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Full text of "Paedagogium"

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Paedagogium 


Paedagogiüm. 


Monatsschrift 


«r 


Erziehung  und  Unterricht. 


ZIL  JalirgaAg,  1890. 


Leipzig. 
Verlag  von  Julius  Klinkhardt. 
1890. 


....... 

•  •••  ••;•.*•• 

•  •        »  •    •  • 

•••  •  ••   •   •••  •   .       •  •        •    •••    m  m 


Mitarbeiter  des  zwölften  Jahrganges. 


P.  As  müssen  in  Leck  (Schlc-^wig).    S.  349. 

H  B.  in  Ii.    S.  499. 

Dr.  J.  B<'hiiie  in  Hamburg.    3.  141. 

Dr  Leo  Burgerstein  in  Wien.   8.  596. 

Dr.  Friedrich  Dittes.   8.  1,  646.  749.  Rundachan,  Literatur. 

t  J.  G.  Dreßler.  Seminardircctor  in  Bautzen.  .  S.  409. 

Alfrpd  Tf>n  Ehnnann  in  Badftn  bei  Wiftn.  S.  A4ft. 

Gustav  Adolf  Erdmann  in  Schloß  Annaborg   8.  39,  614. 

Dr.  J.  Frohschammer,  Professor  an  der  Universität  München.    S.  209,  613. 

A.  Goerth,  Schuldirector  in  In.sterburg.  273. 

Ludwig  Göhring,  Lehrer  in  Nttmberg.   8.  105. 

R.  Gohr  in  Danzig.   s.  G81. 

Dr   FwaM  Haiife  in  Meran.    S.  318. 

(>■  Henkel,  Keotor  in  l'archim.    8.  243. 

Dr.  M.  Jahn  in  Lciiizig.    8.  161. 

Wilhelm  Jahn,  SebiUdirector  in  Dresden.   8.  360. 

.Tmttim    a.  fm. 

Dr.  Kießling  in  Leipzig.    S.  232. 
BiVhnrd  Köliler  in  WieHbnden.    S.  297. 
R.  Kran.qe  in  Wriftzen  a.  ().    8.  715. 

Q.  A.  Kretschinar,  Oberlehrer  emcr.  in  Bautzen.    S.  73,  341. 

Dr.  J.  Kvac^ala.  Professor  in  Prcüburg.    8.  223,  238. 

Landmann,  Ivector  in  Scbwetz.    8.  433. 

Dr.  Otto  von  LOhmann.  Rechtsanwalt  in  Qreifswald.   8.  485. 

Mittenzwey.  Schuldirector  in  Leipzig-Lindenau.   S.  608. 

Dr.  Willibald  Xagl,  Docent  an  der  Universität  Graz.    S.  674. 

Heinrich  Neugeboren.  Stadtprediger  in  Kronstadt  (Siebenbflrgen).    8.  32. 

E.  Ohl  in  (nianb'n  b>-i  Ki>-1     S  :M)H 

Egmont  Pfalg  in  Leipzig.   8.  232. 

Theodor  Schiltz,  Inatitotadirector  in  Antwerpen.   S.  623. 


236900 


—    IV  — 


Frang  Si-hlinkert  in  Wion.    S.  522. 

Armin  S<liniiilt  in  HiMhiirghausej.    S.  709. 

Alois  Slcziik  in  l.iLtau.  S  >>i>n. 

Theodor  Vemaleken.  Professor  und  Semiüftrdirector  a.  D.  in  Qm.   8.  473. 
H,  ^nti>r«traat  in  Stftttin.    8  .Hfi8 

T)r.  E.  Witlar/il  in  Wion.    S  19. 

Wyß,  Schulinspcctor  in  Biirgdorf  (S^hweiz^.    S.  12,  565. 

Außerdem  einige  unopyine  Autoren,  ferner  die  Correspoudenten  der  Ruodst  bau 
und  die  Faehreferenten  der  Literatur. 


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Inhalt. 


%,  yaeh  der  Belheufolge  Tcrzelchnet. 

Entweder  —  oder.    Dittes   1 

Ein  Stück  aus  dem  Moraliinterrichte  <lcr  Volksschule  FriinkrcichB.    Wyß    .    .  12 

Zur  Kclnrin  des  uaturgcschirhtlichcu  Unterrichts.    Witluczil  19 

Anngunt;  zum  Studium  der  Wi  rke  Bciuke'ij.    Xou^cl)orcn  32 

Klans  Groth  und  seiuc  Bedeutung  für  die  plattdeutsche  Dichtung.    Erdmann  .  39 

Wege  und  Ziele  der  Di.th  ctforüchung  47 

P&dagogiscbe  Runditchau  50.  118.  173.  245.  325.  386.  456.  632.  601.  640.'  731.  792 

über  eraiebenden  Unterricht,   f  Dressler  73 

Die  heutige  Volksschule  Preußens  88 

Skizzcu  ÜU.S  der  deutschen  Jugendliteratur.    Göhring  105 

T>i<>  Sokratia^hP  Mathiwift-    Rflhmfl  ,  -    -  ,-  ,  ^  .  141 

Über  die  Anfange  der  sittlichen  Entwickclung  des  Kindes.   Jahn  161 

Zum  Moralunterrichte    ,   170 

Über  die  Forderung  confessioneller  Schnleo.    Frohschammer  209 

Zur  Frage  des  Griechischen  in  Ungarn.   Kvacaala    ,  223 

Die  lateinlosoti  höheren  lUirgcrschulen  ;  229 

Zur  Reform  des  naturgeschichtlichen  Unterrichts.  Kießling  n.  Pfalz,  WitlaczU  2.S2 

Klaus  Groth  und  Frit/  Reuter.    Hcnckel  243 

Über  Ideen.    Go.  rth  27.^ 

Über  die  Bedeutung  Jean  Pauls  fQr  die  Pädagogik  der  Gegenwart.   KOhler  .  297 

Veranschaulichung  der  Geschichte  in  der  Volksschule.   Ohl  308 

Fri.-dricli  Rc.Ht.     H^mfe  '.318 

Übftr  erzifthftnden  Unterricht.  Kretsehmur  .  ,  ,  ,  .  ,  .  .  .  ,  .  ,  Ml 

Die  deutsche  Bechtscbreihung.    Asiiiusscn  349 

Kindergärten  und  Fortbildungssc  liulen.   Jahn  3f)0 

Lehrerbildung  in  England.    Waterstraat  368 

Kurze  Charakteristik  der  siimmtlichen  Werke  Bencke's  nach  der  Zeitfolge  ihres 

Erscheinens,    f  I>res8ler  409 

Auch  ein  Beitrag  z<ini  Morahiutcrricht.   Landmann  4.33 

Franz  Stekhanier.  Ehrmann  448 

Beitrige  zur  Kcforni  des  lleligionsunterrichts  in  Bezug  auf  Inhalt  und  Lehr- 

weiai».  Vemalftken  .  .  ,  .  -    ,    -    -  ,  .  ,  .  .  .  423 

Die  alten  Claesiker  auf  den  preußischen  Gymnasien,   v.  Ltthmann    ....  485 

Eine  neue  „Erziehung  der  deutschen  Jugend*.    H.  B  499 

Geometrie  oder  Formenlehre?    Mittenzwey  606 


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—    VI  — 

Seite 

Drtfl  Kartcnzoichncn  als  Hilfsmittel  de«  ünterrieht^  in  der  Erdkunde.  Erdmann  514 

8l)ort.  Scbliiik.  rt  522 

Zum  Gt-dächtiii>  AJolt"  Dirstrrwet:^.    I)ittcs  •   545.  749 

Zur  Discut<siou  über  deu  Moraliiiitcrriclit.    WyC   .    .   5()5 

Bäuerlicher  Autoritfttencult.    Xagl  574 

Eine  hygieuisch-statistische  Untersuchung  der  österreichiachcn  Schulverh&lt- 

nifisc.    Biirgerstcin  595 

Die  Forderung  den  Sacrificium  intellectng  und  der  Lehrprstaod.  Frohschanimer  613 

In  .Sm-ln  u  tlrs  MoraluiitiTrichtcs.    Schilt/  <)28 

I>ic  Furtbildung  des  Lehrers  und  die  Übung  in  der  frcirii  Rede.    .Tiistiis   .    .  634 

Leasing  und  Friedrich  der  Große.    Gohr  681 

Die  Bildung  der  ersten  Vorstellungsrciben.    Slezak  695 

Etwag  vom  deutschen  .Spracbunti  rrii  ble  in  der  Volk&schulc.  Schmidt  .  .  .  709 
Weiche  Stellung  hat  die  Lebrersi  haft  zu  der  Prftparandenhildung  zu  nehmen? 

Kr;ui>e  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  .  ..  ,  .  .  =  .  Uli 

Bäuerlicher  Idealismus.    Nagl  7t>2 

Verschiedene  An^sichten  Uber  den  pädagogischen  Wert  der  claiieischen  Sprachen.  7H4 


b.  Logisch  geordnet.  ' 
I.  Zar  Gmndlegnng. 

Entweder  —  oder   .  .  .  ,  ,  ,  .  ,  .  ,  ,  .  .  .  .  .  ,  .  .  ,  ^  1 

Vhi-r  Ideen   273 

Die  Forderung  des  Saeritieium  intellectu^  und  der  Lebrcr.stiuid   613 

Über  die  Forderung  eonlcssioneiler  Schulen   209 

Bi^uerliclii  r  Antoritiltcnciilt   574 

Bäuerlicher  Ideali.-mus   762 

Versrbicdenc  Ansichten  Uber  den  piidngogischen  Wert  der  ( lassisehen  Sprar  hen  7H4  i 

Siiurt   522  ' 

Die  Bililung  der  ersten  Vor^t»  llungsreibeu   6t>5 

Über  die  Anfänge  der  sittlichen  Eutwickelung  des  Kindes   161 

Anregung  zum  Studium  der  Werke  Benekc's   32 


II.  Zar  historischen  P&dagogik. 

Die  Sokratifiche  Methode   141 

Lessing  und  Friedrich  der  Große   681 

Über  die  Bedeutung  Jean  Pauls  für  die  Pädagogik  der  Gegenwart    ....  297 

Charakteristik  der  sämmtlichen  Werke  Bcnekc's   409 

Zum  Gedächtniü  Adolf  Diesterweg's   545.  749 

Franz  Stelzhamer   448 

Klaus  Groth  und  seine  Bedeutung  für  die  plattdeutsche  Dichtung   39 

Klaus  Groth  und  Fritz  Reuter   243 

Skizzen  aus  der  deutschen  Jugendliteratur   105 

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—    VII  — 


Seit« 


IIL  Über  Schulerziehung,  Unterricht  nnd  Untenichtaanstalten. 

Über  erziehenden  Unterricht  _                                     73.  341 

Znm  MoraliintcmVht  170.  i^?,.  .')B5.  ß23 

Beitrüge  zur  Kcturin  de?)  Rcligionsunterrichtg   473 

Die  alten  Clnssiker  auf  den  preußisrhen  Gymnasien   485 

Die  Forthildiintj;  des  Lehrern  un<I  die  Üliiiii«^  iu  d<T  freien  Kede   G.'U 

Welche  Stellung  hat  die  Lehrerschaft  zn  der  Präparandenhiidung  zu  nehmen?  715 

Etway  Tom  deutschen  Spra(  hunterrichte   709 

Die  deutsche  Rechtüchreihung  '   349 

Wege  und  Ziele  der  DiulectlorachuDg   47 

Veranschaulichung  der  Geachicbte  in  der  Volksschule   308 

Zur  Keform  des  naturgeschichtlichen  Unterricht«  19.  232 

Geometrie  ofer  Formenlehre?   506 

Das  Eartenzeichnen  als  Hilfsmittel  des  Unterrichts  in  der  Erdkunde     .    .    .  514 

Kindergarten  und  Fortbildungsschulen   360 

Eine  hjgienisch-statistischc  Uutersachung  der  österreichischen  Schulverhältnisse  5i>5 

IV,  Zur  Charakteristik  des  gegenwartigen  Schulwesens.  Zeitgeschichtliches. 

Eine  neue  .JErriehong  der  dentschen  Jugend'*   499 

Friedrich  Heust   318 

Die  heutige  Volksschole  Preußens   88 

Die  latcinlosen  höheren  Bllrgerachulcn   229 

Ein  8tikk  aus  dem  Moralunterrirhte  der  Volksschule  Frankreichs  .  ,  ,  ,  ,  12 

Zur  Frage  des  (iriechisrhen  in  Ungarn   223 

LcbrerhiMuiit^  in  En-j-hmd    368 

Aus  der  pädago^ist  bim  Presse    (i-J— Hö.   181  —  134.   19,S— 202.    2(>4— Hi2—.m) 

39i^— 402.    464—467.    ö40  1.    607— Gll.    674—677.    743.  71»S 
Pädagogische  Rundschau  und  Mittheilungen: 

Deutschland  50—53.    118-181.    173—192.    245  -263.    325—327.   386  -  390.  456 


45((_.1H1     r.33-:)U)    601 -60<;.    640-674.    731—743.  792 
(Werreich-Üngam  53—55.  264.  327—332.  394—398.  461^464.  532  f.  606  f.  796 


Schweiz  .    .   55—60.    3fHJ-394.  456—459 

Nordan>erika    .    .    .    .    60 — 62 

Meiiko    540 

Anatralien  192—197 


Alpbabetischefl  Verzeichnia  der  Autf>ren  i  bez.  Herausgeber)  derjenigen  Werke,  welche  im  To^iependen 
Jahrgang  recensirt  aind.  Die  beigesetzte  Ziffer  bezeichnet  die  Seite,  auf  der  sich  die  Recension  ßndet. 

Adam  808.  Asmus  805.  Bayr  745.  Behrens  138.  Beriet  136.  Bieler  808. 
Böhme  642.   Bohnhorst  406.   Brinkmayer  205.   Burgerstein  68.    Cas-sian-Beck  544. 

Crantz  472.  Dicstrrwctr  (^7S.  Dillmann  4ns.  Iioreuw  ll  SO.'),  l'urny  72,  806. 
Emst  803.    Escherich  405.    Ew^rs  71.   y«rhnRr  269.   Fischer  471.   Geistbeck  543. 


—    VIII  — 

Genau  20H.  Grävc  80^.  Gutmann  339.  Hannak  4fi7.  ITanns  746.  Heidsiek  836. 
Hcrb.st  543.  Hering  (i7i).  Hertzbero:  72.  Heuer  203,  748.  Hoydon  271.  Hirt  136. 
Hocevar  404.  Hoffinana  205.  Hoffmeyer  679.  Holdermana  4H!>.  Hübiier  140. 
Hummel  189.  Jänicke  806.  Junge  544.  Kämmel  71.  Kaufmann  69.  Key  68. 
Klimpert  270.  KnOpfl  140.  Kobmann  679.  Költzsch  202.  Krause  68.  Krause- 
Nerger  340.  Kreitz  678.  Kuenen  71.  Lange  542.  Langenberg  678.  Langemiann 
679.  Leonhard  471.  Lieb  209.  Lüttge  678.  Miiymis  -203.  74H.  Marschall  339. 
Maydorn  71.  Meyer  471.  Möbius  472.  Müller  470.  Müller  804.  Müller-Frauen- 
stcin  339.  Neurath  135.  Nietzki  542.  Noll  137.  Fache  680.  Paukstadt  470. 
Pawlceki  804.  Pickel  204.  l'oltlandt  (^79.  Pollak  271.  Rech  271.  Reliiiy  406. 
Richter  803.  Risch  746.  Russ  407.  Sattler  271.  Scherer  678.  Schilffarth  679. 
Schilling  137.  Sohmcding  403.  Sc^hrcihcr  135.  Schubert  745.  Seemann  805. 
Sety-epfandt  409.  Simon  270.  Siiiess  136.  Sprockhoff  202.  Stn^sc  338.  Supan  407. 
Tüffers  203.  Tupotz  135.  Vogel  406.  Volkmcr  744.  \  olz  543.  Wacber  470. 
Wachlowsky  67.  Wagner  469.  Wamecke  205.  Wemicke  340.  Weyr  405.  Wiese 
202.    Wilke  678.   \Vu!^sidlo  13'>.   Wrobell  b03.  Zairer  747.  Zins  807.    Ziet^ler  746. 


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Entweder  —  oder 


Yoin  Hennsgtber. 

Kampf  um  die  Schule  dauert  fort  In  stetem  Wechsel 
zwisefaea  Angriff  nnd  Abwehr  schwankt  die  Entschddmig.  Anf  beiden 
Seiten  veraeichnet  man  Erfolge  nnd  Enttänschongen,  Siege  nnd  Nieder- 
lageiL  Aber  ee  sind  keine  endgiltigen  Besnltate,  sondern  nor  ephemere 
Phasen  einer  Entwickelungskrisis,  Dorchgangspunkte  einer  stfirmischen 
Bewegung,  Episoden  eines  Dramas,  Bmchstflcke  eines  Coltarprocesses, 
Haltestellen  auf  dem  Wege  zöm  Ziel,  Vorsidele  sn  einer  künftigen 
Ordnaog  der  Gesellschaft  Ja:  Ordnung  der  Gesellschaft  nnd  ein  ihr 
entsprechender  Zuschnitt  des  Bildnngswesens,  darauf  l&nft  in  der  That 
der  Schnlkampf  wie  jede  andere  große  Streitfirage  unserer  Zeit  hfaiaus. 
Die  Ordnung  der  Gesellschaft  ist  das  Ziel  aller,  die  mit  klarem  Be- 
wusstsein  an  dem  Kampfe  um  die  Gestaltung  des  Unterrichtswesens 
theünehmen.  Daher  erheben  denn  auch  alle  Parteien  das  gleiche 
Losungswort:  «Wer  die  Schule  hat,  der  hat  die  Zukunft*;  und  daher 
erklärt  sich  auch  die  außerordentliche  Heftigkeit  des  Schulkampfes. 
Es  handelt  sich  nicht  um  Kleinigkeiten,  nicht  um  ein  Weniger  oder 
Mehr,  sondern  um  eine  entscheidende  Verfttgung  Uber  die  YerfSassung 
der  Gesellschaft,  um  das  ganze  Wesen  und  Schicksal  der  Menschheit 
Freiheit  oder  Knechtschaft^  Entwickelung  oder  Yerkfimmerung,  Fort- 
schritt oder  B&ckschritt,  moderne  Bildung  nnd  Staatsordnung  oder 
mittefailtwliche  Finsternis  und  Gewaltherrschaft  —  das  ist  die  Frage. 
Hat  eine  kleine  Minderheit  Ton  Menschen  das  Becht,  sich  Aber  ihres- 
gleichen zu  erheben,  sich  eine  höhere  Würde,  Weisheit  und  Macht 
anzumaßen,  um  die  große  Mehrh^t  ihrer  Mitmenschen  in  Unwissen- 
heit und  Ohnmacht  zu  erhalten  und  dann  beliebig  zu  leiten,  zu  be- 
herrschen, zu  unterdrücken  und  auszubeuten?  Oder  hat  jedes  Wesen, 
das  Menschenantlitz  trftgt,  das  Becht,  sich  seiner  Wflrde  bewusst  zu 
sein  nnd  seine  Anh^en  und  Krftfte  zu  entwickeln,  um  als  ein  freies 
Glied  der  (Gesellschaft  den  Idealen  seines  Geschlechtes  nachzustreben? 

VmiBt^um.  lt.  Jahtf.   Haftl.  1 


Das  ist  die  große  Fra^e,  um  welche  der  Entsclieidiingskampf  sich  be- 
wegt, die  große  i^rugt-,  aus  welcher  von  jeher  die  gewaltigsten  Er- 
schütterungen im  Leben  der  Völker  entsprungen  sind,  und  welche  auch 
gegenwärtig  den  eigentlichen  Angelpunkt  aller  socialen  Gegensätze 
bildet,  insbesondere  aber  im  Schulkampfe  zum  Ausdiuck  kommt  und 
demselben  seine  Tragweite  und  Wucht  verleiht. 

Schon  vor  zehn  Jahren  haben  wir  in  einem  kleinen  Aufsatz  unter 
dem  Titel  „Zeichen  der  Zeit"  auf  diesen  schrott'en  Gegensatz  zweier 
Denkuugsarten  und  Strebziele  hingewiesen,  wie  er  in  der  Encyklika 
Leo's  XIII.  vom  4.  August  1879  (Aeterni  Patris)  hervorgetreten  war 
(siehe  »Paedagoginm«*  Jahrg.  U,  Heft  1,  S.70tf.).  Der  römische  Papst 
hatte  der  modenieiL  Weltanschaniing,  Wissenschaft  und  Schule  den 
Krieg  erklärt  imd  die  Wiederherstellung  der  mittelalterlichen  Satzangen, 
Einrichtimgen  und  Znstfiade  als  das  Programm  der  Kirche  und  als 
Aufgabe  des  Staates  bezeidmet,  weil  er  meinte,  dass  nur  durch  die 
Backkehr  in  die  Vergangenheit  das  Heil  der  Völker  und  die  Throne 
der  Fürsten  sichere  Stützen  gewinnen  könnten.  Als  mnstergiltige  Ent- 
irickelung  seiner  Leitgedanken  bezeichnete  Leo  XITT.  die  Philosophie 
des  Thomas  von  Aqnino,  welche  er  demgemäft  kraft  seiner  Unfehl- 
barkeit und  höchsten  Autoritftt  zur  Lehmorm  der  katholischen  Kirche 
erhob.  „Das  Machtgebot  des  Papstes  hat  diese  Thomistische  Wissen- 
schaft zunächst  der  gesammten  Hierarchie  als  Richtschnur  aufgedrungen, 
dem  Episkopat  und  dem  Ton  diesem  unbedingt  abhftngigen  Geras; 
dieser  Clerus  wiederum  drängt  sie  dem  Volke  auf  mit  allen  Grund- 
sätzen und  Forderungen,  und  vom  Volke  soll  sie  bei  dessen  Ausübung 
seiner  politischen  Hechte  —  die  ihm  der  Liberalismus  errungen  hat  — 
den  Bogisrnngen  selbst  aui^drungen  werdenl"  (Frohschammer.) 

Aber  nicht  blos  die  katholische  Kirche,  sondern  die  ganze  Christen- 
heit, ja  den  ganzen  Erdkreis  will  der  unfehlbare  Statthalter  Gottes 
beherrschen,  und  insbesondere  betrachtet  er  auch  die  Seelen  der  Pro- 
testanten als  ihm  von  Bechtswegen  zugehörig.  Und  diese  Ansprüche 
bleiben  nicht  ohne  Erfolg.  Die  eifrige  Propaganda,  welche  im  Sinne 
derselben  geübt  wird,  trägt  Früchte,  oft  selbst  da,  wo  man  es  am 
wenigsten  erwarten  sollte;  insbesondere  wird  auch  in  der  protestan- 
tischen Kirche,  nach  dem  Muster  der  katholischen,  die  Glaubensfkreihelt 
mehr  und  mehr  unterdrückt,  die  Priesteilierrschaft  mehr  und  mehr 
befördert,  so  dass  schließlich  nicht  yiel  übrig  bleibt,  was  den  deutschen 
Protestantismus  vom  römischen  Katholicismus  unterscheiden  und  die 
Wiedervereinigung  der  Christenheit  zu  Einer  Herde  unter  Ehiem  Hirten 
hindern  könnte.  Verdankt  doch  Leo  XHL  auch  gerade  einem  überwiegend 


—  3  — 


«protestantischen"  "Reiche  die  bedoiitendsten  Erfolge  in  seinem  Streben 
nach  Wiedererhingung  der  Weltlu  rrschaft.  Auf  dem  Gebiete  der  Schul- 
politik aber  ist  eben  der  steigende  Einfluss  des  Papstthums  die  Grund- 
ursache der  heftigen  Bewegungen  und  Kämpfe.  Offenbar  haben  die  ver- 
heißungsvollen Worte  Leo's  XIII.,  dicKirclie  sei  „eine  Schule  der  Unter- 
würtigkeit^',  und  in  diesem  Sinne  reiche  er  den  Fürsten:  und  Kegierungen 
die  Freundeshand  —  viel  Anklang  gefunden.  Denn  immer  deutlicher 
tritt  die  Tendenz  zu  Tage,  den  Servilismus  und  Byzantinismus  zur 
höchsten  Tuf?end  des  modernen  Staatsbürgers  zu  stempeln  und  zur 
Hauptaufgabe  aller  Erziehung  (richtiger  Abrichtung)  und  aller  Bildungs- 
anstalten zu  erheben.  Die  große  —  nach  unserem  Ermessen  ver- 
hängnisvolle —  Kolle,  welche  Leo  Xlll.  im  Culturleben  der  Völker 
gewonnen  hat,  war  eben  dadurch  ermöglicht,  dass  ei-  das  Glück  hatte, 
ein  zur  Knechtschaft  reifes  Zeitalter  vorzufinden,  ein  Zeitalter,  in  welchem 
die  geistige  und  sittliche  Erschlaffung  und  mit  ihr  die  Sehnsucht  nach 
Gängelung  und  Bevormundung  bei  einem  gewichtigen  Tbeüe  der  Mensch- 
heit epidemisch  geworden  war. 

Da  aber  trotz  alledem  das  der  Men.schheit  eingeborene  Streben 
nach  Freiheit  und  Selbstbestimmung  auch  in  unseren  Tagen  noch  nicht 
allerseits  erloschen  ist  und  gerade  der  schwerste  Druck  den  stärksten 
Gegendruck  erzeugt:  so  ist  dem  gegenwärtigen  Zeitalter  das  oben  be- 
zeichnete „Entweder  oder''  in  schärfster  Form  als  Lebensfrage  gestellt, 
und  es  wird  nicht  eher  Friede  werden  in  der  Gesellschaft,  bis  sie  in 
dem  einen  oder  anderen  Sinne  gelöst  ist.  Denn  contradictorische 
Gegensätze  können  nicht  nebeneinander  bestehen,  der  eine  niuss  den 
anderen  überwinden.  Wenigstens  herrscht  nunmehr  volle  Klarheit,  um 
was  es  sich  handelt.  Nach  dem  maßgebenden  Votum  und  Befehl  Leo's  XIII. 
hat  sich  die  große  Streitfrage  in  der  Form  zugespitzt:  Soll  Thomas 
von  Aquino,  der  Mönch  und  Scholastiker  des  18.  Jahrhunderts,  fortan 
die  Geister  beheri-schen,  oder  soll  das  unendliche,  nie  ruhende  For- 
schen des  menschlichen  Geistes  nach  Wahrheit  und  Recht,  sowie  die 
freie  Selbstbestimmung  der  Individuen  und  Völker  als  Nonn,  Ziel  und 
Maß  aller  Bildung,  Erziehung  und  Cultur  gelten?  —  Wer  aber  meint, 
so  schlimm  stehe  es  nicht,  so  schneidig  sei  die  Frage  nicht  gestellt, 
eine  ernstliche  Gefahr  bestehe  nicht,  oder  ihn  gehe  das  alles  nichts 
an,  seine  Confession  sei  davon  nicht  berührt  etc.  —  dem  sagen  wir: 
Du  kennst  die  Verhältnisse  .und  Zusammenhänge  nicht,  und  erinnern 
ihn  an  das  Wort  Goethe's: 

Den  Teufel  spttrt  das  Völkchen  nie, 
Und  wenn  «r  de  beim  Kragen  hfttte. 

!♦  ^ 

^  . ,  v.H)ogle 


—  4  — 


Zum  Glfldc  hat  endlich  ein  bernÜBner  Streiter  denFehdehandschnlL 

• 

Leo^s  Xm  aufgehoben  nnd  die  Berechtigiing  des  Thomascuitns  einer 
grOndlichen  Prüftmg  unterzogen.  Es  ist  Professor  J.  Frohschammer 
in  Mönchen,  ein  allseitig  geschulter  katholischer  Theolog  nnd  einer 
der  bedeutendsten  Philosophen  der  Gegenwart,  der  sidi  flbrigens  den 
Lesern  des  „Paedagoginms**  durch  eine  Beihe  Torsftglicher  AuMtze  noch 
besonders  bekannt  gemacht  hat  Die  Dsistellung  und  Kridk  des 
Thomistischen  Lehrsystems,  irie  er  sie  In  seinem  jfingsten,  kürzlich 
erschienenen  Werke*)  aosgef&hrt  hat,  ist  ein  neaer  glänzender  Beweis 
der  Or&ndlichkeit  der  Forschung,  der  Klarheit  des  Denkens,  der  Be- 
sonnenheit des  Urtheils,  der  m&nnlichen  Charakterstftrke,  kurz  all  der 
Vorzüge,  welche  dieser  hervorragende  Geist  seit  mehr  als  einem 
Ifenschenalter  reichlich  bewährt  hat;  und  kaum  hätte  ein  anderer  eine 
so  gelungene  Würdigung  des  wiedererweckten  Scholastikers  liefern 
können,  wie  sie  uns  nun  vorliegt.  In  den  sechs  Hauptabschnitten  des 
Werkes  werden  nacheinander  die  Erkenntnislehre,  die  Bestimmung  des 
\'erliältnisses  zwischen  Philosoi)liie  und  Theologie,  femer  die  Gottes- 
lehre, die  Naturpliilosopliie,  die  Psychologie  (Anthropologie),  endlicli  die 
Ethik  und  Politik  (Verhältnis  von  Staat  nnd  Kirche),  wie  sie  in  Thomas' 
Schriften  vorliegen,  dargestellt  und  beleuchtet.  Das  Resultat  ist,  dass 
Thomas  zwar  einer  der  tüchtigsten  G^elehrten  seiner  Zeit,  jedoch  in 
vielfachen  Irrthümern  befangen  war,  dass  er  von  der  modernen  Wissen- 
schaft weit  überliolt  ist,  und  dass  eben  darum  seine  Lehre  keineswegs 
als  Maßstab  der  richtigen  Einsicht  gelten,  vielmehr,  wenn  sie  ato  solcher 
aufgestellt  wird,  nur  zur  Verwirrung  der  Geister  und  zum  Hemnischuli 
der  Wissenschaft  werden  kann.  „Vom  Standpunkt  iseiner  Zeit  nnd 
seiner  Verhältnisse  aus  betrachtet,  ist  die  hödiste  Achtung  für  ihn  zu 
hegen;  denn  er  hat  ftir  Erkenntnis  dei'  Wahrheit  in  unermüdlicher, 
großartiger  (iiistesarbeit  geleistet,  was  in  jener  Zeit  möglich  war, 
wenn  er  sich  auch  nicht  über  die  allgemeine  geistige  Gebundenheit 
und  Richtung  des  kirclilich-religiösen  und  geistigen  Lebens  zu  erheben 
vermochte...  Was  sich  unter  den  gej^ebenen  Umständen  aus  dem  ge- 
gebenen kirchlichen  und  scholastischen  Material  machen  ließ,  li  it  Thomas 
in  hervoiTagender  Weise  ausgeführt,  und  wie  verfehlt  auch  vieles  in 
seiner  Philosophie  der  unbefangenen  Prüfung  sich  darstellt,  so  verdient 
doch  sein  ernstes  Streben  und  seine  große  Arbeit  während  eines  ver- 
hältnismäßig kurzen  Lebens  unsere  Anerkennung,  ja  Bewunderung,  wie 


*)  Die  PliiloHophie  des  Thomas  von  Aquiuo  kritisch  cfcwilrdigt  voa  J.  Froh- 
achammer.  Leipzig  1889,  F.  A.  Brockhaus.  XX  u.  ö37  Seiten. 


sie  jedem  dem  Streben  nachWalirlieit  nnter  Opfern  und  AnstrenguDgen 
gewidmeten  Leben  gebürt . ..  Ober  seine  Zeitrichtimg  nnd  seine  BU- 
dnngsweise  hat  er  sich  eben  nicht  zn  erheben  vermocht  in  nrsprBng- 
Ucher,  vorwArtsstrebender  Geisteskraft  —  yrie  es  etwa  sein  bedeu- 
tenderer Zeitgenosse,  der  Franciscaner Roger Bacon,  zu  thun  vermochte... 
Mehr  Originalität  und  Geistesfreiheit  hätten  seinem  Werke  eine  her- 
vorragende Stellang  nnd  Wirksamkeit  nicht  eingebracht,  würden  ihm 
im  G^entheil  schlimme  Tage  bereitet  haben  —  wie  dies  der  genannte 
Bacon  erfahr,  der  einen  großen  Theil  seines  Lebens  im  Gefängnisse 
gehalten  wurde  wegen  seiner  wissenschaftlichen  Strebsamkeit  nnd 
Originalität." 

Das  ist  in  wenigen  Worten  der  wirkliche  Sachverhalt,  die  wahre 
culturgeschichtliche  Stellung  des  Thomas  von  Aquino.  Hätte  man  ihn 
in  derselben  belassen,  so  unterstünde  er  einfitch  der  historischen  For- 
sehmig  und  Kritik,  wie  jeder  andere  hen^orragende  Gelehrte  der  Ver- 
gangenheit. Allein  er  ist  nun  durch  päpstliches  Machtgebot  hoch  über 
seine  eigentliche  Bedeutung  erhoben;  seine  Lehre  soll  nicht  ein  bloßes 
Glied  in  der  Kette  des  cultnrhistorischen  Entwickelunj2:si)rocosses  sein, 
sondern  ein  abschließendes  und  endgiltiges  Ergebnis  desselben,  ja,  eine 
bindende  Norm  für  alle  weitere  Geistesarbeit  und  zuj^leich  für  die  aller- 
wichtigsten  Lebensverhältnisse.  „Thomas  hat  sicher  darauf  selbst  keinen 
Ansprach  erhoben,  wie  ihm  in  der  That  solche  Gleltun^  weder  während 
seines  Lebens  noch  alsbald  nach  seinem  Tode  zugestanden  wurde,  da 
er  im  Gegentheil  viel  Widersprach  erfuhr  und  manchen  seiner  An- 
sichten bald  nach  seinem  Tode  sogenannte  kirchliche  Censur  nicht 
efspart  blieb ...  Er  hat  es  sich  nicht  einfallen  lassen,  dass  er  einmal 
in  seiner  Kirche  werde  aufgestellt  werden  als  philosophisches  Idol  für 
alle  Jünger  der  Philosophie,  als  Popanz  für  die  uiiphilosophische  Menge 
und  als  Hemmschuh  für  alle  ernste,  weiter  strebende  Wissenschaft, 
wie  dieä  jetzt  geschieht" 

Somit  stehen  wir  also  keineswegs  blos  vor  wissenschaftlichen 
Problemen  und  Untersuchungen,  sondern  vor  den  bedeutsamsten  Le- 
bensfragen. „Es  handelt  sich  unter  den  jetzigen  Umständen  nicht 
mehr  blos  um  die  Kritik  eines  theoretischen  Systems,  wie  anderen 
Theorien  gegenüber,  sondern  zugleich  um  Bekämpfung  einer  prakti- 
schen Macht,  die  Thomas  mit  seiner  Philosophie  erlangt  hat,  seitdem 
er  officiell  zum  Heerführer  jener  scholastischen  Streiter  erhoben  ist, 
durch  welche  das  Papstthum  im  Bunde  mit  dem  Jesuitismus  einen 
Kampf  auf  Treben  und  Tod  gegen  die  ganze  moderne  Philosophie,  ja 
Wissenschaft  überhaupt  und  gegen  die  moderne  Civilisation  begonnen 


—  6  — 


hat,  um  sie  zu  vernichten  und  die  päpstliche  Weltherrschaft  des  Mittel- 
alters wiederherzustellen  —  dem  modernen  Culturstaat  zum  Trotz." 

Und  so  ist  es  gar  sehr  geboten,  das  Thomistische  und  nunmehr 
officiell  katholische  Lehrsystem  wenigstens  in  den  Grundzügen  kurz 
zu  betrachten.  Die  Erkenntnislehre,  wie  sie  Thomas  vorfand,  in  der 
Hauptsache  dem  Aristoteles  entlehnt,  einseitig  in  der  Auffassung  vom 
Wesen  und  Leben  der  Seele,  der  modernen  Wissenschaft,  namentlich 
der  Anatomie  und  Physiologie  der  Sinne,  sowie  der  philosophischen 
Kritik  entbehrend  und  in  einem  unhaltbaren  Farliwerk  erdichteter 
Seelenvermügen  befangen,  wurde  unter  den  Händen  des  ^^i-holastikers 
Dicht  nur  durch  ihren  peinlichen  und  kleinlichen  Formalismus  zu  einer 
beengenden  Zwangsjacke  des  denkenden  Geistes,  zur  Quelle  schablonen- 
hafter Oberflächlichkeit,  uufruclitbarer  Spitzfindigkeiten  und  blendender 
Trugschlüsse,  sondern  durch  Aufnuhme  einer  kirchlichen  Satzung  über 
das  Verhältnis  zwischen  Philosophie  und  Theologie  geradezu  zum  Hin- 
dernis der  freien  Forschung.  Diese  Satzung  und  leitende  Norm  der 
Thomistischeu  Krkeiintnislehre  heißt:  die  Philosophie  ist  die  Magd 
(Ancilla)  der  Theologie.  Jene  hat  sich  in  den  Grenzen  zu  halten, 
welche  ihr  diese  zieht,  hat  das  als  unumstößliche  Wahrheit  anzuerken- 
nen, was  die  Kirche  lehrt;  ihr  Dienst  besteht  nur  darin,  den  theo- 
logischen Satzungen  eine  schulgemäße  Form  zu  geben,  sie  anzubalinen 
und  zu  stützen,  ihnen  das  Ansehen  wahrer  Lehrsätze,  „den  Schein  wissen- 
schaftlicher Begründung"  zu  verleihen,  sie  in  ein  System  zu  bringen 
etc.,  kurz:  die  Aufgabe  der  dienenden  Magd  ist  eine  blos  formale  Be- 
arbeitung der  von  der  Htn  iu  festgestellten  materialen  Wahrheit.  Eine 
selbstständige  Philosophie,  ein  freies  Denken  nach  den  Gesetzen  der 
Vernunft,  kann  und  darf  es  nicht  geben. 

Dass  unter  solchen  Voraussetzungen  eine  gesunde  Naturphilo- 
sophie und  eine  autonome  A\'issenschaft  überhaupt  nicht  möglich  war 
und  ist,  liegt  auf  der  Hand.  Hierzu  kommt,  dass  das  Mittelalter  in 
einer  grundfalschen  Astronomie  befangen  war,  dass  es  eine  eigeEtlidie 
Chemie  und  Physik  gar  nicht  kannte,  ebenso  von  der  modernen  Geo- 
logie nnd  Biologie  niclits  wusste,  also  weder  imstande  war,  eiD€li 
mechanischen  oder  organischen  Naturprocess  richtig  aufimfassen,  noch 
die  Entwickelung  der  Erde  oder  des  Sonnensystems  zum  Gegenitande 
ernster  Forschung  zu  machen;  dass  femer  in  jener  Zeit  die  Ethno- 
graphie und  die  Geschichte  des  Menschengeschlechtes  mcUkt  nnr  hOchst 
lückenhaft,  sondern  auch  mit  allerlei  Irrthttmern,  Vorortheflen  und 
Fabeln  versetzt  war.  Und  bei  alledem  worden  von  der  Kirche,  d.  h. 
Ton  der  herrschenden  orthodoxen  Partei,  der  Thomae  angehörte,  nidit 


—  7  — 


nur  alle  Reformen  abgelehnt,  sondern  auch  die  wenigen  Männer,  welche 
Wandel  zu  schaffen  und  einen  Fortschritt  anzubahnen  lahig  und  ge- 
wÜlt  waren ,  mit  unerbittlicher  Härte  uiederfrelialten  und  verfolgt. 
Hierzu  kam  ferner  der  Glaulie  an  allerlei  Wunder,  an  unmittelbare 
Eingriffe  Gottes,  des  Teufels  und  anderer  metaphysisclier  \\>sen  in  die 
Naturvorgänge  und  in  die  Seelen  der  Menschen.  Die  Scholastik  basirte 
nicht  sowol  auf  Thatsachen  als  auf  gemachten  Begriffen,  Voraus- 
setzungen und  Postulaten.  Wie  konnte  es  da  zu  einer  unbefangenen 
Weltanschauung,  zu  einer  rationalen  Psycliologie,  iiberhaui^t  zu  einer 
Wissenschaft  kommen,  die  noch  lieute  Wert  hätte?  Der  ganze  Tho- 
mistische  Standpunkt  ist  eben  vollständig  veraltet,  und  heute  muss 
er  entweder  grundsätzlich  abgelehnt  oder  es  muss  ihm  Vernunft  uud 
Wissenschaft  zum  Opfer  gebracht  werden. 

Was  endlich  die  Politik  des  Thomas  betrifft,  so  ist  auch  sie  nur 
eine  Consequenz  seiner  hierarchischen  Parteistellung.  Die  Kii'che  und 
Kirchengewalt  stammt  unmittelbar  von  Gott  her;  der  Staat  und  die 
Staatsgewalt  sind  wol  auch  göttlichen  Ursprunges,  aber  nur  mittel- 
bar. „Und  zwar  ist  das  Volk  selbst  das  Organ  oder  Mittel,  durch 
welches  Gott  den  Staat  ins  Dasein  gerufen  hat,  und  die  Verfassung 
des  Staates  wie  die  Regieningsgewalt  stammt  also  zunächst  vom  Volke 
selbst,  dem  eben  dämm  auch  das  Recht  zukommt,  gegen  den  Miss- 
brauch der  übertragenen  Gewalt  sich  zu  erheben  und  allenfalls  auch 
die  Verfassung  zu  ändern,  wenn  die  Umstände  es  fordern."  Über 
dem  Volk  und  dem  Staat  steht  aber  die  Kirche,  repräsentirt  durch 
das  geistliche  Oberhaupt,  den  Papst,  dem  allein  absolute  Herrscher- 
gewalt zusteht,  und  dem  gegenüber,  als  direct  von  Gott  gesetzt,  auch 
das  Volk,  das  sich  unter  Umständen  gegen  die  weltlidie  Gewalt  er- 
heben darf,  schlechthin  nichts  zu  sagen  hat.  Der  Staat  ist  das  dienende 
Organ  für  die  Zwecke  der  Kirche;  als  weltlicher  Arm  (brachium  saecu- 
lare)  hat  er  die  von  der  Kii'che  verhängten  Zwangsmaßregeln  uud 
Strafen  durchzuführen.  „Eine  Verhältnisbestimmung,  wodurch  beide, 
Kirche  und  Staat,  zugleich  beeinträchtigt,  in  ihrer  wahren  Wirksam- 
keit und  reinen  Bethätigung  ihres  Wesens  gehemmt  werden.  Die  Kirche 
wird  verweltlicht,  der  Staat  zum  Kirchendiener  gemacht  und  in  seinem 
freien  Streben  nach  VerNvirklichung  der  Humanitätsidee  gehemmt.  Die 
Kirche  verliert  ihre  wahre  innere  Religiosität,  der  Staat  die  Möglichkeit, 
alle  natürlichen  Kräfte,  insbesondere  die  geistigen,  zu  voller  Entfaltung 
und  Verwertung  zum  Wol  des  Ganzen  und  der  Einzelnen  zu  bringen." 
Das  ist  der  Kern  und  die  praktische  Bedeutung  der  Staatslehre,  welche 
jetzt  wieder,  wie  einst  im  Mittelalter,  zui*  Geltung  gebracht  werden  soll. 


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—   8  — 


Wie  aber  die  geplante  kirchliche  Beherrschung  des  geistigen  Lebens 
im  großen  und  ganzen  beschaffen  ist,  in  die  gesammte  moderne  Cultur 
eingreift  und  das  ►Schicksal  der  Völker  berührt,  darüber  seien  noch 
einige  Bemerkungen  Frohschanimers  angefahrt.  „Will  mau  Einheit 
und  UnVeränderlichkeit  in  der  Philosophie,  so  ist  dies  nur  möglich 
dadurch,  dass  man  alle  freie,  lebendige  Forschung  verbietet  und  hin- 
dert und  ein  System  zur  philosophischen  Dogmatik  macht,  wie  es  jetzt 
mit  der  Thoraistischen  Philosophie  geschehen  soll.  Statt  dessen  sollte 
man  lieber  endlich  daran  denken,  auch  im  religiösen  (icbiete  von  dem 
Fonnelzwang  der  fixirten  Satzungen  und  Dogmen  ab/uhissen.  Solche 
unveränderliche  Feststellungen  als  absolut  Giltiges  und  Übernatürliches 
passen  in  den  lebendigen  Fluss  des  geistigen  Lebens  der  Menschheit 
nicht  herein  und  können  nur  mit  Zwang  und  Gewalt  eingeführt  und 
erhalten  werden . . .  Dass  damit  der  Vernunft  und  Philosophie  die  ge- 
bttrende  Ehre  gegeben  werde,  ist  nur  Schein;  denn  sie  bleiben  dem 
Glanben  nnterworfen,  der  selbst  nicht  eigentlich  als  Sache  der  Ver- 
nunft, sondern  des  (subjectiven)  Willens  betrachtet  wird.  Daher  dieser 
Glaube  hauptsächlich  nur  in  Unterwerfung  besteht  nnd  nur  durch 
UnterdiUcknng  der  Vemanft  erhalten  werden  kann.  Diese  wird  darum 
beständig  herabgesetzt,  mit  ihrer  Thätigkeit  verdächtigt  und  der  Ge- 
ringschätzung preisgegeben.  Kein  Wunder  daher,  dass  die  Menschen 
im  allgemeinen  so  wenig  ihrer  Vernunft  folgen  mögen  und  gleich  Kin- 
dern fortwährend  irgend  eines  Popanzes  bedürfen,  wenn  sie  anch  nur 
za  einigermaßen  yemfinftigem  nnd  sittlichem  Verhalten  gebracht  wer- 
den sollen . . .  Wie  viel  ünheU  dies  fiber  die  Menschheit  gebracht,  lehrt 
die  Geschiclite  der  Beligionsverfolgungen  und  Beligionskriege.  Man 
sollte  die  Menschen  vielmehr  anleiten,  anch  in  diesem  Gebiete  den 
Dflnkel  absnlegen,  allein  in  absolnter  Weise  die  Wahrheit  zn  besitzen, 
während  alle  übrigen  Millionen  Ton  Mensehen  elendiglich  im  Inüinm 
wandetai,  ein  Dfinkel  nnd  Hodunnth,  der  zugleich  zn  Terachtnng,  zn 
HasB  nnd  Verfolgung  der  Andersgläubigen  treibt,  das  Gmndgebot  des 
Ghristenthnms,  die  Nächstenliebe  missachten  lässt  nnd  veranlasst  hat 
nnd  noch  veranlasst,  dass  die  Religion,  anch  die  christliehe,  die  ein 
Segen  nnd  ein  GlOck  f&r  die  Menschheit  sein  sollte,  so  viel&ch  zum 
Fluch  nnd  Unheil  geworden  ist" 

Mit  welchem  Eifer  nnd  Fanatismus  diese  nnheüvofie  Richtung  in 
der  Gegenwart  wieder  befördert  nnd  gepflegt  wird  —  seitiderEncyklika 
Leo's  XTTT.  und  der  Ganonisirung  dee  Thomistischen  Systems  —  das 
lehren  Hunderte  von  Yolksversammlnngen  nnter  clericaler  Leitung, 
und  das  lehrt  insbesondere  der  beispiellos  wflthende  Kampf,  den  die 


Ultramontanen  und  ihre  Geistesverwandten  aller  Confessionen  gegen 
die  moderne  Volksschule  führen,  um  die  Menschen  wieder  von  Jugend 
auf  unter  den  Krummstal»  und  unter  das  Joch  der  Tyrannen  zweiten 
und  dritten  Ranges  zu  beugen.  Es  ist  ein  Compagnit  gcscliäft  zur  ge- 
meinsamen Unterwerfung  und  Ausbeutung  der  großen  Mehrheit  durch 
eine  kleine,  aber  mächtige,  listige  und  herzlose  Minderlieit. 

Selbstverständlich  müssen  zu  diesem  ^\'erke  auch  alle  leitenden 
(Organe  der  Gesellschaft,  wie  sie  aus  den  höheien  und  höchsten  Schulen 
hervorgehen,  gehörig  vorgebildet  werden,  weshalb  der  Sturm  und  die 
Eroberungssucht  der  Rückschrittspartei  wie  auf  die  Volksschule,  so  auch 
auf  die  Universität  gerichtet  ist;  was  dazwischen  liegt,  hat  nicht  gleiche 
Bedeutung  und  wird  schließlich  den  Siegern  ohne  große  Mühe  zufallen. 
Die  Hoclisehulen  sollen  (  gleich  den  Volksschulen)  schleunigst  dem  geist- 
lichen Eintluss  geötfnet,  womöglich  ihm  völlig  unterworfen  werden; 
selbst  „protestantische"  Theologen  und  Staatsmänner  arbeiten  —  wenn 
auch  behutsam  —  in  dieser  Richtung.  Ganz  tiuverhüllt  aber  sprechen 
die  Jünger  und  Apostel  der  Schule  des  Thomas  von  A<iiiino  ihre 
Herzensmeinung  aus.  Die  ganze  moderne  Wissenscluift  leiten  sie  ab 
aus  „viehischer  Versunkenheit,  Leidenschaft,  Sinnenlust  und  Gottes- 
hass"*,  und  demgemäß  sind  ihnen  ,.alle  modernen  Forscher  iu  Natur, 
Geschichte  und  Philosophie,  die  nicht  der  Kirche  sich  unterwerfen, 
deren  Resultate  nicht  mit  kirchlichen  Satzungen  und  Ansprüchen  über- 
einstimmen, eigentlich  nichts  anderes  als  liösewichter,  Verbrecher  gegen 
Gott,  die  an  Leib  und  lieben  gestraft  werden  sollten,  wie  ehemals, 
wenn  es  nur  möglich  wäre."  Und  wie  sie  sich  des  „Volkes',  das 
nach  ihrer  (Thomistischen  i  Theorie  über  der  Staatsgewalt,  aber  unter 
kirchlicher  Autorität  uud  Leitung  steht,  zu  bedienen  wissen,  um  auch 
die  Hochwarten  der  Wissenschaft  zu  beherrschen,  darüber  sagt  Froh- 
schammer:  ^Haben  wir  es  doch  schon  erlebt,  dass  durch  die  Majorität 
der  Stimmen  ungebildeter,  von  Philosophie  absolut  nichts  verstehender 
Volksvertreter  unter  clericaler  Führung  bestimmt  wurde,  welche  Philo- 
sophie an  der  Universität  gelehrt  werden  müsse,  resp.  da&s  die  scho- 
histische  Philosophie  (des  Thomas)  daselbst  zn  lehren  sei,  da  das 
katholische  Volk  ein  Recht  hal>e,  dies  zu  fordern.  DasGoltusministeriam 
konnte  nicht  omhin,  dieser  Forderang  m  willfahren,  da  die  nöthigen 
Mittel  für  die  Professur  nur  unter  dieser  Bedingung  Gewähmng  finden 
sollten.*)   Nachdem  dieses  Becht  des  katholischen  Volkes  bezüglich 


*)  Wäre  CS  nicht  besser  gewesen,  auf  die  Mittel  zu  veizichteu  und  damit 
auch  auf  die  Professar?  D. 


—    10  — 


der  Philosophie  glücklich  zur  Geltung  gebracht  ward,  musste  und  muss 
dasselbe  auch  bezüglich  der  Geschichte  geschehen,  da  auch  für  diese 
das  katholische  Volk  fordern  könnte,  dass  sie  katholisch  gelehrt  werde, 
d.  h.  nicht  den  Thatsachen  gemäss,  sondern  wie  der  katholische  Stand- 
punkt es  fordert  und  die  kirchliche  Autorität  es  vorschreibt  Bald 
wird  ähnliches  wol  auch  noch  in  Beziehung  auf  andere  Wissenschaf- 
ten geschehen  —  sicher  mit  demfleUieii  Becbte.^  Dann  wird  maiuals 
normale  Leistung  der  Hodifiehnle  besdehnen  kSnnen:  patentirte  Bor» 
nirtheit  mit  wüthemdem  FaiiAtismns.  Was  soll  unter  solchen  ümstän- 
den  ans  dem  tmomk  Satase  in  unseren  StaatsTeriSunongen  werden: 
„Die  Wissenschaft  und  ihre  Lehre  ist  freü**  Wollen  wir  keine  Hencbler 
sein  nnd  keine  Henciiler  ensleheD,  so  mflssen  wir  ihn  entweder  streielien, 
oder  wir  mfissen  die  kirchliche  Beyormnndnng  der  Wissenschaft  stricte 
zurückweisen.  Der  landläufige  Liberalismus  will  freilich  lieber  laviren 
nnd  pactiren,  statt  sich  zn  einer  ernsten  That  an&nraflfen,  womit  er 
sieb  denn  selbst  vernichtet  „Der  Liberalismus  wird  dann  znm  Dank 
für  die  Errungenschaften,  die  er  dem  Volke  in  schwerem  Bingen,  mit 
Gefahren  nnd  Opfern  erkämpft  hat,  eben  durch  den  Qebmnch  dieser 
Errungenschaften  von  Seite  des  Volkes  unter  F&hmng  des  Clerus 
wieder  unter  den  Druck,  in  das  Joch  der  Hierarchie  kommen.  Möge 
er  sieb  ahM>  vor  allen  Dingen  genau  unterrichten,  am  was  es  sieb  in 
unserer  Zeit  eigentlich  handelt,  damit  er  nicht,  wie  bisher,  ans  ün- 
komtnis,  Einbildung  und  tLbermfifiiger  Selbstschätzang  die  Gefilhrlicb- 
keit  und  die  Macht  des  Gegners  unterschätze.  Ein  vorzflgliches  Mittel 
zur  Belehrung  in  dieser  Hinsicht  ist  das  Werk  Frohschammers,  aus 
weldiem  wir  hoffentlich  genug  mitgetheilt  haben,  um  zu  einem  ein- 
gehenden Studium  anzureizen. 

Eine  besonders  wichtige  BoUe  in  der  Lösung  der  vorliegenden 
Schul-,  Bildungs-,  Cultur-  und  Lebensfrage  fiUlt  zweifellos  dem  Deut- 
sdien  Beiche  zu,  weshalb  wir  noch  ein  letztes  Wort  Frohschammers 
hier  anführen  wollen.  Er  sagt,  die  folgenschwere  Bedeutung  der 
großen  Zeitfrage  gelte  „in  verschärfter  ^eise  f  ttr  das  dentscke  Beicb 
und  Volk**,  nnd  fUgtbei:  „Durch  Einftthrung  und  unbedingtes  Geltend- 
machen der  Thomistischen  Grundsätze  bei  dem  katholischen  Volke 
werden  nothwendig  die  confessionellen  Gegensätze  immer  mehr  ge- 
sdiärft,  und  nicht  blos  durch  den  Gegensatz  von  Staat  und  Kirche, 
sowie  von  Beaction  und  Liberalismus  Beich  und  Volk  immer  mehr  ge- 
spalten, sondern  vor  allem  durch  Beb'gion  und  Confession  werden  zwei 
£ut  gleiche  Thefle  des  deutschen  Volkes  immer  mehr  gegeneinander- 
gehetzt  und  mit  Erbitterung  gegeneinander  erftllt,  ein  Umstand,  der 


—  11  — 


nicht  blos  die  Macht  des  Papstthiims  in  Deutschland  immer  mehr  er- 
höht, sondern  auch  den  äußeren  Feinden  des  deutschen  Volkes  im 
Osten  und  besonders  im  Westen  nur  sehr  -willkommen  sein  kann."  — 
Mö^e  denn  ein  jeder,  welcher  in  dieser  Zeit  eine  gesellschaftliche 
Stellung  einnimmt,  jeder,  der  im  Ganzen  leben  und  etwas  bedeuten 
will,  jeder  insbesondere,  der  an  der  Erziehung  des  Volkes  mitwirkt, 
sei  es  in  der  Elementarclasse  oder  im  akademischen  Hörsaale,  sich 
entscheiden,  ob  er  der  Knechtschaft  oder  der  Freiheit  zum  Siege  ver- 
helfen will,  ob  er  der  neuen  Verwelscliung  unseres  Volkes,  der  ärgsten, 
welche  je  geplant  wurde,  oder  dem  Genius  der  deutschen  Nation  folgen 
will,  wie  er  durch  unsere  Geistesheroen,  durch  Lessing  und  Schiller 
und  ihre  Vorläufer  und  Nachfolger,  zu  uns  geredet  hat.  Und  wenn 
uns  ein  Thonias  von  Aquino  als  der  Leitstern  einer  neuen  Cultur- 
periode  gepriesen  wii'd,  so  wollen  wir  uns  erinnern,  dass  diese  Periode 
weit  hinter  uns  liegt,  und  dass  ein  Martin  Luther  im  Rückblick 
auf  dieselbe  gesprochen  hat:  „Wir  .*:ind  leider  lange  genug  in  Finsternis 
verfaulet  und  verdorben,  wir  sind  leider  allzulange  genug  deutsche 
Bestien  gewesen:  lasset  uns  auch  einmal  der  Vernunft  brauchen!" 
—  Oder  hat  Luther  neben  Thomas  und  seinen  Geistesverwandten  füi' 
das  deutsche  Volk  nichts  mehr  zu  bedeuten?  -  -  Fortschritt  oder  Rück- 
schritt, Licht  oder  Finsternis,  Freiheit  oder  Knechtschaft,  Ehre  oder 
Schande,  Heil  oder  Verderben  —  das  ist  die  Frage.  Sie  ist  in  aller 
Schärfe  gestellt,  wir  müssen  uns  entscheiden.  Entweder  —  oder!  — 


EilStlek  m  demMoralnnterriclit  der  Volksselmle  Fraikraehs. 


Von  Schulinspector  Wyß-Burgdorf  (.ScAfoeis). 

Die  Vereini<^ten  Staaten  von  Nordamerika,  Frankreich  und  Italien 
haben  bekanntlich  den  Religionsunterricht  aus  dem  Proj>:i'amm  der 
Volksselmle  o^estrichen.  Das  Gleiche  haben  bis  jetzt  drei  Cantoue  der 
Schweiz  f^ethan. 

Als  Ersatz  für  den  Religionsunterricht  ist  in  den  betiftfeudeu 
Ländern  der  „]\[oralunterricht"  in  die  Schule  des  Volkes  und  natür- 
lich auch  in  das  Programm  der  Seminarieu  einf^etülirt.  Diesen  Moral- 
unterricht betrachtet  man  nun  als  die  wirkliche  „Krone  der  Volks- 
schule".*) 

Wie  mag  dieser  Unterricht  aussehen'?  So  Iragt  sich  wol  mancher 

deutsche  Schulmann. 

Hierauf  zu  antworten  gebe  ich  die  Übersetzung  des  III.  Capitels 
ans  dem  8.  Theile  des  Schulbüchleins  von  ('oiniiayre:  „Elements 
d'Instruction  murale."  Nachdem  im  1.  Tlieil  beliandelt  worden  ist: 
„Die  Familie  und  die  Schule-',  im  2.  Theil:  „Die  Gesellschaft  und 
das  Vaterland'',  behandelt  der  3.  Theil;  „Die  menschliche  Natui*  und 
die  .Ab.ral.« 

Das  JH.  (  apitel  dieses  Theiles  heißt  nun:  „Die  Pflichten  des 
Menschen  gegen  sich  selbst." 

1.  Lection.   Eintheilung  der  Selbstpflichten. 

^Anmerkung:  Das  als  Dehrmittel  eingeführte  Moralbüchlein  der 
Schüler  enthält  folgendes  Gespräch,  das  wie  ein  Lesestück  behandelt 
wii'd:) 

Zur  Beruhigung  der  Dienev  der  Kirche  fheOea  wir  mit,  daes  in  den  beteef- 
IMmi  LAadem  das  Geoets  wOehentlieh  drei  Stunden  einrinmt  nur  Ertheilnng  des 

Beligionsunterrichtes,  der  aber  durch  die  Organe  der  Kirche  gegeben  wird.  Statt 
eines  Eeligion.suntorrichtes  gibt  der  Lehrer  den  Morahmtcrricht.  Man  liandelt  also 
ganz  nach  dem  Wort  Christi:  „(Jcbt  dem  Kai.'ier,  wan  des  Kaisers,  uml  Gott,  wa« 
Gottes  ist!"  Das  heißt:  Geht  dem  Staat,  was  dem  ^Staate  gehört,  und  der  Kirche 
was  der  Kirche  gehOrt. 


Lj  ..  .  .  > ,  voogle 


—   13  — 


Lehrer:  Was  versteht  man  im  allgemeineii  unter  Pflicht? 
Sohftler:  Unter  Pflicht  yersteht  man  die  innere  Ndthigung,  an- 
serer  Vemimft»  unserem  Qe^dssen  m  gehorchen. 
L.:  Was  befiehlt  nns  die  Yemnnft? 

Sch.:  Sie  befiehlt  nns,  das  zn  thmi,  was  unserer  Bestimmung 
gem&fi  ist 

L.:  Biese  Bestimmung  ist  aber  eine  zusammengesetzte.  Bevor 
ihr  in  der  Gesellschaft  und  für  andere  lebt,  habt  ihr  fttr  euch  selbst 
zn  kben;  ihr  habt  auch  eine  individuelle  Bestimmung.  Und  worin 
besteht  diese? 

(Der  Schfller  schweigt) 

Ii.:  Gegenftber  anderen  Menschen  habt  ihr«  zwei  Gruppen  von 
Pflichten:  1.  Vorerst  habt  ihr  alle  Bechte  eurer  Mitmenschen  zn 
achten,  also  ihre  Freiheit,  ihr  Eigenthum,  ihre  Ehre  etc.,  oder  mit 
Ehtem  Wort:  Ihr  sollt  ihnen  nicht  schaden.  2.  Und  dann  habt 
ihr  in  allen  FftUen,  wo  sie  eurer  Unterstfitzung  bedfirfen,  zn  helfen, 
sollt  ihnen  Wolwollen  erzeigen,  ihnen  Überhaupt  möglichst  viel 
Gutes  thun.  Habt  ihr  vielleicht  auch  ähnliche  Gruppen  von  Pfiichten 
gegen  euch  selbst? 

Sek:  Ich  bin  mir  selber  schuldig,  das  alles  zu  meiden,  was  mir 
schadet,  und  das  zu  thun,  was  mir  nützt 

L.:  Ohne  Zweifell  Aber  welches  sind  die  wahrhaft  nfitzlichen 
und  die  wahrhaft  schädlichen  Dinge? 

(Der  Schfiler  schweigt) 

L.:  Um  die  Antwort  zu  finden,  bedenkt  zuerst,  dass  ihr  einen 
£5rper  und  eine  Seele  habt,  dass  der  Körper  das  Werkzeug  der  Sede 
ist  Könnt  ihr  zuerst  sagen,  welches  die  körperlichen  Vorzüge  sind? 

Sch.:  Unzweifelhaft  sind  es  die  Gesundheit,  die  Kraft  und  die 
Gewandtheit 

L.:  Kennt  ihr  auch  die  Vorzttge  der  Seele? 

Sch.:  Dahin  gehört,  f&hig  und  unterrichtet  zu  sein  

L.:  Und  ftberdies  empfänglich  für  alle  guten  Gefühle.  Z.  B.  sollt 
ihr  auch  muthig  sein,  denn  das  Leben  bietet  viele  (Mahren  und 
Schmerzen,  die  zu  überwinden  sind.  Wir  sehen  also,  dass  der  Mensch 
Pflichten  gegen  den  Körper  und  Pflichten  gegen  seine  Seele  hat  Im 
geistigen  Leben  unterscheiden  wir  nun  drei  Fähigkeiten:  Erkennen, 
Fuhlen,  Wollen.  Also  habt  ihr  auch  Pflichten  gegen  eure  Erkenntnis- 
kraft, gegen  ener  Gefühlsleben  and  gegen  ener  Willensleben,  enem 
Charakter.  —  (Nach  der  Behandlung  dieses  Stückes  ist  der  Schüler 
ansnhalten,  die  Selbstpflichten  einzutheilen  und  verschiedene  hierauf 


—    14  — 


bexftgliehe  Fngen  schriftUch  za  beantworten,  wie  z.  B.  folgende: 
Welcher  Mensch  kann  die  socialen  Pflichten  besser  erflUlen,  der, 
welcher  persönliche  Tagenden  besitEt,  oder  der,  welcher  solche  nicht 
beaitst?) 

2.  Lection:  Pflichten  gegen  den  EOrper. 

Lehrer:  In  einem  benachbarten  Dorfe  fhnd  vor  knraem  eine 
Becmtenanshebong  statt  Em  verdorbener  Mensch,  der  nicht  unter 
die  Soldaten  wollte,  hatte  sich  zwei  Finger  abgeschnitten,  damit  er 
znm  Militärdienst  als  nntflchtig  erklftrt  werde.  NatfliUch  wurde  er 
zn  langer  Oeftngnishalt  Temrtheilt,  was  noch  schlimmer  war  als  der 
Dienst  im  Begiment  Dieser  ünglfl<^che  hatte  nicht  nnr  die  Pflichten 
gegen  sein  Vaterhind  verletzt,  sondern  auch  die  Pflichten  gegen  sich 
selbst;  denn  dorch  diese  SelbstverstQmmelang  hatte  er  sich  zu  vielen 
Arbeiten  nntanglich  gemacht  nnd  sich  der  Armnt  ausgesetzt 

Es  gibt  sogar  Unglflckliche  nnd  Verirrte,  die  Hand  an  ihr  eigenes 
Leben  legen.  Zn  schwach,  die  Unannehmlichkeiten  des  Lebens  zn 
tragen,  entziehen  sie  sich  durch  den  Tod  der  ErfiUlung  ihrer  Pflichten. 
Sie  gleichen  einem  Soldaten,  der  desertirt.  Der  Selbstmord  ist  nnr  der 
Ausgang  eines  verfehlten  Lebens,  der  letzte  und  größte  Fehler  einer 
langen  Beihe  von  Fehlem.  Die  Liebe  znm  Leben  verUbsst  nur  die, 
welche  das  Leben  falsch  angewendet  haben. 

Es  gibt  aber  auch  Menschen,  die  sich  dadurch  strafbar  machen, 
dass  sie  einen  langsamen  Selbstmord  begeben,  indem  sie  sich  Aus- 
schweiftingen  erlauben  oder  durch  Nachlässigkeit  ihre  Existenz  ge- 
fährden. 

Es  ist  aber  des  Menschen  Pflicht,  sein  Leben  zu  verlängern,  und 
er  sOllte  es  auf  hundert  Jahre  bringen! 

Schiller:  Das  hängt  aber  nicht  von  uns  ab. 

L.:  Dir  irrt  euch!  Zum  Theil  hängt  ee  von  enerm  Betragen 
ab.  Die  Erfahrung  lehrt  den  Menschen,  seine  Gesundheit  zu  stärken 
und  die  Zahl  der  Krankheiten  zn  vennindem. 

Sch.:  Welches  sind  denn  die  Mittel  dazu? 

L.:  Das  erste  ist  die  Gesundheitslehre,  und  das  zweite  ist  die 
Gymnastik.  Die  Gesundheitsldire  lehrt  uns  die  Kunst,  unsere  Gesund- 
hdt  zu  erhalten,  besonders  empfiehlt  sie  uns  die  Beinlichkeit  und 
Nttchtemheit  Nichts  ist  so  gesund,  als  seinen  KOrper,  seine  Kleider, 
seine  Wohnung  reinlich  zu  erhalten;  nnd  nichts  ist  verderblicher  als 
die  Unmäßig^eit  im  Essen,  Trinken  und  Bauchen.  —  Die  Gymnastik 
aber  lehrt  ans,  die  physischen  Kräfte  zu  entwickeln.  In  den  Städten 
befindet  sich  heute  in  jedem  Schulhause  auch  ein  Tnmsaal.  Die  Gym- 


—   16  — 


nastik  ist  ein  Theil  der  Erziehung.  Die  körperlielien  I  bungen  stärken 
die  Muskeln,  torderri  die  Gewandtheit  und  kräftigen  den  Geist.  — 
(An  diese  Lectiou  knüpft  sich  die  Beantwortung  von  Fialen,  wie  z.B.: 
Aas  welchen  Gründen  ist  der  Selbstmord  ein  Verbierhen?  Kann  der 
Mensch,  der  sich  schlecht  aufführt,  seiner  Familie,  seinem  Vaterlande 
große  Dienste  leisten?  Welche  Fehler  sind  der  Gegensatz  von  Rein- 
üchkeit  und  Nüchternheit?  Welches  sind  ihre  Folgen?  .  .  .) 
3.  Lection:   Nüchternheit,  Mäßigkeit. 

Lehrer:  Den  großen  Nutzen  der  Mäßigkeit  lernt  ihr  am  besten 
aas  einem  Beispiel  kennen.  Hört  darum  die  Geschichte  von  dem 
Venezianer  Cornaro. 

Comaro  wurde  im  Jahre  1466  geboren  und  starb  im  Jahre  1565, 
ilw  im  Alter  von  99  Jahren.  Und  doch  war  er  in  seinem  35.  Jahre 
80  schwach,  so  kränklich,  dass  die  Ärzte  ihn  für  verloren  hielten, 
wenn  er  nicht  seine  Lebensweise  ändern  wUrde.  Er  änderte  sie  aber 
sofort;  denn  er  sagte:  „Der  Gedanke,  za  sterben,  ist  mir  sehr  vat- 
angenehm.'* 

Ton  dieeem  Angenblick  an  lebte  er  äofterst  mäßig.  Er  nahm 
tiglieh  nur  eine  geringe  Menge  von  Nahmng  und  Getränken  zn  aidi 
mid  wog  sich  dieselben  mit  einer  genauen  Wage  sogar  vor.  Dank 
dieser  Lebensweise  hat  er  ohne  Krankheit  nnd  ohne  Eränklidikeit 
em  so  hohes  Alter  erreicht  Noch  im  Altw  Ton  91  Jahren  schrieb 
erseht  Stunden  per  Tag  nnd  brachte  den  Best  des  Tages  mit  Spazieren  zn. 

Natürlich  wäre  es  thOricht,  die  gleidie  strenge  Lebensweise  jeder- 
mann Torznschrelben.  Es  gibt  kräftige  Naturen,  die  mehr  Nahrang 
lOthig  liaben.  Aber  die  Geschichte  von  Comaro  zeigt  nns  doch,  wie- 
viel die  Mäßigkeit  vermag.  —  (An  diese  Lection  knüpft  sich  wieder 
die  Beantwortmig  von  Terschiedenen  Fragen.  Die  Schüler  machen 
einen  Anfimtz  Aber  das  Wort  von  Hirabean:  «Die  Gesundheit  ist  das 
Dothwendigste  Werkzeug,  nm  anf  Erden  etwas  fiechtes  zn  leisten.**) 
4  Lection:  Pflege  der  Intelligenz. 

Lehrer:  Von  allen  Pflichten,  die  der  Mensch  gegen  seine  Seele 
zn  erflUlen  hat,  ist  die  Bildung  der  Intelligenz  die  wichtigste.  Dnrch 
diese  erwerbt  ihr  ench  die  Tagend  der  Weisheit 

Die  Zeiten  sind  yorbei,  da  die  Unwissenheit  erlaubt  oder  gar 
empfohlen  war,  oder  da  man  sie  als  Bedingung  der  Tagend  ausgab, 
während  man  wosste,  dass  sie  nnr  em  Werkzeug  der  Unteijochnng 
ist  Die  Einsicht,  die  Belehrung  befireit  euch.  Der  Unwissende  ist 
wie  ein  Blinder,  ein  Opfer  allen  demjenigen  gegenüber,  die  ihn  leiten 
wollen.  Pflegt  also  eure  Intelligenz,  so  vermehrt  ihre  eure  Freiheit 


—  le- 


im weiteren  befreit  euch  die  Einstellt  andi  von  den  YorortheOen 
nnd  dem  AbergUtnben,  die  zwei  Geiseln  der  MenBddieit  sind.  Der 
XJnwieeende  ist  dss  Opfer  einer  Menge  von  Irrthtlmem,  die  seine 
Existenz  trOben;  er  glaubt  an  die  Zauberei,  fürchtet  die  Kometen  etc« 

Im  ferneren  erzieht  euch  der  Untenicht  aneh  in  idttiicher  Be- 
ziehung, er  raoralisirt  eiieb.  Eine  erlenchtete  InteUigenz  Icann  den 
schlimmen  Gewohnheiten  leichter  widerstehen.  Viele  Vergehen  sind 
oft  nnr  eine  Folge  des  MüiUggaags  nnd  dia  Langweile.  Glücklich 
ist  darum  der  unterrichtete  und  erleuchtete  Mensch,  der  das  Lesen 
eines  guten  Buches  der  Weinflasche  vorzieht 

Endlich  gewinnt  ihr  durch  die  Bildung  der  Intelligenz  die  Sicher- 
heit des  Urtheils,  den  verständigen,  praktischen  Sinn,  die  Klugheit  nnd 
die  Weisheit  Der  kluge  Mann  denkt  vor  jeder  Handlung  an  die 
Folgen,  er  leitet  seine  GeschAfte  mit  Geschicklichkeit  zu  gutem  Erfolg. 

Aber  nicht  nnr  um  des  Erfolges  willen  mues  man  die  Bildung 
der  Intelligenz  anstreben,  sondern  anch  um  ihrer  selbst  willen.  Sie 
ist  ein  Gut  an  sich. 

Freilich  kann  es  sich  nicht  dämm  handeln,  aus  jedem  Bürger  einen 
G^elehrten  zu  machen.  Aber  jeder  soll  nach  Maftgabe  seiner  Kräfte 
sich  unterrichten  und  soll  jede  Gelegenheit  benutzen,  sich  zn  belehren. 
Diese  Gelegenheiten  bieten  sich  auch  in  der  neueren  Zeit  immer 
liäiifiprer.  —  (Anschließend  sind  folgende  Fragen  zu  beantworten: 
Welches  sind  die  Folgten  der  Unwissenheit?  Welches  sind  die  Vor- 
theile der  Einsicht?  Welches  sind  die  schlimmen  Folgen  der  Thor- 
heit?  Erkläre  das  Wort  von  Pascal:  „L^^^t  uns  darauf  hinarbeiten 
richtig  zu  denken;  das  ist  das  Princip  der  Moral.") 

5.  Lection:   Die  Tugend  der  Mäßigung. 

Lehrer:  Die  Intelligenz  lässt  uns  denken;  das  Gefühl  lässt  uns 
lieben.  Wie  die  Unwissenheit  ein  Fehler  der  Intelligenz  ist,  so 
ist  die  Killte  oder  die  Leidenschaft  ein  Fehler  des  Gefühls. 

Lernt  zu  lieben  alles,  was  gut  ist!  Bildet  euer  Herz  zur  Liebe 
für  eure  Familie,  für  das  Vaterland,  die  Menschheit!  Lernt  auch 
das  zu  be wundem,  was  schöu  ist!  Nichts  erhebt  mehr  das  Glemüth 
des  Menschen  als  das  Schöne,  z.  B.  erwookt  das  Anschauen  eines 
schönen  Dramas  die  edlen  und  patriotischen  (iefiilile. 

Aber  eine  sehr  wichtige  Pflicht  besteht  daiin,  unsere  (tefiilile 
und  Leidenschaften  zu  mäßigen,  unsere  Wünsche  zu  beherrschen, 
die  Begierden  zu  meiden.  Dies  ist  die  Pflicht  der  Mäßigung,  der 
Selbstbeherrschung. 

Die  Mäßigung  bezieht  sich  nicht  nur  auf  den  Körper  und  unter- 


—   17  — 


sagt  WOB  X.  B.  die  Trunkenheit  und  die  Naschhaftigkeit;  sie  bezieht 
sich  auch  anf  das  Geistige,  sie  bringt  OrdDung  in  unsere  GefUhle,  be- 
nfaigt,  regelt  und  reinigt  unsere  Neigungen. 

Die  Trunksucht  ist  zwar  eine  schlimme  Unmäßigkeit,  aber  nicht 
weniger  schlimm  ist  der  Fanatismus  in  der  Vei-theidignng  nnserer 
Meinungen.   Anch  er  kann  uns  zu  vielen  Ausschreitungen  treiben. 

Mit  der  Mäßigung  sind  in  naher  Beziehung:  die  Bescheiden- 
heit, die  Ordnungsliebe,  die  Sparsamkeit.  —  Welche  Fehler 
bilden  den  Gegensatz  znr  Mäßigung,  zu  Bescheidenheit,  zu  Sparsam- 
keit? Erklärt  den  Satz  Franklins:  „Mit  dem,  was  ein  einziges 
Laster  kostet,  könnte  man  zwei  Kinder  erziehen."  „Hütet  euch  vor 
kleinen  Ausgaben:  Viele  Bächlein  machen  einen  Fluss.") 

6.  Lection:  Der  Mnth. 
Sowie  sich  einige  Pflichten  auf  die  Intelligenz  und  das  Gefühl 
besiehen,  so  beziehen  sich  andere  auf  den  Willen.  Der  menschliche 
Q&st  äußert  sich  nicht  nur  im  Denken  und  FOhlen;  man  muss  auch 
wollen,  wollen  mit  Kraft,  mit  Energie;  und  das  eben  heißt  man 
Mnth.  — 

Je  nach  Umständen  nimmt  der  Mnth  Terschiedene  Formen  an;  z.  R: 

1.  Der  Mnth  in  der  Arbeit,  der  alle  Hindernisse  und  Schwierig- 
keiten überwindet,  beißt  Thätiigkeiti  Ausdauer. 

2.  Der  Muth,  der  sich  in  der  Ertragung  des  Unglflcks  und  der 
schweren  PrCtfiingen  desltdieas  zeigt,  heißt  Resignation,  Ergebung 

S.  Der  Mnth,  der  auch  im  Elend  nie  verzagt,  heißt  Geduld. 

4.  Der  Muth,  d&t  Gefohren  und  Tod  nicht  fttarchtet,  heißt  Tapferkeit 

5.  Der  Mnth,  seine  eigene  Überzeugung  auszusprechen,  heißt  Über- 
xengnn getreue,  Unabhängigkeit  des  Charakters. 

Es  ist  nOthig,  dass  der  Wille  in  allen  Lagen  des  Lebens  sidi 
offenbare,  sich  aufrechthalte,  seine  Macht  erweitere,  dass  er  irei  und 
stark  bleibe  und  der  Unterdrückung  seitens  anderer  Menschen  oder 
der  äußeren  Natur  Widerstand  leiste.  —  (Welche  Laster  sind  der 
Gegensatz  von  Ausdauer,  von  Geduld,  von  Tapferkeit,  von  Mnth  im 
allgemeinen?  Was  ist  von  Feigheit  zu  halten?  Welches  sind  die 
Folgen  von  der  Trägheit?  Erkläre  folgenden  Satz  Franklins:  „Der 
Hunger  schaut  durch  die  Thüre  des  Arbeitsamen,  wagt  aber  nicht, 
einzutreten.** 

7.  Lection:  Franklins  Tugendübung. 
Franklin  hatte  in  seiner  Jugend  eine  große  Zahl  von  Fehlem 
und  schliflunen  Neigungen,  und  doch  ist  er  ein  Weiser  geworden.  Um 

FMdagoKiaa.  lt.  J^ürg.  H«ft  I.  8 


—   18  — 


sich  zu  bessern,  legte  er  sich  ein  Verzeichnis  der  Tugenden  an,  die 
ihm  fehlten.  Es  waren  folgende:  Enthaltsamkeit,  Schweigsamkeit, 
Ordnungsliebe,  Entschlossenheit,  Spai-samkeit,  Betriebsamkeit,  Auf- 
richtigkeit, Gerechtigkeit,  Mäßigkeit,  Reinlichkeit,  Euhe,  Sittenreiiiheit 
und  Derauth. 

Alle  diese  Tugenden  auf  einmal  sich  anzueignen,  fand  er  unmög- 
Kch.  Aber  was  that  er?  Er  richtete  eine  Zeitlang  seine  Aufmerk- 
samkeit nur  auf  eine  Tugend;  war  er  Meister  in  derselben,  so  ging 
er  zu  einer  anderen  über.  Doch  das  war  nicht  genuf,'-.  Jeden  Morgen 
und  jeden  Abend  stellte  er  eine  Selbstprüfling  an,  fragte  sich,  suchte 
worin  er  gesündigt  habe  und  woi'in  er  besser  geworden  sei,  und  anter- 
suchte  so  genau  den  Stand  seiner  Seele. 

Noch  mclir!  Fa'  legte  sich  ein  Verzeichnis  der  Tugenden  an; 
und  wenn  er  gegen  eine  dei'selben  fehlte,  so  markii'te  er  sich  dabei 
einen  schwarzen  Strich. 

So  lernte  er  die  schwaclien  Seiten  seiner  Seele  kennen. 

Nach  und  nach  verschwanden  die  schwarzen  Striclie,  die  Steilen 
seines  Heftes  blieben  ganz  weiß  und  seine  Seele  ganz  rein.  —  (Was 
ist  von  dieser  Tugendübung  Franklins  nachzuahmen?  Auf  was  soll 
die  Selbstprüfung,  die  Gewissensprüfung  jeden  Morgen  und  jeden 
Abend  sich  beziehen?  Gebt  eine  Übei*sicht  der  Pflichten  gegen 
sich  selbst!) 

Lehren:  Die  Tugend  lässt  sich  auch  erlernen  wie  alles  andere. 
Die  oberste  Pflicht  eines  Menschen  ist  die,  sich  selber  zu  vervollkommnen. 
Das  erste  Mittel  hierzu  ist  die  tägliche  Gewissensprüfung.  Hierzu 
sollen  sich  noch  gesellen:  das  Lesen  guter  Bücher,  die  Nachahmung 
großer  Männer  und  die  Betrachtung  guter  Grundsätze. 

Nachwort:  „Und  die  Moral  muBS  doch  gelehrt  werden"^ 
sagt  Fricke.  Durch  den  Moralunterncht  wird  die  Kenntnis  des  Guten, 
die  Kenntnis  der  moralischen  Gesetze,  das  Wissen  des  Guten  und 
Rechten,  das  Gewissen  gebildet  Im  richtig  gebildeten  Gewissen 
ist  die  Bichtschnur  des  sittlichen  Lebens.  Die  richtige  Ge- 
wissensbildung  häugi  ab  von  der  richtigen  Erkennteis  der 
Welt,  unserer  selbst  nnd  unseres  Verhältnisses  zn  der  Mit- 
welt Wissen  des  Guten  ist  die  praktische  YemunfL  Diese  ist  dem 
Zweifel  weniger  ausgesetzt  als  der  Glaube.  Damm  sagte  Kant:  „Die 
Vernunft  ist  das  Princip  der  Moral** 

Solange  die  Volksschule  die  „Sittenlehre**  nicht  als  besonderes 
Fach  auMmmt,  erfüllt  sie  ihre  Pflicht  als  Erziehnngsanstatt  des 
Volkes  nicht 


Zur  Refom  des  laturgesehiehtiielien  Untenrielits. 

Tim  Dr,  E,  WUUwM-Wim, 

\ii  jüngfster  Zeit  ist  auf  dem  Gebiete  des  naturgeschichtliclien 
ünt^nichtes  eine  Refornibeweg-ung-  liervorr^etreten,  welche  den  von  der 
Beschreibung  ausgehenden  und  sich  au  die  Systematik  anlehnenden 
Naturgescliichtsunterricht  bekämpft  und  au  seine  Stelle  eine  leben- 
digere, mehr  gemüthbildende  Behandlung  treten  lassen  möchte.  Sie 
findet  die  Einheit  der  Natur  nicht  im  S\'steme,  sondern  in  der  gegen- 
seitigen Abhängigkeit  der  Naturkörper  bei  Befriedigung  der  Lebens- 
bedürfnisse. An  der  Spitze  dieser  Bewegung  stehen  Junge  mit  seinem 
interessanten  Buche:  „Der  Dorfteich  als  Lebensgemeinschaft"  (Kiel 
1885),  sowie  Kießling  und  Pfalz,  welche  durch  ein  „Methodisches 
Handbach  f&r  den  Unterricht  in  der  Naturgeschichte'^,  sowie  durch 
eine  Broschüre:  „Wie  muss  der  Naturgeschichtsunterricht  sich  gestalten, 
wenn  er  der  Aasbildung  des  sittlichen  Charakters  dienen  soll?"  (Braan- 
schweig  1888),  ihren  Ansichten  Eingang  in  die  Volksschale  zu  ver- 
schaffen trachten.  Obwol  nun  in  diesen  Schriften  sehr  viel  Beherzigens- 
wertes enthalten  ist,  so  dass  die  Lectflre  derselben  den  Lehrer  der 
Natnrgeschichte  nur  fördern  kann,  so  drängen  sich  dabei  doch  die 
Fragen  auf:  „Ist  wirklich  anser  NaturgeschiditsonteiTicht  ein  so 
trockener  and  geistloser,  wie  hier  behauptet  wird?**  „Hat  die  Be- 
handlung im  AnschlnsB  an  das  natfiriiche  System  Trirklich  so  wenig 
ftr  sich,  dass  man  sie  dnreh  die  Betrachtung  von  Lebensgemein- 
schaften erwtien  mnaa?"  „Sollen  wir  nach  den  dort  geltend  gemachten 
Gnindsitien  die  BeBCifareibangen  der  Natirkdrper  gestalten?*  Im 
Folgenden  soll  die  Beantwortung  dieser  Fragen  versaeht  werden. 
Wenn  dies  nicht  nnr  ron  dem  Standpunkte  des  Pftdagogen,  sondern 
aadi  von  jenem  des  Zoologen  geschieht,  so  mOge  zor  Entschuldigung 
der  Hinweis  gestottet  sein,  dass  der  VerfSssser  nicht  nur  seit  Jahren 
an  Gymnasiiim  imd  Bürgerschnle  als  Ldurer  der  Naturwissenschaften 
thitig  war  und  ist,  iondem  anch  auf  zoologischem  Gebiete  manche 
Arbeit  (besondenB  in  der  „Zeitsdirift  für  wisaenschaftlidie  Zoologie"  in 
Leipzig)  veröffentlicht  hat 

2* 


—  20  — 


I 

Fassen  wii-  zunächst  die  Aufgabe  des  Naturgeschichtsunter- 
richtes in  der  Volksschule  (dies  \\'ort  in  weiterem  Sinne  genommen, 
so  dass  es  die  östen*eic}iische  Bürgerschule  mit  urafasst)  in  die  Augen, 
so  finden  wir,  dass  derselbe  wie  jeder  Unterricht  in  der  Volksschule 
sowol  die  Kenntnis  gewisser  Thatsachen  zu  vermitteln,  als  auch  Geist 
und  Gemüth  zu  bilden  hat.  Beide  Momente  sind  in  der  Volksschule 
gleichwertig.  Wird  doch  von  der  Volksschule  Rücksichtnahme  auf 
das  praktische  Leben  verlangt.  Diese  kann  nicht  lediglich  dadurch 
stattfinden,  dass  man  die  Geistesthätigkeiten  in  gewissen  Beziehungen 
übt;  es  müssen  auch  bestimmte,  für  das  Leben  nothwendige  Kennt- 
nisse vermittelt  werden.  In  dieser  materialen  Beziehung  lehrt  der 
Naturgeschichtsunterricht  die  wichtigsten  Naturkörper  und  ihr  lieben, 
sowie  ihre  Beziehungen  zu  einander  und  den  Zusammenhang  derselben 
kennen.  In  formaler  Beziehung  gibt  der  Xaturgeschichtsunterricht 
vor  allem  Gelegenheit,  die  bei  den  anderen  I'nterrichtsgegenständen 
so  vernachlässigten  Sinne  zu  bilden.  Außeres  Ansehen  und  innere 
Structur,  Formen  und  Größenverhältnisse  werden  den  Schulern  an 
den  einzelnen  Naturkörpern  vorgeführt  und  mit  ihnen  besprochen.  Die 
Schüler  üben  sich  also  darin,  das,  was  sie  sehen,  präcise  zu  bescln  eiben, 
durch  Vergleich  ähnliches  zusammenzufassen  und  verschiedenartiges 
zu  trennen.  Sie  lernen  weiter  die  Veränderungen,  welchen  die  Natur- 
körper unterliegen,  beobachten.  Indem  sie  auf  den  Zusammenhang 
von  Körperform  und  Lebensweise  (bei  den  Thieren  z.  B.)  aufmerksam 
gemacht  werden,  werden  aie  angeleitet,  nach  Erklärung  der  Er- 
scheinungen zu  suchen. 

Wenn  die  Sch&ler  nach  einer  Disposition  beschreiben,  wenn  sie 
einzelne  Naturkörper  nach  ihrer  Ähnlichkeit  gruppiren,  so  üben  sie 
Gedankenprocesse,  die  in  Bezug  auf  Thatsachen  auch  bei  Anfertigung 
eines  Aufsatzes  oder  bei  Verfassung  einer  Rede  in  Thätigkeit  kommen, 
und  gewinnen  eine  Fertigkeit,  die  fOr  das  praktische  Leben  von  großer 
Wichtigkeit  ist  und  (wie  wenigstens  meine  Erfahrung  beweist)  durch 
den  Spradiimtemcht  mcht  in  genügender  Weise  gewonnen  wird- 
Allee  dies  trftgt  aber  auch  nieht  wenig  zur  sprachlichen  Fertigkeit  bei. 
Gebt  doch  klarer  Bprachlicher  Ausdruck  Hand  in  Hand  mit  richtiger 
geistiger  AuffiiBsong.  Es  nnterstatzt  also  der  richtig  erthdlte  Natur- 
geschichtsnnterrieht  in  gans  wesentlicher  Weise  den  so  wichtigen 
Sprachunterricht  Indem  der  Natorgescfaichtsunterricht  endlich  den 
Schfllem  Einsicht  erOffhet  in  den  Znsanunenhang  der  Natur  in  ihren 
Theilen,  besonders  auch  in  den  Zusammenhang  des  Menschen  mit  der- 


—  21  — 


flelben,  indem  er  die  Kinder  mit  der  Sc)iönheit  der  Natur  im  kleinen 
TO  im  grofien  bekannt  macht,  wirkt  er  auch  gemütbbildend:  er  weckt 
die  Liebe  zur  Natur.  Das  geist-  und  das  gemathbfldende  £lement 
im  KalavgeiciiiclitBiinterrichte  stehen  Jedoch  in  ebiem  gewissen  Gegen- 
salie  sn  einander.  Durch  zu  eingehende  und  trockme  Beschrdbung 
wird  den  Kindern  die  liebe  Ar  diesen  Gegenstand  nnd  damit  in 
vieten  Filien  ftr  die  Natur  flbeihaupt  geraubt  Durch  zn  starke  Be^ 
rflcksfchtigang  des  gemttthbOdenden  Elementes  aber,  unter  Vmach- 
Iftssigung  Yon  Beschreibung,  Vergleiehmig  etc.,  wird  das  geist- 
bildende Element  geschädigt,  und  der  Natnrgeschiehtsontemcfat  kann 
zu  Tändelei  und  Schw&nnerei  ftthren. 

Lüben  legt  das  Hauptgewicht  beim  Natuigeschichtsnnterrfchte 
auf  die  Beschreibung,  wdche  schon  er,  noch  mehr  aber  seine  An- 
hänger, hie  nnd  da  etwas  zn  eingehend  gestaltet,  als  wenn  den  Kin- 
dern alles,  was  Aber  den  betreffenden  Natnrköiper  bekannt  ist,  mit- 
getheflt  werden  mtata  Er  ist  bestrebt,  den  Kindern  eine  VorsteUnng 
von  der  Einheit  der  Natur  zu  geben,  nnd  gmppirt  deshalb  das  zu 
Besprechende  nadi  systematischen  Ghmdsfttzen,  aber  ohne  dass  des- 
halb die  Systematik  in  einer  schädlichen  Welse  den  Unterrieht  ttbei^ 
wuchern  würde.  Wol  ist  dies  aber  der  Fall  bei  einigen  Schul- 
bftchem,  auf  welche  sich  Junge  und  Kiessling  offienbar  beziehen, 
wie  jenen  yon  Lennis,  Wagner  etc.,  welche  in  Deutschland  leider 
noch  immer  im  Qebraache  sind,  obwol  sie  in  ihrer  Anlage  schon  ver- 
fehlt sind,  da  sie  mehr  Bestimmnngs-  als  Lehrb&cher  sind  nnd  des- 
halb einen  Wnst  von  systematischen  Details  bieten,  welcher  in  ein 
Schnibnch  nicht  gehört  Bei  uns  aber  wirken  die  intelligenteren  Lehrer 
der  Naturgeschichte  ber^ts  in  dem  von  Junge  nnd  Kießling-Pfalz 
gewünschten  Sinne,  ohne  jedoch  das  Gerippe  der  SystematüL  ganz  zu 
verlassen.  Ich  meine  hier  das  Bestreben  der  Neuerer,  den  Naturge- 
schichtsunterrichts  seinem  Inhalte  nach  zn  vertiefen  nnd  das  von 
Humboldt  der  Naturwissenschaft  gesteckte*  und  von  Bossmäfiler 
der  Schule  empfohlene  Ziel  festzuhalten:  die  Erde  sls  em  organisches 
Ganzes  zn  betrachten,  dessen  Theile  voneinander  abhängig  sind,  und 
anf  die  Verkettung  der  Thatsachen  das  Hauptgewicht  zu  legen. 

Jnnge  will  durch  den  Naturgeschlchtsunterricht  ein  Uares  undge- 
mflthvoUes  Verständnis  des  einheitlichen  Lebens  in  der  Natur  anstreben; 
er  geht  dabei  aber  von  der  Betrachtung  von  Lebenegemeinschaften 
^fSbius)  aus  und  sucht  die  Einheit  der  Natur  nicht  in  der  dem  System 
zugrunde  liegenden  Form,  sondern  in  den  das  Leben  beherrschenden 
Gesetzen.  Er  will  durch  den  Naturgeschichtsunterrlcht  zn  genauer 


—   22  — 

Beobachtung  anregen  nnd  die  .Kinder  anleitoi  das,  was  sie  beobachtet 
haben,  nnd  das,  was  sie  daraus  erschlosseo,  scharf  auseinanderzohalten. 
£ie£ling  tind  Pfalz  kgen  das  Hauptgewicht  aof  die  Gemüthsbildong 
und  werfen  den  bisherigen  Bttcheni  vor,  dass  man  in  allen  den  Ans- 
druck:  „Gemftthvolles  Verstindnis  der  Nator"  finde,  wfthroid  die 
weiteren  AnsfOhrongen  einseitiger  Yerstandesbüdnng  das  Wort  reden. 
Der  Natoigeschichtsiinterricht  soll  nach  ihnen  dadoreh  fördernd  auf 
die  Entwiekelnng  des  sittlidien  Cbarakters  einwirken,  dass  er  bestrebt 
ist,  im  SchtUer  klares  VersUtaidnis  der  Natur  nnd  eine  auf  solchem 
beruhende  Liebe  zu  derselben  zu  erwecken.  Sie  wollen  die  SchlUer 
gewöhnen,  bei  den  Erscheinungen  nach  dem  Warum  zu  Aftgen,  die- 
selben mit  kritischem  Auge  zu  betrachten.  Das  klare  Verständnis 
suchen  sie  aber  sowie  Junge,  blos  in  der  Erkenntnis,  dass  die  Erde 
ein  wolgeordnetes  Oanzes  ist^  dessen  einzelne  Glieder  sich  nicht  nur 
gegenseitig  bedingen,  sondern  andi  denselben  allgemeinen  Lebens- 
bedingungen unterworfen  sind.  Der  Mensch  muss  als  ein  sowol  be- 
dingendes als  bedingtes  Glied  des  großen  Naturganzen  erscheinen. 
Der  Unterricht  in  der  Naturgeschichte  soll  dadurch  auch  zur  Bildung 
des  sittlichen  Charakters  sowie  zur  Weckung  der  Beligiositflt  bei- 
tragen. Die  letzten  auch  von  Gasser*)  betonten  Momente  führen 
wol  etwas  zu  weit  und  könnten,  wenn  ungeschickt  angefosst,  den 
Naturgeschichtsunterricht  selbst  schädigen.  Bichtiger  ist  die  Bemerkung, 
dass  durch  unseren  Unterricht  das  Mitgefühl  mit  den  Thieren  geweckt 
werden  soll 

Obwol  nun  im  wesentlichen  die  Bestrebungen  der  Neuerer,  den 
Naturgeschichtsuntemcht  bildender  zu  gestalten,  nur  zu  billigoi  smd, 
kann  doch  die  Art  und  Weise,  in  der  sie  das  erreichoi  wollen,  nicht 
gutgeheißen  werden.  Soweit  ihre  Fordemngoi  Berechtigung  haben, 
lassen  sie  sich  auch  in  einem  sich  an  das  System  anlehnenden  Unter- 
richt erfüllen. 

n. 

Die  Auswahl  des  naturgeschichtlichen  Lehrstoffes  wird 
sich  nach  der  Au^be  richten  mttasen,  welche  dem  Natnrgeschichts- 
Unterricht  gestellt  ist  Da  die  durch  diesen  Unterricht  zu  fördernde 
Geist-  und  Gemllthsbildung  von  ^  Auswahl  des  StoflTes  nur  in  ge- 
ringem Grade  abhängig  ist,  so  wird  hier  Tor  allem  das  Bedürfnis  des 
praktischen  Lebens  maßgebend  sein.    Wenn  Kießling  und  Pfalz 

*)  A.  GMier:  Wie  mt  der  Mtuisesehiohtliche  Untenidit  ia  der  YolkiKhiae 
geist-  und  gemathbüdeod  n  gestalten?  WieBb«den  1887. 


—  28  — 


vorwiegend  solche  Naturkörper  ansv&hlen,  deren  Beziehimgen  zur 
fibrigen  Natur  klar  ersichtlich  aiod,  wenn  Junge  in  seiiiem  Dorfteich 
der  Lebensgemeinschaft  zuliebe  naaebes  beschreibt,  was  sonst  wol 
kaum  durch  verbreitetes  Vorkommen  oder  praktische  Wichtigkeit  daranf 
bitte  Anq^meh  erbebeo.  können,  so  scheinen  sie  dadurch  schon  zu 
weit  m  gehen. 

Schon  Com en ins,  der  Vater  der  modernen  Pädagogik,  hat,  wie 
fut  alle  Grundsätze  derselben,  auch  denjenigen  der  Anscbaulichkeit 
aoBgesprocben.  „Die  Menschen  müssen  gelehrt  werden,  soweit  als  nur 
ligend  mOglidi  nicht  ans  Biichem  ihre  Einsicht  zu  schöpfen,  sondern 
ans  Himmel  und  Erde,  aus  Eichen  und  Buclien'*,  und:  ,.Nichts  darf 
getobrt  werden  auf  Grund  blofier  Autorität»  sondern  alles  durch  Dai*- 
legnng,  sinnlich  wahrnehmbare  und  yeminiftgeniäße".  Unser  Natur- 
geschichtsunterricht hat  das  Bestreben,  wo  dies  möglich,  von  der  An<* 
schanung  auszugehen.  Aber  dies  Bestreben  kann  übertrieben  werden, 
und  zu  solchen  Übertreibungen  scheinen  Junge,  sowie  Kießling  und 
Pfalz  gelangt  zu  sein.  Ersterer  will  überhaupt  alles  den  Kindern 
durch  Vorführung  der  Objecto  und  durch  Versuche  klar  machen  und 
uberschreitet  namentlich  durch  seine  physiologischen  Versuche  wol  vielfach 
die  Grenze,  die  durch  die  zur  Verfügung  stehende  Zeit  sowol,  als  dui eh 
das  Verständnis  der  Kinder  gezogen  ist.  Die  letzteren  aber  möchten  alles, 
was  sich  überhaupt  nicht  zeigen  lässt,  aus  dem  Naturgeschichtsuntemcbte 
ausschließen.  Sie  lassen  desliall)  ausländische  Objecte  unberückaicbtigti 
weil  diese  im  besten  Falle  nicht  unter  den  natürlichen  Lebensbedingungen 
vorgefühil  werden  können.  Es  wird  bei  alledem  ganz  übersehen,  dass 
schon  Comeniiis  neben  einer  wahrnehmbaren  auch  von  einer  Vernunft- 
gemäß»  11  Anschauung  spricht.  Comenius  spricht  bereits  den  Satz  aus, 
dass  man  beim  Unterricht  vom  Nahen  zum  Entfernteren  fortschreiten 
solle,  wonach  im  allgemeinen  bisher  auch  in  der  Naturgeschichte  vorge- 
gangen wurde.  Das  man  das  Entferntere  und  was  sich  überhaupt  nicht 
anschauli<  Ii  inaclien  lässt,  ein&cb  vom  Unterrichte  ausacbliefit,  ist  ein 
neuer  Grundsatz. 

Die  Kinder  bringen  den  ausländischen  Naturkörper  nicht  nur  dämm 
Interesse  entgegen,  weil  sie  solche  schon  hie  und  da  kennen  gelernt 
haben,  sondern  besonders  weil  man  ihnen  von  denselben  schon  von  der 
ersten  Kindheit  auf  erzählt  hat.  Geluvt  doch  z.  B.  der  Löwe,  dei* 
König  der  Thiere,  und  andere  hierher,  erreicht  doch  die  Natur  über- 
haupt erst  in  den  Tropen  die  Höhe  ihrer  Entwickelung.  Kießling 
und  Pfalz  unterschätzen  das  von  den  Kindern  den  ausländischen 
Naturkörpern  entgegengebrachte  Interesse,  wenn  sie  glauben,  dass  die 


—  24  — 


Behandlimg  ausländischer  Natui'körper  nicht  in  demselben  Maße,  wie 
dicjjenige  eixüieiiiuflcher,  Liebe  zur  Natur  zu  wecken  vermag;  sie 
irren  sich,  wenn  sie  glauben,  dass  die  eingehende  Betrachtung  der  ein- 
heimischen Naturkörper  und  ihres  Lebens  den  Schülern  die  Großartig- 
keit der  Natur  näher  bringe  als  Schilderungen  ausländischer  Naturbilder. 
Es  liegt  also  auch  ein  allgemein  bildendes  Element  in  der  Besprechung 
ausländischer  Naturkörper.  Schon  mancher  berühmte  Reisende  und 
Naturforscher  wurde  durch  Erzäliliiugen  aus  dem  Leben  der  Tropen 
za  seiner  späteren  Th&tigkeit  angeregt. 

m. 

Indem  wii'  nun  auf  die  Anordnung  des  natiirgeschichtlichen 
Lehrstoffes  zu  sprechen  kommen,  stoßen  wir  auf  den  Grundfehler 
unserer  Reformer.  Da  ilinen  liehrbücher,  wie  die  schon  angeführten, 
welche  entschieden  sehr  zu  tadeln  sind,  vorscliweben,  da  sie  an  jene 
alten  künstlichen  Systeme,  sowie  an  die  Thiitigkeit  jener  oberflächlichen 
Systematiker  (es  gibt  auch  heute  nocli  solche)  denken,  welclie  das  Um 
und  Auf  ihrer  Wissenschaft  in  der  oberflächlichen  Besclireibnng  neuer 
Formen  und  in  der  Einordnung  derselben  in  ihr  System  sahen,  so  be- 
kämpfen sie  die  Verwertung  des  Systenies  in  der  Schule  überhaupt, 
verrathen  aber  hierbei,  dass  sie  sich  der  Bedeutung  des  Systemes  gar 
nicht  bewusst  sind,  und  dass  sie  gar  nicht  auf  der  Höhe  der  modernen 
Naturwissenschaft  stehen,  obwol  sie  vieles  von  ihr  angenommeu  haben. 
Sie  berufen  sich  auf  Humboldt  und  Rossmäßler,  die  Bedeutung 
Darwins,  dessen  Anschauungen  von  der  großen  Mehrzahl  der  Natur- 
forscher angenommen  sind  und  die  Naturwissenschaft  befruchtend  durch- 
dringen, scheint  ihnen  aber  entgangen  zu  sein. 

Für  Junge  ist  das  System  lediglicli  ein  wissenschaftlicher  Apparat, 
der  den  Systematikern  zur  Einordnung  dient,  der  aber  für  die  Schule 
nicht  Selbstzweck  sein  kann,  da  hierher  nur  die  Resultate  der  \\'issen- 
schaft  gehören.  Das  System  ist  ihm  lediglich  ein  Product  mensch- 
licher Logik,  und  darum  gibt  es  auch  nicht  blos  ein  System,  wie  dies 
sein  müste,  wenn  das  System  von  der  Natur  geschaflfen  wäre,  son- 
dern bei  verschiedenen  Naturforschern  verschiedene  Systeme.  Wenn 
das  System  in  der  Schule  ausgefüllt  werden  solle,  so  dass  der  Zu- 
sammenhang gewahrt  sei,  verlören  die  Kinder  die  (U)ersicht.  Zu 
Gunsten  der  logischen  Einheit  werde  im  System  das  natürlich  Zu- 
sammengehörende auseinaudergeiissen,  das  Wesen  aus  seiner  Umge> 
bung  entfernt  und  dem  Kinde  die  todte  Jb'orm  gegeben. 

Dem  muss  entgegnet  werden,  dass  das  natürliche  System  durch- 
aus kein  so  künstliches  Gebilde  ist.   Es  ist  freilich  wahr,  dass  die 


—  26 


Hatnr  war  Indhidnoi  Bchafll,  nidit  Arten,  Gattangen  etc.,  aber  diese 
Iidividaeii  stehen  in  einem  Znsammenbange  dnreh  die  grOfiere  oder 
geringere  Jüinliclikett,  welche  man,  seit  D  aririns  Lehre  von  der  Wissen- 
sehalt angenommen  worden  ist,  durch  die  grOfiere  oder  geringere  Ver- 
wandtschaft erkürt,  in  welcher  die  NatorkOrper  zn  einander  stehen. 
£b  gibt  daher  anch  blos  ein  natürliches  System;  auf  die  künstlichen 
SjBteme,  wie  sie  früher  bei  dem  noch  nngenftgendoi  Stande  der  Wissen- 
schaft fibUch  waren,  die,  wie  z.  B.  Linnes  Pflaazensystem,  blos  anf 
ein  Merkmal  gegründet  waren,  brancht  hier  wol  nicht  ehigegaogen 
sa  weiden,  da  sie  entschieden  nicht  in  die  Schole  gehören.  Wenn 
anch  noch  heute  bei  verschiedenen  Naturforschern  oder  bei  demselben 
in  verschiedenen  Zeiten  sieh  Unterschiede  im  System  neigen,  so  rührt 
dies  lediglich  daher,  dass  man  eben  noch  nicht  alle  Organismen  so 
genau  kennt,  nm  jedem  seinen  definitiven  Fiats  im  Qystem  anweisen 
an  können.  Bei  fortschreitender  Erkenntnis  treten  daher  Ändemngen 
ha  System  ein,  welche  sieh  aber  meist  nor  anf  Einzelheiten  erstrecken, 
die  in  der  Sdinle  nicht  in  Betracht  kommen.  Die  Stellung  eines 
Körpers  im  natürlichen  System  ist  selbstverständlidi  nicht  blos  dnreh 
die  laßere  Form  gegeben,  sondern  dnreh  alles,  was  von  demselben  über- 
haupt bekannt  ist  Das  System  einer  Natnrwissenschaft  ist  deshalb 
kein  künstliches  Sammelsnrinm,  sondern  die  Erönnng  der  betreffenden 
Wissenschaft,  wdche  unser  gesammtes  Wissen  auf  dessen  Gebiete  ver- 
wertet und  uns  den  natürlichen  Stammbaum  der  Lebewesen  vorführt 
Deshalb  soll  anch  durchans  nicht  mit  dem  System  in  der  Schule  be- 
gonnen werden,  es  soll  nur  als  Grundlage  in  der  Anordnung  Verwen- 
dung ifaiden,  nm  den  Znsammenhang  der  NaturkOrper  erkennen  zu 
lassen.  Es  muss  sich  im  Unterricht,  sowie  in  der  Wissensdiaft  von 
sdbst  ergeben,  so  dsss  es  zum  Abschluss  des  Natnrgeschichtsunter- 
richtes  nur  einer  ZusammenfiMmung  bedarf,  um  dasselbe  hervortreten 
zu  lassen. 

Es  schwebt  mir  hierbei  der  concentrische  Unterricht  vor,  welcher 
gerade  für  die  Naturgeschichte  viele  Vorthdle  bietet  Bei  einer  Ein- 
richtung in  drei  Stufen,  wie  sie  durch  unsere  dreiclassige  Bürger- 
schule gegeben  ist,  vertheilt  sich  der  Stoff  in  sehr  natürlicher  Weise, 
indem  im  wesentlichen  nach  Lübens  Vorgang  auf  der  ersten  Stufe 
Einzelbeschreibangen  vorgenommen  werden,  wobei  im  allgemeinen  die 
natürliche  Reihenfolge  beizubehalten  sein  wird,  um  das  sehr  bildende 
Vergleichen  ahnlicher  Körper  zu  erleichtem.  £s  hindert  aber  nichts» 
dass  Pflanzen  und  Insecten  aus  naheliegenden  Gründen  im  Sommer, 
und  zwar  inderBeihenIbIge  ihres  Auftretens,  zur  Besprechung  gelangen. 


—  26  — 


Auf  d«r  zweiten  Stufe  kommt  nocli  die  aiisfuhrliebe  Bespreclmng  eines 
anderen  wichtigen  Eepräsentanten  jeder  Ordnung,  sowie  die  kürzere 
Beepreohnng  etw»  anderer  wichtiger  Vertreter  dazu.  Durch  Vergleich 
derselben  werden  nach  ihren  Ähnlichkeiten  die  Charakteristiken  der 
Ordnungen  gebildete  Sowie  anf  der  ersten  Stufe  eine  geordnete  Bd> 
Schreibung  den  Kindern  gewisse  Schwierigkeiten  bereitet,  die  über- 
wunden werden  müssen,  ebenso  ist  auch  der  bei  Bildung  der  Charak- 
teristik der  Ordnung-en  stattfindende  Gedankenprocess  nicht  leicht, 
weslialb  derselbe  eben  für  die  zweite  Stufe  aufzulieben  ist,  obwol 
Vergleiche  einzelner  Repräsentanten  schon  auf  der  ersten  Stufe  ge- 
macht worden  sind.  Auf  den  Zusammenhang  gewisser  Ordnungen 
kann  hier  auch  nebenbei  hingewiesen  werden.  Auf  der  dritten  Stufe 
kommt  dann  zu  der  mehr  in  den  Hintergrund  tretenden  Einzelbe- 
schreibung und  Charakteristik  der  etwa  neu  hinzukommenden  Ord- 
nungen der  Hinweis  auf  den  durch  den  Bau  bedingten  Zusammenhang 
derselben  untereinander,  also  die  eigentlich  systematische  Gliedening 
wobei  es  besser  ist,  die  natürliche  Reihenfolge  des  Systems,  selbstver- 
ständlich vom  liTdier  Organisirten,  den  Kindeni  verständlicheren,  zu 
dem  niedriger  Orgauisirten  herabsteigend,  beizubehalten.  Auf  dieser 
Stufe  wird  übrigens  mit  Vortlieil  die  so  wichtige  Betraclitung  des 
Baues  des  menscliliclien  Krirpers  und  damit  verweilt  die  Gesundheits- 
lehre der  Re1r;ulitiiii.rr  der  Tliierwelt  vonuisfreschickt,  so  dass  auch 
bei  Betrachtung  dieser  der  innere  Bau  veigleiclisweise  mit  jenem  des 
Mensclien  eingehender  durchgenommen  werden  kann.  Wollte  man  mit 
den  Thieren  anfangen,  so  müsste  man  sich  doch  vielfach  auf  den 
menschlichen  Körper  berufen,  wie  dies  schon  auf  den  ersten  zwei 
Stufen  bei  Bespre('hung  einzelner  anatomischer  \'erhältnisse,  welche 
dort  schon  durchgenommen  werden  müssen,  der  Fall  ist.  Eine  Aus- 
füllung des  Systems  mit  wertlosen  Einzelheiten,  um  den  Zusammen- 
hang hervortreten  zu  lassen,  braucht  durchaus  nicht  stattzufinden;  es 
wird  also  auch  nicht  mit  dem  Vergessen  dieser  das  System  ver- 
loren gehen.  Junge's  diesbezügliche  Beliirchtunnfen  sind  unge- 
rechtfertigt. Daneben  kann  auf  die  dadurch  liervortretende  Ein- 
heit der  Natur,  dass  die  Naturgesetze  für  alle  Natnrkörper  gleich 
gelten,  ganz  gut  schon  liei  d(»n  Einzelbeschreibungen  hijigewiesen 
werden,  Ei»euso  kann  bei  allen  diesen  Besprechungen  trotz  aller  Be- 
denken von  Kießling  und  Pfalz  die  Beziehung  eines  Naturkörpers 
zu  anderen  Naturkr(r])ern  und  seiner  ganzen  Umgebung  in  genügender 
Weise  besproclieii  werden. 

An  Stelle  dieses  Unterrichtes  nun,  der  ohne  Vertiefung  in  Einzel- 


—   27  — 


betten  und  nnter  Berflekrichtigong  aller  Besiehnngen  der  Natorkörper 
den  Sindem  doch  eine  y<n8teUiuig  gibt  von  dem  Znaammenhang  der- 
fldben,  w<^en  dieNeierer  einen  ünterrlcht  treten  lassen,  welcher  diese 
Benehnngen  dadurch  in  den  Vordergnind  stellt,  dass  er  yon  der  Be- 
trachtung Ton  Lebensgemelnsdiaften  ausgeht  Es  soll  also  der  durch 
den  Speichen  Körperbau,  durch  die  natflilicl^e  Verwandtschaft  gegebene 
Zusammenhang  zerrissen  werden,  um  einen  Zusammenhang  hervor- 
treten zu  lassen,  der  mehr  zufiUliger  Natur  ist,  der  sich  erst  secnndfir 
hennagebildet  hat  und  oft  schwer  nachzuweisen  ist.  Das  Thier,  die 
Pflanze  haben  gewisse  Lebensbedingungen;  wo  diese  erftllt  sind,  wer^ 
den  sie  sieh  finden,  das  ist  aber  nicht  lediglich  in  irgend  einer  Lebens- 
gemeinschaft der  fVJl,  sondern  kann  an  veischiedenai  Orten  statt- 
finden. Die  Vig»er  findet  sich  z.  B.  auf  dem  Moor,  dem  Hok- 
sehlag  etc«  Sehr  TerSndert  sind  auch  die  Lebensgemeinschaften  in  den 
Culturl&ndem  durch  den  Eingriff  des  Menschen,  dnrdi  den  ganz  neue 
Lebensgemeinschaften  gebildet  worden  sind.  Bei  diesen  großentheils 
künstlichen  Lebeusgemeinschaften,  wie  Oarten,  Feld  etc.  sind  aber 
wenigstens  die  Begehungen  der  einzelnen  Mitglieder  khir,  was  bei  den 
natftrliehen  Lebensgemeinsdiaften  durchaus  nicht  immer  der  Fall  ist^ 
worans  sieh  wieder  ftlr  den  Unterricht  Schwierigkeiten  ergeben. 

Dass  das  Zuspitzen  des  ganzen  Naturgesehlchtsunterridites  auf 
die  AUettung  gewisser,  die  LebensTerhSltnisse  beherrschender  Gesetze, 
die  noch  gar  nicht  so  genau  bekannt  sind  und  von  denen  manche  in 
der  Ton  Junge  gegebenen  Fassung  angefochten  werden  konnten*), 
nicht  zuUssig  ist,  wird  tou  Eiefiling  und  Pfalz  zugegeben.  Diese 
beiden  Autoren  weisen  auch  selbst  auf  Schwierigkeiten  hin,  welche 
sich  bei  Behandlung  der  Jnnge'schen  Lebensgemeinschaften  ergeben, 
ünd  dieser  selbst  hftlt  sich,  wie  aus  dem  seinem  Buche  beigedmckten 
Pensenplan  ftb*  einen  fttn^fthrigen  Curaus  (an  einer  achtchusigen  Schule) 
in  der  Naturgeschichte  zu  ersdien  ist,  nicht  ausschließlich  an  seine 
Lebensgemeinsdiaften,  sondern  bespricht  und  gruppirt  die  KatnrkOrper 
nadi  den  verschiedensten  (für  Volks-  und  Bikrgerschule  wol  etwas  zu  viel) 
Beziehungen.  Wenn  auch  mehrals  Anhang,  soerscheint  doch  anchin  seinem 
Pensenplane  eine  systematische  Gruj^irung  der  Pflanzen  und  Thiere. 


*)  So  erscheint  z.  B.  hei  dem  Ciesetz  der  Eiitwi(  kcinnjs::  „.Tedor  Organismus 
entwickelt  sich  aus  dem  Eintaclieu  heraus  zur  iStiile  der  (immerhin  relutivcn)  Voll- 
kommenheit", auf  die  Rückbildungen,  bei  Parasiten  z.  B.,  nicht  Kilcksicbt  genommen 
Dem  GeMtM  der  Spafumkeit  (t.  B.:  Je  mehr  Pflege,  desto  weniger  Eier)  kSmite 
wol  nfflgekehrt  ein  Geaeti  der  YefMliweBdttng  mr  Erhaltung  der  Art  (aehr  viel 
Bier  oder  Semen)  entgegoigeiteUt  weideB. 


o    1    j     V  U^^.'^lC 


—  28  — 


IV. 

Die  geplante  Reform  des  Naturgeschichtsanterridites  prägt  sich 
anch  in  der  Behandlung  des  Lehrstoffes  scharf  ans.  Lüben,  der 
Begründer  der  modernen  Methodik  des  Naturgeschichtsunterrichtes,  hat 
für  die  Beschreibung  der  Natorkörper,  welche  er  sehr  eingehend,  doch 
ohne  Berücksichtignng  der  ganzen  wissenschaftlichen  Terminologie  vot' 
nimmt,  Dispositionen  aufgestellt,  nach  welchen  z.  B.  die  Thiere,  die  hier  vor 
allem  interessiren,  in  der  Reihenfolge  zu  beschreiben  sind,  dass  zuerst 
das  Aussehen  (Größe,  Farbe,  Form  etc.),  dann  Vorkommen,  Lebens- 
weise, Nutzen  und  Schaden  etc.  zur  Besprechung  kommen.  Einige 
neuere  Tvehrbücher  sind  aus  pädagogischen  Gründen  bestrebt,  jene 
Mittheilungen  in  Form  einer  lebendigen  Darstellung  zu  geben. 

Eine  Disposition  ist  aber  auch  bei  so  einer  Beschreibung  nothwendig, 
soll  diese  überhaupt  geordnet  erscheinen  und  soll  nichts  Wesentliches 
vergessen  werden.  Dies  zeigt  sich  auch  bei  Junge,  der  eigentlich  an 
Stelle  der  Beschreibungen  viel  interessantere  Betrachtungen  der  Natur- 
körper  setzt,  indem  er  die  Besprechung  der  Lebensweise  mit  der  Be- 
schreibung der  Körperform  verflicht  und  so  den  Zusammenhang  beider 
besser  hervortreten  lässt.  Dieses  den  Unterricht  sehr  belebende  Ver- 
fahren ist  nur  zu  billigen.  So  beginnt  er  bei  Besprechung  der  Thiere 
mit  Betraclitung  von  Aufenthalt  und  Körperform  (Bedeckung,  Färbunfj:). 
Die  Kinder  werden  also  sofort  daran  erinnert,  wo  sie  das  betreffende 
Thier  schon  gesellen  liabeii  oder  sehen  können.  Daran  schließt  sich 
die  Betrachtung  der  Bewegung  und  Beweguiigsorgane.  Das  bewegte 
Thier  prreß-t  eben  melir  Interesse  als  das  todte,  und  bei  der  Bewegung 
springt  auch  der  Zweck  des  Baues  der  betreffenden  Orcane  sofort  in 
die  Aupen.  Ks  folgt  die  Besprechung  der  Nahrung  und  der  zur  Er- 
lanoriinf,^  derselben  dienenden  Organe:  Sinnesorfrane  und  Waffen,  Die 
Athniun^'"  sclilieLU  sich  passend  an  die  Ernaliriinr,^  an.  Dann  kommt 
eine  Bcsprcdiung  der  Häuslichkeit  i  Fortpflanzung)  und  endlich  eine  Be- 
trachtung über  die  Stellung  des  betreffenden  Thieres  in  der  Natur  als 
Glied  des  Ganzen,  wobei  natürlich  das  Verhältnis  zum  Menschen  (Nutzen, 
Schaden  etc.)  besondere  Berücksiclitigung  findet.  Denn  für  den  Men- 
schen bh'ibt  es  doch  immer  am  interessantesten,  in  welclieni  Verhältnis 
das  betretVende  Wesen  zu  ilim  stellt,  mag  die  Bezeichnung  „nützlich" 
oder  „schädlicli"  auch  von  einem  höheren  Gesichtspunkte  aus  als  un- 
passend zu  bezeichnen  sein.  Doch  hält  sich  Junge  durchaus  nicht 
immer  peinlich  au  diese  Disposition.  Es  soll  den  Kindern  eine  ge- 
wisse Freiheit  bei  der  Beschreibung  gewahrt  bleiben. 

Schwieriger  fallt  es  bei  Betrachtung  der  Pflanzen,  an  Stelle  einer 


—  29  — 


scheaia tischen,  mit  den  unterirdischen  Thailen  beginnenden  und  mit 
der  aus  der  Blüte  hervorgehenden  Frucht  endig:enden  Beschreibung 
eine  lebendigere  Besprechung  zu  stellen.  Selbstvei^ständlich  wird  auch 
hier  mit  dem  Aufenthaltsort  und  der  etwa  damit  im  Zusammenhang 
stehenden  Form  zu  beginnen  sein.  Im  allgemeinen  hat  man  sich  an 
den  Lebenscyclus  der  betreöenden  Pflanzen  zu  halten,  so  dass  das- 
jenige, Avas  im  Verlaufe  des  Jahres  zuerst  auftritt,  auch  zunächst  der 
Besprechung  unterzogen  wird.  Es-  ist  dies  ein  bereits  vielfach  be- 
folgter Vorgang,  der  aber  viel  Zeit  erfordert.  Zu  seiner  Erleichterung 
werden  die  leider  nicht  überall  gut  durchführbaren  Lehrspaziergänge, 
welche  die  Neuerer  verlangen  und  bei  denen  Entwickelungsbeobach- 
tungen  besonders  bezüglich  der  Pflanzen  gemacht  werden  können,  viel 
beitragen.  Die  Hervorhebung  der  Bedeutung  für  die  Natur  im  all- 
gemeinen und  den  Menschen  im  besonderen  macht  die  Besprechung 
interessant.  Bei  Betrachtung  der  Pflanzen  ist  es  schwieriger  als  bei 
jener  der  Thiere,  sich  von  einem  Übermaß  von  Terminologie  frei  zu 
halten.  ISowie  aber  bei  der  Beschreibung  festzuhalten  sein  wird,  dass 
nicht  jedes  Detail,  welches  für  den  Fachzoologen  oder  Botaniker,  aber 
nicht  für  das  Kind  Interesse  hat,  zur  Besprechung  kommt  und  Dinge, 
die  an  den  Gegenständen  nicht  hervortreten,  überhaui>t  möglichst  ver- 
mieden werden  sollen,  ebenso  sollen  nur  die  am  meisten  gebräuch- 
lichen Fachausdrücke  augewendet  werden.  Uan  muss  sich  immer 
vor  Augen  halten,  dass  Fachausdrücke  dem  Fachmanne  die  Behand- 
lung erleichtem,  dass  sie  aber  für  den  Laien,  der  sich  mit  der  Sache 
niciit  eingehender  beschäftigt,  meist  nur  ein  Ballast  sind,  der  oft  das 
lnteres.se  für  die  Sache  abschwächt.  Bei  Behandlung  der  Pllanzen  ist 
es  nicht  so  leicht  wie  bei  den  Thieren,  den  Zusamntenhang  zwischen 
Bau  und  Leben  nachzuweisen.  Die  Einrichtungen  der  Blüten  zum 
Anlocken  der  zur  Befruchtung  nothwendigen  Insecten,  die  der  Früchte 
und  Samen  zur  leichten  Verbreitung,  die  Anpassung  an  den  Boden  etc. 
Bind  aber  interessante  Beispiele. 

Die  Mineralogie  wird  von  Junge  fast  gar  nicht  berücksichtigt. 
Die  Beschreibung  der  Mineralien,  die  kein  Leben  besitzen,  wird  noth- 
wendigerweise  am  trockensten  sein  müssen.  Etwas  mehr  Interesse  wird 
der  Hinweis  auf  die  mit  den  Eigenschaften  deiselben  zusammenhän- 
gende Verwendung  der  Mineralien  wecken.  Bei  den  Gesteinen  kann 
das  Interesse  durch  Einbeziehung  iiirer  Bildung  erregt  werden,  indem 
z.  B.  Gebirgsschutt,  Gerülle,  Sand,  Schlamm,  Sandstein,  Thon  etc.  in 
Zusammenhang  miteinander  gebracht  werden. 

Man  kann  und  soll  also  bei  Betiachtung  der  Lebewesen  auf  den 


—  30  — 


Zasammenhang  ihres  Baues  mit  ihrer  Lebensweise,  der  Umgebung  etc. 
hinweisen,  man  darf  aber  diese  teleologisclie  Betrachtungsweise  nicht 
iibertreiben.  Wir  kommen  hier  auf  den  zweiten  (irundfehler  der  Neuerer 
zu  sprechen,  welclier,  sowie  der  sclion  hervorgehobene,  aus  der  falschen 
Auffassung  der  modernen  Naturwissenschaft  überhaupt  zu  erkhiren  ist. 
Das  ist  derjenige,  dass  sie  jeden  Naturkörper  als  einen  in  sich  voll- 
kommenen Organismus  betrachten,  dessen  ganzer  Bau  durch  seinen 
Zusammenhang  mit  der  Umgebung  Erkläning  linden  müsse.  So  sagt 
Junge  ausdrücklich,  man  müsse  sich  bei  jedem  Organe  fragen:  „Welchem 
Zwecke  dient  es,  denn  überflüssig,  d.  h.  unbrauchbar  für  das  Wesen 
wird  es  nicht  sein  können."  Auf  diese  Weise  wäre  ja  eine  Vervoll- 
kommnung überhaupt  nicht  möglich.  Darwin  mit  seinem  der  Natur 
entnommenen  Gesetze  vom  Kampfe  ums  Dasein,  der  im  Zusammen- 
hang mit  der  bei  den  Lebewesen  leicht  zu  erkennenden  Abänderung 
und  Vererbung  die  Thiere  und  Pflanzen  nicht  nur  der  Umgebung:  an- 
passt  (so  weit  gehen  die  Neuerer  auch),  sondern  auch  neue  Arten 
schaö't,  scheint  den  Neuerem  nicht  genfigend  bekannt  zu  sein.  Wäre 
jeder  Organismus  in  seiner  Art  vollkommen,  so  gäbe  es  keine  Ver- 
vollkommnung mehr,  es  gäbe  keine  natürliche  Znchtwahl. 

Wer  z.  B.  die  Zoologie  genauer  kennt,  der  weiß,  dass  gai*  nicht 
selten  Organe  bei  den  Thieren  vorkommen,  die  für  den  Organismus  keine 
Bedeutung  zu  baben  scheinen  and  die,  wie  man  sich  meist  durch  Be- 
trachtung der  Etttwickelung  deeselbea  und  Vergleich  mit  Terwandten 
Formen  Überzeugen  kann,  als  vererbte  Überreste  von  Organen  zu  be- 
trachten sind,  die  bei  jenen  Formen  noch  vorkommen,  für  diesen  Orga- 
nismns  ihre  ursprüngliche  Bedeutung  aber  verloren  haben,  vielleiclit 
dafür  eine  secondAre  Aufgabe  erhalten  haben,  vieUeieht  aber  auch 
ohne  Bedeutung  für  den  Organismas  sind.  Nidit  als  bestes,  wol  aber 
als  bekanntes  Beispiel  will  ich  hier  die  Schilddrüse  des  Menschen 
nennen. 

Dazu  kommt  noch,  dass  von  vielen  Organen  die  Bedeutung  noch 
gar  nicht  genügend  bekannt  ist.  Es  kann  nnn  dnrchaoa  idßh%  dem 
Lehrer  ftberlassen  bleiben,  dies  anf  seine  Weise  zn  erkUren,  da  sonst 
zu  bef&rchten  stflnde,  dass  manches  Falsche  in  der  Schule  gelehrt 
werden  wfirde.  Es  scheint,  dass  selbst  Junge,  der  allerdings  in  seinen 
Erklirnngen  viel  zu  eingehend  wird,  hier  und  da  nicht  das  Sichtige 
getroffen  hat  Bedenklich  scheint  mir  aaeh  der  Vorschlag  Jange's, 
die  Kinder  die  Eigenschaften  der  Thiere  aus  der  Thatsache,  dass  das 
Thier  da  oder  dort  vorkommt,  diese  oder  jene  Eigenschaft  hat  (z.  B. 
ein  Baubvogel  ist),  ableiten  za  lassen.  Es  ist  wahr,  dass  aach  die 


—  31  — 

Naturwissenschaft  der  Dedaction  manchen  vichtigen  Fortschritt  zu 

danken  hat,  so  namentlich  seit  Ouviers  Vorgang  die  Paläontologie, 
wo  nach  einzelnen  Knochen,  Zähnen  etc.  auf  Bau  und  Lebensweise 
der  Thiere  geschlossen  wird.  Aber  abgesehen  davon,  dass  in  der 
Natnr  demselben  Zwecke  oft  durch  verschiedenen  Bau  entsprochen 
wird,  mnss  für  die  Kinder  der  Naturgeschichtsunterricht.  der  Reprä- 
sentant  des  inductiven  Verfahrens  U^beo,  welches  ja  im  wesentlichen 
bei  der  Naturwissenschaft  noch  immer  vorwiegend  ist.  Jenes  von  Junge 
vorgeschlagene  Verfiüiren  dürfte  also  nur  mit  Vorsicht  und  Maß  anr 
gewendet  werden. 

