Sexualleben
und
Nervenleiden
Leopold Löwenfeld
Library of
Dr. Martin Krotoszyner
SEXUALLEBEN
NERVENLEIDEN.
VON
Dr. l Löwenfeld.
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SEXUALLEBEN os^
UND
wj NERVENLEIDEN.
DIE
NERVÖSEN STÖRUNGEN
SEXUELLEN URSPRUNGS.
iNEBSl EINEM ANHANG
Ober
PROPUUäX£ UKD BEHÄNDLUMG der S£Xü£LL£N li£üfiAäIU£l(I£
VON
Dr. l Löwenfeld,
SPKZIALARZT FQR NERVkNKRANKBEITEN IN MONCHEiT.
I/I£RT£ VÖLLIG UMQEARBtlTETE UNO SEHR VERMEHRTE AUFLAGE.
WIKSBADEN.
VERLAG VON J. F. ßERGMANN.
19i>6.
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Alle Rechte vorbehalten.
Kgl, Uni veniUto- Druckerei von II. SlOru, Wflrtburff.
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Inhaltsübersicht.
Seit«
Vorwort ?urerstenAuflage Vtl
V 1) r \v ü r t z 11 r z \v c i t e n A 11 1 1 a ^ e VII
Vorwort z u r d r i tt en A ufi age IX
VorwortzurvicrtenAuflagc. . . . X
Vorbemerkungen i
I. Sexualtrieb und l'ubcrtat^entwickluni; 6
Aiiliaiig. Zur I'liysiologie dt's Srxiialtriebs 14
lt. Die nervösen Störungen der Pubertätszeit 20
III. Die nervösen und psychisclien Störungen der Menstruationszoit 23
^Vnhang. Lintluss der Mcnstruatiou auf bestehende iNcrven -
krankheiten und Psychosen 29
IV. Die nervösen und ps)'chischen StörtiiiL;* n der Schwangerschalt 32
Anhang. Uber den Einfluss der Schwangerschaft auf Neurosen
und Psychosen 46
V. Die nervOsen Störungen im natürlichen und künstlichen Kli -
inakti riLim iKlimaklcrische Neurose) • 50
VI. Die sexuelle Abstinenz beim Manti«.- . .. . . , .. .. . .. 6a
VII. Sexuelle Abstinenz und Mangel sexueller Befriedigung beim
Weibe 90
VIII. Sexuelle Kxzesse und Ähnliche Schädlichkeiten 97
IX. Onnnie . . , , . . . , , , . , . . , . . . LL2
X. Der sexuelle Präventivverkehr ■ . . . 1^
XI. Uber den Kinfluss sexuellen V^erkehrs auf bestehend»- Nerven -
krankheiten und die Disposition zu solchen .... 189
XII. Krkrankungen der Sexualorgane bei Mflnnern als Ursache
von Nervenleiden . 199
Anhang. Uber Pollutionen und pollutionsartigc Vorgange bei
beiden Geschlechtern i;o4
XIII. Krkrankungen der Sexualorgane bei Frauen als Ursache von
Nervenleiden 2i«>
XIV. Die Freud'^che Theorie von der Sexualität in der Ätiologie
der Neurosen 237
XV. Eigene Untersuchungen über die sexuelle Ätiologie der neu -
rotischen Angstzustande 256
VI
Inbaltsüber!* ich t .
XVl. Die Anomalien des Sexualtriebes 267
L Quaatilative Anomalien des Geschlechtstriebes a68
A. Mangel und krankhafte Herabsetzung des Geschlechts*
tricbcs.
Sexuelle Anästhesie, Anaphrodisic (Lulenburg) . . . a68
Krankhafte Steigerung des Geschlechtstriebes!.
Sexuelle Übererregbariceit. Sexuelle Hyperästhesie,
sexuelle Hyperlagnie (Eulenburg), Lil>ido nimia . . . 270
IL Qualität; vr Anr^malien des Geschlechtstriebes a8a
A. Homosexualität
KoDhrSre Sexualempfindung a6a
L KontrAre SexualempHndung beim Manne.
I 'r.inisnius, I 'rn!n<^tiim Sfla
IL Die kontrare Scxualemptindung beim Weibe.
(Viraginität, Maskulinität, Gynandrie) . . . 301
B. Substitutive Formen heterosexudler Perversion.
Geschlechtlicher SymboUsmus 307
I. Fetischismus 307
IL Andere subsiiiuuve Formen heterosexueller Per-
version.
Exhibitionismus 319
C. Algolagiiic.
Sadi.smu-s und Masochismui* 330
I. Sadismus 32a
IL Maaochismus 33a
Anhang. Periodisches Auffareten von Anomalien des
S« xualtricbes 339
XVIL Prophylaxe und Behandlung der sexuellen Ncurastlienie . . 343
Uteratur 388
Sachregister 397
Vorwort zur ersten Auflage.
Ob die Schrift, welche ich hiemit der Öffentlichkeit Ober-
gebe, einem allgemeiner gefühlten Bedürfnisse entgegenkommt,
weiss ich nicht. Dass sie aus einem subjektiven Bedürfnisse
des Verfassers hervorgegangen ist, kann ich dagegen versichern.
Dem noch immer erheblichen Widerstreite der Meinungen über
die Rolle, welche sexuelle V'organ^'e als Ursache von Nerven-
krankheiten spielen, und dem bei Behandlung einzelner ein-
.sciilägiger I'Vagen in der jüngsten Literatur liekundcten wenig
kritischen Eifer ijegenüber scheint es nur am 1 laize, die Tat-
sachen zu Worte kommen zu lassen, welche eine streng objek-
tive Sichtung meiner eigenen Erfahrung wie des in der Literatur
angesammelten Beobachtungsmateriales ergab.
München im Mai 1891.
L. Löwenfeld.
Vorwort zur zweiten Aul läge.
Die zweite Auflage der Schrift ,,Nervöse Störungen sexuellen
Ursprungs*', die ich hiemit der Öffentlichkeit übergebe, weist
gegenüber der ersten derartige Veränderungen auf, dass man
fast von einer neuen Arbeit sprechen kann« Die Zahl der
Kapitel ist von 6 auf 14 gestiegen, und die von der ersten Auf-
lage übernommenen Abschnitte haben zum grössten Teil eine
weitgehende Umarbeitung erfahren. Dem Texte wurde eine
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vin
Vorwort 2ur zweiten Auflage.
grosse Zahl von Beobachtungen emgctügt, welche meinen Aus-
führungen als Belege dienen werden.
In den 8 Jahren seit dem Erscheinen der ersten Auflage
ist die Literatur, welche sich mit den verschiedenen Problemen
des Sexuallebens beschäftigt, bedeutend angewachsen. Auch
Ober die der Sexualsphäre angehörenden und mit derselben
ursächlich xusammenbängenden Nervenkrankheiten wurde eine
grössere Zahl von Arbeiten und darunter manche wertvolle
publiziert. Hiedurch ist jedoch meines Erachtens die hier vor-
liegende Schrift in keiner Weise QberflQssig geworden. Dieselbe
behandelt ein sehr wichtiges Gebiet der Nervenpathologie, das
in keinem anderen Werke unserer g^enwärtigen IJteratur eine
selbständige Beart>eitung erfahren hat: die Ätiologie und Sym-
ptomatologie der Nervenkrankheiten, welche in der Sexualsphäre
ihre Quelle haben. Der Leser findet hier, abgesehen von den Ergeb-
nissen meiner eigenen, den Gegenstand betreflTenden Erfahrungen,
in zusammenhängender Darstellung vereinigt, was er sonst nur m
zahlreichen Arbeiten zersttcut fmdcn kann, Durch gleichmässige
und streng kritisclie Bot ücksichtigung der Liter.it ui ^<i .\\ ie meiner
perstinlichen Beobachtung liabe ich auch auch t>einuht, eine voll-
stänifit,'e Übersicht üb» r den derzeitigen Stand unseres Wissens
auf dem von mir bchandrltcn Gebiete zu j^eben.
Die erste Auflage hatte sich in den Kreisen der Fach-
genossen einer freundlichen Aufnahme zu erfreuen. Bezüglich
der hier \orliegenden zweiten Auflage glaube ich mich der
Hoffnung hingeben zu dürfen, dass man, wie immer auch das
Urteil Ober die Einzelheiten meiner Ausführung lauten mag,
jedenfalls das ernste Bestreben meinerseits nicht \*erkennen wird,
unsere Kenntnis der in der Sexualsphäre wurzelnden Nerven-
leiden zu fördern.
München, im März 1699.
L. Löwenfeld.
L.ijiu<_cü üy Google
Vorwort zur dritten Auflage.
Die hier vorliegende dritte Auflage weist ihrer Vorgängerin
gegenfiber nicht nur lahlreiche kleinere Zusätie und Änderungen
In den einselnen AtMchnitten, sondern auch eine Erweiterung
durch ein neues Kapitel auf, das den Anomalien des Sexual-
triebs gewidmet ist. Zur Besprechui^ dieser Anomalien ^er«
anlasste mich sowohl das mediiinisdie Interesse, welches den-
selben an sich zukommt, wie deren Bedeutung als nervenschädi-
gendes Moment. Ich war auch bei Abfassung des neuen Kapitels
in der Lage, meiner Darstellung sum grossen Teile eigene Be-
obachtungen zu Grunde zu l^en, und darf wohl annehmen,
dass durch dieselbe die Schrift eine fQr den Praktiker wertvolle
Ergänzung gefunden hat.
Der Arzt hat gegenwärtig mehr denn je Veranlassung, sich
mit den Problemen des Sexuallebens ernsthaft zu beschäftigen.
Wohl und Wehe l iigezahlter hängt von der Gestaltung ihres
Sexuallebens ab, und wenn wir auch nicht alle Misstände auf
diesem Gebiete veihütcn oder beseiligen k^innen, so sind wir
(if)ch oft genug in der Laj^c, durch imseren Rat in sexuellen
Angeh^feiiheiten G« sundhcitsst( irungen hintanzuhalten, oder be-
stehende L!>el durch unser I'^m^reiten zum Schwinden zu bringen.
L'm den Antorderuniien der Praxis in dieser Hinsicht genügen
zw können, nmss der Arzt selbstverständlich mit dem derzeitigen
Stande unserer Kenntnisse über die Beeinflussung des Nerven-
systems durch Zustände und Vorgänge in der Sexualsphärc ver-
traut sein. Was auf diesem Gebiete die Mitteilungen in der
Literatur der letzten Jahre und meine eigene fortschreitende Er-
fahrung gelehrt haben, fand in der vorit^enden Auflage sorg-
fältige Berücksichtigung.
München im Oktober 1902.
L. Löwenfeld.
Vorwort zur vierten Auflage.
Die Probleme der Physiologie und Pathologie des sexuellen
Lebens bilden, fortgesetzt einen Gegenstand besonderen ärzt-
lichen Interesses. Diesem Umstände wurde auch in der hier
vorliegenden vierten Auflage tunlichst Rechnung getragen Die-
selbe weist neben mehreren neuen Abschnitten zahlreiche Ände-
rungen und kleinere Zusätze auf. Die Erweiterungen betreffen
die Physiologie des Sexualtriebes, die nervösen und psychischen
Störungen der Schwangerschaft und eine kurze Darstellung der
Freud 'sehen Theorie Ober die Rolle der Sexualität in der
Ätiologie der Neurosen aus der Feder des Autors.
Unter den N«ierungcn, welche die vorliegende Auflage
bringt, möchte ich hier nur die Verwertung der chemischen
Theoi^ie des Sexualtriebs auf pathologischem Gebiete erwähnen.
So hypothetisch auch die Anschauungen sind, zu welchen
ich auf diesem Gebiete gelangen konnte, so sind dieselben doch
das Ergebnis vielfacher Erwägungen, und ich darf daher wohl
hoffen« dass sie von den Fachgenossen einer Prüfung wert er-
achtet werden.
München, Dezember 1905.
L. Löwenfeld.
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Vorbemerkungen.
Die Vorgänge des sexuellen Lebens stehen unter dem
Einflüsse des Nervensystems; sie sind von der Funktion gewisser
zentraler Apparate abhängig. Von Budge, Eckhard und Goltz
wurden auf experimentellem Wege Zentren für die Akte der
Erektion und Ejakulation im Lendenmark von Tieren nachge-
wiesen, und es unterliegt keinem Zweifel, dass in dem gleichen
Markabschnitte beim Menschen ebenfalls Zentren für den Ge-
schlechtsakt vorhanden sind. Auch in der Grosshirnrinde hat
das sexuelle Leben seine Vertretung; die demselben angehörigen
psychischen Geschehnisse, Vorstellungen, Gefühle und Dränge
sind jedenfalls an gewisse kortikale Territorien gebunden. Ob
jedoch eine einhcitliclu-, umschriebene Zentralstelle für den Ge-
schlechtssinn in der Cir« »s^hii nrinde existiert, blieb bis in die
neuere Zeit >:weil"clhaft ' ». Die Ihciiie Galls, nach welcher
das Kleinhirn den Sitz des Fi rtjiilanzungstriebes beherbergen soll,
ist schon lange als irrtümlich erkannt. Ferrier glaubte aus
gewissen cx{)erinientellen Tatsachen schliessen zu können, dass
die Zentren der sexuellen V<irstellungen w ahrsrhcinlicli in jenen
Regionen des Gehirns zu suchen seien, welche den 1 iinterhaupts-
lappen mit dem tieferen und inneren Teile des Schläfenlappens
So hielt ca z. B. v. K raft t-Ebing für gerechtfertigt, als Stelle für die
Ati-slf'i-iin;^ -sexual IT Gefühle, Vorstellungen uml Dränge eine bestimmte Region der
Hirnrinde (zerebrales Zentrum) zu vermuten. J, Roux (Psychologie de l'Inblinct
sexual, Paris 1899) erachtete e« dagegen (üt nuttlo«, nach «iocm bestimmten Zentrum
fttr die sezudle Funktion im Gehirn zu suchen, da ein solches Zentrum nicht existiert.
L0w«afeld, SeaueU-aen.'Sie StiSniagea. Vierte Aufl. 1
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2
Vorbemerkungeo.
verbinden. Die fraglichen Beobachtunj^en Fcrrier's sind jedoch
mehrdeutiger Natur*) und die darauf basierte Vermutung hat
bisher weder durch physiologische, noch durch pathologische Be-
obachtungen eine weitere Stütze erhalten. Nach Flechsig sind
die Wollustgefühle, „soweit sie durch die Haut und Schleimhaut
der äusseren Geschlechtsteile %*ermittelt werden", in der Körper-
fühlsphäre (Zentralwindungen, hintere Partie der Stimwindungen,
Parazentrallappen, gyrns fornicatus) lokalisiert, da auch diese Teile
der Körperoberfläche bei Zerstörung des Stabkranzes der Körper-
fühlsphäre unempfindlich werden. Ob jedoch auch der Geschlechts-
trieb, welcher von den inneren Sexualorganen, insbesondere den
Keimdrüsen abhängt, in der Körperfühlsphäre repräsentiert ist,
hält der Autor für fraglich. Neuerliche Experimente an Tieren
haben zwar die Existenz eines umschriebenen Rindenzentnims
für den Geschlechtstrieb beim Menschen sehr wahrscheinlich ^'e-
macht, für die La^'e desselben jedoch keine 1 ingorzci<*e j^eliefLi t ■ j.
Nach den Untersuchungen Eckhard 's und G<»lt/s an
Tieren stehen das Gehirn inid .lir li iheren Rückenrnail;sali.schniltc
mit den genitalen Ruckcnnias k>/t ntren durcli Bahnen in Ver-
bindung, welche diesen erregende und henunende Einflüsse über-
mitteln. Pathoi* li^ischt Tatsachen und Erfahrun;^en des tät-
lichen Lebens lehren, dass solche Verbindungen zwischen den
höheren Zentralteilen und den si)ina]<'n Zentren des Geschlechts-
aktes auch beim Menschen existieren l;< i Erkrankungen und Ver-
letzungen höherer Rückenmarksal)schnitte werden Erscheinungen
sexueller Keizun^^ andauernde Erektionen, selbst Samenergiess-
ungen) beobachtet ; bei Rückenmarksaffektionen mit ausgedehnterer
') S. Fcrrier, Die FuuklioncD des ücbirus, deutsch von Obcrstcincr
1879, Sw ai6; uml Philosophical TransactioM oF the Royal Society of Londoo,
Tol. 165, p. 484. Eid AlfCi welchem Fcrrier 'lie Hinte ih.iui>t>lap}>en tlcs
Gt'liirns alijjetrageo hatte, maihte naih der <])]i<-ration wicletbolt einem mfinnlichcn
GclMirtcn ^f^enüt)or Vcr^^uchc sfMicller Aniiabemn^. Kciricr ;;laubt dies auf
Heizung eines ZcnUums fiir die .«.exuellcu EtnptinUungen in Ucr Xacbbarschafl der
Lä9ioRS9teUe beziehen cu dArfen.
L. Pttssep: (Über die Gebirn/entic» (ier Eiektion des Penis und der
Samenabsonderurif;, ihs^^.■rt >t Ion I002 St. lV-Ktsb>it i Pusscp fand bei Hunden
tine unmittelh.>r hinter dem Snlais cruci.Uus g<.Jci;i no kleine Kindenstcllc, deren
tickliiscbc Kcwung Ereiition und Ejakulation und deren Ex^ttrputioa Seilwinden
der Libido «ur Folge hatte.
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Vorbemerkungen.
3
Leitungsunterbrechung kommt es mitunter bei KinNvirk\in<4 peri-
pherer Reize, die unter normalen Verhältnissen sich unwirksam
zeigen, zu reflektorischer Auslösung von Erektionen. Wir wissen
ferner, dass psychische Vorgänge, Vorstellungen sinnlichen In-
haltes, geschlechtliche Erregungen wachrufen, dass aber ebenso
gut gewisse Vorstellungen vorhandene sexuelle Regungen hemmen
oder deren Eintritt verhindern können. Indess sind es nicht
blos xentrifugate, sondern auch zentripetale Bahnen, welche die
Lendenmarkszentren mit dem Gehirne verknüpfen. Die Nerven,
welche die Sexualorgane versorgen, laufen in den Lendenmarks-
zentren zusammen, und so strömen die Erregungen, welche von
diesen Organen dem Gehirne übermittelt werden, zunächst in
diese Zoitren, um von hier aus erst nach oben geleitet zu werden.
Der innige Konnex der einzelnen Zentralteile unter ein-
ander bedingt es, dass Tätigkeiten und Zustände des einen
Teiles nicht ohne Belang für die übrigen sind. Erschöpfende
Inanspruchnahme eines Zentrums wirkt erschöpfend auf das
Nervensystem im Allgemeinen, Steigerung der Erregbarkeit eines
Teiles ^ieht ähnliche Vei äiuioi uni;cn in anderen Zentralteilen
nach sich. Vei^leiclien wir die Intensität und AuslireitunL; der
Krret;ungen, die sich an die Funkt kui der genitalen Lenden-
mark^zenlren beim (jeschlechl^akle oder bei der Sainenentlee-
rung überhaui't knüpfen, mit der jener Erregungen, welche /. Ii.
die Entleerung der Blase und des Mastdarms oder die 1 ätigkeit
des Magens begleiten, so sehen wir, dass die sexuell-nervösen
Vorgänge an sich besonders geeignet sein müssen, das Nerven-
system in weitem Umfange und in intensivster Weise zu affizieren.
Ebenso zeigt sich, dass die von den Generationsorganen den
Lendenmarkszentren kontinuierlich zufliessenden und deren Er-
regbarkeitszustand modifizierenden Eindrücke von grosser Be-
deutung für das Nervensystem im Allgemeinen sind. Es genügt
hier ein Hinweis auf die Veränderungen der Gemütslage und
Vorstellungswelt bei männlichen und weiblichen Individuen
während der Pubertätsperiode, den Einfluss der Kastration auf
den Charakter bei Menschen und Tieren und die Störungen in
den verschiedensten Nervengebteten infolge gewisser Erkran-
kungen und abnormer funktioneller Zustande der Sexualorgane.
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4
Vorbe«Mrkiiii(eii.
Die Natur hat den Akt, an welchen sidi <fie Erhaltung
der Art knüpft, mit Sensationen ausgestattet, deren Be-
sdiaiTenheit viele Personen bestimmt, den Genass derselben
unabhängig von irgend welchen weiteren Zwecken zu erstreben.
Dies führt sowohl zur Unmässigkeit im sexuellen Verkehre wie
zu sexuellen Verirrungen, deren Kosten in erster Linie das
Nervensystem zu tragen hat. Andererseits ist das, was man
gewöhnlich als >cxucllc> Bedürfnis bezeichnet, nicht ein so
klar und unzweideutig sich kundgebender Zustand wie bei den
meisten anderen Ikdürfnissen. Wenige Menschen sind im Zweifel
darüber, ob sie gewisse Gefühle als Hunger oder Dur^t deuten
sollen, und das Uedürfnis der Nahrung^- und Getränkeaulnahme
wird \()n Niemand geleugnet. Dagegen i7iachcn sich sexuelle
Regungen auch nach der Pubertät sjK riode noch bei sehr vielen
Personen (insbesondere solchen weiblichen (Geschlechts) nur in
nebelhaft ver>ch\vcunmener Wei<^e oder in völliger Idealisierung
bemerklich, in l-'orm eines gegenstandslosen Sehnens oder einer
Ciefühisschwärmerei für Personen oder Dinge, deren innerer
Wert zum leil den entgegengebrachten Kultus nicht recht-
fertigt. In den Fällen hinwiederum, in welchen Gefühle vor-
handen sind, welche unverkennbar auf sexuelle Erregtheit hin-
weisen, m»Vgen diese ebensf>\\ ohl durch die J-^inwirkung von Vor-
stellungen auf die genitalen Zentren des Lendenmnrke< als durch
auf rein somatischem Wege erzeugte Erregungszustände der
spinalen und kortikalen Sexual/entren bedingt sein. So kommt
es, dass manche ihre sexuellen Leistungen psychisch erzeugten
d. h. imaginären Bedürfnissen anpassen, während andere durch
äussere Verhältnisse oder irrtümliche Anschauungen verhindert
werden» dem physiologischen Drange ihrer Natur Rechnung
zu tragen.
Alle diese l 'mstünde machen es begreiflich, dass Vorgänge
im sexuellen Leben häufig L'rsache von Störungen im Nerven-
system werden. In der Tat hat sich bereits von altersher die
Aufmerksamkeit der Arzte auf die nervösen T.eiden gerichtet,
welche durch geschlechtliche Tätigkeit oder Zustände d r Ge-
neration sorgane hervorgerufen werden. In der Neuzeit, in welcher
die Lebensverhältnisse und angeborene Konstitution das Nerven-
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VorbemerkiUBgeii.
5
System bei einer ungeheueren Anzahl von Menschen für Reize
jeder Art empfanglicher machen, drängt sich dem beobachtenden
Arzte der Zusammenhang vieler nervöser Erkrankungen mit Vor«
gängen und Zuständen in der Sexualsphäre in überzeugenderer
Weise auf als wobl je in früherer Zeit. Auf der anderen Seite
haben wir aber auch in neuerer Zeit für viele Nervenübel, deren
Quelle man früher auf geschlechtlichem Gebiete suchte, andere
Ursachen kennen gelernt. Im Nachstehenden werden wir die-
jenigen Verhältnisse des sexuellen Lebens und pathologischen
Veränderungen der Genitalorgane besprechen, welche am häufig-
sten zu Störungen im Nervenbereiche fuhren, deren patho-
genetischer Einfluss sohm das Interesse des Arztes am meisten
in Anspruch nimmt.
L
Sexualtrieb und Pubertätsentwicklung.
Jener mächtige Naturtrieb, von dessen Betätii,'un<,' bei Mensch
und Tier die Fortpflanzung^ der Art abhängt, hat beim Kultur-
menschen durch dessen fortgeschrittenere Intelligenz, die sozialen
und kulturellen Verhältnisse gewisse Modifikationen erfahren. Man
nimmt gewcihnlich an — urs{)rünglich mag es auch so gewesen
sein — dass der Geschlechtstrieb sich aus zwei ihrem Wesen
nach verschiedenen und auch für die Erhaltung der Art nicht
gleich wichtigen Partialtrieben zusammensetzt: der Libido sexualis
(Begattungs- , Kopulationstriebl und dem Fortpflanzungstriebe.
Bei dem zivilisierten Manne der Jetztzeit beruht jedoch das Ver-
langen nach Nachkom menschaft, wo dassell)e überhaupt vor-
handen ist, in der Regel lediglich auf vollbewussten, kühlen
Überlegungen, denen nichts Triebartiges anhaftet. Für ihn
reduziert sich daher der (ieschlechtstriel) auf die Libido, die
sich jedoch nicht mit dem Begattungstriebe deckt, sondern
allgemeiner als Trieb zur Erlangung der spezifisch-sexuellen
Wollustgefühle und zur Beseitigung gewisser, der Sexualsphäre
entstammender l'nlustgefühle aufgefasst werden muss M. Diese
beiden Komponenten sind in der Libido des Einzclindividuums
je nach der Stärke derselben, der Gestaltung seines sexucllon
Lebens (Abstinenz oder Xichtal)stinenz), seiner psychischen
') Die Libido dc> Masturbantcn. die nicht ausser Betracht hlciiicn kann, jst
kein Be|;aUun>;5tricb, sondern icdijjlich ein Trieb zur Herbeiführung gcvi-i>.ver
sexueller Lustgefühle und im Grunde auch zur Beseitigung gewisser der Scxual-
sphäre entspringender Unlustgcfühle,
1
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Sexualtrieb und PubetUitseulwicklung.
7
Veranlagung und anderen Umständen in sehr iiiv^lcichcr Weise
vrrtrrtrn, und es kann zeitwfiüg oder auch dauernd ledic^lich
die eine Komponente mit Au>schhis,s der anderen sich gehend
machen. So reduziert sich z. B. für den ethisch hochstehenden
in Abstinenz !el)enden Mann die Libido im wesentlichen auf
die zweite Komponente, während für das sinnlich vcrnnlaytc In-
dividuum mit häufigem sexuellem Verkehr dieselbe im wesent-
lichen durch die erste Komponente gebildet wird.
Auch bei dem geistig normalen zivilisierten Weibe der Jetzt-
zeit kann von einem eigentlichen Fortpflanzungstriebe nicht die
Rede sein. Das Verlangen nach Kindersegen mag sich bei dem-
selben in sehr lebhafter Weise und unabhängig von irgendwelchem
sexuellen Begebren einstellen, bekundet sich auch häufig schon
vor der Entwictdung irgend eines Grades von Libido sexualis.
Hiebet handelt es sich jedoch um Äusserungen des mütterlichen
Instinktes, der sich schon im späten Kindesalter oft in deut-
lichster Weise kundgibt (Bemotterung jüngerer Geschwister,
Zärtlichkeit gegen fremde Kinder etc.) und eine sehr bedeutende
Entwicklung aufweisen kann, während die Libido sexualis sehr
gering ist oder auch noch ganz fehlt.
Moll sondert den Geschlechtstrieb in SPartialtriebe: Detumeszenz*
trieb und Kontrektationstrieb. Ersterer ist auf Beseitigung der Spannung
dpf Srxtinlorsjari'" gerichtet, letztrrer auf k<"rpi rliche Berührung einer
Person, gewöhnlich des anderen Geschlechtes. Moll hat die Bezeichnung
Detumeszenztrieb aus dem Grunde gewählt, weil den Geschlechtsakt
eine Abschwellung beschliesst. Er legt hiebei jedoch auch auf die
llcrausbcfördening des Samens Gewicht. Diese beiden M.wiitntt >ind
jedoch nicht d;i^ Ofijf^kt fl*;s Triel" '.; wfdrr dir .\ti--chw( linni; des
äusseren genitnlr beim Manne, noch die Anhäufung von Sperma sind
für die Anregung der Libido nötig. Diese kann auch bei Impotenz, i. e.
Mangel der Erekttonsfthigkeit sehr wohl bestehen und kurze Zelt nach
Wied' I In ilti I Kohabitation sich schon wieder geltend machen, in Fallen
als>i. in \vi Ichen von einer Spermaanhä'ifunu; keine R> d- «ein kann.
Andererseits wissen wir, dass die mechanisch bedingten morgendlichen
Erektionen, auch wenn sie sehr kräftig sind, mit keiner Libido vcr-
knOpft sind, d. h. keinen Detumeszenstrieb auslösen.
Was den Moll 'sehen Kontrektationstrieb betrifll, so füllt derselbe
bei der Lüiidr. viel- r Masturbanten ganz weg; es gilt die*^ insbesunders
für jugendliche Individuen, welche sexuellen Verkehr noch nicht .^^i pflogen
haben. Ausserdem ist der Trieb nach körperlicher Berührung von Indi-
viduen des anderen Geschlechts bei Männern äusserst verschieden ent*
wickelt und beim weiblichen Geschlechte im allgememen geringer als
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3 Sexualtrieb und Pubertätscntwicklung.
beim rolmiliclieii. I^ser Trieb kann sdion im Kindesalter vor da* Ent-
wii^eliing der Litudo sezualis sich geltend machen und nach dem
Schwinden derselben und der Potenz im Greisenaltcr noch erhalten
bleiben. Hierauf sind die von Greisen verübten unsittlii hcn H;indliinj!jen
zumeist zurückzuführen. Dass der BerUhrungstrieb nicht eine der Libido
gleichwertige Komponente des Geschlechtstriebes bildet, erhellt auch aus
den Wirkungen der Befriedigung beider. Die Befriedigung des Be>
rührungstriebes hat lediglich Steigerung der Libido zur Folge» wflhrend
Befriedigung der Libido den Berührungstrieb aufliebt.
Havelock Kl Iis saniert an dem Sexualtrie b zwr i Stadi- n od» r
Prozesse: Tumeszenz und Detumeszenz. Der erstere hat das Ziel, eine
gewisse sexuelle Spannung herbeizuführen, der zweite, diese Spannimg
zur Entladung zu bringen und instinktiv das Ereignis herbdzuRlhren,
durch welches die Art for^epflanzt wird. Der Tutnc^zenz[ji ozess beim
Mnr^nf s>»ll zugleich das Ziel hat» ii. einf-n ähnlichen Vorgang beim
Weihe t.itkktive Erregung und sexuell« l"urL:e-^zcnz) herheizufohren.
Nach meiner AutTassung bilden die oben angefühlten Momente,
Erlangung der spezitisch sexuellen WoUustgefiihle und Beseitigung
spezifisdi sexueller Unlustgefähle, den Kern des Sexualtriebes» um
weichen sich im EinzeUalle, je nach der Veranlagung des Individuums und
der Ce-^taltUHi: seiner vita sexual"-^ andere Elemente von mehr oder
weniger triebartisiem Charakter gruppi<-ren. Für die Untersciieidung
emes besonderen Tumcszcnztriebcs als erster Phase des Geschlechts-
triebes nach El Ii« gilt das Gleiche wie von dem MolTschen Konirek»
tationstrirbc . \\>n einem auf HerbeinihruDg sexueller Spannung ge*
richteten Truhe ist bei vielen zivilisierten Menschen nichts nacluvr :?bar.
I>ie sexuelle Spannung stellt sich häufig iiüolge innerer und äusserer
Vorging;« ein, ohne dass derselben ein bewusstes Verlanj^en vorhergeht,
ja selbst trotz energischen Ankflmpfens gegen jede sinnlidie R^ung
und Meldung jeder Gel« genheit, die solche herbeilbhren könnte. Man
kr.nnte ~e-g.\rb'-i majuhen Individuen <tatt eines Tumeszenztriebes einen
Atititunie^zenztrir h unterscheiden. Dagegen unterliegt es kerne m Zweifel,
QASS aie sexut.Ilc Sponnur.g einen Trieb auslast, der auf Be:!'eiugang
derselben gerichtet isL
An Tereinzelten Vorgan j^cn, welche als Äusscrtin^en eines
gewissen Geschtechtstriebes aufzufassen sind, mangelt es imd
zwar unter r. nnalen Verhältnissen schon im &|>atercn Kindesalter
nich: Krekti 'nen bei Knaben. Frcun<i!>chaft mit Liebe>farbung
zu;-chen Kna^en u-^.d Manchen etc.'. Durch krankb.atte Zu-
^tar.vic r.an-.e n:!!ch im Bereiche der Ger.italien i v. i.'natue', zu-
fa!'-_:e Ii:r.\\ -kur.^en KnaSon z B- ^chKii^'e auf Jen Hinteren'
ut-id \'e::,.:-.:ur.i^ k.-.nn die I-:b:d" in voller Starke auch schon
Ici Kindern g^^-.veck: werden. In der Norm ist iedr'ch da^
deutliche Hervortre:en des St^xualinclc:? an eine geui^ae Au*-
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Sexualtrieb und FuberlftUenlwicktung. 9
bildung • — Reife — der Sexualorgane gebunden. Die Zeit,
innerhalb welcher sich die Weiterentwicklung dieser Drgane von
dem kindlichen Typus zu der für die Fortpflanzungszwecke er-
forderlichen Reife vollzieht — Pubertätszeit — beginnt bei beiden
Geschlechtern im Allgemeinen bei den Bewohnern j>üdlicher
Länder früher, als bei den Völkern des Nordens. Ganz zuver-
lässige Anhaltspunkte für das Bestehen dieser Unterschiede be-
sitzen wir übrigens wesentlich nur für das weibliche Geschlecht,
weil bei diesem der erste Eintritt der Menstrualblutung leicht
festzustellen ist und den Beweis liefert, dass die sexuelle Ent-
wicklung bereits eine gewisse Stufe erreicht hat. Während in
unseren Breiten die Menses gewöhnlich zwischen dem 13. und
16. Lebensjahre erscheinen, werden die Mädchen im schwedischen
Lappland erst mit 18 Jahren, in Indien dagegen mit 12 Jahren,
in Egypten schon mit 10 Jahren menstruiert. Bei männlichen
Individuen beginnt die Pubertätsentwicklung, die, abgesehen von
den Veränderungen im Sexualapparate, noch durch Tieferwerden
der Stimme (Mutation), Bartwuchs und Haarentwicklung am
Möns Veneris und anderen Stellen sich kund gibt, bei uns im
Allgemeinen mit dem 15. oder 16. Lebensjahre, die volle ge-
schlechtliche Reife wird ungefähr um das 18. Jahr erreicht*).
Beim Weibe hält die Tätigkeit der Generationsorgane, an welche
die Fortpflanzungsfähigkeit gebunden ist, Ovulation und Men«
struation, im Durchschnitte 30 — 35 Jahre an. Der iMann gelangt
erst um das 35. Lebensjahr zum Höhepunkt der Potenz; von
dieser Zeit an sinkt dieselbe und zwar im ersten Dezennium
wenig und langsam, im zweiten Dezennium dagegen schon viel
erheblicher und noch mehr im dritten Dezennium, um gegen
die Mitte der 60 er Jahre, wenigstens bei der Mehrzahl der
Männer, zu erlöschen. Die Libido kann jedoch die Erektions-
fähigkeit längere Zeit überdauern; auch mangelt es nicht an
Männern, welche ihre Potenz bis in die 70er Jahre bewahren,
wie es andererseits nicht an solchen fehlt, bei welchen schon
Ende der 50er Jahre die Attribute der Virilität schwinden.
^) Nach Scvcd Kibbiog fällt die FubcrUUzcit beim Manne mcibi
swiscbeo das 17. und 21. Lebensjahr; diete Angabe kann jedoch nur fQr nCrd-
liehe Lflnder wie Schweden Geltung beanspruchen.
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tffit ';*htVn flf.x r»4*»ir liehen, d'<rr.h äussere Einvirkungeti
»tu\i*'*:%uV,*tk%U'.n S«x*i;i>rf':(v» bd bdd«i) Gescbfechteni und in$>
\,* \'$ti*i»'s*' \i^un •A»'{it\ifY»*tn \sX #:tn Falct'>r, dc^cn Beurteilung
mti S' ftviri«'rff{l('Titrrn %\i'^M und über den daher auch die
AunuUUiU weit «ij«»dnanrJer y*'h*:n. Während z. B. v. K raffte
t'Jif fftf in fl«*ffl*' Iticn nmtm Naturtrieb erblickte, „der allgewaltig,
\\U*'tm'At\}\% ttafJt KrHilltin^' vr;rlan($t/' und das Geschlechtsleben
<h'M „|{(-w<ilti(;4ilrn l'aktor im individuellen und sozialen Da-
M'iri"i iifn tfiiif lili);*tcn zur Betätigung und die Wurzel
allri iMliik lNitiac1il4'tr, glaubt Ifcgar, dass der naturgemässe
( it'ni hlncbtiitrifflt bei dem j(-t>;i^cn zivilisierten Menschen gar nicht
Ml rH/r«iMv Mfllk Mii, alt er schildert wh-d, wohl aber durch
kOii*!!!« Im, in unHfron gcrHclIxchaftlichen und kulturellen Zuständen
iM'giOiMipln lMi<i;mn;rn ^{«•sitrij^crt wird. Aufschluss über die
SltiiUr TilrlH s p,«'l>cn uns nur die subjektiven Empfindungen
»«♦siH'Ilru |)iaii^»t"s und ihr tatsächlichen sexuellen Leistungen
\\t*H i'Ui/rlnen ludividuunis, j'aUtoren, welche c rfalmin<^^^emass
duith aiii'Mie l'iiillli-si' (suuilieh erregende Mmdiückc \eischic-
drnnlei ( it leju'uheit /u p.esrhli clulichem Vorkehr etc i und
iiim ie \ ( Prnk);ewohnheiten, reliiMtise, ethische, iiv^ie-
\\\:\ h< ( .Miudvat/e) in diiei ItUensitäl, ic^i'rktp.e Frequenz cbenso-
vNuhl i;« s(» i;;eii <iK heiabi;esei /t werden können. Da wir einen
M.i-. .l.ib lUt du las,u iui»i; di's subiektiven 1 iii] iiiu!« ns sexu-
\\\<.\\ l^ainn"> ^d>i 1 ilMdoi n\eht brsit.'eu. niu»<n wir, wenn
UM ims V iiu- \\u Nlelluiivj \A>n dei Starke des Sexualtriebes bei
.un>k n \l intu M> m d» n kiltiv-n vier ,;^^'■^•^ten kot pei liehen und
■.v-\M« ''- M 1 ',,':',i:;kt it wi >-v"liatKMi U(.-',Ie!i. die Fteijui-Tu
sie«. .s li\ . ' :> !u n b;M v.a':\'; :;d. i^'.oiohe;- Gelci^en-
he'.t, ( e be> \'e;b.'n at>".v-t> tn l^ ; ae'~: : vviv-n l\i bei;.- „-u-n
w u i\ ai!Tb»lUMHl>u t\ Sx l'.u.e';(vu:i^eu. k ;; l;.»". e er . r-ei:> ^^ v-.cr
k>»* u (v ,>ven^u wvvv'V u,;oh th:vi Ve:*'.- - v r :: ^ : \
Sexualtrieb und Pubertltsenlwtddung.
11
jetzt im Dienste stehenden gesunden Beamten, welcher '^cit
Reginn seiner nunmehr 24jähric^cn Elle nur (iuich schnittlich
zweimal im Jahre mit seiner erheblich jün^^eren Gattin Verkehr
pflog. Berücksichtigen wir auch den Umstand, dass manche
Männer von Bcj^^inn ihrer Ehe an aus hygienischen oder anderen
Rücksichten sich gewisse Beschränkungen im sexuellen Genüsse
auferlegen, während andere dem momentanen Verlangen jeder-
zeit ohne irgend welche Bedenken nachgeben, auch die sexuc IK n
• Ansprüche der Fraiien sehr verschieden sind, so sind wir doch
zu dem Schlüsse genötigt, dass die Libido bei normalen Männern
ganz au«;Rprordentlichcn Schwankungen unterliegt. Auch gän?-
licher Mangel des Geschlechtstriebes (Frigiditas) bei sonst völlig
gesunden Männern ist beobachtet worden, doch sind Fälle dieser
Art sehr selten
Noch schwieriger zu beurteilen und daher noch kontroverser
ist die Stärke des Geschlechtstriebes beim Weibe, bei welchem
Sitte, Erziehung, und nicht zum wenigsten Erwägungen der
Folgen geschlechtlichen Umganges auf eine Verhüllung des
sexuellen FQhfens hinwirken. Wenn ich meine eigenen Erfahr-
ungen berücksichtige, so scheint mir das von einzelnen Schrift-
stellern wie Kisch zu Gunsten einer überwältigenden Gewalt
des Sexualtriebes und speziell des Kopulationstriebes beim Wdbe
Angeführte ebenso wenig auf allgemeine Geltung Anspruch zu
haben als die insbesondere von He gar vertretene Annahme, dass
die natürliche Neigung zur i)hysischen Liebe beim Weibe im
Allgemeinen gering sei. Die sexuellen Funktionen spielen im Leben
des Weibes eine weit grössere Rolle als beim Manne und
sein Denken und Fühlen wird daher auch von der Scxualsi)härc
aus mehr bcrintlus>t als dcs.Mannt":; trot/.tiem ist das Verlangen
nach sinnlicher Befriedigung bei nonualcii weiblichen Wesen im
Durchschnitte weniger lebhaft als f ieim Manne ; i ulschictien grösser
ist bei demselben nur da» crotiM he hllcnient, das l'cduttnis,
ideell zu lieben und geliebt zu werden, das zur Sexual-; tli iie.
ebenso in Beziehung steht, wie das rem smnlichc Verlangen.
') Hammond teilt zwei biebergehOrige Beobacbtongen mit.
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12
Sexujütrieb und Pubertäucntwkklnng.
1 läufig werden Äusserungen dieses ideellen Bedürfnisses
(Verliebtheit) irrtümlicherweise auf sinnlichen Drang zurück-
geführt, der jedoch ganz fehlen kann, wo das erotische Element
sehr ausgeprägt ist. Physiologisch mangelt die Libido gänzlich
bei jungen Mädchen vor der Pubertätszeit und bei älteren Frauen.
Dieser .Mangel der Libido hält bei Mädchen auch nach dem Eintritt
der Geschlechtsreife noch unbegrenzte Zeit an, so lange dieselben
von sexuellen Reizungen jeder Art unberührt bleit)en. In dieser
Hinsicht besteht ein sehr beachtenswerter Unterschied zwischen
den beiden Geschlechtern. Der Jüngling lernt im mannbaren
Alter durch das Eintreten von Pollutionen specifisch sexuelle
Lustgefühle kennen, infolge dieses Umstandcs kann sich bei
ihm der Trieb nach Erlangung dieser Gefühle entwickeln, mit
welchem der Drang nach Beseitigung der mit den Erektionen
verknüpften Unlustgefühle sich verbindet — die Libido — .
Bei normalen Mädchen fehlen Pollutionen und ähnliche
Vorgänge in der Regel, die spezifisch sexuellen Gefühle bleiben
ihnen daher das absolute I n c o n n u , weshalb es auch nicht zum
Entstehen einer eigentlichen Libido bei denselben kommen kann
und, soferne ein Verlangen nach sexuellem Umgänge auftritt,
dieses sich nur als Begehren nach einem seiner Natur nach ganz
unbekannten Genüsse charakterisiert. Der Zustand ganz fehlender
Libiilu (absolute Frigidität) verbleibt aber bei einem nicht
unerheblichen Teile der Frauen auch nach der Einleitung des
Geschlechtsverkehrsund zwar für die Dauer — Effertz taxiert
denselben auf 10% — und bei einem noch grösseren Teile
ilerselben erhebt sich die Libido nie über ein .sehr bescheidenes
Niveau (relative l'rigidität). •) Wenn Fürbringer geneigt ist,
ilie Eigenschaft sexueller Frostigkeit sogar der grösseren Mehrzahl
der deutschen 1 lauslrauen zuzuschreiben, so möchte ich ihm jedoch
nur mit einer sehr wesentlichen Einschränkung beiptlichten.
nie grosse Zahl aussi-relu licher Schwängerungen und von
Verhältnissen mit geschlechtlichem Verkehr in unseien unteren
') l'fixtri. »Ir-»« » Anj;«l»<*n nuI» hu( S» liwcirrtiniifn luvicluii. ciniittcllo
uiUrr rs Kijiuon. Iki wrUlicn Pi. K w Ii » in St. li.illtn die 0|HMali.<n der
K 11 » 1 1 II 1 10 n v.>ii:cii.'miiirii hrtttc. um W\ > i;.tii/luhrii Maiij;ol mul hei 8 sehr
Ktiinur I nlwukUuij: dci I.il'ul.. mIi.«h v..i doi Oi-n.iiion.
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Sexualtrieb nnd PabetUHtsentwicklung.
13
Hevolkcrun^'sschichten, wobei das Verlangen nach Kintlern im
Allgemeinen keine Rolle spielt, die Fortpflanzung sogar sehr
häufig direkt verhindert wird, spricht zu deutlich dafür, dass
die geringe Entwicklung des Begattungstriebes sich bei den
deutschen Frauen vorherrschend in den sozial höher stehenden
Klassen findet. Wahrscheinlich wirken hier ererbte Anlage,
Erziehung u. z. T. vielleicht auch der höhere Stand der Intelligenz
zusammen, das Durchschnittsniveau der Libido hcrabzudrücken.
Neben den frostigen Naturen finden sich jedoch beim weib-
lichen Geschlecht — glücklicherweise allerdings verhältnismässig
selten — Personen von grösster sexueller Leidenschaft, deren
Bedürfnisse kein Mann befriedigen kann. Man darf jedoch das
Messalinentum keineswegs als eine Erscheinung auffassen, welche
noch in den Bereich der Norm gehört. Die gekrönten und un-
gekrönten Messaiinen ^ind Entartete, welche neben ihrer unstill-
baren Libido gewöhnlich noch andere Zeichen der psychopathischen
Degeneration aufweisen. Unter den Prostituierten gewöhnlichen .
Schlages findet sich wohl nur ein kleiner Teil, welcher dem
Gewerbe durch exzessive Libido allein zugeführt wurde. Zustände
gesteigerter sexueller Erregbarkeit können auch bei wohl erzogenen,
ethisch völlig intakten Frauen infolge von Affektionen im Bereiche
der Sexualorgane (Pruritus genitalis insbesondere) vor*
kommen; hierdurch können sehr bedeutende Beschwerden ver-
ursacht werden, allein ein liederlicher Lebenswandel muss keines-
wegs die Folge sein
M Seht ticil rul li.it H.iuieiling in seinem ,,Ahasver in Rom" die
gro&scn Unterschiede in dem »exucUen Xemperaoientc der Fiaueu gekeimzeicbiiel ;
„Das W«b ist'«, das fiiB Hen sucht, nicht Geauss,
Dm Weib ist keusch in seinem tiefsten Wesen,
Und was die Scham ist, weist doch nur ein Weib!
Doch wird es fnTh, so ist es fifchT n'tch
AU selbst der Ircchstc Faun, un<l wird a lüs>lcrn,
Hat e« das Hecht der UnersattHchlMit !
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14
Sexuatlneb und rubenat!><:ntWKkiung.
Anhang.
Zur Physiologie des Sexualtriebs.
Was die Umsiändc anbt:lanj:^t, von welclien die St hw anklingen
in der Stärke des Sexnaltrielis abhängen, so sind dic^eltten mit
den l'nterschit ilen der Körpcr^rus-bc und Konstitution nicht in
Zusammenhang zu bringen. Wir finden auf der einen Seite
Männer von hünenhaftem Hau und an-^rlu int n<l von Kraft strotzend
mit selir Ijcscheiilenen sexuellen ßedürtni'-Mn und ebenso be-
scheidmer Potenz, und auf der anderen Seite yan/ unan^i lin-
liche .Menschen, welche durch ihre scxiicllLn Lei^tuni^u n sich her-
vortun. Ähnlich verhält es sich beim zarten Geschlechte ( irosse,
stattlich «i<rbaute Frauen von kTäf!ii;er Konstitution ^ind nicht
selten frigider Natur, und ich haln i lu r diesen Punkt manche
Kiaj^e von Ehemännern vernommen ; auf der anderen Seite
bege;4net man kleinen, zartgebauten Frauen, deren sexuelle Be-
gehren nicht sehr bescheiden sind.
Bei Miinnern besteht auch keine bestimmte Proportion
zwischen der Entwicklung der äusseren Genitalien und der Stärke
des Sexualtriebs. Wenn auch Individuen mit starker Libido
scxualis häutig äussere Genitalien vc»n beträchtlicher Grösse zeij^en,
so begegnen wir andererseits wieder Männern, die bei gleicher
Beschaffenheit der Genitalien nur eine bescheidene Libido besitzen.
Zweifellos sind für »lie Stärke des .Sexualtriebs neben RasSM-
cinAüssen, Unterschiede der familiären Veranlagung von keiner
untergeordneten Bedeutung. Es gibt Familien, <! :rn männliche
Glieder sich durch Lel)harti^keit ihrer sexuellen XeiguiiL^en aus-
zeichnen und dabei ihre Potenz auch bis in höhere jähre be-
wahren und andere, in welchen das (ic ^enteil /u finden ist, ge-
ringe sexuelle Bediii fuisse und h ülies Erlö.schcn derselben.
Ahnlich vi rhält es sich mit der si xncllen Veranlagung der
weiblichen Individuen in manchen l'\nnilieu.
Über die körperliclu n Vorg inL:e, durch welche der Sexual-
trieb angeregt uml untei halten uml <lessen Intensität bestimmt
wird, besteht noch i rliebliclu- I nUlaihcit. A piiori liegt der Ge-
danke gewiss nahe, dass die Libido durch l'^iregungsvorgängc
S«xtuütrieb wkl Pubertltsenlwidclttos.
15
Im Bereiche der kortikalen Sexualzentren zu Stande kommt,
Erregungsvorgänge, welche durch von den peripheren Sexual-
organen ausgehende Reizungen ausgelöst und in ihrer Intensität
bestimmt werden. Für eine derartige Annahme liesse sich der
Umstand geltend machen, dass mit der Reife des Geschlechts-
apparates auch die völlige Ausbildung des Sexualtriebes zusammen-
fällt und die jeweilige Stärke desselben von wechselnden Zu-
ständen des Sexualapparates abhängt (beim Manne slarice Libido
bei längerer retensio semlnis, sinkender Libido nach sexuellen
Akten und Pollutionen, menstruelle Steigerung der Libido bei
der Frau). Auf der anderen Seite mangelt es nicht an Tat-
sachen, welche <.lic Abhängit^keit des Sexualtriebs von den peri-
pheren Sexualorganen, speziell dem l-"unktioiiicrcn der Keim-
drüsen üwcik'lhalt I I scliemen lassen. 1 lieher ijehörcn vor Allem
die Erfahrungen über die Wirkung der Ka^t^.ltio^ bei Mmschen
und Tu rcn. Nacli Kntfcrnung der Keinidiüsi-n kann bei beiden
Geschlechtern tiie Lihiilo erhalten bleibm I'.i im Manne kann
auch die I''itcnx forlbesuhen. Im alten Korn erlreute sich eme
gewisse Gattung Ka<ti i( t ter, die als Spadones bezeichnet wurden,
hei den Lebedamen einer besonderen Beliebtheit. Auch bei
kastrierten Tieren, Ochsen, Wallachen, mangelt es nach den Er-
fahrungen der Tierärzte nicht an Äusserungen eines Geschlechts-
triebs. Wallache können auch ihre Potenz behalten. Hiemit
stimmen die experimentellen Erfahrungen Steinachs*) an
weissen Mäusen uberein. Dieser Autor fand, dass die Kastration
bei reifen Tieren die sexuelle Erregbarkeit nicht aufhebt und
die Vornahme des Eingriffs vor der Pubertät die Entwicklung
einer beträchtlichen sexuellen Erregbarkeit nicht verhindert. An
diese Erfahrungen reihen sich andere Tatsachen an: das Be-
stehen eines rudimentären Geschlechtstriebs unter normalen Ver-
hältnissen im Kindesalter, die vorzeitige Entwicklung erheblicher
Libido vor der Pubertätszeit in pathologischen Fällen, das Fort-
bestehen beträchtlicher Libido un Greisenalter trotz Atrophie
') Steinacb, Tü'.ersuchunjien 7«r ver;;!cir1ir:idcn Flu >ii iIoi^k' dct m^inn-
licbeo Geschlecbtsorganc, insbesondere der akicessurt*«chen üeschlccbtsdribcu. (Arch.
r, d. ecsamte Physiologie, 1894. Bd. 56, S. 304—338.)
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16
Sexuahrieb und PubcrtäUentwickluog.
der Scxualor ^'anc, die in Kiaiikheitsfällcn (bei Neurasthenie etc.)
zu beobachtende Steigerung der Libido bei Herabsetzung der
sexuellen Leistunfjsfähiykcit , ferner der Umstand, dass bei
Mannern Orgasmus mit folc^endem Sinken der Libido ohne
Ejakulalioii eintreten und andererseits das Zustandekommen
letzterer beim sexuellen Verkehr ohne Emtiuss auf die Libido
bleiben kann.
Schon bei Erwägung aller dieser Momente wird man zu
der Annahme gedrängt, dass die Intensität der Erregun;^ der
kortikalen Scxualzentren, die sich subjektiv als Libido lu]iU)ar
macht, nicht leili^Hch und niclit hauptsächlich durch von den
peri|)heren Sexualni ganen ausgehende niech;inisch ulurch Druck,
Spannung; I \ erursachte Reizvnrgänge bedingt wird, sondern
in erster Linie von der Einwirkun;^ i^ewisser chemisch im Blute
kreisender Stoffe abhän«^t. Zu euier derartigen Auffassimg ist
bereits Jastrow itz speziell durch Berücksichtigung des Verhahcns
der Tiere zur Brunstzeit gelangt, und er hat die in Frage
stehenden chemischen Stoffe als erogene oder eragoge be-
zeichnet, ich habe dieselben a. O. als libidogene benannt und
halte diese Bezeichnung für zutreffender, weil die in Betracht
kommende Wirkung bei Menschen und Tier lediglich die
Libido betrifft, mit der der Affekt der Liebe nicht notwendig
zusammenhängt.
Eine Iiesonders wertvolle Stütze hat die Annahme libidogener
Stoße durch Bcoljachtungen La n z s (Amsterdam) an thyreopriven
Tieren und Menschen erhalten. Der genannte Autor stellte an
einer Reihe von Tieren (Ziegen, Hunden, Katzen, Hühnern)
sehr sorgfältige Experimente ül>i'r den Einfluss der Thyrco-
dcktomie auf die Fortpflanzungstahigkeit an, und er fand, dass
diese durch tlen fraglichen Eingriff bei l>eiden Geschlechtern in
der Regel dauernd aufgehoben wird. Die Erfahrungen, welche
der Autor bei Menschen in zwei Fällen machen konnte, stimmen
damit vollkommen Qbercin. Bei einem Manne, bei welchem
nach vollständiger Thyreodektomic die sexuellen Funktionen
erloschen waren, machten sich dieselben nach Gebrauch von
Jodoth>Tin wieder geltend. Bei einer Frau, bei welcher nach
der gleichen Operation die Menses ccssiert hatten, stellten sich
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*
Sexualtrieb und Puberlät&cntwicklung.
dieselben nach der Darreichung von Schilddrübentabletten
wieder ein
Die zur Zeit vorliegenden Erfahrungen sprechen dafür, dass
die Keiiiidrüien bei beiden Geschlechtern zu den Organen mit
sogenannter innerer Sekretion zählen, d. h. Umsatzprodukte
liefern, welche für die Gestaltun^^ des ^c^amtcn Stoffwechsels
von Bedeutung sind. Was die männiiclu-n Keimdrüsen antx'laiv^t,
so geben die Veränderungen in der ph\ tischen und psyciiischen
Organisation, die nach Entfernung derselben eintreten (XeigunLj
zur Fettbildung, weihlicher Typus der Körperf(»rmen, spärlicher
Bartwuchs, weibischer ( harakter liei Kastraten; gewichtige
Fingerzeige für die Bedeutung dieser Organe für den Stoft-
wcchscl, Ebenso verhält es sich mit den .St<inm^en, die bei
Frauen nach lüufemung der < Ovarien luid im natiirhchen Klimak-
terium eintreten, auf die wir an späterer Stelle zu sj)rechcn
kommen werden. Über die Produkte der inneren Sekretion
der Keimdrüsen ist, wenn man von dem P "> h 1 sehen Spermin
absieht, z. Z. nichts N.Hheres bekannt. Letzteres soll nach
Pohl die Eigenschaft besitzen, ,,die durch verschiedene
Momente herabgesetzte Oxydation-sfähigkeit des Blutes wieder
herzustellen und die sogenannte „intraorganc Oxydation" zu
fördern". Nach meinen Erfahrungen über die Wirkungen des
Pöhl'schen Spermins kann demselben kaum eine libidogcne
Eigenschaft zugeschrieben werden. Diese muss in der Haupt-
sache anderen, noch nicht näher bekannten Stoffen zukommen.
Es besteht jedoch kein genügender Grund zu der Annahme,
dass die betreffenden Stoffwechselprodukte im Haushalte des
Organismus lediglich I r Libidoerrcgung dienen. Dieselben
mögen für den normalen Abiauf der Stoffwechselvorgänge in irgend
einer Richtung von grösserer oder geringerer Bedeutung sein
und die libidoerregende Eigenschaft nur dadurch gewinnen,
dass die kortikalen (vielleicht auch die spinalen) Sexualzentren
') Ge^en die Aniiahnic einer Abhängigkeit der Libido von im Blute
krei-cndcn che mischen, unter Umständen toxisch wirkenden Stoficn hat in jüngster
Zal Müll (M«:ii>£iuis<:hc Klinik 1905, No. 12 und 13) Einwände ctboUcn, die
mir nklit »tidiluiltig erscfacineo, wahrend Fr «od (3 Abhudlungen zur Sexual«
tbcoiie 1905) <Ur dieselbe eintritt
LS «es fei d, Sexuell-iiervltoe Stürungen. Vierte Aufl. 2
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18
Sezualtneb und PiibertätsentwicUtti|[.
eine besondere Empfindlichkt'it für ihre Einwirkung besitzen.
Die Erfahrungen über den Einfluss der Kastration auf den
Sexualtrieb sprechen dafür, dass die Bildung der libidogenen
Stoffe sich nicht auf die Keimdrüsen beschränkt. Diese bilden
unter normalen Verhältnissen allem Anscheine nach die Haupt-
erzeugungsstätten dieser Stoffe« doch nehmen an deren Pro-
duktion wahrscheinlich noch andere Teile des Sexualapparates
(beim Manne Prostata und Samenblasen, vielleicht auch andere
Organe [Niere]) Anteil, so dass bei Ausfall der Funktion der
Keimdrüsen ein gewisses Vikariieren anderer Organe möglich ist.
Dass nicht die Anhäufung von Spermaflüssigkeit in den
Samenblasen, sondern ein im Blute kreisendes Agens die
Intensität der Libido bedingt, hierfür sprechen auch noch andere
Momente, auf die schon von Jastrowitz hingewiesen wurde.
Zunächst kommt das Verhalten vieler Tiere zur Brunstzeit in
Betracht, ihre Unruhe, Reizbarkeit, Wildheit, Kampfeslust etc.,
was mdir auf die Wirkung eines im Blute kreisenden, gewisser-
massen toxischen Stoffes, als eine vom Sexualapparate aus-
gehende mechanisch verursachte Erregung hinweist. Auch die
Erscheinungen, die bei in sexueller Abstinenz lebenden Menschen
mit beträchtlichem Sexualtriebe gelegentlich beobachtet werden
^ Zustände hochgradiger allgemeiner Erregtheit — lassen sich
kaum auf die mechanische Wirkung der Spermaanhäufung
zurückfuhren. Wir haben ein Analogon für letztere seitens des
Darmes in den Obstipationszuständen, die nie zu ähnlichen
Folgeerscheinungen führen. Dieser Erfahrung steht die Tat-
sache zur Seite, dass bei sehr beträchtlicher Libido durchaus
nicht selten auch durch in kurzen Zwischenräumen aufeinander-
folgende sexuelle Akte keine nachhaltige Herabsetzung derselben
herbeigeführt wird.
Ans dem Angeführten dürfte sich ergeben, dass, wenn
auch für die Entwicklung des Sexualtriebes die von den peri-
pheren Sexualorganen ausgehenden Erregungen von Bedeutung
sind, die Intensität der Libido doch von anderen Faktoren im
wesentlichen abhängt.
Als solche kommen in Betracht ; i . die Erregbarkeit der
kortikalen Scxualzcntren (vielleicht auch die der spinalen;. Dass
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bexiutltrieb und Pabertätsealwickluog.
19
in dieser Beziehung bedeutende, auf angeborener Veranlagung
beruhende Unterschiede vorkommen, hierfür sprechen insbesonders
die I' alle, in welchen schon vor der Pubertätszeit, unabhängig von
Verleitung zur Onanie und von peripheren Reizungen ir'^'cnd-
welcher Art, Zustände sexueller Erregung,' nnftreten, z. B. beim
AnbUck von Vorgängen, die auf normale Kinder keinerlei Ein-
druck machen. Die Bedeutung des kortikalen Momentes erhellt
auch deutlich aus der Beeinflussung der Libido durch verschie-
dene GehtmafTektionen und krankhafte Zustände des gesamten
Nervensystems.
Den zweiten für die Intensität des Sexualtrkbcs in Betracht
kommenden Faktor bildet die Produktion der libidogencn StofTe«
die allem Anscheine nach höchst bedeutenden Schwankungen
unterliegt, die mit Rassen- und Familienanlagen, dem allgemeinen
Gesundheitszustände, Lebensalter, der Ernährungsweise und
äusseren Verhältnissen zusammenhängen mögen. Für den Mann
liegt die Annahme nahe, dass die libtdogenen Stoffe in grösserer
Menge in der Spermaflüssigkeit enthalten sind und mit dieser
in den Samenblasen angesammelt werden. Die vorliegenden
I'xfahrun'^cn weisen jedoch tlaraut hin, dass der Übergang:,' der
hljidoj^cncu Substanz in das lihit nicht IcdiiOich von den Sanirn-
bhi-^cn aus erfolgt. Bei beirachtliclicr I:nt\vicklung der Libicio
finili i \valir>cheinlich bestündig eine Kr^ni ption gewisser Mengen
hbido^^rncr Substanz von ck-n Kciindrüscn und vielleicht auch
anderen liildungsstälti:n au^ statt, währmd bei geringerer Ent-
wicklung des Triebes erst nach einer gewissen Anhäufung des
Stoffes in den Samenblasen der Übertritt desselben in das Blut
erfolgt. Beim weiblichen Geschlechte kann nur ein direkter Über-
gang libidoL^ener Substanz von den Keimdrüsen und den etwaigen
anderen Bildungsstätten in das Blut in Frage kommen.
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II.
Die nervösen Störangen der Pubertätszeit
Das erste Auftreten der Alen.struation — die Menarche
nach Kisch's Bezeichnung' — kann sich ohne jede Beschwerde
vollziehen; häufig gebt n jedoch diesem für das jung^' weibliche
Wesen so wichtigen Ereignisse Beschwerden vorher, ähnlich
denjenigen, welche auch später in vielen Fällen die Menses be-
gleiten: Kreuzschmerzen, Gefühle von Druck, Schwere oder
Ziehen im Unterleibe, Empfindlichkeit der Ovarialgegend. Er-
heblich seltener sind nervöse Herzstörungen, auf deren Vor*
kommen in der Zeit der Menarche insbesondere von Kisch
die Aufmerksamkeit gelenkt wurde. Nach den Beobachtungen
dieses Autors handelt es sich zumeist um Herzklopfen, das
auch bei bis dahm gesunden Mädchen auftreten kann, vor dem
ersten Erscheinen der Menses anfallsweise sich einstellt, die
erste Periode überdauert und nach mehrmaliger regelmässiger
Wiederkehr derselben sich wieder verliert. Hierbei besteht nicht
immer eine objektiv nachweisbare Veränderung der Herzaktion.
In der Mehrzahl der Fälle ist jedoch Pulsbeschleunigung vor*
banden (120—140 Schläge), der Puls hierbei voll, mitunter auch
unregclmässig ; hiermit vergesellschaften sich Schmerzen in der
Herzgegend, Brustbeklemmung und Angstzustände. Mit den
Herzbeschwerden, welche von Kisch teils auf psychische Vor-
gänge, teils auf von den Ovarien ausgehende, reflektorisch auf
die Herznerven wirkende Reize zurückgeführt werden, stellen
sich mitunter noch andere nervöse und psychische Erscheinungen
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Die ncrvöbCD Slünuigen der Pubertätszeit.
21
ein: unruhiger Schlaf, auliallige gemütliche Reizbarkeit, Ver-
stimmungszuständc, Unlust zur Beschäl tigung, Verdauungsstö-
rungen. Kisch fand, dass die jungen Mädchen, bei welchen
diese Zustände zur Beobachtung kamen, zum grüssten Teil
lebhaft erregbare Naturen, Kinder nervöser Eltern waren,
wtkhe frühzeitig schon Tanzstunden und B;illc besucht hatten.
Anfalle von Herzklopfen, ähnlich den erwähnten, treten
auch bei Mädchen auf, bei welchen sich das erste I>scheiiien
der Menses auflallig verspätet oder die Menses nach ihrem ersten
Erscheinen einige Zeit hiinhnch sich sehr unrej^elniässig ver-
halten, länger ganz ausbleiben oder nur in Sinnen sich /eigen.
In diesen Fällen lie^t zumeist Chlorose vor und mangeln auch
andere bei Chlorotischen gew<>hnliche nervöse Beschwerden nicht.
Neben diesen zeigen sich bei Mangel der Menstruation in Zwischen-
räumen von drei oder \ icr Wochen mehr oder minder erheb-
liche Molimina men.strualia.
Mit Störungen in der Entwicklung der Menstruation hängt
auch eine bei Mädchen in der Pubertätszeit auftretende perio-
dische geistige Erkrankung allem Anscheine nach zusammen,
deren Kenntnis wir Schönthal und Friedmann verdanken,
die primordiale menstruelle Psychose (menstruale Ent-
wicklungspsychose). Nach den Mitteilungen der genannten
Autoren stellt sich die Krankheit bei jungen Mädchen mit ver-
zögerter oder im ersten Beginne unterbrochener menstrueller
Entwicklung ohne irgend welche erhebliche Gelegenhcitsursachen
ein und äussert sich in brüsk einsetzenden Anfällen, die einige
Zeit hindurch regelmässig in 3 — 4wöchentlichen Terminen wieder-
kehren und mehrere Tage anhalten. Auf psychischem Gebiete
zeigen sich hierbei Benommenheit mit ausgesprochener manischer
Unruhe oder mit schwerer gemütlicher Depression und Angst-
zuständen, gegen Ende der Erkrankung nur leichtere Err^ungs-
zustände, in der somatischen Sphäre insbesonders vasomotorische
und Pulsphänomene, so mitunter rasches Ansteigen des Pulses
vor dem Anfalle, so dass dessen Wiedericehr sich vorhersagen
lässt. Das Leiden endet nach den bisherigen Erfahrungen ge-
wöhnlich mit andauernder Genesung, die mit der definitiven
R^elung der Menstruation eintritt. Erbliche psychopathische
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22
Die nervösen öturungen der l'ubcrtäUzeit.
Belastung mnssit^er Art war zwar in der Mehrzahl der bisher
beobachteten 1-alle, aber nicht in allen voriiaiiiien
Dass die F'ubertätsentwicklun^ beim niäniillcheii ( ieschlcclite
als Ursache ausL^esprochcncr nervöser St<>ruii,4en wiiksam wird,
hierfür iir^^t kein Beweis vf>r. Dagej^-en la^st sich nicht in Ab-
rede stellen, dass die gesteigerte nervöse Erregbarkeit während
dieser Lebensepoche bei beiden Geschlechtern das Auftreten
einzelner ncr\ r)ser Störungen, so insbesondere der Epilepsie, be-
günstigen mag. G o w e r s fand, dass bei fast *ri seiner Fälle
die Epilepsie zwischen dem 13. und iS. und zwar zumeist im
14., 15. oder 16. Lebensjahre ausbrach. Der Einfluss, welchen
die Entwicklung der Menstruation bei Mädchen auf die Epilepsie
äussert, ist jedoch, wie wir an späterer Steile seilen werden,
verschiedenartiger Natur.
Weniger deutlich ist der Einfluss der Reifung des Ge-
schlechtsapparates auf die Entwicklung der Hysterie. Briquet
fand bei einer statistischen Verwerttmg von 426 Fällen von
Hysterie, dass sich ein Fünftel der Fälle in Frankreich vordem
Alter der Pubertät (dem 1 5. Lebensjahre) entwickelt, vom 15.
bis 20. Lebensjahre sowohl die Häufigkeit der hysterischen Dis-
position als der matiifesten Hysterie bedeutend wächst, dagegen
vom 20. bis 25. Jahre wieder erheblich herabsinkt. Briquet
betont jedoch, dass die rasche Zunahme der Hysterie in der er-
wähnten Lebensperiode keineswegs lediglich auf den Einfluss des
Scxualapparates, sondern auch auf eine Reihe psychischer
Momente zurückzuführen ist, die sich beim weiblichen Geschlechte
in den betreffenden Jahren geltend machen. Beim männlichen
Geschlechte tritt nach Batault's Statistik, welche 192 Fälle
umfasst, die Hysterie am häufigsten zwischen dem 10. und 20.,
sodann zwischen dem 20. und 30. Lebensjahre auf.
Ich habe bei meinen Beobachtungen von Hysterie, die auf
das Alter vom 10. bis 20. Lebensjahre fallen, ein besonderes
Überwiegen einzelner Jahre bisher nicht finden können, so dass
ich die Bedeutung der Pubertätsvorgänge für das Auftreten
hysterischer Zustände nur gering veranschlagen kann. Das
Gleiche gilt für die Neurasthenie.
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III.
Die nervösen und psychischen Störungen
der Menstruationszeit
Die immer mehr sich einbOrgemde Bezeichnung der Men-
struation als Unwohlsein bt nicht lediglich eine Redefigur. Die
Zahl der Mädchen und Frauen, bei welchen der Vorgang der Men-
struation ohne Beschwerden irgend welcher Art verläuft, ist zwar
nicht so gering, dass man sie mit dem englischen Frauenarzte
Kmmct als Ausnahmen von der Ke^el betracliten inüsste, und unter
unserer ländlichen Bevölkerung sind jedenfalls diese Glücklicheren
noch immer reichlich vertreten, allein m den Städten sind otTenbar
diejenigen weiblichen Wesen bei weitem in der Überzahl, iTir
welche die Menstruation in der Tat eine Zeit des Unwohl scin>
bedeutet und insbesonders mit nervösen Stoinni^cn verschiedener
Art einheri^eht. Da die ohne Bcscinverden Mensti liierenden
gewöhnlich Personen von robuster nervöser Konstitution sind,
darf man wohl annehmen, dass die während der Menstruation bei
im übrigen gesunden weiblichen Personen auftretenden nervösen
Störungen die Fnlfren einer erhöhten Reizbarkeit des Nerven-
systems, die angeboren oder erworben sein mag, sind.
Man kann die mit der Menstruation zusammenhängenden
nervösen Störungen in lokale, entferntere und allgemeine sondern.
Unter den lokalen Beschwerden sind wohl Schmerzen in den
unteren Partien des Abdomens oder im ganzen Abdomen, im
Kreuz und in den Beinen die häufigsten. Denselben reihen sich
die bei einer sehr grossen Zahl von Frauen vorkommende
Neigung zu häufigen, zum Teil diarrhoischen Darmausleerungen
und als seltenere Erscheinui^ai Schmerzen im After und ver-
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Die ncrvCfieu und ptydiiwh«!! StOnuigen der Mcnstioatioiiueit.
mehrter Harndrang an. Von den entfernteren Störungen sind
zu erwähnen: Rücken* und Kopfschmerzen, Kopidruck, Magen-
beschwerden in <iU:r Form von Übelkeit, Erbrechen und Car-
dialgien, mehr oder minder erhebliche Schmerzen in den Brüsten
(Mastodynie), seitens des Zirkulationsapparates Herzpalpitationen
— Kisch fand bei 8, 5°.j der Frauen mit normalem Herzen
und regelmässiger Menstruation eine Beschleunigung der Herz-
tat ij^ktit um lo — 28 Schläge in der Minute — und vasomoto-
rische StöniiiL;en. Kälte der I laiidf und Füssc, Wallungen nach
dem Kopfe, da uml dort auftretende tlieifende Hitzen. Sclnveiss-
ausbruch. Oft wird auch Uber ein allgemeines kürjjcrliches
Angegriffensein und Neigung zu rascher Ermüdung bei jeder
einigermassen anstrengenden Tätigkeit geklagt.
\'< in l)esi)nden:m Interesse sind die während der Mensti uations-
]ierio>le auftretenden psychischen Veränderun*,'en, die wn den
hannlo-sesten Erscheinungen alle l'bergängc bi^ zu ^len schwi rsten
j)sychotischcn Zustanden aufweisen. Abweichunj^en in dem ge-
mütlichen Verhalten, erh<Wite euiotionclle Erregbarkeit mit Nei-
gung zum Weinen, Gm iztlieit, K icht<>re Verstinniiuugs/uständc
und rascher Stimnuin^^^wech-d finden sich sehr häufig Die
gemütliche Reizbarkeit eneiclit bei Beki-^teien mitunter s«« liohc
Grade, dass äusserst ^erin'jfu:jij<' Anl.isse 7:u tdbsuchtartigen
Aii-l)iüchen tulucn. 1h 1 l'rauen, da- an Zw.m ^san^st/.ust.imlen
leiden, nehmen solche wahrend der .Menses an Intensität und
Häufigkeit gewöhnlich zu. Manche ueil>!iche Personen, deren
gemütliches Vt.rhalten in tler nitermenstruellen Zeit völlig normal
ist, werden während der Menses von Zwangsverstinimungen heim-
gesucht, die sich gelegentlich bis zum völligen Lcbensüberdruss
steigern kfmnen, wobei jedoch (Jie äusscrliche Ruhe nach meiner
Erfahrung gewahrt bleiben kann. Die Menses i)egünstigen auch
das Auftreten anderer Zwangserscheinungen, was unter Umständen
fotense Bedeutung erlangen kann; insbesonders kommen hier
gewisse Zwangsimpulse» Kleptomanie, Pyromanie und Dipsomanie
in Betracht^).
Die Impulse können auch dem sexaellcn Gebiete «ngelidren. In einem
von Anj«l (Arch. f. Pfeych. XV. Hft. a) mitgeleitten Falle stellte &icb bei einer
erblich schwer beUsteten, dem Klimakterium nabcttebeudeu Frau «ährend der
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Die nervösen und psychischen Sioningcn der Mcnstruatiunszcit,
25
In manchen l'allen nehmen «Jic seelischen Veränderungen,
welche sich mit der Menstruation verknüpfen, den Charakter
einer ausgesprochenen Psychose an. Das „menstruelle Irrsein*'
(Menstrualionspsycliose) ist eine Form periodischer Geistesstö-
rung, deren Anfälle sich in ihrem zeitlichen Auftreten an den
Ovulations\ (iri^'ang gelnmden zeigen, brüsk einsetzen und ge-
wniinlich ebenso enden. Die Anfälle sind weit vorherrschend
prämenstniell, selten postnienstruell und werden oft durch ge-
wisse Prodromalerscht inungen, Schlafmangel, l^nterleibsbeschwcr-
den , Her/kli)pfen , Beklcmmungsgefühlc etc., eingeleitet. Bei
prämenstruellen» Einsetzen zessieren sie mit dem Eintreten der
Blutung, Nach Beobachtungen von v. Kra f f t - E b i n kann in
Fällen, die mit Dysmenorrhoe cinhergehen, auch bei Ausbleiben
der Blutung die Psychose zur Zeit der Menses wiederkehren.
In klinischer Hinsicht zeigt das mcn^tmelle Irrsein die ver-
schiedensten Formen. Melancholie und Manie finden sich am
häufigsten (letztere oft mit sexueller Färbungj, Verworrenhcits-
zustände mit massenhaften Halluzinationen sind ebenfalls nicht
selten. Nach Ziehen kommt bei belasteten Frauen prämen-
struell ein systematisierter Eifersuchtswahn vor, der in der
übrigen Zeit nicht nachzuweisen ist. Die Anfälle menstruellen
Irrseins währen meist nur einige Tage, können aber auch eine
Dauer von i — 2 Wochen erreichen. Der Genitalbcfund iat zu-
meist negativ (v. K r a f f t - E b i n g).
Der sogenannte ,,Ovulati<insreiz" bildet natürlich nicht die
einzige oder wesentliche Ursache dieser Psychosen, sondern
eher lediglich den Tropfen, der das Gefäss zum Überlaufen
bringt. Die in dieser Weise Erkrankten sind zumeist Personen
von jugendlichem Alter und erblicher neuropathischer Belastung,
die zum Teil schon früher von neurotischen Leiden (Hysterie)
oder nicht periodischer Geistesstörung heimgesucht wurden.
Körperhche Leiden und gemütUche Erregungen spielen öfters
die Rolle der Agents provocateurs der Krankheit, zu deren
Menses nehcr. Irisomrip f^in Dranjj ein, Knaben unter lojahicn an «-irh m Ir'-krn,
2U küs&cn und ihre Genitalien zu belasten. Die Frau, welche intermeniinjeü
keinerlei aexoelle Begebrlichkeit seigte, verbngle selbst Oberwadinng in der kri-
tiadien Zeit.
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26 ^><i nervösen und pä^ychischen Slürungen der Mcnstnmttoosxeit.
Ausbrucli die nächste Menstruation den letzten Anstoss gibt. Die
Anfälle schwinden zumeist wieder, nachdem sie sich einige >Tn!e
wiederholt haben; doch kommen auch Fälle vor, in welclien die
einzelnen Anfälle sich immer mehr verlängern und schliesslich
in dauernde Geistcsstöiung überj^ehcn.
Es ist begreiflich, dass Menstruationsanomalien in noch
höherem Masse geeignet sind, nervöse Störungen herbeizuführen,
als die normal veilaufcndc Menstruation. Am crhc!)lichs1en sind
zweifellos die lieschwerden, welche durch dy.stncnorrhoische Vor-
gänge veranlasst werden, deren Ursachen hinwiederum sehr ver-
schiedenartig sind. Anfallswcisc eintretende wehenartige Schmerzen
im Unterleibe (Uterinkoliken) oft von grosser Heftigkeit, häufiger
Harndrang, Schmerzen in den Beinen, im Kreuz und Rücken,
ähnlich wie zum Teil auch bei normaler Menstruation, nur noch
erheblicher, Cardialgien, I helkeit und Erbrechen sind gewöhn-
liche Erscheinungen bei Dvsmenorrhoe; seltener sind reflek-
torische Störungen der Herztätigkeit, Anfälle \'on beschleunigter
Herzaktion mit kardialer Dyspnoe bei geringen Bewegungen
und Angst oder Anwandlungen von Herzschwäche mit kleinem,
sehr frcquentcm Pulse, unter Umständen bis zur völligen Ohn-
macht (Kisch) ').
Nach Theilhaber stellt sich die L'tcrinkolik manchmal
I oder gar mehrere Tage vor dem Eintritte der Blutung
ein. Nach dem Auftreten der Blutung dauert sie häufig nur einige
Stunden, zuweilen jedoch auch noch einen bis zwei Tage an
(selten während der ganzen Dauer der Menstnialblutung). So
lange die Schmerzen sehr heftig sind, fliesst häufig das Blut
nur tropfenweise ab.
Die Anschauungen über die Verursachung der dysmenor-
rhoischen Beschwerden haben sich in den letzen Jahren erheb-
lich geändert. Man hat früher und zwar insbesonders unter dem
Einflüsse von Marion Sims vorwaltend angenommen, dass es
sich um eine Retention des Menstnialblutes infolge verschieden*
' i F 11 n k c 1 s t c i 11 -ti ]!te fest, d.iss bei ;;csunden Fraiten während d<-r
normalen .Mci):»triiatiün eine Kiiischrankuug des ütsichtsfcldes ciniritt ; diese Ein-
scbrftnkuog ist Dach den Untersuchungen Salo Cohns bei Dystinenorrbuc in
den Tagen der grOasten Beschwerden am erheblidisten.
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Die nervösea und psycbUcben Störungen der MeostruationszeiL 27
artiger krankhafter Veränderuni^c n des l tcru.s( Lageveränderun^en,
Cervix'itenosen, Tumoren, Endometritis ptc ^ handle. Thoi!-
habiT und Wille fanden jedoch, dass in der i^rosvcii I\h'lirz;ihl
der Fälle von 1 )ysmenorrIiöe f)r^ani^chc X'im ändtTunt^en nicht
nachweisbar sind ^nach Theilhaber in ' i der Fälle sohin
eine idiopathische Dysmenorrhoe \()rliej^t. Nach dem letzt-
genannten Autor werden die wehenartigen Schmerzen der Dys-
menorrhöe durch spastische Kontraktion der zirkulären Muskel-
fasern am inneren Muttermunde fdes Sphincter orificii interni)
herbeigeführt. Eine Retention des Menstrualblutes hält Theil-
haber für die Entstehung der Lterinkolik nicht für nötig, da
Kolikschmerzen auch bei krankhaften Kontraktionen anderer
muskelhaltiger Organe (Darm, Magen etc.) entstehen. Für das
Auftreten der in Frage stehenden Spasmen bei Mangel lokaler
Veränderungen halten Theilhaber und Wille eine gewisse ner-
vöse Disposition f neuropathische Veranlagung, Neurasthenie,
Hysterie 1 für erforderlich. Wille weist darauf hin, dass mit
dieser Disposition noch gewisse Gelegenheitsursachen sich ver-
knüpfen müssen, wenn es zur Entwicklung der Dysmenorrhoe
kommen soll. Er konnte mehrfach wie Krönig konstatieren,
dass die Dysmenorrhöe nicht von der Pubertät, sondern erst von
einer bestimmten Gelegenheit (Oberanstrengui^) an bestand.
Hiermit stimmen auch meine Erfahrungen überein. Ich habe
ebenfalls Fälle beobachtet, in welchen bei nervösen Personen
die Einwirkung gewisser Schädlichkeiten um die Zeit der Menses
(gemütlicher Erregungen, Oberanstrengungen) Dysmenorrhöe
zur Folge hatte und dieser Zustand längere Zeit hindurch sich
wiederholte, ohne dass weitere Gelcgenheitsursachen tm Spiele
waren. Für den weit vorherrschend nervösen Ursprung der
dysmenorrhoiscben Beschwerden spricht auch der Umstand,
dass sich dieselben sehr häufig durch verschiedenartige Einwir*
kungen auf bestimmte Stellen der Nasenschleimhaut (Ätzungen,
Kokaincinpinselungen, unter Umständen auch durch Einpinselung
mit aq. dest.) beseitigen lassen ^).
'f Man bat, um dif Recintlussunj; der Dysmenorrhöe von der Nasf aus zu
erklären, komplizierte Rclkxlhcoricn au^i^c^onaen. Die menstriiclkn VciaiiUc-ruogcu
im Uten» sollen auf rcikkiorischem Weg« An9cbweiluni;fn bestimmter Stellen
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Die nervOse» und pcychiscbea StSrangen der Meii»tntiitMiimeit.
Die Beziehui^en zwischen Uterus und Nasenscbldmhaut
bildeten bis in die jüngste Zeit den Gegenstand von Diskussionen
in der Literatur, wobei zum Teil sehr abweichende Ansichten
zu Tage traten. So berichtet Mal herbe') (Paris), dass er
eine Anschwellung der Schwellkörper der Nasenschleimhaut zur
Zeit der Menstruation fand und bei heftigen dysmenorrtioischen
Schmerzen eine besonders intensive Kongestion am vorderen
Ende der unteren Nasenmuschel und am Tuberculum septi
beobachtete. Nach den Erfahrungen Malherbe's sind nicht
nur die Fälle rein nervöser Dysmenorrhöe, sondern auch ein
Teil der Fälle mit Erkrankungen des Genitalapparates durch
nasale Therapie günstig zu beeinflussen.
Kuttner') auf der anderen Seite erklärt es ffir unrichtig,
dass sidi bei den „meisten" oder gar „allen" Frauen zur Zeit
der Menses Veränderungen der Nase finden; er erachtet dies
nach seinen Erfahrungen geradezu für eine Ausnahme. Für richtig
hält Kuttner nur, dass menstruelle B«»:hwerden von der Nase
aus beeinflusst werden können, aber nicht lediglich durch Be-
pinselungcn des Tuberculum sojni. und der Muscheln durch
Kokain etc. Der gleiche Erfolg ist durch Bepinselung des Kachens
und Kehlkopfes mit verschiedenen anästhesiei cn« itn J ühunj^cn
und soi^'ar mit Brunnenwasser /u nzK-Kn. Kuttner erachtet
dt'n Zui^aintiienlian^ zwisclien Na^e iind Mcnsti uatioiisbcschwerden
für eine KrscliciiuinL; i'cr liwstcru'. Bei ktiti'-chtr W'urdij^uni^
dfi zur Zeit vorlicj^niilcn Iii laliiunj^en kann man sich wohl dem
Schlüsse nicht i ni/.ichcn, dass es sich bti der Becintlussung der
I )ysmenorrhöe von iler Nasenschleiinhaut aus nicht um reflek-
torische Vori;;ii)^c, ^(-ntiriii um Sui^f^estivw ii kungen handelt.
I)ic Auieuiti i , 1 <■. das Au >! leihen der monathchen
Blutung l>ei einer I is d ilun regelmassig mciisi i uu t ten, nicht
schwangeren weilihcheu i'« ts()n führt an sich \vemgst<'ns sehr
häufig /u keiner Belustigung, wahrend die dieselbe veranlassenden
Ucr Na»etiM;bleiiiibuul bcibitlübuii uiul <ii«->r biiiwiok-iuin it'lleklori»di die dys-
menonrboiiichen Erscheinungen iiu*l«ispa | S r h i f f, F 1 i c ■ »).
<) Mulberb*. I^rii <U Itull. nWd. Ni». H), l«|Ol).
*i A. Kl) (tu er: Dir nasnkn KHlrsiirut«wn und dl« normalen Xasen«
rcHcxe. Uetlia 1904.
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Die nervösen und psycbUcben Stdningen der Meostniationszeit. 29
Krankheitsziistände und psychischen Kinllüsse (Kummer. Angst
etc.) mannigfache ncrvüsc Störungen nach sich ziehen können.
Nach Kisch kommt es hierbei zuweilen zu tachykardischen
Anfällen, welche entweder unregelmässig oder in bestimmten
Perioden, d. h. einige Tage vor dem Termine, an welchem die
Menses erscheinen sollten, wiederkehren. Bei amenorrhoischen
Hysterischen werden mitunter vikariierende Blutungen aus inneren
Organen (Blutbrechen, Hämoptoe) beobachtet, deren Eintritt
mit verschiedenen Beschwerden verknüpft sein kann. Plötzliches
Zessieren der bereits im Gange befindlichen menstruellen Blutung
infolge heftiger Gemütserr^ungen kann verschiedenartige nervöse
Zufalle sur Folge haben, wobei es jedoch fraglich bleibt, was
auf Rechnung der ursächlichen gemütlichen Erregung zu setzen
und was der Suppressio mensium zuzuschreiben ist. Die Krank-
heitserscheinungen seitens des Nervensystems, welche bei zu
starker Menstrualblutung (Menorrhagie) auftreten, sind in der
Regel auf hierdurch verursachte AnSmte oder das Grundleiden
zurückzufahren, durch welches der übermässige Blutverlust be-
dingt ist (Neubildungen im Uterus, Endometritis etc.).
Anhang.
EinfiiiBS der Menstruation auf bestehende Nerven«
krankheiten und Psychosen.
Berücksichtigen wir den Einliuss, welchen der Menstruations-
vorgang auf das Nervensystem bei gesunden und nur nervösen
Frauen äussert, so kann es nicht befremden, dass bei verschiedenen
Nervenkrankheiten die Menses mit einer Steigerung beständig
oder zeitweilig vorhandener Symp' "mt - einhergehen und unter
Umständen auch zum Auftreten von Erscheinungen Anlass gel)en,
welche in der übrigen Zeit fehlen. Eine derartige Einwirkung
des Menstrtiationsvorganges zeigt sich am meisten bei den Neu-
rosen. Bei an Neurasthenie leidenden Frauen ist es etwas
Gewöhnliches, dass während der Menses und schon vor Einleitung
derselben die Kopf- und Rückenbeschwerden, die Gefühle all-
gemeiner körperlicher Schwäche oder speziell der Schwäche und
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30
Die nervfiten and ptychrächen Störungen der Ueottrafttkutaieit.
Müdigkeit in den &inen sich fnehren« Schwindel, Angstzustände
und ZwangsvorstcHungen stärker hervortreten und, wo Erschei-
nungen der nervösen Herzschwäche bestehen, sich diese im
besonderen Masse geltend machen. Dabei ist es bemerkens-
wert, dass diese periodische Verschlimmerung des Zustandes
nach meinen Bi nbachtungen im allgemeinen bei geringfügiger
menstrualer Blutung, also rchiüv ci .\nienorrhoe viel et heblicher
ist als bei reichlichem LUutabgange. Bei der Angstneurose und
der Hysterie verhall es sich ähnlich. Bei Hysterischen, welche
an Kramj)fanfällen oder Attacken anderer Art (hysterischem
Somnambulismus, Schlaf/ustandcn etc.) leiden, treten diese Anfälle
mit V<.>rliel>e iulcr mit l»i'S(jndcrer Schwere zur Zot der Menses
auf; es mangelt auch nicht an Fällen, ni wi Iclu n sich hysterische
Anfälle lediglich zur Monsti uaii< oiszcit einstellen. In diesen
I'^ällen jvt liic Beziehung des Mcn.struaiicins\ oi |:^'an^'is lu. den
Anfällen nicht inniu-r die gleiche. Bei manrhcn Patientinnen
ist der Zusammenhang ein zufälliger, psychisch verniitt« her.
Die Anfälle traten zum er.steniale zur Zeit der Menses infolge
zufälliyer Finwirkungen ^gemütlicher Ivrre^iiiiL^rn etc. auf, und
es scheint hier di< Wiederkehr der Erinnerung an die betretTendcn
Vorfälle zur Mrn>ti uationszeit als nnfaüauslOsendes Moment zu
wirken. Hier kann m der Zeit zwi'^chcn den einzelnen Mcnstruaiions-
periodcn das Befinden ein ganz befi icdigcndcs sein. In anderen
I-'ällen handelt es sich dni^e,.t( ii um Hysterische, deren Nerven-
system beständig in einem solchen Zustande erhöhter Erregbarkeit
sich befindet, dass die mit der Menstruation verknüpfte Erregung
genügt, Krampfattacken oder Anfälle anderer Art (Asthma uti rinum,
Tremor etc.) herbeizuführen. Hie Menstruation begünstigt auch
das Auftreten von Migräneanfällen. Von den mit Migräne
behafteten Frauen leiden manche nur während oder vor der
Menstruationszeit an dem Übel, und bei anderen bevorzugen
die Anfälle diese Zeit, oder sie stellen sich während derselben
in besonderer Schwere ein. Ähnlich ist die Beziehung der
epileptischen Anfälle zur Menstruation. Bei epileptischen Frauen,
bri w elchen die: All fälle nicht häufig sind, treten dieselben mit
Vorliebe um die Zeit der Menses und zwar zumeist vor Beginn
derselben auf; ich habe auch Fälle gesehen, in welchen in der
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Die nervOsen und psychiscben StOniogeii der Menstniationseeit.
31
Zeit zwischen den Menstruationsperioden lediglich leichte Anfälle
(Petit mal) bestanden, während der Menses dagegen Anfalle
schwerster Art in grösserer Zahl regelmässig sich abspielten*).
Der EinflusSf welchen das erste Erscheinen der Menses in bezug
auf die Epilepsie äussert, ist ein sehr verschiedener. Wir begegnen
einerseits Fällen, in welchen die ersten epileptischen Anfalle
sich mit dem Einsetzen der Menstruation zeigen; andererseits
kommt es aber auch vor, dass bei an Epilepsie erkrankten
Mädchen die Anfälle nach dem Beginne der Menstruation auf-
hören; ich habe dieses Verhalten namentlich in Fällen ^^ctundcn,
in welchen lediglich Anf^le von Petit mal voriianden waren.
Auch auf die neuralgischen Aflfektionen äussert die Menstruation
häufig eine ungünstige Wirkung; besonders aufTäUig macht ^h
dieselbe mitunter bei Trigeniinusneuirtlgu. n bemerklich.
Der Einfluss der Menstruation auf bestehende Psychosen
ist in der Re*^el ein ungünstiger. Errcgunf^szustände erfahren
wahrend dieser Zeit meist eine Steigerung, treten mitunter auch
bei sonst ruhigen Kranken auf.
Es muss hier ferner bemerkt werden, dass die Psychosen
häufig zu Störungen der .Menstruation und zwar vorherrschend
in der Form der Anienorrlioe führen. Am häufigsten begegnet
nian letzterer bei ujelanciioiischen Zuständen. Beim zirkulären
Irrsein wird mitunter in der Depressionsphase Zessieren der
Menses beobachtet, während sie in der manischen Phase nicht
ausbleiben. Bei akuten Geist rsst» .run<^en stellt sich (Vir Men-
struation gewöhnlich mit der licsseiung ilcs Zustandes wieder
ein. Bei manchen Geisteskrankheiten (so hei D( iiu ntia ])i:icox
nach Kräpelin) ist jedoch auch der Übergang in Verblödung
von der Wiederkehr der Menses begleitet.
*) Diese Erfahruiig besieht ^ andl auf Fülle, in welchen orj^nifiche
GdurDerknnkungen mit «pUeptiBcfaeo Symptoin«ii bestandcit.
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IV.
Die nervösen und psychischen Störungen
der Schwangerschaft
I\Iit dem I{influs^c der Schwanj^erschaft auf das Nerven-
system verhält es sich in gewissem Masse ähnlich wie mit dem
der Menstruation. Wir begf^nen Frauen, welche die Schwanger-
schaft von Anfang bis zu Ende ohne jede auf den Zustand zu-
rückzuführende nennenswerte Störung des Beiindens durchmachen,
und daneben wieder anderen, welche während der Schwan;^'cr-
schaft von mehr minder bedt utenden, zum Teil selbst das Leben
bedrohenden nervösen Störungen heimgesucht werden Die Ver-
änderungen, weiche der weibliche Organismus während der
Gravidität erfährt, das allmähliche Anwachsen des Uterus, die
Modifikation der BlutbcschalTenheit und des Stoffwechsels und
der Übertritt fötaler St < ff Wechselprodukte in das mütterliche
Blut, machen es begreiflich, dass Personen, deren Nervensystem
die Merkmale der reizbaren Schwäche (i. e. der sogenannten
neuropathischen Disposition) in irgend einem Grade aufweist,
während der Schwangerschaft von nervösen Zufällen hi-im gesucht
werden, während Personen von robuster Nervenkonstitution unter
sonst gleichen Vorhältnissen verschont bleiben. Dass übrij^ens
auch bei gesunden Frauen die Schwangerschaft an sich, d. h.
infolge der mit ihr verknüpften physiologischen Veränderungen
des Organismus die Erregbarkeit des Nervensystems nicht unbe-
einflusst lässt, ist sehr wahrscheinlich. Hierfür spricht der Um*
stand, dass Neumann bei den meisten von ihm untersuchten
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Die nervösen und psychischen Störungen der ^»chwangersdiafl.
33
II
1« tt
Schwangeren eine Sti igerung des Kniephänomens fand, die im
Verlaufe der Schwangerschaft zunahm.
Die am häufigsten zu beobachtenden nervösen Beschwerden
sind gastrischer Natur: Übelkeit, Brechreiz und Erbrechen. Diese
Erscheinungen treten zuweilen schon in den ersten Wochen der
Gravidität ein und bilden für manche Frauen ein Symptom, das sie
noch vor dem Ausbleiben der Menses über die stattgehabte Kon-
zeption in untrüglicher Weise aufklärt. Häufiger stellt sich
das Erbrechen im zweiten und dritten Schwangerschaftsmonate
ein. Nach einer Zusammenstellung von Horwitz trat das Er-
brechen unter 179 Fällen von Schwangerschaft
zwischen der 5. und 6. Woche bei 16
„ 11 6. und 8, ,» „ 38
„ 8. und 10. „ „ 43
10. und u. „ „ 60
„ II. und 12. „ „ 22
Frauen auf.
Zwischen Übelkeit und Erbrechen besteht in der Schwanger-
schaft keine konstante Beziehung. Das Erbrechen stellt sich
zum Teil nach grösserer oder geringerer Nausca bei leerem
Magen (z. B. des Morgens) (.der nach den Mahl/eiten, zum Teil
nur nach letaleren ohne X'oi hergehen iigendwelclier Beschwerden
em. Der Ernähruni^szu stand der Schwangeren wird durch das
ICrbrechen gewöhn hch nur wcnii; od«T überhaupt nicht beein-
trächtigt. In TTianchen Fällen Itestlnänkt sicli die Stmunc^ auf
zeitweilig auüretende oder mehr andauernde Übelkeit. Nicht
selten ist auch Appel itni.in^el und insbesonders Abneigung gegen
einzelne Speisen, namentlich Fleischspeisen. Das Auftreten der
erwähnten gastrischen Störungen schon in der ersten Zeit der
Gravidität spricht für deren reflektorische Verursachung, die
wahrscheinlich vom l'terus ausgeht.
Die gewöhnliche Einesis gravidarum, die von manchen wegen
ihrer Häufigkeit und relativen Belanglosigkeit als eine physio*
logische Erscheinung betrachtet wird, erfährt in vereinzelten
F^len eine Weiterentwicklung, durch welche sie nicht nur einen
sehr ernsten, sondern selbst lebensbedrohlichen Charakter an-
nehmen kann. Man spricht dann von Hj^eremesis gravidarum
LSwanfetd, Seuidl-BOTvilie Stänutfen. Viert« Anfl. $
34 Du DcrvOien und psychisdien SUbutg^n der Sdiwi^endidt
(dem unstillbaren Erbrechen der Schwangeren). Die Brechanfäite
nehmen in den betrefTenden Fällen allmählich an Häufigkeit und
Intensität zu ; sie stdlen sich sowcdil nach der Nahrungsaufnahme
als zwischen den Mahlzeiten ein, und die Art der aufgenommenen
festen oder flüssigen Speisen bleibt ohne Einfluss. Appetitmangel
und Schmerzen in der Magengegend gesellen sich hinzu, mit-
unter auch Diarrhöen und lästiger Speichelfluss. Die Zeichen
hochgradiger Störungen der All^emeinei nähi un^ bleihon nicht
lan aus nasch zunehmende Abmagerung, Jlcsclileiinigung und
Kleinwci den des Pulses, Sinken der Urinsekretion, mitunter mit
Kiweissgehalt des Urins, schliesslich auch Inanitionsdelirien).
f ielingt c.-> in diesem Stadium nicht, dem Erbrechen auf die eine
oder andere Weise eine Ende zu machen, so erfolgt der Exitus.
Walzer hat in einem scliweren Falle vnn llyperemesis gravidarum
die Ehrlich 'sehe Diazoereakliun nachgewiesen und leitete darauf
hin den künstlichen Abortus ein.
Über die Pathogenese der Hypereme^is gravidarum sind zur-
zeit die Ansichten noch geteilt. Früher waren die Gynäkologen
vorwaltend geneigt, das T,eiden mit pathologischen Zustanden
des Uteru.s ( I .aL^everilnilerim^en etc.i in Verl)indun;^ zubringen.
In neuerer Zeit hat sich die Anschauung mehr und mehr Bahn
gebrochen, dass das unstillbare l'.i brechen der Schwani^eien ein
Symptom der Hysterie ist. Kaltenbach hat diese Auflassung
mit dem Hinweis auf den ganz unbercrhenhnren Verlauf des
Leidens und insbesonders das oft ganz pleit/liche Aufh«">icn des-
selben nach psychischen oder somatischen Einwirkungen be-
gründet. Mehrere von Alt veröffentlichte Beobachtungen be-
st.ntigon die Ansicht Kaltenbachs vollkommen. Beide Autoren
nahmen bei ihren Patientinnen die Ausspülung des Magens vor
und suggerierten nach dieser, dass, nachdem nun alles Schädliche
aus dem Magen entfernt sei, das Erbrechen notwendig aufhören
müsse. Diese Suggestion erwies sich auch als wirksam, und die
Kranken erholten sich alsbald. Seitdem hat nicht nur unter den
Neurologen, sondern auch in den Kreisen der Gynäkologen die
Auffassung des in Frage stehenden Leidens als Aussenmg eines
hysterischen Grundzustandes sehr an Anhang gewonnen. Manche
Gynäkologen, so z, B. Theilhaber, glauben jedoch, dass in
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Die DcrvOseo ood p^cbUchen Stönu^en der Schwangerschaft.
35
einem Teile der Fälle das Erbrechen nicht hysterischen, d. h.
psychischen Ursprungs ist, sondern auf AutoIntoxikation beruht
Wie die Hyperemesis bildete auch die Schwangcrschafts-
chorea bis in die jüngste Zeit den Gegenstand zahlreicher Dis-
kussionen. Dieselbe ist kein häufiges Vorkommnis und soll nach
Mongeri in den südlichen Ländern Europas seltener auftreten
als in den nördlichen. Die Erkrankung befällt vorwaltend jagend-
liche Individuen und Primipare und kann in jeder Periode der
Schwangerschaft zum Ausbruch gelangen ; doch ist, wie aus den
Statistiken von Gower's und Krön er sich ergibt, die erste
Hälfte*) der Schwangerschaft entschieden bevorzugt. Bestand
schon vor der Schwangerschaft Giorea, so kann es während
derselben zu einem Rezidiv kommen.
In ätiologischer und symptomatologischer Hinsicht präsentiert
das Leiden kein einheitliches Krankheitsbild. Ein Teil der hierher-
gehörigen Fälle ist offenbar der Hysterie zuzurechnen und auf
psychische Traumen zurückzuführen. So bestanden in zwei von
mir beobachteten Fallen neben den choreatischen Erscheinungen
andere hysterische Symjitome und war das Leiden infolge ge-
mütlicher Erregungen (bei der einen Tatienlin nach ^bsbhandlllng
seitens des Gatten') aufgetreten. Die Ätiologie der übrigen
Fälle ist noch unklar und wahrscheinlich ki-ine gleichartige. Ein
Teil derselben mag infektietsen l'rsprungs stin [rheumatisches
Virus), während bei einem anderen Teile vielleicht eine gewisse
') Tbellhaber: Der ZusBinmeDliaiie vtxn NervenerkiuikuBg^B mit StSnin^
io den weiblichen Geschlechlsorgancn. 1902. S. 16
'} Nach der 125 Falle umfassenden Statistik von Ktoaer bcsuindie Chorea
im
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Fällen
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Fall.
*) Dieser Fall nahm nach der Tran&ferierung der Patientin in eiaes der hiesigeo
Hoftpitller einen tCdlidien Ausgang.
8*
35 I^ie oervüsen und p&ycbiscben Störuugeu der Schwangersduft.
Antoint- 'xikation vorliegt. Mongeri erblickt in letzterem Mo-
nu-nte die Hau;'tur>;ic-hp drr Sclnv an^eT->chaftschorea. und or f];laiibt
ini Anschlii>si" an die Tlu-uru' \ Mn I . a b a d i e- I- a i; r a \ r Stö-
rungen der Leberfunknon al^ die ( juelle der in Frage stehenden
Autointoxikation betrachten zu dürfen. Die Chorea gravidarum
verliert sich zumeist schon im Laufe der Schwangerschaft, nur
selten hält sie bU zur Entbindung an, um dann gewöhnlich in
den ersten Tagen des Puerperiums zu schwinden. Ein tödlicher
Ausgang bildet keine Seltenheit, doch ist derselbe in der Regel
auf Komplikationen, namentlich seitens des Herzens, zurückzu-
führen. Der Prozentsatz der Todesfälle bei Chorea gra\-idarum
schwankt in den bisher mitgeteilten Zusammenstellungen von
12—32%.
Bezüglich der Eklampsia gravidarum et parturientium wollen
wir uns auf die Bemerkung beschränken, dass dieselbe nach den
neueren Untersuchungen ebenfalls auf eine Autointoxikation zu-
rückgeführt wird, und zwar soll es sich hierbei nach den neueren
Forschungen um die Einwirkung vom Fötus gebildeter Toxine
handeln, welche infolge einer Störung der Nierenfunktion im
Körper zurückgehalten werden. Endlich ist hier noch zu er-
wähnen, dass in einzelnen Fällen wiederholtes Auftreten einer
anderen, wahrscheinlich ebenfalls auf Autointoxikation beiuhenden
Krkrankuni;. der Tetanie, während der Schwangerschaft bei Frauen
beobachtet wurde, die ausserhalb der Gravidität von dein Leiden
verschont Ijlielien.
Unter den son>tigen während des Schwan;;erschall auftreten-
den nervt >en Leiden stehen die Neuralgien und neuralgilormcn
AtTekiionen obenan. Wir müssen dieselben in zwei Gruppen
iiondcrn :
ai in solche, welche durch mechanische Einwirkungen des
wacliNcnden Uterus auf benachbarte Nerven.stäinme zustande
kommen,
b) in s. liehe, welche in entfeintet en Nervengebieten infolge
nicht naher l>ekanntor Ursachen auftreten.
Die Neuralgien der er>tci wähnten Gruppe treten gewöhnlich
in den letzten Schwangerschaftsmonaten und vorwaltend einseitig
im Gebiete des Nervus ischiadicus auf. Unter den entferntere
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Die nervösen and psychischen StAnineen der Schwangenehaft.
37
Nervengebiete befallenden Neuralgien finden wir die Trigeminus-
ncuralgien am häufigsten; dieselben setzen meist in den ersten
Schwangerschaftsniunaten ein und können eine ausserordentliche
Intensität erreichen. Windscheid berichtet über zwei Fälle,
in welchen die SchTnerzattacken schliesslich einen so exorbitanten
Charakter annahmen und so unbeeinHussbar wurden, dass man
sich veranlasst sah, die künstliche Frühgeburt einzuleiten, was
beidemale das sofortige Schwinden der Neuralgie zur Folge hatte.
Die Neuralgien im Trigeminusgebiete treten häufig in Form von
Zahnschmerzen bei gesunden Zähnen auf und kehren bei manchen
Frauen während jeder Schwangerschaft wieder. Von neuralgi-
formen Affektionen sind die anfallsweise in der Brust eintreten-
den Schmerzen (Mastodynie) wohl die häufigsten. Man darf
dieselben wohl mit fluxionären Vorgängen nach der Brustdrüse
in Verbindung bringen, wie dies bei der menstruellen Mastodynie
der Fall ist.
Im Verlaufe der Schwangerschaft können sidi ferner die
verschiedensten organischen Erkrankungen des Gehirns, Rücken-
marks und der peripheren Nerven entwickeln, da dieser Zustand
die Wirksamkeit keines der ätiologischen Momente ausschliesst,
die zu organischen Erkrankungen des Nervensystems führen.
Der Verlauf der die Gravidität komplizierenden organischen
Aflektionen des Nervensystems kann sich in derselben Weise
gestalten wie beim Auftreten derselben unter anderen Verhält-
nissen, auch muss durch dieselben der Fortgang der Schwanger-
schaft keine Störung erfahren. So erlitt, um ein Beispiel zu
geben, in einem Falle meiner Beobachtung eine im achten
Schwangerschaftsmonate befindliche I ;au durch einen Stur/ aus
dem Wagen eine traumatische Gehinihlutung, welche eine leichte
Hemiplegie und A])hasi<- zur I\)lgc hatte. Die /erelnalen Funk-
tion s.stönmgen hc-^erten sich alsbald, und die F.ntbinduni; erfolgte
zur noruialen Zeit ohne Sttiruni;. Ai)L;eselieii v'>ii den als reine
Komplikationen zu betrachtenden kr.nnen jeiloch im Verl.uife
der Schwangerschaft auch organische Krkrankungen des Noi ven-
systems sich entwickeln, denen eine ursächliche Beziehung zu
dem bestehenden Zustande nicht abzusprechen ist. Mit diesen
Erkrankungen hat sich in den letzten Jahren insbesonders
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38
Die nervCs«n und psychischen Störungen der Schwangerschaft
von Hoesslin*) eingehend beschäftigt, dessen Ausführungen
im folgenden in erster Linie Berücksichtigung finden werden.
Was zunächst die Erkrankungen des Gehirns betrifft, so hat
man eine genuineSchwangerschaftsapoplexie unterschieden,
deren Ätiologie jedoch noch wenig geklärt und allem Anscheine
nach keine einheitliche ist. So berichtete Ahlfeld') über den
Fall einer Frau, welche an dem Tage, an welchem sie die Menses
erwartete, die jedoch wegen inzwischen eingetretener Gravidität
ausblieben, von einer Hemiplegie befallen wurde. Hier liegt
die Annahme nahe, dass eine sogenannte vikariierende Men-
struation im Spiele war. In der grössten Mehrzahl der Fälle
treten die hier in Betracht kommenden Apoplexien jedoch erst
in der letzten Schwangerschaftszeit auf; Lebensalter und Zahl
der Schwangerschaften scheinen hierbei keinen Kinfluss zu äussern.
L'nter 27 von von Hoesslin zusammengestellten Fällen') be-
trafen 12 Frauen unter, 15 solche über dem 30. Lebensjahre.
L'nter den Befallenen sind Erst- bis Drittgebärende zwar in der
Mehrzahl vertreten, doch finden sich unter denselben auch Frauen
mit zahlreichen Schwangerschaften. In einzelnen Fällen wurden
Frauen während mehrerer Schwangerschaften wiederholt von
Apoplexien heimgesucht. Von Hoesslin hält es für möglich,
dass bei den in Frage stehenden Apoplexien eine mit der
Schwangerschaft Hand in Hand gehende Herzhypertrophie und
die Erhi>hung der Widerstände im Gefässysiem der unteren
Extremitäten während der letzten Schwangerschaftsperiode eine
Rolle spielen. Er hält auch durch Toxine bedingte Gefässver-
änderungen nicht für ausgeschlossen. Was die Symptome der
^ogenannten genuinen Schwangorschaftsapople.xien betrifft, so
handelt es sich hierbei zumeist um jäh einsetzenden Verlust des
Bewiisstseins, begleitet von Hemiplegie, die sehr häufig mit
Aphasie verknüpft ist. Der Fortgani^ der Schwangerschaft er-
fährt hierdurch gewöhnlich keine Störung.
M Von Hoe*>lin: Münchener medizinische WcKhcnschiift 1904. Nr. 10
tmd Archiv für P-jchialric. Bd. 3S. H. 3. 1004. ferner Munchener meillzinische
\\\<henj<hrift Xr. 14. IQ05.
»I Archiv für Gyniik. Rd. XI. S. 584.
*. In dieser Zahl sind jc\lixh auch F.iile mit Gchirnb!utunj;en eingeschlossen,
«Sic inter partum und während des Wochenbettes auftraten.
Die nervösen und psycbUcben Störangen der Scbwangertdiaft.
39
Zu Gehirnblutungen kann es ferner in den während der
Schwangerschaft so häufig sich entwickelnden urämischen, durch
parenchymatöse Nephritis bedin^'ten Zustanden konuuen. Der
L mstand. dass hierbei nicht scheTi mchreie iikitherde sich finden,
spricht, wie von Hoessiin mit Recht bemerkt, dafür, dass
hierbei eine Erkrankung der Bhitgefässe vorht-gt. Schwere zere-
brale Funktionsst()run^en, insbesondcrs liemi- und ^hln(>]>legien
und Aphasie können aber hei den fraglichen urämischen Zu-
ständen auch unabhängig von Gehirnblutungen auftreten. In
einem Teile der betreffenden Fälle wurde zirkumskriptes ( )deni
des Gehirns und der Meningen gefunden, in einem anderen
mangelten makroskopische Läsionen. Den schweren Gehirn-
erscheinungen bei der Schwangerschaftsurämie gehen meist kürzere
oder längere Zeit neben der Albuminurie noch andere Protromal-
symptome vorher, besonders häuAg Kopfschmerzen und Übel-
keiten. Die Kopfschmerzen können eine ausserordentliche Inten-
sität erreichen und die Nachtruhe andauernd stören. Zum
Eintritt von Lähmungen kommt es in der Mehrzahl der Fälle
erst nach einem oder mehreren eklamptischen Anfällen; letztere
können aber auch, wie von Hoessiin hervorhebt, an die
Lähmung sich anschliessen oder auch ganz ausbleiben. Der
Verlauf der Lähmungen ist von ihrer anatomischen Gnmdlage
abhängig; bei Mangel einer Gehirnblutung können dieselben sich
rasch zurQckbilden. Die Prognose der durch Blutergüsse ver-
ursachten Lähmungen ist viel ungQnstigor. Von Hoessiin er-
mittelte, dass von 40 Frauen mit aibuminurischen Lähmungen
nur II am Leben biteben. Zu erwähnen ist hier femer, dass
alte Endokarditiden während der Gravidität exazerbieren oder
rezidivieren können, wodurch Embolien von Gehirnarterien ver-
ursacht werden m<^n. Von O Ii vier wird jedoch eine der
Gravidität eigentümliche schleichende Endokarditis beschrieben,
die in ihren Sjmnptomen und ihrem anatomischen Bilde völlig
mit der rheumatischen übereinstimmen und ebenfalls zu Embolien
der Gehirnarterien führen soll Mir erscheint die Existenz einer
besonderen Schwangerschaftsendokarditis vorerst noch zweifelhaft.
Chronische organische Rückenmarksaffektionen, insbesonders
Tabes, die schon vor der Gravidität bestanden, werden durch
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40
Dk DcrvÖMB und piyehttdieii Stönmgen d« SdtwAOgmchkft.
diese zumeist nicht beeinflusst ; umgekehrt wird auch der Ver-
lauf der Schwangerschaft und der Geburt durch die fraglichen
Erkrankungen gewöhnlich nicht alteriert. Bei vorgeschrittener
Tabes kann es jedoch vorkommen, dass die Geburt sich ver-
zögert (Beobachtungen von Macdonald und L i t s c h k u s) ')
und die Wehen nur in sehr geringem Grade schmerzhaft emp-
lunden werden.
I>ezÜL,'licli der Fraj^c, ob eine Rückfniuaikserkrankvmi^, wilche
während einer Schwangerschaft sich entwickelt, in .iti<«k)^»i.scher
Beziehung zu dieser steht, i^t ein gewisser .SkeiJti/isnuis sehr
gerechtfertigt. Man hat früher öfters die Schwangei schalt als
Ursache \ on Spinalei kiankunt^on in Fällen an^ent-minen . in
welchen andere äliolugiische Moniente im Spiele waren oder libcr-
haupi kein Spinalleiden vorka*^. Wind scheid äusserte sich
dahin, dass mit der zunehmenden KcnntniN <ier Ätiologie mancher
Rückcnmarksei krankungen, die sog. spnialen Schwangerschafts-
lähtTunigen mehr und mehr verschwinden werchn Wenn wir
die z. Z. vorliegenden DeobachtunL;en {nüten, ergibt sich
jedoch, dass ein ätiologischer ZusammenhauL; zwischen Spinal-
erkrankung und Gravidität nicht in allen m Hetraeht kommenden
Fällen anszuschlu ssen ist. Es sind hier zwei Reihen von Be-
obachtuniu'n zu bi i ückNichtigen : In der ersten Kcih«- handelt es
sich um m\( htisclie Prozesse, die wähtcnd der Gravidität sich
entwickelten . nach derselben sich besserten , bei folgenden
SchwaniHTschatlen exazerbicrtcn. Grössere Beweiskr itt kommt
jedoch den viel selteneren Fällen von rezidivierender Schwanger-
schaf tsmyeUtis zu. Fin sehr beachtenswerter Fall dieser Art
kam in von 1 1 o e s s I i n s Beobachtung :
„Ganz uv T kwOrdig war me.iii rit^'-ner Fall. Ein<^ Krntikr kam mit
ausigcsprociien inyt litischen Erscheinungen zu mir, die in der letzten Zeit
der Gravidität eingesetzt hatten und sich nach dem Wochenbett noch
steiiiertcn. Die Kranke wurde gclx ilt entlassen. Nach c-inigei Zi it kam
die Kranke wirdt-r zu mir in die An.slalt mit einer -j^i-iischen Parese
der untt.ren Extremitäten, Bkist-nstörnnj^ und St.:nsibilitatsstörungcn von
aus^« Sprüchen scgmentalem Typus. Das Krankheitsbild war im grossen
und ganzen das gleiche wie frQher, die Frau war im vierten Monat der
*) Zitiert bei Mftller: Krankheiten des weiblichen KGrpera in ihren
Wcchsdbexiebungen zu den Gescblecbufnnktioneo, 5. 3;,
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Die nervösen und psycbUcben Störunj^en der Schwangerschaft. 41
Gravidität, und seit zwei Monaten hatten sich die Symptome bis zur
jettigeti Höhe entwickdt. Da der Zustand sich noch andauernd ver-
schliinmerte und die Krankheit, wie aus der Mitbeteiltgimg der Respirations«
miiskulattir ajrsohlosscn \v<'rd' ti kennt- , l int^m ausgesprochen aszendieren-
den und somit akut bedrohlichen Charakter hatte, entschlossen wir uns
— Gehennrat von Ziemssen war damab noch am Leben — lur Ein«
leituttg dea kflnsdiehen Aborts, die Herr Professor Gustav Klein
durchführte. Nach dem Abort trat im Verlaufe einiger Monate wieder
völlige Genesung ein. Die Kranke kam »»in drittes Mal, diesmal nicht
gravid; sie wurde wieder geheilt entlassen. Ein weiteres Mal kam sie
wieder im vierten Monat der Gravidität und, da auch diesmal wieder
ein d( utlirlies Aszendieren des Krankheitsprozesses — wir konnten von
einer Winhe zur anderen das Krgriffenwerden höherer I>nr«;nl<=ci;mente
durch die Sensibilitfltsbestimmung nachweisen — konstatiert wurde,
mussten wir uns wieder zur Einleitung des Aborts entschliessen. Wieder
rasche Genesung. Nun kam die Frau ein fllnftes Mal mit spastischer
Paraplegie der unteren Extremitäten und Sensibilitatsstörungen, die bis
ins erste Dorsalsegm<Mit hinaufreichten. Ich konstatierte eine faustgrosse
Geschwulst, die links vom Uterus und sehr hart war. Ich empfahl der
Kranken, einen Gynäkologen aufzusuchen; erst einige Monate später ent*
schloss ^e sich zu einer Operation, die Herr Dr. Simon in NOmberg
ausführte; er entfernte ein kindskopfgrosses Fibrom des linken Ovariums
und ein kleines des rechten. Der /instand der Myr-ütis hli'-b unbeein-
flusst durch die Operation; die Kranke war Jalir spätct auch wieder
fiDr längere Zeit in meiner Anstalt, aber ohne Erfolg. Ungefähr V* Jahr
später bericht« te sie mir ober ihre völlige Wiederherstellung. Seitdem
ist eine neue Erkrankung nicht eingetreten."
Der Autor glaubt , dass die Markerkrankun<T in dem ge-
schildertem Falle auf eine Autointoxikation zurückzuführen ist,
wie sie auch anderen während der Schwangerschaft auftretenden
Nervenleiden zugnmdc liegt. Ein sehr Itcncs Vorkommnis
bei Schwangeren sind die Spinalapople.Nien, die unter denselben
Verhältnissen aufzutreten scheinen, wie Gehirnblutungen (in Ver-
bindung mit ICklampsie bei Urämischen). Was die Beziehungen
der multiplen Sklerose zur Schwangerschaft betrifft, so kann
diese Erkrankung während der Gravidität bedeutende Verschlimme-
rung erfahren. Es sind aber auch Fälle beobachtet worden, in
welchen die ersten Erscheinungen des Leidens während der
Schwangerschaft auftraten. Ob hier ein ätiologischer Zusammen-
hang mit der Gravidität vorlag, bleibt vorerst zweifelhaft.
Die während der Schwangerschaft einsetzende Neuritis ist
in einem Teil der Fälle zweifellos durch ätiologische Momente
bedingt, die auch ausserhalb der Gravidität diese Erkrankung
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42
Die uervöten und psychischen Stdruogen der SchwangenduJt.
venirsachcn ( insbesondcrs Alkoholismus und Infektionskrankheiten).
Daneben finden sich jedoch nicht selten Fälle, in denen der
Schuan^^erschaft selbst eine ätiologische Bedeutung zuerkannt
werden nuiss, so dass man von einer s]>cziellen Neuritis gravi-
tlarinn .sprechen kann Besonders bemerkenswert ist hier der
Umstand, dass die Schwaiigerschaftsneuritis öfti rs in Verbindiin;^'
mit Hypeicniesis gravidarum aul tritt und mehrfach auch in
Frillen bcifbachtet wurde , in welchen eine abgestorbene Frucht
längere Zeit im l terus /.urückgehalicn wurde. Die Aiuiahme
einer Toxinwirkung liegt in diesen Fällen gewiss nahe. Bei der
Kombination von Hypercmcsi^ nut Neuriii.s ^inJ zwei Möglich-
keiten in Betracht zu ziehen. Besteht das Erbrechen längere
Zeit vor fl« in Auftreten der Neuritis, x) kann die durch die Inani-
tion Ijcdini^te schwere St^.ruiv^ der Allgemeinernährung die Ur-
sache der Neui itis !)ilden i clyskra^i^che oder kachekti'^che Neuritis).
Es sind aber auch l-'alle tteobaclUet worden, in welchen Hyper-
emesis und Neuritis (Polyneuritis) fast gleichzeitig auftraten oder
du- Neuritis nach kurzer Dauer des Er!>rcrhens einsetzte, so dass
man, wie von II oe sslin mit Recht bemerkt, an die Möglich-
keit einer Verursachung beider A^ektionen durch das gleiche
toxische Agens denken kann.
Die Symptomatologie der Neuritis gravidarum zeigt je nach
der Ausbreitung und Intensität de< Pn zesses alle die Schwan-
kungen, die bei Neuritis überhaupt beobachtet werden. Fast
ebenso häufig wie die Beschränkung des Prozesses auf ein ein-
zelnes Nervengebict oder eine Extremität kommt die generelle
Polyneuritis mit schweren atrf)phischen Lähmungen der Extremi-
täten, öfters auch mit Beteiligung der Gehirnncrvcn vor. Letz-
tere Form di s Leidens zeij{t nicht selten einen ausgesprochen
aszendicrendcn Charakter; bei demselben kann auch Lähmung
der Blase und ties Mastdarms eintreten, was diagnostische Se]n\ i< rig-
keiten herbeiführen mag. Die in der Liter.itur gcw()hnlich als
Korsa k o w'scher Syni[)tomcnk<>mplcx bezeichneten, in der Tat
von G. Fischer^) und mir*) zuerst beschriebenen psychischen
Störungen, unter denen die Gedächtnisschwäche eine besonders
Fitcber Archiv tüt Pt>ychlaltie lUmI i). I. Heft. 1883.
^ Locwenreld ibidem Baiid 1$. Hclt a.
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Die nervösen und p-sycbischen Störungen der Schwangerschaft.
43
hervorras^'entle Rolle spielt, bilden eine häufige Komplikation der
Schwan ^^erschafts-Poiyneurilis.
DtT Verlauf der Neuritis gravidarum {gestaltet sich nicht
verschieden von dem anderer toxischer Ncuritidcn. Bei i.okaU-
sation des Prozesses ist Heilung das Gewöhnliche. Bei den
schweren polyneuritischen Formen zeigt sich nach der Entbindung
nicht immer sofort ein Rückgang der Symptome. Die Heilung
erfolgt hier mitunter cr^t im Verlaufe von mehreren Jahren. Nicht
selten kommt es jedoch hier wie bei anderen Formen der Neuritis
auch zum letalen Ausgange.
Im Anschlüsse sei hier erwähnt, dass sich im Verlaufe der
Schwangerschaft auch selbständige Muskelerkrankungen ent-
wickeln können; zumdst handelt es dch um dte die Osteomalacie
häufig komplizierende Dystrophia musculorum. Ungleich seltener
begegnet man der Polymyositis. Wie mit dieser verhält es sich
mit der Myasthenia gravis, einem Leiden, dessen anatomische
Grundlage noch nicht aufgeklärt ist. In vereinzelten Fällen ist
das Auftreten dieser Affektion während der Schwangerschaft,
deren Rückgang nach der Entbindung und die Exacerbation bei
Wiederkehr der Gravidität beobachtet worden.
Die psychischen Störungen der Schwangerschaft.
Unter den während der Schwangerschaft auftretenden psy-
chischen Störungen sind die krankhaften Gelüste (Picae) allbe-
kannt. Dieselben richten sich zum grossen Teile auf unver-
dauliche Stoffe, wie Kreide, Si( i^ellack, Kaffeebohnen etc. Es
handelt sich hier um Erscheinungen, die dem Gebiete des
psychischen Zwanges angehören und nicht mit Anomalien der
Geschmacksempfindung, wie man vielfach annimmt, zusammen»
hängen. Dieselben treten wahrscheinlich nur bei hereditär
psychopathisch belasteten Individuen (insbesonders hjrstertschen)
auf. Die Schwangerschaft kann jedoch auch das Auftreten
weniger harmloser Zwangstriebe brünstigen, von denen wir hier
zunächst nur die Kleptomanie erwähnen wollen*). Häufig be-
*) Bei den von nnbesdiolteaen Schwangeren ansgeAthrten Diebctftblen handelt
CS »ich jedoch nicht immer mn Zwaogstriebe. Von Fischer wurde in jflngster
44 vervÖMa und psfdiidiett Stdrangea der Schwaogcrscbaft.
gegnet man bei Schwangeren, nannentltch Ers^resdiwängerteiit
Zuständen leichter gemütlicher Depression, und Mongert ist Sf^ar
geneigt, diese als eine regelmässige Begleiterscheinung der Gravi-
dität zu erachten. Diese Auffassung ist entschieden irrtOimlich.
Wir begegnen gemütlicher Depression insbesonders in den Fällen,
in welchen die Konzeption für die Frau ein unerwünschtes Er-
eignis oder geradezu ein Unglück bedeutet i .s«> insbes' inders bei
ausserehelicher Schwängerung, nach Vuihertjang schwerer Ge-
burten oder Erkrankungen und deri^l i, sc» da^s es zumeist an
einer gewissen Motivierung der Verstimmung nicht tehlt. Aul der
anderen Si ite kann aber auch die Schwangerschaft, namentlich
wenn sie nach längerer vergeblicher Erwartung von Kindersegen
sich einstellt, eine Oiiellc freudiger F.ricgung iulden.
Die eig(Mit iichcii Schwangcrschaltsi)sychosen sind keine sehr
häufigen Vorkonuiini&se , die an solchen erkrankten Frauen
bilden nur 3% von den Patientinnen der Irrenanstalten. Die
erste, resp. die ersten Schwangerschaften geben am häutigsten
den Anstoss zu diesen I'2rkrankungen, und das Auftreten dcr-
'-ilben fällt uberwiegend in die zweite Hälfte der Schwanger-
schaft, in kUnischer Hinsicht zeigen die einzchicu l'älle eine
sehr verschiedene ( icstaltuni;. Die Schwangersciiaft^iisychüsen
bilden keine einheitHciu-, scib.-^landige Gruppe gci^tii^cr Störungen,
wie dies norh in ncucicr Zeit von Mungeri angenommen
wurde Am häuligsten tutt sie in der l <»rm der Melancholie
auf ( nach F ü r s t n <• r in So '* 0 , nach K i p p i n g in H4 , j " 0 der
Fället; an zweiter Steile tangiert die Manie. Nach Kräjielin
scheint tiie Schwangerschaft auch nicht selten zur I.ntwicklung
der Dementia pra* tox den Anstoss zu geben. Im Zusammen-
hang mit den melancholischen Zuständen kann es zum Auf-
treten suizidaler und krimineller Impulse (Mord, Brandstiftung)
kommen, die mitunter auch zu den betreffenden Handlungen führen.
Die Pathogenese der in Frage stehenden psychischen Er-
krankungen ist noch sehr wenig geklärt. Dass den in der
Zeit (Allg. Zeilscbr. f. ]>!»)xhialne fid« 61. Kft. der Fall einer acbwang^eo
Frau mitgeteilt, welche in einem hysterischen IMImmcrznstande wührend eine«
Gescbiftsganges eine Anzahl von DiebfitMilen au)>f(lhrte.
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Die neivöseu und psycbischea Störungen der Schwangerschaft.
45
Schwangerschaft sich entwickelnden Veränderungen in der Blut-
beschaffenheit und den Zirkulationsves h.ilitus.sen '^Ansbildun;^ des
Plazentarkrcihlaufes) ein Einfluss nicht zuzuerkennen ist, hierfür
spricht schon die relative S(;ltenheit der Gravidiläts{)sychosen.
Mongeri will die Geisteskrankheiten ilcr Schwangeren auf
Intoxikationsvorgange, verursacht durch St()iungcn der Leber-
funktion, zurückführen und deshalb in die Gruppe der von ihm
nach Klippel als „Folie hcpatique" bezeichneten Fälle ein-
reihen. Dass es sich in einem Teile der in Betracht kommen-
den Fälle um Autointoxikationsvorgänge handeln mag. ist nicht
bestimmt in Abrede zu stellen; ilaliir, dass hierbei Störungen
der Leberfunktion die Hauptrolle Spiek a, liegt jedoch keinerlei
Beweis veir. In eim lu Teile der Fälle handelt es sich um schwere
psychische Traumen, s< > namentlich bei ausserehelich Geschwänger-
ten, die auf dem B(»den ererl)ter oder erworbener neuropsycho-
pathischer Dis}>osition ihre Wirkung enttalten. Letzterer wird
auch in den hallen \ on Autointoxikation eine entschiedene Be-
deutimg /ugeschriebin werden müs.sen. Verlauf und Ausgang
der Schwangerschaftspsychosen sind verschieden, was sich schon
aus der differenten klinischen Gestaltung der einzelnen Fälle
erklärt. Die Ansichten der Autoren über diesen Punkt sind
jedoch geteilt. Während z. B. v Krafft-Ebing .sich dahin
aussprach, dass die Schwangerschafts-, Puerperal- und Laktations-
psychosen in der .Mehrzahl der Fälle hl Genesung enden, er-
achten andere die Prognose der Schwangerschaftspsychosen im
allgemeinen als ungünstig.
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46
Die nervösea ood psychischen Störungen der bcbwamger&cbalt.
Anhang.
Ober den Eiofluss der Schwangerschaft auf Neurosen
tmd Psychosen.
Es ist nicht selten, dass nervöse Frauen während der
Schwangerschaft eine Besserung ihres Befindens erfahren und
von Beschwerden verschont bleiben ^ von welchen sie in der
extragraviden Zeit hein^esocht wurden. Diese Erfahrung hat
dazu geführt, dass manche Ärzte in der Sdiwangerschaft eine
Art Heilmittel für gewisse neurotische AITektionen erblicken. Es
ist nicht immer klarxustellen, wodurch der günstige Einfluss der
Schwangerschaft zustande kommt. Die unbehinderte Befriedigung
der sexuellen Bedurfnisse, die Ablenkung der Gedanken in eine
neue Rtditung, mitunter auch die Freude über den bevorstehenden
Familienzuwachs, vielleicht auch die Änderung in den Stoffwechsel*
\*erhähnissen mögen hier eine Rolle spielen. Ungleich häufiger
äussert jedoch die Gravidität keine ausgesprochene oder eine
ungünstige Einwirkung auf bestehende Neurosen. Schwerere
nervöse Erschöpfungszustände, namentlich solche, die mit schlechter
All^'cmeinernährung einher»jchcn, werden durch die Schwanger-
schaft gcwühnhch verschlimmert, und rasch aufeinanderfolgende
Schuanmerschaften können I'tam n niu derariigen Alicktionen in
einen beklagenswerten Zu.staiiil vtr-rt/en
Die Erfahruni^en über den Einl]u>s der GraviJiiat auf die
Hysterie sind anscheinend sehr wider^y i t chcnd ; man wird dies
jedoch begreiflich finden, wenn man 1h : i.ck^'.ehtigt, wie \ er^-Lhieden-
artig die Einwirkung der Gravidität aut die l's\che der Frauen
an sich sich gestaltet und wie sehr die durch die Lebensverhält-
nisse und die Umj^ebung bedingte psychische Atmosphäre vari-
iert, in welcher die Schwangere lebt und wirkt. In dem einen
Falle bildet die Gravidität für die Frau eine Quelle angenehmer
gemütlicher Erregungen und wird dieselbe von der Umgebung,
insbesondcrs dem Gatten, in lieln vollster, schonendster Wei-^e
behandelt. Im anderen Falle bildet die Schwangerschaft den
Gegenstand schwerer Sorgen oder geradezu ein Unglück und ist
die Gravide roher Behandlung seitens des Mannes oder des Ge-
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Die nervotea und psychischen Störungen der Schwangerschaft.
47
liebten ausgesetzt. Es ist wohl verständlich, djiss in ersterem
Falle die Gravidität zum Schwinden gewisser hysterischer Zufälle
führen mag. während sie in letzterem Falle vorhandene Beschwerden
steigert und das Auttrctcn neuer hysterischer I j scheinungen be-
dingt. Indess können auch bei zweifellos gün>ti;4en äusseren Ver-
hältnissen und in Fällen, in weichen die Schwangerschaft an sich
keine jieinlichen gemütlichen I jiei^ungen verursacht, zufällig ein-
wirkende I mstande zur SteiL;«^'! un;^ vorhandener hysterischer Be-
schwerden oder zum Auftret«Mi neuii hysterischer Symiitome
führen, die sich kürzere oder längere Zeit erhalten und von
grösserer oder geringerer Tragweite sem mögen. Insbesonders
begünstigt die Gravidität das Auftreten einzelner hysterischer
Zufölle; als solche haben wir bereits das unstillbare Erbrechen und
gewisse Formen der Chorea kennen gelernt. Dazu gesellen sich
Lähmungen , die mitunter durch plötzliches Auftreten und rasches
Verschwinden schon ihren hysterischen Charakter kundgeben.
Dass bei Personen mit hysterischer Konstitution es während
der Schwangerschaft zur erstmaligen Entwicklung ausgesprochener
hysterischer Symptome kommen kann, ist nach dem Angeführten
wohl verständlich. Man darf jedoch in diesen Fällen die Gravi-
dität an sich, wenn auch der mit derselben einhergehenden ner*
vösen Erregbarkeit eine gewisse Bedeutung nicht abzusprechen
ist, nicht als agent provocateur der Hysterie betrachten. Ge-
wöhnlich sind hier psychische Traumen im Spiele, die bei der-
selben Konstitutioii auch ausserhalb der Schwangerschaft nicht
ohne pathogene Wirkung bleiben würd«i.
Was den Einfluss der Gravidität auf die Epilepsie anbelangt,
so ist derselbe ebenfalls sehr verschieden und dabei einer Er-
klärung kaum zugänglich. Während in einem Teil der Fälle
Abnahme der Attacken an Zahl und Intensität, selbst ein völl^es
Zessieren derselben beobachtet wird, zeigt sich in anderen Fällen
eine mehr oder weniger erhebliche Verschlimmerung des Leidens.
Je nach den persönlichen Erfahrungen der Autoren schwanken
daher auch die Ansichten derselben über den Einfluss der
Schwangerschaft. So berichtet Finard^) dass unter Ii epilep-
^) Art Grossesse (Dict. encyd. des sciences medicsles).
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48 nervOsen und psychisdicn StduDgeii der Schwangerscbtiit.
tischen Frauen bei vier die Anfälle während der Schwangerschaft
ausblieben, bei fünf sich verringerten und bei xwei keine Ände-
rung erfuhren. F^r^ ^) beobachtete eine seit ihrem 15. Lebens*
jähre an £])ilep.sie leidende Frau, welche im Atter von 23 Jahren
heiratete und von ihrer ersten Schwangerschaft anfangend bis
zu ihrer dritten Entbindung fünf Jahre später von Anfällen ver-
schont blidl>. Guder") andererseits, weldier die Erfahrungen
der Binswanger'schen Klinik zusammenstellte, fand, dass die
Epilepsie in den meisten Fällen durch die Gravidität eine Ver-
schlimmerung erfuhr. Es kommt auch vor, dass während der
Schwangerschaft epileptische Anfälle zum erstenmale auftreten,
die nach der Entbindung zcssicren oder fortbestehen können.
Man darf in derartigen Fällen jedoch die Gravidität keineswegs
ai-s die einzige oder auch nur die Hauptursacche der Erkrankung
betrachten Bei einer Bauerntochter, die vor Jahren sich vn
meiner Bent)ai htuni; befand, k.uu es wahrend einer ausserehe-
lichen Schuaugcrschatt zum erstmaligen Auftreten epileptischer
Anfälle, die nach der Entbintlung nicht srliwanden und nanient-
lich zur Zeit der Menses ijeli.iuli sich einstellten. Zu den An-
fällen geselittn sich im Laufe der Zeit ErscluinunL^en, welche
auf das Bestehen eines Hirntumors hin\Mes( n. In einem weiteren
Falle meiner Beobachtung kam es « henfalk bei einer Fiimipara
während der Gravidität zum Ansbiucli einer F.|)i!ejisie, die in
der I-\jlL;e mit schwankendem X'eilaufe sich erhielt, ohne dnss
jedoch weitere ze!-el)iale Sym[iiome hinzutraten. Nacli den
vorliegenden l.ifahiungen kann es auch wahrend der Gra\i-
dität zum Rezidivieren einer anscheinend geheilten Epilepsie
kommen.
Bezüglich des Einflusses der Gravidität auf bestehende
Psychosen sind die Ansichten geteilt. Marce, Rij>ping und
Dittmar äussern sich dahin, dass eine im Verlauf einer Psy-
chose eintretende Schwangerschaft deren Prognose äusserst un-
günstig gestaltet. Gegen diese Auffassung wurde von Erlen-
*) t tTi-; Lcs cpilepsicb cl ksi vpücpti^m s iSw. S. 285.
Guder, siebe Binswanger: Artikel K])iU-|i!>ie in der Eulenburg'adien
RealcncykloiKblie, zitiert von Win4»cbeid (Nenropatfaologie nod Gyn&kologie
189;. S. 63).
