das  Gesainmteigenthum 
der  Hausgenossen  in  ihr  selbst  nur  für  den  Fall  aufbewahrt, 
dass  die  Hausgenossenschaft  aus  Brüdern  besteht.  Für  diesen 
Fall  wird  nämlich  berichtet,  dass  die  Brüder  vor  der  Abtheilung 
nicht  über  ihren  Antheil  verfügen  dürfen,  die  oft  erwähnte 
Consequenz  des  Gesammteigenthuius,  welches  ideelle  Quoten 
nicht  kennt.  Die  bezügliche  Stelle  findet  sich  in  tit.  91  und 
lautet:  „Si  quis  lratres  post  mortem  patris  eorum  aliquanti 
fuerint,  dividant  portionein  patris  eorum.  Dum  hoc  non  fuerit 
factum,  nullus  rem  suam  dissipare  faciat  usque,  dum 
aequaliter  partiant“. 

o'')  Uleicher  Ansicht  für  «las  burgundiacho  Recht  (wenigstens  hin- 
sichtlich des  Vorliegens  eines  Hnusvermügens)  Huber  S.  15  ff.  und 
namentlich  Ficker  S.  f.'lS  und  5t:l  ff. 


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55 


Aus  Urkunden  lässt  sieh  dagegen  auch  zwischen  Vater  und 
Söhnen  eine  gleichartige  Theilung  für  das  alamannische  Rechts- 
gebiet belegen.  So  erwähnt  eine  Urkunde  von  827  (bei  Huber 
S.  1 fi),  dass  ein  Vater  vergabt  „quiequid  me  eonstat  contra  filios 
nieos  in  portionem  suscepisse,  tarn  domibus  et  edificiis  quam 
mancipiis.“  Ganz  ähnlich  lautet  eine  Urkunde  von  837  (bei 
Huber  S.  16):  Auch  hier  vererbt  der  Vater  „quiequid  in  Turbatun 
. . . contra  filios  meos  in  portionem  et  in  meam  swascaram 
(Freit heil)  accepi.“  Dass  dieser  Theilung  die  Idee  der  Sprengung 
eines  Gesammthandverhältnisses  zu  Grunde  lag,  geht  einmal 
daraus  hervor,  dass  vor  der  Theilung  der  Einzelne,  und  darum 
auch  der  Vater,  überhaupt  nicht  verfügen  konnte,  nicht  einmal 
über  seinen  Kopftheil,  da  es  eben  dann  noch  keine  wahren 
Kopftheile  gab.  (Huber  S.  16.)  Die  Gesammthand  wird  ferner 
dadurch  erwiesen,  dass  die  regelmässige  Veräusserungsform  vor 
der  Theilung  das  Mithandeln  der  Kinder  ist  (vgl.  Wartmanns 
Sankt-gallisches  Urkundenbuch,  und  Huber  S.  19).  Endlich  ist 
der  Gedanke  an  bestehendes  Mitrecht  der  Kinder  bei  Lebzeiten 
der  Eltern  in  alamannischen  Gegenden  auch  noch  später  zu 
finden.  Er  war  sogar  so  stark,  dass  stellenweise  als  eigentliche 
Eigentümer  überhaupt  nur  die  Kinder  betrachtet  wurden,  wo- 
durch die  Eltern  zu  Verwaltern  oder  Leibzüchtern  herabsanken. 
Gerade  das  spricht  nämlich  Art.  III,  18  der  Handfeste  von 
Winterthur  aus  mit  den  Worten: 

„Wir  hain  och  ze  rehte:  . . . zwaz  de  kainer  ünser 
burger  bi  sinein  elichen  wibe  Cinsaigens  oder  ledigs  aigens 
gekofs,  habent  sü  mit  anderen  kint,  der  aigen  ist  es  und 
iro  beder  ligtinge“  (bei  Huber  S.  48). 

Sonach  hat  sich  das  Hauseigenthum  ausser  in  den  nieder- 
deutschen auch  in  den  oberdeutschen  Rechtsgebieten  aufdecken 
lassen.  Dass  es  sich  auch  bei  anderen  germanischen  Völkern 
findet,  ist  schon  öfters  betont  worden.  Neuerdings  hat  es  für 
das  langobardische  Recht  und  für  das  gotländische  Ficker 
(§  536  ff.,  541  ff.)  wahrscheinlich  gemacht.  Auch  im  lango- 
bardischen  Rechte  kann  nämlich  der  Vater,  — was  ja  für  die 
Gesammthand  charakteristisch  ist,  — nicht  eher  über  das  Ver- 
mögen verfügen,  als  bis  er  abgetheilt  hat,  und  auch  dann  nur 
über  seinen  Theil.  Das  ergiebt  sich  aus  zahlreichen  Urkunden. 
(Vgl.  Ficker  a a O.)  Ja  selbst  diejenigen  Urkunden,  welche 


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Ficker  lur  eine  Möglichkeit  der  Verfügung  wenigstens  über  den 
Freitheil  vor  der  Grundthcilung  anfülirt,  widersprechen  dem 
nicht:  denn  sie  beweisen  jene  Möglichkeit  gar  nicht.  Sie  besagen 
nämlich  überhaupt  nichts  darüber,  ob  Grundthcilung  vorangegangen 
war  oder  nicht.  Es  ist  deshalb  sehr  wohl  denkbar  und  bei  der 
sonstigen  zweifellosen  Rcchtsübnng  sogar  wahrscheinlich,  dass 
auch  in  diesen  Fällen  eine  Theilung  vorhergegangen  war,  die 
nur  zufällig  in  den  Urkunden  nicht  erwähnt  ist. 

In  dem  gotländischen  Rechte  belegt  die  oben  (Amu.  21) 
mitgetheilte  Stelle  sowohl  die  charakteristische  Grundtheilung, 
wie  die  erst  damit  anhebende  Bewegungsfreiheit  des  Einzelnen. 

In  beiden  Rechten  findet  sich  übrigens  auch  der  merkwürdige 
Ausdruck  des  Sitzens  „im  Schosse“  oder  „in  sinn“  des  Vaters 
oder  Grossvaters,  was  immer,  wie  wir  noch  sehen  werden,  auf 
H ausgemeinschaft  hin  weist. 


Nach  alledem  kann  man  wohl  sagen,  dass  sich  die  Lehre 
vom  Hauseigenthum  auch  in  deutschen  (Quellen  und  als  ger- 
manisches Rechtsprinzip  nachweiseu  lässt.  Es  sprechen  aber 
auch  innere  Gründe  dafür,  und  diese  sind  es  vornehmlich,  die 
uns  zu  der  Behauptung  veranlasst  haben,  dass  der  Germane 
sich  den  Grundbesitz  als  dem  Hause  und  nicht  dem  Einzelnen 
gehörig  vorgestellt  habe.  Die  zahlreichen  und  zum  Theil  unauf- 
gehellten  Eigenthümlichkeiten  des  altdeutschen  Erbrechts  nämlich 
erklären  sich  in  einfachster  Weise,  sobald  man  von  dem  Be- 
stehen eines  Hauseigenthums  ausgeht. 

Wie  das  Erbrecht  an  Fahrniss  entstanden  ist,  ob  es  älter 
ist  als  dasjenige  am  Grundbesitz,  und  ob  der  berühmte  Titel 
der  lex  Salica  „de  alodis“4*)  dies  alte  Fahrnisserbrecht  regelt, 


Man  wird  nicht,  um  die  alte  Vermuthung  herumkominen.  dass  der 
Titel  keine  vollständige  Erbentafel  aufstelle.  Man  hat  die  Erbentafel  als 
eine  vollständige  zu  halten  gesucht,  indem  mau  sie  als  eine  mutterrechtliche 
hinstellte  (vgl.  besonders  Heusler,  Institutionen \ Diese  Darstellung  scheitert 
an  der  Auslassung  des  Mutterbruders.  der  im  Mutterrechte  nach  Ansicht 
aller  seiuer  Anhänger  eine  so  wichtige  Rolle  spielt,  (vgl.  L.  Dargun,  Studien 
zum  ältesten  Familienrecht,  Leipzig  1892  >,  also  in  einer  mutterrecbtlicben 
Erbentafel  sicher  einen  Platz  finden  musste.  Dass  aber  bei  einer  vater- 


Öl 

interessiert  uns  nicht  und  mag  deshalb  dahingestellt  bleiben. 
Grossen  Umfang  kann  es  nie  gehabt  haben,  da  der  Haupttheil 
der  Fahrniss,  der  Viehstand  und  das  Gutsinventar,  als  Zubehör 
dem  Schicksale  des  Grundbesitzes  folgte'"')  und  die  übrige  be- 
wegliche Habe  sich  bei  dem  fast  gänzlichen  Mangel  des  Geldes 
in  den  Zeiten,  auf  die  es  hier  ankommt,  im  wesentlichen  auf 
Schmuck  und  Kriegsgeräth  beschränkte.  Das  weitaus  über- 
wiegende Erbrecht  an  Grund  und  Boden  hat  deshalb  bei  den 
Germanen  wie  bei  allen  anderen  arischen  Stämmen  dem  ge- 
summten Erbrechte  seinen  Stempel  aufgedrückt. 4H“) 


rechtlichen  Verwandtschaft  die  Tafel  nicht  vollständig  sein  kann,  ist  klar. 
Din  Ansicht  gewinnt  deshalb  hohe  Wahrscheinlichkeit,  dass  der  Titel  nur 
die  Aendernngeu  der  bisherigen  Erbfolge  oder  doch  diese  nur.  soweit  sie 
zweifelhaft  war.  festlegen  wollte.  Solche  Zweifel  bestanden  nun  besonders 
bei  der  Erbfolge  der  Frauen,  weil  sie.  wie  unten  erhellen  wird,  ursprünglich 
erbnnfähig  waren.  Der  Titel  will  deshalb  vornehmlich  das  Erbrecht  der 
Frau  regeln,  wie  sich  auch  aus  den  .Schlussworten  .de  terra  vero  nnlla  in 
muliere  hereditas“  ebenfalls  ergiebt.  Aus  diesem  Gründe  nennt  der  Titel 
vorzugsweise  weibliche  Verwandte,  nicht  aber,  weil  er  ein  altes,  auf  mutter- 
rechtlichem  Grunde  ruhendes  Fahrnisserbrecht  darstellen  will.  Das  Mutter- 
recht,  dessen  Bedeutung  wir  für  andere  Völker  nicht  verkennen,  lehnen 
wir  für  die  Arier  ab  und  schliessen  uns  hier  den  Ausführungen  von  Leist 
i.Jus  civile  8.  400  und  Jus  gentium,  namentlich  S.  öl  ff,  587  ff.)  und  von 
l'lrich  Stutz  in  seiner  Besprechung  von  L.  Darguns  citirten  Werk  (in  der 
Zschr.  f.  ßgesch.  Germ.  Abt.  Bd.  XV  S 175)  an. 

4SI)  Als  Beweis  hierfür,  wenn  er  nothig  scheinen  sollte,  mag  cap.  42 
der  lex  Francorum  Chamavorum  angeführt  werden,  wo  die  mancipia  und 
das  peculinm,  was  nach  barbarischem  Latein  .Viehstand“  bedeuten  soll, 
das  Schicksal  der  .terra*  und  der  „sylva“  teilen. 

41*)  Es  bedarf  bei  dieser  Betonung  des  Liegenschaftserbrechts  kaum  einer 
Auseinandersetzung  mit  den  Theorion,  welche  Ficker  in  seinem  neuesten  Buche 
autgestellt  hat  und  die,  wie  er  selbst  eingangs  sagt,  dasGegentheil  sind  von  fast 
allem,  was  man  bisher  als  sicher  angenommen  hat.  Denn  wenn  er  auch 
davon  ausgeht,  es  sei  das  Uber  den  Kreis  der  Hausfamilie  hinausreichende 
unbeschränkte  Erbrecht  aller  Verwandten  das  Ursprüngliche  gewesen,  und 
es  habe  dies  Erbrecht  weder  eine  Pareutelenordnung  noch  einen  Ausschluss 
der  Weiber  gekannt,  vielmehr  sei  es  nach  reiner  üradesnähe  geregelt  ge- 
wesen, so  meint  er  doch,  das  eigentümliche  Erbrecht  des  engeren  Kreises 
sei  dort,  wo  es  sich  herausgebildet  habe,  erwachsen  aus  einer  Hausgemein- 
schaft, die  er  sogar  als  Miteigenthum  zwischen  Vater  und  Kindern  be- 
zeichnet (vgl.  insbesondere  S.  544  ff.  und  S.  380  381,  Bd.  2),  und  durch 
die  Uebertragung  dieses  Hanserbrechts  auf  immer  weitere  Kreise  habe  sich 
naturgemäss  die  Pareutelenordnung  lierausgebildet  (S  «14  ff.  Bd.  2),  ganz 


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58 


Das  Erbrecht  am  Grundbesitz  ist  aber  ursprünglich  lediglich 
eine  Consolidation  des  Gesammteigenthums  im  Kreise  des  Hauses. 


*o,  wie  wir  es  alsbald  schildern  werden.  Er  ist  aber  ferner  der  Ansicht, 
dass  das  besondere  Erbrecht  des  Hauses  tnic  seiner  Zurücksetzung1  der 
Weiber  gerade  entwickelt  sei  durch  das  Entstehen  eines  Erbgangs  in 
Liegenschaften.  Kr  sagt  hierüber  wörtlich  (Bd.  1 S,  42):  .Es  liegt  auf  der 
Hand,  wie  gerade  der  l'ebergang  zum  .Sondereigenthum  an  Grund  und  Boden 
die  weitgreifendsten  Aenderungen  veranlassen  musste.  . . . Wir  werden  es 
versuchen,  nachzuweison.  wie  die  wichtigsten  der  von  uns  vermutheten 
Aenderungen  der  urgermanischen  Erbenfolge  gerade  in  diesem  Uebergange 
ihre  nächstliegonde  Erklärung  finden  können.“  (Vgl.  auch  § 4 "3  S.  253 
Bd.  2).  Auch  Ficker  glaubt  demnach,  dass  das  Liegenschaftserbrecht 
sich  nach  den  von  uns  betonten  Prinzipien  geformt  habe.  Er  meint  nur.  dass 
es  nicht  überall  zum  Siege  gelangt  sei  und  dass  die  Inconsei[uenz  mancher 
Erbfolgeordnungen  sich  aus  dem  Durcheinandergeben  von  neuem  Liegen- 
schafts- und  alten  Fahrnisserbreeht  erkläre. 

Es  ist  das  ein  durchaus  möglicher  Gedanke  und  er  widerspricht,  wie 
gesagt,  gar  nicht  unseren  Theorieeu.  welche  sich  nur  mit  den  ältesten 
Prinzipien  des  liegenscb  aftlicheu  Erbgangs  befasset!.  Allein  es  soll 
doch  betont  werden,  dass  sich  gegen  die  Ficker  schen  Ergebnisse  fast  durch- 
weg schwere  Bedenken  geltend  machen. 

Schon  seine  Untersuchungsmethode  ist  nicht,  einwandfrei.  Er  sagt  zu 
ihrer  Begründung  zwar  manches  beberzigenswerthe  Wort.  Man  wird  ihm 
z.  B.  vielfach  beitreten  können,  wenn  er  gegen  die  Ueberschiitzung  der 
sprocbgeschicb Hielten  Forschung  eifert  (§  171  fl  ),  da  Sprachgleichhfcit  in 
der  That  nicht  immer  auch  Stammesgleichbeit  und  Rechtszusammeuhang 
bedingt.  Man  wird  auch  seine  Ausführungen  Uber  .Recht  und  Sitte“  meist 
mit  Zustimmung  lesen  und  es  richtig  finden,  weDn  er  darauf  hinweist,  dass 
die  Sitte  nicht  nur  eine  Vorstufe  des  Rechts,  sondern  oft  auch  einen 
Gegensatz  zum  formellen  Recht  bildet  (§  183  ff.).  Es  ist  auch  unbe- 
streitbar, dass  zur  Feststellung  des  Inhalts  alter  verlorener  Schriftwerke 
aus  jüngeren  Abschriften  ein  ähnliches  Verfahren  befolgt  wird  (§  63). 
Allein  damit  ist  nicht  gesagt,  dass  die  Methode  sich  auch  für  die  rechts- 
gcschichtlichc  Forschung  eignet.  Sie  kann  hier  nicht  angängig  sein  wegen 
der  unvergleichlich  viel  grösseren  Schwierigkeiten.  Und  sie  ist  es.  Auch 
bei  der  Beurtheilnng  von  Untersuchungsmethoden  heisst  es  doch:  .Alt  ihren 
Früchten  sollt  ihr  sie  erkennen!“  Und  die  Ergebnisse  der  Methode  sind 
höchst  befremdlich.  Sie  führt,  wie  Ficker  sagen  würde,  zu  .gehäuften 
Unwahrscheinlichkeiten“,  namentlich  auf  dem  Gebiete  der  Rechts-  uud 
Stammesverwaudtschaft ; Ficker  hätte  deshalb  nach  seinen  sonstigen  An- 
schauungen sie  selber  verwerfen  müssen.  Es  ist  ja,  wie  schon  bemerkt,  im 
Einzelfalle  nicht  bedenklich,  wenn  einmal  Recbtsgeschichte  und  Sprach- 
geschichte auf  verschiedene  Ziele  weisen ; aber  es  ist  bedenklich,  wenn  dies 
fort  ttnd  fort  geschieht,  und  es  wird  das  um  so  bedenklicher,  wenn  zugleich 


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5i> 


Wenn  aus  der  Hausgenossenscliaft  keiner  mehr  lebt,  so  tritt 
der  Rückfall  des  Gutes  an  die  Markgenossenschaft  ein,  die  es  ja 


ein  Widerspruch  besteht  mit  der  allgemeinen  Geschichte,  mit.  allem,  was  wir 
sonst  Uber  die  Berührungen.  Wanderungen  und  Vermischungen  der  Stämme 
wissen.  Muss  man  nicht  gegen  eine  Methode  aufs  höchste  misstrauisch 
werden,  die  dazu  führt,  zwischen  dem  Rechte  der  beisammeiiwohttenden 
und  nach  allen  sonstigen  Anhaltspunkten  stammgleichen  Küsten-  und 
Binnenfriesen  zwar  jede  Verwandtschaft  zu  leugnen,  dafür  aber  eine  Ver- 
wandtschaft des  kilsteufriesischen  Rechts  zu  construiren  nicht  nur  mit  dem 
normannischen  Volksrecht  in  der  Normandie  und  Bretagne  und  in  Sicilien. 
sondern  sogar  mit  dem  Rechte  von  Rhätien  und  dem  fränkischen  Rechte 
vom  Rennegau  und  der  Champagne,  trotzdem  diese  Gegenden  tief  im 
Binnenlande  gelegen  sind,  getrennt  durch  weite  Raume  von  den  Küsten- 
friesen. die  überdies,  soweit  unsere  sonstige  Kenntniss  reicht,  sich  niemals 
auch  nur  stammweise  an  den  Wanderungen  betheiligt  haben!  (Bd.  2 Anfang, 
§ 495  ff..  S.  270  ff.).  Was  soll  man  ferner  dazu  sagen,  wenn  Ficker  im 
weiteren  Verlauf  seiner  Untersuchung  dazu  gedrängt,  wird,  aus  dem 
fränkischen  Recht  eine  angeblich  ost germanische  Gruppe  herauszuheben, 
nämlich  eine  .lothringische“  (Bd.  2 S.  409  410).  und  wenn  er  ferner  auch 
im  sächsischen  Rechte  Üstgermanisches  finden  will  (§  lööff.)!  Und  wie 
wirkt  es  dann  am  Ende,  wenn  diese  Resultate  so  sicher  sind,  dass  Ficker 
seine  Ansicht  von  der  Zugehörigkeit  des  binnenfriesischen  Aasdomsrechts 
zur  gothisch-norwegischen  Gruppe  aufgeben  und  jenes  zu  den  däuischen 
Rechten  stellen  muss,  nur  wegen  der  Behandlung  der  Halbgeschwisterschaft 
(S.  589  Bd.  2).  Neben  diesen  Unwahrscheinlichkeiten  gewinnt  auch  der 
an  sich  nicht  bedenkliche  Widerspruch  zwischen  der  sprachlichen  Forschung 
und  den  Fickor'schen  Theorien  überdie  Langobarden  an  Bedeutung.  Weiter  tritt 
hinzu  die  allen  bisherigen  Annahmen  zuwiderlaufende  Lehre  von  der  be- 
sonderen Ursprünglichkeit,  des  westgothischen  Rechts,  zumal  da  sie  weniger 
auf  die  lex  Wisigothorum,  als  auf  das  spätere  spanische  Gewohnheitsrecht 
und  dessen  Aehulichkeit  mit  dem  fränkischen  Rechte  gestützt  wird,  obwohl 
doch  eine,  von  Ficker  allerdings  abgelehnte,  Beeinflussung  gerade  des 
späteren  spanischen  Rechts  durch  fränkisches  (und  zwar  auch  durch  rein 
fränkisches  Recht,  wie  es  in  Nordfrankreich  aufbewahrt  worden  ist)  nach 
den  geschichtlichen  Ereignissen  sehr  nahe  liegt,  und  obwohl  auch  das  zu 
berücksichtigen  gewesen  wäre,  dass  sowohl  auf  das  nordspauische  wie  auf 
das  nordfranzösische  Recht  durch  das  römische  eine  ausgleichende,  den 
Schein  von  Verwandtschaft  erzeugende  Wirkung  ausgeiibt  sein  kann. 

Ueberhaupt  unterschätzt  Ficker  die  von  ihm  selbst  betonten  (§  115  ff.) 
Schwierigkeiten,  welche  seiner  Untersuchungsmethode  durch  die  Möglichkeit 
der  Vermischung  und  Entlehnung,  der  unvollständigen  Ausgleichung  und 
nachbarlichen  Beeinflussung  der  Rechte  erwachsen.  Er  begeht  auch  dabei 
eine  Inkonsequenz,  wenn  er  diu  Entlehnung  zwar  ausschliesst,  weil  es  sich 
um  weitauseinanderwohnemle  Völker  handle,  die  nachbarliche  Beeinflussung 


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60 

der  Haushaltung  ursprünglich  verliehen  hatte.  Das  Erbrecht 
der  nicht  im  Hause  lebenden  Verwandten  ist  erst  weit  später 
dem  Erbrechte  im  Hause  nachgebildet.  Und  selbst  hier  war  es 


aber  bei  denselben  Völkern  zulässt,  weil  sie  ja  dureb  vorzeitliche,  unbekannte 
Wanderungen  miteinander  hätten  in  Berührung  kommen  können  (J  11«  ff. 
und  § 155  ff.).  Diese  Schwierigkeiten  sind  es  auch,  welche  in  jedem 
Einzelfalle  die  Berücksichtigung  so  vieler  Möglichkeiten  erheischen,  dass 
dadurcli  die  theoretisch  denkbare  Methode  praktisch  unbrauchbar  wird. 

Die  Methode,  wie  sie  Ficker  anwendet,  krankt  aber  auch  an  einem 
prinzipiellen  Fehler.  Grundlegend  ist  für  sie  die  Annahme,  dass  die  Ver- 
zweigung der  Rechte  sich  im  Wege  der  Zweitheilung  vollzogen  halte.  Als 
allgemeine  Voraussetzung  ist  das  aber  unzulässig  ; es  kann  so,  es  kann  aber  auch 
anders  gegangen  sein.  Gerade  wie  ein  Mann  mehr  als  zwei  Kinder  haben  kann, 
so  kann  auch  ein  Recht  mehr  als  zwei  Tocliterrechtc  erzeugen.  Es  ge- 
schieht das  namentlich  dann,  wenn  sich  durch  Wanderungen  ein  Volk  gleich- 
zeitig in  mehrere  Stämme  zersplittert. 

Speziell  bei  der  Anwendung  auf  die  Erbenfolge  tritt  aber  noch  ein 
zweiter  grundlegender  Mangel  der  Methode  hervor.  Ficker  bestimmt  liier 
die  Ursprünglichkeit  nach  sogenannten  „Vermittlungsreihen“,  besser  könnte 
man  vielleicht  sagen  „Entwicklungsreihen*.  Diese  Reihen  ergehen  aber, 
wie  Ficker  selbst  gesteht,  nichts  darüber,  bei  welchem  Punkte  der  Reihe 
die  Entwicklung  angesetzt  hat,  ob  bei  dem  einen  oder  bei  dem  anderen 
Endgliede;  ja  sie  kann  sogar  von  einem  Mittelglied«  differenzirend  zu  den 
beiden  Endgliedern  auseinandergelnufen  sein.  Ficker  sieht  sich  deshalb  ge- 
nötigt, noch  anderweit  aus  sogenannten  „inneren  Gründen“  zu  bestimmen, 
inwieweit  eiu  Punkt  der  Reihe  als  ursprünglich  angesehen  werden  kann. 
Diese  inneren  Gründe  liegen  nun  hei  Ficker  fast  ausschliesslich  auf  dem 
Gebiete  der  vergleichenden  Völkerkunde,  insbesondere  meint  er.  dass  alle 
Rechtssätze,  welche  die  Ehe  voraussetzen,  nicht  so  ursprünglich  sein 
könnten  (§§  92  u.  93.  § 102  ff.,  namentlich  auch  8.  163).  Diese  Ausgangs- 
punkte sind  nun  aber  nicht  allein,  wie  Ficker  selbst  zugiebt,  in  hohem 
Masse  subjektiv,  sie  sind  auch  sehr  bedenklich ; es  ist.  wie  schon  bemerkt 
(Ainu.  4«),  keineswegs  sicher,  dass  die  Germanen  je  eine  rechtliche  Organi- 
sation ohne  Ehe  und  ein  Mutterrecht  gekannt  haben.  Wenn  aber  gerade 
die  grundlegenden  Sätze,  nach  denen  daun  weiter  die  Riuhtuug  der  Ver- 
mittlungsreihen erst  festgelegt  wird,  in  ihrer  Ursprünglichkeit  mir  nach 
so  ungewissen  Momenten  bestimmt  werden  können,  so  sind  damit  alle  Er- 
gebnisse in  Frago  gestellt,  denn  das  logische  Gebäude  ist  dann  schon  in 
den  Fundamenten  ohne  festen  Halt. 

So  ist  z.  B.  sehr  subjektiv  alles,  was  Ficker  gegen  die  Ursprünglichkeit 
eines  auf  den  engeren  Kreis  beschränkten  Erbrechts  angeführt  hat.  Man  kann  cs 
nämlich  trotz  Ficker  sehr  wohl  für  denkbar  halten,  dass  trotz  der  sonstigen  hohen 
Bedeutung  des  Sippeverhaudes  das  Erbrecht  ihm  ursprünglich  gemangelt  hat, 
wenn  man  eben  atmimmt,  eg  habe  da»  Erbrecht  sich  erst  gebildet,  als  die 


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61 


das  Miteigentum,  welches  den  Erbgang  schuf,  und  zwar  mittels 
folgender  Gedankenreihe : 

Der  Erblasser  hatte  in  den  Besitz  des  von  ihm  verlassenen 
Hausgutes  nur  kommen  können  durch  Abtheilungen,  die  er  selbst 


Wichtigkeit  jenes  Verbandes  abnahm.  Ueberhaupt  übersieht  Ficker  bei 
seiner  vielfachen  Verwertbnng  ältester  Zustände  und  namentlich  der  frühesten 
Gestaltung  des  Sippeverbandes  (vgl.  S.  379  ff.  Bd.  2),  dass  jene  Gestaltung 
in  Zeiten  vorhanden  war,  wo  es  überhaupt  noch  kein  Sondereigeu  und  dem- 
gemäss auch  kein  Erbrecht  gab.  Dass  das  damals  schon  denkbare  Sonder  - 
cigcntnm  an  Waffen  und  Schmuck  hingereicht  habe,  um  eine  feste  und 
detaillirte  Erbordnung  zu  bilden,  ist  nicht  sehr  glaublich:  man  wird  es  auch 
entgegen  Ficker  kaum  für  niithig  halten,  dass  sich  eine  Regel  darüber  bildete,  wem 
solche  Gegenstände  beim  Heimfall  an  die  Sippe  zuzutheilen  seien  (S.  379  380 
Bd.  2);  denn  bei  dem  ungleich  wichtigeren  Landbesitze  hat  diese  Regel 
gemangelt,  solange  es  den  Heimfall  an  die  Sippe  oder  au  die  Markge- 
nossenschaft gab;  und  doch  ist  Landbesitz  für  den  einzelnen  mindestens 
ebenso  brauchbar  und  begehrenswortn,  wie  Waffen  und  Schmuck.  Es  ist 
auch  gar  kein  Widerspruch,  dass  nach  der  herrschenden  Meinung  sich  das 
Sippeerbrecht  erst  zu  einer  Zeit  entwickelt  haben  muss,  wo  die  Sippe  an- 
fing. ihre  Kraft  zu  verlieren.  Der  Hinweis  Fickers  hierauf  (S.  384  Bd.  2) 
ist  nur  ein  Fechterstreich,  er  ist  ein  Spielen  mit  dem  Wort  Sippe.  Nicht 
das  Sippeerbrecht  hat  sich  gebildet,  sondern  ein  Erbrecht  der  Verwandt- 
schaft; und  die  besondere  Organisation  der  Sippe  verlor  zwar  ihre  Kraft, 
aber  nicht  allgemein  die  Blutsfreundschaft;  im  Gegontheil,  noch  heute  ist  der 
Gedanke  lebendig,  dass  die  Blutsverbindung  auch  Rechtsbeziehungen  er- 
zeugt. Richtig  ist  dagegen,  dass  es  gegen  die  allmähliche  Ausdehnung  des 
ira  engeren  Kreiso  erwachsenen  Erbrechts  auf  den  weiteren  sprechen  künnte, 
wenn  dieser  auf  ganz  anderen  Prinzipien  beruhte  als  jener  (S.  385  Bd.  2). 
Was  aber  Ficker  über  das  Abweichen  in  Grundsätzen  anführt,  ist  sehr 
zweifelhaft.  Er  verweist  einmal  darauf,  dass  im  engeren  Kreise  die  Weiber 
oft  zurückgesetzt  seien,  im  weiteren  dagegen  nicht.  Dass  das  gar  kein 
Widerspruch  zu  sein  braucht,  selbst  wenn  es  richtig  wäre,  werden  wir 
noch  sehen  (Anm.  85).  Ficker  fragt  ferner:  »Wie  sollte  man  bei  allmäh- 
licher Ausdehnung  des  Erbrechts  dazu  gekommen  sein,  im  engeren  Kreise 
die  Eltern  noch  durch  Kinder  der  Geschwister,  also  durch  ihre  Enkel  aus- 
schliessen  zu  lassen,  umgekehrt  aber  bei  der  weiteren  Ausdehnung  die 
Grosseltern  ihrer  gesummten  sonstigen  Descemlenz  vorauzustellen?“  (S  385 
Bd.  2).  Das  ist  aber  gerade  aus  den  im  engeren  Kreiso  waltenden 
Prinzipien  der  Hausgemeinschaft  sehr  wohl  zu  begreifen,  ja  es  ist  eigentlich, 
wie  unten  (bei  Anm.  01)  dargetliau  werden  wird,  eigentlich  nur  aus  ihueu 
verständlich.  Und  wenn  Ficker  auch  liier  gegen  die  Heranziehung  der 
Hausfamilie  dasselbe  einwenden  wollte,  was  er  gegen  die  aus  ihr  entnommene 
Erklärung  des  Vorzuges  der  Geschwister  vor  den  Eltern  vorbringt 


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oder  sein  Vater  oder  seiu  Vorvater  vorgenommen.  Diese  Ab 
theiluugen  batten  zwar  das  Gesammteigenthum  der  damaligen 
Hausgenossenschaft  aufgehoben.  Allein  soviel  Kraft  hatte  oder 
erhielt  jenes  doch  noch,  das  Gut  wieder  an  sich  zu  ziehen, 
wenn  kein  anderer  da  war  der  darauf  greifen  konnte.'")  So 


iS.  380, 8 1 B<1  2),  nämlich  dass  die  Hausfamilie  erst  einer  späteren  Zeit 
angehöre,  so  nimmt  er  einmal  zum  Ausgangspunkt  seiner  Beweisführung 
einen  Satz,  der  selbst  erst  des  Beweises  bedurfte,  und  dann  übersieht  er. 
dass  es  auch  nach  der  vergleichenden  Völkerkunde  vor  der  Bildung  der 
Hausstände  kein  Sonderuigen  in  irgendwie  nennenswerthetu  Umfange  gegeben 
haben  kann,  dass  vielmehr  dessen  Ausbildung  mit  der  wachsenden  Bedeutung 
iles  Hausstandes  gleichen  Beitritt  gehalten  hat.  (Vgl.  oben  Anm,  12.) 

Endlich  ist  es  wohl  nicht  ganz  richtig,  dass  es  an  Zeugnissen  über 
eine  anfängliche  Beschränkung  des  Erbrechts  auf  den  engeren  Kreis  mangelt . 
(S.  278  Bd.  2).  Amira  z B.  (S.  167/168)  glaubt  sie  im  friesischen  Rechte 
gefunden  zu  habeu.  Aber  selbst  wenn  die  einschränkenden  Zeugnisse  nur 
das  Schenkgut  oder  des  Ereigelassenenerbe  beträfen,  so  wäre  das  keineswegs 
bedeutungslos.  Denn  es  ist  schon  oben  darauf  aufmerksam  gemacht  worden 
dass  die  spätere  Rechtsbildung  bei  gebundenen  Gütern  oft  mit  denselben 
Grundsätzen  arbeitet,  die  für  das  Werden  des  Landrechts  in  früheren  Zeiten 
massgebend  gewesen  waren  Es  ist  deshalb  sehr  wohl  denkbar,  dass  die 
allmähliche  Ausdehnung  des  Erbrechts  au  , 'Schenkgut  und  Freigelasseneu- 
besitz  ein  verjüngtes  Abbild  der  Umwandlungen  ist,  die  vordem  das  Land- 
recht  durchgemacht  hat. 

Mit  diesen  allgemeinen  Ausstellungen  an  dem  Fickcrscbeu  Buche  mag 
es  vur  der  Hand  genug  sein.  Es  ist  ja  nicht  unsere  Aufgabe,  eine  Kritik 
desselben  zu  schreiben.  Die  beste  Kritik  ist  es  zudem  immer,  wenn  man 
seine  eigene  Ansicht  eingehend  begründet;  gelingt  es,  den  Leser  von  ihr 
zu  überzeugen,  so  ist  damit  die  Verwerfung  der  entgegensteheuilen  Theorie 
von  selbst  gegeben.  Es  sind  ja  auch,  wie  oben  bemerkt,  die  Fickerscheu 
Ergebnisse  an  sich  keineswegs  unmöglich  und  auch  den  uusrigen  keineswegs 
feindlich;  denn  dass  das  Gr  un  der  brecht,  welches  sich  ja  erst  in  einer  späteren 
Zeit  gebildet  hat,  von  vornherein  durch  das  Hervortreten  der  Hausfamilie 
bedingt  wird,  und  dass  im  Grunderbrecht  sich  der  Ausschluss  der  Weiber 
festgestellt  hat,  erkennt  Ficker,  wie  ebenfalls  schon  bemerkt,  wiederholt  an. 
(Vgl.  ausser  den  obigen  Giraten  noch  Bd.  2 S.  383).  Wir  werden  deshalb 
die  diesbezüglichen  Ausführungen  Kickers  öfters  sogar  für  uns  citiren 
können,  wie  dies  auch  schon  stelleuweis  geschehen  ist. 

äu)  Dass  dem  Gesammteigenthum  wirklich  später  die  Kraft  innewohnte, 
das  wieder  au  sich  zu  ziehen,  was  es  aus  seinem  Kreise  herausgelassen, 
dafür  ist  Beweis  der  noch  bis  ins  prenssische  Landrecht  fortgetragene 
retractus  ex  eapite  commnnionis,  indem  hier,  wie  so  oft,  das  Einstandsrecht 
den  Rest  eines  früheren  umfassenderen  Rechtes  bildet.  Eineu  direkten 


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63 


gab  man  das  Gut  zurück  an  die  Hausgenossenschaft,  der  es 
einst  gehört  hatte,  oder,  da  diese  nicht  mehr  existirte,  an  die 
ehemalige  Hausgenosseuschaft,  d.  h.  an  diejenigen,  die  ihr  an- 
geboren würden,  falls  sie  noch  bestände,  und  ihr  ja  zum  Theil  auch 
wirklich  ehemals  als  Mitglieder  angehört  und  das  Gut  im  Mit- 
eigenthum besessen  hatten.  Kurz  man  gelangte  dazu,  die 
Gesammthandvcrbände,  aus  denen  sich  die  Haushaltung  losgelöst 
hatte,  rückwärts  wieder  aufzusuchen  und  das  Gut  denen  zn 
geben,  die,  wenn  keine  Abtheilungen  geschehen  wären,  mit  dem 
verstorbenen  Haushalter  noch  in  einer  Gesammthand  und  Ge- 
sammthaushaltung  sitzen  würden.’'1)  Der  Verstorbene  hat  sich 
nun  zunächst  ans  der  Haushaltung  seines  Vaters  abgelöst.  Folg- 
lich fällt  sein  Gut  zunächst  an  diesen  und  die  einstigen  Mitglieder 
von  dessen  Hausgenossenschaft,  die  Brüder  des  Verstorbenen. 
War  von  diesen  keiner  da,  so  erinnerte  man  sich,  dass  auch 
der  Vater  ja  das  Gut  nicht  ursprünglich  erworben,  dass  er  es 
vielmehr  dem  Gcsammteigenthume  des  Grossvaters  und  seiner 
Hausgenossen  entzogen  hatte,  dass  diese  mithin  ein  Eigenthums- 
recht daran  gehabt  und  als  Residuum  dessen  immer  noch  ein 
gewisses  Anrecht  daran  hatten.  Ihnen  wurde  deshalb  das  herren- 


Beweis  auch  auf  dem  Gebiete  des  Erbrechts  liefert  ferner  das  Weisthum 
von  Thannegg  und  Fiscliingen  bei  Grimm  I,  27S:  „Wann  ehelich  ge- 

schwüsterigk  ....  von  aiu  anderen  taillent,  wo  dann  aiu  meusch  abgatli  au 
lyberbeu,  dass  den  ein  herr  vareut  gut  nimmt,  und  die  freundt  das  gelegen 
gut;  wann  aber  otlieherlay  ungetailt  plypt,  es  <ye  lützel  oder  vill  ....  so 
soll  das  ungetailt  das  getailt  ziehen,  und  das  ist  alt  harkommen.“ 

51)  Der  Römer,  der  ja  an  die  Stelle  des  dinglichen  Hegriffs  der  in 
einem  Haushalte  znsammenlebenden  Genossenschaft,  überall  den  persönlichen 
Verband  der  unter  der  väterlichen  Gewalt  Zusammengeh&ltenen  gesetzt 
hatte,  musste,  auch  wenn  er  an  sich  von  den  gleichen  Grundprinzipien  des 
Erbrechts  ausging,  nunmehr  weniger  die  dinglichen  Gesammthandvcrbände 
rückwärts  wiederherstellen,  als  die  persönlichen  Verknüpfungen  durch  die 
Gewalt  des  pater  familias.  So  gab  er  das  Erbe  nicht  an  die,  welche  mit 
dem  Verstorbenen  noch  in  einer  Gesammthand  süssen,  als  vielmehr  au  die 
jenigen,  welche  mit  ihm  noch  unter  der  gleichen  väterlichen  Gewalt  stünden, 
falls  die  Zeiten  unverändert  geblieben  wären,  d.  h.  an  die  Agnaten.  Auch 
das  römische  Erbrecht  lässt  sich  deshalb  ungezwungen  aus  dem  von  uns 
der  germanischen  Entwicklung  untcrgelegten  Gedanken  ableiten,  eine 
kräftige  Stütze  für  unsere  Ansicht 


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04 


lose  Gut  jetzt  zugesprochen.  Ebenso  schritt  die  Berufung  dann 
zum  Urgrossvater  und  dessen  Descendenz,  u.  s.  w. 

Man  sieht,  dass  sich  die  Parentelenordnung  aus  diesem 
erbrechtlichen  Gedanken  von  selbst  ergiebt.  Es  erklärt  sich 
auch  daraus,  warum  noch  später  sich  der  Grundsatz  so  ver- 
breitet findet,  dass  alles  Gut  dorthin  zurüekfalle,  woher  es 
gekommen.51*)  Es  ergiebt  sich  allerdings  auch  daraus,  dass 
ursprünglich  im  Erbrecht  ein  Vorzug  der  Vaterseite  vor  der 
Mutterseite  bestanden  haben  muss,  da  wegen  der  Unfähigkeit 
der  Weiber  zu  Grundbesitz  von  der  Mutter  her  kein  Hausgut 
an  den  Erblasser  hatte  gelangen  können,  und  dieser  mit  den  Mutter- 
magen, auch,  wenn  alles  unverändert  geblieben  wäre,  nie  iu 
einer  Gesammthand  und  Gesammthaushaltung  zusammen  leben 
würde.  Aber  es  sprechen  ja  auch  starke  Gründe  für  jene 
anfängliche  Bevorzugung  der  Vatermagen  vor  der  Spindelseite. '-i 


Gleicher  Ansicht  Huber  S.  SO. 

w)  In  süddeutschen  Hechten  findet  sielt  iu  jüngerer  Zeit  der  Voraus 
der  väterlichen  Verwandtschaft.  (Vgl.  Hausier,  Institutionen  Bd.  II  j 17t 
und  Hnher  S.  3u  und  31).  Bei  dem  stetig  fortschreitenden  Umfange,  in 
welchem  die  Erbfähigkeit  der  Weiber  anerkannt  wurde,  ist  es  wahrschein- 
licher, dass  dies  eiu  Rest  alten  Rechtszustandes,  als  dass  es  eine  jungen 
Bildung  ist,  die  ja  dann  trotz  der  jeder  Henachtbeilignug  der  Weiher  teiud- 
liehen  Zeitströmung  sich  durchgerungen  haben  müsste.  Es  finden  sieb 
denn  auch  sehr  alte  Zeugnisse  für  den  Vorzug  der  Vaterseite  mindestens 
im  Erbrechte  am  Grundbesitz.  Die  gerade  im  Erbrechte  stark  alterthüm- 
liehe  lex  Thuringorum  spricht  den  Grundbesitz  stets  dem  proxiiuu: 
paternae  generationis  zu,  und  auch  über  die  Fahrniss  sagt  sie.  „quoisi 
nec  filiuiu  nee  filiatn  nee  sororem  aut  matrein  dimisit  superstites,  proxi nius 
qui  fnerit  paternac  generationis  heres  ex  toto  succedat.  tarn  in 
pecunia  atque  mancipiis  quam  in  terra“.  Ebenso  ist  im  ältesten  angel- 
sächsischen Recht  ein  Vorzug  der  faedering-magas,  der  Speerhälfte 
bezeugt.  (Vgl.  v.  Arnira  S.  hl  und  U-f,t»6).  Endlich  ist  auch  für  das  sal- 
fränkischc  Recht  nicht  zu  vergessen,  dass  auch  der  berühmte  dunkle 
Titel  ö'.i  der  lex  Salica  einigermasseu  für  einen  anfänglichen  Vorzug  der 
Vaterseite  spricht.  Viele  behaupten  ja,  dass  er  geradezu  deu  einzigen 
Zweck  verfolge,  das  bis  dahin  mangelnde  Erbrecht  der  Weiher  und  des 
Weihsstammes  zu  uoruiren,  und  erklären  daher  seinen  eigenthümlichen 
Inhalt.  Wie  dem  auch  sei,  nicht  zu  überscheu  ist,  dass  in  zweien  der 
ältesten  Texte  der  lex  Salica  steht:  „Et  si  patris  soror  non  l'uerit,  sic  de 
illis  genorationibiis,  qui  prnximiores  sunt,  illi  in  hereditnte  succedaut,  qui 
ex  pater  no  geilere  veniunt“.  Dass  späier  nach  saliscbeiu  Recht  noch 


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65 


Indess  wie  mail  auch  über  die  vorgetragene  Theorie  von 
der  Entstehung  des  deutschen  Erbrechtes  denken  mag,  sicher 
ist,  dass  das  Erbrecht  des  weiteren  Verwandtenkreises  im 
Grundbesitz  eine  relativ  späte  Bildung  ist,  und  dass  dort  das 
Erbrecht  ursprünglich  auf  den  Kreis  des  Hauses  beschränkt  war. 

Noch  bis  zum  edictus  Chilperici  war  in  Salfranken  das 
Grunderbrecht  auf  die  Söhne  beschränkt,  dahinter  kam  der 
Anfall  an  die  vicini,  die  Dorfgenossenschaft. ‘O  Im  friesischen 
Rechte  ferner,  das  überhaupt  für  die  Erkenntniss  altgermanischer 
Zustände  sehr  werthvoll  ist,  da  es  sich  überaus  langsam  ent- 
wickelt und  deshalb  vieles  Ursprüngliche  bis  in  geschichtlich 
helle  Zeiten  hinein  gerettet  hat,  — im  friesischen  Rechte  ist  das 
Erbrecht  des  über  die  Hausgenossenschaft  hinausgehenden  Erben- 
kreises frühestens  im  !t.  Jahrhundert  entstanden.  (Vgl.  v.  Arnira 
S.  167/168). 

Ueberhanpt  ist  der  Gegensatz  der  zwei  Erbenkreise,  nämlich 
der  näheren  Verwandten,  die  im  Bezirke  eines  Hauses  zu  leben 
pflegen,  einerseits  und  der  entfernteren  andererseits  nicht  nur 
bei  den  Germanen,  sondern  auch  bei  anderen  arischen  Stämmen 
nachweisbar.  Der  Unterschied  der  sui,  die  ohne  Antretung 
Erben  sind,  von  den  entfernteren  Erben  im  römischen  Recht, 
die  abweichende  Behandlung  der  Hauskinder,  die  der  Mithilfe 
der  Magistrate  zur  Besitznahme  ihres  Erbes  nicht  bedürfen, 
und  der  weiteren  Verwandten,  die  der  Einweisung  der  Gerichte 
benöthigen,  im  griechischen  und  indischen  Rechte,  sie  schaffen 
auch  für  jene  Rechtsgebiete  zwei  Erbenkreise,  von  denen  der 
zweite  offenbar  eine  jüngere  Bildung  ist,  da  er  kein  so  festes 
und  unzweifelhaftes  Erbrecht  hat  wie  der  erste.  Namentlich  die 


der  Vorzug  der  Speerhälfte  im  allgemeinen  galt,  ist  unwiderleglich  be- 
wiesen durch  das  Zeugnis  eines  alten  langnbardischen  Juristen  (Mon.  Herrn. 
L.  L.  Tomus  IV  p.  590):  „Successio  lege  Salica:  Si  liomo  decesserit  et  reli- 
tjuerit  tilium  et  tiliani  ....  succedat.  (piodsi  nullus  de  istis  personis 
fuerit,  tune  quicunque  propinquus  t'uit,  masculus  de  paterna  genera- 
cione,  ipse  succedat“.  — Auch  v.  Amira  S.  217  tritt  allgemein  für  den 
ursprünglichen  Vorzug  der  Speer-  vor  der  Spindelseite  ein.  — Vgl.  auch 
Anm.  65. 

w)  Verf.  schliesat  sich  der  von  (Jierke  „tienossenschaftsrecht"  Bd.  1, 
S.  77  und  7»  gegebenen,  im  12.  Bande  der  Zschrft.  I.  Rgesch.  verteidigten, 
heute  wohl  ziemlich  allgemein  angenommen  Auslegung  dieses  Edikts  an. 

v.  Dult  zig,  urunderhrcclit.  5 


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6fi 


griechische  Einweisung  erinnert  in  merkwürdiger  Weise  daran, 
dass  ja  auch  nach  friesischem  Rechte  die  entfernteren  Erben 
sich  erst  vorm  asega  legitimiren  und  eine  Abgabe  an  ihn  ent- 
richten müssen,  weil  ihr  Recht  später  entstanden  und  nicht  so 
selbständig  ist  als  das  der  Hausgenossen.54)  Gerade  an  der 
Begrenzung  des  näheren  Erbenkreises  aber  zeigt  es  sich,  dass 
er  auf  der  Hausgenossenschaft  und  dem  Hauseigenthume  beruhte. 

Es  hat  nämlich  die  Forscher,  welche  an  das  späte  römische  und 
jetzige  deutsche  Recht  gewöhnt  waren,  immer  Wunder  genommen, 
dass  zwar  die  Kinder  im  Erbrecht  stets  an  der  ersten  Stelle 
stehen,  während  es  nur  sehr  spärlich  und  erst  in  neueren  Rechts- 
quellen erwähnt  wird,  auch  die  Kindeskinder  hätten  an  diesem 
Vorzüge  Theil.  Fast  überall  erscheinen  hinter  den  Kindern  an 
zweiter  Stelle  die  Eltern  und  dann  die  Geschwister.  Es  mangelte 
also  den  Kindeskindern  sowohl  ein  Vorfolge-,  wie  ein  Eintritts- 
recht.'4*)  Man  hat  sich  dieser  Erkenntnis  allerdings  mit  der 
Annahme  verschliessen  wollen,  es  sei  in  den  Rechtsaufzeichnnngen 
entweder  unter  „filius“  und  „filia“  überall  die  weitere  Descendenz 
mitverstanden,  oder  es  hätten  deren  Verfasser  sich  den  Fall,  wo 
neben  Kindern  noch  weitere  Descendenz  vorhanden  war,  gar 
nicht  vergegenwärtigt.  Für  das  sächsische  Recht  scheitert 
diese  Erklärung  mindestens  hinsichtlich  des  Eintrittsrechtes  an 
der  bekannten  Thatsache,  dass  erst  durch  ein  Kampfgericht 
unter  Kaiser  Otto  dem  Grossen  im  Jahre  042  für  die  Kindeskiuder 
der  Rechtssatz  festgestellt  wurde,  „ut  aequaliter  cum  patruis 
liereditatem  dividerent  pacto  sempitcrno“.  Doch  auch  für  die 


**)  Vgl.  v.  Auiira  S.  168. 

**•)  So  unterscheidet  theoretisch  richtig  Kicker  § 433  ff.  .Vorfolgerecht“ 
nennt  er  da«  allgemeine  Vorzugsrecht  der  Descendenz  vor  der  Seiteu- 
nnd  der  auf  steigenden  Linie;  „Eintrittsrecht“  nennt  er  das  Recht,  mit  Klasseu- 
genossen  des  vorverstorbenen  Parens  zu  erben.  Daneben  spricht  er  noch 
von  „Stammrecht“,  d.  h.  von  derTheilung  in  Stämme  und  nicht  nach  Hüpfen. 
Mit  Recht  warnt  Ficker  davor,  diese  drei  Dinge , verführt  durch  das 
justinianische  Recht,  ziisammenzuwerfen.  Sie  sind  in  der  Timt  theoretisch 
geschieden.  Gleichwohl  werden  wir  Eintritts-  und  Repräsentatiousrecht 
gleichbedeutend  gebrauchen,  letzteres  also  nicht  im  streng  römischen  Sinne 
nehmen.  Auch  praktisch  fallen  Vorfolge-  und  Eintrittsrecht  meist  zu- 
sammen, indem  sie  entweder  beide  vorhanden  sind,  oder  beide  fehlen. 


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67 

anderen  Rechte  wird  jene  Erklärung  nach  den  neueren  Forschungen 
namentlich  Amiras  nicht  gehalten  werden  können.:,4b) 

Diese,  dem  heutigen  Rechtsgefühle  so  fremdartige  Behandlung 
der  weiteren  Descendenz  verliert  ihre  Eigenart,  sobald  man  sich 
erinnert,  dass  alles  Erbrecht  der  näheren  Verwandten  aus  der 
Consolidation  des  Hauseigenthums  entstanden  ist.  Betrachten 
wir  dabei  zunächst  die  Hintenansetzung  der  Kindeskinder  neben 
Kindern  des  Erblassers. 


Mb)  Ficker,  der  vor  alliieren  die  spätere  Einführung  des  Rcpräsentations- 
rechts  laut  liervorgehobeu  und  gründlich  nncbgewiesen  hat.  ist  trotzdem  der 
Ansicht,  dass  das  Vorfolgerecht  der  gesummten  Descendenz  ursprünglich 
sei.  Der  Beweis  hierfür  (§  621  ff.)  ist  allerdings  sehr  mangelhaft.  Ficker 
leugnet  nämlich  seihst  nicht,  dass  das  Vorfolgerecht  nicht  überall  anerkannt  ist 
und  sich  nicht  aus  den  ältesten  Quellen  belegen  lässt.  Das  ist  entscheidend. 
Kicker  versucht  die  t^uellenzeuguisse  zwar  zum  Theil  durch  die  im  Texte 
erwähnten  Auswege  zu  umgehen.  Allein  diese  Hilfsmittel  versagen  gerade 
für  dus  so  alterthümliche  und  wichtige  salische  Hecht  und  zwar  wegen 
der  unten  besprochenen  Nachricht  eines  alten  langobardischen  Juristen  über 
die  Successio  lege  Salica.  Denn  dieser  Jurist  berücksichtigt  ganz  unbe- 
streitbar die  Urenkel  und  schliesst  sie  doch  aus  Ficker,  der  dies  zugesteht, 
meint  nun  allerdings,  das  sei  Angleichnng  an  das  langobardische  Hecht 
( § 525).  Indessen,  da  eine  solche  nach  der  Nachricht  des  Juristen  sonst  nirgends 
wahrnehmbar  ist,  so  ist  das  nicht  sehr  wahrscheinlich.  Der  Grund  vollends, 
mit  dem  Ficker  diese  Vermuthung  rechtfertigen  will,  ist  ganz  verwuudersam. 
Kr  verweist  nämlich  darauf,  dass  nach  späterem  fränkischem  und  fran- 
zösischen Rechte  das  Kiutrittsrecht  entweder  allen  Descendenten  gegeben 
werde  oder  überhaupt  nicht.  Wie  diese  Alternative  und  namentlich  ihr 
letzter  Theil  der  langobardischen  Nachricht  widersprechen  soll,  ist  nicht 
erfindlich. 

Allein  auch  wenn  das  salische  Hecht  und  noch  einige  andere  durch 
die  alten  lnterpretationsaushilfen  ans  der  Reihe  der  Belege  für  den  Aus- 
schluss der  weiteren  Descendenz  vom  Krbe  gestrichen  werden  könnten,  so 
bliebe  noch  eine  ganze  Anzahl  von  Rechten  zurück,  in  der  jener  Ausschluss 
positiv  bezeugt  ist.  Ficker  nennt  selbst  das  Hamburger  Hecht  und  das 
Magdeburgiscbe  Recht  (§  528),  die  ganze  Gruppe  des  gotischen  Rechts 
(§  52a  ff.),  die  norwegische  Gruppe  und  das  langobardische  Recht  (J  535  ff.) 
Wenn  aber  überhaupt  in  einem  Rechte  sich  der  Ausschluss  findet,  so  muss 
er  das  Ursprüngliche  sein.  Denn  welche  Entwicklung  sollte  von  dem  einmal 
anerkannten  Vorrecht  der  Descendenz  zu  deren  regelmässiger  Zurücksetzung 
geführt  haben!  Dass  hierzu  die  von  Ficker  herangezogene  Kampfunfähig  - 
keit  der  Enkel  in  Verbindung  mit  der  Wergeldordnmig  ebensowenig  ans- 
gereicht hätte  wie  ihre  Arbeitsunfähigkeit,  ist  wohl  ohne  weiteres  klar. 
Ficker  nimmt  denn  auch  selbst  diese  Gründe  nicht  für  alle  Rechte  in 

5* 


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68 


In  alten  Zeiten  scheint  in  Deutschland  die  Hausgenossen- 
scliaft  nicht  über  Vater  und  Kinder  liinausgegangen  zu  sein. 
Das  später  so  verbreitete  Sitzenbleiben  der  Brüder  in  ungetheilten 
Gütern  war  nicht  üblich.  Es  besteht  zu  solchem  Sitzenbleiben 
ja  auch  nur  Anlass,  wenn  die  alten  Zuweisungen  des  Acker- 
landes an  jeden  Volksgenossen  aufgehört  haben,  und  wenn  darum 


Anspruch  532 — 534).  Aus  dem  von  ihm  zu  zweit  herangezogeuen  Hauseigeu- 
tbum  lässt  sich  dagegen  die  Benachtheiligung  der Descendeuz allerdings  erklären 
(§  548  ff.),  wie  wir  gleich  sehen  werden.  Damit  ist  jedoch  auch  ihre 
Ursprünglichkeit  ausgesprochen,  mindestens  für  das  Liegcnschat'tserbrecbt. 
Denn  das  Hauseigenthnm  hat  sich,  wie  wir  sahen,  zugleich  mit  dem 
Sondereigen  an  Liegenschaften  entwickelt  und  damit  auch  zugleich  mit 
dem  Erbgang  iu  diese,  ja  mit  einem  umfassenden  Erbgange  überhaupt. 
Wenn  nun  aber  eine  Eigenschaft  des  Erbrechts,  wie  es  die  Zurücksetzung 
der  weitereu  Descendenz  ist,  in  demselben  Gründe,  wie  das  Erbrecht  selbst 
wurzelt,  so  ist  nur  denkbar,  dass  sie  zugleich  mit  ihm  entstanden  ist,  und 
dass  der  mütterliche  Hoden  dem  Erbrecht  jene  Eigenschaft  von  vornherein 
mitgegeben  hat. 

Ist  sonach  dasjenige,  was  Ficker  für  seine  Meinung  anführt,  nicht 
sehr  beweiskräftig,  so  sind  auch  nicht  sehr  stark  die  Argumente,  die  er 
gegen  unsere  Meinung  von  dem  ursprünglichen  Mangel  des  Vorfolgerechts 
der  Descendenz  vorbriugt.  Es  spricht  einmal  nicht  gegen  jene  die  Nicht- 
beseitiguug  eines  Rechts  der  Geschwister  iu  den  das  Eintrittsrecht  ein- 
führenden Gesetzen.  Denn  wenn  man  dann  auch  annehmen  müsste,  dass 
Enkel  zwar  neben  ihren  Oheimen  erbten,  aber  nicht  neben  ihren  Gross- 
obeiinen,  den  Geschwistern  des  Erblassers,  so  ist  dies  keineswegs  so  undenk- 
bar, wie  Ficker  meint,  vielmehr  aus  dem  Hauseigenthume  sehr  wohl  erklärlich. 
(Vgl.  Anm.  61  und  Text  dazu).  Aber  auch  das  Vorkommen  des  Vorfolge- 
rechts  in  nicht  näher  verwandten  Rechten  ergiebt  nichts  gegen  die  herrschende 
Meinung  und  für  die  Ursprünglichkeit  jenes  Rechts.  Denn  solches  Vor- 
kommen eines  Institutes  in  nicht  näher  verwandten  Rechten  erweist  nach 
Fickers  eigenen  Darlegungen  nur  daun  dessen  Entstammen  aus  dem  Unrechte, 
wenn  es  sich  nicht  auch  ohne  Verwandtschaft  in  mehreren  Rechten  unabhängig 
hat  bilden  können.  Das  ist  nun  aber  gerade  beim  Vorrocht  der  Descendenz 
sehr  möglich. 

Im  Gegentheil  der  untrennbare  Zusammenhang  des  Vorfolgerechts  und 
Eintrittsrechtes  ergiebt  sich  gerade  aus  den  Ausführungen  Fickers  über  die 
Abhängigkeit  des  Vorfolgerechts  vom  Dasein  eines  Klassenhalters  beim 
Erbfall.  (§  448  und  namentlich  $ 452  u.  453).  larbt  nämlich  ein  Klassen- 
balter,  so  ist  Eintrittsrecht  gegeben  und  demgemäss  auch  Vorfolgerecht. 
Lebt  dagegen  keiner,  so  ist  ein  Eintrittsrecht  gar  nicht  möglich.  Denu 
dieses  ist  ja  der  Eintritt  zu  einem  Klasscnmitgliede  des  vorverstorbenen 
parens,  also  nicht  angängig,  wenn  solch'  Mitglied  nicht  mehr  da  ist.  Fehlt 
aber  das  Eintrittsrecht,  so  fehlt  auch  das  Vorfolgerecht. 


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GO 


die  hinterbliebenen  Sohne  zusammen  auf  das  eine  väterliche  Loos  an- 
gewiesen sind,  welches  nicht  wohl  natural  getheilt  werden  kann, 
da  es  nur  auf  eine  Haushaltung  berechnet  ist  und  nur  zu  deren 
Ernährung  ausreicht.  Das  Sitzenbleiben  in  ungetheilten  Gütern 
ist  deshalb  ein  Aushilfsmittel,  zu  dem  man  Völker  erst  dann 
greifen  sieht,  wenn  es  gilt,  auf  dem  alten  Bestände  urbaren 
Landes  eine  gesteigerte  Menschenzahl  zu  erhalten.  In  älteren 
Zeiten,  wo  noch  unbenutztes  Ackerland  daliegt,  ist  solche 
Massregel  nnnöthig  und  so  ist  sie  denn  noch  bis  zu  den  Tagen 
von  Chilperichs  Edikt  nicht  gewöhnlich  gewesen.  Denn  vor 
dem  Edikte  bestand  kein  Erbrecht  der  Brüder  am  Grundbesitze 
ihres  verstorbenen  Bruders,  sondern  im  Fall  von  dessen  Kinder- 
losigkeit erbten  die  Vicini.  Wäre  aber  die  Geineinderschaft 
unter  den  Brüdern  sehr  häufig  gewesen,  so  hätten  diese  als 
Miteigner  des  Guts  den  Anfall  an  die  Vicini  gewöhnlich  aus- 
geschlossen, und  eine  Beerbung  durch  Brüder  würde  nicht  als 
etwas  so  Ungewöhnliches  und  Neueingefübrtes  hingestellt  sein.'4') 

Wenn  aber  die  Hausgenossenschaft  nur  zwischen  Vater 
und  Kindern  bestand,  so  konnten  Kindeskinder  neben  Kindern 
nie  zum  Erbe  gelangen.'")  Denn  damit  Kindeskinder  da  waren, 
musste  doch  ein  Kind  heirathen.  Mit  der  Heirath  war  aber 
gemeinhin  die  Abschichtung  oder  Aussonderung  des  ausheirathenden 
Sohnes  (B)  verknüpft,  wodurch  dieser  vom  bisherigen  Hausgute 
für  sich  und  seine  Kinder  (F)  gänzlich  ausgeschlossen  wurde. 
Das  Hausgut  blieb  zurück  in  der  Gcsaminthand  der  uuverheiratheten 
Söhne  (C.  D.  E.)  mit  dem  Vater  (A).  Starb  deshalb  der 


•*■)  Gleicher  Ansicht,  dass  die  Hausgemeinschaft  ursprünglich  auf 
Vater  und  Söhne  beschränkt  war,  Picker  Bd.  2 S.  124,  120  und  S.  347 
(.Es  fehlt  jeder  Halt  für  die  Annahme,  dass  die  Kinder  vorverstorbener 
Söhne  in  die  Stelle  desselben  in  die  Gemeinschaft  eingetreten  seien“.) 

“)  Ais  Illustration  möge  die  folgende  Verwandtschaftstafel  dienen: 


(Ausgcschir 
Jener'  u.ver- 
heirateterSohnJ  O 


/ 1 Y\ 

bq  6 O o 

- T r dk 


Sohne 


£ 

Kindeskind 


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70 


Vater,  so  consolidirte  sein  Hausgut  in  der  Hand  dieser  Söhne; 
das  Kindeskind  aber,  das  ja  nicht  mit  in  der  Gesammthand 
daran  stand,  konnte  nicht  zum  Gute  gelangen. 

Aber  auch  wenn  der  heirathende  Sohn  nicht  ansschied,  so 
gestaltete  sich  die  Lage  für  das  Kindeskind  nicht  günstiger. 
Ja  sie  konnte  sogar  noch  ungünstiger  werden  und,  wenn  z.  B. 
der  Erblasser  B und  nicht  A war,  sogar  Ausschluss  des  Sohnes  vom 
Vatererbe  herbeiführen.  Denn  das  Haus  ist  ja  eine  Gesammthand. 
Den  Regeln  der  Gesammthand  widerstrebt  es  aber,  wie  Gierke 
in  seinem  Genossenschaftsrecht  Bd.  II.  S.  li 49/050  treffend  aus- 
geführt hat,  dass  an  die  Stelle  eines  aus  dem  Kreise  seiner 
Genossen  ausscheidenden  Gesammthänders  ein  Nachfolger  tritt. 
Vielmehr  tritt  Consolidation  im  Kreise  der  Genossen  ein.  So 
ist  es  auch  im  Hause;  hineingeboren  kann  man  wohl  in  seine 
Gesammthand  werden,  aber  nicht  hineinerben.  Hineingeboren 
wird  aber  das  Kindeskind  nicht,  da  es  durch  seinen  Vater  von 
der  Gesammthand  ausgeschlossen  wird.®*)  Stirbt  nun  sein 
Vater,  so  steht  es  in  der  Gesammthand  nicht  drin  und  könnte 
in  dieselbe  auch  nur  eintreten  durch  einen  wahren  Erbgang, 
da  solch  Eintreten  ihm  Rechte  geben  würde,  die  es  bisher  noch 
nicht  hatte.  Ein  derartiger  wahrer  Erbgang  ist  aber  in  alten 
Zeiten,  die  nur  Consolidation  auf  Grund  der  Gesammthand 
kennen,  nicht  möglich.  Die  Kindeskinder  bleiben  darum  ausser- 
halb der  Gesammthand.  Der  Antheil  ihres  Vaters  lallt  dem- 
gemäss ausschliesslich  an  dessen  Bruder  und  an  den  Grossvater  ;r,5b) 
und  wenn  nun  auch  der  Grossvater  stirbt,  bleibt  das  Gut  aus- 
schliesslich in  der  Hand  ihrer  Oheime  zurück. 


*•)  Gleicher  Ansicht  Ficker  S.  124 : »Stirbt  ein  Sohn  in  der  Gemein- 
schaft, so  setzt  sich  diese  einfach  unter  den  überlebenden  fort;  es  ist  so, 
wie  das  filr  verwandte  Verhältnisse  in  den  dänischen  Hechten,  vgl.  Kolde- 
rup  — Hosonvinge  Hü.  wohl  ausgedrückt  wird,  als  ob  er  überhaupt  nicht 
dagewesen  wäre;  sein  Anteil  an  der  Hälfte  wächst  den  anderen  Söhnen  zu. 
Und  zwar  sichtlich  auch  dann,  wenn  Enkel  von  ihm  vor- 
handen waren.“ 

**)  Dies  eigenthiitnliche,  nur  aus  der  Hausgemeinschaft,  erklärliche 
Vorrecht  des  Vaters  sogar  vor  dem  Sohne  des  Erblassers  wird  belogt  durch 
Grimoald  66*.  Zugleich  wird  aber  auch  seine  Herkunft  aus  deniGesammt- 
eigeuthume  der  Hausgenossen  erwiesen  durch  die  Angabe,  es  rühre  die  Erb- 
losigkeit der  Söhne  davon  her,  dass  ihr  Vater  im  »Busen“  des  Grossvaters 


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Nur  langsam  und  sehr  allmählich  hat  sich  dieser  Rechtslage 
gegenüber  ein  Repräsentation-  und  Vorfolgerecht  der  Kindes- 
kinder durchgerungen.  In  den  Weisthümern  ist  es  zwar  schon 
gemeinen  Rechtens,  aber  es  wird  stets  so  ausdrücklich  hervor- 
gehoben, dass  man  sieht,  es  handelt  sich  hier  um  neues  Recht, 
das  noch  steter  Wiedereinschärfung  bedurfte.58)  Wie  langsam 
die  Kindeskinder  zum  Erbe  zugelassen  wurden,  zeigt  sich  einmal 
darin,  dass  es  dazu  in  vielen  Rechten  erst  der  Einführung  einer 
Vorstufe  bedurfte,  die  in  dem  eigenartigen  Vorberufungsrechte 
zu  finden  ist,  kraft  dessen  der  Grossvater  das  Enkelkind  auf 
dem  Grabe  oder  vor  dem  Richter  in  die  Gemeinschaft  zu  den 
Kindern  aufnehmen  konnte  (Vgl.  § 436  bei  Ficker).  Ein  Bei- 
spiel liefert  für  Deutschland  der  Hofbrief  des  Grafen  Albrecht 
von  Werdenberg  für  Montafn  von  1382  (bei  Ficker  Bd.  2 
S.  116): 

„So  hond  och  die  hofjünger  und  die  freygen  das  recht 
li erbracht,  ob  ainer  zwai  kindt  oder  me  hat,  gatt  der  ains 
ab  von  todes  wegen  und  latli  dasselbig  kliindt  liberben,  das  soll 
erben  mit  den  anderen  khindern  und  an  gleichen  tlieil 
stehn,  ob  es  nf  dem  grab  oder  vor  dem  richter  auf- 
genommen ist  zu  einem  kind.“ 


gestorben  soi,  („.  . . impiuin  nobis  videtur.  ut  pro  tali  causa  exhereditentur 
filii  ab  hereditata  patris  sui  pro  co.  quod  pater  eorum  in  ginu  avi 
mortnus  est“).  „Busen“,  „sinus“  oder  „Schooss“  sind  aber  bildliche  Aus- 
drücke für  die  Hausgemeinschaft  (vgl.  Aimi.  57).  (Vgl.  auch  Ficker  § 538). 

M)  (trimm  I,  277: 

„Item  es  ist  onch  in  der  herrscliaft  Thannegg  und 
Vischingen  recht,  wen  ainem  kindt  sin  vater  und  mutter  sturb,  dass  sie 
von  ihrem  vater  und  mneter  nicht  ussgericht  werent  für  die  väterlich  und 
müeterlich  erb,  dann  so  mag  dasselbig  kindt  an  sins  vaters  oder  mueter 
stat  ston  und  einen  änin  oder  anen  erben  in  wyss  und  mass,  als 
ob  sin  vater  und  mueter  in  lyb  und  in  leben  were. 

Ebenso  Grimm  V,  203  (Wildenhaus):  „und  ob  aber  bescheche,  dass 
derselben  kinden  eins  oder  mer  abgiengend,  ohe  dacz  inen  ir  väterlich  nnd 
müeterlich  erbe  wurde,  und  aber  dieselbigen  abgestorben  kiud  eheliche 
kinder  hinder  inen  verlassen  hetend,  so  sollend  dieselben  kind  an 
ir  vater  oder  muoter  statt  ston,  iren  eni  oder  ani  zuo  erben, 
vortbeil  und  nachtheil,  soviel  alsdann  ir  vater  und  muoter 
ererbt  hetend,  ob  sie  den  erbfall  hetend  erlebt,  ungefährlich“. 

Aehnlichc  Stellen  finden  sich  zahlreich. 


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72 


Das  überaus  langsame  Werden  des  Repräsentations-  und 
Vorfolgerechts  lässt  sich  jedoch  auch  direkt  im  friesischen  und 
namentlich  im  sächsischen  Rechte  verfolgen,  in  welchem,  wie 
oben  angeführt,  erst  unter  Otto  dem  Grossen  das  Repräsen- 
tationsrecht der  Enkel  definitiv  anerkannt  wurde.57)  Ueber  die 
Enkel  ist  das  Repräsentations-  und  Vorfolgerecht  aber  zunächst 
nicht  hinausgegangen,  da  alle  Gründe,  welche  gegen  die  Zulassung 
der  Enkel  in  die  Gesammthand  wirkten,  in  noch  stärkerem  Masse 
bei  den  Urenkeln  hervortraten.  Noch  in  den  Zeiten  der  alten 
langobardischen  Juristen  wird  deshalb  von  diesen  bei  der  successio 
lege  sali  ca  das  Repräsentations-  und  Vorfolgerecht  auf  die  Enkel 
beschränkt,  obwohl  jenen  Juristen  der  Gedanke  einer  Zulassung 
auch  der  ferneren  Descendenz  zum  Erbe  an  sich  keineswegs 
fremd  war  und  von  ihnen  beim  römischen  Rechte  geübt  wurde.  '1) 


w)  Und  auch  da  noch  nicht  allgemein,  wie  die  Geschichte  des  Be- 
griffes des  „busem“  zeigt,  „busem“,  welches  auch  sonst  seine  Bedeutung  sein 
mag,  bezeichnet  in  der  Rechtssprache  die  Hausgeuossenschaft,  Ganz  über- 
einstimmend mit  dem  Ergebniss  unserer  Untersuchungen,  wonach  die  Haus- 
genosseuschaft  anfänglich  auf  Vater  und  Kinder  beschränkt  war,  umfasst 
deshalb  „busem“  ursprünglich  nicht  die  Kindeskinder.  Noch  spater  wurde 
in  Magdeburg  mit  seinem  berühmten  Schöffenstuhl  versucht,  an  diesem  alten 
Begriffe  festzuhalten,  und  es  sind  Schöffenspriiche  dahin  ergangen  (vgl. 
v.  Amira  S.  126  nach  Wasserschieben,  Prinzip  der  Succession).  Diese 
Praxis  konnte  aber  gegenüber  jener  Rechtsatzung  Ottos  des  Grossen  und 
auch  gegenüber  dem  Sachsenspiegel  nicht  gehalten  werden.  Es  wurden 
aber  auch  nach  diesem  nur  Kinder  unabgesonderter  Söhne  zum  .busem“  ge- 
rechnet, diejenigen  abgesonderter  ausgeschlossen  (vgl.  Amira  S.  127  f.)( 
was  auch,  wie  sich  gleich  zeigen  wird,  dem  Wesen  des  deutschen  Re- 
präsentationsrechts entspricht  Als  endlich  die  römischen  Begriffe  des 
Repräseutationsrechts  und  Erbrechts  den  Begriff  der  Hausgenosseuschatt 
verdrängten,  wurden  auch  Kinder  abgesonderter  Kinder  zum  .busem“  ge- 
rechnet, ja  schliesslich  begriff  „busem“  die  ganze  Descendenz.  So  war  er  aus 
einer  Bezeichnung  des  alten  näheren  Erbenkreises  zu  einem  Namen  für  die 
erste  Erbenklasse  des  neuen  Rechts  geworden.  Der  Streit,  welcher  von  den 
verschiedenen  Begriffen  des  .busem“  der  richtige  ist,  findet  deshalb  darin 
seinen  Abschluss,  dass  alle  richtig  sind  und  nur  verschiedenen  Entwicklungs- 
stufen entsprechen. 

Dass  der  mit  „busem“  gleichbedeutende  Ausdruck  .sinus“  und  der 
ähnliche  „Schoosa“  mit  Hausgenossenschaft  identisch  sind,  hat  auch  Ficker 
§ 541  u.  542  dargethan. 

Vgl.  den  oben  citierten  langobardischen  Juristen  in  Mou.  Germ. 
L.  L.  Tom.  IV.  p.  590. 


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73 


Dass  es  übrigens  nicht  ein  Repräsentationsrecht  im  spät- 
römischen Sinne  war,  welches  hier  den  Kindeskindem  eröffnet 
wurde,  sondern  lediglich  die  Möglichkeit  des  Eintritts  in  die 
Gesammthand  ihres  Vaters,  ergiebt  sich  daraus,  dass  das 
Recht,  wie  die  citierten  Weisthümer  (vgl.  Anm.  56,  vgl.  auch 
Anm.  57)  und  auch  der  Ssp.  erkennen  lassen,  den  Kindern 
abgesonderter  Kinder  nicht  zustand.  Denn  eine  Snccession  ins 
Erbrecht,  welches  die  spät-römische  Repräsentation  ist,  kann 
auch  solchen  Nachkommen  nicht  verwehrt  werden,  ein  Eintritt 
in  die  Gesammthand  dagegen  sehr  wohl,  da  die  sie  vermittelnden 
Kinder  ja  selbst  aus  der  Gesammthand  durch  die  Absonderung 
ausgeschieden  sind,  und  die  Enkel  deshalb,  auch  wenn  sie  ihre 
Stelle  einnehmen  dürften,  doch  nicht  in  die  Gesammthand  gelangen 
würden.'1**)  Wie  sehr  die  ganze  Erbuahme  auf  dem  Gedanken 
des  Miteigen th ums  beruht,  so  dass  auch  die  Repräsentation 
nur  eine  Zulassung  in  dasselbe  ist,  das  erhellt  aber  ferner  auch 
aus  dem  Theilungsmodus.  Die  römischen  Repräsentanten  treten 
ein  in  das  Erbrecht  dessen,  den  sie  vertreten,  und  erhalten 
deshalb  folgerichtig  alle  zusammen  nur  seinen  Theil.  Die  deutschen 
Kindeskinder  treten  ein  in  die  Gesammthand  als  vollberechtigte 
Genossen,  und  zwar  nicht  erst  beim  Erbfall  ihres  Grossvaters, 
sondern  sogleich,  wenn  ihr  Vater  stirbt.  In  einen  bestimmten 
Theil  ihres  Vaters  können  sie  nun  dabei  nicht  eintreten,  da  dieser 
selbst  keinen  festen  Antheil  hatte,  weil  in  währender  Gesammt- 
hand die  feste  Theilung  nach  ideellen  Quoten  fehlt.  Zur  Quoten- 
theilung  und  zu  wirklicher  Sprengung  der  Gesammthand  kommt 
es  erst  beim  Tode  ihres  Grossvaters.  Alle  bei  Sprengung  einer 
Gesammthand  vorhandenen  Genossen  bekommen  aber  gleiche 
Theile,  und  da  dann  die  Kindeskinder  ebenso  Genossen  sind 


**•)  Auch  Ficker  ist  der  Ansicht,  das  deutsche  Eintrittsrecht  habe  nicht 
Eintritt  an  die  Stelle  des  Erblassers,  soudem  nur  in  dessen  Klasse  bezweckt. 
(Bd.  2 S.  170  u.  187.)  Es  ist  das  im  Grunde  genommen  derselbe  Gedanke, 
nur  etwas  anders  gewandt,  wie  wenn  wir  sagen:  der  Eintritt  beabsichtigte 
Aufnahme  in  den  Gesamthandverband,  dein  der  Erblasser  angehürt  hatte. 
Denn  dessen  Gesammthandvorband  wird  eben  durch  seine  Klasse  gebildet. 
Ficker  betont  übrigens  selbst  allenthalben  den  Zusammenhang  der  eigen- 
tümlichen Gestaltung  des  Eintrittsrechts  mit  dem  Hauscigenthum,  wie  schon 
ans  den  bisherigen  Citaten  hervorgeht. 


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74 


wie  ihre  Oheime,  so  bekommen  sie  mit  diesen  Kopftheile.  So 
schreibt  es  der  oben  wiedergegebene,  unter  Otto  dem  Grossen 
für  Sachsen  vereinbarte  Rechtssatz  vor,  so  weiss  es  nicht  anders 
der  oft  erwähnte  longobardische  Jurist  für  das  salische  Recht,  ") 
so  reden  auch  die  von  geschulten  Juristen  redigierten  Weis- 
thümer  von  einer  Theilung  „in  capita  und  nicht  in  stirpes“. 

Diese  Gonsequenz  des  Gesammteigenthums,  (vgl.  das  unten- 
stehende"1) Beispiel),  dass  Quoten  erst  im  Augenblick  seiner 
Sprengung  hervortreten,  weshalb  alle  daun  vorhandenen  Gesammt- 
händer  gleiche  Theile  erhalten,  ist  besonders  auffällig  für  den 
Fall,  wo  in  Folge  hinausgeschobener  Theilungen  Enkel  und 
Urenkel  in  gesammter  Hand  sitzen.  Gleichwohl  ist  jenes  Prinzip 
auch  für  diesen  Fall  schon  durch  den  Herold’schen  Text  der 
lex  salica  beglaubigt.  Es  heisst  dort  Tit.  5ü:  „Sed  ubi  inter 
nepotes  aut  pronepotes  post  longum  tempus  de  alode  terrae 
contentio  suscitatur,  non  per  Stirpes,  sed  per  capita  divi- 
dantur“.  Eine  Mittelstellung  nehmen  diejenigen  Rechte  ein,**1*) 


M)  „Si  liomo  decesserit  et  reliquerit  tiliuni  et  filiam.  cqualiter  succe- 
dant;  et  si  reliquerit  fiiitim  et  filiam  et  nepoteiu  . . . eqnaliter 
succeilant*. 

“)  Beispiel : 

Gl  Erblasser 

/ ; < Ihr  Durch  - 

l \ Q strichelten 
, sind  vorver 

a A --  s,orbm  > 

o o u 

A fl/A\ 

öoob 

C U E F 

Nach  lümischem  Recht  wird  Erbe:  A mit  Vt,  B mit  C D Ef 
mit  je  Nach  deutschem  Recht  erhalten  A B C D E F jeder 

Vgl.  namentlich  Erbrecht  von  Tannheim  (bei  Ficker  S.  152): 

„Zn  dem  anderen,  so  erben  cnckhle  anstatt  iren  vater  und  mutter, 
wann  sie  gestorben  sind,  ierc  ene  und  ona  neben  anderen  iren  kinden, 
wann  aber  die  kindt  alle  gestorben  sind  und  das  gut  oder  erbschaflt 
gar  an  lütter  enckhlin  vallt  . . .,  alsdann  so  erbt  ain  enckblin 
allsvil  als  das  ander,  cs  seyen  vil  oder  wenig  kind  an  ainem  stamb". 

Ebenso  Appenzell  (Ficker  ebenda),  Erbordnung  der  Herrschaft  Blumen- 
egge  (Ficker  It,  155),  rhätische  „Satzung  des  oberen  Bandes“  von  1521 
(Ficker  II,  15«)  und  Landhuch  von  Fürstenau  § 27  (Ficker,  ebenda). 


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75 

welche  im  allgemeinen  zwar  nach  Köpfen  theileu,  dagegen  nach 
Stämmen,  sobald  ein  Klassenhalter,  d.  h.  ein  Klassengenosse 
und  Mitgeiueiner  des  vorverstorbenen  parens,  zur  Zeit  der  Erb- 
theilung  vorhanden  ist.  Diese  Theilnngsart  geht  vielleicht  zurück 
auf  Beeinflussung  durch  römisches  Recht.  Sie  Hesse  sich  aber 
auch  aus  dem  deutschen  Rechte  erklären,  nämlich  ans  einer 
etwaigen  Anschauung,  dass  das  Recht  des  Klassenhalters  im 
Guten  wie  im  Bösen  massgebend  sei  für  das  Recht  der  ein- 
tretenden Descendenten.  (Vgl.  Ficker  § 4S5).  Dieser  Gedanke 
wäre  aber  wiederum  weiter  nichts  als  eine  etwas  übertriebene 
Consequenz  aus  dem  eben  berührten  Prinzipe  des  Eintritts- 
rechtes. Weil  dieses  lediglich  die  Aufnahme  in  die  Gesammt- 
liand  des  Vorverstorbenen  darstellt,  deshalb  soll  das  Recht  des 
Letzten,  der  zur  Zeit  der  Theilung  und  Sprengung  der  Gesammt- 
hand  jene  noch  verkörperte,  auch  für  die  eintretenden  Des- 
cendenten massgebend  sein.  U ebertrieben  ist  die  Consequenz 
deshalb,  weil  der  Eintritt  ja  eigentlich  nicht  erst  im  Augenblicke 
der  Sprengung,  sondern  schon  vorher  beim  Vorabsterben  des 
parens  erfolgt,  sodass  das  Recht  des  letzten  alten  Mitgliedes 
der  Gesammthand  nicht  so  wichtig  sein  sollte;  überdies  hatte 
dieser  ja,  wie  eben  gezeigt,  eigentlich  selber  kein  Anrecht  auf 
eine  bestimmte  Quote.  Der  ursprünglich  schlechthin  nach  Köpfen 
teilende  Modus  ist  deshalb  jedenfalls  dem  Prinzipe  der  Gesammt- 
hand gemässer. 

Alte  Rechtsgedanken  leben  in  der  Seele  des  Volkes  fort 
und  schreiben  später  seinen  Gesetzgebern,  diesen  selber  unbewusst, 
ihre  Rechtsaussprüche  vor.  Auf  dem  Reichstage  zu  Speyer  1529 
war  die  Frage  zu  lösen,  wie  nach  gemeinem  Rechte  die  Enkel 
die  ihnen  werdende  Erbschaft  zu  theilen  haben.  Der  Reichstag 
verordnete  gleiche  Theilung,  gleichviel  von  wie  viel  Söhnen 
jene  Enkel  abstammten.  Es  ist  nun  unzweifelhaft,  dass  dem 
Geiste  des  gemeinen,  auf  den  spät-römischen  Satzungen  fussenden, 
Erbrechtes  jene  Entscheidung  nicht  im  geringsten  entspricht. 
Sie  legt  aber  Zeugnis  dafür  ab,  wie  tief  bei  den  Deutschen 
noch  die  Anschauung  eingewurzelt  war,  dass  der  Erbgang  nichts 
anderes  ist  als  ein  Eintritt  in  die  Gesammthand  der  Hausgenossen, 
und  dass  die  Erbtheilung  deshalb  lediglich  Sprengung  jener 
Gesammthand  bedeutet,  wobei  allen  Genossen  gleiche  Theile 
gebühren. 


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76 


Wenn  wir  uns  nun  der  zweiten  Frage  zuwenden,  warum 
auch  neben  Brüdern  oder  Eltern  des  Erblassers  der 
weiteren  Descendeuz  ein  Erbrecht  ursprünglich  mangelt,  sodass 
die  Kindeskinder  durch  jene  Verwandten  ausgeschlossen  werden 
(vergl.  v.  Anlira,  variis  locis),  so  müssen  wir  zunächst  beachten, 
dass  diese  Frage  nur  bei  wahren  Erbfällen  brennend  werden 
kann.61)  Doch  auch  für  diese  dürfen  die  aus  dem  Gedanken 
des  Gesammteigenthuuis  entnommenen  Erklärungen  herangezogen 
werden.  Denn  die  im  Kreise  der  Hausgenossenschaft  für  Ver- 
lassenschart.cn  gewonnenen  Uebergangsregeln  fanden  auch  An- 
wendung, wenn  es  sich  um  einen  wahren  Erbgang  handelte, 
d.  h.  wenn  das  Hauseigenthum  durch  Abschichtungen  oder 
Grundtheilungen  aufgehoben  war,  da  jeder  Erbgang  ja,  wie  wir 
sahen,  darauf  beruhte,  dass  auch  das  aufgelöste  Miteigentlmm 
wieder  an  sich  zieht,  was  es  einst  aus  seinem  Kreise  herans- 
gelassen. 

Dass  aber  die  Regeln  des  Hauseigenthums  wirklich  aus- 
reichen, um  das  mangelnde  Vorfolgerecht  der  Enkel  neben 
Brüdern  oder  Eltern  verständlich  zu  machen,  ergiebt  sich  ohne 
weiteres,  wenn  man  sich  den  Erbfall  im  Einzelnen  vergegen- 
wärtigt.6-’) 


“')  Denn  ist,  wie  in  dem  liier  bildlich  veranschaulichten  Kalle,  A der 

u 

Ä 

aU  O O 

T i'  f 

B 0 

fO 

Erblasser  und  das  Hauseigenthum  ist  nicht  aufgehoben,  so  hat  A überhaupt 
nichts  zu  vererben,  falls  sein  Vater  am  Lehen  ist.  Ist  aber  sein  Vater 
nicht  atn  Lehen  und  die  Hausgenossenschaft  nicht  gelüst,  so  hat  A gleich- 
wohl wieder  nichts  selbständig  zu  vererben,  sondern  das  Hauseigenthum 
conaolidirt  in  der  Hand  von  E und  F.  wobei  ursprünglich,  wie  oben  aus- 
gelührt,  nicht  einmal  der  Sohn  Li  an  des  A Stelle  tritt,  jedenfalls  aber  C 
durch  E und  F ausgeschlossen  wird. 

Vgl.  die  Figur  der  Anm.  Gl. 


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77 


A ist  der  Erblasser.  Wenn  A stirbt,  so  geht  sein  Erbe 
zunächst  auf  seinen  Sohn  B über,  der  schon  bei  Lebzeiten  des 
A mit  diesem  Gesammthand  daran  hatte.  Ist  aber  auch  B 
vorher  gestorben,  so  steht,  wie  oben  ausgeführt,  C nicht  in 
Gesammthand  mit  A,  weil  er  in  dieselbe  nicht  hineingeboren 
ist.  Mangels  eines  Mitgemeiners  des  Verstorbenen  tritt  deshalb 
nunmehr  wahrer  Erbgang  ein.  Dessen  Gedanke  ist  aber  ja 
lediglich,  die  früheren  Gesammthänder  aufzusuchen.  Das 
waren  aber  nur  D.  E und  F,  nicht  C;  auf  sie  fällt  deshalb  das 
Erbe. 

Es  ergiebt  sich  aber  der  Vorzug  der  Brüder  vor  den 
Enkeln  des  Erblassers  bei  wahren  Erbfällen  auch  noch  aus 
einer  anderen  auf  dem  Hanseigenthume  fussenden  Erwägung: 

Der  Erbgang  ist,  wie  gesagt,  auch  bei  wahren  Erbfällen  die 
Nachbildung  des  Handwechsels,  wie  er  sich  auf  Grund  des  Ge- 
samrateigenthums  regelmässig  vollzieht.  Auf  Grund  Gesammt- 
eigeuthunis  konnte  aber,  wenn  Brüder  lebten,  niemals 
Erbe  an  Enkel  gelangen : denn  in  währender  Gesammthand  konnte 
praktisch  gar  nicht  der  Fall  Vorkommen,  dass  C mit  E und 
F concurrierte.  Zn  solcher  Concurrenz  innerhalb  der  Gcsammt- 
haud  wäre  nämlich  zweierlei  nöthig  gewesen:  erstens,  dass 
sowohl  A wie  B heiratheten,  und  zweitens,  dass  sie  trotz  jener 
Heirath  im  Gesammteigenthum  verblieben.  Das  ist  aber  un- 
möglich. Denn  die  Heirath  ist  regelmässig  mit  dem  Austritt 
aus  der  Hausgenossenschaft  verknüpft.  Später  wurde  sic  zwar 
auch  ohne  Austritt  zulässig,  aber  eine  weitere  Heirath  des 
Sohnes  eines  Unansgeschiedenen  war,  so  lange  nicht  die  Haus- 
genossenschaft gelöst  wurde,  auch  später  niemals  gestattet.  Wenn 
es  aber  praktisch  nie  weitere  Descendenz  geben  konnte,  welche 
das  Eintrittsrecht  zu  beanspruchen  in  der  Lage  war,  so  konnte 
sich  jenes  Recht  auch  nicht  ausbilden.  Dass  für  den  Fall,  wo  die 
Hausgenossenschaft  gelöst  war,  weitere  Descendenz  Vorkommen 
konnte  und  vorkam,  änderte  daran  nichts.  Denn  alle  Erbrechts- 
regeln erwuchsen  im  Kreise  der  ungelösten  Hausgenossenschaft 
und  wurden  auf  den  Fall  der  gelösten  nur  übertragen.  Auf  das, 
was  bei  letzterem  möglich  war,  kommt  es  deshalb  nicht  an. 
Dass  sich  übrigens  gerade  für  den  Fall  der  Concurrenz  von 
Enkeln  mit  Brüdern  des  Erblassers  im  wahren  Erbgange  das 
Vorfolgerecht  zuerst  entwickeln  musste,  erhellt  ohne  weiteres; 


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78 


und  zwar  erwuchs  es  daraus,  dass  A beim  Tode  seines  Sohnes 
in  seine  Hausgenossenschaft,  in  der  er  nunmehr  allein  stand, 
naturgemäss  den  Enkel  aufnahm,  der  dadurch  Gesaminthänder 
wurde  und  durch  sein  Miteigenthum  beim  Tode  des  A den  Anfall 
an  I)  oder  E und  F ansschloss. 

So  lässt  sich  die  immer  noch  streitige  Behandlung  der 
weiteren  Descendenz  im  altdeutschen  Recht  leicht  und  un- 
gezwungen verstehen,  wenn  man  davon  ausgeht,  dass  alles 
Grunderbrecht  in  einem  ursprünglichen  Hauseigenthume  wurzelt. 
Doch  auch  noch  ein  zweiter  Streitpunkt  des  altdeutschen  Erb- 
rechts findet  in  diesem  Gedanken  seine  Erledigung:  es  ist  die 
Behandlung  der  Elterngeschwister.  Bei  dieser  ist  nämlich  ein 
Schwanken  der  (Quellen  deutlich  erkennbar.  Einige  Quellen 
rechnen  sie  zum  näheren  Erbenkreise,  andere  nicht.  Wenn  man 
nun  bedenkt,  dass  der  nähere  Erbenkreis  alle  diejenigen  umfasst, 
welche  mit  dem  Erblasser  in  einer  Hausgenossenschaft  gelebt 
haben,  so  ist  dies  Schwanken  leicht  erklärlich.  Es  war  eben  nicht 
gewöhnlich,  dass  Elterngeschwister  mit  ihren  Neffen  und  Gross- 
neften  in  einer  Hausgenossenschaft  sassen,  weil  dazu  verheirathete 
Söhne  in  der  Hausgenossenschaft  verblieben  sein  mussteu,  die  Ver- 
heirathung  aber  gewöhnlich  mit  dem  Ausscheiden  aus  der  Haus- 
genossenschaft verknüpft  war.K;)  Deshalb  zählen  frühere  Quellen 
die  Elterngeschwister  nicht  zum  näheren  Erbenkreis.  Später, 
als  nicht  mehr  jeder  neuen  Haushaltung  ihr  Landloos  zugemessen 
werden  konnte,  schieden  die  heirathenden  Söhne  nicht  mehr  aus 
der  alten  Hausgenossenschaft  aus;  der  Fall,  dassElterugeschwister 
mit  ihren  Netten  in  gesummter  Hand  sassen,  kam  deshalb  öfter 


'"'J  Dell  Erlil'itU  veraiiM  liauliilit  folgende  Figur: 


, Jh:„, 

>— *\  hltcrrnjr  - 

£3  ^ schwistrr 

Erblasser 

. o b 

Neffen  des  Erb- 


lassers 


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79 


vor,  und  man  versteht,  warum  spätere  Quellen  nunmehr  die 
Elterugeschwister  dem  engeren  Erbenkreise  zuweisen.*4) 

Warum  aber  die  so  in  den  näheren  Erbenkreis  eingereihten 
Elterngeschwister  den  Neffen  des  Erblassers,  trotzdem  sie  ihm 
auch  nicht  näher  verwandt  waren  als  jene,'4*)  vorgezogen  wurden, 
erklärt  sieh  einfach  bei  Anwendung  der  soeben  für  die  Kindes- 
kinder entwickelten  Grundsätze. 

Bei  Consolidation  auf  Grund  der  Gesammthand  konnten 
Neffen  mit  Elterngeschwistern  nie  konknriren,  weil  zweifache 
Heirathen  in  währender  Hausgenossenschaft  nicht  statthaft 
waren.  Möglich  war  also  solche  Concurrenz  nur  bei  gelöster 
Hausgenossenschaft  und  beim  Vorliegen  eines  wahren  Erbfalles. 
Dieser  wurde  aber  einfach  nach  den  Regeln  behandelt,  die  sich 
für  den  Uebergang  verlassenen  Gutes  im  Kreise  der  häuslichen 
Gasammthand  gebildet  hatten.  Hier  hatte  es  sich  aber  aus 
dem  angeführten  Grunde  wegen  einfachen  Mangels  weiterer  De- 
scendenz  festgestellt,  dass  hinter  den  Eltern  und  Brüdern  des 
Erblassers  die  Eltern-Goschwister  kommen. 

So  ergiebt  sich,  — was  schon  Amira  bei  seinen  Ausfüh- 
rungen über  den  Begriff  „der  sechs  Hände“  im  friesischen  Recht 
in  ähnlicher  Weise  behauptet  hat,  — dass  der  nähere  Erben- 
kreis identisch  ist  mit  der  Hausgenossenschaft,  in  welcher  der 
Erblasser  selbst  steht,  und  dass  alle  Aenderungen  dieses  Erben- 
kreises auf  Wandlungen  der  Anschauungen  über  die  Zugehörig- 
keit zu  jener  Hausgenossenschaft  beruhen.  Ist  der  engere 
Erbenkreis  aber  die  Hausgenossenschaft  des  Erblassers,  so  ver- 
steht man  auch,  warum  in  ihr  die  Gradesnähe  nicht  entscheidet. 
Denn  diese  kann  nur  massgebend  sein,  wenn  der  Erbgang  erfolgt 
auf  Grund  der  Verwandtschaft,  nicht  aber  dann,  wenn  das  be- 
stehende oder  ehemalige  Miteigentlmm  seine  Grundlage  bildet, 
das  sich  nicht  nach  der  Gradesnähe  richtet. 

Den  zweiten  Erbenkreis  bildet  dann  folgerichtig  die  Haus- 
genossenschaft des  Vaters,  den  dritten  die  des  Grossvaters  u.  s.  w. 
So  entsteht,  wie  schon  gesagt,  naturgemäss  am  letzten  Ende 


Vgl.  oben  Anro.  47. 

Vgl.  die  Figur  der  Aum.  03. 


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80 


die  Parentelenordnung.  Man  begreift  aber,  warum  diese  nicht 
sofort  in  reiner  Ausbildung  auftreten  konnte,  warum  sich  viel- 
mehr erst  eine  Art  Vorfolgerecht  der  aulsteigenden  Linie,  ein 
„Vorfahrenrecht“  bildete.  Denu  es  mangelte  ja  ursprünglich 
jegliches  llepräsentatiousrecht,  weil  es  ein  unstatthaftes  Hinein- 
erben in  eine  Gesammthand  erfordert  hätte:  die  Hausgenossen- 
schaften  waren  deshalb  beschränkt  auf  den  Vater  und  seine 
Kinder,  den  Grossvater  und  seine  Kinder  u.  s.  w.  So  entstand 
von  selbst,  wie  wir  sehen,  ein  Vorfolgerecht  des  Vaters  und  der 
Brüder  vor  den  Enkeln,  mitunter  sogar  von  den  Söhnen  des 
Erblassers,  ein  Vorfolgerecht  des  Grossvaters  und  der  Oheime 
des  Erblassers  vor  dessen  weiterer  Descendenz  u.  s.  w.  Ja. 
es  konnte  daraus  ein  reines  Vorfahrenrecht  werden,  wenn  man 
das  Gut  nicht  mehr  an  die  Hausgeuossenschaft,  sondern  au 
deren  Leiter,  also  an  den  Vater,  den  Grossvater  u.  s.  w.  gab.'i4b) 
Als  nun  ein  Repräsentationsrecht  wenigstens  der  Kiudeskinder 
anerkannt  wurde  vermehrte  sich  jede  Hausgenossenschaft 
um  ein  absteigendes  Glied.  Doch  erst,  nachdem  schlechthin  das 
Repräsentationsrecht  zur  Annahme  gelangte,  war  die  reine 
Parentelenordnung  fertig. 


§ <• 

So  zeigt  die  Reihenfolge  der  Berufenen  noch  auf  Schritt 
und  Tritt,  dass  die  altdeutsche  Erbfolgeordnung  aus  dem  Ge- 
sammteigenthum  der  Hausgenossenschaft  hervorgewachsen  ist 
Doch  noch  eine  andere  Eigentliümlichkeit  der  Elbordnung 
weist  auf  jenen  Ursprung  hin.  Es  ist  die  anfängliche  Unfähig- 
keit der  Weiber  zur  Erbfolge. 


•*b)  Zur  Erklärung  des  Vorfahrensrechts  bedarf  es  sonach  keineswegs 
des  Zuriiekgreifens  auf  ein  altes  Fahrnisserbrecht,  von  dem  die  Parente- 
leuordnung  durchkreuzt  wird,  wie  Ficker  annimmt.  Im  Gegentheile,  an- 
fänglich ausschliessliches  Erbrecht  des  engeren  Kreises,  Vorlähreurecht, 
Linealgradualfolge  und  Parentelenordnung  lassen  sich  sämmtlich  aus  dem 
llauseigeutkum  ableiten.  Sie  bilden  Vorstufen  von  einander  oder  einseitige 
Ausbildungen  einer  Stufe.  Ursprünglich  alleiniges  Erbrecht  des  engeren 
Kreises  und  nachträgliche  Ausbildung  des  Vorfahrenrechts  sind  demnach 
gar  keine  Widersprüche,  wie  Ficker  meint  (S.  381/382).  Das  folgerichtige 
Ende  der  ganzen  Entwicklung  ist  aber  die  Parentelenordnung.  Sie  ist 
deshalb  in  der  Thal  die  wahre  Erbordnuug  des  deutschen  Rechts. 


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Hl 

Dass  sie  ursprünglich  bestanden  hat,  ist  sicher.  In  unseren 
deutschen  Quellen  findet  sich  vollständige  Ausschliessung  der 
Weiber  von  jeder  Verlassenschaft  oder  wenigstens  vom  Grund- 
besitz zwar  nicht  mehr  überall  anerkannt:  überall  aber  findet 
sich  eine  theihveise  Benachtheiligung  derselben.  Dass  dies  nun 
nicht  etwa  spätere  Aendcrnngen  ursprünglicher  vollständiger 
Erbfähigkeit,  sondern  Ueberbleibsel  alten  Rechtszustandes  sind, 
erhellt  scliou  aus  den  deutschen  Quellen  selbst.  Denn  gerade 
die  ältesten  Quellen,  wie  die  lex  Salica.  oder  doch  solche,  welche 
trotz  späterer  Entstehnngszeit  auch  sonst  einen  alterthttmlichen 
Charakter  zeigen,  wie  die  lex  Thuringorum  und  die  friesischen 
Rechte,  sind  es  vornehmlich,  welche  gänzliche  Erbunfähigkeit 
wenigstens  bei  Liegenschaften  entweder  geradezu  vorschreiben  oder 
mindestens  sehr  starke  Spuren  davon  aufweisen.' “■’)  Zur  Gewissheit 

,j6)  Ob  sich  gänzliche  Unfähigkeit  der  Weiber  zu  jedem  Erbgange 
bei  allen  deutschen  Stämmen  quellenmässig  nach  weizen  lässt,  erscheint 
nach  Opets  Schrift  (in  Gierkes  Untersuchungen  zur  Staats-  und  Rechts- 
gesehichte  lieft  25)  zweifelhaft.  Kür  die  Langobarden  hat  sie  sicher  be- 
standen. Auch  für  das  salische  Hecht  ist  sie  aber  wahrscheinlich.  Von 
vielen  wird  ja  in  dem  Titel  59  der  lex  Salica  die  Absicht  gefunden.  jener 
alten  Unfähigkeit  den  neuen,  durch  Eintritt  der  Weiber  moditizirten,  Erb- 
gang entgegenzustellen  (vgl.  oben  Aura.  4S  und  52\  Zu  beachten  ist  auch, 
dass  noch  im  späteren  salisehen  liechte  die  Erbfähigkeit  der  Krauen  sehr 
beschränkt  ist.  Der  oft  erwähnte  ulte  laugubardische  Jurist  sagt  hierüber: 
„Sed  alias  fenünas  non  vocant  ad  successionem  homines  Salici  nisi  illas,  quas 
supra  dixi“.  — Jedenfalls  hat  Unfähigkeit,  den  Grundbesitz  zu  erben, 
den  Weibern  bei  allen  deutschen  Stämmen  ursprünglich  augohaftet.  Für 
das  salische  Recht  geht  dies  unwiderleglich  aus  den  Schlussworten  des 
Til.  50  der  lex  Salica  hervor,  die  im  ältesten  Text  einfach  lauten:  „de 
terra  vero  nulla  in  tituliere  hereditas  non  pertinebit,  sed  ad  virilem 
sexuni,  qui  lratres  fuerint,  tota  terra  perteneat*.  Bei  den  ltibnariern  ist  die 
anfängliche  Unfähigkeit,  wie  auch  später  bei  den  Saliern,  schon  auf  das 
ererbte  Hausgut  beschränkt:  „Sed  cum  virilis  sexus  extiterit,  femina  in 
hereditatem  aviaticatn  non  succedat*  (L.  Rib.  tit.  50  § 4).  Bei  den 
chamavischen  Kranken  dagegen  ist  die  alte  Unfähigkeit  noch  festgehalten: 
„Si  quis  Francus  horno  habuerit  tilios  duos,  hereditatem  suam  de  sylva  et 
de  terra  eis  dimittat  et  de  peculio;  de  materna  hereditate  similiter  in  filiain 
venif  (L.  Krane.  Cham.  eap.  42).  Dass  ferner  nach  thüringischem  Rechte 
Weibspersonen  Grundbesitz  nicht  nehmen  konnten,  ist  schon  oben  ausgeführt 
und  allgemein  anerkannt  (vgl.  Anm.  52).  Im  angelsächsischen  Rechte  ist 
beim  eiuzigeu  echten  Eigen,  dem  edel,  Unfähigkeit  der  Weiber  anerkannt. 
Bei  anderem  Eigen  ist  zur  Zeit  unserer  (Quellen  noch  die  Tochter  neben 

v.  Üttlisig,  Grundcrbreehr.  Q 


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wird  dieser  Schluss  aber,  wenn  man  seinen  Blick  über  die 
deutschen  Quellen  hinaus  auf  das  richtet,  was  bei  anderen  arischen 
Stämmen  Rechtens  ist. 


dem  Sohne  unbedingt  erbunfäbig.  Das«  dies  der  Rest  einer  ehemaligen 
weitgehenderen  Zurücksetzung  der  Weiber  war,  hat  schon  Amirn  mit  Recht' 
vermuthet  (vgl.  v.  Atnira  a.  a.  O.  S.  90  u.  95).  Im  ältesten  sächsischen 
Rechte  finden  sich  ähnliche  Reste  anfänglicher  gänzlicher  Erbunfähigkeit. 
Es  schliesst  der  Sohn  die  Tochter  aus  („Pater  aut  mater  defuncti  filio  non 
filiae  hereditatem  relinquent“  [L.  Sax.  c.  41]),  und  überhaupt  sind  Weiber 
neben  Männern  gleichen  Grades  unfähig.  Ebenso  findet  sich  überhaupt 
in  allen  Rechten  eine  theilweise  Benachtheiligung  der  Frauen  im  Erbgang, 
die  sehr  wohl  als  das  Ueberbleibsol  einer  ehemaligen  umfassenderen  Erb- 
unfähigkeit aufgetässt  werden  kann.  Besonders  deutlich  ist  dies  wieder  im 
friesischeu  Rechte  erkennbar,  von  dem  Amira  behauptet,  dass  in  ihm  die 
Frauen  ursprünglich  auf  Anssteuer  beschränkt  waren  und  eines  wahren 
Erbrechts  darbten  (vgl.  v.  Amira  a.  a.  O.  S.  164,  171,  172.  190,  191,  202). 

Ficker  ist  allerdings  der  Ansicht,  dass  ursprünglich  die  Weiber  volles  Erb- 
recht gehabt  hätten  (§  483  ff.,  491  ff.).  Allein  seine  diesbezüglichen  Aus- 
führungen sind  nicht  sehr  überzeugend.  Er  fühlt  dies  auch  selbst  an  ver- 
schiedenen Stellen  heraus  und  vertröstet  auf  besseren  Beweis  in  der  Zukunft. 
Namentlich  begegnet  ihm  dies  gegenüber  der  Erbordnung  de-s  thüringischen 
Rechts  (S.  246),  in  die  ein  Erbrecht  der  Frauen  sich  auch  kaum  hinein- 
interpretiren  lässt.  Ebensowenig  glücklich  ist  die  Widerlegung  der  auf- 
fälligen Nachricht,  dass  in  dänischen  Rechten  das  Erbrecht  der  Töchter 
und  Schwestern  erst  durch  ein  Gesetz  Birger  Jarls  eingeführt  worden  sei 
(§  499).  Es  findet  sich  denn  auch  hier  das  Geständniss,  es  werde  das  zu 
Beweisende  einstweilen  als  bewiesen  vorausgesetzt  werden  müssen.  Der 
wahre,  letzte  und  immer  wiederkehrende  Grund,  der  Ficker  zu  seiner  Be- 
hauptung veranlasst  hat,  ist  auch  nur  die  eine  Erwägung,  es  sei  unglaublich. 
dasB  bei  nachträglicher  Einführung  des  Fraueuerbrechts  den  näher  ver- 
wandten Töchtern  und  Schwestern  ein  beschränktes,  den  weiter  verwandten 
Weibern  aber  sofort  volles  Erbrecht  verliehen  sei.  Allein  diese  Erwägung 
würde,  selbst  wenn  sie  unbestreitbar  wäre,  doch  nur  für  den  Fall  zutreffen, 
wenn  man  annimmt,  dass  das  Weibererbrecht  mit  einem  Schlage  eingeführt 
sei.  Es  ist  aber  sehr  wohl  denkbar  und  sogar  naturgemäss,  wenn  jenes 
Erbrecht  sich  nur  allmählich  entwickelt  hat.  Nehmen  wir  nun  mit  Ficker 
an,  es  hätteu  zuerst  Töchter  und  Schwestern  das  Erbrecht  empfangen,  so 
geschah  dies  zu  einer  Zeit,  wo  der  Gedanke  der  Zurücksetzung  der  Weiber 
jedenfalls  noch  nicht  ganz  geschwunden,  sondern  erst  abgeschwächt  war;  es 
ist  darum  sehr  verständlich,  wenn  sie  nur  eine  Art  Ansatz  zum  Erbrecht 
erreichten,  nämlich  noch  kein  volles,  sondern  nur  ein  eventuelles.  Den 
entfernter  verwandten  Frauen  dagegen  wurde  dann  das  Erbrecht  natur- 
gemäss später  beigelegt,  d.  h.  zu  einer  Zeit,  wo  jede  Zurücksetzung  der 
Frauen  den  Anschauungen  widersprach.  Die  Zubilligung  vollen  Erbrechts 


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83 


In  den  indischen  Sntras  lässt  sich  die  ursprüngliche  Ver- 
mögenslosigkeit' und  Erblosigkeit  der  Frau  noch  deutlich  er- 
kennen.6'*) Die  Frau  hat  zwar  schon  einiges  Vermögen,  aber 
das  ist  ihr  Sondervermögen,  das  ihr  zur  persönlichen  Nutzung 
gegeben  ist,  nämlich  Frauensehmuck,  weiter  ihr  Kaufpreis,  der 
ihr  von  ihren  Eltern  zur  Nutzung  belassen  ist,  ferner  die  Ent- 
schädigung, die  ihr  wird,  wenn  ihr  Mann  neben  ihr  noch  eine 
Frau  aus  höherer  Kaste  nimmt.  Immer  noch  ist  also  das 
Frauen  vermögen  auf  einige  Sonderlalle  beschränkt ; im  allgemeinen 
ist  die  Frau  vermögenslos,  und  vor  allen  Dingen  hat  sie  nie 
Antheil  am  Hansvermögen.  Bei  der  Grundtheilung  fällt 
ihr  kein  Theil  zu. 

Die  gleiche  Erblosigkeit  der  Frauen  findet  sich  noch  heute 
vielfach  im  Pendseliab.67)  Die  Wittwe  hat  regelmässig  nur  das 


an  sie  ist  darum  nicht  auffällig.  Jene  Zubilligung  zog  auch  nicht  etwa 
notbwemlig  eine  Aufbesserung  der  Frauenrechte  im  engeren  Kreise  uach 
sieh.  Das  beschränktere  Erbrecht  blieb  liier  vielmehr  als  historisches  Re- 
siduum stehen.  FicKer  selbst  hat  ja  dargethan,  um  wieviel  schwerer  es  ist, 
ein  einmal  eingefiibrtes  Recht  nach  der  Sitte  zu  ändern,  als  eine  bisher 
rechtlich  uoch  ungeregelte  und  nur  von  der  Sitte  beherrschte  Gestaltung 
dieser  entsprechend  zu  ordnen,  l’eherdics  aber  ist  es  auch  bei  gleichzeitiger 
Einführung  des  Erbrechts  für  alle  Weiber  keineswegs  unbegreiflich,  wenn 
trotz  sonstiger  allgemeiner  Anerkennung  jenes  Rechts  die  Stellung  gerade 
der  nächstverwandten  Weiber  beschränkt  blieb  Ja.  es  ist  nicht  einmal 
sicher,  ob  nicht  das  Weihererbrecht  sich  überhaupt  zuerst  in  der  ent- 
fernteren Verwandtschaft  entwickelt  hat.  Denn  es  darf  doch  nicht  übersehen 
werden,  dass  seine  Einführung  eine  Verkürzung  der  Rechte  der  gleich  nahen 
Männer  bedeutete.  Im  näheren  Verwandtenkreise  waren  nun  jene  Rechte 
natürlich  stärker  als  im  entfernteren.  Es  ist  deshalb  sehr  wohl  zu  ver- 
stehen, dass  umgekehrt  ihre  Zarückdrängtmg  in  entfernteren  Frenndschafts- 
graden  eher  und  vollständiger  gelang,  als  in  den  nahen.  I’nserc  Ansicht, 
dass  die  überall  wahrnehmbare,  wenigstens  theilweisc  Uenachtheilignng  der 
Kranen  ein  Ueherbleibsel  vorgängiger  weiterer  Hintenansetzung  sei,  ist 
demnach,  wie  man  auch  die.  .Sache  betrachtet,  die  wahrscheinlichere.  — 
Uebrigens  ist  Ficker  auch  hier  der  Meinung,  dass  der  Ausschluss  der 
Weiber,  wo  er  sich  findet,  auf  liegeuschaftliches  Erbrecht  zurückgeht. 
In  dem  für  uns  wichtigsten  Punkte,  nämlich  über  die  Prinzipien  des  Liegen- 
schaftserbrechts,  besteht  also  kein  Streit. 

"*)  Vgl.  Leist,  Jus  gentium  S.  49!)  ff.  Text  und  Anin.  7.  Ferner 
Jus  civile  8.  279. 

a)  Vgl.  Köhler,  Die  Gewohnheitsrechte  des  Pendschab  S.  182,  210  ff. 

6» 


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84 


Hecht  auf  nöthigen  Unterhalt  und  nicht  das  Recht,  Theilung 
zu  fordern.  Sind  Descendenten  vorhanden,  so  hat  sie  auch 
nicht  die  Verwaltung  des  Gutes;  fehlt  es  an  solchen,  so  erhält 
sie  zwar  das  Gut  in  ihre  Verwaltung,  aber  nicht  als  Eigen- 
thttmerin,  sondern  nur,  damit  sie  den  gebührenden  Unterhalt 
daraus  ziehe.  Sie  darf  deshalb  nur  beschränkt  veräussern  im 
Fall  echter  Noth ; viele  Rechte  verneinen  das  Veräusserungsrecht 
auch  ganz. 

AVas  das  Erbrecht  der  Tochter  anbelangt,  so  wird  es 
regelmässig  geleugnet,  und  dieselbe  auf  blossen  Unterhalt  bis 
zur  Verheirathung  angewiesen.  Noch  mehr  als  die  Tochter 
wird  die  Schwester  und  ihre  Descendenz  zurückgedrängt.  „Ueber- 
baupt“,  sagt  Köhler,  „haben  die  Hindurechte  eine  starke  Ab- 
neigung gegen  den  Erwerb  von  Grund  und  Boden  durch  die 
Frauen  und  gegen  den  Durchgang  des  Vermögens  durch  die 
Frauenlinie.“ 

Ganz  ungebrochen  gilt  die  Vermögens-  und  Erblosigkeit 
der  Frauen  noch  heute  in  Armenien,®)  wie  sie  schon  zu  Justinians 
Zeiten  gegolten  hat.®) 

Auch  für  das  irische  Rechtsgebiet  bestand  bis  in  die  Zeit 
Jacobs  I.  von  England  hinein  gänzliche  Vernachlässigung  der 
AVittwe  und  der  weiblichen  Descendenz  im  Erbrecht.  Erst  ein 
Urtheil  der  Kings  Bench,  des  höchsten  Gerichtshofes  für  Irland, 
bereitete  dem  auf  uralten  arischen  Anschauungen  über  das  Haus- 
eigentlaim  beruhenden  Brauche  damals  ein  gewaltsames  Ende.70) 

Ebenso  lässt  sich,  soweit  unsere  Kenntniss  der  slavischen 
Rechtsordnung  reicht,  nur  erkennen,  dass  die  Frauen  in  der 
Hausgenossenschaft  zwar  ein  Recht  auf  den  Unterhalt,  aber 
kein  Theilrecht  haben;  ein  festes  Recht  besitzen  sie  nur  an 
dem  zu  ihrem  persönlichen  Gebrauche  bestimmten  Frauenschmuck. 


*)  Vgl.  Leist.  Jus  civile  S.  407. 

*)  Justiniani  edictum  3: 

„Ktquoniain  uuper  cognovimus  barbarieam  quandam  insolentemque 
esse  apud  cos  legem  sc.  apud  Armenios)  ....  ut  nempo  mascnli  in 
parentmn  hereditatem  succedsnt,  feininae  vero  non  . . . .* 

Ferner  Nov.  21:  „corrigendum  esse  putavimus.  ne  barbarorum  more 
viri  quidem  parentibus  fratribusque  reliquisquc  cognatis  succedaut, 
feininae  vero  non  item,  neve  illao  sine  dofe  nubant.“ 

'•")  Vgl.  Moritz  Jaffc  u.  a.  O.  S.  1054. 


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85 

Es  darf  deshalb  wohl  behauptet  werden,  dass  wir  es  bei 
der  Erbunfähigkeit  der  Weiber  mit  eiuem  allgemeinen  arischen 
Rechtsbrauche  zu  thun  haben.  Es  wird  deshalb  von  vornherein 
anzunehmen  sein,  dass  dieser  auch  bei  den  Germanen  in  Hebung 
gewesen  ist;  und  wenn  wir  nun  bemerken,  dass  sich  bei  allen 
deutschen  Stämmen  eine  vollständige  oder  theilweise  Benach- 
theiliguug  der  Weiber  beim  Erbgange  findet,  so  werden  wir  dies 
als  eine  Forttragung  jenes  alten  Brauches  betrachten  müssen. 

Dass  dieser  sich  aber  nur  aus  dem  Gedanken  des  Haus- 
eigenthums  zureichend  erklären  lässt,  ist  klar.  Man  hat  zwar 
versucht,  ihm  eine  andere  Grundlage  zu  geben,  und  die  Aus- 
schliessung  der  Frauen  auf  die  hervorragende  Bedeutung  des 
Grundbesitzes  zurückzuführen.  Frommhold"1)  sagt  hierüber: 

„Wenn  der  Besitz  von  Grund  und  Boden  in  jener  Zeit 
nicht  allein  die  Bedingungen  für  die  Existenz  des  Einzelnen, 
der  Familie,  des  Geschlechts  und  schliesslich  des  ganzen  Volkes 
gewährte,  sondern  auch  in  politischer  Beziehung  Macht  und 
Ansehen  verlieh  ...  so  musste  nothwendig  das  Bestreben  der 
herrschenden  Grundeigentümer  ....  darauf  gerichtet  sein,  sich 
diese  Vortheile  auch  rechtlich  durch  Erhaltung  des  sic  gewährenden 
Faktors  zu  schützen.  Zu  diesem  Zwecke  wurde  einmal  die 
Verfügungsgewalt  über  den  Grundbesitz  eingeschränkt,  aus  diesem 
Grunde  gab  es  im  altdeutschen  Rechte  keine  Testamente  . . . . 
aus  diesem  Grunde  wurde  der  Vorzug  des  männlichen  Geschlechts 
vor  dem  weiblichen  festgesetzt.“ 

Diese  Darstellung  scheitert  schon  daran,  dass  sie  davon 
ausgeht,  es  sei  die  Unfähigkeit  des  weiblichen  Geschlechts  erst 
später  eingeführt,7'2)  während  sie  doch,  wie  eben  nachgewiesen, 
ursprünglich  ist.  Wir  haben  es  zudem  schon  früher  betont,  (§  1 a E.) 
dass  wir  eine  solche  bewusste  Aeuderung  des  anfänglichen 
Rechtszustandes  nach  Zweckmässigkeitsrücksichten,  im  Wege 
gewohnheitsmässiger  Entwicklung  wenigstens  in  alten  Zeiten 
für  unmöglich  halten.  Der  Ihering'sche  „Zweck  im  Recht“  hat 
entschieden  letzthin  eine  zu  weite  Anwendung  gefunden.  Es 
ist  doch  nicht  allein  der  Utilitätsgedanke  die  Grundlage  der 


7l)  Frommliold,  Einaelerlifolge  S 0 7. 

n)  Vgl.  die  geaperrtgcdrnekon  Worte  .wurde“. 


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86 


Rechtsbildung!  Je  entwickelter  die  Zeiten,  je  zielbewusster  die 
Menschen  werden,  desto  mehr  Macht  gewinnt  er  allerdings.  Er 
mag  auch  in  alten  Zeiten  für  Neuschaffung  einiger  Rechts- 
institute die  Grundlage  gebildet  haben.  Allein  die  Umänderung 
bestehenden  Rechtes  nach  Zweckmässigkeitsrücksichten  setzt 
eine  so  bewusste  Einwirkung  auf  die  Rechtsbildung  voraus, 
welche  frühen  Zeiten  durchaus  fremd  ist.  Man  denke,  wie  un- 
glaublich es  ist,  die  alten  Germanen  hätten,  wie  Frommbold 
anzunehmen  scheint,  aus  Berechnung  die  ursprünglich  zulässigen 
Testamente  mit  Rücksicht  auf  die  Wichtigkeit  des  Grundbesitzes 
ausgeschlossen ! 

In  einem  Punkte  jedoch  hat  Frommbold  Recht,  nämlich  darin, 
dass  er  die  beschränkte  Verfügungsgewalt  des  Hausvaters,  die  Un- 
zulässigkeit der  Testamente  und  die  Unfähigkeit  des  weiblichen 
Geschlechtes  zur  Erbfolge  als  zusammengehörig  ansieht.  Sie 
beruhen  in  der  That  alle  auf  einem  und  demselben  Rechts- 
gedanken, nur  ist  dieser  ein  anderer,  als  Frommbold  vermuthet 
nämlich  der  Gedanke  des  Hauseigenthums. 

Das  springt  auch  bei  der  Behandlung  der  Weiber  in  die 
Augen.  Denn  wenn  das  Grundeigenthum  dem  Hause  und  nicht 
dem  derzeitigen  Hausvorstande  gehört,  so  führt  der  Erbgang 
keine  Veränderung  in  dem  berechtigten  Subjekte,  sondern  nur 
in  der  Verwaltung  des  Hausvermögens  herbei.  Der  Erbgang 
beruft  nur  an  die  Stelle  des  bisherigen  Vertreters  der  Haus- 
genossenschaft einen  anderen.  Zu  solcher  Vertreterschaft  sind 
aber  Frauen,  die  ja  in  alten  Zeiten  selbst  der  Vertretung  be- 
dürfen, nicht  fähig.  Die  Verwaltung  des  freigewordenen  Haus- 
gutes muss  deshalb  allein  den  Männern  zufallen,  d.  h.  sie  allein 
rücken  in  die  Stelle  des  Vaters  ein,  der  ja  auch  nicht  mehr 
als  die  Verwaltung  gehabt  hatte;  sie  allein  sind  das.  was  man 
später  „seine  Erben“  nennt. 

Die  Frauen  waren  darum  nicht  allen  Rechtes  an  dem 
Hausgute  bar.  Sie  waren  ja  auch  Mitglieder  der  Hausgenossen- 
schaft, der  das  Gut  zustand;  folglich  „gehörte“  es  auch  ihnen. 
Aber  ihre  Unfähigkeit  zu  jeglicher  Verwaltung  und  Vertretung 
drängte  dies  „Gehören“  auf  dasjenige  zurück,  was  es  für  alle 
die  bedeutete,  welche  nicht  an  der  derzeitigen  Verwaltung  tlieil- 
nahmen,  d.  h.  auf  das  unentziehbare  Recht,  das  Vermögen  mit- 


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87 


zunutzen  und  den  Unterhalt  daraus  zu  entnehmen.73)  Als  es 
später  auf  kam,  den  ursprünglich  undotirten7*)  Frauen  eine  Aus- 
steuer zu  geben,  umfasste  das  „Gehören“  des  Hausgutes  auch 
die  Bcfugniss,  eine  Aussteuer  zu  verlangen.  Bei  der  Theilung 
des  Hausgutes  konnten  aber  Frauen  nie  einen  Theil  erhalten. 
Denn  noch  aus  der  Zeit  her,  wo  der  Grund  und  Boden  periodisch 
den  Haushaltungen  neu  zugewiesen  wurde,  galt  ja  der  Satz, 
dass  Liegenschaften  nur  im  Besitz  von  Haushaltungen  und  Haus- 
lialtungsvorständen  sich  befinden  dürfen.7’’)  Frauen  konnten  aber 
nie  Haushaltungsvorstände  sein,  konnten  deshalb  auch  nie  in 
den  Besitz  von  Naturaltheilen  der  Familienländereien  kommen. 
Nun  ist  aber  die  Idee  von  Civiltheilen  eine  sehr  späte,  künstliche 
Bildung  und  alten  Zeiten  ganz  fremd.  Wer  nicht  Naturaltheile 
erhält,  kann  deshalb  möglicherweise  andere  Rechte  am  Haus- 
gut  haben,  wie  Beisitz  oder  Recht  auf  Aussteuer,  aber  das,  was 
den  späteren  Erben  ausmacht,  das  Recht  auf  die  Substanz  des 
Hausgutes  hat  er  nicht,  als  Erbe  kann  er  nicht  angesehen 
werden.7") 

§ 8. 

So  hat  sich  zu  den  Eigentümlichkeiten  in  der  Reihenfolge 
der  Erben  die  Unfähigkeit  des  weiblichen  Geschlechts  zur  Erb- 
nahme  als  zweites  Moment  gesellt,  welches  in  seinen  Anfängen 


n)  Vgl.  Leist,  Jus  gentium  S.  48S  (namentlich  unter  c.).  Vgl.  auch 
unten  § 10.  — Auch  Huber  ist  der  Ansicht,  dass  die  Töchter  ursprünglich 
nur  ein  Recht  auf  „Mitgenuss“  hatten.  (S.  21  u.  28,  40  ff.) 

’4)  Ursprünglich  wurden  die  Frauen  geraubt  odor  gekauft.  Sie 
brachten  deshalb  nichts  in  die  Ehe.  im  Gegentheil,  es  musste  für  sie  etwas 
gezahlt  werden.  Infolgedessen  waren  die  Frauen  anfänglich  überall  undotirt, 
wie  noch  heute  in  Armenien.  Dass  sie  mit  der  Verheirathung  alles  Recht 
an  ihrem  alten  Familicugute  verloren,  ergiebt  sich  einfach  daraus,  dass  sie 
aus  der  Haushaltung  ausschieden,  während  doch  alles  Recht  am  Hausgute 
an  das  Leben  in  der  Haushaltung  geknüpft  war.  Dafür  traten  sie  in  die 
neue  Haushaltung  des  Mannes  ein,  in  welcher  sie  folgeweise  nunmehr  das- 
selbe Recht  auf  Nutzung  und  Unterhalt  besassen,  wie  sie  es  in  ihrer  alten  Familie 
gehabt  hatten.  Man  sieht,  auf  wie  alten  Grundlagen  das  deutsche  Recht 
des  .Beisitzes“,  das  Recht  der  Witwe  auf  Unterhalt,  ruht. 
n)  Vgl.  Leist,  Jus  gentium  S.  417  unter  b,  und  S.  418. 

76)  Vgl.  auch  Leist,  Jus  gentium  S.  417.  — Gleicher  Ansicht  (dass 
Töchter  höchstens  Recht  auf  Aussteuer,  aber  kein  „Theilrecht“  haben) 
Huber  a.  a.  0. 


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88 

bis  in  graues  Alterthum  zurückreicheud  auf  das  einstige  Be- 
stehen eines  Hauseigenthums  hinweist.  Noch  eine  dritte  Be- 
sonderheit des  Erbganges  Hiesst  aber  aus  der  gleichen  Quelle. 
Wir  haben  oben  schon  (§  4 bei  Anm.  34)  beim  römischen  Recht 
darauf  hingewiesen,  dass  die  Ausschliessung  des  ausgesteuerten 
Sohnes  von  der  väterlichen  Erbschaft  aus  den  Grundsätzen  des 
gewöhnlichen  Erbrechts  sich  nicht  erklären  lässt,  sondern  nur 
dann  verständlich  wird,  wenn  man  von  der  Idee  des  Familien- 
eigenthums ausgeht  und  den  Erbgang  als  eine  Consolidation  des 
Miteigenthums  betrachtet.  Das  gilt  für  das  deutsche  Recht 
um  so  mehr,  als  die  Schwierigkeiten,  welche  dort  die  römische 
Form  der  Emancipation  durch  ihre  ungeschichtliche  Betonung 
der  persönlichen  Gewaltlösung  bereitete,  bei  den  Germanen  nicht 
vorhanden  sind,  da  bei  ihnen  stets  der  dingliche  Austritt  aus 
dem  Hausvermögen  bei  der  Abschichtung  als  die  Hauptsache 
erscheint.  Dass  aber  die  Deutschen  jene  aus  einstigem  Haus- 
eigenthum fiiessende  Ausschliessung  des  Abgeschichteten  vom 
väterlichen  Erbe  noch  in  späteren  Zeiten  durchgeführt  haben, 
wird  weiter  unten  eingehend  dargelegt  werden. 

Zum  Schluss  sei  noch  eins  nachgeholt.  Zum  Beweise  für 
das  behauptete  Hauseigenthum  ist  bereits  auf  die  beschränkte 
Verfügungsgewalt  des  Hausvaters  hingewiesen,  es  ist  aber  immer 
nur  die  Beschränkung  durch  das  Beispruchsrecht  der  Magen 
hervorgehoben  worden.  Noch  viel  mehr  lässt  aber  auf  eine 
lediglich  verwaltende  Stellung  des  Familienvaters  der  Umstand 
schlicssen,  wenn  ihm  eine  Verfügungsbefugniss  nur  zusteht, 
so  lange  er  rüstig  ist.  Nun  finden  sich  in  der  That  in  allen 
deutschen  Rechten  dahin  zielende  Bestimmungen,  ln  den  Rechts- 
büchern wird  die  Rüstigkeit  so  lange  angenommen,  als  der  Haus- 
vater noch  gewaffnet  ein  Pferd  besteigen  kann.  Die  Weisthümer 
drücken  den  gleichen  Gedanken  dadurch  aus.  dass  sie  verlangen, 
der  Vergällende  müsse  sich  noch  selbst  anziehen  und  fünf  Schritt 
vor  die  Hausthür  gehen  können.  Alle  diese  Rechtsordnungen 
gehen  deshalb  davon  aus,  dass  der  Vater  als  echter  Verwalter 
des  llausgtites  nur  Macht  hat,  so  lange  er  tüchtig  ist. 

§ 

Wir  glauben  nunmehr  alles  zusammengetragen  zu  haben, 
was  sich  für  die  einstige  Geltung  des  Hauseigenthums  im  deutschen 


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tf‘1 

Recht  sagen  lässt.  Ein  mathematischer  Beweis  lässt  sich  dafür 
ja  nicht  erbringen,  wie  bei  allen  geschichtlichen  und  vorzugs- 
weise rechtsgeschichtlichen  Fragen.  Allein  wenn  man  noch  einmal 
den  zuriickgelegten  Weg  überschaut,  wenn  man  die  zahlreichen 
Spuren  gewahrt,  welche  auf  Gesammteigenthum  im  deutschen 
Rechte  weisen,  wenn  man  vor  allem  bedenkt,  wie  viele  alte 
Streitfragen  auf  einmal  in  ein  neues  Licht  gerückt  werden,  in- 
dem die  verschiedenartigsten  und  scheinbar  mit  einander  un- 
verträglichsten Rechtsbildungen  sich  bei  Annahme  eines  Haus- 
eigenthnms  leicht  und  einfach  erklären  und  sich  sogar  als 
Glieder  eines  und  desselben,  wunderbar  in  einander  fugenden 
Baues  erweisen,  wenn  man  endlich  seinen  Blick  über  die  deutschen 
Verhältnisse  hinauslenkt  und  erkennt,  dass  alle  anderen  arischen 
Stämme  die  Idee  des  Hauseigenthums  entweder  heute  noch  fest- 
halten  oder  früher  gehabt  haben  müssen,  so  wird  man  sagen 
dürfen : der  Nachweis  für  ein  Eigenthum  des  Hauses  mit  lediglich 
verwaltender  Stellung  des  derzeitigen  Familienhaupts  ist  soweit 
geführt,  als  er  sich  überhaupt  führen  lässt. 

Es  wird  deshalb  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  es  nie,  seit 
man  sich  mit  der  Durchdenkung  des  deutschen  Rechtes  zu  be- 
schäftigen anfing,  an  Leuten  gefehlt  hat,  welche  das  Prinzip 
des  Hauseigenthums  in  ihm  zu  finden  glaubten. 

Dass  zwischen  Brüdern  das  Verhältnis  am  Familiengute 
als  gesamte  Hand  aufgefasst  wurde,  gleichviel  wer  zeitig  die 
Vertretung  nach  aussen  hatte,  ist  von  dem  Institute  der  Lehns- 
trägerschaften  her  bekannt.  In  diesem  Falle  lag  der  Gedanke 
des  Familieneigenthums  so  auf  der  Hand,  dass  selbst  römisch 
geschulte,  jenem  Gedanken  an  sich  sehr  abholde  Juristen  wie 
Carpzov  sich  ihm  nicht  verschliessen  können.77) 


77 ) Carpzov,  Juriaprudentia  foretisis  Pars  II  const.  :!«  def.  5 : 

„Plane  de  conauctudine  (iermnniae  liodie  introductum  est.  quod 
Nobiles  et  Domini  omnes  beredes  Emphyteutae  praoraortui  ad  investituram 
accipiendam  non  adinittant,  nisi  C'uratorem  (einen  Lehenträger)  constituorint, 
vel  ununi  ex  se  elegerint,  qui  reliquorum  coheredtim  nomine 
investiturafn  accipiat“. 

Noch  deutlicher  ist  folgende  Stelle,  welche  gerade  im  Anschluss  au 
hauerrechtliche  Verhältnisse  den  Hedankeu  des  Familieneigenthums  ziemlich 
allgemein  ausspriebt: 


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90 


Aber  auch  das  Verhältniss  zwischen  Vater  und  Kindern  ist 
oft  für  Gesammt-  oder  Miteigenthum  erklärt  worden. 

An  der  Spitze  steht  hier  der  berühmte  Jurist  Matthaeus 
v.  Normann,  bekannt  durch  seine  ausgezeichnete  Darstellung 
des  alten  Rügenschen  Landgebrauchs.  Er  hatte  allerdings  die 
noch  sehr  altert hümlichen  Verhältnisse  Rügens  vor  Augen,  welche 
schon  durch  das.  bei  Ausradung  der  Kinder  zu  zahlende,  „Tbeil- 
geld“  deutlich  darauf  hinwiesen,  dass  den  Kindern  vor  der  Aus- 
radung ein  Antheil  am  Hausgute  zustand.  Normann  spricht  es 
deshalb  bei  Gelegenheit  des  „Inkamelgeldes“  deutlich  aus,  dass 
dieses  zu  zahlen  sei,  bei  allen  Erbfällen  ausserhalb  „der  in 
Gütergemeinschaft  lebenden  Familienmitglieder“."*) 

An  Normann  schliesst  sich  der  grosse  holländische  Staats- 
und Völkerrecht. sichrer  Cornelius  de  Bynkershoeck  an.  Auch 
er  nimmt,  wenn  auch  etwas  zurückhaltend,  Miteigenthum  zwischen 
Vater  und  Kind  an,  wenn  er  sagt. 

„Etenim“  (sc.  nach  deutschem  Recht)  „liberi,  putantur  fuisse 
aovos9ir<S?ctt  et  iure  suo  succedere  ex  proximo,  quod  habebant. 
domin  io  et  possessione  nunc  plane  nacti“. 

Wohl  angeregt  durch  seine  Autorität  führte  hieraul  ein 
anderer  holländischer  Jurist  Matthias  v.  Wicht  in  einer  1724 
in  Groeningen  erschienenen  Abhandlung  aus,  dass  die  „sanguine 
proximi“  dadurch  „compossessores  et  ex  possessione  condoroini 
fortnnarum“  wären,  „ita  ut  non  ex  voluntate  parentum,  setl 
proprio  vel  adcrescendi  vel  occupationis  inre  succederent 
sieque  dominium  oportuna  occupatione  consolidatum  cum 
possessione  consolidarent“. 

• Diese  immer  noch  etwas  verclausulirt7'')  ausgesprochene 
Ansicht  hatte  in  Deutschland  viele  rückhaltlose  Auhänger.  Und 
zwar  waren  es,  bezeichnend  genug,  vornehmlich  die  Schüler  de*- 


Carpzov,  Kespousa  iuris  Lib.  I.  Tit.  9 resp.  9S8:  „Dcfuncto  parente 
Emphytcutä,  liberi  snccedentes  hnud  solrunt  laudemium,  non  solum  quia  in 

priori  parentis  investitura  sunt  comprehenai sed  et  quia  vivo 

adhuc  patente  Domini  bonorum  patcruorum  quasi  liabentur. 
inque  iis,  defuncto  postea  pareute,  dominium  continuatur*. 
w)  Vgl.  Gaede  S.  36. 

■*)  Die  Verclausuliruug  ist  bei  Holländern  nicht  wunderbar,  da  diese 
in  jem  n Tagen  noch  eine  Nncliblütbe  der  sogenannten  „eleganten  Jurisprudenz* 


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91 


jenigen  Mannes,  der  zuerst  eine  moderne,  quelleumässige  Be- 
handlung des  deutschen  Rechts  und  seiner  Geschichte  anbahnte, 
die  Schüler  Hermann  Conrings.  Einer  derselben,  der  Braun- 
schweiger August  Nolten  — an  der  Braunschweigischen  Uni- 
versität Helmstedt  hatte  ja  Conriug  gewirkt  — trat  in  seiner 
oft  citierten  Abhandlung  „de  Juribus  et  consuetudinibus  circa 
villicos“  besonders  lebhaft  für  das  germanische  Hauseigen- 
thuni  ein. 

