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Full text of "Untersuchungen über den menschlichen Willen, dessen Naturtriebe, Veränderlichkeit, Verhältniss zur Tugend und Glückseligkeit und die Grundregeln, die menschlichen Gemüther zu erkennen und zu regieren"

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uUnterſuchungen 


über den 


menschlichen Wilen 


deſſen 
Natutriche, V Veraͤnderlichkeit, Verhaͤltniß 
zur Tugend und Stüdfeligfeit 
und bie 


Crumpeg ‚ bie menfchlichen Gemüther zu erfennen 
und zu — | 


Johann Georg Heinrich Feder, 


Profeffor der Philofophie auf der ©. U. Univerſtäͤt 
zu — 





keſer Theil 





| Göttingen und Lemgo, 
Im Verlage des Meyerſchen Buchhandlung 1779: 


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. Dem 
Andenke n 
des | 
vergnuͤgten Umganges 
| mit 
feinem vertrauten Freunde und Eollegen 
HERRN 


Chriſoph Meines 


widmet 


Ä Vieſen erſten Theil 





der Verfaſſer. 


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. orrede. 


9: erſte Then meiner —— 
chungen uber den menſchlichen Wil⸗ 
len iſt der Anfang einer Arbeit, die, wie 
ſchon die Anzeige des Titelblattes zu erkennen 
giebt, natuͤrlich in vier Haupttheile zerfaͤllt. 
Hier habe ich es mit der Entwickelung der 

2 allge. 





Borrebe, 

allgemeinen Geſetze und Triebe des menfchli- 
hen Willens und mit den naͤchſten Urſachen 
derſelben zu thun. Wenn ich bisweilen bie 
au Verſchiedenheiten fortgegangen bins fo 
gefihah dies nur, um anmerklich zu machen, 
Daß es Unterſchiede dabey giebt, und zu were 
hindern, daß man ſich den allgemeinen 
Begriff nicht zu beftimmt made, Oder es 
find nur folche Verſchiedenheiten, die aus 
ben allgemeinen Urſachen leicht begreif⸗ 
lich werden, und kai zur ee, 

dienen. | 
| Im zweyten heile folfen die Urſachen 
der merkwuͤrdigſten Verſchiedenheiten in den 
Neigungen und Sitten der Menſchen aus⸗ 
fuͤhrlich unterſucht, und der Bill unter 
den Einflffen der Unterſdiede in den Ver⸗ 
flans 





| Vorredeée— 

ſtandeslraſten ‚be Förperlichen Conſtitu⸗ 
tion ‚ des Alters, des Geſchlechtes/ der 
Nahrung und der ganzen Lebensart, ferner 
des Klima, der verſchiedenen Grade der 
Fruchtbarkeit des Erdbodens, der aͤußerli⸗ 
hen Gluͤcksumſtaͤnde überhaupt, endlich der 
Geſetze und politifhen Verfaſſungen — bes 

trachtet werden, | 
Vom DVerhäftniffe des Menfchen zur 
Gluͤckſeligkeit und zur Tugend ſoll der dritte 
Sheil handeln; und zwar alfo, daß die j 
Gruͤnde und Hinderniffe der Gtüdfeligfeit 
und der Tugend in der menſchlichen Natun 
nicht bloß in Ruͤckſicht auf die allgemeinen 
Beſchaffenheiten derſelben, ſondern auch in 
Kücficht auf die vornehmſten Verſchieden⸗ | 
heiten der Gemuͤther erörtert werden. 
K4 m 


Vorrede. 


Im vierten Theile ſollen endlich di 


Gründe unterfucht ‚werden, "auf denen die 
Kunft, die menfehlichen Gemüther zu erken⸗ 
nen und zu regieren, beruht. 

Noch oft zittere ich, wenn ich auf die 
Größe und Wichtigkeit des ganzen Umfan ⸗ 
ges dieſes mir worgezeichneten Planes hinſehe. 
Es ift zwar ſchon vieles von andern in einzel⸗ 
nen Theilen vorgearbeitet. Aber wie vieles 
gehoͤrte nicht bloß dazu, alles dieſes aufzu⸗ 

ſuchen, zuprüfen, zu ordnen und in fein 
eigenes Syſtem einzupaſſen? Und in man 
den Artilelin vermifle ich die Beyhuͤlfe ande» 
ver noch gar fehr. Wie ſchwankend und uns 


jwwerlaͤſſig iſt nicht noch die Lehre von den 


Temperamenten? Und wie einfeitig, übers 
eilt, und daher einander widerſprechend iſt 
nicht 


Borrede 


nicht das * was über die Einfluͤſſe des 
Klima ſowohl als der Staatsverfaſſung bis⸗ 
her geſagt worden iſt, und noch immer ge⸗ 

ſagt wird? | 
Ich werde mich daher mit der Ausgabe 
der folgenden Theile nicht uͤbereilen. Ken 
ner werden dies um fo viel weniger mißbillis 
gen, ie mehr fie mich etwa zu- diefer Arbeit 
geſchidt halten, Auch diefen erfien Theil 
gedachte ich noch länger unter der Zeile zu 
behalten, Aber theils habe ich e8 manchem 
meiner Freunde und Gönner zu oft ange 
merft, daß fie gern einmal-eine Probe mei⸗ 
nes Fleißes oder meiner Geſchicklichkeit in 
einer ausführlichern Arbeit fehen möch- 
ten, Theils glaubte ih, daß es mir 
doch nuͤtzlich ſeyn Fönnte,. wenn ich bald 
5 die 


DBorrebe, 

| die Urtheile des Publicums daruͤber ver⸗ 
maͤhme. | | 
In Anfehung der Schreibart möchte 
ih freylich lieber um Nachſicht bitten, als 
um firenge Beurtheilung, Was aber die 
Sachen anbelangt: da bitte ich um firenge 
Prüfung. Denn es koͤmmt auf Wahrheiten 
an, die mir hoͤchſt wichtig find. Göttingen 
den zten April 1779 | 


Innhalt. 


JInnhalt. 


D. Einleitung handelt von den Gruͤnden und Schwierigkei⸗ 
— 7 Wiſſenſchaft von dem menſchlichen Gemuͤthe, 
. 26, 


Das erfte Buch enthält Beobachtungen, 


Abſchnitt J. Weber die offenbarſten Grundgeſetze des menſch⸗ 
lichen Willens. | Ä 


Bapitel 1. Die Abhängigkeit des Willens von der Er: 

fenntniß. $. I. Grundbegriffe vom Verſtand und 
Willen, und der wechfelfeitigen Abhängigkeit bepder von 
einander, ©. 31. - 5.2. Siunliche Begierde 
und verftändiger Wille, S. 33. $. 355 Daß 
und warung ed auf die formelle Befchaffenheit der Vor⸗ 
fellungen bey Gemuͤthsbewegungen anfsınıntz und wie 
die finnliche Vorftellung insgemein doch nicht immer mehr 
ausrichtet, als die abſtracte, ©, 44. . : $. 6. Db 
der Wille frey genannt werden kann, &, 48, 4. 7. 
Erſter Verſuch zur Beantwortung der Frage: Was für 
eine Eigenfhaft der Dinge den Willen unmittelbar zum 
Wollen und Nichtwollen reize, S. 52. 4. 8. Ob 
Neigungen angebohren oder vor aller Empfindung (dom 
in der Seele fepn fünnen? ©. 57, | 


Bepitel II. Die nächften Urſachen der verſchiedenen 
Wirkungen der Dinge auf den Willen, $.9. All 
emeine Ueberſicht derfelben, ©. 58, $. 10. Ads 
Foclation der Ideen und Gefühle, S. 68. $. IL, 
Gewohnheit, S. 74. d. 12. Neuheit, ©. 76, 
$. 13. Worhergehender Zuftand der Seele, ©, go, 
$. 14. Schwlerigkeiten, Hinderniſſe, Verbote, ©. 82. 


Rapiv 


Janhalt. 


Kapitel II. Bon einigen Neigungen und Trieben, die 
am tiefſten in der menſchlichen Natur gegruͤndet zu ſeyn 
ſcheinen. $. 15. Trieb zum Vergnuͤgen, — 
liebe, Eigennuͤtzigkeit, Eigenliebe, Selbſtſucht, S 
$.16s21. Sympathie, ©. 1085. 8. 22. 334 
der —— — — und Wahrheit, ©. IIo. 9. 23. 


Trieb zur Veränderung, ©. 113. ° $.24. Xrieb 
ei die Zukunft zu ſehen, Trieb “a dem Unendlichen, 
. 117. ' 


Pe I. Bon den vornehmften Zuftänden bes menſch⸗ 
lihen Gemuͤths, nebſt den nächften Urfachen und Wirs 


fungen bderfelben. $. 25. Eintheilung im rus 
bige und in Affecten. Urſachen und Wirkungen ber 
legtern überhaupt betrachtet, ©. 124. 5. 26. In 


angenehme, unangenehme und a S. 12% 
$. 27. Bon ben Urfachen und .. ber angeneh⸗ 
men Gemüthszuftände, ©. 13 6.28. Ein . 
theilung der unangenehmen Gemiichszufände, ©. 136. 
$. 29. Bon ge Traurigkeit, ©. 139. $. 30. Vom 
ar „S. 14 $. 31. Furcht und Ödreden. 
urchefofigkeit. * Muth, S. 156. $. 32. Reue 
und Schaam, ©. 164. 8. 33. — und 
Schwermüthigkeit, ©. 167. 4. 34. Sehnfudt, 
Reerheit des Herzens und lange Weile, ©.174. 8. 35. 


Neid, Mißgunft und Schadenfreude, S. 176. 5.36. . 


Bon der Hoffnung und einigen andern mittlern Ge 


muͤthszuſtaͤnden, ©. 181. $. 37. Bon dem 
Erg aus einem Gemuͤths zuſtande in ben andern, 
184 


Das zweyte Buch handelt von den Oründen und dem Zuſam⸗ 
ſammenhange ber vornehmſten Triebe des menſchlichen 


Willens. 
Abſchnitt l, Denen, : die fih hauptſaͤchlich und allernaͤchſt 
auf einen jeden felbft beziehen. 

Bapitcl J. Vorläufige Anzeige der verſchiedenen Hypo⸗ 
theſen, und Anweiſung zu deren Gebrauch und Beur⸗ 
theilung. $. 38.40. ©. 193. 

Bepırel I, Bon den Trieben, bie fich auf die gröbern 


finnlichen Vergnuͤgungen und eicrenicen — be⸗ 
ziehen. 


Ä Sandart 


$. En ee Abficht auf — hat 
him Zweifel, $. 42. Ihr —* 
aus dem Weſen * ce. ift nicht begreiflih, S. 199. 
in, e ge anderer Neigungen gefellen ſich ihnen 
v ey, © 


Lil, de ben Vergnügen des Auges und des 
nn und dem MWohlgefallen an finnlicher Schönheit. 
Ob das Wefen der Schönheit fich auf einen alls 
en Begriff bringen laffe ? Unterfuchung in Anfes 
Eis: einfachiten Gegenſtaͤnde, ©. 204. $. 45. 
beit in der Manchfaltigkeir ift das allgemeine Wefen 
der Schönheit > zufammengefeßten Gegenftänden, 
&. 209, $. 46. Warum die Einheit in der Manchs 
gefällt, ohne den Einfluß adfociirter Ideen, 
©. 213. $. 47. 1. z * hiebey aus den * 
gen $. 48 
des Unterſchiedes beym Wohlgefallen an ee 
, ©. 222. 


Rapid IV Era ben Vergnuͤgungen der Einbildungs⸗ 
; Blase Ville. der 
Ei. Gräude, © 226 $. 50. Urfachen der Vers 
ſchchiedenheit der — in dieſen Neigumgen, ©. 228. 
Bapirel V. Fe den Vergnügen des Berftandes und der 
* $. 51. —* —* *7* 
er entſtehe 232 
ae —8* ve zur ug A und ben Seinen 
der Zü igkeil * $. 53. on den 
Bu | Se ——— 4 Ideen, in 
‚fo fer fe ‚in den Neigungen finden, ©. 238. 
kapitel VL. Sen den Dreigungen u den — 


Güte ie 
—— ee u 


* a DIE ee Bien. 
l. Son dem Arien zur Edre, Herrſchaft und 


Basel. „Bam Zeie ne nn 
57: 



























Innhalt. 


J. 37. Von den Verſchiedenheiten der Menſchen in An⸗ 
ſehung ber Ehrbegierbe Ind den Urſachen derſelben, 
©. 260. 9. 58. Won der Ehrliebe der Ritterzeiten, 
der Japaner und Geylonefeii, ©. 262  $. 59. Einige 
Sonberbätheiten und Frägen, ©.265. 6. 60. Nach⸗ 
eiferung, Begierde um Nachruhm, S. 270. 

Bapitel I. Vom Triebe, über Andere zu herrſchen. 
$. 61. Allgemeine Gründe deffelben, ©. 273 9. 62. 
Wirkungen dieſes Triebes, ©. 276 $. 63. Bon 
der Herrfchfucht in Auſehung der Meynungen und Nei⸗ 
gungen, ©. 279. | 


Bapitel IT. Wom Triebe der Hochachtung. G. 64. 
Allgemeine Gründe deffelben, ©. 283. $. 65. Hochs 
achtung bey verfchiedenen Stufen ber Eultur, ©. 286. 
9. 66. Vom Einfluß der Eigenliebe auf die Achtung 
für andere, ©. 292. 6. 67. Ob jedweder Menſch 
ſich im Ganzen hoͤher ſchaͤtze, als jeden andern Men⸗ 
ſchen, ©. 295. | 


Abtheilung II. Bon ben freundfchafrlichen Neigungen und 
den entgegengefegten feindfeligen Trieben. 


Bapitel I. Bon der eigentlichen freundſchaftlichen Liebe. 
$.63. Ob es uneigennägige Freundſchaften geben inne? 
©. 299. . 69. Bon den Urfachen ber verſchiede⸗ 
men Stärke dieſes Triebes, ©. 301. $. 70. Bon 
> verfihiedenen Arten der Freundſchaftsverſicherungen, 

.304. ° | 

Bapitel II. Von der Liebe gegen das andere Geſchlecht. 
$. 77. Vermiſchung unterſchiedenet Triebe beym Urs 
fprunge und der Unterhaltung diefer Leidenſchaft. Große 

ewalt berfelben, ©.308: $. 72. Von der Schaam⸗ 
haftigkeit in Beziehung auf den Geſchlechtstrieb und 
Ben verfchiedenen Meynungen Über die Moralität deffels 
ben, ©. 312. 9. 73; Bon der Eiferfuht, ©. 314. 
5. 24. VBerfhiedene Grade der Achtung für bie Keuſch⸗ 
it und für das andere Geſchlecht überhaupt, ©. 317. 
En Ob die eheliche Geſellſchaft eine Wirkung des 

ſtinets ſey ? S. 31 * 

Bapitel IT, Bon der Liebe gegen die Wohlthaͤter, und 

ben,untärfichen Antrieben zur Dankbarkeit. $ı7& * 


Ne „ 


Janbalt. 


tärlihe Gruͤnde der Dankbarkeit und Undankbarkeit, 

©. 321: - $. 77. Ob alle Menſchen von Natur die. 

— ſtaͤrker empfinden, als die Wohlthaten? 
323. 


BapitelIV. Von der Liebe der Blutevetwandten. 6 78. 

Allgemeine Gruͤnde einer beſondern Zuneigung zu dert 
Blutsverwandten, ©. 326. 9 79. Bon der Liebe 
der Kinder zu den Eitern, &. 329 $.80. Von der 
Liebe der Eltern zu den Kindern, ©. 337. $- gt. 
Ob ein Naturtrieb der fleifchlihen Vereinigung ber bep⸗ 
den Geſchlechter fich widerfege, ©. 338. 


Bapitel V. Won der Liebe zum Vaterlande. (. 82. 
Gründe derfelben, ©. 340. 9. 83. Hinderniffe, 
©. 341. . 6.84. Warum bey rohen Voͤlkern und im 
kleinen Republiten die Waterlandsliche am ftärkften ſich 
zeigt, ©. 344 


I VL Don ber Menſchenliebe und Geſelligkeit, 
6.85. Ob in den allgemeinen Eigenfchaften der menſch⸗ 
lichen Natur die Menfchenliebe gegründet fey? S. 346. 
6.86. Wodurch fie hauptſaͤchlich gefchwächt werben fann-? 
©. 39. - 9.87. Ob ber Menfh von Natur ges 
fellig fey? ©. 352. 

Bapitel VII. Won der Liebe gegen Verſtorbene und des 
— die unvernuͤnftigen Thiere 6. 88. Verſchiedene 
Beweiſe der Achtung und Liebe gegen Verſtorbene, 
©. 354. $.89. Urſachen davon, ©. 358.  $. 90. 
Bon der Liebe zu ben unvernänftigen Thieren, &. 361. 


Rapitel VIIL. «Bon den feindfeligen Neigungen und Tries 
ben. 5.91. Einige vorläufige Besrachtungen über 
bie Gruͤnde biefer Triebe, ©. 364. 6.92: Von 
der Rachſucht überhaupt, ©. 366. 6.93. Bon 
der Rachfucht wilder Völker, ©. 370.. . $. 94. Uns 
dere Urfachen bes Haſſes und der Graufamfeit, ©. 374. 
6.95. Noch andere Urfachen des gg So bey 
Leiden anderer, ©. 378. 5. 96. Vom Part, cne 
8 388. $ 97 Vom Mer ſqhenhaß, 
N‘, o x 


* 


Ab⸗ 


Innhalt. 
Abſchnitt III. Triebe von ſehr vermiſchten Beziehungen. 


Abtheilung J. Von moraliſchen Trieben. 
- Bapirel J. Von den moraliſchen Empfindungen und 
Trieben uͤberhaupt betrachtet. 9. 98. Von den 
Gründen der moraliſchen Begriffe und Urtheile, ©. 393. 
6.99. Bon ben Gründen der moralifchen Neigungen 
und Abneigungen, ©. 400. 
Bapitel U. Vom Gewiffen. .. $. 100. Wie das Ge 
wiſſen in der menfchlichen Natur gegründet iſt? ©. 405. 
$. 101. Won den vornehmften Urfachen der Verſchie⸗ 
denbeit der Menfchen in Anfehung des Gewiffene, ©. 413. 
$. 102. Vom Zuftande des Gewiffenstriebes bey we⸗ 
nig gefitteten Voͤlkern, ©.417. . 4. 103. Wie 
ungleich ihrem gewöhnlichen Charakter Menfhen durch 
die Gewiffenstriebe werden koͤnnen? ©.418. 9. 104. 
Vom Religionseifer, ©. 423. $. 105. Bon der 
Geſchicklichkeit des menfchlichen Herzens, feine minder 
guten Neigungen und Abfichten unter dem Vorwande 
bed Gewiffens zu verbergen, ©. 427. 
Bapitel II. Von der Neigung zum MWohlanftändigen. 
$. 106. Aufelärung der Begriffe, ©. 428.  $. 107. 
Grund der Neigung, ©. 430. : 9. 108. Grund der 
BVerfhiedenheit, ©. 434. s 
Abrtheilung I. Unterfuhungen über bie nod übrigen Triebe. 
Bapitel I. Von der Neigung zum Großen und Wunder⸗ 
baren. $. 109. Umfang, Gründe und Bedingun⸗ 
gen. derfelben, ©. 439. FJ. 110. Von der Neigung 
zur Pracht, ©. 442. :. 9. 212. Von der Liebe zum 
Wunderbaren und zu Geheimniffen, ©. 447: 
Bapirel IE. Vom Wohlgefallen am Lächerlichen. 7 $. 
112s 11. ©. 452 - a * 
Bapitel II. Vom Triebe der Nachahmung und ber Nei⸗ 
gung zum Spiele. F. 115. 116. ©. 466. 
Bapitel IV. Bon der Liebe zum Leben und: zur Frepheit. 
$. 117. 113. ©. 466. — 
Bapitel V. Schlußfolgen. 6. 119. 120. ©, 478. 


** Einleitung. 


Einleitung. 


Bon den Gründen und Schwierigkeiten 
der Wiſſenſchaft von dem menſchlichen 
Gemuͤthe. 





er 


Wie fern der Menſch ſich ſelbſt der —— Gegenſtand 
der Erkenntniß iſt. 


Ni der Menfch — nur 
— ſich ſelbſt empfindet: ſo lernt er doch ſich 
ſelbſt ſpaͤter kunen, als viele Dinge außer 
ihm. Aber wenn er nur erſt anfaͤngt, mit ſich ſelbſt be— 
kannt zu werden, ſo kann er bald einſehen, daß dieſe 
Selbſtkenntniß eine ſehr noͤthige Wiſſenſchaft fuͤr ihn iſt. 
Denn die Dinge außer ihm werben das, was fie ihm 

Eriter Theil. A wich: 


2 | Einleitung 


wichtig macht, die Urfachen feiner Wonne ober feines 
Elendes, mehr durch ihn, als fie es an ſich nothwendig 
ſind. Dennoch verliert er ſich noch immer gar leicht wie⸗ 
der außer ſich. Ueber der Bemuͤhung, die Dinge, die 
ſeine Begierde reizen, zu erjagen und zu feſſeln, vergißt 
er feine Triebe und Neigungen zu ordnen, und mit ein- 
ander in Uebereinftimmung zu bringen. Unermüdet im 
Eifer, das Wefen eines jedweden Dings zu entwickeln, | 
die einfachften Kräfte und die verborgenften Gefege ber 
Natur zu ergründen, verabfäumf er fein Herz zu erfor« 
ſchen, wo doc) auch fo mancherley Täufchungen dem 
flüchtigen Alltagsblicke die Wahrheit verbergen 
koͤnnen. 

Alle Wiſſenſchaften ſind zum Nutzen des Men⸗ 
ſchen. Er iſt ein Theil eines Ganzen, abhaͤngig, und 
unter einem mannichfaltigen Einfluſſe der mit ihm ver⸗ 
bundenen Dinge; er muß ſie kennen. Und in einem 
Syſtem der Dinge, wo alles ſo genau zuſammenhaͤngt, 
fuͤhrt eine Kenntniß zur andern, und ein Irrthum zum 
andern. Selbſt zur Kenntniß ſeiner eigenen Natur 
dient dem Menſchen jedwede andere Wiſſenſchaft. Sie 
iſt das Werk ſeiner Kraͤfte; und der Menſch kann ſich 
nicht gerade zu aus ſich ſelbſt kennen lernen. Nur durch 
die, Bemerkung feiner Verhaͤltniſſe zu andern Dingen, 
deſſen, was er thut, was er will, und was er leidet, kennt 
er ſich. Und falſch urtheilt er über ſich, über die Urſa— 
chen deffen, mas er in ſich empfindet, und was ihm be 
gegnet; eben fowol wenn er die Dinge außer ihm niche 
Fennt, als wenn er fic) felbft zu erforfchen unbemübt ift. 

Wie unbekannt mit fi) felbft, feinen Kräften, 
feinen —— ſeinen Hoffnungen, waͤre nicht noch der 

Ref, 


Einleitung 3 


Menſch, wenn nicht auch die Naturlehre, und vornehmlich 
ſie, von der Meßkunſt geleitet, ſeine Blicke erweitert und 
geſchaͤrft; wenn fie nicht die düftern Schatten des Aber 
glaubens zerfireuet hätte! 


Fern fen es daher von den Moraliſten, ‚ andere 
- Wiffenfchaften verächtlich vorzuftellen. Auch Sokrates 
wollte diefes nicht; da er die Philofophen von ben Unters 
ſuchungen über den Himmel und die Elemente der Welt 
abzuziehen und zum Nachdenken über das menfchliche Le⸗ 
ben zu reizen bemüht war *). Mur das wollte der weife 
Mann, daß jene Unterfuchımgen von vielen entbehre und 
andern überlaffen werden Fönnen; da hingegen, über feine 
Matur und feine Beftimmung nachzudenken, eines jeden 
Menfchen Pflicht ift; und daß es fonderhar fen, wenn 
diejenigen, die hoher Erfenntniffe fih rühmen, nicht 
mwiffen, was in ihrem Herzen vorgeht, 


§. 2% 

Veränderlichkeit der menfchlihen Natur , und daher emts 
ſtehende Schwierigkeiten, ſichere Beflimmungen von 
ihr anzugeben. 

Aber kann der Menfch auch ficher feine wefentliche 
Natur und Beftimmung fennen lernen; ober wird er ſich 
felbft ein beſtaͤndiges Raͤthſel bleiben? Iſt es ihm gege- 
ben, die Gefege der Geifterwelt zu erforfchen, oder muß 
er da überall irren, und in unfichern Vermuthungen ver 

bleiben? Den erften und ftärfften Grund, diefes zu be» 
zweifeln, giebt die fo große Mannichfaltigkeit der Öeftalten, 
a2 in 


—— 


H S. Brnckeri Uiſl. exit. philofoph, 1, p. 357. ſeq. 











4 \ Einleitung, 


in denen der Menfch fich zeigt, und deren Veraͤnderlichkeit. 
Unter allen fichtbaren Gefchöpfen ift Feines ſich felbft fo 
ungleich, als der Menſch. Nationen mit Nationen, 
einzelne Perfonen unter einander verglichen; welche Ab» 
fände! So groß, daß es oft fehwer wird, den Mens 
fehen , fich felbft, in dem andern zu erfennen *), 

Hier liege er unter freyem Himmel, ober in einer 
Felſenkluft, oder in einer rauchichten Hütte. - Dort 
wohnt er in aufgerhürmten Palläften, und findet in einer 
unabſehlichen Neihe von Zimmern faum Raum genug 
für fih. Kleider hält jener für unnatürlichen Zwang, 
laͤuft nackend, ziert fi) mit Farben, oder Knochen, die 
er durd) die Haut ſteckt, oder behaͤngt ſich mit Ihierfel« 
fen.  Diefer würde fich für unglücklich, für veraͤchtlich 
- halten, wenn er nicht für jede Jahreszeit, vielleicht für 
jeden Tag, ein ander Kleid anzuziehen hätte, 

Dort find Völker, die ſich ſcheuen, Thiere zu 
toͤdten und ihr Fleifch zu effen. Hier find andere, Die 
aus Nache ihre Feinde verzehren, und Menſchenfleiſch 
zu Markte un * | 


Bald 





E, Nicht allein haben verfeinerte Voͤlker wilde, die Euros 
pier die Amerikaner bey der erften Entdeckung, biswei—⸗ 
len Mühe gehabt, für Menfchen zu erfennen; fondern 
auch Wilde glauben nicht felten, anderm eine Ehre zu 
erweifen, wenn fie diefelben für Menfchen, wie fie find, 
erkennen, Und, wenn Philofophen darauf verfallen 
burften, eine Gattung der Affen zum Menfchenges 
fhlehte erheben zu wollen; kann nicht auch dies den 
Zweifel an der Gewißheit des Weſens der Menfchheit 
unterftügen? 
“*) Daß es Mienfchenfrefler gebe, leidet nun feinen Zwei⸗ 
- fel mehr. Aber daß bloß die Nachgierde dazu antreibe, _ 
iſt 


Einleitung. | 5 


Bald feheine dem Menfchen Fein Opfer zu groß, 
das er nicht der Freundfchaft, der Waterlandsliebe zu 
bringen, fich entfchließen Fönnte; bald Fein Verbrechen 

U 3 zu 














ift fo ausgemacht noch nicht. Die Keifebefchreibungen 
enthalten einige Nachrichten, die noch einen weitern 
Umfang des Tricbes zu beweifen fheinen. ©. Goguet 
de l’origine des loix Tom. J. p. 166. feq. Forfer’s 
voyage round the world. I. p. 512. ſeq. Getchichte 
von Loango ıc. ©. 268. f. 280. f. 291. f. Olden⸗ 
dorps Beichichte der Wiiffionen. ©. 306. fe. Und 
daß wenigftens auch die Noth, und nicht einmal bie 
äußerfie Noth, dazu bringen koͤnne, dies beweifer uns 
ter andern ein Benfpiel, welches vor einigen Jahren 
viel Auffeben in Deutfchland verurfacht hat. Weil die 
Gerüchte davon fo wunderlich lauteten; fo ward ich bes 
gierig, etwas zuverläßiges davon zu erfahren. Ich 
fuchte nah, und war fo glüflih, von der Regierung 
zu Weimar die ganzen Acten der Inquifition geſchickt 
zu erhalten. Aus felbigen ift folgendes ein getrener 
Auszug, „Der im Jahr 1772 im 55 Jahr feines Alter 
hingerichtete ©. Nic. Goldſchmidt war ein Kuhhirt; 
immer ein grimmiger Kerl, doch bey gefundem Ver— 
ftande, nicht bie zur Äußerften Nothdurft arın, ob er 
gleich einigemal, fonderlich Eßwaaren, geftöhlen, und 
Fleifh von Hunden und todtem Vieh verzehrt. Er 
hatte felbft feine Kinder; begegnete aber oft Pleinen 
Kindern zärtlih, nahm fie auf den Arm, gab ihnen 
bas Brod aus dem Munde, hatte fie auch oft ganze 
Tage bey ſich. Der Frau, deren Iıjährige Tochter er 
umgebracht, fagte er ein Jahr vorher, daß eine Theu— 
rung fommen werde, wo eine Mutter würde ihr Kind 
ſchlachten. Da bdiefe ihm erwiederte, er habe ja Fein 
Kind; war feine Antwort, man müffe fih dann eines 
nehmen, Don diefem Kinde, das er ermordet, bat er 
fih einen Tag nachher, an einem Bußtage, unter ber 
Kirche Fleifh gekocht. Schon vorher hatte er auf dem 


Felde einen Handwerföpurfchen ermordet, von 
. en 


6 Einleitung. 

’ 
zu ſcheußlich, Feine Niederträchtigfeit zu verächtlich, die 
‚er nicht um feines Eigennutzes, um feine $eidenfchaften 
zu befriedigen, begienge. Ä 


Itzt fcheint er das gefelligfte Wefen zu feyn, bes 
reit, lieber alles zu dulden, als ſich von der Geſellſchaft 
zu trennen und allein zu feyn. Kin andermal flieht er 
menfchenfcheu, verſchließt fih, Flucht der Gefellfchaft. 
- Hier ftellt fi) ein kleiner Haufe frenheitsliebender Res 
publikaner einem umzähfbaren Seere entgegen, und ftirbe 
fieber, als daß er wiche; eine Handvoll Bettler, wie 
der übermüthige Feind fie nenne, zwingt den Beherrfcher 
eines Gebietes, in dem bie Sonne nie untergeht, erft fie 
für unabhängig zu erflären, bald aud) ihre Freundfchaft 
zu fuhen. Dort zittern Millionen in der niedrigften 
Sclaverey vor einem zum Defpoten gebornen Kinde, 
oder einem aus dem Staube erhobenen Prieſter. Wie 
derum fteht mitten unter den Voͤlkern, die ihrem Negen 
ten mit der größten Ehrerbietigfeit begegnen, und in ei⸗ 
ner befondern der Ehrfurcht geheiligten Sprache fie anre⸗ 
den, unvermuthet ein Haufe gutartiger Schwärmer auf, 

und 


— — 











ben aber nur zwey kleine Stuͤcke gegeſſen, mit dem 
übrigen einen Hund gefüttert, den er hernach verzeh⸗ 
ret. Hundefleifh habe ihm beffer geſchmeckt. Werfals 
len fey er auf Menfhenflifh, aus der Abfiht, um 
fi in Brob zu fegen, wenn es an Provians fehlte, 
Es waren damals Jahre des Mißwachſes, und das 
Brodt thener, Do auch die Meugierde habe ihn dazu 
angetrieben. Der Herr Profeffor Blumbach bemers 
ket von eben dieſem Menfchen in feiner Differtation: 
de varietate generis humani pag. 28. daß er unge⸗ 
woͤhnlich ſtark mit Haaren bewachſen geweſen. 


* 


Einleitung 7 


und erlaubt fi gegen eben dieſe Beherrfcher das Cere⸗ 
monial des erften Naturftandes *). 

Unzaͤhlbar ift die Menge der Btödfinnigen, bie 
ein Thier, das vor ihren Füßen froh, als den Herrn 
ihres Schickſals verehren, oder einen Knochen zum Ge« 
genſtande ihrer begeifterten Furcht und Hoffnung erheben. 

Und andere fcheinen zu ftolz, einen Schöpfer der Welt 
anzubeten! 
Hier weiß man von feinem Range, als ben pet» 
ſoͤnliche Eigenfchaften geben, Gefhiclichfeie auf der 
Jagd und Fifcheren, Muth gegen den Feind, Erfah. 
rung des Alters. Dort zähfe man fo viele Rangordnun« 
gen der Menfchen, als Nahrungsarten; jebe berfelben 
wuͤrde ſich auf immer entehren, wenn fie mit der andern 
aͤße; und Siebe treiben mit einer Perfon aus einer niedri- 
gen Efaffe kann fogar das Leben Foften *). 

Auf Kieinigfeiten ſtolz, ift oft der Menfch geneigt, 
feinen Verſtand für den vollfommenften zu Halten. Und - 
eine Kleinigkeit, die er nicht begreift, ift auch oft nur 

44 nöthig, 
as ie 
®) Bey der Thronbefleigung Jacobs II machten die Quaͤker 
ihre Aufwartung mit folgender Addreſſe: Wir find ger 

Zommen, unfer Leid über den Tod unferd guten Freun⸗ 

des Earl zu bezeugen, und unfere Freude, baß Du 

unfer Führer geworden bifl. Wir hören, daß Du der 
englifhen Kirche eben fo wenig zugethan ſeyſt, als wir, 
und hoffen daher, daß Du uns biefelbe Freyheit geſtat⸗ 


ten werdeft, die Du dir erlaubeft. Und fo wuͤnſchen 
wir Dir alles Gute. Hum« Hift. of England 


VL 37% 


#4) ©. Knox Relation of the Island ef Ceylon part, I. 
chap. II, 


za 


8 Einleitung. 


nöthia, um einen andern ſchwachen Sterblihen für einen 
Himmels Sohn zu halten, 


Hier wählt er efel feine Nahrung aus hundert Ge 


richten, und würde glauben, Tod und Schande durch 


wohlfeile Speifen ſich zuzuziehen, Dort findet er noch 
viel verachtetere wohlſchmeckend, und ſcheint faum zu 
wiffen, daß ein Unterfchied dabey ftatt finde *). | 
Alles noch gemeine Unterfchiede, und begreifliche 
Dinge, in Vergleichung mit fo manchen andern Son« 
derbarfeiten, die von Voͤlkern oder Individuen ange— 
merft werden. Was foll man dazu fagen, was für einen 
Grund aus den ausgemachten Grundfägen von der menfch 
lichen Natur davon angeben, daß bey einem Volke die 
Weiber nicht vor dem zsften Jahre Kinder lebendig zur 
Welt gebaren dürfen *)7 Daß bey andern die Män« 
ner anftate der Frauen, wenn dieſe geboren haben, ins 
Bette fih legen, und Wochen halten +)? Was zu der 
eingebildeten Verwandefchoft der Japaneſer mit den Cro⸗ 
codilen ++) ? 
Was zu den fo mannichfoftigen Berunftaltungen 
bes Körpers in der Abficht ihn zu verfchönern? Was zu 


der 





— 


*) ©. von der abfheulichen Gefräßigfeit der Ealifornier, 
die Nachrichten von Ealıfornien, Manheim. 1772. 
zb. 1. $. 5. Und yon den Einwohnern der Feuer⸗ 
landsinfeln. Forfßer’s Voyage Il, 

*a) ©, Buffon Naturhiſtorie, Berl. Ueberfegung ! in 8, 

Th. v1, ©. 50. 
+») ©. Iſelins Gefchichte der Menſchheit J. ©. 256. Re 
: cherches philofoph. fur les Americains vol, IL, p- 
229. feq. 
tr) ©. Hawkefwortb Account III. p. 757;59. 


Einleitung. 9. 


ber Ghewiffenhaftigfeie der einen bey ben gleichgüftigften 
Handlungen, und der Gleichgültigfeit der andern bey dem 
abfcheulichften Vergehungen? Zu den fo vielen abergläus 
bifchen Vorftellungen von dem, was Gluͤck und Ungluͤck 
bringe *)? 

Was anders, wird vielleicht mancher hiebeydenfen, 
als daß nichts fo fonderbares geträumt werden fann, was 
nicht irgend ein Menfch einmal geglaubt, gethan, oder zu 
ehun Luft gehabt bat, 

$. 3. 
Verſchiedene Meynungen von der Natur und Beſtimmung 
des Menſchen. 

So weit dieſe Erſcheinungen der menſchlichen Na— 
tur von einander abweichen; eben fo ſehr unterfcheiden 
fi) von einander die Meynungen von dem Grund und 
der Beftimmung berfelben. Die einen halten dafür, 
daß der menſchliche Geift zur Strafe für Vergehungen, 
die er in einem vollfommnern Zuftande ehedem begangen, 
auf diefe Unterwelt verwiefen, und in einen folchen Körs 
per von grober Materie eingeferfert worden fey; und daß 
daher alle feine Bemühungen dahin gerichtet ſeyn müffen, 
vom Körper und von der Einnlichfeit fid) abzuziehen, 

und an den Tod als feine Befreyung zu denken *). in 
A 5 ande⸗ 














*) Die auch unter uns bey einigen Perſonen uͤbel angeſchrie⸗ 
bene Zahl 13 iſt bey einigen Tatarn in Jem beſondern 
Verdachte, daß alles, mas ein Menſch in dem jedes— 
maligen 13 Jahre, von ſeiner Geburt an gerechnet, por⸗ 
nehme, ungluͤcklich ablaufen muͤſſe. S. Kemer dr 
Foyages au Nord IN. 150. 


=) Die alten Pytbagorker, und auch Pfato. 


\ 


10 Einleitung 


anderer hat fich einfallen faffen zu behaupten, daß ber 
Menfch ven Gefegen feiner Natur ungetreu getvorben , 
und aus feiner Beftimmung ausgetreten fen, «als er fid) 
erlaubte zu denfen, und in beftändiger Geſellſchaft mit 
feines Gleichen zu leben, daß das menfchliche Gefchlecht 
glücklicher in Wäldern vereinzelt, bey den rohen Früchten 
der Erde fen würde, als in Städten im Flor ber Wiſ⸗ 
fenfchaften und Künfte unter Gefegen und Obrig- 
keiten *). 

Die einen behaupten, daß es für den menfchlichen _ 
Willen und die Gefellfehaften feine andere Gefege gebe, 
als die ein jeber fich felbft, oder Höchftens die Gefellfchaft 
Durch Verträge macht **). 

Andere hingegen behaupten, daß die ewigen Geſe⸗ 
ge der Wahrheit und des Rechts ewig, wie ber Urheber der 
Matur, dem Menſchen dergeſtalt ins Herz gefchrieben 
feyn, daß jeder fie erfennen, unb wenn nicht deutlich 
mittelft der Vernunft erfennen , fo doc) im Gewiſſen em» 
pfinden müffe }). 

Die einen haften ihn fähig eine Tugend zu errei- 
en, durch die er den Göttern gleich, ja über den Jupi⸗ 
ger felbft erhaben würde +1). Andere fehen in den beften 

| Hand⸗ 








®) Rouffess Diſcours fur Porigine & les fondemens de 
Vinegalit€ parmi les hommes, 

#*) Die Epikurer und Hobbeſianer. 

7) Sofratiter, Platoniter, Stoiker. 

- +4) Omnes mortales multo antecedes, non multo te dii 
antecedent. — ER aliquid, quo fapiens antecedat 
Deum. ille naturae beneficio non timet, fuo fa- 
piens. — Seneca epiſt. LIIL comp. ep. LXXUL 


Einleitung. u 


Handlungen der Menfchen nichts als glänzende Laſter. 
Die einen machen ihn zum Herrn des Schickſals, die 
andern zum Sflaven. Mac) jenen kann er fo frey, fo 
gluͤckſelig, fo vollfommen fern, als er nur will. Nach 
diefen ift feine Tugend, feine ©tückfeligfeit das Werf des 
Zufalls, der Organifation und des Klima, oder ber 
Regierungsform, und der dadurch erweckten Leiden⸗ 
fhaften. 

Die ganze Weisheit des Menfchen fchränft eine 
Secte auf den Genuß diefes Lebens ein; eine andere auf 
die Verleugnung und Unterdrücdung der natürlichften 

Triebe, um dadurch ewiger Seligfeiten nad) dem Tode - 
theilhaftig zu werben. Und bie befte Art, biefes Leben 
zu genießen — wie verſchieden wird fie nicht befchrieben ! 
Anders vom Epikur in feinen Gärten; anders vom 
Ariftipp an föniglichen Tafeln; anders vom verehrungs« 
würdigen Epiftet, ber Seffeln trägt; anders vom Se 
ber Plato, 

8. 4 
Mittel zur Erkenntniß ber Natur bed mienſchlicher 
Gemuͤthes zu gelangen. 

Um bey dieſer Mannigfaltigkeit ſo ſehr einander 
entgegenſtrebender Erſcheinungen und Muthmaßungen zu 
einiger Gewißheit von der Natur des menſchlichen Geiſtes 
zu gelangen: muß man vor allen Dingen ſich ſelbſt be: 
obachten. Seine gegenwärtigen Gefinnmgen und 
Neigungen mit feinen ehmaligen vergleichen; nicht blos 
uf diejenigen aufmerffam feyn, die durch volle Hand⸗ 
Imgen zum Ausbruch fommen; fondern auch auf diejeni. 

gen, denen die Vernunft ſich widerſetzt, die ſie in der 

| Geburt 


12 Einleitung. 


Geburt erftiht. Man muß nicht den beffern oder ſchlim⸗ 
mern Schein, der andere biendet, fich felbft auch blenden 
laſſen, feine guten oder böfen Eigenfchaften zu verfennen, 
wie fie von andern verfannt werden, Man muß die 
Sebhaftigfeit feiner Einbildungsfraft und die Empfind— 
famfeit feines Gemuͤthes dazu anwenden, daß man fich 
in allerhand Situationen, in denen man aud) noch nie 
wirklich geweſen ift, vielleicht nie fenn wird, in Gedan⸗ 
fen verfeßt, und zuſehen, was für Anmandlungen, was 
für Triebe fich verfpüren laffen. Selbft die Träume ver- 
dienen mit in Betrachtung gezogen zu werden. Denn 
nur die Vorftellungen in denfelben find anders, losgebun- 
dener von einander; die Grundgefege des Willens find 

diefelben *), | 
Durch alfe Beobachtungen über fich felbft kann ein 
Menfch doch nur fein eigenes Maturell erforfchen, nicht, 
was in andern Menfchen vorgeht, nicht, mas der menfch« 
lichen Natur überall zufömmt, entdecken. Aber wenn 
andere gleichfalls Beobachtungen über ſich anftellen, und 
aufrichtig fie mitteilen; fo entftehet allmahlig Grund zu 
allgemeinen Folgerungen. Denn was in fehr vielen 
Fällen 








rn —n — 


#) Quand on interroge fon coeur, pour connoitre, foit 

en general fes penchans, foit en particulier les mo- 

‚tifs, qui nous portent à faire telle ou telle chofe, à 

—— tel ou tel parti; il ne faut pas s’en tenir A 

es premieres reponfes. Il faut yemployer lam&me 

addreffe, qu’employe un juge, pour tirer la verite 

de la bouche d’un eriminel. Il faut par un examen 

opiniatre, le forcer à nous deceler toutes fes vües, 

- A nous developper tous fes replis, V. PAbb, Trubler 
ſur la morale en general, Eſſ. Tom, IV, 


Einleitung. 13 


Fällen. übereinftimmend fich findet, das Fann in Anfes 
bung der Fälle, von denen man die Erfahrung nicht hat, 
vermuthet werden, fo lange bis die Erfahrung das Ge: 
gentheil beweiſet. i 
Vieles von der Natur des menfchlihen Willens 
ift auf diefe Weife zur hinlaͤnglichen Gewißheit gebracht 
worden. Gar oft aber fehlt diefe Huͤlfe. Nicht nur, 
teil die meiften Menfchen fich Davor hüten, die Gefchich- 
te ihres Herzens in allen Stücden aufrichtig mitzurbeilen; 
fondern weil es auch vielen an gründlicher Befannefchaft 
mit fich ſelbſt fehle; weil die Eigenliebe, oder irgend ein 
anderer Trieb, von manchen Bemerfungen abhalt, 
Vorurtheile ihre Beobachtungen verdunfeln und vers 
fälfchen. | 
Wie fehr wäre es nicht zu wuͤnſchen, daß wahre 
Philofophen , denen es an Kraft der Selbfterfenntniß 
nicht fehlet, und die den Werth der genauern Kenntniß 
der menfchlichen Seele zu ſchaͤtzen wiſſen, die Gefchichte 
ihres Herzens vollftändig und aufrichtig niederfchrieben ; 
und wenn nicht bey ihren Lebzeiten, welches freylich bey 
den gefegten Bedingungen die Klugheit nicht immer er- 
lauben mögte, fo doch nad) ihrem Tode, wenns nöthig 
waͤre, gleichwohl noch mit Weglaffung aller Namen, be 
Fannt werden ließen! Wenn fie, fo viel fie fönnten, auf 
den Urfprung jeder ihrer Meigungen zurücfgiengen, und 
bemerften , wie viel ſich davon in der Kindheit und Ju⸗ 
gend ſchon gezeigt, wie es fid) verändert, oder beftändig 
‚geblieben, und mas durch bengebrachte Meynungen, 
durch entftandenes Intereſſe, durch neue $eidenfchaften, 
durch die Macht des Benfpiels, durch Freyheit und durch 
Zwang dabey bewirft worden? Sich ſelbſt wenigftens 
bis 


14 Einleitung. 


bis zu einem gewiſſen Grade richtig hierinn beurtheilen zu 
koͤnnen, darf von einem Philoſophen gefordert werden; und 
wo er ſeinem Scharfſinn nicht mehr trauen darf, da hoͤrt 
feine Erzaͤhlung auf. Wer nicht feine ganze Geſchichte 
liefern kann; fiefere uns doch wenigſtens gefreue Befchrei- 
‚bungen einzelner Stüde feines Characters und feiner 
Wirfungen, die Geſchichte einzelner Leidenſchaften, ihres 
Urfprungs, ‚ihrer Wirfungen, der mißlungenen und ber 
gutabgelaufenen Eurart; ohne Verfchönerung, Mebertrei- 
bung und Verſtellung. Was er ohne Religion dabey 
ausgerichtet hat, und nicht ohne diefes Mittel ausrichten 
fonnte. Unter welchen Umftänden er es noͤthiger oder 
entbehrlicher bey fich gefunden hat, Fraftiger oder unwirk- 
famer, und fo weiter. Auf gleiche Weife Ffönnten ver: 
ftändige Aeltern und Erzieher der Pfychologie einen Dienft 
erweifen; mern fie die ihnen vorkommenden feltnern 
Fälle, Beobachtungen aus der Seelengefchichte, befannt 
machen wollten ; nach Art derjenigen Beobachtungen , die 
die Phyſik und Medicin in fo großer Menge aufzumeifen 
aben. 

Die Wiffenfchaften würden alle fehr mager ausfe- 
ben, und weder der Natur des menfchlichen Verftandes, 
noch) der Abficht, fie fürs Leben zu nugen, angemeffen 
feyn; wenn fie ſich ganz alfein auf dasjenige einſchraͤnken 
follten, was durch die Beobachtung unmittelbar erfannt 
und gewiß gemacht worden ift. Schlüffe und Wermus 
thungen, die aus guten Gründen entfteben, finden in 
den Wiffenfchaften wie im gemeinen Leben flatt, da wo 
die Erfahrung aufhört, Auf diefe Weile entftehen un⸗ 
jäblige unläugbar vernünftige Urtheile von Urfachen, die 
den Sinnen fich verborgen halten, und von Wirkungen, 

die 


Einleitung. 15 


die erft Fommen follen. Die nachfolgende Erfahrung 
bat fie allezeit, oder doch in den meiften Fällen beftärigt. 
Solche Schlüffe find alfo auch in der Wiffen- 
ſchaft vom menfchlichen Willen zuläffig und nothmwendig. 
Aber freylich gereicht es diefer Wiffenfchaft nicht zur 
Vollkommenheit, daß fo vieles in derfelben nur durch 
Schlüffe, nicht durch unmittelbare Beobachtung, ſich er⸗ 
Fennen läffee. Und zwar durch Schlüffe, denen befons 
ders viele Schwierigkeiten im Wege fteben. 
Die Triebe des menfchlichen Geiftes, denen der 
Wille eines jeden Menfchen nothwendig folgt, die Grün: 
be und. Folgen jebiweder Neigung, das Verhältniß aller 
unter einander ; dies alles foll erfannt werden. Und die 
Menfchen laffen nur ihr Aeußerliches fehn; laffen ſichs 
fo oft angelegen feyn, die Triebfedern ihrer Handlungen 
zu verbergen, und unter einem angenommenen Schein 
ſich zu zeigen. Wie foll denn da Wahrheit, allgemein 
paffende Wahrheit, zum Vorfchein fommen? — 
Geometrifch erwiefene freylich wohl nie. Aber 
wenn doch, nad) der vollftandigen Webereinftimmungvielee 
ficherer Beobachtungen und Geftändniffe, folche Handlun- 
gen allezeit nur von folchen Neigungen, ober meiften« 
theils davon herrühren; bey einer folchen Neigung eine 
ſolche andere felten, oder nie, ober immer, ober gewoͤhn⸗ 
lich Statt finder; noch mehr, wenn nad) allem, was 
unfer Verſtand Grundwahrheit nennen fann, ſolche 
Wirkungen bey foldyen Urſachen, ein folches Stuͤck des 
Eharacters bey einem foldyen andern allein nur, ober doch 
wielmehr begreiflich ift: ſo wird es vernünftig, zu glauben, 
wabrfcheinlich in verfchiedenen Graden, daß, wo das 
eine iſt, das andere auch ſeyn müfle, wo das eine fehlt, 
das 


16 Einleitung. 


das andere aud) fehlen müffe, u. f.w. Es erhellet hie- 
bey leicht, daß die Zuverläßigfeit diefer pſychologiſchen 
Schluͤſſe zuförderft ven der Menge ficherer Erfahrungs: 
Fenntniffe abhänge, die der Schließende in feiner Gewalt 
bat. Denn wie das Argument von der Analogie ähnli» 
cher Fälle einleuchtend. ſchwach ift; wenn einem nur ein 
unendlich Fleiner Theil der mit einander zu vergleichenden 
Fälle befannt ift: alfo ift durch die alltägliche Erfahrung 
bewiefen , wie trügfich das Argument von der Begreif— 
fichfeit und UnbegreiflichFeit gleichfalls bey denen ift, die 
nur wenige Erfahrungen haben. So unbegreiflich und 
widerfinnifch jenem König von Siam, und den Einwoh— 
nern der freundfchaftlichen Inſeln, das Gefrieren des 
Waſſers vorfam : eben fo unbegreiflich miüffen das 
Menfchenfreffen, die Ehrfurcht für die Ereremente des 
Dalai Lama, und hundert andere Dinge demjenigen 
feyn, deffen Begriffe nur noch die Erfcheinungen feiner 
Europäifchen Baterftadt in ſich faſſen. 
| Gefhichte, Lebensbeſchreibungen, Reifebefchrei- 
bungen und Völfergefchichte, find alfo auch bier das Fun⸗ 
dament feftftehender, brauchbarer Philoſophie. Aber 
nicht alles, was erzählt und nacherzaͤhlt wird, ift hiſto— 
eifche Wahrheit. Und je ſchwerer es bey der Beobach- 
tung fittlicber Erfcheinungen auch für den unmittelba« 
ven Augenzeugen ift, recht zu fehen, alfes zu fehen, nichts 
die Vernunft, nichts die Imagination hinzufeßen zu laf- 
fen: deſtd fcharfere Prüfung der Gfaubmwürdigfeit der 
Nachrichterrift auch alsdann noch nöthig, wenn nicht die 
Vorerkenntniſſe des Gefchichtfchreibers in Sprachen und 
MWiffenfchaften, nicht feine Gelegenheit zur Beobachtung, 
nicht * Abſicht getreu zu erzaͤhlen, in Zweifel gezogen 
werden 


Einleitung 17 


werben koͤnnen. Und nicht in den meiften Fällen, fon 
derlich in den Nachrichten von fremden Völkern, finden 
fih) auch nur Diefe legtern Bedingungen alle beyfammen. 
Die Begierde, etwas neues, merfwürdiges, auffallen 
des, wenn auch nicht etwas irgend eine &ieblingsmepnung 
oder Neigung begünftigendes, fagen zu Fünnen, iſt dem 
Menfchen gar zu natürlih; um nicht auch gute und ver» 
ftändige Menfchen vom fihmalen Wege der Wahrheit 
hie und da leicht ein wenig ableiten zu Eönnen, 


Nie muß man den allgemeinen Ausfprüchen und 
Schilderungen der Gefchichtfchreiber von den Eitten und 
Neigungen der Völker und Perfonen, deren Gefchichte 
fie ung geben wollen, geradezu trauen, fondern nach 
Factis ſich umfehen, die fie benbringen, nicht bloß igt, 
indem fie ihre allgemeinen Gäße aufitellen, fondern hie 
und da im Zufammenhange der Begebenheiten, wo fie 
ans Räfonniren gerade am wenigſten denken. Eo kann 
man den Gefchichtfchreiber oft aus ihm felbft berichtigen, 
oder gelinder es auszudruͤcken, erklären, 


Vor allen Dingen äber und bey jeden Hülfsmittel, 
das man zur Kenntniß der Menfchheit gebraucht, muß 
man den feften Vorfag faffen, den Menfchen zu nehmen, 
wie er ift, und nicht irgendwo feine Aufmerffamfeit zus 
rüd ziehen, ober feinen Wig anftrengen, um ihn nicht 
etwa beſſer oder fchlimmer zu finden, als er vorgefaßten 
Mepnungen gemäß erfcheinen follt, Man muß vor Ein 
feitigfeit ſich hüten; nicht nach einem Verhaͤltniſſe wür« 
digen, ober aus einem Grunde = erflären wollen, bes 


Erfter Theil: vor 


ı8 Einleitung. 


vor man fich überzeugt hat, daß mehrere daben nicht vor« 
fommen. Und dieß wird, da in der Welt alles fo ſehr 
zufammenhält und einander beftimmt, der Fall oft ges 
wiß nicht ſeyn. Diefe Vorſicht, feine Unterfuchungen 
nach allen Seiten hinlaufen zu faffen, wird dann auch 
vor der geſchwinden Allgemeinmachung, oder andern Heber« 
treibungen der Schlußfolgen, bewahren. 


_ 


9. 5. | 


Anzeige einiger vorzuͤglicher Schriften über diefen Thei 
ber Philofophie. - 


So wenig allgemeine Wahrheiten durch Zeugniß 
oder Auctoritaͤt eines Menfchen bewiefen werden koͤnnen: 
fo fehr nüglich und noͤthig iſt es doc), beym Nachdenfen 
über diefelben die Urtheile anderer und deren Gründe in 
Betrachtung zu ziehen; um mit den verſchiedenen Ge— 
ſichtspuncten, unter denen eine Sache angefehen werden 
Eann, mit mehrern Eigenfchaften und Berhältniffen der» 
felben, als man für ſich nicht bemerft haben würde, be= 
kannt zu werden; um feine Fehlſchluͤſſe und falſchen Vor⸗ 
ausſetzungen darnach zu beſſern. 


Zur Verfertigung eines vollſtaͤndigen Verzeichniſ⸗ 
ſes aller merkwuͤrdigen Schriften über die Natur des 
menfchlichen Willens, und die allgemeinften Grunde der 
Tugend und Gluͤckſeligkeit, finde ic) mic) nicht gefchickt *). 

- Und 








*) Man fehe Hißmanns Anleitung zur philof. Bücherkennts 
nie. ©. 299 ff. 


Und die genaue Bemerfung aller Schritte, durch welche 
die Menfchen zur wifjenfchaftlichen Erfennmiß diefer Dinge 
fortgegangen find, oder die Gefchichte dieſer Wiffenfchaft, 
kann nach der Wifjenfchaft felbft beffer, als in der Ein. 
leitung zu derfelben, vorfommen. Um aber doch die 
Anzeige der Mittel, die zur Beförderung des Fortganges 
in derfelben nöthig find, nicht ganz unvollftändig zu laf- 
fen, will ic) diejenigen hier namhaft machen, die in ei— 
nem allgemeinen großen Anfehn ftehen, und als vorzüg« 
lich brauchbar mir felbft durch Erfahrung befannt find. 
Wolf hat unter dem Namen der allgemeinen praftie 
ſchen Philoſophie die Wiffenfchaft, von welcher hier 
die Rede ift, bearbeitet; fehr mweitläuftig, in dem latei« 
nifchen Werfe, welches aus 2 Quartbänden befteht *); 
kurz, in dem erften Theile der Sittenlehre, oder der 
Vernünftigen Gedanken von der Menfchen Thun 
und Laſſen, ©. 1. 143. Um alle feine Lehrbegriffe 
von der Natur des menfchlichen Willens fennen zu fernen, 
muß man aus feiner Pſychologie die dahin gehörigen Ka⸗ 
pitel mitnehmen **). Noch wird man manche Unterſu⸗ 
chungen vermiffen, die zu den wichtigften gehören; befon« 
ders Diejenigen, die bie Gründe der menfchlihen Wil. 
fengtriebe, deren Verhaͤltniß zu einander, und ihre Ver 

B 2 aͤn⸗ 





— — — — — — — — — — 





*) Philofophia practiea univerfalis, methodo feientifica per- 
tractata, pars prior 1738. iterum 1744: Pers pe . 
fior 1734. 


1 ‚ 
#*) Pfychologia empirica 1732. it. 1738. Pfychologia ra- 
tionalis 1734, #, 8749 


20 Einleitung. 


aͤnderlichkeit betreffen. Wolf ſuchte die Regeln der. 
geometriſchen Lehrart, mehr als noch nie geſchehen war, 
in der Philoſophie anzuwenden. Und das dieſen Kegeln 
gemäße Verfahren, vor allen Dingen deutliche Grund« 
begriffe und Grundfäge feftzufegen, mittelft derfelben 
alle Säge aus einander abzuleiten, oder mit einander zu 
verfnüpfen, und alfo zu ftellen, daß ihr Zufammenhang 
und ihre Folge aus einander immer leicht gefunden wer— 
den koͤnne, bat auch feinen Meditationen in der prakti— 
ſchen Philofophie das $eichte und Lichtvolle verfchaffer , 

. welches nicht nur dem Anfänger das Studium erleichtert, 
und die erften Schritte mit Vorfichtigkeit zu thun ge— 
woͤhnt, fondern auch allemal bey Schriften, die die Weber» 
zeugung zur Abficht haben, zu den weſentlichen Vollkom⸗ 
menheiten gehöret. In der Kunft, Begriffe fruchtbar 
zu machen durch Folgerungen und Anwendungen, und 
recht vieled unter einen weitreichenden Gefihtspunct zu 
ordnen, wird diefer Philofoph nicht leicht von einem an 
dern übertroffen werden, | 


Aber eben die Kegeln, aus denen bie Vorzüge der 
Wolfifchen Philoſophie berftammen, haben aud) ihre 
Mängel hauptſaͤchlich veranlaſſet; dadurch nämlich, daß 
er auf jene allein zu fehr gefehen, und andere Kegeln und 
Vollkommenheiten darüber vernac)läßiget hat. Wolf 
hat der Einfachheit des Syſtems die wahre Gruͤndlichkeit 
bisweilen aufgeopfert. Indem er zu fehr darauf bedacht 
ift, an wenige Grundfäge und Grundbegriffe alles zu 
fetten, * und immer geraden Gang fortzugehen, wird er 
oft in feinen Unterſuchungen unvollftändig, leitet von eis 

| - nem 


Einleitung. 2X 


nem Grunde allein ab, was noch mehrere Urfachen bar, 
uͤberſieht alle diejenigen Erfcheinungen, bie nicht in feis 
nem Wege liegen, und liefert alfo am Ende eine zu ma- 
gere, ffeletirte Vorftellung der Natur, aus welcher 
man ihre ganze Geftalt und ihre Bewegungen nicht hin⸗ 
länglich Eennen lernt *). Seine Grundfäge felbft find 
nicht allemal aus genugſam volftändigen Inductionen 
abgezogen; feine Grundbegriffe bisweilen wichtige feine 
DBemerfungen, aber nicht reciprocable Säge, nicht volle. 
fiändige und genau beftimmte Erflärungen **). Kurz 
Wolf kann nur zum Mufter gewählt werben, bey der 
Zergliederung und Ordnung gegebener Begriffe, zu meift 
auch fehon gegebenen Schlußfolgen; nicht, wo e8 darauf 
ankoͤmmt, durch Mannigfaltigkfeit der Beobachtungen 
neue Realbegriffe zu finden, fie zu erweitern oder einzu⸗ 
‚983 ſchraͤn⸗ 








*) Wenn er auch bisweilen auf Nebenbemerkungen anders 
weitiger Gruͤnde einer Sache koͤmmt: ſo ſcheint er ſich 
ungern zu entſchließen, fie anzufuͤhren, und ihrentwe⸗ 
gen ein wenig abzubeugen. ©. z. B. Pſychol. empiric, 
ad 9. 530. 


”) So hat er es, bey der vortreflichen und tiefſinnigen Anlage 
der Begriffe von Pflicht und Verbindlichkeit, einzig 
darinn verſehen, daß er zur Verbindlichkeit nur die 
Verknuͤpfung irgend eines Beweggrundes mit einer 
Handlung zu erfordern ſcheint; da er haͤtte ſetzen ſol⸗ 
len, eines überwiegend vernünftigen, ober vor der Vers 
nuuft entfcheidenden Bewegungsgrundes. Dadurch 
hat er einen der beſten von ihm erfundenen Lehrbegriffe 
den entſetzlichſten Folgerungen ausgeſetzt, mit denen 
noch immer viele ihn beſtreiten. 


22 Einleitung. 


fchränfen. Hierinn haben ihn verfchiedene Ausländer 
übertroffen;  befonders einige Engländer. Hutcheſon 
bat die Bahn gebrochen, auf welcher viele mit dem beften 
Fortgange ihm gefolgt find. Bereichert mit den beften 
Ideen der Alten, tieffinnig und empfindfam, blickte er in 
ſich felbft, verfolgte feine Empfindungen nad) allen Wen— 
dungen, und endete neue Triebfedern in der menfchlis 
chen Seele *). Man flagt, daß er ſchwer zu verftehen 
ſey, und er ift von manchen mißverftanden worden. Zu 
verwundern ift es auch nicht; die Materien find ſchwer, 
und feine Behandlungsart iſt tiefſinnig, und oft neu. 
Aber man wird mit ungemeinem Vortheil und Vergnüs ' 
gen ihn lefen, wenn man mit anhaltender Aufmerkſam⸗ 
feit es thut. Shaftesbury iſt in einigen Stuͤcken Hut⸗ 
chefons Vorgänger gewefen **), Er hat nämlich gleich“ 
falls Reize der Tugend behauptet, die unabhängig von 
den Hoffnungen der Religion, und überhaupt allen nüß« 
lichen Folgen derfelben, ihr zukaͤmen und gefühlt würden. 
| Aber 








*) Einen beftimmten deutlichen Begriff von der Sympatbie 
finde ich wenigftens bey feinem Moraliften vor ihm. 
Außer dem erften Buche und einigen Abichnitten bes 
oten Buches feiner Sittenlebre Ke Vernunft, (Sy- 
ftem of moral philofophy. Lond. 1735. 2 Vol. 4. 
uͤberſ. 1756.) gehören noch hieher die Abh. über die 
VNatur und Beherrſchung der Keidenichiften, und 


die Unterfuchung unfter Degeiffe von Schönheit . 
and Tugend. 


#*) ©, Charadterifticks, Vol. II und II, 


J 


Einleitung. 23 


Aber dies Haben freylich längft Griechen und Roͤmer 
auch behauptet. Und die zerftreuten feinen Bemerkun. 
gen, die Shaftedbury in feiner ungebundenen und witzi⸗ 
gen Manier über die Gegenftände der Moralphilofophie 
gemacht bat, find lange noch nicht hinreichend, ihn mit, 
Hutchefon in eine Claſſe zu fegen: ob er gleich im- 
mer ein ſehr angenehmer und zum Nachdenken Anlaß 
gebender Schriftfteller bleibe. _ Hume bar in dem Auf: 
fage von feinen fchriftftellerifchen Bemühungen, den er 
Binterließ, feinen Verſuch über die Gründe ver Mos 
ral für die befte feiner philofopbifchen Arbeiten felbft er. 
klaͤrt *). Es ift eine Erfüllung der Pflicht der Dank, 
barfeit, wenn ic) bier befenne, daß, bey der erften Ent⸗ 
mwickelung und Anordnung meiner Begriffe, dies Buch 
mir mehr als irgend ein anderes zu Statten gekommen 
ift. Weit Davon entfernt, den Sfepticismus, dem er 
bey andern Unterfuchungen zu fehr fich überlaffen har, 
bier anzumenden; ſcheint er vielmehr feinen Scharfjinn 
bisweilen zurück gehalten zu haben, durch die Furcht, 
den Werth der Tugend zweifelhaft zu machen. Durch 
Hutcheſon und Hume und ihre Gegner in alle die 
Wege der Unterfuchungen über die Gründe der Sitten» 
lehre eingeleitet, und felbft Denker und Beobachter von 
nicht gemeiner Art, bat Shmith in feiner Theorie der 
moralifchen Empfindungen **) manche Lehrſtuͤcke, ber 
DB 4 fonders 


— 





*) ©. The life of David Hume. 1777. 8. 


*) The Theory of moral fentimen® Edit. 3. 
Lond, 


24 Einleitung 


fonders aber das von der Sympathie, oder Theilnehmung 
an fremden Empfindungen, Handlungen und Gefinnuns 
gen, vollftändiger, genauer und deutlicher ausgefuͤhrt. 
Die Borftellung und Beurtheilung der berühmteften Lehr⸗ 
gebäude alter und.neuerer Moraliften, macht einen Theil 
feines Buches aus, das zu den vortreflichften in als 
er Abſicht in biefem Sache gezählt zu werben, vere 
dient. 


Die den Grundfägen biefer Engländer entgegen 
gefegteften Behauptungen von den Gründen und Abfich« 
ten der menfchlichen Willenstriebe und freyen Handlun⸗ 
gen, findet man bey den franzöfifchen Moraliften. Man 
Fönnte faft fagen, ihre philofophifchen Syſteme verhalten 
ſich gegen einander, wie die Gtaatsverfaffungen der beie 
ben Nationen. m franzöfifhen Syſtem berrfcht ir. 
gend ein Grunbfag, eine Hypotheſe, mit unumfchränf- 
fer Monarchie Immer laͤßt fich vieles daraus 
lernen. | . 


Helvetius, dem wegen feines Buchs de 
 PEfprit in dieſen Unterfuchungen ohne Zweifel die erfte 
Stelle unter feinen Landsleuten gebührer, hat faft eben 

fo vielen Anfpruch auf meine Erkenntlichkeit, als 
Aume Und er wird einem jeben Forſcher gute 
Dienfte 








Lond. 1768. Franz. ımter dem Titel: Metaphyfi- 


que Me lame, ou Theorie &c, Deutf& vom fel, 
Rautenberg. | 


Einleitung. 25 


Dienfte thun, ber bereits im Stande ift, die zum 
Theil fehr anftößigen Mebertreibungen und Uebereilungen 
eines fiharffinnigen, aber lebhaften und bey gemiffen 
Dingen durch Vorurtheile eingenommenen Schriftftellerg 
von dem Wahren, das in feinen Gründen liegt, abzu— 
fondern. Ja wenn einer nur in der Abficht lief, um 
Gefichtspuncte und Anläffe zum Denken zu befommen, 
felbft denken will und kann: fo braucht .er vielleicht nur 
den Mallebranche noch zum SHyelvetius hinzu zu neh. 
‘ men, um mit franzöfifcher $ectüre zum Studio ber all- 
gemeinen praftifchen Philofophie hinlaͤnglich ausgerüftee 
zu ſeyn. Will er weiter gehen, fo können ibm Mon⸗ 
tagne, la Bruyere, Rochefoucault, Trüblet und 
Touffaint, ohngefaͤhr in der Rangordnung, wie fie 
bier genannt find, empfohlen werden, | 


Bon den Alten müffen zum menigften Cicero in 
ben Büchern de finibus und de legibus; Plutarch 
in vielen feiner fogenannten moralifchen Auffäge, und 
in den $ebensbefchreibungen, und, um alle mögliche 
Streitpuncte Fennen zu lernen, Sextus Empirifus 
ftudiert werden, 


Redner und Dichter find Maler der Natur; 
auch der fittlihen; und Die theoretifchen Grundfäge 
ihrer Wiffenfchaft liegen innerhalb des Gebietes 
der Pſychologie, und. betreffen vornehmlich die Natur 
ber feinern Empfindungen und Leidenſchaften. Es ver- 
ſteht ſich alſo, daß für die praftifche Philoſophie aus 
diefer Claſſe der Schriften vieles fich gebrauchen laͤßt; 

| D5 Ä ſowol 


26 Einleitung. 


ſowol aus den praftifchen, als den theoretifchen. Won 
den erflern wird man hier Feine Auswahl erwarten. Uns 
ter den letztern aber gehören, nach einem ziemlid) allge» 
meinen Urtheil, dem ich aufrichtig beytrete, Home's 
Grundfäge der Eritif, und Sulzers Theorie der 
angenehmen Empfindungen, und Theorie der ſchoͤ⸗ 
nen Kuͤnſte zum engften Yusfchuffe; obgleich. der er— 
ſte diefer beiden vorfrefflichen Schriftfteller der legten 
Gründe zu viel, und der legte deren zu wenig anzuneh⸗ 
men fcheint. 


| Erſtes 


27 





Erſtes Bud. 
Beobachtungen über die Grundgefeße 
und verfhiedenften Zuftande des 

menſchlichen Willens. 
x —— — — eo 
Abſchnitt J. 
Von den offenbarſten Grundgeſetzen des 
meenſchlichen Willens, 
Aapitel I, 
Abhängigkeit des Willens von der Srfenntniß. 











5 1 


ne Begriff vom Willen und deffen Verhaͤltniß zum 
Verſtande. 


leichwie dem menſchlichen Geiſte Erkenntniß⸗ 

kraft (Verſtand in der allerweitlaͤuftigſten 
Bedeutung) zugeſchrieben wird, wegen der Ge⸗ 
wahrnehmungen und Vorſtellungen, die in ihm aufſtei⸗ 
gen, der Ueberlegung und Unterſuchung wozu jene ihm 
| Anlaß 


28 Buhl Abſchnitt J. Kapitel I. 


Anlaß geben: alfo wird Willenskraft oder Begeh⸗ 
rungsvermögen in ihm angenommen, darum daf er 
bey feinen Empfindungen und Vorftellungen nicht gleich« 
gültig bleibt; fondern mit Wohlgefallen oder Miffals 
len dabey erfüllt, zu Begierden oder Werabfcheuungen 
dadurch erweckt wird, das heißt zu Beftrebungen, die 
DVorftellungen, die ihm gefallen, zu erhalten oder zu ver⸗ 
ftärfen, näher fih zu bringen, in Empfindungen zu 
verwandeln; diejenigen Empfindungen und Vorftellungen 
Hingegen, die ihm mißfallen, zu ſchwaͤchen, zu entfer« 
nen, zu vertilgen, ) 

In Ruͤckſicht auf die einzelnen Arten der Begier⸗ 
den, ober bes Wohlgefallens an gewiffen Empfindungen 
and Vorftellungen, unterfcheidet man die mehrern Nei⸗ 
gungen bes Willens; die auch Triebe, Willenstriebe 
genannt werden, in fo fern Thaͤtigkeit damit ver 
knuͤpft iſt. | | 

Schon dieſe Begriffe lehren, und jedwede Be— 
obachtung beſtaͤtigt es, daß die Willenskraft von 

der Vorſtellungskraft abhängig iſt. Keine Begier⸗ 
be, feine Verabſcheuung, Feine Art von Willensäuße- 
rung wird je vorfommen, ober läßt fi) auch nur denfen, 

ohne daß etwas durh Empfindung oder VBorftellung 

ber Seele gegenwärtig ift, was dies Wohlgefallen oder 

Mipfallen ihr erwecke, zu Begierden oder Werabfcheu- 

ungen fie reize, Die Vorftellungen und Empfindungen, 

die biefes thun, werden in diefer Ruͤckſicht Reize, Ans 
triebe, Beweggründe genannt. 

Es find dies nicht immer Flare und deutliche Vor⸗ 
ftellfungen , fie fommen nicht immer zum völligen, zum 
snterfcheidenden Bewußtſeyn der Seele, Oft will der 

I Menfh 


Abhängigkeit des Willens vom Verſtande. 29 


Menfch etwas, verabfcheuet etwas, und weiß nicht 
recht, was; oft ift er ſich feiner Beweggründe nicht ge« 
nau und vollftändig bewußt, Aber es fann dies um fo 
viel weniger einen Zweifelsgrumd gegen die Allgemeinheit 
des Gefeges der Abhängigkeit des Willens von der Er— 
Fenntniß abgeben; je öfter Menfchen, die zur Unterfus 
chung einigermaßen gefchicft find, die Gründe, die ihren 
Willen, ihre Entfchliegungen beftimmt hatten, nachher 
erft mit aller Zuverläffigfeit entdecken, da fie ſich beym 
Urfprung der Willensäußerung verborgen hielten. Ins⸗ 
befondere Fann es auch gefchehen, daß man einen Ents 
ſchluß aus Gründen gefaßt bat, und dennoch bey einer 
folgenden Gelegenheit, da man ihn Außert, nicht gleich 
an diefe Gründe fich erinnert, die einen dazu beſtimmt 
haben ; falfche, ſchwaͤchere Gründe davon angiebt; 
auf einmal aber wie aus einem Traume erwacht, und 
des wahren, ftärfften Bemeggrimdes, aus dem der 
Entfehluß abftammer, fid) bewußt wird. Es fann feyn, 
daß in folchen Fällen die erften eigenthümlichen Gründe 
gar nicht wirkten, fondern nur die vorher durch fie erweck⸗ 
ten, und dem Schlußurtheile angehängten allgemeinen 
Ideen von Richtigkeit, Pflicht, Nothivendigfeit. 
Es fann aber auch feyn, daß fie nur nicht abgefondert 
und deutlich genug da waren. ‘Denn es ift fonft in der 
Pfychologie ausgemacht genug, daß die Unterfcheidung 
und deurliche Gewahrnehmung einer Borftellung nicht 
von denfelben Gründen und Bedingungen abhängt, nad) 
welchen ihre Wirffamfeit im Gemüthe ſich richtet. Die 
folgenden Unterfuchungen werden mehrere Beobachtungen 
hierüber enthalten. Allemal bemweifet die angezeigte Er⸗ 
fahrung,, daß mwenigftens entfernter Weife die Willens. 
aͤuße⸗ 


soo Buhl. Abjchnitel. Kapitel. 


‚ äußerungen von Beweggruͤnden herrühren koͤnnen, deren 
man fich nicht bewußt ift; und daß man es nicht allemal 
für Verftellung und erdichtete Entfhuldigung halten duͤr⸗ 
fe, wenn ein Menfch Beweggründe gehabt zu haben vor« 
giebt, an die er fic) doch nicht gleich erinnern Eonnte. 

- Der Bille haͤngt vom Berftande oder der Erfennts . 
niß ab; aber fagt man nicht auch, daß der Verftand, 
daß Vorftellungen und Urtheile vom Willen abhängen? 
Und macht dies nun zufammen nieht einen fonderbaren 
Zirkel; bey dem vielleicht die Hoffnung, in der Gefchichte 
des menfchlichen Gemüthes etwas zu ergründen, alsbald 
verſchwinden muß? | 

Der Verftand hängt vom Willen ab, beißt erft- 
fich fo viel: der Menfch gebraucht feine Verftandesfräfte, 
wie die Gliedmaßen feines Körpers, nach Luſt und Be— 
lieben; er richtet feine Aufmerffamfeit auf etwas, oder 
entzieht fie ihm, öffnet feine Sinne, oder verfchließt fie, 
wendet fie ab. Es find dann aber dod) allemal Erfennt- 
niffe (Perceptionen), die ihm dieſe Luft erwecken, oder ihn 
nach einem andern Gegenftande binziehen; Empfindun⸗ 
‚gen nämlich, oder Vorſtellungen. Die legten Gründe 
diefes Vermögens des Willens über die Erkenntniß lies 
gen dann alfo doch, wenigſtens zum Theil, in dem Zus 
ftande des Erfenntnifvermögens, in andern gleichzeitigen, 
oder vorhergehenden Beſtimmungen beffelben. Der 
Wille hat aber auch dadurch Macht über den Verſtand, 
daß er, mittelft der Antriebe und des Einfluffes feiner 
Meigungen, große-Veränderung in den. Borftellungen 
und Urtheilen bewirken kann. Sr 

Eben dadurch nämlich bewirft er es, daß er bie 
Aufmerffamfeit auf das eine lenket, und vom andern 

Ä abziebr; 


Abhängigkeit des Willens vom Berftande, 31 


abzieht ; und daß er einigen DBemerfungen Klarheit 
und Gründe aus den herrfchenden, von den $eidenfchaften 
rege erhaltenen VBorftellungen verfchafft, die andern aber 
unentwicfelt und unaufgeflärt laßt. Aber der Verftand 
erfennet, und urtheilet doch nicht geradezu fo, bloß dar. 
um, weil es der Wille fo begehrt; fondern zunaͤchſt nur 
darum, weil er folche Befchaffenheiten und ſolche Der 
hältniffe ſich vorſtellt. 

Erkenntniſſe entſtehen auch ohne den Willen, und 
oft gegen ihn. Nach der Erkenntniß aber, woher ſie 
auch immer entſtanden ſeyn mag, richtet ſich der Wille 
nothwendig. Der Wille, moͤgte man ſagen, kann dem 
Verſtande nicht als hoͤchſter Beherrſcher gebieten, ſon 
dern ihn nur bisweilen, wie ein eigennuͤtziger Guͤnſtling, 
verführen, wenn er nicht auf feiner Hut if. — Eigent- 
lich find Verftand und Wille diefelbe Kraft, oder doch 
diefelbe Seele, die durch das eine, was fie empfinber, 
zu ihrem DVerhalten gegen das andere beftimmt wird. 
Und die Entdeckung der verfchiedenen Empfindungen, 
und ihrer Reize, wird die Gefege bes Willens offenbar 
machen. | 


| S. 2. 
Verſchiedenheit der Willensäußerungen nach den verſchiedenen 
Arten der Erfenntniffe. 

Man kann jedwedes Gewahrwerden der Seele 
ein Empfinden nennen, wenn nämlich jede Borftellung, 
die einigen Eindruck auf die Seele macht, ihren Zuftand 
einigermaßen verändert, Empfindung heißen darf. 
Aber dasjenige, was man fich vorftellet, wird nicht 
immer empfunden. Wenn gleich die Vorſtellung em- 

| pfuns 


t 


* 


32 Buhl. Abſchnitt J. Kapitel J. 


pfunden wird, ſo wird doch die Sache nicht — 
wie wenn fie gegenwärtig if. Worinnen aber der Uns 
terſchied zwiſchen der bloßen Vorſtellung und der Empfin⸗ 
dung einer Sache recht eigentlich beſtehe; wei ein jeder 
aus fich felbft am beften. 

Die von der eigentlichen Empfindung verfchiede- 
nen bloßen Vorftellungen einer Sache heißen ſinnliche 
Vorſtellungen, wenn fie nur diejenigen Eigenſchaften 
enthalten, die unmittelbar den Sinnen bey der Empfin« 
dung ſich offenbaren. 

Wenn fie aber diejenigen Befchaffenheiten und 
Verhältniffe zu erfennen geben, die durch mehrere Bes 
obachtungen und Unterfuchungen, durch die Wergleichung 
mehrerer Dinge oder mehrerer Folgen einer Sache fich 
entdecken: fo werden fie Berjtandes - Begriffe, Ver⸗ 
nunft⸗Begriffe genannt, 

Hierauf gruͤndet ſich die Eintheilung des Be⸗ 
| gehrungsvermoͤgens in das Sinnliche, welches auch 
das Niedrige genannt wird, und das Vernuͤnftige oder 
Hoͤhere, welchem in der eigentlichſten Bedeutung der 
Name Wille zukoͤmmt *). 

Gleichwie aber die Begriffe, die der menſchliche 
Verſtand durch einige Beobachtungen und einiges Nach⸗ 
denken fich Bilder, und die daraus entftehenden Urtheile 

und 


— — — — — 


2) Man ſchreibt den unvernuͤnftigen Thieren Begierden 
und Begehrungsvermoͤgen, aber nicht Willen zu. 
Wenn man Wollen und Velle von — ableitet: ſo 
rechtfertiget auch die Etymologie dieſe Einſchraͤnkung 
der Bedeutung. Beym Titel dieſes Buches heißt 
aber Wille ſo viel, als das — Segebrunge⸗ 
vermoͤgen überhaupt, | 





Abhangigkeit des Willens vom Verſtande. 33 


und Bernunfefchlüffe nicht immer richtig, der genaueften 
und volleften Erfenntniß nicht immer gemäß find: alfo 
find die Begierden und Enefchließungen, die aus folchen 
Begriffen und Urtbeilen entfpringen, auch nicht immer 
ber wahren ‘Befchaffenheit, . und den wahren Verhältnif: 
fen der Dinge gemäß, noch die finnlichen Begierden und 
Verabſcheuungen denfelben nothwendig entgegen, Es 
kann vielmehr ſich eraͤugnen, daß der Antrieb, der aus 
der Empfindung koͤmmt, der Sache angemeſſener iſt, als 
der Entſchluß, zu welchem die Begriffe und Grundſaͤtze 
unvollſtaͤndiger Vernunfterkenntniſſe antreiben. 

| Aber da die einzelne Empfindung allein ung doch 
fo felten diejenige Exfenntniß von den Dingen gemähret, 

‚auf die es bey der Einrichtung unfers Verhaltens an, 
koͤmmt, und der Vernunft nicht nothwendig Irrthum 
verurfachet, fondern nur, wenn wir ihre Geſetze und Vors 
ſchriften nicht gehörig beobachten, wenn wir urtheilen, ehe 
wir unferfucht haben, ober in dem Urtheile weiter gehen, 
als wir den Gründen nach nicht thun follen; fo erhellet, 
warum der vernünftige Wille überhaupt fo fehr über 
die finnlichen Begierden, Neigungen und Triebe ges 
fest wird. | 

Die Kenntniffe der Vernunft entſtehen aflmählig 

in dem Menfchen, und fehr langſam, wenn er fich allein 
überlaffen ift; nothwendig wird er zuerft durch finnliche 
Triebe geleite. Zum Glück find diefer Triebedenn auch 
fo viele nicht; oder die Einfhränfung, der Kräfte laͤſſet 
es nicht zu, daß er in dieſem Zuftande vieles unternimmt. 
Durch Fehltritte aufmerffam, thätig und weiſe zu wer⸗ 
den, ift des Menfchen Beftimmung. 


Erſter Theil. | € 7.9 % 


34 Buhl Abſchnitt J. Kapitel I. 
| $. 3. 


Verſchiedenheit der Willensäußerungen nach den verfchledenen 
Graden der Erfenntniß oder der Stärfe der Vorftellungen. 


Da der Wille durch Vorftellungen *) wirffam 
wird, fo ift die Folge nothwendig, daß feine Aeußerun— 
gen fic) aud) nad) der Intenſion und Menge der Vor 
ftelungen, Die zugleich auf ihn wirfen, richten muͤſſen. 
Auf diefem Grundfage beruht das Meifte in der NWillens« 
lehre; daher darf die genauere Entwicelung defjelben 
nicht verabfaumee werden. Alſo richten ſich die Wil 
lensäußerungen: | 

1) Nach der Intenſion der einzelnen Gewahrneh⸗ 
mungen, der Klarheit und Lebhaftigkeit der einzelnen 
Vorſtellungen. Ein ſchwacher Eindruck, eine dunfele 
Vorftellung, bringen an und für fich nie fo ftarfe Ges 
muͤthsbewegungen hervor, als wenn eben diefelben Flar 
und lebhaft find, Wer eine Sache nur aus der Befchreis 
bung eines andern Fennet, nicht aus Erfahrung, wer 
fich nicht mehr recht daran erinnert, wer ftumpfe blöde 
Sinne bat, oder fie fonft nicht recht empfinden kann; 
den wird fie nicht fo afficiren, wie einen andern, der bey 
übrigens gleichen Umſtaͤnden fie aus eigener lebhafter 
Empfindung fennt, und noch im frifchen Andenken bat. 
Bon Zufägen aus fremden Vorſtellungen foll aber hier 
noch gar nicht die Rede feyn. Denn 

2) eine 




















*x) So oft von Vorfkellungen fhleht hin und ohne Gegens 
ſatz die Rede feyn wird: fo hat man immer Empfin⸗ 
dungen und jedwede Art von Gewahrnehmungen mit 

darunter zu verfichen, 


Abhängigkeit des Willens vom Verſtande. 35 


2) eine zweyte Urfache der mehrern Stärfe einer 
Vorſtellung in, Abficht auf den Willen liegt in der Menge 
deffen, mas vorgeftellt und gemwahr genommen wird, 
Eine Bedingung aber biebey ift, daß die mehrern Vor« 
-ftellungen einartig wirfen. Denn, wenn die eine Wohls 
gefallen und Begierde, die andere Miffallen und Abs 
fcheu erweckte; fo Fünnten zwar mehrere Willensäuße- 
rungen, aber nicht eine flärfere erfolgen. Vielmehr 
Fönnte Unvermögen, fi) zu etwas zu beftimmen, oder 
-Gleichgültigkeit Die Folge davon feyn. 

Ueberhaupt koͤmmt es nicht darauf an, ob bie 
mehreren Borftellungen als Theile eines Ganzen, ober 
als Folgen aus einander, oder fonft zufammen zu gehören 
feheinen. Je mehrere Seiten einer Sache, oder je meh- 
rere Folgen und Verbindungen derfelben verdrüßlich find, 
defto weniger Luſt und Begierde wird fie erwecken; und 
defto ftärfer werden diefe werden, je mehr angenehmes 
man bey der Betrachtung derfelben entdeckt, 

3) Die Deutlichfeit einer Vorftellung beftehe 
darinn, daß man Die Theile derſelben unterfcheider, 
ihrer fich brefonders bewußt ift. Klarheit der Vorſtellun⸗ 
gen von dieſen Theilen ift alfo dabey erforderlich. In 
der Entfernung fiehe man eine Sache undeutlich, weil 
viele Theile derfelben zu dunkel bleiben, zu wenig affici« 
ren. Und undeutliche Begriffe von miffenfchaftlichen Ges 
genftänden haf man, wenn die Grundbegriffe, aus de— 
nen die andern abgezogen oder zuſammen gefegt find, ei« 
nem ganz fehlen oder nur dunkel find, Aber die Stärfe 
der einzelnen Eindrücke allein macht dennoch eine Vorftel- 
lung noch nicht deutlih; und die Deutfichfeit nimmt 

nicht immer zu, wenn jene waͤchſet. Die Unterfcheidung 
Ca der 


36 Buhl Abfchnitt J. Kapitel. 


der Theile, auf welcher die Deutlichkeit beruhet, erfor 
dert Richtung der Aufmerffamfeit auf die einzelnen Theile, 
die ohne einige Abziehung von ben übrigen, ohne einige 
Abfonderung derfelben, nicht hinlaͤnglich erfolge. Hier 
aus läßt fich nun ſchon beurtheilen, ob deutliche Worftels 
lungen mit mehrerer oder wenigerer Kraft auf den Willen 
wirken müffen, als wenn eben diefelben flar zwar, aber 
undeutlich, wahrgenommen werden? Wenn die Undeuts 
lichfeie bloß davon herkoͤmmt, daß die Theile noch zu we— 
nig Licht haben, zu ſchwach afficiren: fo muß mit der 
Deutlichfeit derfelben ihre Kraft in dem Willen zuneh» 
men. Wenn aber von der Menge deffen, was zu aleis 
cher Zeit, oder fehnell auf einander Eindruck macht, das 
Unvermögen, alles einzeln anzumerfen, und folglich die 
Undeutlichfeit herruͤhret; Deutlichfeie nur durch Abfon« 
derungen einiger Theile des Eindruckes zu bewirken ift: 
ſo ſchwaͤcht ihn diefe, und jene befördert ihn. Und in 
dem Falle haben diejenigen, die den Werth der Dinge 
nicht nach deutlichen Begriffen der Faltblütigen Vernunft 
ſchaͤtzen laffen wollen, fondern nach Gefühlen, in fo weit 
recht, daß es fommen fönnte, daß jene zu wenig von der 
Sache enthielten, Aber Fönnten nicht diefe leicht zu viel 
enthalten? Allerdings, ine zweyte Urfache, wodurch 
‚undeutliche Vorftellungen vor den deutlichen Gewalt in 
dem Gemüthe erlangen, ift dieß, daß ſich ihnen leichter 
fremde Borftellungen zugefellen und mit ihnen vermen- 
gen fönnen. ine geringe Aehnlichfeit mit den Dingen, 
momit der Kopf erfüllt und das Herz am lebhafteften be⸗ 
ſchaͤftiget ift, ift oft ſchon genug, .fie für einerley zu hal« 
ten, und alle die richtigen Begriffe oder falfchen Einbil« 
dungen, bie man bavon heget, auffteigen und ſich beun« 

ruhi⸗ 


7 


Abhaͤngigkeit des Willens vom Verſtande. 37 


ruhigen oder entzuͤcken zu laſſen. Ein Augenblick ſchaͤrfe⸗ 
res Nachdenken, ein einziger Lichtſtrahl der Vernunft; 
und das Phantom verſchwindet, das fürchterliche Ge— 
fpenft wird verlacht, die umarmte Juno wird zur - 
Wolfe. | 

Durch oftmaliges Ueberdenken einer Vorftellung, 
die zu fehr zufammen gefegt ift, um auf einmal deutlich 
zu werden, kann man es dahin bringen, daß fie nicht 
nur in ihren Theilen heller und lebhafter wird, fondern 
au), daß immer weniger Zeit erfordert wird, um an 
alle diefe Theile fich zu erinnern, um den Eindruck eines 
jeden zu bemerfen. Man kann es dahin bringen, daß 
diefe Bemerkungen fo fehnell auf einander folgen, daß 
die einzelne Eindrücke nah zufammen fommen, und eine 
gemeinfchaftlihe gleichzeitige .NBirfung hervorbringen. 
Und auf diefe Weife kann die Deutlichmachung Urfache 
werden, daß die eigenthuͤmliche Kraft reiner Vorftelluns 
gen zur Veraͤnderung des Willens ſich vermehrt. 

Und im Gegentheil kann in einem gefegten, an die 
Kegeln der Weisheit gemöhnten Gemüthe die Unvollftän« 
digfeit der deutlichen Gewahrnehmung den Eindrud ei⸗ 
ner Sache auf den Willen leicht ſchwaͤchen; wegen des 
Zmweifels und Mißtrauens, fo gegen die Vorftellungen 
und Urtheile daher entfteht. Laſſet es ung erft abwarten 
und mehrere Gewißheit erlangen, laſſet die, Sache näher 
fommen, fagt ein folcher Denfer; und verfäumet frey⸗ 
lid) bisweilen darüber die Gelegenheit, dem Unglüd zu 
entgehen oder das Glück zu haſchen. Er fpart fich aber 
auch oft die Schande einer vergeblichen Furcht, ober ei⸗ 
ner feichtfinnigen Hoffnung. ge am öfterften, ift 
bier noch die Stage nicht. 
€ 3 $. 4 


38 Buhl. Abfchnitt l. Kapitel J. 


S. 4. 

Fortſetzung. Folgen im Gemuͤthe von der — 
mit welcher ein Eindruck entſteht, und vom Contraſte der 
Vorſtellungen. 

Körper wirken auf einander beym Stoß im DBer- 
bäftniffe ihrer Maffe und Gefchwindigfeit zufammen ges 
nommen, ben fo fcheinet auch die Gefchwindigfeik, 
mit welcher eine Idee erweckt wird, eine Urfache ihrer 
mehrern Kraft zu feyn ). Der gleichgültigfte Vorfall, 
wenn er unvermuthet ſich eraugnet, kann die beftigfte 
Gemürbsbewegung hervorbringen. Um einem mit einer 
angenehmen Nachricht eine noch größere Freude zu mas 
chen, ſucht man unvermuthet und auf einmal fie zu eröf- 
nen. Und eine betrübte Nachricht ſchmerzt auch defto 
mehr, je weniger das Gemuͤth darauf vorbereitet war, 
Da auc) auf die Seele nur mittelft des Körpers von au: 
en her gewirft wird, und die Vorftellungen, die daher 
entftehen, fich nach dem Eindrucke richten, der in den 
Werkzeugen des Körpers hervorgebracht worden ift: fo 
Fann man annehmen, daß eben darum, weil die Ge— 
ſchwindigkeit die Wirfung der Förperlichen Kräfte verftär« 
fet, diefelbe auch) die Wirfung der Vorſtellungen im 
Gemuͤthe vermehre, da diefe den Impreſſionen des Körs 
pers gemäß erfolgen. Aber auch ohne auf diefe mecha= 
nifchen Gründe zurück zu gehen, läßt fid) die Sache er— 
Flären. Denn, wenn ein Eindruck nach und nach erfolgt, 
erft Vorftellung war, dann Empfindung, fo wird der 
Seele fo viel Gewalt * angethan , ber Widerſtand 

wird 








— 


oe, al Philoſoph. Schriften, Th. I. 
S. 73. f. 





Abhaͤngigkeit des Willens vom Verſtande. 39 


wird nach und nach uͤberwunden, es geſchieht nicht ſo viel 
auf einmal. In vielen Faͤllen kommt noch dieß hinzu, 
daß bey einem unerwarteten Vorfalle die Seele eine Zeit 
lang ungewiß iſt, was ſie ſich recht vorzuſtellen habe, und 
oft mit allerley Vorſtellungen erfuͤllet wird, oder nicht 
gleich die Mittel ſich vorzuſtellen weiß, wodurch das un⸗ 
angenehme des Eindruckes vermindert werden kann. 

In andern Faͤllen kann auch der Contraſt der 
Vorſtellungen etwas dabey thun, deſſen Gewalt in Anfes 
hung der Gemuͤthsbewegungen uͤberhaupt merkwuͤrdig iſt. 
Die Erfahrung lehret es, daß das Bild einer Sache 


um fo viel ſtaͤrker auf ung wirft, wenn lebhaft das Bild 


vom Gegentheil zu gleicher Zeit in uns ift; das Bild ei⸗ 
nes Unglüclichen neben dem eines Glücdlihen, der Tu— 
gend neben dem Safter, der Schönheit neben Ungeftalt« 
heit oder Verfallenheit; und umgekehrt. Je mehr der 
eine Eindruck dem andern entgegen ift, deſto mehr muß 
ihn die Seele fühlen, wenn fie den einen nach dem andern, 
empfängt. Auch kann ein Bild in der Imagination 
nicht fo leicht fich verlieren, wenn ihm das entgegenges 
feßte zur Seite fteht. Denn entgegengefegte Vorftelluns 
gen fünnen fich nicht in einander auflöfen; fie ftämmen 
ſich gegen einander, und halten und befeftigen ſich. Cs 
läßt fich aber dieß nur eigentlich von den deutlichern Vor⸗ 
ftellungen fagen, und daher von den eigentlichen bildli— 
chen Vorſtellungen mehr als von den Sjmpreffionen ans 
derer Sinne, die ihrer Natur nad) einer gleichen Deuts 
lichkeit nicht fähig find, Daher thut die Zugefellung 
entgegengefeßter Vorſtellungen hey denfelben auch Die 
Wirkung nicht, wie bey den bifdlichen; ſtatt den Eins 
druck der einen durch Die andern zu vermehren, wird man 

| C4 ihn 


4 Buhl. Abſchnitt J. Kapitel I. 


ihn vielmehr ſchwaͤchen. Man wird bey einer gufen 
Mahlzeit die Luft zu effen durch Vorzeigung oder auch nur 
Befchreibung efelhafter Dinge ſchwerlich vermehren, 
Und fo ſchwaͤcht die Vorftellung des Gegentheils den Ein 
druck einer Sache allemal; wenn fie entweder fo ftarf 
wirkt, daß fie ihn vertilge, oder die beyderley Eindruͤcke 
ſich mit einander vermengen. 

Ueberhaupt befoͤrdern alle dieſe angezeigte Umftände 
das Vermögen der Vorftellungen, den Willen zu beftim« 
men, Begierden und Verabfcheuungen zu erwecken, nur 
bey einem angemefjenen Grade der angewandten Kraft. 
Außerdem Fönnen fie das Gegentheil bewirken, blenden, 
betäuben, vermwirren, ſtarr und gleichgültig machen, 
Bon dem, was bey der Ueberfpannung und Uebertreibung 
der Vorftellungen die Bemerkung des Ilnnatürlichen, 
der Unwahrheit, hun kann, ige noch gar nichts zu 
gedenfen. 


9 5. | 
Vergleichung der verfchiedenen Arten von Vorſtellungen, ber 
finnlihen und abfiracten u. f. w. in Abficht aufs Vermögen 
ben Willen zu beflimmen. 


Wenn es nur auf Klarheit und Lebhaftigkeit der 
Vorftellungen anfäme; fo würden die Empfindungen und 
überhaupt die finnlichen Vorſtellungen vor den abgezoge« 
nen Begriffen des Verftandes allezeit die Oberhand bes 
baupten. Aber was diefen an eigenthümlicher Kraft abs 
gehet, das erfeßen fie durch den Anhang, den fie fich 
zu verfchaffen wiffen, durch die vielen mit ihnen verfnüpf- 
ten Vorstellungen. Das Wort Ehre und der allgemeine 
Begriff, den es bezeichnet, haben an fich wenig Kraft, 

| den 


Abhangigkeit des Willens vom Berftande. 41 


ben Willen zu reizen und das Gemüth zu bewegen. Den« 
noch Fönnen fie es; dadurch namlih, daß eine Menge 
wirkſamer Ideen ihnen ankleben und durch fie erweckt 
werden. | 
Aber haben nicht dennoch die finnlichen Vorftellun« 
gen überhaupt mehr Gewalt über das menfchliche Ges 
mürh, als die Vorftellungen der Vernunft? Daß die 
Gewalt der erftern fehr groß fen, auch bey Menfchen, 
die den Namen der Vernünftigen durch viele ihrer Hand« 
lungen und Einfichten fehr wohl verdienen; davon giebt 
die Erfahrung Beweife in Menge. Wie viele vernünf- 
tige Leute entfegen fich noch immer vor der Vorſtellung, 
ihren todten Körper der Anatomie zu überlaffen? Und 
doch hat die Sache an fich gar Fein Uebel in der vernunfts 
mäßigen Borftellung, fondern nur allein in dem Bilde 
beym Einfluffe der gegenwärtigen Empfindung, fo lange 
man noc) in dieſem Körper lebt. Der Eleinfte Theil viel» 
leicht nur von denen, bie bie Furcht vor Gefpenftern aus 
ihrer Vernunft völlig verbannet haben, ift im Stande, 
alle unangenehmen Gemuͤthsbewegungen zu unterdrücken, 
die durch die Vorftellung eines Poltergeiftes oder der Er⸗ 
fcheinung eines Todten beym nächtlichen einfamen Auffent» 
halte auf einem Kirchhofe oder an einem andern verrufes 
nen Orte erwecdt werden. Man fann wiffen, daß man 
eine Erdichtung liefet oder vorftellen fieht, mit Unempfinds 
lichfeit fid) wafnen, wenigſtens vor Thraͤnen ſich hüten 
wollen, und doch Thraͤnen vergießen. in verftändiger 
gelehrter Mann, dem die große Gefahr zu erfrieren, 
wenn man bey fehr ftrenger Kälte fich niederſetzet, aus 
feinem DBaterlande am beften befannt ift, warnet feine 
Reifegefährten zum voraus, fich Feine Muͤdigkeit, Feine 
z Es Luſt 


42 Buch J. Abſchnitt 1. Kapitel 1. 


$uft dazu bringen zu laſſen. Und er iſt der erſte, der 
dem finnlichen Reize nicht mehr widerſtehen kann, der 
durch Bitten es dahin bringen will, daß man ihm er= 
laube, ſich ein wenig wiederzulaffen *). 

Aber groß ift doch auch die Gewalt, die die Vor— 
ftellungen der Vernunft über die finnlichen Antriebe erhal- 
ten koͤnnen. Nicht allein der ftoifche Weife, der unter 
den ausgefuchteften Martern ſich felig und frey fühlee, 
nicht der vollfommene Tugendbafte nur, in dem alle finn- 

liche Triebe unter der Beherrfchung der Wernunft ftehen, 
Fönnen dieß beweifen. Auch Böfewiche, Wilde und 
Marren geben Beweife davon, Wodurch ſtaͤrket fich der - 
Mörder auf der Folterbanf gegen die Schmerzen, daß 
fie ihm nicht das Bekaͤnntniß abdringen? als durch den 
tief eingeprägten Gedanfen, daß von diefer Standhaf- 
tigfeit die Erhaltung feines $ebens abhange; einen Ges 
Danfen, der noch mweit mehr auszuhalten den Menfchen 
beſtimmt. Noc) größer ift die Standhaftigfeit, dieviele 
unter den mwildeften Voͤlkern bemeifen, ſowol wenn fie in 
der Gefangenfchaft bey den unbefchreiblichen Martern, 
die ihre Feinde ihnen anthun, nicht diefen das Vergnuͤ— 
gen, ſich recht nach Luſt gerächt zu haben, gönnen, nicht 
ihr Wolf durch einen Beweis ihrer Weichlichfeit befchim- 
pfen wollen; als auch), wenn fie Proben diefer ihrer Unem— 
‚pfindlichfeit ablegen, um zu einer Ehrenftelle zu gelangen, 
wobey diefes eine nothroendige Bedingung ift **), Won 

eben 








— — rwt 


*) ©. Hackeswortb Account Vol, II. 
**) Die Proben, welchen diejenigen fih unterwerfen muͤſ⸗ 
fen, die unter einigen wilden Völkern in dem ſuͤdli⸗ 
| hen 





Abhängigkeit des Willens vom Berftande., 43 


eben ber Art war auch die befannte Standhaftigfeit der 
jungen Epartaner *). Und was vermag endlich nicht 
die Schwärmerey, wenn fich erft gewiſſe Abfichten bey 
ihr feftgefegt haben; befonders die Schwaͤrmerey des 
Aberglaubens **)? Alte diefe Erfcheinungen aus för. 
perlicher Unempfindlichfeit erflären zu wollen, reitet zu 
fehr gegen die Umſtaͤnde. Der äußerfte Schmerz zwar 
fann betäuben }). ber bis es allmälig dazu kommt, 

muß 





hen Amerika Anführer werden wollen, find äußerft 
fhmerzbaft. Geißelungen, von denen der Körper fo- 
gleich auffhwillt, Biffe giftiger Inſekten, Hitze und 
erftidender Rauch eines der übelften Gerüche verbreis 
tenden Feuers. Manche fterben darüber. Wer aber 
die Ehre eines Mannes von bewährter Standhaftigfeit 
erlangen will, darf unter allen diefen Martern fich nicht 
bewegen, gefhweige denn einen Ton des Schmerzens 
von fi) hören laſſen. ZRoberrfon Hift. of America I, 
363. vergl. Öldendorps Geſchichte ver Miffion, ©. 30. 

%) Cicero Tufc. M. 14. 

%#) Um zu büßen, oder auch um in den Ruf einer befons 
bern Heiligkeit zu fommen , laffen ſich ſolche Leute in 
Indien bisweilen langfam über einem Feuer, bas fie 
felbft unterhalten, halb braten; an Striden hin und 
ber ſich ſchwingend, bie in ihre Haut eingenagelt find. 
Andere thun ein Geluͤbde, ſich nie zu ſetzen oder zu ler 
gen, ftehen wohl Jahre lang auf einem Fuß, an einem 
Balken gebunden, daß fie ganz feif dariiber werben, 
Ives Neife nah Indien, I. 56. f. 130. vergl. Ach 
Mahrheit der chriftl. Religion, Einleitung $. 7. 

+) Auch die Standhaftigfeit eines Brutus, bey der Hinrichs 
tung feiner beyden Söhne, könnte nach dem Plurarch 
biefe Auslegung erhalten. Doc fest der wadere Phi: 
lofoph hinzu: Es muß vielmehr das Urrheil dein Ruh— 
me des Mannes gemäß eingerichtet, als die Tugend 
wegen der Schwäche, die bey fich der Nichter fühlt, ber 
zweifelt werden. Poplicola cap. 6. 


44. Buch. Abſchnitt J. Kapitel. 


muß vieles erft ausgehalten ſeyn. Uebung aber, und 
allmäfige Angewoͤhnung des Gemütbes zur Ueberwindung 
des finnlichen Antriebes, thut vieles dabey *). | 

Aber nicht Vernunftbegriffe, abgefondert von al. 
fen finnlichen Reizen, bringen alle diefe Wirkungen ber 
vor. Gleichwie aus Empfindungen, innern oder äußers 
lichen, alle unfere Begriffe abſtammen; alfo wirken fie 
auch durch die Kraft der Empfindung auf den Willen, 
Aber es ift nicht eine einzige einzelne Empfindung, fons 
dern gleichfam nur der Ertract aus vielen auf das ges 
nauefte mit einander vereinigten, aufs fehnellfte durch ein« 
ander erwecbaren Empfindungen, Manchmal ftiche 
noch eine und die andere fo ftarf hervor, daß der Bes 
weggrund, ungeachtet feiner hohen Einfleidung in die 
Sprache der Vernunft, feinen finnlichen Urfprung da— 
durch verräth. Bisweilen aber haben fie ſich fo fehr ver 
feinere, daß fie vor denen,. die mit der Geſchichte des 
menfchlichen Geiftes nicht genau befannt find, ihren Ur. 
fprung pöllig verleugnen fönnen; Kinder des Himmels, 
sicht der Erde Abkoͤmmlinge, zu feyn ſcheinen. 


S, 6. 
Willkuͤhr und Freyheit. 
Geht die Abhaͤngigkeit des Willens vom Verſtan⸗ 


de ſo weit, daß nach den Vorſtellungen und Urtheilen 
des 
*) Man ſieht oͤfters unter den Wilden, daß ein Knabe und 
ein Mädchen fich ihre Arne zufammen binden, und eis 
ne glühende Kohle dazwifchen legen, um zu feben, wels 
ches das erſte Zeichen des rn Schmerzene 

von fi) geben wird; Aoebersfon p. 363. 


| Abhaͤngigkeit des Willens vom Verſtande. 45 


des letztern, der erſte ſich nothwendig richtet, richten 
muß? Und wenn dieſes iſt: kann der Wille denn doch 
frey heißen? | 

Hierauf antworten einige, daf der Wille den Bes 
mweggründen, welches die Vorftellungen feyen, freylich 
nachgeben müffe; dies bringe feine Natur, und das 
allgemeine Naturgeſetz, daß nichts ohne Grund gefche» 
ben könne, fo mit fih. Freyheit fey Fein Begriff, ber 
auf den Willen angewendet werden Fönne, aber der 
Menfch fen doc) Frey, in fo fern er thun kann, was er 
aus Weberlegung will *). 

Andere wollen behaupten, daß die Abhängigkeie 
des Willens fo weit nicht gehe; daß die Beweggründe 
ihn zwar erwecken, reizen, geneigte machen, aber noch 
das Vermögen, ihnen zu widerftehen oder nachzugeben, 
übrig laffen; daß gegen diefe Beweggründe, und auch 
beym völligen Gleichgewichte ftreitender Beweggruͤnde 
der Menfch es in feiner Gewalt habe, einen Entfchluß 
zu faffen **). 

Wiederum mennen einige, daß allernachft zwar 
der Wille allemal durch Beweggründe beſtimmt werde; 
daß er aber die Beweggründe felbft mache, oder doc) ver- 
ändere, und gleichfam ihr Gewicht beftimme }). 

Die Beobachtung allein muß hierüber entfcheiben ; 
denn die Frage betrifft das, was gefchieht, täglich, ja 
augenblicklich in uns vorgeht, Was lehrt diefe nun? 

| 1) Daß 


— — — — — — — 


*) ©. Helvetius Diſe. I. chap. IV. Locke B. II, chap. XXV. 

*+), Cruſius Metaphyſik $. 449. ff. Thelematologie K. III. 

Search prüft, und widerlegt dieſen Gedanken, Aichs 
der Natur, Th. V. K. V. 





45 Buhl Abſchnitt J. Kapitel. 
1) Daß der Wille fehr wohl im Stande iff, Bes 


weggruͤnden ſich zu widerfeßen; aber daß immer ein an⸗ 
derer Beweggrund alsdenn da ift, der dieſen Widerftand 
bewirkt. Nicht immer ift es eine vernünftige oder deut— 
liche Vorftellung , fondern eine unentwicfelte Empfindung 
oder dunkle Erinnerung, ein vermengtes Gefühl, eine 
Phantafie; ein Schwarm Fleiner Phantafien Fann es 
auch feyn. 

2) Daf von einem ſchon gefaßten Entfchluß abzu= 
faffen möglich ift, fo oft man Luſt dazu hat. Aber diefe 
$uft hat allemal ihren Grund in einer neuen Vorſtel— 
fung; märe es auch nur, die Probe zu machen, daß man 
es koͤnne. 

3) Daß der Wille auch allerdings auf die Her« 
vorbringung und Ausbildung der Beweggründe Einfluß 
Bat, vermöge der ſchon bemerften Abhangigkeit des Den- 
fens vom Wollen (6. 1.). Aber der Wille hat feinen 
Grund, feine Abfichten, feine antreibenden und abhal= 
tenden Borftellungen aud) bey dieſer Verwendung der 
Erfenntnifkräfte, wodurch ihm neue Beweggründe und 
Antriebe erzeugt werden. Die Gejchichte des menfchlis 
hen Geiftes fängt auc) nach) dem, was wir wiſſen oder 
uns irgend vorftellen Fönnen, nicht mit dem Wollen, fon 
dern mit dem Empfinden und Erkennen an. 

4) Daß der Menſch den ganzen Grund feiner Ent« 
fehließungen und Willensäußerungen aufs vollftändigfte 
und genauefte wiffe, Täßt fic) vielleicht in feinem einzis 
gen Falle behaupten. Denn es koͤmmt dabey nicht allein 
auf die ige wirkenden Vorftellungen an; deren aud) wohl 
weit mehrere feyn fönnen, als unterfchieden und deutlich 
wahrgenommen werden. Es fommt auch auf dasjenige 

an, 


Abhängigkeit des Willens vom Verſtande. 47 


an, was ben gegenwärtigen Zuftand des Willens, die 
Meigungen in ihren Verhältniffen unser einander, Die 
Stärfe der Triebe und deren Reizbarkeit fo beftimmr, 
Aber dieß kann dod) im geringften nicht die Meynung 
rechtfertigen, daß eine Willensäuferung gegen alle Wors 
ftellung und ohne alle beftimmende Empfindung oder Vor⸗ 
ftellung erfolgen fönne.. ehr viele aufmerffame Beob— 
achter, denen ich mic) hierinn zugefellen darf, verfichern, 
daß fie einer folchen Unabhängigkeit, einer folchen 
Selbftherrfchaft des Willens ſich bey fich felbft nie haben 
bewußt werden fönnen. Und es läßt ſich fehr Teicht begrei« 
fen, wie diejenigen, Die das Gegentheil, vermöge ihrer 
Erfahrung, bebaupfen wollen, in ihrem Urtheile fich 
dabey übereilet haben Fönnen; indem fie nämlich nur auf 
einiges, was in ihnen vorgieng, nicht, wie fie gefolle 
hätten, auf alles, mas rege, ward, Acht geben. 

Wenn man ſich alfo nicht begnügen will, für den 
Menfchen überhaupt Freyheit zu behaupten, die darinn 
befteht, daß er mit innerer Kraft Vorftellungen, Des 
urtheilungen , Entfchließungen und Handlungen nah 
Wohlgefallen bewirken Fann; wenn der Wille frey beißen 
foll: fo Fann die Freyheit deſſelben darinn geſetzt werden, 
daß er nicht an einige wenige Antriebe gefeſſelt iſt, ſon— 
dern durch unzählich viele beftimme werden fann, Dieß 
drückt auch der Name der Willkuͤhr oder des Vermögens 
zu wählen aus, Dieß Vermögen zu wählen, obgleic) 

‚immer nah Gründen, koͤmmt dem Willen unleugbar zu. 
Und die Moraliften geben ihm den Namen der Freyheit 
hauptfächlich alsdenn, wenn es nach) den Vorfteflungen 
der Vernunft oder der beftmöglichften Erfenneniß ſich 
richtet; nicht den blinden Trieben des. Temperaments, | 

oder 


48 Bucht. Abſchnitt J. Kapitel. 


oder der Gewohnheit oder überhaupt unvollftändigen ſinn⸗ 
lichen Vorſtellungen folget. 


$. 7. 
Erſter Schritt zur Beantwortung ber Frage vom letzten objectis 
‘ven Örunde bed Wollen und Nichtwollens. 


Keine Willensäußerung erfolgt ohne den Antrieb 
einer Vorftellung. Aber warum erfolgt fie bey derfels 
ben? Warum Wohlgefallen und Begierde in dem einen, 
Miffallen und DBerabfcheuung in dem andern Falle? 
Diefe Frage fcheint den Moraliften insgemein fehr leicht 
zu beantworten, Das Gute, fagen fie, ifts allein, was 
wir wollen, Nie will ein Menfch etwas, als weil es 
ihm gut fcheint, und in fo fern nur, als er es für gut halt, 
will er es. Und verabfcheut wird das Boͤſe, fo fern es 
als bös erfcheint. 


Aber was nennt man Gut? Dasjenige, mas ei« 
nem gefällt, Vergnügen giebt, angenehm ift, das Ver: 
gnügen felbft ? So märe diefe Antwort fehr wahr, aber 
auch fehr leer an Unterricht, Denn die beiden Saͤtze, 
daß gut fey, mas uns Wohlgefallen verurfacht, und daß 
das Wohlgefallen und Begehren aus der Vorftellung des 
Guten entfpringe, fagen zufammen eben fo viel, als daß 
das Wohlgefallen und Begehren, ober kurz das Wollen 
aus der Vorftellung deffen, was Wohlgefallen und Be⸗ 
gierde, was Wollen erweckt, entftehe, 


Aber das Gute, kann man wiederum antworten, 
iſt das, mas Nutzen bringe, das’ Nuͤtzliche. Das 
heiße? Was zu demjenigen verhilft, woran man Ver 
gnügen findet, und von demjenigen befreyt, was Unluft 

und 


— 


Abhängigkeit des Willens vom Verſtande. 49 


und Schmerz verurſachet. — Richtig; das Nuͤtzliche iſt 
etwas Gutes, die eine Gattung des Guten; und das An 
genehme,. fo fern es diefes ift, die anbere. Aber nun 
fragt es fih, welche von diefen beiden Gattungen zuerft: 
den Namen des Guten geführee, und der andern nur 
durch Beygeſellung dazu verholfen hat? oder die Namen, 
die in der Sache ſelbſt nichts ausmachen, bey Seite ge— 
feßt; fragt es fi ch, ob das Nuͤtzliche um fein felbft wil⸗ 
fen begehrt werde, oder nur um des Angenehmen willen, 
zu deſſen DBefige ober wiederhergeſtelltem Genuſſe es 
verhilft? Ä 
Diefe Frage hat Feine Schwierigkeit. Durch die 
Begriffe felbft, und durch die Empfindung in jedwedem 
Falle, entſteht die Antwort, daß, was nur um des 
Nutzens willen begehrte wird, nicht um fein ſelbſt 
willen begehrte werde, Die bittere Arzney wird um 
der Gefundheit willen genommen, nicht um des VBer« 
gnügens, das heißt alfo, nicht um ihrer felbft willen, 
ohne Abficht auf etwas anderes. Bey allem andern, 
nur bey dem an fich angenehmen, braucht man nicht zu 
fragen, warum es begehrt werde. 2 

Tieffinniger beantworten denn endlich einige die 
aufgeworfene Frage alſo: Was begehrt wird, iſt entwe⸗ 
der ſelbſt Vollkommenheit, oder befördert dieſelbe. 
Jene, die Vollkommenheit, wird um ihrer ſelbſt willen 
begehrt; und was dazu verhilft oder nuͤtzlich iſt, um 
derſelben willen. 

Aber was ſoll unter der Vollkommenheit ver« 
ftanden werden? Soll Vollfommenheit nidyt mehr heis 
fen, als Mealität, Kraft, jedwede pofitive Eigen« 
haft, im Gegenfage auf Mangel und Einfchrän 

Erfter Theil, D | fung? 


so | Bud) I, Abſchnitt 1, Kapitel I. 


fung *)? So fehlt es dem Sage fehr an einleuchtender 
Gewißheit und Begreiflichfeit. Denn, kann man erft« 
lich einwenden, wenn das Wohlgefallen aus dem Ans 
(hauen oder Gefühl der Bollfommenheit, durch die Neali- 
tät und Kraft, entfpringt; woher entftehn denn Schmerz 
und Miffallen? Aus der Einfhränfung, antwortet man: 
Aber Einfchränfung ift nur ein Begriff, Fein Ding, das 
etwas wirken kann. Alle Wirfungen entftehn durch 
Kräfte. — Und was fagt die Antwort in der Anwen⸗ 
dung? Erklärt fie, warum mau Luſt zum mäßig. 
Süßen, und Abneigung vor dem Herben und Bittern 
bat, warum einige. Dinge angenehm, andere unange» 
nehm riechen, u. ſ. w.? Und überhaupt find Fleine Ge. 
wächfe im Pflanzenreich, Fleinere Thiere nothwendig we—⸗ 
niger gut, weniger vollfommen, als größere? 

Soll Vollkommenheit fo viel heißen, als Bollftän- 
digkeit? Aber erftlic) ift der Begriff der Vollftändigfeit 
ein zu relativer "Begriff, um in ihm felbft einen le&ten 
Grund der dabey entftehenden Gemuͤthsbewegungen ver 
mutben zu dürfen. Sodann ift es zwar in einigen Fäl- 
len gewiß, daß das Ganze mehr Vergnügen ermedft, als 
ein Theil, ein unvollftändiges Fragment. Aber in vie 
len andern Fällen ift das Gegentheil; man hat Luſt zu 

einem 


) Man giebt hier nur eine unvollftändige Enrwidelang 
ber Begriffe und Grundſaͤtze; weil die Abſicht nur ift, 
die Schwierigkeiten der Unterfuchung aufzudeden, um 
welcher willen man fich nicht getrauet, nach dem Bey⸗ 
Spiele anderer, die Willenslehre auf Grundfäge zu 
bauen, welche fo wenig einleuchtenb oder genugthuend 
find. Die weitere Aufklärung derfelben wird in folgen; 
den Abſchnitten allmaͤhlig entftehen. 


Abhängigkeit des. Willens vom Verſtande. 51 


einem Theile, nicht zum Ganzen, oder mie einer der al: 
ten fieben. Weiſen Griechenfandes gefagt haben fol, die 
Hälfte .ift oft mehr werth, als das Ganze. 

Wenn man nad) dem Begriffe, der bey den ge | 
meinften Anwendungen des Worts fich am leichteſten ent- 
decket, unter der Vollkommenheit einen ſolchen Zuſtand, 
ſolche Eigenſchaften eines Dinges verſteht, wodurch es 
ſich ſelbſt oder andern am meiſten Mugen ſchaſt: fo iſt 
freylich die Richtigkeit des Satzes, daß Vollkommenheit 
begehrt, und Unvollkommenheit verabſcheuet werde, in 
manchen Fällen leicht zu erweiſen. Aber, wenn dies nun 
aud) erwiefen ift: fo ift man damit ‚eben fo wenig am 
Ziel der Unterfuchung , als bey.tem gleich zu Anfang ges 
fundenen Sage, daß das Mügliche begehrt werde, Denn 
Vollfommenheit würde alſo nur. um des Nugens willen 
begehrt, und nicht um ihr felbft willen. Die Frage 
aber geht augenfcheinlich auf das, was um fein felbft willen 
begehrt wird, alfo den Iegten objectiven Grund des Bes 
gebrens in fich enthält. So fleht es eben auch noch, 
mern der Begriff der Vollfommenheit in der Ueberein⸗ 
ſtimmung des Manchfaltigen geſetzet wird. Denn 
um den Begriff vollſtaͤndig zu machen, mie ihn die Er— 
fahrung beftätiget: muß man hinzufegen, daß durd) die 
fe Uebereinftimmung Gutes, mehr Gutes, als durchs 
Gegentheil, bemwirfe werde. Außer dem möchte fie wohl 
Schönheit heißen Fönnen, aber nicht Vollkom⸗ 
menheit. 

Aber dieſe letztern Begriffe von ber Vollkommen. 
heit klaͤren nicht nur in der Hauptſache nicht viel auf; 
fondern es ftehn aud) der Allgemeinheit des Satzes, daß 


das Anfshauen oder Gefühl der Vollkommenheit der 
D 2 Grund 


52 Buch. Abſchnitt 1. Kapitel I. 


Grund des Wollens fey, noch immer viele Zweifel im 
Wege. Es fcheint wenigftens, daß der Menfch auch 
an den Fehlern, am Leiden, an’ der Zerrüttung anderer 
ſich ergögen fönne, Und auch bey demjenigen, mas er 
in feinen eigenen Veränderungen und Zuftänden liebt und 
begehrt, find die angezeigten Merfmaale ver Vollfoms 
menheit nicht immer zu entdecken, 

Aus allen diefen Bemerfungen zufammen genom« 
men, wird wenigſtens ſo viel erhellen, daß die Frage 
vom legten objectiven Grunde des Wollens. und Nic)ts 
mollens mehr auffich habe, als vaß fie gleic) bey den 
erften und allgemeinften Grundfägen der Wiltenslehre fich 
beantworten ließe; daß: Antworten, die man bier gebefl 
zu fönnen geglaubt hat, entweder der Abficht der Frage 
nicht angemeffen feyn, ober einen ‘Beweis erfordern, der 
hier wenigftens nicht geführt werden kann; . daß weniger 
nicht, als die Unterfuchung des ‚Urfprungs, und der 

Verkettung aller merfwürdigen Neigungen des menfchlis 
chen Willens erforderlich feyn, um biefe Antwort ficher 
und lehrreich geben zu Eönnen, 


. 8 


Von den letzten ſubjeetiven Gruͤnden des Wollens und Nicht⸗ 
wollens. Ob die Neigungen angebohren werden? 


Wie viele Macht über den Willen den Vorftellun« 

gen, und mittelft derfelben den Dingen auch eingeräumt . 
werben muß: fo ift doch in ihnen allein der ganze Grund 
noch nicht enthalten, weswegen juft folhe Willensaͤuße⸗ 
tungen in einem Menfchen fich hervorthun. Jedwede 
Veränderung, die in einem m Dinge durch die Kraft eines 
andern 


Abhängigkeit des Willens vom Verftande. 53 


andern bewirkt wird, bat immer einigermaßen ihren 
Grund aud) in der Natur und dem vorhergehenden Zu⸗ 
ftande desjenigen Dinges, in welchem fie bewirft wurde; 
darinn, daß dies Ding felhen Widerftand rhat, fo mite 
wirkte, ober leidend ſich verhielt, u. ſ. w. Eben alfo ift 
leichte zu begreifen, daß die Beweggründe, die einen 
Willen wozu beftimmen, ihn nicht juft fo würden haben 
beftimmen fönnen, wenn es nicht ein folcher Wille wäre, 
Ehe noc) irgend eine Veränderung mit dem menfchlichen 
Geifte ſich eräugnet; muͤſſen die Gründe zu feinen Ver— 
änderungen, insbefondere auch zu den Willensäußerums 
gen, einigermaßen fehon in ihm liegen, Denn nichts 
ift vorhanden, ohne daf es gewiffe Eigenfchaften hat; 
und nad) diefen müffen fic) allemal auch die Veränderun« 
gen richten, die in demfelben entftehen, won was für ei 
ner Art fie auch feyn, und von was für Urfachen fie auch 
immer entftehen mögen, 

Wenn man alfo die Beftimmungen ober Eigen⸗ 
fhaften einer menfchlihen Seele, in denen der Grund 
liegt, weswegen Empfindungen und KBorftellungen, 
wenn fie entftehn, Wollen oder Nichtwollen erweden, 
Neigungen; und die Befchaffenheiten ihrer Kraft, um 
welcher willen fie, bey entftehenden Anlaffen und Reizen, 
juft auf eine gewiffe Art wirffam wird, Triebe nennen 
will: fo muß man eingeftehn,, daß Neigungen und Tries 
be angebohren werben; daß nicht ohne alle Meigungen 
und Triebe ein Begehrungsvermögen, und thaͤtige Kraft 
in ſich enthaltendes Wefen je feyn Fan, In diefer Be 
deutung der Worte wird auch nicht leicht jemand dagegen 
fireiten, daß z. B. Selbſtliebe und Trieb fich zu erhalten, 
angebohren, ja urfprünglich ber Seele anerfshaffen ſeyn. 

a DD; Aber 


54 Buch J. Abfchnitt J. Kapitel I. 


Aber daß Begierden, oder durch wirklich vor— 
bandene Vorftellungen erreate Willensäußerungen,, und 
Neigungen, in der Bedeutung durch Vorftellungen ges 
gruͤndeter, entfernter Difpofitionen des Willens zu ges 
wiſſen Begierden , urfprünglich der Seele angebohren und 
anerfchaffen. feyn ; dies ift etwas anders, Dies folge 
nicht aus den vorhergehenden Gründen; und dies hat 
alle diejenigen Beobachtungen und Gründe gegen fich), 


drurch welche fich die mehreſten Seelenforfcher längft übers 


jeugt haben, daß uns feine Begriffe angebohren werden, 
oder daß alle Vorftellungen aus Empfindungen entfteben, 
und alſo vor denfelben nod) nicht da ſeyn koͤnnen. 


| Unterdeffen giebt es doch Phitefophen , die, nach 
dieſer Erflärung, Neigungen und Begierden für angeboh⸗ 
ren halten, und eben darum der Behauptung, daß es 
Feine angebohrne Ideen gebe, widerfprechen; umgefehre 
ſchließen, daß es angebohrne Ideen geben müffe, weil 
es angebohrne Neigungen giebt *). 