Was  soll  man  abor  erst  zu  dem  Vorgehen  von  Kießling  und 
Pfalz  sagen,  welclie  an  Stelle  der  objectiven,  durch  den  Naturkörper 
bedingten  Behandlung  eine  ganz  subjective  setzen,  indem  sie  bei  ihren 
Beschreibunp^en  g:anz  und  gar  von  dem  Verhalten  des  betreffenden 
Naturkorpei-s  zum  Menschen  ausgehen?  Sie  gehen  hierin  so  weit,  dass 
sie  beliau]»ten,  in  einem  wolangelegten  Naturgeschichtsplan  solle  es 
nur  wt'uige  Objecte  geben,  welche  eine  völlig  objective  Behandlung 
zulassen.  So  gehen  diese  beiden  Herren  beispielsweise  bei  Betrach- 
tung ihn'  Forelle  von  dem  Satze  aus,  sie  sei  ein  Kdelfisoli.  bei  der- 
jenigen der  Rose  von  dem  Satze,  sie  sei  die  Königin  der  Blumen,  beim 
scharfen  Haiinen  fuß  von  dem  Gedanken:  er  sei  zum  Schmuck  der 
Wiesen  sehr  geeignet.  Es  wird  also  die  Deduction  zum  Haupt princip 
gemacht,  und  zwar  die  Deduction  von  irgend  einem,  meist  auf  einem 
Gefühle  beruhenden  Satze,  der  häutig  niclit  einmal  eine  allgemeine 
Anschauung,  sondern  diejeni2:e  zum  Ausdrucke  brinj^t.  die  irgend  jemand 
sieh  von  diesem  Krnper  nach  irgend  einem  Merkmal  gebildet  hat.  So 
hat  jemand  behauptet,  die  Forelle  sei  ein  Edelfisch,  ottenbar  weil  sie 
ein  gutes  Fleisch  hat,  vielleicht  auch  we^en  der  hübschen  Färbung  und 
wegen  des  Aufenthaltes  in  klaren  Gebirgsbächen.  Nun  soll  das  Kind 
von  jenem  Satze  ausirehend  das  Thier  beschreiben,  wobei  ^alle  Mo- 
mente der  Besclireibun','',  die  sich  nicht  in  Beziehunfj:  zum  Haujit- 
gedanken  setzen  lassen,  für  die  Behandlung  wertlos  sind!*'  Ks  ist 
klar,  dass  dadurch  eine  vernünftige  Beschreibung  unmöglich  gemacht 
wird,  da.ss  an  ihre  Stelle  ein  Gesell wätz.  z.  B.  Uber  das  edle  Wesen 
jenes  Fisches,  treten  inuss.  Das  ist  aber  ein  Naturj^escliichtsunterriclit, 
der  die  objective  Grundla«,^'  und  damit  seine  Existenzberechtigung  ver- 
loren hat.  Durch  so  einen  Unterricht  würde  die  Naturgeschichte  in 
der  Schule  überhaupt  unmöglich  gemacht.  Davor  mögen  uns  die  Be- 
rufenen bewahren.   Videant  cousules! 


Anregung  zum  Studiam  der  Werlte  Beneke's. 


Von  Stadtprediffer  Heinrich  XetigeboreH-Kronstadt  in  SUbenbürffcn. 

'  Unter  dieser  Übenehrift  brachte  daa  ^Piedagogiam''  Jm  ersten  Hefte  des 
XL  Jahrgangs  (Seite  30 — 36)  die  Bespreehnng  sines  Anfintses  ssr  Kmist- 

lehre  des  Denkens:  „Die  Erwerbung  von  Natnrerkenntnissen"  — aus  Beneke's 
^Archiv  für  dio  itmcmatische  Psychologie  oder  die  Seelenlehre  in  der  Anwen- 
doDg  aut  das  Leben"  (Jahrgang  1851). 

In  demselben  Jahrgänge  stehen  zwei  Aufsätze  „zur  Kunstlehre  der  religiösen 
BUduif:  1.  Das  Yerbiltnis  der  Beligion  anr  Beligionspbilosophie  und  dem, 
was  dieser  verwandt  ist  (Dogmatilc,  Mystik  ete.).  2.  Die  Stützen,  welche  die 
Psychologie  in  ihrer  neuen  Begründung  für  den  Glauben  an  die  Unsterblich- 
keit darbietet".  Es  sei  mir  gestattet,  znn&chst  diesen  letzteren  an  besprechen. 

L 

Im  Eingange  wird  das  fut  allgemein  herrsehende  Festhalten  an  der  so- 
genannten „Einfachheit"  der  menschlichen  Seele  aus  dem  vermeintlichen  In- 
teresse der  Fortdauer  nach  dem  'Jode  abgelritet.  Dagegen  wird  nun  die  Be- 
hauptung aufgestellt,  dass  die  thatsäclilich  vorliegende  Vielfachheit  der  Seele 
ohue  allen  Vergleich  kräftigere  Stützen  für  den  Glauben  an  Unsterblichkeit 
darinelet 

1.  ZnnAchst  wird  nachgewiesen,  dass  die  Schwiobef  welche  ans  der  so- 
genannte „AltersblOdsinn''  darstellt,  ihren  Sitz  nicht  im  Innern  unseres 

Geistes  liat. 

Gegen  diese  verwundbarste  Stelle  der  lusherigen  Unsterblichkoitslehre 
waren  die  Angriffe  ihrer  Gegner  am  liebsten  gerichtet,  weil  sie  sie  für  eine 
Annfthemng  zar  Vemichtang  hielten,  wozu  der  Tod  die  letalen  Schritte  Tcr- 
mtttete.  Die  Vertheidiger  meinten,  die  blödsinnige  Schwäche  sei  auf  Beehnnng 
des  Leibes  zu  schreiben.  Nicht  die  Seele  selber,  sondern  nur  ihr  Werkzeug 
sei  schadhaft  geworden.  r>;i  ;ibpr  der  Nachweis  hierfür  nicht  erbracht  wurde, 
blieb  die  völlige  Verniehtunp:  der  Seele  im  Tode,  deren  Annahme  durch  die 
oft  sehr  große  Schwäche  des  Altersblodsions  so  nahe  gelegt  sei,  wenigstens  sehr 
wahrKheinlich.  Die  Seelenlehre  in  ihrer  nenen  Gestalt  hat  strengwisseB- 
sefaaftlich  nachgewiesen,  dass  die  geistige  Schwftche  dieses  sogenannten  BlOd- 
sinns  gar  nicht  das  Innere  unseres  Cteistes  trifft,  sondern  lediglich  die  Ausbil- 
dung zurErregtlieit  fzura  Bewustseins  und  zur  Bethlltigung).  Beneke's  „Lehr- 
buch der  Psychologie  als  Natai  Wissenschaft"  (2.  Auflage,  S,  HlMi  ff.). 

Dieser  Beweis  nuu  stützt  sich  auf  die  unendliclie  Vielfachheit  der  aus- 
gebildeten Seele.  Da  yom  ersten  LebemangenbUeke  an  alles,  was  mit  einiger 
Vollkommenheit  als  Bethitignng  in  nnserer  Seele  ausgebildet  wird,  innerlich 


oder  als  Kraft  fortexistirt,  und  kein  Augenblick  nnseres  wachen  Lebens  ver- 
tr^-Iit,  wo  Dicht  eine  oder  mehi-ert-  solchf  Btthätignni^en  und  also  auch  solche 
Kräfte  entständen,  so  ist  die  ausgebildete  Seele  anch  innerlich  eiii  unberechen- 
bar Vielfaches.  Von  diesen  Millionen  von  Kräften  oder  Augleg^heiteu  aber 
ist  a«eh  in  der  kr&ftigsten  Zeit  des  Lebens  stets  nur  ein  selir  geringw  Tbeil 
emft  oder  inBethfttignng;  die  übrigen  sind  für  das  Bewnsstsein  and  die  Fort- 
wirkung so  gut  wie  nicht  vorhanden.  Sollen  sich  die  innerlich  fortexistirenden 
Kräfte  zu  Bethätipune:en  ausbilden .  so  müssen  gewisse  steigernde  Elemente  hinzu- 
kommen, und  da  nun  der  ausgebildete  menschliche  Geist  ein  mehr  als  Millionenfaches 
ist  und  jede  einzelne  Kraft  einer  solchen  Ausbildong  bedarf,  so  luuss  unser 
Geistesleben  in  dieser  Beziehnng  nnsIliUgen  Wechsel veriialtn  iosen  and 
S<!bwankangen  anteiüegen.  Dan  Qaantnm  der  Erregangselemente  kann  am 
Abend  nach  einem  thätig  vollbrachten  Tage,  in  Zustanden  starker  Erschöpfung 
oder  tiofcr^rreifenden  Unwolseiiis,  im  Schlaf,  im  sogenannten  Altereblödsinn  in 
dem  Maße  vermindert  werden,  dass  nur  sehr  wenige  oder  auch  gar  keine  Vor« 
Stellungen  bewosst  werden.  Dessenangeacbtet  kann  das  innere  Seelensein 
XUliaBeB  in  Jedem  Onde  itaikttrKnfte  entlialteB^  Dnd  dass  aieh  dies  wirklieh 
in  dieten  Zuständen  so  Terbalte,  diM  selbst  die  äußerste  Betehrtaknng  der  Br^ 
r»^ptheit  nicht  Wirkung  von  zunehmender  SchwHrhe,  sondern  von  der  bis  zum 
letzten  Lebensangenblicke  stetig  anwachsenden  stärke  der  Seele  ist,  wird  im 
zweiten  Theile  noch  t^enaupr  beleuchtet. 

2.  Die  Erregtheit  hat  Uberhaupt  zwei  Quellen:  eine  innere,  die  Urver- 
lOgmf  nnd  dne  ursprünglich  von  maßen  her  IHeBeDde,  die  AnsfUlnofen  oder 
Rein  denelben.  Im  Fortaehritt  des  Lebens  wird,  da  alles  Arflher  Aase:ebildete 
innerlich  als  Kraft  fortexistirt,  das -Innere  immer  reicher  nnd  infolge- 
detsen  da«  Leben  der  Seele  immer  mehr  zum  Inneren  hin-  und  vom  Äußeren 
abgezogen.  So  nimmt  allmählich  der  Zusammenhang  mit  der  Außenwelt  immer 
mehr  ab,  und  zwai'  gerade  deshalb,  weil  das  gesauimte  Seelenleben  immer 
laehr  nadi  innen  hin  coneuitrirt  wird  and  nnnntolnrochen  an  Aoadefanong  nnd 
Stirke  snnlmmt,  Ida  er  endUdh  Im  Tode  gana  anfhQrt,  der  also  nicht  Vemleh- 
tong  der  Seele,  sondern  nur  des  Znaammenhangs  derselben  mit  dem  Leibe  nnd 
mit  der  Außenwelt  ist.*)  Dass  g-erade  durch  die  luisiiehmende  \'ielfacliheit 
ihres  inneren  Seins  die  Seele  bestimmter  und  entschiedener  aus  der  Analogie 
mit  dem  nach  dem  Tode  sich  auflösenden  Leibe  gerückt  wird,  sucht  der  dritte 
Theil  damthnn. 

3.  Der  tieliite  Gmnd  der  ananehmenden  VidÜsehlieit  der  Seele  des  zn 
höheren  Jahteii  gelangten  Menschen  Ist  die  große  KrtMgkeit  ihrer  Urver- 

mögen,  wodurch  die  feste  Aneignung  der  von  anßen  aufgenommenen  Reize  oder 
Ausfrillnngen  und  dann  die  vollkommene  innere  Fortdauer  der  ausgebiMet.  n 
Lebeusacte  bedingt  ist.  In  beiden  Bezieliungcn  lässt  sich  in  der  Gesamnitheit 
aller  uns  bekannten  Wesen  eine  stetige  Abstufung  nachweisen,  in  weicher  der 

•)  Im  achten  der  „GcspriiclK'  über  ilas  Erdculebcn  und  di<'  3Icuschenuatui"  der 
▼on  VwL  Dt,  J.  U.  ächmick  in  Leijpsig  (Verlag  von  Max  äpohr  1öö8j  herausge- 
gebeaen  Schrift:  „Ät  der  Tod  ein  Ende  oder  niehtf  h^t  es  rflcksiehtueh  der  an- 
scheinenden oder  auch  wirklichen  UnbewusM hei t  vor  dem  Sterben :  „Sie  beweist  nichts 
gegen  das  Fortbestdien  des  Lebenspiincip«,  der  Seele,  sondern  höchstens,  dass  der 
steifeeode  Leib  nicht  mehr  imstaaie  sd^  die  Anwesenheit  letaterei  shudich  wahr* 
nehmbarer  zu  bekunden." 

PaaagogioB.  12.  Jabrf .  Bcft  I.  8 


—   34  — 


menschliche  Geist  die  hödistc  Spitz*-  eiiuümrat.*;  Die  Auflösung,  welclu  fin- 
den Leib  na<_h  dem  Tode  eintritt,  sehen  wir  fortwährend,  auch  schon  wilhrtnd 
des  Lebens,  sowoi  der  Seele,  als  auch  der  Aulienweit  gegenübei*  eintreten. 
Die  steten  Verlnste  der  aofgenommenen  AusfttUnsgen  bedingen  das  Eintreten 
des  Schlafes,  während  dessen  die  entschwundenen  AnsAUnngen  wieder  ersetzt 
werden.  (Beneke's  Lehrhnch  der  Psychologie  als  Katorwiaaenschaft.  2.  Aoil. 
S.  286  ff.) 

Der  Geist  zeigt  uns  von  einer  .solchen  fortwährenden  Anflüsunff  ^'t  gut 
wie  nichts.  £r  gibt  nichts,  was  er  einmal  aufgenommen  und  fest  angeeignet 
hat,  wieder  an  die  Außenwelt  ab.  Was  Ton  ihm  erworben  ist,  ist  für  immer 
erworben.  Diese  hfibere  Kraft  der  Aneignung  nnd  inneren  Fortdauer  ist  es 
eben,  welche,  im  Fortschritte  der  Ansbildnng,  d«i  Gdst  za  einem  lülli<«eQ- 
iSMben  werden  lUsst. 

4.  Diese  auf^nelnnende  Viellacliheit  des  Geistes  leistet  Gewähr  für  seine 
•Fortdaaer  in  voller  Individualität.  Hiervon  spricht  der  vierte  und  letzte 
Theil.  Fttr  die  Fortdauer  unseres  Geistes  kommt  es  ledig^ch  darauf  an,  ihm 
einen  neuen  Quell  der  Erregtheit  zu  erOfftaen.  Hierfür  sind  viele  IfOg- 
•ll4dikeiten  denkbar.  Welche  von  diesen  die  Wirklichkeit  sein  werde,  dass 
lässt  sieh  allerdinars  nicht  l)estininif'n.  Höchst  wahrscheinlich  ist  es  aber,  dass 
der  menschliche  (ii-ist.  der  wäliiend  des  irdischen  Lehens  eine  überaus  reiche 
individuelle  Ausbildung,  eine  eigeuthümlich  bestimmte  Erziehung  im  ausge- 
dehntesten Sinne  als  ein  unverlierbares  Eigenthum  sich  erwirbt,  nach  dem  Tode 
nicht  in  ein  geistiges  All  verschwimmt,  sondern  in  der  ix^Uiraid  der  Verbindung 
mit  dem  Leibe  erworbenen  IndividualitAt  fortdauert  und  sich  fortentwickelt**) 

Der  zweite  Aufsatz,  den  ich  heraushebe,  gehört  zur  Knnstlehre  der  Geistes- 
und Gemathsbestimmnngen  und  behandelt  „die  Anfigfabe  fttr  die  möglichst  voll- 

kommene  Sicherstellung  des  Lebensglückes". 

Nach  ^'ertiefung  des  Problems,  bei  dessen  Erwäguiiff  man  bisher  den 
Blick  überwiegend  auf  das  ÄuLU-rlichc  der  Zu.'^tände  riclitctc,  während  (Uück 
tmd  Unglück  doch  ihren  Sitz  im  Innern  des  Menschen  haben,  erstreckt  .sich 
die  üntersnehnng  zunftchst  auf  die  sinnlichen  AafTassungen  und  Empfindungen, 
dann  auf  die  von  aufien  bedingten  reproductiven  Entwickelungen,  femer  auf 
die  selbstthätigen  Beproductionen  und  geht  endlich  über  zu  den  Vergleichs- 
oder Gefühlsgrundlagen  und  zur  Ausdehnung  des  Interesses. 

Während  ich  den  Inhalt  jedes  einzelnen  J heiles  des  früheren  Aufsatzes 
ausführlicher  angab  und  deshalb  am  Schlüsse  keine  einzelnen  Stellen  anführte, 
begnüge  ich  mich  bei  diesem  zweiten  Aufsatz  mit  der  Angabe  der  Disposition 
und  fiige  noch  Iblgende  Stellen  aus  demselben  wörtlich  an: 

1.  SelbstgestJlndnis  Goethe's:  ...Alan  hat  mich  immer  als  einen  vom  Glück 
besonders  l^cgünstigten  gepriesen:  auch  will  ich  mich  niclit  beklagen  und  den 
Gang  nieiues  Lebens  nicht  schelten.  Allein  im  Grunde  ist  es  nichts  als  Mühe 
und  Ai-beit  gewesen,  und  ich  kann  wol  sagen,  dass  ick  in  meinen  75  Jahren 

I  ßenekc's  System  der  Metaphysik  vad  Religionsphiloiophie  8.  101  ff.  und  be- 
sonders S.  108  i\. 

•*»  Vgl,  „Die  Fortdauer  der  .Seele"  ron  L.  Korodi  in  der  Vierteljuhrsschrift  für  die 
Seelealehie.  Von  Neugeboren  u.  Koiodi  (i960.  S.  99ff.)> 


—  35  — 


keine  vier  Wochen  eigentlich  Behagen  gehabt.  £s  war  das  ewige  Wälzen 
eines  Steines,  der  immer  wieder  Ton  nenem  gehoben  sein  wollte.  Udne  An* 
nalen  werden  es  deutlich  machen,  was  hiermit  gesagt  ist  Der  Ansprifasha  an 

meine  Thfttigkeit,  sowol  von  anßen  als  von  innen,  waren  zu  viele.  —  Hein 
eigentliches  Glück  war  mein  poetisches  Sinnen  und  Schaffen.  Allein  wio  sehr 
war  dieses  durch  meine  äußere  Stellung  gestört,  beschrankt  und  geliindtit! 
mtte  ich  mich  mehr  vom  {öffentlichen  und  geschäftlichen  Treiben  znrücklialteu 
and  mehr  in  der  Einsamkeit  leben  kSnnen,  ich  wflre  glftddidMr  gewesen  nnd 
wQrde  als  Diehttf  weit  mehr  gemacht  haben.  So  aber  sollte  sich  bald  nach 
meinem  Götz  und  Werther  an  mir  das  Wort  des  Weisen  bewähren,  welcher 
sagte:  wenn  man  der  Welt  etwas  zuliebe  gremacht  habe,  so  wisse  sie  daflir 
zu  sorgen,  dass  man  es  nicht  zum  zweitenniale  thue.  Ein  weit  verbreiteter 
Xame,  eine  hohe  Stellnng  im  Leben  sind  gute  Dinge.  Allein  mit  all  meinem 
Namen  nnd  Stande  habe  ich  es  nicht  weiter  gebraeht,  als  dass  Idi,  nm  nicht 
SB  Teiietzen.  zu  der  Meinung  anderer  schweige."   (S.  401.) 

*2.  Jefl'erson,  der  all  die  spannenden  nnd  besor{2:lichen  WechselflUle  der 
nf»rdanierikanisclicn  Revolution  durchzumachen  und  später  als  Präsident  der 
amerikanischen  Freistaaten  so  viel  durch  Cabalen  und  öffentliche  Angriffe  zu 
leiden  gehabt  hatte,  schreibt  gegen  das  Ende  seines  Lebens  an  einen  Freund: 
„Sie  fragen  mieh,  ob  ich  wol  meine  70  oder  vielmehr  73  Jahre  noch  einmal 
leben  wollte.  Daranf  antworte  ich:  ja.  Ich  denke  mit  Ihnen,  dass  es,  im 
leranzen  genommen,  doch  eine  g:ute  Welt  ist,  dass  sie  auf  das  Princip  des 
Wolwollens  gegrändet  und  ans  mehr  Freude  als  Übel  zugetbeilt  worden  ist.^ 
(S.  404.; 

3.  „Wenige  Menschen,  wdehe  in  einem  th&tigen  Leben  nfitdieh  sein 
ktanen,  sind  glleklich  in  der  ZnrilckgeEogenheit''  (S.  407.) 

4.  Man  hfite  sich  vor  demjenigren  rbermaße,  welches  ÜberdruBS  mit 

.sii  h  fiihrt,  wisse  zur  rechten  Zeit  abzubrechen,  damit  dir  nefrietligung  nicht 
in  das  Gegentheil  überschlage  und  für  die  Zukunft  die  EmptUoglichkeit  bewahrt 
werde.   (S.  409.) 

5.  Man  tinsche  sich  nicht:  Jeder  in  dem  Charakter  der  ÜberwIUtigang 
anlig^nommene  Oennss  riksht  aldi  ins  UnendUehe;  wie  für  die  slttliehe  Aii»> 

bildung  (ffir  welche  dadnrdl  Hang,  Leidenschaft,  Laster  in  jedem  Grade  be- 
grttndet  werden  können),  so  auch  für  das  Lebens^lüek.   fS.  410.) 

6.  -.Mir  ist  nun  wieder  g-anz  unbehaglich  (sclireibt  Schiller  nach  \  oll- 
endnng  seiner  Jungfrau  von  Orleans;;  ich  wünschte  in  einer  anderen  Arbeit  zu 
stocken;  es  ist  nichts,  als  dieThfttis^t  naeh  dnem  bestimmten  Ziele,  was  das 
Leben  ertrlglich  maeht.«  (S.  412.) 

7.  nEs  ist  (schreibt  Schlosser,  indem  er  es  als  rathsam  bezeichnet, 
dass  jeder  sich  irgendwie  an  ein  bestimmtes  Rernfsf^eschäft  bimlc)  mit  dem 
Geiste,  wie  mit  dem  Leibe.  Nur  wenn  er  Hunger  empfindet,  ^enieüt  er  recht : 
nnd  wenn  er  genießen  kann,  so  oft  er  will,  wird  der  Geschmack  abgestumpft. 
Alle  die  eigentlichen  Liebliugsbesehlftigungen  sind  ans  dann  erst  so  anaiehend, 
weil  sie  mit  Sehnsucht  betrieben  werden."   (S.  413.) 

8.  Einer  der  hauptsächlichsten  Fehler  Campbeils  (heißt  es  in  einer  eng- 
lischen Z^'itsclirift)  war.  dass  w  stets  so  viel  an  das  dachte,  was  andere  von 
ihm  dt  nkea  würden.  Dies  staunnte  bei  ihm  namentlich  aus  der  zu  vorzeitigen 
Berühmtheit,  aus  der  zu  leicht  ebensowol  wie  zu  früh  gewonnenen.  Hierdurch  ^ 

8* 


—   36  — 

wurde  bei  ihm  eine  Abuei^j^unff  fegen  angestrengte  Arbeit  begründet,  ohne 
welche  doch  nicht  dash^khste  erreicht  werden  kann,  nnd  dann  weiter,  hiermit 
in  Verbindiiiij?,  das  peinigende  Gefühl,  das8  er  hätte  ein  weit  höheres  Ziel  er- 
reichen liüuueu  und  es  noch  erreichen  könnte,  wenn  nicht  die  Macht  dei  '  In- 
dolens  an  die  Stelle  einet  uuinterbroclien  rttetigen  Fortochreitene  ein  trftges 
Kiieehen  aetile.  Indem  er  diee  nnn  vor  anderen  und  vnr  aich  verbeigen 
wollte,  entstand  jenes  Bestreben,  dnrch  äußere  Ehren  nnd  Artigkeiten  eine  Be* 
schwichtignng:  dafür  zu  erwerben,  und  das  Selbstniisstranen .  die  Furcht.  *lie 
Uni'nhe,  die  ihn  fortwälireiid  peinigten:  wie  er  e>  selbst  bei  Gelegenlieit  eines 
Besuches  in  einer  vomelmiea  Familie  bezeichnet;  „Die  Furcht,  nicht  in  gün- 
stigem Liditesn  endieinen,  ttast  midi  mit  ibier  pelnUehen  Sfpaannng  nieht  loa 
in  diesem  Hanse.  Stolz  nnd  schene  Znrllcklialtanf  drUeken  mir  ibrtwibrend 
ihren  Stachel  in  die  Seite."    (S,  414.) 

i).  „Sie  messen  (schreibt  Horace  Walpole  an  seine  Freundin,  die  so  viel- 
fach gefeierte  Madame  du  Deftand)  die  Freundschaft,  die  Rechtachaffenheit.  den 
tieist,  kurz  alles  nach  dem  Mehr  oder  Weniger  der  Huldigungen  ab,  die  man 
Ihnen  bringt  Diea  ist  esi  was  Ihren  Beiiidl  nnd  Ihre  UrtheOe  bestimmt,  die 
deshalb  von  dem  einen  Festtage  zum  anderen  sich  verschieden  gestalten.  Kaehen 
Sie  sich  los  von  diesem  persönlichen  Mailstabe  und  glauben  Sie,  dass  man  ein 
gutes  Herz  haben  kann,  ohne  beständig  in  Ihrem  t'abinet  seine  Aufwai  tang  zu 
machen.  Ich  habe  es  Urnen  oft  gesagt,  Sie  stellen  Ihre  Forderungen  in  dieser 
Beziehung  ttber  alles  irgend  Denkbare  hinaus;  Sie  möchten,  dass  man  nur  fHr 
Sie  eiistire;  Sie  Tergiften  Ihre  Tage  dnreh  Argwohn  nnd  Misstranen  nnd  Sie 
stoßen  Ihre  Frennde  von  sich  zuräck,  indem  Sie  ilmen  das  Oeftthl  der  UnmSg- 
liehkeit  aufdrängen.  Sie  zufriedenzustellen.''   (S.  415.; 

10.  Man  g-edeuke  so  weuis  als  möglich  der  trübenden  Vergane:enheit 
und  lasse  sicli  dadurch  nicht  stören  in  dem  klaren  \  orwäi  tsseheu  und  dem 
krftftigen,  energisch«  Vorwftrtsgehen.  Wie  es  die  Englander  beseichnen: 
Heyer  mtaidl  Straight  fbrwardl  Throngh!  (Denke  nieht  weiter  daran!  Oerade 
vorwftrta!  Hindnndi!)  .,Wie  viel  Sdunerz  (Kchreibt  Jefferson  im  V^olg  des 
ftHher  angefRhrten  Briefes)  haben  uns  dit'  I  bel  gekostet,  welche  niemals 
eingetreten  sind!  Ich  steuere  meinSchirt  mit  der  Hoffnung  vom.  der  Fnrcht 
hinten.  Allerdings  schlagen  meine  Uofihungen  zuweilen  fehl;  aber  nicht  häutiger 
als  die  Voraoaempflndongem  der  Trftbainnigen."  (S.  415.) 

11.  „Idi  habe  immer  (schreibt  Wilhebn  von  Hnmboldt)  naeh  swei  Dingen 
gestrebt:  mich  empiftnglieh  m  halten  für  jede  Freude  des  Lebens  und  dennoch 
durchaus  in  allem,  was  man  sich  nirlit  selbst  e^eben  kann.  nnabhRng:ig:  zu 
bleiben,  niemand  zu  bedüiten.  auch  nicht  der  Be^üustisun<<t'n  des  Schicksals, 
sondern  für  mich  allein  zu  stehen  und  mein  Glück  in  mir  und  durch  mich  zu 
banen.  Beides  habe  ich  in  iMhem  Grade  erreicht .  .  .  Kein  Mensch  ist  andi 
weniger  bedürftig  als  ich;  nnd  darauf  bembt  ein  großer  Tbeü  meines Glttcites: 
denn  jedes  Bedüi  fnis  ist,  wie  es  befriedigt  wird,  nnr  eigentlich  Stillnn^r  eines 
Schmerzes:  und  alles,  was  darauf  verwandt  wird,  geht  dem  reinen,  mhigeni 
stillen  G'  iiusM-  ab.'-    iS.  41H.  i 

12.  Nicht  blos  iu  eigentlichen  Seeleukiankheileu,  wundern  auch  in  rciaiiv 
gesunden  Seeiensustlnden  kommt  uns  die  für  den  ersten  Angenbliok  hOchst 
raibseihnfte  Thatsache  entgegen,  dasa  Menschen  sich  in  Klagen  gefidlen,  davon 
nicht  loskommen  kSnnen,  ja  deh  nnmflieden  zeigen,  wenn  wir  ihnen  naeb- 


—  37  — 


weise»,  dass  sie  sich  iiTthümlich  fiir  nng:lücklich  halten:  nicht  wirklich  in  dem 
Maße  arm  and  elend,  nicht  wirklich  so  bedroht,  geling  geach&tzt,  verfolgt 'siad| 
wie  sie  sich  ausgeben.   (S.  416.) 

13.  Bai  dm  reiolMr  imd  hoher  gebildeten  Menaeheii  tilgt  nlehts  voller, 
dauernder,  nachhaltiger  wm  Lebensglucke  bei  als  tüchtiges  Arbeiten  und 
die  daraus  hervorgehende  Zufriedenheit  mit  sich  selbst;  nichts  ist 
vollkräftiffer.  andemeitig  gebildete  Missstimmungen  niederzuhalten  und  zu  be- 
seitigen. „Aach  zur  Thätigkeit  (schreibt  Schiller j  tinden  sich  wieder  Neigung 
nd  Ertfle»  «nd  diese,  hoffe  ich,  wird  das  gute  Werlc  (der  Genesung)  voll- 
enden; denn  wenn  loh  mich  beechftftigen  kann,  so  Ist  mir  vroV*  „Die 
Haapteaehe  ist  der  Fleiß:  denn  dieser  gibt  nicht  nur  die  Mittel  des  Lehens, 
sondern  er  gibt  ihm  auch  seinen  alleinigen  Wert."    (S.  418.') 

14.  Wie  viele  Menschen  gibt  es,  welchen  die  Gegenwart  alles  darbietet, 
oiu  glücklich  zu  sein,  wenn  sie  nur  imstande  wären,  eine  in  diesen  oder  jenen 
Bsiiehniigea  noeh  gllleklidiere  Vergangenheit  sn  Tergessen!"  (S.  419.) 

15.  „Es  ist  ein  grodes  GUek  (schreibt  Wilhelm  von  Humboldt  knrs 
nach  dem  Verloste  seiner  innig  geliebten  Gattin),  wenn  man  all  sein  Denlfien 
und  Emptinden  an  einen  Gegenstand  setzt.  Man  ist  dann  auch  immer 
k>rgen:  man  begehrt  nichts  mehr  vom  Geschick,  nichts  mehr  von  den  Men- 
schen; man  ist  sogar  außertsande,  etwas  anderes  von  ihnen  zu  empfcuigen,  als 
die  Frende  an  Ihrem  GlttdL  Man  fürchtet  auch  nlehts  von  der  ZnkoBft.  Man 
kann  nicht  Sndem,  was  nicht  sn  andern  ist;  aber  das  ebie,  das  Hangen  an 
einem  Gedanken,  einem  Gefühl,  wenn  es  auch  durch  den  graosamsten  Sehlag, 
der  einen  Menschen  treffen  kann,  nur  SB  dem  Hangen  an  einer  Erinnemng 
würde,  das  bleibt  immer.'-    (S.  420.) 

lü.  Nichts  macht  bleibender  und  gesicherter  gliickiich,  nichts  stimmt  in* 
Iblgedessen  m  hSherem  nnd  reinerem  Wdwcdlen  gegen  andere  Hcnaobsn  als 
das  Leben  im  Übershmllehen,  bis  sn  welchem  alle  irdischen  Missrerhilt« 
nisse  und  Störungen  des  Wolseins  nicht  hinanreichen,  nnd  welches  uns  also 
dem  Einflnssp  aller  Wechselfölle  des  Lebens  entzieht,  die  unser  Glück  trüben 
könnten.  Dem  gegenüber  aber  finden  wir  nur  zu  viele  Beispiele  vom  Gegen- 
theil:  Menschen,  die  fortwährend  mit  religiösen  Dingen  beschäftigt  und  die 
doch  beständig  ung^ttckUch  sind  nnd,  In  derselben  Fort  Wirkung,  gegen  andere 
Mcoaehen  QbelwoUend  nnd  gehässig  gestfanmt  Wie  ist  dies  wa  eridlren?  An 
liebenden  Gedanken  nnd  Empfindungen  fehlt  es  auch  ihnen,  wenigstens  in 
vielen  Fällen,  nicht;  aber  diese  flammen  nur  vorübergehend  bei  ihnen  auf,  in- 
folge der  ungleich  geringereu  _  Vielräumigkeit " .  mit  welcher  sie  begründet 
Bind,  um  sie  die  tiefe  Nacht,  in  der  sie  leben,  niu-  um  so  grauenvoller  und 
qnlleader  empfinden  zu  lassen;  und  vermOge  dessen  also  sind  sie  dnrchans  nn- 
fkhig,  sich  in  die  stets  klaren  und  heiteren  Regionen  an  erhebeOi  in  welchen 
der  wahrhaft  Religiöse  lebt.  (S.  422.) 

17.  In  der  That  gibt  es  keine  ausgedehntere,  reichere,  stätigere  Grimd- 
lage  des  menschlichen  Glückes,  als  ein  ausgebreitetes  Wol wollen  und  die  in 
den  mannigfachsten  Formen  diesem  sich  anschließenden  Empfindungen.  Die 
auf  das  eigene  Wol  gehenden  Bestrebongen,  wie  sehr  sie  aneh  mit  Gelingen 
gekrönt  sein  mögen,  sind  bald  erschöpft;  in  dem  Maße  also  versiegt  der  (|liell 
des  hieraus  fließenden  Glückes;  während  der  Quell  des  Glücks,  welches  aus 
den  gelingenden  Bestrebungen  für  das  Wol  nnd  die  Vervollkommnung  anderer 


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abgeleitet  wird,  recht  eigentlich  unversiegbar  und  ouerschöpflich  ist.  Alles 
andere  gleieh  geeetst  also,  hat  der  WolwoUeade  eine  ohne  allen  Vergleich 
giOfiere  Wahrseheinlichkeit  des  GlUckes.  (S.  423.) 

18.  Dem  gegenüber  wird  das  Glück  durch  nichts  entschiedener  unter- 
sn'aben  als  darch  persönliche  Ciegeusätze  und  Spannungen  gegen  andere.  So 
für  die  Gegenwart:  indem  Ja  die  Auffassungen  ihres  W'olergeheus  und  iiii'er 
VoUkonuiieaheitlbrtwihiendzQ  „Gefüblsgmndlagen"  werden,  um  den  Menschen 
das,,  was  ihn  etwa  drfiekt  nnd  qnilt,  desto  schArftr  emiiflnden  m  lassen.  Und 
so  nodi  sicherer  für  die  Znknnft,  Irgendwie  weitergreifende  persönliche  G«>gen- 
siltzp  nml  Spannungen  fuhren,  wie  hoch  und  wie  siclier  auch  der  Mensch 
stehen  mag.  doch  früher  oder  später  jedenfalls  zum  Bankerott  des  Lebens- 
glückes. ^^S.  424.) 


Jüm  6r«tli 


und  seine  Bedeutung  fOr  clie  plattdeutsche  Pirhtung;. 
Tom  Oustav  Adolf  ErdniunH-tkhUm  Ammburg. 

»Das  Pluttdeutsche  ist  die  SpiaclK-  der  Ungebildeten,  des  Pöbeis;  es  ist 
daher  oniftbig,  deo  hOheraa  Aiit|iridieii  sn  genügen,  welche  die  Knnet  an  eine 
Spraehe  n  nuMSheB  bat  Bine  der  Ättheliit  genttgende  plaUdeiitwhe  Literatur 

ist  daher  nndenkbar.  Im  gfinitigtten  Falle  kann  diese  >»arharisfht>  Sprache 
Bi'mkelsängerweisen  hervorbringen,  roh  nnrb  Form  nnd  Inhalr.  Lieder  und 
P>zählnngen  von  derbstfiii  Unmor  und  erölisTt-r  Satir»\  die  sdinn  nnt  weit»' 
Eutfernungen  nacli  Kuhstall  und  Dunger  riechen,  und  aus  denen  da^  Juchzen 
und  Kreiiidieii  der  Knechte  imd  Klgde  hersmtSnt  Deshalb  iat  diese  Sprache 
■it  allen  Mitteln  zn  bekämpfen  nnd,  wenn  mOglich,  mit  Stampf  nnd  Stiel  an»> 
znrotten." 

Wie  oft  drinp:en  solche  und  llhnlidit'  Anss|irüch»>  über  die  platt-  uder 
niederdeutsche  ilnndart  an  nnser  <»hr.  st^llist  vitu  Leuten,  deren  liolier  Bil- 
dungsgrad sie  zu  einem  richtigeren  Urtlieil  betUlügen  sollte.  Vor  etwa  tiint/ig 
Jahren  war  ein  eoloher  Bichterspnich  über  das  Plattdenteche  gang  nnd  gäbe, 
nnd  wenn  man  einen  Blick  anf  die  literariachen  EraengniMe  jener  Periode 
wirft,  so  kann  man  denselben  in  dieser  einen  Beziehnnp:  sehr  wol  bereditigt 
finden.  Die  wenigen  plattdentschen  Poeten  nnd  Seliriftsteller  gefielen  sich 
allerdings  in  den  täppischsten  Sachen  und  glaubten  ihie  Aufgabe  erfüllt  zn 
haben,  wenn  ihre  Dichtungen  möglichst  bänrisch  nnd  roh  nach  Form  und  In- 
halt anftraten.  Sdirleben  sie  dcdi  das  b&nrische  Platt,  folglich  —  mnaste 
eben  alles  platt  sein. 

Wenn  unter  solchen  Umständen  die  Gebildeten  sich  von  der  niederdeutschen 
.Sprache  abwandt^n.  ist  dies  nur  natürlich.  Aber  war  es  denn  die  Schuld  der 
Sj»rache.  die  des  Sprachgeistes,  dass  in  seinem  Namen  der  Hoheit  geopfert 
wurde?  Mit  nicliten!  Wie  so  oft  warteten  auch  hier  falsche  Priester  ihres 
Amtes,  standen  Leute  am  Altar,  die  von  dem  Geiste,  dem  sie  an  dienen  mein- 
ten,  kdnen  Fnnken  in  sich  spürten.  Was  Wnnder,  wenn  sie  dnrch  eigenes 
Unvermögen  die  Gottheit,  der  sie  zu  dienen  vorgaben,  in  MisRachtung  brachten. 
An  den  Frücliten  soll  man  ja  den  Geist  erkennen,  nnd  diese  Früchte  waren 
ungenießbar  wie  Holzilpfel. 

Kein  Geringerer  als  der  berflhmte  Grammatiker  J.  C.  Adelung  stellte 
der  plattdentschen  Sprache  folgendes  Zengnis  aas:  „Das  Plattdentsche  ist  nnter 
allen  dentschen  Mundarten  in  der  Wahl  nnd  Aussprache  der  Töne  die  wol- 
klingendste,  gefülligste  nnd  angenehmste,  eine  Feindin  aller  hauchenden  und 
zischenden  nnd  der  meisten  blasenden  Laute  und  des  unnützen  Aufwandes  eines 


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volleD,  mit  vielen  Uochtäaeudeu  Laateu  wenig  sagenden  Mundes,  aber  dagegen 
nieh  a&  einer  keniliaften  Kllne,  an  treffmden  Anidrftekea  und  iiatTeii^d«ni. 

Der  Amlftnder.  dem  die  vielen  Hauch-,  Blase-  und  Zischlante  des  Obei-deutschen 
ein  Ärgernis  sind,  lernt  das  Niederdentsclie  am  leichtesten,  sowie  der  Kieder- 
saclise  weg^en  seines  feinen  (Tehörs  und  we^en  der  Feinheit  und  Biegsamkeit 
seiner  Sprachwerkzeuge  jede  fremde  Sprache  weit  eher  vollkommen  sprechen 
lernt  als  sein  schwerfUlliger  südlicher  Bruder."  Aach  Goethe  nennt  die  Sprache 
des  Niederdea|BeheB  „ein  sanftes,  behagUehes  ürdratsoh.*'  Diese  beiden  Ur- 
theile  von  Männern  der  Wissenschaft  und  Kunst  hören  sieh  doch  gewiss  nicht 
wie  ein  Armutszeugnis  für  die  plattdeutsche  Sprache  an  und  berechtigen 
sicherlich  nicht,  von  ilirem  Wert  als  von  der  , Roheit  einer  bloßen  Mundart" 
zu  reden. 

Wer  den  kostbai-en  Diamant  Anden  will,  wird  sich  nicht  damit  begnügen, 
nnr  die  Oberfläche  eines  Ctobietes  sotgsani  abnanchen,  sondern  er  wird  tief 
hineingraben  ins  Erdreich  und  dasselbe  aufmerksam  dnrehforschen.  Anob  die 
Sprache  ist  ein  Gebiet,  das  nicht  oberflilchlich  gestreift  werden  darf,  wenn  man 
den  schimmernden  Edelstein  des  Sprachgeistes  gewinnen  will.  Langwierige, 
mühsame  Forschung,  nimmermüder  Eifer  ist  dazu  nothwendig,  in  die  tiefsten 
Schachte  moss  man  dringen  nnd  dort  sammeln  and  beobachten;  denn  was  an 
der  Oberfläche  liegt,  ist  oft  nichts  als  hOsslidie  SeUaeke,  welche  die  AlltIgUeh- 
keit  des  gleichförmigen  Lebens  abgesondert  hat.  Mit  dieser  Schlacke  aber  be- 
gnügten sich  die  früheren  niederdeutschen  Poeten  und  bewirkten  damit,  dass 
1842  der  biedere  Klaus  Harms  einen  Artikel  in  seinem  „Gnomon'^  überschrieb: 
„Min  lewe  Landessprak,  gode  Nacht." 

Und  genau  sehn  Jahre  später  schrieb  derselbe  Klais  Harms  hoAuuigB- 
frendif :  „Vielletcht  bekommen  die  späteren  Geseblechter  noch  einmal  eine  all- 
gemeine plattdeutsche  Schriftsprache  wieder,  wie  frühere  Geschlechter  sie  ge- 
habt haben."  Was  hatte  diesen  Umschwung  in  der  Meinung  bewirkt?  Wie 
wai"  aus  der  Todtenklage  freudige  Lebenszuversicht  geworden? 

Dem  schlummernden  Dorni'öscUen  wai'  endlich  der  i'rinz  erachienen,  der 
es  dareh  seinen  Flammenknss  m  nenemLeben  erweckte,  nnd  dieser  Prina  hieB 
Klans  Groth,  nnd  sein  fooriger,  brttnstiger  Knss  war  der  „Quiekbom". 

Zn  dieser  That  hatte  aber  aach  die  voll  hingebende  Begeisterang,  die 
riesengroße  Arbeitskraft  und  die  eiserne  Beharrlichkeit  eines  reichbegabten 
Mannes  gehört,  der  sein  ganzes  Leben  der  Ausführung  derselben  widmete. 
Alles  das  war  bei  Klaus  Groth  in  reiclistem  Maße  vorhanden.  Ais  uuu  sein 
„Qaiokbom''  plOtslich  wie  ein  Blita  in  den  Wald  der  dentsehenLiteiatnr  Mhr, 
da  kennte  es  gar  aidit  anders  gesebefaea,  als  dass  der  Dichter  auf  begeisterte 
Freunde  nnd  grimmige  Feinde  stieß,  denen  er  durch  seine  That  ihr  ganzes 
schönes  LehrgebSude  über  die  platte  Sprache  umstieß.  War  es  doch  kein  Ge- 
ringerer als  Karl  Goedeke.  der  in  absprechendster  Weise  über  den  „Quickborn" 
und  Groths  Bestrebungen  urtüeilte,  hieß  es  doch  vielfach:  die  Gedichte  des 
„Qoickbom"  wären  dofiMli  insPlaUdentsohe  äbersetite  hedideatBche  Gedanken 
nnd  Empfindungen  nnd  als  solche  sun  gräfiten  Theil  ganz  nngenießbar,  so 
wenig  hielt  man  die  platte  Sprache  som  Ansdruek  eines  edleren  Gefühls  fähig, 
so  sehr  war  man  durch  den  Missbraucb,  den  falsche  Priester  mit  ihr  getrieben 
hatten,  in  seinem  Urtheil  befangen,  dass  mau  uuu.  da  ein  echter  Dichter  er- 
standen wai',  der  iu  ihr  lebte,  webte,  dachte  und  dichtete,  diesen  füi'  einen 


—  41  — 


Fälscher  erklärte  und  mit  den  Steinen  der  verletzenden  Kiitik  nach  iluu  warf. 
Ja,  man  ging  sogar  so  weit  —  wenn  ich  nicht  irre,  so  war  es  Hieronymus 
Lotn  in  der  „Wknsr  Abendpott**  —  ni  beliaapten,  Ekoa  Ovoth  habe  das 
PlattdMitMlie  ent  nibna  erlAmen  alnen,  ohne  je  deMen  nMBBnder  An- 
wendung ganz  mSchtig:  zu  werden.  Träfe  dies  zu,  so  iribre  der  „Qaickbom'' 
ab  stümperhafte  Dilettantenarbeit  charakterisirt  gewesen  und  Klaus  Groths 
That  wäie  einfacli  zu  einem  speculativen  Unternehmen  herabgesunken.  Wie 
falsch  jene  Verdächtigungen  waren,  wird  weiter  unten  ein  Bück  auf  Grotlis 
Lebensgang  zeigen. 

Und  doeh:  auch  «nriehtigee  kann  zuweilen  ein  Kdmlein  Waluluit  ent« 
halten.  Trotzdem  Klaus  Groth  ?on  Kindheit  auf  plattdeutsch  gedacht  and  ge- 
sprochen hatte,  musste  er  die  Sprache  als  gereifter  Mann  erst  erlernen,  niiili- 
8 am  erlernen,  denn  er  tiiud  noch  nicht  s«.»  viel  treffliche  Vorarbeiten  wie  ein 
Hochdeutscher,  der  seine  .Sprache  erlernen  will.  Oder  müssen  nicht  auch  wir 
'  unere  llatteiqpndie  noeh  erlenen,  naehdem  wir  dieselbe  eebon  ISagtt  fertig 
tpRchen?  Das  war  ja  eben  der  groAe,  vielleidit  sogar  der  eintlge  Fehler  der 
fixeren  plattdeutschen  Dichter,  dass  sie  es  verschmähten,  ihre  Sprache  zu 
Studiren;  den«  nur.  wer  tief  in  die  Gesetze  einer  Sprache  eingeweiht  ist,  wird 
das  Wesen  und  den  Geist  derselben  ergründen,  und  nur  derjenige,  dem  sich 
der  Geist  einer  Sprache  offttibarte,  kann  in  derselben  dichten.  Es  ist  eben 
Hiebt  von  ongeflbr,  dati  nDicfaten*  and  ^ Verdichten'*  miteinander  Yereehwi- 
Start  lind! 

Klaus  Groths  große  literarische  That  ist  so  eng  mit  seinem  ganzen  Leben.s- 
grange  vorwachsen,  dass  man  dieselbe  gar  nicht  besser  intei-jiretiren  kann  als 
durch  eine  Dai-st eilung  seines  arbeitreichen  Lebens.  Hierbei  wird  mir  gleich- 
zeitig Gelegenheit  geboten  werden,  manche  Irrthümer  2U  berichtigen,  die  sich 
in  faat  alle  Biographien  des  Diebters  eingeoeblieben  haben  and  beeondere  anch 
g^ehässigen  Angriffen  zu  begegnen,  die  erst  in  neuester  Zeit  aus  tückischer 
Bachsacht  gegen  den  im  höchsten  Grade  ehrenhaftwi  Charakter  des  TOjfthrigea 
Greises  geschleudert  worden  sind. 

Klaus  Groth  wurde  am  24.  April  1819  zu  Heide  in  Norderdithmarscheu 
geboren.  Sein  Vater  Hartwig  Groth  war  Landmann  und  Mühlenbeeitaer  und 
galt  nach  den  dortigen  VerhSltnieaen  für  wolhabend.  Er  war  eine  jener 
seltenen  Natuen,  die  Emst  und  Milde  mitebiander  in  woithnende  Harmonie 
zu  setzen  wissen.  Von  seinen  Bekannten  wurde  er  hochgeachtet,  von  seinen 
Kindern  -  er  besaß  außer  Klaus  noch  zwei  Söhne  und  eine  Tochter  — 
innig  geliebt.  Verstand  er  doch  die  schwere  Kunst,  allen  Kigenthümlich- 
keiten  der  Kinder  gerecht  m  werden,  wneste  er  doch  die  Eniehnng  mit 
Mar  Hand  aber  ohne  Sehelten  nnd  Strafen  zu  leiten.  Bin  einziger  Blick  ge- 
nflgte,  un  die  Kinder  zu  regieren.  Ein  trenes  Bild  seines  Vaters  hat  der  Dichter 
m  seiner  anziehenden  Idylle:  ^Ito  SttnndagnMffgen"  in  der  Gestalt  desPocken» 
narbigen  entworfen. 

Die  Matter,  eine  schöne  und  sanfte  Frau,  verloren  die  Kinder  sehr  frflh; 
'  doch  blieh  ihre  Eniehaag  nicht  ohne  weiblichen  Einflnas.  „Tante  Christine'*, 
die  Schwester  des  Vaters,  snehte  den  Kindern  die  Matter  an  ersetaen,  nnd  wie 
ihr  dieses  liebevolle  Bemühen  gelang,  das  zeigen  deutlich  die  vier  Sonette  in 
„Hundert  BlUtter".  welche  der  Dichter  ihr  später  widmete.  Besondei-s  das 
ietste  anter  ihnen  gibt  ein  anscbaaliches  Bild  davon,  was  Tante  Christine  fUr 


—  42  — 


Klaus  war,  wie  sie  nicht  allein  den  rechten  Balsam  tür  seine  Kinderschiuerzen 
fand,  sondern  wie  sie  auch  den  Samen  der  Poesie  in  seine  empfängliche  Seele 
streate. 

Außer  ihr  spielt  noch  der  Großvater  eine  bedentende  Rolle  in  den  Kinder- 
jähren  Klans  (^luths.  Der  alte  Mann  fand  eranz  Vn^sondtM-es  Wolerefallen  an 
dem  mnntt'ien  nnd  geweckten  Knaben ,  niid  nfr  erzählte  er  dem  begierio: 
lauschenden  Kinde  die  alten  Sagen  und  Geschicliten  aus  den  Freiheitskämpfen 
der  DithmarMhen.  Diese  EnShliingen  haben  sich  dem  Oedftohtnil  des  Kindea 
fest  dngeprigt,  und  derDlehtor  hat  spftter  gern  ans  diesem  Vomth  gesehOpft. 
Die  Abschnitte  im  „Quiekborn":  „AVat  sik  diit  Volk  verteilt"  nnd  „Ut  de  ol 
J^rOnk"^  (Aus  der  alten  riirnnik»  peben  viele  dieser  Saeen  wieder. 

Kechtzeitij?  wurde  Klans  der  Hürg'erfehnle  zu  Heide  übergeben.  Sein 
hingebender  Fleiß  und  sein  vorzügliches  Gedächtnis  machten  ihn  bald  zum 
besten  Schüler  der  Anstalt.  Da  das  Hoehdestsolie  danils  noeh  nieht  Mode  in 
jener  Oegend  war,  so  wurde  anch  in  der  Sehnle  plattdeatseh  nnterrichtet.  So 
emsig  der  kleine  Klans  auch  bei  der  Arbeit  war,  er  fand  doch  immer  noch 
genügend  Zeit,  sich  im  mnnteren  Spiel  mit  seinen  Kameraden  zn  tummeln. 
Er  mnsste  die  freie  Natur  sotrar  mehr  cenießcn.  als  ihm  lieb  war.  Da  in  den 
voraulgegangenen  Kriegsjahreu  die  Laudwirlscliatt  in  den  Herzogthümern  arg 
daniiederlag,  war  den  Banem  Ton  der  Regiemog  gestattet  worden,  wSbrend 
der  Sommermonate  ihre  Kinder  m  ländlichen  Hillbleistangen  ans  der  Schale 
znnickznbehalten.  Auch  Hartwig-  Groth  machte  von  dieser  Erlaubnis  Gebrauch, 
nnd  so  finden  wir  den  Knaben  während  des  Sommers  stets  in  Wiese.  Feld  und 
Wald  beschäftiget.  Die  Natur,  an  welcher  so  viele  gut  beanlagte  Kinder  acht- 
los vorübergehen  müssen,  wurde  ihm  zur  Lehrnieisterin  und  Herzensfreundin. 
Der  stets  geistesrege  Knabe  lernte  beobachten,  Äugen  und  Ohren  gebrauchen 
nnd  wurde  ^on  der  Schönheit  nnd  Jia^vMi  der  AUmutter  so  gefesselt,  dass  er 
später  die  Naturwissenschaften  zu  seinem  Lieblingsstudinm  erhob.  Mit  vollem 
Recht  kann  er  heute  v<»n  sich  schreiben:  „^*on  den  Naturwissenschaften  ist 
mir  kein  Zweig  unbekannt,  selbst  mathematische  Thysik  nicht"*;  und  wie  walir 
er  das  Wesen  der  Naturforschung  erfasst  hat,  geht  aus  den  fünf  scharfsatiri- 
sehen  Sonetten:  „Evangelische  Naturwissensehafb*  in  den  „Hundert  Blftttem*' 
henror.  Der  Dichter  aber  verdankt  seiner  langen  Vertrantheit  mit  der  Natur 
die  herrlichen,  lebenswarmen  Natnrsehildemngen,  die  er  so  zahlreich  im  nQuick- 
bom"  bietet. 

Als  die  ("lassen  der  Bürgerschule  durelilunfrii  \\  art  n.  richtete  der  Knabe 
seine  Blicke  sehnsüchtig  auf  das  Gymnasium  als  Schlüssel  zur  Universität. 
Aber  hier  galt  es  entsagen;  denn  der  Vater  hielt  diesen  Wunsch  für  llber 
seinen  Stand  hinausgehend.  Naehdem  Klans  sich  noch  einige  Zeit  durch  Selbst- 
studiuuj  weitergebildet  hatte,  trat  er  mit  16  Jahren  in  den  Bureaudienst  der 
Kirchspielvogtei  zu  Heide.  Er  selbst  fasste  diese  Stellung  nur  als  i'bergangs- 
stadiura  auf;  denn  in  ihm  war  der  Entschluss  gereift,  sich  dem  Lehramt  zu 
widmen.  Da  sein  Amt  kein  sehr  anstrengendes  war  —  er  hatte  fast  nur  Pässe 
zu  Tisiren  —  so  blieb  ihm  noeh  viel  Zeit  zur  Weiterbildung,  die  er  mit  der  ' 
ihm  eigenen  Energie  benntzte.  Ein  Beiqtiel  mSge  dies  illustriren.  Eines  Tages 
fand  er  ein  altes,  verfallenes  Ciavier  auf  dem  Boden.  Sofort  zimmert«  er  es 
sicli  wieder  etwas  znreeht  und  begann  dann  zu  ü)»en  nnd  zwar  mit  solehem 
£iter,  dass  er  nach  wenigen  Wochen  kleinere  Sonaten  von  Mozart  und  Beethoven 


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spielen  konute.  In  jener  Zeit  machte  er  auch  die  Bekanntschaft  der  deutschen 
Clafisiker,  die  er  in  der  Bibliutliek  des  „Kaspelvagd'^  (Kirchspiel vogt)  vorfand. 

1838  ging  Klans  Gn»th  anfii  Seminar  zn  Tondern,  dem  er  drei  Jahre  an- 
geMIrte.  Aneh  hier  wtete  er  seine  Privatsfcndien  eiftig  fort;  denn  sehiem 
heOen  Kopf  war  selbst  doppeltes  und  dreifaches  Futter  nicht  zu  viel.  Beson- 
ders trieb  «r  fremde  Sprachen:  Lateinisch.  Französisch  nnd  Schwedisch.  Mit 
einem  glänzenden  Zeug:ni.s  verließ  er  die  Anstalt  und  wurde  sofort  an  der 
Mädchenschule  zu  Heide  augestellt. 

»0  du  tMatatf  erhabener  Lehrerbemf,  wie  fttUte  leb  unter  deinon  Ein- 
flnsB  sich  die  Schwingen  meines  Geistes  entfUten!'*  mag  der  jnnge  Kaan  be- 
geistert ansgerufen  haben,  als  ihm  die  geringe  Stundenlast  von  48,  sage  und 
schreibe  dreiundvierzig  wöchentlichen  T'iifeiTichtBstunden  aufei-leg:t  wurde.  Wer 
fühlt  7iach  solüher  Anstrengniig  noch  Kiafr  und  Lust  zu  Privat-stuilien?  Klaius 
Gruth  hatte  beides.  \oll  .Staunen  und  Bewunderung  hüren  wir,  da^>8  er  iu 
jener  an  Amtsarbeit  so  fibeneieheii  Zeit  noch  mit  großem  Eifor  nnd  Erfolg 
Vathematik  nnd  Natnrwissensehaften  triebe  ddi  eingehend  mit  den  Problemen 
der  Philosophie  —  speciell  Psychologie  und  Ästhetik  —  beschäftigte  und  so 
.,beililuäg''  noch  mit  6roths(her  QewissenhaftiglLeit  Englisch,  Französisch, 
Italienisch  und  Griechisch  tractirte. 

Dass  von  den  landläufigen  Vergnügungen  bei  su  anstrengenden  Studien 
nicht  die  Rede  sein  konnte,  Tenteht  sich  wol  von  selbst  Seine  einzige  Er- 
hdnng  snchte  der  jonge  Lehrer  im  Verkehr  mit  dem  eiterliehen  Hanse,  in 
ansgedelmten  natunsissenschaftlichen  Excursioncn  und  in  seiner  Betlieilignng 
an  der  Liedertafel  zn  Heide.  Durch  diese  letztere  sollte  der  entscheidende 
Wendepunkt  in  Klans  Groths  Leben  herbeigeführt  werden. 

1844  wurde  er  aaf  das  Sängerfest  zu  Schleswig  geführt.  Hier  lernte  er 
das  heirliohe  BaDmaansehe  Sebleewig'Holstein-Lied  kennen,  das  ihn  In  nngeahnter 
Weise  f&r  sein  ^'aterland  nnd  fttr  die  deutsche  Sache  begeisterte.  In  jene  Zeit 
filllt  auch  die  Entstehung  der  vlämischen  Bewegung,  jenes  patriotischen  Be- 
streben*^, der  vlUmischen  Volkssprache  ihre  lang"  verkannten  Keclite  wiederzu- 
geben, die  in  Klans  Groth  einen  mächtigen  Widerhall  fand  und  den  ersten 
Gedanken  zum  „Quickbom'^  in  ihm  wachrief.  Von  jeuer  Zeit  an  dachte  der 
jsBge  Lehrer  nnr  noch  daran,  seiner  eigenen,  venuditeten  fdattdentschen  Mntter- 
qnraehe  den  ihr  gebürenden  ehrenvollen  Platz  in  der  dentsdien  Literatur  zu 
erringe«.  Da  die  Mnndart  Volkssprache  ist,  so  beschloss  er,  in  ihr  ein  "Werk 
zu  schallen,  welches  ein  Bild  des  innersten  Denkens  und  Empfindens,  des  ganzen 
Lebens  und  Webens  des  A'olkes  seiner  engeren  Heimat  werden  sollte,  und  so 
nahm  der  Plan  zum  „Quickbom"  festere  Gestalt  an. 

Sofort  ging  er  ans  Werk;  er  versnehte,  einige  mundartliche  Diehtnngen 
zn  sdureiben ,  lieB  aber  bald  davon  ab,  weil  er  die  Nntzlosigfcelt  dieses  Begin- 
nens einsah.  Er  erkannte,  dass  die  erste  Bedintrnng:  zu  einem  erfolgreicht  n 
Weiterarbeiten  eine  tiefere  Ertorschung'  der  Spraeh^esetze,  besondei's  der  Laut- 
gesetze des  Plattdeutschen  sei,  ohne  welche  alles  Mühen  vergeblich  war.  Wo- 
hu  aber  sollfee  er  die  Kraft  zn  diesen  Studien  nehmen,  die  Kraft,  die  sein 
aHietttnishee  Amt  sehen  im  ÜbermaB  absorbirte?  Da  hieB  es  nnn  efaifoeli: 
einem  Herren  kannst  du  von  jetzt  an  nur  dienen;  entweder  lebe  ganz  der 
Schule  oder  g'anz  deinem  Ideal!  1847  li  gte  Klaus  Groth  sein  Lehramt  nieder 
und  begab  sich  auf  die  lusel  Fehmarn  zu  seinem  Freunde,  dem  Lehrer  Leon- 

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hard  Seile  in  Landkirchen,  bei  dem  er  Wohnung  nahm,  um  hier  in  ^ßter 
Znrfickgezogenheft  aaiMii  Stndtai  toleii  m  kBmMo. 

Bei  allen  Biofrapli«ii  flndet  man  mm  die  Angabe,  daas  Klana  Grtfth  sich 
hier  anf  das  Amt  eines  Seminarlehrers  oder  nnf  das  höhere  Lehramt  vorberei- 
ten wollte.  Es  ist  dem  Dichter  völlig-  nnerkliirlich,  woher  dieser  Irrthum 
stammt,  und  er  hat  mich  gebeten,  zu  erklären,  dass  es  iliiii  niemals  in  den  Sinn 
gekommen  ist,  Seminarlehrer  zu  werden  oder  zum  höheren  Leliramt  überzu- 
treten.  Ebenso  onriöhtig  ist  das  aentinentale  Geaptttoh  zwischen  Vater  and 
Sohn,  weldiea  Karl  Eggers  anf  S.  19  leln^  Sehrifti  ttar  Klans  Onrth  mit- 
theilt;  Der  Dichter  verwahrt  sich  in  einem  Briefe  an  midi  gegen  jede  Senti> 
mentalität.  Er  schreibt:  ,,Ich  wünsche  sehr,  dass  dies  richtiggestellt  werde, 
damit  Hartwig  Grotli  nnd  sein  Sohn  Klaus  nicht  als  sentimentale  Waschlappen 
der  Nachwelt  erecheinen/'  Als  £llaus  duich  das  augestrengte  Arbeiten  immer 
elender  wvrde,  sagte  sein  Vater  eines  Morgens  tn  fka:  Hin  Jong,  son  AAeiden 
Nadit  nn  Dag  ohn  en  Erholung  geit  ni,  dat  kan  keen  Minaeliennatnr  nthole." 
Klans:  „Dat  weet  ik."  Vater:  „Denn  hol  doch  mal  pnst  nn  ran  (mhe)  di 
mal  ut!"-  Klaus:  „Ik  will  öwem  Graben  springe  nn  nehm  jüs  den  Tolop.  Puat 
hoin  geit  ni.   Küwer  kam  ik,  ob  dod  oder  lebennig,  dat  weet  ik  nich." 

Durch  nichts  ließ  er  sich  von  seiueu  Studien  ablenken,  weder  durch  die 
Bitten  des  Vaters,  noch  dnreh  die  politiMdien  S^eigniSBe,  die  mn  bald  über' 
Sidileswig^HolBtein  hereinbrachen.  Es  ist  annmehmen,  dass  aufreibende  Arbeit 
fftr  ihn  nothwendig  und  ein  Heilmittel  gegen  eine  unglückliche  Liebe  war,  von 
der  er  in  den  „Hundert  Blättern''  so  gläckUch  nnd  auch  mit  80  schneidend 
bclirillem  Ton  zu  erzählen  weiß. 

Buhe  hatte  Groth  auf  Fehmarn  gesucht,  Aufregung  sollte  er  finden.  Das 
Jahr  1848  braehte  die  sehleswig^holsteinisehA  Erhebung,  der  1850  die  Be- 
setzung der  Insel  durch  die  Dänen  fldgte.  Da  Klaus  Groth  einige  plattdeutsche 
Kriegslieder  hinausgesandt  liatte,  so  wurde  er  viel  von  der  dänischen  Polizei 
treplagt;  aber  auch  dadurch  ließ  er  sich  nicht  von  seinem  Ziele  ablenken,  und 
niilier,  immer  näher  kam  seine  Idee  der  Verwirklichung.  Doch  die  Kräl\e  des 
übermäßig  angestrengten  KOrpers  und  Geistes  drohten  zu  versagen.  »Herr, 
laaa  mieh  so  lange  leben,  bis  ich  mein  Buch  fertig  habe.  Amenl"  so  betete  er 
Abend  fBr  Abend.  Hit  Gewalt  railte  aloh  der  Ringende  noch  einmal  zusam- 
men, nnd  —  das  große  Werk  war  gethan,  das  Ziel  en'eicht.  Wenige  Wochen 
vor  Weihnachten  1852  erschien  der  ..Qnickborn;  X'olksleben  in  plattdeutschen 
Gedichten  Dithmarscher  Mundart**,  das  Buch,  welches  den  bisher  unbekannten 
jungen  Mann  plötzlich  berühmt  machte. 

Wie  sehr  das  Buch  angeMndet  wurde,  liabe  leh  bereits  eingangs  ge- 
schildert, aber  anderseits  fanden  sich  auch  begeisterte  Freunde,  welche  laut 
den  Rnhm  des  jungen  Dichters  verkündeten.  Gervinus.  Freytag.  E.  M.  Arndt 
und  Alexander  v.  Humboldt  sind  gewiss  geeignet,  die  Angreifer  völlig  autzu- 
wiegeu.  Der  buchhäudlerische  Erfolg  des  W^erkes  war  ein  ungeahnter;  denn 
die  aOOOBieniplaie  stailwAnflage  war  solion  vor  dem  Feste  Tergrülto.  Aber 
nur  knrae  Zeit  vermochte  der  Dichter  steh  seiner  TrinmiAe  sn  erfreuen^  dann 
verfiel  er,  zum  Tode  ermattet,  in  eine  schwere  Krankheit,  die  ilin  drei  Monate 
an  das  Krankenlager  fesselte.  Nachdem  die  Gefahr  glücklich  überstanden 
war,  begab  er  sich  1853  nach  Kiel,  um  in  den  Seebädern  von  Düsternbi-ook 
Stärkung  uud  völlige  Genesung  zu  finden.  Gleichzeitig  sammelte  er  hier  seine 


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iMehdMtMsbAD  GocUdite,  die  1864  unter  den  Titel  „Himdert  Blltter,  Ftoeli- 
pOBMM  zun  Quickborn"  enchienen,  aber  trotz  vieles  Schönen,  das  die  Samm- 

Inng  enthält,  nnbeaclitpt  vorttbers-ingen.  Groth  hatte  durch  sein  erstes  Werk 
die  nachfolgenden  selbst  todt  gemacht;  denn  nicht  ein  einziges  hat  auch  noi' 
annähernd  den  £rtblg  des  ersten,  „Qoickbom",  aufzuweisen. 

1865  endiienea  GioHifl  »Vertdls.  PlattdestMlie  En&hlongen.''  In  dem- 
selben  Jahn  begab  er  sieh  auf  Bdseu.  Über  Hamborgs  und  Pymumt  ging  es 
an  den  Rhein  nach  Bonn,  wo  er  zwei  seiner  schönsten  Jahre  im  trauten  Ver- 
kehr mit  Simrock,  Brandis,  Arndt,  Jahn  und  Dahlmann  verlebte.  Von  der 
philosophischen  Facultät  der  Universitüt  Bonn  wurde  dem  gefeierten  Dichter 
die  Doctorwürde  honoris  causa  eriheüt.  Eist  1857  kehrte  Groth  über  Dresden 
lad  Leipzig  naeb  Kiel  zurflck,  woeelbet  er  rieh  als  Doeent  der  deutsehen 
Sprache  and  Literatur  hahUitlrte  und  daroh  Verheiratung  mit  einer  hoch- 
gebildeten md  Uebeoiwttrdigen  Dame  aas  Bremen  einen  glftcUiohen  Hausstand 
gründete. 

Von  (Tioths  weiteren  Veröftentlichungen  mögen  zunächst  genannt  sein  die 
«Briefe  über  Hochdeutsch  und  Plattdeutsch"  (1858;,  dui-ch  welche  der  Dichter 
mit  Bester  in  Goniiet  gerieth.  Er  hatte  Beatexa  ,  Lauschen  un  Rimels"  an- 
gegilftn,  da  er  hl  der  mit  grofea  Talent  vergenommenen  Behandlung  rein 

anekdotischer  Stoffe  eine  Gefohr  fttr  die  Würde  des  Plattdeutschen  erblickte, 
fSr  die  er  ja  seine  beste  Lebens-  und  Geisteskraft  hingegeben  hatte.  Reuter 
vertheidigte  sich  in  einer  sehr  geharnischten  Broschüre  und  damit  war  der 
unerquickliche  Streit  beigelegt;  denn  als  1860  „Ut  de  Franzosentid"  erschien, 
war  Groth  der  erste  namhafte  Schriftsteller,  der  in  Affientlicher  Kritik  das 
Badi  feierte. 

Erst  kürzlich  hat  Herr  Dr.  Theodor  Gaedertz  den  traurigen  Muth  gehabt, 
auf  Grund  dieses  kurzen  literarischen  Streites  in  Heft  \'  Spalte  1340 — 1341 
der  Zeitschrift  „\'oni  Fels  zum  Meer"  die  niedrigsten  X'erdächtigungen  auf 
Grotbs  Charakter  zu  werfen.  Neid  und  Missgunst  über  eine  günstige  Kritik 
▼<m  Kobert  Pruta  sollen  dem  gefeierten  Dichter  des  „Quickbom"  gegen  den 
noch  gänzlich  unbekannten  Schnurrenei-zäLhler  und  Possenreißer  Reuter  die 
Feder  in  die  Hand  gedrückt  haben,  alle  möglichen  Ansti'engungen  soll  unser 
Dichter  /.u  einer  späteren  Annäherung  an  Keuter  gemacht  haben,  so  dass  letz- 
lerer sich  davon  angewidert  gefühlt  habe.  Schmachvolle  Bezeichnungen  falleu 
von  Gaedertz  auf  Groths  Charakter,  und  mit  Holmlachen  greift  er  einige  Sätze 
aat  Orolhs  Kadurof  anf  Beater  heraus,  nm  sie  au  geiBeln.  Dnrch  die  Güte 
des  Hemi  Frofeieor  Groth  bin  ich  im  Belitz  einer  großen  Anzalil  von  Briefen, 
die  Gaedertz  in  den  Jahren  1877 — 1879  an  den  Geschmilhten  gerichtet  hat. 
Sie  fließen  über  von  Hot  hachtung.  Liebe  und  Verehrung  und  verheißen  ewige 
Dankbarkeit  und  Treue.  Hat  denn  HeiT  Dr.  Ciaedertz  .schnell  verge.sgen, 
was  Groth  ffir  ihn  gethau  hat,  dass  er  jetzt  mit  faulen  Äpfeln  nach  ihm  wirtt  / 
AUerdingt  kenne  idi  sehr  wol  die  TJraaehe  daven.  Profeesor  Groth  hat  sich 
nicht  herbeigelassen,  Gaederts'  Gedichtsammlung  .Julklap])  xfletitlidi  an 
empfehlen,  wie  der  Verfasser  schon  vorher  durch  Beilagen  und  Zeitungsn<ttizen 
ausbreiten  lieC.  Was  Gaedertz  Uber  Groths  Verhältnis  zu  Kenter  gesdiiieben 
hat,  ist  Unwahrheit;  Klaus  Groth  ist  bereit,  eidlich  zu  versichern,  dass  er  nie- 
mals nach  jenem  Streit  eine  Annäherung  an  Beuter  yerandit  oder  den  Aaftng 
zu  einem  solchen  Vemch  gegeben  hat  Was  etwa  Freunde  hbiter  seinem 


—  46  — 


Bücken  getban  haben,  ist  ihm  unbekannt  geblieben.  Herr  Dr.  Gaedertz  hat 
mit  EnthüUnngen  gedroht:  .Heraus  denn  mit  dem  Flederwiadi!'*  KiauBGroths 
lauterer  Charakter  ist  über  jedem  Zweifel  erhaben.  — 

Femer  sind  von  Groth  erschienen:  „Hotbgeter.  Meister  Lamp  an  siu 
Dochter''  (1862),  „Qaickboni  (1870),  „Ut  min  JungsparadiM"  und  aaU- 
reiche  andere  EnKhlnngen,  Gedichte  nnd  Anftfttee  fiber  mnndartliehe  Diditong 
in  den  angesehensten  Zeitscbrifren.  1863  machte  er  noch  eine  grOßere  Reise 
durch  England  und  Frankreich  und  wurde  1860  zum  Professor  pmnnnt.  Ge- 
legentlich seines  ^öjiilirig'en  Schriftstellerjubiliiums  1H72  und  seines  70.  Ge- 
bartata£;es  iu  diesem  Jahre  wurde  er  von  der  Regierung  sowie  seineu  zahl- 
reidieii  SVenndea  hodi  geehrt  und  aivgeaeiehnet. 

So  aehr  aneh  EhuB  Groth  dnreh  seine  Thatkraft  und  Ansdaner  daa  Glfiois 
an  lieh  an  fesseln  wnsste,  sind  ilun  doefa  andh  schwere  Schicksalsschlägc  nicht 
erapart  geblieben.  Seinem  Schmerz  um  da.s  vernichtete  Tjt')ieiisa:lürk  hat  der 
Dichterin  dem  tieftraurigen  Gedichte  „Min  I*«trl"  lu izbrwegenden  .\usdruck 
verliehen.  Aber  das  Leid  hat  ihn  nicht  verbittert  und  liat  es  nicht  vermocht, 
den  idealen  Gedanlcenflng  dea  Sftngera  anfrohalten.  Emst  lagert  zwar  auf 
dem  tieljsefiirehten  Gesicht,  aber  hengewinnende  Frenndliohkeit  sfiEieht  aas 
den  Idugen  Augen.  Stets  ist  Klaus  Groth  bereit,  anderen  zn  helfen,  soweit  es 
in  Reiner  Macht  steht,  und  selbst  die  übelsten  Erfabruniren  haben  ilm  nicht  von 
seiner  Hilfsbereitschaft  al»znschreeken  vennocht.  Ktine  Mühe  ist  ihm  zu  ^-roß, 
weuu  er  durch  dieselbe  der  plattdeutschen  Sprache  dienen  kann,  ilerr  l'astor 
.PaDlsen  in  Kropp,  der  Heraosgeber  des  Neuen  Testamentes  in  plattdentsober 
Sj^radie,  hat  dies  in  reichem  MaBe  erfahren. 

So  groB  anch  des  Dichters  Bedeatangf&r  die  engere  Heimat  ist,  in  ihrer 
vollon  Gr^iße  zeigt  sich  dieselbe  doch  ei-st  im  Auslände.  Selten  wol  ist  es  einem 
l)ichter  vergönnt  gewesen,  in  dem  Maße  vereinigend  auf  die  im  Auslande 
lebenden  Deutschen  zu  wirken,  wie  Groth;  selten  wol  ist  es  einem  gelungen, 
so  viel  aar  Hebnng  des  deutschen  Wesens  im  fremden  Lande  beiinitragen.  Vor 
allem  wissen  die  in  Amerika  lebenden  Deutschen  onseren  Dichter  m  schätzen. 
Zahlreiche  plattdeutsche  Vereine  existiren  in  den  Vereinigten  Staaten,  und  drei 
]>lattdeutsche  Zeitschriften  lassen  sich  dort  die  Pflege  der  niederdeutschen  Sprache 
angelegen  sein. 

Aber  fast  noch  bedeatender  ist  Groths  Einfloss  in  Belgien  und  Holland. 
Es  «nrde  schon  daranf  hingewiesen,  wie  die  Tttmische  Bewegang  daaa  beige- 
tragen hat,  die  Idee  des  „Qnidtbom"  in  ihm  wachzarafen.  Dafür  hat  später 

diese  Bewegung  reiche  Stärkung  aus  den  Dicbterw  erkon  Groths  erhalten,  be- 
sonders nachdem  es  dem  unermüdlichen  und  gelehrten  Antwerpener  Stadtbiblio- 
thekar Dr.  Hansen  gelungen  war,  eine  Schreibweise  aufzuünden,  durch  welche 
platttoitsdie  Dichtungen  ohne  jede  Veränderung  jedem  Niederländer  verständ» 
lieh  wurden,  der  seine  Sprache  wirUich  kennt  Prof.  Groths  grofle  Yeidieoste 
sind  auch  von  König  Leopold  II.  anerkannt  w<>]  leiu  d>  i  den  Kieler  Profiessor 
cum  Elin-iiinitiilied  der  nentrecriindeten  vlämischen  Akademie  ernannt  hat. 

Ich  bin  am  Schluss  dieser  Studie.  Möge  an  ihrem  Ende  das  Wort  stehen, 
welches  Prof.  Müilenholf  schon  vor  33  Jahren  schrieb,  da«  aber  noch  lieute 
seine  volle  Berechtigung  hat:  „Die  Hiat,  die  Groth  Tfdlbradit,  wird  nie  ver- 
jähren, ihre  Wirkung  wachsen:  mttge  die  Gegenwart  nicht  vergessen,  wie  viel 
er  ihr  geopfert" 


Wege  Hnd  Ziele  €er  Dialektfomliiiig. 


Xn  der  Erfoi-schuiig  der  deutschen  Mundarten  lassen  sich  sehr  verschie- 
dene  Wege  TerfolgeD.  In  der  Uteren  Zeit  handelte  es  deb  nur  nm  die  Er- 
forachnng  des  Thatsachlichen.  Wir  haben  schon  im  18.  Jahrhundert  eine 
Arbeit  dieser  Art.  das  große  Bremischo  Wörtorbnch,  femer  Stadlers  Versuch 
eines  schweizerischen  Idiotikons  (1812)  und  Sdimids  lexikalische  Arbeiten  über 
den  schwäbischen  Dialekt.  Aber  erst  im  3.  Jahrzehnt  unsere«  Jahrhunderts 
sollte  die  mundartliche  Forschung,  und  zwar  mit  einemmale,  um  Riesenschritte 
gefttrdert  werden  durch  die  Arbeiten  Johann  Andreas  Schmellers  Aber  die 
Dialekte  Bayerns.  Zuerst  erschien  1821  das  Werk  ,,Über  die  Mundarten  des 
Königreichs  Bayern",  nnd  elf  .Tahie  spilter  das  weit  berühmter  gewordene 
bayrische  Wörterbuch.  <las  nach  neun  .lahren  in  vier  Bilnden  vollendet  war. 
Aul'  Scliuiellers  Wörterbuch  ist  lauge  Zeit  keine  ähnliche  Arbeit  gefolgt.  Erst 
vor  wenigen  Jahren  hat  sich  ihr  in  dem  grofiartig  angelegten  schweizerischen 
Idiotikon  eine  solche  snr  Seite  gestellt  Im  Jahre  1854  wnrde  Ar  die  Er- 
for.«;chungder  deutschen  Dialekte  eine  eigene  Zeitsclirift  gegründet :  „Die  deutschen 
Mundarten",  die  es  bis  zum  .lalire  1877  auf  sieben  Bilnde  "febrarbt  hat.  Alb- 
diese  Arbeiten  liabm  das  (ienieinsame.  dass  e.s  ilinen  durchaus  um  die  Dar- 
stellnng  des  Thatsächlichen  zu  thuu  ist,  des  jetzigen  Dialektes,  sowie  seiner 
älteren  Encheinungsfbnnen,  soweit  sie  mit  den  heutigen  zusammenstimmen. 
Dagiegeii  handelt  es  sieh  noch  nicht  um  ein  System  der  Terschiedenen  Ersehei- 
nnngen,  um  eine  Geschichte  der  einzelnen  Mundarten. 

Inzwischen  war  Grimms  Orammatik  und  neben  ihr  so  manches  bedeut- 
same Werk  erschienen,  das  auf  die  (teschichte  der  deutschen  Sprache  und  auf 
das  Verhältnis  der  einzelnen  Sprachgruppen  in  den  altdeutschen  Denkmälern 
dn  Licht  warf.  Dm  mnsste  Lust  zn  dem  Versuch  machen,  die  dnzelnen 
deutschen  Mundarten  historisch  danmstellen. 

Es  ist  das  Verdienst  von  Karl  Weinhold,  in  seiner  Grammatik  der  deutschen 
Mundarten  diesen  Versuch  für  das  alemannisehe  und  das  bajTisclie  Gebiet  ge- 
macht zu  haben.  In  (iic^em  Werke,  sowie  in  \\'einholds  mittelhochdeutscher 
Grammatik  liegt  nun  der  Nachdruck  durchaus  auf  der  Kenntnis  der  alten 
Sprachdenkm&ler,  wihrend  dia  modefnea  Mundarten  nur  nebenbei  behandelt 
sind.  Die  allen  diesen  Wata  gemeinsame  Voraussetzung,  der  feststehende 
Unterschied  zwischen  Dialekt  nnd  Schriftsprache,  ist  zuerst  von  Franz  Pfeiffer 
und  dann  von  Hermann  Paul  in  seinem  Schriftchen:  ,,Gab  es  eine  mittellmob- 
deutsche  iSchriftspracheV"  erschüttert  werden.  Nach  Pauls  Untersuchungen 
hat  es  eine  mittelhochdeutsche  Schriftsprache  gar  nicht  gegeben;  die  einzelnen 
Dichter  hatten  jedtt  seine  etgene  heimatliche  Mundart.  In  ihrer  schKrihten 
Form  bat  diese  Behauptung  Pauls  wol  niemand  flberzengt.   Aber  sein  Ver- 


—  48  — 


dienst  ist  es,  die  früheren  Ansichten  vw  der  Ent£tehnng  einer  mitteUiocli* 
deutschen  Schriftsprache  zurückgewiesen  zu  liabeii.  Eine  solche  hat  nnseren 
alten  Dichtern  vorgeschwebt,  Sio  hah»^n  das  Ideal  derselben  bald  mehr,  bald 
iiüuder  erreicht.  Aber  weuu  luau  früher  von  dem  (großen  Kinäubs  der  Höfe  auf 
die  BUdnng  dieser  Sprache  redete,  eo  iit  dieeer  Ton  Paul  nit  Recht  xarack- 
gewieeen  worden.  Der  HmqiCfiustor  in  der  Bfldiug  einer  Schriftsprache  ist 
gt«t8  die  Schrift  lelbat.  Die  Frage  nnn,  welcher  Art  das  Verhältnis  der  ge- 
schriebenen  Sprachen  zn  den  Mundarten  und  dieser  antereinander  sei.  ist  eine 
sehr  verwickelte,  zu  deren  Beantwortung  erst  Anlaufe  genommen  sind.  Wa« 
letztere  Fi-age  betrifft,  su  ist  seit  Schmids  Buch:  „Über  die  Verwandt£chaft8- 
verhlllnlüe  der  indogennaBlschen  Sprachen"  die  alte  Lehre  Ton  einem  aoicben 
Veriiiltnis,  daas  man  in  Form  eines  Stammbanms  darstellen  könnte,  sehr  be- 
deutend erschüttert.  Viel  mehr  für  sich  hat  die  Annahme,  dass  bei  ruhigem 
Nel>eneinandei wohnen  der  verschiedenen  Volkstheile  sich  bald  früher,  bald 
KpHter.  bald  da,  bald  dort  eine  bestimmte  Sprachneuernng  entwickelt  und  sich 
von  ihrem  Entstehongsort  weiter  verbreitet  habe,  bis  irgendwelche  Ui-sacheu 
ihrer  8efaranlranloae&  Verhreitiuif  Halt  geboten.  Dem  gegenfiber  Ue6e  sich 
aber  anch  denken,  das  in  älterer  Zeit  reinere  Verhältnive  vorhanden  waren, 
die  nur  mit  der  Zeit  getrübt  worden  wären.  In  der  That  finden  sich  oft  in 
der  älteren  Zeit  wesentlich  andere  Unterscheidungsmerkmale  zwischen  den  Mund- 
arten als  die  jetzt  vorhandenen,  was  L.  Tobler  zu  der  Behauptung  getrieben 
hat,  die  heutigen  deutschen  Mundarten  hätten  sich  erst  vom  14.  bis  17.  Jahr- 
hnndert  gebildet.  Um  darflber  Klarheit  m  gewinnen,  bat  man  sich  vor  allem 
darftber  zn  entscheiden,  an  welchem  von  beiden  Enden  die  Untersuchung  an- 
zusetzen hat.  bei  den  Hltesten  Spraclulenkmäleni  oder  bei  den  jetzigen  Mund- 
arten? Wenn  man  nun  bedenkt,  wie  wenig  teste  Punkte  die  alten  Sprach- 
denkmäler uns  bieten,  so  legt  sich  von  selbst  die  andere  Methode  nahe,  welche 
zuent  anf  eine  möglichst  geordnete  und  vollständige  Darstellnng  des  jetzigen 
Bestandes  bedacht  ist,  um  Ton  diesem  üBsteo  Punkte  aus  in  die  Vergangenheit 
zurückzugehen.  Wir  werden  also  denselben  Ausgangspunkt  nehmen,  wie  schon 
Schmeller;  aber  wir  werden  nicht  nur  die  Ergelmisse  der  modernen  Sprach- 
wissenschaft berücksichtigen,  sondern  vor  allem  die  \  erbreitung  der  einzehieii  Er- 
scheinungen von  Ort  zu  Ort  zu  verfolgen  suchen,  weil  auf  diese  Weise  um  so 
sicherere  Besultate  ra  endden  afaid.  Ein  höchst  bedentender  Venrach  in  dieser 
Bichtang  ist  der  „Sprachatlas  von  Nord-  und  lUttelhochdentaehland'*  von 
G.  Wenker-Marburg.  Was  Wenker  jedenfalls  bewiesen  hat,  ist  die  !Biatsache, 
dass  die  (Frenzen  zwischen  zwei  verschiedenen  Erscheinungen  eines  Lautes 
scharf  bestinimbai-,  Jedenfalls  die  Fälle  selten  sind,  dass  für  einen  Laut  oder 
ein  W^ort  an  dem  iiämiichen  Orte  melirere  i;'ornien  bestehen  —  ein  Ergebnis, 
welches  auch  Dr.Fisoher>Tfibiagen  anf  Grund  seiner  eigenen  Naehftmehnngen 
für  das  schwäbische  Oebiet  bestätigt,  wenigstens  waa  den  letzten  Satz  Wenkers 
betrifft,  während  es  mit  seiner  ersten  Behauptung  vielleicht  nicht  ebenso  steht. 
Was  ist  nun  der  Zweck  und  Wert  der  atomlstischen  Sprachkarten,  welche 
mittels  der  \\  eukersclien  Methode  gewonnen  werden  .'  Ihi'  Wert  liegt  vor 
allem  darin,  dass  sie  als  Hilfsmittel  der  deutschen  Ethnographie  und  Sprach- 
geschichte zu  gebrauchen  sind.  Angesichts  der  verwickelten  Probleme,  welche 
die  Beschäftigung  mit  Begiil^  Namen  und  Ausdehnung  der  einzelnen  deutschen 
Stämme  bietet,  kann  vieUeieht  gerade  die  genaue  Beobachtung  der  Grenzen 


jeder  einzelnen  Lauterscheinüng-  zum  Ziele  fähren.  So  läast  sich  mittelst  der 
ilethode.  welche  von  der  rein  atoniistisclicn  Betrachtung  der  lebenden  Dialekte 
ausgeht,  zeigen,  da&s  es  zwischen  Schwaben  und  Alemannen  sprachlich  keinen 
gcoeriachea  üntenofaied  gibt  Wenn  dam  noch  die  geschiehtlidie  Fonchimg 
tagt:  anch  die  geaddehtUeheo  Qnellea  madien  wahneheinlich,  daas  Sehwaben 
und  Alemannen  nicht  verschieden  sind,  so  hätten  wir  eins  der  nmstrittensten 
Probleme  der  deutschen  Volksgeschichte  der  Lösung  näher  gebracht.  Solche 
ethnographische  Schlüsse  lassen  sich  freilich  nicht  zu  völliger  Gewissheit 
bringen.  Wüssten  wir,  wie  weit  in  der  Zeit  unsere  Spracherscheiuungen 
artekreiehen,  so  konnten  wir  genaneree  darttber  sagen.  Nun  wird  et  die 
zweite  Aufgabe  sein,  das  jetzige  so  weit  als  mSglich  rückwärts  zu  verfolgen, 
alle  DenkraUler  auf  ihren  Sprachstand  zu  prtifen  und  mit  den  jetzigen  zu  ver- 
gleichen. Eine  solche  Arbeit  kann  nicht  einer  in  Deutschland  übernehmen; 
auf  jedem  einzelnen  Sprachgebiet  ist  eine  allseitige  Kenntnis  des  lebenden 
IMalekts  ein  Haupterfordemis.  Ohne  diese  wiid  man  manche  nicht  so  an  der 
OberUlche  liegende  Ersebeinnng  sehriftlicher  Denkmaler  nie  vSlIig  m  verstdien 
{■Stande  sein.  Das  Eesultat  solcher  Forschungen  lässt  sich  jetzt  nicht  ab- 
sehen. Indessen  ist  es  kein  bloßer  Zufall,  dass  seit  einigen  Jahren  das  Studium 
der  Mundarten  von  mehreren  jungen  Forschem  mit  Energie  und  Glück  be- 
trieben wird.  Dieses  Studium  ist  keine  Spielerei  und  kein  Gegenstand  bios 
philologischer  Ufkrologie,  sondern  w  soll  ans  den  Weg  zur  Erkenntnis  innerer 
VoReit  bahnen,  einem  Ziele,  das  man  mit  gutem  Ctewissen  all  ein  eeht  patrio- 
tisehes  bezeichnen  dar! 


FMacosiKB.  lt.  Jahxg.  flett  I. 


4 


Püda^ogisebe  Rvndsekan. 

Aus  Preußen.  (Zur  A  nciennetätsfrage.)  Auf  Wunsch  eines  Vereins- 
mitgliedes hatte  der  \'orstand  des  Vereins  von  Lehrern  höherer  ünterrichts- 
anstalten  der  Provinzen  Ost-  und  Westprenßen  statistiBche  Eiliebiuigen  über 
die  Avaiioftmeiits-  besw.  GehaltsverhUtnlBse  dar  in  d«n  drei  letsten  Stellea  be- 
findlichen  Lehrer  der  höheren  Schulen  anstellen  lassen.  Die  Hesnitate  dieser  . 
Erhebungen  gaben  zunächst  Veranlassung  zu  einem  in  der  K()iiigsV)er]2:er 
Ilartuiig'schen  Zeitung  Nr.  196  und  197  vom  22.  und  23.  August  1888  ab- 
gedruckten Aufsatz:  „Die  Lage  der  jüngeien  Lehrer  höherer  ünterrichts- 
anstalten^jisodann  aber  brachte  auf  der  letBten  (XIV.)  GeneralrenanimlnBg  des 
genannten  Vereins,  über  welehe  seineneit  sneh  in  den  „Bllttem  Ar  böberes 
Schnlwesen"  Bericht  erstattet  wurde,  der  Schriftführer  zwei  kleinere  Aufsätze 
über:  „Die  Laj^re  der  Candidaten  des  höheren  Schulanites  in  Ost-  und  West- 
preußen"  und  über  die  Frage:  „Inwieweit  wird  bei  der  Anstellung  bezw. 
Beförderung  der  Anciennetät  Rechnung  getragen  V  "  zur  X'erlesung.  Das  durch- 
sehnittliehe  Dienstalter  betrog  danadi  am  1.  Jannar  1888: 

ffür  OstprenBen     fiir  Westprenßen 
beidendreiletztenoKLLehremS    Jahre      (IS»/,— 4Vy    8,7.5  fl4-/g—n^ 

„  „  vorletzten  ..      „     5,62    „  (S^/^— 2'/,)    6,52(1  P/^-H^) 

letzten  „     4.5     ..  b.2'i  (O^^  ^— 2\) 

„  „  Hüfslehreru  3,25    ,.  (ö*/*— l'/J    3,63  (5'  ^— 1\  j. 

Bei  elf  dieser  Hüftlebrer  betrug  die  Dnrehsohnittswarteseit  bedentend  mehr 
als  vier  Jabre;  sie  bezogen  aber  trotzdem  immer  noch  nnr  das  Qehalt  eines 
angehenden  Gcrichtsschreibers  oder  sonst  eines  beamteten  MilitÄranwärters. 
Von  den  Sehnlunitscandidaten,  die  1 882  ihr  Probejahr  in  Ostpreußen  antraten, 
waren  drei  bereits  in  der  Stellung  eines  drittletzten  ordentlichen  Lehrers,  be- 
zogen also  das  Aufangsgehalt  der  Richter,  vier  waren  vorletzte,  drei  waren 
letste  ordentlicbe  Lehrer,  vier  HOfUehrer,  hatten  also  die  Hftlfte  des  Anfongs- 
gehaltes  der  Bichter,  und  vier  waren  noch  ganz  unbesoldet.  Fttr  das  Jahr 
1883  Bind  die  entsprechenden  Zahlen:  2,  2,  2,  4  (8),  in  Westprenßen,  wo  die 
Zahl  der  Unbesoldeten  nicht  festzustellen  war,  für  1882:  3,  6.7,  3;  riirl8R3: 
ü,  4.  3.  4.  Der  jüngste  drittletzte  ordentliche  Lehrer  in  Ostpreußen  trat  sein 
Probejahr  Mich.  1883  au,  der  älteste  vorletzte  dagegen  bereits  Ostern  1879, 
der  ttlteste  letste,  von  einem  ganz  besonderen  Fall  abgesehen,  Ostern  1880, 
die  beiden  Sltesten  Hüftlehrer  Ostern  1882,  ein  letzter  ordentlicher  Lehrer 
aber,  eben  der.  welcher  sidi  in  jenem  ganz  besondeien  Falle  betindet,  fac. 
docend.  in  Reliirion  und  Hebräisch  fiir  I..  in  Dentsch  fiir  Ob.  II.  etc..  ein  in 
wissenschaftlich -theologischeu  Kreisen  infolge  seiner  Arbeiten  nicht  unbe- 
kannter Gelehrter,  begann  sein  Probejahr  bereits  Ostern  1874  nnd  ist,  nach- 


—  61  — 


dem  er  allerdiogt  mehnnala  die  Proyinc  gewechselt  hat,  seit  den  letsten  nenn 

Jahres  an  derselben  Anstalt  thätig  nnd  bei  jeglichem  Mangel  an  Anssicht  anf 

Avancement  vom  Ma°:i8trat  der  betreffenden  Stadt  mit  einer  persönlichen  Zu- 
lage bedacht.  Durchweg  ergaben  die  statistisch  festgestellten  Zahlen  die 
allergrößte  Ungleichheit  und  zugleich  ein  um  so  traurigeres  Bild  vun  der  Lage 
der  jüngeren  Lehrer,  als  kaum  ii^endwdehe  Hoffnung  auf  Bessenmg  ihrer 
Infieren  Stellnng  ▼orhanden  ist 

Hinsichtlich  der  Frage,  inwieweit  bei  der  Anstellung  resi».  Beorderung 
der  Anciennetät  Rechnung  getragen  werde,  stellte  sich  heraus,  das«,  wSlirend 
z.  B.  in  Sachsen  die  Anstellung  strenge  nach  der  Aneit  iinetUt.  ohne  Riicksiclit 
aut'  das  Bedürfnis  der  Schule,  an  der  eine  Vacanz  eintritt,  und  auf  die  Facul- 
ttten  dea  hetreflhoden  Oiadidatan,  in  Ostp  nnd  Westprenßen  gar  kein  festes 
PrfaMdp  dafür  voriianden  sei,  in  den  meisten  FHUen  aber  Jedenihlls  nicht  nach 
der  Anciennetüt  gegangen  werde,  so  dass  man  den  Eindruck  gewinne,  als  ob 
1.  dem  nedürfiiis  eines  bestimmton  Faches,  wobei  dann  allerdings  ircwiss»»  her- 
vorgetretene Inconseqnenzen  nicht  zu  verstehen  seien.  2,  den  Wünschen  des  be- 
treffenden Dirigenten  und  sonstiger  „hoher  Patronage*',  3.  anderweitigen  Rück- 
sichten,  „die  sich  der  Bearthelinng  entdehen",  Rechnung  getragen  werde,  nnd 
als  ob  die  Beligionalehrer  eine  ySlIlge  Sonderat^nng  einnehmen. 

Jm  Ansehlnss  an  diese  durch  zahlreiche  Thatsachen  unterstfitzten  Ans- 
föhmngen  wurde  auf  der  am  30.  September  nnd  1.  <),  tolier  \9,HH  jrn  Alien- 
stein aV)gehaltenen  Generalversammlung  der  .Antrat,^  gestellt  und  angenommen, 
eine  Liste  sämmtlicher  Lehrer  an  den  höheren  Schulen  Ost-  und  Westpreaßens 
(nach  dem  Beispiele  der  Provins  WestiUea  und  Hessen-Nassau)  aalirastelien, 
die  den  Tag  des  Examens,  den  Anfang  derLehrthitigkelt  nnd  die  Gehaltsstufe 
ani^t,  ein  Beschluss,  der  gleichlautend  auch  in  Bonn  gefasst  war,  und  an 
dessen  Ausrulinuip  nnn  von  Seiten  des  Vorstandes  noch  vor  Schloss  des  Winter- 
semesters gegani;en  werden  sollte. 

Inzwischen  aber  war  die  Veröffentlichung  vun  Listen  nach  Art  der  hessen- 
Naasanisehen  vom  Herrn  Minister  dorch  Zuschrift  an  den  Director  des  Real- 
gymnasiums in  Cassel,  Dr.  Wittiifli,  gemiasbilligt  worden,  „weil  dadurch  die  der 
Billigkeit  entsprechende  gleichzeitige  Berficksichtignng  der  aus  dem  Dienstalter 
nnd  ans  der  wissenschaftlichen  und  praktischen  Leistung  erwachsenden  Ansprüche 
nicht  erleichtert,  vielmehr  Anlass  zn  unklaren  Vorstellungen  und  unbegründeter 
Unzufriedenheit  gegeben  werde''.  Dieser  Umstand  veranlasste  den  Vorsitzenden 
des  Vorort»- Vorstandes,  Oymnasialdirector  Dr.  Steinmeyer- Aschersleben,  die 
Ansicht  der  Provinzial vereine,  besw.  der  Vorsttnde  derselben  ttber  die  Aus- 
führung des  Bonner  Beschlusses  einzuholen,  da  er  es  nnter  allen  Umständen 
fnr  wün'^riienswert  glaubte  halten  zu  mttssen,  dass  eämmtliche  Vereine  ttber- 
einstimmeud  verfahren. 

Nach  dem  nunmehr  erfolgten  Erscheinen  der  Dienstaltersliste  der  Rhein- 
lande ergab  sich,  dass  sieh  die  Aussehflsse  des  rhehiischen,  westfUischen 
hessen-nassaaiBChen,  hannoverschen  und  pommerschen  Provinzialvereins  ein- 
stimmiiT.  des  schleswig-holsteinischen  ^fs^fw  eine  Stimme  für  die  Ansführnng 
des  Bonner  Beschlusses  aussi)rachen.  Der  Vei  einsvorstnnd  in  Brandenburg 
enthielt  sich  der  Abstimmung,  weil  die  Generalversammlung  noch  keine  (Ge- 
legenheit gehabt  h&tte,  zn  dem  Beschlass  der  Bonner  Delegirtenoonferenz  Stel- 
lung m  nehmen,  nachdem  sie  sich  vor  diesem  Beschlüsse  gegen  die  Aufttellung 

4* 


—  52  — 


solcher  Listen  iiberlianpt  ausgesprochen  habe.  Aus  Posen  und  Schlesien  stan- 
den die  erwarteten  Äußerungen  noch  ans.  In  Ost-  und  WestpreuÜen  war  der 
Vereinsvorstand  bia  auf  den  Vorsitzenden  f&r  die  Aosföbrnng  des  gefassten 
Besefalvsses.  Diner  nSmlisli,  s.  Z.  GymnasiaMirector  Baohliols-BltoMl,  tthrte 
zunächst  aus,  dass  Lehrerverzeichnisse  in  der  Art  der  von  der  Rheinprovinz  und 
Hessen-Nassau  aufgestellton  ihren  Z\<>  «  ck  nicht  zu  erfUllen  vennöjfen.  Es  sei  die 
Aufgabe  solcher  Listen,  das  Material  abzugeben  zur  deutlichen  Einsicht  in  die 
Thatsache,  dass  in  der  Lehrerbeförderung  nicht,  wie  bei  anderen  Beamten- 
kategorien, das  Dienstalter  ausnahmslos  bei  sonst  gleichen  VerhSltoissen  gleich- 
ndUUg  die  einaefaieii  höhar  trSgt,  soodani  data  hier  das  natflrliohe  Anfrttekan 
nach  dem  Dienstalter  vielfach  durch  irrationale  Momente  gehemmt  bezw.  zum 
Schaden  anderer  gefördert  wird,  und  es  sollen  femer  die  Lehrerverzeichnisse 
die  auch  im  allgemeinen  ungünstigere  Gehaltslao^e  und  Rangstellung  der  Gym- 
nasiallehrer gegenüber  anderen  gleichartigen  Beamtenclassen,  insonderheit  der 
BichtATi  naehweiseD.  Dieaem  Zwidw  al»er  Umie  oflEeahar  nur  unter  der  Vor- 
aassetsuDg  genügt  werden,  dass  alle  in  den  Listen  angefahrten  Lehrer  an 
nachgewiesener  wissenschaftlicher  Befähigung  einander  gleich  stehen,  also  alle 
ge|E:pniiber  anderen  gleichartigen  Classen  vr)lliß:  gleichwertig  seien.  Diese  Vor- 
aussetzung aber  treffe  nicht  zu,  da  die  ledif?lich  auf  Grund  ihres  ,,Prüfungs- 
zengnisaes'^  in  den  Listen  aufgeführten  „Lehrer*^  schon  nach  den  Bestimmungen 
der  Prttfhngsordnang  in  swei  Stlade  ileli  aondem»  von  denen  doch  nnr  der- 
jenige, weleher  die  Lehrer  nlt  Obeilelirerqnalitat  nndhaat,  mit  den  Biehtem 
gleichgestellt  werden  könne.  Thataache  aber  sd,  dass  zuverlässige  Listen, 
wt  lclie  auch  die  Unterscheidung  von  Oberlehrer-  und  Lehrerbefähigung  an- 
e:t'ben,  unerreichbar  seien,  und  Verzeichnisse,  welche  nicht  auch  das  Kriterium 
iür  die  beiden  Classen  der  Lehrer  enthalten,  seien  nicht  nur  wertlos,  sondern 
sogar  schsdlich,  da  sie  den  nicht  Vollberechtigten,  wenn  er  in  niederer  Stel- 
hmg  aein  hoiiea  Dienstalter  in  der  Liste  findet,  im  HintUek  anf  seinen  nur 
anvollkommen  erreichten  Lebenszweck  noch  verstimmter  machen,  den  Voll- 
berechtigten aber,  der  nicht  „Glück"  gehabt  hat,  in  seiner  ün/ufriedpnheit 
nicht  erleichtern,  zudem  beiden  Kategorien  nicht  helfen,  da  die  Behörde  über 
Dienstalter  etc.  besser  unterrichtet  ist,  als  alle  Listen  sie  unterrichten  können. 
Lediglieh  eine  hSflicheBedewendnng  sei  -ea  daher  gewesen,  wenn  das  kSniglleh 
preußische  Schulcomit^  za  Cassel  dem  Vorsitzenden  dea  dortigen  Provinzial vereine 
t&rdie  eingereichte  Dienstalterliste  seine  .\nerkennung  aussprach  und  dieselbe  ala 
eine  Arbeit  bezeichnete,  die  auch  für  die  Behörde  von  Interesse  sei.  Vom  all- 
gemeinen WolwoUen  endlich,  das  durch  solche  Listen  wachgerufen  werden  könnte, 
habe  der  hOhere  Lehrerstand,  wie  die  Verhandlungen  in  der  Volksveitretong,  in 
der  Presse  nnd  in  der  Barmer  StadtyerordnetenTMsammlnng  (4.  Deember  1888) 
beweisen,  nichts  zu  hoffen,  im  Gegentheile  würden  die  Vendchnisse  in  der  un- 
vollkommenen Art,  wie  sie  allein  herzustellen  seien,  nur  zu  hämischen  Be- 
merkungen über  unmethodiscbes  Verfaluren  Veranlassung  geben,  qaod  saagoine 
viperino  cautius  vitandum! 

Bei  der  eratm  Umfrage  hatte  ein  College,  Dr.  Brosig-Grandenz,  den  Vor- 
stand nicht  Ittr  berecliigt  erkiftrt,  die  Anaftthrnng  des  AUensteiner  Besehlnsaes, 
um  den  es  sich  für  Ost-  nnd  Westpreußen  allein  handle,  ganz  auf/uschieben, 
und  demgemäß  einen  Antrag  gestellt,  unter  T>ar]eirung  der  Bedenken  d<'s  Ndr- 
sitzenden,  der  Beschlüsse  der  anderen  Provinzialvereine  und  des  anerkennenden 


-  53  — 


Schreibens  des  königlich  preußischen  Sdiolcomit^  za  Cassel  an  den  Director 
Dr.  Wittich  die  Vota  sttmmtlicher  Vereinsmitsrlieder  dorcli  an  die  eioselnen 
CoUegien  zu  übermittelnde  Anschreiben  einzuholen. 

Dieser  Vorschlag  fand  im  Vorstande  zwar  eine  Mehrheit,  indessen  schien 
doeh  eine  aolcbe  •ehriftUche  Abstimmung  der  Entecheidang  der  (General  ver- 
sammlang  ▼OTEOgreifen.  Der  Vorstand  beschloM  daher  unter  AjiBahme  des 
Bachholzschen  Votums,  die  Ausföhning:  des  Allensteiner  Beschlusses  zu  unter- 
brechen, um  die  noch  nicht  reiflich  genug;  überlegte  Maßregel  einer  wiederholten 
Erörterung  nach  allen  Gesichtspunkten  zu  unterziehen.  Dies  zu  thun,  wird  nun 
zunächst  die  Aufgabe  einer  Sitzung  des  Vorstandes,  sodann  der  Q-eneralver- 
Mwmlmig  in  Oraudenz  Min. 

Was  da  aber  auch  beschlossen  werden  mag,  die  offenbaren  Unzuträglicli- 
keiten,  die  hier  einmal  mit  der  Anstellung  nicht  vollberechtigter  Lelirer  und 
mit  ihrer  Bef<)rderung  selbst  bis  in  die  obersten  Stellen  hinein  geschartVn  sind, 
lassen  sich  durch  derartige  Listen  nicht  beseitigen,  lassen  sich  in  ihrer  ott 
geradezu  deprimirenden  Wirkung  überhaupt  durch  nichts  auch  nur  abschwichen. 
Fftr  die  Zukunft  würde  etnfgo  schwache  Hoftiung  auf  Beeserung  allein  ein 
ÜBteniobtagesetz  gewähren.  Indessen,  wer  glaubt  noch  an  das  ZnstaiidAk<Mn- 
men  eines  solchen?  Das  Unterrichtsgesetz  ist  nun  einmal  die  Klippe,  an  der 
jeder  preußische  Cultusniinister,  sobald  er  sich  ihr  auch  nur  nähert,  zu  schei- 
tern scheint,  und  welchem  Minister,  dem  sein  Portefeuille  lieb  ist,  sollte  man 
«ine  derartige  ÜBTonlohtigkdt  znmuthen?  H.  P. 


Eheinpruvinz.  Gressler  gemaßregelt.  Die  königliche  Regierung 
in  Düsaeldinf  hat  den  Hauptlehrwr  GreMler  in  Bannen  wegen  des  an  den  Landrath 
Paul  Martinius  in  Schwelm  gerichteten  „Offenen  BrieHn"  (siebe  HeftXI,  Jahrg.  11 

des  „Psedagogiums")  In  dne  Ordnungsstrafe  von  50  Mark  genommen  und  ihm 
angedroht,  dass  er  im  Wege  des  Disciplinarverfahrens  seines  Hauptlehreranites 
entsetzt  werden  würde,  falls  er  die  in  dem  „Oflenen  Briefe"  ausgesproclienen 
Grundsätze  öffentlich  vertreten  oder  in  dem  freien  Lehrerverein  zu  verwirk- 
üehen  yersucben  sollte.  Diese  Kunde  wird  in  der  gesummten  deutschen  pftda- 
gogiaelien  Welt  das  grOBte  Aufteben  erregen,  umsomehr,  als  Gressler  wegen 
seines  mnthvoUen  and  gwefaickten  Eintretens  für  die  Schule  und  den  Lehrer- 
stand gegenüber  den  hierarchischen  Gelüsten  einer  herrschsüchtigen  evangeli- 
schen Orthodoxie  selbst  aus  den  fernsten  Ländern  von  freimüthigen  Schulniiln- 
nem  hundertfache  Zustimmung  erhalten  hat.  £s  ist  klar  —  Gressler  ist  der 
SeMtton  ein  Dom  im  Auge;  dass  sie  ihn  mundtodt  zu  machen  sucht,  entspricht 
ftren  Gepflogenheiten  von  jeher.  Wir  kommen  auf  diesen  Fall  noch  des  wei- 
teren nrSek. 

Österreich.  Auf  der  diesjährigen  „Hauptversammlung  des  deut- 
schen Landeslehrervereins  in  Böhmen"  zu  Braunau  am  9.  August  wurde 
u.  a.  Ton  Herrn  Josef  Gertler  eine  gdat-  und  schwungvolle  Gedenkrede 
«Zum  zwanzigjährigen  Bestände  unsereB'BeichiYolkssciinlgesetzes" 
gehalten,  welche'  ftrigendermaßen  schloss: 

Wir  bleiben  treu! 

Dm  dieser  inneren  Treue  äuBeren  Ausdruck  zu  verieihen,  erlaube  ich  mir. 


—  54  — 

Sie  im  Nameu  des  weitereu  Aosachiuses  zu  bitten,  zunächst  für  uacbfolgeude 
EstichlieAnnff  za  stimmen: 

Die  in  Bnnnan  tagende  Hasptvenammlnng  des  dentsdMn  Lendes-Lehrer> 

Vereins  in  Böhmen  weist  die  In  den  Heden  und  Sein  iften  der  Gegner  der  Neu- 
schule  enthaltenen  maßlosen  nnd  ungerechtfertigten  Anschuldigungen,  Schmähun- 
gen und  Verdäclitigungen  mit  Entschiedenheit  zurück  und  erklJlrt,  mit  unver- 
brüchlicher Treue  festzuhalten  au  den  Grundsätzen  deäßeich&volksscliulgesetzes 
▼om.  14. IUI  1869|  dessen  Segen  in  alle  Scbiditen  der  Bevlflkerung  gedrungen 
ist,  und  dorch  das  nnserar  Jugend  eine  streng  sittlidi<-re)igiOse  nnd  patriotisclie 
Erziehung^  nnd  eine  allseitig  harmonische  Ausbildung  gesichert  wird.  Die 
dentache  Lehrerschaft  Böhmens  spricht  zugleich  die  Erwartung  aus,  der  hohe 
Beichsrath  werde  sowul  der  Schule  als  auch  dem  Lehrer  die  bisherige  Stellung^ 
nnd  die  zugesprochenen  Kechte  vollauf  wahren! 

Femer  beantragt  der  weitere  Aosschoss,  an  Eliren  des  Jahres  nnd 
Tages  nnd  ans  p  flicht  schuldiger  Dankbarkeit  zwei  der  größten 
Freunde  nnd  Wolthäter  der  Österreichischen  Schule  unddes  Lehrer- 
standes zu  den  ersten  Ehrenmitgliedern  des  deutschen  Landes- 
Lehrervereins  in  Böhmen  zu  ernennen:  Es  sind  dies  der  edle  und 
hochverehrte  Gründer  des Beich-evolksschulgesetzesSe.Exc.  Leopold 
Hftsner  Bitter  von  Arths  nnd  der  ansgezeicbnete  Vor-  nnd  Mit- 
kftmpfer  für  die  freie  Schule  Director  Dr.  FriedrichBittes  in  Wien. 

Diese  beiden  Anträge  fanden  den  stürmischsten  Beifall  der  Versammlung' 
nnd  einst iiimiigre  Annahme.  Es  wurde  beschlossen,  die  beiden  Ehreiiniitg'lieder 
sofort  telegraphisch  zu  verständigen.    („Freie  Schulzeituug Keicheuberg.) 

Handfertlgkeitsenrsns  für  Lehrer  in  Licfatenstadt  bei  Karls-^ 
bad.   Mit  Genehmigung  des  h.  k.  k.  Ministeriums  für  Cultus  nnd  Unterricht 

vom  31.  October  1888  wurde  durch  Erlass  des  Ii.  Landes.schulrathes  in  Prag' 
vom  22.  Juni  1889  dem  Bezirksscliulratli  in  KarLsbad  die  Bewilligung  zur  Ab- 
haltung eines  Handfertigkeitscurses  für  Lehrer  in  den  heurigen  Ferien  ertheilt. 
Ein  Erlass  des  k,  k.  Beziiksschnlrathes  in  Karlsbad  fnrderte  die  Lehrer  den 
Besbkes  an  reger  Betheilignng  mt  Das  Lehndmmer  derl.  Classe  der  hiesigen 
Volksschnle  war  bald  zum  netten  Schlafzimmer  mit  guten  Betten  umgewandelt^ 
wogegen  das  Zimmer  der  II.  Classe  als  Werkstatt  diente.  Der  Lchrcnrs,  welcher 
bis  jetzt  der  erste  in  Böhmen  ist,  sowie  die  seit  vorigem  Jahre  in  Lichtenstadt 
bestehende  Sch  iiier  Werkstatt  trat  durch  die  wannen  Förderer  des  Handarbeits- 
nntezriehtes,  den  Herrn  Bezirkshaoptmann  Chralbn  CSondenhoTe  in  Karlsbad  nnd 
den  k.  k.  Bezirksschallnspector  Herrn  P.  Fks.  Xaver  Biedl  am  19.  August  unter 
der  Leitung  des  Heriii  Lelirers  Fridolin  Gelinek  ins  Leben.  Der  k.  k.  Bezirks- 
schuliiispector  eröffnete  am  genannten  Tae^e  den  Lehrcurs  und  ermahnte  die 
Tlieihiehnier  zur  Geduld  und  Ausdauer,  damit  sie  einst  für  die  Saelie  thatkrllftig 
wirken  konnten.  Durch  seine  tägliche  Gegenwart  spornte  er  die  Lehrer  zu 
dauernder  SehaJUenslust  an.  Naeh  dem  vem  k.k.BeziriE88ehu]rath  genehmigten 
Lehrplan  sind  56  Modelle  nach  dem  vom  Herrn  Director  Jos.  Urban  in  Wins 
ausgearbeiteten,  den  österreichischen  Schnlverhältnissen  angepassten  Nftas'schen 
System  vorgeschrieben.  Die  vom  k.  k.  Bezirksschnlralh  genehmigte  Werk- 
stattordnung regelt  die  Arbeitszeit  und  Ordnung  in  der  Werkstatt.  Die  tiig- 
liche  Arbeitszeit  beträgt  neun  Stunden.  Den  praktischen  Übungen  gehen  theore- 


tische  Vortrilge  voraus,  welche  sieh  auf  die  Oetehiebte,  das  Wesen  und  die 

Methode  des  Arbeitsunterrichtes,  ferner  anf  den  Gebrauch  und  die  Herrichtung 
der  Werkzeuge  beziehen.  Unter  der  nmsichtig^en  Leitun^^  des  Herrn  Lehrers 
(jelinek  in  Lichtenstadt,  welcher  sich  in  Wien  tür  Arbeiten  an  der  Hobelbank 
vorgebildet  und  an  der  Lehrerbildungsanstalt  för  Enabenhandarbeit  in  Leipzig 
fie  BeflUiigiDiir  Pappwbeiten  and  HolssehaitaEeraien  erworben  bat,  nelunen 
an  dem  Cniie  folgfende  Collegen  theil:  Josef  Bröckl-Lichtenatadt,  Oskar  Grimm- 
Schlackenwerth,  Karl  Heidler-Donawitz,  Anton  Müller-Lichtenstadt.  Kaimund 
Schwanzer-Petschau,  Rudolf  Stöberl-Engelhaus.  Außerdem  werden  noch  zwei 
aoikrordentliche  Hörer  erwartet,  für  welche  die  nöthigen  l'lUtze  reservirt  sind. 

Es  kann  nnr  im  Interesse  der  Herren  Collegen  sein,  sich  von  der  metho- 
disehen  Andnanderreihnng  der  gefertigten  Arbeiten  ca  ttbersevgeo.  El  sei 
nebenbei  erwihnt,  diiss  die  nächsten  Bahnstationen  Karlsbad  nnd  Seidacken* 
Werth  sind,  wovw  die  letatere  1*/^  Stande  entfernt  ist. 


Schweiz.  Bern  liefert  einen  hervorragenden  Beitrag  zur  Lösung  der 
Überbllrdungsfrage.  Eine  Abtheilung  der  ttadtbemisehen  CooiMlsBion  fftr 
Sebolhyglene  hat  nimlloh  dem  Gemeinderathe  Aber  diese  Frage  Berieht  er- 
stattet und  nachgewiesen,  dass  eine  Überbürdung  auf  vendliedenen  Schulstnfen 
in  der  That  vorhanden  sei,  dass  sie  jedoch  nicht  in  einem  zu  hohen  Maße  von 
Schulstnnden  und  hänslichen  Arbeiten  bestehe,  sondern  vielmehr  iu  der  H Ein- 
fang von  Fächern  auf  einer  und  derselben  äcliuistufe.  Hieraus  entsteht,  wie 
die  Berichterstatter  treffand  bemerken,  eine  ZerfUirraheit,  die  den  gewissen- 
haften Sditltf  ftngfläkh  nnd  nnsidier  nnd  eine  harmonische  Ansbüdong  onmOg- 
lieh  macht.  Dabei  wird  der  allbekannte  Satz  nur  mit  nmsomehr  Nachdruck 
betont,  dass  der  tSprachnnterricht  das  Centrum  des  Prirail runter- 
richtes  sei  und  in  den  Dienst  der  Kealtacher  treten  müsse.  Im  weiteren  ver- 
langt diese  Snbcommission  —  gewiss  ebenfalls  mit  Becht  —  keine  Reduction 
der  Ffteher,  dagegen  mehr  Beachtnng  des  Wesentlichen  gegenüber  dem  Un- 
wesentlichen ,  ein  Classenmaximnm  von  30  Schülern  fttr  die  Secnndftrschnle 
nnd  AnsfUmng  der  Anfe&txe  im  Clisseniimmer  des  Progymnasimns  statt  sn 
Hause. 

Die  schweizerische  permanente  Schulansstelluug  in  Bern  erfreut 
lieh  der  schönsten  Bifite.  Nach  zebiig&hrigem  Bestand  darf  ein  recht  segens- 
reidies  Wirken  in  eng«n  nnd  weiteren  Kreisen  eonstatirt  werden,  nnd  es  ist  an 
hdfen,  dass  die  Erfolge  sich  im  nächsten  DeoenoiuB  unter  der  trefTlichen  Lei- 
tnng  des  Herrn  E.  Lüthi  progressiv  steigern.  Die  Betheilig:ung  der  Schweiz 
an  der  Pariser  Weltausstellung,  bei  vermehrten  Beltiilsen  von  Seiten  der  Be- 
hörden, die  Bereicherung  der  Bibliothek  in  literarischer  Beziehung,  die  Ver- 
nehrung  der  jetzt  schon  ziemUdi  aaaehnlichen  Sammlung  physikalischer  Apparate, 
aUee  dies  kostete  viel  Zeit  uid  Kraft,  vermehrte  aber  aneh  den  Besaeh  der 
Anstalt  besonders  im  Berichtsjahre  wesentlich  (1207  eingeschriebene  Namen) 
und  erhöhte  somit  die  LeistiiiigsfHhigkeit  des  neuen  Institutes  auch  nach  dieser 
Biclitung  liiu  bedeutend.  Die  ehemaligen  Freunde  des  Monopols  werden  des- 
halb bald  versöhnt  sein  durch  die  edle  Goncurrenz  Berns  mit  Zürich. 

Solothnrn.  Die  gegenwärtige  Beaetion  gegen  jedetotMhritÜielieBegang 
«od  ijmpatiiiBobe  Kundgebung  für  die  wahre  Geistesfreiheit,  von  Born  ans 
iteto  mit  Bäbeeter  TJuTerdronoiheit  emenert,  oflbnbarte  ticfa  n.  a.  aneh  im 


—  66  - 


Biodaiitlea  frBilderttreit".  Die  ültramontaiMii  hofften  es  dnrehietMa  m 

können,  dass  das  Bild  des  hochverdienten  Staats*  nnd  Schnhnannes  Vigier  auf 
„höheren  Befehl  hin"  ans  den  Schulen  entfernt  werde;  allein  der  Volksen t- 
scheid  half  der  gei  t  oliten  Sache:  Mit  überwältigender  Mehrheit  hat  die  Stadt 
Solothum  dem  Stunue  ein  entschiedenes  „Half"  geboten.  Das  Bild  ist  und 
bleibt  In  den  Sdinleiii  wo  der  Ventorbene  der  anfwracheenden  Jagend  all  Vor- 
bild treuer  PflicbteiiÜllnDg  nnd  nneigennütdgen  Wirkens  Tonnlencbten  solL  — 
Die  Gegner  scheuten  sich  nicht,  am  Tage  vor  der  Abstimmung  die  Grabesruhe 
zu  entheiligen  und  in  g:ehässiger  Weise  das  Andenken  des  verdienten  Mannes  zn 
verunglimpfen,  trotzdem  er  mit  staatsmännischer  Mäßigung  wesentliches  bei- 
getragen hat  zur  Beconstmction  des  Bisthums  Basel.  Die  Stadt  Solothum  hat 
also  bewieoea,  daae  aie  „anf  der  glflcUietien  Bahn  deaFortBchiittes  dar  achwei- 
lerischen  Eidgenossenschaft  erhalten  bleibe". 

Eine  ähnliche  Treue  in  der  Unterstützung  des  zeitgemäßen,  ruhigen  Fort- 
schrittes bewies  die  Berner  Regierung,  welche  der  neuesten  päpstlichen 
Encyklika  das  Flacet  verweigerte,  da  sich  der  Papst  darin  die  Aufgabe  ge- 
atellt,  seiner  Entrüstung  über  die  Giordano  Bmno-Feier  Anadnick  sa  geben 
nnd  dicae  Oelegeaheit  dann  sn  benntMOi  die  italieniaehe  Begiemng  ala  ge- 
beime  Urheberin  der  Feier  zu  denOMiren.  Diese  gegen  die  Eegieraog  von 
Italien  e:f' richteten  Anschuhii|2:ungen  erschienen  der  Berner  Behörde  ihrem  Wesen 
nnd  ihrer  Form  nach  verletzend,  und  hierauf  stützte  sie  ihre  Placetverweige- 
rung.  Es  war  zu  erwarten,  dass  die  ultramontane  Presse  sich  über  das  Vor> 
gehen  Ben»  beaehwem  wirde^  dn  aie  kern  Uaredit  etUiekt  in  derVenuthei- 
hing  der  Giordano  Bnintf-Feier.  Die  Fvage  iat  nnn  aber  allgemein  aneh  auf- 
geworttn  worden,  ob  die  Bemer  Begiemng  in  der  Lage  gewesen  sei,  ihr  Placet 
zu  verweigern,  lediglich  darum,  weil  in  dem  Hirtenschreiben  ein  Ton  an- 
geschlagen ist,  welchen  die  Kcgierung  von  Italien  als  einen  sie  kiänkeuden 
ansehen  moss.  Bisher  fand  eine  Placetverweigerung  um-  statt  seitens  einer 
cantonalen  OberbehSrde,  wenn  in  dem  betreffenden  geistlichen  Erlasse  AnafiUle 
gegen  die  eigenen  Behörden  oder  Verletrangen  nnaerer  Gesetse  Twkamen.  — 
Im  Yorli^nden  Falle  stellte  sich  die  Börner  Regiemng  zum  erstenmale  auf 
einen  anderen  Boden  des  Rechts.  Hoffentlich  ist  es  bald  Sache  dea  Banden, 
die  Veröffentlichung  (h  rartig-er  Erlasse  zu  verbieten. 

Die  thurgauische  Schulsynode  (in  Bischofszell)  förderte  auch  dieses 
Jahr  naeh  einem  woldnrahdaehten,  gehaltvollen  Erftfllanngaworte  desj  Priei- 
denten,  Herrn  Seminardireetora  Rebflamea-ErenzUngen,  manch  wertvolles  Gold- 
korn zu  Tage.  Diesmal  galt's,  die  obligatorische  FortbflduDgsschule  in  Ehren  zn 
halten.  Herr  Bommeli-Fmuenfeld  entledigte  sich  seiner  Aufgabe  mit  wahrer 
Meisterschaft  und  betonte  besonders  die  (xesinnungstüchtigkeit,  welche  die 
Jünglinge  sich  erwerben  sollen,  die  Trennung  nach  Kenntnissen  nnd  Fähig- 
keiten, nieht  nach  Jahigflngen,  die  Verlegnng  der  Unterriohtaatnnden 
avf  die  Tageszeit  (nicht  auf  den  späten  Abend),  sowie  die  Abfaaanng  eines 
besonderen  Lehrmittels  für  die  Fortbildungsschule.  Sowol  der  Correferent, 
als  auch  die  geü^ammte  Lehrerschaft,  pflichtete  Heim  Bommeli  bei  nnd  hob  den 
großen  Einfluss  der  Persönlichkeit  des  Lehrers  hervor. 

St  Gallen.  Die  Cantonalconferenz  in  Korschach  behandelte  das 
wichtige  Thema  der  Oeanndheitspflege  in  dar  Vdlkaaehnleu  Die  aehr  nmfkng^ 
reiche,  gediegene  Aibelt  dea  Beferenten,  Herrn  ZoUikoibr-St  Gallen,  lag  ge- 


—   57  — 


dnekt  in  der  Hand  jed«8  TheUnebiiien  imd  erfreut  sieb  allgemeiner  Zaatim- 
mxukgt  indem  n.  a.  die  folgenden  Thesen  aneh  Tom  Coire^uwten  HermEeaaler- 

Wyl  warm  befürwortet  worden  waren: 

1.  £ä  ist  wniiBclienswert,  dass  von  dem  Erziehungsdepartement  eine  Statistik 
über  die  hygieuificheu  Verhältnisse  &ämmtlicher  Schulhäuser  des  Cautons  auf- 
genonunen  worden. 

2.  Da,  wo  sidi  alllUlig  groite  hygienltdte  Übelettade  ergeben  sollten,  ist 

deren  Hebung  sofort  anzuordnen  und  deren  Kosten,  falls  dieselben  für  die  be- 
treffenden .Schulgemeinden  zu  drückend  sein  sollten,  durch  den  Staat  zudecken, 

3.  Bei  Schulhausbauten  sind  Baugrund  und  Pläne  auch  in  hygienischer 
Beziehung  von  Fachmännern  zu  prüfen  und  zu  begutachten,  ob  sie  den  von  der 
SEriehnBgBbeliBrde  gutgeheißenen  Normalien  aitqneehen. 

4.  Es  ist  Fffieht  der  BeiiriDnchianthe  (Oberbehfirden,  Mittelglied  swisehen 
Loealschul-  nnd  Eniehnngsrath),  ancb  der  Schulhygiene  ihre  volle  Anfinerk- 
samlceit  zu  widmen  und,  wenn  nothwendig,  Fachmänner  zuzuziehen. 

An  d'ds  wirksame,  mit  reichem  Humor  gewürzte  Correferat  schloseea  sich 
IL  a.  noch  folgende  Thesen  an: 

1.  Die  OberbehSrde  Ist  an  ersuehen,  allgemein  Terbindliche  Weisungen 
besfiglkh  der  BeJnignng,  Ventilation  nnd  Beheizung  der  Sehulzimmer,  sowie 
der  EQrperhaltang  nnd  der  Hausaufgaben  zu  erlassen. 

2.  Die  gesetzliche  Schülerzahl,  die  der  T^ehier  ZU  nnterrichten  hat^  soUte 
niigends  mehr  (jahrelang!)  überschritten  werden. 

3.  Der  Staat  fordere  nach  Möglichkeit  Gründung  von  Sappenanstalten 
und  die  Basehaflking  wamer  FnflbeUeldnng. 

Andere  Thesen  bezwecken  eine  Entlastang  des  Unterrichtsstoffes  nnd  ans- 
gedehntere  Berücksichtigung  der  H.vgietie  im  Seminarnnterrictite. 

St.  Gallen  hat  sich  eine  Specialclasse  für  Scii wachsinnige  gesichert. 
Diese  wird  im  nächsten  Frühjahre  eröft'net  und  erfreut  sich  jetzt  schon  einer 
aUgemeinen  Sympathie  unter  der  Lehrerschaft  and  den  Eltern  schalpflichtiger 
Kinder. 

Der  7.  Juli  fitederte  endlich  ein  entschiedenes  „Ja"  des  Souveräns  fflr 
eine  Verfassungsrevision  zu  Tage.  Da  die  dcmokrarische  Partei  nur  mit 
Hilfe  der  Ultramontanen  die  Zangengeburt  einer  Revision  zustandegebracht 
and  daher  in  ihrem  Programin  bedeutende  Concessionen  bezüglich  der  rein 
bfirgerlichen  dchnle  machen  musste,  werden  die  Liberalen,  welehe  dieses 
Prqjeet  seit  Jahren  hoehhalten,  ihr  Ziel  nicht  ohne  harten  Kampf  erringen. 
Ifan  ist  auch  in  anderen  Cantouen  auf  den  Ausgang  desselben  gespannt,  beson- 
ders seit  der  nun  endlich  glücklichen  Lösung  des  Liclitenberger  Schulrecurses. 
Die  neue  Verfa-ssung  muss  gegenüber  der  bisherigen  (vom  Jahre  1861)  mit 
Art  27  der  Bundesverfassung  in  Finklang  gebracht  werden,  involvirt  also  eine 
prineipielle  nnd  klare  LOsnng  der  heikein  Frage. 