Seitdem  hat  der  Gedanke  immer  mehr  Boden  gewonnen; 
bei  den  Naturrechtslehrern  war  er  feststehend;  sie  leiteten  aus 
ihm  das  Notherbrecht  ab.  Und  auch  heute  neigt  sie  die  Mehr- 
zahl der  Germanisten  dein  Hauseigenthum  zn.8") 

Wer  kann  sagen,  ob  nicht  diese  Uebereinstimuiung  der 
Ansichten  hervortritt,  weil  noch  heute  der  Gedanke  des  Familien- 
eigenthums unausrottbar  in  der  Seele  des  deutschen  Volkes 
fortlebt,  und  sich  so  seinen  Denkern  gleichsam  von  selbst  dar- 
bietet? Denn  auf  solches  Fortleben  deuten  noch  andere  Er- 
scheinungen hin.  Wir  haben  bei  den  Griechen  auf  die  ungebrochene 
Kraft  der  Idee  vom  Hauseigenthum  daraus  geschlossen,  dass 
es  den  hellenischen  Philosophen  als  ein  erstrebenswerthes  Ziel 
vorschwebte.  In  gleicher  Weise  hat  es  auch  bei  den  Deutschen 
nicht  an  Lehrern  der  Weltweisheit  gefehlt,  die  als  ein  Ideal 
der  Vermögensordnung  das  Familieneigenthum  hingestellt  haben. 
So  wie  einst  Aristoteles,  so  hat  in  unseren  Tagen  Hegel  es 


im  Stile  des  Cuiacius  und  Donellus  hatten.  Es  legt  vielmehr  für  die  Offen- 
sichtlichkeit des  Oedankens  vom  Hauseigenthum  ein  hervorragendes  Zeugnis 
ah,  dass  trotz  der  Befangenheit,  im  Pandektensyatem  gerade  die  Holländer 
auf  jenen  Gedanken  kamen. 

n)  Es  seien  hier  Namen  wie  v.  Amira,  Gierke  (anfangs  schwankend, 
jetzt  unbedingt  z.  B.  in  seinem  Aufsatz  Uber  „die  Stellung  des  künftigen 
bürgerlichen  Gesetzbuches  zum  Erbrecht  im  ländlichen  Grundbesitz* 
S.  27/28),  Heusler,  Huber,  Hübner  herausgegriffen.  — Von  Nichtgermanisten, 
die  aber  das  Uauseigcntum  für  eine  anfängliche  Institution  wenigstens  bei 
allen  arischen  Völkern  halten,  seien  genannt  freist  und  Köhler.  Noch  weiter 
geht  Brentano,  welcher  das  Hauseigenthum  als  eine  ursprüngliche  Einrichtung 
aller  Völker  ansieht  (Zukunft  S.  492  Nr.  50).  Da3s  das  Vermögen  an  sich 
der  Familie  .gehöre“,  nehmen  auch  noch  viele  andere  Schriftsteller  au, 
nur  wehren  sie  sich  gegen  den  Ausdruck  Gesammteigenthum,  z.  B.  Fürster- 
Eccius  Bd.  IV,  S.  27t>.  Vgl.  auch  die  dort  in  Anm.  27  und  28  Citirten. 


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92 


ausgesprochen,  dass  das  Vermögen  der  Familie  gehöre  und  ge- 
hören müsse,  dass  der  Erbgang  nichts  anderes  sein  dürfe,  als 
„das  Eintreten  in  den  eigenthümlichen  Besitz  des  an  sich  ge- 
meinsamen Familienvermögens“.81) 

Doch  noch  ein  anderes  merkwürdiges  Zeugnis  giebt  es  für 
das  verborgene  Fortleben  des  deutschen  Gedankens  vom  Familien- 
gesammteigenthum.  Es  ist  die  Art,  wie  die  Redactoren  des 
preussischen  Landrechts  das  Rechtsverhältnis  der  Miterben  ge- 
regelt haben. 

Sie  führen  für  ihre  Regelung  zwar  nur  Vernunftgründe  an. 
Ein  anderes  sei  „gegen  die  ersten  Grundsätze  des  Rechts  und 
selbst  gegen  die  natürliche  Billigkeit“  gewesen.8*)  Allein  hier 
wie  so  oft  waren  die  Redactoren  des  Landrechts  gleich  den 
Naturrechtslehrern,  denen  sie  folgten,  sich  selbst  nicht  bewusst, 
dass  die  von  ihnen  vorgeschlagenen  Rechtssätze  ihnen  nur  deshalb 
natürlich  und  billig  erschienen,  weil  sie  ihren  ererbten,  deutschen 
Anschauungen  entsprachen.  Männern  fremden  Stammes  mit 
anderem  Rechtsgefühl  wären  jene  Sätze  durchaus  nicht  selbst- 
verständlich gewesen.  Dass  das  Verhältnis  der  Miterben  aber 
nach  A.  L.  R.  wirklich  das  alte  deutsche  Gesammteigenthum  der 
erbenden  Hausgenossen  ist,  ergiebt  deutlich  der  Plenarbeschluss 
des  Obertribunals  von  1857.  Er  sagt:  „Jedem  Einzelnen  von 
mehreren  Miterben  steht  während  der  Fortdauer  ihrer  Gemein- 
schaft ein  bestimmter  verhältnismässiger  Antheil  an  jedem 
einzelnen  Nachlassstücke  als  sein  besonderes  Eigenthum  nicht 
zu.  Erst  durch  die  Erbtheilung  kann  unter  mehreren  Mit- 
erben der  Einzelne  ein  freies  Dispositionsrecht  über  einzelne 
Nachlassgegenstände  oder  Tlieile  derselben  erlangen;  während 
der  bestehenden  Gemeinschaft  aber  steht,  bezüglich  auf  einzelne 
Erbschaftsstücke  überhaupt  und  die  Nachlassgrundstücke  ins- 
besondere, ihm  daran  noch  kein  nach  Verhältnis  seiner 
Erbquote  bestimmter  Antheil  als  sein  besonderes  Eigeuthum 
zu.“  Genau  das  deutschrechtliche  Gesammteigenthum,  dessen 
wesentliche  Eigenthümlichkeit  es  ist,  dass  vor  der  Theilung 
festgeschiedene  Quoten  fehlen ! 


el)  Vgl.  Brune,  Testierfreihiit  und  Pfliclittlieil. 
®)  Vgl.  Körsrer-Eccius  Bd.  IV,  S.  559  uud  560. 


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93 

Diese  Auslegung  der  landrechtlichen  Sätze  über  das  Rechts-' 
Verhältnis  der  Miterben  war  bestritten,  und  in  der  That  zwingt 
der  Wortlaut  des  Landrechts  keineswegs  zu  jener  Deutung. 
Dennoch  wurde  sie  von  der  Gesammtheit  der  höchsten  Richter 
im  preussischen  Staate  beliebt.  Sie  wurde  gewählt,  weil  jene 
Richter  fühlten,  nur  so  und  nicht  anders  könne  es  Recht  sein, 
weil  der  Geist  des  deutschen  Rechtes  über  jener  Versammlung 
deutscher  Männer  waltete  und  sie  zwang,  dasjenige  zu  wählen, 
was  der  altüberlieferten,  germanischen  Rechtsanschauung 
entsprach. 

Diese  Erkenntnis,  dass  noch  heute  in  der  Seele  des  Volkes 
und  in  seinen  hervorragendsten  Köpfen  die  Erinnerung  daran 
nicht  erloschen  ist,  das  Vermögen  gehöre  dem  Vater  nicht  zu 
seiner  egoistischen  Verfügung,  sondern  zum  Nutzen  und  zum 
Unterhalt  des  von  ihm  geleiteten  Hausstandes,  — diese  Er- 
kenntnis enthält  eine  ernste  Mahnung  an  unsere  Gesetzgeber. 
Denn  jede  Regelung  des  Erbrechts,  welche  auf  diese  Thatsache 
keine  Rücksicht  nimmt,  wird  sich  als  eine  verfehlte  heraus- 
steilen, weil  sie  mit  der  Rechtsüberzeugung  des  Volkes  in 
Widerspruch  steht.  Es  ist  ja  heute  üblich,  und  die  Art  der 
heutigen  Rechtsbildung  durch  Gesetze,  die  in  den  Parlamenten 
berathen  werden,  bringt  es  gewissermassen  von  selbst  mit  sich, 
dass  neue  Satzungen  vornehmlich  auf  ihre  Zweckmässigkeit  hin 
geprüft  werden.  Allein  das  Schicksal  vieler  Gesetzentwürfe 
in  den  letzten  Jahren  hat  gezeigt,  dass  das  einseitig  ist.  Man 
hat  Gesetze  gemacht,  die,  soweit  menschlicher  Scharfsinn  reichte, 
zweckmässig  waren,  und  sich  wer  weiss  welche  Wunder  von 
ihrer  Einführung  versprochen.  Das  Volk  aber  ist  seitab  geblieben 
und  hat  sich  der  unverstandenen  Satzung  nicht  bedient*) 


ü)  Ich  erinnnerc  an  das  traurige  Schicksal  der  letzten  Höfegesetzo 
welche  zwar  einen  alten  deutschen  Rechtsgedanken  verwirklichten,  aber  in 
einer  gänzlich  ungeschichtlichen,  künstlich  ausgeklügelten,  wenn  auch  au 
sich  vielleicht  nicht  nuzweckmässigen  Form.  Ich  verweise  auf  die  Frucht- 
losigkeit des  bayrischen  Erbgütergesetzes  von  1K55,  welches  die  Dispositions- 
freiheit des  Besitzers  in  einer  mit  damaligen  Kechtsanschauungen  unver- 
einbaren Weise  beschränkte  und  ebenfalls  au  dem  ungeschichtlichen  Ein- 
tragungssystem krankte.  Ich  gebe  zu  bedenken,  wie  cs  manchen  wohl- 
gemeinten, älteren  Gesetzgebungsversuchen  in  Westfalen  ergangen  ist 


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94 


Was  aus  der  Rechtsüberzeugung  des  Volkes  liervor- 
wächst,  das  ist  sein  Recht,  mag  diese  Ueberzengung  nun 
durch  die  Uebung  oder  durch  den  Spruch  der  Gesetzgebungsmacht 
zu  Tage  gefordert  werden.  In  erster  Linie  muss  sich  deshalb  der 
Gesetzgeber  fragen:  „Was  verlangt  die  gemeine  Rechtsüberzeugung 
in  diesem  Falle?“  In  zweiter  Reihe  mag  er  für  die  Ausgestaltung 
von  Einzelheiten  und  die  Füllung  der  Lücken  Zweckmässigkeits- 
rücksichten walten  lassen.  So  lange  das  unsere  Gesetzgeber 
nicht  beherzigen,  werden  sie  Lehrgeld  zahlen  müssen.  Es  ist 
ja  auch  manchmal  nicht  leicht  für  sie,  die  Rechtsüberzeugung 
zu  ermitteln;  aus  den  Spalten  der  Tagesblätter  hallt  sie  gewiss 
nicht  rein  wieder,  und  im  Uebrigen  fehlt  die  lebendige  Ver- 
bindung mit  dem  Denken  des  Volkes;  es  bedarf  eingehender 
Studien  über  die  geschichtliche  Wandlung  der  Anschauungen 
und  die  heutige  Rechtsübung.  Das  alles  aber  kann  an  der 
Richtigkeit  des  Satzes  nichts  ändern,  dass  ein  Rechtsgebot  ohne 
Rückhalt  in  der  gemeinen  Rechtsüberzeugung  wie  ein  Baum 
ohne  Nährboden  in  kurzer  Zeit  verdorrt  und  verschwindet.  Die 
vielbewunderte  und  unerreichte  Grösse  der  römischen  Rechts- 
bildung beruht  gerade  darauf,  dass  sie  von  dieser  Erkenntniss 
ausging  und  in  dem  Institute  des  prätorischen  Edikts  ein  Mittel 
fand,  das  Recht  in  steter  Uebercinstimmung  mit  den  zeitigen 


(vgl.  H.  Meyer,  die  Landgiiterorduung  für  Westfalen.  Einleitung.)  Die 
ganze  ablehnende  Aufnahme  der  modernen  römisch  rechtlichen  Erhordnuugen 
auf  dem  Lande  ist  endlich  ein  sprechender  Beweis  für  unsere  Behauptung. 
Auch  aus  früherer  Zeit  mangelt  es  nicht  an  Zeugnisseu.  Kaiser  Joseph  11.. 
überhaupt  ein  warnendes  Beispiel  gegen  Gesetzgebung  lediglich  nach  Ver- 
nunftgründen,  versuchte  die  alte  Gewohnheit  bei  den  Bauern  aufzuheben, 
nach  welcher  der  zweite  Mann  der  überlebenden  Witwe  alsWirth  auf  den  Hof  zog 
und  schliesslich  das  Gut  dem  jüngsten  Sohne  iiberliess.  Das  erschien  dem 
Kaiser  unvernünftig  und  ungerecht.  Allein  sein  Abänderungsdekret  war 

unvernünftig  und  ungerecht,  weil  es  mit  einer  lebendigen  Recbtsiiberzeugung 
in  Widerspruch  trat.  Es  wurde  deshalb  nach  kurzer  Zeit  wegen  .viel- 
fältiger und  dringender  Beschwerden“  aufgehoben  (vgl  Marchet  S.  1314/1315). 
Auch  im  römischen  Hechte  war  es  nicht  anders.  Die  Ehegesetze  des 
Augustus  waren  an  sich  sehr  angemessen  nnd  zweckmässig,  strebten  auch 
ihr  Ziel  in  keiner  unpraktischen  Weise  an  ; aber  sie  waren  stets  unpopulär, 
weil  sie  der  Rechtsüberzeugung  des  Volkes,  das  einen  Zwang  zur  Ehe  nicht 
wollte,  widersprachen.  Nennenswerte  Wirkungen  haben  sie  deshalb  nicht 
gehabt  und  mussten  schliesslich  aufgehoben  werden. 


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95 


Anschauungen  fortzuentwickeln.  Denn  wenn  ein  Prätor  einen 
Rechtssatz  angenommen  hatte,  der  sich  als  unhaltbar  erwies, 
so  konnte  sofort  Abhilfe  geschaffen  werden,  indem  der  nächst- 
jährige Prfttor  ihn  einfach  aus  dem  Edikte  fortliess. 

Ausgehend  von  diesen  Wahrheiten  werden  wir  die  hohe 
legislatorische  Wichtigkeit  des  Hauseigenthums  auch  für  unsere 
Zeiten  verstehen.  Denn  wenn  auch  das  Hauseigenthum  als 
Gesammthand  der  Familienmitglieder  im  Gesetze  nicht  mehr  gilt 
und  auch  wohl  nie  mehr  gelten  wird,  so  beherrscht  es  doch 
immer  noch  das  Denken  des  Volkes,  und  dies  würde  zum 
Beispiel  es  unverständlich  finden,  wenn  dem  Vater  gestattet 
wäre,  sein  Vermögen  seiner  Familie  grundlos  ganz  zu  entziehen. 
Das  Hauseigenthum  lebt  deshalb  zwar  nicht  als  Rechtssatz, 
wohl  aber  als  Rechtsprinzip  fort,  mit  seiner  gesetzlichen 
Geltung,  verschwinden  deshalb  nicht  die  einzelnen  ihm  ent- 
fliessenden  Consequenzen  aus  dem  Rechte.  Wir  sind  auch  nicht 
so  blind  zu  verkennen,  dass  durch  die  Zeitläufte  auch  manche 
Milderung  in  jenem  Prinzipe  eingetreten  ist.  Namentlich  das 
vom  Hausvater  selbst  erarbeitete  Vermögen  gilt  mehr  als  sein 
egoistisches  Privateigenthum,  denn  als  dem  Hause  gehörig.  Eine 
freiere  Verfügung  ist  hierüber  gerechtfertigt.  Das  hat  auch 
schon  das  alte  deutsche  Recht  mit  feinem  Takte  herausgefühlt, 
indem  es  zwischen  erarbeitetem  und  solchem  Gute  schied,  „über 
welches  der  Erbfall  gegangen.“  Dass  aber  das  letztere,  das 
ererbte  Gut  dem  Vater  nur  zum  Wohle  seiner  Familie  gehört, 
ist  auch  heute  noch  stehende  Anschauung,  und  sie  ist  namentlich 
für  den  Besitz  an  Grund  und  Boden  wichtig,  da  es  sich  hier 
im  weitesten  Umfange  um  altererbtes,  wirkliches  Familiengut 
handelt.  Das  mächtige  Prinzip  des  Hauseigeuthums  wird  des- 
halb der  Ordner  der  bäuerlichen  Verhältnisse  am  wenigsten 
aus  den  Augen  lassen  dürfen. 


§ io. 

Wir  haben  weit  ausholen  müssen,  damit  wir  der  Lösung 
unserer  Aufgabe,  die  Eigenheiten  der  deutschen  „Abfindung“ 
und  des  Anerbenrechts  zu  erklären,  näher  kamen.  Dafür  haben 
wir  aber  eine  feste  Grundlage  gewonnen  in  dem  Begriffe  des 


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Hauseigenthums.  Keiner  der  wie  wir  die  Einzelrechte M)  der 
Familienmitglieder  darstellen  will,  darf,  wenn  er  nicht  von 
falschen  Voraussetzungen  ausgehen  soll,  jemals  ausser  Acht 
lassen,  dass  nach  deutscher  Anschauung  das  Vermögen  im  Ge- 
sammteigenthum  der  Hausgenossenschaft,  der  „AVere“  steht.  Und 
zwar  muss  man  diese  Rechtsanschauung  sowohl  heranziehen, 
wenn  man  auf  die  Rechte  bei  Lebzeiten  des  Vaters  sein  Augen- 
merk richtet,  wie  wenn  man  sich  mit  dem  Verhältniss  zwischen 
Brüdern  beschäftigt,  welche  nach  einem  zur  Zeit  der  AVeis- 
thümer  überaus  gewöhnlichem  Brauche*’)  in  ungetheilten  Gütern, 
d.  h.  in  der  Were  sitzen  bleiben.  Allerdings  hat  Gierke*’) 
mit  Recht  darauf  hingewiesen,  dass  zwischen  der  AVere,  in 
welcher  die  Brüder  untereinander  sitzen,  und  derjenigen  unter 
Eltern  und  Kindern  ein  grosser  Unterschied  ist.  Allein  das  ist 
lediglicli  ein  Unterschied  in  der  Verwaltung,  nicht  im  Begriffe: 
denn  beidemal  ist  der  Gedanke  derselbe,  dass  das  Hausvermögen 
der  Gesammtheit  gehört,  nicht  aber  dem  Einzelnen,  auch  nicht 
demjenigen,  der  zeitweilig  die  „gewaltige  Hand“  darüber  hat. 
Die  juristische  Construktion  des  Familien-Gesammteigenthums  ist 
nämlich  auch  für  das  Haus  unter  Leitung  des  Vaters  durchaus 
möglich.  Denn  eine  Organisation  der  Verwaltung  widerspricht 
selbst  dann  dem  AVesen  des  deutschen  Gesammteigenthums  nicht, 
wenn  durch  sie  in  die  Hand  des  Verwaltenden  die  uneinge- 
schränkte A'ertretung  der  übrigen  Gesammthänder  gelegt  wird.*) 


M)  Es  mag  Wunder  nehmen,  dass  liier  von  Rechten  Einzelner  gesprochen 
wird,  wo  wir  doch  so  entschieden  für  das  Bestehen  nur  eines  Gesummt  rechts 
am  Familienvermögen  eingetreten  sind.  Indessen  das  Dasein  von  Einzel- 
rechten  widerspricht  dem  germanischen  Gesammteigenthum  nicht;  ja  es  macht 
gerade  seine  Eigentümlichkeit  ans,  dass  das  Gesumm trecht  zugleich  ein 
Recht  aller  Einzelnen  ist. 

Er  begegnet  in  den  Weisthiunern  auf  Schritt  und  Tritt.  Es  ist 
nicht  zuviel  gesagt,  dass  die  ungeteilte  Gemeinschaft  unter  Brüdern  das  in 
den  Weisthümern  am  häufigsten  erwähnte  Institut  ist.  — Auch  noch  heute 
ist  diese  sogenannte  Kommunhausung  nicht  verschwunden.  In  Bayern  zum 
Beispiel  findet  sie  sich  noch  vielfach,  sowohl  in  Ober-  und  Niederbayern, 
wie  vor  allem  in  Schwaben.  Vgl.  Fick  S.  5«  50,  04/65,  80,  05.  103,  106, 
113  u.  s.  w. 

Mj  In  dem  Artikel  „Erbrecht  und  Vicinenrecht  im  Edikt  Chilpericbs*. 

So  ist  es  z.  B.  bei  der  westfälischen  Gütergemeinschaft  und  bei 
der  heutigen  offenen  Handelsgesellschaft. 


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‘*7 

Der  Vater  hat  aber  nicht  einmal  die  uneingeschränkte  Ver- 
tretung; er  ist  vielmehr,  wie  oben  ausgefiihrt,  mannigfach  be- 
schränkt. Es  steht  sonach  selbst  von  seiten  der  hergebrachten 
Theorie  nichts  im  Wege,*1)  auch  ihn  als  Vertreter  der  als  Ge- 
sammthand  gedachten  „Were“  hinzustellen.  Treten  wir  deshalb 
ruhig  mit  dem  Prinzipe  des  Hauseigenthums  an  die  Erklärung 
der  Abfindung  heran. 

Dieselbe  stellte  sich  sehr  einfach,  wenn  Abfinden  mit 
Grundtheilen  identisch  wäre.  Dann  wäre  die  Abfindung  nichts 
als  die  bei  Sprengung  der  Familiengesammthand  auf  jedes  Mit- 
glied entfallende  Quote  des  Familienvermögens.  Allein  Abfinden 
ist  nicht  Grundtheilen.  Denn  bei  der  Gruudtheilung  müssen 
sämmtliche Gesaminthänder  von  einander  scheiden:  das  Wesen  der 
Abfindung  besteht  aber  gerade  darin,  dass  nur  der  Abfindling 
die  Gesammthand  verlässt,  im  Uebrigen  aber  keine  Sprengung 
derselben  eintritt,  vielmehr  alle  anderen  „in  Theil  und  gemein“ 
verbleiben.  Die  Weisthümer  scheiden  deshalb  sehr  scharf 
zwischen  „Theilen“  und  „Abfinden“,  schon  in  der  Ausdrucks- 
weise,“9) aber  auch  sachlich.  Beim  Theilen  werden  nämlich 
nach  der  Kopfzahl  der  Theilenden  Naturaltheile  gemacht,  und 
dem  Gutsherrn  gebührt  ein  „Theuersthaupt“.9")  Beim  Ab- 


’*)  Wenn  aber  auch  etwas  im  Wege  stünde,  so  könnnte  das  nichts 
andern  an  der  oben  festgestelltcn.  nackten  Thatsuc.be,  dass  auch  das  Ver- 
hältnis» zwischen  Vater  und  Kindern  von  den  (Quellen  als  Gesammthand 
auf«  «fasst  ist.  Die  Theorie  musst«  dann  einfach  selber  nach  den  That 
suchen  umgeändert  werdeu. 

*)  Grimm  11,  650  § s 

„Wann  ein  vatter  und  mutter  ein  erffgut  kauften  . . im  fall 
nicht,  sollen  die  anderen  kinder  samende  hand  theilen  oder  das  ein  die 
andere  aberiebten  mit  gereiten  gutem“. 

’")  Grimm  III,  577  (Urspringen  a.  Rhön).  „Zum  ein  und  zwanzigsten 
so  es  sich  nun  begebe,  das  die  giiter  kinder  halben  gcteilet  würden  im 
feld  und  in  dort,  es  werc  acker  oder  wiesen,  haus  oder  hof.  an  zweiteil, 
an  vierteil,  an  sechsteil,  an  achtteil  etc.  ....  so  soll  jeder  mann 
ein  teuerst  haulit  geben-. 

o.  Dnltzlg,  Unaftdrrbrcciit  7 


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schichten  wird  für  die  Ansscheidenden  eine  Summe  nach  billigem 
Ermessen  bestimmt91)  und  es  entfällt  kein  Theuersthaupt.92) 

Das  Recht  der  Abfindung  ist  vielmehr  selbständig  neben 
dem  Theilrecht  aus  dem  Hauseigenthum  entstanden. 

Es  ist  schon  oben  bei  der  Besprechung  über  die  erbrecht- 
liche Stellung  der  Frauen  darauf  hingewiesen,  dass  die  nicht 
verwaltenden  Hausgenossen  ein  Recht  auf  Nutzung  des  Haus- 
gutes haben.  Dass  es  sich  wirklich  um  ein  Recht  handelt,  lässt 
sich  bei  den  Jndern,  welche  auch  hier  die  alten  arischen  An- 
schauungen treu  bewahrt  haben,  deutlich  erkennen.  Wittwen, 
Töchter,  Wahnsinnige  und  Eunuchen  müssen  aus  dem  Haus- 
vermögen ernährt  werden,  obwohl  sie  einen  Naturaltheil  desselben 
nicht  fordern  dürfen.  (Vgl.  Leist  Jus  gentium  S.  418.)  Es  folgt 
aber  auch  für  das  deutsche  Recht  aus  verschiedenen  Stellen  der 
Weisthümer,  vor  allen  daraus,  dass  diese  den  Kindern  einen 
uuentziehbaren  Anspruch  darauf  geben,  im  Hause  wenigstens 
bis  zur  Grossjährigkeit,93)  bisweilen  auch  länger94)  unterhalten 


M)  Vgl.  die  § 3 a.  E.  citirten  Weisthümer  und  die  dortigen  Toxl- 
ausfnhrungen.  Vgl.  auch  noch  das  Recht  von  Payerne  (bei  Huber  S.  42), 
welches  über  die  gleichartige  TBchterabtindung  sagt: 

„ . . . ipsi  fratres  unus  vel  plures  parati  fuerint  dotern  sufficientem 
aecundum  facultatem  dicti  patris  et  secundum  qualitatem  peraonarum  ad 
arbitrium  quatuor  propiuquorum  et  parentum  suoruin  dare*. 

w)  „Item  begebe  cs  sich  nun,  das  ein  man  seinen  kindern  gebe  des 
fuldischen  gutes,  es  were  viel  oder  wenig,  so  soll  man  es  ihnen  leihen 
ohne  silber  und  ohne  gold  (III  677  Urspringen  a.  Rhön“). 

®>)  Grimm  V,  201  § 16  (Wattwyl,:  [St. Gallen])  „Item  wo  auch  eelichi 
geschwiistergit  bi  ainander  unvertailt  sind  und  weder  Vater  noch  muoter 
haben,  und  under  denselben  geschwüstergiten  noch  unerzogene  kind 
wärent,  und  dann  die  erzogene  kind  von  den  unerzogenen  kinden  wöltint 
tailen,  danne  so  sülliut  si  den  unerzogenen  kinden  so  vil  vorusz- 
geben  und  lassen,  das  sie  ouch  erzogen  mügent  werden,  oder  aber 
bi  ainander,  pliben  untz  das  sie  eli  zuo  iren  tagen  komeut  un- 
gevarlich". 

*•)  Grimm  I,  99  § 16  (Ossingeu  im  Züricher  Land): 

„Item  so  ein  vatter  und  muter  sön  und  töchtern  hinder  inen  verliesse, 
so  ist  unser  brach,  das  man  den  sönen  einen  vorteil  nach  gciegenheit  des 
guott  giebt  an  hüsern  oder  gütern,  uund  so  die  dBchtern,  es  weren  vil 
oder  wenig,  sych  nüt  verheuratet,  sollend  dü  sön  der  muoter  und 
tochteren  kalt  und  warm  zu  geben  schuldig  sin“  (andere  Lesart: 
„herberig  und  platz  im  hus  zu  geben  schuldig  sin*). 


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<19 


zu  werden;  es  ergiebt  sich  ferner  daraus,  dass  noch  heute  die 
Angehörigen  einer  bäuerlichen  Familie  den  Beisitz  in  Fällen 
der  Noth  und  Krankheit  stets,  nnd  auch  im  Falle  ihrer  Rüstig- 
keit meist  so  lange  fordern  dürfen,  als  sie  sich  nicht  selbst  vom 
Hofe  abschichten  lassen  wollen;  und  es  wird  endlich  schon 
dadurch  bewiesen,  dass  bei  dem  Vorbilde  aller  deutschen  Ge- 
meinderschaften,  bei  der  Markgenossenschaft,  die  Markangehörigen 
auch  an  dem  Theile  des  Markgutes,  dessen  Vertretung  sie  nicht 
haben,  nämlich  an  der  Allmende,  gleichwohl  ein  festes  und 
unentziehbares  Nutzungsrecht  besitzen.10) 

Wenn  nun  ein  Familienmitglied  aus  der  Hausgenossenschaft 
austrat,  so  konnte  es  die  ihm  zustehende  Nutzung  des  Familien- 
vermögens nicht  mehr  in  natura  ausüben.  Es  musste  ihm  deshalb 
dafür  eine  Entschädigung  werden.  Wenn  Grundtheilung  eiu- 


*9  Heuslcr  leugnet  die»  und  meint  es  habe  den  Mitgliedern  keinerlei 
Privatrecht  am  Gemeindeland!',  sei  es  an  den  Ackern,  sei  es  an  den 
Waldungen  und  Wiesen,  zugestanden  Denn  sie  hinten  keinerlei  Klage 
gehabt,  wenu  ihnen  die  Gemeinde  die  Acker  wieder  weggenommen  hätte. 
Denn  alle  ihre  Rechte  hätten  auf  Gemeindestatut  beruht  und  hätten  des- 
halb auch  durch  Gemeindestatut  wieder  aufgehoben  werden  können.  Mil 
Recht  ist  schon  laust  in  seinen  oft  citirteu  Werken  gegen  diese  Auffassung 
und  für  die  herrschende  Gierke'sche  Lehre  eingetreten.  Allerdings  ist 
richtig,  dass  es  dagegen  kein  Tribunal  gah,  wenn  die  Gemeinde  beschloss, 
die  Acker  den  Eignern  wegzunehmen.  Aber  das  hindert  durchaus  nicht: 
dass  gleichwohl  Privateigentlmm  an  jenen  besteht.  Auch  heute  kann  der 
Staat  alle  Äcker  und  allen  Besitz  durch  Gesetz  einziehen,  und  es  hilft 
dagegen  kein  Tribunal.  Darum  besteht  aber  doch  zweifellos  Privat- 
eigenthum an  jeneu  Gegenständen.  Dass  der  Entziehung  des  Ackerlandes 
durch  Beschluss  des  Gemeindedings  nicht  mit  Klage  begegnet,  werden 
konnte,  rührt  eben  einfach  daher,  dass  diese  Klage  bei  eben  jener  Diug- 
versammlnng  angebracht  werden  musste,  die  den  Eutziehuiigsbeschlnss  aus- 
gesprochen batte,  und  die  sich  nicht  gut  selbst  rektifiziren  konnte.  Die  Klage 
war  sonach  versagt,  nicht,  weil  kein  Recht  da  war,  das  ihr  zur  Grundlage 
hätte  dienen  können,  sondern  weil  niemand  da  war,  der  die  Beachtung  des  Rechts 
hätte  erzwingeu  können.  Es  liegt  genau  so,  wie  wenn  der  Staat,  oder  der 
König  heute  ein  Unrecht  begehen  und  Privatrechte  verletzen.  In  Deutsch- 
land hat  man  ja  dagegen  das  Verwaltungsstreitverfahreu.  aber  viele  lsioder 
haben  es  nicht,  und  frühere  Jahrhunderte,  so  der  hochentwickelte  Rechts- 
staat der  Römer,  haben  es  nicht  gekannt;  und  streng  genommen  ist  es  auch 
widersinnig,  dass  der  Staat  sich  seihst  zwingt.  Gleichwohl  wird  niemand 
behaupten,  dass  deshalb  die  zertretenen  Rechte  keine  Privat  rechte  seien. 


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trat,  so  lag  diese  Entschädigung  schon  darin,  dass  der  Aus- 
scheidende den  ihm  überwiesenen  Theil  nunmehr  allein  nutzte, 
während  er  vorher  zwar  die  Nutzung  des  ganzen  Hausvermögens 
gehabt  hatte,  aber  mit  den  anderen  zusammen.  Nun  soll  aber 
bei  der  uns  beschäftigenden  Sachlage  ja  Grundtheilung  gerade 
nicht  eintreten.  Dann  musste  offenbar  dem  Ausscheidenden 
eine  besondere  Entschädigung  für  die  ihm  fernerhin  unmögliche 
Nutzung  gewährt  werden. 

Diese  Entschädigung  ist  die  Abfindung. 

Dass  es  in  der  That  die  Nutzung  ist,  welche  die  Grund- 
lage der  Abfindung  bildet,  lässt  sich  zunächst  deutlich  aus  dem 
citirten  (§  3 a.  E.)  Weisthum  von  Lauenstein  (ILL.  273  § 23) 
erkennen.  Hier  wird  nämlich  als  Abfindung  die  Nutzung  ge- 
wissermassen  noch  fortgewährt.  Der  Abschichtende  soll  dem 
Ausziehenden  3 fl.  von  jedem  Morgen  zahlen.  Ja  dieser  braucht 
sich  nicht  einmal  gefallen  zu  lassen,  dass  ihm  Geld  gegeben 
wird,  er  hat  Anspruch  auf  Naturalnutzung,  und  darf  einen 
Naturalzins  von  jedem  Morgen  verlangen.  Und  dieser 
Naturalzins  ist  es  denn  auch,  der  als  Abfindung  derart  ein- 
geschätzt werden  soll,  „wie  sich  Freunde  . . . vergleichen,“ 
so  dass  also  in  der  Geldabfindung  geradezu  die  Nutzung  ver- 
körpert und  durch  sie  ersetzt  wird. 

Ein  fernerer  Beweis  für  unsere  Ansicht  ist  aber  auch  der 
Massstab,  nach  welchem  die  Höhe  der  Abfindung  bemessen 
wird.  Ursprünglich  ist  wohl  hierfür  das  Bediirfniss  des  einzelnen 
Falles  massgebend  gewesen,  wie  dieses  zweifellos  für  die  Er- 
ziehung der  Kinder  massgebend  war,  (vgl.  das  in  der  Anm.  93 
citirte  Weisthum  von  Wattwyl),  und  wie  es  auch  sonst  für  die 
Einzelnutzungsrechte  am  Gesammteigen  die  Richtschnur  bildete. 
(Vgl.  in  Gierkes  Genossenschaftsrecht  die  Ausführungen  über 
die  Allmende.)  Allein  bei  dem  Hang  aller  älteren  Rechtsbildung 
und  ebenso  der  Deutschen  zum  „Typischen“,  wie  es  Brunner 
in  seiner  Rechtsgeschichte  bezeichnet,  bei  ihrer  Neigung,  das 
gewöhnlich  Zutreffende  schlechthin  zum  Allgemeingültigeu  zu 
erheben,  wurde  der  Betrag  der  Abfindung  sehr  bald  fixirt. 
Bei  ihrem  Haupt-,  und  Anfangs  wohl  einzigen  Anweudungs- 
falle,  bei  der  Aussteuer  der  Söhne  oder  Töchter  zur  Verheirathung, 
bildeten  sich  feste  gewohnheitsrechtliche  Normen,  was  bei  diesem 
oder  jenem  Staude  des  Auszusteuerndeu  zu  einem  anständigen 


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101 


Brautschatze  gehört.  Diese  Taxen  waren  oft  sehr  speziell.96) 
Aber  in  ,'allen  anderen  Fällen  blieb  der  Gedanke  des  Bedürf- 
nisses^  massgebend,  der  Gedanke,  dass  das  Hausgut  dem  Aus- 
scheidenden, wie  es  ihn  bisher  ernährt,  ihm  nun,  wo  er  sich 
von  dem  mütterlichen  Boden  des  Hauses  loslöst,  auch  fernerhin 
eine  Beihülfe  gewähren  soll,  auf  die  gestützt  er  auch  ohne  den 
bisherigen  Rückhalt  sich  im  Leben  aufrecht  erhalten  uud  unter 
Zuhilfenahme  der  eigenen  Kraft  sich  und  die  Seinigen  ernähren 
und  vorwärts  bringen  kann.  Deshalb  pflegte  man  dem  Ab- 
findling, wenn  es  ein  Weib  war,  eine  Hauseinrichtung  mitzngeben: 
war  es  ein  Mann,  so  erhielt  er  das,  was  man  heute  Betriebs- 
kapital nennt,  nämlich  die  Anssaat,  Pferde  zum  Bewirthschaften 
seines  Gutes  und  ein  Paar  Kühe  zum  Einricliten  eines  Vieh- 
standes, auch  neben  dem  Saatkorn  noch  einiges  Getreide,  wovon 
der  junge  Hausstand  bis  zur  ersten  Erndte  zu  leben  vermochte.97) 
Auf  diesem  Grunde  konnte  und  musste  sich  dann  der  Aus- 
geschiedene weiter  helfen.  Immer  aber  ist  eins  zu  beachten. 
Das  Haus  sorgt  weiter  auch  lür  den  scheidenden  Sohn,  es  ge- 
währt ihm  aus  seiner  Fülle'  noch  eine  Mitgift.  Aber  dazu  ist 
Voraussetzung,  dass  jene  Fülle  vorhanden  ist.  Nie  kann  das 
Interesse  des  Abfindlings  so  weit  gehen,  dass  der  Bestand  des 


*•)  Eine  solche  Taxe  hat  uns  Wigand  (Paderborn  Bd.  3,  S.  65)  über- 
liefert. Sie  bezieht  sich  auf  das  Amt  Boke.  Der  Brantschatz  muss 
enthalten : 

1)  vier  Kühe  — zwei  Kinder, 

2)  ein  Pferd  — ein  Stuppcn, 

3)  ein  völliger  Brautwagen  worauf  uebst  einem  vollständigem 
Bette,  Kisten  und  hölzern  Geschirr,  36  Scheffel  Roggen  gehören, 

4)  ein  Ehrenkleid. 

6)  die  Führung  frei  von  und  zu  dem  Herrn. 

Noch  genauer  ist  das  Delbrücker  Landrecht  (auch  bei  Wigand  a.  a.  0.) 
Cap.  5,  § 7.  — 

Wie  allgemein  bekannt  früher  solche  Taxeu  waren,  zeigt  nach  Führers 
Schrift  von  1804.  Er  sagt  zwar  „ausserdem  erhalten  aber  die  abzusteucmden 
Kinder  noch  den  hergebrachten  Brautwagen“,  er  hält  aber  nicht  für  nöthig 
zu  sagen,  woraus  dieser  besteht,  eben  weil  dies  so  allgemein  bekannt  und 
„hergebracht1-  war. 

m)  Vgl.  die  Taxe  in  der  vorigen  Anmerkung. 


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102 


<üten  Hauses  selbst  gefährdet  wird.97*)  Ist  es  nicht 
möglich,  dem,  der  sich  aus  dem  Hausverbamle  lösen  will,  eine 
hinreichende  Beihülfe  zu  gewähren,  so  muss  er  entweder  auch 
ferner  im  Hause  sein  Brod  essen,  oder  er  muss  auch  mit  der 
nicht  ganz  hinlänglichen  Ausstattung  im  Vertrauen  auf  seine 
sonstigen  Fähigkeiten  den  Kampf  ums  Dasein  wagen. 

Es  ergiebt  sieh  das  auch  schon  dann,  wenn  man  erwägt, 
wer  die  Abfindungen  leistete.  Sie  wurden  ja  vom  Vater  oder  einem 
im  Hause  bleibenden  Bruder  gezahlt.  Diese  aber  wollten  doch 
auch  bestehen.  Es  ist  deshalb  ganz  unglaublich,  dass  bei  der 
gütlichen  Einigung,  auf  welche  die  Weistliümer  für  die  Höhe 
der  Abfindung  ausdrücklich  verweisen,118)  diese  jemals  einen 
Betrag  hätte  annehmen  können,  bei  welchem  es  unmöglich  ge- 
wesen wäre,  das  alte  Hausgut  fernerhin  zu  halten. 

In  dem  Vorstehenden  liegt  aber  noch  ein  Weiteres.  Wenn 
das  Bedürfnis  entscheidet,  so  ist  es  nicht  ausgeschlossen,  dass 
der  eine  auszusteuernde  Sohn  weniger  erhält  als  der  andere; 
denn  es  soll  ihm  ja  nur  eine  Unterstützung  mit  auf  den  Lebens- 
weg gegeben  werden.  Wer  aber  zum  Beispiel  in  Kriegsdienste 
tritt,  braucht  weniger,  um  sich  selbst  weiter  zu  helfen,  als  wer  die 
Landwirtschaft  erwählt.  Ebenso  werden  noch  heute  die  Söhne 
aus  guten,  wohlhabenden  Bauernfamilien  Lehrer,  oder  nehmen 
Stellungen  ein,  die  wrenig  mobiles  Capital  erfordern.  Deshalb 
bekommen  sie  auch  weniger,  als  die  Söhne,  welche  sich  der 
Landwirtschaft  widmen  und  namentlich  Derjenige,  welcher 
das  Gut  selbst  übernimmt,118*) 

Auf  diese  Weise  gelangte  das  alte  Recht  dazu,  die  Gegen- 
sätze in  der  Familie  zu  versöhnen.  Jeder  erhält  so  viel  mit, 
dass  er  in  dem  erw  ählten  Berufe  aufrecht  bleiben  kann.  Ueber 


w*j  Vgl.  bezüglich  der  Abfindung  der  Töchter:  Scbwabenspiegel  cLaas- 
berg)  c.  14«: 

„und  ist  nicht  anders  da,  wan  daz  ansidel,  so  stet  es  an  der  bruder 
gnaden  waz  sie  der  swester  geben." 

und  die  Wendung  „secundum  facuhatein  dicli  patris"  in  dem  Recht  von 
Payern e (Anm.  01  j. 

®)  Vgl.  die  § 3 a.  E.  citirten  Weisthüiner. 

***)  Vgl.  das  einen  ähnlichen  Gedanken  bergende  Wort  „aecnndum 
qualitatem  personarum"  im  Rechte  von  Payerne. 


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103 


allem  aber  stellt  das  Interesse  des  Hausgutes;  das  muss  zuerst 
erhalten  werden.  Insoweit  geht  also  das  Wohl  des  Gutes  dem 
Wohle  der  Einzelnen  vor.  Aber,  wie  ganz  anders  liegt  die 
Sache  doch,  als  wenn  man  den  gleichen  Satz  aus  den  guts-* 
herrlichen  Verhältnissen  ableitet.  Wenn  dort  die  Erhaltung 
des  Guts  zunächst  ins  Ange  gefasst  wird,  so  ist  das  hart  fiir 
die  Bauernfamilie;  denn  die  Erhaltung  geschieht  dort  nnr  im 
Interesse  eines  Dritten.  Hier  jedoch  schwindet  jede  Härte; 
denn  da  das  Familiengut  lediglich  zum  Nutzen  der  Familie  da 
ist,  so  dient  seine.  Erhaltung  doch  wieder  nur  der  Familie  selber. 
Es  kann  ja  auch  jedes  krank  und  schwach  gewordene  Familien- 
mitglied wieder  im  Vaterhause  eine  Zuflucht  suchen.  Noch 
heute  müssen  solche  Schiffbrüchigen  gegen  Mitarbeit,  soweit 
ihre  Kräfte  reichen,  wieder  auf  dem  Hofe  aufgenemmen  und 
verpflegt  werden.99)  Im  Grunde  genommen  liegt  deshalb  die 
scheinbar  auf  das  Wohl  der  Einzelnen  keine  Rücksicht  nehmende 
Wahrung  des  Hausgntes  gerade  im  rechtverstandeuen  Interesse 
der  einzelnen  Familienmitglieder. 

Diese  Grundsätze,  welche  wir  eben,  gestützt  auf  alte 
Beispiele  und  auf  noch  heute  fortwirkenden  Rechtsbrauch, 
entwickelt  haben,  finden  sich  auch  in  ihrem  Ergebnisse  in  den 
Weisthümern  ausgedrückt.  Das  Ergebniss  ist  ja  doch,  dass  für  die 
Bemessung  der  Abfindung  ein  verständiges  Ermessen  walten  muss 
unter  gleichzeitiger  Berücksichtigung  der  Kräfte  des  Gutes  und  des 
Bedürfnisses  des  Abfindlings;  und  genau  solches  Ermessen  schreiben 
die  Weisthümer  (§  3 a.  E.  citirt)  vor  in  den  oft  gebrauchten 
Wendungen  „nach  billigkeit“,  „nach  erkenntnusz  biderlüten“, 
„nach  werdierungh  der  havessebulten“,  „wie  freunde  sich  ver- 
gleichen“. Ganz  ausdrücklich  betont  ausserdem  die  doppelte 
Rücksicht  auf  die  Kraft  des  Hofes  und  das  Bediirfniss  des  Ab- 
findlings das  ofterwähnte  Recht  von  Payerne. 


w|  Vgl.  das  oben  Gesagte.  — Auch  iu  Armenien  ist  es  heute  noch 
so.  — Vielleicht  mit  Rücksicht  darauf  nehmen  einige  Weisthümer  in  auf- 
fälliger Ahweichitng  von  den  sonst  geltenden  Grundsätzen  an,  dass  die 
Gemeinschaft  unter  den  Kindern  durch  „beraten“  auch  gegenüber  dem  aus- 
gesteuerten nicht  aufgehoben  wird,  vielmehr  dieser  auch  dann  in  der  Ge 
meinschaft  verbleibt,  wenn  er  ins  „elend“  d h.  in  die  Fremde  zieht  (Weis- 
thum v Weitnau  bei  Schopfheim  im  südlichen  .Schwarzwald. J 


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104 


Es  sei  noch  darauf  liingewiesen,  dass  noch  Maria  Theresia, 
hier  wie  anders  in  verständnisvoller  Schonung  des  Herkommens 
handelnd,  für  das  Anerbenrecht  und  die  Aussteuer  ganz'gleiche 
Grundsätze  aufgestellt  hat.“*1)  Ja  genau  betrachtet  ist  der 
jetzt  allgemein  erschallende  Ruf:  nach  der  heutigen  Volkswirt h- 
schaftlichcn  Erkenntnis  dürfe  zur  Grundlage  für  die  Berechnung 
der  Abfindungen  nur  der  Ertragswerth  des  Gutes  gemacht 
werden,  — dieser  Ruf  ist  nichts  anderes,  als  die  Mahnung  zur 
Umkehr  zu  jenen  alten,  vom  Gewohnheitsrechte  entwickelten 
Sätzen.  Denn  wenn  die  Abfindung,  wie  wir  sahen,  das 
Aequivalent  für  die  Nutzung  des  Hausgutes  bildet,  so  kann 
eben  nur  der  Ertragswerth  zu  ihrer  Berechnung  herangezogen 
werden,  wenn  sie  in  Gelde  angeschlagen  werden  soll.  Hier, 
wie  oft  noch  im  Bauernrechte,  erweist  es  sich  deshalb,  dass  das 
alte  Gewohnheitsrecht  auch  das  Zweck mässigste  ist : ist  es  doch 
auch  der  Niederschlag  von  Rechtsanschauungen,  die  selbst  den 
gegebenen  bäuerlichen  Verhältnissen  entwachsen  sind  und 
darum  auch  ihrerseits  dasjenige  liervortreiben,  was  dem 
innersten  Wesen  jener  Verhältnisse  am  besten  entspricht. 

Ueber  den  Zeitpunkt,  in  dem  man  die  Abfindung  fordern 
kann,  sind  eben  schon  einige  Bemerkungen  mit  untergelaufen. 
Auch  hier  herrscht  der  Gedanke,  dass  das  Eigenthum  der 
Familie  zusteht,  und  dem  Einzelnen  nur  ein  wirthschaftlicher 
Nutzen  daraus  gebührt.  Solange  der  Sohn  deshalb  im  Hause 
bleibt,  hat  er  zwar  Anspruch  auf  Unterhalt,  aber  für  eine 
weitere  Leistung  liegt  kein  Bedürfniss  vor;  daran  kann  auch 
der  Tod  des  Vaters  nichts  ändern,  denn  erzwingt  den  Einzelnen 


uw)  Vg|  Horchet  S.  1313.  Noch  der  Theresiauiachen  Verordnung 
gilt  Folgendes: 

Den  Hof  erhält  ein  Anerbe  .zu  einem  Wert  dass  er  .hierauf  hausen 
könne“,  wobei  das  Betriebsinventar  nicht  selbständig  geschätzt  wird.“  (S. 
1313).  Überhaupt  sollen  die  Umstände  gehörig  erwogen  und  der  einzelne 
Fall  .nach  dem  Ermessen  der  Gerichtsverpflichteten“  geregelt 
werden.  Ja  beweist  der  Übernehmer  nachträglich,  dass  er  nicht  bestehen 
kann,  so  .soll  die  Obrigkeit  schuldig  sein,  ihm  nach  obiger  Vorschrift  eine 
Iteduktion  zukommen  zu  lassen  “ (S.  1313.) 

Dass  in  allen  deutschen  Kronländeru  Österreichs  vorher  ein  ähnlicher 
Brauch  vorhanden  war,  wird  in  den  Urünbcrg'schen  Studien  an  verschiedenen 
Stellen  bezeugt.  (Vgl.  oben  Anm.  15b.) 


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nicht  aus  dem  Hause  zu  scheiden.  Erst  wenn  dieser  Austritt 
sich  vollzieht,  dann  tritt  die  Frage  ein,  wie  nun  dem  Einzelnen 
der  jetzt  doch  nicht  mehr  den  Nutzen  des  Gutes  direkt  im 
Hause  geniessen  kann,  eine  fernere  Beihülfe  aus  dem  Familien- 
vermögen zu  gewähren  sei.  Wie  diese  Frage  durch  das  Institut 
der  Abfindung  gelüst  wurde,  haben  wir  oben  gesehen.  Hier 
kommt  es  nur  darauf  an,  zu  constatiren,  dass  erst  beim  Austritt 
aus  der  Familie  die  Abfindung  verlangt  werden  konnte.  Der 
Zeitpunkt  des  Austritts  selbst  stand  nicht  allgemein  fest.  Ur- 
sprünglich richtete  er  sich  wohl  nach  der  Gelegenheit,  die  sich 
dem  Sohne  bot,  eine  selbstständige  Wirthschaft  zu  errichten, 
deckte  sich  also  wohl  mit  der  Verheirathung.  Auch  später 
war  dies  noch  der  weitaus  häufigste  Fall,  weshalb  die  Abfindung 
auch  schlechthin  „Brautschatz“  genannt  wurde.101)  Doch  kamen 
zu  den  Gründen,  aus  denen  man  den  Austritt  verlangen  konnte, 
später  vor  allem  der  Tod  des  Vaters  und  die  Grossjährigkeit. 
Soviel  über  den  Zeitpunkt  der  Abfindung.  Belege  dazu  aus 
den  Weisthümern  anzuführen,  dieser  Mühe  überhebt  uns  wohl 
die  unzweifelhafte  Thatsaehe,  dass  noch  heute  über  diesen  Punkt 
gleiche  Grundsätze  gelten. 

Was  endlich  die  Wirkung  der  Abfindung  anbelangt,  so 
muss  sie  die  gleiche  sein,  wie  die  der  Grundtheilung.  Beides 
sind  ja  zwar  verschiedene,  aber  gleichwerthige  Arten  sich  aus 
dem  Hausverbande  zu  lösen.  Da  nun  das  V ermögen  unter  dem 
Gesammtrecht  des  Hausverbandes  steht  und  dem  Einzelnen  kein 
Eigenthum  daran  zukommt,  da  ferner  auch  kein  wahres  Erb- 
recht vorhanden  ist,  so  muss  man  erwarten,  dass  der  Einzelne, 
wenn  er  sich  aus  dem  Hause,  dem  Subjekte  des  Vermögens, 
loslöst,  jegliches  Recht  an  diesem  verloren  hat  So  steht  es  denn 
auch  für  die  Theiluug  schon  in  der  lex  Burgundionum  Tit.  1 cap.  2: 
„aut  si  (sc.  pater)  cum  filiis  diviserit  et  portionem  suam  tulerit, 
et  postea  de  alia  uxore  filios  habuerit  aut  unum  aut  plures,  illi  filii, 
qui  de  secunda  uxore  sunt,  in  illam  quam  pater  aecepit  portionem 
succedant,  et  illi  qui  cum  patre  dividentes  portiones  suam  fueruut 
consecuti,  ab  eis  penitus  nihil  requirant“.  Und  für  die  Ab- 
schichtung spricht  es  mit  dürren  Worten  das  bei  Führer  S.  157 


,01)  Dieser  Ausdruck  ist  namentlich  in  den  J.andesordnungeu  üblich. 


mitgetheilte  Hageuweisthum  von  Wiembeck  aus:  „Hierüber  ist  er- 
kannt ....  Weraberaus  dem  Hofe  bestattet,  der  mag  folgende 
nichts  mehr  erben.“  Doch  auch  die  bei  Grimm  gesammelten 
Weisthümer  weisen  auf  nichts  anderes  hin.  Auch  nach  ihnen 
bringt  der  Austritt  aus  der  Hausgenossenschalt  durch  Theilong 
oder  Abschichtung  für  den  Einzelnen  ein  eigenes  Hausvermögen 
hervor,  aus  dem  alten  aber  ist  er  ausgeschieden.  Deshalb  beerbt 
er  nicht  seine  früheren  Gemeinder,  und  wird  auch  von  ihuen 
nicht  beerbt."'-)  In  hofiechtlichen  Verhältnissen  tritt  demgemäß 
das  eventuelle  Heimfallsrecht  des  Hofherrn  ein.  wenn  der  Aus- 
geschiedene  keine  Kinder  hat.  So  z.  B.  Grimm  IV,  519  (Wein- 
garten nördlich  von  Durlach):  „Si  quis  censualis  facta  legitim» 
divisione  rerum  nondum  uxoratus  absque  filiis  legitimis 
migraverit,  nec  a fratre  nec  a sorore  vel  aliquo  propin- 
quorum  hereditabitnr,  sed  omnia  tarn  mobilia  quam  im- 
mobilia,  quae  reliquerit,  in  usum  cedent  ecclesie“. 

Noch  schärfer  tritt  der  Charakter  der  Lösung  aus  der 
Were  hervor,  wenn  der  Vater  schon  bei  Lebzeiten  seine  Kinder 
ausberaden  oder  abgetheilt  hat.  Hier  wird  er  nicht  einmal  von 
seinen  eigenen  Kindern  beerbt,  sondern  auch  hier  tritt  da- 
gutsherrliche Heimfallsrecht  ein.  Z.  B.  Grimm  IV,  435,  § io 
Eugelberg  in  Unterwalden)  „.  . . .wen  ein  man  abgienge  one  kindt. 
so  theilten  die  herren  mit  der  froutven  durch  den  bank,  und 
wurde  iren  der  halbe  theil.  Hetten  sy  ouch  eeliche  kind  und 
von  denen  nit  getheilt  betten,  so  erbten  die  kind:  hetten 
aber  sy  mit  ineu  getheilt,  so  erbten  die  herren  den  vatter. 
ob  er  abgienge, Me‘)  und  theilten  mit  der  mutter“.  Ebenso  V.  97 
u.  V,  99.  Nach  dem  Hofrechte  von  Westrnm  in  Westfalen 
(III,  197)  und  in  anderen  westfälischen  Rechten  beerben  au- 
dem  gleichen  Grunde  die  Gutsherren  den  Auszügler. 

Als  nun  ein  wahres  Erbrecht  aufkam,  mussten  natürlich 
diese  starren  Grundsätze  eine  Abschwächung  erleiden.  Zunächst 
behielten  sie  noch  die  Oberhand,  doch  fand  man  es  für  nöthig 


lia)  Eine  überraschende  Analogie  bietet  der  römische  Emancipa:n> 
Vgl.  oben  § 4 und  § S. 

*•*•)  Das  „migraverit“  im  vorigen  Weisthum  ist  die  lateinische  Cebt-r 
setzung  dieses  „abgienge“ 


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107 


sie  durch  ausdrücklichen  Verzicht  der  Miterben  zu  sichern, 
(vgl.  VI.  553  § 16  [Ulflingen  im  nördlichen  Luxemburg],  ebenso 
die  oft  citirteu  Essenschen  Hobsreehte  bei  Sommer).  Schliesslich 
aber  mussten  sie  weichen,  doch  nur  zum  Theil.  Die  Ausge- 
schiedenen hatten  regelmässig  noch  immer  kein  Erbrecht  am 
noch  ungetheilten  Familiengut  und  ebensowenig  an  dem  Gute 
der  gleich  ihnen  Ausgeschiedenen.  Aber  in  subsidiuni  gewannen 
sie  eins.  Wenn  nämlich  der  „ledige  Anfall“  eintrat,  d.  h.  wenn 
keine  unausgeschiedenen  oder  dem  Grade  nach  näheren  Erben 
für  die  eben  genannten  Gütermassen  da  waren,  so  trat  nicht 
mehr  Heimfall  ein,  sondern  die  Ausgeschiedenen  wurden  zum 
Erbe  zugelassen.  So  ist  es  in  den  Weisthümern  gemeinen 
Rechtens,1'0)  so  wird  es  auch  ausserhalb  der  Weisthümer  sowohl 
für  Hof-  wie  für  Stadtrecht  namentlich  aus  burgundischen 
Gegenden  gemeldet,"0*)  so  ist  es  in  das  lübische  Stadtrecht 
übergegangen.1'14)  Und  auch  heute  noch  gilt  dieser  Rechtssatz: 
dass  die  Annahme  der  Abfindung  Verzicht  bedeutet  bis  auf  den 
erblosen  Tod  derjenigen,  welche  den  alten  Unausgeschiedenen 
heute  entsprechen,  nämlich  der  Leute,  zu  deren  Gunsten  der 
Verzicht  geschehen  ist. 


,<B)  Grimm  I,  16  § 69  ( Münchaltorf  im  Züricher  Land).  „Item  wo  ein 
vatter  sin  kind  usstürt,  des  sol  sich  das  kinl  lassen  henuegen,  nu  und 
hienach  untz  an  einen  rechten  anfal“.  Ebenso  V,  200  § 12  (Wattwyl 
a.  d.  Thur)  und  viele  andere  Stellen. 

ll0*)  Über  das  bnrgundische  Rechtsgebiet  vgl.  Huber  S.  -12.  Den 
ledigen  Antall  haben  z.  B.  Nyon : „Item  quod  si  aliquis  burgensis  filiam  aut 
sororem  suam  nuptnm  tradiderit,  assignata  ei  dote  sua  in  hereditate  patris 
et  matris  aliquid  reclamare  non  debeat,  quamdin  alii  heredes  existunt, 
sed  dote  sua  debet  esse  conteuta“.  Ebenso  Murten  Art.  17:  „Praeterea  cum 
aliquis  burgensium  filiam  suam  tradit  nuptui  assignata  dote  sua,  in  here- 
ditate patris  vel  matris  aliquid  reclamare  non  debet,  quamdiu  alii  heredes 
existunt.“  — Dass  dasjenige,  was  hier  von  der  Abfindung  der  burgundischen 
Töchter  gesagt  ist,  ebenso  von  der  Abfindung  der  Söhne  und  nicht  nur  für 
Burgund  gilt,  belegt  Huber  8.  43  mit  Citaten,  wovon  namentlich  Schwaben- 
spiegel (Lassbergj  c.  148  hervorzuheben  ist. 

104)  Vergl.  darüber:  Paulsen,  Schleswig-Holsteinisches  Privatreeht.. 

S.  »26  ff. 


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108 


§ 11. 

Dieses  Institut  der  Abfindung  und  der  Were,  wie  es  eben 
geschildert  ist,  hat  eine  über  das  Gebiet  des  bäuerlichen  Erb- 
rechts und  auch  des  Anerbenrechts  weit  hinausragende  Be 
deutung.  Es  wurde  gezeigt,  dass  es  aus  den  ältesten  deutschen 
Rechtsanschanungen  heraus  entwickelt  ist.  Es  wurde  erwähnt, 
dass  es  auch  in  Stadtrechte  Eingang  gefunden  hat;  es  mag 
noch  darauf  hingewiesen  werden,  dass  es  auch  bei  den  Gan- 
erbschaften des  Lehnrechts  und  bei  den  Stammgütern  des  Adels 
eine  Rolle  gespielt  hat.  Gleichwohl  hat  es  sich  im  Gebiete  de> 
Bauernrechts  vorzugsweise  entfaltet,  ist  uns  heute  in  ihm  allein 
aufbehalten,  und  endlich  ist  seine  Berücksichtigung  in  der  Ge- 
schichte des  Anerbenrechts  geeignet,  die  Lücken  ausznfüllen. 
welche  nach  unseren  obigen  Ausführungen  (im  § 3)  dessen 
alleinige  Gründung  auf  die  Untheilbarkeit  in  dem  historischen 
Zusammenhänge  lassen  muss.  Das  Anerbenrecht  im  technischen 
Sinne,  d.  h.  die  Erbfolge  in  ein  Bauerngut  unter  Abfindung  der 
Milerben  nach  den  gekennzeichneten,  eigenartigen  Grundsätzen,  die- 
Anerbenrecht,  wie  es  seit  den  letzten  Zeiten  der  Weisthümer 
bis  zu  der  Zeit  der  Landesordnungen  im  18.  Jahrhundert  seiner 
räumlichen  Ausdehnung  nach  als  gemeines  Recht  bestanden  hat. 
dessen  Entwicklung  ist  nämlich  nach  des  Verfassers  Ansicht 
etwa  folgende  gewesen.1"4*) 

Solange  die  strenge  Untheilbarkeit  bestand,  d.  h.  solange 
die  Vorstellung  von  dem  Eigenthum  des  Herrn  oder  der  Ge- 
meinde noch  wach  war,  solange  konnte  natürlich  nur  einer 
in  das  Gut  succediren.  Allein  es  ist  mir  sehr  zweifelhaft, 
ob  das  überhaupt  eine  wahre  Erbfolge  war,  ob  die  scheinbar 


I#u)  Und  zwar  glcichmäsaig  bei  freien  und  hofhörigen  Gütern,  t- 
wird  aber  im  Folgenden  vornehmlich  auf  letztere  Kiicksicht  genomtn-- 
werdon,  einmal  weil  sie  wegen  ihres  räumlichen  Uoerwiegens  praktisch  am 
meisten  in  betracht  kommen;  vornehmlich  aber  deshalb,  weil  man  ihnen 
gerade  so  ganz  andere  Entwickelungsprinzipiell  untergelect  hat  und  be- 
hauptet hat.  dass  sich  hei  ihnen  das  Anerbenrecbt  von  der  Untbeil- 
harkeit  herzchreihe  Es  wird  gezeigt  werden,  dass  sich  auch  hei  ihnen  dJ- 

Anerhenrecht  dennoch  am  besten  aus  den  landrechtliclien  Prinzipien  der 
„Were“  erklären  lässt. 


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10!» 


Succession  nicht  vielmehr  nur  auf  thatsächlicher  Erblichkeit 
beruhte,  indem  der  Herr  oder  die  Gemeinde  einem  Sohne 
das  Gut  nur  usuell  wieder  austhat,  geradeso,  wie  es  bei  der 
Erbfolge  in  Lehen  Jahrhunderte  lang  geschehen  ist  und  wie 
es  sich  auch  bei  den  bäuerlichen  Lassgütern  bis  in  unsere  Tage 
erhalten  hat.  Wie  dem  auch  sei.  solange  jedenfalls  das  Eigen- 
tburn  des  Herrn  oder  der  Gemeinde  in  der  Idee  fortlebte 
und  der  Bauer  nur  ein  dingliches  Nutzungsrecht  hatte, 
solange  konnte  das  Bauerngut  selbst  nicht  Gegenstand  des 
Hausvermögens  sein.  Denn  die  Stelle,  die  dann  dem  Ge- 
sammtrechte  der  Familie  gebührt  hätte,  (indem  dieser  das  Eigen- 
thum, dem  Bauer  aber  die  Verwaltung  als  dem  zeitigen  Familien- 
haupte zugestanden  hätte),  diese  Stelle  war  durch  das  Recht 
des  Herrn  oder  der  Gemeinde  eingenommen.  Das  Bauerngut 
konnte  deshalb  nicht  in  die  Were  fallen,  sondern  nur  das  mit 
ihm  Erworbene,  die  „operata  pecunia“10")  oder  das  „gereite, 
fahrende  Gut“.  Es  war  deshalb  nur  folgerichtig,  dass  auch 
bei  der  Abfindung  das  Gut  ganz  ausser  Ansatz  blieb  und  die 
Abfindung  nur  aus  den  „gereiten“  Gütern  erfolgte.  Indessen 
diese  Ordnung  des  bäuerlichen  Erbrechts  war  nach  unseren 
Ausführungen  in  § 3 keineswegs  die  normale.  Ja,  wie  sich 
vermuthen  lässt,  dass  dieser  ganze  Zustand  nur  auf  einem 
prekären  Erbrecht  ruhte,  so  ist  es  wahrscheinlich,  dass  sofort 
mit  dem  Eindringen  einer  wahren  Succession  der  Descendenten 
die  Untheilbarkeit  der  Höfe  gesprengt  wurde.  Denn  dieses 
Erbrecht  an  den  Höfen  kam  zu  einer  Zeit  in  Geltung,  als  die 
alte  Gleichberechtigung  aller  Erben  in  der  Idee  immer  noch 
feststand;  als  blutige  Kiiege  dadurch  veranlasst  waren,  dass 
den  Deutschen  der  Begriff  der  Einerbfolge  fremd  war;  als 
durch  diesen  Mangel  der  Einerbfolge  die  Zersplitterung  des 
fränkischen  Reiches  bewirkt  war.  Es  wird  deshalb  auch  in 
diesem  Falle  bei  den  Bauerngütern  so  gegangen  sein,  wie  bei 
den  Lehen,  dass  seit  dem  Augenblicke,  wo  eine  wirkliche  Erb- 
folge eingeführt  wurde,  nach  ganz  kurzer  Zeit  die  alte  Untheil- 
barkeit vergessen  wurde  und  das  Splittern  und  Trennen  seinen 


m)  Lege«  familiae  St.  Petri  (Grimm  1,  805  § 10). 


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110 


Anfang  nahm.“16)  So  kann  es  dann  auch  nicht  Wunder  nehmen, 
dass  in  den  Weisthümern,  wo  das  Erbrecht  unbestritten  durch- 
gedrungen war.  und  wo  auch  die  Gleichberechtigung  der  Ge- 
schwister noch  feststand,  sicli  so  erstaunlich  wenig  Beispiele 
eines  wahren  Anerbenrechts  linden,  sondern  die  freie  Theil- 
barkeit  als  Regel  erscheint.  Und  auch  die  paar  Beispiele, 
welche  sich  finden,  gehören  überwiegend  dem  jüngeren  An- 
erbenrecht an.,,IÄ*) 

Die  Wiedergeburt  des  Anerbenrechts  erfolgte  nämlich  heraus 
aus  dem  Institnte  der  Were.  Denn  dieses,  entstanden  zwar 
mit  Hülfe  des  Gedankens  der  Untheilbarkeit,  aber  zugleich  auch 
ohne  ihn  auf  selbständiger  Grundlage,  konnte  sich  behaupten, 
auch  als  die  Untheilbarkeit  mehr  und  mehr  zurückwich,  und  hat 
sich  behauptet.  Dieselben  Weisthümer,  welche  hinsichtlich  der 
Erbfolge  auf  dem  Boden  des  freiesten  Individualrechts  stehen, 
sie  sind  wie  schon  bemerkt,  voll  von  Beispielen  der  Haus- 
genossenschaft. ja  es  findet  sich  die  Abfindung  nach  dem  Systeme 
der  Were  und  die  Theilung  nach  dem  Systeme  des  Individuai- 


,0“)  Die  Analogie,  welche  zwischen  den  Geschicken  der  Bauer-  und 
Lehugüter  obwaltet,  hat  sich  schon  seit  Carpzorrs  Zeiten  den  Blicken 
der  Schriftsteller  nicht  entzogen  Uleichwohl  ist  die  mit  jener  Theorie 
operircndc  I^ehre,  welche  lange  die  allein  herrschende  war,  heute  sehr  in 
Misskredit  gerathen.  Allein  die  unzweifelhaften  Irrthüuicr,  welche  die  alte 
Theorie  beging,  lagen  nicht  in  der  Aufstellung  dieser  Analogie,  sondern  in 
den  Folgerungen,  die  man  daraus  zog.  Wenn  nämlich  auch  die  Ä hnlichkeit 
besteht,  so  braucht  sich  diese  doch  nicht  auf  alle  einzelnen  Punkte  zu  er- 
strecken, sodass  mau  tlir  die  dunklen  Fragen  des  Bauemrechts,  die  Knt  - 
Scheidung  einfach  aus  dem  Lebnreeht  outnehmen  konnte.  Und  noch  weniger 
durfte  man  sie  aus  dem  langobardischen  Lehnrecht  entnehmen,  denn  die 
ganze  Analogie  bezieht  sich  natürlich  nur  auf  die  Geschicke  der  Lehen  in 
Deutschland.  Wie  sehr  aber  sonst  die  Analogie  auch  unbefangenen  Be- 
obachtern sich  aufdrängt,  zeigt  Stobbc  Bd.  V,  der  in  seiner  Schilderung 
des  bäuerlichen  Erbrechts  fortwährend  Seitenblicke  auf  das  Lehnrecht  wirft 
Vgl.  neuerdings  auch  Frommhohl,  Eiuzeierbfolge. 

"**)  Es  ist  demnach  eine  ziemlich  überflüssige  Mühe  wenn  Brentano 
und  Fick  sich  mit  dem  Nachweis  abgeben,  dass  das  deutsche  Recht  bereits 
im  frühen  Mittelalter  zur  Idee  der  Gleichberechtigung  aller  Kinder  über- 
gegangen sei.  Das  ist  niemals  bestritten  worden.  Die  Idee  ist  sogar 
niemals  aufgegoben.  Aber  gleiche  Berechtigung  und  formell  gleiche  TtteUung 
sind  nicht  identisch.  Das  gleiche  Anrecht  kann,  wie  wir  sahen,  auch  durch 
Abschichtuug  verwirklicht  werden. 


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111 


rechts  in  ein  und  demselben  Hofreehte.1"7)  Es  ist  nun  leicht 
auszumalen,  wie  auf  dieser  Grundlage  in  einer  Gegend,  wo  das 
Weresvstem  herrschte,  ein  Anerbenreeht  im  späteren  Sinne  sich 
ausbilden  musste.  Pflegten  nämlich  die  Väter  ihre  Kinder  zu 
„beraden“,  so  schieden  ja  diese  damit  aus  der  VVere,  aus  dem 
Hausvermögen,  aus,  und  hatten  an  ihm  keine  weiteren  Rechte 
mehr,  wie  oben  gezeigt.  Es  musste  deshalb  dem  einzigen, 
der  unausgeschieden  übrig  blieb,  zufallen,  — ein  Resultat,  wie 
es  durch  die  strengste  Untheilbarkeit  nicht  besser  erreicht 
werden  konnte.  Welches  Kind  unausgeschieden  bleiben  und 
durch  sogenannte  „Beibestattnng“  zum  Erben  designirt  werden 
sollte,  war  theils  dem  Belieben  der  Eltern  überlassen,1"8)  theils 
waren  sie  oder  wurden  sie  hier  an  die  natürliche  Folge  der  Ab- 
findungen gebunden,  so  dass  der  Jüngste,  der  allein  Ueberbleibende 
und  damit  der  Alleinerbe  war.  Das  ist  die  Erklärung  des  in 
Deutschland  so  üblichen  Minorates. "‘‘j  Man  könnte  dem  ent- 


lw)  V.  B.  l'rspringen  n.  Kliiin  (111,677):  «Zuin  rin  und  zwanzigsten, 
sn  es  sich  nun  begehe,  das  die  giiter  kinder  halben  getheilt  würden  in  feld 
und  in  dorf,  cs  were  acker  oder  wirsen,  haus  oder  hof  an  zweitteil,  an 
vierteil,  an  sechsteil,  an  achtteil  etc.  . . .“  (also  fre  ieste  Individualtheilang, 
und  doch  folgt  gleich  darauf  eine  Regel  über  den  Fall,  wo  ein  Vater  uach 
dem  Weresystem  sein  Kind  aussteuert  und  abfindet.):  „Zum  zwey  und 
zwanzigsten : Item  hogehe  cs  sich  nun,  das  ein  man  seinen  hindern  gehe 
ries  fuldischcn  gutes,  es  were  viel  oder  wenig,  so  soll  man  es  ihnen  leihen 
ohne  Silber  und  ohne  gold“. 

Ebenso  Theilung  und  Abschichtung  zusammen  II.  550  1.  c.:  «samende 
band  theilen  oder  das  ein  die  andere  aberichten  ".  Vgl.  I,  27b  (Thannegg 
und  Fischingen)  ,.  . . . wenn  aber  etliclierlay  ungeteilt  plypt,  ...  so  soll 
das  ungetailt  das  getailt  ziehen". 

,0K)  Grimm  VI,  552,  :>  42  Ulflingon  im  nördlichen  Luxemburg):  . . . . . 
wann  vatter  und  mutter  ein  kind  bei  sich  setzen,  des  haben  sie  macht 
mit  freundsrat  und  mit  heuratsleuten,  zu  erben,  wie  recht  im  hof,  hauszen 
(d.  h.  «ohne“)  scheffen  und  gericht  ...  und  haben  vatter  und  mutter 
die  macht  under  den  hindern  eins  auszuhnlen,  welches  in 
geliebt". 

™)  Beispiele  des  Minorats  in  den  Weisthümern:  V,  GO  § 80;  I,  283 
und  361.  Vgl.  im  I hrigen  Schröders  Register  zu  den  Weisthümern  unter 
Minorat.  — Noch  heute  vollzieht  sich  vor  unseren  Augen  im  Pendsehab  die 
Entwicklung  des  Minorates  auf  gleiche  Weise,  ln  den  Bergländern  des 
Kangrabezirks  sind  die  Güter  zu  klein,  um  mehrere  Söhne  zu  ernähren. 
Einer  muss  deshalb  hinaus.  Gewöhnli-h  lässt  sich  nun  der  Aelteste  zuerst 


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112 


gegnen,  der  Vater  werde  oft  nicht  so  alt  geworden  sein,  die 
vollständige  Abfindung  aller  übrigen  bis  auf  den  Jüngsten  durch- 
zuführen. Allein  einmal  werden  die  Bauern  sehr  häufig  alt. 
Und  selbst  wenn  der  Vater  gestorben  wäre,  so  hätten  in  einer 
Gegend,  wo  einmal  die  Sitte  durchgedrungen  war,  die  Kinder 
bis  auf  den  Jüngsten  auszuscheiden,  die  Vormünder  des  Vaters 
das  Werk  fortgesetzt.  Denn  diese  traten  in  der  Verwaltung  voll- 
kommen und  in  ganz  anderer  Weise  als  heute  in  die  Stelle  des 
Vaters.  (Vgl.  I,  100.)  Der  letzte  wichtige  Grund  aber  für 
unsere  Erklärung  des  Minorats  ist  der,  dass  sich  eine  andere 
schlechterdings  nicht  finden  lässt,  am  wenigsten  dann,  wenn  man 
allein  von  der  Untheilbarkeit  ausgeht.  Denn  die  Einerbfolge 
gründet  sich  doch  dann  darauf,  dass  die  Verleihung  nur  an  Einen 
erfolgen  konnte;  und  dass  zu  diesem  Einen  usuell  der  Jüngste 
erwählt  wäre,  ist  ein  unglaublicher  Gedanke. l(is,a)  Stets  wurde, 
wo  es  auf  Verleihung  ankam,  und  sich  dabei  eine  feste  Gewohn- 
heit ausbildete,  in  Deutschland  der  Aelteste  gewählt;  schwerlich 
lässt  sich  auch  nur  ein  Gegenbeispiel  anführen. uo) 


abschichten  und  geht  vom  Hofe  in  Kriegsdienste  oder  sucht  einen  andern 
Erwerb.  Der  Jüngste  bleibt  sonacli  allein,  und  in  seiner  Hand  consolidirt 
das  Gesammteigenthnm  der  Hausgenossenschaft.  Er  wird  sonach  Alleinerbe. 
Wie  in  gleicher  Weise  der  Aelteste  Alleinerbe  wird,  wenn  er  in  der  Were 
zurückbleibt  und  die  jüngeren  Kinder  abschichtet,  werden  wir  gleich  sehen. 
(Vgl.  Köhler  S.  208.) 

,09*)  Fick,  der  das  Anerbrecht  überall  aus  der  vom  Gutsherrn  be- 
günstigten Untheilbarkeit  erklären  will,  geräth  denn  auch  bei  dem  Minorat 
mit  seinen  eigenen  sonstigen  Theorieen  in  argen  Widerspruch.  Er  erkennt 
8.  293  au,  dass  das  Minorat,  aus  der  landrochtlichen  Sitte  fortschreitender 
Ahschichtungeu  erwachsen  sei.  Wie  sich  diese  Behauptung  mit  seinen 
sonstigen  verträgt,  verrät h er  nicht, 

no)  Diese  Sätze  sind  unverändert  aus  des  Verfassers  Referendar- 
arbeit, aus  der  die  gegenwärtige  Abhandlung  entstanden  ist,  übernommen 
Er  glaubte  damals  etwas  Neues  zu  sagen.  Aber  er  hat  wieder  die  Wahrheit 
des  alten  Wortes  erfahren  müssen:  „Nichts  Neues  unter  der  Sonne'“  Bei 
nochmaliger  Durchsicht  der  (Quellen  hat  Verfasser  erkannt  dsss  zwar  von 
den  neueren  Schriftstellern  noch  keiner  die  gleiche  Lehre  aufgestellt  hat. 
so  nahe  auch  manche  dem  Richtigen  gekommen  sind,  dass  aber  schon  im 
J«.  Jahrhundert  jene  Lehren  durch  Matthias  von  Wicht  und  den  oft  ge- 
nannten tüchtigen  Schüler  H.  Conrings,  den  Braunschweiger  August 
N ölten,  ziemlich  in  derselben  Weise  ausgesprochen  und  verlhcidigt  sind. 


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113 

Das  Majorat  dagegen  ist  zwar  auch  auf  dem  Boden  der 
Were  erwachsen:  allein  es  scheint  nicht  so  sehr  ans  denjenigen 
Ausradungen  hervorgegangen  zu  sein,  welche  der  Vater  vornahm, 
als  aus  denen,  welche  die  Kinder  untereinander  vollzogen.  Es 
konnte  sich  zwar  auch  aus  den  vom  Vater  bewirkten  Ausradungen 
entwickeln,  nämlich  durch  die  oben  (bei  Anm.  108)  erwähnte 
Sitte  der  Beibestattung.  Wenn  die  Eltern  nicht  nach  der 
natürlichen  Reihenfolge  abschichtefen,  sondern  von  vornherein  ein 
Kind  als  überbleibenden  Hofeserben  bezeichneten,  so  werden  sie 
hierzu  wohl  meist  den  A eitesten  erwählt  haben.  Schliesslich 
kann  daraus  ein  fester  Brauch  entstanden  sein.  Allein  die  Bei- 
bestattung tritt  nicht  als  weitverbreitete  Sitte  auf;  sie  kann 
deshalb  das  so  weithin  herrschende  Majorat  nicht  allein  erklären. 
Hierzu  müssen  die  Ausradungen,  welche  die  Kinder  unter  sich 
Vornahmen,  herangezogeu  werden.  Dass  diese  einander  ab- 
schichten durften,  ist  oben  gezeigt,  und  entspricht  auch  durchaus 
der  Natur  der  Sache,  ln  den  Gemeinderschaften,  welche  die 
Kinder  untereinander  hatten,  nahm  non  bald  der  Aelteste  aus 
doppeltem  Grunde  eine  herrschende  Stellung  ein.  Einmal  be- 
durfte doch  die  Gemeinderschaft  nach  aussen  der  Vertretung 
eines  Mannes,  der  sie  vor  dem  Grundherrn  oder  vor  Gericht 
repräsentirte ; dies  war  naturgemäss  der  Aelteste.  Ihm  wurde 


Ich  glaube  einer  Ehrenpflicht  zn  genügen,  wenn  ich  flies  flem  Dunkel  der 
Vergessenheit  entreisse. 

Nach  jenen  Autoren  beruht  nämlich,  wie  schon  erwähnt,  das  Erbrecht 
auf  Mitbesitz  am  Gute.  Wer  aus  dem  Besitze  austrat,  verlor  deshalb 
nach  ihnen  sein  Erbrecht.  Nun  traten  die  älteren  Söhne  vor  den  jüngeren 
aus,  1)  weil  sic  Kriegsdienste  nahmen,  während  jene  zu  Hause  blieben, 
2)  „alteram  retentae  a minoribus  paterni  foci  possessionis  causam, 
matrimouium  a maioribus  natu  quam  minoribus  prius  initum  statuimus", 
da  durch  die  Heirat  „maiores  natu  filii  capita  et  principes  propriae 
tiebant  familiae*  und  deshalb  aus  der  alten  Familie  gänzlich  aus- 
schieden; „itaque  minimus  ...  in  possessione  fundi  remanebnf.  So 
blieben  die  jüngsten  Söhne  im  Alleinbesitz  des  väterlichen  Gutes  zurück 
und  wurden  so  von  selbst  Alleinerben  und  Alleineigenthümer,  wenn  ihr 
Vater  nebeu  ihnen  fortfiel:  „Ex  quibus  iatn  satis  liquere  puto  minimum 
tratrem  tantum  non  fd.  h.  „beinahe“)  semper  in  proxima  fundi  paterni 
possessione  atque  ex  ea  successorem  fuisse“  (Nolten  S.  25  ff,  i 

In  der  That  eine  merkwürdige  Übereinstimmung  mit  unseren  Aus 
führungen ' 

Dultzig,  Gründer  brecht.  $ 


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114 


allein  das  Gut  verliehen;'11)  er  kam  allein  nach  aussen  in 
Betracht,  nur  bei  seinem  Tode  wurde  deshalb  Sterbefall  ent- 
richtet.112) Ebenso  bedurfte  aber  die  Hausgenossenschaft  nach 
innen  der  Organisation.  Waren  noch  unmündige  Geschwister 
da,  so  war  der  Aelteste  als  nächster  Schwertmage  schon  von 
vornherein  deren  Vormund.  Diese  Thatsache  mochte  ihm  dazu 
verhelfen,  dass  ihm  auch  die  grossjährigen  Geschwister  die 
Vertreterschaft  der  Gesammtliand  übertrugen.  So  gewann  er 
eine  überragende  Stellung.  Und  wenn  er  nun  zur  Ausberadunc 
seiner  Mitgemeiner113)  schritt,  so  blieb  er  schliesslich  als  Einziger 


ul)  Die  Stellen  hierüber  sind  sehr  zahlreich.  Wir  führen  einige  an: 
IV,  3G9  ^Luzern)  „und  mit  dem  val  und  mit  dem  erbschatze  hat  das 
eitest  kind  das  erb  empfangen  ze  der  kinder  aller  henden“. 

IV,  372  § 10  (Emmen)  „.  . . so  soll  ein  probst  bi  dem  eisten  kind 
die  andern  kinden  ir  erbe  senden,  und  hant  damit  du  kinde  allu  ir 
erbe  enphangen“. 

Dieselbe  Formel  findet  sich  IV.  37»  § 21  und  Öfter.  — IV,  4SI  § 14 
(Egringeu  nördlich  von  Lörrach)  „Und  mogent  die  liuber  iren  kinden  geben 
die  güter,  die  in  den  hoff  gehörent,  also  doch,  das  der  ältest  traget 
sye  der  güter  ze  hoff  und  den  zins  gebe  von  denselben  giitern  und 
die  güter  habe  in  rechtem  buwe“.  Fast  wörtlich  so  I,  321. 

Für  die  gerichtliche  Vertreterschaft  spricht  sich  aus  I.  152  (Einsiedeln  i 
„wer  aber,  daz  vil  briider  in  einem  hus  und  in  einer  cost  ungeteilt 
werint,  so  mag  wol  der  eltist  bruder  zu  den  gerichten  gan  und 
dio  anderen  brüder,  so  daheim  beliben,  versprechen“.  Etc.  etc. 

m)  Auch  dies  findet  sieh  sehr  oft;  z.  B.  I,  190:  „Item  wa  ouch  un- 
getailti  geschwustergit  sind,  das  knaben  waerint,  gat  da  der  eltst  ab.  voc 
dem  nimpt  der  abt  ainen  val;  sturb  aber  der  ains  ab.  daz  nit  daz  eltst 
waeri,  von  dem  nimpt  er  mit“  (Appenzeller  Land).  So  oft,  zumal  im  Ge- 
biete von  Zürich  und  von  St.  Blasien  im  Schwarzwald.  — So  auch  schon 
die  Rechte  der  Wachszinsigen  des  heiligen  Patroclus  zu  Soest  von  im 
und  1150  (bei  Sommer  1.  c.  Bd.  2 S.  123):  „Sunt  quippe  in  eadem  familia 
(d.  h.  Hofgenossen  Schaft)  plurimae  cognatioues,  iuquibns  singnlis,  qui  senior  fuit. 
duos  numtnoa  vel  duos  eiusdem  pretii  cerae  fundos  anuuatim  ad  altare 
I’atroni  nostri  deferre  debebit,  ceteris  omuibus  a condition«  debiti  huius 
liberis  permauentibus.  Cum  vero  senior  illo  obierit,  primus  aetate  et  consan- 
guinitate  ad  persolveudum  Üensuin  locum  eius  obtinebit;  pro  defuncto 
autem  melius  indumentum,  quod  habuit,  ad  altare  del'eratur.  se.i 
nullus  juniorum  hac  lege  teuebitur“. 

113)  Im  heutigen  Rechte  des  I’eudschab  sind  die  Geschwister  gesetzlich 
dazu  verpflichtet,  solche  Abfindung  anznnehmen.  Im  Kangbrabezirk  müssen 
die  jüngeren  Geschwister  ausserhalb  Unterhalt  suchen,  wenn  da»  Gut  nicht 


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115 


übrig,  so  dass  in  seiner  Hand  das  Gesammteigenthum  con- 
solidirte,  und  er  als  wahrer  Anerbe  dastand.  Der  einzige 
Schritt,  den  die  Rechtsentwicklung  zu  thun  hatte,  war  der,  das 
Resultat  vorauszunehmen  und  nicht  erst  abzuwarten,  bis  die  Mit- 
erben dem  Aeltesten  die  Vertretung  der  Gesammthand  über- 
trugen, sondern  ihn  gleich  an  des  Vaters  Stelle  zu  setzen. 
Dieser  Schritt  war  auch  formell  nicht  gross;  man  brauchte  nur 
aus  den  Rechtsweisungen,  z.  B.  aus  den  eben  citirten  Weis- 
thümern  den  Passus  „ze  der  kinder  aller  bänden“  fortzulassen; 
und  diesen  Wortlaut  hat  in  derThat  das  Weisthum  von  Willich 
bei  Krefeld  (1499),  welches  das  Majorat  statuirt.  Es  lautet 
(II,  76.3):  . . . so  wann  eer  ein  hafsmann  stirbt  zo  der 

neister  tinsbank.  soll  der  eiste  soen  koemen  und  untfaugen  dat 
guet  weder  an  die  hand  und  staen  in  dem  eid  sins  vaders“. 

Doch  nicht  allein  die  Weisthümer  lassen  erkennen,  wie 
leicht  die  hervorragende  Stellung,  die  der  Aelteste  in  der  Ver- 
waltung des  Familiengutes  einnahm,  in  ein  wirkliches  Majorat 
übergeht.  U eberall,  wo  arische  Rechtsanschauungen  über  das 
Familienleben  gelten,  finden  sich  dafür  Beispiele. 

Wir  haben  oben  (§  4 bei  Anm.  28)  auf  das  indische  Recht 
hingewiesen,  wo  der  älteste  Sohn  an  Vaters  statt  die  Haus- 
haltung fortführt  und  dessen  altes  Hausfeuer  wieder  anfacht. 
Wir  haben  auch  betont,  dass  der  Aelteste  darum  noch  nicht 


für  alle  ausreicht  (vgl.  Kühler  S.  207).  In  Deutschland  ist  eino  gleiche 
Verpflichtung  für  alte  Zeiten  allgemein  nicht  nachweisbar.  Nur  für  Töchter 
findet  sie  sich  im  Recht  von  l’ayerne  (bei  Huber  S.  42).  Doch  auch  ohne 
gesetzliche  Verpflichtung  Hessen  sich  Söhne  und  Töchter  jene  Abfindung 
gern  gefallen,  Denn  wenn  auch  die  Ausberadnng  geringer  sein  konute  als 
der  Civilerbtheil,  so  lag  bei  der  richtigen  Theiluug  die  grosse  Unbequemlichkeit 
vor,  dass  die  Lasten,  welche  vorher  auf  dem  Ganzen  lagen,  nun  auf  jedem 
Th  eil,  aber  ungetheilt  lasteten.  So  z.  B.  giebt.  nach  dem  Rechte  von 
Weidelbach  im  Hnndsrück,  jeder  Theil  ein  Besthaupt,  so  lange  mau  noch 
„ein  dreistemplichen  stulil  druf  stellen  könnt.“  (II,  172).  (Vgl.  über  die 
auch  nach  der  Theilung  bestehende  Solidarhaftung:  v.  Schwind  S.  65  ft'.,  und 
für  Bayern:  Fick  S.  27).  — Diese  und  andere  Unannehmlichkeiten,  im  Verein 
mit  den  socialwirtbschaftlichen  Verhältnissen,  bewirkten  es,  dass  das  An- 
erben- und  Wererecht  sich  so  ausbreitete.  Doch  wirkten  namentlich  die 
wirtbschaftlichen  Verhältnisse  stärker  im  Norden  und  Nordwesten  als  im 
Süden  und  Südwesten  (vgl  v.  Miaskoswki  Bd.  1 S.  72  f.) 

8* 


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116 


Alleinerbe  ist,  da  später  bei  der  Erbtheilung  seine  Geschwister 
ein  gleiches  Tlieil  mit  ihm  nehmen.  Es  lag  aber  nahe,  ihn  als 
alleinigen  Erben  anzusehen,  da  er  ja  alles  das  erhielt,  was  der 
Vater  gehabt  hatte,  nämlich  die  Verwaltung  des  Hausgutes. 
Es  wird  deshalb  nicht  Wunder  nehmen,  dass  ihn  einige  indische 
Quellen  geradezu  als  alleinigen  Erben  bezeichnen.  Die  Aeusserung 
Gautamas:  „Das  ganze  Vermögen  mag  an  den  Erstgeborenen 
kommen  und  er  soll  die  Uebrigen  wie  ein  Vater  halten“,  braucht 
man  noch  nicht  nothwendig  dahin  zu  verstehen.  Aber  mit 
dürren  Worten  spricht  Apastamba  aus:  „Einige  erklären,  dass 
der  älteste  Sohn  allein  erbt“,  wozu  der  Commentator 
Haradatta  anmerkt:  „Die  andern  leben  unter  seiner  Protektion“. 
(Vgl.  Leist,  jus  gentium  S.  417). 

Doch  auch  im  deutschen  Rechte  selbst  fehlt  es 
auch  ausserhalb114)  der  Weisthümer  nicht  an  Zeugnissen, 
welche  aus  der  vertretenden  Stellung  des  Aeltesten  in 
der  Hausgemeinschaft  ein  alleiniges  Erbrecht  desselben  ab- 
leiten. Wenigstens  die  volle  Verwaltung  und  Vertretung  nach 
aussen  und  innen  gewährt  dem  Aeltesten  das  Rechtsbuch  Kaiser 
Ludwigs,  wenn  es  sagt  (c.  117  bei  v.  Freiberg,  Sammlung 
histor.  Schriften  IV,  432):  „swo  chint  sint,  geschwistergeit,  die 
ungetailt  sint  von  einander,  und  daz  eitest  under  den  chinden 
recht  suocht,  daz  si  allew  antrifft,  umb  swelcherlay  sache  daz 
ist,  ze  gewin  und  ze  Verlust,  dieweil  si  ungetailt  sint,  und 
swaz  daz  behabt,  dez  stillen  sie  auch  geniezzen,  und  swaz  ez 
daran  verlust  liet,  dez  stillen  sie  auch  entgelten“.  Geradezu 
als  alleinigen  Erben  betrachten  aber  den  Aeltesten  die 
friesischen  Quellen.  Das  21.  Landrecht  bestjmmt,  dass  im 
Rechtsstreite  über  das  Eigenthum  derjenige  der  Klage  zu 
beantworten  habe,  „der  im  Hause  der  älteste  sei,“  und  zwar 
so,  wie  es  nur  der  Alleinerbe  sonst  thun  darf:  „.  . . thet 
lefde  m i min  aldefeder  . . . demth  hit  m i thi  asega“.  Nach 
dem  Schulzenrechte  ist  die  Stellung  des  ältesten  Bruders  der 
des  Vaters  sogar  derart  angeglichen,  dass  die  jüngeren  Brüder 
nicht  einmal  ohne  seine  Erlaubnis  auf  den  Hof  heirathen  dürfen. 
(Vgl.  v.  Amira  S.  201  und  200).  Und  auch  in  Burgund  findet  sich 


IM)  Auch  das  ist  ein  Beweis  neben  den  vielen  anderen,  dass  das 
Anerbenrecht  keineswegs  ein  ausschliesslich  hofrechtliches  Institut  ist. 


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117 


eine  Stellung  des  Aeltesten  in  der  Hausgemeinschaft,  die  einem 
vollen  Anerbenrecht  entweder  sehr  nahe  kommt  oder  ein  solches 
ist,  und  zwar  vornehmlich  bei  den  freien  Gütern.114*) 


llu)  Vgl.  Huber  S.  17,  Anm.  8.  — Auch  in  Frankreich  war  daa 
Majorat  unter  dem  Namen  droit  d'ainesse  sehr  verbreitet.  Selbst  Brentano 
(Zukunft  S.  444)  und  Fick  (S.  288)  erkennen  dies  an.  Fick  ist  sogar  der 
Ansicht,  dass  jenes  Recht  aus  der  deutschrechtlichen  Vorsteherschaft  des 
Aeltesten  in  der  Hausgenossenschaft  abzuleiten  sei,  und  dass  sich  auf  dem 
gleichen  Wege  auch  in  Deutschland  ein  Anerbenrecht  oft  entwickelt  habe. 
Er  meint  jedoch,  dass  sich  für  Bayern  ein  Gleiches  nicht  werde  nachweisen 
lassen  (S.  288).  Indessen  wenn  in  anderen  germanischen  Kechtsgebieten 
ein  Institut  aus  einem  bestimmten  Gedanken  entsprossen  ist,  so  spricht 
doch  eine  starke  Vermuthung  dafür,  dass  auch  in  Bayern  derselbe  Gedanke 
der  treibende  war.  Dieser  Vermuthung  gegenüber,  die  hier  noch  durch  die 
oben  citirte  Stelle  aus  dem  Rechtsbuche  Kaiser  Ludwigs  wesentlich  ver- 
stärkt wird,  muss  umgekehrt  der  Nachweis  verlangt  werden,  dass  in  Bayern 
jener  Gedanke  nicht  massgebend  gewesen  sein  kann  Solcher  Nachweis  ist 
aber  nicht  einmal  versucht.  Die  Ursachen  vollends,  die  Fick  anstelle  der 
von  uns  herangezogenen  für  Bayern  in  Anspruch  nehmen  zu  dürfen  glaubt, 
sind  gekünstelt  und  haltlos,  wie  sich  noch  zeigen  wird.  — Brentano  führt 
das  droit  d'ainesse  auf  Einflüsse  des  römischen  Rechts  und  der  Bibel  zurück 
(Zukunft  S.  444,  445).  Allein  was  die  Bibel  anbetrifft,  so  hat  sie  sonst 
nirgends  in  Deutschland  und  Frankreich  auf  die  Rechtsbildung  eingewirkt; 
dass  ab  und  zu  das  droit  d'ainesse  mit  dem  biblischen  Erstgeburtsrecht 
motivirt  wird,  beweist  noch  nicht,  dass  es  aus  ihm  entstanden  ist  ; es  kann 
dieser  Hinweis  auch  nur  eine  Unterstützung  oder  Beschönigung  des  ander- 
weit  entstandenen  Institutes  bezwecken.  Was  ferner  die  Beeinflussung 
durch  römisches  Recht  anbelaugt,  so  ist  diese  Erklärung  sehr  wenig  wahr- 
scheinlich für  die  nordfranzüsischeu  und  für  die  zuBurgund  gehörigen  Gebiete, 
wo  das  römische  Recht  selbst  später  nie  einen  nennenswerthen  Einfluss 
gehabt  und  sich  in  den  coutumes  bekanntermaseeu  ein  starker  Bestand  sehr 
germanischen  Rechts  erhalten  hat.  Immerhin  wäre  die  von  Brentano  ver* 
muthete  Einwirkung  denkbar.  Wenn  wir  sie  gleichwohl  ablehnen,  so  ge- 
schieht es,  weil  auch  eine  denkbare  Erklärung  neben  einer  besseren  von 
selbst  hinfällig  wird.  Und  besser  ist  jedenfalls  die  Erklärung,  welche  ein 
allgemeines  Institut  auch  aus  einer  allgemeinen,  gleicbmässig  bei  Deutschen, 
Franzosen,  Indern  etc.,  kurz  bei  allen  Ariern  wirkenden  Ursache  ableitet. 
Uebrigens  ist  auch  nach  der  Brentanoschen  Lehre  der  letzte  Grund  des 
Anerbenrechts  doch  die  deutschrechtliche  Hausgemeinschaft  und  die  Vor- 
steherschaft des  Aeltesten  in  ihr.  Nur  die  Uuwerthung  dieser  Vorsteher- 
schaft in  ein  reines  Erbrecht  schreibt  er  auf  Rechnung  des  römischen  Rechts. 
Diese  Uuwerthung  wrird  aber,  wie  wir  sehen,  durch  die  Sitte  der  Ausradungen 
so  vou  selbst  berbeigeführt,  dass  es  dazu  garnicht  des  römischen  Rechtes 
bedarf. 


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11? 


Erhellt  schon  aus  alledem,  dass  auch  in  Deutschland  sich 
das  Anerbenrecht  ganz  unabhängig  vom  Hofrecht  aus  der  Haus- 
gemeinschaft entwickelt  hat,  so  liegt  der  stärkste  und  unwider- 
leglichste  Beweis  dafür  doch  darin,  dass  noch  heute  die  Haus- 
gemeinschaft oder,  wie  sie  jetzt  heisst,  die  „Kommunhausung' 
in  derselben  Weise,  wie  wir  es  schilderten,  die  ungetheilte 
Vererbung  herbeiführt. 

Bei  der  Kommunion  der  Geschwister  untereinander  lässt 
sich  allerdings  der  alte  Abschichtuugsmodus  heute  nicht  mehr 
überall  rein  verfolgen.  Ungetheilte  Uebernahme  entsteht  zwar 
auch  heute  noch  überall  aus  solcher  Gemeinschaft  (Fick  S.  58  öl», 
64/65,  80,  95  u.  s.  w.).  Allein  es  findet  sich  nicht  überall 
Uebernahme  durch  den  Aeltesten.  Das  kommt  wohl  einmal 
daher,  dass  die  Mundwaltschaft  des  Aeltesten  in  solchen  Ge- 
meinschaften heute  fast  nicht  mehr  besteht,  vor  allem  aber 
daher,  dass  die  Gemeinschaft  nur  noch  selten  durch  fort- 
schreitende Ausradungen  ihrem  natürlichen  Ende  entgegen- 
geführt wird.  Vielmehr  wird  sie  heute  nur  als  ein  Interims- 
zustand betrachtet  (Fick  S.  65). 

Aber  bei  der  Hausgemeinschaft  der  Eltern  mit  Kindern 
finden  sich  noch  heute  Zustände,  deren  Schilderung  aus  unseren 
obigen  Darlegungen  abgeschrieben  sein  könnte.1141*)  So  heisst 
es  aus  der  Gegend  von  Sonthofen  und  Kempten  (Fick  S.  106): 
„Es  wird  meist  gemeinschaftlich  zwischen  dem  überlebenden 
Ehetheile  und  den  Kindern  oder  selbst  nach  Ableben  beider 
Eltern  dennoch  zwischen  den  Kindern  fortgehaust  und,  wenn 
einzelne  Genossen  wegheirathen  oder  sonst  austreten 
und  dann  abgefunden  — „ausgelöst“  — worden,  das 
gleiche  Verhältnis  unter  den  übrigen  fortgesetzt“.  Diese 
Vorgänge  führen  so  naturgemäss  zu  der  dort  hergebrachten 
ungeteilten  Hofesübernahme,  dass  es  dazu  nicht  einmal  der 
sonst  so  üblichen  Uebergabs Verträge  bedarf,  welche  in  jener 
Gegend  nicht  häufig  sind  (Fick  S.  106).  Und  da  nach  der 
angeführten  Stelle  die  Communhausung  zwischen  Eltern  und 
Kindern  derart  das  Regelmässige  ist,  dass  die  Communhausung 
zwischen  den  Kindern  allein  nur  als  deren  Fortsetzung  und 
Nachbildung  erscheint,  die  von  den  gleichen  Principien  beherrscht 

»“>)  Beispiele  aus  dem  vorigen  Jahrbuudert  vgl.  § 13. 


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119 


wird,  so  hat  sich  hier  auch  das  Minorat  herausgebildet,  das  ja 
meist  die  Folge  der  Hausgemeinschaft  zwischen  Eltern  und 
Kindern  und  der  Abschichtungen  durch  erstere  ist.  Wenn  es 
nämlich  auch  heute  nicht  mehr  streng  beachtet  wird,  und  wohl 
von  jeher  nur  das  Gewöhnliche,  aber  nicht  das  Ausschliessliche 
gewesen  ist,  so  giebt  doch  schon  die  alte  Rettenberger  Landes- 
ordnung dem  jüngsten  Sohne  wenigstens  ein  Vorkaufsrecht  auf 
„Behausung  und  Hofraytien“  gegen  einen  „ziemlichen  Landt- 
leufigen  Kaufschilling“  und  die  heutige  Praxis  hat  das  sogar 
auf  alle  Liegenschaften  ausgedehnt.  Aehnliche  Verhältnisse 
herrschen  noch  fast  überall  im  Allgäu,  (z.  B.  Fick  S.  103), 
sodass  ein  Berichterstatter  die  Communhausungen  geradezu  als 
eine  Spezialität  des  Allgäus  bezeichnet  (Fick  S.  112).  Das 
Minorat  findet  sich  demgemäss  auch  sonst  dort  verbreitet, 
z.  B.  gilt  es  nach  dem  Rothenfelser  Landesbrauch  (Fick  S.  1 1 1), 
wenngleich  auch  dieser  heute  nicht  mehr  streng  beachtet  wird; 
ja  ich  bin  überzeugt,  dass  es  einer  eingehenden  Forschung  ge- 
lingen würde,  das  Minorat  als  einstige  Regel  für  das  ganze 
Allgäu  zu  erweisen. 

In  einem  Theile  Bayerns  endlich,  im  Bezirke  Marktheiden- 
feld, ist  sogar  das  Zusammenhausen  des  Vaters  und  Grossvaters 
mit  verheiratheten  Söhnen  und  Enkeln  üblich.  Und  wie  sehr 
derartige  Hausgemeinschaften  ganz  abgesehen  von  Hofrecht 
und  Gebundenheit  der  Güter  sogar  noch  heute,  wo  doch  jene 
Besonderheiten  längst  verschwunden  sind,  zur  ungetheilten 
Uebergabe  drängen,  dafür  ist  es  ein  schlagender  Beweis,  dass 
heute  der  Bezirk  Marktheidenfeld  zur  ungetheilten  Uebergabe 
greift,  trotzdem  er  im  Gebiete  des  Mainzer  Landrechts  liegt, 
also  in  einem  klassischen  Lande  der  Realtheilung.  (Vgl.  Fick, 
S.  260/261). 

Ueberhaupt  sind  Theilung  und  Einzelübernahme  zwar 
Gegensätze,  aber  keine  unüberbrückbaren;  beide  wurzeln  ja 
auch  im  Hauseigenthume  als  verschiedene  Arten  seiner  Lösung. 
Die  Uebergänge  zwischen  beiden  sind  denn  auch  heute  noch 
fliessende,  örtlich  sowohl  wie  sachlich.  Namentlich  dann,  wenn 
die  Theilung  successive 1I5)  vor  sich  geht,  kann  sie  mit  der 

,15)  Das  soll,  wie  wir  sahen  (§  10),  nach  den  Regeln  der  Theilung 
eigentlich  nicht  stattfiuden.  Das  successive  Vorgehen  ist  denn  auch  nur 


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120 


ursprünglich  ja  immer  schrittweise  erfolgenden  Abscliichtung 
grosse  Aehnlichkeit  haben,  namentlich  mit  der  Abschichtung, 
die  zum  Theil  in  Grundstücken  geleistet  wird.  Eine  solch' 
successive  Theilung,  wie  wir  sie  heute  vielfach  noch  in  Unter- 
franken sehen  (Fick  S.  225  226),  lässt  nämlich  überall  wenigstens 
Haus  und  Hofrieth  (Scheuer  und  Garten)  mit  einigen  Aeckern 
in  der  Hand  des  letztverbliebenen  Kindes,  meist  des  Jüngsten, 
zurück.  Damit  ist  die  Entstehung  eines  Vorrechts  des  .Jüngsten 
für  das  Haus  mit  Umgriff  sehr  nahe  gelegt.  Solches  Vorrecht, 
das  sich  vielfach  findet,  bildet  nun  aber,  wie  wir  bei  der 
Rettenberger  Landesordnung  bemerken  konnten,  eine  Vorstufe 
des  Minorates  und  der  ungeteilten  Vererbung.  Ja  im  Gebiete 
dieser  Landesorduung  ist  sogar  das  Mittelglied  zwischen  dem 
blossen  Anrechte  auf  das  Haus  und  dem  Ansprüche  auf  da? 
gesammte  Land  noch  vorhanden.  Eine  Mittelbildung  ist  es 
nämlich,  wenn  ausser  der  Hofrieth  noch  ein  Theil  der  Aecker 
als  Zubehör  des  Hauses  betrachtet  und  nur  die  übrigen  Grund- 
stücke in  natura  getheilt  werden,  wie  wir  es  über  die  Ge- 
meinde Oberstdorf  lesen.  (.Fick  S.  107).  Es  bildet  sich  damit 
die  früher  in  Deutschland  so  bekannte  Unterscheidung  zwischen 
Stammland  und  „walzendem“  oder  „fliegendem“  Lande  heraus. 
Nun  ist  es  aber  eine  bekannte  Thatsache,  dass  der  Unterschied 
des  walzenden  Landes  und  des  festen  fast  allgemein  verschwunden 
ist;  aber  es  ist  nicht  etwa  das  Stammland  zu  walzendem  ge- 
worden, sondern  es  ist  umgekehrt  auch  das  walzende  Land  zum 
Stammgut  gezogen.  Auch  dieser  Vorgang  lässt  sich  noch  be- 
legen. So  ist  in  Monheim  noch  im  vorigen  Jahrhundert  walzendes 
Land  vorhanden  gewesen,  mit  dem  Kinder  ausgesteuert  wurden: 


ein  scheinbares.  Die  Theilung  ist  immer  prinzipiell  eino  Grundtheilum:. 
(vgl.  auch  Ficker  S 125,  Bd.  2).  Wenn  niimlich  der  Vater  erst  dem  einen 
Sohn  einen  vollen  Vermögenstheil  mitgiebt,  mit  dem  andern  aber  uoeh 
zusammenhleibt,  so  wild  iu  der  Idee  auch  dessen  Anthcil  ausgeschieden,  er 
wird  nur  sofort  wieder  mit  dem  des  Vaters  zusainmengeworfen  und  deshalb 
nicht  auch  in  natura  hergostellt.  Eigentlich  wird  also  zwischen  dem  ver- 
bleibenden Sohne  und  dein  Vater  nach  der  Theilung  eine  neue  Hausgemein- 
schaft geschlossen.  Die  Quellen  reden  deshalb  auch  folgerichtig  vou 
„Remettre*  oder  „Reponere  iu  hcicditatetn*.  (Ficker  Bd.  2,  S.  125.  Vgl. 
auch  Würzburger  Landgerichtsordnung  bei  Fick  S.  20s).  Ob  heute  u.  r 
gleiche  Ideengang  noch  lebendig  ist,  wage  ich  nicht  zu  entscheiden. 


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121 


heute  bleibt  der  gesamtste  Grund  und  Boden  stets  zusammen. 
(Fick  S.  94  und  oben  § ].)  Vor  allem  aber  für  das  ganze 
Gebiet  des  Bayreuther  Landrechts  lässt  sich  das  Aufgehen  des 
walzenden  Landes  im  Stammgut  constatiren.  Das  dort  übliche 
Vorsitzrecht  des  Jüngsten  bezog  sich  nämlich  nach  den  Rechts- 
quellen nicht  auch  auf  das  walzende  Land.  Heute  weiss  man 
nun  von  diesem  Unterschiede  nichts  mehr  und  giebt  dem 
Jüngsten  ein  Recht  auf  alle  Liegenschaften  (Fick  S.  183). 
Damit  ist  aber  die  Entwicklung  bis  zur  völlig  ungetheilten 
l'ebergabe  vollendet.11'’*) 

Allerdings  ist  dann  noch  nicht  gesagt,  dass  sich  ein  wahres 
auerbenrechtliches  Minorat  oder  Majorat  herausgebildet  hat. 
Denn  auch  das  ungetheilt  vererbte  Gut  könnte  ja  civiliter  ge- 
theilt  werden.  Anerbenrecht  liegt  aber  nur  dann  vor,  wenn 
jene  eigentümliche,  billigmässige  Bewertung  des  Hofes  statt- 
flndet,  wie  wir  sie  ölten  kennzeichneten.  Indessen  auch  hier 
tritt,  sobald  ein  Tlieil  der  Hausgemeinschaft  nicht  mehr  reell 
geteilt  wird,  sofort  der  Gedanke  hervor,  dass  davon  den  leer 
Ausgehenden  nur  die  entzogene  Nutzung  nach  vernünftigem  Er- 
messen zu  vergüten  ist  unter  Berücksichtigung  aller  Umstände, 
wie  der  Kräfte  des  Hofs,  der  Unterschlupfrechte  und  dgl.  Es 
wird  deshalb  nie  eine  Schätzung  nach  dem  Verkaufswerthe, 
sondern  eine  billige  Bewertung  vorgenommen. 

Was  das,  noch  auf  Haus  und  Hofrieth  beschränkte,  Minorat 
anbetrifft,  so  ist  hier  für  die  frühere  Zeit  allerdings  jeue  billige 
Bewertung  nicht  ganz  zweifellos.  Die  landrechtlichen  Quellen 
wenigstens  reden,  wie  wir  hörten,  von  einem  „ziemlichen  landt- 
leuflgen  Kaufschilling1-.  Allein  wenn  hiermit  wirklich  der  Ver- 
kaufswerth gemeint  sein  sollte,  so  würde  noch  zu  erwägen  sein, 


115*j  Und  zwar  gewöhnlich,  wie  in  Bayreuth,  zum  Minorat;  denn  die 
erste  Stufe  der  ungetheilten  Vererbung,  die  ungetheilte  Uebergaüe  von 
Haus-  und  Hofrieth  zeitigt,  wie  bemerkt,  meist  eine  Uebcrgabe  an  den 
Jüngsten.  Doch  nicht  immer.  Da,  wo  die  Eltern,  wie  in  Unter-Franken 
hierbei  ihre  alte  Freiheit  in  der  Beibestattung,  ihre  alte  Befngniss 
unter  den  Kindern  das  „auezuhcdeu.  welches  ihnen  geliebet",  bewahrt  haben 
(vgl.  Fick  S.  *22),  entwickelt  sich  entsprechend  unserer  obigen  Darlegung 
die  ungetheilte  Vererbung  als  Majorat,  weil  die  Wahl  meist  auf  den 
Aeltesten  fallt.  (Vgl.  Fick,  S.  230J.  — 


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122 


inwieweit  diese  Bestimmung  auf  Rechnung  der  des  Bauern- 
rechts  unkundigen  Verfasser  gesetzt  werden  müsste.  Ferner 
aber  ist  es  sehr  wohl  möglich,  dass  jene  Worte  doch  auf  eine 
billige  Schätzung  zielen.  Der  Ausdruck  „Kauf '‘-Schilling  steht 
dem  nicht  entgegen.  Denn  auch  bei  ausdrücklich  angeordnetcr 
billiger  Schätzung  reden  doch  oft  die  Quellen  von  „kaufen“  .u5b) 
Die  Ausdrücke  „ziemlich“  und  „landtleuffig“  sprechen  dagegen 
dafür.  Mit  „landtleuffig“  wird  auf  den  allgemeinen  Brauch 
verwiesen,  und  mit  „ziemlich“  soll  wohl  dasselbe  gesagt 
sein,  wie  mit  dem  Worte  „leidentlich“  im  bayrischen 
Landrechte.  Der  Sinn  der  Bestimmung  würde  demnach  sein:  es 
soll  billiger  geschätzt  werden  in  der  Art,  wie  es  im  Lande  allgemein 
Brauch  ist.  Wie  dem  aber  auch  sei,  jedenfalls  erweisen  die  im  § 3 
citirten  Weisthümer  die  eigenthümliche  Schätzung  auf  für  das 
Minorat  in  Haus  und  Hof.  Und  was  die  heutige  Gestaltung 
anbetrifft,  so  wird  hier  noch  immer  über  den  Uebernalunspreis 
von  Haus  und  Hofrieth  berichtet,  ihr  Werth  werde  „häufig: 
bedeutend  unter  dem  Verkaufs werthe  angeschlagen“  und  die 
Uebernahme  geschehe  „meistens  um  einen  etwas  niedrigeren 
Preis  als  der  wahre  Werth  sich  beläuft“  (Fick  S.  223,  247). 

Sobald  jedoch  die  ungetheilte  Vererbung  über  Haus  und 
Hof  hinausgreift  auf  einen  Theil  der  Feldflur  oder  gar  auf  das 
ganze  Ackerland,  so  ist  die  billige  Schätzung  über  allen  Zweifel 
erhaben.  Denn  sie  besteht  dort  noch  heute.1150) 

So  haben  wir  denn  gesehen,  wie  die  unzweifelhaft  land- 
rechtliche  Hausgemeinschaft  noch  heute  zur  ungetheilten  Ueber- 
nahme führt,  und  wir  haben  ferner  beobachtet,  wie  die  Ueber- 
gänge  von  der  ebenfalls  zweifellos  landrechtlichen  Grundtheilung 
zum  Anerbenrecht  sich  noch  heute  verfolgen  lassen.  Wir  waren 


mi*)  Vgl.  das  oben  (§  3J  eitirte  Weistlium  von  Biiuzen. 

1W*J  Unzweifelhaft  beim  Minorat.  In  der  Regel  auch  beim  Majorat 
Xur  in  Unterfranken  wird  sic  für  letzteres  von  einigen  Berichterstattern 
geleugnet,  aber  wohl  mit  Unrecht.  Denn  der  sonstige  Iubalt  ihrer  Berichte 
ergieht  gerade  jene  billige  Abwägung  aller  Umstände,  sodass  die  Bericht- 
erstatter „eine  allgemeine  Norm"  der  Preisbemessung  „nicht  angeben" 
können.  Ausserdem  wird  die  Rücksicht  auf  die  „Familien-  und  Vermögens- 
Verhältnisse  der  Eltern“,  also  offenbar  auf  die  Kräfte  der  Erbschaft  aus- 
drücklich hervorgehoben.  Fick  sagt  denn  auch  selbst  nur,  eine  „beab- 
sichtigte“ Bevorzugung  des  Uebernebmers  sei  selten.  (Fick  S.  232,  233 j. 


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123 


deshalb  wohl  berechtigt,  zu  behaupten,  es  lasse  sich  das  An- 
erbenrecht auch  aus  dem  Landrechte  herleiten.  Dass  diese  Her- 
leitung aber  besser  ist,  wie  die  aus  dem  Hofrechte,  ergiebt  sich 
daraus,  dass  sie  mehr  erklärt  als  die  andere.  Man  braucht 
sich  nun  nicht  mehr  zu  wundern,  wenn  man  auch  auf  freien  Gütern 
ein  Anerbenrecht  antrifft.  Man  braucht  ferner  bei  der  flüssigen 
Grenze  zwischen  getheilter  und  uugetheilter  Vererbung  nicht 
erstaunt  zu  sein,  wenn  in  Franken  beides  bunt  durcheinander 
geht.  Und  es  begreift  sich  nunmehr  vor  allem,  warum  für  die 
Berechnung  der  Abfindungen  von  Anfang  an  auch  der  Hofes- 
werth  herangezogen  wurde,  und  warum  sogar  Theile  des  Gutes 
als  walzendes  Land  zur  Anrechnung  auf  die  Abfindung  mit- 
gegeben werden  konnte.11’“1) 


§ 12. 

In  dieser  Weise  hat  sich  das  bäuerliche  Anerbenrecht  in 
den  letzten  Zeiten  der  Weisthümer  entwickelt  und  bis  zu  den 
Tagen  der  Landesordnungen  ziemlich  unverändert  bestanden. 
In  dieser  Weise  war  es  auch  in  Geltung,  als  das  römische 
Recht  eindrang  und  die  wichtige  Frage  auftauchte,  wie  sich 
dieses,  und  wie  sich  die  gelehrten  Juristen  zu  dem  Bauernrechte 
stellen  würden.  Im  Ganzen  genommen  muss  man  hier  der 
romanisierenden  Jurisprudenz  zugeben,  dass  sie  diesem  Theile 
des  deutschen  Rechts  ein  grösseres  Verständniss  entgegen- 
gebracht hat  als  den  meisten  andern.  Im  Einzelnen  wurden 
der  Abfindung  selbstständige  theoretische  Studien  kaum  ge- 
widmet. Vielmehr  sind  es  die  allgemeinen  Ansichten  über  die 
Art  des  bäuerlichen  Besitzrechts  überhaupt,  welche  natur- 
gemäss  auch  auf  die  rechtlichen  Eigenschaften  der  Abfindung 
wie  auf  das  ganze  bäuerliche  Erbrecht  eine  tiefgreifende  Ein- 
wirkung ausgeübt  haben.  Die  geschichtliche  Darstellung  von 


UM)  Pen  oben  (§  3 a.  E.)  citirteu  Weisthiiinern  sei  hier  noch  eines 
biuzugefugt: 

I,  IliO  (Andelfingen  im  Züricher  Land J : .Alle  lüt,  die  miner  herrsclinft 
guter  band  und  och  lib  und  gut  sin  eigen  ist.  die  mogent  weil  ieru 
kinder  beraten  mit  den  giitern,  (also  trotz  der  Leibeigenschaft  !) 
und  sol  in  nieman  des  vor  sin*. 


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124 


den  Schicksalen  des  Anerbenrechts  seit  derReceptionszeit  muss 
deshalb  auf  diese  allgemeinen  Theorien  fast  allein  Rücksicht 
nehmen. 

In  den  Tagen  der  Reception,  welche  mit  einer  so  hohen 
wirthschaftlichen  und  culturellen  Blüthe  Deutschlands  zn- 
sammcnfiel,  dass  vieles  in  den  damaligen  Zuständen  Deutschlands 
unserer  Zeit  ähnlicher  ist,  als  dem  17.  und  18.  Jahrhundert,  — 
in  diesen  Tagen  der  Reception  also,  erfreuten  sich  die  weitaus 
meisten  Bauern  eines  Erbrechts.118)  Als  deshalb  die  Juristen 
nach  einem  Analogon  zu  dem  bäuerlichen  Besitzrechte  in  den 
gemeinen  Rechtsquellen  suchten,  bot  sich  ihnen  nur  das  Lehen 
und  die  Emphyteuse.  Denn  eine  Erbpacht  als  wahre  locatio  — 
conductio,  d.  h.  mit  nur  persönlicher  Berechtigung  der  Besitzer 
und  mit  nur  persönlicher  Verpflichtung  des  Herrn  und  seiner 
Erben,  das  Gut  den  Erben  des  Pächters  wieder  auszuthun. 
eine  solche  an  sich  ja  denkbare  Erbpacht  kannten  die  Juristen 
jener  Zeiten  nicht.  Deutlich  zeigt  dies  Schneidewein.  Er 
hat  nur  folgenden  Unterschied:117)  „quidam  enim  in  perpetunm. 
non  ad  modicum  tcmpus  conducunt  et  Emphyteutae  dicuntur“; 
denen  stehen  gegenüber:  „quidam  vero  conducunt  ad  inodicum 
tempus,  quorum  tres  sunt  species  etc.  etc.“  Da  es  also  keinen 
weiteren  Gegensatz  giebt,  so  ist  jede  locatio  perpetua  damit 
zur  Emphyteuse  gestempelt.  Schneidewein  sagt  dies  auch  noch 
ausdrücklich  im  folgenden  §:  „Imperator  in  hoc  § emphy- 
teuticum  contractum,  qui  alio  nomine  locatio  perpetua 
dic.i  potest  (Erbzinsgüter),  declarat“.  Uuter  den  beiden  Instituten 
aber,  welche  somit  zur  engeren  Wahl  standen,  als  es  sich 
darum  handelte  die  bauerrechtlichen  Besitzverhältnisse  zu  clas>i- 
ficiren,  zwischen  Lehn  und  Emphyteuse,  entschied  man  sich 


,!li)  Die  Hauern  haben  grundsätzlich  ihre  Guter  zu  freiem  Eigen  iunc 
Wenn  sie  einen  Zins  zu  zahlen  haben,  so  wird  prasumirt,  dass  er  wahrt 
Reallast  ist.  So  ist  es  noch  bei  Carpzov,  Jurisprudentia  forensis,  Pars  II 
const.  39,  def.  34:  „quia  quaelibet  res  libera  praesnmitur  nisi  servitas 

probetnr  (.1.  altius  § s Cod.  de  servitj.“ 

117J  (Joumientarius  in  Institutiones  (Strassburg  1626}  Spalte  lass.  Ei: 
sehr  angegebenes  Werk,  das  nach  des  Verfassers  Tod  oft,  sogar  in  Venedig 
edirt  und  sogar  mit  Anmerkungen  versehen  wurde  von  drei  namhaften 
Juristen:  Wesenbek,  Brederode  und  Gotliofred. 


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125 


für  die  letztere.  Allein  diese  Entscheidung  ist  nicht  von  solcher 
Bedeutung  als  man  nach  heutigen  Anschauungen  glauben  sollte, 
da  man  es  nicht  nur  für  erlaubt,  sondern  sogar  für  geboten 
hielt,  die  Lücken  bei  der  Emphyteuse  aus  dem  Lehnrechte  aus- 
zufüllen.llK) 

Infolge  dieser  Theorie  entstand  ein  Zustand  des  bäuerlichen 
Erbrechts,  welcher  mit  demjenigen  unserer  Tage  eine  über- 
raschende Aehnlichheit  hat.  Das  anschaulichste  Bild  von  ihm 
geben  uns  Carpzovs  Schriften.  Nach  ihnen  wurde  de  iure 
communi  die  Existenz  eines  besonderen  bäuerlichen  Erbrechts 
geleugnet.  Woher  hätte  dies  auch  bei  einer  Emphyteuse 
kommen  sollen?  Und  so  trat  man  den  Splitterungen  und 
Erbtheilungen  nicht  in  den  Weg.llfl)  Doch  bestand  dabei  ein 
unleugbarer  Hang,  die  Untheilbarkeit  der  Güter  zu  erhalten. 
Deshalb  begünstigte  man  die  vertraglichen  Auseinandersetzungen 
der  Miterben  unter  sich,  von  denen  sich  1.  c.  Pars  II  c.  39 
def.  25  ein  Beispiel  findet:  (Urtheil  v.  Leipzig  1621)  „.  . Und 
es  haben  sich  die  Kinder  in  die  väterlichen  Güter  dergestalt 
vertheilt,  dass  das  Gut  einer  Erbin  und  Tochter  allein  ver- 
blieben, wogegen  sie  die  Miterben  mit  anderen  Gütern  ab  finden 
soll  etc.  . Aus  dem  gleichen  Grunde  liess  man  auch  die 


118)  Gegen  diese  Vermengung  polemisirt  Carpzov,  um  sie  sogleich 
wieder  bedingt  zuzugeben:  Jurispr.  for.  (herausgegeben  v.  Andr.  Jlylius, 
Leipzig  1721)  Pars  II  c.  37  def.  20:  »Verum  lic©:  argumentum  a feudo  ad 
Emphyteusim  quandoque  procedat,  ut  docet  Jason  ....  Attamen  illud 
in  poenalibus  ceu  odiosis,  quo  et  privatio  rei  Emphyteuticae  referenda  est, 
neutiquam  locum  habet*. 

Vgl.  def.  9 ebenda  und  Resp.  iuris  (Leipzig  1042)  Lib.  0 resp.  108. 

119)  Vgl.  Responsa  iuris  lib.  I Tit.  Ö resp.  88  „.  . . . postmodo  illi  bona 
patema  Tel  Emphyteusim  inter  se  dividant*.  Noch  deutlicher  das  an- 
gehängte Urtheil  der  Leipziger  Schöffen  von  1627,  welches  auch  klar  zeigt, 
dass  es  sich  hier  um  hofbürige  Güter  handelt  : „Wenn  gleich  des  Orts  durch 
beständige  Gewohnheit  eingefuhrt  worden,  dass  nach  Absterben  des  Erb- 
zinsmannes,  dessen  Rinder  die  gesummte  Lebnwabr  geben  ....  So 
seyn  sie  doch  datiere,  wenn  sie  sich  hernach  untereinander  in  die 
väterlichen  G'ithcr  teilen  ....  etc.“  Vgl.  Jnrisprudeutia  for.  Pars II 
c.  39  def.  23  vUrtlieil  v.  Leipzig  aus  dem  Jahre  1515):  „Dass  ihr  von  denen 
güteru,  so  ihr  von  euren  Eltern  etwa  ererbet,  und  so  euch  neuiicher  Zeit 
nach  der  Hutter  tätlichem  Abgang  in  der  gehaltenen  divisione  und 
Erbtheilung  zukommen,  dem  Lehnherrn  des  Ortes  etc.  etc“ 


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126 


Altentheilsverträge  zu;  und  deren  juristische  Natur  hatte  man 
schon  so  richtig  erkannt,  dass  gegenüber  der  Ansicht  des 
Andreas  Tiraquellus,  welcher  den  Auszug  als  einen  Verkauf 
auffasst,  Carpzov  bemerkt:  . Ergo  vel  ex  mente  contra- 

hentiuui  nihil  aliud  actum  apparet  . . . Aliud  vero  dicendum, 
si  pater  liberis  Emphyteusin  donet  (=  ohne  besonderen  Kauf- 
preis hingiebt):  Quae  donatio,  si  aliud  ex  contractis  haud 

constet,  non  tarn  acquisitio  ex  parte  donatarii,  quam  debitae 
successionis  praeoccupata  quaedam  perceptio  est“.13-1) 
Aber  wenn  dies  alles  nicht  ausreichte,  wenn  es  gleichwohl  zur 
Theilung  und  zwar  zur  gerichtlichen  kam,  so  fand  man  doch 
im  gemeinen  Recht  eine  Handhabe,  seine  Neigung  zur  Ge- 
bundenheit in  Thaten  zu  übersetzen.  Man  knüpfte  an  die 
römischen  Vorschriften  an,  dass  res,  quae  com  mode  divisionem 
non  recipiunt,  nngetheilt  bleiben  sollen.  Und  da  nun  in  der 
That  das  römische  Recht  dem  Theilungsrichter  ziemlich  freie 
Hand  lässt,  so  erklärte  man  durch  weitherzige  Auslegung 
dieses  „comrnode“,  alle  Güter,  insbesondere  Stammgüter,  d.  h. 
solche,  die  schon  von  Vater  und  Grossvater  in  der  Familie 
waren,  — diese  alle  erklärte  man  kurzer  Hand  für  untheilbar.121) 


,20j  Die  gleiche  Auffassung  hat  sich  noch  lange  namentlich  in  Süd- 
deutschlaml  erhalten  und  zeigt,  dass  auch  dort  trotz  des  gerade  in  jenen 
Gegenden  herrschend  gewordenen  römischen  Hechts  die  alten  Hriiuche  noch 
bei  den  Bauern  l’ortlebten.  So  erwähnt  J.  J.  Beck,  obgleich  er  sonst  von 
einer  besonderen  bäuerlichen  Erbfolge  nichts  weiss,  doch  die  Gutsnbergabe- 
vertrage  und  sagt  ganz  ähnlich  wieCarpzov.  „Ein  anderes  ist  es,  wenn  der 
Vater  bei  soineu  Lebzeiten,  denen  Kindern  ein  Erbziuslehen  geschenkt; 
denn  eine  solche  Donation  ist  auf  Seiten  des  Donatarii,  wann  aus  der  Ab- 
rede ein  anderes  nicht  erhellet,  nicht  sowohl  eine  Acquisitum,  als  vielmehr 
eine  Anticipation  der  gebührenden  Erbschaft“  (S.  244)  uud  ebenso  S.  245: 
„quippe  quod  Patri  licet  cedere  liberis  ex  donatione  vel  refutatione  fendurn 
vel  Emphyteusim  in  autecipationem  vel  accelerationem  successionis“. 
m)  C&rpzov,  Jurisprud.  P.  II.  c.  15  def.  9: 

„Unica  autem  res  hereditaria  si  existat,  veluti  . . praedinm 
quoddam,  non  erunt  nudiendi  heredes,  si  quilibet  partem  habere  volint,  qaia 
dividenda  bona  alia  non  sunt,  quam  quae  commode  dividi  possunt*. 

Auch  diese  Auffassung  findet  sich  noch  später.  Frantzkius  (172*) 
sagt:  . . hoc  casu  coheredes  adhuc  censeantur  persistere  in  terminis  nudae 

divisiouis,  cuius  ea  natura  est,  ut  non  existentibus  mobilibus  vel  aliis 
rebus  unus  horedum  totum  fnndum  indivisura  retineat  et  ceteris  de 
pecunia  satisläciat.  § pen.  instit.  de  oft'ic.  jud.” 


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127 


Die  wichtigste  Folge  dieser  ganzen  Anschauungsweise  war  nun, 
dass  man  damit  für  das  System  der  Gebundenheit  bäuerlicher 
Güter  eine  bequeme  Theorie  fand,  indem  man  die  bäuerliche 
Einerbtolge  einfach  als  Moditication  der  römischen  Theilungs- 
vorschriften  auffasste.  Wo  man  das  Majorat  und  Minorat  in 
seiner  gewohnheitsrechtlichen  Geltung  nicht  leugnen  konnte,  da 
erklärte  man  sie  einfach  als  gesetzliche  Analoga  der 
divisio  parentum  inter  liberos.  Die  unausbleibliche 
Wirkung  auf  die  Abfindung,  worauf  es  uns  hier  ankommt, 
war  dann,  dass  solche  fortan  nicht  mehr  nach  dem  Weresystem, 
sondern  als  reiner  voller  Civilerbtheil  am  gesammten 
Verkaufs werthe  des  Gutes  entrichtet  werden  musste.122) 

Diese  Theorie  blieb  eine  lange  Zeit  die  herrschende.123) 
Sie  hatte  die  Geister  so  gefangen  genommen,  dass  selbst 


m)  Dies  alles  ergiebt  sieh  zur  Evidenz  aus  Carpzov,  Jurisprud.  P.  III 
c.  15  def.  26  ff.,  woselbst  Carpzov  das  Minorat  behandelt.  Zum  wörtlichen 
Anfuhren  sind  die  Stellen  zn  umfangreich.  Doch  seien  folgende  Haupt- 
steilen  citirt:  Dass  die  Abschichtung  auch  für  den  Fall,  wo  das  Out  nach 
der  „Kührgerechtigkeit“  d.  h.  nach  Anerbenrecht  einem  zugesprochen  wird, 
als  rümischrechtliche  Auseinandersetzung  nach  civilcn  Theilen  mit  Kauf 
der  Erbtheile  der  anderen  gedacht  wurde,  beweist  das  Urtheil  von  1619: 
.Habt  ihr  eures  Vätern  Gut  von  euren  Geschwistern  und  der  Unmündigen 
Vormunden  nm  ein  gewiss  Kaufgeld  käuflichen  an  euch  bracht.“ 
Und  dass  thatsächlich  der  volle  Werth  eingeschlossen  werdeu  musste,  geht 
aus  dem  l'rtheilo  von  1607  hervor:  „Ist  eure  Mutter  Todes  verfahren  und 
hat  ihr  Haus  und  Hof  auf  euch,  als  ihren  Sohn  erster  Ehe,  eure  vollbiirtige 
Schwester  und  ihrer  verstorbenen  Tochter  Kind  gebracht  und  verfallet  . . . 
So  wird  euch  berührtes  Haus,  beueben  dem  Viertel  Landes,  weil  solche 
Stücke  nicht  wohl  getheilt  werden,  können,  vor  eurer  Schwester  und  der 
Schwester  Kind,  dem  rechten  Werth  nach,  allein  billig  gelassen  . . .“ 

Schon  Schneidewein  hatte  das  Minorat  als  Anhang  der  Theilungs- 
vorschriften  behandelt.  Vgl.  1.  c.  Spalte  1H77 : „Observandum  tarnen  isto 

casu,  quando  sunt  plures  fratres  dividentes  hereditatem  paternam,  fratrem 
juniorem  posse  ad  se  recipere  res,  quae  cnmmodam  divisionem  non  recipiunt, 
et  ceteris  coheredibus  dare  pecuniam,  et  ita  in  dies  observatur  et  practicatur“. 

Diese  Privilegiruug  des  Anerben  durch  einfache  Thoilungsvorschriften 
oder  die  Erreichung  des  Zwecks  des  Anerbenrechts  durch  Begünstigung 
aussergerichtlicher  Uebergabsverträge  weist  eine  merkwürdige  Aehnlichkeit 
mit  heutigen  Zuständen  auf. 

I23)  Wir  haben  gezeigt,  dass  sie  bei  Frantzkius  noch  1728  und  bei 
dem  Süddeutschen  Beck  noch  1739  vertreten  ist. 


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128 


Schilter,  der  sonst  etwas  in  stiller  Gegnerschaft  mit  Carpzov 
stand,  trotz  seiner  beachtenswerten  germanistischen  Kenntnisse 
gar  nicht  auf  den  Gedanken  kam,  diese  Lehre  anzugreifen. 
Denn  die  einzige  Stelle,  wo  er  das  Minorat  flüchtig  erwähnt, 
findet  sich  bezeichnend  genug  bei  der  Erläuterung  des  Titels 
„familiae  herciscundae“.124) 

Allein  in  den  nahezu  gleichzeitigen  Werken  zweier 
liallischer  Rechtslehrer  findet  sich  der  Umschwung  vollzogen. 
Das  eine  ist  die  Schrift  des  preussischen  Geheimraths  und 
Professors  Ludewig,  betitelt  „de  Jure  clientelari  Gennanorum 
in  feudis  et  coloniis  (Halle  1738“);  das  andere  ist  Samuel 
Stryks  lange  Zeit  hochberühmter  „Usus  modernus  Pandectarum“ 
(Halle  1739). 

Hier  taucht  zum  ersten  Male  die  Theorie  von  der  locatio 
— conductio  auf,  der  der  Bauer  sein  Gut  verdanke;  hier  findet 
sich  auch  zum  ersten  Male  die  Ansicht  von  der  früheren  durch- 
gängigen Unfreiheit  des  Bauernstandes,  beides  Gedanken, 
welche  mehrere  Menschenalter  hindurch  unangefochten  blieben 
und  grosses  Unheil  unter  dem  deutschen  Bauernstände  an- 
gerichtet haben.  Aber  hören  wir  zunächst  Stryk.  Er  unter- 
scheidet125) unter  den  erblichen  Gütern  im  Wesentlichen 
dreierlei156)  Arten.  1)  Zinsgüter.  Das  sind  solche,  welche  in 
vollen  Eigenthum  des  Bauern  stehen  und  worauf  der  Zins  als 
wahre  Reellast  haftet  (ad.  tit.  VI,  3 § 5).  2)  Erbzinsgüter, 
d.  h.  solche,  an  denen  „utile  dominium“  des  Inhabers  besteht. 
Der  Zins  ist  unechte  Reellast  (ad.  tit.  VI,  3 § 8).  3)  Erb- 
pachtgüter. Dieses  sind  Güter,  an  denen  wahre  locatio  — 

conductio  besteht,  dem  Inhaber  also  nur  ein  persönliches  Recht 


li4)  Praxis  juris  Romani  etc.  (Jena  1098)  exercit.  2u  § 83.  — 

Das»  die  sächsischen  Schriftsteller  immer  nur  das  Minorat  er- 
wähnen, liegt  daran,  dass  im  Ssp.  III.  29,  1}  2 die  bekannte  Stelle  steht; 
„Svar  so  tvene  mau  en  erve  uemen  solen,  die  eldere  sal  delen,  unde  die 
jüngere  sal  kiesen".  Nur  im  Anschluss  hieran  kommen  sie  auf  das  Minorat, 
dessen  wesentliche  Unterschiede  davon  ihnen  aber  nicht  entgingen,  wie 
t'arpzov  a.  a.  0.  def.  25  erweist. 

u'’)  Sedes  matcriae  sind  bei  ihm  die  Commentaro  zu  den  Titeln  VI,  a 
(si  ager  vectigalis)  und  XIX,  2 (locati  — conducti)  der  Pandekten. 

laü)  Dieselbe  Dreitheilung  hat  auch  Ludewig  S.  161  bis  105  und 
Schottel  S.  49  ff. 


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12.) 


gegeben  ist;  doch  ist  das  Verhältnis  gleichwohl  beiderseits 
erblich,  (ad.  tit.  VI,  3 § 9;  ad.  tit.  XIX,  2 § 26  ff.  § 43  ff. 

Als  Richtschnur  für  die  Frage,  welche  Güterart  im 
einzelnen  Fall  anzunehmen  sei,  giebt  er  folgende  Regel 
(1.  1.  § 9);  „Etenim  si  canon  fructibus  proportionatus  sit, 
locatio  erit.  si  louge  minor,  Emphyteusis,  modo  si  ex  re 
aliena  canon  promittatur;  ....  alias  censuale  erit  negotium“. 

Zu  dieser  so  merkwürdigen  Theorie  der  locatio  condnctio 
perpetua,  die  ein  persönliches  Band  und  doch  beiderseits  und 
zwar  iure  cogente  erblich  sein  sollte,  wurde  man  veranlasst 
durch  mehrere  Erwägungen.  Erstens  fand  man,  dass  die 
römische  Emphyteusis  nicht  für  alle  deutschen  Erbleihen 
passende  Bestimmungen  enthielt,  und  geriet, h so  auf  den  an 
sich  richtigen  Gedanken,  dass  es  wohl  noch  eine  andere  Art 
Reihe  denn  allein  Zinsgut  und  Emphyteuse  geben  müsse.1'28) 
Diese  dritte  Art  aber  gerade  in  der  oben  angegebenen  Weise 
zu  classificiren,  wurde  man  durch  einen  historischen  Irrthum 
veranlasst.  Bei  Nithard  Lib.  IV  steht  nämlich  folgende,  in 
jenen  Tagen  sehr  oft  citirte  Stelle:  „Gens  Saxonum  omnis  tribus 
ordinibns  divisa  consistit.  Sunt  enim  inter  illos  Edeliugi,  sunt 


,27)  Der  Schüler  Stryks  Schottel  giebt  in  seiner,  unter  dem  Präsidium 
Stryks  verfassten  und  von  jenem  ausdrücklich  gebilligten,  Dissertation  eine 
ziemlich  genaue  Definition  dieser  sonderbaren  locatio  — conductio  perpetua. 
Sie  lautet  (S.  29):  „ex  quo  apparet  concessionem  llajoratus  in  perpctuum 
factam  (d.  h.  ewige  llaierpacbt)  hunc  effectum  tautum  habere  posse,  quod 
ncc  dominus,  qui  ius  suum  in  colonuni  transtulit,  nec  eius  heredes  revocare 
possint  locationem  et  quidem  ex  pacto  adjecto  de  nunquam  revo- 
cando,  sed  ex  illo  tertius  successor  singularis  obligari  nequit". 

Diese  Theorie  hielt  man  auch  für  eine  im  römischen  Recht  begründete. 
Darüber,  wo  man  in  den  (Quellen  die  charakterisirte  locatio  — conductio 
perpetua  zu  finden  glaubte,  giebt  luidewig  Aufschluss.  Gr  sagt  (S.  191, 
Anm.  k):  „Ulpianus  clare  scribit:  non  solet  locatio  dominium  mutare.  Quae 
lex,  si  de  temporaria  locatione  intelligeretur,  superflua  esset  atque  otiosa  et 
tantum  non  (=  beinahe)  Domitiana:  ut  adeo  certum  sit  Jurisconsultum  hoc 
dubii  genus  respondisse,  quod  factum  fuerat  de  iuro  perpetuarii 
c onductoris“. 