Außer den moralifchen Neigungen und Trieben, 
in Anfehung derer die Unterfuchung im folgenden aus» 
führtich vorgenommen werden foll, gründet man fich bey 
diefer Behauptung auf allerhand Fertigkeiten, Neigun- 
gen und Abneigungen,, die man an den neugebohrnen 
Kindern bald gewahr wird. Sie begehren ſich zu naͤh— 
ren‘, und wenden ihre Kräfte dazu an, richten die Glied⸗ 
maaßen ihres Körpers dazu ein, daß fie ihrer Nahrung 
theilhaftig werden. Bey ſolchen offenbar angebohrnen 
Kunſt⸗ 


— urn —— — 





— — — — — 








*S Cenſtas Thelematol, $. 92. Wernunftlehre 6. 82. ff- 


Abhängigkeit des Willens vom Verfiande, 35 


Kunftfertigkeiten, ‚meynt man, laffe fih an dem Da- 
feyn angebohrner Neigungen und Triebe, die Ideen zum 
Grunde haben müffen, nicht zweifeln. So fcheine es 
auch ferner, daß Kinder, ehe noch Erfahrungen den 
Grund in ihnen dazu gelegt haben fönnen, Kenntniß vie: 
ler ihnen fchädlichen Dinge, und darauf gegründete Ab⸗ 
neigungen haben. Warum führe fonft das Kind in der 
Wiege, fehon in den erften Tagen nad) feiner Geburt, 
fo ſchreckhaft zufammen, wenn etwas fällt, oder die Thür 
bart zugefchmiffen, oder fchnell mie einigem Geräufche 
geöftnet wird? Warum fcheut es fich, und verbirget fein 
Angeficht vor geroiffen Gefichtern, da es andern gern fich 
naht? Xdeenadfociation, vermöge gehabter Erfahrun- 
gen, fann hier nichts thun. Und mas find es anders, 
als angebobrne Ideen und Neigungen, wodurch die mil 
beften und unwiſſendſten Menfchen, wie eben auch Thie- 
re, die ihnen unfchädlichen Nahrungsmittel auszufinden 
im Stande find? | | 


Aber man fhließt bier aus den Beobachtungen 
mehr, als darinnen enthalten ift, und fchließe gegen an— 
dere gefichertere Grundſaͤtze. Das Kind zeige gleich nad) 
der Geburt Triebe, und einige Fertigkeit, fid) feine Nah— 
rung zu verfchaffen. Aber woher weiß man, daß diefer 
Trieb auf Ideen und DVorerfenneniffe fich gründe, und 
nicht bloß durch Mechanismus und gegenivärtige Em« 
pfindung beftimmt werde? Und wenn Ideen zum Grun⸗ 
de liegen müffen; koͤnnten die nicht, durch die Empfindun« 
gen im Murterleibe erzeugte worden ſeyn; wodurch das 
Kind ſchon lebte, und nad) einiger Phnfiologen Vermur 
hung, ſchon Gelegenheit und Reige hatte, Säfte durch 

. Warı N den 


ss Bruch J. Abſchnitt J. Kapitel. 


den Mund einzufaugen *). Eben alfo koͤnnen die Bes 
wegungen, die Furcht und Abfchen vor Dingen zu bes 
weifen fcheinen, deren Schädlicd;feit das Kind noch nicht 
aus Erfahrung weiß, ohne alle Schwierigkeit für bloße 
Wirkungen der Organifation gehalten werden, die der 
Schöpfer fo veranftaltet Hat, um durch mecjanifche Ge« 
feße den Anftalten der Vernunft vorzuarbeiten. Es find 
ja mehrere Arten offenbar unwillführlicher, vom Schöpfer 
zu unferm Beſten uns natürlich gemachter, Bewegungen 
befannt; der Augen 5. B. und anderer Gliedmaaßen bes 
Körpers , unter gewiffen Umſtaͤnden. Will man die er 
ften Erfcheinungen aber auch für Wirfungen Ber Seele 
halten; fo ift es doch nicht nöthig, den Grund derfelben 
in angebohrnen auf Ideen gegründeten Neigungen zu fe= 
gen; da fie Wirfungen einer gerade igt entftehenden Em« 
pfindung ſeyn fönnen. Warum aber diefe ist entftehen- 
de Empfindung juft fo auf die Seele, und diefe dann fo 
auf den Körper wirft; das ift eine Frage, dergleichen 
noch viele andere in den Unterfuchungen über die Willens« 
neigungen vorfommen; welche, man mag fie beantwor« 
‚sen oder nicht, die Frage von Den angebohrnen „been md 
Begierden unentfchieden faffen. 
A Am afferwenigften hat man Urſache, um berjeni« 
gen Neigungen und Abneigumgen willen, durch weiche 
die Menfchen narürliher Weife beftimme werden, ihre . 
Nahrung fih auszufuchen, angebohrne Begriffe anzu⸗ 
nehmen. Denn es ift aus der Beobachtung felbft Flar, 
* was er ei — iſt, auf den — 


A 1* — 
—— 


5 S Perdier fur la perfe&tibilite de P’homme, Recueil 
N. p. 122. fegg. 








Abhängigkeit des Willens vom Verſtande. 57 


den Geſchmack, und andere Empfindungen der äußern 
Sinne ſich gründe; indem größtentheils diejenigen Din- 
ge eine gefunde Mahrung geben, die auf diefe äußern 
Einne einen angenehmen Eindrud machen ‚, und biejeni» 
ger nicht, die das Gegentheil thun. 

Mar bat aber auch bey der Unterfuchung aller die» 
fer Erfahrungen fic) zu hüten, daß man nicht zu vieles 
für urfprünglich gegründet halte, da die Erfahrungen und 
Uebungen einer menſchlichen Seele gemiffermaßen ſchon 
im Mutterleibe, ‘und überhaupt früher anfangen, als die 
Beobachtung, und das deutliche Bewußtſeyn. 


Kapitel H. 


Bon den nächften Urſachen der verfchiedenen 
Wirkungen der Dinge auf den Willen. 


9. 9 


Allgemeine Bemerkungen. 


Aus der Abhaͤngigkeit des Willens von den Vorſtellun⸗ 
gen iſt die Folge einleuchtend, daß der Wille verſchiede⸗ 
* ner Menfchen,, oder eines Menfchen zu verfchiedenen Zei⸗ 
ten, ſich fehr verfchiedener bemeifen fönne, gegen einer 
ley Sache; bloß weil die Empfindung oder Vorftellung 
davon nicht Biefelbe if. Denn die Dinge fönnen nicht 
unmittelbar auf den Willen wirfen, fondern nur mittelft 
der Vorſtellung. Demnad) 

1) muß die Verfchiedenheit der Organifation, 
die bey den verfejiebenen Geſchlechtern, Altern und an⸗ 
5 dern 


ie de. 


58 Bruch J. Abſchnitt L Kapitel II 


dern Claſſen ver Menſchen oft fo merklich iſt, Verſchie— 
denheit der Willensneigungen nach ſich ziehen. Und 
zwar auf eine gedoppelte Weiſe. Einmal darum, weil 
die aͤußerlithen Dinge nicht fo dan einen Körper, wie den 
andern, afficiren. Sodann, meil nicht der eine diefetben 
Beduͤrfniſſe in ſich fühle, wie der andere; und alfo 
auch nicht Dinge, die dieſen Bebürfniffen abbelfen, ſo 
anſieht und achtet. 

2) Eine jede Sache hat ſo viele e Seiten, fo vie 


fe Eigenfchaften und Verhältniffe, nach denen fie nüß« 
lich und angenehm, oder auch fhadlicy und unangenehm 


werden kann. Die Vorftellungen, die die Menfchen 


von den Dingen haben, wenn fie auch von irrigen Zus 
fägen frey bleiben, find doch gewöhnlich unvollitändig, 
einfeitig, und weichen daher fehr leicht von einander ab; 
ändern ſich leicht, wenn aud die Dinge diefelben 
bleiben. 


3) Es koͤmmt nicht bloß darauf an, was fich 
ein Menſch bey einem Dinge vorftellt; fondern auch wie 
er fichs vorftellt ; wie Flar, lebhaft, deutlich, wie gewiß, 
und zuverfihtlich ($. 3.). Wiffen ohne Glauben, ohne 
lebhafte Anwendung auf fi, ohne innere Zueignung hilft 
wenig. — Wenn Gutes und Böfes beyſammen ift; fo 
fömmt es darauf an, nicht nur an welchem einem, um 
der ſchon vorhandenen Triebe willen, am meiften gelegen 
ift; fondern hauptfächlich, welches man ſich am lebhaf- 
teften denfet, am gewiffeften erwartet. Bey fehr vielen 
Menfchen ift das Nächite immer das Wichtigfte, der 
fürzefte Weg immer der - 


§. ro. 


* 
e —* 
nr 


Von den Wirkungen der Dinge auf den Willen. 59 
6. 10 


Bon den Wirfungen ber adfociirten Ideen und Gefühle. 


Was in den Vorftellungen, und daher auch in 
dem Verhalten des Willens gegen die Dinge die größten 
Verfchiedenheiten und Veränderungen verurfacht, das 
ift die Verknüpfung und Zugefellung fremder Ideen, 

die Ideenadſociation. 

| Denn dadurch entftehen nicht nur die fogenannten 
Nebenideen, diedie Wirfung der Hauptidee oft fehr ver: 
ändern, eine an ſich angenehme Sache unangenehm, 
eine unangenehme angenehm, eine ernfthafte lächerlich, 
eine lächerliche ernfthaft machen; ſondern Die Reize eines 
Dinges koͤnnen, kraft der Ideenadſociation, dergeftalt 
über andere Dinge fich verbreiten, und ihnen fid) 
mittheilen, daß fie eben fo wirfen, als ob fie ihnen ei« 
genthuͤmlich wären, ohne daß man ſich der Ideen, aus 
Denen fie eigentlich berrühren, im mindeften bewußt ift. 
Um bievon deutliche Begriffe fi) zu machen; 

muß man zuförderft die Geſetze der Ideenverknuͤpfung 
bemerfen; die Gründe und Bedingungen, bey denen 
Ideen, und mittelft derfelben Gefühle und Gemürhsbe« 
wegungen, fo fehr oft, ohne daß man es will, durd) 
einander ermwect werden. Wenn man dasjenige abrech- 
net, was nicht eigentlid) die Sydeen und ihre Wirkungen 
angeht, mas bloß im Körper, in der Sympathie der 
Nerven feinen Grund hat: fo läßt fich alles aus zwey 
Grundfägen erflären. Es werden Ideen durch einan« 
der erweckt, entweder weil fie was ähnliches vorftellen, 
oder weil fie ſchon vorher ein oder mehrmal, neben oder 
auf einander in der Seele beyfammen geweſen find, 
| | Per- 


60 Buhl Abſchnitt J. Kapitel IL 


Vermoͤge biefes zweyten Grundeg, Fann eine Verfnüpfung 
zwiſchen den verfchiedenartigften Ideen entftehen; wenn 
auch nur ein Irrthum, Vorurtheil, oder irgend ein Zus 
fall fie nun einmal zu einander geſellt hat. Und die ent 
fernteften Ideen fönnen mittelbarer Weiſe erweckt wer» 
den; wenn etwa die Mittelidee, die mit der einen durch 
Aehnlichfeit zuſammenhaͤlt, mit der andern Fraft des eh⸗ 
maligen Beyfammenfeyns in Verbindung fteht. Won 
mehrern Ideen aber, die aus dem einen oder aus dem 
ondern biefer Gründe erweckt werden Fönnen, werden je« 
desmal diejenigen am leichteften erweckt; für Die entwe⸗ 
der die ftärffte Ermecfung da ift, oder bey denen bie 
meifte Erwecklichkeit fich findet, Folglich, die entwe⸗ 
Der mit der erweckenden Idee die größte Aehnlichkeit, oder 
bie genauefte Berfnüpfung haben; oder zu welchen oh⸗ 
nedem die ftärfften Difpofitionen ſchon vorhanden find: 
Alfo diejenigen, mit denen ein Menfch fich oft befchäfti- 
get, oder vor kurzem erft befchäftiger hatz oder die ver 
möge ihres Urfprungs einen tiefen Eindruc gemacht, 
Dauer und Sebhaftigfeit erlangt haben. So viel von 
den allgemeinen Gründen und Gefegen ber Erweckung der 

Ideen durch einander, Fann hier genug ſeyn *). 
| Um nun die unzähligen, zum Theil fo wichtigen, 
zum Theil fo fonderbaren Veränderungen des Eindrucks 
der Dinge auf das menfchliche Gemuͤth , die durch bie 
Ideenadſociation ai ‚ in einiger Ordnung und 
Boll» 





m Sceiftiteller, die ausführlicher davon handeln, habe ich 
genannt in den Inftitut. Log. & Metaphyf, $. 24 feqq- 
woſelbſt auch die hier vorgetragenen Grunbfäge noch et⸗ 
was weiter entwiceit ſi ind. 


Bonden Wirfungender Dinge aufden Willen. Gr 


Vollftändigkeit, obgleich nur in der allgemeinften Ueber 
ſicht ſich vorzuſtellen; ſo bemerke man, 

1) wie Dinge, die an ſich wenig enfichentes 
haben, durd) die adfociirte Idee von einer Perfon 
einem angenehm und wichtig werden koͤnnen. Die Eri 
fahrung giebt davon viele und manchfaltige Beweiſe. 
Sachen, die einer berühmten oder geliebten. Perfon zuges 
bört haben, von derfelben einem zum: Andenken gegeben 
wurden, find um diefes Verhaͤltniſſes willen oft unfchägs 
bare Kleinode, Moden und Gewohnheiten, und niche 
felten Fehler, werden nur darum nachgeahmt, weil die 
Derfonen ; die fie an fich haben, — und beliebt 
ſind. Man ſagt IDEEN. u Schönen Perfonen 
fiebe alles fchön. 

2): Das Andenfen. einer Begebenheit kann gleis 
he Wirfungen bervorbringen. Ein: $ied, das men 
beym Sterbebette, ober dem Begraͤbniſſe eines Vaters, 
einer Geliebten, oder. unter andern ſehr ruͤhrenden Um⸗ 
ſtaͤnden leſen oder ſingen hoͤrte, ſcheint einem vielleicht 
hernach beſtaͤndig ein Lied vom einer außerordentlichen 


Kraft und Schönheit, Ein Spiel, ein Tanz, ſcheinen 


oft vor andern ſchoͤn und ergößend; wegen der Gefell 
ſchaft, in denen fie einem bekannt wurden. Selbſt 
Speifen koͤnnen einem beſſer duͤnken, als fie nicht waren; 
fönnen Verlangen erwecken; nicht weil fie wirklich vor« 
züglich gut waren, fondern weil fie in vergnügter Geſell⸗ 
haft, im den Jahren der Munterfeie genoffen wurden. 
Man entdeckt nicht bey jedem durch die Erinnerung wies 
der ermeckten Gefühle die wahren Urfachen deſſelben. 
Aber auch verhaßt und efelhaft fann eine Speife auf lan⸗ 
ge Zeit werben, wegen ber — Folgen, die 
der 


| % Buhl. Abſchnitt J. Kapitel 


der unmaͤßige Genuß derſelben einmal verurſachet hat. 
Verflucht wird das. Gewehr, mit welchem man das Un— 
glück ‚gehabt hat, einen Unfchuldigen, einen Freund zu 
roͤdten; nieohne Empörung erblickt, nie wieder gebraucht, 
Und nad) dem Urtheile eines tiefjinnigen Seelenforfchers, 
müßte man fogar mißtrauifch gegen das Herz eines Mens 
ſchen werden, der das Brett, mittelft deffen er ſich 
benm Schiffbruch das geben gerettet, am Ufer Faltblütig 
verbrennen Fönnte *). ee 
| 3) Alles, was Bergleihungen, alles, mas 
Benennungen ausrichten fönnen, gehört hieher. Dies 
Ien Leuten kann durch ein einziges Wort, durch eine ein⸗ 
zige Vergleichung, der. Appetit benommen werden. 
Kinder nehmen Arzeneyen unter einem andern angeneh- 
men Namen, ‚wenn fie unter dem wahren fie nicht neh. 
men wollen. - Und die Fälle find nicht felten, wo Er. 
wachfene faft:eben fo ſich taͤuſchen laffen. Der Tod, die 
Vernichtung felbft verlieren etwas von ihrem fürchterlichen 
Anfehn, wenn man fie unter. dem Namen eines Schla- 
fes, einer ewigen ununterbrochenen Ruhe, einer Befrey⸗ 
ung von den Mühfeligfeiten des Lebens, ſich denkt **), 

| Stolz machen bis zum Schwindel, aufbringen 
bis zur äußerften Wurh, demüthigen, Ehrfurcht, Ver— 
trauen, Haß einflößen, u. ſ. w. koſtet ja fo oft nur ein 
einziges Wort; ein Fraftlofes, todtes Wort, mirfte 
nicht die Ideenadſociation. Was thun nicht die einmal 
ver⸗ 











x) Smitb "Theory of moral fent. | 

ee) S. Meiners Betrachtungen über den Tod, und Trofts 
ründe der Alten wider die Schreden derſelben; in defr 
en vermifcht, Philof. Schriften, ©. 194 ff. 


Bonden Wirkungen der Dinge auf den Willen. 63 


verhaßten Seiten und Partheyen- Namen? Wie 
ſchnell, wie fehr verändern fie nicht bey Menfchen, deren 
Imagination dazu geftimme ift, ‘den ganzen Eindruc, 
den eine Perfon zuvor auf fie gemacht harte? 
| 4) Orte und Zeiten werden: dadurch in ber: 
Seele geändert: verflucht wird die Erde, um der Miffes 
that des Menfchen willen; das Haus, in dem er ge« 
wohne, wird ein Gegenftand der Rache. Graufen 
durchſtroͤhmt den einfamen Wanderer bey den Gerichts« 
plägen, auf Kreuzwegen, Kirchhöfen, und wo fonft die 
Imagination ihre Schreckenbilder hinzufegen gelernt ‘hat. 
Es ill ein Gluͤck, wenn er nicht die Gefpenfter wirklich 
vor fich fieht; wenn die Ideen davon durch den Anblick 
des Ortes in ihm rege gemacht worden ſind. Sehnſucht 
erweckt der Geburthsort wegen der feinem Bilde anfle- 
benden Erinnerungen an die heitern Jahre der Kindheit; 
der Baum, bey dem die Freunde fich trennten, das Ufer, 
an welchem fie fi) zum leßtenmale umarmten, werden 
Altäre und Tempel *). — Mit der Stunde der Mitter⸗ 
nacht dringt Schrecken in die Seele des Abergläubifchen. 
Mit dem Weihnachtsfefte koͤmmt das in der Kindheit 
gegründete Luftgefühl oft im männlichen Alter noch 
zuruͤck. J 
5) Was Dingen, Orten und Zeiten begegnet, 
das widerfaͤhrt nicht weniger auch Perſonen; ſie werden 
ohne ihr Verdienſt, ohne ihre Schuld, angenehm und 
verhaßt, durch die Adſociation fremder Ideen. Aehn⸗ 
lichkeit gruͤndet ſie bisweilen. Aehnlichkeit mit denen, 
die 


*) ©, Cicero de leg. U. c, i. 2. 











64 : Buhl. Abſchnitt . Kapitel II. 


die wir lieben, auch wenn fie nicht in Vollkommenheiten 


ſich findet, ift Empfehlung für eine Perfon; und eine 
auffallende, an fich unbedeutende Aebnlichfeit mit dem 
Feinde, macht, daß man, ohne felbft zu wiffen warum, 
einem Menfchen unbold if. — Aber auch, wenn wir fie 
in ihrer Geſellſchaft oft gefehen haben, wenn fie ihnen 
auf irgend eine Weife angehören, als Kinder, Ders 
wandte, Bediente: fo eraugnet ſich daſſelbe. Nicht 
immer; aber fehr oft. Die Vernunft findet. denn wohl 
bisweilen einen Grund, diefe Ausdehnung der Neigun⸗ 
gen aufs Angehörige ſchlußmaͤßig zu rechtfertigen. Das 
meifte aber thut die Imagination, mittelft der Ideen⸗ 
miſchung. Auch Begebenheiten fönnen einen folchen 
- Einfluß haben auf die Ideen von Perfonen;. nicht nur 
ſolche, in denen vernünftige Gründe zum Wohlgefallen 
oder Mißfallen an einer Perfon enthalten find; ſondern 
fothe auch, ben denen die Vernunft zum Gegentheile 
antreibt, Locke erzählt, daß ein Menfch einen Wund« 
arzt, der eine fehr fehmerzbafte, aber heilſame Operation 
an ihm vorgenommen hatte, nach der Hand nicht mehr 
vor fich ſehen konnte; fo fehr.er auch die Wohlthat ſchaͤtz⸗ 
te, die er ihm erwiefen hatte *). Es ift gefährlich, 
jemanden vorzufommen , befonders zum erftenmale, 
wenn er in böfer $aune if. Der Eindeuf, den man 
macht, vermengt fich gar leicht mit den andern gleichzei« 
figen unangenehmen Eindrücken ; welches einem niche 
nur itzt, fondern auch der “dee, die man von fich ein« 
prägt, auf immer Nachtheil bringen kann. Aus eben 
dem 


|| m — — — — — — — nn — — 


®) Effai concern. human, Underftanding B. II. chap. 
XXX 14, 





Bon den Wirkungen der Dingeaufden Willen. 65 


dem Grunde ift es auch gefährlih, eine unangenehme _ 
Nachricht zu Hinterbringen; Perſonen, die aflein ohne 
Gefahr alles fagen dürfen, Marreffen und Hofnarren 
bat man daher insgemein dazu gebraucht, Königen von 
großen Niederlagen, die fie erlitten, Nachrichten beyzu⸗ 
bringen. 

6) Je leichter und manchfaltiger der Uebergang 
von der einen Idee zu der andern ift; defto leichter und 
ftärfer können fie auch ihre Neize einander mitcheilen, 
Wenn nicht nur äußerliche Verbindung, fondern auch 
Aehnlichkeit zwifchen Perfonen, mie oftmals bey Bluts⸗ 
verwandten, fich findet: fo verbreiten fic) die Neigungen 
um fo viel eher von einer auf die übrigen. Die Meiguns 
gen gegen den Vater erftrecfen fich leichter auf den Sohn, 
als auf die Tochter ; zumal wenn fie verbeyrather, einem 
andern angehöret, einen andern Namen führet *). 

| — 7) Es 


En — ——— —— ——— —— nr — — — — — —— — —— — — — 


2) S. Home Grundſaͤtze der Critik, Th. J K. II Abſchn. IV. 
Dieſer trefliche Beobachter hat mehr hieher gehoͤrige 
Beyſpiele, die er aber nicht alle natürlich genug erklaͤrt. 
Daß z. B. die Neigungen eines Menfchen gegen feine 
Eltern nicht fo flarf, als gegen feine Kinder iſt; bat 
wohl einen andern Grund, als den er angiebt, in ber 
Ei genliebe Diefer nämlich ift die Vorſtellung, Was 

ter, Urheber, Dberer zu feyn, angenehmer, als bie 
- andere, Sohn, Untergebener, Abkoͤmmling zu feyn. 
Alſo kann ein Menfh ſich ſelbſt in feinen Kindern 
leichter, als in feinen Eltern lieben. Daß die Danfs 
‚barkeit gegen einen Wohlthärer ſich leichter über feine 

Kinder, als über feine Eltern ausdehne, ‚wenn fonft 
Peine befondere Antriebe wirken, halt ich nicht für ges 

wiß. Insgemein reizen Kinder unfer Mitleiden ober 


autch unfer Wohlgefallen mehr. - - 
Erſter Theil. € 


66 Buch J. Abſchnitt 1. Kapitel u. 


) Es iſt feine Gemuͤthsbewegung zu groß, und 
fein Gegenftand zu gering, daß nicht auf denfelben jene, 
durch die Adfociation der Ideen, abgeleitet werden koͤnnte. 
Die Gefchichte des Aberglaubens enthält Beweiſe genug 
davon. Wenn derfelbe Holz, Steine, oder was es ift, 
als einen Gegenftand der Anbetung und der wunderthätigen 
Wirfungen, in dem Taumel der Begeifterung ergriffen, 
oder verführt durch andere, angenommen hat: fo. ver- 
ſenkt ſich bald alle Kraft der Ideen, die durch Größe 
fehrecfen oder aufmuntern, in das Bild diefes Gegen« 
ftandes; und er wirft, was die Idee einer Gottheit in 
dem menfchlichen Gemüthe bewirken kann. — Ziska 
verhieß feinen Anhängern, daß fie unuͤberwindlich in ber 
Schlacht feyn würden, wenn fie feine Haut zu einem 
Trommelfell brauchen würden: und Earl XII drohte dem 
Keichsrath feinen großen Stiefel zu ſchicken, um Gehor⸗ 
fam gegen feine ‘Befehle zu erwecken; beyde in einem fehr 
fühnen, aber auf Gefühl der Gewalt abfoclister Ideen 
gegruͤndeten Vertrauen. 

Wie ſehr aber auch große und ehrwuͤrdige Gegen⸗ 
ſtaͤnde durch Nebenideen, Vergleichungen, nur einmal 
gemachte Anwendungen, und andere Wege der Ideen⸗ 
verbindung, vielen Menſchen unwiderſtehlich und unwie⸗ 
derbringlich, laͤcherlich und veraͤchtlich werden koͤnnen; 
iſt allgemein bekannt. 

8) Es find unzweifelhafte Erfahrungen voran 
den, daß been, bie im Traume erzeugt, ober an an⸗ 
dere angehängt worden, zu folhen Wirkungen gleich« 
falls gefchickt find. Jemand räumte, daß eine andere 
ähm untergebene Perfon etwas unſchickliches begieuge ; 
worüber er ſehr auſpebracht wurde. Am — Tage 

maeldete 


Bon den Wirkungen der Dinge auf den Willen. 67 


meldete ihm diefe Perfon etwas gethan zu haben, was 
jenem einigermaßen aͤhnlich, aber untadelhaft war. In 
dem Augenblicke ſtieg Unwille in ihm auf; und er hatte 
ſchon angefangen, in Vorwuͤrfen ſich auszulaſſen, als er 
die Unbilligkeit derſelben in dem Erſtaunen der andern 
Perſon erkannte, und bald ſelbſt einſah. Und nun Flär. 
te. es fich in feiner Seele auf, und eg wurde völlig offen⸗ 
bar, daß der Reiz zum Werdruffe ganz allein aus den 
Ideen des Traumes entftanden war. Es wird niche 
fehwer feyn, mehrere ſolche Erfahrungen mit Zuverläffig« 
keit einzufammlen; und fie verdienen mehrere Aufmerk. 
famfeit, als bisher noch nicht auf fie ſcheint verwendet 
worden zu ſeyn. | 

Auch dies iſt nicht bloß Vermuthung, fondern 
eigentliche Erfahrung, daß das Vergnügen, welches ein 
Öegenftand im. Traume verurfacht hat, wenn der Genuß 
doc) nicht vollftändig geweſen, nicht erfchöpfe worden iſt, 
die Begierden darnach ſehr vergroͤßern koͤnne. Es iſt 
gefährlich, Endymions Träume oft zu traͤumen; zumal 
wenn die Diana auch dem wachenden Schaͤfer mit einiger 
Gefaͤlligkeit begegnet, aus welcher die Bilder des Traums 
Nahrung ziehen Fönnen, 

9) Scharffinnigen Unterfuchern dieſer Sache, 
Locken und Leibnigen *), ſcheint auch dies nicht zu 
biel zu ſeyn, daß in den erften Jahren der Kindheit, 
bis zu welchen Bewußtſeyn und Erinnerung nicht zurück 
gehen, Empfindungen und er fih fo mic einander 

Ä 2 | ver⸗ 





"©. Locke 1. c.$. 7. und Leibniss Nouv. Effais ſar Vnꝰ. 
tend, hum, p, 229, | E Re 


. 


6 Buhl Abſchnitt 1. Kapitel II, 


vermifcht haben Fönnen, daß ungemöhnliche Wirkungen 
geroiffer Dinge bey einem Menfchen aus ber Vermengung 
jener frühen Eindrücke entſtehen. Wenigftens glauben 
fie, daß fo manche fonderbare Gemüthsbewegungen und 
Abneigungen fi) aus feinem andern Grunde begreifen 
laffen. Da Ideen gar nicht brauchen deutlich zu ſeyn, 
um aufs Gemüt zu wirfen, und da auch in der zarte- 
ften Kindheit einige dauerhafte Eindrüce entftehen koͤn⸗ 
nen: fo fcheint es allerdings möglich, daß durch folche 
frühe Eindruͤcke nachherige diefen ähnliche, und deswegen 
vielleicht auch eben daffelbe innere Organ treffende Ein; 


druͤcke verändert, und bisweilen ganz übermältiget 


werden, 


6. 11. 
Macht der Gewohnheit in ber Beſtimmung ber Neigungen. 

- Die Wirkungen der Ideenadſociation laufen durch 
bie ganze Gefchichte der Seele. Auch bey den andern 
für ſich ſchon wirkenden Urfachen fonderbarer Willensäus 
ferungen, thut jene immer noch vieles. Es wird diefes, 
bey der Unterfuchung der ‚Grünve des fo großen Einfluf- 
fes der Gewohnheit auf Neigungen und Abneigungen, 
ſich bald entdecen. 

Um aber aud) diefes wichtige Lehrſtuͤck auf deutlis 

he Begriffe und Grundfäge zu bringen: fo 
lehret uns die Erfahrung, daß die Gewohn⸗ 
heit fehr verfchiedene, und dem erften Anfchein nad) ganz 
entgegengefeßte Wirkungen hervorbringt. Oft ift fie Ur 
ſache, daß Dinge und Perfonen, die anfänglid) unan⸗ 


genehm oder gleichguͤltig waren, angenehm ‚ bisweilen 


unent⸗ 


Bon den Wirkungen der Dinge aufden Willen, 69 


unentbehrlich werben. Der Taback, hitzige Gerränfe 
und andere Dinge find Benfpiele hievon *). Cie madıt 
auch, daß Dinge und Perfonen nicht-auf hören angenehm 
zu feyn, obgleich die urfprünglichen Gründe des Wohle 
gefalleng an denfelben nicht. mehr da find. Aber oft ift 
auch die Gewohnheit Urſache, daß Gleichguͤltigkeit und 
Widerwillen gegen Dinge entfteht, die vorher angenehm 


2) Die Art, wie die Gewohnheit alle diefe Wir 
fungen hervorbringt, ift manchfaltig, ‘und in vielen Faͤl⸗ 
len zufammengefegt. - Die Gewohnheit beftehe in öfterer 
Wiederholung derfelben Handlungen oder Empfindungen, 
Dadurch entftehn . 


a) Veränderungen der Empfindungswerk⸗ 
zeuge. Es ift ausgemacht, daß in Abficht auf die aͤu⸗ 
Berlichen Werfzeuge der Empfindung, Augen, Ohren, 
u. ſ. w. einige Hebung und Bildung nöthig ift, um Ein 
drücke, fonderlich ſchwache, vollftändig, ſchnell und leicht 
aufzunehmen. Es ift alfo begreiflich, wie angenehme 
Beſchaffenheiten einer Sache bisweilen erft nach) ‚und 
nach merflich werden fönnen; nachdem die Organen ben 
Eindruck aufzunehmen gewöhnt worden find. So waͤchſt 
das Angenehme im Gefchmad des Waffers und dem Ge 

| €3 nuß 


*) Auch in Anſehung ber innern, ſelbſt der moraliſchen Ger 
hle, kann die Gewohnheit daſſelbe bewirken. Was 
einer anfangs nicht ohne Entſetzen oder Abſchen hoͤren 
konnte, lernt er erſt ruhig, dann gleichguͤltig, darauf 
mit einigem Vergnügen, ſehen, hoͤren, ſich vorſtellen, 
endlich thun. Allmaͤhlig bringt es der Menſch ger weit, 

im Boͤſen wie im Guten. | 


70 Buhl Mbfchnittl. Kapitel IL. 


nuß fimpler ungewuͤrzter Nahrungsmittel bey benen, bie 
ſich daran gewöhnen *). | 

Hingegen vermindern fehr flarfe Eindruͤcke die 
Reizbarkeit und Empfindlichkeit der Organen. Das 
Gehör wird geſchwaͤcht durch den Aufenthalt bey einem 
beftändigen ftarfen Getöfe; und Geruch, und Geſchmack 
eben alfo durch den Gebrauch higiger und ſcharfer Dinge. 
Was daher bey dem noch zarteren Gefühle zu ſtark an« 
griff, brennte, flach, befäubte; das etwaͤrmet, kitzelt, 
und rührt nur eben fo recht, nachdem die Organen ſtum⸗ 
pfer gemorben find, Wenn die Empfindlichkeit derfelben 
noch mehr abnimmt: fo kann eben deswegen auch das 
bisherige aufhören, angenehm zu ſeyn, gleichgültig wer⸗ 
den, Daher verlangen die unmäßigen Kebhaber des 
Tabafs, und der Higigen Getränke allmählig immer. 
ftärfere Sorten, 

b) Veränderungen in der Vorftellungsart und 
den Nichtungen der Aufmerffamkeit, Wenn außer 
fihe Eindrüde Ideen, und als ſolche wirffame DBe- 
weggründe im Wilfen werden follen: fo ift Richtung ber 
Aufmerffamfeit auf diefelben, Aufflärung und Belebung 
derfelben durch andere anpaffende Ideen noͤthig. Rolls 
fommenheiten und Unvollfommenbeiten werden alfo off 
nur nach und nach bemerkt, völliger, deutlicher, zuver- 
läffiger erfannt. Kingebildete Vollkommenheiten und 
Sehler, allerhand wichtige Werhäfeniffe fallen weg; wenn 
die mehrere Befanntfchaft mic der Sache bie erften übers 
eilten Urtheile benommen , die falſchen Vorſtellungen zer« 

ſtreuet 


*) Ulrichs Anleitung zu den Philoſoph. Miffenfchaften, 
b. II, ©. 392. N Y j , ; 


— — — 


Von den Wirkungen der Dinge auf den Willen. 7 


ſtreuet hat. Und die Gewohnheit macht alſo, daß man 
nicht mehr ſo an der Sache oder Perſon ſich irrt, nicht 
mehr fo einſeitig fie beurtheilet; und daher nicht mehr ſo 
beym Anblick derſelben afficirt wird, nicht mehr ſo gegen 
ſie geſinnt iſt, als vorher; daß Luſt, Gleichguͤltigkeit 
und Unluſt mit einander abwechſeln. Die Gewohnheit 
erzeugt 
0) Diſpoſition ber Bewegungskraͤfte und Werk: 
zeuge, und überhaupt Triebe und Fertigkeiten im Koͤr⸗ 
per und it der Seele. Dies ift gemeine Erfahrung, 
und liegt fchon in den Begriffen von Gewohnheit und von 
ertigfeit, Dadurch entftehn einmal ſchon viele fonder« 
are, ganz oder Halb unwillkuͤhrliche Handlungen; wenn 
ein Menſch entweder nicht Acht genug auf fich giebt, um 
die gewohnten Antriebe mit Gewalt zu verhindern; ober 
wenn er nicht Kraft genug befiget, diefe Antriebe und die 
damit verbundenen befchwerfichen Reise, auch wann er 
es gern wollte, aufzuhalten und zu überwinden. 
“+ "Sodann findet man ordentlicher Weife mehr Ver 
gnügen an bemjenigen, was man mit Leichtigkeit und 
Geſchicklichkeit verrichten fann, als an demjenigen, was 
einem Mühe macht, in Hauptgrund, weswegen alte 
Gelehrte nicht Teicht Reformen in ven Wiffenfchaften, 
oder nur eine andre Ordnung und Einfleidung der Ideen 
ſich gefallen laſfen. Bisweilen aber kann doch auch die 
gar zu große Fertigkeit in einer Sache Urfache feyn, daß 
man ihrer überdrüffig wird; teil die Seele zu wenig 
Befchäftigung dabey findet. Es geſchieht vielleicht nicht 
ohne viele Sefbftverfeugnung, und ohne die Vorftellung, 
daß das gemeine Befte es erfordere, wenn manche, ©e- 
lehrte 30, 40 Jahre, ein halbes Jahr nach dem andern 
| E44 die⸗ 


72 Bruch J. Abſchnitt 1. „Kapitel Il. . 


diefelbe Wiffenfchaft, ohngefaͤhr mit denfelben Worten 
und Benfpielen vortragen. Wenigftens giebt es andere, 
die es für weit angenehmer halten, jedesmal von neuem 
durch. frenes Nachdenken. und neue fectüre, zum Vor— 
trage fich vorzubereiten; als immer wieder Diefelben Hefte 
abzulefen, ober das auswendig gelernte mechanifch. here 
zufagen. 
= d) Eine Gewohnheit fteht oft mit. mehrern. andern 
in Verbindung: viele Einrichtungen, ein manchfaltiges 
Intereſſe gründet fi darauf. Defto ſchwerer ift es 
dann, davon abzulaffen.. . 

u Endlich aber gründen ſich die Wirkungen. ber 
Gewohnheit auf.bie Jdeenadfociation.. Was oft und 
lebhaft Vergnügen verurfacht, oder auch nur in naher 
Verbindung mit dem Vergnügenden geftanden hat, das 
bringe angenehme Gemuͤthsbewegungen, auch wenn jene 
Kraft. und jene Verbindung niche mehr iſt, noch oft ber» 
vor; und fcheint fie aus fich felbft herworzubringen, wenn 
die Vermengung der ehmaligen Eindruͤcke größer ift, als 
der Scharffinn, ober die Bemühung, das Gegenwaͤrti⸗ 
ge vom Vergangenen zu unterfcheiden, Empfindung von 
Einbildung abzufondern. So befeftiget die Zeit gefell- 
fchaftliche Verbindungen. Aber fo fuchen auch oft, der 
Veränderungen, die fi) mit ihnen zugetrogen haben, 
wneingebenf, Greife und Matronen in den Cirkeln, in 
denen fie ehemals es fanden, Vergnügen, und Fönnen 
eine Zeitlang fich noch einbilden, e8 da zu finden. Was 
einem Ehre und Wortheil gebracht hat, ändert man nicht 
gern; auch wenn die Umftände es erforderten, Je un» 
gegeigter man ift, dem Zufall, nicht feinen eigenen Ber» 
dienfien und Geſchicklichkeiten, jene Vortheile zuzuſchreiben; 

” N deſto 


Von den Wirkungen der Dinge aufden Willen. 73 


deſto gen eigter ift man, bie Art, wie man fie.erlangt hat, 
hochzuſchaͤtzen. Die Griechen wurden von den Roͤmern 
nach Montesquieus Urtheile uͤberwunden, weil ſie ihre 
alte Kriegskunſt nicht nach der Roͤmiſchen verbeſſerten. 
Aber fie konnten ſich nicht einbilden, ſetzt dieſer ſcharfſin⸗ 
nige Mann hinzu, daß die Regeln, mit denen ſie ſo große 
Thaten verrichtet hatten, nicht die beſten ſeyn follten *). 
Maͤnner und Frauen machen fid) lächerlich, indem 
fie glauben, durch Leichtſinn und Sebhaftigfeit noch, wie 
vormals, zu gefallen. — Was: einer ehedem aus Bes 
bürfniß that, thut er, wenn er es nicht mehr noͤthig haͤt⸗ 
te, aus Gewohnheit; weil in-feinen ungeläuterten Bote 
ftellungen die been ber. Nothwendigkeit und Müglichfeit 
mit den Ideen ſolcher Handlungen ſich einmal fuͤr aller 
mal verfnüpft haben. — Befonders.aber richtet die Ges 
wohnheit vieles aus, vermöge der Verbindung mit der 
dee von Uns und dem Unſrigen. Was lange um 
uns ift, ung lange angehörte, unfer Gefährte war in 
dem Saufe unferer Schickſale, unfer Werkzeug; erhält.da« 
durch in unfern Yugen einen größern Werth, und wird 
ungern vermißt, wenn es auch weiter feine Dienfte 
mehr thut. 
3) Vermoͤge ‚aller dieſer Urfachen muß die Mei» 
gung zum Gewoͤhnten um fo viel ftärfer. ſeyn; -je älter 
ee, — —— ſie 











*) Montmorency hatte, als ein zweyter Fabivs, durch feine 
Unbeweglichkeit in feinem Wertheidigungsplane Caris V 
gefährlichen Anſchlag auf Frankreich giuͤcklich vereitelt. 
Aber wenn er bey deſſen kuͤmmerlichem Ruͤckzug zur 
rechten Zeit ſich in Bewegung geſetzt haͤtte, wuͤrde er 

wahrſcheinlich deſſen gauze Armee vernichtet haben, 
Robertſon II. 403, 


74 Bucht, Abſchnitt "Kapitel, 


fie iſt; je weniger" Kraft 'man hat, in neue Vorſtel⸗ 
füngsarten fich hinein zu denken, neue Fertigkeiten ſich zu 
erwerben, neue Einrichtungen zu machen; je’ wichtiger 
bie Dinge find, oder fheinen, bie.man ändern, in An⸗ 
fehung derer man unwiſſend geweſen zu fern geſtehen 
müßte, ober je mehr berfelben find; "endlich je mehr 
gleichartige Benfpiele man auf feiner Seite hat. Denn - 
die Menge der übereinftimmenden Denfarten giebt immer 
Einige natürliche, wenn gleich oft truͤgende, Vermuthung 
der Wahrheit und bes Rechts, "Und alle diefe Urfachen 
hat man duch nöthig, um es begreifen zu fönnen, wie 
geroiffe‘, fo offenbar zweckwidrige, und fchäbliche, und 
oft genug öffentlich gerügte Gewohnheiten in der Rechts⸗ 
pflege, der Wirthſchaft, den religieuſen Gebraͤuchen, 
der Erziehung, und anderen menſchlichen Einrichtungen, 
Auch’ unter den gefitteten Völkern noch immer ſich behaus 
pten fönnen *). Wenn ein Benfpiel hiebey noͤthig feyn 
ſollte: ſo denke man doch nur an die Begraͤbniſſe in 
den Kirchen, und die Kirchhoͤfe in den Städten 


5 12. 
1 Reiz der Neuheit, 
Aus ben fo erdrterten Urfachen der Macht der Ges 


wohnheit iſt es begreiflich, wie auch die Neuheit viele 
| BGewalt 





) Bey rohen Voͤltern iſt bekanntlich die Antwort auf alle 
Fragen uͤber ihre Sitten und Gebraͤuche, Es iſt im⸗ 
mer ſo bey uns gebalten worden. ©, z. B. Rytſch⸗ 
kows Tagebuch ©. 96, Kranz Kiftorie von Groͤn⸗ 
land, I. 236. ar 








Von den Wirkungen der Dinge aufden Willen. 75 


Gewalt über die menfchlichen Gemuͤther haben, in fehr 
vielen Fällen eine Urfache des mehrerern - Wohlgefalleng, 
an einer Sache, ober überhaupt der ftärfern Wirkung 
derfelben auf den Willen feyn koͤnne. Einmal nämlich: 
trift nicht gerade alles Neue duf ein Gegentheil, das’ 
durch ‚die Gewohnheit: gefehüger wird, . Es kann eben 
daffelbe, was man bisher ſchon gefihäget Hat, aber in. 
einem vollkommenern Grade; es fann ihm ähnlich, aber 
doc) in einigen Stücken 'anders ſeyn. Undialsdaun find: 
die Gründe, aus denen der Reiz der Neuheit erwächfer, 
erſtlich die: $ebhaftigkeit des Eindruck, und zweytens die’ 
Ideenadſociation. Wenn etwas uns vorfommt, was 
neu; „aber doch’ dem Bekannten fo weit ähnlich iſt, daß 
wir eg gewahr zu werben, : und etwas baben uns zu den⸗ 
fen, vorbereitet genug finds fo. wird feicht durch: die 
Wißbegierde, vielleicht. auch durch Die Furcht und Hoffe 
nung, die Aufmerffamfeitgefchärft, ganz auf die Sache 
gerichtet;. und dies macht den Eindruck lebhafter. Sos 
dann fann man fid) vom Neuen, weil man es noch: niche 
genau kennt, auch leicht mehr einbilden, als wirklich dar⸗ 
anift, für nügficher oder ſchaͤdlicher es halten, als es 
nicht iſt. (3.4.12) 

Aber auch das Gegentheif von dem, was: Ger 
wohnbeit war, kann durch die Neuheit fich empfehlen, 
Denn die Urfachen , die der Gewohnheit ihre Herrfchaft 
über die menfchlihen Gemüther verfchaffen, wirfen nicht 
immer alle, und auf alle Menfchen fo ftarf, daß nicht 
die bereits angezeigten Gründe des Reizes der Meubeit, 

nebſt den weiter unten zu betrachtenden Trieben zur Ver 
änderung und zur Wirkfamfeit das Uebergewicht erlan⸗ 
gen koͤnnten. 
Viele 


76 Buch J. Abſchnitt I. Kapitel II. 


Viele Gewohnheiten ſind ihrer Natur nach veraͤn⸗ 
derlich; beruhen nur auf einer gewiſſen Nothwendigkeit, 
oder Geneigtheit, ſich nach andern zu richten. Wenn 
dieſe andern etwas Neues anfangen; ſo iſt eben dieſe Neu⸗ 
heit ein Grund der Nachahmung fuͤr diejenigen, die nicht 
gern altmodiſch, ſondern vielmehr die naͤchſten andern 
ſeyn moͤgen, die der Menge den Ton angeben. 

Neuerungen anzufangen, kann auch die Begierde 
ſich auszuzeichnen, als Erfinder Bewunderung oder doch 
Aufmerkſamkeit zu erregen, oder das Vergnuͤgen, uͤber 
die Gemuͤther anderer eine Art von Herrſchaft augquüben, 
manchen ein Antrieb:feyn, | 

Gleichguͤltigkeit gegen das Neue aber kann außer dem, 

. was bie Gewohnheit des Gegentheils thut, von: allzugro« 
Ger Unwiffenheit und Unempfinblichkeit herruͤhren, bey 
welcher die Eindrücke wegen Mangel der Aufmerkfamfeit 
nicht in die Seele dringen koͤnnen; oder. aud) von vieler 
Erfahrung und Wiſſenſchaft, vermöge deren man ben 
Undwerth, bie Fehler der Neuerungen , vielfeicht auch Die 
tabelhaften Abfichten ihrer Urheber. einfieht, oder doch bes 
fürchtet ; endlich auch vom Eifer für die obliegenden 
Gefchäfte, die alle Aufmerffamfeit, und alle Zeit, die 
man in feiner Gewalt hat, erfordern *)., 
— * §. 132 








— — — — — — — — — — 


5) Die Weltumſchiffenden Europaͤer haben ſich bisweilen ges 
wundert, wenn ſie bemerkten, daß ſie bey wilden Voͤl⸗ 
kern, mit ihren großen Schiffen, die ihnen doch wahr⸗ 
ſcheinlich zum erſtenmale zu Gefichte kamen, fo gar kei⸗ 
ne Aufmerkſamkeit erregten. Sie lernten aber bald ein⸗ 
ſehen, daß Mangel an Begriffen, die das Nachdenken 
erwecken koͤnnten, und Anfeſſelung an die niedrigſten 

thieri⸗ 


Von den Wirfungen ber Dinge auf den Willen. 77 
a 3. | 


Einfluß der bereits regen Begierden und Vorftellungen auf bie 
Wirkung entſtehender Eindrüde, 


Auf die Gewahrnehmung der Dinge und ihrer 
Eigenſchaften, und die Ausbildung der dabey entſtehen⸗ 
den Ideen und Urtheile, hat der Gemuͤthszuſtand, in 
welchem man fich eben befindet, einen manchfaltigen, 
oft fehr großen Einfluß. Denn nach der Verfchiedenbeit 
deffelben ift die Seele mit diefen oder jenen Borftellungen 
erfüllt. Man nimmt aber, wie die Erfahrung lehrt, 
dasjenige leichter gemahr, wovon entfprechende Vorftel- 
lungen der Seele bereits gegenwärtig find. Oft auch 
lieber ; in fo fern nemlich die Seele den Zuftand einiger⸗ 
maßen liebt, in dem fie ſich befindet; und alfo demjeni« 
gen, was damit übereinftimmet, gern, ungern aber dem 
Gegentheile ſich überfäffet, und ihre Aufmerkſamkeit dar - 
auf richtet. Ferner aber mifchen ſich in unfere Begriffe 
und Urtheile von dem, was uns vorfömmt, gar leicht 
Schlüffe ein, die ſich auf dasjenige gründen, was, ver⸗ 
möge unferer vorgefaßten Mepnungen, wir glauben, daß 
vorkommen müfle. Was wir ung, einmal feft eingebil- 
det haben, als gewiß vorausfegen, oder erwarten; das 
fönnen wir glauben zu fehen, zu hören, zu lefen, wo es 
doch nicht vorfömmt. Demnach muß der Zuftand bes 
Gemüths, und der damit verfnüpften, bereits ermecften 
oder leicht erweckbaren Borftellungen Urfache feyn, daß 

| die 








thierifchen Bedärfniffe die Urſachen davon waren. S. von 
ben Engellaͤndern an der Magellanijchen Mieerküfte, 
and bey Teubolland Hackeswersk I, 392. Il. 45. 


78 - Buhl. Abſchnitt J. Kapitel I. 


die Dinge zu einer Zeit anders afficiren, als zu einer an⸗ 
dern; den einen Menſchen anders, als den andern; 
und ſo lehrt es die Erfahrung. Wer bereits froͤhlichen 
Muthes und munterer Laune iſt, dem kann leicht alles 

Anlaß zum Scherz und Lachen geben. | 
| Aber alle Verfuche find vergebens , denjenigen auf 
lächerliche Verhältniffe aufmerffam zu machen und aufs 
zumuntern, der mit ernfthaften Dingen befchäftiget, ober 
von finftern Befümmerniffen durchdrungen if. In der 
Nacht fcheint oft einem Menfchen die Gefahr vor Dies 
ben, in der er und fein Haus fich befinden, viel größer 
zu feyn, als noch) nie bey Tage; er befchließt, andere Ein« 
richtungen zu einer mehrern Sicherheit zu machen; und 
denke nicht mehr daran, fie ins Werf zu fegen, fo bald 
das Tageslicht die bey der Dunkelheit und Stille der 
Nacht aufgeftiegenen Phantafien wiederum zerftreuet har, 
Nekromantiſten und Zauberer ermangeln nicht, durch 
fürchterliche Erzählungen und Erfcheinungen von ihren 
Anftalten und deren Wirkungen, die Imagination mit 
folhen Bildern zu eofuͤllen, als bie nachfolgenden Era 
fheinungen erfordern. Und der auf diefe Weife eingen 
hommene Zufchauer glaubet dann vieles zu fehen, was er 
nicht ſieht. Eben fo verfähre man mit denjenigen, die 
zu betrügerifchen Geheimniffen eingeweiht werben follen ; 
deren Diät auch außerdem noch fo eingerichtet wird, daß 
die Kräfte der äußern Sinne geſchwaͤcht, und beym 
Schlummer verfelben die Traumbilder um fo viel lebhaf⸗ 
ter werben koͤnnen. Kömmt noch zu den aufgefangenen 
Einbildungen der Wunfch, wirklich zu erfahren, was man 
nur bishero von andern gehört, oder gefefen hat: fo kann 
die Taͤuſchung um fo viel ungebinderter von Starten gehn, 


Von den Wirkungen der Dinge auf den Willen, 79 


da fie feiner Unterfuchung ausgefegt if. Jede gemeine 
Dirne kann alsdann zur Nymphe oder. Prinzeffinn; und 
Wirthshaͤuſer Fönnen zu Schlöffern werden. Es ift in 
der Geſchichte der Don Quirotte und Don Silvio nichts 
als die Dauer der Täufchung, oder nicht viel mehr, völlig 
außerhalb der Wirklichkeit, | 

Auf den Zuftand, in dem ſich ein Menfch befin. 
det, koͤmmt es aber auch an, in Ruͤckſicht auf die Bedürf⸗ 
niffe deffelden. Denn wenn wir den Werch der Dinge 
nach dem Vergnügen fihägen, das fie uns verurfachen, 
und dem Ungemache, von. dem fie uns befreyen; fo müfe 
fen fie ung um fo viel vortrefflicher fcheinen, je größer dag 
Beduͤrfniß ift, dem fie abhelfen. | 

So wird oft auf einem einfamen Dorfe, eber auf 
dem Poſtwagen, derjenige ein angenehmer Gefellfcyafter, 
deſſen Umgang in einer Stadt unausftehlich feyn würde, 
Was würde erft auf einer verlaffenen Inſel gefchehen, 
auf welcher man “Jahre lang Feine Menfchen geſehen haͤt⸗ 
se! Seefahrern, die viele Monathe Fein and erblickten, 
fcheinet ein mittelmäßiges Sand, das fie zuerft wieder be⸗ 
freten, ein Paradies zu feypn. Go bem damaligen 
Eommodore Byron, die nad) anderer Befchreibungen 
feinesweges fo reizenden Inſeln Tition, und Juan 
Fernandez, Und Cook's Reiſegefaͤhrten fchien Neu 
ſeeland, nachdem fie vier Monate in der Südfee herum 
gekreuzt hatten, beym erften Anblick eine der fehönften 
Gegenden-zu feyn, welche Die Natur ohne Kunft aufwei- 
fen Eönnte *). Einem Gelehrten ſcheint das Buch, 





) S. Forfırı Voyige l, 124. 


80 Buch 1. Abſchnitt 1. Kapitel I. 


welches ihm zuerſt gewiſſe Auffchlüffe giebt, und bey ſei⸗ 
nen Unterſuchungen behuͤlflich iſt, deswegen oft lange 
nachher noch das beſte in ſeiner Art zu ſeyn, ob er gleich 
andere hat kennen gelernt, die beſſer ſind; aber er empfin. 
Dec nicht gleich viel Gutes dabey. 


N $. 14. 
Gom Einfluß der Schwierigkeiten, Hinderniffe und Verbote. 


Unter die den Eindrud der Dinge auf den Willen 
»eränbernden Umftände gehören endlich auch die Schwie⸗ 
rigkeiten und. Hinderniſſe. Oft nämlich benehmen fie 
die Begierde nad) einer Sache; oft aber vermehren fie 
diefelbe, - Wie erfteres gefchehen koͤnne, ift leicht zu be« 
‚ greifen. - Wenn an einer Sache einem gar nicht viel ges 
legen iſt, fo giebt man ſich um ihrentwillen nicht gern vies 
se Mühe; zumal wenn man glaubt, daß alle Mühe ver⸗ 
geblich, daß die Hinderniffe unüberwindlich feyn würden, 
Wenn aber durch Hinderniffe und Schwierigfeiten, des⸗ 
gleichen durch Verbote und Widerfegung anderer, die 
Begierden vermehrt werden: fo lehret Die Unterfuchung, 
daß folgende Urfachen einzeln, ober zufammen dabey 
1) Die nicht befriedigte Seele hänge. immer an 
dem Gegenſtande; fie will das geliebte Bild fich näher 
bringen, will die Vorftellung in Empfindung verwandeln, 
Dadurch belebt fie den Eindruf immer mehr, arbeitet 
die Theile hervor, arbeitet fie aus, durch Reize, die fie 
aus ben Schägen der Einbildungsfraft hinzufegt; und 
verſchafft alſo der Jeidenfchaft neue Nahrung. Ohne dies 
fen Aufſchub, ohne das Hinderniß, würde fie nicht fo 

beftig 


Bon den Wirfungen der Dinge auf den Willen. 81 


heftig geworben ſeyn. Einige beträchtliche Stärfe muß 
fie doch ſchon gehabt haben, um auf dieſe Weiſe zu 
wachſen. 

2) Das Bewußtſeyn der Ohnmacht iſt unange⸗ 
nehm. Sicegen zu koͤnnen über Schwierigkeiten und 
Hinderniffe, über Verbot und Widerfegung, ift eine rei« 
zende Vorftellung. Frey und unabhängig zu feyn, muß 
der Menfch wünfchen,, in fo fern er feine Gluͤckſeligkeit 
in der ungebinderten Befriedigung feiner Begierden feet. 
Siehe da einen neuen Antrieb zur Vermehrung der Bes 
gierde, der fi) etwas widerſetzt! 

3) In manchen Fällen vermehrt das Verbot die 
Borftellung von dem Werch der Sache, weil aus vielen 
ähnlichen Fällen die richtige oder falfche Meynung ent 
ftanden ift, daß aus Eigenfinn, Unmiffenheit, Eigen. 
nuß, viel Gutes verhindert imd verboten werde. In 
manches Kindes Seele fönnte diefe Meynung wohl wirffam 
feyn; nicht nur weiles die Kinder in ihrer Leidenſchaft und 
Unwiſſenheit fehr oft nicht begreifen Eönnen, daß die Be⸗ 
fehle, durch die man fie einfehrenfen will, gerecht und 
nothwendig find; - fondern — meil fie es fehr oft wirklich 
nicht find. Offenbar aber ift dies der Fall, in Anfehung - 
verbotener Bücher in den Sändern, wo unmiffenden, - 
herrfchfüchtigen ober eigennügigen $euten die Cenſur 
uͤberlaſſen iſt. 

4) Noch kann die Beharrlichkeit bey eutflehen: 
ben Hinberniffen und die Verdoppelung des Eifers da- 
ber aud) entſtehen, daß man das viele, was man bereits 
gethan hat, nicht will umfonft gethan haben; daß man 
einfieht, das einzige Mittel, zu machen, daß man nicht 
für alle aufgewandte Zeit und Koften, für alle feine Ber 

Erſter Theil. F ſchwer⸗ 


82 Buch 1. Abſchnitt J. Kapitel IM. 


ſchwerden und Hoffnungen, Spott und Verachtung ein« 
erndte, ſey, nicht nachzulaſſen; und für beſſer hält, das 
legte zu wagen, als einem gewiſſen Elende ſich fo fort 
preiß zu geben. Solche Betrachtungen unterftüßten und 
trieben die Columbos, Pizarros und Almagrod ben 
ihren aus dem gemeinen Maafe der menfchlichen Kräfte 
und Entſchließungen freylich unbegreiflichen —. 
mungen. 


Kapitel II. 


Bon einigen Neigungen und Trieden, die 
am tiefiten in der menfchlihen Natur 
gegründer zu ſeyn ſcheinen. 


SH 15 . 
Grundbegriffe vom Triebe zum Vergnügen, der — 
Eigennuͤtzigkeit, Eigenliebe und Selbſtſucht. 


Die oben (6. 7.) angemerkten Grundgeſetze des Wol⸗ 
lens zeigen, und jedwede Beobachtung beſtaͤtiget es, daß 
der Menfchnie, in feinem einzigen Falle, feinen Verdruß, 
Schmerz, Elend, Mifvergnügen, an fich betrachtet, be« 
gehre. Vielmehr ſucht erden, fo viel möglich, auszuwei - 
chen. Schmerzloſigkeit und Vergnuͤgen, Zufriedenheit 
und Wonnegefuͤhl ſucht er. So oft er abſichtlich etwas, 
und in Rücjicht auf ſich felbft begehrt: fo ift es, um 
Vergnügen davon zu haben, vom Schmerz, Unmuth, 
dadurch befreyet zu werden. : Ja wenn er auch ohne 
| beutfiches Bewußtſeyn feine Antriebe, fe Abſichten/⸗ 
—9203 —— "begehrt 


. Bon einigen Neigungen und Trieben. 83 
begehrt ober verabfcheuer: fo läßt fich doch nicht anders 


fagen, als daß er allemal entweder ein unangenehmes 
Gefühl fic) zu benehmen , oder ein angenehmes zu erhal⸗ 
ten ſich beſtrebe. Diefemnady wäre nicht zu leugnen, 
daß der Trieb zum Vergnügen für den wefentlichen und 
allgemeinen Trieb des menfchlichen Willens angenommen 
werben müffe. Und wenn die Clückfeligkeit in der Zur 
friedenheit und dem Genuß dauerhafter Vergnügungen 
befteht: fo ift auch der Trieb zur Gluͤckſeligkeit als ein 
folcher wefentlicher und allgemeiner Trieb anzufehen. 
Wenn ferner Selbftliebe nichts anders heißt, als 
Beftreben nach) eigener Wohlfahrt: gleichwie Wohlgefal . 
len an jemandes Gluͤck und Wohlſeyn, und Geneigtheit, 
folhesfzu befördern, Siebe heißer: fo ift aud) dieſe in je» 
nem. Triebe zum Vergnügen enthalten, und zu den 
wefentlichen Grundſtuͤcken der menſchlichen Natur zu 
rechnen. 
Nach den gegebenen Erklaͤrungen kann dies nun 
nicht fo verſtanden werden, als ob irgend eine Idee von 
feinem Selbft und deffen Wohl, von Gluͤckſeligkeit, oder 
auch nur von Vergnügen, bie erfien Aeußerungen der 
menfchlicdyen Willenskraft verurfache; oder als ob jabe 
nachfolgende Gemuͤthsbewegung, ober wohl gar jedwede 
unmwillführliche Fraftäußerung, durch diefe abgezogenen 
Ideen erweckt würde. Sondern nur fo viel wird damit 
behauptet, daß die naͤchſten Gegenftände des menſch⸗ 
lichen Wollens foldye innere Zuſtaͤnde feyn, die einzeln 
den Namen bes Wohlbefindens, bey einer gemwiffen Menge 
den Namen ber Glückfeligfeit erhalten; daß der Wille 
des Menfchen fo geartet fey, daß vermöge feiner wefent- 
lichen Nichtungen und — ‚ Trieb zum Ver: 


gnuͤ- 


84 Buhl. Abſchnitt l. Kapitel. 


’gnügen, zur Glücfeligkeit, Selbftliebe, menigftens als 
Hauptanlagen demfelben beygelegt werden müffen. Daß 
Menfchen oft thun, mas ihnen fdyädlich ift, daß biswei⸗ 
len einer, wie es ſcheint, vecht vorfeßlich dem Vergnügen 
ausmweicht, und dem Schmerz ſich überläfit; beweiſet 
nicht das Gegentheil hiervon. Es bemeifet allemal, bey 
genauerer Unterfuchung, nur, daß nach der verfchiedenen 
Vorſtellungsart, durch eirifeitige Beobachtung, Vorur— 
theile und fonderbare Ideenadſociation, einem als guf, 
als ein geringere Llebel vorfommen Eann, was andern, 
nach richtigerer Beurtheilung, ein unnöthiges Uebel zu 
ſeyn fcheinet. Es bemeifet, daß die Liebe zu ſich felbft, 
wie jedwede andere Liebe des Menſchen, bisweilen blind 
ift; und daß die Grundtriebe der menfchlichen Natur 
$eitung und Ausbildung der Vernunft nöthig haben. 

„ Aber man muß auch'niche mit der Selbitliebe für 
einerley halten, Eigennüßigfeit und Eigenliebe; ob 
dies gleich leicht zu begreifende, doch nicht nothwendige 
Folgen derfelben find. igennügig wird in der gemöhn- 
lichen Sprache nur derjenige genannt, ber auf eine ges 
mein ſchaͤdliche Weife durch die Vorftellung feiner Vor— 
theile getrieben wird; öfter, als er follte, diejelben vor 
Augen. hat, und daher, aus Großmuth, Danfbarkeit, 
Mitleiden und andern edlen gemeinnügigen Trieben zu 
handeln, unfähig wird. Begreiflich ift es nun wohl, wie 
beym Mangel der Empfindlichkeit gegen die feinern Ver 
gnügungen des Stiftes, bey engebrüftiger Sorge für ſich 
ſelbſt, und furzfichtiger Schägung der Handlungen, die 
tiebe zu fich ſelbſt in Eigennügigfeit ausarten koͤnne. 
Aber ihre wefentliche Beſtimmung ift es nit; nicht ben 
allen Menfchen nimmt fie diefelbe at... Und bey gewiffen 
: | Vor - 


Von einigen Neigungen und Trieben. 85 


Vorausſetzungen in den Gefuͤhlen und Denkarten muͤſ⸗ 
ſen eben ſo nothwendig jene edlern Triebe aus der Selbſt⸗ 
liebe entſtehen, oder doch Nahrung von ihr ziehen. Am 
allerwenigſten aber kann man, ohne den gemeinſten Er. 
fahrungen zu widerfprechen, fagen, daß alle Handlungen 
und Gemüthsbewegungen der Menfchen aus diefer Ei. 
gennügigfeit abftammen; da fo viele urfprünglicy narür. 
liche Gefühle, ohne alle Ideen von nüglichen Folgen der 
Handlungen, Triebfedern diefer Handlungen und Grün. 
de von Gewohnheiten und. Fertigkeiten find. $ange hat 
ja fchon der menfchliche Geift fich wirffam bewiefen, ebe - 
eine Idee vom Mugen in ihm ift, und Abfichten die 
Richtfehnur feiner Handlungen abgeben fönnen. 

Eine andere fchädliche Frucht der Selbſtliebe ift 
die Eigentiebe, ober die übertriebene Achtung und Be- 
wunderung feiner eigenen Perfon und Handlungen» Sie 
entſteht leicht aus. der Selbftliebe, weil man geneigt ift, 
das zu glauben, was einem angenehm ift; geneigt ift, 
bey denjenigen feiner Eigenfchaften und Handlungen mit 
feiner Aufmerffamfeit ſich aufzuhalten, die einem, als 
näglich oder als unmittelbar angenehm, Vergnügen ges 
ben. Aber fie ift gleichfalls nicht allgemein, und nicht 
nothwendig die Folge der Selbſtliebe. Vernuͤnftige 
Selbſtliebe widerſetzt ſich derſelben; befiehlt, daß man, 
um wirklich vollkommen zu werden, ſich nicht mit ver. 
größerten Vorſtellungen feines Werthes fchmeicheln ‚noch 
zur unbilligen Herabſetzung anderer verleiten laſſen müffe. 
Es giebt fehr viele Arten der angenehmen Empfindungen; 
fo vielerley Quellen der Empfindungen es überhaupt 
giebt, fo vielerley Arten der aͤußerlichen Gegenftände es 
giebt, Denn ſchwerlich wird von einer derfelben be- 

5 3 0 bauptet 


86 Buhl. Abſchnitt . Kapitel III. 


hauptet werden fönnen, daß fie nicht, in irgend einem 
Verhaͤltniſſe angenehm auf das menſchliche Gemuͤth zu 
wirken, im Stande ſey. Man urtheile hiernach, wie 
weitlaͤuftig der Wirkungskreiß der Selbſtliebe, des 
Triebes zum Vergnuͤgen und zur Gluͤckſeligkeit iſ. Und 
wenn nicht alles mit einer anziehenden Kraft auf dieſe 
Willenstriebe wirkt: ſo erweckt es ſie doch zum Entgegen⸗ 
ſtreben und zu Bemuͤhungen, auszuweichen, und in einen 
andern Zuſtand ſich zu verſetzen. 

Dennoch iſt man noch nicht berechtiget, die Selbſt⸗ 
liebe fuͤr den alleinzigen Grundtrieb des menſchlichen 
Willens, oder auch nur aller freyen und uͤberlegten Hand⸗ 
lungen, anzugeben. Hierzu ſind noch mehrſeitige und 
genauere Unterſuchungen erforderlich. 

| Schon aber ift offenbar, daß nicht Eigennügigfeit 
und Eigenliebe, oder wie fie mit einem Mamen aud) ges 
nanne werden, Gelbftfucht, das Grundwefen des 
menfihlichen Willens ausmachen. Und dies foll gleich 
noch weiter erheflen. 


"& 16 Ä 
Mon der Sympathie. Grundbegriff. Spaͤter Anfang der voll⸗ 
ſtaͤndigen Bemerkung dieſes Naturtriebes. 

Der Urheber der Natur hat dafuͤr geſorgt, daß 
es ung wenigſtens fo leicht nicht iſt, als es die Selbſt- 
ſucht mwünfchen Fönnte, ‚unempfindlich und unthätig zu 
bleiben, ben jedweden Zuftänden und Angelegenheiten 
unferer Mebengefchöpfe, und fonderli der Menfchen. 
Fremde Empfindungen theilen fih uns mit, wenn fie 
m ch unfern Sinnen, oder auch nur der Einbildungskraft 

(ebhaft 


Bon einigen Neigungen und Trieben. 87 


lebhaft vorftellen. . Dies ift die Sympathie oder das 
Mitfuͤhlen; eine der wichtigften Eigenſchaften der 
menfchlihen Natur, deren genauere Erfenntniß in der 
Wiffenfchaft vom menfchlichen Gemuͤthe eben fo vjel Licht 
anzündet, als Die Bemerkung der Geſetze der natuͤrlichen 
Folge und Verknuͤpfung der Ideen in der Wiſſenſchaft 
vom menſchlichen Verſtande. 

Die Gemuͤthsbewegungen, bie dieſes Triebwerk 
unſerer Natur veranlaſſet, entſtehen fo häufig in einem 
jeden Menſchen, daß ſich wohl nicht vermuthen laͤſſet, 
daß irgend einem Beobachter der menſchlichen Seele die 
Sache gaͤnzlich hätte verborgen bleiben ſollen. Und frey⸗ 
lich hat man auch von jeher nicht nur einen wichtigen 
Zweig des Mitfuͤhlens, naͤmlich das Mitleiden, zu den 
merkwuͤrdigen Eigenſchaften menſchlicher Gemuͤther ge⸗ 

zaͤhlt; ſondern noch manche der andern Wirkungen deſ⸗ 
felben find von Dichtern, Rednern, Geſchichtſchreibern 
und Philoſophen in jedwedem forſchenden Zeitalter haͤufig 
angemerkt worden. Nur den Zuſammenhang und den 
gemeinſchaftlichen Grund der mehreren Erſcheinungen ſa⸗ 
he man nicht gehoͤrig ein. Und ſo lange dieſes nicht ge⸗ 
ſchah, konnte man auch das Verhaͤltniß der Sympathie 
zu den uͤbrigen Trieben der menſchlichen Natur nicht 
richtig ſchaͤten. Mur dann koͤnnen wir fagen, daß mir 
das Syſtem der Natur verftehen; wenn wir die mannig« 
faltigen Veränderungen in ihrer" Verfnüpfung mit ges 
meinfchaftlichen Urfachen, in ihrer Uebereinftimmung 
mit denfelben allgemeinen Wirkungsgefegen, und diefe 
Geſetze und Urfachen in ihrer allfeitigen mweitern Abhän«- 
gigkeit und. Unterordnung haben fennen; lernen. So 


lange wir dieſes nicht vermoͤgen, wiſſen wir noch immer 
F 4 J vieles 


* 


88 Ruh. Abſchnitt J. Kapitel HI. 


vieles nicht zu reimen. Es ſcheint uns ſonderbar, wo 
nicht widerſprechend, weil wir es in andern Beziehungen 
betrachten, als in denen es die Natur bewirkt. Unſere 
Schluͤſſe und Erwartungen betrügen ung; weil wir noch 
nicht alle Umftände verftehen, auf die es anfommt. 
Der Schritt von der Bemerfung einzelner Eigenfhaften 
und Erfcheinungen zur Bemerkung des allgemeinen Wirs 
fungsgefeges und der Grundfraft, fo unerheblich er aud) 
Unmiffenden fcheinen kann, ift daher i in den Wiſſenſchaß⸗ 
ten von groͤßter Wichtigkeit. 


Der Kenner moraliſcher Wiſſenſchaften wild diefe 
Erinnerung in Anfehung felbiger für eben fo gegründet 
halten, als fie es in Anfehung der Phyſik ift, und fie in 


der $ehre von der Sympathie eben fo oft beftätiget finden, 


als in Hinficht der von Neuton arigegebenen ——— 
gefeße. | 
Sch Eenne feinen Schriftſteler vor Hutchelon, 

der mit dem Worte Sympathie den ‚vollen deutlichen 
Degriff verfnüpft, oder unter irgend einem andern Na⸗ 
men ihn aufgefaßt und angegeben hätte, ben die Mora⸗ 
liften igt damit verfnüpfen. Die nahefommenden Bes 
deutungen, bie daſſelbe Wort- unter Griechen und Roͤ⸗ 
mern bisweilen hatte, merft er felbft dabey an.*). 
Nachher Be mehrere Engländer ‚ befenders. aber. 
Shmith, 











*) Einiges iſt au angemerft in meinen Exereit, de fenfu: 
internd, Goett. 1768. Wie felten ift nit noch ims 
mer ber Gebrauch des Wortes Mitfreude in Vergleis 
bung mit dem des Mitleidens? Sollte ſich wohl das 
erſtere Wort bey den Schriftſtellern des vorigen Jahre⸗ 
hunderts oder zu Anfang des gegenwärtigen finden ? 


Von einiden Neigungen und Trieben. 89 


Shmith, die Beobachtungen über — Deterie ver· 
vielfaͤltiget und geordnet. Po: 


§. 17. 
Umfang ihrer Wirkungen. 


Die genauere Auseinanderſetzung biefer wichtigen 
Gemüthseigenfchaft beruht auf folgenden Puncten: 
1) Wie das unangenehme Gefühl überall unſer 
Nachdenken am meiften erweckt — nur beym $uftgefühl 
koͤnnen wir ung der Einwirkung unthätig überlaffen — fo 
zeichnet fich freylich auch bey den durch die Sympathie ung 
erregten Gefühlen das Unangenehme am leichteften aus, - 
Alle Menſchen haben daher einen Begriff vom Mitlelden; 
wenn fie auch Die übrigen Arten des Mitfühlens noch nicht 
bemerfe haben. Unterdeſſen überzeugt man ſich bald, 
wenn man nur erſt aufmerffam gemacht ift, daß Die ale 
lermeiften Gemüthsbervegungen auf eben die Weife erregt 
werben Finnen, wie Schmerz und Berrübniß beym Mit 
feiden, daß der Anblick eines fachenden, ohne daß uns 
die Urfache feines Lachens mitgetheilt ift, zum Mitlachen, 
oder wenigftens zur lächelnden Miene reizen kann; eben 
ſowohl als der Anblick eines Weinenden ernftbaft, wo 
nicht traurig uns macht. Das fagt Horaz uns fchon *). 
Heiterkeit und guter Muth eines einzigen ftimmt oft eine 
ganze Gefellfchaft zu ähnlichen Gemüthszuftänden um; 
nicht durch Vernunft und Beweggründe, ſondern durch 
55 | Mit— 





* UVOt ridentibus ‚areident; ita Aentibus adfient bumani 
vultus, 


90: Buch 1. Abfchnitt IL: Kapitel I: 


Mittheilung feiner Ruͤhrung *). . Eben fo werbreitet 
fid) die Miene der Furcht, die Miene des; Schredens 
und Entfegens; wenn auch nur auf der Scene ber 
Schaufpieler, Garrif als Hamlet vor dem Gefpenfte, 
in vollen Ausdrücken deffelben auftrie. Wenn wir einen 


Menfchen unter einer ſchweren daft niedergedruͤckt, oder 


langſam ſich fortziehend ſehen muͤhſam fi ſie in die Hoͤhe 
hebend, indem er kaum noch den Widerſtand derſelben 
überwindet ; wennwir ihn in ein enges Kleid eingepreßt, nicht 
fähig des frepen Gebrauchs feiner eigenen Glieder ;. wenn 

mir ihn beym Wortrage feiner Gedanken in einer großen 
Verſammlung ängftlich die. Worte herauspreſſend, ſtot · 
ternd und verwirrt vor ung ſehen; wie gedruͤckt, wie ges 
preßt, wie beklemmt fuͤhlen wir uns ſelbſt dabey l Aber 
wenn einer mit Leichtigkeit alles verrichtet, als ob es ihm 
gar keine Muͤhe mache, ob es wohl Kraft und Aufmerk⸗ 
famfeit erfordert; ſo iſt es uns, als-ob wir in einenz 
leichtern Fenent lebten, als ob alle unfere Kräfte — 
waͤren. 

Age kennt den Ausdruck, Minen d 
Ueberredung, ober. uͤberredende Mienen; und 
dermann, der Beobachtungen barüber nk 
wiſſen, daß durch dieſen * der Ueberzeu 





* irren: einer ſolchen fompathetifchen foll ein 
nicht befonders wißiger Einfall des Annibals vor ber 
Schlacht bey Sannd, der den Umftehenden Lachen erregs 
te, Muth unter der ganzen Armee verbreitet haben. 
Plutarch im Leben des Fabius. 


Von einigen. Neigungen und Trieben. 91 


Der hohe Grad der Ueberredung, der durch die 
Sebhaftigfeit der Vorſtellungen alle Triebfedern in eine 
Art von Aufruhr bringe, die Schwärmeren theilt ſich 
Gemürhern, die ihrer Empfindlichkeit ſich überlaffen, 
um fo viel leichter mit, je größer die Gemalt ift, mit 
der fich diefer Zuftand ausläßt. Ja es follen auch folche 
Perfonen vom fehmärmerifchen Parerismus durch den 
bloßen. Anblick der Begeiſterten bisweilen feyn ergriffen 
worden; die nur in ber Abficht fic) an der Thorheit Ju 
beluftigen gefommen waren, und fid) durch vorgefaßte 
Urtheile völlig dagegen verwahrt glaubten. Wie die res 
ligieuſe und politifche, fo foll aud) die verliebte Schwaͤr⸗ 
merey wegen ber Sympathie anfteckend feyn. 

2) Diefe äußerften Wirkungen der Sympathie 
auf die Gemuͤther befremben weniger, und es geht eini« 
ges Licht auf für die Unterſuchung ber natürlichen Gründe 
derfelben; wenn man hierbey an die Förperlichen hefti⸗ 
gen Zufälfe fich erinnert, die nicht felten durch den bfo- 
ßen Anbli eines andern, der ſich darinn befindet, ent« 
ſtehen. Oft eräugnet ſich diefes mit. der. Epilepfie, und 
die Gefchichte der Harlemfchen Waifenkinder, bey 
denen diefe Kranfheit auf ſolche Weife fürchterlich um 
ſich griff, bis Boerhave fich der Imagination durd) an- 
dere ftärfere Eindrücke bemächtigte *), giebt insbefonde« 
‚te. einen deutlichen Beweis von der Faͤhigkeit unferer 
Natur, durch die Mittheilung äußerer Ausdrüce innerer 
Erfchütterungen in diefe gleichfalls verfegt zu werden. 

Es gehoͤren nicht weniger hicher die Benfpiele der⸗ 
jenigen Perfonen, die nicht ohne die heftigfte Erſchuͤtte- 
e — — rung 


— — 








*) S. daͤckert von ven Leidenſchaften 6.7. 


9% Buhl Abſchnitt I. Kapitel IL 


tung jemanden fönnen hinrichten fehen. Einige fallen in 
Ohnmachten daben; andere erblaffen, wenn fie auch nur 
das Blut eines Thieres fließen fehen. Die gemeinern 
Erfahrungen von faft unmiderftehlichem Trieb zum Gaͤh⸗ 
nen, wenn andere e8 mehrmalen thun, von den’ innern 
ähnlichen Bewegungen, die man verfpührt, nnd die man 
öft kaum zurück behalten kann, wenn man Geiltänzern 
oder andern lebhaften Bewehungen zuficht, dürfen hier 
gleichfalls nicht unbemerft bleiben. . Sonderbarer ift die 
Geſchichte, die Malebranche erzähle, von einem 
Mädchen, welches das Licht hielt, indem einer andern 
Derfon die Ader geöffnet wurde, und in dem Augenblick, 
da der Einfchnitt gemacht ward, einen heftigen Schmerz 
an derfelben Stelle ihres Fußes empfand, fo daß fie fich 
einige Tage im’ Bette halten mußte *). \ 
| | | Ä | 3) Nicht 











— 
*) la Roche de la verité liv. II, part, I. ch. VII. Ein 
fehr befonders Phänomen, welches vielleicht die Außers 
flen Wirkungen ber Sympathie beweifen würde, wenn 
man dieſe anfcheinende Urfache für richtig annehmen 
dürfte, ift, was in dem Extracte der Nachrichten 
von den Berlinfdyen Armenanflalten im J. 1776. 
bemerft wird; daß von den zum Gottesdienft mit dens 
- jenigen in dem Irrenbauſe, bie in lichten Zwiſchen⸗ 
raͤumen noch religieufer Erfenntniffe und Uebungen fäs 
big find, gebrauchten Predigern zween kurz nach einans 
ber fich bey dieſem Geſchaͤffte eine Schwähe bed Vers 
flandes zugezogen. Weßwegen man bie Veränderung 
gemacht, daß nun bie Präceptores aus dem Friedrichs⸗ 
bofpital wechfelsweife ben Gottesdienſt beſorgen. — 
Wenn man au annehmen wollte, daß durch gingezoges 
ne Ausdünftungen die Anftedung geſchehen; fo wäre das 
Phänomen noch merkwürdig, und ber Geſchichte ber 
Spmpathie nahe, Allein bey fo feltenen Beyfpielen, 
und vielen vom Gegentheil laͤßt fi überhaupt noch 
nicht wohl fließen. — 


— — — — 


Bon einigen Neigungen und Trieben. 93 


3). Micht nur, die Empfindungen wirflich vorhans 
bener Perfonen theilen fih) uns mit; fondern es fann 
aud) die Sympathie für dasjenige, was nur der Einbils 
dungskraft gegenwaͤrtig „ift, ſehr heftig erregt werden. 
Die bloße Erzaͤhlung von großen Leiden, die bloße Be— 
ſchreibung einer ſehr ſchmerzhaften Verletzung oder chirur⸗ 
giſchen Operation greift einige Perfonen fo empfindlich an, 
daß fie es nicht aushalten Finnen. Stellen wir uns in 
Gedanfen. das Leiden eines rechtfchaffenen Vaters vor, 
der feine unfchuldigen Kinder im Mangel ſchmachten, 
den langfamen Tod. des Hungers fterben fieht,. fein be- 
flommenes Herz, feine mit ber Verzweifelung, mit Ans 
ſchlaͤgen zu Verbrechen 'ringende Seele; dann einen Net. 
ter, einen Engel der Borfehung, der die Armuth ent— 
beit, dem Mangel abhilft, das erfte Verbrechen eines 
Tugendhaften verhindert, $eben und Freude in eine gans 
ze Samilie bringe! Wer Ffann es fich vorftellen, ohne 
die Abwechfelung von Freude und Beflemmung in fich zu 
fühlen! Selbſt erbichtete Vorftellungen Eönnen ung ſym⸗ 
pathetifche Gefühle erwecken. Die Schickſale, Hand« 
lungen und Empfindungen. fremder Perfonen, nicht une 
fere eigene, find es, wodurch der Dichter die heftigften 
Gemürbsbewegungen hervorbringt; . felbft wen man es 

weiß, daß die. Scenen erdichtet find, 

4) Am leichteften und flärfften fpmpathifiren wir 
mit dem, was unferer eigenen Natur am äbnlichften iſt, 
mit Menſchen, die, in Anfehung des Alters, Standes, 

Schickſals und Gemürhscharacters ung riahe fommen. 
Ueberhaupt erſtreckt ſich aber doch die Sympathie viel 
‚weiter, und macht uns nicht nur gegen Freude und Lei⸗ 
den aller Menfhen, ſondern auch gegen bie — 


94 Buche. Abſchnitt 1. Kapitel M. 


Zuſtaͤnde vernunftlofet Geſchoͤpfe empfindlich. ja es 
iſt nicht ohne Grund, wenn Hane *) dies ſogar bis auf 
die lebloſen Gefchöpfe ausdehnt, in der Bemerkung, 
daß wir mit dem Steigenden ſteigen, und mit dem Sin⸗ 
kenden ſinken. 


6. 18. 


Micfern die Sympathie unmillfährlich ift, und mie fie von der 
Willkuͤhr abbänge? . 


Daß biefe fompathetifchen Gefühle nicht ganz 
von unferer Willkuͤhr abhaͤngen, daß ſie nicht bloß daher 
ruͤhren, daß wir aus Vorſatz oder Gewohnheit, die der 
Vorſatz erzeugt hat, uns an die Stelle des andern will⸗ 
kuͤhrlich fegen, und durd) Vorftellungen ung eben die Ge 
fühle zu erregen fuchen, in denen ſich der andere befinder; 
dieg feßt die Beobachtung-gar bald außer allen Zweifel. 

So unmilltührlich als der Echmerz, den ein fallender 
Stein oder ein Schlag uns felbft verurfacher,, iſt oft das 
Gefühl, das beym Echmerz eines andern uns ergreift. 
Tprannen, die weit davon entferne find, fich felbft zum 
Mitleiden zu erwecken, müffen bisweilen Thränen vergie- 
Ben über das Seiden änderer. iner derfelben war fihs 
fo ſehr bewußt, daß es nicht mit feinem guten Willen _ 
geſchah, daß er die Schaufpieler, die ihn dazu gebracht 

hatten, dafür ftrafte **) Oft meinen Kinder mit, 
wenn fie andere weinen fehen; ohne eine Urfache zu wife, 

ſen, 


) Grundſaͤtze der Kritik, Th. J. ©, 31. 
.#) ©, Plutarch Opp. II. p. 334. 


Bon einigen Neigungen und Trieben. - 95 


fen, die fie für fich felbft beforgt machen koͤnute. Noch 
leichter theilt fich ihnen die Freude mit; und auch Ere 
machfene werden vom Mitgefühl derfelben oft plöglich 
überrafcht. Oft wird ein gefegter Mann vom Sachen der 
Menge bingeriffen, wenn ihm fchon fein Verſtand fagf, 
Daß es nicht lachenswerth fen. Es ift ihm eben fo wenig 
möglich, fie) vor dem Mitlachen zu bewahren, als vor 
dem Mitweinen beyden Wirfungen der Dichtfunft auf der 
Bühne, fo fehr er auch fucht, fi) Gewalt anzuthun. 

Unterbeffen haben wir ‚alferdings einige Gewalt 
auch über biefe Art von Empfindungen, und können fie 
willkuͤhrlich fchreachen oder auch verftärfen. Nicht nur, 
indem wir in dem erften Falle unfere Aufmerffamfeit ab» 
wenden, und uns durch andere Vorftellungen zerftreuen — 
welches doch bey einem empfindfamen und bereits tief 
gerührten Gemüche nicht immer Hilft; ober im anbern 

Falle unfere Aufmerkſamkeit einzig und allein auf. dasje⸗ 
nige richten, was uns Mitfreude oder Mitleiven erwecken 
fol. Sondern dadurch noch) mehr, daß wir, dort die 
Wahrheit der Vorftellungen, die unfer Gemuͤth bemeg- 
ten, uns zweifelhaft machen, und, Gründe zu entgegen 
‚gefegten DVorftellungen in der Sache felbft auffuchen; 
Hier aber die Vorftellungen gefliffentlich vermehren, die 
das Mitfühlen in ung erregen. - - 

Ä So läßt fi) das Misleiden ſchwaͤchen durch bie 
Vorftellung, daß der feidende ſelbſt Lange fo viel nicht 
empfinde, als. wir ung erft einbilben wollten; oder daß 
diefes Jeiden ihm gut fen, oder daß es zum gemeinen 
Beſten nothwendig ; daß. er vielmehr unfern Abfcheu 
und Haß verdiene, als mitleidiges Wohlwollen; oder. 
daß das ganze Gemählde nur eine Erdichtung ſey. Hin⸗ 

gegen 


96 Buch J. Abfchnitt l. Kapitel - 


gegen vermehren wir die Theilnepmung, wenn mir den 
Zuftand des andern zergliedern, und das Uebel, das ihn 
‚betroffen bat, in allen feinen Verhaͤltniſſen und entfern. 
ten Folgen beherzigen ; wenn wir uns die befondere Em⸗ 
pfindlichfeit Des andern, wenn mir uns den Kontraft des 
beſſern Schickſals, das er gehabt bat, ober verdiente, 
dabey vorftellen. | 
Und allerbings kann * durch den Gedanken, 
daß ums ein gleiches begegnen fönne, die Rührung ver. 
mehrt werden; indem die Aufmerffamfeit auf etwas 
wächft, wenn wir es in näherer Beziehung auf uns felbft 
gebenfen. Und es kann auch dies ſchon für einen Grund 
gehalten werden, warum wir leichter mitfühlen, wenn 
der andere uns in feinen Eigenfchaften und Verhaͤltniſſen 
ahnlich if. — Es fann aber auch durch dieſe Ruͤckſicht 
auf ſich ſelbſt, wenn. gleich die Kührung dadurch wächft, 
das Eigene der Enmpathie, die Theilnebmung gefchwächt 
werben, und eine felbftfüchtige Gemuͤthsbewegung ent⸗ 


ſtehen. 

Auch unwillkuͤhrlich entſtehende — 
koͤnnen der Sympathie hinderlich ſeyn. Wenn ſich einer, 
bey der Freude unanſtaͤndig betraͤgt; ſo hindert er dadurch 
die Mitfreude in einem wohlgeordneten Gemuͤthe. Und 
bey jeder Leidenſchaft thut die Ueberſchreitung der Graͤnzen 
des Schicklichen, oder uͤberhaupt des Maaßes, das der 
andere gewohnt, und in welchem er zu empfinden faͤhig 
iſt, dieſelbe Wirkung. Daher hat man ſich bey Aus- 
druͤcken und Vorſtellungen, die die Sympathie erregen 
ſollen, auch aus dem Grunde vor allzugroßer Uebertreis 
bung zu en | 

Was 


Bon einigen Neigungen und Trieben. 97 


Was auch nur zufällige Ideenadſociationen 
hierbey ändern koͤnnen, wird aus den obigen allgemeinen 
Bemerkungen von ber Ideenadſociation ($. 10.) leicht 
erbellen. - 

Wielleicht laͤßt fich hieraus ſchon erklaͤren, warum 
unter allen Leidenſchaften der Zorn am wenigſten, oder 
eigentlich gar nicht, durch bloße Sympathie ſich mittheilt. 
Der Zornige ſieht aus, wie einer, der beleidigen will. 
Sein Anblick erregt im Zuſchauer den Trieb, ſich gegen 
ihn zu verwahren. Es kommt hinzu, daß die Vernunft 
es auch ſogar nicht erlaubt, zornig zu werden, ohne zu 
wiſſen, warum und gegen wen. Sobald man bingegen 
beym Anblick eines Erzuͤrnten, den man kennt und liebt, eini⸗ 
germaßen Urſachen ſich denkt, die ſeinen Zorn rechtfertigen, 
Beleidigungen, die ihm widerfahren ſeyn: ſo werden auch 
Bewegungen zu einem aͤhnlichen Affect im Gemuͤch ſich 
erheben. Was aber andere Fälle anbelangt: fo ver- 
‚wechfele man nicht mit der Theilnehmung an dem Affect 
des Zornigen, ben Zorn über ihn und fein Betragen. 


Ä $. 19. Ä 
Von dem phyfifchen Grutide der Sympathle. 


Bey einer fo merkwuͤrdigen Eigenſchaft, als die 
Sympachie iſt, muß man es wohl der Muͤhe werth fin⸗ 
den, nach dem Grunde derſelben, ſo viel moͤglich iſt, zu 
forſchen; um zu ſehen, wie notchwendig fie, vermoͤge def 
felben, in der menfchlichen Natur ift, und wie fie durch 
denfelben geftärft oder geſchwaͤcht werben koͤnne. 

Das mn in der Imagination und der Wieder⸗ 
erwecung ehemals gehabter —— nach den be⸗ 

Erſter Theil. kannten 


98 Buch I Abſchnitt I. Kapitel HI. 


kannten Gefegen der Ideenadſociation, der Grund der 
Spmpathie zum Theil liege; dies ift gar nicht ſchwer zu 
entdecken. Denn wie überhaupt von den vormals neben 
oder nach einander in ung vorhanden gemefenen Vorſtellun⸗ 
gen und Empfindungen, die einen, wenn fie durch ir. 
gend eine äußerliche oder innere Veranlaſſung wieder rege 
werden, die andern vormals mit ihnen verfnüpften Vor⸗ 
ftellungen und Bewegungen wieder hervorbringen: alſo 
werden auch durch den Anblick oder die Befchreibung ei« 
nes gewiffen Zuftandes, in dem ſich ein Menfch befinder, 
die Vorftellungen von den übrigen mit diefem Zuftande 
verfnüpften innern und äußern Umftänden, die Vorſtel⸗ 
fungen von den Gemüthsberegungen, die denfelben oder 
einen ähnlichen Zuftand in uns. felbft fehon einmal beglei- 
teten, wieder bervorgebradjt. Und diefe wieder erweck⸗ 
ten VBorftellungen afficiren uns ihrer Natur gemäß; 
‚bringen angenehme oder unangenehme. Gefühle berver, 
je nachdem fie von einer Art find; und hun die um ſo 
mehr, je lebhafter ſie wieder * werden. Indem ſie aber 
in Beziehung auf einen gegenwaͤrtigen Eindruck, der vom 
Zuſtande eines andern herruͤhrt, wieder erweckt werden, 
und an dieſen ne fic) anſchließen: ſo verurfa» 
hen fie nicht fowohl Erinnerung an ein eigenes ehema- 
liges Gefühl, als dielmehr Mitgefühl oder Nachgefühl 
deffen ,"tvas ein anderer, wenigftens unferer Vorftellung 
nad), fühler. 

Und aus diefem Grunde der Sympathie läffer fi ch 
ſchon verſchiedenes, was ſi ich dabey zutraͤgt, erklaͤren. 
Es wird begreiflich dadurch, warum die Sympathie über 
haupt um fo viel leichter bey einem Menſchen entſteht, 
je lebhaſter die Imagination beffelben, ; und je reizbaret 

— ſeine 


Bon einigen Neigungen und Trieben. 99 


feine inneren Empfindungsmerfzeuge find; und warum fie 
im einzelnen Falle um fo viel ftärfer wird, je mehr einer 
aus eigner Erfahrung mit dem Zuftande und den Em- 
pfindu bekannt iſt, in denen der andere ſich befindet. 
Wer nie Mangel empfunden har, kann nicht Teiche weder 
das Seiden der gedruckten Armuth recht zu Herzen neh: 
men ; noch bie Freude recht mirfühlen, die bey der Ver 
befjerung feiner Gluͤcksumſtaͤnde ein rechtfchaffener Armer 
empfindet, -; Wenigſtens nicht fo gut, als bey übrigens 
gleichen Umftänden derjenige, ber nad) eben fo harter 
Prüfung eben fo erleichtert. worden iſt. Aus gleichem 
Grunde koͤmmt es, daß Perfonen von verfchiedenem Al- 
ter, Geſchlechte und Stande nicht völlig fo gut mit einan⸗ 
der fomparhifiren, als diejenigen, die einander weniger 
‚unähnlich und ungleich) find. Was eine Frau ben verſchmaͤh⸗ 
ter Liebe empfindet, kann fein Mann ihr nachempfinden; 
fo wie die Frau nicht dem Mann bey gefränkter Ehre. 
Aber daß diefe Wirfungen der Jmagination, diefe Wie- 
dererweckung gehabter Vorftellungen und Empfindungen, 
und die Daraus entftehenden Gefühle‘, der einzige Grund 

‚der Sympathie, der unwillkuͤhrlichen Verſetzung in die 
innern Zuſtaͤnde anderer ſeyn; dies laͤßt ſich nicht be⸗ 
daupten Entſtehen nicht auch fremde, noch nie gehabte 
Regungen durch die Sympathie? Ohnmachten beym An- 
blick einer Enthauptung, Convulſionen beym Anblick ei⸗ 
nes von der Epilepſie oder der Schwaͤrmerey befallenen; 
Antrieb zum Gaͤhnen durch den Anblick eines Gaͤhnenden; 
und mehrere Förperliche und geiſtiſche Bewegungen bloß 
durch die Darftellung der —— Wirkung dieſer in- 
‚nern Zuftände? | | 


G 2 | u 


100 Buhl Abſchnitt 1. Kapitek Il. 


Es if offenbar, daß zwifchen den mancherley 
Theifen unferer, zur Erweckung der Gefühleund willkuͤhr · 
lichen Beregungen dienenden Organifation unſers Ners 
venſyſtems eine folche mannigfaltige Verknüpfung, ob⸗ 
gleich aus ung unerflärbaren Gründen, herrſche; daß 
Eindrücde in dem einen Theile entfprechende Veränderun« 
gen in dern andern, die Veränderungen ber äußern Ems 
vfindungsmwerfjeuge Worftellungen und Gefühle in dem 
Innern, und dieſe innern Gefühle und Vorftellungen 
entfprechende Bewegungen und Ausdrüce in dem äußern 
Theile regelmäßig nach fich ziehen. Der äußere" Abdruck 
oder Ausdruc des Zuftandes eines Menfchen, wenn er 
ſich den äußern Empfindungsterfzeugen eines andern 
mitteilt, bringt alfo geroiffe innere Gefühle hervor, bie 
denjenigen ähnlich find, die der andere hat, wenn auch 
der Mirfühlende für ſich ſelbſt fie noch nicht erfahren hat. 
Mit dieſer Vorftellung von der Erweckung der Sympä · 
chie ſtimmen die Beobachtungen der Aerzte von der Vers 
Breitung der Krankheiten, oder der Offenbarung eines 
widernatuͤrlichen Zuftandes in verfchiedenen nicht unmittele 
bar zufammenhängenden Theilen des Körpers überein; 
um welcher willen fie, ftatt einer weitern Erflärung, Die 
zur Zeit ihren nöch nicht möglich ift, eine Sympathie 
diefer Theile, oder der in ifnen fich findenben Nerven anger 


nommen haben. a er 
g eine noch allgemeinere, ſelbſt unter unbelebten 
Koͤrpern ſtatt ſindende, Art von Eomparhie fheint dies 
Naturgefeh der Ausbreitung ber Veränderung eines Dins 
ges über andere Ähnliche Dinge in einer noch größern All \ 
gemieinheit zu beftätigen. Der fchallende Tor einer 
Stimme, oder Klavierfaite, oder eines andern muficali- 


[hen 


Von einigen Neigungen und Trieben. 107 


ſchen Inſtruments, ‚bringt in andern gleichartigen tönen 
den Dingen. einen ähnlichen Ton hervor. Es it Vers 
fehiedenheit unter dieſen mehreren Phänomenen; aber 
es zeigt ſich auch eine Aehnlichkeit dabey, um mwelcher 
Willen ſie mit einander verglichen zu werden ver⸗ 
dienen. 

Sollte vielleicht, wenn es ſcheint, daß bloß durch 

das Geſicht oder das Gehör die Empfindungen und Ges 
muͤthsbewegungen anderer ſich ung mittheilen, noch durch 
andere Wege, durch Ausdünftungen, die in uns über 
geben, die Anftefung, die Erweckung ähnlicher Bere 
gungen gefchehen? Es ift dies eine Vermutung, die 
vielen tieffinnigen Forſchern bey einigen Eraͤugniſſen auf 
geftiegen ift; und die, wenn nicht völlig erweißlich, fo 
doch auch nichts weniger als fchlechthin verwerflich ſchei⸗ 
nen kann. 
Wenn aber nach jenem zuerſt angezeigten Grunde 
die Sympathie aus der Imagination entſpringt: fo ift 
begreiflich, wie leicht es kommen fann, daß einer bie 
Empfindungen des andern weit verfehlte, wenn er ihm 
nach zu empfinden glaubt; in feiner Seele fich freuet oder 
betrübt, oder ſchaͤmt, wenn biefer nichts dergleichen, oder 
weniger als jener empfinde. Die Vorftellungen von ei» 
ner Sache fönnen gar ſehr verfchieben ſeyn. 


6, 2. 
Ben ber Allgemeinheit und den verfihiebenen Graben bee 
Sympathie. 
Steichrie die Anlagen zur Sympathie, bie in den 


eben entwickelten Gründen derfelben bemerkt worden find, 
re G3 keinem 


102 Buhl. Abſchnitt 1. Kapitel Ir. 


feinem Menfchen ganz fehlen Finnen; alfo ift auch Feine 
Erfahrung vorhanden, aus der man den gänzlichen Mans 
gel der Faͤhigkeit, durch Aeußerungen der Gefühle anderer 
zu ähnlichen Gefühlen gerührt zu werden, mit Sicherheit 
fehließen Eönnte, Geſchwaͤcht und in gemwiffen Fällen 
gaͤnzlich erftickt kann diefe Rührung freylich werden, durch 
ſelbſtiſche Empfindungen und Triebe, oder diejenigen Urs 
fahen, die die Empfindfamfeit überhaupt ſchwaͤchen; 
gleichwie es durch willführliche Uebung und zugefellete 
einftimmende VBorftellungen er wird. Auch nach det 
natürlichen Anlage find nicht alle Menfchen einander dars 
inn gleich; weder was die abfolute Stärfe, noch wag 
die Arten der Sympathie anbetrifft, zu denen fie fich aufs 
gelegt zeigen. _ Einige laffen ſich leichter zur Mitfreude 
bervegen, andere zum Mitleiden. Wiewohl der Schein 
bierbey auch) trügen, und einer wenig mitleidend fcheinen 
fann, da er esnur zu fehr ift, und daher fid) Gewalt 
anthut, die Ruͤhrung zu unterdrücken ober ihr auszu⸗ 
weichen. | | | 
Die rohen, unaufgeflärten oder fogenannten mwils 

den Völker werden bisweilen als ganz ohne Eympathie 
befchrieben *). Und frenlich finder diefer — 
en⸗ 


m ee — — 





— 


*) S. Hrn. Prof. Tiedemanns Unterſuchung über den 
Menſchen Th. U. S. 360; Damit ſtimmet auch die 
Beſchreibung uͤberein, die Robertſon von einigen der 
wildeſten Voͤlker in Amerika macht. „Wenn einige 
unter ihnen eine Krankheit uͤberfaͤllt: fo verlaſſen ſie 
alle ihre Nachbarn und fliehen vor ihnen, aus Furcht, 

- angeftedt zu werden. Wenn fie aber auch dies nicht 
thun, fo zeigen ſie doch die Fältefte Unempfindlichkeit; 
kein Bli des Mitleidens, Fein fanftes — — 
jenſt⸗ 


Bon einigen Neigungen.und Teichen. 103 


Menfchen wenig Vorfhub, unter denen die gefelligen 
‚Triebe fo wenig geftärft find; die, in völliger Unabhän« 
gigfeit nur ſich allein zu leben, nicht auf andere viel zu 
achten gewohnt find; die ſichs gar zur Ehre, oder ihrer 
Trägheit zum Gluͤck anrechnen, fo unabhängig für fich 
zu fen. Unterdeſſen müßte man doch die Erfahrung fehr 
unvollftändig zu Nathe ziehen, wenn ınan die Wirfungen 
der Sympathie nicht auch unter diefen Menſchen fehr oft 
erkennen follte *). | 
| 4 6. 21. 








Dienftbefliffenheit , ihre Leiden ihnen zu erleichtern. 
Ihre nächften Verwandten weigern fich öfters, eine 
Meine Unbequemlichkeit zu übernehmen, ober eine Klets 
nigfeit herzugeben , fo nöthig es jenen auch feyn mag. 
Die Spanier haben es daher nöthig gefunden, durch 
pofitive Oefege den Eheleuten, Eltern und Kindern dem 
Bepſtand in folhen Umftänden zur Pflicht zu mas 
Ken — Eben fo lieblos bezeigen fie fich gegen 
Thiere, wenn fie ihnen auch noch fo nüglich find.’ 
Man fieht, daß diefer vortrefflihe Schriftfteller hier 
damit befchäfftiger iſt, die fhlimme Seite zu fhildern. 
Er bemerkt felbft an einem andern Drte, baß bey bies 
fen Voͤlkern die Eltern fehr zärtlich für ihre Kinder fors 
gen, fo lange diefe ihrer Hülfe benöthigt find. 


*) Wie oft haben nicht ſolche wilde Völker den ihnen unbe 
kannten Europäern beym Schiff bruch, oder fonft in gro: 
Ber Noch Hülfe geleiftet, mit Anftrengung aller ihrer 
Kräfte und Uebernehmung eigener Gefahr, aud wo 
man fie nicht im Verdacht haben kann, aus Gewinns 
ſucht oder aus abergläubifcher Furcht es gethan zu has 
ben. ©. von den Eskimaur ein Beyſpiel in Elis 
Voyage to Hudfons- Bay 1748. ©. 230. ©. auch 
Robertfon’s Hift. of America I, p. 100. 432. Forflers 
Voyage I. p. 513. f. | 


104 Buhl Abſchnitt J. Kapitel MI. 
| 5 a. | 
Ob Sympathie zur Setfliche zu rechnen fey. Won 
tipathie, 

Die Unterſcheldung der Sympathie und der dar 
aus entfpringenden Antriebe von ben Empfindungen und. 
Trieben der Selbfiliebe, ſcheint einigen ungründlich und 
überflüffig. zu feyn. Wir Finnen ja nichts anders em« 
pfinden, als Veränderungen unfer® Zuftandes. 
Selbftgefühle fern alfo alle. unfere Gefühle; und alle 
Dadurch erweckte und auf Veränderungen derfelben abzies 
lende Beftrebungen des Willens feyn Bemühungen, Vers 
änderungen in ung felbft bervorzubringen, unfern eigenen 
Zuftand zuverbeffern. Allein obgleich alle unfere Gewahr⸗ 
nehmungen und Gefühle allernächft aus Veränderungen 
unferer felbft entſpringen: fo kann doc) nicht gefagt wer⸗ 
den, daß wir felbft allemal der Gegenſtand unferer Er⸗ 
fenntniffe, unfers Wolleng und unferer wirffamen Triebe 
find. Wann ic) ein Kind am Feuer oder Waffer finfen 
fehe: fo denfe ich nicht an mid), weiß nidyts von mir, 
will nicht mir helfen, fondern dem Kinde, bin aus 
fer mir mit meinem Wiffen, Wellen und Wirken. 
Dies ift gemeine, auf richtiges Gefühl ſich gründende 
Sprache. Das Gegentheil ift eine im Grunde unrichti⸗ 
ge Subtilitaͤt. 


Die zum Theil unwillkuͤhrliche Theilnehmung an 
dem Zuſtande anderer, die ins Gefühl eindringende Vor- 
ftellung fremder Empfindungen und Gemüthsbewegungen, 
ift eine begreifliche Urfache des Mißvergnuͤgens, ber Un« 
bebaglichfeit, in die man ſich verfegt fühlt, unter ‘Per- 
fonen, deren Art zu empfinden und zu banbeln von ber 

unftie 


Bon einigen Neigungen und Trieben. 105 


umfrigen fehr abweicht. Denn es entftehen dadurch ein. 
ander vwoiderftrebenbe Regungen in uns. Der Sanfte, 
Bedachtfame verurfacht dem Higigen Ungebult und fange 
Meile; und Schaam und Furcht beflemmen jenem das 
Herz, wenn er diefen wirfen,und andere durch ihn leiden ſieht. 

Die Gefellfhaft des Muthvollen und Verwegenen iſt dem 
Zaghaften eine Marter, und jenem iſt dieſer ein Greuel. 
Oderunt hilarem triſtes triſtemque iocoſi. 

Man kann dieſe Art von Sympathie, wegen der entgegen⸗ 
ſtrebenden eigenen Natur des Mitfuͤhlenden, gar wohl 
Antipathie nennen. Daß koͤrperliche Gefuͤhle, mittelſt 
der Ausduͤnſtungen, mit unter entſtehen; laͤßt ſich hierbey 
eben fo wenig, als bey der angenehmen Sympathie, gang 
wegfireiten. Daß aber bey der Antipathie auch ander» 
weitige Vorftellungen Teiche ſich zugefellen fönnen; iſt 
ganz gewiß. Wer anders fühle und handelt, als wir, 
macht die Nichtigkeit unferes Verhaltens zweifelhaft; 
und muß wohl eben fo an ums, wie wir an Kom, Dipfalen 


haben. 


. 22. | 
Bon den natürlichen Trieben zur Thaͤtigkeit und der Trägheit. 


Der Menfh hat Wohlgefallen am Gefühl feiner Kräfte, und 
Mißfallen am Gefühl ihrer Einſchraͤnkung. 


Nach der Erfahrung iſt der Menſch weder ein flets 
felbftehätig wirkendes, noch ein gänzlich leidend fich ver⸗ 
änderndes Gefchöpf. Oft erwartet und empfängt er fein 
Vergnügen und fein Mißvergnügen von äußerlichen Urs 
fachen, deren Einwirfung er fid). überläße oder überlaffen 
ne er erzeugt er das eine ſowohl als das andere in 


65 ſich 


106 Buhl. Abſchnitt J. Kapitel III. 


ſich ſelbſt, durch Anwendung feiner eigenen Kräfte, 
Nach diefen Beobachtungen kann es eben fo wenig ſchei⸗ 
nen, daß der Menfch, nur allein im Wirken feine Luſt zu 
finden, ober wohl gar, ohne Abficht auf Vergnügen zu 
wirfen, von der Natur beftimmt fen; als daß er, in frager 
Unthaͤtigkeit $uft einzuarhmen, und von der Belt, die 
ihn umgiebt, fich amufiren zu laffen, gemacht fey. Aber 
ftarf ift der Trieb zu beyden, ſowohl den felbftchätigen 
als den leidentlichen Weränderungen; merkwuͤrdig find 
ihre Einflüffe auf einander, und noch merfwürdiger diejes 
nigen, die fie auf den ganzen Character und die Gluͤckſe— 
figfeit des Menfchen haben. Es müffen daher bey der 
Grundlage zur Kenntniß der Natur des menfchlichen 
Willens diefelben erwogen, und die erheblichften Umftäns 
de. dabey aus einander gefegt werden. 

Es giebt eine Thätigkeit und Triebe zur Wirffame 
keit, die nicht eigentlich für natürlich, wenigſtens nicht für 
urſpruͤnglich natürlich gehalten werden dürfen. Die man« 
cherley politifchen Bedürfniffe und Gefege erzeugen fie; 
im Stande der ſich mehr überlaffenen Natur wird man fie 
nicht gewahr. Begierde nach Reichthuͤmern, nad) 
Kuhm und Herrfchaft, ober nach folchen Wergnügungen, 
die man nur beym Beſitze großer Neichthümer oder gro« 
Ber Gewalt ſich verfchaffen kann, treiben fichtbarfich vie- 
le Menfchen in unüberfehliche Lauf bahnen eines muͤhſa⸗ 
men und gefahrooflen Lebens. Merfwürdig ift der Grad 
von Anftrengung und Ausdauer, zu welchem bie Vereis 
nigung mehrerer folcher Triebfedern Menfchen bringen 
fönnen, die Corted, die Pizarros und Almagros 
und andere ſolche Helden gebracht haben. Unterdeffen 
find alles dies, Feine Arten von Thaͤtigkeit, bie einen 

—* Grund⸗ 


Bon einigen Neigungen und Trieben. 107 


Grundtrieb zur Beſchaͤftigung hinlaͤnglich bevelſen 
koͤnnten. 

Wie — mern Menſchen dieſe unruhige Lauf⸗ 
bahn erwaͤhlen, denen alle Mittel zum Genuß der manch⸗ 
faltigſten Vergnuͤgungen ſchon bereitet ſind? Wenn ſie 
Ruhm und Anſehen, Macht und Reichthuͤmer erworben 
haben, mehr als ſie genießen koͤnnen; und doch noch das 
Ziel ihrer Arbeit immer weiter ſich hinausſetzen? Muͤſſen 
wir da nicht den unmittelbaren Trieb zur Thaͤtigkeit er: 

fennen? — Noch ift es nicht ausgemacht, Die Men« 
ſchen verfehlen gar oft die richtige Worftellung des Ver- 
bältniffes ihrer Mittel zu ihren Abfichten; und mas aus 
Abficht angefangen wird, treibt man oft nur aus Ges 
wohnheit weiter ; endlich kann aud) Vorftellung der 
Pflicht, für.andere ſich wirkfam zu bemeifen, einen Trieb 
erwecken oder unterhalten, der ohne diefelbe nicht Grund 
gehabt hätte, 

"Aber wie vieles auch bey den Trieben der Menfchen, 
mit ihren Kräften felbftchätig fich zu bemeifen, fremden 
Urfachen angerechnet werden Fann: fo läßt fich doch gewiß 
niche laͤugnen, daß daffelbe ohne alle Abficht auf ander« 
weitige Vortheile natürlich. und urfprünglic) angenehm 
fey. . Taufeny Erfahrungen beweifen es von allen: Mens 
ſchen, obgleich von einigen häufiger als von andern, 

is Menn der. Menfch nichts zu thun hat, fo ſucht er 
ſich etwas; verfällt aufs Böfe, weil er nichts Gutes 
weiß, das feinen Kräften angenehme Befchäftigung gebe, 
Unzählige Spiele find zu diefer Abficht erfunden; unjaͤh⸗ 
lige Thorheiten haben nur dadurch ihr Gluͤck unter den 
Menfchen gemacht, weil fie ihren müffigen und zwecklos 
pegerirenden Kräften Beſchaͤftigung gaben. — 

u in⸗ 


» 


108 Buch l. Abfchnitt J. Kapitel IHN. 


Kinder, die nicht noͤthig haben, im Schweiß ihres 
Angeſichts ihr Brod zu verdienen, finden ihr Vergnuͤgen 
in unnuͤtzer, nicht ſelten muͤhſeliger Beſchaͤftigung. Ih— 
re Aufſeher wuͤnſchten nichts mehr, als daß ſie ſich ſtill 
hielten. Aber ihre Naturtriebe uͤberwaͤltigen dieſen 
Zwang. 

Der Wilde kann zwar Tage lang in — 
Unthaͤtigkeit und traͤger Ruhe hinbringen; wenn ſeine 
thieriſche Beduͤrfniß befriedigt, oder feine Kräfte von Ars 
beit erfchöpft find. Aber nicht immer zieht er die Ruhe 
der Befchäftigung in Abfıcht aufs Vergnügen vor. Er 
bat and) feine Spiele und Taͤnze; und die Begierde 
darnach ift eine der beftigften feiner $eidenfchaften. Auch 
fäße fih nicht daran zweifeln, daß die Begierde nach 
Beſchaͤftigung, der Ueberbruß der Ruhe und Unrhätig- 
£eit oftmals eine der vornehmften Urfachen der Empoͤrun⸗ 
gen und Kriege unter den Wilden, wie auch wohl unter 
den gefitteten Völkern, gemwefen. 


Die bloß mechanifchen oder organifchen Antrie- 
be zur Bewegung im Körper gehören nicht eigentlich hie⸗ 
ber. Mur fann es gut feyn, ihrer fich zu erinnern, um 
nicht alles, was fi) von Wirffamkeie an Menfchen , bes 
fonders an Fleinen Kindern zeiget, aus den Seelentrieben 
erklären zu wollen. Aber aus dem Körper kann aller- 
bings für die Seele Bebürfniß und Begierde zur Bes 
fhäftigung enefpringen; wenn nämlich bie ftrebenden 
Kıäfte des Körpers, bie angehäuften Sebensgeifter, und 
die daraus entftehenden Reize ein befchwerliches Gefühl 
von Druck und Drang erzeugen. 
ee Und 


Bon einigen Neigungen und Trieben. 109 


Und vielleicht ift dies bie erfte, wo nicht die ein. 
zige reine, das heißt, ohne alle Adfociation der Vor⸗ 
ftellungen von Nuͤtzlichkeit wirkende Urfache eines We 
langens der Seele, außer fich zu wirken? 


Um alles bisher über den urfprünglichen Trieb zur 
Beſchaͤftigung bemerfte noch mehr ins Licht zu fegen, ift 
es nöthig, eine entgegengefeßte Eigenfchaft der menfchli- 
chen Natur , die in der Seele fowohl als im Körper fich 
‚zu finden fcheinet, genauer zu beleuchten, Dies ift die 
Traͤgheit. So wie fein Körper in Bewegung koͤmmt, 
oder uͤberall ſeinen Zuſtand veraͤndert, ohne eine auf ihn 
wirkende der zu bewirkenden Veränderung angemeffene 
Kraft: alfo entfteht audy feine Beftrebung in der Seele, 
‚feine neue Erwedung und Richtung des Willens ohne ei« 
nen dazu beftimmten Grund, fen es Gefühl oder Worftel- 
fung ($.1.). Denn nichts gefchieht ohne Grund. Dies 
nennen einige fchon die Trägheit der Seele, des Willens. 
Noch mehr. aber verdient diefen Namen die Eigenfchaft 
des Menfchen , daß er aus einem fchmerzlofen Zuftande, 
-in welchem er ſich an einem bebaglichen Selbftgefühl wei. 
det, oder an ergögenden Vorftellungen, die ihm durd) 
die äußern Einne, oder die, wenn auch nur mechaniſch 
wirfende, durch Opium oder andere bigige Getränke er. 
weckte Imagination entſtehen, keinesweges gern, aus 

frehem 


Das Beſtreben, ſeine Ideen zu vervolllommmen und ans 
zuwenden, gehört * zu den einigermaßen, oh⸗ 
ne die adfociirte Idee der Nuͤtzlichkeit ſchon wirkſamen 
Trieben det Thätigfeit. Wie dies mit den oben bemerks 
ten etwa zufammen hängen ee läge ſich fo geſchwind 

..\ nicht ausmachen, 





Buch J. Abſchnitt J. Kapitel UN. 


freyem innern Antrieb aufwachet. Syn dieſer Epikurſchen 
Indolenz finden tauſende von Menſchen ihre größte Gluͤck⸗ 
ſeligkeit. Ganz gewiß iſt die Vorſtellung einer ſolchen 
endlich zu genießenden Ruhe die Ausſicht, die Triebfeder, 
die manche Menſchen zur Thaͤtigkeit erweckt, bey der fie 
das Gute und die Belohnung ihrer Bemuͤhungen ſich den⸗ 
ken; wenn gleich auch wahr iſt, daß viele, wie Pyr⸗ 
rhus, die Abficht über dem Mittel vergeffen, oder das 
Ziel unnöthig weit hinausfegen. | 

So ift demnach Arbeit fo wenig als Hufe abfolu« 
zes Out oder abſolutes Uebel für den Menſchen; ſondern 
beyde koͤnnen das eine und das andere ſeyn; je nachdem 
fie mit angenehmen Empfindungen oder Hoffnungen ſich 
verknuͤpfen. 

Wegen der Verknuͤpfung und des Verhaͤltniſſes 
dieſer beyden Eigenſchaften, der Thaͤtigkeit und der Traͤg⸗ 
heit, ſcheint es aber nothwendig zu ſeyn, daß, was be⸗ 
ſchaͤftiget one zu ermüden, das Gefühlider Kräf: 
te ohne dad Gefühl ihrer Einfchränfung verfchafft, 
dem Menfchen angenehm ſeyn müffe. Und diefer Sag 
finder in der Beobachtung, bey der Entwickelung der 
Meigumgen und Abneigungen der menfchlichen Seele, 
manchfaltige Beſtaͤtigung. | 


S. 23. 
Vom Triebe zur Veränderung. 


Veraͤnderlichheit und. Abwechfelung ift das Loos 
ber Menfchheit, wie der ganzen: Schöpfung. Oft un 
zufrieden mit. den Veränderungen, die ſich eräugnen, 
ſcheint der Menſch doch für nichts weniger, als für die 

a Die 


Bon einigen Peigungen-und Trieben. 1u 


Beſtaͤndigkeit irgend eines Zuſtandes gemacht zu feyn. 
Der gewuͤnſchteſte Zuſtand/ das ſchoͤnſte, mas ſich einer 
zu denken wußte, wird ihm zuwider, bloß weil es zu 
lange dauert. Etwas anderes gefaͤllt, bloß weil es neu 
ift. Alles beynahe kann indem Umlaufe der Veraͤnde⸗ 
rungen einmal angenehm, und ein andermal unangenehm 
werden. Gen immerhin etwas der gute, der Natur ges 
mäße Geſchmack in den Künften und Wiffenfchaften ; 
die Mode, die Schmeichlerinn des Triebes der Werät- 
derlichfeit, wird feine Kegeln dennoch irgend einmal über 
den Haufen werfen. - Senn immerhin gewiffe Anorduun- 
gen und Verbindungen der menfchlichen Gefellichaft auf 
ewige Naturgefege gegründet; der Hang zur Veraͤnde⸗ 
rung wird fie einigen zu einem unerträglichen Joe ma⸗ 
chen, wird ſie uͤberwaͤltigen. 

Es iſt dies uͤbrigens nur eine Art ber Wirkungen 
diefes Triebes, die noch nicht berechtiger, die Weißheit 
des Schöpfers dabey in Zweifel zu ziehen. Auch ift ihm 
ſchon einiges Gegengewicht gefeßt durd) die Macht der. 
Gewohnheit (& 11.). 

Aber es kommt uns jetzt nur darauf an, wie bie. 
fer Trieb zu Veränderungen in unferer Matur gegrünber 
ift; ob er in dem Weſen einer menfchlichen Seele noth» 
wendig iſt, oder ob er vielmehr nur von nicht nothwendi⸗ 
gen Verhältniffen derfelben, der Abhängigkeit von diefem 
ihren Körper, und andern vielleicht nicht ersig währenden 
Einfchränfungen herrühre? Allerdings entdeckt fich leicht 
ein Grund diefes Etrebens nad) Veränderung in der 
Schwäche unfers Körpers, feiner Empfindungs und 
Bewegungswerfzeuge. Einerley Eindrud‘, einerley Be 
wegungen erfchöpfen ihre Kräfte, . verurfachen ‚Gefühl 

des 


ıa Buhl. Abſchnitt 1. Kapitel III. 
des Schmerzes ober ſonſt ein unbehagliches Gefuͤhl. 


Nicht nur werden die einen zu anhaltend gebrauchten: 
Werkzeuge des Körpers ermuͤdet; fondern in ben andern, 
gleichfalls zue Wirkſamkeit beſtimmten, mit Kräften und 
Reizen erfüllten. Theilen entſteht daher eben auch ein 
aniangenehmes Gefühl. des; Druds,-und der ‚Spam 
nung. ol, | | 
Aber in der Seele felbft, in den Borftellungen, 
die ſie befömmt, und den Veränderungen, die ihnen wieder, 
fahren ,: findet ſich ein zwehter Grund diefes Willenstries 
bes. Unſere Borftellungen und Begriffe von den Din 
gen find nicht fo genau richtig. und vollftändig., daß fie 
‚nicht fähig wären, ergänzet-und berichfiget zu werden. 
Und wären fie richtig. und vollftändig; dennoch beruhen 
fie auf zu ſchwachen Gründen, um nicht durd) die immer 
gefhäftige Einbildungsfraft, und alle die Urfachen, Die 
auf unfer Innerſtes fo mächtig wirfen, gar leicht verän- 
dert zu werden; : hier mehr Licht, dort mehr Schatten zu 
befommen, fich zu ermweitgen oder zu verengern. ‚Und 
- hätte einer Ruhe genug in fich felbft, um bey feinen ein- 
mal gefaßten Vorſtellungen zu bebarren: fo finden fich 
leicht Stöhrer feiner Ruhe, Menfchen, die ihr Vergnuͤ⸗ 
gen darinn finden, andern ihre Meynungen zu beneh« 
men, amd ihnen die ihrigen, ober gar nichts, dafür bey⸗ 
qubringen. Moralifche Marfefchreyer und Wunderthaͤ⸗ 
‚tet, die Träume größerer Glückfeligfeiten für - Realität 
verkaufen, und baare Glücfeligkeit dafür abnehmen. 
Endlich ändern ſich freplicy auch die Dinge und 
unſere Berbältniffe zu ihnen fo oft, daß unfere vorigen 
Begriffe von ihnen fich nicht länger. behaupten koͤnnen. 
De Wille muß fich verändern, muß fireben nach andern 


Zus 


Bon einigen Neigungen und Trieben. . n3 


Zuftänden, Dingen und Verhäfniffen, wo der Das 
ſtand ſolchen Veränderungen ausgeſetzt iſt. — 
Es iſt offenbar, daß ſowohl mehrere als went: 
gere Erkennmiß der Veränderlichfeit des Willens wuͤt 
de Öränzen fegen fönnen, Mehrere Erkenntniß wiirde 
die falſchen Einbildungen, wodurch neue Begierden ers 
zeugt werden, nicht auffommen laſſen; würde in dem, 
was man befigt, noch immer mehr Realität, Stoff zue 
Beſchaͤftigung und zum Genuffe entdeden Bey noch 
mwenigeren Ideen wuͤrden der Reize zu neuen Empfindungen 
und Handlungen weniger ſeyn; bey gar Feinen Vorſtel⸗ 
lungen find gar Feine Begierden.. Wern auch nur den 
äußern Empfindungen der Eingang in die Seele vers 
ſchloſſen wäre: fo würde der Ruhe, der Gleichmuͤthigkeit 
und Beharrlichkeit ſchon unendlich mehr fepn. Durch 
eine gewiſſe Betäubung oder Verſchließung derfelben 
bringe es der Schwärmer in der Wirte dahin, daß ee 
unbeweglich, wie eine Bildfäule, Tage und Monate 
auf einer Stelle ausdauert. Und auch die Weisheit 
bringt das Gemuͤth zu einigem Beharrungsftande, ſowohl 
durch Mäßigung der finnlichen, als durch Befeſtigung 
der vernünftigen Vorſtellungen. Aber von einem Leben 
ohne alle Abwechfelung wiffen wie und hienieden wenig⸗ 
ſtens Feine Vorftellung zu machen, und der Trieb nach 
Veränderungen verläßt uns nie ganz, 


| $. 2% 
| Trieb, auf die Zukunft zu fehen, Trieb nach beim Unenblichen. 
Die erften Begierden und Verabſcheuungen des 
Menfchen werden erreget durch das, was nahe, was ge. 
Erſter Theil. 9 gen⸗ 


| 114 Buch 1J. Abſchnitt I. Kapitel II. 


genwaͤrtig iſt. Aber Weisheit, vernünftiges Leben fatt- 
gen erft alsdann an, wenn die Triebe über das. Öegen- 
wärtige hinausgehen, wenn fie ihre Abfichten in der Zus 
kunft haben. Aber wie erfennt der Menſch das Künfti« 
ge? Natürlicher Weife anders nicht, als mittelft der 
Kenntniß des Bergangenen, und des dabey ſich einfin« 
denden dunfeln oder deutlichen Urtheiles, daß daffelbe 
unter ähnlichen Umftänden wiederfömmt. Nicht jes 
des Begegniß wird Erfahrung... Ohne vorräthige Der 
griffe und einige Hebung im Denfen, achtet der Menfch zu 
wenig auf das, was um und mit ihm vorgeht, begreift 
zu wenig den Zufammenhang der Wirfungen und Urfa« 
chen; um ſich Anmerfungen zu machen und nügliche Er- 
innerungen zu gründen, wo es feyn Fünntez wo ber e8 
thut, der fihon Klugheit befigt. Ohne eine gewiſſe Bes 
arbeitung oder Stellung, wird die Erfahrung nicht einmal 
Erwartung des ähnlichen Erfolges; noch die Borftellung 
des zu erwartenden hinlänglicher Beweggrund zur Res 
gierung der urfprüngfichen Antriebe gegen das unmittelbar 
Angenehme und Unangenehme, oo. 
Hieraus wird leicht begreiflih, warum es lange 
währet, ehe die Vorftellungen von der Zufunft auf den 
jungen Menfchen wirken. Der Wilde ift auch bierinn 
dem Kinde fehr ahnlich *). | 
Hine 











*) Wenn ber Abend anruͤckt, und das Beduͤrfniß des Schla⸗ 
fes ſich zu regen anfaͤngt, iſt der wilde Amerikaner durch 
nichts zu bewegen, ſeine Hangematte zu verkaufen: des 
Morgens iſt fie ihm für eine Kleinigkeit feil. Am. En— 
de des Winters, wenn das Andeufen deſſen, was er 
von. der Kälte ausgeftanden hat, noch lebhaft ift, fängt 

: er 


Don einigen Neigungen und Trieben. 115 


Hingegen thut beym Anmwachfe der Vernunft der 
Menfch immer mehr um der Zufunft willen; vergißt oft 
nur zu ſehr über der Hinficht aufs Künftige den Blick 
aufs Gegenwärtige,; und befchreibt auch hier durch die 
Verknüpfung der Ertremen den Kreis der menfchlichen 
Unvollkommenheit. Endlich wird die Zufunft ihm 
Emigfeit. Maächtiger Gedanfe, wenn der Geift deine 
Hoffnungen und deine Schreckniſſe mit $Sebhaftigfeit und 
Ueberzeugung denket! Wie ſchwindet alsdann alle Träg« 
u H 2 heit, 

















er an, Anſtalten zu einer Huͤtte zu machen, bie ihn kuͤnf—⸗ 
tig vor der Kälte ſchuͤtzen full: aber kaum ift die warme 
Witterung eingetreten, fo ift alles vergeffen, und wird 
nicht eher wieder an die Arbeit gedacht, bis die Kälte 
wieder da, und zur Arbeit es zu fpät iſt. Kobert ſon 
Hift. of America I. 309. ſ. Zu den vielen einzelnen 
Beyfpielen, die diefes beftätigen, gehört auch dasies 
nige, was von den Ikalmenen in Kamtfchatfa Steller 
erzählet ©. 291. „Sie Faufen niemalen etwas in 
Vorrath, wenn fie ed auch vor den zehnten Theil des 
Preifes haben Fönnten; wo einer aber etwas höchft 
nöthig hat, fo bezahlet er, ohne zu dingen, was man von 
ihn haben will — und zwar niemals vor baare Bezahs 
lung, fondern auf Schulden. — Die fünftige Bezah⸗ 
lung mirft wieder weniger auf ihn. — Hierinn gleichen 
ibm viele Europäer. — Hat er feine Schulden, fo 
fängt er Fein Thier, wenn es ihm auch vor die Thür Fäs 
me. Es geſchah 1740, dag ein Kaufmann einen Jfals 
menen Plagen hörte, daß zwey Zobel alle Nacht in fein 
Vorrathshaus Fimen und Fifche ftählen. Der Kaufs 
mann lachte darüber und fagte: warum fängft du fie 
nicht? Was foll ich mit ilmen machen, antivortete ber 
Ikalmen, ich habefkeine Schulden zu bezahlen? Der 
Kaufmann gab ihm ein halb Pfund Toback und fagte: 
Nimm es, fo haft du Schulden. Nach zwey Stunden 
brachte ihm der Ikalmen beyde Zobel gefangen, und be 
zahlte feine Schuld.“ 


16 Buhl Abſchnitt . Kapitel IL; 


heit, die zur Erde niederdruͤckte; wie jerfallen alle Fefs 
feln; welche neue Kraft treibt alsdann vorwärts! Mit 
diefem Gedanfen einmal befannt, findet die Seele nun 
um fo viel weniger unter den fichtbaren und gegenwärti« 
gen Dingen etwas, was ihr völlig Zufriedenheit geben, 
und allen ihren Wünfchen Ziel ſeyn Fönnte, 

Es foll hieraus ige weder ein Beweisgrund für bie 
Unfterblichfeit der Seele geſchloſſen, die aud) ohne dem» 
felben zur vernünftigen Erwartung hinlängtich gegründet 
ift; noch das Verlangen nach der Ewigkeit irgend zu ei« 
nem mefentlichen Trieb der menfchlichen Seele gemacht 
werden. Es ift zu befannt, daß ſchon viele fo ungluͤck- 
lich haben ſeyn koͤnnen, das "Ende ihres Seyns im Tode 
des Leibes zu woiinfehen und zu hoffen. Auch haben 
Eeelen von den erhabenften Empfindungen und Ent 
fchließungen *) gleichgültig und zweifelhaft in Anfehung 
diefer Unterfuchung bleiben koͤnnen. AR 

Aber fo viel ift doch unfeugbar, daß die Wünfche 
und Beftrebungen des menfchlichen Geiftes hienieden Fein 
feftes Ziel haben; daß die Erweiterung der Erfenntnif: 
fohäre immer auch die Zahl der Antriebe und Begierden 
vermehrt. Nicht alle find fich gleich im Feuer und in der 
Schnelligfeit des Fluges; aber in dem Hauptſatz ſtim⸗ 
men alle überein. Der Weife zwar lernt fi) mäßigen 
und einfchränfen und begnügen an dem, wäser hat; 
aber wodurch anders, als dadurch, daß er die Begier⸗ 
ben tödtet, mictelft der Worftellung ber Unmoͤglich— 
feit, einzeln oder zugleich mit andern fie zu befriedigen; 

vder 


— — — —— — — —— — 


*) Stoiker. 