Dass  eine  solche  ihre  guten  Frttchte  zeitige,  ersieht  man  ans  den  Berichten 
Uber  das  Schulwesen  derjenigen  Gemeinden  und  Cantone,  in  denen  die  »con- 
ÜBSSionslose  Schule'^  ffclion  längst  eingeführt  ist. 

So  wird  aus  Baden -Aargau  berichtet,  dass  Schüler  reformirten,  katholi- 
schen und  israelitischen  Glaubens  kürzlich  den  nöthigeu  Geldbetrag  zusammen- 
■tsMiten,  um  dner  armen  Hitschillerin  zum  ersten  Gommnnionstage  Kranz, 
.OebetbOchldn  nnd  Sene  anzuschaffen. 


—   58  — 


Appenzell  ft.B.  Die  Oeneraloonferenas  der  Lehrer  dieses  CSmtoiis  liat  als 
Hanptthema  daalnetitnt  der  andemorte  fremden  Übnnga-  (oderBepetir^)  Sofanlen 

besprochen.  Der  Referent  befürwortete,  die  Einfiilirung  der  obilgaloriaehen 
Fortbil<liuij(sschulen  anzustreben,  und  zwar  wiilii  end  drei  Wintercursen  mit  je 
ca.  ÖO  Unterrichtsstunden,  da  anf  diese  Weise  die  l  iitt  rriohtszeit  bedeutend 
erweitert  würde.  Von  anderer  Seite  wurde  ein  achtes  ubligatorisches  Scku^ahr 
empfohlen  nebst  dem  ObUgatorinm  der  Forthildnngaaelinle^  nnd  dleKebrliett  der 
Couferenz  entschied  sidi  für  jUesen  eneiglsehen  Schritt.  Demnach  wird  die 
Landesschnlcommission  um  bezügliche  Weisungen  ersucht,  so  dass  das  appen- 
zellische  (a.  H.)  Sdmlwesen  ohne  Zweifel  bald  abermals  einen  bedeutenden 
Schritt  vorwärts  macht. 

Würde  es  nur  bald  auch  im  katholischen  Cautonstheil  tagen!  Dort  Hegt 
das  Schulwesen  noch  im  argen. 

Freibnrg.  Auch  die  Freiburger  permanente  Schnlausstellung  darf 
mit  Befriedigung  anf  das  verflossene  Berichtsjahr  znrückblicken;  zahlreiche 
Geschenke  wurden  ihr  zugewiesen  und  vitle  Bt  snclie  abjjestattet.  Ein  ge- 
druckter Katalog  vermittelt  die  erwünschte  Auskunft  über  neu  erworbene  Ob- 
jecte,  über  die  in  Paris  ausgestellten  Gegenst&nde  nnd  fiber  den  von  der  Com- 
mission  angeordneten  Handfertfgkettscnrs.  Das  Institut  gedeiht  nach  allen 
RichtQOgeD  hin  vorzüglich. 

Aargan.  Die  Augnstin-Keller-Feier,  w(']<  he  den  12.  Mai  in  Aaran 
veranstaltet  wurde,  gestaltete  sich  zu  einer  inijiosaiitt  n  Kundgebung  des  Geistes, 
der  den  verstorbeueu  Erziehungsdirector  und  Staatämauu  stets  beseelte  und  er- 
muthigte  su  energischem  Handeln  im  Dienste  des  Onten.  Gewiss  würde  der 
vom  ComitA  der  freisinnigen  Volkspartei  erlassene  Anftvf  es  verdienen,  in 
weitesten  Kreisen  veröffentlicht  zu  werden;  legt  er  doch  ein  beredtes  Zeugnis 
dafür  ab,  da.ss  Kellers  Geist  auch  in  der  jetzigen  Generation  noch  fortlebt  nnd 
dass  dessen  Bemühungen  nm  wahre  IleViuntj  der  Schule  und  ihre  Befreiong  von 
der  Macht  des  Clerus  nun  von  ihr  dankbar  anerkannt  werden. 

Lansan  ne.  Den  15.  Jnli  fand  hiw  der  von  1000  Lehrern  ind  Lehrerinnen 
besachte  11.  Congress  statt  unter  dem  Vorsitze  von  Herrn  Begierungsrath  Bufiy, 
Vorsteher  desErziehungsdepartenients.  Es  handelt«  <\fh  zunächst  um  die  grOndliche 
Erörterung  der  Fragre  betreffend  Anpassung  der  Secundarschulen  zum 
Priniarunterrichte.  Die  Ansicht  kam  dabei  zum  Durchbrueh,  dass  diese  An- 
passung in  rationellerer  Weise  als  bisher  bewerkstelligt  werden  müsse  und  der 
Zutritt  zur  dassiBchen  und  industriellen  Schule  erst  vom  12.  Alter^ahre  an  zu 
gestatten  sei.  Das  zweite  Thema  betraf  den  Zeich nnngsunterricht  in  den 
Primär-  und  Secundarschulcn.  In  der  auch  sehr  belebten  Discussion  betonte 
man,  den  Referenten  unterstützend,  u.  a.  die  Wichtigkeit  des  Zeichnens  für  die 
Industrie,  den  Handel  und  die  Landwirtscliatt,  speciell  des  geometrischen  nnd 
des  Zeichnens  nach  der  Natur,  sowie  die  bessere  Ausbildung  des  Lehrers 
im  Fache  des  Zeichnens. 

In  Lausanne  hielten  auch  die  Mitglieder  des  schweizerischen  Vereins 
zur  Förderung  des  Knabenarbeitsnnterrichtes  ihre  Generalversamm- 
lung ab.  Süwol  der  PrJlsident,  Herr  Rudin-Basel,  als  auch  der  Berichterstatter 
Herr  Meylan-Goumoens  (Waadt)  constatirten  das  stille,  aber  sichere  Wachs- 
thum der  guten  Sache  in  den  meisten  Cantonen.  Der  Curs  in  Freiburg  hat  ihr 
nicht  nur  neue  Ftaunde,  sondern  auch  energische  Förderer  gesichert,  da  die 


\ 


—    59  — 

Beth^gang  aoB  der  franzMBcben  und  dentaehen  Schweiz  eine  allseitige  ge> 
worden  ist. 

Genf.  Die  Universität  dieser  Stadt  erfreut  sich  anch  vom  Ausland  her 
einer  stets  sich  steigernden  Freqnenz.  Im  verflossenen  Jahre  zählte  sie  r)(>H 
Studenten  und  Hörer,  wovon  108  Genfer,  107  Schweizer  aus  anderen  Cantonen 
und  288  Ausländer  sind.  Letztere  stammen  aus  allen  Ländern  Europas.  Die 
Serben,  Bulgaren,  Bamänen  nnd  Baaeen  weisen  ganz  bedeateade  Zahlen  auf. 
Am  stärksten  werden  die  Naturwissenschaften  (134)  und  die  medicinische 
Facultät  (222)  besucht.  An  dieser  Universität  wirken  54  Professoren,  27  Privat- 
dwenten  und  19  Assistenten.  Als  Appendix  der  Univei^sität  ist  die  gut  besuchte 
Zahnarzneischnle  (die  einzige  in  der  Schweiz)  zu  betrachten. 

Den  19.  Hai  feierte  der  berühmte  Professor  der  Naturwissenschaften  da- 
selbst, Herr  Dr.  Karl  Vogt,  sein  ÖOJfthiiges  JnbUftnm  nnd  erntete  dabei  die 
wolverdicute  Anerkennung  seiner  hervorragenden  Leistungen  von  Seite  der  Be- 
hörden, Studenten  und  der  ilim  sehr  sj-mpatliisclien  Bevölkerung. 

Der  Ende  Juli  hier  erötTiiite  Handfertigkeitscurs  wurde  von  03  Leh- 
rern ans  Genf,  Neuenburg,  Waadt,  Bern,  St.  Gallen,  Wallis,  Solothum,  Zürich, 
Thnigaa  waA  Aargan  besncht.  Anch  Devtsdiland,  Italien  und  Ägypten  waren 
(mit  je  1  TheOnehmer)  vertreten. 

Hen- Gillieron,  Lehrer  an  den  höheren  Mittelschulen,  von  der  Regierung 
mit  der  Organisation  und  Leitung  des  Unterrichtes  betraut,  functionirte  als 
Dire(  tor  dieses  vierwöchentlichen  Curses  für  Holz-  und  Eisendrahtarbeit,  Dreherei, 
Holzschueiderei,  Cartonage  etc.  Alle  verfertigten  Gegenstände  haben  prakti- 
schen Zweck  für  Hans  nnd  Garten,  Kttche,  Schrank  oder  als  Schmoek.  Die 
tlgUche  ünterrichtsselt  betrug  nenn  Stunden.  Spaslergiage,  Gesinge  in  beiden 
Sprachen  nnd  Abendunterhaltnngen  boten  nach  strenger  Arbeit  eine  angenehme 
Erholung'.  —  Genf  hat  den  Tlaiirlfertiffkeitsunterrieht  für  die  Knaben  der  Pri- 
mär- und  Secundarschnlen  und  für  die  Lehramtscandidaten  in  den  oberen  Mittel- 
schulen obligatorisch  erklärt. 

Gottfried  Keller-JnbiUnm.  Den  19.  Jnli  feierte  man  überall,  wo 
die  deutsche  Sprache  bekannt  ist  nnd  gescfafttzt  wird,  insbesondere  aber  in 
der  Schweiz,  das  SOjährige  Jubiläum  des  Dichters  Gottfried  Keller.  Dass 
die  mittleren  und  höheren  Schulen  sich  dabei  activ  betheiligten,  ist  selbstver- 
ständlich. Durch  ein  solches  Fest  wird  der  nationale  Sinn  schon  in  der 
Jngend  geweckt  und  gepflegt.  Die  Schule  ist  in  erster  Linie  dazn  berufen, 
diese  Aufgabe  zu  ISsen. 

Zürich.  Conferenz  für  das  Idiotenwesen.  Diese  fand  unter  sehr 
zahlreicher  Retheilignng  den  3.  und  4.  Juni  statt.  Herr  Dr.  Wildermuth- 
St«tten  sprach  über  die  Pathologie  der  idiotischen  Zustände,  Herr  Di- 
rector  Kölie-Zürich  über  die  Idiotenanstalten,  Herr  Erhart-St.  Gallen  über 
sekwerkCrige  Schwachsinnige,  Herr  Professor  Forel-Znrich  aber  Jugend- 
liehe  Geisteskranke  und  Lehrer  Fisler-Zfirich  aber  Hilfseiassen  f&r 
Schwachbegabte.  Die  Berichterstatter  stimmen  überein  in  dem  günstigen 
Urtheil  über  diese  erste  Conferenz  nnd  ilire  allseitige  praktische  Anregung. 
Es  handelte  sich  nicht  darum,  die  Gründung  neuer  Anstalten  in  die  Hand  zu 
nehmen,  sondern  vielmehr  darum,  durch  gemeinsame  Besprechung  und  gegen- 
seitigen Gedaakflnanstansch  das  Interesse  an  diesen  ün^ttcklicken  zu  wecken 
und  im  Volke  allgemeüier  an  veritreiten.  Dieser  Zweck  ist  erreicht  worden; 


—   60  — 


folglich  darf  man  auf  einen  bedeutenden  Fortschritt  in  der  Heilpädago^ik,  auch 
in  der  Schweiz,  für  die  nächste  Zakanfl  hoffen.  Am  bedeutsamsten  ist  die  von 
der  VerMumnlaug  augenomnieiie  Tkeae  Laigiaddn:  fjkr  Staat  hat  die  Vor- 
Mfge  filr  anareiehendeii  Untenridit  sohwaehibiniger  Kinder  eDtapreolieDd  den 
individneUea  Anlegen  an  treffen.*'  Seither  ist  ein  einliaaUclier  Beridbt  hlerflber 
von  Herrn  Pfarrer  Ritter-Zürich  erschienen. 

Das  Landesmnsenm  hat,  obwol  immer  noch  erst  im  Stadium  der  „bald 
zu  realisirendeu  Wünsche",  doch  schon  bis  jetzt  viel  Gutes  gefördert.  Interesse 
für  die  Localfrage  und  höhere  Wertschätzung  eines  Landesmuseunis  überhaupt, 
dies  zeigt  sidi  in  swei  von  Zürich  nnd  Bern  aasgegaageaen,  objectiv  gehaltenen 
Broschttren  über  diesen  Stoff.  Die  Errichtung  eines  Landesmuseums  wird  ge- 
radezu als  eine  nationale  That  bezeichnet.  Man  hofft  allgemein,  dass  durch  die 
Schaffung  eines  solchen  die  schon  bestehenden  Sammlungen  nidit  nur  nicht  ge- 
schädigt, sondern  im  Gegentheil  unterstützt  werden  und  ft'eut  sich  sehr  der 
Botschaft  des  Bundesrathes,  die  u.  a.  lautet:  „Die  Zeit  aar  Anhandnahme  des 
Werkes  ist  gttnstig.  Fflr  die  Mittel  znr  VerwirUiehnnff  derselben  ist  gesoi-gt; 
vier  Orte  haben  den  Gedanken  aufgegriffen  und  bieten  der  Eidgenossenschaft 
für  die  Aufnahme  der  Landesanstalt  schöne,  würdige  Stetten  an."  Dieses 
Project  ist  auch  verwandten,  schon  vorhandenen  Srhüpfnngen ,  z.  B.  der  Groß- 
schen  Pfahlbautensammlung,  der  Amietschen  Münzsammlung,  sowie  der  Samm- 
lang nnd  Erhaltung  vaterländischer  Alterthümer  nur  günstig,  nnd  somit  dürfte 
das  Meriaa'scbe  Testament  wie  das  von  Prot  VQgeli  gemachte  Yennlditttls  in 
Bilde  seine  segensreichen  FHichte  tragen. 

Schweizerische  Studenten  an  auswärtigen  Universitftten.  Nach 

einer  Zusammenstellung  des  eidgenössischen  statistischen  Bureaus  studirten  im 
IL  Semester  1888/89  (für  ( Jsterreicli  hat  1888  in  Betracht  gezogen  werden 
milBsen)  480  Schweizer  an  den  Universitäten  der  Nachbailäuder,  davon  306  in 
Deutschland,  85  in  Osterreich,  39  in  Italien  nnd  50  in  Fhuikrefasfa.  Der  Theo- 
logie widmeten  sich  125  Schweizer  (68  in  Deutschland,  56  in  östeneich),  der 
Rechtswissenschaft  115  (98  in  Deutschland,  8  in  Italien,  5  in  Österreich),  der 
Medicin  136  (davon  57  in  Deutschland,  20  in  Österreicli,  .'50  in  Italien,  29  in 
Frankreich),  der  Plülosophie  104  (davon  83  in  Deutschland,  10  in  Frankreich, 
4  in  Österreichj.  Die  Gesammtzahl  der  Ausländer,  weiche  an  schweizerischen 
UniTersitftten  stndirten,  betmg  232  (147  Deutsche,  29  Österreicher,  28  Italie- 
ner, 28  Ffaaioaen).  Die  von  Schweiaem  meistbesnchten  Universitäten  sind 
Berlin  (86),  Innsbruck  60  (56  kathoUsche Theologen!),  Leipzig  56  (36  Juristen), 
München  50,  Paris  36  (23  Mediciner),  Wien  22  (16  Medieiner),  GötüngenlS, 
Jena  14  (13  protestantische  Theologen),  Heidelberg  und  Straßburg. 


Nordamerika.  Auf  dem  19.  deutsch-amerikanischen  Lehrertag,  ab- 
gehalten vom  9.  bis  12.  Juli  d.  J.  zu  Cliicago,  wurde  u.  a.  folgender  Beschlnss 
gefasst:  Getreu  den  bisherigen  Principien  nnd  Zielen  des  nationalen  deutbch- 
amerikanisehen  Lehrerbnndes,  welcher  laut  seiner  Verfiwsong  die  Erziehung 
wahrhaft  freier  amerikanischer  Staatsbürger,  die  Propaganda  fflr 
naturgemäße  Erziehung  in  Schule  und  Hans,  die  Pflege  der  deut- 
schen Sprache  und  Literatur  neben  der  englischen  und  die  Wahrung- 
der  geistigen  nnd  materiellen  Interessen  der  deutschen  Lehrer  in 


—  ül  — 


den  Vereinigten  Staaten  bezweckt,  liillt  es  der  am  11.  Juli  1889  in  Chicago 
versammelte  19.  deatsch-amerikanische  Lehrertag  in  AVürdigong  der  in  neuester 
Zeit  vielerorto  lieraiifbeaehworeneD,  sich  gegen  dentscheSpraehe  and  dentacheB 
Wesen  richtenden  Bewegung  für  die  nftchstliegende  und  dringendste 

Aufgabe  des  Lehrerbundes  in  diesem  dem  Deutsch-Ainerikanerthum  von  Nati- 
vismus  und  UndQUL';amkeit  aofigedrongenen  Kampf  entschieden  Stellang  zu 
nehmen.   Er  erklärt  deshalb: 

1.  Der  Unterricht  in  der  deutschen  Sprache  als  der  zweiten  Landessprache 
hat  in  unserem  amerikanisohen  Schulsystem  vom  rein  pädagogischen  Stand- 
poDlcte,  sowie  von  desi  des  pnkdsehen  Lebens  nicht  nor  volle  Bsreebtigong, 

sondern  er  entspricht  auch  einem  dringenden  Bedürfnis.  Er  sollte  deswegen  in 
allen  Schulen  des  Landes,  besonders  aber  in  den  öffentlichen  Schulen  seine 
Stelle  haben,  dort,  wo  er  bereits  eingefühlt  ist,  gehoben  und  ausgebaut  und 
dort,  wo  er  bisher  noch  keine  Berücksichtigung  fand,  eingeführt  und  dem 
ünterrichtsphine  organisch  eingereiht  werden. 

2.  Der  Lehrerbond  wiü  daher  aiehi  iir  als  soleher  energisch  Ar  die 
Erhaltung,  Hebong  md  FSrdening  der  dent8ofaen8^pnehe  eintretea,  sondern  er 
heilt  anch  die  Bildung  solcher  localer,  staatlicher  und  nationaler  Vereinigungen 

gvt,  welche  sich  ausschließlich  die  Pflege  der  deutschen  Sprache  zur  Aufgabe 
stallen,  und  macht  es  seinen  Mitgliedern  zur  Pflicht,  hei  der  Bildung  solcher 

Vereine  nach  Kräften  rait/uwirken. 

3.  E&  soll  die  besondere  Aufgabe  des  Bundesvorstandes  sein,  den  Mit- 
gliedern des  Lehrerbnndes  In  ihrem  Wirken  sor  Grttndnng  soleher  Verefaie  mit 
Rath  nnd  That  inr  Sdte  zu  stehen.  Er  soll  femer  in  Oemeiiisehaft  mit  dem 

ständigen  Ausschnss  zur  Pflege  des  Deutschen  fUr  die  Idee  dos  deutschen 
Spraclmnterrichtes  in  der  englischen  Presse  des  Landes  in  aufklilrt  ndeni  Sinn«^ 
Propaganda  machen,  dafür  Sorge  tragen,  dass  über  die  praktische  Dun  lifiilirung 
dieses  Unterrichtes  alle  mögliche  Auskunft  gegeben  wird,  nnd  schließlicli  jähr- 
lieh  an  den  Lehrertag  nmlhssende  Beriehte  Aber  sein  agitatorisches  Arbeiten 
and  erzielte  Erfolge  abstatten. 

4.  Als  auf  einen  im  Kampfe  um  die  Erhaltung  der  deutschen  Sprache 
wichtigen  Stutzpunkt  sei  auf  das  nationale  deutsch-amerikanische  Lehrerseminar 
hingewiesen.  Die  Mitglieder  des  Bundes  sollen  daher  es  als  eine  heilige  Pflicht 
betrachten,  alles  in  ihrer  Macht  Stehende  zu  thun,  damit  diese  vom  Bunde  ge- 
gründete Lehrerbildungsanstalt  den  ihr  vot^gestrebten  Zielen  in  immer  höherem 
Grade  gerecht  an  werden  vermag.  Aaf  SchaAmg  einer  soliden  finanziellen 
Basis  nnd  Zuführung  einer  möglichst  großen  Anzahl  von  ZSglingen  sollte  na- 
mentlich rastlos  hingearbeitet  werden.  Freudig  würde  es  auch  vom  Lehrertage 
begrüßt,  wenn  man  eine  engere  Verl)indung  des  Lehrerseminars  mit  dem  vom 
nordamerikanischen  Turnerbunde  unterhaltenen  Turnlehrerseminar  bewirken 
würde.  Die  Leistungsfähigkeit  beider  Anstalten  würde  dadurch  sehr  gehoben 
nnd  ihr  Wirken  aof  «nie  breitere  Basis  gestellt. 

Im  Hinblick  anf  den  bevorstehenden  100.  Geburtstag  Diesterwegs 
wurde  ferner  beschlossen,  es  seien  zur  würdigen  Feier  desselben  vorbereitende 
Schritte  zu  thun;  zugleich  sei  dafür  Sorge  zu  tragen,  dass  dem  Wiener  Päda- 
gogen Dr.  Friedrich  Dittes  zu  seinem  6Ü.  Geburtstatee  die  Verehrung  des 
deutsch-amerikanischen  Leiirerbundes  in  geeigneter  Weise  kundgegeben  werde. 


—   62  — 


Zur  Atisführung  dieser  Beschlflaae  wude  ein  „Comite  für  eine  würdige  Diester* 

weg-  und  Dittes-Feitr"  eingesetzt,  und  wurden  in  dassrllte  die  Herren  Fick« 
ChicagOi  D6riier*Cincinnati  and  Lolimaun-Fredericksbuig  berufen. 

( „Erziehungäblätter ,  Mllwaukee.) 

Ans  der  pftdagogischeii  Presse. 

215.  Ein  Wort  zur  Überbürdung,  besonders  durch  häusliche 
Auf-aben  ('Ed.  Leonhardt.  Österr.  Schulb.  1889,  XII.  XII Ii  Über  die 
Thatsache,  dass  l'berbürdung  vorhanden  —  Ui-?achen  und  F<>1};»mi  —  Abhilfe: 
Allgemeine  Grundsätze  —  bestimmte  Forderungen  oder  AN'iuke  für  einzelne 
FBicher.  Über  Handbücher  und  Merkhefte,  letitere  vorgezogen. —  Die  hftiu- 
liehen  Arbeiten  sollen  nie  getwünseht,  immer  befohlen  werden  (nm  kindliche 
Selbfltllberbttrdung  durch  Ehrgeiz  zu  verhüten),  sollen  den  Unterricht  nicht 
ersetzen,  auch  nicht  tlieil weise:  Thätigkcit  des  Gedächtnisses  niöo-jitlist  zu 
Bchonen.  Keine  schriftlichen  Hausaufgaben  aus  der  Grammatik:  kein  liäus- 
liches  Karten-,  geometrisches,  Freihandzeichnen.  (Warum  soll  eine  Tum» 
anfgabe  fürs  Hau  nicht  statthaft  sein?) 

216.  Die  Analogie  in  der  Geschichte  (E.  Tomanek,  Zeitschr.  f.  d. 
Eealschnhvesen  1889,  VI).  ,,Wenn  vdr  Begebenheiten,  Thatsacben,  Zost&nde 
und  Gestalten  der  Geschiclite  mit  anderen,  welche  von  ihnen  zeitlich  oder 
<irtlich  oder  nach  beiden  Eichtungen  hin  preschicden  sind,  unsere  Schüler  ver- 
gleichen lassen,  führen  w  ir  sie  auf  die  Bahu  des  selbstst&ndigen  geschichtlichen 
Denkens."  —  lUt  27  Beispielen  ans  der  obersten  Gymnasialelasse  (Wieder- 
holung der  alten  Geschichte). 

217.  Zum  Geographie-Unterricht  im  sechsten  Schuljahr  (U.  Früh, 
St.  Galler  Schulbl.  1889,  13).  Ein  Beisjäel,  wie  (nach  dem  Grundsatz,  dass 
immer  von  der  Kai*te  auszugehen  seij  der  Lernstoff  aus  der  Karte  heraus- 
gelesen und  gefunden,  wie  ans  der  Karte  eine  einfache,  von  den  Schülern 
nadisnseichnende  Skizae  gewonnen,  wie  durch  mflndlidie  Ifittheilnngen  des 
Lehrers,  durch  Yei  weisen  von  Ulustrationen,  Zeichnen  von  Profilen  n.  ä.  der 
Unterricht  anschaulich  ergänzt  wird,  so  dass  sich  die  Kinder  am  Ende  ein 
klares  Landschafisbild  eing^epr.lgt  haben.  (Behandelt  wird  eines  der  interessan- 
testen Schweizer  Flussgebiete:  dasjenige  der  Linth.) 

218.  Einige  Gedanken  über  den  Rechennnterricht  (Bemer  Schul- 
blatt 1889,  26).  In  der  Bechenstnnde  die  beste  Gelegenheit  snr  Erlangung 
der  Sprech-  und  Sprachfertigkeit.  GeometriBche  Betrachtungen  und  Berech- 
nungen als  Ausgangspunkte  fiir  das  Rechnen  mit  Zahlen.  Das  schriftliche 
Tiechnen  zugleich  eine  Zeichcnübuiio-.  Umständliche  Ansätze  oft  Ursachen 
grundfalscher  Kesuitate.  Von  hohem  Wert  ein  Sammelheft  für  Aullösiuigeu 
eharaktnlstischer  Beispiele  aus  allen  Bechnungsarten. 

219.  Zur  Beform  des  Zeichenunterrichtes  an  den  Volksschulen 
(P.  Wengraf,  Volksschule  1889,  29).  Aus  den  geometrischen  sollen  die  orna- 
mentalen Grundformen  organisch  entwickelt  und  in  planniüßiger  Folge  geübt 
werden.  Das  Gedächtnis-  und  Dictatzeichnen  ist  auf  allen  Stufen  zu  pflegen, 
das  Stigmennetz  aus  der  Schule  zu  entfernen. 

220.  Die  K9rper-  und  Stifthaltung  beim  freien  Zeichnen  (Psd. 
Zeit.  1889,  28).  Die  Zeichensection  des  Berliner  Lehrerveretns  hat  (in  Ver- 
bindung mit  den  Professoren  Cohn-Breslau,  Esmarch-Eiel  und  den  durch  ihre 


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bjrgi«iiitehen  Postolate  für  den  Schreibontenridit  bekannten  Berlin-Stnttgarty 

Sebnbert-Nürübeif)  für  die  Haitang  des  Oberkörpers,  Lage  der  Zeichentläche, 
Lasre  und  Bewegfimg  beider  Arme,  Haltung-  des  Stiftes  eine  Heilie  beachtens- 
werter Kegeln  znsaniHiengt'stellt,  auf  die  wir  liier  nur  verweisen. 

221.  Max  Koppeustätter  (Bayr.  Lehrerz.  1889,  2ü — 29).  Seine  un- 
Tefgenliehen  Verdienste  vomehnilicb  als  Vorstand  des  bajiisehen  Lehrervereins 
and  als  Verwalter  desLefarerwaisettstiftes.  —  Seine  vorbildlichen  ElgensAaften: 
Willensstärke,  Arbeitslust,  Ansdaner,  Pflichttreue,  Opfei-willig-kdit,  Oerechtig:- 
keitsliebe.  —  Für  Jede  Verhandlung  durch  tleißi^^e  Vorbereitung  gerüstet, 
drang  er  auf  strenge  SacligeuiUÜheit.  —  Ti'otz  mannigfacher  niedertrSchtiger 
Anfeindungen,  trotz  Undank  and  Verkennung  (im  Amts-  und  Vereinblebeu), 
Izots  ftarchtbarster  SchjcksalsschUlge  im  Familienleben  blieb  er  anfrecht  und 
standhaft,  arbeitete  er  mit  g'leicher  Kraft  nnd  Hingabe  bis  ans  Ende  —  und 
das  ist  'wahrhaftes  Heldenthum. 

222.  Heinrich  Buri^w  ardt  Major,  Freie  päd.  Blätter  1889,  29).  In 
gedrängter  packender  Kürze  die  Lebensgescbichte  eines  ganzen  Mannes  unt«r 
den  Lehrern,  der  das  verkümmerte  Schnlwesen  einer  Stadt  (Wismar)  zur 
Blute  entwickelt,  der  lebenslang  bestrebt  war,  die  Lehrerschaft  Heeklenbnrgs 
aas  UDwfirdiger  Lage  zu  befreien  (was  ihm  auch  theilweise  gelungen  durch 
Gründung  «ines  Landeslehrervereins  und  einer  Scliulzeitung).  „Der  Mann 
predigte  gewaltig  und  nicht  wie  ein  lederner  SchriftgelehrLer'* ,  er  verstand  es, 
,den  Jungen  in  die  Seele  zu  greifen". 

223.  Die  erzieherischen  Ideen  in  Gottfried  Kellers  Werken 
(J.  Stiefid,  Schweiz.  Lehrerz.  1889,  29->33).  „Gedichte  von  Kindern** 
—  Kinderscenen  in  Erzählungen  —  pädagogische  Novellen  und  Romane:  Der 
grüne  Hfinridi:  das  Fähnlein  der  sieben  Aiifit<'lifen:  die  Leute  von  Seldwyla: 
Martin  ."^alander.  ..Ewige  Jlusterbilder  erzitlierischer  Mütter."  —  Grund 
seiner  Pädagogik;  Poetische,  lebendige  Psychologie;  er  kennt  die  geheimsten 
nnd  sarteetenKeime  der  Henscfaenseele  —  Gharaktsr  seiner  Pidagogik :  Ethiseher  * 
Bealidealismns,  der  immer  nach  Bethätignng  trachtet  (in  Hans»  Sehnle,  Gesell- 
sebaft,  Staat)  —  Ziel:  wüidiges  BUrgerthiun  und  wahnr  Patriotismus  (»Achte 
jeden  Mannes  Vaterland  ;  aber  das  deinige  iieln  i. 

224.  Wo  stehen  wir.  und  wie  kann  s  besser  werden?  (Berner 
Sehnlblatt  1889,  32 — 34).  Dieser  von  strengster  Selbstkritik  und  edelster 
Begeisterimg  fBr  unseren  Bemf  durchdrungenen  Arbeit  entndimen  wir:  Der 
Lehrerstand  ist  nieht  ein  Stai^  vde  ein  anderer.  Li  tinon  anderen  Stande 
rächt  sich  die  Faulheit  und  Nachlässigkeit  an  denjenigen,  der  sie  sich  zu- 
schulden kommen  lässt,  in  der  Schule  hingegen  an  schuldlosen  Opfern,  den 
Kindern,  nnd  damit  an  ganzen  (tenerationen.  Dazu  kann  in  anderen  Ständen 
der  unnütze  und  faule  Kuecht  leicht  entfernt  werden;  dem  Leiirei  aber  wird 
es  nnr  SU  hftuflg  ab  Tugend  angerechnet,  wenn  er  fOnf  gerade  sein  ISast  Wie 
selten  wird  bei  der  Indolens  des  Pnblienms  in  Schulsachen  die  treue  Arbeit 
nach  Verdienst  gewürdigt  und  die  Trägheit  nnd  Einfalt  ans  Licht  gebracht 
und  gebrandmarkt!  Das  ist  ein  faules,  niclitsnutziges  Wort  im  Munde  eines 
Lehrers:  Ich  sollte  ein  Narr  .seiu  und  mich  für  den  Sündenlohn  so  absi binden. 
Dem  Lehrer  wird  die  Scliule  Ubergeben  in  der  stillen  Voraussetzung,  dass  er 
sefaie  ToUe  Kraft  Ar  dieselbe  einsetze.  Thut  er  dies  nicht,  so  ist  er  vertrags- 
brttchig  und  ein  Betrüger  gewöhnlichster  Sorte. 


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225.  Auf  schulpolitischem  Gebiet  (W.  Geiger,  Badische  Scholz.  1889, 
31 — 83).  Nothwendig:  Freie  Vereiiifgmig  — '  fortwiÄrendes  GdtendiiMchca 
benclitigter  Wünsche  nnd  Fordernagen  —  fretmflthige  Vorschllge  znr  Besaenuii; 

mflBBen  aus  der  Lehrerschaft  selbst  und  zwar  ans  den  Conferenzen  kommen  — 
das  in  letzteren  gesammelte  und  geprüfte  Material  ist  der  Oberbohörde  vor- 
zulegen —  in  den  politischen  Tagesblättem  sind  Schalfragen  von  allgemeinem 
lateresse  zn  besprechen. 

226.  Das  Studium  der  Pädagogik  Pestalossi's  (Sd.  Ririi;  Repert. 
d.  Päd.  1888/89,  IX).  Mehr  als  eine  wissenEchaftliche  oder  systematische 
halten  wir  eine  praktische  Bearbeitung  der  PiUlafrof^ik  Pef^taloz/i  s  oder  seiner 
Idee  der  Elementarbildung,  also  eine  echte  Pestalozzischo  „  Vulgilrpäldagogik" 
iüT  das,  was  nuththut.  Jene  (in  ihrem  ersten  Theile  —  Pädagogik  der  Wobn- 
stabe  —  TOD  Ed.  Bnff  bereits  Tdlendete)  Bearbeitung  bat  die  Aufgabe,  die 
ans  dem  Wesen  der  Henscbennatar  bergeleitete  Idee  der  Blementarbfldmig  in 
ihrem  inneren  Wesen  sowol  als  auch  in  üirem  ganzen  Umfang  nnd  in  ihrem 
naturgemäßen,  organischen  Zusammenhang  mit  dem  hänsUcben,  bfirgerlichen 
und  Staatsleben  praktisch  und  lebensvoll  darzusteilen. 

227.  Flut  und  Ebbe  in  der  Culturstufenfrage  (£.  v.  SallwUrk, 
Rhein.  BL  1889,  V).  Ein  historlsdier  Bericbt  über  die  Verwirnmg,  welche  die 
Cnltorstafen>Kttnstelel  erzeugt  —  Aber  die  Retnsehe  Verwisserang  der  ZiOerseiiea 
Theorie  —  fiber  die  oberflächliche,  dünkelvolle  Kritik  bei  den  ZUlerianem 
(die  eigentlich  Selbstkritik  ist);  über  das  Widersprechende  ihrer  Ansichten.  — 
„Alle  grundsätzlichen,  eiiig-t-henden  Erörterungen  haben  znr  Verwerfung  der 
Zillerschen  Cultun>tufeu  und  der  ihnen  zugrunde  liegenden  pädagogischen 
Ansehanong  geltthrt  Der  ,Congraenzgedan1ce'  bat  nor  einen  Wert  fttr  den 
Pädagogen,  den  nSmlich,  dass  er  ihm  das  WiUkllriichste  nnd  Tranmiialleste 
an  Erziehungsplänen  möglich  erscheinen  lässt," 

228.  Wirklichkeit  und  Einbildung  in  Fragen  des  Volksunter- 
richtes (G.,  Die  gewerbl.  Fortbildungsschule  1889,  VIIl).  Ein  beheraigena- 
wertes  Wort:  „Der  Wert  der  Anschauung  alter  Kunsterzengnisse  fttr  das 
praktische  Leben  bemht  znm  großen  Theü  anf  EinbUdong.  Seit  alter  Zeit  und 
bente  noch  nnd  in  alle  Zukunft  wird  der  Arbeiter  viel  mehr  durch  das  gebil- 
det, was  er  selber  schafft  und  erlebt,  als  durch  das,  was  er  blos  anschauen 
kann.  Selbst  wenn  es  also  möglich  wäre,  die  geschichtliche  Entwickelung  des 
natiüuaieu  Kunstgewerbes  zu  einer  umfassenden  Anschauung  zu  bringen,  so 
könnten  wir  einer  solchen  Darstellung  (die  als  nationales  Institut  nnr  T<m 
Kreisen  gewürdigt  werden  kann,  die  Sachkenntnis,  wissenschaffUche  Bfldong 
nnd  Muße  besitzen,  um  sidi  damit  eingehend  zu  beschäftigen)  höchstens  einen 
akademischen  Wert  beimessen.  Für  die  Volksbildung  sind  Kunst  und  Wissen- 
schaft internationale  Güter.  Wir  wollen  daher  nicht  in  der  Einbildung  Schranken 
aufrichten,  welche  die  Wirkliclikeit  sofort  wieder  niederreiüt,  indem  der  Welt- 
rerkehr  unsere  Lsdostrie  anf  den  Export  hinweist»  nnsere  Arbeiter  swingt,  in 
der  Fremde  ihr  Brot  so  verdienen.  —  Die  gegenwlrtlg  moderne  ÜberschitBong 
alter  Kunsterzengnisse  thnt  der  Sorge  für  die  Bildung  der  Handwerker  Eintrag. 

229.  Vom  deutschsprachlichen  Unterricht  {Deutsche  Schulpr.  1889, 
29 — 30).  Drei  (iesichtspunkte  bei  Aufstellung  des  Lehrplans:  Verknüpfung 
(Sach-  und  Sprucliunterricht  —  die  verschiedenen  Übungen  untereinander: 
Schreibeni  Lesen,  Formenlehre,  Anibatz)  —  Besehrftnknng  (zu  gnnsten  der 


—   65  — 


Vertiefnug  und  t'bung)  —  Arbeitstlioilunf!:  (die  scliliiniiistcii  FeliltT  sind  genau 
aufznzf'if  Imen  und  jedem  Schuljahr  ist  ein  Theil  zui-  besonderen  Durchai  boituug 
zuzuweisen.  Der  betr.  Jahrgang  ist  für  die  Beseitigung  der  ihm  überwiesenen 
Fehler  gewissermaßen  haftbar).  Der  anfzosteUende  Lehrplan  wird  nicht  die 
ReQmifolge  der  zo  bebandelnden  qirachliGfaen  Ersehehmngeii  geben  kdnnen,  da 
dieselbe  ganz  davon  abhängt,  wdcbe  SpracherMheimmg  sich  mit  irgend  einem 
zu  behandelnden  Sachunteniclitso:pgenstande  ungezwungen  verknüpfen  lässt.  - 
Es  muss  sclion  für  die  Unterstufe  (2.  bis  4.  Schuljahr)  maßgebend  sein,  dass 
der  Aafsatz  nicht  die  Aufgabe  haben  kauu,  das  Gelerute  eiufach  zu  wieder- 
holen-, vielmehr  ist  sein  Zweck,  etwas  Bekanntes  von  einem  eigenartigen 
Gesichtipiiiikte  ans  eeibeftUidig  betrachten  sn  lernen.  Bbuselarbeiteii  Ar  die 
AnftatEftbong  (5.  bis  8.  Schuljahr):  Gewinn  des  Inhaltes  —  der  sprachlichen 
Form  —  vorbereitendes  Diclat  (Behandlung  der  zu  erwartenden  granimatischent 
«•ithopraphisihon,  stilistischen  Schwierif^keiteu  oder  Eigenthümlichkeiten)  — 
C  oncept  des  Aufsatzes  —  Besprechen  der  Dictate  und  Concepte  —  Eintragen 

des  Aufsatzes.  

A.  Chr.  Jessea  sagt  in  seinen  „Freien  pSdaer.  BlAttem" :  Die  Schnle  ist 
das  Mädchen  für  alles.  Geht  eine  Schlacht  verloren,  so  war  die  Schule  nichts 
wert.  Ertränkt  sich  jemand,  so  hat  die  Schule  die  Schuld.  Stiehlt  einer,  so 
war  die  Schule  ebenfalls  die  tirundursache.  Gesdüeht  ein  Mord,  gewis.s  steckt 
auch  da  die  Schule  im  Uintergiimd.  Machen  die  Handwerker  und  Gewerbe- 
treibenden scUochte  Gescfaftfte  —  di«  Mole  taugt  nichts.  Striken  die  Arbeiter 

—  das  kommt  t<hi  der  sddeehtmi  Seknie.  Beffdit  einer  im  Baoscbe  etwas 
T'nreohtes  oder  recht  Dummes  —  Hailoh,  die  Schnle!  Besuclien  die  Leute  die 
Kirch»'  nicht  fleifip  —  ja,  die  Schule!  Verspottet  ein  Knabe  jemanden  auf 
der  Gasse  —  was  kann  man  von  der  Schule  anders  erwarten.  Hat  ein  Vatei* 
ein  uugerathenes  Kind  —  die  Schule  hat's  gemacht.  Durchsi-hneidet  der  Schustei- 
bnb  beim  Abpntien  der  StielUsdile  das  Oberleder  —  es  kommt  von  der  Nen- 
sehnle.  Geht  ein  Cassirer  seinem  Hemi  mit  dem  Gelde  dnreh  —  solche  Leute 
bildet  die  Nenschule.  AVeist  die  Statistik  eine  Zunahme  der  unehelichen  Ge- 
barten nach  —  <las  ist  die  Frucht  der  heutigen  Schule.   Deaertirt  ein  Soldat 

—  die  schlechte  .'^chiilmoral. 

Kun  hat  in  Wien  die  Familie  eines  armen  Tischlergehilfeu  giftige  Schwämme 
genossen,  was  ist  denn  da  die  Ursache?  Welch  eine  Frage,  was  dam  anders 
als  die  Sehlde!  Diese  Antwort  ist  in  dem  angedeuteten  Falle  sogar  von  einer 
fidiBrde  gegeben  worden,  und  zwar  von  «toem  Marktconnuissariat  in  Wien. 
Das  Schriftstück,  in  welchem  sich  das  genannte  Conimissariat  mit  der  Neu- 
schule befasst.  ist  ein  Gutachten  über  den  erwähnten  \'ergiftungsfall  und  hat 
folgenden  Wortlaut:  „Die  übermittelten  Schwämme  befanden  sich  bereits  in 
einem  derartigen  Zostand  der  Finlnis,  dass  mit  Siidieriieit  dieselben  nidbt  mehr 
genau  bestimmt  werden  kSnnw;  docB  kann  es  mit  Gewissheit  ausgesprochen 
werden,  dass  sidi  darunter  auch  Satanspilze,  wdehe  giftig  sind,  ite fanden.  Was 
die  weitere  Frage  anbelanjrt .  oli  diese  Scliwilnnne  auch  von  Laien  als  gresuiid- 
heitsschädlich  erkannt  weiden  müssen,  nius.s  '/.in  Schande  unserer  ^"olksschul- 
bildnng  gesagt  werden,  dass  leider  viel  weniger  Wissenswertes  gelehrt  wird, 
als  die  r^tige  Kenntnis  der  Lebens-  ond  Genunmittel  und  insbesondere  die 
Kenntnis  der  genieSbaten  und  nicht  genieiSbaien  Schwftmme,  BeerenMchte  etc., 
weldM  noek  Tid  weniger  verbreitet  Ist." 

PMiigoffinL  lS.Jibif.  B«ftl.  & 


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Dank  und  Bitte.   Zu  meiuem  60.  Geburtstage  sind  mir  von  nah  nnd 

fern,  selbst  aus  Anieriksi,  so  zahlreiche  Kundgebungen  aiifriditiger  Theilnahme 
zagegangen,  dass  ich  nicht  imstande  bin,  sie  einzeln  zu  beantworten.  Ich  ge- 
statte mir  daher  an  dieser  Stelle,  allen  jenen  geehrten  ilännern  und  Körper- 
schaften, welche  mir  bei  erwähntem  Anlass  ihre  freundschaftlichen  Gesiniiuugeu 
bewiesen  hallen,  meinen  herzlichen  Dank  aaBosprechen  nnd  die  Venlchemng 
zu  geben,  dass  ich  auch  ferner  den  Grandafttzeu  treu  bleiben  weide,  welche 
mich  bisher  mit  ihnen  verbunden  haben.  Noch  stehen  wir  mitten  im  Kampfe  nm  die 
wichti5:sten  Güter  und  T'echte  der  Menschheit,  und  was  ich  mit  dem  Restf 
meiner  Zeit  und  Kraft  noch  beitragen  kann  zum  endlichen  äiege  des  Lichtes 
über  die  Finsternis,  soll  mit  Freuden  geleistet  werden. 

Meine  wackeren  Freunde  wollen  mir  aber  auch  eine  Bitte  gestatten.  Der 
Einzelne  vermag  wenig  ohne  die  Untei*stQtzang  seiner  Standes-  und  Berufs» 
genossen,  viel  durch  deren  thätige  Mitwirkung.  Wenn  nun,  wie  ich  glaube, 
meine  Schritten,  insbesondere  die  vorliegende  Zeitschrift  und  raeine  ^.Schnieder 
Pädagogik",  geeignet  sind,  der  Lehrerwelt  einen  klaren  Blick  und  einen  festen 
Staudpunkt  auf  dem  Boden  ihrer  Berofswissenschaft,  zugleich  aber  auch 
toinchbare  Waffen  znr  Vertheidigang  ihres  gnten  Rechtes  in  bieten,  so  hoffe 
ich,  dass  meine  Freunde  zur  Verbreitung  dieser  Werke  gern  etwas  beitragen 
werden,  damit  die  Arbeit  eines  Lebens  wirke,  was  sie  vermag,  und  besonders 
einen  tüchtigen  Nachwuchs  heranbilden  helfe,  der  mit  frischen  Kräften  anf 
dem  Felde  erscheinen  kann,  wenn  den  Alten  die  Arme  sinken.  —  Dittes. 


Literatur. 


Dr.  \.  Wachlowsky,  k.  k.  Gymnadalprofessor .  Stndien  über  die  Erziolmngf 
an  den  Gymnasien  und  Realschulen.  109  S.  Wien  1889,  Picliler.  80  kr. 
K.s  inuss  vorauti^eüchickt  werden,  da«s  Yerlasscr  bei  seinen  Stiidion  Uber  die 
eiziehlidhe  Seite  der  Sdiulbildung  in  erster  Linie  die  österreichischen  Gyno» 
nasien  im  Auge  hatte,  wodurch  sicli  der  c^auze  7ai(j:  der  Untcrsnehimtj;  und 
insbesondere  die  eingebende  Berücksichtigung  der  Uerbartsdien  l'hilusoiihic 
und  Pädagogik  erkl&rt,  die,Ja  an  den  genannten  Anstalten  wie  auch  an  den 
philosrtphischen  Faniltäten  Österreichs  su  ziemlich  iiionopolisirt  sind.  Seine 
Grundanscbauung  spricht  Dr.  W.  gleich  im  V'urworte  lolgendemiaßen  aus:  „Die 
sogenannte  IdealpMagogit  beherrschte  bis  vor  kurzem  ausschließlich,  gegen- 
wärtig noch  zum  großen  Thcile  die  Schulen  Österreich-s  niul  I  »fulschlands. 
Dieäe  Herrschaft  war  freilich  nur  eine  eingebildete  und  keine  wirkliche.  Denn 
kein  Lehrer  konnte  die  Forderungen  der  Ideilpftdagogik  ins  Praktische  Übertragen. 
Nun  kam  aber  noch  zweifaches  dazu,  um  den  Zweck  derselben  illusorisch  zu 
machen.  Pörstens  übertrug  man  die  EiKenschatteu  der  früheren  Klostcrschulen 
awdiaiifdie  modernen  Anstalten  nnd  Terluigte  von  diesen  ebenso  wie  von  jenen 
in  erster  Linie  Erziehung.  Man  vergaß  aber,  da.«.«*  unseren  Schulen  die  zwei 
nothwendigt>ten  Bedingungen  der  Erziehung  fehlen:  klösterliche  Abgeschlossen- 
heit und  Einheitlichkeit  in  den  Erziehungsprincipien.  Zweitens  glaubte  man, 
der  Hrrbartschen  Idealpiidagogik  folgend,  im  T^ntcrrichtc  alles  zu  finden,  was  zur 
Erziehung  noth wendig  int.  Man  Ict^e  nur  die  neueren  Schriften  der  Uerbart- 
schen  Schule,  um  zu  erfahren,  was  der  Unterricht  leisten  soll.  Es  ist  das 
nicht  mehr  Wij-.scnschaft,  sondern  i>ädairogisc]i<  r  Aberglaube,  der  da  sn>f>  tre- 
zogen  wird.  Es  fehlt  den  Behauptungen  auch  nicht  an  einer  hchembaren 
B^;rlindung.  Man  beruft  sich  auf  irgend  einen  Sati  der  Hcrbart'.schen  Psy- 
chologie. Dabei  sind  oder  Ptcllcn  sich  die  Herren  so  naiv,  als  ob  .si'  ilio  l'-^y- 
cbologie  Herbarts  für  eine  erwiesene  Wahrheit  hielten.  Indcsj»en  wurde  in 
Deutschland  durch  Wundt,  in  England  durch  die  beiden  Mill,  Spencer  und 
in.«besondcro  Bain  eine  neue  l'syihologie  inaugurirt,  welche  siih  zur  Hcrbart- 
schen  verhält  wie  die  Wirklicbkeit  zu  einem  Luftgebilde.  Da  muss  wol  auch 
die  PBdagogik  andere  Wege  einsehlagen,  wenn  sie  ihr  Ziel  erreichen  will.  Der 
Verfa.sser  des  vorliegenden  Schriftchens  sucht  nachzuwcijteu.  das.s  sieh  die  gegen- 
wärtige Pädagogik  in  dem  früher  erwähnten  doppelten  Irrthumc  belindet,  dass 
unsere  Schulen  zunächst  Unterriehtsanstalten  sind,  und  dass  der  Unterricht 
allein  zur  Erziehung  nicht  hinreicht."  In  der  Ausführung  dieser  (trund- 
an.schauungen  begründet  Dr.  W  auch  genauer  sein  ablehnendes  Votum  gegen 
Herbart,  wobei  er  zu  dm  Resultate  gelangt:  es  sei  vielleicht  ,.das  gmlSte  l'n- 
glUck  nn.seres  Erziehuugswcsens,  dass  wir  dasselbe  gerade  nach  llcrbart>  Tiida- 
gogik  eingerichtet  haben",  und  insbesondere  die  verderbliche  Fidion  hervor- 
hebt, „dass  darch  Unterrieht  allein,  d.  h.  durch  PZntwickelung  des  InteUects 
auch  da.s  Gefühl  und  der  Wille  zugleich  entwickelt  wird".  Mit  diesen  Haupt- 
sätzen hat  Dr.  W.  jedenfalls  den  Nagel  auf  den  Kopf  getrollcn,  währ- nd  einige 
andere  seiner  Ansichten,  die  er  mehr  gelegentlich  änMrt.  sehr  antVrhtl  ar  sind, 
z.  B.  seine  Kritik  des  Prineips  der  Natnrgeniäßheit .  seine  VerurtheiluiiLr  der 
Kindergärten,  seine  Vertheidiguug  der  körperlichen  Züchtigungen,  indessen 

6* 


-   68  — 


soll  bieraul  kein  großes  Gewicht  gel^  werden,  da  die  erwähnten  Themata 
nur  nebenbei  bebandelt  lind.  Jedenfaui  zevffen  Dr.  W.'s  „Studien"  Ton  «hier 

sehr  ernston  Autf'jissinif!^  nnd  riniiriiiß^endcn  Untcrsuchunc:  eines  hochwichtigen 
Themas,  und  wer  ihnen  achteam  nachgeht,  findet  aal'  dem  ganzen  Wege  reich- 
liche Anregung  sanNaehdenken,  an  Tiefen  Stellen  aneh  wolansgeprägto  mniltate. 

H. 

Richard  Krause,  Adolf  Diesterweg  und  seine  Verdienste  um  die  Entwickp- 
long  des  deutschen  Volksschullehrerstandes.   189  S.  Borna-Leipzig.  Jahnke. 

Am  2!».  October  des  nächsten  Jahres  wird  die  dcutsrhc  Lehrerschaft  die 
Säi  uliirft  icr  der  Oebnrt  Adolf  Diesterwegs  bogehon ,  nnd  dieser  Umstand  hat 
Herrn  R.  Krfinfo  veranlasst,  einen  Abriss  vom  Loben  nnd  Wirken  dieses  großen 
Manne^i  und  l'ädagogen  zn  veröffentlichen.  „Auch  der  Vertaisser  vorliegender 
Schrift'',  bemerkt  derselbe  im  Vorwort,  „ein  inniger  Verehrer  Diesterweg«, 
möchte  gerne  an  seinem  Tlu  ile  ein  geringes  dazu  beitragen,  dass  doK.«(  lbrn  in 
Liebe  und  Dankbarkeit  gedacht  werde.  Mchr)iihriges  eingchoudcs  Studiiuii  der 
Diestcnvegschen  Schriften  hat  ihm  immer  und  immer  wieder  besonders  die 
großf  Liclif  vor  Ansrc  n  gofiihrf,  mit  welcher  Diesterweg  Zeit  seines  Lebens 
filr  tU  u  Vülk>schull(.lirer.stuu(l  und  detwen  gedeihliche  Weiten^-ntwickelung  ge- 
wirkt, gekämpft  und  gerungen  hat.  Und  daa  Bestieben,  dieses  Verdienst 
Diestcrwegs  einem  größeren  Kreise  vor  Augen  m  fuhren,  als  dies  etwa  durch 
Vorträge  in  einem  Verein  möglich  sein  würde,  ist  es  gewesen,  welches  den 
Verfasser  bewog,  mit  dieser  ursprünglich  m  letsterem  Zwecke  bestimmten 
Arbeit  an  die  Öffentlichkeit  zn  treten."' 

Wir  können  dieses  Unternehnieu  nur  mit  Bei&U  begrüßen;  denn  wenn  auch 
Herr  Kranse  alt«  reu  Kennern  nnd  Vetelinni  Diesterwegs  nicht«  Nenes  bieten 
konnte,  go  wird  doch  seine  Arbeit  jüngeren  Volks,«chullehrern  recht  ersprießlich 
sein.  Vielen  von  diesen  ist  ja  Diesterweg  fast  unbekannt,  da  die  reaclionäre 
Zeit.str()mung  und  die  ihr  dienenden  ephemeren  Männlein  dafür  gesorgt  haben, 
dass  der  Alte  von  Siegen  den  Augen  des  jungen  Geschlechtes  mnglichst  entrflckt 
werde.  Es  thut  daher  recht  .sehr  aotb,  dass  er  in  der  deutschen  Schulwelt 
wieder  mehr  Gehör  finde  nnd  ein  fkiachena  Leben  hervomfe.  MOge  das  an- 
gezeijTte  Buch  diizu  beitragen!  H. 

Axel  Key's  Schulhygienische  rntersnchnngen.  In  dentsclier  Bearbeitung 
herausgegeben  von  Dr.  Leo  Burgerstein.  346  8.,  mit  12  Curventafeln. 
Hamboi^  und  Leipzig  1889,  Leopold  Vota. 

Hit  Recht  bemerkt  Herr  Dr.  ßnrgemtein:  „Eine  der  heutigen  Entwickeluug 
der  Wissenschaft  entsprechende  lebens-  und  ausbilduneBfilnige  Reform  der 
Schule  wird  nur  mit  Zuhiitcnabme  exacter  rntersuchung  bestehender  Verh&lt- 
nisse  zuw  ege  gebracht  werden."  Unter  diesen  bestehenden  Verhältnissen  spielen 
nun  die  hygienischen  eine  hervorragende  Rolle,  weshalb  Dr.  B  denselhen 
bereits  früher  seine  verdienstliche  literarische  ThRtigkeit  /.ugewendet  h.it  und 
in  vorliegendem  Werke  weiter  nadigeht.  In  Srhufden  hat  man  den  mit  dem 
Schulwesen  in  Verbindung  stehenden  hygienischen  Verluiltnissen  eine  besonders 
grfindliche  rntersuchnng  gewidmet,  und  nanientlieli  hat  sich  dabei  der  Stock- 
holmer I^hysiologo  Key  durch  ein  bahnbrechendes  Werk  hWTOrgethan.  Das- 
selbe nun  auch  dem  deutÄchen  Publicum  zugänglich  zu  machen,  war  der 
Zweck  des  hier  angezeigten  Buches,  welches  unter  Weglassung  des  minder 
Wesentlichen  und  des  Wo«  für  .'^iehweden  Interessanten  den  Hauptinhalt  des 
Originalwerkes  getreu  wiedergibt.  Die  wichtigsten  T'nistände,  welche  bei  der 
Beurtheilung  des  Eintlusses  der  Schule  auf  die  (iesnndheit  der  Schuljugend  in 
Betracht  kommen,  der  < J<'sun(iheitszuHtand  in  den  allgemeinen  Schulen,  die 
Kurzsichtigkeit,  die  Arbeitszeit,  der  Eintluss  derselben  auf  den  Gesundheits- 
zustand der  Schüler,  das  Vermögen  der  Schiller,  dem  Unterrichte  zu  folgen, 
die  Schlafzeit  und  ihr  Verhältnis  zum  Gesundheitszustand,  die  Schullucule,  die 
Wohnun^isrerhältnisse,  die  Körperentwickelnug  der  Schüler  nai  h  dem  Lehens- 
alter, die  hygienische  Schnlaufsicbt ,  die  hygienischen  Verhältnisse  in  den 
höheren  Mädchenschulen  —  das  sind  die  wichtigen  hier  behandelten  Themnlia. 
Überall  dient  ein  sehr  reiche«,  wolgesichtetes  Material  von  ThAtaachen,  ans 


—  69  — 


markant«!)  ErfhhruDgca  und  umsiehtiiipen  Beobachtungen  gewonnen,  snr 
Grundlae:e,  um  zu  möglichst  oxactcn,  zifFermäßigen  Resultaten  und  sicheren 
Weiamigen  zu  gelangen.  Von  großem  Werte  sind  insbesondere  auch  die  bei- 
gegebenen  graphischen  Tafeln»  durch  welche  die  einschlagenden  sanitAren 
Momente,  wie  sie  oben  angeführt  sind,  in  der  deutlichsten  und  übersichtlichsten 
Weise  Teranschaulicht  werdeo.  Kurz:  wir  haben  hier  einen  der  gründlichsten 
ud  wertTolkten  Beitrftge  zur  Schulhygiene  TOr  uns,  fllr  den  wir  dem  schwe- 
dischen Originalverfassor  wie  dem  deutschen  Bearbeiter  zu  gletehem  Danke  ver- 
püchtet  siiä  und  auch  der  Verlagshandlung;  die  in  gewo&iter  Weise  für  eine 
wflrdiM  AuMtattnng  gesorgt  hat,  nnsere  Äneikennnng  zollen  müssen.  Möge 
das  Werk  die  Beachtung  aller  derer  linden,  welche  dimli  ihre  Berufsstcllung 
auf  die  GesundheitsverhAltniwe  der  ächu^ugend  bessernd  einzuwirken  Gelegen- 
heit haben  nad  nt|üditet  ind.  H. 
J.  RaafMum,  Znr  LehKridldiuigsflwge.  (Beilnge  siini  Jahnabericht  der 
Solothnmer  Cantonssclmle  1889.) 

Die  angezeigte  Schrift  erweckt  deshalb  ein  besonderes  Interesse,  weil  Ver- 
fmer  als  Rector  derjenigen  Cantonssehnle  {—  (fvmnasiiim  und  Gewerbe-  oder 
BealflChuIe)  wirkt,  mit  welcher  kürzlich  —  1.  October  1888  —  das  Seminar 
▼er^aigt  worden  ist,  so  dass  nun  die  Lehrer  an  der  gewerbliohen  Abtheilung 
der  (^tonaschule  flire  Vorbildung  eriialten.  —  Nachdem  Dr.  Kaufmann  in  der 
Knleitung  die  ersten  Seminargründungen  in  Deutschland  berührt,  stellt  er  die 
Kitwickelung  dar,  welche  die  Lehrerbildung  in  dem  genannten  Lande  vom 
ABha^  unteres  Jahrhunderts  an  genommen  liat.  Sodann  wendet  er  sich  der 
Schweiz  zu  und  bt>pri(lit  im  besonderen  die  bezüglichen  Verhältnisse  der 
Ctatone  Graubünden,  Luzem,  Aargau ,  Thurgau,  Zürich,  Bern,  äolothum, 
Waadt.  Hit  ehiem  Kflckblick,  der  gelegentilieh  noch  die  Cantone  Freibnrg, 
Ncu<nbiirg,  St.  Oullen  und  Schaffhausen  streift  und  eine  Würdigung  der 
ganzen  Frage  in  ihren  verschiedenen  Beziehungen  versucht,  schließt  Verfasser 
ah.  —  Wir  dfirfen  es  wol  hier  unterfassen,  auf  den  eisten  (Dentsdihmd  be- 
treffenden) Abschnitt  einzugehen,  urasoiiif  lir,  als  dort  die  Hewegung  in  Sachen 
der  Lehrerbildung  schon  anfangs  der  siebziger  Jahre  zur  Hohe  gekommen 
ist  Dagegen  werden  einige  Mittheilnngen  Aber  die  Sehweizer  VeihiltniaBe 
willkommen  sein,  und  hier  sind  c^erade  dir'  drei  letzten  Jahre  (das  laufende 
aHtgereebnet^  für  die  Lösung  unserer  Frage  von  gro&er  Bedeutung.  Doch 
«flasea  wir  in  der  Zeit  etwas  weiter  inrttckgehen,  nm  die  VencUedenheiteiL 
wdehe  die  gcgenwlrt%e  Lehrerbildung  in  der  Schweiz  anfweiat,  genttgmd 
Uar  Yorsuführeo. 

Wir  kitnnen  jene  Oantone,  welche  hier  hauptsftchlich  in  Betracht  kommen, 
mehrfach  gruppiren  und  schon  dadurch  etliche  Streifliehter  auf  die  Entwicke- 
laag  der  Dinge  werten.  —  £ntweder  handelte  es  sich  in  dem  mehr  oder  minder 
heragen  Kampfis  für  und  wider  die  Seminatien  nm  dne  Vereinigung  der  letz- 
teren mit  den  cantonaleu  Mittel-  oilvr  Vorschulen  der  Universität,  dder  um 
eine  Trennung,  wo  die  Einheit  von  Autang  an  vorhanden  gewesen.  Zu  dieser 
Gruppe  gehSrt  aOein  ChunbUnden;  jene  vmfhsst  Luzem,  Aargau,  Thurgau. 
Bern,  Zürich,  Solothurn,  Waadt,  Sehaffbausen.  Die  Btnvegung  ginjj;  aus,  oder 
die  Frage  wurde  angeregt,  in  Fluss  gebracht,  zur  Entscheidung  gedrängt  von 
der  Kegiening  (Luzem  1864,  Zttridi  1809,  fitchaflhausen  1889),  oder  ^on  der 
Lehrerschaft  bczw.  einzelnen  Lehrern  (Graubünden  1835,  Thurgau  IsTl.  Solo- 
thum 1871  und  188^  üemlH72,  Lehxerverein  der  franzüaischen  Schweiz  1874, 
Sehaffhansen  1888,  Zflrich  1887,  Waadt  1888)  oder  vom  Volke  selbst  wie  im 
Aargau  („Culturgesellschaft"  des  I'  /irks  Lenzburg  lS(n5i.  Fra^^en  wir  femer, 
ob  die  Lehrerschaft  als  üanzes  innerhalb  der  Bewegung  einen  hervorragenden 
Pesten  innegehabt^  ob  sie  sidi  in  grofien  Venammlungen  entschieden  und  be* 
stimmt  ausgesprochen,  so  wäre  das  mit  Nein  zu  beantworten  fllr  Luzem,  ftran- 
bünden  und  Aaigau  —  mit  Ja  für  die  übrigen:  besonders  in  den  beiden  ersten 
Gantonen  wurde  die  Angelegenheit  anndifieSudi  von  den  Behördoi  eiledigt 
Zun  Abschluss  nun  ist  die  Bewegung  gelangt  in  den  Cantoncn  Qraubünden 
1866,  Lusern  1868,  Bern  1872,  Thnrgau  1873,  Aargau  1874;  —  äolothum 
lM7j^nf  eine  endgültige  LOsnng  der  Fnge  hanea  noeh  Zürich,  Waadt» 


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—   70  — 


In  jenen  Torilufi^  zur  Rnhe  gekommenen  Cantonen  blieben  die  Zust&nde, 

wie  sie  waren;  d.  h.  Graubünden  bcliitlt  scino  Voroinigiinp:,  die  Übrigen  be- 
hielten ihre  getrennten  Anstalten.  In  einigermaßen  äbnlieher  Lage  wie  (irau- 
bttnden  befindet  sich  Neuenburg,  nur  dass  hier  ein  eigentlicher  Streit  um  die 
Art  der  Lehrerbildung  nie  entbrannt  ist.  und  diiss  die  Z<)s:linge  der  „Section 
pedagogique"  —  obwol  diese  eine  Abtheiluug  des  Gymnasiums  iBt  —  seit  1883 
ihren  besonderen  Unterricht  empfangen  (die  praktische  SchulfÜhmng  lernen  de 
in  den  Primarschulen  der  Stadt  kennen i.  \'on  I.uzern  ist  noch  zu  erwähnen, 
dass  im  Jahre  1867/()8  eine  provisorische  Verbindung  des  Seminus  mit  den 
Mittelschulen  stattgefunden,  dass  nach  AbUnf  dieses  Prob^ahrai  der  Enieliiuig»' 
rath  ^ich  für  das  Fortbestehen  der  neuen  Einrichtung  :uistresj)rocben,  der 
Kegierungisrath  aber  es  zweckmäßiger  gefunden  (wie  die  Behörde  von  St.  Gallen, 
wo  wegen  Mangels  an  Geld  die  späteren  Lehrer  ursprünglich —  IHöü  bis  1862  — 
ihren  Unterricht  an  der  Cantonsschule  erhielten!,  das.s  die  Volksschullehrer  auf 
dem  Lande  au.sgebildet  werden  Miründung  de»;  Seminars  Hitzkirch),  übrigens 
waren  c»  hier  wie  im  Aargau  und  Thurgau  noch  besonders  die  Stininardirec- 
toren.  die  für  Beihehaltung  eines  selbstständi^en  S.  minan;  entschieden  auftraten, 
indem  sie  als  Hauptgrund  gegen  eine  \  ereiuigung  die  grüße  Verschiedenheit 
der  beiden  Anstalten  betonten.  Im  Thurgan  sprach  sich  aaeh  die  Mehrheit 
der  Schulsynode  gegen  das  CantonBschul]irnject  aus.  In  B<Tn  musste  .-^i  li  die 
Schulsynode,  die  sich  für  gänzliche  Umgestaltung  der  Lehrerbildung  erklärt 
hatte,  bescheideA,  weil  Krziehungsdircctor  Kummer  mit  einer  langen  Rechnung 
bewies,  dass  aus  fiiiaii/iellen  Gründen  die  sch'men  Pläne  der  Lehrerschatt 
unaiistührliar  seien.  Letztere  war  nun  allerdings  so  weit  gegangen  wie  die 
deutsehe  im  Jalire  1K4K  und  der  zürcherische  Erziehungsdirector  Sieber  1869 
—  bi.s  zur  ..Hochschulbildung",  welche  1H72  mit  noch  größerem  Mehr  ahs  das 
neue  Erziehungsgesetz  vom  Zürcher  \'olke  verworfen  worden  war.  Die  Lehrer- 
schaft Zfiridu  aber  ließ  sich  dadurch  nicht  beirren,  sondern  verlangte  1887 
neuerdings  —  wie  den  Lesern  des  ,.Ptf'dagogiums"  bekannt  —  Mittel-  unrl  Hoch- 
schulbildung für  sümmtlichc  YolksschuUehrcr.  Hit  einer  auf  die  Mittelschul- 
bildung beiichränkten  Forderung  folgten  1888  Waadt,  4.  Juli  1889  Schaff- 
hausen  („Errichtung  einer  pädagogischen  Abtheilnng  am  Gymnasium").  —  Einen 
eigenthümlichen ,  nämlich  rein  politischen  Zug  zeigt  die  Geschichte  des  Frei- 
biuger  Seminars.  In  Freiburg  wurde  1848  von  der  liberalen  Partei  die  „£)cole 
cantonale"  mit  einer  „Seetion  pedagogique"  gegründet,  letztere  aber  zehn  Jahre 
später  durch  die  ans  Kuder  gelangten  Couservativen  mit  der  landwirtschaft- 
lichen Schule  in  Hautcrive  vereinigt,  die  sidi  nadi  nnd  nach  zur  eigentliehen 
Lehrerbildungsan-^talt  entwickelte. 

Sulothurn  endlich  hat  durch  die  neue  Verfassung  vou  1KS7  da.s  erhalten, 
was  eine  große  Zahl  Schweizer  Lehrer  ersehnt  und  erstrebt.  Nachdem  1871 
dit'  Mehrheit  der  Lehrerschaft  sich  für  Beibehaltung  des  Seminars  erklärt  hatte, 
wurde  1883  eine  engere  Verbindung  des  letzteren  mit  der  Canton.sschule  vom 
Gantonamth  angeregt.  Die  zur  Bei^utachiung  aufgeforderte  Professorcnconferens 
war  gegen  die  Vereinigung  der  beiden  Anstalten,  der  Verein  der  Bezirkslehrer 
wenigstens  für  eine  theilweise  Verbindung.  Eine  solche  beantragte  1S84  der 
damalige  Erziehungsdirector  AfTolter.  Er  drang  jedoch  nicht  durch,  und  die 
Angelegenheit  ruhte  bis  1887.  Da  wurde  jener  Antrag  von  Professor  Walter 
von  Arx  wiederholt.  Arx  wies  nach,  dass  die  Vereinigung  von  (  autousschule 
nnd  Seminar  s  am  I  in  ptdagogiflcfaer  wie  in  finanzieller  Beziehung  sich  empfehle. 
Jetzt  wurde  der  Antrag  angenommen  —  und  wie  sich  die  Sache  weiter  ent- 
wickelte, wird  den  Lcseru  des  „Pifdagogiums"  aus  der  „Kund.schau"  jener  Zeit 
bekannt  sein. 

Im  Rückblick  sagt  der  Verfasser  u.  a.:  Wir  maßen  uns  nicht  an,  zu  ent- 
scheiden, welche  Art  der  Lehrerbildung  die  absolut  beste  sei.  Die  Frage  kaun 
naturgemäß  nicht  überall  anf  die  gleiche  Weise  entschieden  werden  .... 
Die  Gründe  und  Einwendungen  gegen  dir  \'f'rsr!inielziinür  kh  inerer  Semiuarien 
und  Gymnasien  oder  Gewerbeschulen  sind  nii  ht  stichhaltig.  In  größeren  Oan- 
tonen  aber,  wo  die  Seminarien  bereits  fünfzig  bi.s  hundert  Zöglinge  zählen,  und 
wo  außerdem  die  Gymnasien  und  Gewerbeschulen  übervölkert  sind,  würde  es 
wol  schwer  halten,  eine  enge  Vereinigung  ins  lieben  zu  rufen,  ohuc  die  Ziele 


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der  einen  oder  anderen  Ahthcilunjr  zu  schädigen.  Bei  der  croRen  Zahl  der 
Schüler  mUssten  von  Tornheiein  Paraileldassen  errichtet  werden;  die  Ver- 
einiguDg  wttrde  «bo  Tom  flnftonellcn  StandpuBkte  vob  keine  gjoten  Voitbdle 
bieten.  I>ie  Verbindung  könnte  an  solchen  Änttalten  nur  eine  örtliche  sein, 
d.  h.  das  Seminar  würde  eine  Abtheilung  der  CutonaBchule  bilden  und  immer* 
Inn  iMbft  m  mitenehltieiide  Yonlli^  iahm  (in  Besv^  «if  Endehnn^  irad  Unter» 
rieht).  Die  Kosten  würden  für  die  Lchrumtseandidaten  nieht  crrößer  werden; 
wir  kennen  keinen  zwingenden  Grund,  warum  nicht  auch  hier  staatliche  Ten- 
rionate  enriehtet  wetden  konnten.  Übrigens  hat  der  Kampf  gegen  die  ge- 
trennten Bildungsanstalten  eine  tiefere  Bedeutunc:  fllinwei.s  auf  die  Kitmpfer 
für  die  „£inhei(88chule"^.  —  Wir  empfehlen  das  Studium  der  KanfinannttoJien 
Arbeit*)  —  die  sieh  in  aUen  Stileken  dnreh  strenge  Saebliehkeit  nnsseidinet 
—  nicht  nur  wegen  ihrer  Mittheilungen  zur  incschichte  und  Aufklärung  über 
den  gegenwärtigen  Stand  der  Lehrerbildungsfrage  in  der  Schweiz,  sondern 
aneh  wegen  ihree  hohen  allgemeinon  IitenMee.  R.  D. 

Kienen  und  Ewers.  Die  deutflohen  duiikfir  erläutert  und  gewürdigt.  Zwei 
Bftndchen:  Schillers  Jnngfran  von  Orleans;  fünf  Btodchen;  Goefche's  Iphi- 
genie  auf  Tauriß.    Leipzig-  1888,  Bredt. 

Die  genannten  Erliiutcrungsschrittcn  haben  folgenden  Gang:  Inhaltüaugabc 
der  einzelnen  Scenen,  ZusaninieustcUung  der  Charaktere  nach  ihren  EigcnthUm- 
lichkeiten,  die  Angabe  der  Idee.  Entstehung,  Zeit  und  OrtUchkeit  der  Hand- 
lung, Notizen  über  Sprache  und  Vers,  eine  kurz  gehaltene  Textcrläutcrung 
und  eine  Sammlung  der  in  dem  Drama  vorkommenden  Sentenzen.  Angeregt 
durch  Unbescheids  „Beitrag  zur  Behandln n 2:  der  dramatischen  Lectüre",  geben  sie 
auch  eine  dramaturgische  Tafel,  die  in  dem  fiiutteu  Bändchen  freilich  ziemlich 
verschwonunen  nnd  nnQbersichtlicb  ii«t.  Lob  dagegen  verdient  die  Heraiudehnng 
der  ^feinungen  anderer  Eri&uterer  dort,  wo  Terschiedene  Auftassongen  der 
Stelle  möglich  »ind.  W. 

Kaj^tni}  Hilftibflcher  für  den  dentscfaen  Unterrieht  BaÜbor  1880,  Simmieh. 

Das  Büchlein  ist,  wenn  auch  keine  volktändigc .  so  deich  eine  ziemlich  um- 
fiwsende  ZusammeustcUung  von  Titeln  solcher  Bücher,  diu  insbesondere  der 
Lehrer  des  Deutschen  bei  seiner  ThKtigkeit,  dann  aber  auch  jeder  Literatur^ 

freinid  In  nüthigt.  Da  sehr  sehätzenswerte  Arbeiten  in  Zeitsehrifren  o<ler  Pro- 
grammen zerstreut  sind,  hätten  auch  diese  angeführt  werden  sulleui  ebenso 
wllrde  es  sieh  empfelüen,  z.  6.  nieht  blos  unter  d^  Titd:  „Zum  Leseunter» 
rieht"  die  N'amen  der  Erläutcrungs^«chriften  anzugebeu,  sondern,  falls  in  der 
Erläuterungsschrift  (^wie  s.  B.  bei  Frick  und  Polack)  verschiedene  größere 
'Werke  commentirt  sind,  die  Absdinitte  der  Schrift  auen  bei  den  Titel:  „Br> 
läutcrung  des  betreffenden  Werkes"  auzuireben.  Xatiirlicli  inilsste  dann  die 
Zusammenstellung  nicht  blos  auf  Grund  von  Messkatalogen  voi^enommen 
werden.  Dadurch  wflrde  auch  mancher  andere  Obdstand  beeeitigt.  Kerns 
Unterricht  in  Prima  z.  B. ,  der  eine  so  anregend  geschriebene  Poetik  enthält, 
fehlt  auf  diese  Weise  unter  dem  Titel  „Poetik";  Sanders  Stübuch  gehört, 
seinem  Inlialt  nach  nicht  unter  die  AuftattsbUdier;  Pauls  mild.  Gmaunatik, 
die  beste  unter  den  vorhumlenen  Grammatiken,  die  einzige,  welche  eine  syste- 
matisch angelegte  Syntax  enthält  —  fehlt  (nebenbei  erwähnt)  in  dem  Ver- 
ceiehnis.  W. 
Kinmel .  Deutsche  Gescliickte.  firstes  bis  viertes  Heft  (voUittbidig  in  etwa 
«ehn  Heilen  zu  1  Mark).    Dresden  1889,  Karl  Höckner. 

Das  vorliegende  Werk  ist  eine  gediegene  Leistung.  Auf  Grund  eingehender 
Stadien  der  wissenieliafllidien  Farawence  ausgearbeitet,  ▼omehm  in  der  Dar^ 
Stellung,  sucht  es,  überall  klar  entwickelnd,  in  ruhiger  Sprache  die  Vcrhältnis-se 
lUM^h  ihrem  Zusammenhange,  nach  Ursache.  Motiv,  Folge  und  Bedeutung  aus- 
efns&denmsetMn  und  die  Triger  der  Kusolnngen  sehsSf  heranssuarbeiten.  Es 
verschmäht  anekdotenhaften  Anfputj^.  sagenhafte  Züjre  werden  hie  und  da 
erwähnt,  aber  als  solche  beaeichnet.  Charakteristisches  Detail  steht  dem  Ver- 


*)  Preis  im  Buohhaadel  1^  Fr. 


—   72  — 


fasscr  genug  zu  Gebote,  so  dass  os  ihm  lu  i  i^oincr  ausgesprochenen  Gestaltungs- 

Sabegelungen  ist,  nicht  blos  ein  treues  ^  sondern  auch  ein  anschauliches  BÜd 
er  YoT((S.nt(e  so  entwerfen.  Bis  jetet  mnd  Tier  Hefte  eiwdiienen,  die  auf  S84 
Seiten  die  deutsche  TJeschichte  nach  ihrer  |>olitisrhcn  und  eulturc-cscliichth'cheu 
Seite  von  üiren  ersten  Anfängen  bis  auf  den  Uohenfltaiifen  l'riedrich  II.  er- 
zählen. Ib  stofFIieher  Hinsicht  verdient  dns  beeottders  hervorgehoben  m 
■werden,  weil  dicBo  ( ';i]iitel  in  so  ausführlicher  und  ziiixlcich  lichtvoller  Art  noch 
niemals  in  einem  Uandbuche  bebandelt  wurden.  Wir  meinen  die  Darstellung 
der  Leistungen  traseres  Volkes  anf  den  Gebieten  des  wirttehaftlieben 
Lehens,  des  Handels  und  Vorkelirs  der  A(  l^erwirtschaft  und  der  Colonisation 
im  Innern  des  Keicbes,  der  Besiedeluug  und  (Jermaniairunff  des  slaviscben 
Nofd«  und  Sttdostem»  —  avf  letsterem  Gebiete  steht  KSmmd  dnrdi  eeiaWerfc: 
„Die  .^nfinfjc  der  deutschen  Cultur  in  ( isterreich"  in  der  Keihc  der  bahn- 
brechenden Forscher  —  der  Entwickclung  des  Ständewesens  und  dgl.  W. 
Dui'uy,  Geschichte  der  römischen  Kaiserzeit.  Aus  dem  Französischen  über- 
setzt von  Dr.  Q.  Hertzberg.  IV.  Bd.  Leipzig  1888,  Schmidt  Ofinther. 

Ikr  viert'^  l'and  führt  die  Kaifcrgeschichte  von  Comniodu3  bis  zur  Thr^ii- 
entäagung  Diodetiauä  vor,  also  den  Wendenunlct  in  dem  Geschick  der  antikcu 
Welt  Hit  vnveiliohlener  Bewunderung  scbllderte  der  dritte  Baad  die  Zeit  der 
Antoninr',  „die  i^Iücklichste  Zeit  des  KitmeireitiJiei''-  Der  Haupttlicil  dieses 
vierten  Bandes  zeigt  uns  zumeist  ein  dUsterea  Bild:  den  ticten  Verluli  der 
Kunst  und  Lidustrie,  des  Verkehrs,  des  Heerwesens  und  der  Verwaltung,  die 
Entartung  des  Volkes  und  der  Ilcrrsdier  Ohnmacht,  das  Vordringen  der  ge- 
einigten Barbaren  und  das  Unterliegeu  des  antiken  Geistes  gegenüber  dem 
sich  immet  selbBtatändiger  regenden  Christenthum ,  das  bald  nach  Schluss  der 
genannten  Periode  zur  Staatsrelie:iuii  t  rls  ibffli  wird,  n.u  hdcui  es  unter  Diucle- 
üan  die  letzte  der  großen  Vorfolguugcn  ttbezstandcu  hat.  Der  Bedeutung 
dieses  neuen  Lebeneuementee,  dem  die  Zukunft  gehörte,  enti$pridit  es,  wenn 
Duni.v  dem  Zustande  der  chriBtlii  hen  Kir'  lie  und  ilinm  ]I(  IJ-  nzeitalter,  dem 
(Zeitalter  der  Märtyrer,  eine  umfaugrciche  Darbteliung  widmet  t.S.  Iü8— 22S, 
289—842,  447--466  ,  476—483  ,  683—714)  und  diese  Abschnitte  durch  zahl- 
reiche Illustrationen  izumcist  Katukorabenbilder.  aher  auch  auderweitige  Funde, 
darunter  z.  B.  das  Spottcrucifix,  S.  231)  verauMihaulicht.  Dass  er  als  Histo- 
riker ifb  Werden  der  hierarchisehen  Einrichtungen  an  der  Haad  kritisch  ^e- 
sichtetcr  Quellcnstellcn.  die  allmähliche  Entwickclung  der  Dogmen,  den  Ein- 
lluss  der  philosophischen  Systeme  und  geistigen  Bichtuugen  auf  ihre  Bildung 
und  Ausbudttiig  zu  eHirasdien  sucht,  branm  wol  kaum  betont  zu  werden; 
vielleii  ht  a))er,  dass  Duruv  diese  an  sich  dunklon  (lebicte  außerordentlich  klar 
schildert  und  so  reich  an  charakteristischem  Detail,  dass  auch  der  JNicbt- 
Theologe  mit  gespannter  Auftnerkeamkeit  der  Darstellung  folgt. 

Wie  daneben  die  Geschichte  der  einzelnen  römischen  Kaiser  erzilhlt  wird, 
mag  der  Leser  aus  einem  Beispiele  ersehen.  Die  Darstellung  von  Caracalla's 
l^arakter,  Leben  und  Wirken  umÜUBt  80  Seiten  und  iet  durch  nicht  weniger 
als  27  niustrationcn  (darunter  zwei  ganzseitige  Vollbilder'^  gcschinilckt.  Die 
.Abbildungen,  mehrere  BUsten  und  Cameen  und  viele  Mtlnzen,  die  von  Caracalla 
gesdiaffonen  Bauten  in  ihrem  jetzigen  Zuttaad  und  in  Beoonztruetionen,  ferner 
Statuen  und  3Iosaikcn  aus  diesen  Bauwerken  sind  in  sehr  gutem  Holzsrhnitt 
ausgeführt.  Ein  so  reiches  Biidermaterial  —  darunter  nicht  eine  einzige 
momnie  Composition  oder  ein  Phantaziebild  —  bat  kein  andere«  Werk.  Dort 
natürlich,  wo  bedeutendere  Gestalten  alsTarucalla  geschildert  sind,  melirt  sich 
entsprechend  der  grülicren  AusftUirlichkeit  in  der  Erzilhlung  dieser  Bildcrschatz, 
80  z.  B.  im  Torli^r«Bden  Bande  bei  der  Darstellung  des  wukenz  dea  Septimius 
Severus,  des  Alexander  Severus,  des  Diocletian.  Die  Lectürc  des  Lebens  des 
letztgenannten  Kaisers  zeijgt  uns  zugleich  ein  anderes  Verdienst  des  Werkes 
in  hellem  Lidite:  Wir  zMineii  die  Art,  wie  Dnniy  in  dieQuellea  eiaführt  «zd 
Quellenkritik  übt.  Die  betreflSonden  Fainoten  wird  jeder  nur  mit  der  aller- 
größten Befriedigung  leeen.  W. 


VanatworU.  Bedartw  Dr.  FrUdrUb  Dittea.  BtutOnäuni  Julia»  KllBkIiar<1l,  Lei|«ig. 


Dier  emeheidei  Uitenrielit. 


Nadi  J.  0.  Df essler*)  (s.  YierteUalmMhiift  ftr  Settedehf«  tob  H.  NeugeboreD) 
nitgeCkeiH  tmi  Obeilehnr  «m.  0,  A»  A^eMh«MM«-BaMlMii. 

Wir  fitfseE  zaBidist  das  Niedrigste,  womit  es  der  Unterricht  su 
tlmn  hat:  die  änderen  Fertigkeiten  —  ins  Aiige,  in  Betreff  deren 
so  siemlich  bekannt  ist,  dass  von  ihnen  Gemttth  und  Charakter  am 
wenigsten  aUiingen,  da  diese  Fertigkdton  in  einem  ziemlidi  tief 
stehenden  System  nnseres  Seins  wnrzefai,  nXmUch  hn  Mnskeli^yBtem, 
also  in  etwas  Körperlichem.  Dieses  steht  zwar  unter  dem  Binflnase 
des  WiDens,  ja  empfingt  seine  Erregong  immer  nnr  von  innen  her, 
gehngt  aher  nie  zn  dem  UarenBewns8tsein,zn  welchem  das  Psychische 
sich  ansbildet.  Aller  eigentliche  Unterricht  geschieht  durch 
Vorstellungen,  und  der  Unterricht  in  Fertigkeiten  macht  davon 
keine  Ausnahme.  Die  ftußeren  Fertigkeiten  sind  nur  durch  die  Ver- 
mittdung  von  Vorstellungen  zu  erwerben,  die  neben  dem  durch  sich 
selbst  nicht  ▼orsteilbaren  MuakelyennOgen  liegen,  denn  die  letzleren 
entwickeb  nur  ein  schwaches  Benasstsein,  das  zum  Vorstellen  nicht 
hinreicht;  undso  wird  hierans  nebenbei  klar,  dass  zwischen  Abrichten 
zu  taßeren  Fertigkeiten  und  zwischen  Unterricht  in  denselben  ein 
großer  Untereehied  ist  Die  Theorie,  welche  wir  durch  die  Vor- 
stellungen gewinnen,  klärt  die  Empfindungen,  Schfttzangen,  Begehmngen 
etc.  auf  und  schreibt  ihnen  die  Zielpunkte  vor,  weahalb  eine  richtige 

*  J.  <i.  Dresdier,  woilaud  Semiuaidirector  in  Haiitzou,  f  IHt;7,  vertrauter  Freund 
uud  Mitarbeiter  A.  Diesterweg's  sowie  F.  E.  Beueke's,  Uervorragend  al»  praktischer 
aBhnlwmim,  aaaifliitlldi  «IsLelirarliildiier,  bat  adk  in  derOesehiflkteder  pädugogisehea 
WimntdiKft  bewnden  dmrali  FOideniag  der  Piyehologie  eisen  bleibenden  Nnmen 
erworben.  Sein  Standpunkt  war  der  Bcncke's,  dessen  System  er  gründlich  kannte, 
gesfhiVkt  popularisirte  und  eifrig  verbreitete.  Obige  Abhandlung,  an  sich  höchst  lehrreich, 
gt winnt  nocli  ein  bfsniulcrcs  Intorfsse  durch  \'<  rtrkMchun^^  mit  dor  Ikhandlung  do?<- 
belbeo  Thc-mah  dun-h  llerbart,  der  sich  namuutiKh  dadurch  vonBeneke  unterscheidet, 
di«  er  dem  theeretieehen  ünteniohte  an  eich,  dem  Ventandeamafigen,  d.  i  dem 
BagfüHdw.  Abitraeten,  dem  ,Qedaabenlnreiie«  —  dtüiche  (enieUiehe)  Kiafl  bei- 
legt, wonn  isieni  BnchteBsefaiOnindiBthmn  von  Herbart^s  Fldagogik  liegt.  D. 

FaiilHiM.  VLMUg.  B«ftU.  6 


—   74  — 


Theorie  von  höeturt  wolthfttigen  Folgen  sein  wd,  aber  Triebkraft  hat 
die  Theorie  nidit. 

Haben  «mach  die  VorsteUoiigeii  Uob  mittelbar  ihren  Wert 
für  die  Eraehnng  nnd  auch  für  die  äußeren  Fertigkeiten,  so  ist  das 
doch  nicht  unbedentend  sn  nennen.  Knr  im  Handebi  entwickelt  sich 
muser  Charakter,  der  ja  durch  und  doich  praktischer  Natnr  ist,  und 
nun  Handeln  ist  man  nicht  beflUiigt,  wenn  man  ftnfiere  Geschicklich* 
keiten  und  Fertigkeiten  wenig  oder  gar  nicht  erworben  hat.  Es  ist 
aber  namentlidi  die  mit  der  rechten  Erwerbung  verbundene  Steigerung, 
weiche  aneh  die  äußeren  Fertigkeiten  f&r  G«müth  und  Charakter  be- 
deutend macht  Man  denke  sich  eine  Schule,  in  welcher  die  Kinder 
leicht  und  sicher  zum  richtigen  Stprechen,  zum  Lesen,  Schreiben,  Zeich- 
nen und  Singen  gebracht  werden:  wird  die  Wahrnehmung  der  ge- 
wachsenen Kraft  und  das  damit  verbundene  Lustgefühl  die  Kinder 
nicht  zu  begeistertem  Fortschritt  treiben?  Hängt  nun  auch  der  sitt- 
liche Charakter  mehr  von  Stimmungen  ab,  die  in  Bezug  anf  Menschen 
und  von  Menschen  her  erworben  sind,  so  doch  auch  von  solchen,  die 
von  Sachen  herstammen.  So  liegt  es  z.  B.  am  Tage,  dass  wolklingende 
Töne  Spuren  zurücklassen,  die  ein  lartes  Gemüth  begrttnden  helfen, 
theilweise  seine  lebensfrohe  Stimmung  ausmachen,  und  wenn  von  dieser 
vielfech  eigenes  und  fremdes  Glück  abhängt,  so  dürfte  ein  guter  Ge- 
sangnnterricht  unstreitig  der  Begründer  einer  höchst  wichtigen  Fertig- 
keit zn  nennen  sein.  Ähnliches  gilt  vom  Schönschreiben  und  Zeichnen, 
welche  namentlich  ästhetische  Bildung  bewirken,  wenn  sie  nicht  durch 
verkelirte  Behandlung  um  diesen  Segen  gebracht  werden.  Es  gilt  hier 
der  Erziehungsgmndsatz:  Je  näher  man  das  Material,  den  Kenut- 
msstoff,  der  affektiven  und  praktischen  Seite  des  Seelenlebens  zn 
bringen  vermag,  desto  mehr  erziehlichen  £influss  vermag  es  zn 
änßem 

Gehen  wir  weiter  zum  Rechenunterricht.  Dieser  steht  an  sich 
dem  aifectiven  und  praktischen  Seelenlehen  fern,  er  steht  ganz  auf 
Seiten  des  külilen,  ruhigen  Verstandes,  denn  die  Zahlen  sind  Begriffe, 
oder  vielmehr  lauter  Combinationen  des  Begriffes  „Eins",  der  ganzen 
oder  der  getheilten  Eins,  jedenfalls  also  abstracte  Vorstellungen,  die 
an  sich  weder  Lust-  noch  Unluststimmungen  in  sich  tragen.  Aus 
solchem  Material  erwachsen  daher  auch  keine  Begehrungen  und  Wider- 
strebuugen  in  der  Art,  wie  solche  aus  Lust-  und  Unlustgebilden  un- 
mittelbar hervorgehen.  Diese  erwacliseu  vielmelir  aus  der  Art  und 
Weise  des  UnteiTichts.  Das  erste  wird  sein,  dass  der  Lelirer  sich  ge- 
nau orientirt,  welche  von  seinen  Schüleiii  zum  Abstrahiren  mehr  be- 


—   76  — 


fahigt  sind,  welche  weniger.  Jenes  sind  die  kräftigen  Küi)fe.  deren 
Lebendigkeit  niclit  zu  groß  ist  (selbst  sehr  langsiiiiie  und  für  dumm 
geltende  Kinder  begreifen  die  Zahlen  noch  gut,  wenn  sie  nur  dabei 
nicht  unkräftig  sind),  dieses  sind  die  ki-aftlosen  und  dabei  flüchtigen, 
wozu  die  zerstreuten  kommen.  In  allen  diesen  verschiedenen  Seelen 
m rissen  nun  die  Zahlenvorstellungen  und  deren  Operationen  zunächst 
so  vielspnrig  gemacht  werden,  dass  sie  Festigkeit  und  Klarheit  be- 
kommen,  denn  davon  hängt  alles  weitere  Gedeihen  ab.  Folglich  wer- 
den bei  manchen  Kindern  Hunderte  von  Anschauungen  derselben  Zahl 
erforderlich  sein,  wo  bei  anderen  wenige  genügen,  und  wer  hierin  das 
Rechte  nicht  trifft,  wer  sich  Überhaupt  auf  das  Anschaolichmachen 
des  Abstracten  nicht  versteht,  bei  dem  lernen  aach  die  besseren  Köpfe 
nicbts.  Die  Langweiligkeit  (die  größte  Sünde  des  U&terriebtes!),  die 
dann  eintritt,  erzeugt  Missstimmongen,  gegen  welche  das  St&rkerer 
bereits  in  den  Seelen  ist,  reugirt,  als  Wideratrebmig  auftritt;  mid  so 
wirkt  derselbe  Unterricht,  der  bei  einer  richtigen  Behandliing  Lnst- 
slammnngen  erzeugt  (indem  er  sn  dem  Oefthle  gehobener  Kraft  IBhrt» 
einem  GefÜlile,  das  durch  die  nnwillkflrUche  Verg^eiefaung  mit  der 
anAngüdien  Unwissenheit  in  jedem  Kinde  als  nothwendig  bedingt 
ist),  lähmend  und  niederdrftckend,  nnd  was  das  Kind  als  ein  Gut 
sehltzen  soUtei  das  schfttzt  es  als  ein  Übel  Indessen  nicht  bloe  die 
dureh  Vergleiehung  entstehenden  Gefühle,  sondern  schon  die  einsdnen 
Acte  geben  eine  erhebende  Stimmung,  wenn  sie  als  Uare  nnd  krAftIge 
ddi  direct  ankündigen,  nnd  so  können  die  Yorstellnngen,  die  sonst 
nicht  zam  Affectiven  zn  rechnen  sind,  doch  onlengbar  affectiv  wirken; 
denn  Kraffc  nnd  Klarheit,  Festigkeit  nnd  Daner  sind  sehr  wolthfltige 
Stimmungen.  An  gnt  entwickelte,  gehobene  Kraft  schliefien  sich  non 
die  nenen  UrvermOgen,  die  das  Kind  t&glich  erwirbt,  vorherrschend 
an,  nnd  so  erklärt  es  sich,  wie  anch  die  an  sich  strebnngslosen  Vor- 
steUnngen  zn  begehrenden,  nach  Fortentwickelnng  verlangenden,  kurz 
za  Triebkrüften  werden  können,  die  manchmal  sogar  ins  Übermafi 
aasarten,  was  indess  selten  eintritt  nnd  darum  keinen  Lehrer  von 
einer  erziehlichen  Behandlung  des  Bechenontemchtes  abzuhalten  braucht 
Weit  naditheüiger  ist  das  G^egentheil.  Denn  gesetzt,  es  würde  die 
Aneignung  des  Redienmaterials  erzwungen,  so  sehr  anch  die  gehmg- 
weilten  Kinder  dagegen  sich  stemmen,  so  kann  es  doch  kein  lebendiges, 
kein  triebkriftiges  werden,  weil  die  Seele  ihr  Bewusstsein  lieber  auf 
Angenehmeres  lenkt,  folglich  das  Gelernte  bald  wieder  in  Vergessen- 
heit sinkt  und  hierdurch  seine  Fortwirkung  einbüBt 

Was  den  Sprachunterricht  betrüft,  so  ist  von  vornherein  zu- 

6» 


—   76  — 


fOgeben,  daas  die  Sprache  mehr  als  irgend  etwas  erziehliche  Momente 

in  sich  trägt;  denn  in  der  Sprache  spiegelt  sich  unser  gesammtes 
Geistesleben  ab,  das  gemüthliche  und  praktisclie  nicht  minder  als  das 
intellectuelle,  aber  freilich  jenes  nur  in  der  Form  von  diesem. 
iMäßt  besteht  immer  noch  vielfach  der  Irrthum,  dass  man  erziehend 
wirken  könne  durch  bloße  Worte,  sobald  ihre  Begriffe  nur  auf  das 
Geistige  Bezug  haben.  Namentlich  traut  man  Wörtern  und  Sätzen 
von  rdigiösem  Inhalt  eine  Art  Wundermaclit  zu.  —  Will  man  sich 
nnn  klar  machen,  was  die  Sprache  eigentlich  vermag,  und  was  nicht, 
so  muss  man  vor  allem  zweierlei  sorgfältig  auseinanderhalten:  die 
Sprache  als  Mittel  des  Unterrichtes  und  die  Sprache  als  Gegenstand 
des  Unterrichtes.  Wir  fragen  zunächst:  Welchen  erziehenden,  G^ 
müth  und  Charakter  bildenden  Einfluss  hat  die  Sprache,  insofern  sie 
als  Mittel  des  Unterrichtes  gebraucht  wird? 

Die  Antwort  ist  folgende.  Kein  Wort  und  kein  Satz  kann  un- 
mittelbar ein  coneretes  Gefühl,  eine  concreto  Begehrung,  eine  eoncrete 
Widerstrebnng,  ein  coneretes  Wollen  etc.  in  sich  enthalten  und  in  den 
Hörenden  hineingeben,  sondern  jedes  Wort  drückt  nur  einen  Begriff 
aus,  ist  ein  Zeichen  nur  für  diesen,  also  flU^  etwas  Abstractes,  und 
alle  Sätze  sind  nur  eine  Verbindung  von  Begriffszeichen.  Deshalb  gibt 
mir  das  Wort  Lust  noch  keine  Luststimmung,  das  Wort  Trauer  noch 
keine  tnü'*  das  Wort  Muth  noch  keine  muthige  Stimmung  etc.  Durch 
solche  Begiilt'szeichen  lassen  sich  nun  wol  die  concreten  Gebilde  mit- 
erregen, wenn  sie  da  siiul  und  wenn  die  erregenden  Schallreize  der 
Worte  durch  den  Hef^riti"  hindiucli  bis  zu  ihnen  hingcdangen  —  ein 
häutig  nicht  eintretender  Fall,  weil  die  Krre^-ung  leiclit  nach  anderen 
Seiten  hin  durcli  die  bereits  bewussten  (Tebilde  aligelenkt  wii'd,  — 
nie  aber  kann  das  Concrete  durch  Erregung  dt^s  Abstracten  ent- 
stehen. Hätte  man  diese  Natur  dei-  Hfgritle  »^kaniit,  hätte  man  ein- 
gesehen, dass  aus  dem  Concreten  wol  das  Abstiacte,  nie  aber  umge- 
kehrt aus  dem  Abstracten  das  ('oncrete  ei  wäciist,  so  würde  man  nie 
Ansprüche  an  die  Begrüte  und  noch  weniger  an  deren  Zeiclicu,  die 
Wörter,  gemacht  haben,  welche  sie  nimmermehr  zu  erfüllen  vermögen. 
Es  sieht  freilich  oft  so  aus,  als  könnte  man  mit  Worten  direct  auf 
den  Willen  einwirken  und  diesen  dadurch  bilden,  als  käme  es  mithin 
nur  auf  die  rechten  Worte  an.  Das  Kind  geht  ja  fort,  wenn  ich  sage: 
geh!  es  kommt  ja  heran,  wenn  ich  sag«':  komm!  Aber  man  übersehe 
doch  nicht  das  Entgegengesetzte.  Wie  oft  richten  die  Worte  nichts 
aus!  Das  Kind  läuft  manchmal  davon,  wenn  man  es  herkommen  heißt, 
et^  kommt  heran,  wenn  man  ihm  gebietet,  fern  zu  bleiben,  etc.j  und 


—  77  ~ 


wenn  die  Worte  gar  nicht  vei-standeii  \vt  i(b.u,  weil  die  ilmeii  ent- 
sprechenden Begriife  fehlen  oder  sich  nicht  reproduciren ,  wie  dann? 
Ist  einem  Kinde  das  Davonlaufen  lieber,  von  pfrüßerem  Interesse, 
als  das  befohlene  Herkommen,  wird  dann  der  Hegrilf  „Herkommen" 
imstande  sein,  dieses  Interesse  iNeig^unf,'»  unwirksam  zu  machen,  da 
der  Begrirt  nicht  den  zehnten  Theil  der  Strebungsstärke  hat,  den  die 
lebendige  Neigung  besitzt?  Und  können  sicli  nicht,  wie  in  diesem 
Falle,  SU  auch  sonst  neben  den  Begriffen,  Neigungen  reproduciren,  die 
ihnen  entgegengesetzt  sind?  —  Die  Sprache  kann  nicht  etwas  tör- 
dern,  was  nicht  schon  in  sich  selbst  die  geliiirige  Vollkommenheit  hat. 

Das  Wesentliche  der  fSprat^lie  besteht  nämlich  blos  darin,  dass  sie 
Zeichen  zu  dem  Geistigen  hinzugibt,  die'  sicli  mit  diesem  associiren. 
Alle  diese  Zeichen  sind,  verglichen  mit  dem  Bezeichneten,  etwas  Äußeres, 
das  sich  zwar  mit  dem  Innern  (dem  Bezeichneten)  bleibend  verbindet, 
aber  stets  in  anderen  Vermögen  fortlebt,  als  das  Bezeichnete.  Natür- 
lich muss  vollkonnuener  foi  tdanern.  was  nicht  einfach,  sondern  doppelt 
gestützt  ist:  ei-stens  durch  sich  selbst  utid  zweitens  durch  das  Zeichen, 
mit  dem  es  in  Verbindung  steht,  und  je  kräftiger  das  Zeichen  beharrt, 
desto  gi'ößer  muss  der  Gewinn  tüi-  das  Bezeichnete  sein.  Dies  gilt 
nun  von  den  Zeichen,  die  wir  Worte  nennen,  in  vorzüglichem  Grade. 
Die  Gehörvermögen,  in  welchen  die  Wortlaute  wurzeln,  besitzen  nicht 
blos  eine  große  Lebendigkeit,  sondern  aucli  eine  bedeutende  Kraft  des 
Festhaltens.  Die  Vorstellungen  gewinnen  daher  durch  die  ihnen  an- 
geschlossenen Wörter  einen  stärkeren  Halt,  werden  aus  dem  Be- 
wnsstsein  nicht  so  leicht  und  schnell  wieder  verdrängt,  sondern  können 
mehr  Widerstand  leisten  beim  Wechsel  des  Brwnsstseins,  und  wenn 
sie  an  und  für  sich  zu  schwach  gewesen  wären,  sich  als  Spuren  fort- 
zuerhalten,  so  geben  ihnen  die  Wörter  diese  Fähigkeit.  Das  voll- 
kommener Festgehaltene  erlangt  liierdurch  einen  iloppelten  Vortheil; 
es  kann  nicht  nur  überhaupt  vollkommener  und  häufiger  repro- 
ducirt  werden,  sondern  es  ist  auch  die  Reproduction  vermittelst  des 
Wortes  mehr  in  die  Gewalt  unseres  Willens  gebracht,  mehr  unserer 
Willkür  unterworfen.  Eine  Folge  davon  ist,  dass  nun  eine  Verarbei- 
tung der  Spuren  zu  höheren  Gebilden  stattfinden  kann,  was  auf 
zweierlei  Weise  geschieht.  Die  nngleichartigen  werden  nämlich 
zu  Omppen  und  Reihen  mannigfaltiger  Art  verbunden  und  erhalten  sich 
dann  in  diesen  Verbindungen,  was  jeder  Satz  als  Beispiel  erläutern 
kann;  denn  jeder  Satz  ist  eine  Reihe  von  Vorstellungen,  ge- 
bunden an  eine  Reihe  von  Wörtern,  und  man  kann  sich  selten 
einige  Sätze  nebeneinander  ansehen,  ohne  in  ihnen  dieselben  WOrter 


—    78  — 


(imd  TorateUimgen),  nur  anders  grnppirt,  za  Ünden,  auf  welcher 
Gruppen-  und  Bdlienbfldmigiftliigkeit  dSe  Ifdg^chkeit  des  Fortsehrd- 
tens  ebenso  sehr  hemht,  als  anf  der  zweiten  Art  and  Weise,  wie  die 
Spuren  verarbeitet  werden.  Wir  meinen  hier  die  Verbindnng  gleich- 
artiger VorsteUongen  zu  Begriffen  (das  Gemeinsame  jener  gibt  eben 
die  BegriffiB),  welche  dann  zn  Urtheilen,  zn  Schlflssen  etc.  verwendet 
werden.  —  Die  höheren  und  namentlich  die  anf  das  Innere»  Geistige 
sich  beziehenden  Begriffe  mnss  der  Unterricht  dadurch  Tcnnitteln,  dass 
er  mit  Hilfe  der  WOrter  deren  Grundgebüde:  die  Empfindungen,  Be- 
gehrungen,  Widerstrebangen,  Geftthle,  WoUungen  etc.  zusammen  erregt, 
sie  nebeneinander  gleichsam  zum  Stehen  bringt,  denn  das  Gleich- 
artige der  Grundgebilde  tritt  nicht  zusammen,  wenn  die  letzteren  un- 
erregt, unbewusst  bleiben.  Namentlich  die  höheren  BegrüüB,  welche 
niedere  voraussetzen,  erfordern  solche  künstliche  Nachhilfe,  und  so 
leuchtet  ein,  wie  bedeutungsvoll  die  Sprache  dafttr  ist  Es  wird  frei- 
lich am  Lehrer  liegen,  dass  dieser  Erfolg  erzielt  wird.  Und  nun 
noch  etwas,  was  die  Sprache  als  Mittel  des  Unterrichtes  vermag,  sie 
wirkt  ästhetischen  WoUaut,  wenn  sie  nämlich  wollautend  vor  den 
Ohren  der  Jugend  gesprochen  wird.  Man  kann  sie  in  dieser  Hinsicht 
mit  der  Musik  vergleichen,  welche  unmittelbar  erregend  ins  GemUth 
dringt,  die  Vorstellungen  also  überspringt.  Daher  die  Erfahrung,  dass 
eine  Bede,  die  sonst  wenig  Gehalt  hat,  doch  die  Zuhörer  erbaut,  wenn 
sie  nur  wolklingend  vorgetragen  wird.  Ja,  es  kommt  vor,  dass  je- 
mand sich  vorgenommen  hat,  einem  Ansinnen,  das  ihm  voraussiclitlich 
gemacht  werden  wird,  nicht  zu  williahren;  aber  die  Worte,  in  denen 
es  ihm  entgegenkommt,  klingen  so  anmuthig,  dass  sie  ihn  unwidei*- 
Stehlich  ergreifen,  und  ehe  er  sich's  versieht,  haben  sie  ihn  umgestimmt 
Unser  Gehörsinn  ist  so  geartet,  dass  seine  Erregung  nicht  nur  sehr 
schnell,  sondern  auch  am  tiefsten  sich  in  das  Innere  fortjjflanzt;  ja 
die  Schallreize  können  nicht  bloe  die  Seele,  sondern  aach  den  Leib 
erschüttern.  Daher  ist  es  eine  ganz  richtige  Bemerkung:  „Die  Be- 
tonung trifft  ins  Gemüth",  und  weil  dem  so  ist,  wirkt  derselbe 
Inhalt  der  Worte  eranz  verschieden,  je  nachdem  ihr  Klang,  ihr  Ton 
verschieden  ist  Durch  die  Betonung  werden  elementarische  Stim- 
mungen zu  den  Vorstellungen  hinzuerregt,  und  diese  Stimmungen,  mit 
den  Neigungen  und  Strebungen  am  nächsten  verwandt,  setzen  dann 
dieses  Praktische  selbst  gegen  die  Richtung  der  Vorstellungen  in 
Wirksamkeit.  Steht  demnach  dem  Lehrer  eine  wolklingende  Sprache 
zu  Gebote,  die  Ohr  und  Herz  gleichsam  überströmt,  so  wird  er  das 
Gemüthsleben  der  Jugend  weit  vortheühafter  zu  erfiusen  imstande  sein. 


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als  ein  anderer  sonst  gleich  befähigter  Lehrer,  dem  alMT  diMe  Nator- 
gabe  versagt  ist,  oder  der  sich  keine  Mfihe  gibt,  sieh  in  dieser  Hin* 
flicht  zu  veiToUkommnen.  — 

Wir  wenden  uns  nnn  noch  in  der  Ktlne  zn  der  Spiadie  «b 
Gegenstand  des  Unterrichtes.  Hier  kommen  folgende  Punkte  in 
BelTMht 

Der  Sdiiller  Iwingt  die  Sprache  entweder  mit»  oder  er  bringt  sie 
nkht  mit  Im  enisii  Nle^  der  hinaiehllldi  der  Mntterspndie  immer 
stottflndet,  kann  er  sie  siemUch  vollkommen  oder  ntemUch  mangelhaft 
bssitseii,  im  letzteren,  der  nur  bei  fremden  Sfwachen  vorkommt,  hat 
sie  ihm  der  Unterricht  nmicbst  anzueignen. 

Wir  bleiben  hier  bei  der  Muttersprache»  and  zwar,  da  wir  Dent- 
scke  sind,  bei  der  deutschen  stehen.  Da  ist  wiederum  viererlei  wol- 
gesondert  im  Auge  zu  behalten. 

1.  Ehe  es  noch  zur  eigentlichen  grammatischen  Unterweisong 
kommt,  ist  die  Sprache  hier  doch  schon  insofern  Gegenstand  des  Unter- 
richtes, als  die  hochdeutsche  Mundart,  durch  oder  mittels  welcher 
wterriehtet  wird,  entweder  erst  zu  geben,  oder  doch  vieUkeh  zn  ver- 
bessern ist  Jenes  ist  auf  dem  Lande,  wo  ein  vom  Hoehdentsehen  ab- 
wekhender  Volksdialekt  gesprochen  wird,  der  Fall,  dieses  meist  in 
Stedten,  wo  das  Hochdeutsche  zwar  schon  im  Umgange  gebräuchlich, 
aber  mit  mandierlei  Fehlerhaftem  verbrämt  ist 

2.  Indem  der  SchlUer  mittels  der  Sprache  unterrichtet  wird, 
was  schon  im  elterlichen  Hause  beim  Erlemen  der  Muttersprache  mehr 
oder  weniger  geschehen  und  dann  in  der  Schule  nur  fortzusetzen  ist, 
eignet  er  sich  mannigfache  Yorstellangen  an.  Diese  sind  das  Innere, 
der  Inhalt  der  Sprache  oder  das  Bezeichnete,  für  welches  die  Wörter 
der  Sprache  das  Änlere  oder  die  Zeichen  sind.  Diesen  Inhalt  gibt 
nicht  die  Spradie,  sondern  er  stammt  aus  den  Gegenständen,  mit 
welchen  das  Kind  auf  dem  Wege  des  häuslichen  oder  des  Schulunter- 
richtes bekannt  gemacht  wird.  Hierdurch  sammelt  es  Grundlagen  zur 
weiteren  Fortbildung,  und  da  gltteklicherwdse  alle  Fortbildung,  wie 
wir  gesehen,  auf  Combinationen  beruht,  so  hat  die  Sprache  den  grOßten 
EänftnsB  daran!  Indem  wir  die  Wörter  so  combiniren,  wie  das  durch 
sie  bcMichnete  Vorstellen  (das  Innere)  bei  uns  combinirt  ist,  theüen 
wir  dem  Schüler,  der  uns  hört  und  versteht,  auch  diese  unsere  Vor- 
stoUnngseombinationen  mit,  und  so  schreitet  er  an  diesem  Leitfiden 
zum  Höheren  fort,  sobald  er  nur  die  erforderliche  Anfinerksamkdt  be- 
weist und  hiermit  jene  Combinationen  wirklich  auch  in  sich  vollzieht. 
Hierbei  ist  aber  zweierlei  sorgfältig  zu  unterscheiden.  Die  meisten 


—    80  — 

ComMnitlioiMm  niiBerer  VoisteUimgen  aind  dnreh  die  Geg^enstftnde, 
•too  objeetiT  tMBtimmt»  mid  mt  mflssea  ans,  ireDn  wir  ab  Lehrer 
nichts  Falflchee  geben  wollen,  streng  an  die  Verimflpflmgen  halten,  wie 
wir  sie  bei  den  G^gensttoden  antreifon,  woraiu  I61gt,  daas  sie  vor 
allem  von  uns  selbst  richtig  anfgefiust  sein  mfissen.  Das  Gegen- 
stftndliche  des  Unterrichtes  ist  also  hier  noch  nicht  die  Sprache  selbet, 
sondern  durch  diese  hindorch  sind  ea  die  Dinge,  deren  BeschaiFenheit 
und  Yerhttltnisse.  —  Dagegen  gibt  es  Combinationen  unserer  Vor- 
stellungen, die  nicht  das  Werk  der  Dinge,  sondern  das  Werk  unseres 
schaffenden  Geistes,  also  subjectiven  Ui-spnmgs  sind,  und  diese  Com- 
binationen  sind  es,  die  dem  Unterrichte  über  die  Sprache  als  das  ihm 
Eigenthümlicha  zufallen.  Indem  wir  das  Sprachliche  in  seinen  ver- 
schiedenen Formen  uns  durcli  die  Mittheilung  von  anderen  her  aneignen, 
lernen  wir  folglich  geistige  Entwickelungsformen  kennen  und  in  uns 
nachbilden,  die  wir  ohne  das  Medium  der  Spraclie  wol  nie  erworben 
hätten,  und  hierin  liegt  das  Bildende  des  eigentlichen  Sprachantenichtes 
ftir  unseren  Geist. 

8.  Soweit  man  eine  Sjirache  verstellt,  ist  Form  und  Inhalt  immer 
schon  beisanuneu.  Es  kann  aber  in  j^ewissen  Fällen  die  Form  zu 
den  Gedanken,  die  man  liat.  erst  nü(;h  zu  suchen  sein,  wie  solches  nicht 
nur  bei  der  Kilernung  fremder  Sprachen,  sondern  auch  in  der  Mutter- 
sprache vorkommt,  sobald  sich's  darum  handelt,  die  Gedanken  münd- 
lich oder  schriftlich  darzustellen.  Es  verlaugt  dies  eine  besondere 
Übung,  weil  die  Verknüpfung  zwischen  Wort  und  Inhalt  zweierlei  An 
ist  uml  jede  Art  besonders  erworben  werden  muss;  denn  weckt  mir 
ein  Wort  vielleicht  die  Vorstellung,  so  weckt  mii'  diese  Vorstellung 
noch  nicht  das  Wort.  Daher  ist  es  ein  Haupttheil  des  Unterrichtes 
über  die  Sprache,  solche  Übungen  zu  veranstalten,  dass  man  den 
Schüler  seine  Gedanken  miiiullich  in  Worte,  solange  sie  ihm  aus  irgend 
einem  Grunde  noch  nicht  völlig  geläufig  sind,  fassen,  diese  Worte  wol 
auch  niederschreiben  lässt.  Das  letztere  erfordert  namentlicii  viele 
Mühe,  weil  es  zu  den  iitirburen  Zeichen  noch  sichtbare  hinzuverlangt. 
Es  kommt  hier  ferner  nicht  blos  die  Orthographie,  sondern  auch  der 
schriftliche  Satzbau  ins  Spiel,  der  strenger  ist  als  in  der  Regel  der 
mOndliche.  Überdies  bewirkt  die  Verlaugsamung  der  Gedanken  beim 
Niedersehreiben,  dass  mancherlei  Ungehöriges  sich  zwischen  lie  ein- 
drängt, was  nur  derjenige  mit  Galingen  tenhält,  der  durch  lange 
Übung  aicJi  die  daan  eif^rderlicfae  Beherrschung  seinea  Innern  er- 
worben hat 

4.  Die  Formen  und  Verhältnisse  der  geistigen  Entwickelnng,  wie 


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-   81  — 


sie  sich  in  der  Sprache  abspiegfein,  ^elang^en  zn  einem  klaren  Bewusst- 
sein  erst  dann,  wenn  sie  zu  Begi'itt'en  verarbeitet  worden  sind;  die 
bloße  Anschauung  lässt  sie  noch  mehr  oder  weniger  dunkel.  Es  ist  Auf- 
gabe des  Sprachunterrichtes,  diese  Begrilte  aus  den  vorliegenden  cou- 
creten  Formen  abstrahiren  zu  lassen,  imd  indem  dies  geschieht,  sagt 
man,  man  unterrichte  grammatisch.  Während  also  in  dem  Bisherigen 
die  Formen  nur  an  einem  bestimmten  Inhalte  zugleich  mit  aufge- 
fesst  worden  waren,  treten  sie  hier  in  einem  gesonderten  Bewusst- 
eeiü  auf,  und  die  Erwerbung  desselben  ist  die  höchste  Stute  des  Unter- 
richtes über  die  Sprache.  Seine  Vorstellungen  und  Gedanken  unver- 
«oiren  aufeinander  zu  beziehen,  vermag  nur  der,  der  von  den  ver- 
Khiedenen  Arten  und  Formen  dieser  Beziehungen  deutliche  Begriffe 
«rlangt  hat,  und  xibschon  es  nicht  unmöglich  ist,  diese  Begriffe  ma 
dea  veraehiedeiien  VonteUungen  und  Gedanken  selbet  m*  gewinnen 
eine  B&ckaidit  anf  die  Formen  der  Sprache,  so  hilt  das  doch  be- 
deutend schwer.  Namentlich  die  Jngend  wird  hierin  noch  wenig  zu 
kiBten  Imstwide  sein,  da  bei  ihr  die  geistige  Entwiekehmg  nodi  nicht 
die  Stirice  des  Bewnsstseins,  die  Stätigkeit  und  Haltung  eriangt  haben, 
die  aar  Abstraction  rein  ans  dem  Geistigen  heraus  erforderlidi  sein 
vtrde,  und  sie  bleibt  daher  auch,  wie  die  Eifthrnng  lehrt,  zeitleibens 
geistig  unrd^  wenn  ihr  die  Unterstlktaung  nicht  zntheQ  wird,  welche 
der  grammatische  Unterricht  fBr  die  Ausbildung  des  Denkens  ge- 
wihrt. 

Was  nun  aunidist  die  nnterate  Stufe,  die  Erwerbung  oder  doch 
SichtigBtellung  des  Hochdeutschen  betrifft,  so  wird  davon  Gemflth  und 
Charakter  nur  so  weit  berOhrt,  als  erfteuender  WoDant  dabei  ins  S|piel 
kommt  und  hierdurch  die  GtemflthsBtimmungen,  welche  die  Kinder  mit- 
bringen, zur  Erragung  gebracht,  belebt  und  vennehrt  werden.  Zu 
diesem  Behofe  neigt  sich  besonders  der  Anschaoangsnnterricht  von 
Wichtigkeit  Abgesehen  von  den  sonstigen  Zwecken,  die  er  verfolgt, 
hat  er  namentlich  die  Sprachfertigkeit  der  Kinder  zn  vervollkommnen, 
und  es  kann  darum  nichts  verkehrter  sein,  als  diesen  Unterricht,  der 
manchen  £indem  erst  den  Mond  öffnen  muss,  abschaffen  zu  wollen. 
Es  soll  zwar  jeder  Unterricht,  wie  die  Correctheit,  so  aucli  den  Fluss 
nnd  den  Wollaut  der  kindlichen  Rede  bilden;  aber  für  den  Anfanger 
bietet  hierzu  kein  Unterrichtsfach  so  nngeewnngene  und  natürliche 
Gelegenheit  dar  als  der  sich  mehr  frei  bewegende  Anschaunngsnnter- 
ricbt  Durch  seine  Sprechttbongen,  die  das  Kind  unterhalten,  gewinnt 
es  die  Schule  lieb;  es  bekommt  sofort  Eindrücke,  die  durch  ihren  Wol- 
lant  erfreuend  wirken,  und  man  sollte  bedenken,  wie  wichtig  das  ist. 


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—   82  — 


Wie  hier  schon  der  Anlang  g^emacht  wird  mit  einem  Hauptzweige 
des  Sprachunterrichts:  mit  der  Darstelhing  des  geistigen  Innern  nach 
außen  hin  im  mündlichen  und  schriftlichen  Ausdruck,  so  hat  die  Schule 
beide  Arten  der  Darstellung,  namentlich  die  schriftliche,  immer  plan- 
mäßiger fortzofthren  bis  zu  den  höchstea  ihr  erreidibaren  Zielpiiiikteii 
hinauf.  Es  k<»imt  vorzüglich  auf  doi  Stufengang  hietbei  aa,  ob  da- 
mit f5r  Gernttth  und  Charakter  gcfwunnen  oder  Yerloren  werden  wird. 
Sind  dem  JEJnde  die  diesfaUaigen  Aufgaben  zu  schwer,  so  wird  sich 
Yerstlmmunff  darüber  einsteUen;  sind  sie  zu  leicht  und  demnach  zu 
wenig  fbrdemd,  so  wird  Überdmss  eintreten,  und  die  ftlschen  Neigun* 
gen ,  die  somit  begründet  werden,  kOnnen  nur  Widerstreben  gegen 
eine  Sache  erzeugen,  die  bei  rechter  Behandlung  heilsame  Grundlagen 
für  den  Charakter  geschaffen  hätten.  Die  Schuld  liegt  gewiss  am 
Lehrer,  wenn  die  Oesammtheit  oder  auch  nur  die  Hehrzshl  seiner  Schüler 
sich  von  allem  Grammatikalischen  abwendet;  er  muss  es  Terstehen,  die 
geistigea  Combinationen,  auf  welche  es  hier  ankommt,  so  lebendig  in 
den  Kindern  zu  vennitteln,  dass  die  letzteren  der  Steigerung,  die  darin 
Hegt,  in  lebendiger  Empfindung  inne  werden.  Ist  es  aber  mOg^ch, 
für  das  Bechnen  lebendigen  Triebe  rege  Selbstthätigkeit  zu  ensngen, 
so  kann  dies  auch  hier  geschehen,  und  nur  soweit  es  wirklieh  ge- 
schieht, wirkt  der  Sprachunterricht  erziehend. 

Was  den  Unterricht  in  der  Orthographie,  den  wir  hier  an- 
schließen, betrifft,  so  liegt  wol  auf  der  Hand,  dass  derselbe  erzieh- 
liehen  Einfluss  sehr  wenig  haben  kann,  denn  er  hat  es  mit  Elementen 
zu  thun,  die  von  Gemüth  und  Charakter  ziemlich  weit  abliegen.  Es 
handelt  sich  auch  bei  ihm  lediglich  um  Zeichen,  welche,  wie  das  Bei- 
spiel der  verschiedenen  Sprachen  zeigt,  höchst  verschieden  sein  können. 
Selbst  im  Deutschen  sieht  die  Druckschrift  ganz  anders  aus  als  die 
Schreibschrift,  und  wie  vieles  bleibt  hierbei  der  Willkür  und  Mode  unter- 
worfen! Wir  können  also  von  der  Bechtschreibung,  die  mitunter  ge- 
radezu Falschschreibung  ist,  nicht  einmal  soviel  bildende  Kraft  ei'- 
wai'ten,  als  von  den  äußeren  Fertigkeiten;  denn  was  bilden,  veredeln 
soll,  darf  nicht  quälen,  und  die  Rechtschreibung  quält  Lehrer  und 
Schüler,  weil  sie  so  viel  Unbestimmtes,  Willkürliches,  Wechselndes  hat. 
Das  meiste  in  ihr  ist  rein  positiv,  muss  also  durch  mechanische 
Übung  erlernt  werden.  Gleicliwol  ist  nicht  zu  leugnen,  dass  die 
Schätzung  des  Richtigen  immer  ein  Gut  bleibt,  mag  dieses  Richticf 
zum  Theil  auch  nur  ein  eingebildetes  sein,  und  da  alle  öemüths-  und 
Charakterbildung  auf  Neigungen  beruht,  so  kann  die  Rechtschreibung 
nicht  ganz  ohne  Einfluss  auf  dieselbe  bleiben.  Daher  kann  man  vou 


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—  8S  — 


der  G^enaaigkfiit  oder  Nachlässigkeit  in  der  Orthographie,  die  jemand 
zeagt,  eben  so  gnt  einen  Schluss  aaf  seinen  Char&kter  raachen,  "wie 
man  solches  Ton  der  Handschrift  eines  Menschen  zu  thun  pflegt,  ja 
eigentlich  noch  mehr,  da  jedenfalls  mehr  Willensfreiheit  beim  Recht- 
schreiben im  Spiele  ist  als  bei  der  Bildung  der  Schönschrift,  die  gar 
sehr  von  der  Muskelbeschaffenheit  der  schreibenden  Hand  abhängt. 
Natürlich  ist  dabei  vorauszusetzen,  dass  die  Möglichkeit,  sich  das 
Richtige  in  der  Orthographie  zu  erwerben,  gegeben  gewesen  sei. 
Namentlich  muss  gerade  dieser  Unterriclitszweig  so  beliandelt  werden, 
dass  er  möglidist  Lust  macht,  und  da  er  eine  ästhetische  Seite  fast 
gar  nicht  darbietet,  so  muss  ihm  durch  einen  zui*  Sicherheit  und 
Klarheit  führenden  Stufengang  Heiz  verschafft  werden.  Vieles  be- 
stimmt sich  liier  schon  durch  den  Satzbau,  wie  namentlich  die  Inter- 
punction,  vieles  durch  die  Abstammun«^  der  Wörter  voneinander,  und 
für  den  Anfang  ist  es  besonders  die  richtige  Aussprache,  auf  welche 
der  Schüler  zu  verweisen  ist.  Frische  Übung  wird  die  Hauptsache 
bleiben,  und  werden  besonders  die  Regelwidrigkeiten  mit  besonderem 
Fleiße  zu  behandeln  sein. 

Gehen  wir  fort  zu  den  sogenannten  „Realien*'  (der  Ausdnick 
ist  streng  genommen  unpassend;  denn  das  Ideale  ist  ebenfalls  real, 
nur  in  einem  anderen  (iebiete).  Man  rechnet  hierzu  die  Naturwisstii- 
schaften,  Geographie  und  Geschichte.  Der  Lehrer  vergesse  nicht,  dass 
hierbei  das  Sehen  dessen,  was  gelernt  werden  soll,  die  Hauptsache  ist 
Nun  hat  man  zwar  glücklichen  Falls  Bilder,  Landkarten,  Modelle  etc. 
and  yerspricht  sich  gewöhnlich  von  diesen  Ersatzmitteln  der  unmittelbaren 
Anidianung  sdir  jißL  Aber  man  täuscht  sich,  man  setzt  ein  yUA  m 
grofies  Vertranen  daradl  Um  dordi  daa  Bfld  hindurch  die  Sache  za 
sehen,  miis  man  die  Sadie  wenigstens  den  Hanptelementen  nach  schon 
kennen,  ans  nnmittelbarer  Wahrnehmung  aufgeihsst  haben.  Sonst  wird  das 
Bad  selber  zur  Sache  und  wiriLt  dann  verkehrt  Eine  gemalte  Gegend, 
ein  gemalter  Flnss  ete.  gibt  nie  den  krftftigen,  wahren  Eindmck,  den 
die  in  natura  gesehenen  zurfteUassen.  Daraus  folgt,  dass  man  alles, 
was  wirklich  in  Natura  vor  das  Ange  gebracht  werden  kann,  nicht 
Uo6  in  BUdem  oder  gar  nur  in  Worten  zu  geben  habe»  sondern  dass 
der  Lehrer  mit  seinen  Kindern  in  die  Natur  wandern  müsse,  nm  sie 
hier  durch  lebendige  Anschauungen  zu  unterrichten.  Die  Heimatkunde, 
wekhe  der  Kunde  von  dem  Entfernten  Torausgefaen  muss,  läset  sich 
sehr  wol  auf  diesem  praktischen  Wege  betreiben.  Die  hier  gewonnenen 
Ansehannngen  hUden  dann  die  Grundlage  zu  den  Einblldungsvor- 
stellnngen,  ndttels  welcher  sich  die  Seele  das  Fremde,  das  Entfernte 
vergegenwärtigt 


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—  84  — 


Mit  der  Gescliichte  verhSlt  aieh's  freilich  andei*s,  die^e  lässt  sich 
nicht,  wie  auf  dem  Theater,  vor  den  Aiig«n  der  Kinder  abspielen; 
hier  bleiben  die  Einbildungsvorstellmigen  (die  Pbantasiethäti^^keit)  das 
alleinige  £irwerbuDg8mittel,  und  nur  wenitres  lässt  sich  durch  bildliche 
Dai'stellungen  in  etwas  versinnlichen.   Um  non  diesem  Fache  noch 
das  Möglichste  an  Bildung  abzugewinnen,  mnss  die  sorgfältigste  Aus- 
wahl des  StoflFes  getroffen  und  alles  ausgeschlossen  werden,  was  über 
den  jugendliclien  G^esichtskreis  hinausliegt.   Weniger  Geschichte,  son- 
deni  rTeschichten,  namentlich  Biographien  berühmter  Personen  sind  zu 
geben  und  besonders  das  Culturhistnrische  ins  Auge  zu  fassen,  in  ähn- 
licher Weist',  wie  solches  bei  der  biblischen  Geschichte  hervortritt. 
Dabei  ist  weniger  auf  das  Außere  der  That,saclien,  auf  Namen  und 
.Tahreszaiiieu  et«.  Gewicht  zu  legen,  als  nelmehr  auf  die  Gesinnungen 
der  handelnden  Peraonen,  auf  die  geistigen  Ursachen,  durch  welche 
die  Aufeinanderfolge  der  Begebenheiten  hauptsäclilirli  bedingt  ist,  also 
auf  die  innere  Seite  der  Geschichte,  denn  nur  hierdurch  kann  sie 
wahrhaft  bildend  werden,  und  nur  von  dieser  Seite  findet  sie  jetzt  die 
rechten  Anknüpfungspunkte  in  den  kindlichen  Seelen.    Ähnliches  gilt 
auch  in  Bezug  auf  die  mit  der  Geschichte  eng  verknüpfte  Geographie. 
Wer  hier  durch  eine  Unzahl  von  StAdten  und  Ortschaften  das  kind- 
liche Bewusstsein  Uberschüttet,  durch  die  genaueste  Angabe  der  Häuser- 
zahl, der  Volksmenge,  der  Fabriken,  der  Handelsproducte  etc.  bei 
jedem  Orte  verwirrt,  dart  sich  nicht  wundern,  wenn  er  bei  der  Wieder- 
holung ßndet,  dass  er  für  das  Vergessen  gelehrt  habe,  abgesehen  da- 
von, dass  solche  Notizen  fOr  Gemüth  und  Charakter  gar  keine  bildende 
Kraft  haben  können.    Was  ToUends  in  Wirklichkeit  gar  nicht  so 
iKiatirty  vh»  es  BU^m  und  Landkarten  für  das  Ange  darstellen,  z.  B. 
Längen-  md  Breitengrade,  die  Erdadiae,  die  Foto,  die  Wendekreise 
nnd  dergleichen,  kann  natOrlich  anch  nor  von  zweifelhafter  Bildangs- 
kraft  sein.  Solche  Dinge  sind  nicht  eher  za  geben,  als  bis  sich  durch 
das  firflher  G^elemte  das  Bedttrfius  dazu  aufdringt,  sonst  lernen  die 
Kinder  blos  Worte  nnd  merken  sich  Zeichen,  mit  denen  sie  nw 
Schattenhaftes  und  Irriges  zn  verbinden  vermögen.  Alles  Ideale  fiifit 
anf  dem  Bealen,  und  solange  letzteres  nicht  klargestdlt  werden 
kann,  bleibt  jenes  todtes  Wortwesen.  —  Eine  HanptrAcksicht  ist  hier- 
bei die,  dass  die  Schiller  so  viel  als  naöglich  in  Selbstthfttigkeit, 
nicht  UoB  in  passives  Anfiiebmen  zu  versetzen  shid,  denn  nur  das  wird 
wahrhaft  interessant  und  lebendig,  was  man  durch  eigenes  Schalni, 
durch  eigenes  Suchen  und  Finden  sich  erwirbt  Daher  ist  in  der  Geo- 
gn^hie  dsa  eigene  Zeichnen  von  Karten  nnd  Skizzen  aas  dem  Kopfe» 


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—   85  — 


in  der  Gesobichte  die  eigene  Anfertigiuqg  von  Tabellen  tmd  Anaiügen, 
im  NatnrwisBeiiAsbafllicheii  die  Anlegimg  tob  SanmüiuigeD,  die  eigene 
Vennstaltimg  Ton  Bzperimenten  ete.  yon  großer  Wichtigkeit  ftr  die 
Kldnng  der  Sdifller.  Nur  moss  man  hiermit  ja  nicht  an  weit  gehen, 
nicht  m  viel  fordern  nnd  bei  der  Correctar  des  Verfohlten  nicht  pe- 
daotiflch  etraig  sebi,  sonst  Ifthmt  man  die  Lust  nnd  den  Eifer.  Ge- 
mAtfa  nnd  Charakter  Teredehi  sich  nnr  an  dem,  was  man  liehgewinnt» 
als  ein  Gut  schitien  lernt.  — 

Wir  kommen  znm  letaten  Punkte,  znm  Unterricht  in  der  Moral 
mid  Kellgion. 