**)  Stryk  1,  c : „(juae  sententia  si  vera  est,  nihil  amplius  foret 

colonia  perpetua  quam  Kmphyteusis  per  praescriptionem  quaesita.  Atque 
ita  non  opns  fuisset  uovum  quoddam  ius  Coloniae  excogitare“. 

v.  Dultxif,  Grunderbrecht  9 


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130 


qui  Frilingi,  sunt  qui  Lazzi  illomm  lingua  dicuntur“.  Da? 
schien  mit  der  damaligen  Ständegliederung  wunderbar  zu  stimmen. 
Den  „Lazzi“  mussteu  dann  natürlich  die  Bauern  entsprechen. 
Dass  diese  damit  zu  „serviles“  gestempelt  wurden  — denn  so 
übersetzt  Nithard  das  Wort  — schadete  nichts;  denn  auch  bei 
Tacitus  finden  sich  ja  ackerbauende  Sklaven.  Und  so  war  die 
Theorie  von  der  einstigen  durchgängigen  Unfreiheit  der  Bauern 
fertig.129)  Von  dieser  Voraussetzung  gelangte  man  dann  zur 
Annahme  der  locatio  — conductio  auf  folgendem  Wege:  War 
der  Colon  Sklave,  so  konnte  er  ursprünglich  überhaupt  kein 
Recht  am  Gute  haben.  Dazu  musste  er  erst  freigelassen 
werden.  Dabei  wurde  ihm  allerdings  das  Gut  belassen.11’) 
Aber  da  es  nach  der  Ansicht  Stryks  und  Lndewigs  un- 
glaublich gewesen  wäre,  dass  der  Herr  Sklave  und  Gut  anf 
einmal  verlieren  wollte,  so  durfte  der  Herr  dem  Sklaven  daran 
nur  ein  möglichst  geringes  Besitzrecht  gewähren.  Dies  glaubte 


129)  Deutlich  zeigt  diesen  Gedankengang  schon  Stryk  ad  Tit.  19,  2. 
§ 26:  „Quodsi  prioris  generis  colonos  (damit  meint  er  die  „Meiergüter*,  welche 
er  von  der  oben  gekennzeichneten  locatio  — conductio  perpetua  scheiden  will, 
welche  aber  nach  seinen  eigenen  Ausführungen  bis  auf  einige  unwesentliche 
Punkte,  die  übrigens  auch  nicht  die  uus  allein  interessirende  Vererbung 
betreffen,  sich  gleichen,  wie  ein  Ei  dem  andern)  attinet,  constat  ex  doenmenti- 
fide  diguis  jus  hoc  coloniarinm  antiquissimum  in  Germania  esse,  uude  si  iE 
originem  herum  coloniarnm  inquiramus,  iliae  videntur  firnisse  ab  antiqua  cos 
ditione  rusticorum  Oermaniae,  qui  9ervilis  conditionis  eraut,  ut  ait  Tacitus* 

Wörtlich  so  bei  Schottel  (S.  24  bis  26).  Aehnlich  sagt  Ludeei. 
S.  186  Anm.  d:  „unde  adprobo  conjecturam  rusticos  principio  servos  fuis<e 
post  wanumis8ionem  factam  perpetuarios  conductores*.  Ebenso  S.  2-'>-'. 
Anm.  o:  „Ad  extremum  si  originem  ac  discrimen“  der  gemeinen  oder  frei- 
bauern  „expeudamus  ad  medii  aevi  rationes,  primi  corte  lassorum  nonüc 
veniuut,  extincta  quamvis  eins  nominis  memoria“,  („lassen"  sind  aber  nau 
Ludewig  „serviles“,  Halbfreie,  Freigelassene,  welche  ihre  Güter  auf  Herren- 
gunst  hatten). 

'*')  Wegen  des  Mangels  an  anderen  Arbeitskräften  zu  dessen  BewirtL 
sebaftung.  Wenigstens  legte  man  sich  das  damals  so  znrecht.  Vgl 
Ludewig  S.  149  äO : .....  tempora  ....  dissolutarum  in  Gennam* 
servitutum  (d.  h.  Sclaverei)  . . Tum  enim  agricolae  deesse  coepenint 
dominis  praediorum  vel  facti  sunt  adeo  sumptuosi  (d.  h.  „sie  kamen  so  theue.- 
zu  stehen“)  ut  reditus  ferc  omnes  abirent  in  eorundem  mercedem.  Inde  eres 
factum  est,  ut  doraini  latifundioruin  partem  agrorum  tradero  mallent  ahis. 
canone,  censu,  servitiisque  sibi  reservatis,  quam  ex  proprio  eorundem  o>» 
damna  experiri*. 


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131 

man  nun  in  der  locatio-conductio  gefunden  zu  haben.  So  treffen 
wir  die  Argumentation  bei  Stryk  an  (ad  tit.  19,  2,  § 26),  wie 
bei  Schottel  (S.  24  bis  26),  so  hören  wir  sie  nicht  minder  bei 
Ludewig,131)  so  finden  wir  sie  am  ausführlichsten  bei  Struben 
a.  a.  O.  Cap.  2,  § 1 : „Qui,  quaeso  igitur“,  ruft  er  aus,  „domini 
ad  prodigalitatem  usque  in  tantum  liberales  praesnmi  queunt, 
ut  non  solum  libcrtate  donarint  servos,  sed  praedio  etiam,  quod 
eorum  nomine  tenuerant  hactenus?  ....  Nullus  itaque  dubito, 
....  originitus  pleraque  rusticorum  bona  conductitia  fuisse“. 

Dass  diese  Anschauung  trotz  ihrer  handgreiflichen  Un- 
genauigkeiten, gleichwohl  so  rasch  durchdraug,  lag  an  den  ver- 
änderten Zeitumständen.  Wie  die  Ansicht  zu  Carpzovs  Zeit 
nicht  geherrscht  hatte,  so  wäre  sie  damals  auch  thatsächlich 
unmöglich  gewesen.  Inzwischen  aber  waren  die  Folgen  des 
dreissigjährigen  Krieges  hervorgetreten,  und  der  Bauernstand 
dem  schon  lange  wirkenden  Druck  der  Guts-  und  Voigteiherren 
erlegen  und  zu  einer  Stellung  herabgedrückt,  dass  eine  Theorie, 
welche  ihm  ehemalige  völlige  Unfreiheit  zuwies,  nichts  Unwahr- 
scheinliches mehr  hatte.  Es  kam  hinzu,  dass  die  Lehre  von 
der  locatio-conductio  den  Ständen  vorzüglich  zu  Passe  kam.  Sie 
griffen  sie  deshalb  mit  Begeisterung  auf;  gab  sie  ihnen  doch 
die  Gelegenheit,  die  Bauern  zu  „legen“,  sobald  sie  zu  eigenem 
Gebrauche  das  Gut  „benöthigten“,  d.  h.  nach  ihrer  Inter- 
pretation, wenn  sie  es  unter  eigene  Bewirthschaituug  nehmen 
wollten.132) 


,sl)  „Pracsumendum  (sc.  für  den  vergebenden  Herrn)  quod  minim  um 
eat“  (S.  191  Anm.  k).  Auch  bei  der  Jleicrleibe  ist  Ludewig  gleich  wie  bei  der 
Landsiedelleihe  und  sonst  der  Ansicht,  dass  das  Besitzrecht  des  Colonen  im 
Anfang  allgemein  höchst  preeär  war.  Er  sagt  Spalte  402  Anm.  n:  ».  . . fieri 
. . . non  potuit.  ut  integritas,  quae  olim  meieriis  fuit,  in  omnibus 
Germaniae  principum  ditionihus.  oblitcraretur.  Hodieque  enim  in  Bojoaria 
maieriae  temporariae  sunt  . . . Imo  mcieria  hoc  loco  tantum  non  (=beinahe) 
precaria  esse  videtur“. 

isi)  Diese  Begeisterung  der  Stände  für  die  Stryksche  Theorie  nebst 
ihren  Gründen,  lässt  sich  klar  erkennen  ans  einem  monitum  der  Braun- 
schweigischen Stände,  abgedruckt  bei  Pufendorf,  Observationcs  (Hannover 
1780  ff.)  Bd.  H obs.  70.  — Auch  Schottel  lässt  S.  33  folgerichtig  das  Legen 
unbedingt  zu:  »ne  quideni  urgens  quaedam  neeessitas  rcqniritur,  sed  sufficit: 
si  ipse  (sc.  Dominus)  colcre,  non  vero  clocare  velit“.  Genau  wie  die  Stände 
es  wollen. 

9* 


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132 


Die  Wirkungen,  welche  diese  Theorie  auf  das  bäuerliche 
Erbrecht  und  insbesondere  auf  die  Abfindungen  ausübte,  waren 
einschneidend  genug.  Die  Einzelerbfolge  in  das  Bauerngut  war 
allerdings  nicht  bedroht.  Im  Gegentheil;  die  Proclamirung  der 
Lehre  von  der  locatio-conductio  bedeutete  die  Zurückführung 
des  Principes  der  strengsten  Untheilbarkeit.  Denn  wenn  der 
Besitzer  nur  noch  ein  persönliches  Nutzungsrecht  hatte,1-43)  so 
konnte  er  natürlich  an  eine  Zertheilung  des  Gutes  gar  nicht 
denken.  War  sonach  zwar  die  Einerbfolge  in  das  Bauerngut 
in  ihrem  Bestände  nicht  gefährdet,  so  war  es  desto  mehr 
die  Abfindung  in  der  Art,  wie  sie  sich  aus  dem  Weresystem 
herausgebildet  hatte.  Denn  wenn  dem  Bauern  das  Gut  nicht 
gehörte,  so  konnte  er  es  auch  nicht  vererben.  Nur  die 
Nutzungen  standen  ihm  zu;  deshalb  konnte  auch  allein  der 
Anspruch  auf  diese  in  die  Erbmasse  geworfen  werden,  d.  h.  es 
durfte  nur  der  Ertragswerth  des  Gutes,  nicht  der  Verkaufs- 
werth bei  der  Auseinandersetzung  der  Miterben  zu  Grunde 
gelegt  werden.  Dies  ist  denn  auch  in  der  That  der  Standpunkt, 
den  Struben  in  seinem  oft  citirten  Werk  Cap.  III,  § 20,  folge- 
richtig einnimmt,  wenn  er  schreibt:  „Equidem  boni  publici  ergo 
divisio  curiae  villicalis  plerisque  in  locis  interdicta.  Sed  inde  haud 
sequitur  lucruin,  quo  successor  fruitur,  coheredibus  pensandum 
non  esse.  Per  se  autem  patet  haud  pretium  agroruin  sed 
coloniarii  iuris,  etcommodum,  quod  illud  villico  af fer t, 
in  divisione  attendendum  esse.“ 

So  grosse  Erfolge  indessen  Struben's  Schrift  sonst  unleugbar 
hatte  und  so  lange  ihre  Ansichten  sich  erhalten  haben,  gerade 
dieser  Punkt  der  Strubenschen  Theorie  wurde  bald  aufgegeben. 
Weil  nämlich  wegen  der  wieder  streng  durchgeführten  Untheil- 
barkeit nur  einer  das  Leiherecht  ausüben  konnte,  so  vergass 
man  den  Unterschied,  der  zwischen  dem  Ausübenden  und  dem 
Eigenthümer  eines  Rechts  bestehen  kann,  und  meinte,  nicht  nur 


m)  Dass  er  nur  dies  liatte,  ergiebt  sich  aus  der  Theorie  der  locatio- 
conductio  von  seiht.  Es  wird  aber  auch  stets  ausdrücklich  betont.  Ludewig 
S.  170  sagt,  dio  Erbpächter  hätten  den  .Usus“  des  Guts  und  merkt 
dazu  an:  .Usus  Verbum  . . . solito  hic  laxius  adhibetur,  ita  tarnen  ne  ullam 
attiugat  speciem  dominii“.  Ebenso  äussert  sich  Schottel;  er  spricht  den 
Erbpächtern  .ns um  reruiu  conductarum  perpetuum“  zu. 


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133 


die  Ausübung,  sondern  auch  die  Zuständigkeit  des  Baurechts 
am  Colonate  könne  nur  bei  dem  einen  Anerben  liegen.  So  kam 
man  dazu,  das  erbliche  Nutzungsrecht  überhaupt  nicht  mehr, 
auch  nicht  nach  seinem  Ertragswerthe,  als  Gegenstand  der 
gemeinen  Erbfolge  aufzufassen,  und  konnte  deshalb  ein  Recht 
der  Miterben  auf  Abfindung  nur  noch  für  das  sonstige  Vermögen, 
das  Allod,  gestatten.  Das  ist  die  Sachlage  in  Lennep's  Ab- 
handlung über  die  Leihe  zum  Landsiedelrecht,  die  sich,  wie  über- 
haupt durch  scharfe  Darstellung,  so  auch  durch  energische 
Durchführung  der  einmal  angenommenen  Theorie  der  locatio- 
conductio  auszeichnet.  Es  heisst  daselbst  S.  678:  „Die  Ab- 
findung geschieht  nicht  in  Ansehung  des  Gutes  selbst,  als  welches 
dem  Meier  oder  Landsiedel  nicht  gehöret,  sondern  in  Ansehung 
seiner  darin  steckenden  Besserung,  und  was  er  sonst  an  Schiff 
und  Geschirr  auf  dem  Hole  hat,  welches  mehrentheils  des 
Hofmanns  erbliches  Eigenthum  ausmaeht.“  (Ebenso  S.  654, 
Anm.  10). 

Diese  Ergebnisse  der  Theorie  wurden  durch  die  Landes- 
gesetzgebung nicht  beseitigt,  sondern  im  Gegentheil  befestigt. 
Zur  Theorie  selbst  stellte  sich  die  Landesgesetzgebung  zwar 
nicht  günstig.  Denn,  geleitet  durch  den  polizeilichen  Geist  jener 
Tage,  ging  sie  von  dem  Grundsätze  aus,  dass  der  Landmann 
eine  vorzügliche  Quelle  abgebe  für  Steuern  und  Rekruten. 
Deshalb  musste  der  Bauernstand  erhalten  und  vor  allem  das 
„Legen“  der  Bauern  inhibirt  werden.  Diesem  Legen  aber  war 
die  Lehre  von  der  locatio-conductio  nur  zu  günstig. 1:H)  Allein, 
da  dieselbe  Lehre  die  Erblichkeit  der  Bauerstellen  gleichwohl 
vertrat,  und  da  ihr  gewandtester  Vertheidiger135)  Struben  zu- 
gleich auch  der  gewandteste  der  Erblichkeit  war,  so  verwarf 
man  sie  nicht  ausdrücklich.  In  den  einzelnen  Consequenzen 
vollends  traf  die  Gesetzgebung  mit  der  Theorie  vollständig 
zusammen.  Die  rücksichtslose  Durchführung  der  Einerbfolge 


1M)  Vgl.  die  Anmerkung  132  und  den  Text  dazu. 

**)  Es  kennzeichnet  den  Umschwung  der  sich  in  der  Lage  des  Bauern- 
standes seit  Carpzow  vollzogen  hatte,  dass  die  Erblichkeit  der  Baucrnstellen 
erst  der  Vertheidiguug  bedurfte.  Zwar  war  sie  in  der  Theorie  nur  von 
<len  Leihegiitem  bestritten;  aber  da  zu  den  Leihegütern  alle  zählten,  auf 
ileuen  eine  Last  lag.  so  waren  damit  fast  alle  Bauernstellen  gefährdet 


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134 


durch  Beschränkung  der  Abfindung  der  Miterben  auf  das  Allod 
entsprach  ganz  den  Tendenzen  der  Gesetzgebung,  die  Höfe  ja 
leistungsfähig  zu  erhalten,  sie  ja  nicht  mit  Schulden  zu  sehr  zu 
beschweren.  Die  ewigen  Klagen  in  den  Landesordnungen,  „dass 
die  Höfe  durch  zu  hohe  Brautschätze  in  Abgang  gekommen“, 
dass  sie  „durch  zu  hohe  Abfindungen  in  einigen  Ruin  ge- 
bracht“ etc.  etc.,  spiegeln  diesen  Geist  wider.  Ja,  man  ging 
noch  weiter.  Selbst  bei  der  Auseinandersetzung,  welche  aus  dem 
Allod  erfolgte,  gab  man  dem  Anerben  einen  Voraus.  So  wollte 
es  schon  Lennep  (a.  a.  0.  S.  654  und  10).  So  führte  es  ganz 
streng  durch  die  Calenberger  Meierordnung,  überhaupt  ein 
klassisches  Denkmal  des  bevormundenden  Geistes  jener  Zeiten. 
Nach  ihr  konnte  es  bei  einer  mittelmässig  starken  Kinderzahl 
selbst  bei  leidlichen  Vermögensverhältnissen  dahin  kommen,  dass 
die  Erbschaft  jedes  Miterben  80  Pfennige  betrug,111'“)  wie  in  den 
späteren  Berathungen  Uber  Abänderung  dieses  Gesetzes  bemerkt 
wurde.  Wie  sehr  trotzdem  solche  Anordnungen  dem  Geiste 
jener  Zeit  entsprachen,  geht  daraus  hervor,  dass  Struben,  dem 
erst  der  Entwurf  der  Meierordnung  vorlag,  ein  Mal  über  das 
andere  wünscht,  dass  doch  dieses  vortreffliche  Werk  Gesetz 
werden  möchte. 


§ 13. 

Diese  Gestaltung  des  Bauernrechts  hat,  was  die  Abfindungen 
anlangt,  bis  in  unser  Jahrhundert  hinein  im  Wesentlichen  un- 
verändert bestanden.  Namentlich  die  gefährliche  Lehre  von  der 


>®*)  Vgl.  hierüber  und  über  die  ganzen  Landesordnnngen:  Pfeiffer. 
Deutsches  Meierrecht  S.  261  ff.  — Die  Landesordnungeu  sind  nicht  ge- 
sammelt. Eine  erhebliche  Anzahl  findet  sich  eingestreut  in  den  Text  bei 
Struben  und  Lennep.  Auch  Pufendorf  tlieilt  einige  mit.  Die  Lüneburger 
Verordnungen  sind  1854  von  Dr.  H A.  Oppermann  in  Nienburg  lierans- 
gegeben,  und  jetzt  1884  mit  allen  auf  Hannover  bezüglichen  Verordnungen 
von  Otto  Rudorff  in  dem  Werke  „Das  hannoversche  Privatrecht"  (Hannover: 
wieder  abgedruckt.  Hier  findet  sich  auch  die  Calenberger  Meierordnung. 
Dieselbe  drucken  auch  ah  Lennep  1.  c.  S.  670  und  Struben  1.  c.  S.  lll. 
Vgl.  auch  die  den  Wigandschen,  Kundescheu  und  Sommerscheu  Werken 
beigegebenen  Belege.  — Die  Landesordnnngen  aus  dem  Gebiete  des  heutigen 
Bayern  sind  berücksichtigt  in  dem  Fickschen  Buche.  Leber  die  Höhe  der 
Abfindungen  wird  dort  nicht  geklagt. 


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135 


einstigen  durchgängigen  Unfreiheit  des  Laudmannes  blieb  die 
herrschende;  nach  wie  vor  musste  deshalb  die  Präsumption  für 
ein  möglichst  precäres  Besitzrecht  der  Bauern  streiten.  Die 
merkwürdige  Zähigkeit,  mit  der  sich  diese  Anschauungen  be- 
haupteten, erhellt  wohl  am  besten  aus  der  Thatsache,  dass  noch 
Steinacker  in  seinem  braunschweigischen  Privatrecht,  das  er  1843 
schrieb,  und  ebenso  M.  Busch,  welcher  sein  Hildesheimer 
Meierrecht  1855  erscheinen  liess,  in  jenem  Gedankenkreise 
befangen  sind.  Zwar  hatte  inzwischen  die  Theorie  Schwankungen 
durchgemacht.  So  hatte  eine  Zeit  lang  besonders  die  Be- 
hauptung Anklang  gefunden,  dass  die  Bauerngüter  Lehen  seien, 
und  zwar  Feuda  ignobilia.138)  Allein  wenn  auch  diese  Theorie, 
welche  gegenüber  der  Lehre  von  der  locatio-eonductio  auf  der 


,3ü)  Angeregt  wurde  dieso  Ansicht,  wie  oben  gezeigt,  bereits  zu 
t'arpzovs  Zeiten.  Aufgegriffen  wurde  sie  zuerst  wieder  von  Buri,  der  in 
seinem  Lehnrechte  zugleich  aneh  das  Bauernrecht  sehr  eingehend  behandelte. 
Noch  behauptete  er  allerdings  mehr  die  Aehnlichkeit  als  die  vollständige 
Gleichheit  beider  Institute.  — Auf  diesem  Standpunkte  steht  theoretisch  auch 
noch  Bufeudorff  in  seinen  Observationes.  Z.  B.  folgende  Stelle  Bd.  IV, 
obs.  14A:  „Kt  putat  . . . St  ruhen  in  Jure  Villicorum  . . . eoinmodum  vel 
hierum  iuris  villicalis  commuuicandum  esse  . . . Sed  nobis  videtur  verius 
non  communicari:  Frincipio  quidem  argumentum  quoddam  a feudo 
ducimus,  quorum  certe  nuturam  bona  nostra  coloniaria  multura 
imitantur.“  Ebenso  Bd.  IV,  obs.  I7Ö  und  Bd.  II  obs.  70:  „Nam  etsi  bona 
coloniaria  pruesertim  nostra  aetate  hereditaria  sunt,  tarnen  similitudinem 
feudorum  et  beneficiorum  habent.  quae  ad  descendentes  tantum  ac- 
quirentis,  non  item  ad  ceteros  heredes  transmittuntur.“  Wenn  er  also  auch 
theoretisen  nur  Aehnlichkeit  behauptet,  so  argumentirt  er  praktisch  doch 
immer  mit  der  Gleichheit  der  feuda  und  Bauerngüter  und  zieht  die 
Folgerungen  daraus.  — Auch  theoretisch  hielt  beide  Institute  für  gleich 
Bommel,  Kaphsodia,  obs.  578:  „t^uod  autem  nunc  est  pristiua  rerum  täcies 
mutata,  nec  amplius  rustica  bona  feodis  aduumerantur.  ex  misera  iuris 
Romani  et  Germanici  inixtura  coortum  est  . . . Natura  autem  sua  rusticorum 
agri  beneficia  crant,  quia  totum  septeritrionem  feodalis  quidam  Spiritus  ita 
infecerat,  ut  clientelare  esset,  quodcuutque  adspiceres,  et  rara,  immo  rarissima 
aliodia.“  — Von  Obergerichten  vertrat  diese  Anschauung  das  Tribuual  in 
Celle,  welches  in  Bauersachen  eine  grosse  Praxis  und  demgemäss  eine 
grosse  Autorität  hatte.  — Auch  von  Leipzig  theilt  Bommel  1.  c.  ein  Crtheil 
mit.  — Auch  die  Friedericianiscbe  Gesetzgebung  behandelte  die  Bofgüter 
als  Lehngiiter.  Wenigstens  setzt  das  Jurisdiktionsreglement  von  177S)  für 
die  Bofgüter  in  Cleve.  Meurs  uud  Mark  dies  voraus.  Es  lautet:  ....  wird 
verordnet,  dass  bei  vorkoiumendeu  Erbschaftsgefällen  und  Theilungen  . . . 


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136 


Wahrnehmung  ruhte,  dass  unmöglich  der  Bauer  ein  bloss 
persönliches  Nutzungsrecht  haben  könne  — wenn  auch  diese 
Theorie  sonst  im  Anerbenrecht  Umgestaltungen  hervorgerufen 
hat:137)  an  dem,  was  uns  hier  vorzüglich  interessirt,  an  dem 
Charakter  der  Abfindung  hat  sie  nichts  geändert.  Denn  gerade 
im  Lehnrecht  war  ja  die  Einerbfolge  und  der  Begriff  des 
Allods  am  schärfsten  ausgebildet.  Auch  nach  dieser  Theorie 
musste  also  den  Miterben  nur  eine  Abfindung  aus  dem  Aliod 
gebühren.138)  Ganz  begreiflich  ist  es  darum,  wenn  Runde  — der, 
an  der  Wende  des  18.  Jahrhunderts  stehend,  in  seinen  classisehen 
Schriften  gleichsam  das  Ergebniss  jener  ganzen  Entwicklungszeit 
zieht  — mit  Energie  dafür  eintritt,  den  Kindern  dürfe  eine 
Abfindung  nur  aus  dem  Allode  bewilligt  werden.  Als  deshalb 


die  Lathen  oder  Hofes- Geri chte  sich  davon  ganz  und  gar  nicht, 
mehren,  sondern  die  Direktion  in  allen  Erbschaftssachen  den  Land-  nud 
anderen  Gerichten  . . . ferner  überlassen  sollen,  in  dem  die  Lehusquaütät 
eines  Gutes  darunter  kein  besonderes  Forum  constituiren  kanu.  . . .* 

,S7j  Namentlich  in  dem  Kreiso  der  zur  Abfindung  und  zum  Antritte 
des  Gutes  berufenen  Erben  hat  diese  Theorie  Veränderungen  hervorgerufen. 
Die  Theoretiker  und  die  Gerichte  Hessen  in  lehenrechtlicher  Weise  zum 
Erbe  nur  Descendenten  des  primus  acquirens  zu.  — Vgl.  die  oben  citirte 
Stelle  aus  Pufendorff  Bd.  II  obs.  70.  Vgl.  auch  Bd.  IV  obs.  179:  .Neque 
vero  inconcinne  dici  potest,  eo  (sc.  .auf  die  Bauerngüter")  accouiodatam  quoque 
esse  successionem  feudalem,  ut  non  succedant  nisi  a primo  acquirente 
desceudentes.“  Schon  Ludewig  hatte  übrigens  gesagt:  .Praeterea  in 
Lassitica  jura  sanguiue  proximi  succedunt,  ordine  fere  eodem,  quem  detiniunt 
instituta  feudorum“.  Von  den  Gerichten  entschied  in  diesem  Sinne  namentlich 
das  Oberappellationsgericht  in  Celle  z.  B.  1745  (vgl.  Pufendorff  Bd.  II, 
obs.  701  ebenso  174s : (.  . . . Johann  Dietrich  Prechtens  Wittwe,  jetzo 
Meiers  Ehefrau  und  deren  älteste  Tochter  als  Seiten  verwandte.  . . sich 
ein  Recht  der  Erbfolge  in  dem  Meierhofe  nicht  aumassen  können  . . und 
ebenso  in  einem  Gutachten  von  17ti7:  .l'ud  dieses  sind  die  Gründe,  warum 
wir  noch  jetzo  bey  derjenigen  Meynung  verharren,  dass  bloss  die  vom 
ersten  Erwerber  Abstammende  ein  Erbrecht  an  dem  Mever-Gute 
haben.“ 

iss)  vgl.  die  jn  Anm.  13G  citirte  Stelle  ans  Pufeudorff  Bd.  IV  obs.  145. 
Vgl.  auch  Bd.  II  obs.  33:  .In  determinanda  autem  dote  (-Abfindung)  illa . .. 
ratio  allodii  inennda  est  cavendumque,  ne  possessor  praedii.  quippc  quem 
aes  alienum  quoque  omne  sequitur,  nimis  gravetur“.  Ebenso  Urtheil  von 
Cello  bei  Pufendorff  Bd.  4 S.  145:  .Et  ita  deinde  summum  tribunal  respondit 
in  haec  verba:  .dabey  auch  das  commodum  iuris  coloniarii  in  keinen  Betracht 
zu  ziehen*. 


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137 


für  die  Rechtswissenschaft  eine  neue  Zeit  heraufzog,  da  war  die 
Abfindung  nach  dem  alten  Weresystem  aus  der  Theorie  und 
dem  officiellen  Rechtsleben  bis  auf  geringe  Reste  verschwunden. 

Aber  unter  der  Decke  des  officiellen  Rechtes,  wie  es  in 
den  Gerichtssprüchen  und  den  Lehrbüchern  vorliegt,  hatten  sich 
in  weitem  Umfange  die  alten  Sitten  und  Gewohnheiten  mit 
unverwüstlicher  Lebenskraft  erhalten. 

Schon  das  officielle  Recht  war,  wie  sich  das  von  selbst 
versteht,  nie  unbestritten.  Noch  zu  Struben's  und  Stryk's  Zeit, 
wo  die  Lehre  von  dem  lediglich  persönlichen  Besitzrecht  der 
Bauern  in  ihrer  Blüthe  stand,  hatte  sogar  die  Hallenser  Juristen- 
facultät,  obwohl  ihr  Stryk  und  sein  Gesinnungsgenosse  Ludewig 
angehörten,  in  einem  Urtheile  aus  dem  Jahre  1704  jede  Locatio 
perpetua  als  emphysteusis  mit  ius  quoddam  in  re  erklärt. 
Ebenso  war  im  Jahre  1708  in  Preussen  eine  Erbpachtordnung 
erlassen  worden,  welche  den  Erbpächtern  gestattete,  ihre  Güter 
zu  verkaufen,  und  sie  befugte,  dieselben  von  Jedem  vor  Gericht 
„anzusprechen“.  Das  wies  deutlich  auf  ein  dingliches  Besitz- 
recht der  Bauern  hin,  und  diejenigen  Rechtslehrer,  welche,  wie 
Schottel,  das  dingliche  Recht  der  Bauern  um  jeden  Preis  zu 
verneinen  suchten,  konnten  diese  Stellung  des  preussischen  Erb- 
pächters nur  auf  die  künstliche  Weise  erklären,  dass  sie  be- 
haupteten, er  habe  die  dinglichen  Klagen  nur  auf  Grund  einer 
gesetzlichen  Cession.139)  Später  war  das  Schwanken  der  Theorie 
noch  erheblicher.  Die  Lehre  von  der  Lehnsqualität  der  Bauern- 
güter ist  nie  auch  nur  annähernd  allgemein  anerkannt  worden. 

Was  die  Gesetzgebung  und  die  Praxis  anbelangt,  so  waren 
nicht  alle  Landesordnungen 14l))  den  Weg  der  Calenberger 
Meierordnung  gewandelt,  namentlich  die  schon  um  den  Anfang 
des  18.  Jahrhunderts  aufgezeichneten.  Nicht  minder  waren  viele 
der  Untergerichte  bei  den  alten  Grundsätzen  der  Were  ver- 


139)  Vgl.  Schottel  S.  69  ff.  und  über  das  vorstehend  citirte  Hallenser 
Urtheil  denselben  S.  40. 

'«*)  Z.  B.  Das  Delbriicker  Landrecht  bei  Wigand,  Paderborn  Bd.  III, 
S.  ff.  Auch  die  süddeutschen  Gesetze  sind  bezüglich  der  Abfindungen 
weniger  streng. 


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138 


blieben;141)  kannten  sie  doch  auch  die  Gewohnheiten  des  Landes 
besser,  als  die  gelehrten  Herren  der  Obergerichte. 

So  konnten  denn  die  vorgetragenen  Theorien  ihre  ver- 
nichtende Wirkung  auf  das  alte  Bauernrecht  nicht  überall 
ungestört  ausüben.  Aber  auch  wo  sie  anerkannt  waren,  fand 
die  Rechtsansehauung  des  Landvolkes  ein  Mittel,  sich  der 
herrschenden  Lehre  zum  Trotz  durchzusetzen.  Es  war  dies  die 
auch  heute  noch  bewährte  Anwendung  der  Gutsüberlassungs- 
verträge. Schon  zu  Carpzov's  Zeiten  haben  wir  ihr  häutiges 
Vorkommen  beobachtet.  Ebenso  finden  sich  bei  Beck  und 
Frantzkius  die  Uebergabs Verträge  erwähnt.142)  Dass  sie  in  jenen 
Zeiten  nicht  ungewöhnlich  waren,  zeigen  auch  mehrere  Reclits- 
fälle,  welche  in  der  seinerzeit  berühmten,  sehr  inhaltsreichen 
Sammlung  von  Entscheidungen  des  Kaiserlichen  Hofraths  Christoph 
von  Lynckcr  sich  finden.  Ganz  besonders  ist  die  S.  968  da- 
selbst mitgetheilte  Entscheidung  lehrreich  dafür,  wie  die  Bauern 
trotz  der  ungünstigen  Lage  der  Gesetzgebung  das  Anerbenrecht 
ganz  in  der  von  uns  behaupteten  W eise  durch  eine  fort- 
schreitende Reihe  von  Ausl  adungen  und  Abfindungen  ver- 
wirklichten und  mit  ihrem  schliesslichen  Rückzüge  auf  das 
Altentheil  bekräftigten.  Man  höre  nur  den  Fall,  wie  ihn 
Lyncker  mittheilt: 

„Hanns  Niedergail,  Innwohner  in  der  Seebach,  hat 
ein  ansehnliches  Gut  daselbst  besessen,  darauf  jährlich 
ein  merkliches  an  Früchten,  Gehölz  und  anderem  zu  er- 
bauen. Nachdem  er  aber  vier  Kinder  gehabt  und  beide 
seine  verheirathete  Töchter  ausgesetzt,  der  eine  Bruder 
aber  in  den  Krieg  kommen,  hat  er  den  anderen  Sohn, 
Sigmunden,  bei  sich  behalten.  Dieser  hat  weil  der  Vater 
über  70  Jahre  alt  gewesen.  . . Die  ganze  Haushaltung  über 
7 Jahre  geführet,  ....  masseu  der  Sohn  sich  auch  ver- 
heirathet  und  noch  vor  des  Vaters  Absterben  . . . also  noch  im 
wehrender  solcher  Haushaltung  Hochzeit  und  Kind- 
taufe gehalten.  . . . Hierauf  hat  er  dem  Vater  wenige 


141)  Vgl.  unter  anderem  das  Unheil  des  Amts  Bilstein  v.  178G  bei 
Sommer,  Westfalen  S.  35  bis  30,  vor  allein  aber  die  Delbrücker  Landunheile 
bei  Wigand,  Paderborn  Bd.  III. 

Vgl.  die  in  Amn.  120  citirte  Stelle  von  Beck. 


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139 


Zeit  vor  seinem  Absterben  zu  einem  Kauf  beredet,  ver- 
mag dessen  der  Vater  ihm  das  Gut  vor  500  fl.  verkauft, 
100  Gulden  in  Jahr  und  Tag  zur  Angabe  zu  bezahlen 
und  nach  seinem  Tode  die  Tagzeiten  jährlich  40  fl.  zu 
entrichten“  u.  s.  w. 

Vor  allem  aber  in  Süddeutschland  müssen  die  Gutsübergaben 
häufig  gewesen  sein.  Sie  werden  schon  von  den  Commentatoren 
der  bayrischen  Polizeiordnung  von  1616  als  eine  allgemeine  Sitte 
erwähnt  (vgl.  oben  Anm.  15*),  und  sie  sind  hier  sogar  von 
einigen  Landrechtsbüchern  z.  B.  vom  Bamberger  Landrecht 
(Fick  S.  188)  geregelt  worden. 

Dass  auch  später  noch  die  Auszngsverträge  nicht  selten 
w'aren,  beweist  ihre  oftmalige  Erwähnung  bei  Pufendorff,  sowie 
der  Umstand,  dass  Hommel  sie  nicht  nur  observatio  204  seiner 
„Raphsodie“  für  häufig  erklärt,  sondern  auch  in  obs.  110  ein 
Beispiel  davon  mittheilt. Ui)  Vollends  seit  Runde  ihnen  1805 
seine  berühmte  Abhandlung  gewidmet  hatte,  waren  sie  ein  auch 
von  den  Rechtslehrern  allgemein  anerkanntes  Institut.  So  hatten 
die  Bauern  zur  Verwirklichung  ihrer  ererbten  Rechtsanschauungen 
ein  Mittel  gefunden,  welches  auch  von  den  staatlichen  Hütern 
des  Rechts  anerkannt  wurde.  Allein  darauf  kam  es  nicht  ein- 
mal so  sehr  an.  Wenn  diese  Hüter  gar  zu  wenig  Verständniss 
für  die  Bedürfnisse  des  Landvolks  zeigten,  so  zogen  die  Bauern 
sich  auf  sich  selbst  zurück  und  kümmerten  sich  gar  nicht  um 
den  ganzen  officiellen  Apparat  der  Rechtsbewahrung,  sondern 
ordneten  ihre  Verhältnisse  auf  ihre  Weise  und  erfuhren  nur 
ab  und  zu  zu  ihrem  Staunen,  dass  die  Gerichte  auf  Grund 
neuer  fremder  Lehren  das  für  Unrecht  erklärten,  was  sie  seit 
der  Urväter  Zeiten  als  Norm  und  Richtschnur  aller  Verhältnisse 


14S)  Hommel  obs.  204:  „Saepius  enim  accidit,  ut  rustici  iu  ven- 
ditionibus  praediorum  in  casum,  si  liberi  sine  prole  moriantur, 
praedium  huic  aut  alteri  delegent“.  — obs.  HO:  „llat  der  nunmehr  ver- 
storbene Mävius  an  den  Sohn  Hans  Carlu  sein  Gut  für  508  Tbaler  der- 
gestalt verkaufet,  dass  der  Abekäufer  biervou  368  Tbaler  als  ein  väterliches 
Erbtheil  an  sich  behalten  und  abziehen,  das  übrige  aber,  an  200  Th.,  der 
Sempronin  und  Justinen,  als  des  Verkäufers  verstorbenen  Tochter  Kindern, 
und  zwar  nicht  eher,  als  bis  jedes  sich  verheirathen  würde,  alsdann  aber 
einer  jeden  100  Tbaler,  jedoch  ohne  Zinsen  auszahlen  solle.  . .“ 


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140 


anzusehen  gewohnt  waren.  Dennoch  lebten  sie  ruhig  in  dem 
alten  Brauche  weiter.  Denn  noch  war  die  Sitte  stark  genug, 
auch  den  Widerstrebenden  zu  ihrer  Anerkennung  zu  zwingen, 
so  dass  höchst  selten  die  bäuerlichen  Rechtsgeschäfte  vor  die 
Gerichte  gelangten,  und  trotz  deren  Ungunst  die  Gewohnheiten 
der  Landbevölkerung  sich  erhalten  konnten. 

Besonders  deutlich  tritt  diese  Unbekümmertheit  der  Land- 
bevölkerung uni  das,  was  öffentlich  als  Recht  und  Gesetz  galt, 
in  der  Schrift  Noltens  und  den  ihr  angehängten  Hofrechten  zu 
Tage.  Ueberall  ist  dort  von  dem  „abusus“,  von  den  „Missbrauchen“ 
die  Rede,  welchen  die  Landbevölkerung  ungeachtet  aller  Rechts- 
sprüche nachhänge;  und  die  Verfasser  der  angehängten  Hof- 
rechte, meist  ortskundige  Amtsmänner,  müssen  oft  bekennen, 
dass  in  ihrem  Sprengel  etwas  anderes  „Brauch  oder  vielmehr 
Missbrauch“  sei,  als  was  sie  nach  ihrer  gelehrten  Rechts- 
schulung für  richtig  halten  müssen.  Vollends  das  eingangs 
(Anm.  7)  besprochene  Protokoll  des  Hägergerichts  zu  Stadt- 
oldendorff  ist  ein  denkwürdiges  Beispiel  für  den  zähen  Bauern- 
trotz, mit  dem  die  Landleute,  selbst  wenn  sie  in  deu  höchsten 
Instanzen  keinen  Erfolg  gehabt  hatten,  sich  gegen  die  Auf- 
zwingung  eines  unverstandenen  und  fremden  Rechtes  wehrten. 

Speziell  auf  dem  Gebiet  des  Anerbenrechts  ist  diese  Nicht- 
beachtung von  Gesetz  und  Verordnung  neuerdings  für  Oesterreich 
dargethan  worden.  Unbekümmert  um  theilungsfeindliche  oder 
theilungsfreundliche  Gesetze  haben  die  Bauern  unter  Lebenden 
getheilt  und  für  den  Todesfall  ungetheilt  verfügt;  unbekümmert 
darum,  w'as  das  Gesetz  über  die  Bewerthung  des  Hofes  vor- 
schrieb, haben  sie  ihn  zu  allen  Zeiten  nach  einer  billigeren 
Taxe  übergeben.  Keiner  der  Miterben  rief  die  Gerichte  an 
„im  Banne  der  alten  Gewöhn heiten.“148*) 

Solchem  Bauerntrotze  ist  es  vornehmlich  zu  danken,  wenn 
sich  bis  auf  den  heutigen  Tag  das  Bauernrecht  im  Grossen  und 
Ganzen,  so  wie  es  zur  Zeit  der  Weisthümer  entstanden  war, 
erhalten  und  manchmal  sogar  überraschende,  anderswo  längst 


Grimberg  S.  so.  Vgl.  auch  S.  Sä,  30,  02. 


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141 


vergessene  Einzelheiten  aus  fernen  Tagen  treu  bewahrt  hat.144) 
Und  dass  dieser  sorgfältig  gehütete  Schatz  aus  der  Väter  Zeiten 
auch  wieder  von  der  oificiellen  Rechtslehre  uud  Rechtsprechung 
verwerthet  und  anerkannt  wurde,  ist  das  unvergängliche  Ver- 
dienst der  geschichtlichen  Rechtsschule. 

Unbekümmert  um  das,  was  die  Theorie  als  gemeines 
Recht  aufgestellt  hatte,  begann  man  wieder,  die  localen 
Gewohnheiten  zu  sammeln,  aus  Freude  an  der  bunten  Mannig- 
faltigkeit des  hier  zu  Tage  tretenden  Rechts.  Dieses  so 
gewonnene  Material  suchte  man  nun  historisch  zu  erklären. 
Und  da  man  dabei  viel  weiter  zurückging  und  die  alten 
Denkmäler  weit  besser  ausnutzte,  als  es  je  vorher  ge- 
schehen, so  konnte  ein  Erfolg  nicht  fehlen.  Es  gebührt  hier 
Wigand  in  seinen  oft  citirten  Schriften  das  Lob,  dass  er 
zuerst  die  richtigen  Grundsätze  über  die  Abfindung  in  der 
Wissenschaft  wieder  zu  Ehren  gebracht  hat.  Zwar  stützte  er 
sich  auf  falsche  Voraussetzungen  und  auch  seine  geschichtlichen 
Ausführungen  sind  heute  veraltet;  aber  er  war  ein  genauer 
Kenner  der  positiven  Bestimmungen  des  Provinzialrechts  und 
besass  dazu  einen  hervorragenden  praktischen  Takt;  dabei 
musste  er  das  Richtige  treffen.  Und  so  lautet  denn  auch  sein 
Grundsatz,  den  er  über  die  Grösse  der  Abfindungen  aufstellt, 
derart,  dass  er  recht  gut  den  Abschluss  unserer  obigen  Dar- 
legungen über  die  „Were“  (§  3 und  10)  hätte  bilden  können, 
Wigand  führt  nämlich  ans;  „dass  der  Brautschatz  aus  den 
Gütern  selbst,  aber  nach  ihrer  Grösse  und  Qualität,  und  so 
wie  sie  es  ertragen  können,  soll  geleistet  werden,  in  der 
Weise,  wie  nach  altem  Herkommen  ein  fleissiger 
sparsamer  Familienvater  seine  Kinder  versorgte  und 
ausstattete,  ohne  das  Hauptvermögen  zu  versplittern  und 
zu  ruiniren.“ 


144J  Das  merkwürdigste  Zengniss  für  den  conservativen  Sinn  der 
Bauern  — wenn  es  auch  auf  dem  Gebiete  der  Gerichtsverfassung  liegt  — 
ist  wohl,  dass  noch  bis  1576  in  den  Laetengerichtcn  des  Herzogthums  Cleve 
in  ganz  altgermanischer  Weise  der  Umstand  und  nicht  die  Schöffen  das  Urtheil 
fanden.  (Vgl.  Ludewig  S.  242  Anm.  o).  — Wie  merkwürdig  lange  noch 
an  vielen  Urten  die  alten  Härkerdinge  oder  Jlaigerichte  abgehalten  wurden, 
ist  allgemein  bekannt. 


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142 


Seitdem  ist  in  der  Theorie  des  Anerbenrechts  keine 
Aenderung  mehr  eingetreten,14-'’)  praktisch  aber  ist  es  in  der 

letzten  Zeit  wenigstens  im  Gesetzesrecht  mehr  und  mehr 
zurückgewichen.  Die  gleichmacherischen  Tendenzen,  welche 

dem  politischen  Leben  entsprungen  auch  in  der  Gesetzgebung 
mächtig  wurden,  waren  den  Standesrechten  ungünstig;  und 
dazu  gehörte  wenigstens  nach  der  herrschenden  Ansicht  doch 
auch  das  Bauernrecht.  Allein  diesen  Tendenzen  entstand  in 
allerletzter  Zeit  eine  Gegenströmung  und  es  ist  ihr  gelungen, 
das  Anerbenrecht  zu  erhalten;  allerdings  war  der  Sieg  an- 

fänglich vielfach  nur  ein  halber;  an  vielen  Stellen,  wo  es 
glückte,  einen  gesetzlichen  Damm  gegen  das  Verschwinden 
des  Anerbenrechts  zu  errichten,  da  musste  dies  in  seiner  alten 
Form  über  Bord  geworfen  werden.  Es  entstand  dafür  ein 

neues  Institut,  bedingt  durch  die  Coneessionen,  welche  den 
Vertretern  des  freien  Tnvidualismus  von  den  Anhängern  der 
Gebundenheit  des  bäuerlichen  Grundbesitzes  gemacht  werden 
mussten.  Das  alte  Anerbenrecht  hatte  als  Intestaterbrecht 
gegolten;  das  schien  Vielen  schon  ein  zu  grosser  Eingriff  in  die 
persönliche  Freiheit,  deshalb  sollte  das  Neue  nur  auf  Wunsch 
des  betheiligter.  Vaters  gelten,  wenn  er  sein  Gut  in  die  Höfe- 
rolle eintragen  liess.  Eine  Inconsequenz  war  es  dann  allerdings, 
dass  das  einmal  eingetragene  Gut  auch  beim  Singularsucessor 
mit  dem  Anerbrecht  behaftet  bleiben  sollte.  Allein  solche 
Inconsequenzen  sind  bei  Compromissgesetzen  gewöhnlich;  es  war 
dies  ein  Zugeständnis,  welches  die  Anhänger  der  Gebundenheit 
erraugen.  Vor  Allem  wirkte  aber  der  Streit  der  Anschauungen, 
den  es  bei  diesen  Gesetzen  zu  versöhnen  galt,  umgestaltend  ein 
auf  die  uns  besonders  interessirenden  Abfindungen.  Diese  in 
der  alten  Weise  dnrebzusetzen,  dass  der  Anerbe  Alleinerbe  war 
und  die  Miterben  keine  Civilcrbtheile,  sondern  etwas  Anderes, 
nämlich  eben  die  „Abfindung“,  empfingen,  dies  durchzusetzen 
erwies  sich  für  die  Anhänger  des  Anerbrechts  als  rein  unmöglich. 
Auf  der  anderen  Seite  war  man  nur  bereit,  verhindern  zu  lassen, 
dass  das  Gut  in  natura  getheilt  würde.  Dies  liess  sich  nun 


14;,J  Insbesondere  haben  Stobbe  Bd.  V und  ßesoler  Bd.  II  im  Wesent- 
lichen die  Weretheorie,  wenn  sie  auch  nicht  in  allen  Einzelheiten  mit  uns 
übereinst  immen. 


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143 


durch  eine  einfache  Anweisung  an  den  Theilnngsrichter  erreichen. 
Und  so  kam  man  dazu,  durch  Theilungsvorschriften,  also  durch 
indirecte  Mittel,  dem  Anerben  einen  Vortheil  zu  gewähren,  da 
man  seine  offene  Privilegirung  nicht  hatte  durchsetzen  können. 

Pas  sind  in  grossen  Zügen  1'w)  die  Vorgänge,  welche  dem 
modernsten  Anerbenrecht  seinen  eigentümlichen  Charakter  auf- 
geprägt  haben  gegenüber  dem  Anerbenrechte,  wie  es  auf  Grund 
der  historischen  Entwicklung  noch  in  verschiedenen  Theilen 
Deutschlands  gilt.  Neuerdings  ist  jedoch  die  dem  Anerbenrecht 
freundliche  Strömung  so  erstarkt,  dass  man  beginnt,  es  in  alter 
Weise  als  Intestaterbrecht  einzuführen,  freilich  nur  in  den 
Landesgesetzen,  denn  das  bürgerliche  Gesetzbuch  ist  am  ganzen 
Bauernrechte  kühl  vorübergeschritten. 


§ 14. 

So  hätten  wir  denn  die  Entwicklung  des  Anerbenrechts  von 
der  Urzeit  bis  heute  an  uns  vorüberziehen  lassen.  Ist  es  uns 
dabei  gelungen,  ein  folgerichtiges  und  überzeugungstreues  Bild 
zu  entwerfen,  so  ist  damit  die  Widerlegung  abweichender 
Meinungen  von  selbst  gegeben,  besser,  als  es  durch  lange 
Polemiken  hätte  geschehen  könneu.  Dennoch  werden  wir  nicht 
umhin  können,  wenigstens  zweien  von  unseren  Gegnern  noch 
die  Ehre  einer  besonderen  Widerlegung  zu  erweisen,  nämlich 
Brentano  und  seinem  von  ihm  inspirirten  Schüler  Fick.  Sie 
sind  die  lautesten  Küfer  im  Streit  gegen  unsere  Anschauungen, 
und  sie  haben  auch  am  meisten  deu  Anspruch  erhoben,  ihre 
Ansichten  durch  Beweise  gestützt  zu  haben. 

Brentano  und,  etwas  weniger  prononcirt,  auch  Fick  sind 
der  Ansicht,  dass  Erbrecht,  Hofrecht  und  Anerbenrecht  gleicher- 
massen  nur  das  Product  wirthschaftlicher  Verhältnisse  sind. 


ue)  Die  Geschichte  der  neueren  Höfegesetze  im  Einzelnen  zu  geben,  hat 
Verfasser  nicht  für  niithig  gehalten.  Gegenüber  der  vorzüglichen  Dar- 
stellung, die  Miaskowski  davon  a.  a.  0.  Bd.  II  S.  203  ff.  giebt,  könnte 
eine  erneute  Schilderung  sich  auch  nur  darauf  beschränken  von  jenem  schon 
Gesagtes  zu  wiederholen.  Das  Gleiche  würde  gelten  gegenüber  dem  Aufsatze, 
den  Graf  Chorinsky  in  den  Schriften  des  Vereins  für  Sozialpolitik  (Bd.  61 
S.  71  ff.)  über  die  Strömungen  und  Gesetzgebungsversuche  in  Oesterreich 
geliefert  hat. 


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Das  Erbrecht  soll  als  nothwendiges  Complement  des  Eigentliums 
gleich  diesem  getragen  werden  von  dem  „Bedürfnis  nach 
einer  intensiveren  Widmung  der  Productionsmittel,  der  Sach- 
güter und  der  Arbeitskraft  an  dem  Productionszweck“  (Zukunft, 
S.  f)06),  von  dem  Gedanken  einer  „pfleglicheren“  Behandlung 
der  zu  Eigenthum  und  Erbgang  überwiesenen  Gegenstände. 
Hofrecht  und  Anerbenrecht  dagegen  sollen  beherrscht  werden 
von  den  öeonomischen  Interessen  des  Grundherrn. 

Diese  Art,  alle  Rechtsentwicklung  aus  wirtschaftlichen 
Gesichtspunkten  und  Zweckgedanken  erklären  zu  wollen,  ist  ja 
nicht  neu.  Wir  hatten  schon  öfter  Gelegenheit,  auf  sie  hin- 
zuweisen. Wir  hatten  aber  auch  schon  Gelegenheit,  zu  bemerken, 
dass  sie  kurzsichtig  und  mindestens  einseitig  ist.  Sie  kehrt  das 
Verhältniss  von  Ursache  und  Wirkung  um:  nicht  weil  die 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  eine  bestimmte  Lage  schufen, 
bildete  sich  das  Recht  dementsprechend,  sondern  weil  die  An- 
schauungen des  Volkes  bestimmte  Rechtssätze  geschaffen. hatten, 
formte  sich  danach  die  wirtschaftliche  Lage.  Wir  sind  im 
Stande,  für  diese  Anschauung  das  Zeugniss  einer  schwer- 
wiegenden Autorität  anznrufen,  das  Zeugniss  eines  Mannes,  der 
mit  der  genauen  Kenntniss  der  wirtschaftlichen  Zustände  fast 
aller  Zeiten  einen  umfassenden  historischen  Blick  verbindet. 
Kein  geringerer  als  Schmoller  stellt  als  Ergebniss  der 
Lamprecht'schen  Wirtschaftsgeschichte  die  Lehre  hin,14*'*)  dass 
am  letzten  Ende  auch  der  Gang  der  wirtschaftlichen  Dinge 
vom  menschlichen  Willen  bestimmt  wird,  dass  die  „äusseren, 
quantitativen  Bedingungen  des  Wirthschaftslebens  teils  selbst 
Prodncte  menschlicher  Ueberlegung,  politischer,  sittlicher,  recht- 
licher und  socialer  Einrichtungen  sind,  und  dass  sie,  soweit  sie 
es  nicht  sind,  als  Stösse,  als  Kräfte  wirken,  welche  dem  Wider- 
stand menschlichen  Handelns  begegnen  und  durch  die  Handlungen 
der  Einzelnen  und  der  Gesammtheit  corrigirt  werden  können.“ 

Die  Autorität  Schmollers  würde  aber  nicht  allein  ent- 
scheiden, wenn  sie  nicht  durch  andere  Erwägungen  unterstützt 
würde.  Einmal  sehen  wir,  dass  noch  heute  Gesetze  und  Ge- 
wohnheiten, namentlich  Erbgewohnheiten  auf  wirtschaftliche 


>“*)  In  seinen  Jahrbüchern  Bd.  12  S.  218. 


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Diuge  einen  hervorragenden  Einfluss  ausüben,  während  das 
Umgekehrte  nicht  der  Fall  ist.  (Vgl.  unten  § 31  f.,  3(i  f.).  Und 
ferner  ist  es  überhaupt  nicht  möglich,  eine  Rechtsordnung  nur 
aus  wirthschal'tlichen  Gründen  zu  erklären.  Gerade  Brentanos 
Aufsatz  über  die  Entwicklung  des  Erbrechts  ist  dafür  ein 
sprechender  Beweis.  Schon  bei  den  ersten  Anfängen  versagen 
ihm  die  wirthschaftlichen  Erklärungen.  So  war  das  erste 
Eigenthum  nach  ihm  das  des  Mannes  an  der  Frau.  Und  wie 
erklärt  er  das?  Er  schreibt:  „Die  Frau  ist  die  Hauptarbeits- 
kraft in  der  Wirthschaft.  Auf  dieser  Entwicklungsstufe  ent- 
steht das  erste  Eigenthum : es  ist  das  des  Mannes  an  der  Frau.“ 
Diese  Beweisführung  enthält,  wie  Brentano  einmal  Gierke 
vorwirft,  einen  Salto  mortale.  Dass  die  Frau  die  Hauptarbeits- 
kraft gewesen  sei,  ist  allerdings  eine  wirthschaftliche  Erwägung. 
Aber  wie  sich  daraus  die  Entstehung  des  Privateigenthums 
erklärt,  verräth  Brentano  nicht.  Dass  sich  an  einem  Gegen- 
stände, der  Hauptarbeitskraft  oder  Hauptarbeitsmittel  ist,  ohne 
weiteres  Privateigenthum  entwickelt,  nimmt  Brentano  wohl  nicht 
an.  Es  widerspräche  das  auch  der  geschichtlichen  Entwicklung. 
Brentano  selbst  führt  ja  aus,  dass  später  die  wichtigsten  Pro- 
duktionsmittel Vieh  und  Grundbesitz  waren.  Und  doch  hat  es 
auch  nach  ihm  ‘sehr  lange  gedauert,  ehe  sich  ein  Eigenthum  des 
Privatmannes  hieran  ausgebildet  hat.  Dort  führt  er  übrigens  für 
diese  Ausbildung  wirthschaftliche  Erwägungen  au,  nämlich  das  er- 
wähnte Streben  nach  „pfleglicherer“  Behandlung.  Dass  dies  nicht 
wohl  der  Grund  des  Eigeuthums  an  der  Frau  gewesen  seiu  kann, 
springt  in  die  Augen.  Es  bleibt  sonach,  wenn  man  nicht  eine 
etwas  idealere  Auffassuung  auch  des  ältesten  Verhältnisses 
zwischen  Mann  und  Frau  annehmen  will,  als  Grund  des  Privat- 
eigenthums  nur  die  Begehrlichkeit  nach  dem  wichtigen 
Produktionsmittel  übrig,  der  nakte  und  bare  Egoismus.  Der 
Egoismus  ist  nun  aber  ein  Moment,  dass  zwar  wirthschaftliche 
Wirkungen  haben  kann,  aber  nicht  dem  ökonomischen  Gebiete 
angehört,  sondern  dem  ethischen  und  psychischen. 

Aber  greifen  wir  weiter:  Eine  der  wichtigsten  Aenderungen 
der  ursprünglichen  Rechtsordnung  ist  es  nach  Brentano,  wenn 
die  Frauen  Grundbesitz  zu  Eigenthum  erlangen  und  erben 
können.  Die  Aenderung  soll  eintreten,  sobald  „als  das  Heim- 
fallsrecht an  die  Markgenossenschaft  aufhört,  und  das  Land, 

▼.  Dultzic,  Gründer  brecht,  10 


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wo  Söhne  fehlen,  auf  die  Töchter  übergeht.“  Und  der  Grund 
dafür?  Brentano  nennt  als  Gründe  „einerseits,  dass  die  Ver- 
edelung durch  Arbeit  gegenüber  den  bloss  natürlichen  Eigen- 
schaften des  Bodens  eine  solche  Bedeutung  erlangt  hat,  dass 
es  nicht  mehr  erträglich  ist,  die  durch  individuelle  Arbeit 
herbeigeführte  Vermehrung  desBodeuwerthes  den  kommunistischen 
Ansprüchen  der  Markgenossenschaft  zu  opfern,  andererseits,  dass 
das  Weib  zu  einer  freieren  und  selbstständigen  Stellung  gelangt 
ist.“  Schon  der  erste  Theil  dieser  Schlussfolgerung  ist  nicht 
rein  wirtschaftlicher  Natur;  er  bietet  eine  allgemeine  Billig- 
keitserwägung dar,  die  an  die  wirtschaftlichen  Wandlungen 
zwar  anknüpft,  aber  doch  nur  äusserlich.  Vor  allem  jedoch  erklärt 
diese  Erwägung  die  Vererbung  an  Frauen  nicht,  sie  kann  nur 
erklären,  warum  das  Gut  nicht  mehr  an  die  Markgenossenschaft 
fällt,  sondern  an  die  Verwandten;  warum  es  aber  unter  den 
Verwandten  nicht  wie  sonst  nur  an  die  männlichen  gegeben 
wird,  sondern  auch  an  die  Frauen,  bleibt  im  Dunkel.  Brentano 
fühlt  das  denn  auch  selbst  und  führt  als  zweiten  Grund  an  die 
allgemein  verbesserte  Stellung  der  Weiber.  Damit  hat  er  aber 
selbst  den  wirtschaftlichen  Boden  verlassen.  Denn  die  bessere 
Stellung  der  Frau  ist  keine  wirtschaftliche,  sondern  eine 
ethische  und  rechtliche  Erscheinung.  Sie  ruht  auch  nicht  einmal 
auf  wirtschaftlichen  Gründen.  Brentano  will  uns  zwar  darüber 
hinwegtäuschen,  indem  er  meint,  die  Frau  sei,  sobald  sie  nicht 
mehr  vornehmste  Arbeitskraft  war,  zu  einer  Lebensgefährtin 
geworden.  Allein  das  Schwinden  ihrer  Bedeutung  als  Arbeits- 
kraft zeitigt  noch  nicht  ihre  Stellung  als  Lebensgefährtin. 
Auch  die  Bedeutung  des  Sklaven  als  Arbeitskraft  ist  nach 
Brentano  gesunken,  und  doch  ist  dadurch  nicht  die  Sklaverei 
in  Abgang  gekommen,  sie  ist  vielmehr  erst  sehr  allmählich  aus 
ethischen  Gründen  aufgehoben  wordeu.  Ueberhaupt  ist  bei 
einem  Gegenstände,  der  aus  irgend  einem  Grunde  Privateigeu- 
thum  geworden  ist,  das  rechtliche  Beharrungsvermögen  stark 
genug,  ihn  auch  nach  Fortfall  jenes  Grundes  in  Privateigenthum 
festzuhalten,  wenn  nicht  andere  Momente  ihm  eine  neue  Ent- 
wicklung vorzeichnen.  Und  so  wäre  auch  die  Frau,  wenn  sie 
einmal  aus  wirtschaftlichen  Gründen  ins  Eigenthum  des 
Mannes  geraten  wäre,  darin  auch  nach  dem  Verschwinden 


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jener  verblieben.  Nur  die  sittlichen  und  rechtlichen  An- 
schauungen reichen  ans,  ihr  eine  andere  Stelle  anzuweisen. 

Auch  sonst  noch  lässt  die  rein  wirtschaftliche  Erklärungs- 
methode  Brentano  im  Stich.  Ist  es  zum  Beispiel  ein  wirth- 
schaftlicher  Grund,  wenn  Brentano  das  Erbrecht  am  Lehn  daraus 
lierleitet,  erst  sei  die  Ernennung  des  Sohnes  üblich  gewesen, 
daun  sei  das  Recht  geworden?  Ist  es  ferner  eine  wirtschaft- 
liche Erwägung,  wenn  Brentano  darauf  verweist,  erst  sei  das 
Land  Pertinenz  des  Amtes  gewesen,  später  sei  das  Amt 
Pertinenz  des  Landes  geworden?  Aehnliche  Beispiele  Hessen 
sich  noch  mehr  anfiihren. 

Was  Brentano  aber  wirklich  an  wirthschaftlichen  Er- 
wägungen vorbringt,  ist  auch  etwas  gebrechlich.  Die  Ent- 
stehung des  Privateigentums  am  Laude  leitet  er,  wie  andere, 
aus  dem  durch  mehrere  Generationen  ungestört  ausgeübten 
Besitze  her.  Dass  dieser  längere  Besitz  aber  zum  Eigenthum 
führte,  leuchtet  ihm  nur  aus  folgender  Erwägung  ein:  „Wollte 
man  die  Umwandlung  der  rohen  Naturkraft  in  ein  verbessertes 
Produktionsinstrument  nicht  verhindern,  so  war  die  Voraus- 
setzung, dass  die  Früchte  der  Arbeit  denen  zu  gute  kamen, 
welche  die  Arbeit  geleistet  hatten.“  Also  wieder  der  Gedanke 
der  „pfleglicheren“  Behandlung  in  neuer  Wendung.  Dass  aber 
das  Bedürfniss  nach  pfleglicherer  Behandlung  keineswegs  zum 
Privateigenthum  führen  muss,  hätte  Brentano  aus  den  von  ihm 
sonst  so  betonten  irischen  Zuständen  lernen  können.  Die 
dortigen  Agrarverhältnisse  waren  schlecht  genug  und  schrieen 
förmlich  nach  pfleglicherer  Behandlung  und  nach  Privateigen- 
thum, wie  es  bei  Brentano  selbst  (Zukunft  S.  497)  zu  lesen 
steht.  Dennoch  hat  sich  das  Privateigen  an  Land  bei  den 
Iren  niemals  herausgebildet,  sondern  es  ist  erst  durch  die 
englische  Eroberung  eingeführt.  Und  doch  hätten  die  Iren 
mehr  als  andere  Arier  Anlass  gehabt,  jenen  Uebergang  aus 
wirthschaftlichen  Erwägungen  zu  vollziehen.  Denn  sie  hätten 
dies  erst  zu  thun  brauchen  in  Zeiten,  denen  man  wirthschaft- 
liche  Vorbedaehtsamkeit  schou  eher  zumuthen  konnte,  und  sie 
hatten  überdies  ringsum  das  Privateigen  bereits  vor  Augen. 

Der  Gedanke  allerdings,  dass  die  Frucht  der  Arbeit  von 
Generationen  deren  Sprösslingen  und  nicht  der  Gesammtheit 
gebühre,  ist  im  Rechte  mächtig  gewesen,  ebenso  wie  das  andere 

io* 


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von  Brentano  für  die  weitere  Entwicklung  des  Erbrechts  heran- 
gezogene Prinzip,  dass  über  das  erworbene  Gut  eine  freiere 
Verfügung  gerechtfertigt  sei  als  über  das  ererbte.  Wir  hatten 
ja  selbst  schon  Gelegenheit,  auf  diese  Grundsätze  hinzuweisen. 
Allein  beide  Regeln  fussen  in  der  allgemeinen  Billigkeit  und 
Gerechtigkeit;  es  bedarf  zu  ihrer  Erklärung  keiner  wirtschaft- 
lichen Gründe.  Im  Gegenteil  solche  erklären  zu  viel  oder  zu 
wenig.  Wenn  nämlich  der  Gedanke,  den  Begünstigten  einen  Ansporn 
zu  gewähren,  der  treibende  für  jene  Rechssätze  gewesen  wäre, 
so  hätten  diese  allgemein  lauten  müssen.  Denn  wenn  überhaupt 
das  Eigenthum  einen  Antrieb  zur  besseren  Behandlung  des 
Bodens  bildet,  so  bildet  es  ihn  schlechthin,  bei  dem  neuen  nicht 
minder  wie  bei  dem  seit  Generationen  besessenen  Lande:  wenn 
deshalb  das  Eigentum  zum  Zwecke  des  Ansporns  verliehen  worden 
wäre,  so  hätte  es  nicht  auf  das  Erbland  beschränkt  werden 
dürfen.  Desgleichen  wirkt  die  Aussicht  auf  freie  Verfügung 
ebenso  aufmunternd  beim  ererbten  wie  beim  erworbenen  Gute. 
Es  ist  darum  nicht  ersichtlich,  warum  sie  als  Preis  für  gute 
Wirtschaft  nur  beim  erworbenen  Gute  ausgesetzt  worden  sein  soll. 
Die  einfache  Gründung  der  Sätze  auf  Gerechtigkeit  und  Billigkeit 
lässt  ihre  Beschränkung  dagegen  sehr  wohl  begreifeu ; denn  diese 
Momente  wirken  eben  nicht  allgemein,  sondern  nur  entsprechend 
beschränkt.  Die  Beispiele  vollends,  die  Brentano  für  seine  Lehre 
von  der  Entstehungsursache  der  Freiheit  des  erworbenen  Gutes 
beibringt,  sind  historisch  unrichtig.  Die  Selbstständigkeit  des  Haus- 
sohnes hinsichtlich  seines  castrense  und  quasicastrense  peculium 
im  römischen  Recht  ist  nicht  eingeführt,  um  den  Sohn  zu  besseren 
Leistungen  anzuspornen.  Wie  hätte  auch  die  Tüchtigkeit  auf 
militärischem  und  politischen  Gebiete  durch  eine  solche  abge- 
legene Begünstigung  in  ganz  anderer  Sphäre  angefeuert  werden 
sollen!  Bevorzugung  im  Avancement,  Titel  und  Ehrenzeichen 
hätten  dazu  weit  bessere  Mittel  geliefert.  Nein,  die  Sätze  über 
das  castrense  und  quasicastrense  peculium  fliessen  allerdings 
aus  dem  Staatsinteresse,  aber  nur  aus  dem  Interesse  daran, 
dass  der  Beamte  von  niemand  abhängig  ist,  als  vom  Staate, 
und  dass  der  Vater  das  Beamtengehalt  nicht  seiner  Zweck- 
bestimmung entfremden  und  im  eigenen  Nutzen  verwenden  kann. 
Die  schliessliche  Stellung  auch  des  nichtbeamteten  Haussohnes 
ist  der  des  beamteten  daun  nur  angeglichen.  Nachdem  nämlich 


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überhaupt  durch  die  Beamten  ein  Beispiel  dafür  gegeben  war, 
dass  es  auch  selbsterwerbende  Haussöhne  geben  küune,  war 
die  überlebte  Stellung  derselben  nicht  mehr  zu  halten,  so  uner- 
schütterlich sie  auch  vordem  trotz  ihrer  Herkunft  aus  längst- 
vergangenen Rechtszuständen  geschienen  haben  mochte. 

Wird  man  demnach  der  Art,  wie  Brentano  die  von  ihm 
behauptete  Entwicklung  des  Erbrechts  zu  erklären  sucht,  kaum 
beistimmen  können,  so  ist  es  wohl  auch  erlaubt,  überhaupt  an 
der  Richtigkeit  des  Bildes  zu  zweifeln,  das  er  uns  von  jener 
Entwicklung  entwirft.  Brentano  hat  einem  die  Kritik  hier  ja 
einigermassen  schwer  gemacht  durch  seine  Erklärung,  dass  er 
noch  nicht  die  volle  Begründung  seiner  Ansicht  geben  könne. 
Nun  wir  warten  ihrer,  einstweilen  wird  es  uns  jedenfalls  nicht 
verargt  werden  können,  wenn  wir  bei  unserer  Ansicht  ver- 
harren. Das  aber  kann  schon  jetzt  verrathen  werden:  wenn 
Brentano  nicht  bessere  Beweise  vorbringt  als  die  Berufung  auf 
die  australischen  Menschenfresser,  als  die  Verweisung  auf  die 
wesentlich  mongolischen  und  durch  den  ewigen  Kampf  mit  einer 
kargen  Natur  ebenso  wie  durch  politische  Schicksale  herab- 
gekommen Ladaks  in  Kaschmir,  oder  als  die  stetige  Bezug- 
nahme auf  die  in  jeder  Weise  entarteten  irischen  Zustände,  so 
wird  ihm  schwerlich  Beifall  ertönen.  Es  muss  überhaupt  ge- 
sagt werden:  Die  vergleichende  Rechtswissenschaft  ist  an  sich 
etwas  durchaus  Berechtigtes,  sie  erweitert  unbestreitbar  unsern 
Gesichtskreis;  aber  gegen  die  heutige  kritiklose  Art,  ihre  Er- 
gebnisse zu  verwerthen,  gegen  die  Mode,  znsammengelesene 
Rechtsanschauungen  der  Australneger  und  anderer,  auf  gleicher 
Höhe  stehender  Wilden  auf  arische  Institutionen  übertragen  zu 
wollen,  dagegen  muss  der  schärfste  Einspruch  erhoben  werden. 
Die  wirtschaftlichen  Zustände  mögen  — vielleicht  — auch 
einmal  bei  den  Ariern  ähnliche  gewesen  sein.  Aber  ihre  recht- 
liche Gestaltung  ist  als  ein  Produkt  der  Gedankenwelt  abhängig 
von  der  Art,  wie  sich  jene  Zustände  in  dem  Kopfe  der  Be- 
theiligten malen,  abhängig  von  der  ethischen  und  juristischen  Seele, 
die  ihnen  eingehaucht  wird.  Und  dass  hier  die  jetzigen  Herren 
der  Welt  die  wirtschaftlichen  Dinge  je  in  dem  gleichen 
Lichte  gesehen  hätten,  wie  es  heute  die  verkommensten  Wilden 
oder  Halbwilden  tliun,  ist  doch  sehr  unwahrscheinlich.  Wir 
wissen  ja  nicht  einmal,  ob  auch  nur  jene  Wilden  immer  die 


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heutigen  Ansichten  gehegt  haben;  sie  können,  wie  sonst,  auch 
in  dieser  Beziehung  entartet  sein:  wenn  sie  aber  wirklich  ihren 
Anschauungen  von  je  angehangen  haben,  so  ist  es  umgekehlt 
sehr  wahrscheinlich,  dass  sie  gerade  darum  von  den  Ariern  über- 
holt sind,  weil  diese  von  Anfang  an  eben  einen  anderen,  besseren 
und  höheren  sittlichen  und  rechtlichen  Massstab  an  die  Dinge  und 
folgeweise  auch  an  sich  selbst  zu  legen  verstanden  haben.  Man 
verschone  uns  darum  mit  den  Rechtsordnungen  stammfremder 
Barbaren,  und  ziehe  zur  Erläuterung  des  Rechts  eines  arischen 
Volkes,  w'ie  wir  es  oben  gcthan  haben,  im  allgemeinen  nnr 
Satzungen  anderer  Arier  heran ! Aber  auch  hier  darf  man 
nicht  kritiklos  Vorgehen.  Auch  die  einzelnen  arischen  Stämme 
haben  über  Recht  und  Sitte  verschiedene  Ansichten  gehabt  : 
wir  sahen  dies  bei  der  Auffassung  des  Eigenthums.  Jedenfalls 
ist  es  ein  schwerer  Fehler,  wenn  Brentano  die  in  jeder  Be- 
ziehung eigenartigen  Zustände  der  Iren  als  allgemein  giltig 
betrachtet.  Schon  Leist  hat  in  seinen  Werken  auf  den  gleichen 
Fehler  Maine’s  treffend  hingewiesen.  In  der  Tliat  findet  sich 
bei  keinem  anderen  arischen  Stamme  eine  gleiche  Be- 
tonung der  Viehzucht  und  demgemäss  eine  gleich  lange  Dauer 
des  halbnomadischen  Zustandes;  bei  keinem  anderen  arischen 
Stamme  findet  sich  zwischen  das  Stammeigenthum  und  das 
Hauseigenthum  ein  Sondereigenthum  des  Stammeshauptes,  sei 
es  auch  nur  an  Vieh,  eingeschoben;  es  ist  dieses  sogar  so 
regelwidrig,  dass  mir  seine  Existenz  auch  für  die  Iren  zweifel- 
haft ist;  überall  sonst  nämlich  ist  der  Stamm  organisirt  wie 
ein  erweitertes  Haus;  wenn  es  also  an  einem  Sondereigenthum 
des  Hausvorstandes  mangelt,  — und  das  nimmt  Brentano  auch 
bei  den  Iren  in  der  fraglichen  Zeit  nicht  an,  — so  fehlt  es 
auch  an  einem  Sondereigenthuni  des  Stammleiters. 

Wendet  man  diese  kritischen  Grundsätze  auf  die  Entwicklung 
des  Erbrechts  an,  so  wird  man  schwerlich  bei  den  Ariern  und 
am  wenigsten  bei  den  Germanen  ein  anfängliches  Privateigenthum 
an  der  Frau  behaupten.  Was  die  Australneger  darüber  denken, 
ist  dann  ganz  gleichgiltig.  Wenn  aber  schon  die  Wilden 
entscheiden  sollen,  so  hätte  Brentano  doch  auch  die  bei 
uncultivirten  Völkern  so  verbreitete  Sitte  des  Mutterrechts 
berücksichtigen  müssen,  die  allerdings  vom  Eigenthum  des 
Mannes  an  der  Frau  das  ungefähre  Gegentheil  bedeutet.  Er 


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hätte  aber  vor  Allem  Anlass  gehabt,  seinen  Blick  auf  die 
Weddas  in  Ceylon  zu  richten:  denn  diese  bilden  wenigstens  die 
Stammform  auch  der  arischen  Rasse. t4,!b)  Hier  findet  sich  nun 
zwar  Monogamie  und  hausherrliche  Gewalt,  aber  diese  stellt 
sich  nicht  als  reines  Privateigenthum  dar,  und  sie  ruht  auch 
nicht  auf  dem  Grunde  der  Ausnutzung  der  Frau  als  Haupt- 
productionsmittel  — denn  von  Production  ist  in  dem  streifenden 
Waldleben,  welches  die  Weddas  unter  dem  glücklichen  Himmel 
von  Ceylon  führen,  überhaupt  nicht  die  Rede  — sondern  sie  wird 
verursacht  und  beherrscht  von  dem  schon  in  der  Thierwelt  viel- 
fach wirksamen,  mächtigen  ethischen  Momente  der  Zuneigung  zu 
Gattin  und  Nachkommenschaft ; vielleicht  könnte  man  es  auch 
Eifersucht  nennen.  Jedenlalls  ist  es  der,  auch  von  den  wirklichen 
Ariern  zu  allen  Zeiten  betonte,  Grundsatz,  man  solle  sein  Weib 
vor  jedem  Andern  behüten,  weil  man  doch  nur  eigene  Kinder 
haben  wolle. 

Es  finden  sich  denn  auch  bei  den  reinen  Ariern  nirgends 
Spuren,  welche  auf  eine  völlig  gleiche  Behandlung  der  Rechte 
an  der  Ehefrau  mit  dem  Eigenthum  an  Vieh  und  am  Sclaven 
deuten,  so  dass  z.  B.  auch  bei  der  Frau  eine  Vererbung 
zulässig  gewesen  wäre.  Das  Gegentheil,  das  von  den  halb- 
mongolischen,  degenerirten  Ladaks  aus  heutiger  Zeit  berichtet 
wird,  ist  für  allgemein-arische  Anfangszustände  nicht  beweisend. 
Ebenso  fallt  die  gleiche  Bewerthung  einer  Frau  und  dreier  Kühe 
bei  den  Iren  nicht  ins  Gewicht.  Auch  der  Mann  hat  ja  überall 
seinen  Preis,  später  in  Geld,  früher  wahrscheinlich  auch  in 
Vieh,  und  doch  hat  er  sicher  in  Niemands  Eigenthum  gestanden. 
Besser  als  hierauf  hätte  deshalb  Brentano  auf  die  Römer  ver- 
weisen können:  denn  wenn  auch  diese  nicht  bis  zur  Vererbung 
der  Frau  gehen,  so  behandeln  sie  doch  die  Rechte  an  der  Frau 
in  ziemlich  weitgehendem  Grade  nach  den  Regeln  des  Privat- 
eigenthums. Allein  dies  ist,  wie  schon  Leist  dargethan  hat,  eine 
spätere  particular  römische  Missbildung,  der  gegenüber  sich  die 
alten  Vorschriften  als  sacrales  Recht  behauptet  haben.  Jedenfalls 
haben  die  Germanen  eine  ähnliche  Entwicklung  nicht  durch- 


Hct')  Vgl.  Ulrich  Stotz  in  Ztschr.  f.  Kgesch.  Germ.  Abt.  Band  XV’, 
S.  175  ff. 


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gemacht.  Brentano  glaubt  zwar  in  der  Nachricht  des  Taeitus, 
es  seien  bei  den  Deutschen  die  Aecker  meist  von  weiblicher 
Hand  bestellt  worden,  einen  Beweis  dafür  gefunden  zu  haben, 
dass  die  Frauen  dort  die  Hauptarbeitskraft  waren,  und  dieser 
Umstand  ist  ihm  weiter  dafür  entscheidend,  dass  sie  auch  im 
Privateigenthum  standen.  Indessen,  auch  wenn  sie  damals  den 
Acker  bestellten,  so  stellten  sie  darum  noch  nicht  die  einzige 
wesentliche  Arbeitskraft  vor-,  denn  Jagd  und  Fischerei,  die 
naturgemäss  den  Mann  beschäftigten,  waren  zu  jener  /eit  noch 
ebenso  wichtige  Unterhaltsquellen.  Ausserdem  berichtet  der- 
selbe Taeitus,  dass  die  freien  Männer  meist  auch  noch  unfreie 
Knechte  und  Mägde  hatten,  welche  den  Acker  bestellten,  so 
dass  sich  die  Ackerarbeit  der  Hausfrau  vielfach  auf  eine  Art 
Oberleitung  beschränkt  zu  haben  scheint.  Selbst  wenn  aber  die 
Frau  wirklich  die  Hauptarbeitskraft  gewesen  wäre,  so  hätte  sie 
darum  doch  noch  nicht  im  Eigenthum  des  Mannes  gestanden: 
denn  dem  widersprechen  die  zahlreichen  anderen,  allgemein 
bekannten  Stellen  des  Taeitus  über  das  hohe  Ansehen  der  Frau 
bei  den  Germanen  und  über  ihre  Stellung  als  Genossin  des 
Mannes. 

Nach  alledem  wird  man  den  Ausführungen  Brentano's  über 
die  Entstehung  des  Erbrechts  der  Freien  weder  im  Ausgangs- 
punkte vom  Eigenthume  an  der  Ehefrau  noch  im  weiteren  Ver- 
laufe bei  der  Verallgemeinerung  irischer  Verhältnisse  beitreten. 
Nicht  minder  anfechtbar  sind  aber  seine  und  Fick's  Darlegungen 
über  das  Hofrecht. 

Schon  die  allgemeine  Geschichte  des  Hofrechts,  wie  sie 
Brentano  giebt,  ist  irrig  und  veraltet.  Brentano  sieht  den 
Ursprung  des  Hofrechts  allein  in  der  Sclaverei  und  Unfreiheit. 
Um  nämlich  den  Sclaven  zu  besserer  Bodenbehandlung  zu  ver- 
anlassen, soll  der  Herr  genüthigt  gewesen  sein,  ihm  successive 
immer  grössere  Rechte  zu  gewähren.  Diese  Entwicklung  soll 
sich  schon  im  römischen  Recht  verfolgen  lassen  und  sich  im 
deutschen  nur  fortgesetzt  haben.  Nach  Brentano  ist  deshalb  die 
Geschichte  des  Hofrechts  nur  die  Geschichte  des  allmählichen 
Vordringens  des  römischen  Latifundiums,  und  weil  das  Hofrecht 
vom  Sclavenrechte  ausgeht,  deshalb  ist  es  nur  der  Ausdruck  „de> 
den  Abhängigen  auferlegten  Willens  eines  Herrn“.  (Zukunft. 
S.  504  uud  505,  S.  447.) 


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153 


Wenn  man  diese  Sätze  über  das  Wurzeln  des  Hofrechts 
im  Sclavenrechte  liest,  so  fühlt  man  sich  unwillkürlich  in  die 
oben  gekennzeichneten  Zeiten  zurückversetzt,  wo  Ludwig,  Stryck 
und  Struben  lehrten.  Die  Schilderung  über  das  allmähliche 
Aufsteigen  des  Sclaven  zum  Bauern  könnte  recht  wohl  aus  den 
Darlegungen  jener  über  die  Besserstellung  der  „serviles“ 
entnommen  sein.  Es  ist  überhaupt,  als  ob  die  Untersuchungen 
der  letzten  30  Jahre  über  das  Hofrecht  nicht  existirten, 
als  ob  namentlich  Lamprecht  und  Brunner  niemals  ge- 
schrieben hätten.  Wenn  man  die  Brunner'schen  Aufsätze 
über  „mithio  und  sperantes“,  wenn  man  seine  Rechtsgeschichte 
liest,  wenn  man  hört,  wie  viele  vollfreie  Männer  ihr  Gut  einem 
Mächtigen  auftrugen,  um  es  mit  sauimt  seinem  Schutz  zurück- 
zuempfangen und  wie  dies  erst  allmählich  eine  Verminderung 
ihrer  Freiheit  herbeiführte,  so  geht  es  doch  nicht  an,  zu  sagen, 
das  Hofrecht  sei  allein  von  Sclaven  ausgegangen,  denen  ihr 
Herr  ein  Gütchen  überlassen  habe.  Es  haben  ebensoviel,  ja 
es  haben  vielleicht  mehr  Freie  den  Stamm  der  hofhörigen  Leute 
geliefert.  Und  wenn  man  dann  weiter  die  Fülle  von  deutsch  - 
rechtlichen  Leihe  und  Abhängigkeits -Verhältnissen  überschaut, 
die  Brunner  als  die  Ausgangspunkte  hofrechtlicher  Gebundenheit 
hinstellt,  so  wird  man  die  Herleitung  des  Hofrechts  aus  dem 
römischen  Colonatrechte  nur  als  phantasievolle  Uebcrtreibung 
betrachten  können,  ganz  abgesehen  davon,  dass  namhafte  Kenner 
des  römischen  Rechts  auch  das  dort  vorhandene,  übrigens  nicht 
eben  „ausgebildete“  Colonatrecht  auf  die  spätere  Durchsetzung 
des  römischen  Reiches  mit  Barbaren  und  namentlich  mit 
Germanen  zurückführen  wollen.  Das  deutsche  Hofrecht  ist 
demnach  weder  ein  römischer  Eindringling,  noch  ist  es  lediglich 
das  Product  des  Herrenwillens , der  rechtlose  Sclaven 
mit  berechnender  Gnade  bedachte.  Es  ist  mindestens  in 
demselben  Grade  geschaffen  und  gewandelt  durch  den  Willen 
der  Männer,  die  ihm  unterstanden  und  die  zum  grossen  Theil 
einst  ganz  frei  gewesen  waren,  und  es  ist,  wie  wir  wiederholt 
bemerken  konnten,  gerade  darum  oft  in  wunderbarer  Weise  mit 
den  Gedanken  des  Landrechts  befruchtet  worden.  Mit  Recht 
legt  deshalb  Schmoller  auch  hier  nicht  auf  die  wirthschaftlichen 
Verhältnisse  das  Hauptgewicht,  und  mit  Recht  schreibt  er  dem 


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154 


sonst  so  betonten  Interesse  des  Grundherrn148*)  nur  eine  massige 
Wirkung  zu,  wenn  er  aus  den  einschlägigen  Untersuchungen 
Lamprecht's  mit  den  Worten  das  Ergebniss  zieht:  „Das  Auf- 

steigen der  Bauern  und  der  Tagelöhner  bis  ins  14.  Jahrhundert 
wäre  nicht  möglich  gewesen,  trotz  Bodenüberfluss  und  Preisver- 
hältnissen, wenn  nicht  eine  sociale  und  sittliche  Geschichte, 
die  nach  Jahrtausenden  zählt,  der  Macht  der  Aristokratie 
feste  Schranken  gesetzt  hätte,  wenn  nicht  dem  Rechts- 
bewustsein  der  germanischen  Völker  der  Gedanke 
entsprungen  wäre,  dass  die  Pflichten  der  Hörigen  im  genossen- 
schaftlichen Hofding  durch  Weisthümer  festzustellen  seien.“ 

AVas  nun  im  Besonderen  die  Entwicklung  der  Einzelerbfolge 
im  Hofrecht  anlangl,  so  befinden  ja  wir  uns  hier  im  vollen 
Gegensatz  zu  Brentano  und  seinem  Schüler;  aber  auch  ganz 
unbefangene  Beobachter  werden  bei  der  Brentano'schen  Theorie 
auf  zahlreiche  Bedenken  stossen.  Zunächst  hat  Brentano  sich 
wiederholt  darauf  etwas  zu  Gute  gethan,  dass  er  und  sein 
Schüler  Fick  den  Nachweis  geliefert  hätten,  es  sei  „auch  unter 
dem  Hofrecht,  das  den  ungethcilten  Uebergang  der  Banergiiter 
auf  einen  Erben  einführte,  das  gleiche  Erbrecht  aller  Kinder 
des  Bauern  in  Bayern  unentwegt  festgehalten  worden“.  (Zukunft. 
S.  448.) 


1,0r)  Dass  dies  Interesse  auch  in  älterer  Zeit  übrigens  je  in  der  Weise  be- 
tätigt worden  wäre,  dass  die  Herrn  dem  Hauer  Erleichterungen  gewährt 
hätten,  um  ihn  zu  „pfleglicherer“  Boden-Behandlung  zu  veranlassen,  (Zukunft 
S.  505)  darf  billig  bezweifelt  werden.  Die  eigenen  Mittheilungen  Brentanos 
und  Fieks  über  das  Verhalten  der  Gutsherrn  im  18.  Jahrhundert,  über  ihr 
alleiniges  Bestreben  die  Mortuarien  und  Landenden,  die  Spanndienste  und 
dgl.  stets  zu  vergrössern,  zeigen,  dass  dio  Gutsherrn  für  woitschauende 
Wirtschaftspolitik  gar  kein  Verständniss  hatten  und  immer  nur  den 
nächsten  Erfolg  sahen.  Das  von  Brentano  angezogene  Gutachten  der  Kammer - 
rathe  Albrechts  V.  von  Bayern  beweist  hiergegen  nichts.  Denn  es  stammt  aus 
dem  Reformationsjahrbundert,  dessen  wirthschaftliche  Verhältnisse,  wie  wir 
bereits  bemerkten,  schon  sehr  modern  waren  und  demnach  zur  Erklärung  anderer 
Zeiten  nicht  wohl  herangezogen  werden  können;  ja  es  stammt  überdies 
noch  von  wirtschaftlich  besonders  geschulten  Köpfen  jenes  Jahrhunderts 
beweist  also  nicht  einmal  für  die  damaligen  allgemeinen  Anschauungen 
etwas.  Ebensowenig  beweisend  ist  es  natürlich,  wenn  in  unserem  Jahrhuudert 
den  Bauern  die  volle  Freiheit  ans  wirtschaftlichen  Grüuden  gewährt  ist. 


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Wenn  Brentano  liier  unter  „gleichem  Erbrecht“  nur  ver- 
steht, dass  an  sich  alle  Kinder  ein  Anrecht  auf  die  gesammte 
Erbschaft  haben,  welches  aber  nicht  durch  formell  gleiche 
Theilung  des  Civilwertlies  verwirklicht  wird,  sondern  durch 
Abfindung  der  nicht  aut  retenden  Geschwister  nach  einem 
niedrigeren  Schätzungspreise,  so  hat  er  diese  Praxis  allerdings 
belegt.  Er  hat  jedoch  damit  gar  nichts  Neues  gesagt.  Schon 
längst  wusste  man,  dass  nach  gemeinem  Rechte  alle  Bauern- 
kinder auch  auf  das  Grundvermögen  ein  Anrecht  haben  uud 
dass  die  Abfindung  demgemäss  nicht  nur  aus  dem  Allod  erfolgt. 
Auch  wir  haben  dies  oben  besonders  hervorgehoben.  Wenn 
aber  Brentano  mit  dem  „gleichen  Erbrecht“  die  gleiche  Theilung 
in  natura  oder  civiliter  meint,  so  steht  es  mit  ihrem  Nachweis  sehr 
schwach.  Der  Verfasser  dieserSchrift  kann  wohl  sagen,  dass  er  mit 
Eifer  und  heissem  Bemühen  nach  jenem  Beweise  bei  Brentano  und 
Fick  gesucht  hat.  Er  hat  jedoch  über  die  nie  bestrittene,  anfängliche 
gleiche  Theilung  im  Landrechte  zwar  viele  überflüssige  Aus- 
führungen gelesen,  über  die  gleiche  Theilung  im  Hofrechte  aber 
hat  er  nur  eine  einzige  Stelle  auffinden  können.  Sie  steht  bei  Fick, 
S.  23  und  besagt,  dass  auch  bei  dem  bayrischen  „Leibrechter“, 
dem  das  Gut  überhaupt  nicht  zu  Erbrecht  gehörte,  „das  Streben 
nach  Gleichstellung  aller  Kinder  so  mächtig“  gewesen  sei,  „dass 
der  neue  Leibrechter  seinen  Geschwistern  Abfindungen  zu  ge- 
währen pflegte,  die,  wie  aus  einer  Stelle  bei  Rottmanner  hervor- 
geht, sich  auf  die  volle  Höhe  ihres  Kopftheiles  beliefen“.  Also 
eine  einzige  verlorene  Aeusserung  Rottmanner's  soll  entscheidend 
sein  gegenüber  alle  den  anderen  zahlreichen,  von  Brentano 
und  Fick  selbst  nicht  geleugneten  Nachrichten,  welche  von  der 
Theilung  eines  billigeren  Werthes  sprechen,  und  gegenüber  der 
noch  heute  nur  jenen  Werth  vertheilenden  Praxis!  Und  noch  dazu 
eine  Aeusserung  Rottmanner's!  Wir  berühren  damit  einen  der 
wundesten  Punkte  der  Brentano  -Fick'schen  Beweisführung. 
Fast  ihre  ganze  Darstellung  der  früheren  gruudherrlicheu  Praxis 
l'usst  auf  Schriften  eben  jenes  Rottmanner  und  vornehmlich  auf 
dessen  „Unterricht  eines  alten  Beamten  an  junge  Beamte“.  Das 
Alles  aber  sind  Streitschriften,  welche  die  Verhältnisse  einseitig, 
verzerrt  und  übertrieben  darstellen,  eine  „beissende  Satire“,  wie 
sie  Fick  selbst  nennt.  Schroff  widerspricht  es  aber  allen  Grund- 
sätzen der  historischen  Kritik,  derartige  Streitschriften  als 


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156 


zuverlässige  Erkenntnissquelleu  für  frühere  Zustände  zu  benutzen. 
Was  würde  wohl  Brentano  dazu  sagen,  wenn  man  die  heutige 
bäuerliche  Lage  nur  nach  den  Heden  einiger  agrarischer 
Agitatoren  ermessen  oder  wenn  man  die  Verhältnisse  der  Fabrik- 
arbeiter nur  nach  den  Brandschriften  einiger  Socialdemokraten 
beurtheilen  wollte ! 

Und  wie  schwächlich  ist  nun  die  Constrnction,  welche 
Brentano  und  Fick  von  der  Entstehung  des  Anerbenrechts  auf 
Grund  jener  Quellen  geben!  Die  ungeteilte  Vererbnng  soll 
nach  ihnen  erwachsen  sein  sowohl  aus  dem  Interesse  des 
Staates  an  der  Geschlossenheit  der  Höfe  zwecks  Vermeidung 
von  Veränderungen  des  Steuereatasters,  wie  ans  dem  Interesse 
der  Grundherren,  welches  einmal  dahin  ging,  die  Höfe  für  die 
Frohnuienste  leistungsfähig  und  darum  möglichst  gross  zu  er- 
halten, und  welches  zweitens  nach  recht  viel  Landemien  strebte, 
deren  sich  bei  uugetheilter  Uebergabe  mehr  berechnen  Hessen 
als  bei  Theiluug.  Wir  haben  schon  Eingangs  dargethan,  dass 
diese  ja  nicht  neue  Ansicht,  welche  die  ungeteilte  Vererbung 
aus  der  rechtlichen  Geschlossenheit  des  Gutes  herleitet,  auch 
für  Bayern  nicht  zureicht,  indem  auch  in  Bayern  die  ungeteilte 
Uebergabe  älter  ist,  als  die  ersten  Theilungsverbote;  wir  haben 
ferner  bereits  betont,  dass  insbesondere  die  gutsherrlichen 
Interessen  zur  Erklärung  des  Anerbenrechts  schon  darum  nicht 
genügen,  weil  das  Anerbenrecht  auch  auf  freien  Gütern  gilt, 
und  umgekehrt  sich  nicht  auf  allen  herrschaftlichen  findet. 
(Vgl.  auch  Sering  bei  Schmoller,  Jahrbuch  de  1896,  S.  222.) 
Wir  wollen  aber  hinsichtlich  des  Interesses  der  Grundherren 
an  den  Frohndieusten  noch  bemerken,  dass  diese  auch  für  die 
Theilung  sprechen  konnten;  denn  auch  nach  bayrischem  Rechte 
leistete  jeder  Naturaltheil  des  Gutes  selbstständig  die  ganzen 
Scharwerke,  die  vordem  auf  einem  Gute  gelastet  hatten:  der 
Gutsherr  bekam  also  durch  die  Theilung  mehr  FrohnpHichtige. 
als  vorher.  In  Oesterreich  haben  denn  auch  diese  Erwägungen 
nicht  zu  einer  theilungsfeindlichen,  sondern  zu  einer  theilungs- 
freundlichen  Politik  der  Gutsherren  geführt.  (Vgl.  Grünberg 
S.  31). 

Die  niedrige  Schätzung  des  Gutes  ferner  und  die  niedrige 
Bemessung  der  Abfindungen  soll  fliessen  einmal  aus  dem  Be- 
streben der  Bauern,  durch  mässige  Bewerthungen  Landemien 


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157 


zu  sparen,  und  dann  aus  dem  Wunsche  der  Herren,  das  Gut 
möglichst  schuldenfrei  zn  erhalten. 

Auch  diese  Erklärung  verfängt  nicht  für  die  niedrigere 
Bewerthung  im  Landrechte.  Brentano  und  Fick  leugnen  sie 
zwar  dort,  aber  ihr  Nachweis,  dass  Theil  III,  Cap.  1,  § II 
des  bayrischen  Landrechts  jene  niedrigere  Bewerthung  nicht 
ausspreche  (Brentano,  Vorwort  S.  XVIII),  ist  gänzlich  verfehlt. 
Die  Stelle  bestimmt  ausdrücklich,  dass  der  Gutsübernehmer  nur 
einen  „leidentiiehen“  Anschlag  zu  zahlen  habe,  und  an  diesem 
Worte  „leidentlich“  scheitern  alle  entgegenstehenden  Be- 
hauptungen; Brentano  beweist  das  selbst  am  Besten  dadurch, 
dass  er  das  Wort  „leidentlich“  einfach  ignorirt.14'id)  Die  Er- 
klärung Brentano’s  enthält  aber  ferner  insofern  einen  Wider- 
spruch mit  seinen  sonstigen  Annahmen,  als  es  doch,  worauf 
schon  Sering  (a.  a.  0.)  hingewiesen  hat,  merkwürdig  scheinen 
muss,  dass  sonst  überall  das  Interesse  der  Grundherren  an  der 
Erhöhung  der  Laudemien  sich  durchgesetzt  haben  soll,  hier  aber 
das  Bestreben  der  Bauern,  solcho  zu  sparen.  Das  Interesse 
der  Grundherren  an  den  Besitzwechselabgaben  durchkreuzt  aber 
noch  in  einer  anderen  Weise  Brentano’s  Ausführungen;  es 
musste  doch  bei  dem  Wachsen  der  Abgaben  mit  der  Höhe 
des  Preises  die  Herrschaften  zu  einer  möglichst  hohen  Ein- 
schätzung des  Gutes  drängen,  und  hat  sie  auch,  wie  Brentano 
selbst  ausführt  und  wie  Grünberg  aus  Oesterreich  berichtet, 
dazu  angetrieben.  Andererseits  sollen  aber  die  Grundherren 
auch  nach  Brentano  wiederum  niedrige  Abfindungen  begünstigt 
haben.  Diese  Tendenz  konnten  sie  aber  nicht  anders  denn  durch 
niedrige  Gutsschätzung  in  Thaten  umsetzen,  da  nach  Brentauo 
selber  die  Abfindung  in  Bayern  einen  Theil  des  angenommenen 
Gutswerthes  bildete,  niedrige  Abfindungen  also  nur  bei  niedrigem 
Guts werth  möglich  waren.  Sonach  liefen  die  Bestrebungen  der 


ns.')  i)ass  es  „ich  bei  dieser  Verordnung  des  Codex  nicht  etwa  um  ein 
nagelneues  Gesetz,  sondern  um  Uebernakmo  alten  Brauches  bandelte,  ist 
nach  den  Wahrnehmungen  aus  anderen  Tkeilcn  Bayerns  und  Deutschlands 
schon  an  sich  wahrscheinlich,  wird  aber  auch  erwiesen  dadurch,  dass  schon 
zu  den  Zeiten  der  Polizeiordnung  von  1610  die  mit  solcher  Schätzung 
immer  verknüpfte  Gutsübergabe  allgemeiner  Brauch  war.  (Vgl.  oben 
Anm.  läa.j 


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Gutsherren  sich  selbst  entgegen:  es  ist  deshalb  nicht  wohl 
glaublich,  dass  so  schwankende  Tendenzen  ein  so  folgerechtes 
und  weitverbreitetes  Institut  wie  das  Anerbenrecht  geschaften 
haben. 

Nach  alledem  war  es  wohl  berechtigt,  wenn  wir  Eingangs 
behaupteten,  die  Untheilbarkeit  und  das  gntsherrliche  Interesse 
hätten  zur  Erhaltung  des  Anerbenrechts  zwar  manches  gethan, 
es  wohl  auch  stellenweis  neu  hervorgetrieben,  aber  es  aus  ihnen 
allein  und  überall  ableiten  zu  wollen,  sei  nicht  nur  einseitig, 
sondern  unmöglich.  Bis  nns  deshalb  etwas  Besseres  geboten 
wird,  dürfen  wir  getrost  an  unserer  Deutung  festhalten,  welche 
für  ein  einheitliches  und  grosses  Institut  im  Hauseigenthume 
und  in  der  Art  seiner  Lösung  eine  grosse  und  einheitliche 
Grundlage  findet,  welche  die  Einzelerbfolge  im  Hofrechte  wie 
im  Landrechte,  bei  freien  und  bei  unfreien  Gütern  erklärt, 
welche  das  friedliche  Beieinander  von  Theilung  und  ungetheilter 
Vererbung  durch  Vorführung  der  vermittelnden  Glieder  begreifen 
lässt,  welche  selbst  von  unseren  Gegnern  bei  der  Ableitung  des 
Minorates  herangezogen  werden  muss,  welche  endlich  die  Rechte 
der  antretenden  und  der  weichenden  Geschwister  in  einer  ver- 
söhnenden Weise  abmisst. 

Entspringt  das  Anerbenrecht  aber  dein  Hauseigenthume, 
so  hat  man  auch  mit  Recht  es  als  ein  germanisches  Institut 
bezeichnet  und  es  in  einen  Gegensatz  zum  römischen  Erbrechte 
gebracht.  Allerdings  könnte  mau  dem  entgegeuhalteu,  auch  das 
römische  Recht  habe  einst  nach  unseren  eigenen  Ausführungen 
das  Hauseigeuthum  gekannt.  Allein  dann  müsste  man  folge- 
richtig auch  dazu  gelangen,  überhaupt  alle  nationalen  Rechts- 
principien  unter  den  Ariern  zu  leugnen.  Denn  fast  alle  grossen 
Rechtsgedanken  sind  nicht  in  den  Stammrechten  neu  erzeugt 
worden,  sondern  wurzeln  bereits  im  arischen  Urrechte.  Für  die 
Nationalität  eines  Satzes  ist  deshalb  nicht  sein  erster  Ursprung 
massgebend  — deun  dann  gäbe  es  überhaupt  keine  germanischen, 
römischen  oder  slavischen  Rechtsgrundsätze,  sondern  um- 
arme he  — , sondern  es  entscheidet  die  Aufnahme,  die  ein  Satz 
in  einem  Rechte  gefunden  hat,  die  Art,  in  der  er  bewahrt 
worden  ist,  der  Eifer,  den  man  seiner  Pflege  und  Ausgestaltung 
gewidmet  hat.  Das  römische  Recht,  w’enigsteus  das  ofticielle, 
von  dem  hier  gesprochen  wird,  hat  nun  das  Hauseigcnthum 


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schon  früh  als  Rechtssatz  und  als  Rcchtsprincip  verworfen. 
Das  deutsche  Recht  hat  es  lange  als  Rechtssatz  behalten,  es 
aber  vor  Allein  als  Rechtsprincip  gehegt  und  aus  ihm  die  ver- 
schiedensten Einrichtungen  entwickelt,  ja,  es  hat  es  als  solches, 
wie  wir  sahen,  noch  heute.  Wenn  überhaupt  je,  so  kann  man 
darum  hier  sagen,  das  von  den  Vätern  Ererbte  sei  zu  eigenem 
Besitze  erworben,  man  darf  behaupten,  das  Hauseigen- 
thum sei  ein  germanischer  Rechtsgedanke  geworden.  Was 
aus  ihm  fliesst,  ist  darum  germanisch  und  ruht  auf  einem 
Grunde,  dem  das  römische  Recht  sogar  feindlich  ist. 


Dogmatischer  Theil. 

§ 15. 

Unter  Anerbenrecht  verstellt  man  zweierlei: 

Zunächst  objectiv  den  Inbegriff  aller  der  Normen,  die  von 
der  Einzelerbfolge  in  ein  Bauerngut  handeln.  Alsdanu  subjektiv 
den  Anspruch  des  Anerben  auf  das  Hofgut.  Diese  beiden  Be- 
griffe werden  wir  immer  auseinander  halten  müssen,  z.  B.  schon 
bei  der  Prüfung  der  rechtlichen  Natur  des  Anerbenrechts. 

Was  zunächst  die  Frage  anlangt,  als  was  das  objektive 
Anerbenrecht  rechtlich  zu  characterisiren  ist,  so  kann  nicht 
zweifelhaft  sein,  dass  ihm  beim  Privatrecht  unter  den  Erbrechts- 
normen sein  Platz  angewiesen  werden  muss ; Schwanken  jedoch 
kann  man  darüber,  ob  man  es  als  Sonderrecht  bezeichnen  soll. 

Aus  unserer  obigen  historischen  Darlegung  erhellt,  dass 
ursprünglich  die  noch  heute  über  die  Bauern  erbfolge  be- 
stimmenden Grundsätze  keineswegs  ein  Sonderrecht  bildeten, 
sondern  als  die  Gedanken  des  Hauseigenthums  und  der  Ab- 
schichtung aus  der  Were  zu  den  Grund-  und  Ecksteinen  des 
gesammten  Rechtsbaues  zählten.  Sie  machten  einen  Theil  der 
Erbrechtsregeln  überhaupt  aus,  denen  nicht  nur  die  Vererbung 
der  Bauerngüter,  sondern  jeder  Erbfall  unterlag.  Ein  Zwiespalt 
mit  dem  gewöhnlichen  Erbgange  trat  erst  ein,  als  dieser  nach 
den  römischen  Prinzipien  und  nicht  mehr  auf  Grund  der  alt- 
deutschen Auffassung  erfolgte,  dass  das  Vermögen  schon  bei 
Lebzeiten  des  Erblassers  den  Erben  mitgehöre.  Mit  der  Er- 
hebung des  römischen  Rechts  zum  herrschenden,  namentlich  aul 
dem  Gebiete  des  Erbrechts,  wurde  die  bäuerliche  Vererbung 
nun  immer  mehr  zur  Singularität.  Gleichwohl  kann  man  sie 
kaum  als  ein  Sonderrecht  bezeichnen,  wenn  man  au  dessen 


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strengem  gemeinrechtlichen  Begriffe  festhält,  nach  welchem 
ein  solches  contra  rationem  iuris  eingeführt  sein  muss.  Denn 
der  bäuerliche  Erbgang  ist  zwar  seinem  Umlänge  nach  nur 
ein  kleiner  Theil  des  Rechts  geworden,  das  er  früher  fast  ganz 
beherrscht  hatte,  aber  er  widerspricht  nicht  dessen  Prinzipien. 
Denn  wenn  er  auch  mit  den  römischen  Prinzipien  des  Erbrechts 
sich  nicht  in  Einklang  bringen  lässt,  so  ist  er  doch  durchaus 
gemäss  den  obersten  Sätzen  des  deutschen  Rechts,  wie  sie  noch 
heute  fortleben,  unvernichtbar  trotz  aller  Wandlungen  der  Jahr- 
hunderte; und  das  deutsche  Recht  gilt  doch  noch  immer  mit 
dem  römischen  als  gleichen  Ranges;  was  sich  ihm  einfügt,  kann 
also  nicht  contra  rationem  iuris  sein. 

Wenn  man  aber  davon  ausgeht,  dass  das  bäuerliche  Erb- 
recht doch  den  sonstigen  Erbrechtsgrundsätzen,  welche  ja  nun 
einmal  römische  sind,  zweifellos  nicht  eingepasst  zu  werden 
vermag,  so  kann  man  es  wohl  zu  den  Sonderrechtsgebieten 
weisen.  Dann  aber  bleibt  immer  noch  unentschieden,  ob  es  eiu 
sachliches  oder  ein  persönliches  Sonderrecht  ist. 

Frommhold  a.  a.  O.  will  hier  zwischen  dem  Anerbenrecht 
in  den  früheren  und  den  jetzigen  Zeiten  unterscheiden.  Das 
jetzige  hält  er  für  sachliches  Sonderrecht,  das  ältere  aber  für 
ein  persönliches,  nämlich  für  eiu  Sonderrecht  des  Bauernstandes. 
Zwar  habe  es  auch  schon  die  alte  Theorie  als  eiu  Recht  der 
Bauerngüter  behandelt;  aber  da  Bauerngüter  nur  von  Bauern 
hätten  besessen  werden  können,  „so“,  meint  Frommhold  „war 
in  praxi  damit  dasselbe  Resultat  erreicht,  und  wir  greifen 
gewiss  nicht  fehl,  wenn  wir  das  ältere  Anerbenrecht  überhaupt 
bis  zuui  Ende  des  18.  Jahrhunderts  als  das  besondere  Recht 
eines  bestimmten  Standes  bezeichnen.“ 

Dieser  Beweisführung  kann  nicht  beigepflichtet  werden. 
Die  Grundsätze,  welche  die  Bauernerblolge  beherrschen,  fänden 
ursprünglich,  wie  wir  sahen,  allgemeine  Anwendung;  als  dies  nicht 
mehr  der  Fall  war,  wurde  ihr  Geltungsgebiet  von  Anfang 
an  durch  bestimmte  Güter,  nie  durch  bestimmte  Personen  be- 
grenzt. Man  beachte  nur  die  Ausdrucks  weise  der  Weisthümer. 
Es  heisst  dort  stets;  „Dies  Gut  wird  nach  altem  Herkommen 
so  und  so  vererbt“;  oder:  „Die  Güter  unserer  Dorfmark 
unterliegen  folgendem  Brauche“;  oder:  „es  ist  in  unserer 
Herrschaft  Recht“  (d.  h.  für  die  Güter  die  darin  liegen),  „dass 

t.  Üultzig,  U runderbrecht.  11 


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162 


der  oder  jener  Erbe  wird,“  etc.  Ein  anderes  widerspräche 
auch  der  gerade  im  mittelalterlichen  Bauernrechte  so  stark 
hervortretenden  Tendenz,  alle  Rechtsverhältnisse  dinglich  zu 
verfestigen.  Das  ging  ja  doch  soweit,  dass  nicht  der  Stand 
des  Besitzers  über  das  Bauerngut,  sondern  umgekehrt  das 
Bauerngut  über  den  Stand  des  Besitzers  entschied  nach  der 
weitverbreiteten  Regel:  „Luft  macht  unfrei“:  In  späterer  Zeit 
und  gerade  im  18.  Jahrhundert  war  das  Anerbrecht  noch  mehr 
das  Recht  bestimmter  Bauerngüter.147)  Dann  wäre  es  ein  Recht 
des  Bauernstandes  gewesen,  so  hätte  es  doch  für  alle  von  Bauern 
besessenen  Güter  gelten  müssen.  Das  war  aber,  wie  wir  sahen, 
nicht  der  Fall;  es  hat  zu  allen  Zeiten  Bauerngüter  gegeben, 
die,  obwohl  in  den  Händen  von  Bauern  befindlich,  in  natura 
getheilt  und  später  nach  gemeinem  Rechte  vererbt  wurden.  Ein 
Recht  des  Bauernstandes  war  sonach  das  Anerbrecht  höchstens 
partikular  in  denjenigen  Territorien,  welche  es  durch  Landes- 
ordnungen tatsächlich  für  alle  von  Bauern  bewirtschafteten 
Güter  zur  zwingenden  Regel  erhoben  hatten.  Auch  der  Um- 
stand, dass  ein  Bauerngut  selbst  dann  nach  Anerbenrecht  über- 
ging, wenn  gar  kein  Bauer  sein  Besitzer  war,14*)  widerlegt  die 
Auffassung  des  Anerbenrechts  als  eines  persönlichen  Sonder- 
rechtes und  kennzeichnet  es  deutlich  als  sachliches. 

Dem  gegenüber  greift  nicht  durch  die  von  Frommhold  an- 
gestellte  Erwägung,  der  Unterschied  zwischen  sachlichem  und 
persönlichem  Sonderrechte  sei  früher  verwischt  gewesen,  da 
Bauerngüter  eben  nur  von  Bauern  besessen  werden  konnten. 
Letzteres  ist,  wie  wir  eben  sahen,  gar  nicht  einmal  unbedingt 
richtig.  Aber  selbst,  wenn  es  richtig  wäre,  so  übersieht  die 
Argumentation,  dass  dann  zwar  alle  nach  Anerbrecht  vererbten 
Güter  von  Bauern  bewirtschaftet  werden  mussten,  aber 
nicht  umgekehrt  alle  von  Bauern  bewirtschafteten  Güter 
nach  Anerbrecht  vererbt  wurden.  Und  gerade  darauf  kommt 
es  an,  wenn  man  von  einem  persönlichen  Sonderrechte 


I47)  Vgl.  auch  unten  § 1«. 

*•)  Dies  war  zwar  nicht  überall  zulässig,  aber  gemeinrechtlich  grund- 
sätzlich nicht  verboten.  War  der  Besitzer  des  Bauerngutes  kein  Bauer,  so 
konnte  er  es  zwar  nicht  selbst  bewirthschaften,  wohl  aber  durch  eiren  nach 
Analogie  des  Lelmsträgers  behandelten  Vertreter  bewirthschaften  lassen. 


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163 

sprechen  will.  Es  bleibt  deshalb  nichts  übrig,  als  auch 
in  früheren  Zeiten  in  Uebereinstinmiung  mit  den  damaligen 
Theoretikern  das  Anerbenrecht  als  sachliches  Sonderrecht  zu 
classificiren. 

Dass  das  Anerbenrecht  heute,  wenn  es  überhaupt  als 
Sonderrecht  aufgefasst  werden  kann,  nur  ein  sachliches  genannt 
werden  darf,  ist  unbestritten  und  an  sich  klar.  Es  gilt  nicht 
für  die  Bauern,  auch  nicht  einmal  für  jedes  Bauerngut,  sondern 
nur  für  bestimmte  Güter,  auf  denen  es  sich  gewohnheitsrechtlich 
noch  erhalten  hat.  Die  neuen  Höfegesetze  vollends  begrenzen 
das  Anerbenrecht  durchaus  nur  nach  sachlichen  Gesichtspunkten, 
indem  sie  es  nur  auf  landwirtschaftlich  betriebene  Güter  von 
einer  gewissen  Grösse  anwenden. 

§ lß. 

Was  den  Character  des  Anerbenrechts  im  subjeetiven  Sinne 
anlangt,  d.  h.  des  Anspruches,  Anerbe  zu  sein,  so  ist  er  früher 
kein  abweichender  von  dem  allgemeinen  Erbanspruche  gewesen. 
Es  ergab  sich  ja  ursprünglich  erst  durch  die  aufeinanderfolgenden 
Ausladungen,  wer  von  den  Miterben  der  Anerbe  wurde.  Als 
dann  der  Anerbe  von  vornherein  ein  festes  Recht  erhielt,  war  es 
das  Recht,  der  alleinige  wahre  Erbe  des  Vaters  zu 
w erden.  Die  Geschichte  des  Anerbeurechts,  wie  wir  sie  haben 
an  uns  vorüberziehen  lassen,  lehrt  mit  Deutlichkeit,  dass  eben  nur 
der  Anerbe  wirklich  Erbe  ist,  indem  seine  Geschwister  keine 
Erbtheile,  sondern  etwas  anderes,  nämlich  Abfindungen  erhalten. 
Der  Gedanke,  dass  die  Abfindungen  Civilerbthcile  seien,  und 
dass  demnach  in  den  civileu  Werth  der  Erbschaft  alle  Erben 
succedirten  und  der  Anerbe  das  Gut  nur  bei  der  Theilung 
vorausnehmen  dürfe,  — dieser  Gedanke  ist  erst  ganz  spät  als 
Folge  der  Einführung  des  römischen  Rechtes  aufgetaucht. 
Wenn  aber  Fronimhold  meint,  das  in  ihm  liegende  System  sei 
„später  fast  allgemein  anerkannt“  gewesen,  so  hat  er  vergessen, 
dieser  Behauptung  den  Beweis  liinzuzufügen.  Aus  der  Ge- 
schichte des  Anerbenrechts  ergiebt  sich  das  Gegentheil.  Die 
Lehre  von  den  Civilerbtheilen  hat  nur  zeitweise  geherrscht.  Sie 
ist  von  den  wechselndsten  Theorien  über  das  Anerbenrecht  und 
die  Abfindung  abgelöst  worden.  Keine  der  Theorien  aber  hat 

n* 


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164 


lange  genug  bestanden,  um  die  alten  Grundsätze  über  die  Ab- 
findung, welche  aus  der  „Wcre“  folgen,  zu  vernichten  und  sich 
selbst  zu  unbestrittener  und  dauernder  Geltung  emporzuringen. 
Ja,  dass  trotz  aller  theoretischen  Schwankungen  in  Wirklichkeit 
der  Anerbe  stets  der  Alleinerbe  blieb,  wird  dadurch  bewiesen, 
dass  bis  in  die  neueste  Zeit  die  massgebendsten  Schriftsteller 
wie  die  Gerichto  den  Anerben  allein  für  die  Schulden  haften 
lassen.145') 

Ist  der  Anerbe  aber  Alleinerbe,  so  ist  sein  Anspruch,  An- 
erbe zu  sein,  mit  dem  gewöhnlichen  Erbanspruche  identisch, 
und  hat  dieselbe  rechtliche  Natur  wie  dieser.150) 

Welcher  Art  der  Anspruch  des  Anerben  nach  den  neueren 
Hüfegesetzen  ist,  kann  dagegen  recht  zweifelhaft  sein.  Er 
muss  auch  hier  wieder  danach  beurtheilt  werden,  wie  bei  ihnen 
der  Erbgang  überhaupt  sich  vollzieht.  Sämmtliche  Hüfegesetzc 
lassen  den  Anerben  nicht  zum  alleinigen  Erben  werden.  Er 
hat  nur  den  Anspruch,  aus  der  Erbmasse  das  Gut  in  natura 
gegen  Ersatz  seines  Werthes  zu  erhalten.151)  Und  zwar  geben 
die  einzelnen  Höfegesetze  diesem  Ansprüche  eine  verschiedene 
Kraft.  Entweder  es  gelangt  das  Gut  sofort  ins  Eigeuthum 
des  Anerben,  so  dass  die  Miterben  gar  nicht  Miteigner  darau 
werden  und  überhaupt  nur  der  Werth  des  Gutes  in  die  Erb- 
masse fällt;  oder  es  werden  auch  die  Miterben  Miteigner  am 
Gute  und  der  Anerbe  kann  nur  von  ihnen  verlangen,  dass  sie 
ihm  bei  der  Theilung  ihre  Antheile  daran  überlassen.  Den  ersten 


1,,J)  Dies  wird  unten  bei  der  Erörterung  über  die  Wirkung,  welche 
der  Abfindung  beizumessen  ist,  mit  Citaten  belegt  werden. 

I!i®)  Daraus  ergicbt  sich,  dass  er  dinglichen  Charakter  bat  und  gegen 
jeden  Dritten,  gutgläubig  oder  sehlechtgläubig,  wirkt.  Damit  fallt  ohne 
weiteres  die  von  Struckmnnn  lebhaft,  aber  vereinzelt  vertretene  Lehre,  dass 
der  Anspruch  des  Aneiben  nur  ein  persönlicher  gegen  den  Gutsherrn  auf 
Bemeierung  sei,  und  dass  erst  die  Einfestignng  ein  dingliches  Recht  gewähre. 
Diese  Lehre  ist  heute  übrigens  schon  wegen  der  Aufhebung  der  guis- 
herrlichen  Verfassung,  die  sie  zur  Voraussetzung  hat,  unhaltbar.  Vgl 

Struckmann,  Beitrag  VII,  S.  2,  Beitrag  XIV,  Nr.  t,  Beitrag  XV,  S.  15  ff. 

1M)  Motive.  Vorbemerkung  zu  Art.  83  ff.:  „Die  Befugniss,  von  den 
Miterben  die  Ucberlassnng  des  Gutes  zu  dem  nach  dem  Gesetze  zu  er- 
mittelnden Preise  aus  der  Kibscbaftsmasse  zu  verlangen.* 


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165 


Weg  schlägt  das  hannoversche  Gesetz  ein,  den  zweiten  Weg 
sind  alle  übrigen  Gesetze  gegangen.1*2) 

Die  Construktion  des  in  Hannover  beliebten  Modus  ist 
schwierig.  Uebereinstiminend  bei  ihm  und  den  übrigen  An- 
erbengesetzen handelt  es  sich  jedoch  darum,  dass  ein  Miterbe 
aus  der  Erbschaft  etwas  vorausbekomint,  und  man  wird  das 
nicht  anders  denn  als  ein  Prälegat  bezeichnen  können;  dahin 
geht  auch  die  herrschende  Ansicht.  Der  Einwand  Fromm- 
holds,  dass  ein  Prälegat  auf  testamentarischem,  der  An- 
erbenanspruch auf  gesetzlichem  Erbrechte  ruhe,  dieser  Ein- 
wurf.  dem  Frommhold  übrigens  selbst  nicht  viel  Gewicht 
beilegt,1'21)  greift  nicht  durch.  Zunächst  wird  sich  weiter  unten 
(§  1 7)  zeigen,  dass  der  Anerbenausprueh  im  Gebiete  der  Höfe- 
rollen gar  nicht  auf  Gesetz,  sondern  in  der  That  auf  einer 
letzt  willigen  Verfügung  beruht,  deren  Inhalt  das  Gesetz  nur 
supplirt.  Aber  angenommen,  er  gründe  sich  thatsächlich  nur 
auf  Gesetz.  Was  hindert  das?  Wie  so  oft  ein  Recht  sowohl 
auf  Privatwillkür  als  auf  Gesetz  beruhen  kann  und  wie  davon 
selbst  Rechte,  die  gewöhnlich  durch  Privatwillkür  entstehen, 
wie  z.  B.  das  Pfandrecht,  keine  Ausnahme  machen,  so  ist  nicht 
ersichtlich,  warum  es  nicht  auch  gesetzliche  Legate  und  Prä- 
legate geben  kann.  Wenn  es  deren  bisher  nicht  gegeben  haben 
sollte,  so  wäre  das  kein  Grund  gegen  ihre  begriffliche  Möglichkeit. 
Mit  der  Einführung  des  höferechtlichen  Anerbenauspruchs  hätte 
vielmehr  das  in  der  Idee  bisher  schon  immer  mögliche  und 
vorhandene  Institut  des  gesetzlichen  Prälegates  nur  einen  An- 
wendungsfall auch  in  der  Wirklichkeit  erhalten.  Es  hat  aber 


“*)  Vgl.  auch  Motive,  Vorbemerkung  zu  Art.  «3  ff.  und  Begründung 
des  Art.  83. 

1M)  Er  sagt,  Anerbenrecbt  S.  33:  .Die  meiste  Achnlicbkeit  hat,  wenn 
wir  davon  absebeu,  dass  das  Anerbenrecbt  gesetzliches  und  nicht  testamen- 
tarisches Erbrecht  ist.  die  Stellung  des  Anerbeu  mit  der  eines  Präle- 
gatares.“ — Die  Annahme  des  Priilegates  hot  auch  Förster  Eccius  (er 
behandelt  das  Anerbenrecbt  als  gesetzliche  Analogie  der  elterlichen 
Thcilungsanordnung,  die  nach  ihm  [lld.  IV’,  S.  304  Text  und  Aum.  116] 
ein  Prälegat  ist),  sowie  die  Motive,  welche  augenscheinlich  Eccius 
folgen.  Demburg  sagt  dagegen:  .Der  Anerbe  ist  nicht  Venuächtniss- 
nehmer.“  Im  Übrigen  betrachtet  er  das  moderne  Anerbrecht  aber  auch  als 
eino  gesetzliche  Theilongsanordnung. 


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166 


auch  bisher  schon  gesetzliche  Prälegate  gegeben.  Schiffner  hat 
ihnen  sogar  eine  besondere  Schrift  gewidmet.  Und  in  lieber- 
einstimmung  mit  uns  reiht  er  dort  (§  51)  zu  ihnen  auch  den 
Anspruch  des  Anerben  nach  den  modernen  Höfegesetzen  ein. 

Bei  der  Annahme  des  Prälegates  gestaltet  sich  nun  die 
hannoversche  Art  eines  Anerbenrechts  insofern  schwierig,  als 
das  Prälegat  immer  nur  einen  persönlichen  Anspruch  auf 
Ueberlassung  einer  Sache  giebt,  während  dort  der  Anerbe  einen 
dinglichen  hat,  da  er  von  Anfang  an  Alleineigenthümer  des 
Gutes  ist.  Die  Motive  vergleichen  dies  treffend  mit  dem 
Vindicationslegat.  Wir  müssten  hier  also  ein  Prälegat  be- 
haupten, das  den  Charakter  eines  Yindicationslegates  hat.  Das 
gemeine  Recht  kennt  nun  das  Prälegat  nur  als  Forderungs- 
legat. Es  gilt  aber  auch  hier  das  Yorherbemerkte.  Jene 
Unzulänglichkeit  der  positiven  Normen  schliesst  die  begriffliche 
Möglichkeit  eines  als  Vindicatiouslegat  gedachten  Prälegates 
nicht  aus.,ss*)  Wenn  also  der  hannoversche  Anerbenanspruch 
sich  treffend  als  ein  derartiges  Prälegat  bezeichnen  lässt,  so 
steht  nichts  im  Wege,  ihm  diesen  Charakter  bcizulegen. 


Wass  nun  den  Geltungsgrnnd  des  Anerbenrechts  anbelangt, 
so  kann  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  dieser  für  das  ältere  An- 
erbenrecht in  jedem  Falle  das  blosse  oder  gesetzlich  codificirte 
Gewohnheitsrecht  ist. 

Für  das  moderne  Anerben-  oder  Höferecht  ist  der  Grund, 
dass  es  überhaupt  gilt,  ebenfalls  das  objektive  Recht,  nämlich 
das  Gesetz.  Welches  aber  der  Grund  ist,  dass  es  auch  im 
einzelnen  Falle  gilt,  für  diese  Frage  muss  man  bei  dem 
heutigen  Anerbenrechte  zwischen  den  verschiedenen  Höfe- 
gesetzen unterscheiden. 

Einige,  wie  z.  B.  das  braunschweigische  Gesetz,  gestalten 
das  Anerbrecht  als  Instetaterbrecht.  Dann  ist  der  Geltungs- 
grund des  Anerbeurechts  auch  im  einzelneu  Falle  das  Gesetz. 


IM*)  Auch  Schiffner  S.  -Js  hält  eiue  dem  Vindicationslegato  gleiche 
Wirkung  hei  den  gesetzlichen  Prälegnteu  fiir  möglich. 


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167 


Für  alle  Gesetze  aber,  welche  das  System  der  Höferollen 
haben,  ist  der  Geltnngsgrund  des  Anerbenrechts  am  letzten 
Ende  die  Anmeldung  zu  jener  Rolle. 

Deren  juristische  Natur  ist  nun  streitig.  Autoritäten  wie 
Eccius ,54)  erklären  sie  für  eine  letztwillige  Verfügung.  Gegen 
ihn  steht  Gierke,  der  Frommholds  Ausführungen  in  dessen 
„Anerbenrecht“  beistimmt  und  behauptet  „.  . . auch  das  An- 
erbenrecht der  Höfegesetze  ist  ein  Instetaterbrecht,  das  nur 
der  Anwendbarkeit  nach  auf  einen  Kreis  von  Sachen  beschränkt 
ist,  die  durch  einen  Privatwillensakt  ihm  eingefügt  sind  und 
jederzeit  wieder  entzogen  werdeu  können.“1'*5)  Demgemäss 
soll  die  Anmeldung  nur  eine  eigentliümliche  Willenserklärung 
sein,  durch  welche  das  Gut  einer  besonderen  gesetzlichen  Erb- 
folge unterworfen  wird. 

Allein  wir  können  hier  einmal  Gierke  nicht  folgen.  Gierke 
selbst  verkennt  auch  keineswegs,  dass  die  Anmeldung  zur 
Höferolle  von  Nichtjuristen  für  eine  letztwillige  Verfügung  ge- 
halten werden  muss,  und  dass  ihr  nächster  Erfolg  aut  den  einer 
solchen  Verfügung  hinauskommt.  Demgegenüber  scheint  uns 
die  Frommholdsche  Beweisführung,  der  Gierke  sich  anscliliesst, 
nicht  stichhaltig. 

Der  erste  Grund,  welchen  Frommhold  hat,  ist  der,  dass 
durch  die  Eintragung  ein  früheres  Testament  des  Anmeldenden 
nicht  ungiltig  werde,  was  doch  geschehen  müsse,  wenn  jene 
eine  letztwillige  Verfügung  wäre. 

Diese  Argumentation  ist  nur  dann  richtig,  wenn  eine  letzt- 
willige Verfügung  nothwendig  ein  früheres  Testament  aufheben 
muss  und  ohne  diese  Eigenschaft  nicht  gedacht  werden  kann. 
Nun  ist  es  aber  nicht  ersichtlich,  w'arum  jenes  eine  notli- 
weudige  Eigenschaft  einer  letztwilligen  Verfügung  sein  soll. 
Im  preussischen  Landrecht  wohnt  der  letzt  willigen  Verfügung 
z.  B.  diese  Kraft  keineswegs  unbedingt  inne.156)  Im  römischen 
Recht  hat  die  letztwillige  Verfügung  allerdings  regelmässig  jene 
Wirkung.  Sie  ruht  aber  dort  nur  auf  dem  Satze  „nemo  pro 


1M)  Förster- Eccius  Bd.  IV,  S.  3i>5  ff. 

lv‘)  Gierke,  Erbrecht  in  ländlichen  Grundbesitz  S.  20. 

imj  Vg|  Förster  Eccius  Bil.  S.  459. 


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168 


parte  testatus  pro  parte  intestatus  decedere  potest“  und  dem 
daraus  abgeleiteten  weiteren  Satze  „nemo  cum  pluribus  testa- 
mentis  decedere  potest“.  Es  ist  nun  sehr  zweifelhaft,  ob  jener 
erste  Satz  auch  noch  im  heutigen  gemeinen  Rechte  zu  dessen 
obersten  Prinzipien  zählt.  Es  giebt  viele,  die  ihn  nach  modernen 
Rechtsanschauungen  für  überlebt  erklären,  und  ihn  selbst  im 
römischen  Rechte  nur  als  eine  historische  Ruine  ansehen.  Wie 
dem  auch  sei,  jedenfalls  ergiebt  sich  aus  alledem,  dass  die  ver- 
nichtende Wirkung  auf  ältere  Testamente  keine  begriffliche 
Eigenschaft  einer  letztwilligen  Verfügung  ist,  dass  letztere  mithin 
auch  im  gemeinen  Rechte  selbst  dann  angenommen  werden 
kann,  wenn  jene  sonst  durch  positive  Normen  ihr  beigelegte 
Wirkung  durch  ebenfalls  positive  Normen  ihr  einmal  ab- 
gesprochen ist. 

Der  zweite  Grund  Frommhold's  ist,  dass  die  Anmeldung 
das  Gut  dem  Anerbenrechte  nicht  nur  für  die  Beerbung  des  An- 
meldenden, sondern  auch  für  alle  anderen  Erbfälle  unterwirft. 

Es  muss  zugegeben  werden,  dass  diese  Wirkungen  einer 
Verfügung  über  die  Beerbung  des  Verfügenden  hinaus  dem 
Charakter  einer  letztwilligen  Anordnung  im  Allgemeinen  wider- 
sprechen, obgleich  es  doch  nicht  so  unerhört  ist,  dass  jemand 
die  Beerbung  auch  eines  Dritten  regelt;  man  denke  nur  an  die 
Pupillar-  und  Quasipupillarsubstitutionen.  Auch  könnte  man 
sagen:  Da  die  Nachfolger  des  Anmeldenden  ja  die  Anmeldung 
jederzeit  löschen  können,  so  nehmen  sie,  wenn  sie  jene  bestehen 
lassen,  die  Anmeldung  in  ihren  eigenen  Willen  auf  und  machen 
sie  zu  ihrer  eigenen  letztwilligen  Verfügung.  Indessen,  es  soll, 
wie  gesagt,  nicht  geleugnet  werden,  dass  jene  weitreichende 
Kraft  der  Anmeldung  zu  ihrem  Charakter  als  letztwillige  An- 
ordnung wenig  stimmt.  Allein  das  ändert  nichts  daran,  dass 
die  Höfegesetze  jene  doch  als  letztwillige.Verfiigung  aufgefasst 
haben.  Wir  haben  ja  schon  oben  darauf  hingewiesen,  dass  diese 
zu  weit  gehende  Wirkung  eine  lnconsequenz  ist,  veranlasst  durch 
das  Zustandekommen  der  Gesetze  aus  Compromissen  zwischen 
zwei  sich  bekämpfenden  Richtungen.  Eine  einzelne  inconseqnente 
Bestimmung  kann  aber  die  sonst  angenommene  Natur  eines  Instituts 
nicht  verändern.  Dass  aber  die  Höfegesetze  selbst  die  Anmeldung 
als  letztwillige  Verfügung  auffassen,  ergiebt  sich  einmal  au> 
ihrer  Vorgeschichte.  Es  ist  dort  stets  davon  die  Rede  gewesen, 


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160 


dass  es  sich  darum  handle,  die  Freiheit  des  Bauern  bei  letzt- 
willigen Anordnungen  über  die  vom  Pflichttheilsrechte  gesteckten 
Grenzen  hinaus  auszudehnen.  Es  ergiebt  sich  ferner  aus  dem 
Inhalt  der  Gesetze  selbst.  Nach  dem  hannoverschen  Gesetz 
nämlich,  das  für  die  anderen  Höfegesetze  vorbildlich  gewesen 
ist  und  deshalb  stets  zu  ihrer  Ergänzung  herangezogen  werden 
muss,  ist  die  Fähigkeit  zur  Anmeldung  bei  der  Rolle  vom 
Besitze  der  testamenti  factio  aetiva  abhängig  gemacht.  Das 
stellt  sie  unverkennbar  mit  einer  letztwilligen  Anordnung,  ja 
sogar  mit  dem  Testamente  auf  eine  Stufe. 

Es  ist  wunderbar,  dass  man,  um  die  Anmeldung  zur  Hüfe- 
rolle  juristisch  zu  beurtheilen,  noch  nicht  das  Mittel  ergriffen 
hat,  was  doch  so  nahe  liegt,  nämlich,  mit  ihr  dasjenige  zu 
vergleichen,  was  ihr  sonst  im  Rechtsgebiete  am  ähnlichsten 
ist.  Diese  Aehnlichkeit  findet  sich  nun  sofort  in  den  Sätzen 
über  die  Wahl  des  ehelichen  Güterrechts.  Wie  es  kraft  dieser 
den  Heirathenden  freisteht,  die  gleich  im  Gesetze  subsidiär 
neben  dem  officiellen  Rechte  geregelten  abweichenden  Güter- 
rechtsarten durch  einfache  answählende  Willenserklärung  zum 
Inhalte  ihres  Ehevertrages  zu  machen,  so  dass  sie  nicht  erst 
einen  langen  Contract  zu  entwerfen  brauchen,  so  kann  hier, 
wer  seine  Erbfolge  regeln  will,  durch  einfache  wählende  Willens- 
erklärung das  ein  für  allemal  neben  dem  officiellen  Rechte  be- 
sonders normirte  ländliche  Erbrecht  zum  Inhalte  seiner  Ver- 
fügung erheben  und  hat  nicht  erst  nöthig.  ein  langes  Testament 
aufzusetzen.  Der  einzige  Unterschied  liegt  in  der  Form  der  beide 
Mal  erforderlichen  Willenserklärungen,  und  auch  dieser  würde  fort- 
fallen, wenn  z.  B.  die  vom  Bürgerlichen  Gesetzbuch  bereits  ein- 
geführten Güterrechtsregister  für  die  Erleichterung  der  Wahl  eines 
ehelichen  Güterstandes  in  der  Art  dienstbar  gemacht  würden,  dass 
einfach  eine  Anmeldung  zur  Güterrechtsrolle  erforderlich  wäre. 

Es  ist  nun  klar,  dass  die  Wahl  des  den  Vertrag  ersetzenden 
Güterrechts  keine  andere  juristische  Natur  hat,  als  der  Vertrag 
selbst;  sie  ist  eben  dieser.  Noch  Niemandem  ist  es  eingefallen, 
hier  wie  bei  der  höferechtlichen  Anmeldung  zu  sagen,  jene 
Wahl  schaffe  lediglich  ein  Anwendungsgebiet  für  das  gesetzlich 
codificirte  Güterrecht  und  sei  mithin  ein  eigenartiger  Rechtsact. 
Dann  ist  es  aber  ebenso  falsch  der  eine  letztwillige  Verfügung 
ersetzenden  Wahl  des  Anerbenrechts  einen  eigenartigen  Charakter 


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170 


beileget)  zu  wollen.  Wenn  der  Bauer  durch  die  Anmeldung  zu 
erkennen  giebt,  sein  Gut  solle  dem  Anerbenrecht  unterstehen, 
so  ist  das  vielmehr  ebenso  gut,  wie  wenn  er  ein  Testament 
machte  und  alle  einzelnen  Paragraphen  des  Höfegesetzes 
hineinschriebe.  Die  Anmeldung  hat  deshalb  keinen  anderen 
Charakter,  wie  jenes  Testament,  d.  h.  sie  ist  eine  letzt  w’illige 
Verfügung,  deren  Inhalt  das  Gesetz  supplirt. 

Wesentlich  anders  liegt  die  Sache,  wenn  die  Eintragung 
in  die  Höferolle  von  Amtswegen  erfolgt,  ein  Modus,  der  bisher 
allerdings  noch  nirgends  eingeführt,  aber  vielfach  angeregt  worden 
ist.  Dann  ist  die  Eintragung  allerdings  nur  ein  Act,  der  be- 
zeichnet, welches  Gut  unter  die  besondere  gesetzliche  Erbfolge  fallt. 
Man  könnte  allerdings  hier  an  eine  Art  letztwilliger  Verfügung 
denken,  iudern  der  Beamte  etwa  Kraft  gesetzlicher  Ermächtigung 
für  den  Bauern  jene  Verfügung  träfe.  Allein  dann  würde  man 
in  einen  ähnlichen  Fehler  verfallen,  wie  man  ihn  früher  bei  der 
Intestaterbfolge  gemacht  hat,  als  man  sie  wie  einen  für  den 
Erblasser  vom  Gesetze  abgegebenen  letzten  Willen  auffasste. 
Es  muss  demnach  in  der  That  bei  der  Eintragung  von  Amts- 
wegen  der  Theorie  Gierke's  und  Frommhold's  zugestimmt 
werden.  Nun  könnte  man  fragen:  Empfiehlt  es  sich  nicht, 
diejenige  Lehre,  welche  bei  der  Eintragung  von  Amtswegen 
zutrifft,  auch  für  die  Eintragung  durch  den  Bauer  zu  bevor- 
zugen? Indessen,  das  empfiehlt  sich  doch  nicht.  Denn  beide 
Eintragungen  sind  eben  nicht  gleichartig,  sondern  grund- 
verschieden. Die  eine  ist  ein  Privatwillensact,  die  andere  eine 
der  äussersten  Ausflüsse  der  Gesetzgebungs-  oder  Verordnnngs- 
gewalt.  Der  Charakter  der  Letzteren  ist  deshalb  für  den 
Charakter  der  Ersteren  ebensowenig  entscheidend  oder  be- 
einflussend, wie  es  der  Vertragsnatur  der  vorgedachten  Wahl  des 
ehelichen  Güterstandes  einen  Eintrag  thun  würde,  wenn  den 
Beamten  durch  das  Gesetz  bei  gewissen  Bevülkerungsclassen 
die  Macht  gegeben  würde,  die  Wahl  für  jene  auszuüben. 


§ 18. 

Wir  kommen  nun  zu  den  Grenzen,  welchen  die  Geltung 
der  Anerbenrechtsnormen  in  sachlicher,  zeitlicher  und  örtlicher 
Beziehung  unterworfen  ist. 