Bon einigen Neigungen und Trieben. 117 


ober daf er fie befänftiget und einfehläfere, eben mit 
der Hoffnung deffen, was Fünftig ift, und in der Ewigkeit 
auf ihn wartet? 

In fo fern alfo kann Trieb nad) dem Unendlis 
chen zu den Haupteigenfchaften des menfchlihen Willens 
gezählt werden; und derfelbe, nebft dem Triebe zur 
Befchäftigung und zur Veränderung, begreift ohne Zwei- 
fel das in fih, mas einige ben Ermeiterungstrieb 
nennen. 





Abſchnitt I. 
Beſchreibung der vornehmſten Zuſtaͤnde des 
menſchlichen Gemuͤths, nebſt den naͤchſten 
Urſachen und Wirkungen. 


| 9.25, 
Eintheifung der Gemäthszuftände in ruhlge und in Affecten. 
Urſachen und Wirkungen der letztern, uͤberhaupt betrachtet. 


Sylesren im vorhergehenden die offenbarften Haupt⸗ 
gefeße und Triebe des menfchlichen Willens bes 
merkt worden find; fo folgt nunmehr die Betrachtung der 
vornehmften Zuftände, bie in ben menfehlichen Gemuͤ⸗ 


thern mit einander abwechſeln *). 
H 3 Weaenn 





*) Diefer Theil der Pſychologie iſt noch ſehr —— 7 be⸗ 


arbeitet. Die mehreſten laſſen es bey der a 
atur 








18 Buch I Abſchnitt IL. 


. Wenn man diefe mancherley Zuftände des menſch⸗ 
fihen Gemuͤths in gemwiffe Klaffen ordnen will: fo fann 
folches ſowohl in Ruͤckſicht auf die Art, als in Nückfiche 
auf die Stärke der dabey obwaltenden Empfindungen 
und Willensäußerungen gefchehen. Auf dem legten Uns 
terfchiede beruht. die Eintheilung der Gemüthszuftände in 
ruhige und in Affecten. 


Wenn gleich bey diefem legtern Namen jedermann 
ſich lebhafte Vorftellungen und daraus entftehende ftarfe 
Begierden und Verabfcheuungen denfe: fo fehlet doc) viel 
daran, daß der gemeine Begriff gerrau beftimmt, daß 
die Granzen zwifchen dem, was Affece beißen fol, und 
“ nicht heißen foll, feitgefegt fern. Nämlich viele von den 
PVorftellungen der Seele, die durch äußere Eindrücke oder 
innere Regungen erweckt werden, ‘gehn vorüber, ohne 
irgend ein merfliches Wohlgefallen, oder Mißfallen zu 
verurfachen. Von dergfeichen Vorftellungen ſagt man, 
daß fie das Gemuͤth gleichgültig und ungerühre laſſen. 
So gleihgültig und kraftlos für den Gemuͤthszuſtand 
werben leicht leblofe Dinge; die man täglich um fich fieht; 
wenigſtens zu der Zeit, wern man mit etwas anderm be» 
fchäftiget ift. — Bey andern Borftellungen ift man fich 
einiges Eindrucks, den fie im Gemüthe bervorbringen, 
bewußt; jedoch ohne daß das Wohlgefallen obet Miß⸗ 

fallen, 


— — 





— — — 





klatur bewenden. Andere unterſcheiden die eigentlichen 

Zwecke des Moraliſten von den Abſichten der Arznenges 

lehrſamkeit oder der ſch. Wiff. nicht. Home ift vorzuͤg⸗ 

lich, Grundf. der Kritik, B. J. K. II. Auch Carte⸗ 
ſlius indem er — — animae * au. ge⸗ 
bbrauchen. 


Ven den vorn. Zuftänden des menſchl. Gem. 19 


fallen, welches fie verurfahen, ‚das Gemuͤth beunruhis 
get, und Beftreben oder Widerftreben nach fich zieht. 
In einem folchen Zuftand findet fich das Gemüth in An» 
fehung vieler wichtiger Dinge, wenn fie nicht gerade die 
Aufmerffamfeit befonders an fich ziehen; in Anfehung 
neuer Dinge, bey denen doch nichts befonders flarf auf 

fälle; in Anfehung der mehreften Menfchen in den ges 
voöhnlichen Verhaͤltniſſen. Worübergehendes Wohlge: 
fallen oder Mißfallen, aber nicht Begierde oder Verab— 
ſcheuung entftehn dabey. — Begierden oder Verab— 

ſcheuungen koͤnnen entſtehn, die Seele kann durch den 
Gegenſtand in merkliche Wirkſamkeit geſetzt werden; aber 
mit ſo weniger Kraft, daß faſt jede neue Borftelfung ge⸗ 
ſchickt iſt, augenblicklich dieſelben zu vertilgan. Bey 
Kindern und jedweder Art ſchwacher, veraͤnderlicher 
Seelen, find ſolche Eindruͤcke und Ruͤhrungen gewoͤhn⸗ 
lich. — Endlich bey den ſtaͤrkern Gemuͤthsbewegungen, 
welche die Natur mit charakteriſtiſchen, einem jeden 
Menſchen verſtaͤndlichen Veraͤnderungen im Geſichte, 
oder andern aͤußern Theilen des Koͤrpers verknuͤpft hat, 
behauptet entweder noch die Vernunft die Herrſchaft, 
und die Seele hat es in ihrer Gewalt, den Aeußerungen 
ihrer Empfindungen Einhalt zu thun, wenigſtens aller 
Entſchließungen und Handlungen, nach dem Antrieb jener 
Empfindungen, ſich zu enthalten; oder dieſe werden die 
herrſchenden Triebe ihres ganzen Verhaltens. — Bey 
welchem Unterſchied ſoll nun der Name des Affects 
und der Leidenſchaft anfangen gebraucht zu werden? 

Dies iſt an ſich gleichgültig. Aber es iſt nicht 
gleichgültig bey der Unterfuchung ‚des Verhältniffes. der, 
Affecten zur Tugend, Weisheit und Gluͤckſeligkeitz; nicht 

5 4 gleich“ 





120 Buch I. Abfchnitt IR. 


gfeicheüftig bey der ung obliegenden Unterfuchung der näch« 
ften Urſachen und Wirfungen des Affects, 
Wenn jener zufege befchriebene Zuftand, wa bie 
Lidenſchaft in ihrem vollen Ausbruch ift, nur Affect 
beißen follte: fo würde die Erfahrung wohl ohne Ausnah⸗ 
me beweifen, daß der Affect mit einer Berdunfelung 
und Bermirrung der Ideen, nicht bloß als Urfache, 
fondern auch als Wirfung verfnüpfe if, Aber der vor 
diefem legtern bemerfte Grad der Stärke der Gemuͤths⸗ 
bervegung kann mit Klarheit und Deutlichkeit der Vor⸗ 
ftellung noch wohl beſtehen. Co ſieht der Held in der 
Schlacht den Tod in hundert ſchrecklichen Geftaften vor 
ſich; kennt die Gefahr, in der er ift, und den Werth 
feines Lebens; ſieht feine Getreuen fallen, und fühle alg 
Menfchenfreund; fieht den drohenden Feind, und fühle 
Ehre und Rache, Dennod) eben fo weit von der würhen« 
den Verzweiflung, als von der unthaͤtigen Zufriedenheit 
entfernt, faßt er altes im hellen Blick; urtheilt nach 
den wahren Berhättniffen, und befchließt, nach der Ueber⸗ 
einſtimmung der wichtigften Abſichten, mit hellem Vers 
ftand und mächtigem Antried. So fieht der Patriot 
alte herrliche Folgen weiſer Rathſchlaͤge und Anftalten, 
das Glück ganzer Voͤlker, in tieffinnigen Schlüffen vor ſich, 
Innigſtes Vergnügen durchſtrömt ihn, himmliſche Hei⸗ 
terkeit leuchtet aus ſeinem Geſicht. Dennoch verdunkelt 
ſich nicht ſein uͤberſchauender Blick. Einleuchtende 
Wahrheit iſt die Quelle ſeines ſtarken Gefuͤhls, und weis 
tere Aufſchluͤſſe ſind die Folgen feines tebhaften Andrinz 
gens. So endlich Fann der Weife, mitten im Gefühf, 
feines aus deutlicher Einfiche groß geachteten Verluſtes, 
feiner Pflichten eingebenE bleiben; und ber Eboiler ne 


Von den porn. Zuftänden des menſchl. Gem. rar 


beftigen förperfihen Schmerz den Beweis führen, daß 
diefer Schmerz den Menfchen nicht nothwendig ungluͤck⸗ 
fi) mache. Aber wir dürfen die Wirfungen der Kunff 
und Weisheit nicht mit den Wirfungen der Natur ver« 
wechſeln. Wiewohl auch ſchon die Natur Unterfchiebe 
hiebey macht; fo ift doch die gewöhnliche Wirfung der 
Affeeten , wenn fie auch nicht aus dunfeln und verworres 
nen Vorftellungen entftanden find, daß fie folche hervor 
bringen, Denn es mag entweder eine Vorftellung fehr 
lebhaft, oder es mögen viele Vorftellungen zufammen 
wirfen: fo werden dadurch vielerlen andere Vorftellun« 
gen erregt und zugefelle. Und bey einem folchen Zufam« 
menfluß und Gedränge ber, Vorftellungen, alles deutlich 
gewahr zu werden und zu unferfcheiden, ift dem menſchli⸗ 
hen Verſtande nicht feicht gegeben. $eicht entftehen ba 
verfälfchte Vorftellungen durch die Vermiſchung ähnlicher 
oder ſonſt verfnüpfter, aber bier doch nicht vorhandener 
Dinge und Umftände ; und daraus dann weiter irrige 
Urtheile und unſchickliche Handlungen. Noch mehrimird 
der Irrthum beym Affect dadurch befördert, daß man, 
um fo viel vollftändiger eine Sache einzufehen, leicht ſich 
überredet, je lebhafter man von einigem gerührt wird; 
obgleich aus der VWernunftlehre und Erfahrung gewiß ift, 
daß man um fo viel weniger geſchickt ift, auf alles Ache 
zu geben, mas an einer Sache zu merfen ift, je lebhaf« 
ter man von einem Eindruck gerührt iſt. Endlich koͤmmt 
noch hinzu, daß die Begierde, das, was man bereits ge, 
than hat, zu rechfertigen, geneigte macht, die Sach⸗— 
immer vonder Seite anzufehen, die den Affect erreget hat ; 
wenn fie auch noch fo viel falfches Sicht enthält, oder noch ſo 
wenig zureichend iſt, das Ganze richtig zu beurtheilen, 


22 Buch J. Abſchnitt IL 


Aus allem dieſem erhellet auch leicht, woher es 
koͤmmt, daß die triftigſten Beweggründe und die gruͤnd⸗ 
lichften Gegenvorftellungen während des Affects fo wenig 
fruhten. ie fönnen entweder nicht durchdringen durch 
die Wellen der regen Empfindungen, durch die Ströme 
der verworrenen Vorftellungen; oder fie nehmen von der 
Vermengung mit denfelben einen falfhen Schein, und 
eft eine ganz andere Geftalt an. Oder fie find fchon 
barum verhaßt, daß der andre uns widerlegen und belehren 
will; da mir doch — fo glaubt man im Affect — wohl 
wiſſen, was wir thun und was wir empfinden; weit 
beffer, als der andre, der nicht alles weiß, oder nicht Ans 
theil genug nimmt, die Sache zu beurtheilen, im Stan« 
de find, So erbittert man und bringt das Gemürh nur 
immer mehr auf, indem man befänftigen und beruhigen 
will. Einem Zornigen mit Gründen Einhalt thun wols 
fen, fagte Pythagoras, ift fo viel, als gegen das Feuer 
mit dem Schwert ftreiten. 

Uebrigens fann und foll hiemit nicht geleugnet wer⸗ 
den, daß man nicht einiges im Affect fchärfer ſieht, 
und manches bemerft, was man bey ruhigem Gemüth 
nicht würde bemerft haben. Die Lebhaftigkeit des Afe 
fects bringet mehreres zum Vorſchein, und giebt vielleicht 
auch mittelft des ftärfern Zufluffes von $ebensgeiftern den 
Organen eine mehrere Empfindlichfeit. Manches fieht 
man igt auch, weil man es nun fehen will; indem es 
dem fchon gefaßten Eindruck und Entfchluffe gemäß ift. 
Sieht nun, durdy Beleidigungen aufgebracht, die Flein- 
ften Fehler einer Perfon, da man vorher die größern 
nicht einfah; oder fieht alles, was fie enrfchuldigen und _ 


en fann, wenn man ef zu entfchuldigen und zu. 
bedecken 


Von den vorn. Zuftanden des menfchl, Gem. 123 


bedecfen geneigt ift. Aber alles diefes Sehen im Affece 
hat insgemein den Fehler, daß es einfeitig ift, und nicht 
leicht ohne falfchen Zufag bleibt, 

Daß auch der Affect die Seele thätiger und größe 
rer Entſchließungen fähig mache; beweiſet die Erfahrung, 
und ift aus dem Bemerkten begreiflich. :Die regen Vor⸗ 
ftellungen find außerordentlich lebhaft; die andern, die 
Zweifel und Bedenken erwecken würden, kommen gar 
nicht zum Vorſchein; jene wirfen afle auf einmal , oder 
Schlag auf Schlag. Aber wenn man behaupten wollte, 
daß der Affect allein zur Enefchloffenheit und Thaͤtigkeit 
bringe: fo müßte man die legtern Begriffe ungewöhnlich 
erhöhen, oder den erften ungemein herabftimmen, 

Ber genauerer Beleuchtung der Wirfungen der Af⸗ 
fecten, findet fich hier vielmehr noch ein Grund zu einer allge 
meinen Einteilung derfelben. inige wirfen auswärts, 
laſſen fich gleichfam im Sturm aus. Andere wirfen im In⸗ 
hern, drücken, nagen und verzehren. Jene gehen insges 
mein eher vorüber; indem theils die äußern Kräfte in eis 
nem fo gewaltfamen Zuftand nicht lange aushalten, theils 
diefe Offenbarung des Affects der Seele zur richtigen ‘Bes 
urtheilung eher behüfflih if. Denn mas den äußern 
Sinnen vorkoͤmmt, läßt fich leichter erfennen und unters 
(heiden, als was im Innern vorgeht. Insbeſondre 
Farin es zur $egung des Affects viel beytragen, wenn er 
fich in Worten ausläft. Denn dadurch werden nicht nur 
die Vorftellungen deutlicher, fondern der Seele wird auch 
leichter, als wenn fie der natürlichen DBeftrebung der ges 
reisten Werkzeuge Wibderftand thun muß. Unterdeſſen 
koͤmmt es freylich darauf an, wie viel wahren Grund der 
Affect hatte, oder wie lieſe a die RER = 

geſchla⸗ 


124 | Buch 1. Abſchnitt I. 


geſchlagen, und wie ſehr der Verſtand ſchon an die i irri⸗ 
gen Vorſtellungen ſich gewoͤhnt hat. Wo alles dieſes im 
großen Maaße beyſammen iſt: da geht wohl der Sturm 
voruͤber, aber die Triebe und Reizungen dazu werden bey 
jedem neuen Anfall eher vermehrt, als vermindert, Uns 
‚ser enfgegengefesten Umftänden aber kann der Geift, 
wenn er, aus feinen Vergehungen zu fernen und meifer 
zu werden, einigermaßen gefchicft ift, durch den Affect 
gebeffert werden. Er lerne fich kennen, ſchaͤmen, vor« - 
fihhtig feyn, vorbauen, ausweichen, Er lernt auch ans 
dere billiger und richtiger beurtheilen. 

Bon den Wirfungen der Affecten auf den Körper 
befebren ung die Aerzte, daß foldye bisweilen heilfam, oͤf⸗ 
ter aber nachtheilig, ja bisweilen toͤdtlich feyn *). | 


S. 26, 

Eintheilung der Gemüthezuftände in Anfehung der Art der Em⸗ 
pfindungen, Etwas Über die vermifchten Gmpfunnugen 
überhaupt, 

In Anfehung der Art der Empfindungen Eönnen 
die Gemuͤthsbewegungen, ſowohl die gelindern als die 
ftärfern, manchfaltig eingetheilt werden; wenn man auf 
alle Unterfchiede achten will. Natürliche und unna⸗ 
tuͤrliche, urfprüngliche und abftammende, edle und 
unedle, gefellige und ungefellige, felbftfüchtige und 
ſympathetiſche, thierifche und geiftifche, und noch 
mehrere fönnen unterfchieden werben. Aber diefe Unter 


FE 





—— — — — 





5) Zuͤckert von den Leidenſchaften. Des Mardes de animä 
adfeetuum i in corpus potentia, 





Bon den vorn. Zuftänben des menſchl. Gem. 125 


fchiede. haben entwdeber eine befondere Ausführung gar 
nicht nöthig, oder fie Förinen fie hier noch nicht erhalten, 
Nur der Unterfchied, daß die Gemüthsbewegung entwe⸗ 
der aus angenehmen oder unangenehmen, ober Her: 
mifchten Empfindungen entfteht, giebt hier gleich noch 
ju weitern Bemerfungen Anlaß. 

Man hat oft gefagt, daß dem Menfchen fein reis 
nes Vergnügen zu theil werde; und man kann mit wife 
fenfchaftlihhen Gründen es unfetftäen , daß er, wegen 
der nie völlig bequemen Lage eines jedweden Theiles feines 
Körpers, immer einigen Schmerz; empfinden . müffe: 
Aber wenn die Empfindung für nichts zu rechnen iſt, in 
fo fern man fich ihrer gar nicht bewußt wird: fo koͤnnen 
einige Empfindungen, und die aus ihnen entftehenden 
Gemürhsbewegungen, eben ſowohl für ganz angenehme 
gehalten werden, als andere für unangenehm, weil in 
ihrem Eigenthümlichen nichts als Schmerz oder Verdruß 
ſich offenbatet; | 
| Aber wahr ift es, daß die beyden Arten ungemifch- 
ter Empfindungen nicht fo häufig vorfommen, als bie 
gemifchten, und nicht lange dauern. Wenn auch aus 
förperlichem Gefühl reine einartige Eindruͤcke entftehen : 
fo leitet der Gedanfe oder die Phantafie bald andere Eins 
flüffe darunter, Die Vorſtellung einer groͤßern Luſt, als 
die gegenwärtige ift, der Gedanfe ihrer kurzen Dauer, 
das Bewußtſeyn des Unerlaubten, oder irgend eine Furcht 
vor unangenehmen Folgen und andere Urſachen miſchen 
gar leicht bittere Tropfen in die angenehmſten Empfin⸗ 
dungen. Nicht weniger aber ſind zur Verſuͤßung der 
Leiden unzaͤhlige Zufluͤſſe durch die Anſtalten der Natur 
und der Kunſt bereitet. Es iſt in der Welt kein Ding 

fl). 


26 Buch Abſchnitt II. 


ſchlechterdings boͤs; und nichts fo gut, daß es nicht am 
fich, oder im Berhaltniß zum Menfchen, eine unangenehme, 
fo wie jenes eine angenehme Eeite zeigen fönnte *). 

. + Befonders find bey den Wirfungen der Gympas 
thie die vermifchten Gefühle am ‚gemöhnlichften. Weni⸗ 
ge Menfchen vergeffen fic) fo fehr.beym Eindruck, den 
der Zuftand anderer auf fie macht, daß, nicht die Vorftela 
fung von ihnen felbft und ihrem eigenem Zuftande babey 
auf ſie mit wirfte. Beym Mitleiden, welches das Uns 
glück anderer ihnen erregt, Fönnen fie ihres eigenen befr 
fern Zuftandes mit Wohlgefallen, fi) bewußt werden; 
und bey der Theilnehmung an den. Freuden anderer enta 
ſtehen leicht .felbftfüchtige Wünfche. Es kann aber aud) 
aus einer edfern Duelle, aus dem Bewußtſeyn, daß die 
fompathetifche Empfindfamfeit gut ift, und noch mehr, 
Ze aus 


— — — — — — — —— — — — — — — — — mn nn 


#5, Mendelsſohns Philoſ. Schriften, Th II. ©. 32. 
Malebranche behauptet, daß bey allen Affecten ein 
‚ angenehmes Gefühl fih einmifhe, welches aus dem 
Bewußtfeyn entftehe, daß man jich (er meynet haupts 
fächlich den Körper) in einem den Umftänden angemeffes 
nen, ſchicklichen Zuftande befinde, de la R..de la V. 
liv. V. ch. Hl. Aber allgemein ſcheint es die Erfabs 
rung nicht zu beflätigen. Zwar fobald die Vorftellung 
entfteht, daß man in einem unfchiclichen Zuftande fey, 
ſo ift eine Urfache des Mipfallens da; und bey iediveder 
Art von Afferten Eann der Gedanfe, daß ber Affect da 
ſchicklich ſey, entſtehen, und Urfache feyn, daß man fich 
nicht bemüht, aus demfelben herauszufoimen. - Aber 
nicht in jedem Falle gefchicht es wirklich. 3. E. beym 
Schmerz, bey der Furcht, gerwiffen aus dem Körper 
entfiehenden heftigen Begierden. Auch nicht wegen des 
vermehrten Gefühle der Kräfte hat jeder Affect immer 
etwas angenehmes, 





Von den vorn, Zuftänden des menſchl. Gem. 12? 


aus — Bewußtſeyn des Verlangens und ber Faͤhigkeit, 
dem andern zu helfen, dem Mitleiden angenehme Ems 
pfindung ſich zugefellen. Wenn insbefondre durch dich— 
teriſche Vorſtellungen unſer Gemuͤth in. fi ympachetiſche 
Bewegungen geſetzt wird: ſo kann der Gedanke, daß es 
nur Erdichtung iſt, in dem einen Falle angenehme, in 
dem andern unangenehme Empfindungen dem Hauptein⸗ 
drucke zugeſellen. 

Warum dem hoͤhern Alter nicht mehr ſo reine 
Empfindungen der Luſt zu Theil werden, als der mun⸗ 
tern Jugend; davon laſſen ſich die —— leicht finden, 
Die Organen find nicht mehr fo febhafter Eindrüce für 
big; und durch die Vergleichungen mit den ehemaligen 
verlieren fie in der Vorſtellung gleich noch mehr. Die 
zu allerhand Beforgniffen gewohnte Vernunft, die mit 
unangenehmen Vorftellungen erfüllte Imagination, der 
allerhand beſchwerliche Gefühle erzeunende Körper, find 
fo viele Quellen, angenehme Empfindungen zu verbiftern, 
Aber dafür werden auch die unangenehmen- Empfinduns 
gen, theils wegen der mindern Retzbarkeit der Werkzeu— 
ge, theils wegen der Uebungen der Vernunft, a — 
cher und. a Ä 


y $. 27. n 
on den angenehmen Gemürhszufänten, der Aufriedenheib | 
und Freude. 

— Yngnehme Gemuͤthszuſtaͤnde heißen uns alſo die— 
jenigen, wo die angenehme Empfindung entweder rein, 
oder doch dermaßen uͤberwiegend iſt, daß, nach der ge— 
wöoͤhnlichen Weiſe, der Zuſtand von ie den Namen 
befömmt, 

Unſere 


238 Buch. Abſchnitt IE 


Unfere Sprache hat verfchiedene Namen für diefen 
Bemütbszuftand ; Zufriedenheit , Behaglichkeit, 
Heiterkeit, Froͤlichkeit, Freude, Entzuͤckung. 
Die Unterfchiede fcheinen, nach den mehreften Anwendun⸗ 
gen, fo angegeben werden zu Fönnen, daß Zufriedenheit 
die Ruhe des Gemüths in der Abweſenheit aller merklich 
unangenehmen Eindruͤcke bedeutet; Behaglichkeit den Zu⸗ 
ſtand, wo die angenehmen, befonders koͤrperlichen Gefuͤhle 
die Seele ſchon aufmerkſam machen; Heiterkeit aber, wenn 
durch die Leichtigkeit der innern Bewegungen die Seele 
ſich zu ihren Verrichtungen geſchickter fühlt: In allen 
dieſen Hallen braucht Feine befondere Urfache des Ver— 

ügens ber Geele bekannt zu ſeyn. Freude aber und 
Froͤlichkeit, bey denen der Affect fichtbarer wird, erfor- 
bern biefelbe *). Entzuͤckung bedeutet ben böchften 
Grad diefes Affects. 


Bon dem Urfprung biefer angenehmen Bemiihe 
äuftände läßt uns die Beobachtung bald und ficher fo viel 
bemerfen, daß eben ſowohl aus ber Befreyung von Uns 
angenehmen Eindrücen, als aus folchen, die an fi) uns 
angenehm find, diefelben entftehen koͤnnen. Wenn wie 
bon einer Krankheit, oder von einem.furzen, aber heftigen 
Echmerz, oder von verdrießlichen Gegenftänden befreyet 
worden find: fo ift der darauf folgende fchmerzlofe Zus 
ftand nicht fo gleichgültig und unwerth, als er gervefen feyn 
würde, wenn Fein unangenehmerer vorhergegangen wäre, 
Wenn 


PEPIRRENE 





— = — 





) nee unterſcheidet Wolf von ber Freude dadurch, 
baß jene über das Ende eier Unluſt en Mer 


pbyf. 3. 447; 





Bon den vorn.Zuſtaͤnden des menfchl. Gem. 129 


Wenn ein Menſch aus einem finftern, engen Gefängnif- 
fe: in die freye Juft koͤmmt, „oder in feinem Zimmer fi 
ſelbſt wieder uͤberlaſſen ift;: was brauche er! ‚mehr, um er⸗ 
freuet, um entzücke zu feyn ?. Das Zimımıe, in weichen 
er ſo oft lange. Weile hatte, die Luft, die ohne Echnell- 
kraft für: ihn zu feyn fehien, die Gegenftände ‚alle, die 
mit ihrem gewöhnlichen Eindruck ihn nicht mehr rührten; 
alles lacht ihn ibt an, und uherſchuetet ihn mit Wonne⸗ 


gefuͤhl. 
Wenn, * einem —— Srundfaße, die — 
Empfindung aus einer gelinden Bewegung entſteht, 
und der Schmerz aus heftiger, allzuſtarker Bewegung 
oder Spannung: fo läßt ſich von jenem Uebergang, von 
dem unangenehmen Gefühl. zum angenehmen, ohne be- 
fondere außerliche Veranlaffung ,. eine Urfache) darinn 
gedenken, daß, wie in der Natur alles.nach dem, Gefege 
der Thaͤtigkeit entfteht und vergeht, auch die heftigen, 
Schmerz verurfachenden Spannungen oder Erfchütterun. 
gen der Empfindungswerfzeuge, wenn fie fich endigen, 
allmaͤhlig in folche gelinde. Bewegungen fih v rieren, 
aus denen die angenehmen Gefühle entfiehen. Mod) eis 
ne andere Urfache liege aber auch in den Wirfungen des 
Eonrraftes (F. 4.), wenn die Vorftellung des verhaften 
Zuſtandes noch lebhaft in Erinnerung ift; fo leuchtet das | 
Gute des fchnierjlofen Zuftandes ftärfer ein. Was bey 
der Vorftellung größerer Vergnuͤgungen beym hochflie gen⸗ 
den Wunſche für nichts geachtet wird, nicht befriediget; 
das zieht die aus der Tiefe emporftrebende Seele Teiche an 
ſich. . Als noch unter den unangenehmen Eindrücfen bie 
Seele litte, und der vorige beſſere Zuſtand fo wiünfcheng- 
werth dagegen ſich zeigte; da geſellten ſich vielleicht auch, 
em Theil J nad 


130° Buch L Abſchnitt II. 


nach dem’ gewöhnlichen Gefege der Ideenverknuͤpfung, 
noch mehrere angenehme Vorſtellungen, als diejenigen, 
die ihm weſentlich find, Hinzu; und aud) diefe vermeh⸗ 
ren, menigftens in den erften Augenblicken, das Wohl 
gefallen an ihm. In manchen Fällen des Förperlichen 
Schmerzes werden durch die Erfchütterungen felbft, oder 
durch andere Mittel’ der Genefung, die Werkzeuge gerei- 
niget und entfaltet, und alfo zu fo viel lebhafterer Em» 
pfindung des Angenehmen geſchickt gemacht. Und von 
der Seele, ober der Imagination, läßt ſich nicht weni« 
ger fagen, daß durd) ernftliche $eiden, durch ſchwere Uns 
glüdsfälle, fie, bismeilen von fetbftgefchaffenen Plagen, 
von träumerifchen Vorftellungen und unnatürlichen Ber 
gierben gefäubert, und ein natürlicherer Zuftand in ihr 
wieder hergeftelle werde *). 1 | 

1 | Aber 





— — 








— 


*) Diefen Satz, von dem Urſprung der angenehmen Empfin⸗ 
dung aus dem geendigten Schmerz, haben einige Phi⸗ 
loſophen allgemein zu machen, und zu behaupten ge⸗ 
ſucht, daß alle phyſiſche und moraliſche Vergnuͤgungen 
aus der Endigung irgend eines klar oder Dunkel ems 
pfundenen unangenehmen Eindrudes entfliehen. Am 
ausführlichften thut e8 der Verf. der Idee full indole 
del piacere, Milano 1774. beutfch mit. Anmerf. vom 
Hrn. Prof. Meiners 1777. Es thut es auch der ges 
lehrte und ſcharfſinnige Antonio Genovef, Scienze Me- 
tafifiche p. 350. ſeq. So wenig auch der Sa allges 
mein erwiefen werben kann: fo viel Scharffinniges fins 
det fich in dem Werfuche diefer Philofophen. Wie die 
Vermiſchung und Abwechfelung des. Angenehmen mit 
dem Unangenehmen Urfache fey, warum die vermifchten 
Empfindungen dauerhaftere Reize haben, als die. ganz 
angenehmen, zeigen Mendelsſobn l.c, und Eampe 
von den Empfind, und Ertennmißfräften ©, 53. 


Bon den vorn. Zuftanden des menfchl, Sem. 131 


Alber wie der Schmerz eine mittelbare Urſache der 
Luſt werden kann: alſo kann auch Freude auf vielerley 


Weiſe Urſache des Verdruſſes und Schmerzes werden. 


Alle Arten angenehmer äußerer Empfindungen find nur 
bis zu einem gewiffen Grade der Stärke des Eindruckes 
angenehm; zunehmend werden fie ſchmerzhaft. 

Und aud) bey den innern lebhaften Kührungen ha» 


ben Menfihen oft befannt, daß ihr Vergnügen zu groß 


fey, daß fie e8 nicht aushaften, nicht ertragen koͤnnen. 
Auch in diefer Rücficht gehn die Begierden des Men. 


fhen oft weiter, als feine Kräfte — Die Aerzte erzaͤh⸗ 


fen uns, daß von plöglicher, übermäßiger Freude, $eute 
auf der Stelle getöbtet oder unfinnig wurden *). 

Ferner aber hindert die Sebhaftigkeit des Vergnuͤ⸗ 
gens nicht nur, wie alle Affecten, die Ueberlegungen und 
vollftändigen Beurtheilungen der Vernunft; und befoͤr⸗ 
dert ben Ausbruch fonft unterdrücter Triebe; fondern 
ihr iſt es befonders eigen, den Eindruck unangenehmer 
Vorftellungen, und bie Adytfamfeit auf diefelben zu ver. 
hindern. Denn was ben herrſchenden Vorftellungen und 
ſtaͤrkern gegenwärtigen Eindrücfen entgegen ift, findet 
nicht Teiche Eingang. Daher macht die Freude fo leicht 
nachlaͤſſig in Beobachtung des Wohlftandes, überhaupt 
aber forglos genen die Zufumft, Daher hat es die 
Klugheit zur Regel gemacht, bey fehr erfreuliche 

3 Ja Nach⸗ 








Leo X fol durch die Fremde über bie Nachricht, von ber 
Vertreibung der Sranzofen aus dem Maplaͤndiſchen, das 


Fieber fi „augegsgen haben, an welchem er geftorben. 


Robersfon Hift. Charles V. II. 144. Mehrere Bepfpies 
le bat auch Des Marees |, c, p. 23. | 


— 


33 Bruch J. Abſchnitt IL... - 


Nachrichten die kleinſten widrigen Umſtaͤnde in Erwaͤgung 
zu ziehen, und ſeine Aufmerkſamkeit zu verdoppeln. Der 
ſo oft angeklagte Wechſel des Gluͤcks hat vielleicht oͤfter, 
als man gern glaubt, ſeinen Grund in uns ſelbſt. 


Aber das Vergnuͤgen iſt nicht dazu beſtimmt, uns 
bloß auf Augenblicke zu begluͤcken, und Schmerz auf die 
Zukunft zu bereiten. Die Freude in gehoͤrigen Schran⸗ 
fen und unter der Aufſicht der Vernunft, iſt die Quelle 
vieler der heilfamften Veränderungen für Leib und Seele, 
Sie befördert, nad) dem Berichte der Aerzte, die für Die 
Gefundheit und KHeiterfeit. fo wichtige unmerfliche Aus» 
duͤnſtung, fie befördert die Verdauung, fie erleichtert die 
Muffelbewegung; fie träge nicht nur zur Heilung der 
Krankheiten allemal fehr viel bey, fondern ſie hat in vie- 
fen Fällen diefelbe faft, oder.ganz allein bewirket. Pei⸗— 
reſcius ift von der Sprachloſigkeit und Lähmung durd) 
das Vergnügen geheilet worden, fo ihm ein Echreiben 
- des Thuans verurfachte. In gutartigen Gemürhern 
‚erweckt die Freude Siebe zu Gott, und Siebe zu den Mens 
fchen aus Danfbarfeit gegen Gott. Allemal ift fie Der 
Gürigfeit und Freundlichfeit dadurch befoͤrderlich, daß 
fie die Unzufriedenheit wegnimmt, die fich. fo leicht an 
unfchuldigen Gegenftänden- auslaͤßt; und die Vorftellung 
von Uebeln zerfireut, deren Einmifchung bey jedweder 
halben Veranlaffung fo leicht Miftrauen, Zorn und Haß 
im Gemüthe: erzeugt. Alles färbt fih im fichte des 
Celbfigefühls. Bisweilen ift der Menſch auch darum 
gütiger, wenn er vergnügt ift, weil die Sympathie mit 
fremden Schmerze fein Vergnügen zu unterbrechen droßt. 
Selbſt unzufrieden, Fonnte er im Gluͤcke anderer Anlaß zum 

| | " Meide, 


Von den vorn. Zuftänden des menfchl. Gem. 133 


Meide, in ihrem Unglüce eine berubigente"Bergteichung 
finden, 

Die Hauptfache kommt immer auf'die Ausbildung 
des ganzen Charafters an, und wie weit die Vernunft in 
demfelben die Herrfchaft ausübt. Nicht nur find niche 
alle Ausbrüche des Wohlwollens wahre Güte. Es giebt 
auch Gemüter, die durch die Freude, die ihnen wider— 
fährt, ungeftüm und befeidigend werben; indem fie alles 
auf ihre Verdienfte rechnen, und das Vertrauen auf ihre 
Kräfte oder ihr Gluͤck durch sänfige Eraͤugniſſe zu ſche 
— laſſen *). 


S. 28. 
Bon den unangenehmen Gemuͤthszuſtaͤnden aͤberhaupt. 


Die mancherley unangenehmen Gemüthsbeweguns 
‚gen vermifchen ſich zu haufig mit einander, als daß in 
den gemeinen DBenennungen derfelben lauter .rein abge» 
fonderte, und genau beftimmte ‘Begriffe fich finden follten. 
-Unterdeffen laſſen ſich einige Unterfchiede deutlich genug 
bemerfen und angeben. Die Unzufriedenheit über feinen 
Zuftand entfteht bisweilen aus deutlichen, wenigſtens 
klaren Vorftellungen der Urfachen diefer Unzufriedenheit, 
‚bisweilen aus dunen Vorſtellungen und unentwickelten 
33 | Ge⸗ 


— 








— — — — 


— Auch muͤſſen. die Sirkuntgen der Verſtellungekunſt von 

den Wirkungen der Natur unterſchieden werden; wenn 

man Beobachtungen hieruͤber anſtellen will. Earl V 

beſcheidenes und fanftes Betragen bey der Nachricht von 

+ feines großen Nebenbuhlers Niederlage und Gefangen⸗ 

al ſchaft CKobertſon II. 230.) muß wohk zu den erſtern 
nn; vielmehr, als zu den legtern gezählet werden. ' 





134 Such J. Abſchnitt IL, 


Gefühlen. Diefe Urfache denkt man ſich bisweilen als 
ein unvermeibliches Schieffal, nicht durch jemandes 
Schuld hervorgebracht ; dann entfteht Traurigfeit. 
Denft man ſich aber die Urfache feines unangenehmen 
Zuftandes, als durch jemandes Schuld oder Verfehen 
entſtanden: fo ift die Empfindung Verdruß, Wo man 
ſich ein Uebel, als an fi) vermeidlich, durch jemandes 
Schuld entſtanden, vorftellt; da erwarhen natürlicher 
Weiſe die Triebfedern der Thätigfeit. . Hingegen finfen 
die Kräfte zufammen bey der Vorftellung des unveränder- 
lichen, eifernen Schickſals. Traurigkeit, Betruͤbniß, 
machen daher unthätig , niedergefchlagen ; Verdruß 
äußert fich durch Thaͤtigkeit. Zorn ift ein hoher Grad 
von Verdruß; insbefondre aber heißt fo der Verdruß 
über Werfehen ober Vergehungen eines andern. Ben ber 
Unzufriedenheit über feine eigenen Vergehungen entftehen 
Reue, mitrelft der Erkenntniß der Falfchheit und Schaͤd⸗ 
fichfeit der Beweggründe, denen man gefolgt iſt; und 
Schaam, mittelft der Erfenntniß der Kleinbeit, der 
Schwäche, die ein folches Betragen beweiſet. Beyde 
Fönnen bald mehr vom Zerne, bald mehr von der Trau⸗ 
rigfeit an fich nehmen; je nachdem ber Gedanfe von 
Vermeidlichkeit der fehlerhaften Handlungen, wenn man 
nur gewollt hätte, ober der Gedanke, daß das Gefchehes 
ne num nicht mehr zum Ungefchehenen gemadjt werden 
kann, der Seele obſchwebet. 

Aus der Vorftellung eines fünftigen Uebels ent- 
ftehe die Furcht. Aus der ploͤtzlich erregten Vorftellung 
eines nahen äußerlichen Uebels Schrecken: bey großen 
und ungewöhnlichen Dingen Entſetzen. Furcht aus in« 
nern Empfindungen ohne klare Borftellung des Liebels 

EP a — iſt 


Bon den vorn. Zuftänden des menſchl. Gem. 135 


iſt Angſt. Furcht ohne alle Hoffnung ift Verzweife⸗ 
lung ; alfo entweder Furcht der endlofen Dauer des ges 
genwärtigen unerträglichen Zuftandes , - oder Furcht 
vor gewiß bevorfiehend und maueſteblich ſcheinenden 
Uebeln. 

Auch die Vorſtellung — Gutes kann Unzufries 
denheit hervorbringen. Die Begierde darnach, oder 
das Verlangen, kann zwar ein gemifchter Zuftand 
ſeyn, mittelft der Hoffnung, dazu zu gelangen, und des 
Vorſchmacks, den die Einbildungskraft davon verfchafft. 
Aber e8 kann audy ein ſehr unangenehmer, fehmerzhafter 
Gemuͤthszuſtand daraus eneftehen; wenn entweder bie 
Begierde zu ftarf ift, als daß fie fid) durch diefen unvoll⸗ 
kommenen Genuß befriedigen läffet, oder allerhand ande» 
te unangenehme Vorſtellungen ſich dazu gefellen. Der⸗ 
gleichen find die Vorftellungen,daß wir deffelben vielleicht nie 
theilhaftig werben, daß ein anderer es ung entziehen, daß es 
fonft Schaben leiden koͤnne. Das Verlangen nad) einem 
fonft genoffenen Gute heiße Sehnfucht ; bey welcher das 
Mißvergnügen gleichfalls fehr verfchiedene Grade bar 
ben fann. 

Das Mißvergnuͤgen über das Gute, das ein an 
derer befißt, heiße Mißgunſt; und Meid, wenn es 
mit dem Wunfche verfnüpft ift, es felbft zu befigen. 
Die unangenehmen Gemüthszuftände befommen noch 
bisweilen bey ber längern Dauer berfelben, ober einiger 
Vermifchung mit andern, befondere Namen. Eo wird 
anhaltende Betruͤbniß, mit Berdruß über fich felbft ver⸗ 
mifhe, Gram; mit Verdruß über andre vermifcht, 
Kummer ; innerlic) fortdaurender, zum gelegenpeitlichen 
Ausbruch bereiter Zorn wird Groll genannt. u 

J4 Viel-⸗ 


136 Bruch J. Abſchnitt II, 


Vielleicht koͤnnte jemand aus den mehrerern Na⸗ 
men fuͤr unangenehme Gemuͤthszuſtaͤnde, als fuͤr die an⸗ 
genehmen nicht angemerkt worden ſind, die Folge ziehen 
wollen, daß mehr Boͤſes als Gutes im menſchlichen Le⸗ 
ben vorkomme. Allein die Folge wuͤrde ſehr uͤbereilt ſeyn. 
Bey unſerer fluͤchtigen, eingeſchraͤnkten und durch fo vie⸗ 
lerley Zufaͤlle beſtimmten Erkenntniß, laͤßt ſich nicht von 
der Menge der Namen, die wir haben, auf die Menge 
der Dinge, die da find, ſchließen. Und bey wenigem 
Nachdenken findet man bald, daß ned) viel mehr Arten 
angenehmer Gemürhszuftände, Arten von Vergnügen, 
ſich unterfcheiden laſſen, als in dem gerade dazu vorhan⸗ 
denen Mamenverzeichniffe « nicht gefcheben ift. Aber . 
daß es bier nicht eben fo wohl gefchehen ift, als bey der 
andern Klaffe; davon läßt fic) vielleicht als Urfache ar 
geben, daß bey den angenehmen Empfindungen die Er» 
weckung zum Nachdenken, Unterfcheiden und Anmer—⸗ 
fen, nicht fo natürlich, und daher bey den meiften Mens 
fehen nicht fo gemein ift, als bey den unangenehmen. 
Jene fann man leichtfinnig und gedanfenlos hinnehmen; 
von diefen fucht man ſich zu befreyen; und fo lernt man 
fie genauer fennen. Auch ift dem Menfchen insgemein 
mehr daran gelegen, von diefen andere zu benachrichtigen, 
als von jenen, Kin neuer Grund, von den einen eher 
als von den andern beftimmte Begriffe ſich zu machen, 


§. 29, 


Genauere Unterſuchungen über die Natur einiger diefer Ge⸗ 
muͤths zuſtaͤnde. Won der Traurigkeit. 


Der Urſachen der Traurigkeit kann es fo viele ge— 
ben, ſo viele Arten von Uebeln es giebt, zu denen die 
Fe Se | Bor. 


Von den vorn. Zuftänden des menſchl. Gem. 137 


Vorſtellung unferes Unvermögens,, ihnen abzuhelfen, 
ſich gefellen fann. Wer will diefe abzaͤhlen? Wir wol: 
fen nur dem Gange bdiefes Gemuͤthszuſtandes, ſeinen 
Wirkungen und Abfaͤllen, genauer nachſpuͤhren. 


Bey allen Arten unangenehmer Gemuͤthsbewe⸗ 
gungen, entfteht leicht Vergrößerung des Uebels; indem 
fid) die Imagination bey der Erweckung und Zulafjung 
der Ideen immer nach dem Haupfeindruck richtet. Bey 
der Traurigkeit gefchieher Dies um fo viel mehr, da die 
Empfindung oder Vorftellung unferer Schwäche, der 
Unmöglichkeit, dem Uebel abzuhelfen, alle Reize ber 
Thaͤtigkeit unterdrüct, und die Gewißheit des Uebels 
den Lauf der unangenehmen Vorftellungen durch Feine 
Hoffnung leicht unterbrechen laͤſſet. Freylich ſchwaͤcht 
auch umgefehrt die ftarfe Empfindung des erlittenen 
Uebels das Bewußtſeyn unferer noch übrigen Kräfte und 
Vollkommenheiten. 


Wuenn denn die traurigen Vorſtellungen ſo voͤllig 
die. Oberhand gewinnen: fo entſteht auch wohl der Glaube, 
daß es für einen gar Feine Freude mehr gebe, daß man 
derfelben nicht mehr fähig fen; zur Gefellfchaft. der Frös 
ligen fich nicht mehr ſchicke. Selbſt die Freuden, bie 
man vorher genoffen hat, kommen einem igf unſchmack⸗ 
haft vor; weil man das Organ dazu,. die enthüllte 
Seele, nicht hat. Oder als verderblich, feclengefähr- 
lich; wegen der Verwandtſchaft der a mit ber 
Furcht. 

Der Traurige flieht daher vor den: ‚Gelegenheiten 
ber Aufbeiterung und Zerftreuung, liebe die Einſamkeit, 
ſucht ſich Gegenftände aus, Die, wie er denft, zu feinem 
En. 5 Ges 


138° Wucht. Abſchnitt I. 


Gemuͤthszuſtande ſich am beften ſchicken, finftere Gegen» 
den und melancholifche $eftüre. Ze 
Dadurch haͤuft und vertieft er nicht nur die unan⸗ 
genehmen Eindrücke in feiner Imagination; ſondern er 
erzeugt auch neue Nahrung durch die Difpofifionen des 
Körpers, die aus diefem Stilleftehn der Lebensgeifter ent 
ſtehen. Es läßt fich daher wohl begreifen, wie durch 
lange Unterhaltung mit den betrübten Vorftellungen bie 
Traurigkeit fo tiefe Wurzel fehlagen könne, daß fie fid) 
nicht verliere, wenn auch die erfte Urfache derfelben ges 
hoben wird, Fa es können die düftern Vorftellungen fo 
fehr erhöht werden und die Seele einnehmen, daß bie 
wichtigften Eräugniffe gar feinen Eindruck mehr machen, 
und das Licht der Vernunft ganz verlöfcht. Br 
"Außer der allmähligen Zerftrenung der trauri-⸗ 
gen Bilder durch jedwede neue Eindrücke, giebt es insbes 
ſondere zwey Gemuͤthsbewegungen, durch welche bie 
Traurigkeit oft uͤberwaͤltiget wird. Dies ſind ploͤtzlich er⸗ 
regte Furcht und Liebe. Jene, indem ſie Triebe der 
Thaͤtigkeit erweckt, und den Geiſt aus den gewohnten 
Vorſtellungen herausreißt, in die er eingekerkert war, 
kann zu ermunternden, muthmachenden Gefuͤhlen verhel⸗ 
fen; wenigſtens doch neue, die alten zerſtreuende Borftels 
fungen aufbringen. Dies Fann ſich in das Gemürh des 
Traurigen unter der Geſtalt des Mitleideng einfchfeichen, 
welches er theils für fich zu erwecken, theils aud) andern 
zu ermeifen geneigt ift. Es iſt ihm auch dazu der Hang 
zue Betrachtung und Ausfhmücung der Eindruͤcke, 
die einmal die Phantafie empfangen hat, behüfflid). 
Indem die Traurigkeit für die meiften äußerlichen 
Gegenſtaͤnde, befonders die lebhaften, am meiften zer⸗ 
—— | freuen» 


Von den born. Zuftänben des menſchl. Gem. 139 


fireuenden Vergnuͤgungen unempfindlich; - indem ſie den 
Gang der. gebensgeifter langfamer; indem fie furchtſam 
und mißtrauifch macht; ift fie dem tiefen Nachdenfen 
vorteilhaft *). 

Eben dadurch macht fie auch) geroiffer feinerer, . Alte 
genehmer Empfindungen fähig, welche die Jebhaftige 
feit des Fröligen, oder die Stärfe äußerlicher angenehmer, 
Eindrüce nicht auffommen läßt... Ueberhaupt find Ber. 
gaügen und Traurigkeit ‚nicht fo entfernt von einander, 
daß fie fich nicht manchfaltig zufammengefellen und aus 
einander entftehen koͤnnten. 

Maehrere der nachfolgenden Unterfuchungen werben 
dies beftätigen und aufflären. Es find auch Thränen 
fein Beweis überwiegend unangenehmer Empfindungen, 
Man meint bey unerwarteten oder übermäßigen Freuden ; 
bey einem Gluͤck, das zu groß ift, um ftolz feiner Kraft 
es zufchreiben zu Eönnen, ober das fich hebt durch die Er⸗ 
innerung des Dadurch ‚geendigten Leidens. In der aͤußer⸗ 
ften Betrübniß, beym ftarrmachenden, ober alle Triebe 
federn laͤhmenden Schmerz, weint man nicht, * kei⸗ 
nen — von f ch hören **), 


6. 3% 


Vom Zorn und einigen verwandten Leibenfchaften, 


Wenn nad) allen Affecten fih behaupten laͤſſet, | 
daß ſe ie den —— Give Vernunft — fol iſt 
doch 


5) In einigen Gegenden werden melancholiſche Leute siehe 
 ‚„fülnig genannt, - | 
0} ©. re Hift, of Charl V, IL 14. L 








40° Bucht. Abſchnitt mH. 


doch gewiß, daß folches vornehmlich vom Zorn gefagt 
werden koͤnne: Ira furor breviseft. In feinem Affecte 
- pflegen. die Menfchen gewoͤhnlich fo fehr fic) zu vergeffen, fo 
fehr fich felbft unähnlich zu werden, in der Seele wie inder 
förperlichen Geftalt, als im Zorn; in feinem von den 
vernünftigen Abſi chten, die den erſten Antrieb bisweilen 
hervorbringen, ſo weit ſich zu entfernen. 

Eben dies macht die Beſchreibung dieſer Leiden⸗ 
ſchaft und ihrer Urſachen ſchwerer. Die Geſetze der 
Vernunft und Ordnung ſind einfach und uͤbereinſtimmend, 
und daher auch leichter zu erkennen. Aber die Geſetze der 
Thorheit und Unordnung, an denen der Zufall ſo viel 
Antheil hat, unzaͤhlig und unter einander wider» 
fprechend. £ 
Wir wollen, um defto leichter eine Erfahrung durch 
‚die andre aufzuklären, zuerft diejenige Art von Zorn bes 
frachten, die aus den Trieben der Natur am unmittels 
barſten entftehen kann, - und von ivelcher die andern im 
mer die Geftalt annehmen müffen, um vor der Vernunft, 
wenn nur noch einige Strahlen derfelben auffie fallen, ſich 
behaupten zu koͤnnen. Dies ift der heftige Verdruß über 
wahre Beleidigungen, d. h. unangenehme und unerlaubte, 
mit Schuld verfnüpfte,. d; h. aus Vorſatz oder Nachläfs 
ſigkeit entftandene Handlungen oder Unterlaſſungen. 
Vorwuͤrfe, Drohungen, Verwuͤnſchungen, in Minen 
oder Worten ausgedruͤckt, oder gewaltſame Angriffe 
geben ihn zu erkennen. 

Kraͤften ſich zu widerfegen, die auf unfer Vers 
berben abzielen, ‚oder doc) unfer Wohl ftöhren; -ift-Trieb 
der Natur, und- unter gehörigen. Beftimmungen, Geſetz 
der Vernunft | Der Zorn iſt, alſo in einigen Sällen, Nas 

fürs 


Bon den vorn. Zuftänben des menfehl. Gem. 144 


tuͤrlich und ſchicklich. Er gruͤndet ſich aber nicht immer 
auf das, was gegenwaͤrtig geſchieht, oder eben geſche⸗ 
ben iſt, allein; ſondern oſt auf die wiedererweckten Vor⸗ 
ſtellungen ehemaliger Beleidigungen eben deffelben, Mens 
fhen, oder anderer, die aber auf eben. die Weife ‚ans 
fiengen, eben die Öefinnungen äußerten, wie biefer itzt. 
Diefe deenverfnüpfung,, -die bey einem’ heftigen Eins 
druck, oder: geläufigen-und mit einander genau verfetteten 
Ideen ſchnell entſteht, thut insgemein.das meifte beym 
Zorn. Sie macht nicht nur, daß er bey den. geringſten 
Beranlaffungen entſteht, und augenblicklich zunimmt; 
fondern eben diefelbe ift die Urfache, daß er fo bald die 
Granzen der Vernunft überfteiger. Insgemein wird zus 
erft dag Uebel der That oder Unterlaffung ‚vergrößert; 
dann verfchlimmert fich das, Anſehn der Abficht; aller» 
band, oft ſehr wenig mit. einander beftehende  Abfichten 
werden erſt als möglich. gedacht, dann zufammen vers 
wiret als wahrfcheinlich oder gewiß angenommen;, alle 
übrigen Fehler und Vergehungen des Beleidigers werden 
aufgefucht. und eingemengt; alle gute Eigenjchaften und 
Berdienfte.deffelben verdunfeln fi), merden verdaͤchtig, 
Oft verfchlimmert auch im umgefehrter Ordnung die 
üble Meynung, die man ſchon von der Perfon bat, das 
Anfehn der That. 

Das Bewußtfeyn, im Zorn fehon zu. weit gegangen 
zu ſeyn, eder felbft beleidigt zu haben, trägt nicht immer 
zur Einſchraͤnkung dieſer ausfchweifenden . Ideenver—⸗ 
fnüpfung und zur Maäßigung ı des Zorns etwas bey, 
Wenn e8 zu ſchwach ift gegen Die Eigenliebe: fo wird eg 
vielmehr ein Antrieb, jene Veränderungen der Vorftels 
lungen zu befördern, um einige Rechtfertigung — | 

er⸗ 


a2 Buruuh ſJ. Abſchnitt I. 


Verhaltens zu Stande zu bringen. Ja, es giebt Mens 
ſchen, welche, wenn fie fi) gegen andere vergangen ha⸗ 
ben, ftate über fich ſelbſt böfe zu werben, über den er. 
grimmen, ben fie beleidiget haben; weil er, als der Ges 
genftand oder die Veranlaſſung ihres Uebelverhaltens, ihnen 
verhaßt ift. Proprium humani ingenü eft, odiffe, 
quem laeſeris, ſagt Tacitus. Und num find wir ſchon 
bey der andern Art des Zorns, die mit eingebildeten Bes 
leidigungen anfängt, aber doc) bey Gegenftänden, die 
ährer Art nad zu beleidigen fähig find. Es ift Teiche zu 
begreifen, wie Unwiſſenheit oder felbftfüchtige Forderun- 
gen machen fönnen, daß man ein gerechtes, aber freylich 
einem nachtbeiliges Verhalten des andern, oder auch) eine 
nicht nur gut gemepnte, fondern einem wirklich — 
hafte Handlung für eine Beleidigung anſieht. 
Ernndlich gefchieht es nicht felten, daß Menfchen in 
Zorn gerathen über folche ihnen unangenehme Eräugniffe; 
deren, Urfachen entweder ohne alle Erkenntniß, ober Doch 
ohne diejenige Willkuͤhr und Freyheit handeln, die beym 
vernünftigen Urcheile von Schuld und Beleidigung vor: 
ausgefegt werben. Wie ein unvernünftiges Thier gegen 
den Stein in Wurhgeräth, der, von einer fremden Kraft 
getrieben, ihm Schmerz verurfacht hat: fo handelt aud) 
der Menfch im vernunftlofen Affe. Das Kind fchläge 
das Brett, an welchem es fich geftoßen hat. - Oft zwar 
durch das Beyſpiel ehörichter Alten dazu angeführt. Aber 
auch mohl von felbft durd) den blinden Naturtrieb gereizt, 
‚welcher nicht bloß zum Ausmweichen, fondern aud) zum 
Gegenftreben beftimmt, und das Willführliche und Un- 
willkuͤhrliche für fich nicht unterfcheiden kann. Der Wilde 
reißt den Pfeil, der ihn verwundet bat, aus der Wunde, 
unb 





Von den vorn: Zuftänden des menſchl Gem, 145 


und jerbricht oder zerbeißt ipn mit ben Zeichen der grim. 
migften Wurd *). 

‚Mehr aus: chorigtem Stolz eines Defpoten j der 
fü ic für den Herrn der ganzen Matur hält, ımd vom 
dummen Aberglauben feiner Sflaven dafür gehalten wird, 
als aus blindem Naturtriebe, ließ Ferxes dem Helleſpont 
Ketten anlegen, und das Mieer- peirfchen, weil. der 
Sturm feine Schiffe zurückgetrieben harte, Dies Bey⸗ 
ſpiel iſt nicht das einzige in ſeiner Art. 

Heftig ſich auszulaſſen im Zorn, durch Schelt⸗ 
worte oder Gewaltthaͤtigkeiten; dazu ſcheint der Natur⸗ 
frieb ſchon mechanifch gegründet zu feyn, - in den flarfen 
Bewegungen der $ebensgeifter ben Förperlichem Schmerz, 
oder auch in den Vorftellungen von Gemwaltthätigfeit und 
Verachtung. Diefer Gewalt ſich zu widerfegen, dieſer 
Verachtung oder Gleichgüftigfeit feine Stärfe zu zeigen, 
find Triebe, die nich gut im Innern verfchloffen bleiben 
koͤnnen. Wenn fie Pe mit Gewalt zurückgehalten, 
innerfic würhen: ſo heißt der Zorn Inngrimm; und 
Groll, wenn ſie ſich ruhig verhalten, in der Erwartung 
einer bequemern Gelegenheit ſich auszulaſſen. 

Es koͤnnen bey Beleidigungen verſchiedene Ge 
—— entſtehn; wovon nach Beſchaffenheit 
der Umſtaͤnde, bald die eine, bald die andere, ſtaͤrker 
wird, und die Geſtalt und Bewegungen des Zorns abaͤn⸗ 
dert. Bisweilen geſellt ſich Furcht vor dem, der fo bee 
leidigen kann, und folche Gefinnungen ‘gegen uns har, 
oder Furcht vor der Schande, die die erduldete Beleidi⸗ 

gung 








®) Robersfon Hift, of Anıerica I, 351. ſ. 


‚gung einem'zuziehet, zum Zorn; bisweilen Verachtung 
gegen den, der fo niederträchtig ung beleidigen fonnte; 
bisweilen Mitleiden wegen dee Schande und dem Scha⸗ 
‚den, den er ſelbſt davon hat, - 
Die gewoͤhnlichſte Gefährtinn des. Zoens iſt die 
Rachbegierde; das Verlangen, die unangenehmen 
Empfindungen, Die der andere einem verurfacht bat, auf 
ihn zurüczutreiben; bisweilen gedoppelt und vreyfach.ihm 
wiederzugeben. Die erften Anwandlungen dazu fommen 
vom Inſtinkte zur DBertheidigung und Abtreibung bes 
Anangenehmen, Aber es gefellen fi) insgemein. meh⸗ 
rere Triebfedern hinzu; wovon ineinem andern Abfchnitte 
‚weiter foll gehandelt werden. | 
- Gründe, die dem Zorn und der ——— ſich 
widerſetzen, koͤnnen alle diejenigen Vorſtellungen feyn, 
mittelſt welcher Beleidigungen entweder einem nicht zu 
ſchaden, oder aus ſolchen Gründen herzukommen ſcheinen, 
die nicht Haß, vielmehr Mitleiden erregen; oder bey denen 
doch der Antrieb zur Entruͤſtung und Vergeltung Hin 
. berniffe findet, So erzörnt ſich der Stoifche Weiſe 
nicht; weil er nicht beleidiget werden Fann, indent, was 
er allein füc gut und zur Gluͤckſeligkeit — nörhig hält, die 
Mechtfchäffenheit,  er.ganz in feiner. Gewalt und vor al⸗ 
den Anfällen gefichert hat; weil er weiß, daß die Men 
ſchen, die Boͤſes unternehmen, als elende, bedaurenswuͤr⸗ 
dige Sklaven ihrer Leidenſchaften handeln; weil er alle 
Menſchen als Mitbuͤrger im großen Staate der Welt, 
als Theile des Ganzen lieben muß. Anſtalten gegen die 
Ungerechtigkeit machen, wenn nicht um ſein ſelbſt, ſo 
doch um anderer willen, mißbilligen und beſtrafen, mit 
Worten und Handlungen „die den Zwecken a 
nd, 


Von den vorn. Zuſtaͤnden des menſchl. Gem. 145 _ 


ſind, bey ruhigem Gemuͤthe; dies kann auch der, der 
vom Affecte des Zorns frey iſt. Mittelſt der Vorſtel⸗ 
lung, ſich raͤchen, dem andern ſeine Ueberlegenheit zeigen 
zu koͤnnen, kann der Zorn ein gemiſchter, ja uͤberwie 
gend angenehmer Gemuͤthszuſtand werden . 


® | S 3 [» 
Furcht und Schrecken, Furchtloſigkeit und Math. 


Der Menfch fürchtet ſich vor Fünftigen Uebeln, 
toeil er fie mirtelft der Erfahrung und analogifcher Schlüffe 
vorherſieht, und mittelft der Einbildungsfraft einige 
Borempfindung davon bekoͤmmt. Da fich andere Arten 
ber Vorherſehung nicht beweiſen laffen: fo darf man 
auch eine anf analogifche Kenntniß nicht gegruͤndete Furcht 
nicht behaupten, Wo die Erfahrung Beweiſe folder 
Vorherſehungen oder Ahndungen zu geben ſcheint? wird 
man zur Erflärung genug haben, wenn man unmittele 
Bar unangenehme Eindrüde beffen, was freylich wohl 
auf andere Weife noch mehr fehädlich werben Eann, aber 
als fo etwas igt noch nicht erfanne wird, fich gebenfer, 
von der Matur vielleicht zu dem Ende veranftaltee, daß 
das empfindende Wefen durch dieſe unangenehme Ein- 
druͤcke angetrieben wird, der ihm noch unbekannten Gefaht 
auszumeichen. ($. 8.) Ober die auf Ahndungen gedeute⸗ 
ten Beängftigungen find Befchwerben des Körpers, ober 
Anfälle einer Schwermuͤthigkeit aus andern Gründen ; 

die 


— . 








) ©. Mendelsfohne verm. Sr. I, e. 24. C 
Erſter Shi, RR, 


46 Buch J. Abſchnitt I. 


vie ja wohl bisweilen vor unangenehmen Eraͤugniſſen oder 
Nachrichten zufaͤlliger Weiſe vorhergehen Fönnen., 
Durch unzaͤhlige Beyſpiele lehret hingegen die Er⸗ 
fahrung zur Gnuͤge, wie ſich Menſchen nicht fuͤrchten, 
wenn fie entweder gar nicht wiſſen, mas bevorſteht; 
oder nicht vermuthen, daß es ein Uebel iſt; oder wiſ⸗ 
fen, daß es Fein Webel für fie iſt; „oder glauben, daß. 
es fie nicht treffen werde; oder ſich es als fo entfernt und 
ungewiß vorftellen, daß es zu wenig Eindrud auf fie 
macht. Es fönnen alſo auch hier die Extreme aͤhnliche 

Wirkungen hervorbringen, viele Einſicht und auch gaͤnz⸗ 
liche Unwiſſenheit furchtlos machen. 

Wie alles verſchiedene Seiten hat, und bie Art 
der Vorftellungen und Ideenverknuͤpfung bey den Affecten 
‚ gewöhnlich das Meifte hut: alfo kommt es auf bie 
* Denkart und Gewohnheit auch bey ber Furcht insgemein 
weit mehr an, als auf bie wahre Befchaffenheit der 
Sache. Cs läßt fich daher von der Furcht oder Furcht⸗ 
fofigfeit eines Menfchen in einem Falle -auf ähnliche Ge 
mürhsbefehaffenheiten, ‚in andern Fällen, aus bloßen ob⸗ 
jectiven Gruͤnden gar ſelten ſicher ſchließen. 

Es giebt Krieger, die den ihnen. hundertmal ges 


faͤhrlichen Donner der Canonen, oder den Blitz der. feind« 


fichen Schwerter nicht fo fürchten, als ein anruͤckendes 
Gewitter; und der Matroſe, der ohne Scheu zur See 
geht, und gelaſſen den heftigſten Sturm abwartet, zit⸗ 
* tert'vor einem muthigen Roſſe). : | 
* Man hat oft gefagt, daß, wer ben Tod nicht 
fürchte, „fich vor nichts zu fürchten habe, Allein außer 

5 ER | dem, 


ne 


#) Helvetins de P’Efprit diſc. III. ch, xXXVUL- * 





Vonden vorn. Zuftänden des menfchl. Gem. 147 


den, daß dieſes nicht wahr iſt in Rückficht auf dasjenige, 
was als vorhergehend oder nachfolgendemit Grund ger 
fürchtet werben fann, wenn einer auch den Verluft des 
gebens nicht achtet: fo find die Gemürhsbemegungen der 
Menfchen ven wahren Berhältniffen der Dinge nicht im« 
mer fo gemäß, daß fie nur fämen, wie fie nad) jenen 
tommen müßten. Es laffen fich noch mehrere Gründe 
angeben, warum ein Menfch, der, menigftens in ges 
wiſſen Fallen, den Tod nicht fürchtet, zaghaft und unent⸗ 
fchloffen fern fann, bey Unternehmungen, die andern | 
fehr wenig Bedenfen verurfachen, Kann nicht Sympa⸗ 
thie für andere bisweilen ftärfer wirfen, als die Siebe zu 
. feinem eigenen $eben? kann nicht die Pflichterfennmiß 
die natürlichen Antriebe abaͤndern? Mancher ift bedenk⸗ 
fich und eben daher zagbaft, wenn er Zeit zum Befinnen 
bat; da ihn ein flarfer Eindruck übereilen, binreißen und 
alten Vorftellungen der Furcht entziehen Fann *), 


Die Begriffe von Gefahren find, mie alle unfere 
Begriffe vom Großen und Kleinen, relativ; und ber 
ftärfere Eindru kann den fhwächern abhalten; die eine _ 
Gefahr machen, daß man bie andere itzt nicht 
achtet ". " 

ie Ka - Die 


— r —ñ 














%) Die Zaghaftigfelt des Herzogs von Pork Richard, mit 
dem ſich der Streit ber beyden Hänfer um die Englifche 
Krone anfieng, bey politifhen Angelegenheiten, bie 
Hume bemerkt, indem er ihm eine hervorleuchtende pers 
ſoͤnliche Tapferfeit zuerfennt, fcheint aus mehrern dies 

fer angezeigten Gründe gefommen zu ſeyn. 
w) ‚I dieſer meiner Flucht durch bie Mälder (ſchreibt 
- s Bnor am: Ende der Erzählung von feiner Flucht - 
| ° ee. en 


148 Buch. Abſchnitt II. 


Die Furcht ſchwaͤcht, nach dem Urtheil des Carb, 
von Retz (Mem. II. 255.) unter allen Seidenfchaften ven 
Verſtand gm meiften. Das ungefchickte Betragen fonft 
verftändiger $eute in’ Gegenwart vornehmer Perfonen, 
auch in ſolchen Dingen, die an ſich ihnen nicht unge» 
wohnt find, das Unvermögen der Kinder, in einem ſolchem 
Falle ſich auf dasjenige zu befinnen, mas fie noch fo guf 
wußten, geben Beweife. Eben daher fann es auch fom« ⸗ 
mer, daß einer in wirfliche Gefahr geräth, indem er 
denenjenigen ausweichen will, die feine beunrubigte Eine 
bildungskraft ihm vorftellt *). Unterdeffen gilt dies als 
les eigentlich nur von heftiger Furcht. Mäßige Furcht, 
indem fie die Aufmerffamfeit verdoppelt, Fann ſcharfſich⸗ 
tig, . vorfichtig und wirffam machen. Aber wie es vie» 
| lerley 


— — 





den Chingulaen, unter welchen er von ſeinem 19ten bis 
zum 38ſten Jahr in einer Art von Gefangenſchaft ges 
weſen) war es wenig ober gar nicht ſchreckhaft für mich, 
durch die verlaffenften Wildniffe bey Naht zu reifen, 
wovon ehemals die bloße Vorſtellung mich erfchreden 
Fonnte. Wenn ich mich ded Nachts fchlafen legte, 
von wilden Thieren umrungen, fchlief ih fo gefunb 
und forgenlos, als je in meinem Haufe.‘ Es verdient 
freylich dabey angemerft zu werben, was er banfbar 
hinzuſetzt, daß es eine Wohlthat Vottes geweſen fey, 
die er ihm auf fein brünftiges Gebet wiederfahren ließ. 
Dies war ed, wenn man auch nur die natärlichfte Wirs 
fungsart des Gebetes annimmt. ©. deffen Hiftorical 
Relation of Ceilon part. IV. ch, IL 


) Es fheint, daß, nm ber Gefahr zu entfliehen, bie 
Seele ſich allen Vorftellungen zu entziehen fuche; wie 
Kinder auch die Augen fich zuhalten, wenn fie fich vor 
Erſcheinungen fürchten. Defto mehr aber kann die Ima⸗ 
gination thun, wenn die Seele nicht ihre thätige Auf⸗ 
merkſamkeit anwendet. . 


Von den vorn. Zuftänden des menfchl, Gem. 149 


lerley Mittel giebt, fein Glück und feine Sicherheit zu 
ſuchen, und auch von den Arten des Guten und Bofen 
die Begriffe verfchieden find: fo beftimme auch die Furcht. 
famteit an ſich den Character noch wenig; fondern eg 
koͤmmt daben auf die Einfichten, auf die übrigen Ges 
müchseigenfchaften und äufierliche Situation an. Die 
Furcht kann den einen gefällig, den andern argliflig 
und grauſam, den dritten geizig machen. ie kann 
auch in einer gemiffen Mifchung alle diefe Wirfungen, 
oder viele derfelben zufammen hervorbringen. Co wird. 

es vom Character des Card. Mazarin bezeuget *). 
Disglich erregte Vorftellungen der Furcht feßen in 
Schrecken. Se plöglicher und unvermutheter diefe Vor 
ftellungen entfteben, defto undeurficher ift Die Erkenntniß, 
defto mehrere Fönnen ſich vermifchen, aus einem gedops 
pelten Grunde, deſto heftiger Fann der Schreien und . 
dag Entſetzen werden. Wenn einer intiefen Gedanken ift, 
kann er durch die unbedeutendfte Kleinigkeit erſchrecket wer» 
K3 den. 








2) Mit folgenden Zügen wird er geſchildert in dem Efprit 
de la Fronde p. 184. ſeq. Richelieu avoit &t& ferme 
jusqu’ à V’infleribilite. Maezarin fut d'une douceur 
& d’une affbilirk, qui tint trop fouvent de la mol- 
leffe. C’Ctoit une fgite de fon camdtere foible & ti- 
mide, qui lui faifoit craindre de fe perdre en vou- 
lant perdre les autres, — Ses ennemis avoient un 
grand avantage fur fes propres amis; la peur tenoit 
ch&s lui.la place de la bienfaifance, & quiconque 
favoit s’cn faire eraindre, £toit fur de tout obte- 
nir. — Son infatiable avidit& de l’or, quile deshono- 
roitcomme particulier, le degradoit encore plus connne 
miniſtre. — I £teit foßrbe, difimule, feuple, 
droit, meßant. er 


» | ° 


150 Buch I. Abſchnitt IT, | 


den. So auch, wenn man fchlummert.- Die Diſpo⸗ 
fition des Körpers hat auch auf diefe Leidenſchaft großen 

Einfluß. Schwache Nerven machen ſchreckhaft *), 
‚ Eben fo fehr aber auch die Defchaffenheit ber. Bilder, 
womit die Imagination erfüllt ift, wegen ehemaliger 
Eindrüce, vorhergehender Unterredung oder $ectüre, oder 
wegen des Zuftandes des Gewiflens, _ Der. Schreden 
macht bisweilen ganz untharig und flarr; bisweilen auf 
die finnlofefte und zweckwidrigſte Art wirffam. +; 

Ben bevorftehenden Uebeln one Furcht und —— 
cken ſeyn, iſt nicht ſchlechterdings einerley mit dem Much **), 
Jenes kann daher kommen, daß man von der Gefahr nichts 
weiß. Dieſer aber entſteht aus der Vorſtellung, daß 
man Kraͤfte genug habe, das drohende Uebel zu entfer⸗ 
nen oder doch auszuhalten. 

Rein Gemuͤthszuſtand theilet ſich in fo viele, nad) 
den Grimden, Wirkungen amd Gegenftänden, verfchie- 
dene Arten als der Muth. Der vornehmfte Unterfchied 
ift ohne Zweifel diefer, daß die Vorftellungen, die ei- 
nem Muth machen, entroeder auf Einſicht und Leber: 
zeugung, oder auf undeutliche Erfenntniß und Leber: 
redung fich gruͤnden. Won jener Gattung ift der Much 
des Werfen, der aus der richtigen Schägung der gegen 
einander gerichteten Reäfte, aus de@Bergleichung ber 
nothwendigſten Abſichten, umb der beften Mittel, aus 
der durch Uebung bewirften gehörigen Unterordnung der. 
matinfichen Triebe entſtehet. Mach der Beſchaffenheit 
der Umſtaͤnde, wartet derfelbe bald ruhig ab; bald 

| —W dringt 





* Zuͤckert von den Leidenſchaften — ne 
*5) Abbt von Berbienfte. K. I. 


Von den vorn. Zuſtaͤnden des menſchl. Gem. ısı 


dringt er. eilig entgegen; bald wagt er das äußerfte, weil 
48 nicht zu wagen, ein noch gewifferer Untergang feyn 
würde; ‚bald weich er, beſſern Gelegenheiten fich auf⸗ 
zubewahren, feines Werthes fich bewußt, Kurz, er ift 
ſo verfchieden, als die Umftände, und nur darin fich 
felbft immer gleich, daß er nach diefen fich richtet. Der 
Muth, der. auf undeutliche Erkenntniß ſich gruͤndet, 
kann doch auf richtige Vergleichung, auf ein undeurfi. 
ches, aber richtiges Gefühl feiner Kräfte ſich gründen, 
Dann kann erdem Muthe, der Einficht in den Wirfun. 
gen gleichen, und mehr thun, als jener; wenn dorf die 
Vernunft noch nicht die völlige Herrfchaft über die Triebe 
erlangt hätte, Wenn aber aus bloßer Einbildung und 
Irrthum, daß etwa die Gefahr zu gering, oder die Kraft 
dagegen zu groß vorgeftellt wurde, der Muth entfpruns 
gen iſt: fo wird er: ber Veränderung und dem Abfalle 
auch defto mehr ausgefegt feyn. Es kann zwar biswei⸗ 
Sen der Irrthum tief einbringen, und die Ueberredung 
Bartnäcig werden; fo wie hingegen durch Verdunkelung 
‚ber Vorftellung die gegründetefte Ueberzeugung fih ver⸗ 
lieren kann. Unterdeſſen darf doch uͤberhaupt auf die 
Dauer der erſtern weniger gerechnet werden; zumal 
wenn ſie gegen unangenehme Erfahrungen aushal⸗ 
ten. fell. | 
Eben dies gilt daher auch von dem Muthe , der 
auf das Gefuͤhl feiner „Kräfte, aber ein durch außeror⸗ 
dentliche Reize erhoͤhetes und eben daher nicht bauerhaf- 
tes Gefühl fich gründet; wie Diefes zum Theil ber Fall 
des Betrunkenen iſt. 

Es macht ferner einen großen Unterſchied, ob ber. 
Much vom Vertrauen auf äußerliche Hülfe, oder dem _ 

Ra | Der -⸗· 


2 Buche. Abſchnitt 1 


Vertrauen auf innere Kräfte herfommt: Jener wird 
durch nachtheilige Erfolge leicht geſchwaͤcht; Liefer kann 
darunter wachſen, indem fie den Antrieb, feine 
Kräfte zu gebrauchen, nur vermehren. So — der 
Muth Peters des Großen beym Verluſt der erſten 
Schlachten gegen Karln; indem er einſah, daß er an 
den Siegen ſeines Feindes ſeine Kraͤfte zu gebrauchen 
lernen wuͤrde, um ihm endlich ſieghaften Wirerſtand 


Wenn der Muth aus allzugroßer Einbitdinig ven 
fich ſelbſt entſteht: ſo macht er verwegen, beleidigend, 
rachgierig y und bey der Rache unbefonnen, Carl der 
XII ift einbefanntes Beyſpiel. Und fo fchildert auch die 
- Gefchichte den zu fange trotzigen Günftling der älternden 
Eliſabeth, den Grafen Eſſex. 

Die Eigenliebe und der aus vielerley Gruͤnden den 
Menſchen gewoͤhnliche Glaube eines unbedingten Schick 
fals machen, daß fie bisweilen ihr gutes Glück als ih⸗ 
nen zugehörig, oder nothwendig mit ihnen verfnüpft, ans 
fehen. Die Gefcichte hat es mehrmalen benterfet, wie 
diefe Denfart außerordentlichen Muth einfloͤßete. Er 
kann um fo viel größer werden; je mehr fi) vom Gluͤck 
und Schicffal, nach folchen undeutlichen Begriffen, als 
biebey zum Grunde liegen, erwarten läffee. Wo aber 
nicht Gefühl der innern Kraft fich damit verbindet; da 
kann diefe Art von Muth fehwerlich Tange aushalten *), 

Gleich 


—— 


*) Wenn ein Älternder Eroberer, wie Karl V, wenn ihm 
feine Unternehmungen nicht mehr gelingen "wollen, als 
les dem veränderfichen Gluͤcke zuſchreibt, welches, wie 

ein 








Von den vorn. Zuſtaͤnden des menſchl. Gem. 153 


Gleichwie die Furcht die Kräfte zu benehmen 
ſcheint; alſo feheint der Murh fie zu verdoppeln. Cie 
gentlich aber hindert wur jene-das Gefühl und den Ge 
brauch berfelben; nnd diefer befördert ihn. Man unters 
nimmt nichts, was man für unmöglich hält, oder wovon 
man fich einen fchlimmen Ausgang vorftellt; da hinge- 
gen die lebhafte Worftellung des gemwiffen Vortheils macht, 
daß man die Hinderniffenichtachtet. Gewißiſt es, daß 
bloß die Furcht Urfache ift, daß die Menfchen vieles 
nicht zu thun geſchickt ſind, was außerdem ihre Kräfte 
gar nicht übertrifft, soft ganz leicht iſt. Auf einem ſchma⸗ 
fen Brette zu geben, wenn es auf einem fichern Boden 
liegt, fällt niemanden ſchwer. Aber wie wenige vermö« 
gen e8, wenn ed über einen tiefen Strohm, oder über 
Häufer weggehet? Der Nachtwandler unternimmt ber: 
gleichen ohne Schaden, mahrfcheinlich darum, meil er 
feine Idee von der Gefahr ‚hat, die feine Organen er: 
fchürfern und wanfen machfe, und feine Aufmerffamfeit 
eheifte. Er ift unglücklich, fo bald er erwacht, und die 
# “dee der nahen Gefahr bekoͤmmt. So fann alfo die 
Gewohnheit Auch dadurch etwas leicht machen, daß fie 
die Furcht benimmt; und es ift natürlid), daß, wenn 
. nicht alles, doc) viel mehr möglich ift dem, derda glaͤubet. 
So ift die Unwiſſenheit den erften Verſuchen des Genies 
| | “ER E .; öfters 








— 


ein flatterhaftes Weib, bem tüngern Lieblinge den Vor⸗ 
zug giebt: fo tft es fehr merklich, daß er feiner Eigens 
liebe ein Kompliment macht. Er würde eine folche 
Betrachtung in der Periode feiner gluͤcklichſten Unters 
nehmungen, wenn fie auch damals mehr Orund'gehabt 
hätte, gewiß übel genommen haben, - 





J— Buch L. Abſchnitt II. 


öfters vortheilhaft, inbem fie zuverfichtlicher : macht. 
Mehrere Einficht in die Größe des- Unternehmens ‚, meh ⸗ 
rere Kenntniß deſſen, was andere fchon geleiftet haben, 
und. mas gefordert werden kann, wuͤrden abgeſchrecket 


Haben. | 
Ein guter Theil der erfochtenen Siege ber Gries 
chen und Römer gründet ſich auf den Glauben an bie 
Preodigia und. Verheißungen der Priefter, welche die Feld 
herren zu veranftalten wußten. Themiſtokles war aud) 
in diefer Kunft Meiſter. Furcht und Schtecken Eönnen 
Much geben, oder wenigftens in gewiſſen Fällen eine 
außerordentliche Anftrengung ber Kräfte bewirken, und 
machen, daß man glüdlic) verrichtet, was man bey rus 
higer Vergleichung nicht wagen würde; iin fo fern fie - 
nämlich) machen, daß man über einer Gefahr die andre 
vergißt, beym Eindruck desgrößern Uebels oder bes lebhaf⸗ 
ter ſich vorftellenden,, das geringere oder ſchwaͤcher vorger 
ftellte nicht fühle. So fragen öfters bey Feuersgefahr 
$eute ſchwere Laſten, die fie fonft nie zu tragen vermoch⸗ 
ten; und vom Feinde verfolge, ſpringt einer über Gra⸗ 
ben, Zäune hinweg, von Höhen berab, vor welchen er 
fonft Fraftlos zurück gefunfen wäre. 
h Aus allen diefen Bemerfungen erhellet zur Gnüge, 
daß Furchtſamkeit und Much fehr relative Eigenfchaften, 
und mehr Zuftände, die aus dem Verhäftniffe äußerli« 
cher Umftände und innerlicher Befchaffenheiten, als bfeis 
bende —— find *). Aber doch geht Helve⸗ 
tius 


*) Die Geſchichte eines Soldaͤten des R. Antigonus‘, ber 
einer ber unerfchro@enften in den Schlachten ſo 
ang 





Bon den vorn. Zuftänden des menſchl. Gem. . 155 


tius gewiß zu weit, menn er behaupten will, daß. alle 
Menfchen eines gleichen Grades von Muth fähig feyn; 
fo wie er zu kuͤhn weiter fehlieft, daß, weil alle eines 
gleichen Grades von Leidenſchaft fähig find, fie auch au 
gleicher Vollfommenheit des Verſtandes geſchickt feyn. * 
So fünftlich er auch die gegen ihn gerichteten Beyſpiele 
aus der Völkergefhichte zu beftreiten weiß; fo müßte 
man dod) die gemeinften Erfahrungsfäge ableugnen, nad) 
welchen, fowohl in Anfehung der Kraft als der Reiz⸗ 
barfeit, einige Menſchen die andern weit hinter fich zu» 
rüc faffen; wenn man jener Behauptung beypflichten 
wollte; ober müßte nur die ftarfen und dabey reisbaren, 
folglich den Fleinften Haufen der Menfchen gut organi⸗ 
ſirt nennen, (ch, XXVI. not. 8.) um den allgemeinen 
Sag durch einfchränfende Bedingungen zu retten. So 
viel bleibt zufolge der Erfahrung und der Gründe im- 
mer übrig, und ift merfwürdig genug; Daß Menfchen, 
die bey einer Art der Gefahr äußerft zaghaft find, bey. 
einer andern ganz Muth zu feyn fheinen. Auch bey 
deutlicher Einſicht und richtiger Schäßung fann dies 
Statt finden. Es fömmtnurbarauf an, woju einer hin« 
längliche Kräfte zu haben fühlet, und was für Arten von 
Ukbdeln er anfich, oder in der Vergleichungam wenigflen, 

oder am meiften achtet. 
Man kann fich daher nicht leicht bey — 
Urtheilen ſo ſehr irren, als in Anſehung des Muthes und 
der 








Yang er einen Leibesſchaden am ſich hatte, der ihm das 
Leben verhaßt machte; aber als ihn der König hatte 
heilen laffen, feine Tapferkeit verlor, iſt aus dem Plu- 
tarch befannt in Pelopidas, 8. I. 


56 - Buhl Abſchnitt I 


der Furchtſamkeit. Auch wegen der verfchiedengn Art, wie 
ſich beyde äußern fönnen, muß dies gelten. Die Furcht kann 
machen, baf einer ungeftfim tobt, um Muth zu zeigen, oder 
um die ihm groß feheinende Gefahr geſchwind abzumenden ; 
"und der Muth kann machen, daß ſich einer ftille verhäft, 
weil — von beyden ihm — noͤthig ſcheint wi 


— §. 32. 
ren Bon ber Reue und Scham. 


Reue iſt nach dem allgemeinſten Begriffe Mißbil⸗ 

ligung deſſen, was man gethan hat. Die Urſache des 

eaͤnderten Urtheils von der Sache ſind die unangenehmen 

un die man itzt empfindet oder befürchtet, oder als 

baher entftanden einficht. Diefe Folgen können aller» 

nächft wegen ber Seibftliebe unangenehm feyn, oder wes 
gen der Sompathie „ Achtung und Kebe für andre. 

"Den einer folchen Befchaffenheit der Vorfiellungen 
entſteht natürfich der Wunſch, daß das Gefchehene nicht 
mögte geſchehen feyn; der Wunſch, daß es möglich waͤre, 
Daffelbe vernichten zu Fönnen. 

Wer wenig Sympathie bat, und von dem natürs 
fichen Zufammenhang der Dinge weniger gerührt fir, 
. Fann den Wunfch der Reue dahin einfchränfen,,.daß das. 


. — u — — 


1* Stille ſeyn, iſt nicht immer Bloͤdigkeit. — Ich weiß einen 
treftichen General, den ſelbſt der Held hochſchaͤtzt, dem 
er den Sieg aus den Händen riß. Wenn felbiger bey 
Hofe ift: fo verbirgt er fich in allen Winkeln; beym 
- Angriff aber und an der Spitze feines Heeres glüber 
fein Auge, under iſt ganz Thaͤtigkeit. IT. Keips, 
Miſcell. B. J. ©. 84. 


Bon den vorn. Zuſtaͤnden des menſchl. Sem. — 


Andenken der That in ihm vertilget ſeyn moͤgte. 

von Sympathien und Einſichten mehr geruͤhrt wird, = 
det dabey noch feine Beruhigung, und wuͤnſchet wenigfteng 
eben fo ftarf, daß die That auch in dem Andenken andes 
rer ausgeloͤſcht ſeyn mögte. Bey lebhaften Eindruͤcken 
und einiger Verdunkelung ber Einficht gefchiehet es, daß 
die Seele gegen die verhaßten Vorftellungen ihren Ab: 
ſcheu auslaͤſſet, als ob die ehemals vorhandenen, nun 
verabfcheuten Umſtaͤnde noch gegemvärtig wären. . Bis⸗ 
weilen artet diefes in eine völlige Verruͤckung des Vers 
ftandes aus. Allemal bringt es die Wirfung hervor, 
daß die verbrüßlichen Vorftellungen tiefer eingedruͤckt wer⸗ 
ben. Go nähret und vergrößert der Menfch feinen Vers 
druß, indem er ihn von fich fchaffen will. 

| Alles, was einigermaßen als Urfache des Began⸗ 
genen ſich darftellet, wird ein Gegenftand des Abfcheues 
und Haffes. So oft es angeht, den Vorwurf von fich 
felbft abzulehnen, und auf andere Dinge ihn zu laden, 
ſaumt die Eigenliebe nicht, es zu thun. 

Es bleibt aber die Reue ſo wenig als andere Affecten 
in ihren natuͤrlichen Graͤnzen. Wenn die aͤngſtlichen und ver⸗ 
dammenden Vorſtellungen einmal das Gemuͤth eingenom ⸗· 
men haben: ſo macht man ſich auch Vorwuͤrfe wegen ſolcher 
Dinge, die es nicht verdienen; und der Haß, den man 
gegen ſich ſelbſt empfindet, verbreitet ſich uͤber unſchuldige 
Gegenſtaͤnde. Wer erſt ſich ſelbſt nicht mehr gefaͤllt, 
der finder nicht leicht mehr etwas gufes und liebenswuͤrdi-· 
ges in der Well. Was foll ihn intereffiren, wenn er 
ſich ſelbſt verhaßt ift ? Oder wie foll die Sympathie Ein. 
druck machen ben fo ftarfen, auf das Selbſt ſich beziehen. 
ben Gemürhsbewegungen ? Doch wenn die Reue nicht 

ſowohl 


158 Buch 1. Abſchnitt I. 


ſowohl in Vordruß über ſich, als in Betruͤbniß und Nies 
dergefchlagenheit fich kehret: fo kann fie demuͤthig, bils 
fig gegen andere und mitleidig machen. | 

Die verhünftigfte Wirfung , die die Neue hervor. 
bringen kann, und für welche fie ber weife Urheber der 
Natur ohne Zweifel eigentlich beſtimmt hat, ift der Vor⸗ 
faß, künftig dergleichen nicht wieder zu hun, unter aͤhn⸗ 
lichen Umſtaͤnden Flüger, rechtſchaffener, fanfter, maͤßi⸗ 
ger ſich zu verhalten. 

Wenn uͤble Handlungen keine Reue verurſachen 
ſollen, was muß geſchehen? Man muß fie entweder nicht 
für übel halten, ober fie fich nicht zufchreiben *); Fürzer, 
man muß fie nicht mehr für Fehler und Vergehungen 

Iten. | 
” Könnte denn alfo bey der Ueberzeugung ober dem 
feſten Glauben, daß alle unfere Handlungen durch aͤu⸗ 

ßerliche Urſachen genau beſtimmt ſeyn, noch Reue 

Statt finden? Oder, damit die Unterſuchung nicht in 
eine, die Sache ſelbſt verdunkelnde Wortſtreitigkeit ausar⸗ 
te, wollen wir lieber fragen, welche von ben bisher ent⸗ 
wickelten Beſtandtheilen und Wirkungen der Reue unter 
jener Vorausſetzung Statt finden wuͤrden; mag man ſie 

Reue, ober mit dem allgemeinen Namen Verdruß nen- 
nen? Mißfallen an den Wirkungen einer Sache wird 
immer 








— — 


29) Ein Neger von Amnia, ber ehemals ein Kaufmann ge⸗ 
wefen war, fagte zu einem Miſſionar: die Megern 
machten fich fiber nichts einen Vorwurf. Wenn fie um 
eines Verbrechens willen gefträft würden: fo ſuchten 
E die Schuld nicht bey ſich, fondern alle Boͤſe ſchrie⸗ 

ben fie dem Teufel zu. Oidend. Geſchichte der Miſ⸗ 
ſion. ©. 299. Er | 


Bon den vorn. Zuftänden des menfchl, Gem. 159 


immer Mißfallen an der Sache felbft erzeugen , und dies 
wird fich auf die Urfachen berfelben weiter ausdehnen. 
Und der Wunfh, daß das Geſchehene nicht gefchehen 
ſeyn möchte; der Wunſch, es vernichten zu fönnen, wirb 
entftehen,* was aud) für Vorftellungen von dem entfernte. 
flen Ürfprunge der in einander verflochtenen Urfachen und 
Wirkungen eintreten; fo lange das Reſultat noch als 
übel verabfcheut wird, Wenn ung um der Folgen willen 
unfre Handlungen verhaßt werden; fo müffen es auch die 
Neigungen und. Denfarten, woraus jene Handlungen 
entfprungen find. Die Ueberzeugung, daß wir unfere 
Handlungen nach) unfern Entſchließungen einrichten koͤn⸗ 
nen, und daß diefe fich nad) unfern Urtheilen richten, 
gründet ſich aufs Gefühl, und hat mit jener metaphnfir 
fehen Unterfuchung über die Freyheit, oder die erften Ur- 
fachen unfers ganzen Verhaltens nichts zu thun. - Affe 
kann auch der Vorſatz der “Beflerung aus dem Miffal. 
‚fen am Gefchehenen noch immer vernünftiger Weife 


ehen. J | , 

Aber fich felbft wird man doch nicht völlig aus 
eben dem Gefichtspunfte betrachten, als wenn man feine 
Vergehungen-für Folgen einer gemißbrauchten Freyheit, 
einer wahren Selbitehätigkeit halt? Die Empfindung 
bey diefer Selbftbefchauung wird nicht fo leicht in Haß 
gegen fich felbft, eher in Traurigkeit oder Mitleiden, 
übergeben? Kann es nicht auch fommen, daß man die 
Mebeichat felbft, bey allen den unangenehmen Folgen, 
die aliernaͤchſt dardus entftehen, nicht mehr für fo fchlimm 
anſieht; eben darum ‚. weil fie eine Folge aus ber Anlage 
des Ganzen iſt? — Es iſt hier nicht die Abſicht, zu urie 
erfucen, wie ih He Vorlelung den (ic 
— ater⸗ 


160 Buhl. Abſchnitt II 


Anterfuchungen ber Vernunft verhalten würde; ſondern 
nur die natürlichen Folgen zu befchreiben. Allemal heißt 
uns bie Vernunft unfer Werhalten nad) den und 
fichtbaren Folgen der Handlungen einrichten. Und 
wenn alfo auch auf die Empfindungen dere Reue bie 
angezeigte Streitfrage Einfluß hätte: fo Fönnte fie doch 
auf die daraus entftehenden Entfchließungen nicht anders, 
als ben offenbar rhörigten, ober doch höchft vermegenen 
Zufägen Finfluß haben. 

Wie dem auch iſt: ſo wiſſen wir ſo viel, daß wir 
das Vergangene nicht in unſerer Gewalt haben; das Zu⸗ 
kuͤnftige aber in vielen Stuͤcken. Die Reue wird alſo um 
fo mehr in den Vorſatz der Beſſerung ſich verwandeln, 
je mehr die Vernunft dabeh wirket. Dem Furzfichtigen 
- Beobachter kann aber eben daher der Schein der Unem- 
pfindlichfeit und Reuloſigkeit entfteben. 

Je weniger hingegen die Empfindung ber Reue 
biefe Wendung nimmt; je mehr durch die Verabſcheu⸗ 
ung des Begangenen, das Beſtreben, das Andenken 
davon zu vernichten, entfteht : deſto mehr ift zu be 
fürchten, daß durd) die Unterdrückung der aus der richtis 
gen Beurtheilung entftehenden Empfindniffe, das moralis 
ſche Gefühl gefchmächt, und Fertigkeit, ohne Achtung auf 
die Vorftellungen der Vernunft und des Gemiffens Boͤ⸗ 
fes zu begehen, erzeugt werde. Zur Neue gefellt fich oft, 
als eine der natürlichftien Wirkungen, die Schaam, 
Sie befteht in der Beunruhigung, die der Gedanke ver- 
urfachet, daß an uns oder unfern Handlungen etwas 
Verächtliches oder Sächerlihes, Kleinheit oder Unges 
reimtbeit iſt, oder zu fenn ſcheint. Wie überhaupt uns 
ſere Urtheile, befonbers. die von Größe und Vollkom⸗ 

F men⸗ 


- Bon den vorn. Zuftänden des menſchl. Gem. 161 


menheit, nichtrfeicht ohne Vergleichung entſtehen: alſo 
entſpringet auch die Schaam insgemein mittelſt ſolcher 
Vergleichungen. Wir koͤnnen uns aber entweder mit an⸗ 
dern Menſchen, oder mit Idealen, die wir im Kopfe 
haben, mit dem vollfommenften Wefen, ja mit uns felbft 
dergleichen, um gedbemüthiget und beſchaͤmt zu werden, 
Die gerneine Sprache hat ſchon Redensarten, in benen 
die Beobachtung ausgedrückt iftz daß wir uns vor Gott 
und Menfchen und vor uns felbft fehämen, Am leichtes 
ften aber ensfteher die befchäntende Vorſtellung unſerer 
Unvollfemmenheit durd) die Urtheile anderer; wenn diefe 
ihren Tadel oder Verachtung durch Worte, Minen oder 
Handlungeh zu erfennen geben, Je kleiner und unvoll⸗ 

kommener wit ung alsbanrt gegen den andern vorkommen; 
defto größer wird unfere Echaam. Beym hohen Grab 
biefes Gefühls, kann der Menſch die Gegenwart ober den 
Anblick des andern-nicht vertragen: Der dabey entftes 
hende unbeftimmite Antrieb, ſich geſchwind mehrere Voll 
kommenheit zu geben, und ſeine Unvollkommenheit, oder 
wenigſtens das eigene Gefuͤhl derſelben zu verbergen, 
bringe die Verwirrung , die Verlegenheit, die ſich in 
dem Blick und in der Stellung offenbaren, und * 
Zweifel auch das Erroͤthen hervor; | 
Keinesweges aber fegt die Schaam, und noch we⸗ 
niger das angegebene gewoͤhnliche aͤußerliche Zeichen der⸗ 
ſelben, Ueberzeugung, unrecht gehandelt zu haben, oder 
ſonſt die befuͤrchtete Mißbilligung verdient zu haben, vor⸗ 
aus. Die bloße Beſorgniß des Mißfallens anderer an 
ung, bey ber gewiſſen Einſicht und feften Ueberzeugung, 
es nicht verdient zu haben, bringt zwar das. eigentliche 
Gefühl der — nicht hervor; ob es gleich beunruhigen 
| — — 1 und 


162 Buch I. Abfchnitt IT. | 


und wegen umangenefmie Folgen beforgt machen Fan. 
Aber beym Mangel einer folhen Gewißheit und Feftigfeit, 
kann doch das Urtheil anderer und Die Borftellung der Moͤg⸗ 
lichkeit, daſſelbe zu verdienen, ſchaamroth und verwirrt mas 
chen. Ja, die Furcht eines bloßen Berdachtes, dem zu folge 
wir uns auf einen Augenblick fo denken, wie der andere 
fid) ung vorſtellet, kann, vermöge der Verfnüpfung uns 
ferer Ideen und Organen unter einanber , daſſelbe bewir⸗ 
ten. Auch die Sympathie kann Schaam und ’Errös 
then bewirfen. Die Folgen, die für das gemeine Le⸗ 
ben und für die richterliche Gerechtigfeie und Klugheit 
daraus entftehen, entdecken ſich leicht. 

Beym Bewußtſeyn tadeinswürbiger Handlungen 
. ober Eigenfchaften, unter der Vorausfegung , daß. ans 
dere fie beurtheilen, fich nicht ſchaͤmen; erfordert entwe⸗ 
ber überhaupt Gfeichgüftigfeit gegen andere und ihren 
Zabel; oder eine folche Vorftellung von fich, in Verglei⸗ 
hung mit den Vollkommenheiten und Unvollfommenhels 
ten anderer, vermöge deren man ſich noch immer. auf 
alle Falle groß genug gegen fi fie vorfömmt. Beſonders 
ſchaͤmt man ſich nicht, oder weniger vor andern, in »Ans 
fehung derjenigen Unvollfommenbeiten, die man. mit ide 
nen gemein bat. Denn überhaupt nur einer mehrern 
Vollkommenheit ſich bewußt zu ſeyn, fichert nicht immer 
vor der Schaam. Es fann um fo viel empfindlicher 
ſeyn, dem andern einen Fehlek entdeckt zu haben ; je 
unangenehmer die Vorftellung ift, .bis zur Wergleichung 
mit ihm berab zu finfen? ine von mehrern Urſachen, 
warum die Vorftellung, daß der Feind unfere Fehler 
‚weiß, die Schaam vermehret. Doc alsdann mifcht fie 
ſich aud) er mit Regungen bes Born, Am eigent 


lichiten 


Bon den vorn. Zuſtaͤnden des menfchl. Gem. 163 


lichſten entſteht fie in Beziehung auf diejenigen, für die 
wir Ehrfurcht hegen. 

So wie, nad) den bisherigen Bemerkungen, die Ur⸗ 
ſachen des Entſtehens und der Verminderung der Schaam 
von mancherley Art find: ſo koͤnnen auch die Folgen der. 

ſelben auf den moralifchen Character fehr verfchieden aus⸗ 
fallen. Bey richtiger Beurtheiling des Werthes der 
„Ehre und dem Gefühl eigener Kraft, wird es Verdoppe⸗ 
fung des Beftrebens nad) Vollkommenheit feyn; um den 
Fehler auf das ehefte zu verbeffern, und durch vortheilhafs 
tere Eindrücde das Andenfen deffelben zu vertilgen. -Bey 
allzu vielem Mißtrauen in feine Befferungsfräfte, kann 
ſchwermuͤthige „Miedergefchlagenheit, oder fehrecfhafte 
Aengftlichfeit, oder verzmgiflungsvolfe Verbannung aller 
‚Anfprüche auf Achtung und Anfehn daraus entftehen. 
Alnter der Herrfchaft allzuftarfer Eigenliebe kann der 
Verſtand ſich verfuͤhren laſſen, um die unangenehmen 
Vorſtellungen und Beſorgniſſe wegzuſchaffen den Fehler 
zu vertheidigen, wohl gar zum Vorzuge machen zu 
wollen, und dasjenige au verachten, was ihn befchämen 
follte. 

Um von fo vielen unangenehmen, quälenden Vor⸗ 
ftellungen, als Schaam und Reue mit fich ‚führen , be« 
freyt · zu ſeyn, übernähme der Menfch oft gern ein ſchwe⸗ 
res Leiden, litte gern eine Strafe, wenn er nur hoffen 
koͤnnte, dadurch wieder zur Ruhe zu gelangen, Wer 
Gemürhsrube durch Buße ihm zu verfchaffen verfpricht, 
gießt Del in feine brennende Wunden. — Es mürde 
ihm eine Wohlthat feyn, wenn nur der Freund, deffen- 
Vorwürfe er in feinem Gemiffen fo unabläffig fieht und 
hört ‚ einmal feinen Unmillen an ihm ausließe,, recht 

2 hart 


164 Puch Abſchnitt u. 


hart mit ihm redete, und danı: ihm zuficherte, daß nun 
wieder alles gut, daß es, vergeffen feyn ſollte. — Er’ 
kann es nicht erwarten, „er muß feinen Fehler entdecken, 
feine Schande geftehn. Nun tobts doch nicht mehr fo 
in ‚ihm. — Iſt dies alles bloß ein gefünfteltes Spiel 
der Imagination, oder natürliches Gefühl eines Rechts‘ 
der Vergeltung? J 


3 
Don ber Verdruͤßlichkeit und Schwermuͤthigkeit. 


Sowohl Traurigkeit als Verdruß gruͤnden ſich 
bisweilen auf Urſachen, die ſich der Seele nicht deutlich 
offenbaren. Um fo viel mehr kann allerley, was fonft 
nicht dazu gefchickt feyn würde, Anlaß zum Verdruß 
und zur Berrübniß werden. Wenn man die eigentliche 
Urfache feiner Unzufriedenheit kennt: fo huͤtet man ſich 
eher davor, die im Gemüthe regen, unangenehmen Eins 
Drücke mit unfchuldigen Gegenftänden fich verfnüpfen zu 
laſſen, und diefe für Urfachen jener Unzufriedenheit anzus 
fehen. Wo aber diefe Einficht fehler: da kann die Ima⸗ 
gination mit der Sydeenverfnüpfung freyes Spiel treiben, 
Einem Verdrüßlichen fann man faum etwas fagen, 
was nicht wenigfteng eine unangenehme Seite: ihm zu ha» 
ben fcheint, und oft beleidigt man ihn, indem man aufs 
redlichfte bemuͤht iſt, ſich ihm gefällig zu machen. Der 
Schwermuͤthige weint bey den natürlichften Quellen 
der Freude; es mifcht ſich mwenigftens immer etwas 
Aengſtliches in fein Vergnügen. Der Grund jener Ber 
druͤßlichkeit lieget bisweilen im Körper; in einer Indi⸗ 
geftion, hypochondriſcher Schwäche und andern — den 
| | * 


Bon den vorn. Zuſtaͤnden des menſchl. Gem, 65 


Aerzten weiter zu erforfchenden Urfachen., In der Seele 
entfteht der Grund dazu am öfterften-mittelft einer Menge 
Fleiner unangenehmgr Eräugniffe, die eritideder einzeln 
nicht ſtark genug Eindruck machten, um als Ürfachen eis 
ner folchen Wirkung gewahr genommen zu werden; ober 
zum Theil aud) ven eigener Schuld berfamen, und zu 
demüthigende Vorftellungen erregten, um gern angemerfe 
zu werden. Auch ein einziger Eindruck diefer Art kann 
die Wirkung hervorbringen. Die meiften Menfchen vers 
bergen ſich ihre Fehler, und fuchen die Urfachen ihrer 
Unzufriedenheit lieber außer ihnen. 

Die Schwermuͤthigkeit hat mehrentheils ihren 
Grund im Koͤrper; in der Vollbluͤtigkeit, Verſtopfung 
der Abfonderungsgefäße und andern uͤbeln Beſchaffenhei⸗ 
ten. Und es läßt fich begreifen, wie diefelben Förperlis 
chen Urfachen den einen verdrüßlich, und ben andern ſchwer⸗ 
muͤthig machen koͤnnen; je nachdem einer von fanfter 
oder heftiger Gemuͤthsart, mehr zur Traurigfeit oder 
mehr zum Zorn geneigt ift. 

Die Traurigfeit verwandelt fih bisweilen. in 
Schwermüthigfeit , dergeſtalten, daß die Impreſſio— 
nen, aus denen die Gefühle der Traurigfeit entfpringen, 
fortdauern, obſchon das Bewußtſeyn der Urſache fi 0 ver⸗ 
foren bat *). | 

Wenn der Schwermuͤthige keine Urſachen feines 
Zuftendes anzugeben weiß, in dem Gegenmwärtigen und 
Vergangenen: fo beredt er ſich bisweilen, daß Ahnduns 
gen des Kinftigen, ar er Unglücsfälle ihn dazu 

. 13 bringen. 


.% S. Sulzers vermiſchte Schriften, Se 214. — 








3 


166 Buch J. Abſchnitt I. 


bringen. Was glaubt der Menſch nicht, um ſich Ne 
chenfchaft geben zu Finnen, von feinem Zuftande? Und 
Vorherfehungen oder Worempfindungen der Zufunft zu 
glauben, "find wir ohnedem aus mehreren Gründen 
geneigt. 

Es ift von mehrern fiharffinnigen Beobachtern 
angemerft worden, daß beim Anfang der reifenden 
Jugend, fondertich das weibliche Gefchlecht, zu einer ges 
wiffen Schwermuth aufgelegt ift, die nichts ſchmerzhaf⸗ 
tes, aber etwas druͤckendes, beflemmendes hat, und den 
Namen einer fügen Melancholie zu verdienen fcheint, 
In diefem Zuftande erweichen die Eindrüdfe des neuen 
Frühlings mehr, als’ fie erniuritern; mehr eine fanfte 
Auflöfung,; als neue Lebenskraft fcheinen fie zu prophezei⸗ 
ben. Die lieder der Nachtigall rühren bis in das In⸗ 
"nerfte; aber zu voll des Wonnegefühls fehmachtet das 
Herz nad) Erleichterung, und ſympathiſirt mehr mit den zie⸗ 
binden Klagtönen, alsden hellen Schlägen der Sängerinn, 
Der Körper, in welchem Alter und Jahrszeit zur gleis 
hen Wirfung zufammenftimmen, ift die vornehmfte Urs 
fache diefes Gemuͤthszuſtandes. Dadurch aber, daß 
Empfindungen und Erwartungen erregt werden, mit des 
nen Ahndungen der Furcht fomohl als des Vergnuͤgens 
ſich verknuͤpfen Finnen, und die durch ihre Dunfelheit 
und. Sremdheit allein ſchon beunruhigend feyn müffen, 
‚nimme die Seelg Antheil, und wird Miturſache deſſen, 
was ſie empfindet. 
| Der philofopbifche Redner Thomas *) glaubt, 
daß in einem ſolchen Gemuͤthszuſtande jene ar 


%) Effai-fur les — 














Bon den vorn. Zuftänben bes menfchl. Gem. 167 


Mädchen fic) befanden, die, wie von einer Seuche er- 
griffen, haufenmeife fich felbft das $eben nahmen. Die 
Bermutbungrift um fo viel wahrfcheinlicher, da die Ge⸗ 
ſchichtſchreiber (Plutarch und Gellius *)) fagen, 
daß gar feine aͤußerliche Weranlaffung als Urfache fich 
angeben ließ, und da das Mittel, wodurch diefer Sucht 
des Selbftmordes Einhalt geſchab die Reinigkeit der 
Sitten dieſer Maͤdchen gnugſam beweiſet. 

Dies iſt auch die Epoche, in welcher Romanen 
mit der ſtaͤrkſten Empfindung geleſen werden. Die 
Sympathie gewaͤhrt der Imagination einige Erleihte 
rung; aber auch nur der Imagination, und nur auf 
kurze Zeit. Denn die gleichſtimmigen Eindruͤcke haͤufen 
ſich eben dadurch. Exrnſthaftere Beſchaͤſtigungen des 
Verſtandes, die die Lebensgeiſter theilen, und edle Ge⸗ 
fühle der Seele verſchaffen, koͤnnen bisweilen, wenn 
auch nicht von Grund aus heilen, doch ee 
—— verſchaffen. 


8. 7 
Von der Sehnſucht, Leerheit des Herzens und der 
langen Weile. 


Sernfuct wird eigentlich durch Gegenftände ver» 
anlaffet, deren man fich mit Beftimmtheit bewußt iſt; 
und bald mehr durch die Vorftellungen des Uebels, wel⸗ 
ches man bey der Trennung von denſelben ſich gedenket; 
bald mehr durch die Vorſtellungen des Vergnuͤgens, 
welches man von der Vereinigung, vom Beſitze ſich ver⸗ 

94 ſpricht; 





% S. Gefneri Chreft, Plin. ©, 1049. f. 





18. Buche Abſchnitt 1 


ſpricht; bald durch eine gleiche Mifchung dieſer beyderley 
Arsen von Vorftellungen, Die Vergrößerung der einen 
und ber andern, die gewöhnliche Wirkung der Leiden⸗ 
fchaften, pflegt hiebey befonders weit zu gehn. Alte fchö« 
ne Eigenfchaften bes geliebten Gegenfiandes, die er je 
gehabt har, alles Vergnügen, das man je bey ihm em⸗ 
pfunden bat, wird zufammengenommenz alle Vergleis 
Hungen fallen zu feinem Vortheil aus, weil man nur 
an feine Vollkommenheiten denfet, und lebhaft an fie 
denfet, und von Diefen zu fehr eingenommen ift, um ans 
derer Dinge Vollkommenheiten mit geböriger Aufmerk⸗ 
famfeit zu würdigen, . Daher die Bemühungen ,: dem 
Sehnfuchtsvollen Ergögungen zu’bereiten, fo felten gelins 
gen, Iſt es ein belebter Gegenftand; fo iſt man ges 
neigt, ſich vorzuftellen, daß derfelbe ſich eben fo fehe 
nach ung fehne, als wir nach ihm; und ſo entſteht Mit. 
leiden und neue Zärtlichfeit für ihn; Inbruhſt und Vers 
fangen vermehren fich, | a 
Anm leichteften entſteht die Sehnſucht bey Leuten 
von lebhafter Einbildungsfraft, und in ſolchen Situatio⸗ 
nen, wo die Empfindung wenig angenehme und fuͤllende 
Eindruͤcke zufuͤhrt; bey Kranken, in muͤſſiger Einfams 
keit, oder ſolchen Geſellſchaften, mit denen man nicht 
ſympathifiren kann. Sie läßt ſich daher durch Veraͤn— 
derung bes Aufenthaltes und der Geſellſchaft und durch 
ernſthafte Beſchaͤftigungen, fo wie durch Veraͤnderung 
ber Vorftellungen von den Eigenſchaften und Geſinnun—- 
gen des Gegenſtandes, wenn dieſe möglich zu machen iſt, 
bisweilen Beben. Aber wo fie fiefer eingedrungen ift; 
da macht man fich gegen alle neue Eindrücke unempfind« 
lich, und verzehrt alle Kräfte, durch die unnüge Bes 

| . mübung, 


Von den vorn. Zuſt aͤnden des menſchl. Gent. 160 


mühung, bie Vorftellung bes gerünfchten Gegenftanbes 
zu realificen, und durch: Hemmung aller Wirkſamkeit, 
mittelſt der anziehenden Kraft deſſelben. 


| Aehnlich der Sehnſucht, aber doch ſchwaͤcher und 
zugleich unbeſtimmter, iſt das Beſtreben der Seele bey 
einem Zuſtande, den man Leere oder Leerheit des Her⸗ 
zens nennt, Ben genugſamer Beſchaͤftigung des Vers 
ftandeg und der äußern Sinne, beym Veberfluffe äußer- 
licher Güter, fühlt alsdann die Seele, daß fie nichts 
recht intereffirf, nichts bis zur erwaͤrmenden, fühlenden 
Leidenſchaft ruͤhrt. Dieſes Gefuͤhl kann durch die Erin⸗ 
nerung ſolcher fuͤllenden Einfluͤſſe, die man ehemals em⸗ 
pfunden hat, oder auch durch das Andringen irgend eines 
innern ſtarken Triebes entſtehen, dem der Gegenſtand 
fehlet, an dem er ſich auslaſſen kann. 


So fuͤhlt das Genie dies Leere bey den Werken 
des Geiſtes, wenn ſie nichts enthalten, was ſeine halb 
entwickelte Ideale durch Gleichartigkeit anziehen und zur 
Entfaltung reizen kann; der junge Held, in welchem der 
Plan zur Eroberung einer Welt liegt, bey dem gefchäftis 
gen Müffiggange des Hoflebens; und der Patrior, in 
welchem Kräfte und Anfchläge zu Sanbesverbefferungen 
fich entwickeln wollen; wenn er unthätig das väterfiche 
Erbtheil verzehren, ober ein Amt verwalten foll, das 
nur dem’ Körper, nicht dem Geifte Nahrung verfchaffer 
Der Juͤngling fühlt eg, wenn die Natur die gefellfehafts 
lichen Triebe in ihm entwickelt, und er feinen Gegen⸗ 
ftand findet, den er nach feiner edlen Denfungsart lie⸗ 
ben, den ſeine ſchmachtende Seele ganz in ſich ſchließen 


kann 
> f5 Wenn 


7e Buch I: Abſchnitt IE 


Wenn auf folhe wahre Gefügle der wirklich vore 
handenen Kraft diefer Zuftand ſich gründet: fo kann 
nichts als die Befriedigung der dunkeln Sehnſucht die Zus 
friedenheit des Geiftes herſtellen. Ohne diefelbe wird 
ein ermüdendes Streben, eine verderbliche Staghation, 
Schwermuth und Auszehrung aus den verfchloffenen 
Kräften entftehen. Ober die andringende Stärfe derfel 
ben wird beym Reize unwuͤrdiger Gegenftände endlich 
ausbrechen, die, wenn noch edle Negungen übrig find, 
bald Efel und Reue erzeugen. 

Wenn aber nur ans der Erinnerung des ehemalis 
gen Genuffes diefe dunfle Sehnſucht entfteht: da kann 
noch wohl die Vernunft beruhigen, durch den Gedanken, 
daf nicht das ganze Leben zur ftarfen Empfindung bes 
ftimmt ift, daß ftätige Wirkſamkeit bey Fälterer Em« 

pfindung und teiterer Umficht auch ihre Wortheile habe. 
Wo Natur oder Unterricht den feinern Empfindun⸗ 
gen eine gemugfame Stärke gegen die Antriebe der äußern 
Eindrüce gewähren: da befördert das Gefühl der $eer- 
beit des Herzens den Enefchluß, aufdieunfichtbaren, aber 
vollfommenen und ewigen Güter feine Wünfche und Vor⸗ 
ftellungen hinzurichten. Aber nicht alle Menfchen find 
vermögend, bey diefem Entſchluſſe fi zu behaupten, 
Henn die ſinnlichen Triebe nicht überwunden, ſondern 
nur unterdrückt; ‘wenn die Ideen der höheren Güter nicht 
auf tiefe Einfichten und vernünftige Ueberzeugung ges 
gruͤndet, fondern vielmehr das Werf der erhigten mas 
gination und ſchwaͤrmeriſcher Weberredungen waren: fo 
folgt auf die kurze Erfüllung bald wieder Gefühl der 
$eerheit; und der Ruͤckfall, wenn er Möglich ift, kann 
auch * tiefer ſtuͤrzen, als ‚der erfte Anfall. 

‚Wenn 


Von den vorn. Zuftänden bed menſchl. Gem. 271 


Wenn das unbeftinmte Verlangen ber tinjufriebes 
nen Seele nicht ſowohl auf Füllung des Herzens, auf 
Befchäftigung der ftärkern Triebe, als auf Beſchaͤftigung 
der Sinne oder der Einbildungskraft geht: ſo heißt der 
Zuſtand lange Weile. Die Zeit waͤhret lange, wenn 
man unter unangenehmen Cindrücden oder beftändigen 
Wuͤnſchen nad) lebhaftern fie zubringt. Wie bie Leerheit 
des Herzens mehr der Betruͤbniß oder Sehnfucht gleichet, 
wie dieſe aus den innerften Eindruͤcken entfteht, und 
aufs Innerſte der Gegenftände eindringe: fa gleicht die 
lange Weile, wenn man fie auf die angezeigte Weife un, 
terfcheidet, mehr der Verdruͤßlichkeit, hängt mehr von 
den Umftänden und Eigenfchaften ab, die auf die Sinne 
und Einbildungsfraft Eindruck machen. Beſchaͤftigung 
iſt dem Menſchen nöthig, *($. 22.) und er finder dieſelbe 
nicht unter allen Umftänden dein Zuftande feiner Kräfte 
und Antriebe angemeffen. Es ift alfodie fange Zeile ein 

natürliches Uebel, ‘das einen jeden befallen kann. Aber 
es zeigt fich ein großer Unterfchied der Charactere, ſowohl 
in Abficht der Umſtaͤnde, „unter welchen Menſchen lange 
Weile haben, als auch darinn, , wie oft einer davon bes 
fallen wird. Alle Menſchen, ſchreibt ein ſcharfſinniger 
Arzt und Weltweiſer, find der langen Weile unterworfen; 
ein gemeiner Kopf fuͤhlet diefelbe am meiſten im Um⸗ 
gange,mit ſich felbft ; ein —— am —— im Um Ä 
gange mit andern *). . 
— Der Menſch lebt zwar nicht allein vom Denten. 
Aber ein gefuͤlter und er Kopf findet doch ſo viele 


Beſchaͤf⸗ 


5 





9 Zimmermann von der Einſamkeit. S. 14. 19. 





172°. Buhl Abſchnitt I. 


Beſchaͤftigung in fich felbft; daß ſich nicht begreifen laͤſ— 
fet, wie er eigentliche lange Weile, fich felbft überlaffen, 
oft fühlen Fönne. Daß ihm aber auch forft gute Cefell« 
ſchaft verdrüßfich feyn und lange Weile machen fönne, eben 
deswegen, meil fie von der Verfolgung feiner eigenen 
Ideen ihn abhält, und eine Aufmerffamkeit von ihm 
fordert, zu der er fi ich zwingen muß; if begreiflih. Uns» 
rerdeffen kann es aud) Schwäche des Denfers feyn; 
Mangel der Gewalt über ſich felbft und feine gewoͤhnli⸗ 
hen innern Antriebe, mas da macht, daß Gefeltfchaften 
und Unterredungen, die mit diefen nicht übereinftimmen, 
ihn nicht befuftigen, ihm lange Weile verurfachen. Ob 
Menfchen im Zuftande der natürlichen Unwiſſenheit, 
oder Wildheit, gleich den Gefitteten, eigentliche fange 
Weile fühlen; daruͤber feheint man noch nicht einig zu 
ſeyn, Wenn der Schluß von ben Kindern auf jene Er» 
wachfege auch bier gelten darf: fo muß man fchon ver 
murhen ‚* daß fie wenigftens innere Difpofition zur langen 
Meile genug haben. Denn die Kinder leiden fehr von 
biefem Uebel. Und wenn aug einige Beobachtungen zur 
Beftätigung jener Vermuthung *) auf zu feine Schlüffe 
gebaut feyn follten; fo Fann man doch aus ihrer fo ſtar⸗ 
* Ken Neigung zu Spielen und andern gefellfchaftlichen Zeit. 
vertreiben immer auch fhließen, «daß fie den. Druck der 
fangen Weile fühlen. ($. 22.) : Unterdeffen fine aller: 
“ dings einige Gründe vorhanden, um welcher willen dies 
fes Gefühl beym Wilden nicht fo oft entftehen kann, als 
bey ausgebildeten Menfchen, Ibre gebensare” iſt mit 
man⸗ 


En — — 











ne 


9 — Dife, III, ch, V. | Ä 


Von den vorn. Zuftänden des menſchl Gem. -173 


manchen Beſchwerden verfnüpft, durch melche ihre 
Kräfte erfchöpft werden, und lange Ruhe ihnen angenehm 
"wird, Darmur, mo viele Jebensgeifter find,. ohne bes 
fiimmte Anwendung, entfteht das unbeftimmte Werlan« 
gen nach) Anwendung - derfelben, nach Zerftreuung. 
Sodann find fie einer einfachen, einförmigen $ebensart . 
gewohnt, haben weniger Ideen zur Vergleihung, und 
find alfo- mit der jedesmaligen. Situation leichter zus 
fiden 0 | | 
Wie es dieſe Gründe mit fih bringen, fo lehret 
es auch die Erfahrung, daß diejenigen Menfchen der latıe 
gen Weile am meiften ausgefegt find, die Kraft und 
Kenntniß genug haben, um nad) abwechfelnden Eindrüs 
cken zu fireben; aber zu wenig, um fie fich felbft zu ver« 
fhaffen. Und die äußerften Verfchiedenheiten kommen 
alfo auch hier in ihren Wirkungen überein. 
Bon den Wirkungen der langen Weile läffer ſich 
fehr vieles fagen, wenn man alles, hieher rechnen mill, 
was der Trieb nad) Veränderung und DBefchäftigung, 
ober die Unzufriedenheit mit einem Zuſtande von zu ſchwa⸗ 
chen angenehmen Eindrücen bewirfen fönnen. Aber 
- um nicht zu wiederholen, mas bey nähern Beranlaffungen 
ſchon bemerkt worden ift, oder noch vorfommen wird, 
mag die einzige Bemerfung hier genug feyn, daß die 
lange Weile, der Mangel an andern Ergögungeh und 
Befchäftigungen, der Wölleren und Unzucht wohl mehr 
Menfchen zuführet, als die eigentlich) darauf abzielenden 
£hierifchen Triebe. Die lange Weile ift, nach einer Ans 
merfung bes Herrn Zimmermanng, und den Zeuge 
 niffeh zuverlaͤſſiger Meifebefchreibungen, Urfache," daß, 
der heftigen Kälte des Klima ungeachtet, die Neigung 
für 


74°. Buhl. Abſchnitt IL 


_ fir die korperliche Siebe in Sibirien fo Außerft groß ik 
Und nach eben demfelben fallen einfame Mädchen und auf. 
dem Lande gähnende Damen nur aus langer Weie in bie 


E Sünde des heiſchet . 