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Die nenrOsea und psychischen Stanutgen der Schwangeradiaft
49
meyer unter Hinweis auf günstige eigene Erfahrungen Einspruch
erhoben, denen jedoch die sehr abweichenden Beobachtungen
Perettis gegenüberstehen. Dieser Autor fand, dass in 15
Fällen psychischer Erkrankung, während deren Verlauf es zu
einer neuen Schwangerschaft kam, nur bei zwei Genesung eintrat ;
in den übrigen Fällen äusserte die Gravidität einen verschlimmern-
den Einfluss auf die Psychose, und blieb diese ungeheilt. Mongeri
äusserte sich in den letzten Jahren dahin, dass die Schwanger-
schaft auf akzidentelle Geisteskrankheiten einen günstigen , bei
erblich schwer Belasteten dagegen einen verschlimmernden Ein-
fluss ausübt und den Übergang in chronische Formen fördert.
Letztere Ansicht dürfte nicht ganz der Begründung entbehren.
Es kann nicht als wahrscheinlich erachtet werden, dass an und
für sich heilbare und nodi nicht lai^e bestehende psychische
Störungen durch den Hinsutritt der Gravidität allein den Qiarakter
der Unheilbarkeit anndimen.
l.Sw*al«ld, SeattteU-Dervficc Stihviigaa. Vierte Aufl.
4
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Y.
Die nervösen Störungen im natürlichen und
künstlichen Klimakterium.
(Klimakterische Neurose.)
Im Durchschnitte zwischen dem 40. und 50. (zumeist
zwischen dem 43. und 50.) Lebensjahre tritt in dem Geschlechts-
leben des Weibes eine wichtige Veränderung (der sogenannte
„Wechsel'*) ein, die sich am auffälligsten durch das Aufhören der
Menstruation — die Menopause — kund gibt Auf den
früheren oder späteren Eintritt der Wechselzeit haben verschie-
dene Umstände, insbesonders Kasse, vorhergehende sexuelle
Tätigkeit , Allgemeinkonstitution und äussere Lebensverhält-
nisse Einfluss. Plötzliches Sistieren der Menstruation ist selten ;
in der Regel gehen dem gänzlichen Ausbleiben der Blutung
kürzere oder längere Zeit Unregelmässigkeiten der Periode
vorher , Abkürzung oder Verlängerung der Intervalle zwischen
denselben oder der Dauer des Blutabganges, Verringerung oder
Mehrung des Blutverlustes. Die Dauer der Unregelmässig-
keiten wechselt ebenfalls sehr erheblich; sie können sich nur
') Die Menopause tritt nicht selten schon in den 30er Jahren, andererseits
aber auch nach dem 50. Jahre ein. Kiscb fand unter 500 klimakterischen
Frauen das Aufhören der Menses
im AUer vom 35. — 40. Lebensjahre bei 48 Frauen
f» >• »I 4'' 45* >• '4'
fi ti ti 5'* — 55* »» »I ^9 it
Die nervOwn StOinii^cn im natfirliclicB oad kfinstUehcn Klimakterittm. 5]
über einige Monate erstrecken, im Durchschnitte währen dieselben
jedoch 2 — 3 Jahre. Der weitaus grösste Teil <ler Frauen ^tsch
glaubt sogar */io derselben) wird während dieser als Klimak*
terium bezeichneten Lebensepodie mehr oder minder von ner-
vösen Beschwerde heimgesucht. Diese verschonen Frauen mit
völlig gesunden Nerven ebensowenig als nervenschwache» wenn
auch nicht su leugnen ist, dass die nervöse Konstitution für die
Art, Intensität und Dauer der Störungen von erheblicher Be-
deutung ist, und jungfräuliche Personen bleiben ebenso wenig
frei als solche, welche zahlreiche Geburten hinter sich haben.
In sehr vielen Fällen beschränken sich auch die in Frage
stehenden, mit den regressiven Veränderungen in den Sexual-
organen zusammenhängenden nervösen Störungen nicht auf die
sogenannte Wechselzeit. Sie machen sich nicht selten schon
einige Zeit vor Bej^inn der Menstruations- Unrcgclmässigi^eiten
bcmciklich und überdauern da:s völlige Schwinden der Blu-
tung oft noch jahrelang. Ich hatte eine Frau von 60 Jahren
in Beobachtung , l)ei welcher im 54. Jahre bereits die
Menopause einsetzte und bis zur Beobachtungszeir in mehr-
monaHichen Zwischenräumen Anfälle von tagelangein , aub t ibt
heftigem Herzklopfen mit allgemeiner Erschöpfung ohne jede
äussere Veranlassung auftraten. Derartige Anfälle waren vor
der Menopause nicht vorhanden. Man darf daher, wie dies
schon von Börner betont wurde, die Bezeichnung „Wechsel"
(Klimax oder Klimakterium) nicht auf jene Lebensepoche der
Frau beschränken, welche zwischen Beginn der menstruellen
Unregelmässigkeiten und dem völligen Ausbleiben der Men-
struation liegt. Die in Betracht kommenden Veränderungen
im weiblichen Organismus und speziell im Sexualapparat be-
ghmen wenigstens häuüg schon früher und endigen wahrschdn-
lieh meist erst geraume Zeit nach dem Sistieren der Blutungen
(Börner).
Die klimakterischen, i. e. unter dem Einflüsse des Klimak-
teriums sich entwickelnden nervösen Störungen sind nicht so
zahlreich, wie von manchen Autoren angenommen wird. Es
handelt sich hierbei zum Teil um Erscheinungen, welche sich
mdir oder minder ausgeprägt bei den meisten Frauen in der
52 nervösen Störungen im natürlichen und künstlichen Klimakterium.
fraglichen Lebensepoche finden und so charakteristisch sind,
dass sie auch v on Laien ohne weiteres als Symptome des Wechsels
diagnostiziert werden, zum Teil um Zufälle, welche wenigstens
so häufig im Klimakterium vorkommen, dass man für dieselben
einen Zusammenhang mit den um diese Zeit im weiblichen
Organismus sich abspielenden Veränderungen annehmen darf.
Hierher gehören gewisse Veränderungen auf psychischem
Gebiete: erhöhte gemütliche Reizbarkeit, Launenhaftigkeit,
häufiger noch Neigung zu melancholischer oder hypochondrischer
Verstimmung. Man hat diese Veränderungen in dem gemütlichen
Verhalten durch den Umstand erklärt, dass die Frauen in den
kritischen Lebensjahren sich trauriger Reflexionen über den
Verlust ihrer körperlichen Reize, i. e. das Altern, kaum ent-
schlagen können , häufig auch von Angst wegen der vermeint-
lichen Gefährlichkeit der Wcchselzeit heimgesucht werden. Diese
psychologische Erklärung der klimakterischen Verstimmung kann
jedoch nur für eine Minderzahl von Fällen als berechtigt aner-
kannt werden. Gewiss fehlt es nicht an Frauen , welche sich
nur höchst widerwillig in die für sie schmerzliche Erkenntnis
finden , dass Jugend und Anziehungskraft für die Männerwelt
unwiederbringlich dahin sind, auch nicht an solchen, welche sich
wegen der Einwirkung des Wechsels auf ihr Befinden über-
triebenen Sorgen hingeben; allein wir begegnen der Verstim-
mung auch bei Frauen, welche auf ihr Äusseres nie grosses Ge-
wicht gelegt und mit der Tatsache des Älterwerdens schon
lange sich abgefunden haben, wie nicht minder bei solchen,
welche das Schwinden der Menstruation mit ihren Belästigungen
sehnsüchtigst herbeiwünschen.
Häufiger als die eben erwähnten psychischen Erscheinungen
sind gewisse zirkulatorische und sekretorische Störungen. Vor
allem sind hier die Wallungen und fliegenden Hitzen zu
erwähnen, plötzliches und ohne besondere Ursache auftretendes,
oft von einer gewissen Beängstigung begleitetes intensives
Hitzegefühl, welches zum Teil lokalisiert, in.sbesonders im Gesicht,
am Halse und der Brust sich geltend macht und häufig auch
mit Hautrötung einhergeht, zum Teil über den ganzen Körper
Die nervISfletk Störaofen im iwtarUdieD und känstlicheB Klimakteiiani. 53
sich ausbreitet. Beim Aufenthalte in einem geschlossenen Räume
besteht dabei oft das Geftühl, als ob es in demselben zu heiss,
oder nicht genügend Luft vorhanden sei. Mit den (liegenden
Hitzen verknöpfen sich öfters Schweissausbrüche, die aber auch
häufig isoliert auftreten, zum Teil ohne jede äussere Veranlassung,
zum Teil infolge gemütlicher Erregungen oder geringer körper-
licher Anstrengungen. Häufig sind ferner Herzbeschwerden,
zumeist in der Form von Herzklopfen , das anfallsweise in ver-
schiedenen Litervallen, se|ir oft ohne jede äussere Veranlassung
bei voller gonütlicher und körperlicher Ruhe eintritt. Die Be-
schleunigung der Herzaktion ist hierbei nicht immer sehr erheblich;
doch kommen auch tachykardische Anfälle mit einer Pulsfrequenz
bis 1 80 und darüber vor. Die Anfälle können Minuten, Stunden
und. wie der erwähnte l*^all zeigt , .selbst Taiie andauern, dabei
bestehen oft peinliche Sensationen in der Herzgegend, Empfin-
dungen von Brustbeklemmung, Angstzustände und hochgradige
allgemeine Scliwäche. Eine weitere sehr häufige Klage der
Frauen in den Wechseljahren bilden Schwindelanfalle von ge-
ringerer oder gr()sserer Intensität und Dauer, die zum Teil in
Znsammenhang mit den erwähnten Anwandlungen von Herz-
klopfen, häufiger jedoch unabhängig von solchen auftreten. Der
Schwindel kann von solcher Stärke sein, dass es zum Taumeln,
selbst zum Hinstürzen kommt. Man hat sich mit der Erklärung
dieses klimakterischen Schwindels viel Kopfzerbrechen gemacht.
Selbstverständlich mangelt bei den Frauen in der Wechselzeit
keiner der Anlässe, die überhaupt und insbesonders bei nervösen
Personen zu SchwindelaniäUen führen (so gewisse Bewegungen
des Kopfes und der Augen, gemütliche Erregungen, Störungen
im Verdauungsapparate, Alkoholgenuss etc.), und man darf daher
keineswegs bei allen Frauen im betreffenden Alter den Schwindel
auf eine reflektorische, von den Veränderungen in den Sexual»
Organen ausgehende Beeinflussung der Gehimzirkulation zurüdc-
führen; allein für einen grossen Teil der Fälle dürfte diese
Auffassung jedenfalls der Berechtigung nicht entbehren. Wind-
scheid glaubt, dass man in einer Reihe von Fällen den Schwindel
im Klimakterium durch arteriosklerotische Gefassverändeningen
erklären müsse, weil sdche in di«em Lebensalter nicht zu den
Dlgitlzed by Google
54 DOTdsen Stönuigen im mtürlicben und kfinstlkheo Klimakterium.
Seltenheiten gehören. Letzteres ist allerdings richtig, doch dürften
die arteriosi<lerotischeii Veränderungen der Gefaimgefasse in den
hier in Betracht kommenden Jahren nur sehr selten einen soldien
Grad ereichen, dass sie Schwindeianfälle bedingen; der arterio-
sklerotische Schwindel tritt gewöhnlich erst im höheren Alter
(in den 6oer Jahroi und später) auf.
Im Vorstehenden haben wir diejenigen nervösen Störungen
zusammengefasst, welche mit einiger Sicherheit mit den klimak-
terisdben Veränderungen des Sexualapparates m Zusammenhang
gebracht werden können. Diese Störungen stimmen im wesent-
liehen mit den nach operativer Entfernung der Ovarien (Kastration)
beobachteten überein, nur sind letztere im allgemeinen von
stürmischerem Charakter, entsprechend der jähen Unterbrechung
der Ovarialfunktion. Der erwähnte Eingriff hat bekanntlich zu-
meist (nach Glaeveke bei ungefähr 90%, nach der Kuhn'schen
Statistik bei 95 %) Erlöschen der Menstruation zur Folge. Man
spricht daher auch von einem künstlichen Klimax" (Ho(4ar>
als Folgei:iistand der Kastration. Die nervösen Beschs Lulen
(Ausfallerscheinungen, G I a eveke), welche durch die Entfernung
der Ovarien und das hierdurch bedingte Aufhören der Menses
hervori^enifen werden, treten zum Teil zur Zeit der nicht wieder-
kehrenden .Mi-nstrualblutunt^ ein — Molimina inenstrualia — , zum
Teil in der intermeuistruellen Zi it, wenn auch nicht ausschliess-
lich in dieser — klimakterische He-^clnverden — . Glaeveke
fand nur bei 50 '*ü der kastrierten brauen, Pf ist er sogar nur
bei 30^ 0 Beschwerden zur Menstruationszeit, die vorherrschend
in ziehenden, krampfhaften Schmerzen zu beiden Seiten des
Uterus und Kreuzschmerzen bestanden, welch letztere nach oben
in den Rücken oder in die Oberschenkel angestrahlten.
In der menstruationsfreien Zwischenzeit konnte Glaeveke
konstatieren: In erster Linie fliegende Hitzen oder Wallungen,
gewöhnlich mit Angstgefühl und Beklemmung in der Herzg^end
vergesellschaftet (bei 90 '"o der Fälle), dann unmotivierte Schweiss-
ausbrüche, Schwindel häufiger oder seltener (nur in 18,6% der
Fälle\ Veränderungen der Gemütsstimmung in 67^« der Fälle
und zwar melancholische Verstimmung in 50*^.0 ; in mehreren
Fällen zeigte sich auffällige Gereiztheit und Heftigkeit oder fort-
i^ij u^cd by Google
Die nervöseo Störuogeo im natürlichen und künstlichen KUnnakterium. 55
währender Stimmungswechsel, ein Geniütsverhalten , das vor
der Kastration nicht bestand und sich später wieder verlor.
! lerzpalpilationen waren nur in 9"/o der Fälle vorhanden, ebenso
häufig wurde über Kopfschmerzen geklagt, die zum Teil sehr
heftig waren
Pf ister fand als Wirkungen der Kastration anf das Nerven-
system: Wallungen bei 98%, die allerdings in etwa der Hälfte
der Fälle schon vor der Operation bestanden hatten, dann Kopf-
schmerzen (bei ungefähr der Hälfte der Fälle), viel seltener ner-
vöses Erbrechen, Neuralgien, Herzklopfen, Schlaflosigkeit und
noch einige andere nervöse Beschwerden. BeiQOVon 1 löOperierten
bestanden Veränderungen der Gemütsstimmung und zwar ge-
mfitltche Depression, Reizbarkeit, Launenhaftigkeit bei 50^/0 ; 34
beseicbneten ihren Gemütszustand als besser, heitn-er als vor
der Operation« Pf ist er betont jedoch, dass bei vielen schon
vor der Operation gemütliche Verstinunung bestand und man das
psychische Verhalten nach der Operation nicht ohne weiteres auf
Rechnung der Kastration setzen darf. Eine mit der Kastration
dirdet in Zusammenhang stehende Verschlechterung der Gemüts»
Verfassung ist nach den Zusanomenstetlungen Pf isters jedenfalls
eine Ausnahme. Nach Pfister wird von kastrierten Frauen häufig
(ui mehr als der Hälfte der Fälle) über Abnahme des Gedächt-
nisses geklagt; das gleiche wird von anderen Beobachtern
(Brodnitz, P^an etc.) erwähnt. In einem von mir beobach-
teten Falle von Kastration und Totalexstir])ati. >n des Uterus be-
standen während einer Anzahl von Wochen fa.sl beständig Hitze-
gefühle und schwere Angstzustände
Will man die vcin Klimakterium ausgehenden nervösen
Störungen als Ausserungrn eintr besonderen Nervenati'ektion,
einer klimakterischen Neurose auffassen, so können als Symptome
dieser Neurose nur die »m Obigeti angefiihrten Erscheinungen be-
trachtet werden \'on einzelnen Autoren, sn insbe.sonders \on
Börner und Windscheid, wird jedoch das Klimakterium auch
') Kupf<>chnicrzen (abgesehen von Migräne) figurieren auch nicht selten unter
den Klagen d«r Fiwen im rotfirliclicn Klinmktcriam ; ihr Znsaminenluiiig mit
des kllnwkterischen Veriliidcnmeen endieint mir jedoch im aUgemeinen sehr
zweifelhaft.
50 Die nervösen Störungen im natürlichen und kdn&tlichen Klimakterium.
als Quelle einer Menge von rein neurasthenischen und hysterischen
Beschweidcn angesehen. Als solche werden erwähnt: Hyper-
ästhesie der Sinnesorgane, Schmerzen, Parä.sthesien und An-
ästhesien an den Extremitäten, Rücken- und Kreuzschmerzen,
motorisclie Schwächezustände, die Erscheinungen der nervösen
Dys|)epsie und Enteropathie, Singultus, Zwangsvorstellungen und
Phobien etc. Alles dies soll das Verschwinden der Menstruation
verschulden. ,,So entsteht im Klimakterium auf dem Boden
des durch das Verschwinden der Menstruation erregten Nerven-
systems eine Neurasthenie, eine Hysterie, welche sich aber in
keiner Weise von den durch andere Momente bedingten Neur-
asthenien oder Hysterien unterscheidet." i W i n d s c h e i d. ) ' i
Diese klimakterische Neurasthenie und Hysterie existiert
jedoch nach meiner Erfahrung und der anderer kompetenter
Beobachter nicht. Ihre Annahme beruht nicht auf exakten
klinischen Beobachtungen, sondern lediglich aut" irrtümlicher
Dentimg gelegenthcher Vorkommnisse bei Frauen in den kritischen
Jahren, ich habe in meiner Pra.xis nie einen Fall von Neurasthenie
oder Hysterie gesehen, welcher auf die klimakterischen Vorgänge
als einzige Ursache zurückzuführen gewesen wäre und, soweit ich
die Literatur kenne, wird auch von keinem der Autoren, die
sich eingehender mit der Ätiologie dieser Neurosen beschäftigt
haben, das Klimakterium zu den Ursachen dieser Erkrankungen
gezählt. Auch erfafirrne Gynäkologen erklärten mir, dass sie
von einer durch das Klimakterium allein verursachten Neur-
asthenie oder Hysterie nichts wüssten. Ähnlich lauten die Er-
fahni" . n Krün ig 's. Dieser Autor bemerkt dass keineswegs
alle Frauen im KUmakterium erkranken und er von jeher einen
') Windscheid polemisiert auch ^cgvn Matusch, welcher eine ab-
weichende Ansicht vertritt, iti l(^m er Ibrtfiihrl : ,,Ich k.nnn d.-»her nicht mit
M a t u s c h übereiD.stinunen, welcher die kliiimkteriM:be NeuroM als eine Fort*
Setzung oder Vermehning einer icboD frOlier Torhanden gtynstnen Hysterie oder
Neurasthenie beseichnet wissen will und Fälle, in denen man das KUmakteriam
a]s ,\tiolo),'ie der Neurose annehmen darf, für „recht selten" erklärt. Er deutet
die klimakterische Neurose t;cradc/;u als eine teilweise .Vusserung einer krank-
haften Konstitution, nicht al» Symptom des Klinjakleriuuis."
*) Krön ig: Ober die Bedeutung der funktionellen Nervenkrankbetten fflr
die Diagnostik and Therapie in der Gynäkologie. 190a.
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Die nenröflcn Störunge im natürlidieo and kotutlicbeQ KUmakteriam.
57
bemerkenswerten Unterschied zwischen früher gesunden und nervös
beanlagten Individuen sah ; „letztere zeigen die schweren nervösen
S>*mptome, während früher vollständig normale Individuen auch
das Klimakterium ohne irgend welche erhebliche Störungen im
allgemeinen überstehen*'. Auch Wüte erwähnt, dass die klimak-
terischen Beschwerden bei nervengesunden Frauen sehr unbe-
deutend sind. Natürlich können Frauen in den klimakterischen
Jahren so gut wie jüngere und ältere von neurastbeniscfaen und
hysterbcben Zustanden heimgesucht werden oder solche Zustände,
wenn dieselben schon früher bei ihnen vorhanden waren, durch
die klimakterischen Jahre fortschleppen. Die klimakterischen
Veränderungen im Organismus mögen das Auftreten solcher
Leiden sogar einigermassen begünstigen oder zur Steigerung der-
selben beitragen ; allein für sich ohne Hinzutreten irgend welcher
weiterer ursächlicher Momente, die auch unabhängig vom Klimak-
terium ihre schädigende Wirksamkeit entfalten würden, fuhren
sie weder zur Neurasthenie noch zur Hysterie.
Das Verhalten der Libido im natürlichen und künstlichen
Klimakterium verdient hier noch einige Bemerkungen. Im natür-
lichen Rliijiaktcriuni liaii man die Abnahme der Libido als
das Normale betrachten ; es entspricht die.s den Jahren , in
welchen die betreffenden Veränderungen im weiblichen Organis-
mus vor sich gehen, und dem Umstände, dass auch beim Manne
in den 40er Jahren 1 jedenfalls von der Mitte der 40er an) und
mehr noch in den 50er Jahren gew<>hnlich eine \'errin;^erun^f
des sexuellen Verlangens sich bemerklich macht. Dass auch
nach der Menopause eine gewisse Geschlechtslust oft noch Jahre
lang sich erhält, wie Kisch angibt, erachte ich für ganz zu-
treffend. Es mangdi jedoch auch nicht an Fällen, in welchen
während der Wechseljahre bei Frauen mit bis dahin normaler
Libido sich eine ganz auffällige und jedenfalls krankhafte Steige-
rung der sexuellen Erregbarkeit einstellt, die zu bedeutenden
Beschwerden führen kann. Bdrner konnte in diesen Fällen des
öfteren abnorme Genitalbefunde (Fibrome, Knickungen etc.) nach-
weisen; auch der so lästige Pruritus genitalium ist mitunter im
Spiele. Die älteren Angaben über den Einfluss der Kastration
auf die Libido lauten nicht ganz übereinstimmend; einzelne Beob-
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58 nervösen Störungen im utürlicfaeii und künstlichen Klimakterium.
achter fanden nach diesem Eingriffe Abnahme oder Schwinden
der sexuellen Neigungen , aricJcre dagegen unverändertes Fort-
bestehen derselben. Nach den Mittciluncjen Cjlacvekc's, der
über diesen Punkt eingehende Nachforschungen bei 27 k.iiiricrten
Frauen anstellte, ist nicht nur bei der grössten Mehrzahl ifast
80 "a) der kastrierten Frauen das geschlechtliche Verlangen
vermindert oder ganz erloschen, sondern auch ibei jo^io)
das Wollustgcfühl beim sexuellen Verkehr bedeutend abge-
schwächt. Pf ist er, welcher von 99 Kastrierten zuverlässige
Anj^aben iil)er das Verhalten der Libido \ind des Wollustgefühles
zu erhalten vermochte, fand: den (leschiechtstrieb unvermindert
bei 19 26 °;o), vermindert bei 24 ( .^o*'o), erloschen bei 35
( 43 V) überhaupt nie vorhanden bei 21, das VVollust-
gefühl unverändert bei 18 ( 22*^0^, vermindert oder er-
loschen bei 60 76,4 °o). Libido und ( irgasmus verhielten sicli
zumeist konform, nur in einer kleinen Zahl \ on Fällen wurden die-
selben in ungleicher Weise beeinflusst. L'm das differente Ver-
halten der Libido nach der Kastration zu erklären, weist Pf ister
auf den Umstand hin, dass bei Frauen, die geschlechtlichen Ver-
kehr kürzere oder längere Zeit geübt haben, die Erinnerungs-
bilder der sexuellen Akte (die Libido centralis) den Geschlechts-
trieb unabhän^i»,' von peripheren Erregungen zu unterhalten im-
stande sind. Beimler fand auch, dass Hündiniu n, welche kastriert
wurden, nachdem sie geboren hatten, noch brünstig wurden,
während dies bei Hündinnen, welche nicht geworfen hatten, nach
der Kastration nicht der Fall war. Dann wird auch, wie Pfister
mit Recht erwähnt, die geschlechtliche Neigung bei der Frau
durch individuelle Anlage, Lebensweise und die Gesundheits-
verhältnisse beeinflusst. Pfister schliesst aus seiner Statistik,
dass bei jugendlichen und unverheirateten Individuen der Ge-
schlecfatstrieb nach der Kastration konstant erlischt^), während
*) Bei vier Kastrierten unter 2$ Jahren, weldie ledig und Virgines waren,
war nach Pfister der (iesclitechtstrieb vollsläDtlig ,.crlo>chcn", bei wci Ver-
heirateten im j^lcicben Lehensalter vci mindert. Die ilczeichmin^j „ctioschen"
ist hier jcilenfallä irrlüinlich, sniera bei ucii bctrcflcndcri Virgines eiue Libido
nicht vorbanden war und daher auch nicht eril^hen konnte; die Operation
konnte nur die spätere Eotwickluoj; einer Libido verhindern.
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Die nervösen Störungen im natürlichen und künstlichen Klimakterium. 59
bei Personen, welche bereits sexuellen Umgang hatten, sich die
Libido nicht mit der gleichen Gesetzmässigkeit ändert.
J a y 1 e ') fand unter 33 kastrierten Frauen die Libido bei
18 unverändert, bei drei vermindert, bei acht erloschen und bei
drei gesteigert. Der Orgasmus war bei 1 7 unverändert, bei drei
vermindert, bei vier aufgehoben, bei fünf gesteigert. In sechs
Fällen war die Kohabitation schmerzhaft. In zwei anderen Gruppen
von Fällen, in welchen neben den Ovarien der Uterus oder dieser
allein exstirpiert worden war, zeigte sich in bezug auf Libido
und Orgasmus ähnliches Verhalten.
Bloom*), ein amerikanischer Autor, konnte bei Frauen,
die vor dem 33. Lebensjahre kastriert worden waren, nie völligen
Verlust der Libido konstatieren. In den meisten Fällen erfuhr
diese keine wesentliche Veränderung, einigemate sogar eine
Steigerung. Bei fast allen Operierten war jedoch die vaginale
Sekretion beim Koitus verringert. Bei den nach dem 33. Lebens-
jahre operierten Frauen, bei denen einigemal auch der Uterus
mit entfernt worden war, trat gewöhnlich eine allmähliche Ab-
nahme der Libido sowohl als des Orgasmus ein.
Lawson Tait und Bantock') berichteten, dass in manchen
von ihnen beobachteten Fällen nach Entfernung des ganzen
inneren Geschtechtsapparates eine erhebliche Steigerung der
Libido sich einstellte. Von Interesse sind hier auch die Fälle,
in welchen bei Mangel oder Verkümmerung der inneren Ge-
schlechtsorgane bei Frauen ein ausgesprochener Geschlechtstrieb
sich geltend machte. So hat Barrus Ober einen Fall beriditet,
in welchem, wie die Sektion ergab, kongenitaler Mangel des
Uterus und der Ovarien bestand und der Geschlechtstrieb so
entwickelt war, dass die Person in ausserehelichen Verkehr sich
einliess. Die betreffende Person litt an periodischer Manie und
cr;^ab sich im Anfalle der Masturbation in schamloser Weise.
In einem von Bridgc-man bei iclueten Falle, in welchem eben-
falls Uterus und Ovarien fehiten, war der Geschlechtstrieb eben-
') Revue de <jyn' r*>loj;ic 1897. S. 403 — 457-
'1 Medical Standarr l8yO. S. 121.
*) BiitUh medical jounul 1899. S. 975.
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Die nervösen Störungen im natürlichen und künstlichen Kiimaktcriuro.
falls bedeutend und der Orgasmus bei sexuellem Verkehr leb-
haft. Ahnliche Beobachtungen werden von anderer Seite mit-
geteilt.
Wenn wir uns die Frage vorles^en, in welcher Weise sich
die verschiedenen im Gefolge des natürlichen und künstlichen
Klimakteriums auftretenden nervösen Störungen erklären lassen,
so können wir heutzutage uns mit der Annahme einer reflek-
torischen Entstehung derselben, ausgehend von den Nerven des
anatomischen Veränderungen unterliegendenSexualapparates, nicht
mehr begnügen. Verschiedene Tatsachen, nicht lediglich die
Erfolge der Darreichung von Ovarialsubstaiiz bei den klimak-
terischen Beschwerden, weisen darauf hin, dass die Ovarien zu
den Organen mit sogenannter innerer Sekretion <9hlen, t. e. nicht
ohne Bedeutung für den Stoffwechsel sind. Vk^ie es sich mit
dieser inneren Sekretion des näheren verhält, stdit allerdings
noch ganz dahin. Es ist mir jedoch wahrscheinlidi, dass im
Ovarium Körper gebildet werden, welche entweder aus der Um-
wandlung an sidi toxischer Stoffwechselprodukte hervorgehen,
oder die toxische Wirksamkeit solcher normal sich bildender
Produkte der regressiven Metamorphose aufheben, so dass also
mit dem Wegfalle der Ovarialfunktion eine Autointoxikation
eintreten muss. Es ist bei dieser Auffassung verständlich, dass
im natürlichen Klimakterium infolije der allmählichen Vermin-
derung der Ovarialtätigkeit und der dadurch ermöglichten An-
passung des Organismus an die veränderten Stotiwechselver-
hältnisse nur leichlere nervöse Störungen resultiereu, wahrend
der brüske F.ingrill in die Ki 'ri'ernkonitrnie, der mit der opera-
tiven Wcynahme der Ovarien geschieht, /.u stürmischeren Er-
scheinungen Anlass giebt. Dass von den .Sexualorganen aus-
gehende retlektin ische l*>regungen nur eine untn geordnete Rolle
bei der Verursachung der klimakterischen Beschwerden spielen,
hierfür spricht auch der Umstand, dass nach Entfernung des
ganzen Uterus (Totalexstirpation) viel geringfügigere Folgezu-
stände beobachtet werden als nach der Kastration. Nach
Glaeveke, der auch mit dieser Frage sich eingehend be-
schäftigte, bestehen dieselben zumeist lediglich in Molimina
menstrualia, t. e. Unterleibs» und Kreuzschmerzen, welche zur Zeit
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Die ncrvOsen Störungen im nalürlichen und künstlichen Kiimakterium. Ql
der nicht mehr eintretenden Periode sich einstellen, allmählich
sich verrini;c-rn und gewöhnlich nach Jahresfrist verschwunden
sind. Wo auch in der menstruationsfreien Zeit Beschwerden
von der Art iler klimakterischen sich zeigen, lassen sich dieselben
auf zufällige Komj)likat tonen (Mitverletzung der Ovarien bei der
Operation) zurückführen. Der Geschlechtstrieb wird durch die
Entfernung des Uterus allein nie zvun F.rloschen gebracht, er-
fährt hierdurch gewöhnlich «^ogar keine wesentliche X'eränderung.
Gemiltlirhr Depre<?sion , selbst l)i.s zur ausgesprochenen Melan-
cholie gehend , wird dagegen nicht selten im (icfoli^e der
Operation beobachtet. Es ist jedoch zu berücksichti<^'en , dass
es sich in den betreftenden Fällen um Krebslciden handelt, bei
welchen die Turcht vor einem Rezidiv etwas si hr Naheliegendes
und Motiviertes ist, und dieser Furcht, sowie den gemütlichen
Erregungen, welche der Operation vorhergehen, scheint der
Ilauptanteil an der Verursachung der in Frage stehenden psy*
chischen Alterationen zuzufallen.
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I
VI.
Die sexuelle Abstinenz beim Hanne.
Wenn wir den Einflius der sexuellen Entlialtsamkeit auf
das Nervensjrstem studieren wollen, müssen wir, um schwer-
wiegende Irrtümer za vermeiden , auf die Verhältnisse soi^fältig
Rücksicht nehmen, unter welchen die Abstinens statthat. Wir
haben nicht bloss Alter, Geschlecht, körperliche (nervöse) Konsti-
tution, äussert- LehensstelluriL,' und Lebensweise des Individuums,
sowie etwa j^fleichzeilig auf das Nervensystem einwirkende Schäd-
lichkeiten, sondern auch den Umstand in Betracht zu ziehen,
ob die Abstinenz eine absolute oder nur temporät e, d. h. nach vor-
herj^'chc inleni rcgelmässiL^ein Geschlechtsvcrkehre eingetreten ist.
im Folgenden wollen wir uns zunächst mit dem Einflüsse der
Abstinenz bei Männern beschäftigen.
Man darf hier vor allem die Tatsache weder ausser acht
lassen, noch verschleiern, dass die Zahl derjenigen Männer nicht
sehr erheblich ist» welche bis in das reife Manncsalter jeden sexu-
ellen Verkehr meiden und dabei auch Selbstüberwindung genug
besitzen, um auf abnorme Befriedigung ihrer gcschleehtlichen
Bedürfnisse zu verzichten. Manche neuere Autoren sind in ihren
Ansichten bezüglich des Vorkommens absoluter Abstinenz noch viel
pessimistischer. Gyurkovechky erachtet dieselbe für eine solche
Seltenheit, „dass darüber gar nicht wert ist zu sprechen"; die
s(^enannten Keuschen halt er „mit sehr, sehr geringen Ausnahmen*'
für Onanisten. Ich kann wie Fürbinger und Eulenburg diesen
Pessimismus nicht teilen, muss aber zugleich zugeben, dass die
Befriedigung, welche uns die nicht allzugrosse Seltenheit absoluter
"V
Die sexuelle Abslineiu beim Maooe.
63
Enthaltsamkeit bereiten könnte, durch einen Umstand einiger-
massen beeinträchtigt wird. Schon Lallemand sprach sich
dahin aus, dass diejenigen, welche in i landlungen und in Gedanken
dem Ideale der Keuschheit am meisten sich nähern, deshalb
keineswegs als Muster sittlicher Vollkommenheit zu erachten
sind. „Eine solche voUkommene Tugend liegt nicht in der
menschlichen Natur, oder, um genauer zu sprechen, es ist dies
überhaupt keine Tugend ; denn in allen diesen Fällen fand kein
heftiger Kampf, kein dauerndes Ringen statt; wenn sich etwas
dergleichen xeigte» so war die Versuchung so schwach, das« man
sidi eines Sieges gar nicht hätte rühmen können. Wenn es
so leicht ist, sich so lange gut aufsufQhren, so ist dies stets
ein schlimmes Zetdien fQr die männliche Potenz.**
Lallemand mag die Bedeutung fester Grundsätze und eines
energischen Willens für die Beherrschung der sinnlichen Triebe
zu gering taxiert haben. Indes erklären auch neuere Autoren,
Gyurkovechky und FQrbringer, dass die Enthaltsamen
recht häufig von Hause aus mit abnorm geringem sexueltem
Vermögen ausgestattet sind und dass „hier gerne aus der Schwäche
eine Tugend gemacht wird." Ich kann dieser Auffassung nach
meinen Wahrnehmungen im wesentlichen beipflichten. Für den
gesunden, geschlechtUch normal veranlagten, in der Vollkraft
des Lebens stehenden Mai in machen einerseits die Stärke des
Naturtriebes, andererseits d\c last überall sich bietende Gelegen-
heit zum sexuellen Verkehre den Kampf gegen das cij^cne Fleisch
zu einer keineswegs leichten Aufgabe, deren konsequente Durch-
führung abgesehen von hygienischer Ro<^elung der Lol)ens\veise
noch besondere geisti^^c Hilfsmittel erheischt. Solche bilden in
erster Linie religiöse Motive, in /weiter hygienische Rücksichten
(Furcht vor Ansteckung), während rein ethische oder ästhetische
Bedenken weit seltener den Ausschlag geben.
Man könnte, um den Einfluss der Abstinenz bei einer
grösseren Gruppe von Personen festzustellen, zunächst die Ge-
sundheitsverhältnisse des katholischen Klerus in Betracht ziehen.
Diese würden für eine nachteilige Einwirkung der Abstinenz
auf das Nervensystem im grossen und ganzen jedenfalls nicht
sprechen. Mir ist von besonderer Häufigkeit nervöser Erkran*
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64
Die $exaeüe Abstinenz beim Manne.
kun^cn, speziell der Neurasthenie, beim katholischen Klerus nichts
bekannt geworden, und namentlich unsere Landgeistlichen er-
freuen sich zumeist sehr rüstiger Nerven. Bei den Neurasthenikem
geistlichen Standes, die im Laufe der Jahre wegen ihres
Ner\ enzustandes meinen Rat einholten, war mit geringen Aus*
nahmen kein Anlass zu der Annahme gegeben, dass die sexuelle
Kontinenz als Ursache der vorhandenen nervösen Beschwerden
eine Rolle spiele; es fanden sich zumeist genügende andere
Veranlassungen. Die exzeptionelle Stellui^, welche der katho-
lische Klerus einnimmt, gestattet uns jedoch nicht, das, was
bezüglich des Einflusses der sexuellen Abstinenz bei demselben
beobaditet wird, ohne weiteres auf andere Kreise zu Gbertragen.
Der katholische Geistliche wird zumeist schon in früher Ji^end
für seinen künftigen Beruf ausersehen und dementsprechend
seine Erziehung und sein Verkehr in einer Weise geleitet,
welche der Unterdrückung sexueller Regungen möglichst fÖrder«
lieh ist. Dieses Moment fehlt bei der grossen Mehrzahl der in
anderen Berufen tätigen imd für solche sieh vorbereitenden
Männer. Das Weib bildet hier nicht physisch und psychisch
da^ absolute Noli me tangere; Erziehung. Verkehr. Lektüre,
Beschäftigung bilden keinen Damm gegen die natui liehe Knt-
wickeluni; de-^ Sexualtriebes ; ja wir können nicht leuynen, dass
manche r.inrichtiin^cn und Erzeugnisse unst-res modernen Kultur-
lebens, deren Einwirkungen sich ein gebildeter junger Mann
kaum entziehen kann — Bälle, Theater, RoinniiHtcratur, Kim'^t-
wcrkc etc. entschieiien geeignet sind, .schiumniernde sinnliche
Regungen wachzuruten. Trotz alledem muss ich konstatieren,
dass bei gesunden, nicht neuropathisch veranlagten Männern mit
normalem Geschlechtstriebe völlige Abstinenz ohne Schädigung
des Nervens) stems möglich ist, und dass die Durchführung der-
selben auch keineswegs zu jenen schweren Seelenkämpfen führen
muss, die sich in manchen Heiligenlegenden und Erzählungen
jüngeren Datums berichtet finden.
Man konnte indes daran denken, dass es sich bd den Indi-
viduen, für welche die anhaltende sexuelle Abstinenz keine schwere
Bürde bildet, um mangelhafte Entwicklung des Sexualtriebes
infolge angeborener Veranlagung handelt. Diese Annahme trifft
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Di« sexuelle Abitinens beim Manne.
65
jedoch nach meinen Erfahrungen nur für einen Teil der be*
treffenden Männer zu.
Die Individuen mit mangelhaftem Sexualtriebe verhalten sich
gewöhnlich indifferent gegen das weibliche Geschlecht — die
ausgesprochenen Weiberfeinde gehören wohl zum grössten Teile
hierher — und bekunden im Falle der Verheiratung den bei ihnen
bestehenden Mangel dadurch, dass sie die ehelidie Pflicht nur
sehr sehen leisten. Unter den Männern meiner Beobachtung,
die vor ihrer Verheiratung abstinent lebten, befinden sich jedoch
auch solche, die weder vor noch nach der Eheschliessung ein
fflr mangelhafte Entwicklung des Sexualtriebs sprechendes Ver-
halten zeigten und trotzdem die Abstinenz im grossen und ganzen
ohne Beschwerden ertrugen. Es handelt sich dabei um Männer
von sehr nfichtemer, arbeitsamer Lebensweise, welche durch
ihre Berufstätigkeit ganz und gar in Anspruch genommen wurden.
Ziehen wir das Lebensalter in Betracht, so ergibt sich aus
meinen Beobachtungen, dass bei Männern unter dem 24. Jahre
jedenlall?, seltener nennenswerte Belästij^ungen infolge der Ab-
stinenz erwachsen, als bei solchen im Alter von 24— 36 Jahren,
den Jahren voller Mannesi^ratt und voller sexueller Leistungs-
fähigkeit. Auch bei diesen letzteren nehmen, wenn nicht gleich-
zeitig andere Schädlichkeiten auf das Nervensystem einwirken,
die durch die Enthaltsamkeit allein bedingten Störungen äusserst
selten einen Charakter an. der zu iuztlichem liingreiten Anlass gibt.
Zumeist handelt es sich um vermehrte Follutionen , lästige Ge-
fühle im Bereiche der Samenstränge, der Hoden und des Dammes
fSamenkollcr), Zustände allgemeiner Erregtheit, leichtere gemüt-
liche Depression und insbesonders eine mehr oder minder aus-
gesprochene sexuelle Hyperästhesie. Der Anblick an sich un-
verfänglicher Dinge erweckt sinnliche Vorstellungen, und Gedanken
sexuellen Inhalts drängen sidi in unliebsamer Weise in den
Verlauf der Assoziationstätigkeit. Die Neigung zum Abschweifen
der Assoziation auf sexuelles Gebiet kann zeitweilig einen Grad
erreichen, dass die geistige Arbeit mehr oder weniger er-
Schwert wird. Von in den 30er Jahren stehenden Männern,
die in vollständiger oder relativer Abstinenz lebten, vernahm ich
mehrfach auch Klagen über zeitweilige kongestive Anwandlungen
L««eiif«liJ, Svxnell-iiervliii! StihnngeB. Vierte AoB. 5
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66
Die sexuelle Abstiaeoz beim Maouc.
(Schwere und Völle im Kopfe, leichte Schwindelanfalle), welche
Beschwerden sie selbst mit der Nichtbefricdigung ihrer sexuellen
Bedürfnisse in Verbindung brachten.
Dir (liiich die Kontinenz hervorgerufenen Beschwerden
können indes eine erhebliche Steigerung erfahren und sich
zu einer ausgeprägten Neurasthenie entwickeln, wenn während
des Festhaltens an der Abstinenz Umstände einwirken, welche
die sexuelle Reizbarkeit in der einen oder anderen Weise er-
höhen oder die Widerstandsfähigkeit des Nervensystems allge-
mein herabsetzen. Als solche Umstände müssen hit r erwähnt
werden: üppige Ernährung bei mehr sitzender Lebensweise,
wodurch der Hlutzufluss zu den Genitalien und den unteren
Riickenpartien vermehrt wird, reichlichi r Alkoholgenus^, hatiituclle
Obstipation, Mangel regelmässiger Beschäftigung, Lektüre von
Romanen mit sinnlich errettenden Schilderunu;en und anderen
p*»rnographischcn Literaturerzeugnissen , Besnr-hr von Tingel-
Tangcl- Vorstellungen mit den bekannten auf Sinnlichkeit berech-
neten Darbietungen, anhaltender intimerer Verkehr mit Ange-
hörigen des anderen (jcschlechts , wie ihn z. B. ein längerer
Bräutigamstand bedingt , endlich ganz besonders die direkte
sinnliche Err^ung ohne Befriedigung (fnistrane Erregung)^).
Andererseits sind versdhiedene Umstände geeignet, die
durch die Abstinenz bedingten Belästigungen erheblich zu be-
schränken und selbst ganz zu beseitigen: Meidung sinnlich
erregenden Umganges jeder Art, schlüpfriger Lektüre und der-
artiger Schaustellungen, frugale Ernährung, sehr massiger G«nuss
und noch besser gänzliche Enthaltung von geistigen Getränken,
körperliche Abhärtung und reichliche Bewegung, ganz besonders
aber die volle geistige Mingabe an die Anforderungen und
Interessen eines Berufes. Zwei französische Autoren, Gr im and
de Caux und Martin St. Ange glaubten, speziell mathema*
tische Studien als ein wirksames Mittd zur Unterdrückung über-
mässigen sexuellen Dranges empfehlen zu dürfen. Den gleichen
Dienst leisten jedoch im allgemeinenjede intensive und andauernde,
') V. K r a f f t- E b i n t; faad uotcr I14 FiiUeu von NcurasthctUA scxualis
13 ni«l fnutnne Erregung als Ursache.
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Die sexuelle Abstinenz beim Manne.
das Interesse voll in Anspruch nehmende ^^eistigc Beschäftigung
und noch mehr regchnässij^e, an«;trengende korperliclie l htingon.
Es lässt sich eben nicht vcrkcnnrn. da'is das Gesetz der
Akkommodation an gegebene Anf«)ril('i ungen tür dasbexualsystcm
wie für andere Köi jierorgane gilt. Die I-'unktionsfähigkeit der
Nervenzentren, Muskeln wnd Drüsen wird durcli ein gewisses
Mass von inanspruchnahine gunstii; IiecintUisst. So wird auch
durch einen mässigen geschlechtlichen Verkehr die Tätigkeit
der samenbereitenden Organe angeregt, die sexuelle Leistungs-
fähigkeit unterhalten und gefördert, hiermit aber auch das Be-
dürfnis geschlechtlichen Verkehrs gesteigert; andererseits wirkt
anhaltende Abstinenz im Laufe der Zeit jedenfalls auf die Sperma-
produktion (trotz zeitweiligen Auftretens häufigerer Pollutionen),
wahrscheinlich auch auf die Produktion der libidogcnen Stoffe
und hiermit auf das sexuelle Verlangen, die Libido, beschränkend,
soferne nicht geschlechtlich erregende Momente gleichzeitig einen
Einfluss in entgegengesetzter Richtung äussern. Deshalb kann
es nicht befremden, dass bei jüngeren Männern, welche nach
längerer Übung regelmässigen Geschlcchtsverkehres aus irgend
welchen Gründen zu gänzlicher Enthaltsamkeit für längere Zeit
genötigt sind, in der ersten Zeit der Entbehrung etwas erheb-
lichere Molesten sich einstellen als bei solchen, die im Zustande
anhaltender Abstinenz leben. Indes nehmen diese Belästigungen
bei völlig gesunden Männern und zweckmässiger Einrichtung
der Lebensweise nie einen ernsteren Charakter an; sie redu»eren
sich vielmehr allmählich auf das Niveau der Vorkommnisse bei
anhaltender Abstinenz; die Akkommodation an die neuen Ver-
hältnisse kann sogar schliesslich, wie eine Beobachtung von
Gyurkovechky*) zeigt, zu einer Verringerung der Potenz
fuhren.
Im Vorstehenden habe ich im Wesentlichen meine eigenen
Erfahrungen berücksichtigt, welche Männer im Alter von 20 — 40
*) Gyurkoveebky erwlbot, dass die Ottemicbiacheii Offiziere, welche
den bosniNcbcn Fckl/ug mitgemacht hatten and nach ihrer Rückkehr iofolge
der langen Entbehrung sexueller GenOssc sich zu besonderen ge^chk•l:hlIicbcn
Leistungen bciabigt glaubten, in dieser Hinsicht eine grosse Enttäuschung erlebten;
ihre Potenz erwies sich eotadiieden veninKert und erholte sich erst allmShiich,
S«
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68
Die sexuelle Abstiuenz beim Manne.
Jaiiren betreffen. Die populären Ansichten über die Vor- und
Nachteile des Verzichtes auf geschlechtlichen Verkehr gehen
auseinander.
Im Altertum schrieben sowohl Hellenen als Römer der sexu-
ellen Abstinenz der Jünglinge einen entschieden günstigen Ein-
fluss auf die körperliche Entwicklung und Leistungsfähigkeit zu.
Sehr bemerkenswert ist in dieser Beziehung das Zwiegespräch»
welches Aristophanes in seinem Lustspiele „die Wolken" den
Gerechten mit dem Ungerechten führen lässt. Der Gerechte
schildert hier den in einfacher Lebensweise erzogenen, in sexu-
eller Abstinenz lebenden Jüngling als Muster von Kraft und
Gesundheit, den Unkeuscben dagegen ab Schwächling mit bleich*
süchtiger Farbe, schwindsüchtiger Brust und mit grossem Mem-
bnim. Im alten Rom wurde die sexuelle Abstinenz als ein
Erfordernis der athletischen Ausbildung betrachtet; ,,abstinuit
vtno venereque", berichtet Horaz vom Wagenkämpfer. Die alten
Germanen legten nach den Schilderungen, die uns Tacitus ge*
liefert hat, Gewicht darauf, dass die jungen Leute erst spät zum
Liebesgenusse gelangten. Tacitus bringt die inexhausta pubertas
seiner germanischen Zeitgenossen mit dieser sera juvenum Venus
in Zusammenhang. Diejenigen, welche die geschlechtliche Ab-
stinenz in hygienischer Beziehung schlechterdings für eine Schäd-
lichkeit erachten — und deren Zahl ist Ljegenwärtig noch eine
sehr grosse — berufen sich i^erne auf die bekannten W ui ic Lutlu-rs,
mit welchen dieser das P>ckämptcn dc^ Naturtriebes als Unnatur
bezeichnet, oder die Äu>serungen Buddhas über den Geschlechts-
trieb. Allein auch die Anschauunijen, denen man in den medi-
zinischen Kl eisen über den gesundlu itHchen Finfluss der sexuellen
Abstinenz huldigt, sind noch sehr widt*rsi)rt'(, lu nd ; auf der einen
Seite W'ird andauernde 1 nth.ilt'-anikeit untii allen Umständen
als gesundheitsschädlich, aul der anderen Seite unter allen Um-
ständen als das für den unverheirateten Mann moralisch und
hygienisch Zuträglichste bezeichnet. Von alteren Ärzten, die
ersterc Anschauung vertreten, ist hier insbesondere Lallcmand
zu nennen. „Eine absolute Keuschheit", bemerkt Lallcmand,
„ist früher oder später selbst jenen schädlich, die sie mit Leichtig-
keit ertragen". Spermatorrhoe und Impotenz bilden nach diesem
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Die «exoelle Abstinenz beim Manne.
69
Autor die gewöhnliche und notwendige Folge der Enthaltsam-
keit; bei Personen mit sehr energischen Z^ei^ngsorganen soll
bei zu langer Andauer absoluter Enthaltsamkeit früher oder
später der Organismus in eine allgemeine Aufregung geraten,
,,die sich auf das Gehirn fortsetzend bis zum erotischen Wahnsinne
gehen kann". Von Autoren der Neuzeit stellt Gyurkovechky
die Kontinenz hinsichtlich ihrer schädlichen Wirkungen auf eine
Stufe mit den sexuellen Exzessen. Hammond spricht von
Fällen» in welchen die Abstinenz, in abnormer Weise durch
religiöse Gesetze oder durch Aberglauben veranlasst, im Laufe
der Zeit zu dauernder Impotenz fuhrt.
Nach V. Schrenk-Notzing kann erzwungene Abstinenz
die Willensfreiheit tjcfährdcn und zu Satyriasis und Perversitäten
des geschlechtlichen Handelns führen. Dieser Autor ist der
Ansicht, dass der keusche Jüngling Enthaltsamkeit üben soll,
so lange er seine Triefie zu zügeln vermag ohne Nachteil für
seine Gesundheit. ,, Läuft er aber Gefahr bei zunehmender
Mächtigkeit des Triebes der Onanie, der Satyriasis oder einer
perversen Betäti^juntj zum Oiifer zu fallen, so ist es Ptlicht
seiner Mrziehor und seines Arztes, die Ausübung des C. zu
veranlassen". Freud betrachtet die sexuelle Abstmenz, ms-
bcsonderc bei erheblicher Libido (resp Mangel sexueller Be-
friedigung) als eine Ursache der Angstzuslände beiNeurasthenischen
und Hysterischen (seiner Angstneurose) ; dieser Auffassung ist
Gattel auf Grund einer Anzahl von Beobachtungen in dem
V. Kr af ft-Ebing 'sehen Ambulatorium beigetreten.
In den letzten Jahren hat Erb darauf hingewiesen, dass
die sexuelle Kontinenz je nach Entwicklung des Sexualtriebs
sehr verschiedene Wirkungen äussert. Während die sogenannte
Naturae frigidae dieselbe ausserordentlich leidit und ohne alle
üblen Folgen ertragen, können gesunde Männer mit regem
Geschlechtstriebe nach seiner Erfahrung durdi die Enthaltsam-
keit geschädigt, jedenfalls sehr belästigt und in ihrer psychischen
Leistungsfähigkeit, Arbeitslust und Stimmung entschieden be>
schränkt werden. „Zweifellos aber gilt dies in höherem Grade
für neuropathisch belastete Individuen, deren Zahl ja ausser*
ordentlich gross ist; dieselben sind häufig von liause aus mit
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70
Die sexuelle Ab&tiQcuz beim Manne.
einem besonders rc^'cn Geschlechtstrieb ausgestattet und leiden
durch dessen unbefriedigte Anforderungen durch Pollutionen,
Zwangsonanie, Störung der Nachtruhe und der Arbeitsfähigkeit,
auch durch die Entwicklung der verschiedenen Formen «»sexueller
Neurasthenie** in hohem Masse".
Jastrowitz erwähnt, dass nach seinen Erfahrungen so-
wohl in der Jugend wie in der mannbaren Periode durch er*
zwungene Enthaltsamkeit leichtere und schwerere Verstimmungen
entstehen, die bei Veranlagung Lebensüberdruss erzeugen können.
Der Autor, welcher sich Erb 's Ansichten völlig anscbliesst,
weist auch auf die in früheren Zeiten berüchtigte Premierlieut-
nants- und Assessorenmelancholie und Hypochondrie hin, die
sich bei den Betreffenden erst mit der Gründung eines eigenen
Haussundes und regelmässiger Befriedigung ihrer geschlecht'
liehen Bedürfnisse verloren.
Auch W. Hammer (Berlin) und Marcuse (Berlin) haben
sich in jüngster Zeit mit den gesundheitsschädigenden Folgen
beschäftigt, welche die Abstinenz bei beiden Geschlechtem nach
sich ziehen kann. Letzterer Autor ist zu dem Schlüsse gelangt,
dass in den Fällen, in welchen derartige Folgen zutage treten,
der Ai/.t die Pflicht habe, dem Patienten den geschlechtlichen
Verkelir zu verordnen.
Dagegen wird von einer Reihe hervorragcntlcr englischer
Ärzte, Acton, Beale, Paget, Gowcvs und ebenso von dem
schwedischen Arzte Scved Ribl)ing (Prufessor an der l niversität
Lund) mit Entschiedenheit in Abrede gestellt, dass der sexuclkn
Enthaltsamkeit irgend welche gesundheitsschädliche Folgen zu-
kommen. Ihnen haben sich von deutschen Autoren He gar,
Eulenburg und Für binger im wesentlichen angeschlossen.
He gar, dessen Polemik banpt^;ichlich gegen die Behauptungen
Bebels in dessen Buch „die Frnn imd der SoziaHsmus" sich
richtet, hält es unter anderem für durchaus nicht berechtigt,
die Nichtbcfriedigung des Geschlechtstriebes als kausales Moment
der Satyriasis und Nymphomanie anzunehmen. Eulen bürg
bezweifelt es, dass schon irgend jemand bei sonst vernünftiger
Lebensweise durch geschlechtliche Abstinenz allein krank, speziell
neurasthenisch oder sexualneurasthenisch geworden ist. Er hält
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Die senelle Abftüneoz beim Uanne.
71
auch die Freud 'sehe Annahme einer Angstneurose als Folge
sexueller Abstinenz für verfehlt. Es lässt sich a priori annehmen,
dass, wo sich solche Gegensätze offenbaren, die Wahrheit nicht
ausschliesslich auf einer Seite liegt. Zweifellos trifft das» was
wir im Obigen von den Folgen der Abstinenz erwähnten, völlig
für gesunde, nicht von Haus aus neuropathisch veranlagte Per-
sonen zu. Dass für die Nerven- und Geiste^esundheit dieser
die Abstinenz keine Gefahr bringt, wird auch von deutschen
Irrenärzten (Arndt, Forel, v. Krafft-Ebing) zugegeben.
Dagegen trifft das Bemerkte nicht mehr ganz zu fOr Individuen,
welche durch sexuelle Missbräuche ihre geschlechtliche Reizbar-
keit erhöht haben (Sexualneurastheniker) und noch weniger
für jene neuropathisch Belasteten, welche info^e ihrer konsti'
tutionellen Veranlagung mit einem sehr mächtigen (krankhaft
gesteigerten) Sexualtrieb behaftet sind. v. Krafft^Ebing hat
zuerst *) und jedenfalls mit Recht darauf hingewiesen, dass bei
den Belasteten mit krankhaft gesteigertem Sexualtrieb erzwungene
Abstinenz ernste Gefahren beziiglich der Kntstehiing von Nerven-
und Geisteskrankheiten herbeiführen und durchaus antihygienisch
sein kann. Nach diesem Aut()r kann hier als Folge der Unter-
drückung; des machtigen Triebes ein allgemeiner nervöser Er-
regungszustand entstehen, aus dem sich bei längerer Andauer
schwere Neurosen, Satynasis (bei Frauen Nymphomaniet, imter
l'mständen selbst Psychosen entwickeln *j. Das Material für
derartige Beobachtungen ist indes, wie v. Krafft-Ebing zugibt,
ein sehr beschränktes, da in dem Kampfe zwischen Sinnlichkeit
') „über Ncurnsea und Fkychosea duidi AbstincDS", Jihrbttchcr ffli Psych*
»trie, 8. Band 1889, S. i.
') An anderer Stelle (P s y t Ii o p a t h i a <; e ^ 15 a 1 j s, n. Aufl. S. 49) bemerkt
der Autor: „Die Gewalt des bexualthcbcs kann bei ihnen (den Belasteten mit
kmüdiaft gesteigertem Sexiudtriebe) zeitweise geradezu ^ BedeutuDg euer oiga>
otecben N<ttignng gewtoDeD und die Willensfreüieit eroftlich gef&brden. Die
Niditbefiiedigiui)^ <!rs Dranskes kann hier eine wahre Brunst oder eise mit Angst-
empfinclunwcn ciniierj;chendc psychische Situation herbeiführen, in welcher das
Individuum ihm Triebe ctlieirt und seine Zurechnunf^sfähipkeit zweifelhaft wird.
Unterliegt das Individuum nicht seinem mächtigen Drang, so steht es in
Gefkbr, durch die eixwuDgene Abittuenz seia Nervensystein im Sinue einer Neur«
■sthenie zu ruiniereii oder eine bereits vorhandene bedenklidi zu steigern**.
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72 ^i*^ sexuelle Abstinenz beim Manne.
und X'crminlt die erstere in der Regel Siegerin bleibt und der
Geschlccht-^ti icl) alle Schranken der Sitte durchbricht oder
wenij^atcns durch Mastui bation befriedigt wird.
Ich habe eine Anzahl einschlägiger Fälle beobachtet, über
ut lche ich mit Rücksicht auf die Seltenheit derartiger Beobach-
tungen hier wenigstens in Kürze berichten will.
Beobftchtttiiff L
Der Fall betrifik einen Ordensfrater^ einen jungen Mann von a6
Jahren^ dessen Gebabren im l^fe der Zeit so auffallend geworden war,
dns<5 «eine Ordensvorgesetzten sich veranlasst sahen, mir denselben be-
hüls ärztlichtr Untersuchung zuführen zu lassen. Der Patient, in dessen
Gesichtszügen sich ein gewisser Stupor ausprägte und der anßlnglicii
sich sehr verschlossen und wortkarg zeigte, beriditete auf Iftngeres ein«
dringliches Befragen Folgendes: Er ist von bAuerlicber Herkunft und
schon '^clu junp; fniit r8 oder 19 J.ihrenj ganz aus freiem Antriebe,
lediglich emer religiösen Neigung folgend, in das Kloster eingetreten,
woselbst er vorzugsweise mit Gartenarbeit beschäftigt wurde. Er hat
nie sexuellen Verkehr gepflogen, nie Masturbation geObt In den ersten
Jahren seines klosterlichen Lebens war sein körperliches Befinden und
sein Gemütszustanti ganz befriedigend. Sf it Llngerer Zeit dr;lngen sich
jedoch in seine tjedankenwclt fortwülirend und zwar stetig zunehmend
sexuell-siniüiche Vorstellungen, die er als sündhaft erachtet und nach
Kräften, aber vergebens» zurflckzudrflngen sich bemOht. Dieses unauf-
hörliche Ringen, die sich regenden sinnlichen Begehren ta unterdrücken,
und die Seclenqualen, weicht- d.i- strtiir sich erneuernde VnrdrSnj^en
der sündhaften Gedanken und die vernienitliche Schädigung seine«. Seelen-
heiles durch dieselben ihm bereiten, haben allmählich seinen Nervenzu-
stand hochgradig alteriert und tiefe gemütliche Depression herbetgefilhrt
Kr erschrickt und zittert bei dem geringfügigsten Anlasse, ist aur Arbeit
fast unbrauchbar und menschenscheu geworden und nfeidet sogar den
Verk« hr mit seinen Ordensbrüdern soweit als möglich. Der Schlaf ist
mangelhaft, er kann niu- auf einem sehr harten Lager sich der ihn quälen-
den sinnlichen Vorstellungen einigermassen erwehren; der Anblick
eines weiblichen Wesens versetzt ihn in die höchste Aufregung. Dabei
b(>stehcn keine übermä>i.igen Tollutionen. Dieser krankhafte Zustand
cntwickche ^-ich trotz noti^cdrung» n sehr frugaler Lebeu-swcisi- und
reichlicher Heschatti^ung im Freien. Ererbte Aidage zu Geisteskrank*
heiten ist bei dem Patienten nicht erweislich; doch ist derselbe wahr*
scheinlich von Hau.se aus nervenschwach. Da es sich um einen Laien-
bruder handelte, dem die Rückkehr in das weltliche Leben freistand,
konnte ich bt i di« '«er S.n lilai^e mich nur dahin aus.sprechen, dass der
Patient infolge seiner Konstitution sich zur Fortsetzung des klösterlichen
Lebens nicht eigne; dem jungen Manne selbst erteilte ich den Rat,
nach seinem Austritte aus dem Kloster eine Verheiratung anzustreben.
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Die sexuelle Alntineiu beim Manoe.
73
Beobachtung S.
Herr L.» 30 Jahre alt, ledig, im subalternen Staatsdienst. Die
Mutt' 1 des Patienten war nielancholi^^ch, starb 74 Jahre alt; der Vater
noch lebend und angeblich gesund; 3 Geschwister, von welchr n «-ine
Schwester luelanchuUsch. Im Alter von 13 Jahren eine Kopfverletzung
durch einen berabCUlenden Stein mit folgender Bewusstlc»sigkcit ; seit-
dem Schmerzen an der betreifenden Kopfstelle (rechtes Seitenwandbein).
Vor 8 Jahren, w.ihrend der Militärdienstzeit, luetische Infektion. Mastur-
bation fraher viel tieObt, jedoch seit mehremi Jahren bereits gänzlich
autgegeben. Vor a Jahren Versetzung auf das i^and. Seitdem trotz
bedeutender Libido v&iligc sexuelle Abstinenz, teils wegen mangelnder
Gelegenheit^ teils wegen religiöser Skrupel. Die dienstlichen Verhalt»
nissi ni^ti^en den Patienten ausserdem zu vielem Alleinsein. Unter
drill l.influsse dieser ^!lnT1e^te entwickeln sich allniühlifli Iiachi;rndiiie
nervöse Reizbarkeit und gemütliche iK'pression mit Angstzustl4nden,
namentlich beim Alleinsein, Kopfschmerzen, Schlafstörung, sexuelle
Zwangsvorstellungen, zu welchen sich nadits bei mangelndem Schlafe
öfters erotische llallu^nationen gesellen. Patient sieht eine nackte
Krauengestal t vnr sich oder neben sich im Bi ttr, wodurch
Seine Aufregung erheblich gesteigert wird. Unter anstaltlicher Behand-
lung erfolgte allmählich Besserung.
Beobactitttiig 3.
Herr I. M., Privatier, 43 Jalire alt, seit 19 Jahren verheiratet,
Vater von a Kindern ist erblich mtttteriicherseite belastet (Mutter epi>
lepttsch). In den Kinderjahren Croup, Scharlach und andere Kinder-
krankheiten, später keine schwere Erkrankung, auch kein»- Infektion,
dagegen Masturbation bis zum 18 J iIik , Seit 4 Jnliren lei<iet Patient
an nervösen Beschw'erden, deren Auftreten er auf geistige Uberanstren-
gung und gemtttliche Erregungen zurftckfUhrt, Kreuzschmerzen, GefOhl
von Rieseln tlber den ganzen KOrper, Ameisenkriechen an verschiedenen
Stellen, gro;?se Empfindlichkeit für Gerftusche etc. In neuerer Zeit macht
»kh oft t in Gefühl beiri' r klich, als ob nu> dir Mündung der
Harnröhre Käfer herauskröchen, oder als wenn die Mün-
dung der Harnröhre sich schliessen and wieder öffnen wOrde,
Dieses GefOhl tritt namentlich gern auf, wenn sich Patient in Gesell-
schaft befindet. Öfters stellt sich auch ein Gefühl ein, als ob das
Glied immer kleiner und kleiner würde und sich ganz in
den Bauch zurückziehen wollte, während tatsächlich an dem
Gliede nichts Besonderes zu bemerken war. Patient gerflt in Auf-
regung, wenn er nackte weibliche Figuren (Zeichnungen, Gips oder
dergl.) sieht; dab<i zuckt es durch den Penis, und es tritt mitunter eine
gering»' lileimige Absonderung auf Auf !i förmliche Tag' spollutionen
sind sclion aufgetreten, näclitliche Pollutionen stellen sich alle 3—4
Tage ein.
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74
Die »ezuelle Abstinenz beim Minne.
Patient hat seit lo Jahren auf jeden geschlechtlichen Verkehr ver-
zichtet und zwar aus Schonung für seine Frau, welche bei dem letzten
Kinde eine schwere Entbindung hatte. Diese Abstinenz fällt ihm gegen-
wärtig angeblich nicht mehr schwer, während sie anfänglich für ihn
eine sehr harte Aufgabe bildete.
34jähriger Volksschullehrcr vom Lande, ledig (erblich belastet).
Hat bisher nach seiner Versicherung weder sexuellen Verkehr, noch
Masturbation aus religiösen Gründen geübt. Seit einer Anzahl von
Jahren leidet er an zunehmender sexueller Erregtheit, die sich anfäng-
lich nur in der Schule alteren Schülerinnen gegenüber zeigte, in neuerer
Zeit jedoch auch ausserhalb der Schule beim Verkehr mit jüngeren
weiblichen Personen jeder Art in so lästiger Weise geltend macht, dass
Patient diesen Verkehr möglichst meidet, weil er sich nicht mehr die
nötige Selbstbeherrschung zutraut; allmählich stellten sich unter der
Einwirkung dieser sexuellen Hyperästhesie gemütliche Verstimmung,
Angstzustände, Schlafmangel, andauernde Kopfeingenommenheit ein, und
diese Beschwerden haben in letzter Zeit so zugenommen, dass Patient
um Urlaub nachsuchen musste. Pollutionen nicht abnorm häufig (etwa
alle 14 Tage». Dem Patienten wurde zunächst ein Gebirgsaufenthalt
und später Verheiratung empfohlen.
5ojähriger Beamter, ledig, erblich belastet; zeigte schon in den
Knabenjahren Hang zu sexuellen Phantasien und ergab sich vom 11. oder
12. bis zum 17. Lebensjahre der Masturbation. Er entsagte dem Laster,
nachdem er an nervösen Magenbeschwerden erkrankt und von dem
Arzte auf das Schädliche seiner Gepflogenheit aufmerksam gemacht
worden war. In der Folge stellten sich öfters cerebrasthenische Be-
schwerden ein, welche ihn jedoch nicht hinderten, seine Studien zu
vollenden und später als Beamter seinen Obliegenheiten zu genügen.
Sexuellen Verkehr übte er nur selten aus Furcht vor Ansteckung und
seit 6 Jahren lebt er in völliger Abstinenz. Seit fast 3 Jahren wird
Patient durch sinnliche Vorstellungen bel.lsiigt, welche sich in seine
Gedanken eindrängen ; seine Phantasie malt sich sexuelle Vorgäng«-,
z. B. frühere Beischlafsakte aus, und er ist unfähig, sich von diesen
Vorstellungen, deren Sciiüdlichkeit er völlig einsieht, loszureissen ; seil
mehreren Monaten haben die sexuellen Zwangsgedanken so zugenommen,
dass ihm das Arbeiten hocligradig erschwert ist und sein ganzes Befinden
darunter gelitten hat. Der Kopf ist In ständig eingenommen, und diese
Eingenommenheit strigert sich bei geistigen Anstrengungen zu ausge-
sprochenen Kopfschmerzen, die von kongestiven Ersclicinungcn (llitze-
gefühlen im Kopf, .Schwindel etc.) begleitet sind. Pollutionen treten nur
alle 4—6 Wochen auf und bewirken gewöhnlich für kurze Zeit ein
Beobachtung 4.
Beobachtung 5.
Die sexuelle Abstinenz beim Manne.
75
Nachlassen des sexuellen Zwangsdenkens. Nach geistigen und körper-
lichen Anstrengungen öfters Verschleierung des GesiditeSf der GemOts*
zustand wechselnd, gewisse Zwangsbef&rchtungen, insbesonders Noso*
phobii II fAn<:;>t vru SchlnganfTiIli n, vor dem Irrsinnigwerden, Herzleiden,
auch Furcht vor üngiucksläUcn) niachrn sich sehr häufig geltend. I)fr
Schlaf it.t nur dann leidlich, wenn Patient stundenlang vor dein Zubett-
gehen geistige Anstrengung und Unterhaltung meidet Bromgebrauch
und spftter Behandlung in einer Waaserhdianstalt brachte Besserung.
Beobachtung 6.
Kin weiterer Fall meiner Beobachtung, auf dessen Details ich hier
nicht n.lher eingehen kann, b> trifft einen in den 50 rr Jahren stehenden
Herrn, bei welchem sich in den 30er Jahren schon inloige erzwungener
Abstinenz eine sexuelle Hyperästhesie entwickelte, die sich im Laufe
der Jahre nicht verminderte und allmählich zu einer hochgradigen
GynAkophobie ftlhrte.
Seitens derjenigen, welche die Abstinenz für völlig harmlos
erklären, mag, wie dies schon früher geschah, noch immer der
Einwand ujhobcn werden, dass die auf sexurllc Abstinenz zn-
riickt^eführten nervösen imd psychischen Störungen durch andere
ätiologische Momente bedingt sind. Hieraus erwächst für uns
die Verpflichtung, die At\o\no'\c der oin/.t hien Falle, in welchen
sexuelle Abstinenz eine Rolle siiirlt, n.ich allen Seiten zu er-
forschen imd darzulegen wie die Ahstnienz eine pathogene
Bedeutung erlangen kann. Die Nachforschungen, welche ich
m den hier in l^etracht kommenden Fällen meiner eigenen
Beobachtung anstellte, haben mich zu der Ansicht geführt, dass
die Abstinenz nur unter gewissen Bedingungen die Bedeutung
eines pathogcnen Faktors gewinnt. Ich will nicht leugnen, dass
auch bei gesunden, nicht erblich belasteten Individuen die Ab*
stinenz zeitweilig zu einer schweren Bürdi wird, namentlich
bei jungen Männern mit regem Geschlechtstriebe; allein es
handelt sich dabei nach meinen Erfahrungen immer nur um
transitorische Störungen, deren Auftreten durch besondere die
Libido steigernde Momente bedingt wird und mit denen die
betreffenden durch Anwendung hygienischer Massnahmen ge-
wöhnlich fertig werden. In den Fällen, in welchen unter dem
Einflüsse der Abstinenz andauernde krankhafte Zustände auf-
treten, liegt dagegen in der Regel eine Konstitutionsanomalie
vor, die angeborene oder erworbene neuro-psychopathische Dis-
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76
Die sexuelle Abstinent beim Manne.
Position. Ganz besonders j»ilt dies für die Angstneurose. Man
könnte zunächst daran denken, dass die Intensität und Aus-
dehnung der nervösen und psychischen Folj^en der Abstinenz
von der Stärke des Sexualtriebs abhängt. \n der Tat werden
ja auch die schwersten Störungen in jenen Fällen beobachtet,
in welchen in Verbindung mit neuro-psychopathischer Veranlagung
exzessive (krankhaft gesteigerte) Entwicklung des Sexualtriebs
besteht. Die Intensität der vorhandenen Libido kann jedoch
die Stärke und Art der in den einzelnen Fällen unter dem
Einflüsse der Abstinenz auftretenden Störungen nicht genügend
erklären. Wir haben es hier, wenn wir von den Angstzu-
ständen zunächst absehen, mit einer etwas komplizierten /Xtiologie
zu tun, bei der verschiedene nervenschädigende Momente eine
Rolle spielen. Zunächst ist zu betonen, dass eine Autointoxikation
durch Anhäufung libidogener Stoffe im Blute bei den nerven-
schädigenden Wirkungen der Abstinenz nicht jene Rolle spielt,
die man a priori vermuten möchte. Die Erregungen, welche
die libidogene Substanz in den Zentralorganen auslöst, können,
wenn keine Ausgleichung durch sexuelle Akte stattfindet, unter
günstigen Verhältnissen auf die Bahnen geistiger oder körper-
licher Tätigkeit übergeleitet und dergestalt verarbeitet werden.
In dieser Weise kann die Erregung der Libido sich sogar nütz-
lich erweisen, indem sie die Energie und Tatkraft des Indi-
viduums anfacht und unterhält. Auf der anderen Seite liegt
es nahe, dass ein Übermass von libidonöser Erregung, welches
einer vollständigen Verarbeitung in neutralen Bahnen nicht zu-
gänglich ist, Schaden verursacht. In der grossen Mehrzahl der
Fälle wirkt jedoch die Libido bei anhaltender Abstinenz, wenn
wir von den Angstzuständen absehen, nicht direkt schädigend,
sondern indirekt. Es geschieht dies dadurch, dass sie zu er-
schö|)fenden geistigen Anstrengungen, welche durch die auf
Überwindung der Sinnlichkeit gerichteten Kämpfe veranlasst
sind, und damit zusammenhängenden depressiven Erregungen
führt. Vis handelt sich hier also um intellektuelle und emotio-
nelle Erschöi)fung des Gehirns, seltener um spinale Folgezu-
stände. Je widcrstandsfähi^^er das Nervensystem an sich ist
und je mehr die Aufmerksamkeit des Individuums durch beruf-
Di« »exaeUe Abstiocnx beim Manne.
77
liehe (geistige oder körperliche) Tätigkeit in Anspruch i^'onomnnen
wird» um so leichter wird die Abstinenz im allgemeinen er-
tragen. Auf der anderen Seite sehen wir, dass alle Momente,
welche schwächend auf das Nervensystem wirken, insbesonders
diejenigen, welche 2Ugleich die sexuelle Reizbarkeit erhöhen
(Masturbation, Exzesse in venere), auch das Ertragen der Ab-
stinenz erschweren. Der Entstebungsmechanismus der unter
dem Einflüsse der Abstinenz sich entwickelnden nervösen und
psydiischen Störungen ist indes in manchen Fällen kompli-
zierter, als im vorstehenden angedeutet wurde. Hierher gehören
vor allem die Fälle, in welchen die Abstinenz bei erheblicher
Libido nach schweren inneren Kämpfen immer wieder zu ex-
zessiver Onanie führt, wobei sich zu der physisch - nervösen
Schädigung die psychisch-moralische dmt:h gewaltsame geistige
Ablenkungsversuche, Vorwürfe, Scham usw. gesellt.
Eine besondere Herücksichtigung erheischt hier noch die
Beziehung der sexuellen Abstinenz /.u den neurotischen Angst-
zuständen (den Angstzuständen bei Neurasthenie, Hysterie,
AnL;stncurose in dem von mir angenommenen Sinne i. Schon
Bcard führt unter den L rsachen der krankhaften l'urcht bei
Xeurasthenischen neben sexuellen i'lxzessen langdauernde, (]ual-
volle Enthaltsamkeit mit sexueller Erregung beim männlichen
Geschlechte an. Freud und Gattel betrachten ebenfalls die
Abstinenz ircsp. Retention der Libido), wie wir sahen, als Ur-
sache von Angstzuständen. Auch unter den mit Angstzuständen
Behafteten meiner Beobachtung sind Abstinente in erheblicher
Zahl vertrete. Selbstverständlich darf man aus dem Zusammen-
treffen von sexueller Abstinenz mit Angstzuständen nicht ohne
weiteres auf einen ursächlichen Zusammenhang schliessen. Eine
skrupulöse Prüfung meiner Beobachtungen lässt jedoch keinen
Zweifel, dass der Abstinenz eine ätiologische Rolle den Angst-
zuständen gegenüber und zwar bei beiden Geschlechtem tat-
sächlich zufällt. Unter den von mir behandelten Leidenden mit
Angstzuständen befindet sich eine Anzahl, bei welchen, abge-
sehen von neuropathischer Konstitution, keine weitere Ursache
der Angstzustände als sexuelle Abstinenz zu ermitteln war. Es
seien zum Belege hier nur einige Fälle angeführt.
Dlgitlzed b
78
Die sexuelle Abstinenz beim Manne.
Beobachtung 7.
Herr R., 32 Jahre alt, ledig, Kaufmann, mit angeborener neuro-
pathischi.r Veranlagimg (von Jugend auf etwas s« hvvflchlich, ner\'ös und
ängstlich) wurde vor etwa 4 Jahren dahier auf einem grösseren freien
Platze plötzlich von Schwindel (Angst) befallen ; in der Folge wieder-
holten sich diese Angstanfillle sowohl hier als beim Aufenthalte in
anderen grösseren Städten, insbesondcrs beim Überschreiten von freien
Platzen, seltener beim Überschreiten von Strassen. In der Folge traten
auch Kopfschmerzen öfters ein, diese haben sich jedoch seit einiger Zeit
wieder verloren. Seit längerer Zeit stellen sich Angstzustände auch aus-
wärts beim Übernachten in Hotels, ferner beim Besuche von Theatern,
Konzerten, beim Aufenthalt in Restaurants etc. ein. Häufig werden die
Angstzustände durch ein Frostgefühl eingeleitet, welches sich über den
ganzen Körper ausbreitet und mit Zittern in den Beinen verknüpft ist.
Dieses Angstgefühl mit Zittern b«fallt den Patienten seit mehrenn
Monaten auch schon, wenn derselbe sich in gewisse Situationen be-
geben (z. B. in das Theater gehen, einen wichtigen Besuch machen oder
eine Geschäftsreise antreten) will. Patient versichert, nie Masturbation
getrieben, auch nie geschlechtlichen Verkehr geübt zu haben, und diese
Angaben wtrrden auch von nahestehender Seite bestätigt. Die Abstinenz
verursacht keine Beschwerden. Von Pollutionen wurde Patient in früherer
Zeit ziemlich häufig heimgesucht; seit mehreren Jahren bereits sind
dieselben viel seltener geworden.
Beobachtung 8.
Herr X., 42 Jahre alt, ledig. Privatgelehrter, erblich belastet (die
Mutter in einer Irrenanstalt gestorben), war nie erheblich krank und hat
sich nie geistig überanstrengt. Seit einer Reihe von Jahren wird er von
Angstzustanden heimgesucht, wenn er irgend etwas öflentlich. z. B. in
einer Vereins -Versammlung, zu tun hat, was früher nicht der Fall war.
Die Angst bezieht sich nicht auf die Möglichkeit einer Blamage, sondern
den Eintritt irgend eines körperlichen Unwohlseins. Im Theater,Konzert etc.
kann er es nicht aushalten, wenn er nicht einen Platz in der Nähe der
Türe findet. Auch auf der Strasse machen sich mitunter Angstanwand-
lungen bemerklich, doch gelingt es gewöhnlich dem Patienten, dieselben
durch seinen Willen zu Oberwinden. Patient hat vorzugsweise aus
religiösen Motiven überhaupt nur wenig sexuellen Umgang gepflogen, seit
einer Reihe von Jahren lebt er völlig abstinent; dabei mangelt es nicht an
Libido. Pollutionen, früher häufig, sind seit Jahren bereits selten geworden.
Beobachtung 9.
Herr X., 24 Jahre alt, Medizinstudierender, erblich belastet (der
Vater Sonderling, die Mutter n- r fiat Diphtherie und Typhus vor
Jahren durchgemacht; Mosturi < bis 15. Lebensjahre häufig
(
Die sexuelle Abstinenz beim Manne.
79
und auch noch später gctlbt Vor 7 Jahren Gedächtnisschwäche, Zittern
in den Händen bei Aufregungen, Schlafroangel. Der Zustand besaerte
sich, Patient konnte unbehindert seine Studien fortsetzen, er hat vor
kiirrcm in T' ntnrnen physicum bestanden. ric;<e;-:\v'ii tig glaubt er,
dass seine geistig«- Arbeitskraft vt>rmindiTt si i ; vr kann jeddch studieren,
ohne dabei rasch zu ermüden, auch das Gedächtnis erweist sich gut.
Was ihn besonders belftstigt» ist Angst in Gesellschaft von Menschen;
diese Angst bezieht sich darauf, dass er glaubt, einen ungünstigen
Eindruck zu machen, sich zu blamieren etc.; es ist ihm dalur sehr
peinlich, beobachtet zu werden. Auch Nosophobien (speziell Angst
vor Paralyse) suchen ihn ^itweilig heim. Sexuellen Verkdir hat
Patient seit mehr als 2 Jahren aufgegeben, obwohl es nicht an Libido
fehlt. Pollutionen waren noch vor i Jahre hlufig, in letzterer Zeit
etwa nur alle a Monate einmal.
Beobachtung 10.
Der hier folgende Fall ist deshalb von Interesse, weil au^ demselben
sich ergibt, dass unter Umstanden Abstinenz von kurzer Dauer das
Auftreten von Angstzuständen bcgQnstigt. Der Fall betrifft einen
46jAhrigen Lehrer vom Lande, welcher wenigstens seit 15 Jahren schon
an ncurasthcnischen (zum Teil rei ehr nstlitmischen , zum Teil myel-
asthenisrhrii , doch vorherrscliend iny lasthenischen) Besrhwcrden litt,
dabei jedoch nie von AngstzusUlnden oder Erscheinungen, die man als
Äquivalente solcher hätte betrachten kdnnen, heimgesucht wurde. Der
Patient gebrauchte vor ehugen Jahren — nicht auf mein Anraten —
längere Zeit eine Kur in VVörrishofen, wobei er, da seine Frau zu Hause
blieb , auf den gewohnten ehelichen Verkehr verzichten musste. Die
Güsse und andere ihm verordneten Prozeduren bekamen ihm vom An-
fange an nicht gut, was ihn jedoch nicht abhielt, die Kur fortzusetzen,
da er immer in der Erwartung lebte, dass doch noch ein gOnstiger Lim-
Schwung eintreten müsse. Das Endresultat war, da-^s die neurastheni^rhcn
Beschwerden, wegen welcher er Wörrishofen aufgesucht hatte, schlimmer
als früher waren; zu denselben hatten sich jedoch schon während des
Aufentfialtes in WOrrishofen noch schwere Angstzustflnde gesellt, die
auch zu Hause, zumal sich der Patient wegen seines verschUmmerten
Zii'?tande> anCinglich sflir t:ro-;sf Beschränkung im ehclichrn Verkehre auf-
erlegte, sich nicht sofort, sondern erst nach einiger Zeit wieder verloren.
Beobachtung 11,
Frau X., Profes-^orswitwe, 37 lahrc alt, < rblich belastet (war schon
als Kind nervös), seit 7 Jahren verwitwet, kinderlos, lebt mit ihrer Mutter
in sehr rahigen, angenehmen Verhaltnissen. Patientin hat keine ernstere
Erkrankung durchgemacht Seit mehreren Jahren wird sie von Angst-
zuständen, vcrrjescllscliaftet mit einem (jefühle, als ob -.ie wanken, nni-
fallen würde, beim Gehen auf der Strasse heimgesucht; die Angst tritt
meist schon beim Verlassen des Hauses ein; sie stellt sich aber auch
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80
Die aextieUe Abstinenz beim Manne.
beim Besuche des Theaters, der Kirche etc., mitunter auch in der Woh-
nung beim Alleinsein ein. Die Patientin leidet ferner häufig an Herz-
klopfen, womit ?i( h gewöhnli !: < ine gewis-. ürrr s^nnr,' (Angst) verknüpft.
Objektiv: Abgesehen von massiger Struma nidits.
Beobachtung 12.
Frau D., Kaufmannswitwo, \2 Jahre, Mutter von 3 Kindern, erblich
in geringem Masse belastet , jedoch von sehr ruhigem Temperamente,
seit iV* Jahren verwitwet. Patientin war nie ernstlich krank. Seit etwa
'/« Jahre leidet sie an Angstzustanden mit Globus adscendens (früher
derartiges nie vorhanden). Die Angstzustftnde treten insbesonders in der
Zeit vor und nach den Mi iini^, di» ^ranz rrgelmJlssig sich vprhnlten,
seltener in der Zwischenzeit aiil. l'atu ntin hat seit dem Ableben ihres
Mannes nicht unerheblich an Gewiciil zugenommen (etwa 10 ÄJ.
Beobachtung 13.
Der Fall betrifft einr Mitte d<-r .^or r |ahr< >ii lu nde unverheiratete
Dame von geringer neuropathischer Heiastung (Mutter nervds), welche
im Laufe von 4 Jahren mehrfach wegen Angst- und Verstimmungszu*
ständen in meine Behandlung kam. Der Fall war längere Zeit ätio«
logisch unklar, s ifenif nti'^'^rr gelegentlichem abusus sptritiiosorum sich
nichts Bestimmtes eruieren Hess und eine sexuelle No.xe nur zu ver-
muten, aber nicht nachzuweisen war. Erst im Verlaufe der letzten
Krankhettsattaque erfuhr ich, dass die Patientin seit einer Anzahl von
Jahren intime Beziehungen zu einem Herrn unterhielt, der mehrfach
für Monate zu verreisen genötigt war. D' r Beginn der Krankheits-
perioden licl iuuner in diese Zeiten sexueller Abstinenz, die der
Patientin nach ihrem eigenen Geständnis durchaus nicht leicht fiel.
Der in Frage stehende Utif)lo<j;i.schc Einfluss der sexuellen
Abstinenz äussert sich nicht nur in den Fällen, in welchen vor
dem Verzichte auf ge.schlechtliche Genüsse kürzere oder längere
Zeit se.xueller Verkehr j^ei)n(>|v;en oder Masturbation in mässi<ier
Weise yeübt wurde, sondern auch hei völligem und andauerndem
Verzichte auf geschlechtlichen Verkehr sowohl, als auf Be-
friedigung durch Masturbation (wie in dem angeführten Falle i).
Auch eine erhebliche Beschränkung des sexuellen Verkehrs,
welche den vorhandenen sexuellen Bedürfnissen keine Rechnung
trägt, erweist sich als ein Umstand, der das Auftreten von Angst-
zuständen begünstigt. Ich habe mich hievon in einer Reihe von
FlUlen überzeugt Bei den an Angstanfällen leidenden Männern,
insbesondere bei verheirateten, stellt sich häufig die Idee ein.
i^iyuu-cd by Google
Die sexuelle Abstinenz beim Mjuioe.
81
dass ihnen sexueller Umgang schaden, oder Enthaltsamkeit in
bezug auf ihr Leiden nützen könnte, was sie gewöhnlich zu
mehr oder minder weitj^chcndcr F.inschränkiing des Verkehrs
veranlasst. Die erwartete vorteilhafte Wirkung dieser relativen
Abstinenz bleibt jedoch in der Regel aus. Unter dem Einflüsse
derselben nimmi souar die Intensität und Häufigkeit der Anji^st-
zustände oft zu. Bei Frauen ist die relative Abstinenz mitunter
eine ganz unfreiwillige; die Folgen sind natürlich die gleichen.
Iki mehreren Frauen meiner Heobachtung, welche ältere, sexuell
wenig leistungsfähige und bedürftige Männer geheiratet hatten,
stellten sich schon in den ersten Jahren der Ehe Angstzu-
stände ein.
Was nun die besonderen Umstände anbelangt, unter welchen
die Abstinenz zu Angst^uständen führt, so haben meine Nach-
forschungen Ffjlgcndes ergeben : In allen Fällen meiner Be-
obachtung bestand eine gewisse ererbte oder wenigstens an-
geborene neuropathischc Veranlagung. Bei den Männern waren,
von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, nur wenig Pollutionen
vorhanden, und in den in Frage stehenden Ausnahmsfällen
bestanden neben der Abstinenz Verhältnisse, welche das Auf-
treten der Angstzustände erklärten. So handelte es sich in
einem Falle um einen Studierenden, welcher erblich schwer
belastet war, schon in der Jugend an Angstaiständen gelitten
hatte und riurch die Vorbereitung für das Examen zu bedeutenden
geistigen Anstrengungen veranlasst war. In einer grossen Zahl
von Fällen waren früher häufigere Pollutionen vorhanden und
stellten sich die Angstzustände offenbar erst mit dem Seltener-
werden derselben ein. Meine Erfahrungen stimmen daher be-
züglich des Verhaltens der Samenverluste bei den an Angst-
zuständen leidenden Abstinenten mit denen Freuds in der •
Hauptsache überein Was das Verhalten der Libido in den
in Betracht kommenden Fällen anbelangt, so war dasselbe kein
gleichmässiges ; in manchen Fallen wurde die Abstinenz als
''i Wie es scheint, wirkt regclm;lssij:!<*, jH^rh nicht zu häutige Wiederkehr
voD FuUutionen bei Abstioenten dem AuUreten voo .<\iigstzu&täadea entgegen;
dies gilt jedoch oicbt fOr ttbenidb«ig häufige (krankhiifte) PoUutioiien, wie wir
«piter Beken werden.
LSwesfvId, Se>ii«ll-iieni-<Bae Stflrnngen, Vierte AaH. g
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82
Die sexuelle Abstinenz beim Manne.
entschieden lästig empfunden und bestand wenigstens zeitweilig
erhebliche Libido, in anderen war diese nur gering und wurde
die Abstinenz ohne jede Beschwerde durchgeführt. Auf die
Vorgänge, durch welche die sexuelle Abstinenz zu Angstzu-
ständen den Anstoss gibt, werden wir an späterer Stelle näher
eingehen
Wie wir aus Vorstehendem ersehen, ist die Behauptung
Lallemands, dass die Abstinenz unter Umständen die geistige
Gesundheit gefährdet, wenigstens nicht ganz aus der Luft ge-
griffen. Wir dürfen uns daher auch einer Prüfung der Frage
nicht entziehen, wie es sich mit den übrigen Störungen verhält,
die Lalle man d als notwendige Folgen der Abstinenz be-
zeichnet. Was zunächst die Spermatorrhoe betrifft, so wird
das Auftreten krankhafter Samenverluste infolge von .sexueller
Enthaltsamkeit von Fü bringer sehr bezweifelt. Nach Cursch-
mann kommen dagegen derartige Fälle vor, aber äusserst selten
und nur bei Zusammentreffen begünstigender Umstände, vor
allem bei allgemeiner konstitutioneller oder akquirierter Nervo-
sität und lebhaftem, durch äussere Eindrücke noch besonders
genährtem Geschlechtstriebe.
Ich selbst habe von manchen Abstinenten, die der Mastur-
bation zu verdächtigen keinerlei Grund vorlag, wie schon an
früherer Stelle angedeutet wurde, Klagen über zeitweiliges
häufigeres Auftreten von Pollutionen vernommen.
Nur sehr selten erreichen diese aber einen Grad, dass sie
zu einer ernstlichen Belästigung für den Kranken werden und
dessen Nervenzustand in ausgesprochen ungünstiger Weise be-
einflussen, wie dies in der folgenden Beobachtung der Fall war.
Beobachtung 14.
Der Fall betrifft einen Ende der 20er Jahre stehenden, in geringem
Grade ncuropathisch belasteten Kollegen (die Mutter nervös, eine
Schwester derselben längere Zeit melancholisch), welcher während seiner
Universitätsstudien in Baccho, resp. Gambrino et V'enere ziemlich viel
geleistet hatte.
*) In einem Falle meiner Beobachtung bestanden neben Anpstruständen (?0T
sittlichem Falle) gewisse Zwangstriebe spe/.. zu sexuellen Handlungen Kindern
gegenüber.
Die sexuelle Abttinens beiui Manoe.
83
Nachdem Dr. X. das Approbationsexamen bestanden hatte, lies«;
er sich zunächst als Schiflsarzt engagieren und unternahm als solcher
eine Anzahl von Reisen nach sQdlichen Gegenden. Das Schifislcben
behagte Uim jedoch wenig, weshalb er seine schiflsärzdiche SteUiing
naidi einem Jahre aufgab und sich in seiner Heimat an einem kleinen
Ort»* auf dem Land»- als praktischer Arzt niederÜLSS. Ilirr musste er
mit Rücksicht auf seine Stellung auf geschlechtlichen Verkehr verzichten,
seine Verhältnisse gestatteten auch noch keine Verheiratung. Unter detn
£influsee dieser erzwungenen Abstinenz, deren DurchflDhning durch eine
erhebliche Libido erschwert wurde, stellten sich zunächst häufigere
nächtlii h<: Püllutiortpn cm, wclolie nv hr und mehr myela^tlu iusrh«-" und
cerebrasthcnische Erscheinungen (Müdigkeit in den Beinen, Rücken-
schmerzen, Kopfeingenommenheit und Verstimmung) nach sich zogen.
Die mit der Praxis verknüpften körperlichen Anstrengungen (weite
Wege in gebirgiger Gegend) und gemütliche Erregungen wirkten eben-
falls ungünstig auf den NervPTiziistand. Die J'olltitionon trntrn allmählich
3— 4 mal in der Woche und schliesslich täghch auf. Da hiermit auch
die körperliche Leistungsfähigkeit des Patienten erheblich abnahm und
seine Stimmung sich mehr und mehr verdOsterte, sah er sich veranlasst,
seinen Posten zu verlassen und in meine BehandUmg zu treten. Als
Patient in meine Renbachtung kam, war er in tien letzten 5 Wochen
keine Nacht pollutionsfrei gewesen. Abgesehen von diesem Umstände
bezogen sich seine Klagen hauptsächlich auf andauernde Kopfeinge>
nommenheit, Gedflchtnisschwache, geringe körperliche Leistungaßülüg'
keit, Rückenschmerzen und hypochondrisch-melancholische Verstimmung.
T'nti r di r eingL-ldteten Behandlung (Kühlsoiuit-, Halbbäder, Elektrizität
etc.) setzten die Pollutionen vom 3 Tage an schon für 14 Tage (ohne
geschlechtlichen Verkehr) aus. Das Gesamtbefinden besserte sich dem-
entsprechend rasch und Patient konnte mich 2 Monaten seine Praxis
wieder aufnehmen.
Dass es im Gefolge andavierndci sexueller Abstinenz auch
zu Tagcspollutionen kommen kann, zeigt unsere Beobachtung 3,
welche auch noch in anderer Hinsicht von Interesse ist. Wir
sahen, dass in diesem Falle offenbar unter dem Einflüsse der
Abstinenz neben sexueller Hyperästhesie, häufigen nächtlichen
und Tagcspollutionen verschiedene Zwangsempfindungen im Be-
reiche der Genitalien auftraten. Spermatorrhoe, d. h. grössere
oder geringere Beimengung von Samenbestandteilen im Urin,
beobachtete ich mehrfach bei verheirateten Männern in mittleren
Jahren, die infolge chronischer Leiden längere Zeit auf den
ehelichen Verkehr verzichtet hatten. Es handelte sich dabei
immer um unbemerkte Samenverluste. In diesen Fällen wurde
die Wirkung der Abstinenz jedenfalls durch eine gewisse kon-
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84
Die sexaelle Ab»tiiiei» beim Manne,
stitutionelle Schwäche, welche die Ductus ejaculatohi nicht un*
beeinflusst gelassen haben mochte, verstärkt.
In der nachstehenden Beobachtung begegnen wir der Spet-
matorrhoe neben anderen sexuellen Reizerschetnungen als Folge
der Abstinenz, wobei es jedoch nicht an prädisponierenden
Momenten mangelt
Beobachtung 15.
Herr X., Fabrikbesitzer, 29 Jahre, ledig, erblich nur wenig belastet
(die Mutter nervös), hnt ausser Kinderkrankhcitm keine emste Erkrankung
durchgemacht. Masturbation vom 15. — 20. Lcb( nsjaht e, doch nur selten.
Keine Exzesse in venere. Gonorrhöe vor 8 Jahren, in deren Folge
Striktur» welche schon vor mehreren Jahren durch Dehnung beseitigt
wurde. Vor 3 Jahren bei einem C. präzipitierte Ejakulation. Seit dieser
Zeit Verzicht auf sexuellen Verkrhr, da Patit-nt eine Wiederholunjj der
erwähnten Lnannehmhchkeit befürchtete, aucli ktine Belriedigung durch
Masturbation. Unter dem Einflüsse der Abstinenz verschlechterte sich
sein Nervenzustand; Patient wurde sehr reizbar und sdireckhaft, seit
längerer Zeit machen sich bei ihm auch unangenehme Sensationen,
Gefühle von Ziehen und Spannuni: in der unteren Bauchgrs^end und in
den Hoden bemerklich. Anfänglich kam es auch zu häuhgereni Auf-
treten von Pollutionen, die sich jedoch allmälilich auf ein normales Mass,
etwa alle 14 Tage, reduzierten. Patient erwähnt femer, dass er bei
Erektionen Gefühle halx , als ob es zu einer Pollution kommen sollte
und früher a'.ich sulehe einii;« Male eintraten, und daSS in den letzten
Jahren sich mitunter Miktionsspermalorrhöe zeigte.
Für das Auftreten letzterer Störung bildete wohl die vorhergegangene
gcmorrhoische Urethritis ein prädisponierendes Moment.
Im folgenden Falle ist wahrscheinlich nnr ein indirekter
Zusammenhang der Spermatorrhöe mit der Abstinenz anzu-
nehmen.
Beobachtuog 16.
Es handelt sich um einen sojahrigen Herrn, welcher, nachdem
er von seinem 18. Lebensjahre an mehrere Jahre hindurch regelmässigen
geschlechthclien Verkehr geübt hatte, .ui^ 3u'^'<eren Gründ» n dens« Iben
wälirend einer langen Reihe von Jahren autgab und dabei die in der ersten
Zeit nicht sehr häutig auftretenden Pollutionen als krankhafte Erschei-
nungen durch äusserst spflrliche Ernährung und Übermass von Muskel»
Übungen l>ekämpfen zu müssen glaubte. Als unter diesem unvernünftigen
Regime ein neurastheiiischer Zustand sieh entwiekelte und dir Pi.'IlutiMnen,
statt zu weichen, sich noch vcrmehrte-n, bemühte er sich, wenn er nachts
vom .Schlafe erwachend das Nahen oder den Beginn einer Pollution
bemerkte, dieselbe mit aller Willensanstrengung zu hemmen. Die Pol-
i^ij u^cd by Google
I>ie sexaelle Abstinens beim Manne.
85
lutionen Vfi-rrinjit'i tcn sich erst, als der Patient srinr I,cbensweise änderte
und geschlechtlichen Umgang wieder in regelmässiger Weise pflog;
allein es machte sich dafllr eine Spennatonhöe bemerklich, die in ge»
ringem Masse auch noch nach Jahren bestand.
Bezüglich der Einwirkung der Abstinenz auf die geschlecht-
liche Potenz Ulsst sich wohl nicht bezweifehi, dass diese durch
eine bis in die reiferen Jahre fortgesetzte ToUkommene Enthalt-
samkeit herabgesetzt werden kann; es ist dies eine einfache
Folge des Nichtgebrauches der betreffenden Organe. Ob dem
Etnzelindividuum hierdurch ein wirklicher und nachhaltiger Scha-
den erwächst, ist Jedoch fraglich. Für die Entstdiui^ andauern-
der völliger Impotenz infolge von Kontinenz allein liegen da-
gegen meines Erachtens keine stichhaltigen Beweise vor. Wenn
Hammond in dieser Beziehung z. B. bemerkt, dass in gewinen
Sekten die Priester, welche das Cölibat gelobt haben, mit der
Zeit frei von jedem sexuellen Hange und impotent werden, so
halte ich letztere Annahme für sehr problematisch. Wo Ver-
suche zu sexuellem Verkehre nicht unternommen werden, lässt
sich bei im übrigen gesunden und in entsprechendem Lebens-
alter befindlichen Männern ein völliger Verlust der Potenz nicht
konstatieren, v. Schrenk-Notzing teilt den Fall eines jungen
Mannes mit, der schon mit i 5 Jahren an üb<:rmässiL,'em sexuellem
Drange gelitten hatte und später auf energisches Zureden seines
Bruders seinen Hang unterdrückt und 5 Jahre vollständige Ab-
stinenz geübt hatte. Als derselbe dann wieder den sexuellen
Verkehr aufnehmen wollte, erwies er sich als impotent. Der
FaU stand jedoch nicht längere Zeit in Beobachtung, so dass
es unentschieden bleibt, ob die Impotenz eine dauernde war.
Ich selbst habe nur einen hier in Betracht kommenden FaU
beobachtet.
Beobachtung 17.
Ein anfangs der 30er Jahre stehender Offizier, welcher sich
immer einer sehr erheblichen Potenz erfreut und von derselben auch
ausgicbi-^t n r.< brauch gemacht hatte, verhielt sich infolg. einer Liaison,
die er mit einein anständigen Mädchen angeknüpit hatt(% mehrere Monate
abstinent bei gleichzeitiger erheblicher sexueller Krregung. Die Folge
war eine so bedeutende Abnahme der Erektionen, dass der Betreffende
36 I^ic sexuelle Absünezu beim Manne.
gänzlichen Verlust seiner Potenz befürchtete und in eine schwere ge-
mOdiche Depression verfiel, welche natürlich die sexuelle SchwAdie
steigerte. Die Potenxstoning verlor sich hier unter geeigneter Be*
bandlung allmählich ivieder.
Auf der andern Seite steht fest, dass selbst in den Jahren
vorgeschrittene Männer vollständig sexuelle Karenz sehr lange
Zeit ertragen können, ohne dadurch ihrer Potenz verlustig zu
gehen. Fürbringe r erwähnt, dass ihm Greise von 60—65
Jahren bekannt sind, die, nachdem sie ein Jahrzehnt lang ab*
stinent gdebt, den Coitus in normaler Weise zu leisten ver-
mochten. Ich selbst hatte vor mehreren Jahren Gelegenheit,
einen Mitte der 50er Jahre stehenden verwitweten Herrn w^en
eines hier nicht in Betracht kommenden Zustandes zu unter-
suchen. Derselbe teilte mir bei Erhebung der Anamnese mit,
dass er nach etwa 8 jähriger Ehe infolge von Erkrankung seiner
Frau, an welcher er mit j^rösster Zärtlichkeit hini^, bis zu deren
AhK lien — 16 Jahre hindinch — weiterem ehelichem Verkehre
zu entsagen genötigt war, dabei jed^ich aus Rücksicht für seine
Frau und moralischen (jiunden, obwolil ihm die Alistiuenz
schwer fiel, auch aul jede anderweitii^e l'^ntschridii^uuL; verzichtet
hatte. Trotzdem fanti er, aN ei . Witwer i^eworden, wieder
sexuellen l nigang aufsuchte, seine Potenz wohl erhalten; die
Wiederaufnahme des sexuellen Verkehrs erwies sich auch für
sein Befinden von entschieden günstigem Einflüsse.
Unter den ungünstigen Folgen, welche der sexuellen Ab-
stinenz zugeschrieben werden, wird auch der Umstand angeführt,
dass dieselbe die Entwicklung sexueller Perversitäten, speziell
homosexueller Triebe, verursachen oder begünstigen soll. Diese
Behauptung entbehrt nicht ganz der Begründung. Unter den
Individuen, welche zu den Konträrsexualcn gezählt werden, ist
das psychosexuale Zwittertum nicht spärlich vertreten. Bei den
betreffenden Individuen bestehen neben homosexuellen Neigungen
normale Gefühle für das weibliche Geschlecht, so dass sie audk
ohne besondere Schwierigkeiten den normalen sexuellen Verkehr
pflegen können. Sind derartige Individuen genötigt, längere
Zeit auf sexuellen Umgang zu verzichten, so machen sich bei
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Die aenieUe AlMtineas beim Manne.
87
ihnen die homosexuellen Neigungen starker bemerklich*). Dass
man aber, wie Marcuse glaubt, die Abstinenz gelegentlich
auch als Ursache homosexueller Triebe anzusehen habe, kann
nicht ohne weiteres zugegeben werden. Die Abstinenz allein
führt bei sexuell normal Veranlagten nie zur Entwicklung homo>
sexueller Neigui^en. Die Häufigkeit dieser Perversität bei Ge-
fängnisinsassen, Intematsz^lii^en usw. ist nicht lediglich auf
die erzwungene sexuelle Abstinenz, sondern auch auf das aus-
schliessliche Zusammenleben mit Angehörigen des gleichen Ge-
schlechtes oder psychische Infektion, also eine Kombination
ätiologischer Faktoren zurückzuführen. Ich habe keinen Fall
gesehen, in dem bei Mangel tetztgenannter Momente die Ab-
stinenz bei Männern zur Entwicklung homosexueller Triebe ge-
führt hätte.
Wir haben uns im Vorhcrj:;chcnden hauptsächlich mit den
Folj^en län^tr dauernder Abstinenz beschäftigt. Unter s^ewissen
Um.ständen kann jedoch auch ein durch äussere Verhältnisse
veranlasster Verzicht auf sexuellen Umgang schon nach kurzer
Frist einen ungünstigen Einfluss auf das Befinden äussern. Ver-
schiedenfacli habe ich die Wahrnehmung gemacht, dass bei
neurasthenischen Männern und zwar nicht ledigHch bei mit
sexueller Neurasthenie Behafteten zeitweilige Unterbrechung des
gewohnten regelmässigen sexuellen Verkehrs durch Reisen, län-
geres Unwohlsein der Frau etc., entschieden verschlimmernd
auf die vorhandenen Beschwerden wirkte, Steigerung von Rücken-
schmerzen, Kopfeingenommenheit, Hodenschmerzen (in einzelnen
Fällen auch schon nach acht Tagen) nach sich zog. Derartige
Fälle sind jedoch nicht sehr häufig und die dabei in Frage
stehenden Veränderungen des Befindens in der Regel von
vorübergehender Natur. —
Überblicken wir das im Vorstehenden bczüfjlich der Folgen
der Abstinenz hei Männern Dargelegte, so müssen wir zunächst
zugeben, dass unter gewissen be>'>nderen Umständen die Ab-
stinenz beim Manno zu einer Schädhchkeit für das Nervensystem
werden kann; wir müssen jedoch zugleich konstatieren^ dass im
Ober einen hierher gehörigen Fall wird an spiteier Sldle beriditet wodn.
88
Die texneUe Abstinenz beim Hanne.
grossen und ganzen die aus der sexuellen Enthaltsamkeit re-
sultierenden Beschwerden keineswegs schwerwiegender Art sind
und nur relativ selten hierdurch ernste Störungen auf nervösem
und psychischem Gebiete hervorgerufen werden. Der sexuell
normal veranlagte Mann, der seine Widerstands-
fähigkeit gegen sinnlich erregende Eindrücke nicht
durch sexuellen Missbrauch herabgedrttckt hat, kann
sogar bei arbeitsamer» hygienisch geregelterLebens»
weise die Abstinenz dauernd ohne nennenswerte
Molesten ertragen, und sicher fällt die Enthaltsam-
keit im allgemeinen um so leichter, je konsequenter
dieselbe unter allen Verhältnissen durchgeführt
wird.
Als nächstliegender Ausweg würde sich in Fällen, in welchen
durch die Abstinenz anhaltende Belästigungen entstehen, natür-
lich die Verheiratung empfehlen. Leider ist bei unseren der-
zeitigen sozialen Verhältnissen nur einem geringen Teile der
in Frage stehenden Männer die Möglichkeit gegeben, ihren
sexuellen Bedürfnissen auf diesem Wege Genüge zu leisten.
Wo die Umstände eine Verheiratung nicht gestatten, müssen
wir trachten, durch hygienische und therapeutische Massnahmen
die vorhandenen Molesten zu beseitigen oder wenigstens zu
beschränken, was in den meisten Fällen gelingen wird. Da-
gegen müssen wir uns nachdrücklichst gegen die Unbe-
denklichkeit mancher Ärzte aussprechen, die es mit ihrem
medizinischen Gewissen vereinbar finden, junge Menschen auf
den Verkehr mit Prostituierten als eine Art Vorbeuge — oder
Heilmittel für die aus der Abstinenz resultierenden Molesten
zu verweisen.
Mit einer vereinzelten und gelegentlichen sexuellen Be-
friedigung ist den Bedürfnissen junger Männer nicht abgdiolfen ;
hierdurch wird eher die sexuelle Appetenz gesteigert. Bei der
derzeitigen enormen Verbreitung der Syphilis in den Kreisen
der Prostituierten aber einem jungen Manne regelmässigen Ver-
kehr mit solchen zu empfehlen, erscheint uns entschieden ver-
werflich. Die durch die Abstinenz verursachten Störungen
i^ij u^cd by Google
Die sexuelle Abstinenz beim Manne.
89
sind, wie wir sahen, im allgemeinen nicht von einer Art , dass
wir einen Rat verantworten könnten, der irgend jemancl an-
haltend den Gefahren syphilitischer Ansteckung aussetzt. Hier-
bei kommt noch der Umstand in Betracht, dass die Mittel,
welche Männer anwenden können, um die Herbeiführung einer
Konzeption zu verhüten, keineswegs einen genügenden Schutz
der S3rphUis g^enüber gewähren, da diese bekanntlich ihren
Eingang an jeder Körperstelle finden kann.
VII.
Sexuelle Abstinenz und Mangel sexueller
Befriedigung beim Weibe.
Über die Folgen mangelnden geschlechtlichen Verkehrs bei
weiblichen Personen wurden von den alten Ärxten und Philo-
sophen bekanntlich die seltsamsten Fabeln zutage gefördert.
Der Uterus sollte nach Plato ein Tier sein, das ein glühendes
Verlangen nach Schwängerung hegt und, wenn diesem Verlangen
längere Zeit nach Entwicklung der Pubertät nicht entsprochen
wird, aus Verdruss hierüber den ganzen Körper durchwandert,
hierbei die Luftwege verlegt und die Atmung hemmt, dergestalt
die grössten Gefahren fär das Leben herbeiführend. Die Idee
der Wanderung des Uterus infolge sexueller Nichtbefriedigung
erhielt sich durch das Mittelalter bis in die letzten Jahrhunderte
und wurde allmählich durch die Anschauung verdrängt, dass
sich bei mangelndem sexuellem Verkehre im Uterus eine grossere
Ansammlung von (hypothetischem, weiblichem) Samen entwickle,
der einem Zersetzungs- und Fäulnisprozesse unterliege und hier-
durch eine Art Vergiftung des Körpers bedinge. In dieser
Zurückhaltung des Samens (und des Menstrualblutes) erblickte
man die Hauptursachen der hysterischen Zufälle. Mit der Er-
kenntnis, dass im weiblichen Körper keine Samenflüssigkeit
produziert wird, musstc diese Theorie natürlich hinfällig werden.
Die Anschauung, dass die Abstinenz beim weiblichen Geschlechte
unter allen Umständen ein den Nerven ungunstiges Moment und
eine wichtige Quelle hysterischer Beschwerden bilde, hat sich
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SesucUe AbttiMiu nnd MaDg^l Mxneller Befriedigmie beim Weibe. 91
jedoch in Laienkretsen (und in den Köpfen vereinzelter Ärzte)
bis zum heutigen Tage erhalten. Für die Wissenschaft ist die-
selbe jedoch seit langem bereits ab^tan.
Für die Beurteilung des Einflusses der absoluten Abstinenz
steht beim weiblichen Geschlechte ein viel grösseres Erlahrungs-
material zur Verfügung als beim iiiaiiniichen. Unsere derzeitigen
sozialen Verhältnisse verurteilen bekanntlich ein sehr grosses
Kontingent weiblicher Personen zur Ehelosigkeit, deren gesell-
schaftliche Stellung, Bildun^^f und moralisches Niveau einen
illegitimen Verkehr ausschliessen lassen und bei denen zur An-
nahme unnatürlicher Befriedigung auch keine Veranlassung vor-
liegt. Soweit meine Wahrnehmungen reichen, ertragen weib-
liche Personen die Abstinenz im grossen und ganzen noch viel
leichter als Männer. Es erklärt sich dies aus dem rmstande,
den wir an früherer Stelle schon erwähnten, dass die Jungfrau,
welche von sexuellen Reizungen jeder Art unberührt bleibt, von
einer eigentlichen Libido nichts weiss, was allerdings Neigung
für das andere Geschlecht — Verliebtheit — nicht ausschliesst,
und dass bei vielen Frauen nach Einleitung des ehelichen Ver-
kehrs die Libido auf einer sehr niederen Stufe bleibt.
Allerdings bestehen heim zarli-n Geschlcchte ähnliche Tempe-
ramentsunterschiede wie l)ei den Männern, und es fällt daher der
Verzicht auf physischen Liebesiienuss, nachdem derselbe ein-
mal gekostet oder die Libido in anderer Weise wachgerufen
wurde, manchen schwer, wahrend viele andere keinerlei ausge-
sprochenes Verlangen in dieser Hinsicht kennen. Wir müssen
atich zugeben, dass durch ungeeignete Lebensweise, übelgewählte
Lektüre, Bätle und Theater, unpassende Gesellschaften etc. bei
an sich sinnlich veranlagten weiblichen Personen die sexuellen
Begehren, nachdem dieselt>en einmal geweckt sind, eine Steigerung
erfahren können, welche bei andauernder erzwui^ener Abstinenz
im Vereine mit anderen den Nerven schädUdien Momenten
neorasthenisdi'hjrsterische Zufalle herbeiführt. Allein dass die
Abstinenz an sich bei von Hause aus gesunden, unverheirateten
weiblichen Personen als Krankheitsursache sich wirksam zeigt,
hierfür liegt, soweit meine Kenntnis reicht, kein unumstösslicher
Dlgitlzed by Google
92 Sexuelle Abstinenz und Mangel sexueller Befriedigung beim Weibe.
Beweis vor. Die Zimpfct lichkcit und Nervosität alter Jungfern,
so vielfach Gegenstand des Spottes, hat ihre Quelle jedenfalls
nicht in der Nichtbefriedigung sexueller Bedürfnisse, sonst
würden sich diese JM^entümlichkciten viel häufiger bei jüngeren
Frauenzimmern zeigen, bei denen doch ähnlich wie bei jüngeren
Männern die geschlechtlichen Inklinationen sich eher geltend
machen. Die Ehcschliessung bildet für sehr viele, insbesondere
der berufslosen weiblichen Personen das I ' ben^ziel, da dieselbe
materielle Versorgung und Befriedigung ideeller Bedürfnisse in
sich schliesst, das Ledigbleiben auf der anderen Seite nicht
bloss Verzicht auf geschlechtlichen Genuss und die Freuden des
Familienlebens, sondern auch Unsicherheit der Lebensstellung für
sie bedeutet. Es ist daher wohl begreiflich, dass die Nicht-
erreichung dieses Zieles häufig genug ein Gefühl der Verbitterung
oder wenigstens nachhaltige Verstimmung erzeugt, die einen un-
günstigen Einfluss auf das Verhalten des gesamten Nerven-
apparates äussert. Hierza kommt der Umstand, dass den alten
Jungfern zumeist die geistige Anregung des Familienlebens und
hiermit die so nützliche Ablenkung der Aufmerksamkeit von dem
eigenen Befinden durch die Fürsoi^e für andere mangelt.
Anders» gestaltet sich die Sachlage bei weiblichen Personen
von neuropathischer Disiios^ition mit sehr starkeni (krankhaft
gesteigertem) Sexualtriebe '\ Die Mehrzahl dieser IVrsonen er«
gibt sich, wenn normale sexuelle rM-fViedi^unL; unnK)^lich ist,
der Masturbation. In den jedenfalls nie Ii t häufigen Fällen da-
ge^^en. in welchen dem Triebe zur Selbstliefrieili^aing andauernd
\\ iderstand geleist( t oder das Laster nach kurzer oder iänt^erer
Übung wieder ganz aufgegeben wird, entwickelt sich infolge
der Abstinenz wie bei Männern unter ähnlichen Verhältnissen
neben anderen mehr oder minder zahlreichen neurasthenischen
') In dcrarligcn Fällen bcgcgacl man auch öfters einem abnorro frühzeitigen
Aaftreten der Libido. Ob dieselbe hier» soweit nicbt VerfQbnuig vorlieft» in-
{o\gv der krankhaften Veranlagung spontan sich geltend macht, was unter DOr'
ni.il' ;i \'" rli:ilt;ii--' :i nicht vorkommt, oder durch zufällige äussere Einwirkxjnjjen
geweckt wird, welche bei normalen Individuen diese Folge oicbt haben, muni
kh dabingesteltt sein lassen.
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Sexuelle Abstiaenz uod Mangel sexueller Befiiedij^ung beim Weibe. 93
Erscheinungen ein gewohnlich sehr beschwerlicher Zustand
sexueller Hyperästhesie, welcher die Gemütsverfassung in un-
günstigster Weise beeinflusst.
Ehefrauen sind nich^ selten durch die Gesundheits- und
Potenzverhältnisse ihrer (latten, mitunter auch durch andere
Umstände (Abwesenheit des Gatten, Verkehr desselben mit
Mätressen etc.) zu längerer oder dauernder Al)stinenz verur-
teilt, deren Einfluss auf die Gesundheit in den einzelnen Fällen
sich sehr verschiedenartig gestaltet. Ich habe manche Fälle
gesehen, in welchen Frauen durch das Zusammenlehen mit
impotenten Männern keinen Schaden an ihrer Gesundheit er>
litten ; ähnliche Beobachtungen wurden auch von anderen Ärzten
gemacht. In anderen Fällen himviedenim entwickeln sich unter
dem Einflüsse der Abstinenz hystero-neurasthenische Zufälle
verschiedener Art, sowie Angst- und Verstimmungszustände,
letztere inbcsonders als Folge :?eitweUig auftretenden stärkeren
sexut:llen Dranges. Ob derartige Störungen eintreten oder aus-
bleiben, hängt nicht lediglich von der Konstitution der Frau,
dem Vorhandensein oder Mangel neuropathischer Veranis^ng
und dem Masse der Libido derselben, sondern auch von dem
Verhalten des Mannes ab. ^ne Frau hat sweifellos viel mehr
Aussicht, die ihr auferlegte Abstinenz ohne Nachteil zu ertragen,
wenn sie seitens des impotenten Mannes in sexueller Hmsicbt
völlig in Ruhe gelassen wird, als wenn sie öfteren sexuellen Er-
regungen ohne Befriedigung aasgesetzt ist. Auch Witwen ver-
halten sich dem ihnen aufo'legten Verzichte auf geschlechtlichen
Crenuss gegenöber verschieden. Bei jüngeren, etwas sinnlich an-
gelegten Personen, welche sich längere Zeit hindurch vollständiger
sexueller Befriedigung zu erfreuen hatten, kommt es namentlich
bei vorhandener neuropathischer Disposition und erheblicher
Libido zur Entwidmung hystero-neurasthenischer Affektionen
und insbesonders von Angstzuständen, wobei natärlich auch ge-
mütliche Momente, Kummer über den Verlust des Mannes,
über die Änderung der äusseren Verhältnisse etc. mitspielen
mögen. Die grosse Mehrzahl der Witwen erleidet jedoch
durch die Entziehung geschlechtlicher Genüsse keinen aufföltigen
Schaden an ihrer Gesundheit. Oft bedingt längere Erkrankung
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Sexuelle Abstinenz und Mangel sexueller Befriedigung beim Weibe.
des Mannes sclion eine i nluoiiniing in bezug auf sexuelle Be«
friedigung. Die Fürsorge für die Kinder und den Haushalt,
matt rielle Sorgen und die Ptln^e gewisser Erinnerungen genügen
wenigstens bei selir Vielen, die sinnlichen Regungen entsprechend
niederzuhalten. Die Jahre tun das übrige, sofern es zu keiner
Wiedel Verheiratung kommt.
Ähnliche Folgen wie die vollständige Ab.stincnz kann l)ei
neuropathisch disponierten Krauen auch die relative Abstinenz,
i. e. seltener, dem vorhandenen Ik•dürtnis^(' keineswegs ent-
sprechender sexueller Verkelir liahi ii Insbesondere sind es
Angstzuständc, die unter diesen l inständcn, wie schon an
früherer Stelle erwähnt wurde, auftreten, dabei scheint das Ver-
halten der Menses mitunter eine vermittelnde (oder bei^ünstigcndc)
Rolle zu spielen. Mehrfach fand ich bei Frauen, denen sehr
selten sexuelle Befriedigung zuteil wurde, dass die Menses
ausserordentlich spärlich waren und das BefitnU n zur Zeit der-
selben eine auffallende Verschlimmerung erfuhr, insbesonders
schwere Angstzustände sich einstellten.
Endlich haben wir hier noch des Umstandes zu gedenken,
dass beim Weibe vorübergehend sowohl als dauernd die .sexuelle
Befriedigung trotz sexuellen Verkehr^ mangeln kann. In dieser
Beziehung befindet sich das Weib in einer entschieden ungünsti-
geren Lage als der Mann. Bei diesem findet der sexuelle Akt,
gleichgültig, ob derselbe in vollständig normaler oder abnormer
Weise (präzipitierte Ejakul., Congress. interr. etc.) verläuft, durch
den Vorgang der Ejakulation einen Abschluss, der mit einer
gewissen Entladung der sexuell-nervosen Spannung einhergeht.
Beim Weibe findet bei dem in normaler Weise sich abwickelnden
Congressus ein ähnlicher Vorgang statt; durch Reizung der
sensiblen Nerven der Klitoris und Vagina werden reflektorische
Vorgänge im Zentrum genitale im Lendenmarke ausgelöst, welche
eine transitorische Erektion der Portio vaginalis des Uterus und
Ausstossung einer aus dem Uterus und den Bartholinschen
Drüsen stammenden Schleimmassc zur Folge haben. Mit letzterem,
von einem spezifischen Wollustgcfühle begleiteten Vorgange ge-
langt ebenso wie bei der Ejakulation des Mannes, die zur
maximalen Höhe gesteu^te sexuell »nervöse Erregung rasch
Sexuelle Abstinenz und Mangel sexueller Befriedigung beim Weibe. 95
zum Absinken und damit wird auch die Ausgleichung,' der
durch den Akt herbeigeführten Hyperämie der Gciuialoigane
eingeleitet. Diese reflektorische Aktion (Orgasmus) mit ihren
subjektiven Begleiterscheinungen kann aus verschiedenen Grün-
den ganz ausbleiben oder nur ungenügend otier zeitweilig ein-
treten und damit die sexuelle Befriedigung des Weibes mehr
oder minder Not leiden oder gänzlich zum Wegfalle kommen.
Mit den in gesundheitlicher Beziehung sehr wichtigen I'olgen
dieses Missstandes werden wir uns an späterer Stelle (Congress.
mterr.) befassen. Hier sei nur bemerkt, dass. soweit für die
mangelnde Befriedigung des Weibes überhaupt Krankheitszu-
stände in Betracht kommen, die l"^rsache wohl vorherrschend
auf der männlichen Seite und zwar in Potenzmängeln des (iatten
(präzipit. Ejakulation), seltener auf seiten der Frau zu suchen
ist; bei letzterer kann infolge ungünstiger Lagebeziehung der
Klitoris zur Vagina, angeborener abnormer nervöser Veranlagung
oder von sexuellen Missbräuchen (Masturbation, Exzesse im
natürlichen geschlechtlichen Verkehr) die Fähigkeit zur Aus-
lösung des Orgasmus vermindert sein oder auch ganz fehlen
(Anaphrodisie Eulenburg, Dyspareunie Kisch, sexuelle An-
ästhesie). Mangelnde Zuneigung tum Partner des sexuellen
Aktes scheint auch in manchen Fällen eine Rolle zu spielen.
Angeborener gänzlicher Mangel der Fähigkeit zum Orgasmus
ist in der Regel mit Mangel der Libido verknüpft und bildet
jedenfalls ein selteneres Vorkommnis als die mangelhafte Ent-
wicklung der orgastischen Fähigkeit» die ziemlich verbreitet
scheint und sowohl mit geringer als mit erheblicher Libido
einheil^ehen kann. Letzterer Zustand kommt bei Frauen vor,
welche im übrigen nichts Pathol<^tsches aufweisen. Die Frauen
mit angeborener vollständiger sexueller Anästhesie leiden in
der Regel von der sexuellen Nichtbefriedigung in keiner Weise.
Ihr Nervensystem ist Schädigungen durch sexuelle Erregungen
unzugänglich; die gesundheitlichen Nachteile mangelnder sexu-
eller Befriedigung, deren wir noch zu gedenken haben, betreffen
nur Frauen, welche die Fähigkeit zur Auslösung des Orgasmus,
wenn auch nur in sdir geringem Maasse, besitzen oder die-
selben wenigstens früher besassen; aUein auch die Frauen,
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96 Sexuelle Abstinenz und Mangel sexueller Befriedigung beim Weibe.
welche von Hause aus mit ^crin<;er sexueller Empfindlichkeit
ausgestattet sind, leiden unter diesem Zustande, wenn dabei
keine rege Libido besteht, gewöhnlich durchaus nicht. Sic
bescheiden sich mit ihrem kärglich bemessenen Teile an ehe-
lichea Genüssen ohne Klagen, auch ohne nachteilige Folgen,
wenn nicht etwa der Gatte sich über ihre geringe Teilnahme
an dem Akte beschwert oder dieselbe als Konzeptionshinder'
nis in Frage kommt.
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VIII.
Sexuelle Exzesse und ähnliche Schädlichkeiten.
Es ist wohl eine uralte medizinische Erfahrung, duss über-
mässige Hingabe an sexuelle Genüsse ( lesundheitsstörungen nach
sich 7ieht. Die ältesten medizinischen Schriftsteller teilen be-
reits bezügliche Beobachtungen mit, und manche derselben be-
mühten sich sogar, die Folgen allzueifrigen Venusdienstes in
kräftigen Farben zu schildern. Auch der Volksinstinkt hat, so-
weit sich derselbe in der Volkssage ausspricht, die Gefahren
treffend gekennzeichnet, welche ein I bermass in sinnlicher Liebe
für Leib und Seele nach sich zieht. Tannhäuser, der den Venus-
berg flieht und beim Papste für seine Sünden Ablass sucht, ist
ehi gebrochener Mann, und sein physisch-psychisches Elend er-
fährt durch den Umstand keine Milderung, dass er innerlich
widerstrebend, lediglich durch die Künste eines dämonischen
Weibes gefesselt wurde. Auch für die Neuzeit lässt sich nicht
behaupten, dass dieselbe den pathogenetischen Einfluss sexueller
Exzesse aus den Augen verloren oder gering geschätzt hat
fnabesonders in den Werken über Impotenz und Spermatorrhöe
Ist denselben die eingehendste Berücksichtigung zuteil geworden.
Trotz alledem müssen wir zugestehen, dass unsere Kenntnisse
über die Wirkungen, welche geschlechtliche Ausschweifungen
auf das Nervensystem ausüben, noch in niehi lache r Hinsicht
lückenhaft sind. Was aber noch auttallendcr ist, ist der Um-
stand, tlas^ noch nicht entfernt irgend eine Übereinstimmung
unter den Schriftstellern darüber besteht, was als ,, sexueller
Exzess" aufzufassen ist. Von manchen wird als solcher sowohl
Ldwenfeid, Seiurll-netvdsc Störungen. Vierte Aufl. 7
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98
Sexuelle Eizesse und ähnliche Schädlichkeiten.
Übermass im natürlichen Geschlecbtsgenusse als exzessive Onanie
bezeichnet. Dem gegenüber müssen wir hier zunächst V)emerkcn,
dass wir als „sexuellen Ex^css*' nur die natürliche, aber
übermässige Ausübung des Geschlechtsaktes betrachten. Mit
dieser Definition ist jedoch das Wesentliche der Sache nicht
genügend charakterisiert. Eäne bestimmte, etwa in Zahlen aus-
drückbare Grenzlinie, wo der mäss^e Geschlechtsgenuss auf*
hört und die Ausschweifung beginnt, lässt sich nicht feststellen.
Die sexuelle Leistungsfähigkeit unterliegt beim männlichen Ge-
schlechte, wie wir sahen, ausserordentlichen Schwankungen, die
durch das Lebensalter, den momentanen Gesundheitszustand,
individuelle Anlage und Rassenverschiedenheiten bedingt sind.
Es hängt wohl mit letzterem Umstände zusammen, dass einzelne
Beobachter ein gewisses Mass geschlechthchcr Leistungen be-
reits als ivrankhaft bezeichnen, das nach den Erfalirungen anderer
noch in die Breite dis Phvsiologischen lallt. So erwähnt
Troussean als eine Neurose der Zeugungsor^anc bei Atak-
tikcrn eine merkwürdige Fähigkeit, den Beischlaf sehr oft und
in sehr kurzer Zeit zu wiederholen , als Beispiele führt er zwei
Tabetiker an, von welchen der eine vor seinem Eintritte in das
Spital den ikischlaf in einer Nacht 8 — 9 mal, der andere binnen
24 Stunden 9 — lomal ausführen konnte. ,,lm physiologischen
Zustande", bemerkt Trousseau, „finden wir keine solche her«
kulischen Leistungen, und es kann der Zeugungsakt weder so
schnell, noch so leicht vollzogen werden." Was Trousseau
unter physiologischen Verhältnissen für unmöglich hielt, bleibt
jedoch noch erheblich hinter den mir bekannt gewordenen ge-
schlechtlichen Leistungen einzelner junger Männer zurück, die
sicher zur Zeit der fraglichen Potenzentfaltung sich votler Ge-
sundheit erfreuten und auch Jahre hernach keine nervösen Krank-
heitserscheinungen darboten. Es scheint mir dies darauf hin-
zuweisen, wofür auch die Bevölkerungsstatistik spricht, dass die
germanische Rasse der französischen an sexuellem Vermögen
überlcj^en ist.
Wenn uir nun ai:ch mit Riicksiclu auf die aus^erordent»
liehen Schwankungen der ge^^chlccht liehen Potenz bei den Einzel-
individuen in zitlerniässigei Weise niciit feststellen können, was
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Sezttdte Exxesse und ftfaolieiie Scbidlicbketten.
ab Übermass im Geschlechtsverkehre zu erachten ist, so haben
wir doch gewisse Kriterien, aus welchen sich ergibt» ob die
Grenze des Ratsamen überschritten ist. Als Exzess ist nach
meinem DafOrhalten jeder Einzelakt oder jede Häufung von
Akten zu erachten, welche längerdauernde ungunstige
Wirkungen irgend welcher Art hmterlässt. Wo der sexuelle
Verkehr einem tatsächlichen Bedürfnisse entspricht und in
adäquatem Verhältnisse zu dem vorhandenen geschlechtlichen
Vermögen und zu den übrigen Leistungen des Körpers steht,
dürfen, abgesehen von der vorübergehenden Ermüdung nach
dem Akte, unerwünschte l-olgcerschcinungcn nicht auftreten;
das Gesamtbefinden darf hierdurch nicht in tmgün->ti^er Weise
verändert werden. Bei Heurtcilung der Folge n sexueller Aus-
schweifungen müssen wir in erster TJnie die /citdnuer der-
selben, sodann aber auch Alter und Gesundheitszustand des
Individuums in }>etracht ziehen.
Exzesse in Venere, die sich über eine Anzahl von Tagen
und selbst von Wochen erstrecken, werden von jüngeren, völlig
gesunden Männern im allgemeinen ohne bleibenden Nachteil
ertragen. Es lässt sich ja nicht verhehlen, dass wenigstens ein
grosser Teil der Neuvermählten sich derartiger Sünden schuldig
macht und doch der Arzt selten Gelegenheit hat, sich mit den
Folgen derselben zu beschäftigen. Allerdings ist immerhin noch
ein Untersdiied zwischen den sozusagen bescheidenen Exzessen
vieler Neuvermählter und dem mitunter ganz sinnlosen, brutalen
Venusdienste, dem manche junge Männer im Verkehre mit
Halbweltdamen obliei*en. Ich habe nach solchen un\eranl wort-
lichen Extravaganzen bei einzelnen votdem ^anz gesunden
Junijen Männern hochgradige Erschöpfungszustände des ganzen
Nervensystems beobachtet und möchte nicht behaupten, dass
sich an derart ij^cs Vf>rgehen nicht auch ernstere und bleibende
Schädigungen des Nervensystems knüpfen können Bei neuro-
') Wenigstens spricht eine Beobachtung Hammonds dafür. £io Patient
H.'s iilite in kaum 8 Stunden 1 1 m.il den C. aus, wobei nur die ersten 3 Akte
eine £tni»->io seminis zxir Folge hatten. Kurz nach dem II. Male hatte Patient
rincn cpileptikfacfi Anfall und wunfe dauernd impotent, indem er niemals mehr
eine Erektion zustande bringen konnte.
r
Dig'itized by C
100
S««nelle Exsesse ond llmlicbe Sdildlidikeiteo.
pathtsch veranlagten Personen und gleichzeitiger Einwirkung
anderer Schädlichkeiten — von Trinkexzessen, Aufregungen,
gcii>ti^er Cbcianstrt'n<^ung — bilden selbst mässi^o transitorische
Exzesse nicht selten den Anstoss zur Kntwickelung hartnäckiger
und schwerer nervuser Schuiichezustände, speziell spinaler Neur-
asthenien. Da von einer gewissen Altersgrenze — wie wir
sahen, vom 36. Lebensjahre an — die Potenz in stetit^'er Weise
abnimmt und zuyU ich die Fähigkeit des Nervensysti ms, irgend-
wie in seinem Bereiche verursachte Störungen an^^zut^Ieichen,
sich stetii^ verringert, so erweisen sich geschlecluliche Ex/esse
von kiu zer Dauer bei Personen , welche das 40. Lebensjahr
i'iberschrilten haben, relativ viel häutiger von nachteiliger Wukung
aui das Nc-rvi'ns\ sti-ni als bei ji'ingeren Männern. Indes handelt
es sich wenigstens l)ei den noeh in mittlerem Alter stehenden
Personen zumeist nur um Störungen, die in das Gebiet der
Neurasthenie gehören.
Viel ernster kann sich die Sachlage bei Leuten gestalten,
welche in die senile Periode eingetreten und deren Gehimgefässc
durch Atheromatose oder andere Veränderungen brüchig ge-
worden sind. Iiier kann der Coitus bekanntlich zu Gefässruptur
und Bluterguss ins Gehirn führen. Um Exzesse im medizinischen
Sinne braucht es sich hierbei nicht immer zu handeln; es ist
ohne weiteres verständlich, dass unter der energischen Ver-
stärkung der Herzaktion (von den Stauungsvorgängen ganz ab-
zusehen), welche der Geschlechtsakt bedingt, ein Blutschwall
nach dem Gehirn dringt, der zerreissliche Gefässe zum Bersten
bringt. Je grosser die Anstrengung und Aufr^ung, die der
Akt erheischt, um so leichter tritt natürlich dieses Resultat ein.
Allein auch ernstere Zufälle anderer Art können sich an
sexuelle Exzesse im höheren Lebensalter, und zwar schon nach
kurzer Zeit knüpfen. Einen Fall dieser Art habe ich vor nicht
sehr langer Zeit beobachtet. Ein Mitte der 60er Jahre stehender
Herr heiratete eine etwa um 30 Jahre jüngere Frau, mit welcher
er in den ersten vier Wochen nach der Vermählung 7 oder
8 mal ehelichen Umgang hatte. Schon alsbald nach der Hochzeit
stellten sich bei dem Herrn Verdauungsstörungen und Schwindel*
anfalle ein, hierzu gesellten sich Schwäche- und Ohnmachtsanwand-
4
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Sexoeiie Eitesse und tbnlidie SchAdlickkeiten.
101
langen, die ihn nötigten, das Bett zu hüten, das er erst nach
mehreren Wochen wi^er verlassen konnte. Auch dann zeigte
sich noch längere Zeit ein Schwichezustand der Beine, der
früher nie vorhanden war.
Sehen wir von den cbi-n i! wähnten, mehr exz<-']>tioneIli n
Vorkommnissen ab, so erweisen sich im i^'an/.en die Fol^'en
andauernder, über Monate und Jahre sich erstreckender sexueller
Überanstrenguni^en im«jleich schwerer und nachhaltiger, als die
der transitorischen Extravaganzen. Lebensalter und ailgomriner
Gesundheitszustand spielen aber auch hier eine wichtige Rolle.
Noch sehr jugendliche, k(jrperlich nicht völlig entwiclcelte Indi*
viduen und solche, weiche die Jahre der vollen Manneskraft
schon hinter sich haben, werden im allgemeinen rascher und
intensiver geschädigt, als robuste, noch in der Blüte des Lebens
stehende Männer. Die Erscheinungen, mit weichen wir es in
diesen Fällen zu tun haben, gehen meist zunächst vom Rucken-
marke aus: Gefühle von Schwäche in den Beinen, denen anfäng-
lich keine erhebliche Abnahme der Leistungsfähigkeit entspricht,
abbald aber deutliche und auffallende Verringerung der Gehfähig-
keit, Gefühle von Unsicherheit, Taubsein und Kälte in den
Beinen, Schwäche und dumpfe Schmerzen im Rücken, die durch
ihre Hartnäckigkeit sehr lästig werden und oft nach al)',\ürts in
die Oberschenkel oder nach \ nme in die Sainenstrani^ijcj^end
und (In- liodcn ausstrahlen. Iliei/^u gesellen i>icli früher oder
Spall r die Frschcinun^'en der geschlechtlichen Schwäche: erhöhte
Reizbarkeit L;eL;t niiber sexuell-sinnlichen Eindrücken, häufigere
Pollutionen'), verfrühte Ejakulation, Abnahme und selbst Verlust
der Erektionsfähigkeit (ImpotenzJ.