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171 


Sachlich  ist,  wie  oben  (§  15)  ausgeführt,  das  Anerben- 
recht auf  Bauergüter  beschränkt  worden. 

Was  nun  ein  Bauerngut  ist,  kann  nicht  leicht  gesagt 
werden.  Es  giebt  dafür  keine  Definition,  die  sich  in  der  Praxis 
festgestellt  hätte.  Eine  Definition  war  nämlich  früher  gar  nicht 
nöthig,  da  das  Anerbenrecht  nicht  für  alle  Bauerngüter  galt, 
sondern  nur  für  bestimmte,  von  denen  man  wusste,  dass  sie 
stets  nach  Anerbenrecht  übergegangen  waren.157)  Zweifel,  ob 
ein  Gut  dem  Anerbenrecht  unterstehe,  konnten  deshalb  gar  nicht 
auftauchen;  der  Kreis  der  Anerbengüter  war  durch  das  Her- 
kommen fixirt. 

In  dieses  System  wurde  eine  Lücke  gerissen  dadurch,  dass 
man  anfing,  die  Frage  zu  erörtern,  ob  ein  Gut,  das  bisher  dem 
Anerbenrecht  nicht  unterworfen  war,  unter  dessen  Geltung 
fällt,  wenn  es  von  einem  Bauern  erworben  wird,  der  auf  einem 
Anerbengut  sitzt.158)  Nach  der  alten  Regel,  dass  ein  An- 
erbengut nur  dasjenige  ist,  welches  vom  Herkommen  als  solches 
behandelt  wird,  musste  diese  Frage  mit  „Nein“  beantwortet 
werden.  Dies  war  denn  auch  z.  B.  die  Praxis  der  Juristen- 
facultät  Helmstädt.  Sie  führte  aus,  dass 

„alle  aquisita,  sie  mögen  nun  in  barem  Gelde  oder 
einzelnen  Grundstücken  oder  ganzen  Höfen  bestehen,  so 
lange  noch  kein  Sterbefüll  darüber  gegangen  und  sie  also 
dadurch  aufgehürt  haben,  erworbenes  Gut  zu  sein  und 
dagegen  durch  die  Vererbung  Stammgut  geworden  sind, 
unter  die  vorhandenen  Kinder  zu  gleichen  The i len 
getheilt  werden  müssen.“ 

Allein  damals  bestand  bei  den  Gerichten  und  Theoretikern 
noch  die  Tendenz,  das  Anerbeureeht  auf  alle  Bauerngüter  aus- 


1W)  Vgl.  oben  § 15. 

r*)  Dass  diese  Frage  Überhaupt  aufgeworfen  und  eriirtert  werden 
musste,  ist  ein  Beweis  mehr  für  unsere  oben  vertretene  Ansicht,  dass  das 
Anerbenrecht  kein  persönliches  Sonderrecht  oder  Standesrecht  war.  Ware 
es  dies  gewesen,  so  wäro  ein  Zweifel  darüber  gar  nicht  möglich  gewesen, 
dass  auch  neu  von  Bauern  erworbene  Güter  dem  Anerbenrechte  unterlagen. 
Ja  der  sachliche  Charakter  des  Anerbenrechts  war  so  stark,  dass  auch  diese 
Zweifel  nur  in  dem  Falle  auftauchten,  wo  der  erwerbende  Bauer  auf  einem 
Auerbcngute  sass. 


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172 


zudehnen,  weil  man  es  für  ein  den  Bauern  nützliches  Institut 
hielt.  Man  vermittelte  deshalb  zwischen  den  beiden  Meinungen 
derart,  dass  man  auf  die  neuerworbenen  Güter  nur  einen  Theil 
des  Anerbenrechts  anwandte.  Den  Grundsatz  nämlich,  dass  die 
Miterben  lediglich  Abfindungen  erhalten,  schloss  man  aus  und 
gab  den  Miterben  Civilerbtheile.  War  dagegen  das  neu  er- 
worbene Gut  erst  einmal  in  der  Familie  vererbt,  so  wendete 
man  alle  Grundsätze  des  Anerbenrechts  an. 

So  war  die  Praxis  des  lippeschcn  Hofgerichts  in  Lemgo, 1!*) 
so  lehrten  es  Theoretiker  wie  Führer,  Wigand,  Meyer"0)  und 
Andere;  so  wurde  es  schliesslich  die  herrschende  Ansicht.  Auch 
an  gesetzlichem  Anhalt  dafür  fehlte  es  nicht  ganz.  Die  Polizei- 
ordnung von  ltil8  für  Lüneburg,  Hoya  und  Diepholz  nämlich 
hatte  im  § 3 das  Anerbenrecht  an  sich  im  vollem  Umfange 
auch  auf  neuerworbene  Güter  für  anwendbar  erklärt,  sich  jedoch 
Vorbehalten,  „in  solchem  Fall,  nach  Gelegenheit  gebührlich 
billigmässiges  Einsehen  zu  thun“. 

Mit  dieser  Wandlung  der  Theorie  war  jedoch  das  Anerben- 
recht aus  einem  Recht  für  bestimmte  Güter  zu  einer  Norm  tur 
alle  Bauerngüter  geworden.  Es  ward  nunmehr  nütliig  fest- 
zustellen, was  ein  Bauerngut  sei. 

Da  erkannte  man  nun  bald,  was  auch  noch  heute  gilt,  dass 
sich  bestimmte  äassere  Kennzeichen  dafür  nicht  finden.  Vor 
Allem  bildet  die  äussere  Grösse  kein  entscheidendes  Merkmal. 


,c*)  Vgl.  Führer  S.  253  ff.  Das  Uofgericht  führte  aus: 

„Dass  zwischen  alten  bereits  in  einer  Familie  vererbten  und  neu 
erworbenen  llauerhiifen  in  Absicht  der  naturellen  Untlieilbarkeit  derselben 
kein  Unterschied  obwalte,  daran  lässt  Bich  bei  der,  den  Bauerngütern  in 
ganz  Deutschland  eigenen  Verfassung  nicht  zweifeln.“  Diese  Erwägung 
künne  indessen,  so  heisst  es  weiter,  die  civile  Tbeiluug  der  neu  erworbeuen 
Bauerngüter  nicht  hindern,  und  diese  linde  deshalb  statt.  Indessen  sei  zu 
bedenken,  „dass,  so  wie  bei  den  zu  den  cigenbehörigen  Colonaten  erworbenen 
Gütern  der  Sierbefall  solche  zu  Stnnimgütern  macht,  auch  dafür,  dass  bei 
freien  Gütern  eine  bereits  geschehene  Vererbung  derselben  gleiche  Wirkung 
erzeuge,  die  Analogie  spricht,  und  dasjenige  nur  für  neu  erworbenes  Gut 
anzusehen  ist,  worin  sich  die  nächsten  Erben  des  Acquirenten  noch  nicht 
getheilt  oder  solches  geerbt  haben.“ 

IUI)  Führer  8.  43,  S,  24 1 ff.  und  sonst.  Ueber  Wigand  und  Meter 
vgl.  Frommhold.  Auerbeureeht  S.  23. 


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173 


Diese  ist  nach  den  einzelnen  Gegenden  sehr  verschieden.  In 
der  einen  Gegend  ist  ein  Gut  noch  ein  Bauerngut,  was  in  der 
anderen  eine  Taglöhnerstelle  sein  würde,  und  auch  die  Grenze 
nach  oben  ist  nach  der  Oertlichkeit  wandelbar. 

Vielmehr  war  und  ist  es  richtig,  darauf  Gewicht  zu  legen, 
ob  der  Besitzer  des  fraglichen  Gutes  den  Gewohnheiten  des 
Bauernstandes  folgt  oder  nicht."51)  Pflegt  er  selbst  bei  Be- 
wirthschaftung  des  Gutes  noch  mit  Hand  anzulegen,  so  ist  er 
ein  Bauer,  beschränkt  er  sich  dagegen  lediglich  auf  die  Ober- 
aufsicht und  hält  sich  sonst  einen  Inspector,  so  ist  er  schon  ein 
Grossgrundbesitzer.  Andererseits  muss  er  seine  einzige  oder 
doch  wesentlichste  Nahrungsquelle  in  seinem  Gute  linden.  Ist 
er  zu  seiner  Unterhaltung  nothwendig  oder  hauptsächlich  noch 
auf  anderen  Erwerb  angewiesen,  so  ist  er  kein  Bauer  mehr, 
sondern  nur  ein  Häusler."’-'2) 

Particular  sind  allerdings  in  weitem  Umfange  auch  diese 
Häusler  dem  Anerbenrechte  unterstellt.  Grundsätzlich  steht 
auch  nichts  im  Wege,  das  Anerbenrecht  auch  auf  sie  anzuwenden, 
da,  wie  oben  gezeigt,  es  geschichtlich  keineswegs  aus  lediglich 
bäuerlichen  Verhältnissen  erwachsen  ist,  vielmehr,  auf  allgemeinen 
deutschen  Rechtsauschauungen  fassend,  ein  Erbrecht  für  den 
Grund  und  Boden  überhaupt  darstellt.  Wir  habeu  deshalb 
nichts  dagegen,  wenn  Scholz  in  seiner  Abhandlung  über  die 
Abfindungen  sagt: 

„Dieses  aber  vorausgesetzt  (nämlich  dass  Grund- 
besitz da  ist),  binden  wir  das  Bauernrecht  nicht  blos 
an  die  Eigenschaften  oder  Beschränkungen  des  dinglichen 
Besitztums,  sondern  an  das  Leben  und  Treiben  dieser 
Standesclasse,  an  deren  Sitten  und  Gebräuche  in  Be- 
ziehung auf  den  Grundbesitz  und  dessen  Erhaltung  und 
Vererbung,  als  Gegensatz  von  adelichem  oder  städtischem 
Güterbesitz  oder  was  dem  ähnlich  ist ...  . Daher  nehmen 


161)  Vgl.  Scholz  III  iu  der  unten  citirten  Stelle. 

16ä)  Dieser  Begriff  des  Bauerngutes  ist  nicht,  wie  Frommhold  S.  22 
meint,  mit  der  Aufhebung  des  Bauernstandes  als  solchen  unwichtig  ge- 
worden. Doun  die  Qualität  eines  Gutes  als  Bauerngut  ist  eine  wirth- 
schaftliche  Eigenschaft  desselben,  die  vom  Stande  seines  Besitzers  unab- 
hängig ist. 


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174 


wir  unbedenklich  die  Brincksitzer  und  Anbauer  und  die 
sich  ähnlich  ansiedelnden  Müller,  selbst . . wenn  sie  keinen 
Ackerbau  als  Hauptbeschäftigung  treiben, ,6:t)  ...  in  den 
bauerrechtlichen  Verband  auf.“ 

Doch  ist  immer  festznhaltcn,  dass  nach  gemeinem  Rechte 
sich  das  Anerbenrecht  auf  die  Bauerngüter  in  der  oben  ge- 
gebenen Bedeutung  allmählich  beschränkt  hat  und  jedenfalls  für 
die  reinen  landwirtschaftlichen  Tagelöhner  auch  vom  praktischen 
Standpunkte  aus  heute  nicht  passt. 

Was  die  Höfegesetze  anbetrifft,  so  stellte  sich  für  sie  die 
sachliche  Begrenzung  des  Anerbenrechts  wesentlich  einfacher. 
Auch  sie  wollen  nur  Bauerngüter  in  ihren  Wirkungskreis 
ziehen.  Aber  sie  können  für  den  Begriff  eines  Bauerngutes 
den  äusseren  Massstab  der  Grösse  verwenden,  da  sie  stets  nur 
für  eine  beschränkte  Gegend  Geltung  haben,  sodass  bei  ihnen  die 
Schwierigkeiten  nicht  vorhanden  sind,  welche  die  lokalen  Ver- 
schiedenheiten der  Benutzung  der  Grösse  für  die  Begriffs- 
bestimmung eines  Bauerngutes  bereiten.  Sie  definiren  deshalb 
das  Bauerngut  als  ein  land-  oder  forstwirtschaftlich  benutztes 
Anwesen  von  einer  bestimmten  Grösse.164)  Die  Grösse  berechnen 
sic  theils  nach  dem  Flächeninhalt,  theils  nach  dem  Katastral- 
reinertrage. 

Was  die  zeitlichen  Grenzen  des  Anerbenrechts  anlangt, 
so  kann  diese  Frage  überhaupt  nur  brennend  werden  für  die  Höfe- 
gesetze. Denn  nur  diese  datiren  erst  von  einem  bestimmten 
Tage;  das  gewohuheitsrechtliche  Anerbenrecht  dagegen  gilt  seit 
alten  Zeiten. 

Die  Höfegesetze  regeln  alle  Vererbungsfälle,  welche  unter 
ihrer  Herrschaft  sich  ereignen,  wofern  das  Gut  vorher  einge- 
tragen ist,  was  wieder  nur  unter  ihrer  Heri'sehaft  möglich  ist. 
Die  Anwendung  der  Höfegesetze  ist  also  in  doppelter  Hinsicht 
zeitlich  beschränkt. 


,B3)  Etwas  Ackerbau  muss  also  immer  getrieben  worden.  Deshalb 
scheiden  die  reinen  landwirthschaftlichen  Tagelöhner,  welche  nur  ein  Wohn- 
haus mit  etwas  Gartenland  haben,  aus. 

,B4)  So  auch  das  Einfuhrungsgcsetz  zum  Entwurf  in  Art.  83  und  die 
Motive  dazu. 


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Es  fragt  sich  nun,  ob  auch  diejenigen  Güter  den  Höfe- 
gesetzen unterfallen,  welche  an  ihrem  ersten  Geltungstage  noch 
nicht  Landgüter  waren,  sondern  dies  erst  später  geworden  sind. 
Die  Frage  beantwortet  sich  unbedenklich  mit  „Ja“.  Denn  die 
Höfegesetze  erklären  als  eintragungsfähig  und  folgeweise  als  An- 
erbengut schlechthin  jedes  Landgut,  ohne  einen  Unterschied  zu 
machen,  wie  lange  es  diese  Eigenschaft  schon  besitzt.  Es  kommt 
deshalb  lediglich  darauf  an,  ob  das  Gut  im  Augenblick  der  Ein- 
tragung ein  landwirtschaftliches  ist.  Es  unterliegen  dem  An- 
erbenrechte der  Höfegesetze  also  auch  Güter,  welche  erst  nach 
deren  Geltungsanfang  zu  landwirtschaftlichen  geworden  sind. 
Das  braunschweigische  Gesetz  hat  dies  ausdrücklich  noch  be- 
tont; die  anderen  neuen  Gesetze  haben  diese  Frage,  wohl  wegen 
der  Selbstverständlichkeit  ihrer  Lösung,  gar  nicht  berührt.185) 

Was  endlich  die  räumlichen  Grenzen  des  Anerbenrechts 
anbetrifft,  so  findet  es  natürlich  nur  auf  diejenigen  Güter  An- 
wendung, die  in  seinem  Bezirke  liegen.  Es  besteht  aber  ein 
grosser  Streit  darüber,  ob  es  auch  dann  die  Vererbung  dieser 
Güter  regelt,  wenn  der  Erblasser  zur  Zeit  seines  Todes  ausser- 
halb des  Geltungsgebietes  des  Höfegesetzes  gewohnt  hat."*1) 

Früher  war  die  Frage  nicht  zweifelhaft.  Nach  der  Statuten- 
theorie der  Postglossatoren  entschied  die  lex  rei  sitae  über  alle 
Rechtsschicksale  der  Immobilien,  namentlich  auch  über  deren 
Vererbung.  So  wird  es  noch  heute  in  England  und  Amerika 
gehalten,  und  der  gleiche  Brauch  hat  bis  zu  Savignys  Zeiten 
auch  bei  uns  geherrscht.  Neuerdings  lässt  man  jedoch  das  Recht 
des  letzten  Wohnsitzes  des  Erblassers  über  die  gesammte  Ver- 
erbung auch  der  Immobilien  entscheiden,  weil  man  gemäss  dem 
Prinzipe  der  Universalsuccession  nicht  eine  verschiedene  Ver- 
erbung der  Mobilien  und  Immobilien  zulassen  zu  können  glaubt, 
einen  einheitlichen  Massstab  aber  nur  das  Personalstatut  des  Erb- 
lassers gewährt.  Ist  aber  das  Princip  der  Universalsuccession 
der  Grund  für  die  allgemeine  Anwendung  des  Personalstatuts 
bei  Erbfällen,  so  wird  das  Personalstatut  nicht  mehr  erfordert, 


'*)  Vgl.  Frommhold,  Anerbenrecht  S.  23. 

>*)  Dafür  Scliultzenstein  S.  30.  Gierke  und  Brunner  (in  der  unten 
citirten  Stelle).  — Dagegen  Eccins  S.  367 ; Frommhold,  Anerbenrecht  S.  26. 


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176 

wenn  sieh  die  Erbfolge  nicht  als  Univcrsalsuccession,  sondern 
durch  Singularsuccessionen  in  einzelne  Theile  des  Nachlasses  voll- 
zieht. Es  ist  nun  sehr  zweifelhaft,  ob  die  Erbfolge  nach  Anerben- 
recht, wenigstens  nach  dem  älterem,  nicht  eine  Singularsuccession 
ist.  Die  Praxis  hat  sie  unentwegt  als  solche  behandelt,  und  auch 
Theoretiker  wie  Stobbe"*7)  und  Brunner  hegen  die  gleiche  An- 
sicht, denn  sie  lassen  eine  getrennte  Vererbung  in  das  Gut 
und  den  sonstigen  Nachlass  zu.  Aber  auch  wenn  man  die 
Vererbung  eines  Hofgutes  als  Universalsuccession  betrachtet,1*1) 
so  folgt  aus  der  Erwägung,  dass  dann  die  Erbfolge  in  Liegen- 
schaften und  Mobilien  keine  verschiedene  sein  kann,  durchaus 
nicht,  warum  dann  der  einheitliche  Massstab  nicht  auch  von 
den  Liegenschaften  genommen  werden  und  deren  Schicksal 
einmal  auch  über  das  der  Mobilien  entscheiden  kann.  Es  wird 
dies  sogar  angemessen  sein,  wenn  das  Gut  so  sehr  im  Nachlass 
vorwiegt,  ja  geradezu  derart  den  Nachlass  fast  allein  ausmacht, 
wie  dies  bei  Bauerngütern  der  Fall  zu  sein  pflegt.  So  ist  es 
auch  bei  den  Lehen,  die  den  Bauerngütern  doch  so  ähnlich 
sind,  stets  gehalten  worden.  Man  hat  hier  immer  die  lex  rei 
sitae,  das  Lehnrecht  entscheiden  lassen.  Und  obwohl  beim 
Lehen  auch  Universalsuccession  Vorkommen  kann,  — wenn  die 
Lehnsnachfolger  nämlich  die  Kinder  des  letzten  Besitzers  sind 
(vgl.  II  feud.  45)  — , so  ist  es  doch  noch  keinem  eingefallen, 
dann  die  Lehnserbfolge  nicht  auwenden  zu  wollen,  wenn  zu- 
fällig der  Lehnsbesitzer  bei  seinem  Tode  ausserhalb  des  Be- 
zirkes des  Lehnrechts  domizilirt  hat.  Auch  für  Bauerngüter 
hat  sich  die  Praxis  nie  von  dem  gleichen  Prinzip  abbringen 
lassen.  Mit  Hecht  sagt  deshalb  Brunner  in  seiner  Vorlesung 
über  deutsches  Privatrecht: 

„Wo  . . Universalseccession  gilt  ....  muss  man  die 
lex  domicilii  des  Erblassers  zur  Zeit  des  Todes  ...  in 
Ansehung  bringen  ....  Eine  selbstverständliche  Aus- 
nahme bilden  Güter,  die  Gegenstand  einer  besonderen 
Erbfolge  sind,  also  Fideicommisse,  Lehen,  Bauerngüter; 
für  diese  gilt  die  lex  rei  sitae.“ 


"•')  Privat  recht  Bd.  5 S.  Oiä  ff. 

lu>)  Diese  Frage  wird  unten  im  § 'JO  noch  näher  erörtert  werden. 


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177 


Die  gleiche  Ansicht  wild  auch  von  Gierke  in  seinem 
Deutschen  Privatrecht,  Bd.  I,  S.  244,  vcrtheidigt. 

Für  die  modernen  Höfegesetze  haben  die  Anhänger  der 
gegentheiligen  Ansicht,  wie  Eccius  und  Frommhold,  aber  noch 
einen  anderen  Grund  in  Bereitschaft.  Eccius  (S.  367,  Anm.  126) 
führt  nämlich  aus,  es  handle  sich  nach  den  Höfegesetzen  nicht 
um  eine  gesetzliche  Erbfolge,  sondern  darum,  „welche  Rechte 
einer  von  mehreren  — nach  der  lex  domicilii  zu  bestimmenden  — 
Miterben  bei  der  — ebenso  nach  der  lex  domicilii  zu  regelnden  — 
Theilung  des  Gesammtnachlasses  und  zur  Ausschliessung  des 
nur  nach  derselben  lex  zu  bestimmenden  Pflichttheilsrechts 
haben  soll“.  Dieser  Argumentation  wäre  ein  gewisses  Gewicht 
nicht  abzusprechen,  wenn  es  sich  um  eine  Theilungsordnung 
handelte,  deren  Geltungsgrund  das  Gesetz  ist.  Der  Geltangs- 
grund ist  aber,  wie  oben  eingehend  dargethan,  eine  letztwillige 
Verfügung,  deren  Inhalt  das  Gesetz  nur  supplirt.  Es  handelt 
sich  also  um  eine  wahre  elterliche  Theilungsordnung.  Diese 
gilt  aber  wie  ein  Testament  schlechthin,  unter  welchem  Recht 
auch  der  Erblasser  verstorben  ist,  wofern  sie  in  rechtsgiltiger 
F'orm  zu  Stande  gekommen.  Für  die  Form  reicht  aber  nach 
dem  Satze  „locus  regit  formam  actus“  die  Form  des  Ortes  aus, 
an  welchem  die  letztwillige  Verfügung  bewirkt  ist.  Diese  wird 
hier  durch  die  Eintragung  bewirkt.  Die  Form  des  Ein- 
tragungsortes entscheidet  also,  und  diese  verlangt  zu  der 
Theilungsanordnung  und  zur  Beschränkung  des  Pflichttheils  eben 
nur  die  Eintragung.  Der  Kreis  der  Miterben  kann  dann  ruhig 
nach  der  lex  domicilii  bestimmt  werden;  denn  die  Theilungs- 
ordnung, welche  die  Höfegesetze  an  die  Hand  geben,  fügt  sich 
in  jeden  Erbenkreis  ein  und  enthält  über  dessen  Begrenzung 
gar  keine  eigenen  Normen. 

Allein,  auch  wenn  man  dieser  Folgerung  aus  irgend  einem 
Grunde  nicht  beitreten  könnte,  so  ergiebt  sich  die  unbedingte 
Geltung  der  Höfegesetze  noch  aus  einer  anderen  Erwägung. 
Nach  der  von  Wächter  und  Thoel  zuerst  vertretenen,  heute 
herrschenden  Ansicht  ist  es  lediglich  eine  Frage  der  Auslegung 
des  heimischen  Rechts,  ob  dieses  in  einem  Zweifelsfalle  aus- 
ländische Rechtssätze  zur  Geltung  gelangen  lassen  will.  Das 
ist  auch  selbstverständlich;  denn  das  einheimische  Recht  braucht 
solche  Geltung  nicht  zuzulassen,  weil  an  sich  jedes  Recht  über 

v.  Dultxig,  Gruodcrbrecbt.  12 


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178 


die  in  seinem  Gebiete  befindlichen  Personen,  Sachen  und  Er- 
eignisse herrscht.  Wenn  man  deshalb  auch  zur  Anwendung 
fremden  Rechts  nicht  so  viel  verlangen  wird,  dass  es  vom  ein- 
heimischen ausdrücklich  zugelasseu  werde,  so  wird  man  es  doch 
nie  anwenden  können,  wenn  sich  aus  dem  einheimischen  die 
Absicht  ergiebt,  das  fremde  auszuschliessen  und  unter  allen 
Umständen  selbst  zu  gelten. 

Letzteres  ist  nun  bei  den  Höfegesetzen  der  Fall.  Die 
Höfegesetze  gehen  von  der  Annahme  aus,  dass  das  gewöhnliche 
Erbrecht  für  die  Bauern  ungeeignet  sei;  das  geeignete  Erbrecht, 
was  sie  an  seine  Stelle  setzen,  sehen  sie  darum  schlechthin  als 
das  richtige  für  die  in  ihrem  Bezirk  liegenden  Bauerngüter  an. 
Jedenfalls  rechnen  sie  nicht  damit,  dass  es  dadurch  unpassend 
werde,  wenn  der  Besitzer  zufällig  von  dem  Gute  verzieht. 
Nach  der  Absicht  der  Höfegesetze  soll  deshalb  das  besondere 
Erbrecht,  eben  weil  es  nach  ihnen  das  allein  angemessene  ist, 
unter  allen  Umständen  zur  Geltung  kommen.  Die  Anwendung 
einer  abweichenden  Erbfolge  auf  ein  Hofgut  ist  sonach  unbedingt 
ausgeschlossen. 


§ 19. 

Es  bleibt  endlich  von  den  allgemeinen  Fragen  des  Anerben- 
rechts noch  dessen  Geltungskraft  zu  prüfen,  mit  einem 
technischen  Ausdrucke,  ob  es  ius  cogens  oder  dispositivum  ist. 

Da  kann  es  nun  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  das 
moderne  Anerbenrecht  nur  dispositives  Recht  ist.  Dies  folgt 
schon  daraus,  dass  sein  Geltungsgrund  lediglich  eine  letztwillige 
Verfügung  ist,  die  der  freien  Abänderung  durch  den  Testator 
und  der  Rücknahme  unterworfen  bleibt.  In  den  Höfegesetzen 
ist  die  Befugniss  des  Testators  zu  Abweichungen  aber  auch 
stets  noch  ausdrücklich  Vorbehalten  worden. 

Das  ältere  Anerbenrecht  konnte  dagegen  durch  Testament 
im  Ganzen  nicht  aufgehoben  werden,  aus  dem  einfachen  Grunde, 
weil  es  zu  seiner  Eutstehungszeit  keine  Testamente  gab. 
Aeuderungen  seines  Inhalts  dagegen  hinsichtlich  der  Person  des 
Anerben  oder  der  Höhe  der  Abfindungen  waren  statthaft.  Dies 
ergiebt  sich  aus  der  Entstehungsgeschichte  des  Anerbenrechts. 
Denn  wenn  es  daraus  erwachsen  ist,  dass  der  Vater  alle  anderen 
Kinder  bis  auf  eines  auszuraden  pflegte,  so  lag  natürlich  die 


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Wahl,  welches  der  Kinder  er  bei  sich  behalten  wollte, 

ursprünglich  durchaus  in  der  Hand  des  Vaters.1®1)  Für  die  Höhe 
der  Abfindungen  vollends  war  von  jeher  das  pflichtniässige 
Ermessen  des  Abfindenden  zunächst  entscheidend,  da  ja,  wie 
oben  gezeigt,  stets  auf  das  Bedürfniss  des  einzelnen  Falles 
Rücksicht  genommen  werden  sollte.170) 

Allmählich  trat  aber  hierin  eine  Aenderung  ein  durch  die 
Gewalt,  welche  alter  Brauch  im  deutschen  Rechte  ausübte. 

Die  Hausväter  einer  bestimmten  Gegend  behielten  über- 

einstimmend stets  denselben  Sohn  bei  sich.  Auch  die  Bemessung 
der  Abfindungen  erfolgte  ziemlich  gleichmässig,  da  das  für  sie 
massgebende  Bedürfniss  bei  den  gleichartigen  Verhältnissen  fast 
überall  gleich  gross  war.  So  bildete  sich  unmerklich  ein  festes 
Herkommen  aus,  und  nach  altdeutschen  Rechtsanschauungen 
musste  sich  dann  der  Einzelne  diesem  beugen  und  verlor  so  die 
Bestimmung  über  die  Person  des  Anerben  und  die  Höhe  der 
Abfindungen.  (Vgl.  oben  § 10.) 

In  späterer  Zeit  wurde  die  Machtlosigkeit  des  Vaters  viel- 
fach womöglich  noch  stärker  betont.  Denn  es  entsprach 

durchaus  der  bevormundenden  Regierungsweise,  die  zur  Zeit 
der  Landesordnungen  gang  und  gebe  war,  die  Verfügungsfreiheit 
des  Einzelnen  möglichst  einzuschränken. 

Ein  Mittelweg  zwischen  beiden  Systemen  war  es,  wenn  der 
Vater  zwar  einen  anderen  Sohn  zum  Anerben  wählen  konnte, 
als  den  vom  Herkommen  dazu  designirten,  aber  diesem  dann  ein 
Abstandsgeld  als  Zulage  zu  seiner  Abfindung  geben  musste. 
Dieser  Ausweg  war  schon  zu  Carpzov's  Zeiten  üblich171)  und 


**)  Vgl  oben  § 11  bei  Anm.  108  und  das  in  dieser  Anm.  citirte 
Weisthum  von  UlAingen. 

17°)  Vgl.  oben  § 10.  — Weisthum  von  llüuchaltorf  im  Züricher  Land 
§ 50:  „Item  womit  ein  vatter  sin  kind  usstürt,  des  soll  sich  das  kind 
lassen  benügen“.  § 58:  „Si  Sprechern  och  das  eiu  vatter  einem  kiud 
wol  mug  geben  me  denn  dem  anderen,  nachdem  als  ein  kind  ver- 
dienet umb  sin  Vater“  {.Grimm  I.  16).  Aehnlich  I,  47  § 25  und  IV,  273 
§ 10  (Stiifa  und  Binzikon  in  derselben  Gegend). 

17>)  Carpzov,  Jurispr.  P.  III  def.  26: 

„Ex  sola  igitur  cousuetudine  ius  illud  optionis  minori  natu  tilio 
competens  in  bonis  paternis,  „die  Kühr  oder  Kührgerechtigkeit“,  locum  habet, 
praesertim  iuter  rusticos,  qui  saepius  in  venditione  bonorum  paternorum  ita 

12* 


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180 


wird  noch  in  unserem  Jahrhundert,  z.  B.  in  Süddeutschland,172) 
viel  beschritten. 

Von  den  beiden  Hauptsystemen  ist  aber  keins  zu  aus- 
schliesslicher und  unbestrittener  Geltung  gelangt,  weder  das  der 
theilweisen  noch  das  der  gänzlichen  Gebundenheit  des  Vaters, 
vielmehr  haben  sich  beide  nebeneinander  bis  iu  die  neueste  Zeit 
erhalten.  Dies  zeigt  das  Schwanken  der  Schriftsteller.173) 


conveniunt,  quod  liberum  sit  lilio  adhuc  minorenni  vel  impuberi,  si  ad 
legitimem  aetatem  pervenerit,  ut  vel  venditionem  bonorum  paternorum  cum 
fratre  maiore  aut  vitrico  vel  alio  quopiam  coutractaui  ratam  habeat, 
accepta  pecuuia,  quam  ultra  portionem  pretii  lilio  iuniori 
debitam,  hisce  in  casibus  ei  promittere  solent,  „das  Kiirgeld*. 
vel  ea  ropudiata  bona  paterna  ipsemet  eodem  pretio  empta  sibi  habeat'. 
Dazu  ein  Beleg  aus  der  Praxis:  Leipziger  Urtheil  v.  1632:  „.  . . Ob  nun 
wohl  an  beiden  Orten  da  die  Güter  gelegen,  durch  eine  Gewohnheit  her- 
bracht, dass  nach  Absterben  des  Vaters  dem  jüngsten  Sohne  das  Gut  über- 
lassen oder  ein  Kührgeld  davon  gegeben  werden  muss.“ 

17S)  Vgl.  das  bei  Puchtn  S.  SO  befindliche  Exemplar  eines  Gutsüber 
lassungsvertrages  aus  Franken:  Es  heisst  darin: 

.500  fl.  Heirathsgut  und  l&O  fl.  Gutsabstand  hat  er  (sc.  der 
Uebernehmcr)  an  seinen  Bruder  Andreas  Schwarz  zu  zahlen.“ 

Puchta  bemerkt  hierzu  S.  81 : „Der  Bruder  Andreas  wird  mit  der 
Summe  von  150  11.  für  seinen  entweder  wirklichen  oder  vermeintlichen  An- 
spruch an  die  vorzugsweise  Ueberlassung  des  Hofs  zufrieden  gestellt;  er 
tritt  zurück,  steht  ab,  und  es  wird  auf  diese  Weise  wenigstens  der  Friede 
in  der  Familie  erhalten,  wenn  auch  kein  rechtlich  verpflichtender  Grund  zu 
dieser  Begünstigung  vorhanden  sein  sollte,  daher  auch  der  Käufer  um  so 
viel  gegen  seine  Geschwister  in  dem  sogenannten  Heirathsgut  zuriicksteht. 
Denn  er  ist  es  eigentlich,  der  diese  Abfindung  zu  leisten  hat.“  Auch  Fick 
gedenkt  in  seinem  Buche  des  Abstandsgeldes  au  vielen  Stellen  z.  B.  S.  66, 
89,  100,  85,  89,  182,  183.  Vgl.  unten  Anm.  190. 

173)  Wigand  in  seinem  Paderbomer  und  Corveyer  Heierreeht  erklärt 
das  Anerbenrecht  an  sich  für  unentziehbar,  gestattet  jedoch  dem  Vater, 
unter  den  Sühnen  den  Anerben  zu  wählen.  Anders  entscheidet  das  von 
ihm  selbst  citirte  Delbrücker  Landurtheil  von  1734:  „Hausgenossen -Richter 
referirte  vom  Lande  erkannt  zu  sein:  wann  der  jüngste  Sohn  capahel  wäre 
dem  Hofe  vorzusteheu,  konnte  ihm  dessen  Anerbe  nicht  entzogen  werden.“ 
Ebenso  auch  das  Landurtheil  von  1750:  „Dass  dem  jüngsten  Sohn  aus 
erster  Ehe  die  Güter  zukämen  und  behalten  müsste.“  — Besonders  deutlich 
ist  das  Schwanken  bei  Grefe  zu  erkennen.  Ira  Erbrechte  der  leibeigenen 
konnte  das  Anerbenrecht  selbst  mit  Genehmigung  des  Gutsherrn  dem  An- 
erben nicht  entzogen  werden  (Bd.  1,  8.  352  ff.)  Im  Erbrechte  der  Bauern 
ist  es  örtlich  verschieden  1)  In  Calenberg  ist  eine  Aenderuug  der  lntestat- 


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1B1 


Es  fragt  sich  nun,  welchem  Systeme  wir  den  Vorzug  geben 
wollen.  Einig  sind  beide  Systeme  darin,  dass  der  Bauer  nicht 
das  Anerbenrecht  überhaupt  ausschliessen  darf.174)  Denn  auch 
das  erste  System  gestattet  ihm  nur,  dessen  Modalitäten  zu 
ändern.  Diese  Freiheit  aber  werden  wir  ihm  heute  grundsätzlich  zu- 
billigen müssen,  wenn  wir  erwägen,  dass  die  Rechtsentwickelung 
jetzt  überall  zu  einer  fortschreitenden  Bewegungsfreiheit  der 
Grundeigenthümer  geführt  hat.  Dem  Zuge  der  Zeit  gegenüber 
darf  man  nur  hoffen,  diejenigen  Schranken  einer  allzugrossen 
Verfügungsgewalt  aufrecht  zu  erhalten,  welche  durch  das  all- 
gemeine Beste  des  Grundeigenthums  selbst  gefordert  werden. 
Dies  verlangt  aber  nur  danach,  dass  überhaupt  ein  Einziger 
unter  günstigen  Bedingungen  Erbe  werde.  Gleichgiltig  ist  die 
Person  dieses  Erben.  In  der  Auswahl  dieser  Person  den  Erb- 
lasser beschränken  zu  wollen,  wäre  deshalb  ein  thörichtes  und 
aussichtsloses  Beginnen.  Ja,  es  ist  sogar  zweckmässig,  diese 
Wahl  dem  Bauer  zu  lassen,  da  er  dadurch  neben  der  Möglichkeit 
des  Missbrauchs  doch  auch  die  Gelegenheit  hat,  denjenigen 
Sohn  herauszugreifen,  der  zum  Landmann  die  meiste  Begabung 
besitzt  und  den  die  todte  Regel  des  Intestaterbrechts  gewiss 
oft  nicht  berufen  würde. 

Wir  erklären  deshalb  das  Anerbenrecht  insoweit,  als  ein 
ius  cogens,  als  Niemand  hindern  kann,  dass  es  überhaupt  ein- 
tritt,  insoweit  aber  als  ein  ius  dispositivum,  als  in  seinem  Kreise 
der  Erblasser  die  Person  des  Anerben  und  die  Höhe  der  Ab- 
findungen festsetzen  kann. 


erbfolge  durch  Testament  den  Kindern  gegenüber  unstatthaft.  Auch  den 
wegen  jugendlichen  Alters  unfähigen  darf  ihr  Erbrecht  nicht  entzogen 
werden.  2)  In  Urubenhagen  soll  «richtiger  Meinung"  nach  der  Meier  die 
I’erson  des  Anerben  bestimmen  dürfen.  3}  Im  Amte  Uslar  besteht  Minorat ; 
doch  darf  der  Meier,  wenn  der  zukünftige  Anerbe  allzu  jung  ist,  einen 
andern  Anerben  wählen.  — In  Holstein  hat  der  Vater  auch  nur  die  Mög- 
lichkeit, die  Person  des  Anerben  zu  ändern  (Paulseu  S.  346).  — Ebenso 
will  es  Steinackor  (S.  51G  ff.)  für  Kraunschweig.  — Ebenso  Busch  S.  109 
für  das  FUrstenthum  liildesheim.  — Auch  Scholz  (S.  44  f.)  Bchliesst  sich 
dieser  Ansicht  an.  — Ebenso  überlässt  auch  Pfeiffer  dem  Vater  die  Aus- 
wahl des  Anerben  (S.  236  ff.)  und  führt  auch  zahlreiche  Beispiele  aus 
Gesetz  und  Praxis  für  diese  Ansicht  au. 

17‘)  Daraufhin  zielt  Beseler,  Privatrecht  Bd.  II,  S.  869  und  Frommhold, 
Auerbeurecht  S.  16  ff.,  der  »ich  an  Beseler  auschliesst. 


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182 


Dass  diese  Ansicht,  wie  aus  unserer  Anmerkung  ersichtlich, 
auch  von  der  erdrückenden  Majorität  der  Schriftsteller  getheilt 
wird,  mag  uns  eine  Beruhigung  über  ihre  Richtigkeit  gewähren. 

§ 20. 

Nach  diesen  allgemeinen  Untersuchungen  über  Natur, 
Geltungsgrund,  Geltungsumfang  und  -kraft  des  Anerbenrechts 
kommen  wir  nun  zu  der  Prüfung,  wie  sich  denn  die  Vererbung 
nach  den  Regeln  des  Anerbenrechts  im  Grossen  und  Ganzen, 
wie  im  Einzelnen  vollzieht.  Von  allgemeinen  Fragen  kann  sich 
hier  nur  diejenige  erheben,  ob  die  Vererbung  nach  Anerbenrecht 
eine  Universal-  oder  Singularsuccession  ist. 

Man  wird  sich  erinnern,  dass  wir  oben  erwähnt  haben, 
namhafte  Theoretiker  sprächen  sich  für  die  Annahme  einer 
Singularsuccession  aus,  und  auch  die  Gerichte  folgten  dieser 
Ansicht.  Die  Ansicht  fusst  auf  der  Wahrnehmung,  dass  oft 
noch  heute,  wie  es  durch  die  Stryck-Struben'sche  Theorie  auf- 
gebracht ist,  eine  getrennte  Vererbung  in  das  Hofgut  und  das 
sonstige  Vermögen  stattfindet.  Gleichwie  man  deshalb  die  im 
deutschen  Rechte  so  oft  auseinanderfallende  Mobiliar-  und 
Immobiliarfolge  für  successio  singularis  erklärt  hat,  so  glaubte 
man  auch  hier  wegen  der  verschiedenartigen  Vererbungen  ein 
Gleiches  annehmen  zu  müssen. 

Heusler  hat  nun  in  seinen  Institutionen  in  überzeugender 
Weise  ausgeführt,  dass  das  nicht  richtig  ist,  dass  es  nicht  darauf 
ankommt,  ob  der  gesammte  Nachlass  in  den  Besitz  des  Erben 
gelangt,  sondern  nur  darauf,  dass  dieser  einen  ganzen  Co  mp  lex 
des  Nachlasses  unter  einem,  alle  einzelnen  Sachen 
desselben  umfassenden  Universaltitel  erhält  und  nicht 
einzelne  Sachen  auf  Grund  eines  bloss  nur  auf  jede  einzelne 
bezüglichen,  Singulartitels. 

Schiffuer  (S.  55)  hat  zwar  versucht,  auch  bei  solcher 
umfassenderen  Vererbung  die  Singularfolge  aufrecht  zu  erhalten, 
indem  er  ein  gesetzliches  Legat  auf  eine  Universitas  von  Sachen, 
auf  eine  Gesammtsache,  annimmt.  Allein  zunächst  ist  es 
zweifelhaft,  ob  das  dabei  in  den  Vordergrund  gerückte  römische 
Recht  überhaupt  Gesamuitsachen  kenut.  Alles,  was  sich  in  den 
römischen  Quellen  über  einen  Sachcomplex  findet,  bezieht  sich 


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183 


nur  auf  die  Heerde.  Bei  dieser  aber  liegt  weit  näher  als  die 
Annahme  einer  Gesammtsache  die  Vermuthung,  dass  damit  nur 
die  Bezeichnung  mehrerer  einzelner  Sachen  unter  einem  Sammel- 
namen aus  Bequemlichkeits-  und  Zweckmässigkeitsriicksichten 
zugelassen  und  dann  die  zugelassene  Bezeichnung  deui  wahr- 
scheinlichen Parteiwillen  entsprechend  weitherzig  und  praktisch 
ausgelegt  wird.  Als  solche  Bezeichnung  mit  einem  Sammel- 
namen wird  man  auch  die  deutschrechtlichen  Vorschriften  über 
Vererbung  von  „Weissgeräthe“  und  „Leibgeräthe“,  „Haus- 
gerätlie“,  „Heergeräthe“,  „Gerade“  und  „Musstheil“  bezeichnen 
müssen,  auf  welche  Schiffner  verweist.  Selbst,  wenn  man  aber 
hieraus  und  aus  der  römischen  grex  eine  Gesammtsache  machen 
wollte,  könnte  diese  doch  nur  auf  eine  Mehrheit  einzelner  gleich- 
artiger Sachen  beschränkt  bleiben,  wie  in  den  genannten  Fällen. 
Wollte  man  aber  auch  bei  der  aus  sehr  verschiedenen  Sachen 
bestehenden  Fahrhabe  oder  bei  dem  Hofe  mit  Feldflur  eine  Ge- 
sammtsache annehmen,  so  würde  man  jeden  Unterschied  zwischen 
einzelnen  Sachen  und  Vielheit  verwischen.  Fahrhabe  und 
Hof  bilden  zwar  namentlich  nach  deutschem  Rechte  eine  recht- 
liche Einheit,  sie  bilden  dies  aber  nicht  mehr  als  nach  römischem 
Rechte  die  ganze  Erbschaft,  Man  könnte  darum  mit  demselben 
Rechte  die  Erbschaft  zu  einer  Gesammtsache  stempeln.  Hier 
muss  deshalb  der  Begriff  der  Gesammtsache  jedenfalls  abgelehnt 
werden.  Am  Besten  lässt  man  jedoch  diesen  verwaschenen 
Begriff  ganz  aus  dem  Spiele.  Soweit  man  nicht  Bezeichnung 
einzelner  Sachen  unter  einem  Sammelnamen  annehmen  kann 
— was  namentlich  dann  geboten  ist,  wenn  sich  das  Vorliegen 
einer  Singularsuccession  daraus  ergiebt,  dass  der  Bedachte  durch 
Empfang  der  Zuwendung  noch  nicht  für  Schulden  haftbar  wird  — , 
wird  man  zwar  den  Nachlass  in  mehrere  Massen  zerlegen,  aber 
die  Folge  in  eine  jede  als  Universalsuccession  hinstellen,  woraus 
sich  dann  ergiebt,  dass  der  Antretende  die  Schulden  jeder  Masse 
zu  zahlen  hat;  lässt  sich  die  Vertheilung  einer  Schuld  auf  eine 
Masse  nicht  feststellen,  so  ist  sie  von  beiden  zu  zahlen,  es  sei 
denn,  dass  etwa  die  eine  Masse,  wie  im  Lehnrechte  und  zeit- 
weise auch  in  einigen  Bauernrechten,  nur  Schulden  anerkennt, 
die  ausdrücklich  auf  sie  durch  Gesetz  oder  Vertrag  gelegt  sind; 
dann  nämlich  verbleiben  alle  übrigen  Schulden  der  anderen  Masse. 
Eine  beschränkte  Schuldenhaftuug  verbleibt  aber  immer  auch  dem 


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184 


Erwerber  der  ersten  Masse.  Und  gerade  daran  scheitert  die 
Theorie  von  dem  Vermächtniss  auf  eine  Universitas,  denn  der 
Vermächtnissnehmer  zahlt  nie  Schulden. 

Es  soll  indessen  nicht  verkannt  werden,  dass  die  Heusler’sche 
Theorie  den  römischen  Begriff  der  Universalsuccession  etwas 
verändert.  Im  römischen  Rechte  ist  allerdings  überall,  wo  sich 
Vergebung  von  Sachen  unter  einem  alle  umfassenden  Universal- 
titel findet,  damit  die  Forderung  verknüpft,  dass  sich  jene 
Vergebung  auf  das  ganze  Vermögen  erstrecken  solle.  Allein, 
diese  Verknüpfung  ist  doch  nur  eine  äusserliche,  veranlasst 
durch  die  besondere  römische  Gestaltung.  Im  Uebrigen  ist  die 
römische  Regel,  dass  sich  Vererbung  und  Universalübergang  nur 
mit  ganzen  Vermögen  belassen  sollen,  schon  im  römischen  Rechte 
in  einigen  Consequenzen  nicht  mehr  festgehalten.  Der  daraus 
abgeleitete  Satz  „nemo  pro  parte  testatus,  pro  parte  intestatus 
decedere  potest“  ist  durch  die  Gestaltung  des  Notherbrechts 
stark  durchlöchert.  Der  weitere  Folgesatz  „nemo  cum  pluribns 
testamentis  decedere  potest“  wird,  wie  wir  sahen,  heute  auch 
nicht  mehr  überall  streng  festgehalten.  Und  wenn  nun  die 
Gestaltung  des  deutschen  Rechts  zeigt,  dass  dieses  mit  einer 
Uuiversalvergabung  die  Forderung  der  Regelung  des  ganzen 
Vermögens  nicht  verbindet,  so  kann  man  diesen  Satz  als  be- 
griffliches Merkmal  der  Universalsuccession  nicht  mehr  festhalten. 
Die  Erstreckung  auf  das  ganze  Vermögen  stellt  sich  vielmehr  nur 
noch  als  eine,  durch  positive  Sätze  des  römischen  und  gemeinen 
Rechts  regelmässig  geforderte  Eigenschaft  der  Universal- 
succession dar;  deren  aus  den  nothwendigen  Eigenschaften 
zu  entnehmender  Begriff  beschränkt  sich  aber  in  der  That 
auf  den  Uebergang  einer  Vielheit  von  Sachen  und  Rechten 
unter  einem  und  demselben  Titel. 

Gehen  wir  von  dieser  Ansicht  aus,  so  werden  wir  die 
Nachfolge  in  das  Bauerngut,  auch  wenn  das  Mobiliar  zum  Theil 
einem  anderen  Schicksale  unterworfen  ist,  als  eine  Universal- 
succession auffassen.  Denn  das  gesammte  Gut  mit  lebenden  und 
todtem  Inventar,  mit  eisernen  Beilassstücken  und  dergl.  braucht 
der  Anerbe  nicht  einzeln  sich  anzueignen,  sondern  alles  gewinnt 
er  zusammen  auf  Grund  des  einen  Titels,  dass  er  Erbe  im 
Grundbesitze  ist. 

Aber  auch  aus  anderen  Gründen  wird  man  die  Erbfolge 


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185 


nach  Anerbenrecht  als  Universalsuccession  bezeichnen  müssen. 
Es  ist  nämlich  aus  unserer  geschichtlichen  Darstellung  ersichtlich, 
dass  es  keineswegs  die  Regel  ist,  wenn  in  der  eben  bezeichneten 
Weise  die  Erbfolge  in  das  Gut  und  die  in  das  Mobiliar  auseinander- 
fällt, sondern  dass  dies  nur  durch  eine  zeitweilige,  heute  über- 
wundene Verirrung  von  Theorie  und  Praxis  hervorgerufen  wurde. 
Der  Anerbe  war  vielmehr  Derjenige,  der  allein  in  den  väter- 
lichen Gütern  sitzen  blieb,  und  zwar  in  allen,  in  Liegenschaften 
nnd  Fahrhabe.  Der  Anerbe  war  und  ist  somit  im  eminentesten 
Sinne  der  Alleinerbe,  der  Universalsuccessor.1“’) 

§ 21. 

Der  Anerbe  ist  Derjenige,  der  aus  einem  Kreise  von  Erben 
den  Vorzug  geniesst,  zum  Naturalbesitze  des  hinterlassenen 
Gutes  zu  gelangen.  Um  sagen  zu  können,  wer  im  gegebenen 
Falle  Anerbe  wird,  muss  man  deshalb  sowohl  jenen  Kreis 
kennen  als  wissen,  nach  welchen  Grundsätzen  die  Auswahl  aus 
ihm  vor  sich  geht. 

Wenn  wir  die  geschichtliche  Entwicklung  des  Anerben- 
rechts überdenken,  so  werden  wir  finden,  dass  jener  Erbenkreis 
im  Allgemeinen  von  dem  sonst  im  bürgerlichen  Rechte  geltenden 
nicht  verschieden  war.  Selbst  die  ursprünglich  im  weiten  Um- 
fange bestandene  Beschränkung  des  Grunderbrechts  auf  De- 
scendenten  haben  wir  ja  auch  im  gewönlichen  Erbrechte  an- 
getroffen. Wir  brauchen  uns  nur  daran  zu  erinnern,  dass  noch  bis 
zum  edictnin  Chilperici  auch  im  Landrechte  beim  Mangel  von  De- 


lre)  Aush  Beseler  S,  8G9  erklärt  ihn  für  einen  „Gesainmtnacbfolger“. 
Ebenso  tritt  Frommbold  für  l^niversalsuccession  ein  (Anerbenrecht  S.  25) 
wenn  auch  aus  andern  Gründen,  denen  wir,  soweit  sie  sich  auf  die  Ge- 
schichte stützen,  allerdings  nicht  durchweg  beistimmen  künuen.  — Scholz  ist 
nicht  conseijuent : Er  sagt  in  § 12,  die  Anerbenfolge  sei  auch  nach  Ein- 

führung des  römischen  Rechts  successio  singnlaris  geblieben.  Auf  S.  101 
sagt  er  dann:  „Im  allgemeinen  ist  die  t’olonatsfolge  eine  successio  univer- 

salis.“  Er  scheint,  wenn  die  Abfindungen  aus  dem  allodium  non  coniunctum 
erfolgen,  Singular-,  andernfalls  Unircrsalsnccession  anzunehmeu.  (Vgl. 
S.  102  oben.).  — Unserer  Ansicht  ist  flir  die  heutige  Zeit  hier  auch 
Schiffner  S.  166  Anm.  6:  „Seit  dem  Eindringen  der  römischen  Universal- 

guccession  aber  ist  der  Anerbe  meist  Alleinerbe  des  ganzen  Nachlasses  und 
sind  die  übrigen  Erbsinteressenteu  nur  Abfindlinge.“ 


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186 


Scendenten  der  Heimfall  des  Grundbesitzes  an  die  Dorfgenossen- 
schaft eintrat.  Die  Ausschliessung  der  Collateralen  beruhte  ja  auch 
auf  dem  Gedanken,  dass  die  Annahme  der  Abfindung  in  Folge  des  da- 
mit verknüpften  Austritts  aus  der  Hausgenossenschaft  den  Verlust 
jeglichen  Erbrechts  nach  sich  ziehe,176)  ein  Gedanke,  der  aus 
den  Grundsätzen  der  Were  sich  ergebend,  (vgl.  § 10)  ebenso 
wenig  wie  das  Weresystem  selbst  lediglich  dem  Bauernrecht 
angehörto. 

Wie  wir  es  nun  öfter  nachweisen  können,  dass  Prinzipien, 
die  im  Landrechte  längst  abgestorben  waren,  im  Bauernrechte  mit 
neuer  Kraft  wieder  auftauchen,  um  dann  auch  in  ihm  aus 
gleichen  Gründen  wie  im  Landrechte  von  der  fortschreitenden 
Entwicklung  abgestreift  zu  werden,177)  so  wurde  zunächst  zwar  im 


,M)  Ein  Beispiel  wird  das  verdeutlichen: 


Wenn  E stirbt,  so  können  seine  Collateralen  A und  B nicht  zum  Erbe 
gelangen,  denn  sie  sind  abgefunden,  als  E das  (lut  übernahm  Aber  auch 
C D F G können  das  Gut  nicht  erhalten,  du  sie  entweder  vorverstorben 
sein  müssen,  oder  abgefunden  sind,  als  F Gutsbesitzer  wurde.  Aber  auch 
wenn  F noch  lebte,  könnte  er  doch  nicht  E's  Gut  nehmen,  da  die  noth- 
wendig  voraugegangene  Absonderung  des  E nicht  nur  diesem  das  Erbrecht 
gegen  F,  sondern  auch  dem  F gegen  den  E genommen  hat,  da  die  Ab- 
sonderung schlechthin  und  gegen  beide  die  Hausgenossenschaft  löst  (vgl. 
§ 10  a E.). 

177)  Es  ist,  als  ob  die  Völker,  — gleichwie  der  einzelne  Mensch  sich 
meistens  nicht  die  Erfahrungen  seiner  Vorgänger  zu  Nutze  machen  kann, 
sondern  selbst  Lehrgeld  zahlen,  selbst  erleben  und  selbst  den  von  anderen 
schon  durchmessenen  Weg  zur  Vollkommenheit  von  Anfang  au  durch- 
wandern muss,  — so  auch  die  Völker  den  Entwicklungsgang  des  Grund- 
besitzes, den  sie  im  Landrechte  hinter  sich  hatten,  im  Hofrechte  noch 
einmal  hätten  durchkämpfeu  müssen.  Dass  er  beidemal  so  überraschend 
gleichartig  ausüel,  ist  ein  Beweis  mehr  für  unsere  Ansicht,  dass  es  die  in 
der  Tiefe  der  Volksseele  lebende  ltechtsiiberzeugung  war.  die  ihn  bestimmte, 
und  nicht  etwa  auf  wirthschafllicbe  Verhältnisse  achtende  Zweckmässig- 


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187 


Hofrechte  die  Beschränkung  des  Erbganges  auf  die  Descendenten 
durchgeführt  zu  einer  Zeit,  wo  sie  im  Landrechte  längst  von  Ver- 
gessenheit bedeckt  worden  war;  als  man  aber  auch  im  Hof- 
rechte anfing,  die  Vererbung  nicht  bloss  auf  Grund  von 
Consolidation  im  Kreise  des  Hauses,  sondern  auch  als  wahren 
Erbgang  an  Glieder,  die  aus  dem  Hause  geschieden  waren, 
zuzulassen,  da  fiel  mit  dem  Satze,  dass  der  Abfindling  nie  mehr 
Erbe  nehmen  kann,  auch  die  diesem  Satze  entsprechende  Be- 
schränkung des  Erbenkreises  auf  Descendenten,  und  es  wurden 
auch  Ascendenten  und  Collateralen  berufen,  womit  der  Unterschied 
zwischen  Landrecht  und  Bauernrecht  wieder  verwischt  war. 

Die  gemeinrechtlichen  Juristen  hatten  natürlich  gar  keinen 
Anlass,  an  diesem  Kesultat  auch  nur  im  geringsten  zu  rütteln. 
Sie,  die  bestrebt  waren,  alle  Sonderrechte  möglichst  ein- 
zuschränken oder  so  auszulegen,  ut  quam  minime  distent  a 
jure  communi.  sie  mussten  es  natürlich  mit  Freuden  begrüssen, 
wenn  auch  im  Bauernrechte  der  Kreis,  aus  welchem  der 
Anerbe  hervorging,  grundsätzlich  sich  vom  gewöhnlichen  Erben- 
kreise nicht  unterschied.178) 


keitsrücksichten.  Denn  diese  Verhältnisse  waren  von  Grund  aus  verschieden 
geworden,  hätten  also  nie  und  nimmer  eine  gleiche  Entwicklung  hervor- 
rufen  köunen. 

17B)  Dass  der  Kreis  der  Erben,  von  denen  einer  Anerbe  wird,  durch 
die  allgemeinen  Erbrechtsregeln  bestimmt  wird,  dafür  treten  ein : Grefe 
§ 63  (S.  215  ff.  Bd.  II);  Steinacker  S.  540  ff.;  Scholz  S.  95  f.  Ein  Erb- 
rechtgeben insbesondere  1)  Den  Collateralen:  Stobbe  Bd.  V.  S.  375  ff. 
Pfeiffer  Bd.  1 S.  209  ff.  (doch  will  er  das  Collateralenerbrecbt  nur  als  eiue 
particulare,  wenn  auch  sehr  verbreitete  Reehtsbildung  aufgefasst  wissen; 
für  Schanmbnrg  leugnet  er  es  Bd.  11  8.  4W0);  Gicfe  a.  a.  0.  (nur  für  die 
freien  Bauern  gesteht  er  es  zu.  nicht  bei  Eigenleuten  Bd.  I S.  352  ff.), 
Frank  (8.  4 n.  5)  Struckmann  (doch  nur  solchen  Collateralen,  die  auf  der 
.Stätte  geboren  sind)  Beitrag  IX;  Führer  S.  65  (doch  nur  den  Geschwistern, 
den  übrigen  Collateralen  nicht).  2)  den  Ascendenten:  Stobbe  a.  a.  O. 

Grefe  a.  a.  0.;  Frank  S.  4 u.  5:  Runde,  I<eibzucht  S.  467;  Führer  S.  55. 

Durch  diese  Durchführung  der  gemeinrechtlichen  Erbfolge  geschieht 
es,  dass  Eltern  und  Geschwister  des  verstorbenen  Hofbesitzers  gemein- 
schaftlich in  den  Kreis  treten,  aus  dem  der  Anerbe  hervorgehen  muss,  denn 
nach  gemeinem  Rechte  sind  beide  gleich  nahe  Erben.  Es  ist  aber  klar, 
dass  nur  entweder  einer  der  Eltern  oder  einer  der  Geschwister  Anerbe  sein 
kann,  mithin  zwischen  dieseu  Kreisen  ein  Vorrang  bestehen  muss. 


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188 


Die  Gefahr,  welcher  dieser  Lehre  dadurch  drohte,  dass 
man  auf  das  Bauernrecht  lehnrechtliche  Grundsätze  anzuwenden 
begann  und  nur  noch  Nachkommen  des  primus  acquirens 
zur  Erbfolge  zulassen  wollte,  diese  Gefahr  ist,  wie  oben  gezeigt 
(§  13  bei  Anm.  136  und  137),  ja  bald  überwunden  worden. 

Ist  sonach  für  die  Begrenzung  des  Erbenkreises,  dem  der 
Anerbe  entnommen  wird,  das  jeweilige  bürgerliche  Recht 
entscheidend  — für  die  Gebiete  gemeinen  Rechts  also  die 
römische  Erbordnung  — , so  bringen  doch  einige  deutsch- 
rechtliche, von  den  Bauern  treu  bewahrte  Grundsätze  einige 
kleine  Aendernngen  hervor. 

Zunächst  ist  der  Makel,  der  im  alten,  deutschen  Rechte  der 
unehelichen  Geburt  anhaftete,  im  Bauernrechte  noch  in  weitem 
Umfange  aufrecht  erhalten.  Wie  bekannt,  waren  uneheliche 


Dieser  Vorrang  fiel  nun  den  Geschwistern  zu.  aus  veischiedener, 
Grüudeu. 

Schon  im  alten  Laudrcchte,  z.  B.  in  Friesland,  findet  sich  ein  Vorrang 
der  Geschwister  vor  den  Eltern  und  weiteren  Ascendenten  (vgl.  v.  Amin 
a.  a.  O.).  Im  Anerbenrechte  musste  er  noch  mehr  hervortreten.  Wenn  der 
Sohn  ein  Gut  hinterliess,  dessen  Beerbung  durch  Eltern  und  Geschwister 
überhaupt  in  Frage  kommen  konnte,  so  musste  er  sich  von  ersteren  durch 
Altentheilsvertrag  vorher  wirtschaftlich  abgesondert  haben,  denn  sonst 
war  er  nicht  der  Besitzer  des  Gutes.  Nun  zog  sich  der  Bauer  aufs  Alten- 
teil aber  erst  zurück,  wenn  er  das  Gut  nicht  mehr  ordentlich  bewirtschaften 
konnte;  wenigstens  wurde  dies  vom  Rechte,  da  cs  gcwiilmlich  zutraf  oder 
zntreffen  sollte,  präsupponirt.  Tüchtigkeit  war  aber  eine  nothwendigo  Eigen- 
schaft des  Anerben  (vgl.  § 28).  Wegen  der  durch  den  Zug  aufs  Altenteil  von 
ihm  selbst  constatirten  Unfähigkeit  schloss  man  deshalb  den  Vater  vom 
Erbe  des  Sohnes  wenn  nicht  schlechthin,  so  doch  in  Concurrenz  mit  den 
Geschwistern  aus.  Aus  dem  gleichen  Grunde  mussten  Geschwister  auch 
weiteren  Ascendenten  Vorgehen.  Ob  auch  andere  Oollateralen  als  Geschwister 
den  gleichen  Vorzug  geniessen,  darüber  schwanken  die  Quellen.  Ein  Grund, 
die  sonst  angenommene  Erbfolge  auch  noch  in  dieser  weiteren  Weise  zu 
durchbrechen,  Hegt  nicht  vor.  Es  bleibt  deshalb  richtig,  wenu  wir  sagten, 
es  gelte  gemeine  Erbfolge.  Nur  haben  in  der  zweiten  Klasse  Geschwister 
vor  Asceudenten  gewohnheitsrechtlich  den  Vorrang  zum  Besitze  des  Gutes, 
auf  dem  sie  geboren  sind.  — So  auch  Stobbe  a.  a.  O.;  Runde  S.  468  ff. 
(mit  eigenartiger,  geistreicher  Begründung),  Frnuk  a.  a.  O.;  Scholz  S.  95 
und  96.  — Anderer  Meinung  Grefe  a.  a.  0.  — Von  den  Höfegosetzen  folgen 
unserer  Ansicht  das  schlesische  uud  die  Gesetze  für  Oldenburg  und  für 
Lübeck.  (Frommhold  S.  44). 


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189 


Kinder  ehemals  als  rechtlos  gänzlich  erbunfähig.  Dieser  Maugel 
konnte  auch  in  keiner  Weise  gehoben  werden,  da  die  römischen 
Legitimationen  bei  uns  unbekannt  waren.  Sie  drangen  auch 
in's  Bauernrecht  nur  sehr  schwer  ein,  so  dass  noch  in  unserem 
Jahrhunderte  es  an  Rechtslehrern  nicht  gefehlt  hat,  welche 
uneheliche  Kinder  als  Anerben  überhaupt  nicht  zulassen  wollen. 
Indess,  für  eine  Art  der  unehelichen  Kinder  entspricht  dies 
sicher  nicht  mehr  den  heutigen  Zuständen.  Die  legitimatio  per 
subsequens  matrimonium  ist  so  tief  in  das  Rechtsgefühl  unseres 
Volkes  eingedrungen,  dass  wir  nicht  anstehen,  auch  im  Bauern- 
rechte diese  Kinder  den  ehelichen  gleichzustellen  und  auch  sie 
in  den  Kreis,  aus  dem  der  Anerbe  hervorgeht,  einzureihen. 

Von  den  anderen  römischen  und  modernen  Legitimations- 
arten  kaun  man  ein  Gleiches  nicht  behaupten;  sie  sind  dem 
Volke  und  namentlich  dem  Bauernvolke  stets  innerlich  fremd 
geblieben.  In  richtiger  Weise  theilen  denn  auch  die  Höfe- 
gesetze unseren  Standpunkt.1'4') 

Ob  den  unehelichen  Kindern,  wenn  andere  Erben  mangeln, 
ein  subsidiäres  Erbrecht  zusteht,  ist  streitig.  Nach  heutigen 
Anschauungen  dürfte  es  ihnen  wohl,  wie  auch  die  Höfegesetze 
annehmen,  zu  gewähren  sein.181) 


m)  So  auch  Stobbe  liil.  V.  S.  375  ff.,  Führer  (S.  56  und  60).  — Weiter 
gehen  und  gebeu  schlechthin  gemeinrechtliche  Erbfähigkeit  den  unehelichen 
Kindern:  Scholz  S.  OS,  ferner  das  neue  österreichische  Gesetz,  welches  alle 
Legitimirten  den  ehelichen  Kindern  gleichstellt  (vgl.  Harchet,  Kap.  VII).  — 
Auf  dem  engeren  altdeutschen,  alle  Unehelichen  ausschliessenden  Stand- 
punkte verharren  Grefe  § 63,  Busch  S.  125;  Frommhold  S.  38.  — Vgl.  auch 
die  Stelle  von  Frantzkius  (S.  125),  welche  unseie  Behauptung,  die  legitimati 
per  subsequens  matrimonium  seien  gewohnbeitsrechtlich  mit  der  ehelichen 
Geburt  gleichgestellt,  belegt  und  zeigt,  dass  die  von  uns  als  modern  ver- 
tretenen Anschauungen  schon  im  18.  Jahrhuudert  dem  Bechtsgeftihl  ent- 
sprachen. Frantzkius  lehrt  genau  wie  wir: 

„De  legitimatis  per  subsequens  matrimonium  maximo  dubitatur.  . . . 
Idem  tarnen  esse  quod  iu  legitiinis  usus  judiciorum  et  observautia 
obtinuit“ 

„Legitimati  per  rcscriptum  principis  a feudali  successione  plane  arcentur, 
ab  emphyteuseos  et  censuali  nou  aliter  quam  si  alii  legitime  uati  extent“. 

ai)  Vgl.  Frommhold  S.  39  und  die  Stelle  von  Frantzkius  in  der  vorigen 
Anmerkung. 


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190 


Das  eigentbümliche  bauemreclitliche  Institut  der  Interims- 
wirtbscb&ft  legt  ferner  die  Frage  nahe,  inwieweit  die  Kinder 
eines  solchen  Interimswirths  Anerben  werden  können.  Dazu 
muss  man  zunächst  wissen,  welches  Recht  der  Interimswirth 
selbst  an  dem  Gute  hat. 

Natur  und  Entstehung  der  Interimswirthscliaft  sind  überaus 
dunkel.  Der  Streit  wird  sich  aber  auch  hier  ähnlich  schlichten 
lassen,  wie  der  über  die  Entstehung  des  Anerbenrechts.  Es 
gilt  auch  hier  zu  bedenken,  dass  selten  ein  grosses  Rechts- 
institut aus  einer  Wurzel  entstanden  ist. 

So  beruht  denn  auch  die  Interimswirthschaft  zunächst  auf 
der  Stellung  des  altdeutschen  Vormundes,  der  das  Mündelgut 
in  seine  eigene  Gewere  nahm,  im  eigenen  Namen  darüber  ver- 
fügte, und  Früchte  und  Nutzungen  sich  selbst  erwarb.182)  Aber 
auch  aus  den  Rechtsverhältnissen  des  ehelichen  Güterrechts 
entwickelte  sich  eine  andere  Art  Interimswirthschaft. 

Die  überlebende  Wittwe  hatte  zunächst  neben  ihren  mit 
dem  verstorbenen  Manne  erzeugten  Kindern  den  Beisitz  auf 
dem  Gute,  bis  zu  ihrer  Wiederverlieirathung,  und  zwar  unter 
allen  Güterreehtssystemen.1Si)  Verheirathete  sie  sich  aber 
wieder,  so  musste  sie  sich  mit  ihren  Kindern  auseinandersetzen. 
In  den  Gebieten  der  Gütergemeinschaft  hatte  sie  dann  die 
Hälfte  oder  einen  bedeutenden  Tlieil  des  Gutes  zu  beanspruchen. 
Sie  hätte  deshalb  bei  der  naturalen  Untheibarkeit  an  sich 
das  Gut  ganz  übernehmen  und  den  Kindern  ihren  Autheil  in 
Geldc  auszahlen  können.  Allein  dem  widersprach  das  mit  der 
Gütergemeinschaft  so  überaus  gewöhnlich  verknüpfte  Ver- 


133J  Darauf  hat  zuerst  und  mit  ausgezeichneter  quelleumässiger  Be- 
gründung Pufendorf  hingewiesen  in  seinen  Observationes  Bd.  I S.  138  obs. 
XLVII.  — lieber  die  Stellung  des  altdeutschen  Vormundes  vgl.  auch 
lieusler,  Institutionen  Bd.  II.  — Eine  der  ältesten  Stellen  über  diese  vor- 
mundschaftliche Interimswirthschaft  stobt  bei  Grimm  I,  100.  „It  och.  das 
der  man,  der  uf  dem  hof  ist,  kiud  lät,  die  dem  bof  und  dem  gut  nüt  ge 
raten  rnugent,  hent  die  kint  ein  friind,  der  mag  wol  uf  den  hof  sitzen  umi> 
die  zins  und  umb  dienst,  die  von  dem  hof  gänd,  untz  uf  die  stund  dass  die 
kind  dem  gut  geräteu  rnugent  (Andelfingen  im  Züricher  Land).  Vgl.  auch 
Grimm  III,  52  (Hattnegge  in  Westfalen). 

iej)  Vgl.  lieusler  Institutionen  Bd.  II  und  unsere  Ausführungen  weiter 
unten.  — Ueberaus  zahlreich  sind  hierüber  auch  die  Stellen  der  Weisthüwer. 


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101 


fangenschaftsrecht;  und  wo  dies  nicht  dazwischen  trat,  war  der 
Mangel  an  Geld  in  jenen  kapitalarmen  Zeiten  ein  gebieterisches 
Hinderniss.  So  wurde  man  mit  Noth Wendigkeit  dazu  geführt, 
da  das  Gut  selbst  weder  in  natura  noch  civiliter  getheilt  werden 
konnte,  die  Nutzungszeit  zu  theilen  und  das  Gut  erst  dem  Einen, 
dann  dem  Anderen  zu  Eigenthum  zuzusprechen.  Als  Zeitgrenze 
ergab  sich  von  selbst  der  Grossjährigkeitstermin  des  Auerben 
aus  erster  Ehe.  Lag  er  zu  nahe,  so  setzte  man  die  Nutzungs- 
zeit anderweit  fest  und  verwilligte  der  Wittwe  „Mahljahre“. 
Während  dieser  nahm  sie,  wie  gesagt,  das  ganze  Gut  in  volles 
Eigenthum,  uud  damit  wurde  auch  ihr  aufheirathender  Mann 
zum  wahren  Eigenthümer  des  Bauernhofes,  denn  es  handelt  sich 
um  Gebiete  der  Gütergemeinschaft.1'44) 

Das  ist  die  Entstehungsart  der  Interimswirthschaft  dort, 
wo  die  Wittwe  das  Recht  hat,  ihren  zweiten  Gatten  zum 
Interimswirth  zu  machen. 

Diese  beiden  Arten  der  Interimswirthschaft  wuchsen  all- 
mählich zusammen.  Es  mag  das  System  der  Mahljahre  bei  der 
Auseinandersetzung  beliebt  worden  sein,  auch  in  Gegenden,  wo 
keine  Gütergemeinschaft  galt.  Damit  löste  sich  dieses  vom 
Boden  der  Gütergemeinschaft  los  und  stellte  sich  auf  eigene 
Füsse.  Es  hat  ferner  stets  eine  grosse  Verwandschaft  zwischen 
dem  Vormundschafts-  und  dem  ehelichen  Güterrechte  bestanden, 
wie  dies  ja  im  Ssp.  mit  seiner  ehemännlichen  „Gewere  zu 
rechter  Vormundschaft“  so  deutlich  hervortritt. m>)  Beide  Systeme 
der  Interimswirthschaft  stimmten  ja  auch  in  dem  Cardinalpunkte 
überein,  dass  der  aufziehende  Wirth,  wenn  auch  nur  auf  Zeit, 
vollständiger  Eigenthümer  des  Grundstücks  wird,  der  nur  dadurch 
beschränkt  ist,  dass  er  nicht  ohne  Noth  das  Gut  dem  wartenden 
Anerben  entziehen  darf. 

Alles  dies  vernichtete  die  Grenzlinie  zwischen  beiden 
Instituten  und  förderte  ihre  Verwachsung.  Diese  Verwachsung 
nun  konnte  nur  in  der  Richtung  erfolgen,  dass  die  vormund- 


“•)  Diese  Art  der  Interimswirthschaft  hat  Wigand  allein  im  Auge. 
Kr  begeht  aber  den  Fehler  zu  übersehen,  dass  diese  Art  nicht  überall  passt, 
namentlich  nicht  da,  wo  gar  keine  Wittwe  da  ist  und  wo  doch  eine  In- 
terimswirthschaft eingesetzt  wird. 

issj  Vgl.  auch  Heusler  Bd.  II  (über  eheliches  Güterrecht). 


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192 


schaftliche  Interiniswirthscliaft  Eigenschaften  des  Institutes  der 
Mahljahre  übernahm.  Denn  erstens  überwog  letzteres  Institut 
schon  räumlich  bei  weitem,  da  das  Anerbenrecht  überhaupt  sich 
vorzugsweise  in  Gegenden  der  Gütergemeinschaft  findet.  Dann 
aber  konnte  letzteres  Institut  von  der  vormundschaftlichen 
Interimswirthschaft  schon  deshalb  nichts  annehmen,  weil  es 
bereits  alle  ihre  Eigenheiten  besass. 

So  wurde  denn  von  der  Gütergemeinschaft  herübergenommen 
der  Satz,  dass  der  Interimswirth,  wie  jeder  andere  Eigenthiimer, 
das,  was  er  in  den  Hof  verwendet  hat,  nicht  wieder  zurück- 
verlangen darf.  Es  wurde  aber  besonders,  was  hier  interessirt, 
festgestcllt,  dass  seine  Kinder  erben.  Das  konnte  bei  einem 
vormundschaftlichen  Interimswirth  nicht  der  Fall  sein;  bei 
einem  gütergemeinschaftlichen  lag  kein  Grund  vor,  die  Kinder 
auszuschliessen,  wenn  nur  vorher  der  Verpflichtung  genügt  war, 
dass  das  Gut  den  Kindern,  mit  denen  der  Interimswirth  und 
seine  Frau  sich  auseinandergesetzt  hatten,  nicht  entzogen  werden 
darf.  Deshalb  können  Kinder  eines  Interimswirths  zwar  nie 
zum  Gute  gelangen,  so  lange  ersteheliche  Kinder  und  deren 
Descendenz  da  ist;  diese  sind  näher  zum  Gute.  Fehlen  diese 
aber,  so  sind  die  Kinder  des  Interimswirth  näher,  als  die 
ferneren  Verwandten,  denn  der  Eigcnthumstitel,  den  ihr  Vater 
am  und  zum  Gute  hatte,  kommt  ihnen  zu  Statten.186) 


**•)  So  Stobbe  Bd.  II  S.  531  (allerdings  nur  für  Particularrechte.  Das 
ganze  Institut  ist  aber  eigentlich  nur  pnrticularreclitlieh).  — So  auch  Puchta 
S.  40  und  41,  uud  Wigand  Paderborn  § 81.  — Anders  Hunde,  der  auf  Grund 
seiner  Erklärung  der  Interimswirthschaft  als  einer  lediglich  vormundschaft- 
lichen Verwaltung  den  Kindern  gemeinhin  ein  Erbrecht  abspricht.  — 

Eine  eigenthUinliche  geschichtliche  Erklärung  der  Interimswirthschaft 
giebt  Struckmann.  Er  behandelt  die  Osnabrückischen  Verhältnisse  der 
Leibeigenen.  Diese  mussten  vom  Gutsherrn  mit  dem  Gute  bei  jedem  Erb- 
fall wieder  beineiert  werden.  Struekmann  erblickt  nun  in  dieser  Bemeierung 
den  einzigen  Besitztitel  der  Bauern;  das  Anerbenrecht  giebt  bei  ihm  nur 
einen  persönlichen  Anspruch  auf  diese  Bemeierung.  Nun  wurde  in  Osnabrück 
beiden  Eheleuten  der  Ilof  auf  105  Jahre  eingethan.  Folglich,  dedneirt 
Struekmann,  hatten  beide  das  Recht,  ihn  solange  zu  besitzen,  der  Bauer 
sowohl,  wie  die  ihn  überlebende  Wittwe.  Kraft  positiver  Bestimmung 
der  Eigenthumsordnung  ist  nun  der  Wittwe  die  Verpflichtung  auferlegt, 
bei  ihrer  Wiederverehelichung  auf  das  Hecht  zu  verzichten,  wofür  ihr 


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193 


Nächst  den  Kindern  des  Interimswirth  bietet  die  bauern- 
rechtliche Behandlung  der  Kinder  des  Leibzüchters  Schwierig- 
keiten. Wir  haben  gesehen,  dass  sie  im  alten  Rechte  von  der 
Erbschaft  des  Gutes,  dem  ihr  Vater  einst  vorgestandeu  hatte, 
ausgeschlossen  waren.  Denn  das  Ziehen  auf  das  Altentheil 
bedeutete  den  Bruch  der  Were  und  des  Gesammteigenthums, 
weshalb  der  ohne  weitere  Kinder  versterbende  Leibzüchter 
nicht  von  seinen  abgeschichteten  Söhnen,  sondern  vom  Gutsherrn 
beerbt  wurde.  Umgekehrt  hatten  aber  auch  er  und  seine 
spätere  Descendenz  an  dem  verlassenen  Familiengute  keinen 
Tlieil  mehr,  das  cousolidirte  vielmehr  in  der  Hand  seiner 
früheren  Kinder,  mit  denen  er  abgetheilt  war.  Das  ist 
die  Grundlage  des  alten  Satzes:  „Der  Leibzüchter  darf  nicht 

züchten.“ 

Als  nun  später  der  Erbgang  nicht  mehr  so  vollständig  von 
dem  Gedanken  des  Miteigenthums  beherrscht  wurde,  sondern 
sich  zu  einem  selbstständigen  Institut  auswuchs,  verlor  jene  Regel 
ihre  innere  Berechtigung,  gleichwie  jetzt  der  Leibzüchter  auch 
umgekehrt  von  seinen  bereits  ausgeschiedenen  Kindern  beerbt 
wurde.  (Vgl.  oben  § 10  a.  E.  über  das  System  des  ledigen 
Anfalls.) 

Man  hat  versucht,  der  Regel  einen  neuen,  gemeinrechtlichen 
Halt  zu  geben,  indem  man  sagte : Der  Bauer  hat  beim  Be- 

geben auf  die  Leibzucht  einen  Gutsübergabevertrag  geschlossen. 
Damit  hat  er  sich  des  Gutes  entäussert.  Folglich  gehört  es 
bei  seinem  Tode  gar  nicht  mehr  zu  seinem  Vermögen;  die 


und  ihrem  Ehemanue  der  Hof  dann  auf  Maljahre  eingethan  wird.  Heide 
sind  aber  dann  solange  volle  Herren  des  Hofes,  denn  er  ist  ihnen 
ja  geliehen.  Sie  unterscheiden  sich  von  gewöhnlichen  Colonen  nur 
durch  die  Begrenzung  ihrer  Besitzzeit.  Ihre  Kinder  stehen  deshalb  — 
abgesehen  davon,  dass  nach  Massgabe  des  Maljahrevertrages  den  erst- 
ehelichen Kindern  der  Wittwe  der  Vortritt  gebührt  — genau  wie  alle 
Bauernkinder. 

Diese  Theorie  mag  für  die  Osnabrückischen  bäuerlichen  Verhältnisse 
die  auf  Leibeigenschaft,  beruhten,  gewisse  Berechtigung  gehabt  haben.  Für 
das  gemeine  Recht  trifft  sie  nicht  zu.  Denn  in  ihm  ist  der  Besitztitel  stets 
das  Anerbenrecht,  dem  gegenüber  die  Bemeierung,  auch  wenn  sie  immer 
wieder  nachgesucht  werden  muss,  gerade  wie  die  Lehusemeuerung  nur  eine 
Form  bildet. 

Dultsig,  Grunderbrecht.  13 


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194 


Kinder  des  Leibzüchters  können  deshalb  nie  hineinerben. 
(Vgl.  Busch  S.  125.) 

Diese  Auffassung  übersieht  den  rechtlichen  Charakter  des 
Uebergabsveitrages,  der  nichts  anders  denn  eine  voraus- 
genommene  Regelung  der  Erbfolge  ist.187)  Der  Abziehende  will 

im)  So  Stobbe  u.  a.  — Der  Widerlegung  dieser  Ansicht  ist  das  Buch 
von  Puclita  gewidmet.  Der  Verfasser  desselben  war  Amtsrichter  in  der 
Gegend  von  Bayreuth  und  hatte  eine  grosso  Praxis  in  Gutsabtretungs- 
verträgen, die  er  als  Richter  aufzunehmen  hatte  und  die  er  jährlich  auf 
wenigstens  100  beziffert.  Er  meint,  die  successio  autecipata  sei  ein  unklarer 
Begriff  und  widerspreche  den  Grundlehren  des  Erbrechts;  es  sei  überhaupt 
nicht  angebracht,  .über  einfache  Verhältnisse  den  Dämmerschatten  alt- 
gennanischer  Wälder  auszubreiten“ ; die  Gutsabtretung  sei  einfach  ein  Kauf,  wie 
sie  auch  meist  sowohl  in  den  Gesetzen,  wie  von  den  Parteien  genannt  werde.  Dem 
kann  man  entgegenhalteu,  was  Puchta  zur  Widerlegung  der  Gegner  anführt. 
dass  es  auf  den  gebrauchten  Namen  nicht  ankommt,  sondern  dass  die 
Sache  entscheidet,  dass  „als  Recht  unter  den  Vertragschliessenden  gilt, 
was  gehandelt,  nicht,  was  unangemessen  mit  Worten  ausgedrückt  ist.“ 
(Puchta  S.  23).  Im  Uebrigen  beweist  Verfasser,  der  in  theoretischen  Er- 
ürterungen  nicht  eben  stark  ist,  weiter  nichts,  als  dass  die  Gutsübergabe- 
verträge von  den  aufnehmenden  Beamten  als  Kauf  behandelt  und  registrirt 
wurden.  — Es  soll  nun  garnicht  abgestritten  werden,  dass  die  Gutsabtretung 
sich  sehr  wohl  iu  der  Form  des  Kaufes  verwirklichen  lässt  und  oft  ver- 
wirklicht wird.  Aber  ihr  regelmässiger  Charakter  ist  das  nicht.  Wie 
wenig  aber  an  der  angeblichen  Unvereinbarkeit  einer  successio  antecipata 
mit  den  Gruudlehreu  des  Erbrechts  ist,  ergiebt  sich  aus  folgender  Erwägung: 
Der  scheinbar  widersprechende  Satz  ist  lediglich:  „viventis  nulla  hereditas“. 
Diesem  wird  jedoch  hier  gar  nicht  widersprochen.  Denn  eine  Erbschaft  ist  auch 
hier  erst  vorhanden,  wenn  der  Altsitzer  stirbt.  Das  schliesst  aber  nicht  aus, 
dass  er  sich  schon  vorher  selbst  freiwillig  als  tot  behandeln  lässt  und 
die  künftigen  Folgeu  seines  Todes  durch  ihre  sofortige  Verwirklichung  am 
sichersten  regelt.  Dass  das  iu  wohlgeordneten  Rechtssystemen  möglich  ist, 
beweist  das  früher  bekannte  Institut  des  bürgerlichen  Todes,  wo  ja  anch 
ein  Lebender  als  tot  behandelt  wurde  und  zwar  endgiltig.  Hier  wird  er 
doch  nur  soweit  als  tot  behandelt,  als  es  der  nächste  Zweck,  die  Sicherung 
der  Gutsnachfolge,  unbedingt  erfordert,  Uebrigens  ist  die  ganze  Regel 
„viventis  nulla  hereditas“  nur  ein  begrifflicher  und  kein  Rechtssatz.  Gegen- 
über der  Gestaltung  des  positiven  Rechts,  welches  bei  der  Gutsabgabe  eine 
Beerbung  bei  Lebzeiten  herbeiführt,  kauu  er  deshalb  nicht  ins  Gewicht 
fallen.  Vielmehr  müssen  dann  die  Begriffe  nach  der  positiven  Rechtslage 
umgestaltet  werden,  was  aber,  wie  oben  gezeigt,  gar  nicht  einmal  uüthig 
ist,  da  der  Satz  nur  die  unfreiwillige  Beerbung  bei  lebendigem  Leibe  im 
Auge  hat. 

Leber  den  Vergleich  des  Auszugsvertrages  mit  dem  bürgerlichen  Tode 
Bielie  auch  Busch  S.  105  ff. 


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195 


die  Folgen  seines  künftigen  Todesfalles  bestimmen,  und  damit 
dieser  auch  ja  ganz  nach  seinen  Wünschen  behandelt  werde 
und  sich  Alles  allmählich  in  den  neuen  Zustand  einlebe, 
verwirklicht  er  schon  jetzt  seine  Weisungen  und  giebt  schon 
jetzt  dem  künftigen  Erben  die  Zügel  in  die  Hand.  Bei  dieser 
Absicht  kann  es  nun  nie  in  seinem  Sinne  liegen,  Kinder,  die 
ihm  noch  geboren  werden,  auf  die. Strasse  zu  setzen.  Dass  er 
sie  in  dem  Uebergabs vertrage  nicht  erwähnt,  ist  für  solches 
anväterliches  Vornehmen  kein  Zeichen,  rührt  vielmehr  einfach 
daher,  dass  sie  noch  nicht  vorhanden  sind.  Nur  das  Eine  will 
der  Auszügler,  dass  der  von  ihm  designirte  Gutsübernehmer  auf 
alle  Fälle  das  Gut  erhalte,  während  seine  Geschwister,  und  zwar 
sänuntliche,  auf  Abfindungen  angewiesen  werden.  Mindestens 
eine  solche  wird  man  deshalb  auch  den  Altsitzerkindern 
zubilligen  müssen.  Sollte  aber  der  Gutsübernehmer  noch  vor  dem 
Leibzüchter  sterben  und  dann  nach  Bauernrecht  (vgl.  Anm.  179) 
seine  Geschwister  zum  Hofe  gelangen,  so  ist  kein  Grund,  aus 
deren  Kreise  die  Altsitzerkinder  auszuschliessen,  da  nicht  an- 
genommen werden  kann,  dass  der  Auszügler  sie  durch  den 
Uebergabs  vertrag  für  diesen  Fall  ausschliessen  wollte.  Die 
Leibzüchterkinder  haben  deshalb,  ausser  der  ihnen  stets  ge- 
bührenden Abfindung,  gleichwie  die  bereits  Abgefundenen  hin- 
sichtlich des  Natural besitzes  des  Gutes  ein  Erbrecht  auf  den 
ledigen  Anfall. 

Verwickelter  wird  die  Sachlage,  wenn  die  Leibzüchterkiuder 
erst  aus  einer  auf  der  Leibzucht  geschlossenen  Ehe  stammen. 
Das  ist  praktisch  nur  schwer  möglich,  wenn  der  abtretende 
Bauer  auf  dem  Gute  geboren  war  und  es  selbst  durch  Erbgang 
gewonnen  hatte.  Wenn  es  hier  Vorkommen  sollte,  so  würde 
der  Fall  keine  Besonderheiten  aufweisen.  Gewöhnlich  dagegen 
dürften  Ehen  auf  der  Leibzucht  nur  dann  geschlossen  werden, 
wenn  der  Leibzüchter  lediglich  als  Interimswirth  den  Hof 
besessen  hatte,  weil  er  ihn  dann  in  noch  jungen,  kräftigen 
Jahren  abgegeben  haben  kann,  in  denen  eine  zweite  Ver- 
ehelichung weniger  ausgeschlossen  scheint.  Die  Frage  fliesst 
also  praktisch  mit  derjenigen  zusammen,  was  geschieht,  wenn 
die  Altsitzerkiuder  zugleich  Kinder  eines  Interimswirths  sind. 

Ist  dann  die  Ehe,  der  sie  entstammen,  nicht  erst  auf  der 
Leibzucht  geschlossen,  so  können  wir  nach  unseren  vorstehenden 

13* 


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196 


Ausführungen  ihnen  eine  Abfindung  und  ein  Erbrecht  auf  den 
ledigen  Anfall  nicht  verweigern;  denn  sie  sind  dann  Kinder  der 
Mutter  bezw,  des  Vaters,  die  selbst  einen  Eigenthumsanspruch 
am  Gute  hatten,  der  auch  den  Kindern  zu  Gute  kommen  muss.  Ent- 
stammen sie  aber  einer  erst  auf  der  Leibzucht  geschlossenen  Ehe, 
so  erhalten  sie  nichts,  denn  ihnen  fehlt  jegliche  Beziehung  zu  dem 
Gute.  Ihr  einer  parens  hat  £s  nie  besessen,  der  andere  eine  Zeit 
lang,  aber  nur  auf  Grund  des  gütergemeinschaftliehen  Mit- 
eigenthums am  Gute  seines  ersten  Ehegemahls,  dem  es  eigentlich 
gehörte;  mit  dem  Abtritt  auf  die  Leibzncht,  spätestens  aber 
mit  dem  Tode  jenes  Gemahls,  ist  jedoch  auch  dieses  Baud 
gelöst.  Es  kommt  hinzu,  dass  hier  die  Erwägungen  nicht 
zutreft'en,  welche  wir  oben  über  den  vermuthlichen  Willen  beim 
Abgänge  auf  das  Altcntheil  angestellt  haben;  denn  hier  handelt 
es  sich  nicht,  wie  dort,  um  einen  freiwilligen,  in  Vorausnahme 
der  Erbschaft  erfolgten  Rücktritt.  Vielmehr  ist  es  hier  durchaus 
richtig,  zu  sagen:  Das  Gut  ist  gar  nicht  mehr  in  der  Erbmasse 
des  Leibzüchters,  folglich  gelangen  seine  nachgeborenen  Kinder 
auch  niemals  dazu.1*18) 

Wie  sich  nach  den  Höferechten  der  Kreis  abgrenzt,  aus 
dem  der  Auerbc  entnommen  wird,  ist  theilweise  schon  berührt 
worden.  Es  entscheidet  anch  hier  die  gemeinrechtliche  Erb- 
folge, jedoch  mit  der  Abweichung  in  einigen  Höfgesetzen,  dass 
die  Geschwister  näher  zum  Gute  sind  als  die  Ascendenten. 
Auch  die  uneheliche  Geburt  wird,  wie  wir  sahen,  durchweg 
noch  zurückgesetzt.  Eine  Zurücksetzung  der  Leibzüchter- 
kinder, die  nach  uns  ja  schon  im  gemeinen  Rechte  überwunden 
ist,  wird  nicht  erwähnt.  Ebenso  schweigen  die  Höfegesetze 
über  die  Stellung  der  Kinder  eines  Interimswirtes.  Sie  be- 


•**)  Ganz  unserer  Ansicht  — im  praktischen  Ergebnisse,  nicht  in  der 
Begründung  — ist  Wigand  Paderborn  § 82  und  83.  Kunde,  Leibzurbt 
S.  473  giebt  den  Altsitzerkindem  keinen  Anspruch  auf  Abfindung,  dagegen 
merkwürdiger  Weise  den  weilergehenden  auf  das  Gut  selbst,  falls  beide 
Eltern  „beweinkauft“,  d.  h.  mit  dem  Gute  bemeiert  sind,  also  in  dessen 
Besitze  waren.  Letzteres  stimmt  mit  unserer  Ausicht  über  das  Kecht  zum 
Xaturalbesitze.  — l’eber  Büschs  Ansicht  vgl.  oben  im  Text.  — l'nserer 
Ansicht  neigt  sich  zu,  bezeichnet  sie  wenigstens  als  die  sicherst«,  Struck- 
mann  S.  31*  f. 


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trachten  die  Interimswirthschaft  in  ihrem  Gebiete  wohl  als 
aufgehoben. 


§ 22. 

Damit  ist  der  Kreis  derer  festgestellt,  von  denen  einer 
Anerbe  werden  muss.  Die  Auswahl  erfolgt  zunächst  nach  dem 
Geschlechte.  Gleich  nahe  Männer  gehen  den  Weibern  vor.  Es 
ist  dies  ein  Rest  der  ehemaligen  völligen  Zurücksetzung  des 
weiblichen  Geschlechts  im  Besitze  von  Liegenschaften,  der  im 
Bauernrechte  dadurch  erhalten  worden  ist,  dass  er  der  Natur 
der  Sache  und  den  Interessen  der  Familie,  des  Gutsherrn  und 
des  Staates  in  gleicher  Weise  entsprach. 

Unter  den  gleich  nahen  Männern  entscheidet  in  einigen 
Gegenden  Deutschlands,  z.  B.  in  Hessen,  die  Auswahl  eines 
Familienraths.1*)  In  den  meisten  Gebieten  aber  giebt  das 
Lebensalter  den  Ausschlag. 

Wir  haben  gesehen,  dass  hier  Minorat  und  Majorat  an 
sich  gleich  berechtigt  sind.  Dennoch  muss  gefragt  werden, 
welches  im  Zweifel  als  das  gemeinrechtliche  zu  gelten  habe, 
obwohl  die  Frage  selten  praktisch  werden  wird,  da  hierüber 
wohl  überall  gesetzliche  oder  gewohnheitsrechtliche  Special- 
bestimmungen bestehen  werden;190)  allein  auftauchen  kann  die 
Frage  doch. 


**)  Vgl.  Enuecceras,  Ein  Höferecht  für  Hessen. 

Früher  bestand  in  weitem  Umfange  ein  Wahlrecht  der  Herrschaft ; 
vgl.  z.  11.  Pufendorf,  der  es  nur  in  Ermangelung  einer  Einigung  der  Familien- 
glieder giebt,  Ud.  IU  obs.  182:  „.  . . unus  eligendus  ost,  qui  possessor 
villicationis  exsistat  . . . Qua  in  re  si  inter  se  convenire  liberi  nequeunt, 
rnerito  penes  dominum  electio  erit  eiusque  arbitrio  unus  villicationi  praeficitur“. 
Ebenso  Busch  S.  109,  Nolteu  S.  35  u.  a. ; über  frühere  österreichische  und 
bayrische  Verhältnisse  vgl.  Grünberg  und  Fick.  Dieses  Wahlrecht  der 
Gutsherrschaft  ist,  als  in  den  Eigenheiten  der  Gutsherrlichkeit  wurzelnd, 
mit  dieser  gefallen. 

m)  Nach  dem  Gesetze  und  nach  dem  Gewohnheitsrechte  ist  die  Rechts- 
lage folgende:  Das  Minorat  gilt  gesetzlich: 

als  Vorwahlrecht  des  Jüngsten  in  den  Gebieten  Bamberger  und 
Bayreuther  Landrechts  (Gagern  S.  23  Cf.) ; ferner  in  Mittelfranken  und 
Oberfranken  (Gagern  S.  34  ff.)  in  Osnabrück  (Struckmann  S.  90  ff.)  für  die 
ehemaligen  leibeigenen  in  Hannover  (Grefe  I S.  352  ff.),  in  grossen  Theilen 
von  Brauuschweig  (Nolten  S.  20  ff.)  im  alten  Lande  Delbrück  und  den 


198 


Sie  ist  von  den  einzelnen  Rechtslehrern  überaus  verschieden 
beantwortet  worden.  Die  einen  treten  mit  Emphase  für  das 
Minorat  ein,  als  das  sich  von  selbst  ergebende,  naturgemässe 


Aemtern  Neuhans  in  Westfalen  (Wigand,  Paderborn  § 58)  nach  den  Neu- 
miinster8chen  Kirchspiels-  und  Bordesholraer  Amtsgebräuchen  (Paulseu  § 198), 
sowie  in  folgenden  weniger  zusammenhängenden  Gebieten : ln  den  Aemtern 
Seegeberg  und  Travendahl  (Panlsen  S.  544  ff.),  auf  Sylt  für  die  Festestellen 
(Panlsen  § 196),  in  den  Hannoverschen  Aemtern  Herzberg  und  Uslar  (Grefe 
II,  207  ff.)  bei  den  Scbwert-Harlingser  Hofleuteu  im  Rheinlande  (Sommer. 
Rheinland  Bd.  1 S.  307),  in  den  Hofsrechten  von  Drechen  und  von  Chor 
(Sommer,  Rheinland  Bd.  II  S.  70  und  194).  — 

Dem  stehen  als  zum  Majorat  gehörig  gegenüber  die  weiten  Gebiete 
des  bayrischen  I.andrechts  (Gageru  S.  12/14)  von  Schwaben  und  Neuburg, 
des  Schwarzwaldes  (vgl.  Motive),  von  Holstein  und  zwar  sowohl  die  Bonden- 
ais die  Festestellen  (Paulsen  S.  344  f.  und  § 196),  dos  gesammten  ehemaligen 
Fürstenthnms  Liinoburg  mit  den  Grafschaften  Hoya  und  Diepholz  (vgl.  die 
citirten  Lundesordnungen  bei  Oppermann),  der  sümmtlichcn  noch  nicht  ge- 
nannten Tbeile  Westfalens  (z.  B.  das  Amt  Boke  [Wigand,  Paderborn  § 58] 
und  die  Hofsrechte  von  Berge  nnd  Ohr  [Sommer,  Rheinland  Bd.  II  S.  70 
und  194]),  der  übrigen  Tbeile  von  Braunschweig  (Nolten  S.  20  ff.)  und  die 
Lippeschen  Lande  (Führer  S.  41  ff.).  — 

So  die  Rechtsregeln.  Praktisch  binden  sich  die  Bauern  heute  vielfach 
nicht  mehr  daran  und  greifen  den  geeignetsten  Erben  heraus,  wie  dies  Fick 
wenigstens  für  Bayern  wahrscheinlich  gemacht  hat.  Ueblich  ist  aber  auch 
hier  noch  vielfach  eine  Bevorzugung  eines  bestimmten  Sohnes  bei  der  Guts- 
übernahme, mitunter  sogar  dergestalt,  dass  ihm,  wenn  er  das  Gut  nicht 
erhült,  ein  Abstandsgeld  bewilligt  wird.  Die  Grenzen  dieses  üblichen 
Minorates  oder  Majorates  decken  sich  nicht  mit  den  oben  angeführten 
Rechtsregeln.  So  gilt  gesetzlich  das  Majorat  des  bayrischen  Landrechts  in 
Schwaben  und  Neuburg,  und  doch  findet  sich  vielfach  üblicherweise  dort 
das  Minorat,  ebenso  in  Niederbayern  im  Rotthale.  Nach  der  Ueblichkeit 
stellt  sich  das  Geltungsgebiet  des  Majorates  und  Minorates  für  Bayern,  für 
das  allein  erst  die  nöthigeu  Feststellungen  vorliegen,  wie  folgt: 

Das  Majorat  ist  üblich:  1)  Wohl  im  allgemeinen  im  Gebiete  des 
bayrischen  Landrechts  sicherlich  aus  diesem  Gebiete  in  den  Bezirken  des  alten 
Berchtesgadener  Rechts,  in  dem  oberen  Tbeile  der  oberbayrischen  Hoch- 
ebene (theilweis  mit  Abstandsgeld)  ebenso  wie  in  dem  unteren  (auch  hier 
vielfach  mit  Abstandsgeld),  in  Regensburg,  Nabburg.  Amberg,  Stadtamhof, 
Furth  und  Waldmünchen  in  der  Obcrpfulz  (in  Nabburg  mit  Gutsabstand). 

2)  Im  Gebiete  des  Salzburger  Provinzialrechts,  hier  mit  Gutsabstand. 

3)  Im  Bezirke  Burgau.  4)  Regelmässig  auch  im  Gebiete  des  Ansbacher 
Provinzialrcchts.  6)  Im  Gebiete  des  Nürnberger  Studtrechts.  6)  Aus  dem 
Gebiete  des  Bamborger  Provinzialrcchts,  das  Minorat  vorschreibt,  in 
Herzogenauraucb,  Lichtenfels  und  Weissmain.  7)  In  ganz  Unterfrauken 


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109 


und  zweckmässigere ; die  anderen  behaupten  mit  derselben  Be- 
stimmtheit das  gleiche  vom  Majorat.191)  Und  mit  diesen  Gründen 
lässt  sich  in  der  That  ebenso  gut  für  das  eine  wie  für  das 
andere  Institut  streiten.  Die  Geschichte  lehrt  unwiderleglich, 
dass  beide  gleich  naturgemäss  sind,  dass  beide  sich  von  selbst 
ergeben.  Die  Zweckmässigkeit  endlich  kann  nur  entscheiden, 
was  Recht  sein  soll,  nicht  was  Recht  ist.  Der  einzige  Stand- 
punkt, von  dem  aus  sich  die  Frage  richtig  beurtheilen  lässt,  ist 
vielmehr  derjenige,  den  wir  überhaupt  für  die  Ergründung  des 
geltenden  Rechts  empfehlen,  nämlich,  zu  untersuchen,  welches 
von  den  zur  Wahl  stehenden  Instituten  am  meisten  in  der 
Rechtsüberzeugung  des  Volkes  gegründet  ist. 

Da  wird  man  nun  doch  nicht  leugnen  können,  dass  dieser 
Vorzug  dem  Majorate  zugesprochen  werden  muss.  Das  Recht 
der  Erstgeburt,  den  Germanen  ursprünglich  fremd,  hat  sich 
vermittelst  der  Sätze  des  öffentlichen  Rechts  über  die  Thronfolge, 
seit  der  Reformation  auch  im  Anklange  an  die  in  frühester  Jugend 
dem  Denken  jedes  Einzelnen  eingeimpften  Lehren  der  Bibel 
tief  in  dem  Rechtsgefühle  des  Volkes  festgesetzt.  Es  sind 
deshalb  auch  schon  im  vorigen  Jahrhundert  Landesordnungen 
nachweislich  vom  Minorate  zum  Majorate  übergegangen.  Doch 
auch  gewohnheitsrechtlich  kommt  der  Uebergang  noch  heute 
vor.  So  z.  B.  im  Gebiete  von  Regensburg  und  in  dem  Bezirke 
Selb  in  Oberfranken  (Fick  S.  89  und  182).  Mit  Recht  haben 


und  8)  iin  Gebiete  der  ehemaligen  Abtei  Fulda,  soweit  in  diesen  beiden 
Gebieten  überhaupt  ungeteilte  Uebergabc  üblich  ist. 

(Fick  8.  69,  65,  66,  69,  85,  89,  100,  143,  174,  199,  230,  242,  243). 
Das  Minorat  ist  üblich:  1)  Aus  dem  Gebiete  des  bayrischen  Land- 
rechts im  Rotthale,  in  Thuilen  der  Oberpfalz,  nämlich  in  Cham,  Neustadt, 
Waldsassen,  Tirschenreuth,  Eschenbach,  Parsberg,  Sulzbach  und  Woiden 
(überall  mit  Abstandsgeld).  2)  Im  Allgäu  (doch  nicht  mehr  sehr  fest). 
3)  In  Mittel-  und  Oberfranken  im  Gebiete  des  Bayreuther  Rechts  (vielfach 
mit  Abstandsgeld).  4)  Im  Allgemeinen  auch  im  Bezirke  des  Bamberger 
Landrechts  (theilweis  mit  Abstandsgeld). 

(Fick  S.  74,  85,  89,  106,  112,  182,  199). 
m)  Für  das  Minorat  treten  namentlich  ein  Nolten,  Pacht»,  Gagern. 
Für  das  Majorat  Frommhold,  Gierke  und  die  Motive  zum  ersten  Ein- 
führungsgesetze des  b.  Ges.  B. 


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200 


deshalb  auch  die  neuen  Höfegesetze  überall  das  Majorat,  zun 
Theil  sogar  die  Primogenitur  auf  den  Schild  erhoben.1*-') 

Inwieweit  die  Auswahl  auch  durch  die  Abstammung  ans 
verschiedenen  Ehen,  von  einem  Interimswirth  oder  Leibzüchter 
bedingt  wird,  haben  wir  schon  gesehen.  Wir  haben  festgestellt, 
dass  die  Kinder  des  Bauern  näher  zum  Hole  sind,  als  die 
Kinder  des  Interimswirthes  und  Leibzüchters.  Diese  Tliat- 
sache 193)  bildet  die  Grundlage  zu  dem  Satze:  „Der,  so  auf  dem 
erbe  geboren,  erbet  das  erbe.1*1)  Der  Satz  greift  aber  weiter. 
Er  bezieht  sich  zunächst  auch  auf  die  zugebrachten  Kinder, 
wenn  ein  Elterntheil,  der  auf  den  Hof  heirathet,  schon  aus 
einer  früheren  Ehe  Kinder  hat.  Dass  diese  Kinder  nicht  zum 
Gute  gelangen  können,  ist  klar;  denn  dieses  gehört  zum  Ver- 
mögen des  Stiefvaters  bezw.  der  Stiefmutter,  gegen  die  sie 
mangels  jeglicher  Bluts-Ver wandschaft  keinerlei  Erbrecht  haben. 
Allein  das  angezogeue  Weisthum  dehnt  die  Regel  auch  auf  den 
Fall  aus,  wo  die  Eheleute  oder  einer  derselben  in  währender 
Ehe  ein  Gut  erwerben.  Hier  fallt  das  Gut  in  das  Vermögen 
eines  parens,  gegen  welchen  den  vor  Erwerb  des  Gutes  ge- 
borenen Kindern  ein  Erbrecht  zweifellos  gleicherweise  wie  den 
später  geborenen  zusteht.  Jene  Kinder  haben  deshalb  eben- 
falls ein  Recht  au  dem  Gute,  und  wenigstens  Abfindung  wird 
man  ihnen  zubilligen  müssen;  diese  verbietet  auch  das  Weisthum 
gar  nicht. ly:')  Aber  auch  das  Recht  zum  Natural  besitze  des 


,92)  Auch  räumlich  iiborwiegt  schon  jetzt,  sowohl  im  Gesetz  wie  in  der 
Hebung  weitaus  das  Majorat,  wie  aus  unserer  obigen  Zusammenstellung 
ersichtlich.  Vgl.  auch  Motive  zu  Art.  Sii  des  ersten  E.  G. 

1!ö)  In  diesem  Sinne  sagen  auch  viele  Schriftsteller  (Steinacker. 
Frommhold,  Führer,  Wigand)  ersteheliche  Kinder  haben  vor  zweiteheliches 
deu  Vorzug.  Das  bezieht  sich  nur  auf  die  Kinder  des  Iuterimswirths  und 
Leibzüchters,  nicht  darauf,  wenn  der  Hauer  selbst  eine  zweite  Ehe  scbliesst 
(Vgl.  auch  Struckmann  S.  tto  ff.  und  Pfeiffer  Dd.  l S.  210  ft'.). 

,,J<)  Weisthum  von  Rietberg  (.zwischen  Paderborn,  Münster  und  Lippe 
an  der  Ems): 

§ 28.  „Wann  zwei  eheleute,  die  kiuder  haben,  auf  ein  erbe 
kommen  und  von  demselben  noch  mehr  kiuder  auf  dem  erbe  geboren  werdet, 
ob  in  solchem  falle  das  erb  die  kiuder  so  vorhero,  oder  aber  die,  so  auf 
dem  erbe  geboren,  erben  sollen?  Der  so  auf  dem  erbe  geboren  erbet 
das  erbe “. 

'*)  Denn  es  handelt  uur  von  dem  Rechte  auf  den  Xaturalbesitz  dos 
Gutes,  nicht  von  dem  Rechte  auf  Abiiudung. 


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201 


Hofes  wird  ihnen  ebenso  wie  den  auf  dem  Hofe  geborenen 
Kindern  zu  gewähren  sein.  In  früheren  Jahrhunderten  war  es 
allerdings  eine  weitverbreitete  Rechtsanschauung,  dass  Güter 
und  Aemter  des  Vaters  demjenigen  Sohne,  der  das  Licht  er- 
blickte, als  der  Vater  jene  schon  besass,  eher  gebührten  denn 
dem  zuvor  entsprossenen.  Lediglich  auf  diesen  Rechtsbrauch 
stützte  sich  ja  Otto's  des  Grossen  Bruder  Heinrich  bei  seinen 
Emitürungen;  er  glaubte  der  des  Königsamtes  Würdigere  zu 
sein,  da  seines  Bruders  Wiege  nicht  wie  die  seinige  schon 
unter  einem  königlichen  Dache  gestanden  hatte.  Allein  diese 
Rechtsanschauung,  die  ja  schon  damals  nicht  allgemein  durch- 
drang, ist  uns  heute  völlig  fremd  geworden.  Wir  erblicken  in 
der  früheren  oder  späteren  Geburt  lediglich  einen  Zufall,  der 
keinerlei  Verdienst  oder  Nachtheil  für  den  einen  oder  anderen 
begründen  kanu.  Wenn  wir  deshalb  auch  sonst  den  Satz,  „Der 
so  auf  dem  erbe  geboren,  erbet  das  erbe“  aufrecht  erhalten,  so 
nehmen  wir  doch  von  seiner  Geltung  gerade  deu  im  Weisthum 
gedachten  Fall  aus. 

Die  Reihenfolge,  in  welcher  alle  diese  Auswahlregeln  in 
Anwendung  kommen,  ist,  wie  sich  aus  dem  bisher  Gesagten 
von  selbst  ergiebt,  folgende:  Zunächst  wird  nach  der  Verwand- 
schaft und  ihrer  Nähe  gefragt;  alsdann  erfolgt  die  Begrenzung 
eines  bevorzugten  Kreises  nach  der  Abstammung  aus  ver- 
schiedenen Ehen  und  der  Regel  von  der  Geburt  „auf  dem 
Erbe“ ; dann  wird  in  diesem  Kreise  weiter  gesiebt  nach  dem 
Geschlechte,  und  endlich  wird  aus  den  nun  Verbleibenden  der 
Anerbe  nach  dem  Lebensalter  herausgegriffen.  1WJ 

Alle  diese  Auswahlregeln  können  nun  bei  einem  Erbfalle 
mehrfach  in  Anwendung  kommen.  Es  hat  sich  nämlich  fest- 
gestellt, dass  einem  Bauern,  der  mehrere  Güter  besitzt,  mehrere 
Anerben  folgen.  Der  älteste  Sohn  ist  Anerbe  im  ersten  Hof, 
der  zweite  im  zweiten,  der  dritte  im  dritten  u.  s.  w.  Jeder 
der  mehrfachen  Anerben  ist  zugleich  Abfindling  für  diejenigen 
Höfe,  die  er  nicht  erhält.  Die  Abfindungen,  die  er  danach 
zu  zahlen  und  zu  erhalten  hat,  werden  soweit  möglich  gegen 


'“°j  So  Strui'kmaun  S.  90  ff.  Scholz  S.  13  u.  a. 


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202 


einander  aufgerechnet.  Dies  praktische  System  ist  auch  von 
den  Höfegesetzen  aufgenommen. IW) 

§ 23. 

Von  der  Person  des  Anerben  wenden  wir  uns  nun  zu  der 
Stellung  der  anderen  Miterben,  die  ihm  als  Abfindlinge  gegen- 
überstehen. 

Der  Kreis  der  Abfindlinge  bestimmt  sich  im  wesentlichen 
negativ.  Es  sind  alle  zur  Erbschaft  berufenen,  die  nicht 
Anerbe  werden.  Sonach  deckt  sich  der  Kreis  der  Abfindlinge 
mit  dem  derjenigen  Personen,  aus  deren  Mitte  der  Anerbe 
hervorgeht,  wie  wir  ihn  in  den  vorherigen  Paragraphen  zur 
Darstellung  gebracht  haben ; es  sind  die  ehelichen  Verwandten 
nach  der  Folgeordnung  des  jeweiligen  bürgerlichen  Rechts,  hier 
mit  unbedingten  Einschluss  der  Kinder  eines  Interimswirthes 
oder  Leibzüchters,  soweit  nicht  die  Kinder  des  Interimswirthes 
einer  erst  auf  der  Leibzucht  geschlossenen  Ehe  entstammen. 

Diese  Abfindlinge  erhalten  die  Abfindung. 

Was  Abfindung  ist,  d.  h.  über  ihre  rechtliche  Natur  herrscht 
Streit,  seit  man  angefangen  hat,  das  Bauernrecht  wissen- 
schaftlich zu  bearbeiten.  Und  zwar  theilen  sich  die  Rechts- 
kundigen, wie  mannigfaltig  auch  ihre  Ansichten  in  Einzelheiten 
variiren,lflH)  im  wesentlichen  in  zwei  Lager.  Die  einen  halten 
die  Abfindung  für  einen  gewöhnlichen  Civilerbtheil,  sei  es  vom 
Hofe,  oder  nur  vom  übrigen  Vermögen;  die  anderen  dagegeu 
halten  sie  für  keinen  Erbtheil,  sondern  für  einen  Ersatz  des- 
selben, für  eine  Vergütung  dafür,  dass  von  allen  zur  Erbschaft 
Berufenen  nur  ein  Einziger  wirklich  Erbe  wird,  kurz,  mit 
einem  vielfach  gebrauchten  Ausdrucke,  für  ein  Surrogat  der 
Erbschaft. 


Vjl ) Frommhold.  Anerbenrecht  S.  30.  Auch  das  österreichische  An- 
erbengesetz hat  »ich  dem  angeschlossen  (llarchet  S.  1333).  Auch  in  Bayern 
ist  diese  l'ebung  vorhnuden.  Nur  jedes  einzelne  Haus  bildet  eine  Kinheit. 
Mehrere  Häuser  fallen  deshalb  nicht  in  das  Eigenthum  eines  Kindes, 
sondern  werden  unter  mehrere  aufgetheilt.  (Vgl.  Fick  S.  120,  127  u.  s.  w. 
S.  271). 

'*)  Eine  ausgezeichnete  Zusammenstellung  der  möglichen  Ansichten 
bei  Stobbe  Bd.  V S.  401  ff. 


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203 


Nach  unseren  geschichtlichen  Ausführungen,  welche  ja  vor- 
nehmlich mit  der  rechtlichen  Natur  der  Abfindung  sich  be- 
schäftigten, kann  es  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  wir  uns  zu  der 
letzteren  Meinung  zu  bekennen  haben.  Der  Anerbe  ist  der- 
jenige, der  allein  im  Besitze  des  Familiengutes  verbleibt,  er 
ist  der  alleinige  wahre  Nachfolger  und  Erbe  seines  Vaters. 
Seine  Geschwister  erhalten  nur  eine  Unterstützung  mit  auf 
den  Lebensweg,  eine  Entschädigung  dafür,  dass  sie  aus  Genuss 
and  Besitz  des  Familienvermögens  ausschciden  und  auf  ihre 
Erbtheile  verzichten.  Bis  in  unsere  Zeit  hinein  hat  man  denn 
auch  die  Annahme  der  Abfindung  ausdrücklich  als  einen  Ver- 
zicht auf  Erbschaft  bezeichnet. 1!W)  Und  noch  heute  erklären 
sich  die  berühmtesten  Autoritäten,  wie  Stobbe,  Beseler,  Wigand, 
ja  überhaupt  die  grosse  Mehrheit  aller  Rechtslehrer  für  die 
Auffassung  der  Abfindung  als  eines  Erbtheilsurrogates.‘J")  Von 


wo)  Vgl.  das  unten  bei  der  Erörterung  über  die  Wirkung  der  Ab- 
findung im  § 25  Gesagte.  Vgl.  ferner  Grimm  IV,  553  § 16  (Ulflingen  im 
nördlichen  Luxemburg):  .Item  erkennt  der  scbeffen,  wanne  ein  kind  von 

seinen  vatterlichen  gütern  sich  nbbestadt  und  auszeugt,  dem  in  dem  hausz 
bleibenden  zu  verzeighcn  (d.  h.  verzichten)  ...  in  beiseins  eines  oder 
zweien  oder  dreien  gerichtsman“.  Ferner  Essensclie  Hobsrecbte  bei  Sommer 
Rheinland  Bd.  II  S.  216:  ..  . . und  wert  saecke,  dat  diese  vorgcschrieven 
Havesmann  off  Haveswiff  gekomen  weren  up  dat  gut  mit  vertichniiss 
der  erben  vor  dem  hofe  geschehen  . . .“  — 

wo)  Vgl.  Stobbe  a.  a.  O.  Wigand,  Paderborn  § 09,  Beseler,  Bd.  II 
S.  870  ff.,  Grefe  Bd.  I S.  352  ff.  (ebenso  grundsätzlich  Bd.  II  S.  220  ff.), 
Steinacker  S.  561  ff..  Frank  S.  49  ff.  — Eine  Klasse  von  Rechtsgelehrten, 
unter  denen  namentlich  Paulsen,  Scholz  und  Frommhold  hervorragen,  er- 
klären die  Abfindung  für  eineu  Civilerbtheil  am  geschwisterlichen  Werthe 
des  Bauernguts.  Wir  werden  aber  bald  sehen,  dass  die  Abfindung  nach 
dem  geschwisterlichen  Werthe  nur  eine  praktische  Umgestaltung  des  Were- 
systems  ist.  — Ganz  unvereinbar  mit  unserer  Auffassung  ist  aber  die  Lehre, 
welche  die  Abfindung  als  Civil-  oder  Naturalerbtheil  am  Allod  hinstellt, 
wie  sie  im  vorigen  Jahrhundert  herrschend  war,  und  deren  Hauptvertreter 
Runde  ist.  — Eigenartig  ist  die  Ansicht  Kokens.  Er  betrachtet  die  Ab- 
findung als  Aequivalent  eines  bauerrechtlichen  Alimentationsunspruches. 
Da  aber  dieser  von  Koken  angeführte,  bauerrechtliche  Alimentationsanspruch 
nichts  anderes  ist,  als  der  uns  wohlbekannte  Beisitz  der  Miterben  oder  als 
das  aus  der  Hausgenossensthaft  folgende  Recht  auf  den  Mitgenuss  der 
Hausgüter,  und  da  die  Abfindung  thutsächlich  den  Entgelt  für  den  durch 
Ausscheiden  bedingten  Verlust  dieses  Mitgenussos  darstellt,  so  deckt  sich 


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204 


hohen  Gerichtshöfen  hat  gerade  das  mit  Bauernsachen  viel  be- 
schäftigte und  hoch  angesehene  frühere  hannoversche  Tribunal 
in  Celle  diese  Ansicht  vertreten,  bis  das  hannoversche  Recht 
durch  preussische  Gesetze  verdrängt  wurde.  (Vgl.  die  Urtheile 
vom  26.  Febr.  1857  und  7.  Juni  1861  [Franck  S.  54  u.  57]). 
Den  vollendetsten  Ausdruck  hat  diese  Meinung  aber  bei  Franck 
gefunden.  Seine  AVorte  seien  deshalb  hierher  gesetzt: 

„Der  Anspruch  der  Abzufindenden  auf  Theilnahme  am 
Nachlasse,  auf  Abfindung  gründet  sich  darauf,  dass  sie  Miterben 
sind;  sie  müssen  Miterben  geworden  sein,  um  eine  Abfindung 
fordern  zu  können.“ 

„Aber  sie  können  dieses  Miterbrecht  nur  dadurch  reali- 
siren,  dass  sie  für  dasselbe  eine  Zuwendung  annehmen,  welche 
an  die  Stelle  ihres  Erbrechts  tritt.  Sie  können  ihr  Erbrecht 
gewissermassen  nur  durch  Areräusserung  desselben  verwerthen. 
Das  Miterbrecht  ist  der  Grund  und  die  Voraussetzung  des 
Rechtes  auf  eine  Abfindung;  das  Recht  auf  Abfindung  aber 
tritt  als  ein  besonderes  neues  Recht  an  die  Stelle  des  dafür 
hinwegfallenden  Miterbenrechts  und  zwar  als  ein  Forderungs- 
recht des  Abfindlings  gegen  den  Hofannehmer.“  (S.  50). 

„Die  Abzufindenden  sind  dann,  sobald  ihr  Recht  auf  Ab- 
findung existent  geworden  ist,  nicht  mehr  Universal- 
successoren  des  Erblassers  und  gelten  als  solche 
dann  weder  dem  Hofannehmer  noch  auch  dritten 
gegenüber.“  (S.  51.) 

Nach  den  neuen  Höfegesetzen  ist  die  Natur  der  Abfindung 
eine  wesentlich  andere.  Es  ist  darauf  schon  wiederholt  hinge- 
wiesen worden.  Die  Höfegesetze  sind  lediglich  als  Theilungs- 
vorschriften  gedacht  und  durchgeführt;  ihre  Verschiedenheit 
vom  sonst  geltenden  Erbrecht  bestellt  deshalb  nur  darin,  dass 
sie  für  die  Erbtheilung  dem  Richter  nicht  wie  sonst  freie  Hand 
lassen,  sondern  ihm  Civiltheilung  vorschreiben,  und  dabei  deu 


die  Kokensche  Lehre  im  Grunde  mit  der  nnsrigen.  — Schwankend  ist 
Pfeiffer.  Er  reforirt  in  «einem  Werke  an  der  einschlägigen  Stelle  (,S.  •.’;>•>  ff.) 
wesentlich  fremde  Meinungen,  ohne  recht  eine  eigene  zu  geben,  doch  blickt 
durch,  dass  er  hier,  wie  öfter,  der  Ansicht  Wigands  folgt,  der  bei  ihm 
ungefähr  dieselbe  Holle  spielt,  wie  der  ainpliasimut  vir  Papininnus  bei  den 
spätrömischen  Juristen. 


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205 


Werth  der  Erbschaft  nicht  nach  den  allgemeinen,  sondern  nach 
besonderen,  den  Anerben  begünstigenden  Kegeln  berechnen. 
Hier  hat  also  die  erste  der  obeugedachten  sich  bekämpfenden 
Meinungen  Recht.21'1) 

Mit  der  eben  erörterten  Frage  nach  dem  Charakter  der 
Abfindung  hängt  die  zweite  nach  ihrer  Berechnung  eng  zu- 
sammen. Sie  ist  denn  auch  in  Verbindung  mit  jener  oben 
schon  eingehend  abgehandelt  worden.  Es  wurde  dort  betont, 
dass  für  die  Grösse  das  Bedürfuiss  des  konkreten  Falles  mass- 
gebend ist;  einerseits  soll  der  Abfindling  soviel  erhalten,  dass 
er  dadurch  befähigt  wird,  mit  Zuhilfenahme  seiner  eigenen 
Kräfte  im  Leben  eine  wenn  auch  bescheidene  Stellung  zu  er- 
ringen; andererseits  darf  die  Abfindung  nie  so  hoch  sein,  dass 
sie  die  Hofkräfte  übersteigt.21'-)  So  war  es  und  ist  es  noch  bei 
der  Abfindung,  wenn  sie  in  alter  Weise  erst  beim  Eintritt  des 
Bedürfnissfalles  gezahlt  wird,  d.  h.  erst  dann,  wenn  Sohn  und 
Tochter  sich  selbstständig  machen  und  sich  verheirathen. 
Anders  musste  es  werden,  als  man  anfiug,  die  Abfindung  all- 
gemein beim  Tode  des  Vaters  zu  bestimmen.  l)enn  daun  lag 
kein  eigentlicher  Bediirfuissfall  vor,  sondern  ein  lediglich  zu- 
fälliger Anlass.  Neben  dem  Bedürfuiss,  dass  es  hier  ja  gar  nicht 
gab,  musste  mau  deshalb  sich  noch  nach  einem  anderen  Recli- 
nungsmassstabe  umsehen;  man  fand  ihn,  indem  mau  gewisser- 
massen  ein  abstraktes  Bedürfnis  annahm,  iudem  man  feststellte : 
ein  Bauernkind  von  dem  oder  jenem  Stande  braucht  so  und  so 
viel.  Auf  diese  Weise  kam  man  zu  dem  System  der  festen 
Brautschätze,  wo,  wie  Wigand  sagt,  jeder  Landmann  genau 
wusste,  was  unter  gegebenen  Verhältnissen  zu  einem  ordent- 
lichen Brautschatz  gehört.  Das  wussten  aber  die  Beamten,  in 
deren  Händen  später  meist  die  Brautschatzbestimnmug  lag, 
nicht  so  genau;  sie  mussten  deshalb  einen  andern  Anhalt  habeu. 
Diesen  fänden  die  Beamten  in  dem,  ihnen  von  nichtbäuerlichen 


*")  Darüber  sind  alle  Commentatoreu  der  IliSfegcsetze  und  alle  Schrift- 
steller wie  Frommhold,  Dernburg,  Eccius  u.  a.  einig. 

,J#i)  Dieser  Vorbehalt  wird  von  sämmtliehen  Schriftstellern  gemacht, 
auch  von  denen,  welche  der  Abfindung  eine  andere  rechtliche  Natur  beilegen 
als  wir.  Vielfach  ist  er  auch  durch  Landesordnungen  gesetzliches  Recht 
geworden. 


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206 


Erbschichtungen  her  geläufigen  Werthe  des  Nachlasses.  Da 
ihnen  aber  anderseits  wohlbekannt  war,  dass  die  Abfindung  den 
Hof  nie  über  Vermögen  angreifen  dürfe,  so  sonderten  sie  von 
diesem  Werthe  zunächst  soviel  aus,  als  zur  gedeihlichen  Weiter- 
führung der  Wirthschaft  nöthig  war.  Der  Rest  des  Guts- 
werthes  wurde  dann  aber  meist  gleich  getheilt.  So  wurde  die 
Abschichtung  nach  dem  Weresystem  zu  der  Theilung  mit  Bruder- 
und  Schwestertaxe,  die  in  Deutschland  so  überaus  verbreitet 
ist21”)  und  im  Endergebnis  mit  den  heute  eingeführteu  Theilungs- 
vorschrifteu  der  Höfegesetze  zusammentrifft.  Nie  darf  man 
aber  vergessen,  dass  die  Theilung  nach  Bruder-  und  Schwester- 
taxe nur  eine  durch  praktische  Schwierigkeiten  hervorgerufenc 
Modification  des  wererechtlichen  Abfindungssystems  ist;  dass 
dieses  deshalb  immer  wieder  zur  Anwendung  kommt,  sobald  es 
möglich  wird,  d.  h.  wenn  es  sich  wirklich  um  eine  Abfindung 
nach  eingetretenem  Bedürfnis  handelt;  dass  es  sonach  auch 
keineswegs  ausgeschlossen  ist,  dass  der  eine,  mehr  benöthigende 
Abfindling  auch  wirklich  etwas  mehr  als  der  andere  erhält; 
schlummert  doch  überhaupt  bei  jeder  Abfindung  die  Idee 
wenigstens  des  abstrakten  Bedürfnisses  im  Hintergründe.  Noch 
heute  gilt  also  für  die  Theilung  grundsätzlich  die  schöne 
Wigand' sehe  Regel,  die  auch  in  Oesterreich  bis  in  die  sechsziger 
Jahre  Gesetz  wara)4):  Der  Brautschatz  soll  „ans  den  Gütern 
selbst,  aber  nach  ihrer  Grösse  und  Qualität,  und  so,  wie  sie  es 
ertragen  können,  . . . geleistet  werden,  in  der  Weise  wie  nach 
altem  Herkommen  ein  fleissiger  sparsamer  Familienvater  seine 
Kinder  versorgte  und  ausstattete,  ohne  das  untheilbare  Haupt- 
vermögen zu  zersplittern  und  zu  ruiniren.“  (Wigand,  Pader- 
born S.  133). 

Dass  aber  auch  bei  der  sofortigen  Abschichtung  aller 
Familienmitglieder  sich  eine  Rückkehr  von  den  festen  Braut- 


203)  Die  Abfindung  nach  Bruder-  und  Schwestertaic  oder  „geschwister- 
lichem Werte“  gilt  namentlich:  in  Schleswig-Holstein  (PaulsenS.  346),  im  Ge- 
biete des  bayrischen  Landrechts  (Gagern  S.  12,  Sorge!  S.  15  ff.),  im  Gebiete 
des  Bamberger  Landrechts  (Gagern  S.  ltt  ff.),  im  Schwarzwald,  (Motive  Vor- 
bemerkuug  zu  Art.  83  ff.),  in  den  Itheinlanden  (uach  den  bei  Sommer, 
Itheinland  Bd.  II  mitgetheilten  Urkunden ; vgl.  auch  Urtheil  des  Amts 
Bilstein  bei  Sommer,  Westfalen  S.  35  ff.). 

*•)  Vgl.  Marchet  S.  1313  ff. 


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207 


schätzen  zu  der  billigen  Bemessung  nach  Lage  des  einzelnen 
Falles  vielfach  vollzogen  hat,  geht  z.  B.  für  Bayern  aus  den 
Fickschen  Untersuchungen  mit  vollster  Deutlichkeit  hervor. 
Ueberall  wird  dort  die  doppelte  Rücksicht  auf  die  Kräfte  des 
Hofes  und  auf  die  Bedürfnisse  der  Abfindlinge  betont.  Ganz 
in  alter  Weise  wird  gesagt,  dass  zuerst  daran  gedacht  wird, 
dein  Uebernehmer  das  Forthausen  zu  ermöglichen;  zu  zweit 
kommt  das  Bedürfnis  der  Abfindlinge  in  Betracht,  allerdings 
nur  deren  Gesammtbedürfuiss,  nicht  wie  früher  das  des  Einzelnen, 
da  meist  der  Einzelne  nicht  mehr  gesondert  abgeschichtet  wird. 
Immerhin  wird  so  sehr  die  Lage  des  einzelnen  Falles  berück- 
sichtigt, dass  sämmtliche  Berichterstatter  vermerken,  allgemeine 
Taxgrundsätze  aufzustellen,  sei  fast  unmöglich.3*’)  Die  Be- 
rechnungsgrundsätze sind  also  heute  in  Bayern  fast  genau  die 
alten  wererechtlichen.  Ob  sonst  die  Grundsätze  des  Wererechts 
so  lebendig  sind,  dass  der  Hoferbe  immer  noch  als  der  einzige  Erbe 
gilt,  oder  ob  die  Miterben  wirklich  Civilerben  eines  eigenartigen 
Werthes  sind,  Hesse  sich  erst  entscheiden  nach  einer  noch  viel 
eingehenderen  Untersuchung  der  thatsächlichen  Erbgewohnheiten, 
als  sie  vorliegt.  Vielfach  wird  die  alte  Anschauung  noch  be- 
stehen.2113*) 

Was  die  Berechnung  der  Abfindung  nach  den  Höfegesetzen 
anlangt,  so  erfolgt  sie  durch  einfache  Theilung  des  Verkaufs- 
werthes  des  Gutes.  Der  Verkaufswerth  wird  gewonnen  durch 
Capitalisirung  des  Ertrages,  wie  er  in  der  Grundsteuer- 
mutterrolle angegeben  ist.  Dabei  wählt  man  aber  absichtlich 
einen  zu  niedrigen  Multiplikator,  so  dass  der  zur  Theilung  ge- 
langende Verkaufs werth  hinter  der  Wirklichkeit  zurückbleibt, 
und  der  Anerbe  so  bevorthciligt  wird.  Bevor  übrigens  der  er- 
mittelte Verkaufswerth  ausgesehüttet  wird,  werden  die  ding- 
lichen Schulden  von  ihm  in  voller  Höhe  abgezogen.21"5)  Soviel 


'■**)  Die  Belege  werden  weiter  unten  gegeben  werden. 

*“■•)  Wenigstens  übernimmt  der  Uutsübernehmer  auch  beute  noch  alle 
Schulden,  selbst  die  Currentschulden  (Fick  S.  272/273  Text  und  Anm.  1). 
(Schrift.  (L  V.  f.  S.  Bd.  B8  S.  177  und  313  [Aus  Oesterreich]). 

**)  Gesetz  für  Hannover  und  Lauenburg  § 15  ff.,  filr  Westfalen 
§ 17  ff.,  für  Brandenburg  § 13  ff.,  für  Schlesien  § 14,  für  Schleswig-Holstein 
§ 14  ff. 


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208 


über  die  Bereehnungsart  der  Höfegesetze;  Eiuzelheiten  darüber 
zu  bringen  muss  um  so  mehr  den  monographischen  Behand- 
lungen dieser  Gesetze  überlassen  bleiben,  als  jene  Einzelheiten 
bei  den  verschiedenen  Gesetzen  sehr  von  einander  abweicheu. 

Ausser  nach  dem  Massstabe  ist  aber  bei  Erörterung  der 
Berechnung  von  Brautschätzen  auch  danach  zu  forschen,  welcher 
Zeitpunkt  ihrer  Bemessung  zu  Grunde  zu  legeu  ist.  Wenn 
nämlich  der  Vater  gestorben  ist  und  der  Sohn  verlangt  noch 
nicht  gleich  seine  Abfindung,  sondern  bleibt  noch  vorerst  im 
Hofe  und  tritt  erst  nach  Jahren  mit  seiner  Forderung  hervor, 
so  hat  man  die  Frage  aufgeworfen,  ob  dann  der  Zeitpunkt  des 
Todes  oder  der  des  gestellten  Zahlungsbegehrens  massgebend 
ist.  Nach  altem  Recht  kann  die  Antwort  nicht  zweifelhaft 
sein.  Hier  ging  ja  die  Abschichtung  nicht  schon  beim  Tode 
des  Vaters  vor  sich,  sondern  die  Kinder  blieben  trotz  desselben 
ruhig  in  dem  gemeinschaftlichen  B'amiliengute  sitzen  und  sonderten 
sich  erst  ans,  wenn  sich  Gelegenheit  zur  Selbstständigmachung 
bot.  Erfolgte  die  Abfindung  aber  erst  im  Bedürfuissfalle,  so 
handelte  es  sich  bei  ihr  gar  nicht  um  die  Frage  „was  ist  der 
Hof  zu  dieser  oder  jener  Zeit  werth?“,  sondern  darum  „wieviel 
ist  dem  Abfindling  nöthig,  und  zwar  jetzt  zur  Zeit  der 
Festsetzung  des  Geldes?“ A'7) 

Diese  Regel  gilt  heute  noch  da,  wo  man  noch  nicht  ver- 
gessen hat,  dass  zum  Verlangen  nach  Ablage  eigentlich  nur 
das  Bediirfniss  befuge  und  der  Tod  des  Vaters  erst  in  zweiter 
Linie  komme,  wo  man  deshalb  zwar  diesen  Tod  unter  die 
Gründe  jenes  Verlangen  zu  stellen  aufnimmt,  aber  die  Fällig- 
keit der  Abfindung  nicht  ohne  Weiteres  von  ihm  ab 
datirt,  vielmehr  erst  von  da  an  berechnet,  wenn  sie  wirklich 
begehrt  wird,  sei  es  wegen  des  Erbfalles,  sei  es  wegen  der 
Vcrheirathung  etc.  Wo  man  dagegen  die  Festsetzung  der  Ab- 
findungen gleich  beim  Todesfälle  obligatorisch  macht  und  das 
Stehenlassen  derselben  unter  Verbleiben  des  Abfindlings  im 
Hofe  als  Stundung  ansieht,  muss  man  den  Augenblick  des  Erb- 
anlälls  zum  massgebenden  Zeitpunkte  machen. 


tm)  So  Koken  S.  49. 


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209 


Es  kann  nicht  geleugnet  werden,  dass  die  erste  Weise 
zwar  dem  Geiste  und  Sinne  des  Bauernrechts  gemässer, 
gleichwohl  aber  die  zweite  in  Wirklichkeit  die  häufigere  ist. 
Dies  kommt  daher,  weil  die  Regierungen  ihren  Beamten  zur 
Pflicht  machten,  die  Erbtheilungen  gleich  beim  Todesfall  abzu- 
wickeln, wie  denn  auch  heute  noch  die  Auseinandersetzungen 
sofort  nach  dem  Tode  des  Erblassers  vorgenommen  zu  werden 
pflegen.  Wo  dies  aber  nicht  geschehen  ist,  wo  vielmehr  die  Ge- 
schwister in  alter  Weise  zunächst  miteinander  weiter  leben,  und 
erst  später  einzeln,  ein  jeder  bei  seiner  Selbstständigmachung, 
ihre  Ablage  begehren,  da  hindert  nichts  den  alten  Satz  anzu- 
wenden. Im  Uebrigen  ergiebt  sich,  dass  überall  der  Zeitpunkt 
der  Festsetzung  und  nicht  der  Zahlung  entscheidend  ist;  erfolgt 
die  Festsetzung,  wie  jetzt  üblich,  beim  Erbanfall,  so  gilt  dieser 
Moment;  erfolgt  sie  später,  so  hat  die  Berechnung  auf  die 
spätere  Zeit  Rücksicht  zu  nehmen.®*) 

Es  kann  aber  auch  Vorkommen,  dass  die  Abfindung  vor 
dem  Tode  des  Bauern  bestimmt  wird,  nämlich  bei  einer  Guts- 
Überlassung.  Auch  hier  entscheidet  zunächst  der  Augenblick 
der  Festsetzung.  Denn  der  Bauer  bestimmt,  — wie  mau  auch 
über  den  Charakter  dieser  Gutsüberlassung  denken  mag,  — 
doch  in  rechtsgültiger  Weise,  dass  seine  Kinder  in  einer  ge- 
wissen, auch  für  die  Zukuuft  gütigen  Weise,  sich  in  das  Gut 
zu  theileu  liabeu,  und  er  geht  dabei  natürlich  von  dem  augen- 
blicklichen Werthe  aus.  Allein  wenn  die  Sache  vor  den  Richter 
kommt,  so  wird  sie  ganz  anders.  Sie  kanu  an  ihn  nur  ge- 
langen, wenn  die  väterliche  Theilung  auf  ihre  Richtigkeit  zu 
prüfen  ist  wegen  Nachgeburt  von  darin  übergegangeuen  Kindern 
oder  wegen  angeblicher  Verletzung  des  Pflichttheils.  Dabei  ist 
dann  zu  bedenken,  dass  der  Vater  lediglich  die  Absicht  hatte, 
seine  künftige  Beerbung  zu  regeln,  wenn  auch  durch  ein 
schon  jetzt  realisirtes  Gebot.  Er  hat  also  selbst  den  Zeitpunkt 
seines  künftigen  Todes  im  Auge,  seine  Bestimmungen  beziehen 


**)  Den  Zeitpunkt  der  Auseinandersetzung  lässt  entscheiden  liuach 
(S.  129  130);  den  Zeitpunkt  der  Erbschaft  halten  nicht  nur  regelmässig, 
sondern  grundsätzlich  für  massgebend:  Krauk  S.  0(5  uud  Scholz  S.  85. 

▼.  Dultsig,  GrunderbrcohL  14 


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210 


sich  auf  diesen,  und  es  ist  deshalb  durchaus  angemessen,  wenn 
ihre  Nachprüfung  auch  auf  diesen  Zeitpunkt  Rücksicht  nimmt.-'*! 