Ge 35: 
Bon dem Neide, der Mißgunft und der Schabeufreude, 


Vermoͤge der Sympathie, follte der Menfch bey 
Ben Bollfommenheiten und dem Gluͤck des andern Freude 
fühlen, und bey feinen Fehlern und $eiden ſich betrüben 
oder verdrüßlich werden; oder doch nur die entgegenges 
fegten Empfindungen haben, wenn er fi die Sache an 
ders, als fie ift, vorftellte. Aber da die feldftfüchtigen 
Triebe und Empfindungen insgemein ftärfer find, als 
jene fpmpathetifchen Regungen, fo fann es fommen,. daß. 
ein Menfch des andern Vollfommenheiten mit verwuͤn⸗ 
fehendem Verdruſſe anfieht, feine Wortheile ihm miß« 
gönnet, und Freude verfpührt bey dem, was ihm zum 
Neqthen gereichet. 

So geradezu entſtehen dieſe, nur ben den ſchlechte⸗ 
ſten Menfihen gewöhnlichen Gemüithszuftände doch nicht; 
fondern fie feßen ein Verderbniß verfchiedener natürlicher 
Triebe-und Empfindungsarten voraus, um herrfdyend, um . 
Züge im Character zu werden, | 

Der Trieb zur Vollkommenheit, das Begehren 
deffen, was einem gut und nörhig zu ſeyn feheine, iſt 
freplich einem jeden Menfchen narirlic, Aber das Gute, 

“ —X „was 








”) ©, von der Einfamfeit. 


Bon den vor. Zuftänden bes menſchl. Gem. 175 


was andere ‚haben, fich wünfchen, ift noch nicht Neid 
. und Mißgunft. Man fann es ſich wünfchen, ohnd zu 
tollen, daß es andere-nicht haben, Man kann unzufrie 
den darüber fen, andern nachzuſtehen; aber dies nur 
zum Antrieb werden laſſen, fich mittelft feiner 
Kraft hervorzuthun: ſolche Macheiferung iſt nicht Neid. 
Aber Neid und Mißqunſt und Schadenfreude entſte⸗ 
ben, wenn man ſich mehr wünfcht, als man zu erwerben, 
vielleicht auch nur zu befigen, fähig ift, und dabey uns 
empfindfam genug ift, um feinen Ancheil zu nehmen an 
dem Vergnügen und Mißvergnügen anderer; mern man 
unvernünftig, ohne die nafürlichen Berfnüpfungen der 
Dinge in der Welt zu bedenfen, Wirkungen ohne Urſa⸗ 
hen, Zwecke ohne Mittel will; wenn man zu ſchwach 
oder zu träge ift, um ſich empor zu ſchwingen oder zu ers 
weitern, und daher nur bey der Verfürzung oder Ein« 
ſchraͤnkung anderer fein Maaß leidlich findet; oder wenn 
man aus einfeitiger, flüchtiger Beachtung, alles, was 
einem fehle, für beffer halt, als, was man befißt, und 
dabey für billig, vor andern eher begünftige, als hintan⸗ 
gefegt zu werden; und endlich, wenn man von dem Char 
racter anderer eine fo ſchlimme Meynung bat, daß man 
ſoaleich Anwendung heer Vortheile zu unſerm Nachtheil 
befürchtet, 
Daher diefe Gemuͤthsbewegungen am leichteſten 
entſtehen, wo Haß und Feindſchaft herrſcht. 

Die Wirkungen, die dieſe Leidenſchaften zum 
Nachtheil des Neidiſchen ſelbſt allernaͤchſt hervorbringen, 
beſtehen darinn, daß er der ſympathetiſchen Freuden am 
Wohlergehn anderer verluſtig wird, wofuͤr die Schaden⸗ 
freude, die doch mit der Natur zu wenig uͤbereinſtimmt, 

| um 


76: Qu. Abſchnitt ih 


um teines Vergnügen zu feyn, Bein hinlänglicher Erfag 
ift# und daß er fich ermüdet und abzehrt mit der meh _ 
ventheils vergeblichen Begierde, andern ihr Gutes zu 
entziehen, ihre Bolltommenpeiten, nicht. gewahr zu wer⸗ 
den, deſſen, was andere befigen, ſich zu bemaͤchtigen, 
ohne es zu verdienen, Weitere Folgen davon find Haß 
gegen den andern, als einen Gegenſtand bes Mißfallens 
und der Furcht; Geneigtheit, bey den geringſten Anz 
läffen ihn als einen Feind zu. behandeln; Bemuͤhung, 
Haß, Verachtung oder andre nachtheilige Urtheile über 
ihn bey andern zu erwecken, durch Vergrößerung feiner 
Fehler, Verfleinerung feiner Verdienſte, oder gar Durch 
unverſchaͤmte Verlaͤumdung; endlich $eichtgläubigfeit bey 

dem, was ihm zum Nachtheil gereicht. | 


EN 30. 
Von der Hoffnung und einigen andern mittlern Gemuͤths⸗ 


Unter den mittlern Gemürhszuftänden, bey benen 
angenehme und unangenehme Empfindungen faft in gleis 
chem Grade ſich mifchen, oder "beftändig mit: einander 
abwechſeln, nimmt.die Hoffnung billig die vornehmfte 
Stelle ein; in fo fern fie nämlid) nicht gewiſſe Zuverficht 
iſt, fondern zwifchen diefer ‚und der Werzweiflung und 
Muthloſigkeit in der Mitte ſteht. Auch ſo noch iſt «fie 
eine der maͤchtigſten Stuͤtzen der menſchlichen Schwach⸗ 
heit, eine der beſtaͤndigſten Quellen des Troſtes und der 
Erquickung. Wie viele Stunden des Lebens wuͤrden 
nicht freudenleer hinfließen, wenn ſie nicht mit ihren 
wohlthaͤtigen Einfluͤſſen fie erfuͤllte? Mur alsdenn iſt der 

— | Menſch 


Von den vorn. Zuftänden des menſchl. Gem. 177 


Menſch ganz verlaffen, nur alsdann iſt es ganz aus mit 
ihm, wenn ihn die Hoffnung verläßt. 


Freylich gehört fie zu den veränderlichiten der 
menfchlichen Eräugniffe. Den fie ige bis zu ben led» 
bafteften Vorſchmack feiner Fühnften Wuͤnſche erhoben, 
. und mit Strömen von Seligfeiten aus ihrem Fuͤllhorn 
überfchüttet hat; den ftürge fie oft einen Augenblick data 
nad) in die finftern Abgründe der Verzweiflung, ober die 
düftern Sabyrinthe der Ungewißheit herab, Oefter noch 
ſchwebt fie zwiſchen den beyden Heußerften in einer beftän- 
digen Ebbe und Fluth. 


Auch dies vermindert ihren Werth; daß fie gegen 
- vorhandene Vortheile oder bevorftehende Gefahren leicht 
zu unachtfam und gleichgültig macht; macht, daß man 
ſich vor den leßtern nicht hürtet, in der Erwartung einer 
eingebilderen Hilfe, und jene ausfchläge, weil man mit 
größern Erwartungen ſich ſchmeichelt; oder gar, indem 
man an den $uftfchlöffern der idealifchen Glückfeligkeiten 
baut, wie die Frau mit dem Milchtopfe, den vorhande ⸗ 
nen Grund berfelben gewahrios vernichtet, 


Endlich wird fie unferer Gtückfeligkeit, dem Ge⸗ 
nuß und der Benußung eines Gluͤckes, auch dadurch 
hinderlich, daß fie unzufrieden macht, wenn ihre zu gro» 
Ken Erwartungen mehr vernichtet als erfüllt werden; ſo 
wie hingegen angenehme Eräugniffe um fo mehr erfreuen, 
je fuechtfamer die Erwartung, je befcheidener der Wunſch 
geweſen iſt. 

Wie zweifelhaft abe! auch ihr Werrh für die 
mr Gluͤckſeligkeit ſeyn — ; ſo viel iſt u 

Erfter ER 





78 _ Buch 1. Abſchnitt It. 


daß fie eine der maͤchtigſten Triebfedern des menfchlichen 
$ebens ift. Ohne die Hoffnung eines glüclidyen Aus— 
ganges würden viele Bubenftüdfe nicht unternommen 
werden. Aber wie viele gemeinnüßige Handlungen wür« 
den auch nicht unterbleiben; wenn nur das gegenwärtige 
Vergnügen, oder nur Die nahen und gemiffen Vortheile al« 
lein Triebmerf feyn follten; wenn nicht allen mächtigen 
$eidenfchaften fie mit den füßeften Erwartungen ſchmei— 
chelte? In Hoffnung, fie noch zu benugen, fängt der - 
felbftfüchtige Menfch Werfe für die Nachfommen an. 
Zu ſchwach würde fein Antrieb feyn, wenn er nur auf 
feine geroiffen Vortheile fehen wollte. 


Die Wirkungen der Hoffnung werden aus ihren 
Gründen begreiflih. Ungewiſſe Erfenntniß der Zufunft 
ift ihr Grund. Je beſtimmter die Einficht in den Zu- 
fammenhang der Dinge und die Fünftigen Erfolge ift; 
deſto weniger findet die Hoffnung Pla. Bey der Un- 
gewißheit und Unbeftimmtheit der Vorftellungen von der 
Zufunft Hingegen, mirfet die Imagination nad) der 
Richtung der herrfchenden Leidenſchaften und vorrächigen 
Ideen. Je lebhafter und voller diefe ift; defto lebhafter 
und glänzender werden die Gebäude der Hoffnung. Das 
Kind hat noch Feine, oder nur ſchwache, nicht weit fich 
erſtreckende Hoffnungen; und aud) die Hoffnungen des 
Greifes müffen mäßig ſeyn. Am ftärfften find die Hoff 
- nungen bes Juͤnglings. ’ = 

Das ift, nad) dem Helvetius, die Urfache, 
warum bey ungewiſſer Todesgefahr jener am meiften 
zagt, und Diefer, den die Hoffnung unterſtuͤtzt, am 
wenigften; bey gewiſſem Verluſt ‚des Lebens aber die 

| | Stand, 


Von den vorn, Zuftänden des menſchl. Gem. 179 


Standhaftigkeit des erflern ‚ weil er meniger zu ver- 
fieren hat, weniger Hoffnungen vereitele flieht, gro. 
Ber ift. 


Es giebt eine vernünftige und geprüfte Wahrfchein- 
lichkeit, und eine thörigte, eingebildete, auf Unmiffen- 
beit und Irrthuͤmer, die der menfchliche Verftand über. 
winden fönnte, gegründet, Eben diefer Unterfchied fin. 
det bey der Hoffnung Statt. 


Alles, was auf die Lebhaftigkeit und die Verbin. 
dungen der been Einfluß bar, hat ihn auch auf die 
Hoffnung. Der Einfluß des Körpers giebt ſich bald ges 
nug dabey zu erfennen. Auch die Eigenliebe zeige ſich 
mächtig dabey. Die große Meynung, die ein Menfch 
von ſich hat, macht, daß er fich nicht nur von den Mei. 
gungen anderer zu viel verſpricht; felbft von den lebloſen 
Kräften erwartet er oft die unwahrfcheinlichiten Begünfti- 
gungen, Ausnahmen von den Maturgefeßen, ungewöhn. 
liche Hülfe und Errerrung. ° Die Vernunft vermag wer 
nig; no der Wunſch den Vorftellungen das $eben giebt, 
und die $eidenfchaft ihre Verbindung beftimmt. 


Fin Gemüthszuftand von mittlerer Natur ift auch 
bey der Wertvunderung und dem Erſtaunen über das 
Außerordentlihe. Das Ungewöhnliche fann der Meu- 
gierde eine angenehme Befchäftigung gemähren. Aber 
das Unbegreiflie, Unüberfehbare, Ungewiffe, wodurch 
ber $auf der Ideen aufgehalten, ihre Anordnung und 
Beurtheilung erfehmert, der Geift zum Gefühl feiner: 
Einfchränfung gebracht wird, auch wohl gar Beforg- 
niffe entftehn, laͤßt diefe Beſchaͤftigung nicht lange ganz 

| M a ange: 


18 Buhl. Abſchnitt I. 


angenehm ſeyn. Verſchiedene Gemürhsberegungen Für- 
nen ſich dazu geſellen. Furcht und Zaghaftigkeit, wenn 
der Gegenſtand uns gefaͤhrlich ſcheint; wie die Canonen 
den Wilden, oder das Feuer den Inſulanern, zu denen 
es Ferdinandus Magellanicus zuerſt brachte. Be⸗ 
wunderung und Ehrfurcht; wenn es die Vorſtellung von 
vorzuͤglichen Geiſteskraͤften erweckt. Alsdann iſt das 
Gemuͤth zu allerhand aberglaͤubiſchen Uebertreibungen 
vorzüglich geſchickt. Wenn aufßerordentlihe Schwaͤche 
und Unvollfommenbeit in Verwunderung fegen: fo ent- 

ſtehen bald Haß und Berabfeheuung, oder Mitleiden; 
bald Selbfterhebung, Stolz und Verachtung. 


WUngewißheit ift an fih immer ein unangenehme 
Gemuͤthszuſtand. Wenn er zu lange dauert, und bie 
Zurcht des Unangenehmen dabey fehr überhand nimmt: 
fo kann er die fonderbarften Entfchließungen bewirken. 
Um nur gewiß zu werden, entſagt der Menſch oft der 
noch uͤbrigen, aber zu geringen Hoffnung, und bringt von 
den vielen ihm drohenden Uebeln ſelbſt eines, vielleicht 
das ſchlimmſte, zur Wirklichkeit. Der Miſſethaͤter 
giebt ſich ſelbſt an; und der Geizhals erhaͤngt ſich aus 
Furcht, zu verhungern. | | 


5 Wenn nur auf diefes Leben zu ſehen waͤre: fo 

konnte der Entſchluß unter folchen Umftänden noch wohl 
bisweilen vernünftig feheinen. Beſſer ift es doch, den 
Dolch einmal fühlen, als bey jedem neuen Anfall der 
Furcht; und ihn dann um fo vieklebhafter fühlen, wenn 
ein Augenblick der Hoffnung verhergegangen war: - 


937. 


Vonden vorn. Zuſtaͤnden des menſchl. Sem. 181 


9. 37. 


Von dem Mebergange aus einem Gemuͤthszuſtande in den an⸗ 
dern, und den damit verknuͤpften Wirkungen, 


In fo fern bey heftigen Gemuͤthsbewegungen über. 
Haupt viele Ideen rege find, oder doch leicht erreget wer⸗ 
den koͤnnen; fo ift Grund zu mehrern Affecten, wo ein⸗ 
mal einer iſt. Ein neuer ſtarker Eindruck kann leicht 
noch ſtaͤrker werden, mittelſt der Adſociation der vielen 
ſchon regen Ideen, oder durch die Vermiſchung mit den 
ſchon vorhandenen Gemuͤthsbewegungen. Um ſo viel 
feichter aber kann dieſes geſchehen, wenn bie zu ben bey« 
derlen Gemüchszuftänden gehörigen Empfindungen und 
Borftellungen etwas Aehnliches haben, ober in fonft eie 
nem der Wermifchung ihrer Wirkungen vortheilhaften 
Verhaͤltniſſe ftehen. Eine der gemeinften Erfahrungen 
iſt, daß beym koͤrperlichen Schmerz, fo wie beym Ber 
druß, ein Menfch viel feichter in Zorn gerät. Daß aus 
dem Mitleiven leicht Siebe entftehen kann, iſt oben ($.29.) 
ſchon bemerfe worden. Außerdem dag Mitleiden die eine 
Art von Siebe, nämlich Wohlwollen, ſchon in ſich 
faßt: fo ift es aud) der Erzeugung des Wohlgefallens 
und des Verlangens nach Gegenliebe dadurch befoͤrder⸗ 
fich, daß wir unſer Wohlwollen lieber an wuͤrdige ale 
unmürdige Gegenftände verwendet glauben, und daher an. 
denfelben Gutes aufzufuchen und zu erfennen geneigt find; 
und daß wir eher Gegenliebe erwarten, wo wir Danfbar- 
keit gegründet haben, 

Wenn im Gemuͤthe durch irgend einen Einbrud 
die Ideen vom Großen rege find: fo £önnen durch biefel» 
be allerhand Antriebe erwecket werden, und, ang, einan⸗ 





3 Buhl. Abſchnitt II. 


der entftehen, wenn ſie auch fonft feine Aehnlichkeit mit 
einander haben. Daher find die Menfchen in den Zeiten 
des Krieges, großer Staats »oder Keligionsveränderuns 
gen, zu allerhand ftarfen Leidenſchaften und Fühnen Ent: 
ſchließungen mehr als fonft aufgelegt *). | 


Die Erfahrung lehrt aber auh, daR Menfchen 
bisweilen frhr fehnell von einem Gemüthszuftande zum 
entgegengefeßten übergehen; nicht nur von der Furcht zur 
Hoffnung, und umgefehrt; fondern aud) von der Freude 
zur Traurigfeit, von der tiebe zum Kaffe, und umge 
Eehrt. Die Weränderlichfeit der Dinge in der Welt, 
oder der Vorftellungen von diefen Dingen, bringt es fo 
mit fih. Das merfiürdigfte aber bey diefer Abwechfe- 

lung ift, daß insgemein die Gemuͤthsbewegung um fo 
viel heftiger wird, wenn fie auf eine entgegengefeßte folgt. 
Dies wird überhaupt aus den Wirfungen des Contraftes 
begreiflich. ($. 4.) In manden Fällen auch daher, 
daß 











a] ee u— 








*) Thomas EIf. fur les femmes p. 164. bemerkt, wie zur 
—Zeit der Fronde verfchiedene Prinzeffinnen an den pos 
litifhen Bewegungen, felbft an den Eriegerifchen Vers 
tihtungen, ‚lebhaft Autheil nahmen, zu gleicher Zeit 
aber mit eben fo großem Eifer Werke der Frömmigkeit 
verrichteren. On cabaloit le matin, & on vifitoit les 
couvents le foir. Jamais on ne vit plüs de femmes de 
la cour fe faire Carmelites. — Il femble, qu’au mi- 
lieu des troubles les ames fe portaient à tout avec 
plus d’impetunfit&, & les imaginations échauffées par 
tant de mouvements fe precipitaient &galement vers 
la guerre. vers Pamour, vers la religion & vers les 
eabales. Dieſe Erftärung kann Statt finden; wenn 
auch gleich Gewiſſenstrieb oder politifche Abficht, fich ein 
esrwürbigeres Anſehn zu geben, mitwirften. 


Don den vorn. Zuftänden des menſchl. Gem. 183 


daß beym erſten Zuſtande einigen Trieben Gewalt ange⸗ 
than wird; die alſo um ſo viel heftiger ſich auslaſſen, 
wenn ſie frey werden, je mehr das innere Beſtreben durch 
den Widerſtand wuchs. Wenn der Traurige erfreut 
wird: ſo iſt vielleicht eine gedoppelte Urſache des Wohl⸗ 
befindens vorhanden, Befreyung vom Uebel und Erlan⸗ 
gung eines neuen pofitiven Gutes. Wenn auf Liebe Haß 
folgt: fo fommen zur erlittenen Beleidigung, ‚oder was 
fonft die nächfte Urfache davon ift, noch die Schaam, 
ſich fo in feinem Urtheile von andern betrogen zu haben, 
und bie Neue, fo viele Beweiſe der Siebe an einen Un 
würdigen verſchwendet zu haben, binzu. Wenn einer 
vom Zorn zur Siebe übergeht: fo kann die Begierde, das 
Verſaͤumte einzubringen, das Unrecht gut zu machen, 
die Antriebe des Wohlwollens vermehren. 


Die allerfonderbarfte Erfcheinung hiebey machen 
die, zufolge ficherer Zeugniffe, nicht feltenen Benfpiele 
vom Uebergang aus der religieufen Schwärmeren in 
die wolluͤſtige ). Die Sache würde unbegreiflicher 
ſeyn, wenn die religieufen Empfindungen und Gemütrhs- 

M 4 bewe· 


— ç — — —ñ— — — — — — — 


*) Mon ber berühmten Eliſab. Barton oder dem fogenantts 
ten beiligen Wiädchen von Bent f. Hume Hilft. III. 
p. I9n Unter ben Lehren der Wiedertäufer war 
auch die Vertheidigung der Wielmeiberey eine. Und der 
König von Ifrael, TFob. von Keiden, nahm, um 
ein gutes Beyſpiel zu geben, deren bie auf 14. a, 
ed gieng: fo weit, daß in ganz frael feine Jungfer 
über 14 Jahre alt mehr zu finden war. S. Robertfon 
Hift. of Charl V, 11, 355. fegg. Vom Jakob Xe- 
dinger und mehrern folhen Charactern ſ. Meiſter über 
die EREANEN 1. ©. 71. ff. 


84. Buhl Abſchnitt n. 


bewegungen ber Menfchen immer aus ben rechten Quel⸗ 
fen, aus den erhabenen und gereinigten Begriffen von 
dem höchften Wefen herfämen; wenn nicht die finnlie 
‚hen und die intellectualen Begriffe in ihrem erften Urfprunge 
fo nahe mit einander verwandt wären; wenn nicht bie 
Menſchen fo geneige und geſchickt wären, den fchönften, 
wenn gleich fehwächften Theil ihres Characters, ſich felbft 
und andern zum Betruge, zum bervorftechendften, zur 
‚Außenfeite, zur Maske zu machen. 


Zweh · 


185 


5 


Zweytes Bud. 

Bon den Grimden und dem Zuſam⸗ 
menbange der- vornehmften Triebe des: 
menſchlichen Willens, 

Abſchnitt 1. | J 

Bon den Trieben, die ſich hauptſaͤchlich und 

allernaͤchſt auf einen jeden felbft beziehen. 

— BapieelL 

Vorläufige Anzeige der verfchiedenen Gefichtspunfte 
und Meynungen, die hierbey gewöhnlich find, 
3 8. 33. 
Rothwendlgkeit und Schwierigkeiten dieſer Unterſuchungen. 





| $ 8 vornehmfte Stuͤck der Kenntniß bes menfhli- 
Ä chen Willeng befteht in der richtigen Erfenntniß 
der Gründe und des Zufammenhangs feiner man« 
nigfaltigen Triebe. Ohne diefelbe ift man nicht im 
Etande, vorherzufehen, was für eine Gtärfe in biefem 
oder jenem Verhaͤltniſſe, was für gute und boͤſe Wirkun. 
| Mg gen, 


186 Buch Il. Abfchnitt 1. Kapitel I. 
gen, unter diefen und jenen Umſtaͤnden, ſich von ihren 


erwarten laſſen. Man kann alfo aud) ihre Moralitäe 
nicht richtig beurteilen. Ohne diefelbe weiß man nicht, 
welches die angemeffenften und binlänglichen Mittel ſeyn, 
fie zu ftärfen oder zu ſchwaͤchen. 

Diefe Erfenntniß zu erlangen, muß man, tie 
überall, Machdenfen über die Natur der Dinge und Ex« 
fahrungen mit einander vereinigen. Man muß die Be 
‚geiffe von den Trieben nach möglichft genauer und voll: 
fländiger Beftimmung entwideln; un zu fehen, aus 
was für Gründen fie begreiflich werden, vermöge ber 
allgemeinften Gefege der menfhlichen Natur, Aber 
nothwendig müffen vielbefaffende Beobachtungen zu 
den Schlüffen hinzufommen; weil man außerdem in Ge⸗ 
‚fahr ift, theils nicht alle Beſchaffenheiten der Sache in 
Eiwaͤgung zu ziehen, theils auch, durch die Unvollfom- 
menheit jener allgemeinen Grundſaͤtze, zu täufchenden Bor- 
ſtellungen der Begreiflichfeit oder Unbegreifüchkeit ver⸗ 

fuͤhrt zu werden. 

| Hieraus müflen einem jeden, der nur efivas davon 
verfteht, was es heiße, das Innerſte des Menfchen beob- 
achten, die Schwierigkeiten, die mit Diefen Unterfuchungen 
verknüpft find, überhaupt fehon einleuchten. Es werden aber 
dieſe Schwierigfeiten hier insbefondere noch dadurch : ver- 
mebrt, daß derfelbe Trieb aus mehrern, oft fehr verfchiedenen 
Gründen entftehen Fann; daß er nach der Verſchiedenheit 
des Grades und der uͤbrigen Beſtimmungen, in denen er 
da iſt, Urſache oder auch Wirkung von einem gewiſſen 
andern Trieb ſeyn kann. So kann die Begierde nach 
Ruhm und Anſehen eine Folge ſeyn von dem Verlan—⸗ 
gen, viel gemeinnügiges thun zu fönnen; aber auch die 

Ur 


Anzeige der verſchiednen Geſichtspunkte. 487 


Urſache des Eifers, gemeinnuͤtzige Dinge zu verrichten; 
Eben diefe Verfchiedenheit des Verhältniffes finder zwi⸗ 
fchen der Siebe zum Geld, und dem Beftreben nach 
Macht und Anfehen Statt. Nichts ift daher gefährli 
cher, als nach einfeitigen Betrachtungen über die Wil 
fenstriebe und Neigungen zu urtbeilen, und von einem 
Fall gleich auf den andern zu ſchließen. Freylich muß 
jeder Trieb, nach der Werfchiedenheit feiner Gründe, 
deren Art und Verhältniffe unter einander, eine etwas 
verfehiedene Geftalt gewinnen. Aber jene zu erfor- 
ſchen, und diefe darnach zu beftimmen; das erfordert 
viele Beobachtungen, die bey der Mühe, die fich die 
Menfchen geben, ihre fchlimme Seite möglichft zu ver- 
bergen, nicht leicht gemacht find.  Ohnedem find viele 
Gründe zu den Trieben ſchon gelegt, wenn man anfängt, 
darüber nachzudenfen; und die Gewohnheit fann fie fo in 
‚einander verflochten haben ) * ihre Vereinzelung ſaſt 
nicht mehr moͤglich iſt. | | 


$. 39. 


Verſchiedene Hypotheſen von dem Grundtrieb des menſch⸗ 
lichen Willens. 


Wie man in überhaupt i in den Wiffenfchaften auf mes 
nige Grundfäge, als Grundgefege der Natur, wenn es 
möglich ift, auf ein einziges, alle befondere. Bemerfun« 
gen zurückzuführen bemüht ift; und dazu um fo viel mehr 
fid) berechtigt hält, je mehrere Beweiſe ſich in der That 
davon finden, daß das Syſtem der Natur, in Anfehung 
der Grundfräfte und Grundgeſetze, ſehr einfach it: fo 
haben diefes auch von jeber viele in Anfehung der Wil- 

lens⸗ 


188 Buch U. Abſchnitt 1. Kapitel, 
lenstriebe unternommen, und aus einem einzigen Grund⸗ 
trieb alle übrigen herzuleiten und völlig begreiflich zu mas 
chen geſucht. Diefer Grundtrieb ſchien ihnen nämlich 
der Trieb der Selbftliebe zu feyn. Aber daben zeigt ſich 
bald eine große Verfchiedenheit der Begriffe von diefer 
für den Grundtrieb erflärten Selbſtliebe. Einige erflä 
ren fi fo, daß man fieht, fie verftehen darunter den 
Eigennuß, das beftändige Beſtreben nach den Vor— 
theilen und Bequemlichkeiten dieſes Lebens. ($. 135.) Ans 
dere nehmen den Begriff nad) feinem völligen, der Grunds 
bedeutung des Worts angemeffenen Umfange; ſo daß Trieb 
zu jedweder Art von Gütern und Vergnuͤgungen biefes 
und jenes Lebens, aus Flaren und deutlichen, ober ver 
worrenen und dunfeln Vorfiellungen derfelben entfprun« 
gen, darunter zu verfteben ift. " 

Wiederum geben einige fogleich zu erkennen, daß 
fie fich bey der Selbſtliebe Eein einfaches Princip, alfe 
feinen wahren Grundtrieb denfen, fondern nur einen 
Generaltrieb, d.h. eine Menge urfprünglic) verfchies 
dener und von einander unabhängiger, nicht aus einan« 
der begreiflicher Antriebe, die nur um ihrer Aehnlichfeit 
oder gemeinfchaftlichen Beziehung willen unter einem all» 
gemeinen Begriff zufammengefaßt werden fönnen *). 

Andere aber fuchen aus diefen vielen Trieben, bey 
Genen insgefamt der Reiz in der Vorftellung eines Nu⸗ 
Gens oder Vergnügens für den Wollenden zu liegen fcheint, 
das uͤberall unmittelbar reigende auszufefen, um dar⸗ 
nach ben Grundtrieb genauer zu beftimmen, 

Mad) 











) S. Cruſius Anweifung vernünftig zu leben, $. 107. 


Anzeige der verſchiednen Geſichtspunkte. 189 


Nach dem Epifur und Helvetius, fell diefer erſte 
und allgemeine Grundreiz aller Beweggründe in koͤrper⸗ 
lichen Gefühlen liegen ). Aus denfelben fey er, ver⸗ 
“möge der durch Unterricht, Erfahrung und Nachdenken 
“ entftandenen Begriffe von dem Zufammenhang und den 
Verhaͤltniſſen der Dinge, übergetragen in alle andere 
Vorftellungen. Nach ver Verbindung, in welche unfere 
Speenadfociation mit jenen urfprünglicdy angenehmen koͤr⸗ 
perlichen Gefühlen jedwede Sache allmählig gebracht bat, 
fcheine fie ung gut, oder boͤs, oder gleichgültig. So, 
Freundfchaft, Wiffenfchaft, Vaterland, Tu⸗ 
gend, und alles, wie es Namen haben mag. Alle ſo⸗ 
‚genannte geiftifche, feine Vergnuͤgungen feyen nichts 
anders, als Genuß jener Eörperlichen Gefühle; aber 
nur abgezogener und manchfaltiger gemifcht, 
| Dagegen glauben andere, der Grundtrieb des Wil« 
lens muͤſſe in bem ſich finden, was der Seele unabhaͤn⸗ 
gig vom Körper eigen ift; und diefes fen nichts anders, 
als ihre Denkkraft oder Vorftellungsfraft. Der Grund» 
trieb beftehe alſo im Beſtreben nach Borftellung, 
nach Erkenntniß; voneinem Gradeder Vollkommenheit 
derfelben,der Klarheit, Bollftändigkeit und Deutlichfeit zum 
“andern, von einer “dee zur andern fortzurüden, und fo 
immer ben Erfenntnißfreis zuerweitern. inigen heißter 
‚daher auch der Ermeiterungstrieb. Zufolge diefes 
Brundfaßes, find alfo alle Eörperfiche Zuftände, und weis 
ter alle Dinge und PRO ‚ ber Seele angenehm 
| | 7* 


t : 
— — 


— 5) ©, Brucker Hilt, erit. er pie tom. 1.1299. ſeq. Hel.- 


‚vetins de V’Efprit Diff, II, Versl. Bennes ana · 
Iyt, chap. X, xvu. 








190 Buch M. Abſchnitt 1. Kapitel. 


oder unangenehm; je nachdem ſie ihr jenen Fortgang zu 
neuen oder vollkommnern Vorſtellungen erleichtern, oder 
ſie dabey aufhalten oder einſchraͤnken *). 

Einige halten den Trieb zur Vollkommenheit 
entweder uͤberhaupt, oder zur eigenen Vollkommenheit 
fuͤr den Grundtrieb. Vollkommenheit ſoll aber hierbey 
heißen, bald ſo viel als Realitaͤt oder Kraft, bald ſo 
viel als Zuſammenſtimmung oder Uebereinſtimmung 
des Manchfaltigen *). 


| $ 4% 
Zortfegung diefer Anzeige und Regeln für die folgenden Uns 
terfuchungen. 

So einfach aber, denfen andere, fann der Grund 
‚aller Gemüthsbewegungen und Willensneigungen nicht 
‚angenommen werden. Einige, die nicht dagegen find, 
daß man das Ende aller Triebe in dem Begriff der Selbft« 
‚liebe zufammenziehen fönne; halten doc) dafür, daß for 
wohl in ber Seele, als im Körper, eigene, von eitt- 
ander unabhängige, menigftens aus einander nicht bes 
greifliche Gründe der Luft und Unluſt fich finden. Daß 

| | die 





*) S. Sulzers Unterfuhung über den Urfprung ber anger 

- nehmen und unangenehmen Empfindungen, in den vers 

miſcht. Philof. Schriften, Leipz. 1773. Cochius Preiss 
ſchrift über die Neigungen, 1769. 

**) ©. Carte], de paſſ. animi art. 94. 95. Epiſt. part, I. 
ep. 6. _Karfiner Reflex, fur l’origine du plaifir, im 
ber Hift, de Pacad & Berlin] 1749. Woifs Metas 
niofif, $. 404. Mendeloſohns Philof. Schriften, 
Berl, 1767. 8. | | 


Anzeige der verfchiednen Geſichtspunkte. 1gt 


die Seele gewiffe Neigungen allerdings haben würde, 
gefegt auch, daß fie ohne allen Körper, oder doch ohne 
einen folchen Körper wäre, wenn fie nurWorftellungen und 
Kührungen hätte. Daß ihr aber auch gewiſſe Zuftände 
des Körpers, allen Einfluß ihrer eigenthümlichen, nicht 
auf den Körper fich beziehenden Triebe bey Seite ger - 
fest, angenehm feyn, und andere unangenehm *). 

Die Selbitliebe allein, mit allem, was man aus 
ihr ohne Zwang machen kann, feheint einigen noch) lange 
nicht der Grund aller Willenstriebe zu ſeyn. Viele feyn 
ganz unabhängig von derfelben; andere rühren zum Theil 
von ihr her, haben aber daneben aud) noch eine andere 
Quelle, Der Trieb der Hochachtung, der Eihrbegierde, 
der SFreundfchaft und Gefelligfeit, befonders die morali« 
fehen Triebe, follen dies beweifen **). 
| Einige endlich find der Meynung, daß man mes 
nigftens einen aus der Sympathie entfpringenden Trieb 
des Wohlwollens gegen andere, noch neben den eigentlis 
hen Trieben der Selbftliebe annehmen müfjfe, wenn 
man auf eine genugthuende, ungezwungene Weiſe von als 
fen Gemüthsbewegungen und Handlungen der Menfchen 
Rechenfchaft geben molle }). 

Ueber. diefe verfchiedenen Meynungen entfcheiden 
zu wollen, mittelft der metaphyſiſchen Säge von den 
Subftanzen und Kräften, und dem Wefen eines Geiftes; 
würde nicht nur über die Gränzen hinausgehen, die dies 
fem Buche angemeffen find, fondern unbefangenen Leſern 

uͤber⸗ 





*%) Theorie des ſentimens agreables, Paris 1749. 
*), Shaftesbury, Hutcheſon, Hume, ic. 
+) Smith, Rouſſeau, ꝛc. 


192 Buch II. Abſchnitt I. Kapitel 1J. 


uͤberhaupt feine Genugthuung gewähren: ba jene meta⸗ 
phyſiſche Säge viel zu ſchwach gegründer find, um der 
Erfahrung vorzugreifen, ober etwas gegen fie bemweifen 
zu Pönnen, | | 

An dieſe wollen wir uns alfo zuförderft halten, 
Was unter allen Werfchiebenheiten, in denen die Ges 
fehichte den Menfchen aufftelte, fich in ;Anfehung feiner 
„Triebe und deren Abhängigfeit von einander beftändig 
zeigt; kann mit dem zureichendften Grunde für Natur 
und Wefen derfelben angefehen werden. Was nur unter 
geroiffen Umftänden da ift; Fann als Varierät, Modis 
fication, Ausartung oder Vervollkommnung angemerkt 
werben. 

Uebrigens foll unfere Unterfuchung bier noch nicht 
bis auf die entfernten, aufier der Seele ſich findenden Urs 
fachen der Neigungen und Triebe fortgeben; fondern nur 
die nächften Urfachen des Dafeyns und der Wirfungsart 
eines jedweden Triebes, die in dem Einfluffe anderer 
MWillenstriebe liegen, erforfchen. 

Wie überhaupt in der Natur alles im — | 
bange ift, und eben fo wirft; nie ein Ding, für fich al» 
fein aufs genauefte genommen, bie einzige Urfach von 
etwas heißen kann, wenn es gleich) Haupturfache ift; 
- und ferner auch verfchiedene Dinge, einzeln oder in einer 
gewiffen Verbindung, wenn aud) nicht völlig, fo doch 
einigermaßen, und für unfere unvollfommne Erfenntniße 
kraft, oft fo gut als völlig, Diefelbe Wirfung hervor» 
} =. Eönnen: alfo darf es auch zum Grundfag gemacht 

der Unterfuchung über die Willengtriebe, daß 

— ‚oft ſehr verſchiedene Urſachen und Arten des 
Urſprungs, bey einem — derſelben allemal zu ver⸗ 
| muthen 


Anzeige der verfchiednen Gefichtöpunfte, 193 


mutben ſeyn; und daß nichts fo leichte von der Gruͤnd⸗ 
lichkeit abfuͤhren Fönne, als wenn man bey den Urfachen ' 
und der Entftehungsart ftehen bleiben wollte, die man 
aus der ſynthetiſchen Ordnung feiner Begriffe herleiten, 
und etwa mit einigen Beyſpielen, die ſich daraus gut er 
flären laffen, beftätigen Ffann, Es müfite überhaupt ein 
fehr fonderbarer Einfall ſeyn, der fich nicht durch einige 
Fälle rechtferiigen Fönnte, in der fo unendlich reichen und 
manchfaltigen Gefchichte des menfchlichen Geiftes, Aber - 
nur die größte Uebereinftimmung aller mit einander ver. 
gleichbarer Erfcheinungen enefcheider den Vorzug der Hy 
pothefen, und mache unfere Meynungen zu gegründeten 
Kegeln für die Erwartung im fünftigen ähnlichen Fall. 
Die folgenden Betrachtungen werden oft genug Gelegen- 
heit geben, dieſe Gedanfen anzuwenden ; und denen, 
für die fie igt noch nicht ganz deutlich feyn follten, fie 
weiter aufflären, 


Aapitel I, 


Von den Trieben, die fich auf die gröbern finnlichen 
Empfindungen und £örperlichen Gefühle beziehen. 


4. 41. 
Unzweifelhafte Endurſachen dieſer Triebe. 


©; bald der Menfch gebohren ift, thun ſich Begierden 
und Verabſcheuungen in ihm hervor; und die Bearyınft 
laͤßt ung nicht zweifeln, daß fie nicht vorher ſchon in ihm 
gewirft haben follten. Wenn durch eine befchwerliche 

Eriter Theil, NM Cage 


294 Buhl Abſchnitt 1. Kapitel II. 


Sage ein Theil feines Körpers unnatürlicher zufammen ge 
drückt wird; wenn ſcharfe Safte an feinen empfindlichen 
Fibern nagen ; wenn durd) grobe Materie oder Ueberfuͤl⸗ 
fung die Jebensbewegungen gehemmt; wenn feine verbun« 
denen Theile zu fehr angefpannt, oder von einander abge- 
riffen werden: fo macht ein unangenehmes Gefühl ihn 
unruhig, zwingt ihn, fich in Bewegung zu fegen, wenn 
er aud) feinen Kräften feine abfichtlicye Richtung zu ges 
ben verfteht. So machen Durft und Hunger, daß das 
Kind einem Zuftande,. in welchem diefe Empfindungen 
unangenehm fortdauern, widerftrebt, und einen andern 
Zuftand, in welchem angenehme Gefühle an jener Stelle 
treten, oder dieſe doch verſchwinden, ſich zu verfchaffen 
ſucht. Und fo erweckt die Natur, fo oft neue Gefühle 
im Körper entftehen, und neue Empfindungen durch die 
gröbern Einne der Seele zugeführt werden, immer aud) 
darauf ſich beziehende Triebe; das Angenehme gegenwär« 
tig zu erhalten, oder zufolge der zurückgebliebenen Vor 
ffellungen und deren Verknuͤpfung unter einander wie— 
der zu erneuern; das Unangenehme aber zu entfernen, 
zu fchmächen, zu vertilgen. Wenn man alle Umftände 
vergleicht, die hierbey entweder in allen Fällen ohne Aus— 
nahme zufammen fommen, oder doc) in den meiften ſtatt 
finden, und Dies zwar um fo viel mehr, je mehr die Na— 
tur, fich felbit überlaffen, ihre Werke veranftaltet, oder 
doch nur durch die Vernunft, das heißt am Ende aud) 
durch ſich felbft eingefchränft: fo fann man nicht fange 
über die Abficht ungewiß bleiben, die unfer guͤtiger 
Schöpfer bey der Einpflanzung diefer Triebe gehabt har; 
naͤmlich mit der niöglichften Erhaltung des Lebens und 
der Kräfte des Individuums, und deren Anwen 

| dung 


Deziehung der Triebe auf finnf. Empfindungen. 195 


dung zum Beſten anderer, die möglichfte Summe der 
lebhafteften- Vergnügungen zu verbinden. Oder wenn 
durchaus in der Naturlehre von Abfichten des Schoͤpfers 
nichts behauptet werden foll, oder der Ton, in welchem 
vorhergehender Ausfpruch vorgetragen worden ifi, zu 
hoc) angeftimme feyn follte; fo muß man doch eingeſte⸗ 
ben, daß Erhaltung des $ebens, gemeinnüßige Kraft: 
verwendung, Abfürzung des Schmerzes und Zufluß von 
Vergnügen, Folgen jener Triebe find ; Folgen, die 
auf eine im Ganzen beffere Art bervorzubringen, der 
weifefte Menfch, der fein Unvermögen bierzu kennt, und 
ber unmeife, der es nicht Fenner, gleich unfähig find. 
Zerftörung der thierifchen Mafchine, ehe fie noch ganz 
ausgebildet würde, ober hoͤchſtens Pflanzenleben, ohne 
Genuß, ohne Gluͤckſeliakeit, wäre die Geſchichte des 
Menſchen; wenn er nicht jene Triebe haͤtte, erſt als 
Inſtinete durch Gehirneindruͤcke erweckt, hernach als 
Willenstriebe durch klare Empfindung und Vorſtellung 
gereizt. 
Der Gedanke verliert nicht, wenn er durch die 
einzelnen Arten durchgefuͤhrt wird. Aber es wuͤrde hier 
theils zu weitlaͤuftig ſeyn, und in fremde Gebiete der 
Aerzte fuͤhren; theils auch auf vieles, das nicht leicht 
jemanden unbekannt ſeyn kann. Mur etwa zur Erlaͤute⸗ 
rung einiger in dem Hauptſatze eingewebter Beſtimmun⸗ 
gen. Die angenehmen Gerüche beleben und ftärfen 
niche nur die übrigen Sinne und Mervenfräfte, fo wie 
die unangenehmen in die Jänge die Lebenskraͤfte ſchwaͤ⸗ 
chen; ſondern fie find auch die natürliche Anmweifung, 
geſunde und ungefunde Nahrungsmittel von einander zu 
unterfcheiden, und gefunde Nahrungsmittel find auch 

Ma ins. 


06 Buch II. Asfchnitet. Kapitel II. 


insgemein von angenehmern Gefhmaf, als bie zu 
unſrer Mahrung undienlichen Dinge *). 

VUeberhaupt aber belehren uns die Aerzte, daß an 
genehme Förperliche Gefühle, woher fie auch entftehn, 
wenn fie nur in der Ordnung der Nanır entftehen, die 
fräftigiten Mittel find, alle Sebensbewegungen, Abfon- 
derungen und Vermiſchungen zu befördern, und oft mehr 
als alle Arzeneyen fräftig, den Saamen einer Krankheit 
ausjutreiben, und die ſchon gefchwächte Gefundheit wies 
der herzuftellen **). Selbſt bis auf die Eeele und das 
Gefchäfte ihrer Kräfte erſtrecken ſich nicht felten die Heil: 
famen Einflüffe der angenehmen Gefühle im Körper. 


5. 42. | 
Ob eine phyſiſche Erklärung daraus zu folgern? * 


Ä Aber wiffen wir nun, wie es damit zugeht, und 
mo eigentlid: der Grund liegt, daß die Empfindung, 
wenn man ſich in den Finger fehneidet, fo ganz anders 
ift, als menn man von einer weichen Hand fanft an der 
Wange gefträuchele wird ; und wieder fo ganz anders 
angenehm, wenn man Blüthe riecht, und wenn man 
Früchte iffet ? Woher das fo vielfältige Angenehme auf 
der einen, und das fo vielfältige Unangenehme auf der 
Alls 





*) Haller Prim. Lin. phyfiolog. p. 207. Neque enim in 
univerfum aut infalubris aliquis cibus grato eft fapo- 
re; neque ingrato, qui alendo homini convenit, Im 
größern Werke fegt er hinzu: nec tamen nimium hacc 


ornanda funt. 
ws) Zückert von den Leidenfhaften, $. 9. , 


Beziehung ber Triebe auf finnt.Empfindungen, 197 


andern Seite? Warum dort Wohlgefallen für die 
Eeele und Begierde; bier Mißfallen und Abfcheu? 
Und beydes in jedwedem Falle fo und nicht anders be» 
fchaffen *) ? 

Es ift faum begreiflich, daß diejenigen die Frage 
ſich fo recht follten zergliedert haben, die mit einer oder 
der andern ganz einfachen allgemeinen Antwort biebey 
Auskunft zu.geben vermeynen. Im Fall der angeneh- 
men Empfindung, fagt man, babe die Seele die Vor⸗ 
ftellung der Vollkommenheit ihres Körpers; ver 
möge ihres Grundtriebes zur Vollkommenheit befinde 
fie ſich alfo in einem Zuftande des Wohlgefallens. Aber 
ift wirklich allemal der Körper in einem Zuftande der 
Vollkommenheit, wenn eine angenehme Empfindung er⸗ 
weckt wird; im Zuftande der völligften und zweckmaͤßigſten 
1lebereinftimmung feiner verbundenen Kräfte? Iſt er es 
in dem Momente, wo füßes Gift — füßer Wein im 
Uebermaße ift aud) Gift — mit Wohlſchmack in ihn 
fließt, vielmehr, als wenn er heilfame Arzney einnimmt, 
deren heilfame Wirfung man bisweilen empfindet, indem 
der unangenehme Gefchmad noch dauert, u. f. w.? 
Weiß die Seele etiwas von diefer Vollkommenheit bes 
Körpers, braucht fie es zu wiffen, um das Angenehme 
der Roſe, des Apfels, der Abfühlung u. f. w. zu empfin« 
den? Das Bewußtſeyn wenigftens fagt ung in dem als 

M 3 ler⸗ 











*, Manche Menſchen koͤnnen Fein Papier. zerreißen hören, 
andere Peine Pröpfe zerfchneiden, einige Beinen Sammet 
anfaffen. Es foll Leute gegeben haben, bie nicht eins 
mal nahe bey einer in Sammet gefleideten Perfon ſitzen 

konnten, weil ihnen die bloße Vorftellung einer Beruh⸗ 
rung zu viel Angft verurſachte. 














198° Buhl. Abſchnitt 1. Kapitel II. 


lermeiſten Falle nichts von diefer Vorftellung vom gan⸗ 
zen Körper umd feiner Wollfommenheit. Aber, 
fage man, fie fann dunfel da feyn, diefe Perceptionz; 
und es hat alle Vermuthung für ſich, daß fie da ift; 
weil einmal doc) der Körper ſich wirflih in dem Zuflan« 
de der Vollkommenheit befindet, und die Seele durch 
ihren Körper modificirt wird, oder ihn, wie er ift, dums 
fel oder klar empfindet; und dann in fo vielen andern 
Fällen diefer Grund des Bergnügens, das Anſchauen der 
Vollkommenheit, im helleften Lichte des Bewußtſeyns 
erfcheint, nämlich bey den feinern finnlichen und den geis 
ftifchen Vergnügungen. — 

Wenn man alle dieſe Borausfegungen gelten laͤſſet, 
bey denen nod) manches ungewiß ift: was hat man ges 
wonnen? ft eine Erklärung zu gebrauchen, die bey 
den unzähligen Arten von Erfcheinungen , die eine Gats 
tung mit einander ausmachen, immer nur diefelbe allge» 
meine Antwort giebt , ohne vom Eigenen einer jeds 
weden Art im geringften Grund anzugeben ? Weiß 
man denn nun befjer, warum die unzähligen angenehmen 
Geruͤche unter einander, und von den übrigen Empfins 
dungen fo und nicht anders ſich unterfcheiden? — - | 

Eoll aber jener Satz von der Vollkommenheit 
feine Erklärung ſeyn; fondern nur eine Bemerkung 
‚einiger Analogie ;wifchen diefer Art angenehmer Empfins 
dungen und der übrigen: fo kann er, menigftens als halb 
erwiefen, angenommen werben, 

Giebt die Hypotheſe von dem “Beftreben nad) Bor. 
ftellung, oder dem Erweiterungstriebe vielleicht mehrere 
Aufflärung hiebey? Einigen ſcheint ee, Cie glauben, 
daß bie. fehmerzbaften Empfindungen ein ans unzähligen 

dunkeln 


Beziehung der Triebe auffinnt. Empfindungen, 199 


dunkeln und vermorrenen Perceptionen zufammengefegtes 
Gefühl fen, und daß alfo die Seele ſich eingefchranfe 
daben fühle in ihren wefentlichen Beftrebungen. — Aber 
die angenehmen Gefühle find nicht weniger zufammen ge« 
fest, aus einzeln dunfeln und unter einander verworrenen 
Derceptionen; und was würden fie bisweilen noch für eis 
nen Reiz übrig behalten, wenn fie dies nicht, wenn fie 
deutlicher wären? Wenn es nur um Wachsthum der 
Erfenntniß der Seele zu thun wäre: der Zuſtand des 
Eörperlichen $eidens ift oft die befte Gelegenheit dazu. 
Und ja, er wird auch dadurch dem Naturforſcher anges 
nehm; aber in einer ganz andern Art angenehmer 
Empfindungen, und bleibe im finnlichen Gefühl 
immer unangenehm. Endlich erfläret ‚wiederum dieſe 
Hypotheſe, fo wie alle andere Berfuche, das Eigene der fü 
vielen Arten in geringften nicht. 


$. 43. 
Einfluß anderweitig gegründeter Neigungen auf die tt 
| bemerkten. 

So wenig aus den ſonſt ſich offenbarenden Trie⸗ 
ben der Seele dieſe von den koͤrperlichen Gefuͤhlen und 
groͤbern ſinnlichen Empfindungen abhaͤngige Neigungen 
völlig begreiflich werden: fo gewiß iſt es, daß jene eini— 
gen, bisweilen beträchtlihen, Einfluß dabey Haben, 
Es giebt in der That Leute, deren Imagination fo ftark 
auf ihre Empfindungen wirft, daß bey der Vorftellung 
der Schäblichfeit ihnen etwas Faum halb fo gut ſchmeckt, 
als wenn ſie es ihrer Geſundheit für zuträglich halten. 
Das Vorurtheil des Gemeinen und des Vornehmen 

r 4 N 4 8 hat 


200 Buch II. Abſchnitt I. Kapitel IM. 


bat bey andern diefe Gewalt über ihren finnlichen Ges 
ſchmack. Sie ziehen das vor, was theuer ift, und auf 
großer Herren Tafeln fommt. Am allergemiffeften aber 
iſt, daß die Neigung zu higigen Getränken vielmehr von 
ihrer Wirkung im Gemuͤth, aus dem fie Sorgen und 
andere verdrüßliche DBorftellungen verjagen, ‚und das 
für Gefühle von Kraft ‚und geichtigfeit erwerfen koͤn⸗ 
nen, und in der Sjmagination, in welcher die Bilder 
tebhafter auffteigen, als von der bloßen Wirkung auf bas 
£örperliche Organ herrühren. Der Morgenländer glaube 
fich durch die Kraft des Opiums in himmlifhe Wohnuns 
gen verfegt *), und der Bilde fühle fich in eben Dem Zu« 
ftande der erhöhten Lebenskraft, wenn er betrunfen ift, 
den er ſucht, wenn er dem Spiel. und dem Tanze 
nachgeht **). 


Aapitel II. 


Don den Wergnligungen des Auges und des 
Ohres, und dem MWohlgefallen an finnlicher 
Schoͤnheit überhaupt. 


G. 44 
Ob das Weſen der Schönheit ſich auf einen allgemeinen Begriff 
bringen laffe, Unterfuhung in Anfehung der einfachften 
Gecgenſtaͤnde. 
Wen fih von ben Gegenftänden und Veraͤnde⸗ 
rungen, die durch Auge und Ohr die Seele ergögen, 
und 


— — — 








— —— — — — 


5) Zuůͤckert von den per Die Perſer lieben bie 


Arten von Wein am meiſten, bie am geſchwindeſten bes 
rauſchen. Chardin 


S*6) Robersfon Hiſt. of Ameriea I, 398. ſqq. 





Vergnuͤgungen des Auges und des Ohred. 201 


and die Deswegen fehbn heißen, weiter nichts fagen ließe, 
als daß fie ergößen; wenn nicht etwas, ihnen allen ges 
meinfehaftliches und von andern angenehmen Eindrücken 
fie unterfeheidendes bey ihnen ſich fände : ‘fo würde Feiner. 
weitern Unterfuchung der befondern Gründe, aus denen 
Neigungen und Abneigungen entſtehen, bierbep —— 
werden duͤrfen. 
Und ſo ſcheint es denn auch einigen in der That zu 
ſeyn. Sie halten es fuͤr unmoͤglich, einen allgemein 
ausreichenden Begriff von der Schoͤnheit anzugeben, und 
einen Grund ausfindig zu machen, aus dem allemal das 
vorzuͤgliche Wohlgefallen an dem, was ſchoͤn genannt 
wird, entſpringe. Sie glauben, daß daſſelbe theils von 
gewiſſen nicht weiter erklaͤrbaren Grundgeſetzen der Ems 
pfindung, theils von der bey jedwedem Menſchen, noch 
mehr bey jedwedem Volke, anders beſchaffenen Ideen. 
adſociation herruͤhre. Daher die ſo unzaͤhligen, ſo uner⸗ 
klaͤrlichen Unterſchiede in den Begriffen von ge 
und den daven abhängigen Neigungen. 
| Man muß hiebey zuförderft einen. Unterfchied ma⸗ 
chen, zwifchen den einfachen und zuſammengeſetzten 
Gegenftänden diefer Arten von: Empfindung. Go wie 
bey einzelnen Farben oder Tönen fich das, was in.der eis 
gentlichften volleften Bedeutung Schönheit genannt wird, 
noch nicht findet: alfo wird auch die Unterfuchung der 
Urfahen, warum eine Farbe doch fehon vor der andern, 
ein Ton por bem andern gefällt, nicht viel weiter fuͤh⸗ 
ven,’ als auf ein eigenes Maturgefeg und auf Ideen⸗ 
abfociation.: 
Von ben Farben fann man Rom, ‚ daß einige 
bern Auge zu viel Eiche auf einmal zuſchicken, bienden, zu 
W NR; ſtark 


2082 Buch II. Abſchnitt I. Kapitel I, 


flarf angreifen; andere dies angenehme Element ihm zu 
fehr entziehen, nichts zu fehen geben; einige hingegen 
&cht und Schatten fo gemifcht enthalten, daß fie weder 
zu ftarfe, noch zu ſchwache Eindrücke verurfachen. Und 
dies fiel denn wohl in den allgemeinen Sag ein, daß das 
angenehme Gefühl aus der mäßigen, das unangenehme 
aus der zu ftarfen oder zu ſchwachen Ruͤhrung entfpringe ; 
roelcher Saß aber freylich eben darum, weil er fo ganz 
allgemein ift, und den befondern Grund der. Arten des 
Angenehmen und Unangenehmen nicht angiebt, nur we⸗ 
nig befriediget. Und das ift auch bier nach immer ber 
Mangel jener Hupothefe von dem Triebe nach Erfennt- 
niß, als dem Grundtrieb. Denn wenn gleich der Um— 
ftand, daß man nichts, oder nichts deutlich gewahr 
wird, bey zu vielent, wie bey zu wenigen Lichte, an 
paßt: fo ift doc) diefer Grund viel zu einfach für die 
- Manchfaltigfeit und DVerfchiedenheit der Gemuͤthsbewe⸗ 
gungen, die durchs Auge verurfacht werden, : ſchon bey 
den einfachen Gegenftänben, 

Wenigſtens muß man die Ideenabſociation mit 
dazu nehmen. Die Farben afficiren anders, als ſie an 
ſich nicht thun wuͤrden, wegen der uͤbrigen Eigenſchaften 
der Dinge, an denen man ſie am haͤufigſten, oder doch 
bey ſonſt ſtarken Eindruͤcken gewahrgenommen hat. 
Manchmal iſt dies ſo offenbar, daß es ein Menſch von 
ſich ſelbſt bemerkt, ausdruͤcklich anzeigt, wie er eine 
Farbe nicht wohl dulden koͤnne, weil fie ihn an eine vers 
haßte Perfon und Begebenheit erinnere; oder in. andern 
Fällen an Dinge, die wir um ihres Geruchs ober ande⸗ 
rer Eigenfchaften willen nicht lieben. Im einzelnen Fall 


aber kann es fee ſchwer auszumachen ſeyn, wie vieles 


davon, 


Vergnügungen des Auges und des Ohred. 203 


davon, ober von jenem erftern Grunde, herfomme. Die 
grüne Farbe wirft mit mittlerev Stärfe; aber fie ift auch 
die Farbe des Frühlings und der fo vielerley Vergnügen 
ſchaffenden Gewaͤchſe. Eben fo fann die ſchon durch ihre 
Milde angenehme Farbe der Roſe, durch die übrigen 
Vorzüge diefer Blume, an Form und Geruch, der 
Imagination noch reizender werden; das bläffere Blau, 
als Farbe des Himmels; das Weiße, als Zeichen ber 
Keinlichkeit. Das Schwarze ift gewiß für manche Men- 
fhen durch deenadfociation eine ſchoͤne Farbe; ohne 
Ideenadſociation fcheint fie die unangenehmfte zu feyn, 
am gefchicteften Kindern Furcht einzujagen *). 
Eben dergleichen Bemerkungen laffen fih in An« 
- fehung der Töne machen. So wie man Glaͤſer zerfchrenen 
Fann; fo ift Fein Zweifel, daß nicht einige Töne die Ge« 
hörnerven zu ftarf angreifen, und wie man auch fagf, 
dem Ohre wehe thun **). — Aber der Ton der Nachti⸗ 
gall, und der Schall der Trompeten, haben jeder fein 
eignes Angenehmes, was daben nod) ganz unerflärt bleibt: 
Mit dem zureichendften Grunde kann vieles wieder auf 
| die 











* Man will auch bemerkt haben, daß fie Blindgebornen, 
benen eben erft das Geficht gegeben worben war, gleich. 
beym erften Anfehn unangenehm geweien. ©. Burke’s 
Enquiry into the Origin of our ideas of beautiful 
part. 4. Set. XV. Die Negern follen bey frölichen 
Beranlaffungen weiße XThiere opfern, bey traurigen 
ſchwarze; und find doch felbft ſchwarz? — Oldendorps 
Gefhichte der Miffion, ©. 329. Die einzelnen von 
diefem Geſchichtſchreiber beygebrachten Facta flimmen 
doch aber mit dieſem Hauptſatze nicht alle uͤberein. 


#2) Haller Prim, lin. phyſiolog. $, 495. fq4, 


904 Qui. Abfehnitt I; Kapitel UL 


die Ideenadſociation gegeben werden. Ton und Stimnt- 
änderung gehören zu ben vornehmften Wirfungen und 
Merkmalen der Leidenſchaften, der angenehmen und uns 
angenehmen Gemürhsbewegungen. Zorn und Liebe und 
fachender Muth find ganz allein dadurch fo leicht und wöl« 
fig erfennbar, daß es leicht zu begreifen ift, warum vers 
ſchiedene muficalifche Inſtrumente, Trommel und Flöte 

und Trompete, und ihre verfchiedenen Töne fo unterfchie- 
dene Gemüthsbewegungen fo allgemein bewirken fönnen, 
Aber man hat fich bey diefen einfachen Eindruͤcken auch) 
in Acht zunehmen, daß man fie nicht für einfacher halte, 
als fie wirklich find. Jedweder Klang befteht aus einer 
Menge fchnell auf einander folgender Schläge. Und in 
den Zeiträumen, in welchen diefe auf einander. folgen, 
desgleichen in dem Verhaͤltniſſe der mit einander fich ver 
mifchenden Töne, haben einige die Unterfchiede reiner 
und unreiner Töne, und den im folgenden gleich näher 
anzugebenden Grund des Wohlgefallens an den erftern, 
und Mißfallens an den legtern gefunden *). nz 
| $. 45. 
Dom allgemeinen Weſen der Schönheit bey zufammengefeßten 

Gegenftänden, der Einheit in der Manchfaltigkeit oder 
| Regelmäßigkeit. 

“Ben der fo großen Menge und Berfchiebenheit der 
don Menfchen für ſchoͤn gehaltenen Dinge, und zwar der- 
jenigen, die am meiften dafür gelten, der zufammenge. 


ſetztern, ſcheint doc) etwas durchgängig ſich zu finden, 
| und 








Be ————n 


*), S. Sulzers Theorie der ſchoͤn. 8. und Wiff, Art. Klang. 


\ 


Vergnügungen ded Auges und des Ohres. 205 


und daher zum allgemeinen Weſen der Schönheit, 
und zwar nicht nur der finnlichen, fondern auc) der idea⸗ 
len, intellectualen und moralifchen Schönheit anges 
nommen werden zu müffen; wenn es gleich in diefen eins 
zelnen Arten befondere Beftimmungen befömmt, und in 
einzelnen Fällen nicht immer den einzigen, oder auch 
nur den vornehmften Grund des ganzen Wohlgefallens 
ausmacht; nämlicd) die Regelmaͤßigkeit, oder, wie es 
einige lieber nennen, die Uebereinſtimmung oder Eins 
heit in oder bey der Mannigfaltigfeit, Der erfte 
Ausdruck ift gemeiner, und wird daher leichter verftans 
den; der legtere dringt etwas tiefer ein, und pafit viels 

leicht auch mehr auf den ganzen Umfang des Begriffs. 
Man verfteht aber unter der Einheit in dem Man⸗ 
‚nigfaltigen bald Einartigfeit oder Aehnlichkeit; wie 3 
DB. in den Theilen einer Mufif, wo, unter allen Beräns 
derungen der Ausführung, Einheit des Hauptfages bleis 
ben muß, Bald verfteht man darunter Gleichheit, oder 
doch Proportion in der Größe und dem Abftande der 
Theile; wie 5. E bey den regelmäßigen Figuren, in 
den Werken der Baufunft, in den Buchftaben der 
Schrift. Oft find beyde Arten von Einheit im Mand)« 
faltigen, Aehnlichkeit und Gleichheit oder Proportionen, 
beyfammen. Go z. B. in den Blättern einer Blume 
ober eines Baums, den Baͤumen einer Allee ober eines 
Waldes; in einer in Abficht auf Schönheit beftmöglichft 
geordneten Armee oder Bibliorhef. So in den Werfen | 
der Dichtkunſt, vermöge des ganzen Baues der Verfe, 
und befonders der Endſylben, wenn es Keime find; 
dann der Eharactere, Handlung, u.f.w.; fo in der 
Tanzkunſt und in der Mufif auf manchfaltige i 
enn 





206 Buhl. Abfchnitt I. Kapitel II. 


Wenn diefe Begriffe auf die ſchon mehr idealiſche 
Schönheit des guten Anftandes angewendet werden: fo 
bat man darunter die Einartigkeit und Ebenmäßigfeit, 
oder kurz, bie Uebereinftimmung der mancherley innerlis 
chen und Außerlihen, nothwendigen und willführlichen 
Beftimmungen, des Alters, Amtes u. f. w. und bes 
Ganges, der Kleidung, u. f. w. zu verftehn. Wenn 
in den wiſſenſchaftlichen Werten Schönheit aner⸗ 
kannt, und durch die Einheit im Manchfaltigen erklaͤrt 
wird: fo meynt man die Einheit der Ideen bey der mehr« 
maligen Anwendung eines Wortes, die Einheit der 
Grundideen und Theilungsgründe bey der Anordnung und 
Verbindung der mehrern Begriffe und $ehrftücfe, bie 
Einheit des Mittelbegriffes in Schlüffen, und die Ein» 
heit der Grumdfäge im ganzen Syftem. Und die Tits 
gend endlich foll, nach diefem Grundbegriffe von ber 
Schönheit, darum nicht bloß gut und nuͤtzlich, fondern 
auch fehön ſeyn; weil bey allen ihren Aeußerungen ein und 
diefelbe legte Abficht fich offenbaret, und gerade diejenige, bey 
soelcher allein alfe Naturtriebe am meiften übereinftimmen. 

Und in Anfehung diefes Begriffes von der Schoͤn⸗ 
heit laͤſſet ſich zweyerley doch gewiß nicht leugnen. Ein» 
mal, daß bey allen Dingen, die am übereinftimmend: 
ften für fchön gehalten werden, die Schönheit vermindert 
twerden miürde; wenn entweder die Einheit, oder die 
Manchfaltigkeit ganz meggenommen würde. Sodann 
auch, daß Einheit in der Manchfaltigkeit, an ſich betrach» 
tet, allemal Wohlgefallen erwecke, und angenehmer 
fey als das Gegenteil. 

Jenes Iehret die Unterfuchung aller vorher nambaft 
gemachter Bepfpiele, und aller öhnlichen Fälle. Dieſes 

lehret 


Bergnügungen bes Augesund des Ohred. 207 


lehret die Erfahrung in Anfehung aller Gattungen von 
Menfchen. - Ä | 
Diefe Regelmäßigkeit liebt der Milde, und zieht 
fie, unter übrigens gleichen Umftänden, dem Gegen⸗ 
theile vor. Er bringt fie in feiner Mufif, feinen Tan 
zen, in dem feinen Fähigkeiten enrfprechenden Maafe 
an *); und felbft bey den fonderbaren Einfchnitten, wo—⸗ 
‚mit er feinen $eib zu zieren glaubt. Kinder geben fehr 
früh und beftändig ihr Wohlgefallen an regelmäßigen 
Sagen und Verbindungen, an Neimen, an einförmig ab⸗ 
wechfelnden Bewegungen u. ſ. w. zu erfennen. 

» Daß nicht alles, was diefe Einheit bey der Manch» 
faltigkeit in irgend einem Grade an fich bat, fchlechthin, 
oder in jedweber Nücficht, gefällt; daß die Größe des 
Bergnügens der Größe der Uebereinftimmung nicht durch» 
aus gleich iſt; dies hebt den Hauptfaß nicht auf. Denn 
erftlich wurde nicht behauptet; daß die Einheit im Manch⸗ 
faltigen das ganze Wefen jedweder Art von Schönheit 
ausmache. Es koͤmmt ohne Zweifel auf die Befchaffen- 
beit der einfachen Eindrücke, und deren Verhälmiß zu 
den befannten und ‚unbefannten Grundgefegen der Ems 
pfindung und des Willens auch an. Die einzelnen Töne, 
die einzelnen Farben, und fo Ideen, Saͤtze, Handlun⸗ 
gen, haben fchon ihre Reize, die eine vor der andern; 

und 











— e— — — ⸗— 


2) Wenn auch wenig Harmonie und Melodie in der Muſik 
der Wilden ſich findet: ſo iſt doch Tact und Cadence 
darinne. Und diejenigen, die uns berichten, daß Eu⸗ 
ropaͤiſche Opernmuſik wenig Gluͤck unter ihnen machen 
würde, fagen doch auch, daß unſere militaͤriſche Mus 
fit Wunder wirken koͤnute. ©, Hiftoire de Loango, 
p. 113. | 





208 Buch ll. Abſchnitt 1. Kapitel IL. 


und fönnen daher nicht, ben gleich viel Einheit und 
Manchfaltigkeit, eine gleiche Wirkung chun, Sodann 
halten ja oft. die mehrern Triebe einander zuruͤck; . die 
Idee des Schädlichen oder nur des Beffern, das man 
haben fönnte, kann einer Sache fchon gar viel von ihren 
Reize benehmen, Und endlich lehrt bie genauere Unters 
. fuhung, daß die Einheit des Manchfaltigen bisweilen 
nur darum nicht gefällt, weil fie noch zu wenig da iſt, 
fo wie in andern Fällen das Vergnügen mehr Manchfal⸗ 
tigfeit erforderte. 

Wenn man 5. B. zufolge diefer Bemerfungen un⸗ 
terfucht, warum uns eine, dem Vorſatze genau angemeſſe⸗ 
ne, anhaltend übereinftimmende Unternehmung einer Raͤu⸗ 
berbande, der Einheit des Manchfaltigen, die fid) dabey 
findet, ungeachtet, nicht gefällt; ober doch lange fo ſeht 
nicht, als eine ganz einfacdye Handlung eines Menfhen, 
3. E. der ein armes Kind aus dem Waſſer errettet: fo 
iſt die Antwort, daß wir nicht vom bloßen Sehn und 
Denfen leben; an den feinern finnlichen und idealen Ver⸗ 
gnügungen nicht genug haben zu unferm Daſeyn und 
Wohlſeyn. Eine Unternehmung alfo, die den andern 
angenehmen Empfindungen, die dem geben und.den Er» 
haltungsmitteln den Untergang droht, Fann uns nicht 
fehr ergögen; um der Eelbftliebe willen nicht , wenn fie 
ung betrift, um der Eympathie willen, wenn andere, 
Immer bleitt jedoch diefes an einer folchen, um des End» 
zwecks und Ausgangs willen verhaßten Neihe von Hands 
Iungen, Schönheit, daß Einheit dabey fich finder. Daß 
diefes allgemeine Wefen der Schönheit hierbey nicht garty 
feine Kraft verliere; beweiſet genugfam das Vergnügen, 
fo viele, nicht bösartige Menfchen, juft an folchen 

Ge— 


Bergnügungen ded Auges und des Ohres. 209 


Gefchichten unerlaubter Unternehmungen finden. Sie 
verabfcheuen die That, aber der Bang der Begebenheiten 
ergößt fie; und er würde ihnen weniger gefallen, wenn 
weniger Uebereinſtimmung der Handlungen mit den Abs 
fichten da wäre. Aber ganz fann das after eben darum 
auch nicht gefallen, weil es feine vollftändıge Leberein. 
ftimmung hat und geben fann, in das Syſtem der noth» 
wendigen Zwecke und Wahrheiten nie ganz einpaßt. 
Eben fo gefällt die Einfachheit eines Raiſonnements oder 
eines $ehrgebäudes auch nicht mehr; menn fie größere 
Vollkommenheiten vertreibt, Vollſtaͤndigkeit der Einſich· | 
ten, ober ächte Dauerhafte — | | 


$. 46. 


Warum bie Regelmaͤßigkeit ober Einheit in der Manchfaltigkeit 
gefällt, ohne den Einfluß adfociirter Ideen ? 


Die bisherigen Grundfäge werden genauere Ber 
ſtimmung und Beftätigung erhalten, durch die Unterfus 
hung, warum die Einheit bey der Manchfaltigkeit, in 
finnfichen Gegenftänden, und überhaupt, gefällt. Ks 
laffen fi) mehrere Urfachen mit Gewißheit angeben ‚ob 
fie gleich nicht allemal zufammen wirfen, 

ı) Gleihwie die Manchfaltigkeit macht, daß 
ber an ſich angenehmen Eindrüde mehr werben, die 
Ruͤhrung ſtaͤrker wird: alſo macht die Einheit, die da» 
bey ift, daß das Manchfaltige zuſammen empfindba: 
ter und gedenfbarer wird. Das leßtere hat wenig 
Schwierigkeit. Es ift befannt und begreiflih, daß wir 
uns leichter die Worftellung von einem Ganzen machen 
fönnen , wenn e8 aus ähnlichen und regelmäßig geordne⸗ 


Erſter Theil. O | tem 


210 Bud. Abſchnitt J. Kapitel III. 


ten Theilen beſteht, ſtaͤtig und gleichmäßig feine Veraͤn⸗ 
derungen auf einander folgen, als beym Gegentheile. 
Und der Erkenntnißtrieb, das Wohlgefallen an vollſtaͤn—⸗ 
digen und deutlichen VBorftellungen, wird alfo mit Recht 
zu den Gründen, aus denen das NWohlgefallen an der . 
Hegelmäßigfeit, und folglic an der Schoͤnheit entfpringt, 
gezählt werden dürfen, Was aber die Empfindung 
anbelangt; fo ift man freylich in die Natur derfelben 
noc) nicht fo weit eingedrungen, daß fich die Gründe 
des Angenehmen und Unangenehmen aus dem Verhaͤlt⸗ 
niß der Eindrüdfe zu der Beſchaffenheit der Organen 
deutlich und genau angeben ließen. Unterdeſſen ſcheint 
doch als ein Grundfag angenommen werden zu fönnen, 
daß, Eindrüce unangenehm feyn müffen, wenn fie dem 
Beftreben der Kräfte des Organs entgegen find, das ib. 
nen entweder urfprünglic) natürlich), oder durch einen an« 
dern gleichzeitigen oder vorhergehenden Eindruck bereits 
hervorgebracht, und noch fortdauernd ift. Dem zufolge 
muͤßten alfo mehrere gleichzeitige oder unmittelbar auf einan⸗ 
der folgende Eindruͤcke durch Gleichfoͤrmigkeit und allmählige 
Abänderung zufammen angenehm; durch gänzliche oder 
fehr große Unähnlichfeit oder plöglich ftarfe Abänderun- 
gen hingegen unangenehm werden. Wenn man 5. B. 
— um die Sadje nur unter befannten Vorſtellungen deut⸗ 
licher zu machen, und nad) einer, wenn nicht erwiefenen, 
doc) auch nicht widerfegten Hypotheſe — annähme, daß 
die Empfindungen durd) gewiffe Bewegungen in den Or⸗ 
ganen, fenen es Bewegungen der Fleinften Mervenfäfers 
chen, oder der noch einfachern Elemente und Grundkraͤf⸗ 
te, erzeugt würden; fo würde der Grundfag alfo heißen: 
Wenn zu Bewegungen von verfchiedener Richtung oder 

ei Bo 


Vergnügungen des Auges und des Ohres. au 


Geſchwindigkeit zu gleicher Zeit, oder unmittelbar auf 
einander, die Werkzeuge der Empfindungen gereizt wer⸗ 
den: fo entſteht ein unangenehmes Gefühl. Naͤmlich 
was die gleichzeitigen Eindrücke anbelangt: fo wird in 
der Phnfiofogie für ausgemacht angenommen, daß bie 
Empfindungswerfzeuge, die Nerven und ihre Anfänge 
im Gehirn, nicht nur wie alles in der Welt, fündern 
vielmehr noch in Gemeinfchaft mit einander ftehen;- det» 
geftalt, daß die Veränderung in einem Theil des Ner⸗ 
venfuftems eine ähnliche, wenn gleich ſchwaͤchere, in 
mehreren andern Theilen nach fich zieht, Daraus ift bes 
greiflich, wie gleichzeitige Eindrüde von fehr verfchiedes 
ner Art, in einem und demfelben Theile der zur Empfirts 
dung dienenden Organifation entgegen gefeßte Reize bes 
wirken koͤnnen. Diefe Bermuthungen erhalten noch eine 
befondere Beſtaͤtigung, und bey einigen faft den Anfchein 
der Gewißheit daher, daß man in dem Werkzeuge des 
Gehörs einige Aehnlichfeit mit einem muficalifcdyen In— 
firumente, das aus längern und kuͤrzern Saiten befteht, 
wahrgenommen hat; daß man alfo ſcheint annehmen zu 
fönnen, daß in den Merven in eben dem Verhaͤltniſſe 
die Eindrücke einander erwecken, wie die Töne in den 
Saiten *, | 
Sa Unter, 
%) In. fibris nerveis homotonss oriri vibratiories, uft 
ttremores fympathici chordaram fe mutuo excitant. 
Haller Elem. phyf. L. XV. Sect. III. $:15. Und in den 
Prim, fin. p. 495: Elegans conjeura eſt, cum la- 
iminä fpiralis verum triangulum fit, cui peracutus in 
Vertice angulus eft, innumeros in ea lamina eogitarl 


poſſe chordas, continuo bresiores, quaeadeo ad fonos 
dJarie acutos & graves harmonice confonent. Vergl. 


Mendelsſohns Philof. Schriften, 1, ©. 156. fgq. 

















072 Buch II. Abſchnitt 1. Kapitel IT. 


Unterdeſſen erklaͤren alle dieſe Muthmaßungen, 
wenn man ſie auch gelten laͤſſet, immer nur, warum die 
Nerven bey ſolchen Eindruͤcken ſo afficirt werden, nicht, 
warum der Seele gerade eine ſolche Empfindung zu Theil 
wird *). 


2) Ein anderer Grund des Wohlgefallens ber 
Regelmaͤßigkeit und Einheit bey der Manchfaltigfeit ift, 
daß der Eeele Anlaß zu mehrerer Befchaftigung, zur 
Vergleihung nämlid), und Bemerfung der Aehnlichfeit 
und Gleichheit, dabey entſteht. Man fönnte vielleicht 
einwenden, daß, wo nicht Aehnlichfeit und Gleichheit 
ift, die Seele Verhaͤltniſſe der Verfchiedenheit zu bemer⸗ 
fen, und alfo eben fo viele Befchaftigung finde. Allein 
eg ift nicht genug, daß Gegenftände Befchäftigung ge 
ben fönnen; derjenige, dem fie dadurch angenehm wer⸗ 
den follen, muß diefe Befchäftigung dabey zu finden 
wiffen, und fie muß dem Zuſtande feiner Kräfte ange« 
meffen ſeyn. So gewiß es nun auch ift, daß manche 
Aehnlichkeit ſchwerer zu finden ift, als manche Verfchie- 
denheit; und daß einige Menſchen an Auffuchung der 
Verſchiedenheiten eben ſowohl Vergnuͤgen haben koͤnnen, 
als andere an Vergleichungen: fo iſt hingegen auch uns 
feugbar, daß legteres, das Bemerken der Einerleiheit, 
überhaupt leichter, und dem Menfchen natürlicher ift. 

Dies 





— — — 


#) Daher ſchreibt Haller ſelbſt an einem andertt Orte: Cur 
enlores iridis nobis pulchri videantur, cur fonorum 
certae fuccefliones gratae fint, cur rofae potius quam 
urticae odor, - cur vini magis fapor placeat, quam 
ficrerae; de eo quidem non definias. Z/emens. phyf. 
L. XVII. Set, IL. $. 2. 





Vergnuͤgungen des Auges und des Ohres. 213 


Dies lehrt nicht nur die Erfahrung *): fondern es folgt 
auch aus der Natur der Sache. Aehnliche Ideen erwe⸗ 
Een einander von felbft, und geben dadurch Anlaß zu ihrer 
Vergleihung. Verſchiedene Sydeen aber ftellen ſich nicht 
fo von felbften zu einander, fondern nur durch Vorfäge 
ader vorhergegangene Uebungen. Aehnlichkeit unter 
mehrern Dingen zu bemerfen, braucht man nur die eine, 
aus dem Aehnlichen der mehrern Eindrüde von felbft ſich 
hervorhebende und aufflärende Idee. 


§. 47. 


Reize der Regelmäßigkeit und Schönheit, die aus adſocürten 
Ideen entfpringen. 


Die bisherigen Gründe enthalten die eigenthuͤm⸗ 
lichften und unmittelbarften Reize der Schönheit. Aber 
freylich nicht die mächtigften in den allermeiften Fallen; 
gefchmweige denn die einzigen, Die verfnüpften, erweck⸗ 
baren Mebenideen die überall, auch fehon bey einzelnen 
Farben und Tönen, mitwirken, kommen bier vorzüglich 
in Betrachtung, und zwar | 

ı) die Idee des Nutzens. Für die allermeiſten, 
affergewöhnlichften Abfichten, ift Die Regelmaͤßigkeit vors 
theilhaft; eben die NRegelmäßigfeit, die mit unter den 
Begriff der Einheit in dem Manchfaltigen gehört. Don 

der regelmäßigen Figur haͤngt bald die Beweglichkeit, 
= 3 bald 





*) Man witd von Kindern und allen denen, bie ſich ber, 
natürlichen Ideenknuͤpfung überlaffen, viel häufiger eis 
niges Nachdenken verrathende Bemerkungen der Aehn⸗ 
lichkeit, ale der Verfhiedenheit hören. x 


a4 Buch N. Abſchnitt 1. Kapitel II. 


bald die Etandfeffigfeit eines Körpers; von der regelmä« 
Bigen Eintheilung die befte Benugung des Raumes und 
der Zeit, oder die fehnellefte und ungehindertfte Zufan« 
menwirfung ab, Auch dies kann ſchon feine Beziehung 
auf den Mugen mit haben, wenn die Regelmäßigfeit 
darum gefällt, weil fie die VBorftellung von dem Zufams 
menhange und übrigen Verhältniffen des Manchfaltigen 
erleichtert; und alfo eher in den Stand feßt, fich in die 
Dinge zu finden, und ſchon durch Schlüffe vor Irrthum 
fich zu bewahren *). | 

2) Es ift auch wohl möglich, daß die dee von 
verftändigen Kräften, die mit dem Anblid regelmä« 
ßiger Einrichtungen ſich natürlich verfnüpft, eine von den 
Urfachen des Wohlgefallens an denfelben wird, 


3) Hauptfächlich aber entftehen durch die Aehns 
lichkeit, oder eine dem Ideenſyſtem eingeprägte Vers 
Enüpfung mit andern Dingen, die um eben diefer, ober - 
um anderer gröberer, oder auch noch feinerer Reize willen, 
angenehm find, die fremden, aber davon fo fihmer zu 
frennenden, oder nur zu unterfcheidenden Reize der Din« 
ge, die durch das Auge oder Ohr der Seele ſich bemaͤch⸗ 
tigen, Hier ift es vergebens, an vollftändige Ausfühs 
rung zu gedenken, Wer zur Unterfuchung aufgelegt ift, 
wird auch bald durch eigene Beobachtungen auf Entdes 
ckungen geführt werden. Schon bey bloßen Linien und 
halben Umriffen kann eine lebhafte Smagination erftaunlis 


A —— nn — * * 

) Hogarıb, Analyfis of Beauty cap. 3. will behaupten, 

> daß blof megen ber Jdee der Ruͤtzlichkeit die Regelmaͤ⸗ 
pigkeit gefalle, | J 





Bergnügungen des Auges und des Ohres. 215 


che Wirfungen hervorbringen. Mer zählt alle die Neize, 
“die fie in den Schall etlicher Worte bisweilen hineinzau⸗ 
bert? Wenn dann nur erft der ganze Menfch da fiebt; , 
und jede, auf diefen allerwichtigften der finnlichen Gegen» 
ftände zielende Leidenſchaft angeregt wird! 

Daß Regelmaͤßigkeit bey der menfchlichen Gefichts 
bildung und ganzen Geftalt gar nicht Schönheit fen; 
nicht von denjenigen, die den natürlichen finnlichen Ein- 
druck von der Wirkung der angewöhnten und fonft neben» 
ber entftehenden Ideen zu unterfcheiden wiffen, dafür 
gehalten werden müffe: dies läßt fich nicht mit hinlängli« 
chen Gründen behaupten *). Wenn übrigens alles 
gleich ift; wird die regelmäßige Bildung gewiß das mei⸗ 
fte Wohlgefallen erwecken. Dies zu behaupten, hat man 
in der Erfahrung Beweiſe genug, Hingegen ift aud) 
eben fo gewiß, daß in den meiften, ober wohl in allen 
Fallen, der angenehme Eindruck, den ein Geſicht auf 
einen Menfchen macht, nod) von andern Gründen, und 
von diefen oft weit mehr, als von berRegelmäßigfeit her 
ruͤhre. Die vornehmften derfelben find die Vorftellungen 
von den Gemüthseigenfchaften und Zuftänden, bie 
doch gewöhnlich alle Menfchen gleich aus dem erften An- 
blick einigermaßen zu fehließen gewohnt find; die Vor— 
ſtellungen von Gefühlen und Meigungen, Die mit den 
unfrigen übereinftimmen. Sodann die Vorftellungen 
von Verftandesfräften und Einfichten; auf welche die 
fo gewöhnlichen Namen eines einfältigen und verftändigen 
Geſichts fich beziehen. Zu diefen bis zu einem gewiſſen 

94 Grade 








*) Dahin treibt doch feine —— Burke in dem oben 
angefuͤhrten Enquiry. 


26 Buch IU. Abfchnitt I. Kapitel IL. 


Grade natürlich nothwendigen Echlüffen und Ideenadſo⸗ 
ciationen, kommen oft noch diejenigen, die auf eıned 
jedweden befondere Erfahrungen oder Meynungen 
ſich gründen, Die auf folhe Weife enrftehenden Vor— 
ftellungen erwecken die mit ihnen verfnüpften Gefühle; 
mächtige, bey empfindfamen Gemüthern die finnlichen 
Eindruͤcke leicht überwältigende Gefühle. Mod) mehrere 
angenehme Eindrüce kann ein Gegenftand vermöge der 
Sympathie bervorbringen, in denen, die zu ähnlichen 
Empfindungen und Strebungen geftimmt find. Und 
mas einige von Ausduͤnſtungen und eleftrifhen Wire 
fungsfphären liebreizender Perfonen, vom, Einathmen 
ber Siebe und andern mechanifchen Wirfungsarten, vor⸗ 
geben; feheinet auf nicht ganz verwerflichen Gründen zu 
beruben *). 


$. 48. 

Bon den Urfachen des Unterſchiedes beym Wohlgefallen an 
finuliher Schönheit. | 
Je manchfaltiger und veränderlicher die Gründe 
einer Meigung find; deſto begreiflicher ift es ‚ wenn die 
Menſchen dabey einander fehr unähnlich find. So ift es 
in Anfehung des Wohlgefallens an den Dingen, bie 
durch Auge und Ohr reizen, und der daher —— 

Begriffe von der Schoͤnheit. 

i) Schon in der Organiſation, wie folche ente 
weder von Natur, oder durch Hebung geworden if, muß 
| oft 





,— 





”) ©. Seienze metafifiche dell, abbate Anronie Genevch, 
p 372. faq. | 


. Bergnügungen des Auges und bes Ohred. 217 


oft der Grund davon gefucht werben. Aufs Ohr des 
geübten Tonfünftlers macht empfindlichen Eindrud‘, was 
dem ungeübten Hörer nicht im geringften merklich ift. 
Eben fo aufs Auge des Mahlers oder geübten Kunſtrich⸗ 
ters. Empoͤrende Mißtöne und entzuͤckender Wohllaut, 
fprechende Züge, und die ganze Täufchung aufhebende 
Fehlſtriche, wird auf dieſe Weife einer gewahr, der andere 
nicht. Warum follte man nicht annehmen dürfen, daß 
fotche Unterfc)iede der Organifation auch urfprünglich da 
feyn und machen Finnen, daß der eine gleichgültig bleibe, 
wo der andere Luſtgefuͤhl, und der dritte beynahe Schmerz 
empfindet? warum nicht annehmen dürfen, daß nad) 
dem Grade der Empfindlichkeit das Wohlgefallen an ſtaͤr⸗ 
Fern oder ſchwaͤchern Eindrücen fi) richte; und daß 

darum der Bauer und der Wilde laut tönende, raufchende 
Muſik lieben, weil fie nicht fo empfindliche und ſchwache 
Nerven haben, fondern nur fo eben recht ſich dabey ange 

regt fühlen und aufleben? 

, 2) Der Antheil, den die Verſtandeskraͤfte da⸗ 
‘bey nehmen, zieht gleichfalls Veraͤnderungen in der Nei⸗ 
gung nad) fih. Wer, vermöge urfprünglicher Anlage 
oder erworbener Ideen, Eindrücfe gefchwinder faßt, uns 
ter fich vergleicht und ordnet; dem fann leicht zuviel Ein« 
beit, zu wenig Manchfaltigfeit da feyn; wo doch viel 
leicht ein anderer fi) nicht aus der Verwirrung heraus 
finden, und Zufammenhang und Einheit entdecken kann. 
Fin Bachifches Concert, Begeifterung für den Kenner, 
ift Chaos für den Bauer. Kinem Kinde wird der Ans 
blick des prächtigften Gebäudes fo viel Vergnügen nicht 
geben, als einige Spielmarfen parallel gelegt, oder eine 
einzige Blume, Es bat - das Vermögen, die Theile 
5 des 





+‘ 


218° Buch IT. Abſchnitt L Kapitel IN. 


des erftern mit unterfcheidenbem Bewußtſeyn zu bemer- 
fen; geſchweige denn ihre Verbindung zu einem Öanzen 
fic) zu denfen. | 

3) Die Abfiht auf den Mugen hat mehrere Bes 
fonderheiten in den Dingen, die fürs Auge und Ohr 
Schönheit haben follen, hervorgebracht, als man nicht 
immer vermuthet. So hat man in dem, was mit ih- 
rem Körper die Wilden vornehmen, zu vieles auf ihren 
fonderbaren Geſchmack gegeben, und für Verzierungen 
angefehen, mas urfprünglich wenigſtens andere Ab» 
fichten hatte, zum Theil noch immer hat. Um ſich ein 
fürchterliches Anfehen vor dem Feinde zu geben, bemah—⸗ 
fen fie fich nicht nur, fondern machen ſich auch zu dieſem 
Ende alferhand Einfchnitte ins Geſicht, und beſtecken es 
ſich mit allerhand Dingen *). — Die Schnurbärte der 
| Sol⸗ 











— — — 











— 


®) Ausdruͤcklich bemerkt diefes von den Negern in Loange 
der Verf. der Hif. de Loango. Plufieurs, pour fe don- 
ner un air terrible, & par une fotte oftentation de 
fermet& & de courage, fe font faire des incifions au 
vifage, fur les epaules & fur lesbras. Auch beneiden 
fie denjenigen deßwegen, ber von den Blattern ſtark ges 
zeichnet worden if. Chacun porte envie à celui, que 
la petite Verole a le plus maltraite, — Das Bey: 
fpiel foll auch Europäer zur Nachahmung gebracht has 
ben, die lange unter den Wilden lebten. Und mehr 
als bloße Beauemung muß das fcheinen, was von eis 
nem Franzsfifhen Dfficier, der unter den Wilden in 
Kovifiana einheimifh wurde, erzählt wird. Outre 
une image de la vierge avec l’enfant Jefus, une gran- 
de eroix fur l’eftomac, avce les paroles miraculeufes, 
qui apparurent à Conftantin, & une infinit de figu- 
res dans le gout fauvage; ilavalt un ferpent qui lui 


faifait, le tour du corps, dont la langue pointue & 
| prete 


\ 


Vergnuͤgungen des Auges und bes Ohres. 2i9 


Soldaten und Kutſcher hatten ehedem dieſe Abſicht. — 
Vor den in unbebauten, waldigten, ſumpfigten Laͤndern ſo 
beſchwerlichen Inſecten ſich zu bewahren, iſt es ganz na« 

tuͤrlich, daß fie ſich mit einer Fünftlichen Haut, von Fett _ 
und Farben, deren Geruc) auch bisweilen diefen Thieren 
zumider ift, ihre Blöße bedecken *). Die Gewohnheit, 
fich die Haare abzufchneiden, entftund wahrſcheinlich aus 
der Sorgfalt für die Neinigfeit; oder auch aus der Ab⸗ 
ſicht, vom Feinde im Kampf nicht durdy die langen 
Haare zu Boden geriffen werden zu koͤnnen **), 

Und fo fönnen, wer weiß wie viele, Gewohnhei⸗ 
ten, ben Mugen urfprünglich zur Abficht gehabt haben; 
aber durd) die Nachahmung und Begierde, ſich auszue 
zeichnen, immer weiter ins Sonderbare bineingetrieben, 
und zuleßt ganz zweckwidrig, ober doch zwecklos gewor⸗ 


den ſeyn +). — 
4) Da 








prete à fe darder venoit aboutir fue une extremitẽ. 
que vous devinerẽs, fi vous pouv&s. Vermuthlich 
zum Beweis feiner Verachtung gegen die alte Schlange. 
©. Poyages au Nord V. 15. Gelehrte Freunde haben . 
mir bezeugt, daß felbft in Europa die Beyſpiele folcher 
Einfälle nicht ganz felten fepn. 

&) Robertfon Hift. of america Vol, I. p. 371. feßt noch bie 
Abficht Hinzu, ſich vor der gar zu fatten, entPräftenden 
Ausdünftung bey ber Hitze, und ber unangenehmen 
Empfindung der Näffe in der Regenzeit, zu bewahren. 

‚ Wt) Plutarch, Theſeus Cap. 5. Ferfer’s Voyage round the 
World I. 475. 

n Bey den Giagbern, einem aͤußerſt wilden Volke in 
Africa, ſollen die Weiber ſich vier Vorderzaͤhne, zwep 
oben und zwey unten, ausbrechen muͤſſen, um ihren 
Männern zu gefallen. Gefchichte von Koango, ©. 
296. Sind fie vielleicht mit dieſen Waffen, einmal zu 
gefährlich gewefen? 


220 Buch II. Abſchnitt L Kapitel IN. 


4) Doß viele und große Verfchiebenheiten des 
Geſchmacks aus der deenadfociation, die auf Aehnlich⸗ 
feit oder ſonſtige Werfnüpfung fid) gründet, entfpringen, 
fehret die Erfahrung, und ift zum Theil fehon eben ($. 
10.) ausgeführt worden. Mur einiges noch zu merfen: 
fo ift dies der Grund, warum die natürliche Befchaffen« 
heit der Dinge in jedrwedem Sande den Einwohnern ges 
wöhnlich am meiften gefällt. Einmal fchreiben ſich die 
erften Eindrücke, die insgemein die lebhafteften find, 
davon her, und überhaupt alle bisher wirflich empfun: - 
dene Vergnügungen. Sodann leidet auch die Eigen« 
tiebe darunter, wenn man dem Fremden den Vorzug vor 
ſich und den Seinigen einräumen fol. Kein Wunder 
alfo, wenn dem Meger fein ſchwarzes glänzendes Geficht 
und aufgefchwollener Mund fchöner dünfen, als die euro« 
päifche Bildung und Farbe; und Kalmucken das Geſicht 
für das fehönfte halten, welches die ihnen eigene Bil« 
dung, platte Nafe und große Ohren, im hohen Grade 
befigt *). Es fommen oft noch mancherfey Urfachen des 
Nationalhaffes oder der Verachtung hinzu; um melcher 
willen alles, was einen von dem verhaßten oder verach⸗ 
teten Menfchen unterfcheider, verſchoͤnert, und Aehnlich- 
feit mit denfelben, die nicht national ift, ſchaͤndet. ine 
andere weit um fich greifende Wirfung der Ideenadſocia⸗ 
‚tion in diefer Eache ift, daß an großen, oder aus irgend 
einem Grunde fehr geachteten oder geliebten Perfonen 
alles leicht gefällt und nachgeahme wird, auch oft bie 
gröbften Fehler. So kann ja nod) immer der partifus 

lare, 














*) Pallas ea von den — Voiterſchab 
ten, I. 99. 


Bergnügungen des Auges und des Ohres. 221 


färe, wenn auch noch fo zufällig entftandene, Gefhmad 
einiger Perfonen am Hofe, bisweilen einer einzigen, die 
verworfenften Moden wieder aufbringen, und die aller» 
fehieflichften vertreiben. So ift der Zufall, daf ein an⸗ 
gefehener, durch große Thaten unter feinem Wolfe ehr 
würdig gemordener Mann, einmal ein ungewöhnlich fans 
ges Geficht hatte, vielleicht die Urfache, daß einige Wilde 
ihren Kindern mit vieler Mühe und vielen Schmerzen 
den Kopf länglicht zu drücken fuchen. Es kann aud) die 
Urfache etwas anders gemefen feyn, , vielleicht Machab« 
mung der Form eines in Affection genommenen Thieres; 
vielleicht auch Vorftellung eines Nutzens. Vielen Ein« 
fluß fönnen insbefondere auch die religieufen, und über 
haupt moralifchen Begriffe in die Anwendung und Wirk 
famfeit des Begriffs vom Schönen haben *). 

Da alles fo viele Seiten hat, und bie Menſchen 
fo leicht auf einer Seite mit ihren Begriffen und Urtheis 
fen ftehen bfeiben: fo wird der Ideenadſociation ihre Wirs 
fung um fo viel leichter; ein einziger Umftand, eine ein, 
jige auffallende Vergleichung, kann den Geſchmack ent» 
ſcheiden. Weiße Zähne, fagen die Indianer, , die ſich 
die ihrigen färben, ſchicken fich nur für Hunde un® 
Affen =) 

5) Endlich aber kann ſelbſt der gemeinſchaftliche 
wahre Grundbegriff von der Schoͤnheit, nach welcher Ein⸗ 
heit und Manchfaltigkeit behſammen dazu erfordert wird, 


ſehr 








. #) ©, die Abhandlung Ueber das Gefühl vom Schönen, 
im deutfchen Muſeum 1777. | 


#7) Ives Keifen, Ü.L S. 61. 


’ 


>22 Buch I. Abſchnitt L ‚Kapitel IV. 


fehr von einander abftehende Sitten veranlaffen. Nach 
- der Verfchiedenheit der äußerlichen Dinge, die zum Mu« 
fter oder Hülfsmittel dienen, muß die Abficht, in feinen 
Aufzug, feine Figur, mehrere Manchfaltigkeit zu brins 
den, oft auf ſehr verfchiedene Wege führen. Der 
Wilde, ber wenig oder gar feine Kleider tragt, ' kann 
nicht feine Kleider zieren; er muß feinen Körper unmite 
telbar auszieren, behangen, bemahlen, durchnähen, 
Figuren ihm einftechen; wenn er den Eindruc‘, den feine 
Derfon machen fann, durch Manchfaltigkeit verftär« 
fen will. 


Kapitel IV. | 
Bon den Bergnügungen der Einbildungskraft, 


$ 49 

Hauptgattungen biefer Claſſe und deren Gründe, 

lle Arten von Vergnügungen Finnen einigermaßen in 
der Einbildungskraft genoffen werden; und ohne fie 
würden alle, oder doch bie meiften, von ihren Reizen fehr 
viel verlieren, Don ihr koͤmmt iInsbefondere alles Ver 
gnügen, das Erinnerung und Hoffnung gewähren, 
Hauptfächlic) aber heißen Bergnügungen der Einbildungss 
kraft Diejenigen, die die Dichtungsgabe hervorbringt. 
Wenn nun die Gefchöpfe der Einbildungsfeaft eben 
die Befchaffenheiten an ſich haben, die bey der wirflichen 
Gegenwart und Empfindung angenehm find: fo ift Feine 
weitere Unterfuchung nöthig, warum fie esaudy hier ſeyn. 
Sie fönnen es bisweilen weniger fon, ‚ wenn Sehnſucht 


nach 


Vergnügungen der Einbildungsfraft. 223 


nad) lebhafterer Empfindung, nad) völligem Genuffe ent 
ſteht. Es fann aber aud) das Vergnügen des idealen 
Genuffes größer feyn, als die Luſt der wirflichen Empfin - 
dung; indem die Imagination, ein Koch, ſagt der 
£anppriefter von Wackefield, der ſich vollkommen 
nach eines jeden Geſchmack zu richten weiß, alles Unans 
genehme der Sache wegläßt; oder die der Zeit oder dem 
Raume nad) zerftreuten Schönheiten und Annehmlichfei« 
ten zufammenrüdt; vielleicht auch, weil die Seele hier⸗ 
bey mehr ihre eigene Kraft wirffam zeigt, als bey ber 
Empfindung außerlicher Eindrüde. 

Aber wie fommt es, daß fo vieles bey der bloßen 
Vorftellung und Befchreibung Vergnügen fehaft, was 
man verabfcheut und flieht, wenn es einem wirklich bes - 
gegnet; ſchreckliche Gefpenfter und Mordgefchichten, Er⸗ 
zählungen von Reiſen voller Gefahren und Plagen? 
Mehrere Urfachen müflen zufammengenommen werben, 
um die Sache uniter allen Umftänden zu begreifen, uns 
ter denen fie fich zeiget. Erftlich afficire die bloße Vor⸗ 
ftellung nicht, wie wirfliche Gegenwart und Empfins 
dung; es leidet niemand Hunger und ftirbt niemand, 
wenn Hungersnoth und Mordthaten befhrieben werden; 
die Vorftellungen find unfhädlih. Da es aber doch 
Vorftellungen find, die ftarf angreifen; fo erwedfen fie 
ein lebhafteres Gefuͤhl unferer Kräfte, einen ſchnellern 
Umlauf des Geblüts, und fönnen alfo zum Theil auf eben 
die Weife angenehm werden, durch die hitzige Getränke, 
und "Bewegung gebende Zeitvertreibe es werden *). 
| | Noch 


ne) 





— — — — — — —— 


* Fuͤr den alas # die —* * Immer ganz Pre 


224 Buch II. Abſchnitt J. Kapitel w. 


Noch mehr aber werden fie es dadurch, daß aller⸗ 
band angenehme Vorftellungen fo ſehr dabey gehoben und 
lebhafter empfunden werden. Insgemein fommen in 
diefen Gefchichten felbit angenehme Ecenen mit vor; die, 
wie bey den wirflichen Eräugniffen,fo auch in der Erzählung, 
wenn fie mir rechter Theilnehmung gehört oder gelefen wird, 
durch den Contraft des vorhergehenden Traurigen fehr 
gewinnen. Oder der Ausgang ift-doch erfreulich, den 
man fchon vorher weiß, oder vermuthet. Ohne einigen 
erfreulichen Ausgang gefallen tragifche Dichtungen den 
wenigften Menfchen recht. Ferner aber wird oft unfer 
eigener Zuftand, von dem wir das Bewußtſeyn oder Ges 
fühl nicht völlig verlieren, unter diefen Vorftellungen 
von fo vielen Uebeln, von denen allen wir frey find, uns 
angenehmer. Nenn bey Erzählung von anderer Gluͤck 
und Freuden, Sehnſucht und Unzufriedenheit mit feinem 
Zuftande entftehen; wenn bey der Anzeige der Vergehun⸗ 
gen anderer, das Gewiſſen an eigene Fehler erinnern 
kann: fo bleibt bey jenen tragifchen Gefchichtender Menfch 
in feinem eigenen Werth und Wohlſeyn ganz ungeftört, 
das Gefühl davon waͤchſt vielmehr. | 

Ferner aber erfüllen folche tragifche Geſchichten 
auch oft den Verftand mit allerhand neuen, ungemwöhnli« 
chen, wunderbaren Borftellungen, bey denen es etwas zu 
denfen und zu lernen giebt )Y. Oft fommen aud) moras 


liſche 


thaͤtig. Es giebt Perfonen, die bey recht fürchterlichen 
lebhaften Schilderungen ein Falter Schauer überläuft, 
von dem fie, wie von einer Außerlichen Erkältung, 
taub im Halfe twerben. 
” ©. — Philoſ. Schriften, Th. J. S. 132 f. 
usg. 





Vergnůͤgungen der Einbildbungäfraft, ans 


liſche Vergnügungen hinzu; das Vergnügen an den Be 
weifen von Heldenmuth und Standhaftigfeit unter Ges 
‚fahren, am endlichen Siege der Unfchuld. über die Bosı _ 
beit. Das Mitleiden felbft, in weld)es man dabey ver⸗ 
ſetzt wird, hat ſein Angenehmes auch von der Seite; 
wie an einem andern Orte ſchon bemerkt worden 


iſt (9. 26.). 


Wenn vollends die tragiſche Muſe, von ber Tone 
Funft unterftüst, auf der Bühne, unter fo. manchen an⸗ 
dern Anlockungen, auftritt: iftes da Wunder, wenn 
ſchreckliche und traurige Begebenheiten zu einer der ange 
nebmften Unterhaltungen werden *)? Ueberhaupt darf 
bey diefem Artifel die Macht der Dichtkunſt über die 
menfchlichen Gemüther nicht unangemerft bleiben, Alles 
abgerechnet, was die fabelhafte Gefchichte des Alterthums, 
wer weiß unter welchen Wergrößerungen, davon ſagt! 
darf man nur bedenfen, wie viel räftiger die Wahrheit 
alsdann wirft, aber auch, mie viel gefährlicher der Syrrs 
thum wirb, wenn die Dichtfunft ihre Reize herleibt; wie. 
wenige Menfchen, ſonderlich in einem gewiſſen Alter, 
wenn die Tugend in fimpler philofophifcher Profa aufge» 
führt wird, und das Safter im Dichterſchmucke, ſtark 
genug 


— — — — 











e) Verſchiebene Philoſophen haben zu einſeitig ober ganz 
von der falſchen Seite dieſe Neigung angeſehen. Be⸗ 
ſonders Home in ben Unterſuchungen über die erſten 
Gründe der Sittlichfeit. Defto grünblicher ift die Ers 
— ſeines Ueberſetzets des ſel. Xautenbergs, 

. 30. 


Erſter Theil. u 


36 Budh IM. Abſchuitt 1. Kapitel IV. 


genug am Geiſte ſind, um jener ihren Beyfall zu ge⸗ 
ben *). | | 
Zu gewiffen Sändern foll ein Sied.oft mächtiger ge= 
wirkt haben, als Armeen und Richterftühle. Der Car- 
dinal von Reg hatte zur Zeit der Fronde feine eigene Sa— 
tyrenmacher gegen den Mazarin an der Seite *). Und 
König Edward I, ein großer und einfichtswoller Herr 
für feine Zeiten, ließ, nachdem er die Provinz Walles 
völlig unterjocht hatte, alle Barden diefes Sandes ums» 
bringen, meil er fie für zu mächtig hielte, Freyheitsliebe 
und den kriegeriſchen Geiſt immer wieder von neuem an⸗ 
äufachen ). | | 
Die Finbildungsfraft ift emdfich auch noch die 
Quelle eines eigenen Beduͤrfniſſes, das Folgen hat; naͤm⸗ 
fich des Bedürfniffes, feine lebhaſtern Vorftellungen und 
innern Empfindungen andern mitzuteilen, oder doch ir— 
gend auszulaffen, Unter andern entftehen daher Die Mei 
gungen zum Singen und zum Tanzen, 


g. 50. | ' 
Urſachen Ser Werfchiedenheit der Neigungen, in Beziehung auf 
die Bergnägungen der Einbildungsfraft. 


Auch bey dieſer Claſſe der Vergnuͤgungen finden 
ſich große Verſchiedenheiten der Charactere. Die vor⸗ 
nehmſten Gruͤnde davon ſind: 
| i) Der 
#), Voltaire ſelbſt verfichert: Le charme de la Poëcſie fait 

pardönner toutes les erreurs, & l’efprit, penetr& de 
a beaut& du ftile, ne fonge pas feulement, fi on le 
troınpe: ©, les fingularitis de da Natute, p. 69. 
#2) &, Memoires Tofn. I. und IE, u 
» ©. Hume Hift. of Engl, H; 67; 

















Vergnüigungen der Einbildungsfraft. _ 227 


1) Der Unterfchied der Neigungen gegen die Vers | 
grügungen der äußern Sinne Wer feine Luſt bat an 
gröbern finnlichen Ergoͤtzungen, wird ſich aud) an den 
Beſchreibungen davon ſchwerlich vergnuͤgen koͤnnen. Dem 
Liebhaber der Jagd, nicht dem Kebhaber der Lektuͤre, 
wacht das Herz auf, wenn von Jagden die Rede iſt. 


2) Der verſchiedene Grad der Lebhaftigkeit der 
Einbildungsfraft, und der innern Empfindlichkeit, oder 
Empfindfamfeit. Wo der eine vor Mitleiden oder Ent: 
fegen es kaum mehr aushalten Fann; da wird der andere 
fo eben mäßig gerührt. Und hingegen hat diefer lange 
Weile, wo die Empfindfamkeit des erftern binfängliche 
Befchäftigung finder, 


3) Datinn auch, daß der eine das Wahre mehr 
liebt, oder andere Begriffe von der Wahrheit har. Eine 
Urfache wenigftens von mehrern, warum man gemeinig. 
lich im männlichen "Alter nicht mehr fo viel Wergnügen 
an Romanen finder, Es giebt wahre Geſchichte, Die 
eben fo viel Unterhaltung und mehr brauchbare Kenntniffe 


verfchaffer, 


4) Endlic) in der Verfchiedenheit des motaliſchen 
Geſchmacks. Zu feiner Belehrung vielleicht, was es 
für Thorheiten unter den Menfchen oder unter den Schrift. 
ftellern gebe, kann der Tugendfreund ungefittete Schrif— 
ten leſen; zur Beluſtigung feiner Einbildungskraft ges 
wiß nicht, | 1 


9 2 | | Kad i⸗ 


228 "Bucht. Aöfchnitt 1. Kapitel V. 
Bapitel V. 


Bon dem Vergnügen des Verſtandes und der 
Liebe zur Wahrheit, 


| $. 51. 
Ob der Erkenntnißtrieb Grundtrieb, oder woher 
er entſtehe? F 


&; ift oben ($. 39.) bemerkt worden, baß ber Erfennt« 
niftrieb von einigen fir den einigen wahren und abfoluten 
Grundtrieb gehalten wird. Andern fcheint er wenigftens 
einer der urfprüngfichen unmittelbar gegründeten Triebe 
gu ſeyn. Dieſe berufen ſich auf die Erfahrung; und 
ihre Gründe find, daß er fo früh wirke; fo oft, mo fein 
Vortheil ihn reizen kann; und ſo mächtig, daß er auch 
die mächtigften der andern natürlichen Neigungen, die. 
Siebe zu Bequemlichfeiten, zum Reichthum, zur Ges 
ſundheit, ja zu Freunden und zur Familie überwältige *). 
Wenn man aber allfeitige und genaue Beobachtungen 
bierbey zu Rathe zieht; fo wird fo viel wenigftens als⸗ 
bald eingeraͤumet werden muͤſſen, daß andere natuͤrliche 
Triebe einen ſehr mächtigen Einfluß auf den Erkenntniß⸗ 
trieb haben, und bey mandyem der angeführten Beweiſe 
die Uneigennügigfeit derfelben noch fehr zweifelhaft fen. 
Naͤmlich 

ı) Von 








— 

*) Qui ingenuis ſtudiis atque artibus deledtantur, nonne 

videmus, eos nec valetudinis nec rei familiaris ha- 

bere rationem. — Videmusne, ut pueri ne verberi- 

bus quidem a conteniplandis rebus perquirendisque de- 
terreantur? &c. Cssere fin, V. ı%. 


Bon dem Vergnügen des Verſtandes. 229 


) Bon Jugend auf werden wir durch Vorftellun« 
gen des Nugens zum Lernen aufgemuntert. inen je- 
den lehrt es auch die Erfahrung fehr bald, daß es nicht 
gleichgültig fey, ob man etwas weiß oder nichts. Ber 
weggruͤnde des Nußens, früh und manchfaltig adſociirt, 
find alfo doch beym Beftreben nach Erfenntniß überhaupt 
nicht zu leugnen. 


2) Daß ein Trieb, menn er lange gepflogen und 
befolgt worden ift, viel weiter geben Fönne, als er, den 
erſten Beranlaffungen und Abfichten nach, nicht geben 
müßte, daß man endlich Feiner andern Beweggruͤnde da» 
ben fich bewußt zu ſeyn, oder fie irgend zu haben braucht, 
als den, die gewohnte Neigung zu befriedigen; dies ift 
eine ausgemachte Wahrheit. Alfo läßt fich aus der end⸗ 
lichen Stärke des Triebes zu den Wiffenfchaften auf die 

Staͤrke feines urſpruͤnglichen Grundes, aus der Lieber» 
. macht über andere Triebe, auf Unabhängigkeit von ei» 
nem gemeinfchaftlidyen Grunde mit biefen, noch — 
ſicher ſchließen. 

3) Es iſt auch nicht immer, genau zu reben, 
Trieb zur Erkenntniß, Wißbegierde, mas Aufmerffam- 
feit auf Erzählungen, Fragen und dergleichen, fonder- 
lich bey Kindern, veranlaffet. Lange Weile, allgemei- 
nes Verlangen nach Befchäftigung, fonderlich Luſt an 
Bewegungen der Einbildungsfraft, ifts vielmehr. Selbſt 
diejenigen Ideen, die eigentlicy den Verſtand befchäfti« 
gen follen, geben oft der Einbildungsfraft und dem mora⸗ 
liſchen Gefühle Nahrung, vermöge der Gegenftände, 
auf die fie fich beziehen, oder der Art, wie fie behandele 


werben, on Ä 
P 3 4) Haupt: 


20° Buhl Abſchnitt J. Kapitel V, 


4) Hauptſaͤchlich aber erhellet der ftarfe Einfluß 
der Ideen von Mugen, und anderer Neigungen auf den 
Trieb zu wiffenfchaftlichen Befchäftigungen dadurch, daf 
man leicht gewahr wird, wie fehr Die Wahl der Gegens 
ftände nach dieſem adfociirten Intereſſe fic) richte, Wie 
ſehr wird nicht meiftentheils darauf gefeben, was für 
Beziehung auf Ehre und Einfommen oder andere äufßer- 
‚ liche Vortheile eine Kunft oder Wiffenfchaft hat? Wie 
wenige $iebhaber finden nicht die trockenen, abftracten 
Wiffenfchaften , wenn fie gleich dem Verſtande bey weis 
tem die ficherfte Nahrung geben, gegen diejenigen, die 
anziehend für die Einbildungsfraft find? 

Alte diefe Bemerfungen follen doch nicht beweifen, 
daß gar Fein eigenthümliches, unabhängiges Intereſſe 
bey dem Vergnuͤgen, das mit Befihäftigungen des 
Verftandes verfnüpft ift, gar nichts aus einer eigenen 
unvermengten Quelle herkomme; fondern nur, daß 
vieles, was der erfte Anfthein einige bieber zu rechnen 
veranlaffet hat, abgerechnet werden müffe. Daß es reis 
nes, uneigennüßiges, von allen andern Neigungen uns 
abhängiges Vergnügen an Erfenniniß und deren Wachs⸗ 
thum, an Bollftändigfeit, Deutlichfeit und Gruͤndlich⸗ 
feit, dennoch gebe; läffet fi) behaupten, Denn 

2) fheinet, vermöge ber Analogie aller übrigen 
Gattungen von Vergnügen, die nicht aus andern abger 
feitet werben koͤnnen, zum allgemeinen Grundfage ange» 
nommen werben zu bürfen, daß, wo irgend eine Kraft 
mäßig befchäftige wird, fo daß wir Kraft, nicht Schwaͤ⸗ 
ehe dabey fühlen, angenehme Empfindung entftehe. Es 
gilt in Anfehung der Empfindungen der äußern Einne, 
mern gleich noch vieles unerklaͤrt dabey bleibt; bey den 

cz | Rep 


Bon dem Vergnügen des Berftanded, 231 


Vergnuͤgungen der Einbifbungsfraft macht es vieles be- 
greiflich ; . und es iſt aus allgemeinern Gründen fonft ſchon 
angemerft worden. ($. 22.) | 

2) Finden fic) doch wirklich Fälle, wo das Miß- 
trauen gegen Empfindung und Bewußtſeyn zu weit gehen 
mürde; wenn man den Trieb nach Erfenntniß, das 
Wohlgefallen am. Denfen, von verſteckter Ideenadſocia⸗ 
ion, verborgen wirkender Begierde nach Ehre und an⸗ 
dern Vortheilen, herleiten, und davon allein herleiten 
wollte. J— iſt dies ein Argument, womit man 
nicht gut einem andern als ſich ſelbſt beweiſen kann. Aber 
es iſt zu vermuthen, daß mehrere den Grund dazu leicht 
in ſich finden. — —— 
= ....3) $äffet es ſich auch unter gewiſſen Umſtaͤnden 
daraus abnehmen, daß man nicht fo viel Vergnügen bat, 
wenn man einem ben Unterricht gar. zu leicht macht, 
nicht felbft dabey etwas zu denfen überläffet, ‘Der ift ber 
angenehmfte Lehrer, der den Lehrling gerade nur fo viel 
thun läffet, als er ohme-ermüdende Anftrengung zu thun 
im ‚Stande ift; „die Schwierigkeiten zu fühlen giebt, 
aber auch Mittel finden hilft, um fie aus dem Wege zu 
räumen. Freylich kann man hierbey einwenden, daß 
dies auch daher kommen koͤnne, daß es angenehm iſt, 
feiner Verſtandeskraͤfte ſich bewußt. zu werden, weil es 
Ehre und, Mugen bringende Vollkommenheiten, und als 
ſolche einem befannt find. Oder auch, daß die Schwie- 
rigkeiten bey wiffenfchaftlichen Unterfuchungen reizen Fön 
nen, meil fie zu einer um. fo viel wwichtigern, um fo viel 
mehr Ehre bringenden Entdeckung Hoffnung machen. 
Daß dies fo feyn koͤnne, läge ſich wohl nicht leugnen. 
Aber daß die Sache allzeit nur auf diefen Gründen der 
—— —* ie 


232 Buhl. Abſchnitt I. Kapitel V. 


ruhe, nicht darauf auch, worauf fie zuerft gedeutet wor⸗ 
ben ift; flimmt mit der genaueften Beobachtung nicht 
überein, _ Nemlich N | 
4) die ganze Befchaffenheit der Umftände, unter 
benen man Menfchen ben Wiffenfchaften fich ergeben, 
ober von ihnen fliehen fieht, deren Äußerliches Glück ih⸗ 
ren Neigungen den wenigften Zwang anthut, läffet bis 
weilen nicht daran zweifeln, daß nicht das Denfen für 
einige Menfchen ein eben fo natürliches Beduͤrfniß, als 
für andere das Springen und Saufen; daß glauben , ohne 
einzufehen, ober geprüft zu haben, für eine Art von Geis 
ftern ſchon im Findifchen Alter unausftehlicher ift, als ih» 
ven Körper unter einer ſchweren Laſt gedrückt zu fühlen; 
und ein Fehlſchluß bey einigen das innere Gefühl eben fo 
empfindlich angreift, als Mißtoͤne das Ohr des Tonkünfte 
lers; kurz, daß Trieb zum Denfen und $uft an Erkennt» 
niß, wenn gleid) in fehr verfchiedenen Graben der Sub: 
prdination unter andern Trieben, bey den verfchiedenen 
Köpfen, einigermaßen doch eben fo urfprünglich zur 
Menfchennatur gehören, als kuſt an Effen und an Ber 
megung bes ‚Körpers, | .- 


6. 32, 
Bon ber Liebe zur Wahrheit und den Gründen der 
| Zugendhaftigfeit, 


Wahrheit und Irrthum find Befchäftigungen für 
ben menſchlichen Verſtand; bende geben etwas zu benfen, 
Kann man dennoch fagen, daß dem Menfchen dag eine 
von Natur angenehmer fen, als das andere? Und if 
dies Wohrheit, oder Irrthum? Cs giebt freylich Fälle, 

wo 


\ 


Bon dem Vergnügen des Verſtandes. 233 


wo ber Menfch den Irrthum liebt; d. h. Vorſtellungen, 
die irrig find, liebet; wuͤnſcht, daß fie wahr ſeyn moͤch ⸗ 
ten, ungern von dem abfäßt, was ihnen einiges Anſe⸗ 
hen der Wahrheit giebt, ungern hinfieht auf das, mas 
diefes Anfehen ihnen benimmt. a er kann unzufrieden 
ſeyn, einige Zeit ang, daß man ihm feinen Irrthum 
benommen, aus_feinen Träumen ihn aufgeweckt hat; 
traurig wuͤnſchen, daß er fortgedauert hätte! Wiederum 
ift es nicht genug, etwas zu empfehlen, zu fagen, daß 
es Wahrheit enthalte. Man frage gleich weiter, was 
es für eine Wahrheit fen; wozu es nuͤtze, fie zu wiflen? 
Dies alles beweiſet deutlich genug, daß man nicht anders 
als eingefchränft und untergeordnet bie Liebe zur Wahr- 
beit in der menfchlichen Natur Annehmen koͤnne. 
Dennoch fann man behaupten, daß an ſich bes 
achtet der Irrthum den Menfchen verhaßt, und bie 
Wahrheit angenehmer fer. Denn, nad) einer völlig 
richtigen Erklärung, ift die Wahrheit nur allein voll» 
fommen gedenfdbar. Der Irrthum hat irgend wo 
einen Widerfpruch, der ſich zwar oft lange verbirgt, aber 
wenn er ſich entdeckt, und der Irrthum alfo in feiner 
wahren Geftale erfcheint, ein unangenehmes Gefühl mit 
fich führer; das Gefühl des Unvermögens, der Unmög« 
lichkeit fich vorzuftellen, was nach der Angabe der Wor⸗ 
te man fich vorftellen follte. Darum verlangen wir fetbft 
in Dichtungen, die uns ergögen follen, insgemein doc) 
MWahrfcheinfichfeit; weil fie außerdem feine angenehme 
Beſchaͤftigung des Werftandes bewirken, gefchreige denn 
die Täufchung, als ob wir wirflich alles vor uns fähen, 
und empfänden. Da aud) unfer Zuftand hauptfächlich 
doch von dem abhängt, was wirflich ift: fo erhellet, 
Ä | s daß - 


234 Buch U. Abſchnitt 1. Kapitel V. 


daß auch der Trieb zur Wahrheit, der aus der erkannten 
Nothwendigkeit, fein Verhalten nach den richtigen Vor⸗ 
ſtellungen von den Dingen einzurichten, entfieht, von 
ſehr großem Betrage ſeyn müffe. 

Dieſe Bemerkungen koͤnnen etwas beytragen zur 
Beſtimmung, wie weit die Wahrhaftigkeit dem Men— 
ſchen natürlich, und alfo nach den allgemeinen Begriffen 
mehr zu vermuthen fey, als daß ei einer DO eine Uns 
wahrheit fage: 

7 Wenn die Wahrheit — dem Menſchen a an⸗ 
genehmer iſt, als der Irrthum: fo wird er ohne befon- 


dere Urſache nicht vorfeglidy von ihr abweichen. Es ift 


auch leichter, das zu fagen, was man wirflid) von einer 
Sache benft, als etwas erft auszufinnen, was mit 
einigem Schein die Stelle der Wahrheit vertreten kann. 
Diefe Mühe, follte man denken, wird fid) feiner unnoͤ— 
thiger Weiſe geben. 

Bey diefem Grunde der natürlichen Wahrbeitslies 
be ift dennoch fehr Teiche zu begreifen, mie es kommen 
fönne, daß ein Menfch vorſetzlich Unmahrheiten ſagt; 
wenn er nur baburch fich oder andern einen Vortheil zu 
verfchaffen, oder ein Uebel abzuwenden weiß. | 

- Aber viel ſchwerer zu. begreifen ift, mie einige _ 
Menſchen bisweilen Unmahrheiten fagen Fönnen, von 
denen fid) fein Vortheil bey der geringften vernünftigen’ 
Meberlegung denfen faffee, bie ihnen niemand glaubt, 
Durch die fie fi) nur lächerlich machen. In der That 
geht der Character einiger Luͤgner von Profeffion ins Pas 
radore. Beyſpiele hieher zu feßen, würde ala ig 
km, ‚ da fie fü felten nicht find. 

| Erf 


Bon dem Vergnügen bed Verſtandes. 235 


Erftlih muß man wohl zugeben, daß folhe Men 
fchen bisweilen nur durch Ungereimtheiten Sachen erwecken 
wollen ;‘. ohne eigentlich zu verlangen, daß man. ihre 
Mähren für Wahrheiten annimmt. Aber Dies ift nicht 
in den mehreſten Fällen fo. 

Ein anderer Grund der fügenhaftigfeit ift die Ei 
telfeit; die Begierde, fich ein mehreres Anfehen zu ges 
ben, durch dag, mas man zu wiffen, ober erlebt, ges 
noffen, beſeſſen zu haben vorgiebt ; oder doc) die Bes 
gierde, Aufmerffanfeit auf fich zu ziehen, andere mil. 
fid) zu befchaftigen, Ferner kann diefer Fehler entfprin« 
gen aus dem, durch fo manche fonderbare.und fchädliche 
Folgen merfwürdig werdenden, ungeordneten Woblgefal» 
len an feiner Kraft und deren Ueberlegenheit; bier alfo 
an dem Bewußtſeyn des Vermögens, anderer Vorftel« 
lungen nach Belieben einrichten, ihnen efwas einbilden, 
ausreden, zweifelhaft, mahrfcheinlich machen zu Fönnen. 
Wie bey der Sügenhaftigfeit allemal Schwäche des Vers 
ftandes feyn muß, in fo fern, als einer die überwiegend 
fhädlichen Folgen einer folhen Gemuͤthsart nicht einfieht: 
alfo kann ein befonderer Grund derfelben auch dies noch 
feyn, daß, indem einer Vorftellungen, die nicht wahr 
find, wie Wahrheiten behandelt, als folche andern vor» " 
traͤgt und fcheinbarlich macht, er fich felbft, wenigftens 
auf einige Zeit, täufcht, und wenn es angenehme Vor⸗ 
ftellungen, $uftfchlöffer feiner Phantafie, find, untere 
deffen lebhafter an ihnen ſich ergögee. Und wie die Ge⸗ 
wohnheit alles weiter bringen, und auch das Unnatürliche 
zur Fertigkeit machen kann: fo ift begreiflich, mie es 
nicht nur mit der Fertigfeit, ohne vielen Vorſatz zu lügen, 
fondern auch mit ber eigenen Tabu und Schwaͤchung 

des 


236 Buch U. Abſchnitt I. Kapitel V. 


des Bewußtſeyns, daß man luͤge, endlich aufs aͤußerſte 
kommen koͤnne. Wer voͤllig im Kopfe verruͤckt iſt, haͤlt 
ſeine Traͤume fuͤr wirkliche Eraͤugniſſe, bey aller Anſtren⸗ 
gung ſeiner Vernunft. Mancher beruͤchtigte Luͤgner 
ſcheint von dieſem Zuſtande nicht ſehr weit abzuſtehn. 
Es giebt viele Arten und Grade der Narrheit; und viele 
Wege, dazu zu gelangen. 
Auch laffen ſich mehrere Urfachen hieben bemerken, - 
um welcher willen die Luͤgenhaftigkeit mißfaͤllt. Nicht 
bloß, weil fie der Gefellfchaft ſchaͤdlich iſt, und in den 
Augen vernünftiger Menfchen der Luͤgner ſich entehrr; 
fondern auch darum, daß er fich das Vermögen zutraut, 
unfern VBerftand zu beherrfchen, durch Mittel ihm Bey⸗ 
fall abzulodten, welchen nachgegeben zu haben wir uns 
ſchaͤmen müffen. 
| Hingegen gehören Wahrheitsliebe, Aufrick⸗ 
tigkeit und Redlichkeit, wenn fie nur nicht die weſent 
lichſten Gefege der Klugheit und Befcheidenheit übertres 
ten, zu denjenigen Eigenfchaften, die den allgemeinften 
und berzlichften Befall erhalten. Wenn man aud) 
nicht, mit ben Grundfägen des andern zufrieden, ganz 
anderer Meynung ift, als er; aber davon völlig ſich ver 
fichert Hält, daß er es redlich meynt, und aus Wahr. 
heitsliebe fo fpricht und Handelt: fo kann man einigen 
Anfprud auf Achtung und Siebe ihm nicht verfagen. 
Sa er erhält ihn leichter, als derjenige, den wir in Ver⸗ 
dacht Haben, daß er fih, uns zu gefallen, verftelle. 
Der Freund der Wahrheit Fann nicht Freund des Laſters 
ſeyn. Wer aufrichtig gegen uns ift, kann nicht das 
fhlimmfte von ung denfen; wer fich nicht zu verbergen 
fücht, muß ſich guter — bewußt ſeyn. 5 
als 


Bon dem Vergnügen des Verſtandes. 237 


Falſchen haben wir alles zu befürchten; wer einmal von 
der Wahrheit abgewichen ift, hat ein unendliches Feld 
vor ſich, man weiß nicht, wann er feft ſteht, und wie 
man mit ihm daran iſt. Wer der Wahrheit zugethan 
iſt, kann ung nicht entgegen feyn, als wenn wir im Irr⸗ 
thum find, oder er; und da giebt es ein Mittel, uns 
zu vereinigen. | | 


ge 53. | 
Bon den Urfachen der verſchiedenen Einkleidung ber Ideen, 
fo fern fie fih in den Neigungen finden. 