Das  Moralische  und  Religiöse  ist  zwar  nahe  verwandt,  weshalb 
es  im  Volksunterricht  miteinander  Hand  in  Hand  gehen  ronss;  dem 
inneren  Wesen  nach  aber  unterscheiden  sich  beide  dadurch,  dass  das 
Moralische  sich  zunächst  auf  Gegenstände  ei'streckt,  die  unserer  Er- 
fahrung vorliegen,  das  Religiöse  dagegen  auf  Objecte,  die  unserer  Er- 
fahrung entzogen  sind:  auf  Gott  und  die  Unsterblichkeit  unserer  Seele. 
Beides  wTirzelt  in  lebendigen  Eniptiiidunfjfen,  wie  sie  durch  die 
Verhaltnisse  des  Lebens  entstehen  und  sich  zu  Gesinuuno:eTi  aus- 
bilden. Die  Gegenstände  der  Erfahrung  wirken  nämlich  aut  uns  ein 
und  begründen  dadurch  die  Neigungen,  die  uns  zur  Zurückwirkung 
auf  sie  veranlassen  (Moralitiiti;  dabei  lassen  sie  uns  häufig  unbe- 
friedigt, veniichten  sogar  unser  Wolsein.  verletzen  unsere  heiligsten 
Bedürlhisse,  und  dadurch  dräntren  sie  uns  über  die  Welt  hinaus,  führen 
uns  auf  den  (Glauben  an  einen,  wenn  auch  unbegreiflichen,  docli  weisen 
und  allmächtigen  Freund  im  Himmel,  bei  deni  wir  Trost  und  Erhebung 
in  jeder  Noth  finden  können  (Kel  ieriosität).  Beides,  die  Moralität 
und  Religiosität,  begründet  sich  schon  vor-  der  Zeit,  wo  der  Schulunter- 
richt beginnt,  und  setzt  sicli  neben  und  nach  demselben  unauflialtsam 
fort-  Der  Unterricht  kann  nur  Vorstellungen  mittheilen,  welche 
ein  VViderscliein  von  jenen  Empfindungen  sind.  Hierdurch  kann  er 
jenes  Elementarische  idie  Kniplindungen  ,  wo  er  es  vorfindet,  ordnen, 
concentriren,  zu  allgemeinen  Sätzen  ausl)ilden,  aber  er  vermehrt  da- 
durch nicht  die  Triebkraft  zum  Handeln,  und  wo  er  es  nicht  vor- 
findet, sind  seine  Begriffe  nur  Schatten,  todtes  Buchstaben  werk, 
welches  fruchtlos  über  die  unvorbereitete  Seele  hinweggleitet.  Auf- 
klärung kann  er  meistentheils  geben,  auch  negativ  nützen,  indem 
er  Vorstellungen  verdrängt,  welche  Aberglauben,  Unmoralität,  Irreli- 
gioflität  begünstigen  vttrden,  und  voflere  Missionen  in  dar  Heidenwelt 
können  in  dieser  Besiehnng  yon  großer  Wichtigkeit  sein.  Damit  aber, 
so  hodtwiditig  das  alles  auch  Ist,  gibt  er  dodi  nicht  positiv  Sitt- 


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—   86  — 


lichkdt  nnd  Religion,  nicht  eine  sittliche  Gesinnung,  nicht  ein  re- 
ligfitaes  Gemflth.  Erziehen  kann  nnr  das,  wodurch  Qemftth  nnd 
Charakter  entsteht,  also  nnr  die  ans  den  LebenssrIUurangen  geschöpften 
Empfindungen.  Ehi  Lehrer  spricht  z.  B.  nach  Anleitung  eines  Bibel- 
spmches  über  die  Allgegenwart  und  Allwissenheit  Gtottes.  Er  macht 
den  Kindern  klar,  dass  nichts,  was  der  Mensch  sagt  nnd  thut,  dem 
Ohr  nnd  Auge  Oottes  verborgen  bleibt,  dass  er  uns  fltr  alles  dereinst 
zur  Bechenschaft  ziehen  wird.  Zu  Hause  aber  sehen  and  hören  die 
Kinder,  dass  blos  das  Auge  der  Menschen  gescheut  wird,  dass  man 
sich  die  Sünde  ungescheut  erlaubt,  wenn  sie  nnr  die  Menschen  nicht 
erfahren.  Was  wird  stärker  auf  die  jnngen  Gemüther  wirken,  jenes 
oder  dieses?  Auf  der  anderen  Seite  befindet  sich  ein  Kind,  dessen 
Vater  zwar  weni^  von  Gottes  Allgegenwart  und  Allwissenheit  spricht, 
der  aber  so  handelt,  dass  die  Ehrfurcht  vor  Gott  aus  jedem  seiner 
Worte,  aus  jeder  seiner  Thaten  hervorleuchtet,  der  also  durch  sein 
Verhalten  lehrt,  er  fiihle  sich  stets  von  einem  unsiclitbaren  Zeugen 
umj^eben,  dem  er  P^hrerbictun^  und  Gehorsam  schuldig  sei.  Wird  das 
Kind  sich  diesen  Eindiiicken  entziehen  können?  Wird  es  den  Bibel- 
spruch: „Dein  Lebelang  habe  Gott  vor  Augen  und  im  Herzen"  etc.  auf 
diesem  praktischen  Wege  nicht  weit  ergreifender  lernen  als  aus  der 
bloßen  Theorie? 

Wir  müssen,  solange  wir  die  sehr  gesunkene  häusliche  Erziehung 
nicht  nmge.stallen  können,  überall  an  das  Bessere,  was  wir  noch  in  den 
jugendliche»  Seelen  entwickelt  vorfinden,  anknüpfen,  müssen  dieses  er- 
regen und  steigern  durch  Gleichartiges,  wie  es  in  der  Geschichte 
frommer  Menschen,  in  den  unmittelbaren  Ausflüssen  ihres  Gemüths  sich 
darstellt,  in  welcher  Beziehung  voinelimlich  das  Leben  Jesu  und  seiner 
Apostel  von  der  höchsten  Wichtigkeit  ist.  Dieses  müssen  wir  der 
Jugend  in  lebendiger  Schilderung  vorhalten,  ohne  dogmatische  Ver- 
wässerung  und  liaarspalieiuie  Begritfszergliederungen ;  niüsseii  die 
lyrischen,  wenigstens  lyrisch-didaktischen  Stellen  der  Bibel  dem  Ge- 
,  mttthe  einprägen,  weniger  zunächst  durch  Auswendiglernen,  denn  dieses 
d&mpft  das  Gefühl,  als  vielmehr  durch  rechtzeitige  Darlegung  in  herz- 
gewinnender Weise,  und  müssen  auch  Nichtbiblisches  zu  Hilfe  nehmen, 
so  weit  es  in  der  Bichtung  erwlnnsBder  Empfindung  und  Neigpuig 
liegt.  Dabei  mllssen  wir  es  verstehen,  zor  rediten  Zeit  auftuhOren, 
und  alle  Abspannung  und  Ermttdung  vermeiden.  Gemüth  und  Cha- 
rakter lassen  sich  nicht  in  einem  Zuge  stundenlang  bear- 
beiten, wie  der  Verstand. 

Dass  übrigens  das  eigene  fromme  Beispiel  des  Lehrers  ein  Hanpt- 


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hel>el  für  die  religiöse  Bildung  der  Jugend  bleibt,  versteht  sich  von 
selbst,  und  es  wäre  traurig,  wenn  einer  glaubte,  den  31angel  de.^selben 
ersetzen  zu  können  durch  frommen  Schein,  durch  erheuchelte  Mienen 
nnd  Geberden,  welche  die  Kinder  immer  bald  durchschauen.  Bei  (be- 
sang und  Gebet  in  der  Schule  sei  der  Lehrer  selber  wahrhaftig  an- 
dächtig, dann  werden  diese  Erweckungsmittel  der  religiösen  Stimmung 
nicht  so  unfruchtbar  bleiben,  wie  sie  es  bei  schauspielermäßiger  Be- 
handlung so  oft  werden.  Dass  der  Inhalt  der  Gebete  und  Gesänge 
der  Fassungskraft  und  dem  Gemflthsleben  der  Kinder  angemessen  sein 
mfissen,  bedarf  kamn  to  Banerknng;  aber  leider  wird  nnr  su  oft  da- 
gegen gefehlt. 


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Die  heutige  Yelkasehale  Preufteius.*) 

Die  um  die  Mitte  dieses  Jahres  erschienene  amtliche  Statistik 
ttber  „das  gesammte  Volksschnlwesen  im  prenftischen  Staate 
im  Jahre  188ß**  hat  in  allen  Kreisen,  die  mit  der  Schule  in  näherer 
oder  entfernterer  Beziehnng  stehen,  ein  ganz  ungewöhnliches  Anfiehen 
erregt  Die  Besnltate  dieser  Statistik  sind  allerdings  dasn  angetbaa, 
nm  auch  den  Vertrauensseligsten  an&ortttteln.  Man  darf  gespannt 
sein  anf  die  Verhandlungen,  die  sich  an  die  Berathnng  des  Scholetats 
im  nächsten  Jahre  anschließen.  Dass  es  mit  dei*  Volksschale  in 
Prenßen  mit  Biesenschritten  rttckwärts  ging,  war  zwar  jedem, 
der  sehen  wollte,  bekannt,  aber  niemand  besaß  das  ^raterial,  um  den 
Rflckschritt  im  ganzen  zu  belenchten,  und  auch  Einzelfälle  in  ge» 
nttgender  Zahl  zosammenznbringen,  liält  bei  der  Gleii-ligiltigkeit  \ieler 
Lehrer  gegen  ihre  eigenen  Angelegenheiten  und  die  der  Schale  sehr 
schwer.  Die  neueste  Statistik  des  preußischen  Volksschulwesens  ist 
auch  zugleich  die  erste,  die  mit  einiger  Vollständigkeit  auftritt  In 
den  firttheren  Erhebungen  finden  sich  große  Lücken»  znm  Theil  sind  es 
eben  nor  Feststellungen  ttber  Einzelheiten,  z.  B.  Uber  die  Oebal tsver- 
hältnisse,  die  Schulwege,  die  confessionellen  Vorhältnisse  etc.  Auch 
die  Verarbeitung  der  Mheren  Aufnahmen  lässt  \ieltach  den  geschul- 
ten Statistiker  vermissen.  Für  die  Ausnutzung  der  jj^egenwärtigen 
Statistik  ist  das  ein  großer  Xachtheil.  Die  Verjrleichung  mit  den 
früheren  Ergebnissen  ist  nur  in  Bezug  auf  wenige  Zahlen  tur  eine 
längere  Reihe  von  .lahren  durehzulühren. 

Wer  die  pieiißisclie  Bureankratie  kennt,  wird  zu  der  amtlichen 
Statistik  in  Bezug  auf  deren  Riebt iükoit  volles  Vertrauen  haben  und 
eine  ziemlich  gewissenhafte  Eiuzelaibeit  voraussetzen.   So  wenig  man 

*)  Nur  mit  lebhaftem  Bedooem  kAmen  wb  dieie  AUumdluiig  TeiOffioatlidieii, 
da  ne  an  mehierai  Stell«i  aehr  uieiftwiliohe  AnftehMaie  Uber  die  Volkaidiile  dee 

größten  und  führenden  .Staates  Deutschlandä  darbietet.  Weil  indenaa  der  Verfasser 
zweifellü:^  ein  sachkundiger  und  Avahrheitaliebender  Mann,  sowie  ein  guter  preußi- 
scher Patriot  ist,  so  mfige  seine  Arbeit  mit  dem  Motto  erscheinen:  ^Ansnei,  nicht 
Gift!"  D. 


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also  nach  dieser  Seite  hin  Bedenken  zn  hahen  sich  genöthigt  sieht,  so 
vorsichtig  mnss  man  bei  der  Benntanng  der  VerOffentlichangen  als 
Games  sdn.  £Me  letasten  Verftlfentlichnngen  dieser  Art  hahen  ein 
nenüich  eingehendes  Begleitwort  erhalten,  das  bei  der  Torliegenden 
neuesten  Statistik  beispielsweise  121  Folioseiten  nnd^t  nnd  Ton 
Dr«  Earl  Schneider,  Geh.  Ober-Begierongsrath  nnd  vortragendem  Bath, 
und  Dr.  A.  Petersilie,  Professor  und  Mitglied  des  Königlichen  statisti- 
schen Boreaos,  bearbeitet  ist.  Tn  dieser  Beigabe  sind  nicht  nur  die 
Ergebnisse  der  letzten  Erhebung  besprochen,  sondern  auch  zu  früheren 
Ergebnissen  in  Veigh  ieh  gestellt.  Da  die  Bearbeitung  nicht  blos  von 
einem  Statistiker  herrührt,  sondern  in  ihrem  ei<reTitUchen  Inhalte  von 
einem  seit  Jahren  in  der  prenBisrlien  Yolksschiüver waltung  außer- 
ordentlich einflossreichen  Schulbeamten,  so  ist  es  erklärlich,  dass  da- 
durch die  Besprechung  der  Einzelheiten  stark  beeinflusst  wird. 
Wenn  trotzdem  auch  in  diesem  Tlieile  des  Werkes  das  Bild  der 
preußischen  Volksschule  dnrrliaus  trübe  ausfallt ,  so  verdient  dies 
doppelte  Beachtung.  Zwar  heißt  es  in  der  besi)r(>chenen  Einleitung: 
„Die  nachfolgenden  Zahlen  beurtheileu  die  Statistik  mit  rücksichtsloser 
Oftenheit.  Sie  decken  die  Mängel ,  welche  noch  zu  beseitigen ,  die 
Schäden,  welche  zu  überwinden  sind,  elirlich  auf.  Die  Volksschulver- 
waltung ist  sich  selbst  klar  bewnsst,  dass  sie  noch  einen  weiten  Weg 
hat.  ehe  sie  dahin  gekommen  ist,  nicht  ideale,  sondern  auch  nur  nor- 
male Verhältnisse  zu  scliatien,  aber  sie  meint  richtig  zu  liandelii,  \\enn 
sie  vor  dem  ganzen  Lande  die  Aufgabe  darlegt,  welche  ihr  zu  lösen 
übrig  bleibt,  und  sie  überlässt  sich  der  Hotiiiung,  dass  sie  damit  zu- 
gleich nicht  nur  die  betheiligten  und  verpflichteten  Gemeinden,  sondern 
alle  diejenigen,  welche  eine  Vorstellung  von  der  Bedeutung  der  Schule 
haben,  zur  Mitarbeit  an  ihrem  Werke  anregen  werde.''  Wer  sich 
die  Mühe  gibt  auch  die  Verötientlichnngen  früherer  Jahre  mit  Auf- 
merksamkeit zu  Studiren ,  wird  .sich  indessen  bald  übei-zeugen ,  dass 
die  Offenheit,  welche  die  Bearbeiter  an  sich  rühmen,  doch  gerade 
an  den  entscheidenden  Stellen,  in  den  Besprechungen  über  die 
Ausbildung  und  Besoldung  der  Lehrer,  eine  sehr  mäßige  war,  dass 
vielmehr  gerade  in  diesen  Partien  alles  das,  was  den  Glanz  der 
gegenwärtigen  Schnlräwaltnng  nicht  erhöht,  einfach  übergangen  oder 
in  geradezs  inefilhrendem  Sinne  besprochen  ist  Wer  sich  deswegen 
em  klares  Bild  von  der  jüngsten  Entwickelong  der  prenBisdien  Volks- 
sehnte  machen  will,  dem  kann  nnr  gerathen  werden,  die  Tabellen  der 
einzelnen  Jahre  selbst  zn  stndiren  nnd  sich  nicht  zu  sehr  anf  die 
offidellen  Besprechnngen  zn  verlassen.  Wo  das  geschehen  ist,  smd 

Padacofim.  lt.  Jahrf.  Haft  II.  7 

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theilweise  recht  unzutrefFende  Berichte  entstanden.  So  wird  in  der 
Einleitung  zur  1886er  Statistik  z.  B.  eine  Übersicht  ober  den  Besack 
der  preußischen  Lehrerbildungs-Anstalten  gegeben*,  ans  dar 
her\'orgeht,  dass  in  dieser  Beziehung  eine  sehr  bemerkbare  Besserung 
stattgefunden  hat.  Es  wird  aus  älterer  Zeit  eine  Reihe  von  Zahlen 
mitgetheilt,  insbesondere  aber  werden  die  Ergebnisse  von  1876  und 
1888  gegenübergestellt,  die  von  1879  aber  übergangen.  Wii-  fügen 
diese  Zahlen  hinzu,  und  der  Leser  wird  sich  überzeugen,  wie  ganz 
anders  sich  dadurch  das  Bild  gestaltet. 

1876  1879  1888 

Anzahl  der  Semioaristen: 

6720  9400  8507 

Auf  einen  Seminaristen  kommen  Einwohner: 

B826  2737  3329 

Auf  einen  Seminaristen  kommen  im  Jahi-e  1886  590  Schulkinder, 
was  die  Einleitung  gleichfalls  gewissenhaft  mittheilt;  dass  1879  schon 
auf  ca.  450  Schüler  ein  Seminarist  kommt,  verschweigt  sie,  geht  also, 
wie  aus  den  obigen  Zahlen  hervorgeht,  über  den  Rückgang  der  letz- 
ten Jahre  pranz  liinweg.  Kbenso  lindet  sich  in  der  121  Folioseiten 
langen  Einleitung,  in  der  auch  von  manchen  Nebensächlichkeiten  tlie 
Rede  ist,  kein  Wort  darüber,  dass  in  allen  preußischen  Pro\änzen  das 
Gehalt  der  Volksschullehrer  um  beträchtliche  Summen  zu- 
rflckgegangen  ist  (siehe  weiter  untenl).  Es  wird  mit  keinem  Worte 
erwfilmt,  dass  In  sieben  preußischen  Provinzen  ftir  die  Besoldung  der 
stftdtischea  Lehrer  1886  83S  000  Hark  weniger  erforderlich  waren  als 
1878,  dass  anf  ein  Schulkind  aof  dem  Lande  an  Lehrurgehalt  1878 
15  Mark,  1886 14  Hark,  in  der  Stadt  1878  21,60  Hark,  1886  nur  10  Hark 
erforderiich  waren,  nnd  dass  auf  diese  Art  den  22419  stftdtischen 
Lebrem  3^«  HOlionen,  den  42331  Landlehrern  1  HUlion  verloren  gingen. 
Es  erscheint  der  ofiiaeUen  Einleitong  dorehaos  nicht  als  bemerkens- 
wert, dass  1878  auf  57  780  Schnlklassen  57 165  Lehrerstellen 
kamen,  mitbin  nnr  615  Lehrerstellen  weniger  als  dassen  yoihanden 
waren,  wahrend  1886  anf  75097  Schnldassen  64^750  Lebrerstellen 
kamen,  mithin  fttr  10,347  dassen  keine  Lehrerstelle  geschafliBn  wor- 
den war.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dass  bei  dieser  „Offenheit"  ein 
Stndinm  der  Einleitung  nnr  von  bedingten  Werte  sein  kann  nnd 
man  an  wirklidier  Orientimng  anf  die  viel  weniger  leichte  Benntsnng 
der  Tabellen  selbst  angewiesen  ist 

Das  Tabellenwerk  gliedert  sich  in  fünf  Abschnitte,  die  sich  mit 
den  Öffentlichen  Yolksschnlen,  den  öffentlichen  Hittelschnlen,  den 


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privateu  Volksschulen,  den  privaten  Mittelschulen  und  den  sonstigen 
Schulen  mit  dem  Lehrziele  der  Volksschule  (Seminar-Übungsschulen, 
BUndenanstalten ,  Taubstummenanstalten ,  Unterrichtsanstalten  für 
Schwachsinnige,  Idioten  und  Epileptische,  Rettaogs-  und  Waisenhaus- 
nnd  ähnlichen  Schulen)  beschäftigen.  Abgesehen  von  dem  letzten  Ab- 
schnitte, der  kürzer  behandelt  ist,  enthalten  die  Tabellen  Nadiweise 
über  folgende  Verhältnisse: 

1.  Schulbezirke,  Schulen,  Schulwege,  Scholpflicbtigkeit,  Benutzung 
der  Schulen; 

2.  Schulgebäude,  Classenräume,  Lelirerwohnunsfen,  Landdotation; 

3.  lehrplanmäßige  Einrichtung  der  Schalen  und  Gruppirung  nach 
der  Zahl  der  Unterrich tsclassen; 

4.  die  Schulkinder  nach  Geschlecht,  EeUgionsbekenntnis  und 
Familiensprache: 

5.  Lehrerstelleu  und  Lehrkräfte; 

6.  die  confessionellen  Verhältnisse; 

7.  u.  8.  normale  und  anomale  Frequenz  Verhältnisse; 

9.  Ertrag  des  zur  Stellendotation  vorhandenen  Vermögens  mit 

Nachweis  der  freien  Wohnungen; 
10.  u.  11.  Die  persönlichen  und  sachlichen  Schulunterhaltungs- 
kosten ; 

12.  die  Abstufung  des  Einkommens  der  vollbeschäftigten  Lehrer 

und  Lehrerinnen; 

13.  Schulgeld  und  Schulgeldsätze, 

Die  Nachwei.suugen  enthalten  die  Angaben  bis  zu  den  Provinzen 
(l4)  und  Regierungsbezirken  (36),  bei  den  ölFentlichen  Volksschulen 
sogar  bis  zu  den  Kreisen  (636)  herab.  Bei  den  Privatschulen  fehlen 
die  unter  9 — 13  bezeichneten  Angaben,  was  außerord^tlich  zu  be- 
ihasrn  ist  Ffir  dtesen  Mangel  kann  aber  wol  nicht  die  Sdralverw 
waltung  verantwortlicli  gemacht  weorden. 

Es  ist  nidit  möglich,  hier  ein  «migermaßen  ToUstfindiges  Bild  von 
den  berührten  YerhältnisBen  zu  gd>ea.  Wir  werden  uns  auf  die 
Ofl^nCUdien  Volksschnlen  beschrSnken  und  dabei  nicht  nur  die  1886er 
Zahlen  geben,  sondem  auch  die  bemerkenswertesten  Ergebnisse  aus 
froherer  Zeit  hinzufügen. 

Eine  wesentliche  Bedingung  für  die  durchgreifende  Wirksamkeit 
der  VolksBchule  besteht  darin,  dass  die  Schulwege  eine  gewisse  Ent- 
fernung nicht  ftberschretten  und  auch  sonst  für  Einder  keine  Beden- 
ken haben.  Dieser  Forderung  würde  in  den  meisten  F&llen  dadurch 
ent^rochen  werden,  dass  in  jedem  Orte  eine  Schule  erOflhet  würde. 

7* 


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Fllr  preuAiBcbe  Yerbältniase  ist  diese  Forderung  indessen  nicht  za 
stellen,  und  msn  mnss  sich  mit  der  möglichsten  Abkfirznng  der 
Schulwege  Torderhand  begnügen.  In  dieser  Beziehung  hat  die 
preofiische  ünterrichtsyerwaltnng  aach  trotz  der  ungünstigen  VerhUt- 
nisse  mancher  Bezirke  sehr  Bemerkenswertes  geleistet,  wenn  anch 
noch  131 000  Kinder  über  3  Kilometer  Schulweg  haben,  darunter  eine 
Anzahl  über  7  Kilometer.  Diese  Zahl  ist  zwar  noch  bedeutend,  es 
ist  bei  4  838  247  Volksschülem,  die  1886  in  Preußen  gezählt  wurden, 
*  ^„  der  Gesammtheit.  Aber  auch  bei  der  grOfitea  Anstrengung  wird 
darin  nicht  viel  zu  ändern  sein.  Die  Anlage  von  einzelneu  Gehöften 
(Katen)  und  kleineren  Vorwerken  ist  im  Zunehmen  b^;riffen,  und  es 
lässt  sich  nicht  in  jeder  kleinen  Colonie  und  in  jedem  einzelnen  Ge- 
höft, wie  sie  besonders  im  Münsterlaiide ,  im  schlesischen  Gebirge,  in 
Posen,  West-  und  Ostpreußen  sehr  zahlreich  sind,  eine  Schule  eröflfheu. 
Immerhin  sind  aber  unter  den  Schulbezirken,  die  aus  mehreren  Ort- 
schaften gebildet  sind,  noch  manche,  die  unbedingt  aufgelöst  werden 
müssten.  Es  scheint  auch  in  letzter  Zeit  darin  etwas  zu  geschehen. 
Die  354  Schulen,  die  vom  20.  Mai  1886  bis  zum  October  1888  neu 
eröffnet  wurden,  sind  zum  großen  Theile  einclassig.  ()1>  diese  freilich 
in  der  IMehrzahl  abgelegenen  Ortschaften  zugute  koninion  oder  in 
mit  Schulen  versehenen  Ortschaften  für  religifise  Minderheiten  errichtet 
sind,  geht  aus  den  amtlichen  Mittheilungen  direct  nicht  liervor. 

Die  1280  Städte  Preußens  hatten  zusanimen  3718  Sclmleu  mit 
23  348  Classen,  im  Durchschnitte  also  jede  Stadt  etwa  ;J  Sclmlen  oder 
18,6  Classen,  während  in  den  37  31!)  Landgemeinden  und  16  403 
Gutsbezirken  zusammen  nur  30  298  Schulen  mit  51  740  Classen  vor- 
handen waren,  so  dass  auf  Jede  ländliche  Gemeindeeinlieit  0.56  Schulen 
oder  0,96  Classen  kamen.  In  Frankreich,  das  sich  iiberhaui)t  durch 
seine  vielen  kleineren  Schulsysteme  auszeichnet  und  deswegen  1885  S6 
nicht  weniger  als  67  300  öffentliche  und  13  l'K)  private  Elementar- 
schulen liatte,  gegenüber  den  57  000  Volksschulen  im  Deutschen  Reiche, 
den  34000  in  Preußen  und  den  34  600  in  ÖsteiTeich,  Ungarn  und 
Bosnien,  gab  es  zur  gleichen  Zeit  nur  81  Gemeinden,  die  gar  keine 
Schule  hatten  und  nur  971,  die  bei  einer  anderen  Gemeinde  eingeschult 
waren.  Preußen  hat  mehr  große  Schulsysteme,  die  in  der  Stadt  durch- 
schnittlkli  6'  g,  auf  dem  Lande  1'/,  Classen  haben,  während  die  fran- 
zösiachea  Elementarschnlen,  städtische  nnd  ländliche  zusammen,  durch- 
schnittlich nur  1*/$  Classen  haben. 

Die  Schulpflicht  ist  in  Preußen  weder  nach  Beginn  noch  nach 
Ende  einheitlich  geregelt,  unterliegt  aber  trotzdem  einem  ziemlich 


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gleiciiinäßigen  Gebrauche  im  ganzen  Staate,  dahingehend,  dass  die 
Kinder  mit  dem  vollendeten  6.  Lebensjalire  in  die  Schule  ein-  und 
mit  dem  vollendeten  14.  Jahre  austreten.  Reclinet  man  die  Schul- 
pflicht vom  6.  bis  zum  14.  Jahre,  so  waren  188ö,  bei  der  allgemeinen 
Volkszälilung,  5  225  891  schulpflichtige  Kinder  vorhanden.  Nach  der 
1886er  Schulstatistik  waren  in  üfi'ei^tlichen  Volksschulen 


eingeschult 

besuchten  andere  Lehranstal- 
ten, Privatschulen  etc. 

besuchten  aus  zulässigen  Grün- 
den noch  nicht  oder  nicht 
mehr  die  Schule 

besuchten  wegen  körperlicher 
oder  geistiger  Mängel  die 
Schule  nicht 

konnten  wegen  ÜberfUllong  der 
Sehlde  nicht  aufgenommen 
werden 

entlegen  sieh  dem  Sehnlbetiich 


4  838  247  Kindel*  =  90,72  Proc. 
299  280     „      =   5,61  „ 


170439 


13619 


8826 
3145 


=  3,19 


=  0,26 


0,17 
0,06 


5338466  Kinder  =  100  Pm. 
Hiernach  erhalten  in  Prenflen  etwa  94  Ftoc  aUer  achnlpflichtigen 
Kinder  ihre  Bfldnng  in  der  (HfentUchen  VoUnscfanle  (denn  die  noch 
nicht  oder  nicht  mehr  die  Schale  beaochenden  3,19  Proc.  sind  dnao- 
ledinen). 

Von  den  Sdralbeshrken  nnd  Schnlen  geht  die  Statistik  ttber  an 
den  Schnlgebänden  und  Clasaenr&nmen. 

Im  Jahre  1882  waren  ftr  ca.  66000  Ciasgen  61000  Classen- 
simmer  vorhanden.  Es  fehlten  mithin  6000  Clasaensimmer.  Im  Jahre 
1886  standen  den  75097  Schnldassen  66540  Classenrftnme  gegenflber, 
es  fehlten  also  nun  8557  oder  rund  3500  mehr  als  vier  Jahre  frflher. 
Da  von  den  vorhandenen  Classensimmem  anßerdem  1862  nicht  be- 
nittit  worden,  feUt^  im  Vergleich  zn  den  Glassen  10409  daasmi- 
limmer.  Wttrde  die  preoAische  Yolksschnle  fikr  jede  CHasse  andi  einen 
Lehrer  besitzen,  so  wttrde  dieser  Mangel  an  Unterrichtsräumen  außer- 
ordentlich unangenehm  empfanden  werden.  Aber  der  Mangel  an 
Lehrkräften  ist  etwa  eben  so  groß,  denn  auf  75097  Scholclassen 
kommen  nur  64  750  Lehrerstellen,  so  dass  im  allgemeinen  jede  Lehr- 
kraft anch  über  ein  Classenzimmer  verfügt  Von  den  75097  Classen 
müssen  sich  allerdinjofs  nach  obiger  Rechnung:  2  X  10409  =  20818 
(fassen  oder  IVt  Millionen  Kinder  mit  halbem  Anrecht  auf  einen 


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—  w  — 


"üntenichtsi-aum  begnügen,  ein  Umstand,  der  der  Aufmerksamkeit  der 
Sehnlhygieniker  empfohlen  werden  muss.  Wenn  volle  1^/,  Millionen 
Kinder  auf  Untenichtsräume  angewiesen  sind,  die  nicht  genügend 
aosgelflftel  werden  können  und  Iftnger  als  gut  ist  im  Gebrauch  sind, 
80  dflrlte  das  Grond  genug  sein,  sich  damit  nfiher  za  befoflsen.  Im 
Jahre  1878  waren  fttr  57780  CSassen  noeh  ca.  57000  ünteRiehts- 
räome  vorhanden,  der  Mangel  war  damals  also  noch  imbedentend. 

Eine  ähnliche  Vertbiderang  zeigt  sich  in  Bezogt  auf  die  Lehrer- 
wohnungen.  Ihre  Zahl  ist  von  1871  bis  1886  von  48874  anf  42000, 
also  um  1374  herabgegangen,  während  sich  die  Zahl  der  LehrkrSfte 
von  52059  auf  64750  erhöht  hat  Mithin  hatten  1871  8685  Lehr- 
kräfte keine  Amtswohnimg,  1886  22750.  Hierdurch  werden  vor- 
wiegend die  stadtischen  Lehrer  getroifen.  Während  1871  ftr  16669 
städtische  Lehrer  9961  Dienstwohnungen  voriianden  waren,  also  nnr 
6688  Dienstwohnungen  fehlten,  waren  1886  fttr  22419  Lehrer  nnr 
nodi  4391  Dienstwohnungen  vorhanden,  so  dass  nunmehr  18028 
städtische  Lehrer  ohne  Dienstwohnung  sind.  Die  Zahl  der  vorhande- 
nen städtisdien  Lehrerwohnnngen  (4391)  entspvkht  etwa  der  Zahl  der 
Schulleiter  (3718),  und  diese  skd  auch  meist  damit  bedacht  Ob  mit 
der  ümwandking  der  Dienstwohnung  in  Hietsentschädigung  ein  Nach- 
theü  für  die  Lehrer  verbunden  ist,  lässt  sich  kaum  aUgemehi  fesst- 
stellen,  doch  scheint  man  im  allgemeinen  die  in  natura  gewährte 
Wohnung  vorzuziehen,  da  in  letzter  Zeit  viele  Vorstellungen  in  diesem 
Sinne  an  den  Unterrichtsminister  gelangt  sind,  hier  aber  abschläglich 
beschieden  wurden. 

Nach  den  obigen  Zahlen  entsprechen  die  Unterrichtsräiime  dem 
Bedfii&is  also  keineswegs.  Und  doch  haben  wir  es  hier  mit  dem 
Glanzpunkt  der  preußischen  ünterrichtsverwaltung  zu  thun,  die  in  der 
letzten  Zeit  für  nichts  so  eifiig  gesor^  hat,  als  für  die  Schulbau- 
ten. Dadurch  sind  die  sachlichen  Kosten,  die  1861  nur  24,78 
Proc.  der  Gesaramtausgabe  betrugen,  auf  H5,f)5  Proc,  gestiegen,  in 
Berlin  auf  43,01  Proc,  in  Hohenzollern  auf  41,23,  iu  Posen  auf  41,09 
und  in  Westfalen  auf  40,12  Pruc.  Dass  sich  die  persünlicheu  Kosten 
in  demselben  Maße  verringerten,  mag  weiter  unten  ausgeführt  wer- 
den. Laien  pflegen  alles,  was  die  Schule  kostet,  als  Einnahme  der 
Lehrer  hinzustellen.  Es  kann  nicht  schaden,  ihnen  von  Zeit  zu  Zeit 
zu  sagen ,  wie  gi^oß  die  sachlichen  Aufwendungen  sind .  wozu  aller- 
dings auch  nach  allgemeinem  Gebrauch  in  Preußen  bei  allen  Beamteu- 
classen  die  Mietsentschiidigung  gerechnet  wird. 

Nachdem  wir  so  ein  Bild  von  den  äußeren  Verbältnissen  der 


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—  96  — 


preußischen  Volksschiik'  erhalten  haben,  werden  wir  in  diese  selbst 
eingeführt.  Allerdings  kann  die  Statistik  nicht  den  Geist,  der  in  den 
nach  Zehntausenden  zählenden  Lehrpersonen  und  in  den  Millionen 
von  Schulkindern  lebt,  zeichnen,  sie  muss  sich  mit  der  Fixirung 
der  äußeren  Zustände  begnügen.  Aber  durch  diese  wird  das  Schul- 
lebeu  auch  nach  seinem  innern  Pulsschlage  vorwiegend  bestimmt. 

Es  ist  nicht  gleichgiltig ,  ob  der  Knabe  mit  dem  Mädchen  ge- 
meinsam lernt,  ob  die  Sprößlinge  katliolisclier  und  protestantischer 
Eltern  beisammen  sitzen,  oder  ob  sowol  nach  dem  Geschlechte  als 
auch  nach  der  Confession  Trennung  eintritt,  ob  die  Schüler  in  un- 
übersehbaren Massen  oder  in  kleineren  Gruppen  unterrichtet  werden. 

Die  preußische  Volksschule  ist  im  wesentlichen  noch  die 
gemeinsame  Schule  für  beide  Geschlechter.  Unter  den  75  097 
Schnlclassen  sind  nur  10096  Knaben-  und  10297  Mädchenclassen, 
in  den  übrigen  54704  Qmmm  wsirden  Knaben  nnd  Ifidchen  gomein- 
nm  miterriditat  Es  sind  wenig  melir  als  ein  Viertel  der  Qndor 
(1 326097),  die  in  getrennten  Claseen  unterrichtet  werden,  die  ttbrigen 
drei  Viertel  (3512160  Kinder)  gemeften  gemeineamen  Untenicht 

Die  meiaten  daaeen  mit  getrennten  Geeeblechtem  finden  aicli 
natOiüdi  In  den  Stidten,  16000,  mit  fiber  1  MOUon  Kinder,  so  dass 
Ar  daa  Land  nur  4000  Claeeea  mit  ea.  300000  Kindern  ttbiig  blei- 
boi,  in  denen  die  Geecblechter  getrennt  unterrichtet  werden.  In  den 
Städten,  die  znaammen  1%  Millionen  VolksBchiaer  stellen  (1508906), 
nmfiussen  die  gemischten  Classen  etwa  efai  Drittel  derKinderzahl  (487  434). 
Die  Zahl  der  dassen  erreicht  nicht  gans  ein  Drittel  Anf  7998 
Knaben^  und  8189  lOdchenclaBsen  zosammen  kommen  7161  gemischte 
Classra.  Besonders  aahlreich  sind  die  gemischten  Classen  in  den 
stadtiscfaen  Schalen  Posens,  Westfalens  nnd  Rheinlands,  verschwindend 
gering  In  Berlin  nnd  Schleswig-Holstein.  Auf  dem  Lande  um&ssen 
die  gendsehten  Classen  ^Vn  Kinder;  nur  in  Rheinland  und  West* 
lUen,  wo  viele  stadtähnliche  Landgemeinde  bestehen,  sind  in  fast  einem 
Viertel  der  Landschulen  die  Qeschlediter  getrennt.  Dass  in  anderen 
Ländern  in  dieser  Besiehong  ganz  andere  Verhältnisse  obwalten,  kann 
hier  nicht  weiter  ausgeführt  werden.  Voraussichtlich  wird  sich  die 
pädagogische  Discussion  mit  der  Frage  der  Trennung  oder  Vereinigung 
der  Geschlechter  in  den  Schulen,  in  nächster  Zeit  lebhafter  beschäftigen, 
wie  es  schon  kürzlich  auf  dem  Frauencongress  in  Paris  und  von 
Seiten  der  rheinischen  Lehrerschaft  geschehen  ist.  Da  die  Fragte  des 
Hädchenunterrichtes  überhaupt  nach  Entscheidung  drängt,  kann  man 
an  der  hier  berflhrten  Seite  des  Schulwesens  nicht  vorübergehen. 


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—   96  — 


Ebenso  ^richtig  wie  dieTreimaiig  oderVereinigiiiig  der  Geidileeb- 
ter  ist  die  GlassengUederitng  einer  Schule  fftr  deren  Leistmigs^ 
f&higkeit  Zur  Zeit  der  Begolative  galt  in  Preußen  die  eincUssige 
Schule  als  Normatochide,  nnd  mit  einigem  Rechte,  denn  de  mn- 
fasste  die  meisten  Lehrer  and  Schüler.  Diese  Zeit  ist  dahin.  Zwar 
ist  auch  heute  noch  mehr  als  die  Hälfte  der  Schulen  elnclassig,  von 
34016  sind  es  17  734.  Aber  das  will  nicht  viel  besagen.  Diese 
17  734  Schulen  sind  eben  auch  nur  17  734  Classen,  also  noch  nicht 
ein  Viertel  der  Gesammtheit  mit  noch  weniger  Kindern  (1  146  701  von 
4  838  247).  Besonders  in  den  letzten  Jahren  ist  unter  den  einclassigen 
Schulen  stark  au%eräamt  worden.  Von  1882  bis  1886  ist  ihre  Zahl 
um  2338  zarOckgegADgen.  Sie  werden,  wo  die  Zahl  der  Kinder  über 
eine  gewisse  Grenze  steigt,  in  zweiclassige  Schulen  mit  einem  Lelirer 
verwandelt.  Ob  dadurch  allerdings  gi-oße  Vortheile  gewonnen  wer- 
den, ist  zweifelhaft.  Etwas  mehr  Classen  (18  141),  aber  weniger  Kin- 
der (1078  4.59)  haben  die  8845  zweiclassigeii  Schulen.*)  Aber 
nur  ein  Drittel  dieser  Schulen  verfügt  auch  tür  jede  Chissc  über  eine 
Lehrki'aft:  in  ölou  Schulen  versorgen  0409  Lehrer  10  818  Classen. 
In  den  3949  dreiclassigen  Schulen  mit  833  000  Kindern  sind  auch 
fast  zwei  Drittel  (4S6  772j  der  Kinder  auf  halbe  Kost  gesetzt:  in 
2682  Schulen  versorgen  5364  Tiehrer  8046  Classen,  in  72  Schulen  ein 
Lehrer  je  drei  Classen.  Diese  imvoUständig  vei*sorgten  Schulen  sind 
fast  sämmtlich  erst  seit  1878  geschaften  worden.  In  den  vierclassi- 
gen  Schulen  saßen  449  744  Kinder,  in  deu  fünfclassigen  285  282, 
in  den  sechsclassigen  829  823  und  in  den  sieben-  und  mehr- 
classigen  215  225  Kinder.  Die  sechsclassige  Schule  ist  die 
eigentliche  preußische  Stadtschule,  in  der  die  Hälfte  aller 
städtischen  Volkssciiiiler  untergebracht  ist  (724()10).  Mehr  als  sechs 
Classen  haben  nur  262  Stadtschulen  mit  194  926  Kindern.  Dieses 
seltene  Vorkuniinen  von  Volksschulen  mit  sielten  und  acht  aufsteigen- 
den Classen  ist  bei  der  gi'oßen  Zahl  von  Groß-  und  Mittelstädten 
höchst  merkwürdig  und  deutet  jedenfalls  auf  eiuen  Mangel,  der 
dringend  der  Abstellung  bedarf.  Auf  dem  Lande  sind  ein»  nnd 
zweiclassige  Schulen  vorwiegend.  lu  ihnen  sitzen  zwei  Drittel 
der  Kinder,  wahrend  von  dem  ttbrig  bleibenden  Drittel  weitftos  der 
größte  TheQ  in  dreielasslgen  Schulen  aitst 

Die  confessionellen  Yerhiltnisse  der  Volkssehnle  haben 
in  dem  Lande, -wo  der  greise  Windhotst  in  den  lange  angekündigten 

*)  IMe  üi'zoiclmung  ist  hier  t\hcrall  nur  na(  h  ilcn  aiif:<tf'igpiulen  Cla.Hsett  ge- 
wählt, ohne  KttckBicht  daraut,  ob  Parallelclasseu  vorbaadeu  sind  oder  nicht. 


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—  97  — 


Schulkampf  eingetreten  ist,  ein  besonderes  Interesse.  In  der  mehr* 
erwähnten  „Einleitung"  tritt  die  ängstliche  Sorg^falt,  mit  der  man  in 
Preußen  fregenwärtig  alles  behandelt,  was  Confession  heißt,  wiederliolt 
hervor.  In  einer  Ministerialverfügnng  vom  20.  Juli  1834  heißt 
es:  „Auf  einzelne  Familien,  gleichviel,  ob  katholische  oder  evangelische, 
kann  bei  einer  solchen,  die  Bedürfnisse  des  Ganzen  umfassenden  Ein- 
richtung (wie  die  Volksschule  es  ist")  nicht  Rücksicht  genoiniiieu, 
ihrem  besonderen  Wole  können  die  (4i  nndmaximen,  nach  welchen  das 
Volksschulwesen  überhaupt  gestaltet  und  verwaltet  wird,  nicht  ge- 
opfert werden.  Dergleichen  Familien  verlieren  sich  entweder  durch 
Übertritt  zu  der  herrschenden  Kirche  des  Ortes  infolge  der  gemisch- 
ten Ehen,  oder  sie  suchen  einen  anderen  Wohnort,  wo  sicli  eine  Kirche 
und  Schule  ihres  Glaubens  findet."  So  vor  55  Jahren.  Demgegen- 
über wird  von  dem  Verfasser  der  ?]inleitung  l>etont,  dass  diese  An- 
sicht einer  strengeren  Autfassung  gewichen  ist.  „Die  preußische 
Schulverwaltuug",  heißt  es,  „ist  sich  bewusst  geworden,  dass  sie  gegen 
alle  ihr  anvertrauten  Schulkinder  gleiche  Pflichten  hat."  Nach  anderen 
3[aßna)imen  zu  urtheilen,  sind  indessen  einzelne  Ministei'iah'äthe  noch 
confessioneller  als  der  Minister  selbst. 

Das  preußische  Volksschnlwesen  ist  im  wesentlichen  auf 

confessioneller  Grundlage  aufgeführt.  Von  den  3  063  000  evan- 
gelischen Kindern  besuchten  2  919  000  Schulen  ihrer  Confession,  26000 
waren  in  katholischen  und  118  000  in  paritätischen,  bezw.  Simultan- 
schulen untergebracht.  Von  den  1  730000  katholischen  Kindern  be- 
suchen 1582  000  Schulen  ihrer  Confession,  55000  sind  in  evangeli- 
schen und  93000  in  paritätischen  Schulen  untergebracht.  Die 
35  000  jüdischen  und  9500  soust  christlichen  Schüler  kommen  kaum 
in  Betracht.  Von  den  ersteren  besuchten  13  000  jüdische,  11000 
evangelische,  5000  katholische  und  6{HK)  paritätische  Schulen.  Die 
23  122  evangelischen  Schulen  hatten  im  ganzen:  48  689  Classen,  41  539 
Lehrkräfte  und  2  993  852  Schüler:  die  10  061  katholischen  Schulen: 
22  672  Classen,  19632  Lehrer  und  1613  497  Schiüer. 

Die  318  jacUschen  Sehnten  hatten  neben  13249  jüdischen  nur  — 
21  dufstUcfae  Schflter.  Die  603  paritätischen  Scholen  hatten:  3282 
Classen,  3141  LehikrSfte  und  216758  Sehttler.  Viele  dieser  Sehnten 
sind  nur  dem  Namen  nach  paritAtiBch.  So  werden  z.  B.  32  Berliner 
Oemeindeschnlen  mit  568  Gtessen  und  31 000  Schttleni  als  paritätische 
adigeflUirt,  weil  darin  35  jOdische  Lehrer  und  Lehrerinnen  Anstellung 
geftmden  haben,  obgleieh  im  Qbrigen  diese  Schulen  dnrchans  evange- 


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—  98  — 


lische  sind  und  nur  von  119  kAthoÜBcheii  mid  1300  jftdischeii  Schälem 
besacht  werden. 

Die  Zahl  der  paritätischen  Schulen  hat  sich  von  1882  bis 
1886  um  14  vermindert,  obgleich  die  Mischung  der  Confessionen  in 
Preußen  stetig  zunimmt.  Daraus  geht  hervor,  dass  die  Scliulvei-wal- 
tung  nicht  nur  in  iliren  Denkschnften,  sondern  auch  in  der  Praxis 
auf  die  cont'essionelle  Scheidung  der  Schulen  liinarbeitet.  Daneben 
wird  dort,  wo  für  die  confessionellen  Minderheiten  besondere  Schulen 
nicht  geschaffen  werden  können,  wenigstens  für  confessionellen 
Religionsunterricht  gesorgt,  entweder  durch  Anstellung  von  Lehrern 
der  Minderheit  an  den  Ortsschulen  oder  durch  sonstige  Einrichtungen. 
Die  Kosten  werden  von  den  Gemeinden  getragen,  so  dass  der  Staat 
im  Jahre  1888  nur  84  (KX)  Mark  fiir  diesen  Zweck  verausgabte.  Der 
Minister  v.  Gossler  scheint  nach  einer  neuerdings  ergangenen  Ver- 
liigung  die  Befriedigung  der  religiösen  Bedürfnisse  ganz  den  Gemein- 
den überlassen  zu  wollen. 

Auffallend  ist  die  Verschiebung  in  dem  Zahlverhältnis  der 
beiden  herrschenden  Confessionen  in  der  preußischen  Volks- 
schule. Es  ergibt  sich  für  die  katholischen  Volksschüler  ein  bedeu- 
tend stärkeres  Wachsthum  als  für  die  evangelischen.  Ohne  den  Wies- 
badener Bezirk,  in  dessen  paritätischen  Schalen  die  Confessionen  Mher 
nicht  ennittelt  wurden,  und  der  deswegen  hfer  ganz  «iß«r  Betradit 
bleibt,  haben  sich  von  1871  bis  1886  die  kathoUsdien  SchAler  nm 
nmd  400000  wmelirt,  die  evangelischen,  die  1871  ÜBSt  doppelt  so 
zahlreich  waren  als  die  katholischen,  in  demselben  Zdtranme  nur  um 
nmd  500000,  die  Zunahme  betrftgt  dort  31,55  hier  20,84  Froc  Die 
Zahl  der  katholischen  Lehrer  ist  in  derselben  Zeit  mn  34,56,  die  der 
evangelischen  am  25,24  Froc  gewadisen.  Die  Gründe  tBEt  diese  anf- 
ftttige  Erscheinong  liegen  nur  zum  kldnsten  TheQe  in  der  etwas 
stArkeren  Zunahme  der  katholischen  Bevölkerung,  der  Hjauplgrond  ist 
die  stSrkere  Benutzung  der  Mittel-  und  höheren  Schulen  seitens  der 
evangelischen  Bevölkerung,  die  sich  gerade  in  den  letzten  Jahrzehn- 
ten besonders  bemerkbar  madit  In  den  öffentlichen  JOttdschulen 
safien  neben  115000  evangelischen  weniger  als  10000  katholische 
Schiller,  in  den  privaten  Ifittetochnlen  49000,  bezw.  11000.  Wahrend 
von  100  evangeUsdien  SchQlem  nur  91  der  Vidkasdinle  zageAhrt 
wurden,  begnügten  sidi  von  100  katholischen  SchflÜem  97  mit  Yolks- 
schnlbildung. 

Trotz  der  starken  Vermehrung  der  katholischen  Lehrerschaft  ist 
in  den  katholischen  Schulen  noch  heute  die  unterrichtliche  Ver^ 


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—   99  — 


sorgung  schlechter  als  in  den  evangelischen.  Während  in  den 
letzteren  jeder  Lehrer  durchschnittlich  72  Kinder  unterrichtet  und 
auf  jede  Classe  61  Kinder  kommen,  sind  es  in  den  katholischen 
Schulen  82,  bezw.  71.  Das  ist  ein  Unterschied  von  10,  bezw.  11 
Schülern,  der  sich  sicher  bemerkbar  macht.  Die  paritiltischen  Sclnilen 
stehen  mit  69  Kindern  auf  die  Lehrkraft  und  66  auf  die  ('lasse  in 
der  Mitte  zwischen  beiden.  Die  katholische  Bevitlkerung  hat  früher, 
als  die  Schule  fast  ganz  von  den  Gemeinden  unterhalten  wurde,  auf- 
fallend wenig  für  ihre  Schulen  ^?ethan,  das  geht  besonders  aus  den 
früheren  G^haltsnachweisungen  hervor,  die  gleichfalbs  nach  den  Con- 
fessionen  getrennt  sind.  Vielleicht  hängt  es  damit  zusammen,  dass 
die  katholische  Bevölkerung  bei  der  Aufnahme  von  1871  in  der  Schul- 
bildung ganz  auffallend  zurückstand.  Von  den  über  zehn  Jahre  alten 
Personen  konnten  nicht  lesen  und  .schreiben:  bei  den  Evangelischen 
6,6  Proc.  der  männlichen  und  11,37  Proc.  der  weiblichen  Bevölkerung, 
bei  den  Katholiken  15,16  Proc.  der  männlichen  und  21,81  Proc,  der 
weiblichen  Bevölkerung.    Das  sind  die  Quittungen  auf  Schulerspamisse. 

Von  geringerer  Bedeutung  als  in  manchen  anderen  Ländeni,  aber 
immerhin  von  merklichem  Einflüsse  sind  die  sprachlichen  Verhält- 
nisse in  einzelnen  Teilen  des  Staates.  In  sämmtlichen  Volks-  und 
Mittelschulen  bedienten  sich  nur  87,10  Proc.  der  Kinder  ausschließ- 
lich des  Deutschen  als  Familiensprache,  in  den  öffentlichen  Volks- 
Bchnlen  nur  86,58  Proc.  (4 188  857  Kinder).  Ton  den  Übrigen  spra- 
elMR  fa.  te  IPmSÜB  nur  polniach  10,35  Proc.  (500315  Kinder),  pol- 
mseli  vaA  dentseh  1,46  Ftoc  (70868  EiBder),  nur  litaidsdi  0,26  Free. 
(12  752  Kmdfir),  littuiBeli  und  deatBch  0,17  (8372  Kinder),  ntur  dfiniidi 
0,5a  FMc  (24068  Kinder).  Die  flbrigen  fremdspraeUiehen  Bestand- 
tliefle  der  SchnlbevOlkernng  sind  nnwesentiich.  Immerhin  aber  mnss 
die  prenSisdie  üntenichtsyerwaltong  damit  rechnen,  dass  ihr  660000 
Kinder  anvertrant  sind,  denen  die  denteche  Sprache  ans  der  Familie 
gar  nicht  oder  nnr  irenig  bekannt  ist 

Von  den  Sehnlkindem  geht  die  Statistik  an  den  Lehrerstellen 
nnd  Lehrkräften  ftber. 

Fttr  die  4888247  Kinder  waren  Torhanden  64760  Stellen  für 
Tollbesehftftigte  Lehrkräfte  nnd  1183  Stellen  flkr  Hilfslehrkrtfte. 
Als  Tollbesehftftigte  Lehrkrifte  sind  nntersebiedslos  alle  Lehrer  an- 
gesehen, veldie  den  SchnhUenst  als  Hauptamt  ttben,  gleichTid.  ob  sie 
dies  als  Bectoren,  HaiQ»tlehrer,  Oberlehrer,  Klassenlehrer,  Hüfelehrer, 
Lehrergehilfen,  Acynvanten  thnn.  Die  »Hilfelehrkr&fte"  sind  also 
nidit  eigentliche  HiUhlehrer,  sondern  Lehrkräfte,  die  fttr  den  tech- 


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—   100  — 


Iiischeu  oder  den  Religionsunterricht  angenommen  worden  sind.  Un- 
besetzt waren  1886  nur  400  Stelleu.  Mit  einem  kirchlichen 
Amte  war  fast  ein  Viertel  der  Stellen  v  erbunden:  12  412  evange- 
lische, 3338  katholisclie  und  197  jüdische,  in  Summa  15  947  Stellen 
Eine  Trennung  \on  Kirch-  und  Scäuldienst  würde  also  von  tief  ein- 
schneidender Bedeutung  sein. 

Von  den  voUbe!sciiättigt(?n  Lelirki  iiften  waren  57  902  Lehrer  und 
6848  Lehrerinnen.  Die  Zabl  der  weiblichen  Lehrkräfte  erreicht 
also  nur  10,6  Proc,  ist  aber  in  den  letzten  Jaliren  sehr  bemerklich 
gestiegen.  Weniger  unerheblich  erscheint  indessen  die  Zahl  der  Lehre- 
rinnen, wenn  man  sie  zur  Zahl  der  Mädchenclassen  in  Beziehung  setzt. 
Dann  stehen  den  10  297  Mädchenclassen  t)848  weibliche  Lehrkräfte 
gegenüber.  Nun  ist  aber  eine  große  Zahl  von  Lehrerinnen  in  ge- 
mischten Classen  thätig,  so  dass  sich  für  die  Mädchenclassen  in  Wirk- 
lichkeit ein  anderes  Verhältnis  der  männlichen  und  weiblichen  Lehr- 
kräfte herausstellt.  Von  den  6848  Lehrerinnen  sind  4097  in  den 
Städten  angestellt,  und  hier  erreicht  ihre  Zahl  in  Berlin  (1814  Lehrer, 
850  Lehrerinnen),  Westfalen  (1216  Lehrer,  521  Lehrerinnen)  und  Rhein- 
knd  (2916  Lehrer,  1268  Lehrerinnen)  fast  ein  Drittel  der  G^esammtheit. 

Auf  dem  Lande  kommt  die  Zabl  der  Lehreriimen  nur  in  Wefit- 
fiden  (2526  Lehrer,  685  Lebrerimieii)  und  Rhefitlimd  (4833  Lelurer, 
1587  Lehreriimeii)  in  Betraeht  Ja  alm  anderen  Provinzen  waxen 
soflammen  nnr  479  Landlehrerinnen  vorhanden  (in  Pommern  3,  in 
Posen  5).  Anch  die  atädtiachen  Lehrerinnen  aind  im  Osten  des  Staates 
irenig  eahlreich  nnd  hier  fSuit  nur  in  den  grOBeren  Städten  thAtig^. 
So  hatten  Osl^nßen  134,  WestpreoBen  128,  Brandenburg  152,  Pom- 
mern 116,  Posen  31  stAdtische  YolksschnUehrerinnen.  Damit  ist  aller- 
dings der  Einflnss  der  weiblichen  LehrkrSüte  auf  die  Sehnlen  noch 
nicht  völlig  bezeichnet,  denn  nicht  mit  einbegrifton  sind  die  Hand- 
arbeitslehrerinnen, deren  es  in  Stadt  nnd  Land  zusammen  84270 
gab,  von  denen  aber  nur  5496  fBr  ihr  Fach  geprüft  ▼aren. 

Von  größter  Bedentnng  Ar  die  Leistongsttbigkeit  einer  Schule 
ist  das  Zahlverhältnis  von  Lehrern  nnd  Schülern.  In  dieser 
Bezidhnng  weist  die  prenlUsche  Volkssehnle  weder  in  der  Yergangen- 
heit  noch  gegenwärtig  sehr  glänzende  Zustände  waL  Während  bei- 
spielsweise in  den  französischen  Volksschulen  auf  jede  Lehrkraft  nui- 
43  Schüler  kommen  und  in  den  preußischen  Mittelschulen  je  33,  steht 
der  preußischen  Volksschule  erst  fQr  75  Schüler  eine  Lehrkraft  zur 
Verfügung.  Die  preußische  Unterrichtsverwaltung  hat  ihre  Lehrkräfte 
Ton  jeher  stark  angespannt,  aber  in  der  ältesten  Zeit,  ans  der 


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—  101  —  

gtatiBtisehe  Nachrichten  vorliegen,  weniger  als  beate.  Eis  kamen  auf 
einenLehrer  im  Jahre:  1822:  64Schftler,  von  1834— 1867  80,81,auch  79. 
In  den  für  die  preußische  Volksschule  so  wichtigen  siebziger  Jahnen  priiig 
diese  Zalil  auf  75  (1871)  und  auf  72  herab  (1879,  1882),  um  in  den  letz- 
ten  Jahren  wiederum  auf  75,  in  den  Landschulen  auf  79  zu  steigen;  in 
den  Städten  von  62  (1879)  auf  64  (1882)  und  67  (1886).  ErträgUck 
ist  das  Zahlenverhältnis  von  Lehrern  und  Schülern  nor  in  Berlin,  wo 
auf  eine  Lehrkraft  56  Schüler  kommen.  Der  Rückjrang  von  1882 
bis  1886  ist  in  einzelnen  Bezirken  ein  ganz  beispielloser,  und  es 
kommen  dabei  Einzelzittern  zu  Tage,  die  man  im  Lande  der  Schulen 
nicht  vermuthet  Es  ist  keine  vereinzelte  Krscheinung,  dass  ein  Lehrer 
250  oder  zwei  Lehrer  nahe  an  4r)0  Kinder  unterrichten.  Die  in 
Preußen  erscheinenden  Lehrei*zeitungen  haben  lan^re  Ivcihen  flerarti<rer 
Zahlen  veröftentlicht,  die  indessen  fiii*  \iele  liCser  des  „Pji  dago^iuras" 
ohne  Interesse  sein  möchten.  Ganze  Kreise  haben  im  Durchschnitt 
erst  für  je  130 — 140  Kinder  einen  Lehrer, 

Um  derartige  Schülerniassen  mit  Untei  rieht  zu  versorgen,  musste 
zu  Schuleinrichtiingen  gegriften  werden,  die  seit  einiger  Zeit  von 
Seiten  der  preußisclien  Schulverwaltung  zwar  als  normale  bezeichnet 
werden,  nach  sonstigen  Begrißen  von  Schulunterricht  es  aber  nicht 
sind.  Die  Schulen,  in  denen  ein  Lehrer  zwei  Classen  oder  zwei 
Lehrer  drei  Classen  unterrichten,  werden  von  Jahr  zu  Jahr  vermehrt, 
und  an  mehrclassigen  Schulen  wird  das  Fehlen  einer  oder  mehrerer 
Lehrkräfte  zur  Kegel,  t'berlastung  der  Lehrkräfte  einerseits 
und  verkürzte  Unterrichtszeit  und  sonstij^e  unzureichende  unter- 
richtliche Versorgung  anderseits  sind  die  Folgen  dieses  Zustandes. 
Die  Zahl  der  preußischen  Volksschüler  ist  von  1882  bis  1886  von 
4  339  729  auf  4  838247,  also  nm  498  518  gestiegen.  Der  Zuwachs 
an  Lehrkräften  beträgt  4833,  Schnlclassen  sind  9129  nen  errichtet. 
Es  vnrde  also  für  je  zwd  Classen  bezw.  103  Kinder  eine  Lehrkraft 
nen  eingestellt  Den  75097  Schnlclassen  stehen  denn  auch  1886  nar 
64  760  Lehrkräfte  gegenüber,  so  dass  10347  Lehrkrtfte  <»rdnnngs- 
m&6ig  fehlten,  mit  Hinsnrechniuig  der  460  unbesetzten  Stellen  10807. 
Besonders  anfßUlig  ist  die  Vennebning  der  zweiclassigen  Schnlen  mit 
einem  und  der  dreiclasaigen  mit  zwei  Lehremi  die  bis  1878  kaum 
in  Betracht  kamen,  1882  aber  schon  682543  Kinder  in  11 619  Classen 
und  1886  gar  1058246  Kinder  in  18864  Classen  unterrichtlich  vei^ 
soigten.  Auch  in  den  vier-  und  mehrclassigen  Schulen  fehlten  1886 
2087  Lehrer,  in  den  betrefEsuden  Landschulen  Schlesieas  waren  z.  B. 
Ar  2026  Classen  nur  1402  Lehrer  voriianden. 


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  —   102  — 

••••.*-*. 

"Trotzdem  also  fiir  10807  Classen  keine  besondere  Lehrkraft  vor- 
handen war,  oder  was  dasselbe  ist,  700  000  Kinder  in  ihren  Classen 
von  den  Lelirern  anderer  Classen  mit  unterrichtet  wurden,  stiege  die 
Classenfrequenz  in  vielen  Bezirken.  Als  überfüllt  g-ilt  eine  preußische 
Volksschulclasse  erst  dann,  wenn  sie  in  mehrclassigen  Schulen  über 
70  und  in  einclassigen  Uber  80  Schüler  hat.  alle  anderen  Classen  wer- 
den als  „normale"  bezeichnet,  wobei  es  aber  gar  nicht  in  Frage 
kommt,  ob  auch  für  jede  Classe  ein  Lehrer  vorlianden  ist,  so  dass 
beispielsweise  eine  zweiclassige  Schule  mit  140  Kindern  und  einem 
Lehrer  zu  den  normalen  zählt.  Nach  dieser  "Statistik  saßen  von  den 
4  838  247  Schulkindern  in  normal  besetzten  Classen  2  ()04  874  =  54 
Proc.  und  in  überfüllten  Classen  2  233  373  Kinder  =  46  Proc. 
Gegen  1882  hat  sich  das  procentuale  Verhältnis  um  1  Proc.  gebesseit, 
trotzdem  saßen  1886  170000  Kinder  mehr  in  übertüllten  Classen  als 
1882.  Die  scheinbare  Besserung  ist  herbeigeführt  durch  Errichtung 
von  ca.  4400  Classen  ohne  Lehrer.  In  einzelnen  Bezirken  sinkt  die 
Zahl  der  „normal"  beschulten  Kinder  auf  11  Procent  (Münster j,  und 
selbst  in  Berlin,  das  in  dieser  Beziehung  weit  über  den  Provinzen 
steht,  atsen  nocb  14000  Kinder  in  Classen  mit  über  70  Schülern, 
iras  aber  weniger  ins  Gewicht  ftüt,  da  hier  wenigstens  jede  Classe 
einen  Lehrer  hat  Im  ganzen  ergeben  sieh  in  den  Schalen  mit  über- 
Allten  Classen: 

19  210  Classen  mit  je   81-100  bezw.   71—90  Kindern 
5735     „        „    „  101  —  150    „       91—120  „ 
590     „       ^   „  über  150    „     über  120  „ 

(Die  zuerst  angegebenen  Zahlen  gelten  für  einclassigei  die  leisten 
IQr  mehrdassige  Schnlen.) 

Oder  es  saften: 

154()3ti6  Kinder  in  Classen  mit   81 — KK),  bezw.   71  -{»O  Schüleni 
tKX)504      n       n       n        n    101  —  150     „      91—120  „ 
86  503     „      „  ^    über  150    „     über  120  , 

2  233  373  Kinder  in  überfüllten  Classen. 

Dadurch  ist  eine  so  namhafte  Mehihelastang  der  LehrkrSfte  ent- 
standen, dass  diese  entweder  Übergroßen  Anstrengnngen  ansgesetit 
sind,  oder  eine  unzureichende  untenichtUche  Versorgnng  sich  ergibt, 
in  der  Begei  wol  beides  zugleich. 

Wenn  wir  nun  die  materielle  Fürsorge  für  die  preußische 
Volksschale  ins  Auge  üAssen,  so  ergeben  sieh  auch  dort  siemlich 


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—   108  — 


träbe  Bilder.  Die  Unterhaltung  der  Volksschule  geschieht  im  wesent- 
lichen durch  Mittel,  die  direct  für  cUesen  Zweck  aufgebracht  werden. 
An  Schal-  und  Stiftungsver mögen  waren  (als  Landdotation,  Be- 
rechtigungen, Capitalzinsen,  Geld-  und  Naturairenten)  nur  7  323  641 
Mark  vorhanden,  ein  Betrag,  der  bei  75  245  144  Mark  persönlichen 
und  41 370  504  Mark  sachlichen  Scbalimterhaltangskosteii  kaum  ins 
Gewicht  föUt. 

Das  Verhältnis  der  persönlichen  und  sachlichen  Schul- 
unterhaltungskosten hat  sich,  wie  schon  oben  anj^edeutet  ist,  sehr 
zu  Ungunsten  der  persönlichen  Kosten  verschoben.  Wälirend  die  per- 
sönlichen Kosten  1861  noch  75,22  Proc.  der  Gesammtausgaben  be- 
trugen, sanken  sie  1886  im  Durclischnitt  auf  62,51  Proc,  in  einzel- 
nen Landest  heilen  unter  57  Proc,  wodurch  schon  der  ungeheure  Rück- 
gang in  der  Besoldung  der  preußischen  Volksschullehrer  während  der 
letzten  Jahre  angedeutet  ist. 

Das  durchschnittlicheGesammteinkoramen  eines  preußischen 
Volksschullehrei*s  einschließlich  der  persönlichen  und  der  staatlichen 
Dienstalterszulageu  betrug  1886  1067  Mark  gegen  1102  Mark  im 
Jahre  1878.  In  den  Städten  ging  das  Diirchschnittsgehalt  von  1878 
bis  1886  von  1414  auf  1279  Mark  herunter,  in  einzelnen  Bezirken 
um  mehr  als  300  Mark.  Auf  dem  Lande  war  die  Verschlechterung 
minder  fühlbar,  obgleich  auch  hier  viele  Stellen  erheblich  heiiinter 
gesetzt  \sTirden.  Eine  Kürzung  des  Eiukummens,  wie  sie  die 
städtischen  Lehrer  in  den  bezeichneten  acht  Jahren  erfahren  haben, 
steht  selbst  in  der  preußischen  Schulgeschichte  einzig  da.  In  sieben 
Provinzen  (Ost-  und  Westpreußen,  Posen,  Pommern,  Brandenburg, 
Sachsen  und  Hessen-Nassau)  wurde  die  Zahl  der  Lehrkräfte  um  600 
yennehrt,  trotasdem  aber  die  Ausgabe  ftr  Geluvter  um  8S4000  Mark 
geUrzt,  während  mehr  als  diese  Snmme  hätte  neu  aufgewandt  wer- 
den mttssen.  In  sftmmtlichenBroyinzeii  hatte  man  billigere  Lehrkräfte 
gesucht  Ganz  abgesehen  von  den  genannten  Provinzen,  in  denen  die 
Gehaltssmiime  nm  Hnnderttansende  Termindert  wnrde,  zahlte  Berlin 
Ar  Jede  neue  Stelle  1218  Mark  (Dnrchschnittsgehalt  1878: 1998  Mark), 
Schlesien  680,  Westfiaen  966,  Rheinland  1143,  Schleswig-Holstein 
1292  snd  Hannover  281  Mark. 

Solche  Zahlen  sind  nicht  geeignet,  die  Hoffiiongen  der  Volks- 
sdmllehrerschaft  zn  beleben.  Zehntaasende  darben  bei  einem  Gehalte, 
das  den  Anforderungen  nnd  der  Bedentang  ihres  Amtes  nicht  ent- 
qaicht,  wenn  es  ihnen  nicht  gelingt,  dorch  private  Arbeit  sich  ein 
besseres  Los  zu  yerschalfen. 


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—  104 


Auf  das  öflFentliche  Mittelscliulwesen,  das  gegenwärtig  in  einem 
erfreulichen  Aufscliwunge  begriffen  ist,  und  die  Privatschulen,  die  von 
Jahr  zu  Jahr  mehr  zurückgehen,  kann  hier  nicht  ein^egang-en  wei  den. 

Soll  die  preußische  Volksschule  ihren  alten  Euhm  behalten  und 
neuen  gewinnen,  so  wird  eine  zweite  Ära  Falk  nüthi^r  sein,  von  deren 
friscliem  Geiste  noch  heute  die  Lehrerschaft  zehrt  und  nach  deren 
Verheißungen  sie  wie  nach  einem  verschwundenen  Märchenlande  zu- 
räckschaut 


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Skixxen  aus  der  deutschen  Jugendliteratur, 


Von  Ludwig  Oi^rtngSürtiherg. 

„■tWM  weniger,  V^and,  LtobttlnftoBl   8»  «Infe  i« 
beliebt  swar 

Weniger,  weil  Ja  eo  aehr  Tbekla  K^fallen  und  Mn: 
Eina  doeh  find'  icb  xa  atarli,  daaa  aelbat  iia  kigaW 

•tofta  Jniurfrsii 
Mbah  Ii«!!  wlidrtYtoalithar  aekndl,  in  daa 

FUtan.  (Epigrana  Mf  SiMlkr.J 

I.  Weibliche  Federn. 

och  ehe  die  RedactionBSt üben  nnserer  bflletristischen  Zeitschriften  mit 
den  Manuscripten  weiblicher  Vci  fassei  innen  überschwemmt  waren  und  auf  eine 
Novelle  eines  Mamies  fiiiifeinhalb  Novelleu  des  zarten  (Jeschlechtes  kamen, 
erfkMte  ddi  raiere  Jngendlitemtir  berdtB  dei  tehmeielienMfteBteii  Znhnift 
■dulftstellemder  Damen.  Wenn  mich  nicht  du  Papier  reate,  würde  ich 
rasch  einige  Dutzend  aufzählen;  allein  man  wird  anch  ohne  ZifTemnachweise 
meiner  bisher  ungetrübten  Statistiker -Ehrenhaftigkeit  vertrauen,  nmsomehr, 
als  ich  sogleich  die  Gründe  des  Zndiangs  anführen  werde.  Seit  altemher 
heatebt  bei  dem  weiblichen  OeMsUedit  die  Annahme,  fBr  Eniehnngsgeschälte 
wire  es  wie  gesebaffen,  Tentttiide  sie  mindestens  besser  als  die  Minner.  Was 
spedeU  die  Jugendliteratur  solange,  so  sei  eiwleseit,  dass  deren  üranfönge 

—  das  mündliche  Erzählen  —  von  Frauen  auspreHbt  wurden,  wie  schon  der 
Name  „Märchentante**  bekunde.  Es  sei  auch  kein  Grund  vorhanden,  wanim 
es  mit  dem  schriftlichen  Erzählen  anders  za  halten  sei.  Femer  wird  auf  jener 
Seite  bebanptet»  die  Fkanen  bitten  sncb  ran  Schreiben  einen  natflrlichen  Be- 
mf,  was  kein  Mensch  bestreiten  könne  etc.  etc.  Gestützt  auf  diese  Argu- 
mente, beginnen  sie  nun  tapfer  darauf  loszuschreibni :  die  alte  Schulraamsell, 
weil  sie  an  und  für  sich  im  Erziehnngsfach  arbeitet,  desgleichen  die  Gonver- 
nante  nnd  Privaterzieherin,  —  die  feine  Dame,  weil  sie  für  ihr  Leben  gern 
schreibt  nnd  sich  noch  Ueber  gedrtekt  sihe,  —  die  andere  Dame,  weil  es  ihr 
die  bereits  schriftstellenider  Freundin  empfohlen,  —  die  dritte  Dame  ans  Noth, 

—  die  vierte  Dame,  um  hinter  dem  Bücken  des  Mannes  einige  Thaler  zu  ver- 
dienen und  damit  ein  neues  Kleid  zu  kaufen,  die  fünfte  Dame,  um  ilire  Er- 
fahrungen loszukriegen,  —  die  sechste,  siebente  und  achte  Dame,  weil  ihre 
Bomane,  Gedidite  nnd  Märchen  für  Erwachsene  za  schlecht  waren  und  stets 
'VW  den  Bedaotenren  die  sie  tbrigrens  gar  nieht  m  würdigen  wnssten  — 
zurückgesandt  wurden.  Und  obgleich  die  eine  Hälfte  ffii  lie  Mutterschaft 
überhaupt  verloren  blieb  und  von  der  übrigen  Hälfte  nachp-ewiesen  wird,  dass 
just  Poetinnen  und  Kinderschriftenverfasserinnen  die  schlechtesten  Hausmütter 
waren,  weil  sie  über  dem  Tiutenfass  das  Salzfase  nnd  Uber  den  gescheiten 


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~    106  — 


und  i^pscheitelten  Kindern  ihres  Geistes  die  uogescheitelten  ihres  Leibes  ver- 
gaßen, trotzdem  erröthen  sie  nicht,  wenn  sie  von  ilirer  Hlaustruinpforei  als  von 
einem  Evangeliom  reden.  Wir  —  das  i'ublicum  —  haben  uns  mit  der  Zeit 
ttbemden  lassen,  es  mflsste  so  sein,  nnd  vns  an  die  Enengnisse  der  welbUehen 
Muse  gewöhnt,  wie  der  Imker  an  das  Bienengift:  —  es  sehalElt  ans  fBrder 
keine  Beschwerden.  Wem  aber  trotzdem  einmal  eine  Frauenfeder  unangenehm 
werden  sollte  nnd  er  äußert  nach  dieser  Richtung  seine  Meinmio".  den  heißt 
Herr  Dietrich  Thedeu  einen  büsen  Krittler.  Ich  weiß  nun  allerdings  nicht, 
WM  Herrn  llieden  dam  TemnlaaBly  die  Bolle  jenes  Btttars  von  La  Hanelui  m 
spielen  nnd  für  den  Sehnt«  der  Uterarisohen  Damen  eine  Lanze  einsnlefoi, 
aber  er  hat  es  üi  dun  Artikel  der  Bheinischen  Blätter  vom  Jahre  1881  ge- 
than,  in  dem  er  auf  so  schauerliche  Weise  das  Loli  der  Frau  Clara  Cron  — 
oder  wie  sie  eigentlich  heilit:  Frau  A.  Weise  —  al.s  der  bedeutendsten  Jugend- 
schrittstellerin  singt.  Diese  Privatmeinung  des  Herrn  Theden  soll  mich  nicht 
▼eriiindeni,  die  „bedentendste"  Jngradsehriftstellerin  in  Gemeinschaft  mit  tiner 
Bwelteik  nbedentendsten"  —  die  ftbrigen  gehen  gesdienkt  darein  —  etwas 
anznzapfen. 

Frau  (Km  begann  um  das.lalir  I8HU  ihre  schriftstellerische  Thätigkeit  mit 
einem  Koiuau  iu  Brieten,  den  sie  „Mädcheulebeu"  nannte  imd  mit  einem  Vor- 
wort sammt  einer  Widmung  einflUirte.  Daa  Vorwort  war  sdiHcht:  ,Es  ist 
von  Eltern  nnd  Erriefaerinnen  hAnllg  «nagesproehea  worden,  daaa  es  onssivr 
Literatur  an  Werken  fehlt,  welche  ganz  jungen  Mädchen  neben  ansprechen- 
der, crefahrloser  Haltung  Hath  und  Fingerzeig  für  das  praktische  Leben  und 
Vorbild  guten  Stils  gewähren  könnten.   Das  vorliegende  Werk  mochte  diesem 

Wunsch  begegnen  Die  Widmung  dagegen  hei  etwas  schwulstig  ans; 

sie  war  ein  Sonett,  and  Sonette  fertigt  man,  wenn  einem  nicht  viel  einftllt 
nnd  man  gleichwol  dichten  möchte. 

„Euch,  denen  noch  im  zauberi«-hen  Lenae, 
Im  ersten  Jugeodglanz  das  Leben  bläht! 
Euch,  deren  Auge  von  der  Kindheit  Grenae 
Mit  Staiiuen  in  ein  rcii  in  >  Ii.iscin  sieht,  — 
Wo  ttberali  wie  Blumendutt  und  Kränze 
Durch  alles  sich  ein  Hnvob  des  Olllckes  zieht. 
Gefesselt  durch  der  (Irnzit  n  holde  Tiinze, 
Doch  nur  xu  schnell  der  Hören  Schar  entflieht,  — 
EucIl  denen  selbst  der  hohe  Ernst  des  Lebens,  — 
Der  Schmerz,  d.  m  krine  onlfjoborne  Brust 
Entcelien  kann,  mit  bittersüßer  Lust 
Das  jonge  Hefa  erfüllt,  —  euch  weih'  ich,  mebes  Strebens 
Und  t'roimiior  Absicht  leise  mir  bewusst, 
l>ii>  klt  iiif  Buch.       <>  li  st  e^  uidit  veri^ebensl" 

Auf  dies  „kleine  Buch"  folgten  ein  etwas  dickeres,  ein  Kornau  par  excellence, 
und  dann  noch  —  von  den  Schriften  tür  Erwachsene  ubgeäthen,  2H  andere, 
mehr  oder  minder  beleibte  toU  „Grasten  holder  TUnze"  nnd  „bittenttBerLnst**. 
Diese  Fmchtborkeit  ist  umso  erstaunlicher,  als  das  VMertelhundert  Bücher  so 
ziemlich  von  einem  eirizie:i  n  Gedanken  herrührt,  den  Frau  Clara  Cron  einmal 
neu  zu  einer  Krzihlung  /.ngcschnitten  und  dann  24  uml  abgeändert,  aus- 
gebügelt uud  wieder  zusammengefültelt ,  gewendet,  gestürzt  und  wieder  ge- 
wendet hat.  Die  Heldin  der  Erzählung  ist  ein  MSdoheD  um  die  sechsehn;  sie 
steht  an  Anfang  der  Enählnng  noch  mit  einem  Fii6  im  BackflschaJter  vnd  nrnßg* 


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—   107  — 


licht  dadurch  der  \'erfa88erin  die  Schilderung  dieser  lieblichen  Zeit,  in  welcher 
der  Himmel  voller  Geigen  hängt.    Mit  dem  zweiten  baumelt  sie  —  d.  h.  die 
Heldin  —  bereite  iibei-  der  Braatschaft^  in  welche  sie  am  ächiusse  des  Baches 
lliAtlikfedleh  eintritt.  Der  Held»  ein  AnalHind  vtm  Kraft,  MaA,  SMdielt, 
Weiaheit,  Tugend,  tfichtig  im  Reiten,  Faliren,  Sdiwimmen,  Fedkten  und  den 
Kiinsten  der  Salonplanderei,  Dichter  und  Ciavierspieler,  führt  sich  gerne  als 
Retter  ein;  er  zieht  die  Heldin  unter  dem  Schlitten  hervor  (..Drei  Kränze"), 
oder  ans  dem  Wasser  („Mädchenieben"),  oder  rettet  sie  ans  den  Klanen  einer 
boshaften  Tante  („Fannys  Schicksale")  etc.   Danach  beginnt  das  Schw&rmen, 
das  Oediehtemachen,  daa  Tansrergnflgen,  das  waelieMamen  im  Bett  ( —  die 
Vorb&nge  sind  ans  weißer  Seide  nnd  roth  gefüttert  — ),  der  Znsammenstofi 
mit  einem  Nebenbuhler  nnd  die  Bearbeitnng  des  Herrn  Papa.    In  den  meisten 
Füllen  gelingt  der  Anschlag;  da  aber  eine  ehrsame  deutsche  Jungfrau  von 
etlichen  16  Jahren  zuweilen  auch  gerührt  sein  will,  hat  Frau  Cron  einen 
«weiten  tragiachen  Ausgang  eraonnen:  die  Heldin  —  oder  der  Held  —  atirbt. 
Und  80  habe  ioh'a  erlebt,  daaa  ich  einmal  ein  gansee  Endel  junger  Damen  — 
in  der  Ennstsprache  heißt  man  es  „Kränzchen"  —  fand,  in  Thi^nen  schwimmend 
nnd  schluchzend,  dass  es  der  Bock  stieß:  es  hatte  die  letzten  Capitel  der  „Drei 
Kränze"  gelesen!  ich  suchte  die  Armen  mit  dem  Hinweis  zu  trc»8ten,  dass  es 
immerhin  im  Bach  zwei  Hochzeiten  abgesetzt,  aber  es  gelang  mir  damit  nur 
halb,  nnd  daa  aneh  nur  dann,  ala  ieh  hinzofflgte,  allem  Anaeheine  nach  ent- 
wickeln sich  als  Ersatz  «wei  neue  Liebesverhältnisse,  was  die  Autorin  nur 
leise  andeuten  konnte.    Denn  Clara  Cron  liisst  ßicli  nie  an  einer  Lieb.schaft 
genügen.  Die  HeMiii  besitzt  gt  wöhnlicli  einen  Hruder  oder  Vetter,  der  drinnen 
in  der  Stadt  studirt  oder  sich  zum  Künstler  vorbereitet,  jetzt  schon  eine  Zierde 
der  Wissenschaft  nnd  Knnst  ist  nnd  Aber  ein  sehr  zartes,  Uebebedflrftigea 
Gem&th  verfSgt.  Dieser  Bruder  oder  Vetter  verliebt  sich  bei  bester  Oelegen- 
heit  in  die  Herzens-  (sprich  Pensions-)  Freundin  der  Heldin,  die  ebenso  selbst- 
verstündlich  ihn  liebt  und  bereits  Gedichte  auf  ihn  verübt  hat.    Weil  Weiß 
noch  weißer  ist,  wenn  es  neben  Schwarz  steht,  werden  die  jungen  Mädchen 
aberdiea  noch  in  swei  bis  vier  „unglttckliche  Lieben"  eingeweiht,  am  ßS» 
gUddlchen  Ueben  nm  so  begehrenawerter  za  madien. 

IMt  25  Geschichten  für  jnnge  Mädchen  haben  übrigens  das  Schöne, 
dass  man  sich  fortwährend  in  sehr  gewählter  Gesellschaft  bewet^^t.  Man  läntt 
nnr  über  Teppiche  hinweg,  speist  aus  Silber,  natürlich  in  gruüt  i  Toilette  und 
zu  später  Stunde,  empfängt  und  erwidert  Besuche  von  Freiherren,  Baioueu 
nnd  aonstigen  edlen  Meosehen  —  wer  von  BBrgerlichen  bei  Fran  Cron  eine 
Holle  spielen  will,  mnss  mindeatena  Gommerdenrat  sein  oder  sein  Geld  zn 
hohem  Zinsfuß  ausstehen  haben,  aasgenomroen  die  jeweiligen  Helden,  welche 
dafür  dichten,  singen,  die  Violine  streichen  oder  das  Ciavier  kneifen  uiul  durcli 
philosophische  Apercus  den  Mangel  an  blauem  Blut  oder  gelbem  Mammon 
retchlieh  eraetien.  Als  Gegenstack  za  dieser  glänzenden  Deeoration  finden 
sieh  einige  alte  leUtoae  HSbel  oben  in  den  B^lceratttboliei  nnd  dazwischen  die 
entsprechenden  lebendigen,  —  Ammen,  Haushälterinnen  nnd  Diener  von  viel 
Falten  und  noch  mehr  Herzensgfite,  an  welchen  die  Helden  ihrerseits  ihr  weiches 
Herz  zeigen  können.  Ab  und  zu  trifl't  man  auch  etliche  arme  Teuft  l  die  be- 
schenkt werden,  damit  der  gerührte  Leser  sieht,  wie  leicht  man  mit  seines 
Yate»  Geld  wolthAtig  sein  kann. 

8» 


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—   108  — 

Wir  macheu  aus  zu  besserer  Orieutiroug  folgendes  Schema: 


Titel 
des 

Bnehes  ete. 


„Mideheiilebep 

EinTagebuch.- 
2ö3  Seiten. 


Personen. 


Stand. 


Li 


VerUebt 
in 


1.  Ägatiic  V.  Heldin  und 
Beltheim.  OberbQrger- 

meisters- 
tochter. 
J.  Julius  V.    ( )nkcl  und 
\  iirustedt.  Aj>seasor. 


a  Wflliein. 


4.  Marie, 
ö.  fient- 

6.  V.  Bent- 
helm. 

7.  Sidonie 
Hen. 


8.  V.  Aniercrn. 

9.  Dienstbo- 
ten etc.,  so- 
genannte 

Freund innrr 


I 


Gymnasiast 
und  ansehen- 
der Dichter. 
Tante. 
Papa  und 
OlMnUrger- 

meistcr. 
M^*^"**-  und 
SdiwesterBii 
No.  2. 
fiaakiers- 
toehter  nad 
Jfldin. 

Identenant. 


No.  8. 


No.  1. 


No.  1. 


Xo.  5  u.  8. 


No.  8. 


No.  7  n.  4. 


Ver- 
heiratet 
mit 


No.  8. 


No.  1. 


K( 


\o.  8. 
No.  6  (cum 


maloi. 
No.  ö. 


einem  Am- 
efduM 
Juden. 

No.  4. 


I 


Hat  ein  gntes 

Herz  und  sonst 
nichts  zu  thun. 

Edler  Mensch ; 
schöne  Augen 
und  verräth 
sicli  (Itirch  ein 
sonores  Agathe. 

Menaeh. 


Edle  Seele,  Engel. 
Edier  Uenach. 


Keine  UauahiU- 
terln. 

Liebt  unglttclc- 
lich  iaMffi 
einer  Art  Ana« 
semitiamus. 

Edler  Ifeueh. 

Ihtrignaaten. 


wM^iakneng 
388  Seiten. 


1.  Magda- 


2.  Qoorg  von 
Düren. 


.S.  Dora  v. 
Tracht. 

4.  Augart. 

5.  Hugo  V. 
Tracht. 

6.  Erich  V. 
Tracht. 

7.  Roea 

Düren. 
8.  Hoibaaoh. 


^  Heidin  uud 
I  Endeheiin 

undnpferdes 
.\delstolzes. 

HeldjLieut^ 
nant  u.  D., 
Gutsbesitser 
undOpferdes 
Adelstolzes. 

Gutsbesitzers- 
tochter. 

Volontlr. 

Otttaherr. 

Diplomat. 


So.  2. 


No.  1. 


No.4  U.5. 

No.  8. 
No.  a 

No.  7. 


Schwestervon  I    No.  6. 
No.  2.  I 

Fabrikhenr.  |   No.  1. 


DichteU 


No.  6. 

No.  8. 

No.  7. 


Kommt  zur  Be* 
Binnung. 

SdnHndler. 

Plnmp. 

Entblasirt,  w]fd 
durch  die  Liebe 
geheilt. 


No.  6. 
—       tut  bttigeriieiL 


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—   109  — 


Titel 

des 

Baches  etc. 

Penonen. 

stand. 

Verliebt 
in 

Ver- 
heiratet 
mit 

Sonstig« 
Kennzeichen. 

„MagdaleaeuH 

i).  Elise  Wal- 
Ml 

PHanren- 
toelUttr 

veischie- 
dene. 

Stadt- 
pfarrer 

Putsdame. 

382  Seiten. 

und 

Kokette. 

10.  Anna 

PCftnen- 

einen  Apo- 

wird  sitBen 

Werner. 

todlter. 

tlieker. 

„Die 

1.  Magda- 

Ente Heldin 

in  Georg 

No.  7. 

BeeoniMB. 

tichweatern." 

lena. 

und  Vor- 

' V.  Düren; 

297  Seiten. 

steherin  dSB 

temer 

vftterlichen 
nausnaiTB. 



8.  Wally. 

Schwester  i. 

No.  3. 

No.  3. 

Bdia  Seele. 

zweite  ueifliB. 

a  IT  TWIKAm 
o.  tttlmUtcTg. 

ilcCvOr  uuu 

IMarrver- 
weser.  iield. 

rio.  1. 

HO.  8. 

Jfiuie  ooeie. 

4.  Selma 

Kauftnannt- 

No.  7. 

No.  7. 

Stirbt  mrrediteB 

V  ogcl. 

tochter. 

Zeit 

5.  Aureiia 

Kaufmanns- 

einen 

— 

TogeL 

toehter. 

niehtBw1ir> 

digen 

•Lieutenant. 

0.  Hobnsch. 

FabriUierr. 

No.  h 

Ertrinkt  mr 

rechten  Zeit. 

7.  Phil.  , 

Asaessur  und 

No.  1. 

Nu.  4  u.  1. 

Liebt  ein  ruhiges 
Aoakommen. 

Rfldiger.  1 

FrenndVarn-j 

Sr;r>*  ijdz'.  r. 

ClukI.  tlicol. 

No.  1. 

Suiiiiiia 

S4  Penonen. 

2i)  Lieb- 

10  Heira- 1 

882  Seiten. 

sohaften. 

ten  and 
10  „un-  1 

glückliche 
Lieben". 

1 
1 

Das  ist  stark.  —  sonst  aber  fast  nichts,  und  das  ist  stärker. 

Und  weil  wir  gerade  bei  Liehestabellen  sind,  gebe  ich  zwei  weitere 
Skelette  zum  besten,  welche  Frau  Clementine  Beyrich  (Ps.  Clemeutine  Helm) 
iBit  0«ieliiGhten  l&r  jnnge  Mftdohen  umkleidet.  Fnn  l^jridli  wird  vwi  Umn 
PartelgftQgem  ebenfalls  als  die  bedeutendste  JagendBohriftateUerin  ge- 
priesen, niid  wir  atänden  aomit  einatweüen  —  Oott  eei'a  geklagt  —  vor  einem 
Dilemma. 


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—  110  — 


Titel 
des 

Bncliet  etc. 


JBukäack- 
wm  Leiden 

vsd  Freuden." 

a862.)  Etwa 
300  Seiten. 


Pefsoneii. 


Stand. 


1.  Greteben.  Gatsbesitzers- 
!  tochter  und 
erste  Heldin 
i3eamteutoch- 


2.  Eugenia. 


18. 

4.  Baron  y. 

Senft. 


tec  nnd 
iwdta  Heldin. 


Erster  Hdd. 

(rutsherr  nnd 
zweiter  Held. 


Vorliebt 
in 


No.  a 


^o.  4. 


Ver- 
heiratet 
mit 


Sonstige 
Kcnuzeicben. 


5.  Marie  Schwegter 
Hausmann,  j  No.  3. 
6.  Sdiwnn- 1  Pfiurer. 


No.  1. 


No.  6, 
No. 


1 


No.  3. 
No.  4. 


No.  1. 
No.  8. 


No.  6. 
No.  6. 


TTinnn 


Ist  das  „Baok- 
fischcben"  und 
erzählt  selbst. 

Sehr  couragirt; 
Instiice  Person; 
edlr  Seele  :  liei- 
fatct  zuerst 
und  bekommt 
nach  1  Jahr 
einen  Sohn. 

Tolpatsch  und 
guter  Musiker; 
edle  Sede. 
Werden  auf 
dem  letalen 
Blatt  verlobt 

Ctr. 


JLilly'B 
Jagend." 

(1870.) 

300  Seiten. 


1.  Lilly. 


8.  Adele 


Stiel  tochter 
Ton  No.  9, 

Toclitor  von 
No.  10  und 

ante  Imidin. 

Stieftochter 
von  No.  10, 
Tochter  von 

No.  i>  und 
zweite  Heldin. 

Vetter  nnd 
erster  Held. 


No.  8. 


No.  H.     Erz&hlt  selbst. 


No.  8. 


3.  Waldemar. 


4.  Sidonir  v.    Waise  und 
Bodenhausüu.  dritte  Heldin. 


5.  Di.  Fr. 
Waldan. 

6.  Tante 
Ifaddeine. 


7.  X. 


No,  1. 
No.  &. 


üistitnl»-      No.  4. 

lehrer  und  ; 
zweiter  Held. 

Illi>titUt8-         No.  7. 

vonteherin. 


Ktntigam. 


No.  6. 


No.  2,  dann 
No.  1. 

No.  6. 


EngeL 


No.  4. 


Heiratet  Adrle 
uub  iJaukbar- 

keit 

Pic  luPtifje  Per- 
son; edle  Seele; 
▼ertheUt  die 

Spitznamen ; 
heiratet  zuerst 
nnd  bekonimt 
nach    1  .fahr 
einen  Sohn. 

Edle  Seele. 


Engel ;  begün- 
stigt die  Stell- 
dichein zwischen 
No.  4  und  5. 

Wolthätig;  starb 
(Iber  der  Ret- 
tung eines  Kin- 
dee. 


Digilizea  by  LiOOgle 


—  III  — 


Titel 
Buche»  etc. 

Penmcn. 

Stand. 

Verliebt 
in 

Ver- 
keimtet 

mit 

Sonstige 
Kennieiden. 

„LilJj's 
Jugend". 

(1870.) 

300  Seiten. 

- 

6.  LuiiM 
9. 

Eisieherin. 

Vnter  nnd 
roicher  Mann, 
Witwer. 

* 

No.  10. 

Wird  sitzen 
gclMBen. 

No.  lOfwim 

zwcitcn- 

male). 

Verbrennt  nachts 
das  Kleid,  worin 
sie  sich  verlobt 
hat. 

10. 

Matter,  eist 
«nue  fmn, 
Witwe. 

Xo.  ü. 

No.  U  (zum 
sweitBtt> 
male). 

—  • 

ll.Mr.U<i.lu' 

Arat. 

No.  1. 

Summa 
6Ü0  Seiten. 

16  Penmien. 

;»  Liob- 
schaften. 

1 

7  HoinitL'U, 
2  unglück- 
liclu>  Lie- 
ben, ver- 
schiedene 
KOrbe. 

Auch  das  genügt.  Denn  auch  bei  Clementine  Helm,  die  nm  dieselbe  Zeit  wie 
Kran  ('rnn  zu  Bchriftstellern  begonnen  und  es  seit  HO  .Tahrrn  chorifalls  auf 
ein  \  ierteihnndert  eigener  Büclier  und  drei  Bearbeitungen  französischer 
Jogenderzfthlungen  gebracht  hat,  —  auch  bei  ihr  Iftnft  alles  auf  zwei  Zapfen: 
«nt  ist  die  Heldin  Kind  —  ndetst  Braut.  Audi  de  tlmt  es  nicht  leieht  nnter 
zwei  Heiraten  und  ebensoviel  nnglflcklichen  Liebschaften:  ihre  Mftnner  sind 
Engel  voll  Pose  und  satten  Stimmenklangs,  falls  ßie  die  Helden,  unbedeutend 
und  verschwoninien.  wenn  sie  nicht  in  der  Lage  sind,  am  Schlns.se  des  Buches 
Ehemann  zu  werden.  Die  Decoration  zeigt  den  gleichen  Wolstand  au;  die 
liMge  Belle&lteeetnDg  dieselben  Lieutenants  mit  schnarrender  Stimme,  dem 
Monocle  und  der  Begier  nach  Goldfischen;  die  Instigen  Pfarrerst0chter  ans  der 
Stadt,  die  klatschm.luligen  Freundinnen  vom  Kaffeekränzchen,  Anna  Gebhardt, 
Emma  v.  Trebnitz,  Karoline  .Schmidt,  Elsa  Goldsclimitt  etc.  etc.,  die  nichts 
anderes  zu  denken  haben,  als  möglichst  rasch  einen  Mann  zu  kriegen;  einen 
Biedermann  Toa  Vater,  der  meist  die  Frau  verloren;  eine  Sammlung  Engel  in 
Gestalt  von  Tanten  oder  InstÜntslehrerinnen,  die  einmal  nnglttcUich,  aX»er  tief 
geliebt  —  die  Details  werden  gewAnlich  in  der  Dimmentnnde  der  schluch- 
zenden Heldin  erzählt  — :  ein  paar  alte  Diener  und  sonstigen  Hausrats  und 
in  der  \  urütadt  ein  kranker,  ehrsamer  Handwerker,  den  die  wolth8tifi-e  Heldin 
besucht  und  bei  dem  sie  dafür  den  nicht  minder  wolthätigen  Helden  triiit. 
Kor  eine  SpedalitBt  hat  Fran  Bqrrieh:  sie  Uast  im  letzten  Gapitel  — das  ein 
Jahr  später  spielt  —  das  erstvermShlte  Paar  nochmals  anftreten;  die  Frau, 
einen  blondgelockten  Knaben  auf  dem  Arm.  den  Mann,  wie  er  sich  glücklich- 
tolpatschig  über  Mutter  und  Kind  hengt.  Das  zweite  Paar,  das  dabeisteht, 
kann  nunmehr  nichts  Besseres  thun,  als  tiugs  auf  der  nächsten  Seite  zu  heiraten. 

Ich  leugne  durchaus  niolit  die  mannigfachen  Vonfige  aowol  Glam  Crons 
alsdeMentine  Helms.  Sie  enlhlen  gut»  die  erstere  etwas  vetUich-hansbaeken, 


Digltizeü  by  LiOügle 


—   112  — 


die  zweite  firiscker,  mit  einem  Stieb  ins  Hamoristische.  Der  Stil  der  einen 
ist  nÜflTf  Ihnoihaft,  gwnesBen;  maii  gleite  dnrdi  die  Bllttor  wie  tber  einen 

ruhigen,  nicht  allzntiefen  Teich,  dessen  Spiegel  kaum  eine  Falte  zeigte  Bei 
Clementine  Helm  kräuselt  sich  die  Oberfläche  zuweilen,  und  die  Liebesscenen, 
die  dort  mit  einer  Serie  feiner  Complimente  und  möglichst  rasch  abgetban 
werden,  verlaufen  hier  schon  stürmischer.  Clementine  Helm  besitzt  mehr  schrift- 
■telleriicliea  Fever,  Glan  Gron  melv  Zartheit.  —  Der  Eisiefaerberaf,  dem  sie 
beide  vor  ihrer  Vetheiratiiiig  angehört,  hat  daa  inatinotiTe  weibliehe  SehielE- 
lichkeitsgefühl  g^efestigt,  infolgedessen  aUe  „anstößigen"  Elemente  —  weniges 
ausg-enommen  *  I  -  ans  ihren  Schriften  fernf^eblieben.  Nach  Derbheiten  wurde 
man  vergebens  spüren,  und  die  Dissonanzen  des  wirldicben  Lebens  sind  nur  zu 
stark  gemildert. 

Daa  ist  ea  aneh,  waa  die  Weihnaditireeenaenten  an  ihren  pathetlnhen 

Ldbsprüchen  begdatert:  der  Duft  der  Weiblichkeit.  — 

Ein  Woihnachtsrecensent  hat  gut  bcg-fistert  sein:  sein  Geschäft  kostet 
ilnii  weder  Geld  noch  Nachdenken,  und  die  Sprüchlein  vom  ^.gefühlten  Be- 
dürfnis~,  vom  „auf  keinem  Tische  felilen"  und  der  „gescbmack vollen  Aus- 
atattnug"  aind  bald  gelernt**)  Ein  WSrÜein  anf  den  Titelblatt,  wie:  „10.  Anf- 
lage",  genfigt,  um  üm  einen  Terzttckten  Tanz  mnd  um  daa  Bnch  anfftthren  an 
laoen,  und  die  ^lenge  ist  mit  ihm  der  gleichen  Ansicht,  dass  ein  Bnch  von 
einem  Putzend  Auflagen  doch  seine  Verdienste  haben  müsse.  Ach  ja,  „Lilly's 
Jugend',  „ Magdalenens  Briefe",  „Backtischchens  Leiden  und  Freuden"  etc. 
haben  ihre  Verdienste,  nor  aind  ea  keine  Werke  für  „junge  ICftdehen". 

Mag  man  aie  jungen  Franen  in  die  BanA  ge^  zur  AaflHaehnng  der 
eigenen  Erlebnisse  aus  Pensions-  und  Brautzeit,  oder  jenen  beglttcrien  Damen, 
von  denen  K.  Alberti  sn  treffend  sagt,  sie  hätten  den  ganzen  Tag  nichts  zu 
thnn,  als  schön  zu  sein,  die  den  Abend  vorher  mit  den  süßen  Herren  Cotillon 
getanzt,  die  sich  geziert  und  fade  Complimente  eingeheimst  haben ;  mögen  sie  denen 
eine  angenehme  ünteriialtnng  sein,  cüe  mit  Heiratagedanken  an  Bette  gehen  nnd 
mit  Heiratsgedanken  anstehen:  mögen  sie  neben  Marlitt,  Werner  und  Gre- 
nossinnen  alle  die  armen  Seelen  erquicken,  an  deren  Geschmack  nichts  mehr 
zu  bessern  und  zu  verderben  ist.  .\ber  die  Jngend,  soweit  sie  noch  erzieh- 
lichen £inliüs8en  zugänglicli  ist,  die  Jugend  in  unseren  Töchterschulen,  die 


In  ^Magdaleneos  Briefen"  lässt  z.  B.  Cron  Magdalenn  srlireiben:  ^Anch 
weiß  sie  (die  rfarrer?tochter)  sit  li  ohne  Vorwisson  ihrer  Bitern  t'ortwiihrend  die 
neuesten  Bttcbcr  aus  der  Leihbibliothek  zu  Tenchaffen,  —  —  die  ich  dem  ^iamen 
nadi  mid  rIb  kehles^^  enipfchlenBwert.  für  jnnge  MMeben  kenne,  z.  B.  Alexander 
Dnmas*  Eomane." 

**)  Auch'  io  son  pittore!  und  eh  ist  mir  beute  noch  zweifelhaft,  worüber  ich 
mdir  lachen  mU:  Uber  nein  unfreiwilliges  SdiaxMohterMBt  oder  die  Einfsit  des 

Publicunis,  das  den  Dufz('ndn  (en>ioncn  no^-h  Glanben  scbenkf.  Weiß  denn  das  liebe 
Publicum  nicht,  wie  Empfehlungen  gemacht  werden?  Weiß  ci»  nichts  von  den  ^ur 
geAUigen  Benntsnng"  angebogenen  Beeenrionen  derYeileger,  die  natüilieh  ihr  Bnch 
•her  den  Schellenkönig:  loben?  nichts  von  dem  „Eine  Hand  wäscht  die  andere?"  - 
nichts  von  Rftcksicbten  für  Parteigänger?  —  nichta  von  der  Gcpäogeoheit,  ein 
Buch  nicht  nadi  Gebttr  an  Terklopfen.  weil  einem  dann  die  Fortsetsnng  des  Weikes 
entz(><»f'n  würdo?  Es  i,««t  mir  des  öftern  widi  rfahren.  diiss  die  Oberinstanz  ans  meinem: 
„Das  Buch  ist  nicht  zu  empfehlen",  ein;  „Das  Buch  dürfte  sich  empfehlen"  ge- 
macht, dass  die  Redaotton  um  „frenndliobee  üitheU"  gebeten  oder  mich  fBr  due 
Weile  kalt  gestellt,  weil  ich  eiaAltig  genug  bin,  gerne  die  Wahrheit  an  sagen. 


DIgilizea  by  LiOOgie 


—   118  — 


etwas  Besseres  zn  thun  hätte,  als  aidi  durch  hysterisch  empfindsame  Romane 
einen  Floh  ins  Ohr  setssen  zu  lassen,  die  soll  von  ihnen  verschont  bleiben! 

Ich  gehöre  nicht  zn  den  Anhängern  jenes  Bedactenrs,  der  jede  Erzäliluug 
IBr  dteJafend  imbamilMRlff  snrtekBaiidte,  Mtiald  tle  mit  einer  Heirat  sdileM. 
Es  Iftsst  sich  sehr  w<d  Jungen  MUchen  gcgmfiber  von  Liebe  sprechen,  wenn 
eti  in  der  sdilichten.  nngezierten  Weise  nnserer  Volksmilrchen,  des  X'olksliedes 
und  der  Volksepopöen  gesohi^^ht:  „Sir-  {j^ewannen  sich  lieb  über  dieMaÜen.  also 
dass  keines  für  sein  Leben  vom  anderen  mehr  lassen  wollte.  Die  Liebes- 
geecUehte  bleibt  nur  ^isode  einer  Geeammthandlnngr»  melv  angedeutet  als 
aosgeAhrt,  etwa  —  um  ein  allbekanntes  Beispiel  ansnlUnen  —  wie  das 
Liebesverhältnis  Georg  Sturmfeders  in  Hantfs  ^  Lichtenstein Und  damit 
wäre  auch  die  äußerste  Grenze  des  ZiiHisslichen  angegeben.  Die  blauen  Frltcke 
der  Werther,  die  Mond»cheingefulüe  der  Matthisson  nnd  die  ungesunden 
Empflndeleien  der  Siegwarte  aber,  denen  wir  in  den  Leihbibliotheken  kaum 
Behr  Plats  gOnnen,  — 

Das  sfißliche  Relmgebinraiel, 
Das  ewige  Flennen  von  Höllo  und  Himmel, 
Von  Uersen  und  Schmerzcu, 
Von  Liebe  uni  Triebe, 

Von  Sonne  und  Wonne, 

Von  Lust  und  Bnuit. 

Und  von  alledem. 
Was  allzu  verbraucht  und  ircmeia  ist» 

Und  weil  es  boqueiu, 

Allen  Thoren  i^onehm, 
Doch  venilhifligen  Menschen  sur  Pein  ist!  

das  wdlen  wir  am  errten  mir  Jogendliteratar  binanskehren!  Man  kann  die 
Jagend  anf  plumpe  Weise  vergiften,  nnd  gegen  solche  Leetüre  wehrt  sich 
sogar  ein  Weihnachtsrecensent.  Was  aber  unsere  weiblichen  Federn  verüben, 
ist  raflHnirt.  feiner  Todtschlag.  Sie  können  nur  die  Geschlecht«eigenthümlich- 
keiten  zu  Fehlem  steigern:  das  an  und  fiii'  sich  reich  entwickelte  Getnhlsleben 
des  jnogen  KldebsM  mir  Seliwtnnerei,  die  nattlrliehe  FeinlBhligkeit  snr 
Hysterie  nnd  geistigen  Bleiehsncht,  die  Schamhaftigkeit  snr  Prüderie,  die 
Schüchternheit  zur  Ziererei,  —  die  Weiblichkeit  zur  f^berweiblichkeit.  Aus 
den  süßlichen,  keiner  Wirklichkeit  entsprechenden  Geschichten  sangrt  das 
Mädchen  jene  verschrobenen  Ansichten  von  Glück,  Liebe  und  Ehe,  die  ihm 
spftter  als  jonger  Fran  sammt  dem  llaaae  ss  oft  das  Dasein  Terbiliteni,  bis  es 
dem  wirklicheB  Leben  gelangmii  das  nngesond  Angesdiwellte  anf  seinen  natir^ 
lidien  Umfimg  znrttckznfBhren.  Denn  we  leben  die  Vamstedti  die  Georg 
V.  Düren,  die  Waldemar? 

Clara  Cron  und  Clementino  Helm  sind  nur  in  oinpin  Falle  wahr:  wo  sie 
Selbtterlebtes  erzählen.  Aus  diesem  Grunde  muthen  uns  Steilen  in  „Mar- 
garotens  Brieibn"  nnd  die  Sohildemngen  des  Penslooslebens  belHdm  inmitten 
des  fibrigen  Znokerwassers  so  frisch  an,  ala  ob  wir  ans  helfem  Treibhaas- 
brodem  in  den  Dnft  des  Frühlingswaldes  träten.  Und  doch:  was  versteht  ein 
..Backfisch"  von  dem  Seelenznstand  jener  Margareta?  Hat  dt^nn  der  Weih- 
nachtsrecensent  das  je  bedacht?  Und  ekelte  ihm  je  vor  dem  Comödiantenpathos 
der  sonstigen  Liebesscenen,  vor  dem  fordrten,  gespreisien  Gethne  der  Conliisen' 
reiSsr? 


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—    114  — 


,Da  plötzlich  fiililte  ich,  wie  sich  ein  Ana  um  ineine  Schaltern  leg^e  uud  uiicb 
Imdg  an  tieli  »ir*  Voll  Entaetsen  fahr  ich  aaf,  Waldemar  hielt  mieh 

mDBchlnDgeiiL  Mit  einem  Schrei  ritt  ich  mich  los  und  stand  vor  ihm,  zitternd 
vor  Anfregang.  »Nein  Waldemar,  nicht  so!*  rief  ich  heftig.  ,Dii  kannst 
Adele  entsagen,  ich  aber  werde  nie  die  Deine.  Ks  ist  dies  unmöglich'  etc.*) 
Übeiwältigt  von  einer  1^'lut  von  Gedanken  und  Gefühlen,  die  plötzlich  über 
mich  hentfirsten,  stdhnte  ich  laut  auf  und  verhüllte  meia  Oesiobt  wieder 
mit  dem  Tuche.  Waldemar  ergtiS  meine  Hand  nnd  wog  de  an  lein  HerE,  das 
stIkrmiBch  klopfte.  ,LillyS  sagte  er  schmerzlich,  ,Mra8  habe  ich  denn  ge» 
than?  .  .  —  Da  kam  es  plötzlich  über  mich  wie  «'in  Fenerstrom.  Mit  einem 
lauten  Aufschrei  meiner  armen  gequälten  Brost  hätte  ich  mich  an  sein 
Herz  werfen  und  ihm  sagen  mögen,  wie  heiß,  wie  über  alle  Begriffe  ich  ihn 
liebe.  Aber  mein  guter  Genlna  stand  lehfitceod  an  meiner  Seite,  und  ich 

schwieg.  ,0  Lilly,  aber  da  darfst  mir  ebensowenig  alle  Hoffnung  rauben  

Adele"  ist  «art,  sie  kann  sterben.*  , Frevle  nicht,  Waldemar!'  rief  ich 
empört   ,Du  magst  recht  haben,  eine  solche  Liebt  kenne  ich  aller- 
dings nicht,  sagte  ich  nach  Athem  ringend  uud  wollte  gehen,  deun  ich 
hielt  mich  kanm  anfrechtw  Da  aber  senkte  Waldemar  mit  einem 
dampfen  Schrei  den  Kopf  in  beide  Hftnde  und  schluchzte.  Ich  hatte 
sterben  möp:en  vor  Jammer  und  Weh  bei  diesem  Anblick.  Sanft 
schlang  ich  meine  Anne  um  sein  liebes  Haupt,  drückte  eiiifii  Knss  auf  seine 
Stirn  und  sagte  leis:  .Verzeih  mir  .  .  .  /  Er  spraug  wild  auf,  und  ehe  ich 
es  hindern  konnte,  zog  er  mich  an  seine  Brost»  imd  für  einen  Aigeabllek  war 
die  Welt  für  mich  Tenohwonden.  Aber  schon  im  nächsten  drXagte  ich  den 
Geliebten  von  mir  und  stürzte  davon.  Er  wagte  CS  nicht,  mir  zu  folgen, 
und  bald  sank  ich  wie  leblos  in  meinem  Zimmer  zusammen  („Lilly's 
Jagend.'')  — 

Das  ist  zwar  sehr  nerveuangreifend  geschildeit,  aber  auch  sehr  uuwahr. 
Indessen  wimmdn  die  „Ersahlangen  Ar  junge  llftdchen**  von  diesen  Stelsen- 

pathos,  und  eine  Verfasserin  sacht  die  andere  in  Sentimentalität  und  hohlen 
Tiraden  zu  übertrumiifen.  Der  junge  Nachwachs,  Marie  Beeg,  L.  Walther, 
E.  Wuttke-Biller,  O.  Kuelimann  etc.,  schwelprt  förmlich  in  einem  Venasberg; 
heute  Liebschaft,  gestern  Liebschaft,  morgen  Liebschaft,  Heii'at  und  Verlobung, 
Brautschaft  sad  Tusehnihte  Neigung:  and  da  wandert  naa  tklk  Bodi,  wem 
der  von  UehMshaften  angesteckteBackÜseb  eineGymnasiastenUebsehaft  aabladelt, 
um  das  so  reizend  Geschilderte  doch  anch  probeweise  zu  kosten!  Denn  was 
ist  die  Tiiebelei  der  ,.höheren  'Joeliter"  anders  als  ein  Experiment,  für  allüe- 
meine,  unbestimmt  in  der  Luft  schwirrende  Worte  sein  eigenes  Ich  als  be- 
stimmte Größe  einzusetzen?  Die  Phantasie  ist  erregt,  die  Zeit  an  und  für  sich 
im  Ansage,  wo  der  geschlechtliche  Trieb  m  bohren  begiaiit,  —  eine  Art 
Liebeshunger  überkommt  das  junge  Mädchen,  es  greift,  vor  UngestQm  blind, 
sich  aus  der  Menge  den  Nilchstbesten  heraus,  den  Predigtamtscandidaten  etwa, 
der  Religionsunterricht  ei  theilt,  oder  den  Vetter  vom  Gymnasium,  an  ümi  die 


*)  Und  wamm  das?  Weil  Adde,  die  eogelreiae  StiefiMÜiwester,  ihr  tags  zuvor 

erstanden,  Waldemar  zu  lifhcn.  —  THcsos  hnns<  lio  Zartgefühl  wird  denn  am-h  mich 
(ieVtiir  belohnt:  Frau  Beyrich  »chafl't  die  erste  Fniu  auf  die  in  JugendscUritteu 
gangbarste  Weiio  beifl^to:  Adele  moas  an  der  Sehwmdsadit  sterben.  Und  nun  ist 
die  Bahn  Arei! 


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—   115  — 


Liebe  zu  verschwenden,  die  doch  noch  keine  ist.  Und  wenn  der  Unsinn  aucli 
selten  verhängnisvolle  Folgen  hat,  die  Eltern  haben  doch  ihre  liebe  Noth,  das 
balbflilgge  Junge  vor  Sehaden  n  bewsbren.  Sie  geben  tieh  Mtthe*),  diese 
Fmuhinfflimit  des  Lebens  md^Udilt  spät  eintreten  sn  lassen,  wenn  die  Mädchen 
etwas  mehr  \'erstand  gekommen.  Fran  Cron  ind  Helm  jedoch  achliren  den 
Brand,  denn  ihre  Bücher  sind  nor  Öl  ins  Feuer.  — 


Dm  Omndfibel  der  BackflBchliteratnr  besteht  in  einer  einseitigen  An- 
aehauBBg  Ton  Art  nad  Onoaen  des  Stoffgebieten   Die  Verfosseriiuieii 

gflsaben,  wer  für  jange  Mädchen  schreibe,  müsse  nothwendigerweise  über 
jnnge  Mädchen  schreiben,  und  das  interessanteste  Object  für  einen  Backfisch 
sei  eben  der  Backfisch  selber.  Aber  was  lässt  sich  über  einen  Backfisch  viel 
schreiben?  Was  ist  er,  was  weiB  er,  was  hat  er  erlebt,  welche  Stellung 
nimmt  er  in  der  Oesellsebaft  ein?  Wenn  er  aas  dem  Blttgelkleid  In  die  lange 
Robe  schlüpft,  müssen  seine  nngelenkeii  Manieren  geschmeidig!  Verden:  das 
hat  Clementine  Helm  auf  unübertreffliche  Weise  in  ihren  Romanen  als  Vor- 
wurf benutzt.  Hier  ist  er  aber  nicht  Mittelpunkt  der  Erzäihlung',  sondern 
die  Taute  (Backfischchens  Leiden  und  Freuden),  die  ihm  den  Schliff  beibringt, 
oder  das  gcsammte  Leben  md  Treiben  der  Eniehnngsanstalt,  deren  er  nor 
ein  Glied  ist.  Ein  Schritt  dann  weiter,  nnd  wir  sitzen  wieder  mitten  in  der 
Unnatur.  Die  jungen  Damen  gründen  Kränzchen,  sie  empfangen  und  geben 
(iesellschaften,  und  zuletzt  steigt  der  Bräutigam  herauf,  wie  bei  den  Schieß- 
buden der  Jahrmärkte  beim  -leisesten  Antippen  der  Scheibe  der  Hanswurst. 
Die  «ottilklie  Natnr  ist  an  sich  nicht  zur  Zeichnung  energisdier  Linien  ge- 
sduiea;  sie  schafft  Handinngen  mit  denalich  flacher  EntwidKelongsearve, 
sdHrst  nnd  lost  den  Knoten  durch  keine  allzunenen  Mittel  nnd  respeotirt  im 
ganzen  eine  hübsch  oberflUchliche  (  liarakteristik.  Sie  verliert  sich  gerne  in 
Kleinigkeiten  und  entwirft  StilUeben  auch  in  der  Literatur,  die  Geschichte 
einer  Nähnadelbüchse  vielleicht,  oder  den  Traum  einer  Schlüsselblume.  Eine 
grole  Aai|i;ai»e  flndet  an  ihr  meist  eine  mittelmäßige  Ldserin.  Wo  aber  der 
Stoff  schon  so  unendlich  inhaltslos  ist,  miiss  sich  die  Erzählung  noch  platter 
gestalten;  denn  aus  Käse  schlägt  man  keine  Funken.  Die  Handlung  schrumpft, 
wie  gesagt,  auf  zwei  Momente  ein:  das  Leben  als  naiver  Backtisch  und  das 
als  Braut,  was  —  reichlich  gerechnet  —  lüO  Seiten  gäbe.  Da  aber  eine 
Clara  Gkon  nnd  dementine  Helm  mit  100  Seiten  kein  Bnch  schließt,  mnss  sie 
streclcen;  sie  stopft  dami  swisehen  die  epischen  Momente  lyiiaehe  Ergüsse, 
Beflexionen  und  GeAUsdedamationen,  nnd  die  300  Seiten  sind  fertig.  Tage- 
buch- und  Briefromane,  worin  Clam  (^ron  eine  seltene  T'nverfrorenheit  ent- 
wickelt, sind  zu  dieser  Bogenschindoiei  wie  »  i  tunden:  denn  es  hat  leider  nur 
allzuviel  Wahrscheinlichkeit  für  sich,  da.ss  junge  Mädchen  seitenlange  Briefe 

Itiis  heißt:  vir  l!<Mi  lit !  ( ioAvJilinlich  brintjon  sie  ihre  bessere  Einsicht  der  Con- 
vcnienz  zum  Opfer.  Iftr  geaunde  Ver.-^tand  mag  vor  Kindcrhäilen  und  dorn  Tnnz- 
mterricht  im  14.  Jahie  wsnen.  die  Mama  fährt  ihr  ..Kind"  doch  bin.  Ach,  wie 
scfamuiuelt  sie  insgeheim,  wenn  das  Töchterlein  graziiis  die  FUßchcn  setzt  und  kokett 
den  Bengel  von  Schalbuben  aulächclt,  wenn  es  Eroberungen  macht  und  nach  jedem 
Hopser  mit  einer  Cavalcudc  diensteifriger  Kitter  bei  ihr  erscheint!  Zum  Lohn  be- 
kommt die  Gefeierte  eine  neue  Schleife,  womit  i^le  sicher  noch  mehr  gefallen  wird.  — 
Derweilen  titst  der  Papa  im  Wirtshaus  und  spielt  Karte,  Schaf  köpf  su  Vieren  oder 
FOnflBD,  was  er  allein  doeh  auch  snwege  brächte.  0,  diese  Eltemi 

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—   116  — 


schreiben,  ohne  etwas  zu  sagen,  and  die  Tochter  eines  Commercienraths  nichts 

Besseres  in  ihr  Tagebuch  zu  schreiben  weiß,  als  detaillirte  ToilettenschildeniDg«! 

oder  die  EUt«diflraiibafleraleii  der  KrtliiiwhenmItgUeder.   Und  diene  platte 

Geachwätz,  dieses  Nachäffen  er\vacb8enerSaloiidamen  mit  ihrer  nichtesagenden 

Causerie,  diese  Claurenschen  Mondscheinhelden  mit  ihrer  versteckten  Sinnlicli- 

keit,  diese  gutmüthigen  Väter,  die  nichts  zu  thun  haben,  als  ihren  Mädchen 

Armschmuck  und  Kleider  zu  kaufeo,  diese  hysterischen  alten  Tanten  und 

BdbuiertoUeii  Jungfrauen,  die  anf  den  enten  Anldlek  eines  Bartes  liin  sidi 

Tcriieben,  diese  Terlegene  Emj^indeld:  das  ist  die  geistige  Nalirnng 

nnserer  kfinftigen  Franen  nnd  Hfltter!  Und  wäre  den  Cron-HelBSolieBi 

Büchern  zu  glauben,  so  hätte  ein  Mädchen  nichts  weiter  sa  thvn»  als  ins 

Institut  zu  gehen  und  darauf  sich  heiraten  zu  hissen: 

filier  sitze  ich  und  ächucidc  Speck, 
Wer  miflh  lieb  hat,  hol'  mieh  weg!*' 

FQr  einen  kleinen  Bruchtheil  des  Volkes  mag  das  zu  Recht  bestehen  —  für  die 
Geld-  und  Blutaristokratie,  für  den  reichen  Bourgoojs  und  Beamten  —  för  die 
größere  Menge  ist  es  „fauler  Zauber".  Wie  die  heutige  Bildung  der 
höheren  Tochter  durch  und  durch  ungesund  und  reformbedürftig 
ist,  so  aneh  die  Literatur;  da  und  dort  hat  sieh  das  OlitsemdenndFlittenide 
anf  Kosten  des  Soliden  eingenistet.  „Die  Jungen  Damen  verrtanden  nach  üiran 
Anstritt  ans  der  Pension  sich  anmnthig  zn  bewegen  und  ein  hoffähiges  Compliment 
zn  raachen,  schwatzten  englisch  und  französisch  wie  Wasser,  tanzten  wie  die 
jungen  Götter,  spielten  ein  wenig  Ciavier,  sangen  ein  wenig,  malten  ein  wenig, 
plapperten  mit  jedermann,  ohne  verlegen  and  roth  zvl  werden.''  (Clara  Helm: 
„LiUy'sJngend.")  Das  ist  denn  noehhente  die  Onintesseni  aller  Pensionstogen* 
den.  Wie  aber  diese  Talmibildung  einer  gesnnden  hindernd  im  Wege  steht,  so  aaeili 
die  erotische  Unterhaltnngsliteratnr  nnserer  weiblichen  Federn  einer  gediegenen 
Lectüre,  welche,  statt  Junge  Mädchen  vorzeitig  alt  und  nervös  zu  machen, 
ihnen  Herz  und  Kopf  frisch  bade.  Und  dieser  indirecte  Schaden,  durch  das 
Vorsehieben  des  HittefanUigen  nnd  Verkehrten  die  Kenntnis  desGnten  hintan» 
snhalten,  ist  noch  größer  als  der  unmittelbare. 

Frau  Cron  nnd  Helm  sind  keine  Realisten;  sie  zeigen  die  Welt  nicht  wie 
sie  ist,  sondern  wie  es  ihnen  in  den  Kram  passt.  Damit  lockt  man  keinen 
Hund  mehr  vor  den  Ofen.  Ancii  die  Jugend  braucht  Wahrheit;  die  Schminke 
nnd  die  falschen  Waden,  die  angedichteten  Tugenden  nnd  der  geschraahte 
Spnwhton  gtibilinn  in  die  Rnmpelkammer.  Wiewdt  man  freilieh  der  Jngend 
Einblick  in  die  Saftgänge  des  menschlichen  Lebens  g5nnen  darf,  hat  der  päda- 
gogische Takt  des  Veifnssers  zn  entscheiden,  anf  den  sich  die  woiMichen 
Autoren  mit  rnrecht  s(»  vif!  einliilden.  Ich  habe  hier  gewiss  nicht  die  (irenz- 
steine  zu  setzen.  Aberdass  mau  au  einen  Wandel  der  Dinge  selbst  im  eigenen 
Lager  denkt,  beweisen  die  enltnrgeschielitliehenEnUilnngenFrialein  A.PIehns 
(ps.  Brigitta  Augusti)*),  welche  die  Henuisgeber  (Hirt  in  Leipzig)  absichtlidt 
den  „süßlichen''  Mädchenromanen  gegenüberstellen.  Was  lieg-t  mir  an  Fräu- 
lein Plehn!  Wer  coltorgeschichtelti  ist  noch  lange  kein  Gostav  Freytag,  auch 


♦)  Am  deutschen  Herd.  1.  Bd.  Kdelfalke  nnd  Waldvögelcin.  2.  Bd.  Im 
Banne  der  firden  Reichsstadt.  3.  Bd.  Das  Pfanhans  zn  Tannenroda.  4.  Bd. 
Die  letsten  Ualtheims.  6.  Bd.  Die  Bihen  Ton  Sohaifteeek.  1884—1889. 


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—   117  — 


wenn  er  ihn  weidlich  bernpft.  Auch  Aug.  Plehn  liebhaliert  noch  zu  sehr  und 
beschränkt  die  geniüthlichen  Motive  auf  erotische;  als  ob  aus  der  (Teschichte 
nichts  anderes  zu  holen  w&re,  als  Schlachten  fiir  die  Buben  und  Liebschaften 
IBr  die  ]OUdi«ii !  üad  dann  weil  tie  dee  Stoibi  nielit  If  eiater  n  werden  mid 
vorwebt  ihre  Exeerpte  aie  MemoiKii  und  den  »nUem  aae  der  dentaoben 
Vergangenheit"  so  hastig,  dass  das  Gewebe  eoldi  ein  zerpflücktes  AasaeheB 
bekommt  wie  eine  Stickerei  auf  der  Kehrseite.  Aber  selbst  die  g-owaltsame 
Znsammenstellang  geschichtlicher  \  orkoinninisse  ist  gegenüber  der  Erlo^^enheit 
aller  Agathen,  Adelen,  Lillys  und  Fannys  ein  unendlicher  Fortschritt  zum 
Beeeereo.  Kim  endUeh  sind  wir  tber  die  UterariaehePappenBtnbe  hinaiu;  ans 
den  Personen  schaut  doch  mehr  als  das  Ehebetteinteresse  der  parfömirten 
Liebhaber,  und  den  Schauplatz  umsäumt  ein  geschichtlicher  Hintergrund.  Der 
Wirklichkeit  entsprechend  sind  nieist  Erwachsene  die  Mitteljmnkte  der  Er- 
zShlnng;  von  ihnen  lässt  sich  eine  Belehrung  eher  ertragen,  als  von  Siebzehn- 
jUirigen,  die  eben  der  PMiiioii  entsprungen.  Wie  kann  ein  Blinder  einen 
Blindn  kltenl  Dam  aber  daa  jnngeM&dehen  am  aeinerLeetAfe  einen  danem- 
deren  Gewinn  ziehe  als  augenblickliche  EIrregnng  seiner  Phantasie,  das  eben 
wollen  wir.  Verliebte  Müdchen  haben  wir  genug;  wir  möchten  aber  gerne 
mehr  solche,  die  wir  so  recht  von  Herzen  liebhaben  könnten.  Dafür  haben 
weder  Frau  Cron,  noch  Frau  Helm,  noch  ihr  Anhang  je  Sorge  getragen. 
Verdate  Damen!  Wie  wlre  et»  wenn  Sie  iieb  für  eine  Weile  der  Temiebt- 
lichen  Erzfthlermission  begeben  wollten,  um  TOn  den  verachteten  Geschlecht 
der  männlichen  Schriftsteller  etwas  abzulernen,  von  Riehl  in  München  zum 
Exempel?  Und  wenn  Sie  dann  endlich  einmal  in  Ihre  Orgel  eine  neue  Wahte 
einlegten,  statt  des  ewigen:  „0  lieb,  solang  du  lieben  kannst!''? 