Bei  der  Nachprüfung  auf  Grund  des  Pflichttheilsrechts  ist 
ferner  noch  zu  erwägen,  dass  hier  der  Augenblick  des  Tode? 
um  so  mehr  entscheiden  muss,  als  da  erst  von  Pflichttheils- 
rechten  und  deren  Verletzung  die  Rede  sein  kann.  Der 
Richter  hat  also  in  diesen  Fällen  jedenfalls  den  Zeitpunkt  der 
Erbeserledigung  zu  Grunde  zu  legen. 

Nach  den  Höfegesetzen  ist  die  Frage  nach  dem  Zeitpunkte, 
welcher  der  Berechnung  der  Abfindung  zu  Grunde  gelegt  werden 
muss,  sehr  einfach  erledigt.  Da  nach  ihnen  die  Feststellung 
der  Abfindung  nichts  ist  als  eine  gewöhnliche  Erbtheilung,  so 
gelten  die  allgemeinen  civilrechtlichen  Regeln  über  die  Zeit, 
welche  für  solche  Theilung  massgebend  ist,  auch  für  die  Ab- 
schichtung der  Hofkinder. 


§ 24. 

Bei  der  Frage  nach  Erwerb  und  Fälligkeit  der  Abfindung 
haben  die  früheren  Schriftsteller  viel  mit  den  römischrechtlichen 
Begriffen  des  dies  cedens  und  dies  veniens  gearbeitet.  Als  die? 
eedens  nahm  man  den  Todestag  des  Vaters  au,  als  dies  venien? 
den  Zeitpunkt,  wo  die  Auszahlung  der  Ablage  verlangt  werden 
konnte, 3W‘)  den  man  vielfach,  um  die  Hofeskräfte  zu  schonen, 
erst  spät  nach  dem  Todesfall  ansetzte.  Vom  heutigen  Stand- 
punkte aus,  wo  die  Abfindungen  regelmässig  schon  beim  Tode 
des  Bauern  festgesetzt  zu  werden  pflegen,  lässt  sich  gegen 
jene  Lehre  nicht  viel  einwenden;  vom  Standpunkte  des  strengen 
Weresystems  aus  aber  ist  sie  nicht  richtig.  Die  Abfindung  ist 
die  Nitgabe  beim  Austritt  aus  der  Hausgenossenschaft.  Fällig 
wird  sie  deshalb  unter  allen  Umständen  erst  bei  diesem  Au?- 


*®)  So  Kokon  a.  a.  O.  Die  Festsetzung  der  Abfindungen  durch  de; 
abtretenden  Bauern  habe  nur  „oxemplificativen“  Werth.  — Schlechthin  Je:. 
Zeitpunkt  der  Uebernalnne  lassen  entscheiden  Stobbe  Bd.  V S.  tot,  Wigand, 
auch  Pfeiffer  S.  207  ff.  (doch  mit  dem  Zugeständnis,  dass  die  Praxis  oft  ,1 
abweichende  Ansicht  vertreten  habe),  endlich  Scholz  S.  121  fl 

***)  So  besonders  Scholz  § 15  in  sehr  scharfsinniger  Ausführung 


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211 


tritt;21")  der  Tod  de»  Vaters,  eigne  Verheirathuug  oder  sonstige 
Selbstständigmachung  des  Abfindlings,  sie  alle  bilden  wohl  einen 
Grund,  die  den  Abfindling  zu  jenem  Austritt  berechtigen,  aber 
da  sie  ihn  nicht  zu  dem  Austritte  zwingen,  da  er  vielmehr  ruhig 
in  der  Were  weiter  verbleiben  kann,  so  tritt  die  Fälligkeit  der 
Abfindung  doch  erst  mit  jenem  Austritte  ein.211)  Vorher  haben 
die  Abfindlinge  zwar  auch  ein  Recht,  aber  nur  das  Recht, 
eine  Abfindung  zu  erhalten,  nicht  die  Befugniss  auf  eine  be- 
stimmte Summe.  Ihr  Recht  ist  deshalb  ähnlich,  ja  gleichartig 
dem  Erbrechte  vor  dem  Erbanfalle. 

Wenn  man  dies  festhält,  so  lösen  sich  spielend  viele 
Fragen.  Es  herrscht  unter  den  altern  Bauern rechtslehrern  leb- 
hafter Streit  darüber,  ob  die  beim  Abscheiden  des  Hof  besitzers  zwar 
festgestellte,  vom  Abfindling  jedoch  noch  im  Hofe  stehengelasseue 
Abfindung  zu  verzinsen  sei.  Gewöhnlich  schliessen  die  Rechts- 
lehrer jede  Verzinsung  aus.  Sie  setzen  dabei  gewöhnlich  voraus, 
dass  der  Abfindliug  noch  im  Hofe  wohnen  bleibt,  und  com- 
pensiren  dann  gegen  den  Unterhalt,  den  er  geniesst,  seineu 
Zinsanspruch.  Und  man  wird  ihnen  hier  zustimmen  müssen; 
denn  wenn  auch  die  Annahme,  es  werde  compensirt, 

nicht  zutrifft,  da  der  im  Hofe  verbleibende  Abfindling 
auch  Dienste  leisten  muss,  und  man  hiergegen  den 
gewährten  Unterhalt  aufzurechnen  hat , so  ist  eben  die 
Nichtverzinsung  der  Abfindungen  bis  zum  wirklichen  Aus- 
tritte des  Abfindlings  einfach  eine  noch  gütige  Consequenz  des 
AVererechts,  nach  welchem  vorher  eine  eigentliche  Stundung 
gar  nicht  vorliegt  und  erst  jener  Austritt  die  Abfindung  fällig, 
und  damit  verzinslich  macht. 

Ist  dagegen  der  Austritt  in  Wahrheit  schon  beim  Tode 
des  Hofbesitzers  erfolgt,  hat  damals  schon  der  Auszuradcnde 
das  väterliche  Haus  verlassen  und  seinen  Theil  nur  aus  anderen 


21°)  So  Baseler  Bil.  II  S.  S72;  Wigand,  Paderborn  § 74  ff.;  Peiffer 
8.  267;  Frank  S.  54  ff.;  Frommliold,  Anerben  echt  S.  49;  Attest  derLippe- 
schen  Regierungskanzlei  von  1743  bei  Führer  S.  79/80. 

al)  Die  Zahlung  der  Abfindung  schiebt  denn  auch  die  überwiegende 
Mehrzahl  der  Schriftsteller  bis  zur  wirklichen  Ausgutung  hinaus:  Stobbo 
Bd.  V S.  404,  Grefe  § 64;  Bunde  S.  206,  Puchta  8.37  u.  a.  m.  — Anderer 
Meinung  natürlich  (vgl.  Amn.  209*)  Scholz  8.  118  f.  und  £ 58. 

14* 


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Gründen  noch  nicht  ausgezahlt  erhalten,  so  ist  auch  nach  dem 
Wererecht  die  Abfindung  fällig  geworden,  es  handelt  sich  um 
wahre  Stundung,  und  es  müssen  demgemäss  Zinsen  bezahlt 
werden.212)  Es  soll  jedoch  nicht  verschwiegen  werden,  dass 
einzelne  Landesordnungen  in  Verkennung  der  die  Un Verzins- 
lichkeit bewirkenden  Rechtsgedauken  und  in  beschränkter 
Rücksicht  auf  die  möglichste  Entlastung  des  Anerben  diesen 
Pall  mit  dem  vorigen  über  einen  Kamm  geschoren  uud  die 
Ablagen  schlehthin  für  zinslos  erklärt  haben. 

Mit  der  Fälligkeit  der  Brautschätze  hängt  auch  die  viel  * 
erörterte  Frage  ihrer  Vererbung  zusammen. 

Wenn  man  sich  an  die  Lehre  vom  dies  cedens  und  dies 
veniens  hält,  so  wird  man  nach  dem  Tode  des  Bauern,  als  dem 
dies  cedens,  die  Ausradungen  schlechthin  vererben  lassen,  gleich- 
viel ob  sie  schon  ausgezahlt  oder  noch  nicht  einmal  begehrt 
worden  sind.213)  Mit  dieser  wirklich  aufgestellten  Behauptung 
der  Theorie  tritt  nun  die  thatsäehlieho  Uebung  der  Bauern- 
kreise  in  lebhaften  Widerspruch,  die  nach  dem  Satze  „Was  in 
der  Were  stirbt,  erbt  in  die  Were“ 2U)  die  Abfindung  eines 
Kindes,  das  im  Hofe  verstorben  ist,  an  den  Hof  zurück- 
fallen lässt. 

Die  meisten  Schriftsteller  erkennen  nun  diesen  Satz  als 
in  der  Gewohnheit  begründet  au,  mit  seiner  Rechtfertigung 
aber  hapert  es  sehr;  man  beruft  sich  wieder  auf  die  erforder- 


as)  Ebenso  lassen  die  Verzinsung  erst  mit  dem  wirklichen  Austritt 
beginnen:  Stobbe  Bd.  V S.  404,  Steiuaeker  S.  553  f.,  Scholz  S.  126, 
Führer  S.  85. 

213)  So  natürlich  Scholz  S.  40  f. 

a4)  Dieser  Grundsatz  ist  alt.  Er  wird  noch  heute  von  Beseler  und 
Paulsen  citirt.  Er  findet  sich  aber  z.  B.  schon  in  einer  Ehepakte  von  1581 : 
„Stirbt  ein  Kind,  ehe  es  zur  Bestade  klimmt,  das  Geld  soll  daun  dem  Hause 
heimfallen  und  nicht  auf  die  anderen  gestorben  sein.“  Ebenso  Auseinander- 
setzung von  1652:  „Uff  Fall  aber  dieser  Kinder  eiuer  mit  dem  zeitlichen 
Tode  abginge  ohne  Leibsserben,  sollen  die  anderen,  damit  diese  Güter  nicht 
allerdings  in  Abgangh  gerathen,  zum  Erbe  nicht  zugelasscn  werden.“  Del- 
ta rücker  Laudurtho.il  von  1688:  „Dass  der  Kinder,  so  für  ihrer  Bestattnus 

verstorben,  Brautschatz  der  Dorfstette  wieder  unheimb  fallen  thete.“  Ebenso 
Delbrücker  Laudurtheil  von  1734  (bei  Wigand,  Paderborn,  Bd.  1, 
S.  112,  Nr.  24). 


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213 


liehe  Begünstigung  des  Anerben  oder  spricht  auch  hier  von 
einer  Aufrechnung  der  Abfindung  gegen  die  vom  Hofe  geleistete 
2s atural Verpflegung.215)  Der  wahre  Grund  aber  ist  ein  anderer; 
er  liegt  im  Werecht,  darin,  dass  die  Abfindung,  wenn  der  Ab- 
findling im  Hofe  stirbt,  gar  nicht  fällig  geworden  ist.  Dieser  hat 
sich  nämlich  dann  gar  nicht  vom  Familienvermögen  abgesondert, 
er  ist  im  Gesammteigenthume  mit  seinem  Bruder  verblieben ; dies 
consolidirt  demnach  in  dessen  Hand,  denn  ein  Antheil,  den 
der  Verstorbene  vererben  könnte,  ist  ja  gar  nicht  gebildet 
worden.217) 

Dieser  Satz  ist  trotz  aller  Theorie  von  der  Praxis  und  der 
Gesetzgebung  treu  bewahrt  worden.  Namentlich  letzterer  kam 
er  durchaus  gelegen  bei  ihrer  Tendenz,  den  Anerben  von  jeg- 
lichen Auszahlungen,  welche  die  Hofskräfte  hätten  schwächen 
können,  zu  befreien.  Es  konnte  eine  materielle  Ungerechtigkeit 
bei  ihm  auch  nicht  unterlaufen. 

Nur  ferneren  Erben  nämlich,  nicht  etwa  den  Kindern  oder 
der  Ehefrau  des  Verstorbenen,  konnte  die  Abfindung  durch 
jenen  Satz  entzogen  werden.  Denn  wie  man  sieb  erinnern  wird, 
schied  nach  uralter  germanischer  Sitte  der  heirathende  Haus- 
genosse, — und  nur  dieser  konnte  doch  Frau  und  Kind  haben 
— aus  dem  Hause  aus.  Mit  diesem  Austritt  aber  wurde  ja  die 
Abfindung  fällig  und  entweder  gezahlt,  oder,  wenn  sie  stehen  ge- 
lassen wurde,  so  handelte  es  sich  um  die  wahre  Stundung  einer  fest- 
gestellten Schuld,  die  natürlich  den  Erben  ebenso  gezahlt  werden 
musste  wie  dem  Abfindling  selber.  Dieser  Fall  des  Hinaus- 
sebiebens  der  Brautschatzzahlung  trotz  Austritts  muss 
eben  hier  wie  überall  von  demjenigen,  wo  ein  Austritt  des 
Miterben  gar  nicht  erfolgt,  scharf  geschieden  werden.  Das 
tbun  denn  auch  schon  die  Weisthümer.  Denn  während  sie  sonst 
die  obenerwähnte  Regel  befolgen,  führen  sie  für  ersteren  Fall 
aus:  (Grimm  III  105.  § 24).  „Wenn  einem  sein  Brautschatz 
oder  Kindesthcii  gelobet  und  nicht  bezahlt  und  er  ohne 


21 6)  Dieses  Compenaationarccht  kennt  selbst  Scholz  a.  a.  O.  S.  106, 
obwohl  er  sonst  unbeschränkte  Vererbung  der  Abfindungen  zulässt. 

41‘)  ln  Folge  des  Satzes,  dass  es  beim  Oesamuiteigenthum  ideelle  Quoten 
uicht  gielit  (vgl.  oben  § C bei  Amu.  56  ff.). 


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214 


Kinder  verstirbt,  ob  nichts  desto  weniger  dem  iiberbliebenen 
ehegatten  der  versprochene  Brautschatz  auszufolgen?  Was 
gelobet  ist,  muss  bezahlt  werden“.  Ist  aber  ein  Aus- 
tritt gar  nicht  erfolgt,  so  ist  auch  kein  Brautschatz  „gelobet“ 
worden. 

Es  darf  nun  nicht  übersehen  werden,  dass  heutzutage  die 
Abfindung  immer  schon  bei  der  Hofserledigung  „gelobet“  wird. 
Ihr  Stehenlassen  würde  deshalb  heute  immer  eine  Stundung 
bedeuten.  Gleichwohl  sind  die  alten  wererechtlichen  Sätze  über  die 
Unverzinslichkeit  und  Unvererblichkeit  der  Ablagen  von  im  Hofe 
verbleibenden,  unverheiratheten  Kindern  durch  die  Praxis 
festgehalten,  da  sie,  der  alten  Rechtsübung  und  -Ueberzeugung 
entsprechend,  überdies  auch  die  zweckmässigsten  waren ; und 
auch  die  Theoretiker  haben  sie,  anknüpfend  an  die  Lehre  von 
der  Kompensation  gegen  die  Natural  Verpflegung,  nicht  ver- 
worfen.218) 

Mit  der  Fälligkeit  und  der  Stundung  der  Abfindungen 
häugt  endlich  auch  der  Streit  um  den  „Beisitz“  zusammen. 

Es  herrscht  nämlich  eine  grosse  Uneinigkeit  darüber,  ob 
der  Anerbe  befugt  ist,  einen  Miterben,  auch  wenn  dieser  nicht 
will,  anszuzahlen.  Viele  bejahen  es,  viele  verneinen  es,  und 
letztere  berufen  sich  auf  das  Recht  des  „Beisitzes“. 

Darunter  versteht  man  die  Befügniss,  auf  dem  väterlichen 
Hofe  gegen  angemessene  Arbeitsleistungen  so  lange  zu  ver- 


Me)  Im  Resultat  Übereinstimmend  Stobbc  S.  404  ff.;  Wigand  § 77; 
Delbriieker  Landrocht  hei  Wigand,  Paderborn  III  S.  82  ff.;  Delbrücker 
Laudurtheil  von  1746;  Pfeiffer  S.  275  und  die  dort  Citirten;  Steinacker 
S.  655,  Rusch  S.  151  ff.;  Calenberger  Meierordnung  Cap.  VI  § 7;  Hildes- 
heimer Meierordnung  § 24.  l'eber  das  Lippesche  Recht  vgl.  Führer 
S.  79/80.  — Anderer  Meinung  sind  und  lassen  schlechthin  Vererbung  der 
Abfindungen  zu:  Scholz  a a.  <)..  Frank  S.  5<>  und  für  das  moderne  Recht 
auch  Frommhold  S.  47  48.  - Eigenthiimlich  ist  das  Osnabriicker  Meierrecht ; 
Stirbt  dort  ein  Kind  vor  Auslobung  seines  kindlichen  Tiieils,  so  fallt  sein 
Theil  nicht  dem  Anerben  allein  zu.  sondern  neben  ihm  auch  den  Ge- 
schwistern. welche  noch  nicht  nusgelobt  sind  oder  die  Auslobung  noch  nicht 
angenommen  haben.  Es  ist  dies  eine  durchaus  folgerichtige  Oonsequenz  des 
Gesammteigenthums  zwischen  den  Erben  und  zeigt,  wie  lange  sich  dieses 
lebendig  erhalten  hat. 


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215 


weilen  und  unterhalten  zu  werden,  als  man  will.219)  Es  ist 
nun  nach  unseren  früheren  Darlegungen  klar,  dass  jenes  Recht 
einst  in  vollem  Umfange  bestanden  hat;  denn  der  Austritt  aus  der 
Hausgenossenschaft,  die  jene  Unterhaltsberechtigung  ge- 
währt, war  gänzlich  frei.  Nach  dem  Tode  des  Vaters  konnte 
zwar  jeder  Hausgenosse  die  Grund theilung  verlangen,  aber 
keiner  konnte  gezwungen  werden,  die  von  jener  Grundtlieilung 
so  ganz  verschiedene  Abfindung  anzunehmen.  Wir  haben 
aber  gesehen,  dass  schon  in  den  Weisthümern  ein  Zwang  die 
Beladung  anzunehmen,  auftaucht.  Später  ist  er,  getragen  von 
der  Tendenz,  den  Anerben  möglichst  frei  zu  stellen,  allgemein 
durchgeführt.  Es  liegt  auch  wohl  in  der  Natur  der  Sache, 
dass  der  Anerbe  nicht  gehalten  ist,  Arbeitskräfte,  die  er  auf 
seinem  Hofe  nicht  beschäftigen  kann,  zu  seinem  und  ihrem 
wirthschaftlichen  Ruin  auf  dem  Gute  weiter  zu  ernähren.22") 
Aber  wenn  auch  im  allgemeinen  dem  Anerben  das  Recht 
der  Abfindung  gegeben  ist,  so  ist  doch  nie  gestattet 
worden,  dass  der  Anerbe  auch  Unmündige  mit  einer  Geld- 
summe — denn  ohne  haare  Zahlung  braucht  kein  Miterbe 
das  Gut  zu  verlassen221)  — fortschicken  kann;  vielmehr  ist 
stets  für  sie  der  Vorbehalt  gemacht  worden,  dass  sie  „ouch 
erzogen  mugint  werden,  bis  dasz  sie  alle  zu  iren  jaren  koment 
ungevahrlich“.  (Vgl.  oben  Anm.  93).  Nie  ist  auch  die  uralte 
schöne  Pflicht  des  Hofes  vergessen  worden,  dass  er  als  das 
Familienvermögen  die  Zuflucht  bildet  für  alle  Schwachen  und 
Kranken,  ja  auch  für  die  Gesunden,  wenn  sie  draussen  Schiff- 
bruch  gelitten  haben  und  alt  und  gebrechlich  auf  die  Scholle 
der  Väter  zurückkehren.  Und  dies  darf  auch  nicht  vergessen 
werden.  Denn  hierin  allein  liegt  die  Rechtfertigung  jener 


21”)  Wir  haben  Uber  die»  Recht  schon  früher  berichtet.  (§  10  Anw.  94 
und  Text  dazu  und  bei  Amn.  99).  Gesetzlich  findet  es  sich  z.  B.  Calen- 
berger Meicrordnung  Cap.  VI  § 8,  Hildesheimer  Meierordnung  § 22  und  23. 
m)  Zustiinmend  Stobbe  S.  404. 

m)  Wäre  er  dazu  gezwungen,  so  wäre  er  verpflichtet,  dem  Anerben 
eine  eigentliche  Stundung  zu  gewähren.  Das  hat  aber  niemand  nöthig. 
denn  solche  Stundung  ist,  wie  eben  gezeigt,  dem  Bauemrechtc  fremd.  Vor 
der  Zahlung  ist  vielmehr  der  Austritt  des  Abfindlings  noch  nicht  bewirkt, 
dieser  darf  deshalb  im  Hofe  Weiterarbeiten  und  weiterleben. 


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216 


ausserordentlichen  Bevorzugung  des  Anerben.  Was  soll  sie, 
wozu  dient  die  um  jeden  Preis  geforderte  Erhaltung  des  Gutes, 
wenn  nicht  eben  diese  Erhaltung  geschieht  im  eigensten  Interesse 
aller  Familienmitglieder,  weil  ihnen  das  Hausgut  in  des  Lebens 
Fährden  und  Nöthen  den  letzten  Rückhalt  bietet ! In  dieser 
Richtung  gilt  also  noch  heute  das  Recht  des  Beisitzes.222) 

In  alle  den  vorstehend  erörterten  Fragen  nach  Fälligkeit, 
Erwerb,  Verzinsung  und  Vererbung  der  Abfindungen  stehen 
die  Höfegesetze  auf  einem  ganz  anderen  Boden.  Nach  ihnen 
ist  ja  die  Absteuer  lediglich  ein  Erbtheil.  Sie  wird  deshalb 
erworben  schon  mit  dem  Tode  des  Hofsitzers,  ist  von  diesem 
Augenblicke  an  vererblich  und  spätestens  vom  Zeitpunkt  derErbes- 
anseinandersetzung  an  auch  verzinslich.  Beisitz  gewäliren  die 
Höfegesetze  natürlich  auch  nicht.  Gleichwohl  wirkt  der  alte 
Rechtszustand  noch  mächtig  nach.  Und  wenn  sich  auch  dieGesetze 
ans  Rücksichtnahme  auf  die  conseqnente  Durchführung  der  von 
ihnen  angenommenen  Prinzipien  nicht  dazu  haben  entschliessen 
können,  den  alten  Rechtszustand  als  den  regulären  aufrecht  zu 
erhalten,  so  gestatten  sie  doch  dem  Vater,  ihn  durch  letztwillige 
Verfügung  wieder  einzuführen.  Die  Gesetze  ordnen  nämlich 
ziemlich  übereinstimmend  an  (Hannover  § 19  Nr.  2.  Branden- 
burg § 16  Nr.  2.  Schlesien  § 17  Nr.  I.  2.  Schleswig-Holstein 
§ 23  Nr.  2):  „Wegen  Verletzung  des Pflichttheils  können  nicht 
angefochten  werden:  Verfügungen  des  Erblassers,  durch  welche 
die  Fälligkeit  der  Erbtheile  der  Miterben  bis  zu  deren  Gross- 
jährigkeit  unter  der  Verpflichtung  des  Anerben,  die  Miterben 
bis  zu  diesem  Zeitpunkte  angemessen  zu  erziehen  und  für  den 
Nothfall  auf  dem  Landgute  zu  unterhalten,  hinausgesetzt  wird.“ 
Ja  die  Landgüterordnung  für  Westfalen  § 19  und  namentlich 
diejenige  für  Cassel  im  § 22  haben  sogar  das  alte  Wererecht 
hinsichtlich  des  Beisitzes  auch  als  gesetzliche  Regel  behalten. 


za)  Hiermit  stimmen  im  Wesentlichen  alle  Schriftsteller  überein.  Be- 
sonders schön  giebt  unsere  Auffassung  wieder  I’nchta  S 30  f.  Vgl.  auch 
Wigand,  Paderborn  § 74  bis  76,  Steinacker  S.  553  ff.,  Scholz  S.  105  bis 
108,  Führer  S.  272  u.  a.  m.  — Derartige  .Uuterschlupfsrechte*  sind  noch 
heute  in  Bayern  üblich,  wie  in  den  Fick'schen  Schriften  verschiedenartig  zu 
lesen  ist. 


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217 


§ 25. 

Nachdem  wir  uns  so  über  Natur  und  Berechnung,  Fällig- 
keit und  Vererbung  der  Abfindung,  und  was  damit  zusammen- 
hängt, unterrichtet  haben,  bleibt  uns  noch  die  Wirkung  des 
Brautschatzempfanges  zu  prüfen. 

Zunächst  hinsichtlich  der  Schulden. 

Die  Schulden  haften  nach  allen  kultivirten  Rechtsordnungen 
am  Vermögen,  sei  es  am  ganzen,  sei  es,  wie  einst  in  Deutsch- 
land, am  beweglichen.  Nun  haben  wir  gesehen,  dass  der  An- 
erbe derjenige  ist,  der  allein  im  Besitze  des  hinterlassenen 
Vermögens  verbleibt;  die  anderen  scheiden  nach  und  nach  aus 
ihm  aus  und  erhalten  darum  auch  nicht  einmal  Thcile  von 
ihm  mit;  denn  was  sie  mitbekommen,  ist  ja  nur  Entgelt  fin- 
den Verzicht  auf  dies  Vermögen.  Sonach  kann  auf  die  Mit- 
erben, da  sie  nichts  von  dem  Vermögen  empfangen,  auch  nichts 
von  den  mit  ihm  verknüpften  Schulden  übergehen:  vielmehr  hat 
diese  der  Anerbe  als  der  einzige  wahre  Erbe  zu  zahlen."') 


*°)  So  schon  Urthcil  zu  Sandwell  (namhaftes  Gaugericht  unweit 
Münster)  hei  Grimm  III  138,  § 23:  „Es  will  ein  hausmaun  seiner  doch t er 
das  erbe  Uberlasszen.  und  dieselbe  darauf  bestatten;  nun  ist  das  erb  etlicher 
müssen  in  beschwer,  wird  also  nach  landrechte  gefraget:  ob  die  tochter 
samt  ihrem  verheirateten  manne  dieselben  bewegliche  schulde  nnzunehmen 
und  zu  bezahlen  schuldig?  Darauf  erkandt:  Da  der  erlnnann  oder  welir- 
vestcr  seiner  tochter  das  erb  übergelassen,  und  nicht  mohr  dann  leibes 
notdurft  von  dem  erbe  geniesset,  als  sey  die  tochter  mit  ihrem  manne  als 
itzigen  wehrfester  die  uusstehenden  glaubwürdigen  schulde  ohne  beschwehr 
und  heylage  des  vaters  zu  bezahlen  schuldig“.  — So  auch  die  Vorberathungen 
zur  l’aderborncr  Meicrordnung  bei  Wigand,  Paderborn  i?  92):  „Wie  es  mit 
den  elterlichen  Schulden  zu  halten,  ob  sie  dem  Successor  allein  zur  Last 
bleiben,  die  creditores  paterni  sich  an  ihn  allein  halten  könnten  und  müssten? 
Die  Negative  stimme  nicht  mit  der  Observanz  und  der  Successor 
habe  gewöhnlich  auch  den  grössten  Vortheil  der  ganzen  Erbschaft,  da  die 
übrigen  Kinder  nur  mit  ciuem  Geringen  in  unzinsbaren  Terminen  ausge- 
gutet  würden.“  So  auch  schon  Pufendorf,  Ohserv.  Hd.  II  obs.  33:  „In 

determinanda  autern  dote  illa  . . . ratio  allodii  ineunda  est,  cavendumquc, 
ne  possessor  praedii,  quippe  quem  aes  alienum  quoque  omne 
sequi  tur,  nimis  gravetur“.  Auch  die  meisten  der  modernen  Schriftsteller 
schliessen  sich  dem  an:  Husch  S.  144  ff.  („So  wurde  im  Widerspruche  mit 


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218 


So  ist  es  bis  zu  den  Höfegesetzen  geblieben.  Nach  diesen, 
laut  deren  die  Abfindung  ja  lediglich  ein  Civilerbtheil  ist,  lieg- 
die  Sache  natürlich  ganz  anders.  Hier  sind  auch  die  Abfind- 
linge wahre  Erben  und  nehmen  deshalb  auch  an  den  Schulden 
des  Erblassers  Theil,  nach  gemeinem  Rechte  pro  rata,  nach 
preussischem  als  Solidarschuldner. 

Was  die  Wirkung  der  Abfindung  auf  das  Erbrecht  d>  - 
Abgefundenen  anlangt,  so  ist  oben  (§  10  a.  E.)  bereits  gezeigt, 
wie  ihre  Annahme  anfangs  den  Verlust  jeglichen  Erbrecht? 
herbeiführte,  und  wie  sich  dies  allmählich  zu  einem  Verluste 
des  Erbrechts  „bis  auf  den  ledigen  Anfall“  abschwächte.  Die 
Juristen  der  Receptionszeit  haben  daran  nichts  geändert.  Im 
Gegentheil.  Da  ihnen  nämlich  der  wahre  Grund  zu  diesem  Ver- 
luste des  Erbrechtes  entgehen  musste,  so  knüpften  sie  bei  ihren 
Deutungsversuchen  an  die  Wahrnehmung  an,  dass  jener  Ver- 
lust seitens  der  Abgefundenen  öfters  durch  ausdrücklichen 
Verzicht  constatirt  wurde  (§  23  bei  Anm.  199).  In  Ver- 
kennung des  Zusammenhangs  sahen  sie  nun  den  Verzicht  nicht 
als  Folge,  sondern  umgekehrt  als  Ursache  des  Erbrechtsver- 
lustes an  und  erklärten  diesen  aus  dem  Ständigwerden  de? 
Verzichtes.  Aus  diesem  Grunde  wendeten  sie  die  Grundsätze 
über  Verzichtleistungen  an,  „welche  stricti  iuris  seyen  und  ultra 
expressa,  und  in  dessen  faveur  sie  geschehen,  ja  sogar  ultra 
exeogitata  nicht  zu  extendiren“.-4)  Infolgedessen  Hessen  sie 
den  Verzicht  nur  so  lange  eintreten,  als  diejenigen,  zu  dessen 
Gunsten  er  geschehen,  d.  h.  der  Anerbe  oder  Erben  von  ihm 
noch  da  waren.  Damit  war  auf  anderem  Wege  das  System 
des  „ledigen  Anfalls“  wieder  erreicht,  und  dies  ist  heute 
geltendes  Recht.  Dies  System  aber  bringt  es  in  dem  Falle,  wo 
die  Abfindung  schon  vor  dem  Tode  des  Vaters  z.  B.  als  An? 


deu  Prinzipiell  des  römischen  Rechts  seihst  dritten  Personen  gegenüber 
nur  der  Anerbe,  der  den  Hof  mit  Schuld  und  Unsehuld  übernahm, 
als  der  Repräsentant  des  gan  zen  Nachlasses  behandelt“);  Frank  S.  öl 
oben  im  § 23  citirte  Stelle)  und  S.  62;  Puclita  S.  102;  Stnickmann  Beitr.ii 
19  S.  SS.  — Anderer  Meinung  Scholz,  obwohl  sehr  schwankend  S.  25,  loi 
123  und  Wigand  § 92. 

**•)  Urtheil  des  O.  A.  G.  zu  Celle  vom  0.  Fehr.  1728  bei  Run  l • 
Iuterimswirthschaft. 


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219 


Steuer  gezahlt  ist,  mit  sich,  dass  der  Ausgegutete  bei  dem 
wirklich  erfolgten  Tode  des  Bauern  nichts  mehr  fordern  kann.225) 
Daher  die  grosse  Aehnlichkeit  der  Abfindung  mit  dem  Erbtheil, 
obgleich  sie  ein  solcher  streng  genommen  nicht  ist;  daher 
auch  die  alte  Verwechslung  dieses  Surrogates  des  Erbthciles 
mit  diesem  selbst. 

Nach  den  Höfegesetzen  kann  natürlich  von  einer  solchen 
Wirkung  der  Abfindung  keine  Rede  sein.  Als  wahrer  Erbtheil 
äussert  sie  dort  nur  diejenige  Wirkung,  welche  die  Annahme 
jedes  anderen  Erbtheils  hat.  Die  hannoversche  Landgüter* 


**)  Und  gerade  hierin  liegt  die  eigentliche  Bedeutung  des  Satzes. 
Denn  dass  die  Abfindlinge  von  der  Erbschaft  ihres  Vaters  zugunsten  des 
Anerben  ausgeschlossen  werden,  wenn  die  ßeradung  nach  dem  Tode  des 
Vaters  erfolgte,  ist  ohne  weiteres  klar.  — Zu  den  im  § 10  citirten  Belegen 
sei  hier  noch  beigefügt  ein  Zeugniss  über  die  im  Jahre  1708  in  der  Graf- 
schaft Hoya  bestehende  Praxis;  „Auf  Anfrage,  ob  in  hiesigem  Amte  her- 
gebracht, wann  Eltern  ihre  Höfe  mit  Consens  des  Gutsherrn  übergehen, 
und  die  übrigen  Kinder  mit  einem  Erbtheil  abgefunden  werden,  die  Eltern 
aber  ohne  Testament  oder  audere  letzte  Willensdisposition  versterben,  da- 
gegen an  Barschaft  und  Mobilien,  so  im  Hofe  erworben,  etwas  nachlassen, 
dass  die  abgefundenen  Kinder  an  solchem  Nachlass  pro  quota  participiren, 
oder  ob  solcher  an  den  Hof  wieder  zurückfalle:  Gebe  ich  hiermit  zu  wissen, 
dass  sowohl  im  Amte  Syke  als  auch  im  hiesigen  Amte  es  also  bisher  ge- 
halten worden,  dass  dergleichen  Nachlass  . . . dem  Besitzer  derColonie 
allein  verbleibe  nud  die  abgefundenen  Kinder  davon  nichts  bekommen, 
wie  ich  denn  auch  nicht,  ermangelt,  mich  solcher  wegen  bei  den  benachbarten 
Aemtern  zu  Westen  und  Bnichhuuseu  zu  erkundigen,  welche  in  solchen 
Fällen  gleiche  Observanz  mit  dem  Amte  Syke  und  Hoya  haben,  zweifle 
auch  nicht  es  werde  dergleichen  in  deu  beiden  Grafschaften  Hoya  durch- 
gehende hergebracht  sein“  (vgl.  Pufendorf,  observationes . Bd.  II  obs.  33).  — 
Vgl.  auch  Weisthum  von  Bökendorf  bei  Wigand,  Paderborn  Bd.  1,  Del- 
brücker  Landrecht  Cap.  2 § 9.  ebenda.  — Das  System  des  ledigen  Anfalls 
haben  von  neuern  Schriftstellern  Stobbe  8.  405  ff.,  Grefe  Bd.  II  S.  207  ff., 
Steinacker  S.  551,  Frank  S.  54  und  Uti  ff..  Frommhold  S.  45,  Struckmann 
Beitrag  9,  Führer  S.  59  ff.  (mit  Belegen  aus  der  Praxis),  im  Wesentlichen 
auch  Scholz  S.  120  ff.  — Vgl.  Uber  die  ganze  Frage  die  eingehenden  Er- 
örterungen bei  Pfeiffer  S.  270,  wo  auch  die  Meierorduungeu  citirt  werden, 
von  denen  einige  das  starre  Prinzip  des  gänzlichen  Erbverlustes  erhalten, 
die  meisten  aber  das  Prinzip  des  ledigen  Anfalls  angenommen  haben  (z.  B. 
die  Calenberger  Meierordnung  Cap.  VI  § 4).  — lieber  die  ältere  Praxis, 
die  mit  unserer  Ansicht  übereinstimmte,  vgl.  die  Urtheile  des  O.  A.  G.  in 
Celle  bei  Pufendorf,  Observ.  Bd.  I obs.  83  und  Bd.  IV  obs.  87). 


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220 


Ordnung  jedocli  hat  noch  eine  Erinnerung  an  die  alte  Wirkung 
der  Ausradnng  hinsichtlich  der  Schulden,  wenn  sie  im  § 16 
bestimmt:  „Die  Erbschaftsschulden  sind  zunächst  auf  das  ausser 
dem  Hol'  nebst  Zubehör  vorhandene  Vermögen  anzurechnen. 
Insoweit  sie  durch  dieses  Vermögen  nicht  gedeckt  werden,  sind 
sie  von  dem  Anerben  als  Schuldner  allein  zu  übernehmen.“ 
Weiter  noch  geht  das  Lippesche  Höfegesetz,  nach  dem  der 
Anerbe  principaliter  allein  alle  Schulden  zu  tragen  hat  und 
die  Miterben  für  dieselben  nur  aushilfsweise  pro  portione 
hereditaria  und  nur  bis  zum  Belaufe  des  Empfangenen  haften. 

§ 26. 

Es  springt  in  die  Augen,  dass  die  bäuerliche  Art  das  Erbe 
zu  theilen,  wie  wir  sie  an  uns  haben  vorüberziehen  lassen,  mit 
den  Grundsätzen  des  römischen  und  modernen  Pflichttheilsrechts 
in  lebhaften  Widerspruch  treten  muss. 

Dass  hier  das  Bauernrecht  stärker  ist  als  die  fremde,  dem 
deutschen  Wesen  aufgepfropfte  Satzung,  ist  schon  durch  den 
geschichtlichen  Verlauf  ohne  weiteres  klar.  Denn  das  Anerben- 
recht hat  sich  entwickelt  in  Zeiten,  wo  vom  heutigen  Pflicht- 
theilsrechte  noch  nichts  bekannt  war.  Als  dieses  dann  mit  dem 
römischen  Rechte  nach  Deutschland  gebracht  wurde,  stand  das 
Anerbenrecht  schon  als  ein  gewaltiger,  in  der  Tiefe  des  deutschen 
Rechts-  und  Wirthschaftslebens  wurzelnder  Baum  da,  der  schon 
einem  Sturme  trotzen  konnte.  Allerdings  war  dieser  über  das 
nationale  Wesen  hereinbrechende  Sturmwind  so  furchtbar,  dass 
er  noch  kräftigere  Bäume  geknickt  hat:  aber  das  Pflichttheils- 
recht  gerade  konnte  dem  deutschen  Rechtsgedanken  nicht  ge- 
fährlich werden.  Denn  trotz  seines  römischen  Ursprungs  ist 
es  nicht  im  Widerspruche  mit  deutschen  Anschauungen  recipirt 
worden:  im  Gegentheil,  wie  Gierke  treffend  ausgeführt  hat,'^) 
ist  es  gerade  nur  darum  aufgenommen,  weil  es  der  Erhaltung 
deutschen  Rechtes  diente,  indem  manche  „Reste  der  familien- 
rechtlichen Gebundenheit  des  Eigenthums  sich  in  den  Rahmen 
des  römischen  Pflichttheilsrecht  geflüchtet“  haben. 


Ät'’;  Gierke,  Erbrecht  im  liiii<lliclieii  Grundbesitz  S.  27. 


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221 


Gleichwohl  machten  die  Gerichte  in  der  Zeit  ihres  stärksten 
Romanisirens,  im  lfi.  und  17.  Jahrhundert,  bei  Bestätigung 
bauerrechtlicher  Erbtheilungen  oft  den  Vorbehalt,  „dass  die 
Legitima  gewahrt  bleibe“;-'7)  aber  später,  als  die  germanistische 
Strömung  stärker  wurde,  ging  man  allgemein  von  dem  Principe 
aus,  dass  das  Anerbenrecht  als  particularc  Satzung  das  gemeine 
Pflichttheilsrecht  breche.  Diese  Lehre  musste  durch  den  oft- 
erwähnten Hang  der  Gesetzgebung  jener  Zeit  nach  möglichster 
Begünstigung  des  Anerben  nur  noch  befördert  werden.  Die 
Landesorduungen  haben  deshalb  die  Abfindungen  oft  bis  zur 
völligen  Vernichtung  des  Pflichttheilsrechtes  herabgedrückt. 

Im  Anfänge  dieses  Jahrhunderts  aber,  als  man  daran  ging, 
das  Anerbeurecht  wissenschaftlich  zu  bearbeiten,  es  mit  dem 
übrigen  Rechte  zu  verbinden  und  iu  dessen  System  eiuzufügen, 
suchte  man  auch  nach  einer  Möglichkeit,  Anerbenrecht  und 
Pflichttheilsrecht  zu  vereinen.  Pud  man  fand  sie  auch.  Das 
gewöhnliche  Pflichttheilsrecht  ist  der  unentziehbare  Anspruch 
auf  eine  Quote  des  Nachlasses.  Ganz  ebenso  gestaltete  man 
das  bäuerliche  Pflichttheilsrecht,  nur  dass  man  diese  Quote 
nach  den  besonderen  bauerrechtlichen  Grundsätzen  berechnete, 
wonach  stets  die  Fortführung  der  Hofwirthschaft  gesichert 
bleiben  muss.  Und  zwar  gab  man  die  Pflichttheilsklage  sowohl 
dem  Anerben,  wie  den  Abfindlingen.  Diese  konnten  damit  zu 
niedrige  Brautschätze  anfechten,  jeuer  zu  hohe.  Wie  deshalb 
das  gewöhnliche  Notherbrecht  den  Anspruch  auf  den  gemein- 
rechtlichen Erbanspruch  wahrte,  so  schützte  dies  neue  bäuerliche 
den  Anspruch  auf  den  nach  bäuerlichen  Grundsätzen  jedem 
Miterben  gebührenden  Antheil;  der  Unterschied  lag  also  nur  in 
der  Berechnung  des  Pflichttheils,  nicht  im  Begriffe.2*) 


■•07)  Vgi  jje  oben  citirte  Entscheidung  von  Lyucker  und  die  zahlreichen 
Entscheidungen  bei  Carpzov  a.  a.  O. 

**)  So  Steinacker  S.  252  Anin.  0.  Kusch  S.  130  ft.,  Scholz  S.  50, 
S.  135  ff.  ln  der  Praxis  hatten  namentlich  die  braunschweigischen  Ge- 
richte Gelegenheit  sich  mit  dieser  Frage  zu  beschäftigen.  Sie  haben  den 
von  uns  vertretenen  Standpunkt  gebilligt.  Vgl.  Scholz  S.  50  Anin.  2 und 
Oberlandesgericht  Braunschweig  am  29.  April  18t  1 bei  Steinacker  a.  a.  O. — 
In  der  abweichenden  Berechnungsart  des  Pflichttheils  liegt  ein  Doppeltes. 
Die  Miterben  können  nur  anfechteu,  wenn  ihr  Ausgesetztes  kleiner  ist,  als 


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222 


Damit  hatte  schon  das  alte  Recht  den  Standpunkt  erreicht, 
den  die  Höfegesetze  heute  einnehmen,  wenn  es  gilt,  sich  mit 
dem  Pflichttheilsrechte  auseinanderzusetzen.  Sie  greifen  in 
dasselbe  ein,  ja  es  war  sogar  ihre  ausgesprochene  Absicht,  es 
zu  beschränken:  aber  sie  beschränken  es  auch  nur  hinsichtlich 
der  Berechnung  des  Pflichttheils.  Es  soll  seiner  Bemessung 
nicht  der  gemeine  Werth  der  Erbschaft  zu  Grunde  gelegt 
werden,  sondern  derjenige,  welcher  nach  den  besonderen  höte- 
rechtlichen  Bestimmungen  bei  einer  Erbtheilung  massgebend 
sein  würde,  d.  h.  der  in  der  von  uus  gekennzeichneten  Weise 
kapitalisirte  Ertragswerth.-’9) 

Es  sei  bemerkt,  dass  auch  die  Gutsüberlassungsverträge 
diesem  bäuerlichen  Pflichttheilsrechte  unterworfen  siud.  Das 
ist  klar,  wenn  man  sie,  wie  wir,  als  vorausgenommene  Erbes- 
regulirung ansieht.  Jedoch  auch  wenn  man  sie  anders  erklärt, 
z.  B.  als  Kauf,  so  ist  die  Anfechtung  doch  als  inofficiosa  donatio 
möglich,  da  der  Kauf,  soweit  er  erheblich  hinter  dem  wahren 
Werthe  des  Gutes  zurückbleibt,  eine  Schenkung  darstellen 
würde.  Dass  der  Anerbe  vollends  auch  zu  hohe  Abfindungen 
anfechten  kann,  ist  noch  weniger  zweifelhaft.  Es  bietet  sich 
ihm  hierzu  die  römische  querela  iuofficiosae  dotis  ja  sozusagen 
von  selbst  dar.  Nur  die  Begr  enzung  der  Inoffiziosität  einer  dos 
ist  auch  hier  das  Abweichende  vom  gemeinen  Rechte.  Gerade 
für  den  Fall  der  Festsetzung  der  Abfindungen  durch  Alten- 
theilsvertrag  haben  denn  auch  die  Schriftsteller  vornehmlich  die 
Anwendbarkeit  des  Notherbrechts  erörtert.210)  Denn  für  den 


ihre,  möglicherweise  erheblich  unter  dein  gewöhnlichen  Pflichttheile  zurück- 
bleibende,  Aussteuer.  Der  Anerbe  dagegen  kaun  anfechten,  auch  wenn 
ihm  sein  gemeiner  Pflichttheil  unbeschwert  geblieben  ist.  Denn 
da  er  nach  Hauernrccht  mehr  zu  verlangen  hat  als  diesen,  so  ist  sein  bauer- 
rechtlicher Pflichttheil  verletzt.  — So  auch  dio  angeführten  Schriftsteller. 

**)  Hannover  § 18;  Westfalen  §22,  Brandenburg  § 15,  Schlesien  § 16. 
Schleswig-Holstein  § 22,  Cassel  § 29. 

330 ) So  namentlich  Busch  a.  a.  O.  Selbstverständlich  ist,  dass  diese 
sogenannte  querela  inoffleiosae  douationis  seu  dotis  nicht  gleich  beim  Abtritt 
des  Vaters  auf  das  Altentheil,  sondern  erst  bei  seinem  Tode  angestrengt 
werden  kann,  wie  Busch  treffend  ausfiihrt,  — Vgl.  Steiuaker  a.  a.  O., 
Scholz  a.  a.  0. 


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223 


gewöhnlichen  Fall,  wo  die  Brautschätze  nach  dem  Tode  des 
Vaters  unter  Mitwirkung  eines  Beamten  bestimmt  werden, 
nahm  man  gerade  wegen  der  Mitwirkung  dieses  Rechtskundigen 
an,  dass  grobe  Verletzungen  des  Pflichttheils  nicht  mit  unter- 
laufen würden.231) 


§ 27. 

Die  zur  Sicherung  des  Anerbenrechts  gegebenen  Rechts- 
mittel sind  die  allgemeinen  erbschaftlicheu. 

Der  Anerbe  fordert  sein  Gut  mit  der  Erbschaftsklage, 
ebenso  die  Miterben  ihre  Abtindungen.  Auch  die  gemeinrecht- 
lichen vorläufigen  Sicherungsmittel  des  Erbschaftsbesitzes,  das 
remedium  ex  lege  ultima  C.  VI,  33  und  das  intcrdictum  quorum 
bonorum,  sind  durchaus  zulässig.'-'2)  Wollte  man  dagegen  das 
Anerbenrecht  als  gesetzliches  Legat  auf  eiue  Universitas  von 
Sachen  auffasseu,  so  wären  für  den  Anerben  natürlich  nur  die 
Rechtsmittel  der  Legatare  gegeben.  Für  das  Höferecht  trifft 
dieso  Theorie  zu,  da  doit  der  Anspruch  des  Auerben  nur  ein 
gesetzliches  Legat  ist,  wie  oben  dargetliau  wurde.  Da  es  sich 
um  ein  Prälegat  handelt,  würde  gegen  die  Miterben  auch  das 
iudicium  fainiliae  herciscundae  zustehen.  Natürlich  kann  der 
Anerbe  wie  jeder  Erbe  auch  die  einzelnen  Sachen  mit  der 
Siugularklage  verfolgen  und  die  rei  vindicatio  erheben,  nach 
den  Höfegesetzeu  jedoch  nur  daun,  wenn  ihm,  wie  nach  dem 
hannoverschen  Gesetz,  das  Gut  sofort  aufällt. 


231 ) Manche  schlossen  iu  diesem  Falle  sogar  die  Anfechtung  ganz  aus 
(so  Scholz  S.  64  ff.),  weil  durch  das  Handeln  des  Beamten  die  Auseinander- 
setzung obrigkeitlich  contirmirt  werde.  Das  ist  nicht  richtig.  Denn  be- 
kanntlich kann  auch  eiu  von  einem  Beamten  aufgenommeues  Testament  an- 
gefochten  werden.  Keinen  anderen  Charakter  hat  die  Aufnahme  oder 
Protocollirung  der  Erbauseinandersetzung.  Haben  allerdings  die  Abfindlinge 
die  Auseinandersetzung  genehmigt,  so  kann  wegen  dieser  Genehmigung 
zunächst  nicht  die  Pflichttheilsklage  erhoben  werden.  Ist  die  Genehmigung 
aber  in  der  schuldlos  irrtbiimlichen  Meinung  erfolgt,  die  Auseinandersetzung 
sei  so,  wie  sie  der  Beamte  vorgenommen,  die  gesetzliche,  so  kann  die  Ge- 
nehmigung selbst  wegen  Irrthums  und  dann  folgeweise  auch  die  Abfindung 
angefochten  werden. 

***)  Busch  S.  151  (er  lässt  das  Recht  auf  Abfindung  durch  Verjährung 
der  Erbschaftsklage  erlöschen).  Scholz  S.  100,  104.  — 


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224 


Inwieweit  die  Plliehttheilsklage  gegeben  ist,  haben  wir 
schon  erörtert. 

Lebhafter  Streit  herrscht  aber  in  dem  Falle,  wo  die  Ab- 
findungen durch  Altentheilsvertrag  festgesetzt  siud,  darüber  ob 
die  Miterben  dann  ein  Klagerecht  auf  diese  Abfindung  haben, 
und  welches  sie  haben. 

Die  strengen  Vertreter  der  Ansicht,  welche  die  Gutsüber- 
lassung als  Kauf  ansieht,  sprechen  den  Abfindlingen  hier  jegliche 
Klage  ab,  da  der  Kauf  als  einfacher  Vertrag  nur  Rechte 
zwischen  den  unmittelbar  Contrahirenden,  dem  Vater  und  dem 
Anerben,  erzeuge  und  für  die  anderen  Kinder  res  inter  alios  acta 
sei.2*')  Aber  wenn  irgendwo,  so  ist  es  hier  mit  den  Händen 
zu  greifen,  dass  die  Gutsüberlassung  ein  Kauf  nicht  ist  und 
nach  dem  eigenen  Willen  der  Contrahenten  nicht  sein  kann. 
Denn  wie  kann  der  abtreteude  Vater,  der  sein  Hans  möglichst 
genau  zu  bestellen  wünscht,  beabsichtigen,  seinen  jüngeren 
Kindern  jegliches  feste  Recht  gegen  ihren  Bruder  zu  ent- 
ziehen! Nein,  er  will  auch  diese  durchaus  sicher  gestellt 
wissen;  er  will,  dass  nicht  nur  er  auf  Zahlung  des  Geldes 
dringen  könne,  sondern  dass  jene  gleichfalls  dazu  im  Stande 
sind,  auch  wenn  er  selbst  nicht  mehr  über  die  Ausführung  des 
Vertrages  zu  wachen  vermag.  Deshalb  muss  er  darauf  aus- 
gehen, ihnen  eiu  selbstständiges  und  eigenes  Klagerecht  zu  ge- 
währen; und  der  Anerbe  muss,  um  den  Vortheil  der  Gutsüber- 
gabe einzuheimsen,  sich  dieser  Absicht  fügen,  so  dass  also  in 
der  Tliat  der  beiderseitige  Vcrtragswille  auf  jenes  selbstständige 
Klagerecht  der  Miterben  abzielt. 

Die  Praxis  hat  es  denn  auch  mit  geringen  Schwankungen 
stets  zugestanden.  Sie  hat  sich  dabei  zum  Theil  auf 

die  Auffassung  des  Leibzuchtvertrages  als  eines  Vertrages 
zu  Gunsten  Dritter  gestützt.  Aber  diese  Stütze  war 
schwach,  da  es  ja  bis  zum  bürgerlichen  Gesetzbuche  be- 
kanntlich selbst  sehr  ungewiss  war,  ob  Verträge  zu  Gunsten 
dritter  diesen  ein  eigenes  Recht  gewähren.  Am  besten  ver- 
einbar mit  allen  praktischen  Consequeuzen  zeigt  sich  deshalb 
auch  hier  wieder  die  Lehre  von  der  suecossio  antecipata.  Denn 


a3)  So  iiameuilich  l'udita  t>.  110  ff. 


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225 


wenn  die  Gutsabgabe  lediglich  eine  vorausgenommene  Erb- 
regelung ist,  so  ist  der  Anspruch  der  Miterben  mit  dem  Erb- 
ansprnche  identisch.  Sie  fordern  deshalb  ihre  Abfindungen  mit 
den  erbrechtlichen  Rechtsmitteln.  Dass  der  Anspruch  inhaltlich 
auf  die  im  Auszugsver  trage  normirte  Summe  beschränkt  ist, 
rührt  daher,  weil  der  Vater  ja  das  Recht  hat,  den  Erbtheil 
durch  Testament  oder  divisio  parentum  auf  eine  bestimmte 
Summe  zu  begrenzen,  und  dies  Recht  unter  Bauern  schon  beim 
Zuge  auf  die  Leibzucht  durch  den  Altentheilsvertrag  wie  durch 
ein  Testament  ausüben  darf.  Wem  eine  erbrechtliche  Klage 
bei  Lebzeiten  des  Erblassers  ungeheuerlich  erscheint,  wer  sich 
mit  dem  Gedanken  nicht  befreunden  kann,  dass  der  Auszügler 
durch  seinen  Abtritt  gewissermassen  sich  selbst  zum  bürgerlichen 
Tode  verurtheilt  (vgl.  oben  bei  Anm.  187),  der  mag  den  Alt- 
sitzer, so  lange  er  lebt,  allein  über  die  Ausführung  seines  Ver- 
trages wachen  lassen,  aber  nach  dessen  Tode  kann  auch  er 
den  Miterben  die  selbstständige  Klage  nicht  weigern. 

Ob  neben  diesen  Klagen  zur  Sicherung  der  bauerrecht- 
lichen Ansprüche  noch  besondere  Mittel  gegeben  sind,  nament- 
lich ob  die  Miterben  einen  dinglichen  Anspruch  an  das  Gut 
wegen  ihrer  Abfindung  haben,  d.  h.  ob  diese  eiuc  Reallast  ist, 
darüber  besteht  unter  den  Sachkundigen  grosse  Uneinigkeit.314) 


'2M)  Als  Rcallast  behandeln  die  Ablagen:  Wigand,  Paderborn  § 72; 
Runde  S.  206  ff.;  Rusch  S.  147.  — Eigentümlich  ist  die  Ansicht  Steinackers. 
Er  sagt  Anm.2  aut  S.  Mil):  »Den  Abzufindenden  kömmt  bis  zu  ihrer  Befriedigung 
ein  aus  dem  Miteigeuthumu  hervorgehendes  dingliches  Recht  am  Uute  zu, 
welches  sich  unter  andern  auch  durch  den  Vorzug  der  Erbgelder  im  Con- 
curse  oder  eigentlich  durch  das  ihnen  darin  gebührende  Separationsrecht 
äussert.“  Danach  würde  also  auch  der  nach  dem  Tode  des  Vaters  aut'  dem 
Hofe  seines  Bruders  fortlebeude  Abfindling  bis  zu  seinem  wirklichen  Austritt 
und  bis  zur  Zahlung  der  Abfindung  Miteigenthiimer  des  Hofes  bleiben.  Das 
stimmt  ausgezeichnet  zur  alten  Stellung  des  Abfindlings  als  Uesaimuthäuders 
am  Eainiliengute,  aus  dem  ihn  erst  der  Austritt  entfernt.  Aber  wir  haben 
oben  festgestellt,  dass  allmählich  der  Anerbe  von  vornherein  zum  Alleiu- 
erben  und  alleinigen  EigenthUtner  gestempelt  wurde  Die  Ansicht  trifft  also 
nicht  mehr  zu,  sie  ist  aber  ein  Zeuguiss  dafür,  wie  lebendig  noch  die  An- 
schauungen vom  Miteigenthum  der  Hausgenossen  fortwirken.  — Eür  die 
Höfegesetze,  wo  — mit  Ausnahme  des  hannöverschen  Gesetzes  — die  Mit- 
erben wieder  zunächst  auch  das  Gut  erben  und  ihr  Miteigenthum  daran 
dann  erst  bei  der  Auseinandersetzung  au  den  Anerben  autreten,  trifft  aller- 
dings die  Steinackcrschc  Ansicht  bis  zur  Auseinandersetzung  zu. 

v.  Uultzig,  Urumlerbreoht.  15 


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226 


Wir  können  die  Abfindung  nicht  für  eine  Reallast  halten.235) 
Sie  ist,  wenn  auch  kein  Erbtheil,  so  doch  ein  Ersatz  dafür. 
So  wenig  nun  der  Erbtheil  Reallast  wäre,  so  wenig  ist  es  auch 
die  Abfindung;  sie  stellt  vielmehr  lediglich  eine  persönliche  Schuld 
des  Anerben  und  nur  des  Anerben  dar.  Dass  sie  noch  durch 
Hypothek  besonders  versichert  und  so  dinglich  werden  kann, 
ist  ja  klar.  Aber  das  Concursprivileg,  das  sie  früher  unabhängig 
davon  in  einigen  Theilen  Deutschlands  hatte,  ist  durch  die 
Concursordnung  aufgehoben. 

Die  Gefahr,  welche  diese  Ablehnung  des  dinglichen  Characters 
der  Ablagen  für  die  Miterben  heraufbeschwört,  die  Gefahr,  dass  der 
Anerbe  durch  Verkauf  des  Gutes  sie  um  ihre  Abfindungen  bringe, 
wurde  in  früheren  Zeiten  dadurch  gehoben,  dass  der  Anerbe  dasGut 
überhaupt  nicht  verkaufen  oder  per  successionem  singulärem  ver- 
äussern  durfte.  Seine  Universalsuccessoren  mussten  aber  als  Erben 
seiner  Schulden  auch  die  Brautschätze  auszahlen.  So  war  praktisch 
doch  jeder  Gutsinhaber  Schuldner  der  Abfindung,  wie  er  es  bei 
einer  Reallast  gewesen  wäre,  und  durch  diesen  Umstand  haben 
sich  selbst  Männer  wie  Wigand  dazu  verführen  lassen,23*1)  für 
die  Brautschätze  Reallastcharakter  in  Anspruch  zu  nehmen.'-17) 
Und  auch  heute  siud  praktisch  die  Abfindungen  meist  ding- 
liche Schulden,  da  sie  fast  stets  hypothekarisch  versichert  zn 
werden  pflegen.2*) 

Einige  Höfegesetze  haben  denn  auch  in  sehr  zu  billigender 
Weise  diese  praktische  Regel  zur  gesetzlichen  erhoben  und  die 
Ablagen  wenigstens  insoweit  für  dingliche  Schulden  erklärt,  dass 
sie  einen  Pfandrechtstitel  dafür  gewähren.  (Westfalen  § 20, 
Schleswig-Holstein  § 20,  Cassel  § 23,  Braunschweig  § ll). 


Ebenso  Stubbe  Bd.  V S.  407. 

**)  Denn  nichts  anderes  als  die  Verpflichtung  des  Sohnes  und  Universal- 
successors  zur  Zahlung  der  Abfindungen  erweisen  die  Stellen  der  Meier- 
ordnung und  das  Delbrücker  Landurthcil.  auf  welche  sich  Wigand  a.  a.  0. 
beruft.  — Auf  die  in  deu  Besitz  des  Hofes  gelangenden  Universalsuccessoren 
beschränkt  die  Zahlungsverpflichtung  auch  Frommhold  8.  47. 

‘J3’)  Stellenweis  auch  die  Praxis.  Vgl.  darüber  Stobbo  Bd.  V S.  407. 

“"J  Der  Naehlassrichter  nimmt  stets  den  Antrag  auf,  die  Erbgelder 
hypothekarisch  cintragen  zu  lassen  und  übersendet  sogar  von  Amtsweget 
die  betreffenden  Verhandlungen  mit  dem  Ersuchen  um  Eintragung. 


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227 


§ 28. 

Die  Gründe,  aus  welchen  das  Recht  des  Anerben  und  das 
auf  Abfindung  erlöschen,  sind  dieselben,  welche  die  Vernichtung 
jedes  anderen  Erbrechts  herbeiführen:  Enterbung,  Verzicht, 
Klageverjährung,  für  das  gemeine  Recht  auch  Unwürdigkeit.2®) 

Sowohl  für  die  Abfindungen  wie  für  das  subjektive  An- 
erbenrecht haben  aber  die  Eigentümlichkeiten  des  Bauernrechts 
noch  besondere  Erlöschungsgründe  geschaffen.  Für  die  Abfindung 
ist  dies  nur  der  in  seinen  Folgen  schon  erörterte  Tod  in  der 
Were;  das  subjektive  Anerbenrecht  geht  noch  in  zwei  be- 
sonderen Fällen  verloren : durch  Ausheirathen  auf  einen  anderen 
Hof  und  durch  Unfähigwerden  zur  Landwirtschaft. 

Die  Ausheirat  brachte,  wie  wir  schon  wiederholt  betont 
haben,  ja  ursprünglich  den  Austritt  aus  der  Hausgenossenschaft 
und  damit  den  Verlust  jeglichen  Rechtes  am  väterlichen  Hofe 
mit  sich.  Dies  verlor  sich  später  im  allgemeinen;  allein  für 
den  gedachten  Fall  der  Ausheirat  auf  einen  anderen  Hof 
blieb  die  alte  Sitte  in  beschränktem  Umfange  lebendig. 
Regierungen,  Gerichte  und  Rechtslehrer  nämlich  setzten 
zwar  die  übrigen  Erben  gegen  den  Anerben  rücksichtslos 
hintenan;  allein  sie,  welche  die  uralten  Grundlagen  dieser  Be- 
nachteiligung nicht  kannten,  hatten  dabei  doch  gewissermassen 
stets  ein  schlechtes  Gewissen,  das  nur  durch  die  Rücksicht  auf 
das  Staatswohl  übertäubt  werden  konnte.  Dieses  konnte  nun 
nie  dafür  sprechen,  einem  Sohne,  der  durch  Ausheirath  einen 
anderen  Hof  bereits  gewonnen  hatte,  noch  den  väterlichen  zu 
billigen  Bedingungen  hinzuzugeben;  vielmehr  schien  es  fürder- 
samer,  auch  diesen  mit  einem  tüchtigen  Bauern  zu  besetzen. 
So  wurde  die  alte  Sitte,  welche  solche  Söhne  vom  Hofe  aus- 


'2a0)  Vgl.  Busch  S.  151  ff.,  Scholz  S.  129  (Die  Verjährung  ist  immer 
nur  die  dreissigjährige  der  Erbschaftsklage.  Von  einer  zehnjährigen,  deren 
Anwendbarkeit  Scholz  erörtert,  kann  gar  keine  Rede  sein.  Die  von  Scholz 
dafür  citirte  1.  1 Cod.  si  adversus  creilitorem  passt  gar  nicht  hierher), 
Struckmann  S.  90  ff.  und  Beitrag  VH,  wo  die  Folgen  des  Verzichts  in 
einer  im  Wesentlichen  auch  noch  heute  zutreffenden  Weise  behandelt  werden, 
worauf  verwiesen  werden  kann. 

15* 


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228 


schloss,  mit  Freuden  begrüsst  und  der  Anerbe  lediglich  aus 
dem  Kreise  der  im  Hofe  verbliebenen  Kinder  entnommen,  der 
Ausgeheirathete  aber  übergangen,  auch  wenn  er  sonst  der  An- 
erbe gewesen  wäre.  Die  Abfindung  dagegen  verlor  er  nicht 
mehr.2*’)  Hatte  er  sie  allerdings  schon  vorher  — und  das 
geschah  ja  regelmässig  bei  der  Verheirathung  — erhalten,  so 
war  er  auch  aus  diesem  Grunde  vom  Hofe  ausgeschlossen,  da 
er  dadurch  ja  auf  alle  Ansprüche  an  denselben  „bis  auf  den 
ledigen  Anfall“  verzichtet  hatte. 

Was  die  Unfähigkeit  zur  Landwirtschaft  anlangt,  so  wird 
sie  von  allen  Schriftstellern  als  ein  Verlustgrund  des  subjektiven 
Anerbenrechts  aufgeführt;  die  Gründung  dieser  Lehre  auf  das 
Hofrecht  und  das  Interesse  der  Gutsherrschaft  an  der  tüchtigen 
Besetzung  des  Hofes  ist  aber,  wenn  auch  nicht  ganz  verfehlt,  so 
doch  nicht  tiefgreifend  genug.  Die  Regel  stammt  vielmehr  noch 
aus  den  Zeiten,  wo  der  Grund  und  Boden  von  der  Gemeinde 
verliehen  wurde.  An  Unfähige  erfolgte  diese  Verleihung  nämlich 
niemals;  solche  waren  deshalb  von  selbst  ausgeschlossen.  Denn 
es  ist  ein  durchaus  1 and  rechtlicher,  damals  entstandener  und 
noch  bis  heute  verfolgbarer  Gedanke,  dass  der  Besitz  von 
Grund  und  Boden  nur  Tüchtigen  gewährt  werdeu  soll,  da  er 
nicht  nur  Rechte  verleiht,  sondern  auch  schwere  Pflichten  auferlegt 
gegenüber  der  Gesammtheit,  welcher  aller  Boden  eigentlich  gebührt. 
Zudem  ist  die  Stellung  des  Grundbesitzers  eine  obrigkeitliche. 
Koch  heute  ist  auf  seinem  Besitzthum  jeder  selbst  die  Polizei; 
auf  grösseren  Ländereien  wird  der  Grundbesitzer  sogar  staatlich 
als  Obrigkeit  anerkannt;  welche  Fülle  von  öffentlichen  Be- 
fugnissen vollends  er  früher  hatte,  hat  Gierko  in  seinem  Ge- 
nossenschaftsrecht eingehend  dargelegt.  Aus  allen  diesen 
Gründen  hatte  der  Grundbesitzer  eine  halbe  Beamtenstellung 
und  darum  durfte  keiner  ein  körperlich  oder  geistig  siecher 
oder  unehrlicher  Mann  sein,  ebensowenig  wie  irgend  ein  Beamter 
dies  sein  konnte. 


M0)  So  Scholz  S.  123,  Struckmann,  Beitrag  9,  Steinacker  S.  550.  Vgl. 
auch  Calenberger  Meierordnung  Cap.  V,  § 3:  .Die  mit  einem  Hofe  nicht 

versehenen  Kinder  oder  Anverwandten  haben  jedoch  vor  denen,  die  am 
andere  Hofe  gekeirathet,  ein  Vorzugsrecht.“ 


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229 


Das  Interesse  der  Grundherrschaften  hat  dann  später  zur 
Erhaltung  dieser  Sätze  allerdings  viel  beigetragen.  Allein  die 
Grnndherrschaften  haben  hier  wie  sonst  nicht  anderes  gethan, 
als  dass  sie  sich  an  die  Stelle  der  alten  Markgenossenschaften 
setzten,  und  die  öffentlichen  Interessen,  deren  Wahrung  bisher 
jenen  obgelegen  hatte,  zu  ihrem  eigenen  Vortheil  verfolgten, 
um  schliesslich  selbst  wieder  diese  Wächterschaft  an  das  ge- 
meine Beste  des  modernen  Staates  abzngeben.241) 

Nach  den  Höfegesetzen  gelten  die  vorerwähnten  allgemeinen 
Erlöschungsgründe:  von  den  besonderen  bauernrechtlichen  haben 
sie  in  beschränkter  Weise  den  Tod  in  der  Were  (vgl.  oben 
§ 24)  und  die  Unfähigkeit  aufgenommen.  Wenigstens  zielt  es 
auf  letztere  ab,  wenn  z.  B.  § 11  des  Brandenburgischen  Ge- 
setzes bestimmt: 

„Kinder,  welche  zur  Zeit  der  Erbtheilung  wegen 
Geisteskrankheit  oder  Verschwendung  entmündigt  sind, 
sowie  Kinder,  welche  eine  Verurtheilung  zur  Zuchthaus- 
strafe und  zugleich  zum  Verlust  der  bürgerlichen  Ehren- 
rechte erlitten  haben,  stehen  den  übrigen  Miterben  nach.“ 
(Aehnlich  Westfalen  § 13,  gleichlautend  Schlesien  § 11.) 

Neben  diesen  Erlöschungsgründen  haben  aber  gerade  die 
Höfegesetze  für  ihren  Geltungsbereich  einige  neue  geschaffen. 
Es  sind  dies  eigentlich  nur  mittelbare  Verlustgründe  der  hier 
betrachteten  subjektiven  Befugnisse;  denn  sie  betreffen  in  erster 
Reihe  das  Ruhen  des  objektiven  Anerbenrechts.  Wenn  aber 
der  ganze  Complex  der  höferechtlichen  Rechtsnormen  nicht  in 
Anwendung  kommen  kann,  so  fallen  damit  auch  die  daraus 
fliessenden  und  darauf  fussenden  subjektiven  Befugnisse  fort. 


M1)  Die  wirtschaftliche  Tüchtigkeit  des  Anerben  fordern  sSmmtliche 
Meierordnungen : Dolbrücker  Landrecht  von  1757  Cap.  2 § 4:  „Da  aber 
der  Anerbe  presshaft,  ...  so  fällt  das  Erbrecht  auf  den  unmittelbar 
vorhergehenden  Sohn“.  Dolbrücker  Landurtheil  von  1734:  „ . . . wenn  der 
jüngste  Sohn  capabel  wäre,  dem  Hofe  vorzustehen  . . .“  Calenberger 
Meierordnung  § 8 „Alle  Erbfolge  in  Meiergiitcr  setzt  voraus,  dass  der  neue 
Wirth  der  Stelle  gehörig  vorzustehen,  mithin  die  davon  abzutragende  Ge- 
fälle und  zu  leistende  Prästanda  abzuführen  im  Stande  sei“  u.  a.  ra.  — 
Von  neueren  Schriftstellern  vgl.  besonders  Stobbe  Bd.  V,  S.  375  ff.,  Pfeiffer 
S.  218  ff.,  Hunde  S.  IG,  Frank  S.  9,  Frommhold  S.  39. 


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230 


Solches  Ruhen  des  objektiven  Anerbenrechts  mit  allen 
seinen  gekennzeichneten  Folgen  tritt  nun  ein: 

1)  wenn  das  Landgut  kein  Landgut  mehr  ist,  d.  h.  „wenn 
seine  Gebäude  zur  Zeit  des  Todes  des  Erblassers  mit  einem 
den  Grundsteuerreinertrag  übersteigenden  Nutzungswerthe  zur 
Gebäudesteuer  angesetzt  sind“,  oder  wenn  es  zur  Zeit  des 
Todes  wegen  Veränderungen  im  Umfange  nicht  mehr  ein- 
tragungsfähig wäre; 

2)  wenn  der  Erblasser  bei  seinem  Tode  nicht  mehr  allein 
Eigonthümer  ist.242) 

§ 29. 

Im  letzten  Paragraphen  des  dogmatischen  Theiles  kommen 
wir  endlich  dazu  zu  prüfen,  wie  die  ehelichen  Güterverhältnisse 
auf  das  Anerbenrecht  einwirken. 

Es  ist  dies  eine  hervorragend  wichtige,  im  Leben  überaus 
häufig  vorkommende  Frage,  zugleich  aber  auch  eine  der 
schwierigsten.  Und  sie  lässt  sich  nicht  anders  von  einem 
richtigen  Standpunkte  ans  betrachten,  als  wenn  man  auf  die 
gesammte  historische  Entwicklung  des  ehelichen  Güterrechts 
zurückblickt. 

Die  Geschichte  des  ehelichen  Güterrechts  ist  überaus 
streitig.  Der  Verfasser  aber  ist  durch  eingehende  Studien, 
deren  Wiedergabe  er  sich  leider  mit  Rücksicht  auf  den  schon 
zu  sehr  angeschwollenen  Umfang  der  Arbeit  versagen  muss,  zu 
der  Ueberzeugung  gelangt,  dass  allein  Huber  in  seiner  bereits 
vielfach  angezogenen  Schrift  und  Heusler  mit  der  ausgezeichneten 
Darstellung  des  ehelichen  .Güterrechts,  die  er  in  seinen  Insti- 
tutionen (Bd.  II  S.  292  ff.)  giebt,  das  Richtige  getroffen  haben. 
Es  ist  Staunens werth,  wie  diese  beiden  Männer,  offenbar  ohne 
sich  mit  den  anderen  arischen  Rechtsordnungen  näher  beschäftigt 
zu  haben,  lediglich  ans  ihrem  genialen  Verständnisse  für  den 
Geist  des  deutschen  Rechtes  heraus  diejenigen  obersten  Prinzipien 
aufgefunden  haben,  deren  Richtigkeit  ein  Blick  auf  die  sonstigen 
ältesten  arischen  Zustände  ausser  allem  Zweifel  stellt.242*) 


***)  Hannover  § 21.  Westplialcn  § 25,  Brandenburg  § 18,  Schlesien 
§ 18,  Schleswig-Holstein  § 24,  Cassel  § 81. 

sw*)  Heusler  nimmt  nie  auf  Huber  Bezug,  citirt  seine  Schrift  auch 
nicht.  Ks  muss  deshalb  angenommen  werden,  dass  er  sie  nicht  gekannt 


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231 


Wir  haben  oben  (§  7)  schon  einiges  über  die  ursprüngliche 
Stellung  der  Frauen  mitgetheilt;  es  verdient  aber  wieder  und 
wieder  hervorgehoben  zu  werden,  dass  auch  die  Ehefrau  in  die 
Hausgenossenschaft  des  Mannes  eintritt,  aus  ihrer  alten  aber 
ausscheidet. '•M2b)  Da  alles  Recht  ursprünglich  nur  aus  der  Zu- 
gehörigkeit zu  einer  Hausgenossenschaft  folgte,  so  liegt  die 
juristische  Bedeutsamkeit  jenes  Satzes  auf  der  Hand.343)  Es 
ist  der  Ruhm  Hubers  und  Heuslers,  ihn  zuerst  ausgesprochen 
und  damit  den  Schlüssel  für  die  gesummte  rechtliche  Behand- 
lung der  Ehefrau  in  alter  Zeit  gefunden  zu  haben. 

Das  Wenige,  was  die  Ehefrau  in  die  Ehe  mitbrachte,  fiel 
deshalb,  da  sie  als  Hausgenossin  kein  eigenes  Vermögen  haben 
konnte,  in  das  Familienvermögen,  also  in  die  Verwaltung  und 
später  in  das  Eigenthum  des  Mannes.343*)  Sie  erwarb  dagegen 
wie  alle  Frauen  das  Recht  auf  Unterhalt,  auf  den  Beisitz  in 
dem  Hausgute  der  neuen  Familie.  Ein  Theilrecht  hatte  sie 
nicht,  wie  es  ja  Weiber  ursprünglich  überhaupt  nicht  hatten. 
Für  die  ältesten  Zeiten  ist  deshalb  durchaus  richtig  jene  uralte 
römische  Regel,  welche  gewiss  noch  in  arische  Zeiten  hinauf- 
reicht, dass  eine  richtige  Ehefrau  filiae  loco  stehe. 

An  dieser  Stellung  der  Ehefrau  rüttelten  zwei  Momente. 
Zunächst  war  es  die  Preisgabe  des  alten  Verbots  der  Wieder- 
verheirathnng  der  Wittwen.344)  So  lange  dies  bestand,  war  zu 
einer  Ausdehnung  der  Frauenrechte  kein  Anlass;  der  Beisitz 
in  den  Gütern  bis  zum  Tode  genügte  völlig  allen  Ansprüchen. 
Als  aber  die  Wittwen  wieder  heirathen  durften,  musste  die 


hat  und  selbstständig  auf  seine  Theorie  gekommen  ist.  Wenn  aber  zwei 
bedeutende  Männer  selbstständig  auf  den  gleichen  ticdanken  kommen,  so  ist 
das  ein  starker  Beweis  dafür,  wie  sehr  eine  tiefgehende  Forschung  auf  ihn 
hindrängt. 

Huber  S.  29. 

*•*)  Die  römische  capitis  deminutio  minima  der  Haustochter  bei  Eintritt 
in  eine  manus-Elie  ist  auch  so  eine  Conseqneuz  davon,  ln  einem  Augen- 
blick ist  die  Tochter  in  keiner  Hausgenossenschaft,  also  rechtlos. 

2<3»j  Huber  S.  22  ff. 

214J  Ueber  das  einstige  Bestehen  dieses  Verbotes  vgl.  Heusler  a.  a.  O. 
Ueber  die  gleichartige  Rechtslage  bei  den  Indern  vgl.  Leists  citirte  Werke. 
Das  Besteben  gleicher  Gewohnheit  hei  den  Römern  beweist  die  noch  später 
bestehende  sacrale  Benachtbeiligung  der  wiederhei rathenden  Wittwe. 


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232 


Frage  auftauchen,  ob  nicht  auch  ihnen,  die  doch  filiae  loco 
standen,  bei  ihrem  dann  erfolgenden  Wiederaustritte  aus  dem 
Hausvermögen  eine  Mitgabe  aus  demselben  oder  ein  Theilrecht 
gebühre,  wie  es  den  Töchtern  allmählig  gewährt  war.345)  Man 
sieht,  wohin  diese  Rcchtsentwicklung  trieb;  sie  musste  wie  bei 
der  Tochter  zur  Theilung  des  gesammten245*)  Hansgntes, 
gleichviel  ob  es  von  Mann  oder  Frau  herrührte,  zwischen  letzterer 
und  den  Kindern  führen  und  der  Frau,  die  ja  filiae  loco  stand, 
sogar  ein  unbedingtes  Vorrecht  vor  den  ferneren  Verwandten 
geben. 

Diese  naturgemässe,  aus  den  alten  Rechtsprinzipien  folgende 
Entwicklung  des  ehelichen  Güterrechts,  die,  soweit  sie  das 
Theilrecht  betrifft,  erst  dadurch  möglich  war,  dass  Weiber 
grunderwerbsfähig  wurden,  — diese  Entwicklung  wurde  merk- 
würdigerweise gerade  wieder  durch  die  neue  Grunder- 
werbsfähigkeit der  Weiber  gekreuzt.  Die  Voraussetzung  zu 
jener  Entwicklung  war  ja,  dass  die  Frau  ihr  gesammtes  Ein- 
gebrachtes dem  neuen  Hausvermögen  zu  Eigen  hingab.  Sie 
hätte  demgemäss  auch  die  Liegenschaften,  die  sie  jetzt  ein- 
bringen  konnte,  hingeben  müssen.  Dem  arbeitete  jedoch  der 
von  der  ehemaligen  Unfähigkeit  der  Frauen  zu  Grundbesitz  noch 
festgehaltene  Gedanke  des  Stammgutes  entgegen,  demzufolge 
die  den  Frauen  mitgegebenen  Güter  hinterfällig  blieben.'-’4:,b) 

War  aber  infolgedessen  die  Frau  nicht  fähig,  ihr  ge- 
sammtes Vermögen  dem  neuen  Hause  zu  widmen,  so  wurde 
sie  auch  nicht  Hausgenossin.  Gerade  wie  bei  den  Römern  trat 
also  mit  der  fortschreitenden  Rechtsfähigkeit  der  Frauen  eine 
Lockerung  des  ehelichen  Bandes  durch  Erschütterung  der  Haus- 
genossinnenstellung der  Frauen  ein ; und  das  Resultat  war  auch 
hier  wie  da  der  Ausweg,  dass  die  frühere  gänzliche  Vereinigung 
des  Mannes-  und  Frauenvermögens  in  eine  auf  Zeit  für  die 
Dauer  der  Ehe  verwandelt  wurde.-48) 


®*8)  Vgl.  Uber  die»  allmähliche  Aufkommen  eines  Theilrecht*  nament- 
lich Köhler  .Die  Gewohnheitsrechte  de*  Pendschab“  und:  Derselbe  .Indisches 
Ehe-  und  Familienrecht“  in  Ztschr.  f.  vgl.  Rechtswissenschaft  ßd.  3. 
s*'’*)  Huber  S.  -J 1 und  33. 

*ab)  Huber  S.  62. 

mo)  Penn  trotz  der  rechtlichen  Verschiedenheiten  hat  doch  sach- 
lich das  römische  Dotalsystem  mit  der  deutschen  Verwaltuugsgemeinschaft 


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233 


Diese  beiden  Entwicklungstendenzen,  Gütereinheit  und 
Gütertrennung,  ringen  nun  miteinander,  und  es  entstehen  in- 
folgedessen die  wunderlichsten  Mischformen.  Welcher  der  Sieg 
beschieden  war,  wurde,  wie  Heusler  treffend  ausgeführt  hat, 
im  Einzelnen  wohl  vielfach  durch  wirthschaftliche  Um- 
stände bestimmt.  Im  Grossen  ist  aber  auch  hier  die  Rechts- 
bildung nicht  von  der  Zweckmässigkeit,  sondern  von  den  in  der 
Volksseele  treibenden  uralten  Rechtsgedanken  bestimmt  worden, 
denn  es  ist  ein  stetes,  langsames,  aber  unaufhaltsames  Vor- 
dringen der  Gütergemeinschaft  zu  beobachten.  Und  dies  ist, 
— gerade  wie  die  Vorliebe  vieler  heutiger  Rechtslehrer  für  die 
Gütergemeinschaft,  welche  der  Innigkeit  des  ehelichen  Lebens 
am  gemässcsten  sei,  — einfach  darauf  zurückzufOhren,  dass  die 
Gütergemeinschaft  nichts  ist  als  die  auch  der  Frau  gegenüber 
vollständig  bewirkte  Durchführung  des  Gedankens  der  Haus- 
genossenschaft, der  von  jeher  und  noch  heute  tief  im  Rechts- 
bewusstsein der  Deutschen  wurzelt. 

In  der  Gütergemeinschaft  tritt  die  Frau  in  das  Hausver- 
mögen des  Mannes  ein;  sie  verliert  deshalb  das  Sondereigen 
an  ihrem  Eingebrachten;  dafür  erhält  sie  Gesammthand- 
berechtigung  an  dem  ganzen  neuen  Familiengute.  Bei 
kinderlosem  Tode  eines  Elterntheils  schliesst  deshalb  der  Ueber- 
lebende  kraft  der  Gesamrathand  alle  anderen  Erben  aus,  wie 
es  der  Spruch  besagt:  „Längst  Leib,  längst  Gut“.247)  Bei  be- 
kindeter  Ehe  stehen  Eltern  und  Kinder  als  Hausgenossen  in 


Überaus  viel  Aehnlichkeit,  wie  eich  denn  aueb  in  der  heutigen  Behandlung 
die  Unterschiede  zwischen  beiden  Gütcrnrten  oft  nahezu  verwischen. 

t,~)  Dieser  Satz  ist  also  keineswegs  der  Grund  des  Erbrechts  des 
Ueberlebendeu  bei  unbehinderter  Ehe,  indem  dies  sich  etwa  aus  dem  Ständig- 
werden jenes  Satzes  als  gewohnheitsrechtlicher  Niederschlag  gebildet  hätte, 
sondern  umgekehrt  ist  die  ständige  Wiederkehr  des  Satzes  eine  Folge  jenes 
feststehenden  Erbrechts.  Gegen  die  Schrödersche  Methode,  viele  Rechts- 
bildungen als  gewohnkeitsrechtlichen  Niederschlag  vou  Verträgen  hinznstellen, 
ist  überhaupt  zu  hedeuken,  dass  die  Verträge  vielfach  das  Gewohnheitsrecht 
nicht  schufen,  sondern  ihrerseits  durch  das  Gewohnheitsrecht  in  ihrem  Inhalt 
bestimmt  wurden.  Vgl.  z.  B.  den  Leihebrief  von  1620  bei  Struben,  Be- 
festigtes Erbrecht  u.  s.  w.,  Anlagen:  „.  . . soll  sonsten  der  llof  nach 
dieser  alten  Gewohnheit  und  Landg  e brauch  hei  den  männlichen 
Erben  bleibeu.“ 


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I 


234 


einer  Gesammthand;  beim  Tode  eines  Elterntheils  erfolgt  des- 
halb Consolidation  im  Kreise  der  Hinterbliebenen,  welche 
zunächst  meist  noch  ungetheilt  fortleben  oder  aus  den  gesetzlich«! 
Gründen  zur  Theilung  schreiten.  Der  Massstab  der  Theilusr 
ist  begrifflich  gleichgültig,  überdies  auch  örtlich  verschieden.-4 
Es  ist  sonach  kein  Zufall,  wenn  das  Anerbenrecht  zürnest 
mit  der  Geltung  der  Gütergemeinschaft  zusammentriffl.  Da? 
Anerbenrecht  ist  ein  Spross  der  Hausgenossenschaft;  und  wo 
diese  besonders  lebendig  geblieben  war,  musste,  wie  wir  sähet 
auch  die  Gütergemeinschaft  zum  Durchbruch  kommen. 

Wir  werden  deshalb  bei  unserer  Betrachtung  des  Ver- 
haltens von  Anerbenrecht  und  ehelichem  Güterrecht  gegen- 
einander zunächst  die  Gütergemeinschaft  betrachten. 

Dabei  ist  zu  scheiden: 

1)  Es  stirbt  der  Mann.  Dann  hat  die  hinterbliebene  Frco 
— gleichviel  ob  das  Gut  von  ihr  oder  ihrem  Manne  herrührt.  - 
bei  unbekindeter  Ehe,  wie  schon  erwähnt,  das  Recht,  den  H 
zu  behalten.*4-'4*)  Bei  bekindeter  Ehe  hat  sie  zunächst  der 
Beisitz  in  den  Familiengütern,  d.  h.  sie  lebt  mit  ihren  Kindm 
ohne  Schichtung  weiter  als  Leiterin  des  Hauswesens  in  soge- 
nannter fortgesetzter  Gütergemeinschaft.  Falls  sie  sich  nicht 
verheirathete,  währte  nach  altem  Recht  dieser  Zustand  bis  zns 


Den  grössten  Unterschied  bilden  die  Theilung  nach  Kopitbei!  : 
und  die  nach  Hälften,  wo  die  eine  dem  parens  superstes,  die  andere  J-t 
Kindern  gebührt.  Der  Unterschied  lässt  sich  aber  auch  aus  den  Sitt't 
der  Gesammthand  erklären.  Die  Kopftheilung  ist  das  Ursprüngliche  (tri 
oben  Text  zu  Aura.  09  f.).  Die  Halbtheiluug  kam  auf.  als  man  verg»-> 
dass  die  Kinder  schon  hei  Lebzeiten  des  parens  mortuus  mit  in  der  0* 
sammthand  stehen.  Man  liess  sie  vielmehr  jetzt  erst  hei  dessen  Tode  einrijclt 
naturgemäss  dann  in  dessen  Theil.  Dieser  betrug  die  Hälfte,  da  er  c: : 
der  parens  superstes  bislang  als  alleinige  Gesammthäuder  angesehen  warr 
Ein  Beleg  dafür  ist  es,  wenn  Heusler  für  das  Gebiet  der  westfälischen  Halb 
theilung  sagt:  „Die  Kinder  wurden  als  ein  Theil  abgeschichtet,  befasi- 
sich  also  unter  sich  fernerhin  in  Gemeinderschaft.“  Die  Ansichten,  weit  e 
Heusler  über  die  Entstehung  der  westfälischen  Gütergemeinschaft  iz 
Einzelnen  aufiihrt,  kann  ich  deshalb  nicht  tbeilen.  Heusler  erklärt  )-■ 
auch  im  Widerspruch  mit  seinen  eigenen  sonstigen  Prinzipien  zu  sehr  < .* 
äusseren  Zufälligkeiten  und  zu  wenig  aus  dem  Wirken  grosser  Recht? 
gedanken. 

**•)  Vgl.  auch  unten  Aum.  253. 


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235 


Tode  der  Fran.  So  setzt  es  schon  die  lex  Thuringorum  voraus, 
welche  davon  spricht,  wie  eine  Mutter  bei  ihrem  Abscheiden 
ihren  Söhnen  „terram  dimittit“.248)  So  halten  es  auch  die  Weis- 
thfimer,  welche  bestimmen:  „Wär  aber  sach,  das  si  liberben  bi 
enander  gewunnint,  weder»  denn  under  inen  abgät,  so  ist  den 
kinden  ligend  und  varent  guot  halb»  gevallen,  doch  s öl  lind 
die  kind  weder  vater  noch  muoter  weders  lebet  zum 
teil  nit  nöten,  all  dieweil  es  sich  nit  verändert  (d.  h. 
yerheirathet)  es  wär  denn  sach,  dass  sie  wüstlich  hus  hettint“ 
(Grimm  V,  197,  ähnlich  V,  198  und  oft.)250)  Es  wird  also  hier 
der  Eintritt  des  Anerbenrechts  durch  das  eheliche  Gttterrecht 
bis  zum  Tode  auch  des  zweiten  Ehegatten  hinausgeschoben. 
Später  Hess  man  das  Anerbenrecht  schon  bei  Grossjährigkeit 
des  Anerben  eintreten  und  verwies  die  Wittwe  an  Stelle  des 
Beisitzes  auf  das  Altentheil.  Weiter  aber  wurde  das  Miteigen- 
thum der  Wittwe  gar  nicht  berücksichtigt.  Es  wurde  gerade 
wie  das  Miteigenthum  der  neben  dem  Anerben  stehenden  Kinder 
durch  besondere  Vortheile  ersetzt:  Dort  durch  die  Abfindung, 
hier  durch  das  Altentheil. 

Mehr  hatte  die  Wittwe  von  ihrem  Eigenthume,  wenn  sie 
zur  Wiederverheirathung  schritt.  Dann  kam  es  zu  einer  wirk- 
lichen Auseinandersetzung.  Sie  wurde  in  der  Regel  dadurch 
bewirkt,  dass  die  Wittwe  und  ihr  auffahrender  Mann  Mahljahre 
erhielten,  Interimswirthe  wurden,  wie  dies  oben  ausgeführt. 

Allein  wenn  der  Anerbe  schon  zu  alt  war,  so  ging  diese 
Art  der  Auseinandersetzung  nicht  mehr  an.  In  welcher  Art 
aber  sie  dann  bewirkt  wurde,  darüber  sind  die  Quellen  merk- 
würdig schweigsam.  Es  wird  dies  einfach  daher  rühren,  weil 
in  Praxi  jener  Fall  selten  vorkam.  Als  Grenze  für  die  Mahl- 
jahre galt  das  25.,  ja  das  30.  Lebensjahr  des  Anerben.  War 
er  aber  so  alt,  so  stand  seine  Mutter  gewiss  schon  in  den  Jahren, 


249)  Das  kann  nur  auf  den  Beisilz  gehen.  Denn  es  sind  nach  der 
lei  Thuringorum  zu  wahrem  Eigenthum  an  Liegenschaften  die  Weiher  noch 
unfähig.  Vgl.  Heusler  Bd.  II  8.  288  ff. 

*°)  Vgl.  auch  Weisthuui  von  Kcmichan  an  der  Mosel  im  Luxem- 
burgischen (Orimm  II,  248):  „ . . doch  lieheltnys  dem  lebenden  man  oder 
wybe,  das  er  syne  kinder  myt  dereui  gude  uuverdeilt  zu  im  belielt  bis  an 
syn  ende“. 


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23fi 


wo  sie  keine  Lust  mehr  nach  einer  zweiten  Heirath  verspürte, 
und,  wenn  sie  es  getlian  hätte,  schwerlich  den  dazu  gehörigen 
andern  Theil  noch  gefunden  haben  würde.  Gewiss  wurden 
auch  solche  Heirathen  durch  die  Volkssitte  missbilligt,  und 
deren  Zwang  war  früher  stark  genug,  auch  die  Widerstrebenden 
von  derartigen  Schritten  abzuhalten.2-’1)  Später  aber  sind  solche 
Heirathen  sicher  allmählig  häufiger  .geworden,  wie  sie  ja  auch 
heute  sich  ereignen. 

Die  dann  nüthige  Auseinandersetzung  konnte  nun  bei  der 
Untlieilbarkeit  desGutes  nicht  anders  erfolgen,  als  dadurch,  dass  der 
Anerbe  die  Mutter  oder  diese  ihn  auszahlte;  und  zwar  war  das 
eine  Grundtheilung  und  nicht  eine  dieselbe  ersetzende  Abfindung, 
da  es  sich  ja  nicht  uni  die  Entschädigung  von  einzelnen,  nach- 
einander aus  der  Were  ausscheidenden  Hausgenossen,  sondern  um 
die  sofortige  völlige  Auflösung  der  Were  handelte.  Dennoch 
war  die  Kraft  der  anerbenrechtlichen  Grundsätze  so  stark,  dass 
sie,  wenn  irgend  möglich,  nach  Geltung  rangen.  Der  Wittwe 
als  Auszuscheidenden  gegenüber  waren  sie  nun  schlechthin  aus- 
geschlossen. Aber  wenn  umgekehrt  die  Wittwe  den  Hof  über- 
nahm, so  ging  es  wohl  an,  dass  die  Kinder  lediglich  Ab- 
findungen erhielten  und  die  Wittwe  gewissermassen  selbst 
Anerbin  wurde.  So  ist  es  namentlich  in  Westfalen,  wo  noch 
das  heutige  Höfegesetz  Aehnliches  im  Auge  hat,  gewesen, 
sowie  in  manchen  Gebieten  der  Provinz  Hannover  z.  B.  der 
Niedergrafschaft  Lingcn.2-’2)  Auch  die  Bestimmungen  des  § 10 
und  17  des  Brandcnburgischen  Gesetzes  zielen  trotz  ihrer  Un- 
klarheit auf  einen  gleichen  Zweck  ab. 


x>,j  Z.  11.  nach  dem  Osnabrücker  Eigenthnmsrecht  kann  die  Ausein- 
andersetzung lediglich  durch  Vereinbarung  von  Mahljahren  bewirkt  werden. 
(Vgl.  Stnicbmann  Heft  1 S.  33  ff.).  Ist  diese  nicht  mehr  möglich,  so  kann 
eben  die  Auseinandersetzung  nicht  erfolgen,  die  Wittwe  bekommt  keinen 
Heirathsschein,  kann  sich  also  nicht  wiederverheirat  heu  oder  muss  auf  die 
Leibzucht  abtreten  (Struckmann.  Beitrag  XIX  S.  105). 

'**)  Vgl.  die  Verordnung  über  dio  bäuerlichen  Verhältnisse  in  der 
niederen  Grafschaft  l.ingen  vom  0.  Mai  1823  §41  bei  Rudorff,  Hannoversches 
Privatrecht  S.  162  ff.,  wo  das  Erbrecht  de»  überlebenden  Ehegatten  sehr 
eingehend  behandelt  wird.  — 1'eber  Westfalen  vgl.  die  dortige  Landgüter- 
ordnimg  § 10  ff.  Ebenso  da»  neue  österreichische  Anerbengosetx  hei 
Mnrchet  S.  1333. 


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237 


2)  Die  Frau  stirbt. 

a)  Dann  hat  bei  kinderloser  Ehe  der  Mann  wieder  das 
alleinige  Erbrecht.231) 

b)  Bei  kindergesegneter  Ehe  hat  der  Vater  für  den 
Fall  der  Nichtverheirathuug  den  Beisitz  bis  zum  Tode,  und 
zwar  hier  schlechthin  ohne  Beschränkung  durch  die  inzwischen 
eintretende  Grossjährigkeit  des  Anerben. 

Für  den  Fall  der  Wiederverheiratliung  wollen  einige  Schrift- 
steller dem  Vater  die  Fortsetzung  des  Beisitzes  oder  der  ver- 
längerten Gütergemeinschaft  nicht  mehr  gestatten,  sondern  ihn 
zu  einer  Auseinandersetzung  gleich  der  Wittwe  zwingen,  indem 
er  sich  Mahljahre  verwilligen  lässt  oder  das  Gut  ganz  über- 
nimmt.234) Nun  ist  es  allerdings  ein  Grundsatz  des  deutschen 
Rechts,  dass  bei  der  Wiederverheiratliung,  weil  dadurch  eine 
neue  Hausgenossenschaft  gegründet  wird,  mit  der  alten  reine 
Bahn  gemacht,  sie  gelöst  und  eine  Auseinandersetzung  erfolgt 
sein  muss.  Aber  wo  der  Zweck  dieser  Auseinandersetzung, 
die  Rechte  der  erstehelichen  Kinder  am  erstehelichen  Familien- 


•“J  Im  Grunde  genommen  ist  os  ja  allerdings  kein  Erbrecht,  sondern 
ein  Uebernalimerecht  auf  Grund  des  Gesammteigenthums.  Wenn  wir  es 
gleichwohl  nicht  als  Uebernalimerecht  bezeichnen,  so  geschieht  das  deshalb, 
weil  man  dann  glauben  kilnute,  es  existiere  daneben  noch  ein  Erbrecht  der 
.Blutsverwandten,  welches  sich  in  Abfindungen  oder  dgl.  realisire.  Solches 
giebt  es  nicht.  Denn  erstens  ist  ja  gar  nichts  zu  vererben  da,  weil  dor 
verstorbene  Ehetheil  kein  eigenes  Vermögen  hatte,  vielmehr  nur  einen  Antheil 
an  einer  Gesammtiiaml,  welcher  aber  auch  nicht  einmal  dem  Erbgang  erüffnot 
wird,  da  er  nicht  herrenlos  wird,  vielmehr  dem  Ueberlebendeu  accressirt 
bezw.  consolidirt.  Ferner  haben  ja  aber  die  Erben  des  verstorbenen  Ehe- 
gatten, wenn  das  Gut  von  ihm  herrührt,  ihr  Erbrecht  meist  auch 
aus  dem  Grunde  verloren , weil  sie  früher  von  dem  Gute  abge- 
funden worden  sind.  Das  Uebernalimerecht  ist  aber  auch  praktisch 
mit  einem  Erbrecht  ganz  identisch , da  der  Uebernebmcr  durch 
Annahme  des  Gesammthandantheils  in  die  ganze  Rechtsstellung  des  Ver- 
storbenen einschliesslich  der  Schulden  eintritt.  — Allerdings  giebt  es  Kochte, 
in  denen  die  Uinterfdlligkeit  der  Liegenschaften  noch  so  stark  ist,  dass  diese 
der  überlebenden  Wittwe  nur  zur  Leibzucht  zufallen.  Dies  ist  ein  Zwischen- 
standpunkt auf  dem  von  uns  geschilderten  Eutwickelungsgauge  zur  voll- 
ständigen Aufnahme  der  Frau  in  die  Gesammthand  des  Hauses.  Auf  ihm 
sind  die  Rechte  des  l’undschab  stehen  geblieben.  (Vergl.  Köhler  a.  a.  O.) 
Aehnlicb  die  ofterwähuten  Essenscheu  Hnbsrcchte. 

**)  Bo  namentlich  Struckmanu  a.  a.  0. 


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238 


vermögen  sicher  zu  steilen,  auch  bei  Fortsetzung  des  elterlichen 
Beisitzes  erreicht  werden  kann,  da  bildet  die  Verheiratlmng  des 
Vaters  keinen  Grund,  ihm  die  Leitung  des  Hauswesens  zu  ent- 
ziehen. Dies  ist  der  Fall  in  allen  Gebieten  des  Verfangen- 
schaftsrechts; denn  durch  dieses  ist  für  Wahrung  der  Kindes- 
rechte auch  ohne  Auseinandersetzung  hinreichend  gesorgt.  Hier 
bleiben  deshalb  die  Kinder  mit  dem  Vater  auch  fernerhin  ruhig 
sitzen  und  erst  nach  seinem  Tode  erfolgt  die  Sonderung  der 
Vermögensmassen  und  die  demnäehstige  Vertheilung  nach  An- 
erbenrecht, wobei  das  aus  erster  Ehe  stammende  Gut  immer 
die  erstehelichen  Kinder  erhalten.255)  Wo  dagegen  das  Ver- 
fangenschaftsrecht nicht  bekannt  ist,  wie  in  Westfalen,  da 
muss  in  der  That  eine  Schichtung  vor  sich  gehen.  Ge- 
wöhnlich erhält  auch  hier  der  Vater  Mahljahre  verwilligt,258) 
oder  er  übernimmt,  wie  oben  bei  der  Mutter  ausgeführt , das  Gut 
definitiv. 

Soweit  die  Gütergemeinschaft.  Was  die  Einwirkung  der 
anderen  Güterrechte  anlangt,  so  kennen,  wie  schon  betont,  alle 
den  Beisitz  des  überlebenden  Elterntheiles  und  die  Iuterims- 
wirthschafit.  Im  Uebrigen  gehen  sie  dem  Anerbenrechte  vor, 
so  dass  es  nur  eintritt,  wenn  nach  den  Güterrechten  die  Kinder 
zur  Uebernahme  des  Gutes  berechtigt  sind. 

Bei  der  Gütergemeinschaft  dagegen  kann  man  sagen,  dass 
ihr  das  Anerbenrecht  vorgeht  oder  doch  so  wenig  mit  ihr  in 
Conflikt  geräth,  dass  sein  Eintritt  durch  sie  nur  zeitlich  auf- 
geschoben wird.  Nur  für  den  einzigen  Fall,  dass  eine  Aus- 
einandersetzung nach  Mahljahren  unzulässig  ist,  wird  es  auf- 
gehoben; und  auch  da  wird  häufig  der  übernehmende  Elterntheil 
gewissermassen  zum  Anerben  erklärt.257) 


*“)  Dies  Zusammenleben  der  erstehelichen  Kinder  mit  dem  wieder- 
verheirathoten  parens  zeigen  violeWeisthümer  aus  der  Gegend  des  Verfangen- 
scbaftsrechts:  z.  B.  Grimm  II,  248;  IV,  504;  V,  197. 

So  in  Osnabrück  ;stets  nach  Struckmann  a.  a.  O.)  Vgl.  Anm.  251. 

**)  Von  Schriftstellern  vgl.  über  die  Einwirkungen  des  ehelichen  Güter- 
rechts: Wigand,  Paderborn  §65  (zustimmend),  Grefe  § 65  (dgl.),  Scholz  S.  90 
(dgl.)  — lieber  den  alten,  österreichischen  Rechtszustand,  der  mit  dem  von 
uns  geschilderten  zusammentrifft,  vgl.  Marchet  S.  1314/1315.  Sehr  eingehend 
und  treffend  behandelt  das  einschlägige  Thema  die  Lippe'sche  Verordnung 
über  die  Gütergemeinschaft,  wolche  Führer  S.  333  ff.  mitthuilt. 


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239 


Nach  den  Höfegesetzen  geht  überall  das  Güterrecht  dem 
Anerbenrechte  vor.  Dies  tritt  nur  ein  für  den,  der  nach  dem 
jeweiligen  Güterrechte,  zur  Uebernahme  des  ganzen  Vermögens 
berechtigt  ist,  seien  dies  die  Kinder,  sei  es  der  überlebende 
Gatte.  Wer  im  einzelnen  Falle  dieser  Berechtigte  ist,  darüber 
schweigen  die  Höfegesetze;  auch  wir  müssen  deshalb  auf  die 
allgemeinen  Regeln  der  ehelichen  Güterrechte  über  diesen  Puukt 
verweisen.**) 

Letztere  sind  beim  Höferechte  auch  noch  insoweit  wichtig, 
als  sie  die  Fähigkeit,  ein  Gut  zur  Landgütenolle  anzumelden, 
alteriren  können.  Hierüber  haben  Frommhold  (Anerbenrecht 
S.  49  ff.),  sowie  die  Commentare  der  Landgüterordnungen  aber 
so  eingehende  Ausführungen  gemacht,  dass  wir  uns  doch  nur 
auf  eine  Wiederholung  derselben  beschränken  könnten  und  des- 
halb auf  jene  Darstellungen  Bezug  nehmen. 


**)  Doch  sei  bemerkt:  Vollständig  auf  den  von  uns  geschilderten  Stand- 
punkt stellt  sich  das  Cassel'sehe  Höfegesetz.  Es  giebt  dem  überlebenden 
Elterntheil  unter  allen  Umständen  den  Beisitz  (§  24),  auch  bei  Verwaltungs- 
gemeinschaft (§  25),  eventuell  gestattet  es  ihm  auch,  den  Hof  als  Anerbe 
zn  übernehmen.  — An  den  Beisitz  haben  auch  die  übrigen  Hilfegesetze 
einen  Anklang,  indem  sie  ziemlich  übereinstimmend  anordnen:  .Wegen  Ver- 
letzung des  Pflichttheils  können  nicht  angefochten  werden:  1)  Verfügungen 
des  Erblassers,  durch  welche  dem  leiblichen  Vater  das  Anerben  lebenslänglich, 
der  leiblichen  Mutter  bis  zur  (irossjährigkeit  des  Anerben  das  Recht  bei- 
gelegt wird,  den  Hof  nebst  Zubehör  nach  dem  Tode  des  Erblassers  in  eigno 
Nutzung  und  Verwaltung  zu  nehmen,  unter  der  Verpflichtung,  den  Anerben 
und  dessen  Miterben,  letztere  bis  zur  Auszahlung  ihres  Erbtheiles  angemessen 
zu  erziehen  und  für  den  Nothfall  auf  dem  Uute  zu  unterhalten  (Hannover 
§ ly,  Brandenburg  § 16,  Schlesien  § 17,  Schleswig-Holstein  § 23).  — Leber 
die  westfälische  Landgüterordnung  ist  oben  schon  gehandelt. 


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Dritter  Theil. 

De  lege  ferenda. 

§ 29. 

So  haben  wir  denn  das  Anerbenrecht,  wie  es  geschichtlich 
geworden,  und  wie  es  heute  noch  lebt,  an  uns  vorüberziehen 
lassen;  es  drängt  sich  uns  deshalb  die  Betrachtung  auf;  „Was 
soll  aus  ihm  in  Zukunft  werden?“ 

Es  gab  eine  Zeit,  wo  man  diese  Frage  erledigt  glaubte. 
In  den  grössten  deutschen  Staaten  hatte  die  Gesetzgebung  mit 
jeglichen,  auch  dem  ländlichen  Sonderrechte  aufgeräumt,  und 
dem  war  auch  das  Anerbenrecht  zum  Opfer  gefallen.  Man 
hielt  es  für  unmöglich,  dass  dies  „überlebte  Produkt  mittelalter- 
lichen Ständewesens“  je  wieder  auferstehe;  es  sollte  lur  immer 
friedlich  begraben  bleiben. 

Aber  siehe  da,  die  bäuerliche  Bevölkerung  wusste  das 
grosse  Geschenk,  das  man  ihr  mit  dem  „gleichen  Recht  für 
alle“  gemacht  hatte,  nicht  recht  zu  würdigen.  Zwar  erschollen 
die  Klagen  noch  nicht  gleich;  die  Bewegungsfreiheit,  welche 
derselbe  Satz  den  Bauern  gebracht  hatte,  war  so  werthvoll, 
dass  daneben  die  Verschlechterung  des  Erbrechts  in  den  Hinter- 
grund trat,  um  so  mehr  als  die  Bevölkerung  nach  dem  neuen 
Erbrecht  doch  nicht  lebte,  sondern  ohne  Rücksicht  darauf  ihre 
Schichtungen  unter  Lebenden  und  von  Todeswegen  nach  der 
altbewährten  Sitte  vollzog.  Allein  allmählich  kam  der  Zwie- 
spalt zwischen  Gesetz  und  Sitte  doch  zum  Bewusstsein;  mehr 
und  mehr  brachten  missgünstige  Familiengenossen  die  Erb- 
theiluugsangelegenheiten  an  die  Gerichte,  und  bei  diesen  erfuhr 
daun  die  staunende  Bevölkerung,  dass  etwas  ganz  anderes 


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241 


Recht  sei,  als  was  sie  dafür  hielten;  mehr  und  mehr  wuchs 
darum  die  Unzufriedenheit. 

Der  erste  Schlag  erfolgte  in  Hannover.  Bis  1866  hatte 
liier  Anerbenrecht  zum  Theil  in  sehr  strenger  Form  gegolten. 
Nach  der  Annexion  sollte  auch  dort  nach  preussischem  Muster 
das  bäuerliche  Sonderrecht  beseitigt  werden.  Dagegen  erhob 
sich  heftiger  und  nachhaltiger  Widerstand.  Gleichwohl  waren 
die  alten  Anschauungen  im  preussischen  Landtage  noch  so  stark, 
dass  immer  noch  au  erster  Stelle  im  Gesetz  von  1874  ausge- 
sprochen wurde: 

„Auf  die  Beerbung  der  Eigentümer  von  Bauernhöfen 
findet  das  sonst  gütige  Erbrecht  Anwendung.“ 

Dennoch  eröffnete  das  Gesetz  in  dem  Institute  der  Höfe- 
rolle einen  Weg,  die  altgewohnte  Vererbuugsart  aufrecht  zu 
erhalten.  Und  wie  gross  die  Anhänglichkeit  an  diese  wTar, 
beweist  die  Thatsache,  dass  trotz  der  Unzweckmässigkeit  des 
Rollensystems  zwei  Drittel"®)  aller  Hofbesitzer  die  Eintragung 
erwirkten. 

Noch  bezeichnender  als  dieses  Vorgehen  in  Hannover,  war 
es  aber,  wenn  auch  in  den  altländischen  Provinzen  Preussens 
sich  die  Bevölkerung  gegen  das  geltende  Erbrecht  erhob.  Denn 
die  Hannoveraner  hatten  bis  dahin  das  Anerbenrecht  als  ge- 
setzliches Recht  gehabt  und  wehrten  sich  nur  gegen  dessen 
Aufhebung.  In  den  alten  Provinzen  aber  hatte  schon  lange 
gewöhnliches  Erbrecht  gegolten,  der  Landmann  hatte  sich  daran 
gewöhnen  können  und  bisher  auch  nicht  darüber  geklagt.  Deshalb 
war  es  ein  vernichtender  Schlag  für  die  Anhänger  der  Gleich- 
heit, sehen  zu  müssen,  wie  auch  hier  trotz  alledem  und  alledem 
die  Bauern  ihren  alten  Rechtsvorstellungen  treu  geblieben  waren 
und  nun  machtvoll  deren  Verwirklichung  begehrten. 

Es  ist  kein  Wunder,  dass  der  Ruf  danach  zuerst  unter 
allen  altpreussischen  Provinzen  aus  Westfalen  erscholl,  aus  der 
alten  Hochburg  bäuerlichen  Rechts  und  Wesens.  Der  west- 
fälische Bauernverein  beantragte  durch  seinen  Sprecher,  den 
verstorbenen  Abgeordneten  v.  Schorlemer-Alst  ein  bäuerliches 
Intestaterbrecht  beim  Landtage.  Der  Provinziallandtag  stimmte 


^ Vgl.  H.  Mayer,  die  Landgüterordnung  für  Westfalen,  Einleitung. 

▼.  Dult  zig,  Urunderbrecbt*  lt> 


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242 


dem  mit  grosser  Majorität  zu.  Allein  auch  andere  Provinzen 
folgten  dem  westfälischen  Beispiel,  namentlich  die  vormals 
Hessen-Casselschen  Gegenden,  ebenfalls  langjährige  Sitze  des 
Anerbenrechts.  Die  Bewegung  wuchs  und  wuchs,  die  Wissen- 
schaft bemächtigte  sich  ihrer,  die  Regierungen  veranstalteten 
Enqueten  und  erliessen  Gesetze;  die  Collegien  der  landwirt- 
schaftlichen Sachverständigen  wie  der  Landwirthschaftsrath  und 
die  Agrarconferenz  empfehlen  das  Anerbenrecht;  selbst  die 
Juristen  stimmten  ihm  auf  dem  Juristentage  von  1895  zu. 

Seitdem  ist  die  Frage  nicht  wieder  zur  Ruhe  gekommen.'-*'5) 
Es  ist  aber  zu  bedauern,  dass  sie  ausserhalb  der  gelehrten 
Welt  von  so  gänzlich  falschen  Gesichtspunkten  aus  beurteilt 
wird. 

Man  sollte  es  heute,  wo  die  wirtschaftlichen  Interessen 
so  überwiegend  sich  geltend  machen,  für  überjährt  halten, 
wirtschaftliche  und  Rechtsfragen  vom  politischen  Partei- 
staudpunkte  aus  zu  betrachten.  Und  doch  ist  dies  gerade  bei 
der  Beurteilung  des  Anerbenrechts  immer  nach  Brauch. 
Namentlich  sind  es  die  links-liberalen  Parteien,  welche  es  mit 
ihrem  „Programm“  unvereinbar  glauben  ein  Anerbenrecht,  sei 
es  sonst  noch  so  schön  und  gut,  zu  befürworten.  Selbst  liberale 
Zeitungen,  an  denen  man  sonst  einen  etwas  wissenschaftlicheren 


®°)  Das  deutsche  bürgerliche  Gesetzbuch  hat  allerdings,  wie  schon  be- 
merkt, von  dem  Anerbenrecht  keine  Notiz  gonommen.  Das  Einfiihrungs- 
gesetz  aber  hat  »eine  Annahme  der  Landesgesetzgebung  Vorbehalten,  und 
wenn  aus  ihm  auch  die  Normutivbestimmuugeu  gestrichen  sind,  welche  das 
frühere  Einfiihrungsgesetz  treffen  wollte,  so  ist  dies,  wie  aus  den  Erläuter- 
ungen des  2.  Entwurfes  hervorgeht,  nicht  etwa  deshalb  geschehen, 
weil  man  das  Auerbenrecht  geringer  eingeschätzt  hätte  als  bei  dem  ersten 
Entwürfe,  sondern  gerade  umgekehrt  darum,  weil  man  sein  Wesen  mehr 
erkannt  hatte,  weil  man  einsah,  dass  die  Schablone  des  Einführungs- 
gesetzes in  den  meisten  Gegenden  der  geschichtlichen  Gestaltung 
zuwider  sein  würde,  und  dass  das  Anerbenrecht  wichtig  und  stark  genug 
sei,  um  so,  wie  es  ist,  aufrecht  erhalten  zu  werden,  ohne  in  das  System  des 
Gesetzes  hineingepresst  werden  zn  müssen.  — Ueber  die  Geschichte  der 
deutschen  Agrarbewegung  vgl.  namentlich  Miaskowski  und  Gierke,  Erbrecht 
in  ländlichen  Grundbesitz;  auch  die  meisten  Commentarc  zu  den  Landgüter- 
ordnuugen,  so  die  von  Schultzenstein  und  von  H.  Meyer,  haben  darauf  be- 
zügliche Einleitungen.  Ueber  Oesterreich  vgl.  daH  Referat  von  Chorinsky 
in  lid.  61  der  Schriften  des  Vereins  für  Socialpolitik  und  auch  ilarchet. 


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243 


Ton  gewöhnt  ist,  wie  z.  B.  die  Vossische,  vergessen,  wenn  es 
das  Anerbenrecht  gilt,  alle  höheren  Gesichtspunkte  und  haben 
nur  die  eine  Sorge,  wie  sie  dem  gläubigen  Leserkreise  die 
Verwerflichkeit  dieses  programm widrigen  Institutes  möglichst 
drastisch  vor  Augen  führen  können. 

Zu  den  erprobtesten  Mitteln  dieser  Art  gehört  es,  das  Bild 
des  Bauern  heraufzubeschwören,  der  ein  Dutzend  Kinder  hat,  und 
dessen  einer  Anerbe  darum  in  Wohlleben  schwelgt,  während 
die  übrigen  elf  Kinder  hungernd  und  frierend  ins  Elend  ziehen. 
Glaubt  man  wirklich  mit  solchen  lächerlichen  Uebertreibungen 
eine  so  wichtige  Frage  wie  die  des  bäuerlichen  Grunderbrechts 
abthun  zu  können?  Es  sollte  doch  bekannt  sein,  dass  man  jede 
Sache  ad  absurdum  führen  kann,  wenn  man  sie  auf  die  Spitze 
treibt.  Und  die  berühmte  Geschichte  von  dem  Bauersmann  mit 
den  zwölf  Kindern  ist  doch  eine  recht  starke  Uebertreibung.  Es 
mag  ja  hin  und  wieder  Bauern  gebeu,  die  soviel  Nachkommen 
haben;  aber  mit  solchen  Ausnahmen  kann  der  Gesetzgeber 
doch  nicht  rechnen.  Die  Statistik  lehrt,  dass  der  Landmann 
gewöhnlich  nur  vier  Kinder  hat.'-*1)  Daruuter  sind  im  Durch- 
schnitt doch  mindestens  zwei  Mädchen.  Diese  verheirathen  sich 
oder  finden  sonst  leicht  Unterkunft,  jedenfalls  können  sie  in 
der  Regel  die  Bewirtschaftung  doch  nicht  übernehmen.  Hierfür 
kommen  gemeinhin  nur  zwei  in  Betracht;  und  da  ist  es  doch 
nicht  so  schrecklich,  wenn  der  eine  gezwungen  wird,  abseits 
vom  Hofe  einen  nährenden  Lebensberuf  einzuschlagen , wie 
dies  übrigens  in  allen  guten  Bauernfamilien  bisher  schon  längst 
üblich  ist. 

Ausserdem  aber  entspricht  das  uns  vorgemalte  Schreckbild 
noch  in  anderen  Punkten  nicht  der  Wirklichkeit.  Wer  die 
bäuerlichen  Verhältnisse  näher  untersucht,  dem  erscheint  es  als 
bitterer  Hohn,  von  dem  schwelgenden  Anerben  und  den 
hungernden  Miterben  zu  reden.  Selbst  in  den  klassischen  An- 
erbenländern, wo  die  Miterben  nur  eine  geringe  Abfindung  er- 
halten, haben  diese  meist  doch  das  bessere  Theil  erwählt.  Bei 
den  Berathungen  des  neuen  Anerbengesetzes  für  Westfalen  ist 


VgL  z.  B.  über  dio  Verhältnisse  in  Lippe,  einem  echten  und 
rechten  Bauernlande:  Meyer,  Theiluugs verbot  S.  54. 


16* 


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244 


z.  B.  mit  Recht  darauf  hingewiesen  worden,  wie  oft  die  jüngeren 
Söhne  besserer  Bauernfamiiien  sogar  in  den  Gelehrtenstand 
eintreten.  In  der  Sitzung  des  pr.  Abgeordnetenhauses  vom 
23.  Februar  1898  führte  der  Regierungscommissar  sogar  einen 
Fall  au,  wo  ein  massiger  Hof  zwei  Aerzte,  zwei  Bergbau- 
beflissene,  einen  Studenten  und  einen  Musikprofessor  ausgestattet 
hatte,  während  der  Hofbesitzer  keineswegs  auf  Rosen  gebettet 
war.  Mir  selbst  ist  aus  meiner  Verwandtschaft  und  Bekannt- 
schaft die  Gepflogenheit  vieler  Bauern  vertraut,  ihre  nicht  auf- 
fahrenden Kinder  Lehrer  werden  zu  lassen,  die  zum  Theil  als 
Rektoren  ein  recht  behagliches  Dasein  führen.  Man  sieht  also, 
dass  die  „Enterbten“  keineswegs  immer  die  Reihen  der 
Proletarier  vermehren,  wie  behauptet  wird.  Selbst  wenn  sie 
aber  Arbeiter  werden,  sind  sie  noch  nicht  so  zu  bedauern.  Cm 
z.  B.  die  Lippeschen  Verhältnisse  zum  Vergleich  heran- 
zuziehen, so  werden  die  dortigen  jüngeren  Söhne  oft  Ziegel- 
arbeiter. Schon  vor  hundert  Jahren  konnten  diese  sich  manchen 
Luxus  gestatten,  den  selbst  der  Grossbauer,  wenn  er  neben 
Zinsen  und  Lebensunterhalt  noch  etwas  zurücklegen  wollte,  nicht 
mitmachen  durfte.  Die  früheren,  dortigen  Mandate  gegen  das 
Tragen  feiner  Tuche  etc.  sind  zunächst  gegen  diese  „Tagelöhner“ 
gerichtet.  Und  auch  heute  ist  es  nicht  anders;2®)  vielfach  lebt 
der  „glückliche“  Hofserbe  für  seine  Arbeit  auf  dem  Felde  vom 
Morgengrauen  bis  zur  sinkenden  Nacht,  für  seinen  Kampf  mit 
der  Ungunst  des  Wetters  und  des  Marktes  schlechter  als  die 
Miterben,  die  von  solchen  Zufälligkeiten  nicht  betroffen 
werden.2®*)  Ja  in  Bayern,  wo  die  Miterben  durch  das  An- 
erbenrecht angeblich  so  furchtbar  benachteiligt  werden,  können 
sie  sich  nur  Glück  dazu  wünschen,  wenu  sie  nach  der  Schilderung 
unserer  Politiker  vom  Hof  „ins  Elend  ziehen“  und  Fabrik- 
arbeiter werden  müssen.  Denn  der  Bauer  hat  es  viel  schlechter 
als  sie.  Die  Berichte  der  jüngsten  Agrarenquete  in  Bayern263) 


*°)  Vgl.  Meyer,  Theilungsverbot  S.  92,  86  f.  etc. 
aefc)  Vgl.  über  die  gleichen  Verhältnisse  in  Mähren:  Schriften  des  V. 
f.  S.  Bd.  75,  S.  183. 

30  ) Eine  sehr  gute,  kurze  Uebersicht  über  die  Ergebnisse  dieser 
Enquete  giebt  die  .Tägliche  Rundschau“  in  einer  ihrer,  auch  sonst  bedeut- 
samen, wirthscbaftlichen  Beilagen  in  No.  302  N.  vom  25.  Dec.  1895.  Die 


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245 


sind  voll  von  Klagen  über  die  jämmerliche  Lebenshaltung 
der  Bauern.  Wenn,  so  heisst  es  dort,  „ein  einziger  Fabrik- 
arbeiter sich  mit  der  Kost  begnügen  müsste,  wie  Dutzende  von 
Bauern  sie  sich  nicht  anders  gestatten  können,  so  würden 
darüber  alle  Zeitungen  voller  Klage  sein.“  Die  Ernährung  des 
Bauern  wird  sogar  als  eine  solche  bezeichnet,  „die  man  in  den 
meisten  Gegenden  für  einen  Hund  niedrigster  Sorte  für  zu 
schlecht  halten  würde.“ 

So  kann  man  keineswegs  sagen,  dass  der  Hoferbe  unbillig 
bevorzugt  wird.  Trotz  aller  scheinbaren  Bevorzugung  zieht  er 
unter  heutigen  Verhältnissen  immer  noch  das  schlechtere  Loos ; 
und  wenn  die  schöne  Anhänglichkeit  der  Deutschen  an  den  er- 
erbten Grund  und  Boden,  an  das  Familienheim  nicht  wäre,  so 
könnte  es  bald  geschehen,  dass  jeder  lieber  Abfindung  als  An- 
erbe sein  möchte.  Aber  auch  wenn  die  Verhältnisse  sich  bessern 
sollten,  bleibt  die  Erzählung  von  den  darbenden  Miterben  ein 
Märchen.  Denn  es  darf  nie  vergessen  werden,  was  wir  schon 
wiederholt  betont  haben,  dass  die  Miterben  an  dem  Blühen  und 
Gedeihen  des  Hausgutes,  an  der  gesicherten  Stellung  des  Hof- 
annehmers selbst  das  lebhafteste  Interesse  haben,  da  sie  eben 
nicht  in  die  Fremde  zu  gehen  brauchen,  sondern  Unterhalt  auf 
dem  Hofe  fordern  können  und  in  Krankheit  und  Xoth  auf  ihm 
eine  Zuflucht  fiuden. 

Sonach  wird  es  besser  sein,  wenn  bei  künftigen  Be- 
sprechungen des  Anerbenrechts  das  Gespenst  des  Bauern  mit 
der  grossen  Nachkommenschaft  unbehelligt  bleibt  Aber  selbst 
wenn  die  ganze  rührende  Geschichte  nicht  so  in  allen  Punkten 
mit  der  Wirklichkeit  in  Zwiespalt  träte,  wenn  sie  dennoch 
Wahrheit  wäre,  so  sind  wir  hart  genug,  elf  Kinder  zu 
Proletariern  zu  machen,  damit  wenigstens  eines  ein  tüchtiger 
Mann  bleibe;  wir  können  nicht  einsehen,  wie  es  besser  sein 


folgenden  Citate  sind  aus  dieser  Nummer.  — Die  Enquete  liegt  noch  in 
zwei  weiteren,  mehr  wissenschaftlichen  Bearbeitungen  vor.  Die  eine,  für 
unsere  Zwecke  vielfach  zu  gedrängte,  findet  sich  in  Schmollers  Jahrbüchern 
de  1896  S.  89  ff.  Die  andere  steht  in  Band  73  der  Schriften  des  Vereins 
für  Socialpolitik  S.  90  ff. 


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246 


sollte,  wenn  alle  zwölf  Proletarier  werden,  was  sonst  unver- 
meidlich wäre.263*; 


§ 31. 

Noch  eine  zweite  doktrinäre  Erwägung  wird  aber  gegen 
das  Anerbenrecht  ins  Feld  geführt.  Es  ist  das  „gleiche  Recht 
für  alle“,  dem  das  „Produkt  des  mittelalterlichen  Ständerechts“ 
soll  weichen  müssen. 

Was  es  mit  „dem  Produkt  des  mittelalterlichen  Stände- 
rechts“ auf  sich  hat,  glauben  wir  im  geschichtlichen  Theil 
genugsam  ausgeführt  zu  haben.  Der  Wahn  ist  gründlich  zer- 
stört worden;  es  ist  gezeigt,  wie  das  Anerbenrecht  aus  dem 
Bau  der  ältesten  Familie,  der  die  feste  Grundlage  auch  für 
unser  ganzes  übriges  Recht  abgegeben  hat,  sich  mit  innerer 
Nothwendigkeit  entwickelt  hat.  Allein  auch  das  gleiche  Recht 
für  alle  ist  doch  w’ohl  nicht  ein  unbedingt  erstrebenswertes 
Ideal. 

Das  Recht  soll  die  Lebensverhältnisse  regeln.  Es  kann 
aber  nicht  schaffen;  es  kann  nur  sozusagen  alle  Hindernisse 
hinwegräumen.  Es  ist  nun  klar,  dass  die  in  den  Lebensver- 
hältnissen treibenden  Kräfte  sehr  verschiedene  Bedingungen 
ihrer  Entfaltung  haben.  Es  ist  deshalb  ebenfalls  klar,  dass 
der  diese  Entfaltung  lediglich  fördernde  Gesetzgeber  sie  nicht 
alle  überein  behandeln  kann.  Eine  Rechtsordnung,  die  lediglich 
auf  die  Bedingungen  städtischen  Lebens  gestützt  ist,  wird  dem 
Lande  nicht  förderlich  sein,  und  umgekehrt.  Man  kann  auch 
das  Beispiel  noch  spezieller  wählen.  Gesetze,  welche  den  be- 
sonderen Bedürfnissen  der  Industrie,  des  Handelsstandes,  des 
Handwerks  etc.  genügen  wollen,  können  nicht  allgemein  eingeführt 
werden.  Es  ergiebt  sich  also  als  das  oberste  Gesetzgebungs-Prinzip 
gerade  nicht  die  Gleichheit,  sondern  das  Suuui  cuique.  Es  gilt 
eben  von  den  menschlichen  Verhältnissen  dasselbe,  was  auf  die 
Menschen  selbst  zutrifft:  „Wer  die  Gleichheit  will  unter  den 
von  Natur  Ungleichen,  der  will  den  Widersinn.“  Allerdings 


Ulelciii-r  Aiimi'iiI  ulclive,  ..e*  utGi  * u zUi  iLllllUltiti«r 

Allg.  Zeitung  S.  b Spulla  i uml  Agi areontoi u'u  S.  v.  liueh,  Agi»r- 

koulerouz  S.  ist,  Thiel  i.  Sehr.  d.  V.  f.  S.  BJ.  Ul  S.  307. 


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247 


sind  die  Menschen  von  Natur  auch  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  gleich;  so  auch  die  menschlichen  Verhältnisse;  ein 
Grundstock  gemeinsamer  Rechtssätze  wird  deshalb  auch  auf 
alle  passen,  und  namentlich  werden  dies  diejenigen  sein,  welche 
ein  Rechtsleben  überhaupt  erst  ermöglichen.  Darüber  hinaus 
aber  bleibt  es  bestehen:  Wer  durch  das  Gesetz  den  Lebens- 
verhältnissen freie  Bahn  schaffen  und  sie  nicht  vernichten  will, 
der  muss  ihre  verschiedenen  Daseinsbedingungen  berücksichtigen. 
Es  bleibt  das  Suum  cuique. 

So  alt  diese  Regel  ist,  so  wenig  bat  man  sie  beachtet;  und 
doch  liegt  in  ihr  das  A und  das  0 aller  Gesetzgebungskunst; 
viele  der  heutigen  Schwierigkeiten  finden  in  ihr  eine  Lösung. 

Die  Römer  haben  das  römische  Stadtrecht,  das  vorzugs- 
weise Handelsrecht  war,  auf  ganz  Italien  und  zuletzt  auf  das 
Reich  ausgedehnt.  Und  selten  hat  sich  die  Richtigkeit  einer 
Theorie  so  gezeigt,  wie  hier.  Das  aus  den  Bedürfnissen  des 
Handelsstandes  und  der  Stadtbovölkerung  allein  entwachsene 
Recht  musste  allen  anderen  Lebensverhältnissen  die  Luft 
nehmen,  zu  einer  einseitigen  Entwicklung  jener  Stände  führen, 
den  Bauernstand  und  die  Landbevölkerung  aber  zer- 
malmen. Mit  furchtbarer  Folgerichtigkeit  haben  die  Ereignisse 
diesen  Gang  genommen.  Grossfinanz,  Handel  und  Gewerbe 
blühten  und  haben  geblüht,  so  lange  das  Reich  bestand,  Ord- 
nung halten  und  seinen  Gesetzen  Achtung  verschaffen  konnte. 
Der  Bauernstand  lag  schon  zur  republikanischen  Zeit  in  den 
letzten  Zügen;  später  wurde  er  derartig  unwichtig,  dass  alles, 
was  wir  von  der  Gesellschaft  der  Kaiserzeit  wissen,  uns  nur 
das  Leben  eines  Bankier-  und  Handelsstandes  wiederspiegelt. 
Schliesslich  verschwand  der  Bauernstand  fast  ganz  und  das 
Reich,  dem  das  Bauernmark  ausgesogen  war,  starb  an  der 
Schwindsucht.  Es  hatte  kein  Blut  mehr,  seinen  Körper  zu 
ernähren,  keine  Männer  für  seine  Heere  und  seine  Ver- 
waltung*4) 


“•)  Das»  das  römische  Hecht,  wie  es  uns  vorliegt,  nur  auf  städtische 
Verhältnisse  zugeschnitten  ist,  wurde  hei  den  verschiedenen  Üonferenzen 
über  Anerbenrecht  wiederholt  hervorgehoben,  namentlich  von  dem  Kegierungs- 
rath  I)r.  Hermes  in  der  jtr.  Agrarconferenz  (S.  220/221). 


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248 


Den  Germanen  war  es  Vorbehalten,  wie  sie  zuerst  gegen- 
über den  reinen  Stadtstaaten  des  Altertliums  die  Idee  des  Flächen- 
staates aus  Stadt  und  Land  erfasst  haben,  so  auch,  das  Suum 
cuique  wieder  zu  Ehren  zu  bringen.  In  den  mittelalterlichen 
Sonderrechten  ist  das  unverlierbare  Rechtsprinzip  niedergelegt, 
dass  jedes  Lebensverhältniss  gemäss  den  ihm  innewohnenden 
Existenzbedingungen  geregelt  werden  muss.  Die  übertriebene 
Durchführung  dieses  Prinzips,  die  auch  zu  Sonderrechten  für 
sachlich  gleiche  und  nur  örtlich  verschiedene  Rechtsverhältnisse 
führte,  und  die  damit  heraufbeschworene  allzugrosse  Zersplitterung 
des  Rechts  riefen  eine  Gegenströmung  hervor,  welche  dem 
gleichen  Rechte  des  Altertliums  ungetheilte  Bewunderung  zollte. 
Es  war  bedeutsam,  dass  mit  dieser  Strömuug  das  ungeahnte 
Aufblühen  der  Städte  zusammenfiel.  Ihre  complicirten  Ver- 
hältnisse zn  ordnen,  reichte  das  bisherige  deutsche  Recht  nicht 
aus;  und  wenn  es  auch  ausgereicht  hätte,  so  hatte  es  sich 
nicht  die  Jurisprudenz  erzogen,  die  fähig  gewesen  wäre,  die 
ihm  innewohnenden  Rechtsgedanken  zu  neuen  Sätzen  zu  ent- 
falten und  so  die  Lücken  des  bisherigen  Rechts  auszufüllen. 
Auch  bot  sich  ein  für  städtische  Verhältnisse  mit  Handelsver- 
kehr ausgezeichnetes  Recht  in  dem  römischen  bereits  fertig  dar. 
Die  Städte  griffen  deshalb  zuerst  danach,  und  es  ist  kein  Zufall, 
dass  sie  bei  derReception  überall  voranstanden.  Die  geschulten 
Juristen  aber,  welche  doch  vorzugsweise  Söhne  der  Städte 
waren  und  deshalb  städtische  Verhältnisse  vor  Augen  hatten, 
erstarben  in  Staunen  vor  diesem  Recht,  dass  die  Entwicklung 
ihrer  Zeit  in  so  wunderbarer  Weise  vorausgeahnt  und  -geordnet 
hatte.  Und  da  sie  jetzt  auch  die  ländliche  Richtergewalt  in 
Händen  hatten,  so  wendeten  sie  dies  Recht  theils  aus  Be- 
wunderung, theils  aus  Unkenntniss  anderer  Satzungen,  theils 
aus  doctrinärem  Streben  nach  „gleichem“  Recht  auch  auf  dem 
Lande  an.  So  galt  das  römische  Stadtrecht  zum  zweiten  Male 
als  gleiches  Recht  für  weite  Theile  Europas. 

Allein  sofort  zeigte  es  sich  auch  hier,  dass  es  ein  gleiches 
Recht  nicht  geben  kann.  Das  Stadt-  und  Handelsrecht  übte 
seine  vernichtende  Wirkung  auf  die  ländliche  Bevölkerung. 
Mit  grimmen  Hass  erhob  sich  deshalb  diese  gegen  das  fremde 
Wesen.  Und  mit  vollem  Fug.  Wir  haben  oben  über  die 
schädlichen  Einflüsse  der  Theorie  von  der  locatio-conductio 


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249 


auf  das  Bcsitzrcclit  der  Bauern  gesprochen.  Wer  die  Nach- 
weise daiiir  sucht,  der  lese  Gaede’s  treffliches  Werk  über  die 
Verhältnisse  in  Neuvorpommern  und  Rügen.  Es  ist  darin  ein- 
gehend ausgeführt,  wie  durch  die  Unterstellung  der  deutsch- 
rechtlichen  Leiheverhältnisse  unter  die  römischen  Regeln  der 
Zeitpacht  die  Bauern  allmählich  von  Haus  und  Hof  getrieben 
wurden,  sodass  anstatt  des  einst  überaus  kräftigen  Bauern- 
lebens die  heutige  Latifundienwirtschaft  erwuchs.  Viel  Aelin- 
liches  ist  noch  vorgekommen.  Es  war  nicht  der  Fehler  des 
römischen  Rechts.  Das  ist  an  sich  sehr  gut.  Es  war  die 

thörichte,  aus  Gleichheitsschwärmerei *■'’)  geborene  Anwendung 
dieses  Rechts  auf  Verhältnisse,  für  die  es  nicht  berechnet  ist. 

Es  folgten  bessere  Zeiten.  Nach  dem  übermässigen  Ro- 
manisiren  wendete  sich  die  Rechtswissenschaft  uaturgemäss 
wieder  mehr  dem  deutschen  Recht  zu.  Die  Sonderrechte  wurden 
wieder  liebevoll  gepflegt.  Nur  zu  sehr.  Denn  namentlich  die 
Auswüchse  des  gewerklichen  Sonderrechts  im  Innungswesen 
riefen  im  Anfang  dieses  Jahrhunderts  einen  Rückschlag  hervor. 
Dieser  Rückschlag  war  aber  auch  noch  tiefer  begründet  und 
zwar  in  dem  Aufsteigen  des  sogenannten  dritten  Standes. 

Der  war  ein  Kind  der  Städte  und  bestand  in  seinen  geistig 
und  materiell  hervorragenden  Theilen  vornehmlich  aus  Gross- 
und Kleinkaufleuten.  Gerade  wie  nun  im  15.  Jahrhundert  es 
die  Städte  und  die  Handelswelt  gewesen  waren,  welche  mit  dem 
römischen  Rechte  das  gleiche  Recht  hervorgezogen  hatten,  so 
wurde  dieses  auch  jetzt  von  dem  städtischen  dritten  Stande  auf  den 
Schild  erhoben,  der  ja  auch  thatsächlich  von  der  Rechtseinheit  den 
grössten  Vortheil  hat.  Das  erste  „gleiche  Recht“  für  einen 
nationalen  Staat,  der  französische  Code,  war  deshalb  ein  Ge- 
setzbuch der  Städte,  der  Geldwirthschaft  und  des  Handelsstandes. 
Denn  selbst  in  Frankreich  wendet  sich  die  Landwirthschaft 
jetzt  von  dem  vielgerühmten  Code  ab.  In  Deutschland  war  das 
„gleiche  Recht“  stellen  weis  schon  von  dem  aufgeklärten  Ab- 
solutismus eingeführt,  der  sich  durch  Vermittelung  der  von  ihm 
vertretenen,  merkantilistischen  Wirthschaftsschule  auch  mit  den 


Diese  gipfelte  in  dem  Satze,  dass  alle  Statuten  so  auszulegen 
seien,  ut  quam  minime  distent  a iure  communi. 


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250 


Wünschen  der  Städte  und  der  Handelswelt  besonders  vertraut 
gemacht  hatte.  Im  übrigen  brachte  auch  hier  der  Sieg  des 
dritten  Standes  das  „gleiche  Recht“  zu  Wege.266) 

Aber  auch  jetzt  offenbarte  sich  bald  die  Thorheit  jener 
Regel.  In  England  ist  es  der  gleichen  Gesetzgebung,  die, 
obwohl  lediglich  nach  städtischen  Verhältnissen  zugeschnitten, 
ohne  Rücksicht  überall,  auch  gegen  die  Landwirtschaft  durch- 
geführt wurde,  gelungen,  das  Land  halb  zu  veröden;  in  Frank- 
reich ist  der  unterschiedslosen  Anwendung  namentlich  des 
städtischen  Erbrechts  die  masslose  Bodenzersplitternng  zuzu- 
schreiben; in  Deutschland  hat  sich,  wie  schon  geschildert,  die 
Landbevölkerung  wenigstens  im  Erbrecht  dagegen  erklärt,  mit 
allen  übrigen  Berufen  überein  behandelt  zu  werden.  Ueber- 
haupt  ertönt  gerade  in  neuerer  Zeit  der  Ruf  nach  dem  Suum 
cuique,  nach  dem  Sonderrechte  wieder  vernehmlicher.  Man  hat 
eingesehen,  dass  man  mit  der  an  sich  berechtigten  Reaktion 
gegen  die  Rechtszersplitterung  zu  weit  gegangen  ist,  dass  es 
nicht  angeht,  Verhältnisse,  die  ganz  verschiedene  Lebens- 
bedingungen haben,  über  einen  Kamm  zu  scheeren.  Und  diese 
Erkenntniss  ist  nicht  nur  durchgedrungen,  sie  hat  sich  auch  in 
Thaten  übersetzt. 