Wenn man nicht ohne Grund behauptet, daß fich 
‚ die Gemüchsart eines Menfchen durch die Art des Vor 
trages feiner Gedanken und feines Ausdrucks gutentheils 
zu erkennen gebe: fo ift es nicht überflüffig, zu unterſu· 
den, aus mas für Urfachen die verfchiedenen Arten der 
Beziehung und Einfleidung der Ideen herrühten. Won 
den entfernteften Urfachen ift auch bet) diefer Unterfuchung 
bier die Rede noch nicht, fondern von den nächften. 
. Und diefe liegen zum Theil freylich in der Befchaffenheit 
des Verftandes. Die Bezeichnung der den richtet 
fid) nad} der von den Dingen bereits erlangten Erfennt 
niß, und dem Grade der Kraft, fie fich Vorzuftellen. 
Ein ſchwacher Kopf, oder fehr unmiffender Menfch, 
_ Fanrı feinen Ideen bey der Darftellung nicht viel Ausbile 
dung geben, und mit der Zeichnungsart nicht oft abe 
mwechfeln. Der vollformmenfte Verſtand wählt immer 
das zweckmaͤßige. Der bloße lebhafte Kopf läßt feine 
een ausbraufen und ausfımfeln, wie der Umlauf ſei⸗ 
nes Gebluͤts, der Zuftand feiner Mervenfräfte, und ano 
dere Erweckugen feiner Einbildungstraft es mit ſich 
| | bringen, 





233 Buhl Abſchnitt I. Kapitel VI. 


bringen. Aber die Neigungen thun aud) vieles bey der 
Sache. Von mehrern Seiten, von denen ſich die Dinge 
ing jemein vorftellen und bezeichnen faffen, mählt der eine 
die ernfihaftefte, der andere die ſcherzhafteſte; der eine 
die unanftößigfte, der andere die ſchluͤpfrigſte; haupt. 
ſaͤchlich doch durch den Trieb der Neigungen, Dem ei» 
nem ift am meiften an der Wahrheit gelegen; und er 
fucht den paffendften, verftändlichften Ausdruck, waͤhlt 
die fimpelfte Einfleidung. Dem andern its darum zu 
ehun, Auffehn zu machen, Bewunderung zu erregen, 
die Einbildungskraft zu kitzeln; er Dichtet und wißelt, 
ſtatt zu erzählen und zu lehren. Aus Begierde, fein 
ganzes Gefühl dem andern auf einmal einzugießen, oder 
alles, was einander beftimmt und unterftügt, auf einmal 
zu fagen, wird der eine verworren, Aus eitler Begierde, 
Kraft zu zeigen, treibt ein anderer feine Vorſtellungen 
mit aller Gewalt aus dem helfen Gefichtskreife der Ver— 
nunft in die Regionen ber bilderreichen Phantafie. Der 
Furchtſame wählt den vorfichtigen, ber Demürhige den 
befcheidenen, der Kühne den gefährlic, ftarfen, der 
Hochmuͤthige den pralerifchen Ausdruck. 


Kapitel VI. 


Von den Neigungen zu den aͤußerlichen Guͤtern und 
dem Eigenthum derſelben. 


$. 54. 
Die bie — — zu den aͤußerlichen Guͤtern uͤberhaupt, und 
beſonders Liebe zum Geld und Geiz entſtehen. 


on den äuferlichen Dingen reizen einige unmittelbar 
durch die Empfindung. Sobald nur die Seele im 
TA Stans 


Von den Neigungen zu den aͤußerl. Guͤtern. 239 


Etande ift, ihre Empfindungen für Wirfungen diefer 
Dinge zu erfennen;  ftrebt die Neigung auswärts, und ‘ 
ſucht diefe Dinge in ihre Gewalt zu bringen, um die ans 
genehme Empfindung ſich wieder zu geben oder erhalten 
zu fönnen, Uber nicht alle, nicht die gewaltigften ber 
Meigungen zu dem, mas außer uns ift, haben nur dies 
fen Grund ; fondern die Vorftellung des Nutzens, aus 
Einſicht oder Einbildung entftanden , ift ben manchen die . 
einzige, bey mehrern die vornehmfte Urſach des Werrhes, 
den fie erlangen, 

So ifts mit dem Gelde. Die feinem Metalle 

haben wohl Wilde, durch ihren Glanz gereizet, unter 
ihre Spielwaaren und Zierrathen aufgenommen, ober zu. 
Gefäßen gebraucht, mie die verfeinerten Völker auch 
thun. Aber der Goͤtze des ſchwachen menfchlichen Geiftes 
fiengen fie erft an zu werden; als fie wegen ihrer Dauer» 
Baftigfeit und Theilbarfeit zum allgemeinen Taufchmittel 
gemacht wurden; als fie das Anfehen eines Gutes befa« 
men, für welches man jedwedes andere Gut, jedwedes 
Vergnügen eintaufchen kann. 
Wie nun in Gefellfchaft derer, unter denen diefe 
Vorftellung eintritt, die Liebe zum Geld in jedweder Bruſt 
entſtehen müffe, ift klar. Aber nicht noch, wie fie die 
herrfchende Meigung werden fönne, fo wie fie es beym 
Geizigen ift. Dies Laſter hat Paradored genug, um 
eine genauere Entwicfelung feiner Gründe nicht für über 
flüffig zu haften. Es laffen fi) mehrere angeben, 

1) Ein folhes Temperament des Körpers ober 
des Gemürbes, bey weldyem die Vorftellungen von Uebeln 
in geößerer Anzahl und lebhafter da find, als die Vor 
ſtellungen, die Begierden erwecken, zum Genuß reizen. 

Da 





2490 Buch IL Abſchnitt 1. Kapitel VI. 


Da kann die Vorftellung von bloß möglichen und entfern. 
‚ten Uebeln der Armuth mehr thun, als die Worftellung 
des nahen Genuſſes. 

2) Eine folhe Gemürhsart, bey welcher die 
ideale von Gluͤckſeligkeit immer wachſen, wie das 
Vermögen, fie zu erreichen, zunimmt; und immer über 
diefes hinausfireben. Dem zufolge wird der Genuß im⸗ 
mer weiter binausgefegt, und das Project dazu verbefe 
feet. Erft fparte man nur, um fich ein Pferd anfchafs 
fen zu fönnen, dann, als man diefes gefonnt hätte, 
wartete man lieber nocy), bis man Kurfche und Pferde 
anfchaffen koͤnnte. Alsdenn aber ſchien ein Landgut das 
Mittel zum Anfang eines: vergnügten $ebens zu ſeyn. 
Nun mußte aber auch — für ein anftändiges Einfom- 
men der Wittwe und die Erbtheile der Kinder geforgt 
“werben. Und fo fchien immer mehr nöthig, als da war; 
und die Zeit des Genuffes vergieng über der Ans 
ſtalt darzu. 

3) Schon auf diefe Weife fann die Fertigfeit er⸗ 
zeugt werden, am eingebildeten Genuſſe fich zu weis» 
den, und den wirflidyen bey Seite zu fegen. Sie kann 
aber aud) fonft ſchon gegründet feyn. Zu den natürlichen 
Urfachen des Geizes fcheint fie allemal zu gehören. Unb 
um einzufehen, wie viel diefelbe dabey thun kann, muß 
man nur bedenken, wie der Geizige, ſo lange er ſein 
Geld noch hat, ſich alle moͤgliche Vergnuͤgen vorſtellen 
kann, die ſich dadurch erlangen laſſen. Wenn er es ein⸗ 
mal ausgegeben haͤtte, ſo fielen mit einem die andern 
alle weg. Selbſt die Wahl unter ſo vielen moͤglichen 
Vergnuͤgen zu treffen, iſt für manchen zu ſchwer; er 
möchte fie gern alle haben , und eben darum erlangt er Feines, 

2 | N En 


Don den Neigungen zu den aͤußerl. Gütern. 241 


4) Endlich unterftüget auch der Trieb der Ge 
wohnheit den Geiz, Was man aus Abficht lange ger 
than hat, thut man zulegt, bloß weil man es fo lange 
gethan hat. Und die erfte Abficht wird dabey um fo viel 
leichter vergeffen, oder den Mitteln aufgeopfert; wenn 
diefe fonft noch irgend einen Reiz, oder auch nur dieſen 
Heiz der Gewohnheit für fich haben, je mehr die Reize 
jene Abficht ſich verloren haben. Wenn man in den 
Jahren der Munterfeit nur für das Vergnügen auffparte; 
fo fpart man im Alter, weil man des Bergnügens nicht 

mehr fähig ift. 

| Allerdings Fönnen ſympathetiſche Gemuͤthsbewe⸗ 
- gungen, und Triebe des Wohlmollens, mit unter: den 
Gründen des Geizes feyn; Siebe zu den Kindern oder 
andern Verwandten. Und daß die Welt bisweilen Geiz 
nennt, was diefen Namen gar nicht verdiente; ift eben 
r gewiß. 


9 55 
Von den Trieben zum Eigenthum, und der Neigung 
zum Stehlen. 

Die Siebe zu den äußerlichen Gütern zieht freylich 
die Siebe zum Eigenthum, oder zu jedwedem möglichen, 
ausfchließenden, und auf beftändig geficherten Gebrauche 
nad) fih. Aber nicht fo nothwendig, wie jene erfte Neis 
gung, und nicht fo früh, entfteht der Trieb zum Eigen. 
thum, nad) diefem vollen Begriffe unferer Rechte. Zwar 
‚dauert die Neigung zu einer Sache fort, wenn fie fort 

fähret, angenehm oder nüßlich zu fcheinen. Der Menfch 
ift nicht fehr geneigt, - andern fich nachzufegen, noch mes 
niger, ihnen zu überfaffen, was er mit Mühe zu Stande 

Ba Theil. Q ge⸗ 


22 Buch lIl. Abſchnitt I. Kapitel VI. 


gebracht hat. Und noch ſchwerer wird es ihm, fich von 
etwas zu trennen; wenn durch den bisherigen Befig eine 
ftarfe Ideenverknuͤpfung zwifchen der Sache und feiner 
Derfon erzeugt worden ift *). Aber fo lange der Blick 
in die Zufunft nicht feft und deutlich wird; fo lange ber 
Reiz der Meuheit noch die ftärffte Gewalt über bie 
Triebe hat; fo lange die dauerhaften Bedürfniffe noch 
menige und leicht zu befriedigen find, und die wichtigiten 
der äußerlichen Güter, die man kennt, von fehr vergäng- 
lihem Werthe: fo geht es noch langfam mit dem Wachs⸗ 
thum der Begriffe von Eigenthum, und den davon ab» 
bängigen Trieben, Wenn hingegen die Furcht vor fünf 
tigem Mangel berrfchende Triebfeder wird; wenn die 
Vorftellung da ift, daß, wer nur immer etwas zu haben 
ficher ift, durch Vervollkommnung mehr, durch Umtauſch 
allerley erhalten fann; wer aber nichts zum Eigenthum 
bar, in Gefahr ift, an allem Mangel zu leiden: dann 
wird Eıgenthum das Loſungswort derer, die für ihre 
Wohlfahrt beforgt find, und die Menfchen geben vieles 
gern bin, um nur etwas gewiß zu haben **), 


Ge 





*) Dies find ohne Zweifel die erften Elemente des Begrifs 
fes vom Eigenthum, und die erſten Gruͤnde der 
Deftrebungen zur Behauptung deffelben. Sie laffen 
fi als ſolche abmerfen aus dem Verhalten der Kinder. 
Home Berfuhe über die Gefhichte der Menfchheit, 
3.1 Berf. III. redet auch von einem eigenen Gefühle, 
das fogar die Thiere auch haben follen. Der Beobadhs. 
tung nach, iſt es weiter nicht, ald das Refultat aus ber 
Vereinigung der angezeigten Gründe. 


“) Die Unvollfommenheit der Begriffe roher Voͤlker von 
den Rechten des Eigenthums laſſen fich hieraus erklären. 


- 





Von den Neigungen zu ben äußerl, Gütern, 243 


Gemeinfchaft der Güter in einer Gefellfchaft mit 
Ausfchließung der Fremden, ift auch Eigenthum; und die 
Naturtriebe beftimmen dazu, wenn die Güter in Ge 
meinfchaft am leichteften erlangt, und am beften genutzt 
werden koͤnnen. Und in dieſem Fall befinden ſich Men— 
fhen, die noch wenige Mittel Eennen, die ihnen noͤthigen 
Dinge fich zu verfchaffen und aufzubewahren. Das ges 
fellfchaftliche Eigenthum ift daher unter Wilden gemeiner, 
als Privateigenthum. Sn fo fern aber doch gewiß ift, 
daß der Menfch lieber allein Here über eine Sache feyn 
mag, als diefe Herrfchaft mit andern theilen; kann man 
ſagen, daß legteres feinen Naturtrieben angemeffener fey. 
Die ndianer in Paraguai follen die Aufhebung des 
Eigentums von den Jeſuiten ſehr ungern geduldet 
haben *). 

Se unvollfommner der Begriff von dem Eigenthum 
und dem Werth deffelben noch ift, oder die Theilnehmung 
an demfelben; defto leichter kann der Trieb zum Stehlen 
überhand nehmen. So natuͤrlich und leicht zu entdecken 
aber auch einige Gründe deffelben find; fo hat er doch in 
dem Character einiger halbgefitteter Völker, ımd einzelner 


Menfchen unter den verfeinerten, etwas befremdendes **). 
| Q2 Es 


S. Robertſon Hiſt. of America, I. 473. f. Cranz 
Hiſtorie von Groͤnland, J. 234. f. Man muß daher 
nicht gleich die Begriffe der aufgeflärten, oder in ans 
dern Außerlichen Umftänden fich befindenden Völker, die 
es genauer damit nehmen, für bloßes willkuͤhrliches 
und unnatuͤrliches Recht halten. | 

®) ©, Roberifon l. c 
“4, Auch bie — und uͤbrigens rechtſchaffenſten 
Perſonen auf den Suͤdinſeln, bie bie en bes 
uchten, 





244 
Es ift 


Buch II. Abfchnitt I. Kapitel VL. 


daher der Mühe werth, die mehrern Gründe zus 


fammen aufzufuchen, aus benen derfelbe entfpringen 


fann. 


Einer derfelben, wie eben bemerft worden iſt, 


kann feyn, die Unvollfommenheit der Begriffe vom Werthe 


des € 
® oder a 
diefem 


igenthums und der völligen Sicherheit deffelben ; 
uch die Unvollfommenheit der Theilnehmung an 
gemeinen Gute. Das erftere ift immer einiger 


maßen der Fall der Völker, die noch wenig von der Ein⸗ 
falt der Natur fich entfernt haben *). Das andere ber 
Fall der unbegüterteften unter den reichen und aufgeflärs 
ten Nationen. Bey jedweder Ungerechtigfeitift Schwäche 


— — 


des 





x . * 
— — 














ſuchten, konnten dieſer Begierde nicht immer widetſte⸗ 


ben. Wenn man bisweilen Beyſpiele unter den vor⸗ 
nehmen Ständen in Europa hat, daß Menfchen, die am 
Nöthigen feinen Mangel litten, fich diefes fo ſehr ſchaͤn⸗ 
denden Verbrechens ſchuldig machen: fo koͤmmt dies 
manchen fo iumbegreiflih vor, daß fie zur Hypotheſe 
vom Angebobren feyn ihre Zuflucht nehmen. Aber bie 
Sache läßt fih aus einem oder dem andern der gemein, 
befannten Grünte noch wohl begreifen. Man muß nur 
gleich auch bedenfen, dag manche Menſchen gar vieled 
für nöthig halten, und der fürzefte Weg ihnen immer 
der beſte zu feyn feheint, 


% Diefe Bemerkun macht auch Forſter zu Gunſten der 


Otbabeirer, Voyage I. 344. Bey den meiſten Wils 
dert läßt fich auch der fo Feicht zu Feindſeligkeit reizende 
Begriff, den fie fih von Fremden machen, noch hinzus 
fegen. Daß man aud hier nit von den Handlungen 
einzelner Menſchen, auf den fittlichen Character und 


die Dentart des ganzen Volks fchließen dürfe, daß es 


auch unter den Wilden ehrliche Leute gebe, bie das 
Stehlen verabſcheuen; iſt niche nur an fich glaublich, 
fordern auch durch Zeugniffe gewiß, S. mehrere ders 
felben bey Home Geſch. des Menfhen, B. UL, Verf. 
2. ©. 169. ff. 


Bon den Neigungen zu den außerl. Stern. 245 


des fpmpatbetifchen Gefühle, und die Uebermacht der 
Vorftellung des nahen Vortheils über die Worftellung des 
entfernten Schadens, Urfache des Vergehens. Diefe 
Fann aber beym Trieb zum Stehlen um fo viel leichter 
ihre Wirfung thun; da durch) denfelben der andere nicht 
in feiner Perfon, fondern nur in feinen äußerlichen Güs 
tern angegriffen wird, und auch nicht offenbare Gemalt, 
fondern nur Liſt darzu nöthig if. Endlich muß man wohl 
auch den Urfprung diefes Triebes in einigen Fällen von 
dem Vergnügen herleiten, welches der Menfc in der 
Vorftellung feiner Geſchicklichkeit findet, auszurichten, 
was andere verhindern wollen; in der fo leichten Vers 
wechſelung der Begriffe von Liſt und von Klugheit, von 
Verwegenheit und Muth. Die Erfahrung ift gemein, 
daß junge Leute bloß allein, ober doch hauptfächlich aus 
diefem Muthwillen, diefem Wohlgefallen an Freyheit, 
die ſich durch Feine Gefege binden läßt, an Kühnbeit, 
die über alle Schwierigkeiten ſich wegfeßt, zu Diebereyen 
verleitet werden. In Sparta hat man die Sache aus 
dieſem Gefichtspunfte betrachtet, und als eine Friegerifche 
Voruͤbung angeordnet; da fie denn eben deswegen, weil 
die Geſetze e8 erlaubten, den fhimpflichen Namen nicht 
mehr verdiente. Es ift wahrfcheinlich, daß die Anführer 
von Spigbubenbanden fich oft für nicht viel weniger, als 
große Kriegshelden halten, undauf ihre &ift und Unerſchro⸗ 
ckenheit ftolz find. Auch die Wilden rühmen ſich ihrer Ges 
ſchicklichkeit, die Europäer zu beftehlen, bisweilen als ei« 
nes Beweiſe⸗ daß ſie kluͤger ſeyn, als dieſe *). 
23 j Abs 
#) Erans Hiftorie von Grönland, 1.226, Und von den Min⸗ 
greliern Chardin Voyager, Amſt. 1715. Tem.L p. 44. 





Abſchnitt IE. 


Bon den Trieben, die fih auf andere 
beziehen. 





‚Abtheilung I. 


Von den Trieben zur Ehre, Herrſchaft 
und Hochachtung. | 


" BRopitel L 
Vom Triebe zur Ehre. 


9. 56. 
Mlgemeine Betrachtungen, über feine Wirkungen und Gründe, 


Ss in Anfehung der Stärfe und Wichtigfeit dee 
MWirfungen, als in Anfehung der Manchfaltige 
feit der Erfeheinungen, iſt nicht leicht ein Trieb des 
menfchliheh Willens fo merfwürdig, als der Trieb zür 
Ehre. Er macht, daß Taufende eine fümmerliche, durch 
harte Arbeit erworbene Nahrung, dem reichern, aber ver» 

ächtlichen Einfommen eines Bettlers, oder Spielers, oder 
Schmarogers vorziehen. Maͤchtiger als alle Gefege, 
ſelbſt die ſchrecküchen Drohungen der Religion uͤberwaͤlti⸗ 

A gend, 


Dom Triebe zur Ehre. 247 


gend, zwinget er, fein Leben zu verachten; zwinget, dem 
Feinde — nein dem Freunde, unerbittert, mit kaltem 
Blute, un eines Wortes willen, das geben zu nehmen, 
Unmittelbar hat er oft dem DBaterlande Retter und Ver⸗ 
theidiger erweckt; mittelft feiner Ausartungen in Rachbe⸗ 
gierde und, Begierde zu glänzen, DVerräther des Vater 
landes gemacht. Dft hat er den Müttern und Bräuten 
Thraͤnen der Sehnſucht gefoftet ; aber auch das Herz der 
Mutter geftärft, daß fie lieber den Eohn unter dem 
Schilde erblaßt, als ohne Schild und Ehre wieder fehn 
wollte. Diefer gewaltige Trieb ift es, der in feinen wun« 
derlichen Wendungen denfelben Menfchen, bier über den 
niedrigern Sflaven ftolz hinweg fehen, ober tyrannifch 
ihn unterdrücken macht; und dort dem Tyrannen oder 
dem angefehenen Sklaven zu Füßen wirft. Mörder und 
Straßenräuber, die die heiligften Gefege der Gerechtig« 
feit verachten, gehorchen noch bisweilen den Gefeßen der 
Ehre *). Die Begierde, Schäge zu häufen, ift oft nur 
eine Wirkung der Ehrbegierde ; und der Geizige würde 

a4 öfter 


— — 








*) Nah Brydone's Verfiherung follen die Banditen im 
"Sicilien niemals ihr Wort breden. Wenn fie, wie öfs 
ters gefhieht, Geld von den Landleuten entlehnen, und 
es auf eine gefeßte Zeit wieder zu zahlen verfprechen: fo 
halten fie genau Wort; follten fie au), um biefes 
zu Finnen, rauben und morden müffen. And this they 
have often been obliged to do ‚only in order, (as 
they fay) to fulfill their engagements, and to fave 
their honour. Bryd. Tour through Sicily and Mal- 
tha, I. 74. Wenn aud diefer Schriftfteller, wie es an 
einigen Orten fcheint, feine Erzählungen bier um etwas 
verfhönert: fo ift die Sache an fih doch nit um 
glaublich. 


248 BU. Abſchn. I. Abth. I. Kap. I. 


oͤfter noch ſich entſchließen, einen Theil ſeiner Schaͤtze 
aufzuopfern, wenn er glaubte, beym Beſitze derfelben 
verachtet werden zu fönnen, 

Nur die Liebe, die allmächtige Liebe, hat viel« - 
leicht öfter über biefen gewaltigen Trieb gefiegt, als fie 

“ihm gewichen if. 

So ſehr ſich auch die Menfchen im Punkt der Ehe 
re von einander unterfcheiden mögen: fo ift doc) gewiß 
fein Menfch ohne alle Ehrliebe; ganz gleichgültig gegen 
alle Arten von Lob und Tadel, gegen alle Beweife von 
Achtung und Verachtung, in Anfehung aller und jeder 
Menfchen, 

Weber die genauere Beobachtung ber Menfchen, 

noch die Öründe, aus denen die Ehrbegierde entfpringt, 

Taffen diefes glauben, Und welches find denn nun die 
' Gründe, die in dem menfchlichen Willen einen fo gewals 
tigen Trieb erzeugen ? | 

1) Borftellung des Nutzens. Bald erfährt ja 
ber Menſch, daß. fein Schickſal, fein Vergnügen und. 
Mibvergnügen gar fehr oft von dem Willen anderer 
Menfchen abhänger;. von ihren Gefinnungen gegen ihn, 
von der guten oder Khlimmen Meynung, bie fie von ihm 
haben, Und die Achtung oder Verachtung der, einen 
zieht immer gleiche Gefinnungen vieler anderer nad) ſich. 
Wer einmal einen böfen Namen hat; kann mit dem bee 
ften Willen und den größten Fähigkeiten nichts mehr aus⸗ 
richten; man fäßt es nicht zur Probe mit ihm fommen, 
Niemand will ihm frauen, niemand mit ihm fich eins 
laffen, Er ift verlaffen und gehindert in allen feinen 
Abfichten; er mag ſich felbft oder andere gluͤcklich machen 

mollen, : Wem man einmal viel Gutes 2m von 
Dem 


Vom Triebe zur Ehre, 249. 


dem vermuthet man das DBefte, auch im zweifelhaften 
Ball. Wer aber einmal verrufen ift; bey dem befürch. 
tet man böfe Abfichten, wenn aud) feine Handlungen das 
fchönfte Gepräge an ſich fragen. 

2) Aber allein würde diefer Grund, frenfich nicht 
alle Geftalten und Wirfungen der Ehrbegierde völlig er. 
flären, Zwar hätte dies an fich noch nichts unbegreiflis 
ches, daß Menfchen oftmals an Vergnügungen und Vor⸗ 
theilen des Lebens der Ehre weit mehr aufgeopfert, als 
fie von ihr je wieder erhalten haben, oder nur mit Wahr« 

fcheinlichfeit erwarten Fonnten; wenn man fich auch nur 

die Vorſtellung des eigenen Nutzens als den Grund der Ehre 
begierbe denfen wollte. Die Menfchen gründen ja nicht 
immer ihre Begierden auf die richtigfte Schägung der 
« Dinge; noch bleiben fie fi) bey dem Beftreben nach eis ' 
ner Abficht des Verhältniffes derfelben. zu ihren übrigen 
Abfichten fo bewußt, daß fie nicht über dem Mittelzile 
das legte vergeffen, dem Mittel den Hauptzweck aufopfern 
£önnten, Unterdeſſen würden doch nicht alle Beobach— 
fungen mit diefer Vorausfegung zu vereinigen feyn; und 
durch mehrere derfelben wird es gewiß, daß die Abhan« 
gigkeit unferes eigenen Urtheild von den Urtheilen 
anderer, wie in andern Dingen, alfo auch in Anfehung 
unferes eigenen Werthes und Wohlverhaltens, mit zu 
den Urfachen gezählet werden müffe, warum wir nicht 
gleichgültig gegen Beyfall und Tadel feyn fönnen *). 
Es ift offenbar, daß nicht glei) ſtark djefer Grund auf 
25 alle 


©. Hume’s Differt. on Pafions Se. II. . 10. Die 
fer Verf. giebt biefen Grund bafelbft als den sinzie 
gen an. | 











230 BU, Abſchn. n. Abrh.l. Kap. J. 


alle wirke. Aber genug, daß er rn nicht ausge: 
fehloffen werben kann. 


Helverius fest: diefem Grunde entgegen. daß, 
wenn derfelbe richtig wäre, die Menfchen nicht den Bey 
fall der unverftändigen Menge der Achtung einer Fleinen 
Anzahl auserlefener Männer vorziehen würden; ja daf 
ihnen die Verficherung des Benfalls der Bewohner aller 
- andern Welten wichtiger feyn müßte, als der fo viel einges 

fchränftere Benfall des einzigen Volkes der Sandesleute ; wel⸗ 
ches doch fehrwerlich mit den Öefinnungen eines einzigen Mens 
fchen übereinftimme *). Wenn Helverius damit nur fo 
viel beweifen wollte, daß die Verficherung feines eigenen 
Urtheils von feinen Vollkommenheiten, durch den Beyfall 
anderer, nicht die einzige, oder nicht die gemeinſte Urſache 
der Ehrbegierde ſey: ſo waͤre nichts dagegen einzuwenden. 
Aber wenn er dieſe Urſache gar nichts gelten laſſen, und 
die Ehrliebe ganz und gar aus der Begierde nad) finnlis 
hem Vergnügen und der Furcht vor finnlichem 
Schmerz, fo unmittelbar dazu, wie es fein Syftem mit 
ſich bringt, herleiten will: fo verdient er Widerfpruch. 
Giebt es denn wirklich fo wenige Menfchen, die das 
Urtheil einer Fleinen Anzahl würdiger Richter allerdings _ 
dem äußerlich vortheilhaftern Urtheile der Menge; dem 
den reblichften Bemühungen verfagten Beyfalle des ver. 
blendeten, neidifchen Zeitalters, das Urteil der Nachwelt, 
das Urtheil ihres Gewiffens, den Benfall Gottes auf: 
richtig vorzögen; daß Helvetius feinen derfelben ges 
kannt hätte? Fuͤrwahr, der Fenne nicht alle Arten von 
Ä Mens 








En 


®) De PEfprit Dife, II, chap. XII. 


Vom Triebe zur Ehre. a5ı 


Menſchen, hat nicht genug beobachtet,oder nicht genau genug 
unterfucht, der, daß es folche Mienfchen gebe, ſchlecht⸗ 
hin leugnen will. : Und die Sache hat gar nichts unbe. 
greifliches. Auch kann man der, Frage bes Helvetius 
von dem Benfalle der Einwohner anderer Welren in Vers 
gleichung mit dem Beyfalle der Mitbürger, eine andere von 
denjenigen, welche bey der Gründung der Ehrliebe dem Eis 
gennuge und dem Verlangen nach finnlichen Bergnügungen 
gar keinen Antheil zugeftehen wollen, aufgemworfene Fra⸗ 
ge entgegenfegen: Ob wohl irgend ein Menſch zu finden 
feyn würde, der, unter der "Bedingung eines beftändigen 
Genuffes aller finnlichen Vergnügungen, auf alle Achtung 
und Ehre völlig Verzicht zu hun, fich entſchließen koͤnn⸗ 
te? Welche Frage gewiß gerade fo viel Grund hat, als 
die des Helvetius. Der ganze Menſch kann mir Lies 
berlegung weder das eine, noch das andere wollen’; . weder 
alle äußerlichen Vortheile und Förperliches Wohlfeyn für 
nichts, als den innern Beyfall oder bloße Lobſpruͤche an« 
derer bingeben ; noch mit dem gänzlicyen Verluſt der 
legtern Güter, die erftern erfnufen wollen. Aber in der 
Undefonnenheit, der Ehre auf eine Zeitlang ganz ver» 
geffen, um mit Wolluſt fid) zu fättigen; ober, wenn 
eines aufgeopfert werden muß, ben $eib und feine ganze 
Welt bingeben, um feine Seele zu gewinnen, ober, 
- wovon ißt eigentlich nur die Rede ift, für den innern 
Genuß der Ehre unbeftimmlic, viel des Aeußern hinge⸗ 
ben; beydes ift in der menfchlichen Natur. | 
3) Auch die Sympathie wirkt zum Vortheil ber 
Ehrbegierde. Denn vermöge bderfelben theilt ſich ung 
das Mißfallen mit, welches andere an unfern Unvoll⸗ 


fommenheiten und Uebelthaten, an der Unſchicklichkeit 
| unferes 





252 B. II. Abſchn. I. Abth.L. Kap. J. 


unferes Betragens, auch wenn fie weiter keinen Nach 
eheil davon haben, empfinden. Wir ſuchen ihnen alfo 
auch aus diefem Grunde zu gefallen; wir fuchen ihren 
Beyfall zu erhalten, weil er mit einem Zuftaude verknüpft ift, 
der ihnen unmittelbar, und und mittelft der Sympa⸗ 
thie angenehm ift. Es ift wohl wahr, daß nicht jede 
Art von Benfall, der unfere. Ehre ausmacht, den wie 
etwa durch unfere Bollfommenheiten andern abzwingen, 
diefe in einen bebaglichen Zuftand verfegt. Es gehört 
auch freplich diefe ige erflärte Urfache nicht zu denenjenis 
gen, ‚die in jedem Falle, und überall am meiften . 
wirfen. 


4) Nod) auf eine andere Weife befördern, ohne 
die Abficht auf Nugen, Selbitliebe und Sympathie 
zuſammen, den Trieb zur Ehre, Indem der Menſch 
andere zum Bewußtſeyn feiner Vollkommenheiten bringt; 
vervielfältiget er gleichfam fein ihm angenehmes Dar 
feyn. Er ſieht ſich felbft, fo wie er fic) gefällt, vorge⸗ 
ftellt in feinen Werehrern und Bewunderern ; und genießt 
das Anfchaun feiner Vollfommenpeiten in einem, durch 
Mitempfindung feine eigene Empfindungen ln 
Spiegel. | 

” 5) Endlid) muß man auch zu den Gründen der 
Ehrliebe die unentwickelte Vorſtellung der Pflicht rech ⸗ 
nen. Dieſe Pflicht entſpringt freylich aus den vorherge . 
benden Gründen; und mehrentheils füge man ihrer Ems 
pfeblung einen oder mehrere derfelben bey. Unterdeſſen 
erhält, durch die Anfnüpfung an diefen fo erhaberen Ber . 
griff, der Trieb zur Ehre bey vielen Menfchen eine’ niche 
undbetraͤchtliche Verftärfung; und nach der eg 


igitiz echby/; 


Vom Triebe zür Ehre. 293 


— des ganzen Syſtems der Pflichten, manche 
— in er ee 


$. 57. 


Bon ben Verſchiedenheiten der Menſchen in Anſehung der 
Ehrbegierde und deren Urſachen. 


Die Unterſchiede der Menſchen in Anſehung des 
Triebes zur Ehre, kommen in folgenden Haupeſtũcken zu⸗ 
ſammen: 


ı) Erſtlich unterſcheiden fie ſich in Anſehung der 
Art von Achtung, die fie allein oder am meiſten begeh⸗ 
ren, Es giebt eine Achtung, die mehr Furcht, und 
eine andere, die mehr Liebe hervorbringt. Wenn alle 
Menfchen nach Achtung ftreben: fo ift es den einen mehr 
darum zu thun, fich in Anfehn zu fegen und furchtbar zu 
machen; die andern fuchen durd) Benfall fich Siebe zu er⸗ 
werben. Ob diefer Unterfchied daher fomme, daß die 


erftern die Menfchen mehr für bis, und ihre Furcht und 


Unterwuͤrfigkeit für nüglicher halten, als ihr Wohlwol⸗ 
fen, die andern, das Gegentheil anzunehmen, geneigt 
find; oder daher, daß das Selbftgefühl den einen fagt, 
daß es ihnen leichter feyn wird, durch Siebe zu herrfchen, 
als durch Furcht, die andern hingegen in diefem Selbſt⸗ 
gefühl einen Beruf zu empfinden glauben, durch Gewalt 
zu herrfchen ; darüber laͤßt fic nicht allgemein entſcheiden. 
Beyderley Urfachen find in der Natur gegründet; und die 
entferntern Principien derfelben, nebftden Nebenurfachen, 
finden ſich in den allgemeinen Unterfuchungen über die 
Gründe der verfchiebenen Gemürgsarten. 


4) Dr 


254 B.n. Abſchn I. Abth.ESapıı. 


2) Der zweyte Unterſchied bey der Ehrbegierde be⸗ 
ziehe fich auf die Perſonen, um deren Beyfall es einem 
zu thun ift. Dieſer Unterfchied hängt von den Begriffen 
ab, die man von dieſen Perfonen hat, und von dem 
Werthe ihres Benfalls; von ihrem Wermögen, durch 
$iebe unmittelbar zu begluͤcken, oder durch ihren Beyftand 
nüglich zu ſeyn, oder durch ihr Urtheil unfern Werth bey 
- andern, oder zu unferer eigenen Beruhigung, beſtim⸗ 
men zu helfen. Natuͤrlicher Weife fuchen alfo alle Mens 
fhen die Achtung und den Beyfall derjenigen, die 
ihnen achtungswerth vorfommen. Wenn es ihnen aber 

nicht gelingt: fo geſchieht es, vermöge einer begreiflichen 
Wirkung der Eigenliebe, gar oft, daß fie ſich rückwärts 
diejenigen als wichtig, verftändig und groß vorftellen, 
die ihnen ihren Benfall geben, und daß jene hingegen 
ihnen verächtlich werden *). | 

3) Die Ehrbegierde beftimmet fich ferner zu einer 
befondern Art durch dasjenige, morinn einer feine 
Ehre feßt, wodurch er Aufmerffamfeit und Achtung zu 
erwecken ſucht. Der eine durdy Poffen, ein. anderer 
durch Puß, der dritte durch Pracht oder durch zierlichen 
Geſchmack. Dort waget einer feine Eingemweide und fein 
Gebein für die Ehre, den höchften munderlichften Sprung 
gefprungen zu haben; hier entfagt eine Schöne aller, 
Schaamhaftigkeit, um für die Schönfte in ganz Gries 

chenland, von dem Scheitel bis zum Fuße ohne Flecken 
und Tadel erfannt zu werden. Um mit allem Anftande 
feiner Kunft zu fterben, verbeißt der Fechter den toͤdten⸗ 








. N ©. unten 5. 66. 


Vom Triebe zur Ehre 25 


den Schmerz; und ebfer bittet der im Treffen gefallene 
Grieche den Feind, dafs er Doch das gezuckte Schwert. 
durch Die Bruft ihm ftoße, damit fein Liebhaber nicht fich 
feiner fhämen müffe, wenn er ihn ruͤckwaͤrts verwundet 
fände *). 

Es giebt unter das Vieh berabgefunfene Men⸗ 
ſchen, die ſich ihrer Ueberladungen mit Speiſe und Trank 
ruͤhmen; und Ungeheuer, die von ihren Verfuͤhrungen 
der Unſchuld, als ſo vielen Heldenthaten, von den natuͤr⸗ 
lichen Strafen ihrer Verbrechen, als von Siegeszeichen, 
reden. Gottlob, es giebt mehrere Menſchen, die ihre 
Ehre darinn ſuchen, Gutes zu thun, ihren Nebenmen⸗ 
ſchen nüglich zu feyn, durch muthige Ausführung, oder 
durch mächtigen Unterricht, durch Flugen Rath, durch 
fräftige Unterftügung, ober in der Kunft mit Duldfam« 
feit und Sympathie fanfter fie durch rauhe Pfade des 
$ebens durchzuführen, durch unvermerkte Hülfe ihre $eis 
denfchaften zu mäßigen, ihre Tugend zu ftärfen, ! 

4) Mit diefem Unterfchiede ſteht mehrentheils im 
gleichem Verhaͤltniß der vierte, der die Zeichen betrifft, 
nad) denen einer feine Ehre abmift. Unhaltbares Sachen, 
Haͤndeklatſchen, Menge derer, die fid) beugen, gaffen, 
oder feinen Namen kennen, feine Schriften Faufen, find 
es dem einen; dem andern ber Grad des Nachdruds 
und Gefühle in den aus Achtung befcheiden fich zurückhals 
tenden Blicken des Danfes, der Bewunderung und der 
$iebe, in den Augen derer, die ihn kennen. — Der eine 
wartet ungeduldig auf die Säulen, die man ihm errich« 

ten 





) plutarch Pelopidas, K. 18. 


2356 Bl Abſchn. II. Abth. J. Kap. J. | 


ten wird; ber andere fißelt fid) angenehmer mit der Vor⸗ 
ftellung, daß man dereinft fragen werde, warum ihm 
feine Säulen errichtet wurden. Dieſer gäbe für ein gut 
Wort jeden Titel weg, der nicht nöthig ift, feine Ge 
fchäfte zu bezeichnen; jener diene ohne Befoldung um des 
Titels willen, und macht feine Rinder zu Bettlern, ober 
fich zum Spigbuben, um feinen Rang zu bejaupten, 
und feine phantaftifchen Vorzüge, 

5) Endlich liege nod) ein Hauptunterſchied in der 
Staͤrke des Triebes zur Ehre, nad) dem Verhältniffe 
zu den übrigen Trieben. Dieſer Unterfchied aber verbindet 
fi mit den vorhergehenden; und fo entftehen die Begriffe 
von Ehrliebenden, von Ehrgeizigen, Nuhmfüchtigen, 
Stolzen, Eiteln, Hochmuͤthigen, Eingebildeten. 

Der Ehrliebende, der Mann von Ehre, ift 
derjenige, der durch wahre Vollfommenheiten und recht« 
ſchaffene Thaten gegründete Ehre zu erlangen ſucht. Ein 
Freund jeder Vollfommenheit, aber der Eingefchränft- 
beit des menfchlichen Wefens und feiner eigenen. Kräfte 
fi) bewußt, fucht er befonders in demjenigen fidy hervor: 
zutbun, mozu er Die meifte Gefchicflichfeit beſitzt, und 
womit er am meiften Gutes zu ftiften hoffen Fann, » Er 
ringt hauptfächlid) nad) dem Beyfalle der Bernünftigen 

und Rechtſchaffenen; mehr nad) innerm Beyfalle und 
ftiller Hochachtung, als äußerlichen Ehrenbezeugungen ; 
fchäßt Iehrreichen Tadel höher, als unverftändiges Job; 
ift lieber eine Zeitlang Flein unter denen, durch. die er fich 
jur wahren Größe bilden kann, als immer der Größte 
unter den Kleinen, u. ſ. w. 

\ Ehrgeizig überhaupt heißt, wer zweckwidrig und 
unmäßig, mit Aufopferung deſſen, was nicht aufgeopfert 


WVonm Triebe zur Ehre, 257 


werden ſollte, nach Ruhm oder — oder Br | 
gungen ftrebt, 

Der Ruhmfüchtige will daß man weit und 
breit, und lange von ihm fpreche; und will es ohne weis 
tern, oder doch ohne vernünftigen Zweck. Einem jeden, 
der mit’ gleichen: oder größern Vorzuͤgen neben ihm fich 
zeigt, ſieht er mit neidiſchen und feindfeligen Augen als 
einen Nebenbuhler an, der ihm im Wege fteht. Wenn 
er nach wirklich großen Eigenfchaften und Verdienſten 
ſtrebt: ſo ift Ruhm vor Menfchen doch der einzige oder 
ſtaͤrkſte Beweggrund dazu; und er findet wenig oder gar 
feirien Reiz in ſich, unbemerkt Gutes zu ftiften. 

. Der Stolge glaube ſich det Ehre ſchon gewiß; 
mag er-fie auf feine Verwandſchaft, ober auf feine 
Glücsgüter, ‚oder feine Geiftesgaben, oder feinen Koͤr⸗ 
per, oder feine Thaten, oder feine Schriften, gründen. 
Er bemüht fich nicht um Ehrenbezeugungen, er erwartet 
fie als eine Schuldigfeit. Voll des Gefühls feiner Vor⸗ 
zuͤge und feiner Verdienfte, ſieht er nicht feine: Fehler, 
richt die gleichen oder größern Vollfommenheiten ande 
ter; verachtet die ihm nachrheiligen en ohne fie 
genau zuünterfuchen, | 

Leicht erhebt ihn denn auch.diefes Gefühl zu einer 
eingebildeten Größe und Wichtigkeit, die er nicht hat *)5 
‚oder macht ihn geneigt, andern verächtlid zu begegnen, 
| hochmuͤthig und grob; grauſam und unverföhnlich ges 
gen 








rn 


*) e von Maupertis, FArgens Hift, de VEſprit hum 
Tom. IV. p. 357. 


Enn ebel Pr 


258 DB. Abſchn. . Abth.L Kap.i. 


gen diejenigen, die ihn beleidigen *). Der Eitle ift der⸗ 
jenige, der in Anfehung der Ehre gemeiniglic) aus dem« 
jenigen viel macht, was am wenigften werth if. Er 
mag fich gern loben hören, und durdy Titel, Rang, 
Kleidung und andere äußerliche Kleinigkeiten ſich unter⸗ 
fcheiden. Er giebt oft den befjern Beyfall für den meh⸗ 

tern, dent vorübergehenden für den bauerhaftern der Zu⸗ 
kunft hin. Durch Schmeicyeleyen läßt er fich gewinnen, 
und durch irgend ein niebliches Lob wieder verföhnen, Er 
kann nicht gut warten, bis andere feine Vollkommenhei⸗ 
ten, oder was er dafür hält, entdecken; fondern koͤmmt 
felbft zuerft darauf, und fpricht gern davon **), ’ 





%, Wein bie vernünftige Ehrliebe bisweilen Stolz, edler 
Stolz genannt wird: ſo gefchieht e8 darum, weil fie 
macht, daß der Rechtſchaffene, feines wahren Werthes 
fid bewußt, im Stande ift, beym Beyfalle der Um 
würdigen gleichgültig zu ſeyn, det Unvernünftigen Stolz 
und Trotz furchtlos zu verachten, und allen Mitteln 
zum Anſehn, und allen Arten der Vertheidigung große 
muͤthig zu entfageh, bie Schwäche beweifen würden, 
Mißtrauen gegen ſich fetbft, oder gegen feine beffern 
Richter. Züge eines ſolchen edlen Stolzes. kommen 
im Leben bes Dictators Fabius vor beym Plutarch. 


5 Dies letztete ift an fich nicht immer ein Merkinaal ber 
Eitelfeit, fondern bisweilch nur eine Folge von fanguis 
niſcher Lebhaftigkeitz wo denn einer eben ſo leicht auch 
von ſeinen Fehlern ſpricht. Garve (in den Anmerkun⸗ 
‚gen zu Ferguſons Moralphiloſophie) ſchrelbt: Eitel⸗ 
keit kann mit einem ziemlichen Grade von Guthetzig⸗ 
keit beſtehn; aber ſie iſt das ſichere Zeichen eines klei⸗ 
nen und ſchwachen Geiſtes; fie iſt immer mit Zaghafı 

tigkeit verbunden, und unterwirft den Menſchen der 
Gewalt aller derer, bie über ihm urtheilen. Man vers 
gleiche auch hiebey Kants Beobachtungen über das Ge⸗ 
fühl des Schönen und Erhabenen, S: 93: f 





- 


Vom Triebe zur Ehre. 239 


EGs iſt leicht einzufehen, daß afle biefe Unterfchiebe 
bauptfächlich von den verfchiedenen Graden der Urtheils- 
kraft und der Einficht in die wahren Verhältniffe der 
Dinge herkommen. Und nach diefen Graden der dabey 
fehlenden oder noch mitwirfenden Urtheilskraft haben diefe 
Ausartungen der Ehrliebe mehr oder weniger Feinheit, 
mehr oder weniger auffallend dummes oder anftöfiiges, 
Draß in dem natürlichen Verhaͤltniß der Triebe 
fein Menfch ohne alle Ehrbegierde ift, ‘wenn er nur its 
gend etwas von gefellfchaftlicher Werbindung weiß, ift 
gleich anfangs bemerfe worden. Wenn bisweilen ein 
Menſch ohne alle Ehrbegierde zu ſeyn feheint: fo kann 
dies daher fommen, daß es ihm nur noch am rechten 
Reize fehle, an einem Benfalle, einem Borzuge, der 
ihm wichtig genug ſcheint, um empfindlich dagegen zu 
ſeyn *). Oder es ift Verftellung;. Demuth ift eine 
nicht mehr unbefannte Masque einer der gefährlichften 
Arten von Ehrfucht. Sie wird beleidige, wenn man fie 
völlig] für dasjenige erkennt, was fie ift, eben ſowohl, als 
wenn man fie für das annimmt, mas fie fiheinen will, - 
Und fie glaubt um fo viel mehr erwarten zu bürfen, je 
befcheidener fie fordert. 

Geſchwaͤcht kann die Ehrbegierde werben durch 
die Ueberredung, daß einem andere nicht viel fchaden 
oder nugen fönnen; oder dadurch, daß einer durch fein 
eigenes Bewußtſeyn fich feines Werthes überhaupt, oder 
feiner — im einzelnen Falle fo verſichert haͤlt, 
R2 | daß 


—,— 











*) Les hommes ne font quelquefois fenfibles qui la plus 
grande gloire. — Une petite gloire n'eſt defirde, 
que par une petite ame, Helverims Il, p. 104. 


260 B. II. Abſchn. I. Abth. 1. Kap. J. 


daß er das Urtheil anderer dazu ganz und gar nicht noͤthig 
zu haben glaubt; und endlich durch die Erſtickung aller 
feinern Gefühle unter der Gewalt der groͤbern Sinnlich⸗ 
feit, Alſo kann aud) menfchenfeindliche Verachtung an⸗ 
derer gleichguͤltig gegen die Ehre machen. Sie kann 
aber auch durch die Vorſtellung, daß es Pflicht ſey, ein« 
gefchränft werden, und durch Belchaftigung mit andern 
Gegenftänden, die wichtiger-find oder feheinen, als Bey⸗ 
fall. der Menfchen. Dies gilt von jeder Neigung. 


ge 58. 
Mon der Ehrliebe ver Nitterzeiten. Vergleichung der Jas 
Ä paner uud Eeylonefen, 

| In der Maturgefchichte der Ehrliebe verdienen die 

Kitterzeiten eine befondere Beobachtung. ine fonder- 
bare Miſchung der Grundfäge des Hofes und der Kirche; 
Uebertreibung ſowohl auf der Seite der forgfamen mins 
niglichen Zärtlichfeit, als des fraftvollen Muthes; Ber 
feftigung und Verſiegelung durch das wahre Bedürfniß 
einer Heldenfreundfehaft, oder der Vorftelung eines 
großen auf diefem Wege der Ehre zu erlangenden Gluͤcks, 
find die Hauptſtuͤcke in dem Character dieſer Ehrliebe der 
Kitterzeiten, 

Unter den beften Wünfchen für deffen Wohl, mif 
dem er um Ehre und $eben ftreiten will, fordert der große 
müthige Ritter feinen Gegner heraus; ift wieder fein 
Freund und fein Wohlthäter, fo bald er ihn uͤberwunden 
hat; und lehnt beſcheiden alfe Lobſpruͤche und alles Vers 
dienft von fich ab, 
| Diefe 


Vom Triebe zur Ehre, 261 


Diefe Ehrbegierde war auf Achtung für andere und 
auf Begierde zu gefallen gegründet *). 

Bon der entgegengefegteften Art feheint die Ehrliebe 
der Japaner zu ſeyn. Schwarzblütig, auf Haß und 
Verachtung anderer, auf Geringfhägung des Lebens, 
gegründet, verzeihet fie Fein Bergehn, und will ſich kei⸗— 
nes verzeihen laffen; nicht fo fehr darauf bedacht, die 
Achtung des andern zu gewinnen, als ihn zu zwingen, 
daß er fich felbft verächtlich finde. Der Japaneſe fchnei« 
det ſich felbft den Bauch auf, wenn er beleidigt worden 
ift, um feinen Gegner zu zwingen, daß er fic) felbft um« 
bringe oder verachte **), | 

Eitel in einem fehr hohen Grade ift die Ehrbe- 
gierde der Ceyloneſen. Armfelige Sklaven ihres Koͤ⸗ 
niges und ihres Aberglaubens, und verächtlich nach ih⸗ 
rem eigenen Urtheile in der Vergleichung mit einem Eu- 
ropaͤer, feßen fie doc) ihr höchftes Gut in dem Range der 
Cafte, in der fie geboren find. ie ftreben ohne Unter. 
laß nad; Ehrenftellen, von denen fie vorher mwiffen, daß 
fie wegen der Tyranney des Königes äußerft gefährlich 
find. Freygebig beehren fie fich felbft und andere mit 
nichtsenfhaltenden Titeln, wovon ihre Sprache voll iſt. 
Sie haben drenzehn Worte, um eine Frau zu nennen, 


wovon das eine immer um einen Grad höflicher ift, als 
Rz das 





*) S. Hume Hift. of Engl. Vol, II, p. 205. 214. 225. 
Desgleihen Memoires fur lancienne Chevalerie. 
Par. 1759. | 

**)_©. Recueil des Voyages au Nord, Vol, II. p. 101. 
feq. 107. 125. fegg. 


262 B. I, Abſchn. U. Abth. I. Kap, 1. 


das andere; für die Männer ſo viele nicht, Sieben 
Ausdrüde haben fie für anderer Völker Du und Fhr*). 


§. 59. 
Sonberbarheiten und Tragen, 


Man hat angemerft, daf bisweilen Menfchen 

um derjenigen Eigenfchaften willen am liebſten geſchaͤtzt 
oder doch gerühmt zu werden begehren, die fie am wenig» 
ften befigen. Card. Michelieu harte die Eitelfeit, eis 
‚nen guten Dichter vorfiellen zu wollen, welches er nicht 
war, Wer ihm ſchmeicheln wollte, mußte feine Ges 
dichte loben, Seine Staatsmännifchen Einfichten zu ta⸗ 
bein, wuͤrde er viel eher verziehen haben, als feinen 
dichterifchen Wis, ben fo macht bisweilen ein Gelehr- 
ter Anfpruch auf den Ruhm der Artigfeit eines Hofe 
manns; und eine Schöne ſucht ihre Ehre im Schein der 
Gelehrſamkeit, 

Wenn man annimmt, daß ſolche Menſchen den 
Beyfall zur Unterſtuͤtzung ihres eigenen Urtheils begeh—⸗ 
ren; ſo iſt dieſe Sonderbarheit begreiflich. Je ſchwaͤ⸗ 
cher daſſelbe in Anſehung eines Theiles ihrer angemaßten 
Vollkommenheit noch iſt, deſto noͤthiger iſt ihm dieſe 
Unterſtuͤtzung. on 

0 Aftesmwahr, daß ben Menfchen mehr Daran ger 
legen ift, nicht fir laͤcherlich, als nicht für laſterhaft ges 
halten zu werden; lieber in dem Verdachte eines böfen 
Herzens, als eines geringen Berftandes zu feyn ? 








— wi ne — 


S. Kon par I. cop. 7,9: all, | 


Vom Triebe zur Ehre, _ 263 


Allgemein gewiß nicht. Und es fömmt wohl hie⸗ 
bey darauf an, ob einem mehr Darum zu thun ift, geliebt 
zu werden ober gefürchtet zu werben; auch was für eine 
Denkart bey denenjenigen herrſchet, nach deren Achtung 
man vornehmlich ſtrebt. Wenn freylich, wie Helve⸗ 
tius annimmt, der Verftand (Efprit) die erfte aller 
Vollkommenheiten, und unendlich) mehr werth ift, als 
die Tugend eines ehrlichen Mannes; und beym $ob, das 
man giebt, und dem Lobe, das man begehrt, alles nur 
auf den Mugen gerichtet ift: fo kann esnicht anders feyn. 
Und dem vollfommen angepaßt ift denn auch Die Erklaͤ⸗ 
rung, daß es darum erlaubt fey, fein Herz, feine Rechte 
ſchaffenheit zu loben, und nicht auch feinen Verſtand; 
weil nämlich jenes nichts auf fich habe, den Meid nicht 
aufbringe *)⸗ 

Allein wenn man Tugend und Genie. (efprit) 
nad) den gewöhnlichen Begriffen einander entgegenfeßt; 
nicht unter jenen bipß gutes Herz, Meigungen ohne Stärfe 
und Grundfäge, und unter biefen Weisheit verftebt; 
fo giebt es Menfchen genug, denen es Ernft ift, wenn 
fie fich für die Ehre ihres Herzens beforgter zeigen, als 
für die Ehre ihres Verftandes, Und das Publifum, 
im ganzen genommen, verfennt ben Werth der Tugend 
auch nicht fo fehr, daß es nicht in fehr vielen Fällen dem 
Manne von unverbächtiger Kechtfchaffenheit den Mann 
von Genie nachſetzte. Freylich nicht, wenn es amuͤſirt 
feyn will. Ä | 
Daß es aber erlaube ift, fich ſelbſt das Zeugniß 
eines guten Herzens ober rechtfchaffener Geſinnungen zu 

R 4. | ge 


—— — 





8 
— — — — 


*) ©, de l’Efprit, I, ch. VI. XXV. 





264 B.IL Abſchn. II. Abth. 1 Kapıl. 


geben; und nicht eben alſo, das Zeugniß vom Verſtande; 
hat natuͤrlichen Grund darinn, daß man jene Eigenſchaf⸗ 
ten für nofhmendig, und von eines jeden freymwilliger Bes 
mühung abhängig hält, auch hierinn ein jeder ſich ſelbſt 
am fchärfften beurtheilen fann und muß, enie aber ift 
mehr ein Gefchenf der Natur, und weniger allgemein 
nöthig, Und in welchem Grade einer daffelbe befige, 
koͤnnen andere gemeiniglich beffer beurtheifen, als er felbft. 
Es ift alfo unbillig, eitel und verwegen, ſich darinn felbft 
einen Vorzug geben zu mollen, Ä 
Das Bewußtfeyn feiner Vorzüge vor andern, und 
ber bereits erworbenen Achtung, macht bisweilen den 
Menfchen nachläffiger inder Vermehrung feiner Bollfom« 
menbeiten und Verdienfte; bisweilen eifriger. Bey: 
des eräugnet fih, fowohl beym Bewußtſeyn, daf einem . 
noch Vollkommenheiten fehlen, bie andere befigen, als 
bey der Vorftellung, daß man andere feiner Gattung 
überhaupt fehon übertreffe. Es würde wichtige Folgen 
für die praftifche Pfnchologie geben, wenn man genau 
ausmachen fönnte, unter welchen Vorausfegungen, und 
bey welchen andern Eigenfchaften des Chararters, das 
eine ober das andere zu erwarten iſt *), 
Ä Kann 





*) Für einen Fall hat Plutarch diefe Unterfuchung ſchon 
etwas genauer beftimmetim Eoriolan Kap. a. „Wenn 
fungen Männern zu bald viel Ehre wieberfährt; fo wer⸗ 
ben fie insgemein nachlaͤſfig. Doc aber, wenn fie 
viele Kraft und Edelmuth befigen: fo wird fie ihnen 
nur neuer Antrieb. ie fehen das, was fie erlangt 
haben, nicht als ihren Preiß an, fondern nur ale Hands 
geld. Loriolan war fo gefinnt. Das erhaltene Lob 
war ihm nur Beweggrund, ein neues ſich zu Prebimen; 





Vonm Triebe zur Ehre: a6; 


Kann man etwas wirklich gering fhäßen, und 


doc) fehr empfindlich darüber feyn, wenn es einem nicht 
wiederfaͤhrt? Plutarch verneint dies in einer vortrefli⸗ 
chen Stelle *),, — 

Unterdeſſen kann man eine Sache verachten, und 
dennoch durch die Urſache, um welcher willen ſie einem 
nicht ertheilt wird, beleidigt werden. 

Darinn hat Plutarch aber recht, daß die ange⸗ 
nommene Gleichguͤltigkeit oft nur ſtolzere Begierde iſt, und 
ben betrogener Hoffnung ſich verraͤth **), | 


S. 60, 
Naceiferung. Begierde um Nachruhm. 


Eine natürliche Wirkung der Ehrbegierde iſt die - 


Nacheiferung; das Beftreben, diejenigen ,.. die man 
auf einer höhern Stufe der Ehre oder Ehrwuͤrdigkeit er. 
blicke, zu erreichen oder zu übertreffen, 

Unterdeffen beweiſet e8 feinen Mangel an Ehrliebe, 
wenn einer da nicht zur Macheiferung gereizt wird, wo 
er diefelbe feinen Kräften oder Pflichten nicht gemäß er⸗ 

| Rs. kennt. 








—r — — — — — 


um ſich immer gleich zu bleiben, oder vielmehr, um 
ſich immer zu übertreffen.” 
) ©, Eoriolan edit, Reifk, Vol, II. p. 169. ws ro 
XaAerawven HAASE um TUyXKavovTa Tas Tıuns 
ex TE oDedex YArkedu uogevor. 
€) Und voll Wahrheit und Stärke iſt der Gedanke, ber vor⸗ 
hergeht: Tov yap ynısa Degumeurinoy Yaısa TIEs- 
EI TIBORHTINCY Evo Tay Boy, 


66 B. U. Abſchn. II. Abth.T: Kapıl. 


kennt. Die Nacheiferung beſteht in gutartigen Seelen 
mit dem Wohlwollen gegen denjenigen, dem man nad)» 
eifert; bey andern aber verunebelt fie fich durch Neid. 


Ihre erfte Regung kann Freube ſeyn über das ent⸗ 
deckte weitere Ziel, über den Anblick einer größern Boll- 
fommenheit *); oder auch Betrübniß, daß es nicht fehon 
erreicht ift, daß andere zuvorgefommen find **). Die 
Nacheiferung fegt-die Vorftellung voraus, mit Vortheil 
neben dem andern erfcheinen, oder ihm nachfolgen zu 
koͤnnen. Wenn alfo Benfpiele vorhanden find, Die das 
höchfte Ziel menſchlicher Kräfte erreicht zu haben fcheinen; 
fo kann es feyn, daß die Nacheiferung dadurch ges 

ſchwaͤcht, 


—— 














*) ©, Plutarch im Theſeu⸗ K. 6. 


#, Der Anblick der Bildſaͤule des Alexanders, und ber 
Gedanke, im gleichen Alter noch nicht gleiche Thaten 
- errichtet zu haben, preßten dem Edtar Seufzer aus. 
Sueson Cael. ec. 7. Ms nah der Marafhonifchen 
Schlacht alles voll war von dem Ruhm des Miltiades, 
und feinem Sieg, fah man den tungen Themiſtokles 
immer tieffinnig. Des Nachts fchlief er nicht; er kam 
nicht mehr in die gewohnten Gefellfhaften. Da man 
erftaunt ihn um die Urfache dieſer fehnellen Veränderung 
fragte, gab er zur Antwort, Miltiades Siegesehre 
ließe ihn nicht fchlafen. Plutarch, Themiſtokles 
K. 3. Uebrigene war die Ehrbegierde dieſes großen 
Mannes nicht von der eiteln, fondern von der gründs 
lichen Art; wie der befannte Zug ſchon hinlänglich. bes 
weifet, ba er die nieberträchtige Drohung des Laced. 
Heerführers ber vereinigten Griechen Faltblätig mit den 
Morten erwiederte: Schlag nad mir, wenn du 
willft , aber böre mich nur, * Das Opfer, das ſei⸗ 
ner Ehrliebe bey den Olymp. Spielen nachmals gebracht 
ward, iſt feines feinen Gefühle werth geweſen. ©. 
Plutarch 8, 17. er 


Vom Triebe zur Ehre, 267 


ſchwaͤcht, und die Laufbahn auf — Zeit ganz leer 
gelaſſen wird. 

Je mehr die Zeitgenoſſen von der Bemndewg 
ber Vorgänger erfüllt, vielleicht verbiendee, den Mady 
eiferern Gleichgültigfeit oder Unbilligfeie beweiſen: deſto 
mehr ift diefe Wirfung zu erwarten. 

Aus der Ehrliebe entfpringt die Begierde, nach 
dem Tode noch berühmt, oder doch in gutem Andenfen 
zu ſeyn. Die Beweggründe, durch) die fie daher ent« 
fpringt, koͤnnen verſchieden ſeyn. Gemeiniglich geſchieht 
es wohl mittelſt verſchiedener Taͤuſchungen der Imagi⸗ 
nation, 

Die Menfchen bilden fich die Begriffe vom Fünf 
tigen $eben, nad) der Aehnlicyfeit des gegenwärtigen. 
Je weniger fie hiebey deutlicher Einficht und genauer Be⸗ 
urtheilung folgen, je weniger fie es mit Lleberlegung thun; 
defto weniger beflimmen fie die Gränzen diefer Aebnlicy- 
feit nach) vernünftigen Gründen. Was ihnenangenehm, _ 

was ihnen wichtig in Diefem geben war, das mifcht fic) 
unter eben dieſem Gefichtspunfte mit unter die Vorſtel⸗ 
lungen: des fünftigen Zuftandes der Seele. Es ift alfo - 
nicht zu verwundern, wenn fie eben die Ehre, die ihnen 
bier fo wichtig war, nad) dem Tode nod) fich wünfchen; 
wenn fie erfehrecfen bey dem Gedanken, daß die Zurück. 
bleibenden Diefes und jenes Böfe von ihnen fagen und 
slauben follten ;_ wenn Wonne fie überftrömt bey. der Vor⸗ 
ftellung der $obfprüche, ber guten Zeugniffe, der Thräs 
nen, womit man ihr Andenken feyern werde. Die Ver 
fnüpfung folcher Empfindungen mit folchen Vorſtellun ⸗ 
gen, iſt zu natürlich, zu flarf, bey dem Menfchen; 
als De auch Diejenigen, Die richtig hierüber —— 


268 B. In. Afehn. I. Abth.L Kap. I. 


fich ihrer leicht ganz entfchlagen Fönnten. Diefe Vor⸗ 
fteltungen vom Werthe des Nachruhms werden nod) das 
durch) ſehr verftärft, daß bey ben Urtbeilen, die wir 
über Verftorbene oft fällen hören, die Imagination, 
wiederum nach der Aehnlichfeit mit den Lebendigen, fie 
uns als glückfelig oder unglüdfelig wegen diefer Urtheile 
vormahlet; und die Sympathie, bie mit Abmwefenden, 
fogar mit erdichteten Perfonen, einftimmig zu empfinden 
uns zwingt, in das Gefuͤhl des Elendes derer, von denen 
man nad) ihrem Tode übel fpricht, und der Gluͤckſelig⸗ 
feit derer, die man nod) fiebet und verehret, auf diefe 
Weiſe verfegt. Wie natürlid) ift nun nicht das Verlan⸗ 
‚gen, nicht gleich jenen dermaleinft verachtet zu werden; 
fondern ein Andenken zu haben, wie diefe? | 

Noch Fann die Verwandfchaft der Begriffe vom 
Leben und vom Andenfen unter den Lebendigen etwas hie— 

bey thun. Es iſt ung, als ob wir nicht ganz aus der 
Welt weggiengen, wenn unſere Perſon im Andenken 
blabbt. Ueberhaupt leben die meiſten Menſchen ja nicht fo ſehr 
in ſich, als außer ſich, ſie ſuchen ſich nicht ſowohl in dem, 
was fie für fich find, als in dem, was fie andern ſind; und 
ben dem Triebe der Ehre gefchieht dies am aflermeiften. 
In diefem Sinne ward ohne Zweifel das befannte Non 
omnis moriar vem Dichter ausgebacht; er fahe feine 
Unfterblichfeit in der Unfterblichfeit feiner Werke. 

Und es laͤſſet ſich num ſchon auch der Heroſtratſche 
Antrieb, durch eine außerordentliche Fühne Uebelthat feis 
nen Namen auf: die Nachwelt zu bringen, begreifen. 
So groß auch der Unterſchied eines folchen Unternehmens 
und feiner Wirfungen in Abficht auf die Ehre vor der 
Vernunſt iſt: fo iſt Aehnlichkeit gemig da, um im 

| zau⸗ 


Bon Triebe zur Ehre, 269 


saubervollen Dunftfreife der Imagination ein Ziel der 
Ehrbegierde darinn zu finden. Kuͤhnheit und edler Hele . 
denmuth werden unzählige Male von den Menfchen vers 
wechfelt. Andenken bey der Nachwelt und Merkwuͤrdig⸗ 
feit, find nur ein wenig unbeftimmtere Begriffe, als der 
des Nachruhms. Wie leicht vermengen ſich da nicht die 
Wirkungen? Und die Vermandfchaft der Ideen vom 
wirklichen Seyn, und dem Seyn in den Gemüthern ans 
derer, fönnte aud) bey dem Heroftrat wirfen, wiebeym 
begeifterten Dichter, und dem begeifterten Parrioten. 

Aber es hat die Beeiferung um Nachruhm auch 
vernünftigere Gründe. Wir fönnen ja auch durch das An« 
denfen noch nüglich und fehädlich werden... Wir würden 
unfere $ehren und Thaten noch um vieles entfräften, wenn 
wir e8 gefcheben ließen, daß unfere Ehre nach dem Tode 
gefhänder, daß unfer Name veraͤchtlich, abſcheulich 
würde. Hingegen fönnen, beyde, unfere Lehren und 
Handlungen, noch lange zum Guten ermuntern, wenn 
mir ein ehrenvolles Andenfen binterlaffen. 

Auch um der Unfrigen willen, um unferer Der 
wandten, Freunde, Amtsnachfolger, Sandsleute, Glau⸗ 
bensgenoffen willen, darf es ung nicht gleichgültig ſeyn, 
ob man böfes oder gutes von ung fagen kann nach unferm 
Tode, Gut und vorfichtig in manchen Dingen kann alſo 
mit aller Vernunft die Vorftellung vom Werth der Ehre 
nach dem Tode ben Rechtfchaffenen machen. 

Eben die Ausartungen, bie ſich überhaupt om 
Triebe jur Ehre zeigen, finden auch bey der Begierde um 
Nachruhm Start. Eitelkeit ift es, wenn ein Gelehr« 
ter viele Bücher kauft, damit ein anſehnlicher Katalogus 
nach ſeinem Tode gedtuckt merden koͤnne; oder ein 

Frauen⸗ 





270 B. II. Abfchn. I. Abth. I. Kap. It. 


Frauenzimmer fürden Anpug ihres Leichnams und die ganze 
Ordnung des überflüffigen Gepränges ängftlic) beforgt ift. 

- Welcher ungeheure Tyrannenſtolz, welche grau» 
fame radyfüchtige Ehrbegierde war das nicht, was ben 
Herodes zu dem enrfeglichen Wunfch vermogte, daß, 
ſobald ihm der Othem ausgegangen feyn würde, alle 
Vornehme der Nation getödtet werden follten, Damit ganz 
Judaͤa genöthiget werde, um ihn zu trauern? Er bes 
ſchwor feine Schweſter bey der Siebe zu ihm, und bey 
- Gott, mit un bat er fi f e, dieſe legte Ehre ihm nicht 
zu verfagen *). | 

M Midyt ganz zwar Fann bie Bitte des Cicero an 

Luccejus, der feine Geſchichte ſchreiben wollte, daß er 
ihm zu Gefallen die Gefeße der Geſchichte übertreten, und 
mehr, als wahr fey, ‚gutes von ihm fagen möge, aus 
der Abficht auf Nachruhm her. . Aber die fonft befannte, 
nicht vom Vorwurf der Eitelfeit freye Ruhmſucht des Roͤ⸗ 
mifchen Rebners läßt diefe Abſicht doch auch — ver⸗ 
aa ) Ä 


Bapitel Il 
Vom Triebe, über andere. zu herrſchen. 


FJ.61. 
Allgemeine Gruͤnde deſſelben. 


Da allem Unterfchiede, der zwifchen einem Caͤſar, der 
oe der — Mann in einem kleinen Flecken, als der 


zweyte 


» %) S. Fofepk. Ant. Jud. XVII. cap. 6. de B. I. 1. 33. 
. Vielleicht war feine Abſicht, nur au verhindern, daß 
man ſich über feinen Tod nicht freute, - 

WS, Zpifl. lib. V. ep, ı2. 











Vom Triebe, über andere zu herrſchen. ayı 


zweyte in Rom ſeyn wollte, und einem Bettler oder 
Schmarotzer, der ſich alles gefallen läßt, wenn er nur 
fatt gefurtert wird, nothwendig feyn muß; und wenn 
. gleich Ariftoteled die Menfchen gleichſam in zwey Claf- 
fen eintheilt, ſolche, die von Natur Sflaven find, und 
foiche, diedie Natur gemacht hat zum Beherrfchen : fo if doch 
jeder Menfch von Natur herrfchfüchtig; geneigter, zu fors 
dern, daß andere ſich nad) ihm richten, ‘als nad) andern 
fih) zu bequemen. Nur giebt es vielerley Arten von 
Herrfchaft eines Menfdyen über andere; und daber — 
vielerley Gattungen der Herrſchſucht. 

Der eine herrſcht, oder will herrſchen durch die 
Staͤrke ſeines Arms, ein anderer durch das Anſehn ſeiner 
Weisheit oder Froͤmmigkeit; das ſchwaͤchere Geſchlecht, 
wiſſen wir, macht Anſpruch auf Herrſchaft, und bes 
hauptet fie durch die Reize feiner Bildung, feine Same. 
cheleyen oder feine Thränen. 
| Die Gründe der allgemeinen Neigung des Menfchen h 
zum Herrfchen entdecken fich leicht, und machen das Bishe⸗ 
rige, das die Erfahrung genugfam beweiſet, völlig begreiflich. 

) Der erfte Grund dazu liege in der guten Meys 
tung, die gewöhnlich ein Menfch von fich felbft har. 
Um diefer willen glaubt er nicht nur fein eigener Führer 
feyn zu koͤnnen, und dabey zu verlieren, wenn er den Ge⸗ 
brauch) feiner Kräfte dem Willen eines andern überließe; - 
er glaube wohl auch um den andern ſich verdient zu mas 
heit, wenn er ihn leitet und führe, oder allenfalls auch 
mit Gewalt zieht und treibt. Ben folchen Worzügen eis 
ner folchen Ueberlegenbeit an Kraft, hält er es für natürs 
liches Recht und Billigfeit, für göttlichen Beruf vielleicht, 
zu herrſchen: ——— wenn eines von beyden ſeyn 
muͤßte; 


272 B. II. Abſchn. I. Abth. J. Kap Ik 


muͤßte; entweder ſich andern zu unterwerfen, oder an⸗ 
dere ſich. Wenn man ſich fuͤhlt, wie Caͤſar ſich fuͤhlen 
mußte, und nicht nur fühlte, gewiß deutlich feine Ueber⸗ 
legenbeit einfah; da lieber fich unter das Joch beugen, 
als feiner Kraft fic) bedienen und Herr feyn: Dies fann 
wohl ein Zwang feyn, deffen die menfchliche Natur nicht 
unfähig iſt; natürliche Neigung ift eg nicht. Aber mar 
glaubt, daß jeder Menfch, wenn nicht überhaupt, doc) 
in einem ober dem andern Stuͤcke für vollfommener fich, 
als jeden andern Menfchen, halte; und demnach müßte 
er ſich aud) in einigen Verhaͤltniſſen, zum Herrn und 
Meifter beftimmt, erachten. 

2) Aber auch als Zeichen der Vollkommenheit, 
der Staͤrke oder Weisheit, muß der Menſch die Herr⸗ 
ſchaft lieben, Sich ſelbſt wird er veraͤchtlicher, und fuͤrch⸗ 
tet mit Grunde, auch andern es zu werden; wenn er im⸗ 
mer als der Schwaͤchere erſcheint. 

3) Mod) kann unmittelbar aus der Selbſtliebe die 
Begierde zu herrſchen entſtehen, mittelſt des Triebes, ans 
dere ſich aͤhnlich zu machen, ſein Weſen ihnen einzudruͤ⸗ 
cken, und ſich ſelbſt dadurch zu vervielfaͤltigen *). | 

4) Endlich ift oder ſcheint Herrfchaft und Gewalt 
über andere das Mittel, feine andern Beduͤrfniſſe zu bes 
friedigen; reizt als nüßlich zu jedwweder andern Abſicht. 
Den Herrfcher fürchtet und ehret.der große Haufe. Ihm 
fallen Die Schäge der Erde zu. Auch das Weib giebt 
ihm gern den Borzug, zumal, wenn er bey ihr ſchwach 
——— oder * Macht mit ihr theilen wil. 

Cie 





8 = - - ⁊ TE — — 


S. Ueber das Univerſum, S. 63. 


N 
& 





Dom Triebe, über andere zu herrſchen. 273 


Caͤſar war zu ſehr Wolläftling, um bloß der 
Ehre wegen oder zum Zeitvertreib nach der Alleinherrſchaft 
zu fireben. Ihn trieben gewiß auch die Vortheile der. 
ſelben dazu an *). Der Eardinal von Retz hingegen, 
ob er gleich gern mit dem Caͤſar fich vergleichen mogte, 
und in feinem Stuͤcke fein Fleiſch kreuzigte, fcheine mehr 
durch den vorigen Grund zur Herrſchſucht getrieben wor. 
ben zu ſeyn. Er mar eitel, und er hatte Wohlgefallen 
an WiderfeglichFeit und an vermworrenen Händen; auch 
wo er fid) weiter nichts davon verfprechen Fonnte, ‘als Ge. 
fegenheit, ſich zu zeigen, und feinem intriganten Kopfe et⸗ 
"was zu thun zu geben **), | | 
Es fann aber auch hier der Nutze entweder in Erlan⸗ 
gung des pofitiven Guten, oder in Vermeidung des 
Uebels, in der Sicherheit vor denen, die außerdem mäch- 
tiger feyn würden, gefegt werden. Beym Auguft fchei« 
net mehr das Letztere der Fall gewefen zu fen. Er war 
von Natur furchtfam, argwoͤhniſch, und daher auch zur 
Grauſamkeit geneigt; von der ihn in der Folge Klugheit 
und Grundfäge viel mehr abhielten, als Nature, 
Etwas diefem Triebe ähnliches kann man faft auch 
bey einigen Thierarten zu bemerken glauben; eigentlicher 
fömmt er aber doc) dem Menfchen ausfchließend zu; fo 
wie auch die angezeigten Gründe, | 


66. 








*) Dan fehe Plutarch im Leben des Caͤſars, und Imago 
eivilis Julii Caef, in Bar, Yermlan, opp, Vol. IL, edit, 
| 1740. fol, | 
.% ©. Efprit de la Fronde und feine eigene Memoiren. 


Erſter Theil. © 


2 


274. BI Abſchn. n. Abth. 1. Kap. I 


re Er 6. 6% 
GBirkungen biefes Triebes. 


& angenehm auch die Vorftellungen ſeyn konnen, 
die der Herrfchfüchtige von den Vortheilen der Gewalt 
uͤber andere ſich macht: ſo abſchreckend ſind die Folgen 
und die Wirkungen, die dieſe Leidenſchaft — nach 
ſich zieht. | 

ı) Erftlich ift fie unerfärtlicher noch, als andere 
$eidenfchaften. Den fie ift es nicht nur aus dem allge» 
meinen Grunde, daß unfere Ideen fo leicht über. dag, 
was wir wirflic) vor ung haben und befigen, hinausge⸗ 
ben, mit dem Anwachſe deffelben wachfen und “Begierde 
nad) fish ziehen; ' fondern insbefondere auch noch wegen 


der Furcht, das, was man bereits befiger, zu verfieren, 
wofern man nicht nody mehr Macht und Anfehn ſich erwirbt. 


Einer Furcht, die defto empfindlicher wirft, da derjenige, 
welcher Macht und Anfehn verliert, inggemein weit elen- 
der wird, als er war, ehe er fie erlangt harte; wegen 
des Haffes, den er durd) den Gebrauch derfelben fich zu« 
gezogen bat, und der Schande, die ihm aus dem Urtbeife 
zuwaͤchſet, Daß er fich nicht zu behaupten gewußt habe, 
unmürdig'des Poften gemwefen fen, zu welchem das Gluͤck 
ihn erhoben hatte. Diefe Furcht aber muß der Herrfchfüch- 
tige haben; da er weiß, wie ungern die Menfchen ſich 


‚bebersfchen laſſen, da er die gefährlichen Künfte und 
Bemuͤhungen des Ehrgeizes umd der Herrſchſucht Fennt. 


Wer von vielen gefürchtet wird, Hat ſich vor vielen zu 


fürdten. 


2) Diefe Furcht, dies Beftreben des Hertſchſuͤch⸗ 


tigen, „feine Gewalt gegen fo viele und — Geſah⸗ 
ren 


Vom Triebe, über anderezu herrſchen. — 


ren zu ſichern, macht ihn argwoͤhniſch, grauſam oder 
argliſtig. So macht er die Gefahr, der er entgehen 
will, immer groͤßer, durch die immer neuen Urſachen des 
Haſſes, den er gegen ſich erreget. Denn wie viele ſind 
weiſe genug, ihr Anſehn nur durch Liebe behaupten zu 
wollen, und wenn fie es wollen, es zu koͤnnen? Glück: 
lich.genug, aud) den Verdacht einer ungerechten Anwen⸗ 
dung ihrer Macht auszurotten; zumal wenn der Urfprung 
derfelben nicht rechtmäßig geweſen ift? | 


Unterdeffen koͤmmt es auf das Temperament und 
den übrigen ganzen Character noch immer fehr an. Caͤ— 
far, ob er.gleich die Stelle aus dem Euripides oft im 
Munde führte, Nam fi violandum eft jus, regnan- 
di gratia violandum eft *); verdiente doch viel eher 
den Beynamen des Gnädigen, als den Vorwurf der 
Härte und Graufamfeit **). Sein Temperament und 
feine Klugheit ließen beyde nicht zu, daß feine Herrfchbes 
gierde Tyranney wurde. Daß die Herrfehfucht ſich oft 
auf der einen Seite verleugnet, um auf der andern fich 
befriedigen zu fönnen ; ſich vor dem einem demuͤthig beu« 
get, um den andern drücken zu fönnen; iſt befannt ges 
nug. ° Es läßt fic) Beine Niedertraͤchtigkeit und Bosheit 
denfen, deren fie nicht fähig macht. Richard III be 
fehuldigte feine eigene Mutter, eine Prinzeffinn von un⸗ 
tadelhaftem Character, des Ehebruches, umalle Geſchwi⸗ 
fter für unehlich erflären zu koͤnnen. | 


S 2 5.63. 


ler — — 





.®) Suetonius cap. 30. 
*) Sueson. c. 75. und Plutarch, - 


276 B. I. Abſchn. II. Asch. 1. Cap. U. 


6. 63. 6%, \ a — 
Bon der Herrſchſucht, in Anſehung der Meynungen und 
Neigungen. 


Eine Gattung von Herrſchſucht, die eine beſondre 
Betrachtung wohl verdient, iſt die Neigung, andern 
feine Meynungen aufzubringen, über ihren Sefhmad 
und Gewiffen, ihren Verftand und ihren Willen zu herr⸗ 
fhen. in weitläuftiges Gefchlecht von vielen Arten und 
Unterarten, Aus dem erften allgemeinen Grunde der 
Herrſchſucht ($. 61.) kann diefe Neigung um fo viel leich⸗ 
ter entftehen; je leichter es ift, daß ein Menſch in Ans 
fehung der innern Kräfte und Bolltommenheiten eine zu 
gute Meynung von fih), . und eine zu geringe von andern 
. hat. Aeußertliche Größe und Beſchaffenheit fälle in bie 
Augen , ‚die fremde, wie die eigene; da kann noch leid). 
ter. richtige Dergleichung entftehen. Aber was das In⸗ 
nete anbelangt, da hat die Eigenliebe den Vortheil, das 
werthe Selbft allein nur völlig zu feben, und von dem, 
was andere befißen, gar ‚vieles fchlechterdings nicht ges 
wahr zu werden. Dazu werden zum Grumde und Maaß/⸗ 
ftabe des Urcheils über Vollfommenheit und Unvollfom« 
menheit des Innern anderer, über Nichtigkeit oder Uns 
richtigfeit ihrer Gefinnungen und Meynungen, insgemein 
die eigenen Meynungen und Eigenfchaften angenommen.: 
Kein Wunder alfo, wen die Menfchen ihre Meynungen- 
und Meigungen fo gern andern zu Geſetzen . machen 
mögen, | 


_ Hiezu koͤmmt noch ein anderer Grund. Wenn 
andere unfern Mepnungen Benfall geben, unfere Geſin⸗ 
nungen annehmen: fo koͤnnen wir uns um fo viel leichter 


Vom Triebe, Über andere zu herrſchen. 277 


von der Richtigfeit berfelben überreden, oder ben biefer 
Deberredung behaupten. Muͤſſen wir hingegen ihnen 
nachgeben: fo müffen wir geftehen, daß wir weniger 
Verſtand, weniger Geſchmack, weniger Rechtſchaffen⸗ 
heit beſaßen, daß wir, wer weiß wie lange, wie ſehr, 
im Irrthum waren. So lange uns auch nur widerſpro⸗ 
chen wird: kann ung vielleicht noch immer Die Furcht des 
Gegentheils beunruhigen *). 


Es iſt daher begreiflich, daß die Herrſchſucht in 
dem Gebiete des Verſtandes und der Meynungen um ſo 
viel heftiger werden koͤnne, je mehr einem daran gelegen 
iſt, in einem dieſer Dinge nicht im Irrthum zu ſeyn, 
oder andere nicht darinn zu laſſen. Freylich aber hat 
auch dieſe Art von Herrſchaft ſo viel zu bedeuten, kann 
ſo leicht jede andere nach ſich ziehen, ſonderlich wenn es 
Herrſchaft uͤber die Gewiſſen iſt; daß auch jedweder an⸗ 
dere Grund der Herrſchbegierde dieſe ZUR erzeugen 
ober unterflüßen fann. 


Aber in dem menſchlichen Kopfe fann bas — 
das Groͤßte werden. Es giebt Menſchen, denen eben ſo 
viel daran gelegen iſt, daß man die Schreibart eines 
Wortes, oder die Sorte Wein, bie fie für die beſte hal⸗ 

| 63 ten, 





— 


*) Daraus ſcheint zu folgen, baß völlige, Achte Gewiſi⸗ 
e beit von der Richtigkeit feiner Denfart eben ſowohl als 
völliger Zweifel duldend gegen die anders Denfenden; 

und hingegen die Nothwendigkeit, fi und andern ale 
gewiß vorzuftellen, wofür man boch Feine evidente Ber 
meisgründe bat, am leichteften — und gewalts, 
thätig machen koͤnne. 


278 DI. Abſchn.n. Abth. I. Kap. I. 


ten, gleichfalls dafuͤr erkenne; als andern nicht daran 
gelegen iſt, ob man eine Vorſehung und ein anderes Le⸗ 
ben glaubt, wie fie. 


Mac dem Helvetind *), foll diefe Gattung von 

- Herrfchfucht bey den aflermeiften Menfchen eben fo geneige 
feyn, der gewaltfamften,, graufamften Mittel fich zu be» 
dienen, als jedwede andere, Wenn es nur in Anfehung 
der religieufen Meynungen wirklich gefcheben fey: fo Fäme 
dies daher, daß man bey den andern nicht gleichen Vor⸗ 
wand und gleiche Mittel zur Gewalt findet. 


Aber die Triebe und Empfindungen der menfchlie 
hen Natur, die einer ſolchen Graufamfeit ſich widerfegen, 
find doch zu ftarf, als daf fie von der Begierde, Herr 
über die Meynungen anderer in jedweden Dingen zu fepn, 
eben fowohl unterdrückt werden koͤnnten, als durch die 
Borftellung, Gott einen Dienft zu hun, und anbere 
vom ewigen Verderben zu retten. Diefes Urtheil des 
Helvetius gehört alfo wohl zu den mehrern Zügen feines 

‚einfeitigen, übertriebenen ſchwarzen Gemähldes von der 
menfchlicyen Natur. Ob es gleich einzelne folche Cha- 
ractere mag geben fönnen, und die Hige mancher Men- 
fhen im Augenblick des Widerfpruches weit genug über 
die Regeln der Vernunft hinausgeht, um fie alsdenn 
ber ſchlimmſten Regungen fähig zu glauben, . 


Bapis 





#) eſt peu d’hommer, s’ils en avoient le pouvoir, qui 
“ . n’employaffent les tourmens pour faire generglement 
ZZ adopter leuts opinions, De ’E/pris dile, Il,’ ch. 3, 


Von Triebe der Hochachtung. 2279 


Kapitel I. — 
Vonm Triebe der Hochachtung. 


| 5. 64. 
Allgemeine Gründe diefed Triebes. 


Die Achtung, die der Menſch fuͤr ſich ſelbſt hat, und 
die Begierde, von andern geachtet zu werden, ſind 
maͤchtige Triebfedern bey ſeinen Handlungen. Aber die 
Achtung, die er fuͤr andere heget, iſt eine nicht weniger 
merkwuͤrdige Triebfeder. Dieſe Achtung macht ihn ges 
fällig, nachgiebig, nachahmend, nacheifernd, abhängig 
und unterwürfig. | FRI 
Der Name der Hochachtung giebt fo fort den 
Begriff von der Sache. Er bedeutet eine auszeichnende 
Meynung von den Vorzügen’des andern, eine vorzuͤgliche 
Aufmerffamfeit auf denfelben. Der Sprachgebrauch be- 
zicht aber dieſes Wort nur allein auf die Vorzüge ver: 
ſtaͤndiger Weſen; nur die find der Gegenftand ber 
Hochachtung. Furcht, zu mißfallen, Geneigtheit, feine 
Achtung zu erfennen zu geben, find natürliche, und bey 
einem gemwiffen Grade der Hochachtung, nie fehlende Fol-· 
gen derſelben. Wenn die Vorzuͤge uns außerordentlich 
groß vorkommen, unſere bisherige Begriffe uͤberſteigen: 
ſo geſellen ſich Bewunderung und Erſtaunen zur Hoch⸗ 
achtung. | Ka 
| Alte Arten von Vorzügen, von angenehmen oder 
nügfichen Eigenfchaften, von K räften verftändiger 
Weſen, können Hochachtung erzeugen: obgleich bie 
Wirfungen einer jeden diefer Urfachen nicht gleich bauer- 
baft, nicht gleich natürlich find. = 
du Ze Zu - 2° Schöne 





\ 


280 : DM. Abſchn. II. Abth.T.- Kap. II. 


Schönheit und förperliche Gefchicklichkeiten, 
Geiſteskraͤfte und Einfichten, Tugenden und Wers 
dienfte, find die Eigenfchaften, um welcher willen Mens 
ſchen hauptſaͤchlich hochgeachtet werden. 

Aber auch Gluͤcksguͤter, Reichthum, Macht, 
Anſehn der Geburt ober des Amtes erwecken Hoch⸗ 
achtung. - - | | 

Die Unterfuchung der Gründe wird offenbar mas 
chen, wie noch alles diefes gefchehen Fönne. | 

Drurch die Vergleihung des Gemeinfchaftlichen 
aller Gegenftände der Hochachtung, und die Unterfus 
hung der innerften Regungen des Gemüthes bey derfels 
ben, ergiebt fih, Daß die nächften Urfachen der Hoch. 
achtung in dem Eigenmuge, in der Sympathie oder 
dem Wohlwollen gegen andere, und noch in einer uns 
mittelbaren Wirfung, die das Große auf unfern Geift 
thut, enthalten ſeyn. Mämlic) | 

s) vermöge der Aufmerffamfeit auf unfere eis . 
gene Bortheile, müffen.wir da aufmerffam werden, wo 
viele Kraft, uns zu nußen ober zufchaben, fich zeigt. Und 

wenn diefe Kraft durch Meigungen regiert und angewandt 
wird, bie durch unfer Verhalten beftimmet werden koͤn⸗ 
nen; ſo iſt es natuͤrlich, daß wir unfer Betragen fo ein. 
richten, mie bey ber Hochachtung gewöhnlich gefchieht, 
2). Aber etwas ebleres koͤmmt in die Empfindun⸗ 
gen und Triebe ber Hochachtung durch Das Wohlmollen 
und Die Sympathie; vermöge deren Das Gute, was an⸗ 
bere befigen, als gut für fie, als gut für viele andere, 
‚als Vollkommenheit der Welt, Vollkommenheit in den 
Werfen bes allgütigen und aflmächtigen Schoͤpfers, ung 
aufmerffam macht, unſern Geiſt erhebt und m. ' 


Vonm Triebe der Hochachtung. agı 


Um dieſes Einfluffes willen ‚# gehört auch das Gefühl der. 
Hochachtung zu den Gefühlen, über die wir unszu freuen 
haben; welches aber auch aus andern Urfachen noch geſche⸗ 
‚ben fann. | | 8r 
I) Denn abgerechnet, mas die Vorſtellung des 
Nüglichen überall vermag; fo hat das Große an und für 
fi), und fraft feiner unmittelbaren Wirfung, etwas, 
was unfern Geift an ſich zieht und in angenehme Gefühle 
verfegt, wie an einem andern Orte weiter ausgeführet 
werden wird. 

*  Diefe angezeigten Urfachen machen auch alle Une. 
terfchiede der Menfchen in dem, mas und wie fie hoch⸗ 
achten, völlig begreiflih. Sie unterfcheiden fich näm« 
lich hierinn, erſtlich, wie ihre Begriffe vom Nüglichen 
ſich unterfcheiden. Ein Irokeſe, der nach Paris Fam, 
bemwunderte da nichts: fo fehr, als die Straße, wo im⸗ 

mer Eßwaaren feil ſtunden. Davon ſahe er den Nutzen 
ein; dieſe Einrichtung konnte ihm daher einen vortheil⸗ 
haften Begriff von dieſem Europaͤiſchen Volke erwecken. 
Unter den Groͤnlaͤndern iſt derjenige veraͤchtlich, der 
nicht Seehunde fangen kann; wer aber in dieſer, in der 
That auch ſchweren und gefaͤhrlichen Kunſt, ſich hervor⸗ 
zuthun weiß, iſt ein großer Mann *). | 
Helvetius ift in der Ausführung diefes Stüces 
von der Hochachtung fehr weitläuftig, und in manchen 
Demerfungen fcharfjinnig **). Er ſcheint aber un. 
ter andern barinn zu fehlen, daß er die innere KHoch- 
achtung und die bürgerliche Rangordnung und Che 
| S 5 ren⸗ 





— — 





) Bean I. 72. ae 
") ©. de FEfpris diſc. UI, chay. X, fegg, 





082 DU, Abſchn. IL. Abth. I Kap. lit. 


renbezeugung, nicht genug "yon einander unterſcheidet, 
welche beyde auch aus vernuͤnftigen Gruͤnden nicht immer 
in gleichem Verhaͤltniſſe mit einander ertheilt werden 
koͤnnen. 

Wenn übrigens die Hochachtung ſich nach den Be⸗ 
griffen vom Werthe der Dinge richtet: fo Fönnen bie 
Berfihiedenheiten daher auf eine doppelte Weife entſtehen. 
Es fann feyn, daß die Dinge für verfchiedene Menfchen, 
Völker, Zeiten, nicht einerley Werth haben; es fann 
auch feyn, daß der wahre Werth nicht erfannt wird. 

Von den Abweichungen der Hochadhtung aus diefem 
legteren Grunde find die Beyſpiele fo gemein, als von den 
erfiern. 

Zweytens unferfcheiden ſich die Hochachtungs⸗ 
triebe der Menſchen, wie ihre Begriffe vom Großen, und 
ihre Faͤhigkeiten, das Große zu ſchaͤtzen und einzuſehn. 

Ein Kind kann nicht — wenigſtens aus eigenem Ans 
triebe nicht — die Weisheit eines Sully, oder den 
Tieffinn eines Newtons mit der verdienten Ehrfurcht 
bewundern, — Die Urtheile von Größe bangen aber 
auch gar fehr ab von dem, wemit man vergleicht, wor⸗ 
nach man mißt. Nicht derfelbe Menſch kann daher in 
gleichem Grade daffelbe immer hochachten, auch wenn er 
das einemal wie das andere von eigentlichen Vorurtheilen 
und dem Einfluffe befonderer $eidenfchaften frey if. Je 
mehr feine Begriffe fich erweitern, und er mit dem Groͤ—⸗ 
ßeſten befannt wird, defto Fleiner koͤmmt ihm das mit 
telmäßige vor. Nicht bewundern, ift alfo freylich ein 
Merkmaal der Weisheit; aber fein ficheres, weil es auch 
eine Folge der Unwiffenheit und Unempfindlichkeit fern 
kann. Und — nichts — winde 
—* be 


Dom Triebe der Hochachtung. 233 


bey einem Menfchen nur das ia bemweifen, gar nicht 
Das erfte. 

Endlich muß es auch erhebliche Unterſchiede bey 
den Anläffen und Erweckungen zur Hochachtung machen; 
wie weit oder wie wenig ein Menfch zur Sympathie auf: 
gelegt, und die felbftfüchtigen Beweaungen zu beberrfchen 
im Stande ift. Wie follte reine Hochachtung im Nei. 
diſchen entſtehen? 

Alle Gründe zur Hochachtung und gegen dieſelbe 
entſtehen in einem Menſchen entweder aus eigener Ein— 
ficht und Erfahrung, oder aus den Urtheilen anderer, die 


er für wahr annimmt, Eftime fur parole nennt Hele 


vetius dieſe legtere Art von Hochachtung; und die erftere 
Eftime fentie. Jene ift freylicd) bey weitem die ges 
mwöhnlichfte. Wenn fie gleich, vermöge ihres Grundes, 
fo unwandelbar nicht ift: fo kann fie doc) fehr ftarf feyn. 
Denn wie groß ift nicht die Gewalt der Worurtheile und 
der Phantafie in ben menfchlichen Gemüthern ? 


9. 65. 


Hochachtung bey verfhiedenen Stufen ber Cultur. 


Aus allem dem bisherigen iſt leicht abzunehmen, 
daß die Menſchen ſich ſehr verſchieden beweiſen muͤſſen 
mit der Hochachtung bey verſchiedenen Stufen der Cultur. 
Und einige hieher gehoͤrige Erſcheinungen ſind einer naͤ⸗ 
hern Betrachtung werth. 

Bey der Stufe der Cultur eines Volkes, wo Er⸗ 
fahrung allein, und Unterricht derer, die Erfahrung ha⸗ 
ben, Erkenntniß geben kann; wenn noch nicht der ſtille 
Unterricht ber Tedten in Ka Schriften zur Weisheit 


— 


34 B. u. Abſchn IL. Abth. I. Kap. Il. 


fuͤhren kann: da iſt es natuͤrlich, daß das Alter verehrt 
wird. Nach ihm laſſen ſich gemeiniglich die Einſichten 
meſſen. Unter einem Volke, bey dem eine gute Erzie⸗ 
hung ing Dristheil des menfchlichen, Alters mehr Anbau 
des Verftandes bringen fann, als unter einem noch halb 
“wilden Bolfe fein Meftor aus eigener Erfahrung allein 
haben kann, ift es natürlicher Weife anders. Und es 
würde ein fehr bebingtes und veränderliches Naturgeſetz 
zu einem abfoluten machen heißen; wenn man ba fordern 
wollte, daß ein graues Haupt, ohne weitere Unterfu« 
hung, jedem Juͤnglinge ein Gegenftand der Ehrfurcht - 
ſeyn folle *). 


Wenn bey einem Volke durch. die dichterifchen 
Künfte und andere Umflände das Gefühl für das Schöne 
zum höchften Grade verfeinert und belebt worden ift: fo 
kann bey diefem Volke die Schönheit ein Gegenftand 
 religieufer Verehrung ſeyn, jeden andern Fehler verzeih« 
lid) machen, und überhaupt Wirfungen hervorbringen, 
die einem andern von der Seite weniger cultivirten Wolfe 
unbegreiflich vorfommen müffen. Die riechen find 
Beweis. Deffentlihe Buhlerinnen fonnten in Griechen 
land um ihrer Schönheit willen die Ehre erlangen, die 
Engelland feinen größten Gelehrten erwiefen hat, Denk: 
mäler unter den Königen und Helden. Oeffentlich konn⸗ 
ten fie fid) zeigen in der Nationalverfammlung, um den 
Preiß mit den Helden und Künftlern zu theilen. Die 
. weis 


ERTTTEn —nenie m — —— — — —— — —— En 


HS. Iſelin eſchichte der Menſchheit, I. ©. 138. ff. 


Vom Triebe der Hochachtung. | 285 


mweifeften , tugendhafteften Männer durften, mußten mit 
Begeiſterung von der Schönheit fprechen co 
Aber welches Wolf dürfte ſich auch rühmen, ſich 
beffer auf Schönheit zu verftehen, eine vollfommnere 
Empfindung davon zu haben, als die Griechen? ° 
i Ein fharffinniger Ppitofoph behauptet, daß alle. 
mal, in jedem Sande, die Achtung für Verftandesfähigs 
keiten zunehme, wie die für die Tugend abnimmt a 
. Auf Beobachtungen diefen Ausſpruch ficher zu 
gründen, würde allzufchwer feyn. Die Unterfuchungen, 
die dabey erfordert werden, um fich nicht zu übereilen, 
find gar zu verwickelt. Die Spekulation giebt unterdeß 
fen einige Gründe für die Möglichkeit der Sache an die 
Hand. Nämlich | = 
1) die Menfchen koͤnnen bie feinern Gefühle niche 
ganz ablegen, wenn fie einmal einige Cultur haben. 
Sie würden fich felbft zu verächtlich vorfommen , oder an⸗ 
dern e8 zu werben befürchten. Sie fünnen alfo fi) ge» 
möhnen, mit defto mehr Eifer und Nahdruf vom 
Schönen und Großen in den Werfen bes Verftandes und 
Wibes zu fprechen; deſto mehr im Gefühl fir daffelbe 
ſich üben: je mehr Kälte und Schwäche in Anfehung 
deſſen, was eigentlich Tugend heißen kann, fie bey ſich 
empfinden, | | 
2) Wenn Tugend nicht mehr gefchägt wird: fe 
find Talente das einzige mir gemeinen Zwecken noch über. 
ein- 


* ©. Plato im Phaͤdrus und im Gaſtmabi und Thom 
— Eſſai fur les femmes, p.3u. | — 00 = 


“) Thomas |, c. P. 40. 


286 BU. Abſchn. N. Ather. "Rap-UL 


einftimmende Mittel, zu gefallen und fein Gluͤck zu mas 
hen; „oder doch um fo viel nöthiger. ER 
3) Selbft um dem Safter einen Anftridy zu geben, 
um das moralifche Gefühl durch einigen Schein von Tur 
gend noch hinzuhalten, find fie nötig. 
| Ob die Bemerkungen nicht auch Gründe enthalten 
zum umgefehrten Schlußfag : daß Tugend in dem Gra⸗ 
de anfangen muͤſſe, von ihrem Anſehn zu verlieren, wie 
und weil die Achtung fuͤr Verſtandesfaͤhigkeiten das 
rechte Maaß uͤberſteigt? Rouſſeau und mehrere ha⸗ 
ben dergleichen etwas behaupten wollen. Alles beruht 
am Ende auf der richtigen Beſtimmung der Begriffe. 
Tugend und Wiſſenſchaften ſtehen in gar keinem feind- 
ſchaftlichen Verhaͤltniſſe; fondern gründen und befördern 
vielmehr einander. Aber wenn man alle Erweiterungen 
der Erfenntniß, alle Wahrheiten in gleichem Werthe 
haͤlt, über den Neuften das Nörhigfte vergift, und bie 
Begierde, alle mögliche Zweifel auf das aͤußerſte zu freie 
ben und auszubreiten, für $iebe zur Wahrheit hält; ober 
wenn man Aberglauben, Audächteley, Schwaͤrmerey, 
oder aud) unbezähmten, zweckloſen Muth, für. Tugend 
hält: fo ift die Harmonie der Naturtriebe jerrürtet, und 
des einen Aufnahme muß des andern Verderben ſeyn. 
F. 66. > : 
Vom Einfluffe der Eigenlicbe auf bie Achtung für andere, 
Bey den Unterfuchungen über die Gründe und 
Aeußerungen der Achtung für andere, entdecket fi) bald 
der Einfluß, den die Eigenliebe dabey hat. Einige ffel- 
fen diefen Einfluß fo groß vor, daß Achtung für andere 
*2*8. im 


Dom Triebe der Hochachtung 287 


im Grunde weiter nichts, als Achtung für ſich felbft, Eis 
genliebe unter einer etwas veränderten Geftalt wäre. Es 
fey unmöglich, daß wir etwas anders, als uns felbft in 
andern hochachten, fagt Helvetius. Wir wollen zufes 
ben, was die Erfahrung uns behaupten heißt. Diefe 
nun läffet uns oft genug ſehen, 

1) daß Menfchen andere anfangen zu fihägen ia 
dem Grade, wie diefe gegen fie Hochachtung zu erfen« 
nen geben. Nichts wird einen großen Theil von Mens 
fehen gefchreinder bewegen, auch ihre eigene nachtheilige 
Urtheile von andern zurüdzunehmen, ala wenn fie in Ers 
fahrung bringen, daß diefe rühmlich von ihnen denfen 
und reden. Und dies kann nun freylich ganz natürlich 
auf Die Rechnung der Eigenliebe gefegt werben; als wels 
‚che nicht nur dadurch gewonnen, verföhnt und zu liebreis 
chen Urtheilen geſtimmt wird, fondern auch mehr Wohl« 
gefallen haben muß am Benfall anfehnlicher , als verächt- 
licher Leute. Aber es läßt fich ſowohl diefe, als einige 
der nachfolgenden Beobachtungen , auch noch etwas an⸗ 
ders erflären; aus einem Grunde, welcher, wie von der 
Eigentiebe ſelbſt, alfo auch von diefer ihr gemäßen Wir« 
fung Miturfache ift; nämlich aus der Beſchaffenheit der 
menfchlichen Erfennmiß. Don feinen eigenen Kraftew 
und] Vollkommenheiten, Kenntniffen und Verdienſten, 
wird jeder Menſch am ımmittelbarften, und daher mei . 
ftens auch am ftärfften afficirt. Am öfteften befchäftiget 
er ſich damit. Natuͤrlich alſo haben die Vorftellungen 
davor auch eine mehrere Ktarheit, Vollſtaͤndigkeit und 
Lebhaftigkeit, als die Vorftellungen von andern Dingen, 
insbefondere auch bie von ben Vollkommenheiten anderer, 
- Wie nun dies ein Grund zur übermäßigen Achtung für 

| ſich 


288 UM. Abſchn N. Abth. . Kap. M. 


ſich ſelbſt iſt: ſo macht es auch begreiflich, daß in den 
Verſtand eines Menſchen nichts geſchwinder eindringen, 
und ihm einleuchtend werden kann, als ein ihn ſelbſt be— 
treffendes Urtheil, welches ſeinen eigenen Ideen und Ur⸗ 
theilen gemaͤß iſt. Wenn nun das ruͤhmliche Urtheil des 
andern von uns noch dazu Punkte betrifft, deren Beur— 
theilung Einfichten vorausfegt; wenn das Urteil des are 
dern nicht geborgt, fondern aus eigenen Einfichten ent» 
ftanden zu ſeyn ſcheint; und dafür es zu halten, macht 
uns eben auch die Eigenliebe geneigt; wenn es etwa noch 
den Theil unferer Vollkommenheiten und Verdienſte bes 
trifft, der, wenn auch ung nicht zweifelhaft, dennod) 
noch nicht aflgemein anerfannt ift: dann kann dies Ur 
theil des andern der Fräftigfte Beweis feyn, den er von 
der Richtigkeit, der Schärfe, der Feinheit feines Ver 
ftandes, und hätte geben fönnen; ohne, daß wir babe 
im mindeften auf den Verdacht fämen, durd) die Eigen» 
fiebe bey diefem unfern Schluſſe geleitet worden zu feyn, 
und gewiſſermaßen auch wirflich ohne ihre Leitung. Diefe 
Entwicelung der Gründe wird ſich auf mehrere Erfchei- 
nungen mit wenigen Weränderungen anwenden faffen. 


Was nun wahres an dem Sage ſey, daß der 
Bewunderer in ven Augen des Berunderten nie 
ein Dummfopf ift ), wird hieraus begreiflich ſeyn. 
Gewiß aber muß diefer Ausfpruch eingefhränft werden; 
gewiß giebt es auch Menfdren, denen ein Dummkopf 
nicht aufhört ein Dummeopf zu fheinen, wenn er an 


faͤngt 








— — — — — 


⁊*) Jamais l'admĩrateur n’eht ſtupide aux yeux de Padmire, 
Heboetius, 


Vom Triebe der Hochachtung. 289 


fängt fie zu bewundern; und die ihr Urtheil über den ans 
dern in ſich felbft noch zurückhalten, wenn das erfle und 
einzige, was fie von ihm wiffen, Das ift, daß er fie 
lobt. Iſt eine foldye Feftigfeit des Verſtandes bey feis 
nen Urtheilen, eine folhe Bekanntſchaft mir ſich felbft 
und der Welt, und eine folhe Gewalt über die Eigene 
liebe denn fo etwas unbegreifliches? 

2) Befoͤrdert die Eigenliebe die vortheilhaften Urs 
theile von dem andern; wenn es der eigenen Ehre zuträge 
lich ift; deſto rühmlicher,, ihn zu übertreffen, oder deſto 
weniger fhimpflich, von ihm übertroffen zu werden *). 

3) Eine 








— — 


*) Als der Graf von SuffolE im Jahr 1429 bey Jergeau 
fih einem Franzoſen ergeben mußte, fragte er ihn erfts 
lih, ober ein Edelmann: und als er diefes bejahete, 
ob er ein Ritter ſey. Als er fagte, daß er diefe Ehre 
noch nicht habe, machte er ihn auf der Stelle dazu, 
und dann ergab er fih. Hume Hift Vol. II. 340. — 
Und die Römer, als fie nach der Niederlage bey Cannaͤ 
die Weisheit des zaudernden Sabius und die Thorheit 
der andern Anführer einzufehen anfiengen, wollten es 

* nun nicht bloß menſchliche Weisheit ſeyn laſſen, ſon⸗ 

dern goͤttliche Eingebung und Erleuchtung; um weni⸗ 
ger beſchaͤmt zu ſeyn, daß ihre Weisheit nicht 
ſo weit gegangen war. Plutarch K. 17. Nicht 
avgewmivos Aoyısmos, aa Jeiov TI Kenne die 
œvoicec xc⸗ decsmovior, Eben fo die Gefährten bes 

Columbus, als fie endlich das von ihm verheißene 

Land erblidten. Aeoberr/on Hift. of America, !. gr. 

Man kann wohl auch die allgemeinern Gründe des 

Berfallens der Menfchen von einem Extrem aufs ans 

dere, und der Uebertreibung der Vorftellungen vom 

Neuen und Unermwarteten bier mit in Anfchlag brins 

gen. Aber doch ift die oben angenommene Urſache nicht 

auszuſchließen. | 


Erfter Thal, T 





290 BI. Abſchn. Il. Abth.I. Kap. III. 


3) Eine begreiflihe Wirfung der Eigenliebe, oder 
doch des vorher angezeigten rundes derfelben im Ver. 
ftande ift ferner, daß die Menfchen fo vorzüglicy geneigt 
find, das ihnen ähnliche oder mit ihnen verfnüpfte hoch 
zufchägen, ein jeder feinen Stand, fein Alter u. f. w. 
Ein Gelehrter, der zwifchen fich und $eibniß oder Locke 
große Aehnlichkeit findet, wird empfindlicher feyn für 
$eibnigens oder Lockens Ehre, als nicht leicht ein anderer; 
wird ſchwer daran gehn, Fehler deffelben einzugeftehn, ober 
ihn jemanden nachfegen zu laſſen. 

Diefe Gefinnungen fönnen ſich auf alle Einricdy 
tungen, die man bey feiner $ebensart macht, auf alle 
Perfonen, deren man ſich bedient, vom Arzte bis zum 
Holzfpalter, erſtrecken. Jeder fchäßt das einige vor« 
zuͤglich, theils weil er ſich vorzüglich liebt, und nicht 
gern fiheinen mag, eine üble Wahl getroffen zu haben; 
theils weil er Davon die mehrefte Kenntniß, die vollftän- 
digften und lebhafteften Ideen hat. 

4) Denen, die ſich eigener zureichender Verdienfte, 
binlänglicher Vorzüge bis zur beruhigenden Ueberzeugung 
bewußt find, wird es leichter, die Vollkommenheiten ang 
derer anzuerfermen, und ihnen Fehler zu überfehen, als 
denen, bie noch fürchten, durch jene verbunfele zu wer» 
den. Kin wahrer Gelehrter läßt dem andern am leichte. 
ften Gerechtigkeit wiederfahren. Auch eine wahre Schön, 
beit der andern. 

5) Oft nimmt die Neigung, dem andern Hochs 
achtung zu beweifen, ab, wenn Vollkommenheiten und 
Verdienfte, Ruhm und Anfehn deffelben über einen ges 
wiffen Grad hinausfteigen. Vorher fonnte man ohne 
Nachtheil der Nm fein Öutes penete; ; die Ach 

— tung, 


Vom Triebe der Hochachtung. 2091 | 


tung, die man ihm bewies, konnte vielleicht gar Güte, 
Herablaffung fcheinen, und vortheilhaftes Licht auf ung 
zuruͤckwerfen; immer war feine Größe nur ein Theil der 
unfrigen. ber num fönnen wir es nicht wohl mehr bey 
ihm aushalten, Er muß Fleiner ſcheinen, wenn er ung 
nicht. mißfallen foll *). JR: 

6) Ueberhaupt werden die Menfchen durch die Ei⸗ 
genliebe und Sefbjtfüchtigkeit oft um fo viel geneigter, Feh⸗ 
fer aufzufuchen, je glänzender die Verdienſte find, je 
größer der Ruhm iftz obgleich in andern Fällen ber 
Haupteindruf die Nebeneindruͤcke fich ähnlich macht, 
oder die abweichenden uͤberdeckt. Es ift nicht nur unan» 
genehm, ſich übertroffen zu fehen, fondern auch befon« 
ders tröftlih, auc) an dem Vollkommenſten noch Gebre- 
chen zu finden. Zu gleicher Zeit kann es einen fchmei- 
chelhaften Beweis unfers Scharflinnes abgeben, wenn 
wir an dem noch) Fehler entdecken, was fo viele andere 
für unverbefferlich hielten, und nur bewunderten. 

7) Die Neigung, bem andern feine Achtung zu erken⸗ 
nen zugeben, Fann gleichfalls ihren Grund gutentheils in der 
Eigenliebe haben, Man glaubt, dem andern ein Ver: 
| Ta gnuͤ⸗ 











*) Der ſcharfſinnige Xobertſon, Hift. of America II. 285. 

| wendet ben Grund diefer Bemerkung auf die Urrheile 

über bie Kunftwerfe fremder Völker an; indem biejes 

nigen, die ung gleich, oder über ung zu feyn fcheinen, 

leicht unferm unbilligen Zabel dabey ausgefegt find; 

ba diejenigen, die weit unter und find, oft eine unmaͤ— 

Bige Bewunderung erregen. — Diefes letztere kann 

auch noch dadurch von der Eigenliebe beguͤnſtiget wers 

ben, baß man neue, andern noch nicht befannte, wohl 

gar zuerft von einem entdeckte Dinge gern recht merk 
würdig vorfteller, 





292 B. IU. Abſchn.I. Abth. l. Kap.II. 


gnuͤgen dadurch zu machen, eine Ehre ihm zu erweiſen; 
und wuͤrde dies nicht glauben, wenn man ſich nicht nad) 
den Vorftellungen der Eigenliebe, wenn man fid) nach 
den Begriffen des andern beurtbeilte. 


$ 67. 
Ob jedweder Menſch fih im Ganzen höher (ige, als jeden 
andern Menfchen ? 

Daß ſich jeder Menfch für vollfommener, achte 
barer und liebensmürdiger halte, als jetweden andern 
Menſchen, feinen ganzen Character nicht gegen einen ans 
dern vertaufchen möchte, wird von einigen ausdrücklich 
behauptet *); und bey manchen Beobachtungen wahr“ 
ſcheinlich. Bey Kindern und uncultivirten Voͤlkern, 
und wo uͤberhaupt noch wenig Verſtellungskunſt iſt, wird 
es am ſichtbarſten *8). Und fucht nicht gemeiniglich 

jede 





Wied — 


2) ©. Helvetius, Tout bomme s’imagine, que fur la terre 
| il n’eft point de partie du monde; dans cette partie _ 
du monde, de nation; dans Ja nation de province;z 
dans la province de ville; dans la ville de fociet& 
eomparable à la fienne, qui ne fe croie encore 
Phomme fuperieur de la fociet&; & qui, de proche 
en proche, ne fe furprenne en s»’avouant à lui- m&me 
qu’il eft le premier homme de Punivers. Dif. II 
ch, IX, Auch Plato fheint dies vorauszufegen, wenn 
er im XIlten Buch von den Geferzen, bey der Vor⸗ 
fhrift, wie die Cenforen, die Aufſeher über die ans 
bern Obrigfeiren, gewählt werden follten, verordnet, 
daß jeder Bürger den Mann nennen follte, ben er für 

Den befien nach fich hielte. 

“) Folgende Schilterung ber Wilden giebt einen Bewei 
_Lorsqu’ils arrivent & quelque lieu, ils ne faluent 
| presque 








Vom Triebe der Hochachtung. 293 


jede Nation, aud) unter den gefitteten, den Vorzug: vor 
den übrigen ſich zuzueignen? Mach einem durch die Klug« 
heit des Themiſtokles über die Flotte des Terxes erhal. 

3 tenem 














presque jamais ceux qui y font, Ils demeurent ac- 
croupis, &.ne regardent perſonne. Ils entrent par 
fois dans la premiere cabanne, qu’ils trouvent, fans 
dire un mot. Is prennent place oü ils peuvent, & 
allument enfuite leur pipe ou leur calumet. 11s fu- 
ment fans rien dire & s’en vont de nme, Leorsqu’ils 
entrent dans nos maifons baties à la Europeenne, ils 

- prerinent la premiere place. Vil y a une chaife au 
milieu du foyer, ils s’en faififfent, & ne fe levent 
pour qui que ce-foit. Ils font autant de cas de leurs 
-perfonnes, que du plus grand & du premier homme 
du monde. Voy. au Mifififi. ©. Rec, des Voy. 
au Nord, V. 349 Bon den Grönländern fchreibt 
Beanz: „Sie feßen fi) weit uͤber die Europäer bins 
aus; und treiben wohl heimlih Spott mir ihnen. 
Denn ob fie gleich die vorzuͤgliche Geſchicklichkeit derfels 
ben an Verſtand und Arbeit geftehen müffen: fo koͤn⸗ 
nen fie doch diefelbe nicht (hägen. Dahingegen giebt 
ihre eigene unnachahmliche Geſchicklichkeit im Seehund⸗ 
fang, wovon ſie leben, und außer welchem ſie nichts 
unentbehrlich benoͤthiget ſind, ihrer Einbildung von ſich 
ſelbſt genugſame Nahrung. Sie halten ſich allein für 
gefittete Menſchen, weil viele unanftändige Dinge, die 
fie nur gar zu oft bey den Europdern gefehen, unter 
ihnen wenig oder gar nicht vorfommen. Daher fie zu 
fagen pflegen, wenn fie einen ftillen eingezogenen Frem⸗ 
den fehen: Er ift beynahe fo fittfam, als wir; ober: 
Er fängt an ein Menfh, d. b, ein Orönländer, zu 
werden. Eben fo bie Esfimaus, ihre Brüder. Als der 
Miffionar Drachart von dem Verberben aller Mens 
ſchen mit ihnen rebete, ließen fie diefes von ben Rablus 
naͤt (Ausländern) gelten; meynten aber, fie wären 
gute Karaler (Menſchen). Eben fo meynten fie wies 
ber — daß die Kablunaͤt in die Hölle kaͤmen, 1. 
314 f. | 


294 B.I. Abſchn.II. Abth. I. Kap. III. 


tenem Siege, ſollten die Griechiſchen Heerfuͤhrer ſagen, 
wer unter ihnen ſich am meiſten dabey verdient gemacht. Da, 
erzaͤhlt Plutarch, habe jeder ſich die erſte Stelle, die 
naͤchſte aber nach dieſer alle dem Themiſtokles gege⸗ 
ben * | 

Es ift auch diefes nicht nur dem gemäß, daß die Liebe 
zu ſich ſelbſt von Natur ſtaͤrker iſt, als die Liebe zu andern: 
ſondern die Gründe der Eigenliebe, die ſtaͤrkere Vorftel- 
fung vom Eigenen, als vom Fremden, und die $eichtgläus 
bigfeit in dem, was man wünfcht, ſcheinen es auch be- 
greiflich zu machen, 

Auch hebt das jenen Sag noch nicht auf, wenn 
etwa ausgemacht ift, daß ein Menſch in gewiſſen Stü- 
cken einem andern den Vorzug vor fich einräumer. 

Unterbeffen, fo vieles auch zur Vertheidigung dies 
ſes Sages aufgebracht werden kann: fo fheint es doc) 
allzuverwegen, über die innerften Empfindungen der Men» 
ſchen fo allgemein und fo entfcheidend zu urtheilen. "Und 
es giebt doch auch Erfahrungen, die eher Das Gegentheil 
zu bemeifen ſcheinen. Benfpiele von Menfchen, die mit 
zu lebhafter Empfindung, als daß man es für Verſtel⸗ 
Jung halten fönnte, über ihre Unvollkommenheit Elagen, 
und Mißtrauen in fid) feßen, in Beziehung auf das 
Hauptfähhlichfte von dem, mas ben Werth eines Men- 
fehen ausmacht. Die Sefbftliebe verhindert nicht, daß 
durd) Mitleiden, Wohlwollen und andere fompatbetifche 
Triebe hingeriffen, ein Menfd) bisweilen ſich felbft im 
Gefühle für andere pergeffen koͤnne. Warum follten die 

Eigen» 


L——— — ——— —— — — 


2. ©. Plutarch Themiſtokl. 8. 17. 


Vom Triebe der Hochachtung. 295 


Eigenliebe und ihre Gründe nicht geftaften, daß ein 
Menſch ein richtiges Urtheil über fih und einen andern, 
in Beziehung auf alte Haupteigenfchaften, fälle, und 
von den Bollfommenbeiten des andern mehr eingenommen 
werde, als von feinen eigenen ? 

Natürliche Difpofition zu diefem Letzteren möchte 
wohl freylich in den meiften Menfchen nicht feyn. Alſo 
mag ein jeder fich felbft prüfen; und den Ausſpruch, mie 
er in dieſem Punfte geartet ift, felbft hun. Offenbar 
aber ift der Gedanfe übertrieben, wenn Helvetius fogar 
auf alles, mas auch äußerlich nur einen Menfchen an⸗ 
gehet — ihn ausdehnt. 





Abtheilung I. 


Bon den freundfehaftlichen Neigungen und 
den entgegengefeßten feindfeligen Trieben. 


Kapitel I. x 
Son der BER freundfehaftlichen Eiche, | 


§. 68. 
Ob es uneigennägige Freundſchaften geben könne? 


Bob der Unterſuchung der Gruͤnde, aus denen die freund« 

fchaftliche Siebe und Zuneigung entſtehet, bey welcher 

etw und Zeno, Cicero und Helpetlus fo, verfiie 
T4 


296 B.1. Abſchn. I. Abth. N. Rap-L. 


dene Ausſpruͤche thun, iſt es noͤthig, den Begriff von der 
freundſchaftlichen Liebe aufs genaueſte zu beſtimmen. 
Freundſchaft iſt nicht bloße Liebe Des Wohlgefallens, 
dergleichen man aud) gegen Thiere und feblofe Dinge ha— 
ben fann. Auch nicht bloße Liebe des Wohlmolleng, 
wie die Menfchenliebe und das Mirleiden. Sondern 
MWohlgefallen und Wohlwollen, und dabey nod) Verlan. 
gen nad) ähnlidyer Gegenliebe. 

Daß es ein uneigennügiges Wohlwollen gebe; daß 
nicht immer durch die Siebe zu fich felbft, auf irgend eine 
Weiſe, fondern durch die Sympathie, Menfchen bemo« 
gen werden, andern Gutes zu wünfchen und Gutes zu 
thun; laͤſſet fich leicht erweifen ($. 21.). - Aber wenn ein 
Menfch fein Vergnügen an dem andern, und in dem 
Umgange mit ihm findet; wenn er um diefes Vergnüs 
gens willen dem andern zu gefallen, und demfelben fich 
eben fo nothwendig zu machen fucht, als ihm - derfelbe 
ſchon geworben ift: fo läßt fid) ohne Werleugnung der of⸗ 
fenbarften Empfindungen, ohne Widerfpruch der Bes 
griffe, nicht behaupten, daß diefe Meigung von der 
Selbftliebe unabhängig fey. 

Eigennügig fann darum doch nicht eine jede 
Freundſchaft um diefes Grundes willen genennet werden, 
Denn der Figennuß ift nur ein Zweig der Selbſtliebe, 
und in ber gewöhnlichen ſchlimmen Bedeutung des Wor: 
tes, nur eine Ausartung ober eine unvernünftige Are von 
ihr ($. 15.). Ja man fann noch weiter gehn, und mit 
denen, bie das fchmeichelhaftere Syftem von dem natürs 
lichen Verhäftniffe des menfchlichen Herzens zur Freund. 
ſchaft vortragen, behaupten, daß Figennuß und Freund⸗ 

ſchaft fich gar nicht mit einander vertragen; daß in fo 


weit 


Bon der eigentlichen freundfchaftlichen Liebe, 297 


weit einer nur aus Cigennug die Verbindung mit dem 
andern und deffen Vollfommenbeiten liebt, er noch nicht 
von freundfchaftlicher Siebe gegen ihn befeelt fy. Denn 
diefe beruht auf Wohlgefallen und Wohlmollen, und dem 
unmittelbaren Bedürfniffe, : geliebt zu werden *), Hin« 
gegen ift auch richtig, was fehon einige Epifurder be— 
merft, und zur Vertheidigung und Befchönigung ihres 
Satzes, daß alle Neigungen, und fo aud) die Freund» 
fhaft, aus dem Eigennutz entftehen, gebraucht haben, 
daß eine Zuneigung, die wirflich einen folchen Urfprung - 
gehabt hat, in der Folge, abgefondert von dem Eigen« 
nuße, Beſtand haben koͤnne. Die Gewohnheit kann 
dieſe Veraͤnderung ſchon hervorbringen, wenn auch wei⸗ 
ter nichts wäre (6. 11.). 


Hieraus erhellet auch leicht, daß noch immer 
Grund genug vorhanden ſey, aͤchte und falſche, edle und 
unedle Freundſchaſten von einander zu unterſcheiden; wenn 
gleich allemal die Selbftliebe mit zum Grunde liegt. 
Diefe Unterſchiede hängen nämlich theils.von der Art der 
Beweggruͤnde ab, aus denen das Wohlgefallen und 
Wohlwollen, und das Verlangen nad) Gegenliebe, ent 
fpringen ; theils von der Stärke diefer Neigungen, im Ver⸗ 


Ts hält. 