Den  Herren  Weflmaehtireeenaentenwllnaehe  ich  aber  im  fibrigen  aacb  Ar 
die  benrige  Saison  eine  redit  ertrigUelM  Ente  nnd  laagea  Leben  Ar  ihren 
eeiicaToUen  Beraf. 


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Pädagogische  RnndBchau. 


Ans  Berlin.  —  Der  1.  October  brachte  die  ErSffniuig  der  179.  und 
180.  Gomoindesfhulo,  so  dass  im  Zeitranm  eines  Jahres  5  Gemeindeschulen  mit 
102  Classen  und  5789  Schalkindern  zu  der  vorhandenen  Anzahl  hinzutraten, 
ein  redender  Beweis  für  die  großartige  Entwickeluug  der  Stadt  und  ihres  Scliul- 
veaens.  In  nweber  Vermehnaigr  begrUlin  sind  Mch  die  KfttelMliiiIen,  hter 
„höhere  Mittelschulen"  genannt.  Während  Ostern  1887  die  erste  derselben 
eröffnet  wurde,  brachte  der  Michaelisterniin  die  Einrichnng  der  6,  mit  sich.  Der 
Cultusmlnister  ilnßerte  sich,  nachdem  er  eine  solche  gründlich  revidirt  hatte, 
dahin,  es  wäre  ihm  sehr  lieb,  wenn  er  eine  große  Anzahl  preußischer  Ciymna- 
aleii  in  aolehe  Bflrgerwdinlen  yerwandeln  kSnnte.  Oewim  ein  ffUnseBdea  Zeng^ 
nie  für  die  Ziele,  Ors"niMtion  nnd  LeiBtnnguHUiigkeit  dieeu*  Amtaiten.  So 
nimmt  das  Berliner  Schulwesen  nach  anBen  hin  eine iomer  glänzendere  Gestalt 
an,  wenngleich  nicht  verheimlicht  werden  kann,  dass  anch  f^roße  Schäden  vor- 
handen sind.  So  herrscht  z.  B.  in  Bezug  auf  AuschaÜung  von  Veranschaalich- 
nngs-  und  Lelirmitteln  eine  Sparsamkeit,  die  beängstigend  wirkt.  Wälirend 
die  Siteren  Schnlen  in  iroßartigster  Weiee  mit  jenen  anegeetattet  Bind ,  leiden 
die  in  den  letzten  Jahren  eingerichteten  oft  am  Nothwendig-sten  ^lang-el. 

Ein  zweiter  Übel.stand.  der  oft  schwer  enipfiuiflen  wird,  ist  der.  dass  von 
Herren,  die  sicli  in  leitenden  Stellniig-en  behnden,  Schulbiu  iifr  greschrieben  wer- 
den, die  dann  im  Unterricht  verwendet  werden,  ob  sie  taugen,  ist  meistens  recht 
zweifelhaft. 

Berlin  ist  dne  dnrebaoe  liberale  Stadt,  die  Stadtverwaltong  ist  in  frei- 
sinnigen Händen,  trotzdem  ist  es  aber  auch  hier  nicht  möglich,  dass  ein  Lehrer 
Sitz  und  Stininie  in  der  Schuldepntatiou  erlangt,  in  der  Rentiers,  Ärzte,  Kaaf- 
leute,  Klempneruieister  etc.  sitzen.  Dies  ist  bezeichnend  für  die  Lage  der  VoUls- 
echnle  in  Preußen.  Diejenige  Partei,  von  der  wir  das  grOßte  Yerständnis  nnd 
die  meiste  Liebe  IBr' dieselbe  voranasetaenmfissten,  liandelt  da,  wo  sie  Gelegen- 
heit hat,  ihre  Tlieorien  in  die  Praxis  umzusetzen,  nicht  weniger  hart  nnd  un- 
freundlich als  die  .Tunkerpartei. 

Das  traurigste  Beispiel  gewilhrt  liiert iir.  abgesehen  von  der  Fragt-  der 
Local-Schulaufsicht,  die  Regelung  der  Gehaltsverhältnisse  au  den  Berliner 
Gmeindesehalen.  Wtthrend  statistisch  nachweisbar  die  Lebensmittel  im  Preise 
gestiegen,  die  Mieten  in  den  letzten  10  Jahren  um  36%  erhöht  hatt«i, 
war  eine  Gelialtsändemng  seit  10  Jaliren  nicht  l  inp-otroten.  Ihis  Schullasten« 
gesetz  in  Treußen  warf  der  Stadt  Herlin  über  »ilKMHMI  Mark  Jährlich  in  den 
Schoß.  Davon  sollte  die  Lehrerschaft  auch  etwas  haben.  Gesagt,  gethau. 
Bas  Dnrchschnittsgehalt,  das  bisher  2220  MmA  betrug,  wnrde  nm  90  Mark, 
anf  2326  Mark,  die  Hinimalstufe  anf  1600,  die  Maiimalstnfe  auf  3300  Hark 


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—    119  — 


erhöht.  Ein  Blick  auf  diese  drei  Zahlen  geniiirt,  nin  das  Unhaltbare  diosos  Systems 
zuerkennen.  Der Dnrchschnitt  zwischen  UUH)  und  '^'^00  liegt  doch  bei  2450. 
aber  nicht  bei  2B25.  Die  Folge  davon  wird  sein,  dasa  nur  ungewöhnlich  lang- 
lebige Naturen  doli  te  den  Genim  dm  liSdisteB  GebaUes  8«lsen  kSnaeo.  In 
<lea  totstfln  10  Jahnn  hnben  130  Lehrer  daeeelbe  erreieht  Dnrchsehnitfilicli 
«Iso  18  pro  Jahr.  Wenn  sich  nun  auch  dieser  Dnrchschnitt  auf  20  heben  sollte, 
was  bSehet  nnwahi-scheinlich  ist,  auch  25"  o  durch  Tod  etc.  abg^ehen  würden,  so 
müsste  der  am  1.  April  1889  angestellte  Lehrer,  da  er  ItiiJö  Vordermänner 
bat,  circa  1220:  20  =  61  Dienstjahre  erleben,  am  das  höchste  Gehalt  m 
«ireidien,  folglich  eine  LebenesUiigkeit  besitzen,  diemanwol  anch  einem  VolkS' 
eohallehrer  nicht  zutrauen  dürfte.  Collegen  also,  die  nach  Berlin  g^t  licn.  mifgen 
den  Dante'schen  Spmeh  bedenicen:  «Die  ilir  hereinkommt»  laset  die  Hoffliong 
draußen." 

Die  Mebrauf Windung,  welche  die  Stadt  Idstete,  indem  sie  das  Dnrch- 
eehnlttegehalt  nm  90  Harte  erhöhte,  betrügt  mnd  100  &60  Mark  jährlich.  In- 
dem de  aber  sngleieh  eirca  1260  Lehrer  damit  beglückte,  dase  deren  Dienst* 

Stundenzahl  von  2ß  auf  28  wöchentlich  erhöht  wurde,  spart  sie  auf  diesem 
Wege  circa  120000  Mark,  so  dass  die  Mehraufwondimp  in  Wirkliolikeit  nur 
40000  Mark  beträgt.  Bewahrheitet  sich  aber  das  Gerücht,  dass  allen  Lehrern 
infolge  der  Gehaltserhöhung  die  Pflicbtstundenzahl  erhOht  wird,  so  kommt  f&r 
du  Stadtelekel  nodi  dn  «rUeekllcher  Überaehnae  heraus,  eine  mathematische 
Leistung,  die  ihrem  Vater  alle  Ehre  macht.  — 

Unter  diesem  Gesichtswinkel  muss  man   folürPTideu  Vorfall  betrachten. 
Scliulrath  Schuitze,  der  Director  des  liiesigen  Lfln  iMserninai  s.  an  welchem  einst 
Diesterweg  wirkte,  trat  am  1.  October  in  den  Knhestand.   Seine  zahlreichen 
SMler  md  Verdirer  gaben  Ihm  einen  Abschiedscommers,  an  welchem  Be- 
giensganthe,  die  Leiter  des  Berliner  Gemeindesehnlwesens  und  eine  grefie 
Zahl  Berliner Ldirer  theilnahmen.  Der  Gefeierte  hielt  eine  Kede,  die  verdiente, 
in  jedes  Lehrerheim  zu  dringen.  Er  wies  es  ab.  als  pfrnßer  rildagoo-  gefeiert 
zu  werden,  er  nahm  blos  für  sich  in  Anspruch,  ein  Freund  des  \  olksschuliehrers 
zu  sein,  der  in  der  Liebe  zu  diesem  von  niemand  fibertroffen  werde.   Die  so- 
ciale Stellnng  des  Lehrers  sei  hente  eine  nnwfirdige  im  Verhftltnlsse  seiner  Ver* 
dienste  um  das  Volk,  aber  die  Zeit  werde  kommen,  wo  man  anders  über  Um 
denken  werde.  „Jetzt  freilieh  haben  sie  nirgends  Liebe,  nirgends  Wohvollen  zu 
erwarten,  von  keiner  Partei,  von  keiner  Behörde,  von  niemand.    Kein  Mensch 
mift  ihnen,  niemand  sage  icli,  niemand.  Helfen  sie  sich  selbst,  lassen  sie  nicht 
nadi  In  eigener  Arbdt  und  lassen  de  sich  die  Wertschfttznng  ihrer  Arbdt  Ten 
keinem  ranben,  denn  es  sind  viele  berufen ,  fiber  de  zn  nrtbeilen,  aber  wenige 
imstande,  den  Wert  stiller  und  treuer  Lehrerarbeit  zn  würdigen."    Die  \'er- 
treter  des  Staates  und  der  Stadt  saßen  bei  diesen  schweren  .Ankla^ren  eines 
Hannes,  dem  um  seiner  Verdienste  willen  am  selben  Tage  der  Kronenorden  ver- 
liehen vrar,  wortlos  da.  Wer  mochte  einem  Manne,  der  40  Jahre  InSteUnngen 
gcfwiikt  hatte,  wo  ersieh  ein  ungetrübtes ürtheil bilden  konnte,  widenpradien? 
Möchten  dem  deutschen  Lehrerstande  viele  solche  Lehrer  und  Freunde  erstdiai 
wie  Schnlrath  Sehnltaey  der  Nachfolger  Diesterwegs! 


Die  23.  schleswig-holsteinische  Lehrerversauimlung.  Dieselbe 
find  Tom  31.  JnU  bis  zum  2.  Angnst  d.  J.  In  Sonderbnrg  statt.  Sonderbnrg 


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—  120  — 


ist  ein  aus  der  Grescliichte  der  BefreiuDg  der  Elbhei'zos^hümer  von  dänischer 
Fremdhemchaft  bekannter  Ort  auf  der  Inael  Alsen.  Auf  die  hart  am  bisto« 
ritehen  Alfentuid  belegene  fireondliche  Stadt  lieht  ▼on  den  bekannten  Dlppder 
Höhen  das  Denkmal  herab,  das  meilenweit  hinaus  ins  Meer  schaut  und  dem 
nahenden  Schiffer  von  deutscliem  Heldenniuth  und  deutschem  Heldentod  er- 
zälilen  soll.  Wol  eine  kleine  Stande  noidwUrts  von  Sonderburg  erblicken  wir 
ein  anderes  geschichtliches  Denkmal,  das  bei  Arnkiel,  welches  dem  berühmten 
Übergang  der  PreoAen  ftber  den  Snnd  gewidmet  iit  Wir  befimden  nns  alio  in 
Sonderbnrg  anf  hlatorischem  Bodenl  —  Beiefalieh  die  Hüfte  der  Bfaiwohner  von 
Sonderburg  reden  und  denken  dänisch  und  sprechen  jetzt  von  einer  „dentMhoi 
Fremdherrschaft".  Die  ländlirlie  Uiiiffebung  der  Stadt  ist  fast  ausschließlich 
dänisch  gesiuut.  Unser  Empfang  bei  jenen  noch  schmollend  abseits  stehenden 
„dänischen"  Bcirgem  war  darum  auch  kein  sonderlicher:  soweit  es  ihre  geschäft- 
Udien  Intereasensalieden,  hatten  sie  sieh  gam  von  Feste  surilekgeiogen.  Diese 
Thatsache,  zusammen  mit  jener  oben  genannten,  dass  Sonderburg  auf  histori- 
schem Grunde  steht,  drückte  unserer  Versammlung  den  Stempel  auf.  Noch  nie 
ist  auf  .schleswig-holsteinischen  Lehrerversammlungen  soviel  von  Politik,  vom 
Deutschthum,  vom  Bekennen  nationaler  Glanbensartikel  gesprochen  worden,  als 
hier  in  Sonderbarg.  Dies  gilt  allerdings  naaentlicli  vm  den  freien,  der  Ge- 
selligkeit gewidmeten  Znsammenkttnften;  doch  anch  die  Hanptvei-sammlung 
wurde  mit  einem  Vortrage  eingeleitet,  der  nur  hier  auf  diesem  historischen 
Hoden  ge/eitigt  werden  und  auch  nui-  hier  Geh{)r  finden  konnte.  Organist- 
iii-uhu-Augustenburg  (A.  ist  bekanntlich  das  Stammschloss  der  Familie  der  deut- 
sohen  Kalseiti,  und  die  SehkissfftnniUflhkeiten  dieiitti  jetit  dem  YoUnnehiil- 
lehrerinnenseminar  com  Anfinthalt)  spraeh  Gber  die  pidagogisefaen  Ansefaannngen 
und  Grundsätze  des  Herzogs  Christian  von  Schleswig- Holstein -Sonderburg« 
Augustenburg.  Hei*zog  rhri.stiaii  lehte  zu  Ende  des  vorigen  nnd  zu  Anfang 
dieses  Jalirhunderts.  Er  war  t  in  Kind  seiner  Zeit  und  damit  auch  ein  Anhänger 
der  damals  hemcheudeu  raliouelien  Geistesrichtong.  Er  hatte  pädagogische 
GnudsStM,  wie  sie  ra  seiner  Zeit  bei  Gelehrten  ans  dem  Bfirgerstande  oft  yor- 
kamen.  Sein  einziges  „Verdienst"^,  das  ihn  vor  anderen  hervorhob,  war,  dass 
er  als  Herzog  das  Licht  dieser  Welt  erblickte.  Und  darum  im  Jahre  1889 
über  ihn  einen  \'nrtrag  auf  unserer  Lehrerversammlung V!  Herzog  Christian 
ruht  in  der  Schlosscapelle  xvl  Sonderburg  neben  seinen  Ahnen,  und  seinStamm- 
sehloss  Angustenburg  ist  ganz  in  unserer  Nahe  nnd  soll  noeh  Ton  der  Yer^ 
sanmlnnff  betneht  werden!  Wir  befinden  nns  eben  anf  historischem  Bodent 
Hier  in  Schleswig-Holstein  besteht  .seit  Jahren  der  Modus,  dass  ein  Lehrer  d^ 
Versammlungsortes  oder  doch  eines  Ortes,  der  nahe  liept.  zur  Hauptversamm- 
lung einen  \  ort  rag  anmeldet,  und  unsere  Delegirtenversammlung  ist  jedes- 
mal 80  höflich,  diesen  Vortrag  als  ei-steu  auf  die  Tagesordnung  zu  setzen.  Mir 
scheint,  mit  diesem  Braach  mnss  gebrochsa  werdoi«  Wer  anf  grOBeren  Versamm- 
langen (in  Sonderburg  waren  gegen  500  Lehrer  erschienen)  einen  Vortrag  halten 
will,  mnss  über  ein  Thema  reden,  das  schon  seit  langer  Zeit,  vielleicht  schon 
seit  Jahren  sein  Herz  bewegt  hat.  Es  darf  nicht  der  Zufall,  dass  die  Lehrer- 
versammluug  nach  dieser  oder  jener  Gegend  verschlagen  wird,  eiueu  dort  woh- 
nenden Lehrer  som  Entscbloss  bringen,  auf  der  Proviniialldirervenammlang 
reden  an  wollen.  —  Einen  gediegenen  Vortrag  lieÜBrle  Lehrer  Bottgardt-Neu- 
mOnster  Aber  den  Antheü  der  Sehale  an  den  Bestrebnagen  gegen  das  I^emd- 


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—   121  - 


Wörterunwesen  in  der  dentschen  Sprache.  Herr  Kottgardt  rodete  in  schöner 
Sprache,  frei  und  mal] voll  über  diese  Bestrebung^en.  Wenn  auch  dem  Einge- 
weihten,  d.  i.  dem  llitgliede  des  n^^lls^ciueui^  deutschen  Spraehvereins",  der 
flciUg-  die  VwinwMiitMhriften  litit,  weaSg  Nene«  geboten  wurde,  eo  werden 
doch  gewiia  miadestens  75 — 80^/^  der  Zuhörer,  welche  jene  Bestrebungen  nur 
dem  Namen  nach  oder  doch  nnr  auszugsweise  kannten,  das  Gebotöne  mit  Dank 
und  Nutzen  g^ehört  und  ihren  'J  heil  lÜr  ilne  Wirksamkeit  daheim  niitfj:enommpn 
Laben.  —  Den  dritten  \'ortrag  hielt  Lehrer  Appel-Keitum  (Insel  Amrum )  über 
den  HandfertigkeitninterTidit.  Der  Vortragende  hatte  von  vonlicnin  einen 
aehweren  Staadpnnkt  in  der  Versammlung.  Die  echleswig-holsteinisclie  Ldurav 
weit  steht  zwar  der  Bewegung,  den  Handfertigkeitsunterricht  in  die  Familie, 
in  die  Feierabendstunde  einzuführen,  nicht  unsympathisch  gegenüber.  Alleiu 
sie  vermuthet,  und  wol  mit  £echt,  dass  jener  Unterricht  nach  der  Meinung 
seiner  Verfechter  späterhin  zn  einem  Gegenstand  des  Schnlantenrichtei  werden 
soll,  md  dies  ineht  sie  ndt  allen  Mitteln  sn  bekSrnpUm.  Diese  Ansielit  kam 
aoch  in  der  Annahme  der  Leitsätie  mm  Ausdruck,  welche  den  Wert  des  Hand- 
fertigkeitsunterrichtes wol  anerkennen,  aber  eine  Einfuhrung  in  die  Schule  für 
jetzt  und  allezeit  verwerfen.  —  Als  besonders  bemerkenswert  hebe  ich  noch 
die  Ausstellung  der  „AbtheiJung  für  ^saturknude*"  hervor.  Die  Lehrer  Jessen 
und  Kleemann  ans  Siel  hatlaen  eine  Sammlnng  von  natnrgeeehiditlielien  Ol^iee- 
ten  aasgesteDt,  die  von  ihnen  seihst  znsammengestellt  war.  Die  Sammlung 
war  auch  bezeichnet  als  eine  solche,  welche  jeder  Lehrer  sich  selbst  besorp^en 
kann.  U.  a.  sahen  wir  in  kleinen,  selbstverfertigten  Pappschachteln  eine  große 
Anzahl  von  Früchten,  wie  sie  der  Spätsommer  und  der  Herbst  bringen.  In 
kleinen  Olttsem  sah  man  die  verschiedenen  Erdarten,  weiter  war  da  eine  kleine, 
anaerlseene  lOneraUensammlnng  ete.  Einen  Glanspnnkt  dieser  AvssteUang 
bildeten  die  Sachen  des  Lehres  0.  Brodersen  aas  Kiel.  Herr  Br.  ist  in  unserer 
Provinz  bekannt  als  vorzüglicher  Ausstopfer  von  Thierbalgen.  Der  Umstand, 
dass  Brodersen  Inhaber  einer  Jagd  ist,  gibt  ilim  Gelegenheit,  die  Tliiere  in 
ihrem  Leben  zu  beobachten,  so  dass  seine  ausgestopften  Thiere  gelungene  natür- 
liche Stelinngen  einnehmen.  Hier  worde  aneh  ein  Nonnalsehraak  snr  Avfbe- 
wahmng  ausgestopfter  Thiere  geneigt,  der  naeh  Vorschrift  des  Vorstandes 
nnserer  naturkundlichen  Abtheilung  hergestellt  war.  —  Befremdlirh  erschien 
es  mir,  dass  noch  so  viele  Lehrer  aus  dem  Nordschles^^'igschen  in  ilirem  Um- 
gange mit  einander  sich  der  dänischen  Sprache  bedienten.  —  Die  Aa&ahme 
seitens  der  deutschen  Bfirger  in  Sonderbarg  war  eine  thenaa  henlidie.  Bürger- 
meister, Hagistratqtenoneii,  Stadtverordnete,  dieOeiitUehen,  der  EreisphyBikus 
nnd  die  Ante,  der  Amtsrichter  und  andere  Notahetal  der  Stadt  nahmen  neben 
den  Bürgern  aus  allen  Ständen  theil  an  den  Versammlnngen.  Auch  das  herz- 
liclip  f]invernchmcn  der  Bürgerschaft  mit  ihren  Lehrern,  suwi*;  das  gute  Ver- 
hältnis der  V  olksschollehrei'  zu  deu  Lehrern  des  Realprogyiuuasiums  verdient 
Erwlhnung.  Die  Tage  von  Stniderbnrg  werden  aUen  Theilnehmon  lange  in 
guter  Erinnerung  Ueibenl  F.  W. 

Der  IX.  deutsche  CongrcKs  tür  erziehliche  Knabenhandarbeit 
am  28 — 30.  September  1889  in  Hamburg.  Dass  die  Bestrebungen  desdeut* 
sehen  Vereins  für  erziehliche  Enabenhandarheit  auf  frochtbaren  Boden  gefUlen 
sind  nnd  eine  selir  rasehe  und  umfimgreiehe  Entwiekelung  geielgt  haben,  hat 
MmtaB.  u-Mm.  B«ttii.  9 


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—   122  — 

der  Hambnrger  Cong^ress  unzweifelhaft  dargethan.  Die  Sache  hat  die  Sym- 
pathie weiter  Lehrerkreise,  vieler  gemeianützigen  Vereine  und  Städte  und  — 
■W9B  in  nnaerer  Zeit  der  Steateiiüfe  nicht  gering  anmaehlagen  iit  —  der  hohen 
Begiening«!!  erworben.  Nicht  nur  das  preniUBche  Gnltiiniiinirtflrinni,  londeni 
aach  der  Reichskanzler  hat  dem  Verein  im  verflossenen  Jahre  eine  namhafte 
Summe  zur  Verfügung  gestellt.  Der  Congress  war  von  mehreren  deutschen 
Begierongen  durch  Vertreter  besciiickt,  der  Geheime  Obeiregierungsrath  Dr. 
Schneider  begrüßte  die  Versammlung  im  Namen  des  Ministers  v.  Gussler  und 
der  Hambnrger  Senat  flbermittelte  durch  Senator  Elhler  WiUkomm  and 
Glückwnnsch.  Der  von  dem  Vereinsvordtaenden  A^Lammers-Bremen  erstattete 
Bericht  tther  die  Fortschritte  der  Bewegung  für  erziehliche  Knabenhandarbeit 
im  verflossenen  Jahr  lautete  durchweg  sehr  günstig,  ebenso  der  Bericht  über 
die  wirtschaftliche  Lage  des  Vereins  von  Oberrealscholdirector  Nöggeralh- 
Hirechberg.  Über  Staad  nnd  Ansbreitnngr  der  Schillerwerkstttten  in  DeatselK 
land  referirte  an  der  Hand  einer  von  Lehi-er  Th.  Sonntag-Leiiiaig  eingesandten 
Arbeit  der  Geschäftsführer  des  Vereins,  Landtagsabgeordneter  v.  Schencken- 
dorfl-Görlitz;  hiernach  werden  gegenwärtig  in  etwa  180  Schülerwerkstiitten 
6500  Kinder  in  Handfertigkeit  unterwiesen.  Nur  wenige  haben  einen  engeren 
Znwauaenhang  mit  dar  Sdinle,  die  weitaus  meisten  sind  gana  aelbetetlndit^ 
von  Stftdten,  Vereinen  oder  einärtnen  Personen  eingerichtet  Eine  aasgedehnte 
Pflege  findet  die  Handarbeit  in  den  Knabenhorten,  sowie  in  Waisenhänsera, 
BessernngR-.  Blinden-  und  Taubstummenanstalten.  Auch  ist  sie  in  den  Lehrplan 
einiger  i  namentlich  sächsischer)  Seminare  aufgenommen.  Die  reichste  Ent- 
wickelung  zeigt  die  Haudfertigkeitssache  im  Königreich  Sachsen,  danu  folgeu 
Sehleeien,  die  Provins  Sachsen,  ElBaifr'Lothringen  und  Sachsen- Weimar.  Ändere 
Staaten,  wie  Anlialt,  die  beiden  Lippe,  die  beiden  MeeUenbnrg,  Braunschweig, 
Hessen  u.  a.  zeigen  nach  dem  Bericht  noch  kein  Interesse.  Ablehnende  Ur- 
theile  sind  vielfach  ans  der  Lehrerschaft  und  aus  dem  (iewerbestande  laut  ge- 
worden. Dieser  Thatsache  trug  der  öffentliche  Congresstag  am  29.  September 
dnreh  Behandlang  der  beiden  Fragen:  „Welehea  Interesse  liat  die  deutsche 
•Lehrerschaft  an  der  Förderang  des  Arbeitsanteniehtes?"  nnd:  „Welches  In- 
teresse hat  der  Gewerbestand  an  der  FOrdemng  des  Aibdtsnnterrichtes?" 
RerhnuTig.  T>ehrer  T^issmann-Berlin,  der  die  erste  Frage  zu  erlogen  hatte, 
zeigte  nach  einem  geschichtlichen  Rückblick  den  engen  Zusammenhiuiig  der 
Handfertigkeit  mit  der  Erziehung,  sowie  ihre  Nutzbaimt^chung  tlir  den  Unter- 
riijht  und  betonte  die  Nothwendigkeit,  die  fnnere  Bntwickelnng  der  Frage 
wesentlich  den  Pftdagogen  zu  Uberlassen.  Nach  diesen  Darlegungen  musste  es 
auff;\llen,  dass  Rissmann  die  Einfügung  der  Knabenhandarbeit  in  den  Lehrplan 
von  der  Hand  wies,  und  seine  iii  ünde.  dass  die  gegenwärtige  Organisation  der 
Schule  diese  Einführung  nicht  zulasse  und  die  Entwickelung  der  Methode  da- 
durch gestört  werde,  vermochten  nicht  den  Eindruck  der  Stiehhaltiglrait  au 
hinterlassen.  Dr.  Bartels-Gera  aog  denn  auch  unerschrocken  die  Oonseqnenaen 
der  Bissmannschen  Darlegungen,  indem  er  die  obligatorische  EinfQlining  der 
Handarbeit  in  die  Schule  forderte.  Bemerkenswert  für  den  Stand  der  Frage 
ist  die  Thatsache.  ilass  der  Correterent  Stadtschulrath  Dr.  Rohmeder-Müuchen 
(vertreten  durch  Dr.  Götze-Leipzig,  der  das  eingesandte  Manuscript  vorlas  nnd 
Intetpretirte)  wesentlich  dieselben  AusfBhrungen  brachte  wie  Heir  Rissmann. 
Aus  der  Debatte  sind  die  Bedenken  des  Gewerbeschuldirecters  Ahrens-Klel 


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—   123  — 


sehr  beachtenswert.  Er  deht  eine  Gefahr  darin,  dass  die  eifrigen  Vertreter 
der  Handarbeit  das  ganze  Interesse  des  Knaben  für  ihre  Sache  beanspruchen ; 
dadurch  würden  Zeichnen  und  Turnen,  auf  welchen  Gebieten  noch  viel  zu  thnn 
sei,  in  ihrer  Bedeutung  verdunkelt  and  zurückgedrängt.  Ein  ausreichendes 
Oegengewiclit  g«geii  geistige  BeMhUUgong  biete  in  Tdlerem  Kate  dasTnmen; 
die  methodische  ünterweinmg  in  der  Handfertigkeit  störe  das  naive  Schaffen. 
Da  die  Tendenz  der  Bewefrun^  eine  erziehliche  sei,  müsse  in  erster  Linie  die 
Familie  interessirt  werden,  und  erst,  wo  diese  ilire  Pflicht  nicht  thne,  könne  der 
Lehrer  in  Knabenhorten  der  Bildung  von  Auge  und  Hand  Vorschub  leisten. 

Die  methoditdie  Dudilrfldnng  des  HandllBrtIgkeitninteRiehtet  litten  «icii 
die  Sectionen  für  Enabenhandarbeit  in  den  Lehrervereinen  an  Berlin  und  G4b^ 
litz  angelegen  sein.  Über  die  Thfttigkeit  derselben  belichteten  die  Lehrer 
Groppler-Berlin  und  Neumann-Görlitz.  Auf  dem  vorjährigen  Conpress  in  Mün- 
chen wurde  eine  Commission,  bestehend  aus  den  SchulmJlnnern  Gärti^^- Posen, 
Dr. Götze-Leipzig,  Groppler-Berlin,  Kalb-Gera,  Kerschensteiner-München,  Kunath- 
Dresden  nnd  Nenmann-CHhrlitz,  gebfldet,  welche  Aber  den  inneren  Ansban  nnd 
die  praktische  Darchfuhrung  des  Arbeitsunterrichtes  berathen  sollte.  Die  Re- 
sultate ihrer  Arbeit  lej^te  die  Commission  in  Form  von  Grundsätzen  dem  dies- 
jährigen Congress  vor.  Es  konnte  über  dieselben  nicht  mehr  debattirt  werden. 
Sie  geben  in  zehn  Paragraphen  die  nach  dem  jetzigen  Stande  der  Sache  als  all- 
gemein giltig  anerkaimtai  IXomm.  ttber  Zweck  vnd  Zid  den  AiMtranterriditeB, 
sein  Verhlltnls  snr  Sehnle,  die  LelutoAftet  die  Arbeitsfiteber,  den  Lehrgang, 
die  Materialznrichtnng,  die  Werkzeuge,  den  Arbeitsranm,  die  Arbeitszeit  n.  a.  m. 
Bezeichnend  für  die  weitansgreifenden  Bestrebungen  des  Vereins  sind  die 
Ausfährnngen  des  §  1,  den  wir  deshalb  hier  folgen  lassen: 

§  1.  Zweck  und  Ziel  des  Unterrichtes.  Der  Arbeits-  oder  HandfiBr- 
tigkeitsunterricht  soll  die  harmonische  Erziehung  der  Jugend  fordern,  indem  er: 

A.  die  allgemeine  Handgeschicklicbkeit,  körperliche  Kraft,  Gewandtheit 
nnd  AnsteUigkeit  übt  nnd  bildet, 

B.  die  geistige  Ausbildung  unterstützt,  and 

C.  Charakter  und  Willensbildong  fördert. 

1.  (zu  A.)  Er  bietet  ein  heilsjunes  Gegengewicht  zu  den  rein  geistigen 
Anstrengungen  und  macht  den  Schüler  für  dieselben  widerstands- 
fähiger; 

2.  (zu  B)  er  bildet  die  ftnßerai  Sinne,  schafft  Einsicht  und  klares  Ver- 
sUhidniB  für  die  bei  diesem  TJntenieht  an  lUsenden  Anfgabra,  sehirfl 

die  Anfinerksamkeit,  entwickelt  die  Beobachtungsgabe  belSrdert  da- 
mit richtiges  Denken  nnd  erweitert  die  Kenntnisse; 

3.  (zuC)  er  leitet  den  Trieb,  zu  gestalten,  zu  schaflFen,  in  richtig:e  Palmen, 
führt  zur  Freude  am  Arbeiten  und  über  das  (u-arbeitete,  entwickelt 
den  Formensinn  und  das  Wolgefallen  am  Schönen,  gewöhnt  zu  sorg- 
fUtigon  und  anhaltendon  AndUiTHi  der  Arbeitsaafgaben,  erzieht 
damit  aar  Geduld,  Ansdaaer,  Sauberkeit,  S]»atsamkeit  nnd  Ordnung 
nnd  stärkt  die  Willenskraft  zu  zielbewnsstem  Handeln. 

Außerdem  bat  der  Unterricht  mittelbar  noch  andere  segensreiche  Folgen; 
dazu  gehören: 

a)  pralctische  Erfahrung  bezüglich  derjenigen  Stoffe,  welclie  dem  allge- 

9* 

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—   184  — 


meinsten  (Tebraucbe  und  Bedttrfiliaae  dienaii  und  Eiiisioht  in  die  Ver- 
arbeitung dieser  Stoffe; 

b)  Bekanntschaft  mit  denjenigen  Werkzeugen,  die  dem  allgemeinsten  Ge- 
toMidie  und  BedMdan  dienen,  md  Ebuieht  in  die  Handlialninf 

derselben ; 

c)  riclitierr  Bfurtheilnni?  ^ter  Arbeit  gegenüber  minderwertiger; 

d)  Achtung  vor  der  Arbeit  der  Händo.  insbesondere  vor  dem  Handwerk; 

e)  erweiterte  Erkenntnis  der  eigenen  Leistungsfähigkeit,  dadurch  Er- 
leiobtaiuiff  der  Bernflnrahl,  günstiger  EinfliiM  anf  gie,  Znfohrnng  ge- 
eigneter tüchtiger  Krifte  snm  Htndverkerrtude  nnd  Hebang  des 
Handwerks  und  d^  Kunstgewerbes; 

f)  Anleitung  nnd  Gewöhnung  zur  Selbstbeschäftignng  und  Selbstthätig- 
keit,  infolgedessen  Bewahrung  vor  Müßiggang  nnd  seinen  sch&dlichen 
Folgen; 

g)  Andeutung  dee  Weges  nnd  der  Art,  dnreh  eigene  Arbeit  nnderen 

f Eltern,  Geschwistem)  Freude  zn  bereiten; 

h)  Befilhigung  nnd  Neig:nner,  im  Hanse  und  in  der  Familie  pi  aktiscli  hel- 
fend einzutreten,  das  Heim  durch  eigene  Arbeit  zu  verschönern,  zu 
schmücken,  und  infolgedessen  Sinn  für  Häuslichkeit  und  Liebe  für 
das  eigene  Heim; 

i)  ftr  Erziehungs-  nnd  Ftivatsclinlnnstnlten»  Wnisenblnscr,  Kinder- 
horte, Pflegeanstalten,  Taubstummen-  und  Blindenanstalten,  sowie  Ar 

Kinder,  deren  Eltern  die  Freiheit  des  Kindes  nicht  überwachen  können, 
ein  sehr  geeignetes  Mittel,  die  freien  Zeiten,  die  weder  dem  Spiele 
noch  anderer  Unterhaltung  zugewiesen  sind,  nfitzU<^  nnd  zugleich  an- 
genehro  auszufüllen. 
Der  nm  das  Hamburger  Kunstgewerbe  hochverdiente  Huseumdirector  Dr. 
Brinckmann  erörterte  die  Stellung  des  Gewerbestandes  zum  Arbeitsunterricht. 
Bemerkenswert  war  seine  Bt  liauptung,  dass  die  Schule  den  ilsthelischen  Ge- 
schmack bis  jetzt  ganz  unberücksichtigt  gelassen  habe.  Diese  Lücke  auszufüllen 
sei  der  Handfertigkeitsnntenicht  imstande.   Interesse  nnd  Verständnis  Ar  die 
Emengnisse  des  Knnstgiwerbes,  sowie  die  Wecknng  manueller  Talente  wären 
Folgen  des  Arbeitsuntorriehtes,  der  dadurch  dem  Gewerbe  fBrdemd  in  die  Hand 
arbeite. 

Es  ist  zu  bedauern,  dass  die  in  der  Hamburger  Lehrerschaft  zalilreich 
vertretenen  principiellen  Gegner  nicht  das  Wort  nahmen.  Entschiedene  Be* 
kämpftmg  ist  das  beste  Mittel  zur  Klärung  einer  streitigen  Angelegenheit.  Die 
Oeschäftsldtnng  des  ersten  Congresstages  trigt  hieran  allerdings  die  Haupt- 
Sebald.  H.  W. 


VL  Coufereuz  für  das  Idioteuwesen.  Die  alle  drei  Jahre  stattlin- 
dende  Gonibrenz  für  das  Idiotenwesen  fuid  Tom  10.  bis  18.  September  in 
Brannsdiweig  f^undliche  Aufnahme.  Aneh  der  Regent  Albrecht  und  das  Staats- 
ministerium bekundeten  ihr  Interesse  an  der  Sache  durch  eine  Gabe  von  n(X) 
Mark,  was  «rewiss  für  fthnliclie  Fälle  zur  Nachahmung  empfohlen  zu  werden 
verdient.  Einem  über  die  bisherige  Arbeit  an  den  Idioten  und  ihren  Leidens- 
genossen orientirenden  Vortrage  von  Dr.  Sengelmann,  Director  der  berühmten 
Alsterdorfer  Anstalten  bei  Hamborg,  entnehmen  wir  folgendes.  Ein  bedehnngs- 


Digilizea  by  ioUü^lc 


—   126  — 


reicher  Abschnitt  in  der  Geschichte  der  Idiotenbehandhing  knüpft  sich  an  den 
Abeudberg  bei  Interlaken,  wo  1841  Dr.  Gu^genbUhl  das  erste  niedicinisch- 
p&da£;ogi8che  Unternehmen  dieaer  Art  begründet  und  zuerst  Theilnahme  für 
die  Flage  md  Bfldang  der  UngUIckliclwii  erwe^  hat.  Die  von  frotem  In- 
teresse getragrene,  vielfach  nntetttützte ,  ja  von  der  Qittfln  Hahn-Halm  i  han- 
tastisch  verherrlichte  Anstalt  erwies  sicli  als  großartig«,  znm  Theil  von  dem 
Begründej"  absichtlich  hervorgemfene  Tftnschung  und  ist  längst  eingegangen. 
Schnell  entwickelte  sich  aber  die  Sache  in  England,  Österreich  und  besonders 
in  DevtaehlMid,  wo  nunt  1839  eine  1847  nach  lOkkem  Terlflgle  Anatalt  be- 
gründet wurde.  Deutschland  zfthlt  41  oder  42  solcher  Anstalten,  die  bisher 
16000  üngläcklichen  Pflege  zntheil  haben  werden  lassen.  Jetzt  werden  6000 
von  1200  Personen  veri>flcgt,  2400  werden  unterrichtet,  1850  nur  beschäftigt 
und  1700  nur  verpflegt.  Dem  Umfange  nach  sind  die  Anstalten  sehr  ver- 
schieden: fünf  haben  über  300  Zöglinge,  drei  zwischen  200  nnd  300,  fünfzehn 
swtoAen  100  and  200,  immaelui  wenigw  als  100.  Als  untere  Altearagrense 
wird  meistens  das  5.,  dodi  auch  oft  das  3.  Leben^ahr  angenommen.  So  finden 
wir  dort  neben  Greisen  von  80  Jahren  Kinder  mit  der  Säuglingsflasche.  Mit 
den  größten  Schwierigkeiten  hat  der  Unterricht  zu  kämpfen,  umsomehr  als 
noch  keine  einschlägige  Literatur  vorhanden  ist.  Die  eigentliche  Schnl-  und 
BOdnngBaeit  ist  das  12.  bii  W,  Lebemijalir.  Die  leichtette,  widitigate  und 
interessanteste  DisdpUn  ist  der  AnschamingsanteiTieht,  eine  wahre  eniz  aber 
das  Rechnen.  Von  großer  Wichtigkeit  ist  anch  hier  der  Sprachunterricht.  Int 
Schreiben  und  Zeichnen  wird  oft  Erfreuliches,  ja  geradezu  Erstaunliches  ge- 
leistet. Im  Religionsunterricht  muss  (wie  überall)  die  biblische  Oeschichte 
Hauptsache  sein.  Glanzpunkte  des  Anstaltslebens  sind  die  kirchlichen,  patrio- 
tisclien  nnd  Stiftangsfeete.  Viel  Qntes  ist  geaehehes,  aber  noefa  Ueibt  viel  Vei^ 
dienst  übrig,  denn  in  Deutschland  gibt's  fiber  50000  Idioten. 

Dem  Vortrage  des  Lehrers  Kielhorn  (Brannschweig)  über  den  schwach- 
sinnigen Menschen  im  öftentliclien  Leben  lagen  folgende,  von  der  Conferenz 
einstimmig  angenommene  Leitsätze  zugrunde.  1.  Das  schwachsinnige  Kind 
bedarf  einer  von  dem  geistig  gesunden  Kinde  abgesonderten  sorgfältigen  Schal- 
eniehnng.  üm  eüie  wirksame  Sohnleniehnng  dnrchzuffihren,  ist  nOthig:  a)das8 
Ar  dieselben  der  Erziehungszwang  bis  znm  vollendeten  16.  Lebensjahre  0>oz\v. 
vom  14.  bis  vollendeten  1 6.  Lebensjahre  der  Besuch  einer  geeigneten  Fortbildungs- 
schule) g^tzlich  eingeführt  wird;  b)  dass  geeignete  Erziehungsanstalten  (Hllfs- 
•chnlen  fürSohwachbefthigte,  Idiotenanstalten)  in  genägender  Zahl  eingerichtet 
werden;  e)  da»  IBr  LehitoUte  geeorgt  wird,  die,  im  Bseitae  allgemeiner  päda- 
gogischer Vorbildnng,  fftr  die  Erziehung  schwachsinniger  Kinder  besonders  vor- 
bereitet sind.  2.  Der  schwachsinnitre  ilensch  bedarf  im  öffentlichen  Lelien  der 
Fürsorge  nnd  Beaufsichtigung.  3.  Der  schwachsinnige  Mensch  bedarf  in  der 
Kechtsptiege  besonderer  Rücksichtnahme.  4.  Der  schwachsinnige  Mensch  ist 
naflUiig,  im  Heere  sa  dienen. 

Naeh  Delfarikk  sind  5^/o  aller  Strafgefangenen  geisteskrank  nnd  lVs7o 
für  immer  unzurechnnngsföhig,  nach  Gutsch  ist  der  Procentsatz  noch  höher. 
In  der  sächsischen  Strafanstalt  Waldheim  waren  kürzlich  3'  \,"',„  (nämlich  41 
von  1241  Strafgefangenen)  mit  angeborenem  Schwachsinn  behaftet;  an  Geistes- 
krankheit litten  87.  Nach  Morli  leiden  dO^j»  derjenigen,  welche  wegen  BettelnSi 
Arheitssehen  nnd  Obdachlosigkeit  bestraft  werden,  yon  Jugend  auf  an  Geistes- 


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scliwäcke.  Unter  79  Kranken,  die  wegen  gewohnheitsmäßiger  and  schwerer 
Eifentbomsverbrecheii  in  4'/,  Jahren  unter  ]Iorli*8  Augen  in  die  Irrenanstalt 
gelangten,  fimd  denelbe  28  von  Jngend  anf  achwaohsinnigy  mid  nnter  15  Kranken, 

die  als  Soldaten  schwere  Verbrechen  begangen  hatten,  waiWl  5  schwacbsiDniir. 
Die  Gefängnisse  und  Zuchthiluser  bergen  nicht  wenig  Insassen,  die  Verbrecher 
geworden  sind,  weil  sie  schwacbsiimig  waren,  mid  die  als  gewöhnliche  Ver- 
brecher gelten,  wo  sie  doch  nur  gesündigt  haben  aus  Mangel  an  Einsicht,  Bechts- 
gefBhl  nnd  littlieiMin  Oelialt,  ans  dem  Unvermögen,  sich  selbet  nnd  ihn  Mit* 
menschen  richtig  mi  beortheflen,  ihr  Thnn  nnd  faiwen  nach  Beoht  nnd  Ge- 
rechtigkeit abzuwägen. 

Und  wie  geht's  dem  Schwachsinnigen  im  Heerdienst?  Ein  Beispiel!  Morli 
berichtet:  Die  Matter  war  zweimal  im  Irrenhause,  der  Vater  tobsüchtig,  die 
GroAmntler  getotealvank.  Vor  der  Einttellnng  in  ein  preaSisches  Ulanenregi- 
meot  bereite  veriieiratet,  wegen  HoIsdiebBtahli  nnd  ISXirpexvttU^ng  beetraft» 
wird  er  von  den  Vorgesetzten  bald  als  lialtloser,  erbärmlicher,  kindischer  Mensch 
bezeichnet.  Im  ersten  Merteljahr  wegen  Trunkenheit  im  Dienste  bestraft, 
dann  wegen  Thätlicbkeit  gegen  einen  Vorgesetzten  zu  5  Jahren  Festung  ver- 
urtheilt,  wegen  Gehorsamsverweigerung  1  Jahr,  wegen  Majestätsbeleidignng 
3'/«  Jahre  —  alles  binnen  JahresfMst!  Daneben  viele  kleine  Strafm  wegen 
Faulheit,  Unptinktlichkeit,  Störung  der  Andacht  etc. 

Nach  den  gesetzlichen  Bestimmungen  befreit  nur  der  Schwachsinn  höheren 
Grades  von  der  Militilrpflicht,  während  der  mit  Schwachsinn  geringeren  Grades 
Beliaftete  dienstfUhig  ist.  So  geht  dieser  beim  Eintritt  ins  Heer  einer  schweren 
Leideasieit  entgegen,  dmin  die  Asfiwdenmgmi  des  Dfenstes  gehen  Aber  das 
Haft  seines  kViperlichen  nnd  geistigen  KSnnens  hinaus.  Von  den  Vofgesetsten 
getaddt  mid  gestraft,  von  den  Kameraden  gehänselt  und  verspottet,  so  ist  es 
nicht  zu  vorwnndem.  wenn  er  sein  bisschen  Verstand  ganz  verliert,  wenn  er 
gelegentlicl»  verwirrt  und  wild  wird  und  sich  und  anderen  Unheil  anrichtet. 
Mau  sollte  doch  meinen,  es  gäbe  in  den  deutschen  Landen  Jünglinge  gesunden 
Geistes  genug,  das  Vaterland  sn  vertheidigen,  und  die  Heeresverwaltung  kOnnte 
anf  die  Schwadminnigen  Qberhanpt  verzichten. 

Die  Conferenz  entschloss  sich  zur  Wahl  eines  Ausschnpses,  der  sicli  aus 
Ärzten,  l'ildagogen,  Juristen  und  Theologen  zusammensetzt  und  die  Stellung 
des  schwachsinnigen  Menschen  zu  prüfen  und  hierauf  bezügliche  Anträge  vor- 
rabereiten  hat. 

Die  genaue  Scheidung  der  den  Hilftclassen  fttr  Sohwachbef&higte  und  der 

den  Idiotenanstalten  aogehSrigen  Kinder  nnternahm  Oberlehrer  Beichelt 
(Hubertusburg  1 :  In  die  Hilfselassen  gehören  die  Fälle  leichterer  geistiger 
Schwächung;  geistig  tiet  stclu  iide  und  körperlich  schwer  erkrankte  Individuen 
gehören  in  die  Idiotenanstaiten.  Die  ersiehlichen  nnd  anterrichtllchen  Mittel 
und  Methoden  und  nicht  zum  mindesten  die  dütetisehen,  hygienischen  ESurich- 
tungen  und  Maßnahmen,  die  Überwachung  bei  Tag  und  Nachtt  sind  immer 
noch  geeignet,  auch  die  Erfolge  in  der  geistigen  Entwiekelung  zu  erzielen,  wo 
die  Hilfselassen,  welche  der  Natur  der  Sarlir  iiacii  ihre  Schüler  während  der 
Nacht  und  eines  Theils  des  Tages  den  unguuätigen,  uucontrolirbareu,  oft  ge- 
radem verderblichen  Verhftltnissen  des  Hauses  surttckgeben  müssen,  nichts 
Nennenswertes  efrdchen.  — 

Die  nn^ficldiche  Stellung  der  seminarisch  gebildeten,  staatUcherseits 


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geprüften  Lehrer  an  den  Tdiotonaiistalten  macht  Dir. Bartliold  (M.-Olad- 
bach)  znm  Gegenstand  seiner  Austühnuigen.  Die  Versammlong  nimmt  ein- 
stimmig folgende  £rkläning  au: 

In  AnbetnMsht,  1.  dm  die  Idiotenamtalten  dem  MEanfUduii  Wole  dienen 
und  sich  der  Ärmsten  und  Schwäclisten  unter  unserem  Volke  annehmen,  um 
ihr  trauri^t's  Ia)s  zu  mildern;  2.  dass  die  meisten  Idiotenanstalten  nicht  fnndirt, 
auch  staatlich  nicht  subventionirt,  sondern  g-roßentheils  auf  die  öffentliche  Wol- 
thätigkeit  angewiesen  sind ;  3.  dass  e»  denselben  deshalb  schwer  wird,  für  den 
Untenicht  und  die  Erddiongder  ihnen  anvertmaten  Kinder  die  nHhigen  Lehr* 
krifto  m  bekommen,  weil  tle  dieeen  keine  geeidieiie  Lebenmtellnng  in  Abb- 
•  sieht  stellen  können:  4.  dass  die  Ausnahmestellung  der  Lehrer  an  Idiotenan» 
stalten  mancherlei  Xachtheile  für  dieselben  bringt  (Verkürzung  der  Dionst- 
altersberechnung,  Ausschluss  von  Unterstützungs-,  Pensions-  und  ähnlichen  Cassen, 
in  manchen  Orten  höhere,  weil  volle  Besteuerung  und  derghj;  5.  dass  dagegen 
die  Erfehrangen,  welche  Lehrer  an  den  Idiotenanrtelten  eammein  kOnnen,  und 
die  speciell  psychologisch -pAdagogiMdie  Aasbildung,  w^elche  sie  in  diesem  bo- 
sondert  n  Bernfszweige  erlangen,  ihrer  spateren  Tliiltigkeit  an  öffentlichen  Volks- 
schulen außerordentlich  zu  statten  kommen:  erklilrt  die  VI.  Conferenz:  es  ist 
anzustreben,  dass  den  Lehrern  au  öffentlichen  Idiotenanstalten  der  Charakter 
alt  öffmllidie  Lehrer  nerfcmnt  werde  nnd  dleielben  in  Bezog  auf  Dienatalten- 
herechnnngi  Penaienebereehnonirt  TbeOnahme  an  9tiBntlidien  Lehrer-Ünter- 
stützungscassen  und  dergl.  den  Lehrern  an  öffentlichen  Volksschulen  gleichge- 
ftellt  werden.   Die  n&chste  Contierenz  wird  1892  in  Berlin  atattfinden. 

AuaGdrlitz.  (Jogendspielcü  Gelegentlich  des die^&hrigen 40. Philo* 
leceneoDgreaaea,  welcher  vom  1.  bla  6.  October  in  GQrlits  abgehalten  wurde, 

kamen  auch  die  Jngendapiele  zur  Voiillhrung,  nachdem  der  Vereinsvorsitzende, 
Abereordneter  von  Sclienokendorff.  zuvor  in  der  allgemeinen  Versammlung  das 
Charakteristische  derselben  dargelegt  hatte.  Ein  Görlitzcr  Ülatt  schreibt  hier- 
fiber:  »Die  anwesenden  Philologen  folgten  dem  Spiel  mit  lebhaftem  und  sicht- 
barwaohiendem  Intereaae.  Wie  immer  bei  aoldien  Gelegenheiten,  hatte 
■Ich  anch  hier  wieder  ein  großer  Znschanerkreis  aoa  der  atidtischen  völke- 
rung  eingefunden.  Die  Vorführung  begann  unter  Leitung  des  Turnlehrers 
Jordan  mit  einem  in  verschiedenen  munteren  Wendungen  sich  ergehenden 
Gruppenmarsch  der  unteren  Classen,  zu  welchem  eine  Capelle  in  heiteren  Weisen 
den  Takt  gab.  Nlehstdem  wurde  von  den  oberen  Classen  ein  wolgelungener, 
kuurtroller  Beigen  vergeftthrt,  an  welehem  von  den  Hitwirkenden  lelbet  ein 
patriotisches  Lied  in  fiischer  nnd  anregender  Weise  gesnngen  wurde.  Die 
sicher  nnd  frei  sich  bewegenden  jugendlichen  Gestalten  machten  einen  überaus 
günstigen  Eindruck.  Nach  dieser  Einleitung  begann  die  Vertheilung  derScliüler 
in  einzelne  iSpielgruppen,  die  sich  bald  über  den  ganzen  Platz  verbreiteten  und 
aneh  die  anweaenden  Znaehaner  anaogeo.  Hier  wnrde  Fußball,  Speerwerfen 
—  das  Pilnm  der  alten  S5mer  — ,  Bogenschießen,  TamburinbaU,  dort  Lawn- 
Tennis,  Schlenderball,  Treibball,  Barlauf  und  anderes  ausgeführt.  Das  Ganze 
bot  ein  sehr  lebensvolles  Bild  dar  nnd  zog  unsere  Gäste  mehr  nnd  mehr  an. 
Hier  und  da  versuchten  einige  derselben  ihre  eigene  Kunst  beim  Speerwerfen, 
Bogenschießen  etc.,  doch  ließen  sie  sehr  bald  von  dieser  ungew<Anten  Thfttigkeit 
ab,  da  ihnen  die  Jagend  doeh  sn  weit  ttberiifen  war.   So  ging  daa  heitere 


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Treiben  t  twa  anderthalb  Stunde  weiter.  In  mehreren  Kreisen  der  gelehrten 
Herren  hörte  man  die  Frage  erörtpem,  wie  diese  Spiele  wol  am  besten  auch 
auf  andere  Anstalten  ftbeitragoi  werden  kSnnten,  und  hielt  man  ea  für  ei;wBniclity 
dass  hier  im  nächsten  FrlU\jahr  vielleffiht  aobttlglge  GnrM  Ar  amwlrtige 
Lehrer  eingerichtet  werden  möchten.'' 

Welche  Wege  man  aber  auch  finden  möge,  um  derartige  Spiele  allsrcnieincr 
nnserer  Jugend  zuzuführen,  so  wird  man  doch  zunächst  ein  solches  i:iestrebeu 
an  sich  anf  das  beste  begrüßen  kSnnen.  Wir  gehen  sogar  einen  Sehritt  weiter 
nnd  sagen,  anf  Baydt  Terweisend.  («Bin  gesunder  Geist  in  einem  gesnnden 
Körper."  Carl  Meyer,  Hannover  1889),  daas  das  Spiel  nicht  nur  ein  Erziehnnga- 
mittel  der  Juj?end.  sondern  auch  ein  Factor  in  unserem  deutschen  Volks- 
leben werden  rauss.  Je  mehr  es  \  erbreitung  findet  nnd  zu  einer  nationalen 
Eigenthümlichkeit  sich  ausgestaltet,  desto  besser  werden  die  Sitten  des  Volkes, 
weil  die  harmlose  Frende  am  Sfriel  einem  Undlidien  Sinne  entspringt,  der  Roh- 
heit,  Verwilderung  nnd  niedrige  Gennsssucht  ausschließt,  dagegen  die  Gesnndp 
heit  des  Körpei-s  bewfihrt  und  Freudigkeit  für  den  Ernst  der  Arbeit  erweckt. 
Inmitten  der  ernsten  Arbeit  eine  größere  Frische  des  Körpers  —  das  ist  es, 
was  unserer  Jugend,  ja  was  uns  selbst  am  meisten  noththnt! 


Ana  Württemberg.   Die  LandessohnlanssteUnng  in  Stuttgart  vom 

25.  Juli  bis  25.  August  Die  Pforten  dieser  Ausstellung,  die  einen  vollen 
Monat  lang  dem  Strom  der  Besucher  offen  standen,  haben  sich  g^hlossen. 
Ehe  wir  von  dieser  höchst  bedeutsamen  Etappe  im  württembergischen  Schul- 
wesen Abschied  nehmen,  sei  noch  ein  Rückblick  und  Ausblick  gestattet.  Die 
HoAumg,  dass  aneh  in  Württemberg  daa  Interesse  fBr  das  Sehnlleben  anneh- 
men werde,  hat  sich  anf  erfreuliche  Weise  erfüllt.  Keine  der  früheren  Aos- 
stellungen  hat  eine  so  große  Anzahl  vnii  Besuchern  aufzinveisen;  es  mögen 
über  100 0(K)  Personen  gewesen  sein,  trotz  der  ungünstigen  Jahreszeit,  iu 
welche  dieselbe  verlegt  werden  musste.  Aber  nicht  blos  die  Zahl  der  Ein- 
tretenden ftberhanpt  ist  so  erfrenlioh,  sondern  vor  allem  der  Umstand,  dass  sie 
ans  dem  gansen  Lande  mssrnmenkamen,  dass  jede  einigermaßen  bedeutende 
Sdinle,  viele  abgelegene  Dorfischnlen  sogar,  ihre  Kinder  in  Masse  hierher^ 
sandten  nnd  damit  Tausenden  und  aber  Tausenden  Gelegenheit  zum  Sehen, 
Vergleichen,  Lernen  gegeben  wurde.  Auch  die  übrigen  deutschen  Länder  und 
das  Ausland  sind  durch  Fachmänner  in  großer  Anzahl  vertreten  gewesen, 
welehe  ihr  günstiges  ürtheil  über  das  Gebotene  nieht  mrüekhielten.  So  ist 
die  unendlich  mühsame  Vorarbeit,  welche  die  Einrichtung  der  Ausstellung  den 
Leinern.  »Ion  Behörden,  den  Beamten  der  Kgl.  Centraistelle  für  Gewerbe  und 
Handel  cTHinacht  hat,  mit  reichem  Erfolg  belohnt  worden.  Auch  das  Urtheil 
Sr.  Mujetjtät  des  Königs,  zu  dessen  25 jährigem  Kegieruugsjubiläum  die  Aus- 
atellang veranstaltet  wnide  nnd  der  dieselbe  am  16.  Angast  gegen  dreiStnnden 
lang  einer  eingehenden  Besichtigang  nntentog,  ist  ein  überaus  anotennendea. 
Se.  Majest.1t  selber  versieherte,  dass  er  mit  dem  ganaen  Lande  stoli  anf  das 
Erreichte  sein  könne. 

Wenn  wir  nun  das  Gesammtbild  uns  vor  die  Augen  stellen  und  den  Al)- 
schluBB  der  Rechnung  zu  ziehen  suchen,  so  müssen  wir  unwillkürlich  fragen, 
wie  es  mOglioh  war,  dass  das  kleine  Württemberg  eine  so  groie  Anaahl  von 
gleichmSüig  über  das  Land  aarstrevten  FortUldungssehnlen  anpreisen  konnte. 


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Ein  kurzer,  gescliichtl icher  Iiückblick  zeij^.  wie  die  Pflanze  von  sachverstän- 
diger Hand  unter  steter  Berückaichtigiuig  der  ErfahruDg  gepfle^,  ganz  all- 
mählich erstarkt  ist. 

Dm  FortbfldoDgMehiilwMNi,  wie  wir  es  jetst  in  WUstbmhtltg  haben»  ist 
nldit  etwas  Nagelneues»  sieht  der  Minerva  gleich  fix  and  fertig  ans  dem 
Hanpte  des  Zeus  entsprungen,  sondern  ein  Ergebnis  langer  allmählicher  ffilt- 
wickelnng.  Es  soll  nicht  vorgeRsen  werden,  dass  die  erste  Anregung  znr 
Grandang  solcher  Anstalten  von  der  edlen  Königin  Katharina  schon  im  Jahre 
1818  ansgegangen  ist,  sie  machte  die  Beobachtang,  der  gewöhnliche  Unterricht 
der  Landsehnlen  sd  nleht  von  d«r  Art,  nm  als  teehnelofisebe  VorMldang  fltar 
den  damals  sehr  daniederliegenden  Gewerbestand  angeselien  werden  zu  kön- 
nen. So  entstanden  nntor  Mitwirkung  der  maßgebenden  Factoren  die  Hand- 
werkerschnlen  als  Töchteranstalten  der  uralten  württembergischen  Sonntags- 
schulen. Im  Jahre  1825  worden  sie  dem  kgl.  Stadienrath  untersteilt,  der  sein 
bcwMidews  Aigeomerk  a«f  Ansarbettnng  Ton  Lehrpttnea  und  Verlagen  für 
dtas  gewerbliehe  Zeichnen  richtete.  1858  wurde  von  EQnlg  Wilhehn  eine  be- 
nendere,  aas  Mitgliedern  des  Oberstndienrathes  und  der  Centralst^lle  bestehende 
Commission  gebildet,  welche  ans  Oberstadienrath  v.  Knapp  als  l'räses,  Regie- 
nmgsrath  v.  Steinbeis  and  Pfleiderer,  Überstadienrath  v.  Klampp  und  Riecke  als 
MitgUedeni  bestand.  Schon  damals  wurden  die  bis  auf  den  heutigen  Tag 
naSgebeiiden  Ornndsttse  ad^ieslellt,  dersn  strenge  DurehlUinnig  das  gro6- 
artige  Wachsthum  dieser  Anstalten  ermöglicht  hat:  der  Besneh  soU  freiwillig 
■ebl  unter  Ansetzung  eines  den  wirklichen  Verhältnissen  angemessenen  Schul- 
geldes, die  Anstalten  seien  von  den  Gemeinden  zu  nnterbalten  unter  t 'bt-niahme 
des  hälftigen  Aufwandes  auf  die  Staatscasse.  Ein  beäonderes  Verdienst  um 
Ansaibeitang  dieser  magna  eharta  der  Fmrtbfldungssdinle  bat  steh  Oberstadiflii- 
latli  T.  Klampp  erworben.  Zu  welch  hoher  Blüte  diese  Anstalten  gelangten 
unter  der  langjährigen  sachverständigen  Pflege  des  Präsidenten  v.  Steinbeis, 
der  besonders  um  (Tründung  der  Frauenarbeitsschule  1865  sich  hoch  verdient 
gemacht  hat,  und  wie  das  Werk  mit  stets  steigendem  Erfolg  anter  Director 
T.  Qaapp  fortgesetat  und  dnroh  neue  Gesichtspunkte  belebt  worden  ist,  das  hat 
die  gio6e  JabUftunuaasstellnagt  die  ihre  elf  Vorglagerinnsii  an  Unükng  und 
Bedeutung  weit  tlberragtr  Jedem  Besucher  vor  Augen  gefUhrt. 

Unternehmen  wir  es  nnn.  die  Beobachtungen,  die  sich  bei  mehrmaligem 
Besuch  ergaben,  zu  skizziren.  Auf  die  Frage:  Sind  wir  seit  der  letzten  Aus- 
stellung 1881  vorwärts  gekommen V  wird  die  emstimmige  Antwort  lauten: 
Gans  entscbleden,  es  sind  sogar  bei  elnielnen  Sehnlen  sehr  bedentende  nnd 
anerwartet  große  Fortschritte  zu  verzeichnen.  Was  das  Zeiehnen  in  den 
Fortbildungsschulen  insbesondere  betrifft,  so  hat  das  Ausgestellte  aufs  deut- 
lichste gezeigt,  dass  systematischem  Vorgehen,  strenge  Befolgung  des  Lehrgangs, 
Vermeidang  alles  Dilettantenhaften,  aber  aach  allzagroßer  Pedanterie,  allein 
zum  Ziele  fBfari.  Der  segensreiche  Eiafinss  der  NormatlTbestinmungen  über 
die  Beiiandlang  des  Zeieheaanteniebtes  vem  2.  Januar  1886|  einer  Fmeht  der 
Aasstellung  von  1881,  an  welcher  aadi  das  Pieisgwleht  nichts  zu  ändern 
gefunden  hat.  ist  unverkennbar  gewejen;  wer  sich  an  diese  Bestimmungen 
hielt,  konnte  Bedeutendes  erreichen.  Auf  sämmtlichen  Gebieten  des  Zeichnens, 
besonders  im  Fachzeichnen,  ist  sehr  viel  geleistet  worden,  emzelne  ausgestellte 
Lehrgtnge  (maa  eilmmre  eidi  z.  B.  des  Lehigangs  der  stadtisehem  Geweibe- 


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schnle  in  Stuttp-art  im  teclinischen  Fachzeichneii)  sind  g:eradezu  ninsterhaft  nnd 
wert,  vervielfältigt  zn  werden.  Wenn  man  vollends  erwägt,  dass  die  meisten 
Schüler  nar  wenige  Abendstanden  nach  angestrengter  Tagesarbeit  verwenden 
kSnnen,  so  tot  ibrem  Fleifi  und  ihrer  Arbeit  volles  Lob  m  spendoi.  DweA 
die  hSheren  Leistungen  der  gewerblichen  FortbÜdangescholen  werden  ttudi  der 
Kunstj?ewerl)p-  niul  Baugewerksschnle  tüchtig  vorgebildetp  Schüler  zügefiihrt 
and  diese  Anstalten  dadurch  in  die  Lage  gebracht,  ihre  Ki'aft  anf  volle  Aas* 
bildnng  der  einzelnen  Facheurse  zu  verwenden. 

Betrachten  wir  diese  Erfolge  in  Zeichnen  in  den  ttbrigen,  besondert  den 
niederen  Scholen  des  Landes,  so  bemerken  wir  anoh  hier  wfrenliche  Fort- 
schritte. Dass  die  Forderungen  einheitlicher  geworden  sind  und  die  Gleich- 
mäßigkeit der  Visitationen  jetzt  gewährleistet  ist,  bedingt  schon  eine  kräftige 
Anspomung.  Jeder  Lehrer  wei£  jetzt,  was  von  ihm  erwartet  und  wonach 
gesdien  wird.  Es  darf  nunmehr  ausgesprochen  werden,  die  aseichnerische  Ans- 
bildvng  solle  ein  Oemeingnt  aller  derer  werden,  die  sie  je  im  spiteren  Leben 
gebrauchen.  Wir  reden  damit  noch  nicht  der  Forderung  eines  obligatorischen 
Zeichenunterrichtes  in  der  Volksschule  das  Wort,  weil  das  gleiche  Ziel  viel 
besser  daduich  erreicht  werden  wird,  dass  immer  mehr  zeichnerisch  gebildete 
Kräfte  aus  unseren  Lehrersemiuarieu  hervorgehen  und  draußen,  je  mehr  sie 
selbst  in  diesem  Fach  bewandert  sind,  nm  so  besser  es  verstehen  werden,  anch 
ihren  Kindern  Lnst  nnd  Liebe  zum  Zeidmen  einzupflanzen.  Wir  fürchten 
nicht,  dass  unsere  künftigen  Handwerker,  wenn  sie  als  tüchtige  Zeichner  die 
Volksschule  verlassen,  dadurdi  für  ihren  Beruf,  wie  man  zu  sagen  pflegt,  ver- 
pfuscht seien  und  zu  hoch  hinaus  wollen.  Ist  ja  schon  die  bessere  Ausbildang 
desAnges  nnd  der  Hand  ein  nnschfttsbsns  Out,  nnd  so  nothwendig  wie  irgend 
etwas  anderes.  —  Eine  weitere  erflrevliehe  Beobachtosg  ist  die,  dass  manche 
unbrauchbare  Vorlagen  allmählich  verschwinden  nnd  dass  überhaupt,  wo  es 
die  Umstände  erlauben,  tliunlichst  schnell  das  Abzeichnen  von  Rlattvorlagen  ver- 
lassen und  aller  Nachdruck  auf  das  Zeichnen  nach  Gips-  und  Körpervorlagen 
gelegt  wird ;  auch  das  früher  vollständig  vernachlässigte  perspectivische  2Seich- 
neu  wird  dank  vortrefflicher  KOrpermodelle  mit  gHtferer  Liebe  behandelt. 
Den  Lehrerbildungsanstalten,  ans  denen  alle  unsere  Landzeichenlehrer  hervor> 
gehen  sollen  und  die  jetzt  schon  so  Schönes  leisten,  ist  dringend  ans  Herz  zu 
legen,  dass  sie  fortfahren,  möglichst  frühzeitig  ihre  Zöglinge  in  das  Zeichnen 
nach  Gips  und  Körpern  einzuführen. 

Die  FranenarbeitssehuleB  hahen  wiiUieh  groBartige  Leistongen  an^ 
gewiesen  nnd  ist  besonders  hervotsiiheen,dass  diese  Anstalten  diesmal  gewisser* 
maßen  in  einer  ganz  n«  uen  Form  aufgetreten  sind,  insofern  sie  alle  dnrch  ihre 
Lehrgänge  und  Musterbücher  den  Nachweis  liefer-n .  dass  sie  durchaus  auf 
artistischen,  zeichnerischen  Grundlagen  beruhen  und  nur  anf  diesem  Grund  be- 
fähigt sind,  Jklnstergiltiges  vorzuführen.  Die  streng  organische  Verbindung 
des  Zelchnois  mit  der  Nadelarbeit  ist  erst  seit  1881  voll  nnd  gans  dnreh- 
gefBhrt.  Dadurch  ist  der  Begriff  einer  w  iirttembergischen  Frauenarbeitsschnle 
gegenilber  der  gewöhnlichen  NUhschule  für  alle  Zeiten  festgestellt. 

DieLehrmittelsaniinlung.  weldie  auf  so  liberale  Weise  dem  Publicum 
zugänglich  gemacht  wurde  und  eine  Fülle  von  Anregung,  Belehrung  und  Uuter- 
haltnng  bot,  ist  nnsweifelhalt  die  giilftte  und  bedentendste  in  dieser  Art,  die 
ftberhanpt  bto  jetzt  zn  sehen  war.  Besonders  die  Sammlangen  der  Oipsabgiisse 


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sind  pinzi^  schön  und  von  bewnndemnefswnrdig^er  Reichhaltigkeit.  Dabei  be- 
denke mau  noch,  daas  die  groiie  Ausstellnng  der  Modellirwerkstätte  der  Kgl. 
Centraistelle  für  Gewerbe  und  Handel  nur  neue  Sachen  gebracht  hat,  während 
ihre  tltm  treff liehen  ReUeforDamente  Oemdngiit  aUer  Scholen  dea  Lande«  sind. 

Aach  die  Lehrlingsarbeiten  geben  Zeugnis  von  einem  sebSnen  Anf- 
blnhen  des  Gewerbestandes.  Wenn  mancher  Besucher  es  für  unmöglich  hal- 
ten sollte,  dass  gewisse  sich  so  vollkommen  darbietende  Stücke  aus  der  Hand 
eines  Lehilings  hervorgegangen  sein  sollten,  so  möge  er  erwttgen,  dass  solche 
OefBWtliidfl  in  der  Mtik  utor  Bemitniig  ^  vnsÜglklwIaiMaaeliinen  von 
der  Hand  des  Lehrling*  geftrtigt  worden,  nnd  daas  derselbe  solches  häfcte  ftber- 
haopt  nicht  machen  kQnnen,  wenn  er  nicht  zugleich  ein  ptoktUefaer  Besooher 
ond  guter  Zeichner  in  seiner  Gewerbesclnile  p:ewe8en  wäre. 

Gerade  die  Größe  der  Fortschritte,  welche  in  den  acht  Jahren  gemacht 
werden  sind,  wird  nicht  den  Gedanken  aofkommen  lassen,  mau  könne  nun  aof 
den  errongenm  Lorbeeren  aasrohen,  sondern  wird  den  Betheiligtea  Freodigkeit 
gaben,  mit  noeh  melir  Eiftr  dem  geirteckten  Ziel  näher  zn  kommen.  Aodi  die 
Erfahrungen  dieser  Ausstellnner  werden  der  Behitrde  Gelegenheit  geben  £0 
neuen  Kundgebungen,  zu  Verbesserunt^eu  und  Kr^üiizungen  aller  Art,  damit 
durch  gemeinsames  Bemühen  unser  Fortbilduugsschulwesen  wieder  einem  neuen 
Stadiom  der  Entwiekelnng  zogefBhrt  wiri 


Ans  der  pädagogischen  Presse. 

230.  Berthold  Sigismund  (Fr.  Klinkhardt,  Deutsche  Blätter  1889, 
34.  3ö).  „Ein  frischer  Kranz  auf  das  vergessene  Grab  eines  edlen  Kinder- 
frenndes" ,  zur  25.  Wiederkehr  seines  Todestages  (13.  Augast  1864).  Arzt, 
Natorfoneher,  P^jeholag,  Lehrer,  Dichter,  Jogendiehriftateller,  ein  Charakter 
von  seltener  Eeinheit  nnd  wahrhaftem  Adel,  dem  leider  nur  ein  ebenso  niedri« 
gea  Lebensalter  (1819 — 64)  beschieden  war  wie  dem  von  ihm  in  trefflicher 
Jobiläumsrede  gefeierten  Schiller.  —  Wir  erinnern  hier  einfach  an  seine  für 
den  Erzieher  bedeutendsten  Schriften :  Kind  und  Welt  —  Die  Familie  als  Schule 
dar  Natnr  —  Botaniaeha  Stodien  im  Haoagarten  —  Natorsinn  (In  Sehmidts 
Encyklopädie). 

231.  Fr.  W.  Kersten  (Päd.  Reform  1889,  85).  Geb.  1836,  gest.  1889. 
—  Hamburger  Seminardirector  und  Schulrath,  der  von  der  Pike  auf  g^edient 
und  aus  allen  Schulgattungeu  Erfahrungen  besaß.  Ein  strenger  Charakter, 
der  seine  Meinung  nach  oben  nnd  unten  rttcksichtslos  vertrat  —  Reformator 
der  Hanbarger  Lehrerbildnng;  besondere  Verdienste  am  einen  vemflnftigen 
Betrieb  des  grammatladifln  Unterrichtes.  —  Feind  der  Schablone,  derLeitfftdea 
und  des  Wortwissens,  —  In  der  Beförderungsart  der  Lehrer  beseitigte  er 
manche  Härten.  —  Sein  früher  Tod  die  Folge  amtlicher  Überanstrengong. 
„Im  Dienste  verzehrte  er  sich.** 

232.  Loae  Blltter  aia  meiner  Mappe  (S.,  Deotsehe  Scbnlzeitong 
1889,  29 — 87).  24  kone,  an  LeselHIchte  aller  Art  angeschlossene  päda- 
gogische Betrachtungen,  welche  zeigen,  „wie  sich  der  Lehrer  sein  Lehrboch 
der  Pädagogik  selber  schreiben  kann,  freilich  nicht  als  ein  Profepsor,  der  ein 
System  charakterisirt,  sondern  als  ein  Sammler,  der  die  pädagogischen  Schätze 
einsteckt,  wo  er  sie  findet.  —  IHe  gebotenen  „losen  Blfttter"  aalen  um  der 
■aanigibchen  Anregongen,  die  aie  bieten,  warm  empfohlen. 


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—   132  — 


238.  Ein  Wörtlein  über  häusliche  Schularbeiten  (J.  Püiyer, 
ICitteischole  1889,  XV).  Verfasser  sagt  am  Sclünsse:  Ich  denke  mich  am 
iwanslg  Jalire  TomiB.  Biiie  Ptovins  muerM  Vaterlandes  hat,  so  nehme  ich 
an,  die  Sefanlarbeiten  fans  naoh  der  alten  Weise  beibelialten,  die  andere  bat 

sie  seit  diesen  zwanzig  Jahren  über  Bord  geworfen  nnd  Ersatz  gesucht  in  den 
Bewegungsspielen  (und  Handarbeiten).  Ist  nun  wirklich  jemand  im  Emst  der 
Meinung,  dass  die  Bildung  in  letzterer  Provinz  merklich  zurückstehen  würde 
gegen  die  Bildung  in  jenen?  Wo  aber  größere  Lernlust,  frischere  Gesichter 
und  beeeere  Geesadheit  n  finden  aein  wUrden,  dürfte  nicht  zweifUhaft  sein. 
Ich  weis  ganz  genau,  in  wdelier  Pmins  idi  am  Uetoten  Kind,  Lehrer  ood 
aneh  Vater  sein  möchte. 

234.  Die  Gesundheit  des  Lehrers  (Major,  Freie  päd.  Blätter  1889, 
34).  Der  hentige  Lehrer  hat  eine  andere  und  weitaus  schwerere  Arbeit  auf 
aleh  tb  ein  Lebnr  der  Mherai  Zelt  Seine  Arbeit  ist  mit  derKntwickelnng 
desSehnlwesens  unendlich  gewachsen,  nnd  aOet,  was  er  für  aeine  Penon  doroh 
eie  sweckmäßige  Einrichtung  der  Schulhänser  gewinnt,  geht  ihm  voUatiBdIg 
verloren  durch  den  Zuwachs  an  Lasten,  der  ihm  ans  der  Vervollkommnung 
des  Unterrichtsbetriebes  erblüht.  Er  ist  nicht  besser  daran,  als  seinf*  Vor- 
fahren es  waren,  er  steht  ihnen  nicht  eiiimal  gleich,  er  ist  im  (iegeutUeil 
echleehter  daran. 

235.  Der  Wille  (Wendt,österr.Sohnlb.  1889,  XVm).  Der  Wille  ist  die 
(zwiefache)  Reaction  (Aneis:nung'  und  Bewegung)  gegen  die  Einflüsse,  welche  die 
Seele  von  außen  erfährt.  Der  Wille  wandelt  die  sog.  Emptindungsreize,  welche 
wii'  durch  die  Sinne  erleiden,  zunächst  in  Vorstellaugen  um  nnd  begrenzt,  d.  h. 
Tenogert  in  weiterer  Entwiekelung  die  Smune  der  Eindrfleke  alt  Antettk- 
aamkfiit,  wobei  daa  Erleben  ngleieh  tili  vertiefterea  wird.  Der  Wille  geitallet 
und  ordnet  femer  die  Bindrücke  in  der  Form  der  Apperception.  Inwiefern  er 
bei  dieser  Gestaltung  und  Ordnung  der  Eindrücke  Schwierigkeiten  findet,  er- 
zeugt dies  Zustände,  welche  als  sog.  Lust  oder  Unlust  sich  an  die  Vorstellungen 
heften  und  die  seelische  Thätigkeit,  d.  h.  den  Willen  zu  neuen  Äußerungen  in 
der  Form  dee  Strebeos  nach  oder  des  Strebens  gegen  einen  eolohen  Ein- 
druck  beatimmen.  —  ontellnngen  nnd  Gefühle  aind  UmbildnngmitCInda  dea 
WiUens. 

236.  Beiträge  zum  deutschen  Unterricht  (Bemer  Schulbl.  1889, 
35 — 38).  Vom  Lesebuch  (es  soll  die  Jugend  —  indem  es  alles  Gewöhnliche, 
AUtSgliche,  Troekene,  Sjatematiaofae  beiseite  Hut  ^  dordi  all  du  Sehen- 
werte,  Btanneneiregende  nnd  Wnnderbare  in  Natnr^  nnd  Menschenleben  hin- 

dnrehführen.  Dem  Lehrer  fiele  dabei  die  bescheidene  Rolle  eines  Bergführers 
zn).  Vom  Wert  der  Mundart  als  UnteiTichtssprache  (für  Schweizer  Verhält- 
nisse). Vom  Lesen  (besonders  Chorlesen,  als  Mittel,  die  Lesefertigkeit  zu  er- 
zielen; letztere  zu  zeigen  ist  Zweck  des  Einzellesens).  Vom  Aufsatz  ^„es  ist 
eiflirderlieh,  daaa  daa  nnainnige,  die  Sefaniererei  flirinlieh  pAaasende  nnd  die 
Zdt  TOrgendende  ,Zuerstanfeetzen'  abgeschafft  nnd  der  Schüler  angehalten 
werde,  seine  Gedanken  sofort  und  oluie  Vorgoschmiere  zu  Papier  zu  bringen".) 

237.  Geographische  Naniendeutung  (R.  Hildebrand,  Zeitschr.  f.  d. 
deutschen  Uuterr.  1889,  IV).  Als  Übung  im  geschichtlichen  Denken.  „Es  ist 
in  der  Sehnle  w  leiefat  getliaa,  am  bellen  in  der  Zeit  vor  den  groien  Ferien, 
daaa  der  dentacfae  Lehrer,  der  ja  aolche  aoi  eigener  EriUmmg  wo!  aar  Hand 


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—   188  — 


hat,  den  Schülorn  die  meist  bevorstehende  Wandernnp-  mit  einer  Erliöliunia:  ins 
geschichtliche  Denken  würzt,  welche  die  Reise  zu  dem  machen  hilft,  was  sie 
für  die  Eatwickelnng  des  Geistes  sein  kann,  zu  einem  bleibenden  tiefen  und 
MllMt  «nrartaMB  Gewinn  adt  frneliUiar  teUiMr  Niehwirkmg  fitn  gaan 
Leben.*  Beiepiele:  Luzembnig  (dnreh  Deutsche  verbaUlionite  IhmalMMlie 
Form  —  wir  müssten  Lüxembnrg:  sagen  und  schreiben  —  von  Lützehiburg  = 
kleine  Burg,  im  Gegensatz  zn  Mecklenbnrg  =  große  Bnrg;  mecklen  von  alt- 
s&chs.  mikü,  ahd.  michil,  mhd.  michel  =  groß.  Der  Dativ  in  beiden  Wörtern 
stammt  ans  dem  Leben,  weil  da  die  Ortsnamen  im  Dativ  weit  häufiger  gebraucht 
werden  als  im  Noarinatty).  —  Amerika  (der  Vemame  des  Veepned:  Amerlge 
=  Albericns  =  Alberich;  der  Hüter  der  unterirditeben  Schatze  hat  also  dem 
an  Gold  und  Silber  reichsten  Lande  den  Namen  gep-eben!).  —  Xom  Kampfe 
zwischen  Kanzlei  und  Leben  seit  dem  Mittelalter,  hinsichtlich  der  Ortsnamen 
(Aussprache  und  Schreibung.  Das  Zusammenziehen  der  langen  Ortsnamen, 
wie  Bolteeht  =  Bndolstadt,  gesehieht  nieht  aai  blofler  Trigheit,  soDdem  der 
Drang  des  Lebens  bringt  es  berechtigt  fiberall  mit  sieb). 

238.  Neusprachlichcr  Unterricht  (M.  Lammers,  Rhein.  Blätter 
1889,  VI).  Wertvolle  Bfmtrknn^cn  über  das  Erlemen  fremder  Sprachen  im 
allgemeinen  und  besonderen  (höhere  Mädchenschule).  Sprechen  lehren  ist  nicht 
Ziel  der  Schule.  Sprechen  lernen  nicht  viele  von  einem,  sondern  einer  von 
Tiden.  Oldebwol  ist  die  richtige  Ansspradie  grflndUdi  n  Bben;  Hanpt- 
schwierigkeit  im  Unterschied  zwischen  der  Muttersprache  und  der  fremden 
Sprache  hinsichtlich  der  LauttÜrbnng:,  Bindung,  Betonung  und  des  Satzvor- 
trages.  Zur  Erzielung  der  richtigen  Auf^sprache:  Sprechübungen,  in  welche  der 
Lehrer  furtwährend  eingreift,  und  Leseübungen,  letztere  wichtiger  und  ^ncht« 
barer.  Letstce  Ziel;  Ffthigkeit,  einen  dem  VersOndnis  gemifien  Schriftsteller 
lastriditlg  nnd  sinnrichtig  vorlesen  zu  kOnnen;  diese  bahnt  die  Sprechfthigkeit 
genügend  an  (Ohr  undZun^e  sind  hinlänglich  geübt;  hinreichender  Vorrat  von 
Wörtern  und  Wendungen  ist  im  Gedächtnis)  nnd  kann  nach  der  Schale  leicht 
forterhaiten  werden. 

239.  Die  Stellung  der  Versnche  imPhysiknnterricht  (P.  Conrad, 
Sehweis.  Lehrers.  1889,  27.  28.  30.  31.  34  35").  Natnrerscheinnngeii  und 
die  wichtigsten  auf  Naturgesetzen  beruhenden  Vorrichtungen  als  Ausgangs-, 
Mittel-  und  Zielpunkte;  Versuche  nur  da  einzuschalten,  wo  die  Erklärung  es 
erheischt.  Gründe  für  dieses  Verfahren:  Geschichte  der  Physik  als  Wissen- 
schaft weist  darauf  hin,  das  Interesse  wird  am  ehesten  geweckt,  die  dem 
physücalisehen  Unterricht  gestellte  Anfgabe  am  sichersten  gdSst. 

240.  Ist  unser  üblicher  Unterricht  in  der  Geometrie  ein  an- 
schan lieber?  (K.  Heun,  Päd.  Zeit.  1 889,  39.)  Nein,  weil  wir  die  geometri- 
schen Elt  inciitargebilde  (gerade  Linie,  Ebene)  als  itriniitive.  keiner  Deduction 
fähige  auflassen  und  das  Vorhandensein  ihrer  Begrifle  in  der  Kiudesseele  vor- 
anssetsen.  Das  ist  eine  fulsdie  Ansicht.  Die  Bbeae  —  als  ^Feld  der  Plani- 
metrie* —  ist  vor  den  Augen  der  Kinder  zu  erzeugen:  durch  Schleifen  eines 
„starren  Körpers"^  (Schieferplatte  z.  B.)  mit  einem  von  diesem  selbst  abge- 
brochenen Stücke  (nach  der  Weise  des  Steinschleifers).  Die  Detinition  soll  sich 
auf  die  bleibende  Deckung  zweier  Flüchen  bei  beliebiger  Verschiebung  der 
einen  stützen.  Nun  lässt  sich  das  ganze  Lehrgebäude  der  Kanmkuude,  ohne 
dass  man  den  Boden  der  Anschauung  verlKsat,  aufhauen  und  so  eine  concrete 


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—    134  — 


Gnmdlage  für  das  abstracte  euklidische  System  gewinnen.  Diese  Grundlage 
„isfe  eongrnent  mit  dm  Mjuiipnlationeii  d«8  Handwerkm»  streng  wisMiiaoliaftUoh, 
indem  aie  auf  einem  einsigen  kUuren  nnd  großen  Oesetne  beinlit^  nnd  allgemein 
Tentftndlieh,  weil  gie  in  der  natttrUehen  Thltiglceit  des  measoUiohen  Geistes 
wnnelf 


Seit  Octoberd.  J.  erscheint  bei  Otto  Meißner  in  Hamburg  eine  „Zdtadirift 
für  liteinlose  liSliere  Sdinlen'*,  herausgegeben  von  Dr.  O.  Weidner  inHambnrgt 
monatUdi  eine  Nnmmer,  Preis  vierteljährlich  1  Mk.  50  Pf.  Ein  beaditent- 
wertea  ünteniehmen,  auf  welelies  wir  murfieklcommen  werden. 


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Literatir. 


Felix  Schreiber,  Herbarts  Unterscheidanp  dor  Regjiffe  Regierung  und 
Zucht.   luauguralschrift.    56  S.    Gotha  1889,  Andreas  Perthes. 

Verfasser  beginnt  mit  einer  kurzen  Exposition  dor  bezeichui'tcn  Begriffe  und 
ihres  Verhältnisses  zu  einander  in  der  Fa!(.sung  Herbarts,  worauf  ( r  durcl» 
cdoen  Excon  in  die  Geschichte  der  Pädagogik  den  Nachweis  liefert,  ditss  und 
in  welchem  Sinne  —  ntmlich  innerhalb  der  Grenzen  der  Herechtigung  —  die 
fragliche  Unterscheidung  auch  bereite  vor  Herbart  stattgefunden,  Herbart 
abo  nichts  Neues  geboten  hat.  Hieran  reiht  sich  eine  eingehendere  Darlegung, 
Untersuchung  und  Kritik  der  Herbartschen  Lehre  von  Regierung  und  Zucht, 
den  n  .'-(•liroflV  (Gegenüberstellung  im  Herbartschen  .'^yste^le  »clilicßlich  alis^clohnt 
wird,  da  aie  weder  Tom  usydiologifichen  noch  vom  ethischen  Standpunkte, 
ireder  theoretiBch  noch  pnuEtisdi  naltbar,  Tielmehr  die  wesentliche  tfberein- 
■timmune:  beider  Erziehungsthfttigkeiten  unleugbar  ist. 

Die  ganze  Arbeit  zeogt  ebensowol  von  eindringendem  Studium  des  G^en« 
stnndes,  wie  von  Uuem  Denken,  sduurfem,  sellMtständigQm  vnd  unparteüsehem 
Urtheil  und  ist  daher  sehr  geeignet,  eine  vielbe.sproehene  Streitfrago  der  end- 
gUtigen  Lösung  eutgegenzufUhren;  somit  sei  sie  der  Beachtung  der  Schulweit 


Dr.  Wilhelm  Neurath,  System  d«r  Bodalen  nnd  politisdiai Ökonomie.  Volks- 
wirtscliaftslelire.  Zweite  Anflage.  In  6  Lieferungen.'  Wien,  Iieipeig 
und  Berlin  bei  Julius  isLliukhardt.  1889. 

Wir  haben  die  «osgeBeiehneten  Arbeiten  Neuraths  bereits  in  frttheren  Jnhr- 

gängen  dieser  Zeitschrift  (VUI  S.  2ö.S  f.  und  XI  .S.  549/  angezeigt,  und  indem 
wir  dieselben  aufo  neae  bestens  empfehlen,  haben  wir  nur  beisnillgen,  dass 
die  Mer  yorliegende  zweite  Anflage  der  „VoHnwirtscIiaftoldire*'  sorgfältig 

überarbeitet,  suwie  bedeutend  orwritt  rt  ist  und  zur  Erleiehteruiiü  des  Ankaufs 
in  6  Lieferungen  erscheint.  Nachdem  Dr.  Neuraths  Werke  den  Beitall  der 
herrorragendsten  NntfoniilBlHWomen  gefünden  haben  und  die  Yerdienste  des 
Verfiissers  neuerdincrs  dureh  Ertu  iniunir  zum  Professor  an  der  landwirtschaft- 
lichen Hochschule  in  Wien  anerkannt  worden  sind,  enthalten  wir  uns  jeder 
weitexen  Bemerlcnng.  M. 

Tipetl,  Lehrbuch  der  allgemeinen  Geschichte  für  Lehrer-  nud  Lehrerinnen- 
bildnngsanstalten  für  den  T.  and  II.  Jahrgang.    Prag,  Tempsk}-.  1  fl.20kr. 

—  Geschichte  der  östci  reichisch  -  ungarischen  Monarchie.  Verfassung  und 
Staatseinrichtungen  derselben.  Für  den  III.  Jahrgang.  Ebenda.  1  tl.  2Ukr. 
Beide  Bftndc  dieses  Lehrbuches  sind  für  Österreich isclie  Lehrer-  und  Lehrerinnen- 
bildungsanstalten  bestimmt  uml  ihrem  Geiste  nnd  ihrer  Anlage  nach  vielleicht 
der  erste  gelungene  Versuch,  sicii  auf  dem  Gebiete  der  geschichtlichen  Lehr- 
bnchliteratnr  vom  Auslande  zu  emancipiren.  Der  Verfa.sser,  durch  größere 
Gff'icbit  hrürhp  Arbeiten  und  Specialforschungen  vorthcilhaft  bekannt,  hat  alle 
inethodiächeu  Ertuhiungeu  bei  seiner  Arbeit  verwertet;  er  konnte,  da  er  den 
Stoff  und  die  Literatur  behenndit,  ans  dem  Vollen  schöpfen  nnd  abgerundete 


H. 


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—   136  ^ 


Bflder  yoU  LelMo,  Aiuchauliehlrdt  und  Wahilieit  entworfen.   Die  Anekdote, 

sofern  sio  ein  Streiflicht  auf  den  Charakter  oder  ein  Errip;nis  oder  einen 
Culturzustand  wirl't,  wurde  nicht  aufieracht  gelassen,  wol  aber  durch  ein  nSoU** 
oder  „man  enfthlt"  als  solche  gekennieidmet.  Die  CnltuseKhiehte  ist  mit 
Vorliebe  behandelt.  Dies  i^ilt  besonders  fiir  die  Darstellung  der  österroichischen 
Geschichte.  Manchem  der  Regenten  geschieht  ja  geradezu  unrecht,  wenn 
man  die  Culturverhältnisse  seiner  Zeit,  die  durch  ihn  beeinflusst  wurden, 
nicht  berücksichtigt.  Muu  findet  darum  in  dem  zweiten  Theile  des  Buches 
viele  und  zwar  beglaubigte  Züge,  die  ein  wesentlich  anderes  Bild  ^ar  naanches 
Herrschers  geben,  als  in  den  landläufigen  Lehrbüchern  entworfen  ist.  Ähnlich 
wie  für  preußi-sclie  oder  fninzösischc  Srhnlen  bestimmte  Lehrbücher  der  (be- 
schichte die  glorreicheu  Thiiteu  eiuhoimischer  Helden  besonders  ausführlich 
schildenif  eo  das  Buch  von  Tupet2  die  mhninichen  Thatcu  österreichischer 
Heerftthrer,  z.  B.  die  Helden  des  Kriege«  vom  Jahre  1H(HJ,  Kr/herzog  Karl, 
Prinz  Engen  etc.,  oder  die  Kcformcn  Maria  Theresia  s.  Man  wird  ihm  daraus, 
sowie  ans  der  fluchtigeren  Behandlung  mnncdier  mehr  loculgeschichtUcher  Er- 
eignisse anderer  Staaten,  so  wenig  wie  den  genannten  Büchern  einen  Vorwurf 
machen  dürfen.  Das  Buch  soll  ja  dem  späteren  Volksschullchrcr,  der  gerade  die 
glorreichen  Thatcu  des  Vaterlandes  der. Fugend  besonders  ausfiilirlich  erzählen  muss, 
will  er  in  ihrem  Herzen  die  Anhänglichkeit  an  die  Dynastie  und  das  Heimat- 
land kräftigen,  eine  Qudle  der  Belehrung  sein  und  bleiben.  Ein  Schmuck  und 
ein  Beitrag  zur  Belebung  des  Wortes  sind  du:  154  Bilder  und  die  19  Karten 
des  Anhanges.  Viele  der  eisteren  sind  dem  Werke  BÖsterreich- Ungarn  in 
Wort  und  Bild*  entlehnt  und  sind  keine  Phuitasiebilder.  Die  letzteren  enetzen 
einen  historischen  Atla.s. 

£s  ist  keine  Frage,  das«  sich  das  Buch  von  Tupets  um  seiner  methodischen 
Voizflge  nnd  nudi  um  des  Geistes  wiHen,  in  dem  es  gesdirieben  ist,  Fmnde 
in  den  österreichischen  Lehrerbildungsanstalten  erwerben  wird  W. 
Spiefs  und  Herlct,  Sächsische  GeBchichte  in  Biographien  I.  (5.  Aufl.)  Hüd- 
burghausen  1889,  Kesselring. 

Wir  hfttten  schon  wiederholt  Gelegenheit,  bei  Besprechung  von  GescJiichts- 
bttchcrn  vergleichsweise  auf  Spieß-Berlets  „Weltgeschichte  in  drei  concentrisehen 
Kreisen"  hinzuweisen.   Das  Buch  ist  eben  einer  von  den  wenigen  originellen 
und  sehr  brauchbaren  Lehrtateii  unserer  höheren  Schulen.  Dieses  Urtheil  ver- 
dient auch  die  Ergänzung  zu  jenem  Werke,  die  für  sächsische  Schulen  bestimmte 
„Geschichte  .Sachsens"   in  zwei  concentrisehen  Kreisen,  die  nacli  demselben 
Plane  angelegt  i.st,  wie  das  Hauptwerk:  abgerundete,  an  charakteristi^hem 
Detail  reiche  Biblcr-  vorangestellt  wird  dem  schlicht  geschriebenen  Texte  eine 
Disposition,  deren  Theile  (Schlagwürter  •  als  Kaudnoten  sich  an  den  betreflfenden 
Stellen  des  Textas  wiederholen;  in  Fußnoten  endlich  wird  die  Lage  der  im 
Texte  genannten  Drte  angegeben  und  Einzelheiten  erläutert  oder  nachgetragen. 
Eine  ganz  vorzQgliehe  Beigabe  sind  die  S.  7G — 88  gegebenen  Zusätr.e,  die 
Geschichte  des  oberen  Erzgebirges,  insbesondere  Annaberg  betrefiFend.    In  der 
Weise  wird  die  Geschichte  des  Landes  mit  der  Localgeschichte  zu  deren  beider- 
seitigem Vortheil  am  besten  verbünde  W. 
Perd.  Hirts  Geogrsphisehe  Bildertafeln.  III.  Theil.  2.  Abthlg..  Völkerkunde 
von  Asien   und  Australien  (300  Holzschnitte  auf  27  Tafeln).  Preis 
(5,50  Mk.;  8.  Abthlg.:  Völkerkunde  von  Afrika  und  Amerika  ^äiXHolz- 
schnitte  auf  31  Tafeln).    Preis  7  Mk.    Breslau,  Ferd.  Hirt. 

Mit  der  dritten  AMhdhing  des  m.  Theiles  ist  das  Hirtsehe  Bflderwerk  tih 
gcscIilosM  II.  Ks  umfasst  in  il»  n  fünf  rändou:  142  Taft  in  mit  1108  Holz- 
schnitten, außerdem  einen  umlangrcichen  erläuternden  Text.  Welche  Summe 
von  geistiger  Kvaft  ein  solches  werk  erforderte,  ist  jedem  klar:  vielleicht 
ahnt  aber  mancher  nicht,  welch  große  pecuniären  Mittel  die  Herstellung  in 
Anspruch  nahm.  Einige  der  Tafeln  sollen  dem  V  erleger  bis  2(KK)  Mark  ge- 
kostet haben!  Xnn  dasW^erk  in  so  gediegener  Weise  abgeschlossen  ist,  sollte 
CS  auch  von  den  Lehrern  in  der  intensivsten  Weise  beim  Uuterri<  ht,  sowie 
beim  Studium  benutzt  werden.  Die  zweite  und  dritte  Abtheilung  der  „Völker- 
knnde",  die  ims  heute  xat  Bespzedrang  Toriiegen,  Teidieiien  dieses  Interesse 


DIgitizea  by  LiOOgle 


—   1S7  — 


jjfanz  besonders,  weil  die  dur|;c8telitcu  objectc  einer  mis  fern  luvenden  Welt 
entnommen  sind,  in  die  selbst  die  beste  HeHrhreihung  nur  unvolLkummcn  cia- 
t^hrt.  Wie  anders  wirkt  ein  Bild,  wenn  es.  w  ie  dic.s  hier  der  Kall,  mich  eiier 
Naturaufnahme  gezeichnet  ist,  den  Stempel  des  UnvertälBchtcn  und  Objcctiyen 
an  sich  trÄift!  Das  allein  vermag  die  fremde  Welt,  so  wie  fie  wirklich  ist, 
ans  mibe  zu  räcken  und  sie  uns  verständlieh  zu  nnuhcn  I>i:r  (  rliiutcnide 
Text,  der  ia  dw  «weiten  AbUieiluiig  16  Bogen,  in  der  dritten  Abtheilung 
10  V«  Bogen  stank  tet,  bniiieht  dann  nur  die  RoDe  des  Cicerone  zu  Aber- 
nohnif-n  und  unser  Angf  uuf  alles  Arm  I5ilde  zu  sehende  ehamktcrLBtische 
Detail  hinzulenken.  Kinc  Keihe  Ton  Mitarbeitern,  die  das  betreffende  Land 
und  Volk  au  Antofsie  kennen  gelernt  haben,  hat  nt  diesem  Texte  beigectenert 
—  Der  Reichthum  an  dargestellten  Ohjenten  in  d<  n  jjenanntt  u  zwei  Abtheilangen, 
sowie  die  Art  der  Auswahl  dürfte  um  besten  ersichtlich  wurdeu,  wenn  wir  ein 
etwM  aosttthrUdier  behandeiteB  Beispiel  bringen.  Wir  greifen  ans  der  «weiten 
Abtheilung:  .China"  h.  raus.  Was  stellen  di<-  Bogen  dar":'  Die  Tafrl  KH) 
ftUurt  Volkatypen  und  Erwerbeformen  vor.  und  /.war  in  vierzehn  Einzelbildern: 
Chinese,  Chinesin  (BrvstiiUder),  Mandarin,  chinesische  Fraaen.  Kindergrume, 
Mant^cliu-Fraueu,  Bauer  vom  Peiho.  .Mongolen,  Eingr  boreuf  von  .Tiinnan,  Zu- 
richtung de»  Reisfeldes,  Reisemte,  Krutc  und  Beurbeitung  des  Theeä,  Seidw- 
Weberei,  BaumwoUwcbcrei.  Die  Tufcl  101  stellt  aeht  nanten  dnr.  nämlieh: 
Straße  in  Tanton,  Brücke,  Inneres  eines  Ziinmeis,  (tart>  n  '  iiics  Vornehmen, 
Lösswülinuu^'.  Inneres  eines  Tempels,  Tenipelhof,  die  gruBe  .Mauer.  Hie  Tafel 
102  gibt  das  Bild  einer  J^chule,  einer  Theatervorstellung,  Straßmscenen,  ver- 
schiedene Strafarten,  zwei  Opiumrauchcr,  dann  Ansiehtcn  ein«  r  ILiuptstraße 
in»  IV'kinger  ("hineseuvicrtel,  eines  Stadttheilcs  in  Nanking  am  Blauen  Flusbe 
mit  Dschunken  und  schwimmenden  Wohnungen  auf  dem  Onntonllusse.  Die 
Hildijröße  ist  9:9 cm  oder  18:11  rm.  Berücksichtigt  man  nun.  da«s  jedes 
der  StraBenbilder  bei  der  zuletzt  genannten  Größe  auch  noch  Typen  der 
verschiedenen  Berufsarten  nach  allen  ihren  Eigenthiimliehkeitcii  lu  Tracht, 
Beschäftigung  etc.  deutlich  genug  wiedergibt  und  das«  ebenso  auf  anderen 
Bildern  auch  vicicriei  untergeordnetes  T^ctail  sichtbar  gemacht  ist,  das  in 
grOSerem  Maßstahe  losgelost  von  dem,  wozu  es  gehört,  nicht  vorgefiilirt  werden 
konnte,  sollte  der  Umfang  eines  Handatlasses  nicht  überschritten  werden,  so 
begreift  man  die  Befriedigung,  die  der  Beschauer  der  Bilder  ob  des  Reich* 
thums  an  Anschannngsmaterial  eniptindet.  Land  und  Leute  von  China  stehen 
in  kr&ftigen  Zttgcn  wie  leibhaftig  vor  unserem  Auge.  Eine  gleiche  Anregung 
genieBt  man,  man  mag  welches  Bild  audi  immer  avftdüigen.  Besonders  die 
Gruppenbilder  sind  :uü?erordentlich  packend  und  prägen  sieh  wegen  ihrer  übe r- 
sichtÜchen  Composition  der  Phantasie  leicht  ein.  Man  lietraohte  z.  B.  aus  den 
TafiBln  186  und  187  in  der  dritten  Abtfaeünng  (Die  Indianer  Nordamflvika's) 
f^twa  die  Bilder:  Der  Kriegstanz  der  Sioux,  der  Medicinmann,  eine  Krankheit 
beschwörend,  oder  die  Darstellung  des  Stammeazeichens  bei  den  Pawnees: 
diese  mtor  -vergint  man  nie  mehr,  aneh  wenn  man  sie  nur  einud  etwas  ein- 
gehender be.^i(•htigt  h;ihen  sollte. 

Das»  die  beiden  AhtiicihinLi  n  ikr  Bildcrtateln  auch  insofern  auf  Vollständig- 
Mt  Anspruch  machen,  als  s'u-  uicht  blot  die  Eingeborenen,  sondern  nmh  die 
eingewanderten  Weißen  und  die  Kreuzungen  in  ihren  Typen,  Lebensgcwohn- 
beiten  etc.  bildlich  wiedergeben,  brauchen  wir  wul  nicht  erst  ausdrücklich 
n  erwfthnen.  \\':ihre  Prachtexemplare  enthilt  aueh  in  dieser  Häneht  das 
vortreffliche  Werk.  W. 

Samuel  Schillinf^s  Gnindriss  der  Natuiyeschiciite.  Erster  Theil:  Da.s  Thier- 
reich. Sechzehnte  Beul beitiiug  besorgt  von  l'rof.  Dr.  F.  C.  Noll,  Oberlehrer 
am  städtischen  öymaasium  zu  Frankfort  a.  M.,  Herausgeber  der  Zeitschrift 
.,ZoologlMh«r  Otiten*.  Mit  668  Abbildungan  and  etner  Karte  in  Farben- 
druck. —  Breslau  1889.  Ferdinand  Hirt,  kSnigL  üniversitfttB-  und  Verlaga- 
bachhaudluug.  3,80  Mk. 

Die  ächillingschen  Lehrbücher  erfkeuen  sich  seit  jeher  in  der  deutschen 
Schnlliteiatnr  eines  großen  und  wolTerdienteu  Rufes.   Die  Verlagshandlung 

FMagogiuB.  lt.Jsluf.  Hann.  10 


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-  138 


hält  (lieselbou  in  den  ^totie:  erecheinendcn  Neuauflagen  auf  dem  Standpunkte 
der  »ich  weiter  entwickelnden  Wissenschaft.  Auch  die  neue  Aufluge  ist  wieder 
ein  sprcclieuder  Beweis  dafiir.  D&s»  man  in  dtt  Buthflilang  des  Buches  bei 
dem  erfuhrungsgemäB  Guten  verbleibt  und  so  an  dem  ursprüngliclD  ii  Plane 
Schillings  festhält,  ist  sehr  anerkennenswert.  So  vor  allem  ist  die  Kiuleitang 
noch  immer  ein  sehr  übersichtlichfr.  m  rgleii  iiendcr  anatomischer  Theil  des 
Bnolies,  welcher  es  in  der  Systematik  leicht  macht,  durch  Berufungen  auf  das 
Abgehandelte  die  Thierbeschreibungen  recht  karz  zu  fa.ssen.  I^ss  manche  für 
den  Unterricht  auf  dieser  Stufe  ganz  unhodeuteude  'l'liit-ri^rappen  ausgelassen 
wurden,  ist  nur  2U  loben.  IMe  Detailbeschreibangen  sind  kurz  und  bündig 
•■d  wie  der  allgemeine  Tliefl  dnreh  zahlreiche  theib  anatomische,  theils  Total- 
bilder ausrricliond  unterstützt.  Die  geoffraphisclif  Verhreitong  derThiere  und 
eine  kleine  Faläozoologie  schlicllen  du  Buch  ab.  Wir  wiederholen  nar.  dass 
das  ganae  Werk  ein  gntee  Lerabnch  ist,  wnmgleidi  im  Detail  naudies  wegea 
Mania:cl.s  mi  Zeit  in  der  Schule  au.sj,'plas.son  und  dem  Privatfleißc  dor  Schüler 
Überlassen  werden  muss.  —  Die  Ausstattung  ist  in  jeder  Bcadehumr,  besonders 
aadi  in  Bmag  auf  die  QiOBe  des  Druckes  aeiir  lobauw^rt.        0.  R.  R. 

Dr.  pliil.  WUkeln  Jnliw  Behrens,  Methodisches  Lehrbuch  der  all- 

gemeitM'ii  Botanik  für  höhere  Lehranstalten.  Nach  dem  neuesten  Stand- 
punkte  der  Wissenschaft.  Vierte,  durchgesehene  Aufla^:e.  Mit  vier  ana- 
lytischen Tabellen  und  zahlreichen  Original-Abbildungen  in  41 1  Figuren, 
vom  Verfasser  nach  der  Natui'  auf  Holz  gezeichnet.  VIII  u.  350  S. 
Bkaimsdiweiff  1889,  Harald  Bmhn,  VerlagsbachhandliiDg  fVr  Natorwiisen- 
Mhaft  und  Medicin.    3,60  Alk. 

I'ntcr  dem  vielen,  was  anf  d»'ui  Bncht  riiiurkti'  erscheint,  ist  d&a  vorlirgende 
ein  wirklich  vorzügliches  Werk,  mit  überreichem  Inhalte,  der  sich  in  cJcstalt- 
lehre,  Systematik,  Biologie.  Anatomie  nnd  Physiologie  und  die  Hohandlung  der 
niederen  Pflanzen  gliedert.  Die  (vestaltlehre  bespricht,  unterstützt  von  zahl- 
reichen, höchst  gelungenen  Abbildungen,  die  ftuBere  Form  des  PflanzenkOrpcrs 
in  seinen  Theilen.  Die  Systematik  beginnt  mit  einer  sehr  detaillirten  Dia- 
nammatik,  wie  überhaupt  die  Durchschnitte  der  Blüten,  um  die  Anordnung 
der  BlUtenthoUe  recht  deutlich  sichtbar  zu  machen,  in  den  Charakteristiken 
der  einzelnen  T^anzenfamilien  die  erste  KoUe  spielen.  Diese  Sysl'-m.itik  ura- 
tasst  übrigens  nur  die  böheien  Pflanzen,  die  Monokotjlen  und  Dikotylen; 
Detaflbeeehreibuttgen  fehlen  natttrlidi  g^wUch.  Die  Krone  des  Werkes  mochten 

wir  die  Biologie  nennen,  da  sie  sowol  in  don  Ahachnitte  von  der  Befruchtung 
als  in  denen  von  der  Übertragung  des  mitenatanbes  durch  den  Wind  und 
dnreh  Thiere  soTiel  des  Interessanten  nnd  Belekrenden  bietet»  wie  Mn  anderes 

derartige.s  Buch.  Das  Capitel,  welches  Beispiele  für  die  Inseetenbestäubung 
bei  einigen  Pflanzen  anfuhrt,  ist  höchst  lesenswert  Anch  im  Capitel:  »Ver- 
bieitangniittel  der  Frttefate  nnd  Samen"  sind  hOehst  beieinende  MUnongen 

zusammengetragen.  Die  .Anatomie  und  Phy.sioiogie  theilt  sich  in  die  Lehre 
von  der  Zelle,  von  den  Geweben  und  die  eigentliche  Physiologie:  in  diesem 
Absoiinitte  mochten  wir  beeonden  auf  die  Bespieehmg  und  Abbildung  der 
Afparate.  welche  die  Lehensvoraränfre  in  den  Pflanzen  erliiufern,  anfmerkasm 
machen.  Hie  ^eben  beim  .Selbststudium,  und  dieses  ncheiut  der  V^erfaseer 
vor  allem  stets  im  Au^c  gehabt  zu  haben,  Gelegenheit,  durch  eigene  Versuche 
sich  von  der  Wahrheit  der  aufgestellten  Sätze  zu  überzeugen.  Auch  den 
niederen  Pflanzen  ist  ein  genügender  Platz  zugewiesen  und  dieselben  sind  aus- 
reichend behandelt.  Auffallend  dürfte  es  manchem  erscheinen,  hier  auch  die 
Nacktsamer  (.N'adolhJilzer  und  Zapfcnpalniem  einjjer  iht  zu  finden.  Ks  ist 
schade,  dass  nicht  auch  im  Zusammenhange  dem  Werke  ein  Abschnitt  über 
FflaoMBgeogiaj^de  und  •Pallontokttie  sagättgt  istj  ee  wttsde  dadurch  noch 
vollkommener  geworden  sein.  —  Wir  sind  «war  m  neuerer  Zeit  gewohnt, 
naturhii^torische  Werke  in  schöner  Ausstattung  zu  erblicken,  und  die  Herren 
Verleger  wetteifern  zum  Nutzen  der  Wissenschaft  in  dieser  Hinsicht  mitein- 
ander* aber  wir  mOmen  gestehen,  dass  dieses  Werk  auch  in  dieser  Beziehung 
uns  als  das  vorzitgUohste  anf  buchhftndlerischem  Gebiete  erscheint.  Verfasser 


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—    189  — 


(durch  seino  ädbtttBtMdifeu  Zeictuiuu£euj  und  Verleger  haben  hierin  dMftuAeate 
celeiBtet.  Wenn  wir  daher  dieMs  Bach  «lleB  Kreieea,  die  lieh  mit  Botanik 

MBcbäftigen,  auf  das  an^elrppiitlichKte  etupfehlcn,  j»o  mope  noch  einmal  wieder- 


Gdidmnine  dm  Pflansenwelt  «nuiimgen  wolleii,  in  dieaem  Buche  den  Sehltlaiel 
finden,  der  ihnen  in  der  aogenekmten  Weite  dea  Zutritt  n  dieien  Qebeim- 
niisflen  erüfihet.  C.  R.  K. 

Dr.  Patl  Wonidlo,  IHreetar  des  BealgymnatiainB  m  Tamowiti,  LeitfiidMi 
der  Mineralogfie  und  Geologie  fBr  hShere  Xehranfitalt«Q.  Mit  696  in  den 
Text  gedruckton  Abbildungen  und  einer  geologischen  Karte  in  BontdnudL 
VI  u.  238  S.    Berlin  1889,  Weidmannsche  Buchhandlung.   3  Mk. 

Wir  hatten  schon  Gelegenheit,  über  Lehrbücher  desselben  Verfassers  uns  sehr 
lobend  zu  ftoBem,  und  mOssen  uns  in  gleicher  Weise  auch  Uber  die  vorliegende 
Mineralogie  und  iTcologie  aUi^prechen.  Ein  grofler  Theil  des  Buchen  ist  der 
Krjätallographie  gewidmet,  an  einigen  Stellen  vielleicht  Hogar  in  einer  Aua- 
dehnung, die  Uber  das  gewohnte  Maß  hinausgeht;  dagegen  i»t  den  physikalischen 
Eigenschaften  der  Mineralien  ein  kleiner  (aber  ausreichender)  Kaum  zugewiesen, 
und  die  chemisdieu  Vediftltnisse  der  Mineralien  werden  mit  Bezugnahme  anf 
den  Umstand,  dass  unorganische  Chemie  ohnehin  i^olohrt  wird,  g^anz  kurz 
behandelt.  Nach  einem  ftat  dnrchaua  chemiacben  Systeme  weiden  hieiauf 
die  wichtigsten  Minemlien  in  gtaa  sntreffiender  Weise  headirleben.  Die  Geo- 
logie thf'ilt  «i(h  in  eine  Potnii^^riiphic  mit  nrlit  eingehender  Beschreibung 
der  einzelnen  Uesteine,  welcher  eine  kune  Erläuterung  der  ätructur  und  dea 
GefBges  Toransgesandt  iat  Ont  bdiaadelt  ist  ferner  der  Vnlcanisniui  und  die 
erdbildcndft  Thätigkeit  des  Wassers;  wol  etwa.s  kurz  s^cfasst  ist  die  geologische 
'üiätigkcit  des  Thierreiches,  die  dea  Pflanzenreiches  iKoblenbildung)  wird  erst 
■piter  im  hiatwiadwu  Theile  abgeiiaiidelt  über  Seniehtung,  iMS^eniDg  nnd 
Alter  der  Gesteine  ist  das  Wis.sen8wcrte  sehr  übersieht! ich  in  einem  Abschnitte 
naammengefasst.  Die  Erdformationen  geben  ein  reeht  anschauliches  Bild  der 
Veitudernngen  in  dnr  LithospbUre  der  Erde,  der  diesbesOgliehen  Thier-  nnd 
Pflanzenwelt.  Im  ganzen  Bnehe  sind  zahlreiche  sehr  e^elnngene  Illustrationen 
vertheilt,  die  insbesondere  in  den  geologischen  Abschnitten  theils  durch  Ab- 
bildungen von  Dtinnschliffen  ttber  die  Stmctur  der  Gesteine  Aufschluss  geben, 
theils  durch  landschaftliche  Bilder  (last  ausschließlich  aus  Deutschland)  sehr 
belehrend  wirken.  Auch  die  geologische  Karte  Mitteleuropas  ist  sehr  instructiv. 
Sprachlich  ist  uns  nur  der  Ausdruck  „FeldapXthe"  als  uigewdhnlich  aufgefallen. 
Die  Ansstattiiiitr  iles  Buclios  ist  geradezu  vorzüglich  /u  nennen.  Wir  empfehlen 
daher  da^j  Biali  uach  jeder  Richtung  al.*i  ein  sehr  brauchbares  Schulbuch  und 
auch  zur  Selbstbelehrung.  (  .  R.  K*. 

Hilfsbnch  für  den  Unterricht  in  der  Naturgeschichte.  Zum  Zwecke 
der  Vertiefung  und  Belebung  des  natnrgeschichtlichen  Unterrichtes  bearbeitet 
von  A.  Umumel,  Seminarleiirer.  6  Lieferungen  ^  4  Druckbogen  &  60  Pf. 
Halle  ftw  S.  1889,  Veite;  ^  H^ynentiuiaclien  Buchdmelcerei  (F.  Beyer). 

Der  Verfa.H.ser  will  in  dem  Werke,  von  welchem  uns  zwei  Lieterungcn  vor- 
Uegen,  keineswegs  ein  Schulbuch  bietei^  sondern  eine  für  die  Hand  des  Lehrers 
zum  Selbvtrtndinm  und  sur  Yofberaitttng  für  den  Unterricht  bestimmte  Be- 
arlieitung  ditt  Naturgeschichte:  für  den  Schüler,  wenn  er  etwa  das  Buch  zur 
Hand  bdiommt,  soll  es  die  Möglichkeit  einer  größeren  Vertiefung  in  den 
Gegenstand  leisten.  Dieser  Avfurabe  entapredien  aneteeita  die  reichen  Detafla 
über  Lebensweise,  ^eotrraphische  Verbreitung  etc.  bei  den  einzelnen  Thicren. 
sowie  anderseits  die  Au^ben,  welche  in  Fußnoten  für  den  Unterrii-ht  an- 
g^ldMB  sind.  IMe  Detaiia  sind  snn  Theile  ijritßeren  Werken,  wie  Bfelin, 
entaoiunen,  theils  stammen  sie  von  Selbstbeobachtum^^en  des  VcrfaaaeiB  lier. 
Anf  die  Anatomie  der  Thiere,  z.  B.  ihren  Skuletbau,  ihre  Zahuverh&ltnine  eCe., 
lOtte  wol  grtBere  BAdnicbt  genommen  werden  sollen;  auch  ist  die  Sjite- 
matik  ttne  leekt  alte,  denn  in  keinem  neuereu.  insbesondere  fUr  Lehrer 
bestimmtem  Biidie  wird  man  die  Beutelthiere  nächst  den  Kaubthieren,  die 
Sdmabeltiiieie  bei  den  FeUiihnem  (sonst  Zabaanne  genanat),  die  Robben  bei 


holt  sein,  das»  insbesondere  diei 


eiche  durch  Selbststudium  in  die 


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—   140  — 


.   den  WiweroIngethiwpeB  voxAiideB.  Auch  ist  bei  im  Sdmsbelthieran  nm 

EiorlcfTcn  nicht«  erwHhnt  ,  wodurch  die  Charakteristik  der  Sänpethiere  etwas 
Hiteriri  wird.  Da&n  in  einem  solchen  Bache  Abbildungen  fehlen,  ist  zwar 
erklftrlich,  aber  doch  immerbin  bedauerlich,  Deaaenuiigeacbtet  wird  dieeei 
Werk  iii  den  KreiKon.  für  die  os  hcstiinint  ist,  Nutzen  Ptittfti.  Wenn  aber 
die  Fortsetzungen  in  deiu  gleichen  Maße  der  Ausdehnung  gchalt<.'n  sind  (die 
zweite  Liefenm^  schließt  noch  nicht  die  Vögel  ab),  so  mri  das  Werk  wol  nrft 
seohi^  Lieferungen  für  die  gaaie  Natugeeohidite  nicht  Min  Auslangen  finden. 
Die  Ausstattuug  ist  gut.  C.  Ii.  B. 

Hax  Hftlmer,  Lehrer  in  Bredan,  Onmdsilfre  der  Ptaysik.  Ein  Merk-  und 
Wlederholnngsbuch  für  Schüler  mehi  klassi^c«  r  Volkssehiileii.  Mit  100  Ab- 
bildungen.   1(X)  S.    Breslau  1889.  ^'erlag  von  E.  Morgenstern.    0,50  Mk. 
Ein  kleines  Lehrbuch  der  Naturlehre,  zu  dem  Zwecke  abgefasst,  um  dem 
Schüler  du  Wiederholen  des  in  der  Schule  Gelernten  su  erleiditeni.  DieNm 
Zwecke  entspricht  die  Form  des  StofTis  und  vor  ullcni  die  große  Ziihl  von 
den  einzelneu  raragm^en  beigegebenen  \\  iuüerhulungsfragen  in  vollkommen 
beMedigender  Weise.  Die  Träurang  des  Stoffes  in  «ueh  vorgesetzte  Zahlen 
gekennzeichnete  H nippen  ist  recht  gut.   Die  Ausstattung,  besonders  die  Holi- 
schnitte  sind  lobeuswert  zu  nennen.  0.  S.  B. 

Ii.  Kuöpfl,  GrottherMgl.  Bealiehrer  an  Oppenheim  a.  Rh.,  Methodischer  Leit- 
fhden  der  nnorganiaehoi  Chemie.   Inductive  Einfitlining  in  das  VerstSadnfti 
chemischer  Vorgttnge  unter  Berücksichtigung  der  'I'hermochemie  für  höhere 
.   Lehraustalteü.    üpiieoheim  188Ö.    Verlag  von  Wilh.  TraimmäUer.  VH 

u.  99  S.    1^0  Mk. 

Ein  für  Untendassen  der  Mittdsdnilen,  an  denen  die  Chemie  als  Separat^ 

gegenständ  gepflegt  wird,  recht  brauchbares  Büchlein,  da  alles  auf  dem  Ver- 
suche und  der  Erfahrung  basirt.  Die  Auswahl  ist  eine  umsichtige  und  gut 
beschränkte.  Der  Thermochemie  ist  ein  großer  Spielraum  gegeben,  mehr  als 
sonst  in  Leitfäden.  Die  Gruppirung  des  Stoftes  ergibt  sich  aus  den  folgenden 
AbEchnittBtiteln.  Elemente,  die  binären  Verbindungen,  die  chemische  Theorie, 
die  Zeneferang  der  binären  Verbindungen,  die  Reductionen.  die  Wechsel- 
zersetzungender  Säuren,  Basen  und  Salze,  die  wichtigsten  Salze.  Eingefügte 
Tabellen  dienen  sehr  vortheilhaft  für  die  Wiederholung  uud  den  llberbUck 
der  einzelnen  Abschnitte.  Dass  gar  keine  Abbildungen  yorkommen,  ist  wol 
ein  Maagel;  sonst  ist  die  Anastattang  des  BAchleias  sehr  gut.      C.  &.  B. 


TwMrtwoitf.  RedaetMt  Dr.  Prl«dri«b  Ditt»«.  BudMniekspd  Julia«  Xlinkkirdt,  Leipzig. 

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Die  SokrfttlBebe  MetMe. 

Von  Dr,  J»  MShm^BamJb^, 

Jeder,  der  si<'h  iia(;li  den  vei*schiedenen  Lehrai-teii  umthiit.  liört 
auch  von  der  Sokratischen  Methode;  Uber  Sokrates  selbst  aber  iKirt 
er  meistens  weniger  Genaues  und  bildet  sich  ^ar  zu  leicht  aus  jener 
Methode  ein  abfälliges  Urtheil  über  Sokrates,  den  Vater  der  erkennt- 
nistheoretischen Philosophie. 

Mancher,  der  den  platonischen  Sokrates  bewundern  lernte,  erwar- 
tet vielleiclit  in  der  Sokratischen  Methode  einen  besonders  wertvollen 
Besitz  der  Pädagogik,  in  dieser  Methode  ein  besonderes,  ihm  noch 
irenig  bekanntes  Verdienst  jenes  Philosophen.  Doch  beide,  sowol 
der  der  Phflosophie  Beflissene,  als  ancli  der  Jttnger  der  Pädagogik, 
imteriiegtti  einer  TSnsdiang.  Dar  PhiloBopli  erwartet  von  der  Methode 
za  viel,  der  Pildagog  sieht  in  Sokrates  an  venig.  Ich  werde  nim, 
am  letzteres  Yon  dem  Andenken  des  griecliischen  Weisen  abznwenden, 
znnSchst  korz  angeben,  was  man  in  der  Pädagogik  nnter  Sokratischer 
Methode  zn  verstehen  pflegt,  nnd  dann  dem  gegenüber  die  wirklich 
▼on  Sokrates  gehandhabte  Methode  in  Umrissen  za  zeichnen  Tersnchen. 

I.  Pädagogischer  TheiL 

Der  Unterriehtsstolf  kann  aaf  zwei  Weisen  dem  .Lernenden  mit- 
getheOt  werden:  das  dnemal  wird  der  Schiller  durch  Fragen  zn 
Antworten  geflihrt,  die  allnüUdich  seinen  Wissenskreis  erweitern,  das 
anderemal  der  zn  einon  Ganzen  abgernndete  Leinstoff  in  zusammen- 
hangendem  Yinrtrage  .gegeben.  Die  erstere  Lehrart,  die  Frage-  oder 
erotematische  Methode,  die  andi  als  heoristisehe  bezeichnet  wird, 
weü  sie  den  Schtller  selbst  das  finden  Iftsst,  was  er  erkennen  nnd 
lenien  soll,  wird  von  den  ehien  die  Sokratische,  von  den  anderen  die 
Torzagaweise  kateehet&che  Methode  genannt  Man  setzt  also  die 
S(^Eralische'  Methode  gleich  der  katedietischen  nnd  bezieht  damit  alle 
Vorwürfe,  die  der  katechetischen  gemacht  werden,  auch  anf  die  Sokra- 
tische Methode.  Machen  wir  uns  klar,  was  das  zn  bedeuten  hat. 

T^nter  Kttx<{f.r^ai<  oder  Kariixurfiog  verstand  man  ursprünglich  den 
f&r  den  Eintritt  in  die  Kirchengemeinschaft  vorbereitenden  Unterricht 

PaiMtacini.  lt.  Mug.  Haft  m.  11 


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—   142  — 


über  die  christlichen  Glaubeuslehreu.  Abgesehen  von  aller  Methode 
verstand  man  also  darunter  den  ersten  christlichen  Religionsuntemcht. 
Mit  dieser  Katechetik  scheint  von  vornherein  die  Soki-atische  Methode 
nichts  zu  thun  zu  haben;  denn  diese  Katechetik  bezeichnet  einen 
gewissen  Unterrichtsstoft,  keine  Methode. 

Dennoch  werden  wir  in  des  Sokrates  Lehren  Vergleicluingspunkte 
mit  einem  ersten  Religionsunterrichte  finden,  die  vielleicht  mit  daran 
schuld  gewesen  sind,  dass  die  Begriffe  der  Sokratik  und  Katechetik 
miteinander  verschwammen.  Sehr  bald  nämlich  verwirrten  sich 
cUew  beiden  BegrÜfe  in  der  Geseliidite  der  Pädagogik.  Wenn  wirk- 
lich die  Sokratische  Methode  ebenso  wie  die  katecheliiehe  beide  nichts 
anderes  bedeuten  als  Fragemethode,  so  wird  man  leicht  Terldtett  diese 
Fragemethode  aach  da  noch  Sokratik  za  nennen,  wo  h<kshstens  die 
Bezeichnung  Katechese  berechtigt  ist. 

Die  Fragemeihode  bietet  nämlich  durch  die  gegebenen  Antworten 
dem  geschickten  Lehrer  stets  einen  sicheren  Kinblick,  eine  nnfehlbare 
Controle  Uber  das  Verständnis  des  Schfllers.  Der  Lehrende  wird 
nicht  eher  Nenes  in  den  Kreis  seiner  Fragen  hineinziehen,  als  bis  er 
ans  den  anf  seine  Fragen  gegebenen  Antworten  erkannt  hat,  dass 
das  bisher  yon  ihm  Gegebene  yerstanden  ist  nnd  eine  feste  Grundlage 
für  einen  gläckliehen  Weiterban  bieten  kann.  Unwillkfirlich  werden 
sich  also  an  dü^enigen  Fragen,  welche  der  Erweiterung  der  Kennt- 
nisse dienen,  solche  anschließen,  welche  die  Befestigung  des  Erkannten 
bezwecken.  Nicht  immer  wird  durch  die  Frage  die  Denkkraft  in 
Thätigkeit  gesetxt  werden,  sondern  nur  das  Gedächtnis  in  Anspruch 
genommen,  um  das  bereits  durch  das  Denken  Erworbene  als  festen 
Besitz  zu  erweisen.  So  ist  es  gekommen,  dass  man  unter  der  kate- 
chetischen Methode  wie  Kant  nur  das  Abfratren  des  Gelernten  ver- 
stehen kann,  wobei  das  selbstständige  Denken  des  G^efragten  höchstens 
nur  dazu  beanspruclit  wird,  ihn  durch  Fragen  zu  neuer  Gruppirung 
des  bereits  gedächtnismäßig  Gelernten  zn  veranlassen,  ihm  verschie- 
dene Gesichtspunkte  zum  Überblick  über  seinen  Besitz  zu  geben. 
Setzt  man  also  Katechetik  und  Sokratik  einfach  einander  gleich,  so 
würde  auch  diese  Art  der  Bearbeitung  des  Lernstoft'es  zur  Sokrati- 
schen  Methode  gehören.  Kant  freilich  unterscheidet  sehr  scharf  die 
als  Abhören  des  Gelernten  definirte  Katechetik  von  der  Sokratik: 
und  von  Kaunier  setzt  dem  Katechisiren  das  Sokratisiren  realistischer 
Lehrer  geradezu  entgegen,  welche  vermeintlich  aii^eltorene  religiöse 
Begrifle,  wie  Wolke  im  Pliilautbropinum,  aut«  dem  iüude  herausfrageu 
wollen. 