Und  merkwürdiger  Weise  war  es  der  Handelsstand,  der 
sonst  so  für  das  gleiche  Recht  schwärmt,  der  hiermit  den  An- 
fang gemacht  hat.  Er  hat  sich  eben  immer  durch  ein  besonders 
feines  Gefühl  für  das  ihm  Dienliche  ausgezeichnet  Er  wusste 
recht  wohl,  wie  sehr  er  durch  ein  nicht  nach  seinen  Bedürf- 
nissen geformtes  Recht  geschädigt  werden  könnte,  und  er  hat 
sich  deshalb  sein  altes  Handelssonderrecht  gewahrt,  obwohl 
man  hier  weit  füglicher  als  bei  der  bäuerlichen  Erbfolge  von 
einem  „Produkte  mittelalterlichen  Ständewesens“  hätte  reden 
können.  Auch  die  neueste  Arbeitergesetzgebnng  ferner  ist 
doch  lediglich  ein  Zeugniss  dafür,  dass  eben  nicht  das  gleiche 
Recht  für  alle  passt.  Ueberhaupt  schwillt  die  Menge  der 
Sonderrechte  immer  mehr  an,  je  mehr  sich  die  modernen  Ver- 


*•)  Gleicher  Ansicht,  dass  der  Sieg  des  modernen  gleichen  Hechts  der 
des  städtischen  Hechts  war,  ist  auch  Dr.  Grünberg  in  d.  Sehr.  d.  V.  f.  Soe. 
lid.  Gl  Seile  -7 3. 


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251 


hältnisse  differenziren,  je  mehr  sie  deshalb  verschiedenartige 
Regelung  erheischen.  Das  Andrängen  der  zahlreichen  wirth- 
schaftlichen  Interessengruppen,  unter  denen  jetzt  namentlich 
die  Handwerker  hervorragen,  ihr  Heischen  nach  besonderer 
Berücksichtigung  durch  die  Gesetzgebung  hat,  so  übertrieben 
es  manchmal  sein  mag,  seinen  tiefen  innern  Grund  in  jenem 
„Suum  cuique“. 

So  bestätigt  die  Geschichte,  was  die  Theorie  lehrt,  dass 
es  ein  gleiches  Recht  für  alle  nie  gegeben  hat,  nie  geben  wird 
noch  geben  kann.  Und  in  dieser  Erkenntniss  findet  auch  der 
Jahrhunderte  alte  Streit  um  das  römische  und  deutsche  Recht 
seinen  Abschluss.  Er  ist  im  Grunde  genommen  der  Kampf 
gegen  das  gleiche  Recht;  denn  er  tobt  dann  besonders  lebhaft, 
w’enn  das  moderne,  auf  römischer  Grundlage  ruhende  und 
städtische  Verhältnisse  berücksichtigende  Recht  ohne  verständige 
Ausnahmen  auch  auf  dem  Lande  beobachtet  werden  soll.  Dem 
gegenüber  zieht  sich  dann  die  Landbevölkerung  auf  das  deutsche 
Recht  zurück,  welches,  dem  deutschen  Wirthschaftsleben  gemäss, 
einen  vorwiegend  ländlichen  Charakter  trägt  und  die  Interessen 
des  Bauern  wahrt.  Es  wäre  aber  thöricht,  nun  das  deutsche 
Recht  zum  allgemeinen  und  gleichen  erheben  zu  wollen,  es 
würde  für  die  Städte  und  die  Industrie  nicht  passen.  Nein, 
jedem  das  Seine.  Den  städtischen  Verhältnissen  das  römische 
Recht  oder  eines,  das  auf  seinen,  für  jene  immerdar  muster- 
giltigeu  Prinzipien  aufgebaut  ist;  dem  platten  Lande  aber  sein 
deutsches  Recht,  das  sich  in  einer  vieltausendjährigen  Ge- 
schichte von  den  ältesten  arischen  Zeiten  an  nicht  minder 
passend  für  die  ländlichen  Verhältnisse  mit  innerer  Nothwendig- 
keit  aus  ihnen  selbst  heraus  entwickelt  hat.287) 


4JS7)  Auch  dieser  Gedanke,  dass  wieder  Sonderrechte  entsprechend  den 
verschiedenen  Verhältnissen  geschaffen  werden  müssten,  ist  bei  den  Be- 
rathungen über  Anerbenrecht  wiederholt  gestreift  worden.  Namentlich 
Gierke  hat  ihn  hervorgehoben  (Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  58  S.  170/171).  Er 
hat  auch  ausdrücklich  den  Mahnruf  „Jedem  das  Seinu“  erhoben. 
(Ebenda,  vgl.  auch  Agrarconferenz  S.  27/28.) — Der  Verf.  bemerkt  übrigens, 
dass  er  Giorkes  und  die  anderen  einschlägigen  Ausführungen  erst  gelesen 
hat,  nachdem  er  den  vorliegenden  Paragraphen  im  Wesentlichen  bereits  so 
wie  jetat  niedergeschrieben  hatte,  ein  Beweis,  wie  sehr  sien  diese  Gedanken- 
reihe der  rechtsgescbichtlicheu  und  rechtspolitischeu  Betrachtung  aufdrängt. 


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252 


§ 32. 

Nächst,  dem  Ideale  des  gleichen  Rechts  wird  endlich  nodi 
ein  Drittes  gegen  das  Anerbenrecht  ins  Feld  geführt,  das 
Prinzip  der  wirtschaftlichen  Freiheit.  Zunächst  verlangt  man 
in  dessen  Namen  im  Allgemeinen,  der  Staat  solle  auf  wirrt- 
schaftliche  Dinge  überhaupt  nicht  einzuwirken  suchen;  er  so!!' 
sich  vielmehr,  so  viel  wie  möglich,  jeder  Einmischung  ent- 
halten.3*) 

Aber  wenn  man  diese  Forderung  streng  durchdenkt,  so 
führt  sie  zur  Aufhebung  jeder  Gesetzgebung.  Denn  jede  Ge- 
setzgebung, namentlich  aber  die  erbrechtliche,  greift  in  die 
wirtschaftlichen  Verhältnisse  ein  und  hat  oft  überaus  bedeut- 
same wirtschaftliche  Wirkungen.2®)  Wenn  deshalb  der  Staat  nicht 
auf  jegliche  Erbregelung  verzichtet,  — und  das  hat  noch  niema:  ! 
von  ihm  verlangt  — so  mischt  er  sich  doch  in  wirtschaftliche  Dinge 
ein.  Dann  ist  es  aber  nicht  die  wirtschaftliche  Freiheit,  welche  d> 
Gegner  vorschützen,  sondern  die  wirthschaftliche  Unfreiheit,  unter 
dies  Recht  alle  zu  zwingen,  auch  diejenigen,  deren  Ökonomist* 
Lebensbedingungen  es  von  Grund  aus  verschlechtert.  Es  ist 
deshalb  völlig  richtig,  wenn  Sering  den  Vorwurf,  dass  dem 
Bauernstände  ein  neues  Recht  aufgenöthigt  werden  solle,  uni- 
kehrt  und  den  Gleichheitsschwännem  zuruft:  „Sie  wollen  nn.- 


2ai)  Unter  anderen  sogar  auch  auf  der  Agrarconferenz  (S.  79)  von  J-t 
Generallandschaftsdirektor  lton. 

az>)  Vgl.  die  treflliclien  Worte  Tocquevilles,  De  la  democratie  -r 
Ameriqne:  „Die  Erbgesetze  sollten  an  der  Spitze  aller  staatlichen  Ei: 
richungen  genannt  werden  ; denn  sie  beeinflussen  in  ausserordentlicher  W-  — 
die  wirthschaftliche  Lage  der  Vülker,  die  sich  in  ihren  politischen  Gcseit« 
dann  nur  wiederspiegelt  Sie  wirken  sicher  und  gleicliuihssig  auf  £- 
menschliche  Gesellschaft  ein  und  bestimmen  das  Loos  der  künftige' 
Geschlechter  schon  vor  deren  Geburt.“  (Ucbersetzung  nach  Sehne.  ! : 
und  Felber,  Anerbenrecht  und  Lebensversicherung).  — Die  hervorrage-. '. 
Einwirkung  der  Erbgesetze  gerade  auf  wirthschaftliche  Dinge  wird  ur.'-c 
noch  eingehend  behandelt  werden.  — Vgl.  auch  Uicrke  an  verschieden- t 
Stellen  namentlich:  Schrift,  d.  V.  f.  S.  Kd.  56  S.  163  164,  .Erbrecht  it 
ländl.  Grundbesitz“  und  .der  Entwurf  und  das  deutsche  Recht. 


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253 


nicht  nur  Ihr  Erbrecht  aufdrängen,  sondern  sie  haben  das  schon 
gethan  und  wir  wollen  es  wieder  los  sein.  So  steht  die  Sache.“ 
Es  ist  jedoch  nicht  blos  jene  allgemeine  Warnung  vor  Ein- 
mischung des  Staates  in  wirtschaftliche  Dinge,  welche  aus  dem 
Prinzipe  der  ökonomischen  Freiheit  abgeleitet  wird ; dieses  Prinzip 
hält  man  vielmehr  auch  noch  in  anderer  Weise  gerade  durch  das 
Anerbenrecht  für  bedroht : durch  ein  solches  soll  nämlich  die  Dis- 
positionsgewalt der  Hofbesitzer  geschmälert  werden.  Diese 
Befürchtung  ist  nicht  allein  von  den  gelehrten  Gegnern  des 
Anerbenrechts  z.  B.  von  den  Professoren  Brentano  und  Bücher 
ausgesprochen  worden,'*“'  •)  sie  kehrt  nicht  nur  immer  in  den 
Parlamenten  wieder,'*®’1’)  sie  wird  vielmehr  auch  im  Bauernstände 
selbst  geteilt,  namentlich  in  Süddeutschland.  Wenigstens  be- 
haupten verschiedene  der  in  dem  Fick’schen  Buche  bearbeiteten  Be- 
richte eiue  solche  Schmälerung.  So  heisst  es  in  dem  einen  (S.76): 
„Das  Mittel  der  gesetzlichen  Einführung  des  Anerbenrechts  mit  weit- 
gehender Beschränkung  der  Dispositionsbefugniss  ist  ge- 
rade eine  Bestimmung,  welche  den  Bauern  erst  recht  in  Harnisch 
bringen  würde.“  Und  ein  anderer  Bericht  (S.  77)  sagt  noch 
schärfer:  „Einen  Eingriff  in  seine  Eigenthumsrechte,  eine 
Beschränkung  seines  freien  Willens  bei  Gutsübergaben  in  Ueber- 
einstimmung  mit  seinen  Kindern,  eine  von  seinem  Willen  unab- 
hängige allenfallsige  Feststellung  des  Werth  es  seines  Anwesens, 
dies  alles  wird  der  Rotthaler  Bauer,  so  wie  er  bis  jetzt  ge- 
wachsen ist,  nur  schwer  hinnehmen.“  Auch  sonst  ist  es  sowohl 
auf  der  Agrarconferenz  wie  auf  dem  Juristentage  von  1895 
von  sachkundigen  Männern  bezeugt  worden,  dass  vor  allem  in 
Süddeutschland,  in  Württemberg,  Baden  und  den  Hohenzollern- 
schen  Landen  eine  Abneigung  gegen  das  gesetzliche  Anerben- 
recht auch  in  den  Gegenden  mit  ungetheilter  Vererbung  besteht, 
weil  man  eine  Bindung  der  Bewegungsfreiheit  darin  erblickt.280') 


2l®*)  Bei  den  Wiener  Verhandlungen  des  Vereins  fiir  Socialpolitik  im 
Jahre  1894  (Schrift  d.  V.  f.  S.  Bd.  61  S.  340/341  u.  S.  374/376.) 

anoiA  Vgl.  Verhandlung  des  pr.  Abgeordnetenh.  vom  33.  Febr.  1898. 
“*•)  Vgl.  Juristentag  de  1895  Bd.  1 S.  28.  Vgl.  auch  die  Kode  des 
Abgeordneten  Wisser  auf  der  Generalvers.  des  Ver.  f.  S.  von  1893  (Bd.  58. 
S.  194  ff.) 


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Es  Hesse  sich  demgegenüber  zunächst  überhaupt  bezweifeln, 
ob  die  völlige  Dispositionsfreiheit  wirklich  ein  so  unantastbares 
Gut  ist.  Viele  Vertreter  der  Landwirthschaft  insbesondere 
aus  den  Grossland  wirthen  legen,  — das  hat  sich  auf  der 
Agrarconferenz  gezeigt,  — wenig  Werth  darauf.  In  meister- 
hafter Weise  ist  es  dort  von  den  verschiedensten  Rednern  ans- 
geführt worden,  dass  die  jetzige  Freiheit  vielfach  nur  die  unbe- 
schränkte Möglichkeit  bedeutet,  sich  zu  Grunde  zu  richten,  und 
dass  sie  zur  Zinssklaverei  und  zur  Abhängigkeit  von  den 
Lieferanten  führt  (S.  132  u.  135).  Ja  von  zwei  Rednern  ist 
ausdrücklich  gesagt  worden,  dass  der  rechtlich  so  gebundene 
Fideicommissbesitzer  in  Wahrheit  noch  der  einzige  freie  Mann 
auf  freier  Scholle  sei.‘-M9d)  Von  Theoretikern  ferner  ist  namentlich 
im  Verein  für  Sozialpolitik  mit  Recht  die  Wandlung  der  An- 
sichten über  die  Freiheit  des  Arbeitsvertrages  als  Beispiel  an- 
gerufen worden.  Auch  bei  diesem  ist  man  ja  zu  der  Einsicht  ge- 
kommen, dass  die  völlige  Freiheit  vom  Uebel  ist.  Es  ist  darum 
keineswegs  unmöglich,  dass  einmal  zur  Wahrheit  wird,  was 
Gierke  voraussagt : '■**"')  „Die  Zeit  wird  kommen,  da  der  Schutz 
des  Grundbesitzes  gegen  das  ihm  aus  der  Verschulduugsfreiheit 
erwachsende  V erderben  ebenso  als  sociales  Rechtsgebot  empfundeu 
werden  wird,  wie  heute  schon  der  Schutz  der  arbeitenden  Per- 
sönlichkeit gegen  die  Selbstvernichtung  kraft  eigener  Vertrags- 
freiheit.“ 

Vorläufig  jedoch  scheint  allerdings  die  gewaltige  Ueberzahl 
des  eigentlichen  Bauernstandes  ängstlich  über  der  Unverletzlich- 
keit ihrer  wirthschaftlicheu  Freiheit  zu  w,achen.aft,f)  Aber  wenn 
dem  auch  so  ist,  so  giebt  es  doch  gar  keinen  Grund  ab  gegen  das 
Anerbenrecht.  Denn  das  Anerbenrecht,  wie  wir  es  befürworten, 
will  gar  keine  Beeinträchtigung  der  Verfügungsfreiheit. 
Im  Gegentheil.  Es  ist  ja  schon  seinerzeit  bei  den  Verhand- 


aw'1;  Nämlich  von  Gamp  u.  von  v.  Hustedt  (Agrarconferenz  S.  103  u.  163). 
IJeber  die  Verwerfung  der  formalen  Freibeit  aU  eines  unbedingten  Ideals, 
vgl.  auch  Agrarconferenz  S.  56.  u.  öl).  Derselbe  Gedanke  ist  auch  voc 
Gierke  und  Sering  in  den  citirteu  Schriften  und  Verhandlungen  wiederholt 
vertreten  worden. 

,ete)  Allgemeine  Ztg.,  Beilage-Nummer  1S6  S.  3 Sp.  2. 

Gleicher  Ansicht  auch  Fick  S.  20». 


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255 


lungen  über  die  Höfegesetze  betont  worden  und  namentlich  der 
Minister  Dr.  v.  Miquel  bat  es  jetzt  wiederholt,270)  dass  durch  das 
Anerbenrecht,  solange  es  nicht  als  zwingende  Erbfolge  gestaltet 
wird,  nur  eine  Erweiterung  der  elterlichen  Verwaltungsmacht 
eintritt.  Der  Bauer  wird  von  den  Schranken  des  römischen 
Ptlichttheilsrechts  befreit,  während  er  andererseits  an  das  An- 
erbenrecht nicht  gebunden  ist,  sondern  es  durch  Testament, 
Uebergabsvertrag  oder  dgl.  ansschliessen  kanu.  Wie  kann  man 
da  über  Beschränkung  der  Verfügungsfreiheit  klagen!  Brentano 
will  sie  allerdings  auch  bei  einem  Intestatanerbenrecht  in  den 
dabei  nothwendigen  Schätzungsvorschriften  finden.  Er  verweist 
darauf,  dass  durch  diese  Vorschriften  die  Miterben  daran  ver- 
hindert werden  könnten,  dem  Anerben  den  Hof  so  hoch  zu  be- 
werthen,  als  sie  wünschen,  und  fragt  dann:  „Bedeutet  das  keine 
Beschränkung  der  Dispositionsfreiheit F“270*)  Man  darf  darauf 

wohl  mit  der  Gegenfrage  antworten:  „Bedeutet  es  keine  Be- 
schränkung der  Dispositionsfreiheit,  wenn  durch  die  jetzige 
Gesetzgebung  der  Anerbe  daran  verhindert  wird,  den  Hof  so 
niedrig  anzunehmen,  wie  er  möchte?“  Mit  der  Logik  Breutanos 
lässt  sich  eben  nur  beweisen,  dass  Schätzungsvorschriften  über- 
haupt eine  Beschränkung  für  den  einen  oder  den  anderen  Theil 
sind,  die  gegenwärtigen  ebenso  gut  wie  die  künftigen;  da  man 
sie  aber  nun  einmal  nicht  entbehren  kann,  wofern  man  über- 
haupt die  Erbverhältnisse  regeln  will,  so  ist  die  Frage,  welche 
von  beiden  Schätzungsmethoden  angenommmen  werden  soll,  nur 
eine  Frage  der  Zweckmässigkeit,  aber  nicht  der  persönlichen 
Freiheit.  Diese  wird  von  dem  Anerbenrecht  als  Intestaterbrecht, 
dessen  Einführung  allein  beabsichtigt  wird,  überhaupt  nicht 
berührt.2701’) 

J7n)  Agrareonferenz  S.  «2  '83  u.  S.  80  um!  in  der  Sitzung  des  pr.  Ab- 
geordnetenhauses vom  23.  Febr.  1898. 

27,*‘)  Sehr.  d.  V7.  f.  S.  Bd.  61  S.  375/876. 

*70b}  Vgl.  auch  Sering  Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  01  S.  389  u.  bei  Schmoller, 
Jahrbuch  de  1890  S.  219),  Oierke,  Allgemeine  Zeitung.  Beilagenutniner  184 
S.  2 Sp,  2.  Brunner  (Juristentag  de  1895  Bd.  2 S.  105),  v.  Inama-Steruegg 
(Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  Ol  S.  loo)  u.  a.  m.  Die  Grosslandwirthe  wissen  übrigens 
bereits,  dass  das  Anerbenrecht  nur  ihre  Dispositionsfreiheit  erweitert.  We- 
nigstens hat  Graf  Zedlitz-Trützschler  auf  der  Agrarconferenz  (S.  220)  be- 
merkt, dass  das  Anerbenrecht  als  Gesetz  schon  darum  werthvoll  sei,  weil 
es  eine  moralische  Stütze  für  ihm  entsprechende  Testamente  abgebe. 


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256 


§ 33. 

Weder  die  angeblichen  rigorosen  Consequenzen  des  Anerben- 
rcchts,  noch  die  Idee  des  gleichen  Rechts  oder  der  wirthschaft- 
lichen  Freiheit  sind  deshalb  in  der  Frage  des  Anerbenrechts 
ausschlaggebend.  Dass  dagegen  die  Erörterung  der  wirtschaft- 
lichen und  sozialen  Wirkung  des  Anerbenrechts  für  seine  Zweck- 
mässigkeit Bedeutung  hat,  muss  zugegeben  werden.  Anderseits 
hat  man  vielfach  diesen  Punkt  zu  sehr  betont  Allerdings  wird 
man  nicht  das  Anerbenrecht  einführen,  wenn  man  sich  überzeugt 
hat,  dass  es  schädlich  ist.  Aber  nur,  dass  dies  nicht  der  Fall, 
braucht  eigentlich  nachgewiesen  zu  werden.  Darüber  hinaus 
nämlich  erscheint  uns  als  das  Massgebende  in  dem  Streite  um 
das  Anerbenrecht  die  Rechtsüberzeugung  des  Volkes.  Denn 
wenn  nur  das  Anerbenrecht  nicht  geradezu  unheilvoll  wirkt,  so 
müsste  es  vorgezogen  werden,  sobald  das  Volk  danach  begehrt, 
selbst  wenn  es  sonst  nicht  besser  sein  sollte  als  das  gewöhnliche 
Erbrecht.  Bildet  doch  der  Rechtswille  des  Volkes  die  einzige 
feste  Grundlage  der  Rechtsbildung;  muss  doch  auf  ihn  der  Ge- 
setzgeber bauen,  was  irgend  Bestand  haben  soll;  denn  ohne 
diesen  Rückhalt  lallt,  wie  oben  ausgeführt,  selbst  das  Schönste 
und  wirtschaftlich  Zweckmässigste  in  sich  zusammen.*70’’) 

Es  ist  mit  Freuden  zu  begrüssen,  dass  sich  diese  Erkenntniss 
mehr  und  mehr  Bahn  bricht,  und  dass  sie  gerade  in  der  vor- 
liegenden Frage  jetzt  von  allen  Seiten  in  den  Vordergrund 
gerückt  wird.  Nicht  nur  auf  der  Agrarconferenz  herrschte 
Uebereinstimmung  darüber,  dass  die  Gesetzgebung  an  die  Volks- 
überzeugung anknüpfen  müsse  und  das  historisch  Gewordene  nur 
fort  bilden  dürfe;  nicht  nur  dort  wurde  auf  die  warnenden  Bei- 
spiele des  bayrischen  Erbgutsgesetzes  und  des  westfälischen 
Gesetzes  von  1836  hingewiesen,  klassiche  Denkmäler  von  der 
Machtlosigkeit  gewohnheitswidriger  Gesetze;2711*)  eine  noch  auf- 


270bj  Vgi  0|jen  Anm.  83  und  Text  dazu. 

Z7°«)  Vgl.  die  Ausführungen  von  Glatzel  und  Winkelmaun  (über  die 
Gefahr  der  Abweichung  vom  hergebrachten  Güterrecht)  Agrarconferenz 
8.  204  u.  243/244.  Vgl.  auch  8.  28. 


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257 


fallendere  Uebereinstiimnung  über  die  höbe  Wichtigkeit  der 
VolksBberzcngnng  trat  auf  der  Wiener  Generalversammlung  des 
Vereins  für  Soeialpolitik  zu  Tage,  auffallender  darum,  weil  sie 
auch  von  den  Gegnern  des  Anerbenrechts  getheilt  wurde.  Es 
gaben  dort  nicht  allein  Gierke,  Hermes  und  Sering  die  Parole 
aus  „die  liechtsregel  soll  der  Rechtsüberzeugung  entsprechen“, 
sondern  auch  Brentano  und  Bücher  beriefen  sich  auf  die  Rechts- 
überzeugung, um  das  Anerbenrecht  zu  widerrathen .270d)  Und  in 
der  That  ist  jene  das  einzig  Eutscheidende,  und  Gierke  hat 
völlig  Recht,  wenn  er  sagt:27"')  „Für  mich  giebt  es  nnr  einen 
triftigen  Einwand,  ....  das  Anerbenreeht  entspreche  nicht  dem 
Rechtsbewusstsein  der  Nation“,  vorausgesetzt,  wie  gesagt,  dass 
das  Anerbenrecht  nicht  geradezu  schädlich  wirkt,  und  das  wollen 
wir  vorweg  prüfen. 

In  dieser  Richtung  ist  zunächst  behauptet  worden,  dass  es 
den  Anerben  zu  sicher  mache  und  deshalb  Sorglosigkeit  und 
wirtbschaftliche  Erschlaffung  unter  den  Bauern  verbreite.  Es 
wurde  bereits  in  der  Agrarconferenz  (S.  244,245)  hiergegen 
treffend  geltend  gemacht,  dass  auch  dieses  Argument  wie  so 
viele  andere  der  Widersacher  des  Anerbenrechts  zu  viel  be- 
weist, da  man  damit  die  Schädlichkeit  jedes  Erbrechts  und  jeder 
Sicherung  eines  Besitzes  begründen  könnte.270')  Was  es  ferner 
mit  der  Sorglosigkeit  und  dem  guten  Leben  des  Hofannehmers 
für  eine  Bewandniss  hat,  das  zu  beleuchten  hatten  wir  ja  schon 
Gelegenheit.  Es  ist  aber  vor  allem  auch  gar  nicht  wahr,  dass 
der  Bauer  in  den  Anerbengegenden  die  wirthschalllichcn  Fort- 
schritte nicht  mitmache.  Es  soll  nicht  einmal  grosses  Gewicht 
darauf  gelegt  werden,  dass  auf  der  Agrarconferenz  gegen  diese 
Unterstellung  einmüthiger  Widerspruch  sich  erhoben  hat;271)  denn 


Vgl.  Sehr.  <1.  V.  f.  S.  Bd.  (41  S.  50,  85,  267,  26S,  »29,  341, 
34S,  »67,  377,  3S3  ff.  Vgl.  auch  Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  5S  S.  163,164  und 
S.  202  203  und  Brentano  Vorwort  S.  XL. 

170')  Sch.  V.  f.  S.  Bd.  61  S.  329. 

mr)  Ebenso  Thiel  in  Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  61,  S.  246. 

■ui)  Vg]  105  (Freiherr  v.  Huene:  „Ich  möchte  für  die  Bauern  in 
der  Gegeud,  wo  ich  lebe,  den  Anspruch  erheben,  dass  sie  grossentheils  gut 
wirthschaften“);  S.  16»  (lamdesdirektor  Höppner:  „Daneben  leben  die  Bauern 
einfach;  sie  setzen  ihre  Produkte  in  der  Stadt  ab,  aber  ohne  den  ganzen 

T.  Daltiig,  ‘irumlerbrecht.  17 


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258 


man  könnte  das  Zeugniss  jener  Herren  als  belangen  anfechten. 
Wir  sind  aber  in  der  Lage,  den  Gegnern  des  Anerbenrechts 
eine  weit  gewichtigere  Autorität  entgegenzuhalten,  nämlich  den 
Inhalt  ihrer  eigenen  Schriften.  Fick  z.  B.  erkennt  selbst 
(S.  276)  ausdrücklich  an,  dass  sich  die  Gegenden  mit  unge- 
teilter Vererbung  in  der  Betriebsart  und  in  den  Erträgnissen 
von  den  Gegenden  der  Freitheilung  kaum  unterscheiden.  Es 
ergiebt  sich  das  übrigens  auch  aus  dem,  was  die  von  ihm 
citirten  Berichterstatter  mittheilen.  So  wird  der  prächtige 
Zustand  des  Roththales  (S.  72)  gerühmt,  eines  klassischen  An- 
erbenlandes. Ja  in  Unterfranken,  wo  ungetheilte  Vererbung  und 
Freitheilung  bunt  durch  einander  gehen,  gelten  die  Bezirke  des 
Anerbenrechts  sogar  allgemein  für  die  reichsten  (S.  219).  Und 
was  Fick,  um  dies  Urtheil  abznscliwächen,  über  die  Relativität 
des  Begriffes  des  Reichthums  vorbringt,  das  betrifft  jedenfalls 
nicht  die  Fülle  der  dortigen  Bodenerträguisse;  bei  diesen  muss 
Fick  denn  auch  selbst  (S.  220)  den  Anerbenstrichen  gleichen 
Preis  zubilligen  wie  den  Parzellengebieten. 

Diese  schon  aus  dem  Fick'schen  Buche  erhellenden  Resul- 
tate aus  Bayern  sind  nicht  nur  durch  die  jüngste  bayrische 
Agrarenquete'-’71*)  überall  bestätigt  worden,  sondern  sie  sind  auch 
auf  das  ganze  deutsche  Reich  und  Oesterreich  ausgedehnt  durch 
die  Umfrage,  welche  der  Verein  für  Socialpolitik  über  die  Credit- 
verhältnisse  auf  dem  Lande  veranstaltet  hat,  und  wobei  auch 
die  Erkundung  der  allgemeinen  dortigen  Zustände  nicht  ver- 
gessen worden  ist.  Wo  hier  überhaupt  Uber  die  wirthschaftliche 
Gewandtheit  der  Bauern  Aeusserungen  gemacht  sind,  da  wird 
dieser  uneingeschränktes  Lob  zu  Theil.  Der  Bauer  wird  überall 
als  ein  moderner  Mensch  gekennzeichnet,  der  sich  aus  der 
Naturalwirthschaft  in  die  Geldwirthschaft  gefunden  hat,  zu 
rechnen  versteht,  die  laudwirthschaftlichen  Fortschritte  benutzt, 


Tag  in  der  Kneipe  zu  sitzen.  Sie  legen  selbst  Hand  an  den  Pdug  und 
bearbeiten  ihre  Aoeker,  was  ich  im  Gegensatz  zu  einem  der  Herr  Vorredner 
ausdrücklich  hervorkeben  muss,  gut,  ja  oft  besser  als  der  Grossgrundbesitz*), 
S.  l>0,  02,  151,  245.  — Anderer  Ansicht  nur  Paasche  S.  225. 

K1*)  Vgl.  Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  73,  S.  103,  105,  107,  113,  117,  120, 
124  u.  s.  w.  lauter  Anorbengebiete.  Ueberall  hier  wird  constatirt,  dass  von 
einer  „Lnwirthschattlichkeit“  der  Besitzer  nichts  zu  merkeu“  ist. 


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250 


sich  dem  Klima  und  dem  Markte  anpasst.  Und  zwar  wird 
dieses  Lob  nicht  etwa  nur  dem  rheinländischen,  dem  badischcu 
und  dem  lothringischen Parzellen-Bauern  gespendet;  es  kann  sich 
seiner  ebenso  auch  der  Landmann  aus  den  Anerbenländern 
rühmen.  Ja  es  wird  sogar  niemandem  ein  solches  Preislied 
gesungen,  wie  dem  hannoverschen  Hofbesitzer.  Welch  ein  er- 
freuliches Bild,  wenn  es  von  ihm  heisst:  „Je  nach  den  klima- 

tischen und  Bodenverhältnissen  herrscht  bald  der  Getreidebau, 
bald  die  Viehproduktion  vor,  oder  der  Anbau  der  Zuckerrübe 
drückt  der  Wirthschaft  seinen  Stempel  auf.  Einerlei  aber, 
welche  Wirthschaftsrichtung  vertreten  ist;  die  althergebrachte 
Weise  der  fast  ausschliesslichen  Natural  wirthschaft  . . . hat 
einer  anderen,  der  Geld  wirthschaft,  weichen  müssen.  Die  An- 
wendung von  Kunstdüngermitteln  ist  nicht  nur  in  den  Zucker- 
rübendistrikten selbstverständlich,  sondern  sie  erfolgt  auch  auf 
magerem  Boden  und  in  extensiver  Wirthschaft;  käufliche  Futter- 
mittel werden  vielfach  verwandt;  Flachsbau  und  Wollschafhaltung 
sind  eingeschränkt,  und  an  Stelle  der  selbstgefertigten  Stotfe 
treten  käufliche.-  Man  lese  ferner,  wie  wenig  es  die  Oldenburger 
Anerbbauern  versäumt  haben,  ihre  Getreideproduktion  den  ver- 
änderten Absatzbedingungen  zu  opfern,  und  wie  sie  auch  dem  Klima 
sich  auzuschmiegen  wissen;  man  überzeuge  weiter  sich  davon, 
wie  zweckmässig  und  mit  welcher  Ausnutzung  aller  Konjunk- 
turen in  dem  der  ungeteilten  Vererbung  huldigeuden  Branden- 
burg die  Landwirthschaft  betrieben  wird. 

Auch  in  Oesterreich  scheinen  die  Verhältnisse  nicht  anders 
zu  liegen.  Hier  hat  über  die  Betriebsart  zwar  nur  ein  Bericht- 
erstatter das  Wort  ergriffen.  Aber  er  stammt  gerade  aus  einem 
Anerbenlande,  aus  Mähren;  und  er  fasst  gleichwohl  sein  überaus 
beifälliges  Urtheil  dahin  zusammen,  dass  „die  Agrikultur  auf 
sehr  hoher  Stufe  stehe“,  die  Bebauung  „intensiv“  sei  und  in 
den  „modernen  Betriebslormen“  erfolgte.*71  b)  Man  höre  also 
endlich  auf  zu  erzählen,  dass  das  Auerbenrecht  die  Bauern  träge 
und  untüchtig  macht.  Nein,  wenn  wirklich  der  Bauer  dou  Fort- 
schritten der  Gegenwart  in  der  Agricultur  irgendwo  nicht  folgt, 


wu.)  Vgl.  auch  über  alles  Vorhergehende  Sehr.  d.  V f.  S.  Bd.  73 
S.  323,  312;  Bd.  71,  S.  87,  170,  183/184,  313/311;  Bd.  75  S.  169/160. 

17* 


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260 


so  röhrt  das  daher,  dass  er  bei  seiner  harten  Arbeit  entweder 
keine  Zeit  findet,  Neues  zu  lernen,  oder  dass  er,  — und  das 
scheint  namentlich  in  Bayern  zuzutreffen  — kein  Capital  hat, 
das  für  richtig  Erkanute  durchznführeu.  Es  wäre  auch  be- 
fremdlich, wenn  das  Anerbenrecht  daran  schuld  sein  sollte;  denn 
obwohl  es,  wie  wir  sahen,  in  irgend  einer  Form  fast  stets  ge- 
golten hat,  so  hat  es  bis  jetzt  den  Fortschritt  der  Landwirth- 
schaft  von  den  einfachsten  Anfängen  bis  zu  der  heutigen 
durchschnittlichen  Bewirthsehaftungsweise  nicht  gehindert,  und 
es  ist  nicht  abzusehen,  warum  es  dies  nun  auf  einmal  thun 
sollte. 

Es  ist  ferner  letzthin  behauptet  worden,  das  Anerbenrecbt 
wirke  unsittlich,  weil  es  die  Zahl  der  Landlosen  vermehre  und 
dadurch  das  Selbstständigmachen  und  folgeweise  das  Heiratlien 
erschwere.  Insbesondere  Dr.  Verkauf  in  Wien,  Brentano  und 
Fick  haben  diesen  Punkt  neuerdings  wiederholt  betont.-*'1-)  Sie 
beziehen  sich  auf  Kärnten  und  auf  Bayern.  Nun  ist  es  richtig, 
dass  Kärnten  ein  Land  der  geschlossenen  Vererbung  ist,  und 
es  ist  auch  richtig,  dass  dort  die  unehelichen  einen  erschreckend 
hohen  Prozentsatz  aller  Geburten  ausmachen,  nämlich  42,5  #/» 
im  Landesdurchschnitt,  in  einzelnen  Bezirken  sogar  60  und 
70  °/0.‘JT2‘)  Allein  ob  beide  Thatsaehen  in  einer  ursächlichen 
Verbindung  stehen,  darüber  kann  man  doch  wohl  im  Zweifel 
sein.  Cosmas  Schütz  wenigstens,  aus  dessen  Bericht  für  den 
Verein  für  Socialpolitik  die  vorstehenden  Ziffern  entnommen 
sind,  ist  anderer  Ansicht.  Er  setzt  die  hohe  Zahl  der  unehe- 
lichen Geburten  auf  das  Conto  der  Landarbeiterfrage,  unter 
der  ja  fast  ganz  Deutschland  und  Oesterreich  leiden.  Auch  in 
Kärnten  nämlich  ist  die  alte  ländliche  Arbeitsverfassung  zer- 
sprengt worden;  die  Landarbeitorstellen,  dort  „Keuschen“  genannt, 
sind  verschwunden,  ihre  Gründe  sind  im  benachbarten  grösseren 
Besitz  aufgegangen,  und  der  Bauer  ist  auf  Haltung  einer  grossen 
Zahl  wandernder  Knechte  und  Mägde  angewiesen,  wodurch 
natürlich  einem  aussereheliclien  Geschlechtsverkehr  die  beste 


m)  Vgl.  Schriften  d.  V.  f.  S.  Bd.  61  S.  365  u.  37-t.  Fick  S.  ei 5 und 
303  ff.  Brentano,  Vorwort  S.  XL. 

**)  Sehr.  il.  V.  f.  S.  Bd.  75  S.  55,56. 


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2G1 


Gelegenheit  bereitet  wird.  Dass  aber  zu  diesem  Aufsaugungs- 
prozess das  Anerbenrecht  irgend  etwas  beigetragen  habe,  ist 
nicht  ersichtlich.  Es  sind  vielmehr  wohl  einmal  dieselben 
Gründe  wirksam  gewesen,  die  auch  in  Deutschland  die  alte 
Arbeitsverfassnng  untergraben,  und  welche  in  den  veränderten 
socialen  Verhältnissen  und  in  der  grösseren  Beweglichkeit  der 
Bevölkerung  zu  suchen  sind.  Daneben  aber  muss  vor  allem  die 
ungünstige  Lage  der  österreichischen  Landwirthschaft  überhaupt 
angeklagt  werden,  der  natürlich  der  Schwächere  eher  erliegt 
als  der  Stärkere,  sodass  zunächst  ein  Aufgehen  des  kleineren 
Besitzes  im  grösseren  zu  beobachten  ist,  bis  auch  dieser  den 
Kampf  aufgeben  muss. 

Ebenso  wenig  beweisend  für  die  Schädlichkeit  des  Anerben- 
rechts sind  die  bayrischen  Verhältnisse.  Bayern  ist  im  allge- 
meinen kein  Land  mit  einer  beängstigend  hohen  Zahl  von  un- 
ehelichen Geburten,  immerhin  steht  es  erheblich  über  dem 
Reichsdurchschnitt  und  wenigstens  Oberbayern  giebt  auch  zu 
Besorgnissen  Anlass.272*’)  Aber  dass  hier  an  den  lockeren  Sitten 
das  Anerbenrecht  schuld  ist,  muss  geleugnet  werden.  Fick  be- 
hauptet zwar  das  Gegentheil  und  glaubt  das  sogar  statistisch 
belegen  zu  können.  Hieran  hätte  ihn  eigentlich  schon  die  von 
ihm  selbst  (S.  306)  betonte  Unzulänglichkeit  der  Statistik  hindern 
sollen.  Denn  wenn  man  nicht  einmal  weiss,  wieviele  der  un- 
ehelichen Kinder  der  landwirtschaftlichen  Bevölkerung  ent- 
stammen, so  kann  man  natürlich  auch  den  Einfluss  der  ländlichen 
Verfassung  auf  die  Zahl  der  unehelichen  Geburten  nicht  er- 
gründen. Vor  allem  aber  ein  Umstand  hätte  Fick  in  seinen 
Folgerungen  stutzig  macheu  müssen,  die  Thatsache,  dass  der 
Prozentsatz  der  unehelichen  Goburten  in  den  Städten  erheblich 
grösser  ist  als  auf  dem  Lande,  in  Oberbayern  beinahe  das 
Doppelte,  in  Unterfranken  nahezu  das  Dreifache  (S.  305). 
Damit  ist  allein  schon  dargethan,  dass  die  ländliche  Verfassung 
an  der  Häufigkeit  ausserehelichen  Geschlechtsverkehrs  unschuldig 
sein  muss.  Es  Hesse  sich  denn  auch  gegen  die  Methode,  mit 
der  Fick  das  Gegentheil  zu  erweisen  glaubt,  mancherlei 


27ib)  Vgl.  die  Angaben  bei  Fick  S.  304  305.  Danach  hat  Oberbayern 
19  uneheliche  Kinder,  in  den  Städten  sogar  27,7  " 


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262 


sagen.'-’72*1)  Indessen  eine  eingehende  Kritik  darüber  zu  gelten, 
ist  hier  nicht  der  Ort.  Aber  selbst  wenn  inan  die  Ficksehen 
Tabellen  als  richtig  hinnimmt,  so  ergeben  sie  gar  nichts  für 
einen  Einfluss  des  Anerbenrechts.  Sie  ergeben  höchstens,  dass 
die  unehelichen  Geburten  durch  die  Vertheilung  des  Grund- 
besitzes beeinflusst  werden,  indem  sie  um  so  mehr  abnehmen, 
je  mehr  Personen  sich  des  Grundbesitzes  erfreuen.  Dann  bliebe 
jedoch  immer  noch  zu  erörtern,  inwieweit  nun  auf  diese  Ver- 
theilung des  Grundbesitzes  das  Anerbenrecht  einwirkt.  Und 
hier  hat  Fick  kaum  den  Versuch  eines  Nachweises  gemacht, 
vielmehr  meint  er  S.  311,  es  sei  eine  Thatsache,  die  „keines 
Beweises  bedürfe“,  dass  das  Anerbenrecht  die  Entstehung  eines 
besitzlosen  Proletariates  begünstige.  Allein,  uns  scheint  dies 
sehr  des  Beweises  zu  bedürfen.  Die  Erfahrungen  in  West- 
falen, Hannover,  Oldenburg,  Holstein,  Brandenburg  u.  s.  w. 
zeigen,  dass  das  Anerbenrecht  keineswegs  nur  besitzlose 
Proletarier  neben  sich  duldet,  sondern  dass  es  auch  kleinbäuer- 
liche und  Landarbeiterstellen  wohl  verträgt,  ja  sogar  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  fordert  und  schafft.  Dem  gegenüber 
kann  auch  weder  die  Bezugnahme  auf  die  Ansicht  eines 
Dr.  Mayr  noch  die  Anführung  dessen,  was  Hazzi  über  die  Zu- 
stände vor  100  Jahren  mittheilt,  ins  Gewicht  fallen.  Ansichten 
beweisen  gegenüber  anderer  Erfahrung  gar  nichts;  und  die 
Hazzi'schen  Schilderungen  sind  einerseits  heute  veraltet,  anderer- 
seits sind  sie  kaum  für  ihre  Zeit  richtig  gewesen,  sondern  über- 
trieben, wie  dies  Fick  an  anderer  Stelle  selbst  eingestellt. 

Ja,  es  lässt  sich  sogar  aus  Ficks  eigenen  Zusammen- 
stellungen (S.  307/308)  erweisen,  dass  das  Anerbenrecht  auf 
die  Zahl  der  unehelichen  Geburten  keinen  hervorragenden  Ein- 
fluss haben  kann.  In  den  von  Fick  nach  deren  steigender  Höhe 
aufgestellten  sechs  Klassen  erscheinen  allerdings  in  den  un- 


So  siml  * B.  die  Tabelleu  S.  SI3  und  314  recht  unzuverlässig  und 
«war  deshalb,  weil  die  Zahl  der  Bezirksämter,  welche  die  Durchschnittszahlen 
der  Colnmnen  geliefert  haben,  sehr  ungleich  sind.  Es  erschwert  natürlich 
den  Vergleich  erheblich,  wenn  die  eine  Durc.hschnittsr.ahl,  wie  es  Öfter  ver- 
kommt, von  einem  einzigen  Bezirksamt  geliefert  wird  und  die  der  nächsten 
Spalte  von  nicht  weniger  als  1 1 Aemteru.  Fick  selbst  geräth  denn  auch 
mit  der  Tabelle  etwas  ins  Gedränge  (S.  313). 


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263 


günstigsten  Gruppen  V und  VI  nur  Bezirke  des  Anerben* 
rechts,  in  der  günstigsten  Gruppe  I dagegen  nur  Bezirke 
mit  Realtheilung.  Aus  diesen  Gruppen  müssen  wir  aber 
die  Rheinpfalz  ausscheiden,  weil  ihre  Verhältnisse  vom 
eigentlichen  Bayern  in  jeder  Beziehung  so  abweichen,  dass  sie 
nicht  wohl  zur  Vergleichung  mit  herangezogen  werden  kann. 
Ebenso  müssen  wir  aber  auch  die  suburbanen  Bezirke  München  I 
und  Nürnberg  ausser  Betracht  lassen,  weil  hier  die  oben  be- 
rührten städtischen  Verhältnisse  ungünstig  ein  wirken  können. 
Dann  verbleiben  in  Gruppe  I nur  zwei  Bezirke  und  in  Gruppe 
V und  VI  zusammen  nur  sieben.  Diese  9 Bezirke  können 
nun  zu  Schlussfolgerungen  unmöglich  verwerthet  werden  gegen- 
über der  gewaltigen  Ueberzahl  der  anderen  Bezirke,  welche 
säinmtlich  in  die  mittleren  Gruppen  II  bis  IV  fallen.  In  diesen 
Gruppen  zeigt  sich  aber  ein  buntes  Durcheinandergehen  von  Ge- 
genden mit  Anerbenrecht  und  von  denen  mit  Realtheilung.  Nahezu 
ganz  Unterfrauken  z.  B.f  in  dem  sich  getheilte  und  ungetheilte 
Vererbung  die  Waage  halten,  steht  nur  in  Gruppe  II.  In 
Gruppe  III  finden  sich  zwar  von  Unterfranken  noch  die  An- 
erbenbczirke  Brückenau  und  Ebern;  daneben  steht  aber  auch 
die  Realtheilungsgegend  Königshofen,  und  andererseits  reihen 
sich  gepriesene  Hochburgen  des  Anerbenrechts,  wie  namentlich 
der  Ochsenfurter  Gau,  die  Bezirke  Hammelburg,  Hassfurt, 
Scliweinfurt,  Würzburg  u.  s.  w.  und  in  die  günstige  Gruppe  II  ein. 
Ebenso  fällt  das  von  altersher  ganz  der  ungetheilten  Vererbung 
huldigende  Schwaben  auch  nur  unter  Gruppe  II  und  III.  Die 
ebenfalls  zum  Anerbenrecht  haltende  Oberpfalz  hat  in  der  weniger 
günstigen  GruppelV  nur  einen  einzigen  Bezirk.  Ja  selbst  das  sonst 
sehr  ungünstig  stehende  Oberbayern  hat  in  Gruppe  III  eine  ganze 
Anzahl  von  Anerbenbezirken,  während  der  einzige  oberbayrische 
Realtheilungsbezirk,  Garmisch,  zu  Gruppe  IV  zählt  Schon  daraus 
ergiebt  sich,  dass  das  Anerbenrecht  im  eigentlichen  Bayern  in 
Rücksicht  auf  die  Häufigkeit  der  unehelichen  Geburten  mit  der 
Realtheilung  genau  gleichsteht,  und  es  liege  die  Vermuthung 
nahe,  dass  in  den  Landestheilen  mit  mehr  unehelichen  Geburten 
nicht  das  Anerbenrecht,  sondern  der  Volkscharakter  mit  wirkt.  Dass 
jedenfalls  in  Ober-  und  Mittelfranken  nicht  ersteres  ungüustige 
Wirkungen  hervorbringt,  geht  daraus  hervor,  dass  die  rein 
ländlichen  Bezirke  am  besten  stehen.  Diese  zählen  überwiegend 


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264 


zu  Gruppe  III.  Zu  Gruppe  IV  dagegen  Bayreuth,  Hof,  Kulm- 
bacli,  Ansbach,  Erlangen.  Fürth,  Rothenburg  a.  T.,  also  alles 
Bezirke  in  der  Nähe  grösserer  Städte,  auf  deren  oft  gekenn- 
zeichneten Einfluss  wohl  auch  der  ungünstigere  Prozentual;' 
zurückzuführen  ist.  Neben  dem  Volkscharakter,  den  wir 
namentlich  für  Nieder-  und  Oberbayern  in  den  Vordergrund 
gerückt  wissen  wollen  und  neben  dem  Einfluss  naher  Städte 
wirkt  dann  wohl  auch  noch  die  von  Fick  (S.  310)  betonte  länd- 
liche Arbeiterfrage  mit,  gleichwie  wir  dereu  Bedeutsamkeit  in 
Kärnten  constatiren  konnten.  Es  mögen  auch  noch  lokale  Ein- 
flüsse hinzukommen,  wie  sie  Fick  selbst  (S.  302)  z B.  für  da? 
in  Gruppe  V stehende  Miesbach  in  Anspruch  nimmt.  Aber  da>> 
das  Anerbenrecht  an  der  Häufigkeit  unehelicher  Geburten  schuld 
ist,  lässt  sich  mindestens  nicht  erweisen.272"1) 

Dass  das  Anerbenrecht  ^tatsächlich  mit  Unrecht  angeklagt 
wird,  das  muss  übrigens  dem  noch  wahrscheinlicher  werden,  der 
seinen  Blick  über  die  im  Grossen  dtJch  sehr  vereinzelten  Er- 
scheinungen in  Kärnten  und  Bayern  hinaus  auf  die  gesammt- 
deutschen  Verhältnisse  richtet.  In  dem  weitaus  überwiegenden 
Theile  von  Deutschland  und  Oesterreich,  wird  — das  haben  die 
jüngsten  Umfragen  des  Vereins  für  Socialpolitik  aufs  neue  be- 
stätigt — noch  heute  die  ungetheilte  Vererbung  geübt,  und 
doch  zeigen  sich  hier  nirgends  ungünstige  Folgen.  Ja  in  West- 
falen, dem  klassischen  Lande  des  Anerbenrechts,  steht  die 
Ziffer  der  unehelichen  Geburten  unter  dem  Reichsdurchschnitt.27-'' 
Nicht  anders  ist  es  in  Lippe,  ebenfalls  einem  bekannten  Sitze 
des  altdeutschen  Erbgangs.272')  Ja  das  Beispiel  von  Lippe  ist 
noch  schlagender  als  selbst  das  von  Westfalen.  Denn  es  er- 
giebt,  dass  auch  die  Zahl  der  Grundbesitzer  nicht  wie  Fick 
meint,  von  erheblichem  Einfluss  ist.  In  Westfalen  nämlich 
werden  die  weichenden  Geschwister  meist  kleine  Grundbesitzer, 
in  Lippe  werden  sie  aber  wirklich  Arbeiter,  sogar  Wander- 
arbeiter und  zwar  im  Ziegeleigewerbe.  Dennoch  zeigen  sich 


!?-M)  Gleicher  Ansicht  auch  Gierke.  Allg.  Zeitung,  Beilage  No  l"? 
S.  3 Sp.  1. 

a:-"J  Vgl.  Sering  in  Sehr.  <1.  V.  f.  S.  Bd.  01,  S.  »91. 
vT.'f)  Vyi  f j Meyer,  Theilungsverbot  S.  &3  ff. 


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2G5 


keine  ungünstigen  Folgen,  weil  die  Ziegelstreicher  schon  früh 
genug  verdienen,  um  eine  Familie  zu  erhalten.  Daraus  ergiebt 
sich,  dass  eine  ausreichende  und  selbstständige  Arbeitsgelegenheit 
weit  wichtiger  für  gute  Sitten  ist  als  Anerbenrecht  oder  Frei- 
theilung.  Und  wenn  auch  auf  dem  Lande  die  Ehelust  abnimmt,  Ehe- 
losigkeit und  regelloser  Geschlechtsverkehr  dagegen  immer  häu- 
figer werden,  so  ist  das  nur  die  allgemeine  Krankheit  unserer  Zeit, 
eine  Krankheit,  die  wir  in  allen  Ständen  und  Berufen  wahr- 
nehmen können,  die  Folge  des  zu  grossen  Angebotes  von 
Arbeitskräften,  welches  erst  spät  einen  hinreichenden  Verdienst 
zu  erarbeiten  gestattet.  Bei  gesunden  Zuständen,  wo  jeder 
Arbcitslustige  auch  Gelegenheit  findet,  sich  eine  feste  heirats- 
fähige Stellung  zu  gründen,  hemmt  das  Anerbenrecht  dies  nicht:  im 
Gegenteil  es  zwingt  die  Kinder,  sich  frühzeitig  nach  einem  eigenen 
Erwerb  umzusehen,  weil  der  Abfindling  weiss,  dass  er  das  Gut 
doch  nicht  erhalten  wird;  ja  es  erleichtert  geradezu  die  Selbst- 
ständigmachung  und  Verheiratung  durch  seinen  Grundsatz, 
dass  den  nicht  erbenden  Kindern  das  Kapitel  zu  einer  ersten 
Einrichtung  gegeben  werden  soll  und  zwar,  sobald  sich  ihnen 
Gelegenheit  dazu  bietet,  gegeben  werden  muss.  Auf  jeden  Fall 
aber  bringen  die  anderen  Erbordnungen  noch  weit  schwerere 
sittliche  Gefahren  mit  sich,  von  denen  noch  genug  zu  reden 
sein  wird. 

Endlich  hat  man  dem  Anerbenrecht  den  Vorwurf  gemacht, 
es  versteinere  die  Agrarverfassung,  indem  es  die  Geschlossen- 
heit der  Höfe  fördere  und  vor  allem  hindere,  dass  ein  unwirt- 
schaftlich grosser  Hof  zerkleinert  werde.2715)  Das  ist  nicht 
richtig.  Das  Anerbenrecht  verhindert  wirklich  wirthschaft- 
liche  Theilungen  nie.  Denn  cs  ist  von  der  Unteilbarkeit 
ganz  unabhängig  und  nur  eine  Zeitlang  von  dieser  rein  äusser- 
licli  begleitet  gewesen.  Es  kann  bestehen  und  besteht  heute 
durchgängig  neben  freier  Theilbarkeit.  Es  verhütet  nur  die 
un wirtschaftlichen  Theilungen:  nicht  diejenigen,  welche, 
durch  den  Zwang  der  Umstände  oder  die  Gunst  des  Augen- 
blicks geboten,  von  dem  vorausschauenden  Bauer  unter  liebenden 


27S)  So  namentlich  Brentano  (Sohr.  <1.  V.  f.  S.  Bd.  ßl  S.  204).  Aehnlich 
auch  Bücher  (ebenda  S.  337/338). 


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266 


Vorgenotnmen  werden,  sondern  lediglich  die,  welche  durch  die 
todte  Regel  des  Intestaterbrechts  unabhängig  vom  Willen  der 
Betheiligten  eintreten.2*3*) 

Das  allerdings  ist  richtig,  dass  das  Anerbenrecht  nicht  zur 
Parzellirung  zwingt,  wie  die  Naturaltheilung.  Aber  solches 
Unterlassen  jeder  positiven  Wirksamkeit  ist  mindestens  keine 
schädigende  Einwirkung,  ganz  abgesehen  davon,  ob  der  Zwang 
zur  Zersplitterung  wirklich  etwas  Gutes  ist,  worauf  wir  noch 
zurückkommen  werden. 


§ 34. 

Eine  ökonomische  Schädlichkeit  des  Anerbenrechts  lässt 
sich  somit  nicht  nachweisen,  und  nach  unserer  Annahme  müsste 
es  deshalb  wieder  zu  Ehren  gebracht  werden,  wenn  nachgewiesen 
wird,  dass  der  Rechtswille  des  Volkes  nach  ihm  verlangt.  Das 
wird  nun  in  neuerer  Zeit  lebhaft  bestritten  und  es  wird  nicht 
nur  bestritten  für  die  Gebiete  der  hergebrachten  Naturaltheilung, 
sondern  auch  für  diejenigen  der  ungethcilten  Vererbung,  die  mau 
bisher  als  geeigneten  Boden  für  Einführung  des  Anerbenrechts 
ansah.  Namentlich  für  Bayern  haben  Brentano  und  Fick  auf 
Grund  ihrer  Untersuchungen  neuerdings  behauptet,  dass  dort 
das  Anerbenrecht  der  Rechtsüberzeugung  zuwider  sein  würde. 
(Brentano  Vorwort  S.  XL  u.  Sch.  d.  V.  f.  S.  Bd.  61,  S.  28S 
u.  ff.,  Fick  S.  265).  Sie  berufen  sich  zunächst  auf  die  gutachtlichen 
Aeusserungen  der  bei  ihrer  Enquete  befragten  Amtsrichter  und 
Notare.  Brentano  sagt  hierüber:  „Und  was  ist  das  Ergebnisse 
Von  den  ca.  600  Befragten  haben  sich  alle,  die  sich  über  die 
Frage  änsserten,  mit  der  äussersten  Energie  gegen  die  Ein- 
führung eines  Anerbenrechts  ausgesprochen.“ 

Man  muss  diesem  Satze  das  Lob  ertheilen,  dass  er  mit 
einer  ungewöhnlichen  Geschicklichkeit  abgefasst  ist,  aber 
doch  mit  einer  Geschicklichkeit,  die  mehr  dem  Journalisten 
als  dem  Gelehrten  anstellt.  Der  Satz  sagt  nichts  Unrich- 
tiges, und  doch  führt  er  den  Leser  irre.  Es  wird 
nämlich  klugerweise  verschwiegen,  wieviel  Berichterstatter 


Aebulich  Seriug  (Sehr.  ü.  V.  f.  S.  14«1.  CI  S.  389). 


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sich  über  das  Anerbenrecht  geäussert  haben;  aber  durch  die  Em- 
phase, mit  welcher  derSatz  hinausgeschleudert  wird,  erzeugt  er 
von  selbst  in  jedem  Leser  den  Eindruck,  es  müsse  eine  sehr  hohe 
Zahl,  mindestens  jedoch  die  Mehrzahl  von  jenen  600  gewesen 
sein.  Selbst  Gierke  hat  sich  hierdurch  täuschen  lassen  und 
gemeint,  „fast  alle“  Berichterstatter  hätten  sich  gegen  die  Ein- 
führung eines  Anerbenrechts  ausgesprochen.2731’)  Aber  wie  steht 
es  damit  in  Wirklichkeit?  Von  den  600  Berichterstattern,  — 
Sering  giebt  ihre  Zahl  nach  Freyberg  sogar  auf  800  an  — , 
haben  sich  nur  etwa  40  überhaupt  geäussert,  und  auch  von 
denen  sind  noch  nicht  alle  gegen  das  Anerbenrecht.  Wie  kann 
inan  daraus  Schlüsse  auf  die  allgemeine  Stimmung  ziehen! 
Wenn  man  sich  aber  vollends  die  ablehnenden  Urtbeile  im  Ein- 
zelnen ansieht,  so  wird  man  ihnen  jedes  Gewicht  absprechen. 
Bei  einer  ganzen  Reihe  von  ihnen  ist  die  logische  Begründung 
nicht  eben  stark;273')  ein  bedeutender  Bruchtheil  ferner  geht 
von  der  falschen  Voraussetzung  aus,  dass  ein  Eingriff  in  die 
Verfügungsfreiheit,  ein  obligatorisches  Anerbenrecht  mit  Hüfe- 
schluss  beabsichtigt  sei;2734)  einige  geben  ihre  subjektive  Ansicht 
zum  Besten,  dass  das  Anerbenrecht,  wie  es  auch  gestaltet  werde, 
„kein  Lebenselixier“  werden  würde  (S.  71),  oder  dass  jetzt  wohl 
keine  Zeit  für  „Schaffung  eines  privilegirten  Bauernstandes“  sei 
(S.  168)  oder  dgl.;  der  Rest  verneint  lediglich  das  Bedürfniss 
nach  einer  gesetzlichen  Regelung,  weil  die  Sitte  schon  dasselbe 
wirke,  ohne  jedoch  eine  Codifizirung  der  Sitte  für  schädlich  zu 
halten'-’73*;,  ja  einer  dieser  Gutachter  bemerkt  ausdrücklich,  dass 
dann,  wenn  die  Sitte  kodifizirt  werde,  auch  sein  Bezirk  diesem 
Gesetze  zu  unterwerfen  sei  (S.  202).  Sonach  sind  die  ernst 
zu  nehmenden  Gutachter  entweder  deshalb  nicht  massgebend, 


*!M)  Gierke,  Allgein.  Zeit.  Beilage  Nr.  IH4  S.  1 Sp.  2. 

J73‘j  Man  vgl.  z.  B.  das  bei  Kiek  S loo  niitgetheiltc  Urtbeil,  welches 
das  Anerbenrecht  deshalb  widerriitli.  weil  der  Bauer  das  als  Zwang  empfinden 
werde,  was  er  bisher  freiwillig  getlian  habe.  liier  wird  also  dein  Bauern 
der  Kinderstandpunkt  zugemnthet  [eh  thue  etwas  bisher  gern  Uethanes  nun 
nieht  mehr,  weil  ich  es  jetzt  soll.  Vgl.  auch  das  Gutachten  8.  70  71. 

271,1  J Fick  S.  70,  7t>,  77.  78,  136,  1 68,  201. 

***•)  Fick  S.  07,  82,  8(1,  14t,  lfig.  IBS,  202.  Nicht  berücksichtigt  sind 
die  paar  Aeusscrungen  aus  dem  Gebiete  der  Healtbeilung,  da  hier  das  An- 
erbenrecht auch  von  uns  nicht  in  Aussicht  genommen  wird. 


weil  sie  auf  irriger  Grundlage  fussen,  oder  sie  differiren  von 
uns  nur  in  der  Opportunitätsfrage,  über  die  sich  ja  streiten 
lässt.  Vor  allem  aber  ergiebt  sich,  dass  sie  nur  ihre  eigener. 
Schlussfolgerungen  und  Ansichten  Vorbringen,  aber  nicht  die 
Anschauungen  des  Volkes.  lieber  dessen  Rechtsüberzeugun:: 
giebt  nur  die  Rerhtsübnng  Auskunft. 

Nun  behauptet  freilich  Brentano  auch  die  Rechtsübunc 
des  Volkes  habe  sich  in  allen  Punkten  gegen  das  Anerbenrectit 
entschieden.  Dass  allerdings  die  ungetheilte  Vererbung  in  fast 
allen  Landestheilen  hergebracht  ist,  kann  er  nicht  bestreiten 
Aber  die  wichtigste  Eigentliiimlichkeit  des  Anerbenrechts,  die 
alte  Vorstellung,  dass  das  Gut  Familiengut  sei  und  deshalb  dem 
Anerben  unter  gewissen  Erleichterungen  gebühre,  soll  völlte 
verblasst  sein:  nur  krasser  Egoismus  soll  alle  Verhältnisse  re- 
gieren. Das  Ficksche  Buch  ist  zu  dem  ausgesprochenen  Zweck 
geschrieben,  dies  zu  erweisen.  Man  darf  es  aber  wohl  au?- 
sprechen,  dass  selten  ein  Buch  durch  die  Macht  der  Thatsacber 
so  von  seiner  ursprünglichen  Richtung  abgedrängt  ist.  Die  ver- 
arbeiteten Berichte  ergeben  mit  einer  ganz  beispiellosen  Ein- 
stimmigkeit das  Gegentheil.  Ohne  Abweichung  wird  bezeug 
dass  es,  soweit  überhaupt  die  ungetheilte  Vererbung  reicht,  die 
A bsicht  der  ElternundderSchätzmä  n n e r ist,  den  U ebernehnw 
zu  begünstigen.'-’7;,,)  Mit  einer  einzigen  Ausnahme  wird  be- 
richtet, es  werde  überall  auch  von  den  Miterben  dem  Guts- 
annehmer  ein  solcher  Voraus  bewilligt,  „dass  er  bestehen 
kann“:'-’7:ls)  ja  selbst  die  eine  Ausnahme  ist  sehr  zweifelhaft 
denn  was  sonst  in  dem  betreffenden  Berichte  (S.  232)  über  die 
Bemessung  der  Abfindungen  gesagt  wird,  deutet  durchaus  au: 


*™)  Firk  S.  48.  47,  74.  81,  90.  96,  108.  129,  135.  156,  160.  244. 

*■*)  Ein  ausdrücklicher  Voraus  wird  bewilligt  bei  Fick  S.  49.  ■■ 
(„Uebergabsvortheil“),  69  („manchmal“),  85  („selten“).  12b  („hie  und  de 
134,  165  (bis  zu  50  0 „).  Sonst  findet  sich  überall  verhiil  lte r Voraus  Vt 
Fick  S.  5o,  uo  (bis  zu  1 des  Tausch werthes),  65,  75,  Kl,  85,  so.  96,  i1" 
108,  113,  120,  122,  125,  129,  134,  138,  143.  151,  156,  166,  170,  175  ,b»  r 
’/„  und  mehr  des  Tausch  wert  lies),  186  (20", „ unter  dem  Tauschwerth),  2"1 
244.  252.  — Freiherr  v.  Freyberg,  der  die  von  Fick  bearbeiteten  Berich- 
ebenfalls  überarbeitet  bat,  schützt  nach  ihnen  den  indirekten  Vortbeil  im  Pur.l 
schnitt  auf  ’ , bis  1 des  Verkanfswerthes  (Vgl.  Sering  bei  Sclunvller.  Jahr 
buch  von  1896  S.  211/212.) 


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269 


eiue  billige  Abwägung  aller  Umstände  bin,  und  überdies  sagt 
ein  anderer  Berichterstatter  (S.  234)  von  demselben  Bezirke: 
„Häufig  werden  die  Gutsfibernehmer  gegenüber  ihren  Ge- 
schwistern bevorzugt.“  Fick  selber  nimmt  denn  auch  (S.  273) 
für  ganz  Bayern  an,  es  werde  „das  Gut  womöglich  so  über- 
geben . . . , dass  der  Uebernehmer  auch  in  weniger  guten 
Jahren  bestehen  kann.“ 

Das  freilich  zeigen  die  Berichte  ebenfalls,  dass  die  Mit- 
erben sich  gegen  diesen  Brauch  jetzt  mehr  und  mehr  zu  wehren 
beginnen,  und  auf  deren  Anschauungen  stützt  sich  denn  auch 
Brentano  besonders.  Indessen  schon  Sering  (bei  Schmoller, 
Jahrbuch  XX  S.  218)  hat  mit  Recht  hervorgehoben,  dass  bei 
einem  Widerstreite  zwischen  den  Ansichten  der  Eltern  und  der 
Miterben,  es  doch  kaum  zweifelhaft  sein  kann,  auf  welcher  Seite 
die  wahre  und  massgebende  Volksüberzeugung  zu  suchen  ist. 
Und  in  der  That  sind  die  Meinungen  der  Miterben  in  diesem 
Punkte  die  am  wenigsten  geeignete  Erkenutnissquelle : denn  die 
Miterben  sind  am  meisten  Partei,  weil  sie  von  Rechten  nach- 
lassen  sollen,  die  ihnen  das  heutige  Gesetz  gewährt.  Es  soll 
aber  auch  nicht  einmal  auf  die  Ansicht  der  Eltern  allein  das 
entscheidende  Gewicht  gelegt  werden;  auch  diesen  könnte  mau 
ja  in  dieser  oder  jener  Richtung  Befangenheit  vorwerfen.  Ganz 
unparteiische  Zeugen  der  im  Bauernstände  lebenden  Ueber- 
zeugungen  sind  aber  gewiss  die  Schätzmänner;  und  von  ihnen 
wird  ohne  Ausnahme  bemerkt,  dass  sie  die  Hofe  möglichst 
niedrig  zu  bewerthen  pflegen,  sodass  der  Anerbe  bestehen 
kann.273*)  Uebrigens  haben  auch  unter  den  Miterben  die 
städtischen  Ideen  noch  keineswegs  die  Vorherrschaft  gewonnen. 
In  der  Fick'schen  Bearbeitung  gelaugt  allerdings  dieser  Theil 
der  Berichte  nicht  zu  besonderer  Hervorhebung;  dafür  hat  ihn 
umsomehr  Freiherr  v.  Freiberg  in  seiner  Bearbeitung  derselben 
Enquete  betont.  Er  schreibt:  „Besonders  wichtig  und  von 

grosser  Bedeutung  für  die  abschliessende  ßeurtheilung  ist  die 
häufige  Constatirung,  dass  die  im  massigen  Anschläge  und 
sonstiger  Begünstigung  des  Uebernehmers  nothgedrungen  liegende 
Beeinträchtigung  der  Miterbon  von  diesen  „als  etwas  Selbstver- 


flihj  Vgl.  Fick  S.  274  und  die  von  ihm  selbst  dort  citirten  Berichte. 


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stündliches“,  „anstandslos“,  „ohne  Widerrede“  u.  s.  w.  hinge* 
nommen,  und  nicht  als  Verkürzung,  sondern  als  ein  Gebot  der 
Noth wendigkeit  empfunden  wird.“274) 

Sonach  ist  erwiesen,  dass  in  der  grossen  Mehrheit  auch 
des  bayrischen  Bauernstandes  und  vor  allem  in  seinen  mass- 
gebenden Kreisen,  die  Anschauung  lebendig  ist,  der  Anerbe 
müsse  bevorzugt  und  so  gestellt  werden,  dass  er  den  Hof  ge- 
deihlich bewirtschaften  kann.  Wir  sehen  den  rechtlichen  und 
ethischen  Grund  dieser  Anschauung  in  der  altdeutschen  Auf- 
fassung des  Hofes  als  eines  Familienbesitzes,  der  zu  aller  Nutzen 
erhalten  werden  muss.  Brentano  dagegen  giebt,  soweit  er  jene 
Anschauung  anerkennt,  nur  den  Egoismus  als  ihren  Grund  an. 
Wo  noch  die  ungeteilte  Vererbung  in  der  alten  Weise  geübt 
wird,  da  soll  dies  nach  ihm  nur  durch  die  Rücksicht  auf  den 
„wirthschaftlich-technischen  Charakter  des  Objektes“ 
verursacht  werden,  welcher  formell  gleiche,  naturale  oder  civile 
Theilung  auch  den  Miterben  nicht  als  räthlich  erscheinen  lässt. 

Allein  auch  hier  ist  durch  Brentanos  eigene  Enquete  das 
Gegenteil  dargethan.  Ob  eine  Gegend  der  ungeteilten  Ver- 
erbung anhängt,  oder  nicht,  bestimmt  sich  lediglich  nach  dem 
Herkommen.  Denn  das  Anerbenrecht  findet  sich  gleichermasseu 
auf  einem  ihm  günstigen,  auf  indifferentem  und  auf  ungünstigem 
Boden.  Es  wird  nicht  nur  angetroffen  in  Gegenden  ohne  In- 
dustrie und  mit  extensiver  Kultur,  sondern  auch  in  solchen  mit 
intensiver  Bebauung,  in  reichen  Korn-  und  Viehgegenden  wie 
im  Rotthal  und  iu  Bezirken,  in  denen  sich  wie  in  Unterfranken 
mit  der  intensiven  Kultur  noch  eine  weitgehende  Parzellirung 
des  Bodens  verschwistcrt.  Das  Ueberwiegen  des  Gemüsebaues, 
der  doch  sonst  die  Realtheilung  so  begünstigt,  schadet  dem 
Anerbenrechte  stellenweise  ebenfalls  nichts,  selbst  da  nicht,  wo 
er,  wie  z.  B.  in  der  Bamberger  Gegend  mit  einer  regen,  vielfach 
sogar  im  Hause  betriebene  Industrie  vereint  ist:  auch  der  ott- 
erwähnte zersplitternde  Einfluss  der  Handelsgewächszucht  versagt 
gegenüber  der  Sitte  der  Zusanimenhaltung  in  den  Hopfengegenden 
und  in  den  Rheingcgeuden  der  Oberpfalz;  nicht  minder  erweist 
sich  die  Industrie  im  Allgemeinen  als  machtlos;  die  reiche  lu- 


•'•*)  Freiberg  bei  Sering  in  Schmollers  Jahrbuch  ile.  1890  S.  214. 215 


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271 


dustrie  der  westlichen  Oberpfalz,  der  Augsburger  Gegend,  der 
mittelfränkischen  Striche  um  Fürth,  Roth  und  Nürnberg  hat  der 
Einzelerbfolge  noch  keinen  Abbruch  gethan;  ja  diese  herrscht 
sogar  unter  der  hausindustriellen  Weberbevölkerung  des  Fichtel- 
gebirges, also  an  dem  denkbar  ungeeignetsten  Orte,  in  einem 
Gebiete,  auf  das  in  jedem  Punkte  die  Schilderung  gepasst  hätte, 
die  Brentano  auf  den  Wiener  Verhandlungen  von  den  haus- 
industriellen Realtheilungsgemeiudeu  entworfen  hat,  wo  Jede 
andere  Art  der  Vererbung  unmöglich“  sein  soll.'-74») 

Andererseits  findet  sich  auch  die  Realtheilung  nicht  blos 
in  Gegenden,  von  denen  Fick  selbst  zugiebt,  dass  ein  Grund 
für  die  Bevorzugung  der  Realtheilung  bei  ihnen  nicht  erkennbar 
sei;  sie  tritt  vielmehr  sogar  in  direkt  ungeeigneten  auf,  wie  in 
den  Gebirgsdörfern  des  Spessart  und  Frankenwaldes,  wo  es  an 
jedem  intensiven  Betrieb  und  an  jeder  grösseren  Industrie 
mangelt.'-’741’) 

Damit  ist  dargethan,  dass  es  nicht  die  wirthschaftlichen 
Gründe  sein  können,  welche  die  Wahl  zwischen  Anerbenrecht  und 
Theilung  entscheiden,  sondern  nur  die  Ueberzeuguug  des  Volkes 
von  dem,  was  sein  muss  und  sich  gehört.  Jede  andere  Er- 
klärung reicht  so  wenig  zu,  dass  selbst  Fick  vielfach  sich  nur 
auf  das  „Herkommen“  berufen  kann.'-’740)  Ja  auch  Brentano 
selber  hat  schliesslich  seine  ursprüngliche  Behauptung  von  dem 
alleinigen  Gewicht  des  „wirthschaftlich-technisehen  Charakters 
des  Objekts“  erheblich  einschränken  und  eingestehen  müssen, 
dass  sich  der  Bauer  doch  weit  mehr  noch  durch  das  Herkommen 
leiten  lasse,  als  er  früher  angenommen  habe.*74,1)  Brentano  hätte 


K1*)  Sehr.  d.  V.  f.  S.  lid.  61  S.  '."Jo.  — lieber  die  vorher  behaupteten 
Zustände  der  Gegenden  mit  uugctheilter  Vererbung  vgl  Kick  S.  102,  106, 
112,  118  (intensive  Viehwirthschaft);  S.  72,  122,  127  (reiche  Korn-  und  Vieh- 
gegend}; S.  68,  217(intcnsiv  bewirthsohaftete  und  mehr  oder  minder  stark 
parzellirte  Gegend);  S.  ISO  (Gemüsebau  mit  llausiudustrie);  S.  6:5,  87,  154, 
173,  180  (Uandelsgewäehsbau);  Sä.  87,  132.  163,  180  (reiche  Industrie);  S.  180 
(Hausindustrie  der  Weber  im  Fichtelgebirge).  — Vgl.  übrigens  auch  Bering 
bei  Schmoller,  Jahrbuch  XX  S.  202. 

■mi>)  Vgl.  Fick  S.  107,  270,  106,  256  und  Sering  a.  a.  O. 
m *)  Fick  S.  107,  200  („Druck  der  Dorfmeinung“).  Vgl.  auch  S.  217 
(Fiek  kann  „keinen“  Grund  angeben.) 

27<'1)  Brentano,  Vorwort  S.  XXXVIII. 


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wie  wir  sahen,  weiter  gehen  und  eingestehen  sollen,  dass  der 
letzte  Grund  der  thatsächliehen  Uebung  liberal  1 die  Reehtsüber- 
zeugung  ist.  Es  soll  damit  nicht  gesagt  sein,  dass  dabei  mciit 
in  den  meisten  Fällen  auch  das  Zweckmässige  getroffen  wird 
Im  Gegentheil;  wenn  sich  das  Anerbenrecht,  wde  wir  behaupten 
von  den  ältesten  Zeiten  bis  heute  aus  dem  Geiste  der  ländlicher 
Verhältnisse  heraus  selbstthätig  entwickelt  hat,  so  wäre  e> 
wunderbar,  wenn  es  zu  diesen  Verhältnissen  nicht  passte,  wem 
es  sich  ihnen  nicht  anfügte  wie  die  Rinde  dem  Baum. 

Hat  sich  sonach  in  Bayern  noch  die  alte  Auffassung  de' 
Hofes  als  eines  Familiengutes  erhalten,  so  wird  das  Gleiche 
auch  aus  den  übrigen  Landestlieilen  Deutschlands  und  Oester- 
reichs berichtet,  wo  immer  die  ungetheilto  Vererbung  sich  nod 
behauptet  hat.  So  wird  aus  Hessen  gemeldet:  „Durch  alle 

diese  Verträge  geht  überhaupt  ein  Zug  patriarchalischer  Familiec- 
fürsorge,  der  sich  besonders  in  der  Rücksicht  auf  die  nnmündigta 
oder  gebrechlichen  Angehörigen  ausprägt,  und  die  alte  An- 
schauung, dass  die  Hofesstelle  — die  zum  Theil  noch  hier  in 
mitteldeutschen  Bezirke  einen  eigenen  Namen  führt  — e 
Sammelpunkt  der  Familie  sei  und  bleibe.“-75)  Von  Westfaln 
heisst  es,  dass  die  niedrigen  Abfindungen  dort  „auf  deui  Recbt>- 
bewusstscin  basiren,  dass  der  Hof  der  Famlie  erhalten  bleii» 
soll.“-75*)  Von  Pommern  wird  gesagt,  „das  Anerbenrecht  ent- 
spreche dort  dem  Bewusstsein  der  Bevölkerung.“'-'75k)  X->? 
Uuteriuuthale  und  vom  Wipptbale  in  Nordtirol  lesen  wir,  da» 
dort  „sich  die  echt  deutschrechtliche  Auffassung  von  der  Be- 
deutung des  Familienbesitzes  noch  lebendig  bewahrt  hat.“  Y 


Mittlioiluug  bei  SclunoUer,  Jahrbuch  de  1895  S.  *2tU.  — [s- 
Bericht  setzt  sich  allerdings  im  ferneren  Verlaufe  mit  sich  selbst  in  Wtl  t 
sprach,  indem  er  als  tlrund  der  Erbsitte  dort  das  wirthschaftUehe  Bedurfci 
unfiihrt.  Aber  das  ist  ein  Irrthum,  wie  sich  daraus  ergiebt,  dass  $<■:  r 
darauf  gesagt  wird,  die  Kealtbeilung  linde  sieb  in  gänzlich  ungeeignet 
tiegenden.  Auch  ist  der  Irrthum  nur  eine  Schlussfolgerung  des  gelehr- 
Verf.  der  Mittheilung,  während  die  obige  Stolle  im  Wesentlichen  die  Wie:- - 
gäbe  der  Ansichten  von  ortskundigen  Berichterstattern  enthält,  welche  i 
Bestreben  nach  Erhaltung  des  Eainiliougutes  „ohne  Bedenken  . 
zweifellos  bezeugen“. 

a;  . ) Vgl.  Winkeliuaiin  auf  der  Agrarconfereuz  S.  137. 

-'  ■'  J Laudesdir.  -Llüppnor  auf  der  Agrarcouferenz  S.  170. 


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Deutsch-Südtirol  bekommen  wir  Aehnliches  zu  hören.  Auch  von 
Mähren  wird  angegeben,  dass  dort  die  ungetheilte  Vererbung 
ausser  iu  den  weinbauenden  Gegenden  „dem  Rechtsbewusstsein 
der  Bevölkerung  Rechnung  trägt“.  Ebenso  wird  von  Ober- 
Oesterreich  behauptet,  „dass  die  gesetzlichen  Bestimmungen  über 
die  Freitheilbarkeit  grossentheils  unbekannt  oder  doch  unbcnützt 
geblieben,  und  die  herkömmlichen  Rechtsanschauungen,  sowie 
die  viele  Hunderte  von  Jahren  alten  Gewohnheiten  in  der  Land- 
bevölkerung fast  dnrehgehends  noch  lebendig  sind.“  Auch  in 
Nieder-Oesterreich  wird  als  Grund  der  ungeteilten  Vererbung 
die  „herrschende  Anschauung“  angesprochen.2750)  Ja  selbst  in 
dent  sonst  der  Naturaltheilung  huldigenden  Rheinland  soll  nach 
der  Erfahrung  des  Landgerichtsdirektors  Schmitz  aus  Erkelenz 
die  Bevölkerung  der  Lehre  von  der  Eigenschaft  des  Hofes  als 
eines  Familienbesitzes  nicht  unzugänglich  sein.'-’™)  Und  von  den 
meisten  übrigen  Gegenden  Deutschlands  und  Oesterreichs  wird 
zwar  nicht  die  Rechtsanschauung  selbst,  wohl  aber  deren  Re- 
sultat, die  Rechtsübung  der  Einzelerbfolge  bezeugt,  nämlich  von 
den  Gebirgsgegenden  des  Schwarzwaldes  und  Odenwaldes  und 
von  den  Kreisen  Konstanz  und  Moosbach  in  Baden,  von  Neu- 
württemberg, von  Oldenburg,  Schleswig  - Holstein,  Hannover, 
Brandenburg,  Mecklenburg,  Posen,  Pommern  und  Preussen, 
sowie  von  Steiermark.275*) 

Ueberblickt  man  alles  dies,  so  wird  man  sagen  müssen: 
Soweit  überhaupt  Ansichten  und  Anschauungen  nachweisbar 
sind,  soweit  ist  dargethan,  dass  die  ausdrücklich  oder  durch 
Uebung  dokumentirte  Rechtsüberzeugung  des  - Volkes  dem  An- 
erbenrecht, wie  wir  es  Vorschlägen,  entspricht.  Mit  Recht  durfte 
deshalb  Gierke  sagen,  das  Anerbenrecht  sei  ein  „volkstüm- 
liches“ Recht  das  sich  in  der  grossen  Mehrheit  der  Nation  er- 
halten habe.27'’') 


27S')  Ueber  Oesterreich  vgl.  Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  75  S.  101,  121,  176, 
253,  313. 

1 Agrarconfereuz  S.  153. 

SB5»)  \Tgl.  hierüber  die  Berichte  in  Band  73  bis  75  der  Sehr.  d.  V.  f.  S. 
'nir)  Agrarconfereuz  S.  228. 

v.  DuDslff,  üruaderbrfrchl. 


18 


274 


§ 35. 

Mit  dieser  Feststellung,  dass  noch  heute  die  Ueberzeugung 
weiter  Volkskreise  sich  für  das  Auerbenrecht  ausspricht,  ist 
eigentlich  auch  der  Streit  um  seine  angebliche  Ungerechtigkeit 
entschieden.  Denn  ungerecht  ist  doch  nur  dasjenige,  was  mit 
der  Rechtsanschauung  in  Widerspruch  steht.  Ungerech- 
tigkeit ist  deshalb  stets  ein  relativer  Begriff  der  sich  mit  dem 
Wechsel  der  Rechtsanschauungen  verschiebt.  Denjenigen  nämlich, 
welche  heute  über  Ungerechtigkeit  des  Anerbenrechts  klagen,  mag 
es  wirklich  ungerecht  erscheinen ; denn  sie  sind  Politiker,  Kinder 
der  Städte  und  mit  den  dort  herrschenden  Ansichten  erfüllt;  so 
haben  sie  auch  von  früh  an  die  Lehre  von  der  gleichen  Be- 
handlung der  Nachkommenschaft  eingesogen.  Sie  mögen  des- 
halb in  der  That  das  Anevbenrecht  als  Ungerechtigkeit  empfinden. 
Umgekehrt  das  Landvolk.  Dies  ist  von  früh  auf  mit  der  un- 
gleichen Behandlung  der  Miterben  vertraut;  ihm  ist  die  gleiche 
fremd;  gerade  diese,  welche  den  Städten  das  Ideal  der  Gerech- 
tigkeit ist,  würde  deshalb  ihm  gewohnheitswidrig,  und  ungerecht 
bedünken.  Eine  wahre  Ungerechtigkeit  beginge  man  sonach 
erst,  wenn  man  der  einen  oder  anderen  Partei  etwas  ihr  Wi- 
driges aufzwingen  wollte;  nein,  so  wenig  man  den  Städtern  ihre 
gleiche  Erbtheilung  nehmen  wird,  so  wenig  darf  man  auch  den 
Bauern  ihr  Anerbonrecht  verkümmern.1’76) 

Allein  mit  der  öngerechtigkeitsfrage  hat  man,  wohl  ver- 
führt durch  den  sprachlichen  Doppelsinn  von  „Ungerecht“,  — 
die  Untersuchung  nach  der  Unbilligkeit  des  Anerbenrechts  ver- 
mengt. Denn  nicht  auf  die  Ungerechtigkeit,  sondern  auf  die 
Unbilligkeit  bezieht  es  sich,  wrenn  mau  davon  spricht,  dass 
einem  Vater  alle  Kinder  gleich  lieb  sein  müssten,  und  dass  deshalb 
auch  nach  seinem  Tode  sein  Vermögen  in  seinem  Sinne  gleich 
gctheilt  werden  müsse. 

Es  geht  diesem  Satze,  wie  so  vielen  anderen  Schlagworten 
des  öffentlichen  Lebens.  Er  ist  halb  wahr,  und  deshalb  findet 


r,!)  Vgl.  auch  Gierkc,  Erbrecht  in  ländlichen  Grundbesitz  S.  11  und 
12.  — Scring  in  Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  Bl  S.  313. 


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275 


er  so  viele  Nachbeter;  denn  es  leuchtet  jedem  sofort  ein,  dass 
etwas  Richtiges  an  ihm  ist,  der  Fehler  aber  versteckt  sich;  er 
liegt  im  Ausdruck.  Wie  der  Satz  gewöhnlich  formulirt  wird, 
besagt  er  ganz  etwas  anderes,  als  er  sagen  will.  Der  ihm  zu 
Grunde  liegende  Gedanke  ist  doch  lediglich  der,  dass  alle 
Familienmitglieder  vom  Hausvermögen  einen  möglichst  gleichen 
Genuss  haben.  Dies  erfordert  allerdings  die  Billigkeit,  aber 
nichts  weiter;  sie  erfordert  vor  allen  Dingen  nicht  die  formal 
gleiche  Theilung  des  Vermögens.  Denn  diese  ist  nur  das 
Mittel,  jene  Forderung  zu  verwirklichen,  und  zwar  gewöhnlich 
das  richtige,  aber  keineswegs  immer.  Und  gerade  darin,  dass 
das  Mittel  mit  der  Forderung  selbst  verwechselt  und  zum  allge- 
mein gütigen  erhoben  wird,  — gerade  darin  liegt  der  Fehler 
des  Satzes  von  der  gleichen  Theilung. 

Es  zeigt  sich  dies  besonders  stark  in  ländlichen  Ver- 
hältnissen. Gerade  wenn  man  dort  gemäss  der  Billigkeit  einen 
möglichst  gleichen  Genuss  des  Erbgutes  herbeifuhren  will, 
darf  man  es  nicht  gleich  theilen,  wenigstens  nicht  immer.  So 
lange  es  noch  naturaliter  getheilt  werden  kann,  zieht  allerdings 
hier  die  gleiche  Theilung  einen  gleichen  Genuss  nach  sich. 
Wo  aber  die  Naturaltheilung,  wie  fast  überall  in  Deutschland, 
nicht  mehr  möglich  ist,  wofern  man  nicht  allen  den  gleichen 
Nichtgenuss  verschaffen  will,  wo  man  deshalb  zur  Civil- 
theilung  schreiten  muss,  da  gewährt  die  gleiche  Theilung  des 
Civil werthes  keinen  gleichen  Genuss  für  alle,  sondern  den  Mit- 
erben einen  erheblich  grösseren  als  dem  Hofannehmer.-7,i*) 

Schon  rein  äusserlich  in  der  Verzinsung  des  ihnen  zu 
fallenden  Capitalantheils  zeigt  sich  dies.  Der  Hofannehmer 
wirtbschaftet  unter  heutigen  Verhältnissen  selbst  in  guten 
Jahren  aus  dem  Gute  kaum  mehr  als  zwei  Prozent  seines 
Werthes  heraus.  Die  Miterben  erhalten  ihre  Antheile  nun  in 
Hypotheken  auf  dem  Gute  eingetragen,  die  doch  mindestens 
3 °/0  abwerfen.  Der  Anerbe  muss  deshalb  oft  die  2 °/0  seines 
eigenen  Antheiles  daran  geben,  um  dies  Mehr  an  Verzinsung 
einzubringeu.  Es  kommt  aber  noch  ein  Zweites  hinzu.  Die 


2T6*)  Vgl.  Helferich,  bäuerliche  Erbfolge,  Hiindien  1883,  S.  8 und  9. 
Soergel  S.  44  u.  45,  Marehct,  Abschnitt  IX. 


18* 


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276 


Miterben  erhalten  ihren  Zinsgenuss  ohne  Mühe  und  Arbeit,  ohne 
Rücksicht  auf  gute  und  schlechte  Zeiten.  Alle  Mühe,  alle 
Gefahr  liegt  auf  dem  Hofbesitzer.  Wenn  die  Ernte  missräth, 
wenn  die  Lage  des  Weltmarktes  ihm  einen  Gewinn  seiner 
Arbeit  nicht  in  Aussicht  stellt,  Zinsen  muss  er  doch  zahlen. 
Die  einfachsten  Regeln  der  Wirthschaftsknnst  würden  erfordern, 
dass  für  solche  stets  eintretenden  Verluste  aus  dem  Hausver- 
tnögen,  welches  doch  am  letzten  Ende  den  Miterben  ebensowohl 
wie  dem  Hofbesitzer  ihre  Bezüge  gewährt,  ein  Reservefonds 
ausgesondert  werde.  Dieser  bleibt  natürlich  in  der  Hand  dessen, 
der  das  gemeinsame  Vermögen  hat.  Eine  Unbilligkeit  würde 
deshalb  in  der  Gewährung  eines  Vorzuges  weit  weniger  liegen, 
als  in  seiner  Nichtgewährung. 

Die  geschilderten  Uebelstände  treten  noch  weit  stärker 
hervor,  wenn  die  Miterben  sich  ihre  Antheile  nicht  als  Hypothek 
eintragen,  sondern  sofort  baar  auszalilcn  lassen.  Denn  wegen 
des  regelmässigen  Mangels  bereiter  Mittel  muss  der  Hoferbe 
dann  von  Fremden  Darlehen  aufnehmen,  die  zumeist  höher 
als  drei  Prozent  verzinslich  sind,  und  deren  Gläubiger  in  Tagen 
landwirthschaftlicher  Noth  nicht  so  leicht  Nachsicht  üben  wie 
Verwandte. 

Es  ist  denn  auch  schon  längst  von  allen  Einsichtigen  er- 
kannt worden,  dass  bei  der  Civiltheilung  die  Gleichheit  nicht 
der  Billigkeit  entspricht,  vielmehr  eine  hervorragende  Unbillig- 
keit gegen  den  Anerben  enthält.  Schon  1841  wurde  in  einer 
an  den  Brandenburgischen  Provinziallandtag  gerichteten  Denk- 
schrift2T,ib)  mit  Recht  hervorgehoben  und  von  ihm  demnächst 
anerkannt,  was  auch  wir  ausgeführt  haben,  dass  „eine  gleiche 
Erbtheilung  da,  wo  das  Object  in  Grundbesitz  bestehe,  stets 
nur  eine  nominell  gleiche  sei,  in  Wirklichkeit  aber  eine  sehr 
ungleiche,  indem  der  Erbe,  der  sein,  nach  einer  möglicherweise 
trügerischen  Taxe  ermitteltes  Erbtheil  im  Grundbesitz  und  mit 
der  Verpflichtung,  die  Erbtheile  den  Miterben  auszuzahlcn,  an- 
nehnie,  auch  bei  richtiger  Werthermittelung  immer  geschädigt 
sei,  da  alle  Lasten  und  Gefahren  auf  seinem  Erbtheil  allein 
haften  blieben,  er  allein  durch  seinen  Fleiss  und  seine  Arbeit 


!'eb)  Vgl.  hierüber  „Tägliche  Rundschau"  Nr.  27  N vom  I.Febr.  1896. 


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27? 


den  Ertrag  des  Ganzen  erringen  müsse.“  Aehnliehes  ist  auch 
heute  vielfach  gesagt  worden.276”) 

K6e)  Vgl.  z.  B.  Thiel  (Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  61  S.  246);  Sering  (ebenda 
S.  382);  Andrö  (Jnristentag  de  1895  Bd.  1,  S.  39  f.V  .Dazu  kommt,  dass 
der  Landwirth  geneigt  ist,  seine  eigene  Arbeit  bei  Berechnung  des  Kauf- 
preises nicht  anzuschlagen.  Die  abgehendeu  Kinder  haben  aber  durchaus 
keinen  Auspruch  darauf,  dass  der  Gutsübernehmer  seine  eigene  Arbeits- 
tbätigkeit  capitalisire  und  ihnen  davon  einen,  der  Zahl  der  Geschwister  ent- 
sprechenden Antheil  auszahle.  Das  inuthet  auch  der  Fabrikant  demjenigen 
seiner  Kinder,  welches  die  Fabrik  und  das  Geschäft  übernimmt,  nicht  zu. 
Das  hiesse  dem  Uebernehmer  zumnthen,  das,  was  er  im  späteren  Leben 
durch  eigene  Intelligenz  und  Thatkraft  verdienen  will,  im  Voraus  aus- 
zuzahlen.“  — Enneccerus  (ebenda  Bd.  2 S.  77):  ....  ist  die  gleiche 

Theilnng  ...  die  schwerste  Ungerechtigkeit  gegen  den  Uebernehmer.  Er 
zieht  aus  dem  Gute  nur  den  Ertragswerth  und  soll  die  Erbtheile  der  Ge- 
schwister nach  dem  hiSheren  Verkaufswerthe  verzinsen.  Er  hat  also  meist 
mehr  an  Zinsen  zu  zahlen,  als  er  einnimmt,  und  d zu  trägt  er  noch  das 
Risico  schlechter  Jahre  “ — v.  Buch  (Agrarconferenz  S.  181).  — Gierke 
(ebenda  S.  230).  — v.  Uiqnel  (ebenda  S.  252):  „Wenn  man  erwägt,  dass  der 
Anerbe  das  gesummte  Risiko  übernimmt,  welches  in  der  heutigen  Zeit  in 
der  Landwirthschaft  noch  ganz  etwas  anderes  bedeutet  als  vor  30  Jahren, 
wenn  man  ferner  erwägt,  dass  der  Anerbe  die  ganze  Arbeit  zu  leisten  hat, 
währeud  er  sonst  doch  sonstigem  Verdienst  hätte  nachgehen  können,  dass 
die  Miterben  mit  festen  Beträgen  von  dannen  gehen,  nicht  zu  arbeiten 
haben,  sondern  nur  ihre  Rente  beziehen,  — so  löst  sich  der  sogenannte 
Vorzug  in  Null  auf  .....  Wenn  er  ein  angemessenes  Voraus  bekommt, 
so  kann  man  noch  nicht  sagen,  dass  das  wirthschaftlich  und  materiell  ein 
unberechtigter  Vorzug  ist.“  — Schmitz  (ebenda  S.  153  [besonders  beweisend, 
weil  auf  thatsächlicher  Grundlage  fassend]  : „Der  Grundsatz  gleicher  Erb- 
thcilung,  auf  die  Spitze  getrieben,  wird  zu  einer  ungerechneten  Ungleichheit; 
an  einer  Reihe  von  Beispielen  habe  ich  das  bestätigt  gefunden.  Eines  sei 
mir  mitzntheilen  erlaubt.  Ein  kleiner  Landwirth  . . hat  vier  Kinder.  Ein 
Sohn  wird  Landwirth,  der  zweite  Postbeamter,  der  dritte  Lehrer,  die 
Tochter  heirathet  einen  Kleinkaufmann.  Der  Tod  der  Eltern  führt  zur 
Theilung  ....  Er  (der  Landwirth  und  Hofannehmer)  sieht  sich  ....  ge- 
zwungen, den  Preis  zu  geben,  der  im  Einzelverkaufsfalle  erzielt  werden 
würde.  Was  ist  die  Folge '?  Er  geht  langsam  zu  Grunde,  weil  die  vom 
Uebernahmepreis  zu  entrichtendeu  Zinsen  die  Boden-  und  Ertragsrente  über- 
steigen; seine  Geschwister  sieht  er  in  vollständig  gesicherter  Lebensstellung 
wirthschaftlich  erstarken.  Jedes  Anlagekapital  verzinst  sich  in  jedem 
anderen  Erwerbsstand  ganz  ungleich  höher  als  im  Ackerbau.“  — Selbst 
Fick  muss  übrigens  die  Ungerechtigkeit  der  gleichen  Theilung  des  Verkaufs- 
werthes  zugeben  auf  S.  52  und  S.  300  („Unter  solchen  Umständen  erscheint 
es  nicht  gerecht,  wenn  mau  den  Ueberuahmspreis  nach  dem  Verkaufs- 
werth bemisst.*!  Allerdings  sucht  er  dies  8.  301  wieder  abzuschwächen, 
jedoch  mit  stark  sophistischen  Gründen.  Vgl.  hierüber  § 43  unten. 


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278 


Will  uian  deshalb  wirklich  die  Forderung  der  Billigkeit 
nach  möglichst  gleichem  Genuss  des  Gutes  durch  alle  Mit- 
erben  durchsetzen,  so  hätte  man  vom  alten  deutschen  Rechte 
lernen  sollen.  Denn  auch  dies  hat  von  jeher  das  Prinzip  des 
gleichen  Genusses  der  Familienglieder  am  Familienvermögen 
gehabt;  es  hat  diesen  anfangs  auch  in  gleich  kindlicher  und 
kurzsichtiger  Weise  wie  heute  durch  formell  gleiche  Theilung 
zu  erreichen  gesucht;  aber  es  hat  dann  allmählich  erkannt, 
dass  die  wahre  Gleichheit  und  die  wahre  Versöhnung  der  wider- 
streitenden  Interessen  auf  anderem  Wege  erreicht  werden  muss, 
nämlich  dadurch,  dass  zwar  einer  das  Gut  erhält,  aber  nur 
zur  Verwaltung  für  die  anderen,  welche  den  Mitgenuss  daran 
haben,  so  lange  sie  auf  dem  Gute  verbleiben,  und  die 
Zuflucht  dahin,  wenn  sie  es  verlassen,  überdies  aber  eine 
Mitgabe  erhalten,  mit  deren  Hilfe  sie  ein  auskömmliches  Dasein 
durch  ihrer  Hände  Arbeit  sich  schaffen  können.  So  entspricht 
es  in  der  That  der  Billigkeit.  Denn  selbst  dort,  wo  streng 
nach  diesen  Grundsätzen  verfahren  wird,  wo  also  der  Anerbe 
formell  bedeutend  bevorzugt  wird,  zieht  er  selten  eiu  besseres 
Loos  als  seine  Geschwister.  So  war  es  von  jeher,  so  ist  es 
vollends  heute  bei  den  oben  genugsam  beleuchteten  bäuerlichen 
Zuständen.27rtd) 


§ 36. 

Sonach  stände  denn  fest,  dass  das  Anerbenrecht  durch  die 
Rechtsüberzeugung  weiter  Volkskreise  gefordert  wird,  ohne 
dass  erhebliche  allgemeine,  wirthsehaftliche  oder  Billigkeits- 
gründe dagegen  sprächen.  Damit  ist  für  uns  die  Frage  nach 
Einführung  des  Anerbonrechts  mit  „Ja“  beantwortet.  Wir 
könnten  uns  deshalb  der  Prüfung  der  weiteren,  wirthschaftlichen 
und  sozialen  Nothwendigkeit  des  Anerbenrechts  überhebeu. 
Aber  da  auf  sic  sonst  überall  so  grosses  Gewicht  gelegt  wird, 
da  auch  ihre  Erforschung  ein  dem  Anerbenrecht  sehr  günstiges 


**■*)  Selbst  in  der  ßreutanoschen  Enquete  wird  wiederholt  anerkannt, 
dass  der  Hofannehmer  schlechter  gestellt  sei,  als  seine  Miterben.  Vgl.  Fick 
S.  47,  67,  90,  147,  244. 


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Ergebniss  hat,  so  wollen  wir  auch  in  diese  Untersuchung  noch 
eintreten. 

Allenthalben  erschallen  heute  die  Klagen  über  die  land- 
wirtschaftliche Noth.  Sie  ertönen  laut  und  übereinstimmend 
aus  den  meisten  Theileu  Deutschlands  und  Oesterreichs.  Dennoch 
fehlt  es  auch  heute  noch  nicht  an  Stimmen,  welche  diese  Klagen 
als  unbegründet  oder  übertrieben  hinstellen  wollen;  ja  manche 
Zeitungen  und  Parlamentarier  reden  mit  Vorliebe  von  den 
„Agrariern“,  welche  öffentlich  klagten,  um  einen  grossen 
„Beutezug  gegen  das  consumirende  Volk“  zu  organisiren, 
heimlich  aber  in  „Sekt  und  Austern“  schwelgten.  Niemand  hat 
darauf  eine  bessere  Antwort  ertheilt  als  der  Angehörige  einer 
Partei,  der  man  gewiss  nicht  die  Vorliebe  für  die  Agrarier 
vorwerfen  kann,  nämlich  der  socialdemokratische  Abgeordnete 
Kautsky.  Er  fühlte  auf  dem  Stuttgarter  Parteitage  von  18U8 
unter  lautem  Beifall  des  Auditoriums  aus:  „Wir  können  es 
doch  nicht  ableugnen,  dass  eine  Nothlage  der  Landwirtschaft 
besteht.  Wenn  liberale  Freihändler  von  Champagnergelagen 
der  Junker  sprechen,  so  ist  das  ähnlich  der  Geschichte  von  den 
Champagnerweissen  der  Maurergesellen.  Die  Nothlage  hat  eine 
tiefgehende  Ursache“.'277) 

In  der  That  wäre  es  auch  ganz  verfehlt,  von  der  Lebens- 
haltung der  Landwirthe  auf  die  Abwesenheit  eines  Notstandes 
zu  schliessen.  Einmal  haben  wir  gesehen,  dass  diese  Lebens- 
haltung wirklich  vielfach  eine  sehr,  vielleicht,  zu  sehr  einge- 
schränkte geworden  ist.277*)  Aber  auch  dort,  wo  sich  der  Bauer, 
wie  z.  B.  in  den  niedersächsischen  Gegenden  noch  ab  und  zn 
einen  guten  Bissen  gönnt,  liegen  darum  die  Verhältnisse  noch 
nicht  rosig.  Der  dortige  Bauer  rechnet  nicht  so  genau,  es 
wächst  ihm  nach  einem  dortigen  Ausdrucke  ja  alles  in  die 
Hand;  darum  isst  er,  solange  er  auf  dem  Hofe  sitzt.  Vielfach 


S7T)  Aus  einem  Zeitungsbericht  wiedergegeben. 

S7T*)  Vgl.  ausser  den  oben  wiedergegebenen  Berichten  über  Bayern 
namentlich  Bon  (Agrareonferenz  S.  SO)  über  Ostprenssen:  .Ich  muss  aus 
meiner  Erfahrung  im  Gegentheil  bestätigen,  dass  kein  zweiter  Stand  eine 
so  scharte  Einschränkung  in  seiner  Lebenshaltung  zu  Wege  gebracht  hat, 
wie  gerade  der  der  Grundbesitzer.“  — Ebenso  Höppner  über  l’ommeru 
(ebenda  8.  1ÖU). 


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280 


hört  man  die  Rede:  „Ja  wenn  wir  nicht  einmal  mehr  essen 

sollen,  so  ist  es  überhaupt  mit  uns  aus.“  Was  aber  die  Lebens- 
haltung nicht  verräth,  das  bezeugen  dort  die  Schuld-  und  Sub- 
hastationsziffern  desto  deutlicher. 

Es  wäre  nun  aber  ein  zweiter  Irrthum,  auf  diese  allein  Gewicht 
legen  zu  wollen,  und  da,  wo  sie  nicht  bedenklich  scheinen,  einen 
Nothstand  zu  leugnen,  wie  es  z.  B.  Marchet  in  seiner  gehaltvollen 
Schrift  für  Oesterreich  gethan  hat..  Denn  nirgends  weder  in 
Deutschland  noch  in  Oesterreich  ist  die  Statistik  hierzu  ausreichend. 
Ans  der  österreichischen  Statistik  z.  B.  haben  unparteiische 
Männer  durchaus  Verschiedenes  herausgelesen.  Die  öster- 
reichische Regierung  schliesst  daraus  auf  einen  traurigen  Nieder- 
gang gerade  des  mittleren  Besitzerstandes;277»)  Marchet  dagegen 
findet,  wie  schon  bemerkt,  dass  die  Ziffern  der  Statistik  keine 
beängstigende  Sprache  reden.  Zwei  Fehle]-  namentlich  sind  es. 
an  denen  unsere  Statistik  krankt.  Bei  der  Verschuldungs- 
Statistik  gebricht  es  an  einer  genauen  Kenntniss  der  Ertrags- 
werthe,  und  diese  müsste  man  haben,  um  zu  wissen,  ob  Uebcr- 
schuldung  vorliegt;  denn  die  Frage  nach  der  Ueberschuldung 
ist  doch  die,  ob  der  Ertrag  des  Gutes  zureicht,  um  die  Schuld- 
zinsen zu  decken.  Bei  der  Vergantungsstatistik  ferner,  dem 
' zweiten  Gradmesser  des  landwirtschaftlichen  Tiefstandes,  ist 
eine  andere  Fehlerquelle  kaum  zu  verstopfen.  Es  ist  nämlich 
völlig  zutreffend,  wenn  Hainisch  in  seiner  Besprechung  der 
österreichischen  Statistik  hervorhebt,  dass  die  Subhast ations 
Ziffern  deshalb  kein  richtiges  Bild  von  der  Nothlage  geben, 
weil  hohe  Verschuldung  keineswegs  immer  und  sofort  zur 
exekutiven  Feilbietung  führt.  „Denn  uicht  nur  der  Besitzer“, 
sagt  Hainisch,  „vermag  ihr  durch  rechtzeitigen  Verkauf  zu 
entrinnen,  es  kann  auch  im  Interesse  des  Gläubigers  liegen,  sie 
soweit  als  möglich  hinauszuschieben,  sei  es,  weil  er  furchtet, 
bei  der  Feilbietung  seine  Forderung  zu  verlieren,  sei  cs,  weil 
der  um  seine  Existenz  ringende  Schuldner  ihm  höhere  Zinsen 
zahlt,  als  er  sonst  erzielen  könnte.“ ,277b) 


277.)  Vgl.  darüber  Chorinsky  in  Sehr.  d.  V.  f.  S.  lid.  61  S.  84  u.  85; 
daselbst  auch  die  Statistik. 

277b)  Hainisch  i.  Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  61  S.  256.  Ebenso  v.  Buch  auf 
der  Agrarconferenz  (S.  179):  „Bei  denjenigen,  die  noch  Kapitalien  hinter 


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281 


Es  wird  denn  auch  fast  allgemein  die  Unzulänglichkeit 
der  Agrarstatistik  anerkannt.'277*)  Man  wird  darum  wohl  thun, 
den  Ansichten  der  Betheiligten  selbst  die  entscheidende  Stimme 
einzuräumen.  Das  Bild,  das  diese  nun  auf  der  Agrarconferenz 
für  Preussen  entrollt  haben,  ist  kein  sehr  erfreuliches.  Nur 
Westfalen  und  Hannover  sind  danach  noch  nicht  besonders  ver- 
schuldet. Aber  schon  in  der  sonst  so  gerühmten  Provinz 
Sachsen  liegen  nach  dem  Zeugnisse  des  Landschaftsdirektors 
v.  Gustedt  gerade  beim  Mittelbesitze  recht  bedenkliche  Ver- 
hältnisse vor.  Von  Brandenburg  hat  der  Landesdirektor 
v.  Levetzow  behauptet,  dass  dort  der  Grundbesitz  durchweg 
überschuldet  sei,  und  der  Regierungsrath  v.  Buch  hat  cs  be- 
stätigt. Noch  schlimmer  liegen  die  Verhältnisse  in  Hinterpommern ; 
in  den  hinterpommerschon  Kreisen  verschlingen  allein  die  Schuld- 
zinsen stellenweis  bis  zu  7 5 °/0  des  gesammten  Einkommens,  im 
Durchschnitt  über  üü  °/„.  Auch  für  Schlesien,  West-  und  Ost- 
preussen  ist  eiu  weitgehender  Nothstand  behauptet  worden. 
Ueberhanpt  kann  man  für  den  ganzen  Osten  eonstatiren,  dass 
nur  die  Magnaten  und  ganz  grossen  Besitzer  mit  weit  über  500  ha 
an  Grund  und  Boden  noch  in  gesicherter  Lage  sind.  Von  den 
Bauern  ist  nur  ein  Theil  nicht  gefährdet,  soweit  sie  ganz  einfach 
leben  und  am  Anerbenrecht  festhalten.  Fast  verloren  erscheint 
dagegen  der  Mittelbesitz  von  etwa  150  bis  400  ha,  die  eigent- 
lichen gebildeten  Stände.'277,r) 

Es  ist  nun  zwar  schon  damals  den  Theilnehmern  an  der 
Agrarconferenz  vorgeworfen  worden,  sie  hätten  zu  sehr  grau  in 
grau  gemalt,  und  es  mag  auch  seiu,  dass  die  Landwirthe  die 


der  landschaftlichen  Schuld  eingetragen  haben,  sind  wir  der  l'eberzengung, 
dass  sie  zum  grossen  Theil  nur  von  ihren  Gläubigern  gehalten  werden,  weil 
diese  den  Ausfall  ihrer  Hypotheken  fürchten,  und  weil  sie  einen  billigeren 
Verwalter  als  den  Eigentümer  nicht  bekommen  können.“ 

a7‘c)  Z.  B.  auf  der  Agrarcoufcreuz,  im  besouderen  hervorgehoben  von 
v.  Miquel  und  Conrad.  Vgl.  auch  Thiel  uud  Hainiscb  i.  Sehr.  d.  V.  f.  S. 
lld.  01  S.  241  u.  263. 

i71i)  Vgl.  Agrarconferenz  S 103  bis  166  (.Sachsen),  S.  80  (Ostpreusson), 
S.  47  und  179  (Brandenburg),  S.  168,  169  (Vorpommern),  S.  84  und  133 
(Hinterpommern),  S.  111  (Westpreussen),  S.  156  (Schlesien).  — Vgl.  auch 
die  Ue'  ersieht,  welche  Sering  über  die  diesbezüglichen  Ergebnisse  der 
Agrarconferenz  giebt  in  Scbiuollers  Jahrbuch  de  1895  S.  949/950. 


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282 


damalige,  in  der  That  sehr  ungünstige  Lage  zu  sehr  als  eine 
dauernde  hingestellt  haben.  Allein  im  Wesentlichen  sind  ihre 
Angaben  doch  bestätigt  worden  durch  die  mehrfach  erwähnten 
sorgfältigen  Erhebungen,  welche  der  Verein  für  Socialpolitik 
über  den  Credit  und  die  Lage  des  Kleingrundbesitzes  in  Deutsch- 
land und  Oesterreich  gemacht  hat.  Ja,  es  sind  dadurch  die  un- 
günstigen Verhältnisse  der  Landwirtschaft  auch  über  die 
Grenzen  des  preussischen  Staates  hinaus  für  Oesterreich  und 
Süddeutschland  bestätigt  worden. 

Besonders  über  Bayern  liegen  genaue  Angaben  vor,  gestützt 
auf  die  jüngste  bayrische  Agrarenquete.  Danach  ist  in  den  dort 
behandelten  typischen  24  Gemeinden  der  Schuldenstaud  ein  recht 
bedeutender.-'77*)  Nur  in  einer  Gemeinde  beträgt  der  Hypothekar- 
schuldenstand  unter  10%  des  Grundwertes,  nämlich  5,21" ,. 
Sechs  halten  sich  zwischen  10  und  15%.  Zwei  stehen  zwischen 
15  und  20%.  Vier  haben  eine  Verschuldung  von  20  bis  25%. 
Ebenfalls  vier  rangiren  zwischen  25  und  30  %.  Die  restlichen 
sieben  haben  sämmtlich  über  33%%,  bis  auf  eine  sogar  über 
35%,  ja  eine  steigt,  auf  76,04%  des  Grundwertes. 

Bei  fast  einem  Drittel  der  Gemeinden  besteht  also  eine 
Verschuldung  von  über  einem  Drittel  des  Grundwertes.  An 
sich  könnte  nun  dies  sowie  die  übrigen  Verschuldungsziffern  noch 
nicht  so  bedenklich  erscheinen.  Allein  es  ist  zweierlei  zu 
erwägen. 

Erstens  muss  im  Auge  behalten  werden,  dass  die  wieder- 
gegebenen Ziffern  nur  die  hypothekarisch  eingetragenen  Schulden 
berücksichtigen.  Die  ohne  hypothekarische  Sicherung  nur  aut 
Handschein  gegebenen  Darlehen  sind  aber  gerade  in  Bayern 
recht  hoch.  So  belaufen  sie  sich  in  der  oben  erwähnten,  güns- 
tigsten Gemeinde  Harteishofen  beinahe  auf  das  Doppelte  der 
eingetragenen  Schulden.  In  der  ebenfalls  noch  nicht  stark, 
nämlich  zu  1 1,60%  ihres  Grundwertes,  verschuldeten  Gemeinde 
Wollomoos  sind  sie  immer  noch  höher  als  die  Hypotheken,  wo- 
durch die  Prozentziffer  auf  fast  25 % hinaufschnellt.  In  der 
ungünstig  stehenden  Gemeinde  Lobengrün,  werden  sie  von  orts- 
kundigen Männern  auf  die  Hälfte  der  eingetragenen  Schulden 


*"')  Vg|  über  die  folgende  Statistik  Sehr.  <1.  V.  f.  S.  Bd  73  S.  194 


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283 


geschätzt,  sodass  sich  die  Prozentzifler  auf  55°  „ erhöht.  In  der 
ähnlich  situirten  Gemeinde  Zell  betragen  sie  sogar  fast  */, 
der  Hypotheken;  anstatt  35,82 */„  kommt  deshalb  eine  Verschul- 
dung von  etwa  58ft/#  heraus.  Selbst  in  dem  am  stärksten  ver- 
schuldeten Sollbach  sind  immer  noch  24557  Mk.  Currentschulden 
ermittelt,  d.  h.  zwischen  */,  und  '/.  der  eingetragenen.  Die 
ohnehin  schon  beängstigende  hohe  Procentziffer  von  76,04%  wird 
dadurch  noch  auf  über  87°/0  gesteigert.  Das  sind  die  ermit- 
telten Currentschulden.  Die  Berichte  betonen  aber,  dass 
vielfach  die  Summen  nicht  genau  ermittelt  werden  konnten;  in 
einem  Falle  wird  die  nicht  ermittelte  Summe  beinahe  auf  das 
Doppelte  der  angegebenen  geschätzt.  Nach  alledem  wird  man 
annehmen  dürfen,  dass  die  wirkliche  Verschuldung  auf  Hand- 
schein und  Hypothek  bei  der  Hälfte  der  typischen  Gemeinden 
50%  erreicht  und  bei  einer  grossen  Zahl  davon  auf  60"  „ und 
mehr  steigt,  womit  das  Gleiche  auch  für  das  Königreich  selbst 
erwiesen  ist.2™) 

Das  zweite,  was  bei  der  Verwerthung  dieser  Ziffern  berück- 
sichtigt werden  muss,  ist  jedoch  der  Umstand,  dass  auch  in 
Bayern  der  Verkehrswerth  und  der  Ertragswerth  erheblich 
differiren.  Der  Werth,  nach  dem  die  obigen  Verhältnissziffern 
berechnet  sind,  ist  nun  der  Verkchrswerth.  Für  die  Ueber- 
schuldung  ist  aber,  wie  bemerkt,  nur  der  Ertragswerth  mass- 
gebend. Dieser  steht  nun,  wie  überall  in  Deutschland  und 
Oesterreich,  so  auch  in  Bayern  tief  unter  dem  Vorkehrswerthe. 
Leider  fehlt  es  uns  an  einer  genauen  Untersuchung  hierüber. 
Aber  wenn  wir  auch  nicht  so  weit  gehen  werden,  das  Ver- 
hältnis beider  zu  einander  auf  3,45:1  anzunehmen,  wie  es 
Inama-Sternegg  und  Marchet  für  das  benachbarte  Oesterreich 
tliun,  so  werden  wir  doch  nicht  fehl  greifen,  wenn  wir  die 
Relation  anf  mindestens  2 : 1 setzen.  Danach  würde  eine  Ver- 
schuldung von  50  °/0  des  Verkehrswerthes  nach  dem  Ertrags- 
werthe  schon  eine  Ueberschuldung  sein.  Jedenfalls  verschlingen 
die  obigen  Ziffern  eine  so  hohe  Quote  des  Ertrages,  dass  der 
angemessene  Unterhalt  der  bäuerlichen  Familie  nicht  mehr  frei 


■i7Tr)  Vgl.  über  ilie  C'urrenlachulden  Sehr.  <1.  V.  f.  8.  Bd.  78  S.  96  ff.  — 
Vgl.  auch  v.  Haag  bei  Sehmoller,  Jahrbuch  de  1S96  S.  104  ff. 


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m 


bleibt,  und  es  begreift  sich  nun,  warum  aus  so  vielen  Gegenden 
Bayerns  Klagen  über  eine  arg  gedrückte  Lebenshaltung  der 
Bauern  laut  werden. 

Auch  in  den  Realtheilungsgegenden  ist  übrigens  eine  hohe 
Verschuldung  ermittelt  worden.  Schon  auf  der  Wiener  General- 
versammlung des  Vereins  für  Socialpolitik277*)  hat  Sering  davor 
gewarnt,  deren  Schuldverhältnisse  als  „ideal“  zu  bezeichnen: 
er  hat  auf  die  Rebbezirke  des  Kaiserstuhles,  den  südlichen 
Schwarzwald,  den  Odenwald  sowie  auf  die  rheinpreussischeu 
Gebirgsdistrikte  verwiesen,  in  denen  eine  starke  Verschuldung 
vorhanden  sei.  Ihm  ist  Schmitz  auf  der  Agrarconferenz  ge- 
folgt.27711) Die  späteren  Enqueten  haben  diese  Warnungen  leider 
als  berechtigt  erscheinen  lassen. 

Aus  Baden  nämlich  wird  zwar  nur  allgemein  berichtet, 
die  Frage,  ob  der  produktiv  wirkende  Credit  unter  einer 
starken  Besitzverschuldung  zu  leiden  habe,  sei  zu  bejahen. 
Genaueres  wird  uns  dagegen  über  Eisass  - Lothringen  mit- 
getheilt.  Es  wird  hier  von  einer  „leichtsinnigen  Borgwirthschaft“ 
und  von  einem  „Landhunger“  gesprochen,  „der  ohne  Rücksicht 
auf  das  mobile  Betriebskapital  oder  den  wirklichen  Werth  der  zu 
erwerbenden  Parzelle  nur  nach  grösserem  Grundbesitz  strebt.“ 
Ein  Bericht  aus  dem  Unter-Elsass  sagt:  „Die  Verschuldung 

nimmt  zu,  wenngleich  von  einer  allgemeinen  Verschuldung  oder 
Kreditlosigkeit  keine  Rede  sein  kann.“  Der  laudwirthschaftliche 
Centralverein  äussert  sich  über  Lothringen  wie  folgt:  „Nach 

annähernder  Schätzung  beträgt  die  Verschuldung  des  Grund- 
besitzes des  Bezirkes  im  Durchschnitt  etwa  12  Prozent  des 
Werthes,  wechselt  aber  in  den  einzelnen  Kantonen  von  7 bis 
8 #/#  bis  auf  mehr  als  20%  und  beträgt  natürlich  in  einzelnen 

Fällen  mehr  als  100% Das  geliehene  Geld  muss  in 

einem  zu  der  Rentabilität  des  Besitzes  in  keinem  Verhältniss 
stehenden  Zinsfusse  verzinst  werden,  eine  Schuld  häuft  sich  auf 
die  andere,  und  bald  sieht  sich  der  kleine  Besitzer  und  Pächter 
am  Ende  seines  Könnens.“  Ein  Bericht  aus  dem  östlichen 


a"»)  Schriften  d.  V.  f.  S.  1hl.  Gl  S.  390. 
■nTh)  Agrarconferenz  S.  I4&. 


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285 


Lothringen  hebt  noch  einmal  den  „Krebsschaden“  des  „Borg- 
systems“ hervor. 

Was  wir  aus  Theilen  der  Rheinprovinz  hören,  ist  auch  nicht 
übermässig  erfreulich.  Auch  dort  lesen  wir,  dass  namentlich 
beim  Kleinbesitz  die  Schuldenlast  stark  ist,  bis  zur  Ueber- 
schuldung;  jae^  wird  davon  gesprochen,  dass  es  dem  Kleinbesitz 
„schwer  fällt,“  sich  von  den  schlechten  Jahren  1893  und  1894 
„zu  erholen.“  Allgemein  wird  jedenfalls  constatirt,  dass  die 
Verschuldung  in  den  letzten  Jahren  stark  zugenommen  hat,  und 
dass  vielfach  schon  Ziusen  und  Kapitalsraten  nicht  mehr  recht- 
zeitig bezahlt  werden  konnten.2771) 

Nicht  minder  begründet  waren  die  Warnungen  über  die  anderen 
preussischeu  Realtheilungsgebiete.  So  heisst  es  z.  B.  von  dem 
Regierungsbezirke  Wiesbaden,  dass  der  „gesammte  Kleinbesitz“ 
dort  unter  einer  „überaus  starken  Verschuldung“  seufzt,  dass 
er  „von  der  Hand  in  den  Mund  lebt,“  dass  er  nicht  im  stände 
ist,  seine  Schulden  aus  den  laufenden  Einkünften  zu  decken, 
sondern  auf  ausserordentliche  Einnahmen  rechnen  muss,  ja  dass 
er  vielfach  wegen  Mangels  an  Mitteln  nicht  einmal  sein  Gut 
und  seine  Ernte  versichern  lassen  kaun,  trotzdem  er  dies  gern 
möchte.  Noch  schlimmer  lagen  wenigstens  bis  vor  Kurzem  die 
Verhältnisse  im  preussischeu  Saargebiete;  jetzt  sind  sie  dort  durch 
genossenschaftliche  Selbsthilfe  etwas  gebessert.277  k) 

Wenn  wir  nun  unsere  Blicke  über  Deutschland  hinaus  auf 
Oesterreich  lenken,  so  können  wir  auch  hier  überall  die  gleichen 
Wahrnehmungen  machen.  Schon  Hainisch  hat  seinerzeit  (in 
Schmollers  Jahrbuch  Bd.  XVII  S.  311  ff)  von  der  Lage  des 
österreichischen  Bauernstandes  eine  Zeichnung  geliefert,  so 
düster,  dass  er  an  einer  Besserung  verzweifelt  und  nur  den 
Todeskampf  gemildert  wissen  will.  Die  neueren  Untersuchungen 
haben  darin  manches  gemildert,  aber  doch  auch  vieles  bestätigt. 
Es  würde  zu  weit  führen,  alles  einzeln  hier  zu  wiederholen;  es 


*n*)  Vgl.  über  Baden,  Elsass-Lothringen  und  Rheinpfalz  Sehr.  d.  V. 
f.  S.  Bd.  73  S.  323,  S.  341/342.  S.  258  ff. 

K7k)  Vgl.  die  sehr  lehrreichen  Ausführungen  hiorüber  iu  Sehr.  d.  V. 
f.  S.  Bd.  73  S.  48/49  und  S.  111  bis  113.  — Ueber  Wiesbaden  vgl. 
ebenda  S.  14. 


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sei  nur  bemerkt,  dass  die  Verhältnisse  am  schlimmsten  in  Tirol 
und  Niederösterreich  liegen.  In  Deutschsüd tirol  z.  B betragen 
die  Versteigerungen  über  die  Hälfte  der  Erbfälle.-7") 

Angesichts  aller  dieser  Ergebnisse  aus  Deutschland  und 
Oesterreich  ist  es  nun  wohl  verständlich,  warum  selbst  wenig 
agrarfreundliche  Parteien  wie  die  socialdemokratische  den  all- 
gemeinen Nothstand  anerkennen,  und  warum  wir  ihn  als  eine 
unbestreitbare  Thatsache  bezeiehneten. 

Wenn  wir  nun  nach  den  Gründen  dieser  allgemeinen,  be- 
klagenswert heil  Erscheinung  forschen,  so  sind  deren  viele  ange- 
geben worden.  Graf  Choriusky  wenigstens  bietet  in  seiner 
ausgezeichneten  U ebersicht  der  österreichischen  Agrar-Bewegung 
ein  ganzes  Bündel  davon  dar.87"*)  Immerhin  lassen  sich  aus  der 
Fülle  der  Ansichten  drei  Gruppen  herausheben.  Die  eine  sieht 
den  Grund  der  Noth  in  dem  Steuerdruck  namentlich  der  ver- 
schiedenen Communalabgaben.  Die  zweite  sieht  ihn  in  den 
stetig  sinkenden  Getreidepreisen  und  in  der  Concurrenz  des 
Weltmarktes.  Die  dritte  erblickt  ihn  in  der  herrschenden 
Grundcigeuthumsordnung  mit  ihrer  grundsätzlichen  Bewerthung 
der  Liegenschaften  nach  dem  Kaufpreise. 

Die  erste  Richtung  zählt  nur  wenig  Anhänger.  Auf  der 
pr.  Agrarconferenz  wurde,  sie  allein  von  Gamp  vertreten. 
Und  in  der  Tliat  ist  die  Belastung  der  Landwirtschaft  durch 
Steuern  und  Abgaben  zwar  vielfach  ziemlich  hoch,  aber  eine 
so  tiefgehende  und  allgemeine  Bedränguiss  konnte  sie  namentlich 
in  Deutschland  doch  nicht  erzeugen. 

Die  grösste  Anhängerzahl  hatte  früher  die  dritte  Meinung. 
Jetzt  sind  die  meisten  praktischen  Landwirthe  in  das  Lager  der 
Bekenner  der  zweiten  übergegangen.  Namentlich  auf  der  pr. 
Agrarconiereuz  trat  dieser  Zwiespalt  deutlich  zu  Tage.  Die 
Theoretiker  sahen  den  Urgrund  des  Uebels  vor  allem  in  den 
Erbrechtsgesetzen;  die  Männer  der  Praxis  stellten  deren  unheil- 
volle Wirkung  nicht  in  Abrede,  warnten  aber  davor,  in  ihrer 
Aenderung  die  Hauptsache  zu  sehen;  die  Hauptsache  sei  viel- 
mehr, dem  andauernden  Preisstürze  Einhalt  zu  thuu. 


87!l)  Vgl.  Sohr,  iles  V.  1'.  S.  Bit.  75  S.  12«  bis  131  (Tirol). 
Sehr.  J.  V.  1'.  S.  Bei.  01  S.  100  If. 


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287 


Es  will  uus  bedünkeu,  als  wenn  die  Betheiligten  früher 
vor  den  Zeiten  der  Erregung  klarer  gesehen  hätten.  Denn  auch 
wir  erblicken  die  Hauptursache  der  Ueberschuldung  in  der  Be- 
werthung  der  Liegenschaften  nach  dem  Tauschwerthe  und  in 
den  bestehenden  Erbordnungen.  Früher  wurde  hierfür  nament- 
lich geltend  gemacht,  dass  der  Preissturz  eine  so  allgemeine 
und  namentlich  bei  den  kleinen  Landwirtheu  aultretende  Cala- 
mität  um  deswillen  nicht  habe  erzeugen  können,  weil  die  meisten 
Landleute  und  vorzugsweise  die  kleinen  gar  kein  Getreide  ver- 
kauften, so  dass  ihnen  dessen  Preis  gleichgiltig  sein  könne. 
Gewiss  liegt  hierin  viel  Richtiges.  Indessen  die  jüngsten  Um- 
fragen haben  doch  gezeigt,  dass  auch  die  kleinen  Bauern 
Getreide  verkaufen,  und  dass  darum  fast  alle  an  den  Getreide- 
preisen weit  mehr  interessirt  sind,  als  man  früher  aunahm.'-’78b) 
Weniger  anfechtbar  ist  darum  der  vielfach  beliebte  Hinweis 
darauf,  dass  es  auch  früher  lange  Zeiten  gegeben  hat,  in  denen 
der  Getreidepreis  ausserordentlich  niedrig  gestanden  hat,  und  in 
denen  die  Ausgaben  die  Einnahmen  erheblich  überstiegen,278*) 
ohne  dass  doch  ein  solcher  Nothstand  wahrnehmbar  geworden 
wäre  wie  jetzt.  Hieraus  ergiebt  sich  in  der  That,  dass  der 
Preisdruck  nicht  die  Ursache,  zum  mindesten  nicht  die  alleinige 
Ursache  der  misslichen  Lage  der  Landwirtschaft  sein  kann’ 
denn  sonst  hätte  diese  damals  in  gleichem  Maasse  eintreten 
müssen.  Auf  den  gleichen  Schluss  führt  endlich  noch  eine 
dritte  Erwägung:  Die  üble  Lage  des  platten  Landes  ist  eine 

dauernde  und  leider  noch  bis  heut  nicht  geschwunden.  Der  auf 
der  Agrarconferenz  so  hervorgehobene  Tiefstand  der  Produkten- 
preise  des  Jahres  1894  war  aber  nur  eine  vorübergehende  Er- 
scheinung. Die  Preise  sind  zwar  noch  immer  nicht  so  hoch 
wie  in  den  siebziger  Jahren,  aber  doch  annähernd  normal,  den 
Durchschnittspreisen  früherer  Dezennien  entsprechend.  Dass 


m8*’)  Vgl.  v.  Haag  bei  Schmoller,  Jahrbuch  de  1896  8.  94:  „Da  bei 
den  Gemeinden  mit  normalen  Besitz  Verhältnissen  entweder  sämuitlicho  oder 
nahezu  alle  vorhandenen  Wirtschaften  mit  weniger  Ausnahmen  Getreide 
verkaufen,  so  darf  immerhin  angenommen  werdeu,  dass  die  Gesammtheit 
an  einem  angemessenen  Stande  der  Getreidefrucht  interessirt  ist.“ 

mt)  Vgl.  Agrarconferenz  8.  66,67  und  8.  268/269  (Conrad  und 
Sombart). 


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trotzdem  noch  nicht  ein  Durchschuittszustand  wieder  eingetreteu 
ist,  muss  darauf  hinleiten,  noch  einen  anderen  und  dauernden 
Grund  des  Uebels  ausser  dem  Preisstürze  zu  suchen,  und  als 
solcher  bietet  sich  nur  noch  die  Bewerthung  des  Grundes  und 
Bodens  nach  dem  Tauschwerthe  im  geltenden  Erbrecht  dar. 

In  der  That  lässt  es  sich  auch  mit  leichter  Mühe  aus- 
rechnen  und  ist  oftmals,  auch  oben  von  uns,  ausgerechnet 
worden,  dass  die  gleiche  Theilung  des  civilen  Werthes  zur 
Ueberschuldung  führen  muss.2™)  Sie  thut  es  selbst  dann, 
wenu  nur  der  Ertragswerth  getheilt  wird,  weil  dann  dem  Ueber- 
nehmer  meistens  weder  der  nüthige  Risikofonds  noch  der  an- 
gemessene Arbeitslohn  freibleibt.  Lehrreich  ist  hierfür  ein  von 
Thiel  gegebenes  Beispiel.  Er  schreibt  (Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  61 
S.  394/395):  „ . . . ein  Gut,  welches  im  langjährigen  Durch- 
schnitt jährlich  1000  Mk.  Reinertrag  geliefert  hat,  hat  zu 

3 '/»  °/o  berechnet  einen  Kapitalwerth  von  ca.  28  500  Mk.  Wenn 

ein  solcher  Werth  unter  5 Kindern  zu  gleichen  Antheilen  ge- 
theilt wird,  so  erhält  der  Anerbe  nur  5700  Mk Wollen 

wir  annehmen,  er  heirathe  in  seinem  Stande  und  erhalte,  da 
dasselbe  Theilungsverfahren  überall  gelten  soll,  als  Mitgift  noch 
einmal  . . . 5700  Mk.  Dann  blieben  ihm  immer  noch  3 Portionen 
mit  im  ganzen  17100  Mk.  zu  verzinsen  und  in  30  Jahren  zu 
auiortisiren.  Bei  einer  Verzinsung  von  31/«  °/0  braucht  er  zur 
Verzinsung  598,50  Mk.  und  zur  Amortisation  (2  °/0  für  30  Jahre) 
342  Mk.,  macht  jährlich  940,50  Mk.  Es  stehen  ihm  aber  nur 
1000  Mk.  jährlich  zu  Gebote.  Er  muss  also  schon  selbst  mit- 
arbeiten  und  die  Schulden  aus  seinem  Arbeitsverdienst  decken: 
kann  er  dies  nicht,  so  kann  er  den  Hof  nicht  schuldenfrei 
machen.  Bei  6 Kindern  . . . bleiben  Erbschulden  19  000  Mk. 
gleich  einer  jährlichen  Amortisation  und  Verzinsung  von 
1045  Mk.,  also  schon  mehr  als  der  ganze  Reinertrag.  Bei 

4 Kindern  ....  bleiben  14250  Mk.  Erbschulden,  welche  an 
Zinsen  und  Amortisation  783,75  Mk.  erfordern.“  Schou  beim 
Ausgehen  vom  Ertragswerthe  ist  es  also  nur  unter  Hin- 


Z!M)  Vgl.  Vorhdlg.  des  Juristentages  de  1895  Bd.  1 8.  39/40  (Andre) 
und  Bd.  2 8.  75  76  (Kneecerus);  Agrarconfercnz  S.  67  (v.  Miquel). — Vgl.  such 
Aum.  276«), 


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289 


gäbe  eines  Tlieiles  des  Arbeitslohnes  und  durch  dementsprechende 
Einschränkung  der  Lebenshaltung  möglich,  einen  schulden- 
freien Hof  im  Laufe  eines  Menschenalters  wieder  schuldenfrei 
zu  machen.  Hat  der  Besitzer  nicht  die  Selbstüberwindung 
dazu,  so  wälzen  sich  die  Schulden  von  Generation  zu  Generation 
fort,  in  mathematisch-unerbittlicher  Weise  wachsend.  Lasteu 
aber  gar  schon  von  vornherein  Schulden  auf  dem  Hof,  so  ist 
sofort  die  Ueberscbuldung  gegeben.  Dies  alles  tritt,  wie  noch- 
mals betont  wird,  schon  ein,  wenn  der  Ertragswerth  zu  Grunde 
gelegt  wird.  Es  bedarf  keiner  Ausführung,  dass  sich  alle  diese 
Schäden  und  Gefahren  bei  Anwendung  des  Verkehrswerthcs 
noch  viel  schärfer  zeigen;  denn  der  Verkehrswerth  beträgt,  wie 
schon  bemerkt,  in  Deutschland  und  Oesterreich  fast  überall  ein 
Mehrfaches  des  Ertragswerthes.  Es  ist  darum  nicht  wunderbar, 
wenn  gerade  in  der  Brcntano'schen  Enquete  ohne  Ausnahme 
anerkannt  wird,  dass  dort,  wo  die  Gerichte  die  gleiche  Theilung 
des  Kanfwerthes  erzwungen  haben,  der  Besitzer  den  Hof  nicht 
halten  kann.-'™*) 

Die  herrschende  Grundeigenthumsordnung  mit  ihrer  Be- 
werthung  der  Liegenschaften  nach  dem  Tauschwerte  namentlich 
auch  im  Erbgauge  äussert  ihre  verderbliche  Wirkung  sogar 
noch  dann,  wenn  sie  von  der  Bevölkerung  durch  Altentlieils- 
verträge  umgangen  wird.  Es  wird  zwar  allgemein  berichtet, 
dass  dabei  nicht  der  Kaufpreis  zu  Grunde  gelegt  wird,  sondern 
ein  ungefährer  Schätzungswerth  dessen,  was  der  Hof  wohl  trageu 
könne.  Allein  die  sonst  überall  erzwungene  Beachtung  des  viel 
zu  hohen  Kanfwerthes  hat  eine  derartige,  allgemeine  Ueber- 
schätzung  der  Grundwerte  zur  Folge,  dass  sie  auch  bei  den 
Uebergabsverträgen  nicht  einflusslos  sein  kann.  Das  ist  be- 
sonders bei  der  jüngsten  bayrischen  Enquete  hervorgetreten; 
es  ergiebt  sich  auch  aus  einer  einfachen  Rechnung.  Wenn  wie 
in  Deutschland  und  Oesterreich  Ertrags-  und  Verkaufswerth 
wie  1:2,  ja  wie  1:3  steheu,  so  müsste  dem  Anerben  schon  im 
Voraus  von  der  vollen  Hälfte,  ja  von  zwei  Dritteln  des  Verkaufs- 
werthes  gegeben  werden,  wenn  beim  Ertragswerthe  nur  gleiche 
Theilung  eintreten  sollte.  Ein  solcher  Voraus  ist  aber  nirgends 


»*■)  Fick  S.  49,  05,  70,  95,  195,  167,  1S3,  184. 

▼.  Dultsig,  Gruuderbrecbu  jtj 


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üblich.278')  Vielmehr  schleicht  auch  bei  der  Gutsübergabe  das 
von  der  herrschenden  Eigenthums-  und  Erbordnung  heraiigeziiclitete 
Uebel  der  Bodenüberwerthung  im  Finstern  fort,  und  es  ist  darum 
völlig  richtig,  wenn  in  dem  erwähnten  Artikel  der  Täglichen  Rund- 
schau das  Ergebniss  der  bayrischen  Enquete  mit  den  Worten  ge- 
zogen wird:  „Auch  nach  den  Durchschnittspreisen  der  siebziger 
und  achtziger  Jahre  war  und  ist  die  Bewerthung  des  Grund  und 
Bodens  bei  Verkauf  und  Uebernahme  . . . eine  im  Verhältniss 
zum  Ertragswerth  ungesund  hohe,  auf  arger  Selbsttäuschung  be- 
ruhende ....  Wo,  wie  dies  ja  die  Regel  bildet,  die  Güter 
durch  Uebergabe  unter  Lebenden  in  der  Familie  bleiben, 
hält  man  erst  recht  an  dem  eingebildeten  Gutswerth 
fest  und  glaubt  dem  Uebernehmer  einen  ganz  bedeutenden 
Voraus  eiuzuräumen,  während  man  ihm  im  Verhältniss  zum  Er- 
tragswerth vielleicht  gar  nichts  im  Voraus  bewilligt.“ 

Mit  ähnlichen  Urtheilen  auch  aus  anderen  Gegenden  Deutsch- 
lands und  aus  Oesterreich  könnte  mau  bis  zur  Ermüdung  auf- 
warteu.  Es  sollen  darum  nur  einige  herausgegriffen  werden. 
So  sagtz.  B.  Seriug  über  ganz  Preussen:  „Die  lange,  von  1880 

bis  etwa  1878  anhaltende,  günstige  Conjuuktur  hat  immer  wieder 
dazu  verführt,  wie  im  Erbgang,  so  auch  im  freihändigen  Erwerb 
die  Zukunft  im  Bodenwerthe  zu  eskomtireu.  Noch  vor  Kurzem 
konnte  man  beobachten,  dass  eine  einzige  gute  Ernte  die  Grund- 
stückspreise in  die  Höhe  trieb.“278»)  Was  Oesterreich  anbetrifft, 
so  sagt  der  Ploncr'sche  Bericht  über  Steiermark:  „ . . . Die 

geschlossene  Uebertragung  ist  . . die  Regel;  sie  ist  aber  zu- 
gleich in  zahllosen  Fällen  der  Keim  des  Verfalles  vvirth- 
schaftlicher  Wohlfahrt.“  Aehnlielies  vernehmen  wir  über  die 
anderen  Alpenländer.  Die  eingehendsten  Ausführungen  über 
diesen  Punkt  hat  jedoch  der  Berichterstatter  für  Mähren  ge- 
macht. Sein  Gesammturtheil  über  die  Gutsüberlassungen  sei 
darum  hierher  gesetzt:  „Während,  wie  aus  älteren  Verträgen 
ersichtlich  ist,  bis  zu  den  sechziger  Jahren  diese  Heraus- 
zahlungen niedriger  gehalten  waren,  um  dem  Anerben  zu  er- 
möglichen auf  seinem  Gute  sich  auskömmlich  zu  erhalten,  sind 


27M)  Vgl.  Anm.  273s  (Höchstens  '/,  des  Tauschwerthea). 
*'**)  Seriug  bei  Sekundier,  Jahrbuch  de  1894,  8.  945. 