Ob diese Erscheinungen, wie z. B. Roscnthal annahm,
von einer Hyperämie, oder nach Hammond von einer Anämie
des Röckenmarkes (speziell des Lendenmarkes) abhängen, will
'> Von Gyurkovcchky wird das Auftreten haufifjercr Pollutionen und
vo!) Spermatorrhiic als Folge ü^lcrn1;i■>^igcn sexuellen Verkehrs allein bestritten,
wälirend Fürbrini:er auf Grund zahlreicher eiadeutiger Beobachtungen für
deren Vorkommen infolge »xueller Exzesse (ohne Ooamc) eintoitl. Ich mus$ nach
meinen Beobncb langen, soweit wenigsten» die Pollnlinnes nimiae in Frage »iml,
die AniMihauanf; Gyurliovechkys cbenfalU als unslidibaltig bezeicfancn.
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102
Sexuelle Exzesse und &halidic ScbftdiidiketleD.
ich dahingestellt sein lassen. Sicher ist, dass die vielen und
intensiven Erregungen des Rückenmarkes durch Exzesse in
Vcnerc eine Veränderung in diesem Organe und zwar zunächst
in den Lendenmarkszentren herbeiführen, die — nach den Folgen
zu schliessen — sich als ein Zustand gesteigerter Reizbarkeit
und funktioneller Schwäche (reizbare Schwäche) darstellt. Das
Wesen der fraglichen Verämleiunr,» entzieht sich vorerst noch
gänzlich unserer Erkenntnis. £s ist aber jedenfalls von Interesse,
dass ich nach Überanstrengung der Arme durch Schr( ibcn,
Zeichnen, Violin- und Klavierspiet, sowie durch feine Hand«
arbeiten genau dieselben Erscheinungen an den Armen beob-
achten konnte, wie sie an den Beinen nach Exzessen in Venere
auftreten. Die sexuelle Oberreizung wirkt also auf das Lenden-
mark wie übermässige Inanspruchnahme anderer Rückenmarks-
partien durch Oberanstrengung gewisser Muskelgruppen.
Indes beschränken sich die Folgen des unmässigen Venus-
dienstes nicht auf das spinale Gebiet. Sehr bald treten neben
den Rückenmarks-Symptomen, mitunter auch gleich anfangs,
Störungen von selten des Gehirns auf: Kopfeingenommenheit,
seltener eigentlicher Kopfschmerz, Schwindel, Sehstörungen,
Schlafmangel, Angstanwandlungcn usw.; hierzu können sich
nervöse Funktionsstörungen von selten des Herzens, des Magens,
des Darmes und der Blase und Steigerung der Haut- und Sehnen-
reflexe gesellen. Es entsteht dergestalt das Bild der allgemeinen
Neurasthenie, dessen Züge in jedem Einzelfalle variieren, aber
auch bei demselben Patienten im Laufe der Zeit erheblich
wechseln. Bald sind die Beschwerden von selten des Kopfes,
bald die von selten des Rückens und der Beine, bald die Er-
scheinungen der nervösen Herzschwäche, bald die der nervösen
D) spepsie im Vordergrunde. Zufällij^e, oft nicht näher eruier-
bare Umstände drängen den einen Syniptomenkomplcx zurück,
während sie den anderen mehr hervortreten lassen.
Dass anhaltende L'nniässij^kcit im sexuellen Genüsse die
vorstehend an^^'eführten Störun^t^n nach sich ziehen kann, hier-
über besteht unter den kompetenten Beobachtern kaum ein
ZweiU:!. Man darf es auch als feststehend erachten, dass der
Schaden sieh nicht in allen Fallen hierauf beschränkt. Allein,
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Sexuelle Exzesse und abolicbe Scbädlicbkeiten.
103
wenn wir uns bemühen, die Krankheitszustände genauer zu
ermitteln, die sich, abgesehen von der Neurasthenie und ihren
Anhängseln (Pollutionen, Spermatorrhöe, Impotenz), an die sexu«
eilen Exzesse knüpfi-n, so stossen wir auf eine Reihe von
Schwierigkeiten. Genchlechtliche Ausschweifungen sollen nach
zahlreichen Autoren bei der Entstehung von Geisteskrankheiten,
Epilepsie und manchen organischen Rückenmarksleiden eine
Rolle spielen. Daneben fehlt es aber nicht an Stimmen, welche
die Exzesse in Venere in den betreffenden Fällen schon als
Äusserung tünes Krankheitszustandes des Nervensystems be-
traditen und in den Folgen derselben nur einen Circutus vitiosus
gegeben sehen. Ausserdem linden wir sehr häufig neben ge-
schlechtlichen Extravaganzen andere Schädlichkeiten wirksam,
vor allem Missbrauch geistiger Getränke, Syphilis, Aufregungen
und geistige Oberanstrengung, körperliche Strapazen. Es ist bei
einer solchen Konkurrenz von Ursachen jedenfalls sehr schwierig,
oft sogar g«iz unmdglicb, auszuscheiden, was dem einen und
was dem anderen ätiologischen Momente zur Last fallt.
Betrachten wir zunächst den Einfluss sexueller Exzesse
auf die Entstehung von Psychosen, so müssen wir konstatieren,
dass derselbe nach den genaueren Ermittelungen der neueren
Zeit in der Ätiologie dieser Erkrankungen nicht die hervor-
ragende Rolle spielt, die man frOher demselben zuzuschreiben
geneigt war, und jedenfalls hinter dem der Onanie bedeutend
zurücksteht.
Nach V. K rafft- Ebing können sich schwere Cercbr-
astbenien, Senium praecox und schwere Melancholie mit hypo-
diondrischer Färbung unter dem erschöpfenden Einflüsse über-
mässiger Kohabitationen entwickeln. „In der Regel sind aber
dabei noch andere Hilfsursachen wirksam." Diese Ililfsmomente
sind sicher oft von iiberwiei^endeni Kintlussc.
Früher wurde von nianchi ii geschlechtliche ( iiinä.ssi^kcit
als eine dci wichtigsten Ursachen der Paralyse betrachtet. Diese
Auffassung hat gegenwärtig kaum uwhv Anhänger. Man kann
sexuellen Exzessen in der AtioI()t»ic der Paralyse nicht mehr
als die Bedeutung eines i^rädisjnmierendcn Momentes zugestehen.
In den meisten Fällen, in welchen bei Paralytikern die in Frage
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104
SeztwU« ExsesK und Sbnlicbe Scbldliclikeilen.
Stehenden Exzesse nachweisbar sind, fallen dieselben übrigens
in die Anfangsperiode der Erlcrankung und bilden sonach ein
S> mptom, nicht eine Ursache derselben. Auf der anderen Seite
lässt sich aber nicht bezweifebi, dass der durch sexuelle Ober-
reizung bedingte neurasthenische Gehimzustand eine gQnstige
Basis für die Wirksamkeit weiterer Schädlichkeiten, speziell des
Alkohols (wahrscheinlich auch der Syphilis), bildet.
Von älteren Beobachtern wurden Exzesse in Venera als
eine häufii;c und wichtige Ursache der Epilepsie bezeichnet.
Man verj^lich auch vielfach oder identifi/.ioi te in gewissem Masse
den G< schlcchtsak.t mit der I-^jülcpsic i^Coitus cpilepsia parva
oder brcvis, Caelius Aurelianis, Scnnert, Ettmüllcr
u. a): Bocrhave ging noch weiter, indem er geradezu
erklärte, coilum esse veran\ ej)ik-i)siaiu ' i. In neuerer Zeit ist
man allgemein in der Taxierung dt r ;itiuIogischcn R ille sexueller
I'.xzesse in hezut; auf die Epilepsie m Hi zurückiialtuiid geworden.
Nothnagel benu^rkt. dass auch anhaltende und starke Exzesse
in Venere, wenn je überhaupt, so mir als sehr seltene Ursache
der epileptischen Veränderung betrachtet werden dürfen. Von
manchen (so in j(in<^ster Zeit von Sti üiii|iell und Christian)
wird geschlechtlichen Ausschweifungen eine Bedeutung als Ursache
der Ei)ilepsie ganz abgesprochen I Iahen wir uns an das tat-
sächlich Festgestellte, so finden wir, dass der erste Coitus bei
hereditär veranlagten I'ersonen öfters den ersten Anfall herbei-
führte und dass es bei anderen bei jedem Beischlafe oder
Versuche hierzu zu einem Anfalle kam, so dass der geschlecht-
liche Verkehr ganz aufgegeben werden niusste. Sicher ist auch,
dass häufiger geschlechtlicher Umgang bei Epilej)tischen die
Anfälle vermehrt. Delasiauve bemerkte, dass Kranke, die
während ihres Aufenthaltes in A-^Nlen nahezu Uc] von Anfällen
sind, nach dem Verlassen der Anstalt und Wiederaufnahme
selbst massigen sexuellen Verkehrs neuerdings von Anfällen
'i .\utli cini;^!.- neuere Autoren (K o u l> .n u il , Hammond, Kowalcwsky
und M-ib-.! Frri j wollt-n eine i"-\v\--ü .Ähnlichkeit z\vi>thfn dem C. und dem
tjnJtpUstln.n Anülic (iudcu. IJi i^.uin nur Clirislian ^Epilepsie, tolic cpilcp-
liquc 1S90, S. 91) beipdicbten, weon er erklärl: „Kien, abüolument rien, k non
sens n'tttttoriüc k rapprocber ce» deux ordre» de raiu".
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Sexuelle Eiaewe und ihnlkbe Sdiidlichkeiten.
heimgesucht werden, bei Exzessen natOrltcb um so stärker^). Ich
selbst beobachtete einen Patienten mit hereditärer Betastung,
bei welchem der erste epileptische Anfall kurze Zeit nach der
Verheiratung auftrat. Bei zwei anderen Kranken, die während
ihrer ersten Ehe nur an seltenen Anfällen von Petit Mal gelitten
hatten, stellten sich alsbald nach ihrer Wiederverheiratung mit
einer erheblich jüngeren Frau häufigere und stärkere Krampf-
anßUie ein. In einem 4. Falle endlich kehrten AnßUIe von
Petit Mal, die in den Kinderjahren infolge von Masturbation
entstanden, dann aber viele Jahre we^'i^feb lieben waren, zurück,
nachdem der Patient einige Zeit hindurch mit ungewohntem
ICiler seinen ehelichen PlliclUen nachgekommen war. Anderer-
seits hatte ich aber Gelci^cnheit, eine Anzahl l^pilcpUhcher zu
beobachten, bei welchen sexueller Verktrhr sich in bezui; auf
Au>l()snnL,f Von Anfällen unwirksam erwies. Nach alledem dürfen
wir wohi sagen, dass Exzesse in Venere eine bestehende
lepsie verschlimmern, das latent gewordene Leiden wieder wach-
rufen, unter Umständen auch die erste Explosion der Krank-
heit herbeiführen können; ein Beweis dafür, dass dieselben bei
nicht veranlagten Personen Epilepsie erzeugen können, liegt
jedoch nicht vor').
Für keine Krankheitsgruppe wurde seit alter Zeit mit solcher
Bestimmtheit ein ursächlicher Zusammenhang mit sexuellen Ex-
zessen behauptet, als für die (organischen) Erkrankungen des
Rückenmarkes. Die Grundlage dieser Anschauung bildet unleug-
bar die Schilderung, welche Hippokrates von der als RQcken-
darre (Nmttas ^^iaig) bezeichneten Erkrankung gibt: „Die
Rückenschwtndsucht entspringt aus dem Rückenroarke. Sie er-
greift vornehmlich Unverheiratete und WottÜstlmge. Sic sind
ohne Fieber, essen gut, aber sie schwinden dahin. Wenn man
') Auch Ftrt «rwShnt, dass Kraoke, weldie im Hospitot von AnfUlen ver«
schont bleiben, nach dem Austritte von solchen immer wieder heiinr:r«ucbt
wrden Nach <*<.iner AnMcht i».t ir lorh hierbei ofl schwierig, den Anteil
des Alkohols und des sexuellen Verkehrs zu üonderu.
') Auch die oben erwülinte Beohacbiuni; H«ntmonds kann nicht «U
Beweb in dieser Beziehol^[ angegeben werden. Es bändelte sich hier oflfenbAr
um einen vcreinieltcn Krampfonfall, nicht nm eine andauernde epileptische Ver-
inderong.
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106
Scittdle Exxease und ihnlicbe ScbldUehkeitea.
sie fragt, so werden sie angeben, dass sie das Gefühl haben,
als ob ihnen Ameisen vom Kopfe längs des Rückens herablaufen.
Wenn sie urinieren oder zu Stuhl gehen, so verlieren sie viel
wässerige Samenflüssigkeit; aber Fruchtbarkeit findet nicht mehr
statt. Im Schlafe haben sie wollüstige Träume. Beim Gehen
oder Laufen, besonders beim Berg^ oder Treppensteigen, stellt
sich Asthma und Schwäche ein. Schwere im Kopf und Sausen
in den Ohren. Später werden sie vom hitzigen Fieber ergriffen
und gehen schwindsüchtig zugrunde.'* Dass diese Schilderung
dem Bilde der heutzuta^'e als Tabes dorsalis bekannten Erkrankung
nicht ent>piicht, unterließt wohl keinem /weitel. Allein die
Anschauungin Jcr Arzte hinsichtlich der l'i.sachcn dei Tabes
dorsalis wurden noch in den ersten Dezennien des letzten Jahr-
hunderts v<)Ilig diu eh die hippukratische Lehre von der Rücken-
darre beherrscht. Sexuelle l'.xzcssc mid Onanie ^^alten als hauhiiste
Veranlassung der Rückenmarksschwindsucht und anderer Rücken-
marlcsleiden. Johannes Müller, der berühmte Physiologe,
bezeichnete die Tabes als eine nur von Ausschweifungen her-
rührende Krankheit. Schon Niemeyer wandte sich mit Nach-
druck gegen diese Behauptung und wies auf die ungerecht-
fertigten Verdächtigungen hin, denen hierdurch so manche be-
dauernswerte Rückenmarksleidende ausgesetzt würden. SchuUze
konnte sogar unter 46 Fällen von Tabes nur bei einem sexuelle
Ausschweifungen als Ursache finden.
in den letzten Dezennien hat sich die grosse Mehrzahl
der Beobachter hinsichtlich der Bedeutung geschlechtlicher Un«
mässigkeit als eine Ursache organischer Rückenmarkskrankhetten
und speziell der Tabes zu einer der früher herrschenden ganz
entgeL,'engesetzten Anschauung bekannt. Eine Reihe von Autoren
(B e a r d , C u r s c h m a n n . S c l i g m ü 1 1 c r, G o w c r s , H i r t h,
Leyden, Goldsc heider) «gesteht den sexuellen I'!\zcsscn in
der .•\tioki;^ic der Tabes cntwcdei überhaupt keine Ikdeutung,
oder nur tlie eines prädisponierenden Momentes zu. Nach Ray-
mond scheinen l^xzesse in Venere ähnlich ICrkTiltunijen, l ber-
anstreni^unt^en und Trannien mitunter eine Gele^'enheitsursachc
zur l-lntwickeluni^ der Tai »es bei durch hereditäre Belastung
Disponierten zu bilden. Erb fand, dass unter 27 1 Tabcsfällcn
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Sexuelle Extesse nnd abnllclie SchSdUdikeiten. IQ?
seiner Beobachtung nur bei 1 5,8 V sexuelle Exzesse zugestanden
wurden. Er hält diese Exzesse für ein entschieden wirksames
Moment in bezug auf die Verursachung von Tabes, doch fast
ausschliesslich bei hietisch Infizierten. Nur in drei Fällen seiner
Beobachtung bildeten sexuelle Exzesse die einzig nachweisbare
Schädlichkeit. Wenn dagegen ein amerikanischer Beobachter
Neftel in seinen sämtlichen Tabesföllen allzureichliche Be^
tätsgung des Geschlechtstriebes konstatieren konnte, so handelt
es sich hier wohl um eine Zufälligkeit des Materiales, die nicht
weiter in Betracht kommen kann.
Meine eigenen Erfahrungen sprechen zwar nicht dafür, dass
bei der Verursachung organischer Rückenmarkski ankhcitcn ]-.\-
zesse in Vcnere eine hervorragende Rolle spielen, sie gestatten
mir aber auch nicht, dicM' Mxzesse in fraglicher Beziehung für
ganz belanglos anzusehen. W ir müssen zunächst berücksichti;^^en,
dass andauernde geschlechtliche Ausschweifungen nicht so hiiutig
sind, als wohl viele glauben mögen ; es hängt dies damit zu-
sammen, dass die Natur selbst für eine Art von Hemmvorrichtung
gesorgt hat, welche den zu sexueller Misswirtschaft Geneigten
in gewissem Masse gegen fortgesetzte Selbstschädigung schützt
Auf die Obersättigung mit sexuellen Genüssen folgt bei dem
Gesunden naturgemäss die Erschöpfung und damit ein zeitweiliges
erhebliches Sinken (wenn nicht Erlöschen) der Libido wie der
Potenz, wodurch das Individuum von weiterer Kraftvergeudung
vor setner Wiedererholung abgdialten wird, soferne nicht äussere
Anreize die sexuelle Appetenz anfachen^). Bei dieser Sachlage
erscheint es mir immerhin beachtenswert, dass unter den von
mir beobachteten Tabetikcrn sich eine gewisse, allerdings be-
schränkte Anzahl von solchen befindet, welche andauernd sich
geschlechtlichen Exzessen hingegeben hatten und zwar lange
Zeit vor dem Auftreten der ersten Krankheitserscheinungen, so
dass das Verhalten der Betreffenden m sexueller Beziehung
nicht als i\usserung der Erkrankung !>etrachtet werden kann.
Manche dieser Patienten hatten selbst den Eindruck, dass üir
*) Die FflUe, in welchen auf ein Obermass sexueller Leistung keine ent*
sprechend nadibaltige Minderung der gescMechtticfaen Appetenz erfolgt, sind meines
Enchtens durcbg^hends pathologischer Natur.
108
Sexuelle Exzesse und ähnliche Schädlichkeiten.
lockeres Leben nicht ganz ohne Zusammenhang mit ihrer Er-
krankung sei, und dieser Annahme konnte ich mich ebenfalls
nicht entziehen. Was dieselbe noch erheblich stützt, ist der
Umstand, dass die Mehrzahl der betreffenden Leidenden durch
ihren Beruf genötigt war, viel auf den Beinen zu sein (Agenten),
und es bei denselben auch an mancherlei geschäftlichen Auf-
regungen nicht fehlte. Es ist wohl nicht zu bezweifeln, dass
unter dem Einflüsse geschlechtlicher Exzesse das Rückenmark
namentlich bei solchen Individuen leiden muss, die nicht in der
Lage sind, in der Zwischenzeit dem erschöpften Organe die
nötige Ruhe zu gönnen. Andererseits muss ich aber zuge-
stehen, dass meine Beobachtungen keinen strikten Beweis dafür
liefern, dass geschlechtliche L'nmässigkcit ohne Mitwirkung anderer
Schädlichkeiten bei ursprünglich gesunden Personen Tabes her-
vorzurufen vermag. Das gleiche gilt für andere organische
Rückenmarkskrankheiten, speziell die chronische Myelitis. Ich
beobachtete unter einer immerhin ansehnlichen Zahl von Fällen
letzterer Erkrankung nur einen einzigen (schwere Myelitis trans-
versa), in welchem sexuelle Ausschweifungen sicher vorhanden und
ein andeics ätiologisches Moment nicht zu eruieren war, woraus
jedoch noch nicht gefolgert werden darf, dass crstcre die alleinige
Ur.sache der Erkrankung waren. Im allgemeinen scheinen mir
daher sexuelle Exzesse eher der Entwicklung der Tabes al.s
irgend einer anderen organischen Rückenmarkserkrankung Vor-
schub zu leisten').
In ähnlicher Weise wie übermässige Häufigkeit geschlecht-
lichen Umganges können auch bei mässigem sexuellem Verkehic
gewisse denselben begleitende oder demselben folgende L'mständc
nachteilig werden. Die Schäillichkeit des Coitus in statione ist
fast allgemein zugegeben.
') Mehrere Beobachter ((> r a n , O p p c n h c i n» e r . D i c ni c r) wollten auch
die progressive M uskel.il rophie in ursächlichen Zus.ininienh;inj; mit geschlechtlichen
Exzessen bringen. Kinc meiner Beobachtungen von spinaler progressiver Muskel«
atrophie Hesse sich zugunsten dieser Auflassung verwerlen. Doch kann es »ich
jedenfalls nur darum handeln, dass die durch die geschlechtlichen Vorgänge er-
si h< pitvii Kikk innark</cnti<n der Einwirkung anderer SihädlichUeitcn g<'genub«r
der Widei>lanil.>fähigkeil ermangeln.
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Scivdlc Exzcfie nad ihslkhc Sdaidiichkeiten.
109
Schon ältere Autoren (Sanctorius, Morgagni, Tissot)
haben auf dieselbe aufmerksam gemacht. Tissot und Olli vier
d'Angers berichten öber Fälle» in welchen Lähmung der Beine
im Gefolge gewc^nheitsmfissiger Obung des geschlechtlichen
Verkehrs im Stehen eintrat. Carr6 führte sexuelle Exxesse,
tnsbesonders solche, die im Stehen begangen werden, als Ur-
sache der Tabes (Ataxie locomotrice) an; nach der Meinung
dieses Autors sollen hierdurch Kongestionen des Rückenmarkes
(erstes Stadium der Tabes) herbeigeführt werden. Hammond
erwähnt, dass er wiederholt ernste Folgen von der beständigen
Obung der Kohabitation in der erwähnten Stellung sah. Ein
ältlicher Herr seiner Beobachtung, der längere Zeit der in P räge
stehenden Art ilca sexuellen Verkehrs gehuldigt hatte, wurde
bei dieser Gelegenheit von einem heftigen Tremor in beiden
Beinen erij;riffcn , der zwei Tage anhielt, nach welcher Zeit
Lähmung' der Beine und Impotenz sich bemerl^lich machten.
Die Lahmung besserte sich bedeutend, wiihremi die Impotc-nz
verblieb. Ein anderer Patient, der an den Coitus in statione
nicht gewöhnt war, wurde nach demselben von einer Ohnmacht
befallen, an welche sich partielle Lähmung beider Beine und
Incontinentia urinae anschloss. Die Lähmung der Beine verlor
sich in wenigen Wochen, der Spbincter vesicae war noch nach
5 Jahren geschwächt. Wenn ich meine eigenen £rfabrui^(en
berücksichtige, so verhalten sich manche jüngere Männer
wenigstens auflßliltg resistent gegen die Schädlichkeit des in Frage
stehenden Vorgehens, während andere schon nach kurzem das-
selbe büssen müssen. Indes handelt es sich hierbei gewöhnlich
nur um Erscheinungen spinaler Neurasthenie.
Sexueller Umgang nadi dem Essen wird ebenfalls von
den älteren Ärzten als schädlich bezeichnet F6r^ erwähnt,
dass bei manchen Personen der Beischlaf nach der Itihhlseit
eine Erschöpfung der Alagentätigkcit und Verdauungstörungen
herbeiführt.
Körperliche Anstrengungen unmittelbar nach dem Actus er-
weisen sich ebenfalls häufig von entschieden ungünstiger \Viik.un<j;.
< urschmann erwähnt eines lüngercn kräftigen Mannes, der
jahrelang oluie Nachteil für seine Gesundheit 4 mal wucbent-
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110
Sexuelle Exzesse und iholiche Scbädlicbkeilen.
lieh mit seiner (jclicbten Um^Miii^ hatte; als diese jedoch eine
entferntere Wohnung bezo^ und cUr Betreffende jrenötigt war,
einen Weg von einer Stunde nach dem Akte zurückzulegen,
wurde er alsbald mn sehr angreifenden Nacht- und Tagespol-
lutiuiu-n heimgesucht. Vereinzelte ähnliche Beobachtungen habe
ich ebenfalls gemacht.
Bei einem Ende der 30er Jahre stehenden verheirateten
Herrn meiner Beobachtung, welcher öfters den ehelichen Verkehr
am Morgen, kurze Zeit vor dem Aufstehen pflegte und nach
dem FrühstQckc in sein Geschäft einen weiten Weg zurückzu-
legen hatte, kam es binnen kurzer Zeit zu einer auffälligen Ab<
nähme der Potenz.
. Auch die Ausübung des C. nach erheblichen körperlidien
Anstrengungen kann entschieden schädigend wirken. Bei einem
jungen Manne meiner Beobachtung, der unmittelbar nach einer
anstrengei^en Velozipedtour den Beischlaf ausgeübt hatte, ent-
wickelten sich im Anschlnss an diesen Akt die Erscheinungot
einer schweren spinalen Neurasthenie, die sich noch nach Jahren
nicht ganz verloren hatte.
Manche Männer besitzen die Fähigkeit, den Eintritt der
Ejakulation beim Kopulationsakte willkürlich hinauszuschieben
und dadurch den Akt nach Belieben zu verlängern. Nament-
lich bei der Übung des Congr. intcrr. wird von dieser Kunst-
fertigkeit Gebrauch gemacht und hierdurch die nachteilige
Wirkung dieser Art des Congr. gesteigert. Allein auch bei
normaler Beendigung des Aktes muss die übermässige Aus-
dehnung desselben als ein den Nerven schädliches Moment be-
zeichnet werden.
Unstreitig wird das Nervensystem des Weibes durch de^
Geschlechtsakt weniger nachhaltig er<^riffen, als das des Mannes.
Man darf hier nur auf das naheliegende Verhalten der öffent-
lichen Frauenzimmer hinweisen. Es mag sein, dass das Nerven-
system dieser etwas robuster veranlagt ist, als das der durch-
schnittlichen weiblichen Personen und dass speziell die Nerven
der Se.xualsphärc l)ei denselben eine Abstumpfung der I'.mpfmdung
aui\v< isen. Allein dies zugestanden, verbleibt es imnu thin be-
merkensucrt, dass bei diesen Geschöpfen Fälle nervöser Uber-
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Sexuelle Exseise und tthnÜche Scbidtkbkeileo.
III
reizung infolge vnn Aiisül^unj^ ilircs Gewerbes sehr selten vor-
kommen, und wo sich ncurasthenische oder h\slerische Zu-
stände bei denselben finden, zumeist andere Ursachen im Spiele
sind. Auch bei gesunden Frauen, die nicht der Venus vulgi-
vaga huldigen, ist häufig wiederholter geschlechtlicher Verkehr^
soferne derselbe in ganz normaler Weise statt hat, im allgemeinen
ohne jeden nachteiligen Einfluss. Das Verlialten des Mannes
und der Frau kontrastiert in diesem Punkte in manchen Fällen
in sehr auffalliger Weise. Ich habe mehrfach Gelegenheit ge-
habt, junge Ehepaare zu ?;chen, \vobi i der Gatte infolge des
Eitt ts, mit welchem er der Erfüllung seiner ehelichen Pflichten
oblag, in seinem Allgemeinbefinden und Nervenzustande in be-
klagenswerter Weise heruntergekommen war, während die Gattin
zugenommen hatte und fortdauernd der besten Gesundheit
sich erfreute.
Indes bleibt auch bei Frauen Übermass im sexuellen
Verkehr nicht immer ohne nachteilige Folgen für das Nerven-
system. Mitunter kommt es dadurch ähnlich wie beim Manne
zu einer Erschöpfung der genitalen Lendenmarkszentren, infolge
welcher beim Geschlechtsakte der Orgasmus sich schwerer und
in geringerem Maasse einstellt oder auch ganz ausbleibt. Diese
mangdhafte Befriedigung oder Nichtbefricdigung kann, wie aus
meinen Beobachtungen sich ergibt, zur Entwickelung von Angst-
niständen führen oder dieselben b^nstigen. Hammond
berichtet, dass er in zwei Fällen Lähmung beider Beine bei
Frauen beobachtete, die in einer Nacht steh übermässig oft dem
sexuellen Genüsse hingegd^en hatten, und ausserdem sehr häufig
Spinalirritation und andere nervöse Störungen als Folgeer-
scheinungen der gleichen Ursache sah. Bei der von Hammond
erwähnten Lähmung der Beine dürfte es sich lediglich um Symp-
tome eines hochgradigen spinalen Erschöpfungszustandes oder
hysterische Erscheinungen gehandelt haben. Für das Vorkommen
organischer Erkrankungen dos Nervensystems im Gefolge sexueller
Exzesse beim Weibe liegen keinerlei stichhaltige Beweise vor.
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IX,
Onanie.
Unter den verschiedenen Übeln, deren Quelle der Geschlechts-
trieb bildet, ist unstreitig das verbrcitetste und verderblichste :
die Onanie; wir verstehen unter U tztcrer jede künstlich, nicht
veriTiittflst j^i'schlochllichcn Verkehrs ijescheheiide Herbeiführunj^
der normalerweise an die Koliabitation sich knüpfenth^n ner-
v<Wcn F.rref*unj^en und Empfindungen. Die in Rede stehende
Art sexuelKr Betricdigung ist nicht, wie von verschiedenen S<;iten
behauptet wird, lediglich ein Ausfluss der modernen Kultur
oder eine Teilerscheinung der sogenannten modernen Sitten-
verderbnis. Das Übel beschränkt sich gegenwärtig auch keines-
wegs auf die zivihsierten Nationen; es hat bei halbwilden Völker-
schaften, selbst bei auf der niedersten Stufe menschlicher Kultur
stehenden Wilden Eingang gefunden. Auch bei Tieren wird
dasselbe beobachtet AfTen sind bekanntlich der Masturbation
in sehr hohem Masse ergeben, und es ist kein seltenes Vor*
kommnb, dass solche in unfreiem Zustande ihren onanistischen
Neigungen in solchem Masse fröhnen, dass sie an den Folgen
zugrunde gehen. Auch bei Pferden, insbesonders Rassepferden
und Hunden begegnet man nicht selten onanistischen Akten.
Im kLi -1 cheii Alu itume scheint die Selbstbefriedigung
allerdings weniger in l bung gewesen zu sein ; dieser Umstand
ist jedoch keineswegs auf einem ht'hiMPn moral -Standard jener
Zeit, Sondern wesentlich darauf ztiuick^utuhu ii. dass Päderastie
und reichlichere Geleginheit zur natürlichen Befriedigung der
sexuellen Bedürfnisse die Veranlassungen zur Masturbation
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Onanie.
113
minderten. Die Frage, ob letztere in der Gegen v. an hei den
KulUii Völkern eine grössere Ausbreitung erlangt hat als in frülu'i en
Jahrhunderten, ist nicht mit \olIer Bestimmtheit zu beantworten.
Sicher ist, dass das l'bcl derzeit eine un<^feheure Verbreitung in
allen Schichten der Bevölkerung, namentlich in den Städten er-
reicht hat. Wenn wir neben dieser Tatsache die unverkennbare
Zunahme der Nervenkrankheiten, speziell der Neurasthenie, in
den letzten Dezennien, die Steigerung der Konkurrenz auf allen
Erwerbsgebieten und die dadurch bedingte Erschwerung und
Verzö^'ening der Verehelichung für zahllose Individuen berück-
skhtigen, so dürfen wir jedenfalls eher auf eme Zunahme denn
eine Verringerung des Missbraucfaes schliessen.
Wie Obel es jedoch audi mit der Veibreituog der Masturbation
geKttnwflrtig stehen mag, so schlimm ist es nach meinen Erfahrungen
keinf<;\vrgs, wie die Übertreibungen mancher Autoren ersrlieinrn
lassen. O. Berger z. B. bemerkte vor Jahren (1876), „die Masiui baiion
ist eine so verbreitete Manipulation, dass von joo jungen Männern und
Mädchen 99 sich zeitweilig damit abgeben und der Hundertste, wie ich
zu sagen pflege, der reine Mensch, die Wahrheit verlieimücht". In
Hergcr's Fii';'5stnpfen sind später M e. Clanahan und Rohh litr ge-
treten. Ersterer Autor ist der Ansicht, dass fast .illr iii.miili< lim In ii-
viduen einmal der Masturbation ergeben waren. iNach Roliledcr ona-
nieren mindestens 95% aller Menschen zur Zeit der Pubertfltsentwickiung
und in den nächst folgenden Jahren. „Fast jedes Kind whd während
der S, hiil/i it von dem Laster angesteckt." Diese und .ihnlit he Behaup-
tungen sind in gar keiner Weise besjrOndet und charakt. risieren sich als
auf Sensation berechnete Übertreibungen, wie sich leicht zeigen lässt.
Die Erfahrungen des Einzelnen mögen bezQgUch des Vorkommens der
Onanie unter der Jugend beider Geschlechter noch so ausgedehnt und
noch so ungünstig sein, sie können immer nur einen sehr beschränkten
Kreis bctretlr n und las«!en daher nh^nliit krinr Vfrn!!a:emrincnin^ zii.
Wenn ich, der ich auf eine raclir als drei Dezennien umfassende ärzihcho
Tätigkeit in Manchen zurflckblicken kann, auch durch den Schul- resp.
Gymnanenbesuch meiner Kinder sowie durch den Verkehr mit Lehrern
und Lehrerinnen an Volks- und Mittelschulen und mit Kollegen viele
Aufschlösse Über das Verhalten der hiesigen Jugend erhalten habe,
wenn ich ein bestimmtes, in Prozenten auszudrui kcndes Urteil üt>er die
Verbreitung der Onanie unter der hiesigen Jugend im Alter bis zu
18 Jahren abgeben sollte, so würde ich mich hierzu ainser Stande sehen.
L'm wie viel weniger ist irgend jemand in der Lage, die Verbreitung
der Onanie m dem in Frage stehenden Alter ganz allgemein für Stadt
und Land, auch nur für irjiend eine Provinz Deutsclilands {\on weiteren
Gebieten ganz abzusehen) abzuschätzen; hierfür fclilt jegliche tatsäeh-
Uche Grundlage, und die Angaben verschiedener Beobachter Ober ihre
LBwcafeld, Se«oeU-nMvü« Stitnmtfn. Vi«rte Aufl.
Digrtized by Goo^e
114
Erfahrungen an diesem oder jenem Orte, so interessant sie im Einzelnen
sein mögen, haben nicht die geringste Geltung tOr irgend eine andere
Gcgt-nd. Mi inc i i;;rnpn, an verschiedenen Orten, nicht lediglich in
München gesammelten Erfahrungen und die Aufklärungen, die ich von
zahlreichen Patienten aus den verschiedensten Gegenden Deutschlands
und ausserdeutschen Lflndem erhalten habe, will ich hier nur dahin
resümieren, dass nach denselben die oben angeführten Hi haujjtunKen
RohicdL-r?, soweit sie sich auf das nuliinlichc Geschlecht beziehen,
schon jedenfalls eine sehr bedeutende, soweit sie das weibliche Geschlecht
berühren, dagegen eine geradezu ungeheuerliche Übertreibung in sich
schltessen. Sowreit stimmen meine Erfahrungen mit denen verschiedener
Ik'obarhtrr flbcrcin, dns^ in den rciisionaten, insbe^-nnders den Knahrn-
pensionalcn und Seniin.irien die Onanie infolge des Jüntlusscs einzelner
verderbter Schüler auf ihre Mitschüler iiauhg arg grassiert, dagegen ist
mir kein Fall bekannt gevirorden, dass ftusserbdb eines Internats unter
den Schülern oder Schülerinnen irgend einer Klasse einer Volks- oder
Mittelschule hier oder andernoi t?> die Omnie eine ijrössere Verbreitung
erlangte. Was Schiller, H. Cohn, Rohleder u. a. über Onanie-
epidemien an emzeincn Gymnasien mitteilen, halte ich ihr mehr exzeptio-
nelle Vorkommnisse, die durch liessere Überwachung der Schüler leicht
hatten vermieden werden kdnnen.
Die ärztliche Beurteilung der Onanie und ihrer Folgen hat
im Laufe der Jahre manche Wandlungen erfahren und zeigt
noch heutzutage erhebliche Abweichungen. Bekannt ist das
düstere Gemälde, das Tissot von den Folgen geheimer Sünden
entwarf, und die ebenfalls noch sehr mit Übertreibungen be-
haftete Darstellung Lalle mands in dessen Werke über die
unwillkürlichen Samenverluste (3. Teil). Diese Arbeiten bildeten
die Haupt fundgrube für jene zahlreichen populären Schriften
(der persönliche Schutz, die Selbstbewahrung, der Jugendspiegel
etc.), deren unheilvollen Einfluss auf die Gemüt.sstimmung der
ohnedies zum Pessimismus sehr neigenden Gewohnheitsonanisten
wir Jetzt noch häufig genug zu konstatieren in der Lage sind.
Indes dürfen wir nicht übersehen, dass die ältere wissenschaft-
liche Medizin in dieser liinsicbt nicht viel weniger auf dem
Kerbholze hat. In den Werken über spezielle Pathologie^ Nerven-
und Geisteskrankheiten aus der ersten Hälfte des letzten Jahr-
hunderts finden wir noch fast überall die Folgen der Onanie
in höchst kritikloser und übertriebener Weise geschildert. So
bemerkt van Hoven in seinem „Versuche über die Nerven-
krankhcitcn" 1813, nachdem er die zerrüttende Einwirkung
i^iyuu-cd by Google
Onanie,
115
sexueller Exzesse auf das Nervensystem geschildert: „Aber
die fürchterlicben Folgen dieser Schwäche und Erschöpfung
der Nervenkräfte, Epilepsie, Katalepsie, Blödsinn etc., zeigen
sich vorzüglich nur bei den Onantsten. Die meisten Epileptischen,
Kataleptischen, Blödsinnigen, ja selbst die meisten Wahnsinnigen
waren, wie die Geschichte der Irrenhäuser lehrt, in ihrer Jugend
Onanisten, und wenn nichts beweist, wie sehr dieses Laster
das Nervensystem angreift, so beweist es die schlimmste aller
Nervenkrankheiten, die Rückendarre (Tabes dorsalis), eine Krank-
heit, wodurch die Natur dasselbe noch strenger bestraft, als die
Unzucht durch die I ustseuchc". Ellis') führte auf Onanie die
Mehrzahl aller in olTcntlichcn Irrenanstalten behandelten Fälle
zurück, und noch bei (anstatt-) finden wir dieses Übe! als
die bei weitem haufi^^stc. alle übrigen ätiolorjischen Momente
in den Schalten stellende Ursache der Tabes dorsalis erwähnt.
l>st die genauere Kenntnis* der Symptomatolo^ue der organi-
schen Rückennnarkskrankheiten und der verschiedenen nervösen
Schwächezustände, welche uns die letzten Dezennien brachten,
führte zu einer sachgemässen Beurteilung der Folgen der Mastur-
bation Es unterliegt für uns heutzutage keinem Zweifel, dass
das Schreckbild der Tabes, das unsere Vorgänger den einge-
fleischten Onanisten vorhielten, nicht auf tatsächlicher Beob-
achtung, sondern auf einer Verwechslung schwerer spinaler
Erschöpfungszustände mit Tabes beruhte. Von den neueren
Autoren (Christian, Leyden, Erb, Rosenthal, Bcard,
Hammond, Curschmann, Fürbringer, v. Krafft-Ebing u. a.)
wird allgemein die Entstehung spinaler Neurasthenie als Folge
von Onanie zugegeben. Für eine Verursachung von Tabes
durch exzessive Masturbation sind dagegen von keiner Seite
stichhaltige Beweise beigebracht worden^). Auch die Rolle,
welche man der Selbstbefriedigung bei der Entstehung von
') EI Iis, trailc de ralicnatioii, Irad, p. Arcliamhault, Paris 1840, p. 13 5.
'j Canstfttt, Handbuch der mcdisinischen Klinik, 3. Band, I. Abt.
1S43» S. 202.
*} Audi eine «on Hamm od d mitgeteilte, n sich «dir bonerkenswerte
Beobacbtang ist durehaa» nicht eiDwandfirci. Ein junger Mann gab sich wShrend
einer Olgie in einem Bordell etwa neunmal in einer Stunde dem Onan falsch-
Üdienretse zugeschriebenen Laster hin, wobei nur flie ersten 3 Male Ejakulation
8*
U6
Oiuuiie.
Psychosen früher zuschrieb, ist Jurch die neueren Ennittchin^en
gewaltig eingeschi änkt worden. Man ist auch in dieser Hin-
sicht früher olfenbar häufig dem Irrtum unterlegen, dass man
als Ursache der Erkrankung ansah, was bereits Symptom der-
selben war.
Der Akt der Selbstbefriedigung wird von männlichen so-
wohl als weiblichen Individuen auf sehr verschiedene Weise
geübt, und man kann nach der Art der dabei hauptsächlich
einwirkenden Reize zwei Formen der Masturbation unter-
scheiden: a) eine peripher- mechanische, b) eine psychische
(geistige, Gedankenonante).
a) Die peripheiMnecbaiiische Onanie.
Der sexuelle Orgasmus wird hier ausschliesslich oder
hauptsächlich durch mechanische, zumeist auf die Haut-, resp.
Schleimhäute der Genitalien einwirkende Reise ausgelost. Die
gewöhnlichste Art dieser Onanteform und der Onanie Oberhaupt
und zwar bei beiden Geschlechtem ist dtc manuelle, auf deren
Details wir nicht weiter einzugehen brauchen. Auch bei der
mutuellen Form der Onanie, wie sie vorzugsweise von Konträr-
sexualen geübt wird, handelt es sich gewöhnlich um die manuelle
Art der Prozedur.
Bei Knaben und jüngeren !.< uten fuhren mitunter sexuelle
Empfindungen, die beim Klettern oder Rutschen nul F)alken,
Geländern etc. durch Druck auf Penis und Hoden /utällig aus-
gelöst wi'idi n, /.u onanislischcn Gepilo'^cnhciten, bei denen die
erw ihnlen Prozeduren in der einen oder anderen Weise wieder-
holt werden. Ein Patient berichtete mir, dass er mit der Onanie
im Alter von 13 Jahn n in der Turnstunde beim Mastklettern
bekannt wurde niul sjtäter im Alter von 16— iQ Jahren der
( )nanie vermittelst l mklammerung einer eisernen .Stange, d. h.
durch Druck des Körpergewichts auf Hoden und Penis mit
eintrat. Am n.khslcn Morgen batlc er bereits luconlincnlia urinae, und allniabiich
entwickelte sidi eine Tabes. Meioes Eraditen» kt ein io migpvOliiilicbcr und
«innloser Exzcss nur bei einem krankhaften Zuitande erklirlidi, und so luUte icb
es für da> WalirstbcinliclK-ic, d.'i>.> bei licm DetreflTenden benits beginoeode Xdbcs
vorUg, als er ach die erwikbote UnbiU xufugte.
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Onaow.
117
Leidenschaft frdhnte (ca. 2oomal im Verlauf von 3 Jahren) und
nach dem onanistischen Akte oft noch schwere Kraftübungen
vornahm. Der masturbatorische Akt erfolgte, wie der Patient
weiter berichtete, ohne jede begleitende erotische Fantasie und
führte zur Auslösung des Orgasmus ohne vorhergehende Erektion.
In der Mehrzahl der Fälle meiner Beobachtung wurde jedoch
die Vornahme von Kletter- und Rutschübungen zu onanistischen
Zwecken alsbald witdcf aiiftjegeben.
Von Frauen werden zum Zwecke masturbatorischer Reizung
auch die verschiedensten und sonderbarsten Gegenstands von
weicher und harter Beschaffenheit in die Vagina eingeführt, wo-
durch dann auch öfters entzündliche Prozesse im Genitaltrakt
hervorgerufen werden. Manche weibliche Personen erreichen
die Selbstbefriedigung, indem sie durch reibende, drückende
Bewegungen der Oberschenkel gegenebiander auf die Klitoris
emwirken. Ungleich seltener werden Fremdkörper zum Behufe
ooanistischtt Reizung von Frauen in die Harnröhre eii^eführt
und noch seltener von Männern. Dass letzteres Vorgehen wegen
der Möglichkeit, dass die eingeführten Fremdkörper in die Harn-
blase gelangen, besonders gefährlich ist, liegt nahe. Bei Er-
wachsenen, die Kenntnis von sexuellen Dingen haben, wird der
masturbatorische Akt wohl zumeist von sexuelisinnlichen Vor«
Stellungen (erotischen Bildern) begleitet, welche als unterstützen-
des Moment bei der Auslösung des Orgasmus beteiligt sind.
b) Psychische Onanie^).
Bei dieser Fortn der Masturbatir>n wird der Orgasmus
lediglich durch zentrale Reize — Vorstellungen — ohne Mit-
wirkung irgend welcher Manipulationen an den Genitalien aus-
gelöst. Die in dieser Richtung wirksamen Vorstellungen sind
zumeist Phantasievorstellungen lasziven Inhalts oder Erinnerungen
an sexuelle Erlebnisse, bei welchen der Masturbant absichtlich
') Die AuMlriicke ,,j»iychi>ch( '"5nanic'*, ..'"ini.iiikinonanie" weiden in vrr-
aciuedcDem Sinne gebraut-Ui. Äian versteht darunter nichl lediglich die Hcrbci-
ffllkraog des mtieJIca Orgasmus durch Vorsiellongen, sondern »ucb die Neigung
dt* Vonlelleos, forlwibrend auf lexuelte Dinge absuBcbweifen, sidi lasisive Bilder
ftiuxDiiutten und bei solcben mit Behagen tu verweilen.
118
Onanie.
verweilt und auf welche er seine ganze Aufmerksamkeit kon-
zentriert ; nur dadurch erlangen diese Vorstellungen die Intensität,
dass sie, ähnlich den erotischen Traumvorstellungen, Orgasmus
herbeiführen. In manchen Fällen wird der Anblick weiblicher
Personen zur Anknüpfung der «itsprechenden sexuellen Phan-
tasten (einer ideellen Kohabitation) benützt. Im Vergleich zur
peripher-mechanischen (insbesondere der manuellen) Form der
Masturbation ist die rein psychische eine Rarität und zwar aus
dem einfachen Grunde, weil dieselbe seitens der Praktizierenden
Eij^entümlichkciten auf nervösem und psychischem Gebiete
erheischt, die sich nicht all/.u häufi}f finden. Die ps>chiiche
Onanie erfDitU rt auf geistigem Gebiete eine ijroße Lebhaftig-
keit der Phantasie und die Fähit^keit, die Aufinerksainkeit ganz
lind ^ar auf das Phantasie^cbiet /.u konzentrieren, dadurch allein
kennen die auslosenden sinnhchen Vorstellungen die nötige
Lebhaftigkeit erlangen; die Wirksamkeit derselben setzt jedoch
noch einen Zustand sexueller Schwäche, eine abnorme Erreg-
barkeit des Ejakulationszentrums im Lendenmarke voraus; ohne
diese würden Vorstellungen des Wachbewusstseins nie genügen,
den Orgasmus auszulösen. Die Gedankenonanie kann als erster
und einziger Modus der Selbstbefriedigung geübt werden');
ich habe einige Fälle dieser Art beobachtet. In der Mehrzahl
der Falle geht jedoch, wie es scheint, derselben manuelle Mastur-
bation vorher und wird erst durch diese die Basis zur Aus-
führung rein psychisch-onanistischer Akte g^chaifen (die oben
erwähnte sexuelle Schwäche).
Wenn man die Schädlichkeit der verschiedenen Arten der
Masturbation für die Psyche und das Nervensystem taxieren will,
muss man die geistige zweifellos als die an sich schlimmste
erkl.'iien. liire grö'^seic Schädlichkeit wird nicht in erster Linie
dadurch bedingt, dass bei dersclL^en wegen der nutwendigen
Erhitzung der Phantasie wahrscheinlich ein grösserer Verbrauch
von r<ervcnkräften statt hat, als bei anderen Arten der Mastur-
') RuhleJer bczwcifcM, aber jcdenlUUs mit Unrecht, das primäre Vor-
kommen der pKjrebiüchen Onani«. „Gant abnorm selten*'» l>ein«rkt er, „oder
ttchti^er ülieibaupt nicbtf gibt ts Ncurasthemkcr» die von Anfang iiiK* Lasteit
an dei geistigen Onanie frObnten."
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Ooulie.
119
bation, sondern durch andere Umstände. Es ist begreiflich,
dass das häufige Sichausmalen sexueller Vor^^^e oder sinnlich
erregender Bilder und die absichtliche Steigerung solcher Bilder
zur grössten Lebhaftigkeit dem sexuell-sinnlichen Elemente im
Vorstellen eine ganz aussergevvöhnliche Reproduktionstendenz
verleiht, infolge welcher beim Denken fortwährend ein Ab-
schweifen auf das sexuelle Gebiet sich bemerklich macht und
jede ernstere geistige Arbeit hochgradig erschwert wird. Wir
werden auf diesen Punkt an späterer Stelle zurückkommen. Es
ist ferner ohne weiteres begreiflieb» dass bei einem Menschen,
welcher es dahin gebracht hat, dass er durch reine Phantasie-
vorstellungen willkürlich Ejakulationen herbeizufuhren vermag,
solche auch unwillkürlich durch zufällig einwirkende sinnliche Reize
au^eldst werden, also auch Tagespollutionen auftreten und bei
Koitusversuchen es zu präzipitierter Ejakulation kommt. Diese
Erscheinungen figurieren auch als Folgezostände der gewöhn-
lichen (manuellen) Art der Onanie, doch finden wir sie hier
nicht als gewissermassen notwendige Folge, wie beider psychischen
Onanie, sondern lediglich abhängig von exzessiver onanistischer
Tätigkeit.
Die Onanie wird unstreitig in der grossen Mehrzahl der
RUIe von Gesunden j^cübt und kann bei diesen, soferne es sich
um eine unnatürliche oder, besser gesagt, abnorme Art sexueller
Befriedigung handelt, je nach dem Masse der Übung nur als
Verirrung oder Laster angesehen werden. In einer nicht
gerinfjcn Anzahl von Fallen steht die masUirbatorische Tätigkeit
jedoch in ursaclilicheni Zusammenhange mit einem vi irhandcnen
Krankheitszustande. Zuniichst kommen hier örtliche Verände-
rungen an den (ienitalien in Betracht, die an sich unbedeutend
sein mögen l^k/em, Prurigo, Phimosis nnt konsekutiver Sniei^nia-
anhäufung, V'ulvitis bei jungen Mädchen, Dxyurisj, aber, indem
sie (iftcrc Berührungen der Genitalien veranlassen, namentlich
bei Knidern oft zur .Masturbation führen. Bei ilrw achsem ii
und namentlicii beim weiblichen Geschlcchte bildet auch der
Pruritus genilalium eine häutige Veranlassung zur Masturbation.
Wir begegnen dieser Afifektion bei jungen sowohl als bei älteren
weiblichen Personen, doch vorwaltend nach dem 40. Lebensjahre
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120
Onanie.
und die grossen mit dem Leiden an sich zumeist verknüpften
Beschwerden erfahren durch die onanistischen Akte, zu welchen
der fortwährende Juckreiz den Anstoss gibt, ge^vöhnHch eine
erhebliche Zunahme. I nter den L'rsachen des Pruritus figuriert
aber namentlich bei Mädchen nicht selten die Masturbation, und
es ist begreiflich, dass in diesen Fällen der Hang zur Selbst-
befriedigung und die sexuelle Erregtheit durch den Juckreiz
bedeutend gesteigert wird.
Sehr häufig müssen abnorme Zustände des Nervensystems
als Ursache oder wenigstens prädisponierende Momente in An-
spruch genommen werden. Vor allem ist hier die angeborene
reizbare Schwäche des Nervensystons — die neuropathische
Disposition — zu nennen, die für sich bestehen, aber auch mit
allgemeiner konstitutioneller Schwäche einhergehen kann. Soweit
meine Erfahrung reicht, ist in der Mehrzahl der Fälle, in welchen
Onanie bereits in den Knabenjahren hinge vor der Pubertätsent-
wicklung getrieben wird, die neuropathische Disposition vorhanden ;
das gleiche gilt für die Fälle, in welchen ältere Knaben bereits
in rezessiver Weise der Masturbation sich ergeben. Den nächsten
Anstoss zur Entwicklung des Obels mögen auch hier äussere Ein<
Süsse, schlechtes Beispiel von Mitschülern, zufällige Einwirkungen
auf die Genitalien etc. liefern. Es ist hier eine Beobachtung
von Interesse, deren Kenntnis ich einem befreundeten Herrn
verdanke. Derselbe, früher Direktor emer Korrektionsanstalt für
jii^endliche Verbrecher, teilte mir mit, dass unter diesen zumeist
noch im Knabenalter stehenden Kriminellen die Blasturbatkm in
einer wahrhaft erschreckenden Weise verbreitet sei und von
einzelnen bis zum Abgange blutiger Entleerungen betrieben werde.
Unterden jugendlichen Verbrechern befitulen sieh aber erfahrungs-
gemäss viele erblich belastete, d- genci ierti- hidividucn. Sciion
Trouhscau erwähnt, dass unter den nut Spermatorrhoe und
Impotenz Behafteten häutiL,' solche sie h Imdcn, die von geistes-
oder nervenkranken lütern stammen, s..hin heieditär neiiro-
palhisch belastet sind, als Kinder an nächüichcin Iklipibsen und
später an übermassigen rolluti"iu'n litten oder der Onanie
eAzcsbiv huldi'.'trn Letztere ist in diesen Fällen nach Trousseau
ebenso von einem abnormen Zustande der Innervation abhängig.
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OoMiie.
wir- das nächtliche Bettpissen und die Pollutionen. Christian
hält die habituelle (chronische) Masturbation überhaupt für
Symptom einer bereits bestehenden nervösen Störung. Einer
ähnlichen Auffassung begegnen wir auch bei anderen Irrenärzten»
so bei Kräpelin, der sich dahin äusserte, dass sexuelle Exzesse
und Onanie nur dort sehr erhebliche Dimensionen annehmen und
nw dort einen wirklich verderblichen Einfluss auszuüben ver-
mögen, wo sie auf bereits prädisponiertem Boden erwachsen sind,
bei Forel, nach dessen Ansicht bei weitaus den meisten Fällen,
wo sich die Onanie mit nervösen Symptomen kombiniert, sie nicht
Ursache sondern Mitaymptom ist. Auch Oppenheim ist der
Ansidit, dass der Hang zur Masturbation vielfach Symptom
einer neuropathischen Diathese ist, und er hält es für nicht
xweifelhaft, dass dieser Hang auch direkt vererbt werden kann.
Es lässt sich nun allerdings nicht leugnen, dass die exzessive
Bbsturbaticm sidi besonders häufig bei neuro* und psycho*
pathisch Belasteten (den D^£quilibr6s und D^6n^£s der Fran-
zosen) findet, doch beschränken sich die onanistisd^ Aus-
schreitungen nach meinen Erfahrungen nicht auf solche Indivi-
duen. Auch ursprünglich gesunde und von gesunden Eltern
staiuincndc junge Leute können allL^cniach tiefer und tiefer in
den Sumpf der .Masiurbaliun bich hineinarbeiten, und auf
anderen Seite nuiss betont werden, dass die neuropathische Be-
lastung nicht notwendig und regelmässig^ zur Onanie fuhrt,
sondern nur in jenen Fällen, in welchen als Teilcrscheinungen
derselben gewisse Anomalien auf nervösem und psychischem
Gebiete bestehen. Am häuügsten spielt die Rolle dt^s ursäch-
lichen Momentes ein ererbter iibenuässiger labnorm miichti^^er)
Sexualtrieb. Einem solchen begei;nen wir jedoch weder
überhaupt b<'i allen erblich neuro pathisch Disponierten,
noch bei allen erblich belasteten Onanisten *). Bei einem
') Wenn Rcili'cder beliaiiplet, es sei eine wissenschaftlich wir pi.iktis. h
fcstßesteiUc Kiiahrungslatsache, dass nervtVs belastete Individuen auch tut j;e-
wubnlich eine erhöhte Libidu !»e.\ualib zeigen, hl dic^ entächicdca unrichtig;
weder die WissenacbafR, docK die Praxis weiss etwas von einer derartigen Er-
fahrungstatsache; die nervös bc).i>tct< n weiblichen Personen r. B. «eigen nngemein
viel btofiger io »esucUer Bexiebung Fcigiditftt als echohte Libido.
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122
Onanie.
ansehnlichen Teile dieser hängen die onanistischen Gewohnheiten
mit einer ererbten Willensschwäche zusammen, auf Grund welcher
dieselben, nachdem einmal durch irgend welche Einwirkung der
Anstoss zur Masturbation gegeben wurde, nicht mehr imstande
sind, von der Übung derselben sich los zu reissen. In sehr
seltenen Fällen endlich macht sich bei Belasteten periodisch ein
Zwangstrieb zur Onanie geltend, der so mächtig zur Befriedigung
drängen kann, dass das Individuum selbst alle Rücksicht auf
seine momentane Umgebung und die etwaigen Folgen seines
Vorgehens beiseite lässt In Anbetracht der Seltenheit der
Fälle will ich zwei Beobachtungien dieser Art hier folgen lassen,
von welchen die eine um so mehr Interesse beansprucht, als
dieselbe einen im Greisenalter stehenden Mann betriJft.
Beobachtung 18.
Herr X., 33 Jahre alt, den gebildeten Standen angchöiig, seit
II Jalircii vtthciratct, Vnter eints gesunden Kindes, ist erblich von
beiden Scacn belastet. Sein Vater war nervenleidend und von sehr
hitzigem Temperamente, mehrere Geschwister seiner Mutter starben in
Irrenanstaltoi^ auch seine Grossfnutter mOtterlicherseits war vor ihrem
Tode geisteskrank. Pat- hat mit 10 Jahren einen Typhus durchgemacht,
mit t6 Jahren erlitt er durch einen Sprung von Storkwerkshöhe, wobei
er bewusstlos liegen blieb, eine Gehirnerschütterung, und vor 8 Jahren
wurde er mit Lues infiaert. Pat^t ist seit inelen Jahren der Onanie
ergeben und setzte diese Gewohnheit auch nach seiner Verheiratung
fort, obwohl er an der Befriedigung seiner sexuellen Hedürfnisse durch
den ehelichen Verkehr in keiner Weise gcliindert ist. Es machte sich
bei ihm auch bei regelmassiger Ausübung des Congrcssus bis m die
jüngste Zeit der Drang zur Masturbation zeitweilig in flbermis mächtiger
Weise geltend. Mitunter flberftlU ihn der onanistiscbe Impuls sogar mit
soldier Gewalt, dass er demselben sofort, ohne ROcksicht auf die äugen*
blicklichc Umgebung und die etwaigen Foli^f^n nachgeben muss; diese
Anwandlungen sind von Koptschmerzen, Zusammenschnüren im Halse,
Herzklopfen und lebhaltcn Angstgefühlen begleitet. Pat. ist durch seinen
Zwangstrieb auch bereits in gerichtliche Fatalitäten geraten. Ausserdem
leidet er infolge seiner onanistischen Exzesse an einer Reihe neur«
asthenischer Beschwerden. Kopl'schmerzet), Schwindel, Ki euzschtnerzen,
Ziehen in den Beinen etc. In diesem Falle äusserte hypnoti-chr P.ehjndkmg
einen sehr günstigen Eiiifluss, doch blieb der Patient nicht lange genug
in Beobachtung, dass ein dauernder Erfolg konstatiert werden konnte.
Beobachtung 19.
Herr , Privatier, 69 Jahre alt, ist erhiirh von miUterlirher
Seite belastet. Seine Mutter litt an periodischer Melancholie und AniJu'opo-
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Onjiiiie.
123
phobie; Patient hat ausser einer Lungenentziindunf; vor vielen Jahren
keine schwere Erkrankung durchgemacht Mit 30 Jaliren übte er zum
ersten Male Masturbation und befriedigte dann etwa 90 Jahre auf diesem
Wege seine g( schlechtUchen BedOrfntsse, ohne dabei besondere Exzesse
zu begehen. Mit 50 Jahren hattp er zum ersten Male gcsdil« clitlii lirn
Verkehr, mit 51 Jahren verheiratete er sich. Er vertrug si( h jedoch
mit seiner Frau nicht und licss sich deshalb nach einigen Jahren von
derselben scheiden. In der Folge ergab er sich wieder der Masturbation
und konnte von dieser sich aurh nicht losmachen, als er in die 60er
Jahre kam und mit Rücksicht auf sein Alter und die möglichen gesund-
heitlichen Nachteile ernsthaft gegen seine onanistische Neigung an2u*
kflmpfen versuchte. BromkaU längere Zeit gebraucht und eme Wasser*
kur hatten keinen Erfolg. Noch gegenwärtig im 69. Lebensjahre macht
sich periodisch, etvv.i alle 11 12 Tage, drr I>ranf^ zur ^Tasturl)atiM^ mit
solcher Vehemenz geltend, dass Patient trotz aller Bemühungen dem-
selben in der Regel unterliegt 'j.
Wir l>eg^neii ferner dem Hange zu exzessiver Onanie bei
Zuständen ausgesprochener GeisteEStörung, insbesonders bei
Maniakalischen, femer bei Idioten, Schwachsinnigen und }-^pi-
Icptischen. Bei letzteren werden masturbatorische Akte als
Teilerscheinungen von Anfällen (psyschischen Äquivalenten) be-
obachtet Bei den auf tiefster Stufe stehenden Idioten bildet
die Masturbation einen rein automatischen Akt, eine Art Tic,
wie So Iiier bemerkt, der mit dem Geschlechtstrieb nichts zu
tun hat. Das gleiche gilt für die Onanie der Kinder in den
ersten Lebensjahren. Dann ist auch nicht in Abrede zu stellen,
dass bei geistig normalen Erwachsenen und älteren Kindern in-
folge zufliHiger Umstände (Juckreiz an den Genitalien insbe^
sonders) Masturbation unbewusst im Schlafe ausgeübt werden
kann. Hierbei erfolgt bei männlichen Individuen wenigstens
gewöhnlich in den letzten Momenten des Aktes das Erwachen.
Fürbrtnger erwähnt eines würdigen verheirateten Verwaltungs-
beamten, der im deutsch-französischen Kriege der Onanie im
•) Ober einen Fall von Zwangstrieb zur Onanie bei einer 2y jährigen Frau»
bei der auch aii(!f'r<' Zwan-^simpiiKc bestanden, berichtet Kaan (der neuraslb-
enistche Any^tafTckt bei /wangsvorslcllun}jcn S. 70).
*) Auf die Zustände psychiadier Erregung, in welchen ein ^nt ausser*
ordentlich gesteigerter Sexualtrieb daa henrorstecbeodate Symptom bildet und
xomeist r.u exzessiver ^[.lstu^batioD führt — Satyriasis beim Manne und Nympho^
manic lieini Weibe — wor<Icn wir an späterer Stelle (Anomalieu des GescblecbtS»
trtebcsj zu S(>reclien kumiiicu.
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124
Ooanie.
Sclilafc verfiel und ausser stände war, der Gewuhnheit zu ent-
sagen. Ein junger Mann meiner Beobachtung (Student) von
durchaus glaubwürdigem Charakter berichtete mir, er mache zu
seinem grossen Leidwesen seit längerer Zeit die Wahrnehtnun;^,
dass er im Schlafe ( )nanie treiben müsse, ohne hiervon ein
deutliches Bewusstscin zu haben und dass er lediglich durch die
an der Wäsche verbleibenden Spuren von dem betreffenden
Vorkommnisse Kenntnis erhalte. Ein weiterer hierher gehöriger
Fall meiner Beobachtung betrifft eine sehr achtbare und völl^
glaubwürdige, unverheiratete Dame in den 30er Jahren. Dieselbe
war sehr peinlich berülirt von dem Umstände, dass sie zur Zeit
der Menses öfters ihre Finger des Morgens mit Blut verunreinigt
fand. Der Ernst, mit welchem sie gegen die Wiederholung
derartiger Vorkommnisse vorging — sie scbafi^e sich eine sack-
artige UmhOllang fOr den Unterleib und die Beine an, welche
jede Berührung der Genitalien ausschloss — seugt zur Genüge
dafür, dass hier lediglich unbewusste Manipulationen vorlagen.
Endlich haben wir hier noch des Umstandes zu gedenk«i,
dass bei Frauen eine nicht seltene Ursache der Masturbation
Mangel der sexuellen Befriedigung bei ehelichem Verkehr bildet.
Dieser kann, wie wir schon an früherer Stelle sahen, durch sehr
verschiedene Umstände bedingt sein, solche, die auf seilen des
Mannes liegen (Congn interr., praec. Ejacul.), wie solche, welche
die Frau selbst betreffen. Ist der Akt beim Manne bereits
beendet, während die Frau noch in der Phase zunehmender
sexueller Erregung sich befindet, so ist dies für ihr Befinden in
der nächsten Zeit meist nicht ganz gleichgültig. Die sexuelle
Erregung, welche keine Entladung findet, kann durch ihre
Andauer den Schlaf stören, zu Kopf- und Rückenschmerzen,
allgemeinem Unbehagen etc. führen. Es ist daher begreif-
lich, dass die Frauen nicht selten durch manuelle oder sonstige
Friktionen den Abschluss herbeizuführen suchen, den ihnen
der Koitus nicht gewährt; mitunter hilft auch der Ehegatte
manuell nach.
Betrachten wir die F'olgen der Onanie für das Nerven-
system des Näheren, so zeigt sich, dass dieselben von vctschie-
dcncn Umständen bceindusst werden. Zunächst kommt auch
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OaMiie.
125
hier das Lebensalter in Betracht. Es ist an sich naheliegend,
dass das verschiedene Verhalten des Nervensystems in den ver-
schiedenen Lebensepochen für den Effekt der onanistischen Ret-
Zungen mitbestimmend ist. So sehen wir, dass bei Kindern
infolge der grösseren Erregbarkeit des unentwickelten Nerven-
systems die Masturbation Erscheinungen herbeiführt, die sie bei
Erwachsenen nicht verursacht. Aber auch bei Kindern gestalten
sich die Wirkungen der Masturbation einigermassen verschieden,
je nachdem dieselbe früher oder später geübt wird. Eine An-
zahl neuerer Autoren (Steiner, Jacobi, Hirschsprung,
F leis c h ni a n n , Cur sc h mann u. a.) bezeuget, dass schon in
den ersten Lebensjahren bei Knaben sowohl als IVIädchen keines-
wegs selten Vors^änge beobachtet werden, die unverkennbar in
das Gebiet der Masturbation gehören. Jacobi betont, dass alle
Umstände, welche direkt oder indiifkt eine Reizung der Nei \ en
des IVo^enitalapparates bedingen, geeignet sind, bei jungen
Kindern Masturbation zu veranlassen. Als solche Umstände sind
besonders oft juckende Ausschläge an den Geschlechtsteilen
und in deren Umgebung und Verengerung der Vorhaut (bei
Mädchen Oxyuren) wirksam, Momente, auf weiche wir bereits
hingewiesen haben. Hirschsprung erwähnt als weitere häufige
Ursachen Saugen an den Fiogem, Lippen und Zehen (Ludein,
Wonne saugen), Reibung verschiedener Körpertdlc aneinander,
worauf bereits von Steiner und Lindner die Aufmerksamkeit
gelenkt worden war, und Stublverstopfui^f. Als prädisponierendes
Moment Hegt, wie auch Hirsch Sprung erwähnt, in vielen Fällen
zweifellos angeborene erhöhte Reizbarkeit des Nervensystems vor.
Mit den Folgen der Masturbation in der Kindheit beschäftigte
steh bereits L allem and, der auch hierbei seiner Neigung zur
Obcrtrcibun^ keine Zügel anlegte. ,,S() jung die Kinder auch
sein mögen*', bemerkt dieser Autor, „so magern sie stets in
„Folye der Masturbation ab, werden blass, wunderlich, mürrisch,
„20rnii% ihr Schlaf ist kurz, unruhig, unterbrochen; sie vi-rfallen
„in den komiilctesten Marasmus, und k()nnen seilest unterliegen,
,,wenn man sie nicht ihrer schädlichen Leidinschaft entzieht.
„Kalle solcher Art sind allgcmcm bekannt; und ich brauche sie
„deshalb nicht anzuführen.
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126
OoaDie.
Analoge Syraptomc manifestieren sich bei Erwachsenen,
„sie haben ungefähr denselben Verlauf und können zu dem näm-
„liehen Ende führen. Allein bei den Kindern beobachtet man
..zugleich mehr oder weniger bedeutende Nervenzufälle, was nicht
„leicht bei solchen der Fall ist, die nach der Pubertätszeit Mastur-
„bation treiben, jedenfalls nicht in so hohem Grade. Nerven-
„zufalle obiger Art sind spasmodische Kontraktionen, örtliche
„oder allgemeine Konvulsionen, Eklampsie, Epilepsie, und eine
„Art mit Kontraktur der Glieder begleiteter Paralyse. Solche
„spasmodische Erscheinungen habe ich bei allen Kindern gc-
„sehen, die ich 2U beobachten Gelegenheit hatte, und die Schrift-
„steller sind voll ähnlicher Fälle." —
Den spasmodischen Charakter der Symptoinc inlOlj^c Miss-
brauches der Geschlechtsteile in der Kindheit lietont Lal le-
in and auch an anderer Stelle. Zur Beseitigung der Ma<;tnr-
bafion b( i Kindern empHehit Lallemand ein Mittel, das licut-
zutage nicht viele Verclirrr ') finden dürfte, das Emiegen eines
elastischen Katheters, um eine Entzündung in der Harnröhre
hervorzurufen, wodurch die iierührung der Geschlechtsteile sehr
schmerzhaft gemacht werden soll. Jacobi, welcher die Wir-
kungen der Onanie im jugendlichen Alter etwas nüchterner be-
urteilt als Lallemand, sah im Gefolge derselben bei Kindern
Moräne und heftige Trigeminusneuralgien, Erscheinungen von
Spinalirritation, Gelmkneurosen, hysterischen Husten und in
vereinzelten Fällen auch Lähmungen auftreten *). Ich selbst be*
obachtete mehrfach bei der Masturbation ergebenen Kindern im
Alter von 7 — 10 Jahren Zustände von hochgradiger allgemeine'
Soviel ich ersehen kann» empfiehlt von neaeren Autoren nur Ulf**
mann (Euienbnrgfi Realenxyklopadie, Art. Onanie) ein ahnliches AOUel gegen
Oii;inii,' bei Kimlcrn. naiulkh die Eiiifübrung von Mtlallsonden in die HarorÖhfe.
Fürbrin^jer bemetkt bezüglich dieses Verfahrens, dass dasselbe kaum je voo
nut/.cn ist.
') Tobltr; Muncbn. med. Wochenscbiift Xo. 12, lyoj, S. 5"6, berichtet
ttber den Fall eines 6jährtgen Nfftdchens, welches seit dem t, Lebensjahre
,.Anfillen** litt, bei denen es sich um eine forcierte, durch reibende and zudKeivde
Hi-wi L_Hin;,' des rvihttn ntiiic«. -^m d.is Imkc ausgeübte Ma-^ttiib.ition handcl
Bei dem Müdiln-n hatte si<b im Laufe der [alire am rechten lieinc ein«» l->t''
ira>cbtli4.he Mu»kt;lhypcrliopbte und tiue Kuitliaktur der Fuss^bcugvr entwickeil.
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ODaoie. 127
Nervosität, Schlafstörung, Anf:^stanfällc \ind Zurückbleiben der
geistigen £ntwickhm<:^; in einem Falle kam es y.u Anfällen von
Petit Mal, die mit dem Aussetzen der üblen Gewohnheit schwanden,
ich muss indes hier betonen, dass nach den Mitteilungen, die
mir «ahlreicbe Patienten über in ihren ICnabcnjahrcn geübte
Onanie machten, diese Verirrung, wenn in bescheidenen Grenzen
verbleibend, wenigstens bei älteren, von Hause aus gesunden
Knaben meist nicht zu auffälligen Störungen von Seiten des
Nervensystems führt. Wo sich solche in der späteren Kindheit
bei massiger Masturbation bereits einstellen, liegt gewöhnlich
neuropathische Disposition oder allgemeine konstitutionelle
Schwäche vor. Im aligemeinen nähert sich die Masturbation
der Jahre unmittelbar vor der Pubertätsentwicklung in ihren
Folgen dem bei Jünglingen unter den gleichen Verbältnissen
Beobachteten. Nur dürfen wir nicht ausser Acht lassen, dass
die vor der Mannbarkeit begonnene Selbstbefriedigung auch bei
Maogel unmittelbarer ungunstiger Folgen noch leichter und
entschiedener als die in späteren Jahren geübte eine Schwäche
des Nervensystems begründet, die sich noch lange Zeit nach
Aufgabe der üblen Gewohnheit dokumentieren kann, wenn
die Anforderungen des Berufes hCher gespannt werden oder
der Kampf ums Dasein mit seinen Sorgen und Aufregungen
den Nerven zusetzt
Nächst dem Lebensalter ist die Frequenz der masturba-
torischen Akte hinsichtlich der Folgen von grösstem Belang.
Es verhält sich hier ähnlich wie beim normalen sexuellen Verkehr.
Der an sich unschädliche Einzclakt kann durch seine Häufung
selbst bei ursprünglich viillig gesunden Personen rihebliche
Störungen hervorrufen. Da die Onaim uedi-i an di« Mit-
wirkung, noch an die Zustimmung einer zweiten Person gelnnuJen
ist, ja, wie vielfache Erfahrungen zeigen, ihre Iktätitjung nicht
einmal eine gewi--se Pr»tonz erhtM'^clit, sofornc die^eU^e noch bei
mangelnder Erektion möglich so kunn es auf dem Gebiete
der Masturbation natürlich \ i( 1 leichter zu einem Übermasse
kommi n auf dem des natürlichen sexuellen Genusses. Zweifel-
los finden auch in der Jetztzeit wenigstens unendlich häufigere
und wüstere Exzesse auf dem Wege der Selbstbefriedigung als
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128
Onanie.
im normalen ricschlechtsvei kehre statt. Nach den Mitteilungen,
die ich von verschiedenen Patienten erhielt, bildet mehrmalige
Masturbation, täglich eine Anzahl von jahnn hindurch geübt,
kein allzuseltenes Vorkommnis; manche Beobachter waren in
der Lage, noch viel erheblichere Leistungen auf dem Gebiete
der Jugendsünden zu verzeichnen. Dass solche rücksichtslose
Kraft- und Stofifvergeudung den Organismus ungeschädij^t lässt,
ist jedenfalls sehr selten ; aber es liegen vereinzelte unbestreit-
bare derartige Beobachtungen vor. Curschmann erwähnt
eines jungen geistvollen Schriftstellers, der bei seit dem r i. T.obens-
jahre in exzessiver Weise geübter Onanie körperlich und geistig
frisch verblieben war und eine sehr erfolgreiche Uterarische
Tätigkeit entfaltete. Farbringer berichtet Shnliches von einem
Dozenten, der sogar in der Ehe nicht von masturbatortechen
Rüdcfälien freigebiieben war und trotz alledem seine robuste
Konstitution und geistige Arbeitskraft sich gewahrt hatte. Im
ganzen ist es jedoch ein Glück — wir dürfen dies getrost
sagen — , dass die höheren Grade onanistischer Verirrang doch
nicht allzu häufig über längere Jahre sich erstrecken. Zumeist
bilden ii^endwie erlangte Aufklärungen über das Schädliche und
Unmoralische des geheimen Treibens, wachsende sittUch-religiöse
Skrupel oder bereits in der einen oder anderen Sphäre sich
fühlbar machende ungünstige Folgen, mitunter auch Gelegenheit
EU normalem sexuellem Verkehre den Anlass zur Beschränkung
oder Aufgabe der üblen Gewohnheit. Und so ist der Arzt
denn doch nicht so häufig veranlasst, sich mit den
Folgen der Onanie für das Nervensystem thera-
peutisch zu beschäftigen, als man bei der ausser*
ordentlichen Verbreitung dieses Übels annehmen
könnte.
Schon aus dem eben Bemerkten «^^eht hervor, dass neben
dem Lebensalter und der llaufi-keit des Aktes für die W'irkimg
der Onanie auf das Nervensystem noch weitere i aktoren be-
stimmend sein müssen. Wenn ich die Keihe mir bekannter
Peisiinen, die .sieh durch Jugendsünden schädigten, Revue
|i issu!en lasse, so fmdei ^ich unter denselben eine nicht uner-
hebliche Zahl solcher, die erst iui Jünglingsalter (z. T. noch später)
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Onanie.
129
der schlimmen Gewohnheit anheimfielen und derselben weder
sehr lange Zeit, noch in exzessiver Weise ergeben waren. Es
können also unter Umständen auch massige onanistische Vor-
irrungen nach relativ kurzer Zeit schon zu Gesundheitsstörungen
führen. Dieser auffallende Umstand erklärt sich z T. aus der
physischen, z. T. aus der geistigen Konstitution der betreffenden
Individuen. Die sexuelle Leistungsfähigkeit ist bei Männern, wie
schon erwAhnt wurde, sehr verschieden, luid so kann der Grad
von Masturbation, der > dem sexuellen Vermögen des einen so-
zusagen entspricht, dieses Vermögen beim anderen bereits er-
heblich übersteigen (Vermögen — Fähigkeit der Leistung ohne
Nachteil). Hierzu kommt der Umstand, dass bei manchen
dieser sexuell schwach Veranlagt«i noch angeborene neuro-
pathische Disposition besteht, infolge welcher nervenerschöpfende
Einflüsse jeder Art bei denselben eine intensivere und nach-
haltigere Wirkung ausüben als bei anderen Individuen. Häufiger
ist jedoch in den hier in Frage stehenden Fällen die geistige
Konstitution des der Scibstbefi iedigung Huldigenden für die
Folgen derselben in Anspiucti zu nehmen. Der Gedanke, dass
das Verübte eine schwere Siindi- bildet und das Seelenheil
gefährdet, verfolgt den religiös Gesinnten unal)lässig. verursacht
ihm die ^rcissten Seelenqualen und i>t trotzdem oft :^enug nicht
imstande, den Hang zur Masturbation zu unterdrücken *). Jedem
neuen Akte folgen neue Vorwürfe, neue Gewissensbisse; diese
selbstaufertegte, andauernde geistige Tortur versetzt allmählich das
Nervensystem in einen Zustand icizbarer Schwäche, auf Grund
dessen die Masturbation einen schädigimden Einfluss ausübt, der
ihr an sich nicht zukommen würde. Ähnlich verhält es sich
in den Fällen, in welchen lediglich das Bewusstsein der mora-
lischen Verwerflichkeit der Selbstbefriedigung oder die Kenntnis
ihrer gesundheitsschädigenden Folgen das Gemüt bedrückt.
Auch hier sehen whr, dass das moralische oder vernünftige Ego
das Tun des Onanisten verurteilt, selbst perhorresziert, trotz-
*} Treffend charakterisiert Tolttoj in seiner Kreuienonate mit weni|>eD
Weiten diesen Scck-niu>tatnl : ,,Icli quälte mith und Sic li.il)cn sich ;;t^vi^^ anih
gequält, und so qtrii'cTi skh ncnnnmhi'-nn/ijx von hundert unter !in«fr<^n Knal>ca.
ich (jiitset/lc ihilI), \ih litt, uh bcltlc und tiel inioicr wieder /uiuck."
LüwcDlold, ä«tUL*U-acrTÜ*e Slörungeo. Viotle Aufl. 9
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180
Ouaic.
dem jedoch nicht die Kraft hat, das sinnliche Hgo zu über-
wältigen. Die Kampfe, welche die zwei Seelen in der Brust
gegeneinander führen, haben auch hier unstrdt^ den grdssten
Anteil an der Zerrüttung der Nerven, die sich als Fo^e der
Selbstbefriedigung einstellt. Endlich ereignet es sich nicht ganz
selten, dass junge Männer, welche nur mässig der Masturbation
huldigten und eine merkliche Schädigung ihrer Gesundheit hier*
durch nicht herbeiführten, durch Mitteilungen, welche sie zu*
fallig von Bekannten erhalten, oder durch die Lektüre von
Schriften der oben erwähnten unheilvollen Art (persönlicher
Schutz etc.) in Angst und Sorgen über die möglichen Folgen
ihrer geheimen Sünden ve rsetzt werden und unter dem lunilussc
dieser gemütlichen Erregungen erst sich bei denselben neiir-
asthenische Zustände, gewöhnlich mit exquisit hypochondrischer
Verstimmung, entwickeln.
Wenn wir nunmehr zur näheren Betrachtung der Folgen
der Onanie für das Nervensystem übergehen, so miisscn wir
zuvörderst mit anderen Beobachtern (Christian, Erb, Für-
bringer, Forel u. a.) konstatieren, dass die Selbstbefriedigung
in beschränktem Masse, d. h. in grösseren Zwischenräumen ge-
übt, bei gesunden jüngeren Männern in der grössten Zahl der
Fälle keine nachteiligen Folgen für die Gesundheit hat, und wo
sich solche zeigen, gewöhnlich komplizierende Umstände, auf
die wir bereits eingingen, vorliegen. Auch jene Grade der Ver-
irrung, die über das sexuelle Bedürfnis des Durchschnittsgesunden
sicher hinausgehen, wobei es zu täglicher Samenvergeudung
durch Jahre hindurch kommt, bedingen häuüg, wie ich hervor-
heben muss, zunächst keine auffälligen Störungen von selten des
Nervensystems. Wird hier der sexuelle Missbrauch noch relativ
zeitig eingestellt, so können unter gimstigen Verhältnissen, I. e.
wenn auf das Nervensystem des Betreffenden keine weiteren
Schädlichkeiten einwirken, günstige Ernährungs- und Arbeits-
verhältnisse obwalten und ein mässiger nornialer Geschlechts-
verkehr eingelciti t w ird, sog.ir für die Dauer iiljle Folgen aus-
blcti>cn. Iliennil wiil ich jedoch keineswegs behaupten, dass in
diesen Fällen die Onanie das Nervensystem ganz unbeeinflusst
liess. Meine Wahrnehmungen sprechen vielmehr dafür, dass
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Onanie.
131
dies nicht der Fall ist, dass auch hier das Nervensystem eine
Verminderung seiner Widerstands- und Leistungsfähigkeit er-
fiüirt» die sich aber wegen der vorhandenen gunstigen Aussen»
Verhältnisse nicht auffällig fühlbar macht und bei Fortdauer
dieser Umstände allmählich wieder ausgleicht. In der grossen
Mehrzahl der Fälle nehmen die Diw^c jedoch keine so befriedigende
Gestaltung, weil die hierzu nötigen günstigen äusseren Umstände
mangeln, und so sehen wir, dass bei einer weiteren zahlreichen
Gruppe von Individuen die Masturbation zwar nicht unmittelbar
zu lästigen nervösen Symptomen führt, aber den Boden für die
Wirksamkeit weiterer Schädlichkeiten in entschiedener Weise
vorbereitet. Bei einem grossen, sehr grossen Prozentsätze der
Neurastheniket . mit welchen wir alltäglich zu tun haben, figuriert
Onanie, kürzere oder längere Zeit in jedenfalls über dns i^e-
schk'chtliche Bedürfnis hinausgehender Weise geübt, unter den
ursächlichen Momenten, die wir eruieren. Dabei zeigt sich oft
deutlich, dass erst der Hinzutritt weiterer Noxen, geistiger
Überanstrengung, Sorgen, körperlicher Strapazen etc,, zu der
exzessiven Onanie, also eine Kombination nervenzerrüttender
Momente den Ausbruch des bestehenden Leidens herbeiführte,
oder dass die Neurasthenie erst geraume Zeit nach dem
Sistieren der masturbatorischen Tätigkeit infolge der Ein«
Wirkung neuer Schädlichkeiten, für welche erstere das Terrain
ebnete, sich entwickelte.
In einer dritten Gruppe von Fällen führt endlich die Onanie
direkt und als einzige Ursache zu Schädigungen des Nerven-
systems mehr oder minder weitgehender Natur.
Wenn man die nervösen Vorgänge beim Geschlechtsakte
in Betracht zieht, so zeigt sich, dass hierbei von den Zentral-
Organen das Rückenmark in erster Linie beteiligt ist. Im Lenden-
marke, im Bereiche des Centrum genito-spinale spielen sich
die Vorgänge ab, welche die ICjakulation unniiiiclbar hci beituhren.
Man sollte daher a priori klauben, dass, wo es überhaupt zu
einer Schädi«^nnfj des Nervensystems durch Masturbation kommt,
immer das K'jrlrnmark zuerst und am intensivsten betroH'en
ist. v. Kraffl-Lbing unterschied auch zwei Phasen der sexu-
ellen Neurasthenie, von welchen die erste als genitale Neurose
r
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1S2
Onanie.
mit Beteiligung der Lendenmarkszentren, die zweite als all-
gemeine Neurasthenie sich darstellt. Eine derartige Reihenfolge
der durch Onanie bedingten nervösen Störungen kommt unleug-
bar oft vor, altem, dass dieselbe die Regel bildet, kann ich nach
meinen Erfahrungen nicht zugeben
Die ersten Erscheinungen von seilen des Rückenmarkes
bei Mastarbanten sind gewöhnlich Gefühle von Müdigkeit, Ab-
geschlagenheit, Schwere, KSlte oder Taubsein in den Beinen,
die sich anßinglich nur an einxdne onanistische Akte knüpfen,
später aber andauernd werden; hiermit ist zunächst noch keine
auffällige Verringerung in der Leistunf»sfähigkeit der Beine ver-
knüpft, doch kommt es zu solcher im Laufe der Zeit, so tlass
nach kurzen Spazicrr^ängen schon hochgradige ICrmüdiing < in-
tritt. Hierzu gesellen sich Schmerzen oder lästige Gefühle von
Druck oder Spannung im Rücken, die häufig Tabesbefürchtungen
wachrufen. Nach dem Aufgeber» der Masturbation, ebenso auch
bei erheblicher Beschränkung derselben, steilen sich häufigere
Pollutionen ein, anfänglich nur nächtliche, später auch Tages-
pollutionen, womit sich dann auch Spermntorrhoe verbinden
kann. Zu gleicher Zelt mit den häufigeren Pollutionen kommt
es bei den Versuchen zu natürlichem sexuellem Verkehr zu
verfrühter Ejakulation, des weiteren zur Abnahme der Erektioiis^
ßlbigkeit, schliesslich zu dem Verluste derselben, der völligen
Impotenz. Diese Rethenfolge der Symptome findet sich jedoch
durchaas nicht bei allen oder nur der Majorität der exzessiven
Onanisten. In der Mehrzahl der Fälle bleibt es, soweit die
Störungen in der Sexualsphäre in Betracht kommen, bei der
präzipitierten Ejakulation und den vermehrten Pollutionen, aber
an diese schtiesst sich eine Reihe weiterer Symptome in anderen
Innervationsgebieten an. Es ist hier zunächst die für viele so
unheilvolle Wechselwirkung zu berücksichtigen, die sich zwischen
den durch die fortwährenden onanistischen Reizungen in einem
■) Dks mitde bereits w der eisten Auflage dieser Sdiritt konslBlierr.
twiKhen hat sieb aadi POrbringcr dabin ausgesptocben, dass er das von
V, K r a ff t -E b i n K angenommene Schettta für die EnlwiL-KIung tlcr sexuellen
KciiriHthcnie i:icht :iU Rr;^' !, sondern nur als einen häufig su beoliacbtenden
£Btwicklungsgang betrachtra kann.
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OiMnie.
133
Zustande gest(M<4crter Erregbarkeit erhaltenen lumbalen Zentren
des Geschlechtsaktes und dem Gehirne, resp. der Psyche aus-
bildet. Die krankhafte Reizbarkeit der spinalen Zentren bewirkt,
dass eine Menge psychischer Akte, Vorstellungen, Wahr-
nehmungen äusserer Eindrücke, die den normalen Menschen
sexuell gleichgültig lassen, beim Masturbanten zu geschlechtlichen
Erregungen (mit und ohne Erektion) durch Einwirkung auf die
spinalen Zentren fühten, wodurch die dmorme Erregbarkeit
dieser erhöht wird. Andererseits wirkt der krankhafte Zustand
dieser Zentren auf das Gehirn und hiermit auf die geistige
Sphäre zurück. Die Geffihle ständiger sexueller Erregtheit
(Appetenz), die sidi an den fraglichen Zustand der Lendenmarks-
senlren knüpfen, beeinflussenp wenn sie auch nicht immer deut-
lich zum Bewusstsein gelangen, wie andere Organgeföhle die
Gedankenrichtung, indem sie dieselbe selbst bd entfernten Be-
rührungspunkten auf das Sexuellsinnliche hinüberlenken und
zugleich von ernsteren, sittlichen Vorstellungsreihen abziehen.
So entsteht das, was man auch als Gedankenonanie ') (Gedanken-
unzucht) bezeichnet hat, jene Tendenz des Vorstellens, fort-
während auf sexuelle Dinge abzuschweifen und an diesen haften
zu bleiben, eine Tendenz, unter welcher Wille und Fähigkeit zu
ernsterer geistiger Tätigkeit mehr und mehr abnehmen und
schliesslich ganz schwinden. Hier handelt es sich zweifellos
schon um psychopathische Zustände, allerdings noch nicht von
einer Art. die die tJbci Weisung an geschlossene Anstalten nötig
macht , aber die Basis tür die Entwicklung ausgesprochener
Psychosen ist hiermit jedenfalls gegeben.
Die frngliche psychische Anomalie findet sich ebenfalls
nur bei einem Teile der Onanistcn. Da, wo tlieselbe be-
steht, erschwert sie natürlich in ausserordentlich hohem Masse
das Aufgeben der schlimmen Gewohnheit. Mitunter kommt
es aber erst nach letzterem zu dem Überwuchern des La-
sciven in der Phantasie; dieser Umstand trägt dann zu dem
Auftreten der Pollutiones nimiae und der Spermatorrhöe sehr
wesentlich bei.
»j s. s. 83.
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134
In vielen Fällen steilen sich Erscheinungen von Seiten des
Gehirns als erste Störung im Nervensystem ein, und in anderen
treten sie schon auf, nachdem die Rückenmarkssymptome sich
nur kurze Zeit und in geringfi^ger Weise geltend machten.
Zum Teil sind hier jedenfalls individuelle Verschiedenheiten in
der Widerstandsfähigkeit des Rückenmarks und Gehirns und
in der psychischen Konstitution der Masturbanten im Spiele.
Personen, welche sich ernste Skrupel über ihr geheimes Treiben
machen, sind im allgemeinen mehr disponiert, zerebrasthenisch
zu werden, als andere, die sich über ihr Tun keinen weiteren
Gedanken hingeben. Das psychische Verhalten der ersteren
macht deren Gehirn zu einem Locus minoris resistentiae für die
Wirkungen der Onanie. Den gleichen Einfluss äussern andere
Umstände. Es ist gewiss kein Zufall, dass bei einer grossen
Anzahl von jun;^en Leuten meinet Beobaclituiii^. vor allem bei
Studierenden, aljei auch bei junj^en Lehrern, Amtsgehilfen, Konimis,
sich lediL;lich oder vorwaltend Erscheinungen zerel)raler Neur-
asthenie ( Kopfeingcnoninienheit, Kopfschmerz, verrins^erte geistige
Arbeitskraft, Schwmdcl, Sehslörnngen , Gemütsvcrstinimung,
Angstzustande etc.) als Koliken andauernder onantstischer Ge-
pflogenheiten einstellten. Die ausschliessliche oder vorwaltende
Beteiligung des Gehirns in diesen Fällen erklärt sich aus dem
Umstände, dass die Betreffenden ausnahmslos schon während
ihrer Schul- (resp. Gymnasial- oder Seminar-) jähre der Mastur«
bation sich ergaben. £s ist naheliegend, dass das Zusammen-
treffen geistiger Anstrengungen und onanistisdier Reizungen
während der Entwicklungsperiode des Gehirns speziell dieses
Organ in seiner Widerstands- und Leistungsföhtgkeit schädigt
Diese Schädigung kann soweit gehen, dass jede ernstere geistige
*) Dass d«r eisdi6pfcnde Einfluss der Omnie vonngswcise im Bereiche
»olclicr ZentraUeilc sich geltend macht, die >ich anhaltend io Tiügiceit befinden,
zcij;l auch d.^s Vdi kommen von Schrcibckrampf bei der Masturbation crceHenrn
ScliK-ibern. Bcrgcr (Eulcnburgs Eiuyklopädit; B»ud 11, Artikel bei>cbälti-
gungsncuroäi Dj beobachtete zwei jugendlich« Individuen, welche von Ihrem bis tm
volisUndigeo Scbreibunfähigkeit fortgeadiritteaen Leiden dauernd gehdlt wurden,
nacbikin diese Sthädlicbkeit mt^lidbst beseitigt war. Auch bei einem der O.
er<:^^t^'•fl iiirt'fn Kaufmann njciner Beobathtunji trat als rr-^le Störung Er-
bcbwcruii); deb bchreibeus duich SiJinterzcu uud iai>cbeä Ernuuku de& Armes auf.
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Onainie.
135
Tätigkeit zur Unmöglichkeit wird. Meist tritt jedoch die
Schwächung des Gehirns erst deutlich zuta<^e, wenn erhöhte
Arbeitsanforderungen herantreten oder Sorgen, Aufregungen,
anhaltender Är^er, grössere oder kleinere Verdriesslichkeiten
einwirken. Einige Zeit mag auch dann noch ein eners^ischer
Wille die verlandeten Letstuni^^en erzwingen; aber das Arbeilen
wird immer mühsamer, das Resultat unbefriedigender, während
die mit dem Arbeiten verknüpften Beschwerden stetig anwachsen.
In dieser Weise kommt es schliesslich notwendig zu höheren
Graden von Hirnerschöpfung und damit zu völliger Arbeits-
unfähigkeit.
In einer erheblichen Zahl von Fällen treten, wie schon
erwähnt wurde, nach der Aufgabe oder erheblicher Beschränkung
der Masturbation häufigere Pollutionen auf und stellen sich
erst während der Periode dieser Samenabgänge Kopfbeschwerden
ehi> Gewöhnlich kommt es im Anschlüsse an die Pollutionen
zu einer aufialligen Verschlimmerung der Kopf Symptome (stärkerer
Kopfeingenommenheit und Gemütsverstinunung insbes.), so dass
es erklärlich wird, dass die Leidenden nunmehr in diesen die
Quelle aller sie heimsuchenden Obel erblicken. Es scheint, dass
hier die spinalen Vorgänge, welche die Pollutionen herbeiführen,
ähnlich onanistischen Akten zu einer weithin irradiierenden und
daher auch das Gehirn in Mitleidenschaft ziehenden Nerven»
erschfltterung führen.
Neben den Erscheinungen, die man auf Neurasthenie des
Gehirns und Rückenmarks zu beziehen zweifellos bereditigt ist,
begegnen wir unter den Folgezuständen der Onanie noch einer
Reihe nervöser Funktionsstörungen innerer Oi^ane, die z. T.
aber ebenfalls auf Erschöpfung von Gehirn- und Rückenmarks-
zentren zurückzuführen sind. Hier sind zu erwähnen: die
mannigfachen Erscheinungen der Herzneurasthenie (unregeU
mässiger, aussetzender Puls, Anfälle von Tachykardie, Schmerzen
und Beklemmungsgefühlc in der Herzgegend etc.) das nervöse
') DieM &rscheiouii£^a können als Fol^e der Hastarb»tioii anch gans isoliert
amftreten. Ein ^ojihnger Herr, <kn ich wegen Her/.neura>tlieiiie in Bcband.
lun;^ hatte, halte von seirc^Ti) i?. bis iX. I.cbcnsj.jbic M.i-iuil ation gcül t. Im
10. Lebensjahre »tellUu ^ich bei dcm&elbeo ohne Vorhragang irgendwelcher
136
Onanie.
Asthma, die nervöse Dyspepsie mit ihren zahlreichen, mehr
minder beschwerHchcn Varietäten, die nervöse Enteropathie,
die reizbare Blase und die reizbare Prostata, Symptomenkom-
plexe, die häufig ernstere organische Leiden vortäuschen und
auf deren genauere Detaillierung wir hier verzichten müssen.
Auch die Sinnesorgane werden bei Masturbation in das Bereich
der Neurasthenie gezogen. Die bezüglichen Erscheinungen sind:
Gefühle von Druck und Schwere oder Schmerzen in den Lidern
und Augäpfeln, spontan und bei geringfügiger Augenanstrengung
auftretend, Lidkrämpfc, gesteigerte Lichtempfindlichkeit, sub-
jektive Lichterscheinungen (Photopsien H. Cohn), Herabsetzung
der zentralen Sehschärfe — nervöse oder neurasthenische Asthen-
opie — , ferner Ohrensausen, Hyperästhesie des Gehörorgans, auch
Herabsetzung der Hörschärfe. Endlich ist zu erwähnen, dass
sowohl die einfache als die sogenannte Augenmigräne zu den
durch Masturbation herbeizuführenden nervösen Störungen zählen.
Für die Entstehung organischer Rückenmarkskrankheiten ledig-
lich infolge von Onanie gewährt andererseits meine Erfahrung
keinen Beleg; in dieser Hinsicht völlig beweiskräftige Beob-
achtungen sind auch in der Literatur nicht enthalten.
Wir haben oben bereits erwähnt, dass die Rolle der Onanie
als Ursache von I*sychoscn früher entschieden überschätzt wurde.
Indes ist die Zahl der Fälle geistiger Erkrankung, bei welchen
l^Iasturbation als ursächlicher Faktor wirksam ist, auch nach den
genaueren Erhebungen der Neuzeit immerhin eine beachtens-
werte. Ellingcr fand Masturbation unter 383 Geisteskranken
in S3 Fällen 21,5 Hagenbach unter 800 Kranken 69 mal,
Peretti unter 300 männlichen Irren in 59 Fällen ( 19*3*0)
als mitwirkende Ursache der Geistesstörung. Nach Burr (Pontiac
im nordamerikanischen Staate Michigan) ist bei 10 "jo aller im
Eastern Michigan Asylum behandelten Geisteskranken Mastur-
andeiot Krankheitssymptome erhebliche nervöse HcribcschwerJcn (Aniülle voo
hoch(;radi(;em llcr/klopfen mit Beklcmmun);, (.)bninachtsanwan(llurigen etc.) ein.
Stiltlem litt dieser Herr öfters für kürzere oder längere Zeit an EfKheinungen
der Hctzncura.sthcnic, wilhrend spinale .Symptome (Lendenmarksneurosc) bei dem-
selben sich nie zeigten. Hier muss wohl eine individuelle Trädisposition de«
Herznervensystems (resp. der bulbäten Herzitincnationszentien) vorliegen.
Google
Onanie.
137
bation als Causa morbi zu betrachten. Geringer sind die Zahlen,
welche in Schweden und England ermittelt wurden. Nach einer
Notiz, die sich bei Ribbing angeführt findet, betrug die Zahl
der in den Hospitälern Schwedens aufgenommenen Geistes-
gestörten, deren Leiden durch Masturbation herbeigeführt war,
in den Jahren 1883—1887 Zt7^h ^ Gesamtzahl der auf-
genommenen Irrsinnigen. In England betrug die ProzentzaU
der Fälle von Geistesstörung inlolge von C^ianie 1885: 1,3,
1886: 1,1, 1887: t,4*/o der Gesamtsahl.
Das Irrsein der Onantsten stellt gewöhnlicb eine Weiterent-
wicklung primär neurasthenischer Zustände dar. Nach v. Krafft-
Ebing ist fOr die Umgestaltung der Neurasthenie zur Psychose
bei Masturbanten ausser verschiedenen Hilfsursachen fast immer
eine originär neuropathische Konstitution (Belastung) erforderlich
und wird bei Unbelasteten durch onanistische Exzesse kaum je
das Gebiet der asthenischen Neuropsychose ( Neu: ai>ihenie) über-
schritten. Die Voigäntjc, welche zur Entwicklung der Psychose
führen, sind in den einzelnen Fällen verschieden, zum Teil
soniaii eher, zum Teil psychischer Natur, und ihre spezielle
Beschaftenheit ist für die Art des sich entwickelnden Leidens
von erheblichem Belanf^^
V. Krafft-Kbing sciüldert die Pathogenese der onanistischen Psy-
chosen i. e. derjenigen Psychospn, die sicli auf der ( Irundlagr eirtcr durch
Masturbation erworbcut n NcurasLhenif entwickeln, in Iblgtndcr Weise:
„a) Sie ist eine psychische, durch Vermittlung psychischer Hilfinir*
Sachen. Diese sind spontane Affekte der Reue, Scham, Angst vor den
Folgen des Lasters in Verbindung mit dem peinlichen Bewusslsein, denk
selben aus eigener Kraft nicht entsagen zu können. Oder diese rn-mnts-
bewegtingen sind durch dir. Leklürr gewisser populärer spekulaUver, die
Kolgen der Selbät>ieliändung in üb«ririebener Weise darstellender Bücher
hervorgemren. Überdies kann bd Ehestandskaodidatcn usw. die wirk*
liehe oder relative organische oder die psychische Impotenz ex mssttttv
bati<Mie die bezügliche psychische Ursache darstellen.
In diesen Fällen entste hen Melancholien mit stark (hypocliundrisch)
nosophobischcr Ausprnping im Sinne von Tabes-, Phthisis- nd'^r Wsania-
furcht, je nach vorwaltenden Symptomen dtr begleitenden rsuurastht-nic.
b) Die Vermittlung ist eine somatische durch Hinzutreten schwächen-
der Ursachen (ungenQgende Nahrung, Schlaflosigkeit, klHperliche Er*
krankung, geistige oder körperliche Überanstrengung usw.). Die
Gestaltung dc^ Ki ankh- it'^iiildcs scheint hier wesentlich bedingt durch
konstitutionelle belastende Momente.
138
Onanie.
Sind diese geringgradig, so entstehen als reine Erschöpfungspsycho-
neurosen Stupidität oder Wahnsinnszustände.
Auf degenerativer Grundlage (vielleicht auch ohne solche bei ex-
zessiver Onanie in sehr jugendlichem Alter) entwickeln sich Zustände
primärer progressiver Demenz. Einleitend und episodisch können hier
halluzinatorisch-delirante Zustände, Raptus, Primordialdelirien, kata-
tonische Erscheinungen, manieartige Erregungszustände mit ganz im-
pulsiven Akten bestehen. F'rüh zeigen sich schon in diesem Entartungs-
zustande sittlicher Schwachsinn, Verlust der ethischen und ästhetischen
Gefühle (Unreinlichkeit, Trieb zum Eckelhaften), absolute Gcmütlosigkeit
und Abulie, mit dem Ausgang in tiefste Verblödung.
Als weitere entschieden degenerative Krankheitsbilder sind gewisse
Zustände von Paranoia und von Irrsinn in Zwangsvorstellungen zu
erwähnen."
Die Formen, in welchen das masturbatorische Irrsein sich
darstellt, sind sehr mannigfaltig, was zum Teil mit der Ver-
schiedenheit der Genese des Leidens, zum Teil mit den kon-
stitutionellen Verhältnissen der Erkrankten zusammenhängen
dürfte. Dass Zustände von Melancholie, namentlich mit hypo-
chondrischer Färbung, Manie, Paranoia und gewisse Demenz-
formen auf onanistischer Basis vorkommen, wird allseitig zuge-
geben Manche Beobachter beschrieben auch besondere Formen
von geistiger Störung als Folge der Masturbation, so Peretti
und Skae ein „onanistisches Irrsein'*, Spitz ka einen ,,mastur-
batorischcn Wahnsinn". Von anderer Seite wird dagegen das
Vorkommen einer onanistischen Psychose sui generis bestritten').
') ,,Atn häufigsten", bemerkt Kräpelin, stellt sich bei Onanisten eine
progressive Abnahme der psychischen I-eistungsfähigkeil ein, Unvermögen zur Auf-
fassung und intellektuellen Verarbeitung äusserer Eindrücke, Gedächtnisschwäche,
Interesselosigkeit, Gemütsstumpfhcit ; in .mdcrcn Fällen treten mehr die Er-
scheinungen erhöhter Reizbarkeit in den Vordergrund, barocke Ideenverbindungen.
Neigung zu Mystizismus und exaltierter Schwärmerei oder hypochondrische und
melancholische Depression. Dazu gesellen sich dann mannigfaltige nervöse Stö-
rungen, besonders abnorme Sensationen, aus denen sich nicht selten absurde Wahn-
ideen von dämonischer oder geheimnisvoller physikalischer (magnetischer, elek-
trischer, sympathischer) Beeinflussung herauscntwickeln."
*) Seltsamerweise hat sich in jüngster Zeit ein Nichtfacbmann auf psych-
iatrischem Gebiete, K o h 1 c d e r , veranlasst gesehen, die Bedeutung der Mastur-
bation als ursächliches Moment für schwerere Psychosen in Abrede zu stellen.
Seine Ansicht kann natürlich den bestimmten Angaben zahlreicher erfahrener
Psychiater ( v. K i a f 1 1- Ebi ng, El 1 i ngcr , Pcrc 1 1 i, Spit/.ka, Kräpelin u.a.)
gegenüber nicht weiter in Betracht kommen.
Onanie.
139
Häufig bei Onanisteii r.n beobachtende psychopathische
Erscheinunfjen sind Zwangsvorstellungen und andere Zwangs-
phanomene, die bald nur als untergeordnete Tcilerscheintingen
des ncurasthcnischen Zustandes sich geltend machen, bald im
Krankheitsbilde stärker hervortreten und durch ihre Hartnäckig-
keit zu einer ernsten Belästigung für den Kranken werden, mit-
unter aber auch durch ihre Menge oder Andauer alle übrigen
Krankheitssymptome in den Schatten stellen und das gante
geistige Leben und Handeln des Kranken beherrschen (Zwangs-
vorsteliungskrankheit , Irrsein in Zwangsvorstellungen), über
einen interessanten Fall letzterer Art, den ich vor Jahren be-
obachtete, will ich hier wenigstens in Kürze berichten.
Beobachtung 90.
Franz G., Funktionflr an einem Gerichte, 18 Jahre alt (durdi Kollege
Dr. Sch. an midi verwiesen), gibt an, dass er seit etwa 6 Wochen mit
folgend' n St«")rungen behaftet ist. Er kann seinem Dienste als Schreiber
nicht mehr nachkommen, da er mir wenige Zeilen ohne Unterbrechung
zu schreiben vermag. Versucht er das Schreiben länger fortzusetzen,
so mus8 er mit der Feder immer dieselben Stellen des Papiers wieder
berühren ; ein unwiderstehlicher Zwang nötigt ihn hierzu; dabei befallt
ihn eine heftige Beklemmung auf der Bni^t, Hitze und Druck im Kopfe,
und er wird so erschöpft, dass fr erst nadi < iner halben Stunde imstande
ist, die Arbeit wieder auf/unehmen. Berührt er mit einem Beine zu-
fiüligerweise einen Gegenstand, so muss er nach demselben wiederhoh
mit dem Heine stossen. Bei Tische ist er nicht imstande, nch von
Sf^inem Teller, beim Morgenkaffee von seiner Tasse zti trennen. Ähn-
liche Zwangshandlungen und Zwangsvorstellungen existieren in Menge
bei dem Patienten; die verschiedensten Anlasse geben den Anstoss zu
deren Auftreten. So erwAhnt die Matter des G., dass derselbe nie nachts
vor 2 Uhr zu Bette geht, dass er stundenlang nachts in der Wohnung
sich herumtreibt, fortwährend damit beschäftigt, Türen und Türschlösser
zu untersuchen, und durch kein Zureden bestimmt werden kann, von
diesem Gebahren abzustdien. G. sieht das Krankhafte sdnes Zustandes
vOX&g ein und wQnscht sehnlichst von demselben befteit zu werden.
Seine Gemütsstimmung ist sowohl wegen des Leidens an sich, ab wegen
drohenden Verlu«;{es seiner Stellunjx eine -ehr deprimierte; er äussert
gelegentlich sogar Selbstmordgedanken, die jedoch kaum ernst zu nehmen
sind. Die Geschivister des Patienten sind gesund (Eltern?); er selbst litt
in seiner Jugend an Krampfanfkllen, ist also jedenfalls von neuropathischer
Konstitution und gesteht zu, erheblich Onanie getrieben zu haben.
Dn eine Behandlung des I'.iticnten in häuslichen Vcrh.lltnis.sm
keinen Erfolg versprach und demselben in Anbetracht seiner Mittellosig-
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140
Onanie.
kcit der Eintritt in eine Nervenhetianstait unmöglich war, wurde er mit
seiner vollen Zustimmung fllr die Aufnahme in die Kreisirrenanstait
begutachtet.
Vorstehender Fall ist dadurch ausgezeichnet, dass die massen«
haft vorhandenen, an sich ganz verschiedenen Zwangshandlui^en
wesentlich auf einer Grundzerstörung beruhteUi der Unfähigkeit,
eine einmal begonnene Handlung zur gdiörigen Zeit zu unter*
brechen. Diese Störung fährte auch zu einer Behinderung beim
Schreiben, ähnlich dem Schreibekramp fe und damit zur Dienstes»
Unfähigkeit des Kranken.
Ein Umstand, der bisher noch wenig Beachtung gefunden
hat, ist, dass Masturbation bei jugendlichen Individuen auch zu
Zufällen führen kann, welche in das Gebiet der Epilepsie ge-
hören 'Petit mal). Ich habe mehrere Fälle beobachtet, in
welchen masturbatorische Gepflogenheiten zweifellos den An-
stoss zum Auftreten epileptischer Anwandlungen gaben. Zwei
hierher gehörte Fälle wurden von mir schon vor Jahren a. O.
mitgeteilt.
Beobachtung 2r).
J. M . VolksschuIlehrfT in B. ; 38 Jahre alt, verheiratest; aufgenommen
27. Marz iböö. Der Vater des i'aUenten vcruuglücktc durch einen Schuss,
seine Mutter ist noch lebend und magenleidend. Von den vier Ge»
schwisteni desselben starben zwei an Phthisis. Von Nervenleiden ist
in dL-ssen Familie nirhts bekannt. In St hn v Kindheit machte Patient
Masern und Siiiarlach mit Ne|>hritis durch, hii Alter von 10 oder 11
Jahren iitt er zirka '/i Jaiir Ijüutig an AnläUcn, die mit Rötung des
Gesichts einhergingen und im Qbrigen sich Ähnlich den jetzt vorhan>
denen verhielten. Diese AnfUle, welche Patient selbst mit der in jener
Zeit geübten Onanie in Zusammenhang bringt, verloren sieh in dt r Folge
voltständig, nachdem er von seinen onanistischen Gewohnheiten abge-
kommen war, und kehrten erst vor zirka drei Jahren wieder. Patient
verheiratete sich in ziemlich frohem Lebensalter; Lues und Potatorinm
stellt er entschieden in Abrede, auch erlitt er nie eine Kopfverletzung.
Die in Frage stehenden Antlllle haben seit ihrem Wiederaoftreten
nie fftr längere Zeit pausiert. Unter dem nchraiuiie von Bromfcali wurden
dieselben jedesmal seltener. Doch stellten sie sieii nach dem Ausseuen
dieses Mittels alsbald wieder in der frQheren Hautigkeit ein. Mitnnter
traten sie bis zu 15 Malen an einem Tage auf. Seit einem Jahre kommt
es gewohnlich nur zu einem Anfalle innerhalb 34 Stunden. Das Bewuasfr
*} Schon S. 71 kurz erwähnt.
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Oiiui«.
141
«sein gfht bei den Attacken nie ganz verloren, und als Aura tritt meist
ein Gefühl von Beklommenheit ein, an welches sidi eine ErnpfindLing des
Aufsteigens von der Magengegend nach dem Schlünde zu anschliesst
Im Qlnigen zeigen jedoch die AnfUIe grosse Verschiedenheiten Je nach
der Situation, in welcher der Patient von denselbt n überrascht wird.
Im Sitzen Drehungen des Körpers nach rechts; im Gehen G« Tillil«' der
Lrlahmung der linksseitig,'« n Kxtrrmitate n, tnitnnter nur Zuckungen tim r
Hand etc. Patient gestellt, dass er vor dem Wiederaultreten des Leidens
in sexueller Beziehung einige Zeit hindurch sich Exzessen hingab. In
den letzten Monaten hatte er ausserdem viel von einseitigem Kopfschmerz
zu leiden (zumeist linke Kopfseite). Die l'ntcrsuchung des über mittel-
grossen, innssi«; ir nthrten Patienten ergibt ausser hochgradiger Calvities
nichts Bemerkenswertes,
Beobachtung 22.
Herr K. (;ml\:'"rn'inTneti Juni 1894), 20 Jahre alt, Kaufmann, ist der
Sohn eines gesunden und seiir rüstigen Vaters und einer etwas nerven-
schwachen Mutter; in der Familie beider Eltern sind weder Nerven-,
noch Geisteskrankheiten bisher vorgekommen. Der Patient^ welcher von
Kinderkrankheiten nur Masern durchmaditep ist im fernen Wild- West
der Vereinij^tcn Staaten und zwar unter Verhilltnissen aufgewachsen,
welche alles eher als Nervosität begünstigen konnten. Trotzdem leidet
der junge Mann seit seinem 13. oder 14. Lebensjahre an Erscheinungen,
die in das Gebiet des Petit mal gehören: AnflÜle von Bewusstlosigkeit
von kurzer Dauer (einige Minuten höchstens) mit leichten ^ckungen im
Gesichte, zum Teil auch nur leichte Absenzen mit Gesichtsblflsse und
Stnrrwerdcn des Blickes, die nur eine Anzahl von Sekunden währen,
oder Anfalle, in welchen das Bcwusstsein nicht ganz verloren geht, aber
das Sprechen behindert ist Die Anwandlungen stellten sich in den
ersten Jahren nach ihrem Auftreten hftufig, mitunter audi mehrere Male
an einem Tage ein und sind in den letzten Jahren viel aeltener geworden;
sie kehren aber noch immer wenigsten!^ in Pannen von mehreren
Monaten wieder. Die geistige Entwicklung des Patienten hat durch die-
selben in keiner Weise gelitten. Der Pat. gesteht, dass er von Kameraden
verleitet, im Alter von ix Jahren der Masturbation sich ergab und
dieselbe in den ersten Jahren häufig betrieb; seitdem er älter und ver-
ständiger geworden, habe ei- die Kx/e^'se zwar aufgegeben, doch sich
von seinem Hang noch nicht ganz frei zu machen gewusst. Kein sexu-
eller Verkehr bisher. Objektiv 0.
Das eingehendste Examen des Fat und dessen Vaters ergibt ftlr
die im Vorstehenden erwähnten AnfiUle kein anderes veranlassendes
Moment als die Masturbation.
Beobachtung 23.
Herr X., 34 Jahre alt, Chemiker (aufgenommen 4. Januar 189a),
ist nicht ganz ohne erbliche Belastung: Der Vater von sehr erregtnrem
Naturell, leicht aufbrausend, die Mutter und zwei Schwestern nerveth
schwach.
142
Patient war, abgesehen von leichten Kinderkrankheiten, bis zu
seinem i6. oder 17. Lebensjahre immer gesund. Vom 14. Jahre an trieb
er Onanie und zwar sehr erheblich, und seit dem 16. oder 17. Lebens*
jähre bestehen bei ihm die im folgenden naher zu beschreibenden
Krampferscheinungen, deren Auftreten er selbst iiüt der f^eObtcn Onanie
in Zusammenhang bringt Pat. absolvierte das Gymnasium, brachte auch
seine Universitfltsstudien zu einem gOnstigcn Abschlüsse. In die Uni-
versitUsseit fallen mandie sexuelle Exzesse, zu welchen der Patient
durch seinen ungemein lebhaften Sexualtrieb verleitet wurde. Exz e ss e
in Alcoholiris werden negiert, auch spezitische Infektion.
Bezüglich der Umstände, unter welchen die fraghchen Krampf*
erscheinungen auftreten, gibt Patient folgendes an: Die AnfilUe stellen
sich zumeist auf der Strasse ein, wenn ein Bekannter ihm tmversehens
begegnet oder ihn unversehens anspricht, oder wenn sonst rtwns ganz
Unerwartetes plötzlich an ihn herantritt. Ausserdem uciden dieselben
regelmässig durch das Aufstehen nach längerem Sitzen unter Leuten
hervorgerufen. Eingeleitet werden die Anfillle gewöhnlich durch ein
eigenartiges Gefühl (eine Art Angstgefühl) in der Herzgegend, welches
sich mit Herzklopfen verpescllschaftel ; dann erfolgen krampfhafte Be-
wegungen der Finger des linken Armes — diese nehmen eine Art
Krallenstellung ein — , der Vorderarm wird gegen den Oberarm gebeugt,
die linke Ge^ichtshfllfte etwas verzogen, auch <fie Zvacige weicht nach
links ab und die Sprache ist etwas behindert. Gewöhnlich dauern diese
Anfälle nur einis^e Sekunden. Wenn der Patient sich jedoch heobaehtet
glaubt, oder wenn er überhaupt erregter ist, so währen die Anfalle
länger, bis ZU dner halben Minute und darftber. Der Krami^ breitet
sich dann auch auf die rechte Seite (rechten Arm und redite Gesichte
hälfte) und den Rumpf aus; der Rumpf führt drehende Bewegungen aus.
Pas Gelicn ist jedoch hierbei nie gestört ; die Reine sind unbeteiligt.
Das Bewusstsem bleibt ebenfalls unberührt. Naeh dem Anfalle ist Pat
nidit imstande, mit der befallenen Hand etwas zu leisten; er kann
keinen Druck damit ausflben; diese Schwache hftit jedoch nur 10— ao
Sekunden nn. Pntient kann diirrh verschiedene Akt»- die Entwicklung
des Anfalles hemmen, so, wenn er in Bewegung sich befindet, dadurch,
dass er sich auf eine Lippe beisst, die Nägel einzelner Finger lest gegen
die Hohlhand oder den Daumen presst, auch durch energische stampfende
Trittbewegungen der Beine. Dcu h g< lingt es ihm nicht immer, nament»
lieh wenn er erregter ist, den Anfall auf die'^e Weise zu verhindern.
D«-"n Kuitriu eines Anfalles nach dem Aufstehen von einem Sitze kann
er dadurch vermeiden, dass er einige Augenblicke vor dem Weggehen
ruhig stehen bleibt Objektiver Befund völlig negativ.
Die weitere I chtung deS Pat. ergab, dass bei schlechtem Be-
finden bei demselben Anfälle von der ^cm hildi r ti 11 Art auch ansch» inend
spontan auftraten, die Anfälle auf der Strasse beim Begegnen von Be-
kannten und beim Aufstehen nach längerem Sitzen dagegen unzweifeU
haft durch gewisse unter diesen Verhältnissen konstant wiederkehrende
Zwangsvorstellungen mit b- L;!eitenden Angslzuständen („man werde an
ihm etwas Auffälliges wahrnehmen") ausgelöst wurden. Die Entwicklung
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Onanie.
U3
dieses Zusammenhaages erklärt sich aus dem Umstände, dass die An-
fidle anfänglich spontan und selten auftraten und es dem Patienten längere
Zeit gelang, dieselben vollständig (selbst seiner Familie gegenüber) zu
verheimlichen. Dieser Umstand erzeugte im Laufe der Jahre bei ihm
die Bt'fOrchtung, dass bei ihm doch einmal in Gegenwart oder in der
Sehweite eines Beliannten ein Anfall vorkommen und das ängstlich ge-
wahrte Geheimnis dadurch verraten werden könnte. Diese Befllrchtung
nahm allmählidi den Charakter einer Zwangsvorstellung an, die sich
sowohl auf der Strasse beim Anblick von Bekannten, als nach Iflngerem
Sitzen beim Aufstehen, wenn sein Vcrhaltf n seitens Dritter beobachtet
werden konnte, einstellte und durch den begleitenden Angstzustand das
befbrchtete Ereignis — den Anfall — herbeifllhrte.
Der Zustand des Pat. erfuhr im Verlaufe einiger Jahre eine be*
deutende Besserung, die KrampfafTektion reduzierte sich auf ein Minimum
und dieser ifOnstige Status hat sich, soweit ich unterrichtet bin, erhalten«
Im vorltegenden Falle traten, wie wir saben, im Gefolge
exzessiver Masturbation Krampfanfälle auf, welche wir mit Rück-
sicht auf ihre Lokalisation, sowie ihre Begldt' und Folgeer-
scheinungen als kortikale (Jackson'sche) Epilepsie und zugleich
dem Gebiete des Petit Mal angehörig zu betrachten haben.
Die Anfalle wurden jedoch später überwiegend zum Anhängsel
einer Art Phobie und dadurch ihres epileptischen Charakters
entkleidet.
Die nervösen Folgezustände der Onanie wurden früher
vorwaltend auf den erschöpfenden Einfluss der übermässigen
Samenverluste bezogen. Man sah in dem Sperma ein fOr den
Körper ganz besonders wertvolles Fluidum. Noch Trousseau
bemühte sich, diese Anschautuig zu verteidigen, indem er auf
den Umstand hinwies, dass beim Weibe trotz der mindestens
ebensogrossen, wenn nicht grösseren Erregung des Nervensystems
beim Geschlechtsakte häufige Wiederholung desselben in kurzen
Zwischenräumen keinen Erschöpfungszustand hinterlässt. In
neuerir Zeit ist man fast allgemein der Anschauung, dass der
Spcrmaverlust für die Wirkungen der sexuellen Ausschweifungen
und der Masturbation belanglos ist, weil das selbst durch häuti<^c
Sanienentleerungen dem Körper entzogene Eiweissquantum für
die Allgemeinernährung nicht ernsthaft in Betracht kommen
kann, und dass sonach die Benachteiligung des Nervensystems
durch die genannten sexuellen Missbräuche sich nur aus dem
Einflüsse der Einzelakte erklären 'ässt. Hierbei wird zumeist
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144
Ooaoie.
angenommen (Erb, Fürbringer, Curschmann, Hammond
u. a ), dass, sowie der Schlusseffckt, ilii^ Kjakulation, so auch
die Einwirkung auf das Nervensystem bei der Masturbation und
der Kohabitation völlig oder im wesentlichen gleich sei. Der
Schaden, den die Onanie anrichtet, würde demnach nur aus der
Häufigkeit der Eioxelakte und dem relativ frühen Beginn der*
selben bei noch unentwickeltem Nervensystem erwachsen. Ob-
wohl ich letzterer Anschauung mich im wesentlichen ^) an-
schliessen muss, kann ich doch die Prämisse bezfiglich der
Identität der Rüdewirkung auf das Nervensystem beim natür-
lichen Geschlechtsverkdire und bei der Hibsturbation nicht ganz
zugeben"). Erb bemerkt bezüglich dieses Punktes: ^^«i^t
auf das Nervensystem muss doch für den Mann im wesentlichen
derselbe sein, ob die Friktion der Glans in der weiblichen Vagina
oder irgendwie sonst ausgeübt wird ; die nervüse Erschütterung
bei der Ejakulation bleibt dieselbe; eher dürfte wohl anzundimen
sein, dass beim Gebrauche eines Weibes die nervöse Aufregung
noch grösser sei." Die Annahme wäre ganz zutreffend, wenn
die Friktion der Glans das einzige bei der Kohabitation die
Ejakulation herbeiführende Moment wäre. Dies ist aber nach
meinem Dafürhalten gewöhnlich nicht der Fall. Es spielen auch
psychische Einflüsse *) mit — die EindrUdce, welche der Anblick
der weiblichen Person, die Berührung derselben, Zärtlichkeiten etc.
hervorrufen, und die daran sich knüpfenden Vorstellungen; diese
psychischen Einflüsse mangeln bei der Onanie, sie müssen er-
*) Im «esentlidico, i. e. idi nfidite nidit behaapten, dass die SamenW'
loste bei exzessiver Masturbation für die K(">rperOkonoinie ganz gleichgültig sind.
Allein wir '^tnrl vtulruifip awksf-r >t,ni<3c /u beurteilen, welche BciJciituufj denselben
zukommen mag, wahrt-nd die direkte nervcnschädigcndc Wirkung der mastur-
batoriacheD Entidakie ganz xwdfelloa ist.
Auch roa Scbrenk^Notxing und Rohleder babeo sidi gegfo die
Anaabmc einer IdentitAt der Wirkutigeii des onaaistiachen Einzelaktes und des
KnifTis auf ilrt-. Nerven^v^tem i\^ n^wr^r Zei* aTisfj^^prochon. Kr*tfrer Aiitor
betont die intensive psycbiitciie Mitwirkung, weiche die Onanie erfordert, er bält
«B auch fOr fraglich, ob rein körperlich BeiscbiaT und Masturbation gleichwertige
Akte und. Robleder erachtet in mehrfacber Hinsicht die Onanie fllr acfald-
Hdier als den in gleichem Masse betriebenen Koitus.
') T'-ychische Momente können auch, wie viele Fälle präzipitierter Ejakakltioil
zeigen, unter Umsliaden aliein die Ejakuiatioa herbeifübrcfl.
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Onanie,
145
setzt werden durch sdilupfrige Phantasievorstellungen, also eine
Phantasietätigkeit, die um so intensiver sich gestalten muss, je
häufiger der ooanistisdie Akt geübt wird, je mehr die Erreg-
barkeit des Ejakulationszentnims gesunken ist. Ich kann daher
nicht umhin, anzunehmen, dass auch der Einzeleffekt des ona«
nistiscben Aktes sich in gewissen Beziehungen von dem des
normalen Geschleditsverkehrs unterscheidet und zwar nicht in
vorteilhafter Weise. Aber dieser Unterschied ist immerhin
nicht erheblich genug, um bei seltener geübter Masturbation
und guter Konstitution ernsthaft in Betracht zu kommen
'1 Wrnn schon der Vergleich des onanistischen Ehizelaktes mit dem
normalen Gochlechtsvcrkohr im all(;cindnen zu Ungunsten de"? ersteren ausHÜIt,
so rou'iS natürlich der Vergleich der Onanie mit dem normalen Ge^cblecht*.vcrkehr
mit einer geliebten weiblichen Person sieb fiu erstcre noch ungünstiger geütaitcn.
Der «eeHschen Befriedigung, die int ieuteren Falle mit der lomatiacfaea sidt ver«
bindet und sicher incb für das körperliche Befinden nicht gleichgültig ist, — man
berücksichtige nur, wie altere M;iikben nach glücklicher Verheil atutij; sich ver-
jüngen — steht l)ci <ler Misturhalion jedenfalls das unerfreuliche Bewusstsein
gegenüber, einen unnaiurlicheu Akt begangen zu haben. Auf der anderen Seite
katm idi jedodi der «SMig geObten Onanie nidit jene naditeilig^n Snwirkangeii
auf den Chaiaktcr de» Indifidmiina nadireibeD, den dieselbe iiadi v. Schrenk-
Notzing besitzen soll. Nach diesem Beobachter schädigt auch die massig geübte
Selbstbefriedigung den Charakter des Individimms dadurch, ,,d,i«;s «ie die physio-
K -i^chen Beziehungen zum anderen Geschlecht und damit eine der wichtigsten
yucllea rar Bctitigung der Kilfte im iadiTidudlen und Nzialen Dasein an der
WuemI anteigrilit (Etwloslgkeit elc.) und durch gewobt)heU»mlasig« Zflditnng
der unphysiologischen Erregung einen triebartigen Charakter verleihen kann." Ich
habe bisher nie finden krinnen, dass selten oder massig oeübte Masttirhation den
Mmw für die Reize des weiblichen Geschlechts weniger empfänglich oder dem
natArlidien Geiddeditivcrkehr abhold mac&t. Ifienand wird auch bebauptm
können» dass duvdi die Ausbreitung der Masturbation die Zahl der Eheackllessungen
in merklicher Weise Terriogcrt wird; eher Hesse sich etwas Derartiges noch
von dem Verkehr mit Prostituierten behaupten. Die Gefahr, welche der Mastur-
bation anter allen Ümständea anhaftet, ist darm begründet, dass dieselbe, da sie
ein weiblicfaes Objekt nicht erheischt, jederzeit geübt werden kann und d^halb
bei dersdben die Verleitnag stt Esxcssen viel grösser ist als beim natttrlichen
Gcschleditsverkehr. Auch der Ärmste kann der Selbstbefriedigung im Übermass
fr^ihncn. Anliallende nc-chr.nikung in der Selbstli'-fiiedigung crf>idert mehr
WHlenskraft und mehr Selbstüberwindung aU Beschränkung im uurtimlen sexuellen
Genuss; da die nötige Willenskraft Vielen fehlt, ebenso auch die Aufklftrung
aber die Folgen roasturbatorisdier Exzesse» so entwickelt sich nur allzu oft aus
der Terelnxeiten geleg^ntlidien Selbstbefiiedigung jener so sdiwer abstreifbare
Hang^ wekher Leib und Seele «errüttet.
l.»wnMd, S«xdeU-»«nr(|li* St&imfea. Vierte Aul. 1^
146
Onaai«.
bei onanistischen Exzessen ist derselbe dagegen für den Ge-
samtelfekt wohl nicht belanglos. Jedenfalls aber resultiert die
direkte nervenzerrüttende Wirkung der Onanie in der Haupt-
sache aus den Erregungen des Nervensystems bei den Einzel«
akten. Bevor die erschöpfende Einwirkung des einen Aktes
sich durch Ruhe und Ernährung ausgetrlichcn hat, kommt die
naclistc Erschüttcruni^, dctcn Einfluss um so nachltaltigcr und
ausgebreiteter ist. als das noch geschwächte Nervi nss sti ni der
Ausbreitung der neuen Erregung nur geringeren Widerstand
entgegensetzen kann. So entwickelt sich alhnälilich ein neur-
asthcnischer Zustand, der je nach besonderen Verliältnissen
mehr in dem einen oder anderen Abschnitte des Nervensystems
hervortritt oder gleichzeitig in verschiedenen Innervationsgebieten
sich gehend macht. Hierbei kommt noch ein Umstand in Be-
tracht. Im Gefolge masturbatorischer Exzesse wird öfters eine
Hyperacmie der Schleimhaut der Pars j^rostatica der Harnröhre
mit Hyperaesthesie beobachtet. Ob dieses Verhalten eine direkte
Folge der mit den onanistischen Einzelakten einbergehenden
Kongestionterung der Pars prostatica ist oder lediglich ein
ncurasthenischcs, vom Lendenmark ausgehendes Lokalsymptom
darstellt, steht dahin. Man darf aber jedenfalls annehmen, dass
der in Rede stehende Zustand för das durch die onanistischen
Exzesse schon direkt geschädigte Lendenmark eine Quelle
weiterer Irritation bildet, durch welche dessen Ansprechbarkeit
für zentrale und periphere Reize erhöht und damit das Auftreten
von Erektionen und Pollutionen begünstigt wird. Durch letzteren
Vorgang wird hinwiederum nicht nur die reizbare Schwäche des
Lendcnmarkes, sondern auch die Erschöpfung weiterer durch
Ahleiregun^' beteiligter ZeiUralteile gesteigert. Eine geuiclitige
Rolle si)i( len aber aucli, wie wir sahen, in zahlreichen Fällen
die i)svchiijchen Bcgleitmomente. Die schmerzlichen Gemüts-
vorgänge, die sich oft mit grausamer I\cgclmässi|^keit an die
stetig '^ich eincucinden Sünden des eingetieischten C)nanisten
knüpfen, wirken duekt nervenerschöpfend, benachteiligen aber
auch indirekt das Nervensystem durch Beeinträchtigimg des
Schlafes, des Appetits und der Verdauung. Das fahle Aussehen vieler
Onanisten möchte ich besonders auf letzteren Umstand bezieben.
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Omnk.
147
Beim weiblichen Geschlechte ist die Onanie zweifellos
weniger verbreitet als beim männlidien, im ganzen jedoch
häufiger als gemeinhin von Laien und selbst von manchen
Arsten angenommen wird. Ich muss in dieser Hinsicht auf
Grund meiner eigenen Erfahrungen und der Mitteilungen, die
ich von Seiten erfahrener Gynäkologen erhielt, Eulenburg
völlig beipflichten Unleu^fbar .sj>ielt auch bei weiblichen PcrsoucTi
angeborene neuropathische Disposition iiaufi|^ eine ursächliche
Kelle, sofern sich diese in verfrühten sexuellen Regungen oder
in einer übermässigen sexuellen Begehrlichkeit kundj^ibt, welche
mangels natürlicher Befriedigimg zur Masturbation führt. Die
fragliche Konstitution bildet zugleich eine sehr günstige Basis
für die Entwicklung nervöser Folgezustände. Wo dieselbe fehlt,
scheint die JVlasturbation nur selten und bei ganz exzessivem
Vorgehen zu ausgesprochenen nervösen Störungen zu führen *).
Was die Art der nervösen Erscheintmgen betrifft, die im
Gefolge der Masturbation bei Frauen beobachtet werden, so
handelt es sich vorwaltend um neurasthenische Symptome, die
in ihrer Lokalisation und Ausbreitung einer gewissen Oberein-
stimmung mit den beim Manne unter den gleichen Verhältnissen
auftretenden nicht ermai^eln. In einem Teile der Fälle ent-
wickelt sich die sexuelle Form der Myelasthenie, charakterisiert
hauptsächlich durch Kreuz» und Rückenschmerzen, Hyper- und
Parästbesien im Bereiche der Sexualorgane (Ovarie, Pruritus
vulvae et vaginae etc.), vermehrten Harndrang und Blasentenes-
mus, Coccygodynie, Schwäche und Parästbesien (Müdigkeit,
Kältegefühle etc.) in den Beinen, dann das Auftreten von
') Kröni;:j hSit meine Ansicht (Iber die Häufigkeit der Onanie beim
weiblichen Gescblecbte für nicht zutreil'-mi. Er glaubt, dass die Masturbation
btim «dUidien Gtwhteehte viel zn hTiuiig aiigcuonamen und in ihrer Wirkung
weit iKbersdiitxt wird. Dengegenaber muss ich dtmai hinweisea, dasB, wie im
Texte magj^jA&a ist, meine Ansicht sich nicht lediglich auf meine eigenen Er-
fahrungen, sondern auch auf Mitteilungen erfahrener hiesiger Gynäliologen stQtxt.
Die Bedeutttn^' der Konstitution fiii die Wirkungen der Onanie beim
weiblichen Geschlechtc bebt auch Beard hervor. Er erwähnt« dass bei den
krlAfgen und vollblStigen iri«dien Arbeitermidchcn die Mastarbation» auch wenn
sie derselben viele Jahre hindurch ergeben sind, keinen wesentlichen Nachteil iUr
ihre Gesundheit hervorruft.
10'
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148
Onanie.
Pollutionen. Wir haben an früherer Stelle erwähnt, dass bei
der Frau beim sexuellen Akte mit dem Orgasmus ein Schleim-
erguss aus den Genitalien erfolgt. Derartige ErgOsse — Polln-
tionen — können ähnlich den Samenergüssen beim Manne bei
weibikhen Personen, bei welchen sich infolge von Mastur-
bation und ähnlichen sexuellen Schädlichkeiten eine reiibare
Schwäche des Lendenmarkes (speziell des Ejakulationszentrums
in diesem) entwickelt hat, unabhängig von sexuellem Verkehr
durch psychische Reize, erotische Traumbilder, bei weiter fort-
geschrittener Reizbarkeit der betreftenden Zentren auch durch
sinnliche Vorstellungen im wachen Zustande (insbesonders durch
willk irürhes Verweilen bei solchen, psychische Onanie") und
schliesslich seihst durch mechanische Einwirkungen, Korper-
erschütterung etc.. herbeigeführt werden. In letzteren Fällen
sind die Pollutionen gewöhnlich nicht von Wollustgefühlen,
sondern von unangenehmen, selbst peinlichen Sensationen be-
gleitet, und es fehlen auch nicht die ungünstigen Rückwirkungen
auf den AUgcmeinzustand oder einzelne besonders lästige neur-
asthenische Symptome, die wir bei Mflnnem beobachten., Die
masturbatorische Überreizung der genitalen Lendenmarkszentren
kann auch zu einer Erschöpfung derselben f fihren, infolge welcher
die Auslösung des Orgasmus und WoUustgeffihle beim sexuellen
Verkehr sehr erschwert oder ganz unmöglich wird, ein Umstand,
der für das dieliche Leben und vielleicht auch die Konzeptions-
föhigkeit nicht ganz belanglos ist. Die durch Onanie hervor-
gerufene Hyperästhesie der Vulva und des Scheideneinganges kann
ferner bei Verheirateten unter dem Einflüsse von Koitusver-
suchen zur Entwicklung eines Vaginismus und damit zu einer
Erschwerung und selbst Verhinderung des ehelichen Verkehrs
führen.
Zu den angetuhrten Symptomen treten in vielen Fällen
im Laufe der Zeit wie hei männlichen Onanisten Erscheinungen
zerebraler und viszeraler Ncuiasthenie i K« )j)l'schinerzen, Schlaf-
mangel, n< t vös-dyspeptischc iieschwcrdcn, Herzklopfen etc.),
so dass nichi minder sich das Leiden zur allgemeinen Neurasthenie
gestaltet. Doch ist es durchaus nicht notwendig, dass die £>•
scheinungen der Lendenmarksneurasthenie eine gewisse Aus-
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Onanie.
149
bildung erreichten, bevor Symptome einer Schädigung anderer
Nervengebiete sich geltend machen. Das gleiche Verhalten
haben wir bei Männern gefunden. Es können neurasthenische
Femsymptome verschiedener Art, insbesonders zerebrasthenische
Beschwerden, Kopfschmerzen, Abnahme der geistigen Arbeits-
kraft, Verstimmung und Angstzustände auftreten, während spinale
(oder sexuelle) Störungen nur in sehr geringem Masse vor-
handen sind, oder auch ganz fehlen — nachstehende Beobachtung
bildet ein Beispiel in dieser Richtung, — ausserdem können steh
zu den neurasthenischen Beschwerden mannigfache hysterische
EracheiDui^en gesellen.
Beobachtung 24.
Frl , Bcamlentochter, 20 Jahre alt, ist erblich belastet; beide
Eltern sind nervös, ihr Grossvater von mütterlicher Seite starb in einer
Irrenanstalt, eine Schwester derselben ist mit Agoraphobie und anderen
Topophobien behaftet. Pat. ist von Jugend auf nervös und reizbar und
leidet seit 5 Jahren nn Kopfschmerzen. Sie befand sich als Pensionärin
in einem Institute, als der Kopfschmerz begann und wurde deshalb,
zumal ausserdem Erschdnongen von Chlorose sich zeigten, von ihren
Eltern nach Hanse genommen. Hier verlor sich der Kopfschmerz zwar
nicht, doch trat derselbe in den ersten Jahren nicht sehr häufig und an-
haltt-nd auf; allmählich stellte er sich jcdueh lulufiirer ein, zugleich nahm
er an Inteasität, Dauer und Ausbreitung zu, so dass schliesslich auch
das Gesicht, die Zahne und die rechte Halsseitc befallen wurden. Hierzu
gesellten sich in den letzten Jahren weitere Störungen, ungenügender
Schlaf, AngstzuStOnde und motivlose Wutanf&Ue, auch Anfälle von Ver*
wirrlheit uud zwangfsinAssigcm Ausstossen von Schinipfwört- rn (Kopro-
lalie). Den Angehungen wurde der Verkehr mit der Fat. immer s.chwerer,
da der geringste Widerspruch bei ihr die heftigsten Ausbrüche, die mit»
unter bis zu Gewalttätigkeiten gingen, herbeiführte. Die Pat. hat in den
beiden letzten Jahren mehrmonatliche Kuren in Wasserheilanstalten ge-
br. lucht; die zuletzt besuchte Anstalt verliess sie in verschlechtertem
Zustande.