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—   143  — 


Wenn  nun  Sokrates  auch  weniger  in  den  Verdacht  kommen  wird, 
Erfinder  des  Aufsagens  und  Abhörens  gewesen  zu  sein,  so  ist  die 
Oefahr  desto  größer,  dass  man  ihn  für  denjenigen  hält,  der  zuerst 
Tersucht  habe,  seinen  Hörern  gewisse  Kenntnisse  durch  Fragen  in 
den  Mund  zu  legen  und  diese  dann  in  ihren  Antworten  als  Resultate 
ihres  eigenen  Denkens  vorbringen  zu  lassen.  Anstatt  den  Zögling 
von  Stufe  zu  Stufe  der  Erkenntnis  aufwärts  zu  führen,  anstatt  aus 
vielen  einzelnen  Fällen  ihn  Regeln  abstrahiren  zu  lassen  und  so  ein 
abschließendes  allgemeines  Urtheil  vorzubereiten,  nimmt  der  Lehrer 
gleich  in  seine  Frage  die  schwierigsten  Punkte  der  Untersui'liuiig  als 
erwiesen  auf,  vertauscht  unbesehens  Begriffe,  die  sich  niclit  decken, 
um  scliließlich  bei  dein  Schüler  den  Glauben  zu  erwecken,  dass  er 
selbst  die  Schlusssätze  und  ihre  Wahrheiten  gefunden  habe.  Dieses 
Verfahren,  die  Antwort  schon  in  die  Frage  zu  legen,  das  Verfahren, 
den  Gefragten  zwischen  einer  Unmöglichkeit  und  der  von  dem  Frager 
gewünschten,  willkürlich  herausgegriffenen  Möglichkeit  wählen  zu 
lassen,  dieses  Verfahi  en.  durch  Zerhacken  der  Begrille  und  Zerpflücken 
der  Sätze  den  Schein  einer  Untersuchung  hervorzurufen,  die  lediglich 
aus  angeborenen  Begriffen  ihre  Sätze  entwickelte,  diese  Art  der 
Eatechetik,  welche  besonders  im  vorigen  Jalirhundert  die  jungen 
Ohristen  durch  ihren  logischen  Schematismus  unendlich  gemartert  hat, 
dien  Methode  wird  nur  m  leiebt  mit  der  Sokratik  verwechselt 

Pestalozii  vergleicht  einen  solchen  Katecheten  mit  einem  Raub- 
vogel, der  Eier  ans  lunem  Neste  holen  wül,  worein  noeh  keine  gelegt 
sind.  Der  badische  Eircbenrath  Schwarz  ftnfiert  sieh  in  seiner  Endehangs- 
lehre  Ober  die  Entartung  des  Katechisirens  nnd  Sokratisirens  folgen- 
dennafien:  „Man  kann  es  vermittelst  der  Eateohisirknnst  unglaub- 
lich weit  bringen.  Wir  haben  acht-  bis  sefai^jfthrige  Kinder  gehört^ 
welche  von  der  Allmacht,  von  Beeht  und  Pllidit  Begriffe  angeben, 
anfUtoen,  erkUren  konnten,  so  dass  man  hierin  ihren  Verstand  bewun- 
dern nnd  alles  für  Entwickelnng  der  Vernunft  halten  musste.  Dass 
es  aber  Worte  um  Worte  sind,  und  dass  dieses  sogenannte  Erklftren 
nichts  anderes  als  efaie  Art  Kopfrechnen  ist,  dass  diese  Wortmacherei 
eher  mit  einem  blanen  Dunst  der  diemaligen  BetrOger  in  der  Gk>ld- 
macherknnst  verglichen  als  eine  Belehrung  im  Christenthum  genannt 
werden  kann,  braucht  nicht  weiter  nachgewiesen  zu  werden.*^  Der 
Hallenser  Pädagog  Niemeyer  nennt,  obgleich  er  den  Wert  der  Eate- 
chetik und  Sokratik  zu  schätzen  versteht,  das  Katechisiren  ttber 
abstracto  Begriffe  „ein  papageiartiges  Nachsprechen  unverstandener 
T0ne*';  oft  s^  das  Sokratisiren  bei  Kindern  eine  bloße  Wort-  und 

11» 

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—   144  — 


Satzanalyse,  ein  Wip(lerß:ebea  vorgesagter  oder  h&ib  angedeuteter, 
unverstandener  Kedeusartoii . 

Wenn  wir  die  Vorwürfe  hören,  welche  die  Pädagogen  mit  Recht 
dieser  Methode  machen,  so  dürfte  es  wol  der  Mühe  wert  sein,  zu 
untersuchen,  ob  Sokrates  es  verdient  hat,  dass  sein  Name  mit  einer 
derartigen  Methode  verknüpft  wird,  zu  untersuchen,  welche  Art  von 
Katechetik  Sokratik  genannt  werden  darf. 

II.  Philosophischer  Theil. 

Gehen  wir  also  zu  dem  Philosophen,  zu  dem  historischen  Sokrates 
über.  Welche  Aussichten  haben  wir,  ein  wahres  Bild  von  seiner 
Metliode  zu  erhalten?  Soki'ates  hat  nichts  Schriftliches  hinterlassen. 
Er  war  kein  Fieiind  des  Schreibens.  Sobald  er  seine  göttliche  Sen- 
dung begriffen  hatte,  suchte  er  durch  die  lebendige  Rede,  durch  seine 
ganze  Persuulichkeil  auf  seine  Mitbürger  bessernd  einzuwirken.  Vom 
Bücherwissen  dagegen  hat  er,  obgleich  er  selbst  alle  bedeutenden 
Leistungen  seines  Volkes  in  der  Literatur  gelesen  hatte,  wiederholt 
seine  Anhänger  abgezogen.  Von  Sokrates  selbst  wissen  wir  also 
nichts  über  seine  Methode. 

Er  scheint  sich  überhaupt  nicht  bewosst  geworden  zu  sein,  eine 
besondere  HeHiode  erfimdeii  m  haben,  denn  sonst  wftrde  er  eieher 
eine  Teehne,  eine  Art  Methodenlehre,  yieUeieht  mit  großsprecheriBchem 
Titel,  wie  es  sdne  CoUegen,  die  Sophisten  liebten,  herausgegeben 
haben.  Wenn  aber  anch  Sokrates  in  der  Verfolgung  seines  ethischen 
Zieles  auf  seine  Methode  kein  besonderee  Gewicht  legte,  sondern  immer 
nur  das  eine  im  Auge  hatte,  die  Seibeterkenntnis  seiner  Mitmenschen 
zu  fördern,  so  war  doch  seinen  Mitbürgern,  vielen  seiner  langjährigen 
Freunde  und  Bewunderer  weit  eher  die  Methode  und  ihr  jedesmaliger 
Angenbliekseriblg  erfiissbar,  als  dass  sie  stets  Ton  demselben  heiligen 
Streben  des  Sokratea  eifikllt  gewesen  wlien.  Diese  Methode  lieB 
stets  den  Sokratea,  so  sehr  er  aidi  anch  dagegen  verwahrte,  als  den 
Weiseren  erscheinen,  indem  sie  die  Unwissenheit  des  Mitunterredners 
erwies.  Dieser  Metbode  wegen  kamen  angehende  Staatsmänner,  wie 
Alkibiades  und  Eritias,  an  Sokrates,  deren  Leben  nichts  von  einem 
sittlich  bessernden  Einflüsse  des  Sokrates  beaeugt  Diese  Methode 
suchten  seine  bedeutenden  Anhänger  sich  anzueignen  in  dem  Glanben, 
damit  den  Kern  des  SokraÜschen  Denkens  zn  gewinnen;  diese  Methode 
▼ersuchten  die  grölten  Sophisten,  der  yielbewunderte,  ehrwürdige  Prota- 
goras,  der  glSniende  All  es  wisser  Hippias,  der  strebsame  Euthydemos, 
anznw^den,  um  ihi*eni  lästigen  Kritiker  gleiches  mit  gleichem  ver- 
gelten zu  können.  Diese  Methode  dee  Sokrates  schien  seinem  grOllten 


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—   145  — 


Sehfiler  Plato  so  untrennbar  mit  der  ünteraachong  philosophischer 
Probleme  verknfipft  la  seiii,  dass  er  seine  ganze  Philosophie  von  ihren 
ersten  Anfingen  an  bis  zur  höchsten  Entwickelang  der  Ideenlehre 
dem  Sokrates  in  den  Mund  legt  Selbst  der  trockene  und  ntlchteme 
Historiker  Xenophon  gibt,  wo  er  nur  kann,  die  Lehren  und  Unter- 
suchungen des  Sokrates  in  Gt  spräolisform  wieder,  weil  auch  ihm  die 
Untei-suchungsweise,  die  Methode  als  untrennbar  von  der  Sokratisehen 
Ethik  erschien. 

Xenophon  und  Plato  sind  es  fast  ausschließlich,  denen  wir  unsere 
Kunde  von  der  Sokratisehen  Methode  verdanken.  Beide  stimmen  in 
ihren  Mittheilungen  über  den  Inhalt  Sokratischer  Lehren  zwar  wenig 
überein;  wenn  sie  aber  ihren  Sokrates  abweichende,  zum  Theil  siel» 
widersprechende  Sätze  in  derscHten  Weise,  nacli  gleicher  Methode 
vortragen  lassen,  so  liaben  wir  den  triftigsten  Gmud,  diese  Methode 
als  historisch  vollkommen  beglaubigt  anzusehen. 

Obgleich  in  einem  Autsatze  Uber  die  Sokratisclie  Methode  der 
Lehrgehalt  unberücksichtigt  bleiben  kann,  so  will  ich  dennoch,  um 
einer  falschen  Beurtheilung  der  weiter  unten  aus  Plato  und  Xenophon 
gegebenen  Beispiele  vorzubeugen,  kurz  aut  den  Unterschied  der  Plato- 
nischen und  Xenophonischen  Ülieiliet'erung  eingehen. 

Die  Verschiedenheit  hierin  wird  theilweise  durch  die  verschie- 
denen Zwecke  erklärt,  welche  Xenophon  in  seinen  Sokratisehen  Denk- 
würdigkeiten, Plato  in  seinen  Dialogen  verfolgte.  Plato  will  ausge- 
sprochen historisch  nur  in  der  Vertheidigungsrede,  welche  er  den 
Soki'ates  vor  Gericht  halten  lä.sst.  und  in  seinem  „Gasiniahl'*  sein; 
es  wii*d  aber  niemand  behaupten,  dass  er  wirklich  alles,  was  er  seinem 
Sokrates  in  den  Mund  legt,  als  historisch  beglaubigt  angesehen  wissen 
wollte.  Wenn  wirklich  Sokrates  alles  das,  was  ihn  Plato  sprechen 
Iftsst,  gedacht  und  in  Worte  gebracht  hätte,  so  würde  nicht  Plato 
4er  Begründer  des  Idealismus  sein,  sondern  Sokrates;  es  wfirde  dann 
keine  Platonische  Philosophie,  sondern  nur  eine  Sokratische  geben 
kdnnen.  —  Aber  auch  von  Xenophon  Usst  sich  eine  durchaus  treue 
Wiedergabe  der  Sokratisehen  Reden  nicht  mit  Sieherhett  behaupten. 
Sechs  Jahre  nach  dem  Tode  des  Sokrates  verfksste  er  die  DenkwOr- 
digkeiten,  und  weder  er  selbst  ervftbnt  etwas  von  benutzten  Auf- 
seichnungen,  noch  hiHma  wir  yon  anderer  Seite,  dass  er  eigene  Au&eich- 
nungen  oder  Notiaen  anderer  SchtUer  des  Sokrates  benutzt  hat  Solche 
Auikelehnangen  haben  nflmlieh  existirt;  Plato  ersfthlt  verschiedent- 
lich, dass  Beden  des  Sokrates  von  seinen  Schülern  aufzeichnet  wurden. 
Jedoch  wir  wissen  nicht,  ob  und  wieweit  Xenophon  solche  benutzt 


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—   146  — 


hat  Auf  jeden  Fall  musste  er  aber,  um  seinen  Lehrer  nachträglich 
zu  vertheidigen,  bei  der  Existenz  solcher  Aufzeichnungen  die  histo- 
rische Treue  nach  Möglichkeit  wahren,  ebenso  wie  Plato  in  seinen 
vei"8chiedenen  polemischen  Dialogen,  die  kurz  vor  und  bald  nach  dem 
Tode  des  Sokrates  verfasst  wurden,  sicherlich  nicht  allzuweit  von  dem. 
allen  bekannten  Bilde  abweichen  durfte. 

Der  eigentlichen  Widerlegung  der  bekannten  dieilachen  Anklage 
widmet  Xenophon  nur  die  drei  ersten  Capitel  seiner  Memorabilien, 
die  vier  Bücher  gehören  im  übrigen  ganz  der  Darstellung  des  Lebens 
und  Lehrens  des  verehrten  Meisters.  Um  den  Athenern  verständlich 
zu  machen,  eines  wie  praktischen  und  tüchtigen  Bürgers  sie  sich 
durch  des  Sokrates  Verurtheihmg  beraubt  hätten,  zeigt  er  iiberuU, 
wie  Sokrates  seine  Freunde  und  Schüler  bei  allem  Handeln  auf  ihren 
wahren  Nutzen  hinzuweisen  bedacht  war.  Leider  hat  die  Person  des 
bokrates  durch  dieses  Streben  des  Xenophon,  sich  möglichst  populär 
auszudrücken,  vielleicht  aber  auch  durcli  die  Xenophon  selbst  geläufige 
Denkweise  das  Aussehen  eines  etwas  banausischen  Nützlichkeitsphilo- 
sophen erhalten,  der  selbst  Freundschaft,  Gerechtigkeit  nur  durch  den 
persönlichen  Nutzfen  zu  empfehlen  weiß  und  sogar  seinen  Märtyrertod 
für  die  Wahrheit  durch  ganz  nflchterne  Erwägungen  begründet.  Wenn 
abei'  Xenophon  auch  vielfach  nur  in  die  äußere  Sehale  der  Sokra- 
tischen  Philosophie  eingedniiigeii  ist»  so  bat  er  gerade  in  dieser  Schal» 
dio  Methode»  das  Handwerk  des  Sokrates  kennen  gelernt  Xenophon 
ist  daher,  trots  seiner  etwas  niedrigen  Anfhssong,  flbr  unsere  Unter- 
suchung «in  yoilwiegender  Gewfthrsmann.  — 

Die  Methode  des  Sokrates,  so  deuteten  wir  herdts  oben  an,  ist 
TöUig  ndt  seiner  PersOnUchkeit  verwadisen,  in  ihrer  ganaen  Eigen- 
thttmlicbkeit  bestimmt  durch  den  eigenartigen  Zweck,  dessen  Erreichung 
sich  Sokrates  zu  sefaiem  Lebensdel  geaetit  hatte.  Über  die  Ericennt- 
nis  seines  Lebensberu&s  und  die  allmfthliche  Aufübidung  seiner  Methode 
Usst  Flato  seinen  Sokrates  in  der  Apologie  den  Bicbtern  ungeftbr 
folgendes  erzfthlen:  Ghairepbon,  ein  JugendgeflUurte  des  Sokrates,  in 
Athen  den  meisten  bekannt  als  kurz  entschlossen  zum  entscheidenden 
Handein,  fragte  in  Ddphi  den  Gkrtt,  ob  einer  weiser  wSre  als  Sokrates, 
und  erhielt  zur  Antwort,  dass  keiner  weiser  sei  Sokrates,  der  sidi 
einer  besonderen  Weisheit  nicht  bewusst  war,  dem  Gotte  aber  einen 
Iirthum  nicht  zutrauen  konnte,  ging  mit  sicfa  zu  Bathe,  was  dieser 
Ausspruch  wol  kQnne  zn  bedeuten  haben.  Lange  blieb  ihm  der  Sinn 
verborgen,  bis  er  schließlich  auf  eine  ganz  eigenthümliche  Art  der 
Nachforschung  verfiel.  Bei  jedem,  der  im  Bnfe  der  Weisheit  stände 


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—   147  — 


suchte  er  durch  Unterredung,  durch  Frage  und  Antworti  den  Grad 
meiner  Weisheit  festzustellen.  —  Zunächst  unterwarf  er  einen  bedeu- 
tenden Staatsmann  dieser  Prüfung,  um,  wie  er  sag^t,  in  ihm  jemand 
kennen  zu  lernen,  der  weiser  sei  als  er  selbst,  und  dadurcli  den  Orakel- 
sprucli  zu  widerlegen.  Jener  schien  nun  zwar  vielen  anderen,  und 
vor  allen  Dingen  sich  selbst,  weise  zu  sein,  war  es  aber  nicht  und 
nahm  es  dem  Sokrates  sehr  übel,  als  er  ihn  zu  einer  entsprechenden 
Selbsterkenntnis  bringen  wollte.  Sokrates  dagegen  saprte  sich:  er  so 
wenig  wie  ich  wissen  etwas  Nennenswertes,  ich  bin  ihm  nur  etwas 
dadurch  überlegen,  dass  ich  das,  was  ich  nirht  weiß,  auch  nicht  zu 
wissen  meine.  Nach  dieser  Erfahrung  suchte  Sokrates  andere  Staats- 
männer auf,  die  ihm  weiser  als  jener  erschienen.  Aber  gerade  die 
berühmtesten,  so  fand  er,  wareu  am  weitesten  von  wahrer  Weisheit 
entfernt.  Er  wandte  sich  daher  auf  seiner  Pilgerfahrt  von  den  Poli- 
tikern zu  den  Dichtem;  diese  wussten  wie  die  Seher  kaum,  was  sie, 
von  einem  inneren  Zwange  ihrer  Natur  getrieben,  dichteten,  verkün- 
deten Weisheit,  die  ihnen  selbst  nicht  zum  Bewusstsein  kam,  hielten 
sich  aber  dennoch  für  die  weisesten  Leute.  Auch  diesen  war  also 
Sokrates  durch  die  Erkenntnis  seiner  Unwissenheit  überlegen.  Nach 
den  Dichtern  suchte  er  die  Handwerker  auf.  Sie  wussten  aus  ihrem 
Handwerk  viel  Brauchbares  mitzutheilen,  aber  sie  glaubten  dadurch 
ndk  auch  berechtigt,  in  allen  übrigen  Fragen  mitzusprechen.  Wenn 
also  der  Gott  recht  behalten  sollte,  so  musste  der  Irrthum,  in  welchem 
jene  Handwerker  «ch  befanden  und  von  dem  Sokrates  sich  frei- 
sprechen konnte,  nftmHdi,  dass  sie  etwas  zn  wissen  geübten,  wo  sie 
ni^ts  wussten,  so  musste  dieser  Irrthnm  nach  der  Schätzung  des 
Gottes  80  schwer  wiegen,  dass  auch  ihr  fachmflnnisches  Wissen  dadurch 
als  imbedeatend  an^ewogen  winde. 

Wenn  es  nun  ancli  wahrscheinlich  ist,  dass  Sokrates  nicht  erst 
durch  jenen  Orakelspmch  veranlasst  wnrde,  nach  der  wahren  Weisheit 
an  snchen,  sondern  dass  vielmehr  Ghairephon  dnreh  die  tSgUehen 
Erlblge  des  Sokrates  bewogen  worde,  dem  delphischen  Orakel  eine 
solche  Fkage  tiber  sefaien  Freund  vorsolegen,  so  ist  es  sowol  dorch 
FlatoB  als  auch  dnrch  Xenophons  Darstdlnngen  aoßer  allen  Zweifel 
gestellt,  dass  Sokrates  vom  frfihen  Morgen  bis  nun  sp&ten  Abend  in 
den  Bingschnlen,  beim  Baden,  ndtten  in  dem -regsten  Verkehre  des 
Marktlebens,  bei  Gastmählern,  in  dem  reichen  Hanse  eines  Eallias 
ebenso  wie  in  seiner  eigenen  dfirfdgen  Htttte  stets  es  verstsad,  Wissens- 
dnrstige  sowol  als  Wissenssttdze  in  ein  Gespräch  und  eme  Untersnchnng 
m  verwickebi,  welche  die  Unklarheit  ihres  Wissens,  die  UnfiUiigkeit, 


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■svLSsenschaftlich  zu  denken,  aui>  Licht  brachte  und  jedem  die  Noth- 
^vendigkeit  fühlbar  machte,  sich  einer  scharfen  Beg^riffsbestimmung  zu 
befleißigen.  Von  diesem  Streben  allein  erfasst,  vermied  er  es,  sich  an 
Staatsgeschatteii  zu  betheiligen,  und  kümmerte  sich  wenig  um  seine 
Häuslichkeit.  Rastlos  umhergetrieben  wie  von  einer  fixen  Idee,  gritl' 
er  auf,  wen  er  nur  lassen  konnte,  und  verwickelte  ihn  durch  bYagen, 
meistens  gerade  über  diejenige  Thätigkeit^  welche  der  Betreffende  als 
seinen  Beruf  betrieb,  in  derartige  Widersprüche,  dass  der  Gefragte 
sich  and  anderen,  die  vielleicht  dabei  waren,  dem  Sokrates  gegenüber, 
wie  ein  SchnUmabe  vorkam.  Uancher  reiche  Kanfinann,  der  maß- 
gebend fttr  die  Börse  war,  mancher  Staatamaan,  dessen  Ansichten 
bestimmend  f&r  die  äußere  Politik,  mancher  bewunderte  Eiiegsheld 
hatte  Tor  Sokrates  weichen  mftssen.  So  kam  es  bald,  daas  viele,  die 
er  Ucherlieh  gemacht,  ihn  hassten,  andere,  die  davon  gehOrt,  ihn 
mieden,  jnnge,  aufstrebende  Krftfte  ihn  au&nchten  nnd  bewunderten, 
um  von  ihm  seine  alles  beeiagende  Dialektik,  seine  Methode  zu  lernen. 
Und  so  bedeutend  war  der  Eindruck  seiner  Überlegenheit,  dass  er 
immer  und  immer  wieder  versichern  muss,  er  wisse  selbst  über  das, 
wonach  er  sich  bei  anderen  erkundige,  nichts,  es  sei  nicht  die  Lust, 
andere  niederznargumentiren,  sondern  viehnehr  einzig  und  allein  der 
Trieb  nach  Wahrheit,  der  ihn  zur  Anwendung  seiner  vernichtenden 
Methode  führte.  —  Je  Ifinger  Sokrates  seinen  neuen  Beruf  ansttbte, 
destomehr  wurde  er  gefOrchtet,  desto  schwerer  wurde  es  ffir  ihn, 
Mitunteraedner  zu  finden,  und  es  gehörte  nicht  wenig  Geschick  dazu, 
die  Widerstrebenden  doch  endlich  zu  einer  gemeinsamen  Untersuchung 
mit  ihm  zu  bewegen-  Dahar  kam  es,  dass,  wenn  seine  Methode  zum 
Ziel  hatte,  die  Niditigkeit  alles  bis  dahin  erworbenen  menschlichen 
Wissens  nachzuweisen,  dass  sie  als  wichtigstes  Kampfmittel  verlangte 
eine  große  Unterredungskunst,  die  von  ganz  alltäglichen,  absicht^ilos 
hingeworfenen  Sätzen  ausgehen  konnte  und  doch  schließlich  ein  fest-  . 
gesponnenes  Netz  Aber  dem  Opfer  zusammenzog.  E^t  musste  das 
Opfer  gefangen  werden,  ehe  es  vernichtet  wurde. 

Wie  schwer  gelegen  flieh  dem  Sokrates  das  Fangen  gemacht 
wurde,  mit  wie  übergroßer  Zuversicht  aber  anderseits  auch  Sokrates' 
Freunde  den  Sieg  auf  der  Seite  seiner  Methode  voraussahen,  das  zeigt 
Plato  in  seinem  Protagoras,  in  welchem  er  uns  ein  wundervoll  leben- 
diges und  packendes  Bild  entwii-ft  von  einer  Begegnung  des  Sokrates 
mit  dem  genannten  Sophisten.  Kaum  ist  Protagoras,  der  den  Menschen 
für  das  Maß  aller  Dinge  erklärte,  auf  seiner  großen  (lastspielreise 
durch  die  gebildete  griechische  Welt  in  Athen  augekommen,  als  auch 


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schon  Sokrates,  geführt  von  einem  jungaa  bildungshedürftigen  BCanne,  Um 
aufsucht  im  Kreise  anderer  Sophisten,  um  ihn  im  Namen  jenes  jungen 
Mannes,  der  bei  Protagoras  Unterricht  nehmen  will,  nach  dem  Ziele 
und  den  Resultaten  seines  Unterrichtes  zn  fitigen.  Es  entspinnt  sich 
eine  Untersuchung  über  das  Wesen  der  Tugend,  die  Protagoras  Dor 
widerwillig  eingeht,  die  er  durch  glänzende  Vorträge  zu  verdrängen 
sucht,  um  schließlicli  docli  mit  Sokrates  einzuräumen,  dass  sie  sich 
beide  völlig  unklar  sind  über  das  Wesen  der  Tugend  und  dass  es 
nüthig  sei,  ihre  ganze,  mit  aller  Anstrengung  geführte  Untersiicliimg 
wieder  von  vorne  zu  beginnen.  Dabei  weiß  sich  Sokrates  gelegent- 
lich scheinbar  so  in  Nachtheil  zu  setzen,  versteht  es  derartig,  im  Sinne 
des  Protagoras  zn  argumentiren ,  um  ihn  zu  dem  von  ihm  gewünsch- 
ten Schlussergebnis  zu  bringen,  dass  noch  heutigestags  die  ersten 
Plato-Forscher  darüber  streiten,  welche  Argumente  Sokrates  im  Ernste, 
welche  er  nur  ironisch  zu  seinem  Kampfe  verwendet  hat. 

Beide  Seiten  der  Sokratischen  Methode,  das  Herbeischaffen  der 
Fesseln  in  Form  allgemein  zugestandener  Sätze  und  die  Knüpfung  des 
Knotens,  nämlich  der  Nachweis  des  Widerspruches  im  menschlichen 
Wissen,  kummen  in  künstlerisch  vollendeter  \\  eise  in  diesem  Dialoge 
des  Plato  zum  Ausdruck.  Aber  gerade  die  Feinheit  der  Charakteristik, 
die  hochdramatische  Situation,  die  Vielseitigkeit,  die  gewandte,  nie 
überhastete  Beweglichkeit  des  griechischen  Geistes,  die  geschmeidige 
Sprache  zwingen  mich  davon  abzusehen,  einen  genaueren  Einblick  zu 
geben.  Nicht  genug,  dass  überhaupt  jede  Übersetzung  eines  plato- 
nischen Dialoges  noth wendig  hinter  dem  Originale  zurückbleibt,  ein 
kurzer  Überblick  würde  auch  nicht  im  geringsten  den  eigenthUmlichen 
Beiz  ahnen  lassen,  mit  dem  gerade  die  Leetüre  dieses  Dialoges  den 
Leser  bestrickt  Ich  wende  mich  daher  zum  nttchternen  Historiker 
Xenophon,  um  ein  Befqpiel  für  die  Art  zu  geben,  wie  Sokrates  seine 
Methode  handhabte. 

Schon  Tersehiedentlich  hatte  Sokrates  Yon  einem  hübschen  jungen 
Hanne  gehört»  dem  EnthydemoSf  der  viele  Schriften  der  Dichter  und 
Weltweisen  sammle  mtd  tätig  lese,  durch  ihr  Stndinm  sich  weto 
dünke  als  seine  Altersgenossen  nnd  stark  hoife,  sich  einst  durch  Beden 
nnd  Handeln  in  seiner  Vaterstadt  aosauaeichnen.  Wegen  sehier  groBen 
Jugend  kam  er  noch  nicht  in  die  Yolksveraammlnngen,  sondern  setzte 
sieh,  wenn  ihn  eine  Versammlung  besonders  interessirte,  in  der  Mähe 
des  VersammlnngaorteB  bei  einer  Sattlerwerkatatt  nieder.  S<dErates 
begab  sich  mit  einigen  seiner  ständigen  Gefthrten  ebenfiüls  dorthin 
und  erklArte  dort  auf  die  Fragen  eines  seiner  Begleiter  in  Gegenwart 


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des  Euthydemus,  dass  es  Thorheit  sei  zu  g-lauben,  Theinistokles  habe 
nur  vermöf^e  seiner  natürlichen  (taben  so  hohes  Ansehen  im  Staate 
erlanget;  denn  bei  jedem  Handwerk  halte  man  persönliclie  Belehrung 
durch  einen  Meister  für  unumgänglich  notliwendifr:  wie  könnte  dann 
einer  p'anz  allein  aus  sich  heraus  fähig  werden .  das  Wichtigste  und 
Größte  zu  unternehmen,  die  Leitung  eines  Staatswesens?  Als  Soki'ates 
zum  zweitenmal  sich  scheinbar  von  ungefähr  in  jener  Sattlerwerk- 
statt einstellte,  um  sich  dem  dort  harrenden  Euthydemos  zu  nähern, 
will  sich  dieser  entfernen,  doch  hört  er  im  Weggehen  den  Sokrates 
noch  folgendes  zu  den  Anwesenden  sprechen:  ,.Zweifellos  wird  einst 
dieser  Euthydemos,  wenn  er  das  vorschriftsmäßige  Alter  erreicht  hat, 
in  öffentlicher  Versammlung  dem  Staate  seinen  Rath  nicht  vorent- 
halten. Um  für  diese  Zeit  eine  Einleitung  zu  haben,  die  beim  Volke 
einschlägt,  sucht  er  jetzt  auf  alle  Weise  den  Verdacht  zu  vermeiden, 
als  hätte  er  je  von  irgend  einem  etwas  gelernt.  Seine  erste  Reile 
wird  beginnen:  ,Von  niemand,  ihr  Athener,  habe  ich  etwas  gelernt, 
nicht  nur  habe  ich  stets  vermieden,  von  einem  anderen  etwas  zu  lernen, 
sondern  bin  tauch  dem  Sdiein  eliiM  «dclMii  Lemms  mit  altem  Eifer 
ans  dem  Wege  gegangen.  Dennoch  will  ich  ench  meine  Gedanken 
vortragen,  die  mir  so  gaiiz  ans  mir  selber  kommen/  Gerade  so  wflrde 
natürlich  auch  ein  Arzt,  wenn  er  von  der  Stadt  einen  Ärztlichen  Auf- 
trag bekommen  wollte,  sprechen:  Jch  habe  von  niemandem  die  Heil- 
knnde  gelernt;  nicht  nnr  von  einem  Arzte  etwas  zu  lernen  habe  ich 
stets  vermieden,  sondern  sogar  den  Schein,  diese  Knnat  ttberhanpt 
gelernt  an  haben,  geflohen.  Ich  werde  aber  jetzt  mit  eurer  Gefahr 
zn  lernen  versndien.'  Ein  andermal,  als  sie  sich  wieder  traÜBn  nnd 
EnthydemoB  schon  eher  anfinerkte  anf  däa,  was  Sokratee  sagte,  sich 
aber  wol  hfttete,  etwas  verlauten  zn  bussen,  mn  sich  dnrch  sein  Schwei- 
gen den  Anschein  der  Besonnenheit  zn  geben,  fing  Sokrates  an:  »Es 
ist  doch  merkwürdig,  wamm  die  angehenden  Zither-  nnd  Fldtenspi^er, 
wamm  einer,  der  reiten  oder  sonst  etwas  lernen  will,  wamm  diese 
&8t  nnablfissig  sich  üben,  nnd  zwar  nicht  fftr  sich  allein,  sondern  unter 
Anleitung  der  besten  Heister;  wihrend  doch  einige,  die  einst  in  Oilbnt- 
lichen  Stellungen  reden  nnd  handeln  sollen,  glauben,  ohne  jede  Vor- 
bereitung und  Übung  ganz  ans  sich  selbst  heraus  plötzlich  einmal 
dazu  ffthig  zu  werden.  Und  dabei  ist  letzteres  doch  um  so  schwerer, 
je  mehr  sich  bemühen,  das  gleiche  Ziel  zu  erreichen,  je  weniger  fähig 
sind,  den  Weg  dorthin  zu  zeigen."  Als  nun  Sokrates  merkte,  das» 
Euthydemos  immer  williger  zuhörte,  wenn  er  sich  mit  anderen  über 
ähnliche  Fragen  unterhielt,  ging  er  einst  ganz  allein  in  die  Sattler- 


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Werkstatt.  Und  richtig  setzte  sich  bald  Enthydemos  zu  ihm  Ist  es 
denn  wahr,  fing  Sokrates  an,  dass  du  eine  Sammlung  hast  von  den 
Schriften  weiser  Männer?  Du  glaubst  offenbar,  dass  Gold  und  Silber 
die  Menschen  niclit  besser  machte  dass  aber  einer,  der  eine  Sammlung 
solcher  Schrilteu  besitzt,  reich  sei  an  Tugenden.  Und  Enthydemos 
freute  sich  über  das  Lob,  das  er  zu  hören  glaubte.  Zu  welchem 
besonderen  Zwecke,  fragte  nun  Sokrates  weiter,  sammelst  du  diese 
Schriften?  Worin  willst  du  tüchtig  werden?  Willst  du  ein  Arzt,  ein 
Baumeister  werden?  Für  beide  gibt  es  Schriften  in  Menge.  Oder 
willst  du  ein  Geometer,  ein  Astrolog  oder  ein  Rhapsode  werden?  Du 
sollst  ja  sämintliche  (k-dichte  des  Homer  besitzen.  Alle  diese  Fragen 
verneinte  Enthydemos;  endlich  gefragt,  ob  er  tüchtig  zu  werden  strebe 
als  Bürger  und  Hausverwalter,  filhig.  einst  ein  Amt  zu  bekleiden,  da 
bejaht  er  aus  vollem  Herzen,  dass  er  diese  Tugend  zu  erwerben  strebe. 
Fürwahr,  meint  Sokrates,  die  schönste  Art  von  Tüchtigkeit,  eine 
königliche  Kunst  havSt  du  dir  zum  Ziele  gesetzt.  Kannst  du  aber 
hierin  tüchtig  werden,  ohne  gerecht  zu  sein?  Nein,  meint  Enthydemos. 
jedoch,  ich  bin  so  gerecht  wie  einer.  Lass  uns  sehen I  Die  nun  fol- 
gende Untersuchung  ist  zu  lang,  als  dass  ich  sie  hier  wörtlich  wieder- 
geben könnte;  sie  verläuft  ganz  in  Frage  und  Antwort;  ich  werde 
nur  kurz  die  von  Schritt  za  Schritt  gewonnenen  Sätze  und  Einwände 
verzeichnen,  um  einen  Überblick  Uber  das  Ganze  zu  gewinnen  und 
zugleich  Material  zn  sammeln  zur  Charakteristik  von  Sokrates*  Lehr- 
und  Bflfweismethodew  Bis  jetzt  haben  irir  Ton  dieser  Methode  folgende 
Verfohren  kennen  gelernt:  TJm  dem  Enthydemos  den  richtigen  Weg 
für  seine  AnsbQdnng  zn  zeigen,  wird  er  Teranlasst,  sn  Überlegen,  ob 
ThemistoUes  lediglich  doreh  seine  g^ttcklichen  Anlagen  zum  grofien 
Staatsmann  geworden  sei;  bd  dieser  Überlegung  musste  denn  Enthy- 
demos ibiden,  dass  ThemistoUes  nieht  durch  Bflcherwissen  sein  Ziel 
emklit  habe.  Zweitens  wird  ihm  die  Erkenntnis  folgender  Begd 
nahe  gelegt:  jeder,  der  in  einer  Ennst  tflehtig  werden  will,  nimmt 
sidi  einen  Meister  nnd  fibt  sich  Tag  nnd  Nacht  nnter  dessen  AnMeht 
Die  ünterordnong  der  Politik  nnter  die  anf  diese  Weise  zn  erlernen- 
den Künste  Lwird  nnr  angedeutet,  ebenso  wie  die  Subsumtion  des 
Enthydemos  unter  die  Politiker;  dsgegen  wird  das  ThOrichte  in  Enthy- 
demos' VeriUiren  dadurch  gegeißelt,  dass  sein  Verfahren  anf  eine 
bestimmte  Kunst  angewendet  wird.  Vom  Beispiel,  vom  beriUunten 
Muster,  sehritt  die  erziehende  Unterweisung  des  Sokrates  dazu,  durch 
Indnction  aus  vielen  Fitten  die  Bogel  zu  finden.  Der  Emzehie  wurde 
durch  diese  Methode  gezwungen,  si<^  zn  objectiviren  und  nnter  eine 


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Classe  zu  rubricireii,  und  j^ewann  dadurch  schon  das  Correctiv  seiner 
Handlungsweise.  Auf  diesem  Wege  hat  Sokrates  fast  alle  seine  ethi- 
schen Erfolge  erzielt;  er  würde  freilich  allein  durch  die  Methode  nichts 
erreicht  haben;  die  große  Kunst  bestand  darin,  derartige  S(>lilüsse, 
Begriflfsdefinitionen ,  allgemeine  Regeln  auf  die  harmloseste  und  unge- 
zwungenste Weise  unter  tausenderlei  Verkappungen  zustandezubringen. 
Oft  hat  sich  Sokrates  mit  dieser  Art  von  Propädeutik  begnügt; 
sie  genügte  auch  vollkommen,  wenn  es  nur  galt,  einem  .Mitbürger  in 
aeinen  häuslichen  und  staatlichen  Geschäften  einen  guten  Rath  zu 
geben;  die  Metbode  wirkte  desto  eher,  je  näher  einem  jeden  die  heran- 
gesogenen Beispiele  standol  So  müssen  denn  die  einzelnen  Gewerke, 
der  SeUifer,  der  Bettersmaim,  der  Jäger,  die  Sdaven,  ja  sogar  die 
Haoflthiere  zn  allerhand  Vergleichen  herhalten,  und  so  hänflg  dreht 
eich  scheinbar  tun  diese  Dinge  das  Gespräch,  dass  man  Sokrates 
daraus  glaubte  einen  Vorwarf  machen  zu  können,  dass  er  Mi  nur 
mit  dem  Alltäglichsten  nnd  Ällergewöhnlichsten  beschäftige.  Nicht 
selten  freilich  geht  des  Sokrates  Beiehrang  anch  yon  Versen  ans; 
doch  damit  machte  er  keine  Ausnahme  von  seinem  Prindp,  nur  das 
allen  Bekannte  za  seinen  Vergleichen  berannudehen;  die  angctfährten 
Verse  waren  nämlich  in  aller  Mond.  Wol  aber  h&tete  er  sich,  aus 
der  Geometrie,  Astronomie  und  andere  Wissenschaftffli  etwas  zu 
benutzen,  was  nicht  directe  Beziehung  au&  tägliche  Leben  hatte. 
Obgleich  er  selbst  so  ziemlich  alle  nennenswerten  Leistungen  in  diesen 
Wissenschaften  kannte,  warnten  seine  Unterweisungen  geradezu  vor 
derartigem  Wissen.  Der  Form  nach,  so*  sahen  wir  oben,  wird  die 
Belehrung  hauptsächlich  durch  den  Vortrag  des  Sokrates  erzielt. 
Viele  Y<m  Xenophon  gegebene  Beispiele  solcher  ganz  innerhalb  b&r- 
gerlicher  Grenzen  gehaltener  Gespräche  sind  zwar  in  Frage  und  Ant- 
wort gefasst,  aber  Frage  und  Antwort  dienen  nur  dazu,  dem  Redner 
mit  einem  Ja  zu  bestätigen,  dass  der  Zuhörer  mit  dem  Vorgetragenen 
noch  einverstanden  ist.  —  Noch  eine  zweite  Art  der  Belehrung  lernte 
wir  beim  Euthydemos  kennen.  Ei*  soll  sagen,  worin  er  tüchtig  werden 
will.  Sokrates  legt  ihm  zur  Auswahl  den  Arzt,  den  Baumeister, 
Geometer,  Rhapsoden  yor,  endlich  entscheidet  sich  Euthydemos  dafür, 
ein  tüchtiger  Bürger  und  Beamter  zn  werden.  Sokrates  erschöpft 
also  durch  so  und  so  viele  zu  verneinende  Fragen  den  Inhalt  eines 
Begriffes  (hier  des  Begrifls  der  Tüchtigkeiten),  nm  schließlich  das 
Gewünschte  als  Rest  allein  übrig  zu  lassen.  Diese;  Wahl-  oder  Ent- 
scheidungsfrage vorlangt  zui'  Beantwortung  schon  mehr  ürtheil  als  das 
zustimmende  AohOren  eines  Vortrages;  beide  Arten  hat  Sokrates  sehr 


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liäiitig  angewendet.  Sokrates  liebt  es,  besonders  jüngeren  Lenten 
tlurrli  Abscheidung  der  verschiedensten  Falle  das  Antworten  zu  er- 
leichtern.   Gehen  wir  jetzt  zum  Gespräcli  mit  Kutliydemos  zurück. 

Euthydemos  hatte  behauptet,  ebenso  gerecht  zu  sein  wie  irgend 
einer.  Wie  die  Handwerker,  erwidert  darauf  Sokrates,  so  können 
auch  die  Gerechten  als  solche  von  ihren  Werken  reden,  ebenso  auch 
die  Ungerechten.  Zu  den  Werken  der  Ungerechten  gehört  nun  als 
ein  Unrecht  das  Lü*ien,  Betrügen,  iStehlen,  Berauben  der  Freiheit; 
der  Gerechte  aber  darf  nichts  von  dem  sich  zu  schulden  kommen 
lassen.  Und  doch,  wendet  Sokrates  nach  diesem  Zugeständnis  des 
Euthydemos  ein,  wenn  nun  ein  Feldherr  eine  feindliche  Stadt  täuscht^ 
sie  beatiehlt  und  plündert,  wenn  er  die  Einwohner  als  Sclaven  ver- 
kaoft,  so  that  er  doeh  redit  daran?  Ateo,  verbeBBem  wir  misere 
obige  Behaaptnng,  indem  wir  eine  Beaebrinkiing  hinznfiigen:  die 
Freunde  belügen,  betrügen  and  berauben  ist  onrecbt,  den  Feinden 
dasselbe  thnn  ist  recht.  Aber,  beginnt  Sokrates  Ton  nenem,  wenn 
ein  Feldherr,  mn  sein  mathloses  Heer  wieder  an&aiichteD,  diesem 
fBlschlich  mittheüt,  dass  Bandesgsnossen  kommen,  wenn  einer  seinem 
Sohn,  der  Arznei  nOthig  hat^  aber  nicht  nehmen  will,  diese  darcb  Tiu- 
schang  beibringt*  oder  wenn  einer  seinem  verzweifelnden  Frennde,  der 
möglicherweise  sich  Gewalt  anthnt^  das  Schwert  oder  fthnliche  gefihr- 
liehe  Gegenstände  stiehlt  and  entreißt,  so  that  er  damit  doch  recht 
Man  daif  also  die  Freonde  belttgen,  betrügen  and  bestehlen  nicht 
immer  anrecht  nennen.  Um  diesen  Widersprach  za  lOsen,  nimmt  jetzt 
Sokrates  einen  Anlaof  von  einer  anderen  Seite.  Wer  handelt  weniger 
recht,  fragt  ei;  einer,  der  seinen  Fi-eand  absichtlich,  oder  einer,  der 
ihn  vnabsichtlich,  wider  Willen  ttascht?  Einer,  der  absichtlich 
seinen  Freanden  Schaden  zofttgt*  antwortet  der  ganz  ängstlich  gewor- 
dene Euthydemos. 

Obgleich  nun  jeder  damit  die  Auflösung  des  obigen  Widerspruchs 
gegeben  glaabt,  dass  nämlich  der  Wille  eine  Handlang  zum  Unrecht 
macht,  so  weiß  doch  Sokrates  sofort  durch  ein  nenes  Bedenken  diese 
Erkenntnis  aus  dem  Felde  zu  schlagen.  Es  gibt,  föhrt  er  aus,  eine 
Wissenschaft  vom  Gerechten,  ebenso  wie  vom  Lesen  und  Schreiben« 
Deijenige,  der  wider  seinen  Willen  falsch  schreibt  und  liest,  ist  un- 
geschälter als  einer,  der  es  mit  Absicht  thut,  denn  letzterer  könnte, 
wenn  er  nur  wollte,  auch  richtig  lesen  und  schreiben.  Ebenso  muss 
also  auch  derjenige,  welcher  wider  seinen  Willen  unrecht  thut,  auch 
ungwechter  genannt  werden  als  einer,  der  es  mit  Absicht  betreibt. 
Euthydemos  merkt  nicht  die  unzulässige  Parallele  zwischen  uu- 


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geschult,  das  nur  auf  Erlerntes  Bezug  hat,  und  ungerecht,  das  mehr 
dem  Gebiet  des  angeborenen  Charakters,  des  Willens  angehört,  und 
sieht  sich  zum  drittenmale  gezwungen,  einzuräumen,  dass  seine  De- 
tinition  unzureichend  sei.  Sokrates  lässt  ihn  daher,  indem  er  andeutet, 
dass  Euthydemos  wol  die  redliche  Absicht  habe,  sich  selbst  auf  fol- 
gende Weise  sein  Urtheil  sprechen:  Einer,  der  das  Richtige  sagen 
will  und  niemals  Uber  einen  und  denselben  Punkt  in  seinen  Anssagen 
sieh  gleich  bleibt,  wmdem,  um  einen  Weg  zu  bezeichnen,  bald  nach 
Osten,  bald  nach  Westen  weist,  einm  Sehloss  bald  als  aUgemdn  giltig, 
bald  als  nur  ganz  apedell  geltend  bezeichnet,  wie  kommt  dir  ein  sd- 
cker  yor?  Nnn,  als  einer,  der  das  nicht  weiß,  was  er  zu  wissen 
glaubt  Weißt  du  aber,  filhrt  Sokrates  fort,  dass  gewisse  Ijente  nnfirei 
und  ungebildet  genannt  werden?  Ja,  und  zwar  wegen  ihrer  Unwissen- 
heit; aber  nicht,  weil  sie  yom  Schmieden,  Bauen,  Biemenschneiden 
nichts  verstehen,  sondern  weil  sie  nicht  wissen,  was  schön,  gut,  was 
gerecht  ist  Ganz  niedergeadilagmi  Aber  seine  Unwissenheit  klagt 
Jetzt  Euthydemos,  dass  er  keinen  anderen  Weg  wttaste,  auf  dem  er  zu 
besserer  Einsicht  gelangen  könnte.  Hast  du,  erwidert  Sokrates,  in 
Delphi  am  Tempel  des  Apollo  das  „Erkenne  dich  selbst**  gelesen  und 
danach  gehandelt?  Euthydemos  hat  das  immer  als  etwas  ganz  Selbst- 
yerstilndliches  angesehen,  dass  man  sich  selbst  kenne,  dodi  Jetzt  muss 
er  zugeben:  es  genügt  nicht,  wenn  man  seinen  Namen  kennt,  man 
muss  vielmehr  sich  selbst  prüfen,  wie  einer,  der  ein  Pferd  kaufen  will, 
untersucht,  ob  es  störrisch  oder  lenksam,  ob  es  stark  oder  schwach, 
ob  es  langsam  oder  schnell,  kurz,  wieweit  es  überhaupt  den  einzelnen 
Anforderungen  entspricht.  Einer,  der  auf  diese  W^^ise  sich  selbst 
kennen  gelernt  hat,  zieht  daraus  den  größten  Voi*theil.  Durch  das, 
was  er  versteht,  verschafft  er  sich  seine  Bedürfnisse  und  hält  sich 
von  dem  fem,  dessen  Unbekanntschaft  ihm  Gefahr  bringen  könnte. 
Kach  seinen  eigenen  inneren  Erfahrungen  kann  er  andere  besser  be- 
urtheilen  und  richtiger  für  seine  Zwecke  benutzen.  Weil  er  stets 
erreicht,  was  er  erstrebt,  wird  er  von  anderen  geschätzt  und  geehrt, 
und  jeder  vertraut  ihm  gerne  seine  Sache  an.  Euthydemos.  ent- 
schlossen, diese  nützliche  Selbsterkenntnis  zu  erwerben,  vergisst  die 
recht  unangenehme  Probe  vim  Selbsterkenntnis,  die  er  schon  hat  über 
sich  ergelien  lassen  müssen,  um  mtiglichst  bald  alle  Voi-tlieile  einzu-. 
ernten.  Wo.  tragt  er,  mu.ss  ich  mit  der  Selbsterkenntnis  beginnen? 
Weißt  du,  beginnt  jetzt  Sokrates,  was  gut  und  schlecht  ist?  Euthy- 
demos, d(M-  v(»rher  nicht  wnsste,  was  gerecht  sei,  erklärt,  er  müsste 
ja  schlechter  und  ungebildeter  als  ein  8clave  sein,  wenn  er  das  nicht 


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—   15Ö  — 


wüsste.  Von  Sokrates  aufgefordert,  Gutes  und  Schlecht ls  aufzuzählen, 
hebt  er  an:  Gesundheit  ist  ein  Gut,  etwas  Gutes,  Krankheit  etwas 
Übles;  ebenso  ist  alles,  was  zur  ersteren  führt,  gut,  alles,  was  die 
letztere  zui*  Folge  hat,  schlecht.  Ganz  recht,  meint  Sokrates;  wenn 
aber  viele  kräftige  und  gesunde  Leute  an  einem  unglücklichen  Feld- 
zage, einer  gefahrlichen  Seefahrt  theilnehmen  und  dabei  zugrunde 
gehen,  andere  aber  infolge  von  Krankheit  oder  Schwäche  zu  Hause 
bleiben  und  sich  dadurch  das  Leben  erhalten,  so  hat  doch  jenen  die 
Gesundheit  geschadet,  diesen  die  Krankheit  genützt.  Euthydemos 
entdeckt  den  logischen  Fehler  nicht,  sondern  nimmt  einen  ganz^nenea 
Anlaol  Weisheit,  meint  er,  ist  doch  zweifellos  etwas  Gates.  Weißt 
da  nicht,  entgegnet  Sokrates,  dass  Dfidalns  wegen  seiner  Weisheit 
TOB  Wdm  gefangen  gesetit  wurde  and  ihm  dienen  mnsste,  dass  er 
aof  der  Mneht  seineii  Sehn  Terior,  indem  nnr  seine  Weisheit  dem  Sohn 
das  Fliegen  ermöglicht  hatte;  hast  da  nicht  gehört,  dass  viele  ans 
dem  Staate  dee  GroMLönigs  wegen  ihrer  Weisheit  weichen  müssen? 
Nan,  mefait  Enthydemoa,  wenn  anchidie  Weisheit  nicht  etwas  Gates 
ist,  80  ist  es  aof  jeden  Fall  doch  das  GlttckUchsein.  Gewiss ,  wenn 
man  ee  mcht  aas  zweifelhaft^  Ghitem  zasammensetzt  Nan  sind  wir 
aber  nicht  gegenstandslos  glücklich,  sondern  freuen  ans  stets  tther 
ein  bestimmtes  Etwas,  z.  B.  ftber  Schönheit,  Kraft,  Beichtham,  Bahm ; 
diese  kOnnen  aber  sowol  zam  Nachtheü  als  zum  Vortheil  gereidien. 
Aber,  wenn  nicht  einmal  das  Glttcklichsein  etwas  Gates  ist,  roft  Eathy- 
demos,  dann  weift  ich  nicht  mehr,  am  was  ich  die  GOtter  in  meinen 
Gebeten  bitten  solL  Und  das,  entgegnet  Sokratee,  kommt  nor  daher, 
weü  da  dir  all  diese  Dinge  nicht  grOndlich  überlegt  hast,  allza  sicher 
anf  dein  Wissen  yertraoend.  • 

Z.  B.  wenn  du  dich  rüstest,  in  einer  Demokratie  ein  Amt  zu  be- 
kleiden, so  mnsst  da  doch  wissen,  was  eine  Demokratie  ist;  zu  diesem 
Zwecke  mnsst  da  aber  angeben  können,  was  ein  <f^j»o^,  was  ein  Volk 
ist.  Euthydemos  versteht  anter  dem  Volke  die  Armen  und  bezeichnet 
die  Armen  als  di(>jenigen,  welche  nicht  das  Nöthige  aufwenden  kOnnen, 
während  die  Eeichen  mehr  als  genug  haben.  Aber  er  moss  dem 
Sokrates  bald  einräumen,  dass  es  Leute  gibt,  denen  ganz  wenig 
genügt,  während  andere  mit  vielem  nicht  auskommen,  und  bleibt,  nun 
gefragt,  welches  die  Armen  wären,  dem  Sokrates  die  Antwort  schuldig 
und  hält  es  von  nun  an  für  das  beste,  zu  schweigen.  Ganz  muthlos 
geworden,  verachtete  er  sich  und  sein  Wissen  und  glaubte  nicht  anders 
ein  bedeutender  Mann  werden  zu  können,  als  durch  das  ständige  Zu- 
sammenleben mit  Sokrates. 


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—    1Ö6  — 


Und  bald  hatte  er  dem  Sokratos  seine  Methode  abgelernt  and 
that  anderen,  wie  ihm  von  Sokrates  gethan  worden  war.  Sokrates 
aber,  so  beriehtet  Xenophon,  yerwirrte  ihn  nicht  weiter,  sondern  zeigte 
ihm  auf  die  einfUtigste  nnd  deutlichste  Weise,  was  er  fttr  wissens- 
wert hielt  IMeees  selbst  gibt  er  nidit  an,  nnd  wir  mflssen  nach 
dem,  was  oben  bereits  dargestellt  ist,  den  positiTen  Theil  seiner  Be- 
lehrong  gant  in  den  Kreis  bürgerlicher  Pflichten  verlegen.  Die  Hanpt- 
aache  schien  offeahttr  dem  Sokratiker  Xenophon  mit  dem  negativen 
Besoltat  gethan  zu  sein,  mit  der  Erkenntnis  des  Enthydemos,  dass  er 
bis  jetst  nichts  wisse,  dass  er  seinem  Wissen  und  Erkenntnisvermögen 
in  keiner  Weise  tränen  dürfe. 

Ähnlich  wie  das  von  Xenophon  berichtete  Gesprftch  verlanfen  die 
meisten  der  fHlheren  Platonischen  Dialoge,  die  eben  wegen  des  engen 
Anschlnsses  an  die  Methode  des  Sokrates  anch  chronologisch  den 
Lebzeiten  des  Sokrates  möglichst  nahe  angesetzt  werden.  So  z.  B. 
iksst  Sokiates  im  Lysis,  der  den  Begiiif  der  Freundschaft  festsetzen 
will,  das  Resultat  der  gemeinschaftlichen  Untersuchang  folgendermaßen 
zusammen:  „Weder  die  G^ebten  noch  die  Idebenden,  weder  die  Ähn- 
lichen noch  die  Unähnlichen,  weder  die  Guten  noch  die  einander  Ver- 
wandten, noch  das  übrige,  was  wir  besprochen  haben  —  denn  bei 
der  Menge  ist's  mir  selbst  ni(  lit  mehr  genan  erinnerlich  —  von  allen 
diesen  ist  nichts  gleich  dem  Befreundeten  zu  setzen,  und  ich  weiß 
nichts  Neues  mehr  vorzubringen.'*  Im  Charmides,  der  mit  bedeutenderer 
Tiefe  und  Gründlichkeit  vom  Wissen  des  Wissens  handelt,  also  von 
der  eißfentlichen  Selbsterkenntnis  und  dem  Selbstbewusstsein,  erklärt 
ein  begabter  Jüngling',  von  nun  an  nicht  von  Sokrates'  Seite  weichen 
zu  wollen,  um  die  von  ihm  angeregten  und  in  einen  Knäuel  von  Wider- 
sprüchen verwickelten  i^i-agen  anter  seiner  Leitung  selbstdenkend 
weiter  zu  erurtera. 

Dieser  Trieb  zum  selbstständigen  Forschen,  das  war  der  positive 
Keim,  den  Sokrates  eben  durch  sein  destructives  Verfahren  zu  püan- 
zeu  suchte. 

Sokiates  berührt  nur  in  seinen  (jespräclien  das  Richtige  und 
hisst  es  in  gleicher  Reihe  mit  dem  Falschen  an  dem  Auge  seines 
Mitunterredners  vorüberziehen:  mit  köstlicher  li'onie  weiß  er  gelegent- 
licli  sich  ganz  in  den  Irrthum  des  anderen  zu  vei-setzen,  um  diesen 
nur  ja  alle  Mühen  des  vergeblichen  Suciiens  auskosten  zu  lassen.  Wie 
er  sich  nicht  scheut,  den  Schein  eines  Widerspruchs  hervorzurufen, 
den  er  selbst  wahrscheinlich  leicht  beseitigen  kann,  so  erschüttert  er 
die  bestehende  Meinung,  auch  wenn  er  selbst  keine  besser  begründete 


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an  ihre  Stelle  sefz«-n  kann.  Er  lässt  sich  in  der  AiniahiiiH  seiner 
Voi*dersätze  Ungenauij<keiten  zuschulden  kommen,  subsnmirt  und  setzt 
g-leich,  was  nidit  suhsumirt,  was  nicht  {gleich  iresetzt  werdt-u 
darf;  alles  nur.  um  durcli  die  Verletrenlieit.  in  die  fv  andere  brachte 
diese  zum  schart"  logischen  Denken  zu  zwinp^en.  mir  diesen  zur  Auf- 
tiudung  der  logischen  Grundsätze  hinzuarbeiten.  Seine  Widersprüche 
erzielt  er  meist  dadurch,  dass  er  mit  Hegriffen  schaltet,  als  wären 
s:ie  ein  für  allemal  fest  normirte  Afünze.  die  immer  gleichen  Wert 
und  gleiche  Bedeutung  behielte.  Kr  trei))t  seine  Hörer  dadurch  zur 
Einsicht,  dass  alle  allgemeinen  Kigenschaften  nur  relativ  gelten,  dass 
es  etwas  absolut  (-Jutes,  etwas  absolut  Schönes  nicht  gibt.  Sokrates 
wollte  mit  den  Begriffen  rechnen,  es  fehlte  ihm  aber  die  Maßeinheit. 
Direct  ei*zielte  seine  Dialektik,  indem  sie  durch  P^in wände  jedem  Be- 
griff mehr  und  mehr  von  seiner  Allgemeinsriltigkeit  nahm,  scharfe 
Abgrenzung  dei-  Begiitfe;  indirect  als  nothwendig  zu  denkende  Grund- 
anschauung die  Einsicht,  dass  alle  Eigenschaften  nur  relativ  gelten. 

Erwägen  wir  nun,  eine  wie  gewaltige  Gedankenarbeit,  welche 
Abstra(;tionsfähigkeit  zu  dieser  Einsicht  gehört,  so  können  wir  keinen 
Augenblick  zweifeln,  dass  die  Sokratische  Methode  in  ihrer  innigen 
Verknüpfung  mit  ethischen  Fragen  in  unseren  Schulen  nicht  zur  An- 
wendung kommen  kann.  Und  wollten  wir  diese  Methode  vielleicht 
auch  nur  in  den  oberen  Glassen  taGherer  Lehranstalten  zur  Anwendung 
Iningen,  so  heifit  es  selbst  von  Primanern  zu  viel  verlangen,  wenn  sie 
hd  der  BelativitAt  aller  Eigenschaften  die  ganze  Dringlichkeit  fühlen 
und  erkennen  sollen,  mit  der  trotz  aller  logischen,  begritl'smäiiigen 
nnd  somit  zersetzenden  pnsicht  dennoch  unser  ganzes  Leben,  unsere 
gesammte  praktische  Moral  nach  einem  absoluten  Mafie  verlangt  und 
sehliefilich  die  Existenz  eines  solchen  Maßes  sich  in  Kants  Weise  aus 
der  Thatsache  ableitet,  dass  es  von  allen  als  unentbehrlich  gefordert 
wird.  Zn  dieser  Erkenntnis  kdnnen  sich  Primaner  nicht  durchringen. 
Sie  lesen  Ja  freilich  anf  dem  Gsrmnasinm  gelegentlich  die  Sokratischen 
Denkwürdigkeiten  nnd  einen  platonischen  Dialog;  aber  wenn  der 
grammatische  Betrieb  dieses  Unterrichtes  llberiianpt  ein  Interesse  am 
Gegenstände  aufkommen  iSsst,  so  wird  dies  hervorgerufen  durch  die 
Freude  an  dem  irischen,  wechselreichen  griechischen  Leben,  das  diese 
Schriften  wiederspiegeln.  Dazu  kommt  noch,  dass  Sokrates  selbst,  be- 
sonders nach  der  DarsteDnng  Xenophons,  den  wahren  Nutzen  meistens 
als  Grundlage  der  ganzen  Ethik  zu  betrachten  scheint.  Sollte  man 
nun  auch  den  Natzen  ganz  objectiv,  ganz  allgemein  fassen,  diese 
Sokratisdie  Methode,  diese  Art  moralische  Fragen  zu  behandeln  kdnnte 

PlHgoglMi.  Jahrg.  11.  Beft  m.  12 


—   158  — 


gar  zu  leiclit  wie  in  jenen  Zeiten  eine  die  (-resellscliaft  getaln  dende 
Sophist ik  fördern,  die  nicht  den  aligemeinen,  sondern  nui"  den  persön- 
lichen Nutzen  im  Aw^e  hat. 

Sokrates  liat  seine  Nützlichkeitsbetracht unsren  auc-h  zum  Beweise 
vom  Dasein  Gottes  verwendet:  die  z\veckmiißif>^e  Einrichtung  des 
inenschliclien  Körpers,  die  ganz  zum  Besten  des  Menschen  eingerichtete 
Natur  waren  ilim  Beweise  von  der  Füreorge  Gottes  für  die  Menschen, 
und  zwar  von  einer  ganz  persönlichen,  jedem  Einzelnen  besonders  ge- 
widmeten Füi'sorge,  die  z.  B.  zu  Sokrates  als  sein  daifxonov,  als  seine 
innere  Stimme  sprach  und  auch  durch  allerhand  Orakel  sich  verständ- 
lich machte.  Wie  Sokrates,  so  hat  auch  die  Eatechetik  des  vorigeu 
Jahrhunderts  mit  Vorliebe  den  teleologischen  Beweis  für  das  Dasein 
Gottes  den  Schttlem  Tordemmtrirt-,  und  es  ist  vol  möglich,  dass  das 
vorige  Jahrliniidert  dadurch  sich  verleitei  ließ,  Sokratik  und  Eate- 
chetik miteinander  zu  yermischen. 

MQssen  wir  also  als  Pädagogen  davon  absehen,  die  Sokratik  in 
ihrem  eigensten  Gebiet  anzuwenden ,  so  könnte  vidleicht  die  Form 
der  SokratischenÜntersuchnngen  nnsereUnterrichtsmethoden  bereichem. 
Jedoch,  wir  mttssen  hier  gleidi  von  vornherein  nindherans  sagen,  So- 
krates hat  keine  besondere  Form  in  seiner  Beiehrang  bevorsagt  AUe 
Wendungen,  die  das  lebendige  nnd  bewegliche  Gespräch  eines  Atheners 
dorchmachen  konnte,  verwendete  Sokrates,  nm  zn  seinem  Ziel  za  ge- 
langen. Er  kam  von  spedellen  Fällen  anf  das  Allgemeine,  er  schloss 
ebenso  vom  Allgemeinen  auf  das  SpecieUe;  Induction  and  Deduction 
worden  gleich  häufig  verwendet;  Sokrates  griff  eine  allgemeine  Sentenz 
auf  und  schränkte  sie  durch  spedelle  Fälle  ein,  er  stellte  das  Besultat 
voran  nnd  bewies  seine  Richtigkeit  auf  analytischem  Wegcw  Seine 
Begrübdefinition  ging  von  el^ymologischen  Deutungen,  von  Dichter^ 
stellen,  von  der  Rede  des  gewöhnlichen  Volkes  aus.  Je  nach  dem 
Bildungsgrade  seines  Mitonterredners  legte  er  mit  der  Frage  zugleich 
die  Antwort  ihm  in  den  Mund,  oder  begnügte  sich  mit  einfachem  Ja; 
er  stellte  so  und  so  viel(>  Fälle  zui-  Auswahl  oder  forderte  zu  gröfieren 
selbstständigeu  Beobachtun^^en  und  Mittbeilungen  auü 

Wenn  wir  sonach  in  Betrefi*  der  Form  von  einer  speciell  Sokra- 
tischen  Methode  sprechen  sollen,  so  können  wir  das  Eigenthämliche 
derselben  nur  darin  sehen,  dass  Erkenntnisse  gesprächsweise  gewonnen 
werden,  dass  nicht  neues  Wissensmaterial  hinzugefügt,  sondern  bereits 
Vorhandenes  geordnet  und  gesichtet  wird.  Aristoteles  rühmt  die  Er- 
findung!: des  Tnductionsverfahrens  als  besonderes  Verdienst  des  Sokrates, 
und  so  können  wir  vielleicht  hierin  das  Eigenthümlicke  der  Sokra- 


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—   169  — 


tiaehen  Methode  suchen.  Wir  wenden  die  Induction  ja  auch  häufigf 
genng  in  unseren  Schalen  an,  doch  meistens  mein*  zum  Schein,  denn 
bei  unserem  überhasteten  Sachunterricht,  bei  dem  Streben,  möf^lichst 
viel  Positives  zu  geben,  wird  selten  dem  Schüler  Zeit  gelassen,  wirk- 
lich das  Bedürfnis  nach  einer  allgeiii einen  Regel  zu  fühlen.  Gerade 
das  aber  ist  das  Bildende  der  Sokratischen  Methode,  dass  der  Geist 
durch  sie  das  Streben  bekommt,  Ordnung  zu  bringen  in  das  Chaos 
der  wechselnden  Eindrücke  des  Tage.^.  Sukrates  lehrt  nie,  wie  die 
Zwani^spadagogen  nnst'ri'r  Zeit,  iudem  er  ein  bestimmtes  Lernmaterial, 
ein  Pensum,  vortrügt,  er  bearbeitet  nur  bereits  Wahrgenommenes  und 
prüft  es  auf  seine  Berechtigung.  Wol  ließt:  sich  eine  derartige  Be- 
liandlung  eines  bereits  durchmessenen  größeren  Wissensgebietes  denken. 
Doch  dazu  hat  unser  staatlicher  Unterriclitsbetrieb  keine  Zeit,  wo 
vom  nothdürftig  absolvirten  Pensum  zum  neuen  geeilt  wird,  um  schließ- 
lich durch  ein  Schlussexameu  der  Well  zu  zeigen,  dass  der  betretl'ende 
angehende  Mensch  durch  so  und  so  viel  Wissensgebiete  hinduich- 
geschoben  worden  ist. 

Sind  wir  nun  bei  dt-r  Mannigfaltigkeit  der  Sokratischen  Rede- 
wendungen, bei  dem  Reichthuui  seiner  Erfindung  völlig  außei'standt-, 
tiine  besondere  Art  des  Beweises,  einen  bestimmten  Weg  der  Darlegung 
als  speciell  sokratisch  zu  bezeichnen;  gewinnen  wir  also  die  Über- 
zeugung, dass  die  Soki-atische  Methode,  welche  die  Schtder  ihrem  ge- 
liebten Meister  ablenten,  gar  nieht  in  einer  besonderen  Gesprächsweise 
bestand,  sondern  dass  zur  genauen  Begrifbbestimmnng  Fragen  gestellt 
wurden,  deren  Gesammtheit  zur  Erkenntnis  eines  scheinbar  nnlOalidien 
Widerspruchs  f&hrte,  so  müssen  wir  eingestehen,  dass  die  eigentliche 
Sokratische  Methode  nichts  mit  unserer  heutigen  P&dagogik  zu  thuu 
hat  Und  wollen  wir  anderseits  unter  Sokratischer  Methode  nicht 
mehr  verstehen  als  die  Fragemethode,  so  mOssen  wir  uns  sagen,  das^s 
Sokrates  in  der  Anwendung  von  Frage  und  Antwort  nie  ein  beson- 
deres Verdienst  seinerseits  wflrde  gesehen  haben.  Da  er  das  Bflcher- 
wissen  gering  sch&tzte,  weil  es  yon  der  bOrgerüchen  Praxis  zu  weit 
«ntfemt  lag,  so  konnte  er  nur  mftndlich  wirken;  wollte  er  durch  seine 
Bede  den  lebendigen  Geist  des  Atheners  fesseln,  wollte  er  durch  sein 
Oespräch  dessen  Gedanken  einen  bestimmten  Weg  anweisen,  so  konnte 
«3  nur  durch  Fragen  geschehen,  die  der  Gefragte  mit  Leichtigkeit 
jj^tanbte  beantworten  zu  können. 

Der  Philosoph  sieht  sich  also,  um  anf  meine  Einleitung  zurttck- 
zukommen,  get&uscht,  wenn  er  in  der  Sokratischm  Methode  nichts 
weiter  erkennt  als  die  Fragemethode.  Dagegen  hoffe  ich,  ist  es  mir 

12* 

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—   160  — 


e^inifrennaUeii  geluiig:en.  zu  zeigen,  wie  einzig  in  ihrer  Art  die  eigent- 
liclie  Sokratik  dasteht,  weklie  mächtige  und  unumgänglich  nothwendige 
Gedankenarbeit  des  griecliischen  Volk^^s  sich  in  der  Person  des  Sn- 
krates  verküri)eite.  Sokrates  allein  machte  durch  sein  Ringen  nach 
testen,  klaren  Begriffen  dem  Aristoteles  es  möglich,  eine  Los-ik  zu 
schreiben,  die  für  alle  Zeiten  unerschütterlich  feststeht.  Auch  noch 
heutigestags  ist  das  Studium  der  Sukratischen  (respräche  eine  Übungs- 
schule  zum  logischen  l)enken,  besonders  wenn  man  versucht,  die  Fehler 
zu  entdecken,  die  Sokrates  macht,  die  Widersprüche  zu  lösen,  in  die 
er  sich  verwickelt;  zugleich  empfehlen  sie  sich  als  eine  Vorschule  für 
moralische  und  ethische  Studien. 


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Iber  die  Auläii^e  der  sittlichen  Kntwjckelung  des  Kindes. 

Von  Dr.  M.  Jahn- Leipzig. 

Die  Frage  nach  der  sittlichen  Entwicklung  des  Menschen  er- 
langt für  die  Krziehung  diliirch  die  größte  B:*  leiitiing-,  dass  sie 
mit  dem  Zwecke  und  Ziele  aller  Pädafrotrik  in  engster  Verbindung 
steht.  Denn  mag  man  das  Ziel  der  Erziehiiug  in  der  Bildung  eines 
Charakters  oder  in  der  Heranbildun;,'^  des  Individuums  zu  einem  braucli- 
bareii  Menschen  suchen,  oder  mag  mau  den  Begriff"  der  Tugend  oder 
den  der  Pfticht  oder  den  des  liöchsten  Gutes  in  der  Erzieliung  oben 
anstellen,  oder  will  man  den  Zögling  lehren,  seine  Zeit  zu  verstehen, 
nach  Kniften  zum  Nutzen  und  Frommen  aller  zu  leben,  um  dadurch 
auch  seine  eigene  Glückseligkeit  am  sichersten  zu  tordern:  überall 
wird  die  Frage  nach  dei*  sittlicheu  Eatwickelung  des  Menscheu  mit 
im  Spiele  sein. 

Neben  dieser  Wichtigkeil  ist  der  Gegenstand  aber  auch  zugleicli 
durch  seine  Schwierigkeit  und  durch  die  Grüüe  seines  Umfanges  aus- 
gezeichnet, so  dass  er  nicht  nur  Erfahrung  und  Leben  beherrscht, 
sondern  auch  zu  den  schwierigsten  Problemen  der  Philosophie  gehört, 
wie  auch  Herbart  in  Bezug  hierauf  richtig  bemerkt,  indem  er  sagt, 
dass  die  erste  und  wichtigste  aller  Fragen,  welche  der  Mensch  für 
i^icl^,  fiir  andere,  tTu-  den  Staat,  für  die  Welt,  ja  sogar  in  Hinsicht  auf 
Vorsehung  und  Erlösung  auf  werfen  könne,  die  nach  der  Möglichkeit 
des  Besserwerdens  sei.  Um  nun  die  sittliche  Entwickelung  richtig 
verstehen  and  in  dieselbe  erzieherisch  naturgemäB  eingreifen  zu  können, 
ist  es  fflcherlich  von  Bedentung,  dass  man  schon  den  Anf&ngen  dieser 
Entwickelnng  genauer  nachsp&rt. 

Wemi  irir  die  Entwickelanf  eines  Kinte  Ton  dea  eraton  Tagen 
^  Gebort  an  wfolgen,  so  werden  irir  bemerken,  dass  das  Kind  in 
diOi  ersten  Wodien  nnd  Monaten  keine  Spnr  Ton  einem  sittlichen  Be- 
wasstsflln  leigrt;  anders  aber  ist  es,  wenn  wir  das  Kind  im  Alter  von 
«n  oder  swei  Jahren  beobachten:  da  sind  deatliche  Sparen  von  dem, 
was  man  eine  Änftemng  des  sittUehen  Verlialtens,  des  sittlichen  Qe- 
Wissens  nennt,  schon  Torhanden.  Non  ist  es  doch  sicherlich  inter- 


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eisaiit,  nachzuforschen,  wo  und  wann  die  ersten  Keime  des  sitUidieD 
Bewnsstseins  sich  im  Kinde  zeigen,  and  unter  welchen  Bedingungen 
sie  hervortreten.  Denji  die  Zeit,  in  welcher  man  von  angebornen  Be- 
griffen und  Ideen  sprach,  ist  vorüber;  &üc  ans  gilt  yielmehr  der  Satz 
der  Causalität  auch  auf  geistigem  Gebiete,  dass  nichts  geschieht,  wa» 
nicht  als  eine  Wirkung  von  Ursachen  und  Bedinj^ungen  angesehen 
werden  inuss,  dass  mithin  nichts  unvermittelt  erscheint,  das  Nene 
sich  immer  auf  das  Alte  stützt.    Natura  non  facit  saltus. 

Was  ist  nun  im  Kinde  vurlianden,  ehe  die  ersten  Keime  des  sitt- 
lichen Bcwusstseins  hervortreten?  Wir  sagen,  es  ist  zuerst  mit  den 
Sinnen  thätig  oder  lebt  im  einfachen  Empfindungsbewusstsein.  Pas 
Kind  in  der  Wiege  schlägt  dit^  Augen  auf  und  liat  die  Eniptinduu«? 
des  gelben  Lampenlichtes,  welches  in  einem  bestiniinten  Stärkegrade 
und  je  nach  dem  Stürkegrad  mit  einem  ang-enelimen  oder  unangeneh- 
men Gefühl  verbunden  vorhanden  ist.  Ähnlicli  verhält  es  sich,  wenn 
das  Kind  die  Muttermilch  genießt  oder  Schmerz  empfindet:  immer 
handelt  es  sicli  um  eine  gewisse  Empfindung^squalität,  einen  bestimmten 
Intensitätsgrad  und  einen  bestimmten  Gefühlston  —  aber  auch  nichts 
weiter  wird  das  Bewusstsein  erfüllen.  Noch  weiß  das  Kind  nicht, 
dass  der  Lichtstrahl  von  der  Lampe,  die  Milch  von  der  Mutter  kommt> 
dass  der  Schmerz  von  einer  bestimmten  Küri»eistelle  ausw'eht. 

Bald  aber  schreitet  das  Kind  in  der  Kntwickelung  weiter  fort. 
Es  fängt  an,  die  Empfindungen  an  bestimmte  Stellen  des  Köi"pers  oder 
in  die  Außenwelt  zu  verlegen.  Das  zeigt  sich,  wenn  es  die  Gegen- 
stände mit  den  Augen  verfolgt,  oder  wenn  es  verwnndert  die  eigenen 
Hftttde  betrachtet  and  gegenseitig  erfasst  Die  Psychologie  nennt 
diese  Vorgänge  das  Flgvriran,  Projiciren  nnd  Locallsiren,  ohne  aBer- 
dingB  weitere  An&eUJlBBe  Uber  den  ¥eilaaf  dieser  Vorgänge  geben  n 
kOmen;  es  ist  nnd  Ueibt  immerbin  rfttbselhalt,  wie  der  Mensch  dam 
gelangt,  das  innerlich  Empfundene  als  etwas  Extensires  Yorm- 
steüen.  Hier  haben  wir  es  jedoch  mit  diesen  Vorgängen  nur  so  w«it 
zu  tiinn,  als  sie  für  die  sittliehe  Entwickelnng  von  Wichtigkeit  sindr 
die  Vorstofe  derselben  bilden.  Denn  das  Kind  projicirt  nicht  nur  die 
Lieht-  nnd  Sehalleindrücke  der  Mntter  —  abgesdien  tob  den  vielen 
anderen  Gegenständen  der  Umgebung  —  und  gelsagt  so  sum  Bfld» 
derselben,  sondem  das  Kind  Überträgt  «ach  anf  dieses  Büd  alle  die 
angenehmen  Gefühle,  die  yon  der  Mutter  ausgehen,  nnd  in  dem 
Gegenwart  dem  Kinde  autheil  werden.  In  dem  Bilde  der  Mnttor 
verknftpfim  sidi  im  Kinde  die  Tielftwhea  Gefühle  des  Angenehmen^ 
so  dass,  da  diese  Gefthle  auch  in  der  Erinnerung  des  Kindes  erscheinen» 


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—  löü  — 


schon  die  bloße  Gegenwart  der  Mutter  das  Kind  freudig  etngt, 
daher  also  das  heitere  Gesicht  des  halbjährigen  Kindes,  welches  im 
Bettchen  liegt»  sobald  sich  die  Mutier  naht  Hier  zeigt  sich  aber  nan 
scholl  die  erste  psychische  Bedingung,  unter  welcher  das  Kind  zu 
neuen  G^f&hlen  gefuhrt  wird.  Sie  besteht  darin,  dass  das  Kind  die 
GefUüe  des  Angenehmen,  welche  es  in  sich  erlebt,  zugleicli  mit  der 
Person  rerknfipft,  von  welcher  sie  ausg^egangen  sind  oder  aus- 
gegangen zu  -sein  scheinen,  so  dass  die  Gegen waii.  oder  die  Erinne- 
rung dieser  Person  auch  die  Erinnerung  des  Angenehmen  mit  sieh 
iührt.  Dabei  finden  in  der  Seele  weitere  Zusammen£Eissungen  und 
Übertragungen  statt,  wobei  neue  Gefühle  und  vielfach  auch  neue 
Vorstellungen  zum  Vorschein  kommen.  Denn  es  wird  niemand  be- 
haupten, dass  das  freudige  Gefühl,  welches  das  Kind  beim  Anblick 
der  Mutter  ergreift,  vollständig  gleich  sei  dem  sinnlichangenehmen 
Gefühle  beim  Genuss  der  Milch  oder  desjenigen  beim  warmen  Wasser- 
biid;  wir  haben  ein  Gefühl,  das  wol  durch  sinnliche  Gefühle  veranlasst 
wurde,  aber  übergegangen  ist  zu  einem  (refühle  von  Person  zur 
Person,  und  welches  zugleich  die  erste  Stufe  bildet  für  die  Gefühle 
der  Anhänglichkeit,  Liebe  und  Treue,  welche  schiiefiUch  Mutter 
und  Kind  verbinden. 

Die  EntWickelung  geht  aber  hier  noch  ein  Stück  weiter.  Daa 
Kind  bekommt  bald  auch  ein  Bild  seines  eigenen  Körpers.  In  diesen 
und  in  dessen  Organe  veileirt  es  das,  was  sie  thun,  und  was  mit 
ihnen  geschieht.  Hierl'ei  lindet  ebenfalls  sehr  bald  eine  Ü^bertragung 
und  weitere  Vergeistigung  der  AuÜenweit  statt.  Alles  das  nämlich, 
was  dem  Kinde  geschieht  und  ihm  Schmerzen  und  Freude  bereitet, 
«'ben  diese  Schmerzen  und  Freude  legt  es  zugleich  auch  in  andere 
Personen  und  Dinge,  wenn  mit  diesen  ähnlich  verfahren  wird.  Das 
Kind  hält  den  Tisch,  an  welchen  es  sich  gestoßen,  oder  die  Nadel, 
mit  welcher  es  sich  gestochen,  für  den  Thäter.  Es  meint  auch,  die 
Poppe  könne  Schmerz  empfinden  und  an  der  Freude  theilnehmen.  Das 
Weinen  der  Mutter  ist  dem  Kinde  ein  Zeichen  des  Schmerzes,  weil, 
wenn  es  selbst  Schmerz  empfindet,  ebenfEtUs  weint.  In  solchen 
Obertragungen  macht  das  Kiad  ohne  Wissen  und  Wollen  auBer- 
ordeniUdi  schneU  Fortsehritte,  und  bald  lernt  es  nicht  nur  den  Aus- 
druck des  Sdimenes  und  der  Freude  in  eines  anderen  Gesteht,  sondern 
aaeh  den  strafoiden  Bliek,  den  Ausdruck  HebevoUer  Zuneigung  und 
belobender  2äistfanmung  dar  Eltern  kennen  und  unterscheiden.  So 
wird  es  ertdftrlich,  wie  die  lebhafte  Erinnerung  und  das  lebhafte  Zu- 
saainenspiel  solcher  Erlebnisse  die  Gefühle  der  Theilnahme  und 


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Liebe,  dauii  auch  der  Achtung,  der  Furcht  liervorrufen.  und  wie 
es  iil)erhaupt  niöglicli  ist,  dass  der  Mensch  zu  der  anfangs  allerdings 
nur  dunklen  Vorstellung  gelangt,  dass  es  Mitmenschen  gibt,  die 
ebenso  wie  er  Schmerz  und  Freude,  Zuneigung  und  Abnei- 
gung, Wünsche  und  Begehrungen  in  sich  tragen.  —  In  einer 
kurzen  Abhandlung  ist  es  nun  nicht  möglich,  die  Richtigkeit  des  (re- 
sagten  in  allen  Einzelheiten  dui'ch  Beispiele  zu  belegen;  sie  soll  viel- 
mehr dazu  auffordern,  die  Kinder  auch  nach  dieser  .Seite  hin  genauer 
zu  beobachten.  Es  kann  jedoch  als  eine  allgemeine  Thatsache  be- 
zeichnet werden,  und  dieselbe  tritt  schon  im  frülien  Kindesalter  her- 
vor, dass  der  Mensch  nicht  gleichgiltig  seinen  Nebenmenschen  gegen- 
übersteht, dass  eine  natürliche  Empfänglichkeit  seiner  Seele,  welche 
psychologisch  zunächst  durch  Übertragung  sinnlicher  Gef&hle  zu  erklftren 
ist,  ihn  veranlasst,  theilzanehmen  an  dem  Gl&cke  oder  Unglttcke  seiner 
Brüder.  Im  letzteren  Falle  reden  wir  insbesond^  van  Mitleid  and 
Mitfreadei  von  Mitgefühlen  oder  sympathetischen  QeflUilen,  mit  welr 
chen  Ausdr&cken  man  also  die  Theilnahme  an  fremdem  Wol  nnd  Webe 
beielchnet,  dieses  so  empfindet,  als  wäre  es  einem  selbst  geschdien. 
Wie  schon  erwihnt^  entsteht  die  Theilnahme  zaerst,  wenn  das  Kmd 
die  freiid-  nnd  schmersvollen  Gemftthsbewegnngen  in  Aasdracksbewe- 
gangen  sieht;  sie  wird  aber  verstftrkt»  sobald  die  Ursache  des  Enmmers 
bekannt  wird,  daher  immer  die  Frage:  Was  fehlt  dir?  SpAter  geiiAgt 
es  jedoch  schon,  das  fremde  Elend  in  lebhalten  Zügen  zn  schildeni, 
und  je  leichter  in  einem  Kmde  die  Phantasie  erregt  werden  kann, 
nm  so  lebhafter  erscheinen  dann  die  liQtgefilhle,  so  dass  oft  infolge 
lebhafter  Ersählnng  der  Mitfühlende  in  weit  höherem  Grade  errogt  ist 
als  der,  dem  die  Sfympathie  gilt 

In  der  Thatsache  der  Vergeistignng  der  Anfienwelt  wunelt 
sonach  das  Verhalten  des  Menschen  som  Menschen;  hier  liegt  die  erste 
Bedingung  zur  sittlichen  Entwickelnng,  besonders  zur  Entwickelang 
der  sympathetischen  Gefühle.  Als  nothwendige  Vorbedingung 
dieser  Gefühle  sind  die  sinnlichen  Gefühle  zu  bezeichnen,  ohne  jedoch 
diese  mit  jenen  zu  identificiren.  Allerdings  kehrt  eine  Eigenthümlich- 
keit  der  sinnlichen  G^hle  hier  wieder;  auch  die  sittlichen  Gefühle 
bewegen  sich  zwischen  Gegensfttzen.  Wie  wir  dort  das  sinnlich  An- 
genehme und  sinnlich  Unangenehme  unterscheiden,  so  redet  man 
hier  v<Hi  der  Wonne  des  Mitgefühls  und  von  der  Hässlichkeit  des 
Neides,  von  der  Lust  beim  Kecht  und  vom  Leid  beim  Unrecht  Diese 
Eigenthümlichkeit  der  Gefühle,  sich  in  Gegensfttseil  lU  bewegen,  ist 
jedoch  allen  Gefühlszoständen  eigen  und  muss  als  eine  nicht  weiter 


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I 


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erklärbare  Qnindeigenächaft  dieser  Seelenzustände  angesehen  werden. 
Diese  eine  psychische  Bedingung  genügt  jedoch  nicht,  um  das  Her- 
Tortreten  des  Ethischen  in  seiner  Mannigfaltigkeit  zu  erklären.  Im 
Alter  von  8—4  Jahren  schon  zeigt  das  Kind  eine  andere  £igenthüm- 
liclikeit;  wir  bemerken,  wie  es  das  Tuch,  den  Lappen  nimmt,  um  mit  dem 
selben  genau  so  thätig  zu  sein  wie  die  Mutter.  Etwas  später  will  der  Knabe 
auch  schon  des  Vatei-s  Stock  und  Hut  in  entsprechender  Weise  ver- 
wenden, er  macht  die  Körperbewe^unpfen  und  Gesichtszüge  der  Er- 
wachsenen nach,  und  auch  die  in  der  Familie  herrschenden  Gewohu- 
heiteu  und  Sitten  bleiben  auf  diese  Weise  dem  Kinde  nicht  fremd, 
sondeiTi  gehen  auf  dasselbe  über.  Wir  haben  es  in  allen  diesen 
Fällen  mit  Nachahmungen  zu  thun.  In  denselben  begegnet  uns 
eine  neue,  höchst  interessante  Gruppe  von  psychologischen  Vorgängen, 
so  dass  man  sich  wundern  möchte,  dass  in  den  Lehrbüchern  so  wenig 
darauf  eing^egan^en  wirfl.  Bei  einer  Nachahmung  wird  das  vom 
Kinde  Wahrgenomniene  nicht  nur  bewusst,  sondern  wirkt  auch  auf 
den  Muskelapparat,  und  zwar  in  der  Weise,  dass  das  Gesehene  von 
den  entsprechenden  Köri>ertheilen,  und  zwar  oft  in  wunderbarer  Voll- 
ständigkeit wiederholt  wii'd.  Der  Vorgan«?  liisst  sich  so  zwar  leicht 
beschreiben,  aber  doch  nicht  weiter  erklären  und  begreiten.  Dadurch 
kann  jedoch  die  Wichtigkeit  der  Nachahmung  nicht  verringert  wer- 
den. Weuu  wir  die  Kntwirkelung  des  Kindes  in  Betracht  ziehen,  so 
beruht  auf  der  Nachahmung  nicht  nur  das  Spiel,  sondern  auch  der 
größte  Tlit'il  aller  iibriyfen  körperlichen  Bethätigung;  ja  auch  tur  das 
ganze  spätere  Leben  ist  die  Nachahnmiitr  außerordentlich  wirksam. 

Das  EigenthUmliche  der  Nachahmung  besteht  mit  darin,  dass  sie 
zunächst  ein  rein  mechanischer  Vorgang  ist;  denn  das  Kind  denkt 
sich  dabei  zunächst  gar  nichts;  des  Zweckes  einer  Thätigkeit 
oder  des  Sinnes  eines  Familienbranches  ist  es  sich  gar  nidit  be- 
wnflBt  Daran  wird  m  ilun  das  Sobledite  etwnso  nacbgealimt  wie 
das  Beehte.  Aber  doeh  kann  auch  hier  eine  Fortbildung  anm  Voll- 
kommeneren bald  stattfinden.  Das  geschieht  dadurch,  dass  eine  Be- 
nrtheilnng  den  kindlichen  Verhaltens  durch  die  Eltern  und  durch 
andere  Erwachsene  eintritt;  die  freundliche  Zustimmung  oder  der 
eraate  Bück,  die  Ermahnung  und  das  Verbot  oder  die  bestimmte 
StrniiB  der  Eltern  Ähren  das  Kind  dahin,  das  Sichtige  Tom  Falschen 
unterscheiden  lu  lenien.  Auch  hier  ist  wieder  das  ähnliche  Gefühl 
mit  thitig.  Freude  oder  Furcht  in  der  Erinnerung  bei  dieser  oder 
jener  Nachahmung  wiikt  bn  bestimmter  Weise  auf  die  Thfttigkeit  ein, 
so  daas  eine  Regelung  des  Benehmäis  und  Betragens  des  Kindes  all- 


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—   166  — 


mählich  eintritt.  Dabei  macht  sich  nun  der  Fortschritt  nach  der 
Seite  des  sittliclien  Bewusstseins  mit  geltend.  Das  Kind  bekommt  ein 
diinklcis  Gefühl  für  das  Richtige  und  Falsche,  für  das  Erlaubte 
und  Verbotene,  für  das  L(>]»ens-  und  Tadelnswerte,  tür  das 
Schicklicbt^  und  Nichtschickliche.  Wirkönnen  so  schließlicli  sagen, 
(Ihss  <lie  Nachahmung  für  die  .sittliche  Ausbildung  im  besonderen  die 
Bedeutung  hat.  dass  das  Kind  gewöhnlich  bei  der  rein  mechani- 
schen Thätigkeit  des  Nachahmens  nicht  stehen  bleibt,  son- 
dern dciss  es  theils  durch  weitere  Beeinflussung  der  Erwachsenen,  theils 
von  selbst  zu  Gefühlen  und  Gedanken  geführt  wird,  welche  zum 
Gebiet  des  Ethischen  gehörig  zu  betrachten  sind. 

Nun  ist  es  nothwendig,  noch  auf  eine  dritte  wichtige  Bedingung 
des  Hervortretens  sittlicher  Gefühle  aufmerksam  zu  raachen.  Viele 
Handinngen  des  Menschen  und  verscliiedenes  im  Verkehr  der  Men- 
schen Wahrgenommenes  "wirkt  nicht  in  der  Weise,  dass  von  seiten  des 
Kindes  eine  Nachahmung  erfolgt,  die  oft  auch  gar  nicht  erfolgen  kann. 
Ein  Knabe  befindet  sich  z.  B.,  mit  seinen  Spielsachen  beschäftigt,  allein 
im  Zimmer;  da  sieht  ein  fremdes  Gesicht  zur  Thür  herein;  gleich,  so 
sagen  wir,  erschrickt  das  Kind,  es  will  sich  vei'stecken  und  fängt 
wol  gar  an  zu  weinen.  Oder  wir  bemerken,  wie  das  Kind,  der  Er- 
innerung des  angenehmen  Geschmaekes  folgend,  nach  der  süßen  Frucht 
im  Korbe  der  Verkäuferin  greift,  die  Hand  aber  schnell  wieder  sinken 
Iftsst,  wenn  es  die  dabei  stehende  Person  wahrnimmt  Oder  Knaben 
spielen  auf  der  Strafie;  da  würd  ihnen  von  fremder  Hand  das  Spiel- 
zeug weggenommen;  nach  knr»em  Stannen  sehen  wir  die  Knaben  in 
neuer  Unruhe,  sie  laufen  dem  Übdfhiter  nach,  und  die  Schlägerei  ist 
fertig.  In  diesen  und  ähnlichen  Fällen  haben  wir  uns  den  psychi- 
schen Verlauf  in  der  Weise  m  denken,  dass  im  Bewusstseln  der 
Kinder  gleichmABig  und  ruhig  eine  Ansahl  Vorstellungen  und  GeAhle 
ablftuft,  wobei  sich  die  Kinder  sichtlich  wolbefinden.  Das  Wahr- 
nehmnngsl^  des  fremden  Gesichtes  passt  nun  nicht  in  diesen  Vor^ 
stellungBlauf,  wirkt  aber  doch,  indem  es  die  Vorstellungen  zerreißt» 
sie  in  Aufridur  versetzt  und  die  rahig  dahinflieftendeii  Vorstellungen 
gewaltsam  zurttekdrftngt  Es  hat,  wie  wir  sagen,  eine  Gemftths- 
bewegnng  oder  Gemflthserschütterung,  ein  Affect,  stattgeflmden. 
In  diesem  Falle  wird  nicht  nur  das  Gemttth  verBndert  und  der  Körper 
in  Mitleidenschaft  gezogen,  die  entstandene  Leere  des  Bewnsst* 
seins  wird  sehr  oft  durch  andere  wertvolle  Bewusstseins- 
Inhalte  ausgefällt,  welche  aus  dem  Innern  auftauchen.  Das  erste, 
was  sieh  gewöhnlich  bemerklich  macht,  ist  das  Staunen;  daran  aber 


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—   167  — 


können  sich  nach  der  Bei;chaffenheit  des  Wahrgenommenen  und  nach 
der  Intensität  des  Eindrucks  besondere  Geiühle  und  Gedanken  an- 
schließen, und  liier  haben  wir  nun  die  Stelle,  wo  die  AtFecte  auch  für 
die  sittliche  Entwickelung  von  Bedeutung  sind.  Denn  auch  sittlich 
wertvolle  Gefühle  befinden  sich  unter  den  neuen  Bewusstseins- 
inhalten,  wie  das  (Tetlihl  vor  dem  Großen  und  Majestätischen, 
das  Gefühl  der  Achtung,  das  derFurcht  und  der  eigenen  Nichtig- 
keit, der  Scham  und  Reue,  besonders  pflegen  die  Gefülile  des 
Rechtes  von  Atfecten  auszugehen  hei  Verletzung  des  Rechtes  durch 
grobes  Unrecht.  Muth  und  Feigheit,  Ausdauei-  und  Erschlaffung,  Siegeu 
und  Unterliegen  lernt  der  Mensch  beim  Affecte  kennen,  und  käme  es 
unter  den  Kindern  und  unter  den  Menschen  überhaupt  nie  zu  einem 
Sti'eite,  so  würde  das  (letiihl  für  Wahrheit  und  Lüge,  Recht  und 
Unrecht  nicht  zum  IJewusstsein  gelangen. 

Die  Vergeistigung  der  Außenwelt,  die  Nachahmung  und 
der  Affect  erscheinen  sonach  als  diejenigen  psychischen  Bedingungen, 
imter  denen  das  Sittliche,  insbesondere  sittliche  Gefühle  im  Menschen 
geweckt  werden  können.  Wir  unterlassen  hierbei  zu  versuchen,  für 
diese  Vorgänge  eine  höhere  Einheit  zu  linden,  wie  wir  unigekehrt 
nicht  weiter  nachforschen,  ob  die  Zahl  derselben  nicht  zu  ver- 
mehren sei. 

Sind  dieses  nun  innere  psychische  Bedingungen  für  das  Hervor- 
treten des  Ethischen,  so  können  im  Gegensatz  hierzu  auch  äußere 
Bedingungen  unterschieden  werden.  Denn  wie  die  Seele  überhaupt 
erst  dnxdi  EinflUase  Ton  anfien  zar  TbäUgkeit  erwacht,  so  mfissen 
aneh  in  den  beschriebenen  FftUen  gewisse  ftoitere  Bedingungen  erfUlt 
sein,  sollen  die  erwihnten  Thätigkeiten  in  Ghuig  kommen.  Das  wird 
aber  dann  geschehen,  wenn  der  Henseh  in  Gemeinschaffc  mit  anderen 
gebraeht  wird,  län  Mensch  ist  kein  Mensch.  Wollte  man  ein  Kind 
isoUrt  von  allem  menachliehen  Umgänge  anfwachsen  lassen,  so  würden 
aneh  alle  ftnßeren  Bedingungen  fbhlen»  welche  das  Innere  hi  Wirksam- 
keit yersetsen  können.  Die  ethischen  Geffthle  wurzeln  im  ge- 
sellschaftlichen Dasein  des  Menschen;  sie  sind  socialer  Art. 
Soll  ein  menschliches  Wesen  Theilnahme  am  Schmerz  und  an  der 
Freude  seiner  Mitmensche,  Achtung  und  Liebe,  Recht  und  Unrecht 
ffthkn  und  kennen  lernen,  so  kann  das  nur  geschehen,  indem  es  sich 
betheiligt  an  den  Ereignissen  und  Handlungen  des  Menschen,  dass  der 
Einzetaie  Ton  den  Aussahen,  Verhfiltnissen  und  Angelegenheiten  der 
Gesammtheit  berührt  wird. 

Das  Ergebnis  der  sittliehen  Entwickelung  in  ihren  Anftngen  sind 


—    168  — 


sittliche  Gefiiiile.  welche  hei  den  vtl^cllie(len^stt'll  Aulä!>i>en  nach 
den  verschiedensten  Richtun^^en  liervortreten.  Das  Kind  zei^t  be- 
kanntlich sehr  bald,  besonders  wenn  es  in  geeigneter  Weise  erzogen 
wird,  ein  feines  (Tefühl  für  die  ünterscliiede  des  eigenen  Verhaltens 
und  das  anderer  Personen,  und  diese  Gefiihle  liaben  ti-otz  ihrer  dunklen 
Form  die  Eigenthiindiclikeit,  sicli  in  sittliche  Normen  umzusetzen,  das 
Kind  anzutreiben,  das  Rechte  und  Gute  zu  thun.  Das  reiche  Gebiet 
der  sittlichen  Gefühle  finden  wir  auch  in  der  Sprache  wieder,  wenn 
hier  z.  B.  unterschieden  wird  Mitleid,  Mitfreude,  Theilnahme,  Neigung. 
Liebe,  Selbstlosigkeit,  Selbstvei-leugnong  u.  &  w.  Aber  doch  zeigt 
schim  dkie  BeUM,  dass  es  nicht  leidit  ist,  in  die  BttnieluiinigeD, 
wateiie  die  Sprache  besitzt,  Ofdaung  za  bringen,  veü  ein  md  der- 
seibe  Aosdrack  f&r  mehrere  Formen  im  Gebraach  ist,  und  weil  die  in 
Frage  kommenden  Oeffthle  leicht  ineinander  ftbeiianfen  nnd  einem 
Uaren  Bewnsstsein  nicht  standhalten.  Bei  den  sittlichen  Gefühlen 
soll  deswegen  schon  dm  Monseh  nicht  stehen  Udben;  die  sittlichen 
Geftthle  haben  anfierdem  die  Eigenschaften  der  anderen  Gefllhle,  dass 
sie  bald  wieder  verklbgen  nnd  bei  TieUüMher  Wiedeiholang  sich  ab- 
schw&Qhen;  sie  müssen  zn  klaren  YdtsteUongen  eriioben,  Urtiieile  nnd 
Begriffe  ans  ihnen  gebildet  werden.  Dies  weiter  sn  vediolgent  ist 
aber  hier  nicht  unsere  Aufgabe.  Eben^)  haben  wir  ganx  unterlassen, 
die  negatiye  Seite  der  sittlichen  Entwickelang,  nftmlich  die  Wurzeln 
des  Unsittlichen,  an  berücksichtigen. 

Auf  eins  soll  nur  noch  hingewiBsen  werden.  Die  Tergeistigung 
der  Außenwelt,  die  Nachahmungen,  die  Affocte  sind  als  die  Bedingungen 
der  sittlichen  Entwickelung  bezeichnet  worden.  Damit  ist  also  gemeint, 
dass  dann,  wenn  das  Kind  seine  sinnlichen  Gefiihle  projicirt  und  loca- 
lisirt,  erwartet  werden  kann,  dass  auch  Gefllhle  der  Anhänglichkeit, 
der  Zuneigung,  des  Mitleids  sicli  bemerklich  machen,  oder  indem  es 
nachahmt,  hotten  wir,  dass  das  Kind  bei  der  mechanischen  Thätigkeit 
nicht  stehen  bleibt,  sondern  dass  Sinn  und  Verstttndnis  für  die  Sitten 
und  Glebräuche  sich  einstellen,  ebenso  ist  es  bei  den  Affecten.  Wir 
erwarten  also,  dass  unter  den  angegebenen  Bedin^nn<ren  die  neue 
BewoBstseinsform  hervortritt,  ohne  sie  mit  Bestimmtheit  berechnen 
oder  voraussagen  zu  können.  Denn  es  mnss  immer  vorausgesetzt 
werden,  dass  im  Menschen  diejenigen  Kräfte  vorhanden  sind,  welche, 
wenn  die  äußeren  Bedingungen  <ref^eben.  die  neuen,  höheren  Getiihle 
und  Vorstellungen  zur  Erscheinung  bringen.  In  diesen  Kräften  sind 
dann  die  Ursachen  zu  suchen,  während  der  iuigegebene  |)sy<'hische 
Verlauf  die  Bedingungen  enthält,  unter  welchen  die  sittlichen  iu-äfte 


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wirksam  weiden.  Bei  gewissen  Thierarten  sind  siclierlieh  die  psychi- 
schen Bediugunt^en  voiiianden,  auch  sclieinen  die  ersten  Ansätze  zum 
Sittlichen  niclit  <ranz  zu  fehlen,  aber  doch  gelangt  das  l'liier  zu  keiner 
sittlichen  Knlwirkclung,  jedenfalls  weil  die  nachhaltigen  Kräfte 
mangeln,  welche  zum  Sittlichen  führen.  Auch  im  MHnsrhenlel>en  giht 
es  Fälle  genug,  dass  hei  aller  gt-isiigen  Zurechuungsfähigkeit  die  Knt- 
wickelung  des  sittlichen  Bewusstseins  zurückbleibt.  Die  Verbrecher- 
welt, besonders  auch  die  jugendliche,  liat  ganz  merkwürdige  Beispiele 
zu  verzeichnen.  Ursache  oder  Ursi)rung  und  Bedingung  der  mensch- 
lichen Entwickelung  ist  deswegen  wol  auseinanderzuhalten.  Auch 
die  Descendenztheorie  übersieht,  wie  es  scht^int,  diesen  Unterschied. 
Der  Darwinismus  behauptet,  dass  die  organische  Entwickelung  der 
Lebewesen  nur  intulge  äußerer  Kinwirkungen.  durch  die  natürliche 
Zuchtwahl,  durch  Anpassung  und  Vererbung  voi-  sich  gehe.  Mit  die- 
sen Ausdrücken  ist  jedoch  weiter  nichts  gegeben  als  die  Bedingung 
organischer  Entwickelung.  Denn  bei  jeder  indirecten  Wirkung  wird 
immer  ein  gewisses  Maß  von  Veränderlichkeit  vorauszusetzen  sein; 
das  Indiyiduam  mnss  die  Fähigkeit  besitzen,  sich  anzupassen,  die 
Kraft,  sich  verändern  zu  können,  gleichviel,  ob  wir  die  Kraft  Bochen 
in  dem,  was  wir  Mateila  mubii,  oder  in  dem,  was  wir  Gtaiat  nennen. 
Eine  wirklich  erfolgte  UmAndening  eines  pflanzlichen,  thierischen  oder 
menschlichen  OrganismoB  kann  offanbar  nor  als  das  Besnltat  ans  der 
Constitation  desselben  nnd  ans  den  auf  sie  einwirkenden  Einflössen 
der  AnAenwelt  betrachtet  werden,  ans  den  ftnßeren  Bedingungen  und 
den  organischen,  physiologischen,  psychologischen,  intellectnellen,  ethi- 
sdien  Kräften.  Und  so  hat  Sdiiller  auch  nach  dieser  Seite  nicht 
onrecht,  wenn  er  sagt:  „Es  ist  der  Geist,  der  sich  den  KOrper  baut** 


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Zum  Moraiuuterricht 


Ein  Leser  des  „Piedagogiums"  sendet  uns  unh  r  Hinwei«  auf  cim'  Arbeit  von 
Herrn  .Scliuliüsp»^rtor  Wyß  sidir  Ootoborlieft  S.  12  ft.)  dio  nachstoliciidrii  kritischen 
Henierkuugcu.  Wir  brin^iu  (licsilbcii  zum  Abdruck,  weil  der  Moraluntcrrichl  noch 
eine  ofl'ene  Frage  int  und  aliüeitiger  Beleuchtung  bedarf.  Herausgeber  verweist  zur 
KeniMBeichnung  seines  Standpviiktes  TOiUnflg  vat  die  besflg^dieii  AiuflUmingeii  in 
seinei  »Schule  der  Pftdagogik'',  namentlich  auf  S.  488  ff.  D. 

Die  EinAhning  eines  besonderen  Moralanterrichtes  in  die  Yolk»- 
scbnle  ist  entechieden  za  Terwerfen.  Geschieht  dieselbe,  so  kann  man 
sieh  Aber  solche  Veriming  des  menschlichen  Geistes  nicht  genug  ver- 
wnndern. 

Es  scheint  in  dem  Moralontenichte  darauf  abgesehen,  den  Scha- 
lem ein  yoUständiges  System  aller  Tugenden  nnd  Laster  za  bieten 
und  ihnen  anzneignen.  Einem  solchen  ist  aber  auch  der  beste  Volks- 

schüler  keineswegs  gewachsen;  nur  der  kann  es  verdaaen,  der  auf  dem 
Gebiete  der  Psychologie  nicht  mehr  fremd  ist.  Dagegen  wird  einem 
Schüler  das  meiste  unverständlich  bleiben-,  wie  sollte  es  da  nun,  da 
es  nicht  einmal  vom  Verstände  er&sst  ist,  auf  sein  Wollen,  auf  seine 
Handlungen  bessernd  einwirken? 

Dieser  Unterriclit,  der  dem  Schüler  so  wenig  seinem  geistigen 
Standpunkte  Entsprechendes  bietet,  wird  ihm  wenig  Freude  bereiten, 
für  ihn  wenig  Interesse  haben  Die  Tnliist  (der  B^eind  aller  gedeih- 
lichen Arbeit),  mit  weldier  der  Scliüler  bald  gegen  diesen  schablonen- 
haften, gekünstelten  Unterricht  erfüllt  werden  muss,  wird  noch  mehr 
steigen,  sobald  das  Kind  es  eniplindet,  dass  es  der  Gegenstand  einer 
rein  inecliaiiischen  Dressur  ist.  Dass  alxT  unter  diesen  Umständen 
von  einem  galten  Erfolge  des  Unterrichtes  nicht  die  Kede  sein  kann, 
ist  sellistverständlich.  Dunat'li  sind  also  Srhulen  mit  einem  beson- 
deien  Horalnuteirichte  kaum  imstaude,  ilu-e  erzieliUche  Aulgabe  zu 
erfüllen. 

Wie  werden  dagegen  (diese  Frage  liegt  nahe)  die  Schulen  ohne 
äolcheu  Uuierricht  dieser  Aufgabe  gerecht?    Nun    liier  werden  die 


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Kinder  nicht  in  der  Moral  unterrichtet,  sondern  zur  Moral  erzogen. 
vSie  erfahren  hier  nicht  hing  und  breit,  was  Moral  heißt,  lenien  sie 
aber  unter  dem  kaum  bemerkbaren,  doch  trotzdem  genügend  starken 
Einfluss  seitens  des  Lehrers  ausüben.  Die  äußere  Zucht  und  das  Voi  - 
bild  des  Lehrers  müssen  hier  im  Verein  mit  dem  so  hochwichtigen, 
um  alles  nicht  zu  unterschätzenden  und  zu  entbehrenden  Einfluss  der 
Familie  die  Hauptsache  thun. 

Daneben  wirken  im  stillen,  nicht  so  planvoll  und  gekünstelt,  aber 
dafür  auch  weil  mächtiger  und  nachhaltiger  als  der  besondere  Moral- 
unt«^rricht,  der  fwie  vorhin  zu  zeigen  versucht  wurde)  sein  Ziel  voll- 
ständig verfehlt  und  vielleicht  sogar  schädlich  wirkt,  der  Unterricht 
im  Deutschen,  in  der  Geschichte,  vor  allen  Dingen  aber  der  Religions- 
unterricht} dessen  wichtigster  Zweig  ja  der  biblische  G^bichtsnnter- 
ridit  ist  Wie  oninittelbar  und  segensreich  wiriran  nicht  in  diesen 
Fftehem  die  nblrelchen  Tor-  nnd  Schreckbilder;  sie  yeiÜBhlen,  in  der 
rediten  Wefse  angewendet,  um  ihrer  inneren  Wahrheit  Witten  wol 
niemals  ihren  tiefen  Einflnss  anf  das  Gfemüth  und  somit  auch  auf  den 
Willen  nnd  den  Charakter  des  Kindes.  Nur  wenig  kommt  bei  der 
sittlichen  Bfldung  der  Schüler  der  Verstand  in  Betracht  Wozu  das 
Kind  durch  Hans  nnd  Schule  gewöhnt  wird,  was  es  bei  dem  ersieh- 
lidien  Untenidite  unmittelbar  mit  dem  Oemüthe  eriSust  und  durch 
dieses  anf  seinen  Willen  wirken  Iftsst,  alles  das,  was  somit  allmftblich, 
aber  sicher  den  Charakter  des  Kindes  bildet,  das  erkennt  der  sonst 
so  grübelnde  Verstand  in  den  bei  passender  Gelegenheit  angebrachten 
nnd  in  den  aus  den  Geschichtsbüdem  des  Unterrichtes  sich  so  natür- 
lich ergebenden  Lehren,  überw&ltigt  von  der  aUmftchtigen  Gewöhnung 
und  dem  Gtemüth,  ohne  weiteres  an. 

Dieser  Weg  ist  bei  Kindern  der  einzig  und  allein  richtige.  Bei 
diesen  erst  unvollkommen  (und  so  sind  nur  die  kaum  verstandenen 
Belehrungen  des  Moralnnterrichtes)  anf  den  Verstand,  und  dnrch 
diesen  erst  dann  mit  Übergehung  des  Gemüthes  auf  den  Willen  wirken 
zu  wollen,  ist  vollständig  verkehrt,  führt  nicht  zum  Ziele.  — 

Wenn  in  den  Ländern  des  Moralunterrichtes  der  Unterricht  in 
der  Religion  den  Geistlichen  überlassen  ist,  so  handelt  man  keines- 
wegs im  Sinne  des  Woi-tes  Christi:  „Gebt  dem  Kaiser,  was  des  Kai- 
sers, und  Gott,  was  Gottes  i.st!" 

Der  Keligionsunterricht  der  Kinder  kommt  nicht  der  Kirche  zu. 
Denn  die  Kinder  gehören  als  solche  einzig  und  allein  der  Familie 
und  der  Schule  an,  welche  beide  im  Verein  die  Aufgabe  haben,  der 
Kirche  und  dem  Staate,  den  beiden  Gemeinschaften,  welchen  die 


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BrwachseneD  als  Glieder  angehören,  dereinst  neue,  würdige  Mitglieder 
znsoHUiren. ' 

SelbstverstAndlich  mfissen  nun  ans  letzterem  Grande  alle  berech- 
tigten Forderungen  der  Kirche  n&d  des  Staates  in  der  Schnle  nnd  in 
der  Familie  volle  Berfleksichtignng  finden,  nnd  das  geschieht  wol  auch. 
Ist  dies  aber  nicht  der  Fall,  so  hat  allerdings  die  Gemeinschaft, 
welcher  die  Macht  Übertragen  ist,  nnd  das  ist  einzig  nnd  allein  dar 
Staat,  das  Recht,  die  besQglichen  Forderungen  mit  Gewalt  dnrch- 
znffihrra.  Doch  die  Kkche  hat  kein  Beeht,  in  das  GeMet  nnd  in  die 
Arbeit  der  Schnle  thfttig  nnd  gewaltsam  einzugreifen.  Möge  sie  sich 
genflgen  lassen  an  dem  mflhevollen,  aber  aach,  wenn  alle  Kraft  allem 
dazu  verwendet  wird,  von  Segen  gdcrOnten  Arbeiten  an  den  Seelen 
der  Erwachsenen  durch  Predigt,  Schriften  nnd  vernünftige  kirchliehe 
Einrichtungen.  Auf  die  Kinder  vermag  sie  noch  immer  nachhaltig 
genug  durch  den  Confirmandennntenicht,  den  ihr  niemand  strdtig 
machen  wird,  zn  wirken. 

Zum  Schluss  sei  mir  noch  die  Bemerkung  gestattet,  dass  die 
Diener  der  Kirche  sich  gar  nicht  zur  Ertheilnng  des  Schnl-Religions* 
Unterrichtes  eignen,  weil  sie,  wie  es  ja  gar  nicht  anders  sein  kann 
und  soll,  nicht  genügend  pädagogisch  durchgebildet  sind.  Dies  ist 
aber  der  Lehrer,  dessen  Berufsbildung  eben  eine  zum  größten  Theil 
pädagogische  ist,  die  sich  durch  den  dauernden  Verkehr  mit  den 
Kinderseelen  noch  beständig  erweitert  und  vertieft. 


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Pädagogische  Randschan. 

Vom  Lehrertagre  nnd  dem  Pestalozzi-Vereine  Brandenburgs. 
In  den  Tag'en  vom  2.  bis  4.  October  hielten  beide  Vereine  ihre  dies- 
jährigen Versammlungen  in  der  schiinen  Havelstadt  Potsdam  ab.  Trotz  strö- 
mendeu  Eegens  waren  die  Collegcu  von  nah  und  teru  in  grußer  Zahl  herbei- 
geeilt —  Iber  600  nchniai  an  den  Verliandliingen  theU  — »  um  im  Eniw 
dtae  AmtBbrtdcr  nene  Anregimg  nnd  StRrknng  Ar  den  Beornf  sn  finden  nnd 
•ieb  daneben  ancb  an  Potsdams  herrlicher  Umgebnng  körperlich  zn  erfrischen. 

Vormittags  nm  11  ühr  fand  bereits  eine  N'orstandssitzong  statt,  woran 
sich  dann  nm  2  ühr  die  Delegirtenversanuuluiig  aitschlobs.  Dieselbe  wurde 
durch  den  Vorsitzenden,  Haaptlehrer  Hohenstein-Brandenburg,  mit  einer  herz- 
ncben  Begrflinng  nnd  der  frenndliehen  Htte  erBftiet,  bei  den  Verlumdlaiigen 
möglichst  knrz  nnd  bestimmt,  doch  immer  eadiUeh  seia  m  wvdlM,  damit  die 
reich  bedachte  Tagesordnung'  zur  Erledigung  gelangen  könne. 

Der  erste  Gegenstand  der  Tagesordnung  betrifft  die  P'eststellnng  der 
Vertreter.  Für  33  Kreis  verbände,  die  sich  in  110  ünterver  bände  gliedern, 
iind  «iniclut  anweeend  67  Vertreter,  deren  Zahl  im  LanÜB  derVerimndlungen 
anf  70  aldgt. 

Gymnasiallehrer  Mfthlpfortli-Frankfnrt  a.  0.,  der  nunmehr  das  Wort  erhält^ 
gibt  zunächst  den  Cassenbericht.  Darnach  betrug  die  Kinnahme  des  Provin- 
zial-Lehrerverbandes  einschließlich  des  vorjährigen  Bestandes  5544,84  M.,  die 
Aasgabe  2455,80  M.,  so  dass  ein  Barbestand  von  3089,04  M.  verbleibt  — 
Der  Beebtsschntsverein  wies  ind.  des  v<njlbrigen  Bestandes  an  Einnahme  anf: 
448,97  M.,  an  Ausgabe  dagegen  31,90  M".;  bleibt  somit  ein  Bestand  von 
417,07  M.  —  Die  Pensionsoasse  hatte  aus  dem  Vorjahre  einen  Bestand  von 
50129.31  M.  und  eine  Einnahme  von  7741,81  M.,  zusammen  also  57871,12  M. 
Die  Ausgaben  stellten  sich  auf  6784,45  M.,  demnach  beträgt  das  Vereins- 
Tennögen  gegenwärtig  51066,67  M.,  das  snm  grOfiten  TheQ  in  popillariMb 
sidieren  Hypotheken,  nun  gerin»:ern  Theil  in  Sparcassen  onterg^toa^t  ist./ 
Der  Casse  gehören  zur  Zeit  1332  zahlende  Mitglieder  an:  Emeriten  sind 
282  gegen  252  im  Vorjahre  vorhanden,  deren  jeder  eine  T^nterstützungsquote 
von  24  M.  erhält.  —  Nachdem  noch  der  Beitrag  für  das  nächste  Jahr  für  die 
Mitglieder  des  Provinzial  -  Verbandes  auf  0,75  M..  festgesetat  ist  nnd  die 
BeTisloDSprotocoIle  verlesen  sind,  wird  dem  Rendanten  Entlastung  ertheilt. 

*)  Wir  bringen  diesen  ausflüurlichen  Bericht  fast  unverkärzt,  weil  er.  aus  der 
Oltiaiprovinz  des  preuAischen  Staates  stamsieiid,  eine  typische  Bedeutung  hat; 
Mttsn  ab«  flr  die  Zaknnft  um  knappere  Faasong.  D.  B. 


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—   174  — 


Hs  tolgt  die  Auswahl  der  Vorträge  für  die  HAaptvenammloiig.  Ange- 

meldet  sind: 

1.  „Gemfltli  und  Gemtttbsbildnng."    Lehrer  Bittkau-Brandeobargr. 

2.  «Welche  Hiadenüflse  erachwerea  der  Volknehale  und  ihren  Lehrern 

die  Erföllang  ihrer  Aufgabe,  und  wie  ist  die  Beseitigung  dieeer  Um- 
stände zu  erstreben?*'     Subrector  Berndt-Friedeberg-. 

3.  „Per  Lehrerstand  in  der  Vergangenheit,  der  Gegenwart  und  der  Zu- 
kuutt ,  oder  was  hatten  wir?  was  haben  wir?  was  fehlt  uns  noch?*^ 
Lehrer  Freier-KorrittMi. 

4.  «Der  Volkaechvllehrer  sei  Volknencielier/    Lehrer  Haager-Potsdam. 

5.  „Der  Rechtsschutz.**    Hanptlehrer  Zemlin-Friedrichsfelde. 

Nach  längerer  Debatte  gab  man  dem  Vorschlage  des  \'orstandes  Folge 
und  bestimmte  die  ^'ortrilge  unter  Nr,  1,  2,  4  u.  5,  die  auch  in  der  angegebe- 
nen Keiheutolge  gehalten  werden  sollten.  —  Für  die  Abtheilungttsitzungen  waren 
angemeldet: 

1.  »Nothwendlgkeit  einer  entschiedenen  und  allgemein  giltigen  Verein- 
fachung unserer  Rechtschreibung."    Lehrer  Filter-Potsdam. 

2.  ^  Das  Körperzeirlinrii  an  allgemein  bildenden  Iiehraostalten."  Zeichen- 
lelirer  K.  öchueck-i'ol.sdam. 

Beide  Vorträge  wurden  angenommen. 

Von  denVerbttndeaSpandan-Charlottenbnrg  war  der  Antrag  eingegangen: 
„Der  Vorsitz  in  den  Abtheilnngssitznngen  des  Provinzial- Verbandes  wird  von 

einem  \'or8tand8mitglie(l»*  tr»'tliiirt."  In  früheren  Jahren  waren  dazu  Mit- 
glieder aus  der  Versammlung  bestimmt  worden.  Da  diis  N'ert'ahreu  Geldaus- 
gaben  verursachte,  wünschte  man  eine  Änderung  herbeigeführt  zu  sehen.  Die 
VontaadaniitgUeder  hatten  gegen  den  Antrag  nichts  einsnwenden  and  so  ge- 
langte er  denn  anch  nach  knrzer  Debatte  mr  Annahme. 

Zn  einer  längeren  Disenssion  gab  der  Antrag:  „Unsere  Petitionsangelegen- 
heit," vertreten  durch  Lehrer  Maul-Clewifz,  \"t  ranlassung.  Die  LeitsUtze,  die 
den  Ausführungen  des  Iveterenten  zugrunde  lagen,  lauteten;  „1.  Auf  der  I'n»- 
Yinzial- Versammlung  jeden  Jahres  wird  von  dem  Vorstande  in  Berathung  mit 
den  Delegirten  durch  Stimmonmehrheit  der  Gegenstand  der  Petition  seitens  der 
VoIksschnUehrer  der  Provinz  Brandenburg  an  das  Abgeordnetenhaus  des 
preußischen  Landtages  festgestellt:  jetzt  tVt'ilich  noch  unter  der  Hcsoliränkung, 
da*s  berechtigte  Einzelwünsche  Untersiützniitr  linden,  doch  letztens  nur  die 
Ausnahme  sei.  Gelingt  es,  diese  Abmachungen  mit  dem  Vorstände  des 
Xjandesvereins  prenBisoher  VoUcssahnllehrer  am  Terelnbaren,  am  so  besser,  so 
wird  die  Haaptkraft  der  preaftlschea  Volksscballehrer  Stafe  fOr  Stnfe  aach 
y  einem  bestimmt m  Ziele  zusammengefasst.  —  2.  la  diesem  Jahre  wird  petitio- 
nirt:  a)  um  ein  Unterrichts-,  b)  um  ein  D'/tationsgesetz  und  o'i  um  (iltMch- 
stellung  der  Volksschallehrer  in  der  Uaugstufe  mit  den  8ubalterubeamten 
L  Classe." 

la  Verhiadang  hiermit  wird  der  Aatrag  des  Kreisverbaades  Zaneh-BeUg, 
der  ftdgenden  Wortlant  hat,  behandelt:  „Die  UitgUeder  des  Kreisverbandes 

billigen  die  Qrttnde,  welche  den  Vorstand  des  Landesvereins  preußischer  Volks- 
srluillehrer  zu  seinen  Be.>ichlüssen.  betr.  die  BeschiUnkung  des  l'rtitionswesens 
der  Lehrer,  veranlasst  haben,  voll  und  ganz.  Indes  vermag  der  iv  reis  verband 
anf  sein  unbeschränktes  Tetitionsrecht  so  lange  nicht  an  vemiehten,  als  von 


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—   176  — 


Seiten  des  Vorstaudes  des  LandeHvciniüs  die  Provinzial-  bezw.  Kreisverbftmde 
über  die  beabsichtigten  Schi'itte  nicht  rechtzfitie:  j>^f'liört  werden." 

Erst  nach  langen,  ermüdenden  Debatten  gelaugt  ein  vun  Mieleke-Lacken- 
waldft  eingebnMiiter  Antrag  mit  folgeiidMi  WasfUnt  mr  AuMhme:  «Der  Vor> 
ataad  hat  die  Pflicht,  im  Laafe  des  Verein^jahiw  d«i  Kreil*  «nd  Looalver- 
bändt  n  zeitgem&8e  Fragen  zar  Berathang  zn  unterbreiten.  Die  Ergebnisse 
diffStT  Heiathun°:en  werden  auf  der  (^eneralversamniluner  in  der  Form  von  Reso- 
lutionen festgestellt,  und  zwar  kunuiif^ii  soll  he  (iei?enst;lride.  welche  Unterricht 
und  Erziehung  betreffen,  in  der  Haupt ver(>iiijiiulung,  und  solche,  die  das  mate« 
rielle  Wol  des  Lehrerttandee  angehen  (namentlich  Petitionen),  in  der  Begel 
in  der  Vertreterversammlung  zur  Verhandlung.  Doch  bleibt  die  Behandlang 
von  Angelegenheiten,  welche  eine  whnellere  Erledigang  ntftbig  machen,  dem 
Vorstande  überlassen."' 

War  so  eine  Verständigung  Uber  das  „Wie"  io  ODseren  Petitionsangelegen- 
heiten erdelt,  so  handelte  et  tieh  nnami^  noch  um  das  „Was**.  In  Bezug 
hieraaf  einigte  man  sieh  sehliefliich  dahin,  daas  es  iweokmftflig  sei,  znnlohst 
nur  eine  Sadie  in  Angriff  in  nehmen  und  als  die  dringlichste  die  ^^'it^v.  n- 
und  Waisenversorgung"  einer  Ri-^elung^  entgegenmlfihren.  Ks  soll  demnach 
eine  Petition  an  den  Landta^^  .sowie  an  den  Cttltusmiiiister  gerichtet  werden,  ' 
worin  gebeten  wird,  im  nächbten  Jahre  die  erforderlichen  Mittel  zu  gewähren, 
am  die  Witwen  and  Waisen  der  Volkssohnllehrer  nach  denselben  Ornndsatsen 
Twsofgan  n  können ,  nach  welchen  die  der  nnmittelbaren  Staatediener  Tsr- 
sorgt  werden.  Zur  Annahme  gelangte  im  Anschluss  hieran  gleichfalls  noch 
ein  zweiter  Antrag  von  Mielcke-Luckenwalde,  der  also  lautet:  „Der  Vorstand 
des  Lehrervereins  der  Provinz  Brandenburg  beantragt  beim  \'oi'staude  des 
Laadesvereins,  dass  derselbe  in  diesem  Jahre  auch  eine  Petitioa  an  die 
geeetmeboDiden  E9r|Mnehaflten  nm  Erlass  eines  Pensionsgeseties  für  Lehrer  an 
Mittel-  und  höheren  Uädchenschalen  riclite.''  Dieier  Antrag  wird  dem  Vor- 
stände des  Landesvereins  zur  weiteren  X'eranlassnng  übermittelt  werden. 

Darauf  wurde  über  „Unser  Vereinsorgau"*  verhandelt.  Tjalni-Stolpe.  Mit- 
redacteur  der  „Preußischen  Schulzeitung leitet  die  Besprechung  ein.  Diese 
Zeitimg,  heraasgegeben  von  SeyHiurth  nnd  Lahn,  ist  bisher  Organ  das  Lehrer^ 
▼erbaades  unserer  Provini  gewesen.  Leider  fluid  sie  von  den  Vereinsmit- 
gliedern nicht  die  nöthige  Unterstützung;  von  den  3200  Mitgliedern  werden 
etwa  400  Exemplare  gehalten,  die  Mehrzahl  der  Leser  gehört  anderen  Provin- 
zen an.  —  Der  \  erleger  hat  sich  de.shalb,  um  dem  Blatte  eine  gröiJere  \  i  r- 
breiiuug  zu  sichern,  veranlasst  gesehen,  einen  politischen  Theil  beizugeben  und 
die  Zeitung  vom  1.  Oetober  ab  tilglieh  erscheinen  in  lassen.  Knn  will  sich 
aber  P<ditik  and  Pädagogik  nimmer  recht  vertragen,  nnd  so  wird  infolge  die- 
ser Umgestaltung  das  Blatt  in  Zukunft  niclit  mehr  Vereinsorgan  bleiben  kön- 
nen. Bis  Neujahr  soll  es  noch  dafür  gelten,  dann  aber  soll  eine  andere  Zeitung 
diesen  Zwecken  dienstbar  gemacht  werden.  \'ou  einer  NeugrUndung  soll  Ab- 
stand genommen  werden.  Es  sollen  Verhandlungen  mit  der  „Nenen  Pftdagog. 
Zeitang*,  dem  Organ  des  Landesvereins  prenftischer  Volksschnllehrer,  ange- 
knüpft werden,  damit  diese  in  Znkanft  als  Organ  unseres  Pro vinzial  Vereins 
zeichne  und  unsere  Angelegenheiton  vertrete.  Mit  diesen  Vorsehlftgen  erklärt 
sich  die  Versannnhing  einverstanden. 

Sodann  kam  der  Antrag  Zehdenick:  „Der  Voi-stand  deä  i'ruvuiziai-Vör- 

18» 

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—    176  — 


'bandes  wolle  bei  den  zustilndigeu  Behörden  dabin  vorstellif?  werden,  dass  den» 
Lehrer  zu  den  amtlichen  Conferenzen  ReisekoBten  und  Tagegelder  gewährt 
werden,"  zur  Anosbme. 

Nachdem  noeh  die  aueeheidendeii  Mitglieder  Laim,  Mühlfilinth  mid 
Thöns  durch  Wiederwahl  anfs  neue  in  den  Vorstand  berufen  tiad,  addieflt 
nm  7  riir  (U  r  Vorsitzende  die  Versammlung  der  Delegirten. 