— nn — — — 


) Aber freylich, wenn man Nutzen oder Intereſſe bey als 
lem dem annimmt, was uns nicht gleichguͤltig iſt, wenn 
es auch nur durch unmittelbares Vergnuͤgen reizt: ſo 
find wir bey jeder Freundſchaft intereffirt, haben Vor⸗ 
theil, Nutzen davon. Allein dies ift doch nicht der ges 
meine Begriff von Eigennüßigfeit. Des Hılv-tius 

. aimer ‘ef avoir befoin läßt fih im Abſicht auf bis 
eigentliche Freundſchaft wohl versheidigen, 





208 SU. Abſchn. Il. Abth. IL. Kap. lJ. 


haͤltniſſe zu ben übrigen. Es iſt nicht nur moͤglich, daß 
Zuneigung zu einem andern Menſchen aus lauter edlen 
und rechtfchaffenen, obgleich auf die Selbftliebe, wenig» 
ftens zum Theil, ſich beziehenden Empfindungen und 
Antrieben entfpringe; fondern auch gewiß, daf die Siebe 
zu dem andern fo ftarf werden, fo ftarf die Seele auf 
einige Zeit einnehmen Fönne, daß man alle feine andern 
Neigungen und ihre Gegenftände darüber vergißt; alles, 
geben und Ehre, der Erhaltung des Freundes aufopfert. 
Ob dies juft die gemeinnügigfte Art von Freundfchaft fey, 
die einer folchen Heftigfeit, einer folchen Uebermältigung 
aller andern Empfindungen und Antriebe, fähig ift; ob 
aud) nur zur beftändigen wechfelfeitigen Gluͤckſeligkeit der 
Sreunde die befte; dies kann noch immer mit dem Hel⸗ 
vetius zur Frage gemacht werden; gehört aber nicht 
ieber. 
* Daß nur vollkommen Tugendhafte aͤchte Freund⸗ 
ſchaft mit einander pflegen koͤnnen; hieße, die Worte in 
der allerſtrengſten Bedeutung genommen, ſo viel, als 
daß es feine Freundſchaft unter den Menſchen gebe. 
Wenn man aber bey beyden Begriffen von der idealifchen 
Vollkommenheit etwas nachlaͤßt: fo ift zwar wohl zu bes 
greifen, daß für die Vollfommenheit der Freundſchaft die 
moralifche Befchaffenheit der ganzen Denfart und des 
ganzen Characters, nichts weniger als gleichgültig ſey; 
dennoc) aber auch durch Erfahrungen gewiß und begreife 
ih, daß Menfchen Saftern ergeben feyn, und dennoch) 
bisweilen auf lange Zeit alles dasjenige für einander em« 
pfinden und thun Fönnen, was der allgemeine Begriff von 
Freundſchaft in fich faßt. Eine verfehrte Neigung bringt 
nicht allemal nothwendig den Verluſt aller guten Geſin⸗ 
| nun« 


Bon bereigentlichen freundfchaftlichen Fiebe, 299 


nungen mit fih. So wie nicht ein Irrthum ſo fort alle 
richtigen Einfichten benimmt *). 


F. 69. 


Von den Urſachen der verſchiedenen Staͤrke dieſes 
Antriebes. 


Der Grund der freundſchaftlichen Zuneigung iſt 
zuſammengeſetzt: es muͤſſen alſo auch die Urſachen der 
mehrern oder mindern Faͤhigkeit, der verſchiedenen Grade 
des Antriebes zur Freundſchaft, an mehrern Orten ge⸗ 
ſucht werden. Naͤmlich, vermoͤge des Weſens der 
Freundſchaft, wird ein Menſch um ſo viel mehr dazu 
aufgelegt und angetrieben ſeyn; je mehr er geſchickt iſt, 
die Vollkommenheiten, die angenehmen und nuͤtzlichen 
Eigenſchaften anderer Menſchen, mit Wohlgefallen gewahr 
zu werden, und lebhaft zu empfinden; je mehr er die 
freundſchaftliche Verbindung mit dem andern bey ſeiner 
Gluͤckſeligkeit fuͤr noͤthig haͤlt; und endlich auch, je weniger 
er gehindert iſt, mit Wohlwollen ſich erfuͤllen zu laſſen. 

Aus dieſen Grundſaͤtzen ergeben ſich vielerley An« 
wendungen von ſelbſt; und einige werden bey anderweiti⸗ 
gen Unterfuchungen vorfommen, Itzt follen fie nur dazu 

| Dies 





Bra na —— — 


®) Es ſchreibt doch auch Voltaire, Dict. philoſ. art. Amitié, 
wie Cicero de amicitia cap. V. niſi in bonis amicitiam 
effe nen poffe: „Les mechants n’ont que des com- 
plices, les voluptueux ont des compagnons de de- 
bauche, les gens interefl&s ont des afloci&s, les poli-' 
tiques affemblent des factieux, les princes ont des 
courtifans; les hommes vertucux font les feuls, qui, 
aient des amis, 


felbjt Zeitvertreib, Rathgeber und Richter feyn kann, 


300 B. I. Abſchn. . Abth. I. Kap-ı. 


dienen, ein Paar bekannte und merkwuͤrdige Erfahrun⸗ 
gen aufjuflären. Erfilic die Bemerfung, daß die freund« 
ſchaftliche Liebe ftärfer und wärmer ift in der Jugend, 
als im männlichen Alter. Hievon laffen fich verfchiedene 
Gründe angeben. Kinmal find die jugendlichen und die 


erſten Empfindungen in jedweder Art gemeiniglic) Die leb» 


hafteften. In Abficht auf die Freundfchaft thut befon« 
ders die $ebhaftigfeit der Sympathien vieles; welche 
in der Jugend flärfer find, ſowohl wegen der mehrern 
Lebhaftigkeit des ſich Mittheilenden, als der größern 
Empfindlichfeit deffen, der den Eindrucd empfängt. Und 
ſchon darum feheinen auch leicht die fpäter vorfommen: 
den Gegenftände minder vollfommen ; weil der Eindruck, 
den fie machen, da es nicht mehr der erfte it, fo ftarf 


nicht ruͤhrt. Sodann koͤnnen die Triebe einzeln fo ftarf 


nicht mehr feyn, wenn ihrer fo viele geworben find; wenn 
insbefondere auch unfer Wohlwollen fo viele Gegenftände 
in und außer der Familie an fich ziehen und unter fich thei- 
fen. Hiezu koͤmmt, daß das manchfaltigere und verwis 
ckeltere Intereſſe des Mannes, leichter dauerhafte Hinz 
derniffe der herzlichen Freundſchaft hervorbringt, oder 
doch befürchten laͤſſet. Insgemein nimmt auch die Ems 
pfindlichkeit für Mängel und Unvollfommenheiten mit den: 
Jahren zu, die man in der Jugend nicht achte. Und 
endlich muß der Trieb zur Freundfchaft abnehmen, wie 

das Bedürfniß eines Gefellfhafters und Vertrauten fich 
vermindert. Der Mann, dem feine Gefchäfte feine Zeit 
zur langen Weile und zum ergögenden Umgang übrig lafe 
fen; der Mann, ber durch feine ausgebildeten Verftane 
deskraͤfte, und was er fonft in feiner Gewalt hat, ſich 


mehr 


Bon der eigentlichen freundfchaftlichen Liebe. 30ꝛ 


mehr als der yüngling; der endlich, dem bie Freuden 
der häuslichen Verbindungen zu Theil geworden find *); 
wenn er gleich nicht unempfindlicy gegen die Reize der 
Sreundfchaft iſt, wird doch ganz natürlich weniger ftarf 
von ihnen angezogen, weniger lebhaft gerührt, 


Aus eben diefen Gründen läßt fid) die andere Bes 
merfung erflären, daß die glänzendeften Benfpiele, die 
ftärfften Proben von Freundfchaft nicht fomohl unter ges 
fitteten, als vielmehr unter wilden und halbgefitteten 
Völkern vorfommen, Die noch immer zum Beyſpiel der 
vollfommenften Freundfchaft dienenden Namen des Dres 
fies und Pylades find aus einem folchen Zeitalter. Aber 
dem Wilden ift eben auch der Freund vorzüglich noͤthig; 
oft fein einziger Schuß bey fo vielen Gefahren, gegen die 
er fein geben vertheidigen muß **), And auch bey ihm 
theilen wenigere Öegenftände die Empfindungen und Triebe 
des Herzens; und feine einfachere Jebensart, feine weni⸗ 
geren Bebürfniffe, Fönnen nicht fo oft Streit zwifchen 
feinen und feines Freundes Abfichten verurfachen. 


6, 70: 








— — — 


*) In manchen Faͤllen kann auch noch die Schwaͤchung aller 
Empfindungen, der angenehmen ſowohl als der unan⸗ 
genehmen, zu dieſen Urſachen hinzugegommen werden, 
Sein Herz ſich zu erleichtern von allzuheftigen Empfin⸗ 
dungen und beunruhigenden Vorſtellungen, iſt eines 
der vornehmſten Beduͤrfniſſe, um welches willen dem 
Juͤngling ein Freund und Vertrauter noͤthig wird. 


un) S. Meiners über die Maͤnnerliebe unter den Griechen; 
Vermiſchte Schriften, Th. l, ©, 84. 


2 ll, Abſchn. I. Abth. II. Kop-l. 


SD 7% 
Don den verfchiedenen Arten ber Freundfchaftsverfiherungen. 


In der Maturgefchichte der freundfchaftlichen Neis 
gungen wird die Bemerkung der unterfchiebenen Arten, 
wie die Menfchen einander ihre freundfchaftlihen Gefin- 
nungen zu erfennen geben, feine Ausfchweifung ſeyn. 
Die Zeichen der Neigungen, wenn fie natürlich find, 
helfen zur Erkenntniß der Befchaffenheit und der Gründe 
derfelben. | | 
+ Unter allen Himmelsgegenden, bey allen Arten 
von Völkern, findet fi) die Gewohnheit der Ilmars 
mung *); obgleich allerhand Abweichungen in der ges 
nauern Beftimmung diefer Freundfchaftsbezeugung dabey 
vorkommen. Man läßt unter uns bald die Wangen fi) 
berühren, bald die Lippen; die Neufeeländer halten die 
Naſen gegen einander *). Verſchiedene Voͤlkerſchaften 
in den Inſeln der Suͤdſee vertauſchen die Namen mit 
denenjenigen, mit welchen fie Freundſchaft machen mols 
fen +). Bey eben denfelben und mehrern andern Voͤl⸗ 
kern ift die Borhaltung eines grünen Zweiges von einem 

Baum, 











*) Bey ben Ralmuden follen doh Umarmungen nicht ges 
präuchlich ſeyn, außer am erſten Morgen eines jähr: 
lichen Feſtes. Man fieht fie auch ihre Weiber ober 
Dirnen nie kuͤſſen, und es foll dies auch bey den vers 
trauteften Liebfofungen derfelben nicht gewoͤhnlich ſeyn. 
Gute Freunde, die einander lange nicht gefehen, ges 
ben fih die rechte Hand beym Gruße. Pallas Nach⸗ 
richten von den Mongol. Vol, I. 229. 

#t) Forfler's Voyage round the World, 

+4) Hiftoire des Navigations aux terres auftrales I. p. 261. 
Hackesworth und Forfer. 


Bon dereigentlichen freundfchaftlichen Liebe. 303 


Baum, oder auch weifigefärbten Sachen, ein Zeichen 
der freundfcyaftlihen Gefinnungen *). Bey einigen 
Völkern ift das Zeichen der errichteten Freundfchaft und. 
Treue, daf einer dem andern aus feiner Hand zu trin⸗ 
fen giebt *). Ben den Mordamerifanern dient das - 
Galumet dazu, oder die Tobackspfeife, aus der gemeins 
ſchaftlich geraucht wird. Syn den Ritterzeiten ließen die. 
jenigen, die Waffenbrüder werden wollten, ſich zu glets 
cher Zeit eine Ader öffnen, und vermifchten ihr Blut mit 
einander }). 


Alle diefe Beweiſe der Freundfchaft Finnen eben fo, 
wie die Darreichung oder Ergreifung der Hand, und 
auch die Gefchenfe, für natürliche Wirfungen der bey 
der Freundfchaft eintretenden Empfindungen und Abfich« 
ten angefehen werden. Cie beweifen entweder eine Nei— 
gung, mit dem andern in Gemeinfchaft zu treten, Zus 
frauen; oder eine Neigung, ihm Vergnügen zu madıen. 
Bey den mehreften ift Diefe Abfiche und Bedeutung der 
Handlung offenbar; bey den übrigen dod) vermuthlich. 
Die grüne und weiße Farbe find den Menfchen von Na— 
tur angenehm; find es auch feicht überall dur) Meben« 
ideen. Das Grüne, die Farbe des durch feinen Schatten 
und feine Früchte fo wohlthaͤtigen Baums; das Weiße, 
als das Reine, Unbeflecfte, Ungefchminfte +}). 

| Einige 


*) ©. Forfler’s‘ Voyage I. p. 167. 
*#) ©, Les Voyages de Schaw. I. p. 393. 
+) ©. Memoires fur !’ancienne Chevalerie, p. 227. feq. 
+}) Forfer Voyage 1. 167. mepnt, daß biefe Gebräuche 
Folgen einer von der Zerftreuung der Menfhen einges 
führten Gewohnpeit feyn muͤſſen; weil Fein — 
run 








3204 BU, Abfehn.ir, Abth. i. Kop. H. 


Einige andere Gewohnheiten find ſchwerer auf na 
tuͤrliche Gründe zuruͤck zu bringen, Die Einwohner der 
Inſel Mallicollo, und die Neugineer, mit welchen 
jene einerley Urfprung zu haben fcheinen, follen dadurd), 
daß fie ſich Waffer über den Kopf gießen, ihre freund 
feyaftlichen Gefinnungen zu erfennen geben *). Soll es 
vielleicht die dee vom Baden, einer friedlichen und ge- 
felligen Handlung erwecken? Diegroben Mißhandlungen, 
die bey den Kamſchadalen **) mit dem neuen Freunde 
vorgenommen werden, laffen fih wohl auf die Vorftel- 
fungen von Ergebenheit und Gefälligfeit zurüdführen; 
beweifen aber freylich einen großen Mangel an feinern 
Empfindungen. 


Rapitel IL 
Bon der Liebe gegen Das andere Geſchlecht. 


§. 71. 
Vermiſchung unterſchiedener Triebe beym Urſprung und der 
Unterhaltung dieſer Leidenſchaft. Große Gewalt derſelben. 


Mi gutem Grunde unterfcheidet man zwey Gattungen 
der Zuneigung, die Perfonen verfchiedenen Geſchlechtes 
— gegen 





REINER 
Grund dazu vorhanden. Wenn man fich aber bie Frage 
vorlegt, was Menfhen, wenn fie im Bedürfniffe wis 
zen, durch ſtumme Zeichen, von der Ferne zu, einans 
der freundliche Gefinnungen zu erfennen zu geben, 
wohl thun müßten; wird man da viele andere Dinge 
angeben koͤnnen, auf bie fie eben fo gut ober noch befr 

fer verfallen koͤnnten, als auf die angezeigten? 

“#) ©. Porfter 1. 235. feq. 

*v) S. Stellers Befhreibung von Kamſchatka, S. 328. ff. 
Meiners vermiſchte Schriften, Ah. J. 


Bon der £iebegegendas andere Geſchlecht. 305 


gegen einander haben fönnen; wovon die eine der Freund. 
ſchaft gleiche, und aus. den gemeinen Gründen derfelben 
entfteht; die andere aber aufdie Bedürfniffe ver Gefchlech- 
ter fich) bezieht. Aber gewiß ift eg, daß diefe verſchiede— 
nen Gründe öfter zufammen fommen, und manchfaltiger 
und feiner fich unter einander vermifchen, als mehren- 
theils geglaubt wird, 


Schon dies würde es ſchwer machen, durch Beob- 
achtungen zu entfcheiden, ob die bloße freundfcyaftliche 
Siebe zwifchen Perfonen von verfchiedenem Gefchlechte ftär- 
fer fen, als zwifchen denen von einerley Geſchlechte? 
Vermöge der Natur der Sache folhes zu vermuthen, 
find einige Gründe allerdings vorhanden; aber auch wie- 
der Gründe dagegen. Mittelft der verfchiedenen ange» 
nehmen oder nüglichen Eigenfchaften, die ein Gefchleche 
vor dem andern voraus hat, koͤnnen fie befonders anzie⸗ 
hend fuͤr einander werden. Und da ſie nicht ſo oft nach 
einerley Dingen ſtreben; ſo kommen ihre Abſichten nicht 
ſo leicht mit einander in Streit; dagegen iſt aber auch die 
mehrere Verſchiedenheit der Vorſtellungs ⸗j und der Em⸗ 
pfindungsart eine mehrere Veranlaſſung zum Mißfallen, 
der Eiferſucht und des wechſelſeitigen Anſpruchs auf Herr⸗ 
ſchaft — weil dieſe doch bey bloß freundſchaftlicher Ver⸗ 
bindung keinen beſondern Grund haben muͤßten — gar 
nicht zu gedenken. 


So ſtark übrigens auch die bloße Freundſchaft im: 
ter den Geſchlechtern werden kann: ſo iſt doch wohl au⸗ 
| ber Zweifel, daß die höchfte Leidenſchaft der Siebe, deren 
Gewalt fich durch fo vielerley Arten von Wirkungen be 
kannt genug gemachte hat, ohne den offenbaren ober 


Erſter Theil. U gehel. 


306 BU. Abſchn. II. Abth. I. Kap.I. 


geheimen Einfluß des thieriſchen Beduͤrfniſſes nicht 
entſteht *). 

Dieſe Leidenſchaft iſt die maͤchtigſte unter allen. 
Sie feſſelt oder übertäubt die Rachſucht, fie überwindet 
die Ehrbegierde, die Alterliche und die kindliche Siebe; 
fie macht treulos, gegen Freund, König und Vaterland, 
Selbſt der Eigenliebe leget fie Feffeln an. Co vollfom» 
men, fo über die gemeine Menfchennatur erhaben, fcheint 
dem erhigten Liebhaber feine Geliebte, daß er vor ihr, 
wie vor einer Gottheit, in den Staub niederfinft; daß 
er fich nicht für würdig hält, fo heftig er es auch wuͤnſcht, 
von ihr geliebt zu werden. Daher befümmt aud) die ge⸗ 
ringfte ihrer Gunftbezeugungen, alles, was mit ihr in Ver: 
bindung ſteht, mas ihre Hand, was ihr Fußtritt be» 
rührt, einen unermeßlichen Werth. Alles andere wird 
in eben dem Verhaͤltniſſe gleichgültig oder verächtlich. 
Insbeſondre rührt Feine andere Schönheit den ächten Lieb⸗ 
baber. Und gern entbehrt er gröberer Luͤſte; indem feine 
ganze Seele wonnetrunfen an dem Bilde der Geliebten 
hängt, und von dunfeln Hoffnungen eines alles überfteis 
genden Gluͤckes, das ihm diefe nur gewähren kann, ans 
gezogen wird. Es ift daher von vielen Moraliften ange» 

merfet 





*) Daher findet man’ auch, bey denjenigen Völkern, bey des 
nen entweder durch dad ungefunde Klima, oder die 
färgliche Nahrung, oder irgend eine andere Urfache, 
das Temperament fehr gefhwächt ift, Fein Beyfpiel ei" 
ner folhen Leidenſchaft; fondern vielmehr außerordents 
liche Sleichgültigkeit gegen das andere Geſchlecht. Die 
Ameritanee jind.als ein Beyſpiel hievon .allen ihren 
Beobachtern wmerfwürdig geworden. ©, Koberifon 
Hiit, of America 1, 292. feq. 


Bon der Eiebegegen das andere Gefchlecht. 907 


merft worden, daß die Unfchuld in folcher innigen Liebe 
zu einem wuͤrdigen Gegenftande, nächft der Religion, 
die mächtigfte Befchügerinn hat *), Am feyerlichften 
_ und am weiteften ins Ernſthafte trieb man die Sache in 
den Ritterzeiken. Der Feldherr, der zum Kriege für 
das Vaterland fich) rüftere, hielte es noch für etwas wich- 

tiges, den Griff feines Degens von der Angebereten bes _ 
rühren zu laffen. In der Schlacht erfchien er mit einem 
ihrer Kniebänder um den Arm, Belagerer und Bela— 
gerte ftellten ihre Feindſeligkeiten ein, ganze Armeen hiel⸗ 
ten mitten im Öefechte inne, um dem Nitter, ber zur 
Ehre feiner Dame einen Zweykampf beginnen wollte, 
Plag zu machen, und Zufchauer abzugeben. Bey eini« 
gen foll die verliebte Schwaͤrmerey fo weit gegangen feyn, 
daß, um die Stärfe ihrer Liebe durch Unempfindfichkeie . 
gegen alles übrige zu beweifen, fie am Sommer fic mit 
Kleidung und Feuer heiß machten, als ob für fie Feine 
Sonne wäre; und des Winters fich der Kälte ausfeßten, 
daß wirklich etliche darüber erfroren **), 


Vebrigens kann doch wohl ſchwerlich behauptet 
werben, daß, vermöge diefer gedoppelten Gattung na« 
türficher Antriebe, die Liebe zu irgend einer Perfon, bey 
einem zum Gebraud) feiner Vernunft fonft gewoͤhnten 
Menfchen, wie eine hißige Kranfheit, plöglich in aller ih— 
rer Gewalt eneftehen koͤnne; und daß es alfo nicht 
Ua von 





— — — — 


#) ©. Fordyte's Reben an Juͤnglinge, Th. I. ©. 180. ff. 


*#%) ©, Memoires fur V’ancienne Chevalerie I. p. 221. feq. 
Tom. II, p.j63. und Thomas Eſſai fur les femmes, 
p. 168. - 





208 B. I. Abſchn. IT. Abth. I. Kap. H. 


von menſchlicher Freyheit abhaͤnge, ſich zu verlieben oder 
nicht *). 


$. 72. 


Von der Schaamhaftigkeit, in Beziehung auf den Gecchlechts⸗ 
trieb, und den verſchiedenen Meynungen über die Dos 
salität deffelben. ' 


So nattırlic) diefer Trieb aud) ift, fo kann er doch 
das Anfehn gewinnen, als ob die Vernunft, oder das 
natürliche Gefühl deffen, mas recht und ſchicklich ift, et⸗ 
was vermwerfliches dabey finde; indem es fiheint, daß die 
Menfchen der Aeußerungen diefes Triebes und der Be— 
friedigung deffelben fich ſchaͤmen, und daher ſich dabey vor 
andern zu verbergen fuchen. Aber ift dies aud) das 
MWerf ver bloßen Natur; oder was fönnte diefe Sitte 
fonft für Gründe Haben? Ganz genau diefe Frage zu bes 
antworten, iſt in der Thar nicht leicht. Wir wollen 
ung begnügen zu benerfen, mas die Erfahrung gewiß 
gemacht hat. Diefe belehrt ung erftfich, daß es aller 
dings in warmen $ändern viele Völker gegeben hat und 
noch giebt, bey denen das männfiche Gefchlecht im ‚ges 
ringften nicht an diejenige Bedeckung denfet, die unter 

uns 


as - 4 F 


e*y SMeiners' vermiſchte Schriften, B. Ul. Et. IE 
Ein anderer ſcharfſinniger Philoſoph vergleicht doch in 
allem Ernſt den Urſprung des Verliebens, wie daſſelbe 
bisweilen entſteht, mit dem Elektrichen Schlag; 
und meynt, daß bie Vergleihung der Liebe mit einer 
Flamme, die das Anzündbare plößlih und unwider⸗ 
ſtehlich ergreife, im buchſtaͤblichen Verſtande wahr fey, 
Anton, Genovef, ©. deffen Scienze metafifiche, 
P . 374- | 





Vonder Liebe gegen das andere Geſchlecht. 309 


uns für eine nothwendige Wirkung der Schaamdaftig- 
feit gehalten wird; und das weibliche zum Theil auh 
nicht, zum Theil auf eine fehr nachläffige und unvoll» 
Fommene Weife *). Ferner ift bey einigen andern Voͤl— 
Fern, wo diefe Bedeckung gemöhnlich ift, eine andere 
Abſicht, als die der Schaambaftigfeit, hoͤchſtwahrſchein⸗ 
lic) der Grund derfelben; nämlich die Abſicht, vor Vers 
letzungen ſich zu fihern. So fehr wenig ſtimmt mit. je- 
ner erften Abfiche die Art, wie fie es thun, überein; und 
fo leicht unterlaffen fie es, mo die andere Abficht es nicht 
nöthig macht **). 

Und eben diefe Abficye auf die Sicherheit, bey 
dem Beſitz eines Gutes, das gar zu leicht einen andern 
auch reizen Ffönnte, und in einem Zuftande, der zur Ver⸗ 
theidigung vor einem feindlichen Ueberfalle ſehr wenig ge⸗ 
ſchickt iſt, laͤßt ſich auch als die Urſache denken, um mel 
cher willen der roheſte Menſch, bey der Befriedigung des 
Geſchlechtstriebes, den Augen anderer gemeiniglich ſich zu 
entziehen ſuchet. 

So ſehr nun aber auch dieſe Bemerkungen, in der 
ganzen Geſchichte dieſes Theils der Sitten, mit Grunde 
zu gebrauchen ſeyn moͤgen: ſo iſt daraus doch nicht zu 
folgern, daß die chniſche Denkart der Vernunft ange⸗ 
meſſener ſey, als diejenige, die alle geſittete Voͤlker fuͤr 

u3 noth⸗ 

*) Robert/on’s Hift. of America I, 92. 97: 369. Hacker. 
worth Il. 622 leg. 

*#) ©. Forfler’s Voyage II. p. 206. 230. 278. Helvetius 

de l’Efprit dife. H. ch. zıv. Diefer letztere Schrift— 

ſteller führt die Sache, was das andere Geſchlecht ans 


belangt, auch noch auf — — Grund hinaus, 
naͤmlich auf Buhlkunſt. XV. 














310 Bl. Abſchn. II. Abth. I. Kap. Ik 


nothwendig halten. Mur auf die Rechnung eines befon« 
dern Inſtinktes muß man nicht fegen, was die Wir 
fung des vernünftigen Machdenfens, ober der Ideenad⸗ 
feciation ift. 
Aber woher fommt es denn doch, daf bie klar am 
. Tage liegende Meynungen von der Moralität der Bes 
friedigung diefes Triebes zum Theil fo aͤußerſt weit von 
einander abweichen; daß einige die gänzliche Enrhaltung 
von derfelben für das erfte Gefeg der vollfommenen Hei 
figfeit halten *); nach andern hingegen der uneinge— 
fehranftefte Genuß zu den natürlichften Rechten der Menſch⸗ 
beit, zu den vornehmften Stüßen der Gluͤckſeligkeit, ja 
fogar zu den vorzügliehften Arten, die Gottheit zu verehren, 
und ihr Wohlgefallen zu verdienen, gehöret **)? 
Kurz, hierauf zu antworten: fo bat man zu bes 
benfen, daß auch diefe Sache verfchiedene Seiten, und 
nach diefen verfchiedenen Seiten, befonders aber auch nad) 


verſchiedenen Graden beachtet, fehr verſchiedene Verhaͤlt⸗ 


niſſe hat zu dem, was dem einzelnen Menſchen, oder der 
Geſellſchaft nuͤtzlich iſ.. Wenn man auch nur bey der 
Bevölkerung, ohne Zweifel der vornehmften, der natür- 

EZ lichen 


e) Auch bey heidniſchen und zum Theil wilden Voͤlkern fins 
bet ſich dies. Won zwölf Secten in Japan erlaubt nur 
eine ihren Prieftern die Che, ©. Voyages au Nord. 
III. 116. ſeq. Noch gemeiner ift in den Religionen 
bas Geſetz der Enthaltung vom Bepfchlafe furz vor got: 
tesdienftlichen Verrichtungen. 

*x) Wenn man von den Gefchichten diefer Art'auch alle ver: 

bächtige übergeht: fo bleibt doch zum Beweis der Sache 
noch genug. ©. Helvetius dife. I, chap. XIV. Iſelin 
Geſchichte ber Menfhheit, B. II. K. XVIIL \ 





Von der Liebegegendasandere Sefchlecht. zur 


fihen Wirfungen und Abfichten dieſes Triebes, ftehen 
‚bleibt: fo ift befanne, daß nicht unter jedweden Umftän- 
ben der Werth derfelben gleich geachtet wird. Kinige 
der vornehmjten Weifen unter den Griechen haben die 
Auffegung der Kinder, oder doch wenigftens die Abtreis 
bung, für erlaubt gehalten; in der Abficht, die gar zu 
ftarfe Bevölferung dadurch zu vermindern. Sollte nicht 
- aus eben dem Grunde auch die Lehre haben entftehen koͤn⸗ 
nen, daß die Enthaltung von der Befriedigung diefes 
Triebes die Pflicht vorzüglich rechtſchaffener Menfchen 
fen *)? 
Aber es laſſen ſich auch noch andere Gruͤnde dieſer 
Denkart angeben. Einmal der Abſcheu, den die unre⸗ 
gelmaͤßige, ausſchweifende Befriedigung dieſes Triebes 
nothwendig erweckt; und dabey der den Menſchen ſo ge⸗ 
woͤhnliche Fehler, von einer Uebertreibung auf die entge⸗ 
gengeſetzte zu verfallen. Aus dieſem Grunde ſind ja alle 
ſinnliche Ergoͤtzungen von einigen fuͤr ſuͤndlich gehalten 
worden. — Denn die ungelaͤuterte Idee, durch Aufopfe⸗ 
rung des $iebften, durch gänzliche Unterwerfung und Vers 
leugnung feiner felbft, Gott ſich gefällig zu machen, 
Ferner der Gedanfe, der Seele die ihr geziemende Herr⸗ 
ſchaft über den Körper zu verfchaffen, und durd) Entzie- 
hung von den Empfindungen und Trieben deffelben fie zu 
reinigen und zu erheben. Vielleicht auch bisweilen die 
Verachtung gegen das andere Gefchlecht. 

Die Ausfchweifungen auf der enfgegengefeßten 


Seite laffen ſich aus dem Einfluffe der flärkften Neiguns 
5 U4 gen 





*) —— hat dieſe Vermuthung gleichfalls. Dife. M. 


312 Bl. Abfehn.it. Abth.IL Kap. I. 


gen in bie Urtheile vom Mechte überhaupt, und in bie | 
Vorftellungen von den Eigenfchaften und Neigungen der | 
Gottheit, Hinlänglic) begreifen *). 


§. 7% 
Bon der Eiferfucht, | 


Zu den merfwürdigen natürlichen Wirfungen b 

Siebe gehört die Eiferfucht. Ueberhaupt ift es natürlich, 
ben Beſitz eines Gutes nicht gern mit andern zu theilen; 
zumal wenn die Theilung einen unvollfommenen Genuß, 
den gänzlichen Verluſt oder andere nachtheilige Folgen bes 
fürchten läffet. Und demnach ließe fid) annehmen; je 
heftiger einer liebte, deſto weniger könne er gleichgültig 
feyn, bey der Vorftellung, daß ein anderer die Gunft 
der geliebten Perfon gewinnen werde. Unterdeſſen gehö« 
ren noch) andere Bedingungen dazu, wenn Eiferfuche 
wirklich entftehen foll; und fie kann auch aus ſolchen Gruͤn⸗ 
den entfpringen, die Feinesweges von der Stärfe ber 
fiebe zeugen, Zutrauen in die dem Siebhaber günftige 

Den« 





m 


— 











— 


x) Wie leicht hiebey das Gewiſſen dem finnlihen Triebe 
nachgiebt, kann, wenn noch Beyſpiele noͤthig ſind, 
auch das beweiſen, was den Spaniern in Louiſiana 
Schuld gegeben wird, daß ſie naͤmlich eine Wilde, mit 
der ſie ſich einlaſſen wollen, erſt taufen, und damit 
ſich beruhigen. Voy. au Nord. V. 16. Unter den 
Perſern, bey denen es erlaubt ift, auf eine beſtimmte 
Zeit fich zu verheyrathen, ftellen diejenigen, die gemwifs 
fenhaft ſeyn wollen, fidh vor, daß fie bey vorfonmens 
ber Selegenheit auf eine fo kurze Zeit, als ihnen gefäls 


lig ift, fi verbeyrarben, ©. Chardim edit. 1711. 
go vol. I. p. 165, | 


Von der Liche gegen dag andere Geſchlecht. 913 


Denfungsart der geliebten Perfon , und Zutrauen zu ſei⸗ 
nen eigenen Bollfommendeiten , bewahren vor diefer Lei⸗ 
denfchaft auch bey einem großen Grade der liebe. Hin« 
gegen Fann auch, ohne viele eigentliche Liebe, Eiferfuche 
entſtehen aus-der ſtolzen Herrſchſucht, die eine völlige Er- 
gebenheit und ausfchließende Rechte bey allem fordert, 
was fie als ihr zugehörig anfieht; oder aus der Eigenliebe, 
die fich befeidiger findet durdy die Vorftellung, einem an« 
dern nachgefeßt zu werden; oder endlich auch nur;aus der 
Furcht vor der Schande und Verfpottung. Ä 
Diefe verfchiedenen Gründe der Eiferfucht verbale . 
ten ſich zu den unterfcheidenden Gemüthseigenfchaften der 
benden Geſchlechter zu verfchiedentlih; als daß man, in 
Erwägung derfelben, ein Gefchlecht überhaupt mehr als 
das andere zur Eiferfucht geneigt halten koͤnnte. Aber 
bey beftimmteren Characteren der Individuen, oder auch 
der Mationen, findet man mehr Gründe zu einer ſolchen 
Unterſuchung. 
Wenn die Eiferſucht von der Leidenſchaft ber Liebe 
herruͤhrt: fo offenbaren fich ben derfelben insbefondere auch 
alle die Wunderfräfte dieſer Leidenſchaft, und der von 


Leidenſchaft belebten Symagination. Erhebung des Flein- 


ften Umftandes zur Sache von der größten Wichtigkeit, 
des Möglichen zum unzweifelhaft Gewiſſen; unabfäffige 
Beichäftigung mit dem einzigen quäfenden Gedanken, 
Gfeichgültigkeit, Blindheit gegen alles andere; Abzeh— 
rung des Körpers, plögliche Umfchaffung des ganzen Cha- 
racters, oder doch der ganzen Handlungsart. 

In diefer Geftalt fann die Eiferfucht freyfich für 
nichts anders, als für das größte Unglück bey der Siebe 
gehalten werben. Aber wenn fie durch Vernunft gemä« 

u 5 ßigt, 





314, B. II. Abſchn. Il. Abth. II. Kap. I. 


ßigt, durch Sympathie in beſcheidenen Graͤnzen erhalten 
wird: ſo erweckt ſie den Eifer, ſich gefaͤllig zu machen, 
ſchmeichelt dem Geliebten, und bringt hoͤchſtens nur 
kleine Wolken in den Geſichtskreis der Liebenden; nach 
deren Uebergang ſie die wohlthaͤtige ma der Liebe defto 


lebhafter empfinden. 


9 74 


Verſchiedene Grade der Achtung fuͤr die Keuſchheit und fuͤr 
das andere Geſchlecht uͤberhaupt. 

Die bisherigen Bemerfungen laſſen ſchon vermu⸗ 
then, daß, nach andern Verſchiedenheiten der Sitten, 
auch die Eiferſucht ſich richten, mancherley verſchiedene 
Graͤnzen und Wirkungspunkte erhalten muͤſſe. 

Im Stande der Wildheit, wo die Staͤrke der 
Grund der Rechte iſt, und eben daher auch der Mann 
alles Eigenthum an ſich zieht, die Frau nichts mitbringt, 
vielmehr von ihren Eltern gekauft werden muß; da ſind 
die Weiber gemeiniglich Sklavinnen. Als ſolche muͤſ— 
fen fie den Lüften des Mannes dienen, ohne Anſpruͤche 
auf Treue und Ergebenheit deffelben machen zu. Eönnen. 
Eiferfüchtig feyn wollen auf eine andere Liebe des Mannes, 
hieße die Rechte des Oberherrn angreifen. Er hingegen, 
der Defpote, ahndet es mit dem Tode, wenn eine diefer 
feiner Leibeigenen den Trieben nachgiebt, die oft fo we⸗— 


nig Befriedigung durch ihn erhalten *), 
Unter 








*) ©. Millar's Obfervations on the difiindions of rank 
in — chap, I, Robertfon’ s Hiftory of America, 


IL. p. au. fegq. 


Bon der Eiebe gegen das andere Geſchlecht. 315 


Unter Völkern von gemilderten, aber doch unvoll« 
ftändig ausgebildeten Sitten, finden ſich mehrere Bey 
fpiele, daß es zur Gaftfreundfchaft gerechnet wird, nicht 
nur die Tochter, fondern auch wohl die Frau, einem ans 
dern zu überlaffen; und übel aufgenommen wird, wenn 
man von diefer Gefälligfeit Feinen Gebrauch macht *). 
Die Begierde, Kinder zu haben **), abergläubifdye Ein— 
bildungen und andere Gründe haben bey einigen eben diefe 
Gefälligfeit bewirkt. 


Am wenigften aber wird bey den atfermeiften vom 
Zwange buͤrgerlicher und religieufer Geſetze bierinn befrey. 
ten Voͤlker auf die Keufchheit unverhepratheter Perfonen 
geachtet. Ya bey verfchiedenen foll es fogar einer Weibs⸗ 
perfon zur Empfehlung gereichen, und leichter zu einem 

Manne 











x*) S. von den Kalmuden Palles Nachrichten von den 

| Mongol. Voͤlk. Th. L. ©. 105. In der Infel Ceylon 

ift die Hahnreyſchaft überhaupt fehr gemein, und wird 

indgemein wenig geachtet. Insbeſondere ift es ges 

wöhnlih, daß der Mann, menn er von fehr guten 

Freunden oder Vornehmern befucht wird, ihnen feine 

Frau oder Zochter zur Gefellfehaft in die Schlaf kammer 

fhidt. ©. Krox part. III. ch, 7. ©. auch Milar's 
Obfervat, p. 12. 


*#), Bey den Grönländern werden Mann und Frau wohl 
einig, in der Abficht, einen gefhicten Landsmann ober 
auch Europäer zu miethen. Erans II. 328. Die 
Grönlänber find fonft ein ziemlich Feufches Wolf; und 
das unverheyrathete Srauenzimmer iſt nicht nur fehe 
züchtig, fondern fogar fpröde. Die Jungfrauen wer⸗ 
den ohnmädhtig, oder laufen in eine Müfteney, wenn 
ihnen ein verliebter Antrag geſchieht. Ebend. 1. 
201. ff. 


36 DM. Abſchn I. Abth. II. Kap. I. 


Manne verhelfen, wenn fie ſchon mit vielen Liebhabern 
in der groͤßten Vertraulichkeit gelebt hat *). 

Daß ſehr vieles in dieſem Theil der ſittlichen Den⸗ 
kungsart der Wirkung politifcher und religieufer Gefege 
zujufchreiben ſey; bemeifen alle Beobachtungen zufammen 
genommen fehr deutlid). 

Fin Menſch, der nur die groben finnlichen Süfte 
kennt, betrachtet aud) das andere Gefchlecht nur als ein 
Mittel, thierifche Triebe zu befriedigen, ‚oder eines Theils 
feiner Arbeiten fich zu entledigen. in folder wird da» 
ber auch bey der Wahl eines Gegenftandes nicht auf die. 

jenigen Vollkommenheiten fehen, von denen die feinern 
geſellſchaftlichen Vergnügungen abhängig find; er wird 
nicht darauf bedacht feyn, weder dem andern Gefchlechte 
Gelegenheit zu verfhaffen, dieſe Vollkommenheiten fich 
zu erwerben, noch fic) felbft fo zu bilden und zu berragen, 
daß er einer Perfon, die fie befißt und zu fihägen weiß, 
gefallen fönne. Ueberhaupt alfo muß feine Achtung fuͤr 
das andere Gefchlecht nur geringe fenn. Und wie es in 
vielen Fällen geht, fo kann auch hiebey die Wirfung wie: 
der zur Urfache eben deffelben Erfolgs werden; und das 
eine Gefchlecht weniger geachtet feyn, weil ihm diejeni« 
gen Bollfommenheiten fehlen, von denen es durd) die . 

Uebermacht des andern abgehalten wird **). 
Daß 














*) ©, von den Kamfchadalen Steller S. 346. und von 
ren Voͤlkern Buffon Allg. Naturbift, TH. V. 
105. ff. Iſelin Geſch. der Menſchh. I. ©. 331. — 
Miller chap. I. Genauer hingegen e. es die Kir; 

pifen. ©. Ryttſchkow Tagebuch S 

— Bey ben Griechen find bie lan — geachtet 
worden, als die Ebefrauen; weil die mehrere Freyheit, 
deren fie ſich bedienten, jenen zu mehrern geſellſchaftli⸗ 
chen Vollkommenheiten verhalf. 








Bon der Liebe gegen das andere Geſchlecht. 317 


| Daß diefes am häufigften der Fall des weiblichen 
Gefchlechtes feyn müffe, ift begreiflich. Unterdeffen 
finden fic) Benfpiele, daß auch im Stande der Wildheit 
die Frauen ein großes Anſehn, und faſt die Oberherr⸗ 
ſchaft uͤber die Maͤnner erlanget haben; wovon allerdings 
die mehrere Ausbildung, die in den ruhigern und manch: 
faltigern häuslichen Befchäftigungen ihr Geift erlangt 
batte, die Urfache feyn konnte ). | 


$. 75. 
Ob die eheliche Gefellfhaft eine Wirkung des 
| Inſtinktes fey ? | 
| Daß die Vernunft es zur Pfliche mache, den Ga : 
ſchlechtstrieb miteelft ehelicher Verbindung zu befriedigen ; 
iſt gewiß. Uber ob unabhängig von den Vernunfts⸗ 
gründen, ſchon irgend ein Empfindungstrieb oder mehrere 
zuſammen die eheliche Gefellfchaft bewirken, kann noch 
gefragt werden. in berühmter Schriftfteller glaubt, 
daß der Menfch einen eigenen Naturtrieb hiezu habe, 
und findet einen Beweis hievon auch in der Neigung der 
Fleinen Kinder, ſchon in ihren Spielen eheliche Berbin- 
dungen einzugehn *). | | 
Andere 





“ra - — \ ı . 








2) S. von den Marianifhen Infeln Hit, des navigations 
aux terres auftrales, II. p. 505. Von Kamſchatka 
Stiller ©. 287. Und überhaupt Milar’s Obfervat, 
ehap. I. 

“) Home Verfuche über vie Gefch, der Menſchh. Verſ. VE 

deutſch. Ueberſ. ©, 196. 





18 DB. Abſchn. I. Abth. I. Kap-IL 


Andere laſſen bisweilen einen Wilden von dem un⸗ 
natürlichen Zwang der Ehe fo ſpitzfindig ſprechen, als ob 
er ſich in der Geſellſchaft großftädtifcher Wollüftlinge ges 
bildet hatte *). 

Zieht man 'hiebey die befannteften Erfahrungen 
unparthenifch zu Rathe: fo ift erftlich fo viel leicht ausge⸗ 
macht, daß ber vertrautefte Umgang nicht verhindert, 
daß nicht oft eine Perfon die andere bald vergißt, oder doch 
auf beſtaͤndig verlaͤſſet. Hingegen ift Doc) auch eben fo be» 
greiflih, daß bey geringerer Empfänglichkeit für jeden 
neuen Reiz, oder weniger äußerlichen Anlaͤſſen zu folchen 
Keizungen, im Stande der Wildheit, diebloße Gewohn⸗ 
heit, nebft dem Bedürfniffe, in der Perfon des andern 
Gefchlechts zugleich einen treuen Gehülfen und Benftand 
zu haben, eben das, wenn gleich nicht völlig fo gefichert, bes 
wirfen fönne, was Geſetz, Religion und Eittenlehre bey 
mehrerer Ausbildung einfchärfen. Die Kinderliebe ge» 
felle fid) nachher auch noch) zu jenen erften Antrieben. 

Das weibliche Gefchlecht muß, überhaupt davon 
zu urtheilen, Ddiefe fortdaurende Verbindung am meiften 
begehren, und zur Erhaltung derfelben feine Echmeiche- 
leyen anwenden; je mehr es überhaupt, und befonders 
bey den Folgen der böchften Vertraulichkeit mit dem 
Manne, das Bedürfniß eines Schuges und Benftandes 
empfindet. 

Dver giebt es noch andere Gründe, dem meibli- 
chen Gefchlechte eine mehrere Anlage zur Treue und Bes 
ftändigfeit in der Siebe zuzuſchreiben? Giebt die Erfah⸗ 

rung 





——— — — 


®) ©, Voyages au Nord, prem. edit, V. 293. 296. 





* * 


on der £iebe gegen das andere Geſchlecht. 319. 


rung Anlaß, nach mehrern folchen Gründen zu fragen? — 
Den der genauern Zergliederung der unterfcheidenden Ge⸗ 
mürhseigenfchaften der beyden Gefchlechter, werden fich 
vielleicht einige zur Beantwortung diefer Fragen dienliche 
Bemerkungen machen laffen. | 


Kapitel IM, 


Bon ber Liebe gegen die Wohlchäter, und den na⸗ 
türlichen Antrieben zur Dankbarkeit. 


6. 76. 
Natuͤrliche Gründe der Dankbarkeit und Undankbarkelt. 


Tas auch die Dankbarkeit nur von Eigennuße ber 
fomme, gehört mit zu den manchen Ausfprüchen, die 
die Partheylichfeie für einen zu voreilig angenommenen 
Grundfaß, gegen die unleugbarften Erfahrungen, hervors 
gebracht hat, Unter das unvernünftige Bieh wäre auch 
der Menfch herabgewürdiget, wenn er feiner uneigennü« 
gigen Siebe gegen feinen Wohlthäter fähig wäre. Aber 
er ift es, Ohne noch durdy VBorftellungen der Pflicht ans 
getrieben zu werden, hat ber Menſch ftarfe Reize in ſich, 
feinen Wohlthäter mit Wohlgefallen anzufehn, über deſ⸗ 
fen Wohlftand fich zu freuen, . fein Beftes zu wünfchen. 
Er ift ja die Quelle feines Glüfs. in Gegenftand, 
an welchen die Vorftellungen,, die ung Vergnügen geben, 
angefnüpft find, wird durch diefe felbft zum angenehmen 
Gegenftande. Ein fodtes “Brett, mit dem ein Menſch 
fi) aus dem Schiffbruche errettet, wird ihm mittelit der 
Ideenadſociation und ihrer natürlichften Wirkungen, 
jur theuren, lieben Reliquie, 

| Bey 


320 B. n. Abſchn. I. Abth. I. Kap. M. 


- Bey empfangenen Wohlthaten koͤmmt noch bie 
Vorftellung des Wohlwollens, der Liebe und Achtung 
bes andern gegen uns dazu. Ks ift angenehm, von 
andern werth geachtet zu feyn, noch mehr aber von denen, 
die felbft achtungswerth find : es ift alfo fehr natürlich), 
Siebe gegen die Wohlthäter zu empfinden, 

Endlich fann auch die Selbftachtung und die Ehr⸗ 
begierde zu den natuͤrlichen Trieben, die die Dankbarkeit 
erzeugen, gerechnet werben, Es iſt eine angenehme Vor⸗ 
ſtellung der Wohlthaten, die man empfangen hat, ſich 
wuͤrdig zu zeigen, zu machen, daß es dem Wohlthaͤter 
nicht gereuet, ſie einem erwieſen zu haben, und im 
Stande zu ſeyn, auf irgend eine Weiſe ſie vergelten zu 
koͤnnen. In erhabenen Seelen kann bloß durch dieſe 
Gruͤnde die Danterweifung ein dringendes Beduͤrfniß 
werben. 

Es kann noch Hinzu fommen die Sympathie 
mit dem Wohlthäter, der Dankbarkeit erwartet, und 
mit andern Hülfsbedürftigen, denen jedes Benfpiel der 
Undanfbarfeit es ee macht, Wohlthaͤter zu 
finden. 

Alle dieſe Antriebe zur Dankbarkeit find unabhän« 
gig von dem Figennuße, obgleich einige darunter mit 
der Eigenliebe nahe verfnüpft find. 

Aber fie find freyfich fo ftarf nicht, daß fie nicht 
leicht auch übermältiget werden fönnten, durch entgegen- 
gefegte Triebe der menfchlichen Natur. Die vornehmften 
Hinderniffe der Danfbarfeie find, _thörichter Stolz und 
Hang zur Unabhängigkeit, Cigenliebe und übertriebenes 
Mißtrauen. Jener macht, daß bisweilen Menfchen 

unge 


Don der Liebe gegen die Wohlthaͤter. 321 


ungeneigt ſind, es zu geſtehen, daß ſie durch anderer Huͤlfe 
emporgekommen oder erhalten worden ſind. Sie ſuchen 
dieſe ihre' Schwäche und Abhaͤngigkeit, fo wenig fie ih⸗ 
nen auch zur wahren Schande gereichen fönnte, vor fich 
und andern zu verbergen; und vergeffen ihren Wohlthä. 
ter, fo bald fie fönnen. Die Eigenliebe wird auf mehr 
als eine Weife die Quelle der Undanfbarfei. ie 
macht, daß einer alles, was ihm Gutes wiederfahren ift, 
für fauter eigenes Verdienſt, oder Schuldigfeit des ans 
dern anſieht; es ſcheint ihr das Gefchehene wohl gar zu 
wenig, und fie empfindet mehr Unzufriedenheit über das, . 
was unterblieben, als Vergnügen über das, mas ihr 
wiederfahren ift. Und die geringfte Beleidigung vergrö« . 
Bert fi) in ihren Vorftellungen fo fehr, daß die Ein⸗ 
drücke vieler. empfangenen Wohlthaten dadurch verdunfele 
werden. Wie dasargwöhnifche Wefen, die Geneigrheit, 
von andern immer das Echlimmere zu glauben, ber 
Danfbarfeit im Wege ftebe; ift einleuchtend, Wenn 
man denft, daß der andere nicht aus Wohlwollen gethan 
hat, was uns zum Vortheil gereichte, fondern aus Ei« 
gennuß, oder vielleicht aus noch verhaßtern Abfichten : fo 
verfchwinden die mädhtigften Antriebe zur Danfbarfeit, 
und nur etwa einer von den angezeigten Einflüffen der Eis 
genliebe darf dazu fommen, um die entfehleffendfte Un- 
danfbarfeit zu erzeugen. 
9 77 


Ob alle Menſchen von Natur die Beledigungen ſtaͤrker empfin⸗ 
den, als die Wohlthaten? 


Dies ſind die natuͤrlichſten Gründe zur Danfbar- 
feit und Undanfbarfei, Welche find wohl urfprünglic) 
die ftärfften? 

Erfter Theil. p: Wird 


23 DM. Abſchn. N. Abth, H. Kap. m. 


Wird, vermoͤge dieſer Anlagen, der Menſch durch 
Beleidigungen oder durch Wohlthaten ſtaͤrker gerührt 
werden; mehr zur Gegenliebe, oder zur Rache geftimmt 
ſeyn? Die Erfahrung giebt nur einzelne, und bis zu 
dieſem Punkt nicht leicht gewiß zu machende Entſcheidun⸗ 
gen. Es ſcheint aber jene Frage durch etliche andere der 

Beantwortung näher gebracht werden zu koͤnnen. Made 
auf alle Menfchen das Böfe Tebhaftere und dauerbaftere 
Eindruͤcke, als das Gute? Mögen alle Menfchen ſich 
gern als gehaffet, oder fieber als werth geachtet den« 
Een? — Vielerley Erfahrungen und Unterfuchungen be« 
weiien, daß es in diefen Punften fehr von einander ab⸗ 
weichende Gemuͤthsarten gebe und geben muͤſſe; daß bey ei⸗ 
nigen die Neigung zu angenehmen Vorſtellungen, und 
beſonders der, geliebt zu ſeyn, ſo ſtark iſt, daß es leichter 
iſt, durch Wohlthaten und Gefaͤlligkeiten fie zu Freun⸗ 

den, als durch Beleidigungen zu Feinden zu machen. 
Mit dieſer Frage ſteht eine andere im Zuſammen⸗ 
hange; ob naͤmlich die Furcht vor übler Begegnung mehr 
über den Menſchen vermöge, als die Erfenntlichfeit für 
das Gute? Sehr zuverfichtlich wird diefes von vielen 
behauptet, und oft iſt es zur Rechtfertigung tyrannifcher 
Maafiregeln, oder doch des Hangs zur deſpotiſchen Ges 
walt behaiptet worden. Und leugnen läßt fid) nicht, 
daß es ſich mit vielerley, aus der Natur des Menfchen und 
der Erfahrung hergenommenen Gründen, vertheidigen 
laffe *), Aber alle Menſchen bierinn einander gleich 
zu achten, laͤuft doch eben ſo gewiß auch gegen Erfahrun⸗ 
gen 





Fe ET ERDE —— 2 —— Pre mi 


*) ©. Helvetius de VEſprit dife, Il. chap. XI. 








Von ber Liebe gegen die Wohlthaͤter. 923 


gen und allgemeine Grundſaͤtze. Selbſt unter den Wil 
Den, ob fie gleich überhaupt wenig erfenntlid) fcheinen, 
hat man mehrere Benfpiele von Zuneigungen, die durch 
Wohlthaten erweckt wurden, und fornohl gegen bereits 
erlittene, als noch zu befürctende Beleidigungen aus— 
bielten *), Und unter alien Völkern muß es Menfchen 
geben, die vermöge ber Temperamentsanlagen der Furcht 
troßen; hingegen durch Beweiſe der Achtung und Liebe 
gewonnen, und zu fehr großen Aufopferungen gebracht 
werden Fönnen, 

Uebrigens wenn auch von den allermeiften Men⸗ 
fehen das Gegentheil gewiß wäre: fo wuͤrde dies Doch 
noch) nicht fogleic) die Folge geben, daß, um zu vernünfs 
tigen Abfichten die Menſchen auf das befte zu nußen, 
die Furcht überhaupt die vorzüglichfte Triebfeder ſey. 


Bapitel IV, 
Bon der Liebe der Blutsverwandten. 


$. 78 
Allgemeine Brände einer befondern Zuneigung zu den Bluts⸗ 
verwandten. 


N). Neigungen der Blutsverwandten unter einander 
machen unterfchiedene Claſſen aus; wovon eine jede inde 
E 2 befon« 


— — 


) Ueberhaupt ſcheint es mir, man gehe zu weit, wert matt 
Ä die Wilden fo ſchlechthin der Undankbarkeit beſchuldiget. 
Mas man zum Beweis anführet, giebt doch nicht voͤl⸗ 

lig fo viel, zu erkennen ; fondern nur Ungeneigtheit, fich 

für den Schuldner des andern anzugeben, oder von eis 
ner 











324 B.II. Abſchn. I, Abth. Ik, Kap. W. 


beſondere unterſucht zu werden verdienet, und unterſucht 
werden muß, wenn man die Gruͤnde der hiebey ſich be— 
weiſenden Triebe gehoͤrig verſtehen will. Es entdecken 
ſich aber bald einige Triebfedern, die bey dieſer ganzen 

Gattung der Neigung ſich wirkſam beweiſen; welche, 
zur Abkuͤrzung der beſondern Unterſuchungen, zum voraus 

angemerkt zu werden verdienen. 


ı) Die Selbſtliebe läßt ihre Einflüffe ſch leicht 
uͤber diejenigen Gegenſtaͤnde verbreiten, die mit uns in 
einer genauen Verknuͤpfung find; wovon die Vorſtellun⸗ 
gen mit der dee von unferm Selbſt genau zufammene 
bangen. In Beziehung auf bie nahen Anverwandten 
finden ſich nod) befondere Gründe, diefe Ausdehnung der. 
Selbfttiebe zu befördern. Die Bortheile und Nachtheile, 
das Glück und Unglück unferer Verwandten treffen ums 
feicht mit. Die Urtheile, die man über fie fälls, verbreis 
ten fich oft über uns. 

2) Die Gewohnheit vermag, Dingen, die uns 
anfangs gleichgültig waren, und nod) es feyn würden, 
einen Werth zu geben, um welches willen wir die Tren« 
nung von ihnen nicht gleichgültig ertragen, mit allerhand 
zärtlichen Gefinnungen gegen fie erfülle werden. Perſo⸗ 

Ä nen 

















ner Sache, }die man felbft gern' hat, ihm zu Gefallen 
ſich zu trennen. Und beydes ift freylich ein Character 
des mehr finnlihen, als empfindfamen und auf feine 
Unabhängigkeit ftolzen Wilden. Aber daß Wohlthaten 
nicht feine innere Zuneigung gewinnen, und zu gelegens 
beitlichen, ihm nicht zu beichwerlichen Sreundfchaftbeweis 
fen antreiben; das kann man nicht fagen. Man fehe 
unterdefjen Robersjon H. A, L 405. 487. 


Won der Liebe der Blutsverwandten. 325 


nen aus der Familie, mit denen man aufgewachfen iff, 
einen angenehmen Theil des Lebens zugebracht hat, Fön» 
nen alfo auch aus diefem Grunde einem lieb werden. 

3) Hiezu koͤmmt bey mehrerer Ausbildung die 
Borftellung der Pflicht; die zwar zum Theil aus einigen 
der zuerft angemerften Gründe entfteht, aber auch noch 
andere Gründe für fich hat; und wenn fie auch Feine weis 
tere Gründe hätte, bloß durch die Form, die die andern 
Vorftellungen durch fie erhalten, durch die Macht der 
allgemeinen dee von Pflicht, jene Antriebe fehr verftäre 
fen koͤnnte. . ur 

Diefe Gründe fcheinen völlig hinreichend, die Liebe, die 
Gefchwifter oder andere Seitenvertvandte gewoͤhnlich 
gegen einandeg hegen, zu erflären; ohne daß es nöthig 
märe, noch geheime phyſiſche Gründe in der Gemein« 
fchaft des Urſprungs, fogenannte Bande des Blurs, 
anzunehmen *). Wenn bisweilen unter Blutsverwand« 
ten eine befondere Freundfchaft bemerft wird, von der Art 
und aus Gründen, mie unter nicht verwandten Perfonen 
häufig ſich findet: fo gehört dies nicht hieher. 

Die Leichtigkeit, mit welcher diefe Art von Mei« 
gungen durch Die angelegenern Triebe der Selbftliebe be» 
| E33 "runs 


(EEE Ef) SEES SEES GESEEBEEESD EEE — ——— — — 


*) Wenn man dennoch dergleichen etwas behaupten wollte, 
oder zu behaupten Grund fände: fo ließe ſich die Sache 
einigermaßen begreiflih machen, durch die Idee und 
Vorausfegung einer mehrern Einartigkeit unter vers 
wandten Perfonen. Denn bey diefer findet ſowohl die 
Figenliebe als die Sympatbie mehr Anlaß, fi wirds 
fam zu beweiſen. Aber biefer VBorausfegung kann 
freylich in den meiften Fällen mit Grunde widerſprochen 


werben. 


26 B. U. Abſchn. U. Abth. II. Kap. W. 


zwungen werden koͤnnen, giebt auch keine Vermuthung 
fuͤr noch mehrere und urſpruͤnglichere Gruͤnde derſelben. 

Je weniger hingegen dieſe letztern jenen ſich wider⸗ 
ſetzen, und je mehr dieſer Gründe in beſondern Fällen 
Etatt finden; deſto ftärfer werden fie fi) auch beweifen. 
Diefe Schlüffe beftätige der Mepotismus der Paͤbſte. 
Um ihr eigenehümliches Anfehn nicht durch die Ver⸗ 
aͤchtlichkeit ihrer Familie zu ſchwaͤchen, müffen fie 
biefe zu erheben ſuchen. Kinder haben fieniche, 
Zur Freundfchaft find fie, wenn auch weiter nichts dage⸗ 
gen wäre, zualt, - Für ſich felbft einen großen Aufs 
wand und viel Staat zu machen, ift wider ihre Geift« 
lichkeit. Was koͤnnte mehr erfonnen werden, um die 
Richtung ber felbftifchen Triebe auf die nächften Vers 
wandten zu befördern? Auch ift bey viften Paͤbſten die 
Erhebung ihrer Familie eine Triebfeder geweſen, die alle 
andere überwand *), Zn | 

Die Gründe machen aber auch begreiflih, daß 
ben wenig ausgebildeten Völkern die Siebe zu den Bluts« 
verwandten ftarf ſich bemweifen Fönne, Es wird uns 
‚ter andern von den Grönländern bezeugt. Sie follen 
ihre Anverwandte bis in die entfernteften Grade werth 
halten, und daher auch mehr Namen zur Bezeichnung 
biefer Grade in ihrer Sprache haben, als in der unfrigen 
nicht gefunden werden **), 


7 


— — 


*) Vey Clemens vn. gab ſie voͤllig den Ausſchlag wiſchen 
Franz I, und Carl V. Robersfan Il, 344. ©, auch 
1 nipotifino di Roma 1667, 2 voll. i2. 


”) S. Eranz Hiftorie von Grönland IL 329, 














| Bon der Liebe ber Blutöverwandten. 327 


9. 79 © 
Bon ber Liebe der Kinder zu den Eltern. 


Geheime Bande des Bluts find einige geneigt zu 
vermuthen insbefondere bey der Zuneigung, die Kinder 
und Eltern gegen einander empfinden. Allein es fehlet, 
auf der einen Seite wie auf der andern, zu deren Bes 
hauptung an binlänglichen und;fichern Gründen. 

2 Scenen aus Schaufpielen ober andern dichteri« 
fchen Werfen, die nad) eirier angenommenen Meynung 
eingerichtet worden find‘, Förinen hiebey nicht als hiſtori⸗ 
- {che Beweife gelten. Und wenn nun auch ‚einmal ein 
Vater und ein Sohn, ohne dies ihr Verhaͤltniß zu wife 
fen, gleich im erften Anblicke Zuneigung gegen einander 
verfpührten, und im furzen warme Freunde wurden: 
trägt fich dies nicht auch oft genug unter ganz fremden. 
Derfonen zu? 

Allenfalls Fönnte man auch bieben annehmen, daß 
die Aehnlichkeit, die doch wirklich oft in den Phyſiogno⸗ 
mien der Eltern und Kinder ſich findet, eine Urſache ei« 
ner folchen Neigung, oder eine gemeinfchaftliche Wirfung 
und Beweis folcher ähnlichen Difpofitionen fen, aus des 
nen Webereinftimmung der Empfindungen, leichtere und 
ftärfere Sympathie entftehen fönnee Doch würde dies 
fes immer auf etwas, diefem phnfifchen Verhaͤltniſſe 
nicht eigenthümliches, fanden auch) bey nicht verwandten 
Derfonen Statt findendes hinaus laufen. 

Gewiß ift, daß die Liebe der Kinder zu ihren 
Eltern, außer den. gemeinen Gründen der Siebe zu den 
Anverwandten,. wo nicht ganz allein, doc) hauptfächlich 
aus der Empfindung und Vorftellung ber von ihnen er. 

4 halte: 





328 : 8.1. Abfchn.ım, Abth. I. Kap.IV. 


haftenen Wohlthaten entſpringt. Dies lehrt die Er⸗ 
fahrung deutlich | | | 

ı) dadurh, daß ein Kind diejenige Perfon von 
feinen Eltern gemeiniglich doc) am meiften liebt, Die ſich 
daffelbe in allem Betracht am meiften durch Wohltharen 
verbindet; und aud) leicht damit abwechfelt, wie diefe 
Urfache fich wende. Daher geht in der erften Zeit die 
Mutter — wenn fie naͤmlich ganz Mutter ift — dem 
Vater die meiften male vor. 

2) dadurch, daß ein Kind eine fremde Perfon 
gar leicht mehr liebt, als Vater oder Mutter, wenn 

diefe ihm öfter oder nachdrüdlicher Vergnügen macht *). 

. | Ä Wenn 





*) Man ann zu diefem Beweiſe auch noch die gemeiniglich 
fehr geringe Achtung und Liebe ber Kinder gegen ihre 
Eitern unter den wilden Völkern hinzufegen. Die kurze 
Dauer der —— „ ber Zeit, in welcher ſich die El⸗ 
tern für ihre Kinder beforgt zeigen, nebſt dem Leichts 
finn des Wilden, in Anfehung der empfangenen Wohls 
thaten, find, menm auch nicht bie einzigen, boch wes 
nigſtens Miturfachen hievon. ©. Robersfon Hift. of 
America 1,323, Doch wird von einigen ſolchen Voͤlkern 
auch bezenget, daß fie, wenn die Eltern zum bos 
ben Alter gelangt find, anfangen, Liebe und Ehrfurcht 
zu beweifen. S. von den Grönländern Eranz I, 213, 
von den Saraiben, Oldendorp, Gefchichte der Miffion 
1, 28 Db nun das fittlihe Gefühl erft bey mehrern 
Sahren in ihnen zur Reife fommt? ober ob das Anfehn 
ſchwaͤchlicher, alter Eltern fie nicht mehr, wie ehedem, 

fuͤr ihre eigene Freyheit beforgt macht? oder ob fie 
auch wohl ſchon anfangen, an ihr eigenes nahes Alter 
zu dbenfen, und ihrem Pünftigen Vortheile zum Bes 
en — ber kindlichen Lebe und Ehrfurcht ge⸗ 

n wollen 


Bon der Liebe der Blutverwandten. | 329 | 


. 

. Wenn fich es findet, daß die Liebe zu den Eltern 

die Siebe zu jedweber andern Art von Wohlthätern über 

wiegt: fo ift dies aus der Größe der Wohlthaten, oder 

aus dem Einfluffe der Selbftliebe, und den andern Gruͤn⸗ 

ben der Siebe zu ben RR überhaupt leicht zu 
erflären *). 


6. 80. 
Bon der Liebe der Aeltern zu den Kindern, 


Bon der elterlichen Siebe entdecken fich bey ber 
Beobachtung folgende befondere Gründe: ' 

1) Die den Menfcyen überhaupt natürliche Nei⸗ 
gung, gegen Fleine Kinder, als hülfsbedürftige und un« 
fhädliche, unfchuldige Gefchöpfe, mitleidig und güfig 
ſich zu beweifen. ine folche Neigung ift nicht nur den 
allgemeinen Begriffen von der menfchlichen Natur gemäß, 
fondern auch befondern Erfahrungen, Man finder häufig 
Menfchen, die in ihrem Verhalten gegen Erwachfene 
hart und unempfindlich fich bemeifen, und fehr zärtlich 
find gegen Fleine Kinder. Und dabey laͤßt fich oft die 
Urfache, daß fie von jenen zu wenig Gutes denfen, um 
Kiebe für fie zu empfinden, mit aller Wahrſcheinlichkeit 

| ES. Alte 





*) Die kindliche Liebe und Ehrfurcht des ebelmuͤthigen, aber 
noch halb wilden Coriolans, iſt zu bekannt, vielleicht 
auch zu unhiſtoriſch, um hier angefuͤhrt werden zu duͤr⸗ 
fen. Aber die Erzaͤhlung davon beym Plutarch K. 34. 
bleibt allemal ein meiſterhaftes Gemaͤhlde der hoͤchſten 
Gewalt dieſer Triebe, und des ſchnellen Ucbergangs 
aus einer, Leidenfchaft in die andere, 


- 


330 B. I. Abſchn. I. Abth. II. Kap. W. 


annehmen. Wenn ſich nun dieſe Urſache bey den Eltern 
‚mit den allgemeinen Gründen der Siebe zu den Seinigen 
verbindet: fo Fann fie gewiß vieles wirken. Es findet 
fi) diefes noch mehr. beftätige, dadurch, daß die Liebe 
gegen ein Kind, das durch Kranfheit oder Ungluͤcks— 
fälle viel ausftehen mußte, oft vorzüglich wird; ohne daß 
eine andere Urfache fich davon angeben laͤſſet. Desglei» 
chen fcheinet diefes zum Grunde wenigftens mit angenoms 
men werden zu müffen, davon daß die Zärtlichfeit gegen 
die Kinder von mehreren “jahren insgemein geringer iſt, 
als gegen die ganz Fleinen. Und wenn die Siebe ber 
Mutter von Natur ftärfer ift, als die fiebe des Vaters: 
fo ift außerdem, daß die Mutter noc mit mehrerem 
Grunde das Kind als das Ihrige, als von ihr entfpruns 
“gen, anfehen fann, der Umftand, daß fie Durch Die ges 
nauere Verbindung, und faft durch phyſiſche Nothwen⸗ 
Digfeit anfänglich angetrieben wird, feine Wohlthäterinn 
zu feyn, gewiß aud) Urfache einer mehrern Zuneigung. 
Und zwar einer bleibenden Zuneigung auch deswegen, 
sveil der Menfdy , mie fonft ſchon gezeigt worden ift, 
($. 37.) die Gegenſtaͤnde feiner Wohlthaten ſich gern lie. 
benswürdig vorftelle. Selbſt die Schmerzen, die es 
“ihr verurfacht hat, werben in ber Verbindung Urfachen 
einer heftigen Siebe. Vielleicht auch wegen des allges 
"meinen Gefeges, daß angenehme Gefühle, durch einige 
Beymiſchung unangenehmer Empfindungen oder contra» 
ftirenber Vorftellungen, Berftärfung ihrer Reize befoms 

men fönnen ($. 27.). 
2) Mit diefer Urfache verbindet fich als eine zweyte 
ſehr oft das Wohlgefallen an ber förperlichen Bildung eis 
nes Kindes, Es muß zugegeben werben, daß dieſer 
| Grund 


Von ber Liebe ber Blutsverwandten. 331 


Grund nicht ganz allgemein ift; und auch, daß bey ges 
nauerer Unterfuchung er. fich zum Theil in den vorigen 
auflöfet, daß die Vorftellungen von Unfchuld, von Une 
ſchaͤdlichkeit, Die Phyfiognomie des Kindes in unferm 
Urtheile verſchoͤnern helfen. Dennoch bfeibt immer et« 
. was von biefer Urfache übrig. Man muß nur auch bes 
‚benfen, daß Eltern ein Kind leichte fchön finden, wenn 
es zumal ihnen ähnlich ift, in dem, wo es von Der Regel 
der Schönheit abweichet. Daß aber bey der Erflärung 
der Wirfungen ber elterlichen Liebe, dieſe Urfache nicht als 
unbedeutend überfehen werben dürfe; ift um fo gewiſſer, 
je häufiger die Benfpiele find, daß Eltern ein Kind um 
der beffern ‘Bildung willen vorzüglich lieben, und ein ans 
deres wegen förperlicher Fehler zurückfegen. Wenn frey⸗ 
lich bisweilen eine Mutter eitel genug ift, um ihrer heran⸗ 
wachfenden Tochter Mebenbuhlerinn feyn zu: wollen, und 
über fie eiferfüchtig zu werden; fo Fann es feyn, daß fie 
Jieblos gegen fie wird, weil das, was fonft eine Urfache 
der elterlichen Siebe ift, und vielleicht auch bey ihr war, 
fo lange fie glaubte, ihrer Tochter Schönheit zu ihrem 
Vortheile anwenden zu Finnen, itzt ihr eine Urfache des 
Mipfallens wird. Und wie, wenn ſich es in der Erfah— 
rung fände, daß, im Durchfchnitte genommen, die Vaͤ— 
ger mehr ZärtlichFeit für die Töchter, und die Muͤtter 
für die Söhne hätten? Ich fenne genug Beyſpiele fürs 
Gegentheil, um an feinen allgemeinen Sag zu denfen. 
Aber Grund genug zur Stage ſcheint mir auch da zu 
eyn. 
Einen ſtarken Einwurf gegen bie Beweis⸗ 
kraft des bisherigen und Grund zur Vermuthung 
da phnfifcher Antriebe zur Siebe ber in 
on⸗ 


332 Beu. Abſchn.I. Abth. I. Kap.Iv. 


ſonderlich der Mutter, enthält die Bemerkung, daß 
dieſe Mutterliebe ſo ſtark, ja am ſtaͤrkſten zu ſeyn ſcheint, 
wenn die beyden bisher erklaͤrten Gründe noch nicht wir⸗ 
Een fönnen; wenn das Kind noch) nicht geboren ift. Das 
“gegen aber ift wieder zu erwägen, daß, menn das Kind 
auch noch nicht wirflich da ift, noch nicht mitteljt Der 
äußern Sinne die Seele rühren fann, es doc) in der Vor⸗ 
ftellung fehon da fern, und durd) die Einbildungskraft 
zum reizendften Gegenftande ausgemalt feyn kann; daß 
die Selbfterhaltung oder die Abficht auf eigenes Wohlbae—⸗ 
finden eine geroiffe Sorgfalt für ihr Kind, ſowohl wäh 
rend der Schwangerfchaft, als bey und nach der Geburt, 
der Mutter nothwendig macht; daß endlich außer diefen 
beyden es noch mehrere Gründe giebt, durch die bey ale 
fen Gattungen von Menfehen die Siebe und Sorgfalt für 

das Kind verftärft werden fann. Naͤmlich: R 
3) Für die Selbftliebe ift es eine angenehme Vor⸗ 
ſtellung, ſich zu vervielfaͤltigen und fortzupflanzen, in 
den Kindern einigermaßen in der Welt ſein Leben fortzu⸗ 
ſetzen, — in Ruͤckſicht auf viele Voͤlker laͤßt ſich hinzu⸗ 
ſetzen — ſeinen Namen zu erhalten. Daher iſt auch 
die Annehmung fremder Kinder an eigener Statt haupt⸗ 
ſaͤchlich gekommen. Daher koͤmmt es vielleicht auch, 
daß die Liebe zu den Kindern im hohen Alter zunimmt; 
dem abſterbenden Alten iſt ſein Bild, ſein Name im 
Enkel der erquickendſte Anblick ). Daher koͤmmt es 
| ohne 





e) Ich meiß nicht, welcher Schriftfleller den Gedanken 
geäußert hat, baß die Menfchen ihre Kindesfinder lies 
ben, weil fie bie Feinde ihrer Zeinde in ihnen fehen? — 
Was ſieht der boshafte Wig nicht im Menſchen? 


Bon der Liebe der Blutsverwandten. 333. 


ohne Zweifel auch mit, daß das Gelübbe, nicht zu hey« 
rathen, dem älternden Hageſtolz am ſchwerſten zu hal⸗ 
ten wird. | ——— 

4A) Auch Stolz und Eigennutz koͤnnen der Kinder⸗ 
liebe Vorſchub thun. Von ſich abhaͤngige Menſchen zu 
haben, einen Vertheidiger mehr, eine Stuͤtze im Alter 
zu haben, iſt dieſen Trieben angenehm. Dieſer Grund 
muß zumal bey den Betrachtungen der elterlichen Siebe 
wilder Völfer nicht überfehen werden. Die Kinder find 
ihnen ein wichtiges Stuͤck des Eigenthums; und oft dag 
einzige Mittel, im Alter ihre Nahrung zu erhalten; zu⸗ 
mal die Söhne. Die väterliche Gewalt ift uneinges 
fchränfte, höchfte Herrfchaft unter ihnen *). Wenn man 
nun hiezu nimmt, daß, fowohl die Geburt als der Un. 
terhalt der Kinder, ihnen weniger Beſchwerde und Sorge 
verurfachet, als den durch den Luxus gefchwächten und 
gedructen Völkern: fo wird ſich begreifen laffen, wie 
bey der Mangelhaftigfeit der moralifchen Antriebe, viele 
wilde Völker in der Stärfe der elterlichen Siebe den geſit⸗ 
teten dennoch gleich feyn, oder fie noch in einigen Stuͤ⸗ 
cken übertreffen koͤnnen. 

Wie vieles aber auf allen dieſen Gruͤnden, und 
beſonders auch auf den moraliſchen Antrieben beruhe; 
das läßt ſich abnehmen aus den unter einigen wilden Ma« 
tionen befonders häufigen Benfpielen enrgegengefegter Ges 
finnungen und Handlungen. 

| Wenn 











*) Aus biefem Grunde nehmen die Erönländer auch fremde 
Kinder gerne an; und verfioßen ihre Frauen, wenn 
fie unfrugptbar find. ©. Kranz I. 213, U, 328. f. 





34 BE Abfehn. It. Abth. I. Kap. V. 


- Wenn nämlich) entweder die ausfchmweifenden Triebe 
der Wolluft *) in den Kindern ein Hinderniß finden; ober 
der Eigennuß im Handel mit denfelben eine Befriedigung 
der Habfucht **); oder ihre Erzeugung und Erziehung }) 











A —— nn —— — 


"©. von ben Kamſchadalen Stellee ©. 249. f. und von 
den Dtaheitern Hackeswortb II. 207. Aus andern pos 
litiſchen Gründen leitet diefen Orden der Kinberlofen, 
ober vielmehr der Mörder ihrer eigenen Kinder Sorfter 
ab, in feinem Voyage round the World. I, 129. ff. 

“) Ebhardin bezeugt dies von den Mingreliern, Tom. I. 
45. Don den Negern wird es in vielen Nachrichten 
verſichert. | Ä 

+) Die ausgezeichnetefte Kieblofigfeit in Anfehung ber Kins 
der wird den Bagas oder Giachas Schuld’ gegeben, 
einen in der ſuͤdlichern Hälfte des mittlern Afrita hers 
umſchweifenden, außerordentlich vermilderten Wolke. 
Diefe follen niemals ihre eigenen Kinder erziehen, fons 
bern fogleich nach der Geburt verbrennen; ihre Nach— 
Pommenfchaft aber fih wählen aus 13⸗14 jährigen 
Mädchen und Knaben ihrer gefangenen Feinde. Wenn 
die Sache ſich wirklich fo verhält: fo ift ohne Zweifel 
bie Urfahe, daß diefe herumfchweifende Menfchenfref 
fer fi die Mühe der Erziehung erfparen wollen; bie 
fi auch mit ihrem kriegeriſchen unftäten Leben nicht 
gut vertragen würde. Nach einigen Nachrichten, fol 
auch eine abergläubifhe Einbildung fih dazu gefellen. 
©. Geſchichte von Koango, Leipz. 1777. ©. 293. 
vergl. Helves. 1. 219. Bey fehr vielen wilden Voͤlkern 
aber, wird durch diefe Urfache die Befchwerde der Ers 
ziehung, die Kinderliebe, wenn gleich nicht fo weit, 
boch einigermaßen eingeſchraͤnkt. Wenn es ihnen ſchwer 
wird, genugfamen Unterhalt für fih und mehrere Kins 
der aufzutreiben: fo machen fie ſich es wohl zum Grund⸗ 
fage, nicht mehr als zwey aufzuzichen. Don Zwillin: 
gen wird häufig das eine verlaffen. Kraͤnkliche und 
Verwachſene fierben nicht nur natuͤrlicher Weiſe leicht 
unter einer fo ſchlechten Wartung, fondern ge 

me h⸗ 


Von der Liebe der Blutsverwandten. 335 


zu Foftbar und beſchwerlich ſcheint; oder wenn mit der 
$iebe zum Kinde die Furcht vor Schande, oder fonft ein 
ſtarker felbftifcher Trieb in Widerfprüche koͤmmt: fo wird, 
vermöge vieler Erfahrungen, die Erſtickung der Kinderliebe- 
den Menfchen leichter, als diejenigen fid) nicht vorftellen 
Fönnen, die nur nad) ihren, durch) eine beffere Erziehung 
gebildeten Empfindungen, und außer dem Falle ſolcher 
Eollifionen, darüber nachbenfen. | 
Was insbefondere Defpofismus und Aberglaube 
zur Schwächung diefes Triebes thun koͤnnen, wird bey 
nachfolgenden Unterfuchungen genauer zu bemerken‘ 


feyn *). 
Zur 








mehrentheils vorfeßlic) getötet. Daher es nicht zu 
verwundern ift, wenn tan unter diefen Völkern weni⸗ 
ger folhe Perfonen bemerkt, als unter gefitteten. ©. 
Robertfon Hiſt. of America I, 321. feq. 297. feq. 469. 
©. auch von ben Mingreliern Chardin 1. c, 


*) Es fommen auch bisweilen inehrere Urfachen zuſammen, 
und bie ehrbarfte wird zum Vorwande genommen. Den 
Ceylonefern giebt Bnor (part. IH. e. 7.) ein ſchlechtes 
Zeugniß. Außer dem, daß fie, die Kinder in Mutter 

leibe zu tödten, ‚gut verfiehn, und fehr in Gewohnheit 
haben: fo pflegen fie auch bey der Geburt eines Kindes 
einen Aftrologen zu fragen, ob es gut, ober ſchlimm 
werden wird. Wenn er leßteres prophezeibt: fo brina 
gen fie es mehrentheils, und auf graufame Art um. 
Bisweilen überlaffen fie e8 Anverwandten, bey denen 
es ; ihrer Auffage nach, beffer gerathen fol. Da fie 
es mit dem Erfigebornen nicht fo machen: fo ift zu vers 
muthen, daß jenes Verfahren mehr vom Eigennuͤtz, als 
Aberglauben herkoͤmmt. Befremden kann ed, baß bie. 
Geſetze des Landes, in dem doch ſchon einige Cultur iſt, 
es geſtatten, wie Knox ausdruͤcklich bezeuget. Aber 
wie lange währt es nicht immer, bis bie Politik 
beit. 


36 B. U. Abſchn.I. Abth. I. Kap. W. 


Zur Unterſtuͤtzung der Vermuthung geheimer phy⸗ 
ſiſcher Antriebe bey der Liebe zu den Kindern, koͤnnte viel 
leicht auch jemand die ähnlichen Triebe der unvernünftigen 
Thiere gebrauchen wollen; die ja nicht auf moralifchen, 
fondern nur auf folchen phufifchen Gründen, beruhen müf: 
fen? Unterdeſſen fönnen die Gründe der Liebe der unver, 
nünftigen Thiere zu ihren Jungen zum Theil wohl auch 
den bey den Menfchen ſich findenden ähnlich feyn, Wohl. 
gefallen an dem, was Aehnlichfeit mit ihnen hat, und 
Sympathie, fcheinen feine dem Begriff von diefer untern 
Gattung befeelter Wefen entgegenlaufende Eigenfchaften 
zu ſeyn; und gerade bey der Zärtlic)Feit gegen die Jun 
gen ſich bisweilen zu offenbaren. Aber immer noch) ift 
es wahrfcheinlih, daß die Handlungen der Tiere zum 
DBeften ihrer Jungen zum Theil auch aus ung unbefann. 
ten Gründen herkommen; und vielleicht aus folchen, in 
deren Betrachtung, wenn wir fie kennten, fie ung nicht 
mehr Handlungen der Liebe fcheinen würden. Solche 
verborgene Gründe bey den Menfchen anzunehmen, ift 
man, fo lange die Beobachtungen aus den ausg:machten 
erflärt werden fönnen, bey dem allen nicht berech:iger. 


Syn einzelnen Fällen kann zu den Gründen der Kin- 
derliebe wohl auch noch die Liebe zu den Ehegatten gerech 
net werden, Uebrigens hat die Stärfe diefer Neigung 
ſich oft auch dadurch bewieſen, daß die ftandhafteften Ge. 
müther, die alle Leidenſchaften wenigftens in ſich zu 

ver 





— — 





— u — 


den Werth der Menſchen gehörig zu ſchaͤtzen vers 
fiebt, und „yermöge ihrer übrigen Anflalten darauf 
achten kann? 


Von der Liebe der Blutsverwandten. 337 


verſchließen verewochten ‚ bem — Bid Mens 
nicht widerftehen fonnten ae FJ 


81, 
Ob ein Naturtrieb der fleiſchlichen Bereinigung ber naͤchſten 
Blutsverwandten fi fi widerſetze? 

Es ift nicht fehr zu vermundern, daß diejenigen, 
die fich einmal daran gewöhnt haben, bey allem, was 
. fie nicht erflären fönnen, ein beſonderes Naturgefeg, eis 
nen eigenen Inſtinkt anzunehmen, auch fo etwas zum 
Grunde der beynahe allgemeinen. Verabſcheuung **) der 
Ehen unter den naͤchſten Blutsverwandten ſich dachten, 
‚Allein es find von ben Mari innigern. Unterfuchern folche 
" Gründe 








* ©. vom Perikles Plutarch, K. 36. 
Any) Bon den Grönländern bezeugt es Reans t, 209. Von 
j den Garaiben, von denen fonft das Gegentheil anges 

hemmen wurde, verſichert es nun doch auch Oldendotp 

Geſch. der Miffion, 1:28. Nach eben demſelben fola 

len die Eaflendi, eine Negernation, aus Furcht, eine 
Verwandtinn zu beyrathen, fi von ihren Nachbarn 

Zrauen holen, ©. 294. In Eeylon ift es nur det 
Könige erlaubt, wenn es in der Abficht gefchieht, einen 

ächten Erben zu haben. Man gebraudit aber doch auch 

dabey das Sprichwort, den Königen und Bettlern gehe 
alles bin; jenen, weil fie zu gro, ind diefen, weil fie 
zu geringe find, um dem Tadel ausgeſetzt zu ſeyn. 

Knoox part 11. ch. I. Von der · Nachſicht der Mahom⸗ 

medaniſchen Caſuiſten ſ. Chardin ı. 169. ©. mehrere 

übereinftimmende und auch entgegenlaufenbe Beyfpiele 

bey Montesqwiew Efprit de Loix liv. XXVI. ch, 14. 

Hiichaelis Moſaiſches Net, Th. 1, $. 104, ff. 


Er fer Theil, 9 


"8.1: Abſchn. n. Abth. . Kap. V. 


Gruͤnde angegeben worden, bey denen man des Inſtinkts 
wohl entbehren kann; mit welchem doch quch die Menge 
der Ausnahmen und die Art, wie dieſe ſich eraͤugnen 
koͤnnen, und wie ſie verhindert werden, nicht gut ſich 
würden zuſammen reimen laſſen )J). 


Von der Liebe zum Vaterlande. 
5. 82. 


Verſchiedene Arten von —— und  Oriute 
derfelben, | 


Mi. in indern Fällen Siebe bisweilen nur fo viel Heißt, 
als Wohlgefallen ohne befonderes Wohlmollen, bisweilen 
Wohlwollen ohne Wohlgefallen, bisweilen aber beydes 
jufammen : fo findet ſich diefes aud) fo in dem Begriffe 
von Vaterlandsliebe. Nicht immer ift es Patriotis⸗ 
mus, Beeiferung für das gemeine Befte; fordern: oft 
nur vorzügliche Luft zu feiner Heymath, was diefen Mas 
men führer. Aber auch ohne fein Sand fehöner, voll 
fommener gu finden, als ein anderes, kann man patrio⸗ 
eV gegen baffelbe geſinnet feyn, es lieben, | 
- Schon diefe Verfchiedenheiten, die-der Begriff zu⸗ 
läffet, geben zu erfennen, daß in mehrern Gründen ber 
Urfprung der Waterlandsliebe müffe gefucht erden, Er 
kann ſich finden 
) In 





ne eh ee 





nn 


*) ©. dieleben genannten bepden Schriftfteler, 


‚Bon ber Liebe zum Waterlande. 339 


.‘ 


) Inder Eigenliebe, Alles, was unfer heißt, 
an deffen Vollkommenheit und Ehre wir Theil nehmen, 
gewinnt gar leicht im Streit gegen das Fremde. Man 
Eann oft merken, daß Leute Fehler ihres Vaterlandes, 

die fie ihren Miebürgern gern eingeftehen ,. wo nicht felbft 
zum Vorwurf machen, in Unterredungen mit Ausläns 
dern leugnen, oder fo viel möglich unbedeufend zu ma« 
hen fuchen. Auch zeige man am liebften diejenigen Vor⸗ 
züge feines Vaterlandes an, bie man vortheilhaft auf ſich 
ſelbſt beziehen kann. 

2) In der Ideenadſociation, nebſt der Mache 
der eigenen Erfahrung und Gewohnheit, Das Bas 
terland enthält Orte und Gegenden, In denen man fo oft 
Vergnügen gefunden, die angenehmften Jahre der Ju⸗ 
gend durchlebt, rühmliche Thaten verrichtet; in denen 
man feine Verwandte, Freunde hat oder gehabt hat; in 
denen Seichname oder andere Dinge, bie ihr Andenken 
ung werth macht, aufbewahrt liegen. Das Gute feie 
nes Sandes kennt man aus Erfahrung, bat alfo die leb⸗ 
hafteften und vollftändigften Vorftellungen davon; bie 
durch Vorftellungen, wie fie aus Zeugniffen und Bes 
ſchreibung entftehen, wenn nicht die Einbildungsfraft bes 
fonders gereizt wird, fo leicht nicht überwältiget werden 
innen. Endlich wirft zum Vortheil des Waterlandes 
die Gewohnheit, indem daffelbige allein diejenige Befrie⸗ 
digung geben kann, die durch die Gewohnheit gebildete 
Bedürfniffe und Triebe verlangen; die Perfonen zu fehen, 
die Dinge zu genießen, die Spiele und Zeitvertreibe, 
die Feyerlichfeiten und £uftbarfeiten, an denen man ehe» 
dem fich fo oft ergögt hat, und vielleicht noch mehr, als 
wirklich nicht geſchehen iſt, Be gefunden zu haben 

ſich 


340 B. N. Abſchn.U. Abth.U. Kap, V. 


ſich einbildet; vermoͤge einer bekannten Taͤuſchung, bey 
der Vorſtellung des Vergangenen und Abweſenden ($. 34.). 
‚Bey der Sehnſucht nach dem Vaterlande, die krank 
macht, wird dieſe Taͤuſchung ſelten unterbleiben. 
3) Vaterlandsliebe kann von der Selbſtliebe und 
dem Eigennutze herkommen. Wenn ein Menſch ſeine 
wichtigſten Guͤter in einem Lande hat, und die nicht ſo 
leicht mit ſich auf dem Ruͤcken wegtragen kann; wenn er 
Vortheile daſelbſt genießet, die er anderswo eben ſo gut 
nicht leicht finden wird: ſo brauchet es nichts, als jene An⸗ 
triebe, um ihm ſein Land lieb und werth zu machen. 

4) Endlich aber kann auch die Vaterlandsliebe 
eine Folge ſeyn vom Triebe der Dankbarkeit, und dem 
vernuͤnftigen Grundſatze, da hauptſaͤchlich ſich nuͤtzlich zu 
machen, wo man iſt, und es thun kann, am meiſten, 
wenn es durch beſondere Verbindungen zur Schuldigkeit 
geworden iſt. 


$. 83. 
Urſachen, wodurch die Waterlandsliche gefchwächt ums 
ausgerottet wird, 

Diefe Gründe find flarf genug, um die Allge 
meinheit der Vaterlandsliebe begreiflicy zu machen. Un 
terdeffen find die Verhältniffe, aus denen ihre Wirkung 
entfpringt, nicht alle fo nothwendig, und einige Neigun⸗ 
gen des menfchlichen Gemuͤths in fo weit dagegen, daß 
ſich bald einfehen läffer, mie die Vaterlandsliebe ger 
ſchwaͤcht, wo nicht gar ausgerottet werden Fünne, 

Wenn fid) die Neigungen und Talente eines Men. 
ſchen gar zu wenig für fein Vaterland ſchickten; wenn er, 


flatt 


Von der Eiebe zum Vaterlande. 341 


flatt Ehre und Anfehn, Geringſchaͤtzung, Schande barinn 
du erwarten hätte; wenn ihm überhaupt von Jugend auf viel 
Boͤſes darinn wiederfahren wäre; wenner alles, was er vor⸗ 
züglich ſchaͤtzt, mit fich tragen fönnte; wenn eine romanen- 
bafte Einbildungsfraft am reizendften ihm vorftellte, was 
er am wenigften Fennt: ſo wuͤrde Gleichguͤltigkeit gegen das 
Sand der Geburt, und Siebe zu einem andern nicht mehr 
unnatürlic) feyn. Und wie fonft auch der Hang zur Vers 
änderung, die Siebe zum Neuen, die Macht der Gewohn⸗ 
heit einſchraͤnken: ſo koͤnnen dieſe Triebe insbeſondere auch 
der Liebe zum Vaterlande nachtheilig werden. 


S. 84 


arum bey rohen Voͤlkern md in einen Republiken bie 
* Vaterlandsliebe am ffärkften ſich zeigt ? 


Beyderley Bemerfungen zufammen genommen, 
werben auch erflären, unter welchen Umftänden die Siebe 
zum Vaterlande am ftärfften fich beweifen müffe. Vers 
möge der Erfahrung, ift fie bey unmiffenden Völkern ftär- 
fer, als bey den aufgeflärten. So heftig wie der Gröns 
länder und Lappe fein faltes, und der Ealifornier fein 
felfichtes, unfruchtbares Sand liebe, lieben nicht das ih⸗ 
rige der Deutfche, der Engelländer und Franzofe, Wenn 
auch mit Bewunderung jene Menfchen die Erzählungen 
von ben Keichthümern und DBequemlichfeiten der Euro 
päifchen Staaten anhören, und in dem Augenblicke $uft 
bezeigen, da zu feyn; fo vergeht ihnen doch alle Luft, 
wenn fie hören, daß nicht r auch da zu finden ift, = 

3 r 





342 BI. Abſchn.I. Abth. I. Kap. V, 


ihr Vaterland ihnen lieb macht *), Man weiß, mie eis 
nige derfelben mit der äußerften gebensgefahr, durch die 
verwegenften Anfchläge, ſich aus allen den Vortheilen, 
in die matt fie verfegt zu haben fich einbildete, foszureißen, 
und in ihr Vaterland zurückzukehren bemüht waren. Die 
Unterfuchung der Urfachen diefer Werfchiedenheit in den 
Gefinnungen einfältiger und aufgeflärter Voͤlker läßt es 
nicht zu, daß man jene deswegen für tugendhafter halte, 
Sondern nur dies; daß fie nicht fo gut im Stande find, 
mittelft deutlicher Begriffe und manchfaltiger Einfichten 
Dinge zu vergleichen, bas Fremde gehörig zu ſchaͤtzen, 
und dem Antriebe der Gewohnheit Einhalt zu thun; daß 
e8, um eben dieſer ihrer eingefchränften Erfennmiß willen, 
ihnen auch am Vermögen fehlt, in einem fo fehr verfchie 
denen Sande fich zurechte zu finden, es fich fo völlig be⸗ 
kannt, und ihre Lage dadurch behaglich zu machen; end» 
lich auch oft, daß ihre gehäffigen Begriffe, ihr Miß- 
frauen gegen Fremde, fie nicht zur ruhigen Hoffnung ei 
ner beftändigen guten Begegnung derfelben fommen laffen. 
Wo entgegengefegte Umftände eintreten; ba findet man, 
Daß auch ein Wilder fein Wolf leicht vergißt, und bey 
einem anbern einheimifch wird, Kin Kriegsgefangener 
Fehre nicht leicht in fein fand zuruͤf. An Austaufchung 
wird unter Ihnen nicht gedacht; und es ſchaͤndet zu fehr, ein 
Gefangener des Feindes geweſen zu feyn, um eine gute 
Aufnahme bey der Nückkehr hoffen zu dürfen. Penn 
nun, wie oft geſchieht, einer das Gluͤck hat, von den 

Eier 





N Die Brönländer ‚fe * * — * es da keine 
Seehunde gebe, und oft bonnere, ©. Kranz I, 226. 


Won der Liebe zum Waterlande. 343 


Siegern adoptirt zu werden: ſo nimmt er-fo fort Namen, 
Eitten und Ergebenheit eines Eingebornen an*). 

| Bey einem: geriffen Grade. des Wachsthums der 
Erfenntniß, mo Antriebe genug für die Einbildungsfraft 
entftehen fönnen, und weniger Einwendungen des Ver 
ſtandes, als bey noch mehrerer Aufklärung; und. wenn 
zu gleicher Zeit es leichter ſcheint, der vorhandenen Vor⸗ 
£heile anderer. Laͤnder mit Gewalt fi) zu bemächtigen, als 
bey ſich durch Fleiß und Geſchicklichkeit fie hervorzubrin« 
gen: da ift Trieb zum Auswandern genug vorhanden, 
Die Streifereyennomadifcher Völfer, und die Züge der 
nordifchen Eroberer, find aus diefen Gründen begreiflich. 
Wiewohl diefe doch Feine recht eigentliche Beweiſe gegen 
die Baterlandsliebe abgeben; da dieſe Leute zwar ihr 
Sand, aber nicht ihr Wolf, ihren Staat und ihr Eigen⸗ 
thum verließen. 

Die andere der glaͤnzendſten Erſchelnungen der 
Vaterlandsliebe iſt die in den Republiken; beſonders in 
der Zeit ihres erſten Emporſtrebens und Vordringens. 
Die Gruͤnde, aus denen dieſelbe hier entſpringt, koͤnnen 
zum Theil eben dieſelben ſeyn, die bey dem erſten Falle 
bemerkt wurden; Einſchraͤnkung der Einſichten und der 
Beduͤrfniſſe, Einfalt der Sitten. Aber hauptſaͤchlich 
koͤmmt doch hier die Staͤrke dieſer Liebe zum Vaterlande 
von den Vorzuͤgen und Vortheilen her, die der Buͤrger 
eines Freyſtaats beſitzt, oder doch zu beſitzen glaubt; an 
allen Rechten, an der hoͤchſten Gewalt Theil zu haben, 


Feiner menſchlichen Willkuͤhr, ſondern nur Geſetzen un- 
4 ter⸗ 








— — 


S. Roberifon Hiſt. of America, I, 367. ſeq. 


344 Bl. Abſchn. H; Abt. N, Kap. V. 


terworfen zu ſeyn, die man ſelbſt macht. Man kann dba 
auch weniger das Land und die Staatsverfaſſung verach⸗ 
ten, ohne ſich ſelbſt Worwuͤrſe zu machen. 

Gleichwie unterdeſſen in einer wohleingerichteten 
Monarchie Freyheit und Eigenthum ſo gut geſichert ſeyn 
koͤnnen, als in einem Freyſtaate, und oft noch beſſer: 
alſo kann auch der Ruhm des Regenten und der Nation 
noch eine beſondere Urſache ſeyn, daß man ſich freut, ih⸗ 
nen zuzugehoͤren, "und durch Selbſtliebe ſowohl als Eis 
genliebe fich antreiben laͤſſet, für die Ehre und das 
Wohl des Baterlandes mit Worten und Thaten ſich zu 
— 


Daß die Vaterlandsliebe, wenn ſie ſonſt gegruͤn⸗ 
det iſt, in kriegeriſchen Perioden am ſtaͤrkſten ſich hervor⸗ 
thut; koͤmmt daher, daß Guͤter uns am liebſten werden, 
wenn wir. fürchten muͤſſen, ſie zu verlieren. Ferner find 
überhaupt mehrere Antriebe der Thätigfeit alsdenn er⸗ 
regt; ſowohl wegen der Sebhaftigfeit, Die die ungewoͤhn⸗ 
lichern und lebhaften Auftritte, und die beftändigen Abs 
mwechfelungen in dem Gemüthe verurfachen; als auch we⸗ 
gen bes mandhfaltigen ntereffe, fo die Ehrbegierde, die 
Herrfh » und Eroberungsfucht vor fid) haben, 


Daß endlich die Liebe sum Ganzen in kleinen 
Republiken leichter Statt finden muͤſſe, in fo fern man 
da leichter mit dem Ganzen und allen feinen Theilen fid) 
als Eines, als zufammen gehörig gedenfer, ober Durch, 
Bekanntſchaft, Gewohnheit, Kinartigfeit der Sitten 
und enderer Bande zn verknuͤpfet iftz iſt ſehr ber 


| greiflich. 


| Zapis 


l 


Bon der Menfchenliebeund Gefelligkeit. 345 
u „ Aapitel VI | 
Von der Menfchenliebe und Gefelligkeit. 


$ 85. 


Ob in den allgemeinen Eigenfchaften ber menfhlichen Natur 
| die Menfchenliebe gegründet fey? 


Menſchenliebe in der hohen moraliſchen Bedeutung, 
iſt eben ſo wenig eine gemeine Eigenſchaft aller Menſchen, 
als Patriotismus. Aber man kann fragen, ob ein 
Menfh, bloß als Menſch betrachtet, dem andern ein 
völlig gleichgüftiger Gegenftand fey; oder ein Gegenftand 
bes Haffes vielmehr, als des Wohlgefallens? Und man 
barf behaupten, daß er das legtere iſt. Er muß es feyn, - 
vermöge des Wohlgefallens, fo der Menſch an fich felbft 
bat, und dem zufolge aud) an dem, was ihm ähnlich iſt. 
Er muß es, vermöge der Sympathie; die einen Men- 
ſchen mit dem andern genauer vereinigt, als mit feiner 
andern Art von Weſen. Diefer Schlußfolge wird auch) 
von der Erfahrung nicht widerſprochen. Dampier, der 
dreymal die Welt umreifet hat, ein Boucanier mar, dabey 
aufgelegt genug, was er fahe, zu beobachten ‚, giebt der 
Menfchheit ein vortheilhaftes Zeugniß. Nach demfelben, 
ift Fein Volk fo wild, bey dem nicht ein einzelner wehrlo⸗ 
fer Menſch Mitleiden und Benftand fände *). Mehrere 
Zeugniffe flimmen damit überein **), 
Es bemeifer Dies auch die fo gemeine Gaſtfreyheit, 
von ber man faſt bey allen Völkern ſichere Beyſpiele be. 
| Ds merket 
.S.Hig. des navigat. aux T. A, II, 92, 
") ©, Forſter I, 331, 








246 BI. Abſchn. I. Abth. U. Kap, VI. 


merfet hat; und ſolche Beyfpiele, bey denen Fein Eigen⸗ 
nuß, ‚auch niche Eitelkeit und Prahlerey, auch nicht 
Furcht, fondern nur die Vorftellung, er ift ein Menſch, 
zum Grunde zu liegen ſcheint *). 

Auch verdient hiebey das Vertrauen, ſo — 
heſten Voͤlker in gegebenen Freundſchaftsverſicherungen, 
feyerlichen Verſprechungen und Vertraͤgen ihnen weiter 
nicht bekannter Menſchen ſetzen, in Erwaͤgung gezogen 
zu werden. Man hat oft bey ganz wilden Voͤlkern bes 
merft, daß nad) folcdyen empfangenen VBerficherungen fie 
nicht unruhig wurden, wenn die Anzahl der Fremden fich 
vermehrte, und außerdem ihnen fürchterlich hätte feyn 
müffen **). Sollte diefe bloß in der Imaginaͤtion ges 
gründete Erwartung,eines, nad) folchen Vorgängen, fonft 
gewoͤhnlichen Verhaltens, oder ähnlicher Handlungen, 
ähnlich gefleideter Perfonen, nicht auch natürlicher, un« 
entwickelter Trieb der Vereinigung, $iebe, und daher Zus 
trauen, Glauben an Gegenliebe feyn; Triebe, die zwar 
Durch gemiffe Umftände bisweilen benommen oder ge 
ſchwaͤcht werden, urfprünglich aber natürlicher find, als 


ihr Gegentheil? 


§F. 86. 
Wodburch fi ſie hauptſaͤchlich geſchwaͤcht werben rann? 
Freylich ſind alle dieſe Antriebe zur Menſchenliebe 
von Natur ſo ſtark nicht, daß ſie nicht durch mancherley 


— geſchwaͤcht und uͤberwaͤltiget werden koͤnnten. 
Unter 








— — — — 


*) S. Hirſchfeld von der Gaſtfreundſchaft. 
“*) ©, von den Neuſeelaͤndern Forſter. 








Bon der Menfchenliebe und Gefelligkeit. 347 


Unter der Empfindung des eigenen Schmerzes ober Bes 
duͤrfniſſes erftirbt die Regung der Sympathie *). 

Durch Unmiffenheit und Eigenliebe geftimmete 
Vorſtellungen fönnen machen, daß zufällige Berfchiedens 
beiten ftärfer afficiren, als Die Webereinftimmung der mes 
ſentlichen Eigenſchaften. Vorurtheile verbiendeter und 
Beyſpiele verdorbener Menſchen endlich, koͤnnen zu den 
unnatuͤrlichſten Gefinnungen und Handlungen verleiten. 
Dieſe Gruͤnde werden ſich entdecken in allen Faͤllen, wo 
die Menſchenliebe am meiſten vermißt wird. 

Schon die Verſchiedenheit der Sprache iſt den 
wilden Voͤlkern oft ein Grund, ſich als Feinde zu betrach⸗ 
ten. Mod) mehr aber macht die Verſchiedenheit der Re⸗ 
figion. Wie die Einheit der Religion, die Gemeinfchaft 
des Tempels und anderer heiligen Dinge, eines Der 

Fräftigften Mittel ift, die Stämme und Gefchlechter mit 
einander vereinigt zu halten; - alfo Fönnen die darauf ſich 
beziehenden Unterfcheidungen am meiften dazu beyfragen, 
Fremde als Feinde, als Unmenfchen anzufehen; als Ver⸗ 
ächter der Götter, und von ihnen gehaßte **). 

\ Auch 


2) Doch giebt es edlere Gemuͤther, bey denen auch durch 
dieſes Hinderniß die Menſchenliebe nicht zuruͤckgehalten 
wird. Philipp Sidney, einer der tapferſten, gelehr⸗ 
— teſten und rechtſchaffenſten Ritter unter der K. Eliſa⸗ 
beth, ward in einem Gefechte gegen die Spanier in 
den Niederlanden toͤdtlich verwundet. Als er ſo auf 
dem Schlachtfelde lag, brachte man ihm einen Krug 
Waſſer, ſeinen Durſt zu loͤſchen. Neben ihm lag ein 
Soldat in gleich elenden Umſtaͤnden und gleichem Be⸗ 
duͤrfniſſe. Als er dies gewahr wurde, ſagte er, er 
braucht es nothwendiger, und uͤberließ ihm den Trank. 
Hume Hiſtory IV. 589- 
* 2 grins Geſch, der Menſchheit, 3, V. K. U, ZUL 
, 


f 














* 


2 


348 B.U. Abſchn. I. Abth. II. Kap. VI. 


Auch dies iſt aus den angezeigten Gruͤnden begreif⸗ 
lich, daß die Triebe der beſondern Neigungen zu den 
Verwandten und Bekannten, zum Vaterlande, natuͤrli⸗ 
cher Weiſe ſtaͤrker wirken muͤſſen, als der Trieb der all⸗ 
gemeinen Menſchenliebe. 

Stolz und Eigennutz zeigen hiebey die groͤßte Ge⸗ 
walt; nicht bloß in der Ueberwaͤltigung der Empfindun⸗ 
gen und Triebe, ſondern ſelbſt in der Verfaͤlſchung der 
Urtheile des von der Seite der Einſichten genugſam auf 
geflärten Verſtandes. jene Seidenfchaften machten es 
den Spaniern nur fo ſchwer, die neu entdeckten Ameri⸗ 
kaner für Menfihen gelten zu laffen, und einen päbftlichen 
Ausfpruc) in der Sache noͤthig. Wenn es auf Befrie 
digung eines finnlichen Bebürfniffes anfam, hatten fie 
Eein Bedenken, fie für ihres Gleichen zu erfennen. Und 
eben jene Urfachen machen es auch, daß die Einwohner 
eines andern Welttheils, unter den größtentheils efende- 
ſten Scheingründen irgend einer Rechtmäßigkeit, von den 
riftlichen Europäern wie Saftthiere gebraucht, und der 
natürlichften Rechte der Menfchheit beraubt werden; wenn 
fie ihnen gleich, um ihrer ſchwarzen Farbe willen, den Nas 
men ihrer Mitmenſchen nicht ftreitig machen, 

Indem auf diefe Weife der Menſch durch feine ei⸗ 
gene Gefühle und Erfahrungen belehrt wird, daß die ur. 
fprünglichen Triebe zur Menfchenliebe fo ſchwach find, ſo 
Teiche von felbftfüchtigen Empfindungen übermältiget wer. 
den: fo nimmt fein Mißtrauen gegen andere noch mehr 
zu; treibt ihn an, zu feiner Vertheidigung ſich feindfelig 
gegen fie zu bezeigen, wenn irgend eine Gefahr ihm 
ſcheint bevorzuftehen; fie Dadurch nody mehr wider ihn 
einzunehmen; und fo endlich, beym Anblick eines 

Ä Frem 


Don der Menfchenliebe und Geſelligkeit. 349 


Fremden, leichter die Idee eines Feindes, als die von 
einem Menſchen i in ſi ich zu erwecken * 


| $. 87. 
Ob der Menf von Natur gefellig ſey? 


Man hat noch nie mehrere Menſchen in einer Ges 
gend angetroffen, ohne gefellfchaftliche Verbindungen uns 
ter ihmen zu bemerfen; man weiß es aus Beobachtungen 
aller Arten, daß der Menfch zur elendeften Gefellfcyaft 
ſich bequemet, wenn er feine beffere zu hoffen hat; die 
ſtaͤrkſten und natürlichften Triebe der menfchlichen Natur 
machen die Menfchen einander nüglid und angenehm, 
Und dennoch hat man daran. zweifeln fönnen, daß die 
Natur den Menfchen zur Gefelligfeit beftimmt habe; weil 
man fand, daß er ohne die Einflüffe der Gefellfchaft ges 
wiſſe Safter und Plagen nicht haben würde; und auh 
einzufehen glaubte, daß nur von der Gewohnheit herkom⸗ 
men fönne, und nicht von der Natur, mas in der Ges 
fellfchaft aufgewachfenen Menfchen zum unentbehrlichen- 
DBedürfniffe geworden ift. 

Man kann freylich, wenn man diefe Unterfuchung 
genauer entwickeln will, drey Fragen von einander unter 
fcheiden: ob vermöge der Erfahrung Trieb zur Gefellig« 
feit bey allen Menfchen — werde; ob die Gruͤnde 

| diefes 


*, Die Beobachtungen, bie den Menfchen von der Seite 
vorftellen, giebt in großer Menge, aber ein wenig zu 
einfeitig an, Home in den Verfuchen uͤber die Geſchichte 
des Menſchen, B. IL Verſ. J. ©, 412. ff, 


930 B.I. Abſchn. IL. Abth. I. Kap. VI: 


diefes Triebes in der Natur des Menfchen wefentlich, ober 
| zufällig entftanden feyn; ob die Beftimmung des Mens 
fhen in der Welt, und feine Vervolllommnung gefelle 
fchaftliche Verbindungen erfordere ? 

Aber abhängig von einander werden diefe Fragen 
immer bleiben. Es werben mwenigftens ganz befondere 
Beweiſe dazu erfordert; wenn das nicht für natürlich gel⸗ 
ten foll, was allgemein bey einer Art von Dingen bes 
merfet wird. 
| Da der Menfch durch Triebwerk der Natur zur 

Gefellfhaft beſtimmt fcheinen müßte; wenn die Zwecke 
feines Dafepns, wenn feine Vollkommenheit, diefelbe er⸗ 
forderte: dies hat Rouſſeau fo guf eingefehn, als feine 
Gegner. Aber er ift auch Fühn genug gemwefen, ben 
Mugen der Wiffenfchaften und aller. Euftur zur Befoͤrde⸗ 
tung der wahren Gluͤckſeligkeit und Vollkommenheit des 
Menſchen zu leugnen. 

Wenn es noͤthig iſt, ſolche Schwaͤrmereyen zu wi⸗ 
derlegen: ſo iſt es auch ſo hinreichend von vortreflichen 
Maͤnnern geſchehen, daß ich nicht Urſache habe, mich 
weiter hiebey aufzuhalten *). Dies einzige will ich nicht 
unbemerft laffen, daß auch folche Neigungen Beweife der 
natürlichen Gefelligfeit des Menfchen abgeben, oder doch 
auf die Gründe derfelben zurückführen, die beym erften 
Anblicke das Gegentheil zu enthalten fcheinen Fönnen, 
Eingefchloffen in feine Studierftube, in Bücher einge 


graben, bringe dort einer * Zeit zu; der Geſellſchaft 
abge⸗ 








. 9) ©. Fergufon Hiſt. of civil fociety, part. I. Sect. 3. 4. I. 
FR 1 Keimarus Nat, Relig. ©. 512. ff. Zte 
ufl. 


Don der Menfchenliebe und Geſelligkeit. 358 


abgeftorben, ſagt mans ein Merfchenfeind! Aber wo⸗ 
mit beſchaͤftiget er:fich denn? Mit Menfchen in feinem 
Kopfe. Und wofür.arbeitet er ſo? Für den Befall der 
Menfchen in feinem Kopfe. Rouſſeau felbft würde 
nicht fo gegen die Gefeltfchaft deflamiret haben, wenn 
fie ihm gleichgülfiger gewefen wäre; mich dünft, idy muß 
hinzufegen, wenn er die Menfchen weniger geliebt hätte, 

+ Man fieht Menfchen, die mit Thieren faft ver 
trauter und zärtlicher umgehen, als mit ihres Gleichen; 
Sonderlinge, Hageſtolze u. ſ. f. Aber wie gehn-fie mit 
ihnen um? Sie unterreden ſich mit ihnen, ſie behaupten 
einem wohl gerade zu, fie verſtehen ſie und haben Ver⸗ 
nunft, Kurz, fie haben fie in ihrer Phantafie zu einer 
Are: von menfehenäßnlichen Weſen umgefchaffen: . und 
ihre Siebe zu denfelben ift eine Wirfung des Triebes zur 
Geſelligkeit, den irgend eine Urfache verhindert bat, feine 
natüelichite Richtung zu nehmen. 

Wenn noch etwas zum Beweiſe ber urfpränglichen 
Deftimmung des Menfchen zur Gefelligkeit noͤthig ift: 
ſo giebt allerdings die Uebereinftimmung der Einrichtuns 
gen im ganzen Thierreiche einen neuen Grund dazu her. 
Bey allen Arten von Thieren findet ſich der Trieb zur Ges 
ſelligkeit um fo viel mehr, mie fie-einander zur Auferzies 
‚hung ihrer Jungen, oder zu ihren fonftigen Bebürfniffen 
‚nöthiger find, Und der Menfch, dem die gefelifchaftliche 
Huͤlfe doch allemal fo nöthig bleibt, follte nicht durch 
das urfprüngliche Gefeg feiner Natur, fondern bdeffen 
Mebertretung ‚ in der Gefellfchaft feyn *)? = 

ap i⸗ 





* — Berfuce * die — der Nenehern. 
Erſt. B. Sechſt. Verſ. Anhang. Zweit. B. Erſt. Verſ. 
yon Anfange. 





352 Bl. Abſchn. N. Abth.T. Kap, Vo 


Kapitel VIL 


Von der Liebe gegen Verſtorbene und unver- 
| nünftige Thiere. 


9 88. 
Verſchiedene Beweiſe Fr ri — und Liebe gegen 


Kar bey aflen Völkern finden fich vielerley Beweiſe einer 
ftarfen Liebe oder Achtung für Verſtorbene. Den legten 
Willen derfelben, wenn er nicht den beitigften Pflichten 
entgegen läuft, zu erfüllen, haben die gefittetften Voͤlker 
für ein Maturgefeg gehalten; und eben fo fehr für eine 
Pflicht, ihnen nicht unverdienter Weife, oder lieber gar 
nicht, Böfes nachzufagen, Nur wenige Völfer machen 
ſich es nicht zur Pflicht, die Leichname der Verwandten, 
durch den Scheiterhaufen, oder das Begräbnif, oder ein 
genugfam erhöhtes Lager in freyer $uft, ver gemaltfamen 
Angriffen wilder Thiere, zu beroahren *). Einige ſuch⸗ 


— — — — — — 


6)5 Die Tibetaner begraben ihre Todten nicht, ſondern laſ⸗ 
fen fie die Thiere freſſen. Rec. des Voyages au Nord, 
Vol. IH. p. 319. Die Ralmucktatarn halten es für 
ein (hlimmes Zeihen, wenn die wilden Thiere nicht 
daran wollen. ©. Pallas Reifen I. ©. 303. Die 
Bamfchadalen follen ehemals wohl gar mit den Ster 
benden es fo gemacht haben. S. Stellers Beſchrei⸗ 
bung, ©. 271. in ber Mote und ©. 294. Es ifl 
nicht unbegreiflih, wie diefe von der gemeinen fo fehr 
verfchiedene Denkart entftehn kann. Die Noth oder 
ein Zufall haben etwa den Anfang gemacht, das erfte 
Deyfpielgegeben. Geiz oder Bequemlichkeit finden ihre 
Rechnung dabey. Und die dienſtfertige Vernunft einiger 
Dogmatriter und Moraliften findet endlich gar einen 
Grund aus, um es aus Pflicht zu machen, 


Bon ber £iebegegen Verſt. und unvern. Thiere, 353. 


ten durch Einbalfamirungen ‚und undurchäringliche Ge 
bäube die Verweſung berfelben zu verhindern. Allerhand 
Koftbarfeiten ihnen in das Grab. mitzugeben, ift ein eben 
fo allgemeiner Gebrauch als das Begräbniß felbft *); 
bey barbarifchen Völkern graufam dahin ausgedehne **), 
daß man auch Sklaven und Weiber ihnen zur Gefell- 
ſchaft toͤdtet. Bey den Chinefern ift es eine der vornehm⸗ 
ften Religionspflichten den verftorbenen Vorfahren jaͤhr⸗ 
liche Opfer zu bringen +). Viele wilde Voͤlker fondern 
bey ihren feftlichen Mahlzeiten immer einen Antheil für 
die Verftorbenen ab. Das Trauerceremoniel ift eine 
große Befchwerde für die Lebendigen in Europa; aber 
eine ungleich größere, ſowohl der Dauer als der Arc nach, 
bey mehreren anderen Völkern tt), 


$. 89. 

*) Die Tferemiflen, im dem Lande ber alten Scyten, ges 
ben nicht nur, unter andern ihrer Mepnung nad zur 
Gluͤckſeligkeit Überall, auch jenfeit des Grabes nöthis 
gen Dingen, eine Fotm, wornach der Verftorbene Bafte 
huͤte fich flechten fan, mit; fondern auch einen Prüs 
gel, um vor dem Höllenhund damit ſich zu mehren, 
©. Rytſchkow Tagebuh, ©. 95. ff. 

#*) ©. Recherches philoſ. fur les americains, I, 210, 





ſeqq. | 

+) ©. Kekse philofophiques fur les Egyptiens & les 
Chinois, II. 219. 

+H In Corea follen die Kinder drey Jahre um ihren Water 
dergeftalt trauren muͤſſen, daß fie nicht nur allen oͤf⸗ 
fentlihen Gefhäften, fondern auch den häuslichen Pflich⸗ 
ten, ja allen lebhafteren Empfindungen, fich zu entzies 
ben haben. „Il ne leur eft pas permis pendant tout 
ce temıs de coucher avec leur femmes, de fe mettre 
en colere, de fe battre, & encore moins de w’eny- 
vrer. Rec, des Voyages au Nord, IV, 73. Vergqi. 


Erfter Theil. 3 Re- 





354 BTL Abſchn. n. Abth. U. Kap. VIE: 


$: 8% 
Werſchledene Urfachen davon. 

Unterfuchet man die Urfachen diefer Gewohnhei⸗- 
ten: ſo laͤſſet fich von.den mehreften weder die Vernunft, 
noch ein befonders angeborner Trieb zum Grunde angeben, 
Etliche laffen ſich zwar als Wirfungen vernünftiger Des 
weggründe gedenfen; aber man hat fehr Urfache zu zwei⸗ 
feln, ob ſie dieſes bey den meiſten Menſchen wirklich ſind, 
oder urſpruͤnglich waren. Dagegen entdeckt man uͤberall 
Taͤuſchungen der Einbildungskraft, und kuͤhne Schluͤſſe 
aus ungewiſſen Vorausſetzungen. 

Man kann ſehr vernuͤnftige Gruͤnde fuͤr das Be⸗ 
graben der Todten oder andere ähnliche Anſtalten anfühs 
ten, Verhinderung ungefunder Ausdünftungen; Ver— 
hinderung, . daß nicht leichrfinnige Menfchen fich zu Miß- 
handlungen und Sraufamkeiten an $eichnamen gewöhnen 
u. d. gl. Aber dieſe Gruͤnde entfprechen nicht hinläng« 
fi, weder den fo fehr hohen Begriffen von der Heilige 
Eeit und Nothwendigkeit diefer Pfliht, die die meiften 
hegen; noch den andern Öefinnungen, die ſich dabey her— 
vor⸗ 








Recherch, philoſoph. fur les Egyptiens I. c. Vor 
ben Negern f. Boffmann Voyages de Guinte, Lettr. 
XI. Die Gewohnheit anderer Völfer, beym Tode eis 
nes nahen Anverwandten, ein Glied an einem Finger 
ſich abzufchneiden, iſt doch wohl auch nur aus der Abs 
fit entſtanden, ein Zeichen eines großen Verluſtes 
an ſich zu tragen. ine Perſon von belobter Empfind⸗ 
famteit hat ven braven Einfall zuerſt gehabt, und bie 
andern gläubteit, es Ehren halber nachthun zu muͤſſen. 
©. vol der Gewohnheit felbft Nachrichten in den Re- 
cherch, philof. fur les Americains, I, 224. ſeqq. 


Wonder Liebe gegen Verſt. und unvern. Thiere. 353 


vorthun. Vielmehr ift die Mache der finnlichen, obgleich 
größtentheils nur von der Einbildung erzeugten, Vorſtel⸗ 
lungen für den hauprfächlichften Grund diefer, und der 
verwandten Gewohnheiten, zu halten. So fehr die Ver⸗ 
nunft es einigen auch fagt, baß nicht der Körper der eis 
gentliche Menſch ift: fo fehr ift er es doch in der Denfart 
ber meiften Menfchen, und befonders unter unaufgefläre 
ten Voͤlkern. An dem finnlichen Bilde leben die inter» 
effanteften Worftellungen, hängen die maͤchtigſten Nei⸗ 
gungen. einen Gatten, feinen Vater, fein Kind fieht 
der Menſch in erblaßten Leichname. Wie follte er gleich 
gültig diefen Gegenftand einem jeben Zufall, einen je» 
dem Muthwillen überlaffen Fönnen? Der Gedanfe, daf 
aud) er einmal erblaffen werde, koͤmmt hinzu; und ere 
ſchrecklich wird nun die Worftellung, fo verlaffen und 
preißgegeben einem jedem wilden Thiere, einer jeden 
Mißhandlung da zu liegen. Einem Gefchöpfe, das fi) 
fo ſehr im Körper fühle, iſt es gar zu ſchwer, gleichgüle 
£ig gegen diefen Körper zu werden, und mit Beyſeitſe⸗ 
Kung beffelben fein ganzes Fünftiges Selbft ſich zu denken, 
. Eben biefelbe Täufchung der ‚gegenwärtigen Empfindune 
gen bey der Vorftellung vom Künftigen, die die meiften 
Menſchen fo beforge mache für ihre Ehre nad) dem Tode; 
macht fie auch für ihren Leichnam und für feine Grabe 
. ftätte beſorgt. Und vermöge der Sympathie müffen fie 
- es denn aud) für andere werden. Auch bier Fönnen fid) 
wohl unmittelbarer noch Selbftliebe oder Eigenliebe ein» 
mengen. Esiftein Menfh, wie wir, es ift unfer 
Verwandter, unfer Oberhaupt, unfer Landsmann. 
| Eine zweyte Haupturfache Diefer Sorgfalt fü: den - 
Leichnam der Berftorbenen findet fich aber freplich auch in 
3 2 dem 


356 B. I. Abſchn II. Abth. II. Kap. VII. 


dem Glauben an ein anderes Leben; beſonders wenn man 
ſich eben wieder den Koͤrper dabey noͤthig, eben ſolche 
Neigungen und Beduͤrfniſſe, wie bier den Menſchen bes 
gleiten, dabey gedenket. Dann entfteht erſtlich die 
Furcht vor den abgefchiedenen Seelen; eine Furcht, die 
dureh) fo viele andere Gründe unferftügt wird, in den 
Zeiten der Unwiſſenheit; wo die gemeinften Erfcheinuns 
gen zu erflären, geiftifche Kräfte angenommen, und allge» 
waltige Kräfte bey der vom Körper entbundenen Seele, 
wie Träume und Beoierden fie nur immer ausdichten 
mögen, ohne Widerrede angenommen werden. Um dies 
fer Furcht willen wird e8 für nörhig gehalten, die Todten 
zu verföhnen, und auf alle Weiſe fich in Acht zu nehmen, 
daß ſie nicht gereizt werden *). Wenn aber auch die 
Bedürfniffe dieſes Jebens nad) dem Tode auf das neue 
Statt finden: fo ift es ja natürlich, daß die Sterbenden 
winfchen, feinen Mangel leiden zu müffen, an allem 
dem, was ihnen dort, wie hier, nöthig feyn wird; unddaß 
die Zurücfbleibenden bierinn aufs befte für fie forgen, 
eheils aus Siebe zu ihnen, theils auch aus Liebe zu fich 
ſelbſt; damit man ihnen dereinft ein Gleiches thue. 

Es 


— 6 — 


*) Aus gleichem Grunde hegen einige Wilde eine ähnliche 
Sorgfalt für todte Thiere. Einige Völker in Louıfiana 
getranen fich nicht, das Gebeine der Leiber und anderer 
wilder Thiere den Hunden vor, oder in einen Fluß zu 
werfen, aus Beforgniß, die Seelen diefer Thiere, dig 
e8 beobachteten, fagten es den lebendiaen Thieren und 
den andern Todten, fo daß fich biefe Thiere weder in 
diefem noch in jenem Leben von ihnen fangen ließen. 
©. des P. Hennepin Voyages au M,fbfippi; Rec, des 
Voyages au Nord, V. 283. 





Von der Liebe gegen Berft. und unvern. Tiere. 9357 


Es ift niche ſchwer, die andern vorher angezeigten 
Beweiſe der Liebe und Achtung für die Berftorbenen aus 
eben diefen Gründen herzuleiten. 


Auch dies darf nicht ſehr befremden, wenn etwa 
gegen einen Menſchen nach ſeinem Tode mehr Liebe oder 
Achtung von einigen bewieſen wird, als fie gar nicht ſchie⸗ 
nen für ihn empfunden zu haben, fo lange er lebte, Cs 
kann dies von der gewöhnlichen Täufchung herkommen, 
daß uns Dinge anders, oft vollfommener, erfcheinen, 
wenn wir fie nicht wirklich Haben, wenn wir fie nur mit« 
telft der Einbildungsfraft betrachten. Es kann auch von 
der Begierde berfommen, Empfindſamkeit oder ein gu⸗ 
tes, zartliches, billiges Gemüth zu zeigen; oder durch 
feine Traurigkeit Aufmerffamfeit, Mitleiden zu gewin⸗ 
nen. Bisweilen ift das Gute, was man von Berftore 
benen rühmt, nur eine feinere Wendung der Vorwürfe, 
die man $ebendigen machen will. Endlich aber fallen oft 
die Urfachen, ‚die der vollen, herzlichen Achtung für den 
andern im Wege fiunden, mit feinem Tode weg; man 
hat nicht mehr Urfache, fich vor feinen fteigenden Were 
dienften zu fürchten, man kann ihm eben deswegen auch 
leichter verzeihen, da man meiter nichts mehr von ihm zu 
fürchten hat; und freylid) ift man auch um fo viel mehr 
dazu geneigk, wenn wahre Traurigfeit und Betrachtun⸗ 
gen des Todes die Empfindungen gemildert und veredelt - 
- haben. Oder fo man glaubte, vorher zu wenig gethan 
zu haben; Fann der Antrieb dahin gehen, nad) dem Tode 
es noch einzubringen, und eine Art von Abbitte und Eh» 
renerflärung bey dem Grabe zu hun, 


33 | $. 9% 


358 B.I. Abſchn. I. Abth. I. Kap. VII 


$. 90. —* 
Von der Liebe zu den unvernuͤnftigen blend, 


Die Lebe zu unvernünftigen Tieren geht bey einie 
gen Menfchen fo weit ins Sonderbare, und kann in ihr 
ganzes Verhalten fo viel Einfluß gewinnen, daß fie die 
Aufmerkfamfeit des morafifchen Natur forſchers verdiener, 
Und ob fie gleich nicht völlig in eine Claffe mit der. Liebe 
zu den Verftorbenen gefegt werben darf: fo wird man 
boch in den Gründen diefer beyden Neigungen fo viele 
Verwandſchaft leicht gewahr werden, daß die Ordnung, 
in der bier davon gehandelt wird, nicht ganz unnatuͤrlich 
ſcheinen kann. 