St. pr. : Pat ist eine schlank gebaute, uberniitlelgrosse Persönlich-
keit von guter Gesichtsfarbe und guter Allgemeinernahrung, die jedoch
verschiedene Degenerationszeichen aufweist (Asymmetrie des Gesichtes
tind S( hwächere Innervation der linken Ge.sichtshälfte etc.). In ihrem
Benehmen macht sie den Eindruck eines be?ehtidenen, völlig wohl-
erzogenen Mädchens. Bezüglich ihres augenblicklichen Befindens gibt
sie folgendes an: Kopfsctunerz ist nicht beständig vorhanden, doch wenn
derselbe fehlt, macht sich dafUr gewAfanlich umsoniehr ein Zustand
innerer Erregung — Angst — geltend, der auch sonst zumeist vorhanden
ist. Beim Aufenthalt in menschenerfaUten Räumen steigert sich diese
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150
Onanie.
Angst gewohiilicli vnrubtrigcIuMid in sehr bc'dcutendein Masse. I>er
Schlai' ist äclir mangeiiialt, auch weuii Beschwerden, die denselben ver*
hindern konnten, fehlen, öfters macht sich eine gewisse Unruhe in den
Annen und Beinen bemerklich. Der Appetit ist wechselnd, Stuhlgang
in Ordnung, die körperliche Leistungsfähigkeit nicht herabgesetzt; im
Bereiche der Sexualorgane ausser nicht sehr crhebhchem Pruritus vulvae
keine Beschwerden. Pat. gesteht zu, eine Anzahl von Jahren Masturbation
getrieben zu haben, sie will jedoch von der Qblen Gepflogenheit wieder
abgekommen sein. Die Beobachtung der Kranken in der folgenden Zeit
ergab jedoch, dass diese Angabe nicht ganz richtig war, die Pat. viel-
mehr sich von ihrem unglücklichen Hange noch nicht völlig befreit hatte.
Unter hypnotischer Behandlung, die in erster Linie auf Beseitigung
des onanistischen i langes gerichtet war, stellte sich nach mehrfachen
Schwankungen sehr bedeutende Besserung ein, die auch, soweit idi
unterriditet bin, lange Zeit anhielt
Im vorliegenden Falle unterliegt es kein«n Zweifel, dass die Pat
bereits während ihres Aufenthaltes im Institute der Masturbation anheim*
fiel und als erst»' dadurch verursachte Beschwerde Kopfschmerzen auf-
traten (vielleicht infolge der Vorwurfe, welche sich die Pat. über ihr
Tun machte); auch in der Folge beherrschten zerebrale Symptome
vollständig das Gebiet Der nicht sehr erhebliche Pruritus war dent
Anscheine nach durch eine leichte Vulvitis bedingt
Nach von K r a 1" f t - H b i n g soll die durch Mast urliation,
unphysiologischen Koitus (Congr. interr.), zuweilen auch durch
Abstinenz quasi gezüchtete Neurose in ihrer Entwicklung einen
ganz bestimmten Gang einhaUen. ,,Sie beginnt a) mit reizbarer
Schwäche des Ejakulations;^cntrums in Gestalt von abnorm leicht
und unter pathologischen Zeichen auftretenden Pollutionen. Es
kommt dann weiter b) zur Ausbreitung der reizbaren Schwäche
auf das ganze Lendenmark und c) weiter auf das Zentralnerven«
System mit Einschluss des Gehirns." Bei der Entwicklung einer
Neurasthenia spinalis diffusa macht sich nach des Autors Be-
obachtungen zuweilen eine Obererregbarkeit des Erektions-
Zentrums und ein peinlicher Zustand von Erethismus genitalis
zugleich mit Klitorismus (analog dem Priapismus des Mannes)
geltend. Hierbei handelt es sich um kontinuierliche Unruhe
und Aufregung in den Genitalien, „peinliches GefOhl, Genitalwn
zu haben", Brennen, Hitze, Vibrieren, Pulsieren etc. in Vulva
und Vagina, einen Zustand, der zu hochgradiger psychischer
Depression führt. ,,Die E.\j)Io! ation ergibt Tui L^eszcnz der
kleinen Schamlippen, fast permanente Erektion der Klitoris,
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Onuii«.
15t
heisse hyperämische Vagtmi, mit offenbar erweiterten und stark
pulsierenden Arterien, meist auch Fluor". Des weiteren be-
trachtet V. K rafft- Ebing die Pollution des Weibes immer
als initiales Symptom einer funktionellen Erkrankung des Rücken-
markes, die sich unter der fortdauernden shockarligen Ein-
wirkung dieses Vorganges immer weiter zur Neurasthenia sexualis
entwickelt.
Der von v. Krafft-Ebing angenommene Entwicklungs-
gang der Neurasth. sexualis mag für viele Falle von Mastur-
bation und Congr. interr. bd weiblichen Personen ratrefifen,
doch kann derselbe keinesw^s als die R^d betrachtet werden.
Wir haben oben bereits gesdien, dass das Auftreten von Fem-
symptomen bei Masturbantinnen nicht an dne gewisse Entwick-
lung der Lendenmarksneurose gebunden ist, und wir werden
spater bei Besprechung der Folgen des Congr. interr. erfahren,
dass sogar sehr häufig neurasthenische Fernsymptunie zur Knt-
wickkin<4 kommen ohne \'orhergang irgendwelcher Störungen
seitens des Lendenniarks. Auch der Auffassung, dass die Pollution
des Weibes immer Symptom einer funktionellen Erkrankung
des Rückenmarks ist, kann ich nach meinen Erfahrungen und
den m der Literatur zur Zeit vorliegenden Mitteilungen, auf
welche ich an späterer Stelle eingehen werde, nicht beipflichten.
Über die Art und Weise, in Acicher die masturbator Ischen
Vorgänge beim Weibe nervöse Störungen herbeiführen, gehen
die Ansichten auseinander. Manche Autoren (so Jolly und
Strümpelli sind geneigt, die schädlichen \Virkuni;en haupt-
sächlich den begleitenden psychischen Momenten iVorwiirfen
oder Gewissensbissen über die lasterhafte Gewohnheit etc.)
zuzu-^chreiben. Hcgar bezieht die üblen Folgen der Onanie
beim Weibe auf die direkte lokale Reizung, welche selbst zu
anatomischen Veränderungen, besonders Katarrhen und Hyper-
trophien führen kann, und ausserdem. die hochgradige allgemeine
nervöse und psychische Erregung, v. Krafft-Ebing leitet
die Lendenmarksneurose der Masturbantinnen lediglich von der
sexudKnervösen Oberreizung her; psyschischen Momenten ge-
steht er lediglich die Bedeutung zu, dass sie die Weiterent-
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152
Onanie.
Wicklung der Neurose zur allgemeinen Neurasthenie fördern.
Nach meinen Wahrnehmungen spielt bei der Masturbation der
Frauen das psychische Moment der rein somatischen Schädigung
gegenüber eine sehr wechselnde und jedenfalls häufig nur eine
untergeordnete Rolle. Auch sehr jugendliche Onanistinnen, die
kaum ein Bewusstsein von der Bedenklichkeit ihrer Gewohnheit
haben, bleiben von üblen Folgen, wie ich mehrfach sah, nicht
verschont.
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X.
Der sexuelle Präventiv verkehr^).
Es ist nicht zu leugnen, dass der sexuelle Präventivverkehr
heutzutage bei allen Kulturvölkern eine Ausdehnung gewonnen
hat, welche es zut (jenüge tcchtfertii^t, dass sicli die A-.zLe nui
den gesundheitlichen Folgen desselben ernsthaft beschäftigen.
In der Tat ist auch bereits seil einer Anzahl von Jahren dieser
Modus geschlechtlichen Umganges Gegenstand zahlreicher medi-
zinischer Arbeiten geworden, von welchen jedoch nur eine
Minderzahl Anspruch darauf erheben kann, unsere Kenntnisse
wirklich gefördert zu haben. Die Neurologen haben längere
Zeit der Frage des Präventiv Verkehrs gegenüber Uterarisch eine
aufTallende Zurückhaltung beobachtet, was nicht allein darauf
curückzuführcn ist, dass man in den Kreisen derselben sich erst
aUmähiich daran gewöhnen musste, auf den Fräventivverkehr
(speaell eine Form desselben) als eine Quelle nervöser Schädi*
gung die erfotderltche Aufmerksamkeit zu richten. Was manche
abhielt, in der in Rede stehenden Angelegenheit sieb vernehmen
2u lassen, war wohl auch der Umstand, dass in der Diskussion
derselben von Ärzten und Laien Medizin, Moral und Sozial-
politik in unglückseliger Weise verquickt worden waren. Um
zu zeigen, wie dies kam, müssen wir etwas ausholen.
In seinem am Ende des vorletzten Jahrhunderts (1798) ver>
öffentlichten berühmten Essay „On the principles of population"
*) Sexaetler PrSventivverkelir = Coitos v. Congresaiai reserviBtua. Con»
giessus intcrniptus i^t jene Form des C. rciictv., wobei das Glied vor dem Ein*
tttlte der EjftkuUtioo aus der Vngin» RDtfemt wird.
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154
Der sexuelle Präventivverkehr.
empfahl bekanntlich M a 1 1 h u s , aiisg^ehend von der Tatsache,
dass ein mit den vorhandenen Subsistcnzmitteln nicht in Ein-
klang stehender Kinderreichtum Familien notwendig zum
Paui)crismus führen müsse, als Mittel zur Besserung der öko-
nomischen V^erhältnisse der unteren Volksklassc kluge Gewohn-
heiten in Bezug auf die Ehe". Hierbei hatte er jedoch nur
Hinausschiebung der Verheiratung bis zu einem die natürliche
Fruchtbarkeit beschränkenden Alter und moralische Enthalt-
samkeit im ehelichen Leben im Auge. Dass diese sehr wohl-
gemeinten Malthus'schen Ratschläge bei den breiten Massen
des Volkes in England oder anderweitig Eingang fanden und
dadurch zu einer grossen praktischen Bedeutung gelangten, ist
nicht ersichtlich. Dieser Umstand war es wohl| der eine Anzahl
menschenfreundlicher und auf die Verringerung des Elendes,
speziell der grossen Kindersterblichkeit in den unteren Volks-
klassen bedachter Personen, Arste und Michtärzte veranlasste,
dem Volke ein Verfahren im dielichen Leben zu empfehlen,
dessen Ausführung nicht die grosse moralische Anstrengung er«
heischt, wie die Malthus'schen Ratschläge, und von welchem
man daher eine grössere Verbreitung erwarten konnte: den
Priventivverkehr. Einzelne Arzte und Nichtärzte haben dann
auch im Verfolge dieser Idee gewisse Mittel oder Verfahren als
besonders dienlich empfohlen, die dann in der Folge wieder als
unzuverlässig oder gesundheitsstörend erklärt wurden. Näher
auf diese Details können wir hier nicht eingehen. Geht man
von der Anschauung aus, die zweifellos ihre Berechtigung hat,
dass die Empfdilung der moralischen Enthaltsamkeit im die-
lichen Leben, selbst wenn dieselbe von Staatswegen oder von
der Kanzel aus geschehen würde, keine Aussicht auf praktischen
Erfolg in den unteren Volksschichten hat, dass aber unter allen
Umständen etwas geschehen muss, um die nanicntlich in den
Grosstädten horrende Kniderstert>Hchkeit und all das Elend,
das hiermit zusainnienhänj^'l, zu verringern, so wird man in der
Emplclilung des Präventivverkehrs nichts Unschickliches oder
Unsittliches erblicken kennen, l'nleu^'bar bildet derselbe ein
Milte!, das zur Verringermiy des Xotstcuules der unteren Klassen
und der hohen Kindersterbhchkcit entschieden beitragen kann,
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Der «esuelte Prtventivmkelir.
155
wenn auch keineswegs das Allheilmittel für alle sozialen Ge-
brechen unserer Zeit, wie manche annehmen.
Allein auch in den besser situierten Klassen verlangen schwer-
¥riegende Rücksichten (die Gesundheitsverhftitnisse der Frau und
z. T. der Kinder) in vielen Fällen zeitweiligen oder selbst
dauernden Verzicht auf normalen geschlechtlichen Verkehr, so
dass auch hier, da der Arzt mit der Forderung völliger Ent-
haltung doch nur selten durchdringen wird, und diese auch bei
Eheleuten häufig nicht ohne gesundheitliche Nachteile durch-
führbar wäre, die Empfehlung des Präventivverkehrs des ge-
ringeren Übels unter IJiTiständen zu einer Art N otw t- ndigkeit
wird. Diese Anschauungen haben jedoch eine entschiedene,
zum Teil geradezu fanatische Gegnerschaft gefunden. Die Not-
wendigkeit einer Beschränkung in der Familie auf diejenige
Kinderzahli „die man angemes.sen behausen, nähren, kleiden
und erziehen kann", wird zwar ziemlich allgemein anerkannt,
auch zugqgeben, dass die Gesundheit der Frau einer gewissen
Berücksichtigung bedarf, allein das vom Neomalthusianismus
empfohlene Mittel des Präventivverkehrs zur Verhinderung
weiterer Konzeptionen als unsittlich und unnatürlich verurteilt.
Hätte man sich hiermit begnügt, so könnte man es den ärzt-
lichen G^nern des Neomalthusianismus nachsehen, sofeme eben
über jede Angelegenheit verschiedene Meinui^en möglich sind
und speziell über Fragen der Ethik in unserer, heutigen Gesell-
schalt die Ansichten vielfach auseinandergehen. Allein die in
Frage stehenden medizinischen Schriftsteller haben sich z. T.
durch einen wahrhaft pharisäischen Eifer zu den ungeheuer-
lichsten Behauptungen hinreisten lassen. Nach denselben soll
der Neomalthusianismus geradezu die moraUschen Grundlagen
unseres derzeitigen Staatswesens gefährden, eine Quelle der
grössten Schcusslichkeiten, von wechselseitiger ehelicher Untreue
anfangend bis zum Incest und Kindsiriurde bilden und ausser-
dem cme Reihe körperlicher und geistiger Krankheiten herbei-
führen. Dabei geberdeten sich einzelne dieser Autoren, als ob
ihnen speziell die Natur ihre Satzungen anvertraut hätte und
als ob ii^end eine andere Auffassung über das Naturgemässe
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156
Der lexuelle Präventivverkebr.
und Sittliche als die ihrem beschränkten Gesichtskreise er-
wachsene gar nicht möglich sei.
Es ist erfreulich, dass wenigstens dieser widerwärtige Zelo-
tismus in der ärztlichen Presse in neuerer Zeit verstummt ist;
allein von einer streng sachlichen, den tatsächlichen Verhält-
nissen in nüchterner Weise Rechnung tragenden Beurteilung
der immensen hygienischen Bedeutung des Präventivverkehrs
ist ein grosser Teil der Ärzte noch weit entfernt.
Werfen wir einen Blick auf die Sachlage, so wie sich die-
selbe bei uns präsentiert, so sehen wir, dass der Präventivver-
kehr in den breiten Schichten der unteren Volksklassen, welchen
die Empfehlung der ehelichen Klugheit in erster Linie galt, noch
verhältnismässig wenig Eingang gefunden hat. Seine Anhänger-
schaft gehört in der Hauptsache dem Mittelstande und zwar
insbesonders den unteren Schichten desselben an.
Fragen wir nach den Motiven, welche die erwähnten Kreise
zur Annahme des Präventivverkehrs bestimmen, so lässt sich
nicht leugnen, dass dieselben nicht durchgehends ethischer
Natur sind. Der Horror mancher Frauen, welche ein oder zwei
Kinder besitzen, vor weiterem Familienzuwachs und anderer vor
Kindern überhaupt kann nur auf Abneigung vor den Unbequem-
lichkeiten der Schwangerschaft und Furcht vor Beeinträchtigung
ihrer äusseren Reize durch dieselbe oder Scheu vor den Un-
annehmlichkeiten und Störungen, welche die Pflege und Er-
ziehung weiterer Kinder mit sich bringen würde, zurückgeführt
werden. Bei Männern spielt ebenfalls letzteres Motiv mitunter
eine Rolle, häufiger wohl der Wunsch, den grösseren Aufwand,
den ein weiterer Familienzuwachs erheischen würde, zu ver-
meiden. Allein in der gros.sen Mehrzahl der Fälle lässt sich
nicht verkennen, dass sittlich berechtigte Motive massgebend
sind: der Wunsch, mit den vorhandenen, mehr oder minder
beschränkten Subsistenzmitteln der Familie ein geordnetes, an-
gemessenes Auskommen zu erhalten, oder Rücksichten auf die
Gesundheitsverhältnisse der Ehefrau. Es ist sicher irrig, wenn
man, wie Eulen bürg, die gegenwärtige Ausbreitung und stetige
Zunahme des Präventivverkehrs einfach als eine Äusserung der
Dekadenz betrachtet. Jeder, der ein offenes Auge für die sozialen
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Der Mitteile PrtveaÜwcrkelu'.
157
Verhältnisse der Gegenwart hat, kann nur in diesen die Haupt-
qudle des Präventiwerkehrs erblicken, und diesen gegenüber
bedeutet derselbe nicht moralischen Niedergang, sondern eher
das Gegenteil, eine Hebung des monüischen Niveaus.
In ähnlichem Sinne bat sich Hegar xur Frage des Mai>
thusianismus geäussert: „Soll die Fortpflanzung zweckmässig
geregelt sein, so muss sie sich vor allem nach dem Alter und
der Gesundheit der Eltern riditen. Aber auch Beschäftigung,
Wohnort, äussere Mittel sind zu berücksichtigen. Das Richt^e
ist nicht schwer zu finden.
„Man ist auch In den gebildeten Klassen unseres Vaterlandes all*
mflhiich 2U einem Einblick in diese Verhaltnisse und zu richtigen An>
schauungen gelangt. Dagegen ist bei der Arbeiterklasse und liesonders
bei der Fnhrilcbevölkcnmg nichts davon zu merken, und das atis der
rücksichtslosen Befriedigung des Geschlechtstriebes hervorgehende Un-
heil enorm.
Man kann den Untergang der Familien genau verfolgen. Solange
nicht mehr als zwei bis drei Kinder vorhanden sind, geht alles ganz guL
Die Frau hilft dur<h I^r-chriftigiüi-^ in und nussfr dem Hause dem Ver-
dienste des Mannes etwas nach. Die Kinder sind ^ut gen.lhrt, sauber
gehalten. Sowie jene Zahl übersehritten iät, tritt fast stets ein Umschwung
dn. Die Mutter ist kaum noch imstande, ihren Haushalt zu besorgen,
geschweige denn noch etwas nebenher zu erwerben. Die Kinder laufen
verlottert herum, d- i- Maim vM liei t jedrii Halt und wandert zur Sehnaps-
kneipe. D;is Endi- vnm Lied ist [;e\v<>hiili< h, da^s dir Frau ins Hospital
geht, oft auch stirbt, der Manu verkouiuit, nicht selten durchgeht, und
die Kinder der Gemeinde zur Last fallen."
Wenn wir nunmehr in der Literatur Umschau halten, um
zu ersehen, was bisher iiber den Einliuss des Malthusianisinus
auf die (iesundheits Verhältnisse ermittelt wurde, miissen wir der
Begrenzung unseres Themas entsjjrechend unsere Aufmerksam-
keit hauptsächlich den Einwirkungen auf das Nervensystem zu-
wenden. Die ersten Mitteilungen über durch Präventivverkehr
verursachte Krankheitszu->tände stammen von amenkani-^chen
Ärzten, denen allerdings auf diesem Gebiete ein sehr aus-
gedehntes Beobachtungsmaterial zu Gebote steht. Gaillard
Thomas (New- York) erwähnt in seinem Handbuche der Frauen-
krankheiten, dass der Gebrauch antikonzeptioneller Mittel oft
Ursache von Uterinleiden wird. Min anderer amerikanischer
Gynäkologe, GoodcU» machte auf Verlängerungen der Cervix
158
Der sexuelle Prlventiwerkebr.
uteri, als Folge einer durch Präventivverkehr erzeugten Kon-
gestion aufmerksam. Im Anschlüsse an diese Mitteilungen be-
richtete Valenta (Laibach) über Beobachtungen an Frauen,
die nach glücklicher Geburt von zwei bis drei Kindern, obwohl
in günstigen Lebensverhältnissen befindlich, zur Verhinderung
weiterer Konzeptionen den C. reservatus und zwar vorwaltend
in der Form des Congressus intcrruptus geübt hatten. Mit der
Sterilität sah Valenta hier mehr und mehr „das Heer hysterischer
Erscheinungen", genauer eine sich immer mehr steigernde Nervo-
sität, von Seiten der Sexualorganc kolossale Hyperämie der
etwas vergrösserten Gebärmutter, Erosionen um den Mutter-
mund etc. auftreten. Valenta erklärt diese Zustände durch
die Annahme, dass die beim C. reserv. erzeugte Kongestion des
Uterus und der Scheide nicht mehr gelöst wird, daher die Teile
kongestioniert bleiben.
An die Veröffentlichungen Valentas reihten sich alsbald
z. T. in rascher Folge weitere ärztliche Publikationen von Nicht-
neurologen, die sich in erster Linie mit den Schädigungen des
Nervensystems durch den Präventivverkehr, in specic den
Congressus interruptus, teilweise auch mit den Einwirkungen
desselben auf die Sexualorgane bei beiden Geschlechtern be-
schäftigten (Bergeret, Panthel, Stille, Hasse, Capell-
mann, Mettenheimer, Mantegazza, Taber Johnson,
Food Thompson, Lindner, Payer u. a). Als nervöse
Leiden, die durch den Congr. interr. verursacht werden sollen,
wurden angeführt : Hysterie, Neurasthenie, Hypochondrie und
selbst Psychosen. Mantegazza will auch organische Rücken-
markskrankheiten auf das Konto des Congr. interr. setzen.
Als örtliche Folgen im Bereiche der Sexualorgane und deren
Nachbarschaft bei Männern finden sich erwähnt: Harnröhren-
katarrhe, Prostatalcidcn, Impotenz (Bergeret), passive Hyper-
ämie des Genitalapparates und seiner Adncxa, Varicocele, Hä-
morrhoidalzuständc, Blasenkrampf (C. Hasse). Es fehlt aber
auch nicht an Stimmen, welche die behaupteten üblen Folgen
des Präventivverkehrs bestreiten (Stille, Food Thompson).
Im i^anzcn in objektiverer und kritischerer Weise als von
den meisten der im vorstehenden angeführten Autoren wurden
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Der Mindk PilT«DtiTtrcifcdir,
159
von Anbeginn an die Folgen des Congr. interr. fOr das Nerven-
system von neurologischer Seite beurteilt. Beard, der sich
zuerst Ober die Angelegenheit äusserte, bemerkt : „Eine unnatür-
liche Art des Koitus und zugleich eine sdiädliche Gewohnheit
mancher Leute ist diejenige, den C. vorzeitig zu unterbrechen;
manchen Individuen erwächst wohl hierdurch kein wesentlicher
Schaden, auch wenn sie jahrelang dieser Gewohnheit obliegen,
doch in Fällen bedeutender Nervosität erfolgen hierdurch hoch-
gradige funktionelle nervöse Störungen, die wohl mit der Zeit
und durch eine entsprechende Therajjic fast gänzlich behoben
werden können." H i r t (Breslau 1 erwähnt, dass in der Rhe bei
sonst geregeltem Geschlcchtsvcrkehre durch den C. interru[itus
Gelegenheit zur Entwicklung neurasthcnischer Erscheinungen
g^eben ist, und dass nur relativ wenige Männer jahrelange
Ausübung des C. interr. ungestraft ertragen, v. Hösslin hält
es für ausser Zweifel stehend, dass der Congr. uiterr., wenn der-
seU>e nicht zur völligen Befriedigung führt, nervöse und speziell
ncurasthenische Beschwerden, vorwiegend im Bereiche der Sexual-
organe hervorrufen kann; doch glaubt er, dass die Fälle, in
welchen der Nachweis geliefert werden kann, dass der Congr.
interruptus die ausschliessliche oder vorwi^ende Ursache einer
Neurasthenie war, verhältnismässig sehr selten sind, v, Krafft-
Ebing fand unter 114 Fällen von Neurasthenia sexualis bei
Männern nur einmal Congr. interr. als Ursache und zwar bei
einem Belasteten. Bei der Frau betrachtet der Autor den Congr.
interr. (wie überhaupt den unphysiologischen Koitus) als eine
der Masturbation in ihrer Wulvun^ gleichwertige, sehr wichtige
Ursache der sexuellen Neurasthenie. Merkwürdig divergent lauten
die Angaben der Berliner Autoren. Oppenheim hält die atio-
lr>gische Bedeutung des Congr. interr. für die Neurasthenie für
nicht genügend sicher gesteilt, während Eulenburg (1895)
demselben bei gewohnheitsmässiger Ausübung einen schädlichen
Einfluss auf das Nervensystem entschieden zuerkennt und be-
merkt, dass ihm in den letzten 10 Jahren in „fast erschreckender
Häufigkeit'* Fälle entgegentraten, wobei auf Befragen oder auch
spontan die gewohnheitsmässige Ausübung des Coitus rcscrvatiis
als mitwirkendes oder (wohl mit Unrecht) sogar als alleiniges
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160
Der Mineile Präveotivvcrkelir.
ätiologisches Moment angeschuldigt wurde. Für bringer hin-
wiederum vermochte bei seinen Kranken nachteilige Wirkungen
seitens der in Frage stehenden Art des Präventivverkehrs viel
seltener zu konstatieren. Er gesteht zu, dass in einem Teile
seiner Fälle während der andauernden Gewohnheit sexual-neur*
asthenische Erscheinungen sich mehr und mehr ausprägten.
„Allein diesen Fällen steht eine grössere Zahl solcher gegenfiber,
welche den unvollständigen Geschlechtsverkehr ohne wesentliche
Rückwifkung viele Jahre lang ertragen. Und was noch wichtiger,
die Patienten, von denen keiner an pathologischen Samen-
verlusten litt, vermochten nicht anzugeben, dass die Zeiten, in
denen der genannte Usus herrschte, gegenüber den ebenfalls
langen Phasen, während welcher zum Kondom gegriffen wurde,
eine anders geartete Wirkung geäussert." Ffirbringer arg'
wöhnt daher, dass der Congr. intern fast nur bei bereits vorher
au^sprochener reizbarer Schwäche des Nervensystems be-
deutungsvolle Verschlimmerung auszulösen geeignet sei. „Die
Gewohnhdt — der Exzess schadet, nicht die „Unnatur" des
Einzelaktes.** >).
Auf den Congr. interr. als eine Ursache der An^^vst^ustände,
welche sich insbesonders bei Neitrasthcntschen und I l\'sterischcn
finden (Angstneurosc Freud), hat zuerst Freud die Aufmerk-
samkeit gelenkt. Der Autor hat bei seiner ersten Mitteilung
über diesen Gegenstand zugleich erwähnt,^ dass der unvoll-
Ständige Verkehr für die Frau nur dann zur Schädlichkeit wird,
wenn dieselbe hierbei keine Befriedigung findet, i. e. der Koitus
vor dem Eintritt des Orgasmus bei ihr unterbrochen wird.
Auf diesen Umstand habe ich schon in der ersten Auflage dieser
Schrift hingewiesen.
1) Auch He gar Sussert sidi besfiglicb der Fragen des PriventiTverkehn
mit Einschtuss des Congr. intcrr. bei Flauen sehr /.iirfickh.iHciuJ. ,,Der Gebrauch
der I'r;i--(.'i vativinittcl", liemerkt er, „und andtn r ilio K(iii/c(jtii>n verhindernder
Vci fahren ist wenigstens für juoge Frauen schudlich und bedingt Zustände der
Blntleere, sowie nerrdser Schwäche und Erregtheit, jedoch Bur lehen erkehüdieie
Störangen, ww «och daraus hervoTfeht, das» die Sterblidikeit der verhcinteten
Frauen ge^^cnüber der der ledigen in Frankreich eine geringere ist als io anderen
Ländern."
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Der »esudle PlftventitrTerkclif.
161
Für den Mann soll der Congr. interr. nach Freud tat
Schädlichkeit werden« wenn derselbe, um die Befriedigung der
Frau 2U eraelenj die Ejakulation willkürlich venögert *), und als
Folge selten reine Angstneurose» md$t eine Vermengung der-
selben mit Neurasthenie auftreten.
V. T schieb (Dorpat) fand in 17 Fällen von Neurasthenie
Congr. interr. als ausschliessliche lirsachc ; erbliche Prädisposition
fehlte in allen 1 alli n. Besonders bemerkenswert ist dabei nc)ch
der Umstand, dass die neurasthenischen Erscheinungen bei fast
allen Kranken sich schon nach zweimonatlicher Übung des in
Frage stehenden Präventivverkehrs einstellten. Unter den Symp-
tomen waren besonders prägnant ; Furchtsamkeit, An'^stziistände
und peinliche Gleichgültigkeit gegen die l'mgebung. Unter
56 weiteren Fällen von Neurasthenie, in welchen Congr. interr.
neben anderen ätiologischen Momenten figurierte, waren 29, in
welchen die Kranken über Angstzustände klagten. Aufgeben
des schftdigenden Modus des Präventivverkehrs erwies sich in
allen Fällen wohltätig Dass der Congr. interr. zu den Ursachen
der neurotischen Angstzustände zählt, wurde von mir ebenfalls
in einer früheren Arbeit bestätigt.
Nach Gattel, der sich im wesentlichen den Freud'schen
Ansicht«! ansdiliesst, spielt der Congr. interr. eine wichtige
Rolle in der Ätiologie der Angstneurose (im Freud'schen Sinne)
Ruver berichtet über 3 Fälle, in welchen im Gefolge von Congr.
interr. psychische Depression mit Angsttuständen in Verbindung
mit erheblicher Abnahme des Kor pergewichtes auftrat.
Auch unter den Gynäkologen hat in den letzten Jahren
eine vorurteilsfreiere Beurteilung' der sozialen Bedeutung des
Präventivverkehrs und seiner gesundheitlichen Folgen sjieziell
für die Frau Platz gegrifien. Krönig hat sich Hegar's und
*) Wir mttiwn hia schon beifigfn, da» diese Ansicht unseren Erfahmogeo
Didkt enlspriebt; nacb denselben ksna der Congr. interr. fttr den Mann enr SdiSd*
liebkeit werden, auch wenn bei demselben keinerlei «uf Hinanssdiiebatic der
£jalcQlAtir>n iicriclitctf Künsteleien vcHlht werden.
') Der gleiche Autor beritlilct .nith uber einen l all von Epilepsie bei
einem 46jäbrigen Manne, bei welchem sich keine andere Noxa als seit einer
Reihe Ton Jahren geübter Congr. interr. entdecken Uess ; er glaubt daher, letileren
als Ursadie der Epilepsie in diesem Falle ansprechen su dOrfen.
LSweafald, SenwU^amai« Stanmgcn. Vierte Avil. 1|
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162
Der Mmelle Prlventhrverkdir.
meinen Anschauungen über die Notwendigkeit einer Beschränkung
der Kinderzahi in jeder Familie schon mit Rücksicht auf die
Gesundheitsverhältnisse der Frau und der Nachkommenschaft
rflckhaltlos angeschlossen.
Der Autor schildert in treffender Weise die Sysiphusarbeit,
welche der Gynäkologe leistet, der einer durch viele Wochen-
bette 2ur Ruine gewordenen Proletarierfrau zu einer Besserung ihres
Gesundheitszustandes verhelfen will, „Kaum ist die Frau etwas
gebessert in die Häuslichkeit zurückgekehrt» so wird sie wieder
geschwängert, und meistens schcm während der Sdiwangersd»ft
stellen sich die alten Beschwerden wieder ein. Ohne malthu-
sianiscfae Vorkehrungen ist in solchen Fällen die Besserung des
nervösen Zustandes unmöglich, ohne diese verfallt die Frau —
besonders bei ungenügenden äusseren lilütteln — unfehlbar den
schwersten Erschöpfungszuständen."
Bevor ich nunrodir zur Darlegung meiner eigenen Be-
obachtungen übergehe, muss ich einige Punkte berühren, deren
NtchtberÜcksiditigung vielfach zu Sdilflssen geführt hat, die den
tatsächlichen Verhältnissen nicht entsprechen.
1. Wenn wir die Folgen des Präventiwerkdirs für die Ge-
sundheit der Beteiligten ermitteln wollen, dürfen wir — selbst-
verständlich, könnte man sagen, wenn dies nicht von ver-
schiedenen Seiten übersehen worden wäre — nicht lediglich
diejenigen Fälle ins Auge fassen, in welchen unsere arztliche
Intervention wegen irgendwelcher im Laufe der Zeit hervor-
getretener Gesundheitsstörungen in Anspruch genommen wurde.
Wir müssen unseren Gesichtskreis vielmehr möglichst zu er-
weitern suchen und nicht bloss alle diejenigen Fälle in Rechnung
ziehen, in welchen znaegebencrniasscn der Präventivverkehr seit
kürzerer oder läni^erer Zeit <^'cübt wird, sondern auch die noch
grössere Anzahl derjenigen, in weichen man bei Mangel direkter
Angaben doch nach Lage der Dinge zu der Annahme berechtigt
ist, dass irgendwelche Präventivvorkehrungen gebraucht werden.
2. Müssen wir in denjenigen Fällen, in welchen bei dem
Präventivverkehr ergebenen Personen nervöse Störungen auf-
treten, in sorgfältiger Weise nachforschen, ob und welche andere
Umstände bei der Herbeiführung dieser Störungen im Spiele
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Der Bexndle Fiftveotivmkebr.
163
waren, und soweit es angeht, den Emfluss dieser anderen
Momente feststellen.
3. Müssen vnr die Art des Präventivverkehrs, die Häufig'
keit desselben im Verhältnis zum Lebensalter und der Konstitution
der Beteiligten, endlich die begleitenden Umstände in Erwägung
ziehen«
Meuie Erfahrungen ergeben bei Berücksichtigung dieser
Punkte, dass selbst lange Zeit geübter Präventiwerkehr nur bei
einem kleinen Prozentsätze von Männern gesundheitliche Nach-
teile zur Folge hat. Hierbei ist zunächst allerdings die Art des
Präventiwerkchrs nicht in Betracht gezc^en. Diejenigen Formen
desselben, wobei die Frau die Reservation auf sich nimmt, wie
z. B. beim Gebrauche des Pessarium occlusivum, von Schwämmen
u. dergl., können natürlich für den Mann irgendweldie Nachteile
an sich nicht haben.
Auch von dem Gebrauche der Kondoms habe ich bei Männern
bisher ausgesprochene gesundheitliche Nachteile nicht ermitteln
können, und solche sind auch von anderer Seite nicht k<»istatiert
worden. Die Abstumpfung der Empfindung, welche die Benützung
derselben Ijedingt, mag den Genuss beim Aktus vermindern, unter
Umständen auch — bei wenig potenten Männern — eine grössere
Anstrengung erheischen, doch scheint letzterer I ni stand bei
massigem, i. e. lediglich einem ausgesprochenen Bedürfnisse
entsprechenden sexuellen Verkehr keine unt^ünstigcn Nach-
wirkungen zu hinterlassen. Die Schädigungen der Gesundheit, die
ich als Folge des Präventivveri<chrs bei Männern beobachtete,
beziehen sich lediglich auf den Congressus interruptus. Für die
Frau ist der Präventivverkehr an sich von ungleich grosserer
hygienischer Bedeutung als für den .Mann, weil dieselbe die
natürlichen Folgen des fruchtbaren Geschlechtsverkehrs allein
zu tragen hat. Die Frage, ob Frauen häufiger als Männer durch
den Präventivverkehr Schaden an ihrer Gesundheit erleiden,
muss ich unentschieden lassen, weil es an jeder zti verlässigen
Grundlage für die Beantwortung derselben fehlt; doch kann
ich nach meinen Erfahrungen nicht glauben, dass der Prozent-
satz der Frauen, bei welchen die Prävention einen ausgesprochen
ungünstigen Einfluss in sanitärer Hinsicht äussert, bedeutend
II*
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164
Der sexuelle Präventivverkehr.
grösser als der der Männer ist. Wie dem aber auch sein mag,
den Fällen mit nachteiligen Wirkungen steht eine jedenfalls
sehr bedeutende, sicher ungleich grössere Zahl solcher gegen-
über, in welchen von Haus aus schwächlichen oder durch
frühere Geburten oder Krankheiten entkräfteten Frauen die Prä-
vention sich von ganz eminentem Nutzen zur Erhaltung eines
leidlichen Gesundheitszustandes sowie zur Vermeidung ent-
schiedener Lebensgefahr erweist.
Dabei dürfen wir auch nicht übersehen, dass in den Fällen,
in welchen der Präventivverkehr nicht ohne ungünstige Wirkung
in der einen oder anderen Richtung bleibt, der normale Ge-
schlechtsverkehr mit den sich daran knüpfenden mehr oder
minder zahlreichen Schwangerschaften, Wochenbetten etc.
wenigstens sehr häufig für die Frau noch ungleich erheblichere
gesundheitliche Nachteile bringen würde. Die Art der Prävention
ist aber auch bei der Frau nicht gleichgültig. Der Gebrauch
der Okklusivpessarien und ähnlicher Vorrichtungen behindert
den Eintritt der Befriedigung beim Actus in keiner Weise und
kann daher direkt zu nervösen Störungen nicht führen. Dagegen
soll das längere Verweilen der Okklusivpessarien im Scheiden-
raume in manchen Fällen örtliche Afiektionen verursachen;
eigene Erfahrungen über diesen Punkt besitze ich nicht ').
Der Gebrauch von Kondoms kann bei genügender Potenz
des Mannes der Frau ebenfalls keinen Schaden bringen, da
derselbe die Auslösung des Orgasmus nur etwas erschweren
(bei nicht sehr erregbaren Frauen), aber nicht verhindern kann.
Meine eigenen Erfahrungen über nachteilige Wirkungen des
Präventivverkehrs auf das Nervensystem betreffen auch bei
Frauen nur den Congr. interr , und auch dieser gestaltet sich
zur Noxa für die Frau offenbar nur in den Fällen, in welchen
wegen unzulänglicher Potenz des Mannes oder geringer Erreg-
barkeit der Frau die Unterbrechung des Aktes vor der Auslösung
des Orgasmus erfolgt. Die Entstehung von lokalen Veränderungen
im Sexualapparate durch den Präventivverkehr als solchen scheint
von denselben Bedingungen abzuhängen wie die der nervösen
'} Kn'inig erwähnt, dass durch den Gebrauch von Okklasivpessarieo bei
manchen Krauen Scheidcnkatarrhe entstehen.
Oer sekuellc PiSventiTverkdir.
165
Polgezustände. Erfahrene Gynäkologen sprachen sich auch mir
gegenüber dahin aus, dass der C. reserv. nur dann zur Entwick-
lung von Sexualleiden Anlass gibt, wenn die Frau hierbei keine
sexuelle I?efriedigung findet, also jedenlalis nur m einem 1 eile
der Fälle^).
Hinsichlich der Rolle, welche der Präventivverkehr aU
Ursache neurasthenischer Zustände im Vergleiche mit anderen
nervenzerrOttenden Momenten spielt, muss ich konstatieren, dass
bei dem von mir im Laufe der Jahre beobachteten Materiate
von Nerventeidenden beider Geschlechter neben dem Einflüsse
geistiger und körperlicher Anstrengungen, von Sorgen und Auf>
regungen, der Onanie und schmerzhafter oder die Konstitution
schwächender Krankheiten der des Präventiwerkehrs im ganzen
zwar bedeutend zurücktritt, in neuerer Zeit sich jedoch von
Jahr zu Jahr mehr beroerklich macht. Es hängt dies jedoch
nicht lediglich mit dem Umstände zusammen, dass ich dieser
SdiädUchkeit in den letzten Jahren eifriger nachgeforscht habe,
sondern zweifellos zum Teile auch damit, dass der Präventiv-
verkehr in neuerer Zeit auch in Kreisen Eingang gefunden hat,
welche sich früher durch Kinderreichtum auszeichneten (^Lehrer,
Kleingewerbetreibende, Arbeiter, Landbevölkerung}.
Da nicht nur über die Bedeutung des Congress. interr. als
nervenschädigendes Moment, wie wir im Vorstehenden sahen,
sondern auch über die Art der hierdurch verursachten nervösen
Störungen gegenwärtig noch erhebliche Meinungsverschieden-
heiten bestehen, so erscheint mir die Mitteilung eines grösseren
Beobachtungsmaterials angezeigt, bei welchem die ätiologischen
Verhältnisse in gleich eingehender Weise wie die klinischen Er-
scheinungen festgestellt wurden. In nachstehender Tabelle sind
50 Fälle meiner eigenen Beobachtung zusammengestellt, welche
zur Klärung der Frage nach der ätiologischen sowohl als der
symptomatischen Seite beitragen werden.
•) Bcrocrken-iwert ist, dass K r -"i n i ^ in L^-ipri;;. nlnmhl in Sachsen nach
seiner £rf«brung der Congr. interr. sehr verbreitet ist, niemals in der Lage war,
nit Sidierhdt ctwi^e lokate StOnmg^n oder amOw EndMimnigM dincr Art
des FrtvenlivTerkclirs cumschrab««.
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Der sexuelle Präventivverkehr. 177
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Während der
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Besserung ; nac
Wiederaufnahme
Congr. interrupti
sofortige erheblic
Verschlechterung
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Erbliche Belastung
wahrscheinlich.
Geringe erbliche Be-
lastung. Die erste Ent-
bindung sehr schwer
(Elklampsie, Zangen-
geburt unter Chloro-
formnarkose). Die 2.
Entbindung normal.
Erblich belastet, schon
alsKind nervenschwach,
als Mädchen etwas cblo-
rotisch. Schwere Er-
holung nach den Ge-
burten. Menses sehr
reichlich.
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180
Der lesnelle P tly grt ivwfk^f.
Von den in der vorstehenden Tabelle angeführten 50 Fällen*)
betreflfcn 35 Männer, 15 Frauen. Die Angabe „Heilung" in der
5. Rubrik wurde nur in Fällen gemacht, in welchen längere
Zeit, zum Teil jahrelang das Ausbleiben der bei der Aufnahme
vorhandenen Stüruni^en konstatiert werden konnte. In den
übrigen Fällen, in welehcn icli über den weiteren Verlauf unter-
richtet bin, wurde, auch wenn das Befinden des Patienten bei
Austritt aus der BehandlunLj. re.sp Beobachtung ein ganz be-
friedigendes war, nur Besserung angenommen. Wenn wir niln
zunächst die Ätiologie der Fälle, welche Männer betreffen, näher
ins Auge lassen, so finden wir, dass nur bei einem i'eringen
Teile derselben der Congr. interr. die ausschliessliche Ursache
der angeführten Störungen bildet; bei einem grösseren Teile
figuriert neben der in Frage stehenden sexuellen Noxa erbliche
Belastung, und in einer weiteren Gruppe von Fällen Hessen sich
noch andere ätiologische Faktoren ermitteln. Solche bestanden
auch bei einem Teile di r Fiille, in welchen erbliche Belastung
mangelt oder fraglich ist. Die Rolle dieser Faktoren — körper>
liehe und geistige Überanstrengung, gemütliche Erregungen,
akute AUgemetnkrankheiten und allgemeine Ernährungsstörungen
— ist eine verschiedene. Nur bei einem kleinen Teile der
Patienten handelt es sidi um mit dem Congr. interr. gleichzeitig
und gleichsinnig wirkende Momente oder um Noxen, deren
Einwirkung der Übung des Congr. interr. vorhergegangen und
bis zum B^inne desselben ohne ausgesprochene nervöse Folgen
geblieben war; bei den meisten Patienten hatte der Congr. interr.
bereits längere oder kürzere Zeit seinen schädigenden Einfluss
auf das Nervensystem ausgeübt , bevor weitere Noxen zur
Einwirkung gelangten, die dann das Mass sozusagen voll machten.
In manchen Fällen führte das Hinzutreten weiterer Schädlich-
keiten sofort zur Entwicklung nervöser Beschwerden; insbe-
1) Seit der VerOffientUchung obiger Tabelle In der i. Attflige iit die Zdil
meiner Beobadiltuigeo, In welchem Codbt. interr. als nenrcnadihMgendea Moment
sich erwies, so erheblich gestiegen, das* ich die mitgeteilte Zahl verdoppeln
könnte. Ich i-ehe jedoch von weiteren Mitteilungen hier ab, da die in den
letzten Jahren von mix beobachteten FäUe in Ätiologischer und symptomatologiscber
Hinsicht nichts Neues ergaben.
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Der Mxaelle Priveiitiweikdir.
181
sonders bei schweren gemütlichen Erregungen und akuten AU-
gemeinkrankheiten (Influenza) b^egnen wir diesem Verhalten,
und es ist begreiflich, dass in solchen Fällen der Pat. keinen
Zweifel hegt, dass sein Leiden von den in Frage stehenden
Noxen allein herzuleiten sei. Bei anderen Pattenten äussern die
hinzutretenden Schädlichkeiten nicht diesen direkt auslösenden
Einfluss; sie führen nur ^anz allmählich zur Ausbildung nervöser
Störungen. Was den unmittelbaren Effekt des einzelnen Aktes
auf das Befinden der männlichen Patienten anbelangt, so mangelt
es, wie wir sahen, nicht an solchen, welche früher oder später
fühlen, das.s ihnen diese Art des Verkehrs nachteilig ist; in der
grossen Mehrzahl der Fälle fehlt jedoch die unmittelbare un-
günstige Beeinflussung des Befindens, oder dieselbe ist so uner-
heblich, dass darauf keinerlei Gewicht gelegt wird, so dass die
Patienten weit davon entfernt sind, einen Zusammenhang ihres
nervösen Zustandes mit der geübten Prävention anzunehmen
oder auch nur zu vermuten.
Betrachten wir die in der Tabelle angeführten Beobachtungen
nach der symptomatischen Seite, so sehen wir, dass die Er-
scheinungen der einzelnen Fälle zum Teil sehr bemerkenswerte
Unterschiede darbieten und auf Grund dieser sich mehrere
Gruppen absondern lassen.
Bei der ersten sehr kleinen Gruppe (5 Fälle) handelt es
sich fast lediglich um Störungen, welche der Sexualsphäre an-
gehören (Abnahme der Libido, mangelhafte Erektionen, präzip.
Ejak., Spermatorrhoe); nur in einem dieser Fälle b^tand neben*
bei noch eine andere myelasthenische Erscheinung (abnorme
Müdigkeit der" Berne). Bei einer weiteren, ebenfalls kleinen
Griipp)e (Beob. 26 — 29) begegnen wir dem umgekehrten Ver-
halten ; Erscheinungen von Myelasthenie fast ohne jede Be-
teiligung der Sexualsphäre; nur in einem dieser Fälle, der einen
in den Jahren schon ziemlich vorgeschrittenen Herrn mit Diabetes
betraf, bestand präzipitierte Ejakulation
*) Ob die zerebraleil Encheinungen, welche io diesem F«lle «ettweilig auf-
tnten — Schwindel and Kopfsdimerteii — als nettrastbeiiisdie lu betraditeD
oder auf ArtcrioakfenMe xa besicheii siod« maas ich dahingestellt sein lassen«
Digitized by Google
182
Der sexodle PrSventivTerkehr.
Ein Fall dieser Grappe ist dadurch besonders bemerkens-
wert, dass die myelasthenischen Beschwerden (Schwäche, MQdig-
keit, Taubheitsgefühl) sich längere Zeit auf das rechte Bein
beschränken, also eine ausgesprochene 1 leunncurasthenie vorlag.
I m solche handelt es sich anschcinentl auch in Beob. 30; doch
möchte ich hier die Annahme einer Hcminourasthenie nicht als
so sicher begründet erachten wie in Beobachtung 2S, da »icr
Fall nicht länjjere Zeit in meiner Beobachtung war. Die beträcht-
liche Abnahme der Potenz bei dem betrcti'enden Patienten kann
mit den Jahren zusammenhängen und spricht nicht für eine
organische Affektion des Rückenmarkes. Bei der 3. Gruppe, die
nur 2 Fälle umfasst, entwickelten sich als Folgen des Congr.
interr. zunächst Erscheinungen von Myelasthenie, zu welchen
sich im Laufe der Zeit noch Symptome zerebraler Neurasthenie
gesellten (insbesonders Kopfbeschwerden und Angstzustände).
An die erwähnten 3 Gruppen schlksst sich als vierte und
Hauptgruppe, fast *}» der Gesamtzahl der Beobachtungen um-
fassend, eine Reihe von Fällen an, in welchen Symptome der
Zerebrasthenie oder der Angstneurose in dem von mir ange-
nommenen Sinne, sowie der nervösen Herzschwäche nicht nur
als erste Krankheitserscheinungen auftraten, sondern auch weit-
aus prädominieren, myelasthenische Beschwerden dagegen zumeist
(i. e. in '/i der Fälle) gänzlich fehlen und auch da, wo sie nicht
mangeln, überwiegend erst im weiteren Verlaufe dts Leidens
sich geltend machten, dabei auch nie eine besondere Intensität
erlangten. Unter den zerehrasthcnischen Symptomen treten die
Angstzustände durch ihre IPiufigkeit und Hartnäckigkeit ganz
besonders hervor'); sie finden sich in der .Mehrzahl der l-^älle
und zwar zum Teil in der Form einfacher inhaltsloser Angst-
zustände, zum ieil in der Form der verschiedensten Phobien
(insbesonders Nosophobien, Topophobien, Monophobie etc.). In
einer Anzahl von Fällen Nr. 33, 35, 38, 59, 60, 64, 65 finden
wir die Angstsymptome in einer Isolation, welche zur Auffassung
') Auch in <kn FSlIeii von Congr. interr., di** kh >eit der Publikation
obiger Tabelle io Ucr XI. Aufbge dieber Schrift beobachtet habe, bildeten Angst»
<o«tA»d« und EncheiDuiigeii df r nervfisen Hensdiwlclit dit wdtsttl verhcmcbcn*
den Symptom«.
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Der sexuelle Präventivverkehr.
183
der betreffenden Fälle als Angstneurose berechtigt. Neben den
Angstzustanden und mit diesen zumeist zusammenhingend be-
gegnen wir in einem erheblichen Teile der Fälle Erscheinungen
nervöser Herzschwäche (Anfällen von Herzpalpitationoi, Sdimerzen
in der Herzgegend, Erscheinungen neurasthenischer Angina
pectoris, Unregelmässigkeit des Pulses etc.). Die Beziehungen
der nervösen Herzsymptomci zu den Angstzuständoi sind ver-
schiedenartig; zum Teil bilden die Herzbeschwerden Folge-
erscheinungen der Angstzustände, zum Teil gesellt sich aber
auch die Angst erst sekundär zu den primär vorhandenen
Herzst^ungen ; mitunter treten diese audi isoliert als Äqui-
valente des Angstanfalles auf. Ungleich seltener als Angst-
zustände findoi wir Zwangsvorstellungen im engeren Sinne.
Ziehen wir nunmehr die Ätiologie der Fälle, welche Frauen
betreffen, in Betracht, so finden wir hier neben dem Congr.
interr. erbliche Belastung noch häufiger als bei den Männern;
solche war bei mehr als V» der Fälle bestimmt nachweisbar
und lässt sich in den verbleibenden 2 Fällen nicht sicher aus-
schliessen. Daneben figurieren im ganzen weniger andere ätio-
logische Momente als bei den Männern: gemütliche Erregungen
und Blutarmut in je 2 Fällen, fieberhafte Erkrankung, Trauma
(Fall auf den Kopf), Störung der Nachtruhe in je einem Falle.
Auch nach der symptomatischen Seite zeigen diese Fälle un-
gleich mehr Obereinstimmung als die der Männer. Eine in
allen Fällen konstant wiederkehrende Erscheinung bilden Angst-
zustände (einfach inhaltslose Angstanfälle und Phobien) oder
Symptome der nervösen Herzschwäche, die als Angstäquivalente
zu deuten sind. Den Ang st zuständen gegenüber treten andere
zerebrasthenische Erscheinungen (Kopfschmerzen, Schlafmai^el
etc.) weit zurück, myelasthenische Beschwerden fehlen fast voll-
ständig und, was iK»ch besonders bemerkenswert ist, nervöse
Störungen in der Sexualspbäre mangeln gänzlich*
Beachtung verdient femer der Umstand, dass in 3 Fällen
bei Frauen die Angstzustände und die gemütliche Depression
einen Grad erreichten, dass wir die betreffenden Fälle dem
Gebiete der Melancholie zuzuweisen berechtigt sind; ähnliche
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184
Der sexuelle Präventivverkehr.
Beobachtungen mangeln dagegen unter den die Männer be-
treffenden Fällen.
Was den Verlauf der Erkrankung in den einzelnen Fällen
und den Einfluss der Beseitigung des Congr. interr. in dieser
Richtung betrifft, so findet sich unter meinen Beobachtungen
eine grössere Zahl, in welchen Ersatz des Congr. interr. durch
normalen geschlechtlichen Verkehr oder eine andere Art der
Prävention unverkennbar günstig wirkte, zum Teil sogar ohne
sonstige Behandlung zur Heilung führte. Es mangelt unter
meinen Beobachtungen jedoch auch nicht an Fällen (namentlich
bei Frauen), in welchen das Aufgeben des Congr. interr. erst
nach längerer Frist, oder innerhalb der Beobachtungszeit über-
haupt nicht die erwartete Besserung herbeiführte. Mitunter mag
sich dieses Verhalten dadurch erklären, dass an Stelle des Congr.
interr. eine andere sexuelle Schädlichkeit tritt. Mehrfach fand ich,
dass die Patienten mit dem Verzicht auf den Congr. interr. eine
grössere Einschränkung in dem geschlechtlichen Verkehr über-
haupt sich auferlegten, in dem Glauben, derselbe schade ihnen,
so dass also den Congr. interr. ein Zustand relativer Abstinenz
ersetzte, welcher ebenfalls das Auftreten von Angstzuständen
begünstigt.
Bei langjähriger Übung des Congr. interr. kommt jedoch
z. T. jedenfalls noch ein anderer Umstand in Betracht , auf
welchen wir später noch näher zu sprechen kommen werden.
Durch lange dauernde Einwirkung irgend welcher No.xen her-
vorgerufene (oder mitbedingte) und unterhaltene neurasthenische
Zustände können allmählich eine gewisse Unabhängigkeit den
ursächlichen Momenten gegenüber erlangen und dann trotz Be-
seitigung dieser fortbestehen. Dieser Satz scheint namentlich
für die im Gefolge des Congr. interr. auftretenden Angstzustände
Geltung zu beanspruchen.
Dann verdient hier noch der Umstand Erwähnung, dass in
den von mir beobachteten Fällen es nie zu gleichzeitiger oder
sukzessiver Erkrankung beider Ehegatten infolge des Congr.
interr. kam. Ich habe es nie unterlassen, bei den Männern,
welche mich konsultierten, mich nach dem Ge.sundheitszustandc
der Frauen zu erkundigen, und umgekehrt ; häufig kamen auch
Der tcsuelle Pitvenliwerkelir.
18S
beide Ehegatten zu mir, so dass ich mich direkt an beide wenden
konnte. Waren, wie es einige Male vorkam, beide Ehegatten
mit nervösen Leiden behaftet, so Hessen sich dieselben doch
immer nur bei einem der Gatten mit dem Congr. interr in Zu-
sammenhang bringen.
In welcher Weise kommen nun die mit dem Congr. interr.
ursächlich zusammenhängenden nervösen Krankheitserschein-
ungen zu Stande? Die Beantwortung dieser Frage bt von
mandierlei Schwierigkeiten umgeben, nicht nur wegen der ver-
schiedenen klinischen Gestaltung der einzelnen Fälle und der
häufigen Komplikation der ätiologischen Verhältnisse, sondern
auch wegen der Verschiedenheit im Ablaufe des sexuellen Aktes
bei beiden Geschlechtern und zum Teil auch bei den Männern.
Die im Gefolge des Congr. interr. bei Männern auftreten-
den neurasthenischen Zustände hat Peyer durch die Annahme
zu erk'artn versucht, dass bei Hif-^er Art sexuellen Verkehrs
der blutüberfüllte Genitalschlauch nur unvollständig entleert wird,
wodurch bei häufiger Wiederholung des Aktes sich allmählich
ein chronischer Irritations- und ErschlafTungszustand der Pars
prostatica der Harnröhre entwickelt. Dieser gibt sich in Hyper-
ästhesie der Harnröhre beim Katheterisieren kund und führt zu
Spermatonrhoe, verminderter Potenz oder Impotenz und dem
ganzen Komplexe neurasthenischer Beschwerden.
Zur gleichen Auffassung bekennt sich v. Krafft-Ebing,
während sich Eulen bürg der von mir schon in der ersten
Auflage dieser Arbeit vertretenen Ansicht angeschlossen hat.
Wenn ich meine Beobachtungen zu Rate ziehe, so er-
weisen sich dieselben der Feyer'schen Theorie im Ganzen ent«
schieden ungQnstig. In 2 von 3 Fällen mit Spermatorrhoe fand
sich keine besondere Hyperästhesie der Harnröhre bei Ein-
führung von Instrumenten. Auch sonst waren nur vorüber»
gehend in einzelnen Fällen Erscheinungen vorhanden, die auf
einen Reizzustand der Pars prost, urethr. bezogen werden !.< nntcn:
vermehrter Harndrang und (Jcfühle von Schwere und Völle in
der Dammgegend ^^reizbare Blase). Die Voraussetzung, von welcher
Peyer ausgeht, die mangelhafte Entleerung des blutüberfüllten
Genitalschlauchcs beim Congr. interr. trifft auch sicher nicht
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186
Der wxaelle Prftventivrerkehr.
für alle Fälle zu. Es kommt hier auch ein Umstand in Betracht,
welchen Peyer nicht in Rechnung zieht: die vis a tergo i. e.
die Höhe der sexuellen Erregung, die im Einzelfalle schwankt.
Wo dieselbe sehr bedeutend ist, findet auch beim Coogr. interr.
die Ejakulation in gewöhnlicher Weise statt und ist daher auch
die Blutentleerung des Genitalschlauches wahrscheinlich eine voll-
ständige. Man wird daher auch, wenn man die Peyer' sehe An-
nähme eines IrritetiiHis- und Erschlaffungszustandesder Pars prostat,
für gewisse Fälle*) ab zutreffend erachtet, für die Entstehung
der fraglichen nervösen Störungen doch noch einen anderen
Faktor verantwortlich machen müssen. Einen solchen können
wir nur in der Störung erblicken, welche der normale Ablauf
des sexuellen Innervationsvoiganges im Lendenmarke beim Congr.
interr. erfährt. Schon die Aufmerksamkeit, welche nöt^ ist,
um die ersten Anzddien der sich einleitenden Ejakulation auf-
zufassen, wirkt als hemmender Emfluss auf den spinalen Vor-
gang. Die Entfernung des Gliedes, der „Rückzug vor der End-
katastrophe" dagegen muss die zur höchsten Intensität ge-
diehenen und nach tnächtiger motorischer Entladung tendierenden
®ung5vurgänge im Lendenmarke in ihrem natürlichen Ab-
laufe erheblich alterieren. Die Auslösung des Ejakulationsvor-
^»anges wird hierdurch zwar nicht verhindert, allein, da der phy-
siologische Abfluss der Erregung in motorische Bahnen zum Teil
gehemmt i^t, su greift dieselbe auf Bahnen üljtr, die gewöhnlich
an dem Akte nicht beteiligt sind ; nnch koimnt es nicht zu der
raschen und vollständigen Ausgleichung der sexuellen Spannung
wie beim normalen Verlaufe des Aktes.
Ist das Lendenmark noch völlig normal und widerstands-
fähig, so verbleiben von dem Übergreifen und der längeren
') Wahrscheinlich tühtt der Congr. inlcrr. zu einem Rcizzu&tandc der Pars
proHt. nur bei Perüuoen, bei welchen hierzu eine spezielle PrSdi&position besteht.
Diete kann dnrdi «ngeborene Schwicbe des SemiaUppantes, vorhei^g^angene ex-
zosive Mastarbation und frühere Gonorrhöen bedingt sein. Auch för die Fällen
in welchen dif fia^litli'- PrridispAs-ifioii bestellt, liefet kein Bpwei« vnr, dass die im
Gefolge de<> Congr. interr. auftretenden nervösen Störungen lediglich reflektoriscb
von der Pars prost, aus zustande kommen; ebenso mangelt «• «n BewdMn flir
die von Peyer in diesen FSllen angenommenen, mehr oder minder hoebpadifcn
patfaologisdi'inatouiMilien Verlndenmgen der Fftn pnwlnt uiethne.
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Der tesnetle Pitventivverkdkr.
187
Fortwirkung der Erregung Sttilächst keine nachhaltigen Störungen.
Dieses Verhalten kann unter sonst günstigen Verhältnissen un-
bestimmte Zdt fortdauern. In einem Teile der Fälle fuhrt jedoch
die immer wiederkehrende Störung im Ablauf des physiologischen
Err^ngsvorganges beim Actus früher oder später zu nervösen
Störungen, für deren Art und Lokalisation die individuellen Ver-
schiedenheiten in der Widerstandsfiihigkeit des Rückenmarkes
und des Gehirnes bestimmend sind, ähnlich wie wir dies bei
der Masturbation sahen. Ist das Lendenmark von Haus aus
nicht sehr kräftig organisiert oder durch andere Schädlichkeiten
in einen Zustand reizbarer Schwäche geraten, so wird dasselbe
von den abirrenden Erregun-^en beim Actus intensiver und nach-
haltiger ergriffen, und es kommt dann zu den erwähnten Er-
scheinungen (Schwäche, Müdigkeit in den Beinen etc.), du- nach
(öfterer Wiederkehr antlauernd w'erden können. Die Irradiation
der Errce^un^' kann dann, wenn die Widerstandsverhältnisse
im Lendenmark erheblich verändert sind, auch auf entferntere
zentrale Gebiete, die höher gelegenen Markabschnitte und das
Gehirn, sich erstrecken und diese allmählich mehr und mehr in
das Gebiet der Neurasthenie hereinziehen, hi der Mehrzahl der
Fälle findet jedoch, nach den klinischen Erscheinungen zu
schliessen, ohne dass das Lendenmark eine merkliche Schädigung
erleidet, eine Irradiation der Erregungan nach dem Gehirn und
speziell den bei dem Angstvorgange beteiligten bulbären Zentren
statt, wodurch diese aUmählich in einen Zustand abnormer Er-
regbarkeit versetzt werden, zumal denselben beim Actus auch
von kortikaler Seite aus Erregungen zufliessen*).
Auf die Pathogenese der bei Frauen im Gefolge des Congr.
interr. auftretenden nervösen Störungen werden wir an späterer
Stelle eingehen.
') Dancl)en mu5s mit der Möglichkeit gerechnet wcnien, dass der f ongr.
interr. auch die l'rudukUon der libidogencn StoiTe beeinflusitt. Man kann sich
s. B. denken, dus der nonnal verbnfeade «exnelle Akt fllr eine gewisse Zeit die
Pradttkikitt dieier Stoffe herabsetzt und die» beim Coogr. interr. nicht der Fsll
ist. Es würden dsaa in gewissem Messe tholiche Folgen wie hei sexaeller Ab»
slinenz entstehen«
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188
Der miieUe PfSvcBtivvericehr.
Wenn ich nunmehr versuche, das Fazit zu ziehen am
meinen eigenen Beobachtungen und den in der Literatur mitge-
teilten Erfahrungen, soweit diese auf Berücksichtigung Anspruch
erheben können, so erhebt sich in erster Linie die Frage: Sind
die Befürchtungen gerechtfertigt, welche eine Anzahl von Autoren
mit Rücltsidit auf die derzeitige Verbreitung des Malthusianismus
för die Gesundheit der betreffenden Bevölkeningskreise äussert?
Ich muss gestehen, dass ich dies, soweit mein Blick reicht, im
Grossen und Ganzen nicht finden kann. Wenn wir Alles, was
in Betracht zu zidien ist, erwägen, auf der einen Seite die Vor-
teile, welche der Präventiwerkehr vielen Familien in Ökonomischer
und damit in gesundheitlicher Beziehung bringt, auf der anderen
Seite die Gesundbeitsschädigungen, die in manchen Fällen vor-
kommen, so wird man die seitens verschiedener Ärzte gegen
den Malthusianismus erhobenen Anklagen nicht als ganz zu-
treffend erachten können. Dieses Urteil findet noch eine wesent-
liche Stütze in dem Umstände, dass die beobachteten gesund-
heitlichen Nachteile nicht dem Präventivverkehre ganz allge-
mein, sondern fast ausschliesslich einer Art desselben zur Last
fallen und dass bei der Herbeiführung dieser Nachteile jeden-
falls in der Mehrzahl der Fälle noch eine Reihe weiterer Schäd-
lichkeiten im Spiele ist. Auf die weiteren l'^olgerungcn, die wir
aus Vorstehendem ziehen können, werden wir an späterer
Stelle, bei Besprecliung der Prophylaxe der sexuellen Neu-
rasthenie eingehen.
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X.
über den Einfloss sexuellen Verkefars
auf bestehende Nervenkrankheiten und die
Disposition zu solchen.
Die Frage nach der Einwirkung, welche der sexuelle Verkehr
auf bestehende Nervenkrankheiten und die Disposition zu solchen
ausübt, ist von eminenter praktischer Bedeutung. Denn sehr
häufig sieht sich der Arzt in der verantwortungsvollen Lage, seine
Meinung darüber abgeben zu müssen, ob bei einer mit einem
Ner\ enlcidt'ii oder ererbter neuro- und psychopathischer Belastung
behafteten Persönlichkeit eine Eheschliessung rätlich ist. Ziehen
wir zunächst die verbreitetstt n nervösen Krankheitsformcn, Neur-
asthenie, Ih'steric und Angstneurose in Betracht, so haben wir
im Vorstehenden bereits gesehen, dass bei Belasteten die sexuelle
Abstinenz (rcsp. der Mangel sex. Befriedigung) unter Umständen
eine l'rsache, beziehungsweise Mitursache dieser Leiden werden
kaiui. Diese Tatsache lässt schon folgern, dass bei den er-
wähnten Leiden in gewissen Fällen sich gercL'eher sexueller
Verkehr nützlich erweisen muss. Früher, als man die Hysterie
noch lediglich als eine Virginum et viduarum affectio betrachtete,
d. h, von geschlechtlicher Nichtbefriedigung ableitete, wurde die
^e als wichtigstes Heilmittel für diese Erkrankung angesehen,
eine Anschauung, die bezüglich der Virgines et viduae noch
heute manche Anhänger hat und mitunter auch auf gewisse
Formen der Neurasthenie übertragen wird. Tatsächlich lehrt
jedoch die Erfahrung, dass bei Hysterischen und Neurastheni-
sehen der Einfluss sexuellen Un^anges sich sehr verschieden
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190
über den Eiaduss sexuellen Verkehrs etc.
gestaltet. ITnleiigbar äussert derselbe in massiger Weise geübt
bei zahlreichen mit nervösen Schwächezuständen Behafteten
einen günstigen Einfluss auf das Befinden. Diese Wirkung be-
schränkt sich nicht auf die an sexueller Neurasthenie Leidenden
und nicht auf die besonders sinnlich angelegten Naturen.
Andererseits bilden aber die sexuellen Leistungen in und ausser
der Ehe nicht selten die Ursache von Verscblhnmerungen be-
stehender nervöser Erschöpfung. Von der selbstverständlich
schädigenden Wirkung der Exzesse in Venere will ich hier gans
absehen. Ich habe jedoch bei einzelnen verheirateten Neur*
asthenikem sogar nach selten geübter Kohabitation über mehrere
Tage sich erstreckende intensive nervöse Prostration beobachtet *).
Selbst bei sexuellen Neurasthenikern mit zeitweiliger geschlecht-
licher Erregtheit sieht man zuweilen dieselben ungünstigen Folgen
von sexuellem Verkehre wie von Pollutionen, imd es erzeugt
dann gewöhnlich tiefe gemütliche Depression, wenn das Mittel,
von welchem Besserung erwartet wurde, die gegenteilige Wirkung
äussert *).
Fc*re crwälmt, dass bei einzelnen Neurasthcnischen der
sexuelle Verkehr eine alli^cmeine Abstumpfung der Sinne, ins-
besonders des Gehörs und (iisiclits nach sich zieht; selbst eine
wirkliche Amaurose von kurzer Dauer wird beobachtet Der
gleiche Autor berichtet über einen Fall von transitorischer
Lähmung post coitum bei einem Neurasthcniker. Der Patient,
ein 48 jähriger Mann, zeigte von Jugend auf geringe Leistungs-
fähigkeit der Beine; doch äusserte der eheliche Verkehr auf
deren Zustand längere Zeit keinen Einfluss. Als der Pat. jedoch
infolge von Sorgen in Neurasthenie verfiel, stellte sich nach dem
CcHigressus, der nur in Zwischenräumen von 5 — ^4 Wochen aus-
geübt wurde, TaubheitsgefQhl und eme solche Schwäche in den
^) Die ungünstige Beeinflus.sung des Befindens kann aber auch \iknga
danern. So bcricLtctc mir ein in d'-n 30er Jalirtn ^tchcnclcr. seit etwa Jahres-
frist verheirateter Neura&tbeniker, der mich vor einiger Zeit konsuitierle, dass
jeder C. bei ihm eine ncrvtee Proitration hintcrlä^st, von der er rieh e«st hn
VerUmfe eioer AnnU von Wodien erholt.
*) Auch gegen tu häufige Pollutionen gewährt der sexuelle Verkehr bei
Neurasth'jm^clR-n «lunhaus k<AnQ Alihüfe. Mitunter crfnigt in der Nachl, IB
weldier der Beischlaf atisgeübt wurde, noch eine Pollution.
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über den Einiltiss tesueUeo Verkdin etc. 191
Beinen ein, dass das Stehen unmöglich war; die Störungen
gingen jedoch jedesmal rasch vorüber und schwanden gänzlich,
nachdem der Patient von seinen neurasthenischen Beschwerden
befreit war.
Bei nervösen und neurasthenischen Frauen werden im
■
ganten seltener als bei Männern ungünstige Folgen seitens des
Nervensystems vom sexuellen Verkehr beobachtet, sofeme die-
selben hierbei Befriedigung finden. Die nervöse Erschöpfung
kann jedodi, wie schon erwähnt wurde, dazu führen, dass beim
gesdileditlichen Verkehr der Orgasmus ganz ausbleibt oder
schwer auslösbar wird. Auf diesen Umstand dürfte es haupt-
sächlich zurückzuführen sein, dass bei nervös sehr herunter-
gekommenen Frauen die Erfüllung der ehelichen Pflichten mit-
unter ihr Befinden in ungünstiger Weise becinflusU. Für die
grosse Mehrzahl Neurasthenischer (Männer und Frauen i erweist
sich jedoch, wie man namentlich bei Verheirateten wahrnimmt,
niässiger normaler Geschlechtsverkehr von keiner nachteiligen
Wirkung; man sieht sogar öfters, wie schon erwähnt wurde,
unter dem Eintiusse ungewohnter Abstinenz eine Steigerung
vorhandener Beschwerden eintreten.
Was nun die Hysterie betrifft, so lehrt wohl schon die
Unzahl hysterischer Frauen, dass es mit der Heilkraft des ehe-
lichen Lebens bei dieser Krankheit nicht glänzend bestellt sein
kann. Es lässt sich allerdings nidit leugnen, dass bei manchen
Hysterischen die Verheiratung eine vorteilhafte Veränderung
des Gesamtbefindens nach sich zieht; man darf jedoch die
Tragweite solcher Beobachtungen nicht überschätzen. In der
Regel handelt es sich um eine Einschränkung oder Beseitigung
zeitweilig vorhandener Krankheitserscheinungen^ nicht aber um eine
Tilgung der hysterischen Disposition. Diese verbleibt auch nach
Beseitigung aller temporär vorhandenen nervösen Symptome, um
früher oder später bei Einwirkung von nervenschädigenden Momen-
ten insbes. psychischen Traumen sich wieder zu dokumentieren.
Aul der anderen Seite können aber bei Hysterischen durch
den sexuellen Akt auch mancherlei Zufalle hervorgerufen werden:
Anästhesien (Amblyopie und selbst Amaurose, Herabsetzung des
Hörvermögens, kutane Anästhesien), Lähmungszustände der Glieder
Digitlzed by Google
192 über den Einilass sexuellen Verkeluts etc.
in hemiplegischer und i)araplegischer Form, Krampf- und Schlaf-
anfälle (F^r^). Allerdings dürften derartige Erscheinungen in
der Regel nur in Fällen auftreten, in welchen dieselben schon
früher durch andere Ursachen herbeigeführt wurden, wie dies
F6r6 speziell mit Bezug auf die Lähmungen bemerkt. Ich
selbst beobachtete s. B. eine Hysterische, bei welcher, nachdem
sie einige Zeit an Anf^len gelitten hatte und grossere sexuelle
Erregtheit euigetreten war, auch der eheliche Verkehr gewöhn-
lich mit einem Anfalle abschloss^).
Für den Arzt kann, wenn er in der Frage der Ehoschliessung
bei neurasthenischen und h> sterischen Mädchen einen Rat er-
teilen soll, der voraussichtliche Einfluss deü sexuellen Verkehrs
nicht allein bestimmend sein ; er muss, wie ich bereits andern-
orts') bemerkt habe, alle vorliegenden Verhältnisse in Erwägung
ziehen. ,,l )er geregelte geschlechtliche Verkehr, wie ihn die Ehe
, .ermöglicht , äussert allerdings in zahlreichen Fällen auf vor-
„handene nervöse Schwächezustände einen günstigen Einfhiss»
„Allein es wäre sicher zu weitgehend, wollten wir die gute
„Wirkung des ehelichen Lebens bei derartigen Zuständen ledig*
„lieh auf den geschlechtlichen Verkehr beziehen. Dieser ist nur
„ein Faktor neben anderen, die nicht minder von Belang sind.
„Als solche kommen in Betracht: die Annehmlichkeiten einer
„geordneten Häuslichkeit, die Ablenkung der Aufmerksamkeit
„von dem eigenen Zustande zum Teil durch die hSusUchen
„Pflichten und Sorgen, zum Teil durch den geselligen Verkehr
„der Gatten unteremander, die Befriedigung, die besonders bei
„den Frauen aus dem Bewusstsein entspringt, eine Stütze für
„das Leben gefunden zu haben, endlich die Freuden, welche
„Kinder bereiten. Indess handelt es sich hier um Faktoren,
An die Schlafanfälle kann sich auch Amnesie anschliessen. Ftr^ fuhrt
den Fall einer Hysterischen nn. die nur selten zum Orpasmus gHanfite. weil die
Erregung bei ihr fast immer Gesteh Ishatiuzinationen, gewöhnlich schreckenerregender
Alt, hervorrief; sie verfiel denn in dnen komaUsen Schlaf, wi weldicm eie cnt
nach ndareien Stunden mit einer temporirea retroaktiven Amnesie enracbtc^
weldie mehrere Stunden vor dem Akte omfaaile.
') Löwenfeld, Die moderne Behandlung der Nerveudiwichie (New*
atthenie) etc., 3. Aufl. S. 40, 4. And. S. 43.
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über den Einfluss »exaellen Verkehrs etc
198
ffdie nicht in jeder Ehe gegeben sind; wo dieselben nach aller
„Voraussicht fehlen werden, wo die Ehe eine Quelle sich meh-
„render Sorgen infolge ungenügender materieller Basis oder
„von VerdriessUchkeiten und Aufr^ngen wegen nicht genü-
„gender Übereinstimmung des Charakters der Beteiligten bildet,
„da ist entschieden abzuraten, da der geregelte geschlechtliche
„Verkehr diese Nachteile nicht auszugleichen vermag. Altein
„auch bei zweifellos günstigen AussenverUlltnissen und genügen-
„der Obereinstimmung der Charaktere der beiden in Betracht
„kommenden Personen müssen wir uns wenigstens temporär
„gegen eine Verheiratung aussprechen, i. e. eine Veischiebung
, »derselben herbeiführen, wenn schwere hysterische oder neur-
asthenische Zustände vorHegen. Es sind mir zwar Fälle be-
„kannt, tn welchen auf letztere die Verchclichung keine un-
„günstige Wirkung äusserte; allein trotzdem muss ich mich zu
,.der eben ausgesprochenen Ansicht bekennen. Haben sich
, .schwere hysterische oder neurasthenische Leiden auf dem
„Boden ausgesprochener hereditärer Belastung entwickelt, so ist
„sowohl wegen der unter solchen Verhältnissen zu erwartenden
„Nachkommenschaft, als wegen der Unsicherheit betretTs der
„wetteren Gestaltung des nervösen Leidens eine Eheschiiessung
„ganz und gar zu widerraten/*
Namentlich müssen wir uns da gegen eine Verheiratung
aussprechen, wo psychische Anomalien neben den neurastheni*
sehen oder hysterischen Beschwerden sich anhaltend stärker
vordrängen, bei jenen borderliners, die unter sehr günstigen
Verbältnissen allerdings sich eine gewisse Stellung im Leben zu
erhatten wissen, bei widrigen Schicksalen dagegen sich alsbald
für eine geschlossene Anstalt qualifizieren.
Zu einer direkten Empfehlung der Verehelichung hat ande-
rerseits der Arzt selten ausreichende Veranlassung, Ich selbst
habe mich bisher zur Erteilung eines bezüglichen Rates weni-
ger durch die sexuelle Bedürftigkeit der HetrelTenden als deren
psychische Heschaffenheit und Lebensstrilung bestinunen lassen.
Für jene liypc •chc»ndi ischen Neurastheniker, deren Gemütszustand
offenbar iiauptsächlich durch ^eistij^e Isolierung bedingt und unter-
halten wird, erweist sich die Ehe mit einer verständigen, nicht
Ljtwenfeld, ScAuell-aerWiie Stäningeii. Vierte Aufl.
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194
Ober den Einilim sexuellen Verkehrs etc.
allzu sinnlich angelegten Person gewöhnlich entschieden vorteil-
haft. Wenigstens hat dies meine bisherige Erfahrung ergeben.
Es ist daher keine Entwürdigung des Institutes der Ehe, wenn
dieselbe gelegentlich als Heilmittel in Vorschlag gebracht wird,
soferae bei der ärztlichen Verordnung das Hauptgewicht nicht
auf die Gelegenheit zu sexueller Befriedigung, sondern auf die
geistige Gemeinschaft mit einer Person gelegt wird, welche
durch Eigenschaften des GemQtes und Verstandes befittugt ist,
auf die geistige Verfassung des Patienten einen günstigen Einfluss
auszuüben.
Ober den Einfluss des sexuellen Verkehrs bei Epilepsie
haben wir uns bereits an früherer Stelle geäussert. Hier sei nur
erwähnt, dass bei einem von F€r6 beobachteten Epileptischen,
bei welchem an die AnföUe sich transitorische Lähmungen an-
schlössen , solche auch nach dem sexuellen Akte auftraten.
Fcrc erwähnt auch, dass bei manchen lCpilei)tischfn gewisse
sensorielle St<>rungcn (Erythiopsio, Farbenschen, subjektive Gc-
ruchseinpfindungenj sowolil während des epileptischen Anfalles
als beim sexuellen Akte auftn tin.
Dass bei I'ersonen. welche an Anfallen von Angina pectoris
leiden, auch der sexuelle Verkehr /.um Auftreten von Anfällen
führt, ist ohne weiteres verständlich. Bei mit Migräne be-
hafteten Frauen stellt sich der Kopfschmerz namentlich dann post
congressum ein, wenn derselbe nicht mit völliger Befriedigung
verknüpft war.
Bei Neuvermählten kann die Einleitung des ehelichen Ver-
kehrs zu schweren psychischen Störungen führen. Ich habe selbst
bei 2 jungen Frauen, von welchen die eine allerdings erblich sehr
belastet war, die andere dagegen keine sicher nachweisbare
Belastung aufwies, kurze Zeit nach der Verheiratung schwere
Melancholie mit Nahrungsverweigerung beobachtet. Da es sich
in beiden Fällen um Neigungspartien handelte und die ersten
Zeichen der Erkrankung schon wenige Tage nach der Hochzeit
auftraten, können als Ursache der psychischen Störung hier ledig-
lich sexuelle Vorgänge angcnonmien werden. Die zarte nervdse
Konstitution der beiden Frauen einerseits, andererseits ein wahr-
scheinlich zu stürmisches Vorgehen seitens der Gatten gestaltete
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über des Einfloss sexuelleo Verkehrs etc.
195
die Einleitung; des sexuellen Verkehrs für die Betreffenden zu
einem shockartigen Eingriffe, welchem deren Nervensystem nicht
gewachsen war. In beiden Fällen trat übrigens Genesung ein,
seltsamerweise bei der hereditär belasteten Frau schon nach
4 Monaten ungefähr, bei der anderen Patientin erst nach mehr
als Jahresfrist i).
Ausserdem habe ich 2 Fälle leichterer Melancholie bei Neu-
vermählten beobachtet, bei welchen ebenfalls zweifellos Ncigungs-
partien vorlagen. Die eine der beiden Patientinnen, eine in
den 30er Jahren stehende, erblich wenig t>elastete Dame, hatte
in den letzten Monaten vor ihrer Verheiratung viel Aufregungen
und Anstrengungen durchzumachen und erkrankte während der
Hochzeitsreise. Die andere Patientin, eine Ende der 20er Jahre
stehende, erblich väterlicherseits erhebBch belastete Dame, hatte
ebenfalls in den letzten Monaten vor ihrer Verheiratung viel
Aufregungen und zeigte schon vor der Hochzeit eine gewisse
Verstimmung. In beiden Fällen trat Genesung im Verlaufe
von weniger als 3 Monaten ein. Die Einleitung des sexuellen
Verk^rs erwies sich auch hier, obwohl dieselbe in schonender
Weise geschah, von ungünstiger Wirkung auf den psychischen
Zustand.
Melancholie als Folge nicht exzessiven geschlechtlichen
Verkehrs ist auch bei Männern beotmchtet worden. Schüle
sah bei zwei verheirateten Männern, von denen der eine längere
Zeit nervös verstimmt war und an Darmkatarrh mit Anämie
litt, eine vollständige und schwere Melancholie unmittetbar im
Gefolge eines einmaligen Beischlafes auftreten.
Nicht selten tritt an den Arzt die l*>ai;;e heran, ob bei einer
Person, die bereits geiste>krank war oder mit einer ererbten
Anlage zu Geistc<;störiin;^f behaftet ist, sich die Eheschliessung
emi)tiehlt. In dieser Beziehung sind die Ansichten der Irren-
ärzte zum Teil von einer Art, die mir allzu optimistisch erscheint.
Die Tatsache, dass unter den erblich Belasteten die Ledigen
häufiger erkranken als die Verheirateten — eine Tatsache, die
') Letztere Kranke %erfiel später wiederholt in geistige Störung und starb
scbUessUch in einer Irreiuuistalt, während erstere bisher getstesgesuod blieb.
18*
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196
über den Kinflu&s »exuellen Verkehrs etc.
sich auch aus den Untersuchungen Hagens, wenn auch nicht
für alle AlUrsklassen ergibt — hat dazti geführt, dass man die
Heirat geradezu als Präservativ ^i-L;en den Ausbruch des erb-
Hchen Irrsinns ansah, v. K ra f ft - K b ing z. R. bemerkt bezüglich
dieses Punktes bei KrorierunL; der Prophylaxe der GeisteS'
Störungen: ,, Bei männlichen Individuc-n mindert frühe Heirat die
Gefahr der l>krankung, bei wcibhchcn ist die Verehehchung
erst nach erreichter körperHcher Reife wünschenswert.". Der von
V. Krafft-Ebing angenommene prophylaktische Wert früher
Heirat bei belasteten Männern findet jedoch in den sehr sorg-
fältigen statistischen Erhebungen Hagens keine Stütze. Nach
Hagen erkranken vom 26. bis 30. Jahre mehr Verheiratete
als das Verhältnis der allgemeinen Statistik ergibt. Das Plus
der grösseren Erkrankungsfähigkeit für die ledigen belasteten
Männer beginnt erst mit dem 30. Jahre. Bei den Frauen über-
wiegen vom 16. bis 30. Jahre die Verheirateten, vom 30. Jahre
an ebenfalls die Ledigen. Das Überwiegen der ledigen erblich
disponierten Kranken ist bei den Männern stärker als bei den
Frauen.
Berücksichtigen wir femer den Umstand, dass trotx des
anscheinend günstigen Einflusses der Ehe doch noch sehr viele
erblich belastete Verheiratete erkranken so werden wir der
Ehe nur eine sehr beschränkt«; prophylaktische Bedeutung auer-
kennen dürfen und deshalb unsere Zustimmung zur Verhei-
ratung bei nicht zu schwer Belasteten nur bei befriedigendem
körperlichem und geistigem Zustande und günstigen Lebens-
verhältnissen geben.
Wo sehr schwere, namentlich doppelseitige erbliche Be-
lastung vorliegt und sich in Erscheinungen psychopathischer
Degeneration äussert oder auf Grund der Belastung steh bereits
einmal eine Psychose entwickelt hat, wird von einer Verheiratung
entschieden abzuraten sein.
Eine Mitteiking des verstorbenen Direktors der Irrenanstalt Klingen-
mOnster, Dick (Wanderversainnilung der sodwestdeutschen Irrenflrzte
') Nach Hagen 's Ermittelungen bettut; dir Z:ih! der erblicli liclasictcn
Verheirateten von der Gesamtzahl der verbeiratelea Erkrankten bei den Männern
32^/0, bei den Fraaen 40 "/o.
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über den BnÜttit aezadko Verkehrs etc
197
zu HeppenhoiDf Mai 1875) bildete lange Zeit eine gewichtige StQtze Air
die I-fhre von der Schutzkraft der Ehe. Dick berichtete, das«; von 22
früher gei.stig gestörten aber geheilten Mädchen nach liirer Verheiratung
nur eine rücktäUig wurde, während von 80 ebenfalls genesenen aber
ledig gebUebenen Mädchen aa rezidivierten. Gegen die Lehre von der
Sihutzkraft der Ehe hat sich indes schon Erlenmeyer (1882, Zentral-
blatt ffir Nervenheil kundf;, 5. Jahrg. Nr. 14, S. 331) mit Nachdruck ge-
wendet, 'ndetn er aut die Gefährlichkeit iiircr praktischen Verwertung
schon mit Rucksicht auf die Nachkommen hinwies.
Zu einer ahnlichen Auffassung bekannte sich der englische Irren-
arzt Sa vage (1683) bei Besprechung der Frage, wie es mit der Ehe*
Schliessung bei nervenkranken und vormals ^^ri teskranken Personen zu
halten sei. „Es gibt", bemerkte der Autor, „in der Tat hysterische
Personen itU: die die Ehe das beste und wirksamste Heilmittel ist, das
man verordnen kamu Ich sage dieses nichts weil ich glaube, dass die
Befriedigung des sexuellen Bedürfnisses für die Hysterie gOnstig sei,
sondern weil ich zu der Uberzeugung gekommen bin (diese habe ich mir
durch eine ausführliche Führuni» von Krankenjoumalen erworben), dass
liysterische Personen einen besonderen und eigenen Aflekt nötig haben.
Wir finden in der Tat durch eine genaue Führung von Krankenjoumalen,
dass junge Mftnner, die sich oft sexudle Vergnügungen gestatten» trot»
dem hysterisdl werden, wdl sie das Bedürfiiia verspQren, ein Wesen
lieben zu mfissen, welches eine Ergänzung der eigenen Person darstellt
Ich habe verschiedene sehr hysterische junge Mädchen gekannt und be-
handelt, die jetzt verheiratet sind und gar kein Zeichen von Neuropathie
mehr aufweisen. Unter ihnc» gibt es einige, die durchaus nicht mehr das
BedOrfhis haben, den sexuellen Instinkt zu befriedigen, ja sogar ihre ehe-
lichen Pflichten ungern erfüllen, obgleich sie ihren Mann sehr lieben und
ausserordentlich glücklich mit ihm leben. Ich wiederhole daher, dass
nach meiner Ansicht die Ehe ein souveränes Mittel darstellt für solche
neuropadiische Wesen, die eines Haltes, einer StQta» bedürfen, in einer
Persönlichkeit, die mit ilim n den Kampf ums Dasein aufnimmt. Daher
darf der Arzt ni -clnvanken, solchen Personen das Eingehen der Elie
anzuempfehlen, wciin der andere Teil gesund ist, eine gute Konstitution
aufweist und von jeder nervösen Prildisposition frei ist Er darf dagegen
auf der anderen Seite niemals die Ehe Frauen anraten, die schwere
Formen von Geisteserkrankung Qberstanden haben und zwar nicht allein
der Gefahren we;;en, denen er die Kinder aussetzt, denn davon gibt es
zahlreiche Ausnahmen, sondern weil die Ehe fa«'t stets solche Personen
emcm Rückfall, ja sogar emer bedeutenden Verschlimmerung ihrer Geistes-
erkrankung aussetzt"
Mendel (Krankheiten und Ehe, herausgegeben von Senator, S, 614a)
ist der Ansicht, dass Personen, welche infolge erblichet Belastung von
Geistesstörungen befallen wurden, die Ehe zu widerraten ist, insbesonders
dann, wenn die Psychose ohne äussere Veranlassung auftrat Eine Aus-
nahme gesteht er nur bez(iglich der Menstrualpsychosen zu; Mftdchen,
welche von solchen heimgesucht vrarden, bringt nach Mendel die Ehe
nidit nur keine Gefahr, sondern oft Besserung oder Heilung ihrer ab-
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198
Ober den EioAius «exuellen Verkehrs etc.
normen psychischen Reizbarkeit. Dies dürfte jedoch nur tür die Fülle
zutreffen, in welchen die Erkrankung den von Mendel angenommenen
hysterisdien Charakter zeigte.
Nicht ohne Bedeutung fQr die Entstehung nervöser und
psychischer Erkrankungen bei Frauen ist das Lebensalter zur
Zeit der Eheschliessung. Verheiratung vor dem Eintritt volN
ständiger körperlicher Reife, i. e. vor dem 21. Lebensjahre, setzt,
wie schon v. K 1 a i l t E b i r. hervorgehoben hat, die Frauen
der Gefahr aus, Schwani^erschaft und Puerperium mit einem
nicht genügend gekräfteten Körper durchmachen zu müssen und
auch durch die mit dem ehelichen Leben häufii^ verknüj)ftcn
ungünstigen Einflüsse in ihrem Nervensystem geschädigt zu
werden .
Beyer*) hält es für erforderUch, auf das Bestehen nervöser
Symptome in Fällen, in welchen eine Eheschliessung in Frage
steht, mehr zu achten, als bisher üblich war. Man kann ihm
hierin wohl nur beistimmen, doch geht er etwas zu weit, wenn
er glaubt, dass anscheinend wenig verdachtige Fälle oft von
der Heirat ausgeschlossen werden sollten, weil es in denselben
später zur Entwicklung chronischer Neurasthenie, Hysterie oder
Hypochondrie kommen kann, wodurch das eheliche Let>en weit
gründlicher und nachhaltiger gestört wird, als durch eine akute,
völlig heilbare Psychose. Die blose Möglichkeit, dass es in der
Ehe zur Entwicklung eines der genannten krankhaften Zustände
kommt, kann einen so schwerwiegenden Eingriff in die Lebens-
gestaltung einer weiblichen Person, wie es das Verbot der Ver-
heiratung darstellt, nicht genügend rechtfertigen.
*) Beyer: t)ber die Bedeutiug ftüher Heirat ßlr die EnUteliaiig oenrflMr
Erkrankaogen der Frauen. ZeotnlbUli für Nerventieitkiinde, 1$, Januar 1905,
s. 73.
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YIL
Erkrankungen der Sexualorgane bei Männern
als Ursache von Nervenleiden.
Neben den im Vorstehenden besprochenen sexuellen Miss-
bräuchen können auch primäre Erkrankungen und gewisse Ab-
normitäten der Sexualorgane bei Männern die Veranlassung zum
Auftreten nervöser (neurasthenischer) St6rui^en bilden. Die Rolle,
welche den in Frage stehenden Genitalaffektionen in der Ätiologie
der Neurasthenie zufällt, weicht jedoch erheblich von der der
sexuellen Missbräuche ab. Die schädigende Wirksamkeit letzterer
tritt zwar besonders rasch und intensiv bei neuropathisch Ver-
anliB^ten hervor, doch ist dieselbe keineswegs an das Vorhanden-
sein einer Prädisposition gebunden ; dagegen führen primäre Ge-
nitalaffektionen allem Anscheine nach lediglich bei Belasteten und
Individuen mit erworbener nenropathischer Disposition zu neur-
asthenischen Störungen. Hierfür spricht schon der Umstand, dass
die betreffenden GcniUilattcktionfii bei der grossen Mehrzahl der
damit Behafteten nervöse Beschwerden nicht nach sich ziehen ').
*) Die Bedeutung der PrSdispotttion in den Ftlleii, io weldien snudle
Ncunsdieiiiie im Gefolge von Sextudaliiektkiiieii •nfUittt wurde aebon von Bcard
betont. Er bemerkt u. a. : „In<iividuen voo hodignuliKer Nervosittt, insbesonders
Aiiu rikaner, werden zumeist infnif^e des erregenden Kinfliis«!?^? iTf;<"nd eine« der
erwähnten pathologischen Zustände von sexueller Neurasthenie befallen. Die
Phimoie oder die Striktar kfionte allein jene nerv4)sen StSmngcn nidit herbei«
fUiKn, wenn nicht gegebenenfalls eine durch die Un^nst des Klimas, Arbeits-
abcrb&rduo^ Sorgen, ftbcrmissigen Gcnuss von Nikotin und Alkohol, infolge
traumn(i«cher Einwirkungen und allerlei £»zes$en herbeigeführte nenrOse Kon-
stitution zugleich vorbanden wäre."
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200
Erkrankungen der Sexualorgane bei M&Dnen etc.
Ferner kommt in Betracht, dass unter den Ursachen der (sexuellen)
Neurasthenie deti scxiu-llcn Missbräuchcn gegenüber dif i)rimären
Genitalleiden ganz gewaltig zurücksLehen und überhaupt nur
von untergeordneter Bedeutung sind; so fand z. B. v. Krafft-
Ebing unter 1 14 Fällen von Neurasthenia sexualis bei Männern
lo6mal sexuelle Missbräuche, dagegen nur 8 mal I.okaiatTektionen
(Urethritis posterior). Aiu häufigsten vergesellschaften sich die
chronischen, durch gonorrhoische Infektion bedingten l^ntzün-
dungen der Pars prostatica der Harnrohre (die Urethritis posterior)
mit ihren Folgeerscheinungen seitens der Ductus ejaculatorii
(ICrschlaffung und Erweiterung derselben ) mit neurasthenischen Zu-
ständen. Man hat diese als Trippcrncura>thenie bezeichnet und
als ihre nächste Ursache die andauernde Reizung der Nerven in
der Pars prost, ureth. durch die chronisch entzündlichen Verände-
rungen derselben angenommen. Nach meinen Wahrnehmungen
kommen bei der sogenannten Tripperneurasthenie jedoch noch
andere Momente .sehr in Betracht. Zumeist sind die mit dieser
Neurasthenie Behafteten hypochondrisch veranlagte Individuen,
denen der GedankCt an einer GenitalafTektion zu leiden, an^
dauernde Verstimmung und oft ganz übertriebene Sorgen wegen
etwaiger Folgen verursacht. Infolge dieser Gedankenrichtung
beschäftigen sie sich beständig mit dem Zustande ihrer Harn-
röhre, überwachen die Absonderung derselben mit ängstlicher
Spannung und unterziehen sich endlosen Kurversuchen mit
Adstringentlen und Ätzungen, um den oft nur minimalen Aus-
lluss zu beseitigen. So dürfen wir uns denn nicht wundem,
dass die sogenannte Trippemeurasthenie, wie ich mich schon
andern Orts ausgesprochen habe, öfters mehr ein ankuriertes
Leiden, mehr bedingt durch chronische Misshandlung der Harn-
röhre durch Lokalbehandlung (und die hiermit einhergehenden
Gemütserregungen), denn unmittelbare Folge der chronisdien
Urethritis ist.
Neben den Fällen, in welchen irgendwelche ursächliche Be-
ziehungen zwischen der Urethritis post. und dem neurasthenischen
Zustande bestehen, begegnen wir aber auch solchen, in welchen
die HamröhrenafTdction ofTenbar nur die zufällige Komplikation
einer durch andere Momente herbeigeführten Neurasthenie bildet.
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Erkrukungen der Sexnafaicguie bei Mlimera etc
201
Neben der chronischen Urethritis posterior gonorrhoischer
Provenienz soll jedoch — nach den Behauptungen mancher Be-
obachter — eine einfache Mkatarrhalische" Urethritis posterior
chronica vorkommen, welche sehr viel neurasthenisdies Unheil
zur Folge hat. .Seit Lallemand wurde von einer Reihe von
Autoren (in neuerer Zeit insbesonders von Ultzmann, Gyur-
kovechky, GrQnfeld und Peyer) die Ansicht vertreten, dass
durch exeessive Mbsturbation Entzündungssustände im Bereiche
der Harnröhre und 2war speziell in der Umgebung der Mündungs-
stellen der Ductus ejaculatorit (des Caput gallinaginis) herbeigeführt
werden. Die gleichen Veränderungen der Pars prost, der Ham-
führe sollen aber auch Kxzcsse im natürlichen (leschlcchts-
genussc und der Congressus interruptus nach sich ziehen.
Diese Annahmen hat man seit Einführung der Endosk()f)ie der
Harnröhre auch durch den Hinweis auf gewisse endoskopische
Befunde (Hyperämie der Pars prostatica etc.) m stützen gesucht.
Die Anhänger dieser ILntzündungstheorie glauben, dass die Ent-
zündung der nervenreichen Pars prostatica urethrae auf dem
Wege des Reflexes die nervösen Störungen verursacht, die wir
als Folgen sexueller Missbräuche kennen, und die direkte Ein-
wirkung der betrefTenden sexuellen Vorgänge auf das Nerven*
System nur eine prädisponierende Reizung oder Überreizung
desselben bedingt. Für die behauptete Entstehung entzündlicher
Vorgänge im prostatischen Teile der Harnröhre infolge sexueller
Missbräuche mangelt jedoch jeder stringente Nachweis. Die
gel^enttiche endoskopische Entdeckung von Hyperämie in diesem
Teile kann in dieser Beziehung nicht emsthaft in Betracht
kommen, und für die bei Einführung von Instrumenten sich
kundgebende Hyperästhesie gilt das Gleiche, zumal diese Er-
scheinung auch bei Neurasthenikem sich findet, bei welchen
sexuelle Missbräuche nicht statt hatten, Fürbrtnger erklärt
auf Grund einer grossen Reihe eigener, auf diesen Punkt
gerichteter Beobachtungen mit aller Entschiedenheit, dass er
Entzündung der Harnröhre niemals gefunden hat wofern nicht
*) Peyer glaubt, dass «tie Veridiiedeiüieit der Auiditeii Aber das Vor»
kommen oder Nicht%'nrkommcn einer ein/ümlliclien Reizung der Pars prost, aus
Vmcbiedenkeitco des BeobachtangsmateriaU sidi erklären l&»it und erwihot,
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202
ErkmokaogCD der Sezualorg^e bei Mftimeni etc.
Tripperprozesse als Komplikation bestanden. Die Ansicht, dass
die im Gefolge sexueller Missbräuche sich einstellenden neur-
astbenischen Erscheinungen lediglich auf dem Wege des Reflexes
von dem prostatischen Teile der Harnröhre aus zu Stande
kommen, ist ebenfalls ganz und gar unhaltbar. Die Versuche,
der Pars prostatica aus anatomischen Gründen eine ähnliche
neuropathogenetische Bedeutung wie dem Uterus suzuweisen,
sind heutzut^e um so weniger berechtigt, als wir g^enwflrtig
wissen, dass die grosse Mehrzahl der früher vom Uterus herge-
leiteten nervösen Störungen anderen Ursprungs ist, und anderer-
seits sind die Thatsachen, welche für eine direkte nervenier-
rüttende V^rkung der sexuellen Missbräuche sprechen, so zahl>
reich und gewichtig, das sich ernsthafte Einwände dagegen nicht
erheben lassen.
Ausser der chronischen Urethritis werden noch verschiedene
andere Anomalien im Bereiche der inännltchen Sexualorgane als
Ursache neurasthenischer Störungen an^cfiiht t Strikturen der
Harnri'jhre, chronische Prostatitis (und funkt if>ncllc Frostata-
reizungi, chronische Hodenentzündung, Hypertroi)hie und Ver-
längerung des Präputiums, Smegmaanhäufung und daher rührende
ßalanitis bei etwas enger Vorhaut oder ausgesprochener Phimose.
Die Bedeutung dieser Momente als Quelle neurasthenischer Er-
scheinungen wird von manchen bezweifelt. Wenn ich meine
eigenen Erfahrungen berücksichtige, so gab nur in einem Falle
meiner Beobachtung — bei einem Belasteten eine chronische
Orchitis den Anstoss zur Entwickelung eines neurasthentschcn
Zustandes. Strikturen äussern nach meinen Wahrnehmungen in
manchen Fällen einen verschlimmernden Einfluss auf eine be-
stehende Neurasthenie ; nicht selten bilden sie jedoch nur eine
da$s er bei MaMurbaaten, weldie nie den Koitui geObt batlcB, Öfters Urethral
fluten, bestdiend aus Letikocyleo niid kleioen ninden Epitbelien» fand. Diett
Angabe kann den negativen und jcdenfillls an einem grösseren Beobachtaog>
niaterial*; erhobenen bcfiiiiil'jn Furhringcrs gf^eniilior nidit in Betracht kommen.
„Wenn hie und da," bemerkt dieser Autor, „im endoskopischen Bilde katarrh«'
lische Schwel langen der hinteren Harnröhre, in&besooders des Collicalt» semiaalis
beobachtet oder Urelbralßiden im Harn als Auadnick von EnttOBdang gefundCB
weiden, so mag es sich um Reste von Gonorrhoe, um Katheterreizung, fortge*
leitete Katarrh«' u. vlcrgl. also um •irsiichlichr. b'vi'.-hungsweise bcgleiteade Pko>
«e»se, nicht aber um Folgezost^de gehandelt haben.
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ErknukaiigCD 6er Sexaalorgane bei Männern etc.
203
Komplikation derselben, deren Beseitigung auch ohne jede Ein-
wirkuiq; auf das Leiden bleibt. Auch von dem nervenscfaädigen-
den und insbesonders das Gemüt beiastenden Einflüsse der
chronischen Prostatitis mit Prostatorrhoe konnte ich mich öfters
überzeugen, zumal die prostatorrhoischen Abginge in manchen
Fällen ähnliche Erscheinungen 2ur Folge haben, wie die krank-
haften Pollutionen (Müdigkeit, Abgeschlagenheit etc. Smegma-
anhäufungen und Balanitis bei etwas enger Vorhaut führten in
mehreren Fällen metner Beobachtung zu übermässigen Pollutionen,
welche sich mit der Beseitigung des Reizzustandes der hoch-
empfindlichen Glans sofort verloren. Bezüglich der kongenitalen
Phimose ist hier noch zu erwähnen, dass dieselbe nicht nur zu
neurasthenischen Beschwerden führen, sondern auch als Ursache
einer Reflexepilepsie figurieren kann. Es sind in der Literatur
Falle mitgeteilt, in welchen die Heilung einer Epilepsie durch
die Zirkumzision gelang. Die Phimose kann jedoch, wie F€t€
bemerkt, auch auf indirektem Wege Epilepsie nach sich ziehen,
indem sie Masturbation veranlasst, welche zuweilen epileptische
Zufälle zur Folge hat*).
*) V. Notthafft (Mfinchner med. Wochenschrift 1905 Nr. 4) erwihot,
dass Prcistatorrhoe und Frostataneurastbenie ganz im Gegensatze zu der vor-
herrschenden Aiisii;ht nui seltene Bcj^lf-itet x hfinuriL^cn der l hroni!>chcn Pro-tatitis
bilden. Die Prostatorrhoe kann bei ganz leichten wie bei ganz schweren sub.
jektiven Symptomen gefunden werden. Die lotensitiU der tnbjektiven Symptonne
steht in keinem Verhlttnisse zu den objektiven Untenndiongsersebnissen. Nach
dem Autor sind die Schmerzen bei chronischer Prostatitis vielfach an Orten
lokalisiert, die einen Zusammenhang mit dem Leiden nicht erwarten Iri'-'ifn (Ischias,
Kniegelenkschmerzen etc.). Aus der Beseitigung der betreflienden Beschwerden
duBch BdumdlnDg der FhwtitB glaabt da Autor diesen ZuMmncnliang folgern
SU dfirfen.
') R. M. S i m n n berichtete ttbcf 3 Fülle v«i Rdlexneurosen, die anscheinend
tturch ein adhäientes Präputium verursacht waren und durch die opcrativf» Be-
seitigung der Anomalie cur Heilung gelangten. Die reflektorischen Störungen
waren in den einzelnen Fflllen sdir veiachiedaer Natur: plötzlich dnsetscade
Schmenen in der Httflgegend und Hochziehen des betreffenden Beines, schwere
IntestioalkoUkeo, nichtliches Aufschrecken mit Klagen Sher Leibschmerzen.
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Anhang:
Über Pollutionen und pollutionsartige Vorgänge
Unter den Erscheinungen der sexuellen Neurasthenie bean-
spruchen die krankhaften Pollutionen, welche wir im Vorstehen-
den bereits zu berühren Gelegenheit hatten, die ärztliche Auf-
merksamkeit in besonderem Masse, weil dieselben nicht ledig-
lich wie viele andere Symptome die Äusserung eines g^ebenen
pathologischen Zustandes, sondern auch eine Quelle weiterer
und z. T. erheblicher neurasthenischer Beschwerden bilden.
Dieser Umstand veranlasst uns, denselben und einigen ver«
wandten Vorgängen in der Sexualspbäre hier noch eine kurze
gesonderte Betrachtung zu widmen, durch welche auch die
Unterscheidung zwischen Physiologischem und Pathologischem
im Bereiche der Pollutionen erleichtert werden soll*
Bezeuch der Frage, ob der als Pollution bezeichnete Vor-
gang beim männlichen Geschlechte unter irgend welchen Ver-
hältnissen als normal oder physiologisch zu betrachten ist, sind
die Ansichten geteilt. Die Gründe, welche gegen das physio-
logische Vorkommen von Pollutionen geltend gemacht werden,
können jedoch nicht als stichhaltig betrachtet werden. Es ist
nicht gerechtfertigt, wenn man wie Eulenburg den Pollutions-
vorgang mit Husten oder Erbrechen vcr!;leicht ; Husten und Er-
brechen treten gewühnlich nur bei gewissen Krankheitszuständen
oder Reizemwtrkunt;en ein, und zahlreiche Männer bleil)en von
diesen Erscheinungen verschont. Dagegen stellen sich Pollutionen
bei beiden Geschlechtern.
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Ober FoUationen und pollationsartig» VorgUge.
205
bei gesundeo, erwachsenen männlichen Individuen, welche keinen
oder keinen genügenden geschlechtlichen Verkehr haben, so
regelmässig, wenn auch in sehr verschiedener Häufigkeit ein,
dass wir aus dem gänzlichen Fehlen derselben unter den in Rede
stehenden Verhältnissen auf einen krankhaften Zustand schliessen
müssen. Auf der anderen Si-ite besteht unter den kompetenten
Beobachtern kaum eine Meinungsverschiedenheit darüber, dass
unter gewissen Umstanden die Pollutionen einen krankhaften
VcMTgai^ bilden. Als Kriterien der normalen Pollution können
folgende Momente gelten: Auftreten derselben bei Individuen
im gescUechtsreifen Alter, nicbt zu häufig, nur im Schlafe, mit
Erektionen und gewissen mehr minder ausgesprochenen Wollust-
gefiuhlen, reichlicher Samenentleemng und Mangel jeder un-
günstigen Rückwirkung auf das Befinden. Die Abweichungen
vom Tsrpus, wodurch die Pollution einen krankhaften Charakter
gewinnt, können alle die angeführten Momente betreffen.
Das Erscheinen von Polluticmen bei im Alter von 13 — 15
Jahren stehenden oder noch jüngeren Knaben, gewöhnlich eine
Folge von Masturbation, ist eo ipso w^en des verfrühten Auf-
tretens als pathologisch zu betrachten.
Bezüglich der Häufigkeit lässt sich dagegen eine genaue
Grenze, von welcher anfallend die Pollutionen als krankhaft an-
zusehen wären, nicht festsetzen. Meines Erachtens darf man
wöchentlfeh einmal auftretende Pollutionen bei in anhaltender
Abstinenz lebenden jungen Leuten, selbst das vorübergehende Auf-
treten von Pollutionen an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen
im Gefolge sexueller F-rre^ungcn noch nicht in das Gebiet des
Patholoj^ischen verweisen. In dieses i^'ehören dagej^en sicher die
Fälle, in welchen Polhitionen längere Zeit hindurch wöchentlich
mehrere Male oder selbst taglich oder trotz regelmässigem,
dem vorhandenen Bedürfnis entsprechendem geschlechtlichem
Umgange Tifters sich einstellen. Das Vorkommen von Pollu-
tionen während des wachen Zustandes — Tagespollutionen — ,
auf welche Kinwirkung hin dieselbe auch erfolgen mag 1 me-
chanische oder psychische ^, verrät ebenfalls imitier einen krank-
haften Zustand; das gleiche gilt fiir den im (Manzen seltenen
Mangel der Erektion (die Ejakulation bei schlaffem GUede).
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206 übet FoUationen uod pollutionsartige Vorgttaee.
Mangel des Wollustgefühles scheint insbesonders bei gehäuften
Pollutionen durchaus nichts Ungewöhnliches, und man darf den-
selben als ein Symptom spinaler Erschöpfung deuten. Ein un-
gleich selteneres Vorkommnis ist dagegen das Auftreten von
Schmerzen im Gliede und in den Hoden ni^rend des Ejaku-
lationsvorganges, bei Mangel irgendwdcher örtlicher Verände-
rungen, welche dieselben erklären könnten. In einem Falle meiner
Beobachtung traten diese fieschwerden nach längerer Abstinenz
bei relativ seltenen und im übrigen normal verlaufenden Pollu-
tionen in erheblicher Intensität auf; der betreffende Patient» ein
in den 40er Jahren stehender Herr, hatte früher zeitweilig an
Symptomen der reizbaren Blase und anderen Erscheinungen
sexueller Neurasthenie gelitten. In einem anderen Falle, welcher
einen in den 30ger Jahren stehenden Neurastheniker betraf,
nahmen die Pollutionen nur bei gehäufter^») Aaftit^tin den
schmerzhaften Charakter an. Bei länger be-stchenden gehäuften
Pollutionen ist es nicht selten, dass sinnlich erregende Traume
derselben nicht vorhergehen, respektive die Patienten sich
solcher wenigstens nicht erinnern, in vereinzelten Fällen kommt
es auch vor, dass Angstträume die Rolle des auslösenden
Momentes üliernehmen. Der Pollutionsvorgang kann aber auch,
ohne hinsichtlich des auslösenden Traumbildes, der Erektion,
des begleitenden Gefühles und der Rückwirktmg auf das Befinden
eine Veränderung aufzuweisen, dadurch von dem typischen
Ablaufe sich entfernen, dass die Samenentleerung auf Abgang
eines oder einiger Tropfen Sperma sich beschränkt oder auch
gänzlich ausbleibt. Über diese Form des Pollutionsaktes ist
bisher meines Wissens noch von keiner Seite berichtet worden.
Den tropfenweisen Samenabgang beobachtete ich insbesonders in
Fällen, in welchen früher tägliche Pollutionen bestanden, und zwar
üi der ersten Zeit der Besserung des Zustandes, wobei es nebenbei
noch zu Pollutionen mit reichlicher Spermaentleerung kam. In
einem Falle meiner Beobachtung, über welchen ich schon vor
Jahren anderen Orts berichtete*), mangelte bei den Pollutions-
') Löwenfeld, Pftthoi. und Therapie der Neurutbeoie und H)'sterie.
Seite 215.
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über Pollutionen und pollutionsartige Vorgänge.
207
Vorgängen häufig der Saniciiabgang gänzlich. Der l'all ijctiaf
einen in den 50er Jahren stehenden Herrn, welcher mit einer
erheblich iüni^eren Frau verlieiratct war. Bei dem Patienten
bestanden wenigstens seit 15 Jahren häufige nächthche Samen-
ergüsse, deren Andauer der regelmässig gepflogene eheliche
Verkehr in keinerlei Weise zu beeinflussen vermochte. Meist
wurden die Pollutionen durch ein sinnliches Traumbild (eine
nackte Frauengestalt etc.), das jedoch nur ganz flüchtig, mit-
unter nur einen Moment auftrat, provoziert. In den letzten
Jahren kam es öfters nach diesem Antecedens nicht zu einer
Ejakulation, sondern nur zu einer nervösen Erschütterung, welche
dieselbe Abspannung für den folgenden Tag zurflckliess wie die
Pollutionen mit Ejakulation. In zwei anderen Falten kam es
bei Neurasthenischen, die nicht an übermässigen Pollutionen aber
einer gewissen Potenzschwäcfae litten, zeitweilig während des
Schlafes zu Vorgängen, welche subjektiv völlig einer Pollution
entsprachen, während jede Samenentleerung mangelte, fai diesen
Fällen zeigte sich keine ungünstige Rückwirkung auf das Be-
finden am folgenden Tage. Die im Vorstehenden angeführten
Beobachtungen suid in zweifacher i linsicht beachtenswert: Sie
lehren uns zunächst, dass die in vielen Fällen so ausgesprochene
ungünstige Rückwirkung der krankhaften nächtlichen Pollutionen
auf das Befinden nicht auf den Samenverlust, sondern lediglich
den nervösen, im Lendenmarke sich abspielenden Vorgang
zuriickzuführen ist. Man liat früher vielfach 1 Lalle man d und
seine Schüler insbesondersj die nervösen Folgen der gehäuften
Pollutionen durch den erschöpfenden Einfluss der Spermaver-
luste erklärt, durch welche dem Kcirper bestimmte wertvolle
Stoffe entzogen werden sollten. Diese Auffassung wurde in
neuerer iSeit von der grossen Mehrzahl der Beobachter verworfen,
von Donner jedoch wieder mit Nachdruck vertreten. Nach
diesem Autor käme bei den unfreiwilligen Samenverlusten, „bei
denen die Nervenerschütterung meist unbedeutend, oft gleich
Null ist,** in erster Linie der Verlust des Samens in Betracht,
der, wie schon die älteren Autoren annahmen, ein besonders
hochdifferenziertes, wertvolles Fluidum darstellt. Aus dieser
Eigenschaft des Samens glaubt Donner es erklären zu können,
208 Ober Follutiooen nnd poUutionttftige Voiflnfe.
,,(l:iss nach dem Abgange einiger Tropfen Samen z. B. bei der
Defäkationsspermatorrhoe, wo jegliche Erregung des Nerven«
sjrstems feUt, oft augenblicklich grosse MOd^keit^ Unbehagen,
Schmerzen im Kreuz, Kopfdnick usw. sich einstellen."
Die Tatsache, dass genau die gleichen nervösen Polgen
eintraten, ob der Pollutionsvorgang mit Abgang reichlicherer
Spermamen^ oder eines Tropfens oder selbst ohne jede Sperma«
entleerung abschliesst, spricht deutlich genug dafür, dass fOr die
Folgezustände unmittelbar nur die nervöse Erschütterung im
Loidenmarke heranzuziehen ist In gleichem Sinne lassen sich
verschiedene andere Beobachtungen deuten, auf welche wir noch
zu sprechen kommen werden. In zweiter Linie erseiicn wir aus
dem Angeführten, dass das ZustancitKrMiKf'^en jener Nervener-
schütteruncf im Lendenniarke, von weicliLT die ungünstigen
Riickwirkungon auf das Befinden bei Pollutionen abhängen, nicht
lediglich an die Erre^un^svorgänge gebunden ist, welche den
Ejakulationsakt herbeiführen. Dies ergibt sich auch aus den
noch zu erwähnenden Rcobachtungen.
Am wichtigsten und für die krankhafte Natur der Pollutionen
am häufigsten entscheidend ist die Art der Beeinflussung des
Allgemeinbefindens oder einzelner Krankheitserscheinungen durch
dieselben. Die im Bereich des Normalen sich abspielende Pollu-
tion wirkt auf das Gesamtbefinden nie ungünstig, ja des öfteren
(bei in sexueller Abstinenz lebenden Individuen mit zeitweilig
etwas mehr hervortretender Libido) sogar entschieden das Wohl-
befinden fordernd. Bei an sexueller Neurasthenie Leidenden
mit starker sexueller Erregtheit und sexuellen Zwangsvorstel-
lungen habe ich von nicht zu häufigen Pollutionen einen ausge-
sprochen günstigen Einfluss auf diese Erscheinungen gesehen.
Als krankhaft müssen wir daher Pollutionen betrachten, an
welche sich eine sonst nicht vorhandene allgemeine Abspannung,
Mattigkeit oder speziell Müdigkeit mit Abgeschhgenheit der
') Dass der Sanitnvcrlust bei den gehäuften Pollutionen für Jen Korper
^.tnz gleichgültig ist, möchte ich duidims nidit behaupten; atleia desMO Wir-
kungen abzuschätxeD, tiod wir vorerst ausser Stande, und jedenfills spielt erat die
SummieroDg der Verluste eine Rolle» nicbt der eiaselne Ab^g, wie Donaer
glaubt.
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Ober PolluUoneii und poUttüonsaitig« Vorginge. 209
Beine oder irgend welche andere nervöse Beschwerden oder
Steigerungen solcher anscbliessen. Diese Folgeerscheinungen
finden sich nicht lediglich bei sehr gehäuften Pollutionen; wir
begegnen denselben mitunter in Fällen, in welchen nur in
Zwischenräumen von 8—14 Tagen Samenergusse eintreten, und
wir vermissen dieselben mitunter wenigstens lange Zeit bei In-
dividuen p welche wöchentlich mehrere Male von Pollutionen
heimgesucht werden. Dieselben sind also keineswegs an eine
gewisse Häufigkeit der nächtlichen Ergüsse gebunden. Auf der
anderen Seite begegnen wir diesen Erscheinungen aber auch
nicht selten bei spcriiiatonhoischen Abgängen und zwar sowohl
bei Miktions- als bei Defäkationsspcrnialoi rhoe. Auf dicken Um-
stand wurde schon von Pcycr und Donnii, wie wir oben
sahen, aufmerksam ^'t-macht; ich kann die Angaben dieser Be-
obachter nach nu-inen k>fahrungen nur bcstätiijcn. Aber auch
bei rein prostatorrhoischen Er<^nissen und selbst bei der ein-
fachen Urinentleerung ohne spermatorrhoischen oder sonstigen
Abgang k<"mncn die gleichen Folgeerscheinungen sich einstellen.
Mendelsohn erwähnt, dass nach dem Abgange einer
grossen Menge von Prostatasekret die Kranken oft das Gefühl
grosser Mattigkeit und Abspannung haben; ich habe in den
letzten Jahren zwei Fälle beobachtet, in welchen diese Erschei-
nungen nadi prostatorrhoischen Ergüssen in sehr ausgesprochener
Weise neben anderen Beschwerden (unangenehmen Empfin-
dungen in der Dammgegend, den Hoden, Kreu2schmenen etc.)
sich geltend machten. Bei einem an sexueller Neurasthenie
leidenden Herrn meiner Beobachtung, der schon früher mit-
unter nach dem Urinieren namentlich im Gefolge spermatorrhoi-
scher Abgänge von einer sehr lästigen Müdigkeit insbesondere
im Rucken heimgesucht worden war, trat längere Zeit hindurch
nach jeder Urinentleerung, obwohl die Spermatorrhoe beseitigt
war, diese Müdigkeit auf ).
Aus dem Angeführten ergibt sich, dass neben den typi-
schen Pollutiuncn uut Erektion und durch Ejakulaiu'n erlulgcnder
reichlicher Spcrmaentlecrung bei Männern noch eine Reihe von
') über den Fall wird an t>päterer Stelle au.sfubrlicher berichtet.
Ltfweafel4i Scxuell-nerWtae htCrunsen. Vierte Aufl. 14
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210
über Pollutionen und pollutionsarlige Vorgänge.
VoiL,'än^en in der Sexualsphäre htH^hachtct werden, welclu-. ob-
wohl bei denselben das Ejakulationszenlrum nicht in Tätii^kiMt
tritt, besrü'^lich der nervösen F«)lL^eerscheinungen den krankhaften
Pollutionen ^k iclnvertig sind und deshalb unter der Bezeichnung»
„p o 1 1 u t i o n s a 1 t i LI c V o r g a n g e" sicli zusatnmenfassen lassen.
\\ ie lassen sich nun die erwähnten Nachwirkungen dieser
Vorgänge und der Pollutionen erklären ?
Über die näheren Umstände, welche bei der Spermatorrhoe
den Übertritt von Samen in die Harnröhre bedingen, sind wir
noch nicht genügend aufgeklärt und deshalb auch die An-
sichten über diese Frage noch geteilt. Allem Anscheine nach
ist der mechanische Hergang bei der Spermatorrhoe nicht immer
der gleiche. Bei den hier in Rede stehenden spermatorrhoischen
Abgängen handelt es sich wahrscheinlich um Mitbewegungen
der Samenblase, wdche durch die Tätigkeit des Darmes und
der Bauchpresse oder der Blase angeregt werden, i. e. ein
Obergreifen der Erregungen von den Zentren des Defäkations»
aktes oder der Blasenbewegungen im Lendenmarke auf das (zu
supponierende) Zentrum für die Muskulatur der Samenblasen.
Dieses Obergreifen kann nur infolge einer Verringerui^ der
Widerstandsverbältnisse, einer erhöhten Irritabilität im Bereiche
des Lendenmarkes eintreten, und die klinische Beobachtung
spricht dafür, dass, je grösser die reizbare Schwäche in diesem
Markabschnitte ist, um so leichter das Obergreifen stattfindet
und daher auch spermatorrhoische Abgänge erfolgen. Wir sehen,
dass die Neii^ung zu diesen Entleerungen vorübergehend nach
sexuellen Erregungen oder erheblichen körperlichen Anstren-
gungen, also erschr>})fend auf das Lendenmark einwirkenden
Momenten, zunimmt. Bei den mitunter nicht unerheblichen
Prostataergüssen findet dagegen wahrscheinlich eine von den
Prostatanerven ausgehende reflektorische Erregung des Lenden-
markes statt. Die in Fra^e stehenden Erregungen müssen im
Lendenniarko /u einer weiter »im sich i^reifenden nervösen Er-
schütterung^ führen, we:.u die erwiihnten ungünstigen Nach-
wirkungen sich einstellen. Die jedenfalls i^erinL^e Intensität der
ErrigunL^en kann die^e Fol^e nicht erklären, sondern nur ein
kiaiikhafier, mit erhöhter hiitabihtat verknüpfter Zustand des
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über PollutioDen aod pollationiarttge Vorgänge.
211
Lendeninarkes. Mit einem solchen Zustande haben wir es aber
auch bei den gehäuften krankhaften Pollutionen gewöhnlich zu
tun, wenn dieselben einmal längere Zeit bestehen; auch in den
Fällen, in welchen die Pollutionen ursprünglich nur durch von
der Peripherie ausgehende Reize (wie z. B. bei enger Vorhaut
und Balanitis) ausgelöst werden, entwickelt sich allmählich eine
gewisse reizbare Schwäche des Lendenmarkes, und dieser Zu-
stand bedingt einen Circulus vitiosus: er begünstigt» resp. ver*
aniasst einerseits das Auftreten von Pollutionen, indem er eine
erhöhte Ansprechbarkeit des Erektions- und Ejakuiationszentrums
für pcrii>hcre und zentrale Reize nach sich zieht, andererseits
führt er dazu, dasb an das in Tätigkeittreten speziell des Eja-
kuiationszentrums eine über dieses mehr minder weit hinaus-
gt hciule, 7. T. auch nach dem Gehirn inadiierendc Ncrvcn-
er^chüttcrung sich knüpft. Die häutii^erc l-,rre^ning des Kjaku-
lationszentrums steigert die reizbare Schwäche und damit die
Ansprechbarkeit desselben, und die sich immer wiederholende,
weiterhin sich ausbrcitt iide Nervenerschütterung, die sich an
die Tätigkeit des Ejakuiationszentrums anschliesst, fördert die
allmähliche Ausbreitung des neurasthenischen Zustandes über
weitere Abschnitte der Zentralorgane und die Verstärkung des-
selben. So bilden die gehäuften krankhaften Pollutionen einen
Vorgang, welcher nicht nur gewissermassen sich selbst unter-
hält und damit speziell die Genitalsphäre schädigt, sondern das
Nervensystem in immer weiterem Umfange in den Bereich der
Störung ziehen kann. Inwieweit dies der Fall ist, hängt im
Einzelfalle natürlich von der Resistenzfähigkeit des Nerven-
systems im allgemeinen und einzelner Abschnitte desselben im
besonderen ab. Zu der direkten schädigenden Wirkung der
Pollutionen kommt noch vielfach die indirekte durch übertriebene
Befürchtungen, welche sicli an die Fortdauer der Saincnvcrluste
knüpfen, und die hierdurch verursachte gemütliche Verstimmung
des Patienten.
Wir wissen heutzutage, dass die Schreckbilder, mit welchen
Tissot und I.alleniand die an krankliaften banienverlusteii
Leidenden ängstigten — hnpdten/., Tabes, Bicidsinn — speziell
was die beiden letzteren Erkrankungen anbelangt, keineswegs
14*
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212
Ober Pollttlionen und poUutioOBMrtige VoislBge.
der Erfahrung entsprechen und nur arge Obertreibungen dar>
stellen. Allein auf der anderen Seite können wir auch die Gleich-
gültigkeit und den Optimismus nicht gerechtfertigt erachten, die
so viele Ärzte noch den fibermSssigen Pollutionen gegenflber
bekunden. Wenn manche glauben, dass, da doch so viele Männer
wöchentlich zwei-, dreimal und noch öfters sexuellen Umgang
ohne Kachteil pllegen, Pollutionen von ähnlicher Häufigkeit
keinen wesentlichen Schaden bringen können, so übersehen ijie,
dass die in Frage stehenden sexuellen Leistungen nur bei
Gesunden ohne Nachteil bleiben, die gehäuften Pollutionen
dagegen an sich schon 1- olgen eines krankhaften Zustandes sind,
welcher durch die Fortdauer der Samenvcrluste genährt und
gesteigert wird. Auch die Annahme, der wir nicht selten
begegnoi, ist ganz unhaltbar, dass es sich bei den PoUutionisten
im wesentlichen nur um hypochondrischen Jammer handle und
die Pollutionen gewöhnlich ein vorübergehendes Übel bilden,
das kein ernstes Eingreifen erheischt. Die Klagen der Poliu>
tionisten über zunehmende Nervenzerrttttung, wenn bei den*
selben mitunter auch Übertreibungen mit unterlaufen, beruhen
doch keineswegs lediglich auf Einbildung und übermässiger
Ängstlichkeit, und die Erwartungen, die man bezüglich alS'
baldigen spontanen Schwindens der gdiäuften Samenverluste
h^t, erfüllen sich zumeist nicht. Ich habe Fälle gesehen, in
welchen PoUut. nim. so Jahre und noch länger anhielten. Wir
sind allerdings in der Lage, auch nach sehr langem Bestehen
derselben noch wirksam dagegen vorzugehen, allein wir dürfen
durciiaus nicht annehmen, dass die Schädigung, welche das
Nervensystem durch die lani^e Jahre hindurch uiimer wieder-
kelirendc vom Lendeniuarkc ausgehende nervöse Erschüttci uug
erfahren hat, mit der Beseitigung der I'ollutiunen sich ohne
weiteres rMln auch nur allmählich wieder au^^gleichen wird Die
neurasthenischen Veränderungen des Nervensystems, welche sich
unter diesen Verhältnissen entwickelt haben, sind in der Regel
einer völligen Reparation nicht mehr zugänglich.
Dass es auch bei Frauen an Vorgängen nicht fehlt, die den
Pollutionen beim Manne entsprechen, haben wir an früherer
Stelle bereits gesehen. Nach von Krafft-Ebing sollten die
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Ober PoUuüooen und pollationsartige Vorgänge.
213
Pollutionen beim Weibe nur ein Symptom einer funktionellen
Erkrankung des Rückenmarks bilden, eine Auffassun^^ der ich
nicht betpflichten kann. In wie weit in der Breite des Physio-
lojtischen Pollutionen hei Frauen vorkommen, lässt sich zur Zeit
allerdings nicht feststellen. Dass bei gesunden (europäischen)
Frauen Pollutionen häuhg sind, möchte ich nicht behaupten,
allein vereinzelte Mitteilungen, die mir gelegentUcIi gemacht
wurden, sprechen dafür, dass sie bei solchen unter gewissen
Umständen wenigstens (bei längerer Entbehrung des gewohnten
ehelicbra Umgangs z. B.) vcurkommen^). Bei den Indierinnen
sdieinen dieselben häufiger zu sein ; wen^stens weist eine Stelle
in Oupnek'hat*) darauf hin, dass dieselben schon Jahrtausende
vor Christi Geburt den altindischen Verfassern der Veden be-
kannt waren und von denselben als eine ganz gewöhnlwhe Er-
scheinung betraditet wurden. Die betreffende Stelle lautet:
„Und wenn die Gattin zu der Zeit, wo die gleichen Nächte zur
Erzeugung eines Sohnes und die ungleichen zur Erzeugung einer
Tochter bestimmt sind, träumt, es mache sich der Gatte mit
ihr zu schaffen, und ihr Same ergiesst sich, so wird diese, wenn
die Frucht bleibt, ein Stück seelenloses Fleisch (Mondkalb) ge-
bären, und wenn sie nicht gebiert, wird ihr Leib anschwellen!"
Zum Verständnis dieser Stelle sei beigefügt, dass in dem Ab-
schnitte, der dieselbe enthält (Oupnek'hat Porschi), Vor-
schriften zur Erzeugung gesunder Nachkommenschaft und speziell
auch zur willkürlichen KrTieugung von Söhnen imd Töchtern
gegeben werden, Vorschriften, die mprk\vürdii;er\vcise den in
neuerer Zeit so viel besprochenen Schenk'schen Ideen nicht
ganz ferne stehen.
In der Mehrzahl der Fälle dürfte nach den zur Zeit vor-
liegenden Erfahrungen das Vorkommen von Pollutionen bei
') Freud: Drei Abhandlungen rur Sf xualtheorif. S. 4"^ erwähnt das Vor-
kommen pollutionsartiger Vorgänge bei Mädchen vor den Pubertätsjabren und
fOgt bei, dass dieses Vochomnanb oft (oidit leselmlise^) eine Periode frflberer
aktiver Oneitie tat VonnuneCzuiig zu kaben scheine.
*) Das Oupnek'hat, die aus den Veden zusammcngCM t/te Lehre von
dem Pr;ihm. Aus der sanskrit-per'^isrhen Ül'cisetzung des Fürsten Mohammed
Darascbekob in das I^teinisiche von Duperron, deutsch von F. Michel.
Dresden 188s. S. 303.
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214
Über Pollutionen und pollutionsartige Vorgänge.
weiblichen Individuen auf eine durch Masturbation und ähnliche
sexuelle Schädlichkeiten verursachte reizbare Schwäche des
Lendenmarks zurückzuführen sein. Bei sehr beträchtlicher Ent-
wickelung dieses Zustandes kann es, wie schon erwähnt wurde,
auch zum Auftreten von Tagcspollutionen infolge der Einwirkung
psychischer und mechanischer Reize kommen, welche Vorgänge
gewöhnlich von unan^^'enehmen, selbst peinlichen Sensationen
begleitet sind. Ein von Bernhardt mitgeteilter Fall zeigt,
dass Tagespollutionen Jedoch auch unabhängig von Einwirkung
sexueller Noxen auftreten können. Bei einer 25 jährigen Iland-
näherin, welche nur einige Male vor dem 20. Lebensjahre sexu-
ellen Umgang gehabt hatte, der Masturbation nicht ergeben und
sexuell wenig bedürftig war, kam es im Gefolge schwerer ge-
mütlicher Erregungen zur Entwickelung hysterischer Beschwerden
und von Tagcspollutionen. Letztere stellten sich bei jedem
Ärger, namentlich wenn derselbe mit einer gewissen Ängstigung
verknüpft war, ein und waren von keinerlei Lustgefühl begleitet.
Die Pat. fühlte sich hierbei vielmehr „kreuzelend". Wenn es
ihr manchmal gelang, durch Willensanstrengung die sexuelle Er-
regung im Entstehen niederzukämpfen, stellten sich andere
Beschwerden : Ohrensausen, Schwäche im Arm, ein Gefühl der
Leere in der Oberbauchgegend um so stärker ein, und sie war
für den Rest des Tages völlig arbeitsunfähig. Die gleichen Er-
scheinungen traten bei der Pat. auch nach Träumen von ärger-
lichen Vorgängen auf.
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XIII.
Erkrankungen der Sezualorgane bei Frauen
als Ursache von Nervenleiden.
Die Erkrankungen der Sexoalof|[ane spielen beim Manne,
wie wir gesehen haben, im Allgemeinen als Ursache von ner-
vösen Krankheiten eine sehr bescheidene Rolle ; wigleich grösser
ist die Bedeutung, welche Krankheitszustände der weiblichen
Sexualorgane für die Ätiologie der bei Frauen vorkommenden
Nervenleiden beanspruchen. Wir zählen keineswegs zu den An-
hängern der Göth ersehen Theorie:
„Es ist ihr ewig Weh und Ach
So tausendfach
Aus einem Punkte zu kurieren."
Allein, wenn wir auch alles in Abzug bringen, was von den Be-
hauptungen über nervöse Folgezustände der speziellen Frauen-
krankheiten einer strengeren Kritik nicht Stand hält und was
noch strittig ist, bleiben letztere noch immer als ein seht be-
achtenswerter Faktor unter den Ursachen der nervösen Affek-
tionen des zarten Geschlechts bestehen.
Die Beziehungen zwischen weiblichen Sexual- und Nerven-
leiden haben in der Literatur der letzten Dezennien den Gegen-
stand sehr zahlreicher Abhandlungen gebildet, die nicht ohne
Nutzen geblieben sind und Vieles zur Klärung der Sachtage
und zur Anbahnung einer Verständigung zwischen den zunächst
interessierten ärztlichen Kreisen beigetragen haben. Während
froher in der Auffassung der Beziehungen zwischen den in Rede
stehenden Krankheitsgruppen die Gynäkologen einerseits und die
Inieiuistcn und iseurologen andererseits weit auseinandergingen,
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216
Erkrankungen der Sexiialorganc bei Frauen etc.
ist heutzutage, wenn auch noch keine volUj^o Ubereinstimmung,
so doch weni^->tcns eine sehr eihcbliclic Anniihcrung in den in
Betracht kouunenden Ansichten der beiden medizinischen Lager
zu verzeichnen
Die Gynäkologien haben sich im Laufe der jähre mehr und
mehr daran gewöhnt, den Lrfahruiigen der Neuropathologen
hinsieht h'ch der Ätiologie der ^'rossen Neurosen bei beiden
Geschiecluern Ivechnung zu tragen und aus der Koexistenz von
Genital- und Nervenleiden noch nicht ohne weiteres die Be-
rechtigung zur Annahme eines ursächlichen Zusammenhanges
zwischen beiden abzuleiten. Diese Wandlung in den Anschau-
ungen der Gynäkologen hat sich aucli auf ])raktischcni Gebiete
bereits fruchtbar erwiesen, sofern hierdurch der Übereifer in der
Lokalbehandlung der weiblichen Sexualleiden wesentlich ein-
geschränkt und die Wertschätzung der ncurotherapcutischen Me-
thoden auch seitens der Gynäkologen bedeutend gefördert wurde.
Die nervösen Störungen, bei welchen ein Zusammenhang
mit' Erkrankungen des weiblichen Sexuaiapparates öberiiaupt in
Frage kommt, müssen nach den dabei beteiligten nervösen
Gebieten in lokale Affekttonen und allgemeine Neurosen ge>
schieden werden. Es ist ohne weiteres verständlich, dass Er-
krankungen der weiblichen Beckenorgane, indem sie durch Druck
') So bemerkte Theilhaber schon vor 8 Jahren (VerbandlttDgen der
deutstlicn Gesellschaft für Gynäkologie J. 1807 S. .,Nnc!i vfsr ?wei Jahr-
zehnten bestand bei sehr vielen Ärzten der Glaube an die alte bippokrati*che
Lehre^ dass die Hysterie zumeist ihre Ursache in Anomalien des Uterus habe.
Die Statzen dieses Glaubens sind von Jahr zu Jahr mehr ersdiflttert trorden.
Heute wird für die Hysterie d r Hauptgrund in der erblichen Belastung und in
der verkehrten JCrriehung j^:- funji u. Internisten und Neurologen lassen einen Zu-
sammeuhaog mit Utemsctkrankungea entweder gar Aicbt mehr gelten, oder
erkennen die Anomalien des Utenn doch nur aia einen untergeordneten Faktor
fUr die Entstehung eines kleinen Prosentsattei von FiUen von Hysterie an. Bei
den Gynäkologen ist der Skepti/ismt» bcttglidi des kausalen Zuaoinienhanges
von Hysterie und UteriiNerkrankurigcn zwar noch nicht so weit vorgeschritten, wie
bei den Internisten. Doch schrumpft auch bei ihnen der Glaube an diesem Zu-
sammeahang von Jahr zu J:Uir mehr xusammen. Den besten Beleg hteifttr Wetet
ein Blick in die verschiedenen Auflagen mancher Lehrbttcber fOr Gynikologi«. An
ihnen liisst sich deutlich erk( inien, wie durch die inzwischen erschienenen Publi-
kationen der Neurolnf^en so tn.n 1 r Wunderglaube /crstiirt w<>r<!cn ist. Almltrh
wie mit der Hysterie gehl es mii dem Glaubeu an die ietlekturi»chen Neuralgien."