Am  r'oimerstag:,  d.  8.  October,  fand  die  Hanptversammlung  statt.  Nach 
Eröfihung  durch  den  Choral  „0  heil'ger  Geist  kehr'  bei  uns  ein"*,  hielt  der 
VonitEende,HaiiptlehrerHoheiiBtefD-Bra]idenbiirir  die  BegrOtengirede,  in  der  er 
nnter  asdereai  aagte:  »DieStttte,  die  ein  gnterHenadi  betrat^  iet  eingeweiht** 
Potsdam  ist  eine  solche  Stadt ;  hier  stehen  wir  anf  historischem  Bodeo.  Nidit 
alle  Mäiiiipr  sollen  hier  genannt  werden  ,  die  um  Sttvat  und  Schule  sich  ver- 
dient geuiiu  ht  haben.  Kaiser  Friedrich  III.  igt  hier  im  Neuen  Palais  geboren, 
ist  anch  in  demselben  geetorhen;  er,  der  Liebling  der  Nation,  dem  alle  Herzen 
in  Liebe  entgegengeedilagen  liaben,  war  ein  Kind  dieser  Stadt.  In  der  nnr 
wenige  Schritte  entfernten  Friedenskirche  ruhen  die  Überreste  des  stillen  Dul- 
ders. Nicht  fem  von  hier  ist  das  Dorf,  wo  er  in  der  Schule  stand  und  den 
Lehrer  vertrat .  damit  dieser  an  das  Sterbebett  der  g-eliebten  Mutter  eilen 
konnte.  Wie  hat  er  doch  unseren  Stand  so  lieb  gehabt!  Ist  es  nicht,  als 
•diante  nodi  hevte  der  edle  Dnider  Jheundlichen  Blickes  anf  vna  hmMet, 
xaa  Vau  zn  mahnen,  in  seinem  Sinne  nnd  Geiste  die  VolkBbUdnng  an  beben 
nnd  cn  fördern?  So  wollen  wir  dieser  Mahnung  folgen  nnd  nnsere  Klagen 
verstummen  lassen,  wollen  eingedenk  bleiben  der  Worte  unseres  jugendlichen, 
arbeitsfreudi^iMi  Kaisers,  die  vv  j^eiegentlich  der  Vorstellung  in  der  königl. 
Turnlehrer  -  Bilduugsanstalt  au  die  Zöglinge  richtete:  „Meine  Herren, so 
Aatferte  er  sich,  „Ich  spreche  Ihnen  von  Herzen  Hetaie  Anerkennnng  ans  für 
die  vortreiflichen  Leistungen,  die  Ich  von  Ihnen  gesehen  habe,  nmsomehr, 
da  viele  von  Ihnen  sich  schon  im  vorgeschrittenen  Lebensalter  befinden.  Die 
Übungen  wurden  fast  sämmtlich  vorziierlirh  auspeführt,  den  Gerwerfern  kann 
Ich  empfehlen,  dass  sie  das  Gleictigewicht  des  Ciers  etwas  mehr  in  die  Hand 
legen;  sie  würden  dann  mehr  Treffer  erzielen.  Ganz  besonders  haben  Mir 
die  Übungen  am  Barren  gefUlen,  die  wirklich  elegant  aasgeAhrt  wnrden.  — 
Sie  kehren  jetzt  wieder  zu  Ihrer  Lehrerthfttigkeit  zurück;  die 
Zukunft  des  Landes,  die  Jug^end.  ist  Ihnen  anvertiaut.  Renutzen 
Sic  (las.  was  Sie  hier  g-elernt  haben;  an  guter  Anweisung-  dazu  luit  es  Ihnen 
nicht  gefehlt.  Ich  spreche  ihneu  nochmals  von  ganzem  Herzen  Meine  volle 
Anerkennong  ans." 

ünsereAn^be  ist  eine  sehr  hohe,  aber  anch  eine  sehr  schwere.  Begie- 
rungspräsident Dr.  Schulz  sagte  sehr  richtig  anf  einer  Lehrerversammlung, 
der  Lehrei  bat  einen  schweren,  dornenvollen  P^ruf,  ^  r  bedarf  deshalb  der  Stütze 
und  Ermuntt  rung:  diese  findet  er  in  der  Vereinigung,  in  dem  Zusammenschluss 
der  Mitglieder  seines  Standes  zu  gleichem  Streben.  —  Wie  sehnlich  wünschen 
wir,  dass  wir  in  unserem  Wirkungskreise  in  Frieden  arbeiten  und  das  schwen 
Werk  der  Jugenderziehung  in  Ruhe  betreiben  kOnnten.  Doch  ist  ein  solches 
Qlttck  uns  nicht  beschieden.  Die  ersten  Schusse  im  Schnlkampf  sind  bereits 
gefallen:  Prinz  Lifclitensfein  in  (»stt-rreicli.  Kxct'UeTiz  Windthorst  in  Deutsoh- 
laud  haben  das  Kampfeszeichen  gegeben.  W  ir  würden  zu  Ven-äthern  au  uns 
und  dem  Taterhuide  werden ,  wenn  wir  nicht  mit  allen  Krttften  fftr  nnser 


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—   177  — 


Kleinod,  die  deutsche  Volksschule,  eintreten  wollten.  Freilich  sollte  man  wol 
erwarten,  dass  man  endlich  die  Wichtigkeit  unseres  Amtes  nnd  die  hohe 
Aufgabe  der  Volksschule  anerkennte;  dem  ist  jedoch  leider  noch  nicht  immer  und 
«Ilenthalben  so.  —  Wir  Terkennen  nicht,  diia  et  auch  ia  muerm  Stande  noch 
viele  Glieder  gibt»  die  uwttrdig  und,  denaelbett  anzogehftrea,  snd  untfiehtiff, 
der  Schule  wahrhaft  zu  nfttsen.  Biese  schließe  man  ans,  wir  selbst  wUnsolMii 
es  anfs  lebhafteste;  aber  man  mache  niclit  den  g-anzen  Stand  dafiir  verant- 
wortlich, wie  es  auf  der  Kreissynode  Regenwalde  i^rescliehen  ist,  wo  nian  den 
Lehrern  im  allgemeinen  arge  Vergehen  gegen  die  Sittlichkeit,  Hinneigung  zum 
Tronke  ete.  sno  Vorwinf  machte  und  die  Geistlichkeit  anfMertOt  ein  waefa- 
aamet  Auge  anf  die  Lehrer  sä  haben.  Auch  wurde  der  Vorwarf  erhoben,  die 
Schale  and  Lehrer  vei-schulden  es,  dass  Brandstiftung,  Unzucht,  Mord  etc. 
nnter  der  Jugend  in  Zunahme  begriffen  ist.  —  Wie  steht  es  untPi-  diesen 
Umständen  um  das  8.  Gebot,  wenn  man  gegen  diese  Anschuldigungen  die 
Ausweise  der  Statistik  hält?  Diese  weist  für  die  letzten  Jahre  eine  entschie* 
dene  Abnahme  dar  Verbrech«r  nach.  Die  Lehrer  haben  so  dieser  Abnahme 
sicherlich  ein  gut  Stäck  Arbeit  mit  geleistet.  Und  in  der  Verbrecherstatistik 
selbst  nimmt  unser  .Stand  noch  immer  die  niedrigste  Stelle  ein,  zählt  viel 
weniger,  al.-^  der  an  Zahl  viel  g-erin^^re  unserer  Ankläger.  —  Ebens  i  müssen 
wir  die  Klagen  des  evangelischen  Sountagsblattes  zurückweisen ,  das  da  be- 
hauptet, miser  BeUgiooMmteRicht  sei  dn  oberflSehUeher,  der  die  Henen  kalt 
laan,  die  Sinne  nur  aerstrene.  Die  Schale  leiste  in  Endehnng  ond  ünterrldit 
nidil  das  Noth wendige,  darum  habe  auch  der  Confinnandenunterricht  so  ge- 
ringe Krfnlir*'.  Was  den  Religionsnnterriclit  in  der  Schule  betrifft,  so  weisen 
wir  den  ihm  gemachten  Vorwurf  mit  aller  Entschiedenheit  zurück;  über  die 
Güte  oder  Erfolglosigkeit  des  Contirmandeuunterrichtes  wollen  wir  uns  kein 
ürtheil  erianben.  Aber  nnser  Ghristenthnm ,  nnseren  Glaoben  lassm  wir  nns 
von  niemand  antasten. 

Dass  wir  die  socialen  Schäden  der  Jetztzeit  allein  zu  heilen  aoAerstande 
sind,  das  wissen  wir.  dazu  sind  wir  zu  schwach:  es  sprechen  da  eben  noch  viele 
andere  gewichtige  Factoren  mit;  doch  hat  die  Schule  au  ihrem  Theile  gethan, 
was  sie  konnte  and  sollte.  Solche  Vorhaltongen ,  wie  sie  Oraf  Brflhl  im 
Herrenhaose  nnd  Dr.  Kropatscheck  im  Abgeordnetenhanse  nns  machten,  lengen 
wenig  von  dem  Geiste  christiieher  Liebe,  dessen  sie  sich  80  sehr  rfUunen.  Sollen 
die  Lehrer  stillschweigen,  wenn  Statist i.sch  ihnen  nachgewiesen  wird,  dass  in 
den  Sta,dten  während  der  letzten  Jahre  ihr  Einkommen  um  10"/,,  herunterge- 
gangen ist,  oder  wenn  sie  sehen,  wie  die  Witwe  eines  verunglückten  Maurers 
«inePttmion  yon  452,60  IL  ond  für  jedes  Kind  noch  89,60  M.  erhält,  wihrend 
«ine  Lehrerwitwe  bisher  nnr  260  If.  an  beanspmcheii  hat? 

Doch  nicht  blos  za  klagen  haben  wir  Ursache,  auch  danken  müssen  wir. 
Zu  danken  haben  wir  besonders  Sr.  Excellenz ,  dem  Herrn  Cultusminister 
Dr.  v.  Gossler  für  seine  warmen  Worte  im  Abgeorduetenhause.  Den  AuBchuI- 
digangen  gegen  die  Lehrer  trat  er  mit  den  Worten  entgegen:  „Unser  Lehrer- 
Stand  beweist  sich  als  Vorbild;  die  Angaben  des  Herrn  Abgeordneten  haben 
ddi  sehon  in  frflheren  Zeiten  als  übertrieben  erwiesen."  —  Solche  Worte 
mflseen  ans  anfeuern,  auch  fernerhin  in  dem  Kampfe  muthig  auszuharren  nnd 
dem  altpreuüischen  Rufe:  „Mit  Gott  für  König  und  Vaterland"  nachzuleben. 
Kit  dem  von  der  Versammlung  begeistert  aufgenommenen  Rufe:  „Seine  M.^ es tät, 


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—   178  — 


unser  allergnädigster  Kaiser  nnd  König  lebe  hoch,  hoch,  hoohl"  acliiow  der 
Vowitzende  seinen  mit  lautem  Beifall  begleiteten  Vortrag. 

Dem  Vereine  haben  sich  13  neue  Verbtode  angeschlossen,  so  dass  derselbe 
in  110  LoealTflrbladen  gegenwärtig  ttber  3200  Mitglieder  zahlt.  DerBeneb 
der  Versammlnngen  ein  guter  gewesen;  ttber  400  Yortr&ge  sind  in  dietem 
Jahre  gehalten  worden.  Die  Gauverhflnde  scheinen  mehr  nnd  mehr  sich  aus- 
zubreiten und  ein  wichtiges  Glied  in  unserer  \'erein8organi8ation  zu  werden. 
Bedanerlich  ist  es,  dass  unser  Vereinsorgan  so  wenig  gelesen  wird  und  nicht 
die  nSthige  OntenUitniiigr  Andel  —  Dem  Abgeordnetenhanse  iet  eine  Denk- 
schrift betreft  Besserstelliuig  voBerer  Witwen  md  Waisen  ttheirdcht  ud 
andere  Petitionen  sind  veranlasst  worden;  amdi  in  diesem  Jahre  werden  dahin- 
nielendp  Schritte  gethan  werden. 

Den  ersten  Vortrag  liält  Herr  Lehrer  Bittkau-Brandenburg  über:  „Gemttth 
nndGemütbsbildung.'*  Abgesehen  von  den  einleitenden  und  Schlussw orten,  in 
denen  vis  der  etwas  frOnunelnde  Ton  nieht  reeht  rasagen  wollte,  nttssen  wir 
eritUrent  dass  der  frei  gehaltene,  wol  gegliederte  nnd  seharf  dnrefadaehte  Vor- 
trag des  Beifalls  würdig  war,  der  ihm  in  reichem  Maße  gespendet  wurde.  Den 
Ausführurißfen  des  Vortragenden  im  einzelnen  zu  folgen,  dürfte  zu  weit  führen;  wir 
begnügen  uns  deshalb  damit,  die  wichtigsten  Leitsätze,  die  den  Gang  des  Vor- 
trages zum  wenigsten  skizziren,  hier  wiederzugeben.   Es  dürften  folgende  sein: 

1.  Die  naeh  der  nisprllngliehen  Anlage  nnd  der  gesammten  Bntwiekelnng 
mannigfach  Tersehiedene  FShigkeit  der  Seele,  m  fUilen,  ist  nnd  heiBt 
Gemüth. 

2.  Das  Gemüth  ist  etwas  Bleibendes,  das  Qefühl  ist  etwas  Vorüber- 
gehendes. 

3.  Der  Gmndcbaneter  des  Gemfithea  ist  entweder  «fai  heiteier  oder  ein 
trttber.    Zwischen  der  Heiterkeit  nnd  dem  Trübsinn  sehweht  der 

Gleichmuth. 

4.  Die  Gemtithsart  Ist  fBr  das  Lehensglück  jedes  Einzelnen  von  groter 

Wichtigkeit. 

5.  Die  Gemtithsbildung  muss  schon  sehr  früh  anfangen. 

0.  Das  Gemüthsleben  soll  ein  mSgUdist  reifiBS,  tiefes  nnd  reines  sein. 

7.  Schule  nnd  Hans  müssen  zur  Erreichung  des  Zieles 

a)  auf  den  Reichthum,  die  Tiefe  und  die  Reinheit  desGemüthes  hinwirken. 

b)  die  Veredelung,  Milßigung  und  Beherrschung  der  Aifecte  fördern 
und  die  Affectationen  bekämpfen. 

c}  die  permanente  Leidenscliaft  oder  Sucht  m  Terhflten  suchen. 

8.  Der  Familie  ist  dies  mOglieh  durch  das  Yerhlltnis  des  Kindes  snr  Kut- 
ter, zum  Vater  nnd  zu  den  Geschwisteni;  der  Schule  durch  ihre  ganze 
Einrichtung,  den  ^'c^kehr  mit  Lehrem  und  Mitschttlem,  haupts&chlich 
aber  durch  den  Unterricht. 

9.  Qemüthsbiideude  Kraft  haben:  Religion,  Sprache,  Qescbichte,  Natur- 
kunde und  Gesang,  ja  sogar  der  matiieinaliieh«  Untenidit  kann  Bin- 
ilnss  anf  das  Oemüthslehen  eilangen. 

Um  den  Bindmck  nicht  abzusdiwldien,  wurde  TOn  einer  Discussion  Ab- 
stand genommen,  und  es  konnte  dämm  sofort  dem  zweiten  Referenten,  Sub- 
rector  Berndt,  zu  seinem  Vortrage  das  Wort  ertheilt  werden.  Das  Thema 
hatte  folgenden  Wortlaut: 


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—    179  — 


„Welche  HindeniieBe  erschweren  der  Volksschole  und  ihren  Lehrern 
die  BrfBlluig  ihrer  Änl^he,  und  wie  ist  die  Beseitigwig  dieser  Um- 
stinde  zn  erstreben?" 

Versuchen  wir,  die  Hauptgedanken  nachfolgend  wicdt^rzngrebcn.  Der 
Redner  führte  etwa  uns:  Unserer  Berufs-  und  Vereinsarbeit  wird  seitens  der 
hoben  Behörden  Beachtung  geschenkt  und  Anerkennung  entgegengebracht. 
Leider  aber  nttssen  wir  anch  die  trObe,  niederdrückende  Erfahrung  machen, 
dass  die  Lehrer  vielfach  noch  missachtet  nnd  gekrftnkt  werden.  Das  darf 
uns  aber  nicht  abhalten,  riistig  weiter  zu  kämpfen.  Diesterweg  m^:  .,Wie 
nichts  ohne  Ziel  und  Zweck  in  der  Schöpfung  dasteht,  so  hat  auch  der  Mensch 
sein  gestecktes  Ziel,  seinen  bestimmten  Zweck  zu  erstreben.  Er  soll  im 
Dieasto  des  Outen,  Wahren  und  Schonen  stehen  imd  mit  allen  Mitteln  dieses 
hohe  Ziel  zn  errddien  snchen." 

Der  Yolkssehnle  wird  die  Mehrzahl  nnsert  i  .Tugend  überwiesen.  Von 
der  ErfBUnng  ihrer  Aufgabe  an  dieser  Jugend  wird  die  Bedeutung  der  Schule 
fürs  Leben  bedingt.  Und  was  für  Anklagen  schleudert  man  gegen  diese 
Schale!  Sie  soll  die  socialen  Schäden  der  Gegenwart  verschuldet  haben,  soll 
nicht  genng  für  das  praktisdie  Leben  Torbilden;  dämm  will  man  ihr  alle 
mOgUehen  nenen  Q«g«nstSnde,  wie  Gesetsesknnde,  Volkswirtschaft,  Handfertig- 
keitsanterricht  etc.,  aufbürden.  Solche  Forderungen  sind  als  übertriebene  mit 
Entschiedenheit  zurückzuweisen.  Die  Volksschule  sucht  an  ihrem  Theile  alle 
ihr  zu  Gebote  stehenden  Mittel  aufzuwenden,  um  den  vorhandenen  Missständen 
entgegenzutreten,  sie  zu  mildern  und  abzustellen;  aber  sie  allein  venuag  es  nicht, 
namentlich  unter  den  obwaltenden  Verhältaisien  nicht  Es  gibt  der  Hfai- 
demisse  eben  noch  gar  zu  viele,  die  einem  gedeihlichen  Wirk«  ii  sich  hemmend 
in  den  Weg  stellen.  Schon  die  Unreife  der  Schüler  bei  der  Aufnahme  tritt  der 
Schule  hindernd  entgegen.  Da  kommen  die  Kleinen  oft  unsauber,  eif^ensinnig, 
trotaig,  lügen-  und  launenhaft;  selten  nui-  sind  Lichtblicke  da.  Was  das 
EtternhABS  in  endehUeher  Hiuicht  geslndigt,  das  soll  mnss  die  Sdinle 
wiedmr  gntnuMihen.  ffier  wird  ein  harter  Kampf  gekämpft,  nnd  oft  liegt  die 
Schule  mit  dem  Hause  im  Streite,  wo  sie  auf  dessen  Bundesgenossenschaft 
sollte  rechnen  können.  Als  ferneres  Hemmnngsmittel  muss  die  zu  frühe  Be- 
schäftigung der  Kinder  zum  Zwvckn  de.s  Erwerbes  angesehen  werden.  Auf 
dem  Lande  leiden  darunter  die  Hütekinder,  in  den  Städten  sind  es  die  Fabri- 
keo,  die  die  jugendlichen  Kr&fte  in  Anspruch  nehmen.  Ermttdet,  dumpf  nnd 
stnmpf  dtaen  solche  Zöglinge  da.  Die  Schule  kann  weder  in  unterrichtlicher, 
noch  in  erziehlicher  Hinsicht  ihre  Mif'sion  an  ihnen  erfüllen.  Oft  sind  diese 
Kinder  sogar  sittlich  geftlhrdet.  Das  böse  Beispiel  der  Erwachsenen,  das 
Zusammensein  verschiedener  Geschlechter  in  engen  Räumen  birgt  eine  unend- 
liche Gefahr  in  sich.  Und  nun  denke  man  an  die  ungenügenden  Scbulräume, 
an  die  ÜberfUlung  so  vieler  Glassen,  an  den  Mangel  der  nothwendigsten 
Lehr-  und  Lernmittel,  m  wird  man  zugestehen  müssen,  dass  auch  hierdurch 
die  Thätigkeit  des  Lehms  vielfacli  gehemmt  und  er  selbst  nicht  selten  stark 
öberbürdet  ist.  Beklagensw  ert  bleibt  es,  dass  der  Lehrer  auf  dem  Lande  auch 
noch  immer  zur  Verrichtung  der  niederen  Küsterdienste  genöthigt  wird,  wo- 
durch er  swielluih  Schaden  leidet,  einmal  an  der  lUgemelBeii  Achtung,  sodann 
aber  nnbt  ihm  dies  Nebenamt  manche  Stande,  die  er  besser  Im  Schuldienst 
▼crwcnden  kttnnte.   Die  Abhftngigkeit  des  Lehrers  von  seinem  Patron  nnd 


—   180  — 


von  den  Bauern  auf  dem  Dorfe  ist  ebenfallg  ein  hemmonder  Factor  seiner 
Thätigkeit.  Gegen  Sänraige  kann  und  darf  er  gar  nicht  mit  unnachsichtlicher 
Strenge  vorgehen ,  weil  er  niclit  die  nothwendige  UnterstiiLzung  findet ,  oder 
weil  er  sich  dadurch  Feinde  und  Gegnei*  schafft,  die  ihn  in  materieller  6e- 
ziehoDg  schwer  za  sohSdigen  imtande  tind.  —  Weiter  wird  es  Utter  «m- 
pAmden,  da»  die  Schale  bieher  immer  noeh  der  fkehmSaiiiiehen  AnUrieht  ent- 
bebrt)  und  dasa  es  dem  Lelirer  noch  nicht  —  wenigstens  noch  nicht  allgemein 
—  gelnnpen  ist.  in  den  Schnldepütationen  Sitz  und  Stimme  zu  erlangen.  Noch 
immer  ist  der  (Teistliche  der  geborene  Localschulinspector,  noch  immer  sieht  er 
sich  nicht  als  Xebeu-,  sondern  alt>  Übergeordneten  de«  Lehrers  au.  Das  ist 
ein  sehr  nnerqnicldichee  VerhSltais  und  bringt  dem  Lehrer  manch  trttbe 
Stande.  Wo  in  aller  Welt  besteht  auch  ein  ähnliches  Verhältnis?  Was 
würde  wol  der  Jurist  sagen,  wenn  ihm  ein  llediciner  oder  Geistlicher  zum 
Vorfi-esetzten  oder  Inspector  bestellt  würde ?  In  der  Hand  des  Geistlichen, 
der  ohne  die  nöthige  pädagogische  Bildung  und  Einsicht  die  Schulautsicht  fülirt, 
der  eine  gerechte  Benrtheilung  der  Lelirerthätigkeit  nicht  hat  und  nicht  haben 
kann,  ist  dieses  Amt  eine  stete  SchldJgang  des  Ansehens  des  Lehrers.  Daaa 
eß  auch  zahlreiche  rftlimliche  Ausnahmen  gibt,  wissen  wir  wol;  aber  diese 
Ausnahmefälle  können  uns  nicht  bestimmen,  der  Localschulinspection  in  ihrer 
jetzige  Gestalt  das  Wort  zu  reden.  Wie  die  Verhältnisse  jetzt  liegen,  wird 
der  Geistliche  stets  den  Vorgesetzten  des  Lehrers  hervorkehren  und  dadurch 

Es  wird  vom  Lelöer  verlangt,  in  Wechselbeaehang  mit  den  Familien  m 

treten.  Das  ist  recht  schön  und  gat.  Dann  aber  sollte  man  ihm  auch  Sitz 
und  Stimme  im  Schulvorstaude  einräumen,  wo  er  mit  den  Vertretern  der  Ge- 
meinde, den  Familienvätern,  zusammen  rathen  nnd  thaten  könnte:  da-s  würde 
büiii  Ansehen  heben  nnd  seine  Stellung  kräftigen.  Es  ist  ein  eigen  Ding,  das» 
man  gerade  ihn,  den  Sachverstlndigen,  aas  dem  Soholvorstande  aossehliefit.  — 
\oü  Wichtigkeit  erscheint  ferner  die  Hebong  der  Bildung  des  Lehrerstaudes. 
Seit  Erlass  der  Allgemeinen  Bestimmungen  vom  15.  October  1872  ist  hierin 
sehr  viel  geschehen  ;  aber  es  muss  unserer  innigsten  Überzeugung  nach  noch  mehr 
dafür  gethan  werden.  Der  Lehrer  muss  eine  wissenschaftliche  und  berufliche 
Vorbildang  erhalten,  die  ihn  aUen  Gebildeten  unseres  Volkes  gleich  gestellt  er- 
scheinen ISsst  Eine  änflere  Anerkennang  dieser  OleichsteUnng  wttrde  schon 
darin  gefunden  werden,  wenn  man  ihm  die  Berechtigung  zum  eiujährigen 
Militärdienst  zuspräche.  —  Ein  recht  gewichtiges  Hindernis  für  die  Erfüllung 
der  Aufgabe,  die  der  Lehrer  in  der  Volksschule  zn  Vöscn  hat,  wird  in  der 
durchaus  ungenügenden  Besoldung  des  Lehrers  gefunden.  Nach  Ausweis  der 
jüngst  veröffentlichten  Statistik  von  1886  gab  es  nach  den  UittheUungen  des 
Beferenten  im  Begierungsbezirk  Potsdam*)  noch  36  Stellen  mit  einem  Jahres- 
einkommen von  450 — 600  M.,  während  der  Frankfurter  Bezirk  deren  sogar 
lü3  aufzuweisen  hatte.  Schwere  Sorgen  sind  des  Lehrers  Los.  Wo  aber 
die  Brotsnrp:»'  so  entschieden  in  den  Vordergrund  tritt,  da  hört  die  Beiufs- 
freudigkeit  auf.  Die  unausbleibliche  Folge  sind  die  bösen  Nebenbeschäftiguugeu, 
die  allem  idealen  Streben  die  Wonsel  abgraben.   Der  jonge  Lehrer  hat  keine 

♦)  Wie  wir  aus  einem  Privatgcspriioh  mit  dem  Herrn  Regiernngsrath  Böcklcr 
vernoDuuea  haben,  ist  im  i'otädanier  Bezirk  nur  noch  eine  eiuzicp  Stelle  mit  einem 
Einkommen  unter  000  X.  vorhanden,  und  hier  liegen  gaas  besondere  VerhUtais  vor. 


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—   181  — 


Zeit,  seine  Weiterbildung  zu  fördern,  keine  Mittel,  es  zu  können.  Haid  schwin- 
den ihm  die  Ideale,  Bitterkeit  schleicht  sich  in  das  Herz;  durch  steten  Stellen- 
wechsel SQcht  er  seine  Lage  za  beasera.  Das  sind  trosUose  Zustände,  unter 
deiMB  dfoSdiiilarbeit  lehwer  Mdet;  dam  nur  Heiterkeit  ist  der  Hlauael,  unter 
dem  das  Gate  gedeiht.  —  Und  diese  tranrig^e  sociale  Lage  hat  noch  vielea 
andere  im  Gefolge.  Heute  sieht  man  viel  mehr  auf  das,  was  vor  Ang:en  ist, 
als  anf  den  inneren,  sittlichen  Wert  der  Person.  Daher  schreibt  sich  denn 
aach  80  oft  die  Geringschätzung,  mit  welcher  der  Lehrer  behandelt  wird.  Er 
ist  etai  ein  armer  Tenfel,  was  braaoht  man  anf  ihn  grofie  Bttoksiolit  an  neh- 
men? Ansnalunen  gibt  es  aneh  in  Besng  hteranf  sehr  rfthmUehe,  das  ist  ge- 
wiss; aber  die  Ansnahmen  sollten  die  Regel  bilden.  Um  gerecht  zu  sein,  soll 
auch  nicht  verhehlt  werden,  dass  gar  oft  der  Lehrer  selbst  die  Schuld  trägt, 
wenn  er  sich  der  nöthiaren  Achtung  in  der  Gemeinde  nicht  erfreut.  Sein 
ganzes  Leben,  sein  sittliches  Verhalten  ist  nicht  immer  darnach  angethan,  ihn 
ab  Hoster  ond  YorMld  gelten  so  lassen.  Und  das  kSnnen  wir  dem  Ldirer 
nicht  erlassen;  er  mnss.  will  er  recht  wirken,  nicht  blos  vorlehren »  SSndem 
vor  allem  Vorlieben.  Beispiele  zieliPii  mehr  als  Worte  und  sind  am  ersten 
dazu  geeignet,  Ihm  die  Liebe  und  Achtung  seiner  Gemeinde  zu  erwerben. 

Diese  gekennzeichneten  Hindernisse  sind  entschieden  vorhanden,  ond  es 
gilt,  die  Beseitigung  derselben  mit  allen  erlanbten  Kitlalii  m  erstrslMB.  Dies 
kann  gesdiehen  anf  dem  Wege  der  Selbsthilfs ,  indem  ^r  gelegentUdi  der 
größeren  Lebrerversammlnngen  immer  wieder  diese  Missstftnde»  welche  in  dem 
Mangel  an  gesetzlichen  Voi-schriften  begrUndet  sind,  klarlegen  und  die  zustän- 
digen Behörden  um  Abliilfe  ersuchen.  Es  muss  in  Zukunft  dafür  gesorgt 
werden,  dass  die  Kinder  nicht  so  frühzeitig  zu  Erwerbszvveckeu  herangezogen 
ifOfden,  dais  die  ÄUgemebien  Bestimmangen  hinsichtlich  der  inneren  nnd  taBeren 
Ansstattong  der  Sehnleo,  wie  besiiglieh  der  Überfällnng  der  Glessen  zur  Ans- 
f&hmng  gelangen,  dass  die  Localschnlanfsicht*)  aufgehoben,  die  Fachaufsicht 
eingeführt  und  dem  Lehrer  Sitz  und  Stimme  im  SchnlvorstAnde  verlielien  werde; 
endlich  dass  ein  zeitgemäßes  Schul-  und  Dotationsgesetz  der  jetzigen  traurigen 
Lage  ein  Ende  mache. 

Yen  den  Lehrwn  persSnlieh  aber  verlangt  der  Bedner,  dass  sie  dnreh 
andauernde  treue  PflichterfÜlliing  nnd  durch  ihr  anfieramtliches  Verhalten, 
sowie  durch  sorgfältige  Pflege  def?  rechten  Standesbewnsstseins  sich  die  ihnen 
gebürende  berufliche  und  gesellschaftliche  Stelluiifj;  erwerben  und  erhalten. 
Mit  einem  warmen  Appell  au  alle  Standesgeuobseu,  den  Vereinsbestrebuugeu 


*)  Während  wir  dickes  schreibuo,  lullt  uuü  ciu  kürzlich  ergangener  Miui^iterial- 
Eilass  in  die  Hände,  der  die  Localschvlauftieht  in  den  Städten  aufhebt.  Der  Br- 
is« SSgt:  j.Die  hohe  Entwickelang,  welche  unser  sttdtisches  \  olkssohulwespii  sre- 
Dommen  hat ,  und  die  nicht  geringen  Anfordenmgen ,  welche  au  die  Leiter  vicl- 
gliederiger  städtisclier  Volksscnulsystcme  gestellt  werden ,  weisen  daiaof  hin,  die 
Gnmd.«ätzc  der  Instructionen  vom  i'fi.  .Tuni  1811  naeh  der  Kiclitung  weiter  au.'»zu- 
liiiucn,  da.ss  die  Recturcn,  was  d.  n  inneren  Betrieb  dcr  Sdiul  ii  anlangt,  in  der  RM;ei 
mit  denselben  Befngnisaen  ausgestattet  werden,  welche  hi  i  kleineren  Scbulen  ma 
' irtssf  liiilinfipcctoren  zustchoii,  und  dass,  unter  Abstandnahme  von  der  Bestellung 
bfaonden  r  Urteujchulinspectürca,  die  unter  der  Leitung  von  Ucctorcu  stehenden,  also 
die  sechs-  und  mehrclassigen  Schulen,  dircct  den  ^'eisschulinspectoren  unterstellt 
werden."  —  Bravo!  Da  wären  wir  wieder  um  einen  guten  Schritt  Torwftrts  ge- 
kommen; uur  rüstig  weiter  ^1  Fr. 


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—    182  — 


ticb  anzascbließeu,  die  Glieder  zu  vereinter  Kette  za  schließen,  nicht  muthlob, 
Mmdem  in  vnverlnderter  Trene  fest  nnd  sielbewnsst  den  Kampf  fortsnführen, 
dem  Eniehnngeweike  mit  gMoer  Seele  za  dienen  nnd  die  Jagend  sa  woliier 

Frömmigkeit,  zn  rechter  Liebe  nnd  Trene  gegen  König  and  Vaterland  sa  er» 
liehen,  schließt  Redner  nnter  lebhaftem  Beifall  der  Znhörer. 

Die  sich  auschließendi'.  biswciliii  erregte  Debatte  drehte  sich  vorzüglich 
am  die  Aufhebung  der  Scliulaufsicht  und  um  bessere  Dotirung.  Bezüglich 
dei  ersten  Pnnetes  stimmten  alle  Bedner  darin  llberein,  daas  die  Localsehnl- 
aoMeht  nidit  nnr  flberflilasig  sei,  sondern  sogar  schädlich  wirke.  Interessant 
waren  die  Bemerknngren  des  Pastors  Harnisch  —  der  Name  hat  einen  ernten 
Klang  bei  den  Pädagogen.  Dieser  sprach  nicht  nur  seine  Zustimmung  zu 
den  Ausfühj  ungen  des  Keferenten  aus,  sondern  forderte  im  Interesse  der  Schale 
wie  der  Kirdlie  ein  VeiliAltnis  der  Nelienotdnang  swisdien  Leihrem  nnd 
Geiatliehen,  das  würde  beiden  Anstalten  snm  Segmi  gereicben.  In  den  Sttdten, 
wo  Haaptlehrer  nnd  Rectoren  den  Schnlen  vorständen,  tti  jegliche  Localschnl* 
aufsieht  durch  den  Geistlichen  vom  t'bel  :  anders  sehe  es  oft  anf  dem  platten 
Lande  ans.  wo  der  junge,  unerfahrene  Lehrer  den  Bauern  gegenüber  eine  gar 
schwierige  Stelluug  habe  and  in  dem  Geistlichen  eiuen  treundiicUeu  Berather 
nnd  Mitarbeiter  linden  müsse.  Diese  ÄnBeruugen  ans  dem  Monde  eines  jünge- 
ren GeisUiehen  erregten  lebbaften  Beilbil.  —  ScbUeliliQh  Iknden  die  von  dem 
Vortragenden  an^gpestellten  Thesen  nnter  geringfügigen  Ablndemngen  allge- 
meine Annahme. 

Nach  einer  Pause  sprach  Lehrer  Maager-Potsdani  über:  „ Der  Volkssclml- 
lehrer  sei  Volkserzieher. "  Um  den  Baum  des  „Piedagogium"  nicht  übermäßig 
in  Anspmeh  zn  nehmen,  verzichten  wir  anf  eine  ansftthiUchere  Wiedergabe 
des  beifUlig  aufgenommenen  Vortrages  und  begnügen  nns  damit,  die  demselben 
▼orangeschickten  Leitsätze  mitzntheilen;  dieselben  lauteten: 

1.  Der  Volksschullehrer  sei  Volkserzieher,  denn  er  ist  dazu  ebenso  be-  ' 
rechtigt,  als  verpflichtet. 

2.  Er  sei  es  nm  des  Staates,  des  VolkeSi  der  Schola  and  am  seines 
Standes  willen. 

3.  Kr  «sei  es  a)  mittelbar  durch  die  Schnle,  b)  nnmittelbar  dnrdi  persön- 
liche Belehrung,  in  beiden  Fällen  aber  dnrch  sein  Vorbild. 

Nachdem  Hauptlehrer  Zeralin -Friedrichsfelde  noch  einen  kurzen  Bericht 
über  den  Rechtsschutzverein  abgestattet  hatte,  schloss  der  zweite  Vorsitzende, 
Lehrer  Lahn-Stolpe,  anter  herzliehen  Dankeswortm  gegen  die  künigUchen  nnd 
städtischen  Behörden,  die  Collegen  der  gastlichen  Stadt  Potsdam  nnd  alle 
Theilnehmer  der  Versammlung  den  Lehrertag  mit  dem  Wunsche,  dass  allen 
Betheiligten  reicher  Segen  uns  den  Verhandlungen  erwachsen,  nnd  dass  die- 
selben der  Schale  zu  gedeihlicher  Weitereutwickeiung  gereichen  mögen. 

War  es  nach  bereits  2  Uhr  geworden,  so  wnrde  trotz  der  vorgerfickten 
Zeit  doch  noch  efaie  Abtheflnngssitznng  für  Zeichnen  abgehalten,  in  der  Zeichen« 
lehrer  K.  Schneck-Potsdam  über:  „ Das  KSrperMi(AnAn  an  allgemein  bildenden 
Lehranstalten sprach.   Folgende  Thesen  waren  von  dem  Beferenten  anfge»  ' 
stellt  worden: 

1.  Die  Kiofuhrung  des  Zeichnens  nacli  körperlichen  Gegenständen  in  die 
Volksschale  ist  nothweodig. 

2.  Des  Kttaiwneicbnen  kann  nnr  dann  eriSnlgreich  betrieben  werden,  wenn 


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bestimmte  Hauptfignren  aus  der  allgemeinen  Knnstforraenlehre  ein- 
gehend geübt  sind.  Es  ist  deshalb  nur  der  Oberclasse  der  Volks- 
schule zuzuweisen.  Der  gewerblichen  Fortbildungsschule  ist  die  üanpt- 
pAege  des  EHrpenelflliiieiis  la  tberlMsen. 

3.  Das  Körperzeichnen  rouss,  wie  jeder  andero  UntoRiditifegeilstaiid 
aoch,  durch  Massenunterricht  gepflegt  worden. 

4.  Zur  zeichnerischen  Darstellung  eines  köri)erlichen  Gegenstandes  darf 
erst  dann  geschritten  werden,  wenn  nach  eingehender  Besprechung 
uid  Uftrer  VfinoiditBUidiiiiiff  die  ntadlidie  WiedergalM  allM  Snt- 
idekalteii  Mttens  der  Sdbttler  erftdgt  tot 

5.  Beim  Körperzeichnen  dnd  auf  dem  Wege  der  Ansehamuig  die  wich> 
tipsten  Grundsätze  der  porspectiviselien  Krsclieinuneren  zn  entwickeln. 

t>.  Die  entwickelten  perspectivischen  Grundregeln   dürfen  nicht  Mittel 
werden,  dass  der  Schüler  mit  ihrer  Hilfe  perspectiviäche  Bilder  con- 
stmirt  olme  Besngnalmie  avf  seine  SteUang  nm  KOiper.   Sie  loUeii 
den  Sehlllem  nnr  die  SellMityerbeHeranir  Uuer  Arbeit  erleiohteni. 
Mit  diesem  Vortrage  und  der  Annahme  der  gestellten  Thesen  bitte  der 
die^'ilhrige  Provinzial-Lehrertag^  sein  reiches  Arbeitspensum  erledigt. 

Abends  um  8  Uhr  fand  eine  musikalische  Anfführung  statt,  in  der  die 
Capelle  des  1.  Garderegiments  z.  F.  nnd  der  Potsdamer  Hännergesangverein 
—  mtenttttit  von  einer  ConeerHSngeiin  nnd  mehreren  Ooneertaftngeni  — 
mitwirkten.  Es  waren  durchaus  mustergiltige  Leistungen,  die  zn  Gehör  ge- 
bracht wurden,  nnd  die  eich  deshalb  ancb  des  lebhaftesten  BeUSkUs  m  erfreuen 
hatten. 

Der  4.  October  gehörte  dem  Pestalozzi- Verein.  Vor  Beginn  der  Uaupt- 
Teraammlnng  aber  hatte  sieh  eine  grofle  Zahl  der  Gellegen  zu  einer  Biehl-Feier 
auf  dem  alten  Kirchhof  versammdt    Efaigeldtet  wnrde  dieselbe  mit  dem 

Choral:  ^Was  Gott  thnt,  das  ist  wolgethan."  Damadi  hielt  Herr  Superin- 
tendent Petzhold  die  GedUchtnisrede,  in  welcher  er  mit  warmen  Worten  ein 
treues  Bild  des  thenren  Todten  zeichnete  und  besonders  seine  Schlichtheit,  seine 
Lauterkeit  und  Selbstlosigkeit,  seine  hingebende,  opferbereite  Nächstenliebe, 
seine  nie  wankende  lYeue  gegen  K9nig  nnd  Vaterland,  seine  Demnth,  Pflidit- 
treue  nnd  Arbeitsfrendigkeit  hervorhob.  Mit  einer  Motette,  gesungen  Tom 
Potsdamer  Lehrergesangverein,  schloss  die  erhebende  Feier. 

Bald  nach  10  Uhr  eröffnete  College  Sellheim-Eberswalde  unter  Absingung 
der  Liedstrophe:  „^i^b,  dass  ich  thu'  mit  Fleiß,  was  mir  zu  thun  gebühret,'* 
die  Hanptvenammlnng.  In  seiner  Ansprache  hob  er  hervor,  dass  der  FMi^ 
leori-Verein  in  177  Agenturen  mnd  7200  Mitglieder  «ttile.  Wihrend  die 
Zahl  der  WolthätigkcitSDitglieder  sidi  vermindert  habe,  sei  lie  Zahl  der 
ordentlichen  Mitglieder  gewachsen;  dennoch  gribt  es  immer  noch  eine  große 
Anzahl  von  Lehrern,  die  dem  Vereine  nicht  ziipehören.  —  Aus  vielen  Agen- 
turen werde  über  große  Lauheit  geklagt,  während  anderwärts  reger  Eifer  sich 
zeige.  Dem  Anfrnfe  des  Vorstandes,  die  in  Wegfall  gekommenen  Belietm- 
beitiige  in  Höhe  von  15  Mk.  hinfort  dem  Pestalossi-Verein  snsnwenden,  sei 
lelAer  keine  Folge  gegeben  worden.  Wäre  dies  geschehen,  so  hätte  den  Wit- 
wen eine  wesentlich  höhere  Unterstützung  gezahlt  werden  können.  Jedenfalls 
aber  thut  es  noth,  für  die  Witwen  und  Waisen  immer  besser  zu  sorgen,  da 
die  Noth  unter  ihnen  zur  Zeit  sehr  groß  ist  und  eine  Besserstellung  derselben 


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seitens  des  Staates  noch  sobald  nicht  zu  erwarten  sein  dürfte.  —  Die  Zahl 
der  zu  nDteratfltzenden  Witwen  ist  in  diesem  Jalire  aufs  neue  gestiegen  und 
betritt  rund  800.  —  Das  WtiMohaiis  siUte  im  abgeUnlinien  Jahre  82  ZOg- 
linge,  n&mlich  27  Waisen  und  5  Pensionäre.  Einer  der  Zöglinge  ist  im  Alter 
T«  12'/4  Jahren  im  Laufe  des  Jahres  leider  gestorben;  der  erste  Todt^sfall 
seit  Bestehen  des  Hauses.  —  Mit  der  Bitte  am  ferneres  eifriges  Arbeiten 
au  dem  Liebeswerke  schloss  der  Redner. 

Ao8  den  sich  auoliliefiendea  Gaaeeikberichten  heben  wir  nur  die  Hanptp 
sahlen  hervor:  Die  geeammten  BinBihmen  des  Peetalonl-VerdiiB  betragen  ein- 
schließlich des  vorjährigen  Beitandes  42154,92  M.,  die  Aussraben  beliefen 
sich  auf  25406,58  M.,  so  dass  sich  ein  Barbestand  von  16748.34  M.  ergibt, 
der  zu  Unterstützungen  verwendet  werden  kann.  Der  Verein  besitzt  außer- 
dem noch  ein  Vermögen  von  über  28000  M,  —  Das  Waisenhaus  hatte  an 
Einnafam«n  m  ▼ermiehnen  80850,90  M.,  die  Aosgaben  stellten  sieh  anf 
22529,06  M.,  so  dass  ein  Barbestand  von  8121,84  H.  verUeibt  Das  Ver- 
mögen des  Waisenhauses  ist  auf  105100  M.  angewachsen. 

Die  Commission,  die  seit  9  Jahren  tluUier  war,  um  für  den  \'erein  die 
Corporationarechte  zu  erlangen,  hat  ihr  Amt  niedergelegt,  weil  ein  Erfolg  nicht 
2n  erhoffiBn  iit  —  Die  aosseheidenden  Tontai^mitglieder  werden  snfli  nene 
für  ihr  Amt  wiedergevriUüi  Als  niehster  Versammlnngsort  .wird  Guben  in 
Aussicht  genommen.  Damit  waren  die  arbeitsreichen  Tage  in  Potsdam  sn 
£nde;  möchten  es  fttr  alle  Theilnehmer  reclite  Segenstag^e  werden 

Indem  wir  den  Potsdamer  Collegen  noch  einmal  unseren  lierzlichen  Dank 
aussprechen  für  alles,  was  sie  uns  geboten,  für  die  großen  Mühen,  die  sie  ge* 
habt)  wünschen  wir,  dass  sie  dnreh  das  Qelingen  der  schOnen  Tage  sieh  nnn 
anch  innerlich  fttr  sUe  Arbeit  nnd  alle  Opfer  belohnt  sehen  möchten! 

Fr.  Friesicke. 

Aus  Sachsen.  Seit  ungefähr  einem  Jahre  ist  hierzulande  im  Schollebeu 
eine  ziemliche  Stille  eingetreten.  Dieselbe  erfiihr  eine  angenehme  nnd  hoffNl^ 
lieh  fBr  die  Zakonft  nlltsllche  Unterbreehnng  doreh  die  Vm.  Hanptver- 

Sammlung  des  Allgemeinen  >>ltchsischen  Lehrer  Vereins,  welche  vom 
"29.  September  bis  1.  Oetober  in  Cliemnitz  stattfand.  Diese  Versammlung 
galt  allgemein  als  eine  J ubelversamniiung;  denn  vor  25  Jahren,  vom  2.  bis 
4.  October  1864,  tagte  in  Ciiemuitz  die  12.  Allgemeine  Sächsische  Lehrer- 
Versammlung,  anf  wdehMr  der  damalige  Snbreetor  der  Chemnitier  Bealsehnle, 
Dr.  Dlttes,  „Über  den  deutschen  Unterricht  an  den  sSchsischen  Seminaren" 
einen  Vortrag  hielt,  welcher  von  grossen  und  erfrenlichoi  Folgen  ftr  unser 
Seminar-  und  Schulwesen  geworden  ist  nnd  dadurch  Jene  Versammlnng  zu  einer 
der  bedeutungsvollsten  erhoben  hat.  Dr.  Dittes  hatte  auch  für  die  diesmiili^^e 
Versammlaug  sein  Erscheinen  in  Aussicht  gesteilt;  leider  hatten  ihn  Rück- 
sichten auf  seine  Gesundheit  abgehalten,  in  rauher  Jahresseit  die  Reise  von 
Wien  bis  Chemnitz  zu  unternehmen.  Die  Versaromlong  war  von  mehr  als 
2100  Lehrern  besucht,  so  dass  sie  die  stJirkste  aller  bisherigen  sttchsischen 
Lehrerversammluno-en  ist,  und  vielp  ans  dieser  grolSen  Zahl  waren  gekommen 
in  der  Hoffnung,  den  gefeierten  Pädagogen  einmal,  wenn  nicht  zu  hören,  so 
doch  SU  sehen. 

Den  29.  September,  abends  7  Uhr:  Versammlnng  der  Abgeord- 


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neten  (Delegirteii i  in  dem  zu  schulgcHrliiditliclier  Bedeutung  g'elang'ten  Saale 
der  „Linde".  Der  Vorsitzende  gedtiikt  einleitend  in  rühmender  Weise  des 
ehemaligen  Vorsitzenden  Kolbe-Dresdeo.  Dir.  Schumauu-Dresden  erstattet  den 
Jftkr«tb«riolit,  w«ldiai  xofolg«  der  Verete  IWNits  41  Jalir»  eebiet  Be* 
stelMM  tShlt  aad  dae  16.  Mit  der  Beorganiitttloii.  Die  Zahl  der  Mitglieder 
beträ^  über  5900|  «eiche  sich  auf  61  Bezirksvereine  vertheilen  und  1500 
Ortschaften  des  Königreiches  vertreten.  Der  \'or8tand  war  in  den  letzten 
2  Jahren  namentlich  mit  Hersteilnng  und  Verbreitung:  der  Denkschrift  über 
„die  Pensionsverhältnisse  der  sächsischen  Vollcsschallehrer'^  beschäftigt  (8. 
PsBd.  XI.,  2),  lowie  mit  der  BnnOgHehug  einer  wUrdigea  SehidMer  des 
gOQjfthrigen  Regierung^jabilftiuiiB  des  Haoses  Wettin.  Eine  für  diesen  Zweek 
gedruckte  rreisdiclitang  brachte  7(K)0  Mark  ein,  die  als  ^Wettiner  Jubiläums- 
stiftung'' dem  sächsischen  Pestalozzi-Vereine  überwiesen  werden  konnte.  Er- 
freuend ist  die  Mittheilang,  dass  den  Crliedern  des  AUg.  S.  L.-V.  gegen  Aasweis 
fteier  Eintritt  in  die  kSnigL  Sammlnngen  flir  Knnet  ond  Wissenschaft  gewSlirt 
wird.  De»  günitlg  Iwrtendeii  G  aieenberiehte  fblgt  die  Voretandswahl. 
Der  Terdiente  Vorsitzende^  Dir.  Gläsche- Dresden ,  lehnt  zu  allgemeinem  Be- 
dauern eine  Wiederwahl  ab,  da  er  demnächst  in  den  Ruhoptand  treten  will. 

werden  g^ewiihlt:  Kleinert.  Schumann,  Altner- Dresden,  Freyt-r- Leipzig, 
Kühnert-C'hemnitz,  Schauack-Zwickau,  Fink-Zittau.  Ein  Haaptgegenstand  war 
die  Berathvog  und  Beselilnssfamiig  über  eingereichte  Antrage: 
Einer  Erweitamng  den  Vontandes  Ton  7  MitgUedem  aaf  9  wird  mgwtinmt; 
abgelehnt  wird  der  Antrag,  „der  Vwitand  möge  Schritte  tiinn,  dass  einheit- 
liche Censorbücher  eingeführt  und  die  Schulkinder  jährlich  nur  einmal  censii  t 
werden."  Das  Gesuch  um  Gleichstellung  der  Volksschullehrer  mit  den  Staats- 
dienern hinsichtlich  der  Pensionsverhältnisse  soll  zor  Zeit  nicht  erneuert  werden, 
da  naa  von  dem  bald  naammentretenden  Landtage  erwartet,  daas  er  in  dieeer 
Richtung  viel leieht,  ftr  Anfbessemng  der  Mindestgehalte  der  Lehrer  (840 H.) 
aber  jedenfalls  etwas  thun  wird.  Der  ( 'u  nie  n  ins -Stiftung  (Päd.  Hanpt- 
bibliothekj  zu  Leipzig  werden  wiederum  3LHJ  Mark  bewilligt.  Die  lebhafteste 
Erörteraug  veranlasste  der  von  Leipzig-Stadt  gestellte  Antrag:  „Der  Allge- 
meine SftoheiBcheLehrerTerein  wolle  aeinen  Beitritt  com  »Dentachen 
Lehrervereine"  beedüteBen."  Dieaen  Antrag  begrlbidet  Oermer-Leipiig, 
dessen  Beweisführung  aber  mehr  negativ  ist  und  in  der  Widerlegang  eines 
Artikels  in  Nr.  37  der  „AUg.  Deutsch.  Lehrerztg.^  gipfelt,  weshalb  diese  Aus- 
führungen nicht  bis  zu  Ende  gehört  werden  können.  Die  lirüiuif  pro  et 
contra  werden  allseitig  erwogen;  gegen  deu  geplanten  Schritt  spricht  nament- 
Udi  dar  Umstand,  daae  dmrefa  deaielben  der  A.  S.  L.-V.  —  infolge  dea  in 
Sadmen  geltenden  Vereinsgeeetiee  —  idne  Existenz  gefährden  wftrde.  Es 
erfolgte  dämm  die  Ablehnung  des  Antrages,  obwol  man  dem  .Deutschen 
L.-V.**  durchaus  nicht  unsympathisch  gegenübersteht,  wievielfacli  angenommen 
wird.  Ja,  man  verwahrte  sich  ausdrücklich  dagegen,  dass  etwa  dei-  A.  L.-V. 
dM  Mangels  an  Interesse  für  die  allgemeinen  Angelegenheiten  des  dentechen 
Lehrentandea  gesieheo  werden  k9nne;  fBr  die  Gomeniis-Stiftang  c  B.,  die 
doch  eine  Sache  der  ganzen  deutschen  Lehrersdiaft  sei,  habe  wol  noch  kein 
Verein,  seibat  der  D.L.-V.  nicht,  soviel  thna  kOnnen  nnd  soviel  gethaa,  als  der 
A.  S.  L.-V. 

Die  1.  Hauptversammlung  am  80.  September  wurde  begrüüt  von 


—   186  — 


Oberbürgermeister  Dr.  Andr6,  welcher  in  seiner  Rede  folgende  (iedanken  aus- 
ffibrte:  Die  Volksschale  darf  nidit  alle  Bestrebimgen  aafnehmeo,  die  eich  ab 
und  sn  an  die  OberiUbdM  drangen  (Obttbannuracht,  Handfertigkeit  «te.),  obwol 

sie  den  ZeitstrifMongen  Rechnung:  tragen  soll.  Nicht  die  Menge,  sondern  die 
Tiefe  des  Lernens  begründet  wahre  Bildung.  Die  Schule  kann  niolit  allen 
alles  bringen;  sie  hat  nur  den  Keim  so  zu  legen,  dass  ersieh  später  im  Leben 
glücklich  zu  entwickelu  vermag.  Wenn  doch  diese  Gredankeu  allgemein 
wVrdenl  —  Dir.  Gfi0eU*OhemnitB  spneh  über  „die  Entwiekelnng  der  s&ch« 
siechen  Volksschnlen  in  der  Zeit  von  1864—1889.  Eine  BQek-  und 
Umschau. "  1864  sah  es  aaf  pädagogischem  Gebiete  in  Sachsen  nach  mancher 
Richtung  hin  wol  trefflich  ans:  Es  galt  ein  1885  erlassenes  Schulgesetz,  das 
1843  und  1851  Ergänzungen  erfahren  hatte;  der  Lehrerstand  war  strebsam, 
wirkten  doch  damals  Schulmänner  wie  Berthelt,  Jäkel,  Petermann,  Dr.  Borue- 
mum,  L.  Thomas.  Jedooh  es  fehlte  die  rechte  Fllhlnng  swisehen  »oben  nnd 
nnten";  dem  im  Volke  nnd  besonders  auch  im  Lehrcrstandc  herrschenden 
deutsch-natiiuialen  Zuge  verstand  die  Regierung  eines  flenn  v.  Beust  wenig 
Rechnung  zu  tragen;  für  die  Seminare  tralt  eine  Lehrordnnng  von  1857,  welche 
als  eine  jüngere  Schwester  der  preußischen  Regulative  betrachtet  werden  kann 
mid  aof  eine  Beediflnkung  des  Lehiplnns  imd  Versdiftrfang  der  V<»saliriften 
für  das  Intematsleben  hinausUef.  Da  kam  die  1834er  Versammlong  nnd  mit  ihr 
der  Dittes'sche  Vortrag,  dessen  Aufnahme  gleicll  an  erachten  war  der  Ver- 
urtheilnny-  eines  ">ystenis.  durch  das  den  Lehrern  anf  ihren  Bildungsanstalten  in 
deutschspi ;i(  liliciicr  l}t  /ii  liung  nicht  viel  mehr  ^elioten  ward,  als  was  sie 
braucliten,  um  die  Fehler  eines  Suhüleraufsatzes  zu  linden.  Die  duick  jene 
Versammlnng  bervorgemfene  Bewegung  wurde  fertgepflanit  dnreh  die  nSlehs. 
Schnizeitiuig''  nnd  dnroh  die  nen  erstehenden  nChemnitzer  pttdagogischen  Blätter" 
und  „Leipziger  pädagogischen  Blätter",  bis  diese  Bewee:un^.  durch  die  großen 
Ereignisse  von  18>)(i  nnd  187U  begünstigt,  einen  gewissen  Abschluss  fand  in 
dem  Schulgesetz  vom  20.  April  1873  und  der  dazu  gehörigen  AusfuhrungS' 
▼erordnung  vom  2ö.  August  1874,  sowie  in  dem  sich  anschließenden  Gesetze 
über  die  Gymnasien,  Bealschnlen  nnd  Seminare  Tom  22.  Angnst  1876,  dem 
die  Lehr-  und  Prüfnngsordnung  für  letztere  beigegeben  ist.*)  Es  folgte  diesen 
Gesetzen  die  Veröffentlichunir  des  mindestens  zu  bewiiltigenden  „religiösen 
McniorirHtüffes**  September  1877).  sowie  des  ofiiciellen  „Lehrplans  für  die 
einfachen  \olksschulea  des  ivünigreichs  Sachsen''  vom  5.  November  1878;  es 
sind  dies  iwei  Bttcher,  welche  in  methodiseher  Hinsicht  alle  Beachtung  Ter« 
dienen.*'^)  Über  die  Fortsehritte,  welche  diMO  Mafinahmen  zur  Folge  hatten, 
berichtete  1884  eine  amtliche  Schrift,  nnd  da.«?  Bild  der  Rchnl/usf.inde,  das  de 
entwirft,  i.-r  im  wesentlichen  heute  noch  zutreffend.  Zu  wün^^chcn  bleibt:  a)  eine 
Zusamnieutas.^ung  der  P^ntscheidungen  und  N'erordnungtui  zum  Scliuli^csetz 
(8  Hefte:  C.'C  Meinhold  &  Sühne;,  sowie  der  nocli  giltigen  Vurschrilteu  aus 
den  Gesetzen  yon  1835,  1843,  1851;  b)  ein  BegolatiT,  welches  die  Beehte 
nnd  Pflichten  der  Localschnlinspectoren  und  Rellgionsinspectoren  festsetzt,  damit 
ein  noch  besseres  Kinverstllndnis  derselben  mit  den  Lehrern  bestehen  könne: 
c)  in  der  Scliularbeit  eine  größere  Behaglichkeit  im  guten  Sinne,  eine  Beseiti- 
gung alles  aufreibenden  Jagens;  d)  eine  Aufbesserung  der  Lehrergehalte. 

*)  Sämmtlich  erscbienen  bei  0.  C  Mciuboid  &  ävbnc  iu  Dresden.         •  • 
**)  Verhig  Yon  A.  Hnble  fai  Dresden. 


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-   187  — 


BegTÜßungstelegramme  wurden  abgesandt  an  Ihre  Majestäten  den  König 
und  die  Könige,  an  8e.  Exc.  Herrn  ünterrichtsminister  Dr.  v.  Gerber,  sowie 
„in  dankbarer  Srinnening  an  1864"  an  Herrn  Sohnlrath  Dr.  Dittes  in  PreM- 
banni  bei  Wien.  —  Dtnnt  hMt  Dir.  Kleinert-Dretden  den  sweiten  Vortrag 
ftber  „dieNothwendigkeit  des  französischenUnterrichts  in  denSemi« 
narien."  Rednor  fordert  die  Einführung  des  Französischen  im  Seminar,  a)  im 
Interesse  der  gesellschaftlichen  Stellung  des  Lehrers;  b)  im  Interesse  seines 
Amtes;  c)  um  des  Wertes  dieser  Sprache  an  und  für  sich  willen.  Xu  der  De- 
batte  bebt  Sehnlrath  SeoL-Dir.  IVMl-ZMbopM  hervor,  data  man  bei  etwaiger 
EiBfUinuig  dee  FramMMben  Ja  aieht  das  Latein  beiieite  sehiebeB  ipöobte, 
das  fftr  die  intellectnelle  Bildung  eines  Lehrers  viel  letale  imd  dessen  Wert, 
trotz  vieler  Gegenreden  der  Neuzeit,  nicht  zu  leugnen  sei.  Die  Versammlung 
spricht  den  W'nnscli  aus,  „dass  das  Französische  in  den  Lehrplan  der  Seminare 
mit  aufgenommen  werde." 

In  der  3.  Haaptvenanmloig  am  1.  Oetober  epraeh  Dir.  Paohe>Lindtenan 
(Heraasgeber  der  „Furtbildungschule",  Leipzig, Peters)  über  „die  Wirtschaft* 
liehe  Ausbildung  der  Mäidchen".  Auf  Grund  des  Vortrages  sprach  die 
Versammlung  den  Wunsch  aus.  „dass  die  Errichtung  von  Fortbildungsschulen 
für  die  aus  der  Vulksschule  entlassenen  Mädchen  von  den  Scbulgemeinden 
immer  mehr  in  Angriff  genommen  werde,  nnd  dass  in  diesen  Fortbildonge- 
icbnlen  anf  die  hanewirtsehallliehe  Aasbfldnng  der  weibUcben  Jagend  das 
Hanptgpwicht  gelegt  werde."  (Vergl.  über  diesen  Gegenstand:  Deutsche  Schul- 
praxis Nr.  Hl  und  H3,  1889.)  Hi<'rzn  i  nni  h  bemerkt,  dass  die  Errichtung 
snli  ht  r  Fortbildungsschulen  den  SchuIgfiiH  iii  lm  durch  <las  Oesetz  bereits  ge- 
staltet, ja  empfohlen  ist.  —  Es  werden  die  eingelaufenen  Aut\vort-Telegi"amme 
▼erlesen:  8e.  H^feeCtt  der  K9nig  hatte  lifiertt  haldfoU  geantwortet;  Seine 
Exc.  der  Herr  Unterrichtsminister  wttnschte  dem  Vereine  eine  reicbgeeegnete 
Thatigk<'it;  „herzlichen  Dank  und  Gruß"  sandte  den  sächsischen  Lehrern  ihr 
„treuer  Landsmann  und  Standcsgennsse  Dittes"',  Die  erste  Antwort  wurde  mit 
stiller  Ehi-erbietung,  die  zweite  mit  großer  Freude,  die  dritte  mit  einem  lauten 
Brayo!  anfgenommen.  Alsdann  hielt  Lelirer  Beyer-Leipzig  dea  Sehlussvortrag 
Aber  „Pestalossi  ale  vnser  sittliehee  Ideal*'.  Redner  leidmete  anorst 
Pettaloni's  sittliche  Weltanschauung  und  entwarf  dann  ein  knappes  Bild  des 
von  dieser  Anschauung  beherrschten  Lebens  und  Handelns  des  groüen  Schweizers, 
der  so  viele  Male  ein  Bettler  ward,  um  Bettler  /.u  lehren,  wie  Menschen  leben". 
Nach  einem  Ausspruche  Pestalozzi's  gibt  es  unter  den  Menschen  Genies  des 
Geistes»  dee  Hertens  nnd  der  Knast.   „Er  war  ebi  Genie  des  HerBens.** 

Mit  der  Versammlnng  yetbanden  waren:  Eine  Sitsang  des  slehsisehen 
Pestalozzi;  Vereins,  eine  viel  umfassende  Lehrmittelansstellnng,  die  Besichtigung 
großer  industrieller  Betriebe  (Eisengießereien),  ein  (loncert  des  Oliemnitzer 
Lehrergesangvereins  („König Fjalar'*,  couipoiiirt  von  (i.Sdmek)  u.a.m.  Noch 
verdient  hervorgehoben  zu  werden,  dass  die  1:  estschrift  zui'  Versammlung  sehr 
hiteressante  „MittheOongen  ttber  das  Ghemaitcer  Yolksschnlwesen*'  enthalt  in 
weleben  die  geschichtliche  Entstehung  nnd  die  gegenwärtige  Ausdehnung  des- 
nlben  klar  und  ausführlich  dargelegt  ist. 

Zum  Schlnss  sei  der  Meinung  Ausdruck  gegeben,  dass  diese  Versammlung 
eime  Zweifel  eine  sehr  ansehnliche,  ja  vielversprechende  wai-,  dass  sie  aber 
ihre  große  Vorgängerin  v<h>  1864  wol  nicht  erreicht  hat.   Das  Wort  der 


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—   188  — 


•Schrift:  ,,l)en  Geist  däiupttt  nicht!'",  wird  in  unseieu  Tagen  zu  wenig  be- 
achtet. Denuoch  steht  fest  zu  hoffen,  dass  die  Versammlung  Gates  nach  vielen 
9eiteD  Un  amr  Folge  haben  werde,  worftber  wte  leiMr  Zeit  nitVergn&gen  be- 
riditea  werden.  St. 


HtiT  Julins  Beeger.  Lehrer  au  der  V.  Bürgerscinile  zu  Leipzig,  Gründer 
und  Leiter  der  (  uiiitMiius-Bibliuthek.  Herausi^cber  der  .. PiUlago^ischen  Revue'' 
und  einer  der  uianuhaftesten  Vertreter  der  Schule  und  des  Lehrerstandes,  hat 
tm  34.  Oetober  eein  60.  Lebensjahr  vellendet  ZaUnieh  waren  die  Beweiee 
der  Aditnug  and  Uebe,  welche  der  vielTerdiente  Jabilar  von  nah  and  fem 
enpfinp:.  Der  Leipziger  Lehrerverein,  welcher  derzeit  833  ordentliche  Mit- 
glieder zählt,  darimter  auch  Julins  Beeg-er.  veranstaltet«  zu  Ehren  des  Jubi- 
lars eine  teierliche  Sitzung,  in  welcher  der  I,  Vorsitzende,  Herr  K.  Beyer,  die 
trefflichen  Eigenschaften  und  hervorragenden  Leistangen  Beegera  unter  aUge- 
melaeoi  BeilUI  eohilderte,  and  der  Jubilar  mm  Bfaiennitf  Uede  eniaant  wnrde. 
MOge  dem  Lehrerstande  dieser  übensengtingstreue,  aneigenatttaige  nad  Tiri- 
bewihrte  VorlüUai^  noch  recht  laage  erludten  bleiben! 


Dem  Hambarger  Lehrer  0.  E.  Schmidt  ist  für  seine  unter  dem  Pseudo- 
nym Otto  Ernst  erschienenen  „Gedichte*'  der  Angsbnrger  Schillerpreis  im  Be- 
frage von  2CK(  Mark  zuerkannt  worden.  Soeben  ist  von  ihm  erschienen: 
„Uäeaes  Visir!  Gesammelte  Essays  aus  Literatur,  Pädagogik  uud  öffentlichem 
Leben  Ton  Otto  Emet"  (Rambni^  bd  Koarad  Klo6). 


Aae  den  GroBhersogtham  Badea.  Im  SepteariMrheffc  dee  „Pndaco- 

giam"  (S.  800  ff  )  versprachen  wir  hinsichtlich  der  Bestimmungen  über  die 
„Vorbereitung:  zu  dem  öttent liehen  Dienste  eines  wissenschaftlichen  Lehrers  an 
Mittelschulen'',  speciell  über  d'w  ..Freiheit  der  Wahl  der  zu  einer  Combination 
von  zwei  UaupttUcheru  iüiizuzimehmeuden  zwei  Nebenl'ächer' .  zu  berichten. 
Hierüber  wnrde  Folgeadei  beatimmt:  „L  Mit  der  Lehrbeffthigung  Lateinisch  1 
iit  nothweadJg  aa  yerbiaden  Grleehiech  %  mit  Oriediiaeh  1  Lateiaiaeh  2,  adt 
Mathematik  1  Physik  2;  mit  jeder  Stufe  der  Lehrbef^higung  im  Französischen 
oder  Englischen  ist  Lateinisch  3,  mit  Jeder  Stufe  der  Lehrbeföhignng  in  der 
Geschichte  ist  Geographie  3  zu  verbinden.  II.  Das  eine  der  beiden  Neben- 
fSoher  mass,  insoweit  dies  nicht  schon  durch  die  vorbezeichnete  Bestimmung 
Tergeiehrieben  Utt,  demaelbeB  Oebiete  angehören,  wie  die  Hanptfteher,  d.  h. 
dem  epraehlieh-geaehichtlichen  oder  dem  amthematiBehHMtarwiiBaaachaftlichen. 
In  dieser  Beziehung  wird  (reographie  als  Hauptfach  dentjenigen  dieser  beiden 
Gebiete  zugerechnet,  welchem  das  andere  Hauptfach  angehört. 

Die  liebräisciie  Sprache  kann  als  Nebenfach  zu  jeder  Combination  von 
zwei  Hauptfächern  des  sprachlich-geschichtlichen  Gebietes  Imizuti-eten.  Die 
▼alle  LehibefUigang  im  Hebrliaeben  wird  einer  anderweiten  LehrbeftliigaBg 
fttr  die  mittleren  Cliaeen  ^  bezüglich  der  für  ein  Zeagaia  1.  besw.  2.  Grades 
gestellten  Bedinprnng-en  —  s-leichg'erechjiet. 

Die  philosophische  Propädentik  kann  zu  Jeder Combinatiou  von  zwei 
Hauptfächern  als  Nebenfach  hinzutreten;  bezüglich  der  lür  ein  Zeugnis  1.  bezw. 
2.  Grades  gestelltea  Bedingungen  wird  die  Lehrbefthigung  in  der  pUtoeopU- 


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—    189  — 


gehen  Propädentik  «iaer  anderweiten  Lehrbefthigaof  Ar  die  mittleren  GlaaMn 

gleichpereclmet." 

Die  AufurdernugeD,  welche  in  den  einzelnen  Fächern  gestellt  werden,  hier 
fm  einzelBeii  mitzatheilen,  würde  den  Raum  dieser  BUttter  m  sehr  abeorbiren. 
Wir  beeehrioken  «i»  darauf,  za  bemerlien,  dass  die  Änforderaogeii,  wie  wir 
fritor  MÜMMl  andeuteten,  mäßige  sind,  beaoodcn  für  die  Lehrheffthigongsprüfang 

der  nnteren  nnd  mittleren  Classen.  Im  wesentlichen  übersteigen  die  Anforde- 
rungen, welche  im  Keallehrerexamt  ii  gestellt  werden,  sogar  die  ebengenannten. 
Trutzdem  unterrichten  die  Reallehrer  im  allgemeinen  nur  bis  Untertertia 
(4  unterste  daase)  nnd  erhalten  einen  Marimalgehalt  von  nur  8dOO  Mark, 
wlhrend  die  QymnjyrfaHfihrer  einen  solchen  von  5000  Mark — nadi  dem  nenen 
„Beamtengesets"  — beziehen.  Dieae  Thatsachen  illustriren  die  oft  bestrittenen 
Worte:  ..Dno  qnum  faciunt  idem,  non  est  idem." 

JlervtHznlieben  ist  noch  an  der  in  Rede  stehende»  N'erordnung,  dass  durch 
die  Trüfung  im  allgemeinen  nachgewiesen  werden  soll,  ob  der  Candidat 
dnvli  sein  „Stadium  der  Philosophie  und  Pidagogik,  sowie  durch  seine  Be> 
scliiftignng  mit  der  dentschen  Sprache  nnd  Literatur  den  an  Lehrer  höherer 
Schnlen  allgemein  zu  stellenden  Forderungen  entspricht.  Lohend  ist  speciell 
zu  erwähnen,  dass  von  jedem  Candidaten,  ohne  Unterschied  des  Studiengebietes, 
gefordert  wird:  „Kenntnis  der  wichtigsten  logischen  Gesetze,  der  Hanptthatsachen 
der  empirischen  Pqrchologrie  und  der  wesentlichsten  zn  ihrer  phUosophischen 
Sridlnuir  eingeeohlageoea  Rlebtungen,  Bekanntschaft  mit  den  philosophischen 
Grundlagen  der  Pädagogik  und  Didaktik  nnd  mit  den  wichtigsten  Thatsachen 
ihrer  Entwickelung  seit  dem  Iti.  Jahrhundert.  Kerner  hat  sich  jeder  Caudidat 
darüber  auszuweisen,  dass  er  eine  bedeutendere  philosophische  Schrift  mit  Ver- 
ständnis gelesen  habe.  In  der  Geschichte  der  Philosophie  muss  jeder  Candidat 
tbsr  die  Hanptmomente  bestimmt  orlentirt  sein.**  Ferner  muss  in  der  Mel« 
dug  sar  PrüAmg  angegeben  selo,  eventuell  dnrefaZengnisie  bewiesen  werden, 
ob  unter  anderm  „der  Candidat  Assistent  an  einem  IJniversitätsinstilBt  oder  Mit« 
glied  eines  Universitätsseminars  gewesen  ist  oder  an  ttbnngen  theilgenommen 
hat.  welche  denen  der  Seminare  vergleiclibar  sind.*'  Aus  den  von  uns  citirten 
Bestimmungen  ist  ersichtlich,  dass  die  neue  Verordnung  zeitgemäß  genannt 
werden  mus  und  sttnches  enthilt,  das  einen  wesentUdien  Fortsehritt  gegen 
früher  aufweist,  speciell  in  den  allgemeinen  philosophisch-pädagogisch-didakti> 
sehen  Fächern.  Die  Pädagogik  wird  in  Zukunft  wol  nicht  mehr  als  ,,.\schen- 
brödel"  der  Wissenschaft  von  den  Gymnasiallehrern  betrachtet  werden  dürfen. 
Diese  Besümmong  insbesondere  wird  bei  dem  Theil  unserer  Jagend,  welcher 
MIttelathuieii  besucht,  die  besten  Frfldite  zeitigen. 

Über  die  Kosten,  welche  ein  einselner  Schiller  unserer  Mittel- 
schulen ausser  dem  von  ihm  entrichteten  Schulgelde  verursacht,  veröffentUehte 
Gvmnasialprofessor  Treutlein  in  Karlsruhe  eine  beachtenswerte  Auf-  resp. 
Zusammenstellung.  Danach  betrug  für  die  vier  letzten  Jahre  in  Karlsruhe, 
wo  der  Besuch  ein  sehr  starker  ist,  der  durch  das  Schulgeld  niciit  gedeckte 
Auftrand  am  Gymnasium  132|60Mark,  fttr  jeden  Schttler  des  Realgymnaaiuma 
148,60  Mark,  für  jeden  Sehfiler  der  Bealsehnle  99  Mark.  Das  nächste  Budget 
wird  außer  den  310000  Mark  Schulgeld  für  die  14  Gymnasien  und  Progym- 
nasien eine  Extraforderung  von  732 0(X)  Mark  enthalt<*n.  Bei  einem  Besuch  von 
5100  Schülern  beträgt  sonach  der  ungedeckte  Aufwand  für  den  Kopf  143,50Mark. 

P«Kiagogiam.   IS.  Jalirg.   Heft  Iii.  14 

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—    190  — 


Hieraus  ergibt  Bich,  das«  der  ungeiieuere,  hauptattchlicii  durch  das  Be- 
reebtigongaweseB  venmachte  Zndrang  zn  den  MitleLKhalea  and  den  sog.  ge- 
lehrten  Bemfiaiten  eine  h8elist  bedenkliche  finanzielle  Seite  hnt,  wehsfae  in 
Anbetracht  der  Socialpolitik  ein  noch  viel  bedenklicheres  Relief  enthält.  Die 
Ausgaben  für  den  Schüler  einer  Volksschule  ist  im  Vergleich  zu  derjenigen 
eines  Schülers  der  Mittelschule  ein  sehr  minimaler.  Dieser  Umstand  sollte  den 
maßgebenden  Factoren  der  Staatsleitung  vieles  zu  denken  geben;  doch  mancher 
derselben  sehent  das  Denken,  weil  er  senst  in  nnaerer  bysuitinischen  Zeit  leieht 
für  einen  shake^eariachen  Gaaaina  nnd  daher  fBr  .^gefährlich'*  gehalten 
werden  könnte. 

Am  October  hielt  der  „l'e8talozzi-\  ereiu  Jüdischer  N'olksschuUelirer*  in 
Bruchsal  seine  Generalversammlung  ab.  Die  Überschüsse,  welche  durch  die  im 
Jahre  1881  nach  Art  der  Lebenaversieheruugen  vollzogene  Reorganisation 
des  Vereins  enielt  wurden,  werden  fortan  (lant  Besehloss  derOeneraWersamm- 
Inng)  zur  ErhShnng  der  Benefiden  an  die  Hinterbliebenen  verstorbener  Hit« 
glieder,  bezw.  an  deren  Erben,  verwendet.  Das  reine  Vermögen  betriiir  ivn 
12.  Januar  1H89:  450207  Mark  S9  Pfennige.  Mitglieder  zahlte  der  Verein 
am  12.  Januar  1889:  2071.  Das  Durchschuittsalter  der  Mitgliedei-  im  all- 
gemeinen war  45,8  Jahre,  das  der  Yeistorbenen,  35  an  der  Zahl,  60,9  Jahre. 
Seit  Gründung  des  Vereins,  vom  12.  Janoar  1846  bis  12.  Januar  1889,  starben 
B.'U)  Mitglieder;  die  an  deren  Hinterbliebenen  ansbezahlten  Beneficien  betratrt^n 
im  ganzen  .090  lH(Hiark.  crewiss  ein  sprechendes  nnd  blichst  erfreoliches  Bild 
von  der  „Selbsthilfe  der  Lehrer**. 

Am  Schlüsse  der  Generalyersammlung  theilte  der  Director  der  „Concordia", 
Lehrer-Actiengeeellachaft  fikr  Dmek  nnd  Verlag,  mit,  dass  ans  dem  Beingewinn 
des  abgelaufenen  OeschSftaijalires  dem  Pestalozzi-Verein  27ß5  Mark  65  Pf.,  dem 
„Allgemeinen  Witwen-  nnd  Waisenstift  badischer  Volksschullohrer"  dies^^lbe 
Summe  zugewiesen  würde;  außerdem  seien  über  30LX)  Mark  zur  Untei Stützung 
nothleidender  Lehrer  und  Lehrerrelicten  reservirt.  Auch  diese  Gründung  der 
hadischen  Volkaschnllehrer,  die  im  letsten  Landtage  abermals  ao  achroire  Be- 
handlnng  erfahr,  nammtlieh  Ton  Seiten  des  BegiemngscMniniiwnre  Geh.  Ref. 
Joos,  ist  ein  weiterer  Beweis  von  der  thatkrilftigen  „Selbsthilfe  der  Lehrer". 
Der  Obei-scbulrath  hatte  einen  Vertreter  zur  lieneralversammlnng  des  Pestalozzi- 
Vereins  entsendet,  der  in  beredten  W'orten  dem  \'ereine  wünschte,  dass  er  „fort 
und  fort  su  krättig  sein  müge,  dass  es>  ihm  möglich  werde,  uicht  nur,  wie  bis> 
her,  segnend  in  die  Stätten  der  Traner  hinelnsntreten,  sondern  dass  dieser  Segen 
auch  immer  reiclier  und  reicher  werde."  Ferner  bemerkte  dar  betreffende  Herr» 
dai>s  der  Obei-schnlratli  stets  das  gritCte  Wolwollcn  den  Lehrern  entgegenbringe, 
wenn  diese  iiucli  durch  den  Ausschluss  aus  dem  Beamtenffesetz  eine  in  Wort 
und  Schritt  geüul>erte  Missstimmung  gegen  geuannte  Behörde  an  den  Tag  ge- 
legt hätten.  „Verehrte  Herren  und  Freunde",  sagte  wOrUich  der  Bedner, 
„das  sind  Worte,  die  ich  Ihnen  sage.  Leider  ist  meine  Hand  leer*,  wie  gerne 
würde  ich  sie  geeilt  mitgebracht  haben  mit  irgend  etwaa«  was  ich  Ihnen  als 
Pfand  hätte  bringen  können  für  Orößeres,  das  nachkomTut,  Ind.  meine 
Herren,  dass  etwas  naclikonimen  wird,  des  Glaubens  leb'  ich  und  sterl)'  i<'h." 

Diese  Worte  waren  recht  schöu  uud  ernteten  ein  allgemeines  „Biavo". 
Da  aber  die  badischen  Lehrer  an  „sehttne  Worte*'  seit  dem  letsten  Landtage 
gewohnt  sind,  so  fehlte  vielen  Tbeilnehmem  der  Venammlnng  der  bekannte 


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^,Glaube".  Möchten  sie  sich  täusdioTi'  Fiizweifelhaft  zielen  die  Worte  des 
dem  LehrerRtande  persönlich  wolgewogenen  Herrn  daranf  hin,  dass  der  iiUchste 
Landtag  eiue  „aunäberude"  Gleicliätelluug  der  Lehrer  mit  den  gut  situirten 
,,BMat«i**  crwirkm  wmeiB.  Bine  <i«hii^iM>n<iA  Petition  doB  LehnrveniiM- 
Vontaad«B  wird,  wie  wir  ans  snvetlMgar  Quelle  erfUinD,  dem  näohiten 
Landtage  vorgelegt  werden.  Wir  sehen  dann,  ob  sich  die  That  der  Ober- 
schulbehörde mit  den  schönen  W o r t e n  ihres  ältesten  Mitg-liedes  deckt.  Immer- 
hin ist  es  auffallend,  dass  ein  Mitglied  dieser  hohen  Behörde  einem  Vereine  eine 
aegenevoUe  Weiterentfaltiuig  wünscht,  der  schon  jahrelang  sehr  bedeutende 
2iiidiü8M  aiB  eineiii  SenwthilÜB-Iiittitiit  („Ooaoordia")  erUUt,  wtthrend  der  Di- 
reetor  dieser  Behörde,  Herr  Geh.  ReferendärJoos,  gcnrade  dieses  Institut  in  der 
60.  Sitzung  der  zweiten  Kcimmer  18H8  als  mit  <  iiipm  „ß^ehilssigen  Charakter" 
behaftet  darstellt  und  bedauert,  dass  das  Gesetz,  tiotzdem  der  Director.  ein 
Lehrer,  hätte  aus  dem  Lehrerstande  austreten  müssen,  keine  Handhabe  biete, 

Ldirem  an  Terwehren,  Actiea  m  erwerbeo  oder  in  den  AafUebtvath  ein- 
sntreten.  „Die  Begiemng",  to  bemerkte  der  genannte  Herr,  „werde  dieee  An- 
gelegenheit im  Aoge  behalten."  Ein  WdwoHen  gegen  die  „Concordia"  liegt 
wol  in  diesen  wie  in  anderen  Ausführuneren  dieses  Rednere  nicht;  wir  kJmnen 
nns  den  Widerspruch,  der  im  Wesen  der  geducliten  Worte  beider  hohen  Herren 
iie^t,  nicht  erklären.    Wo  steckt  „Graf  Öriudur-'  V 

Die  Landtagswahlen  Bind  beendet;  dieNatlonalUberalen,  welche  bisher  die 
Xehrlieit  in  unseren  Kammern  bildeten,  haben  anch  fernerhin  dieselbe;  gleichwol 
mnssten  sie,  soweit  es  sich  übersehen  lässt,  etwa  7  Sitze  hauptsächlich  den 
ültratnontanen  und  2  bis  3  den  Freisinnigen  abtreten.  Die  frühere  national- 
liberale Kammermajorit^lt  war  ge^en  die  Lehrer  nicht  sehr  günstig  gestimmt; 
eb  in  Zokanft  bei  derselben  eine  günstigere  Stimmung  sich  geltend  machen 
wird,  bleibt  abanwarten.  Dem  Umstand,  dass  die  Lehrer  „Gewehr  bei  Fuss*' 
bei  den  let/.teu  Landtagswahlen  standen,  soll  in  manchen  Bezirken  der  anti- 
nationalliberale  Erfolg,  so  wird  in  politischen  Zeitungen  berichtet,  ansnechrei- 
ben  sein. 

Schließlich  bemerken  wir  noch,  dass  die  Cieueral Versammlung  des  Pesta- 
lesai-Vereins  swel  Tage  Tor  der  Wahlmännerwahl  (in  Baden  ist  noch  der  „in- 
direete  Wahlmodns"  bei  den  Landtagswahlen  an  Recht  bestehend)  abgehalten 
wurde.  Einige  „unglftabigeThomase"  bringen  in  ihrer  wahlberechtigten  pessimisti- 
schen ^^timmung  die  schöne,  so  iiofftuiiitCHfrendi)^  fiir  di»'  L*  lirer  ausK-eklungene  Rede 
des  Vertreters  dt'i'  < )l»iis('lmll»eliitrde  in  \'erbin«lunij:  mit  den  Landtagswahlen 
und  ziehen  daraus  Folgerungen,  die  wir  jedoch  nicht  wiedergeben  wollen.  Wir 
woUeo  vielmehr  in  Besag  anf  die  materielle  BessersteUang^,  die  grOBere  Standes- 
ehmn^r,  besonders  in  Hinsicht  anf  die  Stellnng  und  Beaufsichtigung  durch  be- 
rofene  Männer  aus  dem  eigenen  Stande  und  die  im  praktischen  Volksschnl- 
dienste  stehen,  einmal  optimistisch  in  die  Zukunft  blicken. 


Ein  Verein  fttr  Vassenverbreitung  guter  Schriften  hat  sich  in 
Weimar  gebildet.   Derselbe  soll  seine  ThUigkeit  ttber  alle  Lande  erstrecken, 

soweit  die  deutsche  Zonge  klingt.  Dieser  Verein,  welcher  unter  dem  Protec- 
torate  des  <Tioi5herzog8  von  Sachsen- Weimar  steht  und  die  K'echte  einer  ju- 
ristischen Person  besitzt,  wird  j^t-eignete  Sehrit'ttn .  namentlidi  das  Beste  und 
Vali^tbüuilichste  aus  den  Werken  von  Alexis,  Anzeugruber,  Auerbach,  Jakob 

U* 

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—    192  — 


Kii^ie],  Fre\tag,  Gaughofer.  Gottlielf,  Hauff,  I'etcr  Hebel,  v.  Holtei,  v.  Horn, 
Kail  ImmermaDn,  Jakobs,  v.  Kleist,  M.  Meyr,  Pestalozzi,  Josef  Bank,  Rosegger, 
SehaniBbnrger,  Spindler,  Trautmann,  Wildermotb,  Woerner,  Zschokke,  Walter 
9e(»tt,  Diekeof,  BjOnwon,  Bret  Harte  v.  a.  In  RieteiiaiifhigeB  drnclMii  Immd 
und  durch  Colporteare,  durch  Verkaufsantomaten,  durch  Vermittelung  der  Be- 
hörden und  Arbeitgeber,  der  Geistlichen  und  Lehrer  in  jedes  deutsche  Haus 
zu  bringen  suthen.  Bisher  haben  bereits  viele  deutsche  Füi-sten,  Tauseude  von 
eioflassreichen  Peri^onen  in  Deutschland  und  Üstei  reich  ihre  UnterstUtsung  des 
UntornebiDMis  angesagt  Ana  dca  Satinngen  dea  VeniMi  Akm  wir  F<^aodia  an : 

§  1.  Der  Vereiii  IBr  Maaseiverbreitaiig  gnter  Sehiiften  hat  den  Zwedc, 
dem  deutschen  Volke,  namentlich  dessen  ärmeren  Schichten,  guten  nnd  wolfeüen 
Lesestoff  sowol  unterhaltender  als  ])ekhrender  Art  zuzuführen,  um  dadurch  auf 
die  sittliche  nnd  geistige  Hebung  des  Volkes  binzawirkeo.  Der  Verein  bleibt 
allen  Parteibestrebnngen  lern. 

§  4.  Die  MitgliedaehafI  wird  doreh  Zahlong  eioea  Jahreabeltragea  Ten 
■indesteDS  3  Mark  für  pereOnliehe  nnd  mindestens  10  Mark  fSr  kSrperadkaftp 
liehe  Mitglieder  (\'ereine).  die  danemde  Mitgliedschaft  durch  einmalige  Zahlnng^ 
von  mindestens  'MM)  Mark  erworben.  Auch  Frauen  können  dem  \'ereine  als 
Mitglieder  beitreten.  Bezüglich  der  Rechte  der  Mitglieder  sagt  der  §  5,  dass 
sie  anm  Bezüge  beliebiger  Mengen  der  mcbienenen  Schriften  an  dem  den  Col- 
1»ertenren  bewUUgten  Preiae,  bei  Zahlnnir  ▼<ni  ndndeatena  10  Mark  Jahres- 
beitrag zum  unentgeltlichen  Bezüge  eines  Exemplares  von  jeder  Vereinsscbrift 
das  Recht  haben.  Wir  wünschen,  dass  dieser  Verein  überall,  wo  Deutsche 
wohnen,  feste  'Wurzel  fasse  nnd  segensreich  wirke  zum  Wole  und  zur  £bre 
des  deutschen  Volkes! 

Wer  für  den  „Verein  Ar  Maasenverbreitnng  guter  Schriften"  an  wirken 
bereit  ist,  der  eriiltte  rieh,  nm  nihersa  Aber  denaelben  sn  erihhren,  bei  seiner 
Anmeldnng  ab  Mitglied  zngleidi  die  Sdirift,  welche  die  Anregung  zur  Bildung 
dea  Vereins  gegeben  hat:  „Ein  neuer  Weg  zur  sittlichen  und  geistigen  Hebung 
des  Volkes.  Von  Dr.  Heinrich  Frankel.  Berlin  1889."  Das  Schriftchen  wird 
auf  Wunsch  kostenfrei  versendet  durch  die  Kanzlei  des  „Vereines  fürMassen- 
▼erbreitnng  guter  Sehriften*  in  Weimar,  Herdorplati  9. 

In  Österreich  kam  im  Reichstage  die  Sehend-  und  Schundliteratur  in 
Jtngater  Zeit  wiederholt  zur  Sprache,  und  der  österreichische  Schriftsteller 
Mftller-Guttenbmnn  hat  in  seiner  Schrift :  Gegen  den  Strom!  vor  längerer  Zeit 
bereits  die  Gründung  eines  derartigen  Vereines  und  die  Massenverbreitung 
guter  Volkssohriften  gewOnscht.  Hoffen  wir,  daas  der  in  Weimar  gegrflndete 
Verein  noch  Ar  Österreich  aegenavoll  werde. 

Australische  S  c  h  ii  1  v  e  r  h  äi  1 1  n  i  s s  e.  A bgesehen  von  einigen  statistischen 
Angaben  über  den  Zustand  der  Scliulen  in  Neu-Seeland  im  9.  Jahrgang  dieser 
Zeitschrift  und  einer  Schilderungr  v<hi  austraUscheu  Knlturzuständeu  im  8.  Jahr- 
gange  iat  noch  nksbti  an  dieaen  Orte  Aber  die  Schalverhaitnisse  in  Anatralien 
berichtet  worden.  Ein  lingerer  Anibatn  in  der  Febnaninnuner  der  MContem* 
porary  Review"  —  der  dritte  einer  Reihe  von  Aufsätzen,  welche  australische 
Zustande  schildern  —  behandelt  die  Erziehungs-  und  Schulverhältnisse  in  den 
einzelnen  Colonien.  Derselbe  enthält  sehr  viel  des  Interessanten,  wovon  wir 
das  Wichtigste  hier  wiedergeben. 


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Der  Verfluier  tritt  der  allgemeinen  Annahme  entgegen,  als  sei  der  Austra- 
lier dnrdians  nnr  mit  der  Jagd  nach  dorn  Mammon  beschüftio^t  und  fdr  höheres 
Streben  fast  unempftlnglich.  Za  den  iitjerzeagendsten  B  eweisen,  dass  das  Streben 
nach  höheren  Zielen  durch  miterielie  Wolfahrt  niciit  zerstört  worden  ist,  ge« 
Um  die  gUümiidieB  Sobenkoiifea,  welche  des  hOherea  wie  niederen  Sehnlen 
AnrtnliflBt  TOn  FriTatleaten  geworden  sind,  nnd  die  groien  Zogest&ndnisse, 
welche  die  Behörden  für  das  s^esammte  Bildung-swespn  ?omacht  haben.  Gilt 
auch  der  Wetteifer  der  einzelnen  Colonien  zum  großen  Theil  den  liöheren 
Schalen,  so  .sind  doch  das  Geschic'k  und  der  Eifer,  welche  jede  Colonie  gezeigt 
liet,  um  ein  System  von  zweckentsprechenden  Blementnreohnlen  za  begrflnden 
nnd  zn  erhallen,  nioht  Minder  bewandamswUrdig.  Die  Schwierigkeiten,  welche 
gelöst  werden  mussten,  um  jedem  Kinde  die  Wolthaten  eines  geregelten  Unter- 
richts zutheil  werden  zu  lassen,  waren  ^anz  bedeutend,  Ja  zum  Theil  \  ti  der 
Art.  dass  eine  vollständige  Lösnng  derselben  kaum  möglich  schien.  1)  »cU  muss 
man  den  verschiedenen  Begierungen  der  einzelnen  Colonien  den  grüßten  Bei- 
fül  sollen  Ar  den  SohnrlUsn,  den  Math  nnd  die  Freigebigkeit,  womit  sie  ver- 
bracht iMben,  dieee  Schwierigkeiten  sn  Utaen. 

In  den  amtralischen  Colonien  gibt  es  nngehenere  Distrikte,  in  denen  die 
Bevölkerung  so  zerstreut  wohnt,  das.s  es  kaum  in  dem  Bereiche  der  Möglichkeit 
liegt,  einen  resrelmüBij^en  Schulbesuch  herbeizuführen  oder  Scliulen  zu  errichten, 
die  für  alle  Kinder  zu  erreichen  wären.  Die  Straßen  sind  schlecht,  oder  es 
giht  ftberhnnpt  keine  StmSea,  solche  Tielicicht  nnegenommen,  die  von  den  Vieh« 
heriCD  anf  ihren  Wege  nach  dem  nttcluten  Marktplatze  dnveh  den  MBoeeh" 
gebahnt  worden  sind,  oder  von  Wagen,  auf  welchen  Wolle  zur  nftchsten  Eisen- 
bahnstation oder  zum  nächsten  Kafen  gebracht  wurde.  Oft  muss  ein  Schul- 
inspector  dem  Erziehungsminister  die  ^littheilung  machen,  dass  er  durch  große 
Überschwemmangen  verhindert  ist,  einen  Theil  seines  Bezirkes,  in  welchem 
mehrere  Schulen  gelegen  aind,  an  inspiciren.  Oft  kommt  ee  vor»  da»  «Me 
Üheraehwemmangen  die  Kinder  aus  der  nichiten  Nachbarschaft  der  Schale 
tagelang  vom  Besuche  derselben  ziiiiickhalten. 

Das  Schulgesetz  von  New  South  Wales  —  jede  Colonie  besitzt  niimlich 
ihr  eigenes  Schulgesetz,  doch  sind  alle  einander  sehr  ühnlich  —  bestimmt,  dass 
efaie  Solivle  an  einem  Orte  «richtet  werden  mag,  wo  ein  regelmftfiiger  Becnch 
von  mindestens  swanaig  Kfaidem  im  Alter  von  sechs  bis  vieraehn  Jahren  ga- 
rantirt  werden  kann.  Den  KindSTOi  die  anf  dem  Lande  leben,  wird  freie  Eisen- 
bahnfahrt gewiUirt.  um  es  ihnen  zu  erniög-lichen,  die  ihrer  Wohnung  am 
nächsten  gelegcnf  Schule  zn  t  ireichen.  Die  Eisenbahnverwaltungen  sind  in 
dieser  Hinsicht  im  höchsten  Grade  zuvoikommend,  indem  sie  die  Rinder  mitten 
anf  der  Strecke  in  den  Zog  anfliehmen,  besw.  wieder  absetaen,  wenn  deren 
Wohnnng  za  weit  von  einem  Haltepnnkte  entfernt  liegt 

Eine  Interimsschnle  kann  an  einem  Orte  errichtet  werden,  wo  nicht 
weniger  als  zwölf  und  nicht  mehr  als  neunzehn  Kinder  im  schulpflichtigen 
Alter  die  Schule  regelmäßig  besuchen  können,  vorausgesetzt,  dass  nicht  eine 
andere  Schule  in  der  Entfemang  von  4  engl.  Meilen  anf  einon  für  die  Kinder 
gangbaren  Wege  an  erreichen  ist.  —  Es  gibt  jedoch  nach  Beairke,  wo  nicht 
einmal  zwölf  Kinder  in  geeigneter  BntfBtvnng  von  einem  Orte  zosamnienza- 
bringen  sind,  der  für  die  Erbauung  einer  Schule  gewählt  werden  könnte. 
Daher  bestimmt  das  Gesetz,  dass  „im  Falle  zwanzig  Kinder  im  Alter  zwischen 


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Bechs  lind  vierzehn  Jahren  innerhalb  eines  angenomnienen  Kadins  von  10  Meilen 
(engl.)  von  einem  Mittelpunkte  vorhanden  sind  und  in  Ornppen  von  nieht  we- 
niger ala  zehn  Kindern  gesammelt  werden  können'*,  zwei  Halbtagsschulen  ein- 
gerichtet werden  sollen,  Kwischen  denen  ein  Lehrer  seine  Zeit  gleicbmäBigr 
tbeflen  MdL  GewQhnlicli  soll  «r  den  Vormitta;  in  der  einen  and  den  Naeli> 
mittag  in  der  anderen  zubringen,  doch  kann  er  mit  Ci*  lu  limigung  des  Inepectors 
eine  andere  Anordnung  treffen;  und  es  sclicinf  von  dioer  Erlaul-nis  auch  sehr 
ausgiebig  Gebiauf  h  gemacht  zu  werden.  Lclirer.  die  an  zwei  Halbtagssdmlen 
wirken,  beziehen  ohne  Eücksicht  auf  ihr  Gehalt  eine  angemessene  jährliclie 
Soaune  nm  ünteriialte  elnee  Pferde«.  Alle  Halbtagtschnlen  lind  in  jeder  Hin- 
ddit  ivie  Offentiiehe  Sebnlen  sn  leiten,  und  der  Bang  nnd  daa  Gelult  des  Leh- 
rers stimmen  ilbereln  mit  Bang  nnd  Oehalt  Ton  Leiuwn  an  (MTentiicIien  Sdiolen 
der  gleichen  Stufen. 

Wenn  die  I^evölkenuig  so  spärlich  vertheilt  ist.  dass  es  nicht  niiijilich  ist, 
Ualbtagsschulen  zu  errichten,  geht  ein  Wanderlehrer  von  Haus  zu  Haus  und 
Idurt  entweder  die  Kinder  einer  Familie  oder  Ton  iwei  oder  drei  benaehbartoi 
Familien.  Von  einem  Wanderlehrer  Tolangt  daa  Geaetz  keine  seminaristisch» 
Ausbildung,  doch  müssen  sie  „Personen  von  anerkannt  sittliclitm  Charakter 
sein  und  Hlhig,  iliien  Zöglingen  die  Eudiniente  einer  englischen  Kr/ieliung  ge- 
währen zu  können."  Die  Vertbeilang  seiner  Zeit  auf  die  Familien,  die  er 
besncht,  wird  auf  Bericht  dea  Sehalinapeeton  Ton  dem  Erziehnngsminiater  be- 
atimmt.  Am  Ende  jeden  Ifonata  haben  die  Halbtagalehrer  nnd  die  Wander- 
lehrer dem  Inspector  einen  Bericht  öber  die  Arbeit  des  Honata  einzureichen. 
Die  Schulen  beider  Arten  sollen  nach  allgemeiner  Veraichernng  sehr  gute  Er- 
folge aufzuweisen  haben. 

Die  Unterrichtsgegenstände  in  den  Elementarschulen  scheinen  die  gewöhn- 
liehen SB  sein,  wenigstens  gibt  nnser  OewShrsmann  niehta  NSheres  hierttber  an. 
Wol  aber  theQt  er  eine  Tabelle  ans  dem  Beiiehte  des  Ersiehnngsministers  tod 
Viktoria  vom  Jahre  1886 — 87  mit,  in  welcher  verschiedene  Unterrichtsgegen- 
stände aufgeführt  werden,  in  welchen  fakultativ  unterrichtet  worden  ist.  Diese 
sind  folgende  (die  beigelügte  Zahl  gibt  die  b'chiiler  an,  welche  an  dem  Unter- 
richte theilnahmenj: 

Bnebftthning  (1753)  Malen  (42) 

Algebra  (1051)  Deutsch  (35) 

Latein  (887)  Stenographie  (24) 

Euklid  (835)  Zeichnen  (22) 

Französisch  (717)  Engl.  Sprachlehre  (9) 

Physiologie  (51)  Physikalische  Geographie  (9) 

Physik  (44)  Gesehiehte  (7). 

In  dem  Berichte  wird  hinzugefügt,  dass  nach  dem  revidirten  Lehrplane 
einige  dieser  Gegenstände  in  die  „gewöhnlichen  Curse  freier  Unterweisung" 
aufgenommen  wurden  sind.  Zeichnen  z.  B.  wird  jetzt  in  allen  Schulen  gelehrt, 
damit  sich  die  äch liier  hinreichende  Fertigkeit  in  der  Handhabung  des  Stifte» 
aneignen. 

Der  Lehrplan  Ahr  die  Interims-  nnd  Halbtagsschnlen  ist  weniger  nmfkng> 

reich,  als  der  in  den  ftbrigen  Öffentlichen  Schulen.    Der  Unterricht  in  den 

Interimssohnlen  soll  sich  auf  Lesen,  SchreiV  en.  Rechnen,  Grammatik,  Geographie 
nnd  Geschichte  erbtreckeu  und  wenn  möglich  für  die  Mädchen  auch  noch  auf 


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weibliche  Handarbeitpri.  Die  Oogonstände  des  Unterriclits  für  die  Halbtags- 
schiilon  beschrilnkt'U  sicli  auf  I,*s(n.  Schreiben.  Dictat«*  und  Rechnen.  Die 
mündliche  Unterweisung  wird  durcli  einen  regelmäßigen  Cursus  von  Uausauf- 

Was  den  Reliffioiisiuitenricht  anlangt,  ao  aind  dQreh  almmtUehe  Golonien 
AaBtraliens  die  Schulen,  soweit  aie  ataatliche  sind,  confeasionslos.  Die  Sdinlen 

von  Viktoria,  Queensland,  Tasmania  und  Neuseeland  sind  weltliche  (secnlar), 
nnd  in  ihren  Lelirplan  ist  Relis:ionsuuterricht  überhaupt  nicht  aufgonommen. 
Doch  kann  den  Kindern  auf  Verlangen  ihrer  Eltern  unter  gewissen  Bedingungen 
vor  oder  nach  dem  Untemdite  von  Oeiatlichen  oder  besonderen  Religionslehrem 
reHgiOae  ünterweianng  niihefl  werden.  In  SfldanatraUen  iat  ea  dem  Lehrar 
freigestellt,  tftgUch  bia  an  einer  halben  Stande  Bibellesen  in  den  Stundenplan 
aufzunehmen,  doch  mnss  er  sich  streng  auf  das  Lesen  der  Hiy)el  beschrünken. 
Das  Gesetz  vom  Jahre  1880  für  New  South  Wales  erklärt  die  ..weltliche 
Unterweisung''  (secnlar  instruction)  dahin,  dass  im  Keligionsuuterrichte  alle 
Dogmatik  nnd  Polemik  an  nnterbleibeii  habe.  GonfBaatondle  ünterwdaong 
der  Kinder  hat  außerhalb  dea  ünterriehtea  dorch  besondere  Beligionalehrer  an 
geschehen.  Die  Geistlichen  der  verscbieden«i  ConfMdonen  scheinen  aber  nicht 
gerade  viel  Gebraucli  von  dieser  Bestimmung  zu  machen.  nii^ri,.i,.|i  gich  ih 
allen  Colunien,  besonders  aber  in  Viktoria,  Stimmen  gegen  den  c<intVssion8loseu 
UnteiTicht  erheben,  so  scheint  doch,  wenigstens  für  jetzt,  die  confessionslose 
Schale  gesichert  zu  sein. 

In  Hinsicht  auf  die  Art  and  Weise,  wie  die  Mittel  zur  UnterhaUung  der 
Sehnlen  anflsebradit  werden,  beateht  eine  große  Veraehiedenheit  swisehen  doi 
einseinen  Colonien.  Frei,  ist  der  Unterricht  in  den  Elementarschulen  von 
Viktoria,  Queensland  und  Neuseeland;  doch  ist  für  Viktoria  zu  bemerken,  dass 
der  Unterricht  in  den  oben  angegebenen  facnltativen  Gegenstanden  honorirt 
werden  muss.  In  Queensland  herrscht  aber  der  Brauch,  datis  vor  Gründung 
einer  neuen  Schule  an  irgend  einem  Orte  ein  Fünftel  der  mutlunaßlichen  Kosten 
filr  den  Ban  und  die  Einrichton^  der  Schule  suvor  dnreh  OiTentliche  Samm- 
lungen aufgebracht  werden  muss.  In  New  South  Wales,  Südanstralien  und 
Tasmania  ist  Schulgeld  zu  entrichten.  Es  haben  sich  hier  aber  noch  keine 
Stimmen  tür  Aufhebung  desselben  hören  lassen,  weil  nicht  viel  arme  Eltern 
vorhanden  sind.  Überdies  steht  den  „Public  iSchool  Buaidb**  oder  „Boards  of 
AdTiee"  —  die  etwa  unseren  Sehnlaissehüssea  entspreehen  und  fiber  deren 
freilich  sehr  besehrftnkte  Belhgnisse  der  VerfSasser  sieh  des  Ulngeren  verbreitet  — 
daa  Recht  zu,  mittellose  Eltern  von  der  Zahlung  eines  Schulgeldes  zu  befreien. 

Wae  die  SteDnng  der  Lehrer  anlangt,  so  sind  sie  in  allen  Golonien  Austra- 
liens —  mit  Ausnahme  von  Western  Australia,  die  dieselbe  Verwaltung  wie 
das  Mutterland  hat  —  btii^erliche  Staatsdiener,  Sie  erhalten  ihre  Geh&lter 
von  dem  Erziehungsministerium,  und  der  Minister  stellt  sie  an  und  entlässt  sie. 
In  dieser  Hinsicht  sind  sie  weit  besser  daian,  als  die  Lehrer  des  Mutterlandes, 
wddie  von  Itrtliehen  Behörden  (local  managen)  angestellt  werden;  allein  aie 
hiden  gleich  den  Lehrern  Englands  unter  der  Einrichtung  von  payment  by 
results,  d.  h.  ihr  Gehalt  wird  nach  dem  Ausfalle  der  jährlichen  T^rüfungen  be- 
stimmt. Die  Art  nnd  Weise,  wie  in  den  verschiedenen  Colonien  die  Höhe  des 
Gehaltes  bestimmt  wird,  ist  sehr  ungleichartig.  Der  Plan,  welcher  für  New 


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SoQlh  Wales  gilt,  iat  lehr  auflUurlioh  ond  Ulutrlrt  die  Piinoipien,  naoh  dflnea 
aiieh  in  den  übrigen  Colooien  TwiUiren  wird,  am  beaten. 

Die  Lehrer  sind  ihrer  Beföhigningr  nach,  Uber  die  ihre  Zeugnme  ent- 
scheiden .  in  droi  Classen  g:etheilt.  In  den  ersten  beiden  Classen  gibt  es  zwei, 
in  der  diitteii  drei  Unterg^ade.  Die  Zeugnisse,  die  zu  den  bestimmten  Clasaen 
und  Graden  berechtigen,  werden  zum  Tbeil  nach  einer  nuiudlicUeu  und  Schrift- 
lieben  Prttfbng,  zum  Tbeil  nach  der  priJctischen  Befähigung  ertheOt  Zun  Anf- 
rücken  in  höhere  Glasten  müssen  die  betreffenden  Prüfungen  bestanden  werden; 
diese  sind  nicht  nur  der  Schwierigkeit  nach  verschieden,  sondern  auch  nach 
den  GegenstUnden.  in  denen  gcjirüft  wird.  Die  Prüfungen  fiir  die  höheren 
Glassen  bieten  den  Caudidaten  verschiedene  Gruppen  von  Gegenständen  dar, 
in  denen  sie  sich  prüfen  lassen  kSnnen.  Ohne  Prüfung  kann  ein  Lehrer  nnr 
von  einem  niederen  am  einem  hBheren  Grade  derselben  daase  übergehen. 

Nach  ihrer  Eintheilnng  in  die  vei-schiedenen  Classen  und  Grade  werden 
nun  auch  die  Lehrer  den  verschiedenen  Schulen  zugewiesen  und  beziehen  auch 
verschiedene  Geholter;  denn  auch  die  Elementamhulen  haben  eine  verschiedene 
Ordnung.  Der  Rang  der  Schulen  wird  einmal  nach  der  Schülei-zahl  bestimmt, 
welche  dieaelbe  dnrchachnittlich  besacht,  dann  aber  auch  naeh  dem  Durah- 
sclmitte  der  Leutangen,  Aet  sich  bei  den  Inspectionen  ergibl.  Die  Sdiiden 
mit  der  größten  Scbülerzahl  —  nicht  unter  600  —  bilden  die  Schulen  „ersten 
Hanges",  solange  sie  den  vorgeschriebenen  Durchschnitt  der  Leistungen  er- 
reichen. Zu  den  Schulen  des  letzten,  des  zehnten,  Kanges  gehören  diejenigen, 
in  denen  die  tägliche  Schfilerzahl  zwanzig  nicht  Ubersteigt.  Erreicht  eine 
Sehlde  nieht  das  Ar  ihren  Banir  ▼orgesehriebeae  Ziel,  so  verfügt  d«r  Br- 
dehnngsminister  ihre  Oberfnhrung  in  den  nächsten  Rang. 

Kin  Lehrer  kann  nach  einei-  Schule  eines  niederen  Ranges  versetzt  werden, 
wenn  nachgewiesen  wird,  dass  durch  sein  Verschuhlen  der  durchschnittliche 
Besuch  der  Schule  unter  den  für  den  betr.  Rang  nöthigen  Stand  gesunken  ist, 
«der  dass  die  Schüler  nicht  die  verlangten  Leistungen  anfweism  können. 

Die  Geliülter  der  HanpÜehrer  schwanken  swisehen  400  Pfd.  SterL  an 
>)chnlen  des  ersten  Kanges  und  lOR  Pfd.  Sterl.  an  Schulen  des  jsehnten  Ranges. 
Hanptlehrerinnen  an  Mitdchen-  oder  Elementarschülerclassen  von  Schulen  des 
ersten  Ranges  beziehen  HOU  Pfd.  Sterl.,  dagegen  die  in  Schnleji  flinfien  Ranges 
180  Pfd.  Sterl.  Schulen  mit  gemischten  Geschlechtern  unter  dein  vierten  Range 
kOnneii  von  Lehrerinnen  geleitet  werden,  ond  ihre  Gehülter  betragen  mir 
12  Pfd.  SterL  weniger  als  die  der  Lehrer.  Verhefaratete  Lehrer  ethalten  Ämtswoh- 
nnngen  angewiesen,  während  Lehrerinnen  einzelner  Classen  nnd  unverheirateten 
Lehreni  Wohnnngsg-elder  gewährt  werden.  Die  Gehälter  der  Hilfslehrer  schwan- 
k«iawi8chen2ÖOundii(iPfd.Sterl., der  Lehrerinnen  zwischen  168  und  24  Pfd.  Sterl. 

Ist  in  New  Sonth  Wales  die  Möglichkeit,  an  die  Schule  eines  geringeren 
Banges  versetzt  zn  werden  nnd  so  sein  Gehalt  veiringert  an  sehen,  für  den 
Lehrer  die  treibende  Kraft,  sein  Bestes  zu  thun,  so  sucht  man  in  Südaostralien 
nnd  Viktoria  durch  Prämien,  die  jedes  Jahr  vertheilt  werden,  die  Kräfte  des 
Lehrers  anzuspannen. 

Gegen  dieses  System  der  Bestimmung  der  Gehältei  nach  dem  Erfolge  der 
Prüfungen  hat  dla  llehiiahl  der  Lehrer  AvaMiens,  an  ihrer  Spitaa  die 
ffthigsten  nnd  begabtesten,  einen  heftigen  Kampf  erhoben.  Das  Erstem  Hast 
«s  nicht  an  einem  gedeihliehen  ünterrichte  kommen,  sondern  führt  an  einem 


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allgemeinen  und  fortgesetzten  „Einpauken"  und  „Einbleuen"- :  »In  Insppctor, 
nicht  das  Kind  nimmt  den  ersten  Platz  in  den  Gedanken  des  Lelmrs  ein;  der 
besten  Unten'ichtsmethode  wird  die  beste  Art  und  Weise,  das  Kind  füi'  das 
Eismen  »bsiuiohteOf  Torgezogen;  das  LelMO  4m  Lehren  wird  onnSthigerwelie 
zo  einem  nosichereD  gemacht,  da  sein  Einkommen  fortwährend  wechseln  kann. 

Unser  Gewährsmann  gibt  zum  Schliisse  eine  Schilderung  des  Gesammt- 
eindruckes,  welchen  die  Schnlen,  die  er  gesehen,  auf  ihn  gemacht  haben.  Er 
schreibt:  „Was  einem  Engländer  beim  Besuche  einer  gewöhnlichen  Elementar- 
aehnle  an  meisten  anflUlt,  ist  das  mnntere  nnd  tdlifaende  Aussehen  der  Kinder. 
Alle  sind  wolgenlhrt  und  die  meisten  sind  gut  geUddet.  In  einigen  Scholen 
fand  ich  die  Eindw  wolhabender  Kaoflente  und  Handwerker  auf  einer  Bank 
mit  den  Kindern  gewöhnlicher  Arbeiter,  und  diese  Mischung  der  ver.schiedenen 
Bevölkenmgsclassen  eifert  den  T.ehrer  an  und  wirkt  im  ganzen  auch  wolthJltig 
auf  die  Kinder  ein.  Die  Schuldi&cipiiu  schien  mir  ausgezeichnet;  das  Betragen 
der  Kinder  war  welanstindig.  Die  Lehrer  in  Südaastralien  nnd  New  Sonth 
Wales  schienen  vollständig  soflrieden.  In  Viktoria  klagten  die  Lehrer,  mit 
denen  ich  zusammentraf,  in  sehr  starken  Ausdrücken  über  das  Unheil,  welches 
durch  da«  bestehende  Gehalt.ssysteni  über  das  UnteiTichtswork  gebracht  worden 
sei.  Ich  besuchte  Landschulen  so  gut  wie  Stadtschulen,  und  in  allen  wurde, 
soweit  ich  es  beurtheilen  kann,  mit  bestem  Erfolge  gearbeitet.^ 

Fügen  wir  noch  einige  Worte  fiher  die  eigenartigen  Schnleinriehtongen 
in  Neuseeland  hinzu,  so  haben  wir  den  Bericht  nnserea  Gewährsmannes,  soweit 
er  für  uns  in  Betracht  kommt,  erschöpft. 

Diese  Colonie  ist  in  zwölf  Erziehungsdistricte  (educatiunal  districts)  ein- 
getheilt,  jeder  unter  einem  Schulausschusse  (I3oard)  stehend.  Jeder  Erziehung»- 
diatriet  ist  wieder  in  Sehnlbeiirfce  (sehod  districts)  eingetheilt  Die  Stener- 
pAiditigen  eines  Jedm  Schnlbeairkes  wählen  jedesmal  im  Jannar  ein  Sdinl- 
comit^,  das  aus  sieben  in  dem  Bezirke  wohnenden  Hausvätern  besteht.  Die 
Schulcomit^s  eines  jeden  Erziehnngsdistricts  wählen  den  Schulausschuss ,  der 
aus  neun  Mitgliedern  beRtelit,  von  denen  jedes  Jalir  der  dritte  Theil  aussclu-idet. 

Die  Befugnisse  dieses  Schulausschusses  sind  im  Gegensatz  zu  denen  der 
Shnliehen  KSrpersdialten  in  den  tibtigen  Cdlonien  sehr  ansgedehnt  Es  liegt 
denselben  die  Pflicht  ob,  die  öffentlichen  Schalen  im  Districte  zu  erhalten  nnd 
nene  zu  gründen,  neue  Schnlbezirke  zu  bilden  oder  die  bestehenden  anders  ab* 
zugrenzen,  wie  es  die  Umstände  erfordern.  Der  Schnlansschuss  hat  die  An- 
stellung und  Entlassung  der  Lehrer  seines  Districtes  in  der  Hand.  Er  errichtet 
Freistellen,  Schulbibliotheken,  Normalschnlen  nnd  hOhere  Districtsschulen.  Ihm 
Hegt  endlidi  die  Verwaltung  der  für  dm  Dlstrict  bewilligten  Gelder  ob. 

Nach  dem  Gesetze  vom  Jahre  1877  werden  ans  Staatsmitteln  für  jedes 
Kind  8  .i'  15  s.  bewilligt.  Docli  ist  schon  seit  längerer  Zeit  eine  Erhöhung 
dieser  Summe  um  .ö  s.  bewilligt  worden,  so  dass  sie  also  auf  4  j6'  stiege.  Dazu 
kommt  zur  Grliudung  von  Freistellen  auf  jedes  Kind  1  s.  d  d.,  sodass  also  für 
den  Sditter  4  1  s.  6  d.  verwendel  werden  kQnneo.  Tier  toh  den  Sdml- 
aussebUssen  eihalten  auch  jihrlich  snr  Unterhaltung  von  Normaltehnlen  die 
Snmme  von  8000  Im  Jahre  1886  betrogen  die  Einnahmen  der  Sdinlans- 
sehtee44ü7ö8  j^. 


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Aii8  der  pftdagogischen  PreBse. 

241.  Johann  Jaci»b  Lauffers  Abhandlang  von  der  rechten  Er- 
ziehnnp  der  Kinder  i  Traxis  d.  Schweiz.  Volks-  u.  Mittelschule  IV). 
Ein  Beitrag  zar  Geschieht*'  der  Pädagogik  in  der  Schweiz.  Lauffei .  ^reb. 
1688,  gest.  1734,  von  1718—34  Professor  der  Geschichte  und  Elo(iuenz  an 
der  Bemer  Akademie.  Fttr  seine  1723  gehaltene  Verleming  Uber  die  rechte 
Brziehnnff  der  Kinder  (dissertatio  liteiaria  de  recta  liberomm  educatione)  hat 
er  folgende  „Thesen"  aufgeRtellt:  1.  Es  ist  Pflicht  aller  Eltern,  ihre  Söhne  und 
Töchter  niöglidist  glücklich  zu  machen.  2.  Die  Seele  des  Kindes  ist  eine  un- 
beschriebene Tafel,  sozusagen  eine  weiche  Wachsmasse,  die  allen  Eindrücken 
sieb  darbietet.  Das  Glüeic  aber  hingt  von  den  Eindrucken  ab,  die  in  zarter 
Jngend  gemacht  werden.  3.  Ee  kann  alles  und  jedes  durch  das  vorbUdliche 
Beispiel  eingeprägt  werden.  4.  Noch  reicher  sind  die  Spuren  des  Unterrichts, 
ö.  Der  Unterricht  begreift  a)  die  Religion,  b)  die  Sitten,  c)  einen  bestimm- 
ten Beruf. 

242.  Heinrich  Zschokke  als  Pädaü  Oi,--  i  F.  H.  Deutler,  Baier.  Lehrerz. 
1889.  37 — 39).  „Zschokkes  Wirken  ist  eine  i)iUia<^ogische  That,  seine  Selbst- 
schau eine  praktische  Psychologie.  Er  hat  sicli  —  als  äußerer  Organisator 
große  VenUenste  nm  das  Schweizer  VoUcsschnlwesen  erworben.  Durch  be- 
harrliches Streben  in  Sachen  der  Jagend-  und  Volksbildung  und  durch  die 
sittliche  Gestaltung  des  Lebens  ist  Zschokke  ein  Vorbild  der  Lehrer.**  Im 
ganzen  verfolgt  er  dieselben  Ziele  wie  Pestalozzi  (z.  B.  als  Schriftsteller);  in 
einzelnen  Zügen  ist  uns  sein  Bild  ein  willkommenes  ergänzendes  äeitenstück 
zu  demjenigen  Pestalozzis. 

243.  Unterricht  u.  Erziehung  (K.  Moissl,  Freie  Schulz.  1889/90,1). 
Zu  vermeinen,  der  erziehliche  Einflnss  bedarf  fSr  seine  Erfolge  einer  ge- 
steigerten AuÄildung  des  Verstandes  nicht,  ist  Thorheit  oder  —  pfiffige 

Klugheit.  Erziehung  ohne  tüclitige  Ausbildung  des  Erkenntnisvermögens  gibt 
es  nicht.  —  Die  formale  Eiiiwirkunf):  des  ruteirichts  beabsichtigt,  frewisse 
Seelenkrilfte  an  und  mit  dem  Lehi^toffe  /um  Erstarken  und  endlich  zur  sellist- 
sländigen  gesetzmäijigeu  Äußerung  zu  bringen,  -  die  materielle  Einwirkung 
beabsichtigt,  scharf  abgegrenzte  Vorstellungskreise  im  kindlichen  Geiste  zu 
bilden. 

244.  Anschauung  und  Anschaulichkeit  (Grundier,  Päd.  Blfttter 

1889,  V).  Verf.  betont  besonders  die  Bedeutung  der  Wandtafel.  Das  An- 
schreiben sdll  nidit  liloß  und  nicht  immer  den  Zweck  des  Abschreibens  haben. 
Es  geniige  vielfach  schon,  dass  die  Schüler  das  aus  der  Besprechung  gefundene 
Ergebnis  an  der  Wandtafel  entstehen  sehen,  dass  sie  die  Worte  vor  Augen 
haben  und  sie  einigemal  einzeln  nnd  im  Chore  lesen.  „Das  Anschreiben  an 
die  Tafel  erhöht  die  innere  Anschauung  und  prägt  die  gewonnene  Wahrheit 
dem  Gedttchtnis  schitifer  ein.  Der  angescliriebene  Gedanke  steht  uns  ge- 
wissermaBen  verkörpert  gegenüber.'* 

245.  r)a8  sociale  Problem  der  Gegenwart  uml  di»-  Krziehnng: 
'H.Martini,  Khein.  BUltter  1889.  IV,  VD.  ..Die  gegenwUrtigc  Eizi.liung 
kann  man  als  eine  solche  bezeichnen,  welche  das  PriucipErübel8(^de8  „Deutsche- 
sten der  Deutschen",  dessen  System  in  Wirldicbkeit  nit  den  Ergebdssm  einer 


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voniitheilelosen  niid  strengen  rsycl.ologie  in  Eiiiklang:  «■telit.  der  die  Pesta- 
lozzisclie  Idee  nach  unten  anFgelant,  ilir  das  f  if.'»  ntliclic  p'nndr.nu  nt  ffe^eben), 
wenn  es  auch  hin  und  wieder  andeib  foimuliit  >vird,  zu  verwirklicbeu  8UcLt. 
I«tete  ato  in  ToUttandiger  Weite  ilire  Aufgabe,  fUirte  de  die  Ifeotebeii  wut 
ÜbereuMtimmang  mit  lieb,  mit  der  menschlicheii  Geaellachaft  und  mit  Gott»  lo 
wftre  das  sociale  Problem  ftberbonpt  geltet. " 

246.  Die  Pflege  der  Reinlichkeit  (Haior,  Freie  päd.  Blätter  1889, 
H8).  Ein  ßchmutziges  ScliDlzimmer  ist  eine  Anklage  wider  den  Lehrer  er 
ider  Lehrer  auf  dem  Lande,  wo  eine  fcceignete  Hilfsperson  nicht  anj?< stellt 
wird)  verschmäht  das  erlaubte  and  empfehlenswerte  Mittel  znni  Zwecke:  Die 
DicastleiBtimg  der  Kinder  (die  doeb  den  Scfamiti  selbst  bereinbriDgen!)  „Der 
Lebrvr  laese  jeden  Tag  ein  paar  der  größeren  Schfilerinnen  nacb  dem  Unter» 
richte  das  Lehrzimmer  reinigen.  Die  Pflicht  wecIiBle;  täglich  müssen  andere 
an  dip  Reihe  kommen.  So  wird  der  Schule  geholfen,  und  wo  ist  der  Mann, 
der  in  sich  das  Zt-ng  hat,  zn  beweisen,  dass  dieser  Vorßchlag  nicht  der  einzig 
durchlührlare  and  nicht  ganz  unanfechtbare  sei?  Der  Lehrer,  welcher  seine 
Fran  jene  Dienste  Tenlebten  ISsst,  der  bat  bei  der  Brantwabl  einen  groben 
Miasgriff  getban;  der  bitte  statt  eines  HMcbens  eine  Eselin  beimfQbren  sollen, 
weil  —  er  selbst  ein  Esel  Ist." 

247.  Über  den  Unwert  moralischer  Erzählungen  (C.  G.  H.,  Päd. 
Reform  18H9,  43).  „Jeder  Lehrer  wird  mir  beipflichten,  wenn  ich  behaupte, 
dats  von  einem  ernsten  Wort  zu  rechter  Stunde  segensreichere  Wirkungen 
erwartet  werden  kOnnen,  als  von  einem  Dutzend  moralischer  Erzählungen,  and 
er  wird  mir  weiter  in  dem  Oedanken  folgen,  dass  die  moraliscben  Oescbiehten 
ja  auch  nicht  den  geringsten  Tbeil  von  der  Verantwortlichkeit  der  berufenen 
Seelenwöchter  hinwegnehmen.  Die  Grüße  dieser  Verantwortlichkeit  tritt 
recht  vor  die  Augen,  wenn  man  bedenkt,  dass  von  jedem  Lehrer  verlangt 
werden  muss,  die  Grundgesetze  der  Pädagogik  bis  ins  kleiubte  hinein  zu  be- 
folgen, und  derselbe  Lebrer  seinem  Scbttler  Bttcber  in  die  Hand  gibt,  welche 
ibn  büflos  einer  Fülle  nnverstindlicber  Lebren,  nnm9glicber  Personen,  Hand- 
lungen und  Zustände  fiberlassen  und  einen  Anscbannngskreis  bilden  belllen, 
welcher  nur  zum  Hindernis  verständiger  Erziehung  werden  kann." 

248.  Der  deutschsprachliche  Unterricht  mnss  umkehren  (K. 
Strobel,  Deutsche  Schulz.  1889,  32,  33),  zuiiickkehren  zu  Diesterweg,  dessen 
Verdienste  Verf.  geschickt  hervorhebt  und  folgende!  mailen  kurz  zusammenfasst: 
Anknffpfoi  an  die  gesprocbene  Spraebe  (Unndart),  Vermehren  des  Wort-  nnd 
Gedankenschatzes,  Vergrößern  des  Formenreichthums  (man  vgl.  bei  Diesterweg 
die  Übung  mit  dem  Worte  Hals)  —  viel  l'bung  —  feines  methodisches  Ge- 
schick im  Anordnen  der  Aufgaben.  Diesteiweg  und  Uildcbrand  ndlen  die 
Gesetzgeber  für  den  deutschen  Unterricht  sein.  Gegenwärtig  herrschen  der 
Ueefaanismus,  das  grammatische  System,  die  Zergliedemngssncht. 

249.  Der  deutsehe  Unterriebt  an  der  Realschule*)  (E.  GStainger, 
Schweis.  Lehrers.  1889,  88—40).  Zweck  ein  doppelter:  Ersielung  von  Fer- 


♦)  Im  Ct.  St.  Gallen;  hier  bedeutet  Realschule  soviel  wie  anderwärts  in  der 
J^cbweiz  »rundar-"  oder  „BcJ^irkiSM  liulc",  nämlich  eine  höhere  Volknebule,  deren 
Haupt kcnnzeicben  da.s  Obligatorium  des  Franzö^iechen  iM. 


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tigkeit  in  der  Handhabung:  il«  r  Muttersprache  —  lül  lung  des  Geistes  und 
Gemütlies.  Bcdiii^rungen  auf  Seiten  dt  s  Ldirers:  solides  sprachliches  Wissen 
—  reines  und  wai  mes  Gemütb.  —  Vom  Lesen.  Eine  Hauptaufgabe  des  deut- 
sdien  Unterridit«,  bis  an  die  Schwelle  derHodkMbnle,  ein  Postulat  jeder  edlen 
(ftethetischen  und  moralischen)  Bildnngr:  die  Jugend  zum  scliönen  Lesen  anzu- 
leiten. (Einzelnes:  Im  Interesse  der  Wirkung  häufig,  namentlieli  bei  lyrischen 
tiedichten,  den  Titel  nicht  lesen  —  Bewiiltif^ung  längerer  Abschnitte,  nicht 
blos  „bis  zum  Punkt"  —  das  Gelesene  als  urg^nisches  Ganze  erkennen  — 
überall  den  Plan  auffinden  lassen  und  immer  eine  anschließende  scliriftUche 
Ansarbeiinng  aufgeben,  dafür  ein  beeonderee  Hefl).  —  b)  Von  Änftais.  Stoff- 
qnelle  Nebensache  —  Hanptaache,  dass  der  Aufsatz  als  geschlossenes  organi- 
sches Ganze  sich  erweise.  —  c)  Im  Gebiet  der  Dichtung-.  Vor  iusscty^ung:  ein 
wahrhaft  sclifines  Lesen.  „Ein  Gedicht  soll  blns  so  huv^c  durchgciiomtiifn  wer- 
den, bis  sein  Bild,  d.  i.  sein  Inhalt  im  Gemuth  der  Schüler  deutlich  uud  fest 
gewordoi  Iit  Ich  strene  den  Samen  ans  im  Oemttthe  der  Knaben  und  Jllnfp- 
linge;  ob  er  anfgeht  nnd  wie  er  aulSpeht,  das  ttberlasss  ieh  vertranensroU  dÄr 
Zukunft;  sie  hat  mich  noch  selten  getauscht.  Worte  büden,  wenn  sie  der 
Erzieher  fein,  still  und  bescheiden  anwendet."  (Im  ganzen  ein  Erzeugnis  von 
seltener  Reife,  l'ber  das  Lesen  ist  in  der  deutschen,  österreichischen  und 
Schweizer  Fachpresse  so  Treflfliches  seit  Jahren  nicht  gesagt  worden.)*) 

250.  Bemerkungen  snr  deutsehen  Satzlehre  (G.  MftUer,  Zeitsehr. 
f.  d.  deutschen  Unterr.  1889,  V).  Über  das  Wesen  der  Grammatik:  „Alles 
in  allem  ist  die  Grammatik  eine  in  ihrem  Verfahren  durchaus  derL^i^nk  gleich- 
artige Disciplin.  Wie  diese  nie  Gedanken  als  fertige  Erzeugnisse  iu  ihre  Be- 
standtheile  zerlegt,  ohne  nach  ihrer  Entstehung  zu  fragen,  so  betrachtet  und 
zergliedert  jene  die  Erscheinungen  der  Sprache,  wie  sie  sind,  nicht  wie  sie 
entstehen;  wie  es  dieser  nm  ein  riehtiges,  zum  Erkennen  fahrendes  Denken 
zu  thun  isti  SO  jener  um  ein  richtiges  Spreclien;  wie  diese  eine  Kunstlehre 
des  Denkens,  so  ist  jene  eine  Kunstlehre  des  .Sprechens:  wie  diese  ii:iher  tür 
die  g^anze  .Menschheit  eine  uud  dieselbe,  so  ist  jene  für  die  einzelnen  Sprachen 
verschieden." 