Erſtlich beſitzen freylich die Thiere zum Theil ſo 
vieles von der manchfaltigen Schoͤnheit, die der Menſch 
an ſeines Gleichen oder an andern Werken der Schoͤpfung 
bewundert, daß Grund genug vorhanden iſt, Wohlge⸗ 
fallen an ihnen zu finden, Zur ausfchweifenden Neigung, 

zu einer Are von Freundfchaft wird diefes Wohlgefallen, 
durch die Mache der Gewohnheit und Einbildungsfraft, 
Nicht nur vermöge der allgemeinen, fonft ſchon bemerfe 
ten Finflüffe der Gewohnheit, nimmt die Neigung zu eis 
nem Xhiere mit ber Zeit zu; fondern weil wir auch immer 
mehrere und ftärkere Beweife feiner Zuneigung, feines 
Einverftändniffes mit uns empfangen, je mehr man 
fih aber mie einem Gegenftande befchäftiget, und durch 
immer neue Eindrüce die Borftellung von ihm belebt; 
deſto ſchwaͤcher werden verhältnißweife die Worftellungen 
von andern Dingen, befto gleichgüftiger werben fie So 
‚Tann das auf diefe Weife wachſende Wohlgefallen an ei« 
nem * endlich Gleichguͤltigkeit gegen andere Dinge, 
gegen 


Von der Liebe gegen Verſt. und unvern. Thiere. 359 


gegen Menſchen ſelbſt verurſachen. Je weiter man nun 
in dieſer Neigung ſchon gegangen iſt, je mehr man. den 
Gegenſtand liebt; deſto geneigter ift man auch hier, mehr 
Vollkommenheiten in ihm zu finden, als er wirklich nicht 
hat; ‚die Einbildungsfraft findet leicht Stoff, die Bes 
weife dazu zu ſchaffen. Vernunft und Empfindfamfeit, 
und alles, was dem Menfchen zur Vollkommenheit anges 
rechnet wird, fieht man auf dieſe Weife in Thieren, 

Etwas muß der Menfch lieben. Je mehr alfe 
die Siebe zu den Menfchen bey einem geſchwaͤcht ober ges 
hindert iſt; defto eher Fann die Siebe zu den Thieren aus 
ſchweifend werden. Man hat fie daher auch bey Tyran ⸗ 
‚nen oft bemerft, die fich zu fehr bewußt waren, den Haß 
und die Verachtung der Menſchen auf ſich geladen zu ha» 
ben, um Siebe zu ihnen haben zu Fönnen *). Freylich 
fann auch diefe ausfchweifende Liebe zu den Thieren mie 
der ieblofigfeit im Verhalten gegen Menfchen, als ge⸗ 
meinfame und gleichzeitige Wirfung aus einerley Urfache, 
einer. Unregelmäßigkeit der Anlagen der Sedke, verfnüpft 
feyn. 

Die Voͤlkergeſchichte made u gr andere Un 
fachen einer ausfchmweifenden Achtung und Siebe für die 
es befannt; ran allerhand abergläubifche Mey⸗ 

34 nune 











— — — 


. 9% ©, von Tiber Surton Kap. 72. Das ſonderbare Wohls 
gefallen dieſes Tyrannen an der Mythologie — Nöti- 
tiam hiftorise fabularis usque ad ineptias atgue deri- 
fum curavit cap, 70. — läßt ſich vielleicht als verwandt 
mit jener Neigung zu den Thieren gedenken. Der Tp⸗ 
rann mußte feine Freunde unter Menfchen ſich aufſu⸗ 
den, die die wenigſte Aehnlichteit hatten mit denenje⸗ 
nigen, die er haßte, und von denen er gehaßt war. 


360 BI. Abſchn.II. Asth.IL Kap. VI. 


nungen. Zufoͤrderſt die von ber Seelenwanderung; zu⸗ 
folge welcher die Indianer und andere afiatifche Voͤlker 
‚befürchten, in einem Thiere eine ihrer ehemaligen Ver⸗ 
wandten, ober eine andere würbige und wichtige Mene 
fchenfeele zu beleidigen. Diefe Leute tödten daher nicht 
nur feine Thiere; fondern fie haben fogar Hofpitäler für 
fhadhafte Affen, und andere wohlthaͤtige Anftalten zum 

Beſten der Thiere *). . 


| Die Indianer in dem Spanifchen Amerifa, fon 

derlich in der Provinz; Guatimala, glauben, daß ihr 
Schickſal mit dem Schickſale geriffer Thiere fo fehr ver- 
flochten fey, daß fie die größte Achtung und Zärtlichfeit 
für fie hegen. Auch glauben fie, daß es einigen unfer 
ihnen gegeben fen, ſich bisweilen in ſolche Thiere zu ver» 
wandeln, Diefe ihre Neigung gegen die Thiere foll aud) 
einer von:den Hauptgründen ihrer Ehrfurcht und In⸗ 
brunſt gegen einige Heilige der katholiſchen Kirche ſeyn; 
weil nämlich dieſelben gewoͤhnlich mit gewiſſen cha 
racteriſirenden Thieren an der Seite abgebildet wer» 
ben **), 


Kapi⸗ 








4) Buffon Hiſt. naturelle edit. 4to vol. XIV, p. 227. 
. auch von ben Banianen Ebend, Berl. Ueberſetz. 
8. Th. VI, ©. 59, | 


8) S. Voyages de Thomas Gage dans la neuvelle 
Eſpazne; Troif, part, 


Von den feindfeligen Neigungen und Trieben. 361 


: Rapitel VII. 
Ben den feindfeligen Neigungen und rien, 


9 91. 
Einige vorläufige Bangenn über bie Gründe diefer 


©, wie es vermöge ber Sympathie ſchon natürlich ift, 
‚andern lieber gutes als böfes zu gönnen: fo macht e8 die 
Vernunft zur Pflicht, neben feiner eigenen auch aller 
übrigen Menſchen Gluͤckſeligkeit moͤglichſt zu befoͤrdern; 
und nur in der einzigen Abſicht, Unrecht von ſich abzuwen⸗ 
den, oder uͤberhaupt ein groͤßeres Uebel zu verhindern, 
erlaubt ſie, wenn es anders nicht ſeyn kann, jemanden 
ein Leid anzuthun. Dies fuͤhlt und erkennet der Menſch 
bey einigermaßen ruhiger Faſſung des Gemuͤths ſo ſehr; 
daß er nicht leicht unterlaͤßt, aus dieſem einzigen recht⸗ 
fertigenden Grunde ſeine Feindſeligkeiten gegen, andere 
berzufeiten. Ä 

Aber in gar vielen Faͤllen ſcheint es ſo unmoͤglich, 
den Anfang und Fortgang der Feindſeligkeiten auf dieſen 
Grund zuruͤck zu bringen; bie Gemwaltthätigfeiten und 
Graufamfeiten, bie, vermöge frauriger. Erfahrungen, 
Menfchen an Menfchen begehen fönnen, fcheinen jum 
Theil fo fehr den Grundgefegen unferer Natur zu wider⸗ 
ſprechen; daß freylich der Empfindung des erſtaunten 
Beobachters von zaͤrtlicherm Gefühle, Fein Ausdruck na⸗ 
tuͤrlicher und anpaſſender vorkoͤmmt, als der von Line 
menſchen, Ungeheuern. Und doch ſind es Menſchen; 
und die Unterfnchung zwingt uns das Befennmiß ab, daß 
Anlagen zu folchen MEN Unmen ſchuchtelcen in 
| 5 den 


a 





963 BI Abichn. II. Abth. II. Kap. VIII. 


den allgemeinſten Eigenſchaſten der menſchlichen Natur 
enthalten ſeyn. — u u V 
Und nun, worinn beſtehen dieſe? Sollte der 
wahre Widerſpruch in der menſchlichen Natur ſeyn, daß 
der Menſch geradezu und unmittelbar ſich ergoͤtzen kann 
am Leiden anderer? Allerhand Schriftfteller. behaupten 
dies, oder ſcheinen es doch zu behaupten. Nicht nur 
ſolche, die die menſchliche Natur auf das gehaͤſſigſte ab» 
malen, um der Gnade defto mehr Gelegenheit zu ges 
ben, ſich an ihr zu verherrlichen; ſondern auch Philofos 
phen, die alles mit der Natur ausrichten wollen *). 
Mm diefe Frage beantworten zu koͤnnen, iſt es 
nöchig, die ausgemachten Urfachen des Haſſes und ber 
Grauſamkeit und aller Arten von feindfeligen Neigungen 
näher zu betrachten; und zu fehen, ſowohl was fie wire 
Een koͤnnen, als auch auf was für Gründe man bey der 
Entwickelung ihrer Beſtandtheile zurück koͤmmt. Aber 
um fich diefe Unterſuchung nicht zu leicht zu machen, und 
aus unvollftändiger Betrachtung zu übereilt das Schluß⸗ 
uͤrtheil abzuleiten; iſt es auch nöthig, nicht bey den ges 
meinen Benfpielen von Graufamfeiten ftehen zu bleiben, 
fondern fi) an die grauenvollen Auftritte zu erinnern, die 
von der Wirfung der Eroberungsfucht, der Nachbegierde, 
bes Religionshaffes und des fectirerifchen Verfolgungs- 
9 N geiſtes 


ö— —— —— I — 





—— — — 


2) ©. Helvetius diſe III, chap. XII ll ef des hommes 
"malheureufement nes, qui, ennemis du bonheur 
d’autrui, defirent les grandes places, nen pour jouir 
des avantapes, qu’elles procurent, mais pour gouter 
le feul. plaifir des infortun&s, pour tourmenter les 


f 


kommen & jeuis de lsur malbeun, 


Bondenfeindfeligen Neigungen und Trieben. 363 


geiſtes überhaupt, in den Annalen ber gefitteten Voͤl⸗ 
ker aufgezeichnet find; an die Winfche und Thaten eines 
Tiberius, Nero, Kaligula, eines Nichard DI, 
und Heinrich VII, eines Carl IX, und eines Here 
3098 von Alva, und der Eroberer der neuen Welt, 
Ich will diefe Abhandlung nicht anfüllen mit den ohnedem 
‚genug befannten Gefchichten, Aber Gefeg muß es mir 
und meinen $efern feyn, an fie zu denfen, bey ben nach“ 
folgenden Unterſuchungen *). ef 


$. 92. 











*) Einer einzigen, bienicht alt und bach nicht fo gemein 
erinnerlih, völlig gewiß ift, und verfchiedene bemers 
kenswuͤrdige Umftände enthält, will ich nur einigen 
Kaum bier verflatten. Bey dem Aufftande in res 
land unter Sarl I, von welhem Geiz, Machbegierde, 
Nationalhaß, unterbrüdte, aber nicht ausgerottete Neis 
gungen ber vormaligen Wildheit, befonders aber Relis 
gionseifer die Urfachen und Xriebfebern waren, wurde 
feines Alters, Feines Geſchlechts gefchonet. Diejenis 
gen, die als Freunde und Nachbarn mit den andern ges 
lebt hatten, raubten ihnen nicht nur ohne Verfhonung 
das Leben, fondern übten auch die unerhörteften Mars 
tern an ihnen aus. Das zarte Geſchlecht, ja Kinder 
wurden von ber Muth angeftedt, und wibmeten ihre 
Kräfte der Mordſucht. Der Geiz felbft wich ihr; das 
Vieh der Proteftanten wurde ohne weitere Abficht, ale 
bie Wuth audzulaffen, ermordet, oder verwundet, 
Der auf dieſe Weife hingerichteten Schlachtopfer find, 
nah einigen Schriftftellen, 200000, nah Bume 
40000 gewefen. Noch weiß man am Ende diefer Ges 
fhichte nicht, ob man mehr über die Graufanifeit ber 
Srrländer, oder über das Zaubern der Engellänber, 
ihren fo bedrängten Brüdern zu Hülfe zu kommen, 
ſich entfegen muß, — Der Hauptanführer biefer 
een mar ein .muthlofer Kerl, Aume Hift. 

om v. 





364 BI, Mfhn.i. Abth. . Rap, VI. 


$. 92 


Rechſucht. Allgemeine Betrachtungen uͤber ihre Gründe 
und Wirfungen. 


- Der gewöhnlichfte Fall, mo der Trieb, Feindfes 
figfeiten dem andern zu beweiſen, erwacht, ift der, wenn 
ſich ein Menfch von dem andern befeidiget glaubt. Die 
Empfindung feines Schmerzes, oder das lebhafte Anden» 
Een an denſelben, treibt ihn an, zu wergelten, fich zu 
rächen. Wenn die einzige Abſicht und das genaue Maaß 
des Verhaltens dabey wäre, den Beleidiger durch ein 
gleiches Gefühl zur Erfenneniß des angethanen Unrechtes 
zu bringen, und überhaupt von fünftigen Beleidigungen 
abzuhalten: fo wirde man fic) leicht in den Gränzen ber 
Vernunft erhalten. Aber die Rachſucht hat noch andere 
Gründe Der Beleidiger ift ein Gegenftand des Haß 
fes geworden, durch die Werfnüpfung der Ideen, wenn 
er fchon nicht mehr beleidiget. Wenn wir ihn fchon nicht 
mehr zu fürchten haben: fo empört fi) doch das Gemuͤth 
bey dem Anblick deffelben, bey dem Gedanfen an ihn. 
Dhne feinen Untergang, feine Vernichtung gefehen zu 
haben, will es ſich nicht beruhigen. Der Stolz ift be 
fonders noch) eine mächtige Triebfeber dabey. Der Ge 
danfe, der Schmwächere gewefen zu fern, oder es nur ges 
fehienen zu haben, vielleicht noch dafür gehalten zu wer» 
den, erregt den beftigften Wunfch, den Gegner zu des 
muͤthigen, ihm das Befenntniß abzuzwingen, dem Der: 
wegenen, daß wir nicht fo verächtlid find, wie er 
glaubte, daß er Urfache gehabt haͤtte, ſich vor ung zu 
fürchten. Daher ift der Rachgierige diefer Art nicht 

F zufric⸗ 


Von den feindfeligen Reigungenund Trieben. 365 


Zufrieden, wenn er fich.gerächet hat, ohne daß es ber 
andere weiß, Ä | 
—- Ma vengeance eft perdue, | 
S'il ignore en mourant, que c’eft moi, qui 

| e tue, 
— Qu’il apprenne à PIngrat 
Qu’on Pimmole à ma haine & non pas X 
| . Perar. | 
Und nicht nur aus dem allgemeinen Grunde, daß bie 
geidenfchaft die urfprüngliche Abficht des Triebes vergefe 
fen macht, opfert oft der Kachfüchtige ſich felbft mit auf; 
fondern um die Schande der ungerächeten Beleidigungen 
von ſich abzuwenden, um der Vorftellung des vor ihm, 
fichern Feindes los zu werden, fcheuet er nicht den gewif« 
fen Tod; wenn er nur den Feind mit fi) in das Grab 
ftürzen, wenn er nur fich rächen kann. . 
Que je. me perde ou non, je fonge X me 
venger, | 
Die Dichter haben noch einen viel abfcheufichern Gedan⸗ 
Ben der Rache auf die Schaubühne gebracht *); den ich 
aber Bedenfen tragen muß, als eine Bemerfung aus 
der Geſchichte der Menfchheit nachzufchreiben. Bey fo 
manchen und fo gewaltigen Antrieben zur Rache, zu da 
nen man noch den mechanifchen, oder dach inftinctartigen 
Reiz, unangenehme Eindruͤcke von fich abzumenden, und ih⸗ 
nen zu widerfireben, rechnen Fann, ($. 30.) laffen ſich wohl 
Feine mäßige Wirfungen erwarten. Aber es find noch 
| | befons 








| H Er koͤmmt, mp ich nicht irre, unter andern auch im 


. 


Trauerſpiel: Der Freygeiſt, vor. 


366 Blu. Abſchn U. Abth. I. Kap. vmm. 


beſondere Gruͤnde vorhanden, von denen es koͤmmt, daß 
die Rache, auch bey der bloßen Abſicht der Wiederver⸗ 
geltung, das Maaß der erlittenen Beleidigung fo leicht, 
und oft fo fehr überfchreitet. Das Uebel, das einem 
felbft wiederfahren ift, hat man empfunden; mißt es 
alfo nad) einem lebhaftern Eindrufe, und fchägt es da⸗ 
ber leicht für größer, als dasjenige, was man dem an⸗ 
dern anthut, und nicht eigentlidy empfindet, nur ſich vor- 
ftelfe. Dann macht die Eigenliebe, daß man auf ſich 
einen größern Werth fegt, als auf den andern; und dem« 
nach auch die Beleidigungen, die einem wieberfahren, 
höher anrechnet, als diejenigen, die man andern anthut, 
Endlich hat der Menfch eben fo fehr Wohlgefallen an dem 
Gefühl feiner fich auslaffenden Kraft, an den Beweiſen 
feiner Uebermad)t; als die Empfindung feiner Ohnmacht 
ihm unangenehm ift. 

Wie fich überhaupt die Bemerfungen und Urtheile 
nach den Leidenſchaften richten: fo macht aud) die Rache 
begierbe, und der damit verfnüpfte Haß des andern, 
daß man alles, was ihm zum Nachtheile gereichen Fann, 
feichter gewahr wird und glaubt. Und fo mit gelingt es 
auch der Rachbegierde nicht felten, fich binter edfere 
‚ Triebe und Abfichten zu verbergen; bie Abſicht, den an« 
dern zu beffern, ober die Welt vor ihm in Sicherheit zu 


fegen, | 


§. 93. 
Bon ber Rachſucht wilder Völker. 
In den Sitten wilder Voͤlker zeichner ſich nichts 
ſo ſehr und ſo allgemein aus, als ihre hoͤchſte Rachſucht. 
Sie 


Vonden feindſeligen Neigungen und Trieben. 367 


Sie ſcheinet bey einigen die einzige Leidenſchaft zu ſeyn, 
deren fie fähig find; wenigſtens diejenige ‚ ber alle andere 
weichen, | Ä 
Sowohl in Anfehung der Art, wie fie ihre Rache 
ausüben, als in Anfehung ihrer Dauer, unterjcheiden fie 
ſich bis zum Entfegen von gefitteten Menfchen. So leicht 
der Wilde fonft vergißt: fo fehr fheint das Andenken 
einer ihm oder den Geinigen angethanen Beleidigung ges 
gen die Länge der Zeit in feinem Gemüche auszuhalten, 
und ben Zunder der Rache aufzubewahren *). 

Sie fuchen aber die Gelegenheit zur Rache mit al⸗ 
ter ihnen möglichen Vorſicht; und wiffen ihre Empfind« 
lichkeit auf das forgfältigfte zu verbergen, fo lange bis 
fie mit völliger Sicherheit ſich rächen zu koͤnnen vermey⸗ 
nen, Wenn fie ihren Seind in ihrer Gewalt haben, 
wenn fie ihn gefangen aus dem Kriege in ihr Sand gebrache 
haben; bann erft überlaffen fie ſich der ganzen Wuth ide 
ser Rache; die fich, um fie nur kurz zu befchreiben, nicht 
eher legt, bis derfelbe unter allen nur erfinnlichen Mars 
tern, mittelft des langfamften Todes, aller Empfindung 
beraubt if. Weiber und Kinder nehmen mit größter 
Degierde an diefen UnmenfchlichEeiten Theil, und einer 
fucht, es dem andern darinn zuvor zu thun **), re 

uch 


—— — — 2. 


®) Roberifon Hift. of America I, 391. Auch bie fonft in 
Vergleihung mit andern Milben gutmüthigen Groͤn⸗ 
länder find ihnen barinn glei. Soliten auch drepfig 
ahre vergangen fepn: To Vergeffen fie nicht fchivere 
Beleidigungen, dergleichen Mord und gg nach 
ihren Begriffen find, zu rächen, wenn fie den haͤter 
wo allein finden. Cranz ©, 249, f. 
%) Reberifon I, <. p. 359. ſ. 369, 


368 DI. abſchn. I. Abth. N. Kap-VIIL, 


Auch der Gedanke, ben Feind aufzufreſſen, ſcheint, 
nach der Meynung verfchiedener Unterfucher, eine Wir⸗ 
Eung der Kachbegierde zu feyn *). 

Iſt denn nun alſo die Rachbegierbe fo fehr in der 
menſchlichen Natur, daß fie nur bey gefitteten Voͤlkern 
Bat weggefünftelt werden Eönnen, bey rohen Völkern ſeyn 
muß? Oder ift fie vielleicht auch bey diefen zum Theil 
N durch) äußerliche Urfachen erzeugt? Wir wei - 

ken feben. 
i) Der Wilde weiß, baß er feine Sicherheit, und 
die Behauptung feiner Kechte hauptſaͤchlich von ſich felbft 
zu erwarten bat. Vom Schuß ber Gefege, von Genug 
chuung und Sicherheit, mittelft obrigfeitlicher Huͤlfe, ift 
ihm wenig oder nichts befannt, Die Gefege und Obrig« 
feiten, bie er kennt, baben ſolche Gewalt nicht; und er 
verfteht auch noch nicht eine folche Gewalt genug zu ſchaͤ⸗ 
gen, um mit Aufopferung feiner Unabhängigkeit ihr das 
Dafeyn zu geben, - Unter diefen Umftänden ift ihm fehr 
viel daran gelegen, ſich feinen Feinden fo furchtbar als 
möglich zu machen, 

2) Eben daher ift es auch ein Hauptſtuͤck der Er⸗ 
ziehung, ſolche Geſinnungen gegen den Feind von Ju⸗ 
gend auf einzufloͤßen. Es wird dem Sohne vom Vater, 
von einem Freunde dem andern zur ehrwuͤrdigen Pflicht 
gemacht, die noch unvergoltenen Beleidigungen nicht zu 








)) Reberifon l. cp. 61. feg. Daß die Rachſucht der ges 
meinfte Trieb zur Menfchenfrefferey gewefen,, mag man 
wohl behaupten. ber daß auch ber Hunger dazu ans 
treiben koͤnne, iſt durch einige — nicht we⸗ 
niger gewiß, ©. Einleitung S. 2 


Bon den feindfeligen Neigungen und Trieben. 369 


vergeſſen, bie erfehlagenen, gemarterten Brüder zu rd. 
chen. Einer ſucht durch feine Wurh dem andern die 
wilde Begeifterung mitzutbeilen *), | 

3) Nun koͤmmt noch hinzu, daß der Wilde, ber 
feinem Feinde in die Hände fällt, feine größte Ehre darinn 
fest, unempfindlich zu fheinen gegen die Schmerzen, die 
der andere ihm verurfacyen will; vielleicht mit aus dem 
Grunde, um ihm das Vergnügen der Nache zu entzie- 
ben: Daher fucht diefer immer neue Mittel auf, um 
feinen Feind zum Geftändniß feines $eidens zu bringen. 
Sa, vermöge jenes Begriffes von Ehre, begnügt ſich 
der Gefangene nicht, feine unangenehme Empfindungen 
zu unterdrücen; er reizt vielmehr feinen Feind durd) alle 
nur erfinnliche Beweife von Haß und Verachtung, und 
durch prahlerifche Befchreibungen der noch größern Leiden, 
die er den Seinen zu verurfachen gewußt habe **), 

Wenn man nun hiezu noch die allgemeinen Gründe 
nimmt, warum man bey der rachfüchtigen Wiedervergel- 
gung fo leicht zu weit gebt; und daß die Sympathie, 
ohne den Benftand der höheren moralifchen Erfenneniffe, 
nur ein ſchwacher Widerftand gegen die felbftfüchtigen 
Triebe ift: fo wird man freylicy zwar in ber Natur 
‚der finnlihen Triebe des Menſchen den Grund einer 
Rachſucht, die die Vernunft. nicht billigen fann, er- 
fennen; zugleich aber auch eingeftehen müffen, daß jene 
Graufamfeit des Wilden nicht ganz urfprünglicye Geſtalt 

der 


*) Robertfon |. e. p. 352. 359. 
) Robersfon 11. n 


Erſter Theil Ya 


370° BI Abſchn. I; Abth. IL Kap. VIII. 


der Natur fen, fondern vielmehr Folge von Irrthuͤmern 
"und von der Unvollfommenheit des aͤußerlichen Zuftah- 
des; daß von ihr frey machen‘, nicht der Natur Gewalt 
anthun, ſondern vielmehr ihr zu Hülfe kommen heißen 
müffe. 7 | 


$. 94. 
Andere Urfachen des Haffes und der Graufamfeit. 


Eine jede $eidenfchaft Fann eine Urfache der Feinde 
fchaft gegen andere werden, in fo fern fie Haß gegen das- 
jenige erwecket, was fich ihr widerfeget. Aber nicht 
alle find bey einerley Grad der abfoluten Stärfe gleich) ge: 
ſchickt, die ſympathiſchen Gefühle zu erflicken und zur 
Grauſamkeit anzutreiben; wie e8 einige vermöge ihrer 
Natur und nach der Erfahrung find. Von dem falfchen 
Keligiongeifer wird dies an einem andern Orte erhellen. 
Hier foll es von einigen andern Seidenfchaften dargethan 
werden. 

3) Der Geiz, auri facra fames, ift als eine 
Quelle der entfeglichften Graufamfeiten, aus den Bey— 
fpielen der Spanier in Amerifa, und der Boucaniers *), 
und hundert andern Gefchichten hinlaͤnglich bekannt. Es 
ift Grund dazu in der Natur diefer Leidenſchaft. Wenn 
bie Begierde nach) Geld nicht mehr untergeordneter, fon« 

‚dern 

















2) Ron den, nach der Zeit der Eroberung, veräbten Grau⸗ 
ſamkeiten, findet män vieles in der Nouvelle Relation 
ceöntenaht les Voyages de Thomas Gage 1695. ‚part. 
JIL. ch. VI. Die Graufamkeiten der Boucanſers, ſon⸗ 
derlich des Koloneis und Morgan ſind befchrieben in 

. ber Hifory of the Boucaniers, Lond. 1741, Vol, L 


Von den feindfeligen Neigungen und Trieben. 371 


dern Haupttrieb geworden iſt: fo ift. der Menſch aus ben 
natürlichen Empfindungen fo weit heraus gekommen, lebt 
fo ganz in der einem unnatürlichen Borftellung vom Geld⸗ 
reichthum, als den höchften einzigen wahren Gute; daß 
Ruͤhrungen der Sympathie, Vorfiellungen von Ehreund 
Schande, von Billigfeit und Gemeinnügigfeit, nichts 
mehr über ihn vermögen, Er opfert fich ja felbft diefem 
feinem Abgotte auf; wie ſollte er eines andern Menſchen 

ſchonen, jenem zum Nachtheile? 
2) Muthloſigkeit und aͤußerſte Grauſamkeit fin» 
den ſich ſehr haͤufig beyſammen *). Und es ſcheint auch, 
man muͤſſe nach der bloßen Vorſtellung es ſchon ſo erwar⸗ 
ten. Der durch ſeine Kraft ſich immer ſicher duͤnkende 
kann verzeihen, kann den ohne Gefahr leben laſſen, der 
ihm ſchaden wollte, und es nicht vermag. Der Furcht⸗ 
ſame iſt nicht ruhig, ſo lange ſeinem Feinde noch Kraͤfte 
uͤbrig ſind. Gleichwie unterdeſſen doch auch in dem Ge⸗ 
fühle der Kraft, aus dem ber Muth entſteht, Grund 
zum Stolze und, mittelft deffen, zur Vergrößerung der 
Vorftellungen von erlittener Beleidigung ſich findet: alfo 
fiheint nicht jedwwede Art von Furchtfamfeit an ſich ſchon 
den Character zur Grauſamkeit zu ftimmen, Sie kann 
Aa2 aus 





* Beſonders unter den wilden Völfern; und am haͤufigſten 
unter den Negen. ©. 5. 2. Bojfmann Voyages de 
Guinte, p. 27- ſeq. Ein großer Geſchichtforſcher, 
Robert/on Hift. of America vol. I. will zwar der Wil 
den Furcht vor dem Tode in der Schlacht anf patriotiſche 
Sorge für die Erhaltung der ohnedem geringen Volks⸗ 
zahl zurückführen. Aber der felbftfüchtige Trieb zum 
Leben fheint doch mehr in den Charaster folher Mens 
ſchen einzupaffen. 





“ 


972 B.I. Abſchn. I. Abth. Il. Kap. Vin." 


aus einem ſolchen Selbſtgefuͤhl herkommen, mit wel⸗ 
chem beſcheidene Herabwuͤrdigung ſeiner Selbſt, Duld⸗ 
ſamkeit und Achtung fuͤr den andern verknuͤpfet iſt. Aber 
wenn große Einbildung von ſeinem Werthe, und Furcht⸗ 
ſamkeit zuſammen kommen; eder ein hoher Grab von 
Argwohn und uͤbler Meynung von andern ſich ihr zuge⸗ 
ſellt; dann wird ſie freylich eine Miturſache des Triebes 

zur Grauſamkeit. 


3) Wie die Herrſch- und Eroberungsſucht dieſen 
Trieb erzeugen koͤnnen, iſt oben ($. 62.) ſchon angezeigt 
foorden. Doc) findet einige Machlefe bier noch Statt. 
Der Herrfchfüchtige wird nicht nur durd) den Reiz, den 
die Macht, für die er alles chur, Für feine Leidenſchaft 
hat, unempfindlich gegen die Regungen der Sympathie; 
fondern er kann auch leicht, mittelft der Vorſtellung der 
Gemeinnügigfeit feiner Gewalt und feines Anfehns, oder 
der Rechte, bie er in Abficht auf diefelbe bereits zu bes 
fisen ſich einbilder, allem, was er zur Behaupfung der» 
felben für nöthig halt, einen Anfchein von Rechtmäßig« 
keit geben. Die Schmeichler, die den Mächtigen nie 
fehlen, unterftügen diefe Vorftellungen mit ihrer fophi- 
ftifchen Beredſamkeit. Je mehr er gewohnt wird, mit 
feinem Willen alles auszurichten; deſto unerträglicher 
wird ihm jeder Widerftand. Mit der dee der unum« 
fhränften Gewalt, als des höchften Glücks und Vorzugs, 
deffen ein Menfch eheilhaftig werden Fatin,. erfüllt, kann 
er ſich endlich jeden noch fo unfinnigen und unmenfchlis 
chen Einfall, der einen.neuen Beweis feine Macht und 
Gewalt abgiebt, in feiner taumelnden Phantafie begeb- 
rungswerth vorftellen. Des Caligula und andrer rafen- 
der 


Von den feindſeligen Neigungenund Trieben. 373 


der Würhrige Unthaten werden nur bey diefem Grunde 
noch einigermaßen begreiflic) *). 

4) Ein allgemein uͤbler Begriff von den Den: 
ſchen. Menfchenhaß ift auch noch eine natürliche Urfache 
zur Graufamfeit. Und fo kann das erlittene Unrecht, 
bey andern mitwirfenden Urfachen, vielesdazu beytragen, 
daß ein Menſch hart und graufam wird, 


Mens incorrupta miferia corrumpitur, 
Mutat fe bonitas irritata injuria **). s 


5) Daß die Wolluſt, mehr als jediwede andere 
ungeorbnete $eidenfchaft, zur Graufamfeit führe; ſchei⸗ 
net mir niche natürlich. Wenn bende Lafter fich oft bey- 
fammen gefunden haben: fo Fönnen fie auch wohl beyde 
Wirfungen einer gemeinfchaftlichen Urfache, der unges 
ſtuͤmen ‚Sinnlichkeit gemwefen fen. Oder die Grauſam⸗ 
feit-fonn den Trieb zur Wolluft, als der gefchmwindeften 
und lebhafteſten Zerfireuung der den Graufamen noth- 
wendig oft verfolgenden Schreckenbilder, erzeuget haben. 

en da 3 6) Jed⸗ 


———— —— 


) Man leſe den Sueton im Leben dieſes Ungeheuers, Kap; 
29. 32. 27. Nur weniges daraus. Trucidaturus 
tratrem, — metu venenorum praemuniri medica- 
mentis ſuſpicabatur: Antidosum, inquit, adverfas 
cacſarem ? — Lautiöre convivio effuſus ſubito in ca- 

| ' chinnos, Coff, qui juxta cubabant, quidnam rideret, 

blande quaerentibus: Qwid, inquit, niF une me» 
I win jugulari utrumque veflrum latim pofe? „ 
**) Aber fchlehthin mit Helvetius zu fagen: "L’Homme 
malheureux eſt mechant , ift ungerecht. Auch 
CTrublet hat den Grundfaß: L’Homme n’eft mechant, 
‚que parcequ’il eft malheureux; der doch noch cher 
ſich vertheidigen ließe, ale der Helvetiſche. 








374 B.I. Abſchn. I. Abth. I. Kap. VII. 


6) Jedwede Art der Laſterhaftigkeit aber, wenn 
fie fo weit geht, daß fie zum Gegenftand ber allgemeinen 
Verachtung und Verabſcheuung macht, Fann leicht zur 
Grauſamkeit verleiten. Wer fid) verachtet und verhaßt 
fieht von andern, iſt nicht geneigt, fie zu lieben und zu 
achten. Und wenn ein Menſch die Würde der menſchli⸗ 
hen Natur in ſich felbft nich mehr empfindet; wie will 
er von Beleidigungen anderer durch dieſes Gefühl zuruͤck- 
gehalten werden? | | | 


§. 95. | 
Noch einige Urfichen bes Wohlgefallens an anderer Leiben, 

oder doch bey Gelegenheit beffelben. - ... 

Wie Neid und Schadenfreude aus ben allge. 
meinern Gründen der menfchlihen Neigungen entftehn; 
ift an einem andern Orte fehon gezeigt worden ($. 35.) 
Es giebt aber geroiffe andere Arten ängenehmer Gemuͤths⸗ 
Bewegungen, beym Anblie oder der Vorſtellung un. 
glücklicher Zufälle, oder fhmerzhafter Zuftände, in des 
nen andere ſich befinden, die man damit nicht verwedhfeln 
darf; die entweder garnichts tadelhaftes an fidy haben, 
oder doch wenigftens nicht von Haß und Grauſamkeit 
herkommen, ar NE 
1) Aus der Betrachtung: bes Uebels, das andere 
betroffen hat, Troſt und Beruhigung fehöpfen in feinem 
eigenen $eiden, kann aus dem unfchuldigften Herzen kom⸗ 
men ‚und vor der Vernunft gar wohl gerechrfertiget wer« 
don. Cinmalidient jene Betrachtung dazu, Die Vor⸗ 
ffellüng von ber Größe feines eigenen Leidens zu maͤßi⸗ 
gen; indem man ſieht, daß andere eben bergfeichen, 
oder 


Bon den feindfeligen Neigungen und Trieben. 975 


oder noch mehr erfragen und ausgehalten haben. : Gar 
zu leicht ſtellt ſich ſonſt ein Menſch fein Leiden als einzig 
in feiner Art und unausſtehlich vor. Dann gewährt ſie 
auch oft den Troft ‚ daß man nicht durd) feine Schuld 
Teide, nicht nothwendig dadurch verächtlich werden muͤſſe; 
mern man findet, daß andern rechtſchaffenen, angeſehe 
nen $euten dergleichen auch begegnet if. In fo fern man 
doc) zum Mitleiden gegen diefe andern. dabey bemogen 
wird, im Falle namlich, daß fie noch wirklich leiden; ſo 
iſt es freplich ein kuͤmmerlicher Troft, Milerum fo- 
lamen, focios habuiffe malorum. Aber ein‘ Be 
weis eines harten und meaſche hanracen Herzens lieg 
nicht darinn. 

2) Der Ausſpruch des Kochefoncauft, — 
Padverfit& de nos meilleurs amis nous trouvons 
töujours quelque choſe, qui ne deplait pas *): 
iſt gewiß nicht allgemein richtig. Aber daß etwas daran 
fen; kann man um fo viel weniger in Zweifel ziehen; 
da ein Mann von einem ganz andern Sinn und Herzen, 
in den Beobachtungen über ſich felbft, einer folchen: Er⸗ 
ſcheinung gedenfer **). Es laffen ſich Urfachen davon 
gedenfen, die feinen böfen Trieb beweiſen. Vielleicht 
ift es die Vorftellung, dem Freunde beyftehen zu fönnen, 
eine Gelegenheit zu haben, ibm feine Liebe zu beweifen. 
Vielleicht. der noch allgemeinere Trieb zur Gefchäftigkeit, 

Ya 4 | zu 


“> 





5 S. Reflexions De de Mr. de da Rochefoucanlı, 
Laufanne 1760. p. 2 

"m S. Tagebuch eines — ſeiner ſelbſt. S. 64. 65. 
Die daruͤber gemachten Bemerkungen ſtimmen mit den 
hier beygebrachten Gruͤnden uͤberein. 


276 B.n. Abſchn.I. Abth. U. Kap. VI. 


zu Scenen, bie etwas neues, beſonderes haben. Viel⸗ 
leicht auch das lebhaftere Gefuͤhl ſeines Wohlſtandes bey 
der contraſtirenden Vorſtellung. Daß es Menſchen ge⸗ 
ben koͤnne, in denen Neid und Selbſtſucht ſo kleinmuͤthig 
uͤber alle andere Triebe herrſchen, daß ſie bey eines jeden 
Menſchen, ſelbſt ihres beſten Freundes, ſinkenden Gluͤcke 
ihren Wohlſtand ſich ſteigend gedenken koͤnnen; mag ſeyn. 
Nur ſo leicht vermuthen laͤßt es ſich nicht; geſchweige 
denn zu einem allgemeinen Grundſatze machen. 
I Der Trieb zur Beſchaͤſtigung und. zu Scenen, 
die den innern oder aͤußern Sinnen eine neue oder manch⸗ 
faltige Befchäftigung geben, erklaͤrt manches, was dem 
erften Anfcheine nach für Graufamfeit gehalten werden 
koͤnnte. Wie es einige Menfchen giebt, die fein Thier, 
gefchweige denn einen Menfchen, koͤnnten tödten feben: 
fo giebt es auch andere, bie nicht num ganz ruhig von 
‚Köpfen und Rädern fprechen, fondern auch eine Gelegen⸗ 
beit, ‘dergleichen mit. anzufeben, ungern verfäumen. 
Man weiß, daß es gefittete Nationen gegeben hut, bey 
welchen. die mörderifchen. Fechterfpiele eine der liebften 
WVergnuͤgungen des Volks waren, an welchen auch das 
ebelfte Srauenzimmer den tebhafteften Anrheilnahm. Und 
Zhiergefechten zuzuſehn, iſt * die Dose Menfchen 
ein Vergnügen. | 

. Die Vorftellungen von Gemeinnügigfeit, von 
Handhabung der Gerechtigkeit, von Erweckung Eriegeri- 
fcher Triebe und dergleichen abgerechnet, die das meifte 
bey der Sache überhaupt wohl nicht hun, ift die Quelle 
des Vergnuͤgens bey folchen Auftritten, fe wie bey Er. 
zaͤhlungen oder dem entfernten Anfchaun von Kriegen, 
Schlachten, Seeſtdemen und Schiff bruͤchen, in der 
Manch⸗ 


Bon den feindfeligen Neigungenund Trieben. 377 


Manchfaltigfeit der Sinne und Einbildungskraft beſchaͤf⸗ 
tigenben Gegenftände,- in dem Wohlgefallen am Großen, 
Meuen, $ehrreihen; und gar nicht im menfchenfeindlie 
chen Wohlgefallen am fremden Elende zufuhen*). Ich 
habe gewiß recht gufgeartete Juͤnglinge nur mit halbem 
Scherze es bedauern hoͤren, daß eine entſtandene Feuers⸗ 
brunſt ſobald gedaͤmpfet ward. Nach dem wahren 
Grunde ausgelegt, hieß es weiter nichts, als daß ſie den 
Auflauf, und die Gelegenheit zur Auslaſſung ihrer eige— 
nen Kraͤfte ſich laͤnger gewuͤnſcht haͤtten. — Es gehoͤrt 
ſreylich etwas dazu, wenn die Gemuͤthsbewegungen bey 
dergleichen Anläffen überwiegend angenehm fen follen, 
Die Gewohnheit kann vieles auch hiebey thun; ſo wie ben 
den eigentlichen feindfeligen Trieben, 

4) Wohin den Menfchen das Vergnügen am Be. 
fühl feiner Kraft, Unabhängigkeit und Ueberlegenheit füh. 
ren fann; iſt ben mehrern Gelegenheiten ſchon bemerft 
worden. Die Wirfungen davon fönnen frenlich bisweilen 
unedel, unbillig, ungerecht, graufam genanntwerden. Doc) 
iſt nicht das Uebel des andern eigentlich dasjenige, woran 
einer fich ergöget. Aus diefer unlautern, oft fehr ver» 
achtungswuͤrdigen Quelle entfpringen die Neigungen, 
Menfchen gegen einander aufzubringen; einem feine Zu⸗ 
friedeneit und Vergnügen über eine Sache zu ftören, 

YAas durch 


— — — — r — — — 


8 Der Grund, den Cucrez in den bekannten Verſen, von 

dem Suaue, turbantibus aequora ventis, e terra 

' magnum alterius fpeftare laborem angiebt: Non 

; quia vexari quemquam eft jucunda voluptas, fed 

quibus ipfe malis careas, quia cernere fuave eft, 

thut bier wohl nicht das meifte, fo wenig er ganz zu 
verwerfen ift. 


378° 3.1. Abſchn. Ir. Abth. . Kap, VII. © 


durd) andere Begriffe, die man ihm davon benzubringen 
bemüht ift, ohne meitere Abficht ; Unmahrbeiten 
glauben zu mächen, und andere Thorheiten vorzus 
nehmen, — | 

5). Ich habe Gefchichten von Mifferhätern erzaͤh— 
Sen hören, die Mordthaten follten begangen haben, zu 
denen fie felbft Feine andere Beweggr uͤnde, als die $uft 
zu morben,, einen Menfchen im Cchlafe in feiner Hütte 
verbrennen zu fehen, und dergleichen anzugeben wußten; 
die ſich noch auf dem Richtplatze mit Wohlgefallen an 
die Sonvulfionen erinnern Fonnten, an denen die durch) 
ihre Hand ermordeten erblaßten. Iſt eine Imagina—⸗ 
tion, die folche Reize fthaffen kann, in einem, nicht 
im. eigentlichften Verſtande verruͤckten, Kopie wirklich 
möglich? 


Vom —* 


Eo wie der Eifer fuͤr das gemeine Beſte, Siehe 
zur Gefellfchaft, zu den edelften der. freundfchaftlichen 
Triebe gerechnet werden muß, in fo fern er gefegmäßig 
zum Wohl der Gefellfchaft wirft; fo hat man hingegen 
auch: volle Urfache, die ungeordnete Anhaͤnglichkeit an 
die Neigungen und Gefinnungen einer Gefellfchaft zu den 
feindfeligen Trieben zu zählen. Sectirerey, Partheys 
geiſt find die Namen, die einem folchen Triebe gebuͤh— 
ven; und diefe Namen allein find ſchon im Stande, ei— 
nen jeden, der in der Gefchichte des menfchlichen Ge 
ſchlechts nicht ganz fremd iſt, an or Ungerechtig⸗ 

keiten 


Von den feindſeligen Neigungen und Trieben. 379 


keiten und Grauſamkeiten zu erinnern, die als Wirkun⸗ 
gen von ihm abſtammen *). Wenn man die Gruͤnde 
dieſes Triebes genauer unterſucht; ſo entdeckt ſich ein 
manchfaltiges Gemiſche von Eigenliebe und Sympathie, 
von Gewohnheit und Ideenadſociation. Die Eigenliebe 
macht geneigt, diejenigen, die durch die Gemeinſchaft der 
Abſicht, der Denkart, des Namens mit einem verbuh- 
den find, in der Colliſion Fremden vorzuziehen, und diefe 
Abfichten und Denfarten für beffer und wichtiger zu hal« 
ten, als fie nicht find; und um fo viel hartnaͤckiger 
dafür zu ſtreiten, je länger und eifriger man es bereits 
gethan hat. Sie macht, daß man Verachtung und 
Beeinträchfigung derſelben; ‘wenn fie fihon einen. fonft 
‚nicht betreffen, auf fich zieht; melches dadurch noch 
mehr befördere wird, daß ein jeder feinen Privatangele⸗ 
genheiten mit Fremden gern das Anfehn einer. gemein 
wichtigen Sache giebt. Auf diefe Weife koͤnnen bey« 
nahe alle feindfeligen Empfindungen einzelner Mitglieder 
der einander entgegen ftrebenden Partheyen in den Secten« 
namen übergefragen, und mittelft beffelben ausgebreitee 
und auf die Nachkommen fortgepflanzt werden. Mike 
telſt einer folchen Grundlage befommen hernach jede neue 
Eindrüde, die einem jedem: feine eigenen Erfahrungen 
zuführen, fogleich eine fchlimmere Geſtalt. Alle felbft- 


* 








*) Der Streit ber Lancaſtrianer und Porkianer bat in 
einer. Zeit von 30 Jahren, außer unzähligen einzeln 
begangenen Grauſamkeiten, 12 blutige Schlachten 
verurſacht, Bo Prinzen vom koͤniglichen Gebluͤte das 
Leben gekoſtet, und den alten Adel von Engelland faſt 
ganz ausgerottet. Hume II. 374. 


980 WIE Abſchn. I. Abth. I. Kap VIII. - 


füchtige Antriebe des Stolzes, des Eigennutzes, ber 
Rechthaberey, der Rachbegierde, fönnen hier aber um 
:fo viel leichter Wurzel fchlagen, um fo viel mächtiger um 
fich greifen: - je leichter fie ſich binter den Anfchein geſell⸗ 
ſchaftlicher Triebe verbergen koͤnnen. Beſonders aber 
werden die fanfteren Gefühle der Menſchlichkeit, und 
bie Antriebe der Gerechtigkeit und Billigfeit durch den 
Parthengeift erſtickt; wenn wirklich wichtige gemeine 
Vortheile der Gefellfchaft damit in Streit fommen; und 
zu den bisher bemerften Gründen aud) noch das “Bey 
fpiel und der Benfall fo vieler der in einem vorzüglichen 
Anfehn ſtehenden Perfonen hinzukoͤmmt. Daher iſt bey 
"den Kirchenverfammlungen das Gefuc um die Verbeſſe⸗ 
sung der Sitten ber Geiftlichfeit und die. Abſtellung fo 
vieler den Staat und der Menfchheit fehäblichen. Mif- 
‚brauche immer vergeblich gemein . | 


S. 97. 





) Eine durch Unrecht erlangte Gewalt fahren zu laſſen, 
einen einträglichen Jtrthum aufzugeben, find Opfer, 
bie die Tugend einzelner Menfchen der Wahrheit biäweilen 
gebracht hat. Aber von einer Geſellſchaft laͤßt ſich ders 
gleichen nicht erwarten. Unorbnungen einer Geſell⸗ 
ſchaft, die berfelben zum Vortheil gereihen, und all 
gemeines Beyſpiel fuͤr ſich haben, werden von den 
Mitgliedern ohne Schaam und Abſcheu betrachtet. 

Nie entſtehen daher Verbeſſerungen ſolcher Unordnun⸗ 
gen durch die Geſellſchaft ſelbſt; ſondern fie werden 
immer durch eine fremde Hand mit Gewalt veranſtaltet. 
‚Robersfan Hiſt. of Scott. I. 143. —— 


J N * 


Bon dem feindfeligen Reigungen und Trieben. 381 


9 9 
Ob allgemeiner ———— — ui nie Natur 


Obgleich Sympathie und Selbſtliebe den Men⸗ 
ſchen zur Kebe feines Geſchlechtes überhaupt beſtimmen: 
ſo koͤnnen doch allerhand feindſelige Geſinnungen gegen 
einzelne Menſchen und Geſellſchaften gar bald entſtehen. 
Aber iſt es wohl moͤglich, daß allgemeiner Haß und Ab⸗ 
ſcheu gegen die Menſchen in eines Menſchen Bruſt auf—⸗ 
komme? Der Name eines Menſchenfeindes oder Men⸗ 
ſchenhaſſers deutet in ſeiner urſpruͤnglichen und ſtrengſten 
Bedeutung dieſes an; und Griechenland foll einen ſolchen 

Menfchenfeind gehabt haben, in dem befannten Timon, 
der fogar ein Pbhilofoph genannt wird *) Beweiſes 
genug von feinen abfcheulichen Gefinnungen wäre freylic) 
ſchon Dies einzige, daß er unter allen Menfchen, die ihm 
vorgefommen, den einzigen Alcibiades noch mit einigen 
Wohlgefallen anbliden fonnte, darum weil er vorher« 
fahe, daß er den Griechen viel Uebels anthun werde; 
wenn dies wirflic) feines Herzens Meynung war, Viele 
unangenehme Erfahrungen an freüfofen Freunden follen 
ihn fo aufgebracht Haben gegen die Menſchen. Man 
befchuldige ihn auch des Geizes. Und aus diefen beyden 


Gründen fönnen ftarfe Antriebe zu feindfeligen Gefinnune - 


gen gegen die Menfchen eneftehen, Unterdeffen iſt es 
wahrfcheinlicdh, daß, wenn auch die Aufführung und die 
Heußerungen diefes Mannes wirklich) fo gewefen, mie fie 

be⸗ 














—r — — — — 


.#% ©, Brucker. Hiſt. crit. philof, I. 582. 


382 BU. Abſchn. H. Abth.II. Kaps VIII. 


beſchrieben werden, dennoch ſeine Geſinnungen gegen 
die Menſchen ſo durchaus feindſelig nicht waren; und daß 
von der Begierde, ſonderbar zu ſeyn, manches dabey 
herruͤhrte. 

Hyyochondriſche Furcht und Mißtrauen koͤnnen 
machen, daß man ſcheu vor den Menſchen wird, und ſie 
fliehet. Die einzelnen Menſchen, die von ihrer Kind⸗ 
heit an unter Thieren aufgewachſen waren, thaten gleich⸗ 
falls ſcheu und flohen vor ihrem Geſchlechte. Aber Feis 
nes von beyden beweifer jenen allgemeinen Menfchen 
Haß. Begreiflich ift ein folcher Character nicht. Er: 
fahrungen allein Fönnten feine Möglichfeit bemeifen. Und 
man darf fagen , deß dieſe fehlen. 


Ab⸗ 


383 


Abſchnitt IT. 


Triebe von ſehr vermiſchten Be⸗ 
ziehungen. 





Abtheilung L 
Bon den moralifchen Trieben. 


AKapitel L 


Bon den moralifhen Empfindungen und Trieben 
überhaupt betrachtet. 


8. 98. 
Bon den Gründen der moralifchen Begriffe und Urtheile, 


De Unterſuchungen uͤber die Natur der moraliſchen 
Triebe, der Neigung zur Tugend und dem, 
was recht iſt, und der Abneigung von dem Laſterhaften, 
und uͤber die Gruͤnde dieſer Triebe und Neigungen, fuͤh— 
ren nothwendig zur Unterſuchung der Gruͤnde und des 
Urfprungs der moraliſchen Begriffe und Urtheile. 
Denn wenn es wahr waͤre, wie einige vorgeben, daß ein 
eigener Sinn, wohl gar ein beſonderes inneres Organ, 
uns den Unterſchied zwiſchen Recht und Unrecht bemet« 

ken 


384 BU. Abſchn. M. Abth.1. Kap.I. 


tem machte ): fo würde die Folge alsbald wahrſchein⸗ 
lich werden, daß ganz eigene Befchaffenheiten der Grund 
der moralifchen Gefühle und Antriebe feyn, die in ben 
‚Gründen anderer Gefühle und Willensäußerungen nicht 
enthalten find. So wie auch umgekehrt der Schluß auf einen 
befondern Sinn für die moralifchen Befchaffenheiten und 
Unterfchiede dadurch gegründet ſcheindn würde; wenn die 
moralifchen Triebe und Meigungen aus andern Meiguns 
gen, bie aus andern gemeinen Empfindungen entfprin« 
gen, nicht zu erflären feyn follten. Naͤmlich jedweder 
der ausgemachten Sinne bringt eigene Ideen, und zu. 
gleich auch eigene Neize zum Wohlgefallen und Mißfal⸗ 
len, zu Begierden und zu Handlungen mit ficy. 

Wenn nun die Frage vom Grunde der moralifchen 
Begriffe und Urtheile beantwortet werden foll: fo feße 
jch jetzt dabey voraus, als eingeftanden, ober an einem 
andern Orte zu erweifen; daß die Unterſcheidung zwi⸗ 
fchen Necht und Unrecht, Tugend und $after ihren Grund 
in der Natur bat, nicht in leeren Einbildungen oder will. 
führlich angenommenen Sägen, daß die Menfchen, diefe 
Unterfchiede einzufehen, einige natürliche Geſchicklichkeit 
haben; daß oftmals die Urrheile über Necht und Un— 
recht in ihnen entftehen, ohne daß fie fich eines Schluffes 
aus allgemeinen Begriffen und Grundfägen im mindeften 
dabey bewußt find; und endlich) auch, daß diefe Urtheife 
nicht gleichgültig faffen, fondern mehrentheils Wohlgefals 
len oder Mißfallen, Begierden und Verabſcheuungen 
erregen. Weil nun diejenige Erfenntnißart, bey. der 

man 


*) ©. meine Abhandlung: ueber das ae De Gefühl 
im deurfchen Muſeum 1776. Abfchn 








Von den moral. Empfindungen und Trieben. 385 | 


man ſich Feines Urfprungs aus. andern DVorftellungen be 
wußt ift, zumal went fie mit Rührungen, mit Gemuͤths⸗ 
beregungen, verfnüpft ift, nach einem gewöhnlichen, und 
wenn nicht immer auf die genaufte Beurtheilung, den 
noch immer auf Analogie ſich gründenden Sprachgebraud), 
Empfindung, Gefühl, genannt wird:. fo kann man 
es gelten laffen, daß, in eben folcher Bedeutung det 
Worte, dem Menfchen ein moralifches Gefühl, ein 
moralifcher Sinn zugefihrieben werde, 

Drabey iſt nun aber zu unterfuchen, ob dieſe mo» 
raliſchen Erfenntniffe, Begriffe, Urtbeile, oder Em« 
pfindungen , Gefühle, mie man fie nennen will, im 
Ganzen genommen, je für einfache Empfindungen, und 
überhaupt für Wirfungen eines eigenen Sinns angefehen 
werden koͤnnen; ober ob fie vielmehr allemal Folgen find 
von dem Zufammenfluffe mehrerer Empfindungen und 
Borftellungen,, die aus folhen Gründen entftehen, wo⸗ 
von feiner ein moralifcher Sinn genannt werden kann; 
einem Zufammenfluffe, der durch Unterricht, oder auch 
durch eigene Beobachtungen und Nachdenken bewirkt 
wird. 

Dies iſt die ſet Shaftesbury und Hutcheſons 
Zeiten aufs neue rege gewordene, und fo oft aus Mifs 
verſtaͤndniſſen verfchiedener Art verworrene, an fich felbft 
auch allemal verwickelte Streitfrage über das moralifche 
Gefühl, auf die genauefte, und, ich hoffe, deutlichſte 
Beftimmung gebracht. 

Diejenigen num, die für einen eigenen moralifchen 
Einn, als eine einfache und, urfprüngfiche “ Erfennt: 
nißquelle ftreiten wollen, pflegen folgender Gründe fich 
zu bedienen: | 


Erfter Theil. By 


"B.IL Abſchn. i. Abth.l Kapıl. 


7 Es lehre das Bewußtſeyn einen jeden, daß 
nicht nur oft ploͤtzlich und vor allem Raͤſonnement die mo⸗ 
raliſchen Urtheile in uns entſtehen; ſondern auch biswei⸗ 
len bey der Unterſuchung und allem darauf folgenden Nach⸗ 
denken nicht / aus Vernunftſchluͤſſen hergeleitet werden Fön: 
nen. . Ya das Raͤſonnement aus anderweitigen Vorſtel⸗ 
lungen und Grundſaͤtzen koͤnne zuweilen ganz etwas anders 
lehren, als was uns die Empfindung ſagt. Und es gebe 
Fälle, wo aud) der geübtefte Räfonneur über moralifche 
Gegenftände dasjenige nicht alsrecht oder unrecht aus folchen 
anderweitigen Gruͤnden erweiſen koͤnne, was doch die na 
tuͤrlichſte Empfindung alle oder die allermeiſten Menſchen 
zu billigen oder zu mißbilligen zwinge. 

2) Es bemeife die Erfahrung, daß auch ſolche 
Menfchen ſchon morafifche Empfindungen haben, Em⸗ 
pfindungen von Recht und Unrecht, von Beleidigungen 
und von verdienter Begegnung; denen weder Unterricht 
be, noch eigene Vernünfefchlüffe fie verſchaffen konn⸗ 
ten. Kinder fühe man das eine mal eine verdiente Zuͤch⸗ 
tigung demüthig und geduldig leiden, das andere mal alle 
Empfindlichfeit eines Beleidigten bey einer unverdienten 
Strafe zu erkennen geben. 

Allein dieſe Gruͤnde ſind entweder nicht richtig aus 
der Erfahrung abgezogen; oder unzulaͤnglich zu dent, was 
ſie hier beweiſen ſollen. 

1) Daß unfere Urtheile und Empfindunget gar 
oft, ohne ba wir es ſelbſt wiſſen, aus Schlüffen enieftes 
ben;.oder, wenn diefer Name, wegen Mangel des Ber 
wußtſeyns Der das Urtheil ergeuigenden Ideen, nicht ge⸗ 
braucht werben foll— aus der Verknuͤpfung und, ufamım 
wirkung vieler Vorftellungen, aus den ve 





Bon denanpral. Empfindungen und Trieben. 387 


Quellen ‚ der Empfindimg diefes und jenes Sinnes, des 
Unterrichtes und des Nachdenfens; dies gehört. zu den 
ausgemachteften pfychologifchen Wahrheiten. ,. Auch. ift 
dies durch vielerley Erfahrungen bekannt genug, daß es 
auch in andern Fällen viele Mühe koſtet, bis ſich Men- 
ſchen von. einem ſolchen Urfprunge überzeugen, und von 
der Meynung abbringen laſſen, : daß folche von Kindheie 
an allen Menfchen gewöhnliche Urtheile, z. E, von den 
äußerlichen :&egenftänden unſerer Empfindungen, und 
deren Abſtand von uns und. unter einander , — 
————— feyn *) 

. Stellungen beym Urfprunge eines —— oder —5 
und beym darauf folgenden Nachdenken gewiſſer Leute, 
beweiſet alſo im mindeſten nicht, daß ſelbiges Urtheil oder 
Gefuͤhl unmittelbar aus einem beſondern Sinne entſprun⸗ 
geh ſey. So wenig als die Geſchwindigkeit, mit der eg 
entſteht. Denn was kann geſchwinder ſeyn, als die Folge 
und Verknuͤpfung der Ideen? 

Daß Empfindung und Vernunſtſchluß nicht im⸗ 
mer mit einander uͤbereinſtimmen, beweiſet auch nichts. 
Denn dies kann, genauer unterſucht, gar leicht weiter 
nichts heißen, als daß verſchiedene Vorſtellungen in der 
Seele liegen, oder auf fie wirken; Die einen deutlich und 
zum VBernunftfchluffe ſich erhebend; die andern dunfel, in 
gend einer nn Erinnerung, oder unentwickel⸗ 

| | B b 2 | ten 








| > Wen diefe Materien noch nicht bekannt ſind, der muß 


ſich aus den Schriften, die vom menſchlichen Verſtande 
‚hausen, z. E. Condidlac Traité des Senfations, ober 


aus der Optik davon unterrichten. 


388 B.N. Abſchnan. Ach, Kaprr 


ten Gewahrwerdung einer Analogie, oder ſonſt einer 
Ideenadſociation enthalten; und bey aller dieſer * 
Dunkelheit, wie unzaͤhlige Erfahrungen ‚beweifen; F 
Wirffamfeit nicht weniger gefchid. Ä 
| Und dies wird fich wohl endlich auch fo finden in 
denjenigen Fällen, wo auch in den moralifchen: Unterſu⸗ 
chungen geübte Denfer nicht im Stande ſeyn ſollen, ei⸗ 
nen andern Grund der natürlichften moralifchen Empfin⸗ 
dungen anzirgeben , als Natur und Empfindung. . Doch 
dieſe Fälle Fönnen von .fehr verfchiedener Art fern. Es 
fann feyn, daß das Urrheil, welches in .einet:; folchen 
Empfindung liegt, wirklich richtig iſt; und die Erfennt« 
niß von‘einem höhern Unterrichte herrühre, von welchem 
die Bernunft den Grund nicht einfieht, vom Unterricht 
ber Offenbarung. Diefer ‚Unterricht. und fein Anſehn 
kann ja unmittelbar, oder. auch mittelſt der daher entſtan⸗ 
denen Denf-und Handlungsart anderer. Menfchen, ber 
Familie, der Nation, zu der man gehört, der Dens 
kungs art eines Menfchen eine folche Bildung geben, wo⸗ 
dutch unaustöfchlihe und unveränderliche. Empfindungen 
‚erzeugt werden, und fo, daß deren Urfprung weiter zu 
rückliegt, als das eigene Bewußtſeyn nicht gebt, Auf 
ähnliche Weife fönnen richtige: moralifche Empfindungen 
aus frühe eingeptägtens Unterrichte bloß natürficher,, aber 
aus tiefern Einfichten oder befondern Erfahrungen ent 
ftandener Weisheit herruͤhren. Es. find] aber vielleicht 
diefe moralifchen Empfindungen, für die ſich Feine Ver⸗ 
nunftgründe aufbringen laffen wollen, aud) fo natürlich 
und nothwendig nicht, als;fie.fcheinen; und nur die 
Wirkung eines, wer weiß woher entftandenen Unterrichts, 
‚oder ohne beutliche Gewahrnehmung, der ——— gezogener 
Folgerungen, Ends 


Von den moral. Empfindungen und Trieben. 389 


Endlich, wenn es auch natürliche und untadel⸗ 
hafte, vielleicht in ihren Folgen wohlthaͤtige, innere Em» 
pfindungen ſolcher Meigungen oder Abneigungen geben 
ſollte, die auf feine der angezeigten Gründe zurüczubrin« 
gen wären: fo wäre, unter ben angezeigten Bedinguns 
gen, auch fein Grund vorhanden, warum fie moralifche 
Empfindungen beißen follten. Vielleicht eben fo wenig, 
als es eine moralifche Empfindung heißen kann, wenn 
etwa ein Menſch Abfcheu vor einer durch irgend einen 
Sinn, . oder irgend eine ihm dunfelbleibende Ideenadſo⸗ 
ciation ihn unangenehm afficirenden, vielleicht auch fchad« 
lichen Speife hat, und mit großem Mißfallen ſieht oder 
bocet, daß ein anderer fie koſtet. 

Alles diefes zufammen genommen, feine es mir, 
daß ein in moralifchen LUnterfuchungen gehörig geübter 
Denfer nicht in Verlegenheit kommen werde, bey aufrich« 
tiger gerader Prüfung folcher Fälle *). 

’ 2). Was die moralifchen Gefühle derjenigen anbe⸗ 
langt, denen weder Unterricht noch eigene Vernunft die 
moraliſchen Unterſchiede habe lehren koͤnnen: ſo kann 
gar leicht auf eine gedoppelte Weiſe dabey ge— 
fehle werden, wenn man fie zum Beweis eines bes 
ſondern, zur Bemerfung diefer Unterfchiede beftimmten 
Sinnes machen will. _ Es fönnen felbige Gefuͤhle früher 
von ben Wirfungen der Wernunft herrüßren, als man 
denft; fie fönnen aber auch dem Verhältniffe der Gegen- 
ftände zu den — — — Weiſe ent⸗ 
b3 2... (res 


———— —— 
*) Ich habe, ‚einige her] bebdenklichften Fälle biefer A nach 
den hier allgemein angegebenen Grundſaͤtzen eroͤrtert in 
der angefuͤhrten Abbandlung im Demsjins Ali. 

3. 1776. ©. 481. f. 





390 D. II. Abſchn. III. Abth. I. Kap.l. 1:9 


fprechen, ohne daß fie, in Rücfiche auf ihren Grund, 
den Namen moralifcher Gefühle im geringften. verdienen, 
Wie viele Urfachen beftimmen nicht den. Brad. der Ems 
pfindlichkeit eines Kindes, feine Difpofition' zur Nachgies 
bigfeit oder zur Widerfeglichfeit, zum rachfüchtigen Tos 
ben und Schreyen , oder zur gedufdigen Unterwürfigfeit ? 
Aber die Sache kann auch ſchon um etwas weiter gehende 
ben moralifchen mehr fich nähernde Gründehaben. Wenn 
bas Kind von demjenigen mit Gewalt abgehalten oder 
darüber geftraft wird, mas ihm fchon oft vorher unterfagt 
und verwehrt worden ift: fo ftimmen die vorhergehenden 
von dem Gedächtniffe oder der Smagination auf bewahrten 
Eindrücke mit dem gegenwärtigen überein; fein Wunder, 
wenn einem alfo verftärften Eindrucke das Gemüth nad) 
giebt. Wenn hingegen verwehrt ober beftraft wird, was 
fonft erlaube wurde: fo find die widerftrebenden Triebe, 
wegen ihrer vormaligen Befriedigung, ſtaͤrker; der Wille 
des Gefeßgebers ift befremdend, mit fich ſelbſt nicht über- 
einftimmend, Auch ohne alles Licht der Vernunft muß 
dies ſchon die angeführte: Wirfung bervorbringen; no 
mehr, wenn auch nur einige Strahlen der. Vernunft auf 
diefe vermifchten Empfindungen fallen, Und folche licht⸗ 
ſtrahlen der Vernunft entſtehen im Kinde oft ſehr fruͤhe. 
Endlich find freylich die natuͤrlichen und fruͤhſten 
Empfindungen des Angenehmen und Unangenehmen, 
fie mögen ſich nun auf uns ſelbſt beziehen, oder, ver⸗ 
möge der Sympathie auf andere, den Gefegen des Rechts 
und Unrechts Feinesweges immer entgegen, Wenn fie 
nun aber gleich beym Kinde und bey dem, ber fonft feine 
Begriffe vom Recht und Unrecht hat, bisweilen mic dies 
fen Begriffen übereintreffens fo Fönnen dieſe Empfindun« 
ib > Je Due 1 TE gen 


Von den moral. Empfindungen und Trieben. 391 


gen des Angenehmen und Unangenehmen darum doch 
nicht fuͤr moraliſche Empfindungen gelten; eben deswegen, 
weil ſie, vermoͤge der Geſetze, aus denen ſie entſpringen, 
nur zufällig, oder wenn es doch vielmehr göttliche Weis— 
heit, als Zufall ift, nur felten damit uͤbereintreffen. 
Aus diefer Zergliederung und Widerlegung ber 
Gründe, nach welchen der Urfprung der moralifchen Em« 
pfindungen in einem eigenen, der menfchlichen Natur ver» 
liehenen Sinn liegen follte; läßt ſich fchon einigermaßen 
abnehmen, wo der wahre Urfprung derfelben zu finden 
iſt. Naͤmlich zunächft in allerley durch Unterricht und 
eigene Vernunft, d. h. Erfahrung und Nachdenfen ent» 
ftandenen Begriffen und Grunbfägen. Dies erhellet nun 
noch weiter 
1) aus der Natur der allgemeinen Begriffe 
vom Recht und Unrecht, wie folche insgemein bey den 
Menfchen gefunden, und von ihnen angegeben werden, 
Es heißt ihnen unrecht, was gegen die Gefeße,. was 
verboten ift, von Menfchen, die fie fürchten oder lieben 
und ehren, oder von Gott; ober auch was fchadlich ift, 
entweder Dem, ber es thut, ober andern Menfchen. Kei⸗ 
nesweges fagen fie, daß unrecht etwas fey, was. fid) 
nicht fagen, nicht befchreiben, - ſondern nur fühlen 
laffe *). 
2) Aus der Beleuchtung und Entwickelung der 
moralifhen Empfindungen im einzelnen Falle. Die 
| Bb 4 | = meh 
® Ein Philoſoph, der ſchon Parthey ergriffen hat, fagt 
dies. wohl einmal zu Gunſten feiner Hppothefe, ſ. 


Cicero fin. II. 14. Uber der ift hier durch das gegens 
feitige Zeugniß der Einfältigern Hinlänglich widerlegt. 





3. Abſchn. M. Abth.L. Kapıı. 
mehreſten male wird man ba gar leicht aus der Anwendung 
aller diefer Begriffe vom Verbote oder von der Schädlichfeit, 
dem Gebote oder der Nüglichkeit, felbige bey ſich entſprungen 
- finden. Und wenn man dies einmal nicht finden Eönnte: 
fo muß doch auch hier nach der logifchen Kegel das ausges 
machte Natürliche im dunfeln Falle vermuthet werben. 

3) Daraus auch, daß die Menfchen, wenn fie 
gleich in noch fo vielen Sprachen vom Empfinden, in An⸗ 
fehung des Rechts und Unrechts, fprechen, dennoch, 
wenn fie darüber uneinig mit einander find, nie, mit 
Abweifung der Vernunft, der bloßen Empfindung die 
Entfcheidung überlaffen; wie in Anfehung der Dinge, 
für die wir unffreitig eigene Sinne haben, oft gefchieht 
‚und gefchehen muß, Sondern fie berufen fich alsdenn 
fchlechterdings auf die Gefege, oder gründen ſich auf die 
“duch Erfahrung und Vernunft erweislichen Folgen, 

4) Endlich richten fich bey allen Menfchen die mo: 
ralifchen Empfindungen und Urtheile dergeftalt nad) dies 
ſen Gründen, und den Urfahen, wodurch fie beftimmt 
werben; mie niche gefchehen fönnte, wenn ihre einzige, 
- oder auch nur ihre vornehmfte Quelle ein eigener urfprüng- 
lich narürlicher Sinn wäre, Naͤmllich gerade nach den 
Vorftellungen, die jedwedes Wolf, jedweder einzelne 
Menfch durch Religion und politifche Gefeße erlangt hat, 
und die Achtung, die er dafür hegt; oder nad) dem Um 
fange und der Stärfe der Einfichten in die Folgen der 
Handlungen, bie er durch Erfahrung und Nachdenken 
ſich erworben hat, richten fich jedesmal diefe Empfindun⸗ 
gen und Urtheile, Einfluß haben freylich auch Vorur⸗ 
theile und Schlüffe anf bie Urrheile und Empfindungen 
von en. Dingen, für welche der. Menfch- unleugbar 

einen 


Von den moral. Empfindungen und Trieben. 393 


einen eigenen Sinn hat; Einfluß bis auf die Empfindung 
und Beurtheilung, Werthſchaͤtzung oder Verachtung der 
"Speifen und Getraͤnke. Aber dieſer Einfluß, und jene 
beynahe völlige Abhängigkeit, wie weit find diefe nicht 
"von einander entfernt 9 


$. 99. 
Von den Gruͤnden der moraliſchen Neigungen und 
Abneigungen. 


Die Unterſuchung uͤber die Gruͤnde der moraliſchen 
Triebe iſt hiemit noch nicht geendigt. Ja das Licht, das 
durch die bisherigen Eroͤrterungen angezuͤndet worden iſt, 
kann wieder ſehr verdunkelt werden, durch die Vorſtellun⸗ 
‚gen, die man bey der Frage, was die Urſache des Wohl⸗ 
gefallens an der Tugend, und des Mißfallens an 
dem Laſter iſt, ſich entſtehen laͤſſet. 
| Wenn nämlich, wie einige vorgeben, dieſe Nei⸗ 
gungen und Abneigungen des Willens nichts mit andern 
Neigungen iu BR nicht aus ihnen entftünden; 

Bb 


5 4 ſon⸗ 


—— 


", Wenn etwa jemanden, nach Erwägung biefer Gründe, 
oder fonft fhon bie Wahrheit; die ich behaupte, fo 
evident fcheint, daß er die MWeitläuftigkeit der Unterfus 
hung für überflüffig hält; dem muß gefagt werben, 
baß angefehene Gelehrte fie bezweifeln, daß eine ganze 
Geſellſchaft von Gelehrten noch vor wenig Jahren ber 
Särift, die. das Gegentheil behaupten wollte, ben 
Dreiß zuerkannt hat. Er darf auch nur bedenken, baß 
ber Irrthum bier auf ber Seite der Neigungen ftarf 
bedeckt ift, wenn er gleich auf ber Seite ber Vernunft 
blog ſteht. 








394 DH, Abſchn II. Abth.J. Kap.J. 


ſondern von ganz eigenen Reizen, einer eigenen Schoͤn⸗ 
heit der Tugend und Haͤßlichkeit des Laſters herruͤhrten: 
ſo wuͤrde ſchwer zu behaupten ſeyn, daß die Begriffe 
von: Tugenden und Laſtern nur aus andern Begriffen ent⸗ 
ftünden und zufammengefegt feyn. Wenn aud) einge 
ftanden würde, daß die Vernunft im Stande ſey, Be 
griffe vom Recht und Unrecht zu bilden, durch ihr ein, 
leuchtende Merfmaale, un Tugend und $after darnach zu 
unterfcheiden: fo würde es Doch. fcheinen, daß der Em. 
pfindung diefe Unterfchiede ſich auch offenbarten. Und 
dann möchte, beym Streite der Bernunft.und der Em. 
pfindung, die erfte nicht gut ftehen, 


Aber auch) diefe Beziehung aufs vorhergehende bey 
Seite gefegt; zugeftanden, daß nicht das Gefühl ohne 
Vernunft, fondern allein die Vernunft Recht und Un 
recht unterfcheiden, Tugend und. $after erkennen lehre: 
fo ift es doch noch immer eine fehr wichtige Frage, : wos 
ber die Reize der Tugend entftehen, und das Mißfällige 
lafterbafter Charactere und Handlungen. Ob allein aus 
der Selbftliebe und dem Eigennutze, wie Epifur lehrer; 
oder aus einem ganz eigenen, vom Cigennuße ſowohl, als 
andern gemeinen Trieben entfernten Grunde, wie die 
Platoniker und Stoifer, - und unter den neuern befons 
ders Hutchefon behaupteten; ober endlich, ob aus meh 
rern nicht urfprünglich) und nothwendig darauf zielenben 
Trieben, eigennügigen und uneigennügigen zuſammen 
genommen, die moralifchen Neigungen und Triebe ent« 
ftehen? dieſe letztere Meynung ift es, die durch die 
mebreften Beobachtungen und die genaue — 
beſtaͤtiget wird. 
F Die 


Bondenmoral. Empfindungen und Trieben. 395 


1) Die Tugend wird als nüßlich, als der Grund 
der eigenen Glückfeligfeit und der gemeinen Wohlfahrt, 
durch Unterricht und Erfahrung einem jeden vorgeftellt. 
Sie wird als der Grund der dauerhafteften und nuͤtzlich— 
ften Achtung, als der Grund der Gemüthsruhe und Zus 
friedenheit mit fich felbft, als fchlechterdings nur auf Be⸗ 
förderung des reinften und dauerhafteften Vergnuͤgens ab« 
zielend, von allen, die mit ihrem Wefen befannt, find, 
befchrieben; und von allen ihren Verehrern und Liebha⸗ 
bern dafür erfannt. Können folhe Vorſtellungen von 
einer Sache etwas anders als Meigung dagegen bewir« 
Een; Wohlgefallen und angenehme Gemuͤthsbewegungen, 
wenn irgend etwas unter diefem Gefichtspunfte angefehen 
wird? Oder fann man auf der andern Seite zweifeln, 
daß die Neigung auf diefe Worftellungen gegründet fey, 
wenn diefe im Verftande, mie jene im Willen, fich fin 
den? Die Natur der Sache fhon, die allgemeinften 
Geſetze des menfchlihen Willens, laſſen nichts anders 
vermuthen, Und die Erfahrung macht ja nichts gemife 
fer, als daß eben diefe Vorſtellungen von den Vortheilen 
der Tugend fehr oft ausdrücklich als Beweggründe ge« 
braucht werden, tugendhafte Neigungen in das Gemüth 
zu pflanzen, und bey ſich felbft zu unterhalten und zu 
ftärfen. en 

Wollte man dagegen einwenden, daß mit ber 
Vorſtellung von der Tugend auch fehr viele unangenehme 
Vorſtellungen verfnüpft feyn; von Opfern, die man ihe 
bringen, von Schmach und Verfolgung, die man bes. 
megen erdulden müfle, u. ſ. w.: fo wuͤrde die Antwort 
ſeyn, daß es auch Menfchen giebt, die, eben um diefer 
Vorftellungen willen, die Tugend verabſcheuen, vor ihe 

| fie« 


596 : BI. Abſchn. TI. Abth.L. Kap. J. 


fliehen; daß aber alle diejenigen, die die Tugend lieben, 
ſich für überzeugt halten, daß die Seiden, Die fie verur« 

fachet, nicht in Vergleichung fommen fönnen, mit den 
Vortheilen, die fie, wo nicht bier , doc) in der Ewigkeit 
gemwähret; endlich aber auch, daß diefe Vorftellungen 
von der Nüglicyfeit der Tugend, nur für einen, nicht 
für den einzigen Grund der Neigung angenommen wer« 
den ſoll. 

Und diefe letztere Betrachtung ift freylich — noͤ⸗ 
thig, um völlig erklaͤren zu fönnen, warum tugendhaſte 
Handlungen und Charactere auch alsdenn uns noch gefal⸗ 
len, wenn ſie gar keine Folgen fuͤr uns haben, wenn ſie 
uns in der Geſchichte der entfernteſten Zeiten, oder in 
Erdichtungen, die wir auch dafuͤr halten, vorgeſtellt 
werden; ja warum wir auch die Rechtſchaffenheit eines 
Feindes, die uns ſchaͤdlich iſt, Beben oder doc) bemun- 
dern und hochadhten ? 
| 2) Die Sympathie iſt der zweyte und das meifte 
von dem zulegt angemerften bewirfende Grund des Wohl⸗ 
gefallens an der Tugend. Es wirft aber die Sympathie 
ben den moralifchen VBorftellungen auf eine vielfache Art. 
Erſtlich, indem fie ung ins Mitgefühl der Folgen, die 
die Tugenden oder Laſter des einen für andere haben, ver« 
ſetzt. So treibt fie uns felbft an, rechtſchaffen, men« 
fchenfreundlichy gegen andere zu handeln, und hält uns 
von Ungerechtigfeit und Sieblofigfeit ab; indem fie uns 
die Vorftellungen ven den angenehmen und unangeneh- 
men Zuftänden, in die wir andere verfegen, zu Gefühlen 
macht. So erfüllt fie uns mit danfbarer Bewunderung 
und Liebe gegen die Wohlchäter der Vorwelt, ‚gegen ben 


großmüchigen Netter der gedruckten Unfchuld, in jedweder 
3 | | Ga 


Bondenmoral. Empfindungen und. Trieben. 397 


Geſchichte. Sie fegt ung aber auch in die Stelle des 
Tugendhaften felbft. Und da macht fie einmal, daß wir 
feine Seligfeit mie fühlen, die diefes fein. Wohlthun, 
und der Danf, die Bewunderung und Siebe feiner Neben: 
menſchen ihm zuführen... Hernach erhebt fie uns aud) 
felbft zu: einigem Gefühle ahnlicher. Eigenfchaften, aͤhnli⸗ 
cher Würde und Hoheit der Seele. Denn wir werden 
immer einigermaßen, wenigftens auf-einige Zeit, das; 
was wir ung lebhaft mit Theilnehmung vorſtellten. End» 
lich macht die Sympathie auch, daß der. Tugendfreund 
Wohlgefallen an der Tugend anderer Menfchen hat, auch 
wenn fie ihm feinen Vortheil bringt, vermoͤge deg aflges 
meinen Grundes, daß es uns angenehm ift, wenn die 
Gefi innungen anderer mit den unfrigen übereinftims 
men I 

3) Endlich erhält die Tugend noch Reize, und 
uneigennuͤtzige Reize, durch die Vorftellungen von Größe 
und Erhabenheit, von Wahrheit, Standhaftigkeit 
und Schoͤnheit. Vorſtellungen, die im Weſen der 
Tugend liegen; und ſo oft in beſondern Betrachtungen 
zu Gemuͤthe gefuͤhrt, oder durch gemeine Redensarten 
und Lehrſpruͤche der Seele eingepraͤgt worden. Das La⸗ 
ſter, recht eingeſehen, iſt allemal Thorheit, auf eiteln 
Wahn und Irrthum gegruͤndet; iſt Schwachheit, Skla⸗ 
verey der Vernunft, iſt ewiget Krieg mit fich ſelbſt, iſt 
Verunſtaltung des Lebenswandels, des Characters, gar 

— oft 


) Wer dies Alles verfeinerten Eigennutz, über auch nur 
Selbſtliebe nennen will; der kann wohl auch bes 
weiſen, wie Anaxagoras, daß ber San ſchwatz fey 
Vergl. $. 31, 





398 B. . Abſchn. I. Abth. I. Kap. J. 


oft des Koͤrpers ſelbſt. Daß es ſeine einzelnen ſchoͤnen 
Seiten hat, ſeine Stunden des Glanzes; macht weder 
dieſe Gemeinſaͤtze zur Declamation, noch ſchwaͤcht eg den 
Grund unſerer Behauptung. Eben darum hat es auch 
feine Liebhaber und Bewunderer. Aber wer erleuchteter, 
oder beſſer unterrichtet, nach jenen Vorſtellungen das La⸗ 
ſter ſich denkt; wer es ſo in allen ſeinen Arten hat kennen 
lernen, eben ſo im gegenwaͤrtigen Fall erblickt: muß der 
es nicht verabſcheuen? Muß bem das Herz nicht an der 
Tugend haͤngen, der ihr entgegengeſetztes Weſen aus allen 
den genannten Geſichtspunkten hat kennen lernen, der alle 
dieſe Eigenſchaften bey ihr gewahr wird? 


Dieſe Betrachtungen ſind fo evident,, und ſo ge⸗ 
fi ichert durch die Erfahrung, daß feine andere, als fehr 
ſchwache Einwürfe dagegen ‚aufgebracht werden Fönnen, 
Das Wohlgefallen an der Tugend, fagt man, iſt doch 
nicht von der Art, wie das Wohlgefallen an einer Ma— 
ſchine, oder irgend einem nuͤtzlichen Dinge, irgend einer 
phyſiſchen Vollkommenheit. — Das ſoll es auch nicht, 
kann es nicht; die Tugend hat ihr eigenes Weſen; iſt 
weder Maſchine, noch Genie. Aber kann ſie darum 
nicht Eigenſchaften und Beziehungen haben, die mit den 
Eigenſchaften und Beziehungen dieſer andern Dinge un⸗ 
ter einem allgemeinen Begriffe zuſammen kommen? 
Nicht um eines ſolchen Nutzens willen, wie der einer 
Maſchine, oder irgend einer der nicht zu den moraliſchen 
gehoͤrigen Vollkommenheiten iſt, und uͤberhaupt nicht 
um des Nutzens willen allein wird die Tugend ge— 
ſchaͤtzt; dies iſt wahr. Aber dennoch kann ihre Nuͤtz⸗ 
lichkeit ein Grund ſeyn, warum ſie geſchaͤtzt wird. 


Aber 


Bon denmoral, Empfindungenund Trieben. 399 


Aber fo, heißt es weiter, müßte bey der Beur⸗ 
theilung der Handlungen und Charactere der Grad’ des 
Wohlgefallens ſich nad) dem bewirften Schaden oder Nire- 
gen richten. Und dies gefchieht nicht. ‚Eine uns ſelbſt 
oder einem andern nuͤtzliche That, die aus einer unedlen, 
wenn auch nicht unerfaubten Abficht entſprungen iſt, 
findet wenig Beyfall; da hingegen eine fruchtloſe Beni 
Hung, eine bloße gute Abſicht unfern ganzen Behfall er⸗ 
halten, unfer.ganzes Herz mit Wohlgefallen erfüllen kann, 
wenn ſich edle Gefinnungen, rechtſchafnes, verftänbiges 
Wohlwollen dabey offenbaren. 

Diefe Beobachtungen, fo weit fie richtig find, 
flimmen mit unfern Grundſaͤtzen vollfommen überein. 
Erftfich haben wir nicht angenommen, daß die Tugend 
bloß um des Nußens willen geachtet werde. Und wenn 
auch diefes wäre: fo Fönnte duch die bemerkte Wirkung 
noch fehr leicht ftatt finden. Wenn man bey einer Hands 
lung, die gefällt, zugleich Neigungen und Abfichten ent 
det, von denen man ungleich mehr fchädliche Handlun⸗ 
gen zu erwarten hat, als folche gute; hat man da denn 
viele Urfache zum Vergnügen? Und eben fo natürlich ift 
im Gegentheil das Vergnügen bey Entdeckung eines Cha⸗ 
racters, in dem die Gründe zu den wuͤnſchenswertheſten 
Handlungen liegen; wenn gleich die eine Handlung, 
durch) die er fich zu erfennen giebt, ohne den ermwünfchten 
Erfolg geblieben ift, 

Es ift aber hiebey nicht überflüffig, auch einige 
entgegengefeßte Erfahrungen anzumerken; : daß es. name 
lich) auch Fälle giebt, wo die Ueberzeugung von der gutett 
Abficht eines Menfchen nicht verhindern Fan, daß man 
nicht mit den unnügen oder gar fchädlichen Bemühungen 

0 befe 





400 B.I. Abſchn. II. Abth. l. Kap. I. 


deſſelben ſehr unzufrieden; und über die Handlungen eines 
andern, die gemeine Vortheile ſchaffen, vielmehr ver⸗ 
gnüge iſt, ob man gleich an der "Eigennügigfeit feiner 
Abfichten nicht zweifelt, - Wenn namlich die einen und 
die andern anhaltend fo find, und wichtige Zwecke betref⸗ 
fen, wie z. B. bey. Regenten oder Gtaatsmännern: fo 
wird nicht nur der rohe Haufe, fondern auc) Menfchen 
von Einſicht und feinern Gefühlen, . werden mehrentheils 
ſolche Urtheite und Neigungen zu erfennen geben.. 
Mit den bisherigen Bemerkungen ftimmet endlich 
auch die Unterfuchung der Urfachen, welche Verſchieden- 
heiten ber Menfchen, in Anſehung diefes Stückes der mo« 
ralifchen Gefühle, in Anfehung des. Wohlgefallens und 
Mißfallens an Characteren und Handlungen, zu bewirfen 
pflegen, vollfommen überein. Menſchen, die durch ders 

leihen Vorftellungen wenig oder gar nicht gerührt werden, 
Ind entweder unmwiffend, in Anfehung ber nüglichen und 
fhädlichen Folgen der Neigungen und Handlungen; oder 
haben überhaupt wenige Fähigkeit zu feinern Gefühlen, 
zu den Gefühlen fürs Große und Uebereinftimmende, 
zur Sympathie; oder werden doc) in den einzelnen Fäls 
fen, mo fie ſich fo fühllos zeigen, durch felbftfüchtige 
Triebe und Abfichten daran verhindert, 


| Kapitel-IL 
Vom Gewiſſen und dem Getviffenstriehe, 
p) wo: $. 100, . . \ 
Wie das Gewiſſen in ber menſchlichen Natur gegründet tft? 
Unter ben Gründen der moralifihen Empfindungen und 


Antriebe ift einer, der befonders betrachtet zu werden vor 
| | an 


om Gewiſſen und dem Gewiſſenoͤtriebe. 401 


andern werth iſt. Das iſt naͤmlich die Vorſtellung vom 
goͤttlichen Willen und deſſen Verbindlichkeit. Nach vie⸗ 
ler Meynung giebt allein dieſer Grund den moraliſchen 
Empfindungen und Trieben ihre wahre Geſtalt und Rich⸗ 
tung. Alle find darinn einig, daß deſſen Einfluͤſſe von 
großer Wichtigfeit dabey find.. Das Bewußtſeyn diefer j 
Vorftellung vom göttlichen Willen und feiner Verbind⸗ 
lichkeit, oder der Nothwendigkeit, unfere Gefinnungen 
und unfer Verhalten darnad) einzurichten, heißt das 
Gemiffen; der Antrieb, der daraus entſteht, Gewiſ⸗— 
fenstrieb; die Seichtigfeit, dadurch gerührt und in feie 
nem Verhalten beftimmt zu werden, Gemwiffenhafe 
tigkeit. — | 
r Einige Schriftfteller, befonders arheiftifche, nen 
nen überhaupt das moralifche Gefühl in Beziehung auf 
unfere eigene Gefinnungen und Handlungen Gewiſſen. 
Wir nehmen das Wort in der gemöhnlichern engern Be⸗ 
deufung. we FR © 
Einen angebohrnen Begriff von Gott, als einem 
‚aflweifen, allgütigen, gerechten, allgegenmärtigen und 
allmaͤchtigen Wefen, in. der menfchlichen Seele fih zu 


gedenken, kraft deffen der Menfch, ohne allen Religions« 


‚unterricht, menn er anfängt, mit Ueberlegung zu han⸗ 
deln, oder vielleicht noch vorher, feine Gefinnungen und 
Handlungen nach ihrem Verhältniffe zum göttlichen Wil⸗ 
len beurtheile; ſich beunruhige und ängftige, wenn er fie 
demfelben widerſprechend, -fich freue, wenn er fie Damit 
uͤbereinſtimmend finder; dies ftreiter nicht nur gegen die 
ausgemachteften pfychologifchen Grundfäge von der Natur 
und dem Urfprunge unferer Begriffe, fondern wird auch 
durch das, mas die Beobachtung von den Religionser⸗ 

Erfter Theil. Ce kennt 


7402 - Br Adfehn: II. Abth.l. Kap. I. 


kenntniſſen und Gewiſſensruͤhrungen der Menfchen 96 

lehrt hat, völlig vermerflich. 

Daß es nicht nur einzelne Menfchen, fordern viele 
Voͤlker gebe, die dieſen Begriff von einem ſolchen 
hoͤchſten Weſen, und der Verbindlichkeit ſeines Willens 
nicht haben; kann bey mittelmaͤßiger Bekanntſchaft 

mit dem ſittlichen Zuftande ber Welt nicht bezweifelt 

"werden. 

Die mehreften wilden Wölfer, wenn fie auch einen 

"Begriff von einem höchften Wefen haben, hegen feine 
Furcht, zum Theil gar Feine Achtung *) für daſſelbe. 
Jene halten es für zu gut, um den Menſchen etwas zu 
feide zu thun: fo wie Epifur es feinen Göttern für zu 
muͤhſam hielt, ſich auf die Angelegenfeiten der Menfchen 
‚einzulaffen. 

Freylich fürchten ſich jene weniger aufgeklaͤrte Men⸗ 
ſchen deſto mehr vor allerhand unſichtbaren Weſen, von 
denen ſie glauben, daß ſie durch menſchliche Handlungen 
beleidiget und zum Zorne gereizet werden koͤnnen. Und 
als etwas dem Gewiſſen analoges verdient dies wohl be⸗ 
trachtet zu werden. Doch iſt es nicht das Gewiſſen, nach 
der Erklaͤrung unſerer Moraliſten, und um welches wil 
len einige einen angebo; ‚enen Begriff von Bote behaupten 
wollen. 

Aber wenn auch diefer Begriff fo wenig angeboh⸗ 
ren als allgemein iſt: ſo kann man doch immer ſagen, 
daß derſelbe, und durch ihn das Gewiſſen in der menſch⸗ 
üchen Seele natuͤrlich gegruͤndet ſey, und au den Be 

ſtim ˖ 


— — — — — — — —— — — — — — 


*) S. von den Kamſchadalen Srellere Beſchreibung K. XxIV. 


Vom Gewiſſen und Dem Gewiſſenstriebe. 403 


ſtimmungen ber menfchlichen Natur bey einiger vollkom⸗ 
menern Yusbildung derfelben gehöre. 

Denn es ift eben fo gewiß eine Folge vernünftiger 
Betrachtungen und Schlüffe, daß der Menſch ein un 
ſichtbares hoͤchſt vollfommenes Wefen für feinen und der 
ganzen Welt Schöpfer erfennt; alsdaß er es nicht für gleich. 
gültig hält, ob feine. Handlungen mit dem Willen diefes 
Weſens übereinftimmen oder nicht. 

Die Gründe des erften Urtheils fiegen außer dem 
Bezirke unferer gegenwärtigen Unterfuchungen, und find 
aud) die befannteften. Die Gründe bes legtern muͤſſen 
hier erwogen werden. | 

ı) Viele Menfchen find ſchon fo gewöhnt, bey 
dem Begriffe eines Herrn und Obern die Verpflichtung 
zum Gehorfam gegen feinen Willen, die Nothwendigkeit, 
fid) ihm gefällig zu machen, ſich zu denfen; daß fie gar 
feine Gründe nöthig haben, um ben göttlichen Willen für 
ein Geſetz, und deſſen Uebertretung für ftrafbar zu erfen« 
nen; feiner ſolchen Gründe ſich bewußt find, es für uns 
natürlich halten, darnach zu fragen. So fteht .es aber 
‚nicht in allen Gemüthern. 

Ä 2) Mittelft genauerer Auseinanderfegung und Ver⸗ 
bindung ihrer Begriffe, denken ſich andere Gott als ein 
ſolches Wefen, welches entweder um feiner Heiligkeit 
willen, d. b. des ihm unmittelbar wefentlichen Wohlge⸗ 
. fallens am moralifd) Guten, und eben fo unmittelbar in 
feinem Wefen gegründeten Miffallens am moralifcy Boͤ⸗ 
fen; oder um feiner weifen Güte willen, das Böfe bes 
firafe und das Gute belohne. Um jener feiner Heiligfeit 
willen, glauben einige, müffe Gott alles Boͤſe beftrafen, 
ja gar mit unendlichen, mit ewigen Strafen jede der Flein, 

Era ften 


04 B. I. Abſchn MI. Abth. I. Kap. I. 


ſten Miſſethaten verfolgen. Andere, die nur an- eine 

ſolche ſtrafende Gerechtigkeit glauben, die mit der voll⸗ 
kommenſien Guͤte beſtehn kann, die Summe des phyſi⸗ 
ſchen Uebels in der Welt nicht vermehrt, ſondern vielmehr 
vermindert; ſind doch uͤberzeugt, daß Tugend und Laſter 
dem allguͤtigen, aufs vollkommenſte und weiſeſte guͤtigen 
Weſen, nicht koͤnnen gleichgültig feyn; daß es vielmehr 

aus weifer Güte das Boͤſe beftrafen müffe,. fo oft und fo 
viel, als zur * Erhaltung der Ordnung, die die größte 
Summe von Glückfeligfeie in ber Welt erfordert, nöthig 
wird; fen es allernächft um den Geftraften felbft zu befs 

fern, ober andere vom Boͤſen abzuſchrecken, oder fonft 
auf eine Art ein größeres Uebel zu verhindern. Und diefe 
befcheiden fich gern dahin, daß der Menſch von fich felbft 
nicht wiffen fönne, wie viele Strafen aus Diefem Grunde 
nothwendig werben fünnen; und daß er fi alfo allemal 
bey Berfündigungen vor e göttlichen Strafen zu fürchten 


u - 

* 3) Natuͤrlich und vernünftig iſt auch der Grund 
des Gewiſſenstriebes, daß Gott als das vollkommenſte 
und weiſeſte Weſen allemal die beſte Erkenntniß und den 
beſten Willen habe, und derjenige alſo gewiß von den 
Geſetzen der Vollkommenheit abweiche und ſich ſchade, 
welcher die goͤttlichen Geſetze uͤbertritt; geſetzt auch, daß 
fuͤr dieſe Uebertretung keine beſondere Strafe veranſtaltet 
waͤre. So wie, kraft eben dieſes Grundes, die groͤßte 
Zufriedenheit und Beruhigung aus der Vorſtellung ent⸗ 
ſtehe, den goͤttlichen Vorſchriften gefolgt zu ſeyn. 

4) Endlich kann ſich auch der Trieb der Danfbars 
feit zu dem Gewiffenstriebe gefellen, einer feiner Gründe 
. werden. Eg iſt einem edlen zärtlichen Gemüthe hihi 

| beun⸗ 


Vom Gewiſſen und dem Gersiffendtriebe. 405 


beunruhigend, das Mißfallen feines Freundes und Wohle. 
ehäters, feines beften Waters verdient zu haben. Es 
fühle Hingegen den ftärfften Trieb in ſich, feinen Dank, 
feine Liebe durd; Gehorfam gegen deffen Willen an den 
Tag zu legen; zumal wenn es diefen feinen geliebten Va— 
ter oder wohlthätigen Freund zu erhaben, ſich zu ſchwach 
weiß, um auf eine andere Weife, durch ihm nügfiche 
Thaten, feine danfbare Siebe zu beweifen. Es ift Flar, 
wie diefe allgemeinen Gefinnungen in die Religionsem⸗ 
pfindungen übergehen, und auf unfer Verhaͤltniß gegen 
Gott angewandt werden koͤnnen; bisweilen freylich in den 
Wegen undeutlicher,, allzumenfchlicher Worftellungen von 
Gott} aber auch mittelft ſolcher Worftellungen kann es 
efchehen, vor denen die gefunde Vernunft fich nicht zu 
aͤmen bat, bie wahre Philofophie nicht widerlegen 
kann... Br | — 
Wenn nun das Gewiſſen aus einem oder dem ans 
bern diefer Gründe, ober aus allen zufammen , entweder 
mittelft eigenes Nachdenfens, oder mittelft der Belehrun⸗ 
gen anderer entfteht: fo kann behauptet werden, daß es 
etwas natürliches und vernünftiges ſey. 


6. 101. | 
Bon den vornehmften Urfachen der Werfchiebenheit der Mens 
| fen in Anfehung des Gewiſſens. . 
Aber diefe Gründe offenbaren fich nicht fo nothwen⸗ 
dig, oder find nicht von Natur fo genau beftimmt, daß 
nicht fehr ‚große Unterfcyiede bey den Menfchen in Anſe⸗ 
hung des Gewiffens Start finden Fönnten. Es muß ei. 
nem jeden vernünftigen Menfchen ber Muͤhe werth ſcheinen, 
-) * | Cc3 | die 


406 B.i. Abſchn. . Abth. Kap. 


die Urſachen dieſer Unterſchiede kennen zu lernen. Sie 
muͤſſen, vermoͤge der Natur des Gewiſſens und ſeiner 
Gründe, ſich finden | 
1) in den Borftellungen von Gott, feinem Wil. 
Ten und der Verbindfichfeit deffelben. Jeder Religions 
irrehum Farm daher leicht fchädliche Folgen im Gemiffen 
haben; wenn er ſich entweder auf die Ideen von den 
moralifchen Eigenfchaften Gottes und feinen Willen er- 
ſtreckt; oder die Gründe angreift, warum diefer Wille 
verbindlich fcheint. Und es laffen fich die Vorftellungen 
leicht auffinden, die entweder Durch Erweckung grundlo- 
fer Furcht der Ruhe des Gemwiffens, oder, durch falfche 
Beruhigung, der Gemwiffenhaftigkeit und Tugendliebe 
fhäblic) find, Syn fo fern freplich, als das moralifche 
Gefühl überhaupt noch mehrere Gründe Hat, und nicht 
alle Vorftellungen, die die Gründe der Handlungen aͤn⸗ 
dern fonnten, in einem jeden Menfchen wirklich bis zu 
denfelben und in der geradeften Richtung fortwirfen; kann 
es doch wohl feyn, daß Religionsirrthümer, die, über: 
haupt betrachtet, dem Gewiſſen und der Tugend nachtheis 
fig ſcheinen, in manchen Gemüthern feinen Schaden ftif- 
ten, Es koͤmmt auch da auf die andern Gründe mit an. 
Und die liegen 
2) in den Neigungen, Es hänge i im Menſchen, 
wie in der ganzen Welt, alles aufs genaueſte zuſammen; 
und der Einfluß ber Kraͤfte und ihrer Zuſtaͤnde auf ein⸗ 
ander ift wechfelfeitig, So beftimmen die Meigungen 
unter fih, fo ferner dieſe und die Vorftellungsarten ein- 
ander wechſelſeitig. So groß der Einfluß des Gewiſſens 
auf die übrigen Meigungen iſt: fo ſehr haͤngt doch auch 
die Beſchaffenheit des erſtern von dieſen letztern ab. Und 
zwar 


Vom Gewiſſen und dem Gemwiffendtriebe. 407 


zwar auf mehr als eine Weife. Erſtlich in fo fern der 
Menſch gewöhnlich alles, und fo. auch Gott, mit ſich 
vergleicht; und teils aus Mangel befferer Begriffe, theils, 
Nauch, zufolge der. Eigenfiebe, diejenigen feiner Cigen- 
fchaften, die ihm am meiften gefallen, am meiften Bolls 
kommenheit zu feyn fcheinen, Gotte beylege. So benft 
der Weichherzige Gott am leichteften und liebften fih als _ 
die Güte, und ganz oder mehrentheils fo gütig, wie er es 
felbft ift; unfähig, anhaltenden Liebkoſungen und zärtlich 
demuͤthigen Bitten zu widerſtehen; unfähig, zu zürnen und zu 
ftrafen, wenn er ein Herz fieht, das bey alfen feinen Fehlen, bey 
allem feinem $eichtfinn, indem es Gottes und feiner Gebote - 
vergißt, doc) allemal, wann es an ihn denket, der warmften 
Empfindungen der Siebe und des Dankes gegen den gu« 
ten Gott fo voll ift. "Gott weiß, Daß ich ihn liebe; daß 
ich bey allen meinen Vergehungen nie aufhöre, . ihn zu 
lieben; find die Formeln, womit folche fic) in ihren vers 
liebten Empfindungen hauptfächlich gefallende, und wenn 
fie in ihrer füßen Ruhe oder in ihrem Laufe zum Vergnuͤ⸗ 
gen nichts ftöhret, gegen alle Gefchöpfe herzlich gutgefinnte _ 
Seelen ſich gegen ihr eigenes Gewiſſen, auch wohl gegen 
andere Menfchen öffentlich rechtfertigen. Es Fann feyn, 
daß bey andern eben diefe Gefinnung Vorurtheil des. em⸗ 
pfangenen Unterrichts ift; eine Erinnerung ‚ die fich bey 
jedweder ähnlichen Bemerkung verſteht. Leute von einer 
gewiſſen Art, ſchreibt ein angeſehener Moraliſt ſehen 
Gott als einen Herrn an, der nad) verrichtetem Hof— 
dienſte feine Bedieute wiederum alles mögliche Vergnuͤ⸗ 
gen ii genießen laͤſſet *), Sie halten fi) alle Tage, 
| Ccc4 oder 








*) ©, Millers Sompend, ber driſtl. Moral, ©, 42: J 








48 DB. Abſchn. M. Abth. J. Kap. IL 


ober zu gewiſſen Zeiten des Jahres, in firenger Zucht und 
ängftlich forgfamer Andachtsuͤbung. Dann denken fie 
weiter nicht viel mehr an Gott und feine Gebote. 

Gleiche Einflüffe der Neigung und Sitten auf die 
Gemwiffensmeynungen zeigen fich gar oft bey ganzen Voͤl⸗ 
fern. Kin rachgieriges verwildertes Wolf ftelle fich feine 
Götter hart und graufam vor; glaubt, daß fie nur mit 
Blut und Aufopferung der Edelften im Wolfe, das fie 
befeidige hat, verföhne werben koͤnnen. Seinen Göttern 
zu gefallen, begeht es neue Graufamfeiten, rottet ganze 
Nationen als feine und Gottes Feinde aus, opfert feine 
Sfünglinge und Jungfrauen, nimmt Kinder von der 
Bruſt der fäugenden Mutter, um fie in das vom Blige 
entftanbene Feuer zu werfen). 

Die zweyte Art, wie alle übrige Neigungen auf 
das Gewiſſen Einfluß erhalten fönnen, gruͤndet ſich dar» 
auf, baß die Menfchen allemal geneigter find, etwas 
anzunehmen, und fic) leichter davon überreden, wenn es 
mit ihren Neigungen übereinftimmt, als wenn es ihnen 
fehr zuwider ift. Dies ift überhaupt befannt genug, und 

auch in den bisherigen Unterfuchungen fchon oft angemerkt 
worden, Aber die Folgen Davon gehen in der Gefchichte 
des Gewiſſens vielleicht weiter, als fich nicht immer ver- 
muthen laͤſſet. Leute von gewiffen Ständen oder Sitten 
fcheinen in der Religion die Vorftellungen von Teufeln 
und ewigen Höllenftrafen aus eben dem Grunde su lieben, 
aus welchen fie das Getränfe für das befte halten, das 
ihnen am meiften zu Kopfe ſteigt. Von der Wahrheit 








®) Voyages au Nord, Tom, V. p. r5. 


An 


Dom Gewiſſen und dem Gewiſſenstriebe. 409 


oder Falſchheit diefer Vorſelungen iſt hier gar nicht die 
Rede. 


Endlich haben die Neigungen, die den Character 
eines Menſchen uͤberhaupt beſtimmen, auf das Gewiſſen 
auch in ſo fern Einfluß, als nach der Beſchaffenheit und 
dem Verhaͤltniſſe derſelben unter einander die Triebe der 


‚ Furcht, Bervunderung und Dankbarkeit uͤberhaupt 


mehr oder weniger rege und wirffam find; ernfthafte 
Betrachtungen dauerhaftern Eindrucf machen, oder leich⸗ 
fer wieder vertilgt werden, und dann aud) noch entweder 
zur Zucht oder zur Bewunderung oder zur $iebe das all⸗ 


gemeine Berhältniß der Neigungen mehr hintreibt. 


| 3) Dies führet nun leicht aufdie Bemerkung, daß 
auch der Körper zu den Urſachen gehöre, durch Die die be⸗ 
fondere Modifikationen des Gewiffens bewirft werden. 
Denn wie die Seele überhaupt nad) allen ihren Kräften 
und deren Wirfungen vom Körper gar fehr abhängt; alfo 
richten ſich insbefonbere die Vorftellungen der Einbildungs- 
kraft, die Urtheile, die man über fich felbft fällt, und 
die immer davon hauptfächlich abhängige Urtheile uͤber ben 
Werth anderer Dinge, bergeftalt nach dem Zuftande bes 
Körpers, daß man zu den traurigften Betrachtungen über 
die Schwachheit des menfchlichen Geiftes auf diefer Seite 
gebracht werden, und es verzeihlic, finden fann, wenn 
einige Durch. diefe Beobachtung dahin geleitet werden 
find, daß fie den Körper fich nur als den Tyrannen der: 
Seele, als die Quelle alles Uebels vorftellten, — Indem 
ich diefes fchreibe, habe ich die traurige Gelegenheit, dieſe 
fo oft ſchon erfahrne, fo oft bezeugte Abhängigfeit des 
Gewiſſens; des Urtheils über ſich ſelbſt und ſeinen mora- 

Ce53 liſchen 


410 B. II. Abſchn. I. Abth.L Kap. I. 


lifhen Werth, vom Befinden bes Körpers, vor meinen 
Angen beftätiget zu fehen. 

Durch hypochondriſche ober hyſteriſche Leiden ge⸗ 
ſchwaͤcht, ohne Trieb, ohne Kraft, feine gewoͤhnliche Ge⸗ 
ſchaͤfte, ſeine alltaͤgliche Pflichten zu verrichten, haͤlt ſich 
der Kranke fuͤr ein unnuͤtzes Mitglied der Geſellſchaft, 
an dem nichts gutes iſt. Se fanfter und demuͤthiger 
feine Seele ift; deſto weniger mag er Gott, feinen 
Schoͤpfer, anflagen, ivegen diefer feiner UnvollEommen. 
beit. Gott ift der Vollfommene; ganz Güte. Ohne 
eigene Schuld ift Fein Gefchöpf fo unvollfommen. So 
denft er; und nun unterfucht er die innerften Winfel feis 
nes Gedächtniffes, wo irgend ein Bewußtſeyn eines Feh⸗ 
lers aufbewahrt ift, irgend ein Andenfen einer nicht ganz 
reinen That, oder auch nur eines Gedanfens, Aufge⸗ 
ftört, werden fie ihm bald Antäffe zu neuer Beängftigung. 
Er kann fie noch nicht mit völligen Abfcheu, ohne alle 
Einmifhung von Wohlgefaflen, benfen, dieſe feine un 
gluͤcklichen Meigungen, dieſe fündhaften Gebanfen. 
Selbſt im Traume verfolgen fie ihn. Und er — je 
aufmerffamer er auf fie ift — aufmerffam, um fie zu 
verabfchenen und auszurotten — deſto mehr belebt er fie, 
Vielleicht ift er gar fo ungluͤcklich, fie vor Eingebungen 
des mächtigen boͤſen Weſens zu halten, gegen welches der 
Menſch zu ſchwach if. Er nimmt feine. Zuflucht zum 
Gebete. Aber auch dazu hat er nicht Heiterkeit, nicht 
Sammlung, nicht Innbrunſt genug. Er hält ſich von 
Gort verworfen. Zum Leben haͤlt er ſich untüchtig; 5 — 
der Tod iſt ihm fuͤrchterlich. 

Der Arzt gebe dem Körper feine Kräfte, veinige 
ihn, flärfe ihn; und die Gewiſſensruhe ift hergeftellt. 


Wie 


Vom Gewiſſen und dem Gewiſſenstriebe. :quı 


Wie bald verfliegen aber dann nicht auch gar oft 
die Gelübde, die in der Krankheit gefaßt wurden; wenn 
im Körper wieber alles feinen freyen Sauf hat? Wie ges 
ſchwind find fie niche vergeffen, verflogen, die Strafpres 
digten des Gewiſſens, die fo tiefen Eindruck zu machen 
fhienen auf dem Bette der fchlaflofen Mitternächte? 
Wie bald übertäuben dann nicht wieder Stolz und Eitel⸗ 
feit und Wolluft und Habſucht die Stimme des Ge 
wiffens! 

4) Endlich fommen auch die äußerlichen Um- 
ftande, die Schicffale zum Vorſchein; wenn man den 
Urfachen der Verfchiedenheiten im Gewiſſen tiefer nach» 
fpühre. Denn des Einfluffes, den fie, mittelft anderer 
durch fie gebilderer Neigungen, haben koͤnnen, nicht zu 
gedenfen: fo darf man nur erwägen, daß germöhnlich je» 
der Menſch die Welt, und folglich auch Gott und bie 
Vorſehung am meiften nad) feinem eigenen Standpunfte 
und Schikfale in der Welt beurtheilet; daß diefelben 
Haupturfachen find von mehr fürchterlichen oder von mehr 
erfreulichen, aufheiternden Borftellungen im Gemuͤthe; 
ernfthaften Machdenfen und moralifchen Ynterfuchungen 
überhaupt, und den Vorftellungen von -den fürchterlichen 
legten Dingen, mie man fie nennt, Tod, Gerichte und 
Ewigkeit öfter Zugang verfchaffen, oder ihnen im Wege 
ſtehn. Wenn gleich Bie Behauptung im Allgemeinen 
viel zu gewagt ift, daß die Furcht vor unbekannten ſchreck⸗ 
lihenMaturbegebenheiten, Gemwittern, Erbbeben, Ueber _ 
ſchwemmungen, und wer weiß was noch für ſchreckhaf⸗ 
tern Veränderungen, die erften Götter gefchaffen, Reli« 
glon und Gewiſſensbewegungen zuerſt empor gebracht 
habe im N fo lehren es doch nach alltägliche Er⸗ 


fade 





42 BI: Abſchn. M. Abth.l. Kap. II. 


fahrungen zur Genuͤge, wie ganz anders es im Gewiſſen 
vieler Menſchen ausſieht, je nachdem es ihnen wohl: oder 
übel geht; und je nachdem, bisweilen auch im buchftäb- 
lichen Verftande, ſchwere Gewitterwolken über ihrem 
Haupte ſchweben, oder heller Sonnenſchein ihren Ge 
ſichtskreis beleuchtet *). 
| Warum in den Stunden bes annahenden Todes 
die Scene und Acte im Gemiffen fo fehr fich ändern, bey 
Der ungleid) größern Zahl der Menfchen; braucht nach 
den bisherigen Erörterungen kaum mehr bemerft zu wer« ' 
den. Kömper, Intereſſe und Gefichtsfreis haben fi) 
geändert. ° 
Aber darüber kann bier noch füglich eine Unterſu⸗ 
Kung angeftellt werden, warum das Urtheil des Gewiſ⸗ 
ſens nad) vollbrachter That fo oft anders lautet, als vor⸗ 
ber? Die Erfahrung lehret, daß es auf zweyerley Weiſe 
abweichen kann, das nachfolgende Urtheil vom vorberges 
henden. Verwerflich erfcheine bisweilen, mas gut ges 
heißen ward, ehe es gefchehen war. Bisweilen wird 
gerechtfertiget, was vorher verdammte wurde. Im er 
fteen Fall ift die gewöhnliche Urfache des veränderten Urs 
eheils die mehrere Ruhe der Seele, nachdem bie $eiden- 
fchaft ſich ausgefaffen hat, Die Vernunft beleuchtet bie 
Begenftände wieder; fie erfcheinen wieder in ihrer wah⸗ 
zen Öeftalt, Bisweilen ift dazu die Befriedigung der 
— | Lei⸗ 


) Es koͤmmt aber allerdings hiebey auf den ganzen Chas 
racter an. Es giebt zärtlihe, dankbare Seelen, be 
nen unertvartete Proben der göttlichen Güte das Gewiſ⸗ 
fen mehr rühren, »ftärfer fie zu Gott ziehen, als 


Trauerfaͤlle nicht thun. 








Vom Gewiſſen und dem Gewiſſenstriebe. 413 


Leidenſchaft unter der Erwartung geblieben; ſo daß Un 
much die Seele um fo viel leichter einnehmen, und luſi⸗ 
loſen Vorſtellungen die Zugänge eröfnen kann. m an⸗ 
‚bern Falle iſt die befriedigte Seidenfchaft eder die Selbſt- 
liebe überhaupt ftarf genug, die ihr angenehmern Vorſtel⸗ 
lungen empor zu halten, und die unangenehmen Ideen 
zu unterdrücken. Die Parthey der Unfchuld ift aufgege- 
ben; man fucht Die zu vertheidigen, die man ergriffen 
bat; und das Syſtem zu verfchönern, dem man einmal, 
wenn auch noch fo fehr aus Hebereilung, gefolgt iſt. 5 


S. 102, 


Einige Bemerkungen über die natürlihen Beſchaffenheiten der 
Gewiſſenstriebe bey wenig geſitteten Voͤltkern. | 


Die ausführlichfte Unterfuchung. der natürlichen 
Gefchichte des Geriffenstriebes würde die natürliche &es 
ſchichte der Religionen und des Aberglaubens werden; 
oder doch zu entfernten Urſachen fortführen, als. diejes 
nigen find, zu deren Erörterung diefer erfte Theil beſtimmt 
feyn ſoll. Einige Anmerkungen aber über die Befchafe 
fenheit des Gemwiffens, und der daraus entfpringenden 
Triebe, bey den unterjten Stufen der Eultur der Menfche 
beit, koͤnnen aus dem bisherigen ſchon leicht verftanden, 
und zur weitern Aufklärung ber Sache fo fort behütflich 
werden: | . | 

1) Es ift in dem vorhergehenden ſchon bemerkt 
worden, daß keinesweges alle Völker den guten Gott, 
den guten allgemeinen Weltgeift, als ihren Heren ‚und 
Richter fürchten und verehren; wenn fie gleich eine 
Idee von einem ſolchen Wefen haben, Denn erftlich 

bals 





halten ihn Feinesweges die mehreften für den Schöpfer der 
Menfchen. - Sie glauben vielmehr, daß. diefe aus den 
‚Höfen der Erde hervorgefommen, ober aus einer andern 
Thierart einmal entftanden feyn. Sodann fehaffet ihnen 
ihre Imagination gar bald mehrere und nähere Gegetis 
fände, die ihre regften Triebe ftärfer intereffiren; und 
die Betrügeren der Herrfehfüchtigften, oder Gemwinnfüch« 
tigften, oder Ruhmfüchtigften, ober Schwärmerifchften 
unter ihnen bildet diefe Worftellungen weiter aus, und 
unterhält fie. Gewohnt, überall geiftifche Kräfte ſich zu 
denfen, wo unfichtbare Urfachen wirfen oder zu mirfen 
feheinen, wo unbegreifliche, abſichtlich fheinende Wir. 
kungen gefheben; erfüllen fie ſich in ihrer Phantafie gar 
bald Berge und Thäler , Flüffe, Seen und Wälder mit 
Gortheiten. Und endlich ift nichts mehr, wobey nicht 
ihre Imagination erhigt werden, - und eine diefer Vor— 
Rellungen anbringen koͤnnte. Ueberall liegen ihnen Fetis 
fche, Mokiffos *), Modors **), und wie die Namen 
in den vielen Sprachen alle heißen, im Wege. Und 
für ihre Gemürhsruhe oder Gemiffensrührungen ift es 
meift gleichgültig, ob ihre Dogmatifer diefe Gefchöpfe 
| Ä ber 





m Bekannte Namen ber Gegenftände der abergläubifchen 
| Furcht der Negern in Afrifa. Man kann mehr davon 
finden bey Bofmann Voyages de Guinte, lett. X, 
Oldendorps Gefhichte der. Miffion, &. 322. ff. 
Iſelin Geſchichte der Menfchheit, I. 285. ff. und hun⸗ 
dert andern Scriftftellern. 
“*) Iſt der Name bes außerordentlich heilig gehaltenen Haus⸗ 
gößen der Wotjaken; welches urfpränglich weiter 
nichts ift als ein Fichtenreis. S. Xytſchkows Tage 
buch S. 100. ff. | | 


. — N — — 


Vom Gewiſſen und dem Gewiſſenstriebe. 415 


der Einbildungskraft für Theile, fuͤr ſichtbare Repraͤſentan⸗ 
ten, für Wohnungen der Gottheit, oder für fo viele un. 
terfchiedene geiftifche Naturen erklären. 


| 2) Nicht Ehrfurcht, Bewunderung und Liebe 
find die Gründe des Gewiſſenstriebes bey ſolchen Men— 
ſchen; fondern Furcht, Staunen und Hoffnung *). 


3) Die Furcht, die fie vor dieſen Wefen haben, 
geht öft fo weit, als die Furcht vor Gott bey einem gex 
wiffenhaften Menſchen nur immer gehen kann. Und obs 
gleich) zroeifelhaft ſeyn kann, ob diefer verirrfak . vom 
Aberglauben befeelte Gewiſſenstrieb, öfter zum: Vortheil 
eingebildeter oder wahrer Pflichten wirke: fo ift doch ſo 
viel gewiß, daß aud) die Gefege der Natur oft einen 
mädjtigen Schuß dadurch erhalten **). 


4) Furche ift wohl auch für die vornehmſte Triebe 
feder bey ihren Opfern zu halten, Die Gelegenheiten, 
Ä — bey 











) Die Zoanger verehren daher auch ihren König als einen 
j Gott; weil er erfifich tödten, ſchaden und verwuͤſten, 
dann aber auch Regen vom Himmel herab bringen, 
endlich aber in allerleg Arten von Thieren fich verwans 
dein kant. S. Geſchichte von Koango ©. 339. f. 
Als ein fürchterliches Wefen, als den Donnerer, als 
ein verzehrendes Feuer ftellen auch die Namen, die fie 
©ott geben, ihn gersähnlich vor, men er ihnen ein 
. höcfter Gegenftand der Ehrfurcht if. ©, KRobertſon 

H. A. 1, 382. 485. 

. #4) Die Verehrer der Mokiſſos ober Fetiſche unterſtehen 
ſich niht, von dem, wobey der Eigenthämer ein fols 
des Goͤtzenbild gelegt hat, dag geringfie zu entwen⸗ 
den, wenn fie auch von feinem Menſchen gefeben wärs - 
den, S. Geſchichte von Loango S. 270. fs . 


46 Brll. Abſchn. II. Abth.L Kap. Il. 


bey denen fie am häufigften, “oder am: reichlichften a. 
bracht werben, beweiſen es *). 
5) So heftig aber. auch) die Anfälle der Furcht vor 
dieſen Weſen bisweilen find: fo groß find auch die Ab— 
fälle.in die enfgegengefegten Gemüthsbewegungen, wenn 
fie fehr unzufrieden über fi ie zu werden anfangen **). 

Um fo viel mehr fcheinet zu verwundern, daß diefe 
Menfchen mit ihren Prieftern oder Zauberern fo viele 
Nachficht haben, da fie fich folcher Freyheiten gegen die 
Bögen bedienen; daß fie von jenen ſich fo ſchaͤndlich miß⸗ 
brauchen, .martern, ausplündern; ja fo groͤblich, ſo 


oft en fin. ). Aber die Furcht vor ihren Zau⸗ 
ber⸗ 





m Die Wilden in Loriflana, wenn ſie auf ihren Wegen 
| eine gefährliche Ueberfahrt oder dergleichen etwas ans 
treffen, werfen Saftorfelle, Toback oder andere ihrer 
Koftbarfeiten hinein, um die Gunft des Geiftes, ber 
über die Gegend Bere ſich zu verfchaffen. Rec. des 
Voyages au Nord, V. 282. Eben alfo die Kamſcha⸗ 
dalen, Toback und Zodeiſpane; letztere aus dem 
Grunde, weil ſie ſich einbilden, daß Gott krauſe 
Haare, und alſo an den Hobelſpaͤnen, wegen der 
Aehnlichkeit, Wohlgefallen habe. Steller ©. 20. f. 
w) Faſt allgemein iſt die Gewohnheit der Wilden, durch 
Schläge oder andere Beweife der Beratung, ihren 
Zorn gegen die Goͤtzen auszulaffen. Go. bringt der 
Affect bisweilen zu den nathrlihen Werhältniffen zus 
ruͤck, wenn esdie Vernunft nicht thut. Don den 
ziemlich cultivirten Ceyloneſern erzählt daffelbe Kmax 
III. cap. $. Haben es ja aber auch die Römer zur Zeit 
ber Kaifer noch nicht beffer gemacht. Nach dem Tode 
bes Germanictis, Lapidata funt templa, fubverfae 
Deum arae, lares a quibusdam familiares in publi- 
cum abiedti. Sweron. Calig. cap. $. Auguft. c, ı6. 
y ©. Boffmann Voyag. de Guinte, p. 155. Voyag. au 
Nord, V. 282, 


r 


Bor Gerviffen und dem Gewiſſenstriebe. 417 


berfünften und das Beduͤrfniß berrfchender Leidenſchaf— 
ten, denen der geringfte Schimmer von Hoffnung zu ih. 
ver Befriedigung fo viel werth ift, der Begierde, die Zus 
Funft und andere verborgene Dinge zu entdecken, 
Rache auszuüben *), u. a. übermältigen die Vernunft 
und die natürlichften Empfindungen, . 


® | 
§. 103. 


Wie ungleich ihrem gewöhnlichen Character auch ausgebildeter» 
enfchen durch die Gewiffenstriebe werden Finnen. 