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Erkrankungen der Sexualorganc bei Fr«ueo etc 217
oder Zerrung zu mechanischer Becinträchtii,'un^f der in den
erkrankten Organen oder in deren Nachl)arschart verlaufi-nden
Nerven oder zu diese schädigenden Zirkulationsstt)runf,'cn führen,
nervöse Beschwerden verursachen. Ks muss auch ohne weiteres
zugegeben werden, dass bei den mannigfachen Verbindungen
der Nerven der Genitalorgane untereinander und mit denen
benachbarter Teile die durch Erkrankung eines Abschnittes des
Sexualapparates verursachten nervösen Reizungen sich über die
nächste Umgebung hinaus fortpflanzen können.
Als Affektionen, welche lokale nervöse Störungen hervor»
zurufen geeignet sind, kommen in Betracht: Tumoren des Uterus,
chronische entzündliche Prozesse desselben und der Ovarien,
Exsudate, Schrumpfungsprozesse» Narben und Geschwüre^)
(mit Freil^ung der Nervenendigungen), dann auch gewisse
Lageveränderungen des Uterus und der Ovarien» Senkung und
Prolaps des Uterus descensus ovariorum. Von den Beschwerden,
welche bei diesen Leiden auftreten, stehen Schmerzen und
Parästhesien im Vordergrunde. Die Schmerzen können in der
Tiefe des Beckens lokalisiert sein und sich mit Empfindungen
der Schwere, des Druckes oder Drängens verknüpfen; sehr häufig
haben sie ihren Sitz in der Kreuz- und Gesässgegend, auch an
den Oberschenkeln und hier sowohl im Gebiete des N. cruralis
als des N. ischiadicus, seltener in den Verbreltui^sbezirken
dieser Nerven am Unterschenkel und Fusse, auch die untere
Bauch- und Steissbeingcgend (Coccygodynie) wird des öfteren
heimgesucht. Zu diesen Schmerzen gesellen sich häufig Schwäche-
zustände der Beine und Gefühle abnormer Müdigkeit in den-
selben und im Rücken, in manchen Fällen auch Beschwerden
bei der Harn- und Stuhlentleerung (Tenesmus vesicae et recti,
Schmerzen im After bei der Entleerung etc.). Diese Erschei-
nungen sind jedoch, soweit man dies gegenwärtig beurteilen
Die Bedeutung der Erosionen an der P ttio. welche man früher tinc
Quelle vieler aerwOser Störungen bclrachleic, wird >;t;|;€nwAiii^ von den Gynäkologen
fshr geriog laxiert. So bemerkt Krflnig, dass dieselben nach ■llfffmeiner Ansicht
der Gynäkologen wohl geringe lokale Störungen, Ausflugs, event. auch Blutungen
hervorrufen können, dass sie aber wohl niemals nervöse Symptome in eotferotCr
liegenden Gebieten rellektoriich oder durch Irradiation bedingen.
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218 ErkrankuDgcn der Sexualorgaae bei Frauen etc.
knnn, mir zum Teil direkt von irntationszuständcn der Becken-
nerven abhängig, sie finden sich auch bei Frauen mit jresunden
Sexuaiorganen (Hcgar') und entsprechen überwiegend denSym-
ptomeHi die bei der Lendenmarksneurasthenie des Mannes auf-
treten. Diese Umstände legen die Annahme nahe, dass sie zum
Teil auch durch Fortpflanzung von Reizungsvorgängen im Be-
reiche der Beckennerven nach dem Lendenmark und dadurch
bedingte reizbare Schwäche dieses Markabschnittes zu Stande
kommen. Hegar bezeichnet die betreffenden Symptome auch
schlechtweg als ««Lendenmarksymptome", wodurch jedoch zur
Klärung der Sachlage nichts getan ist.
Die oben angeführten GenitalafTektionen führen nicht sämtlich
gleichmässig zu den in Frage stehenden Beschwerden, sondern je
nach ihrer Art und Lokalität vorwaltend zu der dnen oder anderen
Gruppe derselben. Die Intensität und Ausbreitung der auftretenden
nervösen Störungen steht dagegen in keiner konstanten Beziehung
zu der Alt und Lrikalilät der Erkrankung. I".rhel)Uche 6cxual-
aückliunen bestellen nicht selten ohne- alle 1 .cndeniiiarkssymptome
(Hegar)'), dies weist scliun daraut hin, dass für das Ziistandckninnien
der angeführten Lokalsymptome ein Faktor von grosser Bedeutung
ist, der auf Seiten des Ner\ ensystenis li< i^t. Die hier in Betracht
kommenden Scxualleiden können natiirlich ebenso wie nerven-
gesunde auch neuropathisch disponierte und bereits neurasthenische
Frauen heimsuchen, und es ist begreiflich, da wir die gleichen
Erscheinungen bei anderen Erkrankungen finden, dass das sexuelle
'* H'.'gar erwähnt, d;«s«^ hri i5°'(,<lcT I'r.incn niit l.cnfhnmarkssyinploroeo
sich keu;(. pa-tholo^jisthe VerUntlciuiig der Sexuaiui^iri' n.i. hwi i-.fn licv-,.
'j Da>> Mi!><>vcrbäUiUä zwiitcbea dem pathulogiscbc» Befunde in den SexuiU*
Organen und den bestehenden nervösen Störungen hat schon Spencer Wells
hervorgehoben. Krönig erwihnt, dsss man roerIcwOrdtgerweide vom jeher nicht
die MJliwer^tcn GeniUiterknuikungeD, wie z.B. Uteruskarzinome, .sundern nur die
j»eiiii^fii^i^<'ii Krkr;inku(i^;en, wie liro-^ioii am Muttermunde, T,^<^' vf-r:'tndcnins; des
UleiU!), ^H:b^ualp^uo|4cu un t'arametrtum, k]cincy:>lUcb<; Degeneration der <.>varicoetc.
in urüächlicbe Besiehnngcn zu lokalen und al^meinen Nemosen gebracht hat»
und er betont, dass es etwa» Gezwungene» an sich bat, dass gerade so anatomisch
geringe Veranderunt;en .in den Genitalien so schwi n m rv(')>e ErscbcinungCB her-
vorrufen sollt n. Auch 1 hcilhabcr hebt den Umstand hervor, dass in neuenr
Zeit ^'.hr selten crn^teec -yii ik<.. -j;i-vche Erkr.>iikui;^;en, /umeist leichlere Affcktionen
^^Retrortcxio, Ero^io) als Ursache von Rcllcxncurusen angL-.ehea wurden.
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Erkrankungen der Sesualorgiuie bei Frauen etc.
219
Leiden um so intensivere und verbreiteterc Nerven Störungen
hervorruft, je geringer die Widerstandsfähigkeit des Nerven-
systems ist. Mit der mechanischen Irritation der Heckennerven
verbinden sich bei den weiblichen SexuaUeiden häutig Blut* und
Säftevertuste, welche zu Beeinträchtigung der Altgemeinernäh-
rung und damit auch zur Schwächung der nervösen Konstitution
oder zur Steigerung einer bereits bestehenden neuropathischen
Disposition führen. In ähnlichem Sinne wirken bei vielen weib>
liehen Personen psychische Vorgänge, welche durch das Sexual-
leiden angeregt werden: die gemütliche Alteration, welche
der Gedanke, sexualkrank zu sein» hervorruft, die Sorgen wegen
der möglichen Folgen des Leidens für das eheliche Glück
(Sterilität) oder wegen dessen Weitergestaltung (Karzinomfurcht),
die peinlichen Erregungen, welche die notwendig werdende
gynäkologische, oft lange Zeit sich hinziehende Behandlung ver-
anlasst, der Verdruss über die Behinderung in der gewohnten
häuslichen oder geschäftlichen Tätigkeit etc. Schon in den
Fällen, in welchen das Sexiiallei^Ien allein den Anstoss /.ur Ent-
wickelung der nervösen Störungen gibt, haben wir es daher
häufig mit komplizierten Verhältnissen zu tun; Ihm der grössten
.Mehrzahl der Falle, m welchen wir nervöse Leiden mit Genital-
affektionen verknüpft finden, führen jedoch, wie Engelhard an
dem Materiale der Hegar'schen Klinik nachgewiesen hat, die
Sexualleiden nur im Vereine mit einer Mehrzahl anderer Schäd-
lichkeiten die nervösen Störungen herbei ; hierdurch wird natür^
lieh die Beurteilung des Einflusses, welchen das Sexualleiden
direkt auf das Nervensystem äussert, noch mehr erschwert.
Dieser Umstand macht es aber auch einigermassen begreiflich,
dass wir so häufig bei sexualkranken Frauen nicht lediglich
Lendenmarksymptome oder solche Oberhaupt nicht, sondern Zu-
stände allgemeiner Neurasthenie oder neurasthenische Funktions-
störungen einzelner innerer Organe finden, neben welchen andere
mehr untergeordnete neurasthenische Erscheinungen bestehen
oder auch wenigstens zeitweilig mangeln. Die Entwickelung und
Gestaltung speziell letzterer Fälle weist darauf hin, dass, wenn
es von der Sexualerkrankung aus zu einer Beeinflussung höher
gelegener Abschnitte des zentralen Nervensystems kommt, diese
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220
Erkraolouigen der Sexualorgane bei Frauen etc.
nicht lediglich auf dem Wege kontinuitrlicher Aiisbreituu«^ einer
reflektorisch voti den Sexualorganen aus erzeui^ten neurasthe-
nischen Veränderuni^ durch das Gesamtrückenmark hindurch
nach oben geschehen muss Bei den sexualkranken Flauen
machen sich einerseits el.)enralls die verschiedenen Widerstands-
Verhältnisse der einzelnen Gebiete der Zentralorgane geltend,
deren Bedeutung für die ivokalisation neurasthenischer Störungen
wir schon früher kennen gelernt haben, andererseits der Umstand,
dass zwischen einzelnen Organen, resp. Organsystemen und dem
Sexiialapparate offenbar intimere Beziehungen bestehen, daher
die Funktionen dieser Organe durch Zustände des Sexualappa-
rates leichter auf reflektorischem Wege gestört werden ab die
anderer Organe.
Unter den Organen, deren Funktionen solcher reflekto»
rischer Beeinflussung von den weiblichen Sexuak>fganen aus
unterliegen, steht der Verdauuhgsapparat obenan. Allbekannt
sind die Magenbeschwerden (Übelkeit, Brechreiz und Erbrechen),
welche bei so vielen Frauen in den ersten SchwangerschaftS'
monaten auftreten. Durch Kretschy und Fleischer wurde
nachgewiesen, dass der physiologische Vorgang der Menstruation
eine Verlangsamung der Magenverdauung bedingt, und mit dem
Aufhören der Blutung der Verdauungsprozess wieder normal
wird, (iastrointestinale Störungen finden sich ferner bei sehr
vielen Krauen mit Scxuallciden, und dieselben haben schon lange
die Atifmerksamkeit der GynäkologtMi a\if sich gezogen; ein-
gehendere Untersuchungen über die Art dieser Störungen und
ihre Be:iriehTmg zu den SexualatTektionen smd jedoch erst in
neuerer Zeit auLiestellt worden. Selbstverständlich sind
die Magen- und Darmbeschwerden mit Sexualaf-
fektionen behafteter Frauen nicht immer durch
letztere verursacht. In zahlreichen Fällen bildet die Genital-
erkrankung lediglich eine zufällige Komplikation nervöser oder
organischer Magenleiden ; mitunter — so bei Enteroptose — sind
die gastrointestinalen Störungen und die Lageveränderung des
Uterus KoefTekte derselben Ursache (hochgradiger Erschlaffung aller
Bandapparate im Bauchraume, der Douglas'schen Bänder etc.);
in manchen Fällen ist auch die gynäkologische Affektion durch
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Erkrankungen der Sexualorgane bei Frauen elc.
221
eine primire Anomalie des Verdauungsappaiates bedingt. T h e i l •
haber macht hier insbesonders auf die Atonie des Darmes und
die dadurch bedingte Anhäufung von Gasen und Kotmassen
aufmerksam, welche zu venösen Stauungen im Uterus und da-
durch zu Metrorrhagien, Dysmenorrhoe und Fluor albus führt.
In einer weiteren Reihe von Fällen endlich gibt die Sexualer»
krankung auf reflektorischem Wege den Anstoss zur Entwicklung
gastrointestinaler Beschwerden. Was nun die Art dieser betrüft,
so glaubte Kisch eine besondere „uterine Dyspepsie" unter«
scheiden zu dürfen, welche durch Veränderung der Magensekrete,
Hemmung der Darmbewegung und Erbrechen charakterisiert sein
sollte. Durch Frank, Panecki und die MQnchener Beobachter
Theil haber und Crämer wurde jedoch nachgewiesen, dass
die von den Sexualorganen ausgehenden nervösen Ma^cuaffek-
tionen keine gleichförmige Symptomatologie aufweisen und eine
besondere „uterine Dvspepsie" nicht existiert. Die genannten
Beobachter fanden L>ci l-Vauen mit Geuitalanomalicn und gastrischen
Beschwerden in der grossen Mehrzahl der Fälle die Sekretion und
Verdauungskraft des Magens normal (Theilhaber-Crämer
unter 4$ Fällen nur einmal Anaciditas und cinnial 1 1> pt raziditärX
ferner Erbrechen relativ selten. Die gastrischen Störungen geiü-
talen Ursjiiuns^s zi i-^^cn ganz die gleichen Variationen wie die
Erscheinu!T;_;en der nervösen Dyspepsie anderer Herkunft. NlIk h
der finfaclu-n neiAÖsen Dyspepsie im 1 . e u be sehen Siime \ohne
Alteration des Chemismus und der motorischen Tätigkeit des
Magens^ u erden Herabsetzung der Motilität ( AtoniiM und Stö-
rungen des Chemismus des Magens, auch Darmatonie angelroüen ' ).
Auch periodische Gastralgien kommen mitunter vor (Theil-
haber-Crämer). In bezug auf die reflektorische Auslösung
gastrointestinaler Beschwerden verhalten sich die einzelnen Teile
des weiblichen Sexualapparates allem Anscheine nach nicht gleich-
wertig. Am tiäufigsten bilden Erkrankungen des Uterus eine Quelle
M Crämcr f.ind in allen Fällen cinf.icher nerv(">>cr Dy>|)ep>ic atoniscUc
Zustände tifs Kolons mit K^prostase, die er als das l'rimäre und Ursache der
gasUiiichcu StöruugL'ii '.lowic auch anderer gleichzeitig vorh-iudcncr nervcscr Sym-
ptom«) betrachtet. Tbeithaber vertrat fraher die Ansicht, dass die Atonie
dei Kolon« anf rcßelclorischem Wege voo den Sexualorganen aus entfciebt.
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Erkrankunijen der Sexualorgane bei Frauen etc.
dieser Störungen. Ungleich seltener sind Afiektionen der Ovarien
im Spiele, Veränderungen der Vagina und Vulva bleiben in der
fraglichen Richtung ganz ohne Einfluss. Besonders auffällig
äussert sich mitunter die Einwirkung gewisser Lageveränderungen
(Senkungen) des Uterus. Ich habe wiederholt Damen behandelt,
bei welchen neben anderen neurasthenischen Beschwerden völliger
Appetitmangel, Nausea und Brechreiz bestand. Diese Erschei-
nungen trotzten längere Zeit jeder Behandlung, sie schwanden
dagegen sofort nach Einführung eines Pessars und kehrten wieder,
wenn dieses aus der Lage kam.
An die gastrointestinalen Beschwerden reihen sich an Häufig*
keit die Herzstörungen sexualkranker Frauen an. Es handelt
sich hier um die verschiedenen Erscheinungen nervöser Herz-
schwäche, wie sie auch unabhängig von SexualalTektionen bei
Neurasthenischen angetroffen werden: Zumeist anfallsweise auf-
tretende Beschleunigung der Herztätigkeit mit Gefühl des Herz-
klopfens, echte Tachykardie mit einer Pulsfrequenz bis 1 80 und
selbst 200, begleitet zumeist von Brustbeklemmung und Angst-
zuständen, zum Teil auch von schnicr/liattcn Sensationen m der
Ilei /gi-gcnd, die nach einem oder heulen Armen ausstrahlen
können irscudo angina pectoris), seltener Vei langsamung oder
Unregelmässigkeiten der 1 lerztätigkeit flctztere mitunter den
tachykardischcn Antail einleitend), oder ausgesprochene Merz-
schwäche, dabei auch öfters vasomotorische Störungen an der
Peripherie (Erkalten der Hände und Kii^se etc.). Kisch fand
untei 126 weiblichen Pi-rsonen im Alter \un 17 — 4S jähren mit
Funkt ioii>storun;en ctder pathologischen Veränderungen des
(ienitalapparates bei 38 (=32,7";o) Herzbeschwerden und zwar
nervöse Tachykardien in 21 und Pseudo-angina pectoris in
3 Fällen, l'nter den verschiedenen Sexualerkrankungen scheinen
nach den vorliegenden Frfahnmgen die Metritis chronica und
die Tumoren des L'terus (insbesonders Myome) am häufigsten
den Anstoss zum Auftreten nervöser Herzbeschwerden zu geben.
Von den Menstruationsanomalicn sind in dieser Richtung
Auunorrhoe, Menorrhagie und Dysmenorrhoe häufig wirksam
(Kisch). Die Hczieh^rn-^en , wel iie zwischen den Herzbe-
schwerden und den Sexuaierkrankungen oder Störungen bei
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Erknulkuogen der Sexnalorgaoe bei Fnnen etc.
228
Frauen bestehen, sind jedoch in den einzelnen Fällen sehr ver-
schieden. Wir haben es hier mit ähnlichen Verhältnissen wie
t>ei den gastrotntestinalen Störungm zu tun. Die Erscheinungen
der nervösen Herzschwäche können natürlich bei Frauen mit
sexuellen Anomalien durch dieselben nervenschädigenden Mo-
mente hervorgerufen werden, wie bei Frauen mit normalen
Genitalzuständen (gemütliche Erregungen, toxische Etnwir-
kui^en etc.). Die Herzstdrungen können daher jeder ursächlichen
Beziehung zur Genitalaffekttcm ermangeln. In nicht seltenen
Fällen bildet diese nicht das einzige ursächliche Moment, welches
zum Auftreten von Herzbeschwerden Anlass gibt. So habe ich
mehrfach Fälle beobachtet, in welchen zur Zeit der Menses
tachykardische Anfälle sich einstellten, solche aber auch in der
intramenstruellen Zeit durch verschiedene Anlässe (Aufregungen,
KafTeegenuss etc.) herbeigeführt wurden. Die gynäkologische
Aifektion kann auch auf indirektem Wege Herzbeschwerden
nach sich ziehen, resp. zum Auftreten solcher beitragen, indem
sie durch reichlichen Blutverlust zur Verschlechterung der All-
gemeinernährung und dadurch zur Schwächung der nervösen
Konstitution führt, oder indem sie peinliche gemütliche Er-
regungen veranlasst wegen Behinderung des ehelichen Verkehrs
oder Verursachung von Sterilität, Furcht vor einem operativen
Eingriff etc. Daneben begegnen wir Fällen, in welchen allem
Anscheine nach lediglich auf rotkktorischem Wege die lierz-
stÖrungen zu Stande kommen
Von sonstigen noch in das Gebiet der Neurasthenie falten-
den Störungen, die mit Genitalaffektionen bei Frauen in reftek>
torischen Zusammenhang gebracht werden, seien hier nur die
das Auge betretenden erwähnt. Nach den Mitteilungen Salo
Cohn's und Mooren's können Erkrankungen sowohl der äüsseren
als der inneren Genitalien bei Frauen und Menstruationsanomalien
•) Kisch erwähnt, d.i>s er auch l-iille sah, in denen nicht das gynilko-
logiscbe Leiden selb&l die Hc>/beschwerJeii vcrurs>acblt:, sondern diese ietitcten
eine Folg« der. gegen die Sexnalerlcrmkuiig aogeweodeten ArzUicben Behandlung
waren, wobei er ausser intrauterineii EtngriflTeD, wi« Sondierung, Atsung, besonders
die moderne gynäkologische Massage anschuldigt.
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224
Erknuikungco der SexmlorgRBe bei Frauen etc.
neurasthenische Asthenopie (Hyperästhesie und Anästhesie der
Retina) nach sich ziehen').
Es ist zweifellos sehr erfreulich, dass man in neuerer Zeit auch
in dl 11 Kreisen der Gynäkologen von der früher so verhrcitcteii Thtr
Schätzung der Sexualerkranknng bt i Fraiu n als einer 'Judlr rcdckton^clKT
nervöser Störungen mehr und mehr abgekonnnen ist und Versuche, die
Alteren Anschauungen zu stQtzen (Krantz), energisch zurQekge wiesen
werden. Man darf jedoch das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.
Wenn man frOher in dem Eifer, genitale Reilexnf iirosen aufzufinden,
zweifellos vir] zu weit ^epangen ist, so schtiin mir Krön ig ebenfalls
zu weit zu gehen, wenn er die Existenz derartiger Neurosen gänzlich in
Abrede stellt Speziell hat sich der genannte Autor gegen die Annahme
gewendet, dass zwischen Erkrankung des GenttalaiH>arates bei Frauen
und nervösen Störungen des Verdauungsapparates und des Herzens ein
rclh ktorischcr Zusammenhang bestehen könne. Indes sind die Argumente,
wclciie Krönig gegen diese Annahme vorbringt, nicht völlig stichhaltig.
Soweit der Verdauungsapparat in Betracht kommt, stfltzt der Autor seine
Auffassung wesentlich auf den Umstand, dass die sogenannte uterine
Dyspepsie sich nicht durch besondere Eigentümlichkeiten von der ner-
vösen Dyspep-^ie anderen Ursprung«; unterscheidet und dir Hyperemf'si«
gravidarum zwcuellos ein hysterisches Symptom ist. Damit ist aber
gegen eine reflektorische Ausktoimg gasn^t^nte8tinaler Störungen vom
weiblichen Sexualapparate aus ebensowenig etwas bewiesen, als durch
die Tatsache, dass die sogenannte uterine Dyspepsie sich nicht durch
besondere Symptome auszeichnet. Krön ig Obersicht bei seiner Theorie
eine ganz banale Erfahrung. Ungleich häufiger als das übermässige tX'
brechen sind, wie wir gesehen haben, Magenstörungen leichterer Art In
den ersten Schwangerschaibmonaten, Appetitmangel, Widerwillen gegen
einzelne Speisen, Übelkeiten und Urechreiz nach der Nahrungsaufnahme
sowie zeitweiliges l!rbrrc!iM) ; d\cs<- Sturtingen kommen aiu h bei rmuen
vor, welche vor dem Eintritte der Schwangerschaft sich volligen Wohl-
befindens erfreuten, und verlieren sich sehr hüufig wahrend der weiteren
Entwickelung der Schwangerschaft ohne jede Behandlung. Es besteht
keinerlei Berechtigung, diese oft ganz isoliert auftretenden Magenbe»
schwcrden als neurasthenische oder hysterische Symptome zu deuten,
wenn aui h zugegeben werden mag, dass dieselben an eine gewisse
nervöse Prüdisposition geknüpft sind.
Auch der Einfluss, welchen die Korrektion von Uterussenkungen
in einzelnen Fallen meiner Beobachtung auf vorhandene Magensymptome
Äusserte, lässt midi einen rellektorischen Zusammenhang nicht nbwri-'-n.
In einem dt_-r in Frage stehenden Fülle, der eine du! < h geistige Uber-
anstrengung schwer neurasilieniseh gewordene, in den 30er Jahren
Stehende Lehrerin betraf, gelang es, durch die Qbliche Behandlung« s8mt>
*) Nach Mooren »Ucn Genital»ITektionen bei Frauen auf rcflekioiisfhCTn
\Vf;;e auch Akkonimo'lalii':i-kr.inipf>'. MyJri.i>is iiiul Miosis hethcifühu-ii. Die*e
inlerptetation d«r belietiendea Falle scheint mir jedoch keinesweg» einwjuidliei.
Erkrankungen der Sexualorgane bei Frauen etc.
225
liehe neurasthenische Erscheinungen mit Ausnahme der Magensymptome
zu beseitigen. Letztere wichen erst, nachdem die vorhandene Uterus-
Senkung die erforderliche BerQcksichtung gefunden hatte.
In bezug auf Hervorrufung nervöser HerzstOnmgen durch vom
weibh'chen Genitalnpparate ausgehende Reflexreizungen, will ich hier
nur einen Fall anl'tiluTn.
In mriner Beohaciiiung befindet sich seit vielen Jahren « iiie jetzt
Anfangs der 50 or Jahre stehende imverheiratctc Iiamc. Dieselbe verfiel
Ende der 30 er Jahre ihres Lebens infolge jahrelanger geistiger Überan-
strengung und vieler gemfltlicher Erregungen in schwere Neurasthenie
mit besonders Iv^rvortrctcnden Herzsymptnmpn. Die Patientin wurde
häufig von schwer- II tachykardischen Anfallen heimgesucht, di^ durch
verschiedene Momente (Katteegcnuss, geistige /Vnslrengung, Schrecken etc.)
hervorgerufen wurden und keinen Zusammenhang mit den Menses
zeigten« Mit der Besserung des neurasthenischen Allgemeinzustandes
wurden diese Anfälle seltener und seltener, und während einer Anzahl
von Jahren verloren sie sich ganz. Seit etwa 3 Jahren befindet sich die
Dame im Klimakterium. Seit dieser Zeit sind tachykardische Anfälle
leichterer Art wieder aufgetreten. Dieselben stellten sidi aber fast aus-
schliesslich zur Zeit der Menses ein, die in der Regel, wie schon früher
mit dysmenorrhoisthon Beschwerden verknOpft sind. Oft kam es vor,
da<^s die Uii iiyk irdis. h< n .\n(:\lle die ganz unregelin?\?sig auftretenden
Menses durch ihr fcirscheinen ankündigten. Spätesten« innerhalb 12 — 24
Stunden nach dem Anfalle stellten sich die Menses in der Regel ein,
wenn dieselben zur Zeit des Anfalles noch nicht bestanden. Einer der-
artigen durch Jahre liindurch fortgesetzten Beobachtung gegenüber dflrfte
e«; 'wo!il recht schwer sein, von einer bloss zufiUligen Koinzidenz zu
sprechen.
Wenn ich nach dem Dargelegten an dem Vorkommen genitaler
Reflexneurosen bei Frauen Krön ig gegenüber festhalten muss, so bin
ich andererseits weit davon entfernt, diesem Autor entgegen zu treten,
wenn er einen reflektorischen oder konsensuellcn Zusammenhang: von
Nervenleiden speziell mit gewissen Sexuah^rkrankungen ( Endometritis,
Erosion, .Stenose der Cervix etc.i aL uneruic^: n bezeichnet.
Das hier Bemerkte gilt auch der Auflassung Theilhaber's
gegenüber, welcher Autor sich in neuerer Zeit sehr skeptisch
in Betreff des Vorkommens genitaler Reflexneuroscn geäussert
hat. Th. glaubt nicht, „dass durch gynäkologische Anomalien,
die sonst keine oder nur ganz geringfügige Symptome machen
und die keine Verschlechterung der Blutbeschaffenheit verur-
sachen, Nervengebiete afHziert werden können, wddie von den
Genitalien weit entfernt liegen".
Ober die Beziehungen der Sexualkrankheiten bei Frauen
zur Hysterie gingen bis in die jüngste Zeit die Ansichten nicht
I,Aw«nfeid, Sexaell-oerväM Sioiuni^cu. Vierte Aufl. J5
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226
Erkrankungen der Sexualorgane bei Frauen etc.
nur zwisclicn Gynäkologen und Ncuiologen auseinander ; es be-
standen in diesem Punkte auch unier den Neurologen sehr er-
hebliche Meinungsverschiedenlieiien, die selbstverständlich auch
für die therapeutischen Anschauuni^en der Betreffenden nicht
ohne Kintluss blieben. Nach den Äusserungen einzelner Neuro-
logen konnte man glauben, dass die Annahme eines Zusammen-
hanges der Hysterie mit Genitalleiden eine Art Köhlerglauben
darstelle, der keiner ernsthaften Widerlegung mehr bedürfte.
So bemerkte Möbius: „Die törichte Meinung, dass der Uterus
etwas mit der Hysterie zu tun habe, wie der Name ausdrückt,
wird jetzt hoffentlich von niemand mehr gehegt/* Wind scheid
dagegen trug noch in seiner 1897 veröffentlichten verdienst-
vollen Arbeit „Neuropatholc^ie und Gynäkologie" kein Bedenken,
die Hysterie su den reflektorisch von den weiblichen SexuaU
Organen ausgelösten Neurosen zu zählen; er erklärte sogar, dass
es die Hysterie ist, welche sich in ihrem Proteusbild als diejenige
allgemeine Neurose zeigt, die in erster Linie von lolcalen Genital-
erkrankun^en abhängig ist ').
Nicht minder weit gehen die praktischen Konsequenzen
auseinander, zu welchen einzelne Neurologen auf Grund ihrer
Auffassung von den Beziehungen zwischen Hysterie und Sexual-
erkrankungen gelangten. So erklärte ein hervorragender amerika-
nischer Neurologe Der cum: (On tbe relation of the great
neuroscs to pelvic disease, The American Gynaecologtcal und
Obstetrical Journal, August 1898): „Vor Allem muss jede Idee,
') WintI scheid hat hier auch dit- Hysterie als die einzige von den Sexaal«
erkrankun^cn bei I t ti!»rn reflektorisch :ius(;ohendc ail^jciiicinc Neurose in Bftrarbt
gezogen. Dah \ orkomuicn ein« allgciiieineo Neuia^lbenie aU Folge von Sexual-
l«idea erw&hnt er nkbt einmal. Oer Autor hat auch einen allcrdingi nidkts
weniger al» gelungenen Versuch gemacht, die Auffassung der Hy»terie alt genitaler
Hc-llcMiciiic^c mit der Möbius'schen Derinition der Hysterie ah einer „Kraak-
heit di,r \'otst< tlunj^LH", i. e. einer v(»n N'orsti-IIun^jct) au>;;chcnfien Krankheit zu
vereinbarcu. In neuerer Zeit isi Windsckeid i» der Auaaluxie genitaler
Reflexncurosen jedoch, wie wir konstatieren müsseoi vUA zurflckhaltender geworden.
In einem in der Geburtshilflichen Gesellschaft au Leipzig gehaltenen Vortrage
(zitiert bei Krön ig S. 41) erörterte er die Momente, welclie n;ich !iei Der Ansicht
die Di.!;ji.ft>.e einer ^•■kiLiIlii Ketl-xiu uro^c reelitfertij^en ; Li- ibci Im tonte er
?u^l<_Kh, wie -thwtr b< i uii-''t';n ^.;< ;;<-tuv artij^en Kenntnii>t>cu der Nachweis fBr
dji Bestellen tiner solchen NeuroiC zu cibiinj;cu ist.
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Erkraaknagcn der Scxualorgaoe bei Ffanen etc.
227
Neurasthenie oder Hysterie durch Operationen an den Becken-
Organen zu heilen, vollständig aufgegeben werden. Glücklicher-
weise haben wir die Zeit schon beinahe hinter uns, da man
solche Operationen unternahm." Fast zu gleicher Zeit teilte
V. Krafft-Ebing (Arbeiten aus dem Gesamtgebiete der
Psychiatrie und Neuropathologie 3. Heft 1898) einen Fall von
Hysteria gravis mit, in welchem auf sein Andrängen zuerst das
linke und später wegen eines Rezidives der hysterischen Be-
schwerden auch das rechte Ovarium entfernt worden war, ob-
wohl die gynäkologische Untersuchung keinerlei anatomische
Veränderungen des linken Ovariums zu konstatieren vermochte
und vor der zweiten Operation zu keiner bestimmten Diagnose
bez. der noch vorhandenen Adnexa geführt hatte. Es fand
sich in den Ovarien lediglich kleinzystische Degeneration, em
Zustand, der von Nagel noch als physiologisch angesehen wird.
Da der Erfolg beider Operationen ein günstiger war, erachtete
es V. Krafft-Kbin^ für eine Tatsache, ,,dass so geringfügige
anatomische Vciandcrungcn im Stande sind, so weitgehende
klinische Reaktionen hervorzurufen." Er hielt es sogar für
möglich, ,,dass auch blosse sogenannte funktionelle Störungen
in den Ovarien" die Ursache schwererer Nervenkrankheiten
bilden >).
Die Vorstellungen, welche wir uns von der Art der Be-
ziehungen zwischen hysterischen Erscheinungen und Sexuallciden
hei Frauen bilden, hängen von der Auffassung ab, die wir
bezüglich des Wesens und der nosologischen Stellung der Hysterie
Diesen Meintinc':verschiedenhpitf*n im ncnrolnfji'^chen Lager gegenüber
erschciat es sehr crlreulich, da^ü von den Gynnkologen die Kastration bei Hysterie
io netterer Zeit fast aUgemein verworfen wird. So bemerkt KrOoig: „Trotz
aUer begeisterten Fttrsprecber flir die Kastration ist in den letzten Jahren kaum
noch eine Publikation erschienen, in welcher bei funktionellen Nervenkrankheiten
Kastration befürwortet wird, ja im Gcj;cntfil, man warnt Uberall vor der Operation,
nicht bloss deswegen, weil man gelernt bat, dass die Kaülration wohl niemals
einen Danererfolg gehabt bat, aoodern auch deshalb, ireil die Kastration als soldie
geeignet ist. besonders bei hereditär belasteten Individuen schwerste Nervenstfirungen
herbeizuführen." Heute nimmt man fast allgemein an, dass die früher
mitgeteilten vorübergehenden Etfolge nach Kastration unter der Abhängigkeit
der niorali.schcD Impression und der Suggestion, welche die Operation ausübt,
gestanden haben."
18*
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228
Erkrankungen der Sexiuüorgane bei Fraaea etc.
hegen, und wir nüissen uns deshalb hiermit hier wenigstens in
Kürze zunächst beschäftigen. Gegenwärtig stehen sich haupt-
sächlich zwei Anschauungen gegenüber, eine ältere und eine
neuere. Nach der neueren AuiTassung, in welcher deren An-
hänger einen gewaltigen Fortschritt erblicken, handelt es sich
bei der Hysterie lediglich um eine gewisse Form geistiger
Störung, eine Psychose, und somit ein Leiden, das seinen Sitz
in der Grosshirnrinde hat. Die Vertreter dieser Theorie berufen
sich gerne auf Charcot, welcher jedoch in der letst^ Zeit
seines Lebens die Hysterie nur als eine ,^um grossen Teil
geistige Erkrankung" erklärte. Die ältere Anschauung, welche
bereits in den 6oer Jahren auftaudite und gegenwärtig noch
die Mehmhl der Neurologen für sich hat, geht dahin, dass die
Hysterie als eme allgemeine Neurose oder Psychoneurose zu
betrachten ist, i. e. eine Erkrankung, welche sich nicht auf die
Grosshirnrinde beschränkt, sondern das ganze Nervensystem
betrifft, allerdings mit sehr wechselnder Beteiligung der einzehien
Abschnitte desselben. Ich habe mich dieser Auffassung eben-
falls in meiner „Pathologie und Therapie der Neurasthenie und
Hysterie" (Wiesbaden 1893) angeschlossen. Wddie von den
beiden in Frage stehenden Ansichten mit den uns derzeit be-
kannten Tatsachen besser vereinbar ist, wntl aus den folgenden
Darlegungen erhellen.
Zu einem Verständnisse der hysterischen Erscheinungen
künncn wir nur gelangen, wenn wir zwisclien z\\ci Dingen unter-
scheiden: dem mehr oder minder laliilen Nervenzustande, weicher
das Auftreten hy sterischer S>m{ttome ermöglicht, der hystc-rischen
Konstitution oder Diathese, und den Symptomen, die auf dici>er
Basis sich entwickehi. Letztere variieren bekanntlich nicht nur
bei vci '-chiedcncn Kranken, sondern in den einzelnen Fällen zu
verschiedenen Zeiten gaiu ausserordentlich. Sehen wir zunächst
zu, wodurch sich die hysterische Konstitution charakterisiert.
Die Autoren sind hierüber keineswegs einer Meinung. Manche
derselben glauben, dass die in Betracht kommende Anomalie,
lediglich auf psychischem Gebiete zu suchen die hysterische
Konstitution auf ein eigentümliches psychisches Verhalten zurück-
zuführen sei. So spricht Strümpell von einer kongenitalen
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EritraaltaDgen der Sestnloifui« bei Fnneii de 229
abnonnen psychischen Veranlagung. Nach Möbius besteht das
Wesen der hysterischen Konstitution darin, dass Vorstellungen un-
gewöhnlich leicht und ungewöhnliche körperliche Veränderungen
bewirken.
Andere Beobachter (so Benedikt, Oppenheim, Hirt)
betrachten als das Wesen der hysterischen Konstitution die
sogenannte reisbare Schwäche des Nervensystems. Jolly war
der Ansicht, dass zum Zustandekommen hysterischer Phänomene
neben der erwähnten BeschaiTenheit des Nervensystems noch
gesteigerte Einbildungskraft (Suggestibilität) erforderlich ist; er
nahm neben der somatisch-ncM \ ösen Anlage noch eine psychische
an. Zu einer ähnlichen Autfassung bin ich durch verschiedene
Erwägungen gelangt.
Bekanntlicli bildet die hereditäre Belastung einen sehr
wichtigen Faktor in der Ätiologie der Hysterie. Charcot er-
klärte als die Grundursache derselben, la cause primordiale, die
neuropathische Heredität. Diese Ansicht hat auch in Deutsch-
land Anhänger, allein die Vererbung ist bei der Hysterie, wenn
auch sehr häufig, doch keineswegs — wenigstens nach meinen
Beobachtungen — in der Mehrzahl der Fälle eine gleichartige.
Auch Nervosität und Neurasthenie der Aszendenten bilden viel-
fach eine Quelle der Prädisposition. Ob jedoch die Vererbung
eine gleichartige oder ungleichartige ist, übertragen wird immer
eine gewisse „reizbare Schwäche" des Nervensystems, und in
den Fällen, in welchen keine erbliche Anlage besteht, können
wir gewöhnlich eine durch Erkrankung oder andere Umstände
akquirierte derartige Schwäche als Disposition auffinden. Das
VcMrfaandensein einer solchen dürfen wir daher bei den hysterisch
Veranlagten immer annehmen. Allein neben dieser ist noch
etwas erforderlich, wenn es zur Entwicklung eines hysterischen
Zustandes kommen soll. Wir stehen, dass von einer Anzahl
ncrven??ch wacher Personen, unter der Einwirkung derselben
Schädlichkeit — eines Schreckens c. B. — die einen an einem
neurasthenischen, andere an einem hysteronenrasthenischen Zu-
stande und wieder andere nur an hysterischen Zufallen erkranken.
Die Ungleichheit der Folgen derselben Einwirkung: kann nicht
in einer Ungleichheit der somatisch^nervösen Konstitution, sondern
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230
Erkrankungen der Sexualorgane bei Frauen etc.
nur in Vei schicdenhcitcn der psychischen Konstitution der
Einzelindividuen begründet sein Wir wissen ja anch, da?'^ das
Weib als solches schon zur Hysterie mehr disponiert ist als der
Mann. Man hat zwar in neuerer Zeit in Frankreich diesen alten
Erfahnmgssatz bestritten. In Paris wurde von mehreren Be-
obachtern die schwere Plysterie unter den Angehörigen der
unteren Bevölkeningsschtchten bei Männern häut^er gefunden
als bei Frauen. In Deutschland, speziell SQddeutschbnd , ist
nach den vorliegenden statistischen Daten und meinen eigenen
Beobachtungen an der grösseren Disposition des weiblichen
Geschlechtes (in allen Bevölkerungskreisen) nicht zu zweifeln.
Diese fit»erwic^ende Disposition kann nicht in dem Besitze einer
Gebärmutter, überhaupt nicht in sexuellen Verhältnissen, sondern
nur in der psychischen Konstitution des Weibes begründet sein.
Das, was das Weib in seinem seelischen Verhalten vom Manne
unterscheidet, das Zurücktreten des kalt abwägenden Verstandes,
die stärkere Ausprä^un^ des Gefühlslebens, die geringere Willens-
energicund die hiermit zusammenhängende grössere Sugtjestihiliut,
bedingen auch dessen erheblichere Veranlagung zur Ihstcrie.
Natürlich ist auch bei Männern, welche das gleiche srelische
Verhalten — einen weil)ischen Charakter — aufweisen, eine
Disposition zur Hysterie vorhanden.
Die hysterische Konstitution führt an sich nicht notwen-
dig zur Entwickelung hysterischer Symptome. Wo dieselbe sehr
wenig ausgeprägt ist, bedarf es zur Hervorrufung hysterischer
Erscheinungen mächtiger lüinwirkungen (gewaltiger gemütlicher
Erschütterungen etc.). Bleibt das Individuum von solchen ver-
schont, so kann es trotz seiner Veranlagung ein vorgerücktes
Alter erreichen, ohne hysterisch zu werden. Bei sehr bedeuten*
der Ausbildung der hysterischen Konstitution treten andererseits
meist schon frühzeitig und auf geringfi^ige Anstösse hin oder
auch ohne ersichtliche Ursache — anscheinend spontan —
hysterische Zufälle auf ). Letzteres Verhalten findet sich glück-
'j Auch Freud bemerkt betrefl,s des» von ihm als hysterische Konstitution
ugenommeoea Zostaades: „Eine attsgesprochene Konstitution wird etwa der
Untersttttauog darcb die Lebenseindnicke entbehren können, eine atugiebice Er*
srhültf rurjg im I,ehen etwa die Neurose auch hei durchschnittlicher KOMtltlltieil
zustande bringen (3 Abhjuadlungen zur äeKuaitbeorie, S. x8)."
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Erknulkungen der Sexualorgane bei Frauen etc.
231
licherweise selten. Zumeist sind die ersten Manifestationen der
Hysterie an die Einwirkung bestimmter äusserer Veranlassungen
gebunden. Der gegenwärtige Stand unserer Kenntnisse lisst
auch keinen Zweifel darüber zu, dass jedes Symptom, resp.
jeder Symptomenkomplex der Hysterie sein bestimmtes veran«
lassendes Moment hat und die Beschaffenheit dieser Momente in
weitgehendem Masse die spezielle Gestaltung der Symptome
beeinflusst.
Diese Erkenntnis dürfen wir als einen gewichtigen Fort-
schritt betrachten, dessen Bedeutung auch durch den Umstand
nicht beeintrachtiijft wird, dass wir häufig einen siieziellen Aus-
gangspunkt des einen oder anderen hysterischen Symptoms nicht
zu eruieren vermögen.
Für die Beobachter, welche die hysterische Konstitution
lediglich auf eine abnorme psychische Veranlagung zurück-
führen, sind die veranlassenden Momente der einzelnen hyste-
rischen Phänomene ausschliesslich psychischer Natur, Vor-
stelltmgen (Suggestionen) oder emotionelle Vorgänge ; die übrigen
nehmen neben den psychischen auch rein somatische Veran«
lassungen an.
Was nun erstere Annahme betrifft, so handelt es sich hier-
bei wesentlich um eine nicht gerechtfertigte Verallgemeinerung
der Folgerungen, die sich aus den bekannten Versuchen C h ar c o ts ,
hysterische Symptome auf suggestivem Wege hervorzurufen,
ergeben. Charcot selbst war, nachdem ihm der Nachweis des
ideogenen Ursprungs für eine Reihe hysterischer Erscheinungen
gelungen war, doch keineswegs der Meinung, dass alle hysterischen
Symptome diesen Ursprung haben müssten. Allein andere gintjen
auf dem von ihm eröffneten Wege weiter, indem sie kalkulierten:
Wenn dieses und jenes hysterische Symptom von Vorsteihmgen
ausgeht, warum sollen nicht auch andere, warum schlic-^slich
nicht alle hysterischen .Symptome auf gleiche Weise zw Stande
kommen.^ So hat denn auch lS!öbius bekanntlich den Aus-
spruch getan: ..Hysterisch sind alle diejenigen krankhaften Ver-
änderungen des Körpers, welche durch Vorst. Hungen bedingt
sind." Allein eine Abhängigkeit von Vorstell un^^cn oder über-
haupt von psychischen Vorgängen ist, wie ich schon anderen
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232 EiktaokungeD der Sexualorgane bei Frauen elc.
Ortes betont habe, bisher für alle hysterischen Erscheinungen
von keinem Autor auch nur wahrscheinlich gemacht worden. Auf
der anderen Seite habe ich in einer früheren Arbeit den Nach-
weis erbracht, dass eine Reihe hysterischer Symptome nicht
durch VorsteHungen und überhaupt nicht auf psychischem Wege
zu Stande kommt. Es würde uns hier zu weit führen, auf die
Details dieser Beweisführung emzugehen; ich muss bezüglich
derselben auf die betrefTende Publikation verweisen Hier sei
nur erwähnt, dass einerseits Lokalaffektionen auf rein somatisch«
nervösem Wege, andererseits krankhafte Allgemeinzustände
toxischer und infektiöser Natur hysterische Zufölte hervorzurufen
im Stande sind. Unter den Lokataffektionen, die hier in Betracht
kommen, spielen die Sexualerkrankungen der Frauen allem
Anschehie nach keine ganz untergeordnete Rotte. Der Etnfluss
der Genitalleiden beschränkt sich jedoch nicht auf die Herbei-
führung einzelner hysterischer Symptome. Die ätiologischen
Beziehungen der .Scxualaffektionen zur Hysterie sind verschieden-
artig, und dit; I^curteilung der hiage, ob solche Beziehungen
bebtehen und welcher Art dic'^rlhen sind, unterliegt in den
em/elnen l'iillen sehr hrinfit^' grossen Schwicrij;keiten. Sexual-
erkrankungen bei Frauen können zweifellos die Disposition zur
Hysterie durch nervöse Irritationszuständc (Schmerzen), welche
sie hervorrufen, steigern, ebenso durch Blutverluste und gemüt-
liche Erregungen, zu welchen sie Anlass geben. Letzteres
Moment kann auch direkt den Anstoss zum Auftn ten hysterischer
Zufälle geben. Eine Patientin meiner Beobachtung regte sidi,
wie bereits an früherer Stelle (S. 179) erwähnt wurde, über die
Erfolglosigkeit des bei ihr wegen chronischer Endometritis v<m^
genommenen Curettements in solcher Webe auf, dass sie von
schweren hysterischen Antällen heimgesucht wurde, die lange
sich wiederholten. Eine andere Patientin meiner Beobachtung
wurde während einer gynäkologischen Exploration zimi ersten
Male von schweren Glottiskrämpfen befallen, welche dann
während einer Anzahl von Wochen häufig und zum Teil ohne
nachweisbare Veranlassung wiederkehrten. Die Mehrzahl der
') 1. 5 w c n Tcld, Hysterie und Sugge&tioD, Mfindi. med Wocbcnscbnft
Nr. 7 und ö, 1J>94.
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Erkrankuneen der Scrnaloiiguie b«i Fmnea eto.
288
Beobachter (speziell der Gynäkologen), welche überhaupt eine
ursächliche Beziehung zwischen Erkrankungen der weiblichen
Sexualorgane und der Hysterie annehmen, huldigt der Anschau-
ung, dass insbesonders auf reflektorischem Wege von den Sexual-
organen aus hysterische Erscheinungen ausgelost werden. Die
Gegenwart ir (,'cndwelcher pathologischer Zustände
im Sexiialapparat bei Hysterischen ist jedocli selbst-
verständlich noch kein Beweis für die sexual -re flek-
torische Entstehung der vorhandenen hysterischen
Beschwerden, und zweifellos wird dieser Modus der Verur-
sachung hysterischer SN inptome auch viel hänfiger angenommen,
als die Umstände es rechtfertigen. Zumeist lasst man sich von
dem therapeutischen Erfolge einer Lokalbehandlung zur Annahme
eines Kausalzusammenhanges verleiten. Weil mit der Besserung
oder Beseitigung der gynäkologischen Affektion auch gemsse
hysterische Symptome schwanden, wird die Abhängigkeit letzterer
von ersterer als erwiesen erachtet Dieser Schluss ist jedoch
für die grosse Mehrzahl der Fälle ganz und gar unzuverlässig.
Es lässt sich nicht bezweifeln, dass eine gynäkologische Lokal-
behandlung so gut als irgend ein anderer therapeutischer Ein*
griff suggestiv wirken kann und wohl auch sehr häufig suggestiv
wirkt. Der Patientin wird durch den Arzt die Vorstellung bei-
gebracht, oder sie bildet sich die Vorstellung selbst, dass die
lokale Therapie auch auf ihre nervösen Beschwerden einen
günstigen Einfluss ausQben wird, und diese Vorstellung kann
bei einigermassen suggcstiblen Personen eine Heilwirkung erzielen.
Ganz be:>onilers gilt dies tür die I.ageveräitderun^en, Flexionen
und Versionen des Uterus. Wenn man die gynäkologische
Literatur durchsieht, kann man sich eines gewissen Staimcns
nicht erwehren, wenn man vernimmt, welch verschieden-
artii.u- Sv-niptome schon durch 1 .a^everanderungen der Gel.)är-
mutter verursacht und durch mechanische Korrektur dieser Ab-
weichungen beseitigt worden sein sollen. Und doch erklärt
mein hiesiger gynäkologischer Kollege Theilhaber auf Grund
sorgfältiger Beobachtungen, dass l'lexionen und Versionen in
der Regel keine Störungen hervorrufen. Die Beschwerden, welche
durch dieselben verursacht werden sollen, sind nach Theilhaber
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234
Erknskangeo der SezualorgKac bd Fnaeii etc.
meist bedingt durch chronische entzündliche Afifektiooen des
Uterus, Darmatonie, primäre Neurasthenie etc., und das Pessar
ist nach diesem Beot>achter manchmal ein recht geeignetes
Mittel Kur Erzielung eines suggestiven Effektes Selbst in
jenen Fällen, in welchen die hysterischen Erscheinungen nicht
allein mit der Beseitigung der lokalen Veränderungen oder
Störungen ini Bereiche der Sexualorgane schwinden, sondern
auch mit der Wiederkehr dieser sich wieder einstellen fein Ver-
halten, das insbesonders In j den Flexionen und Versionen des
Uterus beobachtet wird), ist die Annahme eines Kaiisalnexus keines-
wegs ohne Weiteres berechtigt Hier können eben! wie
Theilhaber schon andeutete, suggestive Einflüsse im Spiele
sein. Auch das Auftreten hysterischer Zufälle zur Zeit der
Menses darf, wie wir schon gesehen haben, nicht unter allen
Umständen als Beweis für einen Ausgang der betreffenden ZM"
fälle vom Sexualapparate angesehen werden. Selbst die Aus*
lösbarkeit gewbser hysterischer Erscheinungen durch Druck auf
die eine oder andere Stelle im Bereiche des Sexualapparates
(Kompression der Ovarien etc.) bildet keinen Beweis für eine
sexual^reflektorische Entstehung der betreffenden Störungen. Wir
müssen daher wohl zugestehen, dass bei dem jetzigen
Stande der Wissenschaft ganz zuverlässige Kriterien
für die reflektorische Abhängigkeit irgendwelcher
hysterischer Sym ptome von Leiden der Sexualorgane
bei Frauen nicht bekannt sind. An dieser Tatsache
ändern die massenhaften Berichte über günstige Wirkungen gynä-
kologischer und speziell operativer Behandlung bei hysterischen
Zustanden nicht das Geringste Wir \v->llen jedoch auch hier
das Kind nicht mit dem Üade ausschulten, sondern jrugebon,
da'^s einerseits der Verlauf des Leidens, die Aufeinanderfolge
der Ailektion im Bereiche des Sexualapparates und der nervösen
Störungen, andererseits die Kr folge gynäkologischen Eingreifens
wenigstens für eine Anzahl von Fällen Indizien hefem, welche
') Don übt'U erwähnten Ansichten T hei Ih aber s hat sich in den letitfn
Jahren eine Reibe von GynäkuH>;^rn, so Jcnkin, Landau, Freudenberg»
KrOaii;, Feuchtwan{;er. Winter. SchrSder, Wormter und Wille
im Wesentlichen «ngescblossen.
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ErkrtDkttBgen der Sexiuknigane bei Fnncn etc.
235
eine reflektorische Auslösung gewisser hysterischer Beschwerden
plausibel machen. Allein dieser Entstehungsmodus findet sich
sicher ungleich seltener, als viele G3mäkologen früher anzu-
nehmen geneigt waren. Des Weiteren k<nnmt in Betracht, dass
keine Art weiblicher Sexualerkrankung mit Notwendigkeit
hysterische Erscheiniin^on nach sich zieht, und das Auftreten
solcher auch nicht an eine gewisse Schwere der Sexualerksaiikung
gebunden ist. Die schiinQiiisten Genitaileiden, wie Uteruskarzinome,
können bestehen, ohne zu irgendwelchen hysterischen oder über-
haupt nervösen Beschwerden zu führen.
Wir haben im Vorstehendem bezüglich der Ätiologie der Hysterie
und des Mechanismus der einzelnen hysterischen Erscheinungen lediglich
das berOcksichtigt, was allgemeiner Eifahrung zugänglich ist. V/ir dQrfen
jedoch nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, dass unsere Anschauungen
in betreff der erwflhnti n Funkte < inem Umbildimi::<=pro7c<?se rntgegen-
gellen, an welchem die im nächsten Ab^rhnitte behandelten Freud-
sehen Theorien in erster Linie beteiligt sein werden. Inwiew-eit die ol>cn
vertretenen Ansichten mit den Anschauungen Freud*s In betreff der
Hysterie sich verknflpren lassen, kann hier nicht eingehend dargelegt werden.
Wir müssen uns nuf einige Andeutungen beschränken, Eine Vi rknfipfung
der beiden AufYa-^suni^en rrschrint wohl möglich, dn Freud, wie wir
später sehen werden, gegenwärtig ebenfalls eine konstitutionelle Grund-
lage der Hysterie annimmt ; doch erblickt er diese nicht in der neuro*
patbiscben Disposition, sondern in einer gevnssen sexuellen Konstitution
des Individuums. Diese wird aber nach Freud's AuSSsssung nicht durch
ein rein '='nmatisches, sondern ein gewisses psycho-sextiaU s Verhalten,
genauer gesagt, die psychische Reaktion auf infantile sexuelle Erlebnisse
gebildet I^e infantilen sexuellen Erlebnisse der Hysterischen, welche
fbr die Entwickelung der Erkrankung bestimmend sind, müssen nicht von
denen Gesunder sich unterscheiden. Verschieden ist lediglich die psy-
chische Reaktion auf dieselben, die von der [)-\rhischcn Kon^stitution
des Individuums abhängt- Man könnte sich daher sehr wohl vorstellen,
dass die überwiegende Disposition des weiblichen Geschlechtes für die
Hsrsterie darauf beruht, dass bei demselben infolge seiner besonderen
seelischen Artung die für die Entwickelung der Hysterie bestimmende
Reaktion nuf infantile Suxiialr i Ir !>iii^>r (\'crdr.'\nfjiin£j'^npi<Tring) leichter
und hfSuti^i f /iistande koniint, al> Ix-iiii iD.uinliclicn Geschltchti-. Die Be-
deutung der Gelegenheitsursachen ^veranlassenden Momente) der einzelnen
hysterischen Symptome wird von Freud ebenfalls nicht einfach negiert,
er glaubt nur. dass mit denselben immer eine gewisse, lediglich durch
die Psychoanalyse crujerbarc sexuelle Komponente verbunden ist, welche
zur Auslosung des Symptomes führt
Anomalien und pathologische Veränderungen der weiblichen
Sexualorgane werden nicht selten erst anlässlich der Einleitung
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236 Erkrankungen der Sexualorgane bei Frauen etc.
des sexuellen Verkehres zu einer Quelle nervöser Stdrungen.
Bei Missbildung der äusseren Geschlecbtateile, Scheidenatrene,
rudimentärer Entwickelung der Vagina, ebenso bei zu straffem
Hymen können infolge fortgesetzter fruchtloser Kohabitations-
versuche nicht bloss Neurosen, sondern auch bedeutende patho-
logische Veränderungen der Sexualorgane entstehen (letztere
teils durch lokale Irritation, teils indirekt durch Vermittlung des
Nervensystem^ bedingt, H e g a r). Femer können in der Vulva,
am Introitus vagmae (rcsp. am Hymen) oder in der Scheide
örtliche Veränderungen (Entzündungen oder Einrisse der Schleim-
haut infolge ungeschickter Koitusversuche etc.) vorliegen, welche
wegen der hierdurch bedingten Hyperästhesie — Vaginismus —
bei Kohabitationsversuchen zu lebhaften Schm^ i/cn und reflek-
torischem Krämpfe des Constrictor cunni und der Muskulatur
des Beckenbodens führen. Hierdurch kann der geschlechtliche
Verkehr ganz unmöglich gemacht oder hochgradig erschwert
werden. Werden unter diesen Verhältnissen die Kohabitations^
versuche, resp. der sexuelle Verkehr längere Zeit fortgesetzt,
so kommt es zumeist zur Entwickelung hystero-neurasthenischer
Beschwerden!).
') über (iio Fr,-i<;f der kausalen Bc?ii,lnjngcn zwischen Frauenleiden und
GeUtcskrankheitcn hat in den letzten Jahren Rai mann (Beiträge zur Geburts-
hilfe und Gynäkologie, Chrobak-Feütscbrirt Wien 1903) eine interessante Mit*
tettni« Terdffentticht. In 12 Fillcn Ton fnaktioDeUeo P^duMen, bei «ekilea
nun eine Beziehung zu VorgAngeo im SexulappKaite «luiebm«« tn dfiden ^nb»
und deshalb die Kastration vorgenommen hatte, war der Erfnljj zumeist nc^^ativ.
DfT Autor h^tnnt, dass man nach den vorlief;<?nden Erfahninf^cn nur sehen ':l;e
Hoffnung hcjjen darf, eine Geisteskrankheit durch cme cingreiicnde Operation zur
HeUnng za biingqa, dass andcrerseitB denrtige Eingriffe eine Fsydnom ▼endiliiik<'
nwn, mtn Um«tind«ii »nd» mm Auftreten einer sokben bei einer foAer ge>
«unden Person fikhien können.
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XIV.
Die Freud 'sehe Theorie von der Sexualität in
der Ätiologie der Neurosen.
Wir haben im Vorstehenden gesehen, dass Vorgänge und
Zustände im sexuellen GeViiete bei beiden Geschlechtern eine
wichtige Quelle neurotischer Leiden bilden. Ein hervorragender
Forscher auf neurologischem Gebiete, Freud in Wien, vertritt
jedoch seit einer Reihe von Jahren Anschauungen bez. der Ätto>
logie der Neurosen, nach welchen sexuellen Einflüssen eine Be-
deutung für die Entwickelung dieser Leiden zukommt, welche
weit über das hinaus geht, was im Vorstehenden von mir dar-
gelegt wurde und was von fast allen übrigen zeitgenössischen
ärztlichen Schriftstellern angenommen wird. „Durch eingehende
Untersuchungen", bemerkt er in einer seiner Publikationen über
den Gegenstand (Die Sexualität in der Ätiologie der Neurosen.
Wiener klin. Rundschau Nr. 2, 4, $ u. 7, 1898) „bin ich In den
letzten Jahren zur Erkenntnis <^clani^t, dass Momente aus dem
Sexualleben die nächsten und praktisch bedeutsamsten Ursachen
eines jeden I'alks von neurotischer Erkrankung darstellen."
Mehrere Jahre hatte es den Anschein, als sollte Freud mit
seinen Ansichten Prediger in der Wüste bleilien. Von einem
Teile der Autoren, die sich mit den Neurosen literaiisch be-
schäftij*ten , wurde denselben überhaupt keino Hcachtunf^ ^e^^ollt
andere wiesen dieselben direkt und zwar ohne eingehende
Prüfung zurück. Auch in der Gegenwart ist wohl der Stand-
punkt, welchen die grosse Mehrzahl der Neurologen und Psy-
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238
Die Freud'sche Theorie von der Sexualität etc.
chiater den Freud 'sehen Theorien gegenüber einnimmt, ein
ablehnender oder wenigstens äussert reservierter; doch haben
sich in neuester Zeit die Stimmen gemehrt, welche einzelne
der von Freud vertretenen Ansichten für begründet oder
wenigstens sehr beachtenswert und weiterer Prüfung würdig
erachten. Ich selbst habe in anderweitig veröffentlichten Arbeiten
bisher nur Veranlassung gehabt, mich mit den Anschauungen
des Autors von der Ätiologie der Angst- und der Zwangsneu-
rose zu beschäftigen. Hier erheischt jedoch sowohl das Thema
unserer Arbeit alsdie Beachtung, welche Freud 's Untersuchungen
seitens eines jeden ernsthaften Forschers beanspruchen, dass
wir seine Theorie im Zusammenhange wenigstens einer kurzen
Betrachtung unterziehen.
Wir müs.sen zunächst die allgemeinen Gesichtspunkte berück-
sichtigen, von welchen der Autor bei Beurteilung der ätiologischen
Verhältnisse der einzelnen Neurosen ausgeht. Freud sondert die
bei den Neurosen in Betracht kommenden ätiologischen Momente
nach ihrer ursächlichen Bedeutung und unterscheidet: a) Be-
dingung, b) spezifische Ursache, cj Hilfsursachen (konkurrierende
oder akzessorische Momente, zum Teil auslösende Ursachen).
Als Bedingungen sind nach Freud solche Momente zu bezeichnen,
bei deren Abwesenheit der ICfiekt nie zu Stande käme, die aber
für sich allein auch unfähig sind, den Effekt zu erzeugen. Als
spezifische Ursache gilt diejenige, die in keinem Falle von Ver-
wirklichung des Effektes vcrmisst wird und die in entsprechender
Quantität und Intensität auch hinreicht, den Effekt zu erzielen,
wenn nur noch die Bcdingimgen erfüllt sind. Als konkurrierende
(Hilfs) -Ursachen fasst Freud dagegen solche Momente auf, welche
weder jedesmal vorhanden sein müssen, noch im Stande sind, in
beliebigem Ausmass ihrer Wirkung für sich allein den Effekt
zu erzeugen, welche aber neben den Bedingungen und der
spezifischen Ursache zur Erfüllung der ätiologischen Gleichung
miiwiikcn. Der Kern der Freud'schen Theorie lässt sich dahin
formulieren, dassjede der vier Neurosen — Hysterie, Zwangsneurose,
Neurasthenie und Angstneurose — ihre s|)ezifische Ursache hat,
welche im sexuellen Leben des Individuums imd zwar entweder
in einer Störung des gegenwärtigen sexuellen Lebens oder in
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Die Fretid*ic)ie Thwvie von 4«r ScmiUtit etc.
239
gewissen früheren Ereignissen lieyt , und diese spezifische Ur-
sache, sofern sie übeihaujit zur KntstehunL» einer Neurose führt,
nur eine bestimmte Neurose und ki inc andere hervorrufen kann.
Die Schädlichkeilen, welche man bisher als diicktc Ursachen der
Neurosen ansah, gemütliche Erregungen, geistige Überanstrengung,
akute Krankheiten , Intoxikationen etc. , sind für F r e u d nur
konkurrierende (oder akzcssorische)äliologischc Momente, die auch
fehlen können, die Erblichkeit ist nur eine Bedingung, eine mäch-
tige und oft unentbehrliche, doch nichts weiter, ohne Hinzutritt
der spezifischen Ursachen bleibt sie unwirksam. Bezüglich der
spezifischen Ätiologie der Hysterie ging Freud's ursprüngliche
Ansicht dahin» dass sich dieselbe auf die Erinnerung an einen
vor der Pubertät vorgefallenen Akt sexuellen Vericehrs mit Reizung
der Genitalien durch Missbrauch seitens einer anderen Person
(Akt sexueller Passivität) reduziere. Der sexuelle Vorgang zieht
zunächst keine oder nur geringfügige Feigen nach sich, aber die
psychische Spur davon erhält sich und wird im Pubertätsalter
auf die eine oder andere Weise geweckt. Die Erinnerung wirkt
dann, als wenn es sich um ein Ereignis aus jüngster Zeit
handle, so dass also die Nachwirkung eines sexuellen Trauma-
tismus vorliegt. Alle Ereii^nissc nach der Tubcrtät, welchen
ein Einfluss auf die Entwickehin^ der Neurose und die Ge-
staltung ihrer Symptome zugeschrieben wird, sollten tatsächlich
nur konkurrierende Ursachen bilden.
In der Ätiologie der Neurose der Zwangsvorstellungen sollte
nach Freud's früherer Auffassung die Erinnerung an einen
sexuellen Vorgang vor der Pubertät eine ähnliche RoUe spielen
wie bei der Hysterie ; die pathogene Erinnerung betraf hier jedoch
einen Akt, welcher nicht wie bei der Hysterie Angst und Ab-
scheu, sondern Vergnügen verursacht hatte; „Zwangsvorstel-
lungen sind jedesmal verwandelte, aus der Verdrängung wieder-
kehrende Vorwürfe, die sich immer auf eine sexudle, mit Lust
ausgeführte Aktion der Kinderzeit beziehen**
') Dics> die Äas^crung des Autor» in seinem Aubatze; Weitere Beiner-
InwBen Uber die Abwebr — Neurop»y€bosen Neurol. Centnlbhlt 1896, No. lo.
tn einer späteren VerÖflentlidiuoe (Zur Ätiologie der Hysterie, Wiener klinische
Rundschau 1896 No. 22 — 26) spiach er sich schon zurückhaltender libcr den Ein-
fluH der Art des Sexualvorganges auf die Gestallung der späteren Neurose aus
240
Die Freud'scbe Theorie von der Sexualität etc.
Vm Freiul's Anschauungen über die Ätiologie der Neur-
asthenie richtig zu würdiLjcn, müssen wir zunächst berücksich-
tigen, dass der Autor von dem S\ mi>tomenkomp!ex dieses Leidens,
wie er gemeinhin aufgcfasst wird, eine Gruiipc von Symji^'^mon,
die Angsterscheinungen und deren Äquivalente, abgetrennt und zu
einer selbständigen Neurose, einer Angstneurose mit spezi-
fischer Ätiologie, vereinigt hat. Was nun die Ätiologie der
Neurasthenieneurose nach der Freud'schen Abgrenzung anbe-
langt, so gestaltet sich dieselbe nach dem Autor sehr einfach.
Die Neurasthenie lässt sich jedesmal auf einen Zustand des
Nervensystems zurückführen, wie er durch exzessive Mastur-
bation erworben wird oder durch gehäufte Pollutionen spontan
entsteht.
Die sexuellen Noxen, welche zur Angstneurose führen, sind
nach Freud wesentlich verschieden von den die Neurasthenie
bedingenden Momenten, und diese angenommene Verschieden-
heit hat allem Anscheine nach den Autor in erster Linie zur
Abtrennung seiner Angstneurose von der Neurasthenie bestimmt
Es handelt sich wie bei der Neurasthenie um Schädlichkeiten,
die dem aktuellen Sexualleben angehören, hauptsächlidi Con-
gressus interruptus, Abstinenz bei erheblicher Libido und fru-
strane Erregtin g. Das spezifische Moment, das allen bei der
Angstneurose in Betracht kommenden sexuellen Einflüssen ge-
meinsam ist, sollte nach Freud's früherer Auffassung in dem
Umstände . liegen , dass die Entladung der aufgespeicherten
somatischen (heim Manne von den Nervenendigungen der Samen-
blasenwandungen ausgehenden) Sexualerregung ohne entspre-
chende psychischt.' Iünlai,lunLS i. e. Hcfrjedi;j;unj4 \()r sich i^eht.
,,Die Erschemungen der Anijstneur ose kommen /u Stande, indem
die von der J'syche abgelenkte somatische Sexualerre^ung sich
subkurtikal. m j^.uu und gar niciit adätjuatt:n Kraktiuncn ausgibt.'*
Die Ansicht, n über die Ätiologie der Neurosen, insbe-
>oiidere der r'sychoueun '^en (Hysterie und Zwangsneurose),
welche Freud in seinen l'ublikationen in den Jahren i8o^ —
bekannt gab, haben, wie ich duich private Mitteilung( n des
Autors erfuhr, in neuerer Zeit mannigfache Andctungen eifahien.
Soweit dieselben die Zwangsneurose betreffen, wurde ich, durch
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Die Frend'sche Theorie von der Sexnalitftt etc.
241
die Gäte meines verehrten Freundes in den Stand gesetzt, bereits
in meinem 1904 veröffentlichten Werke die „psychischen Zwangs-
erscheinungen" das Wichtigste mitzuteilen.
Um den Leser auch mit den Anschauungen, zu welchen
Freud bezuglich der übrigen Neurosen in den letzten Jahren
gelangt ist, bekannt machen zu können, wandte ich mich an
den Autor um Auskunft, und dieser hatte die grosse Liebens-
Würdigkeit, mir nachstehendes Expose, welches die Beziehungen
der Sexualität zu den Neurosen im Zusammenhange und in
grossen Umrissen behanddt, zur PaUikation zu überlassen.
L0weaf«14» SemcIl-nerWlM StSryiifni. Vierte Aull.
16
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Meine Ansichten über die Rolle der Sexualität in der
Ätiologie der Neurosen.
„Ich bin der Meinung, dass man meine Theorie Ober die
ätiologische Bedeutung des sexuellen Momentes für die Neurosen
am bestra wQrdigt, wenn man ihrer Entwickelung nachgeht
Ich habe nämlich keineswegs das Bestreben, abzuleu^^iien, dass
sie eine Entwickelung durchgemacht und sich während derselben
verändert hat. Die Fach^enossen könnten in diesem Zugeständ-
nis die Gewähr finden, «.lass diese 'I lieoi ie nichts anderes ist,
als der Niederschlag fortjjjesetzter und vertiefter Erfahrungen.
Was im Gegensatze hiei /.u der Spckululion entsprungen ist, das
kann allerdings leicht mit einem Schlage vollständig und dann
unveränderlich auftreten.
Die Theorie bezog sich ursprüncjlich f)lnss auf die als „Neur-
asthenie" zusanirncngefassten Krankheitsbilder, unter denen mir
zwei, gelegentlich auch rein auftretende, Typen auffielen, die ich
als ,,ei ge n tlic he N e u rasthcnie*' und als ,, A n g s tneur o se"
beschrieben habe. Es war ja immer bekannt, dass sexuelle
Momente in der Verursachung dieser Formen eine Rolle spielen
können, aber man fand dieselben weder regelmässig wirksam, noch
dachte man daran, ihnen einen Vorrang vor anderen ätiologischen
Einflüssen einzuräumen. Ich wurde zunächst von der Häufigkeit
grober Störungen in der Vita sexualis der Nervösen überrascht;
je mehr ich darauf ausging, solche Störungen zu suchen, wobei
ich mir vorhielt, dass die Menschen alle in sexuellen Dingen
die Wahrheit verhehlen, und je geschickter ich wurde, das
Examen trotz einer anfänglichen Verneinung fortzusetzen, desto
regelmässiger Hessen sich solche krankmachende Momente aus
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Die Fmd'Miie Theorie von der SesoeUtlt etc.
243
dem Sexualleben auffinden, bis mir zu deren Allgemeinheit
wenig xa fehlen schien. Man musste aber von vornherein auf
ein ähnlich häufiges Vorkommen sexueller Unregelmässigkeiten
unter dem Drucke der sostalen Verhältnisse in unserer Gesell-
schaft gefasst sein, und konnte im Zweifel bleiben, welches
Mass von Abweichung von der normalen Sexualfunktion als
Krankheitsursache betrachtet werden dürfe. Ich konnte daher
auf den regelmässigen Nachweis sexueller Noxen nur weniger
Wert legen als auf eine zweite Erfahrung, die mir eindeutiger
erschien. Ks ers'ab sich, dass die Form der Erkrankung, ob
Neurasthenie oder Angstneurose, eine konstante Beziehung zur
Art der sexuellen Schädlichkeit zeige. In den typischen Fällen
der Neurasthenie war regelmässig Masturbation oder gehäufte
Pollutionen, bei der Angst neurose waren Faktoren wie der
Coitus interruptus, die „frustane Erregimg" u. a. nachweisbar,
an denen das Moment der ung«iügenden Abfuhr der erzeugten
Libuio das Gemeinsame schien. Erst seit dieser leicht su
machenden und belieb^ oft zu bestätigenden Erfahrung hatte
ich den Mut, für die sexuellen Einflüsse eine bevorzugte Stellung
in der Ätiologie der Neurosen zu beanspruchen. Es kam hmzu,
dass bei den so häufigen Mischformen von Neurasthenie und
Angstneurose auch die Vermengung der für die beiden Formen
an^nommenen Ätiologien aufzuzeigen war, und dass eine solche
Zweiteilung in der Erscheinungsform der Neurose zu dem polaren
Charakter der Sexualität (männlich und weiblich) gut zu
stimmen schien.
Zur gleichen Zeit, während ich der Scxualuat diese Be-
deutung für die Entstehung dw einfachen Neurosen zuwies'),
huldigte ich noch in betreff der Psychoneurosen (Hysterie und
Zwangsvorstelhin^^'cn) einer rt-in psychologischen Theorie, in
welcher das sexuelle Moment nicht anders als andere emotionelle
Quellen in Betracht kam. ich hatte im Verein mit J. Breuer
und im Anschluss an Beobachtungen, die er gut ein Dezennium
vorher an einer hysterischen Kranken gemacht hatte, den Mecha-
*) Ober die Bcfcchtigung» vod der Nettruthenie «inen bestimmten Sym*
ptomeokoinplex «Is „AnBatneuroae" abtatrennea. Neuro). Zentralblatt 1895.
16*
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I
244 Freud'sche Theorie von der Sexualität etc.
nismus der Entstehung hysterischer Symptome mittelst des Er-
weckens von Erinnerungen im hypnotischen Zustande studiert,
und wir waren zu Aufschlüssen gelangt, welche gestatteten, die
Brücke von der traumatischen Hysterie Charcot's zur gemeinen,
nicht traumatischen, zu schlagen'). Wir waren zur Auffassung
gelangt, dass die hysterischen Symptome Dauerwirkungen von
psychischen Traumen sind, deren zugehörige Affektgrösse durch
besondere Bedingungen von bcwusstcr Bearbeitung abgedrängt
worden ist und sich darum einen abnormen Weg in die Körper-
innervation gebahnt hat. DieTermini,,e ing ek Ic m m ter A f fekt",
„Konversion" und ,,Ab reagieren" fassen das Kennzeich-
nende dieser Anschauung zusammen.
Bei den nahen Beziehungen der Psychoneurosen zu den
einfachen Neurosen, die ja soweit gehen, dass dem Ungeübten
die diagnostische Unterscheidung nicht immer leicht fällt, konnte
es aber nicht ausbleiben, dass die für das eine Gebiet gewonnene
Erkenntnis auch für das andere Platz griff. Überdies führte, von sol-
cher Beeinflussung abgesehen, auch die Vertiefung in den psych-
ischen Mechanismus der hysterischen Symptome zu dem gleichen Er-
gebnis. Wenn man nämlich bei dem von Breuer und mir
eingesetzten „kathartischen" Verfahren den psychischen Traumen,
von denen sich die hysterischen Symptome ableiteten, immer
weiter nachspürte, gelangte man endlich zu Erlebnissen, welche
der Kindheit des Kranken angehörten und sein Sexualleben
betrafen, und zwar auch in solchen Fällen, in denen eine banale
Emotion nicht sexueller Natur den Ausbruch der Krankheit
veranlasst hatte. Ohne diese sexuellen Traumen der Kinderzeit
in Betracht zu ziehen, konnte man weder die Symjjtome auf-
klären, deren Determinicrung verständlich finden, noch deren
Wiederkehr verhüten. Somit schien die unvergleichliche Bedeutung
sexueller Erlebnisse für die Ätiologie der Psychoneurosen für
unzweifelhaft festgestellt, und diese Tatsache ist auch bis heute
einer der Grundpfeiler der Theorie geblieben.
Wenn man diese Theorie so darstellt, die Ursache der
lebenslangen hysterischen Neurose liege in den meist an sich
•) Stadien über Hysterie, 1905.
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Die Fread'ache Th«orie von der SezuaKtlt etc.
24$
geringfügigen sexuellen Erlebnissen der frühen Kinderzeit, so
mag sie allerdings befremdend genug klingen. Nimmt man aber
auf die historische Entwickelung der Lehre Rücksicht, verl^t
den Hauptinhalt derselben in den Satz, die Hysterie sei der
Ausdruck eines besonderen Verhaltens der Sexualfunktion des
Individuums, und dies Verhalten werde bereits durch die ersten
in der Kindheit einwirkenden Einflüsse und Erlebnisse mass-
gebend bestimmt, so sind wir zwar um ein Paradoxon ärmer,
aber um ein Motiv bereichert worden, den bisher arg vernach-
lässigten, höchst bedeutsamen Nachwirkungen der Kindhetts-
eindrücke überhaupt unsere Aufmerksamkeit zu schenken.
Indem ich mir vorbehalte, die Frage, ob man in den sexuellen
Kindererlebiiissen die Ätiologie der II\sterie (und Zwant^'sneiirose)
sehen dürfe, weiter unten gründlicher zu behandein, kehre ich
zu der Gestaltung der Theorie zurück, weiche diese in einigen
kleinen, vorläufigen Publikationen der Jahre 1895 und 1896 an-
genommen hat Die Hervorhebung der angenommenen ätio-
logischen Momente gestattete damals, die gemeinen Neurosen
als Erkrankungen mit aktueller Ätiologie den Psychoneurosen
gegenüber zu stellen, deren Ätiologie vor Allem in den sexuellen
Erlebniss«! der Vorzeit zu suchen war. Die Lehre gipfelte in
dem Satze: Bei normaler Vita sexualis ist eine Neurose unmdglicb*
Wenn ich auch diese Sätze noch heute nicht für unrichtig
halte, so ist es doch nicht zu verwimdem, dass ich in zdin
Jahren fortgesetzter Bemühung um die Erkenntnis dieser Ver>
hältnisse über meinen damaligen Standpunkt ein gutes Stück
weit hinausgekonunen bin und mich heute in der Lage glaube,
die UnVollständigkeit, die Verschiebungen und die Missverständ-
ntsse, an denen die Lehre damals litt, durch eingehendere Er-
fahrung zu korrigieren. Ein Zufall des damals noch spärlichen
Materials hatte mir eine imverhältnisniässig grosse Anzahl von
Fällen zugeführt, in deren Kindergeschichtc die sexuelle Ver-
führung durch Erwachsene oder andere ältere Kinder die Haupt-
. rolle spielte. Ich überschätzte die Häuhgkeit dieser (^sonst nicht
') Weitere Bemerkungen ühcr die Abwehr Neiiropsychosen. Neurol. Zentral-
bl»tt i^9b, — Zar Ätiologie der Hysterie. Wiener klinische Rundschau 1S96.
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246
Die Freutl'acbc Ihcori« von der Sexualität elc.
anzuzweifelnden) Vorkommnisse, überdies da ich zu jener Zeit
nicht im Stande war, die Eriiinerungstäuschungen der Hysterischen
über ihre Kindheit von den Spuren der wirklichen Vorgänge
sicher zu unterscheiden, während icli »citdenj gelernt habe, so
manche V'erführungsphanta.sie als Abwehrversuch gegen die Er-
innerung der eigenen sexuellen Bt'<ätigung ( Kindermasturbation)
aufzul()sen. Mit dieser Aufklarung entfiel die Betonung des
„traumatischen" Elementes an den sexuellen Kin lererlebnissen,
und es blieb die Einsicht übrig, dass die infantile Sexual-
betätigung (ob spontan oder provoziert) dem späteren Sexual-
leben nach der Reife die Richtung vorschreibt. Dieselbe Auf-
klärung, die ja den bedeutsamsten meiner anfängliebeii Irrtümer
korrigierte, musste auch die Auffassung vom Mechanismus der
hysterischen Symptome verändern. Dieselben erschienen nun
nicht mehr als direkte Abkömmlinge der verdrängten Erinnerungen
an sexuelle Kindheitserlebnisse, sondern «wischen die Symptome
und die infantilen Eindiücke schoben sich nun die (meist m
den Pubertfitsjahren produzierten) Phantasien (Erinnerungs-
dichtungen) der Kranken ein, die auf der einen Seite sich aus
und über den Kindheitserinnerungen aufbauten, auf der anderen
sich unmittelbar in die Symptome umsetzten. Erst mit der
Einführung des Elementes der hysterischen Phantasten wurde
das Geföge der Netirose und deren Beziehung zum Leben der
Kranken durchsichtig; auch ergab sich eine wirklich über-
raschende Analogie zwischen diesen unbewussten Phantasien
der Hjrsteriker und den ab Wahn bewusst gewordenen
Dichtungen bei der Paranoia.
Nach dieser Korrektur waren die „infantilen Sexuahraumen**
in gewissem Sinne durch den „Infantilismus der Sexualität" er-
setzt. Eine zweite Abänderung der ursprünglichen Theorie lag
nicht ferne. Mit der angcnommcnrn Häufigkeit der Vei iuhi ung
in der Kindheit rnttici auch die übergrussc Betünung der ak-
zidentellen Beemllus>ung der Sexualität, welcher ich bei der
Verursachung des Krankseins die Hauptrolle zuschieben wollte,
ohne darum konstitutionelle und hereditäre Momente zu leugnen.
Ich hatte sf>gar gehofft, das rroblcm der Neurosenwabl, die
Entscheidung darüber, welcher Form von Fsychoneurose der
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Die Freud'sche Theorie von der Senslitit etc.
247
Kranke verfallen aolle, durch die Einzelheiten der sexuellen
Kindererlebnisse m lösen, und damals — wenn auch mit Zu-
rückhaltung — gemeint, dass passives Verhalten bei diesen
Szenen die spezifische Disposition zur Hysterie, aktives dagegen
die für die Zwangsneurose ergebe. Auf diese Auffassung musste
ich später völlig Verzicht leisten, wenngleich manches Tatsäch-
liche den geahnten Zusammenhang zwischen Passivität und
Hysterie, Aktivität und Zwangsneurose in irgend einer Weise
aufrecht zu halten gebietet. Mit dem Rücktritt der acctdentellen
Einflüsse des Erlebens mussten die Momente der Konstitution
und Heredität wieder die Oberhand behaupten, aber mit dem
Unterschiede gegen die sonst herrschende Anschauung, dass
bei mir die sexuelle Konstitution" an die Stelle der allgemeinen
neuropathi seilen Disposition trat. In meinen jünyst erschienenen
,,drei Abhandlunf^'en zur Sexualtheorie" (1905) habe ich den
Versuch gemacht, die Mannigfaltigkeiten dieser isexuellen Kon-
stitution, sowie die ZiisanimengeseUthcit des Sexualtriebs über-
haupt und dessen Herkunft aus verschiedenen Beitragsquellcn
im Organismus zu schildern.
Immer noch im Zusammenhange mit der veränderten Auf-
fassung der „sexuellen Kindertraumen" entwickelte sich nun die
Theorie nach einer Richtung weiter, die schon in den Ver-
öffentlichungen der Jahre 1894- 96 angezeigt worden war. Ich
hatte bereits damals, und noch ehe die Sexualität in die ihr
gebührende Stellung in der Ätiologie eingesetzt war, als Be-
dingung für die pathogene Wirksamkeit eines Erlebnisses an «be-
geben, dass dieses dem Ich unerträglich erscheinen und ein
Bestreben zur Abwehr hervorrufen müsse *). Auf diese Abwehr
hatte ich die psychische Spaltung — oder wie man damals
sagte: die Bewusstseinsspaltung — der Hysterie zurückgeführt.
Gelang die Abwehr» so war das unerträgliche Erlebnis mit seinen
AiTektfolgen aus dem Bewusstsein und der Erinnerung des Ich's
vertrieben; unter gewissen Verhältnissen entfaltete aber das
Vertriebene als ein nun unbewusstes seine Wirksamkeit und
') Die Abwehr Neuropsycluiscn. Versuch einer psycholo};ischen Theorie
der acquiricrten Hysterie, va-lcr Phobien und ZwangsvorsjtcUuugeu und gewisser
limtlaxiiiatorischcr Psjdiosea. Neurol. Zentnlblatt 1894.
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248
Die Freud'sche Theorie von der Sexualität etc.
kehrte mittelst der Symptome und der an ihnen haftenden
Affekte ins Bewusstsein zurück, so dass die Erkrankung einem
Missglücken der Abwehr entsprach. Diese Auffassung hatte
das Verdienst, auf das Spiel der psychischen Kräfte einzugehen
und somit die seelischen Vorgänge der I lysterie den normalen
anzunähern, anstatt die Charakteristik der Neurose in eine
rätselhafte und weiter nicht analysierbare Störung zu verlegen.
Als nun weitere Erkundigungen bei normal gebliebenen
Personen das unerwartete Ergebnis lieferten, dass deren sexuelle
Kindergeschichte sich nicht wesentlich von dem Kinderleben
der Neurotiker zu unterscheiden brauche, dass speziell die Rolle
der Verführung bei ersteren die gleiche sei, traten die acci-
dentellen Einflüsse noch mehr gegen den der „Verdrängung"
(wie ich anstatt „Abwehr" zu sagen begann), zurück. Es kam
also nicht darauf an, was ein Individuum in seiner Kindheit an
sexuellen Erregungen erfahren hatte, sondern vor Allem auf
seine Reaktion gegen diese Erlebnisse, ob er diese Eindrücke
mit der „Verdrängung" beantwortet habe oder nicht. Bei spon-
taner infantiler Sexualbetätigung Hess sich zeigen, dass dieselbe
häufig im Laufe der Entwickelung durch einen Akt der Ver-
drängung abgebrochen wurde. Das geschlechtsreife neurotische
Individuum brachte so ein Stück , .Sexualverdrängung" regel-
mässig aus seiner Kindheit mit, das bei den Anforderungen des
realen Lebens zur Äusserung kam, und die Psychoanalysen
Hysterischer zeigten, dass ihre Erkrankung ein Erfolg des Kon-
flikts zwischen der Libido und der Sexualverdrängung sei, und
dass ihre Symptome den Wert von Kompromissen zwischen
beiden seelischen Strömungen haben.
Ohne eine ausführliche Erörterung meiner Vorstellungen von
der Verdrängung könnte ich diesen Teil der Theorie nicht
weiter aufklären. Es genüge, hier auf meine ,,Drei Abhandlungen
zur Sexualtheoric" (1905) hinzuweisen, in denen ich auf die
somatischen Vorgänge, in denen das Wesen der Sexualität zu
suchen ist, ein allerdings erst spärliches Licht zu werfen ver-
sucht habe. Ich habe dort ausgeführt, dass die konstitutionelle
sexuelle Anlage des Kindes eine ungleich buntere ist, als man
erwarten konnte, dass sie ,, polymorph pervers" genannt zu
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Die Freud'sche Theorie von der SexualiLai etc.
249
werden verdient, und dass aus dieser Anlage durch Verdrängung
gewisser Komponenten das sojt. normale Verhalten der Sexual-
funktion her\'orgeht. Ich konnte durch den Hinweis auf die
infantilen Charaktere der Sexualität eine einfache Verknüpfung
zwischen Gesundheit, Perversion und Neurose herstellen. Die
Norm ergab sich aus der Verdrängung gewisser Partialtriebe
und Komponenten der infantilen Anlagen und der Unterordnung
der übrigen unter das Primat der Genitalzonen im Dienste der
Fortpilanzungsfunktion ; die Perversionen entsprachen Störungen
dieser Zusammenfassung durch die übermächtige zwangsartige
Entwickeiung einzelner dieser Partialtriebe, und die Neurose
fährte sich auf eine zu weit gehende Verdrängung der libidi-
nösen Strebungen zurück. Da fast alle perversen Triebe der
infantilen Anlage als symptombildende Kräfte bei der Neurose
nachweisbar sind» sich aber bei ihr im Zustande der Verdrängung
befinden, konnte ich die Neurose als das „Negativ" der Per-
version bezeichnen.
Ich halte es der Hervorhebung wert, dass meine Anschau-
ungen über die Ätiologie der Psychoneurosen bei allen Wand-
iungen doch zwei Gesiditspunkte nie verlängnet oder verlassen
haben, die Schätzung der Sexualität und des Infantilismus.
Sonst sind an die Stdle accidenteller Einflüsse konstitutionelle
Momente, für die rein psychologisch gemeinte „Abwehr** ist die
organische „Sexualverdrängung" eingetreten. Sollte nun jemand
fragen, wo ein zwingender Beweis für die behauptete ätiologische
Bedeutung sexueller Faktoren bei den Psychoneurosen zu finden
sei, da man doch diese Erkrankungen auf die banalsten Ge-
mütsbewegungen und selbst auf somatische Anlässe bin aus-
brechen sieht , auf eine spezifische Ätiologie in Gestalt beson-
derer Kindererlcbnisse verzichten muss, so nenne ich die psycho-
analytische Erforschung der N( iir(»tikcr als die Quelle, aus
welcher die bestrittene t'bcr/eugun;^ zufliesst. Man erfährt, wenn
man sich dieser unerset /liehen üntersuchungsmethode bedient,
dass die Symptome dicSexualbctätigung derKranken
darstellen, die ganze oder eine partielle, aus den Quellen
normaler oder perverser rartialtricl>e der Sexualität. Nicht nur,
dass ein guter Teil der hysterischen Symptomatologie direkt
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250
Die Freud'scbe Theorie von der Sexualität «tc.
aus den Äusserungen der sexuellen Erregtheit herstammt, nicht
nur, dass eine Reihe von eroyenen Zonen in der Neurose in
Verstärkung iniantiler ICi^'cnschaften sich zur Bedeutung von
Genitalien erhebt; die kompliziertesten S\ mptome selbst ent-
hüllen sich als die konvertierten Darstellungen von Phantasien,
welche eine sexuelle Situation zum Inhalte haben. Wer die
Sprache der Hysterie 2U deuten versteht, kann vernehmen, dass
die Neurose nur von der verdrängten Sexualität der Kranken
handelt. Man wolle nur die Sexualfunktion m ihrem richtigen,
durch die infantile Anlage umschriebenen Umfange verstehen.
Wo eine banale Emotion sur Verursachung der Erkrankung
gerechnet werden muss, weist die Analyse r^elmässig nach,
dass die nicht fdilende sexuelle Komponente des traumatischen
Erlebnisses die patfaogene Wirkung ausgeübt hat.
Wir sind unversehens von der Frage tiacfa der Verursachung
der Psychoneurosen zum Problem ihres Wesens vorgedrungen.
Will man dem Rechnung tragen, was man durch die Psycho-
analyse erfahren hat, so kann man nur sagen, das Wesen dieser
Erkrankungen Hege in Störungen der Sexualvorgänge, jener
Vorginge im Organismus, wdche die Bitdung und Verwendung
des geschlechtlichen Libido bestimmen. Es ist kaum zu ver-
meiden, dass man rieh diese Vorgänge in letzter Linie als
chemische vorstelle, so dass man in den sog. aktuellen Neurosen
die somatischen, in den Psychoneurosen ausserdem noch die
psychischen Wirkungen der Störungen im Sexualstoffwechsel
erkennen »lurftiv Die Ähnlichkeit der Neurosen mit den Intoxi-
katious- uiui Abstinenzerscheinungen nach gewissen Alkaloiden.
nut (Uui M. BasL-döwi und M. Addisoni drangt sich ohne
weiteres klinisch aut, und sowie man diese beiden letzteren Er-
krankungen nicht mehr als „Nervenkrankheiten" beschreiben
darf, so werden wohl auch bald die echten „Neurosen" ihrer
Namengebung zum Trotze aus dieser Klasse entfernt werden
müssen.
Zur Ätiologie der Neurosen gehört dann alles, was schädigend
auf die der Sexual funktion dienenden Vorgänr^c einwirken kann.
In erster Linie also die Noxen, welche die Sexualfunktion selbst
betreffen, insofern diese von der mit Kultur und Ersiehung vcr-
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Die Fiend'idie Tbcofk von der Sexmlitlt tie.
251
änderiichen Sexualkonstitution als Schädlichkeiten angenommen
werden. In zweiter Linie stehen alle andersartigen Noxen und
Traumen, welche sekundär durch Allgemeinschädigung des Orga-
nismus die Sexualvorgäi^e in demselben au schädigen ver-
mögen. Man vergesse aber nicht, dass das ättolqgisdie Problem
bei den Neurosen mindestens ebenso komploiert ist wie sonst
bei der Krankheitsverursachung. Eine einzige pathogene Ein-
wirkm^ ist fast niemals hinreichend; zu allermeist wird eine
Mehrheit von ätiologischen Momenten erfordert, die einander
unterstützen, die man also nicht in Gegensatz zu einander
bringen darf. Dafür bt auch der Zustand des neurotischen
Krankseins von dem der Gesundheit nicht sdiarf geschieden.
Die Erkrankung ist das Ergebnis einer Summation und das
Mass der ätiologischen Bedingungen kann von tigend einer Seite
her voll gemacht werden. Die Ätiologie der Neurosen aus-
schliesslidi hi der Heredität oder in der Konstitution zu suchen,
wäre keine geringere Einseitigkeit, als wenn man einzig die acci-
dentellen Beeinflussungen der Sexualität im Leben zur Ätioloj^ie
erheben wollte, wenn sich doch die /Aulklärun^ ergibt, dass das
Wesen dieser Erkrankungen nur in einer Störung der Sexualvor-
gänge im Organismus gelegen ist."
Wien, Juni 1905.
Wenn ich nun meinen Standpunkt zu den im Vorstehenden
mitgeteilten Theorien Freud's dark^cn soll, --o nuiss ich zu-
nächst bctrelis der Hysterie bemerken, dass die Anscliauungcn,
zu weichen der Autor gelangte, das Ergebnis der von ihm ge-
übten psychoanalytischen Methode darstellen, deren Technik er
z. Z. allein beherrscht , so dass eine Nachprüfung seiner Be-
funde von anderer Seite vorerst ausgeschlossen ist. Ich hege
keinen Zweifel, dass für die von Freud untersuchten Fälle seine
Annahme bezüglich der Ätiologie der Krkrankimg und des Me-
chanismus der einzelnen Symptome Berechtigung besitzt.
£s darf Jedoch nicht übersehen werden, dass die Freud'sche
Theorie einen Punkt in sich schliesst, der die Allgemeingültig*
keit derselben vorerst mindestens fraglich erscheinen lassen
miiss. Der Autor hat diesen Punkt in der dritten seiner jüngst
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Die Freud'scbc Theorie von der Sexualität etc.
publizierten „Abhandlungen zur Sexualtheorie" selbst hervor-
gehoben: „Wegen der gegensätzlichen Beziehung zwischen Kultur
und freier Sexualitätsentwicklung", bemerkt er hier, „deren Fol-
gen weit in die Gestaltung unseres Lebens verfolgt werden
könnten, ist es auf niedriger Kultur- oder Gesellschaftsstufe so
wenig, auf höherer so sehr für s spätere Leben bedeutsam, wie
das sexuelle Leben des Kindes verlaufen ist". Die Entwicklung
der Hysterie ist nach Freud von der Reaktion auf infantile
Sexualcrlebnisse abhängig, die durch gewisse (durch Erziehung
und auf anderem Wege beigebrachte) ethische Vorstellungen
betreffs der sexuellen Vorgänge bedingt ist. Die Wirksamkeit
derartiger Vorstellungen auch bei halbzivilisierten und ganz un-
kultivierten Völkern anzunehmen, ist jedoch kaum zulässig.
Wir finden aber von Hysterie die Frauen der Lappen, Samo-
jeden, Kamtschadalen in gleicher Weise heimgesucht wie Abes-
sinierinnen, Hottentottinnen und Madagesinnen. Ja in Mada-
gaskar herrschte in den Jahren 1863 — 64 eine Epidemie von
hysterischen Zufällen (einer Art Chorea major) insbesonders unter
den Mädchen und Frauen im Alter von 15 — 20 Jahren. Wenn,
wie Freud selbst bemerkt, auf niedriger Kultur- oder Gesell-
schaftsstufe der Verlauf des infantilen sexuellen Lebens von so
geringer Bedeutung ist, ist das Auftreten der Hysterie bei den
Frauen der erwähnten Völker nach seiner Theorie kaum zu
erklären. Eine weitere Schwierigkeit bildet die gelegentlich
epidemische Ausbreitung der Hysterie. Wir brauchen hier nicht
an die mittelalterlichen Epidemien von hysterischer Dämono-
pathie und Chorea major zu erinnern. Auch die Neuzeit hat
manche hysterische Epidemien, insbesonders Schulepidemien,
aufzuweisen. Bei der epidemischen Verbreitung der Hysterie
spielt aber der Einfluss der Suggestion eine Hauptrolle, deren
Wirksamkeit wir auch in äusserst zahlreichen Fällen isoliert auf-
tretender Hysterie konstatieren können.
Die weitere F'orschung kann demnach wohl erst ergeben,
inwieweit neben der Freud'schen Theorie die älteren Auffas-
sungen zu Recht bestehen.
Bezüglich der Modifikation, welche die Ansichten Freud's
betreffs der Zwangsneurose erfahren haben, muss ich ergänzend
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Die Freud'sclie Theorie von der Scimiitit etc.
258
beifügen, dass der Autor (ähnlich wie bei der Hysterie) die
Symptome der Zwangsneurose nicht direkt von realen sexuellen
Erlebnissen, sondern von an solche sich knöpfenden IHiantasien
abhängig erachtet, welch letztere demnach wichtige Mittelglieder
zwischen den betretenden Erinnerungen und den Krankheits-
erscheinungen bilden. „In der Regel sind es Pubertätserlebnisse,
die als Noxe wirken und die bei der Verdrängung ins Infantile
zufuckphantasiert werden, unter Anlehnung an die in der Krank-
heit erlebten acctdentellen oder aus der Konstitution fliessenden
Sexualeindrücke (briefliche Mitteilungen des Autors)." An den
Grundelementen der Theorie : Verdrängung einer peinlichen,
dem Sexualleben angehörenden Vorstellung und 1 lan-sposition
des mit dieser verknüpften Affektes, wird durch diese Modifi-
kation nichts geändert M.
Meine eigene Auffassung iibcr die Ätiologie und den
Mechanismus der Zwangsvorstellungen, habe ich in meinem
Werke (Die psychischen Zwangserscheinungen, 1904) ausführUch
dargelegt. Ich habe midi dort dahin geäussert, dass ich, wenn
ich auch in meinem eigenen Beobachtungsmateriale einen striktoi
Beweis für die Abstammung bestimmter Zwangsvorstellungen
von verdrängten Erinnerungen des Sexuallebens nicht finden
kann, doch eine derartige Provenienz von Zwangsvorstellungen
in einer Anzahl von Fällen für wahrscheinlich halte. Bei einer
weiteren Prüfung meiner Erfahrungen habe ich den Eindruck
gewonnen, dass für die selbständige Zwangsneurose (Zwangs-
vorstellungskrankheit) die Freud'sche Annahme in der Haupt*
Sache zutrefien dürfte. Die Fälle selbständiger Zwangsneurose
bilden jedoch unter den Erkrankungen mit Zwangsvorstellungen
nur einen relativ bescheidenen Prozentsatz. Die Entwickelung
der weit häufigeren im Rahmen der Neurasthenie, Hysterie,
Angstneurose, Melancholie etc. auftretenden Zwangsvorstellungen,
wird, wie ich in dem erwähnten Werke dargelegt habe, durcii
andere als die von Freud angenommenen Momente bedingt.
I) Gegenwärtig fasst der Aalor dM Wesentliche seiner Theorie in folgende
swci Satte: a) Der {»ychiache Ztreng rtthrt immer von Verdiflngung her. b) Die
verdr.ingten Regungen und Vorstellungen, aus denen d«S Zwang^wodukt hervor-
geht, stammen gant allgemein aus dem Sexualleben.
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254
Die Freud'Kh« Theorie wen der SexwUtUt etc.
In betrete der Neurasthenie kann ich ledigUch bei der schon
in den beiden letzten Auflagen dieser Schrift vertretenen An-
steht verharren. Die Zahl der von mir im Laufe der Jahre
beobachteten Fälle von Neurasth«»iie ohne jegliche Kompli-
kation mit Angstsymptomen ist recht erheblich, und meine Er-
fahrung lehrt, dass die Neurasthenie un engeren, d. h. Freud*
sehen Sinne, bei beiden Geschlechtern keineswegs lediglich durch
exzessive Masturbati<Ni oder gehäufte Pollutionen entstdit
Unter meinen Beobachtungen finden sich nicht wenige Fälle,
welche jeden Zweifel in dieser Besiehung ausschliessen lassen.
Dieselben betreffen sum Teil filtere, verheiratete Männer mit
zahlreidier Familie, zum Teil auch Männer in kindtf loser Ehe,
mit durchaus normalem geschlechtlichem Verkehre, bei welchem
ich die Entwickelung der Neurasthenie im Gefolge nicht sexu-
eller Schädlichkeiten geistiger und körperlicher Überanstrengung
emotioneller Noxen, erschöpfender Krankheiten etc.) genau ver>
folgen konnte. Ähnlich verhielt es sidi in zahlreichen, verhei-
ratete Frauen betreffenden Fällen.
Die Fr eud'sche Annahme lässt sich nur dadurch erklären,
dass Freud ein seltsamer Zufall ein Krankenmaterial zuführte,
bei welchem lediglich die in Frage stehenden ätiologischen
Momente vorlagen.
Was schliesslich die Ätiologie der Angstneurose betrifft,
so habe ich alsbald nacii dem Erscheinen der ersten Mitteilung
Freud's über die Angstneurose gegen die Annahme einer ein-
heitlichen und rein sexuellen Ätiologie der i»emeinhin als rteur-
astheni<=ch betrachteten Ans^si/.ustände in einem kleinen Aulsatze
eine Reihe vt)n Bedenken geltend gemacht, welche den Autor
zu cinei Entgegnung m der Wiener klmischen Rundschau 1S95
veranlassten. In dieser bemühte sich der Autor, nicht nur
meine Einwände gegen seine Theorie zu entkräften, sondern
auch seine Ansichten über die Ätiologie setner Angstneurose
(und der Neurosen überhaupt) schärfer zu formulieren, als dies
früher geschehen war. Sein Schema für die Ätiologie der Angst-
neurosc formulierte er hier folgendermassen : Bedingung : Heredität,
spezifische Ursache: Ein sexuelles Moment imSinne einer Ablenkung
der Sexualspannung vom Psychischen, Hilfsursachen: Alle banalen
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Die Freud'sche Theorie von der Sexualität etc.
255
Schädigungen, Gemütsbewegung, Schreck, wie physische Erschöp-
fung durch Krankheit oder Oberletstung. Indes konnte ich auch
dieses Schema mit meinen Erfahrungen nicht m Einklang bringen.
Diese Diskrepanz bildete für mich eine Aufforderung, nunmehr
die Ätiologie der neurotisdien Angstzustände eingehender und
an einem grösseren Materiale zu studieren, bei welchem neben
den übrigen in Betracht kommenden Momenten die Verhältnisse
der Vita sexualis in sorgfältigster Weise berücksichtigt wurden.
Von den h-igebnissen dieser Untersuchungen, über welche schon
andern Orts berichtet wurde, soll in folgendem Abschnitte haupt-
sächlich das auf die sexuelle Ätiologie der Angstzustände sich
Beziehende mitgeteilt werden.
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XV.
Eigene Untersuchungen über die sexuelle
Ätiologie der neurotischen Angstzustände,
I
AngstzustSnde, die dem Gebiete der psychischen Zwangs -
erscheinungen angehören und wegen ihrer Entwickelung auf neu-
rotischer Basis als neurotische (zum Unterschiede von den bei
Psychosen auftretenden, den psychotischen) sich bezeichnen
lassen, finden sich zwar ganz vorwaltend, aber doch nicht ledig-
lich bei Neurasthenie; wir begegnen denselben auch bei Hysterie,
ti)ilepsie und Migräne; daneben findet sich noch eine Reihe \on
Fällen, in welchen Angstphänomene isoliert bestehen oder nur mit
Erscheinungen vergesellschaftet sind, welche in das Gebiet der
Nervosität oder der hereditären psychopathischen Minderwertig-
keiten gehören, dagegen andere ausgesprochene Symptome der
Neurasthenie oder einer anderen Neurose mangeln. Diese Fäilc,
in welchen Angsterscheinungen das Wesentliche bilden, habe ich
zu einer Angstneurose sui generis zusammengefasst *). Das
für meine ätiologischen Untersuchmigen verwertete Kranken-
material setzt sich lediglich aus Fällen von Neurasthenie, Hysterie,
resp. Hysteroneurasthenie und Angstneurose nach meiner Unter-
Scheidung zusammen, im Ganzen 210 Fälle.
*) Di« von mür ttntendiiedene Angstueorose deckt «ich keineswegi mit
der von Freud angenommenen. Die Freud'scbe ADj»sUieurose schlics^t di<*
Angst/nstSnde der N"'ir:.sthetii!>chcn in sich ein; wo sieb h>:-i Nrur.istheniscbeü
Angsl2u^!lkndc Enden, handelt es üicb nach Freud um eine Komplikation der
NeurMlbeoie mit seiner Angstneurose. Meiner Angstneurose gebOren dagegen
die Angsttustinde der Neinastheoisdieii nicht m ; ich betrachte diese nicht ils
Komplilcationen, sondern als Symptome des neunsthenischen Grandxnstaodes.
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Eigene Uotersodmogn fiber die sexnelle Ätiologie etc.
257
Was zunächst das Geschlecht der Patienten betrifft, so fand
sich in metnem Krankenmateriale ein auflalliges Oberwiegen der
Männer; das Verhältnis der beiden Geschlechter ist fast 2:1.
Zum Teil ist dies wohl auf ZuMigkeiten des Materials anirüdc-
sufuhren, i. e. den Umstand, dass sich Männer mit Angstzuständen
aus verschiedenen Gründen häufiger an den Nervenarzt wenden
als Frauen, zum Teil mag aber auch dieses Missverhältnis darin
begründet seini dass bei Männern sich gewisse ursächliche Mo>
mente der Angstzustände (speziell sexuelle Noxen) häufiger geltend
machen als bei den Angehörigen des weiblichen Geschlechtes.
Die Beteilit^uriL,' der einzelnen Altersklassen zeigt bemerkens-
werte Verschiedenheiten. Das Hauptkontingent kommt auf die
Zeit vom 20. — 50, Lebensjahre, und die Altersklasse vom 30.
bis 40. Jahre ist bei beiden Geschlechtern am stärksten vertreten.
Bei Frauen zeigt sich schon vom 40. Lebensjahre an ein sehr
erheblicher Rückgang in der Zahl der Fälle, bei Männern erst
vom 50. Jahre an; das höhere Lebensalter ist nur in sehr ge-
ringem Masse beteiligt.
Hereditäre Belastung bestand sicher in 80*^/0 der Fälle,
und nur in io**/o der Fälle Hess sich solche ausschliesen,
soweit dies überhaupt möglich ist. Dabei ist bemerkenswert, dass
ich bei Männern keinen Fall fand, in welchem mit Sicherheit ausser
der Heredität kein ätiologisches Moment im Spiele war, und bei
Frauen nur einen Fall, in welchem die Heredität vielleicht sich
als ausschliessliche Ursache der Angstzustände betrachten lässt,
sofern dieselbe eine Besonderheit der Vita sexualis im Freud-
schen Sinne bedingte, weldhe geeignet ist, zu Angstzuständen zu
föhren. Es handelt sich um eine junge Frau, welche ebenso wie
ihre Schwester sexuell anästhetisch ist. Was die Beziehung der
erbHchcn Belastung zur Intensität und Hartnäckigkeit der Angst-
erscheuuuigen anbelangt, so ist zwar nicht in Abrede zu stellen,
dass die schUmmcn phobischen Zustände sich vorwaltend bei
Hereditaricrn finden , doch kommen auch bei Nichtbelasteten
intensive und hartnäckige Phobien und die schwersten inhaltlosen
Angstzustände vor. Ferner ergab sich, dass die Schwere der
erblichen Belastung in keinem bestimmten Verhältnisse zur
Schwere der Angstsymptome steht. Es dürfte sich dies aus
LSwcvfalil, Scmell'.neiTciM StanNigen. Vi«rl« Au8. 17
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Higeiie TJntcnnciiiiiigeD ftber die lenidle Atiolofie cic.
einem Umstände erklären, auf welchen meine Beobachtungen hin-
weisen. Es scheint, dass in manchen Fällen mit erblicher Be-
lastung neben einer geringen, zum Teil sogar sehr geringen
allgemeinen neuropathischen Anlage (vielleicht auch ohne solche)
eine spesielle Disposition zu Angstzuständen vererbt wird *).
Eine sexuelle Ätiologie fand sich nur in ann&hemd 75®/«
der F^lle, d. h. in diesem Prozentsatz der Fälle liessen sich
irgendwelche als Schädlichkeiten anzusprechende Verhältnisse im
Bereiche der Vita sexualis eruieren, welche bereits vor dem Ein-
treten der Angstzastiinde ihren Einfluss geltend machten. Ich
muss hier betonen, dass für die Feststellung dieses Prozent«
Verhältnisses selbstverständlich nur ein Material von Einzel-
beobachtungen verwertet wurde, bei welchem die Anamnese
bez. der Vita sexualis mit der erforderlichen Giundliclikeit er-
hoben wurde. In ihrer Art waren die sexuellen Schädlichkeiten,
die sich in den einzelnen Fällen ermitteln Hessen, sehr verschieden.
Bei Männern fand sich: absolute und relative Abstinenz, fru-
stranc Erregung, Congressus interruptus, Masturbation mit fol-
gender Abstinenz und ohne solche, Exzesse im normalen ge-
schlechtlichen Verkehre, übermässige Pollutionen ; bei Frauen :
Congressus interr. und mangelnde sexuelle Befriedigung aus
anderen Ursachen (sexuelle Anästhesie etc.), Abstinenz (absolute
und relative), Masturbation. Die Bedeutung der sexuellen Schäd-
lichkeiten schwankt jedoch in den einzelnen Fällen sehr; auf
der einen Seite haben wir eine allerdings nur sehr geringe Zahl
von Fällen, in welchen keine Ursache ausser der sexuellen Noxa
nachweisbar ist, auf der anderen Falle, in welchen neben dem
sexuellen Momente offenbar noch andere ätiologische Faktoren
eine sehr wichtige (vielleicht die überwiegende) Rolle spielen.
') llicrfiir spricht der Umstand, dass wir nicbt sclteo bei einer Mebrzabl
Ton GUcdetv eiaer Familie, deren allgciueiner Nerveiuasland kdnenregi bcKnidcis
wizfimtig ist (oidi meinen Bcobadttungen bei i, 3, 4 Gecdiwisteni oder Matter
und Kindern), Angstzuständen begegnen, an deren Entstehung psychische Infektion
offenbar keinen Anteil hat. Ks handelt sich hier um Fälle, in welchen die Angst-
zustände bei verschiedenen Gliedern einer Familie zu ganz verschiedenen Zeilen
anfinten und mm Teil bd den Erstbefällenen wbon lange wieder geachwniidea
waren, als sie bei anderen Famitiengliedern sieb entwidcelten.
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Eigene Untersudmogen Aber die i«raelle Ätiologie etc.
259
Zwischen diesen Grenzföllen li^ die grösste MdinabI der
Fälle mit sexueller Ätiologie. Bezüglich dieser Gruppe ergaben
meine Nachforschungen, dass die Zahl der Fälle, in welchen
neben den sexuellen Schädlichkeiten nur erbliche Belastung sich
findet, nahezu ebenso gross ist (etwa %) als die derjenigen, in
welchen noch ausserdem ililtsui machen sich nachweisen lassen,
während die Zahl der Fälle, in welchen erbliche Behistung
mangelt und neben den sexuellen Schädlichkeiten nur andere
ätiologische Momente wirksam sind, oder solche auch mangeln,
erheblich geringer ist (etwa Der Mangel hereditärer Be-
lastung wird bei Männern zum grössten Teil durch einen äqui-
valenten Umstand ausgeglichen, die in früher Jugend, i. e. schon
vor der Pubertät geübte, oder wenn auch später erst begonnene,
so doch extessiv betriebene Masturbation.
Dem Umstände gegenüber, dass wir lediglich in annähernd
75*/e der Fälle eine sexuelle Ätiologie fanden, muss erwähnt
werden, dass Freud schon in seinem Aufsatze „Ober die Angst-
neurose" auf die Tatsache hingewiesw hat, dass die Angst-
neurose und zwar bei beiden Geschlechtem auch durch Ober-
arbeit, erschöpfende Anstrengungen, z. B. Nachtwachen, Kranken-
pflege und schwere Krankheiten, herbeigeführt werden kann.
Diesen Fällen fdilt zwar nach Freud*s Ansicht eine sexuelle
Ätiologie, aber nicht em sexueller Mechanismus der Angst-
produktion. Die organisch sexuellen Vorgänge können nämlich,
wie durch Schädlichkeiten aus dem Sexualleben selbst, auch
durch tiefergreifende, das Nervensystem allgemein beeinflussende
Noxen Störungen erfahren, ähnlich wie dies z. B. auch bei den
Funktionen des Verdauungsapparates der Fall ist. Der Prozent-
satz der Fälle, in welchen hei der Angstproduktion sexuelle
Faktoren eine Rolle spielen, muss demnach als 75*/« über-
steigend angenommen werden.
Bei einer Prüfung der im Vorstehenden mitgeteilten Unter-
suchungsergebnisse lässt sich nicht verkennen, dass dieselben
der früheren Freud'schen Theorie (Aufspeicherung somatischer
Sexualerregung, Ablenkur^ vom Psychischen und subkortikaie
Entladung derselben) keine Stütze gewähren. Auf der einen
Seite haben wir Fälle mit sexueller Ätiologie, in welchen eine
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260
£i^e UaCcnwlitiiige» Ober die BMacHe AtioloBiie etc.
Aufspeicherung somatischer Sexual erregung auszuschliessen ist
(Exzesse im normalen geschlechtUchen Verkehie, Masturbatioa
ohne Abstinenz, gdiäufte Pollutionen), auf der anderen Seite
Fälle, in welchen zwar eine Aufspeicherung von Sexualerregung
sich annehmen lässt, die Ablenkung vom I^ychtschen jedoch
fehlt. Als Zeichen letzterer betrachtet Freud Abnahme oder
Schwinden der Libido. Unter den Fällen meiner Beobachtung
mit sexueller Abstinenz finden sich jedoch solche mit sehr er-
heblicher Likttdo ebensowohl vertreten als solche mit gesunkener
Libido. In einzdnen Fällen bestanden sc^ar zeitweilig Zustände
hochgradiger sexueller Erregung Hierzu kommt der Umstand,
dass die erwähnte Theorie Freud's, wie der Autor selbst zu-
gesteht, für die Erklärung des Auftretens und Ausbleibens der
Angstanfälle bei den Phobien sich unzulänglich erweist. Der
Agoraphobe z. B. kann sich, wie immer es mit seiner Vita
scxualis bestellt sein mai;, von Angstanfällen frei halten, wenn
er die ihm j^'efährlichen Plätze meidet oder sich beim Ausgehen
begleiten lässt.
Freud hat jedoch seine Ansicht in betreff der Provenienz
der neurotischen Angst in jüngster Zeit in einer Weise niodi-
hziert, gegen welche sich ungleich weniger Bedenken erheben
als gegen die frühere Foi nuiliernnt» seiner Auffassung. Seine
derzeitige Anschauung geht dahin, ,,dass die neurotische An^st
somatischer Herkunft ist, aus dem Sexualleben stammt und
') Bc/ü(^ul1i iloi Fare von Angslneurosc mit SteigeniDg der Libido bemerkt
der Autor in scituni RcTciate über mein Werk: ,,Üie psychisclun Zwanj^^er-
scbcinungen" (Journal für Psych, und Keurol. Bd. III, 1904) , dass in denselben
nichts anderes als ein Oszillieren swiscben libidinöser und in Angst (teilweise)
verwandelter EneBong vorliegt. Ich hatte vor knncin GelegeDheit, über die
Beriehungen der Angst cur !.il)ido in einem Falle von Angstneorose bei einer
in sexueller A'n-tiupnT' !cbf n.lcn jüngeren weiblichen Person, welche zeitweilig von
sehr lä-ttiger senueiler Erregtheit heimgesucht wurde, Genaueres zu ermitteln, wo-
bei sich folgendes ergab: In schweren AngstanfiÜlen ist von libidinöser Erregung
nie etwas bemerklich ; mitssig^ AngstzastSnde können sich dagegen sehr wohl mit
sexueller Erregtheit verknüpfen. Letztere kann sogar hicbei einen sehr erheblichen
Grad erreichen. Wir sehen aus dem Angeführten, dass eine Ablenkung ilct I.ibi lo
vom Psychischen für die Auslösung der Angst durch dieselbe uicht notwendig
ist. Dass das von Freud erwähnte Oszillieren vorkommen mag, möchte ich
trotzdem nicht bestreiten.
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Eigene UoieisuchaDgen Ober die sexnclle Ätiologie etc.
261
einer verwandelten Libido entspricht". Zur richtigen Würdigung
dieser Ansicht muss ergänzend beigefügt werden, dass Freud
die Angstzustände, welche durch Schrecken und andere emo-
tionelle Momente verursacht sind, dem Gebiete der Hysterie
zuweist Ich muss hier auf eine Erörterang der Frage ver-
zichten, inwieweit diese Annahme berechtigt ist, und mich auf
die Bemerkung beschränken, dass, da die Hysterie eine Neurose
ist, auch die hysterischen Angstzustande sich von den neuro-
tischen nicht abtrennen lassen.
Wenn ich die Summe meiner derzeitigen Erfahrungen be-
züglich der Ätiologie und des Mechanismus der neurotischen
Angstzustände Oberblicke, so komme ich zu einer Auffassung,
die sich der Freud'schen wesentlich nähert. Auch für mich
unterliet^t es keinem Zweifel mehr, dass die neurotischen
A n g s t u s L a Fl ( 1 e , soweit d i e s e I b e n n i c h t e m o t i o n e 1 1 e n
Ursprun^'s sind, aus somatischen, dem Gebiete des
Sexuallebens angehört ^»en Störungen entspringen.
Die an sich naheHegendt Annahme, dass es sich hierbei um
einen einheitlichen , in allen Fällen stets gleichartigen Mecha-
nismus der Angstproduktion handelt, stösst jedoch bei näherer
Betrachtung der Sachlage auf ernste Schwierigkeiten. Die ein-
zelnen in Frage stehenden sexuellen Noxen sind in ihrer Art
so verschiedenartig, dass a priori wenig Aussicht zu bestehen
scheint, in denselben ein einheitliches Moment aufzufinden. Dies
zeigt sich schon, wenn wir die unter den sexuellen Schädlich-
keiten weit prädominierenden, die sexuelle Abstinenz und den
Congr interr, in Betracht ziehen. Bei der Abstinenz beim
Manne haben wir neben der Spermaansammlung in den Samen-
blasen eine Anhäufung libidogener Stoffe im Blute anzunehmen.
Beim Congr. interr. kann, wenn derselbe nicht allzu selten aus-
geübt wird, d. h. mit Abstinenz sich verknüpft, das erste der
beiden erwähnten Momente jedenfalls nicht in Betracht kommen.
Die Möglichkeit einer Anhäufung libidoi^ener Stoffe im Blute
lasst sich zwar nichi auijschliessen , doch k.mn dieselbe jeden-
falls luclit den Grad erreichen, wie bei andauernder Abstinenz.
Die hier V(ji liegende Schwierigkeit schwindet jedoch, wenn wir
die Erfahrung berücksichtigen, dass anscheinend ganz ver-
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Eigene Untersuchungen über die sexuelle Ätiologie etc.
schiedcnartigc Vorgänge die Erregbarkeitsverhältnisse des Nerven-
systems in ähnlicher Weise verändern und andererseits gleiche
Mengen eines toxischen Stoffes (z, B. Alkohol, Koffein) bei ver-
schiedenen Individuen je nach dem Zustande ihres Nervensystems
sehr differenle Wirkungen produzieren können. Neuere Tier-
versuche haben, wie wir sahen, die Existenz eines umschriebenen
kortikalen Zentrums für den Geschlcchtssinn sehr wahrscheinlich
gemacht. Die für die Angstzustände in Betracht kommenden
sexuellen Noxen haben das Gemeinschaftliche, dass sie sämtlich
geeignet sind , abnorme Erregbarkeit oder Erregungszustände
dieses Zentrums herbeizuführen. Berücksichtigt man ferner die
Erfahrungen mit anderen toxischen Stoffen , so muss man zu
der Annahme gelangen , dass je nach dem Grade der Erreg-
barkeitsveränderungen des kortikalen Sexualzcntrums verschie-
dene Mengen libidogener Stoffe ähnliche Wirkungen auf dasselbe
äussern mögen, und daher das, was in einem Falle durch eine
Anhäufung dieser Stoffe im Blute herbeigeführt wird, im anderen
Falle durch geringere Mengen derselben zu Stande kommen kann.
Es mangelt also, wie wir sehen, bei allen hier in Betracht kommen-
den sexuellen Noxen nicht an einheitlichen Momenten: Ände-
rungen des funktionellen Verhaltens des kortikalen
Sexualzentrums und Einwirkung libidogener Stoffe
auf dasselbe. Wenn wir jedoch einen Einblick in die Vorgänge
gewinnen wollen, durch welche die in Frage stehenden sexuellen
Momente Angstzustände herbeiführen oder bei der Herbeiführung
derselben mitwirken, müssen wir etwas näher auf die Art und
Weise eingehen, in welcher dieselben die Elemente des korti-
kalen Sexualzentrums affizieren und wie die von hier ausgehende
Beeinflussung der bei den Angstzuständen beteiligten kortikalen
und subkortikalen Apparate zu Stande kommt.
Wenn wir uns zunächst mit dem ersten Teile der uns vor-
liegenden Doppelfrage beschäftigen, so sehen wir, dass Exzesse
im normalen geschlechtlichen Verkehre und in masturbatorischen
Leistungen durch allzu häufige Erregung der sexuellen Rinden-
zentren einen Zustand reizbarer Schwäche in diesen nach sich
ziehen können. Abnorme Erregbarkeit dieser Zentren kann aber
auch durch sexuelle Abstinenz herbeigeführt werden, wenn diese
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Eigene Uotcnuchangen über die sexoeUe Ätiologie etc.
263
mit unverändert bleibender oder allmählich sich steigender Libido
einhergeht, ganz besonders bei frustrancr Erregung oder Ein-
wirkung von anderen die Libido erhöhenden Momenten (Ge-
dankenonanie, Lektüre pornographischer Romane etc.). Den
Fall der Abstinenz mit verringerter Libido müssen wir vorerst
ausser Betracht lassen. Bei dem Congr. interr. haben wir es
mit komplizierteren und wechselnden Verhältnissen zu tun.
Filhrt derselbe, wie es namentlidi bei Frauen oft der Fall Ist,
SU keiner Befriedigung, so liegen die Dinge ähnlich wie bei der
Abstinenz, soweit die Einwirkung auf die kortikalen Zentren in
Betracht kommt. Durch den sexudlen Akt wird die molekulare
Spannung in diesen 2^ntren nicht herabgesetzt, in manchen
Fällen sogar gesteigert, sofeme sich an den Koitus örtliche
Veränderungen (Hyperämien) im Bereiche der Sexualorgane
knüpfen, welche die von der Peripherie den Zentren zufliessen-
den Reize vermehren >).
Die dem Geschleditssinne dienenden Rindenterritorlen stehen
offenbar in enger Beziehung zu den kortikalen und subkortikalen
Apparaten, welche bei dem Angstvorgange beteiligt smd. Wir
dürfen dies schon aus dem Umstände folgern, dass die Erregung
beim sexuellen Akte, ähnlich wie bei den Affekten, in Verände-
rungen der Tätif^keit des zirkuiatorischen und respiratorischen
Apparates sich äussert (entlädt), also bei diesem Akte ein Ab-
strömen kortikaler Erregung nach den bulbären Zentren hin
stattfindet. Für die in Frage stehende Beziehung spricht des
Wetteren das Auftreten von Angstanfällen im Anschlüsse an
gewisse sexuelle Vorgänge (Menses z. B. bei Frauen, Pollutionen
bei Männern) und ein allerdings selteneres, von mir zuerst kon-
statiertes Gegenstück dieser Beobachtungen: die Hervonufung
sexueller Erregung durch Angstzustände Die sexuellen Noxen,
') Ähnlich liegen die Verhältnisse bei sexueller ADästbe»ie (Mangel, rcsp.
hochgradige HeraUetsniig d«r orga<>tiseheD Fähigkeit) bei Fnuen. Der sexuelle
Verkehr fflhrt hier lu keber Eotladung der kortikalen sesndleii Zentren.
') Auf das Auflreten sexueller Erregung bei Angstanfällen wurde von mxr
zuer-st in dem Aufsätze „riir I.chrc von den neurotischen Angstzusländen", Münch,
med. Wochenschr. Nr. 24 und 25, 1897 biogewiesen. Über bierbergchCrige Vor-
kommnbse haben in der P'olge auch andere Beobachter (Janet, Bernhardt
nnd Frend) beikblet. Beroetkenswert ist «odi der Mhon frfther erwähnte Um*
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264
Eigene Untersuchungen über die sexuelle Ätiologie etc.
welche eine reizbare Schwäche oder Erschöpfung der sexuellen
Rindenzentren herbeiführen, können infolge des erwähnten
Konnexes die beim Angstzustande beteiligten kortikalen und
subkortikalcn (bulbären) Apparate in Mitleidenschaft ziehen; in-
wieweit dies der Fall ist, ob sich ein ausgesprochener patho-
logischer Erregbarkeitszustand dieser Apparate entwickelt oder
nicht, hängt von deren Widerstandsfähigkeit ab. Bei jenen
Noxen dagegen, welche infolge Mangels einer physiologischen
Entladung eine abnorme Spannung im Bereiche der sexuellen
Rindenzentren bedingen, findet entweder andauernd oder periodisch
ein Abströmen eines Erregungsquantums nach den beim Angst-
zustande beteiligten kortikalen und subkortikalcn Apparaten statt;
dieselben können hierdurch andauernd in den Zustand gesteigerter
Erregbarkeit oder periodisch, wenn die Spannung in den sexuellen
Zentren eine aussergewöhnliche Höhe erreicht (z. B. während
der Menses), in Tätigkeit versetzt werden (Angstanfällc ').
Es ergibt sich aber nunmehr eine weitere Frage : Wirken
die angeführten Noxen nur via Cortex schädigend auf die bulbären
beim Angstvorgange beteiligten Zentren oder beeinflussen sie
diese auch direkt? Letzteres lässt sich für einen Teil der Fälle
jedenfalls nicht in Abrede stellen. Wenn sexuelle Exze.sse eine
allgemeine nervöse Erschöpfung nach sich ziehen, bleiben auch
die bulbären Zentren für die Regulation der Herzbewegungen
und Vasomotion gewöhnlich nicht verschont ; wir begegnen aber
auch Fällen, in welchen diese Zentren infolge primärer Ver-
stand, dass durch Angsttrüume - - ähnlich wie durch lascive Träume — Pollutionen
hcrvurgctufcn werden können. So traten bei einem an Poll. nim. leidenden
Studierenden meiner Beobachtung Pollutionen mitunter im Gefolge von Angst-
oder V<ilcgcnheitsltaunicn ohne Erektion auf. Bei dem gleichen Patienten kam
CS während seiner letzten Gyninnsialjahre einige Male zu Pollutionen, wenn er in
der Klasse mit einer Arbeit, z. B. einer Matbematikaufgabe , nicht fertig
werden konnte.
') Ks muss dies jedoch nicht in allen Fällen eintreten; vielmehr wird es
(wie bei den Noxen, welche tcizbare Schwäche etc. in den sexuellen Rindcnccntrcn
herbeiführen) zum Teil von der Intensität der abströmenden Erregung, zum Teil
▼on der Widerstandsfähigkeit der in Betracht kommenden kortikalen und sub*
kortikalen Apparate abhängen, ob in denselben ein pathologischer Erregbarkeits»
zustand sich entwickelt. Bei völlig normalem Vcihalten dieser Apparate bleiben
ewiue Mengen zufliessender Erregung wirkungslos.
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Eigene UotertucbungcD Uber die sexuelle Ätiologie etc.
265
anlagung oder Schädigung durch gewisse Noxen (gemütliche
Erregungen, Gifte wie Koffein, Nikotin) zu einem Locus
minorts resistentiae geworden sind und daher durch sexuelle
(insbesonders masturbatorische) Exsesse affiziert werden, ohne
dass es ni allgemeiner nervöser Erschöpfung kommt. Was die
von Freud angenommene subkortikale Verausgabung der Sexgal-
erregung bei Abstinenz mit gesunkener Libido betrifft, so lässt
sich die Möglichkeit eines derartigen Vorganges nicht in Abrede
stellen ; in der Mehrzahl der Fälle von Abstinenz mit verminderter
Libido beruht letztere jedoch jedentalls nicht ledi^licii auf
Ablenkung der in nuiinaler Weise produzierten Sexualerre^ung
vom Psychischen, sondern auf verminderter Produktion von
Sexualerregun^» Man sieht in diesen l-'ällcn, dass auch die
Pollutionen seltener wetdcn und die Potenz abnimmt. Es ist
aber auch möglich, dass die in geringerem Masse produzierte
Sexualerregung genügt, um die bulbären Affektzentren in einen
Zustand abnormer Erregbarkeit zu versetzen.
Wie es sich mit der Produktion und Wirkung der libidngenen
Stoffe bei allen den im Vorstehenden erwähnten sexuellen Noxen
verhält, hierüber lässt sich vorerst noch nicht viel sagen. Bei
der Abstinenz dOrfen wir, wie schon erwähnt wurde, eine An-
häufung dieser Stoffe im Blute annehmen, welche (beim Manne)
die durch dieSpermaansammlung bedingte Erregbarkeitssteigenmg
im Bereiche des kortikalen Sexualzentrums erhöht Wir dürfen
jedoch nicht glauben, dass in den übrigen Fällen dki Quantität
der im Blute kreisenden libidogenen Stoffe entsprechend der
Zahl der sexuellen Akte abnimmt. Wir müssen vielmehr mit
der Möglichkeit rechnen, dass die Produktion der libidogenen
Stoffe durch gewisse sexuelle Vorgänge wie auch durch psychische
Prozesse (laszive Vorstellungen etc.) becinflusst wird, so dass
die im Blute kreisende Menge der fraglichen Stotfe nicht der
jeweiligen Spermaansammlun£j in den Samiii blasen entspricht.
Ferner ist der schon früher erwähnte Ihnstand zu bcrücksich-
tij^en, dass bei erhöhter Erregbarkeit der kortikalen Sexual-
zentren auch geringe Mengen libidogener Stoffe, die unter
normalen Verhältnissen wirkungslos bleiben, in denselben Er-
r^ngszustände auslösen mögen.
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266
Eig^e Untersucfaungea Aber die aexaelle Ätiologie etc.
Wir haben im Vorstehenden lediglich eine Bceinflussun«;
der kortikalen Sexualzentren durch die libidogenen Stoffe an-
genommoi. Es muss jedoch auch die Möghchkeit zugegeben
werden, dass diese Stoffe auf die bei den Angstvorgängen be-
teiligten kortikalen und subkortikalen Apparate nicht lediglich
von den Sexualsentren aus, sondern direkt eine gewisse Wirkung
ausüben.
Wenn wir das im Vorstehenden Angeführte Überblicken,
so lässt stdi nicht in Abrede stellen, dass wir mit der Erkrantnis
der grossen Bedeutung, welche sexuellen Momenten in der Ätio-
logie und dem Mechanismus der neurotischen Angstzustände
zukommt, einen sehr wichtigen Fortschritt gemacht haben, dessen
Hauptanteil den Forschungen Freud's zu danken ist Dabei
dürfen wir jedodi nicht übersehen, dass die Beziehungen der
Sexualität zu den Angstcuständen noch immer ein recht dunkles
Gebiet bilden, dessen Aufhellung in nächster Zeit kaum zu
erwarten ist Es wird dies nicht auffällig erscheinen, wenn man
berücksichtigt, dass die Vorgänge des sexuellen Lebens nach
ihrer physiol<^isch«chemischen Seate nodi eine völlige terra
incognita darstellen und man bis in dte jüngste Zeit die Rätsel,
die hier der Lösung harren, zumeist nicht einmal geahnt hat.
Ich möchte schliesslich nicht unterlassen, darauf hinzuweisen,
dass, wenn auch Vorgänge im Gebiete des Sexuallebens die
wichtigste unter den essentiellen L'rsachen der neurotischen
Angstzustände bilden, an der Angstproduktion in den einzelnen
Anfällen zumeist noch andere Faktoren beteiligt sind und auch
nach Beseitigung der ursächlichen sexuellen Noxen die Angst-
produktion durch andere Momente unterhalten werden kann.
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XVI.
Die Anomalien des Sexualtriebes.
Die Anomalien im Bereiche des sexuellen Trieblebens
wurden erst in den letsten Dezennien von psychiatrisdier und
neurologischer Seite mm Gegenstande besonderer Stwfien ge>
macht. Das Hauptverdienst auf diesem Gebiete hat sich zweifel-
los V. Krafft-Ebing erworben, welcher in seiner Psychopathia
sexualis nicht nur die erste zusammenfassende Darstellung und
Sichlun<^ des hicrhergehöri^'cn klinischen Materials gab, sondern
aucli duicli Mitteilung zahlreicher eigener Beobachtungen und
sorgfältige Analyse der Kasuistik unsere Kenntnis der psycho-
pathologischen Erscheinungen im Bereiche des Sexuallebens in
grundlegender Weise förderte.
Es erscheint uns am zweckmassigsten, die Anomalien des
Sexualtriebes, die wir hier in Betracht m ziehen haben, mit
Lacassagne und Eulenburg in quantitative und qualitative
zu sondern. Bei den quantitativen Anomalien betrift't die Ab-
weichung lediglich die Intensität des an sich normalen Sexual-
triebs, bei den qualitativen — den sogenannten Perversionen —
die Art der psychischen Reize, durch welche sexuelle Erregung
ausgelöst wird. Wir müssen hier sogleich darauf aufmerksam
machen, dass die sexuellen Perversionen nicht immer zu perversen
sexuellen Akten führen müssen und Perversitäten der sexuellen
Befriedigung nicht immer von Anomalien des Geschlechtstriebes
ausgehen. So kann, um ein Beispiel zu geben, ein Ehemann
mit seiner Frau den K. per anum ausfuhren, bei völlig normalem
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268
Die Anomalien des Sexualtriebes.
Geschlechtstriebe, lediglich aus dem Grunde, weil er eine Schwan*
gerang vermeiden will. Wir werden uns hier mit den von Ano-
malien des Gescbiechtsti ichcs unabhängigen perversen sexuellen
Handlungen nicht weiter beschäftigen.
I. Quantitative Anomalien des Geschlechtstnebci).
A. Mangel und krankhafte Herabsetzttog des
Geschlechtstriebes.
Sexuelle Anästhesie, Anaphrodisie (Eulenbiirg).
Gänzlicher Manj^el des Geschlechtstriebes bei normaler Ent-
wicklung der Ge^chlechtsor^jane wird als angeborener psychischer
Defekt bei Mai ncri; nur selten beobachtet. Hicrhergehörige Fälle
wurden von v. K i a f ft-Ebi n^^ , Maniniund und Forel niitL;o-
teilt'). Nach den bisherigen Erfahrunt^cn kommt dieser Defekt nur
in Vcri)indunp mit anderen psychischen und nervösen AnomaUen
vor und darf daher als eine Entartungserschi inimc; gedeutet werden.
Enc^'leich häutiger lindet sich, wie wir schon an früherer
Stelle sahen, gänzliches Fehlen der Libido (nach Einleitung des
geschlechtlichen Verkehrs) als anf^cborener Mangel l)ci Frauen.
Da dieser Defekt bei Frauen sich nicht immer mit anderen
ausgesprochenen psycho- und ncuropathischen Erscheinungen
vergf^< 11 rli t'rt mag für einen Teil der betreffenden Fälle
die AonahmeEuienburg's zutreffen, dass es sich bei denselben
um eine Art sexualer Entwicklungshemmung (psychosexualen
Infantilismus) handelt.
Angeborener Mangel des Geschlechtstriebes kann aber auch
durch periphere Ursachen, Verkümmerung oder Mangel der
Sexualorgane (bei Idioten, manchen Hermaphroditen) bedingt sein.
Viel häufiger als dem gänzlichen Mangel begegnen wir bei
beiden Geschlechtern sehr geringer Entwicklung des Sexual-
triebes; ganz besonders gilt dies für das weibliche Geschlecht.
Einzelne Autoren haben den Prozentsatz der frigiden Frauen
Auch Fürbringer h«t F&Ue kongenitaler sexueller Anistbesie bei
Männern beobachtet und erachtet deren Vorkommen nidit für gans so aclteh wie
von anderer Seite asgenommcD wird.
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Die AnomalieD des Sexnaltriebei .
269
bis auf 40% taxiert. Berücksichtigt man die ausserordentlichen
Schwankungen in der Intensität des Sexualtriebes bei zweifellos
gesunden Individuen, so begreift es sich, dass sich bei geringer
Ausbildung der Libido eine Grenze zwischen Iliysiologischem
und Pathologischem schwer ziehen lässt. Die ausserordentliche
Häufigkeit der Frigidität bei Frauen gestattet auch kaum die
Annahme, dass es sich hierbei immer um eine pathologische Er-
scheinung handelt, zumal auch ein grosser Teil der frigiden
Frauen zweifelbs in psychischer und nervöser Hinsicht keine
Störungen aufweist.