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21  >1 

die  betreffenden  Beträge  angesichts  der  günstigen  Preisverhält- 
uisse  in  den  siebziger  Jahren  und  des  dadurch  bedingten  Steigens 
des  Bodeuwerthes  wesentlich  erhöht  worden.  Seit  den  achtziger 
Jahren  ist  aber  trotz  des  Preissturzes  eine  Verminderung  der 
Höhe  der  Herauszahlungen  nicht  eiugetreten.  Von  Notaren 
wird  constatirt,  dass  eine  häufig  wiederkehrende  Entgegnung 
auf  Vorhaltung  wegen  der  Ueberspannung  der  Herauszahlungen 
die  ist,  dass  der  Abtreter  von  seinem  Vater  auch  derartige  Lasten 
übernommen  habe.  An  die  Aenderung  der  Zeitverhältnisse  wird 
von  dem  Abtreter  und  andererseits  auch  von  dem  Uebernehmcr, 
der  . . . nur  zu  leicht  übertriebenen  Erwartungen  sich  hingiebt, 
nicht  gedacht.“  an  wird  nicht  sagen  können,  dass  das  ge- 
sunde Zustände  sind,  und  doch  sind  sie  nach  den  Beispielen, 
die  der  Verfasser  weiterhin  mittheilt,  noch  nicht  einmal  schwarz 
genug  gemalt.'-™) 

Damit  ist  wohl  hinreichend  dargethau,  welche  Gefahr  für 
den  Volkswohlstand  die  herrschende  Grund-  und  Erbordimng 
mit  ihrer  Bewerthung  der  Liegenschaften  nach  dem  Verkehrs- 
wertlie  bedeutet,  und  wie  sie  ihre  unheilvolle  Einwirkung  selbst 
da  noch  äussert,  wo  sie  zu  umgehen  versucht  wird.  Man  giebt 
denn  auch  die  Gefährlichkeit  der  Civiltheilung  und  die  Mög- 
lichkeit eines  Schadens  last  allgemein  zu,  man  behauptet  aber, 
dass  die  Möglichkeit  selten  zur  Wirklichkeit  werde;  wie  nämlich 
die  Statistik  lehre,  sei  nur  bei  einem  sehr  geringen  Prozentsatz 
der  Vergantungen  der  Erbgang  die  Ursache  des  Verfalls;  die 
theoretisch  vorhandene  Gefahr  könne  darum  eine  Aenderung 
des  Erbrechts  nicht  rechtfertigen,  weil  sie  iu  der  Praxis  durch 
andere  Einflüsse  paralysirt  werde. 

Zunächst  sei  bemerkt,  dass  man  aus  der  Statistik  auch 
das  Gegentheil  herauslesen  kann.  Eheberg  z.  B.  sagt  über  die 
im  Jahre  1880  in  Bayern  aufgestellte  Vergantungsstatistik: 
„Auch  die  Vergantungsstatistik  von  1880,  so  irrig  sie  ist,  hat 
darin  entschieden  recht,  wenn  sie  relativ  die  meisten  Ver- 
gantungen der  zu  hohen  Gutsübernahme  und  den  Hinaus- 


279  f Die  Nachrichten  aus  Steiermark  und  Mähren  stehen  in  Sehr.  d. 
V.  f.  S.  Üd.  75  S.  3 und  17». 


11»* 


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292 


Zahlungen  von  Heirathsgut  und  Kindesgeldern  zuschreibt.“278*) 
Es  ist  aber  überhaupt  nicht  möglich,  bei  der  Statistik  die  Ur- 
sache der  Verschuldung  mit  Sicherheit  zu  ermitteln.  Es  er- 
fordert dies  ein  derartig  tiefes  Eindringen  in  die  einzelnen  Ver- 
hältnisse, wie  es  für  die  grossen,  von  der  Statistik  erfassten 
Gebiete  ganz  unmöglich  ist;  selbst  im  Einzelfalle  ist  es  ja  oft 
überaus  schwer  zu  sagen,  welcher  von  mehreren  zusanimeu- 
wirkenden  Gründen  der  hauptsächliche  war.  Gerade  diejenigen 
Männer,  deren  Lebensberuf  die  Statistik  ist,  haben  darum  an- 
erkannt, dass  diese  hier  unlösbaren  Hemmnissen  begegnet,  und 
haben  im  preussischen  statistischen  Bureau  und  im  Landes- 
ökonomiekollegium beschlossen,  bei  der  Zwangsversteigerung 
deren  Ursache  nicht  mehr  mit  zu  erheben.279*’) 

Wir  wollen  uns  darum  auch  nicht  auf  die  Verschuldungs- 
statistik in  Hessen  berufen,  welche  in  Starkenburg  bei  74,9  °/# 
und  in  Oberhessen  sogar  bei  84  % aller  Schuldaufnahmen  als 
Grund  die  Einschreibung  von  Kauf-  und  Anschlagsgeldern,  sowie 
von  Herausgaben  aufweist.  Denn  diese  Gebiete  ermöglichen 
wegen  ihres  geringeren  Umfanges  zwar  schon  eher  einen  Ueber- 
blick,  aber  einen  genauen  geben  sie  doch  noch  nicht.  Hier 
können  nur  Untersuchungen  massgebend  sein,  die  mit  grösster 
Sorgfalt  sich  der  Erforschung  einzelner  Orte  zuwenden.  Solche 
Untersuchungen  haben  wir  nun  zwei.  Die  eine  betrifft  Baden. 
Es  sind  dort  37  Gemeinden  als  Beispiel  herausgegriffeu  worden. 
Von  den  in  diesen  Gemeinden  ermittelten  Schulden  waren  nun 
18,5  °/0  durch  direkte  Erbtheilung  veranlasst  und  60  °/„  durch 
„Liegenschaftserwerbung“,  worunter  die  Gutsabtretung  mit  ein- 


Eheberg  Bd.  3 S.  132.  — Die  Vergautungsstatistik  hatte  fest- 
gestellt:  .Von  441  Vergantungen  des  Jahres  1H80  in  Oberfranken  waren 

380  die  Folge  von  ungünstiger  Gutsübcrnahme  und  iin  ganzen  Königreiche 
von  3988  Vergantungon  2684.“ 

-’78b)  Vgl.  Blenck,  den  Direktor  des  statistischen  Bureaus,  auf  der 
Agrarconferenz  (S.  177).  — Ein  praktisches  Beispiel  dafür,  wie  sehr  die 
einfache  Hypothekenstatistik  irreführen  kann,  bietet  der  Bericht  über  den 
Ort  Missen  in  der  bayrischen  Agrareuquete.  Es  heisst  dort:  .Nach  den 

HypothekenauszUgen  sind  nur  17,5  °/#  der  Gesammthypothekschulden  in  der 
Gemeinde  .Familienschulden“,  dieses  Verhältuiss  ist  so  gering,  . . . dass 
man  mit  Sicherheit  schliessen  kann,  viele  Autheile  am  Elternvermögen  sind 
durch  Aufnahme  von  Darlehen  hinausbezahlt  worden.“ 


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293 


begriffen  ist.  Noch  beweisender  ist  jedoch  die  jüngste  bayrische 
Enquete,  weil  sie  durch  die  geringere  Zahl  der  typischen  Ge- 
meinden — nur  24  — noch  eine  weit  grössere  Vertiefung  in 
die  lokalen  Verhältnisse  herbeigeführt  hat.  Hier  ist  nun  in  fast 
allen  Gemeinden,  welche  der  ungetheilten  Vererbung  huldigen, 
von  den  Betheiligten  selbst  als  erster  und  hauptsächlichster 
Schuldgrund  die  zu  hohe  Gntsübernahme  angegeben  worden.2™) 
Der  Berichterstatter  für  Leiblffng  geht  sogar  so  weit,  den 
Einfluss  des  Preissturzes  ganz  zu  leugnen  und  zu  behaupten: 
„Die  viel  beschrieene,  schlechte  Lage  der  Landwirtschaft  hat 
noch  keinen  Landwirth  in  der  Gemeinde  zum  Schuldenmachen 
veranlasst.“  Aehnlich  lautet  der  Bericht  für  Schalldorf,  und 
in  gleicher  Weise  wird  in  dem  Berichte  über  Missen  nur  die 
Möglichkeit  ortengelassen,  dass  die  Nothjabre  „wohl  auch 
mit“  Ursache  gewesen  sein  möchten,  in  erster  Reihe  wird  aber 
wieder  und  wieder  auf  die  Gutsabtretungen  hingewiesen. 

Diese  Ergebnisse  über  die  auch  praktisch  hervorragende 
Bedeutung  der  Erbordnungen  sind  durch  die  oft  citirten  Um- 
fragen des  Vereins  für  Socialpolitik  nur  gefestigt  worden.  Auch 


***)  Vgl.  Sehr.  il.  V.  f.  S.  B<1.  73  S.  97  (Eberfing):  .Weiter  nehmen 
aber  die  Schulden  fast  regelmässig  bei  jeder  Uutsübernahme  zu,  weil  ziemlich 
jedesmal  höher  übernommen  wird.*  — S.  98  (Polling):  .Der  hauptsäch- 
lichste Grund  der  nicht  unbedeutenden  Schulden  besteht  in  der  zu  hohen 
Ueberonhme*.  — S.  99  (Leibifing):  .Hoho  Ueberuahmen  sind  die  vor- 
herrschen d st  c t'rsache  der  Schuldaufnahme“.  — S.  100  und  101 
(Schalldorf).  — S.  103  (Kondrau):  .Ala  ITrsachen  der  Schuldaufnahmen 
sind  namentlich  zu  bezeichnen:  1)  Die  Gutsiibernahmen,  weil  trotz  der 

billigsten  Veranschlagung  des  Hofes  doch  immer  dem  Ucberneliiner  eine  er- 
hebliche Schuldenlast  ....  aufgebiirdet  werden  muss * — S.  105 

(Paulusbofen) : .Die  Verschuldung  lässt  sich  auf  folgende  Ursachen  zurilck- 
führen:  Die  zu  hohen  Gutsiibernahmen.  beronders  in  den  siebziger  und 
achtziger  Jahren,  wo  Grund  und  Boden  hoch  im  Preise  stand.  . . . Hier- 
mit hat  die  Verschuldung  ihren  Anfang  genommen.“  — S.  107 
(Sollbach):  „Der  bedeutende  Schulde  ns  tan  d in  Sollbach  stammt  zum 
Tbeil  schon  aus  einer  Zeit  vor  50 — 00  Jahren  zurück.  Er  hatte  seine 
Anfänge  in  den  Abfindungen  bei  Gutsübernahmen  . . . Als  Ursachen 
der  Schuldaufnahmcn  erscheinen  wie  vorhin  betont,  hauptsächlich  die 
Gutsübergaben*.  — S.  109  (Gesees  [ganz  ebenso  wie  Sollbach]).  — S.  111 
(Bobengriin)  u.  s.  w.  u.  s.  w.  — — Vgl.  auch  das  Resumfe  der  Enquete 
bei  v.  Haag  a.  a.  O. 


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diese  Umfrage  nämlich  darf  man  benutzen.  Die  in  ihr  ent- 
haltenen Berichte  der  Vorstände  von  den  Raiffeisen  vereinen, 
beschränken  sich  ja  auf  ein  eng  umgrenztes  Gebiet,  wo  die 
Gutachter  zu  treffenden  Urtheilen  um  so  mehr  befähigt 
waren,  als  sie  gerade  durch  ihre  Thätigkeit  den  intimsten 
Einblick  in  alle  Verschuldungsverhältnisse  erhalten  mussten. 
Wo  sie  nun  über  Höhe  der  Verschuldung  klagen  und  auf  deren 
Grund  cingclien,  da  nennen  sie  in  erster  Reihe  den  Erbgang 
oder  dessen  Surrogate.  Selbst  in  Westfalen  wirkt  er  stellenweise 
schon  bedenklich.  So  hat  die  Stadtkasse  in  Rietberg  210  000  Mk. 
an  Darlehen  gegeben,  darunter  allein  65000  Mk.,  also  beinahe  1 , 
derGcsammtsumme  zur  Erbabfindung;  überdies  darf  man  annehmen, 
dass  auch  von  den  zur  „Schuldentilgung“  gewährten  fiOOOO  Mk. 
ein  grosser  Theil  zur  Convertirung  alter  Darlehen  verwendet 
ist,  die  ursprünglich  für  Erbabfindnngen  nüthig  geworden  waren. 
Aehnlich  hat  die  Warsteiner  Kasse  aus  einer  den  Landwirthen 
zugeflossenen  Summe  von  151155  Mk.  immer  noch  37  000  Mk. 
zu  Erbabfindungen  verwenden  sehen.  Auch  von  dem  noch  recht 
günstig  stehenden  Oldenburg  wird  in  besonders  charakteristischer 
Weise  hervorgehoben,  dass  die  ehemalige  grössere  oder  geringere 
Bevorzugung  des  Anerben  „in  dem  Masse  der  gegenwärtigen 
Verschuldung  noch  sehr  deutlich  zum  Ausdruck“  komme. 
Greifen  wir  von  den  besser  gestellten  auf  die  mehr  leidenden 
Gebiete  hinüber,  so  lauten  natürlich  hier  die  Urtheile  noch 
weniger  rosig.  So  heisst  es  z.  B.  über  den  grössten  Theil  von 
Posen:  „Die  in  manchen  Gegenden  recht  beträchtlichen  Renten 
und  sonstigen  Lasten  . . .,  die  ausserdem  oft  unverhältniss- 
mässigen  Hypothekenschulden,  Kindergelder  und  dgl.  und 
nicht  zum  mindesten  die  auf  bäuerlichen  Grundstücken  ein- 
getragenen Leibgedinge,  von  welchen  oft  zwei,  auch  drei  in 
beträchtlicher  Höhe  auf  den  Grundstücken  ruhen,  erreichen  in 
ihrem  Gesammtwerthc  in  sehr  vielen  B’ällen  den  Werth  des 
Besitzthums,  wenn  sie  ihn  nicht  gar  übersteigen.  Nimmt  mau 
dazu  die  landwirtschaftlichen  Misserfolge  der  letzten  Jahre, 
so  kann  man  wohl  sagen,  dass  der  grössere  Theil  der  ländlichen 
Grundbesitzer  seit  Jahren  wirtschaftlich  nur  noch  ein  Schein- 
leben führt.“  Von  denselben  Gegenden  sagt  derselbe  Gewährs- 
mann an  anderer  Stelle,  dass  das  Ausgedinge  dort  sehr  traurige 
Erscheinungen  zu  Tage  fördere,  die  Besitzer  ruinire,  das 


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295 


Familienleben  zerstöre  und  dem  Wucher  Thür  und  Thor 
öffne.279*)  Aehnliche  Stimmen  aus  Oesterreich  und  zwar  über 
Steiermark  und  Mähren  haben  wir  schon  oben  verzeichnet. 

Erwägt  mau  alles  dies,  so  wird  man  verstehen,  warum  auf 
der  Agrarconferenz  nur  denjenigen  Bauern  leidliche  Vermögens- 
verhältnisse nachgerühmt  wurden,  die  noch  an  den  älteren 
Erbgewohnheiten  mit  ihrem  sehr  massigen  Anschläge  des  Guts- 
werthes  festgehalten  haben,2**)  und  warum  umgekehrt  die  hoff- 
nungslose Lage  der  mittleren  Besitzer  gerade  darauf  zurück- 
geführt wurde,  dass  hier  besonders  das  römische  Erbrecht  seinen 
vernichtenden  Einfluss  ausgeübt  habe.2**“)  Denn  in  der  That 
erweist  sich  das  geltende  Erbrecht  mit  seiner  Theilung  des 
Verkehrswerthes  nicht  nur  theoretisch,  sondern  auch  praktisch 
als  eine  hervorragende  Quelle  der  Verschuldung;  es  erweist 
sich  als  eine  Macht,  die  selbst  dann  noch  wirkt,  wenn  die  Be- 
völkerung durch  Ausnutzung  der  Vertragsfreiheit  ihr  zu  ent- 
rinnen sucht.  Es  ist  darum  nicht  wunderbar,  wenn  selbst  in 
den  Gegenden,  wo  die  mechanisch  gleiche  Theilung  unter  alle 
Erben  und  die  Behandlung  der  Grundstücke  als  Ware  am 
tiefsten  in  das  Volksbewusstsein  eingedrungen  ist,  nämlich  in 
den  Gegenden  des  französischen  Rechts,  sich  allmählich  die  Er- 
kenntnis Bahn  bricht,  dass  derartige  Gewohnheiten  den  Unter- 
gang briugen  müssen.  Nicht  allein  der  Landgerichtsdirektor 
Schmitz  hat  auf  der  Agrarconferenz  (S.  153)  aus  seiner  lang- 
jährigen Erfahrung  als  Verlassenschaftsrichter  dargelegt,  dass 
auch  am  Rhein  die  gleiche  Theilung  des  Kaufpreises  den 
Ruin  des  Hofannehmers  zeitigt,  und  dass  man  die  Bevölkerung 
darüber  sehr  wohl  belehren  könne;  auch  über  das  lange  Zeit 
französische  Elsass-Lothringen  wird  dem  Verein  für  Social- 
politik auf  Grund  der  Nachfragen  bei  ortskundigen  Männern 


j)jö  Nachrichten  aus  Westfalen  siehe  in  Sehr.  <1.  V.  f.  S.  IW.  74 
S.  156,  aus  Oldenburg:  ebenda  S.  197,  aus  Posen:  ebenda  S.  409  u.  3S6. 

**)  Vgl.  Agrarconferenz  S.  lt>4  (ans  Sachsen:  ....  wenig  ver- 

schuldet. nur  soweit  der  Hauer  . . . eine  einfache  Lebensführung  beibe- 
halten hat,  . . . soweit  er  sich  an  eine  althergebrachte  Erbtoriu 
gehalten  hat.u) 

'■«>»;  Vgl  Agrarconferenz  S.  133. 


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296 


berichtet, dass  dort  eine  Aenderung  des  gleichen  Erbrechtes 
im  Prinzipe  zwar  nicht  angängig  sei,  dass  es  aber  sehr  wohl  möglich 
und  angezeigt  wäre,  cs  in  dem  wichtigsten  Punkte  zu  ändern 
und  bei  Theilungen  statt  des  Verkaufs-  nur  den  Ertragswerth 
zu  setzen.  Wenn  aber  selbst  unter  den  treuesten  Anhängern  des 
gleichen  Erbrechts  sich  die  Ueberzeugung  von  der  ökonomischen 
Schädlichkeit  des  Verkehrswerthes  Bahn  bricht,  so  ist  das  der 
stärkste  Beweis  dafür,  dass  jene  Ueberzeugung  auf  zwingenden 
Gründen  ruht. 


§ 37. 

Das  zweite  der  modernen  Erbordnungen,  die  Realtheilnng, 
nöthigt  nicht  so  unmittelbar  zur  Verschuldung.  Gleichwohl  ist 
auch  in  ihren  Herrschaftsgebieten  der  Schuldenstand,  wie  wir 
schon  sahen,  ein  hoher.  Mittelbar  muss  also  auch  sie  boden- 
belastend wirken.  Sie  bringt  jedoch  noch  eine  Reihe  von  mehr 
in  die  Augen  fallenden  Schäden  mit  sich. 

Die  Naturaltheilung,  nach  gemeinem  und  preussischen 
Rechte  möglich,  aber  für  Grundstücke  dort  niemals  beliebt,  ist 
ein  Geschenk  des  französischen  Rechts.  Aber  selbst  hier  will 
man  nichts  mehr  von  ihr  wissen.  Früher  als  selbst  in  Deutsch- 
land hat  man  dort  den  Grund-  und  Cardinalfehler  dieses  Rechts- 
systems erkannt,  seiue  Eigenschaft,  die  Bodenzersplitterung  bis 
zur  Zwergwirthschaft  hervorzurufen;  früher  als  bei  uns  hat 
man  für  diese  Erkenntniss  das  geflügelte  Wort  gefunden:  la 
France  tombera  en  poussiere.2*1) 

Die  zersetzende  Eigenschaft  der  Naturaltheilung  wird  heute 
nur  noch  sporadisch  bestritten.  Wer  vollends  die  Vorgänge  bei 
Einführung  des  französischen  partage  force  erwägt, 2SU)  wird 
schwerlich  den  Muth  haben,  jene  Wirkung  zu  leugnen.  Unter 


»»>)  Vgl.  Sehr.  d.  V.  f.  S.  Md  7:t  S.  340. 

281 ) Vgl.  über  diese  Bewegung  die  ausgezeichnete  l'ehersieht  von 
Maroussem  auf  der  Wiener  Generalversammlung  des  Vereins  für  Social- 
politik (Schrift  dess.  Bd.  öl  S.  315  ff.  [Mobilisation,  pu  lveri  sa  tion.  tel 
est  le  resum6  de  ce  poiut  de  vue,  6tabli  par  le  Code  civil]). 

au«)  Vgl.  hierüber  namentlich  Fuld,  „Erbrecht  des  code  civil“  in 
Schmollers  Jahrbüchern  Bd.  XI1S.  luit  ff.,  und  die  dort  eitirlcn  Aussprüche 
v.  Sybel's. 


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297 


all'  dem  auf  die  Oeffentlichkeit  berechneten  Gerede  im  Convent 
über  den  bisherigen  Missbrauch  der  schrankenlosen  alt- 
französischen Testirfreiheit  schimmert  deutlich  hindurch,  dass 
der  wahre  Grnnd  zur  Annahme  der  Naturaltheilung  die  sichere 
Erkenntniss  war,  wie  sehr  sie  die  damals  erstrebte  Gleichheit, 
Nivellirung  und  Atomisirnng  der  Gesellschaft  förderte.  Das 
Erbrecht  nach  Naturaltheilen  zerstäubt  mit  Sicherheit  in  wenig 
Generationen  ein  jedes  Vermögen,  und  so  wird  alles  gleich. 
Niemand  hat  dies  offener,  ja  cynischer  ausgesprochen  als  der 
grosse  Napoleon  iu  seinem  bekannten,  jetzt  so  oft  angeführten 
Briefe  an  seinen  Bruder  Joseph:  „Etablissez“,  schreibt  er,  „le 
Code  civil  ä Naples,  tout  ce  qui  ne  Vous  sera  pas  attache 
va  se  detruire  en  peu  d'annees,  et  ce  qne  Vous  voudrez 
conserver  se  consolidcra.  Voila  le  grand  avautage  du  code  civil. 
II  consolide  votre  puissance,  puisque  par  lui,  tout  ce  qui 
n’est  pas  fideicommis,  tombe  et  qu’il  ne  reste  plus  de 
graudes  maisons  que  celles  que  vous  erigez  en  fiefs.  C’est  ce 
qui  m'a  fait  precher  un  code  civil  et  m'a  porte  ä l’ötablir“.282) 

Neben  der  Entstehungsgeschichte  des  partage  force  belegen 
aber  auch  die  Zahlen  der  Statistik  die  zersplitternde  Wirkung 
der  Naturaltheilung  mit  einer  erschreckenden  Deutlichkeit.  Die 
Klagen  hierüber  werden  nicht  nur  in  Deutschland  vernehmbar. 
In  allen  Ländern,  wo  das  gleiche  Erbrecht  nach  Naturaltheilen 
üblich  ist,  haben  die  Statistiker  ein  trübes  Bild  von  der  Zer- 
fällung  des  Landes  in  Zwergwirthschaften  entrollen  müssen. 
In  Frankreich  sind  die  Schriften  des  grossen  Nationalökonomen 
Leplay  und  seiner  Schüler  voll  davon,282*)  und  auch  in  Italien 


**)  Correspondance  de  Napoleon  I.  Paris  1803  t.  XI t.  p.  432.  — So 
klar  erkannte  der  grosse  Napoleon  die  sozialen  Wirkungen  des  Erbrechts. 
Und  ein  solches  Erbrecht,  dass  gerade  um  wirthschaftlicbe  Wirkungen  aus- 
zuüben, eiugeführt  ist.  will  man  mit  der  Losung  von  der  Nichteinmischung 
des  Staates  in  wirthschaftlicbe  Dinge  aufrecht  erhalten ! Schärfer  als  von 
jenem  Manne  mit  dem  durchdringenden  Blick  ist  es  nie  ausgesprochen,  dass 
jegliches  Erbrecht  eine  wirtschaftliche  Einmischung  bedeutet. 

**")  Das  schlagendste  Beispiel  dafiir,  wie  sehr  die  zersplitternde 
Wirkung  der  Naturaltheilung  in  die  Augen  fällt,  ist  wohl  das  von  Maronssem 
a.  a.  0.  S.  317/318  nütgetheilte : Ein  Maire  einer  kleinen  französischen 

Couimnne  hatte  »ich  hei  dem  Anschwollen  der  von  Leplay  angeregten  Be- 
wegung daran  gemacht,  durcli  eingehende  l'ntcrsuchung  seiner  Gemeinde 


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298 


Lat  die  grosse,  von  Sombart  a.  a.  O.  besprochene,  landwirth- 
schaftlicho  Enquete  ein  Gleielies  zu  Tage  gefördert.  Sombav 
fasst  ihr  Ergebniss  in  die  Worte  zusammen:  „Aus  den  Klagen 
über  die  unaufhaltsam  fortschreitende  Atomisirnng  de- 
bäuerlichen  Besitzes  in  Italien,  wie  sie  in  jedem  der 
betreffenden  Enquetebände  wiederkehren,  wollen  wir  nur 
einige  wenige  heransheben;  bemerkt  sei  gleich  an  dieser  Stell' 
sie  alle  finden  die  Ursache  dieses  Ucbelstandes  in  deci 
nach  französischem  Muster  geregelten  Erbrecht  nacli 
Re  alt  hei  len.  So  sagt  Jacini  von  der  Lombardei  . . . Dir 
Professor  Morpurgo  weist  es  für  das  Yenetianische  nach  . . 
Mit  ganz  ähnlichen  Berichten  über  andere  Gebiets- 
theile  Italiens  Hessen  sich  Seiten  über  Seiten  füllen.“ 

Ein  gleiches  hört  man  über  die  Gebiete  mit  Kealtheilung 
aus  Oesterreich,'-*1)  namentlich  aus  Galizien  und  der  Bukowina 
und  ebenso  hat  es  sich  in  Deutschland  erwiesen.  In  d-r 
bayrischen  Rheinpfalz,  z.  B.  wo  Naturaltheilung  gilt,  betrac-: 
die  Zwcrgwirthschaften  unter  1 ha  Grundfläche  42.'»  Pro/'-r 
aller  landwirtschaftlichen  Betriebe,  und  auch  darüber  hinan- 
sind  noch  52,2  °/0  Kleinwirthscliaften  unter  10  ha.  Die- 


jene  Bewegung  als  verfehlt  zu  erweisen  und  das  Erbrecht  der  Kev.dut  : 
zu  retten.  Allein  die  Untersuchung  ergab  das  Gegentheil  dessen,  was  • 
sollte.  Maronssem  sagt  darüber:  . Leuqucteur  fut  converti  gar  1'enqtMc 
ce  qui  est  plus  rare  qu’on  ne  le  suppose.  II  toucha  le  vif  des  plaies  agr- 
coles,  quand  il  s'ngit  de  In  petite  culture  in  dependante:  eparpilleinent  i' 
parcelle»,  pertes  de  temps,  impossibilite  de  la  culture  rationelle,  sur 
mobilite,  instabilite.“ 

-k;j  Vgl.  Ilainisch  in  Schmollen  Jahrbuch  Bd.  XVII  S 311  f 
Danach  herrschen  in  drn  südlichen  Kronländem  und  in  Galizien  äbnli 
Verhältnisse  wie  in  Italien:  I’arzellenwirthschaft  und  Latifundien.  Es  »; 
andauernd  gctheilt  und  /.war  in  natura.  Ebenso  in  (ializien  und  Bukowit. 
.Sowohl  in  den  südlichen,  wie  in  den  nordöstlichen  Kronlftndem*.  -i- 
Hainisch,  .kommen  daher  gesetzliche  Massregeln  den  Bauernstaud  zu  rettr- 
zu  spat."  — Vgl.  auch  Marchet  S.  1311  und  Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  * 
S.  2N9  über  Südtirol:  _Im  Gebirge  wird  fast  regelmässig  nncli  dem  T 

des  Hausvaters  dessen  Besitz  in  soviel  Tlieile  zerstückelt,  als  Söhne 
banden  sind.  So  hat  die  Gemeinde  Vallarsa  im  Bezirk  Roveredo  z.  B.  " 
7ts  Q km  nicht  weniger  als  14  000  Parzellen*  talso  durchschnittlich  j 
nur  etwas  über  0,5  ha),  .Cuvadine  1I.3DQ]  km  12000,  Canal  S.  B 
132  □ km  19000.* 


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94,7%  aller  Wirtschaften,  zusammen,  101407  an  der  Zahl, 
nehmen  20.7  Of.ii  ha,  oder  «0,7  %,  der  bebauten  Fläche  ein, 
sodass  die  ungeheure  Majorität  aller  Haushaltungen  nur  2,022  ha 
ihr  Eigen  nennt.  Rechnet  man  noch  die  etwa  5700  mittleren 
und  Grossbetriebe  dazu,  so  stellt  sich  die  Durchschnittsgrösse 
einer  landwirtschaftlichen  Besitzung  auf  2,87  ha,  also  immerhin 
noch  auf  weniger  als  früher,  wo  sie  in  dem  Jahrzehnt  von 
1853  bis  1 803  noch  2,89  ha  betrug.21*4) 

Etwas  weniger  trüb  liegen  die  Besitz  Verhältnisse  in  dem 
zweiten  bayrischen  Rcaltheilungslande,  in  Unterfranken.  Immer- 
hin betragen  hier  die  Betriebe  unter  1 ha  noch  27,0  % von 
allen  und  die  von  1 bis  10  ha  nicht  weniger  als  60,8  %.  Sie 
nehmen  zusammen  54,8%  der  landwirtschaftlich  benutzten 
Fläche  ein.  Die  Dnrclisclmittsgrösse  eines  Landgutes  aber 
berechnet  sich,  selbst  wenn  die  mittleren  und  grossen  mit  ein- 
bezogen werden,  auf  nur  4,7  ha.  Diese  Zahl  erhält  ihre  richtige 
Beleuchtung  erst  dann,  wenn  man  erwägt,  dass  die  obere 
Grenze  des  Zwergbesitzes,  der  eine  Familie  weder  ganz  be- 
schäftigt noch  ernährt,  in  Bayern  nie  unter  3 ha  hinabsteigt, 
meist  sich  aber  auf  4 oder  5 ha  hält.2’0)  Eine  schwere  Gefahr 
liegt  also  auch  hier  vor  und  wenn  sie  noch  nicht  so 
drohend  scheint,  wie  in  der  Pfalz,  so  wird  man  nicht  fehlgehen, 
wenn  man  dies  darauf  zuriiekführt,  dass  eben  in  Unterfranken 
noch  vielfach  geschlossene  Vererbung  vorkommt.  Ganz  ähnliche 
Zahlen  ergeben  sich  nämlich  für  Würtemberg,  wo  fast  in  der- 
selben Weise  Theilung  und  ungeteilte  Vererbung  durchein- 
andergehen; ja  weil  hier  die  Geschlossenheit  noch  einen  etwas 


*•)  Vgl.  Sehr.  il  V'.  f.  8.  Bd  7:!  S.  204.  — v.  Ungern  S.  04  ff  — 
.Soorgel  S.  40  ff.  — Daraus  ergiebt  sieb  schon,  dass  es  nicht  allgemein 
richtig  ist,  wenn  behauptet  wird,  die  Naturaltlieilung  führe  nicht  zu  einer 
Zersplitterung  in  inlfnitiun,  sie  mache  vielmehr  bei  der  Grenze  Halt,  wo  noch 
eine  Familie  auf  dem  besitz  leben  könne.  Verschiebe  diese  Grenze  sich 
nach  oben,  so  sei  sogar  trotz  der  Naturaltheilung  eine  Vergrüsserong  der 
durchschnittlichen  BetriebsHiiche  zu  constatiren.  (Vgl.  hierüber  Brentano, 
Bücher  und  Schulze  — Gacrcrnitz  i.  Sehr,  d V.  f.  S.  Bd.  Gl,  S.  283,  336, 
352).  Das  kann  Vorkommen  und  ist  vorgokommen;  es  ist  aber  keineswegs 
eine  allgemeine  Kegel.  Anderswo  zeigt  sieh  ein  unaufhaltsames  Sinken. 

Vgl.  v.  Haag  a.  a.  0.  S.  07  08.  — Die  vorhergehenden  Dateu  siehe 
in  Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  73  S.  204. 


300 


breiteren  Raun)  einnimmt,  so  sind  die  Ziffern  nocli  etwas 
günstiger.  Wo  aber  die  Realtheilung  ungestört  waltet,  wie  in 
Elsass-Lotliringen  oder  im  grössten  Theile  von  Baden,  da  zeigt 
sich  wieder  die  Parzellirung.  In  Baden,  das  ebenfalls  wegen 
des  strichweisen  Vorkommens  des  Anerbenrechts  noch  nicht  am 
schlechtesten  steht,  betragen  gleichwohl  die  Zweigwirtschaften 
von  0 bis  3,6  ha  72,0%  aller  Haushaltungen,  die  kleinsten 
bäuerlichen  Betriebe  bis  zu  7,20  ha  aber  17,5%,  sodass  für 
diese  eigentlichen  Bauern  nur  noch  10,5%  übrig  bleiben.  Wenn 
man  bedenkt,  dass  unter  diesen  sich  alle  Anerbendistrikte  finden, 
so  wird  man  ermessen,  wie  allgemein  die  Zersplitterung  in  den 
natural  teilenden  Gegenden  ist!  Noch  auffallender  liegt  diese 
in  Elsass-Lotliringen  am  Tage.  Hier  besassen  37,71  % aller 
Besitzer  noch  nicht  1 ha;  17,93%  noch  nicht  2 ha.  Zwischen 
2 und  5 ha  bielteu  sich  24,93  %.  Volle  zwei  Drittel  könueu 
also  als  Zwerggütler  betrachtet  werden.  lieber  10  ha 
hatten  überhaupt  nur  7,45  % der  Landleute.  Die  Durchschnitts- 
grösse einer  ländlichen  Besitzung  betrug  ganze  1,90  ha,  und 
diese  lagen  noch  nicht  einmal  zusammen,  sondern  zerfielen  in 
viele  Parzellen  von  durchschnittlich  0,19  ar  d.  h.  in  Fetzen  von 
der  Grundfläche  einer  massigen  Stube!388) 

Aehnliche  Zahlen  könnten  wir  auch  aus  den  preussisehen 
Iiealtheilungsgegenden,  namentlich  aus  der  Rheinprovinz  bei- 
bringen : man  wird  uus  dies  aber  wohl  erlassen  und  schon  jetzt 
zugeben,  dass  solchen  Zuständen  gegenüber  das  Wort  von  der 
Zersplitterung  des  Bodens  zu  Staub  nicht  übertrieben  ist. 

Solche  Zersplitterung  hat  man  nun  lange  Zeit  allseitig  für 
ein  Uebel  erklärt.  In  letzter  Zeit  sind  ihr  aber  namentlich  in 
Brentano  und  Bücher  beredte  Anwälte  entstanden : ja  sie  haben 
gewissermassen  diese  Parzellirung  als  Ideal  und  als  dieGrund- 
ordnung  der  Zukunft  angepriesen.  Es  ist  nun  auch  gewiss 
nicht  zu  verwerfen,  wenn  möglichst  viele  an  der  landwirt- 
schaftlich benutzbaren  Fläche  Theil  haben,  und  wenn  diese 
deshalb  in  viele  Parzellen  zerfällt;  allein  überall  giebt  es  doch 
eine  untere  Grenze,  unterhalb  deren  das  Landstück  auch  zum 


**)  Vgl.  über  Wiirtemberg,  Kaden  und  Elsass-Lotliringen  Sehr.  d.  V 
f.  S.  Kd  73  S.  271/272,  S.  294,  S.  371. 


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301 


bescheidensten  Unterhalt  einer  Familie  nicht  mehr  ansreicht.*87) 
Nun  braucht  auch  dies  nicht  unter  allen  Umständen  ein  Uebel 
zu  sein.  Wenn  sich  sonst  noch  Gelegenheit  zum  Erwerb  bietet, 
wenn  eine  rege  Industrie  in  der  Nähe  ist,  mit  deren  Hilfe  der 
Hausvater  die  Erträgnisse  seines  Feldes  durch  Arbeitsverdienst 
ergänzen  kann,  so  kann  sogar  eine  recht  befriedigende  Lage 
der  Bevölkerung  entstehen.  Für  diese  Bezirke  gelten  die  Lob- 
sprüche von  Brentano  und  Bücher;  für  diese  Bezirke  gilt  auch 
das,  was  das  Oberlandesgericht  zu  Hamm  in  einem  Gutachten 
vom  2.  April  1880  bemerkte288):  „Allerdings  hat  in  einigen 
Theilen  der  Provinz  und  zwar  in  den  grossen  Industriebezirken 
derselben  ein  mehr  parzellirter  Grundbesitz  sich  Bahn  gebrochen. 
Indess  ist  dies  nicht  die  Folge  destruktiver  Elemente;  der 
Grund  liegt  vielmehr  im  geraden  Gegentheil,  nämlich  in  dem 
Bestreben  nach  eigener  Sesshattmaehung,  das  eine  grosse  Anzahl 
neuer  Ansiedlungen  hervorgerufen  hat,  welche,  wie  sie  schon 
in  ihrer  äusseren  Erscheinung  der  Gegend  ein  lebendiges  Bild 
verleihen,  auch  ein  frisch  pulsirendes  Leben  in  sich  bergen  und, 
anstatt  die  Leistungsfähigkeit  und  Wehrhaftigkeit  der  Be- 
völkerung zu  beeinträchtigen,  solche  geradezu  befördern.“ 

Indessen  so  günstig  liegen  die  Verhältnisse  doch  nur  in 
ganz  weuigeu  Theilen  Deutschlands.  In  allen  von  der  Industrie 
nicht  bevorzugten  Gegenden  kann  wohl  bei  Pflanzung  von 
Handelsgewächsen  vor  allem  beim  Weinbau  die  Besitzgrösse, 
auf  der  eine  Familie  noch  zu  leben  vermag,  sehr  klein  werden, 
aber  bestehen  thut  eine  solche  Grenze,  wie  wir  sahen,  überall. 
Es  ist  nun  nicht  richtig,  dass  die  Zersplitterung  an  dieser  Grenze 
Halt  macht,  wie  es  die  Vertheidiger  der  Realtheilung  behaupten. 
Aus  den  oben  angeführten  Zahlen  ergiebt  sich,  dass  vielfach 
unter  jene  Grenze  heruntergegangen  ist.  Die  Leiden  solcher 
Zwergbauern  brauchen  wir  nicht  erst  zu  schildern;  es  ist  dies 
oft  genug  geschehen;  oft  genug  ist  auch  darauf  hingewiesen,  dass 
diese  Elemente,  die  nicht  leben  und  nicht  sterben  können,  die 


aw)  Vgl.  die  vorhergehenden  Angaben,  wonach  in  Ilayern  einschliesslich 
der  Pfalz  diese  Grenze  bei  3 ha  liegt,  in  linden  hei  3,6  ha.  In  Wiirtem- 
berg  und  iin  Eisass  ist  cs  nicht  anders. 

**}  Abgedrnckt  bei  G.  Meyer,  Landgilterordunng  für  Westfalen  S.  10  ff. 


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302 


grösste  Gefahr  für  den  Staat  sind,  die  jegliche  Umwälzung 
freudig  begrüssen  müssen,  da  sie  vieles  zu  hoffen,  aber  nichts 
zu  verlieren  haben.2*®) 

Aber  auch  dort,  wo  die  durchschnittliche  Besitzgrösse  noch 
nicht  zu  Zwergwirthschaften  herabgesunken  ist,  auch  da  hat 
die  Naturaltheilung  viele  Missstände  im  Gefolge.  Da  bei  dem 
Tode  des  Hausvaters  die  mühsam  geschaffene  Wirthschafts- 
einheit  immer  wieder  zertrümmert  wird,  so  muss  jeder  Land- 
wirth  von  Neuem  eine  schaffen  und  seinen  ererbten  Theil  durch 
Zukauf  von  Fremden  oder  von  den  Miterben  auf  einen  aus- 
kömmlichen Umfang  vergrössern.  In  den  Realtheilungsgegenden 
stehen  nun  aber  die  Grundstückspreise  bekanntermassen  am 
allerhöchsten,  um  ein  Vielfaches  über  dem  Ertragswerthe.  Wenn 
also  nicht  sehr  reichlich  baares  Geld  vorhanden  ist,  so  muss  der 
junge  Wirth  von  vornherein  sich  mit  hohen  Schulden  belasten, 
die  er  aus  dem  Ertrage  niemals  decken  kann.  Was  aus  solchen 
Anfängen  werden  kann,  wenn  Verdienst  und  Absatzverhältnisse 
nicht  sehr  günstig  liegeu,  kann  man  sich  unschwer  ausmalen. 
Schon  allein  die  verschiedenen  rechtlichen  Manipulationen,  welche 
nöthig  und  üblich  sind,  um  wieder  eiue  Wirthschaftseinheit  her- 
zustellen, erfordern  an  Gebühren  der  Notare  und  Gerichte  für 
das  Versteigern  der  Parzellen  und  die  Einschreibung  der  Resultate 
ins  Grundbuch,  an  Provisionen  für  die  Darleihung  der  Kaul- 
gelder  und  au  Auslagen  für  deren  Sicherstellung  Beträge,  von 
deren  Höhe  man  sich  nur  schwer  einen  Begriff  macht.  Fin- 
den Saarkreis  liegen  einige  Ermittelungen  hierüber  vor.  Danach 
hat  der  Umsatz  der  dortigen  öffentlichen  Kassen  an  derartigen 
Kaufgelderdarlehen  zusammen  in  einem  Jahrzehnt  rum! 
llöOüüüü  Mk.  betragen;  die  Banken  nehmen  davon  l1  4"  „ Pro- 
vision, macht  172  500  Mk.  Diese  Summe  ist  ohne  jeden  wirth- 
schaftliehen  Zweck  und  Nutzen  in  einem  einzigen  Kreise 
verbraucht  lediglich  unter  dem  Zwange  des  ungeeigneten  Erb- 
rechts! Wo  nun  nicht  die  Kassen  die  Sache  an  der  Hand  haben, 


s*9)  Vgl.  noch  zuletzt  Maroussem  a.  a.  0.  S.  323:  .de  l’autre  cöte,  dass 
les  petites  cxploitations  eparses  et  meessamment  mobiles,  e'est  le  mauqiK 
d'enteute,  l'oligauthropie,  les  empruuts  a 5°,„  surajoutes,  et  corniue  consequeuor. 
sauf  d’evideuteä  exceptions,  l'esprit  revolutioiiuaire*. 


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303 


sondern  private  Geldverleiher,  da  ist  die  Sache  noch  viel 
schlimmer.  Nach  den  Angaben  für  das  Saargebiet  nehmen 
solche  Kapitalisten  mindestens  1 0°/0  Provision;  die  eine  Kasse 
von  Merzig  berechnet,  dass  sie  durch  Verdrängung  dieser  Pri- 
vaten. der  Bevölkerung  in  10  Jahren  nicht  weniger  als 
183  41  1 II k.  gespart  hat.  Bedenkt  man,  dass  das  nur  die 
Provisionen  des  Geldmannes  sind,  und  dass  dazu  noch  die 
Notariats-  und  Gerichtsgebühren  kommen,  so  kann  man  sich 
vorstellen,  um  welche  Beträge  das  Landvolk  jährlich  geschädigt 
wird  und  zwar,  wie  wir  nochmals  betonen,  völlig  ohne  wirth- 
schaftlichen  Grund,  nur  wegen  des  ungeeigneten  Erbrechts.290) 

Unter  solchen  Umständen  begreift  es  sich  wohl,  warum 
wir  oben  auch  aus  den  Realtheilungsgegenden  von  einer  starken 
Ueberschuldung  berichten  konnten.  Zu  der  Schilderung,  die 
wir  aus  Baden  und  Eisass- Lothringen,  aus  der  Rheinprovinz 
und  dem  Regierungsbezirk  Wiesbaden  gegeben  haben,  soll  noch 
eine  Einzel-Darstellung  aus  Bayern  hinzugefügt  werden.  Sie 
betrifft  die  Gemeinde  Rothenbuch  in  Unterfranken;  da  es  sich 
aber  um  eine  typische  Gemeinde  handelt,  so  dürfen  wir  getrost 
davon  ansgehen,  dass  gleiche  Zustände  häufiger  Vorkommen.  Es 
heisst:  „Zwei  Drittel  der  hiesigen  Bevölkerung  ist  eben  in  das 

höchste  Stadium  der  Creditunfähigkeit  schon  längst  ein- 
getreten, d.  h.  sie  borgt,  so  viel  geborgt  wird.  Nur  besserer 
Verdienst  durch  Nebenbeschäftigung  beeinflusst  die  Lage  vor- 
übergehend in  günstiger  Weise,  während  im  allgemeinen  die 

Verschuldung  die  gleiche  bleibt Aulfallend  sind  bei 

der  Betrachtung  der  Lage  die  vielen  Currentschuldcn  und  die 
Art  und  Weise  der  Entstehung  derselben.  Es  giebt  letztere  so 

das  richtige  Bild  einer  hilflosen  Armutli Nur  Waaren, 

stets  mindestens  50%  teurer  als  der  wirkliche  Werth,  bilden 
die  Ursache  der  Kurrentschulden,  wobei  vom  Gläubiger  in  der 
Regel  schon  gesorgt  wird,  dass  der  einmal  hängende  Schuldner 
nicht  so  leicht  loskommt  ....  In  Haus,  Scheuer,  Acker  und 
Stall,  Wiese  und  Flurweg  tritt  überall  in  schroffer  Weise  grosser 
Mangel  an  Betriebskapital  zu  Tage.“ 


®°)  Die  Angaben  über  das  Saargebict  siehe  in  Sohr.  4.  V.  f.  S.  154.  74 
S.  63  und  ltl. 


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304 


Aehnliches,  namentlich  über  die  vollständige  Abhängigkeit 
von  der  Gunst  der  Witterung  und  des  Marktes  hören  wir  aus 
Oberessfeld  in  Unterfranken.  Und  der  Urgrund  dieser  traurigen 
Lage?  In  Rothenbuch  wird  er  nicht  angegeben;  wir  werden 
aber  nicht  fehlgehen,  wenn  wir  ihn  dort  gleichwie  in  Oberessfeld 
und  dem  benachbarten  Mainbernheim  in  der  „Erwerbung  von 
Grundstücken“  und  in  den  „Hinauszahlungsantheilen  der  Ge- 
schwister bezüglich  des  Wohnhauses“  erblicken,  also  am  letzten 
Ende  doch  in  dem  ungeeigneten  Erbrechte.'-'1)  Wenn  wir  nun 
hinzunehmen,  dass  auch  in  dem  soviel  reicheren  Frankreich  aus 
den  Parzellengegenden  die  schwersten  Klagen  laut  werden  (vgl. 
Anm.  289),  so  werden  wir  nicht  anstehen  zu  sagen:  Wo  nicht 

sehr  günstige  Verhältnisse  vorliegen,  da  ist  die  Realtheilung 
geradezu  das  Grab  der  wirthschaftlichcn  Wohlfahrt. 

Selbst  dort  aber,  wo  die  Realtheilung  ökonomisch  nicht 
schädlich  wirkt,  hat  sie  schwere  soziale  Nachtheile.  Wir  können 
es  nicht  für  einen  erstrebenswerthen  Zustand  halten,  wenn  an 
die  Stelle  der  gesunden  sozialen  Abstufung  unseres  Landvolkes 
eine  Ordnung  gesetzt  wird,  die  nur  kleine  Leute,  halb  Acker- 
bauer und  halb  Industriearbeiter,  halb  Städter  und  halb 
Landmann  kennt.  Wir  müssen  hier  den  geschichtlichen 
Werthurtheilen  von  Gierke  und  Thiel  beistimmen.  Wir  halten 
es  mit  Thiel 2#u)  nicht  für  wünschenswerth , dass  auch 

bei  uns  die  ländliche  Bevölkerung  sich  so  wenig  Eigenart  und 
Gewicht  gegenüber  den  Städten  bewahrt  wie  in  Frankreich,  und 
wir  sind  mit  Gierke-s’Ib)  der  Ansicht,  dass  nur  ein  ländlicher 
Mittelstand,  wie  er  unseren  Staat  geschaffen  hat,  so  ihn  auch 
erhalten  kann,  und  dass  dieser  Jungbrunnen  der  Nation  nicht 
verschüttet  werden  darf. 

Neben  dieser  unvermeidlichen  Zerreibung  des  Mittelbesitzes 
zum  Kleingütlerthum  und  zu  einer  Vielheit  von  Nullen  giebt 
es  jedoch  noch  weitere  soziale  Schäden,  mit  denen  die  Natural- 
theilung droht.  Zunächst  die  in  Frankreich  schon  so  verbreitete 


m)  D<o  Nachrichten  über  die  utiterfräukisehen  Gemeinden  sind  aas 
Sehr.  d.  V.  f.  S.  JJd.  73  S.  117  ff. 

*’*)  in  Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  01  S.  344/245. 

in  dem  glänzenden  Artikel  in  der  Münchener  Allg.  Ztg.  Beilage 
Nr.  ISO  S.  1. 


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305 


künstliche  Beschränkung  der  Kinderzahl  mit  allen  ihren  unna- 
türlichen, die  Unsittlichkeit  in  jeder  Form  züchtenden  Wirkungen. 
Denn  nur  das  Gespenst  der  Naturaltheilung  ist  es,  was  den 
französischen  Bauernstand  zu  jenem  selbstmörderischen  Beginnen 
verleitet  hat.2910)  Vor  hundert  Jahren  waren  die  Ehen  dort 
ebenso  fruchtbar  wie  bei  uns.  Aber  mit  dem  der  französischen 
Kasse  eigeneu  Scharfblick  in  wirtksclmftlichen  Dingen  erkannte 
der  Bauer  bald  die  Schädlichkeit  der  Realtheiluug;  jener 
warnende  Ruf  „la  France  tombera  en  poussiere“  erscholl. 
Seitdem  macht  sich  die  künstliche  Zurückdrängung  der  Volks- 
zuuahme  bcmerklich.  „Es  ist“,  sagt  Fuld,  „eine  eigenthümlicho 
Illustrirung  der  erbrechtlichen  Vorschriften  des  Gode,  und  ihrer 
Wirkungen,  dass  nach  den  Ergebnissen  der  Volkszählung  vom 
Mai  1886  in  29  Departements  Frankreichs  ....  eine  Ver- 
minderung der  Populationszifl’er  zu  beobachten  ist,  und  dass  diese 
Departements  sammt  und  sonders  einen  landwirtschaftlichen 
Charakter  haben,  „agricole“  sagt  die  französische  Statistik“. 

In  Deutschland,  wie  in  Italien  hat  der  gesunde  Volksgeist 
sich  mit  diesen  unnatürlichen  Hilfsmitteln  nocli  nicht  recht  be- 
freunden können.28'11)  Immerhin  ist  in  den  deutsch-österreichischen 
Alpenläudern  auch  eine  grosse  Enthaltsamkeit  in  der  Kiuder- 
erzeuguug  bemerkbar,  wodurch  iu  den  westlichen  Kronländern  das 
Zahlenverhältniss  zwischen  der  deutschen  Rasse  und  den  fremden 
Nationen  sich  fortdauernd  zu  unseren  Ungunsten  verschiebt. 
Sonst  aber  macht  sich  ausserhalb  Frankreichs  das  zweite 
schwere  soziale  Unheil  der  Realtlieilung  besonders  bemerkbar: 
Die  Lösung  des  Zusammenhalts  der  Familie. 

Dieser  Nachtheil  kann  gar  nicht  genug  betont  werden. 
Im  Zusammenhalte  der  Familie,  in  ihrer  uralten  genossenschaft- 
lichen Organisation  liegt  ja,  wie  wir  oben  sahen,  der  Grund- 
pfeiler für  die  meisten  Institute  unseres  Rechts,  liegt,  wie  uns 
die  modernen  Verhältnisse  lehren,  das  Rückgrat  des  Staates, 


■•sic)  Vgl.  Fuld  S.  1008  (nach  Rümelin,  Bcvülkerungsfrage,  und  nach 
Leplay).  — Vgl.  Gierke,  Erbrecht  in  Grundbesitz  S.  14. 

asld)  AU  Prof.  Wagner  auf  der  Agrarconferenz  nur  eine  beschränkte 
Enthaltsamkeit  in  der  Kinderzeugung  empfehlen  wollte,  begegnete  ihm  eiu- 
müthigor,  zum  Theil  scharfer  Widerspruch  von  Theoretikern  und  Praktikern. 
Vgl.  Agrarconferenz  S.  127,  1Ö5,  164,  167,  208,  229. 

v.  Dultzig,  Grunderbrecht.  20 


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306 


die  Gewähr  für  die  Aufrechterhaitang  der  Ordnung  und  der 
Sittlichkeit.  Nun  macht  sich  dio  Zerstreuung  der  Familie  durch 
die  Naturaltheilung  auch  in  Deutschland  schon  recht  unliebsam 
bemerkbar.  Wie  soll  ein  Familienleben  möglich  sein,  wenn  die 
Männer,  wie  wir  aus  dem  Regierungsbezirke  Wiesbaden  hören,  im 
Frühjahr  in  entlegene  Industriegegenden  bis  nach  dem  Niederrhein 
und  Eisass- Lothringen  wandern,  um  erst  im  Spätherbst  nach  Hause 
zurückzukehren,  wenn  ganze  Gemeinden  sich  dem  Hausirhandel 
zuwenden  müssen,  sodass  jährlich  aus  fast  jeder  Familie  mehrere 
Mitglieder  ausziehen  und  ganz  Norddeutschland,  Holland  und 
Russland  bis  nach  Sibirien  als  Hausirer  bereisen  und  nur  zur 
Winterszeit  in  die  Heimath  zurückkehren!  Dennoch  hat  man 
in  anderen  Ländern  mehr  auf  die  hier  in  Betracht  kommende 
zersetzende  Eigonschaft  der  Naturaltheilung  geachtet  als  bislang 
bei  uns.  In  Italien  war  gerade  dies  Familienproblem  der 
Anlass292)  zu  der  erwähnten  Agrarenquete,  und  dort  bilden 
gerade  die  mit  Bezug  hierauf  gemachten  Beobachtungen  den 
vornehmsten  Grund,  dass  allgemein  eine  Aufhebung  des  Erb- 
rechts nach  Realtheilen  verlangt  wird.  Aber  wras  Sombart  über 
Italien  sagt,  hat  auch  für  uns  Geltung:  „ . . . bei  einer  der- 
artigen Gestaltung  der  Eigenthums  Verhältnisse  muss  sich  die 
centrifugale  Tendenz  der  Familienmitglieder  in  rücksichtsloser 
Weise  geltend  machen.  Wenn  eine  Stelle  schon  zu  klein  ist, 
um  einen  Einzelnen  ausreichend  zu  ernähren  und  zu  beschäftigen, 
so  werden  die  Kinder,  sobald  sie  nur  irgend  vermögen,  auf 
eigenen  Erwerb  ausgehen  müssen,  die  Familie  wird  sich  nach 
allen  Winden  zerstreuen.“2**') 

Wie  unvermeidlich  diese  Gefahr  ist,  zeigt  sich  darin,  dass 
man  sie  selbst  in  Frankreich  beobachtet  hat,  wo  doch,  wie  wir 
sahen,  sonst  den  Wirkungen  des  partage  force  auf  andere  Weise 
die  Spitze  abgebrochen  wird.  Nach  dem  Zeugnisse  Leplay's 
sieht  sich  auch  dort  der  Bauer  im  Alter  oft  allein,  weil  sich 
die  Erben  nicht  darauf  einrichten,  die  Bewirthschaftung  des 
Erbes  zu  übernehmen;  der  Absenteismus  mit  allen  seinen  Nach- 
theilen wird  befördert;  die  Familie  wird  desorganisirt,  weil  der 


Vgl.  Sombart  .das  Familienproblem  iz  Italien“. 

*M)  Sombart  S.  293.  Vgl.  auch  dio  ganz  ähnliche  Stelle  S.  292. 


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307 


natürliche  Schwerpunkt  für  ihre  Zusammengehörigkeit  geschwächt 
und  genommen  wird.*94) 

Ueberdenkt  man  deshalb  noch  einmal,  welche  üblen  wirt- 
schaftlichen und  sozialen  Folgen  die  modernen  Erbrechte  haben, 
so  wird  man  nicht  sagen  können,  dass  das  Urtheil,  welches 
Tocquerille  schon  1833  über  sie  gefällt  hat,  zu  hart  war: 

„Wo“,  sagt  er,  „das  Erbgesetz  gleiche  Theilung  des  Nach- 
lasses anordnet,  da  zerstört  es  den  innigen  Zusammenhang, 
welcher  zwischen  der  Familie  und  dem  Grund  und  Boden  be- 
stand ; dieser  hört  auf  Familienbesitz  zu  sein,  denn  er  muss 
sich  durch  die  nach  ein  oder  zwei  Geschlechtern  eintretende 
Theilung  fortdauernd  vermindern,  und  wird  schliesslich  ganz 
verschwinden  ....  Und  solches  Erbgesetz  macht  es  nicht 
allein  den  Familien  schwierig,  ihren  Besitz  zn  erhalten,  sondern 
nimmt  ihnen  auch  die  Lust  dazu  und  zwingt  sie  gewisser- 
masseu,  mit  ihm  an  dem  eigenen  Untergange  zu  arbeiten.  So 
gelingt  es,  den  Grundbesitz  zu  vernichten  und  mit  ihm  die 
Familien  in  rasender  Eile  verschwinden  zu  lassen“.*''’) 

§ 38. 

Die  überwältigende  Mehrzahl  der  Wirthschaftskundigen 
verhehlt  denn  auch  nicht,  dass  die  Wirkungen  der  geltenden 
Erbrechte  tief  beklagenswerth  sind.  Aber  viele  von  ihnen 
halten  ihre  ausdrückliche  Aenderuug  theils  für  über- 

flüssig, weil  das  Landvolk  mit  Hilfe  der  Gutsüberlassungs- 
verträge das  Gesetz  doch  umgehe,  theils  suchen  sie  die  Abhilfe 
auf  anderem  Wege  nämlich  in  der  Erweiterung  der  Testir- 
freihoit.  Es  bleibt  deshalb  jetzt  zu  erwägen,  ob  diese  Ersatz- 
mittel die  Einführung  des  Auerbenrechts  überflüssig  machen 
können. 

Was  zunächst  die  Gutsüborlassuugsverträgo  anlangt,  so  wird 
namentlich  von  Brentano  und  seiner  Anhängerschaft  in  ihnen  das 
Allheilmittel  erblickt.  Indessen  wenn  man  jeneTiraden  über  die 
Vorzüglichkeit  und  wirthschaftliche  Zweckmässigkeit  der  Gutsab- 


294)  Vgl.  auch  hierüber  Fuld  S.  1018/1019. 

**)  Uebersetzung  nach  Schneider-Felber,  Auerbenrecbt  und  Lebens- 
versicherung. 

20* 


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308 


tretung  liest,  so  fallen  einem  stets  die  Worte  des  Schriftstellers 
ein,  der  zuerst  den  vielgerühmten  Altentheilsverträgen  überhaupt 
die  öffentliche  und  allgemeine  Anerkennung  vor  den  Gerichten 
und  bei  den  Theoretikern  verschafft  hat.  Runde  in  seinem 
heute  noch  in  vielen  Punkten  unübertroffenen  Werke  von  der 
„Leibzucht“  bringt  zur  Einleitung  eine  Würdigung  der  wirth- 
schaftlichen  und  sozialen  Wirkungen  des  Ausgedinges,  worin  er 
so  viele  Schäden  dieses  modernen  Ideals  aufzählt,  — namentlich 
die  Streitereien,  die  es  regelmässig  in  den  Schoss  der  Familie  hinein- 
trägt, — dass  er  schliesslich  ausruft,  man  müsse  sich  eigentlich 
wundern,  wie  man  auf  die  Bearbeitung  eines  so  verderblichen 
Institutes  noch  Zeit  und  Mühe  verwenden  könne. 

Und  in  der  That  werden  die  wirthschaftlichen  Wirkungen 
der  Gutsübergabe  von  Kennern  der  bäuerlichen  Verhältnisse 
gar  nicht  so  rosig  angesehen.  Wir  hatten  schon  Gelegenheit 
(im  § 36)  auf  einen  C'ardinalfehler  hinzuweisen,  an  dem  der 
Altentheilsvertrag  in  ganz  Deutschland  krankt,  auf  die  zu  hohen, 
dabei  festgesetzten  Annahmepreise.  Es  ist  wohl  richtig,  wenn 
Brentano  und  Fick  in  ihren  Schriften  angeben,  dass  dieser 
Preis  regelmässig  hinter  dem  Verkaufswerthe  zurückbleibe,  es 
ist  aber  nach  ihren  eigenen  Angaben295*)  und  nach  den  Er- 
gebnissen der  letzten  Agrarenquete  auch  für  Bayern  nicht 
mehr  richtig,  dass  der  Uebernehmer  bei  diesem  Preise  bestehen 
kann.  Die  allgemeine  Ueberschätzung  des  Werthes  von  Grund 
und  Boden  macht  sich  auch  hier  geltend;  man  glaubt  den 
Uebernehmer  sehr  zu  begünstigen,  indem  man  erheblich  unter 
den  Verkaufswerth  heruntergeht  und  man  hält  sich  doch  immer 
noch  bedeutend  über  dem  wahren  Ertragswerth. 

Die  Gutsübernahme  hat  aber  neben  den  zu  hohen  An- 
nahmepreisen noch  einen  zweiten  Uebelstand,  und  das  ist  der 
beängstigend  angeschwollene  Betrag  der  als  Altentheil  aus- 
bedungeneu  Leistungen.296)  Aus  allen  Strichen  Deutschlands 


s*6*)  Fick  S.  67,  121»,  135  u.  s.  w.  namentlich  S.  70  (<lcr  l’ebernehmer 
wird  .zu  tief  hiucingesetzt*). 

296)  Hierüber  wurde  schon  in  alten  Zeiten  geklagt.  Vgl.  schon  die 
Hildesheimer  I’olizeivcrordnung  von  1665:  .Nachdem  auch  bishero  die  Acker- 
und  Vollspännerliüle  dahero  ganz  oder  guten  Theils  ruiniret  worden  . . .. 
weil  die  alten  Ackerleute  ....  wenn  dieselben  die  unterhabenden  Höfe  in 


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309 


kommen  Klagen  über  deren  unerschwingliche  Höhe,  aus  Bayern 
so  gut  wie  aus  Posen  und  Preussen.  Es  ist  dies  auch  ganz 
begreiflich.  Die  Ansprüche  an  das  Leben  sind  allgemein  ge- 
stiegen; die  Bauern  sehen  nicht  ein,  warum  ihnen  gerade  Ent- 
haltsamkeit gepredigt  wird;  ja  in  den  Gegenden,  wo  der  Bauer 
sonst  nach  dem  oben  gebrauchten  Ausdrucke  „wie  ein  Hund“ 
lebt,  will  er  wenigstens  ein  leidliches  Alter  haben.  Es  ist  aber 
ebenso  klar,  dass  dies  nicht  möglich  ist,  dass  die  Stätte  nun 
nicht  ihn  und  seines  Sohnes  Familie  leidlich  ernähren  kannj 
nachdem  sie  vorher  kaum  für  einen  Haushalt  ausgereicht  hatte. 
Ja,  auch  wo  die  Verhältnisse  nicht  so  schlimm  liegen,  erhellt 
doch,  dass  die  nicht  gestiegenen  Bodenerträge  zur  Erfüllung 
gesteigerter  Anforderungen  nicht  hinlänglich  sind.  Und  wie  die 
Anforderungen  jetzt  gestiegen  sind,  dafür  dient  schon  die 
äussere  Länge  der  jetzigen  Altentheilsverträge  zum  Beweise, 
die  so  gross  ist,  dass  wir  ein  Beispiel  dafür  nicht  im  Texte, 
sondern  lediglich  in  der  Fussnote  anführen  können.297) 


grosse  unabträgliche  Schulden  gesctzet,  alsdann  dieselbe  den  Kindern  ohne 
des  Amts-  und  Gerichts-  auch  der  Gutsherrn  Vorwissen  und  Bewilligung 
abtreten,  ihnen  selbst  einträgliche  Leibzüchten  Vorbehalten,  den 
Kindern  grosse  lirautschätzc  versprechen,  an  dessen  Statt  bis  zur 
Bezahlung  etliche  Morgen  Landes  für  die  Zinsen  zu  gebrauchen  mitgeben, 
und  also  Diejenigen,  denen  sie  die  Güter  abgeben,  gleich  allsofort  in 
eine  solche  Schuldenlast  stürzen,  woraus  sie  nimmer  sich 
retten  können,  Wir  aber  denselben  ferners  zuzusehen  gar  nicht  ge- 
meynet  etc.  etc.“ 

Aehnlichc  Klagen  kehren  in  allen  Landesordnungen  wieder. 

ig!)  Ein  bayrischer  Uebergabsvortrag,  wie  er  den  Durchschnittsver- 
hältnissen entspricht,  nämlich  für  ein  Anwesen  von  50,04  Tagwerken  oder 
17,25  ha,  enthält  Folgendes: 

„Der  Uebergebcr  bedingt  sich  aus  ein  Umstandsgcld  von  1714  M.  29  Pf., 
wovon  H42,86  M.  am  Hochzeitstage  des  Ijcbernehmers,  die  weiteren  1371,40  M. 
aber  in  unverzinslichen  und  nnmittelbar  anfeinanderfolgenden  Martini — 
Jahresfristen  zu  je  50  M.  vom  Ucbernehmer  an  die  Ueborgobenden  heraus- 
bezahlt werden  sollen.“ 

„Uebemehmer  hat  ferner  seinen  übergebendou  Eltern  auf  deren  Lebens- 
zeit folgenden  Naturalaustrag  zn  geben:  Jährlich  8 hl  Korn,  1,00  hl  Weizen, 
4 hl  Erdäpfel,  50  Pfd.  .Schmalz,  30  Pfd.  Salz,  2 Secher  voll  kurzes  Kraut, 
25  Pfd.  Winterfleisch,  auf  die  Kirchweih  9 Pfd.  Fleisch  beliebiger  Gattung 
nnd  8 Liter  Bier,  täglich  2 Eier,  solange  die  Hühner  legen,  von  Georgi 
bis  Michaeli  täglich  ein  Liter  gute  süsse  Milch,  die  übrige  Zeit  täglich 
*/«  Liter  gute  süsse  Milch,  alle  Samstag  4 Nudeln,  so  oft  geschlachtet  wird 


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310 


Ein  weiterer  Nachtheil  bei  der  Gutsüberlassung  ist  ferner 
die  oft  beobachtete  Unsitte,  den  Hof  in  noch  jungen  und 

10  Pfd.  Fleisch,  so  oft  gebacken  wird  ein  Laib  Weissbrot.  Jedem  Auszügler 
sind  jährlich  20  Liter  Lein  auszubauen  und  der  geerntete  Flachs  bis  zur 
Hechel  herzurichten.  Zur  Beheizung  sind  jährlich  C Ster  weiches  Scheit 
holz  und  2 Hürden  Spähno  und  1000  Stilck  Torf  zu  geben,  welche  den  Leber- 
geberu  vom  Lebemehmer  herbeigefahren  werden  müssen,  sodann  zur  Be- 
leuchtung jährlich  3 Pfd.  Leinöl.  Im  Kiichenstübehen,  welches  den  Ueber- 
gebern  in  wohn-  und  heizbarem  Zustande  herzustellen  und  also  auch  zu 
unterhalten  ist,  haben  dieselben  lebenslängliches  Wohnungsrecht  auszuübeu  . 
wollen  oder  können  die  Lebergeber  von  diesem  Wohnungsrecht  keinen  Ge- 
brauch machen,  so  ist  denselben  ein  jährliches  Herbergegcld  mit  24  M.  zu 
bezahlen  und  der  Naturalanstrag,  insofern  thunlich,  eine  Stunde  weit  uach- 
zufahren.  Den  Uebergebern  gebührt  der  3.  Theil  des  jährlich  beim  Anwesen 
wachsenden  Obstes.  In  Erkrankungsfäl'.cu  ist  den  Uebergebern  die 
nöthige  Wart  nnd  Pflege  auf  die  Dauer  der  jedesmaligen  Krankheit  zu  ge- 
währen, ebenso  unentgeltliche  ärztliche  Hilfe  und  Medizin.  Die  Beerdigungs- 
kosten sind  vom  Anwesen  aus  zu  bestreiten  nnd  für  jeden  sind  3 Gottes- 
dienste und  zwar  je  ein  Amt  und  2 Beimessen  zu  halten.“ 

(Aus  „Denkschrift,  über  die  Lage  der  Landwirthsclmft  in  Bayern“ 
München  1890,  abgedrnckt  bei  Soergel  S.  37 J. 

Ebenso  schlimm,  ja  theilweis  noch  schlimmer  steht  es  in  Mähren;  auch 
hier  ist  der  als  typisch  mitgetheilte  Altentheilsvertrag  ein  uud  eine  halbe 
Druckseite  lang.  Vom  Bezirke  Walklobonk  heisst  es,  dass  dort  das  Aus- 
gedinge in  Geld  capitalisirt  oft  „einen  viel  höheren  Werth  habe  als  der 
ganze  von  ihm  belastete  Besitz“.  Auch  über  die  durch  die  Altentbeile  ver- 
anlassteu  Streitereien  wird  hier  sehr  geklagt,  „Die  Ausgedingsstreitig- 
keiten“,  so  heisst  es,  „beschäftigen  die  Bezirksgerichte  am  flachen  Lande 
ausserordentlich.  Die  Ausgedinger  ziehen  häufig  von  dem  Gute  weg,  bean- 
spruchen einen  Geldzins  für  ihre  Wohnung  und  drängen  auf  pünktliche 
Leistung  ihrer  Nutzgiebigkeitcn,  ohne  auch  irgendwie  noch  in  der  Wirt- 
schaft sich  nützlich  zu  machen.“  (Vgl.  Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  75 
S.  184/185,  180. 

Ueber  Posen  vgl.  die  oben  (§  36)  ungezogenen  Stellen. 

Nirgends  aber  werden  die  Schattenseiten  der  Altonthcilsverträge  so 
lebhaft  hervorgehoben,  wie  gerade  in  den  von  Fick  und  Brentano  ver- 
arbeiteten Berichten  aus  Bayern.  Fast  üborall  wird  über  deren  Höhe  ge- 
klagt, die  dadurch  noch  vervielfacht  wird,  dass  sich  immer  mehr  und  mehr 
die  Gewohnheit  bei  den  Auszüglern  einbürgert,  in  die  Städte  überzusiedeln 
und  sich  den  Anstrag  in  Geld  reichen  zu  lassen,  ohne  auf  dem  Gute  mit- 
zuarbeiten.  Auch  von  den  zerrüttenden  Zwistigkeiten  werden  sehr  düstere 
Schilderungen  entworfen.  Ein  Berichterstatter  zieht  das  Ergebniss  dahin, 
dass  die  Schattenseiten  der  Gntsabtretungcn  deren  Lichtseiten  bei  Weitem 
überwiegen.  (Vgl.  Fick  S.  46,  GO,  66,  70,  75  76.  90,  152,  184,  223,  243). 

Vgl.  auch  Brunner  auf  der  Agrarconferenz  S.  209. 


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311 


kräftigen  Jahren  abzugeben.  Schon  seit  jeher  ist  dies  als 
Uebelstand  empfunden  worden.  So  sagt  das  Lüneburger  Re- 
dintegraledikt von  1099 : „Als  man  auch  wahrgenommen,  dass 
ein  oder  andere  Coloni  . . . wann  selbige  etwas  zu  Jahren 
kommen,  ja  wohl  gar  zu  Zeiten,  um  sich  Ruhe  und  faule 
Tage  zu  machen,  die  Hofe  ihren  Kindern  . . . abtreten  und 
übergeben,  in  selbigen  aber  als  Alt -Väter  und  deren  Frauen 
als  Alt-Mütter  mit  sitzen  bleiben,  und  daraus  sich  jährlich 
grosse  Abgifften  ....  stipuliren  u.  s.  w\“  Ganz  ähnlich 
drückt  sich  die  Hildesheimer  Verordnung  von  1781  aus:  „Nach- 
dem“, heisst  es  da,  „auch  bisher  vielfältig  vorgekommen,  dass 
die  vorbehaltene  Leibzucht  der  abgehenden  Meyer  den  Meyer- 
höfen zu  sehr  grossem  Bedruck  gereichet  und  mancher  faule 
und  schlechte  Meyer  sich  vor  der  Zeit  auf  die  Leib- 
zucht begebe  und  den  Hof  in  den  kläglichsten  Umständen 
zurücklasse,  damit  er  nur  der  ferneren  Mühe  und  Last 
ausweichen  und  desto  gemächlichere  Tage,  obwohlen 
mit  dem  Untergange  seines  Nachfolgers  geniessen  möge, 
so  etc.“  dieselben  Schilderungen  finden  sich  in  jeder  Verordnung 
über  die  Leibzucht. 

So  war  es  früher.  Dass  es  jetzt  nicht  anders  ist,  geht 
daraus  hervor,  dass  auch  jetzt  von  überall  her  sich  die  Klagen 
über  die  zn  frühe  Gntsabgabe  vernehmen  lassen.297*) 

Wie  schädlich  aber  eine  zu  frühe  Gutsabgabe  wirkt,  braucht 
wohl  kaum  anseinandergesetzt  zu  werden.  Abgesehen  davon, 
dass  durch  sie  eine  noch  nutzbare  Arbeitskraft  zu  träger  Müsse 
verurtheilt  wird,  sind  ihre  Folgen  hinsichtlich  der  Schulden 
sehr  bedenklich.  Denn  die  Schulden,  welche  der  abgehende  Colon 
regelmässig  bei  seinem  Antritte  behufs  Abfindung  seiner  Ge- 
schwister hat  machen  müssen,  könnten  bei  längerer  Besitzzeit 
getilgt  sein:  so  aber  sind  sie  noch  nicht  beglichen,  und  schon 


297*)  Fiir  Bayern  haben  hier  wieder  einmal  Brentano  und  Fick  sich 
selbst  widerlegen  müssen.  Ihre  in  der  vorigen  Anmerkung  citirten  Berichte 
betonen  an  verschiedenen  Stellen,  dass  die  Gutsübergabe  jetzt  in  noch 
jungen  uud  kräftigen  Jahren  zu  erfolgen  pflegt.  Besonders  hervorgehoben 
wird  die  zu  frühe  Uutsabgabe  auch  iu  Mähren,  dessen  Berichterstatter 
Überhaupt  der  Erörterung  der  Altentheilsverträge  den  breitesten  Raum  ge- 
widmet hat. 


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312 


muss  der  Gutsübernehmer  neue  aufnelinien,  um  seine  Miterben 
auszuzahlen.  Bei  der  nächsten  Gutsübergabe  geht  es  ebenso. 
So  werden  die  Schulden  von  Generation  zu  Generation  fortge- 
schleppt und  vergrüssert;  zu  welchem  Ende  das  fuhrt,  kann 
man  sich  leicht'  ausrechnen.297b) 

So  hat  denn  die  viel  gerühmte  Sitte  der  Guts-Uebergabe 
bedeutsame  Schattenseiten.  Aber  selbst  wenn  sie  nur  Vorzüge 
hätte,  könnte  sie  eine  Aenderung  der  bestehenden  Erbrechte 
nicht  überflüssig  machen.  Denn  dass  diese  auch  mit  der  Guts- 
übergabe in  unlösbarem  Widerspruch  stehen,  dass  es  sich  mit- 
hin bei  dieser  um  eine  consuetudo  contra  legem  handelt,  kann 
niemand  leugnen.  Nun  ist  es  zwar  keineswegs  schlechthin 
richtig,  dass  eine  gesetzwidrige  Gewohnheit  von  dem  Gesetze 
erdrückt  wird;  es  geräth  sehr  oft  umgekehrt.  Für  heutige  Ver- 
hältnisse ist  aber  die  überwiegende  Stärke  des  Gesetzes 
zweifellos.  Denn  die  Gerichte  — und  diese  haben  doch  einmal 
darüber  die  entscheidende  Stimme,  was  als  Recht  anerkannt 
wird  — die  Gerichte  zeigen  mehr  und  mehr  die  Neigung,  nur 
das  geschriebene  Recht  zu  beachten,  um  so  mehr  als  die  meisten 
grossen  Codificationen  entgegenstehendes  Gewohnheitsrecht  noch 
besonders  verbieten.  Deshalb  ist  es  vollständig  richtig,  wenn 
Gierke  meint,  die  Sitte  der  Ansatzverträge  möge  noch  so  zäh 


’ir‘b)  Eine  besondere  (Komplikation  wird  nocli  aus  Mahren  gemeldet. 
Der  Bericht  darüber  (a.  a.  0.1  sagt:  „Eine  besonders  drückende  Bestimmung 
ist  auch  . . . dass  der  überlebende  Ehegatte  für  den  Fall  seiner  Wieder- 
Verehelichung  einen  Theil  seines  Ansgedinges  wieder  dem  zweiten  Ehe- 
gatten durch  ehelichen  Vertrag  znweudon  darf.  . . . Infolge  dieser  Art  von 
Ansgodingsbestimmung  kommt  es  nicht  selten  vor,  dass  von  einem  Besitzer 
gleichzeitig  mehrere  Ausgedinge  geleistet  werden  müssen.  Der  zweite  Ehe- 
gatte, mit  dem  der  überlebende  Ausgedinger  die  Ehe  geschlossen  hat.  ist 
zumeist  jüngeren  Alters,  und  so  dauert  die  Leistung  des  Ausgedinges  oft 
so  lange,  dass  die  seinerzeitigen  Uebernehmcr  bereits  selbst  ins  Ausgedinge 
gegangen  sind  und  die  letzten  Besitzer  eine  gehäufte  Last  zu  tragen 
haben.“ 

S9S)  Gierke,  Erbrecht  in  Grundbesitz  S.  10.  Ebenso  Enneccerns  S.  27: 
Es  .droht  die  Sitte  der  Anschlagsverträge,  wenn  sie  nicht  eine  gesetzliche 
Stütze  erhält,  langsam  und  unmerklich  an  Kraft  zu  verlieren.“  Wolle  man 
aber  erst  warten  bis  etwa  der  Gedanke,  die  Einheit  des  Gutes  zu  erhalten, 
bereits  dem  Volke  zu  entschwinden  beginne,  so  werde  man  Gefahr  laufen, 
auch  mit  dem  Gesetz  nicht  mehr  viel  auszurichten.  (Aehnlich  auch  S.  231. 


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313 


sein,  der  starren  Macht  des  geschriebenen  Rechts  vermöge  sie 
auf  die  Dauer  nicht  zu  widerstehen  und  werde  langsam  zer- 
bröckeln; die  heutigen  bäuerlichen  Zustände  Hessen  sich  deshalb 
nicht  ohne  den  vielsagenden  Zusatz  eines  „noch“  rühmen. 

Die  praktische  Untersuchung  lmt  diese  theoretischen  Be- 
fürchtungen nur  zu  sehr  bestätigt.  Ueberall  steigt  die  Begehrlichkeit 
der  Geschwister;  überall  erhöhen  sich  die  Annahmepreise  und  die 
Altentheile:  der  krasse  Individualismus  der  Städte  beginnt  auch 
auf  dein  Lande  mehr  und  mehr  sich  auszubreiten,  so  stark,  dass 
Brentano  auf  Grund  dieser  Wahrnehmungen  den  uralten  Familien- 
sinn der  Bauern  in  das  Märchenland  verweisen  wollte.  Gottlob, 
so  weit  ist  es,  wie  wir  sahen,  noch  nicht.  Aber  wenn  auch  in  den 
alten  Bauern  die  gesunden  Anschauungen  noch  fortleben,  vielfach 
können  sie  gegen  die  heran  wachsenden  Miterben  gar  nicht  mehr 
durchgesetzt  werden.  „Der  patriarchalische  Bauer“,  so  meldet 
aus  Bayern  eine  Stimme  von  vielen,  „hat  aufgehürt;  Der  jetzige 
Bauer  ist  nicht  mehr  im  Stande,  seinen  eigenen  Willen  durch- 
zusetzen; der  jetzige  Einfluss  der  Kinder  bei  der  Regelung  der 
Vermögensverhältnisse  in  der  Familie  ist  so  stark,  dass  der 
Bauer  sich  diesem  Einfluss  nicht  entziehen  kann.“'-2*')  Mit 
gleichen  Aeusserungen  aus  Deutschland  und  Oesterreich  Hessen 
sich  mancher  Bogen  bedecken.  *")  Forderte  doch  auf  der  Agrar- 
conferenz  (S.  227)  ein  grosser  Gutsbesitzer,  der  Graf  Zedlitz, 
das  Anerbenrecht  namentlich  auch  deshalb,  damit  er  seinen 
Kindern  und  seinem  eigenen  Gewissen  gegenüber  gerechtfertigt 
sei,  wenn  er  nicht  gleich  theile.  Wahrlich  es  ist  die  höchste  Zeit 
einzugreifen  und  die  wankende  Sitte  zu  stützen,  che  es  unwieder- 
bringlich zu  spät  wird!“"*)  Mit  Recht  sagt  deshalb  Marchet 
(S.  1312):  „Trotzdem  halten  wir  ein  Erbtheilungsgesetz  für  noth- 
wendig.  Denn  uns  liegt  die  Begründung  eines  solchen  nicht  in 
der  Vergangenheit,  sondern  in  der  Zukunft  ....  Nachdem 


2Ba)  Fick  S.  146  U7.  lieber  die  GefäUrdimg  der  Sitte  vgl.  auch  noch 
ebenda  S.  61,  67,  70,  74,  81,  129,  186,  156,  175. 

30°)  lieber  l’ommern  vgl.  z.  B.  A grarconferenz  S.  133,  über  Westfalen 
ebenda  S.  180.  — Heber  Oesterreich  siehe  den  75.  Band  der  Sehr.  d.  V.  f.  S. 

S"“*)  Gleicher  Ansicht  Brunner,  Conrad,  Gierke,  Hermes,  Inaiua-Stemogg, 
Miguel,  Schmoller,  Sering,  Steinwender,  Thiel  u.  a.  m.  anf  der  A grarconfereuz 
und  auf  der  Wiener  Versammlung  des  V.  f.  S. 


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314 


nämlich  Gesetz  und  Sitte  einander  nicht  dauernd  wiederstreiten 
können  und  dürfen,  und  nachdem  das  Anerbenrecht  an  geeigneter 
Stelle  unserer  Meinung  nach  grnnderhaltend  wirkt,  so  erscheint 
uns  ein  Präventivgesetz  berechtigt  und  werth voll.“ 

Wir  geben  endlich  den  Anhängern  der  Gutsübergabe  noch 
zu  erwägen,  dass  die  von  uus  beabsichtigte  Gestaltung  des 
Anerbenrechts  ja  eigentlich  nichts  ist  als  die  gesetzliche  Codi- 
fizirung  der  Ueberlassungsverträge  unter  möglichster  Verhütung 
ihrer  wirtschaftlich  schädlichen  Folgen.  Das  Anerbenrecht, 
wie  wir  es  haben  wollen,  ist  ja  entstanden  aus  dem  Brauche, 
seine  Kinder  auszusteuern  und  sein  Gut  dem  Uberbleibenden  Sohne 
zu  übergeben.  Genau  wie  es  heute  gemacht  wird.  Diese  Sitte 
nun,  wenn  der  Bauer  ihre  Wahrung  versäumt  hat,  nach  seinem 
Tode  für  ihn  zu  erfüllen,  nicht  eine  fremde  Erbordnung  zur  Geltung 
zu  bringen,  sondern  an  seiner  Stelle  einen  Gutsüberlassungs- 
vertrag in  seinem  Sinne  abzuschliessen,  dass  müsste  gerade  den 
Anhängern  der  Gutsübergabe  erstrebenswert  erscheinen.  Und 
weiter  wird  nichts  beabsichtigt.  Jedenfalls  soll  ja  die  Sitte 
gar  nicht  aufgehoben  werden,  denn  Gutsabgabe  steht  auch 
nach  Einführung  unseres  Erbrechts  dem  Bauern  durchaus  frei. 

Die  Codifizirung  der  Ueberlassungsverträge  würde  aber 
auch  noch  zwei  grosse  Vortheile  haben.  Einmal  würde  dadurch 
die  Lücke  ausgefüllt,  welche  das  alleinige  Walten  der  Vertrags- 
freiheit notwendig  lässt;  es  würde  nämlich  auch  dann,  wenn 
der  Bauer  eine  Verfügung  nicht  getroffen  hat  oder  nicht  hat 
treffen  können,  bei  dem  gar  nicht  so  seltenen, :w,b)  gewöhnlichen 
Intestaterbfalle  eine  angemessene  Regelung  verbürgt  sein.  So 
wird  diese  zwar  vielfach  durch  freie  Auseinandersetzung  der 
Miterben  erreicht;  vielfach  treten  jedoch  ebenfalls  auch  die  üblen 
Wirkungen  der  gesteigerten  Begehrlichkeit  der  Geschwister 
besonders  grell  hervor,  da  sie  nicht  mehr  vom  Vater  gezügelt 
werden.  Vollends  wenn  Minderjährige  beim  Erbfalle  vorhanden 
sind,  ist  gesetzliche  Regelung  geboten;  denn  aus  allen  Gegenden 


“"“"I  Bei  Fick  S.  GO,  65,  Ci»  wird  die  Anzahl  der  ohne  vorgängige 
Gatsabtretung  vorkoinmeuden  Todesfälle  auf  1 ....  bis  1 ,,  aller  angegeben.  — 
Steinwender  (Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  Gl  S.  36-J)  behauptet,  dass  in  Obersteier- 
mark, Salzburg,  Ober-  und  Niederüsterreich,  Böhmen.  Mähren  und  Kärnten 
der  Erbfall  ohne  Vertilgung  des  Vaters  «sehr  häufig“  sei. 


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31 5 


wird  gleichmäßig  darüber  geklagt  und  am  heftigsten  in  der 
Brentano'schen  Enquete,  dass  dann  die  Einmischung  der 
städtisch  geschulten  Richter  eine  so  hohe  Schätzung  des  Gutes 
und  eine  so  mechanisch  gleiche  Vertheilung  seines  Werthes 
zu  Stande  bringt,  dass  der  Untergang  des  Uebernehmers  von 
Anfang  au  besiegelt  ist.311"“) 

Der  zweite  Vortheil  einer  ein-  für  allemal  vorgenonimenen 
Festlegung  des  Inhaltes  der  Gutsabtretungen  wäre  eine  gar 
nicht  zu  berechnende  Gebührenersparniss.  Fick,  der  so  eifrig 
die  Ueberflüssigkeit  eines  gesetzgeberischen  Eingreifens  neben 
den  Leibzuchtverträgen  vertheidigt,  hätte  eigentlich  selbst  auf 
diesen  Gedanken  kommen  müssen.  Denn  in  der  verwandten 
Frage  des  Eherechts  redet  er  (S.  268)  dessen  Aenderung  darum 
ausdrücklich  das  Wort,  weil  es  dann  die  Bauern  nicht  mehr 
regelmässig  auszuschliessen  brauchten  und  dadurch  Mühe  und 
Kosten  sparen  könnten.  Mühe  und  Kosten  bei  Ausschliessung 
des  Erbrechts  sind  aber  wahrlich  nicht  geringer.  Im 
Gegentheil;  Licht  theilt  aus  Mähren  a.  a.  0.  S.  186/187  als 
typisch  einen  Fall  mit,  wo  allein  die  Gerichtskosten  der  Ab- 
tretung rund  5 °/0  des  Werthes  der  ganzen  Liegenschaft  be- 
tragen. Daß  in  Deutschland  diese  Gebühren  ebenfalls  eine 
recht  unnütze  Last  sind,  ist  schon  an  sich  klar:  es  erhellt  aber 
auch  aus  dem  gerade  von  Brentano  und  Fick  überall  betonten 
Bestreben  der  Betheiligten,  womöglich  durch  falsche  Werth- 
angaben und  Verschleierungen  an  den  Kosten  zu  sparen. 

§ 39. 

Wir  wenden  uns  nun  zur  Betrachtung  des  zweiten  für 
das  Anerbenrecht  angepriesenen  Ersatzmittels,  zu  der  Testir- 
freiheit.  Dieser  ist  die  Strömung  jetzt  überaus  günstig.  In 
Frankreich  ist  sie  im  Wesentlichen  noch  heute  das  einzige 
Heilmittel,  welches  man  gegen  die  offenbaren  Schäden  der 


*»')  Vgl.  Fiele  8.  49,  65,  76,  95,  125,  167,  183,  184.  — lieber  die 
österreichischen  Richter  vgl.  Chorinaky  in  Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  61 
8.  119/120.  — lieber  das  Verhalten  der  preussischon  Richter  wurde  auf 
der  Agrarconferenz  ebenfalls  geklagt.  Vgl.  darüber  auch  (lamp  und 
Schönstedt  in  der  Sitzung  des  pr.  Abgeordnetenhauses  vom  29.  II.  1898. 


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BIß 


geltenden  Erbrechte  empfiehlt.  Und  auch  in  Deutschland  ist 
die  manchesterliche  Begeisterung  für  die  möglichst  schranken- 
lose Freiheit  des  Individuums  noch  stark  genug,  um  für  die 
Erweiterung  der  Testirbefugniss  alle  geneigt  zu  machen.  So 
haben  die  Notabein  der  Rheinprovinz  das  Auerbenrecht  zwar 
abgelehnt,  aber  sich  für  die  Testirfreiheit  ausgesprochen;  und 
ebenso  wurde  von  dem  Provinziallandtag  für  Hessen-Nassau 
die  Ausdehnung  der  Rechte  des  Testators  einstimmig  befür- 
wortet, die  des  Anerbenrechts  dagegen  nicht,  wenn  sich  auch  eine 
grosse  Majorität  dafür  land.301) 

Man  hat  der  schrankenlosen  Testirfreiheit  deshalb  das 
Wort  reden  wollen,  da  der  alleinige  Grund  des  Erbrechts  das 
Testament  sei.  Die  Geschichte  lehrt  die  Unrichtigkeit  dieser 
Behauptung  mit  zweifelloser  Deutlichkeit:  und  wenn  man  sich 
zum  Gegenbeweise  auf  die  Philosophie  beruft,  so  müssen  wir 
erwidern,  dass  wir  im  Rechte  ausserhalb  der  auf  die  tieferen 
Zusammenhänge  seiner  Geschichte  gerichteten  Philosophie  keine 
andere  anerkennen  können,  wenigstens  so  weit  es  sich  um 
Grundlagen  für  positive  Rechtssätze  handelt.  Nach  der  allein 
massgebenden  historischen  Erkenntniss  ist  aber  das  Erbrecht 
aus  dem  Familieneigenthnm  hervorgegangen  und  deshalb  jeg- 
liche Verfügung  über  die  Erbmasse  stets  familienrechtlich  ge- 
bunden geblieben.'11-)  Auch  heute  würde  es  niemand  verstehen, 
wenn  es  dem  Vater  frei  stände,  nach  Belieben  seine  Kinder  zu 
enterben  und  einen  Fremden  zu  berufen.  Eine  solche  Regelung 
ist  deshalb  unmöglich.3"3)  Im  Grunde  will  sie  auch  keiner. 
Die  Testirfreiheit  wird  nämlich  zwar  von  ihren  Anhängern 
ziemlich  unbedingt  empfohlen,  aber  trotz  dieser  wenig  vorsichtigen 
Formulirung  beziehen  sich  alle  Forderungen,  doch  nur  auf  die 
von  Bruns  so  genannte,  „relative“  Testirfreiheit.  Danach  soll 
der  Testator  zwar  die  Macht  haben,  sein  Vermögen  unter  seine 
Kinder,  seine  Ehefrau  und  seine  sonstigen  nahen  Verwandten 
nach  ganz  freiem  Belieben  zu  vertheilen,  aber  er  darf  sein  Gut 


*")  Vgl.  hierüber  die  Schrift  von  Enneecerus  und  über  das  Vorhalten 
der  Rheinprovinz  die  Schrift  von  Fnld  S.  1025. 

**)  Vgl.  Gicrke,  Erbrecht  in  Grundbesitz  S.  12,  und  unsere  gesummten 
früheren  Ausführungen. 

Dieser  Ansicht  ist  auch  Uruns,  Testirfreiheit  und  I’flichttbeil. 


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317 


nicht  an  Fremde  bringen.304)  Auf  diese  relative  Testirfreiheit 
allein  trifft  auch  all  das  zu,  was  man  zu  deren  wirtschaft- 
licher Rechtfertigung  angeführt  hat,'*0)  über  .die  Schwierigkeit 
und  Verwickeltheit  der  heutigen  Verhältnisse,  die  einer  ordnen- 
den Hand  bedürften,  und  deren  Entwirrung  man  dem  Testator 
vertrauensvoll  überlassen  müsse. 

Gegen  diese  relative  Testirfreiheit  haben  wir  nicht  viel 
eiuzuwenden.  Wir  fürchten  zwar,  dass  auch  sie  der  Erb- 
schleicherei in  der  Familie,  dem  Intrigiren  und  Minireu  der 
Familienmitglieder  gegen  einander  Thür  und  Thor  öffnet. 
Denn  bei  aller  Hochachtung  vor  dem  Bauernstände  wissen  wir 
doch,  wie  scharf  und  hart  hier  jeder  auf  seinem  Rechte  zu  be- 
stehen und  seinen  Vortheil  zu  suchen  pflegt.  Die  Tragödien, 
welche  die  dem  Bauernstände  entprosseuen  Schriftsteller  hierüber 
zu  entrollen  pflegen,  entsprechen  oft  der  Wirklichkeit  und  maleu 
jene  Interossenkämpfe  nicht  mit  zu  grellen  Farben.  Aber  selbst 
wenn  man  über  all  dies  hinwegsieht,  kann  die  Testirfreiheit 
den  Erlass  eines  Erbgesetzes  nicht  überflüssig  machen.  Denn 
dies  ist  ja  gerade  für  den  Fall  bestimmt,  wo  selbst  die  schönste 
Testirfreiheit  versagt,  wenn  nändich  der  Landmann  eben  kein 
Testament  gemacht  hat.  *0) 

Die  absolute  Testirfreiheit  aber  lehuen  wir  unbedingt  ab. 
Die  Gefahr  des  Missbrauchs  ist  zu  gross.  Sie  hat  sich  überall 
geltend  gemacht,  wo  jene  Testirfreiheit  gegolten  hat  oder  gilt, 
mit  Ausnahme  von  England  und  Amerika.  Aber  jene  Länder 


*•)  Vgl.  Bruus  a.  a.  O.  S.  20t: 

„Die  Testirfreiheit  ist  nicht  absolut,  sondern  nur  relativ  begründet, 
d.  h.  sofern  sie  zu  Dunsten  einzelner  Kinder  oder  des  Ehegatten 
ausgeübt  wird.  Dagegen  liegt  kein  allgemeiner  und  realer  Grund  vor,  den 
Eltern  zu  gestatteu,  das  Vermögen  ....  andern  Verwandten  oder  ganz 
fremden  . . . zuzuwenden  . . . NVobl  können  einzelne  Verhältnisse  Vor- 
kommen . . . allein  für  solche  einzelnen  Fälle  kann  kein  allgemeines  Prinzip 
aufgestellt  werden.“ 

**)  Vgl.  llarchot  S.  1322  und  die  von  ihm  dort  citirte  Aeusseruug 
Schmollen. 

3wi)  Gegen  diese  relative  Testierfreiheit  spricht  auch  Marousscm  sich 
deswegen  aus,  weil  sie  doch  unbenutzt  bleiben  und  nichts  helfen  würde; 
die  Bevölkerung  würde  alles  beim  Alten  lassen.  (Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  61 
S-  322,  323,  324. 


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318 


sind  mit  uns  insofern  nicht  zu  vergleichen,  als  dort  die  Sitte 
und  das  Herkommen  eine  Macht  haben,  die  bei  uns  unbekannt 
ist.  Die  Sitte  kennt  aber  dort  nur  die  relative  Testirfreiheit. 
So  wird  durch  ihren  Zwang  ein  grösserer  Missbrauch  der  ge* 
setzlich  absoluten  Befugniss  verhütet.  Bei  uns  aber  würde  es 
gehen,  wie  es  in  Rom  bekanntermassen  und  in  Frankreich  vor 
der  Revolution  gegangen  ist ; die  Enterbungen  würden  zu  einem 
derartigen  öffentlichen  Aergerniss:!"7)  werden,  dass  es  in  natür- 
licher Reaction  zu  einer  übermässigen  Unterbindung  der  Tcstir- 
befugniss  käme.  Alles  in  Allem  kann  man  deshalb  nur  in  den 
Mahnruf  Gierkes  einstimmen:  „Am  Pfliclittheilsrecht  darf  nicht 
gerüttelt  werden!“ 

Ueberbliekt  man  nun  noch  einmal  alle  die  Erwägungen,  die  wir 
über  die  Einführung  des  Anerbenrechts  angestellt  haben,  so  wird 
man  die  Gewissheit  empfangen,  dass  ihr  Ergebniss,  von  welcher 
Seite  man  auch  die  Frage  betrachten  mag,  ein  dem  Anerbenrecht 
überaus  günstiges  ist.  Es  ist  deshalb  nur  natürlich,  dass 
in  allen  sachverständigen  Kreisen  sich  mehr  nud  mehr  die 
Ueberzeugung  von  der  Nothwendigheit  des  Anerbenrechts  Bahn 
bricht.  Der  deutsche  Landwirthschaftsrath  und  die  Agrar- 
conferenz  von  1894  sprachen  sich  dafür  aus,  und  der  deutsche 
Juristeutag,  der  bisher  gezögert  und  geschwankt  hatte  und  noch 
in  den  achtziger  Jahren  von  einer  individualistischen  Erweiterung 
der  Testirfreiheit  die  Rettung  des  Landvolkes  erhofft  hatte, 
auch  er  hat  auf  seiner  23.  Zusammenkunft  in  Bremen  fast  ein- 
stimmig den  Antrag  dessen  Justizraths  Makower  angenommen: 
„Ein  Intestatauerbenrecht  lür  solche  Landgüter,  welche 
einer  Familie  vollauf  Beschäftigung  und  A’ahrung  zu  geben 
vermögen,  empfiehlt  sich  für  diejenigen  Gegenden,  in  denen 
der  Uebergaug  des  Gutes  auf  einen  Erben  der  Sitte 
entspricht.“ 

Dieser  wahren  öffentlichen  Meinung  gegenüber  fällt  die 
Stimmungmacherei  der  Parteipresse  nicht  ins  Gewicht.  Man 
ist  es  ja  ausserdem  in  Deutschland  gewöhnt,  dass  wir  unsere 
eigenen  Einrichtungen  möglichst  schlecht  machen,  bis  wir 
schliesslich  vom  Auslande  selbst  über  ihre  Yortrefllichkeit 


Vgl.  über  die  altlrnuzüsiseken  Zustiiudo  namentlich  Fuld  S.  HW3. 


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319 


staunend  belehrt  werden.  Und  das  Ausland  hat  die  Vorzüge 
unserer  althergebrachten  Grundfolge  schon  längst  anerkannt. 
Sogar  in  Frankreich,  das  doch  gewiss  nur  widerwillig  Beifall 
zollt,  weis»  man  genau,  dass  unser  Erbrecht  besser  ist  als  das 
französische,  und  in  Italien11")  betrachtet  man  es  geradezu  als 
das  erstrebenswerthe  Ideal.  Hüten  wir  also  den  Schatz,  um 
den  man  uns  dranssen  beneidet  und  geben  wir  ihn  nicht  hin 
um  fremde  Importartikel,  wie  es  die  Lehre  von  dem  allein- 
seligmachenden Individualismus  ist ! 

§ 40. 

Sonach  stände  denn  fest:  Das  Anerbenrecht  soll  eingeführt 
werden.  Es  bleibt  noch  zu  erörtern:  Wie  soll  es  eingeführt 

worden,  als  Reichsrecht  oder  als  Landesrecht,  als  lutestat- 
erbrecht  oder  nach  dem  Systeme  der  Höferolle?  Und  wie  ist  es 
im  Einzelnen  zu  gestalten? 

Die  Frage  „Reichsrecht  oder  Landesrecht“  hat  nicht  mehr 
die  Wichtigkeit  wie  noch  vor  wenigen  Jahren.  Sie  ist  dadurch  zu 
einem  gewissen  Abschlüsse  gelangt,  dass  das  bürgerliche  Gesetz- 
buch für  das  deutsche  Reich  trotz  vielfacher  Bemühungen  das 
Anerbenrecht  nicht  aufgenommen,  sondern  nur  den  Landes- 
gesetzen gestattet  hat,  es  ihrerseits  einzuführen.  Indessen  diese 
Entscheidung  ist  doch  nur  eine  vorläulige.  Denn  nichts  hindert, 
dass  eine  spätere  Zeit  den  Fehler  gut  macht  und  ein  neues 
Reichserbgesetz  für  die  Bauern  neben  dem  bürgerlichen  Gesetz- 
buche und  in  Abänderung  und  Ergänzung  desselben  erlässt. 
Die  Frage  „Reichsrecht  oder  Landesrecht“  muss  darum  immer 
noch  erwogen  werden. 

Hier  treten  wir  nun  rückhaltlos  auf  die  Seite  Gierkes*18) 
und  erheben  mit  ihm  die  Forderung,  dass  das  Anerbenrecht  als 
Reichsrecht  anerkannt  werde. 

Alles,  was  man  dagegen  angeführt  hat,  greift  nicht  durch. 
Vor  allem  müssen  wir  betonen,  dass  wir  die  Schwierigkeit, 
welche  sich  einer  reichsrechtlicheu  Regelung  des  Auerbeurechts 


**)  Vgl.  Sombart  S.  294. 

-100)  Erbrecht  im  Grundbesitz,  Abschnitt  IV. 


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320 


entgegenstellt,  trotzdem  sie  zweifellos  gross  ist,  als  eineu 
Hinderungsgrnnd  nicht  anerkennen  können.310)  Denn  wenn 
etwas  an  sich  gut  und  richtig  ist,  so  muss  es  ausgeführt  werden, 
mag  es  auch  noch  so  schwer  sein. 

Nun  ist  die  Schwierigkeit  aber  gar  nicht  so  unüber- 
windlich. Die  Motive  zum  ersten  Entwürfe  des  Einführungs- 
gesetzes betonen  zwar  die  Zerrissenheit  des  bisherigen  Grund- 
erbrechts, welche  ein  neues  einheitliches  Recht  fast  unmöglich 
mache.  Jene  Zerrissenheit  ist  nun  nicht  wegzuleugnen;  allein 
sie  hindert  das  Einigungswerk  doch  nicht  so  sehr;  denn  sie 
betrifft  meist  Nebeudinge.  Die  grossen  Grundprinzipien  — und 
nur  mit  diesen  und  nicht  mit  der  Casuistik  soll  und  will  sich 
doch  der  Gesetzgeber  befassen  — die  grossen  Grundprinzipien 
des  Anerbenrechts  sind  fast  überall  dieselben.  Wenn  die  Motive 
das  Gegentheil  behaupten,  so  irren  sie.  Wir  haben  absichtlich 
die  Belege  für  die  oben  von  uns  gegebene  Darstellung  des 
Anerbenrechts  aus  Schriftstellern  der  verschiedensten  Gegenden 
entnommen,  und  im  Wesentlichen  hat  sich  doch  eine  Ueberein- 
stiminung  gezeigt.  Was  die  Motive  speziell  an  Verschiedenheiten 
anführen,  sind  übrigens  theils  keine  Abweichungen  in  den 
Prinzipien,  theils  gründen  sie  sich  nicht  auf  einen  wirklichen 
Zwiespalt  der  bisherigen  Rechtsübung,  sondern  berücksichtigen 
nur  legislatorische  Experimeute,  wie  die  Frage  „Höferollo  oder 
Intcstaterbrccht“,  welche  in  der  Praxis  nicht  existirt,  da  die 
Höferolle  nirgends  Boden  im  Volke  hat;  theils  endlich  heben 
sich  die  Schwierigkeiten  durch  die  von  uns  zu  befürwortende 
Regeluugsart  wie  z.  B.  der  Streit  um  dio  Höhe  des  Voraus', 
welcher  reichsrechtlich  gar  nicht  bestimmt  zu  werden  braucht, 
da  man  seiue  Festsetzung  durch  Schiedsrichter  anordnen  kann. 

Eine  wirkliche  Schwierigkeit  für  die  Einführung  eines 
Reichsanerbenrechts  liegt  jedoch  in  der  unbestreitbaren  That- 
sache,  dass  es  lur  manche  Gegenden  Deutschlands,  z.  B.  In- 
dustriebezirke, nicht  passt.311)  Nun  sind  jene  Gegenden  allerdings 
nicht  so  ausgebreitet,  wie  uns  die  Motive  glauben  machen 


3I")  Dennoch  Iclmeu  die  Motive  des  ersten  Entwurfs  aus  diesem  Uitindc 
die  reichsrechtliche  Regelung  ah. 

**')  Vgl.  oben  bei  Anm.  2»8. 


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321 


wollen.  Wir  scheu  nicht  ein,  warum  das  Anerbenrecht,  wie 
wir  es  verfechten,  d.  h.  der  aus  der  Sitte  der  Ausradung  und 
Gutsübergabe  entstandene  Erbbrauch,  für  die  Gebiete  der  Guts- 
übergabeverträge unpassend  sein  und  seine  Einführung  dort, 
„dem  Rechtsbewusstsein  und  einer  vielhundertjährigen  Stammcs- 
gewohnlieit  zuwider  laufen“  soll.  (Motive  zu  Art.  83  ff.) 

Allein  wenn  auch  jene  Länder  mit  einer  dem  Anerbenrecht 
ungünstigen  Bodenverfassung  nicht  so  überaus  ausgedehnt  sind, 
vorhanden  sind  sie  doch.  Das  Auerbenreoht  kann  deshalb  nicht 
als  zwingendes  Reiclisreeht  für  ganz  Deutschland  eingeführt 
werden. 

Dies  ist  in  zweifacher  Weise  zu  umgehen,  entweder  man 
führt  das  Auerbenrecht  für  ganz  Deutschland  ein,  aber  nicht 
als  absolutes,  sondern  als  subsidiäres  Recht;  oder  man  führt  es 
zwar  als  zwingendes  ein,  aber  nicht  für  ganz  Deutschland. 

Wir  geben  dem  zweiten  Vorschläge  den  Vorzug.  Es  muss 
allerdings  Gierke  zugestimmt  werden,  wenn  er  nicht  zu  ver- 
stehen vermag,  warum  es  dem  Ansehen  dos  Reichsrechts  schädlich 
sein  soll,  wenn  es  einmal  als  subsidiäres  auftritt.  Hat  es  viel- 
leicht dem  Ansehen  des  Handelsgesetzbuches  geschadet,  dass  es 
in  vielen  Fällen  nur  ein  Minimalrecht  geschaffen  hat?  Allein 
wenn  das  Anerbenrecht  als  subsidiäres  Reichsrecht  gestaltet 
wird,  so  wird  es  voraussichtlich  auch  in  Gegenden,  wo  es  nicht 
günstig  wirkt,  zur  Anwendung  kommen,  indem  die  Landes- 
gesetzgebung aus  Nachlässigkeit  oder  irgend  einem  anderen 
Grunde  versäumt  hat,  es  auszuschlicssen. i12)  Dies  kann  bei 
Annahme  des  zweiten  Vorschlages  nicht  begegnen. 

Nach  ihm  wird  das  Anerbenrecht  als  absolutes  Reichsrecht, 
aber  nur  gegendweiso  eingeführt;  also  das  von  Gierke21-')  für 
das  eheliche  Güterrecht  so  lebhaft  befürwortete  Regionalsystem. 
Die  Feststellung  der  Gegenden,  für  welche  das  Anerbenrecht 
gelten  soll,  kann  entweder  von  der  Reichsgesetzgebung  selbst 
bewirkt  oder  von  dieser  der  Landesgesetzgebung  delegirt  werden. 
Letzterer  Weg  empfiehlt  sich  mehr;  denn  es  ist  schwerlich  an- 
zuuehmen,  das  die  Reichsgewalt  aus  der  Ferne  besser  beurtheilen 


***)  Auf  diese  Gefahr  weisen  namentlich  dio  Motive  hin. 

313}  In  der  Schrift:  Der  Entwurf  und  das  deutsche  Hecht. 

▼.  Dult* ig,  U runderbrecht.  21 


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322 


kann,  ob  ein  Land  für  das  Anerbenrecht  geeignet  ist,  wie  die 
verfassungsmässigen  Organe  dieses  Landes  selbst.  Es  könnte 
allerdings  die  Befürchtung  auftauchen,  dass  die  Landesgesetz- 
gebung ihre  Pflicht  versäumt;  in  Oesterreich,  welches  bei  seinem 
Anerbengesetz  das  Regionalsystem  befolgt  hat,  ist  diese  Be- 
fürchtung sogar  leider  eingetroffen.314)  Allein  iu  Deutschland 
wird  dies  nicht  geschehen.  Es  wird  verhindert  durch  Artikel 
17  der  Reichsverfassung.  Wenn  ein  Reichsgesetz  dahin  ergeht 
„die  Landesgesetzgebung  hat  zu  bestimmen,  in  welchen  Theilen 
ihres  Gebietes  das  bäuerliche  Erbrecht  oder  das  allgemeine 
Erbrecht  für  Bauerngüter  Anwendung  findet“,  so  hat  die 
Reichsgewalt  die  Ausführung  dieses  Reichsgesetzes  zu  über- 
wachen. Verfallen  die  Landesgesetze  bei  ihrer  Feststellung  in 
ein  zu  langsames  Tempo,  so  kann,  wie  Berner  es  einmal  geist- 
voll ausdrückt  „die  Reichsgewalt  zu  einem  Allegro  aufspielen.“ 
Es  wird  dies  aber  nicht  nötliig  zu  sein.  Zu  jedem  grösseren 
Reichsgesetze,  müssen  ja  Landeseinführungsgesetze  erlassen 
werden  und  werden  erlassen.  Dabei  ergiebt  es  sich  ohne 
weiteren  Zwang  von  selbst,  dass  auch  über  die  örtlichen  Grenzeu 
des  Reichsanerbenrechts  die  Festsetzung  getroffen  wird. 

Wird  das  Auerbenrecht  so  als  Reichsrecht  eiugeführt,  so 
wird  jede  Schwierigkeit  vermieden  und  es  kann  sich  kein  Land 
und  keine  Gegend  beklagen,  dass  sie  iu  ihren  Gewohnheiten 
vergewaltigt  worden  ist.  Dem  Anerbenrechte  aber  wird  die 
hohe  Autorität  des  Reichsrechts  gerettet.  Es  wird  vor  dem 
unvermeidlichen  Schicksale  bewahrt,  als  Recht  zweiter  Klasse 
neben  dem  Reichsrechte  zu  verkümmern  und  der  Missgunst 
namentlich  des  praktischen,  nur  mit  seiuem  Codex  recht  ver- 
trauten Juristen  zu  erliegen.315)  Es  wird  aber  auch  die  Reichs- 


■"'*)  Das  dortige  Anerbengesetz  ist  noch  nicht  in  Kraft,  weil  die  Landes- 
gesetzgebungen es  unterlassen  haben,  die  nöthigeu  Ausfiibruugsbestinimungen 
zn  treffen. 

315)  Auf  diese  Gefahr  weist  treffend  namentlich  Gierke,  Erbrecht  in 
Grundbesitz  S.  19  hin.  Die  Motive  erwidern:  Das  Anerbenrecht  werde 
sachlich  doch  immer  ein  Sonderrecht  bleiben.  Es  ist  dies,  wie  wir  in  i 13 
dargelegt  haben,  sehr  zweifelhaft.  Es  ist  aber  sicherlich  nicht  richtig, 
wenn  die  Motive  dann  weiter  darauf  verweiseu,  dass  es  trotz  dieses  .Sonder- 
rechtscharakters immer  vou  den  Juristen  liebevoll  behandelt  worden  sei 


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323 


Gesetzgebung  den  hohen  Ruhm  erndten,  zuerst  von  allen  modernen 
Gesetzgebungen  wieder  in  gesunde  Bahnen  eingelenkt  zu  sein, 
mit  dem  jahrhundertealten  Irrthum  von  der  Geeignetheit  eines 
und  desselben  städtischen  Rechts  für  alle  Unterthanen  ge- 
brochen und  das  Suntn  cuique  wieder  zu  Ehren  gebracht  zu 
haben.316) 


§ 41. 

Als  Reichsrecht  also  soll  das  Anerbenrecht  eingeführt 
werden.  Wie  soll  man  es  aber  gestalten?  Als  Intestaterbrecht 
oder  nach  dem  Systeme  der  Höferolle? 

Für  uns  ist  auch  hier  wieder  entscheidend,  welche  von 
beiden  Arten  sich  von  selbst  aus  den  alten  Institutionen  heraus 
entwickelt  hat  und  deshalb  auf  fester  Grundlage  in  der  Rechts- 
Überzeugung  des  Volkes  ruht.  Dass  hier  die  Wage  stark  zu 
Ungunsten  der  Höferolle  emporschnellt,  kann  nicht  zweifelhaft 


Jene  liebevolle  Behandlung  ist  ihm  nur  zu  Tlieil  geworden,  wo  es  durch  das 
Gesetz  ausdrücklich  anerkannt  und  zum  grossen  Theil  geregelt  war.  wie 
in  Hannover  und  Westfalen.  Wo  keine  schriftlichen  Aufzeichnungen,  sondern 
nur  ungeschriebene  Gewohnheiten  vorhanden  waren,  wie  in  deu  meisten 
Gebieten  des  preussischen  Landrechts,  ist  es  stets  mit  gänzlicher  Nicht- 
achtung behandelt.  Dasselbe  Geschick  würde  ihm  nur  noch  schlimmer  neben 
dem  bürgerlichen  Gesetzbuche  winken,  falls  es  nicht  schnell  schriftlich  von 
Reichswegen  codifieirt,  und  so  die  ganze  Juristenwelt  gezwungen  wird, 
sich  mit  ihm  zu  beschäftigen.  Die  oben  von  uns  dargelegte  Abgunst  der 
Richter  gegen  andere  als  ihre  städtischen  Erbgewohnheiten  beweist,  dass 
die  Entwicklung  diese  Richtung  nehmen  wird. 

316:>  Auch  auf  der  Agrarconferenz  wurde  verschiedentlich  die  Frage 
angeschnitten,  in  welchem  Umfange  das  Anerbenrecht  einzuführen  sei.  Am 
weitesten  gingen  Küster  (8.  214)  und  Gierte  (8.  231),  welche  es  für  ganz 
Deutschland  hezw.  Preussen  befürworteten,  auch  für  die  Realtheilungs- 
gegenden.  Einen  sehr  beachtenswerthen  Vermittlungsvorschlag  machte 
v.  Miquel.  Er  sagte  (8.  255):  .Es  wird  wohl  nothwendig  sein,  allgemeine 
Grundsätze  aufzustellen,  sin  in  einem  Gesetz  zu  formuliren  und  in  allen 
einzelnen  Provinzen  zum  Ausdruck  zu  bringen,  dagegen  die  einzelnen  Be- 
stimmungen der  Durchführung,  ob  z.  B.  Minorat  oder  Majorat,  der  einzelnen 
Provinz  zu  überlassen.“  Die  übrigen  Redner  wie  Conrad  (8.  211).  Meitzen 
(8.  242),  Winkelmann  (8.  243)  u.  s.  w.  waren  mehr  für  die  provinzweise 
Einführung  des  Anerbenrechts  durch  Spezialgesetze.  — Das  Gutachten  von 
Hermes  (Sehr.  d.  V.  f.  8.  Bd.  61  S.  68/69)  spricht  sich  ebenfalls  für 
reichsrechtliche  Regelung  wenigstens  der  Grundzüge  aus. 

21* 


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324 


sein,  wenn  man  erwägt,  dass  diese  erst  ein  Ergebnis»  aller- 
neuester  Gesetzgebungskunst  ist.  Sie  hat  deshalb  auch  gar 
keinen  Boden  im  Volke ; sie  war,  wo  sie  eingeführt  wurde,  von 
vornherein  ein  todtgeborenes  Kind.  Eine  Erfahrung  von  mehr 
als  zehn  Jahren  hat  gelehrt,  dass  sie  ausserhalb  von  Hannover, 
Lauenburg,  Oldenburg,  Bremen  und  einem  Theil  von  West- 
falen31fia)  kaum  benutzt  worden  ist.  In  Hannover  ist  ihr  Er- 
folg zudem  nur  mit  künstlichen  Mitteln  bewirkt.  In  einer  bei 
Carl  Meyer  1881  erschienenen  Schrift  über  das  Höfegesetz  in 
Hannover  berichtet  ein  Amtsrichter,  wie  er  und  seine  Amts- 
genossen auf  den  Dörfern  herumgezogen  sind  und  die  Bauern 
zur  Eintragung  in  die  Rollo  veranlasst  haben.  Wenn  man  er- 
wägt, dass  die  Amtsrichter  in  Hannover  grosses  Ansehen  haben, 
so  wird  man  sich  über  den  Erfolg  der  Höferolle  dort  nicht 
mehr  wundern.317)  Auch  in  Westfalen  ist  der  theilweise  Erfolg 
nur  der  Agitation  des  Bauernvereins  zu  danken. 

Ueberall  sonst  aber  hat,  wie  gesagt,  die  Höferolle  Fiasko 
gemacht;  die  früher  lautesten  Rufer  für  die  Höferolle  sind  des- 
halb schon  ziemlich  still  geworden,  und  der  Juristentag,  der 
ihr  früher  sehr  geneigt  war,  hat  sie  fallen  lassen. 

Inder  Thatsind  auch  abgesehen  von  ihrer  Ungeschichtlichkeit 
die  allgemeinen  Gründe,  welche  man  zu  ihrer  Rechtfertigung  ange- 
führt hat,  nicht  stichhaltig.  In  dieser  Richtung  hat  namentlich 
Marchet  an  der  Hand  von  Schmollet'  darauf  hingewiesen,  dass  die 
Höferolle  deshalb  den  Vorzug  vor  dem  Intestaterbrccht  verdiene, 
weil  dieses  unseren  heutigen  verwickelten  Verhältnissen  nicht 
mehr  gerecht  werden  könne  und  deshalb  der  Erblasser  selbst 
mit  distributiver  Gerechtigkeit  eingreifen  und  das  Erbrecht  ent- 
gegen der  todten  Regel  dor  Intestatfolge  „individualisiren* 
müsse.318)  Diese  Würdigung  unserer  heutigen  Verhältnisse  mag 
ganz  richtig  sein;  es  mag  in  der  That  besser  sein,  wenn  des 
Erblassers  Hand  die  Mängel  des  Iutestaterbrechts  ausgleicht. 
Allein  wir  können  Marchet  nicht  weiter  folgen,  wenn  er  zu 
dieser  Prämisse  hinzusetzt:  „Da  nun  die  Höferolle  einen  brauch- 


316*)  Vgl.  das  Referat  von  Hermes  in  Sehr.  d.  V.  f.  S.  Bd.  62. 
317)  Vgl.  11.  Meyer,  Westfalen  S.  27. 

3W_)  Vgl.  oben  Auw.  305. 


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32?) 


baren  Anhaltspunkt  zur  Erreichung  dieses  Zweckes  bietet,  darf 
sie  in  einem  umfassenden,  modernen  Gesetze  nicht  umgangen 
werden.“  Es  ist  nämlich  nicht  richtig,  dass  die  Höferolle  einen 
brauchbareren  Anhaltspunkt  als  das  Intestaterbrecht  bietet.  Denn 
sie  führt  ja  selbst  nur  ein  Intestaterbrecht  herbei. 
Alles,  was  gegen  dies  gesagt  wird,  trifft  deshalb  auch  sie.  Sie 
berücksichtigt  ebenso  wenig  die  Schwierigkeiten  des  einzelnen 
Falles  und  die  Verschiedenheiten  der  Familienmitglieder  etc., 
namentlich  wenn  schon  ein  Vorbesitzer  das  Gut  hat  eintragen 
lassen. 

Wollte  man  aber  etwa  darauf  hinzielen,  dass  bei  der  Höfe- 
rolle der  Bauer  doch  wenigstens  etwas  letztwillig  verfügen 
muss,  indem  er  die  Eintragung  beantragt,  so  wäre  es  zunächst 
doch  für  die  „lnvidualisirung  des  Erbrechts“  besser,  er  verfügte 
ganz.  Dann  aber  könnte  diese  letzt  willige  Verfügung  dem 
Zwecke  der  Handhabung  von  distributiver  Gerechtigkeit  durch 
den  Erblasser  doch  nur  dienen,  wenn  der  Erblasser  den  Iuhalt 
des  Höferechts  genau  kännte  und  diesen  im  Augenblicke  der 
letztwilligen  Verfügung  in  seinen  Willen  aufnähme.  Das  lässt 
sich  aber  doch  kaum  annehmen.  Die  Höferolle  ist  deshalb 
auch  vom  Standpunkte  der  Erwünschtheit  einer  letztwilligen 
Verfügung  durch  den  Bauern  um  keinen  Deut  besser  als  das 
Intestatanerbenrecht. 

Wir  lehnen  sie  deshalb  ab  mit  Rücksicht  auf  die  uralte 
Scheu  der  Bauern  vor  der  Berührung  mit  dem  Gerichte  und 
vor  jeder  letztwilligen  Verfügung.  Diese  Scheu  hat  sich  bei 
jedem  modernen  Gesetze  bethätigt,  welches  seine  Anwendung 
von  einem  Willensakte  der  Bauern  abhängig  machte;  solche  Ge- 
setze waren  ein  Schlag  ins  Wasser.319)  Zumal  bei  der  Höfe- 
rolle hat  dies,  wie  gesagt,  eine  mehr  als  zehnjährige  trübe  Er- 
fahrung erwiesen.  Verwerfe  man  deshalb  jenes  haltlose  und 


sit')  Vgl.  Gierkc.  Erbrecht  in  Grundbesitz  S.  19/20.  — Soergel  S.  10  11. 
«Bekannt  ist  cs  ja,  dass  unsere  richtigen  Bauern.  — und  das  sind  keine 
Querköpfe,  — eine  Ehre  darein  setzen,  nie  vor  Gnaden  Herrn  Landrichter 
oder  jetzt  vorm  gestrengen  Herrn  Amtsrichter  erschienen  zu  seiu.“  — 
Dasselbe  bestätigt  Fühl  (Juristentag  de  1895  Bd.  2 S.  98)  für  das 
Rheinland. 


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326 


künstliche  Institut®9)  und  scliliesse  sich  dem  Votum  des 
letzten  Juristentages  an:  „Ein  In  testatanerbenrecht  . . . 

empfiehlt  sich.“  Erst  dann  wird  man  den  festen  Boden  aller 
Gesetzgebung  in  der  Volksüberzeugung  wieder  erlangt  haben. 


§ 42. 

Etwas  günstiger  muss  das  IJrtheil  über  die  Vermittelungs- 
versuche ausfallen,  die  man  zwischen  den  beiden  Systemen  der 
fakultativen  Höferolle  und  des  Intestatanerbenrechts  gemacht 
hat.  Es  sind  dies  die  Vorschläge,  von  Amtswegen  die  dein 
Anerbenrecht  zu  unterstellenden  Güter  in  eine  Höferolle  einzu- 
tragen oder  ihre  Eigenschaft  im  Grundbuche  zu  vermerken. 

Hier  würde  das  Bedenken  fort  fallen,  welches  gegen  die 
Höferolle  entscheidet,  dass  das  Gesetz  keine  Benutzung  finden 
würde.  Denn  die  Eintragung  bleibt  ja  nicht  dem  Besitzer  über- 
lassen. Andererseits  wird  dieser  Regelung  ein  wichtiger  Vorzug 
nachgerühmt;  es  soll  nämlich  bei  ihr  immer  gewiss  sein,  ob  im 
gegebenen  Erbfalle  ein  Gut  als  Auerbengut  anzusprechen  ist. 
und  um  dieses  Vorzuges  willen  haben  sich  nicht  nur  zahlreiche 
Redner  auf  der  Agrarconferenz,  vor  allem  Meitzen,  für  diese 
Methode  ausgesprochen,  sie  ist  vielmehr  auch  von  dem  jüngsten 
Anerbengesetz  von  1898  für  Westfalen  adoptirt  worden. 

Damit  von  dem  angedeuteten  Vorzug  überhaupt  gesprochen 
werden  kann,  ist  Voraussetzung,  dass  es  überhaupt  einer  Fest- 
stellung bedarf,  was  ein  Anerbengut  ist,  dass  also  das  Anerben- 
recht nicht  auf  alle  landwirtschaftlich  benutzten  Güter  An- 
wendung findet.  Es  wird  noch  zu  erörtern  sein,  ob  solche 
Begrenzung  der  Einzelerbfolge  sich  überhaupt  empfiehlt.  Aber 
nehmen  wir  dies  einmal  an,  bietet  dann  die  Eintragung  von 


3au)  Wir  lehnen  die  liöferolle  selbst  fiir  die  Gebiete  ab,  wo,  wie  eben 
ausgefiihrt,  das  sonst  zuzulassende  Intestatanerbenrcclit  als  für  die  dortige 
Industriebevölkerung  ungeeignet  nicht  eiugeführt  werden  kann,  und  wo 
nach  dem  Vorschläge  des  Landwirthschaftsraths,  Gierke's  und  auch  des 
Juristeutages  die  Liöferolle  angenommen  werden  soll,  da  sie  niemals  Schaden, 
möglicherweise  aber  Nutzen  stiften  könne.  Wir  halten  sie  auch  dort  für 
gänzlich  überflüssig,  da  sich  doch  uiemand  ihrer  bedienen  würde. 


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327 


Amtswegen  wirklich  Vortheile  gegenüber  dem  einfachen  Intestat- 
anerbenrechte? 

Die  Frage  wird  verneint  werden  müssen.  Wenn  man  das 
Anerbenrecht  nur  auf  gewissen  Landgütern  eintreten  lässt,  so 
kann  die  Feststellung,  ob  ein  Landgut  zu  diesen  gehört,  aller- 
dings erhebliche  Schwierigkeiten  bieten,  und  es  wäre  sehr 
wünschenswerth  wenn  diese  umgangen  werden  könnten.  Allein 
das  geschieht  bei  der  Eintragung  von  Amtswegen  gar  nicht; 
diese  löst  nicht  die  Schwierigkeit,  sondern  verschiebt  sie  nur. 
Sons:  haben  die  Nachlassbehörden  und  ev.  die  ordentlichen 
Gerichte  bei  Eintritt  des  Erbtalles  zu  prüfen,  ob  das  Gut  unter 
die  Einzelerbfolge  fällt:  hier  muss  es  diejenige  Behörde  thun, 
welche  die  Eintragung  von  Amtswegen  zu  veranlassen  hat; 
bestehen  thut  die  Schwierigkeit  also  auch  hier. 

Nun  könnte  man  sagen,  die  Gerichte  sind  nicht  sachver- 
ständig genug.  Das  mag  sein,  obgleich  es  nicht  gerade  für  diese 
Ansicht  spricht,  wenn  das  erwähnte  Anerbenrechtsgesetz  für 
Westfalen  das  letzte  Wort  über  die  Qualität  als  Anerbengut 
doch  den  Gerichten  zuweist.32"*)  Indessen  wenn  man  dies  an- 
nimmt,  so  hindert  nichts,  auch  bei  reiner  Intestaterbfolge  die 
im  Streitfälle  notlnvendige  Entscheidung  über  den  Charakter  des 
Erbgutes  einer  besonderen  Behörde  zu  übertragen.  Diese  Ent- 
scheidung aber  ein  für  allemal  auch  ohne  Streitfall  zu  treffen 
ist  vielfach  überflüssig  und  gefährlich. 

Gefährlich  ist  sie  deshalb,  weil  es  unmöglich  ist,  auf  die 
Dauer  von  vornherein  festzulegen,  ob  ein  Gut  dem  Anerbenrecht 
unterstehen  soll.  Denn  die  Verhältnisse,  nach  denen  dies  zu 
ermessen  ist,  die  Grösse  und  Benutzungsart  des  Gutes,  die  Ab- 
satz- und  Arbeitsverhältnisse  der  Umgegend,  alle  diese  Dinge 
sind  einer  beständigen  Veränderung  unterworfen.  Die  heute 
vollkommen  zutreffende  Entscheidung  kann  deshalb  schon  nach 
rvenigen  Jahren  unrichtig  und  ungerecht  sein.  Das  citirte 
westfälische  Gesetz  hat  dies  auch  selbst  herausgefühlt.  Es 
hat  deshalb  nach  je  10  Jahren  eine  Revision  der  gefassten 


'B0")  Vgl.  § 43  des  Gesetzes  in  der  Fassung,  wie  er  aus  der  letzten 
Berat hung  im  Abgeordnetcnhause  herrorgegangen  ist.  Diese  findet  sich  in 
Drucksachen  des  Abgeordnetenhauses  de  ISilS,  Bd  3 der  Anlagen  S.  2145  ff. 


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328 


Beschlüsse  angeordnet  (§  10  des  Gesetzes).  Allein  auch  das 
reicht  nicht  aus;  denn  der  Erbfall  kann  gerade  eintreten,  wenn 
die  erste  Feststellung  erst  fl  Jahre  alt  ist,  sodass  die  Ver- 
hältnisse zwar  ganz  andere  geworden  sind,  eine  neue  Festsetzmg 
aber  noch  nicht  getroffen  ist.  Das  Gesetz  musste  darum  den 
Miterben  das  Recht  geben,  der  Behandlung  einer  Liegenschaft 
als  Anerbengut  im  Wege  der  Klage  zu  widersprechen  (§  4.'i 
a.  a.  O.)  Damit  ist  aber  der  Bankerott  des  ganzen  Systems 
erklärt,  denn  es  wird  ja  schliesslich  doch  dazu  gedrängt,  die 
Qualität  des  Gutes  endgiltig  erst  beim  Erbfall  festzustellen,  was 
es  gerade  vermeiden  will. 

Man  wird  nunmehr  auch  verstehen,  warum  wir  die  Prüfung 
der  Qualität  des  Gutes  ohne  Erbfall  überflüssig  nannten.  Es 
erscheint  in  der  That  nicht  sehr  zweckmässig,  durch  ein  um- 
ständliches Verfahren  einen  Ausspruch  herbeizuführen  und  dies 
Verfahren  nach  10  Jahren  zu  wiederholen,  wenn  die  ganze 
Mühe  jederzeit  durch  Klage  nutzlos  gemacht  werden  kann. 
Die  Anstrengung  ist  aber  auch  noch  aus  einem  anderen  Grunde 
überflüssig.  Die  Fälle,  in  denen  es  zweifelhaft  sein  kaim,  ob 
ein  Gut  dem  Anerbenrechte  untersteht  oder  nicht,  sind,  wie 
alle  Grenzfälle,  gar  nicht  so  häufig.  In  den  meisten  Fällen  ist 
das  Gut  auch  bisher  schon  seit  Menschengedenkeu  ungetheilt 
vererbt  worden;  denn  das  Anerbenrecht  soll  ja  nur  da  einge- 
führt werden,  wo  es  schon  Brauch  ist.  Die  Miterben  werden 
darum  meist  nicht  den  geringsten  Widerspruch  erheben,  wenn  ihnen 
der  Theilungsrichter  vorschlägt,  das  Gut  nach  dem  Höfegesetze 
zu  bewerthen;  es  wird  sonach  zu  einer  streitigen  Feststellung 
gar  nicht  kommen.  Die  wenigen  Fälle,  in  denen  eine  Ent- 
scheidung nöthig  sein  wird,  kann  man  getrost  den  Gerichten 
überlassen.  Will  man  dafür  besondere  Behörden  eiuluhren,  so 
haben  wir  auch  dagegen  nichts. 

Auf  diese  Weise  wird  den  Bauern  und  den  Beamten  viele 
unnütze  Arbeit  und  Scheererei  erspart.  Man  bedenke,  wie  alle 
Verhältnisse  aufgerührt  werden  müssen,  wenn  bei  jedem  Hofe 
das  für  Westfalen  vorgeschlagene,  umständliche  Ermittelungs- 
verfahren eingeleitet  und  wenn  es  nach  10  Jahren  wiederholt 
wird!  Die  Umständlichkeit  kann  die  Bauern  leicht  stutzig 
machen  uud  ihnen  das  ganze  Gesetz  verleiden.  Und  dabei 
werden  in  den  wirklich  zweifelhaften  Fällen  Prozesse  doch  nicht 


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vermieden  werden.  So  aber  wird  die  Sitte  in  der  grossen 
Mehrzahl  der  Fülle  einfach  wciterfunktioniren.  Ihr  Uebcrgang 
zum  Gesetz  wird  sich  ruhiger,  sicherer  und  schneller  vollziehen. 
Namentlich  auch  schneller.  Denn  bei  dem  anderen  Verfahren 
muss  es  nothwendig  geraume  Zeit  dauern,  ehe  alle  Höfe  einge- 
tragen sind:  inzwischen  aber  werden  sich  viele  Erbfälle  auf  noch 
nicht  eingetragenen  Höfen  ereignen,  die  von  der  Wolilthat  des 
Gesetzes  dann  ausgeschlossen  sind:  bei  der  von  uns  befürworteten 
Gestaltung  jedoch  ergreift  das  Anerbenrecht  sofort  alle  ge- 
eigneten Höfe. 

Diese  schweren  Nachtheile,  welche  die  von  Amtswegen 
zu  bewirkende  Eintragung  der  Anerbengutseigenschaft  mit  sich 
bringt,  können  durch  den  einzigen  Vortheil  nicht  aufgewogen 
werden,  der  ihr  nicht  bestritten  werden  kann,  dass  nämlich  der 
Dauer  bei  dieser  Methode  immer  genau  weiss,  welcher  Erbfolge 
sein  Hof  unterworfen  werden  soll,  und  ob  er  danach  Anlass 
hat,  ändernd  einzugreifen.  Der  Vortheil  ist  zudem  ein 
problemathischer.  Wenn  der  Dauer  sich  überhaupt  die  Zeit 
nimmt,  an  seine  Nachfolge  zu  denken,  den  Inhalt  des  Gesetzes 
zu  erwägen  und  sieh  zu  fragen,  ob  es  für  seine  Verhältnisse 
passt,  so  wäre  es  schon  besser,  wenn  er  diese  Zeit  dazu  ver- 
wendete, überhaupt  eine  vollständige  Erbregelung  zu  entwerfen. 
Ja,  wenn  er  zu  jenen  Erwägungen  das  Pflichtgefühl  hat,  so 
wird  er  dies  sogar  thun;  denn  es  ist  für  ihn  sicherlich  ebenso 
beipiein  und  näher  liegeud.  Das  Ergebniss  unserer  Ausführungen 
wird  souach  nicht  erschüttert:  Das  Anerbenrecht  als  Intestat- 
erbrecht ist  nicht  nur  historisch  das  einzig  berechtigte,  es  ist 
auch  zweckmässiger  als  alle  anderen  Systeme.1-'"') 


Auf  der  Agrarconfercnsi  waren  für  ein  reines  Int  es  tat  erb  recht: 
Nclimollur  (8.  531,  Conrad  (S.  72  . v.  tluene  (S.  10S\  Wagner  (S.  122), 
Glatze)  8.  203,  Küster  (8.  213),  Zedlitz  (8  220  227),  (iierke  (S.  230).  — 
Kür  die  Hüferollc  mit  Eintragung  von  Aintswegen  sprachen  sieh  aus : 
Winkeiin. mu  (S.  142  . v.  Stnseh  (S.  l .'»«»>,  llüppner  ,8. 171  , Hermes  (S.  217), 
Pansche  (8.  222  u.  22+  . Meitzen  8.  240.  — Eine  Mittelstellung  nahm 
Sering  ,8.  !•)  ein.  Kr  forderte  im  Allgemeinen  ein  Intestaterbrecht,  nur  für 
<lie  Provinzen,  in  denen  Anerbenreeht  und  Tlieilung  gegendweise  durchein- 
andergellt, selilug  er  Matriltiilirung  der  ilofgüter  vor.  Durch  die  Aus- 
führungen, die  wir  alsbald  über  die  llegrcnzung  des  Auerbenrechts  machen 


330 


§ 43. 

Von  den  allgemeinen  Fragen  des  Anerbenreclits  ist  endlich 
noch  die  zu  erledigen,  auf  welche  Güter  das  Anerbenrecht 
Anwendung  linden  soll.  Diese  Frage,  praktisch  eine  der 
wichtigsten,  ist  oben  im  § 18  des  dogmatischen  Theiles  schon 
gestreift  worden. 

Die  Antwort,  welche  als  ziemlich  schwierig  gilt,  ist  für 
uns,  die  wir  nur  die  Sitte  des  Anerbenrechts  codifiziren  wollen, 
bald  gefunden.  Das  Anerbenrecht  hat  auf  denjenigen 
Gütern  zu  gelten,  die  bisher  der  Sitte  gemäss  unge- 
theilt  vererbt  oder  übergeben  worden  sind.  Diese 
Regelung  hat  auch  praktisch  nicht  die  geringsten  Bedenken,  da 
cs  bei  keinem  Gute  zweifelhaft  sein  wird,  welche  Erbsitte  bisher 
auf  ihm  geherrscht  hat.  Will  man  allerdings  weiter  gehen, 
und  das  Anerbenrecht  auf  allen  Gütern  einführen,  für  die  es 
wirtschaftlich  zweckmässig  wäre,  auch  wenn  es  dort  nicht 
hergebracht  ist,  so  muss  man  sich  darüber  einigen,  wie  weit 
jene  Zweckmässigkeit  reicht. 