Das natürlichfte Zeichen eines ausgebildeten Chas 
racters ift die Webereinftiimmung und Einförmigfeit des 
ganzen Berragens in allen Fällen. Und diefe Feftigkeie 
und Einförmigfeit des Characters ift überall nur im 
Alter der Vernunft, nicht im Alter der Einbildungskraft, 
zu erwarten. Auch in Anfehung des Gewiſſenstriebes 
und feines Einfluffes zeigt es ſich fo. Unterdeſſen ift dies 
immer der Trieb, durc) deffen Gewalt die plöglichften 
und größeften Anomalien in dem Character, oder Ab⸗ 
meichungen von dem gewöhnlichen Betragen, auch noch 
bey höhern Stufen der Eultur bewirkt werden koͤnnen. 

| Der 





. *) Bey Voͤlkern, die noch feine Gottesdienfte und Prieſter 
haben, finden fich doch fhon Zauberer und Wahrfager, 
hauptfächlic um bey Krankheiten gebraucht zu erben. 
Und es find überhaupt viele Gründe zur Vermuthung 

vorhanden, daß der religieufe Aberglaube und der Pries 
fierbetrug bey vielen Völkern daher ihren Anfang genom⸗ 
men haben. ©. Robertfon Hift, of America L. 389, 


Erfter Theil. D5 


43 Br. I. Abſchn. TI. Abth. J. Kap. I. 


Der ſanfteſte, gutherzigſte Menſch wird zum Verfolger, 
der ſtolzeſte niedertraͤchtig *), Helden kindiſch, furcht— 
ſam **), Kinder werden heldenmaͤßig furchtlos und 
ſtandhaft; die leichtſinnigſte Coquette wird ploͤtzlich in 
eine Betſchweſter umgeſchaffen. Der Geiz ſcheint auch 
hier am unempfindſamſten. Die Beyſpiele, daß ein 
ungerechter Geizhals durch Gewiſſensruͤhrungen zur frey⸗ 
gebigen Oeffnung feiner Kaſten gebracht mordeg iſt, find 


hoͤchſt ſelten. 
we $. 104. 
Vom Roligionseifer, _ 


Eine von ben nächften und merfwürbigften 


Wirfungen des Gemiffenstriebes ift der Eifer für die 
Wahr 








#) Der Herzog’ von Alva, einer der ftolzeften Männer feis 
* ner Zeit, entſchloß ſich, nicht nur willig, den Friedens 
. bedingungen gemäß, beym vermeffenen Pabft, Paul 

V, fußfällig um Verzeihung zu bitten, daß er durch 
ſeinen Einfall in den Kirchenſtaat ihm Schrecken verur⸗ 
ſacht hatte; ſondern er bekannte auch, daß er Beſon⸗ 
nenheit und Stimme verloren, als er dem heiligen Va— 
ter ſich nahete. Aobert/ön Carl. V. p. 293 
) Die Römer waren in der Epoche ihres größten, Heldens 
muthes fo kindiſch furchtſam, bey allen Vorftellungen 
ihres Aberglaubens, als kaum der zaghaftefte Neger, 
Das Pfeifen einer Maus war ihnen genug, eine voll 
zogene Mahl der Dbrigfeiten wieder aufjuheben; und 
ein nachher entdecktes Verfehn des Fleinftenf Umſtandes 
in den heiligen Gebraͤuchen Urfahe, daß fie Burgers 
meifter und Zeldherren von der Armee zurüdriefen, um 
ſie aufs neue zu wählen. Daß fie alled dies blog aus 
Politik gerhan haben follten, ift nicht begreiflih, uns 
bey den Umftänden, die die Gefchichte felbft angiebt, 
nicht wahrfheinlid. ©. z. B. Plutarch im Leben des 
Marcellus, 8. 4.5. 2er 


Dom Gewiffen und dem Gewiſſenstriebe. 419 


Wahrheiten und Gebräuche der Religion, deren Verthei⸗ 
digung und Ausbreitung; der ehrmürdigfte, oder aud) 
der} fürchterfichfte und abfcheulichfte Trieb der menfchlichen 
Natur. Nicht feine Wirfungen, fondern nur der Zu- 


fammenhang und die‘ einfachern Beftandtheile feiner . | 


Gründe, ſowohl wenn er verfolge, als wenn er der Ver⸗ 
folgung Widerftand thut, follen'hier aus einander ge- 
feßt werben. | 
Der Eifer in der Ausbreitung refigieufer Meynun⸗ 
gen und Gebräuche, der fo feicht in Haß gegen die an» 
ders denfenden und in Verfolgung derfelben übergeht, hat 
überhaupt in der Vorftellung der Wichtigkeit folcher Beob⸗ 
achtungen und Ueberzeugungen feinen Grund, Für wich⸗ 
tig und nothwendig zur eigenen Wohlfahrt eines jedweden 
Menfchen, für wichtig und nothwendig zur gemeinen 
Wohlfahrt werden fie gehalten, von denen, die alfo da⸗ 
. für eifern. Dazu gefellt fi) nod) gar oft die undeurliche 
Vorſtellung von der göttlichen Ehre, - die durch Unglau⸗ 
ben oder Ungehorfam gegen die Gefege der Religion ver 
lege würde. Mit allem dem Zorneifer, von dem man 
ſich felbft entbranne fühle, wenn man ſich in feiner Ehre 
verlegt, feinen Kath, feine Befehle verachter fieht, denkt 
man fich Gotterfüllt gegen ſolche Widerfpenftige;. und 
als ein Streiter Gottes, als ein getreuer Anhänger von 
ihm, glaubt man ſich nun verbunden, feines Namens, 
feiner Gefege Ehre zu vertheidigen, und feine Feinde ent 
weder zum Gehorfam zu zwingen, oder auszurotten. Je 
mehr man nun aus eigenem Gefühle weiß, mie ftarf der _ 
Religionshaß ift; deſto leichter ftelle man fich auch des 
andern Haß und feindfelige Gefinnung groß vor. Und 
dies wird ein neuer Grund, ihn zu haffen, und au einen 
d 2 eind 





420 B. n. Abſchn. Nl. AL: Kap. I. 


Feind zu behandeln. Endlich aber geſellt ſich auch leicht 
zu dieſen Gruͤnden des Eifers fuͤr eine Religion, wenn ſie 
nicht gar der Hauptgrund deſſelben iſt, die Neigung, uͤber 
die Gemuͤther anderer zu herrſchen, und ihre Meynungen 
durch die ſeinigen uͤberwaͤltiget zu ſehen, deren ſtarke und 
natuͤrliche Gruͤnde an einem andern Orte unterſucht wor⸗ 
den ſind. —J R — 
Es kann daher auch die Duldung anderer Reli⸗ 
gionsmeynungen · und Gebraͤuche aus mehreren und ver⸗ 
ſchiedenen Gruͤnden entſpringen. Entweder aus der 
Gleichguͤltigkeit gegen die Religion uͤberhaupt, oder der 
Geringſchaͤtzung dieſer und jener Verſchiedenheiten; oder 
aus.der Ueberzeugung, daß es Gottes Wille nicht iſt, 
jemanden Gewalt hierinn anzuthun, und andere Mittel, 
als Belehrung und Ueberzeugungsgruͤnde, hiebey zu ge⸗ 
brauchen, weil es unvernuͤnftig und zweckwidrig iſt; 
oder endlich auch aus beſcheidenem Mißtrauen in ſeine 
eigene Erkenntniß und Ueberzeugung, bey der man ſich 
ſelbſt vor dem Irrthum nicht ſicher genug, und alſo auch 
nicht fuͤr berechtiget haͤlt, andere in ſeine Meynungen 
hineinzuziehen ($. 63.). So viele Staͤrke der Religions⸗ 
eifer der Bekehrſuͤchtigen und Verfolger auch hat: ſo 
ſcheint doch der Trieb noch mehr Kraft zu haben, den 
der Eifer für die Vertheidigung, für die Rettung der 
verfolgten Religion erweckt. Wenigftensihat jener Trieb 
dieſem insgemein weichen müffen, wennſ auch gleich bie 
Zahl der Streiter auf jener Seite größer war. Uber es 
füßren audy hier nicht alle Triebfedern auf Gewiſſenstrieb, 
auf Achtung fuͤr Religion und Pflicht zuruͤck. Die Wirfun 
gen aber, die daher fchon oft entftanden find, machen esder 
Muͤhr werth, alle Gruͤnde der Sache genauer aufzuſuchen. 
—— | 1) Si 


Vom Gewiſſen und dem Gewiſſenstriebe. 420 


Iſt die verfolgte Religion insgemein eine neue 
Religion. Und wenn gleich das Alte und Gewohnte auch 
bey der Religion eigene Unterſtuͤtzungen gewaͤhret: ſo 
ſcheinet Doch ber Reiz des Neuen in dieſem Falle, übers 
Haupf genommen, überwiegende Stärfe zu geben. Man 
erwaͤge nur, wo uͤberhaupt die Neize der Neuheit am 
meiften thun Finnen. Da nämlich, mo die Vorftellun« 
gen von einer Sache fehr zufammengefegt, und nicht fehr 
deutlich und beftinimt find; wo ferner auch, vermoͤge der 
Beſchaffenheit der Sache, Anläffe zu großen Hoffnungen 
find. Keinesweges braucht eine neue Religion, um der 
alten den Vortheil abzugewinnen, immer den gröbern 
finnlichen Süften zu ſchmeicheln, ober zeitliche Vortheile 
zu verfprechen. Die Menfchen find nicht alle- fo finnlich 
und irrdifch gefinnt. Ja, man Fönnte fagen, alle oder 
doch die meiften feyn geiftifch und himmliſch gefinnt, [ha 
gen geiftifche Vollkommenheiten und ewige Seligfeit hoͤ⸗ 
ber, als das förperliche und zeitlihe; wenn ihnen nur 
die erftern lebhaft gefchildere werden, und nicht zu ſchwer 
zu erreichen fcheinen. Wenn alfo eine neue Religion 
viele größere Vollkommenheiten des Geiftes, eine höhere 
Weisheit, eine vollfommenere Tugend verheift, als die 
bisherigen, . von denen man die Erfahrung hat, niche 
verfchaffen: fo Fann dies ſchon eine große Empfehlung 
für fie feyn. Und es ift nicht nur natürlich, daß eine 
neue Keligion dies verfpricht; fondern auch natürlich, 
daß fie es leiftet, wenn fie irgend dazu eingerichtet ift. 
Denn ihre Lehren werden noch mit großer Aufmerffams 
feit gehört, mit Lebhaftigkeit unterhalten, und vielleicht 
durch das gufe Benfpiel der Lehrer noch am meiften uns 
Be weil fie diefe Unterflügung noch am meiften 

Db 7  nörhig 


422 BU. Abſchn. Ul. Abth.L. Kap.IL 


nöthig haben. Auch die Verfolgung träge dazu bey, 
Denn $eiden und Verfolgungen find der Tugend überhaupt 
günftiger, als gute Tage und Herrfchaft. 

Wenigftens lahret die Gefchichte, daß, wenn eine 
neue Religion verfolget, die alten es nicht ſo gegen bie 
neue aushalten, als biefe gegen jene im umgefebrten 
Falle. Doch ift dies immer nur ein Grund, Die ver 
folgte Religion hat noch mehrere Vortheile, 

2) Darinne gleich), daß die Heberzeugung oder 
Ueberredung von der Pflicht, die erfannte Wahrheit nicht 
zu verleugnen , durch feine Martern davon ſich abbringen 
zu laffen, doch viel natürlichere Gründe vor fich hat; als 
Die Vorftellung, daß es Pflicht fey, Durch Teuer und 
Schwert die Menfchen rechtgläubig und fromm zu mas 
chen. Der verfolgende Priefter wird es nicht leicht war 
gen, die hohen Belohnungen mit der Zuverfichtlichkeit 
den Verfolgern zu verheißen, die der Priefter des ge 
drängten Häufleins den Märtyrern verfpricht. Und felbft 
die Verfolgung jener wird diefen ein neuer Beweis, daß 
ihre Religion nicht die wahre fey, und daß fie fich dazu 
nicht gefelien dürfen. 

3) Und nun die Märtyrer. Ihr Anblick wider: 
legt alle die Sügen der Berfolgungsprediger, daß dieſe 
Religion Feine Tugend, Feine Gemüthsruhe bewirfen 
fönne, Und wenn fie es Schwärmerey, Fanaticismus 
nennen: fo wird gs ihnen ſchwer fallen, zu verhindern, 
daß diefer feidende Fanaricismus nicht mehr Bewunde⸗ 
rung und $iebe erwecke, als ihr fehnaubender Eifer, Er 
floͤßt wenigſtens Mitleiden ein, felbft den Verfolgern; 
und dies Mitleiden fchmwächt ihren Much, Den Gfeich 
gläubigen aber waͤchſt er, als ob himmliſche Einſtroͤmun⸗ 
gen ihm belebten, | 4) & 


Dom Gewiſſen und dem Gewiſſenstriebe. 423 


4) Es fomme die Nachbegierde, die durch Mit: 
feiden mit .entflammte NRachbegierde, noch hinzu; nicht 
nur dag felbft erlittene, fondern auch bas andern geliebten 
Derfonen angerhane Unrecht zu vergelten, die gemarter⸗ 
ten, getödteten Freunde und Verwandte zu rächen. 

5) Endlih, fo ftarf der Trieb, über andere zu 
berrfchen, auch ift: fo feheinet doch der Trieb des menſch⸗ 
lichen Geiftes zur Freyheit und Unabhängigkeit noch ſtaͤr⸗ 
fer zu feyn. Wenigftens wenn die Vorftellung, Gott 
und der Religion zu dienen, indem man fic) dem Zwange 
widerfeßt,. hinzukommt, und die Vorftellung der afler« 
größeften Belohnungen, deren man dadurch auf das ges 
ſchwindeſte und gewiffefte theilhaftig wird: fo ift diefer 
Trieb fhon im Stande, der Sache den Ausfihlag zu 
geben *), 


& 105. 


Von der Gefchidllichfeit des menfchlichen "Herzens, feine mins 
ber guten Neigungen und Abfichten unter dem Vorwande 
des Gewiſſens zu verbergen, 

Bey den bisherigen Unterfuchungen fieß ſich ſchon 
anmerken, daß die Menfchen ihr Gemwiffen, ihre Pflicht, 
bisweilen nur zum Vorwand gebrauchen, "und vielleicht 


Dd 4 ſich 








” Man hat wirklich alle biefe Betrarhturgen nöthig, um 
den Muth und die Thaten der “ugenotten nad ber 
Pariſer Bluthochzeit, und ber vereinigten Niederlaͤn⸗ 

der unter Philipp IT zu begreifen. Uebereinſtimmende 

Bemerkungen eines großen Theologen kann man lefen 

> Walchs Neuefter Weligionsgefhihte, Th. VI. 

9. 


24 Dll. Abſchn. I. Abth.L. Kap. I. 


ſich ſelbſt dabey betruͤgen können. Mehrere Betrachtun⸗ 
gen ſtimmen darinn uͤberein, und geben der Sache eine 
weitere Erklaͤrung. 

1) Je wichtiger die moraliſche Seite unſers Cha— 
racters und unſerer Handlungen iſt; deſto mehr uͤben wir 
uns von Jugend auf darinn, alles ſchlimme an derſelben 
zu verbergen, und ihr immer einen guten Anſchein zu 
geben. Eine, und bey vielen nicht die unwichtigſte Ab— 
ficht der Aufmerffamfeit auf diefe ihre moralifche Seite 
ift erreicht, wenn fie andern gut fcheinen. Mar gewöhnt 
fi) endlich, felbft zufrieden zu feyn mit dem Scheine, 
mit dem man fieht, daß andere zufrieden find, Und in 
ber That, fie find es bisweilen, auch wenn fie wiſſen, 
daß er das Schlimmere verbirgt, . Sie verlangen nur 
noch Anftand, ein gewiffes Decorum bey der Unſitt⸗ 
lichkeit, 

2) Um fo viel feichter eäufche fi) der Menfch 
bierinn felbft; je angenehmer ihm dievortheilhaftere Bor 
ftellung if. Man glaubt leicht, was man gerne glaubt, 
Man Fönnte das Schlimmere von fi) felbft wohl beffer 
wiffen, als andere; aber man bat weniger $uft, es zu 
bemerfen, Und aus anhaltender Gewohnheit, Das eine 
nur zu bemerfen, und das andere zu überfehen, entſteht 
endlich Fertigkeit, die immer mit einer gewiſſen Unfähig- 
keit zum Gegentheile verfnüpft ift. 

3) Se bupotherifcher viele Pflichten und Rechtsrer 
geln find; befto leichter kann es gefcheben, daß ein Menſch 
ſich das als recht denft, mas mit feinen Neigungen am 

meiften übereinftimmt; mas er aber freylich nicht fo beur« 
theilen würde, wenn feine Temperamentstriebe und Mei: 
‚ gungen anders befchaffen wären, Vielleicht Fönnten 
dieſe 


Vom Gewiſſen und dem Gewiſſenstriebe. 425 


diefe legten das Verhalten bisweilen wirklich rechtfertis 
gen. Denn der Zuftand der eigenen Bedürfniffe und 
Kräfte, das eigene Intereſſe eines Menfchen gehört doch 
auch mit zu den Beftimmungsgründen feiner Pflichten, 
Aber diefer Grund ware nicht fo edel; es giebt noch an—⸗ 
bere Gründe, die eben das erfordern; und da er die Sache 
felbft will, finder er nichts gegen die Gründe einzuwen⸗ 
den, und überredet fidy leicht, daß, diefe edlern- Beweg⸗ 
gründe die feinigen waren. | 
Auf eine oder die andere Weife alfo gefchieht es 
fehr oft, daß die Menfchen dasjenige, was fie um ihres 
eigenen DVergnügens oder Mußens willen, allein ober 
hauptſaͤchlich thun, aus Siebe zu andern, zur Ehre Got: 
tes zu thun fiheinen wollen, und fich felbft wirklich ſchei— 
nen; oder daß es um feinere — —— und hoͤhere 
Zwecke ihnen ſoll zu thun geweſen ſeyn, Wenn fie durch 
groͤbere Reize und niedrigere Triebe beſtimmt wurden. 
fe verworrener es im Kopfe ausſieht, und je leb⸗ 
hafter die Vorftellungen durch einander laufen; deſto 
leichter Fann auch diefe Art von Täufchung ſtatt finden, 
Kein Wunder alfo, wenn der Schwarmer fih und ans 
dere hiebey berrügt *), - | 
Dd 5 Aber 


— — 








— 


Die Spanier ließen bey ihren Zügen gegen bie armen 
Amerifaner, bey denen Geiz und Herrſchſucht doch ums 
leugbar die Haupttriebfebern waren, das Creuz vortras 
gen, zerftörten bie und da einen Goͤtzentempel; tauften 
bieienigen, die fie wie Straßenräuber ausgeplünbert 
hatten, ehe fie fie ermordeten; und fo glaubten’ fie 

» ein gutes Gewiffen zu haben, und erwarteten nun, 
a beyallen ihren Unmenfchlichkeiten, göttlihen Schuß und 
Bepſtand. — U n’yarien qui foit & ſujet à Pillufon 
que 





426 . BL Abſchn. TIL. Abth.L. Kap. I. 


Aber man Fann ziemlich weit von der Schwaͤrme⸗ 
rey entfernt feyn, ohne vor dieſem Selbftberruge ficher zu 
ſeyn. Die Gründe dazu find gar zu gemein. Geiſt— 
liche und Staatsmänner *), Berfeinerte und Wilde **) 
geben häufige Beweiſe Davon. | 


Kapi⸗ 














— — — — 








que la pieté, ſchreibt der Eardinal von Retz, bey 
Gelegenheit der Erzählung, baß fein Vater ihn zum 
geiftlihen Stande beftimmt habe, ohngeachtet er gar 
nicht dazu fih ſchickende Neigungen zeigte; dazu bes 
ſtimmt, feiner eigenen Meynung nach, bloß aus froms 
men Abfihten; in der That aber, weil ihm das Erz 
bisthum yon Paris in die Augen ſtach, und er einem 
ältern Sahne fein ganzes Vermögen überlaffen wollte, 
Memoires I. pag. 4 


e) Meit gieng des Card. Masarin, man mag annehmen 
GHeucheley, oder Selbſtbetrug, wenn er die nothleidens 
den und um ihn verdienten nächften Angehörigen des 
Könige mit der Ausrufung abwies: Helas, fi elles 

. favoient, d'où vient cet argent, & que c’eft le fang 

du peuple, elles n’en feroient fi liberales! Er, ver 
gefchehen ließ, daß feine Niece, die Gräfinn von 
Soiffons, von eben dieſem Gelde oft in einem Tage 
3,4000 Wiftolen verlor. Efprit de la Fronde 


l. 188. 


a⸗) Auch der räuberifhe Tartar verficht diefe Kunſt. ©, 
Voyages au Nord, IV. 121. Und die Menfchenopfer, 
die Tänze und Spiele und andere Zeyerlichfeiten zu Ehs 
ren der Götter, koͤnnen eben ſowohl durch den unmits 
telbaren Einfluß der Neigung aufs Urtheil, als dur 
den Schluß von feinen Neigungen auf die göttlichen bey 
den Völkern aufgefommen ſeyn. # 


Bon der Neigung zum Wohlanftandigen. 427. 
Aapitel II | 
Bon der Neigung zum MWohlanftändigen, 


$. 106, 


Eroͤrterung der Begriffe, und Beſtimmung des Allgemeinen und 
Matürlihen daby. 


Mi den moralifchen Gefühlen ftehet das Gefühl fürs 
Wohlanftandige, mit den Trieben, die aus rs 
fpringen, die Triebe, die diefem folgen, in genauer 
Verwandſchaft. Man fann fagen, fie gehören dazu. 
Nur daß ſie nicht, wie jene, ſich auf das Innere der 
Handlungen zugleich, ſondern bloß aufs Aeußerliche be— 
ziehen; und nicht die wichtigften Folgen des Schädlichen 
und Nuͤtzlichen, fondern die minder wichtige Folge des 
unmittelbar Angenehmen zum eigentlichen Gegenftande 
haben. Und fo wie die wichtigften Pflichten zum Theil 
die eigene Vollfommenheit des Handelnden zue Abfiche 
haben, zum Theil die Vollfommenheit des andern; fo 
beziehen ſich auch die Gefeße des Wohlftandes rheils auf. 
die Vervollkommnung oder Verfchönerung deſſen, ber fie 
beobachtet, theils auf das Vergnügen anderer, Jene 
machen den guten Anſtand aus; dieſe die Höflichkeit. . 
Sa man fann and), wie höhere Gefege, alfo auch Ges 
fege des Wohlftandes in Beziehung auf die Religion uns 
terfcheiden, 5 
Daß bey alfen dieſen Gattungen der Begriffe vom 
MWohlanftändigen vieles vorfomme, was aus natürlichen 
Grundgefegen des menfihlichen Verftandes und Willens 
nicht erklaͤrbar iftz dies ift ausgemacht, Dieſer will« 
kuͤhrliche oder zufällig entftonbene, und daher mehr ver⸗ 
Ä Anders 


28 B.I. Abſchn. M. Abth. 1. Kap. ill. 


aͤnderliche Wohlſtand heißt Mode. Aber daß es gar 
keine natürliche Geſetze des Wohlſtandes gebe; kann mit 
Grunde nicht behauptet werden. Wenn es auch keine 
allgemeine, an allen Orten der Welt, unter allen Arten 
von Menſchen wirklich anerkannte, oder doch bey den ur⸗ 
ſpruͤnglichen Diſpoſitionen der Natur leichter Eingang fin⸗ 
dende gaͤbe — und auch die muß es geben — ſo wuͤrde 
doch bald eingeftanden werden muͤſſen, daß es einen hy⸗ 
pothetiſch natuͤrlichen Wohlſtand gebe. Und daß ſehr 
viel hypothetiſches in den Geſetzen des Wohlſtandes ſey; 
iſt gemein bekannt. Was einem Alter, einem Stande, 
einem Geſchlechte anſtaͤndig iſt, kann großer Uebelſtand 
für Perſonen aus andern Claſſen ſeyn; und laͤcherlich, un« 
böflih, kann unter gewiffen Umftänden feyn, was unter 
andern die nafürlichfte HöflichFeie ift. 

Anftändig ift nämlich allemal dasjenige, mas 
einem gut fteht, ein gutes Anfehn giebt, fich gut zufam- 
men ſchicket, d. h. ſowohl unter fih, als mit den phnfi« 
fchen und meralifchen Eigenfchaften, . die man bey einem 
gewahr wird, ober fich zu denken veranlaßt ift, überein« 
ſtimmt. Höflich aber beißt, was dem andern entwe⸗ 
der eine Fleine Mühe oder unangenehme Empfindung er» 
ſpahret, einen Fleinen Dienft leiſtet, oder doch Vorftels 
lungen von Geneigtheit zu folchen Begegnungen erweckt. 


$. 107. 

Warum wir Anfland und Höflichkeit an und felbft und an am 
beru lieben? 

Wenn man diefe Begriffe voraus Hat; fo häft es 

gar ie nie ſchwer, die Gründe zu entdecken, warum Die Men 


Re 


Bon ber Neigung zum Wohlanftändigen. 429. 


fhen das Wohlanftändige lieben, und das Unanftändige 
verabſcheuen; ſowohl an ihnen felbft, als an andern, 
Erftlicd) an andern ; 


1) Zum Theil wegen des unmittelbar — 


men Eindrucks, den das Letztere auf die Sinne macht. 
Die groͤbſten Arten von Unhoͤflichkeit und Uebelſtand bes 
leidigen die äußern Sinne; bey andern leiden die feinern 
Empfindungen, das Gefühl fürs Schöne, fürs Ueber⸗ 
einſtimmende, der gute Geſchmack. 

| 2) Dft aber gefchieht es nur wegen der Vorftelfurs 
gen, die daburch erweckt, der Schlüffe, die nach natuͤr⸗ 
licher oder angenommener Denfart veranlaßt werden, 
Es fcheint Mangel an Gefchmad zu verrathen, an Unt 
gang mit der feinern Welt, an Aufmerffamfeit und bins 
länglicher Achtung für andere, an Gefälligfeit und Ges 
neigtheit, ſich, wo es feyn Fann, nad) andern zu richten, 
fich ihnen angenehm und nüglic) zu machen, Und mits 
telſt dieſer Vorftellungen müffen Unhöflichfeit und Uebel 


ftand nicht nur um der Selbſtliebe willen, fondern oft. 


auch um der Sympathie und der Siebe willen‘, die noir fir 
andere haben, an ihnen uns mißfällig werden. 

An uns felbft aber das Wohlanftändige dem Ge 
gentheife vorzuziehn, bewegen ung allerdings auch zum 
Theil eben diefe Triebfedern; nämlich. die Reize der natuͤr⸗ 


lichen gröbern odet feinern Empfindungen, denen die Sa⸗ 


che nicht ganz gleichgüftig if. Das meifte dabeh thut 
aber doch wohl, urfprüngfich menigftens, die Begierde, 
andern zu gefallen. Die Beobachtung feiner felbft und 
anderer lehret dies hinlaͤnglich. In der Folge, wenn die 
Neigungen und Triebe einmal gebildet find, koͤmmt denn 
vieles allernächft auch nur von der Gewohnheit, 

— | ‚ 1094 


430 B. I. Abfchn. Im. Abth. J. Kap. III. 


$. 108. 


Urſachen der verſchiedenen Begriffe und Neigungen i in Anfehung 
bed Wohlftandes, 
| Die Verfchiedenheit der Eitten und Neigungen 
verdient hiebey noch einige Aufmerffamfeie. Die Unter, 
fuchung über die Urfachen berfelben kann der wichtigern 
Unterfuchung.über die Werfchiedenheiten der moralifchen 
Begriffe und Neigungen in den höhern Theilen der natuͤr⸗ 
lichen Gefeße zur vorläufigen Aufklärung dienen. Es 
liegen aber die Urfachen jener Verſchiedenheiten 
ı) In dem verfchiedenen Grade der Empfindlich- 
keit gegen das ſchoͤne und häfliche, oder überhaupt gegen 
das angenehme und unangenehme ; als wovon die Beurs 
theilung bes Wohlftandes in einigen Fällen unmittelbar 
abhängt. Mag nun der beftimmte rad diefer Empfind« 
lichkeit oder Unempfindlichfeit von der Natur oder von der 
Uebung und Gewohnheit herrühren, 
| Die Wilden übertreffen uns in der Schärfe der 
mehreften, wenn nicht aller äußerer Sinne; aber von der 
Empfindlichfeie wiſſen fie nichts, die ein Attribut der ge 
ſchwaͤchten Natur ift; um welcher willen oft Perfonen aus 
der verfeinerten Welt gar leicht in Gefahr kommen, bey 
irgend einem unangenehmen Eindrucke von einer Ohne 
macht überfallen zu werden. Daneben gewöhnt fie ihre 
$ebensart an vielerley von Natur nicht angenehme Eindruͤ⸗ 
de; daß, ihrer fonftigen Sinnesſchaͤrfe ungeachtet, dife 
ihnen nicht mehr merflich, oder doch nicht beſchwerlich wer⸗ 
den. Allerley Arten von Unreinfichfeit find Daher beyih- 
nen fein Uebelftand; am allerwenigften diejenigen, by 
denen die Ideenadſociation die ſchlimmſte Wirkung thut. 
Um 


Don der Neigung zum Wohlanftändigen, 438 


Um ihrem Gafte $uft zum Effen zu machen, nehmen fie 
einen ausgewählten Biffen zuerft in den Mund, effen das 
von und geben das übrigedem Gaſte. Einige follen die 
HöflichFeit wohl noch weiter treiben; fo weit, daß es ſich 
bey uns faum ſchickt, es zu erzählen *). In Anfehung: 
des Gefühls fürs Schöne find die noch größern Unter» 
ſchiede und die Urfachen davon befannt. ($. 48.) 

2) Sind viele Dinge von der Art, daß fie fich, 
auch im Verhaͤltniß zum Anftande und zur Höflichfeit be» 
frachtet, nad) verfchiedenen Seiten verfcyiedentlich beur⸗ 
theilen laffen. Schon gleich das vorhergehende Benfpiel 
täße fich hierauf anwenden, Mit dem anderh feinen 
Biffen heilen, den Biffen aus dem Munde ihm geben, 
. fo wie aus einem Becher mit ihm frinfen; Fann dies 
nicht höflich, verbindlich feheinen ? Eben alfo Fann es aus 
einem natürlichen Grunde, wie bey ung gefchieht, für 
unhöflid) gehalten werden, dem Vornehmern den Rüden 
zuzuwenden; ihm das Öeficht zufehren, heißt fein Edelftes, 
geriffermaffen fein Innerſtes, feiner Beurtheilung dar⸗ 
ftellen, und auf feine Winfe fid) bereit halten. Aber in 
Eorea befiehlt es der Wohlftand, dem Vornehmern den 
Ruͤcken zuzufehren; es wäre Frechheit, Vermeſſenheit, 
feinen Anblick ertragen zu wollen **), ben daher ents 


ftehen 


*) ©. 3.2. Hiftoire de Loango p. 73. Rrans Hiſtorie 
= von Grönland I. 192. 214. f. Gerähmt wird hingegen 
die Neinlichfeit der halbgefitteten GOtaheiter. Bey eis 
nigen Wilden find auch die Zeichen der tiefften Ehrfurcht, 
das Miederfallen auf das Angefiht u. d. gewöhnlich. 
©,.Hifloire des Boucaniers I], 241. Bofmann Voyage 

de Guin&e Lett. XVII, 


##) &, Voyages au Nord IV, gegen das Ende, Die — 
er 











432 BI. Abſchn.III. Abth. J. Kap. III. 


ſtehn ja auch die Widerſpruͤche des particulaͤren Wohl⸗ 
ſtandes; und kann z. B. Handkuͤſſen Hoͤflichkeit und Uns 
hoͤflichkeit ſeyn. | 
3) Wenn auch nad) der natürlichften Vorftellung 
die Sachen fic) im gleichen Berhältniffe zeigen würden; 
was vermögen nicht Die, wer weiß wie zufällig, einmal 
entftandenen, und durch Die, welche Anfehn harten, et» 
haltenen und zur Hauptidee gemachten Mebenideen? Was 
verachteten Perfonen gewöhnlich, vielleicht nothwendig ift, 
kann eben darum bey andern das Anfehen von Uebelſtand 
bekommen; und hingegen kann feine Sitte werben, an 
fich zu haben, was jene als unnöthige Beſchwerde ables 
gen *). Auf diefe Begierde, von den geringer geachteten 
| ſich 











— ———“ 





fer koͤnnen nicht begreifen, vie wit es für eine Höflichkeit 
halten tönnen, das Haupt zu entblößen; es feheint 
ihnen eine Freyheit zu feyn, die man fi nur vor den 
vertrauteſten Freunden oder Geringern erlauben dürfte, 
Chardin 11, 37. Ohne Zweifel liegt hier der Grund in 
der verfchiedenen Art der Kleidung: Mit der Peruͤke 
halten wir es, wie bie Perſer mit ihrem Zurban, Aber 
vielleicht hat der Huth, ehedem das Zeichen der Frey: 
heit, Gelegenheit zu diefem Gebrauch gegeben. Sonſt 

ile auch den Perfern die linke Hand, was uns bie rechte. 
Und auch davon ließe ſich noch wohl Grund aus. einer 
verfchiedenen Ideenadſociation angeben, 


*) In Ebina ſchneiden vornehme Leute fich die Nägel 
nicht ab, weil die gemeinen es um ihrer Arbeiten willen 
thun müffen. Won den Dtaheitern wird daffelbe erzaͤhlt. 
Forfßer Voyage I. 283. In manchen Fällen ſcheint 
der Aberglaube fi eingemifcht zu haben; deffen Urs 
ſprung aber gleich zufällig feyn konnte. Won der fon 
derbaren Etiquette der Könige von Loango, daß fiein 
einem andern Haufe effen, in einem andern trinken, 

| und 





Bon der Neigung zum Wohlanftändigen. 433 


ſich zu unterfcheiden, gruͤndet ſich hauptſaͤchlich als auf 
feine Achfe der Creislauf der Moden, Möchte er dach) 
bald beiten, daß die feinere Welt in unſern gefitteteh 
Staaten zur Natur und Wahrheit eifriger zurückkehrte; 
da die Entfernung davon fehon fo gemein geworden iſt. 

4) Urfachen mancher Berfchiedenheiten in den Ge⸗ 
bräuchen. des Wohlftandes geben auch die verfchiedenen 
egriffe von den vorzüglichften Gütern und Vergnuͤgun ⸗ 
gen ab. Jedes Volk fucht in dem feine Pracht und die 
Mittel andern Höflichkeit zu beweifen, was für das. koſt⸗ 
barfte, niedlichfte, angenehmfte bey ihm gilt, : | 
5) Endlich aber müffen auch die Begriffe in dieſem 
Theile der Sitten nach den Begriffen des hoͤhern Theils 
fich richten, den Religion, Gerechtigkeit und Menfchens 
liebe beftimmen ; obgleich in manchen Fällen diefe durch 
jene uͤberwogen werden. Die Begriffe von Anftand und 
‚Höflichkeit enthalten vielfältig die deutlichfien Merfmale 
von dem verfihiedenen Grade, in welchen die Pflichten der 
Keufchheit, Mäßigfeit, Duldung, Herzhaftigkeit, Bil⸗ 
ligkeit, Ehrfurcht für Gott und Menfchen, ja bisweilen 
der firengen Gerechtigkeit, erkannt und geachtet 
werden, .” | ” 

Ab: 











— — rn 


und beydes ſo geheim als moͤglich, um von niemand 
geſehen zu werden, wird der Grund angegeben, daß der 
Koͤnig unverzüglich fterben müßte, wenn ihn jemand 
effen oder trinken fähe, Eben berfelbe muß, wenn et 
Bericht fißt, zwiſchen jedem neuen Nechtshandel eiw 

mal trinken. Die Entfcheidung wuͤrde nicht rechre Fräftig 
feyn, wenn es unterbliebe. Gefchichte von Aoango 
©. 238' 275. . 


Erfter Theil. Ee 





434 B.u. Abſcha UM. Abth. . Rap. 1. 

| I Abtheilung 1 

Unterfuchungen tiber die noch übrigen Triebe 
nebfi einigen Schlußfolgen. 


Kapitel IL. 
Bon der Neigung zum Großen und Wunder 
| | - baren. 


§. 100. 


Umfang, Gruͤnde und Bedingungen des Wohlgefallens am 
Großen” | 


Der Reiz des Großen iſt ſchon in vorhergehenden Unter⸗ 
ſuchungen, ſowohl unter den Triebfedern der Hochachtung 
($64) als auch unter den Gründen des Wohlgefallens 
an der Tugend ($. 99) bemerft worden. Hier follennoh | 
feine Verknüpfung mit den Grundgefegen des menfchlichen 
Willens, und die übrigen Wirkungen deffelben unterſucht 
werden. | I 

Daß Dinge, die durch ihre weſentliche Befchaf 
fenheiten nothwendig Schmerz, Efel, oder Furcht und 
Schreden verurfachen, nicht zu angenehmen Gegenſtaͤn⸗ 
den werden dadurch, daß fie fich vergrößern; verfteht ſich— 
Auch kann nicht behauptet werden, daß alle angenehme 
- Gegenftände immer noc) angenehmer werden , wenn ſie an 
Größe zunehmen. Es giebt oft ein maximum bey det 
Dingen‘, über welches fie nicht wachen dürfen; wenn 
richt entweder die innere Harmonie ihrer Theile, oder iht 
ebenmäßiges Verhältniß zu uns, oder andern Dingen ge 
ftört werden fol. Insbeſondere muß, was ung ergößen 


& | .ooll, 


Bon der Neig. zum Großen und Wunderbaren. 435 


ſoll, nicht zu groß fuͤr uns auch in fo fern ſeyn, daß es 
uns nicht zum Gefühl unſerer Kleinheit und Schwäche: 
bringe, — 

B Aber Dinge, bie bey einer gewiſſen Kleinheit 
gleichgültig find, oder nur wenig Vergnügen geben, wer⸗ 
den anziehend und angenehm, wenn fiegu einer gewiſſen 
Größe gelangen. Ein Maulwurfhaufen, ein Tropfen _ 
Waſſer, find nicht leicht für einen Menſchen ergoͤtzende 
Gegenftände. Aber jenem werde die Größe eines Berges, 
und diefem det Umfang eines Mieeres gegeben: fo ver⸗ 
weilet jeder mit Vergnügen bey der Betrachtung der⸗ 
felben. | Ä 
siegt num bee Grund hievon in ber Größe an ſich, 
oder in gewiſſen neuen von der Natur mit der Größe beta 
knuͤpften Befchaffenheiten; oder in zugeſellten Ideen? 

1). Das große giebt mehrere Befchäftigung, für 
"Sinne, Verftand und Einbildungskraft; oder giebt fie 
doch leichter, als das Fleine; bey welchen fie erft mit⸗ 
teift eines durch Kunft und Wiffenfchafe geftärften Blickes 
gefunden wird, Was aber Befchäftigung giebt, der 
langen Weile, dem ſchwerlichen Gefühle druckender Kraͤf⸗ 
te abhilft, ft angenehm. Freylich ift bey dem Großen 
insgemein auch mehrere Mannigfaltigkeit ‚oder Vorrath 
an ſich ergoͤtzender Dinge; wie in den vorhergebrauchten 
Beyſpielen. Aber doch hat es jenen Grund zu mehrerer 
Beſchaͤftigung auch an ſich ſchon. 

29) Beyh dieſer Beſchaͤſtigung mit dem Großen, 
dieſer Ausbreitung der Vorſtellungskraft uͤber daſſelbe, 
kommt der Geiſt gar oft ſich ſelbſt groͤßer vor. Denn 
vermoͤge der Sympathie werden wir einigermaaßen in 
dasjenige verwandelt, was wir uns lebhaft vworftellen. 

Era Und 


436° SM: Abſchn HI. Abth. U. Kap. I. 


Und wie wir auf diefe Weife mit dem Steigenben ung he⸗ 
‚ben, und mit dem fallenden-finfen ($. 17): fo ermweiterf 
ſich aud) das Gefühl unferer Kraft und unſers Dafeyns 
durch Die "Betrachtung des Großen; und verengt fich durch 
die Verweilung bey dem, was feine Größe hat. betzte⸗ 
res kann daher dem Menfchen, vermöge der Liebe zu fi) 
ſelbſt und feinen Kräften, nicht fo angenehm ſeyn, als 
Das erſte. Diefer Grund+ thut befonders viel bey: der 
Vorſtellung moralifcher Größe; erhabner Gefinnungen, 
wahrhaft heldenmüthiger, KHerrfchaft des Geiftes über 
‚gefährliche Neigungen beweifender Handlungen. 

3) Daß nicht alle Menfchen dies Gefühl fürs Gros 
‚Be und Erhabene in gleichem Grabe befißen; daß Größe 
des Geiftes dazu gehört, um es haben zu Fönnen; dies 
fann noch eine dritte Urfache feyn von der Neigung, den 
Vorſtellungen daven nachzuhängen. Denn was uns, 
vielleicht auch andern, unſere Vollkommenheiten beweifet, 
wird feicht auch Darum angenehm. 
A4) Endlich aber gefelle fich auch oft zur Idee des 
Großen die Idee des Nüglichen, und mifcht ihre Reize 
unter Diejenigen, die dem Großen an ſich betrachtet zus 
fommen; Dies gefchieht wiederum bey geiftifchen und 
vornehmlich bey moraliſchen Vollkommenheiten am ha 


figſten. J IJ Be 
= Aus allem aber, mas bisher, und bey vorherge⸗ 
henden verwandten Unterfuchungen, angemerkt worden 
ift, erbellet gar bald, wie bedingte und verfchiedenartig 
das Wohfgefallen am Großen ſey. Denn um diefes 
Vergnuͤgens ebeilhaftig zu werden, muß man erſtlich das 
Große fi) gehörig vorzuftellen im Stande ſeyn, folg 
lich vieles unter. einen _. chtspunkt zu bringen, und als 
zuſam · 


Von der Neig. zum Großen und Wunderbaren 437 


zufammengehörig ſich vorzuftellen wiffen. Oft müffen 
Urfachen und Wirfungen, Abfichten und Umftände, 
Mittel, Schwierigkeiten, Gefahren, Beweggründe mit 
einander verglichen und gefchägt werden; um einzufehen,, 
wie groß eine Anftale ift, wie groß Die That war. Fer—⸗ 
ner aber dürfen nicht die Vorftellungen entftehn, daß 
dasjenige, was durch Größe einnehmen ſoll, ſchaͤdlich, 
oder doch dem Müslichern oder Schönern hinderlich fey. 
Die bloße Vergleihung mit dem noch Größern kann das 
Wohlgefallen vernichten , oder doch fehr ſchwaͤchen. Dem, 
der an das Größere gewöhnt ift, und es num damit ver 
gleicht, feheint der Große Flein und verächtlih. Eben - 
derfelbe Menfch, der fich als Knabe Faum fat fehen 

- fonnte an ben mittelmäßigen Häufern einer Eleinen Land⸗ 
ftadt, als er zum erften mal fein väterliches Dorf verlaf« 
“fen hatte, und die Größe derfelben anftaunte; fann 
nun, da er von Reifen zurücfgefommen ift, in dem engen 
Mefte, in den niedrigen Hütten diefer Eleinen Stadt nicht 
mehr aushalten. Eben fo geht!es mit Gebirgen und 
Ausfichten, Fluͤſſen und Waſſerfaͤllen, Gefellfchaften, 
Feſten und Höfen. 

Am allerwenigften ift eg zu verwundern, wenn bey 
moralifchen Größen die Menfchen in ihren ‚Gefühlen 
und Neigungen fehr ungleich fi bezeigen. ‚Denn wo 
ift der allgemeine, genau beftimmte Maaftab zur Schaͤ⸗ 
gung und Vergleichung derfelben? Welche Tugendthat, 
welches Opfer der Pflicht gebracht, beweiſet am meiften 
Stärfe des Geiftes, Größe der Seele? Nach allgentei« 
nen Begriffen läßt fich hierauf Faum antworten, Und 
die im einzelnen Fall entfcheidenden Umftände find meh⸗ 
rentbeils den Augen der Menfchen verborgen. _ -- 

Ee 3 Dazu 


438 DI Afchniti, Abth. I. Kap. 


Dazu koͤmmt nur noch, da das Selbftgefühl, 
das nie entgegen feyn darf, wenn das Große einen ange 
nehmen Eindruck machen foll, befonders bey diefer- Bat: 
tung leiche nicht übereinftimmt. Der fpmpathifirende 
fanft»und großmuͤthige fühlt Größe, und wird entzuͤckt 
ben der Thar eines Germanicus, der feinen niedertraͤchti⸗ 
gen und argliftigen Gegner Pifo rettet, da er ihn von den 
Wellen des Meers hätte koͤnnen verfchlingen laſſen; *) 
der befcheidene, durchs innere Gefühl des Verdienſtes 
glückliche, beym Charakter des Timoleon ; **) der edel 
ſtolze bey der Weigerung eines Gefandten, ein feiner 
Ehre vielleicht nachtheiliges Gefchenf , unter der Bedin⸗ 
gung, daß es niemand erfahren folle, anzunehmen, aus 

der 





*) ©, Tarirys Annal, II. 55, F 


*") Timoleon gab nicht nur gewoͤhnlich ben Bewunderern 
feiner Thaten zur Antwyrt; Er danfe den Goͤttern, daß, 
da fie befchloffen harten Sicilien zu befreyen, fie feinen 
Namen bazu gebraucht; fpnbern er lied auch, um dieſe 
Gefinnungen och mehr an den Tag zu legen, bem 
Gluͤcke in feinem Haufe eine Kapelle erbauen. Als bey 
einer nigberträchtigen, aber gefegmäßigen Forderung eis 
nes Unwoͤrdigen an ihn, das Wolf diefem fich voll Uns 
willens mwibderfeßen wollte: hielt er es mit deu Worten 

aurü; eben darum habe er folhe Beſchwerlichkeiten 

und Gefahren übernommen, daß jeder Syrakuſer ber 

Befege ſich bedienen Fönne, wenn er wolle. Plutarch 

K. 36. 37, War es denn — in. Bergleihung mit dies 

fem Betragen des Zimofeon — Größe pder Kleinheit, 

wenn Scipio, bey der Anlage der Tribunen, das Volt. 
vom Gerichtsplatze weg mit ſich in die Tempel führte, 
um am Gedaͤchtnißtage feines Sieges Über den Hannis 

bal den Göttern zu bauten? Kipius lih. XXXVII. 

cap, 51. ’ 


Bon der Neig. zum Großen und Wunderbaren. 439 


der Urfache, weil er Pr es doch . würde *), Ans 
Dere — | | 


6 11% | 
: Bon der. Neigung zur Pracht und großem Aufwande. 


Zu den Arten und Anwendungen der Neigung 
zum Großen kann mit Grunde auch die Neigung zur 
Pracht in Kleidung, Wohnung, Tafel, Gefolge und 
andern Arten des Aufwandes gerechnet werden. Denn 
eine gemwiffe Größe, die auch von andern bewundert und 
mit Vergnügen betrachtet wird, iſt doch wirklich daben. 
Bey den Erzählungen von den Keichthümern und dem 
Aufwand der Römer zu den Zeiten der Triumvirate, und 
der Kaifer in den erften Jahrhunderten, oder der Perfis 
ſchen und andern Afiatifchen Könige und Fürften erweis 
‚fern, und heben fich doch auch die Gefühle, und haben 
etwas angenehmes, wenn fie nicht durch weiter gehende 
Blicke auf Urfachen und Wirfungen verändert werden. 
Es beluftigen auch Komanenfchreiber und andere Did) 
ter fich und ihre Leſer fehr germ mit dergleichen Schilde 
rungen, Die Neigung kann unterdeffen auch durd) an⸗ 
dere Gründe erzeugt oder verftärft werden. Einmal 
durch die Neigung zum finnlichen Vergnügen, zu dem, 
was Bequemlichfeit, Sicherheit oder fonft auf eine 
Weife Nugen fchaffer; wobey die Begierden, wie be» 

Ee 4 kannt 





— 


9) e⸗ war, wo ich nicht irre, der Graf von Beiftel, 
Gefandter an den König von Spanien, in ber Henrathe⸗ 
angelegenheit Garl I. 





» 


440° BU. Abſchn. II. Abth. U. Kap.L 


Fanne iſt, fich nicht nach den wahren Bebürfniffen meffen 
und einfchränfen. Sodann durd) den Trieb, die. Sphäre: 
feiner, wenn auch nur mittelbaren, Eriftenz und Wirfe 
famfeit, den Umfang des Seinigen auszubehnen. Ende’ 
lich durch die Begierde, Beweiſe feines Vermögens 
oder feines Geſchmacks zu — und anderer Achtung 
dadurch zu gewinnen 9), | 


Was aber nun Inebefhere den Reiz des Großen 
hiebey anbelangt; fo ift Flar, daß derfelbe nicht fonder« 
(ich) auf diejenigen Bemüther wirfen Fönne, in denen rich⸗ 
tige und lebhafte Begriffe von ben übrigen Arten des 
Großen find, Man wird in der Gefchichte der Meichen 
und Mächtigen wenige durch ihre Thaten merfmwürbige 
und innerlid) große Männer finden, bie für fich einen 
großen Aufwand machten, und Pracht liebten in bem, 
was eigentlicd) zu ihrem Dienfte und ‚Gebrauche veran« 
ftaltet ward, Gegen einen Lucullus, der eine Tafel, 
eben fo gut als ein Treffen, anzuordnen nicht nur ver⸗ 
ftand, fondern Pracht und Aufwand wirflich liebre, giebe 
es, duͤnkt mich, immer weit mehrere gleich große Män« 
ner in allen Gattungen und Zeiten, von entgegengefeß- 
tem Character, ohne daß i ie des Geizes ge wer⸗ 
den koͤnnen **), | 

| Die | 





— —* 


——— um nur 1 * wieder a fönen Grund 
trieb zum finnlihen Vergnügen zu fommen, nimmt 
nur zween von biefen Gründen an; den zweyten und 
vierten. ©. Dife. III. chap. x 


") Einige Beyſpiele, von Übrigens fehr verfihiedenen Ums 
Ränden, find Earl der Großße, Artita, Omar, 


Von der Neig. zum Großenund Wunderbaren. 441 


Die gemeinſten und natuͤrlichſten Wirkungen die⸗ 
ſer Neigung — nur von den naͤchſten und innerlichen iſt 
bier die Rede — geben ihr Feine vortheilhafte Bezeich⸗ 
nung. ' Mit feiner Aufmerffamfeir, ſo außer fich ver: 
breitet, und eingenommen von der Meynung des großen 
Werthes der Gegenftände diefer Neigung, bat der Geift 
gar leicht weder Zeit noch Faͤhigkeit, den Werth der 
Weisheit und Tugend zu fludieren, und zum Gefühl und 
Antrieb fich zu machen. Hingegen fann das Beftreben durch 
immer fteigende Größe oder immer neue Erfindungen ents 
weder die eigenen immer fteigenden Begierden zu befrie- 
digen, oder bey andern den Eindruck zu unterhalten, 
neues Auffehen zu erregen, und den Mebenbuhlern es zus 
vor zu hun, nicht nur eine große Befchwerde und Beun⸗ 
ruhigung fürs Gemuͤth werben; fondern endlich auch bie 
fleinften unwuͤrdigſten Vorftellungen zu Hauptbefchäftie 
gungen der Seele machen, regen des Anfehns der Wich⸗ 
tigkeit, fo jeder Fleine Umftand, in der Kunſt, präch« 
tig zu ſeyn, und jede auf ihn fich beziehende Einficht 
und Geſchicklichkeit erlangt haben. 


Es erweckt ein vermifchtes Gefühl von Mitleiden 
und Verachtung, wenn man ein wenig barüber nad. 
denfe, aufmwas für Ideen Taufende von Menfchen ihre 
Stunden und Tage anwenden, zum Theil anwenden 
müffen, um bdiefer Neigungen willen. Und der erfte, 
Grund yon allem Fönnte doch Gefallen am Großen feyn ? 


Ee ne: - §. * 


“- 


442 BI. Abfchn.TIr. Abth. I. Kap.l. . 


$ III, 
Bon ber Liebe zum Wunderbaren und zu Geheimniffen. 


' Mit der Neigung zum Großen ftehet auch in Ver⸗ 
wandfchaft die Siebe zum MWunderbaren, Denn es 
hat, menigftens in den Fällen, mo es am meiften an⸗ 
zieht, etwas Großes. Es erweckt Vorftellungen von 
Kräften und Fähigkeiten, die die gemein befannten 
Kräfte der Natur übertreffen. Und darinn bat es alfo 
den gemeinfchaftlichen Reiz des Großen überhaupt, daß 
es der Seele viele Befchäftigung und Füllung gewaͤhret *), 
Ja es fann diefes noch mehr leiften, als andere Arten 
des Großen; weil die Imagination um fo viel freyeres 
Spiel hat, je weniger beftimmt und aufgeflärt die Bes 
griffe find. Das Wunderbare ift eben deswegen muns 
derbar, weil man es nicht auf deutliche und beftimmte 
Begriffe zu bringen weiß. Aber ber Grund von unzaͤh⸗ 
ligen ausfchweifenden Vorftellungen kann es werben, 


Und alfo auch von Hoffnungen, Dies ift ber 
zweyte Reiz deffelben, Mittelft der Vorſtellungen und 
des Glaubens wunderbarer, uͤbernatuͤrlicher, unbegreifli⸗ 
cher Künfte, kann der Menfch eine, natürlicher Weiſe 
gar nicht, ober nicht fo leicht und geſchwind mögliche Be⸗ 
friedigung feiner Begierden erwarten, Daher find die 

Ä Be Mens 











& 


*) Meligion ohne Wunder würde für viele Menfhen eine 
loſe Speife feyn, vor der ihnen ekelte. Und es giebt 
Gelegenheiten, zu bemerfen, wie manchem feine ganze 
Andacht von dem entficht, wobey ein anderer nur 
über die Möglichkeit erftaunt, daß Meufchen fo etwas 

. für Religion und Wahrheit annehmen Finnen? 


Von der Neig. zum Großen und Wunderbaren. 443 


Menſchen immer ſo viel geneigter, ſolchen Vorſtellungen 
beyzupflichten; je heftiger die Leidenſchaften ſind, die 
nur dadurch die Erfuͤllung ihres Wunſches ſich verſprechen 
koͤnnen. Von jeher haben ſie geherrſcht, und herrſchen 


neoch unter dem gemeinen Volke, in Anſehung der Mit: 


tel, von Krankheiten befreyt zu werden, feinen Feind zu 
entdecken und ſich an ihm zu rächen , eine geliebte Perfon 
zur Gegenliebe.zu bewegen, befonders aber das Künfs 
tige vorher zu wiffen, 

Auch der Stolz kann Antheif haben an der Nei⸗ 
gung, übernatürliche Wirfungen zu erwarten und zu 
glauben. Es ift fehmeichelhaft, außerordentliche An» 
ftalten, Ausnahmen von den Gefegen der Natur, um 


- feinetwillen gemacht, die Gottheit unmittelbar mit einem 


becſchaͤftiget, und gleichfam auf ein werabredetes Zeichen 


bereit und wirffam fich vorftellen zu dürfen, -Der Menſch 
haͤlt fich leicht für wichtig genug, um dergleichen nöthig 
zu finden, Die Geſchichte des Aberglaubeng beweiſet es, 
und noch weit mehr, 

Endlich) ift noch ein Grund der Wohlgefallen am 
Wunderbaren, ſowohl in Verbindung mit den vorherge⸗ 
henden Gruͤnden, als auch fuͤr ſich bewirkt, im letztern 
Fall aber freylich der Sache eine andere Geſtalt giebt, 
Das ift das Vergnuͤ xy fo viele Menfchen darinne fin» 
den, mit dem, waͤs fie wiffen, ober zu wiffen vorgeben, 
Auffeben, Staunen, Nachdenken, Gefühl und Ges 
ftändniß der Unmiffenheit zu verurfachen, Dieg fönnen ' 
fie durch Erzählungen und Behanptungen wunderbarer, 
unbegreiflicher Dinge, | 

Es ift bekannt, daß diefes Wohlgefallen am Wun⸗ 
derbaren nur im Alter der Imagination und Unwiffene 


heit 


444 8.1 Abſchn. IL, Abth. I. Kap.L. 


heit recht groß ift; und fi) vermindert, wie Erfahrun. 
gen und vernünftiges Nachdenlen den Verſtand zu meh⸗ 
rerer Reife bringen. 

Das Wunderbare hat fuͤr den mehfchlichen Geift 
etwas mißfälliges darinn, daß es unbegreiflic ift; daß 
es ſich nicht an unfere Erfahrungen anfchließen, und mit 

unfern Daraus entftandenen, mit unfern vorzüglichften, 
“deutlichften , voliftändigften Begriffen vereinigen will; 
Daß es unferer Wißbegierde unüberwindliche Echwierig« 
feiten entgegenfegt, das Gefühl unferer Ohnmacht ung 
erweckt. Man finder daher bey Knaben ſchon bismeilen 
Abneigungen vor folchen Vorfiellungen. Aber dieſe Wir« 
kung fegt doc) immer ſchon einigen Vorrath deutlicher und 
feftgegriindeter Begriffe voraus; Kraft und Meigung, 
fie anzuwenden, und Urtheile zu prüfen; und Eidyerheit 
vor täufchenden Räfonnements zu Gunften des Wunder: 
baren. Sm erften Alter nimmt der menfchliche Verſtand 
doch insgemein feine Borftellungen und Urtheile mehr lei⸗ 
bend an, als daß er felbftrhätig fie ſich ſchaffe. Neue 
Vorftellungen finden leicht Eingang, bey dem menigen 
Widerftand ber bisher noch erworbenen. Und eine Er 
dichtung der Einbildungsfraft kann leicht burd) eine ans _ 
bere befchöniget und gerettet werben. Für alle mögliche 
Wunder hat der kindiſche Werftand Kraft und Grundes 
genug in den Geiſtern, womit er, wie es ihm gefaͤllt, 
alle Plaͤtze beſetzt, und die er annehmen kann, wie es 
ihm nur irgend nöthig ſcheint. 

Aber diefer Geifter werden immer weniger bey ber 
fleißigern Beobachtung Bes Laufs der Natur. Das 
Wunderbare wird verdächtig, nachdem man fo oft nur 
Wahn und Betrug dabey entdeckt hat, Das Unbe⸗ 

| greifliche 


Von der Neig. zumGroßenund Wunderbaren. 445. 


geeifliche. wird, mo feine überwiegende Gründe, feine 
größere Unbegreiflichfeit des Gegentheiles es aufdringen, 

verwerflich wegen feiner Aehnlichkeit und oftmaligen Ver» 
knuͤpfung mit dem Unmöglichen. Es findet Fein Zus 
frauen mehr, giebt feine Beruhigung, Feine Hoffnung 
mehr. 

Wie wenig dennoch diefe legtern Gründe in Ver⸗ 
gleichung mit den erftarn ausrichten, kann man aus den 
vielen Benfpielen aller Arten, wie oft und mie leicht fich 
die Menfcherr immer aufs.neue durch angebliche Wahrfa« 
ger und Wunderthäter einnehmen laffen, fchon zur Genüge 
abnehmen, Es feheint aber auch, daß das Wunder- 
bare vielen Menfchen den Muth benimmt, mit ihrem 
gemöhnlicyen Scharffinn zu denfen; vielleicht meil fich 
einmal die Begriffe von unmittelbar wirfender Gottheit 
oder furchtbar mächtigen Geiftern, der Gedanfe, von 
unferer Schwäche überhaupt, und dem Unvermögen uns 
feres Verſtandes, alles zu ergründen und einzufehen, da⸗ 
mit vereinigt haben. 

Einige von den Gründen ‚ aus denen die Neigung 
zum Wunderbaren entſteht, erzeugen auch das Wohlge: 
fallen an Geheimniffen. . Und zwar was die feyerlichen 
religieufen Geheimniffe oder Myſterien anbelangt, 
die faft ben allen Völkern fich finden, bey denen eine. ges 
meinfchaftliche Volksreligion ſich feflzufegen angefangen 
bat *); N gehören diefe, auf ber Seite; nach welcher fie 
bier betrachtet werden, ganz unter den Artikel vom Wun⸗ 
derbaren. Aber es zeigt ſich in der menſchlichen Natur 

vo 


— ⸗ 2 





+ S. Meiners über die Möfterien ber Niten. —— 
philoſ. Schriften, Th. Il. ©. 169, ff: 





4 


446. B. U. Abſchn. TI. Abth.I. Kap. I. 


noch ein nicht unerheblicher Hang zu Geheimniſſen, auch 
wenn dieſe in keiner Verbindung mit der Religion ſtehn. 

Man ſieht es faſt immer in den Geſellſchaften ſich 
unter einander beluſtigender Kinder, wie einige ſich zu⸗ 
ſammen thun, um eine Heimlichkeit unter ſich auszuma⸗ 
chen oder auszumachen zu ſcheinen. Die mehreſten 
Zuͤnfte und Verbruͤderungen moͤgen gerne ihre Geheim⸗ 
niſſe, andern unverſtaͤndliche Gebräuche und Redensar—⸗ 
ten haben. Und wer weiß, ob nicht bey den meiſten 
Orden — dieſen Ausdruck in feinem groͤßeſten Um— 
fange auf das Kleine ſowohl als das Große angewandt — 
das Geheimniß mehr Abſicht als Mittel iſt? 

Außer dem im vorhergehenden ſchon bemerkten 
Triebe, Aufmerkſamkeit und Neugierde bey andern zu 
erregen, und wichtiger ſich zu machen, kann doch auch 
in manchen Fällen der Gedanke," mittelſt des Geheim- 
niffes, als eines gemeinfchaftlichen Heiligthums, in ges 
nauere und unverbrüchlichere Verbindung mit andern 
Menfchen zu fommen, etwas bey der Sache thun. 
Denn feine Geheimniffe dem andern anvertrauen, ge 
hoͤrt doch immer zu den natürlichen Wirfungen und Merk: 

‚maalen ber Sreundfchaft, | a 
Kapitel If. 
Vom Wohlgefallen am Lächerlichen. 
| $. 112. 
Seftfeßung einiger Begriffe, 


Die Unterfuchung, die hier foll vorgenommen erben, 
muß mit einigen andern, mittelft verwandter Begriffe, 
zu⸗ 


Vom Wohlgefallen am Laͤcherlichen. 447 


zuſammenhaͤngender Unterſuchungen, die aber keineswe⸗ 
ges’; fo wie jene, in das Gebiet des Moraliſten gehören, 
nicht verwechſelt und vermenget werden. Die Neigung 
am Laͤcherlichen, ſowohl in der Natur als in der Mach. 
ahmung des Witzes, und der Kunſt, ſich zu ergoͤtzen, 
intereſſirt den Moraliſten. Er muß ihre Gründe" und 
Wirkungen kennen, ſowohl um beurcheilen zu: Eönnen, 
wie fie fich zu den Gefegen der Weisheit und Tugend vers 
halte; als auch um zu wiffen, durch was für Mittel ihe 
gehöriges Verhaͤltniß zu den übrigen Neigungen koͤnne bes 
wirkt werden. Aber die Kunft, lachen. zu machen, 
und die mancherley Arten. des Laͤcherlichen in Beziehung 
auf jenen Zweck zu fchaffen oder zu beurtheilen, iſt niche 
fein Eigentum, Das Lachen ift eine Verrichtung bes 
Rörpers, an der wenigſtens die Seele nicht immer als 
Urfache Antheit hat, Den Urſprung und die Wirkungen 
deffelben irn Körper zu befchreiben, iſt die Sache des 
Phyſiologen; deffen Lehren freylich hier, wie in andern 
Fällen, der Moralift zu Hülfe nimmt, wenn es ſeine 
Zwecke erfordern. 

Die Unterſuchung der Gruͤnde, warum Men⸗ 
ſchen am laͤcherlichen ſich ergögen, erfordert, daß zuerſt 
ausgemacht werde, worinn das Laͤcherliche befiehe? 

So ſeht num auch die Beyſpiele, in denen nach 
den mancherley Denkarten der Menfchen das Lächerliche 
fich finden foll, ſich von einander unterfcheiden, und den 
Zweifel einige Zeitlang rechtfertigen Fönnen, ob mohl 
auch Naturgefege und nicht vielmehr veränderliche Meys 
Hungen und Gebräuche ganz allein dabey zu Grunde lies - 
gen: ſo erhellet doch aus der Wergleihung aller diefer 
Bepipiee ſo viel, daß eine gewiſſe Art von ger 

| eilt, 


448 B.il. Abſchn. Nl. Abth. H. Kap.ik 


keit, Ungereimtheit, von Mißverhaͤltniß in dem, was 
beyſammen ſich zeiget, das Laͤcherliche hervorbringe. 
Das Fallen einer geſunden, erwachſenen Perſon auf 
Wegen, wo nur ein Kind in: Gefahr ſeyn möchte zu fal⸗ 
‘len; der Gang eines Betrunfenen,  Kleidungen, die 
der Größe und Geſtalt des Körpers-gar nicht angepaßt 
find, litteraͤriſche, politiſche und andere Kleinigkeiten: 
in das feyerlichſte Anſehn fehr wichtiger Dinge eingefleis 
det; folche Erfcheinungen verurfachen am allgemeinften 
das mit Wohlgefallen verfnüpfte Sachen, | 

‚Eine nothwendige Bedingung aber in biefen unb 
allen andern Fällen, wo Ungereimtheiten und Mißver- 
häfeniffe ein beluftigenbes Sachen erregen, ift, daß weder 
der. Gegenftand an dich diefem angenehmen Eindrude 
Entgegen gefeßte Gemuͤthsbewegungen, als da find, 
Furcht, Schaam, Efel, Nachdenken, Mitleiden, 
überwiegend erwecke; noch fonft ſchon die Seele davon 
eingenommen fep. | — 


F | $. 113. 
— Gruͤnde dieſer Neigung. 
Von den Gründen des Wohlgefallens am $ächer. 
lichen ift derjenige den meiften aufgefallen, und von 
manchen für den einzigen oder doch hauptfächlichften ge« 
halten worden, der in den Wirkungen der Eigenliebe 
und des Stolzes fich findet *). Vermoͤge diefer Neigun 
gen 


a 


Le  — — 





.. & — 4— * | | 
*) S. Horner’s Grundfäge ber Kritik. B. I. Kap. IT. 
Th. IL ©. 163. Beſtritten aber ift diefe Meynung 
imn dem Traité des caufes phyfiques & morales du 
rire. Amſt. 1768. Deutſch 1772. 


Rom Wohlgefallen am Lächerlihen. 449 


gen kann es freylich leicht gefchehen, daß dasjenige Men 
ſchen Vergnügen macht, woben fie fich, für vollfommner, 


für kluͤger, geſchickter, für richtiger im Gefchmade und 


Urtheile als andere halten Fonnen. Und je mehr ihr 
Stolz fich verfichere hält, daß fie nicht zu einem aͤhnli⸗ 
chen Vergnügen andern Anlaß geben fönnen;  defto un. 
gebinderter kann ihre Eigenliebe daffelbe in fich ziehen. 
Wer fich ein wenig auf die Kennzeichen der $eidenfchaften 
verfteht, wird mehrentheils es bald bemerken, warn 
das .. Sachen aus — Grunde entſtan⸗ 
den iſt. — 


uUnabhaͤngig von dieſem Grunde und unwillkuͤhrli⸗ 
cher kann aber auch ein Menſch zu einem an ſich nicht 
unangenehmen Lachen durch eben ſolche Anlaͤſſe gebracht 
werden. Und zwar, wie es ſcheint, vermoͤge des Con. 
traſtes, und deſſen ſowohl ˖ mechaniſcher als geiſtiſcher 
Wirkungen, Conkraſt iſt allemal im Laͤcherlichen. Und 
zwar nicht, wie in andern Fällen, Contraft, der alshald 
vernünftige wichtige Zwecke gewahr werden oder vermus 
then laͤſſet, und Machdenfen erregt. Alſo Eann derfeibe 
ungehindert feine ihm eigene Wirfung in der innern Or 
ganifation und in der Seele bervorbringen. Und dieſe 
beſteht in Abſicht auf jene wahtfcheinlich darinn, daß 
‘durch die gleichzeitige Erweckung gewöhnlich fich nicht mit 
einander verbindender Ideen eine ungewöhnliche, leb⸗ 
bafte, aber doch nicht heftige, nicht Dauerhafte, ſon⸗ 
bern leichte und vorübergehende Bewegung der $ebens« 
geifter entſteht; wovon der Cindruc vielleicht ein 
innerer Kiel nicht ohne Grund genannt wer 

Erſter Theil. Se... ten 


456 BU. Abſchn. HT. Abth. i. Kap. IT: 


den kann *). In Abſicht auf die Seele aber, daß ba- 
durch fonderbare und lebhafte Worftellungen ohne Ermuͤ-⸗ 
dung der, Aufmerffamfeit entftehen und vorübergehn. 
Wenn das Lächerliche durd) die Fomifchen Künfte 
hervorgebracht wird: fü koͤmmt noch zu den bisherigen 
. Gründen das Wohlgefallen, fo wir an der Kunft, als 

einer Vollkommenheit, und an der Vergleichung und 
Beurtheilung haben. Ze 

Endlich aber, Fann auch das. Wohlgefallen am 

laͤcherlichen aus ber Meigung zum Sachen, als einer behag- 
lichen, gefunden, Förperlichen Bewegung und auf hei⸗ 
ternden Ideenzerſtreuung, herruͤhren. Mancher geſetzte 
und keines liebloſen Lachens faͤhige Mann iſt ſich dieſes 
Grundes deutlich bewußt. Manchen taͤuſcht auch die 
ſonſt gegruͤndete Adſociation der Ideen von Lachen und 
"von Froͤhlichkeit; daß er dem Lachen nachjagt, in ber 
Einbildung, Froͤhlichkeit darinn zu finden: fo wie aud) 
bisweilen einer ſich Gewalt anthut, um zu lathen, da 
mit ev vergnuͤgt (heine, 


| §. 114, | 
Gründe der Verſchiedenheit der Gemuͤthet in Anfehung 
Serfelben » 


‚ 


| Schr bald laffen fich nunmehr auch die Urſachen 

entdecken, warum überhaupt, und ber gewiſſen Anläfs 
fen, , 

) Den · Urſprung des Lachens erklaͤren die Aerzte aus einem 

Kitzel der Nerven, der unerwaͤrtet entitehf, und —* 

voruͤbergeht. Zuckert von den Leidenſchaften, ©, 25, 


* 


Vom Wohlgefallen am Lächerlihen. 451 


ſen, die Menſchen ſo ungleich aufgelegt zum Sachen, und 
zum Vergnügen am Lächerlichen ſich zeigen. 


Einmal Fönnen wegen der Verſchiedenheit der Ein⸗ 
fihten, ber Ideenadſociation, des Geſchmacks und der 
bey denen, die durch ſonderbare Mißverhaͤltniſſe laͤcher⸗ 
lich werden, ſehr verſchiedene Eindruͤcke entſtehn. Aus 
Kurzſichtigkeit, Unwiſſenheit, Leichtſinn bemerkt man⸗ 
cher das Wahre, Uebereinſtimmende und Wichtige nicht, 
das unter einem ihm nur,auffallenden Schein von Unges 
reimtheit verborgen iſt. Aus Unmiffenheit und Kurze 
— bemerkt ein anderer das Laͤcherliche nicht. 

em einen iſt Gewohnheit Grundregel des Urtheils, dem 
andern die Natur; im einen ordnet der Verſtand die 
Vorſtellungen, im andern Gedaͤchtniß und Imagination. 
Der eine ſympathetiſcher wird zum Mitleiden geruͤhrt, 
wird beſorgt fuͤr die Ehre des andern, oder wird durch 
den Uebelftand beleidigt; wenw der andere nur den Con- 
traſt ſich kuͤtzeln, oder feine Eigenliebe die ihr angenehme 
Folge ziehen laͤſſt. Dem einen fehlt entweder von Nas 
tur, oder wegen eines andern lebhaften Eindruckes, der 
ißt eben in der Seele ift, der Grad von Empfindlichkeit 
und Keizbarfeit, der zu dieſem innern Kißel, wie zu 
dem gröbern Förperlichen, erforderlich if. Der andere 
ift an nichts mit feiner Aufmerkſamkeit gefeffele, {ft 
feichten Eindrücken ganz geöfnef, und lauert mit analogen 
Vorſtellungen fchon auf fie. Endlich machen die verfchies 
denen Meynungen von der Schicklich£eit oder Unſchicklich⸗ 
feit des Sachens, daß der eine daffelbe in ſich auf alle 
Weſiſe zu verhindern, und ihm auszumeichen ſucht; da 


f2 . der 
%- | 


452 DB. Abſchn. II. Abth. n. Kap. II. 


der andere ihm ſich gern uͤberlaͤßt und vorſetzlich es bes 
foͤrdert ). ee ie 


Kapitel III. 


Vom Triebe der Nachahmung, und der Neigung 
’ zum Spiele, = | 


Zu . 177 
| E Nom Triebe der Nachahmung. . 
3: den natürlichften, beilfamften und gefährlichften 
rieben des Menſchen gehört der Trieb zur Nachahmung. 
In der Kindheit richter er das meifte in der Seele aus, 
und in feinem Alter verläffet er den Menſchen ganz, 
Dies läffee fehon vermuthen, daß feine Gründe tief in 
der menfihlihen Natur eingeprägt feyn müffen., Sie 
finden ſich | 
H Im den ummillführlichen Reizungen, die von 
ber Sympathie herfommen. Wenn das Bild beffen, 








*, Ein Paar ſtark contraftirende Beyſpiele find der Lord 
Cbefterfield und der Verfafler des Elementarwer⸗ 
„Ees. Erſterer ruͤhmt von fih, daß, ſeitdem er bie 
Vernunft gebraucht, ihn niemand habe lachen hoͤren. 
©. dieBriefe an feinen Sobn, Vol. IL Der andere 
redet dem Lachen das Wort, fo begeiftert, daß er zur 
Beförderung deffelben noh mehr Bücher gebrudt 

wuͤnſcht, und fie zu fehreiben felbft geneigt ſich ubet. 

Elementarwetk zw. Aufl, B. I. Ä 


% 


- Bom Triebe der Nachahmung. 453 


was außer uns ift, in ung hervorgebracht und zum wirk⸗ 
famen Gefühle wird: fo welden wir zu eben demfelben Ver⸗ 
Balten, wie dort fich ung zeigt, mechaniſch angetrieben. 
Unwiderſtehlich wird beynahe diefer Antrieb, wenn er 

von mehrern Gegenftänden zu gleicher Zeit in ung hervor 
gebracht wird. Ruhig ſeyn, wenn alles fid) um einen 
herum bewegt, ober in einer entgegen gefeßten Richtung 
ſich alsdenn bewegen, wird ſchwerlich einem Menſchen 
leichter und natuͤrlicher vorkommen, als mitzumachen, 
was die andern thun. 


2) Im Beduͤrfniſſe der Beſchaͤftigung. Dem 
Koͤrper ſind abwechſelnde Bewegungen, der Seele Vor⸗ 
ſtellungen und Gefühle noͤthig. Wenn, nun dieſe der 
Menfch nicht in ſich felbft, nicht in den. Anmeifungen ſei⸗ 
ner Pflichten, oder anderer beftimmter Triebe findet: fo 
iſt er geneigt, durch Benfpiele anderer fic) beftimmen zu 
laſſen; ſo wie er, wenn er humgrig iſt, zu den nächften 
beften Nahrungsmitteln greift., | | 


9) Inder Neigung, fich andern gefällig zu ma⸗ 
chen. Denn die Menfchen fehn es gern. wenn man ide 
ren Verftand zur Regel, und ihre Handlungen für Mus 
fter gnnimmt. Mur alsdenn ift es ihnen unangenehm, 
nachgeahmt zu werden, wenn fie fürchten, ihre auszeich . 
nenden Vorzüge dadurch zu verlieren. — | 


4) Und freylich kann auch dies zur Nachahmung 
antreiben, daß man eben diefelben Wortheile, die andere 
fich erworben haben, gleiche Ehre, gleiches Gluͤck, oder 
bie Vollfommenheiten, die man an ihnen, Mur oft 
— 8f3 J 


+ 


454 BU. Abſchn. I. Abth. I. Kap. II 


nach wenig deutfichen Begriffen bewundert, dadurch zu 
erlangen hoffet. | — 

Dieſe Bemerkungen werden beſtaͤtiget bey der Un⸗ 
terſuchung, über welche Menſchen der Trieb zur Nach 


ahmung am meiften vermag. „Immer werden e8 dieje⸗ 


nigen ſeyn; die uͤberhaupt fehr reizbar und empfindlich), 
bey denen noch wenige oder leicht zu überwältigende innere 
Antriebe find; die durch Furchtſamkeit ober Wohlwollen 
geneigt find, andern fich gefällig zu machen; die ifren 
Kräften und Einfichten zu wenig zufrauen, um auf eige⸗ 
nen Wegen ihr Gluͤck zu ſuchen. 


6. 116. 
Von der Neigung zum Spiele. 

Auch diefe Neigung muß für fehr natürlich, ja fie 
muͤßte fir einen Haupt-und Grundtrieb bes menfchlichen 
Willens gehalten werden ;- wenn die Gemeinheit eines 
Triebes und die alles überwältigende Stärke, zu der er 
gelangen kann, fichere Merkmaale davon wären, Die 
Kindheit laͤßt fi) ohne Spiele, ohne allerhand, beſon⸗ 
ders gefellichaftliche Beſchaͤftigungen, die bloß das Vers 
gnuͤgen, nicht den Mugen zur Abficht haben, nicht ges 
denken, Der Wilde, ſo träge und unempfindlich er fonft 
iſt, wird lebhaft und laut, fobald es an ein Spiel gehen 

fol; Weib und Kind, Die Freyheit ſelbſt opfert er diefer 
Neigung auf *), Der Sklave g der beynahe eben fo’ ger 
ee | druͤckte 


) Eine einſtimmig bezougte Bemerfung. S. von den Ameri⸗ 


kanern Xobertſon I; 300. Won den Negern Bofk 


mann p. 371. Von den Deutſchen Tarirus, 


Von der Neigung sum Spiele. 455 


drückte Sandbauer, ; — die wenigen Ruheſtunden, die 
ihm gelaſſen ſind, noch wohl zu ermuͤdenden Spielen an. 
Die Geſellſchaften der ſeinſten Welt ſcheinen ohne ſie nicht 
beſtehen zu koͤnnen. 

Manche Spiele haben ihre beſondere Reize; einige 
für den Geſchlechtstrieb, andere für die Liebe zu Reich» 
thümern. Alle aber, oder die meiften reizen hauptfächlich 
auch dadurch, daß fie eine leichte und durch oftmalige 
Abwechfelung unterhaltende Befchäftigung geben; Bes 
fhäftigung der Sinne oder der Einbildungsfraft, des 
Verftandes, ober auch aller diefer Kräfte zuſammen. 
Wer. bedenft, wie groß das Bedürfniß einiger Befchäfe 
. tigung, mie befchwerlich die lange Weile, wie mächtig 
die anziehende Kraft der Gewohnheit iſt; den werden 
fehon bey Erwägung diefes einzigen Grundes, die Auss 
fehmweifungen diefes Triebes nicht mehr fehr befremden ; 
wie unmürdig und abgeſchmackt auch diefe Verwendung 
feiner Zeit und Kräfte dem nachdenfenden Manne vote _ 
kommen muß. 

» Unterdeffen feheinet auch noch ein anderer Grund 
zu dieſer Neigung von faſt eben ſo allgemeiner und gleich 
großer Wirkſamkeit zu ſeyn; naͤmlich die Begierde, ſich 
hervorzuthun, und auf irgend eine Weiſe andern ſich uͤber⸗ 
legen zu zeigen. Denn daher koͤmmt es doch nur,' daß, 
wenn auch um nichts oder um eine Kleinigkeit geſpielt 
wird, ſo viele Muͤhe angewandt, und uͤber Regel und 
Geber, Recht und, Unrecht, "oft bis zue Entzweyung fonft 
zärtlich fich fiebender Perfonen geftritten wird, ben 
deswegen fpielt jeder die Spield am liebften, in denen er 
Meifter zu feyn glaubt; a wenn nichts weiter babepzu 
gewinnen iſt. 

Ff4 Kapi 


456 BI. Abfchn. IH. Abth. Il. Kap. w IV, 
| Rap itel v 
Von der Liebe zum Leben und zur Freyheit. 


5. 1 17. 5 
Bon ber Liebe zum Leben und der durcht vor dem Tode. 


9. Gegenftände der benden in dieſem Kapitel zu un⸗ 
terſuchenden Triebe ſind nichts weniger als einfach, ſo 
kurz und einfach auch ihr Name iſt. Von der Liebe zum 
“ geben wird dies leicht erhellen aus der Entwickelung des 
: Begriffs vom Leben, und ber Unterfuchung, wann die 
$iebe zum Leben abnimmt und ganz aufböret, Was 
Fann das $eben überhaupt, und hier ingbefondere anders 
beißen, als die Folge von Zuftänden, in denen wir lei⸗ 
dend oder wirfend unfer Dafeyn empfinden? Diefe Zur 
ftände und Empfindungen find ung, einzeln betrachtet, 
teils angenehm, theils unangenehm. Es ift unmöglich, 
in fich felbft widerfprechend, Daß ein Menfch das Unan⸗ 
genehme, in fo weit es dies ift, am fich felbft betrachtet, 
begehre, ober Kebe · dazu in fich hege. Alſo ift Die Siebe 
zum $eben, im Grunde befehen, nichts anders als die 
Liebe zu einem Theile der Zuftände, in denen wir uns 
befunden haben, » zu denjenigen nämlich), die uns anges 
nehm waren, Und nur darum lieben, die Menfchen das 
$eben,. weil die Vorſtellung, die fie davon haben, mehr 
angenehme als unangenehme Erinnerungen und Ausſichten 
in fih faßt. Ob diefe Vorſtellung gemeinhin unrichtig 
oder richtig fen; Brauche hier gar nicht ausgemacht zu 
werben, Wiewohl man fich fonft leicht davon überzeu- 
gen kann, daß, alles zuſammen genommen, das menſch⸗ 

— geben ch in den — Faͤllen mehr ange⸗ 
nehme 


Von der Liebe zum Leben und zur Freyheit. 457 


nehme als unangenehme Gefühle, und alfo auch einen 


richtigen Grund zur überrdiegend angenehmen {dee davon 


enthalfe. Und felbft aus der Allgemeinheit und Dauer⸗ 
baftigfeit diefer Vorftellung und der davon abhängigen 
Meigung läßt ſich der Wahrfcheinlichfeit nach nicht anders 
fchließen, als daß Wahrheit dabey vichnehr als Irr⸗ 
thum zu Grunde liegen müffe, 


Aus dieſem Grunde wird es. begreiflich, wie der . 


Menfch aus Siebe zum Leben fo vieles und fo anhaltend ers 
dulden , "fo viele andere Triebe ihr aufopfern Fönne, Was 
für Speifen wähle ee nicht, was für. Arbeiten, Bedruͤ⸗ 
Aungen und Befchimpfungen , Krankheiten und Mars 
tern duldet er nicht darum; auch wenn die Liebe zum $e- 
ben durch Beine Höhere Beweggründe unterftügt wird? Die 
zärtlichften Empfindungen nicht nur der allgemeinen Men. 
fehenliebe, fondern auch der Eiternliebe werden dadurch 
leichter, als es bey bloßer Speculation nicht vermuthet 
werben dürfte, unterdrückt, *), J 

— öfs5 Aber 








- — — — — — — — 


* Mas unter geſitteten Völkern auch nicht ganz ohne Bey⸗ 
fpiel ift, daß Eltern in der äußerften Hungersnot ihre 
eigne Kinder fchlachten und aufzehren ; das ereignetfich 
unter wilden Voͤlkern nicht gar felten. In den Voya- 
ges au Nord VI. 36, will behauptet werden, * bey 
den Wilden um die Hudſonsbay dies ſehr oft geſchehe. 
„Pen ai vü un, fährt der Erzaͤhler (Jeremie) fort, 
qui apr&s avoir devor£ fa femme & fix enfans, quil 
avoit, difoit n’avoir &te attendri, qu'au dernier, 








qu’il avoit menag&, parcequil Paimoit plus que les 
‚ autres; & qu’en ouvrant la tete pour.en manger la 


cervelle, il f’etoit fenti touch® du naturel, qu’un 
pere doit avoir pour fes enfans, & qu’il n’avoit pas 
eu la ferce de lui caffer les os, pour en fucer la 
mouelle, 


& 


an 


458. BU. Abſchn. II, Abth. I. Kap, IV. 


Aber die Siebe zum Leben iſt doch Fein unuͤberwind⸗ 
ficher Naturtrieb. Und die Umftände , unter denen fie 
fich verliert, geben einen zweyten Beweisgrund für den 
Satz, daß die Liebe zum $eben ſich in bie mancherley Nei⸗ 
gungen zu ergoͤtzenden Dingen und Zuſtaͤnden aufloͤſe; 
und darauf ſich gruͤnde, daß der Begriff vom geben mehr 
angenehme als unangenehme Gefühle rege macht. Denn 
fo bald. eg mit dem legtern ſich ändert, fo bald in einem 
Menfchen die Vorftellung ſich feftgefegt und die Oberhand 
gewonnen hat, daß fein gegenmärtiges und ferner zu er⸗ 
wartendes Leben Feine Freuden mehr enthalte; fo bald ber 
Ehrliebende feine Ehre unmiederbringlich verlohren, der 
Geizhals ſich verarmt, der Sinnliche, ſtatt feiner ger 
wohnten Ergögungen, Mangel und Arbeit vor fich fieht: 
fo ift das Leben — fo lange diefe Borftellungen dauern — 
nicht mehr ein Gegenftand der Luft und des Verlangens, 
fondern des Abfcheus. | 

Daß unter ganz verfchiedenen äußerfichen Umſtaͤn⸗ 
den dieſe Veränderung mit dem Trieb zum $eben ſich er- 
. eignet; daß er bey dem einen Menfchen fo viel länger 
aushaͤlt, als bey dem andern: hut nichts zur. Sache, 
Denri es koͤmmt ja bey der Zufriedenheit weit weniger auf 
die aͤußerlichen Umftände an, als auf die Vorftellungen 
und Gefinnungen. | Br 

Es ift alfo die Siebe zum Leben gar nicht einerley 
mit der Siebe zum Dafeyn überhaupt, Und aus allem 
dem, mas die Beobachtung Jiber die erftere, lehret, läßt 
ſich nicht fehließen, daß jedwede Art des Dafeyns dem 
Menfchen lieber fen, als Nichefeyn. 


Aber 


Bon der Liebe zum Leben und zur Freyheit. 459 


"Aber es Eönnte vielleicht fcheinen, daß außer dem 
Bisher erwogenen Grunde, eine gewiſſe Liebe der Geele 
zu ihrem Körper aud) noch als Urfache der Neigung zum 
eben angefehen werden muͤſſe. 
Die Bande, durch die Seele und $eib mit einan⸗ 
ber. verknüpft find, liegen freylich in einer für ung undurch⸗ 
dringlichen Dunkelheit. Unterdeſſen läßt ſich die Siebe 
der erjtern zum letztern, fo wie fie fi) in der Erfahrung 
zeigt, ohne Annehmung geheimer Urfachen binlänglic) 
begreifen, Quelle und Werkzeug ihrer&mpfindungen und 
Thätigfeiten, durch das Eelbftgefühl ſo ſehr mit ihr ver« 
einigt, Eann er ihr nicht gleichgültig feyn, fo lange dies 
geben felbft es nicht iſt. Sobald es aber der Menfch durch 
feine Vorftellungsfraft dahin bringt, daß er fein Dafeyn, 
- unabhängig vom Körper, und als beffer noch nad) diefer 
Trennung, ſich denke: .fo fällt die Siebe zum Körper 
leicht weg. | 
Wenn der verliebte Schwärmer fih wuͤnſcht, das 
Beilchen zu feyn, das feine Schöne pfluͤckt und an ihren 
Bufen ftecft, oder der Zephyr, der ihn kuͤſſet — in Dies 
ſem traͤumeriſchen Augenblicke ift „ihm fein ‘Körper: fein 
Gut mehr. Und wie vielen andern Echwärmern und 
Nichtſchwaͤrmern bat berfelbe nicht oft Kerker und Quelle 
alles Uebels gefhienen? 
Unter wilden Völkern ift eg nicht ungewöhnlich, 
daß alte abgelebte Leute, die weder mehr auf die Jagd, 
noch in den Krieg mitziehen koͤnnen, und alſo wenig Freu— 
den mehr zu hoffen, hingegen vor Hunger und feindlichen 
Martern fehr fih zu fürchten haben, es von ihren Wer 
wandten, von ihrem liebften Kinde, als einen uͤebesdienſt 
ſich es auiren , baß fie von das eben nein. 
Sie 


* * 


460 BI, Abſchn. I. Abth. II. Kap. V. 


Sie haben freylich auch die Hoffnung eines nach dem To⸗ 
de ihnen bevorſtehenden beſſern Lebens *). 

Auf die Vorſtellungen von dem, was nach dieſem 
Leben dem Menſchen bevorſteht, koͤmmt uͤberhaupt bey 
der Liebe zum Leben ſehr vieles an. Wie ſie dieſes Leben 
geringſchaͤtzig machen koͤnnen: ſo koͤnnen ſie auch bewir⸗ 
ken, daß ein Menſch vor dem Tode ſich fuͤrchtet, ob er 
gleich das Leben nicht mehr fiebt, 

Wer an Fein anderes $eben* glaubt, hat ben. Tod 
nicht als ein poſitives Uebel, oder alg den Uebergang zu uns 
angenehmern Zuftänden zu fürchten; deſto mehr aber als 
ein Uebel der Beraubung, Für Safterhafte Fann diefer 
- Unglaube, im Ganzen betrachter, Wohlthat fem. Ob 
er fie mutbiger machen werde, ihr $eben zu wagen für ges 
meinnügige Abfichten; bfeibt im Allgemeinen nody zweis 
felhaft. Gute Menfchen müßten in einem fehr hohen, bey 
dieſer Vorausſetzung ſchwer zu begreifenden Grade guf 
feyn; wenn er fie nicht jaghafter vor dem Tode machen 
follte, 

Dex Spruch eines alten Philoſophen iſt bekannt 
und gegruͤndet; daß man ſich vor dem Sterben fuͤrchten 
koͤnne, wenn gleich todt zu ſeyn einem nicht ſchrecklich 
iſt. 


In mehr als einer Ruͤckſicht kann es alſo freylich 
Sdtaͤrke des Geiſtes beweiſen, wenn einer den Tod nicht 
fürchtet, und dem $eben freymwillig, oder doch mit ruhiger 
und ſtandhafter Seele enejage, — 

8 


— 


*) S. z3. B. RC es au Nord 1. e. Steller von den 
Kamfhadalen ©. 293. f. | 


Von der Liebe zum Leben und zur Frepheit. 461 


Es giebt eine Be ‚ ei 
Shebe zum Leben *), 


Summum crede nefas, animam. — 


pudori, 
Er vitam vivendi perdere cauf- 
{ as, * r 


Aber es en eben fo gewiß, daß Menfchen aus 
inmiigei und Schwäche des Geiftes vor dem $eben 
fliehen; im Tode Ruhe fuchen vor der Arbeit, die ihnen 
zu beſchwerlich, vor den Pflichten, die ihnen zu groß 
find; oder weil fie ihrem geben feinen Werth Bun innere 
Kraft zu geben wiffen. 

Unter den vielen auf biefe Triebe fich' begieenden 
Erfcheinungen Fönnen einige im Widerfpruche mit einan⸗ 
der zu feyn fiheinen. Menſchen, die unzählige male in 
ihren beften Jahren dem Tode murhig entgegen giengen, 
keine Gefahr fcheuten, Helden, laſſen ſich in ihrem Alter 
die Furcht vor dem Tode niederfchlagen und zu demüthigen 
Bitten bewegen ”). | 
| Der gemeinere Character der Wilden, fonderlich 
der — iſt es, zaghaft vor dem Feinde zu ſeyn, und 
*) Eine ſolche Liebe zum Reben rechnet — dem Per⸗ 

ſeus zum größten Schandfleck feines Characters an, zu 
einem größern, als ſelbſt fein fchändlicher Geiz nicht 
war. (Aemsl. Paul.) Diefe beyden ſchaͤndlichen Eir 


genfhaften ftehen in einer natürlichen Verbindung mit 
einander. 


42 z. * vom an Robertfon Hit, of Kae 
cal, 208 











2 B. IU. Abſchn. III, Abth. IL. Kap. IV. 


Bey andern Gelegenheiten ben. Tod zu. verachten, Die 
Kamſchadalen follen noch) dazu diejenigen fehelten md 
verachten, die dem Tode nahe gewefen find, 5. B. in 
Waffersgefahr,, und fi) wieder gerertet haben, 

Es laffen fich jedorh diefe anfcheinende Widerfprü« 
he leicht erftären. Erſtlich find die Begriffe von Tod 
und $eben fo wandelbar, ihr Fuͤrchterliches und Reizen. 
des hängt fo fehr von Mebenideen und von Umftänden ab, 
die fich gar leicht verändern koͤnnen. "Sodann hängen 
auch Muth und Furchtloſi gkeit ſo ſehr vom Gefühl der 
Kräfte, und alfo auch vom Alter ab. Es Foftet weniger 
Ueberwindung, fein geben in den Jahren der Kraft und der 
Hoffnung zu tagen, um fein Gluͤck zumachen; als es im 
Beſitz des Gluͤckes dahin zu geben für nichts, und ohne 
frohe Ausficht in ein anderes. Und eine Todesart, die 
man fich felbft wähle, und beftimmt denfen Fann, einer 
ungeriffen oder "mit Schande ver£nüpften vorzuziehen, 
4 an ſich eben ſo ſehr natuͤrlich. | 


$. 118. | 
Vom Triebe zur JFreyheit. 


Wenn man nach einigen Erſcheinungen und Aus 
ſpruͤchen urtheilen wollte: ſo muͤßte man glauben, daß 
dem Menſchen nichts über die Freyheit gebe, daß dieſe 

ihm fo lieb, wo nicht noch) lieber ſey, als das $eben.. ' Als 
dein bey-genauerer Unterfuchung verliert ſich vieles von 
dieſem erften Anſcheine. 

Zwar iſt es ganz gewiß und begreiflich, daß nach 
ſeinem eigenen Willen handeln koͤnnen, unabhaͤngig von 
Vorſchriften und Geſetzen anderer, dem Menſchen meh⸗ 

| . ventheils 


Von der Liebe zum Leben und zur Freyheit. 463 Ä 


rentheils ſehr lieb iſt. Aber wie kann er dieſer Freyheit und 


‚Unabhängigfeit theilhaftig werden? Anders nicht, als 
wenn er aller menfchlichen Gefellfhaft entfagt. 


Und von diefer Gluͤckſeligkeit, dieſem hoͤchſten 


Wunſche des Geiſtes, fo ganz fein eignet Herr zu ſeyn, 
frey, nur fich felbft zu.leben. — wird zwar.oft lebhaft ges 


ſchrieben und gefprochen. Aber die Benfpiele, daß einer 


feinem reichen Einfommen und andern von der Geſellſchaft 
abhängigen Vortheilen entfagt, um diefer Freyheit feib 
haftig zu werden, fehlen noch. Ein unerfahrner Jüng« 
fing laͤßt ſich wohl bisweilen von diefen Ideen einige Jahre 
herumtreiben. Aber bald wird er der Sache uͤberdruͤſſig 
und wuͤnſcht, wie andere Menfhen, — feſt und 
gebunden zu ſeyn. 


Der Menſch, der ganz frey PN em. begehrt, | 


ſtraͤubt ſich gegen.die Natur wizimehr, als daß er einem 
wahren Naturtriebe folgte. 

Aber die Freyheit iſt ein fo reicher und "zugleich 
auch fo idealifcher Schatz, daß man nicht nur wirklich vies 
les teggeben und noch vieles übrig behalten, fondern daß 
man fich auch leicht einbilden kann, is davon zu befir 
Ken, als man nicht hat, 

Wie. mandyer geborche nicht in und außer feinem 
Haufe, der überall Herr zu ſeyn glaubt? Wie eingebil- 
det ift nicht die Freyheit, um welcher willen ſich die Bürz 
‚ger mancher Staatsverfaffung fo glücklich fchägen? Mans 
cher duͤnkt fic) ftarf genug , in jedem Verhaͤltniſſe feinen 
Willen zu behaupten und zum berrfchenden zu machen; 
wie Diogenes, der, als er zum Sklaven verfauft wur« 


de, anfündigte,- daß er für den ſich ſchicke, der einen 


He nöthig habe, - 
Aber 


0 


464° B. U. Abſchn. II. Abth. I. Kap. IV. 


Aber wirklich kann man von ſeiner Freyheit viel 
eben; und das, warum es einem eigentlich oder am 
meiften zu thun iſt, ſicher ſtellen. Es koͤmmt daraufan, 
welche Neigungen im Gemuͤthe herrſchen, und uneinge⸗ 
ſchraͤnkt ſeyn wollen. Daher laͤßt ſich ſo geſchwind nicht 
ſagen, wie ſtark der Trieb zur Freyheit in einem Men 
chen fen; wenn man ſieht, daß er irgend eine Art von 
Einfchränfung ſich gefalfen läßt. Der entfage. gern aller 
Freyheit i im Denken und Schreiben. 

Wenn aber die Einfuhr fremder Weine, Speifen 
und Kleidungsſtuͤcke eingefchränft wird: fo empört ſich 
bas Gefühl der urfprünglichen Rechte der Menfchheit eben 
fo gewaltig in ihm, als im Denfer, wenn man ihm vor« 
ſchyreiben will, was er glauben und lehren ſoll. Beyde 
ſchaͤtzen vielleicht die Freyheit gleich hoch; aber in ganz 
verſchiedenen Stuͤcken. Der gemeine Soldat ſcheint we⸗ 
gen der. Abhaͤngigkeit, in der er lebt, bedauernswuͤrdig; 
und doch iſt nichts gewiſſers, als daß viele dieſen Stand 
waͤhlen, um freyer ihren Neigungen nachhaͤngen zu duͤr⸗ 
fen, und aus dieſem Grunde nicht gern mit einem andern 
ihn vertauſchen. Edler waͤhlen manche den Stand eines 
Schullehrers oder einen noch beſchwerlichern; um nur ihr 
Gewiſſen frey zu erhalten vom Zwange, zweifelhafte Mey 
nungen für gewiſſe und hoͤchſtwichtige Wahrheiten anjzu⸗ 
nehmen und auszugeben. 

Aus *ben dieſer Betrachtung erhellet, daß ber 
Trieb zur Freyheit ſowohl zu den unedlen, als zu den ed⸗ 
len Trieben gezählt werden Fönne; je nachdem er ſich naͤm⸗ 
lich bey der einen oder der andern Gattung von Neigung 

aͤußert. 


Die 


Von der Liebe zum Leben und zur Freyhelt. 465 


Die Siebe zur Freyheit iſt beym Wilden,ob ee 
ſie gleich in der Hitze der Leidenſchaft, leichtſinnig wie ein 
Kind, aufs Spiel ſetzt ($. 116), ſtaͤrker, als bey gefittes 
ten Menfchen, Und muß es ſeyn; meil er, wie das 
Kind, die Nothwendigkeit und den Mugen der Abhängige 
keit nicht einfieht; und freylich auch bey feinen wenigen 
Bedürfniffen ſich felbft eher genug feyn kann. . Häufig 
genug wollte man auch mit ihm von Ertrem zu Ertrem 
eilen; da war feine bis zur Verzweiflung gehende Wider 
feglichfeit um fo viel weniger zu verwundern. 


Aber wie biegfam der Trieb zur Freyheit ift, wenn 
man ihn allmäblig umlenket; dies lehren die vielen: Eins 
fehranfungen und Unterordnungen der mancherley großen 
und fleinen Gefellfchaften. Und wie ſchwach find nicht 
. bisweilen die Ketten, durch) die Menfchen fich feffeln laſ⸗ 
fen; wie gering der Preiß, um den fie felbige tragen ? 
Aber freylich führe denn oft die Unterfuchung auf das Obige 
zurüc: der eine hat feine Freyheit, oder glaube fie zu ha-· 
ben, wo der andere ſie nicht ſucht. 


| Alte bisherige Betrachtungen zufammengensminen, 

muß man alfo den Trieb zur Freyheit vielmehr als eine 
Eigenfchaft eines jedweden Triebes, dem äußerlich Wir 
derftand gefchehen kann, als für" einen eignen Trieb des 
Willens anfehen, 


Und wenn wirklich der — Weiſe wie 
der Stoiker ihn ſich dachte, alles, mas zu feiner Glückſe⸗ 
ligkeit gehoͤret, völlig in feiner Gewalt hätte: fo wuaͤrde 
die Liebe zur Freyheit, nämlich zu der aͤußerlichen um 

Erſter Theil. ". heit, 


466 B. n. Abſchn. im. Abth. U. Kap.V. 


heit, von welcher hier die Rede iſt, “bey ihm ganz mweg- 
fallen. Es müßte ihm gleichgültig ſeyn, ob er Sflav 
oder König feyn foll; wenigftens in Abficht auf fich felbft. 
Denn um anderer willen koͤnnte er vielleicht begehren, 
‚mehr Gemalt außer fich zu haben. Und dennoch — was 
kann er mehr mit ihnen vornehmen wollen, als zur Weis 
heit fie anführen? Und fann er dies nicht auch als 
Epiftet? | 


Bapitel V. 


Vom Trieb, fich ſelbſt zu quälen und die Borftellun: 
gen von feinen Unglücköfälten in ſich zu unterhalten, 
nebit einigen Schlußbetrachtungen über die Ver—⸗ 
haͤltniſſe der natürlichen Willenstriebe un⸗ 
ter einander. 


$. 119. 
Ob der Menſch je Begierde nah Schmerz haben Fönne, und 
Neigung fi ſelbſt zu quaͤlen. 


Bey allen bisher unterſuchten Neigungen hat ſich die 
Empfindung oder Vorſtellung des Angenehmen und Uns 
angenehmen, als mittelbare ober unmittelbare Triebfeber 
allemal fehr bald entdedt. Wie es fehon, vermöge be 
Begriffe, gleich anfangs zum Grundgefeg des Willens 
hat angenommen werben fönnen, daß wir begehren , was 
unmittelbarer oder mittelbarer Weiſe Vergnügen giebt, und 

2 ven 


Vom Triebe, fich felbft zu quaͤen. 467 


verasfcheuen, mas Mißvergnügen verurfacht, oder bes 
Bergnügens uns beraubt: ($..7.) Alfo Fönnen, 
nad) ben bisherigen Unterfuchungen, alle Neigun— 
gen und Triebe als zufammen begriffen in dem Trieb 
zum Wergnügen angefehen werden ; nämlich unter 
den beyderley Anreisungen ſowohl ber Sympathie ‚als 
des Selbftgefühls, | 


Dennoch giebt es Philofophen , bie da behaup⸗ 
ten, daß, wenn wir die menfchliche Yatur aufmerf: 
fam unterfuchen, wir viele und mancherley Triebe 
zu Handlungen in ihr gewahrnehmen, die von 
Bergnügen oder Mißvergnügen gänzlich unabhaͤn⸗ 
gig ſind. Dies ſoll hauptſaͤchlich aus der Leidenſchaft des 
Kummers erhellen; als der es, wenn ſie einen hohen 
Grad erreicht hat, eigenthuͤmlich iſt, alles zu vermeiden 
und zu fliehen, was nur irgend dahin zielet, Erleichterung 
oder Troſt zu geben. Hiebey ſoll es ſich zeigen, daß der 
Menſch Begierde nach Schmerz haben koͤnne, Neigung, 
fich felbft elend zu machen *). 


Was für weitere Folgerungen biefe Philoſophen 

biebey auch zur Abficht Haben mögen: fo kann ihren im⸗ 
mer mit Recht widerfprochen und behauptet werben , daß 
fie die Erfahrungen nicht forgfäleig unterſucht, oder, we⸗ 
Gg 2 nig⸗ 


—— — 





— — — 


* ©. Bome's Verſuch uͤber die Neigung der Menſchen⸗ 
ſich mit ungluͤcklichen Gegenſtaͤnden zu — in 
— Verſuchen uͤber die erſten Gruͤnde der 

it Ic, 





ittlich⸗ 


468 B. I. Abfchn. III. Abth. I.“ Rap. V. 


nigſtens ihren Grundſatz nicht richtig ausgedruckt 
haben, ee Be u 


\ 


Nichte ift gewiſſer, als daß der Menſch diefem und 
jenem: Vergnügen mit Wiffen und Willen ſich entziehen, 
und diefem oder jenem Schmerz fic) preis geben, ihn fic) 
verurſachen, ihn nähren und befördern fönne, Aber ob 
es.nicht um eines andern ihn ftärfer reizenden Bergnügens 
willen iſt, das er auf diefe Weiſe erlangt.oder zu erlangen 
hoffet; oder um eines ihm fürchterlichen Schmerzens 
willen, dem er nur auf biefe Weife ‚entgehen zu Fön 
rien glaubt, daß er fo handelt? dies ift allemal die 
Frage. 4 


Und in fehr vielen Fällen ift es gleich von felbft 
offenbar, ober durch vorhergehende Unterfuchungen ſchon 
hinlaͤnglich erwieſen worden, daß ſich die Sache fo ver 
hält, Wenn der Rachſuͤchtige ins fichtbare Verderben 
ſich ftürze, nur um feine Rachgierde zu befriedigen: was 
anders treibt ihn Dazu an, als die Pein, die er empfin- 
det, bey der Vorftelung, befchimpft, verachtet, veraͤcht⸗ 
lich zu feyn, und das Vergnügen, das die Borftellung 
feines gebemüthigten , ihm unterliegenden, oder doch nicht 
mehr über ihn friumphirenden Feindes ihm giebt, und 
welches er ganz genießen will? Wenn der Geiz, wenn 
die Ruhmfucht gegen fo manches Vergnügen gleichgültig 
macht, fo manche Befchwerden und Mühfeligfeiten über, 
nimmt; nichts weniger als unabhängig vom Verlangen 
nach) Vergnügen wirfen fie alsbann, diefe Leidenſchaften. 
Die Vorftellung des größern Uebels oder des größern 
Vergnuͤgens, ift immer Triebfeder, durch Vorempfin⸗ 

dun⸗ 


Vom Triebe, ſich ſelbſt zu quaͤlen. 469 


dungen der Furcht oder der Hoffnung. Eben alſo bey den 
Aufopferungen und freywilligen Martern des ae 
und des verliebten Schwaͤrmers. | 


Wo es noch mit dem meiften Schein geſagt werben 
fann, daß, ohne Ruͤckſicht auf etwas anderes, der 
Schmerz für den menſchlichen Geift anziehend, und Un« 
luft zugleich Luſt feyn koͤnne, wenn fich fo etwas nur ir 
‚gend fagen läffet: das ift freylich in dem bier gleich an- 
fänglich bemerften Falle, wann Menſchen die Vorftellun« 
‚gen von ihren erlittenen Unglücsfällen, oder andern aus» 
geftandenen Leiden vorfeglich in ſich unterhalten und er⸗ 
neuern, ihren Kummer nähren, und diejenigen, die fie 
davon befreyen wollen, fo unfreundlich anfehen, als ob 
fie die Abficht haͤtten, ihnen das größte Gut zu entziehen, 
Aber man braucht doch auch hiebey nicht viele Mühe an⸗ 
zuwenden, um. jene anfcheinende Widerfprüche zu heben, 
und biefes Betragen auf die gemeinen zes des 

menfihlichen. Willens zurücdzuführen, Einiges ift bier, 
über ſchon oben ($. 49) bemerft worden. Die vollftän- 
dige und auf alle Fälle genugthuende Erklärung muß auf 
mehrere Urſachen Ruͤckſicht, nehmen. 


Blisweilen kann die Urfache bey diefer Neigung, 
Anläffe zur Traurigkeit in ſich zu unterhalten, wenn auh 
nicht in einer völlig richtigen Denfart, doch in edlen Ab⸗ 
fihten fi finden; in der Meynung, daß es Pflicht 
fen, in der Abfichr, durch die Größe und Dauer der Traus 
rigfeit dem Gegenſtande, um den man trauert, die ver- 

diente Ehre zu bemweifen, zu .erfennen zu geben, daß 
Gg 3 man 


470 BU. Abſchn.I. Abth.IL. Kap. V. 


‚man feinen Werch gehörig empfinde und zu fchägen mwif: 
fe; ober für die begangenen Fehler, für die nicht immer 
unfchuldigen Freuden des vorigen $ebens dadurch zu bü- 
fen; oder in diefer Eingezogenheit und Stille des 
Trauerns, unter diefen lebhaften Erinnerungen und Ges 
fühlen der Vergaͤnglichkeit irrdifcher Güter und Freuden, 
durch ernfte Betrachtungen an der Veredlung feiner Geſin⸗ 
nungen und Triebe defto Fräftiger zu arbeiten, 


Wohl aber Finnen auch weniger edle und erhabene 
Antriebe ben.diefer Neigung zum Grunde liegen, Bid 
‚ausgeftanden, vieles erfahren zu haben, giebt allemal 
ein gewiſſes Anfehn und Gewicht, Wir erregen Auf 
merffamfeit auf ung, indem wir mig Erzählungen, die 
gleichwohl uns Thränen und Geufzer Feften, andere un 
erhalten, Sie werden oft zum Mitleiden und zur $iebe 
gegen ung bewegt, Etwas zu fheinen, Aufmerffamfeit, 
Siebe zu erregen; Dies find Vortheile, für welche Mens 
ſchen leicht noch viel mehr thun. Wenn etwa noch gar 
die Vorftellung , fen es mit Grund der Wahrheit, oder 
nur nach der Einbiſdung, binzufommt, daß man nicht 
nur ohne feine Schuld, ſondern wohl gar um des Guten 
willen beneidet, verfolge, gelitten babe: fo daß bie 
Gefchichte unferer $eiden die Gefchichte unferer Verdienſte, 
und der Schandthaten derer iſt, die wir haſſen: was 
Wunder denn, wenn das Andenken derſelben uͤberwie— 
gend angenehm, wenn es gefliſſentlich unterhalten und 
gern erneuert wird? So trug Columbus die Feffeln, in 
denen man ihn aus bem von ihm entdeckten Welttheile als 
einen Mifferbärer zurück gefehicft hatte, nachher immer 
an ſich, wohin er gieng; fie hiengen in feinem Zimmer, 
und 


Vom Triebe, ſich ſelbſt zu quälen: 471 


und er wollte mit ihnen begraben ſeyn *). Angenehme 
Erinnerungen von anderer. Art können gleichfalls Urſache 


fenn, daß das Andenken, welches Ihränen auspreßt, 


dennoc) Reize für die Seele hat, um: welcher‘ toillen fie 
fich ihm gern überläßt. Es giebt Zeitpunfte und Stim« 
mungen der Seele, wo das Ueberdenken des vordem gehabten 
feligen Zuftandes nicht den Kummer über das Gegenwaͤrtige 
zur Verzweiflung bringe, fondern durchs Gefühl, gluͤcklich 
feyn zu fönnen, durch Ahndungen, ob wir es vielleicht wieder 
feyn werden, innerlich ftärkt. Die Urſache kann auch biswei⸗ 
fen ganz natürlich und einfach die ſeyn, daß es ſchwer iſt, 
lebhafte Empfindungen in ſich zu verfehließen, und Kla⸗ 
gen daher doch immer Erleichterung fuͤr den ſind, deſſen 
Geiſt einmal von traurigen Vorſtellungen, mag es ſeyn 
gegen die Geſetze der Vernunft, erfuͤllt iſtTt. 


Ob die angenehme oder unangenehme Empfindung. die eigent ⸗ 
| | liche Triebfeder des Willens ſey? 9 . 

Sowohl die Ausfuͤhrlichteit, mit welcher einige 
der beruͤhmteſten Philoſophen dieſe Frage unterſucht ha⸗ 
ben, als auch die Beziehung, die ſie auf einige ſehr wich⸗ 
tige Zwecke zu haben ſcheinen kann, machen es mir zur 
Pflicht, ſie nicht unbeachtet zu laſſen, ob ich gleich keine 
erhebliche Folgerungen dabey abſehen kann. 


Gg 00. Ein 








*) ©, Robersfon Hit, of America, 1158. . | 


m BU: Afän.UN. Abth. m. Kop. V. 


Ein alter griechiſcher Philoſoph, Hieronymus 
ber — „hat gelehrt, daß das eigentliche legte 
Ziel des menfchlichen Willens die Befreyung vom Schmerz 
fey *). Und Dies fönnte denn woh auch fo wiel heißen, 
daß die unangenehme Empfindung die eigentliche. Triebe 
feder des menfchlichen Willens :fey. Locke **) aber hat 
dies ausbrüdlich gefagt, und mit vielen Gründen zu be« 
weifen geſucht, und eben hiebey Urfache zu: finden ges 
glaubt, den gemeinen Grundfaß zu beftreiten, daß das 
größte Gute, wenn es ber Menfch.dafür erkenne, Be— 
weggrimb zu Entfchließungen : und : Handlungen fer. 
Sein Hauptgrund'ift, daß, wenn wir aus Begierde zum 
Guten bandelten, dieſe Begierde fo ſtark ſeyn muͤſſe, 
daß unfer. gegenwaͤrtiger Zuftand uns dadurch beſchwerlich, 
unbehaglich wird; ‘.Moch weitlaͤuftiger, als Lorke feinen 
Sag ausführt, hat Search ihn beftritten +); und faft 
auf die andere Seite hin die Sache getrieben, daß 
MWohlgefallen, Zufriedenheit Sog der — 
egentihe Pe yeggrund bes Wollens ſey. 


Die Unteſuchung kann wichtig feinen; erftich 
in Beziehung auf die Nechtfertigung des Schöpfers we⸗ 
gen des Daſeyns ber unangenehmen Empfindungen, 
Sind fie die einzigen wahren Triebfebern des Willens, 
würden mir ohne fie gar nicht thaͤtig feyn: fo Fönnen fie 
im allgemeinen'wenigftens: fein Uebel in der Sqhorfung, | 
fein uw zu ſeyn ſcheinen. 

Her⸗ 





mn 


*) & Cicero fin. II. cap. 3. — 
##) Locke B. II, ch, XXL. 2 
Y) Search Licht der Natur, FR an, vi. 








, 


Boni Triebe; fich ſelbſt zu quälen. 473 


Hernach kann auch diefe Unterfuchung etwas bey⸗ 
zufragen feheinen. zur genauern Beftimmung der Fragen, 
ob und wie weit es noͤthig und gut fey, die Menfchen 
durch Furcht vor; Gott und Menfchen, ober möglich 
und rathſam, bloß durch Empfindungen der liebe und 


—— ſie zu regieren ? 


Allein wenn man in den Grund aller biefer Unterfus 
chungen tiefer eingeht: fo findet ſich, daß die erfte, mit 
der wir es hier eigentlich zu ehun haben, und ſo weit wir 
fie bier zu beachten haben, Gubtilitäten berrift, von der 
ven Behaupturig jene ändern Unterfuchungen nich draus 
chen abhängig gemad)e zu werden. Wenn der Schmerz 
auch nicht die einzige unmittelbare Triebfeder zur Thaͤtig⸗ 
keit ift: fo fann er doch dadurch, daß er es oft ift, noch 
immer nüglich feyn. Und fo bleibt es auch noch immer, 
nach ber Xheorie wie nad) der Erfahrung, gewiß, daß 
durch Süftgefühle und Hoffnungen der Menſch nicht allein’ 
ſich treiben laffe; wenn man gleich) behaupten darf, daß 
er unmittelbar Dadurch angetrieben werden Fönne, 


Ach überfaffe es denen, "die Luſt dazu haben, die 
gewiß unterhaftenden und feharffinnigen Gedanken der 
behden engliſthen Philoſophen in’ ihren eigenen Schriften 
nachzuleſen; und begnüge mich bier nur, ‚diejenigen Saͤtze 
anzuzeigen, die die ftreitenden Parthenen entweder aus: 
druͤcklich eingeſtehen, oder durch ihre Gründe doch unan⸗ 
gefochten laſſen; und an denen ung ſowohl zur Behaup- 
tung unferer bisherigen Grundfäge, als auch um anderer 
Köfichren willen, gelegen ſeyn muß. 


684 i) Es 


474 B. I. Abſchn. IM. Abth. I. Kap. V. 


i) Es wirkt nichts auf den Willen, als was ge⸗ 
genwaͤrtig in der Seele iſt; weder angenehmes noch un⸗ 
angenehmes. | 


2) Vorftellungen und Urtheile des Verſtandes 
wirfen aud) alsdann erft auf den Willen, wenn fie in 
Gefühle, und zwar überwiegend lebhafte Gefühle 
übergehn. F | Be 


| ) Darum Fann freylih, wie Locke bemerfet, 
bey einem ganz Fleinen Maafe von Vergnügen, aber frey 
von unangenehmer Empfindung, ein Menfc) völlig zu 
frieden feyn, und feinen Schritt thun, um das größere 
Vergnügen zu erlangen, gegen defien Möglichkeit er 
nichts einzuwenden hat. Aber find alsdann wohl auch die 
Borftellungen von diefem größern Gute, diefem Vergnuͤ⸗ 
gen in ihm lebhaft genug; die Ueberzeugung, daß es zu 
erlangen ift, feft genug? Nicht die Vorftellung von der 
Mühe, es zu erlangen, Die lebhaftere? 


4) Wenn wir aus Verlangen nach einem Gure 
uns entfchließen; fo muß uns freylich der gegenwärtige 
Zuftemd nicht vergleihungsweife angenehmer feyn. Aber 
er braucht ung weder an fich unangenehm zu ſeyn; noch 
ift esnöthig, daß er es uns durch die Vergleichung werde, 
Ohne diefe Vergleichung anzuftellen, ohne an das. Gegen. 
waͤrtige mehr zu denken, Fönnen wir, vom Reiz des 
Angenebmen angezogen, angefpornt werben. Wir wuͤr⸗ 
den Mifvergnügen empfinden, mern wir bey einem fol« 
chen Heiz und Antrieb aufgehalten würden, und ver- 
weilen follten. Aber um wirffam gemacht zu werben, 

| brauch- 


⸗ 


 Bom Triebe, fich ſelbſt zu quälen, 475 


brauchten wir diefes Mißvergnügen nicht erſt zu empfir 
den, Ohne das Unangenehme des Hungers oder der, 
Enthaltfamfeit zu empfinden, nur um des Vergnügens, 
dag fie fich vorftellen, theilhaftig zu werden, entſchlie⸗ 
Gen nur allzuleiche die Menfchen fich zum een und 
Trinken. 


9) m vollen Gefühl der Luſt und der Erwartung 
eines noch größeren Grades derfelben ‚Taffet fich der Menfch 
durch Vorftellungen darauf folgender Uebel eben fowohl 
oft nicht abhalten; als durch Verheißung anderer, ein 
anderes mal auch ihm größer feheinender Güter. Der 
Raͤuber fiehe fich ſchon entdeckt, fieht vielleicht fehon das 
Schwert gegen ihn gezogen; und läßt doch den Raub 
nicht fahren, will ihin noch vollenden. So der Rach— 
Iuftigez der Wilde, der feiner Feinde bey allen ihren 
Martern noch ſpottet. Und um ein edleres Beyfpiel 
bazu zu ſetzen; der fromme Märtyrer duldet nicht nur, 
er befennt, lobpreißt, vollendet feinen Lauf; denn die 
Krone der Herrlichfeit, die auf ihn wartet, fieht er am 
Ziel; er fieht den Himmel über ihn geoͤfnet. Allemal 
alſo entfcheidee die ftärfere Empfindung; ſey es Luft 
oder Unfuft, 


6) Es gehoͤrt ohne Zweifel zu den Unterfchieden 
der Gemütber , öfter und leichter durch Vorftellungen des 
Guten oder durch Vorſtellungen des Uebels angetrieben zu 
werben, Die Unrerfuchungen über die Gründe jener 
Verſchiedenheiten im Temperamente, Alter, Gefchlechte, 
ber Erziehung u, f, w. müffen dies weiter aufflären. Daß ° 


aber — Antriebe beym Menſchen urſpruͤnglich na« 
| tuͤrlich 


26  B.1. Abſchn. MN. Abth. I. Kap V. 


tuͤrlich ſeyn, lehret Die Beobachtung der roheften Voͤlker 
und der Fleinften Kinder. Jene werden zwar in- ihrer 
Keligion mehr durch Beweggruͤnde der Furcht als der Liebe 
getrieben; aber fonft folgen fie doch auch) fehr oft dem 
Reize des Angenehmen, zu Spielen und andern gefell. 
ſchaftlichen Vergnuͤgungen. Und das Kind ſieht und 
greift nach angenehmen Gegenſtaͤnden, wie es vor unan⸗ 
genehmen ſich zuruͤckzieht, beh den erſten Regungen ſei⸗ 
nes Willens. u EZ ——— 


| ,... mu | | 
Einige Schlußfolgen aus ben Unterfucpungen diefes 

Ä erſten Theile. | 
In diefem allgemeinen Grunde, dem DBerlangen 
nach $uft und Zufriedenheit, kommen alfo wirklich, nad) 
allen Unterfuchungen, alle Neigungen und Triebe: des 
Willens zuſammen; mittelft deſſelben kann man: ihnen 
allen beyfommen, und die einen durch die andern 'regie: 
ven; ob fie gleich aus ſehr verfchiedenen Gründen. ent» 
fpringen, und auf. die verfchiedenften Gegenftände fich 
beziehen. | REN: 


Die Veraͤnderlichkeit der Vorftellungen, von wel⸗ 
chen der Wille abhängt, ſowohl was ihre Beurtheilung 
im Verftande, als ihre Belebung in ber Einbildungs- 
kraft anbelangt, ift fo groß, daß ſich, ben Menfchen 
‚ überhaupt betrachtet, Eeiner ber dieſer allgemeinen Abs. 
ſicht untergeordneten Triebe namhaft machen laßt, der 
nicht die andern überwinden ober von ihnen uͤberwunden 

| \ wer⸗ 


Vom Triebe, fich felöft zu quälen. 477 


werben Fönnte, Die Gefchichte der Kinderliebe, Elter⸗ 
liebe, DBaterlandsliebe, der Ehrliebe, der Neligion, der 
Liebe zum $eben, zum Spiele, zur be⸗ 
weiſet beydes zue Genuͤge. 


Vermoͤge jenes gemeinſchaftlichen — aus 
dem fie entſpringen, oder, wenn man lieber will, ver« 
möge des gemeinfchaftlichen Zweckes, nad) dem fie alle 
bingerichtet find, und der manchfaltigen Beziehungen der 
Dinge in der Welt und unferer Handlungen, haben die 
Neigungen aud) natürlicher Weife eine folche Gemein» 
ſchaft unter ſich, und einen folhen Einfluß auf einander, 
daß das Wirfen eines einzigen Triebes ohne alle mittel» 
bare oder unmittelbare Mitwirkung der übrigen bezweifelt 
werden müßte; wenn auch nicht die Erfahrung, fo oft 
als ein Menſch ſich genauer unterſucht, das: Gegentheil 
jedesmal zur Genuͤge offenbar machte, 


Diefe Bemerfung ift oft genug dazu angewandt 
worden, den Werth edler, uneigennügig fcheinender Hand« 
lungen, wegen der vermuthlid) wenigftens mitwirfenden 
unedlern, eigennügigeh Triebfedern herabzufegen. Wenn 
man ihr aber, unter Anleitung der Erfahrung, unpar- 
cheyiſch und genau nachgeht: fo wird fie gewiß auch oft« 
mals Anlaß geben, fi) zu überzeugen, daß die Beweg⸗ 
gründe des menfchlichen Willens im Grunde nicht immer 
fo veraͤchtlich und unedel find, als fie nad) den Collifionen 
und anderen äuferlichen Verhältniffen der Handlungen es 
fheinen, ja bisweilen felbft nad) den erften unvoilftändie 
gen Erflärungen und Geftändniffen ber Handelnden [hei 
nen mußten, 


Ueber⸗ 


478 Bl. Abſchn. IM. Abth. I. Kap.V. 


Ueberhaupt wird bey der vollſtaͤndigern Erwaͤgung 
des ganzen Syſtems der menfchlichen Neigungen und ih» 
rer Gründe, das Urtheil über den Menfchen doch immer 
das am wenigſten einfeitige fcheinen, daß er nicht ſowohl 
im Grunde feines Willens ein bösartiges ober ver. 
ächtliches, als ein ſchwaches, durch Irrthum ſich täu- 
fchendes Gefchöpfe fen; welches, fo bald es aus der 
Sphäre der Synftinete und der inftinctmäßigen Gewohn⸗ 
heitstriebe heraus ift, nur durch einen feinen Empfindun⸗ 
gen und Verhältniffen entfprechenden Grad. richtiger Era 
fenntniß innerlid) gut, liebenswürdig und glückfelig ger 
macht werben kann. 


Ende de? erfien Theils. 


EEE 
— EEE) —— 


Verzeichniß der in der Oftermeffe 1779 im 
Verlage der Meyerfchen Buchhandlung zu 
£emgo fertig gewordenen Schriften, 


von Dar, 3. W. Entwurf eines Militaire Felde 
reglements, mit Kupfern, gr. 8. 


(In Kommifion). 


Bibliothek, auserlefene, e Sale beutfchen Litte 
ratur, Ister B. gr. 8 


Boſtells, Fr. von, Abhandlung von den praͤokkupatori⸗ 
ſchen Vorſtellungen beym Kammergericht, 8 


Feder, J. G. H. Verſuch uͤber den menſchlichen Willen, 
ıter Theil, gr. 8. 


Hißmann, Michael, Magazin der Philoſophie und ihrer 
Geſchichte, aus den Jahrbuͤchern der Akademien, 
ater Band, 8. | 


Kämpfers, Engelbert, Geſchichte und Befchreibung von 
Japan, aus den Driginalhandfohriften des Vers 
faffers herausgegeben von Chr. Wilh. Dohm, 
zter und fegßter Band, mit 27 Kupfern, gr. 4. 


(Gegen eine halbe Piftole Nachſchuß ). 


Nachrichten zu dem Leben des Franz Petrarca, aus fer 
ns 3ten und, legten Bandes ate Abs 
teil, gr. 8. 


Plutarch 


Plutarch von der Erziehung der Kinber, aus dem Grie⸗ 
chiſchen uͤberſetzt von Chr. Wilh. Kindleben, 8. 


Polybs Geſchichte, aus dem Griechiſchen uͤberſetzt, und 
| mit Unmerkungen, wie auch Auszügen aus ben 
Merken der Herren von Folard und Guifchard, 
über die Kriegskunſt der Alten begleitet, von. 
D. €. Seybold, ıter und zter Band, gr. 8. 


Seckers, Thomas, Predigten über verſchiedene a 
fände, 6ter Bund, gr. 8. 


von Selhow, 3. H. Chr. Magazin für die ccaiſchen 
Rechte und Geſchichte, Iter Band, gr. 8. 


Unterricht, kurzer, für diejenigen, bie Taback pflanzen 
Ei wollen, 3 





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©. 110 3. 1l, 45 ©. 115 in der Note Sealmen 1. 
Itaͤlmen. S. 129 3. ı7 I. Stätigfeit. ©. 140 3. 7 von 

unten I. gefaͤhrlichern. ©. 151 3. 10 follte nah Muthbe kein 
() ſtehen. ©. 169 3. Ein ere um. 175 3. 8 von 
unten en l. feinem. ©. B. 4,Eerugnife (. Empfinds 


niffe. 194 3. ı |. unnatür 3. 10 einförmig 
1. smile Ebend. in. der — 3. * die einen vor den an⸗ 
ven. S. 217 3.51 entzuͤckenden. ©. 228 3. 8 einigen 


L. einzigen... Ebend. in der vorderſten 3. J. beffelben. ©. 232 
in der Auffhrift des $. 52. l. Luͤgenhaftigkeit. ©. 235 34 4 
L ar ©. 236 3. 21 muß nad nicht bas (,) gr 
im. S. 237 3.1 15 Beziehung L Bezeichnung. Ebend. 3.26 
L. bloß. ©. 241 muß 3. 5 nach aufgeopfert nur ein (,) und 
3.7 nad haben ein 6) tehn, ©. 259 3.9 iſt l. ſey. ©. 
263 3.18 L jener, 3. 19 diefem. ©. 269 3.9 I. konnte. 
©. 280 3. 9 wie noch l. wie nach. S. 281 3. 2 über die 

un 





und zu freuen haben l. bie wie uns freuen zu Haben. S. 29: 
3.41. erhaltenen. ©. 305 3. 19 muß nah Steeit ein (.) 
fen; und 3. 21 nah Mißfallen ein 6). ©. 308 3. 61. 
Fanı ed. ©. 310 3. 6 1. liegenden. 3. 15 muß nach Earı 
und 3.21. nad voruchmften Fein (,) ſtehn. & Zr 3. 19 
denn I. dan. ©. 355 fleht mehrere male ein m für ein n und 
„amgefehrt. : ©. 356 in der Note k Biben ſtatt Leiber. S. 
'371 3.31. einen flatt einem. ©. 373 3. 4 muß_vor und 
nad Menſchenbaß ein () ſtehn. S. 376. ZIEWfintendem. 
©. 397 3. 5 von unten worden I. worden. ©. 409 E 14 
muß das zweyte Die weggeftrichen werben. 3. 20 I. abhängis 
* ff Letzte Zeile nach Gewiſſens nur ein (,).- € 413 3.5 
8. angenehmen, S. 414 Note **) T. welcher. S. 8.3.3 
muß nach kindiſch fein 6) Kan. So auch Note 2. 2 nach 
ſich. ©. 437 3, 12 ber. va8, ©, 438 3. 1 nun. ©, 
* Note *#) I. Attila. ©. 441 ie, l. konnte. ©&.447 
BL. zufommeufängensen. ©, 448 Not games, 


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