Ahnlich scheint es sich bei Männern zu verhalten, Mangel
und hochgradige Herabsetzung der Libido kann ferner durch
Entfernung der Geschlechtsdrüsen (Kastration) sexuelle Exzesse
und dner Reihe von KrankheltszustätKien, Entartung der Ge-
schlechtsdrüsen, erschöpfende Krankheiten, Intoxikationen (Al-
koholismus, Morphinismus), Diabetes, organische Rückcnmarks-
und Gchirnkrnnkhciten , Neurosen (^Neurasthenie und Hystcrif)
und Psychosen bedingt werden. Zu direkten gesundheitlichen
Nachteilen führt weder der gänzliche Mangel, noch die Herab-
setzung der l.iindo. Doch sind beide Zustände durchaus nicht
gleichgültii,'. Der Mangil sexueller Bedürfnisse kann für den
Mann ein Hindernis für die Eheschliessung und damit die Er-
langung von I'^amilienfreuden bilden^). Ijhelthche Herabsetzung
der Libido bei früher sexuell normal veranlagten, im Alter noch
nicht vorgeschrittenen Männern führt nicht selten zu melan-
cholischen Verstimmungszuständen, die gewöhnlich von Befürch-
tungen eines Verlustes der Potenz ausgehen. Bei weiblichen
Personen bildet die sexuelle Anästhesie, da dieselbe gewöhnlich
erst in der Ehe sich manifestiert, kein Hindernis für die Ver-
heiratung, Dagegen bedingt dieselbe manche Störungen in dem
•) Bei Männern kann, wie wir sahen, nach Entfernung der Hoden Libido und Erek-
tionsfäbigkeit noch l.mge Zeit bestehen. Anomalien in beziig auf die Samenbereitnng
(Aspermatiiimus und Azoospermie) bleiben überhaupt ohne £influ&& auf die Libido.
') Westpb&l beobaditete einen jungen Mann» der vegen melanchoUsdier
GewteMlftniog und wiedeHwlter Selbstmordvenuclie in die Imnabteilung der
Charit^' aufgenommen wurde und bei welchem von jeher vollständiger M.ingel des
Gc^chk-chtsUicbcs bc^t.md. „Die Scllistmordvcrsucbe waren zum Teil durch die
quälende Voiilellung die«.cs Zustande^ bcdiugl."
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270
Die Anomalien des Sexaaltriebes.
ehelichen Leben. Da der Mangel der Libido sich gewöhnlich
mit Ausfall der orgastischen Fähigkeit verknüpft, kann derselbe
ein Konzeptionshindernis bilden. Manche der frigiden Frauen
bemühen sich, ihrem Gatten zu Liebe ihre Interesselosigkeit für
den sexuellen Verl-ehr möglichst zu verschleiern, während andere
— und deren Zahl ist nicht gering — aus ihrer Abneigung gegen
den K. keinerlei Hehl ihrem Gatten g^enüber machen. Zu
welchen ehdidien Verhältnissen dies unter günstigeren Umständen
führen mag, hierfilr sei nur ein Beispiel gegeben. Der Gatte
einer jui^en, sehr hübschen Frau von blühendem Aussem er-
zählte mir gelegentlidi, dass er mit Rücksicht auf die hoch-
gradige Aversion seiner Frau gegen den ehelichen Verkehr seine
sexuellen Bedürfnisse dfters durch Masturbation befriedige, und
dabei handdte es sich um einen Mann von bescheidenen Be>
dflrfnissen. Unter mindor günstigen Umständen bildet die
Frigidität der Frau häufig eine Quelle ehelicher Dissidien, die
fOr beide Tefle die peinlichsten Folgen nach sich ziehen können.
B. Krankhafle Steigerung des Geschlechtstriebes.
Sexuelle Übererregbarkeit. Sexuelle Hyperästhesie,
sexuelle Hyperlagnie (Eulenburg), Libido nimia.
Die Intensitiit des Geschlechtstriebes kann z.vcifellos eine
Steigerung erfahren, welche wu als krankhaft betrachten müssen.
Die Umstände, unter welchen die exzessive Libido auftritt, wie
die Arten ihrer Äusserung lassen hierüber keinen Zweifel. Eine
Grenze zwischen noch Normaleni und Pathologischem ist jedoch
hier wie bei dem ent^egeni^csctztcn Verhalten des Geschlechts-
triebes schwer zu ziehen, da einerseits die Stärke der Libido
durch verschiedene Faktoren (Lebensalter. Rasse, Ernährungs-
weise etc.) beeinflusst wird, andererseits bei Individuen in gleichen
Lebensverhältnissen, wie schon öfter früher erwähnt wurde, sehr
erhebliche, konstitutionell bedingte Schwankungen in den ge'
schlechtlichen Bedürfnissen vorkommen. Die bisherigen Ver-
suche, die pathologische Steigerung der Libido genauer zu
definieren, haben denn nuch zu keiner einwandfreien Annahme
geführt. Wenn z.B. Emminghaus das unmittelbare Wieder-
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Die AnomaliMi des Sexualtriebe«.
271
erwachen der Libido nach der Befriedigung mit Inbeschlagnahme
der ganten Anfmerksamkeit und ebenso das Erwachen der
Libido bei an und für sich sexuell nicht err^endem Anblick
von Personen und Sachen als entschieden pathologisch betrachtet,
so kann diese Auffassung nicht für aUe Fälle als gerechtfertigt
erachtet werden. Die Libido kann vorQbergehend auch bei
gesunden Individuen durch verschiedene Umstände (Abstinenz,
LektOre, Umgang mit weiblichen Personen etc.) eine sehr be-
deutende Steigerung erfahren, die sich jedoch nicht als krank-
haft l>r,'cichnci^ lasst.
Waiirend die sexuelle Frigidität bei P tauen weit häufiger
als bei Männern sich findet, ist das umgekehrte Verhältnis bei
der sexuellen Übererregbarkeit der Fall Die krankhaft gestei-
gerte Libido ist als psychisches Phänomen immer zeirlual
bedingt. Wir müssen nach unseren derzeitigen Erfahrungen an-
nehmen, dass hierbei ein abnormer Erregungszustand derjenigen
Rindenelemcnte vorliegt, an welche der Geschlechtssinn gebunden
ist. Dieser Erregungssustand muss jedoch nicht immer durch
krankhafte Gehimvorgänge hervorgerufen werden; er kann auch
durch von der Peripherie oder dem spmalen Genitalzentnim
ausgdiende Erregungen bedingt sein. Die verschiedenen Ur-
sadien sind, wie wir sehen werden, nicht ohne Bedeutung für
die Symptomatologie, und wir werden im Folgenden eine peri-
phere, eine spinale und eine zerebrale Form der krankhaften
Libido zu unterscheiden haben. Diese zeigt aber in den Einzel^
ßUlen auch sehr erhebliche Unterschiede in Bezug auf die Inten*
sit&t und Dauer der Symptome, so dass wir eine leichtere und
eine schwerere Form unterscheiden können. Auf letztere be-
schränken wir die Bezeichnungen Satynasis und Nymphomanie.
Die krankhaft erhöhte Libido kann femer als andauernder Zu-
stand mit zeitweiligen Remissionen und erheblichen Exazer-
bationen, aber auch intermittierend und periodisch, selbst in Form
ausgesprochener transitorischer Anfälle auftreten Bei den chro-
nischen Formen handelt es sich fast ausschliesslich um die
leichteren Grade der Störung; die schwereren Formen anderer-
seits treten vorzugsweise intermittierend, die schwersten in der
Regel nur anfallsweise auf.
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272
Die Anomalien des Sexualtriebes.
Bei den leichteren Formen der ktankhaften Libido drängen
sich Vorstelinngen sexuell-sinnlichen Inhalts abnorm häufig und
auch bei femerliegenden Assoziationen in das Bewusstsein und
bUden dadurch oft eine Belästigung für den Patienten. Die ven
den sexuellen Vorstellungen ausgehenden Impulse versetzen das
spinale Gcnitalzentrum in Erregung und beeinflussen durch
dessen Vermittlung auch den Zustand der Sexualorgane. Die
hierdurch ausgelösten Erregungen (Empfindungen) wirken ihrer-
seits wiederum auf das Gehirn und fördern die Prodtiktion ond
Dauer sexueller Vorstellungen. Das bidtviduum ist hierbei immer
imstande, durch energische Willensanstrengungen die sexuellen
Vorstellungen 2u verdrängen und den Einfhiss derselben auf sein
Handeln auf das mit seiner socialen Stellung Verträgliche zu
beschränken. Wir sehen oft genug Individuen, die durch ihre
sexuelle Hj^erästhesie sich weder zu kriminellen, noch auch
nur zu ausgesprochen unmoralischen oder perversen Handlungen
verleiten lassen.
Bei der schweren Form beherrschen sexuelle Vorstellungen
wenigstens zeitweilig vollständ^ das Bewusstsein. Weder das
Aufgebot des Willens, noch die durch die augciiblicklichen Ver-
hältnisse geweckten Vorstellungen (Rücksichten irgend welcher
Art) vermögen diese Gedanken zu verdrängten und ihren Hin-
fluss auf das Handeln ganz zu verhindern. Bei den höchsten
Graden sexueller Krregung kann es zu einein rauschartigen Zu-
stande mit Trübung des Bewusstseins und folgender Amnesie
kommen. Das hidividuum sucht einen wutartigen Drang ohne
Rücksicht auf Zeit und Ort an der nächstbesten weibhchen
Ferson zu befriedigen. Jung oder alt, blutsverwandt oder nicht,
macht keinen Unterschied. Bei Mangel eines weiblichen Ob-
jektes kann Befriedigung durch perverse Sexuaiakte (Päderastie
und Bestialität) oder exzessive Masturbation gesucht werden.
Exzessive sexuelle Erregung äussert sich wohl nur selten, man
darf sagen ausnahmsweise, bei nicht an ausgesprochener Geistes-
störung leidenden oder sonst gehirnkranken Individuen in An-
fällen der geschilderten Art. In der grossen Mehrzahl der Fälle
bildet die exzessive, blind nach Befriedigung drängende sexuelle
Erregung lediglich Teilerschcinung einer transitorischen psychi-
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Die Anomalien des Sexualtriebes.
27:5
sehen Störung (psychbch-epileptisches Äquivalent) oder an-
dauernder Geisteskrankheiten. Auf das Vorkommen psychisch-
epileptischer Äquivalente in der Form von Satyriasisanfallen hat
insbesonders Lombroso die Aufmerksamkeit gelenkt. Der-
artige paroxysmale Zustände zeigen sich femer auf der Höhe
nisniakaliscber Erkrankungen, in der manischen Periode des zir-
kulären Irrseins und namentlich auch in den Erregungsphasen
der progressiven Paralyse. Ein verheirateter Paralytiker meiner
Heobachtung machte kurze Zeit, nachdem er durch eine Schmier-
kur gebessert schien, einen äussert brutalen Notzuchtsversuch
an einem i ^jalirigen Mädchen. Ein anderer zeigte sich zeitweilig
so erregt, dass er ohne Kiicksicht auf die Unv^c bnn^» seine
Fran zum Beischlaf aufforderte. Ein paralytischer Lehrer, den
ich zu begutachten hatte, verging sich, nachdem er seiner Frau
schon durch seine übermässige sexuelle Begehrlichkeit lästig ge-
worden war, mit Schulmädchen. Man hat ferner satyriastiscbe
Anfälle bei früher geistig normalen Individuen nach Kopftraumen,
bei zerebralen Herderkrankungen, namentlich Tumoren des Cere-
bellum und Pons und bei Idioten beobachtet.
Die chronische, kontinuierliche und gewöhnlich leichtere
Form der sexuellen Hyperästhesie ist am häufigsten Teiler-
scheinung einer ererbten neuropathischen Konstitution. „Derlei
Individuen," bemerkt v.Krafft-Ebtng, „tragen einen grossen
Teil ihres Lebens schwer unter der Last dieser konstitutionellen
Anomalie ihres Trieblebens." Häufig ist aber auch die in Frage
stehende Form erworben. Wir begegnen derselben namentlich
bei Neurasthenikem , deren Nervenzustand durch Exzesse im
natürlichen Geschlechtsverkehr oder durch Masturbation verur-
sacht, resp. mitbedingt wurde, ferner im Gefolge relativer oder
absoluter Abstinenz bei ncurasthenischen und neuropathisch ver-
anlagten Männern. Ectzterer Faktor bedin<^t nach meinen Be-
obachtungen eine cigenarti;^e Form .sexueller Hyperästhesie, die
meines Wissens von anderer Seite noch niclit geniif^end ge-
würdigt vsT^irde. Die Patienten meiner Beobachtung waren vor-
herrschend verheiratete Männer in den Vierzigern und anfangs
der fünfziger Jahre, die zum Teil aus Rücksichten für die eigene
Gesundheit den ehelichen Verkehr bedeutend eingeschränkt hatten
LSweafold, Seiaell-«erv8M Sütrunceit. VUrt* Aul. 18
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274
Die Anomalien des Sexualtriebes.
oder wegen Erkrankung der Frau auf denselben gänzlich (oder
fast gänzlich) verzichten mussten. Zwei der betreffenden Pa-
tienten standen in den dreissiger Jahren tmd übten aus hygieni-
schen und moralischen Gründen Abstinenz. Dieselben hatten
eine lange Behandlung wegen Urethritis posterior hinter sich.
Bei sämtlichen Patienten bestand von Haus aus eine gewisse
neuropatbische Veranlagung. Bei Tage waren die in Frage
stehenden Männer von sexuellem Drai^ im Altgemeinen nicht
sehr belästigt, dagegen waren ihre Beschwerden bei Nacht um
so erheblicher. Alsbald, oder einige Stunden nach dem Ein-
schlafen (nicht erst gegen Morgen) stellten sich bei denselben
Erektionen ein, die häufig so intensiv und andauernd wurden,
dass sie zu Schmerzen im Gllede und den benachbarten Teilen
führten, den Schlaf hochgradig störten und am Morgen ein Gefühl
der Abspannung und Schwache hinterliessen, in diesen !• allen
handelte es sich offenbar um eine abnorme Erregbarkeit des
genitalen Erekiions iiti ums, die nicht psychisch vorn kortikalen
Zentrum des Geschl' chtssinnes, sondern peripher durch von den
Sexualorganen ausgehende Erregungen bedingt wurde. Die Über-
erregbarkeit des Erektionszentrums, die sich beim Ausfall der
kortikalen hemmenden Impulse im Schlafe sofort geltend machte,
wirkte erst sekundär erregbarkeitssteigemd und dadurch Libido
wachrufend auf das Rindengebiet. Dieser nächtliche beschwer-
liche Priapismus kann nach meuioi Beobachtungen sdbst Jahre
hindurch sich geltend machen.
Im Folgenden will ich Bruchstacke aus der Leklensgeschlchte
eines dieser Patienten mitteilen, die um so mdur Interesse be-
anspruchen durfte, als es sich um ein^ Ende der 50 er Jahre
stehenden Mann handelt.
Beobachtung 75.
Der Patirnt, ein den gebildt-ten Staiidcn angclinrc-ndfr v-rheirateter
Herr nahm vor etwa i8 Jahren mciiirn Rat wegen einer lange bestehen-
den schweren Neurasthenie in Anspruch. Schon damals wurde der Patii nt,
welcher durch ehelidie MissverhÄltnisse mehrere Jahre zu vdlstftndiger
Abstinenz genötigt war, durch sehr hartnftcklge nüditUehe Erektionen
heimgesucht. Im Verlaufe von Jahren, unter dem Einflüsse verschiedener
Kuren und wohl auch wieder geregelten geschlechtlichen Verkehrs trat
bei Herrn X. eine so weitgehende Besserung ein, dass er sich fast als
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Die Amtmlien dtt SciiMltiiebes.
275
g( sund betrachten konnte. Dieser günstige Zustand hielt an, bis es Herrn
X. infolge andauernder Erkrankung seiner Frau nur mr-hr selten und
noch dazu nn ist unti r ungünstigen Umstanden möglich wurde, scitie
noch inuner mächtigen sexuellen Bedurhiisse zu befriedigen. Diese
relative Abstinenz filhrte mit ihren Folgezuständen (Störungen des
Schlafes etc.) allmählich wiedei zti einer Verschlechterung des Nerven*
zustandes, welche im Laufe der Zeit durch gemütliche Erregungen wegen
des Zustandes d« r P'ravi noch gesteigert wurde. Zu den nerviisen Be-
schwerden gesellte sich hochgradige Verstimmung. Der Zustand besserte
sich im Verlaufe emes Jahres erheblich; doch verUieb eine ausser-
ordentliche gemütliche Reizbarkeit, die bei Aufregungen gelegentlich zu
tobsuchts.ihnlichen Ausbrüchen führte. Diese waren von äusserst heftigen
Hintt rkopfschmerzen begleitet und hinterliessen eine gewisse GemOts-
verstimmung. Bezüglich dieser Anfälle bemerkt Patient: „Auch bei
diesen zum QOck nur «Stärkere Aufregungen erfolgenden tuid wieder
vorabergehenden Explosionen spielten, soweit ich mich entsinne, nachts
zuvor vorausgegangene, sdir mühsam niedergekämpfte £rektio«ien hflufig
ihre Rolle, so dass man es wohl eine Art Hysterie nennen konnte.*
Dem Patienten gelang es, durch verschiedene Massnahmen auch diese
abnorme Reizbarkeit mehr und mehr einzudämmen und seine Nerven
derart zu kraftigen, dass er Uneingeweihten als gesund erschien. Ober
seben Zustand berichtet Patient weiter:
„Ich bruuciie niemals Schlalnuttel, kann zu jeder Zeit leicht ein-
schlafen, erwache aber immer bei den Erektionen, die meist schon nach
3- 4 stündigem Schlafe eintreten, und deshalb kommt es fast niemals zu
Polluiioiu n. Durch Kneten und Massieren der Bein- und Armmii^keln ete.
gelingt es mir zwar, das Blut momentan zu vertreiben; aber sobald ich
wieder 1—3 Stunden geschlafen, bcgimit die Szene wieder von Neuem
und oft noch heftiger tmd brOnstiger als zuvor. Ich muss dann oft den
nach Schlaf dantenden Körper nach einer kalten Ganzwascbung gflnzüch
aus dem Bett heben und aufstehen, wobei ich dann natOrlicli das höchst
unbehagliche Gefühl des Nichtausgeschlafenhabens, öfters auch Anuantl-
lungen einer melancholischen Verstimmung stundenlang mit mir führe !
Zum vollen Kraftgefühl komme ich, wenn ich nach Tisch midi nochmals
I— a Stunden niederlege und dadurch den nAchtlichen Schlafmangel aus»
gleiche. Dann stehe ich m i t so gekräftigt und frisch an Geist und
K<"rp»r auf, dass ich im Schneiischritt giosse Wege zurücklegen, auch
gei;3tjg mich tätig zeigen kann. Leider aber ist alles Laufen (bis zur
vollkommenen ErmQdtmg) und alle Gymnastik nicht genügend, mich vor
den nächtlichen Beschwerden zu bewahren. Ja, je wohler tmd leistungs-
fähiger ich mich am Nachmittage fühle, um so sicherer ist mir eine recht
schlechte darauffolgende Nacht. Oft wecken mich die Erektionen dann
schon nai h den ersten zwei Stunden Schlafs, und ganz erschöpft stehe
ich am andern Morgen auf. Ja, es ist etwas ganz Gewöhnliches, das3
ich nach solchen Tagen des kräftigsten Wohlbefindens infolge der mass-
los auftretenden Erektionen, welche sich zuletzt durch teihv( iscs Abgehen
des Sperma beim Urinieren Luft zu machen suchen, in einen hoch*
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276
Die Anomalieo des Seiiialtriebes.
gradigen Zustand von Krschrtpfun^ vr rt'allc. Abgcsclilagcnhrit in den
Gliedern, Rückenschmerzen, Ziehen in den Waden und Gelenken, dazu
geistige Trflgheit tind Arbettsunlust bei konstanter Schlflfrigkeit, Brennen
in der Harnröhre beim Abgange des UrinS und bftuflger Harndrang,
mnnclinial s«i;;ar Si h\viiuJ> lg<ifnhl im Bett markieren dann deutlich den
wohl durch teilweisen .Sprt tiiavt i lust entstt li« iidcii Schwfirliczustand-
Sehr mühsam und langsam, iueisl nur in Woclien und nach Fusswande-
rungen (im Gebirge) gelingt es mir dann wieder einmal, dieses Zustandes
Herr zu werden, um nach einigen vielleicht recht guten Tagen, in denen
ich mich \vi( (i< r x hr pl( thori<ich fühle, infol^f (!er öbermfissigcii Kk kiionen
in den alten Zustand zu verfallen. So kann ich nie wirkhcli zu Kräften
und zu einer geistigen Arbeitsfäliigkeit gelangen, obgleich mich alle Welt
als ganz besonders kräAig und gesund anspricht.* Patient
bemerkt weiter, da5s er sehr frugal lebt und Hier und Wein nur aus-
nahmsweise geniesst. Er fährt dann fort: „Stünde ich noch in d< n
dreissiger oder vierziger Jahren, so wäre der Zustand ja leicht crklärlicli.
In meinem Alter aber muss es doch wohl pathologisch sein, zumal ich
gleichzeitig, namentlich frflh zur Zeit der Erektionen, an Taubheit der
Fing« I spitzen leide. Eine fast regelmässige Begleiterscheinung bei den
Krektioneu ist auch d« f Hist konstante Abgang von Bläininfien (Dann-
gascn, geruchlos), bei deren Eintritt dann die Erektionen meist allmählich
nachlassen. Dass gleidizeitig der Rflcken, auch der Bauch (Blasen-
gegend), kurz der ganze Unterleib und ganz besonders das PerinSum
(Pars prostatica} von Blutfülle förmlich brennt, habe ich wohl schon
bemerkt. Die'^'"! unablässige Dri\nsrcn f an«=fjch( nd von der Pars ]>ro>-.t.)
macht mich am Tage natürlich sehr reizbar, und es ist bt greiOich, dass
anderweitige starke Aufregungen (Arger, Angst etc.) grosse Explo^onen
(bis zum Schreiet^ hervorzidmngen vcrmügcn. Ai^aiblickUch habe ich
meine Widerstandskraft durch Gebirgsaufenthalt gehoben. Aber es kann
wieder kommen "
Auch in dem folgetnlon Falle, der einen nahezu 50 Jahre
alten, in anstrengender Praxis tätij^cn Kollegen betrifft, handelt
CS sich vorwaltend um die oben geschilderte spinale Form sexu-
eller Hyperästhesie.
Beobachtung 76.
Der Patient, nach seiner Mitteilung, obwohl von gesunden Eltern
stnmmend. etwa'; netimprithisc h vemnlagt, dabei iedoeh von sehr kräftiger
Konstitution und von sanguinischem Temperament, lebt seit mehr als
ao Jahren in durchaus glücklicher Ehe und war vor derselben Exzessen
weder in Baccho noch in Venere ergeben. Er war nie erheblich krank
und in seinem Berufe früher sehr leistungsfähig. Aus seinem Berichte
gestatte ich mir, nachslehcndes Bruchstück wiederzugeben : „Seit 5 Jahren
indessen leide ich an Neurasthenie, die lange Zeit alle müglichen Er»
scheinungen machte, Parflsthesie in den Beinen, motorische Schwflche,
1 lerzpalpitationen, SchrnndelanfäUe, Schlaflosigkeit und namentlich zere-
brale Erschöpfungszustände. Letztere haben viele Monate das Krank*
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Die Anomalien des Sexualtriebes.
277
lifitsbild b< herrscht. Das Gewöhnliche der täglichen Praxis konnte ich
wohl bewältigen, aber Abends war ich so fertig, dass ich keine Zeile
mehr lesen, kautn mehr denken konnte. Vernünftige Lebensweise,
7 Monate Alkoholabstinenz, Gebirgstouren altjfthrlich, Venneiden fast
jeder Geselligkeit usw. hatten mich all dieses Oberwinden lassen, als
vor nunmdira^/i Jahren, teilweise noch hineinragend in die geschilderten
gruppenweise niirjietrrtenen mannigfachen Erschöpfunpfserscheinungen,
nächtliche Priapismen sich einstellten, die seitdem das ganze Krankheits-
bild beherrschen und mir traurige Freunde Nacht fQr Nacht geblieben
sind. Seit November 1901 habe ich im ganzen 3— 4 mal ungestörten
Schlaf gehabt, oft sogar während der Siesta unter Erektionen leiden
niOs«=cn. Ich habe niemals sinnliche Tr.lume, niorrKiIs Polluti.nifn oder
Sp'Tinatorrhoe gehabt; die Anfälle selber luiben mit sexuelh n Vor-
stellungen oder Lustgefühlen nichts zu tun, nicht eine der zahllosen
Erektionen ist von irgend einer derartigen Erscheinung begleitet gewesen.
So wie ich im ersten Schlafe liege oder in Zeiten iler Besserung erst in
den tVahesten Morgenstunden, tritt mit dem Ausfall der kortikalen
Hemmungszentren eine gewöhnlich leichtere Erektion ein; ich schlafe
wieder ein, sehr bald folgt eine stärkere, andauerndere und eine noch
Stärkere, oft bis 6mal in eber Nacht. Fast stets folgt auf die Erektion
eine gewisse vasomotorische Schwache im Abdomen, es bebt in dem
unteren Menschen bei lebhafterem gespanntem Pulse. Schmerzhaft sind
die Priapi-^men nicht, nur zuweilen ist eine gewisse Spannung im Penis
unangenehm. Gewöhnlich nehme ich die Knie-Lllenbogeniage ein, bei der
widirsebeUiUch durch den negativen Druck in den Gei&ssen des Unter»
leibs» der hiedurch entsteht, eine raschere Entleerung der corpora cavemosa
herbetgefiUirt wird. Diese it izbare. Schwäche des lumbalen Erektions-
zentrums wird durt Ii alle in' glichen nervösen Rei/( befördert, die am
Tage oder Abends noch einsetzen; es isi wie ein Akkumulator, der sich
immer wieder neu mit Energie speist und sie Nachts in Form von
Erektionen abgibt Mein Allgemeinbefinden ist dabei im Allgemeinen
gut, ich bin mit 3—4 Stunden Schlaf zufrieden, namentlich wenn ich
Nachmittnps ein Stniulchen nachholen kann. Aber das ganze Verhalten
dieses abnormen Zustandes an sich und sein Verhältnis zu mir selbst
ist ein gänzlich regelloses und kapriziöses. Was einmal mir miserabel
bekommt, macht das nächste Mal wenig Eindruck. Mein Befinden und
meine nervöse Energie Stehen oft gerade in umgekehrtem Verhältnis zu
den nächtlichen Störungen. Was mein sexuelles Vcrfi.ilt< n I-i trifft, so
besteht (ob Ursache, nb Wirkung, vermag irli niclu zu entscheiden), ein
stark erotischer Zustand; das Scxuelbinnliche steht unangenehm im
Vordergrunde und mischt sich mir unendlich peinlich in mein Vor*
Stellung»* und Gedankenleben; es sind Vorgänge, die sich wohl meist
ohne mein Zutun unter der Sclnvellc dos Bewussiseins vollziehen. Mein
ästhetisches Empfinden in Ktin-^t und Literatur hat sieh geändert, nicht
dass ich absichtlich Sinnlicherregendes mir ansähe oder lese, das tue ich
niemals, aber sexuelle Vorstellungen knflpfen sich an alles, was das Weib
betrifiV, auch wenn eigentlich filr jeden anderen Menschen absolut nichts
Sexuelles dabei sein wQrde, seien es Erzeugnisse der bildenden Kunst
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278
Die Anomalien des Sexualtriebes.
oder Lektüre. In der ganzen sexuellen Sphäre besteht ein hyper-
flsthetischer Zustand, eine staike Reaktion auf alles Sinnfidie, der keine
Hemmung, keine Willensenergie gegenflbersteht Jede aktive oder
passive Zärtlichkeit im ehelichen Zusanim ! ' n venirsacht Erektionen
oder wenigstens den Beginn dazu und als Folge der venösen Stase
schmerzhafte Emplindungen in den Testikcln und im Penis. Impotent bin
ich bis dato eigentlich nicht gewesen, wiewohl mandierlel Störungen
p^chiacher und funktionelter Art zeitweise vorgekommen aind, aber
eben nur vorübergehend. Seit zirka 6 Wochen scheint es aber damit zu
Ende zu gehen; es besteht bei Kohabitationsversuchen Mangel an
Erektionsfähigkeit bei fortwährender Gefahr der präzipitierten Eja-
kulation, mangelnde Voluptas und, wenn auch sonst alle Bedingungen
erftollt sind, Ausbleiben der Ejakulatkio; der ganze Vorgnig bt wie mit
einem Messer plötzlich abgeschnitten. — Die Ursachen der Erkrankung
sind, glaube ich, nur zu klar. Tabes ist ausgeschlossen, an den Genitalien
hat der Urologe endoskopisch nichts gefunden, d. h. vor einem Jahre
ausser einer unbedeutenden mir selbst verborgen gebliebenen Striictur.
Der Versuch, sie zu beseitigen, musste aufgegeben werden, weil die
Dilatationen die Pr iapismen entsetzhch steigerten."
Bei Besprechung der .Ätiologie «eines Falles äussert sieh Dr. X.
dahin, dass wohl die Hauptscliuld an seinem Leiden der Mangel weiser
Massigung im ehelichen Verkehr trage, der auch nach d«n Atiftreten
neurasthenischer Erscheinungen in gewohnter Weise fortgesetzt worden
Sf i. Im Übrigen war seine Lebensweise t iuc durchaus hygienische,
Alkohoigenuss nur sehr mässig, Ranrhin nikotinfreier Zigairen etc.
Über die Resultate der bisher geübten Behandlung berichtet Dr. X.
Folgendes:
„.An meiner Gesundheit arbeite ich nun schon seit 5 }a\\ren und
bin j.i auch alle neurastlienischen Beschwerden losgeworden bis auf die
sexuellen Zustände, aber diese isolierte Kt krankung des spin.ilcn Genital-
zentrums trotzt jeder Behandlung. Ich iiabe gebraucht alle möglichen
Badeformen, Kdhlscblange im Rücken, Kdhlkaiheter, viele Medikamente,
Bromverbindungen pfundweise, war 1902 und 1903 in Sanatorien, machte
die verschiedensten Prozeduren durch, Galvanisieren des Rückenmarks,
faradischc Bäder, Wach'-uggestion, Galvanisieren des Centrums lumbale
auch während leichter Hypnose. Die KuUegen haben sich redlich bemüht,
mir zu helfen in ihren Anstalten, Alles umsonst. In beiden Sanatorien
wurde ich schliesslich fast schlaflos, bis ich durch Brom das gestörte
nervöse Gleirhgewicht wieder herstellte und meine gemütliche .Stimmung
wieder gewann. Der Eindruck, den ich bisher von allen örtlichen Me-
thoden der Behandlung erhalten habe, ist der gewesen, dass alle
Stärkeren thermischen Reize, alles shockartig Einwirkende nur schadet,
den Reizzustand erhöht und dass die Gedanken viel ZU sehr dadurch
und durch di< Besprechungen mit den Kollegen auf den locus morbi
hingelenkt werden.*
In Betreff des weiteren Verlaufs des Falles sei hier nur erwähnt,
dass Dr. X, durch Übergang zur vegetarischen Lebensweise zdtweiUg
Erleichterung fand. Der Gebrauch eines Seebades wirkte auf das All-
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Die Anomaliea des Sesualtriebes.
279
jj^meinhefinden sehr vorteilhaft, auf die sexuellen Störungen ungünstig.
iNach dem letzten, ungefähr ein jaiir nach dem ersten mir zugegangenen
Berichte ist das Allgemeinbefinden befriedigendi wahrend die Erschei-
nungen der sexuellen Hyperästhesie nach der phobischen wie der
somatischen Seite (Priapismen), wenn auch unter mannigfachen Schwan-
kungen, andauern. Bezüglich der Priapismen betont der Patient, dass
dieselben keineswegs ausschliesslich durch sexuelle Reize hervorgerufen
oder voRStBrlct werden, aoodem in dieser Riditnng aüe mAglichen Insulte,
die das nervOse oder pqrchtfche Gleichgewicht störe», stdi wirlcsam
erweisen.
Bei Personen, welche durch Masturbation oder Exsesse in
Venere sich schadigten, habe ich eine Belästigung durch über*
roässige nächtliche Erektionen nie konstatteren können. Die
sexueDe HyperSsthesie dieser Individuen fitthrt meist zu ge-
häuften Pollutionen, wodurch übermässige nächtliche Erektionen
verhindert werden. Nur in seltenen Fällen kommt es auch bei
den Exzedenten in Venere zu Erscheinungen von Priapismus,
welche aber dann nicht lediglich während der Nacht auftreten
und nicht durch den Ausfall 1 ntikaler Hemmungen, sondern
durch die Lebhaftigkeit und Andaucr sexuell-sinnlicher Vor-
stellungen, die ihre Gedankenwelt ganz und gar beherrschen,
bedingt sind.
Zustande krankhaft erhöhter sexueller Erregbarkeit können,
abgesehen vom Priapismus, noch zu anderen lokalen Beschwerden
führen, wie folgende Beobachtung zeigt.
Beobachtuns 77«
Dr. X., 36 Jahre alt, ohne erweisliche erbliche Belastung, kam als
Knabe durch einen Zufiüi dazu, Masturbation zu Oben, der er jedoch auch
spater sicli noch ergab. Im Alter von 22 Jahren wurde (.r infolgr von
übermässigem Studium von Si hlafmangd heimgesucht. Glrichzt itig ge-
riet er durch ein platonisches Liebesverhältnis, das er damals uiit< r-
hiel^ in emen Zustand hochgradiger sexueller Erregung, der zeitweilig
zu Zuckungen der Hodenmuskeln f&hrte. Diese Beschwerden verloren
sich allmählich, kehrten jedoch in den dreissiger Jahren in zunehmender
Intensität wieder, wnhl in Folge d< > l'mstandes, dass Patient aus reli-
giösen Motiven trotz seiner hochgradigen Libido seit Jahren in vollstän-
diger sexueller Abstinenz lebt Die Andauer der sexuellen Erregung
erschwert dem Patienten die gdstige Arbeit ausserordentlich. Auch die
Betastigung durch Muskelzuckungen ist sehr erheblich; diese betrefTen
nicht nur den M. t remnstcr, «sondern sie erstrecken sich zum Teil offen«
bar auch auf das Gebiet der t'eriaealmuskeln.
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280
Die AnoniaUen des Sexualtriebes.
Ausser in den erwähnten Fällen be^cfj^nen wir der sexuellen
Hyperästhesie noch insbesonrirrs in den Anlan|:jsstadicn der pro-
gressiven Paralyse und in 'Irr manischen Phase des zirkulären
Irrseins, ferner bei den erwähnten or<janischen Gehirnerkran-
kungen, Von den Paralytikern ist bekannt, dass dieselben häufig
in der ersten Krankheitsperiode sich durch einen von ihren
früheren Gewohnheiten abstechenden liederlichen Lebenswandel
(Verkehr mit Dirnen etc.) auffällig machen. Wo eine gewisse
sexuelle Hyperästhesie schon früher bestand, erfährt dieselbe
durch die Paralyse gewöhnlich eine bedeutende Steigerung* Das
Gleiche gilt nach meinen Beobachtungen von der arteriosklero-
tischen Demenz.
Es ist noch zu erwähnen, dass auch durch rein periphere
Ursachen von länger dauernder Einwirkung (Pruritus und Ekzem
der Genitalien mit starkem Juckreiz) und toxische Einflüsse
(Omthariden) Zustände abnormer sexueller Erregbarkeit hervor-
gerufen werden können.
Bei weiblichen Personen entwickelt sich die Nymphomanie
unter den gleichen pathologischen Verhältnissen wie bei Männern
die Satyriasis. Auch die leichteren Formen der sexuellen Hyper-
ästhesie treten unter denselben Bedingungen wie bei Männern auf.
Was die Hysterie anbelangt, so hat man früher den mit
diesen Leiden Behafteten vielfach besonders lebhafte erotische
Neigungen zugeschrieben. Diese Ansicht hat sich jedoch als
irrtümlich erwiesen. Die Hysterie als solche führt im Allge-
meinen keineswegs zu stärkerem Hervortreten sinnlicher Nei-
gungen ; die sexuell Anästlietischcn mit .Mangel der orgastischen
l'.ihigkcit iind unter den Hysterischen sogar häutig vertreten.
Nur vorübergehend und im Zusammenhang mit Zustanden all-
gemeiner Erregung, sowie bei einzelnen Formen h\sterischer
Anfalle zei;4t sich mitunter gesteigerte sexuelle Apjietenz. Bei
zwei hy.stcrischen Frauen meiner Beobachtung, die im Allge-
meinen durchaus kein ausgeprägtes sinnliches l emtH rament auf-
wiesen, machten sich nach der Mitteilung ihrer Gatten zu ge-
wissen Zeiten neben grosser allgemeiner Erregtheit auffällig
vermehrte sexuelle Bedürfnisse bemerklich, deren Befriedigung
bei der einen derselben noch überdies mit einem leichten hyste-
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Die Anomalien des Sexnnltriebei.
281
fischen Anfall gewöhnlich abschloss. Brügelmann und Stadel-
mann beobachteten bei zwei Patientinnen in br i^notischen Zu-
ständen, die durch h> sterische Somnambulie kompliziert waren,
hochgradige sexuelle Erregung. Die Patientin Brügelmann's,
ein Mädchen aus guter Familie, und im Wacbsustande völlig
woh^ftittet, machte dem behandelnden Arzt in Gegenwart Dritter
Liebeserklärungen und forderte denselben in unzweideutiger Weise
zu Annäherungen auf, gerierte sich aber in gleich sexuell er-
regter Weise auch einer den Arzt gelegentlich vertretenden
weiblichen Person gegenüber. Man darf jedoch hieraus keines-
wegs folgern, dass die hj^terische Somnambulie an sich unter
Umständen sexuelle Beehren wachruft. In beiden Fällen be-
stand offenbar auch im Wachzustande ausgesprochene sexuelle
Erregtheit, die sich in der Somnambulie nur unverhöUt kundgab^).
Aus dem Vorstehenden dOrfte erhellen, dass die krankhafte
Steigerung des Geschlechtstriebes einen Zustand bildet, welcher
die ärztliche Beachtung in hohem Masse verdient. Dieselbe kann
einerseits zm Exzessen im natürlichen Geschlechtsverkehr und
2u masturbatorischen Gepflogenheiten führen, durch welche das
Nervensystem mehr oder weniger geschädigt wird, andererseits
die andauernde sexuelle Abstinenz zu einem Zustande machen,
welcher ebenfalls das Nervensystem in ausgesprochen ungünstiger
Weise bccinflusst. Wir verweisen in letzterem Punkte auf das
an früherer Stelle (^Abschnitt Vi und VII) I'emcrkie.
Nicht minder wichtig ist aber, dass die sexuelle Hyper-
iisthesie auch zu perverser sexueller Befriedigung führen und
den Anstoss zu kriminellen Handlungen geben kann, also auch
für das Individuum noch Gefabren anderer Art in sich birgt.
*) S. Löwcnfeld: Der lij'pnolismuH, Handbuch der Lehre von der Ilyp«
now und der Suggestion. Wietbadctt 1901. S. 209.
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282
Die Anomalieii des Sexualtriebes.
II. Qualitative Anomalien.
A. Homosexualität.
Konträre Sexualempfindung.
I. Konträre Sexualempfindung beim Manne.
Uranismus, Urntngtum.
Unter den qualitativen Anomalien des Gesdilechtstriebes
bildet die als konträre Sexualempfindung (nach Westphal),
Homosexualität, biversion des Geschlechtstriebes, bei Männern
auch als Uranismus oder Umingium beseichnete Perversion die
häufigste und praktisch wichtigste Erscheinung. Das Wesent>
liehe dieser Anomalie besteht darin, dass bei den damit Be-
hafteten sexuelle Neigunj^en für Personen des gleichen Ge-
schlechtes bestehen, das sexuelle Triebleben also eine dem
normalen Verhalten entgegengesetzte (konträre) Richtung zeigt.
Die Homosexualität bildet, obwohl dieselbe schon bei den Kultur-
völkern des Altertums wahrscheinlich nicht weniger verbreitet
war als in der Gegenwart, doch erst seit mehreren Dezennien
den Gegenstand eingehender medizinischer Studien. Der Grund
dieses auffälligen Umstandes ist darin zu suchen, dass man
früher die Homosexualität beim Manne einfach mit der Päderastie
identifizierte, die von altersher nicht als Äusserung eines krank«
haften Zustandes, sondern als widernatürliches und deshalb von
den Gesetzen der meisten Staaten mit schweren Strafen belegtes
Laster galt. Als solches konnte die Homosexualität nur den
Juristen und den Gerichtsarzt interessieren, und letzterer be-
schäftigte sich mit der Sache auch nur so weit, als der Nach-
weis päderastischer Akte in Frage kam. Den ersten Versuchen,
tiefer in das Wesen der Homosexualität einzudringen und deren
psychopathologischen Ursprung darztilegen, begegnen wir bei 2
Gertchtsärzten, Caspar in Berlin und Tardieu hi Paris.
Caspar wies sciion 1852 der älteren Auffassung gegen-
über, welche die honio'^extiellcn Beziehungen lediglich als eine
Fonr\ gtschh'chtlicher Ausschweifuntj h.-i jnorali^rh verkom-
menen Individuen betrachtete, darauf hm, dass jedenfalls bei
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Die AnonuüieD des Sexualtriebes.
288
Teile der in Betracht kommenden Individuen eine an-
geborene Anomalie des sexuellen Trieblebens bestehe und in-
folge dieser die geschlechtlichen Bedürfnisse der Betreffenden
nur auf homosexuellem Wege (aber nicht ausschliesslich durch
Päderastie) sich befriedigen Hessen.
Ähnlich wie Caspar gelangte Tardieu 1858 auf Grund
eines sehr reichen Beobachtungsmaterials zu det Anschauung,
dass es sich bei einem Teile der Päderasten um eine angeborene
Abnormität der sexuellen Neigungen handle. Er konnte auch
mehrfach bei Urningen weiblichen Habitus und Vorliebe für
weibliche Beschäftigung konstatieren.
Ungleich mehr Anregung als die Mitteilungen der beiden
genannten Autoren gab die Arbeit Westphals über konträre
Sexualempfindung (1869). EHeser Autor folgerte aus seinen Be-
obachtungen, dass die von ihm so benannte Anomalie der Vita
sexualis bei beiden Geschlechtem „angeboren als Symptom eines
pathologischen Zustandes auftreten kann". Diesen Zustand als
einen psychopathischen zu bezeichnen, trug der Autor Bedenken,
weil bei demselben andere Erscheinungen seitens des Zentral-
nervensystems die psychischen überwiegen und letztere sogar
fehlen können; er hielt deshalb den Ausdruck „ncuropathisch"
als umfassender für entsprechender. VV. betonte zugleich, dass
es ihm nicht in den Sinn komme, alle Individuen, welche sich
widerrnatürlicher Unzucht hingeben, für pathologisch zu erklären.
Durch die WestphaTsche Arbeit wurde die Homo-
sexualität dem Gebiete der Psychopathologie einverleibt und
das Interesse der Psychiater und Neurologen fQr dieselbe in
gleich nachhaltiger Weise geweckt. In der Folge wuchsen die
Publikationen über konträre Sexualempfindung ganz ausser-
ordentlich an. In besonders eingehender Weise haben sich
mit derselben von deutschen Autoren von Krafft-Ebing,
V. Sehr enk- Notzing, Moll und in neuerer Zeit Hirsch feld
und I w a n B 1 o c k beschäftigt, von welchen Autoren crstercr, abge-
sehen von Detailarbeiten, auch in seiner Psychopathia sexualis der
Anomalie eine sehr ausfuhrliche Darstellung gewidmet hat.
Durch die Forschungen der genannten und zahlreicher anderer
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284
Die Anoin«li«o des Sextuiltriebes.
Autoren (es seien hier nur von französischen Ärzten Lacas-
sagne» Magnan, Chevalier, Binet und Laurent, von
russischen Tarnowsky erwähnt) ist unsere Kenntnis der Homo-
sexualität bei beiden Geschlechtern nach ihrer klinischen wie
ätiologischen Seite sehr bedeutend gefördert worden; doch
harren namentlich in letzterer Hinsicht noch manche wichtige
Punkte der Aufklärung.
Die Anomalie des sexuellen Fühlens, weiche die Homo-
sexualität darstellt, ist nicht immer in gleicher Weise entwickelt.
Man hat deshalb mehrere Grade oder Abstufungen der Anomalie
bisher unterschieden, die sich jedoch nicht strenge von einander
abgrenzen lassen, da die Erfahrung lehrt, dass von den leichtesten
Andeutungen bis zur fortgeschrittensten Anomalie fliessende
Obergänge sich finden. Wenn ich meiner eigenen Erfahrung
folge, so lassen sich nachstehende 3 Stufen unterscheiden.
I. Ein Zustand psychosexualen Zwtttertums (Hermaphro-
disie). Bei den betreffenden Individuen bestehen neben normalen
Gefühlen für das weibliche Geschlecht homosexuelle Neigungen.
Das Verhältnis der hetero- und homosexuellen Neigungen zu
einander ist ein sehr wechselndes. Man begegnet, wie wir aus
den naclistclitnd mitt^eteilten Beobachtungen ersehen werden,
liehen Fallen, in welchen deutliche hoiiiü.sexuellc Res^uni^'en nur
vuriibers^ehend und ausnahmsweise sich geltt-nd machen, anderen,
in welchen beide Arten sexueller Neigungen net)cneinander in
nicht wesentlich verschiedener Stärke bestehen, und dann einer
weiteren Grui>]»e, in welcher die hüuiosi xuellen Neigungen ent-
schieden das l l)ergewicht ha!)en. Die Fülle letzterer Kategorie
scheinen die Mehrzahl zu bilden.
Beobachtung 78.
Herr X , :\\ Jahre alt, lien gohildeien Standen angelu'irig, ohne er-
weij^Hche erbliche Belastung, verfiel mit 12 oder r3 Jahren auf MasUir-
bation und übte dieselbe btä zu seinem 18. oder 19 Lebensjahre in erheb-
lichem Masse. Der erste masturbatorisehe Akt wurde dadurch angeregt»
dass er sich vorstellte, er bekomme Sehlage auf das Ges.lss. Dabei legte
er sich auf einen Stuhl, sodass ein Druck auf den Hoden ausgeübt wurde,
welcher eine sexuelle Erregung herbeiführte. Später wurde die Mastur-
bation mit der Vorstellung verknüpft, dass er Knaben auf das Gesäss
schlage, jedoch ohne Ihnen Schmerzen zuzufügen. Wie die angefahrte
Ideenverblndung bei der ersten Masturbation enlstand, hierüber weiss
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Die AiMWulieD de$ Sez«*ltriebes.
285
Patient nichts Nftheres zu sagen. Herr X, entbehrte nie, seitdem er er-
wachsen ist, des normalen sexuellen Gcfülils jjef^enüber dem weiblirlKii
Geschlechlr ; Neigung zn paderasti^rhi tu ud< r ?i>nstigem homos» xucllem
Verkehr trat bei iluu nie zu Tage. Kr unterhielt vor Jaliren längere
Zeit ein platonisches Verhältnis mit einem achtbaren Madchen, das er
jeiloch wegen Mangel an Subsistenzmitteln nicht heiraten konnte. Sexu-
ellen Vt ikelir mit Frauen hat er l)i!«her aus mornlisrhcn und hygienischen
Gründen nicht gepflogen. Kr hat sich dp'^halb auch von der Mastuibattnn
noch nicht ganz frei zu machen vermocht, die er jedoch nur sehr selten
Obt Dabei sind die oben erwfthiMen Ideen in letzlerer Zek znrAckgetreten.
Dagegen ist es ihm neuerdings passiert, dass er im Gespräche mit
Knaben, mit welchen er beruflich zu verkehren hatte, plötzlich Erektionen
bck.im, was ihm höchst peinlich war. Patient wünscht lebhaft, sich zu
verheiraten, nachdem er schon seit einiger Zeit sich eine gesicherte
Stellung errungen hat; doch ist er wegen seiner Potenz besorg^ da
nächtliche Erektionen sich bei ihm nicht hAufig zeigen und Pollutionen
ein sehr Seltenes Vorkommnis bilden. Objektiv ist bei dem ^und aus-
sehenden Manne nichts zu konstatieren.
Der Fall ist in mehrfacher Hinsicht von Interesse. Wir
finden hier in den Vorstellungen, mit welchen steh die ^Tastllr-
bation verknüpfte, Rudimente einer homosexuellen und zugleich
sadistischen Neigung. Diese hat sich jedoch im Verlaufe vieler
Jahre nicht weiter ausgebildet und die Entwicklung normaler
heterosexueller Gefühle nicht zu verhindern vermocht. Sehr
bemerkenswert ist das gelegentliche Auftreten sexueller Erregung
beim Verkehre mit Knahen nach dem Zurücktreten der homo-
sexuell sadistischen Ideen bei der Masturbation. Es ist sehr
wahrscheinlich, dass eine unterbewusstc Reproduktion der frag-
lichen Assoziationen beim Verkehr mit Knaben die sexuelle
Erregung auslöste.
BeobachtuDif 79.
Der Fall betrifft einen ledigen Privatier E., der im Alter von
53 Jahr«'n wegen M.-lani In iHc in meine Behandlung kam und 1)!S zu
Seinem ii Jahre spater eriuigien i ode in meiner Behandlung blieb.
Ich beschränke mich hier darauf, aus der Lebens- und Leidensgeschichte
des Patienten das uns hier Interessierende mitzuteilen. Herr E. war in
geringem Masse erblich neuropathisch belastet (sein Vater ein sdiruUen*
hafter, jähzorniger Mann, seine Muttf ' i ' r^rvrn'^rhwnrhe Frati, die
schon in junj^f^n Jahren an Phthisis starbj. Die < r^t«- scxm 11c l.ri«-.i:t:iig
wurde bei ihm im Alter von la oder 13 Jahren durch eine körperliche
Zflchtigung seitens seiner Stiefmutter — Schläge auf den Hintern — gjt-
weckt. Die Folge dieses Umstandes war, dass der Anblick des betreffen*
den Teiles bei jungen Leuten ihn ebenfalls sexuell erregte und er sich
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286
Die Anomalien des Sexualtriebes.
der Onanie ergabt Er fröhnte diesem Missbrauche in erheblichem Masse
bis zu Anfang der zwanziger Jahre. Sein Nervensystem wurde hierdurch,
zumal er in der fraglichen Zeit noch anderen Schädlichkeiten (Arbeiten
in der Nähe eines Ofens bei 22—38° R) ausgesetzt war, mehr und metu*
zerrüttet Schon im 93. Lebensjahre bestand bei dem Patienten ein aus*
geprägter neurastln nischer Zustand. Die homosexuellen Regungen er^
hielten sich bei dem Patienten bis in die fünfziger Jahre seines Lebens,
in spiUcrtT Zeit wnrd«- er insbcsoncltr.s durch den Anblick krflfiig
gebauter Männer in knapp anliegender Kleidung, welche die Pusteriora
plastisch hervortreten Ueas (2. B. von Kunstrdtem) sexuell err^ Zn
paderastischen oder sonstigen homosexuellen Verirrungen Hess sich der
Patient jedoch nie verleiten. Seine Angaben in dieser Meziehung sind
durchaus glaubwürdig, da er ein Mann von streng religiöser (iesinnung
und durchaus ehrenhaftem Charakter war. Neben den homosexuellen
Inklinatioaen, deren Abnormitlt Herr E. selbst wohl erkannte, bestand
bei demselben, wenigstens in den jflngeren Jahren^ anch Neigung dir
das andere Geschlecht Er unterhielt Ende der zwanziger Jahre seines
Lebens einige Zeit ein Verhältnis mit einem achtbaren Mädchen, in der
Absicht, dasselbe zu heiraten. Die Realisierung dieses Vorhabens wurde
lediglich dadurdi verl^der^ dass ihm sein Vater die Ifittel zur Erwerbung
eines eigenen Geschäftes verweigerte. Die Trennung von seiner Ge»
liebten, die hierdurch notwendig wurde, fiel ihm sehr schwer. Auf
sexuellen Verkehr mit PVautn hat Patif-nt verzichtet, nachdem es bei
dem ersten Versuche (wohl infolge übermässiger Erregung) zu einem
Fiaüku gekommen war.
Im obigen Falle handelt es sich um einen Patienten mit
geringer Libido, wodurch demselben die Abstiiien/C von homo-
sexuellen I landlunL;en jedenfalls erleichtert wurde. Ein Seiten-
stück zu unserer Beobachtung bildet der von Fürbringer
mitgeteilte Fall eines Schauspielers mit sehr macht iger Lil)ido,
welcher in dem Betasten der Genitaliim eines Mannes die höchste
Befriedigung seines impulsiven Dranges fand, dabei aber trotz
reiferen Alters und onanistischer Exzesse halberwachsenen
Mädchen gegenüber noch leidlich potent war.
Beobachtung 80.
Herr X., 23 Jahre ak, Student, ist erbhch belastet (die Mutter
hysterisd), zwei Schwestern sehr nervös) und wurde im Alter von 13
oder 13 Jahren von einem Mitschfiler aur Onanie verleitet. Im 15. Jahre
bereits marhten ^ii Ii hei ihm ausgesproclirnc kontrSrsexuale Ncipinj^en
geltend. Der bald starke r, bald schwächer sicli n gendi; honios*-xucllc
Drang wurde bis vor etwa einem halben Jahre durch mutuelie und soll-
tflre Masturbation befriedigt Ober die Vorgänge, wodurch es bei ihm
zur Entwicklung der homosexuellen Aberration kam, geben die Mit*
teilungen des Patienten keinen genügenden Aufschluss. Der homosexuelle
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Die Anomalien des Sexaal triebe».
287
Trieb vermochte, obwohl sich di rselbc im Laufe der Jahre stärker ent-
wickelte, bei Herrn X. doch das Interesse für das weibliche Geschh*rht
nicht ganz zu verdrängen. Ein gewisser Mädchentypus tschlankei gra-
ziöse Figur) erregte bei dem Patienten immer entschiedenes Wohlgefiülen.
Zu sezuellmi Verkehr mit weiblidien Pertonen seh er sich jedoch autaer
Stande. Infolge geistiger l Überanstrengung traten bei dem Patienten
wiederholt zerebrasthcnische Heschwerden auf, die jedocl) bei entsprechen-
der Ausspannung sicli alsbuld wieder verloren. Herr X., ein sehr begabter
und gebildeter junger Mann, sah das Krankhafte und sodal Bedenkliche
seines sexuellen Verhaltens völlig ein und hatte sidl dedialb schon vor
einem halben Jahre einer hypnotischen Behandlung unterzogen, die nicht
ohne Erfolg war. Die homosexuellen Neigungen, waren, als Patient in
meine Beobachtung kam, zwar noch nicht völlig Uberwunden, doch war
derselbe bereits im Stande, mit einem Madchen, mit welchem er ein
Verhältnis angeknüpft hatte, sexuell zu verkehren, wobei er völlige Be-
friedigung fand. Ich verlor Herrn X. alsbald aus den Augen, da der-
selbe Familienverhältnisse halber abreisen musste und sah denselben
erst nach mehreren Jahren wieder. Die Besserung hatte inzwischen noch
Fortschritte gemacht^ und die homosexuellen Regungen machten sidi bei
dem Patienten nur mehr ganz vorObergehend, wenn es ihm an Gelegen-
heit zum sexuellen Verkehr mit ihm zusagenden Mftdchen gebrach, geltend,
so z. B. auf Reisen.
2. Ein Zustand exklusiver Homosexualität. Sexuelle Re-
gungen werden ausschliesslich durch Personen männlichen Ge-
schlechtes wachgerufen. Die Gefühle diesen f^egenübcr be-
schränken sich nicht auf das sexuell sinnliche Element; auch
alle Nuancen erotischer Neigungen, von der einfachen Sympathie
bis zur glühendsten Liebesleidenschaft und abgöttischer Ver-
ehrung für Personen des gleichen Geschlechtes kommen nicht
selten vor.
Beobachtung 81.
Herr X., 23 Jahre alt, Kommis, stammt nach seiner Erzählung
von geistig völlig normalen Eltern. Sein Vater starb im Alter von
5a Jahren an LungenentzQndimg, seine Mutter mit 40 Jahren angeblich
an Gehirnentzündung. In seiner ganzen Familie sollen Geistes- und
Nervenkrankheiten nicht vorgekommen sein; doch sind diese Angaben,
da er über die Gesundheitsverhalmisse eines Teiles der Familienmitglieder
nicht naher unterrichtet ist, nicht ganz zuverlAssig. Herr X. bat ausser
Kinderkrankheiten keine erhebliche Krankheit durchgemacht Nach dem
Tode seiner Eltern kam er, 13 Jahre alt, in ein von katholischen Geist-
lichen geleitetes Krzichungsinstitnt, wo er bis zu seinem t8. I.rbensjahre
verblieb. Dort verkehrten die Knaben sehr viel onanistisch untereinander
und er wurde ebenfalls zu dem Laster verleitet. Nach dem Veriassen
des Pensionates trat Patient als Lehrling in ein Geschäft^ in welchem er
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288
Die Anommlien des Sexultriebei.
zwei Jahre lang verblieb, worauf er seiner zweijährigen Mililar|>nii ht
Genüge leistete. Zurzeit hat er in einem hiesigen Geschäfte eine Stelle
als Kornniis. Was den Patienten veranlasst, meinen Rat in Anspruch
zu nehmen, ist sein sexuelles Verhalten. Er ist, wie er selbst angibt,
konträrsexual, und diese Anomalie macht sich bei ihm bereits seit einer
Reihe von Jahren deutlich geltend. Ob dieselbe erst in dem Pensionate
infolge mutueller Onanie entstand, oder ob schon früher Andeutungen
konti'ärsexualer Neigungen bei ihm vorhanden waren, geht aus den Anr
gaben des Patienten nicht mit Sicherheit hervor. £r selbst ist der An*
sieht, dass die im Pensionate allgemein geObtc Onanie an (I< r Kntwtek*
lung seiner perversen Neigungen die Mmiptsrlnild tr.igt. Fdr w ililiclie
Personen hat er keinerlei Interesse, dagegen ausgesprochenes Verlangen
nach Verkehr mit mannliehen Individuen mid zwar speziell mit jungen
Leuten von i6— ao Jahren. Seine Begierde ist jedoch lediglich aur mu>
tuelle Onanie gerichtet; Päderastie wird mit Entschiedenheit in Abrede
gestellt. l'ati< nt sieht die Perversion Seines Scxunitriebe«; vi"\llig ein und
wünscht, von derselben befreit zu werden. Bisher gelang es ihm nur
einmal, mit einer weiblichen Person den K. auszuQbaa. Es war dies
nach einer Karnevalsunterhaltung (Alkoholwirkung ?), und die Betreffende
befand sich in Knabenkleidun^. Patient wurde einige Zeit, und, wie es
schien, nicht ohne Erfolg, hypnotisch behandelt
Beobachtung Sa.
Herr X. aus W. (Engl iml), 27 Jahre alt, wurde mir von einem aus-
wärtig' n Kollegen zur l 'ntersuchung fibrrwiesr>n, weil bei dem Patienten
Verdacht auf labes bestand. Herr X. ist erblich schwer belastet; sein
Vater starb in einer Irrenanstalt, seine noch lebende Mutter ist sehr
nervfls. Eine Schwester desselben war zeitweilig melancholisch. Patient
hat als Kind Masern und Seharlach und im Alter von 16 Jahren eine
Pneumonie durehg'-inacht. Mit y od. r to jalii r^i begann er, verleitet von
einem älteren Spielkameraden, zu masturbieren. Mit 14 oder 15 Jahren
machten sich bereits neben erheblicher Libido deutlich homosexuelle
Neigungen geltend, auf deren Entwicklung der Umstand von Einfluss ge>
Wesen sein mag, dass der Patient auf dem Land«" aufwuchs und wenig
l'mgang mit \v< ihüchen Prrsnncn hatte. Dt n liomosexuellen Dr.ing, der
mit den Jahren immer mächtiger wurde, befriedigte Patient anfänglich
nur durch mutuelle Masturbation, seit einer Reihe von Jahren aber zum
Teil (wahrscheinlich sogar ganz vorwaltend) durch Päderastie, was durch
den L'nisland erlcirlitf rt wird, dass Patient sich sehr viel auf Reisen
bchndct und dab- ; v .1 /n^sweise sich in Grossslüdten aufhält, wo ihm
bei seinen Geldmitteln die mannliche Prostitution jederzeit zur Ver-
fligtmg steht. Daneben flbt aber Patient, um seiner Libido nimia Genüge
zu leisten, auch reichlich Masturbation. Vor vier Jahren wurde Patient
und zwar jedenfalls auf päderastischem Wege infiziert. Dieser Unistand
hat seinen pervcr-^en Inklinationen nicht den geringsten Eintrag getan.
Personen weiblichen Geschlechtes haben Herrn X. nie irgend ein Inter*
esse eingcflosst; mit solchen sexuell zu verkehren, ist ihm ganz unmög*
lieh. Der Gedanke an etwas Derartiges flösst ihm schon Abscheu ein«
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Die AnoiDttteii des Senaltriebes.
289
In dem homosexuellen Verkehre andererseits erblickte er weder etwas
Unmoralisches, noch etwas Krankhaftes. Er weist daher auch den
Gedankm einer Behandlung in dtc^^r Richtung rntfchieden von sich.
Auch die aus dem Verkehre mit mannlichen Prostituierten erwacbst otn
soaalen und strafrechüidien Gefabren lassen Herrn X. völlig gleichgültig.
Alle Vorstellungen, die man ihm in dieser Beziehung macht, sind nutzlos.
Bei dem Patienten, \v( U Iirr, wie es scheint, in intellektueller Hinsicht
gut hrpabt ist. bestt lit otfenbar ein morahscher Defekt. Nervöse Bc«
schwerd( n sind bei Herrn X., und zwar wohl infolge sexueller Über-
anstj'engungen, vorübergehend schon zu Beginn der zwanziger Jahre auf-
getreten (Kopfdruck, Rfickenschroerzen, Schwache in den Beinen etc.).
In den letzten zwei Jahren haben sich solche B< srliwordcti dau* mder
eingestellt und namentlich seit einem Vierteljahre bedeutt nd gesteigert.
Es bestf»hen u, a. ROckenschmerzen und ein ricfühl von Schwache im
Rücken, sehr hartnäckige Parästhesien an den Bemen (Kälte-, iaubiieits-
gefbble etc.), rasches ErmQden und eine gewisse Unsicherheit in den
Beinen beim Gehen, ferner öfters intensive Kopfschmerzen und leichte
Schwindclanfhlle; auf psychischem Gebiete zeitweilig Vl i siimmungs-
zustände und hothgradiprc Reizbarkeit (letztere Erscheinungen schon in
früheren Jahren nicht ganz sehen).
Patient ist ein grosser, schlank, aber krflfUg gebauter Mann, der in
seiner Äusseren Erscheinung den mflnnlichen eng^isehen Typus gut re«
präsentiert; Gesichtszüge von energischem, männlichem Charakter, Bart-
wuchs spärlich. Seitens de« Nrrvcnsy«tems au'^si r Steigerung des Knie*
Phänomens und der Bauch iv flexi • nichts nachweisbar.
In den vorgeschrittenen Stadien zeigt der Urning, namentlich
wenn derselbe die passive Rolle spielt, weibliche Neigungen und
eine mehr minder ausgesprochene Imitation des weiblichen
Wesens. Auch der Charakter kann eine Veränderung ins
Vi^eibische erfahren (Putzsucht, Gefallsucht, Lügenhaftigkeit etc.).
3. Die Veränderung des psychischen Wesens kann noch
weiter gehen, so dass die ganze Richtung des Denkens» Fühlens
und Wotlcns den weiblichen Typus annimmt. Man spricht in
diesen Fällen von Effcminatio
Mit den der 2. und 3. Stufe angehorigen psychosexuaicn
Anomalien kann sich eine mehr oder minder ausgesprochene
V. Krafft-Ebtng nahm noch eine 4. Enlwicklungutttfe der Anoin.i]ie
an. welche d.idurch zu Stande kommt, da>i' nnf rrrnn 1 schwerer crbüchrr Be-
lastung die Wahnidee ge^blechtlicber Verwandlung sich bildet (Mctamorphusis
Kxtutlis panmoica). Da es sich Iiier nm eine Form der FaranoiA bandelt, kGnnen
wir die in Fia^e «tehenden FZÜe nicht mehr als bierberg«bArig betracbten, wo
wir tedi'slkb die Anomalien des Gescblecbtstriebcs behandeln.
t.4iweaf«Id. Sezuell-nen-rise StSrupgen. Vierte AeA. 12
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290
Die Anomalien des Sexualtriebes.
Annäherung der Körperform an den weiblichen Typus (Andro>
gynie) verknöpfen.
Die Körperkonturen sind abgenimfeter als beim normalen
Manne. Hirsch fei d legt besonderes Gewicht auf das Verhältnis
des SchuItergOrtels zum Beckengürtel. Während beim normalen
Manne der Schuttergürtel etwas breiter ist als der Beckengfirtel,
begegnet man beim umischen Manne oft dem umgekehrten
Verhalten, wie es für das Weib normal ist. Dass es sich bei
der Androgynic um eine Anpassung des Körpers an den
psychischen Habitus handelt, erscheint mit Rücksicht auf die
Beteili(,'ung der Skeletteile ausgeschlossen. Die vorliegenden
Beobachtungen weisen entschieden darauf hin, dass die Ab-
weichung der Körperform vom männlichen Typus ebenso durch
erbliche Veranlagung bedingt ist wie die psychische Anomalie,
und beide koordinierte Erscheinungen bilden. Nachstehende
Beobachtung aus meiner Praxis betrifft einen Urning mit sehr
ausgeprägtem androgynem Typus.
Beobachtung 83.
H. B., Bauemsohn aus H. (Oberbayern), 33 Jahre alt, i»t wahr'
scheinlich erblich neuropathisch belastet. Sein Vater starb mit 7a Jahren
an einem Lungenleiden, seine Mutter in den viersiger Jahren (Ursache
unbekannt). Von zehn Geschwistern ist nur eine Stiefschwester am
Leben, neun starben in den ersten Lebensjahren angeblich an Krämpfen.
Patient war schon ab Knabe kränklich und nervenschwach. Wfthrend
der Schulzeit litt Patient zweimal an akutem Gelenkrheumatiamus. Kon-
trftrsexuale Neigungen zeigten sich bei ihm schon von Jugend auf, doch
machen sich dies« Iben erst sr-it acht Jahren stärker geltend. Er hatt»-
vorher Männern gegeauljer kein aiisges])ri>cht'n sexuelles Verlangen emp-
funden; erst vor acht Jahren kam es bei ihm beim Verkeitre mit einem
Manoe» an den er sich wegen eines Ihm sympathischen Ausseren naher
anschloss, zu Erektionen. Er erfuhr damals näheres Über das sexuelle
Vi^rhalt« ri eini-r verstorbenen hochgestellten Persönlichkeit, hierdurch
wurde er auf das Pathologischi- seines ( igcnen Zustandes aiifnn rk'-ani
gemacht und veranlasst, sich über denselben durch Lektüre Auikiaruug
ZU verschaffen. Er las unter anderem MoUs Schrift über konträre
Sexualempfindung. Patient Int sich bis jetzt auf Umarmung und mu-
tuf llc Masturbation beschränkt. Die soh*tär geübte Masturbation ver-
schaffte ihm keine rechte Befriedigung. Wenn er Bier trinkt und sich
dabei unter Männern befindet, ist die sexuelle Erregung sehr gros&.
Wahrend des Sommers macht sich die Belästigung durch homosexuellen
Drang immer am meisten bemerklich. bi Bezug auf das weibliche Ge*
schlecht bemerkt Patient, dass ihm ein gewisser Typus von Frauenzimmern
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Die Anomalien des Sezuattnebe<i.
201
2WMr besser gefüllt als ein anderer, dass er jedoch mit keiner weiblichen
Person ü'""'' hlechtlichen Verkehr üben könnte. Patient hat vollkommene
Ki anklicitseinsicht bezüglich seiner sexuellen Perversion; er verkennt
auch die Getai^ren nicht, welche dieselbe für ihn in gesundheitlicher und
sonstiger Beaehung In «ch schliesst
Die Untersuchung ergibt: Grosses, schlankes und auffallend grazil
gebautes Individuum mit ausgesprochen weiblichen Gesiclitszttgen. Bart
rasiert; Hals lan^^ und schmächtig; leichte Skoliose. Die Brust ziemlich
behaart, dabei jedoch sehr bedeutende Entwicklung der beiden Manunae,
SO dass die vordere Thoraxpartie entschieden weiblidien Habitus zeigt>
Das Fettpolster an den Armen und dem Rumpfe dürftig, die Muskulatur
an den Armen straff, aber nicht sehr voluminös, Hände und Füssc klein.
Penis f3;nt entwickelt, kcinf Phimosis, Hoden etwas klein. Kremaster und
Bauchreilex sehr lebhaft, im Übrigen seitens des Nervensystems nichts Be*
merkenswertes» ebenso auch betreiSs der Organe derBmst-undBaudihdhle.
V. Krafft-Ebing betrachtete die Androgy nie als eine be-
sonders hohe Stufe der Entartung. Indes lehrt wie die im
Vorstehenden angeführte auch eine von dem Autfir selbst mit-
geteilte Beobachtung', dass die Androgynic sich nicht an die
fortgeschrittenste Entwicklung des I i nmi^tums knüpfen muss, da
der Patient, dessen Kiankciiijesrhii-hlt; v. Krafft-Ebing mit-
teilt, in der Lage war, mit weiblichen Personen geschlechtlich
zu verkehren und sogar bereit gewesen wäre, sich zu verheiraten,
wenn ihn nicht die ehelichen Ptiichten, deren Leistung ihm ge-
sundheitlicb nicht zusagte, abgehalten hätten.
Was die Auffassung der Patienten bezüglich der bei ihnen
bestehenden Anomalie des Geschlechtstriebes betrifft, so kann
volle Krankheitseinsicht bei allen Entwicklungsstufen vorhanden
sein. Diese felilt bei den leichteren Formen niemals, aber aucli
dem Effeminierten kann der Widersprudi zwischen der Richtung
seines Sexualtriebes und seiner männlichen KdrperbescfaalTenheit
als etwas Krankhaftes zum Bewusstsein kommen. Bei den tjrpi-
schen Urningen besteht jedodi die Auffassung sehr häufig, dass
ihr gcschtechtUches Fühlen, wenn auch von dem anderer männ-
licher Individuen abweichend, doch in seiner Art dem gewöhn-
liehen (heterosexuellen) gleichbegründet und gleichberechtigt und
deshalb weder unmoralisch noch krankliaft sei^;. Die Urninge
IKete AatdiMiwgai wordeo meist (von Mitte der 6o. Jahre an) von dem
Aitenor Ulrichs Tcrlretett» wddiar, sellMt Urning, unter dem Namen „Nama
Nnmanliits** lahliekbe Schriften fiber das Uroingtom reröiTeiitlkhte. Ulrichs, von
19*
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292
Die Anomalien des SenuütrielMt.
dieser Kategorie wollen nach meiner Erfahrung konsequenter-
weise auch von einer Behandlung ihrer Anomalie nichts wissen,
sie sind mit ihrer perversen Neigung ebenso zufrieden wie der
gesunde Mann mit seiner normalen Libido.
Was die Arten sexueller Befriedigung bei homosexuellen
Männern anbelangt, so ist vor AUetn zu betcmen, dass die Päderastie
(C. per anum), welche man früher als das Gewöhnliche annahm, nach
den derzeitigenErfahrtmgen relativ selten geQbt wird. Bei der grossen
Mehrzahl der aktiven und passiven Päderasten spielt das Urning-
tum keine Rolle. Bei ersteren bandelt es sich zumeist um dne
durch sexuelle Ausschweifungen herbeigeführte Abstumpfung des
Geschmackes für normalen Geschlechtsverkehr, seltener um Be-
friedigung einer abnorm starken Libido bei Mangel eines weib-
lichen Objektes. Die passiven Päderasten andererseits gehören
zumeist der Klasse der männlichen Prostituierten an, der es
lediglich um Gelderwerb zu tun ist. Diese Individuen zählen
zu dem gefährlichsten Gesindel, welches unsere Grossstädte be-
herbergen, und die zahlreichen Erpressungen und Erpressungs-
versuche, welche sie an den sich mit ihnen einlassenden Konträr-
sexualen vci üben, haben mit dazu geführt, dass eine grosse Anzahl
angesehener Manner aus allen Berufskreisen in Deutschland sich
für eine Änderung der in Frage stehenden Strafgesetze aussprach').
Ober die Häufigkdt der Homosexualität «mrden In den
letzten Jahren von Hirsch feld und Römer Untersuchungen
angestellt. Nach einer Berechnung Hirschfetd's, welche sich
auf die Ergebnisse einer bei den Studierenden der Charlotten«
burger Hochschule und 5700 Metallarbeitern angestellten Enquete,
sowie auf die Resultate einer von Dr. von Römer bd Amster-
damer Studierenden vorgenommenen Umfrage und verschiedene
Stichproben^ stützt, sollen auf looooo Einwohner 5400 sexuell
abweichend Veranlagte und unter diesen 1500 rein Homosexuelle
welchem die Beseichnttog Urning hentlirt, ffMg soweit, die stMtUche Anerkennung
der homosexuellen Liebe und die Zulassung von Ehen unter Urningen zu verlangen.
') Nach d^fi von dic^<cr Seite ficrnachtfn VorsrhlSfjon '>r.\\ der homosexuelle Ver-
kehr nur unter gewissen Bedingungen (^Verluhrung Mimicrjahriger etc.) stralTjar sein.
') Die Stichproben betrafen Gruppen von Berafieenoasen, Kauficnten,
Offizieren etc.
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Die AaomaUeii des Seraaltriebes,
298
sich befinden. Dies würde für Deutschland 1200000 sexuell
Abnorme und dnen Prozentsatz von i rein Homosexueller
ei^eben. Das Material, auf welches Hirschfeld seine Berech-
nungen stützte, ist jedoch, wie schon Bunke gezeigt hat,
keineswegs einwandfrei, so dass wir die von ihm angegebenen
Zahlen nur als Beweis dafür erachten können, dass die Homo-
sexualität viel häufiger sidi findet, als man früher gemeinhin annahm.
Die homosexudQe Veranlagung ofTenlurt sich oft schon
im Kindesalter; Knaben zeigen auffallende Vorliebe für weib-
liche Beschäftigungen und Spiele, Mädchen bekunden in ihren
Neigungen und ihrem Benehmen Knabeniuitui j.
Daneben mangelt es nicht an Fällen, in welchen die
Homosexualität sich scheinbar erst im späteren Lebens-
alter geltend macht. Von v. Krafft-Ebing wurde nach-
gewiesen , dass in einem Teile dieser Fälle Anzeichen
konträrer Sexualcmpfindung schon während der Pubertätszeit
und selbst vor dieser bestehen. In einem weiteren Teile der
bierhergehörigen Fälle handelte es sich nach dem Autor um
bisexuell Veranlagte, bei welchen die ursprünglich vorherrschende
heterosexuelle Neigung durch äussere Umstände (Furcht vor An-
steckung etc.) in den Hintergrund gedrängt wurde. Daneben
finden sich Individuen, bei welchen neben im Allgemeinen
heterosexueller Empfindung eine latente homosexuelle besteht,
die nur im Traume und in psychischen Ausnahmszuständen
(Rausch etc.) sich offenbart.
Der Ätiologie der konträren Sexualempfindung wurde in
den beiden letzten Dezennien besondere Aufmerksamkeit zuge-
wendet. Die zahlreichen Erörterungen hierüber in der Literatur
haben jedoch noch zu keiner völligen Klärung der Sachlage
geführt. Wir haben es yogenwUrtig noch mit sehr erheblichen
Meinungsverscliiedenhciten zw tun und zwar stehen sich noch
imme; haujUsächlich zwei Ansichten gegenüber, deren Haupt-
repiäsenlanten früher v. Krafft-Ebing und v. Schrenk-
Notzing waren. Nach der Auttassung des erstgenannten
*) Kadi Hirscbfeld bleibt bei Knaben in der PaberUltszeit oA der
Slimmircdisel aus, blufig tritt er aucb venpttet dn.
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294
Die Aaomalten de» Sexo«ltrteb«s.
Autors ist die Homosexualität nur in einer Minderzahl der
Fälle eine meist auf Grund ncuropathischer Disposition er-
worbene Anomalie des Geschlechtstriebes, überwiegend dagegen
Äusserung einer angeborenen abnormen psychosexuellen Veran-
lagung, aohin ein funktionelles D^enerationszeichen. Für die
angeborene Natur des echten Urningtums soll nach v. Kr äfft >
Ebing eine Reihe von Momenten spredien, insbesonders: Prä-
kozität und abnorme Starke des Geschlechtstriebs, auffällig
frühzeitiges Hervortreten kontrarsexualer Regungen, zumeist
zwischen dem 5. und 15. Lebensjahre und vor Übung der
Masturbation, Vorhandensein anderweitiger funktioneller und
anatomischer Degenerationszddien. Zur Erklärung des kon-
genitalen Charakters des echten Urningtums wurde von v. Krafft-
Ebing die zuerst von Gley (1884) vertretene Annahme einer
bisexuellen Anlage beim Embryo herangezogen. Nach dieser
Theorie sind sowohl der periphere Sexualapparat wie die zuge-
hörigen spinalen und zerebralen Zentren normaliter ursprünglich
bisexuell veranlagt. Bei normaler Entwicklung kommt es jedoch
lediglich zur Ausbildung der einem bestimmten Geschlcchtc
entsprechenden Gcschlecht«;drüsen und der dazu gehörigen Ge-
hirnzentren. HoinDsexuulität entsteht dadurch, dass im Laufe
der iMilvMcklung das Gehirnzenlruni, welches dem durch die
Geschlechtsdrüse repräsentierten Geschlechte gegensätzlich ist,
den Sieg über das korrespondierende, zur Herrschaft prädestinierte
davonträgt.
Den Ansichten v. Krafft-Ebing's gegenüber wurde von
V. Schrenk - Notzing ausj^eführt, dass zweifellos bei der
grossen Mehrzahl Konträrsexualer eine angeborene (hereditäre)
neuro-psychopathischc Belastung besteht, aber nie allein im
Stande ist, die perverse Richtung desSexualtriebes m bestimmen.
Die abnorme Determination des sexuellen Empfindens auf be-
stimmtcObjekte ist nach V. Schrenk-Notzing nie angeboren,
sondern durch zufällige, okkasionelle Momente (Schädlichkeiten)
bedingt, v. Schrenk*Notzing betonte zugleich, dass als
solche Schädlichkeiten nicht lediglich mutuelle Onanie und
solitäre Masturbation mit homosexuellen Vorstellungen hi Be-
tracht kommen, sondern auch das Zusammenfallen gescfalecht*
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Die ADomalien des Sexualtriebes.
295
lieber Erregungen mit gewissen Sinneseindrücken wirksam werdoi
kann. ,,Die aus den körperlichen Sexualvorgängen resultierenden
lustbetonten Organempfindui^n, welche bei belasteten Individuen
abnorm früh auftreten können (schon im $. Lebensjahr), werden
infolge der Unkenntnis der Individuen auf gleichzeitige Stnnes-
eindrücke, also falsch bezogen und in diesem Sinne gedeutet
Die Beziehung zwischen gleichzeitiger Objekt- und Körper-
empfindung fOhrt zu einer inhaltlichen Störung der Urteils-
assoziation, und, wenn in der Wkterstandsunfähigkeit des Nerven-
systems, in der fehlenden Korrektur weitere günstige Vor-
bedingungen geboten sind, so kann sich dieselbe zu einer
bleibenden Zwangsempfindung entwickeln und schliesslich das
ganze Geschlechtsleben beherrschen.*'
Die Auflassung Krafft-Ebing's hat in den letzten Jahren
in Möbius und Forel sehr entschiedene Verfechter gefunden,
während die Annahme v. Schrcnk-Notzing's in Iwan
Bloch einen Verteidiger erhielt. Möbius geht in seinen An-
sichten noch etwas über v. Krafft-Ebing hinaus, indem er
bemerkt „Alle Abweichungen des Geschlechtstriebes sind Formen
der Entartung; es gibt kehien Unterschied zwischen angeborener
und erworbener Abweichung dieser Art. Alle beruhen auf an-
geborener Anlage.** Die Gründe, welche man für das Vor-
kommen erworbener Homosexualität anführt, sind nach Möbius
nicht stichhaltig. Die okkasionellen Momente, welche die Ab-
weichung des Geschlechtstriebes bedingen sollen, äussern nur
dann dne Wirkung, wenn der Mensch eine bestimmte Anlage hier-
für mitbringt. Möbius betrachtet auch die bei den alten Griechen
so verbrettete Knabenliebe als eine Äusserung der Entartung
und glaubt , dass die Athener nach P e r i k 1 e s in Bezug auf
Degenerationserscheinungen den heuiigcn Parisern viel ähnlicher
waren, als man gewöhnlich denkt.
Nach l- orei ist und bleibt das IVningtum wenigstens in
der weitaus überwiegenden Zahl der Italic das Produkt abnormer
sexueller psychopathischer Anlagen. Nahezu alle Urninge sind,
abgesehen von ihrer sexuellen Abnormität, mehr oder minder
*) Möbius: Geäcblccbl und Entarluog 1903 S. 2%.
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Die AnomiHeD des SMndtriebes.
ausgeprägte Psychopathen, deren Geschlechtstrieb in der Regel
gesteigert ist.
Iwan Bloch ist dagegen der Ansicht, dass die verschie-
denen Abweichungen des Sexualtriebs nicht krankhafte Äusse-
rungen einer angeborenen oder ererbten abnormen Anlage,
sondern erworbene Perversionen sind. Die Homosexualität ist nach
Bloch nicht immer ein Zeichen von Krankheit oder Entartung,
sondern meist, wenn nicht immer, im Leben erworben.
Gegen die Annahme v. K r af f t - h' b i n " s von geborenem
Urning soll die Völkerpsychologie zahlreiche Beweise liefern.
Als wichtigste, die homosexuelle Triebrichtung bestimmende
Momente führt Bloch an: Übersättigung, Onanie, Furcht vor
Geschlechtskrankheiten, abnorme Beschaffenheit der Analgegend,
Flagellation, künstliche Verweiblichung dvs Mannes, psychische
Infektion durch das Urningtum selbst, bei Weibern auch Ekel
vor der Geschlechtsgier des Mannes, falsche Eniansipations-
bestrebungen.
Wenn man die beiden im Vorstehenden angeführten Theo-
rien einer näheren Prfifung unterzieht, ergibt sich, dass keine
von beiden eine befriedigende Lösung des vorliegenden Pro-
blems liefert. Bei der ausserordentlich wetten Fassung, die man
heutzutage nach Möbius dem Begriffe der Entartung gibt, kann
man die Frage unerörtert lassen, ob und inwieweit das Urningtum
an sich eine Degenerationserscheinung bildet und sich mit Kon>
statierung der Tatsache begnügen, dass es Urninge gibt, welche
ausser ihrer sexuellen Inversion keinerlei ausgesprodiene Ent-
artungszeichen aufweisen. Eine grössere Schwierigkeit bildet die
Frage, wie man sich die angeborene Veranlagung zum Urning-
tum vorzustellen hat. Der Verwertung der Bisexualitätstheorie,
wie sie V. Krafft-Ebing in dieser Beziehung versuchte, liegt
ein fundamentaler Irrtum zuGiiinLle Der Geschlechtstrieb (die
Libiduj lies Marines, des Weihes und de^ Urnings ist in seini:ni
Wesen nicht verschieden, verschieden ist lediglich bei beiden
Geschlechtern und bei dem Urninge von der Norm abweichend
das Sexualübjekt (Freud), i. e. das Objekt, von dem die Li-
bido aus angeregt und durch welches die Befriedigung der-
selben angestrebt wird. Dass dieses Sexualobjekt aber durch
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Die Anomalien des Sexualtriebes.
297
angeborene zerebrale Vei anlagung schon bestimmt ist, hierfür
liegt keinerlei Anhaltspunkt vor. Die Annahme v. Krafft-
Ebing's einer doppelten Veranlagimf,» der Sexualzcntrcn im
Gehirne, entsprechend der Differen2 der Sexualobjekte, und einer
Verküramerung des dem normalen Sexualobjekte, zugehörigen
Zentrums ist daher rein phantastisch und unhaltbar. Ungleich
beachtenswerter erscheint die schon von Chevalier vertretene
Auffassung, dass ein morphologisch dem männlichen Geschlechte
angefaöriges Individuum in seiner psychischen, i. e. zerebralen
Veranlagung den weiblichen Typus aufweisen kann. Wir wissen,
dass viele Urninge in ihrenni psychischen Verhalten, ihren Nei'
gungen und ihrem Charakter nch sehr dem Wdbe nähern, und
man hat diese Erfahrung in der Behauptung einer anima mulieris
virili corpore indusa zusammengefasst. Man kann sich da-
her sehr wohl vorstellen, dass die weibliche, resp. weibische
psychische Veranlagung unter der Hinwirkung gewisser begün>
stigender okkasioneller Momente (verweiblichende Ersiehung,
Mangel an Gel^enheit zu natürlichem Gesdilechtsverkdir bei
fräh auftretender Libido, VerfQhrung zur Onanie, speziell zur
mutuellen, Furcht vor Ansteckung, Verkehr mit Urningen) zur
Entwicklui^ der Homosexualität führt. Unter den Urningen sind
jedoch auch solche vertreten, die in ihrem geistigen Habitus die
Zöge der Männlichkeit in vollem Masse aufweisen, für wdche
daher die vorstehende Annahme keine Verwendung finden kann.
Gegen die von Schrenk-Notzing, Iwan Bloch u. A. an-
genotnmene atioloj^ische Bedeutung okkasioneller Momente für
die Entstehung der I lomosexualität lassen sich ebenfalls, wie
auch l*'reud in jiinj^'stcr Zeit hervorgehoben hat, wichtige Be-
tlenken geltend machen. I >en okkasionellen Schädlichkeiten,
\\ eiche nach den erwähnten Autoren allein die Ablenkung des
Geschlecht«;triebe-. in die homosexuelle Bahn iH-dingen sollen,
sind zahlreiche Indivi<iuen im Laufe ihres Lebens ausi^esctzt,
deren (ieschlechtstrieb den normalen heterosexuellen t harakier
besitzt. Auch bei hereditär neuropathisch veranlagten Personen
können die fraglichen Schädlichkeiten ohne Einfluss auf die Ge-
staltung des Sexualtriebes bleiben. So habe ich mit manchen
Nervenleidenden zu tun gehabt, bei welchen trotz hereditär neuro-
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Die AnonuUieQ d«s SexiMltriebes.
pathischer Konstitution die Erziehung in Pensionaten und in
der Jugend mutuell geübte Onanie keine Spur von homo-
sexueller Perversion zur Folge hatte, während hinwiederum in
einzelnen anderen FiUlcn Individuen mit homosexuellen Nei-
gungen an deren Verursachung in der Jugend geübter niutueller
Onanie einen wesentlichen Anteil zuschrieben (vergl. Beob. Nr. 81).
Mit dem Probleme der Inversion hat sich in jüngster
Zeit auch Freud beschäftigt^), und er ist dabei zu einer Auf-
fassung gelangt, welche als ein entschiedener Fortschritt den
beiden erwähnten Theorien gegenüber betrachtet werden muss.
Freud betont, dass man sich die Verknüpfung des Sexualtriebes
mit dem Sexualobjefcte gewöhnlich zu innig vorstellt Die Er-
fahrung bei den Invertierten lehrt, dass hier nur eine Verlötung
vorliegt, die man unter normalen Verhältnissen leicht übersieht.
Der Geschlechtstrieb ist wahrscheinlich zunächst unabhängig
von seinem Objekte und verdankt wohl auch nicht den Reizen
desselben seine Entstehung.
Durch das Stuciuini der SexualiLät bei den Neurotikern kam
der Autor zu dem Schhjsse, dass die Anlagen zu den verschie-
denen sexuellen Perversionen keine Scltenlieit, sondern ein Stück
der als normal geltenden Konstitution bilden, dass diese An-
lagen in ihrer Intensität Schwankungen unterliegen und der
Hervorhebung durch Lebenseinflüsse warten. ,,Es handelt sich
um angeborene, in der Konstitution gegebene Wurzeln des
Sexualtriebes, die sich in der einen Reihe von Fällen zu den
wirklichen Trägern der Sexualtätigkeit entwickein (Perverse),
andere Male eine ungenügende Unterdrückung (Verdrängung)
erfahren, so dass sie auf einem Umweg als Krankheitssymptome
einen beträchtlichen Teil der sexuellen Energie an sich ziehen
können, während sie in den günstigen Fällen zwischen beiden
Extremen durch wirksame Einschränkung und sonstige Ver-
arbeitung das sogenannte normale Sexualleben entstehen lassen."
Als Mächte, welche den Sexualtrieb hemmen und seine
Richtung bestimmen, bezeichnet Freud Eckel, Schamgefühl,
die ästhetischen und moralischen Vorstellungsmassen. Hierbei
I) Frevd; 3 Abbandluageo cur Sexiultheorie, Leipsig und Wien 1905.
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Die Anomalien des Sexualtriebes.
299
handelt sich nach Ficud nicht lediglich um ein Werk der
Erziehung; die Kntuicklung ist eine organisch bedingte und
kann sich gelegentlich ohne Mitwirkung der Erziehung vollziehen.
Für die normale Objektwahl sind neben der Anziehung,
welche die entgegengesetzten Geschlechtscharakterc auf einander
ausüben, und der Autorität der Gesellschaft Erinncriint^'i^n aus
der Kindheit (bei Männern an die Zärtlichkeit der Mutter und
anderweitiger Pfle|;. [ er sonen von entschiedenem ICinflusse. Die
Erziehung der Knaben durch männliche Personen fördert die
Entwicklung der Homosexualität.
Für die Entstehung der Perversionen kommt nach Freud
m erster Linie die Verschiedenheit der angeborenen sexuellen
Konstitution in Betracht, die er durch Überwiegen der einen
oder anderen der mannigfachen Quellen der Sexualerregiing ab
bedingt erachtet, doch ist durch die verschiedenen Komponenten
der sexuellen Konstitution die Gestaltung des Sexuallebens noch
nicht einseitig l>estinunt.
Unter den Momenten, welche speziell für die Entwicklung
der Homosexualität von Bedeutung sind, spielt die sexuelle
Frähreife keine unerhebliche Rolle ; diese wird dadurch zu einer
Qudle von Störungen, dass sie Sexualäusserui^oi veranlasst,
die sowohl wegen des Mangels ausreichender Hemmungm als
wegen des unentwickelten Genitalsystems nur den Charakter
von Perversionen annehmen können. Verstärkt wird der Ein-
fluss der sexuellen Frühreife durch die bei Neurotikem und
Perversen nachweisbare erhöhte psychische Haftbarkeit infantiler
Sexualerlebnisse. „Die Letzteren," schliesst der Autor, „(VerfQhrung
durch andere Kinder oder Erwachsene in erster Linie), bringen
das Material bei, welches mit Hilfe der ersteren (der erhöhten
Haftbarkeit) zur dauernden Störung fixiert werden kann. Ein
guter Teil der spater bcoliachteten Abwt ichungen vom nonualca
Sexualleben ist so bei Xrurotikcrn wie bei Perversen durch die
Eindrücke der angeblich .srxualfreien KHidlieU^j)eriode von An-
fang an festgelegt. In die Verursachung teilen sich das Ent-
gegenkommen der Konstitution, die Frühreife, die Eigenschaft
der erhöhten Haftbarkeit und die zufällige Anregung des Sexual-
triebes durch fremden Einfluss/*
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300 Aooroalien des Sexuallhebes.
Wie wir sehen, legt auch Freud okkasionellen Schädlich-
keiten eine gewichtige ätiologische Bedeutung bei. Ihre Wirk-
samkeit ist jedoch von dem V'orliandensein anderer Momente
abhängig, einer gewissen sexuellen Konstitution, deren Wesen
erst noch des Näheren zu erforschen ist, sexueller Frühreife
und der gesteigerten Fixierbarkeit der Erinnerungen infantiler
Sexualerlebnissc. Letzteres Moment, das wohl ebenfalls eine
konstitutionelle Grundlage besitzt, ist es wohl in erster Linie,
was den okkasionellen Schädlichkeiten zu ihrer Wirksamkeit
verhilft. Es muss schliesslich auch erwähnt werden, dass die
Erfolge, welche bisher durch Behandlung, insbesonders hypno-
tische Suggestivtberaple, bei emer erheblichen Ansahl Konträr-
sexualer erzielt wurden, sich nicht mit der Annahme vereinigen
lassen, dass diese Anomalie ausschliesslich durch eine angeborene
krankhafte Veranlagung verursacht sein kann^).
Die durch die Homosexualität bedingte Gestaltung des
Geschlechtslebens ist nicht ohne nachteiligen Einfluss auf das
Nervensystem. Nach v. K ra f f t -E 1) i n g ist bei den geborenen
Urningen fast immer temporär oder dauernd Neurasthenie nacli-
wcisbar. Diese ist nach dein genannten Autor in der Regel
eine konstitutionelle in angeborenen Bedingungen wurzelnde.
„Geweckt und untetlialten wird sie durch Masturbation oder
durch erzwungene Abslmcnz Iki männlichen Individuen kommt
es auf Grund dieser Schädlichkeiten oder schon angeborener
1 )isi)osition zur Ncurasthenia sexualis, die sich wesentlich in
reizbarer Schwäche des Ejakulationszentrums kundgibt."
V. K rafft -Ebing gegenüber hat Eulenburg jedoch
betont, dass die konträre Sexualcmpfindung keineswegs Neur-
asthenie zur unbedingten Voraussetzung und ebensowenig zur
notwendigen Folge zu haben braucht, so häufig auch das Eine
oder das Andere entschieden der Fall ist. Meine Erfahrungen
*) In neuerer Zeit ist zwar von verschiedenen Seiten die thcrnpcutischc Un-
/ngäri^lidikcif der reinen H o m <> s <• x u a I i t ;i l behatiptrt wrn Jcn, doch findet
diese Aulstellung in dcu biäbcri^en h.rluhrun^cn keine ausreichende Stütze. Fuchs
Jahrb. f. sexuelle Zwiscbemtafen. 4. Jalug. 1902) hat vkh sogar dahin aus«
gesprochen* dass fOr die Behandlung Konträrsexualer besondere, «Ug«meta sagliig»
liehe Anstalteo erriditet werden sollen.
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Die Aninnilkii des Sexualtriebes.
m
stimmen mit denen Eu1enburg*s überein. Die Homosexualität
bildet swar nidit immer aber jedenfalls sehr häufig eine Quelle
von Schädlichkeiten für das Nervensystem, deren Wirksamkeit
zumeist durch eine in der angeborenen nervösen Konstitution
begründete geringe Resistenzfähigkeit begünstigt wird. Bei den
m<Malisch auf niederen Niveau stehenden Individuen mit starker
Libido kann es zu Exzessen im homosexuellen Verkehr kommen,
deren schädigender Einfluss auf das Nervensystem nicht hinter
dem des exzessiven normalen Geschlechtsgenusses zurückbleibt.
Die Folgen bcschiankcn sich auch hier nicht ihuik i auf das
sexuell-nervöse Gebiet ; nach meinen Beobachiuii^cii kann es
auch zur Entwickhing allgemeiner Neurasthenie kommen. Kon-
trärsexuale dagegen, welche auf Grund sittlicher oder religiöser
Bedenken oder auch aus Furcht vor den Konsequenzen auf
homosexuellen Verkehr jeder Art verzichten, werden sehr hrnifig,
da ihnen der Verkehr mit Frauenzimmern, soferne derselbe
überhaupt möglich ist, keinerlei Befriedigung gewährt, mitunter
auch ihr Nervensystem ausserordentlich angreift, zu mastur«
batorischer Befriedigung ihrer Libido veranlasst und kommen
dadurch alUnähKch dazu, ihr Nervensystem auf onanistischem
W^e mehr und mehr zu zerrütten. Ebenso wichtig als die
genannten Schädlichkeiten ist aber der Gemütszustand, welchen
das Bewusstsein von der krankhaften Gestaltung ihres Sexual-
triebes und die Ervraigung der Folgen dieses Zustandes bei sehr
vielen Konträrsexualen herbeiführt. In den Autobtographieen
vieler Urninge, die von verschiedenen Autoren veröffentlicht sind,
füllen die Klagen über den inneren Zwiespalt, unter dem sie zu
leiden haben, den Kontrast zwischen ihrem körperlichen Wesen
und den Antuiderungcn des Lebens uiid ihren sinnlichen und
erotischen Neigungen, sowie die Schwierigkeiten und Gefahren,
welche ihnen letztere bereiten, einen breiten Raum.
2. Die konträre Sexualempfindung beim Weibe.
(Viraginität, Maskulinität, Gynandrie.)
Das Vorkommen homosexueller Neigungen hei weiblichen
Individuen war schon im Altertume wohl bekannt, und es ist
auch nicht zu bezweifeln, dass derartige Neigungen insbesonders
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302
Die Aoouuiliea des Scxualtiiebes.
in der Verfallzeit Roms unter den sozial höherstehenden Klassen
der weiblichen Bevölkerung sehr verbreitet waren. Von ärzt-
licher Seite wurde der Inversion des Geschlechtstriebes beim
Weibe bis in die Neuzeit noch weniger Aufmerksamkeit geschenkt,
als der gleichen Anomalie beim männlichen Geschlechte» was
zum Teil sich aus dem Umstände erklärt, doss die Gesetzgebung
zur gerichtlich medizinischen Beurteilung der in Betracht kommen-
den Fälle kerne Veranlassung gab. Wie es gegenwärtig mit der
Verbreitung der sogenannten lesbischeo Liebe steht, ist schwer
zu beurteilen, weil homosexuelle Besiehungen unter Frauen sich viel
leichter der Beachtung entziehen als unter Männern, solche auch
seltener zur Kenntnis der Ärzte gelangen, da die Homosescualität für
das Weib nicht dieselbe Bedeutung hat wie ffir den Mann. Der
Eindruck, den ich bezfiglich dieses Punktes gewonnen habe,
geht dahin, dass die rudimentären und wahrscheinlich auch die
Zwitterformen der Homosexualität beim weiblichen Geschlechte
sich sehr viel häufiger, die ausgebildeten Formen der konträren
Sexualempfindung dagegen seltener finden als beim männlichen
Geschlechte, Als rudimentäre P'ormen der Homosexualität lassen
sich die so häufigen schwärmerischen l-"rcundschaftcn unter Mäd-
chen, welche selten t)is ins reifere Alter sich erhalten, und die eben-
falls recht häufige schwärmerische Verehrung von Lehrerinnen.
Sängerinnen, Schauspielerinnen und anderen fernstehenden weib-
lichen Pers('>nlichkeiten \'in schöner Erscheinung, der man bei
jungen Mädchen begegnet, deuten. Diesen rudimentären, d. h.
über die ersten, leicht verwischbaren Ansätze nicht hinausLjehenden
homosexuellen Neigungen bei Mädchen stehen auf der männ-
lichen Seite ähnliche Vorkommnisse nur in sehr beschränktem
Masse gegenüber Das gänzliche Fehlen der Libido bei von
sexuellen Erregungen unberührten Jungfrauen und die geringe
Entwicklung derselben bei einem erheblichen Prozentsatze der
nicht jungfräulichen weiblichen Personen bilden andererseits
') Nach meinen Erfahrungen <>ind schwänncriscbe i' leuniiscbuften iür ihres-
gleichen bei Knaben und Jünglingen ungleich hcltciicr als bei Mädchen. Der
tehwSnQeriKh«n Verehrang ferasteheader ftUerer Personeia {Ldirer etc.), die man
bei Müdeben so oft antTifft, bin idi bei Knaben Qberbaopt nie beg^net
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Die Aoonuüien des Sexueltriebes*
303
Umstände, welche die Entwicklung ausgeprägter Homos^ualität
erschweren.
Ebenso wie beim Manne sind auch bei der Frau homo-
sexuelle Akte ii^end wdcher Art nicJit notwendig durch eine
Anomalie des psycbosexualen Fühlens, i. e. Erregbarkeit sexueller
Neigungen lediglich durch Personen des gleichen Geschlechtes
bedingt. Es kann sich hierbei lediglich um eine perverse Be-
friedigung, nicht um eine Perversion des Geschlechtstriebes handeln,
und nach den vorliegenden Erfahrungen schemt ersteres sogar
bei einem grossen Teile der Fälle zuzutreffen. Nach Eulen-
bürg 's Schilderung, welche jedoch sich hauptsächlich auf Pariser
Verhältnisse bezieht, rekrutieren sich die Anhängerinnen des
homosexuellen Verkehrs zum grüsstcn Teile aus zwei zwar sozial,
aber nicht ethisch von einander entfernten Kreisen , nämlich
Damen der «.'rossen Welt, reichen Müssij^gängerinncn , welche
durch alle muglichen Genüsse übersättigt und blasiert in dem
homosexuellen Verkehr einen neuen Reiz suchen, und feineren
Prostituierten, welchen durch ihr Gewerbe der Verkehr mit
Männern zum Ekel geworden ist und die homosexuelle Befrie-
digung als etwas Reineres, In schuldigeres erscheint. In nicht
ganz seltenen Fällen mag aber der homosexuelle Verkehr auch
faute de mieux, d. h. eines Mannes oder aus Furcht vor den
Folgen heterosexuellen Umgangs geübt werden.
Halten wir alle diese Umstände zusammen, so können wir
den Sdiluss nicht abweisen, dass eine zweifellose Anomalie des
Geschlechtstriebes wohl nur bei einer nicht sehr erheblichen
Minderzahl der der lesbischen Liebe Huldtgoiden vorliegt. Die
konträre Sexualempfindung äussert sich klinisch beim Weibe in
anal<^er Weise wie bei Manne, zeigt auch vom psydiosexualen
Zwittertume anfangend ähnliche Abstufungen in ihrer Ent-
wicklung. Die Frauen, bei welchen homo- und heterosexuelle
Neigungen nebeneinander bestehen, aber auch diejenigen mit
ausschliesslich homosexuellen Inklinationen müssen in ihrem
übrigen psychischen Verhalten ebenso wie in ihrer äusseren Er-
scheinung nichts von dem weiblichen Typus Abweichendes auf-
weisen. Bei einem Teile der ausges|)rf)chen konträrsexualen
Frauen begegnen wir aber auch wie bei den Männern einer
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304
Sie Anomatieii dca Sexnaltriebes.
Assimilierung der Neigungen und Gewohnheiten an das sexuelle
Fühlen: Vorliebe für männliche Beschäftigungen, Neigung, ^di
als Mann zu verkleiden, männliche Haartracht etc. (Viragimtät).
In den fortgeschrittensten Fällen iSsst die ganze psychische
Persönlichkeit einen ausgeprägt männlichen Charakter konstatieren.
Die spezifischen seelischen Eigentümlichkeiten des Weibes
(grössere Emotivität und Suggestibilität, geringere Entwicklung
der Willensenergie als beim Manne} fehlen gänslich ; im Denken,
Fühlen und Wollen tritt die Art des Mannes zu Tage. Hiermit
kann sich auch eine mehr oder minder weitgehende Annäherung
der Körperform an den männlichen Typus verknüpfen (männ-
liche (lesichtsziige, massiver Knochenbau, geringe Entwicklung
des Fettpolstors und der Mammae, rauhe, tiefe Stimme etc.).
Wir dürfen hier aber nicht unberücksichtigt lassen, dass äusser-
lichc und psychische Gynandrie nicht notwendig mit konträrer
Sexualempfindimg einhergeht. Ein grosser Teil der typischen
Mannweiber zeigt ganz normale sexuelle Neigungen, und ein
weiterer Teil gehört zur Kategorie der Frigiden ohne homo-
sexuelle Perversion — das sogenannte III. Geschlecht — .
Bei den weiblichen Konträrscxualen kommen nicht nur
Lieb^verhältnisse untereinander, sondern auch eheähnliche Ver*
bmdungen vor, wobei die ältere gewöhnlich die Rolle des aktiven
Teiles (des Mannes), die jüngere die des passiven Teiles über-
nimmt. Diese Rollen werden von den homosexuellen Frauen
nicht immer beibehalten, da die ursprünglich Verleitete im Laufe
der Zeit an dem homosexuellen Verkehr so viel Gefallen finden
kann, dass sie bei Gelegenheit aktiv, d. h. Verführerin wird.
Wie bei den männlichen varriert auch bei den weiblichen Homo-
sexuellen die Art der geschlechtlichen Befriedigung sehr. Die
moralisch höherstehenden und wenig sinnlich veranlagten Personen
begnügen sich mit Küssen und L'marmungen; bei sehr reizbaren
Naturen mag ei> hierbei zu Orgasmus kommen i v. Kr a t f t - E hing).
Atich soütäre Onanie ist nicht selten. /weitVllus am häutigsten
wild jedoch die Befriedigung durch mutuelle Masturbation er-
zielt, an welche sich noch verschiedene, die sexuelle Erregung
fordernde Akte knüpfen können. Auf diese Praktiken weist
auch schon die im Altert ume übhche Bezeichnung der An-
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Die Anomaliea des Sexualtriebes.
305
häni^crinncn der lesbischen Liebe als Tribaden (von v(fißuv,
reiben) hin.
Dass der homosexuelle Verkehr auch bei Frauen zu
Schädigungen des Nervensystems führen kann, unterliegt wohl
keinem Zweifel, wenn man erwägt, dass hierbei die Masturbation
eine erhebliche Rolle spielt und die Friktion der Sexualteile
hierbei zum Teil auf instrumentellem Wege , durch Benützung
künstlicher Nachbildungen des Membrum virile geschidit. Zu
berücksichtigen ist auch, dass durch die konträre Sexual-
empfindung, sofeme dieselbe als krankhafte Erschemung erkannt
wird, der Gemütszustand des Weibes ebenso ungünstig beein-
flusst wird, wie der des Mannes. Da homosexuelle Neigungen
bei einer Frau den C. mit einem Manne nicht unmöglidi
machen, ist es begreiflich, dass konträrsexuale und hermaphro'
ditisch angelegte weibliche Personen sich öfters verheiraten.
Die i-iaii kann durch Fortsetzung homosexuellen Verkehrs in
der Ehe sich für den Entgang heterosexueller Genüsse ent-
schuldigen. Nicht selten führt aber die Perversion des Geschlechts-
triebes zu einem Abscheu get^'en den ehelichen Verkehr und
zunehmende Abneigimg gegen die Persönlichkeit des Mannes,
so dass eine Trennung der Ehe notwendig wird. Dass die.se
Verhältnisse für den Nervenzustand der Frau nicht gleichgültig
sind, liegt nahe.
In den letzten Jahren wurde von v. Krafft-Ebing, M&bittS,
Näcke u. A. gegenüber von manchen Autoren (Magnus Hirscli-
f' Ifi. ^Terzbnrh u. A.) die Ansicht vertreten, dass das echte Urning-
tum i>tets aul angeborener Veranlagung beruht, dabei jedoch tiicht ein
EntartutigS2eichen, sondern eine der ncHrmalen Triebrichtung gleich*
wertige Erscheinung darstellt. Nach dieser Auffassung zAUen die Ur*
ningc trotz ihrer abweldienden vita se.xualis ZU den gesunden Individuen,
sie sind nur zur Zeugung nnd Fortpflanzung untaugürh. Damit ver-
knüptt sich mitunter die Ansctiauung, dass die Homosexuellen höher
oder feiner organisierte Naturen sind, d. h. aber dem normalen Durch-
schnittsmenschen stehen, eine Ansicht, der wir schon im Altertum be*
gegnen *). Die bbherigen Erfahrungen gewähren jedoch dieser Annahme
*) So bemerkt M ersbacb: „Der Arst imm weiter andi wissea, dass
Homosexuelle psychisch feiner organisierte Menschen sind als I leterofiezuelle, ja
da"> sir ,-utn T<_il auf li'.heirr ^eivii^'cr "^tufe stelicii". Diese Auflassunj? wird
in V'cihindui)^ mit ili r Annuhinc Ut r koii|;t nitalLn Nalur dsa Urningtums bereits
LSwenteld, Scxuell-nervüM: Stüriutgea. Vierte AuS. 20
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806
Die Anomalien des Sexualtrieb».
keine genügende Stütze. Nach denselben Usst sich nur sagen, dass die
Homosexualität, obwohl dieselbe dem Gebiete der Entartung im allge^
metnsten Sinne angehOrt, sich nicht mit Defekten oder anderen krank«
haften Ersrlicinungen auf intpllcktuollcm und moralischem Cicbiete ver-
knüpfen muss, ja dass sogar manche Homosexuelle zweifellos intelkktuell
und moralisch sehr hochatehen. Dies scheint insbesonders bei den weib-
lichen Homosexudlen öfters der Fall zn sein.
Mit der im vorstehenden Absdinitte bdiandetten Homo-
sexualitSt können sich andere mehr oder minder ausgesprochene
sexuelle Perversionen verknüpfen, die ihrerseits aber auch selb-
ständig wie in Verbindung mit anderen heterosexuellen Ano-
malien des Geschlechtstriebes vorkommen.
So begegnen wir in der Praxis einer langen Reihe psycho-
sexualer Aberrationen, die auf der einen Seite ohne scharfe
Grenze mit den noch physiologischen Eigentfimitchkeiten des
sexuellen Geschmadees zusammenhängen, auf der anderen Seite
aber uns in den Ausartungen des Sadismus, dem Lustmorde und
der Leichenschändung, zu den grauenhaftesten Vorkommnissen im
Bereiche der Nachtseite des menschlichen Seelenlebens führen.
Wir haben hier — wo wir uns wesentlich mit dem Ein-
flüsse des Sexuallebens auf das Nervensystem zu beschäftigen
haben ™ etfreiilicherwei.se keine Veranlassung, auf all die zahl-
reichen Nuancen der in Frage stehenden Perversionen, weiche die
neuere Forschung aufgedeckt hat, einzugehen, und werden uns des-
halb begnügen, im Folgenden tliejeni;^en Anomalien 7\i 1 erühren,
deren Kenntnis für den Arzt von besonderer Wichtigkeit ist.
in Piaton'» Gastmaiil von Arittophsnea mit £iit«chi«de»b«it Tertreteo.
Ari»topli*nes sUUzt seine DediAtiooea anf den MyChns, nadi wcidicm Zeus
die gegenwärtig vorhandenen Menschen dadurch schuf, dass er die uf'-iniinglich
Torh;>i)(kiuii, tltii Cu- schlechtem (Mann, Weib und Mannweib) aii^L-lK'>ri^c-i\ Irnli-
viduen zerschnitt. Jeder Mensch sucht nach der Ariätophani'schen AutTassung
das ihm entsprechende Stfldc. Die Individuen, welche Stüdw eines Mannwabes
sind, haben Neigung Ku das andere Gescbledit, wSbiend die Weiber, welche Ath
schnitte eines Weibes sind, sich um hfSooer nidlt hfimmern, sondern ihrem Ge>
schlechte ztipctan >ind ; ebenso zeigen die Männer, welrbc Schnitte eines Mannes
sind, sieb nur von dem Männlichen angezogeu. Aristo ph an es betrachtet das
Urningtum als einen geistigen Vorzug, L e, eine h^lhere Art von Hlnnlldikeit,
und als Beweis hieittr fflhrt er an, dass die betreffenden Minner fflr die Be>
sorgung der Staatsgeschäfle besonders gecigcn schaffet sind. Vevgl. Piato's
Gastmahl, Übers, von Dr. M. Ober breyer, S. 34.
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Die Annmalien des Scxvialtrichcs.
307
B. Substitutive Formen heterosexueller Perversion.
Geschlechtlicher Ssrmbolismus.
L Fetischismus.
Unter den hier noch in Betracht kommenden sexuellen
Perversionen bildet die von v. Ki a f f t - E b ing im Anschlüsse
an Binet und Lombroso als Fetischismus*) bezeichnete die
relativ harmloseste und den noch der Breite des Physiologischen
angehörenden Vorkommnissen am nächsten stehende Anomalie
der Vita sexualis.
Das Wesen des Fetischismus besteht daiin, dass bei dem-
selben Pars pro tote substituiert wird, d. h. dass die unter
normalen Verhältnissen der ganzen weiblichen Persönlichkeit
zukommende sexuelle Reizwirkung von einem emzelnen, jedoch
nicht zum Geschlechte in Beziehung stehenden Körperteile, oder
sogar nur von einem leblosen, von weiblichen Personen als
Kteidungsstfick oder zu anderem Zwecke benützten Objekte
ausgeübt wird. Der pathologische Körperteilfetischismus lässt
sich, wie V. Kl at ft-Ebing mit Recht hervorhebt, nicht strenge
von gewissen nucii als physiologisch zu erachtenden Eigentüm-
iickeiten des erotischen Geschmackes abtrennen. Wir wissen,
dass bei vielen Männern eine Schwärmerei für einzehie Körper-
teile, sofcrne dieselben eine gewisse Beschaffenheit aufweisen, —
AiH'en, Haar, Nacken, Hände und Küsse insbesonders — besteht
und diese Teile nicht lediglich eine Quelle ästhetischen Wohl-
gefallens bilden, sondern auch an dem von dem weiblichen
Körper ausgeübten sexuellerregenden Gesamteindruck einen
wesentlichen Anteil besitzen. Während aber bei diesem noch
physiologischen Fettschismus, wie gross auch immer die Schwär-
merei für den attraktiven Körperteil sein mag, die Gesamt-
persönlichkeit des Weibes doch ihre Bedeutung nicht verliert.
') V. K rafft -Ebing bezeichnete die Schwärmerei für einzelne Teile des
weiblichen Körpers oder weibliche Kleidungsstücke ab Fetischismus, weil die-
selbe an die den Reliquien vnd andeien KultosgegemtSaden gewidmete leligiSse
Veiehnmg crhmert.
20*
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308
Die Anomalien des Sexualtriebes.
äbernimmt bei dem pathologischen Fetischismus der betreffende
Körperteil ausschliesslich die Rolle des Sexualreizes.
Das Abnorme bei dem Fetiscbisten liegt, wie schon
V. Krafft-Ebing hervorgehoben hat, nicht in dem, was auf
ihn sexuell erregend wirkt, sondern in der Einsdiränknng des
Gebietes der sexuellen Reize. Nidit nur der weibliche Gesamt«
körper, sondern auch diejenigen Teile desselben, welche unter
normalen Verhältnissen in erster Linie sinnlich erregend wirken,
lassen den Fetiscbisten vöDig unberührt. Nur der eine Teil
oder das eine Objekt ist im Stande, sexuellen Drang in ihm
wachzurufen, und dieser Drang kann so bedeutend werden, dass
er das Individuum zu lächerlichen, unanständigen und selbst zu
kriminellen Handlungen fortreisst.
Unter den Körperteilen, welche bei den Fetiscbisten das
sexuelle Interesse in Beschlag nehmen, figurieren in erster Linie
dieselben, die auch physiologisch am häufigsten einen gewissen
Zauber ausüben: Augen, I laar, Nacken, 1 liinde, Füsse. Ähnlich
können aber auch das Ohr, der Mund, das ganze Bein wirken.
Die Nuancierung der Perversion kann aber auch weiter gehen;
häufig muss der attraktive Teil in bestimmter Weise bekleidet
oder von einer besonderen Beschaffenheit (Färbung) sein, um
seinen Einfluss als Fetisch zu äussern. So kommt es bei den
Fussfetischisten vor, dass nur der mit einem Strumpfe von
gewisser Farbe oder mit schmutzigen Schuhen bekleidete oder
aber auch der nackte und schmutzige Fuss einen Reiz auszu-
üben vermag. Nachstehende Beobachtung ForeTs, die sich
bei V. Krafft-Ebing mitgeteilt findet, bildet ein typisches Bei>
spiel der hier in Frage stehenden Perversion.
Fu s sf ett sch ismus bei dauernder Hetero-
sexual i i ä t.
Herr X., 50 Jahre, ledig, den höheren Ständen angehörig, kon-
sultierte den Arzt wegen «nervAser* Beschwerden. Er ist belastetv vor
Kindesbeinen an nervös» sehr empfindlich gegen Kälte und Wärme, seil
Jahren von Zwangsvorstellungen geplagt, die d« n Charakter « incs korri-
gierten und vorübergehenden V'erfolgungswahiiLS habcti. Wenn er z. B.
an einer Wirtstafel sitzt, kommt es ihm vor, als wären aller Augen auf
ihn gerichtet und alle Anwesenden flOsterten und spotteten Ober ihn.
Sobald er aufgestanden is^ ist dieses Gefühl vorbei und glaubt er nicht
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Die Anomali«!! des Sexualtriebes.
309
mehr an seine vermeintlichen WahrnehmunLjen. Kr fühlt sich nirgends
auf die Dauer wohl und zieht deshalb von cmem Orte zum anderen.
Gelegentlich passierte es ihm, dass er in einem Gasthole Zininier bestellt
h«tte und nicht hinkonnte, weil bezQgliche Zwangsvorstellungen ihn daran
hinderten. Die Libido dieses Mannes war nie gross. Er empfand nie
anders als hcternsexual. Seine einzige Befriedigung war angeblich nor-
maler (seltener) Koitus. X. gestand dem Arzte, dass er in seinem Sexual-
leben von Jugend auf sehr eigentümlich sei. Weder durch Frauen noch
durch MAnner werde er geschleditlidi gereizti sondern ausschliesslich
durch das Sdien von nackten Fflssen welblidier Individuen, gleichgOltig
ob es Kinder oder Erwachsene sind. Alle übrigen Körperteile von
Frauen lassen ihn vollständig kalt. Hat er Gelegenheit die nackten
Füsse von Personen, die sich „im Sande** herumtreiben, zu sehen, so
kann er stundenlang stehen, um sie zu betrachtra, und empfindet dabei
den yfllrchterlichen* Trieb» terere genitalis propria ad pedes illarum.
Bis jetzt ist es ihm gelungen, sich nicht zur Befriedigung dieses Dranges
hinreissen zu lassen. Was ihn am meisten ärgert, ist der Sclunutz, mit
welchem gewöhnlich die nackten Füsse der sich Tummelnden bedeckt
sind. Er möchte sie gerne recht schön rein haben. Wie er zu diesem
Fetischismus gelangt sd, wusste er mdtt anzugeben.
Den C bergang zu der Gruppe der Kleidungsstückfetischisten
bilden einerseits die Individuen, bei denen das vom Körper
abgetrennte Haar als Sexualreiz fungiert, andererseits die noch
ungleich widerlicheren Perversen, bei denen die Exkrete des
weiblichen Körpers die gleiche Rolle spielen (Kopronuuiie). Die
Verehrer des vom Körper getrennten Frauenhaares werden
durch ihre Perversion nicht selten verleitet, sich ihres Fetisch's
widerrechtlich zu bemächtigen. Gewöhnlich sind es die Zöpfe
jüngerer weiblicher Personen, die ihrer Gier zum Opfer fallen,
und der Erfolg, mit welchem manche dieser Perversen längere
Zeit hindurch ihren Neigungen fröbnen konnten, bevor es zu
ihrer Bestrafung kam, ist sehr merkwürdig').
Unter den Stücken der weiblichen Toilette, welche Fetisch-
eigenschaften gewinnen krmnen, spielt die Leibwäsche eine her-
V(>rragcnde Rolle (Hemden, Unterkleider, Strüm|)fe), aber auch
die weniger intimen Teile der Toilette, wie Schürzen, Schuhe,
Unterröcke, Nachthauben, Kragen und selbst Gegenstände, die
I) So wurden in d«r B«tiansang eines in PMfis festgenommenen Zopfab*
•chneideis. ftber dessen FaU Voisin, Sooittet, Motet berichteten, 6$ Zfipfe und *
HanrAecbten vorgefnnden.
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310
Die Aaomaiien des Sexiultricbes.
nicht zur eigentlichen Toilette gehören, wie Taschentücher,
figurieren nicht selten als Fetische.
Ich will hier Bruchstücke aus zwei brieflichen Mitteilungeo
über die Lebens- und Leidensgeschichte eines Fetischisten, der
meinen Rat in Anspruch nahm, folgen lassen. Dieselben werden
genügen, die wichtigsten Charaktere der in Frage stehenden
Perversion und deren Einfluss auf die Lebensgestaltung eines
Individnums zu illustrieren. Von einer vollständigen Wiedergabe
der betreffenden Mitteilungen muss ich aus räumlichen Gründen
und mit ivuck:>icht auf den heiklen Inhalt absehen.
,Jch bin im AprO .... geboren, daher jetzt im 35. Lebensjahr
stehend. Der Vater war ein in sittlicher Beziehung durchaus einwand-
freier Mann, einfach und schli' ht in Allem, grachtrt von A!1en, dir ihn
kannten. Kr >tarb im 70. Lebensjahre an einer Lungenerweilerung und
Asthnialeiden, das er sicii ein Jahr vor seinem Tode durch eine In-
fluenzaerkrankung zuzog. Die Mutter steht jetzt im 6a. Jahre, lebe
gesund und rQstig. Von Verwandten des Vaters kann ich angeben:
I. einen Bruder, der in den 30er Jahren starb; 2. einen anderen Rrudt r,
der jetzt noch lebt, verheiratet, hat 7 Kinder, \ on denen einige eben-
falls verheiratet sind; alles normale, gesunde Menschen.
Von mütterlicher Seite zwei Brüder, verheiratet, ebenfalls nur normale
Umstände zu verzeichnen. Ich habe zwei Schwestern, bdde verheiratet,
die eine hat zwei Kinder, die andere gegenwartig kinderlos, em Kind starb
bald nach der Geburt
Die erste Spur einer perversen Neigung merkte ich an mir schon
in meinen Kinder- beziehungsweise Knabenjahren, damals empfand ich
schon eine wollüstige Empfindung, wenn ich an anderen Knaben
Rohrstiefet mit stdfoi Sdiflflen sab, boonders aoldie mk Lackleder.
Ich muss hier vor Allem einschalten, dass der Vater von Beruf
Schuhmacher war, ich also ein grosses Feld für meine Leidenschaft
liatte. Deutlich erinnere ich mich noch, in den ersten Schuljahren Öfter
einem Knaben nachgeschlichen zu sein, der solche Stiefel trug. Diese
Neigung nahm aber bald einen grösseren Umfang an und richtete sich
auch auf Madchen, die weisse Strümpfe und Sehuhe mit Spangen trugen,
wie man dies früher oft sehen konnte. Ais Kundschaft hatten wir unter
Anderen auch einen Professor H., der drei htibsche, reizende Madchen
hatte, die oli bei uns plauderten und bei der Arbeit zusahen.
Damals schon verstand ich es, wenn diese Mädchen da waren, mir
einen geeigneten Platz zu suchen und mit der raflinierten SinnUchkeit
eines Erwachsenen diese Mädchen zu beobachten, wie ihre Fflsse in den
verschiedensten Paraden sich zeigten, wie sie neue Schuhe anprobierten
usw. Auch trieb ich damals schon Onanie. Ich konnte mich im Bette
in eine gewisse wollüstige Stellung bringen, mich meinen Gedanken an
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Die Anomalien dei Sextnltricbet.
311
Schuhe hingeben und ein gewisse^ Tl'rhstgefühl von Wollust haben.
SpStcr einmal las ich etwas über Onanie der Kinder, über Abgang eines
gewissen Samenhauches und erinnerte mich an meine damaligen Hand-
lungen. Wenn su Jener Zeit Schuhe von diesen hObsdien Kindern da
waren, konnte ich sie nidit genug betasten, beriechen und vor Allem
hineingreifen.
So vergingen Jahre. Mein schrecklicher Hang für Schuhe ver-
mehrte sich nur und dehnte sich auch auf Knopfstielel , hübsche hohe
SchnQrstiefel aus. Ich wurde im Gesdimack fonnlich raffinier^ vor Allem
verehrte ich solche Stiefel und Schuhe, die Mfldchen und Frauen ange-
horten, die nur vt&ng oder gar keinen Fussschweiss hatten. Die Schuhe
von solchen verglich ich im Geiste nur mit einem „engelreinen Kelche*.
Es reizten niieh auch vor Allem solche Knopfstiefel, die mit weissem
Flanell gefüttert waren, der Duft eines solchen Stiefels konnte mich
flVrmlich berauschen.
In meinen ersten Schuljahren hatte ich auch öfters ohne allen Grund
eintretf-ndf^ Frektionen; diese Steifheit des Gliedes war aber mit keinem
Wollustgefühl, sondern mit einem Brennern ini Glied, allgemeinem Unbe-
hagen im Unterleibe verknüpft. Auch litt ich zu jener Zeit an Bett-
tOaaai, dies Alles verlor sich aber wieder. Noch mehr aber, als die
Leidenschaft filr Stiefel, machte sich nach und nach eine schrecklichere
und nachhaltigere in mir breit, eine merkwürdige Neigung, unter der
ich jetzt schon über 20 jaiire leide, mid der ich ungezählte schmerzliche
Stunden zu verdanken habe, ich mochte vielleicht 10 — 12 Jahre zählen,
als ich anfing, soldie Knaben und Haddien mit Interesse zu beobaditen,
die steife Kragen trugen. Zu jener Zeit waren gewisse breite Leinen-
chemisetten für Knaben und Mädchen im Gebrauch, und es machte mir
ein Wollustgeföhl, an diesen steifen Kragen zu kratzen. Ich erinnere
mich an einen kleinen Verwandten, damals einem hQbschen Jungen, der
dn solches Ding am Hslse hatte; er sagte zu mir, es ad ihm zu eng
und zeigte mir eine wunde Stelle am Halse, die ihm der Kragen ver»
ursacht hatte, damals empfand ich eine heftige geschlechtliche Erregung.
Seit jener Zeit war ich wie von einem hollisrhcn Zauber umstrickt, die
Gedanken an steife, weisse Kragen gewannen immer mehr Raum, ins-
besondere konnte mich der Anblick eines solchen Kragens an einem
hübschen Madchen ganz rasend machen. Ich bdcam jedesmal heftiges
Herzklopfen und geschlechtliche Erregung ; wenn der Kragen hoch war,
ein ftirniHches Gefühl von Sehwind( l. Dazwischen kamen auch noch
die Neigungen für Schuhe, Kncpfstiefel usw. In meinem 13. jähre hatte
ich schon eine iiiiuuiig von dt in unseligen Drang, der mich erfasst hatte,
obwohl mir der eigentliche Begriff „pervers" noch fremd war, so glaubte
ich bereits, dass mein Zustand ein besonderer sei, ein unheilbarer, wie
ich dies eigentlich auch jetzt noch glaube. Damals schon his ich einzelnes
Ober Sclbsthefleckung usw. Ich sollte nun auch irgend einem Beruf
mich widmen; einige Handwerksmeister verschiedener Professionen
schflderten ihr Gewerbe aber selbst in ungünstigem Lichte, warnten
ftyrmlich vor ihrem Handwerk, und so kam es, dass ich damals das Ge-
schäft des Vaters lernen sollte. Trotz meiner Leidenschaft Ahr Stiefel
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312
Die Anomalien des Sexualtriebes.
verspürte ich hierzu keine rechte Lust, das Sitzen wollte mir nicht be-
hagen, auch hatte ich ein Gefühl, dass ich hier ewigen Anfechtungen
ausgesetzt sei, es wäre besser für mich, etwas anderes zu ergreifen.
Um keinen Preis aber hätte ich mich entdecken mögen. So kam es
also, dass ich zu 1 lause blieb und mich der Schuhmacherei widmete. LJber
ein Jahr verging so, ich wurde geschlechtlich reifer, bei meinen Selbst-
befriedigungen erfolgten bald Samenabgänge, was ich aber nicht weiter
beachtete. Nach einiger Zeit aber verspürte ich die Folgen der Onanie,
besonders wenn ich dieselbe masslos getrieben hatte. Eine sdirecklirhe
Angegriflcnhcit des ganzen Körpers, Kreuzschmerzen, Kopfweh zeigten
sich nun. Diese Anzeichen steigerten sich in den folgenden Jahren, ich
werde daher dieses im besonderen schild»*rn. Immer aber wieder kamen
die schrecklichen wollüstigen Vorstellungen." Es folgt hier die Schilde-
rung der Leidenschaft für eine hübsche Köchin, von der nur erwähnt
werden mag, dass der Patient deren Schuhe kOsste, in die er auch
Wasser goss, um dasselbe auszutrinken.
„So vergingen Jahre, bald mehr bald weniger meinem unseligen
Drange folgend. Ich wechselte meinen Beruf in jener Zeit, denn ich
sah nur zu deutlich, dass ich es auf diesem Felde zu nichts bringen
würde. Das Sitzen war mir eine Qual, auch peinigten mich wieder jene
schon erwähnten Erektionen dazu, so kam es, dass ich in ein Handlungs-
haus eintrat, wo ich harte Tage, lange Arbeitszeit hatte, in späterer Zeit
fand ich wieder andere Stellung. In meinem 20. Jahre endlich g«'Iang
es mir in einem grossen Geschäft, in dem viele Angestellte beiderlei
Geschlechts beschäftigt waren, eine ganz nette Stellung, wenn auch nicht
besonders gut bezahlt, zu erlangen. Zu jener Zeit raffte ich mich oft
auf, um meiner Leidenschaften Herr zu werden, und es gelang mir dies
auch zeitweise ; leider aber kamen immer wieder die Rückfälle. Ich
möchte hier noch benierken, dass ich schon von jeher ein grosser Lese-
freund gewesen bin — nicht von gewöhnlichem Schund. In dieser letzt-
erwähnten Stellung, in der ich vor Allem mich einer grossen freien Zeit
erfreuen konnte, erweiterte ich mein Wissen durch ganz begeistertes
Li-sen populär wissenschaftlicher Werke, die ich mit grosser Aufmerk-
samkeit durchnahm. Ich entsagte dem Laster, um morgens Lust zum
Aufstehen zu haben, und fand bald den schönen Wert und Genuss her-
aus, den wirkliche Bildung gibt. Ich muss hier noch eines Herrn ge-
denken, mit dem ich im Geschäfte bekannt wurde, er war, wie ich bald
herausfand, Urning und stand mit einem anderen jungen Manne in dies-
bezüglichem Briefwechsel. Von diesem jungen Manne nun er[ii«.lt ich
eines Tages auf kurzi- Zeit das bekannte Werk Dr. K r af f t - K b i n g * s
zum Lesen. Dies Buch traf mich wie ein Donnerschlag. Mit Entsetzen,
starkem Herzklopfen und Aufregung ersah ich, dass ich mit meinen
Gefühlen nicht allein war, wie ich immer glaubte — eine fremde Well
voll Schauder, der also auch ich angehören sollte, tat sich vor mir auf.
Auch das Werk Dr. M o 11 ' s kam damals in meine Hände, im 22. Jahre.
Ich möchte hier noch erwähnen, dass ich auch in jener Z«-it mit einem
Bekannten zu « iner Prostituierten ging, der Erfolg war der bekannte.
Uber eine anfängliche Erektion brachte ich es nicht hinaus; ich ging mit
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Die Anomalien des Sexiultriebes.
813
der halben Überzeugung, impotent zu sein, und ähnlich den Personen in
Krafft-Ebing's Werke verspüne ich keine Lust mehr, zu einer Öffent-
lichen Dirne zu gehen.
Ich möchte hier auch noch die Anfechtungen erwähnen, die mir
die weiblichen Angestellten durch Kleidung, Schuhwerk erregten. Zu
jener Zeit war srhon längst in mir der Wunsch rege geworden, auch
« in Mädchen zu hnlien, nach Herzenshist kO??en und alle die perversen
Triebe einmal befriedigen zu können. Das I lOchüte wäre mir gewesen,
einem weiblichen Wesen die Scliuhe auszuziehen, um, w'ie ich mich im
Geiste ausdrflckte, den wannen Lebenshauch spüren zu können. Schreck-
lich Utt ich zu damaliger Zeit an dem Anblick der vielen steifen weissen
Kragen, die die Fi ilulcin, besonders gewisse, oft trugen. Masslose Onanie
war oft die Folge. So verging die Zeit. Ich kam wieder in andere
Stellung, verbesserte mich in Bezug auf Einnahmen usw. Von den
Mitteln, die ich damals crgrifT, meiner schrecklichen Triebe Herr zu
zu werden, mochte ich audi die weiten l^aziergflnge nennen, die ich
damals unternahm, um nur recht mtide zu werden. Die Freude an den
Schönheiten der Natur ist es Itauptsächlich auch heute, die mir mein
Los erträglicher macht.
Es kommt nun eine neue Periodr; es gelang mir, eine erste Be-
kanntschaft anzuknüplen im 25. Jahr ' Das Mädchen meiner Wahl hatte
einfache regelmässige ZQge, ebenmässige Figur und selbstverständlich
ht^bsche Füsse. Ich glaubte damals, für meine gewissen Wünsche nun
endlich Befriedigung gefundr n zu haben, dodt sah ich bald, dass ich
mich eret.luscht hatte. Die Ijctreflendr war von sehr nornialtMU Tem-
perament, harmlos, ziemlich religiös gesinnt, sie glaubte ohne weiteres,
dass einer Bekanntschaft mit einem ihr anständig erscheinenden jungen
Mann sicher eine Heirat folgen wQrde. Noch erinnere Ich mich ihres
verwunderten Blickes, ab ich sie bei nächster Gelegenheit bat, ihr doch
die Knopfstif fei ausziehen zu dürfen. Sie liess mich gewahren, ohne
irgendwie weiter Anteil zu nehmen oder zu fragen. Die lang unbefriedigte
Glut meiner Wflnsche war indes gestillt, ich konnte mich wenigstens
satt kOssen, und ich tat dies auch, buchstäblich gesprochen, ich konnte
das Mfldchen minutenlang kOssen; sie liess mich immer willenlos ge>
wJihren. Ahlehnrnder aber zeigte «ie sir h selmn meinem zweiten haupt-
säciilichen Wunsche, einen steilen weissen Kragen recht hoch zu tragen;
sie machte kein Hehl daraus, dass ihr dies unsinnig vorkomme, doch
gelang meinen Bitten und Drängen auch hier die Erfüllung meines
Triebes. Sie selbst blieb aber kalt, ähnlich den Urningfreunden, die
keinen Sinn Stkr die Gefühle ihrer Verehrer haben." ..*....
Es folgt hier weitere Schilderung des sexuellen, z. T. perversen
Verkehrs zu dem fraglichen Mädchen, auf die nicht n;lher eingegangen
werden kann. P. bemerkt hierbei auch, dass er damals Masturbation
ohne Heibeifhhrung der Ejakulaten trieb und hiervon dieselben nach<
teiligen Folgen, wie von dem vollständig durchgef&hrten masturbatorischen
Akte, wahrnahm. Das Verhältnis zu dem bctit flVnden Madchen wurde
nach mehrmonatltcber Dauer gelöst, und einige Zeit später knQpfte
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314
Die Anomaliot dei Sexualtiiebe«.
Patient eine neue Liaison an. Es heis<?t dann weiter in dem Heriehte.
„Mein Erstes war, ihr meine Komplimente Ober ihre kleinen Küsse zu
inachenf und ich konnte beobaditen, dass sie hierftlr Sinn zeigte. Bei
einem Spaziergang mhrte ich sie ebenfalb an einen geeigneten Platx,
bat sie, ihr die S< Imlit- ausziehen und ihr den Fuss küssen zu dürfen.
Mit reizender Verlegenheit, aber freundlicher üereitwilligkeit ging sie
auf meinen Wunsch ein, mit raschem Blick hatte ich mich von Uirer
Reinheit Oberzeug^ meine Lddenschaft stieg. Ich hatte damals oft das
Gefbhly es sei mir eigentlich mehr um Befriedigung perverser Triebe
als um Befriedigung des normalen Geschleihtstriebes zu tun. Wie
intensiv mich der perti r^e Trieb beherrschte, müchte ich am besten in
einer Detailschildcrung darlegen, bei anderen pervers veranlagten Per*
sonen werden wohl fttmlidie Verhältnisse vorliegen. Wenn Ich x. B.
eine (am besten schwarz gekleidete) Dame sah, die einen hohen, engen,
\vei<;sen Kragen trug, so ginj^ ich ihr oft so lange nach, bis sie mit der
Hand eine Bcwep^ung an dem Kragen machte, oder beim Umsehen oder
Seitwärti>selien eine gewisse KopHialtung machtCi als ob der hohe Kragen
ihr ebe UnbequemlichlEeit verursache in diesem Mommte flkMte
ich immer einen Schlag, einen Druck am Herzen, den ich am Besten
mit einer Blutwelle vergleichen mOclue. Sobald aber di'^e obencrwJ^hnte
Bewegung an Kopf oder Hand des weiblichen Wesens geschah, blieb
immer ein gedankenerzeugender Moment dazwischen, in dem sich der
BegriflT herausschalte; ,,Krflftig wirkt der Zauber, und so bist du ver>
loren!" und gleich darauf fühlte ich prompt den Druck, die Blutwelle in
der Brust. L'iui so ist es aiu h heute noch.
kii kaufte dem Mädchen damals einen hohen Leinenkragen, ein
paar Manschetten und freute mich wahnsinnig, einen genussreichen Abend
zu haben. Sie zeigte auch hierftlr viel Sinn, ich konnte mich nidit satt
sehen jenen Abend an ihr, buchstäblich gesprochen, sie musste mir un*
zählige Male immer wiedi r den Kragen, den .«.i« ^ich auf mein glühendes
Bitten recht eng gerichtet hatte, mit dem Fmger lockern, und als ich
bemerkte, dass an ihrem Hals eine aufgescheuerte Stelle entstand, ver*
Sporte ich die Sinneslust, wie sie ein Sadist vielleicht empfindet So oft
sie die Hand an den Kragen legte, gingen mir die sinnlichen Wellen
durch den K<^rper. .\hnliches kannte ich schildern, als sie rinst nnie
Knopfsticfcl trug; als ich die neuen hübschen Stiefel sah, stand mir schon
wieder der Genuss vor Augen, den mir das Ausziehen geben wOrde.
Das Verhältnis blieb aber nicht immer so ungetrQbt und wurde
ebenfalls nach kurzer Dauer gelost."