Was  nun  zunächst  eine  etwaige  Begrenzung  nach  oben 
anbetrifft,  so  dürfte  sie  nicht  notwendig  sein.  Nicht  nur  auf 
der  Agrarconferenz®1")  wurde  allseitig  und  zwar  zumeist  von 
den  Grosslandwirthen  selbst  betont,  dass  im  Punkte  des  Erb- 
rechts die  Interessen  des  Gross-  und  Kleinbesitzes  genau 
parallel  laufen.  Auch  unsere  obigen  Ausführungen  ergeben  das- 
selbe. Die  Naturaltheilung  wirkt  ebenso  zersplitternd  beim 
grossen  wie  beim  kleinen  Besitz.  Es  dauert  beim  Grossbesitz 
natürlich  entsprechend  länger,  ehe  er  zum  Zwergbesitz  wird. 
Indessen  bei  ihm  ist  die  unwirtschaftliche  Grenze  der  Zer- 
splitterung ja  nicht  erst  beim  Zwergbesitz  erreicht.  Denn  bei 


werden,  wird  auch  dieser  Vorschlag  sich  als  überflüssig  erledigen.  Im 
I'ebrigen  sind  die  gekennzeichneten  Gefahren  der  Immatrikulirung  überhaupt 
auch  hei  ihm  vorhanden.  Wir  halten  es  deshalb  für  praktischer,  in  diesem 
Fall  die  Gegenden  des  Höferechts  im  Gesetz  örtlich  zu  bezeichnen. 

**“°)  Vgl.  Agrarconferenz  8.  181.  212,  227,  238,  24t).  Uebcr  die  sonstige 
L'ebereiiistimmuug  der  beiderseitigen  Interessen  vgl.  auch  ebenda  S.  106,  139, 
190,  196,  239. 


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331 


sehr  vielen  unserer  grösseren  Güter  würde  schon  bei  der  ersten 
Realtheilung  das  halbe  Gut  den  Sühnen  nicht  die  gleiche 
geistige,  materielle  und  gesellschaftliche  Lebenshaltung  gewähr- 
leisten wie  dem  Vater.  Wer  den  Grossbesitz  für  überflüssig 
hält,  mag  dem  gleichgiltig  und  ruhig  zuschauen,  wer  aber,  wie  wir, 
glaubt,  dass  für  den  Staat  und  für  die  Volkswirthschaft  das 
Vorhandensein  von  Elementen  wichtig  ist,  die  durch  Bildung 
und  Besitz  hervorragen,  der  wird  diesen  Erfolg  schon  fiir  un- 
zweckmässig und  unwirthschaftlich  halten.  Sonach  ist  auch  für 
den  Grossbesitz  die  Realtheilung  ungeeignet.  Bei  der  Civil- 
theilung  vollends  stehen  Gross-  und  Kleinbesitz  ganz  gleicli- 
mässig;  ja  wir  konnten  oben  constatiren,  dass  bei  den  grösseren 
Gütern  die  Gefahren  der  Bewerthung  nach  dem  Verkehrswerthe 
sich  nur  noch  deutlicher  bemerkbar  gemacht  haben.  *a'd) 

Wenn  wir  uns  nun  der  Prüfung  zuwenden,  ob  eine  Be- 
grenzung nach  unten  angezeigt  ist,  so  wird  hierbei  die  alleinige 
Verwerthung  der  Grösse  bezw.  Kleinheit  unzweckmässig  sein. 
Denn  an  sich  ist  auch  für  Zwerggüter  das  Anerbenrecht  das 
Angemessene.  Wenn  nämlich  der  Vater  auf  solchem  Zwerg- 
gute kaum  bestehen  kann,  so  wird  dessen  Sohn  es  nicht  etwa 
darum  besser  halten  können,  wenn  es  im  Wege  der  Realtheilung 
noch  verkleinert  oder  durch  Civiltheilung  mit  Schulden  belastet 
wird,  die  sich  aus  dem  Ertrage  nicht  decken  lassen.  Dagegen 
wird  sehr  wohl  entscheidend  sein  dürfen,  der  Zweck,  den  das 
Gut  erfüllt  und  folgeweise  auch  die  Gegend  in  der  es  liegt. 
Wenn  nämlich  das  Gut  nur  einen  Nebenverdienst  abwerfen  soll 
und  wenn  darum  das  Hauptgewicht  der  Einnahmen  auf  der 
Lohnarbeit  im  Felde  oder  in  der  Industrie  liegt,  so  kann  das 
Gut  real  getheilt  werden.  Denn  jedes  Kind  kann  dann  auch 
ohne  das  Gut  von  seinem  Arbeitsverdienst  leben,  und  das 
Stückchen  Land,  das  es  erhält,  ist  für  ihn  eigentlich  nur  w erth- 
voll als  Heimstätte  und  als  Gelegenheit  auch  in  müssigen  Stunden 
sich  nutzbringend  zu  beschäftigen.  Solche  Güter  können  sogar 
Civiltheilung  vertragen;  denn  obwohl  es  nicht  gerecht  ist, 


3aM)  Eine  Begrenzung  nach  oben  lehnen  auch  ab  Gierke  nnd  v.  Miquel 
(Agrarconferenz  S.  231,  254;.  Dafür  sprach  sich  ans  Meitzen  (Agrar- 
confereuz  S.  241).  Vgl.  auch  die  Citate  aus  der  vorigen  Anmerkung. 


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352 


wenn  der  Besitzer  die  zu  hohe  Bewerthung  dann  aus  seinem 
Arbeitsverdienst  decken  muss,  so  ist  das  doch  hier  nicht  gerade 
ökonomisch  verderblich.  Es  ist  nach  alledem  durchaus  zu  billigen, 
wenn  das  Abgeordnetenhaus  in  dem  ofterwähnten  An- 

erbengesetze für  Westfalen  bei  der  unteren  Begrenzung  des 
Anwendungsgebietes  den  im  Entwürfe  enthaltenen  formalen 
Massstab  der  Grösse  aufgegeben  hat,  und  anstatt  dessen  den 
Zweck  des  Gutes  entscheiden  lassen  will.  Anerbengut  soll 
nämlich  sein,  jede  mit  einem  Wohnhause  versehene  Xahrungs- 
stelle,  die  „ihrem  Hauptzwecke  nach“  zum  Betriebe  der 
Land-  und  Forstwirtschaft  bestimmt  ist.  (§  2 a.  a.  O.)1-“') 
Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  die  Feststellung,  ob  dies  der 
Fall  ist,  im  einzelnen  Falle  nicht  gerade  leicht  sein  kann.  Allein 
das  ist  nicht  zu  vermeiden,  ebenso  wenig  wie  es  sich  oben  ver- 
meiden Hess,  dass  die  Begriffsbestimmung  des  Bauerngutes  eine 
schwankende  blieb.  Ebenso  nämlich  wie  die  Grenze  zwischen 
Bauerngut  und  Kleingut  eine  fliessende  ist,  so  ist  die  hier  mass- 
gebende Scheidung  zwischen  dem  rein  ackerbauenden,  dem 
Anerbenrechte  zu  unterstellenden  Besitze  und  der  Arbeitei- 
ansiedelung  keine  feste.  Immerhin  mag  die  Unsicherheit  der 
Definition  ein  Grund  mehr  dafür  sein,  nicht  den  Boden  der  Sitte 
und  des  Gewohnheitsrechts  zu  verlassen,  und  das  Anerbenreclit 
nur  auf  den  Gütern  einzuführen,  auf  denen  ungetkeilte  Vererbung 
bisher  geübt  ist.  Will  inan  sich  aber  durch  Zweckmässigkeit.-- 
erwägungen  leiten  lassen,  so  cotnbinire  man  sie  wenigstens  mit 
der  Festigung  der  Sitte  und  bestimme:  „Anerbenrecht  gilt 

1)  auf  den  Gütern  die  bisher  ungetheilt  vererbt  oder  übergeben 
worden  sind.  (Als  ungetheilte  Vererbung  gilt  es  auch,  wenn 
die  Miterben  das  früher  ungetheilt  vererbte  Gut  bei  der  Erb- 
theilung  wieder  einem  überlassen  haben).  2)  „auf  denjenigen 
Gütern,  aus  deren  Bewirtschaftung  der  Besitzer  den  wesent- 


3S°1')  Es  muss  Übrigens  zugegeben  werden,  dass  die  Fassung  des  Oe- 
dankeus  niebt  besonders  glücklich  ist.  Besser  hätte  es  geheissen  .Jeder 
landwirthschaftlich  benutzte  Liegenschaft  scomplex,  der  den  Zweck  hat.  d- i 
Besitzer  den  hauptsächlichsten  Theil  seines  Einkommens  zu  liefern.-  Immer 
hin  sagt  der  gewählte  Ansdruck.  dass  die  I.andwirthschaft  den  „Haupt- 
zweck“ der  „Xalirnngsutelle“,  also  den  Hanpttheil  der  Nahrung  selbst  bilj-: 
müsse,  dasselbe. 


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333 


liehen  Theil  seines  Unterhalts  zieht.“  Dann  wird  die  etwas 
unsichere  Regel  der  Nr.  2 nur  selten  in  Anwendung  gebracht 
werden  müssen;  denn  die  ungeheure  Mehrzahl  der  Fälle  wird 
unter  Nr.  1 treffen.1-’"') 


§ 44. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  der  Ausgestaltung  des  Anerben- 
rechts im  Einzelnen. 

Die  Prinzipien,  die  uns  dabei  leiten  werden,  hatten  wir 
schon  Gelegenheit  darzulegen.  Der  jetzt  so  sehr  betonten, 
wirtschaftlichen  Zweckmässigkeit  können  wir  ein  entscheidendes 
Gewicht  nicht  beilegen.  Ihre  häufige  Berücksichtigung  führt 
leicht  dazu,  den  festen  Boden  des  geschichtlich  Gewordenen  zu 
verlassen  und  Experimente  zu  wagen,  die  von  der  Rechtsüber- 
zeugung des  Volkes  nicht  getragen  werden.  Ausserdem  gehen 
die  Ansichten  über  das  wirtschaftlich  Zweckmässige  sehr  aus- 
einander. Wie  dagegen  historisch  das  Recht  sich  gestaltet  hat, 
kann  weniger  zweifelhaft  sein.  Uebrigens  ergiebt  die  wirt- 
schaftliche Forschung  mehr  und  mehr,  dass  das,  was  die 
historische  Entwickelung  geschaffen  hat,  auch  ökonomisch  das 
Dienlichste  ist.  Auch  in  der  Frage  nach  dem  „Wie“  des  An- 
erbenrechts räumen  wir  deshalb  der  Geschichte  und  der  Rechts- 
überzeugung die  ausschlaggebende  Stellung  ein.  Wovon  die 
Geschichte  lehrt,  dass  es  auf  alten  Grundlagen  entstanden  noch 
heute  vom  Volke'  gewollt  und  geübt  wird,  das  muss  Recht 
werden  oder  bleiben.  Und  in  diesem  Sinne  sind  unsere  Aus- 
führungen im  ersten  und  zweiten  Theile  auch  für  die  Zukunft 
und  de  lege  ferenda  von  Bedeutung.  Denn  dort  ist  auseinander 
gelegt,  welches  das  Ergebniss  der  allmählichen  Rechtsbildung  ist. 


Was  die  Begrenzung  naeli  unten  anbetrifft,  so  waltete  auf  der 
Agrareonferenz  die  Ansicht  vor,  dass  die  Stellen,  welche  zum  Unterhalt 
einer  Familie  nicht  ausreichten,  nicht  unter  das  Besetz  fallen  sollten.  (Vgl. 
Agrareonferenz  S.  231  (Gierke),  S.  221  (Paaschei.  — Da  offenbar  gemeint 
ist.  dass  es  sich  nur  utn  die  .Stellen  handelt,  welche  zum  Unterhalt  gar  nicht 
ausreichen  sollun,  und  nicht  etwa  um  Diejenigen,  welche  nur  thatsfichlich 
nicht  ausreichen,  so  läuft  die  Ansicht  auf  die  unsrigo  hinaus.  — liegen 
jede  Begrenzung  sprach  sich  aus  politischen  Gründen  aus  Grünberg  (Sehr, 
d.  V.  f.  S.  Bd.  61  S.  277). 


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334 


Was  danach  als  noch  geltendes  Recht  erfunden  ist,  hat  auch 
allein  Lebenskraft  für  die  Zukunft.321) 

Tritt  man  mit  diesen  Grundsätzen  an  die  erste  Schwierigkeit 
heran,  welche  das  „Wie“  des  Anerbenrechts  bietet,  an  die  Frage, 
ob  man  es  als  einfachen  Erbtheilungsanspruch  oder  mit  ding- 
licher Berechtigung  des  Anerben,  ja  mit  Behandlung  desselben 
als  Alleinerben  construiren  soll,  so  wird  mau  sich  unbedenklich 
für  das  letztere  entscheiden.  Der  Erbtheilungsanspruch  ist,  wie 
wir  sahen,  ein  ganz  neues  Gebilde,  zusammen  mit  der  Höferolle 
erkünstelt.  Wo  er  früher  angewendet  wurde,  beruhte  er  auf 
einer  falschen  juristischen  Construktion  des  bestehenden  Rechtes 
durch  die  gelehrten  Gerichte.  Die  breiten  Massen  der  Bauern 
haben  ihn  nie  verstanden;  für  sie  galt  stets  das  jetzt  wieder 
zu  Ehren  gebrachte  Weresystem,  wo  der  Anerbe  Alleinerbe 
im  ganzen  Vermögen  ist  und  seine  Geschwister  nicht  Erbtheile 
sondern  Abfindungen  als  Ersatz  dafür  erhalten. 

Es  ist  dies  System  aber  auch  das  praktischste. 

Wenn  das  Anerbenrecht  als  einfacher  Erbtheilungsanspruch 
gestaltet  wird,  wie  es  der  erste  Entwurf  des  neuen  bürgerlichen 
Gesetzbuches  wollte,  so  liegt  es  in  der  Hand  jedes  Miterben, 
seinen  Eintritt  zu  vereiteln.  Er  braucht  es  einfach  nicht  zur 
Erbtheilung  kommen  zu  lassen ; dann  kann  der  an  diese  geknüpfte 
Anspruch  auch  nicht  wirksam  werden.  Die  Vereitelung  der 
Erbtheilung  kann  aber  durch  einen  einfachen  Antrag  auf  Zwangs- 
versteigerung des  Nachlassgrundstückes,  — wreil  der  Nachlass 
für  die  Schulden  nicht  zureiche,  — herbeigeführt  werden.322) 

Auf  diese  Gefahr  wurde  schon  bei  der  Berathung  der 
preussischen  Höfegesetze,  die  ja  den  Erbtheilungsanspruch  haben, 
in  der  Abgeordnetenkommission  hingewiesen  und  die  Gefahr  vom 
Regierungskommissar  zugestanden.  Dieser  meinte  aber,  der 


sa)  Deshalb  können  wir  uns  auch  gestatten,  im  Folgenden  nur  die 
allerwichtigsten  Einzelheiten  des  künftigen  Anerbengesetzes  herauszugreifen. 
Die  übrigen  Einzelfragen  können  ruhig  auch  fernerhin  in  der  Weise  ge- 
regelt werden,  wie  sie  es  jetzt  sind,  und  wie  dies  im  zweiten  Theile  dar- 
gelegt ist.  Wo  die  jetzige  Gestaltung  dem  heutigen  Rechtsgefühle  nicht 
mehr  entspricht  oder  sonst  unpraktisch  ist,  ist  dies  im  zweiten  Theile  auch 
schon  kurz  vermerkt  worden. 

:töJ  Dornburg,  Tr.  Privatrecht  üd.  III  S.  724  Text  und  Aum.  31. 


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335 


Anerbe  könne  mit  Klage  oder  einstweiliger  Verfügung  sich 
gegen  Miterben  schützen,  welche  den  Versteigerungsantrag  dolos, 
d.  h.  ohne  dass  Ueberschuldung  vorliege,  stellten.  Dernburg 
hat  jedoch  völlig  Recht,  wenn  er  an  dieser  Art,  die  Gefahr  zu 
beseitigen,  starke  Zweifel  hegt.  Denn  nach  allen  Rechts- 
systemen gilt  der  Satz:  „qui  iure  suo  utitur,  neminem  laedit“, 
„wer  von  einer  ihm  zustehenden  Befugniss  Gebrauch  macht, 
hat  zunächst  immer  Recht“.  Es  muss  ihm  der  strikteste  Nach- 
weis erbracht  werden,  dass  er  Chikane  übt.  Wie  soll  das  aber 
geschehen?  Es  muss  doch  nachgewiesen  werden,  dass  der 
Nachlass  doch  für  die  Schulden  zureicht,  dass  das  Grundstück 
mehr  werth  ist,  als  der  Antragsteller  behauptet.  Dieser  Nach- 
weis kann  aber  zwingend  eigentlich  nur  durch  den  Akt  geführt 
werden,  der  gerade  vermieden  werden  soll,  d.  h.  durch  den 
Verkauf  des  Grundstücks.  Damit  erst  steht  fest,  wieviel  es 
einbringt.  Eine  einfache  höhere  Schätzung  durch  den  Anerben 
kann  doch  nicht  mehr  Glauben  beanspruchen  als  die  niederere  des 
die  Subhastation  begehrenden  Miterben.  Abgesehen  aber  davon 
wird  von  vielen  Rechtslehrern  der  Nachweis  der  Chikane  über- 
haupt nicht  zugelassen.  Und  so  wird  denn  jedenfalls  das  An- 
erbenrecht bei  einer  Behandlung  als  Theilungsanspruch  immer 
nur  auf  sehr  schwachen  Füssen  stehen. 

Dieser  Nachtheil  wird  vermieden,  wenn  man  dem  Anerben 
sofort  das  Eigenthum  an  dem  Hofe  zufallen  lässt,  seinen  An- 
spruch also  als  sogenanntes  gesetzliches  Vindicationslegat  con- 
struirt  (Vgl.  oben  § lö),  wie  es  das  Gesetz  für  Westfalen 
tliun  will  (§  13  und  17  a.  a.  O).  Aber  ein  anderer  Nachtheil 
ist  auch  dieser  Regelung  mit  der  vorerwähnten  Behandlung 
gemeinsam.  Er  betrifft  die  Schulden.  Da  bei  beiden  Methoden 
die  Miterben  nämlich  Universalsuccessoren  werden,  so  haften  sie 
auch  für  die  Schulden  nach  Verhältniss  ihrer  Erbtheile.  Ist 
man  demnach  zum  Beispiel  zu  x/a  Miterbe,  so  muss  man  1/3  der 
Schulden  bezahlen,  obwohl  man  infolge  der  eigenthümlichen 
Schätzungsgrundsätze  an  Activen  keineswegs  ’/8  empfängt.323) 
Das  westfälische  Gesetz  sucht  im  Anschluss  an  einen  Vorschlag 
im  ersten  Einführungsgesetz  zum  bürgerlichen  Gesetzbuch  einen 


***)  Vgl.  Motive  zu  Art.  80  des  ersten  EiuführungsgeseUes. 


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336 


Ausweg  darin,  dass  es  den  Anerben  verpflichtet,  die  Miterben 
soweit  zu  entlasten,  als  sie  noch  über  den  Belauf  ihres  Em- 
pfangenen hinaus  Schulden  zu  tragen  hätten,  (§  2G  a.  a.  O., 
letzter  Absatz).  Allein  eine  wie  schwächliche  Aushilfe  das  ist, 
ergeben  die  Ausführungen  der  Motive  zu  dem  vorbildlichen  ersten 
Einführungsgesetz.  Sic  heben  ganz  richtig  hervor,  dass  jene 
Verpflichtung  des  Anerben  die  Gläubiger  gar  nichts  angeht ; 
diese  können  sich  nach  wie  vor  zu  dem  höheren  Betrage  an 
die  Miterben  halten.  Und  wenn  dann  der  Anerbe  seiner  Ent- 
lastungs-  und  Entschädigungsverpflichtung  nicht  nachkommt  oder 
nicht  nachkommen  kann,  so  bleibt  den  Miterben  der  Nachtheil, 
dass  sie  mehr  gezahlt  als  genossen  haben. 

Der  westfalische  Entwurf  sucht  allerdings  auch  hiergegen 
zu  helfen,  indem  er  dem  Anerben  bis  zur  Erbtheilung  ein  Ver- 
äusserungs-  und  Belastungsverbot  auferlegt.  Aber  besser  als 
diese  verwickelten  Umwege  ist  es  doch  wohl  auf  jeden  Fall, 
das  Anerbenrecht  uach  dem  altbewährten  Weresystem  einzu- 
führen. Dann  ist  der  Anerbe- Alleinerbe  und  trägt  allein  alle 
Schulden:  auch  kann  kein  Miterbe  durch  Versteigerungsantrag 
das  Anerbenrecht  hintertreiben.  Sollte  man  meinen,  dass  dabei 
die  Gläubiger  zu  kurz  kämen,  so  mag  man  dem  Beispiele  des 
Lippc'schen  Anerbeurechts  folgen  und  die  Miterben  iu  subsidium 
pro  portione  hereditaria  znr  Schuldentilgung  heranziehen.  Solche 
subsidiäre  Haftung  wäre  mit  dem  Prinzipe  des  Alleinerbe- 
Seins  des  Anerben  durchaus  vereinbar  und  würde  sich  aus  dem 
Gesichtspunkte  der  Bereicherung  rechtfertigen.  Bei  dieser 
Grundlage  könnte  sie  sich  natürlich  nur  bis  zum  Belaufe  des 
Empfangenen  erstrecken,  wie  es  auch  das  vorbildliche  Lippesche 
Anerbengesetz  vorschreibt. 


§ F>. 

Nach  diesen  Erörterungen  über  die  rechtliche  Natur  des 
Anerbenanspruchs  muss  zunächst  erforscht  werden,  wem  jener 
Anspruch  zustehen,  d.  h.  wer  Anerbe  und  wer  Abfindling  sein  soll. 

Der  Anerbe  wird,  wie  wir  sahen,  aus  einem  bestimmten 
Kreise  von  Erbberechtigten  entnommen,  der  jetzt  mit  dem  ge- 
wöhnlichen Erbenkreise  im  wesentlichen  identisch  ist.  Man  hat 
dies  nun  ändern  und  das  Auerbenrecht  auf  die  Kinder  bezw. 


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337 


Descendeuten  dos  Erblassers  beschränken  wollen,'124)  so  dass  bei 
Ascendenten-  und  Collateralenerbfolge  das  gewöhnliche  Erbrecht 
Anwendung  zu  finden  hätte. 

Es  ist  kein  rechter  Grund  hierfür  einzusehen.  Auf  die  Ge- 
schichte wenigstens  kann  man  sich  nicht  berufen.  Bei  freien 
Gütern  hat  die  Einzelerbfolge  schon  in  sehr  früher  Zeit  auch 
zwischen  Ascendenten  und  Collateralcu  stattgehabt.  Bei  ge- 
liehenem Besitz  ist  sie  allerdings  erst  später  entstanden.  Aber 
es  ist  dann  an  ihrer  Stelle  zwischen  den  entfernteren  Ver- 
wandten nicht  etwa  gleich  getheilt  worden-,  es  fand  vielmehr 
wegen  des  Heinifalls  an  den  Gutsherrn  gar  keine  Erbfolge  statt. 
Sobald  eine  solche  überhaupt  zulässig  wurde,  hat  auch  sie  sich 
der  für  Descendenteu  längst  bestehenden  Form  des  Anerben- 
rechts gefügt.  Will  man  deshalb  dort  das  Anerbenrecht  nicht 
anwenden,  so  darf  man  jedenfalls  nicht  das  gemeine  Erbrecht 
an  seine  Stelle  setzen.  Aber  auch  die  blosse  Nichtanwendung 
des  Anerbenrechts  wäre  haltlos.  Denn  heute  wird  die  anerb- 
rechtliche Theilung  auch  zwischen  Ascendenten  und  Collatcralen 
angewendet  und  zwar  bei  allen  Bauerngütern,  ohne  Rücksicht 
auf  deu  längst  verwischten  Unterschied  zwischen  freiem  uud 
geliehenem  Besitz. 

Auch  Zweckmässigkeitser wägnngeu  lassen  sich  für  die 
engere  Begrenzung  des  bäuerlichen  Erbenkreises  nicht  an- 
führen. Im  Gegenthcil;  das  geltende  Erbrecht  äussert  seine 
schädlichen  Wirkungen  bei  jedem  Erbfall,  gleichviel  ob  er 
Kinder  oder  noch  so  entfernte  Verwandte  betrifft.  Das 
gemeine  Erbrecht  ist  als  städtisches  Recht  eben  schlechthin 
ungeeignet  für  den  gesummten  Bauernstand;  es  darf  deshalb 
kein  Bauer  unter  seine  Erbtheilungsregeln  gezwungcu  werden. 
Denn  deren  unheilvolle  Folgen  werden  für  ihn  dadurch  nicht 
geändert,  ob  er  durch  nähere  oder  fernere  Blutsbande  mit  dem 
Erblasser  verknüpft  war.*25) 

Ist  sonach  der  Kreis  der  Anerben  uud  Abfindlinge  nicht 
auf  die  Descendenteu  des  Erblassers  zu  beschränken,  so  fragt 


**•)  Diese  Beschränkung  ist  z.  B.  bei  den  neueren  ilöfegesetzen  vielfach 
beliebt  worden. 

Gleichwohl  erwähnt  auch  der  westfälische  Entwurf  nur  Descendenten. 


T.  D ul  tilg,  Gr  unterbrecht. 


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338 


es  sich,  ob  seine  bauerrechtlichen  Abweichungen  vom  gemeinen 
Erbenkreise,  mit  dem  er  sonst  identisch  ist,  aufrecht  erhalten 
werden  sollen.  Es  wird  sich  dies  empfehlen.  Denn  selten  ist 
das  Erdachte  besser  als  das  allmählich  Gewordene.  Dies  zeigt 
sich  schon  bei  der  ersten  bäuerlichen  Besonderheit  der  Erbfolge, 
bei  der  Bevorzugung  der  Geschwister  vor  den  Eltern.  Sie  ent- 
spricht nicht  nur  dem  auf  der  Geschichte  ruhenden  Rechts- 
bewusstsein des  Volkes,  sondern  auch  der  Zweckmässigkeit. 
Denn  wenn  die  Eltern  den  Hof  nehmen  dürften,  so  würde  er 
meist  in  alte  und  schwache  Hände  gerathen,  die  ihn  entweder 
gar  nicht  oder  nur  schlecht  bewirtschaften  könnten:  bei  dem 
Fall  an  Geschwister  dagegen  kommt  er  an  Leute,  die  mindestens 
ebenso  leistungsfähig  sind  wie  der,  welchem  der  Tod  die  Zügel 
aus  den  Händen  genommen  hat. 

Die  Schwierigkeiten,  welche  die  Behandlung  der  Interims- 
wirths-  und  Altsitzerkinder  uns  oben  bereitete,  werden  sich  für 
die  Zukunft  dadurch  zum  Theil  heben,  dass  das  Institut  der 
rein  vormundschaftlichen  Interimswirthschaft  wohl  zur  Aufhebung 
reif  ist.  Dagegen  wird  man  die  gütergemeinschaftlichc  Interims- 
wirthschaft, das  Institut  der  Mahljahre  nicht  beseitigen  können; 
denn  diese  ist  ein  Ausfluss  des  ehelichen  Güterrechts;  ihr  Ver- 
schwinden würde  deshalb  eine  Aenderung  desselben  bedeuten, 
und  erfahrungsgemäss  sträuben  sich  gegen  solche  Aendernngen 
die  Bauern  am  meisten.328)  Man  könnte  die  Aenderung  indess 
vielleicht  so  bewirken,  dass  man  dem  auffahrenden  Ehemanne 
gestattet,  das  Gut  definitiv,  nicht  nur  auf  Zeit,  zu  behalten 
gegen  Abfindung  der  Kinder.  Es  ist  dies  schon  in  einigen 
Gegenden  Rechtens.  Das  neue  Gesetz  für  Westfalen  (§  20)  hat 
in  anerkennenswerther  Weise  diesen  Schritt  vollzogen.  Will 
man  dies  aber  nicht,  so  wird  man  die  heutige  Stellung  der 
mahljährigen  Kinder,  wie  wir  sie  oben  geschildert  haben, 
einfach  beibehalten  müssen. 

Dagegen  wird  man  mit  der  Benaehtheiligung  der  Leib- 
züchterkinder unbedenklich  reine  Bahn  machen  können.  Sie  ist 
auch  in  bäuerlichen  Verhältnissen  nur  noch  ein  historisches 
Ueberbleibsel,  das  von  dem  Wechsel  der  Rechtsanschauungen 
überholt  ist. 


Vgl.  unten  § 50. 


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339 


§ 46. 

Das  ist  also  der  Kreis,  aus  dem  der  Anerbe  hervorgehen 
muss.  Die  Grundsätze  aber,  nach  denen  diese  Auswahl  in 
Zukunft  erfolgen  soll,  sind  überaus  streitig.  Soll  der  Aelteste, 
soll  der  Jüngste  Anerbe  werden,  soll  blosses  Majorat  oder  strenge 
Primogenitur,  Minorat  oder  Ultimogenitur  gelten. 

Im  allgemeinen  ist  heute  nur  noch  der  Kampf  zwischen 
Minorat  und  Majorat  auszufechten.  Für  jedes  sprechen  starke 
Gründe.®*)  Für  das  Minorat  hat  man  angeführt  (Soergel  1.  c.), 
dass  die  älteren  Kinder  leichter  den  Hof  entbehren  könnten, 
weil  sie  sich  eher  und  schneller  eine  Lebensstellung  ausserhalb 
verschaffen  könnten  wie  die  jüngeren.  Ebenso  erfolgten  beim 
Minorat  die  Gutsübergaben  in  grösseren  Pausen  als  beim 
Majorat;  die  Ucbergangsschulden  könnten  deshalb  inzwischen 
besser  getilgt  werden.  Für  das  Majorat  spricht  umgekehrt  die 
sehr  wichtige  Erwägung,  dass  bei  ihm  der  Anerbe  von  vorn- 
herein bestimmt  ist  und  dass  er  deshalb  sich  auf  seinen  künftigen 
Beruf  vorbereiten  kann,327*)  wie  auch  die  anderen  Familien- 
mitglieder wissen,  dass  sie  ausserhalb  ihren  Erwerb  suchen 


sn)  Vgl.  die  widersprechenden  Darlegungen  von  Frommbold,  Anerben- 
recht S.  41  und  42,  der  dem  Majorate,  und  von  Soergel  S.  29  ff.,  der  dem 
Minorate  günstig  ist.  Gierke,  Erbrecht  in  Grundbesitz,  Abschnitt  V ent- 
scheidet sich  für  Majorat. 

*''•)  Wie  oben  erwähnt,  leiten  allerdings  andere  gerade  aus  dem  Um- 
stande, dass  der  Anerbe  von  vornherein  fest  bestimmt  ist,  die  Befürchtung 
ab,  dass  er  sich  zu  sicher  fühlen  und  nichts  lernen  würde.  Wir  haben  aber 
schon  dargethan,  dass  diese  Befürchtung  selten  zutrifft.  Vgl.  auch  Thiel 
auf  der  Agrarconferenz  S.  245/246:  „Ich  habo  mir  angelegen  sein  lassen, 
in  Gegenden,  wo  bäuerliches  Anerbenrecht  herrscht  ...  bei  den  landwirt- 
schaftlichen Schulen  . . . mir  die  Anerben  bezeichnen  zu  lassen  und  die 
Direktoren  der  Schulen  zu  fragen,  ob  sich  irgendwie  schädliche  Folgen  be- 
merkbar gemacht  haben,  dass  die  Betreffenden  sich  bewusst  seien,  Anerben 
zu  sein,  und  ob  das  an  ihrem  Fleiss  und  an  ihrem  Betragen  zu  konstatiren 
wäre.  Es  ist  mir  wiederholt  versichert  worden  von  den  Direktoren,  dass 
das  nicht  der  Fall  ist,  dass  im  Gegenteil  vielfach  die  Anerben  sich  als 
besonders  fleissig  und  tüchtig  auszcichnen,  weil  sie  schon  das  Gefühl  hätten, 
dass  sie  später  eino  gehobene  und  verantwortliche  Stellung  im  Leben  ein- 
nehmen würden. 

22* 


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340 


müssen,  und  sich  demgemäss  einrichten  weiden.  Beim  Minorat 
ist  die  Person  des  Anerberben  dagegen  nie  gewiss;  jede  Nach- 
geburt bringt  möglicherweise  einen  anderen  Anerbeu.  Es  ist 
deshalb  kein  fester  Grund  vorhanden,  auf  dem  die  Kinder  und 
ihre  Eltern  die  Pläne  für  die  Zukunft  bauen  können.  Zudem 
kann  doch  nicht  in  Abrede  gestellt  werden,  dass  das  Majorat 
bei  weitem  das  verbreitetere  ist,  wie  denn  überhaupt  die  moderne 
Rechtseutwicklung  und  Rechtsüberzeugung  immer  mehr  auf  das 
Majorat  zutreibt.  Die  Gründe  hierfür  haben  wir  schon  oben 

(§  22)  angeführt.  Als  Beweis  für  die  Stärke  jener  Strömung 
sei  hier  noch  nachgetragen,  dass  selbst  in  den  Gegenden,  wo 
das  Majorat  nicht  gesetzlich  ist,  sondern  wo,  wie  z.  B.  im 
Casselschen,  der  Anerbe  durch  einen  Familienrath  gewählt 
wird,  gewohnheitsmässig  doch  stets  der  Aelteste  erlesen  wird.**) 

Der  Rechtsüberzeugung  muss  aber  hier  die  unbedingt  ent- 
scheidende Stellung  gegenüber  den  Zweckmässigkeitserwägungen 
eingeräumt  werden.  Denn  gerade  hinsichtlich  der  Persou  des 
Anerben  ist  sie  am  empfindlichsten.  Hier  würde  man  am  ersten 
eine  Aenderung  als  Vergewaltigung  empfinden.  „Gott  macht 
den  Erben“,  so  heisst  es  noch  heute  im  Bauernstände.  Wenn 
nun  diese  uralte,  gottgewollte  Erbfolge,  die  man  seit  undenk- 
lichen Zeiten  als  etwas  Naturgemässes,  Selbstverständliches, 
als  ein  nothwendiges  Stück  in  der  Ordnung  der  menschlichen 
Dinge  betrachtet  hat,  in  ihrem  sichtbarsten  Punkte  geändert 
wird,  darin,  wen  sie  zum  Erben  macht,  so  wird  das  Volk  an 
seinem  Rechte  irre  und  die  Rechtsüberzeugung  wendet  sich  von 
der  neuen  Erbfolge  ab,  die  sie  nicht  mehr  versteht;  dieser  wird 
damit  ihre  einzige  feste  und  dauernde  Grundlagen  entzogen. 

An  sich  geben  wir  deshalb  dem  Majorate  deu  Vorzug.  Da 
wir  aber  anerkennen,  dass  auch  für  das  Minorat  die  praktischen 
Erwägungen  sehr  laut  reden,  und  da  wir  auch  die  Anschauungen 
derjenigen  Gegenden,  wo  es  bislang  gegolten  hat,  schonen 
möchten,  so  empfiehlt  es  sich  einen  Mittelweg  einzuschlagen, 
auf  dem  sowohl  das  Minorat  wie  das  Majorat  erhalten  wird. 


3'£l)  Enneccertis  § 7.  — Auch  Wagner  empfahl  auf  der  Agrarconferenz 
(S.  iöl)  das  Majorat  namentlich  darum,  weil  es  .nach  verbreiteter  Ausicht 
natürlich  sei“. 


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341 


Man  hat  dies  dadurch  zu  erreichen  gesucht,  dass  man  das 
Majorat  zwar  einführte,  aber  für  die  Gegenden,  in  den  Minorat 
hergebracht  war,  dieses  nachliess.''*')  Noch  besser  ist  es  aber 
über  die  Person  des  Anerben  gar  keine  Bestimmungen  zu  treffen, 
sondern  ihre  Bestimmung  einem  Familienrathe  oder  Schieds- 
gerichte zu  überlassen.  Auf  diese  Weise  können  nie  die  über- 
lieferten Rechtsanschauungeu  verletzt  werden,  denn  die  Bauern 
haben  es  ja  in  der  Hand,  den  zu  wählen,  den  das  Herkommen 
zum  Anerben  bestimmt.  Andererseits  werden  aber  auch  die 
wirthschaftlichen  Interessen  gewahrt:  denn  wenn  sie  ein  Ab- 
weichen vom  Hergebrachten  wirklich  gebieterisch  fordern,  so 
wird  der  Familienrath  sich  dagegen  nicht  sträuben.  Zudem  ist 
in  vielen  Gegenden  der  Familienrath  oder  — was  dem  gleich- 
kommt — eine  gütliche  Einigung  der  Familienmitglieder  schon 
üblich, und  endlich  wird  auch,  wie  wir  bald  sehen  werden, 
der  Familienrath  bezw.  das  Schiedsgericht  auch  für  andere 
Punkte  des  künftigen  Anerbenrechts  nöthig  werden.  Will  man 
das  für  Majorat  oder  Minorat  redende  Herkommen  noch  be- 
sonders schützen,  so  kann  man  dies  dadurch  tliun,  dass  man 
eine  Abweichung  nur  aus  Gründen  gestattet,  indem  man  etwa 
folgenden  Paragraphen  einführt:  „Ist  in  einer  Gegend  das 

Majorat  oder  Minorat  hergebracht,  so  hat  der  Familienrath 
eine  Abweichung  von  dieser  Regel  ausführlich  und  schriftlich 
zu  begründen.“ 

§ 47. 

Wir  kommen  nun  zu  dem  praktisch  wichtigsten  Punkte  in 
der  zukünftigen  Gestaltung  des  Anerbenrechts,  zu  der  Be- 
messung der  Abfindungen  und  zu  der  ihre  Grundlage  bildenden 
Berechnung  des  Hofwerthes.  Mit  Recht  erblicken  alle  Schrift- 
steller hierin  den  Angelpunkt  des  ganzen  Bauern  rechts;  denn 
an  der  richtigen  Höhe  der  Abfindungen  hängt  die  Möglichkeit 
des  Fortbestandes  der  Bauern. 


**•)  So  auch  der  westfalische  Entwurf. 

SSb)  Erstcres  in  Hesseu-Kassel,  letzteres  in  SUddentschland,  namentlich 
in  Bayern.  Vielfach  besteht  zwar  dort  noch  die  gewohnheitsmässige  Bevor- 
zugung eines  Sohnes,  sie  ist  aber  nicht  mehr  so  fest,  dass  nicht  davon  im 
einzelnen  Falle  abgewichen  würde.  (Vgl.  oben  § 22). 


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342 


Wir  haben  oben  schon  des  Weiteren  ausgefUhrt,  dass  die 
Berechnung  nach  dem  Ertragswerthe  volkswirthschaftlich  die 
einzig  haltbare  ist,  da  jede  andere  Berechnungsweise  den  Hof- 
annehmer  mit  mathematischer  Sicherheit  unter  Schulden  erdrückt. 
Brentano  und  Fick  haben  nun  zwar  auch  anerkannt,  dass 
prinzipiell  bei  Grundstücken  die  Kapital isirnng  des  Ertrags  die 
richtige  Bewerthungsart  bildet.:1'2rtb)  Aber  in  ihrem  Bestreben, 
die  herrschenden  Erbordnungen  zu  vertheidigen,  suchen  sie 
gleichwohl  auch  die  Anwendung  des  höheren  Tauschwertes 
durch  allgemeine  Erwägungen  zn  rechtfertigen.  Nun  können 
allerdings  solche  allgemeinen  theoretischen  Betrachtungen  kaum 
ins  Gewicht  fallen,  wenn  die  praktische  Erfahrung  lehrt,  dass 
der  Tauschwerth  verderblich  wirkt.  Sie  treffen  indessen  über- 
haupt nicht  zn.  Brentano  (Zukunft  S.  557)  will  die  Abweichung 
von  Tausch-  und  Ertragswerth  nämlich  dadurch  begründen, 
dass  er  behauptet,  ein  Gut  werde  nur  dort  über  seinen  Ertrags- 
werth bezahlt,  „wo  mit  seinem  Besitz  politische  Vorzüge,  Ehren- 
rechte oder  ein  grösseres  gesellschaftliches  Ansehen  verknüpft 
sind“,  oder  wo  „kleine  Leute  Grundstücke  über  ihren  Ertrags- 
werth bezahlen,  weil  sio  von  ihrem  Besitz  die  Sicherung  einer 
stetigen  und  unabhängigen  Arbeitsgelegenheit  erwarten“.  Den- 
selben Grund  für  die  höhere  Bewerbung  führt  auch  Fick 
(S.  300/301)  an;  auch  er  spricht  von  der  Verschaffung  einer 
„selbstständigen  Arbeitsgelegenheit“  und  einer  „bevorzugten 
sozialen  Stellung“,  und  er  findet  es  gerecht,  wenn  der  An- 
nehmer hierfür  mehr  als  den  Ertragswerth  bezahlt,  denn,  so 
folgert  er,  wenn  die  anderen  Kinder  „ihrerseits  wieder  ein  Gut 
erwerben  wollen  und  dadurch  in  die  Lage  zu  kommen  suchen, 
die  der  ihnen  rechtlich  gleichstehende  Uebernehmer  hat,  so 
müssen  sie  dies  Gut  auch  über  den  Ertragswerth  hinaus 
bezahlen“. 

Allein  diese  Deduktion,  der  etwas  Bestechendes  nicht  ab- 
gesprochen werden  kann,  ist  schon  in  ihrem  Ausgangspunkte 
unsicher.  Es  ist  nämlich  nicht  richtig,  dass  die  angegebenen 
Fälle  die  einzigen  sind,  in  denen  eine  Ueberwerthung  des  Bodens 
eintritt.  Im  Gegentheil,  es  gehört  der  ganze  Optimismus 


3:Mb)  Brentano.  Zukunft  S.  656.  Fick  S.  300. 


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343 


Brentanos,  seine  Ueberzeugung  von  der  wirtlischaftlichen  V or- 
trefflichkeit  unserer  Eigenthumsordnung  dazu,  uni  überall  nur 
diese  haltbaren  Gründe  der  Ueberwerthnng  anznnehmen.  Deren 
wahre  und  fast  überall  zutreffende  Ursachen  sind  vielmehr 
zwei:  erstens  der  aus  der  echt  deutschen  Vorliebe  für  Grund- 
besitz geborene  Landhunger:  und  zweitens  die  irrige  Annahme, 
dass  die  enorme  Steigerung  der  Reinerträge  in  den  siebziger 
Jahren  eine  bleibende  sein  werde.  Es  soll  dabei  aus  Letzterem 
nicht  einmal  den  Landwirthen  ein  Vorwurf  gemacht  werden. 
Die  lange  Dauer  der  Hausse  rechtfertigte  wohl  die  Annahme, 
dass  es  sich  hier  um  eine  bleibende  Erscheinung  handle;  sie 
entschuldigte  sogar  den  Optimismus,  der  durch  eine  einzige 
gute  Ernto  die  Bodenpreise  in  die  Höhe  trieb.  Es  ist  ferner 
auch  nicht  wunderbar,  wenn  die  heutigen  Landwirthe,  die  jene 
Periode  noch  erlebt  haben,  sich  noch  immer  nicht  entschlossen 
können,  ihre  Illusion  aufzugeben;  man  gesteht  sich  ja  dann, 
wenn  man  sich  für  vermögend  gehalten  hat,  nicht  gern  ein, 
dass  man  wenig  oder  nichts  besitzt.  Aber  diese  psychologische 
Rechtfertigung  der  Ueberschätzung  der  Bodenwerthe  kann  über 
ihre  wirtschaftliche  Grundlosigkeit  nicht  täuschen.  Nicht  nur 
auf  der  Agrarconferenz  wurde  diese  hervorgehoben,  sondern 
auch  die  ofterwähnte  jüngste  bayrische  Enquete  und  die  Um- 
frage des  Vereins  für  Sozialpolitik  haben  ergeben,  dass  die 
Liegenschaftspreise  ohne  jeden  ökonomischen  Grund  nur  durch 
die  Erinnerungen  früherer  Zeiten  hochgehalten  werden. 

Dass  die  von  Brentano  und  Fick  angeführten  Ursachen 
nicht  die  hauptsächlichsten  sein  können,  ergiebt  sich  übrigens 
auch  von  selbst.  Die  Bodenüberwerthung  ist  eine  allgemeine 
Erscheinung.  Wo  aber  gewährt  denn  noch  der  Grundbesitz 
„politische  Vorzüge“  und  „Ehrenrechte?“  Doch  immer  nur  in 
ganz  wenigen  Gegenden!  Und  wo  dies  der  Fall  ist, 
da  trifft  es  nur  beim  Grossbesitze  zu.  Gerade  beim  Gross- 
besitze, ist  aber,  wie  Gamp  auf  der  Agrarconferenz  durch 
Zahlen  bewiesen  hat,  die  Ueberwerthnng  nicht  so  vorhanden 
als  beim  Kleinbesitz.  Freilich  bei  diesem  hat  man  als  Er- 
klärungsmittel ja  die  „gesicherte  Arbeitsgelegenheit“  bei  der 
Hand,  die  „Versicherungsprämie  gegen  Arbeitslosigkeit“,  wie 
man  sich  mit  einem  Schlagwort  ausgedrückt  hat.  Es  ist  dies 
allerdings  in  der  That  nur  ein  Schlagwort,  im  ersten  Augen- 


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344 


blick  einleuchtend,  bei  näherer  Betrachtung  aber  zerrinnend. 
Denn  Prämie  nennt  inan  einen  kleinen  Wcrthznschlag;  wie 
aber  kann  man  das  eine  Prämie  nennen,  womit  man  das 
Doppelte,  ja  das  Dreifache  vom  gcsammten  Werthe  des  zu 
sichernden  Gegenstandes  bezahlt:  und  das  geschieht  doch,  wenn 
der  Verkaufswerth  sich  wie  bei  uns  aut  ein  Vielfaches  des  Er- 
tragswerthes  beläuft!  Ucbcrdies  zahlt  man  Prämie  doch  nur 
für  die  Sicherung  von  etwas  Begehrenswerthem.  Arbeit  an  sich 
ist  aber  niemals  begehrenswert!:,  sondern  nur  diejenige  Arbeit, 
die  etwas  einbringt.  Bei  der  in  Deutschland  üblichen  Ueber- 
schätzung  der  Liegenschaften  wirft  aber  die  Arbeit,  wie  wir 
sahen,  vielfach  kaum  des  Lebens  Nothdurft  ab,  sic  dient  nur 
dazu,  für  andere  Zinsen  herauszuschlagen.  Für  die  Sicherung 
solcher  Arbeitsgelegenheit  zahlt  man  keine  Prämie.  Wenn 
auch  hier  noch  von  Prämie  gesprochen  werden  sollte,  so  käme 
das  hinaus  auf  eine  Prämie  für  die  Freiheit,  sich  zu  Grunde 
richten  zu  dürfen.  Es  soll  darum  nicht  gesagt  sein,  dass  die 
Betonung  der  gesicherten  Arbeitsmöglichkeit  ein  ganz  verfehlter 
Gedanke  wäre.  Eine  kleine,  wirklich  prämienartige  Erhöhung 
der  Grundwerte  Hesse  sich  vielleicht  damit  begründen;  aber 
die  Erhöhung,  die  bei  uns  vorhanden  ist,  wird  damit  nicht  er- 
klärt: dazu  ist  nur  genügend  die  Heranziehung  psychologischer 
Momente,  einmal  der  Vorliebe  der  Deutschen  für  Land,  — ein 
Affektionsinteresse  — , und  zweitens  der  Verkennung  des  Nieder- 
ganges in  den  Reinerträgen,  — eine  Illusion.  Aftektions-  und 
Illusionswerthe  berücksichtigt  aber  selbst  das  römische  Recht 
bei  der  Erbtheilung  nicht. 

Brentano  und  Fick  haben  aber  gegen  den  Ertragswerth 
noch  einen  Vorwurf  erhoben,  der  für  uns  weit  schwerer  wiegt: 
sie  behaupten  er  sei  unvolksthümlich.  Die  Bauern  könnten, 
so  meinen  sie,  den  Ertragswerth  schon  deshalb  nicht  anwenden, 
weil  sie  ihn  gar  nicht  zu  berechnen  verständen;  sie  wüssten 
nur,  dass  die  Geschwister  so  und  soviel  erhalten  sollten,  dass 
das  Altentheil  in  der  und  der  Weise  gegeben  werden  solle  u.  s.  w. : 
aus  diesen  einzelnen  Posten  müssten  dann  Notar  oder  Gericht 
sich  selbst  den  Grundwerth  zusammensetzen. 

Allein  wie  wir  oben  gegenüber  der  ähnlichen  Behauptung, 
die  Bevorzugung  des  Anerben  entspreche  nicht  mehr  der  Rechts- 
überzeugung, feststellen  konnten,  dass  sie  durch  nichts  besser 


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34r. 


widerlegt  wird  als  durch  die  von  Brentano  selbst  veranlasste 
und  von  ihm  benutzte  Enquete,  so  ist  es  auch  hier. 

Es  giebt  nur  zwei  Arten,  den  Bodenpreis  zu  berechnen; 
entweder  hält  man  sich  an  den  Ertrugswerth  oder  an  den  Ver- 
kaufswerth. Einen  dritten  Werth  giebt  es  nicht.  Nun  bestätigen 
alle  Berichte  der  Brentano'schen  Enquete  ohne  Ausnahme  das 
Eine:  Ueberall  wo  die  Bauern  freie  Hand  haben  und  nicht 
durch  bedeutende  Schulden  gezwungen  werden,  den  Hof  zu 
hoch  anznschlagen,  damit  doch  noch  ein  kleiner  Abtretungs- 
werth herauskommt,  da  nehmen  sie  nicht  den  Verkaufswerth, 
weil  dieser  allgemein  für  ungeeignet  gilt. fi<c)  Soll  es  aber  nicht 
der  Verkaufswerth  sein,  so  bleibt  eben  nur  der  Ertragswerth  übrig. 
Dass  den  Bauern  vielfach  die  Fähigkeit  abgeht,  den  Ertragswerth 
ökonomisch  genau  zu  berechnen  und  dass  sie  darum  meist  dem 
Notar  nur  angeben,  was  an  Abfindungen  und  Altentheilen  dem 
Uebernehmer  auferlegt  werden  soll,  ohne  einen  Ansatzpreis  zu 
nennen,  mag  richt  ig  sein.  Dass  sie  aber  darum  dem  Ertragswerthe 
feindlich  gegenüberständen,  ist  ein  Fehlschluss.  Im  Gegentheil, 
ihren  Angaben  liegt  stets  eine,  wenn  auch  unbestimmte  Vorstellung 
vom  Ertragswerthe  zu  Grunde.  Denn  es  wird  immer  betont, 
die  Lasten  würden  so  bemessen,  dass  der  Hof  sic  „tragen“ 
könne das  heisst  doch:  man  will  nicht  mehr  als  den  Er- 
trag des  Hofes  vertheilen.  Es  fehlt  denn  auch  in  der  Brentano- 
schen  Enquete  nicht  an  Berichterstattern,  welche  diesen  unbe- 
stimmten und  unbewussten  Bestrebungen  den  richtigen  Namen 
geben  und  gerade  hcraussagen,  es  werde  nach  dem  „Ertrags- 
werthe“ abgefunden. :w*)  Allerdings  haben  wir  oben  constatiren 
müssen,  dass  die  allgemeine  Ueberschätzung  der  Grundwerthe 
sich  auch  hier  geltend  macht,  und  dass  der  Uebernahmepreis 
darum  oft  den  richtigen  Ertragswerth  übersteigt  Das  bedeutet 
aber  nur  eine  fälschliche  Berechnung  des  letzteren,  nicht  aber 
ein  Streben  nach  dem  Verkaufewerthe;  denn  es  wird  ja  allgemein 


3*«)  Vgl.  Fick  S.  43,  60  61,  67,  69.  90,  101,  112/113,  120,  122,  124. 
138,  141,  143,  140,  161,  150,  165.  170,  174,  183/184,  186,  199.  200,  243, 
252.  — Diese  stattliche  Zahlenreihe  allein  zeigt  die  seltene  Vebereinstiramung 
in  der  Verwerfung  des  Verkaufswerthes. 

.tcpi'j  Vg|  oben  $ 34 — 86. 

■“"■J  Vgl.  namentlich  Fick  8.  186,  200,  243. 


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34C 


berichtet,  dass  man  den  nicht  haben  will.  Irrthümer  in  der 
einmal  angenommenen  Berechnungsart  abzsuchneiden,  darf  sich 
aber  auch  eine  volkstümliche  Gesetzgebung  nicht  versagen,  ja 
schliesslich  wird  sie  dadurch  bei  der  wachsenden  Einsicht  sich 
auch  den  Dank  der  Betheiligten  verdienen. 

Steht  somit  die  Zulässigkeit  und  wirtschaftliche  Notwendig- 
keit der  Schätzung  nach  dem  Ertragswerte  fest,  so  ist  doch  unge- 
wiss, auf  welchem  Wege  sic  herbeigeführt  werden  soll.  Es  sind 
hierfür  bis  jetzt  als  Handhaben  vornehmlich  der  Grnndsteuerrein- 
ertrag  und  die  Bodengrösse  benutzt  worden.  Gegen  beide  hat  man 
Bedenken  geltend  gemacht.--***)  Und  in  der  That,  wenn  man  sich 
überlegt,  in  welcher  Weise  die  Schätzung  auf  der  einen  oder  anderen 
Grundlage  zu  erfolgen  hat,  so  wird  man  sich  jenen  Bedenken 
nicht,  verschliessen  können.  Bei  Zugrundelegung  des  Boden- 
areals z.  B.  müsste  man  doch  sagen:  Für  so  und  so  viel 
Landfläche  wird  ein  Reinertrag  von  so  und  so  viel  Mark  ange- 
nommen. Das  wird  sich  aber  kaum  für  bestimmte  Gegenden 
Deutschlands,  geschweige  denn  für  das  ganze  Reich  allgemein 
festsetzen  lassen.  Denn  schon  nach  dem  Kulturgegenstande  ist 
das  Verhältniss  zwischen  Grundfläche  und  Reinertrag  verschieden: 
bei  Korn  ist  er  ein  anderer  als  bei  Rüben,  dort  ein  anderer  als 
bei  Wein,  wieder  anders  bei  Tabak,  Hopfen  etc.  etc.  Diese 
Schwierigkeit  Hesse  sich  vielleicht  noch  heben  indem  man  sagte : 
auf  dieselbe  Grundfläche  ist  bei  Weizenbau  dieser  Ertrag  anzu- 
nelunen,  bei  Roggenbau  jener,  bei  Rübenbau  ein  dritter  u.  s.  f. 
Allein  das  würde  einmal  eine  fast  endlose  Liste  werden  müssen. 
Ausserdem  ist  dann  aber  der  zweite  Punkt  nicht  berücksichtigt, 
dass  auch  bei  derselben  Pflanze  der  Ertrag  der  gleichen  Boden- 
fläche nach  der  Bodengüte  verschieden  ist.  Ferner  wäre  zu 
berücksichtigen:  Die  verschiedene  Intensität  der  Bewirth- 

schaftung,  die  Nähe  oder  Ferne  des  zu  schätzenden  Landstücks 
von  Absatzgebieten,  die  Höhenlage,  die  Bewässerung  und  der- 
gleichen. Kurz  eine  allgemeine  Feststellung  des  Reinertrags 
einer  gegebenen  Fläche  Hesse  sich  nur  für  ganz  kleine  Bezirke 
ausführen  und  würde  auch  hier  als  durchschnittliche  im  einzelnen 
Falle  stets  eine  Ungerechtigkeit  enthalten. 


^0  Gegen  den  Grundstcuerreiuertrag  namentlich  Marcliet  S.  1320. 


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347 


Viele  dieser  Schwierigkeiten  vermeidet  man,  wenn  man  vom 
Grundsteuerreinertrage  ausgeht.  Hier  liegt  schon  eine  Schätzung 
des  einzelnen  Landstriches  vor,  welche  auf  dessen  Eigenthüm- 
lichkeiten,  wie  Lage,  Bewirthschaftungsart  etc.  Rücksicht  nimmt. 
Allein  erstens  sind  diese  Schätzungen  in  Deutschland  vielfach 
schon  vor  längerer  Zeit  vorgenommen  und  in  ihren  Ergebnissen 
deshalb  heute  veraltet.  Dann  aber  muss  doch  der  Ertragswerth 
dadurch  ermittelt  werden,  dass  man  den  Grundsteuerreineitrag 
vervielfacht.  Dieser  Multiplicator  ist  nun  nach  den  einzelnen 
Gegenden  Deutschlands  überaus  verschieden.  So  hat  das  Höfe- 
gesetz für  Hannover  den  ‘20 fachen  Betrag,  das  tlir  Brandenburg 
den  30  fachen  und  das  für  Schlesien  gar  den  40  fachen  Betrag 
angenommen.  Eine  einheitliche  Regelung  für  Deutschland  wäre 
deshalb  schwer  möglich.“1) 

Es  wird  deshalb  nichts  übrig  bleiben,  als  zur  Schätzung 
im  einzelnen  Falle  zu  greifen,  wie  sie  das  österreichische  An- 
erbengesetz, das  preussische  Höfegesetz  für  Kassel  und  neuerdings 
das  westfälische  Gesetz  beliebt  haben.  Tliut  inan  aber  dies, 
so  kommt  man  mit  Nothwendigkeit  zu  dem  Schiedsgericht  bezw. 
dem  Familienrath. iW)  Denn  der  Richter,  welcher  sonst  die 
Schätzung  vornehmen  müsste,  ist  doch  nicht  sachverständig 
genug.  Es  ist  aber  besser,  wenn  er  sich  die  sachliche  Be- 
lehrung im  lebendigen  mündlichen  Verkehr  als  Vorsitzender 
eines  Schiedsgerichts  oder  Familienraths  von  Verwandten  der 
Abfindlinge  ertheilen  lässt,  als  wenn  er,  wie  es  sonst  geschehen 
müsste,  ein  schriftliches  Gutachten  von  einem  gerichtlichen 
Sachverständigen  erfordert.“1*) 

§ 48. 

Auf  die  Einführung  des  Schiedsgerichts  drängt  aber  noch 
ein  zweiter  Punkt  in  der  Bemessung  der  Brautschätze  hin: 


■12*)  Auf  der  Agrarconferenz  wurde  der  Kiltastralreinertrag,  weil  ver- 
altet, als  Massstab  allgemein  vetworfen,  nur  in  Westfalen  wurde  er  als 
geeignet  anerkannt.  Vgl.  Agrarconferenz  S.  250  und  143,  256.  — Auch 
das  Gutachten  von  Andre  (Verhdlgti.  des  Juristentages  de  1895  ild.  1 S.  48) 
spricht  sich  gegen  den  Katastralreinertrag  aus. 

So  auch  Gierke,  Erbrecht  in  Grundbesitz  S.  24/25. 

3aum)  Das  neue  westfälische  Gesetz  (§  40)  hat  nur  das  Schiedsgericht. 


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348 


der  dem  Anerben  zu  gewährende  Voraus.  Wenn  man  ihu  in 
verhüllter  Form  giebt,  d.  h.  durch  eine  absichtlich  zu  niedrige 
Schätzung  des  Hofwerthes,  so  bietet  er  allerdings  neben  der 
Schätzung  keinen  selbständigen  Grund,  ein  Schiedsgericht  zu 
empfehlen.  Was  überhaupt  auf  die  Schätzung  zutrifft,  gilt  dann 
auch  für  ihn,  da  er  dann  einfach  in  dieser  Schätzung  ver- 
schwindet. Allein  es  ist  Gierke  und  Marchet  vollständig  Recht 
zu  geben,  wenn  sie  den  verhüllten  Voraus  verwerfen  und  einen 
offenen  verlangen.“1)  Denn  mit  Fug  kann  man  den  Gesetzen, 
welche  den  verhüllten  Voraus  haben,  Unredlichkeit  vorwerfen. 
Offiziell  kennen  sie  den  Voraus  nicht;  heimlich  bringen  sie  ihn 
durch  absichtlich  zu  niedrige  Gutsschätzung  wieder  in  das 
Gesetz  hinein.  Warum  soll  das  Gesetz  nicht  den  Muth  haben 
wenn  es  den  Voraus  für  angebracht  hält,  dies  offen  zu  bekennen? 
Und  in  der  Tliat  gibt  es  kaum  etw  as  Gerechtfertigteres  als  den 
Voraus.  Er  wird  .auch  durch  Einschätzung  des  Gutes  nach  dem 
Ertrage  keineswegs  überflüssig.  Denn  wie  wir  schon  des 
Weiteren  ausgeführt  haben,  (§  34)  gebührt  dem  Anerben  auch 
dann  ein  Voraus  als  Risiko-  oder  Reservefonds. 

Muss  aber  ein  Voraus  gewährt  werden,  so  wird  man  auch  seine 
Bemessung  in  die  Hände  eines  Schiedsgerichtes  oderFamilienrathes 
legen  müssen.™)  Denn  seine  Höhe  lässt  sich  nicht  allgemein, 
sondern  nur  nach  Lage  des  einzelnen  Falles  bestimmen.  Er  muss  so 
hoch  sein,  dass  der  Anerbe  bestehen  kann:  und  diese  Höhe  ist 
begreiflicherweise  bei  den  verschiedenen  Gütern  verschieden. 
Allgemein  kann  man  höchstens  die  Grenzen  angeben,  in  denen 
der  Voraus  sich  halten  muss.  Denn  ein  durchschnittliches 
Maximum  und  Minimum  lässt  sich  vielleicht  durch  gauz  Deutsch- 
land hin  für  ihn  feststellen.  “5*) 


m)  Gierke  a.  a.  O.  8.  23;  Marchet  S.  1329. 

832)  In  Schmollers  Jahrbuch  llil.  18  S.  383. 

®°)  So  auch  Gierke  (a.  a.  O.  S.  24  25  und  Junstentag  de  1895.  Bd  2 
8.  102  103.) 

ias*)  Das  neue  westfälische  Gesetz  betritt  nicht  diesen  Weg,  sondern 
billigt  den  Anerben  1 des  Ertragswertheg  zu.  Wie  wenig  aber  solche 
Bemessung  auch  nur  tiir  • eine  Provinz  allgemein  zutrifft,  ergiebt  sich 
daraus,  dass  das  Abgeordnetenhaus  den  Voraus  für  einzelne  Gegenden 
Westfalens  auf  1 herabgesetzt  bat  (§  20  des  Entwurfs). 


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349 


Es  ist  nun  wohl  an  der  Zeit  nach  der  vielfachen  Erwähnung 
des  Schiedsgerichts  auf  seine  künftige  Gestaltung  näher  einzu- 
gehen. Hier  erwächst  zunächst  die  Prinzipienfrage:  reines 
Schiedsgericht,  reiner  Eamilieurath  oder  beides  zusammen.  Der 
Familienrath  hat  den  Volksbrauch  für  sich:  in  Hessen-Kassel 
ist  er  althergebracht,  und  die  namentlich  in  bayrischen  Gegenden 
übliche,  gütliche  Einigung  der  Miterben  untereinander  ist  ihm 
praktisch  sehr  ähnlich.  Ein  Gleiches  kann  man  dem  Schieds- 
gerichte nicht  nachrühmeu;  es  ist  zwar  von  den  Höfegesetzen 
vielfach  beliebt  worden,  es  ist  aber  ebenso  wie  diese  ein 
modernes  künstliches  Produkt.  Gleichwohl  sind  in  letzter  Zeit 
gegen  den  reinen  Famlienrath  Bedenken  entstanden,  die  früher, 
als  er  in  Uebnng  kam,  keine  Berechtigung  hatten.  Der 
Familienrath,  welcher  die  Person  des  Anerben  zu  wählen  und 
die  Höhe  der  Abfindungen  zu  bestimmen  hat,  muss,  wenn  anders 
sein  Wirken  zum  Segen  des  Hofes  gereichen  soll,  von  land- 
wirtschaftlichen Dingen  etwas  verstehen.  Früher  war  dies 
Verständniss  ziemlich  allgemein  verbreitet.  Auch  diejenigen 
Sprösslinge  des  Bauernstandes,  welche  ausserhalb  des  väterlichen 
Hofes  ein  Unterkommen  suchen  mussten,  blieben  meist  auf  dem 
Lande  wohnen  und  bewahrten  so  die  lebendige  Berührung  mit 
der  Landwirthschaft.  Wenn  sie  aber  wirklich  in  die  Städte 
zogen,  so  waren  das  nicht  jene  dem  platten  Lande  gänzlich 
entfremdeten  Industriestädte  von  heute,  sondern  kleine  Land- 
städtchen, in  denen  meist  die  Ackcrwirthschaft  eine  Hauptrolle 
spielte,  jedenfalls  aber  die  Kenntniss  dessen,  was  draussen  bei 
den  Bauern  vorging,  von  Wichtigkeit  und  Interesse  war.  Das 
ist  heute  ganz  anders.  Wenn  der  Bauernsohn  in  die  Stadt 
zieht,  so  kommt  er  in  einen  ganz  anderen  Lebenskreis,  wird 
so  mit  durchaus  neuen  Anschauungen  erfüllt,  dass  er  als 
Familienrath  in  landwirtschaftlichen  Dingen  später  nicht  mehr 
gedeihlich  wirken  kann. 

Ein  Schiedsgericht  dagegen  lässt  sich  so  gestalten,  dass  es 
hinreichend  sachverständig  ist.  Gleichwohl  ist  es  allein  auch 
nicht  zu  empfehlen.  Zunächst  wie  gesagt,  entbehrt  seine  Ein- 
führung des  historischen  Rückhalts;  die  Bauern,  nur  an  das 
Eingreifen  von  Verwandten  gewöhnt,  würden  durch  ein  aus 
Fremden  bestehendes  Gericht  sich  wahrscheinlich  vergewaltigt 
fühlen.  Ferner  besteht  die  Gefahr,  dass  ein  fremdes  Sehieds- 


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350 


gericht  zu  sehr  das  Interesse  der  Allgemeinheit  an  der  Er- 
haltung der  Bauernhöfe  ins  Auge  fasste  und  zu  wenig  wanne 
Fürsorge  für  das  Wohl  der  einzelnen  Familienmitglieder  be- 
zeigte. 

Es  empfiehlt  sich  demnach  eine  Combination  von  Familien- 
rath und  Schiedsgericht.  Sie  ergiebt  sich  gewissermassen 
naturgemäss.  Zunächst  müssen  die  Interessen  der  Familien- 
mitglieder gewahrt  werden.  Sie  werden  durch  Berufung  zweier 
Verwandten  geschützt.  Alsdann  kommen  die  Interessen  der 
Allgemeinheit  an  der  leistungsfähigen  Erhaltung  der  Höfe.  Sie 
werden  berücksichtigt  durch  Zuziehung  des  Gemeindevorstandes. 
Alsdann  würde  noch  ein  Sachverständiger  aus  dem  Bauernstände 
hinzutreten  müssen  für  die  nüthig  werdenden  Abschätzungen. 
Endlich  wäre  der  Vorsitz  in  dem  Schiedsgericht  dem  Amtsrichter 
zu  übertragen;  denn  dessen  Betheiligung  ist  nicht  zu  umgehen. 
Wenn  man  es  überhaupt  für  zweckmässig  hält,  Auseinander- 
setzungen vom  Richter  vornehmen  zu  lassen,  — und  das  thut 
man  doch  — , so  muss  man  diese  Gepflogenheit  gauz  besonders 
bei  bäuerlichen  Auseinandersetzungen  beobachten:  denn  die  dabei 
mitwirkenden  Bauern  sind  doch  gewiss  noch  mehr  in  Gefahr, 
sich  in  den  Irrgängen  des  Rechts  nicht  zurecht  zu  Süden,  wie 
es  bei  städtischen  Auseinandersetzungen  der  Fall  ist. 

Das  Familienschiedsgericht  bestände  sonach  aus  zwei  festen 
Mitgliedern,  dem  Amtsrichter  und  dem  Gemeindevorstand,  und  aus 
drei  zu  wählenden.  Für  alle  Mitglieder  ist  als  oberste  Forder- 
ung diejenige  nach  möglichster  Sachkuude  aufzustellen  und  des- 
halb ihre  Zugehörigkeit  znm  Bauernstände  zu  verlangen.  Auch 
für  den  Gemeinvorstand  muss  diese  Forderung,  soweit  irgend 
angängig,  durchgesetzt  werden.  Es  würde  deshalb  etwa  anzu- 
ordnen sein:  „In  dem  Familien-Schiedsgericht  hat  der  Gemeinde- 
vorsteher Sitz  und  Stimme,  sofern  er  dem  Bauernstände  ange- 
hört. Ist  dies  nicht  der  Fall,  so  hat  der  Amtsrichter  nach 
vorgängiger  Anhörung  des  Gemeindevorstehers,  von  dessen 
Vorschlag  er  aus  besonderen,  namhaft  zu  machenden  Gründen 
abweichen  darf,  ein  anderes  bäuerliches  Mitglied  des  Gemeinde- 
vorstandes (Gemeindeschöppe)  auszuwählen.  Findet  sich  ein 
solches  nicht,  so  verbleibt  cs  bei  der  Berufung  des  Gemeinde- 
vorstehers.“ 

Für  die  Wahl  der  drei  weiteren  Mitglieder  kann  mau,  un- 


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351 


besehadet  des  Grundsatzes  ihrer  Zugehörigkeit  zum  Bauern- 
stände, zunächst  den  auf  gütlicher  Einigung  beruhenden  Vorschlag 
der  Erben  entscheiden  lassen.  Doch  wird  man  für  die  beiden 
Verwandten  fordern  müssen,  dass  die  Wahl  zuvörderst  die 
nächsten  Verwandten  berücksichtige  und  deshalb  ein  Hinans- 
greifeu  über  den  dritten  Grad  der  Seitenverwandschaft  und  den 
zweiten  der  Seitenschwägerschaft  an  eine  besondere  Genehmigung 
des  Amtsrichters  knüpfen.  Kommt  eine  gütliche  Einigung  der 
Erben  binnen  einer  vom  Amtsrichter  zu  stellenden  Frist  nicht 
zu  stände,  so  erfolgt  die  Berufung  der  beiden  Verwandten  nach 
sachlichen  Grundsätzen.  Zunächst  giebt  die  Zugehörigkeit  zum 
Bauernstände  den  Vorrang;  alsdann  die  Gradesnähe.  Die  so 
Berufenen  können  aber  leicht  allzu  weite,  wenig  mit  den  Ab- 
findlingen, deren  Wohl  und  Wehe  ihnen  anvertraut  ist,  zu- 
sammenhängende Verwandte  sein.  Dieser  Nachtheil  wird  nun 
durch  ihre  Sachkunde  zwar  etwras  aufgewogen,  jedoch  nicht 
völlig  ausgeglichen.  Wenigstens  einer  der  Verwandten  muss 
deshalb,  wenn  irgend  angängig,  ein  möglichst  naher  sein.  Es 
empfiehlt  sich  sonach  folgende  Bestimmung:  „Finden  sich  aus 

den  bäuerlichen  Verwandten  keine,  die  mit  den  Abfindlingen 
noch  in  persönlichem,  näheren  Verkehr  stehen,  so  erfolgt  die 
Berufung  auch  eines  nichtbäuerlichen  Verwandten  nach  der 
Gradesnähe.“ 

Was  endlich  das  sachverständige  Mitglied  anlangt,  so  wird 
man  auch  hier  dem  vereinten  Vorschläge  der  Erben  billig  den 
Vorrang  lassen.  Auch  hier  lmt  der  Amtsrichter  die  Erben  zur 
Ausübung  ihres  Vorschlagsrechtes  aufzufordern  und  ihnen  eine 
Frist  zu  setzen,  welche  auf  Antrag  — falls  eine  Einigung  noch 
zu  hoffen  ist  — mehrefemal  verlängert  werden  kann.  Nach 
fruchtlosem  Ablauf  der  Fristen  ernennt  der  Amtsrichter  den 
Sachverständigen  nach  Anhörung  der  Erben. 

Das  Verfahren  des  so  gebildeten  Familien-Schiedsgerichts 
ist  mit  wenigen  Worten  geregelt.  Den  Vorsitz  in  den  Sitzungen 
führt  der  Amtsrichter.  Zur  Beschlussfassung  gehört  die  An- 
wesenheit aller  Mitglieder.  Der  Amtssichter  hat  diese  deshalb 
zum  Besuche  der  Sitzungen  durch  Ordnungsstrafen  anzuhalten. 
Es  entscheidet  einfache  Stimmenmehrheit.  Die  Stimme  muss 
stets  in  der  Richtung  abgegeben  werden,  dass  durch  die  Ent- 
scheidung dem  Hofesannehmer  der  Fortbestand  auf  dem  Gute 


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ermöglicht  wird,  im  Uebrigen  erfolgt  die  Stimmabgabe  nach 
freier  Ueberzeugung,  jedoch  muss  die  Schätzung  des  Gutes  stets 
nach  dem  Ertragswerthe  erfolgen.  Die  Gesammt-Entseheidung 
des  Schiedsgerichts  ist  schriftlich  zu  begründen,  namentlich  hin- 
sichtlich der  Gutssehätzung:  sie  muss  zutreffenden  Falls  ersehen 
lassen,  warum  zum  Anerben  nicht  der  älteste  bezw.  jüngste 
Sohn  gewählt  ist.  Eine  Anfechtung  der  Entscheidung  findet 
nur  wegen  Verletzung  absoluter  Rechtsvorschriften  statt.““’) 

§ 49. 

Den  Anszahlnngsmodus  der  so  vom  Schiedsgericht  festge- 
stelltcn  Abfindungen  wird  man  auch  dem  Schiedsgerichte  an- 
heimstellen können.  Der  Gedanke,  die  Auszahlung  in  Kenten 
zwingend  vorzuschreiben, :CM)  hat  viel  für  sich,  weil  der  Grund 
und  Boden,  wie  schon  öfter  betont,  nur  Renten  hervorbringt; 
der  Gedanke  ist  deshalb  auch  von  dem  prcussischen  Anerben- 
gesetz für  Rentengüter  und  von  dem  Entwürfe  für  Westfalen 
adoptirt  worden.  Allein  unter  heutigen  Verhältnissen  führt 
seine  Durchführung  dazu,  dass  die  Miterben  nicht  das  erhalten, 
was  ihnen  auch  nach  den  Grundsätzen  des  Anerbenrechts  ge- 
bührt. Denn  danach  haben  auch  die  Miterben  ein  kleines  Be- 
triebskapitel zu  verlangen,  welches  ihnen  mit  Hilfe  eigener 
Arbeit  möglich  macht,  in  dem  von  ihnen  gewählten  Berufe  sich 
eine  Lebensstellung  zu  gründen.  Die  Rentenschuld  kann  ihnen 
ein  solches  Kapital  niemals  gewähren.  Denn  aus  einer  Rente 
ist  nur  Kapital  zu  schlagen  durch  ihren  Verkauf.  Dieser  kann 


-TOI')  In  welcher  Weise  dies  zu  geschehen  hat,  oh  durch  Beschwerde  oder 
Klage,  ob  dann  hei  Aufhebung  der  Kutscheidung  das  Verfahren  wiederholt 
werden  muss  oder  ob  die  aufhehende  Behörde  selbst  schätzen  darf,  dass 
alles  sind  Details,  die  wir  nicht  erörtern  können.  — Bemerkt  sei  noch,  das 
das  neue  westfälische  Besetz  die  Thätigkeit  des  Amtsrichters  nur  als  eine  ver- 
mittelnde auffasst,  und  dass  darum  die  von  ihm  veranlasste  Schätzung,  wenn 
die  Miterben  sie  nicht  im  Erbrezesse  anerkennen,  nur  exemplifikatorische  und 
moralische  Autorität  hat.  Dem  Verf.  erscheint  diese  Regelung  höchst  un- 
praktisch. Sio  entspricht  auch  nicht  dem  üodaukon  des  Schiods  ge  rieh  t s. 

s**)  Er  ist  zuerst  namentlich  von  Gicrke  a.  a.  O.  tS.  25  f.  vertreten, 
und  hat  viele  Anhänger  gefunden,  vor  allem  auf  der  Agrarconferenz.  Auch 
der  Juristentag  von  18U5  nahm  einen  dahingehenden  Antrag  mit  grosser 
Mehrheit  an. 


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853 


ja  nun  gesetzlich  gestattet  werden  und  ist  vom  B.  G.  B.  gestattet; 
aber  diese  gesetzliche  Möglichkeit  ist  praktisch  werthlos.  Denn  so 
lange  die  Rentenschuld  in  unserem  Volke  nicht  wieder  lebendig  ge- 
worden ist,  wird  der  Verkehr  mit  Renten,  ihr  Kauf  und  Verkauf 
grosse  Schwierigkeiten  darbieten.  Vollends  gar,  wenn  die  Rente, 
wie  vielfach  beabsichtigt  wurde,  als  Tilgungsrente  gestaltet  wird, 
erhält  der  Miterbe  nichts  von  dem  ihm  gebührenden  kleinen 
Kapitale.  Er  empfängt  jährlich  kleine  Beträge,  die  in  seinem 
Haushalte,  ohne  wesentlichen  Beihilfe  zu  leisten,  verbraucht 
werden,  und  auf  einmal  ist  sein  ganzes  Recht  zu  Ende,  ohne 
dass  er  besonderen  Nutzen  davon  gehabt  hätte :a*)  Will  man 
deshalb  die  Rentenabfindung  zulassen,  so  muss  man  sie  als  ver- 
käufliche und  auf  beiden  Seiten  jederzeit  zur  Ablösung  in 
Kapital  kündbare  Renten  gestalten.  Zur  Erleichterung  des 
Anerben  kann  man  ja  dann  für  den  Ablösungsfall  nach  dem 
Muster  des  neuen  preussischen  Anerbengesetzes  für  Reutengütcr 
staatliche  Rentenbanken  umgreifen  lassen.3**) 

Was  die  Verzinsung  und  Vererbung  der  Abfindungen,  und 
die  damit  zusammenhängende  Frage  des  Beisitzes  anlangt,  so 
darf  an  dem  alten  Wererecht  hierüber  nicht  gerüttelt  werden. 
Der  Beisitz  namentlich  ist,  wie  schon  oben  betont,  einer  der 
Grundpfeiler  des  Anerbenrechts.  Die  von  diesem  beliebte  Be- 
vorzugung des  Anerben  findet  eben  ihre  moralische  Stütze  darin, 
dass  das  Gut  als  Familiengut  den  Familiengliedern  in  Un- 
mündigkeit, Krankheit  und  Xoth  eine  Zuflucht  bietet.337)  Das 


wj  Diese  Bedenken  hat  namentlich  der  Oberbürgermeister  Struckmaun 
in  der  Herrenhaussitzung  vom  •-’>).  Januar  IK'Jti  bei  der  Berathung  des 
Anerbengesetzes  für  Kentengüter  treffend  dargelegt.  Vgl.  Tägliche  Knud- 
schau  Nr.  35,  J v.  11.  Febr.  1896. 

*“)  Staatlichen  Amortisationskassen  redet  auch  Soergel  § 19  das 
Wort.  — Auch  das  westfälische  Gesetz  hat  jetzt  die  beiderseits  künd- 
bare Kente  und  sieht  Ablösung  durch  die  Landschaften  vor  (§  29,  30, 
31  a.  a.  O.) 

s*7)  Man  sage  nicht,  dass  diese  Verhältnisse  nicht  mehr  existiren. 
Noch  leben  im  Bauernstände  die  alten  Sitten  und  Anschauungen;  nur,  wie 
lauge  sie  noch  leben  werden,  wenn  sich  ihnen  die  Gesetzgebung  andauernd 
feindlich  gegonüherstellt.  das  ist  zweifelhaft.  Vorläufig  aber  bürt  man  noch 
von  überall  herzerfreuende  Schilderungen  von  Bewahrung  des  Familien- 
lebens in  alter  Art.  Namentlich  aus  den  deutschen  Alpeuländern,  den 
Hochburgen  altbäuerlichen  Wesens,  kommen  solche  Berichte. 

v.  Daltsig,  ü runderbrecht.  23 


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alte  Recht  ist  deshalb  in  dem  neuen  Gesetze  einfach  abzu- 
schreiben. Nach  wie  vor  empfängt  der  im  Hofe  verbleibende 
Abfindling  zwar  keine  Zinsen,  aber  Unterhalt,  dafür  muss  er 
denn  auch  mitarbeiten  und  bei  seinem  Tode  verbleibt  seine 
Abfindung  dem  Hofe.**7“) 

Ebenso  wird  es  hinsichtlich  der  Sicherungsmittel  für  die 
Abfindungen  am  zweckmässigsten  beim  bestehenden  Rechte  be- 
lassen. Mau  wird  auch  künftig  die  Abfindung  nicht  schlechthin 
für  eine  Reallast  erklären  dürfen;  einen  Pfandrechtstitel  soll 
sie  aber  weiter  bilden.  Nahezu  das  praktische  Ergebniss  der 
Reallast  wird  übrigens  erreicht,  wenn  man  dem  im  Schieds- 
gerichte präsidireuden  Amtsrichter  es  zur  Pflicht  macht,  für 
die  grundbuchliche  Eintragung  der  Abfindungen  Sorge  zu  tragen. 
Und  zwar  wäre  es  dann  angemessen,  dem  von  einer  Aus- 
fertigung des  Recesses  begleiteten  Ersuchen  dieses  Amtsrichters 
die  Kraft  beizulegen,  dass  daraufhin  die  Eintragung  zu  er- 
folgen hat.Si7b) 

Auch  hinsichtlich  des  Verhältnisses  des  Auerbenrechts  zum 
Pflichttheilsrecht  ist  das  bisherige  Recht  beizubchalten.  Denu 
das  Pflichttheilsrecht  selbst  muss  zwar  wie  wir  schon  erklärten, 
gewahrt  bleiben.  Wenn  aber  der  Zweck  des  Anerbenrechts 
nicht  vereitelt  werden  soll,  so  müssen  die,  für  bäuerliche  Güter 
überhaupt  allein  richtigen,  anerbenrechtlichen  Schätzungsgrund- 
sätze  auch  gegenüber  dem  Pflichttheilsrecht  Anwendung  finden. 
Der  Pflichttheil  ist  eben  begrifflich  weiter  nichts  als  eine  Quote 
des  Erbtheils;  bei  bäuerlichen  Vermögen  also  selbstverständlich 


s*7*)  In  dieser  Richtung  war  die  Gestalt,  welche  das  westfälische  Ge- 
setz vom  pr.  Herrenhause  erhalten  hatte,  weitaus  besser  als  die  Fassung, 
welche  ihm  zuletzt  das  Abgeordnetenhaus  gegebeu  hat.  Dieses  hat  den 
Beisitz  auf  die  Zeit  bis  zum  25.  Lebensjahr  beschränkt  und  deu  wichtigen 
Satz  weggelassen,  dass  die  Abfindung  der  im  Hofe  verstorbenen  Abfindlinge 
an  den  Hof  zurückfiillt.  (§  35  a.  a.  0.) 

SJ71>)  Das  westfälische  Gesetz  belässt  es  beim  Pfandreehtstitel,  es  giebt 
ihn  sogar  nicht  blos  für  die  Abfindungen,  sondern  auch  für  alle  aus  dem 
Anerbenrecht  fliessenden  Ansprüche.  Das  dürfte  in  einzelnen  Fällen  zuweit 
gehen,  das  Grundbuch  überlasten  und  den  Verkehr  mit  Laudgütern  beein- 
trächtigen. (Vgl.  § 37  a.  a.  O.) 


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355 


eine  Quote  des  nach  bäuerlicher,  d.  h.  anerbenrechtlicher  Weise 
ermittelten  Erbtheils.5*7®) 


§ 50. 

Neben  dem  Verhältnisse  von  Anerbenrecht  und  Pflicht- 
theilsrecht  bleiben  noch  die  Beziehungen  zu  erörtern,  welche 
künftig  zwischen  Anerbenrecht  und  ehelichem  Güterrecht  be- 
stehen sollen. 

Diese  Beziehungen  sind  von  hervorragender  Wichtigkeit. 
Gerade  an  der  ungeschickten  Gestaltung  des  ehelichen  Güter- 
rechts sind  von  jeher  die  für  den  Bauernstand  bestimmten  Ge- 
setze gescheitert.  Schou  Joseph' s II.  österreichisches  Anerben- 
gesetz wurde  wegen  seiner  Eingriffe  in  das  Güterrecht  mit 
„vielfältigen  und  dringenden  Beschwerden“  begleitet  und  musste 
aufgehoben  werden.  Ebenso  scheiterte  allein  am  Güterrecht 
das  erste  preussische  Gesetz  für  Westfalen  aus  den  vierziger 
Jahren,  und  gleicher  Weise  war  das  Güterrecht  einer  der 
Hauptgründe  dafür,  dass  das  bayrische  Stammgutsgesetz  von 
1855  ein  todtgeborenes  Kind  geblieben  ist.  Deshalb  sollte  man 
sich  auf  dem  Gebiete  des  ehelichen  Gttterrechts  und  seiner 
Berührungsgebiete  gänzlich  von  allem  Herumtasten  und  Ex- 
perimentiren  freihalten.  Wirtschaftliche  Zweckmässigkeits- 
erwägungen werden  hier  allerdings  kaum  den  Anlass  zu  solchen 
Versuchen  geben;  desto  mehr  aber  die  sogenannten  Forderungen 
der  „Gerechtigkeit.“  Und  vor  diesen  muss  man  sich  hier 
besonders  hüten.  Denn  wenn  es  überhaupt  die  vou  den 
städtischen  Gesetzgebern  ausgehende  moderne  „Gerechtigkeit“ 
ist,  welche  vom  Landvolk  nicht  verstanden  wird,  seine  Rechts- 
anschauungen verletzt  und  es  zu  einem  schroffabweisenden  Ver- 
halten gegen  das  neue  Recht  verleitet,  so  weichen  gerade  bei 
der  Auffassung  des  ehelichen  Verhältnisses  und  seiner  Folgen 
die  Anschauungen  der  massgebenden  städtischen  und  ländlichen 
Kreise  besonders  weit  von  einander  ab.  Es  ist  doch  nach  den 
Reichstagsverhandlungen  über  das  bürgerliche  Gesetzbuch  nicht 
mehr  zu  verkennen,  dass  die  ersteren  von  Strömungen  beherrscht 


337  c)  So  auch  das  westfalische  Gesetz  § 3«. 

23* 


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35G 


uder  wenigstens  beeinflusst  werden,  die  auf  möglichst  mechanische 
Gleichstellung  beider  Geschlechter  abzielen,  und  die  abgesehen 
von  ihrer  sonstigen  Berechtigung  auf  dem  Lande  jedenfalls 
nicht  begründet  sind  und  vor  allein  nicht  verstanden  werden. 
Für  die  Bestrebungen  der  modernen  Frauen  hat  weder  der 
Bauersmann  ein  Herz,  noch  die  Bauersfrau,  trotzdem  sie  die 
wahrhaft  nutzbringende  Gleichberechtigung,  die  herrschende 
Stellung  im  Innern  des  Hauses,  das  Zusammenhalten,  Vertheilen 
und  Verwalten  des  vom  Manne  Erworbenen,  das  ihr  von  jeher 
bei  den  Ariern  gebührte,  mehr  zur  Geltung  zu  bringen  und 
auch  besser  zu  vertreten  versteht  als  die  heutigen  Emancipations- 
schwärmerinnen.  Man  kann  deshalb  nichts  Besseres  thun,  als 
das  geschichtlich  gewordene  Recht  auch  fernerhin  beibehalten. 
Damit  vermeidet  man  alle  unsicheren  Experimente  und  man  hat 
anderseits  die  Gewähr,  dass  man  etwas  Praktisches,  d.  h.  den 
Verhältnissen,  aus  denen  es  selbstthätig  herausgewachsen  ist. 
Entsprechendes  erwählt  hat  und  zugleich  auch  etwas  wahrhaft 
Gerechtes,  d.  h.  etwas,  das  den  überlieferten  Rechtsanschanungen 
der  Betheiligten  genügt.55711) 

Was  wir  deshalb  oben  über  die  jetzigen  Einwirkungen  des 
bäuerlichen  Güterrechts  auf  das  Erbrecht  ausgeführt  haben,  soll 
auch  für  die  Zukunft  Geltung  haben.  Namentlich  der  Beisitz 
des  längstlebenden  Elterntheils  darf  nicht  angetastet  werden; 
er  ist  für  den  Bestand  des  Anerbenrechts  ebenso  wichtig,  wie 
der  oben  betonte  Beisitz  der  Geschwister  des  Anerben.337*) 
Nur  in  einer  Weise  kann  man,  wie  wir  schon  ausführten,  über 
das  bestehende  Recht  hinausgehen,  aber  in  einer  Richtung, 
welche  durch  die  bisherige  Entwicklung  bereits  vorgezeichnet 
ist.  Das  Uebernahmerecht  des  überlebenden  Ehegatten  bei 
seiner  Wiederverheirathung,  seine  Befugniss.  dann  wie  ein  An- 


S37'1)  Auch  Fick  S.  267  führt  aus,  dass  das  eheliche  Güterrecht  des 
bürgerlichen  Gesetzbuches  den  Anschauungen  der  Hauern  nicht  entspreche; 
ihnen  sage  die  Gütergemeinschaft  am  meisten  zu.  — Die  Wichtigkeit  des 
ehelichen  Gütenrechts  wird  übrigens  in  allen  einschlägigen  Schriften  aner- 
kannt. Vgl.  auch  Winkeltuann  auf  der  Agrarconferenz  S.  243. 

3.-Ü0)  j,;9  jj(  deshalb  durchaus  zu  billigen,  wenn  das  westfälische  Ge- 
setz (§  36)  auch  dem  nicht  in  Gütergemeinschaft  stehenden  Ehegatten  den 
Beisitz  gewährt. 


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357 


erbe  seine  erstehelichen  Kinder  abzufinden,  diese  Befugniss,  die 
lieute  schon  gegendweise  besteht,  kann  man  verallgemeinern, 
mindestens  für  den  Fall,  dass  der  Hof  von  dem  Ueberlebenden 
berrührt.  Weitere  Aenderungcn  des  bestehenden  Rechts  sind 
aber  gefährlich. 


§ 51. 

Znm  Schluss  müssen  wir  noch  die  für  die  gesetzgeberische 
Behandlung  des  Anerbenrechts  wichtige  Frage  berühren,  in- 
wiefern dasselbe  mit  Verschuldungsbeschrankungen  verbunden 
werden  soll. 

Wir  sehen  hier  zunächst  ab  von  den  grossartigen  Vor- 
schlägen, die  Lorenz  von  Stein  in  seinem  Buche  „Bauerngut 
und  Hufenrecht“  macht.  Diese  Vorschläge  haben  zwar  sehr 
viel  für  sich;  sie  knüpfen  auch  in  genialer  W eise  an  alte 
deutsche  Einrichtungen  an;  aber  sie  würden  eine  zu  vollständige 
Umwälzung  der  heutigen  Verhältnisse  bedingen,  als  dass  sich 
jetzt  Aussicht  auf  ihre  Verwirklichung  böte.  Gleichwohl,  wenn 
die  jetzigen  Zustände  noch  weiter  fortfahren  sich  zu  ver- 
schlimmern, so  wird  man  sich  doch  noch  entschlossen  müssen, 
durch  Ausführung  jener  Pläne  zwar  tief  in  alles  Bestehende 
einzuschncidcn,  dafür  aber  auch  das  Uebel  an  seiner  Wurzel 
zu  treffen.  Zunächst  indessen  stehen  die  von  Stein  befür- 
worteten Massnahmen  noch  nicht  im  Vordergrund  des  Interesses, 
es  ist  vielmehr  ein  anderes  Auskunftsmittel;  das  vornehmlich 
erörtert  wird,  nämlich  die  Schaffung  eines  Existenzminimums. 
Hierbei  handelt  es  sich  nun  eigentlich  weniger  um  eine  Ver- 
schuldungs-  als  um  eine  Executionsbeschränkung.  Es  soll,  auch 
wenn  der  Hof  schuldenhalber  verkauft  wird,  dem  Besitzer  immer 
ein  Theil  belassen  werden,  von  dem  er  notluliirftig  eine  Familie 
ernähren  kann. 

Es  ist  diese  Massregel  keineswegs  ohne  Anknüpfungspunkte 
in  unserem  bisherigen  Rechte.  In  Oesterreich  wenigstens  giebt 
es  ein  direkt  auf  Landgüter  bezügliche  Versteigerungsvor- 
schrift welche  einen  Anklang  an  das  Existenzminimum 


Vgl.  Marohet  S.  1337. 


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358 


bildet.  Wenn  dort  der  für  ein  Immobile  gebotene  Preis  nicht 
ein  Drittel  des  Schätzungswerthes  oder  Ausrufpreises  erreicht 
und  die  Durchführung  dieser  Veräusserung  das  wirtschaftliche 
Verderben  des  Schuldners  herbeizuführen  geeignet  ist,  so  kann 
das  Gericht  auf  Ansuchen  des  Schuldners  die  Execution  unter- 
brechen und  für  unwirksam  erklären.  Vor  Ablauf  eines  Jahres 
kann  dann  dieses  Immobile  nicht  wieder  zur  Execution  gezogen 
werden.  In  Deutschland  haben  wir  für  Immobilien  eine  ähn- 
liche Bestimmung  nicht.  Dagegen  findet  sich  bei  Mobilien  der 
auch  dem  Existenzminimum  zu  Grunde  liegende  Gedanke,  dass 
dem  Schuldner  einige  weuige  Arbeitsmittel  belassen  werden 
müssen,  verwirklicht  durch  § 715  C.  P.  0.,  welcher  dem  Hand- 
werker das  notdürftige  Handwerkszeug,  dem  Landmann  die 
Aussaat,  dem  Beamten  die  Amtstracht  u.  s.  w.  belässt. 

Die  Ausdehnung  dieses  Grundsatzes  auf  Liegenschaften 
würde  es  bedingen,  dass  dem  Landmann  auch  immer  einiges 
Land  belassen  werden  muss,  genau  wie  es  die  Lehre  vom 
Existenzminimmn  fordert.  Allein  diese  Ausdehnung  hat  doch 
ihre  schweren  Bedenken. 

Mobilien  sind  beliebig  theilbar.  Es  schadet  deshalb  nichts, 
wenn  ein  Theil  von  ihnen  der  Execution  entzogen  wird. 
Dadurch  wird  der  exequierbare  Theil  nicht  schlechter  verkäuflich. 
Anders  bei  Immobilien.  Diese  sind  nicht  beliebig  theilbar. 
Durch  eine  Abtrennung  unveräusserlicher  Theile  wird  deshalb 
der  zur  Versteigerung  freigelassene  Best  entwerthet.  Er  wird 
um  so  mehr  entwerthet,  als  der  ausgesonderte  unangreifbare 
Bestand  stets  das  Wohnhaus  und  die  Wirtschaftsgebäude  um- 
fassen wird.  Die  l'reigelassenen  Stücke  sind  deshalb  stets  von 
ihrem  Betriebsmittelpunkte  abgerissene  Fetzen.  Eine  andere 
Betriebsstätte  wird  man  aber  kaum  auf  ihnen  errichten  können, 
da  sie  entweder  zu  klein  sind  oder  örtlich  nicht  genug  bei  ein- 
ander liegen,  um  von  einem  Punkte  aus  bewirtschaftet  werden 
zu  können/*9*“) 


**•)  Man  stelle  sich  z.  B.  vor,  dass  die  zur  Versteigerung  kommenden 
Ländereien  um  den  Hof  herumliegen.  Dann  wird  als  Existenzminimum 
natürlich  der  Hof  mit  seiner  nächsten  Umgebung  ausgeschieden.  Als  ver- 
gautuugsfähig  bleibt  daun  also  ein  Hing  um  das  Centrum  herum.  Es  bedarf 


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350 


Landstiicke  ohne  Betriebsmittelpunkt  haben  nun  höchstens 
für  einen  Nachbar  Werth,  der  damit  seine  Feldmark  abrunden 
will;  im  Uebrigen  werden  sie  oft  unverkäuflich  sein.  So  wird 
es  kommen,  dass  durch  die  Schaffung  des  Existenzminimums 
nicht  nur  das  festgelegte  Bodenquantum,  sondern  das  ganze  Gut 
der  Execution  entzogen  wird.  Damit  bricht  aber  der  Real- 
credit  zusammen.'5*) 

Nun  halten  wir  dies  allerdings  nicht  für  ein  so  sehr  grosses 
Unglück.  Es  hat  Zeitläufte  gegeben,  die,  wie  das  ganze  Altertbum, 
fast  ohne  Realcredit  ausgekommen  sind,  wenigstens  den  Personal- 
credit  sehr  bevorzugt  haben.  Es  ist  sogar  ein  Vorzug,  wenn 
der  Personalcredit  wieder  mehr  in  den  Vordergrund  gerückt 
wird,  da  es  dadurch  der  persönlichen  Tüchtigkeit  leichter  wird, 
sich  geltend  zu  machen.  Dem  Wesen  des  Credits  entspricht  es 
auch  am  meisten,  wenn  man  giebt,  weil  man  persönliches  Ver- 
trauen zu  dem  Empfänger  hat.  Es  ist  auch  nicht  richtig, 
wenn  man  für  den  Realcredit  anfuhrt,  dass  er  der  billigere  sei. 
Der  Realcredit  ist  zwar  bei  uns  billiger  als  der  Personalcredit, 
aber  nur  deshalb,  weil  der  Personalcredit  bei  uns  eine  ganz 
unberechtigte  Zurücksetzung  findet.  Wo  Personal-  und  Real- 
credit beide  gleich  üblich  sind,  werden  beide  auch  unter  gleichen 
Bedingungen  gewährt.  Dies  zeigt  sich  schon  jetzt  in  denjenigen 
Gegenden,  wo  der  genossenschaftliche  Personalcredit  mehr  aus- 
gebaut ist.  Wo  vollends  das  jetzige  Verhältniss  der  beiden 
Creditarten  sich  umkehrt,  wie  es  in  Folge  der  Einführung  des 
Existenzminimums  geschehen  würde,  wo  der  Personalcredit  der 
häufigere  wäre,  da  würde  er  sogar  unter  billigeren  Bedingungen 
zu  haben  sein  als  realer.  Im  Alterthum  war  jedenfalls  die 
grössere  Billigkeit  des  Realcredites  nicht  vorhanden.  Gleich- 
wohl ist  die  fast  gänzliche  Vereitelung  des  Realcredites  durch 
das  Existenzminimum  eine  so  grosse  Veränderung  unserer 
heutigen  Verhältnisse,  dass  man  dabei  doch  etwas  zaudern 
sollte. 


keiner  Ausführung,  dass  sich  kaum  eine  Stätte  finden  lässt,  von  wo  ans 
dieser  King  zweckmässig  bewirtschaftet  werden  kann,  nachdem  sein  natür- 
licher Wirthschaftsort,  sein  Centrnm.  nicht  mitrerkauft  ist. 

Die  gleiche  Befürchtung  hegt  Mnrchet  S.  133S. 


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360 


Gegen  das  Existenzminiui uni  erhebt  sich  aber  noch  ein 
zweites  Bedenken.  Es  ist  dabei  unmöglich  einen  schlechten 
Wirth  vom  Hofe  zu  bringen.  Denn  ein  Minimum  muss  dem, 
der  einmal  Hofbesitzer  ist,  ja  immer  gelassen  werden.  Früher, 
in  den  Zeiten  des  Hofrechts,  als  nicht  nur  das  Existenzminimum, 
sondern  überhaupt  Unverschuldbarkeit  des  Hofes  bestand,  war 
gegen  diese  Gefahr  dadurch  Vorsorge  getroffen,  dass  der  Guts- 
herr einen  schlechten  Wirth  abmeiern  konnte.  Heute,  wo  es 
keine  Gutsherren  mehr  giebt,  müsste  man  gegen  einen  schlechten 
Wirth  schon  ein  behördliches  Abmeierungsverfahren  einführeu. 
Dem  wird  aber  niemand  das  Wort  reden  wollen.  Und  doch 
ist  die  Ersetzung  eines  schlechten  Wirthes  volkswirtschaftlich 
von  hoher  Wichtigkeit.  Zunächst  offenbar  vom  Produktionsstand- 
punkte aus.  Indessen  dieser  ist  ja  nicht  der  allein  massgebende. 
Ebenso  wichtig,  ja  vielleicht  heute  noch  wichtiger,  ist  der 
Vertheilungsstandpunkt,  die  Rücksicht  darauf,  dass  möglichst 
viele  in  möglichst  zweckmässiger  Weise  an  den  vorhandenen 
und  entstehenden  Betriebsmitteln  und  Gütern  theilnehmen.  Auch 
von  diesem  Standpunkte  aus  ist  es  aber  besser,  wenn  ein 
tüchtiger  Wirth  auf  dem  Gute  sitzt  und  es  geniesst. 

Jedenfalls  ist  die  Frage  des  Existcnzminimums  trotz  der 
Befürwortung  durch  den  deutschen  Landwirt hschaftsrath  und 
grosse  volkswirtschaftliche  und  juristische  Autoritäten  noch 
nicht  definitiv  bejahend  entschieden.  Aber  dies  „non  liquet“ 
schadet  dem  Auerbenrechte  nichts.  Denn  wenn  auch  das  An- 
erbenrecht zeitweise,  ja  sogar  lange  Zeit  mit  Belastung»-, 
Verkaufs-  und  Versteigerungsbeschränkungen  verknüpft  gewesen 
ist,  so  war  diese  Verknüpfung  doch  nur  eine  zufällige.  Das 
Anerbenrecht  ruht  auf  selbständigen  Grundlagen,  auf  dem 
Reclitsgedanken  der  Hausgeuossenschaft;  es  kann  deshalb  trotz 
freier  Verschuldbarkeit  bestehen,  hat  trotzdem  bestanden  und 
besteht  noch.339*)  Der  Zweck  der  Verschuldungsbeschränkungen 
wird,  wie  Marchet  (S.  1339)  treffend  sagt,  auch  besser  durch 
Schäftung  der  richtigen  Gläubiger  erreicht,  durch  Errichtung 
von  landwirthschaltlichen  Creditgenossenschaften,  wie  die  be- 


33B*)  Gleicher  Ansicht,  dass  Anerbonrecht  und  Verschnldungsgrenze 
nicht  zusammengchiSren,  auch  Brunner,  Agrarconferenz  S.  20H. 


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361 


kannten  Kaiffeysenschcn  Darlohnskasscn  es  sind,  durcli  ver- 
mehrte Benutzung  der  Lebensversicherung  durch  den  Bauern, 
damit  bei  seinem  Tode  genügendes  Abfindung«-  und  Betriebs- 
kapital da  ist,:t*')  endlich  durch  Gründung  staatlicher  Renten- 
banken und  Darlehnskassen,  wozu  man  ja  bei  den  Rentengütern 
schon  einen  Anfang  gemacht  hat. 

Ebenso  wenig  wird  man  Veräusserungsbeschränkungen  mit 
dem  Anerbenrechte  einführen. :MI)  Derartige  Verbote  waren  schon 
früher  wirkungslos:  sie  würden  es  auch  jetzt  sein;  sie  würden 
sogar  den  Bauern,  die  auf  ihr  neugewonnenes  volles  Eigenthum 
stolz  sind,  das  ganze  Anerbengesetz  verleiden.  Nur  eine  Ver- 
äusserungsbeschränkung  ist  geboten. 

Die  Bevorzugung  des  Anerben  nämlich  rechtfertigt  sich,  wie 
wir  schon  öfter  betont  haben,  aus  Familieninteresse;  sie  erfolgt, 
weil  jener  lediglich  für  die  Familie  den  Hof  verwaltet,  der  für  alle 
Familienmitglieder  eine  Zuflucht  bilden  soll.  Dieser  Bestimmung 
darf  der  Hof  nicht  durch  Verkauf  entzogen  werden.  Wenn  er  aller- 
dings infolge  ungünstiger  Umstände  nicht  mehr  gehalten  werden 
kann,  so  können  sich  die  Abfindlinge  über  seinen  Verkauf  nicht 
beschweren.  Geschieht  der  Verkauf  aber  lediglich  des  Gewinnes 
halber,  so  tritt  dadurch  eine  ungerechtfertigte  Bereicherung  des 
Anerben  ein,  da  er  nunmehr  wirklich  allein  und  dauernd  die 
Bevorzugung  für  sich  erhält,  die  er  vorher  nur  nominell  hatte, 
weil  er  sie  in  Wahrheit  durch  Gewährung  von  Unterhalt  und 
Zuflucht  mit  den  anderen  theilen  musste.  Man  wird  darum 
zwar  nicht  einen  derartigen  Verkauf  verbieten;  jedenfalls  aber 
ist  es  billig,  dass  der  Anerbe  den  Miterben  die  Opfer  ersetze, 
welche  sie  seiner  Zeit  im  Familieninteresse  gebracht  haben,  da 
das  Gut  diesem  ja  nun  doch  nicht  erhalten  wird.:M-)  Die  Voraus- 
setzungen des  Anerbenrechts,  das  ja  gerade  den  Nichtverkauf 
der  Höfe  bezweckt,  sind  hinweggefallen.  Das  Anerbenrecht 
muss  deshalb  wieder  rückgängig  gemacht  werden.  Es  wird 
darum  die  gleiche  Erbtheilung  nachgeholt,  indem  der  erzielte 


*“)  DerVerbreitung  dieses  Hilfsmittels  unter  den  Bauern  ist  namentlich 
die  Schrift  von  Schneider— Felber,  „Auerbenrecht  und  Lebensversicherung“ 
gewidmet. 

3")  So  auch  Gierke  a.  a.  O.  S.  27.  Itarchet  S.  1334  ff. 

34,2 ) Derselben  Ansicht  Marcbet  S.  1330. 


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362 


Verkaufspreis  getheilt  wird,  und  alle  Miterben  einen  Antheil 
davon  verlangen  können;  natürlich  aber  müssen  sie  auf  diesen 
Antheil  sich  das  bereits  ans  der  Erbschaft  Erhaltene  anrechnen. 
Da  auch  ferner  der  jetzige  Verkanfswerth  höher  sein  kann  als 
derjenige  zur  Zeit  des  Todes  bezw.  der  Erbesauseinandersetzung, 
so  kann  der  Anerbe,  soweit  der  etwaige  Mehrwerth  wegen  ge- 
schehener Meliorationen  sein  Verdienst  ist,  diesen  abrechnen. 
Endlich  ist  es  wohl  passend  das  Nachforderungsrecht  der  Mit- 
erben an  eine  Frist  zu  binden,  wofür  wir  eine  zehnjährige 
Vorschlägen  möchten.343)  Die  Vorschrift  wäre  deshalb  vielleicht 
so  zu  fassen: 

„Wird  innerhalb  der  nächsten  zehn  Jahre  nach  der 
Auseinandersetzung  der  Hof  vom  Anerben  Gewinnes  halber 
verkauft,  so  steht  den  Miterben  nach  Verhältniss  ihrer 
Erbportionen  ein  Antheil  vom  Kaufpreise  zn.  Von  dem 
Kaufpreise  wird  die  durch  etwaige  Meliorationen  des  Anerben 
erzielte  Werth vergrüsserung  vorher  abgesetzt.  Die  Miterben 
müssen  sich  auf  den  Antheil  alles,  was  sic  bereits  aus  der 
Erbschaft  empfangen  haben,  anrechnen  lassen.“ 


***)  Das  österreichische  Anerbengesetz  hat.  in  einem  ähnlichen  Falle 
eine  Frist  von  3 Jahren.  Diese  ist  offenbar  zu  kurz,  zumal  wenn  inan  nicht 
jeden  Verkauf,  wie  das  österreichische  Gesetz,  sondern  wie  wir  mir  den 
Gewinnes  halber  erfolgten  iin  Auge  hat  (Vgl.  Marehet  a.  a.  O.)  — Das  west- 
falische Gesetz,  (tj  32)  das  auch  jeden  Verkauf  an  Fremde  trifft,  erstreckt 
die  Frist  dagegen  auf  15  Jahre.  Das  dürfte  etwas  lang  sein,  auch  dürfte 
die  Ausdehnung  auf  Nothverkäufe  nicht  ganz  gerecht  sein,  obwohl  umgekehrt 
anerkannt  werden  muss,  dass  die  Feststellung,  oh  Noth-  oder  Gewinnverkauf 
vorliegt.  Schwierigkeiten  bereiten  kann.  Dagegen  verdienen  die  Vor- 
schriften. welche  den  Verkauf  von  Parzellen  erleichtern,  uneingeschränkte 
Billigung,  da  der  Hofbesitzer  hierin  Bewegungsfreiheit  haben  muss.  Ebenso 
ist  es  nicht  unpraktisch,  wenn  das  Gesetz  den  Miterben  ein  Vorkaufsrecht 
gewährt  (§  32).  Dass  beide  Mittel,  die  nachträgliche  Theilnng  des  Ge- 
winnes und  das  Vorkaufsrecht,  auch  nicht  unrolkgthümlich  sind,  ergiebt  sich 
daraus,  dass  sie  schon  vielfach  von  der  Bevölkerung  vertraglich  stipulirt 
werden.  Vgl.  hierüber  Fick  S.  48,  (11,  108,  170,  184. 


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3G3 


So  standen  wir  dann  am  Ende  unseres  langen  und  nicht 
mühelosen  Weges.  Wir  haben  den  ersten  Anfängen  des  An- 
erbenreclits  in  grauer  Vorzeit  nachgespürt.  Wir  haben  dann 
gesehen,  wie  es  auf  dem  Unterbaue  des  gemeinen  Landrechts, 
mit  dem  es  ursprünglich  eins  war,  sich  selbständig  entwickelt 
hat,  um  schliesslich  durch  das  Eindringen  des  römischen  Rechts 
in  einen  gewissen  Gegensatz  mit  der  gemeinen  Erbfolgeordnung 
zu  gerathen.  Wir  haben  die  Veränderungen  verfolgt,  welche 
Theorie  und  Gesetzgebung  ihm  aufgezwungen  haben,  die  es 
aber  schliesslich  siegreich  abgeschüttelt  hat.  Wir  haben  uns 
dann  ein  Bild  von  seinem  gegenwärtigen  Zustande  gemacht, 
haben  schliesslich  geprüft,  was  von  diesem  Bestände  für  die 
Zukunft  noch  lebensfähig  ist,  und  sind  zu  dem  Resultat  gelangt, 
dass  auch  fernerhin  in  den  meisten  Fällen  es  das  Beste  ist,  die 
bestehenden  Normen,  erprobt  und  gebildet  durch  eine  viel- 
hundertjährige Geschichte,  beizubehalten. 

Vergleicht  man  nun  mit  diesem  Resultate  den  Stand  der 
heutigen  Gesetzgebung,  so  wird  man  ihn  nicht  befriedigend  nennen 
können.  Ueberall  die  auf  Ueberschätzang  eigener  Weisheit 
beruhende  Abkehr  von  dem  historisch  Gewordenen,  ein  Suchen 
und  Tasten,  ein  Experimentiren  mit  neuen  Projekten.  Eine 
einzige  rühmliche  Ausnahme  macht  das  Casscl'schc  Höfegesetz. 
Es  hat  das  Versprechen  seiner  Verfasser,  lediglich  den  be- 
stehenden Landesbrauch  zu  codifiziren,  in  musterhafter  Weise 
eingelöst.  Bei  seiner  Regelung  hat  man  deshalb  stets  das 
Gefühl  Das  ist  kein  schwächliches  Knnstprodukt,  sondern  ein 
wirkliches  Erzeugniss  des  bäuerlichen  Bodens,  in  dem  es  fest 
wurzelt,  und  aus  dem  es  Lebenskraft  für  alle  Zeiten  empfangen 
kann.  Aber  auch  dies  Gesetz  krankt  an  dem  Fehler,  dass  es 
seine  guten,  mit  unseren  Vorschlägen  meist  zusaminentreifendcn 
Bestimmungen  seihst  zu  praktischer  Bedeutungslosigkeit  verur- 
theilt  hat,  indem  es  ebenfalls  das  System  der  Höferolle  auge- 
nommen und  damit  seine  Geltung  von  einem  Privatwillensakt 
der  Bauern  abhängig  gemacht  hat,  der  erfahrungsmässig  nie 
erfolgt. 

Das  neue  westfälische  Gesetz  vermeidet  diesen  Fehler, 
dafür  aber  bietet  sein  sonstiger  Inhalt  manchen  Angriffspunkt. 


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364 


Von  der  Reichsgesetzgebung  vollends  ist  nur  das  eine  zu  be- 
richten, dass  sie  für  das  bäuerliche  Erbrecht  nichts  gethan  hat. 

Aus  dieser  traurigen  Lage  der  Gesetzgebung  wird  sich 
deshalb  erst  der  Ausweg  zeigen,  wenn  man  wieder  den  Lehren 
der  Geschichte  Gehör  leiht  und  sich  darauf  besinnt,  dass  alles 
Gegenwärtige  und  Zukünftige  auf  historische  Zusammenhänge 
sich  stützen  muss  und  nicht  von  seinem  natürlichen  Boden  los- 
gerissen werden  darf.  Noch  heute  muss  sich  deshalb  der  Ver- 
fasser zu  den  Worten  bekennen,  mit  denen  er  vor  Jahren 
über  die  modernen  Höfe-  und  Anerbengesetze  urtheilte: 

Wie  es  sicherlich  ein  staatsmännischer  Gedanke  war,  die 
Erhaltung  eines  kräftigen  Bauernstandes  zu  fördern,  so  hätte 
man  diesen  Gedanken  auch  auf  staatsmännische  Weise  ver- 
wirklichen müssen.  Und  da  hat  man  zunächst  übersehen,  was 
kein  Geringerer  als  der  Freiherr  von  Stein  stets  betont  hat, 
dass  das  Neue  aus  dem  Alten  entwickelt  werden  muss,  wenn 
anders  es  von  Bestand  sein  soll.  Aber  noch  eine  zweite  Wahr- 
heit hat  man  vergessen.  Man  hat  nicht  beachtet,  dass  gerade 
im  Bauernrecht  die  ältesten  deutschen  Rechtsgedanken  mit  be- 
sonderer Treue  bewahrt  sind  und  dass  darum  nur,  was  ihnen  ent- 
spricht, auf  die  Dauer  sich  halten  kann.  So  bestätigt  sich  auch  hier 
die  Behauptung,  nicht  nur  im  politischen,  sondern  auch  im 
Rechtsleben  müsse  die  Mahnung  beherzigt  werden: 

„Ans  Vaterland  ans  theure,  schliess  Dich  an  . . . 

Das  sind  die  starken  Wurzeln  Deiner  Kraft.“ 


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Nachwort. 


Die  Hauptergebnisse  der  landwirtschaftlichen 
Betriebszählung  des  Jahres  1895. 

Unter  diesem  Titel  veröffentlicht  das  Kaiserliche  statistische 
Amt  im  Jahrgange  1897  seiner  Vierteljahreshefte  (in  der  Bei- 
lage zu  Heft  2)  einige  Hauptangaben  aus  der  1895  abgehalteneu 
landwirtschaftlichen  Betriebszählung.  Es  ist  interessant,  an 
der  Hand  dieser  Daten  unsere  Behauptungen  zu  prüfen,  die 
wir  S.  298  ff.  über  die  zersplitternde  Wirkung  der  Healtheilung 
anfstellten  und  die  noch  auf  der  Statistik  von  1882  fussen,  da 
aus  der  1895er  gleiche  Einzelheiten  noch  nicht  bekannt  sind. 

Das  statistische  Amt  stellt  nun  a.  a.  0.  S.  55  die  Be- 
hauptung auf,  es  habe  sich  durchweg  der  mittlere  Grundbesitz 
auf  Kosten  der  Parzellen-  und  Grossbetriebe  verstärkt.  Das 
würde  mit  unseren  Wahrnehmungen  nicht  stimmen.  Indessen 
abgesehen  davon,  ob  die  Behauptung  richtig  ist,  — was 
wenigstens  dadurch  zweifelhaft  wird,  dass  die  Parzellenbetriebe 
der  Zahl  nach  jedenfalls  gegen  früher  auf  Kosten  des  mittleren 
Besitzes  zugenommen  haben  (vgl.  a.  a.  O.  S.  55),  — so  trifft 
die  Behauptung  auf  alle  Fälle  nur  für  den  Reichsdurchschnitt 
zu.  Denn  ein  Blick  in  die  Einzeltabelleu  (S.  73  u.  75)  lehrt, 
dass  das  günstige  Resultat  nur  durch  die  Miteinrechnung  der 
Anerbengebiete  erzielt  wird.  In  den  Parzellengebieten  dagegen 
zeigt  sich  der  unaufhaltsame  Zug  nach  unten  und  andererseits 
als  Gegenstück  dazu  das  charakteristische  Anwachsen  der 
Latifundien.  In  Bayern  links  des  Rheines  tritt  dies  merk- 
würdigerweise noch  nicht  so  sehr  hervor.  Hier  sind  die  Par- 
zellen nämlich  nach  Zahl  und  Fläche  zurückgegangen.  Wer 
dies  aber  als  günstiges  Zeugniss  auffassen  wollte,  würde  irren. 
Denn  zwar  ist  die  nächste  Grössenklasse,  die  der  Kleinbauern 
von  2 — 5 ha  gewachsen;  trotzdem  aber  haben  nicht  vornehmlich 


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diese  die  Parzellen  aufgesogen,  sondern  ihre  Vergrösserung  ist 
auf  Kosten  des  Hittelbesitzes  erfolgt,  dessen  Fläche  entsprechend 
dem  ständigen  Zuge  nach  unten  herabgegangen  ist.  Die  Ursache 
der  Parzellenaufsaugung  ist  demnach  hauptsächlich  in  der 
enormen  Steigerung  der  Grossbetriebe  zu  suchen.  Diese  sind 
im  linksrheinischen  Bayern  der  Zahl  nach  herabgegaugen  und 
betragen  überhaupt  nur  noch  37.  Dennoch  ist  ihre  Fläche  um 
1356  ha  gewachsen.  Dasselbe  Bild  ergeben  Baden,  Hessen- 
Kassau  und  das  Rheinland.  Auch  hier  zeigt  sich  zwar  überall 
das  scheinbar  günstige,  wenn  auch  nur  sehr  geringe  Zurück- 
gehen der  Parzellenflächen ; aber  auch  hier  ist  es  hauptsächlich 
auf  Rechnung  der,  stets  die  Parzellenwirthscliaft  als  Kehrseite 
begleitenden,  Vergrösserung  der  Latifundien  zu  setzen.  In 
Hessen-Nassau  und  im  Rheinland  ist  diese  um  so  auffallender, 
als  in  Preussen  sonst  der  Grossbesitz  zurückgegangen  ist.  In 
Hessen-Nassau  ist  er  dagegen  an  Fläche  von  6,69  °/0  auf 
7,34  °/0  des  Gesammtareals  gestiegen,  im  Rheinland  sogar  von 
2,67  °/#  auf  3,51  °/0,  was  bei  der  sehr  geringen  Zahl  der  Gross- 
betriebe einen  enormen  absoluten  Flächenzuwachs  bedeutet. 
Am  gewaltigsten  ist  aber  die  Zunahme  der  Latifundien  in 
Baden,  wo  sie  an  Fläche  von  1,80  °/#  auf  3,06  ”/0  und  absolut 
von  13  302  ha  auf  22  792  ha  gewachsen  sind,  sich  also  bald 
verdoppelt  haben  werden.  In  Hessen-Nassau  und  Baden  zeigt 
sich  ausserdem  sonst  der  charakteristische  Zug  nach  unten,  am 
stärksten  in  Baden,  wo  ausser  den  Latifundien  nur  noch  die, 
dort  schon  vielfach  als  Zwergbesitz  anzusprechende  Grössen- 
klasse von  2 — 5 ha  eine  Vermehrung  aufweist,  während  der 
eigentlich  bäuerliche  Besitz  zurückgegangen  ist.  Im  Rheinland 
dagegen  scheint  ähnlich  wie  in  Sachsen-Altenburg  der  Besitz 
der  Grösseuklasse  20  — 100  ha  sich  an  der  Parzellenaufsaugung 
gleich  dem  Grossbesitze  zu  betheiligen,  wie  denn  auch  in  jenen 
Gegenden  ein  Besitz  aus  ersterer  Klasso  vielfach  schon  wirklich 
Grossbesitz  ist. 

Die  etwas  günstigeren  Ziffern  in  Württemberg  dürfen  wohl 
auf  Rechnung  des  dort  noch  stark  vertretenen  Anerbenrechts 
gesetzt  worden.  In  allen  übrigen  reinen  Realtheilungsländern 
aber,  so  in  allen  thüringischen  Fürstenthümern,  ausschliesslich 
des  schon  besprochenen  Sachsen -Altenburg,  zeigt  sich  die 
zersplitternde  Wirkung  der  Realtheiluug  in  der  Zunahme  der 


367 


Parzellen  nach  Zahl  und  Fläche  unverhüllt,  zugleich  zeigt  sich 
der  charakteristische  Zug  nach  unten,  am  stärksten  in  Coburg- 
Gotha,  wo  ausser  den  Latifundien  überhaupt  nur  die  Parzellen 
einen  Zuwachs  verzeichnen,  am  schwächsten  in  den  beiden 
Schwarzburg,  weil  dort  ähnlich  wie  es  oben  für  Alteuburg 
constatirt  wurde,  der  Besitz  der  Grössenklasse  unter  100  ha 
gleich  dem  darüber  hinausgreifenden  Grossbesitze  bezw.  an 
dessen  Stelle  anschwillt. 

So  ergiebt  denn  der  Durchschnitt  der  Realtheilungsländer 
in  der  That  das  oben  von  uns  entworfene  Bild:  Zerreibung  des 
Mittelbesitzes,  Anschwellen  der  kleinen  und  kleinsten  Betriebe 
und  deren  endliche  Aufsaugung  durch  den  grossen  Besitz. 
Aber  noch  in  einem  anderen  Puukte  bestätigt  die  Statistik 
unsere  Behauptungen.  Auch  wo  die  Vererbung  ungetheilt,  aber 
nach  gemeinem  Erbrechte  bewirkt  wird,  wie  vielfach  in  der 
Provinz  Sachsen,  mussten  wir  die  Befürchtung  unheilvoller 
Folgen  aussprechen.  Die  Statistik  bestätigt  das.  Denn  auch 
in  Sachsen  zeigt  sich  eine  Zunahme  der  Parzellenflächen,  daneben 
allerdings  auch  eine  geringe  Steigerung  des  Mittelbesitzes  von 
5 — 20  ha,  die  aber  durch  die  Abnahme  der  anderen  bäuerlichen 
Betriebe  und  eine  enorme  Steigerung  der  Latifundien  wett 
gemacht  wird.  Dasselbe  Bild  gewährt  das  wirthschafllich  zu 
Sachsen  zählende  Anhalt;  auch  hier  zwar  eine  geringe  Zunahme 
des  Mittelbesitzes,  dagegen  Abnahme  aller  übrigen  bäuerlichen 
Nahrungen,  correspondirend  begleitet  durch  eine  prozentuale 
Zunahme  der  Parzellen  und  der  Latifundien.  Die  Zunahme 
der  letzteren  ist  um  so  bedenklicher,  als  sonst  in  Anhalt  im 
Gegensatz  zum  Reiche  die  landwirtschaftlich  benutzte  Fläche 
abgenommen  hat.  Wenn  dennoch  die  Latifundien  prozentual  und 
absolut  sich  vergrössert  haben,  so  bedeutet  das,  dass  in  dem 
reichen  und  gesegneten  Anhalt  wegen  der  Belastung  mit  Erb- 
schulden auf  vielen  bäuerlichen  Wirtschaften  der  Betrieb  sich 
nicht  mehr  lohnt,  dass  sie  deshalb  an  die  Latifundienbesitzer 
veräussert  und  von  diesen  zu  unproduktiver  Benutzungsart  zu 
Jagdgründen  und  dgl.  bestimmt  werden.  Solchen  Erfahrungen 
gegenüber  wird  man  uns  schwerlich  der  Uebertreibung  zeihen, 
wenn  wir  oben  mahnten,  es  sei  die  höchste  Zeit  zu  einem  ge- 
setzgeberischen Eingreifen. 


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Quellenverzeiehniss. 


1)  S.  Adler;  Da»  Erbenwartreclit  nach  den  ältesten  bayrischen  Rechts- 

quellen  1891. 

2)  Die  Agrarconfercnz  vom  28.  Mai  bis  2.  Juni  1894.  Berliu  1894  (lei 

I’aul  Parey). 

3)  Carl  r.  Amira:  Erbenfolge  und  Verwandtschat'tsglicderung  in  altnieder- 

deutschen Rechten.  München  1874. 

4)  Derselbe:  Nordgermanisches  Obligationenrecht  lid.  I. 

5)  Bturnreiiher : StammgUtersystom  und  Anerbourecht,  Wien  1»S2. 

0)  Joh.  Jod  Beck:  Traetatus  de  Jure  Emphytentico.  Nürnberg  1739. 

7)  Benedikt  Carpiov:  Responsa  iuris.  Leipzig  1842. 

8)  Derselbe:  Jurisprudentia  foreusis,  herausgegeben  von  And.  Mylius 

Leipzig  1721. 

9)  G.  Bescler;  Deutsches  Privatrecht. 

10)  Christ.  Besold;  Thesaurus  practicns,  2.  Aufl.,  nach  dem  Tode  des  Verl 

besorgt  von  J.  J.  Speidel.  Nürnberg  1843. 

11)  Lujo  Brentano;  Die  Begründung  des  Anerbenrechts. 

12)  Derselbe:  Die  Entwicklung  des  Erbrechts. 

13)  Derselbe:  Die  Natur  des  Grundeigenthums. 

14)  Bruns;  Ueber  Testirfreiheit  und  Pllicbttheil.  In  der  Zeitschrift  :> ' 

vergl.  Rechtswissenschaft  Bd.  2 S.  161  ff. 

15)  i>.  Huri:  Lehnrecht.  Theil  2.  Neue  Ausgabe  von  Runde.  2 Bde.  Oie*»' 

16)  M.  Biisih:  Beiträge  zum  Meierrecht  im  FUrstenthum  Hildesbei* 

llildesheim  1855. 

17)  Dernbarg;  Preussisches  Privatrecht. 

18)  Flaberg:  Bäuerliche  Zustände  in  Deutschland.  Leipzig  1»S3. 

19)  Kmaccerus . Ein  Höferecht  für  Hessen.  Cassel  und  Berlin  l 

2i>  l Ludwig  Fiel';  Die  bäuerliche  Erbfolge  im  rechtsrheinischen  lUy-r 
Mit  einem  Vorwort  von  Lujo  Brentano.  Stuttgart  >' 
(Citirart  des  Vorworts:  Brentano,  Vorwort). 

21  Fnker . Untersuchungen  zur  Erbenfolge  der  ostgermaniseben  R. 

Innsbruck  1891.  2 Bde. 

22)  Förster- Kains ; Preussisches  Privatrecht. 


Id  der  ..ZukatiH" 
III.  J»brgMac  ll*Jc 
Sr.  4'J  bi»  5«. 
iCiti«mrt . 
lireotaoo,  Zak»i:  ■ - 


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369 


23)  Frank;  Hecht  der  Nachfolgo  in  Meiergiiter  des  Fiirstenthums  Lüneburg 
und  der  Grafschaft  Hoya.  Hannover  1802. 

24}  G.  FranUküu:  Tractatus  novus  et  pleuus  de  Landemüs.  Jena  1728. 
25)  G.  FrummhM:  Die  rechtliche  Natur  des  Anerbenrechts  nach  der  neuesten 
deutschen  Höfegesetzgebuug  etc.  Breslau  1885. 

28)  Derselbe:  Beiträge  zur  Geschichte  der  Einzelerbfolge  im  Deutschen 
Privatreckt  (in  Gierkes  Untersuchungen  zur  Deutschen  Staats- 
nnd  Rechtsgeschiehte). 

27)  G.  F.  Führer:  Kurze  Darstellung  der  meierrechtlichen  Verfassung  iu 

der  Grafschaft  Lippe.  Lemgo  1804. 

28)  L.  Fühl:  Das  Erbrecht  des  Code  civil  und  der  bäuerliche  Grundbesitz 

(In  Schmollers  Jahrbüchern,  Jahrgang  XII  S.  1024  ff.) 

29)  Gaetle:  Die  gutsherrlich  - bäuerlichen  Besitzverhältnisse  in  Neuvor- 

pommern  und  Rügen. 

30)  Alfons  Frk.  v.  Ungern:  Die  Succession  iu  Bauerngüter  und  laudwirth- 

schaftiiche  Erbgüter.  Erlangen  1891. 

31)  O.  Gierke:  Genossenschaftsrecht  lld.  1 (1868). 

32)  Derselbe:  Erbrecht  und  Vicinenrecht  im  Edikt  Chilpericks  (Zschr.  f. 

Rgesch.  12.  Bd.  1872). 

33)  Derselbe:  Die  Stellung  des  künftigen  bürgerlichen  Gesetzbuches  zum 

Erbrecht  in  ländlichen  Grundbesitz.  (In  Schmollers  Jahrbüchern, 
Jahrgang  XII). 

34)  Derselbe:  Der  Entwurf  eines  bürgerlichen  Gesetzbuches  und  das 

deutsche  Recht.  Leipzig  1889. 

35)  Derselbe:  Bäuerliches  Erbrecht  und  bäuerliche  Erbsitte  in  Bayern. 

(In  der  Münchener  Allgemeinen  Zeitung  de  1895,  Beilage  Nr.  1 84 
bis  180), 

36)  Grefe:  Hannoversches  Recht.  1860.  2 Bde. 

37)  Karl  Grünberg:  Studien  zur  österreichischen  Agrargeschichte  und 

Agrarpolitik.  (In  Schmollers  Jahrbüchern,  Jahrgang  XX 

(1896)  S.  23  ff  ) 

38)  v.  Haag:  l'ntersuchung  der  wirthschaftlichcn  Verhältnisse  iu  24  Ge- 

meinden des  Königreichs  Bayern.  (Iu  Schmollers  Jahrbüchern, 
Jahrgang  XX  (1896).  S.  SD  ff.) 

39)  Helferich:  Bäuerliche  Erbfolge.  München  1883, 

40)  lleusler:  Institutionen  des  deutscheu  l’rivatrechts. 

41)  Hammel:  Raphsodia  quaestionuin  etc.  Baruthi  1769. 

42)  Eugen  Huber:  Die  historische  Grundlage  des  ehelichen  Güterrechts  iu 

der  Berner  Handfeste.  Basel  1884  (Festgabe  zum  äüjährigen 
Bestehen  der  Universität). 

43)  M.  Joffe:  Bodenrecht  uud  Bodenvertheilung  in  Irland.  (In  Schmollers 

Jahrbüchern,  Jahrgang  XVII  S.  1021  ff.) 

44)  Th.  v.  InamarSterncgg : Untersuchungen  über  das  Hofsystem  im  Mittel- 

alter.  1872.  Innsbruck. 

45)  Verhandlungen  des  dreiundzwanzigsten  deutschen  Juristentages.  Berlin 

1895  (bei  Guttentag)  2 Bde. 

▼.  Du ltil r,  Grunderbreobu  2^ 


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370 


46)  Knapp  und  Kern:  Die  ländliche  Veefassung  Nicderschleaiens.  (Iu 

Schmollers  .luhrkUchem,  Jahrgang  XIX  (1895)  S.  ü2  ff.) 

47)  Kollier:  Die  Gewohnheitsrechte  des  Pendschab.  (In  Zschr.  f.  vergl. 

Rechtswissenschaft  Bd.  7). 

48)  Kühler:  Indisches  Ehe-  und  Familien  recht.  (ln  Zschr.  f.  vergl.  Rechts- 

wissenschaft Ud.  3). 

49)  Koken ; Die  rechtlichen  Grundideen  des  deutschen  Colouats,  Holz- 

miuden  1844. 

50)  Leint:  Altarisches  Jus  gentium.  Jena  1889. 

51)  Leist;  Alfarisches  Jus  civile.  Jena  1892. 

52)  Lennep : Abhaudlung  von  der  Leihe  zu  Landsiedelrecht.  2 Thcile. 

Marburg  1768.  4°. 

53)  Joan.  Petr,  de  Ludewig:  De  Jure  clientelari  Germauorum  in  feudis  et 

coloniis.  Hallo  1738. 

54)  J.  Lutschitzky : Zur  Geschichte  der  Grundeigeuthumsluriuen  in  Russ- 

land. (In  Schmollers  Jahrbüchern.  Jahrgang  XX  (1896) 

S.  IM  ff.) 

55)  Nie.  Christoph  de  Lynker:  Resolutiones  disceptationum  forensinm  . . etc. 

Jena  1713. 

56)  G.  Marchet:  Das  österreichische  Gesetz,  betreffend  die  Eiufiihruug  be- 

sonderer Erbtlieilungsvorschrifteu  für  landwirthschaftliche  Be- 
sitzungen mittlerer  Grösse.  (In  Schmollers  Jahrbüchern, 
Jahrgang  XIII  S.  1305). 

57)  G.  L.  v.  Maurer:  Frohnhöfe.  München  1862. 

58)  Derselbe:  Geschiente  der  Dorfverfassung.  Erlangen  1895—66. 

59)  Meitzen:  Der  Boden  und  die  landwirtschaftlichen  Verhältnisse  des 

preussischen  Staates. 

60)  B.  Meyer:  Das  Colonatrecht.  Lemgo  und  Detmold.  1855. 

61)  E.  IL  W.  Meyer:  Theilungsverbot,  Anerbenrecht  und  Beschränkung  der 

Brautschätze.  Berlin  1895. 

62)  IL  Meyer:  Die  Landgiiterordnuug  für  Westfalen.  Berlin  1882. 

63)  v.  Miaskowski:  Das  Erbrecht  und  die  Grundeigouthumsvertheilung  im 

deutschen  Reich. 

64)  Motive  zu  dem  ersten  Einführungsgesetz  zum  bürgerlichen  Gesetzbuch 

(Citirart:  Motive.) 

65)  R.  A.  Noltenii:  Diatribe  de  Juribus  et  consuetudinibus  circa  villicos. 

Braunschweig  1738. 

66)  H.  A.  Oppermann:  Sammlung  der  im  Fürstenthum  Lüneburg  und  in 

den  Grafschaften  Hoya  und  Diepholz  erlassenen,  aul  das  Meier- 
recht bezüglichen  Verordnungen,  Ausschreibeu  und  Resolutionen. 
Nienburg  1854. 

67)  Pauken:  Schleswig-Holsteinisches  Privatrecht. 

68)  Pfeifl'er : Meierrecht. 

69)  W.  IL  Puehta:  Ueber  die  rechtliche  Natur  dor  bäuerlichen  Gutsab- 

tretuug.  Giessen  1837. 

70)  Pufendorf:  Observationes.  Hannover  1780  ff. 

71)  0.  Ihulorff : Das  hannoversche  Privatrecht.  Hannover  1884. 


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371 


72)  Mumie,  lnterimswirthschaft. 

7.’}'  Derselbe-:  Is-ibzinht.  Oldenburg  1X05. 

74)  Schiller:  Praxis  Juris  Romani  in  foro  (iermauico. 

75)  ScbiUer-Oambe:  Dissertntio  de  bonis  laudemialibus.  Strassburg  1690. 
76  Sch  Mulle r : Der  Kampf  des  preussisclien  KiSuigthums  um  die  Krhaltuug 

des  Rauernstandes  (in  seinen  Jahrbüchern  l!d.  Xll  S.  645  ff.) 

77)  Derselbe:  Besprechung  von  Lampreehts  und  Rogers  Werken  Uber  die 

soziale  Entwicklung  Deutschlands  und  Euglands  im  Mittelalter 
(ebenda  S.  203  ff ) 

78)  Sehneuler-Velber : Anerbenrecht  und  Lebensversicherung.  Hannover  1890. 

79)  Schul:  III:  1 'eher  Abfindungen  von  deutschen  Bauerngütern,  llrauti- 

schweig  1838. 

80)  Rud.  Schreiber : Gütorzertrümmerung  und  Abnahme  der  Höfe  in  Ober- 

bayern. (In  Schmollen  Jahrbüchern  von  1894  S.  63  ff.) 

81)  M.  Schultienstein : Landgüterordnung  für  Brandenburg  1883. 

82)  E.  v.  Schieimi : Zur  Entstehungsgeschichte  der  freien  Erbleiheu  in  den 

Rbeingegenden. 

83)  M.  Sering:  Die  Entwürfe  für  eine  neue  Agrargesetzgebung  in  Oester- 

leich.  (In  Schmollen  Jahrbüchern.  Jahrgang  XVIil  S.  382.) 

84)  Derselbe:  Besprechung  des  Fickschen  Buches.  (In  Schmollen  Jahr- 

büchern, Jahrg.  XX  S.  198  ff.) 

85)  Derselbe:  Die  preussische  Agrarconferenz.  (In  Schmollen  Jahrbüchern, 

Jahrgang  XVIII,  S.  943  ff.) 

86  bis  90)  Schriften  des  Vereins  für  Socialpolitik  Bd.  58,  Bd.  61,  73,  74, 
75  (Citirart:  Sehr.  d.  V.  f.  S.) 

91)  Th.  Soeryel:  Das  bäuerliche  Erbrecht  in  Bayern.  Ansbach  1892. 

92)  Sumbart:  Das  Familienproblem  in  Italien.  (Schmollen  Jahrbücher, 

Jahrgang  XII.  S.  290.) 

93)  Summer:  Die  Bauerngüter  in  Westfalen.  Hamm  und  Münster  1823 

(Citirart:  Sommer,  Westfalen). 

94)  Derselbe:  Die  bäuerlichen  Rechtsverhältnisse  in  Rheinland- Westfalen. 

Hamm  1830  (Citirart:  Sommer,  Rheiulaud -Westfalen). 

95)  Lorenz  v.  Stein:  Bauerngut  und  Hufenrecht.  Stuttgart  1882. 

96)  Steinacker:  Privatrecht  des  Herzogthums  Branuschweig.  Wolfen- 

büttel 1843. 

97)  Stubbe:  Deutsches  Privatrecht. 

98)  G A.  Struben:  Commontatio  de  jure  villicorum.  3.  Ausgabe. 

Hannover  1770. 

99)  J.  M.  Struben:  Befestigtes  Erbrecht  der  Stift-lFildesheimischen  Meyer. 

Hannover  1752. 

100)  Struckmann:  Praktische  Beiträge  zur  Kenntniss  des  Osnabrückischeu 

Eigeuthumsrechts.  Lüneburg  1826. 

101)  Stryk:  Usus  modernus  Pandectarum.  Halle  1739. 

102)  WeUthümer,  hernusgegeben  von  Grimm.  6 Bde.  (Citirart:  Grimm  I, 

108  oder  I,  108  = Weisthümer  Bd.  l S.  108). 

103)  Landgüterordnung  für  die  Provinz  Westfalen,  herausgegebeu  vom  Vor- 

stände des  westfälischen  Bauernvereins.  Münster  1882. 

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104)  Wigand,  Provinzialrecht  von  Paderborn  und  Corvey.  Leipzig  18X2. 
(Citirart:  Wigand,  Paderborn.) 

100)  Wigand:  Provinzialrecht  des  Fiirstenthutns  Minden,  der  Grafschaften 
.Ravensberg  und  Rietborg  etc.  Leipzig  1834.  (Citirart: 
Wigand,  Minden-Ravensberg). 


Die  Citate  sind,  wo  nichts  anderes  vermerkt  steht,  immer  nur  mit 
den  Namen  des  Schriftstellers  und  der  Seite  angcgebou.  Einige,  ansser  den 
vorstehenden  noch  benutzte  Werke  sind  in  der  Abhandlung  genau  citirt. 


l>ruck  von 


Otto  inniger  in  Altwasser 


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UNIV.  OF  MICH. 

BINDERY 


UNIV.  OF  JUCH. 

BINDIiRY 

JAN  25  1939