Es folgte eine dritte Liaison, die'^mal mit einem Mfldchen, das sieh
als geschwängert und von ihrem Liebhaber verlassen erwies. Es heisst
dann weiter: ^Ich darf hier nicht vergessen, eine neue Liebhaberei zu
erwähnen, die sich bei mir schon seit geraumer Zeit gebildet iiatle:
die Liebhab. i rl für enge Ärmel. Dein Mädchen mm wusste ich hierfür
Interesse emzullössen. Sie war von etwas vmH, i Fignr, und es machte
mir üenuss, ihr unter den Arm zu greifen und den Si hweiss spüren zu
können, wenn sie eine anschliessende Taille getragen hatte. Ich ver-
stand es jetzt vortreßltch, das Madchen mir abzurichten. Grosse Bered-
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Die Anomalien des Sexualtriebes.
315
samkeit, listige Komplimente, immerwährende Schmddidei über ihre
körperlichen Vorzöge wandte ich an, um sie fOr meine perversen Lieb-
habereien empfänglich zu machen, und ich kann sagen, es gelang mir
auch. Im Laufe der Monate entstand ein fdimlicher Briefwechsel in
dieser Hinsicht zwischen uns; ich schrieb ihr die phantasiereichsten
Schildeningen, und sie antwortete entsprechend. Diese Briefe habe ich
verbrannt, um dem Reiz zu entgt-hcn, den sie doch immer gehabt hAtten.
Der Inhalt ist mir aber dot h noch im Gedächtnisse."
Auch die weitere Schilderung des sexuellen Verkehrs mit diesem
Mädchen muss nhcrj^angm werden. „Seit jrner 2< it li ute ich kein Ver-
hältnis mehr, es kamen wieder Rückfalle trotz Bemühungen, dem unsitt-
lichen Sumpf zu entrinnen. Oft habe ich mich liestrebt, dem hflUiscben
Zauber zu entkommen und mir vorgestellt, wie es denn nur möglich
sei, dass ein wris^t r Leinwandstrcifi n von einem gewöhnlichen Gesicht
{getragen, mir dieselbe als anzicliendsti s Wesen erscheinen lasse, während
ohne denselben sie mir absolut gleichgültig wäre lunsonst — —
bei nftchster Gelegenheit (Ülilte ich wieder die Kraft, die reizt und wirkt,
und ich konnte mich ihr nicht erwehren.
Aus der zweiten Mitteilung. . . . „Die verschiedenen Schriften, die
ich Ober diesen Gegenstand las, um über meinen eigenen Zustand klarer
zu werden, braclitcn mir nicht die KiklSrung, die ich eigentlich erwartet
hatte." . . . „Eine Bemerkung, die ich in einem bezüglichen Werke
fand, möchte ich vor allem hier erwähnen und ausnehmen, in der ge-
sagt wird, dass «Ue Mode mit ihrem Weclisel die Perversität fördere.
Mit dieser Bemerkung, in der ich gewissermassen mit Trauer und Be-
friedigung meine eigenen Gedanken wieder fand, ist wohl sicher das
Richtige getrotfen .Ich hatte in meinem Geschäfte einmal ein Ge-
spräch mit einem jungen Mann, der sicii mir gegenüber als Stiefelfetischist
zu erkennen gab. Er sprach sich ganz ungeniert aber ihm als hOchst
rdzvoU erschdnende Änderungen in der Schuhmode aus. Wie ungemein
stark das moderne Damenschuhwerk auf die Sinnesreize wirkt, ist ja
sicher schon beschrieben worden; die ungeheuere Verbreitung und
Wirkung dieses Reizmittels kann aber kaum genug wirkhch geahnt
werden.* . . . »Wie stark das rein Perverse bei mir zum Aus<fruck
kommt, geht daraus hervor, dass sogar eine weibliche Person in vor«
gerQckten Jahren, sofern sie nur eine regelmässige Figur noch zeigt und
vor allem den bewussten Halsschmuck zeigt, mich vollständig aufregen
kann." . . . „Über eine andere Gelühlserscheinung möchte ich noch be-
richten; nämlich, dass eine weibliche Person, die einen Zwicker trägt,
mir auf jeden Fall nur wenig oder kein Interesse einflössen kann, wenn
sie auch die betreffenden Attribute am Leib hat. Sonderbar ist es mir
auch bclion erschienen, dass mich sogar im Traum diese schreckliclicn
Bilder verfolgen, niclit nur einmal, öfters, tmd merkwürdigerweise immer
dieselbe Handlung. Ich muss hier vorausschicken, dann ich alljährlich
mindestens an« oder zweimal eine gewisse Landschaft aufeuche; einen
mir absolut ideal erscheinenden Platz, der mir als eine Zuflucht vor
allen unreinen Dingen erscheint — — von dieser stillen Gegend nun
316
Die Anomalien des SexutUnebes.
bringt mir der '1 räum ein Bild vor die Sf f lc, dass hier i>luizli« fi ein
Gebäude steht, und wenn ich erstaunt unwillig um die Kckt- des Hauses
gehe, so begegnet mir plötzlich eine ältere Frau, die zu Boden siebt,
gefolgt von drei hflbschen Madchen, die «s meiner Bestflracung das zeigen,
dem zu entfliehen ich gekommen war.
Es gibt Zr'acn, wo ich glaube, der ganzen Sache gegenüber ge-
klärter zu ptehen, dann wieder kommen Momente von tiefsinniger ent-
setzlicher Traurigkeit. In formlichen Schrecken und sinnliche Aufregung
Icana mich auch etwas Gedruclctes bringen, das meine Leidenschaft be*
rOhrt Ich möchte nun zu dem tlbergehen, was mir als das Wichtigste
und Bedeutendste erscheint, nämlich zu dem Gcrnlil des doppelten Ich,
da«? mir bei besonderem Auftreten der pervers; ii Gefühle zum Ausdrui k
kommt. Wie schon berichtet, bemühe ich mich ja fortwährend, die per-
versen Gefühle und die damit verbundenen Laster zu unterdrücken, teil*
weise gelingt es, aber immer Icommen die Zeiten der RackOlle; es ist
wie mit einer auf* und absteigenden Periode. Cs gibt Zeiten, wo die
perversen Neigungen starker als sonst nuftrelen, der Körper befindet
sich wie in emeni firbrrhatt « iitzüiidlichcii Zustand, d.is DruckgefOhl,
unter einer Lcidenschait zu stehen, die von Nornmlcn nur nm äusscrstera
Spott bedacht wird, die Meinung, dass audi der beste Arzt hinterher
scldiesslich auch nur ähnlich denkt, wirkt lähmend auf Alles. Und wenn
dann wieder ein b< ;-onder5 reizvoll erscheinendes weibliches Wesen mir
über den Weg kommt, dann tritt der }i<Turchtete Augenblick wieder ein,
wo ich sehe, wie schrecklich tief das übel Wurzel gefasst hat. Manche
Schilderung konnte ich hieraber geben, es kann aber eine für viele gelten.
Ich sah mich einmal zwei Madchen gegenOber» von denen die eine den
bewussten Halsschmuck zeigte, inächtigsetztesolbit die schon l» srliri« h«„ ne
Blutwelle, der S< hing am Herzen ein. Und nun entstand ein sc» lisi lic
Kampf, der Streit zwischen Vernunft und Sinnlichkeit, der, oft gelührt,
mir nur zeigte, dass es vergebens sei, gegen eine Leidenschaft sich zu
stemmen, die Ibrmlich unabhängig von alten Gedanken und alier klaren
Vernunft, wie in einer besonderen Kammer von Herz und Hirn verborgen
liege und, wenn geweckt, als «brnnftchtig allc^ Andere zurückdränge.
Das Mädchen machte die bcwu^.ste Kopfbewegung — — — , wie es nm Ii
durchfieberte; ein förmliches Schwindclgcfühl überkam mich, wie nach
einem starken Laufe musste ich lief atmen, fortwährend sparte ich, wie
heftig in mir das Herz klopfte; und nun war es mir, wie wenn zwei
unabhängig voneinander lauf« nd< Gedankenstreifen sich ablösten: auf
der einen Seite die Vernunft, die mir sagte: „Ruhe, es ist ja nichts — —
das eben ist die Sünde, du aber herreche über sie!" Mit einer wirk-
lich gewissen Gedankenruhe und Beobachtungsgabe konnte ich mich
wundern und nachdenken, beobachten förmlich, dass die Erregung so
heftig einsetze, sobald die Kopn:>cwt^gung von Seiten des Mädchens kam.
Sofort setzte die Welle am Herzen ein, unabhängig vom G^-fOhl der
sich lusreisbendcn befreienden Vernunft, wie festgebannt, überwältigt
mich der Zauber und unterlegen kommt der Gedanke zum Ausdiuck:
„Was soll man da tun, wenn uns so die Versuchung gleich einem Ge»
waj^neten überfällt!*' In diesem Moment ist es mir nicht anders, als
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Die ADomalien des SexuiiltriebeB.
317
wenn der Sitz der Sinnliclikeit nirhr im Herzen alle OucUcn und Reize
hätte wie im Hirn. Ich kann es nicht lebhaft genug schildern, diese
förmliche Trennung aller Gedanken, so wahrhaft vdlkommen kommt
alles zum Ausdruck; die gewissermasaen vollständige Beobachtung des
sinnlich angelegten Teiles meiner Person trägt nur dazu bei, das Gefbhl
von Bestürzung tmd Hilflosigkeit zu vermehren/'
Der vorstehend mitgeteilte Fall ist in mehrfacher Hinsicht
von besonderem Interesse. Er seigt uns das Auftreten ausge-
sprochener sexueller Erregungszustände und fetischistischer Nei-
gungen schon im Kindesalter, die Vervielfältigung, welche letztere
im Laufe der Jahre ci langen können und den hierbei zutage
tretenden Einfluss der Mode sowie die Kombination fetischistischer
mit sadistischen Elementen. Hierher ist der Umstand zu rechnen,
dass die sexuelle T.ust, welche dem Patienten der AnbHck imd
das Betasten steifer Halskiagen bei weiblichen Personen ver-
ursacht, durch die Wahrnehmung der Unannehmlichkeiten, welche
diese Toilettestücke den Trägerinnen bereiten (Aufscheuern des
Halses etc.), gesteigert wird. Über den Entstehungsmodus des
Fetischismus gibt der Bericht des Patienten keine direkte Auf-
klärung , aber es war wohl in dieser Hinsicht nicht ganz ohne
Belang, dass Patient als Sohn eines Schuhmachers Gelegenheit
hatte, viel mit weiblichem Schuhwerk sich zu beschäftigen. Dieser
Umstand durfte in Verbindung mit der Präkozität der sexuellen
Err^imgen zur Entwickeiung des Schuhfetischismus geffihrt
haben.
Den reinen Kleiderfetischisten stehen die Individuen nahe,
welche nur mit Frauen in einer bestimmten Toilette geschlecht-
lich zu verkehren imstande sind und deren Potenz bei Fehlen
dieser BeklcidunL^, wi(- sehr auch die betrefifende weibliche Person
ihrem Gcsclimacke entsprechen mag, völlig versagt.
Sehr bcmcikenswert ist ferner . dass wenigstens bei einem
Teile der Fetischisten die Befriedigung des perversen I ricbcs
nicht durch einen sexuellen Akt (Masturbation oder Kohabita-
tion), sondern durch eine für normale Individuen indifferente
Handlung, Manipulationen an dem Fetischteile oder Gegenstande,
erreicht wird, die dadurch zu einem Äquivalente des Scxual-
aktes sich erhebt.
818
Die Anomalien des Sexualtriebes.
Der Fetischismus ist , wenn auch die Vertreter desselben
in der Regel neuro- oder psychopathisch belastete Individuen
sind, doch immer eine erworbene Anomalie, bei deren Entstehen
das zufailit!;c Zusammentreffen gewisser Sinneseindrücke mit
sexueller Erregung im Spiele ist • Man hat daher den Fetischis-
mus einfach auf eine Zwangsassoziation zurückführen zu können
geglaubt. Diese Annahme lässt jedoch die Einschränkung des
sexuellen Interesses auf ein bestimmtes, bei normalen Individuen
nicht sinnlich wirkendes Objekt unerklärt. Neben der durch einen
Zufall bedingten Verknüpfung von bestimmten Sinneseindrücken
mit Mxuellen Lustgefühlen müssen beim Fetischisten Umstände
wirksam sein, durch welche das dem Geschlechtssinnc dienende
kortikale Gebiet für die normalen Err^pungsquellen (Vorstellungs«
reise) unzugänglich gemacht wird. Hierüber fehlt es noch an
Aufklärung.
Die fetischistische Perversion hat für ihre Träger eine
negative und eine positive Seite. Es ist begreiflich, dass der
Fetischist sich das Vergnügen, das ihm das Manipulieren mit
seinem Fetisch gev^rt, öfters zu verschaffen trachtet und dass
dies nicht immer auf einwandfreiem W^e gelingt. Bei grosser
Stärke des perversen Triebes kommt es daher nicht sdten und
zwar auch bei sonst unbescholtenen Individuen zu kriminellen
Handlungen. Die Haarfetischisten werden, wie wir sdion er«
wähnten, Zopfabschneider und die Kleiderfetischisten setzen sich
oft durch Diebstahl in den Besitz der für sie attraktiven Objekte.
Manche Diebsspeztalitäten, so insbesondcrs die Diebe von Frauen-
schürzen und Taschentüchern, gehören der Kategorie der Feti-
schisten an, und es sind Falle bekannt, in welchen selbst wieder-
holte Bestrafung den perversen Drang nicht zu unterdrücken
vermochte. Die negative Seite des Fetischismus ist dadurch
gegeben, dass derselbe das damit behaftete Individuum unfähig
zu normalem gcschlechtiichcm Verkehr mit weiblichen Personen
^) Freud erwähnt, dass io einem Teile der Fälle von Fetiscbisinus eise
d«ii Betroffenen meist nicht bewusst« symboliMbe CtdaalcenverbiwIniiK den Ernte
de« oomialen Sesaatobjektefl durch den Fetisch herbeigeführt bat; dodi «cheint
u dem Autor diese Symbolik nicht immer unabhängig von sexuellen Erlebninen
der Kinderzeit. Ich glaube, da»» solche Erlebnisse hiebei immer dne Rolle spielein.
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Die Anomalien des SeKoalUiebe».
319
macht oder wenigstens die Befriedigung bei demselben ver-
hindert, sofern der Fetischist nicht imstande ist, mit Hilfe seiner
Phantasie an Stelle des vorhandenoi Weibes den Fetisch als
sexuell erregendes Medium zu setzen.
Man hat dem Gebiete des Fetischismus auch noch manche
oben nicht erwähnte Anomalie im sexuellen Triebleben einver-
leibt. So unterscheidet v. Krafft-Ebing neben dem Körperteil-
und Kleidungsstfickfetischismus noch einen Stoff> und einen
Tierfetiscimmus. Bei den betreffenden Individuen werden durch
das Berühren von gewissen Stoffen, Seide, Samt, Pelz oder
durch das Streidieln von Tieren (Hund, Katse) sexuelle Er-
regungszustände hervorgerufen. Da es sich hierbei, wie auch
V. Krafft-Ebing annimmt, um eine e^enartige Wirkung von
Tasteindrficken handelt, Schemen mir diese Fälle mehr in das
Gebiet der sexuellen Idiosynkrasien als der sexuellen Perver-
sionen zu gehören. Einen den erwähnten nahestehenden Fall
habe ich vor Jahren beobachtet.
Bei einem 22 jährigen Studenten bestand seit mehreren
Jahren die Eigentümlichkeit, dass die Berührung der Kopfhaare
mit kaltem Wasser Erektionen hervorrief, und bei ausgedehnter
oder fortgesetzter Durchnässung der Haare es soj^ar zu Ejakula-
tionen kam. Der junge Mann musste deshalb darauf verzichten,
sich den Kopf mit kaltem Wasser zu waschen, und beim Baden
das Untertauchen vermeiden.
n. Andere substitutive Formen heterosexueller
Perversion. Exhibitionismus.
1-2 Ulenburg hat unter dem Titel „geschlechtlicher oder
erotischer Symbolismus" mit dem Fetischismus eine Reihe anderer
sexueller Perversionen zu einer Gruppe vereinigt, „die das ge-
meinschaftlich hat , dass an Stelle des eigentlichen adäquaten
Sexualreizes, als Aciuivalentc dafür, eigentümliche, scheinbar
paradoxe, aber doch bestimmten sexualen Ideenassoziationen
entspringende oder wenigstens irgendwie damit zusammen-
hängende Reizvorstellungen treten."
Da in den hier in Betracht kommendai Fällen jedoch nur
die normalen und adäquaten Sexuakeize konstant durch abnorme
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Die Anomalien des Sexualtriebes.
Reize ersetzt werden, die Befriediijiin^ dagegen zum Teil durch
sexuelle Akte (Masturbation etc.), und nur zum Teil durch
einen aiiuivalentcn ideellen (s\ nibolischen i Vorgan»,' erreicht wird,
scheint es mir zweckmässiger, von ,, substitutiven Formen" hetero-
sexueller Perversion zu sprechen, nachdem bei denselben durch-
wegs die Beziehung zum weiblichen Gcschlechte gewahrt ist.
Hierher gehören die Frotteurs, die sexuelle Befriedigung dadurch
suchen, dass sie sich an Frauen im Gedränge reiben, ferner die
Pygmalionisten, welche dureh weibliche Statuen oder lebend^e
imiUition derselben (lebende Bilder) sexuell, resp. erotisch erregt
werden und sich entweder durch Masturbation befriedigen oder
sich mit dem Betrachten begnügen, auch die Voyeurs, deren
Begierden sich auf die ZuschauerroUe bei den sexuellen Ver-
gnügungen Anderer (Kohabitation oder Masturbation) beschränken.
Von den widerlicheren Nuancen letzterer Kategorie wollen wir
hier absehen. Auch der sogenannte Exhibitionismus wurde dem
sexuellen Symbolismus zugeteilt. Bei demselben handelt es sich
um die Vornahme unzQchtiger Akte (Entblössung der Genitalien,
Masturbation etc.) durch Männer in Gegenwart fremder weib-
licher Personen, jedoch ohne weitere aggressive Absichten. Die
Kasuistik lehrt jedoch, dass bei den Exhibitionisten ganz ver-
schiedenartige pathok>gische Zustande vorliegen. I^e meisten
der betreffenden Individuen sind sexuell impotente Geistesschwache
(an Dementia senilis, paralytica, Alkoholtsmus etc. Leidende), die
durch eine mächtige Libido zu dem läppischen Gebahren ver-
anlasst werden. In anderen Fällen liegt dem exhibitionistischen
Akte Epilepsie zugrunde (psychisch- epileptisches Äquivalente.
Auch /w.iMi;^- und Däinmer/u^tändc bei Neurasthenischen und
Degenerierten können zu exhil)ition!Rtischen Akten führen, und
wohl nur ganz El iten dm fte, wie in dorn v. Ho che niit^'eteiltcn
Falle, eine ]is\ chopathi^che Grundlage für die exhibitionistischen
Neigungen nicht nachweisbar sein.
C. Algolagnie.
Sadismus und Masochismus.
Unter drn Anomalien des Sexualtriebes haben in neuerer
Zeit die als Sadismus und Masochismus bezeichneten ganz be-
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l)ie Anomatiett des Sexnahriebes.
321
sonderes und weit fiber die medizinischen Kreise hinausgehen-
des Interesse erregt. Beide Anomalien lassen sich auf den-
selben Grundzug, die Verknüpfung von Grausamkeit mit Wol-
lust, genauer gesagt, die Vciknüptung von psychischem oder
physischem Schmerz mit sexuellen Lustgefühlen und sexuellen
Erregungen zurückfuhren. Beim Sadismus handelt es sich um
einem anderen Individuum zugefügten, beim .Ma'-ochismus um
selbst erduldeten Schmerz. Die Bezeichnungen Sadismus und
Masochismus sind von den Namen zweier Schriftsteller, Marquis
de Sade und v. Sacher-Masoch, abgeleitet, welche beide in
doppelter Ikziehui^ zu der nach ihnen benannten Perverston
standen. Beide waren nicht nur in eigener Person hervorragende
Repilteentanten der betreffenden Perversion, sie schilderten und
verlierrltcfaten dieselbe auch in einer Reihe von dichterischen
Werken und lieferten so den Beweis, wie sdir krankhafte Zu-
stände im Bereiche des Sexuallebens auch das Denken und
damit die literarische Tätigkeit geistig hochstehender Männer
beeinflussen können.
Der Ausdruck Sadismus wurde schon frOher von französischen
Autoren, jedoch in schwankendem und weitergehendem Sinne ge-
braucht, so dass darunter sehr verschiedene psychosexuelle
Anomalien zu verstehen waren. Die in der neueren und insi)eson-
ders der deutschen Literatur üblich gewordene Beschränkung der
Bezeichnung auf die sexuelle Perversion, welche durch die Ver-
bindung von zugefügtem Schmerze und Wollust charakterisiert
ist, rührt von v. Krafft-Ebins^ her; hiermit ist der Sadismus zu
einer scharf umgrenzten psychosexuellen Anomalie geworden,
die sich den übrigen Anomalien auf diesem Gebiete, wenn auch
gerade nicht an Häufigkeit, so doch an wissenschaftlichem
Interesse anreiht.
Viele dem Gebiete des Sadismus angehdrige Tatsachen
sind schon lange bekannt und haben auch oft genug die Gerichte
in älterer wie neuerer Zeit beschäftigt.
Die Kenntnis der dem Masochismus angehörigen Erschei-
nungen ist dagegen eine Errungenschaft neuerer Zeit und in
erster Linie v. Krafft -Ebing zu verdanken, welcher Autor
auch die Bezeichnung Masochismus in die Literatur einführte.
L4iir*iif«l4l. Sewell-HcrvSt« St0twi(CB. Vlarte Aullstia. 21
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322
Die ABOBnlkn des SomallridMi.
Das Stadium des früher ganz und gar unbeachtet gebliebenen
Masochismus musste auch die Aufmerksamkeit in erbdMem Masse
auf sein G^enstüdc, den Sadismus, lenken, und infolge dieses
Umstandes haben sich auch unsere Kenntnisse in Betreff dieser
letzteren Perversion beträchtlich erweitert. Einen deutlichen
Beweb hierfür liefern u. A. die geistvolle Abhandlung Eulen-
burg' s (Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens Nr. XIX)
und das Kapitel „Erotik und Schmerx" in dem Havelock-
Ellis 'sehen Werke „Das Geschlechtsgefühl", deutsch von
Kuiclla, 1903.
Nach der ursprünglichen Autiasäung v. Krafft-Ebing's sollten
der Sadismus und Masochismus sich auf den Mann beschränken. Der
Sadismus sollte dadurch charakterisiert sein, dass Grausamkeitsakte an
Weiblichen Personal nicht bloss zum Zweck«? sexueller Stimulation, sondern
auch als Selbstzweck zur Befriedigung eines krankhaften Triebes verübt
werden. Das Wesen des Masochismus sollte darin liegen, dass der
Mann auf Grund sexueller i:.mphndungen und Dränge sich vom Weibe
erniedrigen und misshandehi Iflsst und in der Rolle des Unterworfenen
seine Befriedigung findet, v. K r a f f t - E b i n g ist jedoch das Vorkommen
sadistischer nnd masochistischer Neigungen bei Frauen später nicht ent-
gangen; er hat hierhergehörige Fälle in den neueren Auflagen seiner
Fsychopathia sexualis mitgeteilt und dementsprechend auch seine früheren
Definitionen geflndert.
V. Schrenk*Notzing hat fbr die durch die Verbindimg von
Woltttst und Grausamkeit chsrakterisieiten sexuellen Penrersionen die
gemeinschaftliche Bezeichnung „Algolagnie" (von aXpc und Xcrpioc) und die
Unterscheidung einer aktiven und einer passiven Algolagnie vorge-
schlagen; erstere entspricht dem Sadismus, letztere dem Masochismus.
Eulenburg halt die Bezeichnung y^^agnlnomanie" f&r Sadismus
und „MachiSnomanie" für Masochismus fttr zutrefTeDder.
Die iimere Verwandtschaft, welche beide Perversionen trotz ihrer
scheinbaren Gegensätzlichkeit besitzen, macht es verständlich, dass Sadis-
mus und Masochismus auch nebeneinander bei demselben Individuum
bestehen können. Das Weib z. B., das einem Manne gegenQber sadi"
stisch verfthrt, kami einem anderen gegenQber sich masocbistisch vei^
halten. Bemerkenswert ist ferner, dass die sadistischen Neigungen sich
nicht lediglich Personen des anderen Geschlechtes gegenüber 3ussem;
bei Männern sowohl als bei Frauen kommt es vor, dass sie an Personen
des eigenen Geschlechtes ihre sadistisciie Perversiun betätigen; bei
Frauen sdidnt «lies sogar das Vorwaltende zu sein.
I. Sadismus.
Das Wesentliche dieser Perversion ist dadurch gegeben,
dass bei den mit derselben behafteten Individuen die Wahr-
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Die AaoaMlin d«> Sexoiltitaib««.
828
nehmung oder auch nur die Vorstellung von Akten, durch welche
einem anderen Menschen oder auch einem Tiere körperliche
oder seelische Pein verursacht wird, sexuelle Lustgefühle und
sexuelle Erregung hervorruft. Mit diesem abnormen Verhalten
verknüpft sich sdir häufig, aber glücklicherweise nicht immer
der Drang, durch anderen Individuen zugefügtes Leiden sich
sexuelle Lust zu verschaffen, Meme eigene Erfahrung veranlasst
mich, von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, v. Krafft-Ebtng
beizustimmen, wenn er den Sadismus als eine angeborene, auf
degenerativer Grundlage basierende psychosexiialc Anomalie be-
trachtet. Es ist notwcndiL;, dies hervorzuheben, weil man manchen
von Sadisten veiül)ten Scheiisslichkeiten gegenüber geneigt sein
mag, neben dem Vei hi echerischen und Unnatürlichen das Krank-
liaftc in der Hctat guni^f ihres Sexuaknebes ganz zu übersehen.
In einer Anzahl von Fällen meiner eigenen Beobachtun;^ machten
sich schon bei Kindern und zwar wohlerzogenen und ethisch in
keiner Weise defekten sadistische Erscheinungen bemerklich.
Beotmchtung 84.
Dr. X., Jurist, 26 Jahre alt, stammt aus einer neuropathiflcfaen
Familir. Sein Vater, der an . iiii m Drüsenleiden starb, war nervf^s; seine
nuch lebende Mutter hat niancherlei nervöse Zustande ; auch seine zwei
Geschwister sind nervös.
Der Patient hat als Kind im Alter von 6—8 Jahren Masern und
Pneumonie durchgemacht und war später bis zur Pubertätszeit körper-
lieh gesund, diich zeigten sich bei ihm schon in diesen Jafiren vi rsrhiedcne
psychische Anomalieu: Neigung zu Verstiianiungs- und Angstzuständen,
Furcht vor dem Tode, auch Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen,
insbesonders ein peinlicher zwangsmassiger Ordnungssinn, Beidtten
seiner Mutter gegenober jede Nacht, weil er glaubte, dass ihm sonst
etwas passieren kAnntf, anrh andere Zwangshandlungen, durch welche
verhütet werden sollte, dass ihm etwas Schlimmes with i talire. Patient
glaubt, dass die Zwangsvorstellungen (Zwangshandlungen) nach einem
schrecklichen Traume bei ihm auftraten. Femer machte sidi bei ihm
schon sehr früh eine die Vita sexualis betreffende Anomalie geltend. Er
sah als Knabe einmal zufällig in der Nähe einer Ei«<'nbahnstation junge
Tiere schlachten. Der ihm ganz und gar ungewohnte, an sich peinliche
Anblick rief bei ihm eine gewisse wollüstige gcschlechtlidie Lrr» gung her-
vor. In der Folge stellten sich bei ihm beim Anblick junger Tiere, weiche
geresselt zum Schlachten transportiert wurden, Erektionen ein. Auch
entwickelte sich eine gewisse Zwani^sneii^iini;, solche gefesselte Tiere
aufzusuchen und zu streicheln ; die geschleciitliche Erregung wurde hier-
bei allmählich lebhafter. Zu gleicher Zeit kam es bei ihm aber auch bei
21*
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324
Die AnomaUen des Seneltriebe«.
Vorgangen, die ihn selbst betrafen und ihn mit Angst erfilllten (Angst-
zustandcn* 711 FTv-ktiontn. Patient fasste erster«? Erscheinung zwar als
etwas Abnorme^!, aber nicht als eigentliche Perversion, sondern lediglich
als eine abnorme Äusserung des Mitleids auf. Mit 14 oder 15 Jahren
wurde Patient von einer fieberhaften, mit einem Exanthem verbundenen
Erkrankung befallen; er wurde in der Folge anämisch und von ver*
ScirK'derR-n, früher niclit vorhandenen nervösen Beschwerden belästigt.
Patient überanstrengte sich geistig schon während seiner Gymnasialzeit
zeitweilig, noch mehr aber während der Univcrsiiätsjahre durch Studium.
In seinem st. Lebensjahre Rlhlte er sich daher bereits sehr schwach und
erschöpft (häufige Pollutionen); audl traten damals öfters heftige Magen*
beschwerden (Magenkrampf 1 bei ihm auf, ^ve^^halh ihm eine Kur in
Karlsbad verordnet wurde. Auch während dieser Kur studierte Patient
ileissig, und bei der Rückkehr an sein Domizil bestand Darmatonie und
machten sich noch längere Zeit Vordauungsbeschwerden geltend. Im
folgenden Jahre trank Patient zu Hauae mehreremal 1- 2 Wochen lang
Karlsbader Wasser und ;^war sehr warm. Dies bekam ihm sehr Obel;
er konnte in der Folge kautn gehen, war ganz arbeitsunfähig und wurde
ausserdem von SchwächeanlckUen und verschiedenen nervösen Magen-
beschwerden heimgesucht. Patient gelntnichte wegen dieses Zustandes
zuerst eine Massagekur mit Gymnastik, spiitet eine Art Mastkur, beides
ohne wesentlichen Erfolg. Noch im gl« ielien Jalire besuchte Patient iNorder-
ney; während des Aufenthaltes dortselbst fühlte sich Patient nicht wohler;
im folgenden lierbste trat jedoch eine entschiedene Besserung bei ihm
ein. Auch das sexuelle Verhalten des Patienten in diesen Universütflts»
jähren bot manches Bemerkenswerte. Er verliebte sich zwar wiederholt
in hdbschc Mfldchen, seine Neigung ging jedot h nie über eine gewisse
platonisciie Schwärmerei hinaus; die sexuelle Seite der /\ngelegenheit
machte sieh bei ihm gar nicht fühlbar. Wäln end der Zeit seines schlim-
meren Befindens bestand keineriei Neigung zu geschlechtlichem oder
Qberiiaupt irgendwelchem Verkehre mit weiblichen Personen. Patient
betrachtet dieses Verhalten als einfache physische Folge seines Nerven-
zustandes. Trotz seiner Abneigung wurde dem Patienten von einem
Arzte sexueller Verkehr empfohlen. Ein V ersuch in dieser Richtung
schlug jedoch fehl, da die Erekti<m ausUieb ; dagegen stellte sidi nach
gewissen Traumen nachts enorme sexuelle Erregung ein.
In der Folge machte sich periodisch abnorm heftige Libido geltend;
der Kohabitationsversuch gelang dann auch. Pat. erwfthnt jedoch , dass
hierbei die eigentliche Befriedigung fehlte; tlie Psyche war naeh seiner
Ansicht bei diesem Akte nidit beteiligt; es handelte sich nur um eine
physische Entlastung.
Im 23. Lebensjahre strengte sich Pat. wiederum durch Studium
sehr erheblich an, wodurch sein Befinden sich neuerdings veraddechterte.
Er versuchte es deshalb mit dem Gebrauche von Moorbädern und Ge-
birgsaufcnthalt, und es gelang ihm auch in der Folge, sein Schlussexamen
zu lie^tehen. Sexueller Verkehr wurde während dieser Zeit bald mit,
bald ohne Erfolg vcrsuci)t. Im folgenden Jahre wurde dem Pat. von
Die Anomalien des Sexualtriebes.
32»
einem Arzte an seinem Domizile eine Seereise empfohlen, er unternahm
auch eine solche im mittelllndiachen Meere, akquirierte jedoch wibrend
eines Absteehers, den er nach Kairo unternahm, eine leichte Dysenterie,
deren Behandlung 8 Tage erheischte. Mehrere kleine Seereisen, die er
in der Folge unternahm, wirkten auf sein Befinden entschieden günstig,
desgleichen ein Aufenthalt im Obercngadin. Pat trat bei der Rückkehr
an sein DomizD in die Rechtspraxia. In beireff 6er Potenz änderte sich
damals sdn Zustand nur wenig, dagegen kam es öfters vor, daas er im
Gerichtssaale Erektionen bekam, wenn eine Person verurteilt wurde.
Pat. trat spater wieder in ärztliche Behandlung, ohne jedoch die ge*
wünschten Krfolge zu erzielen.
Als derselbe in meine Beobaclitung kam, betrafen seine Klagen
hauptsächlich: GeflUü andauernder MQdigkeit und Erschöpfung, Arbeits-
unfähigkeit, nervös dyspeptische Beschwerden. In sexueller Hinsicht
erwähnte Pat. seltenes Auftreten von Pollutionen trotz längeren Ver^
siebtes auf sexuellen Verkehr.
Objektiv O.
Ich sali den Pat noch einige Male in Zwischenräumen von einem
Jahre. Sein Nervenxustand war trotz wiederholten längeren HochgebtrgS'
aufenthaltcs und verschiedener anderer Kuren immer unbefriedigend, und
unter den Klagen dfs Ptit. fij^nrierte auch immer Mim^' l an Interesse ftlr
das weibliche Geschlecht, ein Umstand, der ihm den Verkehr io Damen-
krdsen und damit auch die psychische Ablenkung von seinem Zustande
ersdiwerte.
Der hi«r mitgeteilte Fall ist sehr lehrreich, sofeme er die
kongenitale Natur der sadistischen Anomalie in redit deutlicher
Weise zeigt. Wir sehen, dass bei einem wohlerzogenen Knaben,
bei dem keinerlei Hang zur Grausamkeit, überhaupt kein
moralischer Defekt, sondern eher eine moralische Cberciiipfmd-
lichkeit besteht, der Anblick einer Tierschlachiung sexuelle
Erregung hervorruft und später ähnliche Wahrnehmungen (An-
blick gefesselter Tiere) dieselbe Wirkung' äussern. Wir sehen
zugleich, dass der hei dem Knaben sich entpuppende sadistische
Keim keinerlei Wcitcrentwickelung erfährt und zu keiner sadi-
stischen Handlung führt, auf der anderen Seite aber auch nicht
völlig schwindet , da Äusserungen dcssell^en noch in späteren
Jahren nicht mangeln. Bemerkenswert ist ferner der Umstand,
dass auch der Angstaffekt bei dem Pat. zu sexueller Enegung
führte, dass also hier die sadistische Anomalie mit ein^-r anderen
verknüpft war, die man als dem Gebiete des Masochismus an-
gehörig betrachten kann (Verursachung sexueller Erregung durch
selbsterduldete p.sychische Pein). Wir können daher den Fall
326
Die Aoomalien des Sexualtriebes.
als einen Beleg für die innere Verwandtschaft und Zusammen-
gehörigkeit beider Perversionen betrachten.
Ebenso deutlich wie der vorstehende Fall werden uns die
beiden folgenden die kongenitale Natur des sadistischen Grund-
zugs und dessen Unabhängigkeit von jedem moralischen Defekte
dar tun.
Beobachtung 85.
Herr X.. 42 Jahre alt, dem Gelehrtenstande angctiürig, aus Russ*
land, stammt von einem hochgradig neurasthenfechen Vater und einer
gesunden Mutter. Auch ein Bruder des Pat. ist ncurasthenisch. Herr
X. war schon als Kind sehr ncrvtSs und rt izbar und bis zum 15. Leben'?-
jähre mit Knuresi> noct. behaftet. Er hatte das Fnfrlück , seine Mutter
trul) ^u verlieren und eine Stiefmutter zu bekoninien, die ihn ^ehi schhnun
behandelte» was nicht ohne nachteitigen Einfluss fttr seine Nerven blieb.
Von frühester Jugend an machte sich bei Herrn X. eine äusserst lebhafte
Phantasie brmcrklich, so dass er die (u bildc seiner Kit^jiklungskraft deut-
lich vor Au^'cn sieiit. Infolge dieses üiUbtandes konnte er sich als Kind
mit sinnlicher Deutlichkeit vorstellen, dass er von seinen Eltern gestraft
werde oder selbst als Vater, wie dies in den Kinderspielen geschieht,
ein anderes Kind bestrafe. Den Vorgang dachte er sidi in letzterem
Falle als eine auf das entblösste Gesflss applizierte Züchtigung, welche
ein Mädchen, und zwar ein braves Mädchen betraf, so dass es sich also
um eine unverdiente Bestrafung hanclelt( . Mit diesen Phantasievorstel»
lungen verknflpfte sich bei ihm anAinglich schon ein deutliches Ver>
gnOgen, spater mit 9 oder 10 Jahren bereits auch £rektion. Bei der
Bildung dieser Vorstellungen wirktr nffenbar die Erinnerung an manche
unverdiente '/.ücht'igwng, welche Tat. tiuich seine Stiefmutter erlitten hatte,
mit. Die erw abnti n Phantasien, denen sich Pat. bis in die jüngste Zf^it
hingab, erregten, als Pat. älter wurde (während der letzten Gymnasial-
jahre und der Universitfttszeit), sehr starice und andauernde Erektionen
ohne Ejakulation, wodurch bei der häufigen Wiederkehr des Vorganges
seine Nervi n sclir irritiert und erschöpft wurch n. T>< f^ünstigt wurde diese
nachii ihge Wirkung jiocii durch den Umstand, das> Herr X. während
der fraglichen Zeit in sehr ungünstigen äusseren Verhältnissensich befand;
er mttsste wflhrend seiner Universitätsstudien, jnun Teil audi schon froher,
seinen Unterhalt durch Instruktionen gewinnen und wurde infolge dflrf-
tiger Ernährung bei geistiger Überanstrengung allmählich anämisch.
Diese Verhältnisse führten (etwa vom 20. Lebensjahre an) zu Schlafmangel
und Kopi besciiwerden, welche Störungen mehrere Jahre anhielten imd
ihm die geistige Arbeit sehr erschwerten. Nach seinen Univerailäts»
Studien widmete sich Herr X. einem wissenschaftlichen Berufe, in wd*
chcm er infolge seiner hohen intellektuellen Begabung bedeutende Er*
folge erzielte, (»egen Ende der 20er Jahre fand Herr X. Gelegenheit,
mit einem Mädchen aus niederem Stande sexuellen Umgang zu pflegen;
dieses Verhältnis währte jedoch nicht lange, imd Herr X. übte in der
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Die Anomaliea des Sexualtriebes.
327
Folge bis zu seiner Verheiratung, jedoch nur selten, Masturbation, da
ihm, nachdem er den geschlechtlichen V^kehr kennen gelernt hatte, die
Hervomifung von Erektionen durch Pbantasievorslellungen nicht mehr
genOgte.
Vor neun Jahren verheiratete er sich, und seiner Ehe sind zwei bisher
pesnnde Kinder entsprossen. Sein ehelifhi«»^ Leben gestaltete sich jedoch
intüige erheblicher Charakterverschiedenheit der beiden Gatten allmählich
recht ungünstig; die immer wiederkehrenden Dissidien veranlassten ihn,
zu seben vorehelichen Gepflogenheiten zurOckzukehren, d. h. seine sexuelle
Befiiedigung aufmasturfoatorisdiem Wege nach vorhergängiger Inanspruch-
nahme seiner Phantasie zu suchen. Seit ungefähr i'/i Jahren hat er auf den
ehelichen Verkehr gänzlich verzichtet und Oberhaupt von seiner Frau .sich
möglichst fern gehalten. Diese Abstinenz blieb für Herrn X. nicht ohne un-
günstige Folgen ; es hat sich bei iiun alhnAhlnh eine erheblkhe sexuelle
Hyperttsthesie entwidcelt, so dass er bei relativ unbedeutenden Anreizen
von Erektionen geplagt ist, auch ist er der Masturbation ganz und gar
verfallen. Der Anstoss zu dieser geht immer von den erwähnten Phan-
tasievorstellungen aus, die zum Teil von ihm willkürlich produziert
«rerden, zum Teil aber auch unabhängig von seinem Willen bei belie-
biger Besdiftftigung sidi einatdlen und immer andauernde Erektionen
hervorrufen. In den Phantasievorstellungen ist in neuerer Zeit jedoch
insofeme eine Änderung eingetreten, als in densf lhrn nicht m i r ledig-
hch kleine Mädchen, sondern auch erwachsene weibliche Pei -oiKu als
Strafobjekte iigurieren. Da diese Vorstellungen läglicli metuereinai auf
dem einen oder anderen Wege bei dem Fat auftaudien, kommt es bei
ihm ebenso häufig zu masturbatorischen Akten. Dieser sexuelle Miss>
brauch , dem Pat. durch die Kraft seines eigenen Willens ein Ende zu
machen nicht imstande ist, obwohl er von dessen Schädlichkeit vdlfig
überzeugt ist, hat bei Herrn X. schon Suicidideen hervorgerufen.
Die Klagen des Pat. betreten indes noch einige andere Umstände,
mangelhaften Schlaf, zeitweilige Unregelmässigkeit der Herztätigkeit und
Anfidle von Herzschwäche, besonders aber ein gewisses Zwangsdenken.
Pat. hat sich gewöhnt, beim Alleinsein stundenlang über Gegenstände
nach/ud' nk» ri, die ihn an sich wenig interessieren, z, B. politische Tages-
fragen, oder auch endlos in Erinnerungen sich zu verlieren. Dieses
Nadidenken setzt sich oft die Nacht hindurch bis zum Morgen fort, und
er ist nidit imstande, dasselbe abzubrechen, obwolü er deutlich f&hlt,
dass er dadurch aberanstrengt und aufgeregt wird,
Obj^tiv negativer Befund.
Im vorstehenden Falle sehen wir, dass sexuelle Erregungen
und Lustgefühle schon im frühen Knabenalter durch die Vor-
stellung der unverdienten körperlichen Züchtigung, also Miss-
handlung eines weiblichen Wesens hervorgerufen werden. Die
Auslösung von Lustgefiihlen durch die Vorstellung eines Grau-
samkeitaaktes ist auch in diesem Falle unabhängig von einem
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328
Die ADomnlien des Seuallrieb«.
Hange zur Grausamkeit und überhaupt irgend einem moralischen
Defekte. In späterer Zeit ma^ bei dem Patienten neben der
Vorstellung der Misshandlung wohl auch die des entblössten
Körperteiles sinnlich erregend gewirkt haben, ursprünglich handelte
es sich jedoch jedenfalls um eine rein sadistische Erscheinung,
die, was auch in diesem Falle sehr bemerkenswert ist, im Laufe
von Dezennien keine weitere Entwickelung erfuhr und nie zu
sadistischen Akten führte.
Schon in einer früheren Beobachtung haben wir die Hervor-
hebung sexueller Erregung durch die Phantasievorstellung der
Vornahme einer körperlichen Bestrafung gefunden; in diesem
Falle waren die Objekte der Phantasiestrafe Knaben, und die
Verknüpfung der sexuellen Erregung mit der Vorstellung der
Strafe ist auf einen äussere zufälligen Umstand zurückzuführen,
während im vorstehenden Falle ein solcher nicht nachweisbar
ist und daher die Verbindung der ideell verübten Misshandiung
mit Lustgefühlen etc. nur auf angeborene Veranlagung zu be-
ziehen ist.
Noch deutlicher tritt die Bedeutung der kongenitalen An-
lage in fo^endon Falle hervor.
Beobachtung 86.
Der Fall betrifft eine unverheiratete Dame, welche im Alter von
38 Jahren wegen periodischer Deprcssionszuständc und Zwangsvorstel-
lungen in meine Behandlung kam. Aus der aemlidi langen Kranken-
geschichte der Patientin seien nur die uns hier interessierenden Vorkomm-
nisse angeführt. Patientin, eine sehr feinfühlige und in moralischer Hin-
sicht hochstehende rs^nlichkeit, ist erblic h nvuropathisch und zwar von
Seiten ihrer beiden Litern belastet. Da ihr Vater, ein sehr jähzorniger
und nusstrauischer Mann, schon frflh starb, war ae als Kind ganz dem
Einflüsse ihrer Mutter fiberlassen. Diese erzog ihre Tochter, wohl ver-
anlasst durch den Umstand, dass sie in ihrer kurzen Ehe mit ihrem
Manne sehr unglürklich geli In li.ute, in Fm cht und Abscheu vor den
Männern. 1:1s mag wohl mit eine Folge dieses Unistandes gewesen sein,
dass dw Patientin sdion kurze Zeit, nachdem sie in die Schule kam,
eine schwärmerische Verehrung (tar ihre Lehrerinnen zeigte und im Ver-
kehr mit Kindern sich von Knaben g.tnzlich fern hielt. Im Alter von
12 ofler 13 Jahren hörte Frl. X. ziiffilli.: beim Vorübergehen an zwei
Arbeiterfrauen, dass die eine derselben zur anderen sagte: „Das L....
hat mich heute wieder sehr geärgert, ich habe ihr aber daflür auch den
Hintern ordentlich verbauen.'* Diese Bemerkung machte einen tiefen
Eindruck auf die junge Hörerin; dieselbe musste sich das ihr höchst
Die Aoomalien des Sexualtriebes.
829
widrrwilrtigr I^ild des Züchdgungsvorgangrs Ipbhaft vin stf llrii und l'iihlte
dabei in den Genitalien eine sehr intensive Erregung, verbunden mit
einzelnen schmerzhaften Rissen und Zudcungeni die aber mit einer An*
deiitung von WoUustgefilhlen verknQpft waren. Dieser Zustand hielt
etwa ','4 Stunde an und behinderte fast das Gehen, In der Folg(> wieder-
holte sich derselbe Zustand, nicht nur wenn Patientin zuralli<;crwei.-5e
Zeugin einer aui° das Gcsäss vcrabrcicliieti Züchtigung bei Maddien war,
sondern auch, wenn sie durch irgend einen Umstand veranlasst war,
sich eine derartige Szene vorzustellen, oder wenn dieselbe anscheinend
spontan in ihrer Erinnerung auftauchte. Die gleiche Szene liess sie im-
bceinflusst, wenn sie Knaben betraf. Auch spielten in ihrer I'hanta^ie
Ziiciitigungävorgänge an Knaben nie eine Rolle. An dem sexuell er-
regenden Einflüsse der erwfthnten Vorstellung (oder Wahrnehmung) hatte
neben dem Gedanken der Züchtigung das Bild d i tblössten Teiles
jedenfalls nur einen geringen Anteil, tia die Wahrnehmung dieses
Teiles in natura oder auch in Abbildung von weiblichen Personen nur
zuweilen eine Andeutung von sexueller Erregung hervorrief und Ab-
bildungen nackter Mflnnergestalten ttberhaupt keinen Eindruck auf die
Patientin ausübten. Die erwtfwten Vorstellungen und MadchenzQchti>
gungen behielten auch im späteren Lehen der Patientin ihre si xuell er-
regende Wirksamkeit, und dieselbe luaclite sich naTiientlich zur Zeit der
Menses geltend. Daneben traten aber auch gewisse homosexuelle Er-
scheinungen mehr und mehr hervor. Das mflnnliche Geschlecht inter-
essierte sie Oberhaupt in keiner Weise, weshalb sie auch verschiedene
Heiratsanträge zurückwi« s. Die Freundschaft zu euuelnen ihrer weib-
lichen riefiihrtinnen nahm dagegen lange Zeit liindurch einen ausser-
ordentlich schwärmerischen Charakter an, ohne dabei jedoch irgendwie
Aber das rein Platonische hinauszugehen.
Im vorstehenden Falle haben wir eine Kombination von
sadistischen mit homosexuellen Zögen. Während letztere wahr*
scheinUch ein Produkt der Erziehung bilden und sohin erworben
sind, lassen sich erstere nur auf kongenitale Veranlagung zurück-
führen. Bemerkenswert ist auch hier, dass die sadistische Ge-
fühlsanomalie sich nicht mit einem moralischen l)eU kte, sondern
umgekehrt mit moralischer l bcrempfindlichkeit verbindet und
das sadistische ment in keiner Weise eine weitere ICntwicke-
lung im Laule der Zeit erfuhr
Ein hierbergehörigsr Fall wvrde Buch von W. Hammer (Ober einea
Fall von Algplagnie im KindcMlter. Mooalssclirift Ar HamkrankheUcn uod
Minelle Hygiene. i.Jabrg. S. 131) mitgeteilt. Ein Lehrer berichtete dem AtttOff
dass er ah Sjährincr Knabe bereits sexuelle Wollustgefühle halle, wenn andere
Knaben auX das Ge&ibs geschiageo wufden. Die Vot&tellung derartiger Zücb>
tigungsszenen in der Phantasie oder das Anbflren der Schilderang derselben er-
rate bei ihm in den folgenden Jahren die gleidien sexuellen Gelflhle. Ahnlicbe
380
Die AootnalicQ de« Sexaaltriebes.
Der Grundzug der sadistischen Anomalie, die Erregung
sexueller Lustgefühle durch die Wahrnehmung oder Vorstellung
von Leiden anderer Individuen, ist, wie wir gesehen haben, nicht
immer mit einem Triebe, sich sexuelle Lustgefühle durch Grau-
samkeitsakte zu verschaffen, verbunden. Wo die sadistische
Perversion sich in entsprechenden Akten äussert, dürfen wir
daher amiehmen, dass die moralischen Widerstände bei dem
Individuum sehr gering sind oder auch ganz fehlen (moralischer
Irrsinn), oder das Handeln des Individuums durch Antriebe von
Zwangscharakter bestimmt wurde. Die einxelnen sadistischen
Akte sind sehr verschieden, und es ist gegenwärtig noch keines-
wegs aufgeklärt, wodurch diese Verschiedenheiten bedingt sind.
Es handelt sich um eine hinge, traurige Reihe, die mit rehitiv
harmlosen, un Grunde nur läppischen Handlungen, wie z. B.
Kleiderbesudelung, beginnt und mit den scheusslicbsten Ver-
brechen, grausamer Tötung von Menschen (Lustmord) und
Leichenschändung endet. Es liegt in der Natur der Dinge, dass
sadistische Akte von geringerer krimineller Bedeutung häufiger
verübt werden als andcic von grosser Atrozital, einerseits weil
die moralischen und intellektuellen Widerstände gegen Hand-
lungen letzterer Kategorie grösser sind, andererseits auch der-
artige Akte in der Regel sofortige energische gerichtliche Ver-
folgung nach sicii ziehen. Am häufigsten wird wohl der sadistische
Grausanikcitstrieb durch .Misshandlung in Form der Flagellation
betätigt, und unter diesen sadistischen (aktiven) Flagellanten
bilden wieder die Knabengeissler eine besondere Spezies. Es
ist begreiflich, dass die noch heute sehr verbreitete Verwertung
körperlicher Züchtigung als Erziehungsmittel dieser Form sadisti-
scher Betätigung grossen Vorschub leistet, die denn auch vor-
waltend von Lehrern und Erziehern geübt vrird. Welche Schändlich-
keiten dabei mitunterlaufen und welche traurigen Folgen diese für
Leben und Gesundheit der sadistischen Opfer nach sich ziehen
können, hierfür hat der berüchtigte Fall Dieppold erschütternde
Bel^e geliefert. Den Knabengeisslem stehen Mädchenstecher
Wirkung äusserte aber auch der Gedmoke, selbst von einem gewissen Lehrer ge-
schlagen za werden.
Die in Vnfß itebeode Penrcnlon veclor skii la den so«r Jabiea vfiUiBi
DU Ammulien des Sesnaltriebes.
381
gegenüber, deren sexueller Drang auf den Anblick fliessenden
Blutes gerichtet ist, und von diesen ist nur ein Schritt zu den
Lustmordem. Unter den sadistischen Akten figuriert auch das
Stuprum, wobei jedoch weniger die gewaltsame sexuelle Be-
friedigung, als die Entehrung und Misshandlung des Weibes
das eigentische Ziel des Attentaters bildet. Die Beziehung der
sexuellen Vorgänge zu den sadistischen Akten wechselt in den
einzelnen Fällen. Bei der Mehrzahl der Sadisten scheinoi Ge-
walttätigkeits> oder Grausandceitsakte ledtglidi die Rolle dnes
präparatoriscben Vorgangs, eines sexuellen Stimulans, bei tem-
porär oder überhaupt verminderter Potenz zu spielen. Bei
Anderen bilden die sadistischen Akte Begleitvor^änge der Koha-
bitation, die zur Erzielung völliger Befriedigung dienen. Bei
fehlender Potenz kann der sadistische Akt auch die Bedeutung
eines Äquivalentes für den C. gewinnen, d. h. nicht bloss
I'rektion, sondern auch Ejakulation hervorrufen. Endlich kann
der sadistische Antrieb sich auch erst post coitum geltend
machen. Nach v. Krafft-Ebing soll es sich in diesen Fällen
um Nichtbefriedigung einer Libido nimia handeln.
Der sadistische Drang richtet sich beim Manne im Allgemeinen
gegen Frauen, doch kann der Sadist» wie wir schon früher ge-
sehen haben, zur Befriedigung seines Triebes auch männliche
Objekte auf Grund homosexueller Neigungen oder faute de mieux
wählen, selbst an Tieren seine Perversion betätigen.
Ungleich seltener als beim Manne begegnen wir dem
Sadismus beim Weibe, obwohl diesem em gewisser Hang zur
Grausamkeit quasi als ein psychisches Geschlechtsmerkmal
zugeschrieben wird. Eulenburg ist sogar der Ansicht, dass
rein sadistische Züge dem Weibe überhaupt ursprünglich nicht
eigen, sondern nur durch den inasochistischen Mann bei dem-
selben provoziert sind. Der an sich so seltene Sadismus des
Weibes dürfte in der Tat zumeist durch das masochistische
Verhalten des Mannes geweckt und ausgebildet worden sein.
Allein der sadistische Keim kann auch bei dem Weibe auf
Grund angeborener Anlage, wie wir schon gesehen haben,
bestehen. Dies wird auch durch nachstehende Beobachtung
erhärtet.
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332
Die Anomalien des Sexualliicbcs.
Beobachtung 87.
Von einem völlig glaubwürdigen Herrn wurde mir mitgeteilt, dass
ein demselben persönlich wohlbekannter hiesiger Gewerbsmeister sich
nach kaum einjähriger Ehe von seiner noch sehr jungen Gattin scheiden
liessi weil diesell» beim ehelichen Verkehr ihn regelmässig derart durch
Hisse und Zerkratzen, insbesondere der Brust, maltrntierte, dass er auf
die Fortsetzung der ehelichen Beziehungen verzichten musste. Es
handelte sich dabei um einen zwar gutmütigen, aber keineswegs maso-
chistisch angelegten lUIann, wie schon aus dem Umstände hervorgeht,
dass derselbe an der Maltratierung durch seine Frau keineswegs Gefallen
fand ; diese war ihrers« its drr Kohabitation an sich durchaus nicht ab-
geneigt, so dass man ihr Verhallen nicht mit cmcm Abwehrbestreben
in Verbindung bringen kann.
IL Masochismus.
V. Krafft'Ebing, welcher, wie wir schon erwähnten, den
Masochismus wissenschaftlich entdeckt hat, bezeidinete den-
selben als „eine eigentümliche Perversion der Vita sexualis, welche
darin besteht, dass das von derselben ergriffene Individuum in
seinem geschlechtlichen Fühlen und Denken von der Vorstellung
beherrscht wird, dem Willen einer Person des anderen Gesdilechts
vollkommen und unbedingt unterworfen zu sein, von dieser
Person herrisch bcdiandelt, gedemütigt und selbst misshandelt
SU werden." Da diese Vorstellungen mit sexuellen Lustgefühlen
verknüpft sind, sucht der Masochist , wenn auch niclit immer,
so doch häutig dieselben in die I raxis umzusetzen, d. h. von
weiblichen Personen Misshandlung zu erfahren, um sich dadurch
sexuellen Gcnuss zu verschaffen.
Die einzelnen masochistischcn Akte differieren wie die sadisti-
schen; \on einfach läppischen und nur niorah^ch verletzenden
finden sich l bcrgange zu schweren und raffinierten körperlichen
Misshandlungen. Selbstverständlich fehlen auf masochistischem
Gebiete die Endglieder der sadistischen Scheusslichkeiten, schwere
Körperverletzung und Tötung, da derartigen Begierden, sofern
dieselben überhaupt vorkommen, der Selbsterhaltungstrieb ent-
gegenwirkt. Das am häufigsten von den IMasochisten in An-
spruch genommene Mittel ist zweifellos die passive Flagellation,
was sich schon aus dem Umstände erklärt, dass Schläge auf das
Gesäss ähnlich anderen in dieser Gegend applizierten Hautreizen
(z. B. der Faradisation) wenigstens in vielen Fällen auf rein
Die Aoomfttlei» de« Seki»hriebes.
333
spinal - reflektorischem We^e sexuelle Erregung (Erektion) aus-
lösen. Die passive Flageliation iiai denn auch in einzelnen Ländern,
so namentlich in England und Frankreich, zahlreiche Anhänger
gefunden , und in den erstklassigen Bordellen finden sich dort,
wie Eulen bürg mitteilt, Einrichtungen für die Vornahme der
Flageliation , die den Ansprüchen der verwöhntesten I labitui's
genügen. Die Flageliationsliebhaber sind jedoch keineswegs
sämtlich und nicht einmal vorherrschend Masochisten. Häufig
wird die Flageliation von Wüstlingen mit gesunkener Potenz
und noch sehr reger Libido einfach als sexuelles Stimulans in
Anspruch genommen, ohne dass dabei ein masochistischer Ge-
danke von Unterwerfung unter das die Prozedur vornehmende
Weib im Spiele ist. Für den echten Masochisten ist aber dieser
Gedanke die Hauptsache, die Flageliation, der er sich unterzieht,
nur von sekundärer Bedeutung als Ausdruck seiner Unterwerfung
unter die Gewalt des Weibes. Dass aber dabei auch die rein
reflektorisch vermittdte Wirkung der Flageliation zur Geltung
kommt, ist nicht zu bezweifeln.
Wie die Flageliation dienen auch andere .Misshandlungen
dem Masochisten zu präparatorischem Zwecke zu dem im übrigen
normal ausgeführten C. Manche Masochisten sind in der Lage,
auch ohne derartige Stimulation mit weiblichen Personen sexuell
zu verkehren, während bei anderen dies nicht der Fall ist, sohin
eme Art psychischer Impotenz besteht. Bei Individuen mit sehr
herabgesetzter oder fehlender Potenz kann auch die masochi-
stische Prozedur allein als Äquivalent für den C. zum Zwecke
sexueller Befriedigung herangezogen werden.
Wenn wir nach einer Erklärung der beiden im Vorstehenden
besprochenen, in ihrem inneren Wesen trotz scheinbarer G^en-
sätzlichkett verwandten Perversionen suchen, so finden skh für
den Sadismus ungleich leichter Anknüpfungspunkte an Erfahrungs-
tatsachen, die noch dem Bereiche des Physiologischen angehören,
als lür den Masochismus. Der Sadismus, dessen Vertreter doch
weit überwiegend dem männlichen Geschlechte angehören, lässt
sich mit dem aggressiven Charakter des Mannes, gewissen noch
normalen Äusserungen seines Sexualtriebes und der heutzutage
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334
Die Anomalien des Sexualtriebes.
noch sehr verbreiteten Lust am Grausamen in Verbindung
bringen, während der Masodhismus, dessen Repräsentanten eben-
falls zumeist Männer sind» wie v. Krafft-Ebing mit Redit
bemerkte, nur eine Ausartung spezifisch weiblicher psychischer
Eigentümlichkeiten darstellt.
Wenn wir hier zunädist den Sadismus in Betracht ziehen,
so muss in erster Linie daran erinnert werden, dass der Affekt
der Liebe mu einem Dran^^ zu motorischer Entladung (Äusserung)
verknüpft ist, welcher sich gegen das Objekt der zärtlichen Ge-
fühle richtet. Diese motorische Ausseiung kann in ihrer Form
sich schon cinigermasscn der Misshandlung nähern (Totdrücken-,
Totküs.senwollen des geliebten Gegenstandes) und geht im
sexuellen Affekt direkt in solche über, wenn Bisse an Stelle der
Küsse treten, welch' letztere übrigens wahrscheinlich nur eine
S3rmbolisierte Form des Beissens aus Zärtlichkeit bilden. Von
diesen Bissen zu den schweren sadistischen Akten finden sich
fliessende Übergänge. Hierzu kommt der Umstand, dass der
sexuelle Drang, wenigstens beim Manne, den Trieb in sich
schliesst, des reizenden und beehrten Objektes sich voll und
ganz zu bemächtigen und dasselbe sich zu unterwerfen und
dieser Trieb durch Widerstand gesteigert wird. Während wir
dergestalt im Bereiche ddt normalen Vita sexualis Andeutungen
einer Verknüpfung sexueller Erregung und sexueller Lust mit
gewaltsamen, resp. schmerzerregenden Akten finden, begegnen
wir andererseits der Hervorrufung von Lustgefühlen durch Grau-
samkeitsakte, i. e. dem Vergnügen am Grausamen als normaler
Erscheinung auch bei den zivilisierten Nationen der Jetztzeit noch
in sehr ausgedehntem Masse. Bei den Menschen der Vorzeit
war der llanr^^ zur Grausamkeit, dem wir auch in der Tierwelt
überall beyegnen, zweifellos viel verbreiteter und mächtiger als
bei den Kulturmenschen der Jetztzeit. Dieser Umstand hat dazu
geführt, dass man den Sadismus dadurch zu erklären versuchte,
dass man denselben als atavistische Erscheinung hinstellte. Gegen
diese Auffasstmg hat Eulenburg geltend gemacht, dass sich
algolagnistische Instinkte bei den höher organisierten Tieren
nicht entdecken lassen und auch für den Menschen, soweit unsere
geschichtlichen Kenntnisse reichen, eine grössere Verbreitung
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Die Anomalien des Seinaltsiebes.
8S5
sadistisdier Neigungen nicht nacbniweisen ist. Allein der Autor
ist trotz dieser Einwände genötigt, einen gewissen Kern der
atavistischen Theorie als berecht%t tu erklären. Der Kampf
ums Dasein mosste bei dem Menschen dazu führen, dass sich
bei demselben der anderen Wesen zum Zwecke der Selbst-
erhaltung zugefügte Sdimerz mit Lustgefühlen verknüpfte. Diese
Lustgefühle steigerten sich wohl im Laufe der Zeit und asso-
ziierten sich, wie das nahe liegt, nicht mehr lediglich mit Grau-
samkeitsakten , die der Selböterhaltung dienten, sondern auch
mit anderen, an sich unnötigen. So entstand der Hang zur
Grausaiuktiii, das Vergnütjen an der VerÜbung und an der Wahr-
nehmuno[ von Grausamkeitsakten, das sich bei den Kulturvölkern
des Altertums, v'ie das Interesse an den Gladiatorenkampfen,
die barbarische Art der Kncgsführung etc. zeigen, noch ganz
unverhüllt äusserte. Die fortschreitende Kultur hat diesen vom
Urmenschen herrührenden Hang zwar gewaltig zurückgedrängt
und in gewissem Masse verfeinert, aber keineswegs ausgerottet.
Die Freude an Stier- und Hahnenkämpfen, an gefährlichen Schau-
stellungen, das Jagdvergnügen, das Interesse für Hinrichtungen,
manche Details der modernen KriegsfQhrui^r und noch ver-
schiedene andere Tatsachen zeigen uns zur Genüge, dass die
Raubtierinstinkte dem Kulturmenschen keineswegs vollständig
abhanden gekommen sind.
DieBeadiung der Grausamkeit zur Sexualität ist aber eine
viel eifere, als man nach dem eben Angeführten glauben mdcfate.
Die sinnlichen Lustgefühle und die diesen nahestehenden ide-
ellen wirken in gewissem Masse sexuell erregend. So erklärt
es sich, dass ein schwelgerisches Mahl oft sexuelle Orgien ein-
leitet und in den Kriegen früherer Jahrhunderte an Mord und
Plünderung sich häufig Schändungen anschlössen. Auch der
sogenannte Tropenkoller , eine der ehemaligen Soldnerzügel-
losigkeit analoge Erscheinung, verbindet sich häutig mit sexuellen
Exzessen. Wir sehen demnach, dass von zwei Seiten aus eine
Verknüpfung von SchmerzzufÜgung und sexuellen Lustgefühlen
möglich ist, indem einerseits der sexuelle Affekt zur Verübung
gewaltsamer und grausamer Akte führen, andererseits die Ver-
Übung solcher Akte sexuell erregend wirken kann. Diese Ver-
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336
Die Anomalien des Sexualtriebes.
bältnisse machen es bis tu einem gewissen Masse verständlich,
dass bei manchen Individuen auf Grund ererbter krankhafter
Veranlagung als funktionelle Degenerattonserscheinung die sadi-
stische Gefählsanomalie auftritt. Es lässt sich aber vorerst nicht
ausschliessen, dass diese gelegentlich auch durch zufällige asso>
ziative Verbindi*ngen, wie es v. Schrenk-Notzing annimmt,
entstehen nuig. Ein Beleg in dieser Richtung bildet unsere
Beobachtung Nr. 78. Nach den bisherigen Erfahrungen dürften
jedoch derartige Fälle nur sehr selten — man daif ^■volii sa^cn
ausnahmsweise — vorkommen. Die Annahme Rinet's, weicher
den Sadismus wie den Masochismus als eine in der Re^'el durch
zufällige Assoziationen erworbene Anomalie betrachtet, erscheint
mir schon meinen eigenen Beobachtungen gegenüber völlig un-
haltbar.
Von den bisherigen Versuchen, den Masochismus zu er-
klären, kann meines Erachtens keiner als völlig gelungen be-
trachtet werden. Die Erklärung des Masochismus muss auch
differieren, je nachdem man als das Wesentliche bei demselben
die Verbindung von erduldetem Schmerz und sexuellen Lust-
gefühlen oder die mit Lust betonte Vorstellung der Unter-
werfung unter das Weib betrachtet. Von Kraftt-Ebing, welcher
letzterer Auffassung zuneigte, wollte eine Wurzel des Masochtsmus
in dem Umstände finden, dass im Zustande wollüstigen Affektes
dem Erregten jede Einwirkung von Seiten der erregenden Person,
unabhängig von der Art derselben, willkommen ist. Der Autor
legte diesem Umstände, der jedenfalls nur in einer beschränkten
Anzahl von Fällen ziUrilTt und für die Genese des Masochismus
kaum m Betracht konunen kaim. nur eine untergeordnete Be-
deutung bei. Die Hauptwurzel des Masochismus erblickte er in
dem von ihm als geschlechtliche Hörigkeil" bezeichneten ab-
normen i)S> chi'-chen Verhalten, der völligen l 'nterwerfung eines
Individuums unti r d( 11 Willen einer Person anderen Geschlechts
(Pantoftelhcldentum etc.). Aus der geschlechtlichen Hörigkeit
kann sich nach v. Krafft-Ebing ein leichter Grad von Maso-
chismus entwickeln, indem durch die Gewöhnung an die Tyrannei
diese allmählich zu einer Quelle der Lust wird. Der echte
Masochist ist aber in der Regel geboren. Die kongenitale Natur
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Die AnomalieD des Ses«altriebe*.
337
des Masochismus ist nach v. Krafft>£bing darauf zurück-
zufQhren, dass die Anlage zur geschlechtlichen Hörigkeit auf ein
psychopathisches Individuum vererbt und dabei zur Perversion
des Masochismus transformiert wird. „Aus diesen beiden Ele-
menten", bemerkt v. Kraffl iiibing, „aus der geschlccht-
Hchen Hörigkeit einerseits, aus jener oben erörterten Disposition
zur geschlechtlichen Ekstase, welche selbst Misshandlungen mit
Lustbetonnng apperzipiert, andererseits, aus diesen beiden Ele-
menten, deren Wurzeln sich bis in das Gebiet psychologischer
Tatsachen zurückverfolgen lassen, entsteht auf einem geeigneten
psychopathischen Boden der Masochismus, indem die sexuelle
Hyperästhesie allerlei zuerst physiologisches, dann nur abnormes
Beiwerk der Vita sexualis zur krankhaften Höhe der Perversion
steigert."
Dieser Auffassung gegenüber ist geltend zu mad^, dass,
wenn auch die geschlechtliche Hörigkeit eine Art Vorstufe des
Masochismus bildet, doch das regelmässige Vorkommen dieses
abnormen I^änomens bei den Eltern oder anderen Vor&hren
der Masochisten nicht nachgewiesen ist, andererseits die Abstam-
mung von einem geschlechtlich hörigen Vater bei dem Sohne trotz
psychopathischer Veranbgung nicht zum Masodiismus führen
muss (eigene Beobachtung). Eegt man beim Masochismus das
Hauptgewicht aui die- Verbindung von ei dulde tcni Schmerz und
sexuellen Lustgefühlen, so lässt sich zur Erklärung desselben,
wie es von Binet geschehen ist, die sexuell erregende Wirkung
der passiven Flagellation heranziehen Auch die von mir zuerst
konstatierte Tatsache der Auslösung sexueller Erregung durch
Angstzustände kann als hierher gehörig in Betracht kommen.
Indes ist auch die Entstehung des Masochismus aus der pas-
siven Flagellation allein beim Mangel kongenitaler Veranlagung
nicht nachgewiesen. Die Wirkung letzterer scheint über die
sexuelle Stimulation meist nicht hinauszugehen. Wir sind daher
verantesst, nach der Möglichkeit einer anderen Erklärung Umschau
zu halten. Diese ergibt sich aus dem Umstände, dass der Maso-
chist sich als Weib seinor Herrin gegoiüber fühlt, wdche er in
seiner Phantasie wenigstens mit männlichen Eigenschaften aus-
stattet. Dadurch charakterisiert sich der Masochismus im Grunde
LS«r«ar«ld, SanieD>Mn4lH Stitnufaa. Viart« AnfUfli. 22
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338
Ste AaoBuüisa det Senudtriebn.
als eine Abart der konträren Sexualempfindung*). Hierdurch
wird aber eine Annahme nahe gel^, welche die hypothetische
Übertragung einer Anlage rar geschlechtlichen Hör^jkdt über-
flüssig macht. Nadidem der HCasocbismus lediglich eine Steigerung
spezifisdi weiblicher psychischer EigentOmlichkeiten darsldlt, ge-
nügt nur Erklärung seines kongenitalen Ursprungs die Voraus-
setcung, dass dem Masochisten eine weibliche (resp. weibische)
psychische Veranlagung angeboren ist. Es muss hier jedoch
beigefügt werden, dass, wie die psychischen EigentOmlichlceiten
des Weibes bei den euizelnen weiblichen Individuen variieren,
dieselben auch bei den männlichen Individuen von weiblichem
psychischem Habitus in ihren Komponenten Abstufungen der
Entwicklung darbieten können. Aus diesen Variationen mag
e.s sich erklären, dass in dem einen Fall Masochismus, im an-
deren eine Kombination von Urningtum mit masochistischen
Zügen entsteht. Bei dieser Annahme bleibt auch dem Einflüsse
anderer Momente, wie der passiven Flagellation, zufälliger be-
günstigender Assoziationen, der Erziehung, des Milieu's, der
Lektüre etc cm ;^cnüi{cnder Spielraum gewahrt.
Der Sadismus hat neben dem psychopathologischen fast aus-
schliesslich forenses h:iteresse, während dem Masochismus auch
eine Bedeutung als nervenschädigendes Moment zukommt. Der
Masochist ist, wie wir schon erwähnten, häufig zum normalen
geschlechtlichen Verkehr unfähig; da ihm zudem die Befriedigung
seiner masochistischen Begierden nur selten möglich ist, so ver^
fiUlt er gewöhnlich der Onanie und zwar recht oft wegen Libido
nimta in exzessivem Masse. Die Folgen für das Nervensystem
sind die an früherer Stelle geschilderten. Es unterliegt aber
auch keinem Zweifel, dass die sexuelle Stimulatioa oder auch
Befriedigung durch körperliche Mtsshandlungen, in welcher Form
dieselben auch geübt werden m^en, kein für den Nervensustand
gleichgültiger Faktor ist; der gewaltsamen Anregung der Libido
bei meist verringerter Potenz muss eine grössere Erschöpfung
1) MA V. Krafft-Ebiag kan ra d«m Sch l anf, dan der MMnrMwiitt»
im Grande eine ndimenllie Form der konträren Sexualempfindimg ist, eine par-
tielle Erfeminatio, welche nur die seknndiien Gescbtochtscharakteie der peycbitdien
Vita sexuaUa et^riffea hat.
Die Anomalien des Scxu;iltricl)cs.
des Nervensystems folgen, als bei dem normalen geschlecht-
lichen Verkehr. Der Masochismus ist daher geeignet, nervöse
Stöfungen verschiedener Art za verursachen und solche su stei-
gern, gleichgültig, ob dem Masochisten eine Befriedigui^ seiner
perversen Neigungen möglich ist oder nicht.
Anhang:
Periodisches Auftreten von Anomalien des Sexualtriebes.
In den periodisch auftretende Geistesstörungen (Manie,
zirkuläres Irrsein insbesonders) können nicht nur, wie wir schon
sahen, quantitative, sondern auch qualitative Anomalien des Ge-
schlechtstriebs (Homosexualität etc.) sidi geltend machen. Da-
neben werden jedoch auch Fälle beobachtet, in welchen periodisch
Anomalien des Sexualtriebes, inbesonders homosexuelle Impulse,
als isolierte psychische Störungcai auftreten oder wenigstens im
Vordergrund der psychischen Veränderungen stehen. Von
Krafft -Ebing hat diese Fälle unter dem Titel „Psycbopathia
periodica" zusammeng^asst. Tarnowsky, der auf diesem
Gebiete umfängliche Erfahrungen sammelte, erwähnt, dass die
Patienten nicht selten verheiratete Männer und Familienväter
sind und sich in Zwischenräumen der Päderastie ergeben, wie
Di])S(iiiianen der 'IVuuksucht. Derartige perverse Triebe (neben
der Faderastie insbesonders auch Flagellation) machen sich nur
zwei- oder dreimal im Laufe eines Jahres geltend, während der
übrigen Zeit verkehren die betrelienden in normaler Weise mit
Frauen.
Die periodische Perversion kommt bei Frauen wie bei
Männern vor. Ein hierher gehöriger Fall wurde von Anjel*)
mitgeteilt : Eine erblich stark belastete, dem Klimakterium nahe
stehende Frau, welche in jungen Jahren an Petit Mal gelitten
hatte und stets exzentrisch, dabei jedoch streng sittlich war,
wurde vor mehreren Jahren nach gemütlichen Erregungen von
ehiem hystero^epileptischen Anfalle mit folgendem mehrwdchent-
1) Aiij61 (Aldi. f. Psychiatrie, XV, Heft 2).
22*
340
Die Anomalien des Seiultriebei.
Uchem Irrsein heimgesucht. Daran schloss sich mehrmonatlicher
Schlafmangel. In der Folge machte sicli bei ihr während der
Menses neben Insomnie ein Drang geltend, Knaben unter lo Jahren
an sich zu locken, zu küssen und ihre Genitalien zu betasten;
Drang zu sexuellem Verkehr mit Erwadisenoi bestand dabei
nicht Die Frau, welche intervallär keinerlei gescfalecbtlkhe Be-
gehrlichkeit zeigte, verlangte während der Icritischen Zeit Über-
wachung, da sie sich ihrem Drange gegenüber nicht sicher fühlte.
Die folgende Beobachtung, die schon anderweitig mitgeteilt
wurde, entstammt memer eigenen Praxis.
Beobachtung 88.
Periodische homosexuelle Zwangsneigung.
Frl. A., anfangs der 40er Jahre stehend, erblich belastet (Mutter
hysterisch), seit langem neurasthentsch, mit Zwangsvorsteitmif«! und
Ventimnrangszuattndeii behaftet, wird seit ebigen Jahren periodisch
von einer ganz Oberschwänglichen Neigung für eine ungefähr gleidi*
alterige, ihr befreundete Dame B. befallen, welche sich Her ihr gewid-
meten Verehrung gegenüber ziemlich passiv verhalt. Von irgendwelchen
sexuellen Intimitäten zwischen den beiden Damen ist keine Rede, es
handelt nch um rein platoniadie Beziehungen. Die Liebesanwandlimgen
treten bei Frl. A. nur in Perioden besonderer nervöser Angegriffenhett
auf und währen nie langer als einige Monate. Während dieser Affekt«
phasen schwankt die Neifjnng nicht unerheblich. Sieht Frl. A ihre An-
gebetete längere Zeit nicht, so nimmt die Verehrung für dieselbe
betrftchdieh ab, um jedoch bei jedem neuen Zusammentreffen wieder
mflchdg angefacht zu werden. Bei Letzterem ihhlt sie beständig den
Drang, ihrer Freundin Zärtlichkeiten zu erweisen, insbesonders aber ihr
die Hand zu kOssen, was sie auch soweit als ttmlich ausführt. Triftt sie
mit ihrer Freundm in emer Gesellschal^ oder in einem öffentlichen Lokale
sttsaramen, in wetdiem die Veihfllmisse die Betätigung ihres Zlrtlicb«
keitsdranges nicht gestatten, so gerät sie b eine qualvolle Aufir^(vaig*
In den Zeiten stärkerer Neigung muss sie sich in Gedanken beständig
mit Frl. B. beschäftigen, und dieses Zwangsdenken setzt sich mitimter
auch wahrend der Nacht fort, so dass das Einschlafen verhindert wird.
Dabei macht sich auch der Drang, ihrer Freundin die Hand zu kOssen,
in lebhaftester Weise geltend, dem «e dadurch eine gewisse Befiiedigung
verschafft, dass sie sich selbst die I^and unzählige Male kösst. Die Pat
sieht das Krankhafte ihrer Neigung best.lndig ein; aucli in den Zeiten,
in weichf-n der Affekt sie ganz und gar beherrscht, mangelt es bei ihr
an Krankheitseinsicht nicht. In den afiektfreien Zeiten beurteilt sie ihre
Freundin sogar mit siemHcher Sdiirfe und kritisiert ihren Chankter
mit geringerer Nachaidit als andere Person«i. Dabei Algert sie sich
sehr häufig, dass sie von der, wie sie selbst wohl erkennt, durch die
Persönlichkeit ihrer Freundin keineswegs motivierten Ndguog sich nicht
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Die AnoDalica des Sesualtnebci.
dauernd freimarhen kann In der aflektfreien Zeit sucht sie auch den
Verkehr mit Frl. Ii. keineswegs, ja sie vernachlässigt diese mitunter
derart dass sich dieselbe darflber beklagt
Die VersdinmungszustAiule, von weldien Frl. A. sdion Mtutr zdtp
weilig heimgesucht wurde, sind seit dem Auftreten der bomoeexuellen
Zwangsneigung nirht ausgeblieben, 'sondern nur vielleicht etwas seltener
geworden. Es niai g* U auch in den Atrcktperinden nicht an Deppressions-
anwandlungen von kürzerer oder liUigerer (tagelanger) Dauer, in welchen
jedoch die Veralimmung zumeist an die bestehende Zwangsneigung und
die dadurch verursachte geistige Unfreiheit anknQpft. Nur in den Zeiten
stärkerer Entwickdung der Zwangsneigung bleiben die Veratimoningea
völlig weg.
In Bezug auf die Sexualemptindung bei Frl. A. ist noch bcizuitlgen,
dass dieselbe auch schcm froher einzelnen ihrer Freundinnen gcgenOber
homoseanielle Neigungen zeigte. Diese waren jedoch immer von jähre*
langer Dauer und zeigten nie die nufTallenden Schwankungen, die sich
wahrend der oben erwähnten Anfälle geltend machten. Auch fehlte bei
diesen Neigtmgen jedes Bewusstsein des Krankhaften. Frl. A. glaubte,
dass es sidi bei ihrem schwärmerischen Empfinden für einzelne ihrer
Freundinnen lediglich um ein gewöhnliches vrarmes FreundsdiaftsgeAlhl
handelte.
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XVIL
Prophylaxe und Behandlung der sexuellen
Neurasthenie.
Die neurasthcnischon Zust.mik , welche wir unter dem
Titel „sexuelle Neurast Ii enie" zusammenfassen und %-on
anderen Varietäten der Neurose unterscheiden, bilden nicht eine
ätiologische, sondern eine klinische Einheit, i. e. wir dürfen
„sexuelle Neurasthenie" nicht als gleichbedeutend mit sexuell
verursachter Neurasthenie betrachten. Ich habe anderenorts
schon dargelegt , dass wir der sexuellen Neurasthenie nur jene
Fälle zuweisen können, bei welchen Störungen der sexuellen
Verrichtungen entweder allein vorhanden sind, oder wenigstens
hervorstechende Züge im Krankheitsbitde darstellen. Diese
klinische Form der Neurasthenie tritt aber, wie auch schon von
anderer Seite (Beard und v. Kraf ft-Ebing) hervorgehoben
wurde, nicht lediglich als Folge sexueller Noxen und anderer-
seits die durch diese herbeigeführte Neurasthenie nicht immer
in der Form der sexuellen auf. Dabei muss jedoch betont
werden, dass unter den Ursachen der sexuellen Neurasthenie
die der Sexualsphäre entstammenden weitaus überwiegen, ein
Umstand, der auch liir die Prophylaxe und iherapie dieses
Leidens nicht belanglos ist.
Die Prophylaxe der sexuellen Neurasthenie fällt einerseits
zus.imnu 11 mit der Prophylaxe der Neurasthenie überhaupt,
andererseits mit der sexuellen Hygiene. Wir können natürlich
nicht daran denken, diese Themata, von welchen das eine
schon von Ripping zum Gegenstande einer besonderen, treff-
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i'rupbylaxe und Bebandlaog der sexuellen Ncttraäthenie.
848
liehen Arbeit gemacht wurde, hier erschöpfend zu behandeln;
wir müssen uns darauf beschränken, cinii^e für die Prophylaxe
der sexuellen Neurastbeoie besonders wichtige Umstände kurz
zu besprechen.
Die Schäden, welche die Masturbation für das Nerven»
System nach sich zieht, haben wir im Vorstehenden kennen ge*
lernt Mit der Verhötimg der Masturbation ist daher schon für
die Prophylaxe der sexuellen Neurasthenie viel erreicht Da
die Onanie im Alter vor der Pubertätsentwickelung besonders
nachteilige Wirkui^en äussert und schleich bei kindlidien bidi-
viduen ungleich leichter bei entsprechender Sorgfalt Untan-
fuhalten ist als bei Erwachsenen, so muss auch ärztlicherseits
die vollste Aufmerksamkeit der Verhütung der Onanie im Kindes-
alter zugewendet werden. In erster Linie kommt hier die Be-
seitigung örtlicher Affektionen in Betracht (Ekzem, Prurigo etc.),
welche Veranlassung zu öfteren Berührungen der Genitalien
bilden und damit zur Onanie führen können. Des Weiteren
ist es Aufgabe des Arztes, auf stetige Überwachung der Kinder
bei Tag und Nacht, speziell im Hinblick auf die Möglichkeit
onanistischer Vorkommnisse und zwar von den ersten Lebens-
jaliren an zu dringen. Diese Überwachung hat sich nicht bloss
auf das Verhalten der Kinder in der HäusUchkeit und beim
Alleinsein derselben, sondern ganz besonders auf den Verkehr
derselben mit anderen Kindern unablässig zu erstrecken. Von
wekiher Wichtigkeit letzterer Umstand ist, ei^ibt adi aus der
Tatsache, dass in der grossen Mehrzahl der Fälle Onanie bei
Kindern auf Verführung durch Spidgefilhrten oder Gefährtinnen,
Mitschüler etc. zurückzuführen ist. Selbst bei Kindern, die noch
nicht im schulpfUcfatigen Alter stehen, darf man die Iföglichkeit
einer Verführung durch Spielgenossen nicht ausser adit lassen;
eine Beobachtung, die ich vor einiger Zeit machte, zeigt dies zur
Genüge. Der 4jährige Knabe einer mir bekannten Familie wurde
durch einen 5 jährigen, einer benachbarten Familie angehörigen
Knaben, den er öfters ohne Aufsicht besuchte, zu onanistischen
Manipulationen verleitet. Selbstverständlich sollte seitens der
Eltern auch dafür Sorge getragen werden, dass der VVahrneiimun^^f
der isinder alles entzogen bleibt, was geeignet ist, eine verfrühte
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344
Piopbybixe «od Bchaadlnnc d«r lesoellfln Nountthenie.
Libido in ihnen lU wecken oder nur ihre Aufmerksamkeit auf
das Sexuelle zu lenken. In dieser Beziehung wird auch von
den Eltern, denen an ^'uter Erziehung der Kinder und Bewah-
rung^ derselben vor gesundheitlicher Schädigung zweifellos ge-
legen ist, aus Unverstand und Nachlässigkeit nicht selten ge-
sündigt, nicht nur dadurch , dass sie den Kindern gänzlich un-
passende Lektüre überlassen oder ihnen den Besuch von sinnlich
erregenden Schaustellungen gestatten, sondern zuweilen sogar
dadurch, dass sie dieselben — allerdings unbeabsichtigterweise —
zu Ohren- oder Augenzeugen ihrer sexuellen Genüsse machen.
Wiederholt haben mir junge Leute, welche ihre Nerven durch
Masturbation schwer serrfittet hatten, mitteilt, dass der erste
Anstoss zur Onanie bei ihnen durch die sexuelle Erregung ge-
geben worden sei, welche bei ihnen durch gewisse aus dem
Schlafzimmer ihrer Eltern durch eine offenstehende Tür dringende
Geräusche hervorgerufen wurde.
BezQgUch des Einflusses sexueller Abstinenz auf das Nerven-
system wurde bereits an früherer Stelle das Nötige bemerkt
Wir haben dort dargelegt, dass andauernder Verztdit auf ge-
schlechtlichen Umgang bei gesunden Erwachsenen ohne gesund-
heitlichen Nachteil sehr wohl möglich ist , und können hier
beifügen, dass alle die an früherer Stelle angeführten Umstände,
welche die konsequente Durchfuluung sexueller Abstinenz er-
leichtern, zugleich als \'orbeugemittel gegen masturbatorische
Inklinationen wirksam sind. Dass wir ausserehelichen Ge i hlechts-
verkeiir nicht als geeignetes Prophylaktikum gegen Onanie er-
achten, wie dies allerdings seitens mancher Arzte geschiebt,
wollen wir zugleich ausdrücklich konstatieren ; die Gefahren, mit
welchen diese Art der Prophylaxis umgeben ist, sind zu nahe-
liegend, als dass iiigend ein seiner Verantwortlichkeit in vollem
Masse bewusster Arzt dieselbe empfehlen könnte. Zudem haben
immer wiederkehrende Erfahrungen mich gelehrt, dass der Ver-
kehr mit Prostituierten keineswegs immer zur Beseitigung ein-
gewurzelter onanistischer Neigungen führt. Bei Personen mit reger
Libido, bei welchen die Gefahr vorliegt, dass sie bei andauernder
Abstinenz der Masturbation anheimfallen, mag man, wenn die äus-
seren Verhaltnisse kein Hmdemis bilden, die Eheschlaessung anraten.
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Pkophylue ood fiehaadlmic der aexneUeii Neumtheiik. S45
Ein Punkt von grfisster prophylaktischer (und therapeuti-
scher) Tragweite , dem seitens des grössten Teiles der Ärzte
bisher weder das richtige Verständnis entgegen gebracht, noch
die nötige praktische Berücksichtigung geschenkt wurde, ist die
Meidung schädlicher Arten sexuellen Verkehrs in der Ehe. Das
bisherige Verhalten der grossen Mehrsahl der Arzte in dieser
wichtigen Angelegenheit erklärt sich aus mehreren Umständen.
Gar manche Arzte sind, wie ich aus gelegentlichen Äusserungen
von Kollegen ersehen konnte, noch in Unkenntnis darQber, dass
der sexuelle Umgang, auch abgesehen von Exzessen, zu einer
Quelle nervöser Schädif,fungen werden kann; sie erachten die
Art des sexuellen Verkehrs, ob normal oder nicht, für in gesund-
heitlicher Beziehung gleichgültig ; auch an solchen fehlt es nicht,
welche sich den MitteiUingcn über nachteilige Folgen des Prä-
ventivverkehrs gCL^cnubcr einfach unglaiibii^^ verhalten, sie
zufällig eigener Erfahrung in dieser Beziehung ermangeln. Die
natürliche Folge dieses Verlialtens ist, dass die Betreffenden
es für überflüssig erachten, sich um die Art der sexuellen Be-
Ziehungen der ihnen sich anvertrauenden Eheleute zu bekümmern,
selbst wo Grund zu der Annahme vorliegt, dass malthusiantsttsche
Tendenzen bestehen, und dass des öfteren die in der vita sexualis
liegende Ibuptquelle nervöser Obel nicht erkannt und in Um-
ständen gesucht wird, die von nebensächlicher oder gar keiner
Bedeutung in dem zu beurteilenden Falle sind. Ungleich grösser
als die Zahl der ununterrichteten und der Aufklärung sich ver«
schliessenden Praktiker ist nach meinen Wahrnehmungen die Zahl
derjenigen, welche es mit ihrer StandeswQrde oder ihren Moral-
begriffen nicht vereinbar erachten, Eheleuten emen Rat bezüg-
lich einer die Gesundheit nicht schädigenden Art des Präven-
tivverkehrs zu geben. Diese allzu Subtilen sind gewöhnlich der
Anschauung, dass das heutzutage so verbreitete Bestreben Ver-
heirateter, die Nachkommenschaft zu beschränken, zumeist nur
auf Bequemlichkeit oder andere verwerfliche Motive zurück-
zuführen sei, und deshalb der Arzt keinerlei moralische oder
sonstige Verpflichtung habe, einen Rat zu erteilen, wie das
angestrebte Ziel ohne Gesundheitsschädigung zu erreichen ist,
oder sich überhaupt nur um diese Privatangelegenheit der Ehe-
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346
Prophylaxe ood Bebandluos der sexueUett Nearuthenie.
leute zu kümmern. Wie unberechtigt und verkehrt diese Auf-
fassung und das auf derselben basierende ärztliche Verhalten ist,
ergibt sich aus einigen einfachen Erwägungen. He gar, dessen
Unbefangenheit in der Frage des Malthusianismus gewiss Nie-
mand bestreiten kann, bemerkt: „Wann wird nun die Zahl der
Kinder in einer Familie zu gross? Eine gewisse Maximalgreoze
ist letcfat festzustellen. Die passendste Zeit für Kindererzeugung
liegt für eine Frau zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr. Vor-
her und nachher leidet sowohl das Weib als auch die Nach-
kommenschaft zu leicht Not. Zwischen der Geburt eines jeden
Kindes sollte ein Zwischenraum von etwa 2'^ Jahren liegen, so
dass wir also acht Kinder hätten. Nimmt man an, dass die
Schwangerschaft neun Monate dauert, weitere 9—12 Monate das
Kind zu stillen ist, oder, wenn die Frau nicht selbst stillt, die
wachsame Beaufsichtigung der Amme oder der kfinstlichen Er-
nährung durchgeführt werden muss, so wird man die weitere
Frist von 6 — 9 Monaten zur vollständigen Eihülung der Frau
nicht für zu hoch gegriffen halten. Sie ist doch auch nicht
dazu da, um während zweier Dezennien allein der Fortpflanzung
zu dienen. Dieses Maximum setzt einen guten Gesundheits-
zustand vor Allem der Frau , gute Luft und genügend äussere
Mittel voraus. Krankhcitrii, Schwäche oder Gebrechlichkeit des
Weibes, welche die Fuhrung des Haushaltes und die Pflege der
vorhandenen kleinen Kinder erschweren, erfordern häufig eine
weitere Beschränkung oder sollten dieses wenigstens tun."
Nehmen wir ntm an, wir haben es mit einem Ehepaare zu tun,
von welchem der Gatte zur Zeit der Eheschliessung im 30., die
Gattin im 20. Lebensjahre stand. Dieses Ehepaar hat im Zeit'
räum von 20 Jahren acht Kinder und der beliebe Verkehr
wurde während jeder Schwangerschaft, selbst bis an das Ende
derselben, was doch gewöhnlich nicht der Fall sein dfirfte, fort-
gesetzt, so ergibt sich, dass für dieses kinderreiche Ehepaar
innerhalb der 20 Jahre nur während einer Frist von sechs Jahren
der eheliche Verkehr in normaler Weise möglich war; in den
übrigen 14 Jahren musste entweder Abstinenz oder irgend eine
Alt des Präventiwerkebrs geübt werden. Indess schliessen die
sexuellen Bedürfnisse beim Manne nicht mit dem 50. und bei
Praphylaxe und Bebandlm^ der lesneUen Neturaiüicnie.
347
der Fcau mit dem 40. Lebensjahre ab. Nehmen wir des
Weiteren an, dass diese Bedürfnisse bei dem in Frage stehenden
Ehepaare 30 Jahre lang (beim Mann bis zum 60., bei der Frau
bis zum 50. Lebensjahre) sich geltend machen, so ergibt sich,
dass das Ehepaar trotz seines Kinderreichtums von 30 Jahren
ehelichen Lebens nur den fünften Teil der Zeit s«ne sexudlen
Bedürfnisse in normaler Weise zu befriedigen vermochte. Heut*
zutage sind jedoch bekanntlich nicht allzu viele Familien in der
Lage, für den Unterhalt und die Enkhung einer so zahlreichen
Nachkommenschaft genügend Sorge zu tragen. Nehmen wir an,
das betreffende Ehepaar ist aus dem einen oder anderen Grunde
genötigt, sich mit sechs Kindern zu begnügen, so beschränkt
sich bei demselben miierhalb eines Zeitraums von 30 Jahren die
Zeit normalen sexuellen Verkehrs auf 4 V« Jahre. Wir ersehen
aus dem Angeführten , dass maithusianischc Vorkeh-
rungen in jeder Ehe, in welcher die Frau ihre Kon-
zeption sfähigkeit behält und der Mann es nicht für
sein unantastbares Recht hält, in brutaler Weise,
ohne jede Rücksicht auf Wohl und Wehe der Frau
und der bereits vorhandenen Kinder seine sinn*
liehen Bedürfnisse zu befriedigen, früher oder später
zur Notwendigkeit werden; bei zahlreicher Nackkdmmen-
Schaft nicht minder ab bei dem sogenannten Zweikinder- oder
Einkindsystem.
Glücklicherweise nimmt auch bei uns die mitunter sogar
noch mit einem Scheine von Moralität sich umhüllende ehe-
herrlwhe Brutalität mehr und mehr ab, zum Teil auch in den
unteren Bevdlkerungsschicbten« Eine notwendige Folge dieses
Umstandes ist es, dass in neuerer Zeit nicht nur der Gebrauch
antikonzeptioneller Mittel gewaltig zugenommen , sondern auch
die Cbun<^ des Congr. interr. als der cintachsten Form des
Präventivverkehrs bedeutend sich ausgebreitet hat und dabei
auch, wie schon an frülierer Stelle erwähnt wurde, in Kreise
eingedrungen ist , welche sich früher durch Kinderreichtum
(resp. durch die Zahl der (ieburtcni i^esonders auszeichneten
(Lehrer, kleine Geschäftsleute, Arbeiter, Landbevölkerung).
Dieser Umstand ist nach meinen Wahrnehmungen nicht ohne
a48
Prophylaxe uod Bebaadiong der üexucllen NetuMthcnie.
beachtenswerte Folgen geblieben. Ich habe anderen Orts schon
erwähnt, dass wir es in neuerer Zeit mit einer Zunahme der
neurotischen Angstzustände zu tun haben, welche weniger auf
das allgemeine Anwachsen der Nervosität als 'die grössere Ver-
breitung gewisser sexueller Schädlichkeiten zurückzuführen ist,
unter welchen der Congr. intenr. eine Hauptrolle spielt. Dabei
mnss ich kcmstatiereD, dasa unter den verheirateten Patienten
memer Beobacbttmg, welche sich durch jahrelange Obung des
Congr. intenr. nervöse Obel zugetogen hatten, gar manche waren,
welche einen Hausarst seit langer Zeit hatten und doch erst
durch mich auf das Schädliche ihrer sexuellen Beziehungen auf-
merksam gemacht werden mussten.
Ober die Pflichten, welche sich aus dieser Sachlage für den
Arzt, speziell den Hausarzt ergeben, kann unseres Erachtens
kein Zweifel bestehen. Es gehört zu den Obliegenheiten des
wahren Hausarztes, dci ja auch Freund und Berater der FamDie
in allen die Gesundheit berührenden Angelegenheiten sein soll,
nicht nur eintretende Krankheiten zu behandeln, sondern solche
soweit als moglicli bei den hich liiiii Ari\ crtrauenden zu verhüten.
Er hat daher auch die Pflicht bei Ehepaaren, bei welchen nach
Lage der Dinge die Übung irgendwelcher Prävention anzunehmen
ist, sich darüber in diskreter Weise zu informieren, in welcher
Weise dieselbe geschieht, und, falls er vernimmt, dass dem
Congr. interr i^ehuldigt wird, vor demselben nachdrücklich zu
warnen und beziaglich eines minder schädlichen Modus der
Konzeptionsverhinderung seinen i^t zu erteilen. Er darf sich
dieser Pflicht auch dann nicht entziehen, wenn er die Motive,
welchen die malthusianischen Tendenzen entspringen, nicht ganz
billigen kann, da es seine Aufgabe nicht ist, seinen Klienten
gegenüber den Wächter der Moral zu spielen. Femer hat er
die Obliegenheit, in den Fällen, in welchen er selbst aus dem
emen oder anderen Grunde vor einer weiteren Schwangerschaft
der Frau überhaupt oder innerhalb emer gewissen Frist warnen
muss, dies nicht lediglich den Gatten anzukündigen, sondern
ihnen auch mit Rat behilflich zu sein, wie sie es künftig mit
Ihren ehelichen Beziehungen halten sollen. Durch ein derartiges
Verhalten kann der Hausarzt, ohne der Würde unseres Standes
Pvophylaie und Bebudlung der sexueUen K«nra«tli«me.
349
das Geringste zu vergeben, sicher viel zur Verhütung sexueller
Neutasthenie und damit zugleich zur Erhaltung des eheUcben
Friedens und ^elicfaen Glückes ia vielen Familien beitragen.
Die Unsicherheit der antikonfeptionellen Mittel und die Miss-
stände, welche mit dem Gebrauch einzehier derselben (Okklustv-
pessarien) verlmüpft sind, veranlassten in neuerer Zeit Krönig,
welcher bezflgtich des Pdiventiwerkefara sich meinen Anscbao^
ungen völlig angeschlossen hat, fOr gewisse Fälle die operative
Sterilisierung der Frau zu empfehlen. Der Autor bezeichnet den
Eingriff, den er vom vorderen Scheidensdinitt aus vermittelst
der keilförmigen Exzisicm des uterinen Tubenstfickes aus der
Gebärmutter wand ausführt, als einen absolut lebenssicheren und
leichten. Krün ig glaubt, dass die Berechtigang zur Vomalime
der operativen Sterilisierung bei schweren neurasthcni sehen Zu-
ständen infolge schnell aufeinanderfolgender Geburten im
Allgemeinen gegenwärtig kaum mehr ernstlich bestritten werden
kann. Selbstverständlich kommen neben dem Nervenzustande
der Frau auch die sozialen Verhältnisse und die Sinnlichkeit des
Mannes in Betracht^).
Die Behandlung der sexuellen Neurasthenie, so wie sie
derzeit gelehrt und geObt wird, umfasst nicht nur manchen
strittigen Punkt; noch immer machen sich auf dem Gebiete
derselben zwei Richtungen bemeiklidi, wdche man als die
lokalistische und die konstitutionelle unterscheiden kann. Die
erstere erachtet die Lokalbehandlung vorhandener, respektive
angenommener — hypothetischer — Veränderungen der Sexual-
organe, spc/icil der Pars prostatica der männlichen Harnröhre,
als das Haupterfordernis ; die andere erblickt das Wichtigste
in der Einwirkung auf das Nervensystem, ohne dabei übrigens
die Lokalbehandlung ganz zu verwerfen. Diese Verschieden-
heiten des therapeutischen Standpunktes rühren oftenbar haupt-
sächlich davon her, dass die Behandlung der betreffenden Krank-
Krönig wiU jedoch die operative SteriliüeruBg auch als prophylaktische
Mtwnwhnic «ir Venneiduiig eiblidi bebsteter Nachkommenschaft aogewendet
winen. Di« ladikatkni bUt er dun fOr gegeben, wenn am der Ebe sweier
hereditär nervAs belasteter Personen schon einige Kinder kei'V(W^gS{MI{gen MOdi
wdcke fiflb die dcntlicben Zeichen der Deg^ncmtion se^en.
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350
PropliyUaM uad Bdundliug der tendkii Neunstlieiii».
beitsfiUle die Vertreter sweier medinnischer Sp^ialfächer, der
Nervenkrankbetten und der Harn- und Geschlechtskrankheiten
(Neuropatiiolt^en und Urologen) beschäftigt und von einem Teile
der letzteren hinstchtiicfa der Whricungsweise der sexuellen Miss-
bräuche allen Anfechtungen gegenüber an jener oben (S. 201)
bereits berührten Auffassung fe8t;gdialten wird. Es ist begreif-
lich, dass die Vertreter dieser Anschauung bei ihrer Therapie
ein sehr grosses Gewicht auf die Lokalbefaandlung der Pars
prostatica legen, als desjenigen Teiles, der den supponierten
Aus^ngspunlet des ganzen Leidens darstellt. Die fragliche Auf-
fassung entbehrt jedoch, wie wir gesehen haben, der Begründung.
Sic würde aber auch, wenn sie völlig berechtigt wäre, die weit-
gehenden I^>wartungen nicht rechtfertigen, welche noch gegen-
wärtig so manche Urologen bezüglich der Wirksamkeit einer Lokal-
behandlung der Pars prostatica bei sexueller Neurasthenie he*^en.
Denn, selbst wenn die in Betracht kf)mmendcn nervösen Stö-
rungen ursprunglich lediglich reflektorisch von der Pars prostatica
aus zu Stande kämen, könnten dieselben nach längerem Be-
stehen durch eine ausschliesshch lokale Behandlung in der
R^el nicht mehr beseitigt werden. Wie ich bereits vor 1 8 Jahren
(Die moderne Behandlung der Nervenschwäche etc. i. Aufl. 1887)
darlegte, haben die Veränderungen des Zentralnervensystems,
die dem neurasthenischen Zustande zu Grunde liegen, bei
längerem fiestdien eine Neigui^, sich von den ursächlichen
Momenten kmulösen, so dass die Beseitigung dieser an der
Fortdauer des Leidens nichts mehr ändern kann. Dies gilt für
die nervösen Schwächezustände, die durch sexuelle Noxen ver-
ursacht sind, in dem gleidien i/lasse wie für Neurasthenieen
anderen Ursprunges. Ist aber einmal die Unabhängigkeit des
Nerveniddens von der ursprünglichen Ursache ein^treten, so
kann die ausschliessliche Bekämpfung letzterer nicht nur nutz-
los dem NervenQbel gegenüber seui, sondern geradezu ver-
schlimmernd auf dasselbe einwirken. Ich habe in der erwähnten
Schrift von manchen Erfahrungen dieser Art den Fall eines
jungen Geschäftsreisenden erwähnt, der wegen einer chroni-
schen Urethritis, an die sich verschiedene neurasthenische Be-
schwerden knüpften, eine Reihe von Kurvcrsuciien bei vcr-
FropliyUKC und Bebandlnag der sesndlen Nenrutbenie.
851
schiedenen Ärtten an verschiedenen Orten, darunter aiieh bei
anerkannten Facfaautoritäten auf dem Gebiete der Geschlechts^
krankheiten unternahm. Das Endresultat aller dieser Bemähungen
war, dass der junge Mann eine Neurasthenie schwerser Form
besass, die ihn voUstindig arbeitsunfähig machte; die Kur-
versuche hatten überdies sein nicht sehr beträchtliches Vermögen
vollständig versdilungen.
Man darf wohl sa^en, dass gegenwärtig auch die Mdurzahl
der Urologen bereits die verdert^chen Wirkungen Schablonen-
mSssiger Be- resp. IbGsshandlung der Van prostatka ericannt
und die Bedeutung antineurasthenischer Allgemembehandlung
bei sexueller Neurasthenie mehr oder minder schätzen gelernt
hat. Allem die Tatsache, dass lange bestehende neurasthenische
und zwar auch der Sexualsphäre angchörige Störungen von
gleichzeitig vorhandenen Veränderungen der Pars prostatica
gänzlich unabhängig sein können, wird noch keineswegs ge-
nügend gewürdigt, weshalb es nicht überflüssij^ sein wird, wenn
ich hier eine Beobachtung aus neuerer Zeit anführe, welche
nicht nur diese Unabhängigkeit in geradezu klassischer Weise
seigt, sondern auch lehrt, dass selbst bei an sich völlig sach-
gemässer, lange fortgesetzter Behandlung der Pars prostatica unter
Umständen unerwünschte Wirkungen nicht su vermeiden sind.
Beobachttto; 89.
Der Fall betriflfk einen 4ojAhrtgen, verheirateten, neurasthenischeti
Herrn, bei welclicm infolge von Masturbation schon im t6. Ltbensjahrp
häutige Pollutionen auftraten und seit vielen Jahren (auch schon lange
vor seiner Vei hciratung) neben Sperniatorrhoe und gesteigerter geschlecht-
fidier Erregbarkeit dne psydiisdi^nervOae PotenzstOning bestand. Ob-
wohl es bei dem Patienten an kralligen Erektionen bei Tag und Nacht
durchaus nicht mangelte und solche bei etwas längerer Abstinenz sich
^vf^ar in belnstif^ender W« i^p < instel1t(*n, waren beim clx lichen Verkehr
die Erektionen gewöhnlich mangelhaft — ein Umstand, der nur aut
psychische Einflösse zurOdtgefilhrt werden konnte ~ ausserdem erfolgte
die Ejakulation in der Regel in sehr präzipitierter Weise. Der Zustand
verschlechterte sich alhn.lhlich derart, dass schon bei Zärtlichkeiten der
l'Yau gej^ciuiber Kiakulation erfolgte. Die Pars prostatica erwies sich
bei Sondeneintührung äusserst empfindlich. Die Verschlimmerung wurde
unter hydriatisdier Behandhmg, Gebrauch der Kflhbonde etc. rückgängig^
doch blieben die Erektionen zumeist mangelhaft, die Ejakulation prä-
zipitiert. Als spater die endoskopische Untersuchung durch einen sehr
erfahrenen hiesigen Urologen vorgenommen wurde, ergab sich bedeutende
352
ProphyUze und Bebandlaog der lexuellen NeurastheiiieL
Hyperämie und leicht blutende Hcschaftenhcit der Schleimhaut der Pars
prostatica; ausserdem wurden zirkumskripte, knötchenartige Härten in
der Prostata gefunden. Der Uber eine Anzahl von Monaten sich er*
streckenden Behandltmg des erwähnten Kollegen mit Ätzungen, Sonden-
einführung etc. gelang es, die HypcrSmie und Hyperästhesie der Pars
prostatica völlig zu beseitigen, so dass schliesslich die dicksten Sonden
ohne erhebliche Beschwerden eingefOhrt werden konnten. Iliennit ver-
lor sich zwar die Spermatorrhoe, an der vorhandenen PotenzstOnmg
wurde jedoch, obwohl der behandelnde Kollege audi das Ailgemeiii'
befinden nicht unberücksichtigt Hess, nicht das Geringste geändert. Da-
gegen liatte sich unter dem Einflüsse der sicher mit grossem Geschick
durchgeführten Lokalbehandlung ein dem Patienten sehr lästiges Symptom,
das sidi schon Irtkher zeitweilig gezeigt hatte, in sdir hartnackiger Weise
wi^er eingestellt. Längere Zeit hindurch trat nach dem Urinieren
regelmassig ein Gefühl ausgesprochener Müdigkeit, namentlich im Rücken,
ein. Diese Erscheintmf,' war schon in früheren Jahren mitunter, aber
immer nur ganz vorübergehend nach dem Urinieren, insbesonders nach
spermatorrhotschen Abgängen aufgetreten; es mnsste sich also, wfthrrad
die Empfindlichkeit der Pars prostatica f&r mechanische Reize eine so
hochgradige Herabsetzung erfuhr, eine Hyperästhesie derselben für
Wärmereize entwickelt haben, infoltre welcher das einfache Hinweg-
strömen des Urins über die Schleimliaut bei der bestehenden erhöhten
Irritabilität des Lendenmarkes genügte, in diesem refldctorisch dnen
shockartigen Vorgang auszulosen. Eine Erklärung fbr dieses Verhalten
dflrfle in dem Umstände gesucht werden, dass der Patient Längere Zeit
einen MastdarmkQhlapparat gebrauchte, welcher, während er in anderer
Hinsicht sich wohl nützlich erwies, die in Frage stehende Hyperästhesie
der Pais ^nat. f&r Wärmereize herbetgefllhrt haben mag.
Es muss als ein besonderes Verdienst FQrbringer*s anerkannt
werden, dass er, nach seiner eigenen Aussage ehemals ein sehr ent-
schiedener Vertreter einer rationellen Lokalbehandlung ä tout prix, seit
Jahren bemüht ist, den spezialistischen Übereifer in mechanischer und
chemischer Behan«Uung der Pars proslaticA auf Grund seiner reichen
Erfahnmg naehdrOcklichst zu bekämpfen.
„Nichtsdestoweniger", erklärt er, „warnen wir nochmals eindringlich
vor einer systematischen, einseitigen „speziaUstischen" Behandlung der
^Harnröhre bei solchen Formen, in welchen die nervösen Symptome
„die entzflndiichen Veränderungen überwiegen, und itubesondere bei
i^reui neurasthenischen Fällen, die mit froherer Gonorrhoe gar niehts zu
»tun haben. Die Fälle, die wir einfach durch Sistierung der von Lokal-
„fanatikcrn geübten Misshandlung der armen Harnröhre, allenfalls unter
„Hinzufügung des Aufenthalts an einem geeigneten Kurort, sich von Tag
azu Tag haben bessern, ja selbst heiloi sehen, sind viel zu bedeutend,
«als dass wir nicht an dieser Stelle unserer durch breite Erfahrung
«gestOtzten Überzeugung Ausdruck geben mflasten."
Es würde indes der Wahrheit nicht entsprechen» wenn
wir nicht zugeben wollten, dass hinsichtlich der Oberschätsung
Prophylaxe und Behandlung der sexuellen Neurasthenie.
353
des pathogenetischen Einflusses der Pars prost, und damit der
Lokalbdiandlung mcht gelegentlich auch von neuropatholo^cher
Seite gesfind^t wurde und vielleicht noch gesündigt wird. Das
Unglaubliche hat in dieser Hinsicht gerade Beard^ der um
unsere Kenntnis der Neurasthenie sidi so hervorragende Ver-
dienste erwarb, geleistet. Was dieser Autor in der Lokal-
behandlung sexueller Neurasthenikcr gelegentlich verübte, könnte
bei Unbefangenen den Eindruck hervorrufen, dass mitunter
selbst bedeutende Ärzte es für Pflicht halten, in therapeutischen
Dingen wie in Glaubcnsangclcgcnheitcii von ihrem Denkvermögen
möglichst wenig Gebrauch zu machen.
Bei der Behandlung der in Frage stehenden Zustände
müssen wir unser Augenmerk in erster Linie den ursächlichen
Umständen zuwenden; dabei dürfen wir jedoch nicht ausser
Acht lassen, dass aus den eben ant^'eführten Gründen mit der
Beseitigung der ursächlichen Momente häufig nur eine conditio
sine qua non für die Wirksamkeit weiterer notwendiger thera-
peutischer Massnahmen erfüllt ist. Was die Onanie bei Kindern
betrifft, so glaube ich, dass im Allgemeinen neben der Be-
kämpfung etwa vorhandener lokaler Erkrankungen (Ekzem etc.)
strenge Überwachung, wo solche durchführbar ist, zur Verhin-
derung weiterer Schädigung genügt und nur in Ausnahmsfallen
— bei ganz besonderer S^ke des onanistischen Hanges —
weitere Massnahmen, wie hypnotische Behandlung oder die
Vornahme schmerzhafter Eingriffe an den Genitalien (z. B. des
Abkappens eines Teiles der Vorhaut), nötig werden. Die künst-
liche Erzeugung einer Urethritis und Cystitis nach Lalle-
mand würd heutzutage Niemand mehr emsthaft in Vorschlag
bringen wollen.
Bei Erwachsenen darf man sich durch <üe Versicherung,
dass libsturbation „früher** geübt wurde, nicht ohne Weiteres
zu dem Glauben bestimmen lassen, dass das Laster ein über-
wundener Standpunkt ist ; denn häufig genug wird dcm.selben
noch ^fefrcihnt, nachdem die l*".rkenntnis der schälllichen Wir-
kungen desselben sich bncits aufgedrängt hat. Energischer Appell
an die WiUenskiatL des l.eideniU n und B< lehrung über die mög-
lichen Folgen eines Fortfahrens in der üblen Gewohnheit sind
Li) weafeld, Sexuell-nervöse Stärungeo. Vi«rt« Aufl. 23
^4 Froplijrhse nnd Bcbaiidliiiig der Mxnellen Nennttlieiite,
in diesen Fällen zwar nicht zu umgehen; man tut jedoch immer
gut, wenn man auf den Erfolg dieser psychischen Beeinflussung
sich nicht zu sehr verlasst und durch strenge Regulierung der
Lebensweise dafür Sorge tn^, dass dem Patienten nicht viel
Zeit bleibt, sinnlichen Gedanken nachzuhängen, und auch die
äusseren und inneren — körperlichen — Anreize zu solchen
möglichst beschränkt werden. Wer nach redlicher Tagesarbeit
noch stundenlang angestrengt turnt oder eine Idarschleistung
von lo— 12 Stunden hinter sich hat, wird nicht von sexuellen
Regungen beftstigt. Energisdie Muskelfibung jeder Art drOckt
entschieden die Erregbarkeit der sexuellen Zentren herab.
Speziell jenen Onanisten, bei welchen Beruf oder Neigung vieles
Stui^ensitzen veranlasst, ist daher reichliche Bewegung im Freien
oder eine andere Art körperlicher Beschäftigung während einer
Anzahl von Tagesstunden (aber nicht Reiten und Velozipcd-
fahrcn) dringend zu empfehlen. Intensive geistige Anspannung
bildet dagegen kein durchwegs geeignetes Ablcitungsmittel gegen
den sexuellen Dran^' des eingefleischten Mastiirbanten. Dieselbe
erweist sich zwar bei dem in sexueller Abstinenz Lebenden
förderlich zur Bekämpfung der gelegentlich sich stärker geltend
machenden sexuellen Regungen; bei den neurasthenischen Mastur-
banten kann dieselbe dagegen die bestehende nervöse Er«
Schöpfung steigern und hierdurch das Auftreten übermässiger
Pollutionen und der Spermatorrhoe begünstigen. Leider kommt
ein grosser Teil der Masturbanten uns erst in einem Stadium
zu Gesicht, in welchem die geistige und körperliche Leistungs-
fähigkeit derselben bereits erheblich gesunken ist. Auch bei
') Bei zwei jungen MTinncm meiner Beobachtung, dii- längere Zeit exzessiver
Maiiturbation ergeben waren, steilten sich nach Reitversuchen Anzeichen von
SpennMonAioe «In. Dms das VetonpctUahi«» in demticeii FSll«n Sholidi« Folgen
bnben kann, iat nabctiegend. Bei einem von mir tMhandtltea, seit Jahicn an
FoUatinn. nimiae leidenden Neurasdieniker traten beim Veloziped fahren auf
holperigen Wegen öfters Pollutionen ein. Von Intertsse sind hier auch die Mit-
teilungen Ilaminond's über die „Mujerados" unter den Ji^ebloindiaoem in
Keu-MexUto. Diese ersetzen bei sieb dnrcb häufiges Mastuibicfen und fast
kontinuicrlidics Reiten anf ungesattelten Pferden «ne andauernde Spennatotrhoe,
welche .iil^nalilikli zur Verkümmerung der Sexualorgane und Impotenz führt. Die
wciterr 1 "t^' tlir.er kiinstlahcn Entmarrn^mj; ist, dass Charakter und KOrperlMUi
bei den Mujerados alimäbltcb einen exquisit weiblichen Typus annehmen.
PropÜylaxe md Behandlung der aekttellen NenmUieme.
355
diesen Patienten liegt es uns ob, auf eine entsprechende, den
vorhandenen Kräften sorgfältig angepasste Beschäftigung hin-
zuwirken. Des Weiteren ist in dien Fällen für r^elmassige und
leichte Stuhlentleerung Sorge za tragen, der Genuss geistiger
Getränke zu untersagen und bei körperlich heruntergekommenen
Individuen auf Verbesserung der Allgemeinemährung hinzuwirken.
Sehr wichtige Dienste kann uns, wo es sich um die Be-
seitigung eingewurzelter masturbatorischer Gewohnheiten han-
delt, die hypnotische Suggestion leisten, v. Schrenk-Notzing
glaubt sogar, dass bei Onanie keine andere Behandlungsmethode
in Beziig auf Schnelligkeit und Sicherheit der Wirkung mit der
hypnotischen Therapie sich vergleichen lässt und dieses Heil-
verfahren berufen sei, zukünftig in der Behandlung der Onanisten
die Hauptrolle zu spielen und die bisher üblichen Heilmethoden
nur ergänzungsweise heranzuziehen seien. Auch Berillon,
Forel, Wetterstrand u. A. rühmen die Wirksamkeit der
Hypnotherapie bei Masturbation. Nach einer Zusammenstellung
V. Schrenk-Notzing's wurden von 20 Onanisten 13 geheilt
(hiervon 10 mit späterer Nachricht) und 6 gebessert. Nach meinen
bisherigen Erfahrungen empfiehlt sich die Anwendung der hyp-
notischen Suggestion bei älteren Kindern» deren andauernde
Oberwachung auf grosse Schwierigkeit«! stösst und z. T.
überhaupt nicht durchführbar ist, dann bei Erwachsenen, deren
Willensschwäche einen nachhaltigen Erfolg auch von energischen
Mahnungen und Belehrungen im wachen Zustande nicht erwarten
lässt, femer in den Fällen, in welchen der Impuls zur Onanie
ausgesprochenen Zwangscharakter aufweist. Bei Kindern jedoch
sowohl als Erwachsenen dürfen wir auch bei Anwendung der
Hypnotherapie die vorstehend erwähnten diätetischen Mass-
nahmen keincsweLjs ausser Acht lassen.
Bei den Exzedenten in Venere mit gesunkener Potenz ist
oft ein Aussetzen des sexuellen Verkehrs für länj^'ere Zeit not-
wendig. Dabei ist natürlich jede Gelegenheit zu sexueller Er-
regung zu meiden. Bei Verheirateten führt in diesem Funkte
nicht selten nur eine zeitweilige Trennung von der allzusehr
geliebten oder begehrlichen Gattin zum Ziele. Dass wir ausserdem
auf Meidung des Congressus interr. und frustraner Erregung
23'
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356
Prophylaxe und Behandlung der sexuellea Neurasthenie.
hinzuwirken haben, ist selbstverständlich. In den Bereich der
ursächlichen Behandlung gehört ferner die Beseitigung von Er-
krankun^'on und Abnormitäten der Sexualorgane bei beiden
Geschlechtern, bezüglich welcher wir auf die einschlägigen
SpezialWerke verweisen müssen.
Wenden wir uns nun zu jenen Mitteln, welche auf den
Zustand des Nervensystems direkt einwirken, so ist vor Allem
SU bemerken, dass die Neurasthenie sexuellen Ur*
Sprungs kein anderes Eingreifen erheischt als jede
Neurasthenie anderer Verursachung. Welchen Weg
wir bei der Behandlung jedoch audi einschlagen wollen, immer
mOssen wir uns von zwei Klippen ferne zu halten suchen, zwei
Klippen, an welchen so viele therapeutische Unternehmungen
zu Grande gehen: der Oberschätsiing wie der Unterschätzung
der einzelnen gebräuchlichen Heilverfahren. Bei der Behandlung
aller sogenannten funktionellen Nervenkrankheiten werden be-
kanntlich mit den verschiedensten Mittehi — physikalischen
Heilagentien, Massage, Luftkuren, Arzneien, lokaler Behandlung
der Sexualorgane etc. — häufig auffallende Erfolge erzielt. Dieser
Umstand und die spczlalistische Bcschäftigimg mit einzelnen
Bchandlungsaicthodcn habeii einen grosse n I eil der Arzle zui
Überschätzung der Leistungsfähigkeit und dem entsprechend zu
einem übermässigen Kuhns einzelner Mittel geführt, mit dem
sich gewöhnlich ungerechtfertigte Vernachlässigung anderer Mittel
verbindet. An die Polypharmazie amerikanischer und englischer
Ärzte, an den Missbrauch, der mit den sogenannten Ncrvinis,
narkotischen und hypnotischen Mitteln noch immer in grossem
Massstabe getrieben wird, reiht sich der mit gänzlicher Ver-
werfung arzneilicher Behandlung einhergehende Wasserfana-
tismus deutscher Hydropathen, der übermässige Kultus einzelner
elektrotherapeutischer Verfahren, der Massage und der schwedi-
schen Heilgymnastik, gewisser Diätkuren, die gynäkologische
Behandlung nicht voriiandener oder irrelevanter UterinafTektionen
und die planlose Matträtierung des Caput gaUinagmis an, von
der Bäderreklame ganz zu schweigen. Die nicht zu leugnenden
Wirkungen der Suggestion haben andererseits hervorragende
Vertreter der suggestiven Behandlung (Bernheim, Forel)
Proptiylwe und BebaAdlniig der seradleii Nenmtliepie. 357
dazu geführt, die grosse Mehrzahl der Heilwirkungen der eben
genannten Verfahren auf si^estive Einflüsse za beziehen. Zum
Glück hat diese Anschauung in weiteren ärztlichen Kreisen bisher
keinen Eingang gefunden; sie müsste, wenn nicht zum thera«
peutisdien Nihilbmus, jedenfalls zu einer Vernachlässigung der
durch vielfältige Erfohrungen erworbenen Grundsätze für die
Anwendung der physikalischen, klimatischen und arzneilichen
Heilmittel führen. Wenn die Wirkungen der Hydrotherapie
z, B. hauptsächlich auf Suggestion beruhen würden, so könnte
es keinen grossen Unterschied ausmachen, ob wir in einem
gegebenen Falle kalte Vollbäder und Douchen oder nur temperierte
Halbbäder anwenden; die kalten Prozeduren inüs ten sogar eme
intensiven- Suggestivheilwirkung äussern. Für d n Elektro-
therapeuten wäre es an sich gleichgültig , wenn seine Erfolge
hauptsächlich durch Suggestion bedingt sind, ob er am Kopfe
mit einer Stromdichte von ^/lo oder ^/loo operiert, sofern er nicht
die grössere Stromdichte etwa wegen ihrer intensiveren Suggestiv-
wirkung vorziehen wollte. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass es
sich keineswegs so verhält. Die ungeheuere Zahl von Miss-
erfolgen, die bei der Anwendung der physikalischen Heilmethoden
in unerfahrenen Händen beobachtet werden, die Vor- und Um-
sicht, deren auch der Geübteste bei Verwertung derselben
bedarf, um das der Individualität des dnzehien Kranken ^t-
sprechende zu treffen, sie zeigen in unverkennbarer Weise, dass
die Erfolge dieser Heilverfahren nicht in dem Masse von sugge-
stiven Einflüssen herrühren können, wie die Vertreter der Nancyer
Sdiule annehmen. Wir dürfen auch hier das Kind nicht mit
dem Bade ausschütten. Die ungerechtfertigte und verwerfliche
Reklame, die mit einzelnen Kurmethoden getrieben wird, darf
uns nicht verleiten, denselben den ihnen immanenten therapeu-
tischen Wert abzusprechen. Immerhin müssen wir aber Bern-
heim und Forel das Verdienst zugestehen, zu einer strengeren
Kritik der Wirksamkeit der bei nervösen Schwächezuständen
gebrauchten Kurmittel den Anstoss gegeben zu haben.
Von arzneilichen Mitteln ist bei Bekämpfung neurasthcni-
scher Affektionen — sohin auch bei der sexuellen Neurasthenie —
wenigstens in Bezug auf Hebung des krankhaften Allgemein-
358
Prophylaxe und Bebandlung der sexuellen Neurasthenie.
zustandes der Nerven erfahrungsgemäss nicht sehr viel Erspriess-
liches zu erwarten. Seltsam kontrastiert mit dieser Tatsache
allerdings das stetige Anwachsen der Zahl der Nervenmittel, von
denen eines das andere nach den Versicherungen der Fabrikanten
und gläubiger Ärzte an Wundcrlcistungen überbieten soll. In
der Tat hat aber die Menge der neueren und neuesten Nervina
unser therapeutisches Vermögen im Wesentlichen nur in sympto-
matischer Hinsicht vermehrt. Wo es sich z. B. um Beseitigung
von Schmerzen und anderen Reizzuständen handelt, leisten uns
neben den Brompräparaten Antipyrin , Phenazetin, Citrophen,
Aspirin, Trigemin etc. schätzbare Dienste; diese Mittel ermög-
lichen es uns auch, den Gebrauch der Narkotika auf gewisse
seltene Einzelfälle zu beschränken. Aber eine direkte Kräftigung
des Nervensystems wird durch keines der derzeit bekannten
Nervina erzielt. Die Hoffnungen , welche man auf die organo-
therapeutischen Präparate tierischer Provenienz, insbesonders die
subkutane Anwendung von Nerven.substanz und Brown-Se-
quard'schen Hodenextrakt, setzte, haben sich nicht erfüllt. Auch
über die Leistungen des Pöhl'schen Spermin besteht noch
keineswegs genügende Klarheit '). Wo es sich um Förderung
der Ernährung des Nervensystems handelt, verdienen die organi-
schen Phosphorpräparate Sanatogen, Lecithin, Protylin (Roche),
Phytin Verwertung, wenn auch die hiermit erzielten Resultate
im Ganzen hinter den Anpreisungen der Fabrikanten und mancher
Arzte entschieden zurückbleiben.
Zu den am meisten bei Neurasthenie in Gebrauch gezogenen
Mitteln zählen noch immer neben den Hrompräparaten Eisen und
Arsenik , und es ist nicht zu leugnen , dass auch gegenwärtig
noch die Prüfung der Frage, ob für das eine oder andere dieser
Mittel eine besondere Indikation vorliegt, häufig verabsäumt wird.
Es ist begreiflich, dass bei diesem kritiklosen V^orgehen die er-
warteten Erfolge oft ausbleiben und nicht selten statt einer
') Die Wirkungen des Spermin wird von Vielen auf Sufyjestion rurück-
geführt, wozu der hohe l'rcis des Mittels Veranlassung gehen kann. Ich selbst
GoogI(
Froi>hyUxe und Behandlung der sexuellen Neunstbeoie.
359
Besserung des Nervenzustandes lediglich eine Beeinträchtigung
des Magens resultiert.
Ich möchte nicht missverstanden werden. Eisenmittel leisten uns
in manchen Fallen von Neurasthenie entschiedene Dienste; ihre Verord-
nung ist jedoch nur in den FAUen am Pktie, wo Bhitamint und die
daraus resultierende Herabsetzung der Allgemeinemlhrung zweifellos
das Primare, die nervOsen Störungen deren Folgezustand bilden, also
insbesondere in Fällen, wo direkte Blut- oder länger dauernde Säfte-
verluste infolge irgendwelcher Krankheiten vorhanden waren oder durch
schwere AUgemeincrkrankungen die Ernährung herabgesetzt wurde. In
diesen FtUen empfehlen sich auch die verschiedenen HAmoglobtnprA»
parate, welche den Vorzug haben, dass sie den Magen nicht belästigen;
dieselben können auch bei sekiindiiren (im Gefolge der Xciirastlunie sich
entwickelnden) anflmischen Zustanden Anwendung tindeii. Eine Korn-
bmation von Mitteln, unter wekhea Eisen und Mangan eine wichtige
Rolle spielen, enthfllt Fdlow's Sirup hypophosphites (Chinin, Strychnin,
^en, Mangan, Kalzium, Kali, gebunden an unterphoq>horige Sfture).
Der in neuerer Zeit unter dem Titel „Sirupus Kolae compositus" in den
Handel gebrachte Sirup enthalt neben den Hauptbestandteilen des
Feilow'scheu Sirup Kolaextrakt. Ich glaube, von beiden Siruparten bei
manchen mit Anftmie zusammenhängenden neurasthenisehen Afiektionen
gute Wirkung gesdien zu haben; doch empfiehlt sich die Anwendung
dieser Sirupe nur in Fallen, in Welchen s^ueUe Reizzustftnde fehlen und
der Magen frei von Störungen ist.
Entschieden Beträchtlicheres als arzneilicbe Agentien leisten
bei vielen Neurasthenikern klimatische Kuren. Schon ein ein-
facher Landaufenthalt in waldreicher Gegend erweist sich dem
Städter mit heruntergekommenen Nerven oft in hohem Masse
fSrderlicb; noch grössere Vorteile bietet namentlich bei länger
bestehenden Leiden ein Aufenthalt im Gebirge oder an der See.
Der Einfluss der Luft, der übrigens nicht zu unterschätzen ist,
bedingt natarltch nicht allein den Heilerfolg der klimatischen
Kuren. Die geistige Ausspannung, die hiermit gewöhnlich ver-
bunden ist, die angenehmen und umstimmenden Eindrücke der
neuen Umgebung, bessere und regelmassigere Ernährung und
reichliche Körperbcwc^un^^ haben oft sogar den HauptenteÜ
an dem Heilerfolge /u beanspruchen. Reisen sind clagrgen nur
solchen zu empfehlen, die über ein gut Teil kürperlichcr und
geistij^er Leistungsfähigkeit verfügen. Ich habe mehrfach bei
sexuellen Hypochondern, die anhaltend über Parästhesien und
Schmerzen in den Genitalien, dem Rücken etc. klagten, von Reisen
in Gesellschalt eines reundes den günstigsten Einfluss gesehen.
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360
Prophylaxe und Behandlung der sexuellen Neurasthenie.
Zu den mit Recht am meisten in Anspruch genommenen
Hilfsmitteln zählt die Hydrotherapie , die bei der Mannigfalt
und Abstufbarkeit ihrer Prozeduren bezüglich der thermischen
und mechanischen Reizeinwirkung für die grosse Mehrzahl Neur-
asthenischer in irgend einer Form sich anwendbar erweist. Wenn
wir auch zugeben wollen, dass häufig die Wirksamkeit der Wasser-
kuren insofern überschätzt wird, als dem Einflüsse derselben zu-
geschrieben wird, was anderen hiermit verknüpften Faktoren (der
geistigen Ruhe, Landkift etc.) zukommt, so müssen wir andererseits
doch, wie wir oben schon andeuteten, entschieden davor warnen, die
Bedeutung der Art der angewandten Prozeduren zu unterschätzen,
etwa in der Annahme, dass die Suggestion die Hauptsache leiste.
Die wahrhaft abschreckenden Resultate, welche der Kaltwasser-
fanatismus der Wasserärzte älteren Schlages lieferte, sind schon ge-
nügend, diese Illusion gründlich zu zerstören. Die von einem mäch-
tigen Glauben ausgehenden Suggestiveinflüsse können zwar, wie
manche in Wörishofen und anderweitig erzielte Erfolge lehren, die
Wirkungen einer an sich schädlichen Behandlung paralysieren und
sogar überkompensieren, so dass trotz aller dem Körper zugefügten
Unbill eine günstige Änderung des Befindens eintritt. Solch mäch-
tigen Glauben erwecken jedoch, wie der Nimbus lehrt,
der seinerzeit eine Hohenester und in neuerer Zeit Pfarrer Kneipp
umgab, in der Regel nur Heilkünstler nicht ärztlichen
Standes. Der Arzt, der bei einem Patienten eine Wasserkur
für angezeigt hält, tut jedenfalls gut, soferne er auf hydriatischem
Gebiete nicht zureichende Kenntnisse und Erfahrungen besitzt,
seinen l'aticnten einer Anstalt zu überweisen, deren Leiter Bürg-
schaft für wissenschaftliche und strenge individualisierende An-
wendung der Wasserkur bietet. Bei der hydriatischen Behandlung
der sexuellen Neurasthenie ist, abgesehen von dem allgemeinen
Nervcnzustande, speziell der Umstand zu berücksichtigen, ob
sexuelle Reizsymptome vorhanden sind oder nicht. Kalte Duschen
auf den Rücken und die Genitalien, ebenso kalte Sitzbäder sind
bei Reizzuständen (belästigenden Erektionen, Pollutiones nimiae
etc.) zu meiden ; tliese Prozeduren eignen sich nur für die Fälle
mit herabgesetzter Potenz ohne Reizerscheinungen. Bei Neigun}^
zu übermässigen Pollutionen, verfrühter Ejakulation etc. sind da-
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Propbylue uod Behiodlaiig der «exuellcn Nenrasthenie.
361
gegen mehr temperierte Sitzbäder (16—22*» R.) am Platze. Halb~
bäder von 22 — 24® R entsprechen den Anforderungen der grossen
Mehrzahl der Fälle, sie können bei Vorhandensein sowohl als
bei Mangel von Reizerscbeinungen Anwendung finden. Warme
Bider (Thermen, warme See-, Sool- und Stahlbäder) sind be-
sonders bei in ihrer Ernährung sehr herabgekommenen, blut-
armen Nervenschwachen angezeigt. Einfache Fluss- und Binnen-
seebSder leisten indes auch in vielen Fällen erspriessliche Dienste;
selbst während der kalten Jahreszdt ist bei vorhandener Ge-
legenheit in einer entsprechend eingerichteten Badeanstalt die regel-
mässige Benutzung eines Schwimmbades öfters empfehlenswert.
Die Anwendung der Elektrizität gestattet uns, auf den Ge-
samtziistand des Nervensystems wie auf den Zustand einzelner
Abschnitte desselben einzuwirken. Beeinflussung des Gcsamt-
nervensystems erzielen wir durch die Methoden der aligemeinen
Elektrisation, wovon meines Erachtens nur die sogenannte all-
gcmeme Faradisation und das elektrische Bad Beachtung ver-
dienen. Die Galvanisation des Kopfes wenden wir bei Er-
schöpfungszuständen des Gehirns, die Galvanisation des Rückens
bei Myelasthenie, die Galvanisation am Habe vorzugsweise bei
den mannij^fachcn Erscheinungen der Herzneurasthenie an. Die
statische Elektrizität, die in ihrer physikalisch-therapeutischen
Wirksamkeit dem galvanischen und faradischen Strome nacfa-
st^t, dgnet sich besonders zur Ersielung psychischer Wirkungen.
Massage und Heilgymnastik erweisen sich bei höheren Graden
von Muskelschwäche oft von Nutzen, die Massage namentlich bei
Erschöpfungszuständen, die wen^ aktive Bewegung zulassen.
Sehr gute Dienste leisten diese Faktoren auch bei Bekämpfung
der habituellen Obstipation, die bei den sexuellen Neurasthenikem
oft wesentlich zur Steigerung ihrer Beschwerden beiträgt.
Die 14 rosse Bedeutung einer sachgemässen und konsequenten
psychischen Behandhing bei neurasthenischen Zuständen hat in den
letzten Jahren mehr und mehr Anerkennung gefunden. Die Mass-
nahmen, welche in das Gebiet der Psychotherapie gehören, sind
jedoch sehr vcrschicdem-r Art und die Ansichten über den Heil-
wert einzehu-r derselben bei Neurasthenie geteilt. Dies gilt
insbesonders für die hypnotische 5uggestivbehandlung, viel weniger
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362 Prophylaxe und Bchandiung der sexuellen Neurasthenie.
für die Siiggostivtherapie im Wachen ; doch scheinen die Vor-
urteile, welche j^e(,'en die Verwertung der Hypnotherapie im
Allgemeinen und daher auch bei Neurasthenie sich geltend machten»
mehr und mehr abzunehmen. Das hypnotische Heilverfahren
kann sich nicht direkt gegen den neurasthcnischen Allgemein*
zustand richten, sondern nur gegen einzelne Symptome, mit deren
Beseitigung allerdings in der Regel auch der Allgemeinzustand
gttnstig beeinflusst wird; das Gleiche gilt für die Wachsuggestion.
Zur Vornahme von Mastkuren ist bei sexuellen Neur«
astiienikem tm Ganzen nicht häufig Veranlassung ; ihre Anwendung
kann auf die Fälle hochgradiger Nervenerschöpfung mit gesunkener
Potenz ohne sexuelle Reizerscheinungen beschränkt werden.
Indem ich nun bezüglich der Details der Gebraudisweise
der angeführten Kurverfahren auf meine a. a. O. gegebene aus-
führliche Darstellung verweise*), will ich hier nur noch in KQrae
auf die Behandlung der wichtigsten nach sexuellen Missbräuchen
in der Genitalsphäre auftretenden Störungen emgefaen.
Was zunächst die Therapie der übennSss^en Libido be-
trifft, die wir als eine sehr beschwerliche Erscheinung nicht
nur bei Ledigen, sondern mitunter auch bei Verheirateten mit
Gelegenheit zu regelmässigem Geschleciitsverkchr, ferner bei an
Jahren vorgeschrittenen Personen nicht minder als bei jüngeren
antreffen, so ist auf die hier erforderlichen Massnahmen z. T.
schon fri!h(n hingewiesen worden. Die Wichtigkeit der Fürsorge
für stete und leichte Stuhlentleerun'^» möchte ich hier nochmals
betonen; bei vollblütigen Individuen mit sitzender Lebensweise
erweist sich öfters längerer Gebrauch von abführenden Mineral-
wässern von günstigem Erfolge. In den in Betracht kommen-
den Fällen ist femer eine gewi<^^e <^iedankcndisziplin notwendig ;
die betreifenden Patienten haben alles zu meiden, was tigend
geeignet ist, sexuelle Erregimg zu verursachen oder auch nur
die Gedanken auf das sexuelle Gebiet zu lenken» wie intimeren
') S. Löwenfeld, die moderne Behandlung dt-r Nervenscbwfldbc (Nctt*
asthfnie\ ilor Hysterie und vcrw.in<ltcr leiden; 4, Aufl. Wic-haden 1904; be-
züglich der psychischen Behandlung des Weiteren : Lehrbach der gesamten Psycho«
tberapie, Wtesb«deii 1897 and der Hypnotismiu, Handbodi d«r Lehre von der
Hypnose und der Sii(gestioa, Wiesbideii 1901.
Prophylaxe und Behandlui« der sexueUea Neun»tb«iiie.
363
Verkehr mit Angehörigen des anderen Geschlechts (bei Ver-
heirateten Beschränkung der gegenseit^en Zärtlicbkeitisn), ge*
wisse Arten der Lektüre, Besuch mancher Schauspiele, Operetten
und insbesonders der Varidt^vorstellungen, Betrachtung obszöner
Bilder etc.
Dagegen kann ich vieles Alleinbleiben, das Meiden jeder
geselligen Unterhaltung durchaus nicht empfehlen. Ich habe
gefunden, dass gerade bei Männern, welche infolge Mangels
geeigneter Gesellschaft oder von Abneigung gegen geselligen
Verkehr in einer Art beständiger Isolierung lebten, das Über-
wuchern des Sexucllsinnlichen in der Gedankenwelt besondere
Dimensionen annahm. ICine gewisse Beschäftigung ist ebenfalls,
wie wir schon erwähnten, unentbehrlich, um das Abschweifen
der Gedanken auf das sexuelle Gebiet m<jglichst zu verhindern;
hierbei muss der krirperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit
der Patienten sorgfältig Rechnung getragen w-erden.
Dass die hypnotische Suggestion uns bei exzessiver Libido
grosse Dienste leisten kann, erhellt schon aus dem an früherer
Stelle bei Besprechung der Therapie des onanistischen Hanges
Erwähnten. In manchen Fällen ist die Wirkung der Hypnose
äusserst prägnant und über alles auf anderem Wege Erreich-
bare weit hinausgehend. So genügte bei einem von mir be-
handelten, Ende der 20 er Jahre stehenden Fraulein, welches
nach dem Aufgeben lange geübter Masturbation zeitweiltg an
Schlafmangel und grosser geschlechtlicher Erregtheit litt, Wiedel^
holt eine einmalige Hypnotisierung mit entsprechenden Sugges-
tionen, um der Betreffenden für Wochen ruhigen Schlaf und
Befreiung von der sehr lästigen sexuellen Erregung zu ver-
schaflTen. Allerdings war diese Patientin eine vorsGgliche Som-
nambule, die in \v( nit^en Sekunden sich tief einschläfern liess,
und auch in einzelnen anderen Fällen, in welchen Somnambulis-
mus erzielt wurde, waren die Erfolge sehr befriedigend, wahrend
bei den Patienten, bei welchen nur leichtere Grade der Hypnose
sich herl)eiführen Hessen, die Wirkun;^ der einzelnen hypnoti-
schen Sitzungen z. T. weniger ausgesprochen und nachhaltig war.
Von medikamentösen Mitteln erweisen sich häufig grössere
Gaben von Bromsaizen (4—6 Gramm pro die) von deutlichem
364
Prophylaxe und Behandlung der sexuellen Neurasthenie.
Nutzen, in manchen Fälk-n auch Campher pur oder in Ver-
bindunj^ mit Brom als Canipliora monobromata.
Wirksamer als die j^^enannten Medikamente erscheint mir
jedoch eine Kombination von Mitteln, mit welcher ich in neuerer
Zeit bei sexueller Hyperästhesie und anderen sexuellen Reiz-
zuständen entschieden günstige Resultate erzielte. Es ist dies
die als Liquor sedans bezeichnete Mischung, die in neuerer Zeit
insbesonders von der Firma Parke, Davis & Comp, in den
Handel gebracht und für dysmcnorrhöische Beschwerden emp-
fohlen wird. Die von mir gebrauchte Formel für die Liquor
sedans hat folgende Zusammensetzung:
Rp.
Hydrastin. muriat. 0,6
Fluid Extract. Piscidiae crythr. 18,0
Fluid ExtracL VOmmi pniniTolil. 24,0
Tinct aromat. 9/>
3X tAgL ao— 40 Tropfen.
In diätetischer Hinsicht habe ich bei sexueller Hyperästhesie
von v^etarischer Lebensweise, i. e. Verzicht auf Fleisdigenuss
und vollständiger Alkobolabstinenz ausgesprochen günstige Wir-
kungen gesehen.
Bei der Behandlung der übermässigen nächtlichen Pollu-
tionen ist vor allem ein gewisses diätetisches Regime unerlässlich.
Sind diese Samenabgänge Teilerscheinung eines nervösen £r-
schüpfungs;£ustandes, der mit Herabsetzung der AUgemetnemäh-
rung und Blutarmut vergesellschaftet ist, so ist eine roborierende
Diät , Meidung erheblicher geistiger und körperlicher Anstren-
gui)i;en und während der besseren Jahreszeit reichlicher Aufent-
halt im Freien angezeigt. Bei gut genährten, kör})crlich nicht
hcrabj^ekommenen Pollutionisten ist daye<4en reizlose, frugale
Ernährunj^ mit Einschränkung der Fleischspeisen und Enthaltung
von geistigen Getränken am Platze. Bei beiden Kategorien von
Leidenden ist nur ein frugales Abendbrod (l>ei den Gutgenährten
nur eine leicht verdauliche Mehl- oder Milchspeise) zu gestatten;
dieses soll zeitig \ (M/ehrt und zwei Stunden vor dem ZubeUe»
gehen, wenn tunlich, überhaupt keine Getränke mehr genossen
werden. Der Zweck dieser \'erordnung ist ein doppelter: sowohl
die reflektorische, durch den Druck einer stark ausgedehnten
Prophylaxe und Behandlung der sexuellen Neurasthenie.
365
Blase vermittelte, als die von den psychischen Zentren aus — •
durch sinnliche Traumvorstellungen — erfolgende Erregung des
Centrum ^cnito^pinale zu verhüten. Von arzneilichen Mitteln
leisten gegen die Foil. nimiae die Brompraparate in manchen
Fällen gute Dienste. Das Gleiche gilt für das Atropin, wie ich
mich namentlich in Fällen überzeugen konnte, in welchen kein
anderes Mittel zur Anwendung gelangte. Am wirksamsten
schönt jedoch nach meinen bisherigen £rfahrungen das in
neuerer Zeit von Teleki in Budapest und König in Braunau
empfohlene Fluid. Extract. HydrastU canadensis, das in Dosen
von i5~>3o und mehr Tropfen täglich 3 mal gegeben wird. Ich
kann mich jedoch den enthusiastischen Lobeserhebungen, welche
die genannten Autoren dem Mittel bei Poll nimiae spenden,
nicht gans anschliessen. Ein Erfolg tritt auch bei Anwendung
des Fluid. Extr. Hydrastis nicht selten nur zögernd ein, und die
Anwendung anderer therapeutischer und namentlich diätetischer
Massnahmen darf hierbei nicht verabsäumt werden. Von elek-
trischen Behandlungsmethoden kommen bei Poll, nimiae die
horisontate Durchströmung des Lendenmarks (+ Pol unter Dorsal-
und oberste Lendenwirbel, — Pol Abdomen), die Galvanisation
längs der Wirbelsäule mit besonderer Berücksichtigung des Lenden-
niaiks und absteigende Ströme von der Lendenmarksregion der
Wirbelsäule zum Damme in Betracht ; die Stromdichte soll hierbei
2-—^ IVl «A
io>'S cnT' Sitzungsdauer fönf Minuten nicht übersteigen.
Eine lokale Behandlung der Pars prostatica der Harnröhre
ist nur in einer Minderzahl jener Fälle, in welchen es sich
nicht um chronische Urethritis handelt, ci forderlich. Das wirk-
samste unter den hier in Betracht zu ziehenden Verfalnt t^ und
dabei ganz gefahrlos ist jedenfalls die Anwendung der von W 1 n t e r-
nitz empfohlenen Kühisonde (Psychrophor). Die Kühlsonde,
ein Katheder ä double courant ohne Fenster und mit einem
Zu- und Ablaufschlauche versehen, durch welchen man Wasser
von einer Temperatur von 20—8" R. in der Dauer von höchstens
12 Minuten durchfliessen lässt, wird bis an den Blasenhals ein-
gefQhrt; hierdurch wird die Hamröhrenschleimhaut mit dem
Caput gallinaginis und seinen Ringmuskdn dem mechanischen
366
Prophylaxe und Bebandlunf; der sexuellen NcurastbcDie.
Einflüsse des Druckes und dem thermischen der gewählten Tem-
peratur ausgesetzt. Ultzmann pflegte dem Gebrauche der
Kühlsonde die Einführung dicker Metallsonden vorauszuschicken;
diese vorbereitende Behandlung scheint mir jedoch überflüssig,
da nichts entgegensteht, anfänglich die Anwendung der Kühl-
sonde auf ganz kurze Zeit zu beschränken, um die Harnröhre
an den Eingriff zu gewöhnen. Die Erfolge, welche Winternitz
mit der Kühlsonde erzielte, sind ausserordentlich günstig'). Ob
dieselben jedoch lediglich auf die mechanische und thermische
Lokalwirkung des Instrumentes zurückzuführen sind, erscheint
mir mindestens zweifelhaft. Die Anwendung der Kühlsonde
ist eine Prozedur, die einer erheblichen Suggestivwirkung
fähig ist. In den Fällen meiner Beobachtung Hessen sich durch
die Kühlsonde nicht immer andauernde Erfolge erzielen. In
der ersten Zeit der Applikation war die Wirkung allerdings fast
immer eine günstige, zum Teil sogar — bei täglichem oder
fast täglichem Auftreten von Pollutionen — eine höchst frap-
pante; diese günstige Beeinflussung lässt jedoch in manchen
Fällen bei Fort.setzung der Applikationen wieder nach, so dass
schliesslich von denselben abgesehen werden muss. Auch die
Berichte in der Literatur zeigen, dass die Wirkung der Kühl-
sonde bei Poll. nim. keine gleichmässig gute ist. Wir dürfen
auch nicht unerwähnt lassen, dass die Einführung des Psychro-
phors bei Pollutionisten zumeist durch eine bei denselben vor-
handene beträchtliche Hyperästhesie der ganzen Urethra oder der
Pars prost, allein erschwert wird. Mit geduldigem Vorgehen
und eventuell Anwendung von Suppositorien mit Extr. Belladonn.
oder Opii, die einige Zeit vor der Anwendung in das Rektum
eingeführt werden und neben ihrer pharmakodynamischen jeden-
falls auch eine Suggestivwirkung der Hyperästhesie der Urethra
gegenüber äussern, kommt man zwar wenigstens in den Fällen,
in welchen keine Striktur besteht , gewöhnlich ans Ziel ; die
anfänglich erhebliche Schmerzhaftigkeit oder Unannehmlichkeit
Winternit/. erwähnt, dass in den meisten Fällen bei abnorm häufigen
nächtlichen Samenenlleerunjjen unter dem Gebrauche der Kühlsonde die Pollutionen
seltener wurden. Sämtliche Fälle, die mit grösserer Hyperästhesie der Harn-
röhrenüchleitiibaut einherginjjen, wurden geheilt.
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Prophylaxe und Behandlung der sexuellen Neurasthenie. 367
der Pkxjzedur verliert sich mit öfterer Wiederholung dersdben
mdir und mehr. Doch sind auch bei behutsamster Einführung
des Instrumentes Ohnmachtsanwandlungen während oder noch
einige Zeit nach derselben in der ersten Zeit der Behandlung
nicht sicher zu vermeiden. Wiederholt ist es mir auch vor-
gekommen, dass bei der Entfernung des Instrimientes aus der
Harnröhre Samenergiessungen (ohne Erektion etc.) erfolgten, so
dass aus diesem Grunde von dem weiteren Gebrauche des
Psychrophors abgesehen werden musste. Auch das regelmässige
Auftreten von Erektionen nach der Kinführung des Insti uaientcs
haljf irh beob ü btet, was ebenfalls den weiteren Gelirauch
dej>sclL)en verhinderte in Fallen, in welchen die Anwendung
der Kühlsonde wegen zu grosser Empfindlichkeit oder Ängst-
lichkeit des Patienten zunächst nicht ratsam erscheint, kann
man den Arzberger'schen oder einen anderen der verseht«-
denen Mastdarmlcühlapparate mit Nutzen verwenden. Was da-
gegen die Anwendung von Ätzmitteln im prostatischen Teile
der Harnröhre in Form von Einspritzungen etc. bei Mangel
von Entzflndungszustanden gonorrhoischer Provenienz anbelangt,
so sind die mir bekannt gewordenen Resultate dieser Therapie
im Allgemeinen so abschreckend, dass ich diesbezQglicb nur
meine Warnungen den von sehr berufener Seite bereits vor-
liegenden beifügen kann.
Bezf^lich der hydriatischen Behandlung haben wir an
fr^erer Stelle bereits das Nötige bemerkt. Hier sei nur noch
erwähnt, dass wir dem von manchen Seiten empfohlenen Ge-
brauche des C hapnian'schen Rückenschlauches bei Poll. nim.
kaum eine andere denn eine suggestive Wirkung zuzuerkennen
vermögen.
Besondere Beachtung erheischt auch das psychische Ver-
halten der Pollutionisten. Infolge der ungünstigen Rückwirkung,
weiche die nächtlichen Samenergüsse auf das Allgemeinbefinden
') Buxbaum -glaubt gcfunclcn zu haben, dass hochf^adige Hyperästhesie
der Harnröhre für die Anwenduiij; der Kühlsonde keine günstige Pro^Mii ^,'ibt,
dieselbe sogar direkt kontraindiziert. In deu betieffendeo Fällen sab er günstige
Rendtat» von der Anwendniic des KflhLwlilatiehcs llogs der Wirbebinte, Flehet*
doudicii und Halbbidcrn.
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368
Prophylaxe and Bcbaodlaog der Mzuelien KcurutheDie.
oder einzelne neurasthenische Symptome äussern, riditet sich
die Aufmerksamkeit sehr vieler dieser Patienten — auch bei
nicht sehr erheblicher M^rung der Pollutionen — mehr und
mehr auf die Samenverluste, und unter dem Einflüsse einer
allmählidi sieb entwickelnden oder versUrkmden hypodiondrischen
Verstimmung gelangen sie schliesslich dahin, in diesen euien
Umstand zu erblicken, der früher oder spater zu ihrem körper-
liehen und gebtigen Ruine führen muss. . Wir dürfen natürlich,
wo wir derartigen pessimbtischen Anschauungen begegnen, nicht
unterlassen, dieselben durch Aufklärungen und beruhigenden
Zuspruch zu bekämpfen. Daneben müssen die Patienten zu der
an früherer Stelle (S. 362) erwähnten, dem Abschweifen der
Gedanken auf das sexuelle Gebiet entgegenarbeitenden geistigen
Disziplin energisch angehalten werden. Bei Leuten, welche
vor dem Zubettegehen sich mit der Lektüre pornographischer
Romanwerke die Zeit vertreiben, i^;t es i^ehr schwer, den über-
mässigen Pollutionen Kinhalt zu tun. Als Mittel direkter psychischer
Beeinflussung kommen hier die larvierte und die hypnotische
Suggestion in Betracht. Die larvierte Suggestion z. B. in Form
indifferenter Pulver oder Pillen hat mir schon in manchen Fällen
Dienste geleistet ; wirksamer ist jedoch im Allgemeinen die
hypnotische Suggestion; doch genügt es nicht, einfach das
Wegbieiben der Pollutionen für eine gewisse Zeit zu suggerieren;
die Suggestion muss g^en die Quelle der Pollutionen, die sinn-
lich erregenden Träume, gerichtet sein. Die diversen mechani-
sehen Pollutionsverhinderungs- Instrumente belästigen in der
Regel den Leidenden erheblich, ohne ihren Zweck auf die Dauer
zu erfüllen.
Bei an Spermatorrhoe Leidenden erscheint mir eine Lokal-
bdundlung immer indiziert, wenn Samenat^änge bereits seit
längerer Zeit r^elmässig oder wenigstens sehr häufig bei der
Stuhl- oder Harnentleerung oder beiden Verrichtui^en sich
zeigen. Wir dürfen indes auch hier keineswegs soi^fältige Re-
gulierung der Lebensweise, des Stuhlganges und die Anwendung
von auf Kräftigung des Nervensystems hinwirkenden Mitteln ver-
nachläss^en. Eine umfängliche Erfahrung hat mich belehrt, dass
bei entwickelter Spermatorrhoe verschiedene Momente einen un-
1
Piopbylue und Behandlniis der sesndka Ncamthenie. 369
verkennbaren Einfloss auf die Menge und Hftufigkeit der Samen'
abginge Sussern. Sexuelle Aufregungen, geistige und körper-
liche Oberanstrengungen können entschieden verschlimmernd ein-
wirken und sind deshalb natürlich zu vermeiden. Andererseits
ist aber, wenn nicht ein höherer Grad nervöser Erschöpfung be-
steht, eine mässi<^e, das geistige Interesse in Anspruch nehmende
Beschäftigung keineswegs zu widerraten, da das mit anhaltender
Untätigkeit gewöhnUch verknüpfte Brüten über das vorhandene
Leiden der Heilung nicht förderhch ist. Von den in Betracht
komnicnden ^lethoden lokaler Behandlung kommt der Anwendung
des elektrischen Stromes in den Fällen, in welchen es sich nicht
um chronische Urethritis handelt, wohl die ausgedehnteste Wirk-
samkeit zu ; dieselbe leistet aber auch bei chronischer Urethritis
oft gute Dienste. Bei leichteren Graden des Samenflusses ge*
nugt häufig schon die äusserliche Applikatton (Durchleitung an-
schwellender faradischer oder kräftiger galvanischer Ströme mit
öfteren Wendungen vom Damme zur Symphyse); hiermit ver-
binde ich gewöhnlich absteigende Galvanisation vom Lenden-
marke zum Damme. In einem Teile der Fälle führt jedoch
intraurethrale Behandlung rascher und sicherer zum Ziele, und
in den scUimmeren Fällen ist solche immer notwendig. Diese
innerliche Behandlung geschieht vermittelst einer Katheterelek-
trode, die bis in die Pars prostat, vorgeschoben wird, während die
andere Elektrode in Form einer Platte am Damme plaziert ist.
Ich verwende hierzu nur mehr den faradischen Strom. Dieser
bietet, intraurethral angewandt, den Vorteil, dass er keine Atz-
wirknr.g entfaltet und bei sachtem Steii.jern der Stromstärke die
Anwendung sehr kräftiger Ströme gestattet, ohne selbst sehr
eniptindUchen Neurasthcnikcrn Schmerzen oder nur l'nbeliagen
zu verursachen; infolge dieses Umstandes gestattet derselbe
immer eine energische Einwirkung auf die Kontraktilität der
muskulösen Elemente der Samenausfühningsgänge. Die Tatsache,
dass selbst bei hyperästhetischer Pars prost, bei allmählicher
Steigerung der Stromintensität Ströme leicht ertragen werden«
die an der äusseren Haut intensiven Schmerz verursachen, lässt
sich nur dadurch erklären, dass der faradische Strom die Emp-
findUchkeit der Schleimhautpartien, auf welche er einwirkt, herab-
LSw«Bf«14, S«tiidl*Bi«r«Oie StanmiMU Viort« AiiA. 24
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Prophylaxe und Behandlang der sexuellen Nearastbenie.
setxt. Bezüglich des konstanten Stromes andererseits sind wir
noch im Unklaren, bei welcher Stromdichte Anatiung der Harn-
röhrenschleimhaut sicher vermieden wird. Die allseitigen Mah-
nungen zur Anwendung schwacher Ströme besagen gar nichts,
da sich mir bei Anwendung einer Stromstärke von '/t Miliiamp.,
die nach elektrotherapeutischen Begriffen sehr gering ist, schcm
deutliche Anzeichen einer Kauterisation der Schleimhaut der Pars
prost. (Auftreten eines geringen bräunlichen Ausflusses) ergaben,
obwohl der betretTcnde Patient während der Stromanwendung
keinen Schmerz empfunden hatte. Die Atzwiikung erklärt sich
in dem betrctTenden Falle daraus, dass die Oberfläche der Metall-
spitze meiner Katheterelektrode nur zirka 1,7 cm beträgt, die
Stromdichte demnach oder ungefähr */> und sohm trotz der
geringen angewandten Stromstärke erheblich war. Man müsste
daher, um Ätzwirkungen zu verhüten, noch erhe!>lich Geringere
Stromdichten anwenden, bei weichen dann wieder eme erregende
Einwirkung auf die erschlafften Muskelelemente zweifelhaft ist.
Mit der intraurethralen Elektrisierung lässt sich mit Vorteil die
äusserliche Behandlung (Durchleitung vom Damme zur Symphyse)
mit dem galvanischen oder faradischen Strome und die absteigende
Galvanisation vom Lendenmarke zum Damme verbinden. Die
elektrische Behandlung der Spermatorrhoe (nicht gonorrhoischen
Ursprungs) lässt nur in wenigen Fällen im Stiche ; sie erheischt
aber immer Geduld. Ich habe von derselben nie wunderartige
Erfolge, sondern immer nur allmähliche Wirkungen gesehen; bei
lange bestehender Spermatorrhoe darf n»n immer mdirmonatliche
Behandlung ins Auge fassen. In einer Anzahl von Fällen von Samen*
fluss erweist sich der Psychrophor von deutlichen Nutzen ; welche
Fälle sich für diesen Behandlungsmodus b^nders eignen, hier-
über besteht jedoch noch keine Klarheit. Ich muss nach meinen
Wahrnehmungen jedenfalls bei veralteten Fällen vonSpemuitorrhoe
der Anwendung der Elektrizität den Vorzug geben. Bezüglich der
lokalen Anwendung ätzender Mittel begnüge ich mich, auf das bei
der Therapie der übermässigen I^olhitionen Bemerkte zu verweisen.
Was nun die Behandlung der l'olenzmän^el anbelangt, die
dem Gebiete der sexuellen Neurasthenie angehören, so muss
Propliylase und Bebandlung der sexuellen NearMtbenie.
371
dieselbe selbstverständlidi der Art der vorhandenen funktionellen
Störungen angepasst werden; dies ist bisher iceineswegs von
allen Seiten berücksichtigt worden. Die der Impotentia coeundi
zu Grunde liegenden Störungen sind in den einzdnen Fällen
verschieden, und man kann im Allgemeinen bei den hier in Be>
tracht kommenden Pattenten zwei Formen des Obels unterscheiden :
bei der einen bildet die präzipitierte Ejakulation das Haupt-
phänomen ; die Ercktionsfalngkeit kann dabei intakt sein oder auch
gelitten haben (cretische oder irritative Form). Bei der anderen
ist die Ercktionsfähigkeit mehr oder minder verringert oder
auch ganz erloschen, während die präzipitierte Ejakulation mangelt
(atonische oder paralytische Form, z. T. psychischen Ursprungs).
Als pathologische und Impoten? beE^ründonde Erscheinung kann
die präzipitierte Ejakulation nur in den Füllen angesehen werden,
in welchen dieselbe konstant (nicht lediglich vorübergehend) un-
mittelbar nach der Immissio penis oder noch vor derselben,
selbst schon bei sexuellen Aufr^ungen sich einstellt
Bei der Behandlung beider im Vorstehendem unterschiedenen
Formen der Impotenz können wh neben der anthieurasthenischen
AUgemeinbefaandhing, welche bei einem erheblichen Teile der
Fälle zunächst m Betracht kommt, einer gewissen Lokalbehandlung
nicht entraten. Bezüglich der Notwendigkeit, resp. Erspriess-
lichkeit dieser beiden Heilverfahren bei Potenzstörungen sind
jedoch die Ansichten geteilt. Einzelne sehr vorsichtige und
erfaluene Autoren wie Fürbringcr und Eulen bürg legen
das Hauptgewicht bei ncrvTiser Impoteiu auf die Allgemein-
behandhmg des Xervensysti ms und t rachten eine Lokalbehand-
lung zumeist für entbehrlich, wenn nicht gar für nachteilig^).
') LeUteres ist speziell Eulcnburg's Ao&icht. Dic&er Autor erachtet
dae LokalbehaBdlttng sexueller NeoiMtheitie im AUgemetoen nur insoweit be>
rechtigt, als sie der ErfülluDg bestimmt nadiweislMicr KnasaliDdikationen (Uie-
tlirv- 1 hron. etc.) dient. Eine wesentlich symptomatische Behandlung mit örtlichen
Hilfsmitteln \vil! lt nur ausnahmsweise zulassen, und ;;war weil nach seiner An-
sicht eine ihrer Natur nach meist sehr chronische örtliche Behandlung sexualer
Funkdoiuetörungcn (wie Pollatiooeii, Speniutorrhoe» Impotcns etc) in der Regel
nur nachteilig wirkt; die betreffendea VerGdiren soUen nur allzn geeignet sein,
die ürlliilic Reizung zu unterhalten oder neu zu entfachen und jedenfalls die Auf*
roerkäamkeit der Kranken beständig auf diesen Locus aifectus hinzulenken, eine
24-
372
Prophylaxe und Behandlung der sexuellen Neurasthenie.
Es ist nach dem Schaden, welchen die achablooenmissige Miss*
handltmg der Pars prost inshesonders mit Atsongen in sahl-
retchen FlUen verursacht hat, zu wohl l>egreiflicb, dass sich bei
den genannten Autoren und anderen Imtischen Beobachtern ein
wei^ehendes Misstrauen gegen die uretlirale Therapie der Po-
tenzstdrungen entwickelt hat. AUdn man darf durdi dieses be^
rechtigte Mtsstrauen weder su enier Vemadilässigung der Lolcal-
behandlung überhaupt, noch su dner Überschätzung der Wir-
kungen der Allgemeinbehandlung sich verldten lassen. Neben
der beschwerlichen und zum Teil gefahrlichen Lokalbehandlung
der Impotenz mit Atzungen und crhcblichci mechanischer In-
sulticrung der Harnröhre verfügen wir noch über eine andere,
bei sachgemässer Anwendung völlig harmlose Lokaltherapie, die
Anwendung der Elektrizität und der Kuhlsunde. Die Heran-
ziehunc? dieser Hcilfaktoien scheint mir in der grossen Mehr/,ahl
der Fälle nervöser Impotenz unentbehrlich. Wenn ich die Be-
deutung der antineurasthenischen Allgemeinbehandlung in den
von mir beobachteten Fällen noch so günstig taxiere, so kann
ich doch nur zugeben, dass dieselbe in etwa */* der Fälle die
Hauptrolle spielt und die Lokalbehandlung ganz entbehrlich
oder von untergeordneter Bedeutung ist. Bei etwa der Hälfte
der Fälle muss ich die elektrische Lokalbehandlung (und zum
Teil auch die Anwendung der Kühlsonde) als mmdestens ebenso
wichtig für die Erzielung günstiger Erfolge erachten wie die
antineurasthenische AllgemeinhehaiMUung, und b^ einem geringen
Prozentsatze der Fälle fand ich letztere sogar ganz entbehrlich.
Die Unzulänglichkeit der Allgemembehandlung in der Mehr-
zahl der Fälle mit Potenzstdrungen darf uns nicht zu sehr be-
fremden; sie erklärt sich wenigstens z. T. aus dem Umstände,
dass die Störungen im sexuellen Bereiche bei sexudler Neur-
asthenie hl ihrer Art und Intensität in kdnon bestimmten Ver-
hältnisse zu dem allgemeuien Nervenstatus stehen. Ich habe
anderen Orts erwähnt, dass wir es bei einer Gruppe von Fällen
sexueller Neurasthenie lediglich oder fast Icdiglieh mit Funktions-
störungen in der Scxualsphäre, i. e. einer Neurose der genitalen
ah7ich(?ndc und berahigeiMle pqrdUwhe Wirkuog dadoicli m enw&««t«D oder
gaoz zu vereiteln.
Prophylaxe und BeluuidloDg der seKueüeo Neurasthenie.
373
J.endenmarkszentren zu tun haben. Als besonders bemerkens-
wert heziigHch dieser Gruppe führte ich den Umstand an, dass
die Schädigung im Bereiche der Sexualfunktioncn selbst die
höchsten Grade erreichen kann, ohne dass eine merkliche Be-
dnträchtigung anderer nervöser Verrichtungen sich zeigt. Ähn-
lidi sind die Erfahrungen Fürbringer's. „Die Impotenz",
bemerkt dieser Autor, „kann das einzige Symptom der Neur-
asüienle sein,*' AHetn auch in den Fällen, in welchen ach zu
den Eracheiniingen sexueller Schwäche Symptome neurastiienischer
Affektion anderer Abschnitte des Nervensystems oder Zust&nde
allgemeiner Neurasthenie gesellt haben, beobachten wir häufig,
dass die sexuellen Störungen sich durch Konstans und Intensität
von den flbdgen neurasthenischen Symptomen wesentlich unter-
scheiden. Es ist daher begreiflich, dass Massnahmen, welche
auf das Nervensystem aOgemehi roborierend wkken, sich der
tieferen funkttooellen Schädigung der genitalen Lendenmarks^
Zentren gegenüber in diesen Fällen unzureichend erweisen, weil
sie sich in ihren anregenden und sedierenden Wirkungen den
durch den Zustand der genitalen Lendenmarkszentren gegebenen
Erforderriii>scn nicht an})assen lassen, icli kann das elektrische
Agens in der einen oder anderen Form, in grösserer oder ge-
ringerer huenbität, an dieser oder jener Stelle anwenden; auch
der Gebrauch der Kühisonde gestattet manche Modifikationen
durch Anwendung dünnerer oder stärkerer Sonden, verschiedene
Dauer der Sitzungen und Anwendung' von Wasser von ver-
schiedener Temperatur. Allein an den Wirkungen eines Seebades
oder der Höhenluft können wir nichts regulieren und nichts ändern.
Was ich hier von der Unzulänglichkeit der antineurasthe*
nischen AUgemeintherapie sa^te, ^ilt auch für die Anstaltsbe-
handlung, sofern mit dieser nicht die erforderliche Lokalbehand-
lung verknfipft ist. Mit den Leistungen mancher (ich dürfte
vielleicbt sagen vieler) Anstalten auf diesem Gebiete sieht es
jedoch nach meinen Wahrnehmungen sehr prekär aus, und dieser
Obelstand wird sich noch verschlimmern, wenn noch öfters als
in den letzten Jahren Anstalten in den Besitz von Praktikern
ohne spedalistische (neurologische und elektrotherapeutische)
Ausbildung gelangen.
374 Prophylaxe und Behandlung der saueltcn Neunsthenic.
Wir werden uns im Folgenden zunächst und zwar iii etwas
eingehenderer W'eisc mit der elektrischen Behandlung der Potenz-
störungen beschäftigen, zumal über diese noch gar manche Un-
klarheiten bestehen. Wer in den Lehrbücliern der Elektro-
therapie und den i^rösscren Abhandlungen und Journalaufsätzen
über Imi)otenz und deren Behandlung nachsieht, findet eine
Menge verschiedenartiger elektrotherapeutischer Prozeduren emp-
fohlen, so dass ein mit der Sache nicht Vertrauter leicht auf
die Idee kommen kann, das Wirksame bei allen diesen \^'r-
fahren bilde die larvierte Suggestion. Galvanisation und Faradi-
sation werden vorwaltend angewendet, doch hat auch der Ge-
brauch des kombinierten Stromes, die Galvanofaradisatioii, und
die Franidinisation Anhänger.
Die Behandlung mit dem galvanischen Strome geschieht
in der Form der Durchteitung vom Kopfe zum Halssympathikus
und zur Wirbelsäule nach Grier wohl nur sehr selten, sumeist
in der Form der Galvanisation am Rücken oder vom I^endcn-
niark (untere Duisalwirbcl und erster Lendenwirbel) zum Damm
stabil oder labil über Glied, Damm, Samenstränge bei fixer
Applikation einer Elektrode über dem Lendenmarke oder an
anderer Stelle; ferner wird Durchleitung des Stromes von der
Symphysengegend zum Damm oder lünführun^ einer ]"lektrode
in die Pars prost, der Harnröhre, der anderen in da« Rektum
f)der Applikation derselben an den Damm oder das Kreuzbein,
auch Durchleitung des Stromes durch die Hoden angewendet.
Der faradische Strom wird mit feuchter Elektrode in ähnlicher
Weise gebraucht, daneben jedoch auch faradische Pinselung der
Genitalgegend, des Gesässcs, der Oberschenkel (ebenso auch
galvanofaradische Finseiung^). Auch die Franklinisation wird
■) Weinberger sah gute Erfolg« bei Impotem und Spem»torr1ioe von
einer Faradintion der ProsUU (nach Poroas), die er in folgender Weite aus»
führt : Die positive Elektrode wird zunächst auf den Baucb appti/ieit, die negative
in das Rektum <»in<;rführt Nach fünf Minuten wiiil die posiiivc Flcknodc an
die Gegend den eri^ten und zweiten Lendenwirbels transferiert, während die n^a-
tive im Rektuaj bleibL Die Metbode» bei ^ren swdtcr Fhaie nicht led^id
die Faradisatbn der Prostata in Betracht hommt, verdient nach meinen Erfah*
ruDgen nur bei PotenaitCmngen atonijchen Chataktets Verwertnng.
Prophylaxe uod BchaDdloog der sezneUen Nconatlmie.
375
in verschiedener Weise peübt, indem man Funkenströme oder
sogenannte Büschelentladun^'en auf die Wirbelsäule, das Gesäss
oder dieGenitai^'egend einwirken lässt etc. Unzweifelhaft liegt hier
eine Überfülle von Behandlungsmethoden vor; allein, wenn man
aus derselben folgern wollte, dass es ganz gleichgültig sei, welche
Prozedur im Einzelfalle angewendet wird, da es doch nur auf
eine psychische Beeinflussung ankommt, so wäre dies ein ent-
schiedener Irrtum. Dass die Elektrizität, unabhängig von jedem
^gestivcn Elemente, auf die genitalen Lendenmarkszentren er-
regende Wirkungen auszuüben vermag, hierfür habe ich anderen
Orts einwandfreie Beobachtungen beigebracht, auf weiche ich
hier verweisen muss^).
Wenn wir die verschiedenen bei Impotenz angewandten
elektrotherapeutischen Prozeduren überblicken, so lassen sich die-
selben, abgesehen von dem Grier 'sehen Verfahren, welchem nur
ehie Suggestivwirkung zukommen kann, in zwei Gruppen teilen :
hl solche, welche direkt auf den Zustand der genitalen Lenden-
markszentren einwirken, und solche, welche denselben reflektorisch
beeinflussen. Der ersteren Gruppe gehören lediglich die Gal-
vanisation und Faradisation am Rücken, resp. die Durchlettung
des Stromes von derLendenmark^egend in absteigender Richtung
nach dem Damme etc. an, der zwdten Gruppe alle übrigen
Methoden. Wenn nun auch eine Einwirkung auf dem einen
Wege e bensogut wie dem anderen möglich ist, so ist doch die
Behandlungsmethode, welche wir im einzelnen Falle wählen,
keineswegs gleichgültig ; das Verfahren, welches im einen Falle
nützt, kann im anderen unwirksam bleiben oder sogar schaden.
Es liegt nahe, dass bei der irritativen Form der Impotenz die
abnorme Erregbarkeit der Lendenmarkszentren, auf welcher diese
Störung beruht, durch die Anwendung starker Strüme am Rücken
und reflektorisch von der Haut der Genitalgegend und deren
Nachbarschaft aus wirkende Prozeduren eher gesteigert als herab-
gesetzt wird. Bei den in Frage stellenden Zuständen empfiehlt
sich daher nur Galvanisation des Rückens, resp. des Lenden-
marks mit schwachen Strömen (+ Pol unterster Dorsal- und
>) Tlief»p«utisdie Monatshefle, Febniir tSgS.
376
Ftapbylue und Bcbradluag der tcnetlcn NencHlheiiie.
oberster Lendenwifbel, — Pol Abdomen oder am Damm; Strom-
dichte bei Verringerung der Erektionsfähigkeit ^^^^g^ )'
Besteht dabei Hyperästhesie der Pars prostatica der Harnröhre,
so lässt sich gegen diese Durchleitung eines schwachen kon-
stanten Stromes vom Damm ztii S)mphysc ^ ^^^^ anil)amnicj
oder intraurethraie Faradisation (Kathcterelektrodc in die Pars
prostatica urethrae, die andere Elektrode an den Damm), auch
das Porosz- Weinberger 'sehe Verfahren (i. Teil) zur An-
wendiii^ bringen; doch erweist sich zur Beseitigung der H3rper*
ästhesie die KQhlsonde im Allgemeinen geeigneter.
Bei der atonischen oder paralytischen Form der Im|)oteiu
haben wu einen weit grösseren Spielraum sowohl in der Aus-
wahl der elcktrothcrapcutischen Metlioden als der Bemessung der
zu gebrauchenden Stromstärke; wir können hier, wenn nicht
andere Symptome Gegenanzeigen bilden, und keine organische
Erkrankung des Rückenmarks vorliegt, bei der zentralen Behand-
lung galvanische und faradische Ströme von erheblicherer Stärke
und mit Volta sehen Alternativen anwenden; auch bei der direkten
Behandlung der Genitalorgane (speziell bei der Durchleitung vom
Damme zur Symphyse) können wir uns kräftiger galvanischer
und faradischer Ströme bedienen , femer die faradische oder
galvanofaradische Pinselung der Genitalien und der benachbarten
Teile mit so intensiven Strömen vornehmen, wie sie eben der
Patient erträgt. Dass man die elektrische Behandlung zu einer
Tortur für die Pattenten gestaltet, halte ich jedoch weder für
notwendig, noch für nützlich. Ob es sich darum handelt, den
Torpor des Centn genitospinale zu uberwinden oder dem Kranken
die Vorstellung beizubringen, dass er von der angewendeten
Prozedur die Herstellung seiner Potenz zu erwarten hat, macht
in dieser Beziehung keinen wesentlichen Unterschied.
Bei der erethischen Form der Impotenz leisten uns auch
die Kühl'^ondc und der .Alastdarmkuhlapparat zumeist sehr gute
Dienste. Der Heilwert der örtlich wirkenden hydriatischen Pro-
zeduren (Sitzbäder, lokale Douchen) tritt gegen den der Elek-
trizität und der erwähnten Kühlvorrichtungen erheblich zurück.
Prophylaxe und Bdiandlung der sexaellen NetirasÜienie.
377
und man tut im Allgemeinen gut , von denselben nicht viel zu
erwarten. Die Dienste, welche uns die Hydrotherapie bei Po-
teiustörungen leistet, sind im Wesentlichen die einer antineur-
asthenischen AUgemeinbebandlung.
Von manchen Seiten werden die Erfolge kohlensäurehaltiger
Bäder (natürlicher wie kfinstUcher) bei nervöser Impotenz gerühmt.
Nach meinen Erfahrungen empfidilt sidi die Anwendwig der-
selben nur bei der atonischen Form der Impotenz, insbesonders
wenn dieselbe mit höheren Graden allgemeiner Neurasthenie
zusammenhängt.
Auch die Mechanotherapie ist zur Bekämpfung der ner-
vösen Impotenz herangezogen worden. Zabludowski (Berlin)
wendet folgendes Verfahren an^): „Man ergreift mit der Hohl-
hand einen Hoden, ohne diesen zu drücken, und führt mit ihm
bakl in der einen, bald in der anderen Richtunt» unter leichter
Anspannung und Zeitung des Samenstran ljcs kreisförmitje Be-
wegungen aus, zirka i- i^jt Minuten, dann folgt eine intensive
Durchknetung der Adduktoren des gleichseitigen Oberschenkels
in Verbindung mit kräftigem Tapotement; schliesslich eine ener-
gische Klopfung und Hackung der Rückenpartie über dem Lenden-
mark. Danach folgt die gleiche Behandlung des anderen Hodens
mit den gleichen sich anschliessenden Massageprozeduren." Eine
unmittelbar sexuell erregende Wirkung soll der Prozedur, speziell
der Hodenbehandlung, nicht zukommen.
Das Verfahren mag zur Unterstützung anderer therapeu-
tischer Methoden bei der atonischen Form der Impotenz heran-
gebogen werden, bei der erethiscben scheint es mir kontra-
indiziert.
Den verschiedenen Arzneimitteln, welche fi uher bei Potenz-
stiirungen gebraucht wurden, kommt nach meiner Erfahrung, ab-
gesehen vom Strychnin (resp. Extr. nuc. vom.) mit em Suggestiv-
wert zu, und ihre Wirksamkeit hat .sich daher vorwaltend bei der
psychischen Impotenz kundgegeben. Das Strychnin erweist sich
') Die Schilderung der Details des Z abl u dowaki'schen Ver&hiCIIS ver«
danke ich einer Mittcilunj; des Kollegen Dr. Büdinp;cn in Konstanz, welcher
dasselbe in einem der Zabludowi ki'schen Massagekur&e kennen lernte.
378
Prophylaxe und Behandluag der sezuelteii Neuiaitlienie.
mitunter bei der atonischen Form der nourasthenischen Impotenz
nützlich. Bei etwas anämischen Individuen kann die Darreichung
des Strychnin zweckmässig in der Form des Fellow'schcn Sirups
geschehen. Wir sind jedoch in den letzten Jahren in den Hesitz
eines Mittels j^elangt, welches bei geschwundener oder herabge-
setzter Fl clitionsfähif^keit uni^leich bts: . i c Dienste leistet als das
Strychnin und alle übrigen truher als Aphrodisiaca verwerteten
Mittel, es ist dies das „Yohimbinum muriaticum" (^Spiegel), ein aus
der Rinde des Yohimbehebaumes dargestelltes Alkaloid. Die Rinde
dieses Baumes steht bei den Eingeborenen in KameruD als Mittel
gegen männliche Impotenz in Gebrauch. Die Wirkung des
Yohimbin an Tieren wurde von Oberwarth und Loewy ge-
prOft. Es stellte sich dabei heraus, dass grössere Dosen sehr
rasch bedrohliche Erscheinungen und nach kOrzerer oder längerer
Zeit den Tod der Tiere durch HerselShmung hervorriefen. Bei
der Anwendung kleinerer Dosen (0,005—0,01 g der Substanz)
wurde bei den Versuchstieren (Kaninchen, Katze, Hund) neben
grösserer Lebhaftigkeit eine rasch sich entwickelnde hyper-
ämische Anschwellung der Hoden und des Penis (beim Hunde
ausgesprochene Erektion) beobachtet. Wochenlang täglich fort-
gesettte Injektion des Mittels hinterliess keine ungünstigen Wir-
kungen. Das Mittel ist bereits vielfach in Gebrauch gezogen
worden. Mendel, Eulenbuig, Berger, Posner, Duhot
(Brüssel, Franz Weisz (Budapest), G. diLorenzo (Neapel),
N. ßairucco (Bologna), \V. Wilcox (New- York) u. A. er-
zielten damit bei ncurasthenischer Impotenz sehr bemerkens-
werte Resultate. Ich habe ebenfalls in einzelnen Fällen dieser
Kategorie ausgesprochen günstige Wirkungen beobachtet. Diese
machen sich zumeist erst nach mehreren Tagen, mitunter auch
erst am En<ie der ersten Woche des Gebrauchs geltend Man
beginnt mit der Darreichung von 5 mg in Form von Tabletten
oder in Lösung dreimal täglich und kann diese Gabe , wenn
nach Ablauf einer Woche der gewünschte Erfolg sich nicht zeigt,
auf das Doppelte steigern. In schweren Fällen, in welchen die
innerliche Darreichung des Mittels erfolglos bleibt, kann man
nach Eulenburg die subkutane Anwendung versuchen. Man
spritzt zunächst einen halben Gramm einer zweiprozentigen Losung
Prophylaxe und Behandlung der sexuellen Neurasthenie.
379
tai^lich einmal ein und steigert die Dosis bei un?:uläng!icher oder
ausbleibender Wirkung auf ein Gramm. Nach eingetretener
Wirkung werden die Injektionen nur alle zwei oder drei Tage
oder in noch grösseren Zwischenräumen wiederholt ; nach etwa
20 Einspritzungen wird die subkutane Medikation jedenfalls zu-
nächst für längere Zeit unterbrochen. Von Nebenwirkungeiii
die bei Anwendung des Yohimbin in den erwähnten Dosen vor-
kommen, scheint eine leichte Hyperämie der Konjunktiv» die
häufigste zu sein. Ausserdem wurden in einzelnen Fällen Sdiwhidd,
Speichelfluss , leichte Schwäch^efflhle, geringer Frost mit (ol-
gendem Schweissausbruch, erhöhte Pulsfrequenz, Herzklopfen
und Angstzustände beobachtet. In den meisten Fällen zeigen
sich diese Erscheuiimgen nur vorübergehend und geben zum
Aussetzen des Mittels keine Veranlassung. Wo dieselben er^
heblichere Grade erreichen und sich regelmässig einstellen, ist
jedenfalls zunächst eine Herabsetzung der Dosis erf<»-derlich.
Bedrohliche ZufiUle sind bei den angegebenen Dosen nicht be-
obachtet worden.
Die Wirkung des Yohimbin ist, was wir besonders betonen
müssen, eine lediglich vorübergehende, dieselbe schwindet ^'c-
wühnlich mchn-re Wochen nach dem Aussetzen des Mitiels.
So erheblich daher auch der temporäre therapeutische Erfolg
des Yohimbin sein majj, so dürfen bei Anwendung desselben
doch die übrigen hei l'otenzstörungen bewährten Verfahren
keini swcgs vernachlässigt werden, da diese allem emen dauernden
Erfolg in Aussicht stellen^).
Neben den verschiedenen Arten somatischer Behandlung
findet auch die Psychotherapie bei den Potenzstörungen ein
') Dem Y> bimbin i^t in jüngster Zeit ein Konkurrent in dem unter der
Rezcichnurf; ..Miiiracithiu" in den Handel gebrachtrn I'räp.TratP er<^tanden. Das-
selbe wird aus dem Verdanipfunysruckstaßde des flüssigen PJxtraktes von I.ignuin
Muirac Puamae, das von den Brasilianern als Aphrodtsiacum beoüut wird, und
Ovo Ledlhin hergestellt und in Pillenfenn gebraadit. Das Lignam Mnime Puaxnae
enthält Harze, welche eine reizende Wirkung auf die Schleimhaut der Harnivege
ausüben, daneben aber auch üestanilteilo, welche da-; T ^ndenmark ilii''kt crrej;en
sollen. Über die therapeutische Verwcrtb;irkeit des MilteU müssen wir uns vor-
er.st noch jeglichen Urteils enthalten, zumal die reizende Wirkung des!>elbcn auf
die Sdkldinbattt der Hamwege »u Bedenken AoUss gibt.
380
Prophylaxe und Behandlung der sexuellen Neurulhenie.
lohnendes FeIH, ganz besonders — von der rein psychischen
Impotenz seilen wir hier ab - in jenen Fällen von sexueller
Neurasthenie, in welchen die Potenz zwar durch den Nerven-
zustand gelitten hat, aber erst durch psychische Momente, welche
sich zu der neurastheoischen sexuellen Schwäche gesellten —
Angst vor dem Misslingen des Aktes, übermässige Aufregung
bei Kohabitationsversuchen — eine faktische Impotenz herbei-
geführt wird. Hier ist es Aufgabe des Arztes, dem Patienten
wieder Vertrauen sa seiner Manneskraft su verschaffen, die
hypochondrischen BefOrchtungen durch Darlegung des wirklichen
Sachverhaltes und beruhigenden Zuspruch xa beseitigen; hiermit
allein kann schon sehr viel erreicht werden. Femer ist darauf
Bedacht zu nehmen, dass der Patient sich in semen Gedanken
nicht allzusehr mit seiner sexuellen LeistungsflÜiigkeit beschäftigt.
Von den angeführten somatischen Heilmitteln besitzt die Elektri-
zität neben ihrer physikalischen auch eine erhebliche suggestive
Wirksamkeit; wo diese sich nicht ab ausreichend erweist und
auch der Gebrauch anderer Büttel versagt, kann man zur hypno-
tischen Suggestion seine Zuflucht nehmen ; dieselbe kann sowohl
bei der erethischen als bei der atonischen Form der Impotenz
mit ?\ut/en Anuenduiig tinden. Man darf jedoch nicht glauben,
dass die psychischen Hemmnisse der Erektion, wenn es sich um
seit längerer Zeit mit autijmatischer Regclmässigkcit sich ein-
stellende Vorgänge handelt, durch die hypnotische Behandlung
sehr rasch und leicht zu beseitigen sind, vielmehr ist zumeist
geduldiges, längere Zeit hindurch fortgesetztes Bemühen erfordere
lieh, wenn dauernder Erfolg erzielt werden soll.
Die Dauer des Kurverfahrens ist überhaupt ein sehr wichtiger,
in seiner Bedeutung noch vielfach nicht genügend gewürdigter
Umstand. Bei allen einigermassen eingewurzelten Potcnzstö-
rungw muss sich die Behandlung meist über eine Reihe von
Monaten ^/a Jahr) und darüber erstrecken; sie erheischt
also grosse Geduld und Ausdauer seitens des Arztes wie des
Patienten. Hierin liegt eine grosse und häufig unüberwindliche
Schwierigkeit für nicht am Domizile des Arztes wohnende Pa-
tienten. Eine kontinuierliche Fortsetzung der Behandlung während
der ganzen angegebenen Zeit ist jedoch nicht unmer notwendig,
Propliykse und BcImikUiiiic der sexoeUen NenntUMiiie.
381
man kann mitunter nach einer zwei- bis dreimonatlichen Kur,
durch welche bereits ein gewisser Erfolg erreicht wurde, eine
Pause von 1—2 Monaten eintreten lassen, welche man lediglicb
mit hygienischen Massnahmen ausfüllt In manchen Fällen habe
ich auch entschiedenen Nutsen von der Wiederholung emer mehr-
monatlidben Behandlung in aufeinanderfolgenden Jahren gesehen.
Wie es bei geschlechtlidien Schwächemstanden mit dem
sexuellen Verkehr tu halten ist, hierüber lassen sich aUgememe
V<Mrschriften nicht geben. Es madit natürlich einen wesent-
lichen Unterschied, ob man es mit verheirateten oder unver-
heirateten Patienten zu tun hat. Wir haben bereits erwähnt,
dass bei Exzedenten in Venere oft längere Karens erforderlkh
ist. Besteht eine Neigung zu häufigeren Pollutionen, so rouss
auf tunliclibte Vermeidung oder wenigstens Linschränkung der-
selben Rücksicht genommen werden. Sind psychische Einflüsse
beim Misshngcn eines Kohabitationsversuches im Spiele, so wird
man immer gut tun, den nächsten Versuch nicht zu bald unter-
nehmen zu lassen und während der Zwischenzeit den Patienten
von dem Verhalten seiner Potenz möglichst abzulenken.
Von Rosenthal wurde Geschlcchtsinvaliden zur Konser-
vierung ihrer reduzierten Manneskraft Eingehen einer Ehe mit
einer „verständigen Person" empfohlen. Theoretisch ist dieser
Rat zweifellos berechtigt. Denn so nützlich sexuell Geschwächten
zeitweilige Enthaltsamkeit sein mag, so kann doch andauernde
Abstinenz nicht als zur Hebung ihrer Potenz förderlich erachtet
werden. Allein einerseits haben die Gescblechtsinvaliden zum
grossen Teile im Bewusstsein ihrer Unzulänglichkeit eine heilige
Scheu vor der Ehe, andererseits kann die „Verständigkeit" der
Gattin allein den Geschwächten gegen weitere Schädigung auf
sexuellem Wege nicht schützen. Eine direkte Empfehlung der
Verehelichung scheint mir daher in diesen Fällen nicht am Platze,
wohl aber dürfen wir unter gewissen Kautelen unsere Zustim-
mung geben, wenn von Seiten des Patienten bezügliche Wünsche
geäussert werden.
Wir müssen schliesslich lnkr noch zweier Gattungen von
Hilfsmitteln gedenken, die bei Mannesschwäche in Gebrauch
sind und über deren lleilwert durch die Reklamen ihrer Er-
382
Praphyltxe und Behaodluag der sexitellen Neutasthtaie.
Ander nicht nur das in Betracht kommende leidende Publikum,
sondern z. T. auch die Ärzte in Täuschung versetzt werden.
Seit vielen Jahren werden immer wieder mit mehr oder weniger
Absatzerfolg den Impotenten an den Genitalien zu applizierende
elektrische Ketten und Platten angepriesen, deren angeblich
wunderbare Leistungen von den Verfertigem durch theoretische
Erörterungen über Elektrizitatswirkungen erklärt werden, wo-
durch selbst mancher auf elektrotherapeutischem Gebiete un>
erfahrene Afzt irre geführt werden mag. Abgesehen von einer
möglichen Suggestivwirkung kommt allen diesen Apparaten
keinerlei therapeutischer Wert zu')*
Mechanische Hrektionsbeförderungs- und Einführiingsinstru-
mente sind ebenfalls schon seit längerer Zeit in Gebrauch und
insbesondcrs sogenannte Schlitten, Vorrichtungen aus zwei federn-
den, durch Ringe verbundene Metallschienen bestehend, um die
Einführung des untjcnügend erigierten Gliedes zu erleichtern oder zu
ermöglichen, mitunter auch von ärztliclier Seite empfohlen worden.
In neuerer Zeit beschäftigt sich der Zivilingenieur Gassen
speziell mit der Anfertigung solcher Apparate, deren Absatz auch
infolge äusserst schwunghaft betriebener Reklame unter den an
Potenzmängeln Leidenden kein geringer zu sein scheint. Was
Gassen bei den Anpreisungen seiner Apparate, die nach seiner
Versicherung unfehlbare Hilfsmittel für die verschiedene Impotenz-
formen darstellen^ besonders zu statten kommt, ist der Umstand,
dass er in der Lage ist, sich auf ein Gutachten zu berufen, das
ihm Professor v. Krafft-Ebing bezüglich der Wirksamkeit eines
seiner Instrumente, des Erektor, in einer Prozessangelegenheit
aumestellt hat und dessen spätere Ausnfitzung zu Reklame»
zwecken der genannte Autor zu seinem Leidwesen nicht zu ver*
hindern vermochte. Es sind vier Apparate, welche Gassen in
') Dies gilt auch für tlie von Dr. Borosody hergestellten bis vor wenigen
Jahren infolge einer sehr lebhaften Reklame von gar niaiiehen aexneU Getidivrlditen
bentttiten Platten. Den minimalen ElektmiUtsmengen. welche diese Platten daidb
Reibong an der Haut «nengea, kann eine thcrapcutisclie Bedeutung nicht zu-
kommen. Eine Supgestivwirkung könnte diißcg«*n ihr Imlir Preis «kr Platten
(ioo Gulden üsterr.) ilussern; doch fehlte auch diese Wirkung in den Fällen
meiner BeobMihtung, in welchen <He AnsdudToAg riskiert worden war*
Prapbylase und Bebandlang der seiuellaii NennsdicBie.
88S
den Handel bringt; dieselben werden von dem Erfinder ak
Erektor, Kompressor, Kumulator und Ultimobezeichnet. Von diesen
ist der Erektor eine vergoldete Spirale, welche den Zweck hat,
auch bei ungenügender Erektion die Immissto penis zu ermög-
lichen, indem sie demselben eine gewisse mechanische Rigidität
verleiht. Der Kompressor, welcher in zwei Fa(;-ons zu haben ist
(vor und hinter dem Skrotum zu applizieren), ist ein Apparat,
welcher durch Dnick auf den Damm oder die Wurzel des Penis die
Blutstaining in den Hohlräumen desselben fördern soll, der Kumu-
lator, eine schröpflsOpfartitic Vorrichtung, welche über dem Penis
angebracht wird und durch Luftverdünnung mechanisch eine stärkere
Blutfüllung des Penis und damit Erektion herbeiführt. Bei dem
vierten ,,l"ltimo" bezeichneten Apparate, der auch in verzweifel-
ten Fällen Hilfe bringen soll, handelt es sich gewissermassen
um ein künstliches, dem mangelhaft erigierten Gliede sich an-
passendes Schwetlgewebe. Wenn wir ermitteln wollen, bei welchen
Fällen von Impotentia coeundi diese Apparate einen Nutzen
versprechen, müssen wir zunächst die zu Grunde liegenden
Störungen näher ins Auge fassen, nach welchen man, wie wir
sahen, zwei Formen unterscheiden kann. Bei der irritativen
Form, welche unter den fär die Behandlung in Betracht kom-
menden Potenzstörungen, wenigstens nach meinen Erfahrungen,
bedeutend vorherrscht, liegt immer enie reizbare Schwäche der
genitalen Lendenmarkszentren vor, infolge welcher psychische
Reize (sexuelle Vorstellungen) allein oder imter Beihilfe momen-
taner peripherer (mechanischer oder thermischer) .ml die Glans
einwirkender Reize imstande sind, den Ejaki ilatic nsvorgang
auszulösen. Uaneben besteht in vielen Fällen wenigstens eine ab-
norme Erregbarkeit des kortikalen (jebietes für die sexuellen
Vorstellungen und Gefühle. Es ist ohne Weiteres begreif-
lich, dass für diese Gruppe von Impotenzfällen und
sohin für die Mehrzahl derselben die Gassen'schen
Mittel wie Uberhaupt mechanische Apparate jeder
Art absolut nutzlos, wenn nicht schädlich sind und,
was Gassen Gegenteiliges behauptet, jeder Glaub-
wttrdigkeit entbehrt Keine Art mechanischer, die Blut-
stauung im Gliede verstärkender Einwirkung kann die abnorme
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3S4 PraphyUxe nnd Bcbaodlaog der sexuellen NennsüieQie.
Reaktion der i^enitalen Lendenmarkszentren auf psychische £r>
regungen verhindern ; es liefet dagegen sehr nahe, dass derartige
Einwirkungen das Übel leicht verschlimmern. Besonders ver-
werflich erscheint in diesen Fällen die von Gassen zum Behufe
sexueller Gymnastik empfohlene Anwendung seines Kumulatois.
Durch denselben soll die ttbermlssig^ Empfindlichkeit der Harn-
röhre, die Hauptursache des su frflhen Samenergusses, derart
abgeschwächt werden, dass eine völlige Heilung dieses Dbds
erzielt wird. Eine widersinnigere, frivolere Behauptung ist nicht
leicht aufgestellt worden. Alle Ärzte, welche auf dem Gebiete
der Potenzstörungen Erfahrung besitzen, halten es für ein
wesentliches Erfordernis der Heilung bei der irritatlven Foim
der Impotenz, dass die Beschäftigung des Patienten mit Vor«
Stellungen sexuell-sinnlichen Inhaltes möglichst verhindert, sexuelle
Erregungen jeder Art überhaupt hintangehalten und dadurch den
erschöpften und übcnculcn genitalen Zentren Ruhe verschafft
wird. Im Gegensatze zu diesem bewährten Verfahren verlangt
Gassen „sexuelle Gymnastik", i.e. künstliche tägliche Erzeugung
von Erektionen vermittelst seines Kumulators. Dass diese Gym-
nastik nur geeignet ist, die in Fiaj^e stehenden Patienten zu
schädigen, hierüber wird bei keinem sachverständigen Arzte ein
Zweifel bestehen \).
Die Anwendung mechanischer Mittel kann nur bei der
atonischen oder paralytischen Form der Impotenz in Betracht
kommen. Allein auch bei dem grössten Teile der hierher ge-
hörigen Fälle sind wir in der Lage, durch sachgemftsse genügend
lange fortgesetzte Behandlung günstige Erfolge zu erzielen, so
dass tatsächlich nur ein kleiner Prozentsatz von Fällen bleibt,
in welchen man veranlasst ist, den Patienten auf die Gassen-
sche Hilfe faute de mieux hinzuweisen. Selbst die komplete
paralytische Impotenz ist der Behandlung nicht unzugänglich.
*) Vor einiger Zeit kam ein NeorutheDiker in meine BebandJuns,
der die Zenftttnng seiner Nerven «af den Gebrandi des Kmnalalor sorttckfOlirti^
wcldicn er zur Hebung seiner von Hause ;ius etwas Hchwüchlichen Potenz in
AiiwtTKlung f^ezogrn hatte. Wenn <V\c Aw^ahcn de^ P.it. ;auh gewisse Üner-
treibungen enthielten, so Hess sich doch feststellen, da.ss tur denseii>en der Ge-
bnuicb des Gassen'scben Apparates von entschieden nachteiliger Wiriiung war.
l'rophyiaxe und bchaniiiung der sexuellen Neurasthenie. 385
und icli kann bezüglich derselben der pessimistischrii Autfassung
F i\ r b r i n c r ' s weni^steiiN bei iicuiastlienischern L i Sprunge des
I.eidLns mich nicht anschliessen. Ich hal)c in nu-hriTcn Fällen
dieser Art, in einem sogar x hon nach zweimonaihchc r Behand-
lung, befriedigenden Erfolg gesehen. Was die Ai:\\endung des
Kumulators bei rein psychischer Impotenz betrifft, so ist die-
selbe weder nötig, noch empfehlenswert, weil den betreffenden
Patienten I'2rektioncn nicht mangeln und die artitiziell herbei-
geführten und mit der Entfernung des Instrumentes sogleich
wieder schwindenden Erektionen kaum geeignet sind, denselben
die Überzeugung von dem Vorhandensein einer normalen Po-
tenz beizubringen. Auf einen Nutzen ist von dem Gebrauche
dieses Apparates nur bei auffallender Kleinheit oder schlaffer,
welker Beschaffenheit des Gliedes zu rechnen, vorausgesetzt»
dass in den sonstigen Verhältnissen keine Kontraindikation gegen
sexuelle Gymnastik vorliegt ').
Dass die Verbreitung der Gassen'schen Apparate sich
nicht auf die Fälle beschränkt, in welchen die ärztliche Kunst
versagt oder von denselben überhaupt irgend ein Nutzen zu
erwarten ist, ist ein Übelstand, den wir bedauern, aber auch
wohl ins Auge fassen müssen. Da der Laie nicht in der Lage ist,
zu beurteilen, was von den dreisten Behauptungen Gassen 's
über den Wert seiner Apparate und den Unwert ärztlicher
Behandlung bei Potenzstörungen der Wahrheit entspricht, so
') Dicnc Aiisful)iut)t;cii Mnd /uci>t in emcni Aulsat^e in ilen ilierapeuti-
»cbeu Monatühtlicn (l-Lbruar vciulknllicbt wurden. i^t mir criiculicb,
dass Fftrbringer ganz unabbiincig von mir in einer spsileren Publikation (ZeiU
sdiiift für diätetische und phy&iifali».che Tbciapie, Band I. Heft I) beicüglich des
Wertes der d a > - e n 'M,lirti Appaiati- zu rdiidiclu ii .Sc1iIü<n»-i> gclan^lo, wie icb.
Insbesondeie ;;ilt die-- :ur ticn rulirantli dt r G a s s <• n "sclien Ajjpaiato ))ei ilcr
irriuüvcii i-urin der hiipiileii/:. f uiUriiigcr btiucil»l u A. ; „I criicr ^öycr»
wir oicbt, die umfassende Kategorie der Scxualneuratttheniker, bei welcher die ver-
fiüble Ejakulation den Hauptinbalt ihrer Fntenxstuninj; bildet, im Allgemeinen
»len Kuiitiuin ;ikati(>ni :i fiir den (icbtam ii des Kri ki<ii^ /u/ii/iddt n Srluin die
^laniptd.ilUiln:l1 dos .Vtilt^i n- (k's Ap|t.n.>li - \ i | llir •j^rll dein I.oideil I liu M Ix-d'-nk-
licbcn Vüischub zu Ici.slcu. Jiici biidei sell,>Ucr.Ntaiidliih das dt-i rci/batcn
Schwicbe vetfalleiic Nervensystem den AngrifTspunkt für eine rationelle Therapie.**
Auch gegen den Gebrauch de» KumuUtors äussert Förbringcr gewichtige Be-
denken.
Luw^nfeld, SeiweU-nrrvüse Störung«!). Vierte AuA.
386
Prophylaxe und Behandlung der sexuellen Neurasthenie.
dürfen wir uns nicht wundern, dass viele von den in Betracht
kommenden Leidenden es vorziehen, einen Versuch mit den
zwar sehr kostspieligen, aber auch — anjjcblich — so wunder-
tätigen Gassen 'sehen Mitteln zu machen, statt sich in die
Umständlichkeiten einer längeren ärztlichen Behandlung ein-
zulassen. Gar mancher n\a\i auch zu Gassen seine Zuflucht
nehmen, weil ihm sachgemässe ärztliche Hilfe aus dem einen
oder anderen Grunde unzugänglich ist. Bei wie vielen von diesen
Leidenden die Hoffnungen, welche sie bezüglich der Wieder-
herstellung ihrer Manneskraft auf die (iassen sche Hilfe setzen,
zu Wasser werden, kann man sich nach dem oben Dargelegten
leicht vorstellen. Der Eifmder berichtet natürlich nur von
Heilungen. Der Arzt , welcher wegen etwaigen Gebrauches
Gassen 'scher Apparate zu Rate gezogen wird, darf sich sell)st-
verständlich durch die Anpreisungen des Verfertigers in keiner
Weise beeinflussen lassen. Kr muss die Art der vorliegenden
sexuellen Störungen, deren Ursachen und den Gesamt zustand
des Patienten in Betracht ziehen und darnach ermessen, ob für
den vorliegenden Fall von den Gassen' sehen mechanischen
Mitteln irgend ein Nutzen zu erwarten ist. Bei solchem Vor-
gehen werden die Arzte dazu gelangen, die Empfehlung Gasscn-
scher Apparate jedenfalls auf eine sehr bescheidene Zahl von
Fällen zu beschränken und hierdurch viele Patienten vor Geld-
verlusten, sehr unliebsamen Enttäuschungen und Schädigung
ihrer Gesundheit zu bewahren
Wir wollen zum Schlüsse eines Verfahrens gedenken, das dem Ge-
biete der Chirurgie angehört. A. Strauss (Härmen) hat in den letzten
Jahren die Epiduralinjektion nach Cathel in 's Methode in einer Anzahl
von Fällen funktioneller Erkrankungen der Harn- und Geschlechtsorgane
angewendet und will hiermit z. T. überraschend giJtJstige Resultate, bei
Impotenz und Spermatorrhoe völlige Heilung, bei Poll, nimiae erheb-
liche Besserung erzielt haben. Bei dem Verfahren wurde durch Punktion
des Sakralkanals in den Raum zwischen Periost der Wirbelsäule und
') Von C. Gerson wurde in jüngster Zeil als mechanisches Mittel bei
mangelhafter oder fehlender Erektion die Anwendung einer besonder» präparierten
Binde, Aidosis-Hinde, von Beiersdorf- Hamburg vcrferliKt, empfohlen, deren
Anlegung eine besondere Unterweisung erheischt.
Wir können uns auch von diesem Hilfsmittel nicht viel versprechen.
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Prophylaxe udU Bebaodlung der sexuellen Neurasthenie.
387
der Dura mater z. T. physiologbchc Kochsa ziösung, z. T. eine Lösung
von folgender Zasammensetzung injiziert:
Cocain, hydrochlor. o,oi
Natr. chlorat. 0,2
Aq. desuH. sterilis. ad. 100,0
add.
Aq. carbol. 5 Proz. gtts. II.
Wenn wir jedoch die von dem Autor mitgeteilte Kasuistik etwas
näher betrachten, so kann man sich eines gewissen Staunens darüber
nicht erwehren, dass Jemand auf sn beschränkte Hrtahrungen hin ein
Vertaiirrn zu empfehlen unterninnnt, das nirht als ganz harmlos be-
zeichnet werden kann, da im Gefolge der fraglichen Injektion Btflsse,
Schwetssausbruch und selbst ohnroachtüinliche Zustande vorkommen.
Der Autor hat im Ganzen zwei Fälle von Poll, nimiae nach seiner Me-
thode behandelt, von welchen bei dem einen das Resultat unsicher ist,
da der Patient wegblieb.
Auch von Impotenz und Sperroatorrhoe wurde nur je ein Fall be-
handelt und bei keinem der beiden Pat. ein dauernder Erfolg festgestellt
Es wird jedenfalls noch zalilreicher Erfahrungen bedürfen, bevor man
Über den therapeutischen Wf rt der Epiduralinjektion bei den genannten
Leiden sich ein Urteil bilden kann.
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Wormser, München, med. Wocbenschr. 1902. Nr. 2b u. 27.
In Betrefl der Literatur über die sexuellen Perversionen, welche in den
letzten Dezennien sehr angeschwollen ist, inuss ich mich begnügen, auf <lie in
Betracht kommenden Werke von v. K r a f f t • E b i n g , Eulen bürg und Moll,
die Literaturzusammenstellungen über die Psychologie und Psychopathologie der
vita sexualis von v. S c h r e nck • N o t z i ng in der Zeitschrift für Hypnotismus
Bd. VII, VIII, IX und X und die bisher erschienenen sieben Jahrgänge des \on
Magnus Hirsch feld herausgegebenen Jahrbuches für sexuelle Zwischenstufen
zu verweisen. Es sei hier noch auf das umfängliche Literaturverzeichnis rn
Eulcnburg's bereits erwähnter Arbeit „Sadismus und Masochismus" Grenz-
fragen des Nerven- nnd Seelenlebens, Heft XIX, Wiesbaden, J. F. Bergmann
1902 aufmerksam gemacht. In demselben (inden sich neben der belletristischen
Literatur sadistischer und masochistischci Richtung, speziell die Publikationen
über Flagellantismus in grösstcr Vollständigkeit zusammengestelU.
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Sachregister.
• Dil- l>rj|;i-s<'Ut<'n /iffcrn Iwlrutfti lür jeweiligen S<-itenxjhlrn l
A b s t i 11 L' n 7. , sexiii.ll«'. lu'im niännlkhen
(leM-hlechte ()2.
— Wirkunj;en (icrst-lbttn bei rie»im-
den 6^
— bei neiiropatbisih V'cranhipten
— EintliiNS (lcrst;ll)cn auf Entslt-huti^
von Anjjsl7«sl;iinicn 22i
— F.iiifluss «lerselbcn auf Knt>tehiinji
von Spcrinatorrhoc 8^
— auf die männliche Polen/. f<v
— beim wcihhchen ricsLblfcbtc oo.
— I'ol^cn der^flljcn bei <icsuniien
— liintluss deiselben bei n«tiito[>athi>t;h
Veranlajjten <)2^
A r\ u Iva! e ii t c , psvchisrh-epileptisi hi:
Al^unj;. des pro^taii^cben Teile-,
der Harnröhre .^T".
A I )i (> 1 .1 n i e , aktive und passive ^2 2.
A m e II <) r r It f> e . zü.
Amnesie, bei Anf^iilen Sa(\Tia-i*
A n p s l z u s I ii n d e . I-Olfjc soxuciicr
Abstinenz 22^ Js^-
l'td^e von sexuellen Ex/'>ssen i o2.
Amor le-bicus ^02.
Anästhesie, sexuelle <j^, 2bX.
A n a ]•> 1) r o d i s i e . -lehc »e\ui Hu Aii-
astllc^ii\
A n d r o ;j V n i e 2> 1 ^
Anf;illc, h\ steti>i !ie, Be/n-hiüi^ dei-
NeKirii /ur Mcii^lrualiMii ^vk
A n ^; s t n e u r o s e , Üctinitiuii <!er--Llbeii
256
— iT'ud'v Theorie \(in der >cxui lU n
A(io|r.;;;i- dL-r>i li'tn 2 5?.
— b i>l<^e von .Mastuibation 1 34 .
— Folge von FracventivveiUelir 1 60,
1H2.
— UiUersuchunjjen über <bc sexuelle
.\lioloyic derselben 2-;6.
A n f> m a I i e n des Gescbkthtslriebs
7 I , ijz, 2b7.
(juantitulive 2b^, <|ualilalivc 2>]b.
2H2 .
Anstrengungen, körperliche, post
loituin, Kolj;eri (!tT>cibeii lOf>.
— vor dem Koitus 1 1 o.
-Vati 1 1 \ r i n ,^ yS.
.\ p o j) I e X 1 e j; e n u i n e rler Schwanjjer-
-clialt ^
Arsenik ; ^X.
A r / n e i I i c h e H e h a n d I u n g der
Nturastlicnie ^^7.
.\ - p e r m a t i s rii u s 2(u).
A s p 1 1 i n
A N t h c n op i e, noiitavthenisibc. als Fol;:'-
\<>n Se\u,il(:rkr:ird<uti;:<'ri l>ri Krauen
22J.
— .iN Ff>l>^<- von < iiiaiuc I V>.
A s t Ii ni .1 , llelVti•^(-s 136.
.\ s 1 ii it) a u t e r i ü u m ^
A t r 0 p 1 u Vi ^.
.A II ^ e n a t ( e k 1 1 II 11 <• 11 . 1''m;^c von
< )naiiie I?»'.
)
I
398
Sachregister.
Aagenmigr&ne, Folge von Onanie
Iii
A u t o i n t o X i k a t i o n bei Schwangcicn
35. iki 4«.
Azoospermie 269.
Badekuren bei Neurailbenie ^60, ^61.
Bäder, warme 361.
Balanitis 202, 203.
Bedürfnisse, sexuelle it_, IJ. fyj,
Befriedigung, sexuelle. Mangel der-
selben bei Frauen <jo, Ursachen
des Mangels 2^ Folgen desselben
2i, Ülit £<iL
B e g a 1 1 u n g s t r I e b (j^
Berufstätigkeit, Einflus> derselben
bei sexueller Abstinenz hh^
Beschäftigung, Regulierung der-
selben bei Onanisten 334.
Bestialität 2-2.
Bisesualitätstbeorie 204.
Blase, rei/.bare 1 36, 1 S;;.
Blutungen, vikariierende bei Ame-
norrhoe 2JL
B r o m p rä pa r at e 3^8, ^b3, 361;.
C a m p h e r 3O4.
Camphora monobromata 3^>4.
Castratiun bei Frauen, nervttsc Be-
schwerden im Gefolge derselben
Si. all i«i 39.
— bei Hysterie 227.
— bei Männern i_5^ 26«).
Cenlruni für den Geschlechtsakt im
Kückenmark (genitospinale) l.
Centrum für den Geschlechtssinn im
Gehirn {, i.
Cerebrasthcnie s. Gehirnerschöpfung.
Chorea gravidarum
C i t r o p b e n 35S.
C I i t o r i s m u s 1 ^o.
Coccygodynie 2 17.
Coilus in Station c, Folgen des-
selben loX, 109.
Condoms, < iebrauch derselben als
antikonzeptionelle-. Mittel 163. 164.
Congressus inlerruptus 1^ u.
f.. £6^,
— reservat US 1 ^3.
Contr.ire Sexualempfindung
86^ iÄi u. L
Darmatonie bei sexualkranken I' raucn
2 2 1
Defäkationsspermatorrhoe 200.
Depression, gemütliche bei Frauen
in den Wechseljahren 5^
— als Folge der Kastration bei Frauen
Ü
— bei Masturbanten 130.
— bei Schwangeren
Diätetische Behandlung der über-
mässigen Pollutionen 364.
Disposition, neuropathische , Be-
deutung derselben bei sexueller
Abstinenz 21i <j2_
— als l^rs.tche der Masturbation bei
Kindern 1 20.
— Einfluss derselben auf die Ent-
stehung des onanistiscben Irrsinns
>3r-
— Einfluss derselben auf die Wir-
kungen des Präventivverkehrs 180,
183.
Douchen 360.
Dysmenorrhoe 2li.
Dyspepsie, nervrisc 102.
— uteiinc 221.
ib, 221.
Effemination 280.
Eh csch I i e s s u n g, piophylaktische
Kraft tlerselben m bezug auf Geistes-
störungen iqS.
— Einfluss derselben bei Hypochondern
»93-
— Einfluss derselben bei Hysterie 191 .
Eisengebrauch bei Neurasthenie
E j a k u I a t i o n s ze n t ru m L.
Ejakulation, präzipitierte <2ii 'Q'.
Eklampsie gravidarum et par
t u r i e n 1 1 u m j6.
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Sachregister.
399
Ekzem der Genitalien als Ursache von
Masturbation 1 1')
Elektrizität. Anwendung derselben
bei Neurasthenie
Elektrisation, allgemeine
• — intraureihrale :^h9.
Elektrisches Bad i,bi.
Elektrische Behandlung der
Polluliones nimiae ^6;.
— der Spermatorrbof ^<n» u. f.
— der Impotenz ^74.
Enthaltsamkeit, sexuelle, s. sexuelle
Abstinenz.
En t w ic kl u n g s ps ychosc , nien-
struale 2 1 .
Epilepsie, Beziehung derselben zu
sexuellen Exzessen 104.
— Beziehung derselben zur Men-
sti-uatjon 30.
— Beziehung derselben zur Schwanger-
schaft
— Verursachung derselben durch
Onanie 140.
Erbrechen bei Schwangeren
Erektionszentrum im Lenden-
mark i.
Erektion sfäbigkeit, Abnahme
derselben 1.^2. i8i.
Erethismus genitalis 1 ^o.
Erogene Stoffe Lk.
Erotik, weibliche Li.
Erregung, frustrane üIl
Exzesse, geschlechtliche ^tx), 279.
— neurasthenische Folgen derselben
loi-
— Einfluss derselben auf Entstehung
von Psychosen 10 >.
— Beziehungen derselben zur Epilepsie
104.
— Beziehlingen zu den organischen
Rückenmaricskrankheiten lOy
— Folgen derselben beim weiblichen
Geschlechte 1 m
Exhibitionismus ,^19
Faradisation, allgemeine jbt.
Fei low 's Syrup 3S9.
Fetischismus ^07 u. f.
I p'ussfetischismus ^08.
Flagellation y^o.
Flussbäder .^6i.
Fortpflanzungstrieb
Franklinisation ^74.
Freud's Theorie von der Sexualität
in der Ätiologie der Neurosen 2^7.
Frigidität, sexuelle 12^ 268. 2«»Q,
220,
Frotteurs ^20.
GalTs Theorie von dem Sitze des
Gcschlechtssinnes L,
Galvanisation des Kopfes ^() 1 .
— des Rückens (längs der Wirbel-
säulei ;^6i, ^74-
— am Habe 361.
Gassen' sc he Apparate 384.
G a s t r a 1 g i c n bei Sexualkrankheiten
der Frauen : : i .
Gebirgsuufenlhalt .^S9.
Gedankendisziplin bei sexuellen
Rei/.iuständen ^62.
Gedanken onanie 1 18, 1 > > .
Gehirnblutung als Folge sexuellen
Verkehrs loo.
— — bei Schwangeren ^S.
Gehirnersthöpfung (zerebrale Neur-
asthenie, Cerebrasthenic) 102. i.^4-
Gehörstörungen bei Masturbation
1^6,
Geistesstörung als Folge sexueller
Abstinenz
— als Folge sexueller Exzesse 103.
— als Folge von Onanie ijO.
Gelüste bei Schwangeren ^
Genitalleiden, siehe Sexualerkran-
kungen.
Geschlechtstrieb 6^ im Kindes-
alter 2i 249, beim Manne 9, bei
der Frau Physiologie 1^ Ein-
Huss der Kastration auf dens.
LL lli iL krankhafte Steigerung
desselben Ij, £20 u. f.. 294, Folgen
der sex, Abstinenz bei dieser 2 1 u. f.,
Angeborener Mangel desselben
2b8.
I — perverser 2&2 u. f.
400
Sachregister.
Grausamkeit, Vcrknüpfiiny ilcr-
bclbcti mit sex. Lust ^20.
Gynandrie ^Ol, .^04.
H a a r f c t i s c h i s m u s ^08 .
H a a r f c t i s c h i s t e n ^08.
Haftbarkeit, erhöhte infanlitcr
Sexualerlebnissc 2()<).
H a 1 b bä cl e r 361 .
H äm o ^ 1 o b i n p r ä p a r a te , Gebranch
«icr'-elben bei Neura^lhen^e 3=; 9.
II a r ;i r (» h r e n s c h I e i m h a u t , II > per-
;islhesie tiorselben 1 46. 18^.
Ii a r n r r» h r c n s t r i k t u r c n 2r>2.
Heilgymnastik 3> 1 .
Heiraten bei vormals Geisteskranken
1 1 f r ni H p h r o <l i s i e , sexuelle 284,
Herzneurasthenie 102, t ^i;, 1 S^.
H e r / s c b w ii c h e , nervöse, siehe Her/-
neurasthenie.
H 0 (1 e n e X t r a k t Ii r o w n-S e i\ na r d 's
Homosexualität 282 u. f.
H (") r i j; k e i t, j;eschlechlliche ^ ^<>. V^7.
H y d r a s t i s t a n a d c n s i s jb.;.
Hydrotherapie ^(>o.
Hyperästhesie, sexuelle l>ei sex.
Enthaltsamkeit O^^ als l-ol.^e von
Onanie 1 3 y klinische l'ormen ders.
270 u. f.
— der H.irnrrihre [ 4('), 1 8^.
— der Vulva und <les Scheiiieni-in-
j^iinjji's 14S, 2 ^(>.
— der l<<tina 224.
H \ p c r e m e s i s r a v i d a ru m
J I y p e r i a D i e 270,
Hypnotische Behandlung 3(1 1 .
— - der Onanie 3 ^, der ex/esMven
Libido ^(i ^. der nlx-rniasNijjen l'<il-
hiliiJiu n 30s. cler l'olenzni.tnt^el ^So.
1 1 y p o e h o ri il r 1 e . Kiniluss tier Ver-
ehelichun;; bei dei-clben 103.
Hysterie, Ke/itluin;; dfiM-liten zur
sexueili-n .Vbstinenz 'jo. <) 1 . (»3.
— - Hivifluin^ drr^ellx ii /n dm '"cxual-
kiden bei Frauen 22s n. f.
Hysterie, Freuil's Theorie von »icr
.Xtiolojjie derselben 242.
Hysterische Konstitution 230
u. {.
I Idiosynkrasien, sexuelle \ ig. 324.
I m p o t e n z als Folge von sexueller Ab-
stinenz 83, von sex Exzessen loi,
von Onanie 132. verschiedene For-
men derselben 37t.
— Behandlung derselben 370.
Iiifantilismus psychohcxuali.s
2(.S
Injektion in den Spinalkanal 38b.
Inversion, sexuelle 282.
Irrsein, mensiruales 2X.
— zitkuläres 273, 280.
K a t h e t e r e I e k t r o d c 3(39.
K I c i d e r f c t i s c h i s t e n 309, 3 18.
Klimakterische Neurosen
Klimakterium, natürliches, Eintritt
und Dauer <lesselben ^ nerv<»e
Si<'irunj;en im Gefolge desselben ^
Verhalten iler Libiilo M'ährend der-
selben 37.
— künstliches, s. Castration.
Kleptomanie bei Schwangeren ^
Klimatische Kuren 359.
K n a b c n g e i s s 1 e r 330.
Kopromanie 309.
K II r |> e r f e t i s c h i s t e n 308.
K rümpfe, Folge «ler Masturbation
140
K li Ii I •« o n d c 36;;.
Lage v c r ;i n d e r u n g e n des Uterus
als L'rsache nei viiser Störungen 2 1^
'.•<■>•
. a g n ä n o ni a ti i e 322.
. a h m u ti g p o t congressum 100.
n <1 a u I e n t h a 1 t
. e c i 1 h i n 3 ^S.
. e i c h e II s c h ä n d u n g 306, 33t
. e n d e n ni a r k > / e n t r e n des
schlechl^akles ]_.
< le-
bt s i. h e L i c b I
- i b i d o s e \ u a I i s s. Geschlechtstrieb
Sachregister.
401
Libido 11 i m i a 2'0.
- Behandlung derselben
- Mangel derselben fdH
I^i hidogcne S t <> f f c 26 y
I, i q u ü r s e d a n s .^G^.
I- o k a 1 b e h a n d I u I) des ptostatiscbcn
Teiles der IlarnnUne 352, j57, 3"o.
L u <> t m o r d J,oh, y^o.
M a c h 1 ;in n ni a n i e ^22.
M ä d c h c n s t o t h c r 330.
Malthusianismus, s Pravcntiwer-
kchr.
M a s k u I i n i t ä t ^oi.
M a s o c h i s m u s 32;.
M a s s a c I .
- - t)ei I*otcn/str>runf;en 377.
Mastkur 3(1 2.
M a s t d a I m k u h 1 a ]i p a r a t 3 ( » 7 .
M a s l ur t) a t i o 11 s. ( >riante.
-• nuituelic Z^y. 2f)~, 2').^. 304.
M a s t o <1 \ n i L- bei SlIiw ant^'-icn _J2:
- menstruelle 2j_.
M c c h a n i Si ii e Mittel liei Pottn/.-
storunj^i.-n 3X4.
Melancholie bei Neuvcrinrdilten i n \.
im (iefol^c von Conjjr. inteir. 1 83.
M e n a t i- h c üL
M c n (I p .1 u s e JO.
M >- ti o r r h a i e ^«r.
Menstruation, irst«. r Eintritt lier-
sellx 11 '), Andauer drr-ilben 0.
ncr\i>>e Stotun^cti widu« rid der-
selben 2^ u. f., Men-tiiiati(>ris|i^y-
cboseiL 2v M' ii>ttualn ii:v.iii'>tn.ilieii.
ncrvi)ie l'c>l<;( n dir-< ll"-n 2i<, Kiti-
fluss der Mtr.slMi ilii 'ti !ii;-ti-h< rulc
Ncr\eiikraniiliciteii 2it, jilMt/litlie
Untcrduii kil:ij^ dut st II ictl 2ij_
M e s s a l i 11 1 ■ !1 ü
M e t a m o r p h o s i - s e x \1 a I i s p :i r a-
n n i c a 281).
M i k I i I ) n s s p e r lu a i o i r h o e 2uo.
Migräne 1 3*1.
M is s b 1 1 d u n ;4 di-r r.Li -scn Ii ( t.jsi hli i l.ts-
teile bei Im.iucii al-. T'i-,.ujiir von
Neurogen 2 ><>.
Molimina 111 1 11 s i r vi a ! i .1 im.
M u j e r a d o s 354.
^f u i r a c i I h i a ^rq.
Muskclatrophic. projjressive io8.
Muskelübung, Eintluss derselben
bei geschlechtlichen Rcizzustauilen
354-
M ye La s t heu ic.s. spinale Neurasthenie.
Myelitis, chronische, Eintluss der
scxuelicn Exzesse auf Entstehung
derselben io8.
M )■ f > m e al<i Ursache nervciser Herz-
beschwerden ?32.
Nekrophilie 330.
N c o in a 1 1 h 11 s i a n i s ni 11 s s Pra> cii-
livvtrkehr.
Neuralgien, bei Schwangeren
Neurasthenie als 1-olge sexueller
Abstinenz. b(y, lo.
— als Fol;^e sexueller Exzesse ifio
— als p'olgc von Onanie 1 32.
— als Fttlge von I'iävenlivvcrkehr 1 ^8
u. f
— des (jehiriis, s. Gehirncrsch<')p!ung.
— «les Rückenmarks (spinale Neur-
asthenie) IUI, 132. 182.
— allgemeine I02, 133
— viszerale I02. 1 1 83.
— bei Kontrarsexualen 300
- sexuelle, l'ropliylaxe und Bt Iviiidlung
derselben 342
Neurosen, Einllu^s dt r Men^truatioo
auf dieselben 2^
N \ m p h o ni a n i e ^7 *t 280.
Obstipation. Eint;u-s derselben bei
sexueller Abstillen/ Ob.
O U k I u s i V p e s s a r 1 e n H)3, 349.
Onanie, Vcrbrcitving ders. 113, iir/tl
IV urteilung ders. 1 1 4 u. f., ver-
si liied«.!)«- Eoiiiitn dei-. II'), 1 1 7,
jieii|dif.T iiiechaiiisi he I i <> , p>y-
cllische 117, Bcirieluiiig dtisclbtn
/.u \orhatidci)eii Krarkheils.aivtan-
ikn und der neutopathistln'n l)is-
jHi^ition 1 20, 203.
Zw.iiigstrieb zur * »rianic l_i2, uti-
li< wii>ste OniiU"-" 124.
402
S;Rl»reKi'»tet.
Onanie, Koljje/ustilinle derselben bei
Kindern 12h 11 f.
— Rinfluss der IKiulijikfit des Akte-»
bei Erwachsenen 1 27 .
— Einfluss psychischer u. physischer
Konstitution 1 20. 1 ^4.
— neurasthcnische Folj;e/uslände der-
selben 1^2.
— Psychosen als Fol^;c derselben l ^i.
— Epilepsie als Foltjc deiselbcn 140
— Erklärung der Einwirkung deis. auf
«las Nervensystem 1 4 j.
— beim weiblichen Geschlechte 1 47.
— nervöse Folgen ders. 147.
— Wirkungsweise ders. beim weib-
lichen Geschlechtc < > 1 .
— solitilre ^04.
— Behandlung ders. \ 1; u f.
() n a n i s i i s c h e s Irrsein 1 ^b.
Örgano-therapeutische Prä-
parate
Orgasmus • Verringerung und
Mangel der Filhigkeil zu demselben
— Ursachen dieser Erscheinung of.
räderastie 272. 2X2. 2S3, 202.
I^aralysc, progressive, sex. Hyper-
ästhesie bei <lers 273. jSo
— Einlluss sexueller Exzesse auf Ent-
wicklung ders 10^.
Pars prostalica der Hartiiohrc, lle-
zjehung derselben zur sexuellen
Neurasthenie 185. 2uu.
l'erversc Sexuulakte ;()7.
1' er Version des Oe-.cbk-chtslriebes
P o I 1 11 1 i o n s a r t i g e Vorgänge 20^.
Pullutions Verhinderungsmittel,
I mechanische ^6o.
: Polenz, geschlechtliche Entwicklung
derselben 2i
— Si h wr.nkungen «Icrselben unter nor-
I malen Verhältnissen Lü u. f.
I Po t e a ' * • o !■ u n g e n , s. Iinpolen/..
j P r ii c o c i t ä t des Geschlechtstriebs 2')4,
I 20'V
Präputium, Verlängerung desselben
P h e II ii Ceti n ;;S.
Phimose 202, 2')^.
P h f< b i c n aN !• fil;;c sexueller Ab>li:icri/
LI " • L
- - als Ki»lgc dfs ("i.ngr. inlcrr. 1 S ; 11 f.
P h y 1 1 n
1' u 1 1 u t i o II e n bi i .Mäniu rn i_2^ 204.
— übci massige il'i'llut. iinni.n.') 0^,
101. 1X2, ^ni;
lU-h;iiidUii 14 tk-fsribcn ;''4 11 f.
bei Fi..;u ii 1 4H, 151, 21:!
Präventiv verkehr, sex ueller I ^
— Die Mahhus'sche Lehre und der
Neomalthusianisinus l ■;4.
— Verschiedene Beurteilung des letz-
teren in arztlichen Kreisen 154.
Moiivc desselben l 5 y
Ansichten der Autoren iiber die
gesundheitlichen Folgen desselben
1 j^7, Eigene Beobachtungen über
die nervösen Folgen desselben 163.
— Erklärung der Einwirkung desselben
I auf das Nervensystem 1 8=;.
i - Svhlussfolgerungrii 1 -HS.
Priapismus 2^ 274 .
Prostata f a r a d i s a t i o n 374.
Prostatitis, chronische 202.
Prostatorrhoe, nervöse Folge-Er-
schiMnungcn derselben 20').
1* ro I y 1 i n (Roche) ^yS.
l'ruTilus genit.ilis ?Sn
.tIs Ursache von .Masturbaticjn i tg.
1' s c 11 il o ■ a n g I n a p e c 1 1) r i s bei
sexualkrankcn Frauen 222.
Psvch Ische Behandlung der Neui-
I asilicnic 3<)l. licr ex/cssivcn Libido
I 3()2 u. f , der PoiUuionisten 3(>7,
der Pr>ti.-nzsir>rungcn 380.
P s y c h o ]) a t h i a s o x u a I i s 267.
Psychose, pi iinonliale, menstiuclle
ZI.
! Ps\ ( hosrn bei Neuvermählten 194.
— k.uis.ilc Ho/K'liuni;«.-n derselben zu
-Sexu ileikratikun^en bei l- rauen 23b.
P s y i h r 1) p h 0 r s. Külilsonde.
P u Ii e 1 t 1 1 s / (• 1 1 2i nerviisL' Störungen
I li' l -eilten ZI.
Sachregister.
Pubertätsentwicklung
Pygraalionisten ^^o.
Reizbare Schwäche tJes Lenden-
markes i;^a, 146, 148. 211.
Reizzustände, sexuelle i jj, 148,
— ßehandlung derselben 362.
Reisen ^SO-
Reiten als Ursache von Spermatorrhoe
354-
Rückenmarkserschüpfung siehe
spinale Neurasthenie.
Rückenmarkskrankheiten, or-
ganische, Einfluss der sexuellen Ex-
zesse auf Entstehung derselben io;>
u. 107 ■
— bei Schwangeren ^o.
— Beziehung der Masturbation zu den-
selben 1 36.
Rückenscblauch, Chapnian'scher
Sadismus ^22.
Samenfluss s. Spermatorrhoe.
Samcnvcriuste, krankhafte, s. Sper-
matorrhoe und Pollution.
Sanatogen .^>8.
Sapphismus 302.
S a t y r I a s i s 20, 2J_. 27 l, 272, 27\.
Schreibkrampf als Folge von Onanie
'34-
Schuhfetischisten jo«).
Sch w :lch e, geschlechtliche, angeborene
186.
— erworbene tüLi ' lÜL
— Behandlung dtrselbcn \ 1 7.
Schwangerschaft, Kintluss dcr-
>clbcn auf Neurogen und Psychosen
Schwangerschaflslähmungcn,
periphere £2, zentrale ^ ^
Schwangerschaft>p?*ychosen 44.
Schwindel im Kliinakteiium 5^
— bei Neurasthenie i j }•
Sehstörungen als Foli^e von Onanie
Sekretion, iniicre 17, ÜIL
Scxualzentrum, s. Zentrum l. d.
Geschlechtssinn.
Sexualerkrankungen bei Männern
als Ursache von Nervenleiden 199.
bei Frauen infolge von Masturbation
»sO.
— infolgevon Präventivverkehr 157U. f.
— als Urs.'»che von Nervenleiden 2 1
— als Ursache lokaler nervöser Stö-
rungen 217.
— als Ursache von allgemeiner Neui-
•istbenie 3 IQ.
— als Ursache nervöser MagenafTek-
tionen 2212^
— als Ursache nervöser Herzstörungen
— der Frauen, Beziehungen derselben
zur Hysterie 22
— als Ursache abnormer sexueller Er-
regbarkeit Q, 280.
Sexualtrieb s Geschlechtstrieb.
Sexueller Verkehr, Einfluss des-
selben auf l>estchendc Nervenkrank-
heiten und die Disposition zu solchen
»8o.
S i t z 1) ;i d e r 360, 361.
Solbäder jbi.
1 S p a d o n e s
j Spermatorrhoe 82. 132. 181.
— Behandlung der>elbcn 3(>8.
S p e r m i n Pohl ij\ 3 ^8.
I S Iah I bade r ^01.
I Statintik der Honio>exucllcn 292.
Sterilisier ung, operative der Frau
349
S t o f I f c t i s c h i s m u s 3 ly.
I S t u p r u m 331.
I Substitutive Formen hetero-
sexueller Perversion 307.
Suggestion, hypnotische, s Sugi;e-.liv.
liL-h:in<llung.
- larMCtte j()H.
S u g e s t i V e H e h a ti d I u n g 3<i l .
S y m t> o 1 i s m u s , gcschlechtl. 3 1 ■ ) .
Syrupus Kolac com pos i t u s ,\^').
Tabes d n r > a 1 i •> , Beziehung der
sexuellen F.v'. ss^- /u ii<,'t>< !btn it><>
404
Sachregister.
Tabes d o r sal i s , Beziehung der Ona-
nie zu derselben 115.
Tachykardie bei Sexualloankhcit der
Krauen 12^
Ta^cspollutionen l ^2, 20^.
Tetanie bei Schwangeren ^b.
T i e r f e t i s c hi s m u s ;^ 19.
T r i b a d e ^o^.
T r i j; em i n t,^S.
Tripperneurasthenie 3r>n
Tropenkoller 33s.
Obererregbarkeit, sexuelle 270.
Uranismus 282
Urelhrili«. posterior chronica,
Beziehungen derselben zu den
sexuellen Missbräuchen 201
— Beziehung derselben zur Neur-
asthenie 201. 202.
— Beziehung derselben zur Anomalie
des (leschlcchtstriebcs 274.
Urning
Urningtum s. Uranismu;«.
Uterusexstirpation, Foigezuständc
derselben 60,
Uterinkoliken ih^
V a g i n i s m u s 236,
Vegetarische Lebensweise bei
Libido nimia 364.
Verdrängung bei Hysterie 248.
Viraginität 30». 304-
Vorstellungen als Ursache hyste-
rischer Symptome 22b. 23 1.
V o y e u r s 320.
Wasserkur s. H ydrotherapie.
Wallungen, khmaktcriscbe !^
Wechsel s. Klimakterium.
Yohimbin 378.
Zopfabschneider 3 18.
Zwangstriebe m der Schwanger-
schaft 43
Zwangstrieb zur Onanie 122.
Zwangsvorstellungen bei Ma-
sturbanten 130.
Zwangs vorstcllungsncurose,
Freud's Theorie von der Ätiologie
derselben 239. 242
Z w i 1 1 e r t u m , psychosexuales 284, 303^
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Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
Über die Lebensweise der Zuckerkranken.
Von I'rof. Ur. \Vilh(>ltn Ebstein.
0«h. Modiiina]-Rat und Direktor dor m»iiuint»cbeii Klinik in G5ttiJiK<>n.
Dritte Auflage.
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Lehrbuch der Schwedischen Heilgymnastik
DDter BerOcksicbtigDDg der Herzkrankbeiten.
Mit IM Ahhildungeii , LQÜ ÜbunL^en und Ml Rezcjdi-n.
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Dr. med. Henry Ha;rheH, Arzt iu Bad Soden a. T.
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von V. V. Winckler.
yVnx elfg. kaiionurf Afk. ^ — .
K o c Ii Ii 11 c h
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von F. V. Winckler.
Fünfte vermehrte and verbesserte Auflage.
/Ve/.-i clf(/. (jfbunilcii Mk. 2. 10.
Inhalt: Suppen, Seife 1 —22. — Krt-bse und Fische, .Seite 25— 41,
Saueon, Seite 46— 51. — e isc h o pe i h e n , Seite 55 — Dt), — Wildbret,
Seite 90 — 112. — Warme und kalt« Gemü»e, Eingesotteues und Dürr-
gemüae, Seile L21 — 136. — Bäckereien und M v Ii Inpe isen , Seite 141 — 153.
■ — Gefrorenen, Spitr t.'i" — I.')8. — Kriaubte Getränke, Seite 161 — 164,
Henry Hoole
Das l^'rai Iii ereil zum Sport.
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Mit zahlreichen Abbildungen im Text, 4 faksimilierten Voll-
bildern und dem Porträt von Emil Selenka.
Zweite umgearbeitete und ergänzte Außage,
Einbanümotiv nach einem japanischen Gobelin.
Preis gebunden Mk. ifl.6o.
Neben dem Inhalt bilden die vornehme Ausstattung^ und
das herrliche Illustrationsmaterial eine besondere Zierde des
Werkes. Unter den Abbiidungcn verdii iu-n (he zahlreichen
Vcikcrtvpcn besondere Erwähnung. Eiiu* <^ros>v Anzahl der
Abbildungen ist nach eigenen photographischen Aufnahmen
oder nach zeichnerischen Darstellungen und Öiskizzen der Gattin
des Forschers hergestellt worden. Wir wissen unser Referat
nicht besser zu schliessen als mit einem Satz aus unserer Be-
sprechung der ersten Auflage des Werkes: Dieses Buch wird
nicht im Bücherschrank dessen, der es sich angeschafft und
einmal gelesen hat, verstauben, sondern immer wieder zur Er-
heiterung und Belehrung hervorgeholt werden. Es dürfte
Wenige geben, die an einem solchen Werke, in dem Text
und Ausstattung sicli Imruionisch ergangen, keine t reude haben
werden.
(Hamburger Nachrichten.)
C. W. Kreideis Verlag iu Wiesbaden.
Soeben ist erschienen:
Paul und Fntz Sarasin
Reisen in Celebes.
Mit 240 Abbildungen im Texte,
12 Tafeln in Heliogravüre und Farbendruck und 11 Karten.
Preis für zwei Bände gebunden 24 Wn.
Dieses Buch ist die Frucht mehrjähriger, mühevoller Reisen
und Studien auf d*^r Insel Crlebes (1893^ oh und 100:» 1Q03),
(Icron Fntdorkun'^'-'^geschiclite hif^rdtsrrh /u « inom g^ewii?sen Ab-
schlüsse gelangt ist. Die Ver[a^s>-r haben au! dieser Insel
neben zahlreichen kleinen Exkursi' iien /.ehn >^rös^cre Reisen
durch noch V''>llii:r unbek<innie oder nur Tiiangelhatt bekannte
Strecken ausgeumiL, unter anderem lum ersten Male an zwei
Stellen das mächtige Zenlralstück der Insel, wo die vier Halb-
inseln zusammenstossen, durchquert. Diese Reisen sind nur
durch ein weitgehendes Entgegenkommen und eine energische
Unterstützung seitens der holländischen Kolonialregierung mög'
lieh gemacht worden.
Bas Buch soll in erster Linie die mannigfaltigen Erlebnisse
auf diesen Reisen und die Eindrücke wiedergeben, welche eine
zum guten Teil noch jungfräuliche Natur und die bald freund-
lichen, bald düster ernsten Kulturbilder des heidnischen Innern
auf die Verfasser gemacht haben. Der bleibende Wert des
Buches mag vor allem darin gesucht werden, dass eben diese
merkwürdigen Kulturen, die bis in lair / r Zeit durch die rasch
fortschreitende liuropaeisierung und Islamisierung des Landes
für immer vom Erdboden verschwunden sein werden, in diesem
Werke noch literarisch festgehalten werden konnten.
Die beigegebenen Bilder sind durchweg Originalaufnahmen
der Verfasser, und es sollten diese um so willkommener sein,
als die bisherige Celebes. TJtcratur so gut wie nichts an bild-
lichen Darstellungen enthält.
Digitized by Google
Veiiag von J. V. ßergmaun in Wiesbaden.
Handbuch
der
allgemeineD and speziellen Hydrotherapie.
Für Studierende und Arxte
Voll
Dr. Ludwig Schweinburg,
Ifttvktof und Chefant de» ÜMiittoriunis in Zackmantei.
hiebst eiDem Beitrage
Vün
Dr. Oskar Frankl, Fr«ueiMnt tu Wieo.
Die Hydrotherapie in der Gynäkologie üiid Geburtsliilfe.
Jfif 4a AbhUduw/en. «— PheU: M. (?.— , jfeh. M. 7, —
Auszüge ans Besprechungen:
Ein vorzügliches Lehrbuch für Studierende und Aritte, das trotz seiner
Knapptii'it (Idcb ttWes bringt, was für die Praxi« von Uedeutnug, da eben hi<T
der erfulitx'ue, atif echt wisKenschaftlichcni Uodcu Ktohende Arzt seine Krfahrungen
der ärztlichen Welt überliefert. Den Standpunkt des Autor« cbaraktcrisierl wohl
am b««leo «ein im Vorwort abgegeben« Uekeuatoie; „Prinzipiell freilich wftre
ee nur wflnscbenswert, wenn die Hydrotherapie als eelbstlndlite Dipsiplin ab-
danken und, im Verein mit auderon, auf anatomiscli-physinlnj^ifchor Basis auf-
gebauten Theorien zu einer allgemeinen Ther»pie vereinigt würde." Der
Beitrag von Fmokl dürfte (;loicbfalIs dem voriiegenden Kueh zu einer rascheo
Aufeiuanderfolge rom neuen Auflagen verhelfen, wa« wir im latereue der A,uf(iabme
der Hydrotherapie in das Rüstzeug drs pr«kti«c1)«n Arete« nur wQnwhen kOnneo.
Briegcr-Bßrli:! i. </. M",:fi.-M'hnff f. oTth«p. Chmtryie
u. phyaikal. licilmeihodvn.
Ein neuea Lehrbach aui« der Wintemttzschen .Schule und, wie gteieh mit
Vergnügen koiistatiiTi sti, riti j^nles. Hr. S c !: \v f i i: hn r g •< [ ! ai.dltiich 7,»;ic)niot
sieb durch wohltuende Knappheit und VollatUudigkoit aus. Uute Abbildangeo
erhöhen die Klarheit der DaratelluDir.
Archic /". ph ihafrurh tfiiiletisehe Therapie i. d. ärztl. I\azit.
Das beb weioburgsche Handbuch bat den groeseu Vorteil, nichts Über^
Odasiges ta ssKen, sieb nicht in Disknraiouen Qbor Theorien einsniassen, die Ton
einer 8eito mit Ilartnftcltigkeit \ t^i f i ctpn, von airlerf.n -n h -Irr lipstritfrn und als
erledigt betrachtet wenleti. Nun tlieureiisclicii &(ictutjigt>u will weaar der i^tu-
iliereiidr, noch der praktische Arzt etwas wissen, wenn e« sich um Hfdrotberapie
handelt. Wenn aber der praktisch« Arat ein kuntgefaaates, klaree, übersicht-
Ifehes Handbuch — wie das Seh weinb u rgsche ist — sur Hand nitnmt. wird
• ■r es mit Vergnügen durchsrudiertii utni cini u klaren Einblick in uns. le Dis-
ziplin gewinnen. Er wird auch die — mittcUt 6uhi- guter pbotugrapbischer Auf-
nafaflsen eriluterte — Technik i^ut fassen und anwenden können.
S 1 (i w e i n b 11 r hat in liu -^r? liiicb .inrh fl iv.nj tias Neueste aufgenommen,
was lu uiloi'Jütigster Zeit niclit uur in der H ydrotiierapie, sonileru auch iu elek*
trisehen und Koiiiensiinribädcrn, Ueissluftapparaten uaw, teebuiseh, metbodisoh
und therapeuiiscii wettvoll isi.
Der geringe Preis von 6 Marli wird wohl auch sn der wohlrerdientcn
Verbreitung deiselben beitiagen. Ungmruche med. iVMSe.
Verlag von J. F. ßerginann in Wiesbadeu.
Über
die geniale Geistestätigkeit
mit besonderer Berücksichtigung
des Genies für bildende Kunst
Von
Df. L. Loeweaietd in Mflncben,
iVet« If. 2.80.
In diaser S»aiiniaiig, di« das (jirei)&(;abi«t xwisob«D aorm«|«r and krank-
hafter Nerr«»- nnd Seelantiltigkatt barQfareo, müobtan wir gleiob hiar gabildeta
l^e-er. (He für iliii' ;:eis;ige Xdlirutig mel]r boatispruclieu «Is Mussc Uiitorhaltutigs-
lektüre, uud die scharies ^achdeukeu uicht scheueo, ia vurerwähnter Sammlung
«in vonflgiiebea Hilfsmittel ntr Erweiterung und Varlleroag ibrea Wlaaena 6nden.
.... Zu den Hauptvorzügeu des Werkes recliuen wir den Hcweis, dn^n
das iieuie, weil vom UurchschuittsmeiiAcheD nicht dem Wesen. Bondfiu nur dem
Grade nach verschieden, nicht unter entwickelungsgeschieli t liehe , ethiüche uud
payohologiacke Anaaehmiigesetze f%Iit. Glünseod int die Aualyse des Lebens
Too sw6l? berflhmten Malern; Liouardo, Michelangelo, Tizian, Raffael,
Dürer, llolbt^in jiii) , Kubana, Rambrandt, M i ss o n i er, Millet,
U ö c k 1 i n und Feuerbacb. „Neu- Yorker StaatszcUung".
.... Eine notwendige Verknüpfung der neuropathiachen Disposition oder
gnr dfi" psychiNchfii ."^t'H'iii);^«<ii mit cIloj (■'i'iiic ist sii-lici' ;iiis.',iischl icssrii : Im
ailgemeiaeo wurzelt vielwubr seine Kraft im Gesunden, nicht im
Kranken. Wir eiod alao au einer erfrealloberen Anffeasung dea Oeniea ge»
kommen als I. omhroao uud mmche atnlero neuere AtitDreu. Die geniale
(ieistcHtüligkeit tiiu nicht aus <i<-in ivütutien der psycho-phyätuiogischeu Ge-
achobuiaae heraus, sie arbeitet niit dnu j^leichen Kleiaentül wie alle flbrigen
Denkproseaaa und braucht uicht durch krankhafte Prosaaaa bedingt an aein.
Waa daa Zuaammeiitreffen mit psycbopathologischen Zutaten betrifft, so haben
wir t's mit ilrci '•"ru].peu zu tun: tiu- t rste reprilM-iitici t (ius fieulo <»1iir' patln'-
logieche Züge (Kant), die swette, das (ieuiu, bei welchem das Krankhatte eine
Begleiteraeheinung der ausserordentlichen Hegabuiig bildet (Goethe), die dritte
das ffpnio, welches in einer kreinkhaften Geljii imr^faniriati m 1ii-|^r(iiiilct ist
(J5 c h u j) e 11 h a n e ri. Krstere dürtle die seltenste Art darstellen, die let/.tc ubei
ihrerseits weit seltener sein ala mau in gewissen Kreiaen anaunehinen geneigt war.
Diese Aufl'asauug Loewenfclda wird zwar weniger aenaaiionell als die
L.ombruaü scbe, aber allgemeiner anerkannt und durch weitere Untersnohungeu
beatitigt werden. „ilfi(iieAen«r Nenette NaehrieHlen".
Ueber das Pathologische bei Nietzsche.
Von
Dr. P. J. Möbln« in Letpitg.
if. 2.80.
l. Der uraprfin gliche Nietaaebe: 1, Die Abatammung. S. Die PeraOalich«
kcit.
U. Die Krankiieit; 1. Die Migräne. 2. Die Entwicklung der prugresi>iv«^u
Paralyae. Daa Ende.
Behloaabamerknngen.
Verlag von J. F. Bergmaun in WiesbadeD.
Slimesgenflsse Jind Kuiistflenuss. V»Li:i„^5,.Ci5Id,Ä
Tode herausgegeben von Dr. J I .« n s K u r e 1 1 a in Breslau.
(i( li( Itct Mk 2.- Gebunden Mk. 2.70
Das lincli bedeutet emc Rcvulution iin Reieiic der Ästhetik. Mit einer
umfassenden und tiefen Kunstkennerschaft ausgerüstet, die der seines
Bruders Julius Lange gleichsteht, unternimmt es der berühmte Kopen*
haj^ener Pathologe, die gesamte Kunst als eine Summe von Genussmtiteln
zu bt trachten, welche die direkt auf unsere Sinne oder vom Blute aus auf
unsere Nerven einwirkerden Genu^Miuttel ergänzen, um dem ewig regen
Genussverlangen der Menschen zu genügen
In einer meistei h iften, von Geist, Ironie und ^Iühendem Kun^t Knthu-
siasnius sprühenden Skiz^ierung der Geschichte und des gegenwüj ligen
Standes der dekorativen Künste (Kunsthandvverk), der Malerei,
Dichtkunst und BQhnenkunsl zeigt L., dass andere als diese drei
Kunstmitte] nicht als heilende Kräfte der gesamten Kunstcntwickelung 2U
finden sind.
Ein Schlussabschnitt lehnt alles Reden und Schreiben über das Schöne
ab. Ein einleitender Abschnitt gibt die Physiologie des Genusses, die auch
die des Kunstgenusses ist
In zahlreichen feinen Einzelbemerkungen werden auch die bc-^onderen
Kunstmittel der einzelnen Künste hell beleuchtet. Der geistige Reichtum
des Verfassers verstreut eine Falle glänzender Apercus, die unser ganzes
Kulturleben beleuchten.
Dabei i^-t die Sprache einfach, klnr, >rh mucklos, frei von jedem Ver-
suche, durch die Form zu blenden ; d.is Revolutionärste, Paradoxeste wird
mit einer Spinozas würdigen Ruhe un<l Bestimmtheit gesagt
So lialicn wir auf wenigen Seiten eine Enttlironuni: aller idealistisch
versciiwuuinier.en Ästhetik, den ersten glänzend ;;elnnj;encn VerMJch, eine
allgemeine Kunstlehre auf pln siologischcr Gruiui! zu geben, gestützt
auf die Herausschalung der allen Künsten gemeinsamen Mittel, und der
Nachweise do* einfachen physiologischen Wirkung derselben.
Obe r Enfgrfun g, Von Dr. P. J. Moebius in Leipzig. Mk. I. -
Diese Abhandlung ist ein Muster gemeinverst.'lndlicher und doch streng
wissenschaftlicher Behandlung eines Gegenstandes, der in neuerer Zeit zu
den widersprechendsten Urteilen yeführt hat. M bemüht sich vor allem,
eine schärfere Fassung des Begritts „Entartung" zu geben, durch welche
die anhaftende odiuse Nebenbedeutung der Verworfenheit beseitigt wird;
nach seiner Auflassung ist Entartung jede Abweichung vom Typus, welche
die Nachkommen schädigen kann. Er weist auf wie man zu einem brauch-
baren Massstabe gelangen kann, von dem aus die Abweicliungcn vom Typus
speziell auf geistigem Gebiete sich beurteilen lassen, und schliesst mit
tretfenden Beinerkungen über den Verbrecliertypus und das Genie, welches
letztere, sofern es auf Disproportionalität beruht, auch nach Muebius dem
Gebiete der Entartung zuffllh.
Somnambulismus und Spiriiismus« y^^^^^; ^' ^"^'^Mk
In dieser Abhandlung schildert der Verfasser die verschiedenen Formen
des Somnambulismus und bespricht die gewöhnlichen sowohl als ausser
gewöhnlichen (occulten) Erscheinungen dieser Zustände. !-et«eren gegen-
Ober nimmt der Autor nicht einen negativen, sondern lediglich einen r^tr. ng
kritisihcn Standpunkt ein, und er zeigt, dass das betrelVs der occulten
Phänomene des Somnambulismus Feststehende ebenso wenig als die ge»
wohnliebcn Erscheinungen dieses Zustandes d' n iritistischen Theorien
irgend eine Stütze gewähren. Die neuere Litei alur weist , wie von der
Kriük auch anerkannt ist, keine schärfere und zugleich elegantere Ab*
ertigung des Spiritismus, wie die in dieser Abhandlung enthaltenci auf.
Digltized by Google
Verlag von J. F. Berginauu in Wiesbaden.
Abnorme Chorakfere. vonDr. j. l a. Koch m Cannstatt. Mk.i-
Kociib Abhandlung vcdolstt den Zweck, Verständnis lür die abnormen
Charaktere, die so oft ungerecht beurteilt werden, zu eröfi'nen, indem er
deren krankhafte Natur nachweist. Sp'^ziell beschäftigt sich der Verfasser
mit den dem Grenzgebiete zwisclien geistiger üesundheit und ausgeprägter
Geisteskrankheit angehörenden abnormen Charakteren an engeren Sinne.
Ober die sogen, nioral Insan lly. {JSS^^iS?. '"Mfc''lil!
.... Tlicma, Inhalt und Darstellungsweise sind geeignet, die LektOre
des Buches nicht bloss für ^rzte, sondern auch fQr Juristen. Soziologen
und Gebildete überhaupt empfehlenswert erscheinen zu lassen.
Centratblo!! / d Grenz^^ebiete d- r Medisi».
.... Das Werkchen Nacckes, welches sich an die Gebildeten aller
Kreise wendet, verdient vor allem auch die Aufmerksamkeit der Juristen,
\vt:il es diesen zeigt» dass die Psychiater nicht gegen sie, sondern uu sie
arbeiten. AUgetmine Zeiluttg.
Funktioneile und or goiiisdie nervenkrankh e iten. Von Professor
Dr. H. Obersteiner in Wien. Mk. 1. —
Die Abhandlunf; des berühmten Wiener Forschers bietet viel mehr»
nl^ der Titel rrwartcn lA'^st. Oberslcincr b«;handeU nicht nur die Unter«
seine de zwischen den organischen und sogenannten funk»
tiunellen Nervenkrankheiten m einer für Arzte wie Laien gleich
interessanten Weise« er entwickelt auch bezOglich letzlerer eine neue, sehr
beachtenswerte Theorie und macht dm Leser en passant sozusagen mit
(I< I) wichtigsten Ergebnissen der neueren Gehirnforschung
bekannt.
l>ic Arbeit unseres hervorragendsten Nervenanatonien, sehr
inhaltsreich und durchaus gediegen in der Form, verdipnt volle Beachtung
seitens der Fachgenossen. . Ir^//. Zcntrulzettung.
Wahnideen im Völkerleben, von ür. M. Fried mann in Mann.
hemi. Mk. 2.—
Aus der interessanten Sammlung der ^Grenzfragen" ist dies eines
der feinsten und lesenswertesten Stocke
Kurrt'spondeiizhlatt für Sr/i;i'>i:fr Arzte.
. . . Möge das Heft viele Leser hnden und in weiten Kreisen aul-
klärend wirken. /trati. Sachwrständigett-Zeihittg.
Ober die gelsttge Arbeitskraft und ihre Sqfllenfe von Dr.
L. Loewenfeld in Manchen. Mk. L40
Das Buch i>t für gebildete Leser fjes« hricben. Es behandelt in < in-
gehender Weise das Thema ui zwei llanptkapiteln, von denen tias erste
der Lehre von der geistigen Arbeitskraft Oberhaupt gewidmet ist, wobei
hc'^ondcrs dir CrsacTien der pliysioK)i;isrlnM) und pathologisc.ien Schwank«
ungen au^iuhrlich besprochen werdt ii. Der zweite Teil ist der Hygiene
der geistigen Arbeitskraft gewidmet. Diese Lektüre mochten wir
vor allem auch den Lehrern unser er. Schulen empfehlen, sie
werden dem Buche manche Anregung, viel Belehrung eni-
iifhrnen können. Es -< i nuii dir auf hingewiesen, da>s es s;rh kt iiv ^-
we^s um eine rein medizinisch-hygienische üchrift handelt, sondern es kun^nt
ihr m grösserem Masse volkswirtschaft'liche Bedeutung zu.
Aorautr Tageblatt-
\' erlag von J. V. Bergmann in Wiesbaden.
Die örosshlrnrinde als Organ der Seele. Y:"
^ vVdamKiewicz in
Wien. Mk. 2.-
Die intcre«5snntcn Pufilikiitionen, weiche drr berühmte Verfasser im
Laufe tief J ilwf ulitT die Funkiion der Grosshitnrinde und ihrer Ganglien
vcföffcnlliciit liat, bilden die Grundlage der vorliegenden höchst interei^santen
Schrift, die boÜ'enilich schon wegen ihrer klaren gemeinfasslichen Darstel*
lung weiteste Verbreitung finden wird .... MttHvmisch* Blätter^
Ober den Traum« von Dr. S. Freud in Wien. Mk. 1.-
Der Verfasser hat in obiger Arbeit die so oft vergeblich angestrebte
Lösung dei TraumrätseJ auf einem ganz tu iu ii wissenschafttic he n We^e
in Angriff genommen und ist dabei zu Resultaten gelangt, welche jeden
Gebildeten in hohem Masse interessieren müssen.
Er führt uns an der Hand seiner Untersuchungen sozusagen in die
Traumwcrksiatt; er zeigt uns das f^- i^ti^e Material, welches für das
Ti auniSLU ;jc verwendet wird, (in- ['ru/e-se. dr-m n dieses Mattnal uti:- :--
liegen muss, um zu Traumbcstandtcilen umgestaltet zu werden, und wie
durch Berücksichtigung dieser VorgAnge sich Sinn und Zusammenhang in
die srheiiili.i: verworrensten, sinnlosesten Traumbilder bringen lAsst.
1 lauuic Mild iiicli Knud nicht lediglich Sc Ii au nie, sie geben mit-
unter Ober die dunklen, vom Bewusstsein nicht beleuchteten
Seiten unseres Seelenlebens die oberr aschendsten Auf*
sc blasse.
Das Selbs^bewussteeln, Empfindung u. 6eHlhL von i r .fessur
" Dr. Tii. Lipps
in Mönchen. Mk. 1.—
Der gelehrte \'rrtas t r, einer der bedeutendsten deiii-^ehr-n !'*-ve!i. .], ic-rii
der Gegenwart, bi Ii iii lelL lu vui hegender Arbeit mehrere der wichtigsten
psychologischen Fr . t 1- nie in einer Form, weiche auch dem Venständnisse
des in der Psychologie Unbewanderten keine -Schwierigkeiten bereitet und
geeignet ist. sein Interesse fttr den (icgenstand lobhaft anzuregen.
Im Einzelnen bespricht Lipp^ untr. (udercm: den verschiedenen .Sinn
des „Ich", das Icli und den Zusammenhang der Bewusstseinserscheinungen,
das Ich als Kinheit der Kmplindungen, Vorstellungen etc., »Ich*, GeFOhl
und Kmpfinduri:rii, die Affekte, Unabhängigkeit der Getfihle von Körper-
ctirpfindungen, das „reale Ich".
Die treflende Kritik, in welcher der Autor in seinen Ausführungen
die Ansichten anderer Autoren unterzieht, und die Auffassungen, zu welchen
er selbst bezQgllch der einzelnen behandelten 1- ragen gelangt, dürften die
Beacluun^ aller Jener beanspruclien. welche über die Fortschritte der
psychologiächea I^rkcnnlnis sich orientieren wollen.
Individuelle Gelstesnrtung und 6eistesstgrunfl« Von Direktor
Dr. Tb. Tili ng in Petersburg! Mk. 1.60
Die Freiheit des Willens Pom Siandpunkte der Psydio«
pafhologie. Von Prof. Dr. A. Hoche in Strassburg. Mk. 1.—
Die Arbeit H.'s zeichnet sich durch Klarheit, Knappheit und Eleganz
der .Sprache forninl, durcli di«; .Anwendung psychiatrischer Erfahrungen
auf das schwierige I'robicm inhaltlich aus und steht hoch Uber dem Meisten,
was auf dic'^cm Gebiete geschrieben worden ist ... . Den Geiuiss der
Lektüre sollte sich jeder inachen, den das Problem der Willensirciheit
tntere- siert. Schniidts Lehräüchtr der Medium.
Verlag von J. F. Bei^mann in Wiesbaden.
IHuskelfunktlon und BeWUSSfsein. von Dr. E, Störchin Breslau
^ Mk. l.JÜ
Eine äusserst anregende und gehaltreiche Schrift, durchaus den Geist
der Wernickeschen Lehre atmend ...
Zentralblatt f. ä. Grenzgebiete der Metltsin u. Chirurjfie
Storch ist m mehreren Untersuchungen erfolgreich der Rolle nach*
;;«.-gangen, welche die Mu-kelfunktion, d. h ihre psyrlii-* lu- X'crirettnii];, in
dem Oesamtbewusstsein spielt. Er bietet in der vorlicj.;' ndt ii Studie seine
Lehre in VoriQglicher Gedr^lngthcit und Gedankenpr.lzision.
ZtHiraiblati f. NervtHheilkunäe u. Peychialrie,
Psychialrle U. Dichtkunst . Von Prof. Dr. a W ol ff in Basel. Mk. L
Der Vortr il; wurde so abgedruckt, wie er am 2-^. Februar gehalten
worden ist, olmc der „Darstellung durch weitere Auslöhrung oder durch
Beigahe von Anmerkungen mit Literaturnachweisen u. dgl. den Schein
der \'. iH-tilndigkeil zu ^^t f» ir. weil \"i .Ilstitndigkeit in einem ein«^tündigt m
Vortrag sowieso unmöglich zu erreichen ist. Die Arbeit bietet des An-
regenden und Interessanten auch so genujc.
.... Wir bed.Titrrtrn h« i der I ct- türe bloss, dass d i- Heft nur
20 Seiten umfasst und so wird es gewiss ^edein Leser ergchen, der sich
dem Genüsse dieser ausgezeichneten Studie hingibt. Basler Zntung.
Die E nergie des lebenden Organismus und ihre psydio«
bioioflisdie Bedeutung, ^^''st^pete^^^^^^^^ " ' ' ^^^'^lira^
Dil- an? rrirlicm Wi'^'^rn .-ii;fE;( h.mtc umfangreiche Abhan<llung ist um
so interessanter, als sie uns die .Ansichten vieler russischer Forscher über-
mittelt, die uns bisher unbekannt geblieben waren.
Schmidts Jahrbücher der Mfdizin,
BeWUSStSeln- SefÜhl. K;nc psycl.o.physiolog. f nter-u, l,ung. Von Prof.
Dr. Uppenhcimer in lieidtllierg. Mk. -l —
In der vorliegenden Schrift behandelt der Verfasser die Bewusst«<ieins.
fV.ipc nach naturv. ,--. :i-chattlichcr Mt-thod« Mit [jf 'iilicher Vermeidiui'^ iIht
spekulativen Voraussetzungen und Lrörterungcn beruht seine Beweisführung
auf anatomischen und phx'siologischen Erfahrungen, die er schon froher in
drei Abhandlungen veronentlicht hat.
Der Füll Otto Weininger, j inc psyrhatr ' r. Studie. Von Dr Ferd.
i ruhst in München. Mk. 1. —
Keine literarische Erscheinung der neuesten Zeit hat wohl so viel
AufaLhcn t rrrjit und so widt-t -pn i iicrid«^ Bturti-ilnngen gf fund< n. als die
Schrift „(^e SU ii l cch l und L Ii .1 r a kl e 1". deren jiiL^'eiidln iifr Vcrtas^er
Otto WriniiiLjcr in Beethovens .Sterbehaus in Wien ^♦■incrn Lebrn durch
einen K«rv(i| vcrsclmss ein Ziel <t.tztc. In der vt)rtic::etidcri Abhand-
lung wird der (M ist<-/u-land (k:s nn^i^l■ klu licn junLren Gci<rhrten aul Grund
noch niciit vor Dltetitlicliten bi' >i:r;i])ii:srti< ii Materrais und "^L-iner W'.-rke einer
eingehenden psychiatrischen ünlersuchung unterzogen. Ls gelang dem
Amor hierdurch in überzeugender Weise darzutun, dass eü sieh in den
Si hrilicn \Vfir.ini;ci " iiuiit um r>t'l<-nbarunL'<rn eines gevunripti piiil'>si)|tiiis(:lien
Genies, s<^ndern icdiglaii üm die l.r^eiigiiisse eines Geisteskranken handelt,
die zun) Teil allerdings den Stempel aussergewöhnlicher Begabung an
&iih tragen.
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Verlag von. J. F. Ber|i;niatin in Wiesbaden.
Srudieu zur Psudioloaie des Pessimismus. „ .
2 ° KowalewsKi
in Königsberg. Mk. 2.80
Ober die Bewertung des Pessimismus war bisher eine Veretändi^iung
ni< Iit zu (_T/ieIen. <!a Anhäni;rr uve Gc^iirf dt-i sr-lbi n sich nur auf ein-
seitige und unsichere Beobachtungen zu stützen vermochten.
Das Unternehmen des Autors, für die Beurteilang des Pessimismus
eine neue einwandfreie Grundlage zu schafien, darf daher als ein «sehr
dankenswertes bezeichnet werden. Die vorliegende Arbeit will einmal
Sans vorurteilslos vom streng empirisch*psychoiogischcn Standpunkte aus
en Wahrheitsgehalt des Pessimismus ergründen. Mit Hilfe experimen-
teller und statistischer Methoden wird das tatsächliche Verhältnis der
Lust- und l^ilustfunktion im nixinalen Durcli^i linittstypus tiienschlicher
Gefühlsweisc nach den mannigtaclisten Richtungen genauer verfolgt. £s
stellen sich hierbei nierkwürdigc Asymmetrien heraus, die entschieiMn die
Entwickeltmf: einer pps-^iiniisti^^clu-u Scclt tu rrTa'-^nnc: begünstigen. Dem-
gegenüber aber werden auch autajit'nisti--« Ik Faktoren nachgewiesen, die
IUI allgemeinen das Gleichgewicht des Gemüts zu wahren vermögen, deren
Stönuig oder Hemmung mit Notwendigkeit zum ausgesprochenen Pessi»
mismus führt. Der verschrieetie Pessimismus dOrfte nach dieser Unter-
suchung 7um Teil in etwas freuntllicherein lachte ersclieineti, da /ii ihm
nicht nur eine pathologische, sondern auch eine bedeutsame normale Kom-
ponente gehört
Der Zusammenhang von Iieib und Seele, das Grundproblem
der Psydioiofl ie. Von Prof. Dr. W. Schuppe in Greifswald. Mk. I.CO
Berufswahl und Rervenleben. vcnProrpr August Hoffmann
— . Hl Düsseldorf Mk. —.>?«.•
Die vorliegende Schrift beansprucht das Interesse weitester Kreise,
da sie eine Fra^e \<>n eminenter Bedeutung fnr die Volksgesundheit be-
handelt. Viele verfehlte und unglückliche Existenzen sind darauf zurück*
zufbhren, dass das Nervensystem der Betreffenden den Anforderungen des
von ihnen rrcw.lhken Berufes nicht gewachsen i^^t \uf der anderen
Seite lehn die arztliche Erfahrung, dass die Walil eines gceigiiclen Berufes
ein Mittel bildet, durch welches bei ncrvc'ts Veranlagten und allgemein
schwächlichen Individuen die Leistungs^ und Widerstandsfähigkeit des
Nervensystems gefordert und damit nicht nur Erkrankung verhindert, son-
dern aucl> eiiv '1 •^pirie^sliche berunielie T.*Uic;l:cit ernin^Iicht wird.
Eltern und Vormünder, die bei der so schwerwiegenden Entscheidung
Ober den Beruf ihrer Kinder und Pflegebefohlenen sieh vor Kehlgriflen
schützen wollen, wird die Schrift H.'s ein sehr wertvoller Ratgeber sein.
Wirtsdiatt und [Tlode. Von W, Sombart in Breslau. Mk.— ,P0
Die vorliegende glänzend und |)rickclnd geschriebene Abhandlung des
Breslauer Naiionalokonomen und Sozialpolitikers ist das zweite derjenigen
Essays dieser Sammlung, welche das Grenzgebiet zwischen sozi-
alen und p sy t ii " ■ lg 1 sc h c n Krschemungen behandelt Es wird izeze tjt,
wie das Seelenleben des G r o s ssl äd le r s in seiner Rastlosigkeit,
seinen nervösen Bedorfniss» n nach Verfeinerung und immer neuer,
inuncr raflinierterer Anregung «ies Verlangens nach («el)raueli-L:iUern die
Grundla;ie der K nl w i e k e 1 u n der Nlude bildet, und wie der mo-
derne Kapiialisnnis auf tiies<-r (irutuilayc erst das innerste Wcscn der
Mode zur vollen Entfaltung gebracht hat.
Verlag von J. F. Bergmann in Wiesbaden.
niusik und Reruen. Ernst jentsch in Breslau. I. Natur-
gtscniclite des 1 onsinnes. Mk. 1. —
Der Autor vorliegenden Heftes hat sich die dankbare Auff^abe gestetlt.
die Grundlage des musikali-^chcn Genusses, den Tcn^inn und di> diesem
ditnciulcM wunderbaren Einrichtungen des mensctiln 1r n üigaiirsnius nacli
dem derzeitigen Standpunkte der Wissenschaft in jrosen Zügen zu schildern.
Im Anschluss daran behandelt er den Tonsinn in der Tierwelt und die
merkwürdige Tatsache der Existenz musikalischer Rassen. Die überaus
khuen, /um Tril clur( Ii Abbildungen « ilauter ten Ausführungen des Autors
dürften das Interesse aller Musikfreunde beanspruchen. Ein zweites Heft
wird einige weitere interessante Kapitel aus dem Gebiete Musilc und Nerven
bringen.
Die Frau In der Kulturbeweflung der geflenwart ^jy^JJj
Bftumer in Berlin Mk. IJHO
Betrachtungen über Frauenfragc als inneres Ptohlcm, Frauenwillc in
Liebe und Ehe, Kulturleistung der Frau und Mutlcisehalt, Ausgleirhung
des alten und neuen Prinzips Jn der Frauenbewegung bilden den Inhalt
der Schrift. Mit viel Geist und Überlegung werden diese Fragen ht hanfitlt.
Was Verfasserin gegen „das Recht auf Mutterschaü" sagt, hübe ich schuner
und herzlicher nirgends gefunden Aus dem von der geistigen Bewegung
der Gegenwart ergriffenen Selb»tbewusst$ein der Frau heraus werden die
Probleme der Frauenfrage entwickelt und der Weg ihrer Losung voi^e*
zeichnet: Au^^gl'-ieh des alten Prinzips — Forderun!; tat^fieliücher MAnner«
rechte — mit dem neuen — Raum für das Weibesschicksal
Pädagogiac/n WarU,
gehirn u. Sprache. Von Dozent Dr. Heinr. Sachs in Breslau. Mk.3 —
Zur yergleldienden Psydioloflle der uersdiiedenen Sinnes«
qualüflten« von Fror. H. Obersteiner in Wien, Mk. L60
Die Tempemmente. Wesen, ihre Bedeutung iür das seelische
^ Erleben und ihre besonderen Gestaltungen.
Von Dr. E. Hirt in Manchen. Mk. 1.80
Die B^deutuna der Suggestion im soziuleu Leben.
" ■ I rdtessor
Dr. W. von Bechterew in St. Petersburg. iVlk. y.—
Inhalt: Ansehamiogen Uber die Natur der Suggestion. — De-
finition des Suggestionsbegriffs. — Sucrtrf" tion und Überzeujiung. -
Hypnotischeäuggeütion. — Suggestion im Wachzustande. — Suggestion
und Glauben. — UnwillkOrlicbe und gegens^tige Suggestion. — Kol*
lektiveoderMasaenillaaionen u.-Hallaalnationen.— Stereotype Sinnes-
t&nschungen and die Bedeutung der Autosuggestion. — Suggestion als
F ikt 1 1 . i sektiererischen Selbst Verrichtungen - Histor isclie Krampf-
epideniien. - Epidemische Zauberei und Teufelsbesessenheit. — Kli-
kuschentum und Verdorbenheit. — ReligtdS'psycbopath. Epidemien. —
Epidemische Verbreitung mystischer Lehren. Paniken bei Mensch
und Tier. — Psychische Epjüemiea bei hi&tor. Volksbewegungen. —
Einfluss von Massenversammlungen auf die Entstehung psychischer
Epidemien. — Die Bedeutung der Suggestion in den sozialen Gruppen.
Die
Verlag von J. F. Bergmann iu Wiesbadeo.
Die normalen Sdiwankungen der Seelentatiflkeiten. j ''p, ///i
in Florenz, Obersetzt von Dr. E. Jentsch in Bre«:Iau. Mk. 1 —
Der Verfasser hat in vorliegender Abhandlung sich die verdicnsivoile
Aufgabe gestellt, den Leser mit den ebenso interessanten, als praktisch
wichtigen Schwankungen der normalen Seelentätigkeitcn
bekannt zu machen. Er schildert die Veränderungen, welche d..s Seelen-
leben unter der Einwirkung phyi-iologischer Ursachen i Anregung, Erniudi ng,
Gewöhnung, L>iät, Milieu etc.) erfährt, und zeigt, dass zwischen geistiger
Gesundheit und Geisteskrankheit keine Kluft besteht, vielmehr schon im
normalen Scclenlcbeti die Elemente der Geistesstönmg, wenn auch nur
rudimentär, sich ßuden.
Der ginüuss des Alkohols auf das neruen» und Seelenleben.
Von Dr. Eduard Hirt in Manchen. Mk. l.flO
Jeden), tf'-r .in der .Mk rhoHVage das Interesse nimmt, das ihr bei
ihrer sozialen iiedeutung zukommt, wird das Hirtsche Buch höchst will-
kommen sein.
Die LüUIie. von IV. Km«?? Jentsth in Breslau. Mk. 1.20
Was ist „Laune" .'' Wie äussert sie sich? Wie ist sie zu erklären?
Was macht man dagegen? Dies sind im wesentlichen die Fragen, deren
Klarstellung und Hr intwortiing in grossen Züirrn mit Hilfe dessen, was
die wissenschattliche Scelenkuudc und Scclenheilkunde au die Hand gibtt
sich die Arbeit zur Aufgabe gestellt hat.
r)ir- Ht trai fitniifj i?t. abgesehen von dem tirztlichen Praktiker, welchem
ein weites Kiadi iiigcii in besondere Ei.izelgebicte nicht immer möglich ist,
vornehmlich für solche Nervöse bestimmt« denen es mit der richtigen Be-
urteilung und Beseitigung vieler vermeidlMtrer Beschwerden ernst ist. Aber
auch wer nervöse Pfleglinge in Obhut oder solche heranzubilden hat, wird
mit Nutzen Kenntnis d.ivun nehmen, Wer sich für die Wunderwelt des
menschlichen Seelenlebens interessiert, dem dürfte die Arbeit vielfache
Anregung zum Nachdenken geben. Auch wird sie dazu beitragen, man< he
Misshclü^keitcn des alltäglichen Lebens anders aufzufa-^^rn und vielem Ge*
wohnten und Bekannten eine neue Seite abgewinnen iiellcn.
Übunn und GedddliniS- physiol. Studie. Von Dr. Semi Meyer
^ in Danzig. Mk> 1.30
PsydliQtrie und PddQflOflik. ^^]^'- ^""""^^ Wanke in Jjjcdndij
Trunksucht und Temperenz In den Vereinigten StüQten.
Studien und Eindrücke von Dr. B. Laquer in Wiesbaden. Mk. l.öO
flber d(iS BeWUSStSSin ^^ine Anomalien und ihre forensische
■ * Bedeutung. Von Dr. med. L. M. Kötsclicr
in Hubertusburg. Alk. 2.40.
L. kj .i^cd by Google
/