Schweizerisches  Schularrhi  v  **).  Das  Schweizerische  Schularchiv  ist 
ein  illnstrirtes  Fachblatt  eisten  Kanges.  Es  erscheint  monatlich  einmal,  mit 
der  ständigen  Beilage  „Die  gewerbliche  Fortbildungsschule" ;  außerdem  werden 
jährlich  sechsmal  die  „Pestalozzi-Blätter**  beigegeben.  So  umfasst  der  vollständige 
Jahrgang  360  nnd  mehr  Seiten,  nnd  zwar  in  handlichem  Octavfbrmat.  Papier 
und  Druck  sind  vorzüglich,  die  Illttstrationen  (Portr&ts  nnd  Abbildungen  von 
Lehrmitteln  )  kiinstleri.sch  sanlit  r:  mnii  darf  die  .Ausstattung  unbedenklich  eine 
musterhafte  nennen.  Und  dieser  ganz«'  .statt liehe,  mit  Bildern  wolgezlerte  Band 
kostet  nicht  mehr  als  2  Franken  (^Jahresabonnement;! 

Sehen  wir  uns  den  Lihalt  etwas  nBber  an.  —  Das  Sehularcbiv  nennt 
sich  Organ  der  schweizerischen  permanenten  Sehnlausstelinng  in  Zfirich.  Als 
solches  win  es  ein  getreues  Spiegelbild  dieser  ▼erdienstvollen  Anstalt  sein,  die 

*)  Man  muss  den  ganzen  Aufsatz  leRcn,  besonders  den  liuit^n  ren  Aufsats  Über 
das  Lc.ocn. 

**)  Erster  Bedacteur:  Prof.  Dr.  Uunziker,  Kils.snach-Zttrich.  —  Verlesrer 
OreU  Fttidi  &  Cie.«  Zttridi. 


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—    201  - 


Leiatongen  d«r  pennuieiitai  SdnilAaiatelliuig  und  des  mit  fbr  TerbnBde&aa 
Ardiivbiireaiis  xor  aUgeBeineii  Eeimtiiii  Mögen,  dafür  sorgen,  dsss  diesen 
Arbeiten  die  gebärende  Würdigung  widerfahre,  dass  sie  allseitig  ausgenutzt, 
aber  anrh  nach  Möglichkeit  unterstützt  und  gefördert  werden.  Ira  Bewusst- 
sein  dieser  Autgabe  bringt  das  Hauptblatt  Abhandlungen  allgemeiner  Art, 
sowie  im  besonderen  solche  über  Schweizer  Schulen  jeder  Gattung  (mit  den 
Ausnahmen,  yon  welchen  später^  die  Bede  ist),  anverllssige  Beitrtge  zor 
sehweizerischen  Schnlstatistik,  ausführliche  und  anschauliche  Beschreibungen 
neuer  Lehrmittel,  interessante  Mittheilungen  ans  der  Schalausstellnng,  welche 
deren  innere  Verhältnisse  betreffen.  Eine  reichhaltige  und  musterhaft  geführte 
pädagogische  Chronik  beschäftigt  sich  mit  dem  AuBlande.  Überdies  werden 
die  wissenschaftlichen  (unentgeltlichen)  Tortr&ge,  >\  eiche  anerkannte  Fneh- 
ndbmer  im  SehulansstellongSTorein  halten  nnd  jedermann  ngftngUeh  sind,  im 
Sehnlaidiiv  von  geschickter  Hand  skizzirt.  —  Die  gewerbliche  Fort- 
bildungsschule vertritt  die  Gesamratinteressen  der  Anstalten,  von  welchen 
dieses  Beiblatt  den  Namen  entlehnt,  stellt  sich  aber  außerdem  in  den  Dienst 
der  Gewei*be-,  Handwerker-  und  Zeicheuschuieui  sie  berücksichtigt  dabei  nicht 
blefi  die  Sehweinr  YeriiUtnisse,  sondern  sie  hat  «nch  ein  wachsames  Auge  für 
das  Ausland  und  zieht  dieses  entweder  bei  gltaist^r<B  Gelegenheiten  Vergleichs- 
weise  heran,  oder  behandelt  es  in  solbststiltKligen  Artikeln.  Wiederum  finden 
wir  hier  eingehende  Berichte  über  Lehrmittel  und  statistische  Zusammen- 
stellungen verschiedener  Art.  Dass  literarische  Besprechungen  (in  dieser  Bei- 
lage wie  im  Hauptblatte)  nicht  fehlen ,  bedarf  keiner  weitereu  Bemerkung.  — 
Endlich  die  Pestalozzi-Blfttter!  Sie  sind  eine  ganz  eigenartige  Erscheinung 
in  unserer  vielgestaltigen  Fachpresse.  Keine  andere  pftdagogische  Zeitschrift 
darf  sich  iihnlicher  Beiträge  zur  Pestalozzi-Kunde  rtthmen.  Freilich  können  die 
hier  in  Rede  stehenden  Actenstneke  eben  nur  von  der  Züricher  Selnilansstpllung 
veröffentlicht  werden,  weil  sie  allein  die  Manuscripte  besitzt.    Wir  geben  hier 

—  Statt  weiterer  Anpreisung,  deren  das  Unternehmen  nicht  bedarf  —  dn  ün- 
haltsveneichnis  der  letzten  diei  Jahrg&nge  (1886—88):  Philipp  Albr.  Stapfer. 

—  Ans  Briefen  von  Zeitgenossen  über  P.  —  Zwei  politische  Broschüren  P.s 
aus  der  Revolutionszeit.  —  Drei  moderne  Schulfragen  bei  P.  —  Ein  politisches 
Memorial  P.s  ans  der  vorrevolntionären  Zeit.  —  Stapfer  nnd  Zschokke.  — 
P.  uud  Dr.  Bell.  —  Briefe  i',8  an  Stapfer.  —  Das  älteste  Pestalozzi-Bild.  — 
Ein  jugendlicher  Sittenbrief  an  P.  —  Pestaloni-Literatur  des  Jahres  1885.  — 
PttbKcationen  des  Pestalozzi-Stllbchens  in  Zfirich.  —  Kenument  Pestalozzi 
ä  Yverdon.  —  Der  Banemschtthmacher,  von  P,  —  P.s  „Figuren  zu  meinem 
ABC-Buch".  —  P.s  Brief  an  Frau  v.  W,  ♦)  in  F.  —  Aus  P.s  Tagebuch  über 
die  Erziehung  seines  Söhnchens.  —  Uhland  und  P.  —  Pestalozzi-Literatur 
des  Jahres  1886.  —  P.s  „Ja  oder  Nein"  1793.  —  P.  „über  ünterwaldens 
SsUofcsal"  1798.  —  Pj  „Bitte  an  Menschenft^unde"  1775.  —  Efaie  oflIcieUe 
Predamalim  ans  P.s  Feder  1798.  —  Burgdorflana.  —  Pestalozzi-Literatur. 

Aus  unserer  kleinen  Skizze  geht  hervor,  dass  wenigstens  hiiisiclitlich  der 
Mannigfaltigkeit  das  Schularchiv  in  ei-ster  Linie  steht.  Dabei  vergesse  man 
niciit,  welch  reiche  Fundgrube  das  Schweizerische  Schalarchiv  ist,  eben  als 
Organ  der  perminsBtsn  SdinlaissteQugr.  Was  es  bis  jetzt  nr  Anfklimng 


*)  Der  Name  ist  noch  nicht  entdeckt  worden* 


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—   202  — 


über  (lio  iniUT.Mi  Schiihvrhältnisso  der  Schweiz  and  im  Dienste  der  vergleichen- 
den Scliulkutide  geleistet,  ist  hochbedeatsam.  Sein  ganzes  Können  liat  es  frei- 
lieh  noch  nicht  eotfoltet,  sein  klar  vorgeseichneteB  Ideal  noch  nicht  erreicht. 
Aber  es  ist  auf  dem  besten  Wege  dasn.  Die  Arbeiten,  welche  das  Arehi7- 
bnrean  geplant  und  theils  schon  ansmfUiren  begonnen,  werden  in  Bälde 
davon  isengen.  H.  D. 


Literatur. 

Sprockhof,  Vorbereitungen  und  Bntwiirt'u:    Das  Rechnen,  bearbeitet 

von  A;  Költzsch,  Seminarlehrer  zu  WeiSenfels.  92  S.  0,50  lUEk. 
—  Die  Banmlehre,  bearbeitet  ron  B.  Wiese,  Seminarlehrer  zn  Verden. 

80  S.  Breslau  18S8,  Hirt.  0,50  ICt 

Da  der  Lehrer  ini  Unterrichte  imm^r  nur  sich  selbst  hört  uai  dadurch 
leicht  in  Einseitigkeit  verfällt,  so  beabsii^htigt  Hprockhoff,  durch  eine  Samm- 
lung von  Unterrichtsentwrärfen  aus  dem  (Jcbictc  aller  Gegoastände  der  Volks- 
schule diesem  Obelstande  entgegenzuwirken  und  dem  Lehrer  Anregungen 
über  das  Lehrverfahren  su  bieten,  welche  er  sich  anders  nicht  leicht  ver- 
schuflFen  kann.  Das  vorliegende,  für  das  Rechnen  von  Költzsch  bcirboitcte 
Heft  muss  in  der  That  aU  ein  recht  brauchbares  UilCsmittel  fUr  den  Lehrer 
■  empfohlen  werden.  Sein  bhalt  ist  gethoilt  in  Loctionen  fttr  die  Unter-, 
Mitt<l-  und  Oborstufe.  Krstere  urafa'^st  den  l'aterricht  itn  Zxhlcnkreise  bis 
lOU  mit  gehöriger  Abstufung  der  Zahleukreise  von  10  und  20;  die  zweite 
behandelt  den  unbegrenzten  Zahlenranm  nod  das  Rechnen  mit  mehraamigen 
Zilili  n;  ilif  ilrift"  i^üinoine  und  nci  iin  ilbdlehc  und  die  bUrnrerlicbiia  Ri -hnn^s- 
arten.  Die  Einzelheiten  der  Ausführung  schliefen  sich  an  die  dreistudgcn 
Reelienhefte  Ton  KOltsseh  an.  Recht  gelungen  sind  im  Vorliegenden  die  Bin- 
fiihniniTon  in  neue  rntcrrichfsT;i'bi"tc  'inl  von  diesen  wielor  £j;inz  li'-inl  "--< 
die  Einführung  iu  die  GesclUcbatu>rechnung.  Dagegen  ist  uns  die  Empfehlung 
des  Recheslnstens  ron  Tillich  bedenklieh,  weil  wir  der  Meinung  sind,  dass 
dersdhe  den  ZahlhoorrifF  der  Kinler  nidif.  kl.irt.  sondern  verwirrt:  denn  es  ist 
in  demsellMn  Gleichwertiges  durch  verschiedeu  Großes  dargestellt,  wogegen 
die  nii»iiehe  Bechenmasehine  an  Branehbirkeit  niohts  in  wansehen  flbrig  IKast. 
ünzuliissii?  ist  auch  die  Darsti'llim^  tMnr^r  Division,  wie  si»^  Snito  50  c:i>?.!b^o 
wird;  auü^rualb  der  Vulkas^hule  wird  durchwog  dor  Di>i)pjlpjakt  mit  nach- 
folgendem Divisor  als  Divisionszeichen  gebraacht.  Immerhin  wiegen  die  guten 
Ei2:cnscbiiften  des  Buch'^s  h^  l-ntciid  vor.  und  e-  i-^t  do^^Mi  Rinutzunnr  bs^oa- 
ders  junci»  h ihrem  zu  empfehlcu,  wel  -iii',  auüjrhilb  do<  Vorkchros  mit  Bjrafs- 
genossea  sttliond,  sich  nur  wenig  fachlicher  Anrejfuna:  erfreaen. 

Der  Vcrfii-i-ier  der  Raunilchrt'.  B.  Wiese,  h  it  s  'hDU  zwei  selir  brauch- 
bare Lchrbehelte  geschaffen,  und  zwar  ein  Lehrbuch  und  eine  Aufir  ibiinaram- 
Inng  fQr  Geometrie;  auch  das  Vorliegende  entspricht  vollkommen  den  Erwar- 
tunsjen ,  welche  man  von  einer  Arbeit  des  Verfassers  hegen  darf.  Der  Stoff 
umfa^i.st  in  RuzuLT  auf  geometrisichc  («rundbegriffc,  Flächen-  und  Riumberech- 
nuiii;  alli  s.  UMS  man  von  der  Volksschule  erwarten  kann. 

Der  !;i  hr>ti)ff  iM  in  42  L'-ctiunfii  uretheilt,  welche  mit  den  propädeutischen 
Erörteruuijon  au  Würfel  und  Prismi  beginnen.  Unzweckmäßig  erscheint  uns 
die  erste  Figur.  8ie  stellt  einen  rechten  Winkel  vor,  welcher  von  zwei  Linealen 
gebildet  wird.  Wir  miichton  den  ri  i'hten  Winkel  nicht  so  darstellen,  weil  der 
Schüler  dabei  verleitet  werden  k  iuiit  •.  dir  Vorstellnnijf  des  Winkels  mit  der 
Materie  des  LiiuMls  untrennbar  zu  verkn  ipfcn,  wihn-nd  er  doeh  veraalust 
werlen  sollte,  «lie  Vorstellung  des  Riumgebildos  von  der  Mitcrie  zn  trennen. 
Dagegen  sind  14  und  16  zwei  didiktiseU  sehr  nut/.bria:^ea  1)  Figuren,  Uber 
die  Mittellinie  dc^  Trapezes  und  Uber  den  Pytha^oräischea  Lehrsatz;  auch 
muas  das  ganze  Ueft,  als  ein  sehr  brauchbarer  Lehrbohelf  der  Qoometrie  in 
der  Volksschule,  bestens  empfohlen  werden.  Ü.  E. 


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—   208  — 


Ferdinand  Hener.  Rechenbach  ffir  Stadt-  un<l  Landschulen.  III.  Theil; 

bearbeitet  von  K.  H.  L.  Mai»nus,  Seminarlehrer  zu  Wunatorf.  200  S. 

Hannover  1888,  Helwing.   1,60  Mk. 

Dicäe«  Letaatcaiieft  beginnt  mit  dem  Rechnen  in  gemeinen  Brüchen.  Bs  firigea 
die  Recbnuug;en  mit  Dccimalbriichcn,  sodiinn  Zeitrechnung,  di«'  U'-chmingsarten 
des  bürgerlichcu  Lebcua  und  Auts^iibca  :uis  den  ül)ri'j;en  l  nt'  rrichts<regcn- 
Btänden.  Die  in  außerordentlich  großer  Menge  vori^ifulirten  Keiapiele  sind 
äußerst  zweckmiißic:  cingetbeilt  in  solche  für  diks  miiadlicho  und  für  das 
schriftlii'be  Veriubnin.  Femer  finden  sich  noch  die  Überschriften ;  „Dictir- 
aaligraben''  und  „Kopfirechnen".  Letztere  dürften  im  Scbülerhtftc  fehlen. 
Heners  Lehrbücher  eifrenen  sich  schon  lange  cinei;  guten  Rufes  und  zahl- 
reicher Auflagen.  Durch  ihre  Bearbeitung  von  Magnus  haben  dieselben  nur 
gewonnen.  An  Vielseitigkeit  der  eingekleideten  Aufgaben  und  an  Menge 
denteibon  bleibt  nichts  zu  irttnsehen  ttbiig,  and  ersdieint  das  Vorliegende 
höchst  empfehlenswert.  H.  E. 

A«  Genau  und  P.  A.  TQffers,  Seuüuarlehrer:  Rechenbuch  für  LeUrer- 
leminare.  IL  AnHage.  I  Band.  211  S.  II.  Band,  184  S.  Gotha  1888, 

Thienemann.  Jeder  Band  1,80  Mk. 

Jeder  der  zwei  Bände  ist  in  zwei  Theile  gesondert,  wovon  der  erste  Theil 
Lehrbuch,  der  zweite  Theil  Aufgabeu^amuilung  iät.  Der  erste  Hand  enthält 
die  vier  Orundrechnungsarten  mit  ganien  Z-ihlen,  gemeinen  und  Hecimal- 
brüohen,  die  bürgerlichen  Kcchuung.sarten  und  das  Ausziehen  der  (Quadrat-  und 
Cubikwurzel.  Es  sind  besonders  die  ersten  Blätter,  in  Bezug  auf  welche  wir 
uns  mit  dem  Verfasser  wenig  in  Kinklang  beflnden.  Zunächst  ist  das  latei- 
nische „plus"  mit  „mehr"  und  nieht  mit  ..und"  zu  verdeutnchen. 

Alsbald  folgt  die  ganz  richtii^e  Bemrrkun'T :  „Für  das  Resultat  i.st  es  zwar 
glfliehgiltig,  ob  man  eine  Auf<):abe  in  <1>  r  l-orm  des  Theilinv  o  ler  des  Ent» 
naltenseins  lösf;  die  Riclif iirkeit  dei  Ergebnusses  genügt  al>er  dorn  Verfasser 
nicht,  sondern  „in  angcwaiulteu  Angaben  raus.s  die  Spreclnveise  sir-h  .streng 
nach  der  Aufgabe  richten."  —  Dunkd  ist  der  Rede  Sinn:  denn  in  der  That 
ist  das  reclinungsmäßige  Resultat  ganz  unabhän<j:ig  von  dem  Kleide  der  text- 
lichen Umhüllung.  Dies  mag  an  einem  ointaeheu  Beispiele  klargelegt  werden. 
Wenn  man  den  Preis  ron  sieben  Kilogrammen,  deren  jedes  neun  Mark  kostet, 
sucht,  oder  die  Fläche  eines  neun  Mt^ter  langen  und  sieben  Meter  breiten 
Rechteckes,  oder  die  Bewegungsgröße  einer  si('ben  Kilogramm  schworen  Kugel, 
welche  sich  mit  neun  Meter  (teseh windigkeit  bewegt,  erfahren  will,  so  ist  das 
numerische  Resultat  immer  dasselbe;  seine  Benennung  jedoch  stimmt  im  ersten 
Falle  mit  einem  Factor  Überoin,  im  zweiten  Falle  ist  die  Benennung  ver- 
schieden von  beiden  Factoren,  und  im  dritten  Falle  vereinigt  zwar  der  Xame 
des  Productes  die  beiden  Namen  der  Factoren,  bedeutet  aber,  gleichwie  im 
zweiten  Falle,  etwas  ganz  anderes  als  jeder  der  Factoren.  Es  ist  also  das 
Urtheil,  welches  dem  Ergebnisse  den  Namen  gibt,  ein  (lualitatives,  von  dem 
quantitativen  Vorgange  gauz  unabhängiges  und  Terschiedeues.  Der  Verfasser 
aber  hftlt  am  „Theilen"  und  „Bntbaltensdn"  fest  und  begründet  dasselbe  mit 
der  Aufstellung:  Die  ünikehrun<;<'u  des  Addirens  seien  „R'-stbildiing  und 
Differenzhildung",  ebenso  jene  des  Muitiplicirens  n'fheilen  und  Enthaitensein", 
gleidiwie  jene  des  Potenarens  ,,Radiciren  und  Logarithmiren".  In  der  That 
aber  besitzt  die  Addition  un<l  Multipli  ation  nur  eine  Umkchrnng,  weil  sow<d 
Addenden,  als  auch  Factoren  vertauschbar  sind;  dagegen  das  Potenziren  zwei 
Umkehrungen  hat,  weil  Potenziand  und  Exponent  nicht  yertauschbar  sind.  In 
consi'ijueiifer  Durchführung  dieser  irrrhiimlicl)"!!  TM  lnuiittiimr  folLrt  vln-'  R''ihe 
Ten  überflüssigen  Lehrsätzen,  nur  geeignet,  das  Gedächtnis  des  Schülers  zu 
flberblirden  und  denselben  sn  verwirren.  Dies  setzt  sich  fort  bis  auf  Seite  88, 


verkehrt.  Es  briugt  dies  minder  Begabte  nur  in  grofie  Verlegenheit,  was  zu 

l)'G:iiinen.  Ist  doch  das  .Sohlagw^rt:  „Xorraalvcrfahren"  fast  ia  allen  Lehi^ 
bücheru  dieses  Jahres  zu  finden.   Man  gebe  eine  tür  alle  Fälle  brauchbare 


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—   204  — 


Kegel,  und  ilberlasdc  es  der  Findigkeit  de«  SchiUen,  mögliche  Vereinfachimgen 
sn  Bochen. 

Im  iibricfon  verbreitot  sich  der  erste  Band  ülier  das  Rechueü  mit  ganzen 
Zaliiun,  gcmciuen  und  Dccimaibriicben ,  die  bürgerlichen  Kccbnuugsarten  und 
das  AiMBWhen  der  Quadrat-  und  Cubikwurzel.  Es  ist  weiter  daran  aodi  nicht! 
auszusetzen  als  die  Ziffemvprschwondung,  wt  il  dio  Subtraction  nicht  mittelst 
£rg&nzung  gelehrt  wurde,  weshalb  die  Theilproducte  bei  der  Divisi(»u  ange- 
sdoidieii  werden  mtlssen,  und  man  nicht  einmal  imstande  ist,  jene  drei  Theil- 
pioducte,  welche  l)eim  Ausziehen  der  Cubikwurzel  vorkomHMn  und  ohaeliin 
anf^eschriebcn  werden  müssen,  auf  einmal  abzuziehen. 

Der  zweite  Band  enthllt  die  sieben  Grundrechnungsarten  in  !ills:emcinen 
Zahlen:  zwischen  den  Operationen  zweiten  und  dritten  Ranrres  ist  ein  Abschnitt 
über  (il»  icbungen  ersten  Grades,  Proportioneu  und  Kettenbriiclie  eingeschaltet; 
ebenso  zwischen  der  eisten  nnd  zweiten  Unikehrung  des  Fotenzirens  die  Lehre 
von  den  (tlcicbungen  des  zweiten  Grades.  I  tcn  Srbluss  machen  ProcT' ssionen 
und  Ziuäcszioiirechuuug.  Aut  den  i>eiten  4  bi.s  7  tinden  sich  vierzehn  Lehr- 
sätze Aber  Rechnungsverbindangen  von  Summen  und  Dißerouzen.  an  deren 
Stelle  vier  ebenfalls  genügt  hätten.  Die  B<'grüuduug  der  Zeicheuregel  für 
die  Multiplication  ist  ganz  nmngelhalt.  Mau  begründet  die  Zeicheuregel  aus 
dem  Begriflfe  der  .Multiplication  und  nicht  durch  Einttthrang  der  Null.  v.  II 
man  sich  bei  letzterem  Verfahren  in  einem  Zirkelschlüsse  bewegt,  und  weil 
die  Null  die  Verneinung  der  Zahl  ist,  welche,  fälschlich  als  Zi\hl  gebraucht, 
leicht  SU  IrrthUmeni  führt.  Die  ZifTemverschwendung  kehrt  auch  in  diesem 
BMde  wieder;  so  findet  sich  aut  Seite  34  ein  Beispiel,  in  welchem  die  Zahlen 
797,  101,  11,  3  je  dreimal  vorkommen,  während  es  genützt  hatte,  iieselben 
einmal  zu  setzen.  Die  zweite  Hiilt'te  des  Banden  enthält  ein  tiir  di<H;  Stute 
vollkommen  hinreichendes  Übungsmatcrial  nebst  einer  fOnietelligen  Tal'el  der 
gemeinen  Loguitlimen.  H.  E. 

A.  Pickel,  Seminariehrer  in  Eisenach:  Die  Geometrie  der  Volksschule. 
6.  Auflage.  115  S.  Dresden  1888.  Kleyl  &  Kaemmerer.  1.35  Mk. 

Die  sechste  Auflage  beweist  schon,  doss  dem  Verfasser  ein  glücklicher  Wurl' 
gelang;  wenn  er  &  Vorworte  wesentlich  den  ansehanliehfln  Vorgang  seines 
1j  hrvcrfalirens  betont,  so  müssen  wir  .sac:on,  das.s  wir  diesen  Ghnindsatz  sclion 
wiederholt  aatgestellt,  aber  noch  nirgends  gleich  gut  duidlgeHUirt  gefunden 
haben.  Das  Buch,  fftr  die  Hand  des  Lehrers  bestunmt,  ennriekelt  sunlehst 
am  Würfel  die  £reomctris(  hen  Gnindbc  a;rifl"e  und  handelt  weiter  in  zwei 
Theilen  die  Lehren  der  Planimetrie  und  Stereometrie  in  einem  Cmtange  und 
mit  einer  Stoffrertieftnig  ab,  wie  sie  uns  fKr  die  VoOnscbnle  ab  hinräehend 
weitgehend  erscheint.  Si>  findet  man  auch  noch  die  .\hnlichkeit5lehre  auf 
einen  veijün^tcu  Mafistab  und  auf  Streckenmessung  im  Felde  angewendet. 
Nur  an  wemgen  Stellen  Anden  wir  eine  geringe  Verbessening  für  nOthig. 
Zunächst  gibt  es  iWr  die  .\uffa.s.siui{j  eine.-  Winkels  kein  vorzüglicheres 
Anschauuugsujittel,  ah»  Ziifcrblatt  und  Uhrzeiger;  temer  ist  es  am  einfachsten^ 
bei  der  Benennung  der  verschiedenen  Winkel  vom  vollen  Winkel  auszugehen. 

Auf  Seite  48  ist  vnn  den  Diagonalen  der  Parallelogramme  die  Kcde:  dabei 
wird  sich  zum  Nachweibe  der  Itezüglichen  Lehrsätze  auf  das  ..Augenmaß  und 
angcHtellte  Deokungs versuche'"  berufen.  Wir  glauben,  duss  die  Berufung  auf 
die  Deckungsversuche  für  sieb  allein  «renüsrt,  weil  wir  wis.sjcn,  dass  ein  ungeübtes 
Augeumali  ein  sehr  schlechter  Ikrather  ist.  Zu  oft  nur  hört  man  die  Schüler 
nach  dem  Augenmaße  den  Figuren  Kigen.schatten  zuschreiben,  welche  ihnen 
entweder  nicht  zukommen,  oder  im  geirebenen  Falle  nicht  von  Belang  sind. 
Deshalb  glauben  wir,  das  Augenmal')  dL>  >cliiilers  kann  nur  insoweit  in  Betracht 
kommen,  als  er  selerut  h  ir  dasselbe  mit  Hilfe  von  Zirkel  und  Lineal  so 
berichtigen.  rber  das  Volum  des  Kegelstutzes  findet  man  im  Texte  eine 
angenäherte  und  in  einer  Fulinote  die  richtige  Formel.  Es  scheint  uns  unuüthig, 
dass  sich  der  Schüler  beide  merke,  und  wenn  er  nur  eine  bdkalten  soU,  so  ist 
es  besser,  es  sei  dies  die  ricbti<re,  als  die  angenähtTte. 

(^rigens  wünschen  wir  das  angezeigte  Lehrbuch  id&  das  beste  der  Geometrie 
für  die  Volkssehole,  wdehcs  uns  binier  bekannt  worde,  nadidrücklichst  sn 
empfehlen.  H.  £. 


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—   205  — 


Warneeke,  Kanstgoschiclitliches  Bilderbach  für  Sclinle  iiBd  Hans. 
Leipzig  1889,  Seemann.    1,Ö0  lllc. 

Dieses  billige  und  sebOn  ansgestatteto  Baeb  enthält  snf  41  Seiten  (groS 

Quart)  ungefähr  <la.s  Alaterial  an  kunstgescbirhtlichen  Abbildungen,  das  bei 
einem  gat  geleiteten  Zeichen-  oder  Getscbichtsunterrichte  an  einer  Bftrger- 
seh  nie  benSthijErt  wird.  Bss  Material  ist  den  Sammhuigen  der  SeemamnMben 
BiMorbopcn  cntnomnien  und  bost  bränkt  sich  auf  die  Hauptwerke,  insbesondere 
aus  dem  ücbiute  der  Architekturjpeispectinsche  Aasicbteii)  (irondrisae,  Durch- 
schnitte nnd  Detaib,  ferner  anf  Werke  der  Plastik  des  iUterthnms,  der  Benais* 
aancc  und  di  r  (Irironwart,  sowie  auf  solche  der  Malerei  der  Xeuzeit.  Aus  den 
Werken  der  Gegenwart  sind  mit  Vorliebe  solche  ausgewählt,  die  zu  dem 
nationalen  Anfhehwunge  der  Beteten  Jahre  in  Bedehnng  stehen.  Da  die  Objecte 
Hauptwerke  sind,  die  in  jeder  Kunstj^cschichte  bej^prochon  werden,  hielt  es  der 
Herausgeber  nicht  lUr  nüthig,  dem  Buche  einen  begleitenden  Text  anzufügen; 
vielleicht  wftre  es  aber  doch  manchem  wiUkonunen  gewesen.  Die  HethoM  in 
der  Behandlung  kunstgeschiehtlicher  Themen  in  der  nllrt^ersehnle  ist  ja  doch 
noch  nicht  jedem  Lehrer  geläufig,  und  andere  Benutzer  de-s  Buches,  seien  es 
nnn  Schaler,  sei  es  der  Kreis  der  Familie,  werden  ohne  Anleitung  kaum  alles 
und  noch  weniger  immer  das  Charakteristische  an  jedem  Bilde  sdien.  W. 

Hoffinann,  Nachklünge  altgermaniachen  Götterglanbens  im  Leben 
and  im  Dichten  des  deutschen  Volkes.  Hannover  1888,  üahn.  i,ÜOMk. 
In  der  ISnIeitnng  besprioht  der  Yerfiuner  die  Quellen  unserer  Kenntnis 
der  deutschen  ^TytlH  h»-;!!-:  al>  seine  Aufgabe bezeiehnet  er,  eine  derselben,  „die 
Nachklänge  altgermanischen  Götte^flaabens  im  Leben  und  im  Dichten 
des  dentsehen  Volkei",  «dnem  gtOloren  Laienpnblienm  zugänglich  in 
marhen.  Zu  diesem  Zwecke  führt  er  uns  einzelne  altgermanische  Götter- 
gestaiten  nach  ihren  chankterisüiichen  Eigenschaften  und  Merkmalen  vor  und 
zeigt  an  Beispielen,  wie  die  Erinnerung  an  sie  noch  hente  im  Volke  fortlebt, 
oft  unverstanden,  oft  vcrhallhornt ,  in  Namen,  in  Märchen,  Saiden  und  Legen- 
den, in  Kinderspielen  und  Gebräuchen  des  Volkes  etc.  Einige  der  mitgetheil- 
ten  „NaebklSnge*  sind  nicht  gedrucktem  Qaellenniateriale  entnommen,  sondem 
unmittelbar  der  Volkstradition:  es  sind  Nachklüng'e,  die  sieh  in  der  Heimat 
dr'K  Verfassers,  in  der  (iep;eud  am  Harz  erhalten  haben.  — r. 

Briukluayeri  Satzlehre  der  deutschen  Sprache.  Zweite  Auflage.  Qued- 
Unburg  1888,  Vieweg. 

Das  Büchlein  enthält  einen  übersii  htlich  zusammengestellten  Abschnitt,  der 
in  den  üblichen  Leitfäden  nicht  mit  der  nöthigen  Sorgfidt  nnd  AusfUhilicbkeit 
behandelt  m  werden  pflegt  und  dessen  Kenntnis  doch  besonders  cur  Erlernung 
fremder  Sprachen  wichtig  ist.  Es  ist  der  Abschnitt  S.  29  —  38  über  den  Ge- 
brauch der  Zeiten  und  Aussageweisen  und  über  die  Zeitfolge.  Im  g  56  35) 
dieses  Absdinittes  vermissen  wir  nur  eine  Angabe  über  im  Gebrandh  des 
Conjunctivs  in  Sätzen,  wie:  „Ich  kenne  keinen,  der  fleißiger  gi^wci^en  wän\" 
Auch  die  liegel  2e.  dürfte  weiter  zu  fass^  sein.  Vergl.  z.  B.  iiätze,  wie: 
„Ziele  gut,  dafi  du  den  Apfel  treflSest".  Das  Beispid  aus  Rüekert  (es  ist  das 
einzige)  S.  36  ist  als  Musterbeispiel  nicht  gut  g(!wählt,  da  die  Präsensfonn 
des  Conjunctivs  durch  den  Beim  beeinfluast  wird,  nach:  als  ob,  als  wenn 
aber  die  PiftteritaUbim  QbUcha  iit  — r. 

Nea  erschienen. 

Ph£  Dr.  Chr.  Muff,  Idealismiis.   182  S.   HaUe  a.  d.  S.,  Biehard  WM" 
maiiB.   8  Mk. 

F.  W.  D.  KruM,  Die  Kant-Herbartsche  Ethik.   Eritifiche  Stadie.   168  S. 

Gotha,  Thienemann.    1,80  Mk. 
Gerhard  Heine,  Lehr-  und  Lesestücke  zur  Einfiihrnng  in  die  Seelenlehre  und 
ihre  Besuehangen  zor  £rziehung8-  und  Uuterrichtslehre.    Er^te  Abtheilung. 
128  a  ENheD,  Schetder.   1,25  HL 

Padafogta.  lt.  Jahiff.  adtlO.  16 


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—   206  — 


Dr.  Hermann  Holfneigter,  Examen-Katecfaimras.  Heft  S.  PSdagogüc  Ein 
Bepetiti<»BlHich  für  AbitorfentMi,  Schnlamtscaadidaten  etc.  Zweite  Auflage. 

148  S.    Leii./.ig  und  Berlin,  Kliiikliardt.    2  Mk. 
J.  Böhm,  Traktische  ErziehunK!'l''lii <'  für  Seminaristen  und  Yolkuchnllehrar. 

Zweite  Auflaf?e.    208  S.    Miun  heu,  Oldenbourg.    3,50  ifk. 
Dr.  Volkiuer,  Grundhsä  der  Yolksscliul-Pädagogik  in  übersicUtliclier  Dar- 

atellnn^.   Zweiter  Band.    Elemente  der  P^chologie,  Logik  nnd  aystemar 

tischen  Pädajiogik.    238  S.    Habelschwerdt,  Franke.    2  Mk. 
Frau  Anna  Woas,  Das  Normalkind.    Praktisclie  Anleitung  fiir  Mtttter,  nm 

Kinder  gesund,  schön  und  i;:iit  iL^roß/.nziehen.    Mit  7  Abbüdongen.  Zweite 

Auflage.    80  S.    Berlin,  Pfeil.stücker.    80  Pf. 
J.  Heidsiek,  Der  Taubstamme  und  seine  Sprache.    Erneute  Untersuchungen 

fiber  das  methodische  Fnndamentalprindp  der  Tbabstammenbildong.  318  S. 

Breslau,  Woywod.    6  Mk. 
Dr.  (iporg  Credner.  Bihelkunde  für  Studirende  und  Seminarien.    290  S. 

Leipzig;  und  Berlin,  Klinkhardt.    H  Mk. 
Biblisches  Lesebuch  für  den  evangelischeu  Religionsunterricht  an  den  höheren 

Schulen  des  Königreichs  Württemberg.   Naeh  der  amtlich  lestgestettten 

Auswahl  Erstes  Heft*  Altes  Testament  Kit  drei  Karten.  124  S.  Zweites 

Heft.    Mit  drei  Karten.    133  S.    Heilbronn,  Henninger.    ä  1,20  Mk. 
Robert  ItutZP,  t'ber  kirchliches  Orgelspie].  72  S.  Leipzig,  Klinkhardt.  1  Mk, 
Fritz  Lnbrich  und  .lakoh  Oruber,  Die  ürgel.  Monatsschrift  für  Orgelmusik 

und  Kirchengesang.    Leipzig,  Karl  Kliuuer.    Abuuneuieutspreis  70  Pf., 

Eülzelpreis  1  Hk.  pro  Heft. 
Hermann  Wettig:,  Deutscher  Liederschatz.    Sammlang  von  ein-,  zwei-  and 

dreistimmigen  Liedern  Ittr  Volksschalen.    132  S.  Leipaigi  Sie^ismnnd  nnd 

Volkening.    80  Ff 

J.  W.  L.  Hille,  Der  Gesang  und  Gesauganterricht  in  der  Schule,, sowie  die 
mnsikalisch-ftsthetische  Bildung  des  Volkes  Uberhaupt.  Eine  systematische 
Darstellung  der  Theorie  und  Praxis  dieses  Unterrichtsfoches.  376  S.  Ham- 
bnx^,  StefAnskL   Dazu  Notenheft^ 


Brinkmeier,  Satdehre  der  deateehen  Sprache.  Zweite  Auflage.  Quedlinhoig, 
Vieweg.   60  Pf. 

Döring,  Handreichung  für  den  deutschen  Sprachunterricht.    Drittes  Heft, 

Satzlehre.    Dritte  Auflage.    Bernburg,  Mehrhardt. 
(Jüiilher,  Driitsche  Sprachlehre.    Berlin  1889,  Stricker.    1  Mk. 
(auttiüuuu  und  Marschall,  Gruudriss  der  deutschen  Sprach-  und  Kechtschreib- 

lehre  fiir  hShere  Lehranstalten.   Vierte  Auflage.   München,  Oldenbourg. 

1,90  Hk. 

Hesse,  Aufgaben  und  Stoffsammlung  zu  deutschen  Spracharbeiten  in  Ober- 

elassen  der  Volkssdnileii  und  Unterclassen  hOherer  Unterricbtsanstalten. 

Leipziir,  Berlin,  J.  Klinkhardt. 
Hüttmauu,  Deutsches  Sprachbach.    Zweiter  Theil.    Sechste  Auflage.  Stade, 

Schaumbnrg.    1,20  Mk. 
Kern,  Die  deutsche  Satzlehre.  Eine  Untertnehung  ihrer  Grundlagen.  Zweite 

Auflage.   Berlin,  Stricker. 


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—    207  — 


Kern,  Zustand  und  6^:eiiBtand.  Betrachtnngren  fiber  den  Anfangsonterricht 
in  der  deutschen  Satzlehre.  Nebst  einer  Lehrprobe.  Berlin,  Stricker.  1,80  Mk. 

3Iev(M',  Deutsche  Sprach iibnngen.  Für  Kinder  der  Volkaschnle  bearbeitet. 
Hannover,  Meyer.    40  Pf. 

Meyer,  Kleines  deutsches  Sprachbnch.  Lehr-  und  Übongsstoffe  fttr  Becht- 
Bchr^bansr  und  Sprachlehre.   Hannover,  Meyer.    60  Ff. 

Meyer,  Deutsche  Sprachlehre.  Ein  Lehr-  und  Übnngsbuch  für  Mittel-,  Bürg;er- 
und  ^elu^bene  Volksschulen,  sowie  für  die  entsprechenden  Classen  der  Gym- 
nasien etc.    Hannover,  Meyer.    1,20  ^Ik. 

Möller,  Übungsbuch  für  den  Untenicht  iu  der  deutschen  (irammatik.  Zwei 
Hefte.   Z^te  Atflage.  Hunbnrf ,  Heiinar.   1  Hk. 

Stoffel  nnd  MewiS)  Spnchhelte  für  die  ein-  und  sweiclanige  VoHuaehole. 
Zwei  Hefte.    Neuwied  und  Leipzig,  Heuser.    60  Pf. 

Besser,  Vorschlftge  zur  fieform  der  Orthographie.  Braonachweigi  Bmhn. 
50  Pf. 

Eulenhaupt,  800  gleich-  und  ähnlichlautende  Würter.  17.  Auflage.  Nürn- 
berg, Korn.  20 

Flaehsmanii,  1700  gleich-  und  fthnlichlantende  Wörter.   Zürich,  Schröter 

und  Meyer.    1  Mk. 

Deutsche  Rechtschreibung  in  Beispielen.  Rej^eln  und  Anfgaben.  Von  einem 
j)raktischen  Schulnianne.    Dritte  Auflage.    Bielefeld,  Helmich. 

Grawe,  Präparationen  zur  Behandlung  deutscher  Mnsterstficke  in  der  Volks- 
schvle.  Dritter  Theil  (7.  nnd  8.  Schuljahr).  Bielefeld,  Velhagen  &  Ein- 
sfaig.    3  Mk. 

Ma^ns,  Erliluterunp^n  zu  deutschen  Lesebüchern.  Zweiter  TheU.  80  lyrische 

Gedichte,    llunnover,  Meyer.    2S)0  Mk. 
Schmid,  Materialien  zur  Erläuterung  dciitBclM  r  Lesestücke,  mit  einer  Ein- 

teitams  über  die  Methode  der  ErlSuterung.   Bern,  Sehmid  Franke. 


Kllnle  und  Streieh,  Eurzgcfasste  Geographie  von  Deutschland.  Zehnte 
Auflage.   Esslingen,  Lang. 

\ienhati8,  Weltknnde.    Fflnfte  Auflage.    Bremen,  Heinsius.    50  Pf. 

Krfiger,  Drei  Kaiser.  Lebensbilder  von  Wilhelm  JL,  Friedrich  III.  nnd  Wil- 
helm II.    Leipzig-,  Bädeker.    1  Mk. 

Bertoucb,  Ahuentafel  Ihrer  Majestät  Angnsta  Vicltoria,  Kaiserin  nnd  Königin 
des  Deutschen  Beiches  und  von  Preußen.  ..  Mit  historisch-genealogisdien 
EriStttemngen.   Wiesbaden,  R.  Beclitold.    1,50  Mk. 

Thienemann,  Genealogien  europäischer  Regenten,  für  den  Schulunterricht 
synchronistisch  dargestellt.    (Ein  Tableau.)  Berlin,  Weidmann.  40  Pf. 

Debbe,  Ornndriss  der  deiitsclicii  I.if*  i;i( Urgeschichte.  Bremen,  HeiuHius.  2  Mk. 

fla^emann,  Vortrüge  für  die  gebildete  Welt.  Drei  Heft«':  Lming-s  Eiiiilia 
Galotti,  Schillers  Braut  von  Messina,  Goethes  Iphigenie  auf  Tauria.  Span- 
dau, Oesterwits.   k  1  Mk. 

Riegel,  Ein  Hauptstftck  von  unserer  Muttersprache,  dar  allgemeine  deutsche 
Sprachverein  nnd  die  Errichtung  einer  Reichsanstalt  für  die  deutsche  Sprache. 
Zweite  Auflage.   Brannschweig,  Schwetschke.    1  Mk. 


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-   208  — 


Sehaster,  Lohrlmch  der  Poetik  und  Khetorik  fikr  höhere  Scholen.  Zwei 

Tlieile.    Halle,  Grosse. 
Erfurth,  Die  deutsche  Volksdichtung.   Potsdam,  Stein. 
Feyerabend,  Der  Weltapraeheaehwindel.   HeUbionn,  Hennliiger.  1,20  Hk. 

W.  Jüttinj?  und  Hufro  Weber,  Anschauungsunterricht  und  Heimatkunde 
tür  das  1. — 4.  Schuljahr  mehrclassif^er  Schulen.  Grundsätze,  Lehrstofte  und 
Lehrproben.    Vierte  Auflage.    3ü9  Ö.    Leipzig,  Klinkhardt.    3  Mk. 

Zoologische  Wandbilder.  Verlag  von  KiriJaaskj  in  Tabor.  ILUeferong: 
Nr.  51  Bebhnhn,  Waehtel;  Ni*.  52  Tanben;  Nr.  53  Speehte,  Enoknek; 
Nr.  54  Goldammer,  Zaunkönig,  Buchfink,  Singdrossel,  Star,  Sperling, 
Nr.  55  Meisen,  EichelhUher,  Rauchscli wallte,  Kothschwaazohen.  Preis  der 
ganzen  Lieferung  2  fl.  50  Icr.,  jeder  Nuouuer  (iU  kr. 


L.  Mitteuwey,  Gesetzesknnde  in  Verbindong  mit  VolkBwirtsehaftslQlira  ala 

ünterrichtadledplin.   96  a  Gotha,  Behrend.   1  Uk. 
Oeorg  Dreyer,  Die  Jugendliteratur.   Ein  Beitrag  aar  Jagendadirifkenftage. 

87  S.    Gotha,  Rehrond.    1  Mk. 
Haus  iMoser,  Allgemeine  Geschichte  der  Stenographie  vom  klassischen  Alter- 

tliame  bis  zur  Gegenwart.    Nach  den  Quellen  bearbeitet  Band  I.  236  S. 

nnd  20  TaMn.   Leipzig,  Klinkhardt   4  Mk. 
Dr.  R.  En^elmanii,  Hilder- Atlas  zum  Homer.    36  Tafsln  mit  erlftntemdem 

Texte.    Leipzig.  Arthur  Seemann.    3,()0  Mk. 
J.  K.  (ioinez  de  Mier.  der  erlitc  Spanier,  oder  Anweisunj^  zur  gründlichen 

i^rlernung  der  spanischen  Sprache.    Zehnte  Auflage.    584  8.  Hamburg, 

Verlagsaastalt  nnd  Druckerei  A.-G.   6  Mk. 
Dr.  Bdnraiid  Wilke,  Einf&hmng  In  die  «iglische  Sprache.  Zweite  erweiterte 

Auflage  der  Stoffe  an  Gehör*  nnd  Sprechübungen.  200  S.  Leipzig,  EarlBeiA- 

ner.    1,60  Mk. 


YenntwoTtl.  BadMtMtr  Dt.  FriadrUh  Dltte«.  Bnebdraekerei  Jaliaa  KlinkharUt,  Uipxlg. 


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Ober  die  Forderoig  coifessioneller  Sekulen. 

Vm  Fnf,  Ihr.  J*  JVoAMdUMMtN^r-lfMkeii. 

ist  bduumt  —  und  wer  es  noch  niclit  weiß^  kann  ee  leieht 
ans  der  (Jeechichte  erfobr^  ~,  dass  kaom  durch  irgend  etwas  anderes 
90  schwere  Leiden,  so  tiefes  Elend  Aber  die  Menschheit,  flher  Völker 
nnd  Individuen  durch  alle  Jahrhunderte  gekommen  sei,  ahi  durßh  die 
Verschiedenheit  nnd  die  Gegensfttse  in  der  Religion  und  durch  den 
fiuiatischen,  oft  so  wilden  Glaubenseifer  der  yerschiedenen  QUnbigen. 
Vor  dem  Wahne,  allein  die  Wahrheit  sn  beeitsen  nnd  direct  fta  Gott 
selbst  zu  wirken,  yerschwindet  alles  Ifenschenrecht  und  alle  Menschen- 
liebe^ geht  alles  natOrliehe  Gewissen  unter.  Vor  Gott»  dessen  Sache  die 
Bekenner  in  ihrem  fiinatischen  DQnkel  direct  zu  vertreten  behaupteut 
kann  kein  Becht  und  k^e  Verpflichtung  als  gütig  erachtet  werden, 
wenn  jenes  gegen  ihn  gebraucht  wird  —  nach  der  Meinung  der 
WahnbethOrten  nnd  Fanatiker.  Daher  waren  ja  stets  Vetlblgungen 
und  Kriege  um  der  Religion  oder  Confesdon  willen  die  schonungs- 
losesten  und  gransamstoi.  Bei  den  heidnischen  Völkeni  des  Alter- 
thmns  fiel  der  Eifer  ftr  die  Nation  und  die  Religion  resp.  die  Na- 
tionalgottheit gioBentheOs  in  eins  susammen,  und  es  wurde  mit  der 
ünterwerfimg  des  Volkes  auch  die  Religion  dem  siegenden  Volke  mit 
seiner  Gottheit  unterworfen,  dann  aber  vielfech  mit  Schonung  be- 
handelt —  wie  ein  hervorragendes  Beispiel  hiervon  das  römische  Volk 
gegeben  hat  Dem  jüdischen  Volke  war  sein  Gott  zwar  auch  noch 
NsUionalgott  neben  den  falschen  Gottheiten  der  anderen  Völker,  aber 
es  ward  schon  Alleinherrschaft  fUr  ihn  gefordert  —  wenigstens  kein 
fremdes  Hecht  in  dieser  Beziehun;^  anerkannt.  Daher  ward  die  For- 
demng  angestellt,  dass  das  feindliche  Volk  sammt  seiner  Gottheit 
vollständig  zu  vertilgen  sei  —  wie  dies  den  Ganaaniten  gegenüber 
geschah  —  ein  nach  israelitischem  Glauben  von  Gott  selbst  befohlenes 
gransames  Vorgeben,  auf  das  man  in  den  christlichen  Jahrhunderten 
sich  vielfach  bei  wilden  Grausamkeiten  gegen  Andersgläubige  zu  be- 
rufen pflegte.  Mit  dem  Eintritt  des  Christenthums  schien  in  dieser 
Beziehnng  eine  bessere  Zeit,  eine  humanere  AofGsssnng  zur  Geltung 

FaidaffotHBB.  11.  lüng.  Haft  IV.  16 

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—   210  — 


SU  kommen.  Das  Christenthom  Inreitete  sich  zuerst  nicht  mit  Gewalt 
ans,  und  die  Mheren  Kirchenlehrer,  die  noch  znr  Zeit  der  Christen- 
wfolgongen  lebten  und  wirkten,  unterliefien  nicht,  sehr  entschieden 
zn  behaupten,  dass  Gewalt  und  Zwang  im  Glanben^biete  nnzuiftssig 
seien  und  Verfolgung  um  des  Glaubens  willen  keine  Berechtigung 
habe.  Sobald  aber  die  ChristenTerfolgongen  aufgehört  hatten  und  die 
Staatsgewalt  der  Kirche  und  ihren  Bestrebungen  zur  Verfügung  stand, 
fingen  die  kirchlichen  Machthaber  und  ihre  glftnbigen  Anhioger  als- 
bald an,  gegen  die,  welche  noch  am  Glauboi  und  dem  Cnltus  der 
alten  Götter  festhielten,  Gewalt  anzuwenden  und  Verfolgungen  ans- 
zuttben,  derart,  dass  selbst  die  weltliche  Gewalt  hemmend  und  mABigend 
einzuwirken  und  Schonung  der  Altglftutrigen  zu  gebieten  sidi  bemfißigt 
fiind.  Diese  Verfolgungssucht  der  christlichen  Kirche  dauerte  dann 
jahrhundertelang,  und  im  Interesse  des  Glaubens  wurden  Greuel  aller  Art 
verübt  wNOthiget  sie  hereinzukommen"  (von  den  StzaBen  und  Zäunen 
zum  Gastmahl)  ward  dahin  gedeutet,  dass  man  Gewalt  anwenden  dürfe, 
um  die  Mensehen  zum  wahren  (d.  h.  dem  eigenen)  Glauben  der  Ver- 
folger zu  bekehren.  Selbst  Augustinus  suchte  die  religiöse  Verfolgung 
durch  die  Behauptung  zu  rechtfertigen,  dass  ja  die  Gewaltanwendung 
zum  Besten  der  Gezwungenen  selbst  geschehe,  da  sie  durch  ihren 
falschen  Glauben  ja  sich  selber  schaden  —  wie  dem  Wahnsinnigen 
kein  Unrecht  geschielit,  wenn  er  gefesselt  wird,  da  er  in  seiner  Frei- 
heit sich  selber  Scliaden  zufügen  würde.*)  Gleichwol  hat  man  stets 
den  ^luhamniedanismus  christlich erseits  heftig  getadelt  und  darin  em 
sicheres  Zeichen  seiner  Ungüttlichkeit  erblickt,  dass  er  so  säir  mit 
Waffengewalt  ausgebreitet  wurde  und  sieb  in  Geltung  erhielt 
Thomas  von  Aqnino  z.  B.  erblickt  gerade  darin  einen  Beweis  der 
Göttlichkeit  des  Christenthams,  dass  es  sich  so  wunderbar  ohne  Gewalt- 
anwendung verbreitet  und  zur  Herrschaft  gebracht  habe,  während 
er  dem  Muhammed  den  Vorwurf  macht,  sich  solcher  Mittel  bei  seiner 
Glauben sverkündung  bedient  zu  liaben,  wie  sie  auch  Räuber  und 
Tyrannen  anwenden  —  der  ^\'a^t■en  nämlich  rSum.  c.  Gent.  I.  Oi. 
Solcher  Bewei^^tÜllrung  bedient  sich  Thomas  um  die  Mitte  desselben 
dreizehnten  Jahrhunderts,  an  dessen  Anfanj?  Papst  Innocenz  111.  den 
Kreuzzuf?  gefi:en  die  ketzerischen  Alhicrenser  im  Südosten  von  Frank- 
reich predigte  und  Ablass  dat'iir  ei  tlieilte,  dass  dieselben  durch  Waffen- 
gewalt entweder  zum  rechten  (päpstlichen)  Glauben  zurückgebracht 


*)  Sich»  lies  Verfa-sRers  Werk:  „Über  das  Kecht  der  eigenen  Über- 
zeugung", Vorrede.   Leipzig,  1869. 


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—   211  — 

oder  Ton  der  Erde  vertilgt  wOrden.  Und  in  der  That  strOmten  die 
Hordgesellen  ans  dem  cbristliclien  A1>eDdlande  ansammen,  nm  die 
eehOne  Gelegenheit  zn  benutzen,  ihre  fianb-  nnd  Mordinst  zu  befrie- 
digen nnd  dabei  zugleich  der  kirchlichen  Gnadenerweianng  theilhaflig 
sn  werden.  In  langflhiigen  Kämpfen  wurde  das  reiche  Land  w- 
wüstet»  nnd  wnrde  die  Ketzerei  ausgerottet  —  groBentheOs  dadurch, 
dass  die  BevQlkemng  ausgemordet  ward,  so  dass  ein  geislag  steriler 
Boden  daselbst  entstand  und  noch  Jetzt  derselbe  hauptsächlich  nur 
fruchtbar  ist  an  Wnndem  nnd  Aboglanben.  Thomas  aber  erwähnt 
nichts  davon,  dass  ein  so  gewaltsames  nnd  mörderisches  Veifthren 
im  Dienste  des  wahren  Glanbens  unbereditigt  nnd  nnchristlich  sei, 
während  er  gegen  Mnharomed  so  sdiwere  Vorwürfe  erhebt  nnd  in 
seiner  Gewaltthitig^eit  einen  Hauptbeweis  der  UngOttiüchkeit  seiner 
Beligion  erblickt!  Man  weiß  femer,  wie  von  da  an  die  Inquisition 
Gewaltmittel  aller  Art,  Torturen  und  Scheiterhaufen  zu  Gunsten  des 
wahren  Glaubens  in  Anwendung  brachte  —  in  officiell  kirchlicher 
Weise,  nnd  wie  später  so  lange  Zeit  hindurch  im  16.  nnd  17.  Jahr- 
hundert wilde,  zerstörende  Religionskriege  von  Bekennern  christlichen 
Glanbens  geführt  wurden!  Im  18.  Jahriiundert  endlich  schien  es 
besser  werden  und  eine  humanere  und  darum  christlichere  Zeit  an- 
brechen zu  sollen.  Die  Wissenschaft  brachte  bessere  Erkenntnis  der 
Natur  und  Geschichte  und  bekämpfte  Aberglauben  und  inhumane  kirch- 
liche Ansichten,  Vorschriften  und  Bräuche,  vertrat  das  natürliche 
Becht  des  Menschen  ancli  der  Kirchenherrschaft  gegenüber  und  forderte 
Gewissensfreiheit  und  Recht  der  eigenen  Überzeugung.  Darüber  hatte 
sich  auch  der  moderne  Staat  herauszubilden  begonnen,  hatte  sich  von 
kirchlicher  und  theologischer  Beeinflussung  mehr  und  mehr  befreit 
nnd  sich  so  weit  davon  emancipirt,  dass  er  sich  nicht  mehr  dazu 
hergab  (wenigstens  nicht  mehr  in  dem  ^laße  wie  früher),  der  Kirche 
seine  physischen  Machtmittel  zu  Diensten  zu  stellen  oder  geradezu 
derselben  Henkersdienste  zu  leisten  —  wie  sie  fürtlrrte.  Man  konnte 
die  Hotl'nung  liegen,  dass  auf  diesem  Wege  fortgeseliritT(^n  werde  und, 
wenn  auch  noch  unter  manchen  Kämpfen,  die  Hunuinisirung  und 
wirkliclie  Verchristlichung  des  Lebens  der  Völker  gelingen  werde. 
Aber  allmählich  bereitete  sich  in  diesem  19.  Jahrhundert  ein  IJiiischl.ig 
vor,  der  neuerdings  zu  alten,  vielfacli  barbariseh  L'^earteten  Ansichten 
und  Bräuchen,  insbesondere  zu  dem,  was  man  das  pttsitive  und  recht- 
gläubige Cliristenthum  nannte,  zuriickliilireii  S(»llte.  Seit  der  Wieder- 
herstellunir  des  .lesuitenordens  im  zweiten  Decennium  dieses  .Talirluindert.s 
ward  zunächst  dieser  Umschlag  in  der  päpstlichen  Klicke  geplant  und 

16»  . 

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—   212  — 


die  Bettanration  vorlmitet,  welehe  die  modme  Wisaenschaft  aad 
(Mliaation  urrareOlmlicli  bekämpfen  und  so  weit  als  milglich  w- 
niobten  sollte,  nm  an  deren  Stelle  die  alte  Scholastik  and  die  sogenannte 
l^r^Ufth^  Civilisation  zn  setsen  —  wie  der  achtzigste  Satz  des  be- 
kannten päpstlichen  Syllabns  vom  Jahze  1864  ea  fordert.  Wie  im 
17.  Jahrhundert  die  Gegenreformation,  80  sollte  nun  gleichsam  die 
Gegencivilisation  war  Durchfiilining  kommen.  In  Verfolgung  dieser 
Richtung  trat  nun  auch  die  Forderung  confessioneller  Schulen  an^ 
der  Erhaltung  derselben,  wo  sie  noch  bestehen,  der  WiedereinfUhmng, 
vfo  sie  von  confesaionslosen  ersetzt  waren  oder  sind.  Die  Spaltung 
der  Confessionen  mnaa  dadurch  wieder  verschärft^  die  Abneigimg  der 
Bekenner  derselben  gegendnaader  wieder  hervorgerufen  oder  ge- 
ateigert  werden,  das  Gemeinsame  derselben  tritt  dabei  in  den  Hinter- 
grund. Das  Eigenthümliche,  Unterscheidende  und  Trennende  erhält 
das  Übei^ewicht  und  die  gegenseitigen  Vorurtheile  erhalten  neue 
Nahmng  und  Verstärkung.  Damit  stehen  aber  noch  andere  Bestre- 
bungen, die  Spaltung  und  Feindschaft  der  Confessionen  zu  verschärfen, 
in  Verbindung  —  wie  dies  vor  allem  in  Deutschland  sehr  entschieden 
hervortritt.  Alle  Wissenschaften  sollen  uuninehr  lür  das  katholische 
V^olk  streng  confessionell  bearbeitet  und  gelehrt  werden,  dem  kirch- 
lichen Standpunkt  und  der  hierarchischen  Tendenz  gemäß  —  in  strengem 
Gegensatz  gegen  die  moderne  Wissenschaft,  jreo^en  die  liberale  Welt- 
auffassung und  insbesondere  gegen  den  Protestant isiniis.  So  die  Phi- 
losophie, die  Geschichte,  die  Literatur  und  Kunstges(;]iichte  und  selbst 
die  Naturwissenschaft,  soweit  es  nur  inmier  möglich  ist.  In  unserer 
Zeit  haben  es  besondere  die  Jesuiten  unternommen,  das  katholische 
Volk  Deutschlands  von  der  deutschen  classischen  Uteratur  loszureißen 
uud  ihm  dafür  so  weit  als  mni^licli  mittelalterliche  und  allen&lls 
romanische  zuzuführen.  So  wurden  bereits  nacheinander  Kant,  Lessing 
und  Goethe  von  Jesuiten  ])earbeitet,  d.  h.  schlecht  gemacht  und  der 
Geringschätzung  empfolilen,  um  von  deren  Kenntni.snahme  abzuhalten 
und  das  katholische  Volk  seiner  eigenen  classisciien  Literatur  zu  ent- 
fremden. Es  ist  also  ein  großer  Plan,  der  all  diesen  Bestrebungen 
zugrunde  liegt,  in  dessen  llealisirung  die  confessionellen  Schulen 
eme  wichtige  Stelle  einnehmen.  Sie  dienen  ja  hauptsächlich  dazu,  die 
Lostrennung  des  katholischen  Volkes  Deutschlands  von  ihren  anders- 
ffläuliigen  Volksgenossen  sowie  vom  nationalen  geistigen  Boden  durch- 
zulidiren  und  das  so  aus  dem  nationalen  Grunde  entwurzelte  nach 
kirchlichen  und  theilweise  romanischen  Tendenzen  zu  bearbeiten. 
Und  wenu  an  im  deutscheu  Volke  nach  küi'zerer  oder  längerer  Zeit 


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—   213  — 


niclit  XI  einem  nenen  wilden  Beligionskriege  kommt,  so  sind  daran 
flieher  nidit  die  Jesuiten  sdiuld,  deren  Wiriraamkeit  Tielmehr  durch- 
ans  dazu  geeignet  ist,  dahin  zn  fUum  Die  Orthodoxen  der  flhrigen 
Oonfeesionen  werden  aelbstverstfiadlleh  dnreh  all  das  Vorgehen  der 
päpstlichen  Hierarchie  ebenfalls  in  Anfregung  versetzt  nnd  sn  schftrferer 
Betonung  ihrer  Eigenthttmlichkeiten  nnd  ihres  Gegensatzes  gespornt, 
und  die  gegenseitige  Hetze  mnss  an  Schftrfe  mehr  nnd  mehr  zu- 
nehmen, wenn  nicht  rechtzeitig  Gegenmaßregeln  getroifen  werden  zur 
ICQdemng,  nm  dem  drohenden  Unheil  yorzubeogen. 

Als  Grfinde  für  die  Forderung  confesdoneller  Schnlen  pflegt  man 
anzuführen,  dass  dadurch  dem  religiösen  Indifferentismns  vorgebeugt 
und  der  Eifer  fOr  öm,  eigenen  Glauben  erhalten  oder  angefacht  werden 
solle;  dann  wol  auch  in  pädagogischer  Wendung,  dass  nur  durch  die 
eoncreten  eonftssionellen  Lehren  der  Inhalt  des  Glaubens  zum  Ver- 
stftndms  und  zu  leibendigem  Brikssen  gebracht  werden  kOnne,  nidii 
durch  die  vagen  Allgemeinheiten  einer  AUerweltsreUgion.  Der  Haupt- 
grund dieser  Forderung  besteht  aber  sidier  in  der  Einbildung,  dass 
man  allein  den  wahren,  rechten  Glauben  habe  infolge  besonderer 
Bevorzugung  von  Seite  Gottes,  wfihrend  die  Bdcenner  der  ttbrigen 
Religionen  und  Oonfeesionen  von  kiftglichen  Wahngebüden  erflUlt 
seien  und  zum  Theil  sogar  in  verbrecherischer  EmpOmng  gegen  Gott 
die  Wahrheit  nicht  annehmen  wollen,  obwol  sie  zu  ihrer  Kenntnis 
gebracht  wird  und  daher  ohne  Schuld  nicht  znrttckgewiesen  werden 
kOnna 

Was  nun  den  ersten  Grund  betrifft,  die  Furcht  vor  dem  religifleen 
Ihdifterentasmus  nämlich,  so  mnss  dabei  von  der  Meinung  ausgegangen 

werden,  dass  nur  dnrch  Gegensätze,  durch  Irrthfimer  und  Wahngebilde 
die  Wahrheit  lebendig  weiden  kflnne  in  den  Menschen  und  dass  ohne 
die  Gegensätze,  ohne  gegenseitige  Besehuldigang  des  Irrthums,  des 
Wahns  und  der  Ketzerei,  sowie  ohne  gegenseitigen  Hass  und  Anfein- 
dung die  Mensclien  si(  h  nur  gleichgiltig  und  lau  gegen  die  religiöse 
Wahrheit  und  deren  Bethätigung  im  Cultns  verhalten  würden.  Da 
möchte  man  demnach  wol  ausrufen:  Gottlob,  dass  es  verschiedene 
sich  anfeindende  Beiigionen  gibt,  Gott  sei  Dank,  dass  es  insbesondere 
innerhalb  des  Ohristenthums  zn  allerlei  Ketzereien  nnd  Secten  ge- 
kommen ttty  und  dass  sie  fortbestehen  —  dass  also  der  verschiedene 
Glaube  immer  das  Gnindgebot  des  Christenthunis,  die  Nächstenliebe, 
tödtet  und  so  oft  wilder  Hass  und  fanatische  Verfolgung  zum  Aus- 
brnch  kommen;  der  christliche  Glaube  müsste  ja  ohne  dies  längst 
ganz  erlahmt  oder  erloschen  seinl  Die  katholische  Kii'che  insbesondere 


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—   214  — 


rnnsB  ja  demgemäß  Oott  nnablflssig  um  Gegensfttae  und  Seeten  bitten, 
damit  der  Glaabe  in  ihr  lebendig  bleibe;  denn  wttrde  sie  allein- 
herrschend,  gäbe  es  keine  Andersgläubigen,  keine  Ketser  und  Seeten, 
dann  fehlte  die  Yeranlassong  oder  Qelegenheit,  in  Eifisr  f&r  den 
eigenen  Glanben  za.  entbrennen  and  den  Iirthnm  zn  yerabschenen  nnd 
za  fliehen  resp.  die  Bekenner  eines  anderen  Glaubens  wie  die  Pest  sa 
meiden  nnd  sich  selbst  als  Besitzer  des  währen  Glaubens  zu  benedeien! 
Es  mochte  dagegen  allerdings  Angewendet  werden,  dass  nicht  die 
Gleichheit  des  Glaubens  den  Indifferentismus  fordere  und  an  sich 
auch  nicht  die  Verschiedenheit  des  Glaubens,  sondern  das  Zusammen- 
leben und  das  vereinte  Streben  der  Bekenner  Terschiedenen  Glaubens, 
wie  es  in  der  confessionslosen  Schule  den  Kindern  auferlegt  wird. 
Der  Indifferatismus  wei'de  dadurch  gefördert,  dass  daselbst  kein  Unter- 
schied des  Glaubens  gemacht  werde  und  die  Bekenner  der  Wahriieit 
.nicht  mehr  nnd  nicht  weniger  gelten  als  die  Bekenner  des  Irrthums,  so 
dass  die  Meinung  entstehen  müsse,  es  sei  gleichgiltig,  ob  man  diesen 
oder  jenen  Glauben  bekenne,  da  doch  die  Berechtigung  aller  die 
gleiche  sei  Damit  allerdings  ist  der  wahre,  tie&te  Grund  der  For- 
derung der  confessionellen  Schulen  angegeben,  die  Unduldsamkeit 
gegen  Andersgläubige,  der  Dünkel,  allein  den  einzig  wahren,  gott- 
gefälligen Glauben  zu  besitzen  und  deshalb  auch  allein  vollberechtigt 
zu  sein  in  der  Welt  und  im  Staate.  Die  eigene  werte  Meinung 
wird  für  so  wichtig  und  alleinberechtigt  gehalten,  dass  alle  anders- 
denkenden Mitmenschen  dem  gegenüber  für  rechtlos,  ja  iär  Verbrecher 
gehalten  werden,  weil  sie  auch  sell)stständi^  urtheilen  und  glauben 
wollen  gegenüber  diesen  Rechtgläubigen,  die  auch  nur  Menschen  sind 
mit  menschlichem  Urtheil  wie  sie  selbst.  Ein  Anspruch,  der  um  so 
anmaßliclier  und  unberechtigter,  ja  empörend  erscheint,  wenn  man 
noch  iu  Betracht  zieht,  dass  nach  der  Behauptung  der  Rechtgläubigen 
selber  dieser  Glaube  nicht  einmal  aus  Vernunft  und  Urtheil  entspringt, 
sondern  hauptsächlich  Sache  des  (subjectiven)  Willens  sei  —  so  dass 
demnach  den  Andersgläubigen  geradezu  Unterwerfung  unter  die 
Willeusentscheidung  ihrer  Mitmenschen  zugemuthet  wird,  die  nicht 
einmal  ihre  Vernunft  frebrauchen,  um  ihren  Glauben  zu  begründen.  — 
Wenn  außer  diesem  Hauptgrunde  der  Forderung  der  schrolfen  Schei- 
dung der  Coiifessioneii  auch  noch  zur  weiteren  Beo:ründung  derselben 
behauptet  wird,  dass  durcli  die  eigenartigen  confessionellen  T.eliren 
und  die  formulirten  Glaubenssätze  die  Religion  klarer  und  bestimmter, 
daher  fassliclier  den  p:läiibigen  Kiuderseelen  mitgetheilt,  den  Gemüthern 
eingeprägt  and  darin  lebendig  erhalten  werden  könne,  so  verdient 


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—   215  — 


diese  Behauptung  kaum  eine  nähere  Würdigung  oder  Widerlegung* 

Die  confessionellen  Streitigkeiten  mit  ihren  spitzfindigen  Erörtenmgen 
und  lieblosen  Beschuldigungen  nützen  der  wirklichen  Religion  80 
wenig,  dass  sie  der  Religiosität  und  echten  Frömmigkeit  stets  nur 
Schaden  bringen,  nnd  die  formulirten  Dogmen  zeichnen  sich  keinfiB- 

wegs  durch  sogenannte  Concretheit  und  leichte  Fasslichkeit  aus,  sind 
vielmehr  sehr  abstracter  Natur  und  den  Kindern  wie  dem  Volke 
gröfitentheils  so  unverständlich,  dass  sie  unverstandene  Worte  bleiben, 
die  nur  aus  Gehorsam  angenommen  und  wie  eine  im  Grande  nutzlose 
Büi'de  getragen  werden.  Die  einfachen,  klaren  religiös-sittlichen  Lehren, 
Vorschriften  und  Ermahnungen,  wie  sie  die  Evangelien  enthalten, 
sind  viel  concreter  und  verstiindlicher,  wie  bedeutungsvoller  und  nütz- 
licher als  alle  theologisch  ausgebildeten,  unter  heftij^eü  Streitigkeiten 
durch  Stimmenmehrheit  fest  (gestellten  Glaubenssatzungen.  Und  da  sie 
von  Christus  selbst  stammen,  werden  sie  wol  auch  christlich  sein, 
ja  das  wirkliche  Christenthnm  enthalten,  nicht  etwa  den  Indifiereutis- 
raus  fordern,  wenn  die  Schule  selbst  sich  auf  sie  als  das  Gemeinsame 
der  christlichen  Confessionen  beschränkt.  Sollte  denn  Christas  selbst 
ein  religiöser  Indift'ereutist  gewesen  sein? 

Die  confessionelle  Hetzerei  der  neuesten  Zeit  verlangt  vom  Staate, 
dass  er  an  diesem  Bestreben,  die  religiösen  Gefrensätze  wieder  zu 
schärfen,  die  allmählich  gewonnene  tolerantei-e  Gesinnung  wieder  zu 
tilgen  und  die  Andersgläubigen  zu  eigenen  Gunsten  zu  unterdrücken 
und  ihrer  Gleichberechtigung  zu  berauben,  Antheil  nehme.  Der  Staat 
soll  dazu  mitwirken,  dass  bei  seinen  Bürgern  durch  Neubelebung  con- 
fessioneller  Scheidung  und  dadurch  veranlasster  gegenseiti«2:er  Ab- 
neigung und  Anfeindung  der  innere  Friede  gestört  und  seine  Kinheit 
und  innere  Harmonie  zu  Gunsten  einer  Partei  vernichtet  und  er 
selbst  dadurch  in  seinem  Bestand  geschwächt,  in  seinem  Gedeihen 
gehindert  werde.  So  beruft  sich  die  päpstliche  Kirche  auf  ihre  un- 
mittelbar göttliche  Gründung  und  auf  ihre  höhere,  übernatürliche 
Aufgabe  dem  Staate  gegenüber,  um  diesen  zu  bestinunen,  sich  ihr 
unterzuordnen.  Aber  andere  Confessionen  berufen  sich  auch  auf  solche 
Stiftung  und  übernatürliche  AufV^aben  und  haben  als  Menschen  mit 
gleicher  Vernunft  und  gleichem  staatshürjrerlichen  Rechte  ebensosehr 
die  Beftignis,  sich  darauf  zu  l)erufen  und  zu  verlangen,  dass  nicht 
die  einen  Staatsbürger  vor  den  anderen  privilegirt  werden.  Wollte  der 
Staat  all  diesen  Anforderungen  entsprechen,  so  müsste  er,  statt  die 
Einheit  und  Einigkeit  der  Staatsbürger  zu  begründen  und  zu  erhalten, 
vielmehr  eine  Anstalt  zur  gegenseitigen  Unterdrückung  und  Zer- 


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—  216  — 


fleischong  der  confessionell  getrennten  Staatsbürger  werden.  Die 
Majorität,  die  physische  Macht  würde  zuletzt  entscheiden,  welche 
Partei  privüegirt  sein  und  die  übrigen  Confessionen  unterdrücken  soLL 
Stünde  diese  sahlreichere  Partei  noch  dazu  unter  einem  answärtigen 
Oberhaupte,  so  würden  nicht  blos  die  übrigen  Staatsbürger,  sondern 
der  Staat  selbst  seine  Selbstständigkeit  verlieren  und  zum  Werkzeug 
dieses  äußeren  Oberhauptes  herabsinken.  Dazu  wird  sich  der  moderne 
Staat  nicht  verstehen,  wenn  er  sich  selbst  behaupten  und  seine  wahre 
Aufgabe  erfüllen  will.  Über  religiöse  Wahrheiten  zu  urtheilen,  liegt 
nicht  im  Vermögen  und  in  der  Aufgabe  des  Staates*),  da  er  eine 
irdische  Organij^ation  des  Volkes  mit  irdischer,  natürlicher  Aufgabe 
ist,  nicht  direct  das  Überirdische  oder  IJberuatürliche  erstreben  oder 
gewähren  will,  wie  die  Religionen  oder  Kirchen.  Aber  das  Natürliche 
hat  er  eiitscliieden  zu  vertreten  und  zu  fördern,  das  natürliche  Menschen- 
recht hat  er  zu  f^ewähren  und  zu  schützen,  die  natürlichen  Menschen- 
kräfte liat  ei-  nach  allen  Beziehung-on  zu  entwickeln  und  zum  Wole 
des  Einzelnen  und  des  CTanzen  nützlich  zu  machen,  insbesondere  auch 
alle  fjeistiire  Kraftbildunp  und  Bethätigung  in  Kunst  und  Wissenschaft 
muss  er  fördern.  In  der  ErfüUuncr  dieser  AufgHl)e  darf  sich  der 
Staat  durch  keine  kirchliche  Forderung,  etwa  um  übernatürlicher 
Zwecke  willen  oder  aus  übernatürlicher  Vollmacht  und  daraus  ge- 
zogenen Consequenzen  oder  Rechten  stören  oder  hindern  lassen.  Denn 
wenn  das  natürliche  Recht  und  die  übernatürliche  Forderung  oder 
Vollmacht  in  Ge^^ensatz  kommen  oder  zu  kommen  scheinen,  ist  nicht 
das  natürliche  Recht  zu  unterdrücken  zu  Gunsten  der  sufjenannten 
übernatürlichen  Forderung,  sondern  umgekehrt,  diese  übernatürliche 
Forderung  ist  zurin  kzuweisen  als  eine  unberechtigte,  die  sich  nur 
fälschlich  als  eine  göttliche  geltend  machen  will.  Es  gibt  Fälle,  wo 
dies  that.sächlich  geschieht  und  von  Kirclienautoritäten  selbst  zu- 
gestanden wird.  Es  ist  z.  B.  eine  Gi  undlehre  der  christlichen  Kirche, 
dass  die  Taufe  unbedingt  noth wendig  sei  nicht  blos  als  Aufnahmsact 
in  die  Kirchengenn  inscliaft.  sondern  auch  zur  Erlan<:ung  ewiger  Se- 
ligkeit, da  sie  von  der  Schuld  und  iSlrafe  der  Erbsünde  und  auch  der 
übrigen  Sünden  befreie.  Nun  behauptet  die  Kirche  als  ihre  Aufgabe, 
den  Menschen  im  Unterschiede  von  dem  Staate  nicht  zum  irdischen 
Wolsein,  sondern  zur  ewigen  Seligkeit  zu  führen,  und  sie  gründet 
auf  diese  behauptete  göttliche  Vollmacht  und  übernatürliche  Aufgabe 
ihre  Herrschaltsansprüche  in  der  Welt  und  ihi'e  Behauptung  der  Ober- 


*)  Hievfiber:  „Das  Hecht  der  cigenca  Überzeugung'  .   Leipzig,  1869. 


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—  217  — 


hoheit  iilier  den  Staat,  derziifolge  dieser  vei-ptiichtet  sein  soll,  der 
Kirche  volle  Freilieit  zu  gestatten  und  zur  Durchführung  all  ihrer 
Anordnungen  und  Ansprüche  behiltlicli  zu  sein.  Da  nun  durch  die 
Taute  die  Menschennatur  als  vollkommen  gereinigt  angenommen  wird 
und  die  Getauften  also,  wenn  sie  unmittelbar  nach  der  Taufe  sterben, 
unfehlbar  die  ewige  Seligkeit,  das  eigentliche,  wahre  Ziel  des  Menschen- 
daseins, erreichen  müssen  (im  Glauben  der  Kirche),  so  läge  nicht,s 
näher,  als  die  Consequenz  zu  ziehen,  dass  es  für  Erfüllung  der  Auf- 
gabe der  Kirche  kein  sichereres  Mittel  gäbe,  als  die  so  durch  Taufe 
Gereinigten  unmittelbar  darauf  zu  tödten.  Hat  die  Kirche  das  Recht, 
nach  ihrer  übernatürlichen,  direct  göttlichen  Vollmacht  alles  anzu- 
ordnen, was  zur  Ertüllung  ihrer  Aufgabe  noth wendig  oder  dienlich 
ist,  so  muss  sie  auch  diese  B^rderung  stellen  düi  fen  und  ihr  gehorcht 
werden  müssen,  da  es  sich  um  das  ewige  Schicksal  des  Menschen 
dabei  handelt,  nicht  blos  um  das  kurze  zeitliche  Leben.  Dennoch  zieht 
sie  diese  Consequenz  nicht  und  uuterlässt  diese  Forderung,  lässt  also 
die  Getauften  leben  und  allen  Gefahren  des  Lebens  für  ihr  Seelenheil 
preisgegeben  sein,  wodurch  so  viele  Millionen  (wieder  im  Glauben  der 
Kirchlichen)  ewig  zugrunde  gehen,  d.  h.  der  ewigen  Seligkeit  ver- 
lustig gehen,  deren  theilhaftig  zu  machen  die  Kirche  als  ihre  Auf- 
gabe bezeichnet.  Sie  wagt  es  also  nicht,  trotz  dieser  höchsten,  ent- 
scheidenden übernatürlichen  Aufgabe,  die  letzte  Conseciuenz  zu  ziehen 
und  das  natürliche  Mensclienreclit,  das  Recht  auf  das  Leben,  anzu- 
greifen. Und  ihäte  sie  es,  der  Staat  würde  nimmermehr  zugeben, 
dass  diese  Art  Menschenopfer  im  Namen  der  Religion  oder  des  über- 
natürlichen göttlichen  Rechtes  eingeführt  würde  —  trotz  des  von  der 
Kirche  behaupteten  ewigen  Verderbens  so  vieler  Millionen  selbst  der 
Getauften.  Wie  mit  dem  natürlichen  Rechte  des  leiblichen  Lebens,  so 
verhSlt  68  sich  auch  mit  dem  des  geistigen.  Wie  die  Kirche  kein 
Becht  bat,  infolge  ihrer  behaupteten  ttbematfirlichen,  direct  gött- 
lichen Vollmacht  das  leibliche  Leben  des  Mensehen  zn  gefährden  oder 
m  aeralOren,  so  aaeh  hat  sie  kdn  Seeht,  das  geistige  Leben  an 
hemmen  oder  zn  ertOdten,  nm  etwa  ihre  fibemattirlicfae  Anliafabe  am 
Bo  leichter  m  erflUlen  und  das  Ziel  ihrer  Wirksamkeit,  die  ewige 
Glflckseligkeit,  nm  so  sicherer  und  allgemeiner  zu  erreichen.  Man  wird 
ngeben,  dass  sie  nicht  berechtigt  wäre  und  ihr  nicht  gestattet  werden 
konnte  trotz  aller  flbematiirlichen  Vollmacht»  die  Getaniten  nnmittel- 
bsr  nach  der  Taufe  geistig  so  zn  Ubmen  oder  an  verstfimmeln  (wenn 
sie  konnte),  dass  dieselben  blödsinnig  würden  für  slles  folgende  Leben 
and  dadnrch  allen  Ge&hren  för  das  Sedeoheil,  aller  Verantwortlich- 


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—  218  — 


keit  für  ihr  Thun  und  Lassen  entrückt  würden  iinrl  so  des  ewigen 
Heiles  sicher  wären.  Wie  aber  die  geistige  Kraft  und  Gesundheit 
nicht  zerstört  werden  darf  für  dieses  Leben,  um  die  Seligkeit  in  einem 
anderen,  d.  b.  im  ewigen  zu  sicliern,  so  auch  darf  diese  Kraft  des 
Menschen,  die  Vernunft  und  Freiheit  in  ihrer  Bethätigung,  in  ihrer 
Entwickehmg  und  Bildunf^  nicht  gehindert,  nicht  gelähmt  oder  in 
Unbildung  erhalten  werden,  um  den  (Tkuben  zu  sichern  durch  Geistes- 
unthätigkeit  und  ünbilclun<,'^,  um  das  ewi^e  Heil  um  so  sicherer  zu 
erzielen.  Und  dies  gilt  vom  Einzelnen,  wie  von  den  Völkern  und  der 
Menschheit  überhaupt;  auch  hierin  darf  der  Staat  der  Forderung  und 
dem  Streben  der  Kirchen  nicht  nachgeben,  auch  wenn  sie  noch  so 
dringend  ist  und  noch  so  sehr  direi  t  g(iti liehe  Anordnung  und  über- 
natürliche Vollmacht  geltend  gemacht  werden  will.  —  Dagegen  in 
Bezug  auf  den  Glauben  selbst  hat  der  moderne  Staat  volle  Freiheit 
innerhalb  der  Schranken  des  natürlichen  Rechtes  (und  der  positiven 
Gesetze)  zu  gewähren.  Er  hat  seiner  Natur  und  Aufgabe  gemäß  kein 
Recht,  seinen  Hiirji^ern  den  religiösen  Glauben  vorzuschreiben,  und 
ebensowenig  ein  Recht,  den  Glauben  der  Einen  seiner  Bürger  den 
anderen  gegenüber  als  privilegirt  zu  betrachten  und  zu  bebandeln. 
Eine  Staatskirche  oder  -Religion  hat  vollends  keine  Berechtigung  mehr 
anter  unseren  Culturverhältnissen.  Wo  eine  solche  besteht  und  auf- 
recht erhalten  wird,  muss  stets  Mher  oder  später  ein  ungesundes 
geistiges  Leben,  eine  Abnormität  in  diesem  eintreten,  insofern  doch 
Datorgemäft  ein  Tbdl  des  Volkes,  der  strebsamere  nnd  begabtere, 
fortschreitet  weit  Aber  den  geistigen  Bildongsstand  der  großen  Masse 
hinaus  nnd  daher  nieht  alle  religiösen  Vorstellnngen  nnd  Branche 
dieser  ungebildeten  Masse  des  Volkes  annehmen  oder  glftnhig  fest- 
halten nnd  üben  kann.  Ist  die  Beligion  Staatsreligion,  so  mnss  die 
Staatsgewalt  zu  Gunsten  des  Glanbens  der  nngebildeten  nnd  Uind- 
glAnbigen  Masse  die  geistige  Entwiekelnng,  Wissensehaft  nnd  Cnltnr 
hemmen,  rnnüts  gegen  den  gebildeteren  Tbeil  seiner  BUrgei*  gewaltsam  ein- 
schreiten nnd  sie  nöthigen,  wenigstens  änflerlich  anf  dem  niedrigeren 
Gnltnrstand  des  Volkes  zn  Ueiben  nnd  Gläubigkeit  zu  heucheln.  Man 
weiß,  dass  dies  nicht  blos  die  Hanptursache  des  LidüTerentismns  und 
Widerwillens  einer  groiten  Mehrheit  der  Gebildeten  gegen  die  Beligion 
Oberhaupt  ist,  sondern  auch  zur  Ironie  nnd  Verachtung,  zum  Theil 
zum  Ingrimm  gegen  dieselbe  führt  und  am  meisten  zum  Skeptidsmns 
und  YoUständigen  Unglauben  Veranlassung  gibt  Hat  dieses  ungebildete 
Volk  durch  Aus&bung  politischer  Rechte  auch  noch  maßgebenden 
Einfluss  auf  die  Staatsregierung,  auch  in  geistiger  Beziehung,  so  dass 


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sie  ihrem  Cult Urzustand  und  ihrem  Unverstände  gemäß  darauf  ein- 
wirken kann,  dann  muss  Stillstand  und  Rückgang  in  Wissenschaft 
und  Bildung  eintreten.  Damit  wird  der  Weg  betreten,  der  zur  Bar- 
barei allmählich  wieder  zurückführt.  Es  ist  selbstverständlich,  dass 
dies  geschehen  muss,  wenn  nicht  die  Gebildeten,  sondern  die  ein- 
gebildeten, von  Vorurtheilen  und  Unwissenheit  beherrschten  Massen  in 
diesem  Gebiete  maßgebend  sind.  —  Bei  aller  Freiheit  des  religiösen 
Glaubens,  die  der  Staat  innerhalb  der  Schranken  des  natürlichen 
Rechtes  (und  der  positiven  Gesetze)  zu  gewähren  hat,  soll  er  aber 
das  Gemeinsame  des  religiösen  Glaubens,  das  Peinigende  desselben  dem 
Trennenden,  Confessiouelleu  gegenüber  im  Interesse  des  Friedens  und 
Gedeihens  des  Ganzen  zu  fördern  suchen  und  dabei  insbesondere  Ge- 
rechtigkeit und  Sittliclikeit  überliaupt  betonen,  was  ja  auch  das  Wesen 
des  Christenthums,  die  Übung  der  Nächstenliebe,  am  meisten  fördert, 
mehr  als  es  durch  die  religiösen  Glauliensgegensätze  und  confessionelleu 
Zänkereien  und  Anfeindungen  geschieht 

Und  hier  ist  dann  die  Stelle,  wo  der  moderne  Lehrerstaud  ein- 
zugreifen hat,  um  zugleich  Religion,  Sittlichkeit,  Cultur  und  Staats- 
wol  zu  fördern.  Zunäclist  ist  es  selbstverständlich  seine  Aufgabe, 
die  Bildung  des  Volkes  überhaupt  zu  heben  und  soviel  als  möglich 
mit  der  fortschreitenden  wissenschaftlichen  Erkenntnis  in  Einklang 
za  bringen  —  nicht  blos  das  Lesen  und  Schreiben  zn  lehren,  das  be- 
kanntlich auch  zur  Erhaltung  und  Förderung  des  Aberglaubens  und 
des  blinden  Fanatisrnss  Terwendet  werdra  kann.  Durch  diese  Hebung 
der  Volksbildmig  soll  verhindert  werden,  dass  die  Kluft  zwischen  den 
hoher  gebildeten  Classen  des  Volkes  und  der  Yolksmasse  nicht  gar 
za  groß  werde,  die  Entfremdung  beider  in  geistiger  Beziehung 
Uftßigung  erfahre,  und  dass  zngleidi  das  ganze  Volk  Antheil  erhalte 
an  den  Errungenschaften  der  modernen  Wissenschaft  und  Ginlisation. 
Allerdings  gab  es  anch  im  Mittelalter  emen  schroffen  Unterschied 
zwischen  Ungebildeten  und  Gebildeten,  welch  letztere  ftst  ausschliefi- 
lich  Jahrhunderte  hindurch  die  Cleriker  waren.  Aber  eine  schroffe 
Kluft  und  Entfremdung  zwisdien  beiden  konnte  sich  doch  nicht  bilden, 
weil  beide  im  Glanben  YoUstfindig  flbereinstimmten,  die  Cleriker  die 
Beherrscher  des  Volkes  waren  und  an  Bildung  immerhin  nicht  sehr 
hoch  über  ihm  standen;  anfierdem  solche,  die  Uber  das  gewöhnliche 
Glanben  und  Wissen  hinausgingen,  alsbald  ausgestoßen  und  mit  Gewalt 
Yeradcfatet  wurden.  Dies  ist  aber  nun  doch  nicht  mehr  möglich,  selbst 
nicht  in  Staaten  mit  voUstflndig  katholischer  Bevölkerung  —  wenn 
anch  vielÜMsh  das  Streben  sich  bemerkbar  macht»  die  Begierungen 


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220  — 


1 
1 


wieder  zum  Werkzeug  der  lnt]uisition  zu  machen.  Da  man  nun 
Wissenscliaft  und  Bildung  in  ihrem  Furt.schreiten  doch  kaum  mehr 
wird  zu  hemmen  vermö^j^en,  so  h]e\ht  nichts  übrij^  als  die  Hebung" 
des  Volkes  selbst  auf  eine  höhere  Stufe  der  Bildung,  um  es  den  ge- 
bildeten Classen  anzunähern  —  wie  allmälilich  auch  dieses  nur  ge- 
schehen kann.  —  Eine  besonders  wicht i<re  Aufgabe  für  die  Schule  ist 
es,  im  Zusammenhang  mit  der  allgemeinen  und  der  religiösen  Bildunsr 
den  Rechtiisinn  zu  wecken  und  auszubilden,  um  dem  Volke  die  Gleich- 
berechtigung der  Mitmenschen  zum  khuen  Bewusstsein  zu  bringen 
und  zur  Anerkennung  im  praktischen  Verhalten  den  Mitbürgern  gegen- 
über. Dadurch  wird  insbesondere  bei  dem  blindglänbigen  Volke  dem 
so  gefahrlichen  fanatischen  Dunkel  entgegengewirkt,  allein  die  Wahr- 
heit in  Besitz  zu  haben,  und  zwar  in  dem  Grade,  dass  die  Anders- 
gläubigen nicht  blos  als  Unglückliche,  sondern  geradezu  als  Ver- 
brecher, als  p]mpörer  gegen  Gott  selbst  angesehen  werden,  —  blos 
weil  ihr  Urtheil  anders  lautet  in  Sachen  des  Glaubens.  Es  braucht 
nicht  zum  IndifFerentismus  angeleitet  zu  werden,  d.  h.  zur  Annahme, 
dass  jede  Glaubensüberzeugung  gleich  oder  gleichgiltig  sei,  sondern 
nur  dazu,  den  Glauben  des  anderen  auch  zu  respectiren,  nicht  weil 
man  ihn  für  gerade  so  gut  und  wahr  zu  halten  habe  wie  den  eigenen, 
sondern  weil  der  Nächste  und  Mitbürger  ebensoviel  Hecht  hat  aut 
eigene  Überzeugung,  und  also  zwar  durch  theoretische  Gründe  oder 
durch  besseres  praktisches  Verhalten  belehrt  werden  mag,  ohne  dass 
sein  Recht  eine  grobe  \'erletzung  erfahrt,  nie  aber  irgendwie  geschä- 
digt oder  verfolgt  werden  darf  um  seines  Glaubens  willen,  —  wofern 
derselbe  nicht  das  natürliche  Recht  der  Sittlichkeit  verletzt  oder  das 
Wol  der  Gesammtheit  beeinträchtigt.  In  dieser  Weise  wird  die  Re- 
ligion und  zugleich  die  Sittlichkeit  veredelt,  und  wird  dem  Gmnd- 
gebote  des  Christenthums  selbst,  dem  Gebote  der  Nächstenliebe  ent- 
sprochen. —  Aber  auch  die  Vernunft  selbst,  deren  Ausbildung  ja 
Aufgabe  der  Schule  ist  und  zu  deren  Gebrauch  diese  die  Jugend  und 
damit  das  Tolk  selbst  immer  mehr  anleiten  soll,  —  diese  Tomonft 
selbst  soll  auch  fOr  das  Glanbensgebiet  immer  mehr  gebildet  und  nr- 
tiieilsföhig  gemacht  werden  —  nicht  im  Dienste  oder  anf  dem  ein- 
seitigen Standpunkte  der  Confesdonen,  sondern  in  allgemeiner  Weise 
nnd  fttr  den  allgemein  religiösen  nnd  gemeinsam  christlichen  Stand-* 
pnnkt  Es  gibt  innerhalb  der  christlichen  Kirche,  in  der  Theologie 
zwei  Grundsätze,  die  von  jeher  in  der  Kirche  galten  und  beide  wenig- 
stens theoretisch  noch  anerkannt  werden.  Der  eine  Grundsatz  lautet: 
»Ich  gianbe,  damit  ich  erkenne  oder  einsehe"  (credo  nt  inteUigam),  der 


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andere:  „lofa  erkenne  (forsche),  damit  ich  glaube*'  (intelligo  nt  credam)*). 
Jener  ist  das  Fondament  der  sogenannten  positiven  Theologie,  dto 
vom  Glanben  anageht  und  denselben  nnr  sn  erkUmn  sacht,  dieser  ist 
der  feste  Stsndpnnkt,  aof  den  die  menschliche  Vemnnft  nnd  Wissen- 
schaft sidi  stdlt,  um  ihr  Becht  sn  behaupten  nnd  sich  im  Interesse 
der  eigenen  Entwickelung  und  Veryoilkommnung  ebenso,  ^e  in  dem 
der  Wahrheit  zu  bethätigen.  Beide  Grandsfttse  werden,  wie  bemerkt, 
wenigstens  theoretisch  auch  kircblicherseits  anerkannt,  auch  der  zweite, 
wenn  er  auch  praktisch  nicht  wirklich  zur  Geltung  gebracht  werden 
darf  bei  den  verschiedenen  positiven  Religionen  und  Glaubensautori- 
täten. Würde  man  diesem  nämlieb  theoretische  Anerkennung  versagen, 
so  hieße  das  so  viel,  als  dass  man  auf  alle  Vernünftigkeit,  auf  alles 
Becht  und  alles  menschliche  Urtheil  im  Glaubensgebiete  verzichte  und 
sich  wie  vernunftlose  Wesen  verhalten  wolle,  preisgegeben  dem  Zu- 
fall, der  Täuschung  oder  der  Willkür  und  Gewalt,  oder  endlich  irgend 
einem  Zauberspnk.  Dies  will  man  abei-  doch  auch  kircblicherseits 
nicht,  wenn  man  auch  nicht  vollen  Ernst  mit  diesem  intellitro  ut 
credam  machen  will,  sondern  sich  an  das  credo  ut  intelligani  hiilt  und 
deshalb  auch  stets  auf  demselben  Punkte  stehen  bleiben  will,  dadurch 
auch  jede  Einigung  im  Gebiete  der  Religion  unmöglich  macht.  Wenn 
aber  diesen  Grundsatz  die  positive  Theologie  praktisch  im  Grunde 
genommen  allein  geltend  macht,  so  ist  es  Sache  der  Wissenschaft  und 
der  Schulen  durch  alle  Stufen  hindurch,  von  der  höchsten  bis  zur 
untersten,  sich  auf  das  intelligo  ut  credam  zu  stellen  und  aiicli  im 
Glaubensgebiet  den  Menschen  als  vernünfti^res,  urtheilendes,  nicht  als 
vernunftloses  Wesen  geltend  zu  machen.  Es  giiindet  sich  darauf 
ebenso  das  Recht  und  die  Freiheit  der  Forscl)uiig  und  Wissenschaft, 
wie  das  Recht  des  Lehrers,  auch  im  Gebiete  der  Religion,  des  religiösen 
Glaubens  zum  Gebrauche  der  Vernunft  anzuleiten  und  mehr  und  mehr 
auch  das  Volk  urtheilsfahig  hierin  zu  machen.  Dazu  ist  die  con- 
fessionslose  Schule  noth wendig,  welche  die  Religion  keineswegs  aus- 
schließt, aber  sich  auf  das  Wichtigste  und  Gemeinsame  in  diesem  Ge- 
liiete  beschränkt,  auf  das,  was  hierin  vor  allem  noththut,  dadurch 
die  Gemütlier  der  Kinder  und  des  Volkes  von  gegenseitigen  Vor- 
urtheilen  und  Gehässigkeiten  befreit  und  zum  l^'iieden  führt,  so  djiss 
vor  allem  die  Erfüllung  des  cliristlichen  (iiundgebotes  der  Nächsten- 
liebe Förderung  findet   Dadurch  wii*d  sicher  weit  mein*  vermieden, 

•)  Ver£!:kithe  hicTÜbcr  des  Verlassers  Schritt:    „über  die  religiösen  und 
kircheupolitischen  Fragen  der  Gegenwart."    Elberfeld,  1875.  8.  193  ff. 


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dasB  die  Schule  „ohne  Gott**  sei,  ab  durch  Schflmiig  confessioneller 
Qehftasigkeit  und  Anleitong  za  der  UeUoeen  Intoleranz,  die  man  jetzt 
BO  fiuiatisch  in  Anftehming  bringen  will  —  nicht  bedenkend,  dass 
dadurch  die  Beligion,  die  doch  znm  Segen  der  Menschheit  gereichen 
soll,  wiedenim,  wie  in  vergangenen  Zeiten,  vielmehr  eine  furchtbare 
Geißel  für  die  Völker  und  ein  Tummelplatz  fOr  das  Toben  aller 
Leidenschaften  werden  muss. 


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Zur  Fra^e  des  (iriechischen  iu  Ungarn. 

Von  Prof.  Dr.  J.  K.va/C9ala-Frts»hurg. 

Die  lebliafte  Bewegung,  die  sich  schon  seit  längerer  Zeit  in  der 
pädagogiechen  Welt  ?e?en  den  Unterricht  der  classischen  Sprachen 
geltend  machte,  ließ  auch  Ungarn  nicht  unberührt.  Das  Frary'sche 
Bach,  das  die  Erfolglosigkeit  der  lateinischen  Studien  auf  den  Gym- 
nasien schildert  und  erklärt,  ließ  der  selige  verdienstvolle  Minister 
Trefort  selbst  ins  Ungarische  übersetzen ;  die  Bede,  welche  vor  zwei  Jahren 
beim  Schlüsse  des  Schuljahres  in  der  Sorbonne  der  damalige  Unter- 
richtsminister Lockroy  gehalten  und  die  sich  in  ihrer  Spitze  gegen  den 
Unterricht  der  classischen  Sprachen,  als  einen  erfolglosen,  wendet, 
wurde  in  einer  Fachzeitung  veröflfentliclit  und  die  Veröflfentlichung 
mit  einer  lebhaften  Erörterung  begleitet.  Neben  diesen  von  außen 
kommenden  Anregungen  haben  auch  die  einheimischen  Schnlyerh&lt- 
nisse  der  Bewegung  nachhaltige  Nahrung  gegeben. 

Die  einst  sechsclassigen  Realschulen  haben  schon  seit  langer  Zeit 
einen  ('urs  von  acht  Jaliren  erlialten;  in  ihrer  Einrichtung,  Stunden- 
zahl, in  der  wissenschaftlichen  Bildung  der  Lehrkräfte  sind  sie  auf 
das  Niveau  gestellt  worden,  auf  welchem  die  Gymnasien  stehen. 
I)ennoch  hat  das  Mittelschulgesetz  von  1888,  das  ausdrücklich  zweier- 
lei Mittelschulen,  das  Gymnasium  und  die  Realschule  creirt,  den 
früheren  Standpunkt  festgehalten,  indem  es  ausgesprochen,  das  Reife- 
zeugnis vom  Gvnmasium  befähige  sowol  zu  der  Universität  wie  zum 
Polytechnicum,  dasjenige  der  Realschule  nur  zum  Polytechnicum.  — 
Es  ist  nur  zu  klar,  dass  diese  Sachlage  zum  Ruin  der  Realschulen 
hinführen  wird.  Warum  soll  jemand  auf  die  Schule  gehen,  dereu 
Zeugnis  ihm  nicht  den  Zugang  zu  allen  L('bensl)ahnen  eruttnet,  da  er 
doch  mit  demselben  Kraftaufwand  im  (iyiiinasiiini  seine  Studien  derart 
führen  kann,  dass  er  in  alle  höheren  Lehranstalten  aufgenommen 
wird?  Es  war  daher  ganz  gerecht,  wenn  im  vorigen  Jahre  der  Pro- 
fessor am  Polyteclinicum  E.  Jonas  die  Forderung  als  wünschenswert 
hingestellt  hat:  der  Parität  wegen  sollte  man  von  den  Maturanten 
eines  Gymnasiums,  wenn  sie  auf  das  Polytechnicum  wollen,  eine  Nach- 


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prflfnng  aus  der  dAntellenden  Qeometrie  verlangen.  Diee  betrachtet 
er  nicht  als  eine  endgiltige,  principieUe  LOsnng  der  Mittelscbnlfirageb 
nnr  als  ein  Bettongsmittel  für  die  Bealschnle,  deren  Existenz  das 
erwfihnte  Gesetz  von  1883  ernst  bedrohe.  In  dem  Falle,  wenn  anch 
die  gymnasialen  Studien  einer  Eigftnznng  bedOite,  nnd  erkannt  wird, 
dass  weder  das  Gymnasium,  noch  die  Bealschnle  an  sich  genfigen, 
wird  anch  wachgerufen  die  Nothwendigkeit  einer  einheitlichen  Mittel- 
schnle,  deren  Stelle  das  Gymnasium  jetzt  einseitig  yertritt  So  ist  die 
einheitliche  Mittelschule,  auch  durch  Gesichtspunkte  der  Untenichts- 
politik,  als  eine  Nothwendigkeit  hingestellt  worden. 

Der  Tcrblichene  Minister  Tr6fort  hat  wol  den  Lateinuntenicht 
auf  der  Realschule  und  zwar  in  den  höheren  Classen  ÜMmltatiT  ein- 
geführt,  so  dass  man  nach  Schluss  der  acht  Realclassen,  wenn  man 
den  lateinischen  Curs  mitgemacht,  auf  die  Universität  zugelassen  wird. 
Allein  wie  nnyollkommen  diese  Maßregel  die  Gleichheit  der  yon  beiden 
Schalen  erreichten  BefHlii{^ngen  herstellt,  erhellt  daraus,  dass  a)  nur 
die  guten  Schültr  an  diesem  facultativen  Unterricht  tiieilnehmen 
dürfen,  b)  dass  die  Theilnehmenden  einen  schweren  Gegenstand  mehr 
haben  als  die  übrit^en,  was  doch  der  öffentlichen  Leitung  einer  Schule 
nur  zum  Nachtheile  dienen  kann.  —  Diese  Maßregel  kann  also  fUr 
kurze  Zeit  als  Aushilfe  manche  gute  Dienste  leisten  (neben  manchen 
schlechten);  dass  sie  aber  den  Wunsch  nach  der  einheitlichen  Mittel- 
schule nicht  zu  unterdrücken  vermochte,  ist  nur  zu  klar. 

Die  Idee  der  einheitlichen  Mittelschule  hat  den  neuen  Unter- 
richtsminister zu  dem  Vorsatz  geführt,  vor  allem  an  dem  Lehrplane 
des  Gymnasiums  die  weitgreifende  Änderung  in  Aussicht  zu  stellen, 
dass  das  Griechische  aus  den  Gegenständen  desselben  gestrichen  werde. 
Eine  Erklärung  dieses  Sinnes  hat  der  Minister  iu  der  diesjährigen 
Budgetdebatte  abgegeben  und  selbe  schien  von  den  Abgeordneten  mit 
Beifall  aufgenommen  worden  zu  sein.  Es  ist  nur  zu  klar,  dass  dieser 
^clnitt.  wenn  er  wirklich  voUf&brt  wiid,  ein  Schritt  zui'  Einheits- 
schule sein  wird. 

Dass  dii^  Einheitsschule  besonders  vom  Standpunkte  der  Lage  der 
RealscIuiUii  aus  nöthig  ist,  haben  wir  oben  gezeigt.  Dass  sie  auch 
ein  i)ä(iagogisches  Erfordernis  bildet,  ist  nicht  schwer  zu  beweisen, 
wenn  man  darauf  denkt,  wie  .schwer,  ja  oft  unmöglich  es  ist,  gleich 
beim  Anfang  des  Studirens  eine  l^frufswahl  zu  tretien,  und  wie  man 
die  ZTi^^linge  in  den  zu  Fachstudien  vorbereitenden  Schulen  so  unter- 
richten könne,  dass  ihren  erst  später  zum  Vorschein  irelaugeuden  An- 
lagen und  i:  ähigkeiteu  kein  Weg  vei'schlossen  bleibe. 


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Allein  in  Ungarn  scheint  die  geplante  Vereinigung  des  Gymnft> 
sinms  mit  den  Kealschulen  keine  eigentlictie  Einheitsschule  sdiaff'en 
zn  können.  Es  bestehen  noch  die  sechsclassigen  Btirgerschuien  diedL- 
schulen),  nicht  auf  Gesetz,  sondern  nur  auf  eine  ministerielle  Ver^ 
Ordnung  begründet.  In  welches  Verhältnis  dieselben  mit  den  neuen 
Mittelschulen  zu  briüf;ren  sind,  darüber  iiabe  ich  noch  keine  Stimme 
vernomnien,  ich  enthalte  mich  auch,  mich  darüber  zu  äußern. 

Viel  wichtiger  ist  die  Frage  der  griechischen  Sprache.  Die 
öffentliche  Meinung  ist  mit  der  Ausschließung  der  griechischen  Spi  ache 
einverstanden,  den  leitenden  Kreisen  kann  aber  die  Tragweite  dieses 
Schrittes  nicht  verschlossen  bleiben.  Was  das  Studium  des  Griechischen 
in  der  Büdungsgeschichte  der  Menschheit  bedeute,  das  kann  keinem 
Historiker  ein  Geheimnis  sein.  Soll  nun  diese  (Quelle  der  Bildung  der 
ungarischen  Jugend  und  dadurch  der  nationalen  Cultur  entzogen 
werden?  Man  sagt  allerdings,  dass  die  Maßre^^el  nur  das  Studium 
der  Sprachlehre  tretle,  dass  man  sich  desto  mehr  mit  der  griechischen 
Literatur  und  Geschichte  befassen  solle,  allein  wie  hohl  klingt  diis 
Wort  Literatur  ohne  die  Kenntnis  der  Si)rache!  Wie  fehlen  da  für 
das  Gedächtnis  und  die  Apperception  die  Anknüpfungspunkte,  wie  ver- 
lieren die  Kunstwerke  selbst  durch  die  Übersetzung!  Fernei-:  das 
Lateinische  soll  ein  obligater  Gegenstand  bleiben;  wie  kann  aber  das 
Studium  dieser  Sprache  blühen,  wenn  das  Griechische  unbekannt  bleiben 
soll?  Und  wenn  es  von  den  Lehrcandidaten  gefordert  werden  wird,  so 
muss  denselben  Gelegenheit  geboten  werden,  sich  darin  auszubilden. 

So  hat  die  Frage,  inwiefern  das  Griechische  ausgeschlossen  oder 
beibelialten  werden  soll,  eine  lebhafte  Erörterung  gefunden.  Wir  wollen 
hier  nur  kurz  der  Polemik  gedenken,  die  der  Abgeordnete  und  nam- 
hafte Gelehrte  Julius  Schwanz  in  den  Spalten  des  „Pesti  Hirlap" 
Ende  Juli  des  vorigen  Jahres  hervorgerufen  hat,  weil  derselbe  ein 
einflussreicher  Abgeordneter  ist  und  den  Intentionen  der  Regierung 
nahe  steht.  Er  findet,  das  griechische  Studium  sei  eine  unnütze  Über- 
bürdung der  Mehrheit  der  Studirenden;  die  von  den  philologischen 
Pädagogen  betonte  geistige  Gymnastik  sei  im  allgemeinen  eine  leere 
Phrase,  die  nur  in  Bezug  auf  die  ausgezeichneten  Zöglinge  Sinn  habe. 
Dennoch  sei  das  Studium  der  grieehischoiL  Bj^aewsh»  Toa  dem  Qesieht»- 
punkte  der  nationalen  Cnltor  infittrsfe  widitig  und  dessen  gSosIielie 
Vernachlässigung  unTerantworÜich.  Er  sehUgt  deshalb  Ar  die  größeren 
Stidte  wiueittehaftliehe  Gymoasieii  yor,  deren  Schiller  zn  Gelehrten 
herangehildet  werden  nnd  eine  Befilhignng  znm  Besnche  der  ans- 
Undiscben  üniversitftten  erhalten  sollen. 

PKiU«ogi«B.  U.M1V.  Halt  IV.  17 


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—   226  — 


Zu  diesem  Artikel  haben  gleich  darauf  fünf  Schulmänner  ihre 
Anschauungen  eingesendet  und  manches  Unklare  und  Unvollständige, 
was  dem  iSchwartzschen  Artikel  anliaftet,  augegriffen;  zugleich  sind 
sie  mit  ihren  Propositi^nen  lieivorgetreten,  von  denen  aber  keine 
einer  besonderen  Würdigung  wei-t  erscheint.  Am  aulfallendsten  war 
nur,  dass  niemand  sicli  dand»  aufgehalten,  dass  diese  wissenschaftlichen 
Gymnasien  „Gelehrte'*  hei auzubilden  haben;  denn  wie  nebelhaft  und 
uncorrect  dieser  Ausdruck  bei  einer  Schulorgauisatiunsfiage,  also 
Lebensfrage,  ist,  braucht  kaum  des  nähereu  dargelegt  zu  werden. 

Auf  Grund  dieser  fünf  polemischen  Artikel  hat  J.  Schwartz  in 
einem  Schlussai  tikel  seine  Ansichten  viel  klarer  ausge])rägt.  Er  stellt 
sich  auf  den  Standpunkt  der  einheitlichen  Mittelschule,  die  das 
Griechische,  weil  es  gar  zu  schwer  ist  und  die  Jugend  unnützerweise 
überbiirdet,  ausschließt;  dennoch  soll  das  Griechische  nicht  völlig  ver- 
bannt werden,  und  es  sollen  nicht  einmal  besondere,  die  Einheit  der 
Mittelschulen  störende  Anstalten  znr  Cultivirung  des  Griechischen  er^ 
richtet  werden,  —  dazn  genüge  die  folgende  Einrichtung:  Die  vier 
unteren  Glassen  der  einheitlichoi  Mittelscbnlen  sollen  überall  gleich 
sein,  mit  dem  Lateinischea  als  einem  obligaten  Gegenstand;  die 
Tier  oberen  eboifolls;  nur  in  den  grOfieren  Städten  wird  für  die 
Tier  höheren  Classen  ein  Parallelears  errichtet,  „wissenecfaaftliches 
Oymnasittm^  genannt,  der  eine  Gelegenheit  znr  Erlernnng  des  Griechin 
sehen  bieten  'wird,  indem  es  als  obligater  Gegenstand  in  den  Lehr- 
plan aufgenommen  wird.  Überhanpt  ist  die  Anfgabe  diesee  ParaUel- 
corses,  „wissenschaftUcbee  Gymnasium**  genannt,  keine  geringe;  es 
werden  nur  gnte  Zöglinge  aufgenommen,  sie  werden  aber  neben  all 
dem,  was  die  fibrigen  zn  lernen  haben,  noch  erhalten:  das  Grieehiscfae 
nnd  zwar  ganz  ernst,  wie  in  d«i  fibrigen  Sdralen  Europas,  im  Latei- 
nischen zwd  Standen  wöchentlich  mehr  als  die  fibrigen;  ferner,  die 
in  der  Phyaik  nnd  Natorwissenschaften  anegeseichnet  sind,  in  der  YII. 
und  VHL  dasse  auch  noch  in  diesen  Gegenständen  um  dnige  Stunden 
mehr.  Welchen  Wert  das  Zeugnis  Ton  dieser  Anstalt  für  das  weitere 
Studium  eines  giflddichen  Schfllers  des  wiasenaehaftlichen  Gymnasiums 
haben  soll,  daröber  fMeaa  positive  Anhaltspunkte  in  der  DarsteUnng 
des  Herrn  Schwarte  Da  die  Mittebchnle  einheitlich  wird,  werden  auf 
den  juristischen  und  medicinischen  Faeultäten  gewiss  auch  Schfller 
ohne  das  Griechische  aufgenommen,  ja  auch  auf  der  philosophischen, 
ausgenommen  etwa  die  Lehreandldaten  der  lateinischen  Slprache.  Was 
können  nun  Torzugsweise  die  Musterbilder  der  Jugend  werden?  Theo- 
logen und  lateinische  Philologen;  die  ttbifge  Bemfiibildung  kann  sich 


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ein  .Tfmt^Iing  auch  ohne  die  vei^ebliche  Mühe  aneignen.  Und  ob  es 
den  Interessen  der  Theologie  und  der  classischeu  Philologie  dienen 
wird,  dass  das  Griechische  nur  an  so  wenig  Orten  gelehrt  wird,  ist 
nicht  schwer  zu  errathen.  Eine  Men^^e  von  Einwendungen  knüpft  sich 
an  diesen  Entwurf;  nur  die  guten  Schüler  können  zum  giiechischen 
Unterricht  zugelassen  werden;  sollen  also  nur  solche  'J'heolosfen  und 
classische  Pliilologen  werden  können?  Oder  werden  die  guten  Schüler 
an  dem  Unterrichte  theilnehmen,  wenu  sie  nicht  das  werden  wollen? 
und  so  weiter.  Aber  nicht  nui-  diese  Schwierigkeiten  verrathen  die 
Oberflächlichkeit  dieses  Entwurfs;  der  pädagogische  Dilettantismus 
tritt  am  besten  in  dem  Lehrplan  des  ..wissenschaftlichen  Gymnasiums" 
zum  Vorschein.  Dasselbe  soll  mindestens  um  sechs  Stunden  mehr 
haben  als  die  entsprechenden  (lassen  der  einheitlichen  Mittelschule; 
denn  vier  Stunden  auf  das  Griei  hische  berechnet,  ist  noch  beinahe  zu 
weni«r,  dazu  die  zwei  lateinischen  Stunden.  Ist  das  nicht  die  be- 
kämpfte Überbürdung?  Oder  darf  man  die  guten  Schüler  aller  ihrer 
freien  Zeit  berauben,  ihre  Aufgaben  bis  zum  Maximum  steifj^ern?  Ge- 
wiss nicht.  Die  Hälfte  der  guten  Schüler  recrutirt  sich  aus  .Uing- 
lingen,  die  ihren  Fortschritt  weniger  ihren  Anlagen  als  ihrem  Fleiße 
verdanken;  soll  man  diesen  den  l^ortscliritt  unmöglich  machen?  Und 
sollten  es  auch  lauter  ausprezeichnete  Schüler  sein,  die  Zöglinge  des 
wissenschaftlichen  (Jymnasiums  werden:  ist  es  gerathen,  ihre  ganze 
Zeit  für  die  Schule  zu  confisciren  und  einer  selbstthätijjen,  selbst- 
gewählten Beschiüligiiug,  die  doch  den  meisten  Wert  hat,  in  den  Weg 
zu  treten?  l^nd  was  von  dem  Standpunkte  der  einheitlichen  Schule 
nicht  minder  gewichtig  ist:  kann  man  von  einer  solchen  bei  einer 
solchen  Einrichtung  noch  sprechen?  Oder  wird  die  kleine  Zahl  solcher 
Anstalten  überhaupt  gar  nicht  in  Betracht  kommen  können?  Welchen 
Zweck  erfüllen  sie  dann?  Ob  sich  die  Zöglinge  noch  in  ihrem  weiteren 
Wirken  mit  dem  Griechischen  beschäftigen  werden  —  um  die  Wissen- 
schaftlichkeit  des  Vaterlandes  auf  dem  europäischen  Niveau  zu  eiv 
halten  —  ist  fraglich,  wenn  sie  aber  es  auch  tbun  sollten,  itlr  wen 
sollen  sie  es  than?  Und  wenn  von  dem  griechischen  Stndinm  ein  be- 
frachtender Einfloss  auf  die  ganze  Gesinnung  des  SchOlera  gedacht 
worden  ist,  der  sich  im  ganzen  geistigen  Schaffen  desselben  äußert, 
ist  es  dann  verbüi  gt,  dass  ans  den  Kreisen  dieser  Schfller  die  be- 
mfensten  Vertreter  der  Wissenschaft  hervorgehen  werden?  Hat  doch 
einer  der  Polemisirenden  dagegen  nicht  ohne  Becht  angeführt,  dass 
man  sowol  angarischer  Unterrichtsminister,  als  auch  Präsident  der 
ungarischen  Akademie  ohne  das  Griechische  werden  kann. 

17* 


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Dieser  nicht  ohne  gewisse  Autorität  angeföhrte  Gedanke  eines 
„inflsenscbaftlichen  Gymnasiums'^  scheint  ims  also  weder  pädagogisch 
richtig,  noch  überhaupt  lebensfähig  za  sein.  Solche  kleinliche  Mittel 
werden  die  griechische  Sprache,  besser  das  griechische  Studium,  nicht 
retten.  Wenn  der  äußere  Zweck  fehlen  wird,  wird  der  ideelle  viel 
sa  wenig  wirken.  Es  muss  ja  die  Wissenschaft  und  das  Leben 
derart  miteioander  verbunden  sein,  dass  ein  Scheiden  derselben  beiden 
nachtheilig  erscheine.  Herr  J.  Schwartz  ist  überzeugt,  die  Vernach- 
lässigung des  Griechischen  würde  die  Wissenschaft  zu  dem  Stand- 
punkte vor  der  Renaissance  degradiren.  Ob  der  Unterrichtsminister 
diese  Meinung  liat,  wissen  wir  nicht:  nur  soviel  verrät h  der  Herr 
Abgeordnete  Schwartz.  dass  das  Abgeordnetenhaus  des  Ministers  Ab- 
sichten unterstützen,  votiren  werde;  ol)  iu  der  angekündigten  SchrolF- 
heit^  darüber  erweckt  der  Kettungsgedanke  des  Heirn  J.  Schwartz  ge- 
rechte Zweifel.  Wie  wir  sahen,  gibt  dieser  Rettiiii^'^sjiedanke  für  das 
Griecliische  die  Rettung  niclit;  —  wird  der  Herr  Minister  einen  anderen 
finden  oder  die  Kühnheit  liaben  — ■  den  unbedingten  Ansscliluss  zu 
vollbringen  und  die  Fäden  einer  jahrhundertelangen  Tradition  auf 
einmal  zu  zerreißen?   naiiiber  wird  die  näcliste  Zukunft  belehren. 

Im  Landesunterrichtsrathe  gt  laiiLrte  dit-  i^'rage  in  den  letzten 
Tagen  zur  Erörterung;  die  Schwierigkeit  der  Entsclieidung  wurde  aus 
den  einzelnen  Aulierungen  ersichtlich;  —  dass  die  Erziehung  nicht 
nur  eine  praktische,  sondern  auch  eine  historisch-ideelle  Richtung 
liaben  soll,  wurcle  betont;  dennoch  scheint  der  Landesunterrichtsrath 
der  ministeriellen  Anschauung  günstig  zu  sein  und  die  Ausschließung 
des  Griechischen,  weil  es  zur  Uberbürdung  führe,  zu  unterstützen. 
Man  darf  gespannt  sein,  wie  die  Unterrichtsverwaltung  diesen  Plan 
ausführen  wird.  Und  wie  wird  die  nicht  genug  zu  schonende  Jugend 
—  von  dieser  angeblichen  Bürde  befreit  aufathmen  und  die  anderen 
Gegenstände  pflegen! 


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Die  lateinlosen  höherem  Bürgerächulen. 


Im  NoT«B]iali«fte  (S.  184)  habM  ulr  die  ntna  „Zeitschrift  fSr  latein- 
loM  bShere  Sebnlen*  «ngMeigt;  mn  nvn  den  Zweck  denelben  gentner  dann- 

l^en,  bringen  wir  ans  ihrem  ersten  Artikel  (von  Dr.  A.  MAtthlaB-Düsseldotf) 
die  Hanptstellen  über  Aufgabe  und  Notbwendigkeit  der  genannten  Hihhings- 
anstalten  hier  zum  Abdruck :  „Sie  wollen  etwas  Verständiges  lehren,  was  unser 
guter  Alittelstaud,  unser  deutsches  Biirgertbum  im  (ietriebe  des  Lebens  ver- 
mrUn  und  aaniitaen  kann,  was  Um  sofrleieh  aber  anch  befähigt,  im  Glflek 
ud  im  Unglttck,  im  Wolaein  mid  im  Kampfe  nma  Dasein  mit  idealem  Streben 
nnd  reinem  Herzen  dem  I>eben  und  seinen  Forderungen  gegenüberzustehen.  Die 
höhere  Bürgerschule,  die  den  Zögling  mit  dem  vollendeten  neunten  Lebensjahre 
aufnehmen  w^ill,  sucht  dieses  Ziel  zu  erreichen  in  sechs  weiteren  Jahren,  so 
dass  sie  unter  ganz  regelmäßigen  Verhältnissen  mit  dem  vollendeten  15.  Jahre 
ihre  SehtUer  ins  Leben  sendet  Ans  ihrem  Lebrplaoe  scheidet  das  Lateinische 
ans.  FranzSeisch  nnd  Englisch  wird  in  dem  Mafie  betrieben,  wie  die  £ntwieke> 
lang  des  modernen  Verkehrslebens  es  wünschenswert  erscheinen  lässt.  Der 
mathematisch-naturwissenschaftliche  Unterricht  niuinit  auf  die  Bedürfnisse  des 
praktischen  Lebens  besondere  Rücksicht  Im  Mittelpunkte  des  Unterrichtes  aber 
•oll  das  Deutsche  stehen  tiieils  dnidi  den  üntarrleht  in  der  Matterspraehe 
aelbat,  theOs  dadurch,  dass  am  Betreibeii  der  fremden  Spracheigenheitea  der 
Blick  iltr  die  eigenen  Sprachbesonderheiten  geschürft  wird,  theils  dadurch,  dass 
der  gesammte  Lehrbetrieb  anleitet,  für  jeden  Gedanken  den  richtigen  nnd 
treflFenden  Ausdruck  und  eine  gut  pewahlte  Form  zu  finden. 

Vor  allem  haben  diese  gesunden  Anstalten  den  weiteren  Beruf,  dem  vi^ 
flush  nngenmden  Zustande  nnsetw  hiQheren  Bildung  fiberhaapt  absahellbn. 
Man  hat  ansgerecbnet^  dass  vihrend  des  fSn^fthrigen  Zeitraames  tco  Ostern  1882 
bis  Ostern  1887  aus  sammtlichen  preußischen  Gymnasien  und  Progymnasien 
ca.  39CK)0,  aus  sämmtlichen  Realgymnasien  und  Rculprogymnasien  aber 
ca.  2(3  000  Schüler  ohne  das  Reifezeugnis  ins  Leben  getnit  n  sind;  jene  Zahl 
beträgt  7iO>  */io  ^^^^^  ^  jenen  Jahren  von  den  genannten  Anstalten 

Vberhaiipt  abgegangenen  Sdilller.  Bei  den  meisten  Schülern  Ist  nnmnreichende 
Begabung  nnd  ein  unzureichendes  Interesse  für  die  hochliegenden  Büdungsziele 
die  Ursache  unzureichenden  Fleißes  und  unzureichender  Leistungen.  Die  Folge 
davon  ist  weiter,  dass  diese  große  Anzahl  von  SchiUem  ohne  abgerundete,  ab- 


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gescblosBene  und  grfindliche  Vorbfldnng  ins  Leben  tritt.  Es  fehlt  ihnen  ein 
brauchbares  alltremeines  Wissen;  es  fehlt  ihnen  die  nöflii^e  Umsicht,  der 
nöthige  Scharf  Mick  für  praktische  Verliältnisse.  die  F.'lhigkcit  raschen  Ein- 
ond  Zugreifeuä,  durch  welche  andere  Völker  uns  so  vielfach  überlegen  sind; 
es  fehlt  ihnen  die  nSthige  Yorbereitiing  Ar  ihren  besonderen  Beruf;  es  fehlt 
ihnen  Gabe  nnd  Lost  für  die  kleinen  Dienste  des  Tages  nnd  die  untergeordneten 
Hanttmngen,  die  das  gewerbliche,  kaufmännische,  praktisclic  Leb^n  überhaupt 
nnn  einmal  orfordert.  Dazu  sind  ihre  Lebensverhältnisse  verschoben  und  vor- 
schroben  worden  durch  den  Umgang  mit  Söhnen  aus  Familien,  in  denen  geistige 
Arbeit  und  geistiges  Schaffen  im  Vordergründe  des  Interesses  steht.  Diese  von 
den  Gymnasien  nnd  Realgymnasien  Abgehenden,  die  znm  Theü  mehr  doreh 
„Ersitzen",  also  eine  sehr  einseitige  körperliche  Thütigkeit,  nicht  aber  durch 
geistige  Anstrengung:  ihre  Militllrberechtigunpr  und  ihre  unfertige  BiMung;  sich 
erworben  haben,  venntliren  das  halbfrebildete  Proletariat  in  unserem  Staate 
und  richten  mit  ihrem  halbfertigen  und  raschfertigen  ürtheil  nichts  Gates  an; 
erreielieii  sie  mit  ihrer  Halbbildang  niehts  Rechtes,  so  werden  sie  nnsofrieden 
nnd  vermehren  die  Zahl  deijenigen,  denen  unsere  heutige  Gesellschaftsordnung 
ein  Dorn  im  Ange  ist.  Es  kommt  hinzu,  dass  diese  Leute  neben  falscher  Bil- 
dung auch  falsche  Lebenssrwnhnbeitpn  nnd  LebenRansjirürho  mit  ins  Leben 
hinansnehmen  und  in  einem  Gedankenkrt  ise  sich  bewegen,  der  sie  in  untresunder 
Weise  hinaushebt  über  die  häusliche  Umgebung,  in  welcher  Vater  und  Mutter 
oder  dieser  nnd  Jener  Bruder  beseheidener  Arbeit  sich  widmet  Sind  diese 
Schüler  nnn  gar,  was  durch  das  lange  Sitten  auf  der  Schulbank  nicht  selten 
vorkommt,  inzwischen  „alte  Knaben"  von  17,  18.  19,  ja  von  20—21  Jahren 
geworden,  daim  sind  sie  erst  recht  zu  stolz,  sich  einem  besdieidenen  Handwerk 
zu  widmen,  ja  zu  stulz,  dieses  gebüreod  zu  achten.  Es  werden  auf  diese  Weise 
dem  Staate  und  dem  bürgerlichen  Leben  immerfert  Krtlfte  entzogen,  die  ihm 
mit  anderer  Büdnng  bessere  Dienste  bitten  leisten  kSnnen. 

Die  höheren  Bflrgerschnlen  haben  den  Beruf,  solchen  Missständen  entg^cen- 
marbelten  und  uns  einen  gediegenen  Mittelstand  zu  erhalten  nnd  da  neuzu- 
schaiVen,  wo  er  etwa  schon  Schaden  jirelitten  hat.  Hebun^r  des  deutschen 
Mittelstandes,  Hebung  deutscher  Bürgerbilduug  ist  vor  allem  der  Beruf  der 
liSher«n  Bttrgersehnle. 

Man  sieht,  der  Beruf  der  hSheren  BHii^eraehnlen  ist  ein  schöner  nnd 
idealer.  Er  wird  noch  erfreulicher  erscheinen,  wenn  man  erwägt,  dass  diese 
Schulen  vielleicht  einmal  bestimmt  sein  könnten,  unserem  Berechtigungswesen 
gesundere  Formen  zu  geben.  Thatsächlich  ist  unser  ganzes  Berecht igungsweseu, 
wie  es  besteht,  für  unsere  Volksbildung  ein  Übd  und  dn  Unglück,  wenn  auch 
leider  ein  notibwendiges.  Es  hat  den  Zweck  der  Bildung  Tcnehoben;  nnd 
gerade  die  armseligste  Berechtigung,  die  zum  einjährigen  Dienst,  hat  zur  Pflege 
von  Halbbildung  und  Seheinbildung  in  unserem  ^'olke  in  franz  erschrecklicher 
Weise  beigetragen.  Das  Berechtig-ungszeugnis  wird  au  einer  Stelle  ausgetheilt, 
wo  irgend  ein  Abschluss  der  Bildung  gar  nicht  vorbanden  ist;  ebenso  steht  es 
mit  den  anderen  sogenannten  Berechtigungen  -,  ganz  wülkfirlich  liegen  sie 
zwischen  Unter-  und  Obersecnnda,  zwischen  Obersecunda  nnd  Prima,  nwisdien 
ünter>  und  Oberprima;  daher  wird  denn  auch  von  dtsi  BehOrdoif  welche  diese 
Zeugnisse  fordern,  auf  den  Inhalt  der  Zeugnisse  weit  weniger  gesehen  als  auf 
die  Fonn.   Ist  Scbeitelspitze  und  Schwanz  in  Ordnung,  so  passirt  der  Schein; 


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wslü  dazwischen  steht,  wird  wenig  bt^acUtet,  ist  Nebensache;  der  äußerlich 
aiugMtellle  Schein  ist  die  Haaptaaehe.  Streng  genomnen  sollte  eine  Berediti- 
l^ong  doch  nur  an  solche  Zengnisse  sich  knfipfen,  die  sogleich  eine  hestimmte 

Beife  bezeagen,  die  wirkliche  Reifezengnisse  sind.  Das  aber  sind  doch  nur  die 
AbiturienteiizeagTiisse  der  betreffenden  Anstalten ;  jedes  fi  iihoro  Abfranf^^zeiiprnis 
bezeugt  lediglich  die  Unreife  gegenüber  dem  Ziele  und  dem  Zwec^ke  der  Schule 
nud  sollte  deshalb  wertlos  sein.  £s  wird  der  höheren  Bärgerschule  Beruf  sein, 
hier  kliiend  sn  wirken.  Sie  mnss  die  Überzeagnng  In  immer  weitere  Kreise 
hiDeintragen,  dass  nicht  die  Berechtigung  als  erstes  und  wichtigstes  Ziel 
ihres  Wirkens  erscheint,  sondern  ordentliche  Bildangi  die  in  gewissem 
Sinne  abgeschlossen  und  abgerimdet  ist.** 


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Zw  RefoTB  des  natnrgesehielitliehei  Untemelites. 

A.  Ebiige  Bemerlningeii  m  dem  Avftatse  des  Hem  Dr.  B.  Witlacsil-WieB, 

im  OctoberhdPte. 

Fo»  Ihr.  R  KieiiUng  wmI  EgmotU  ITakt»Le^^, 

In  der  obeDgauumten  Arbdt  wird  dne  Lmm  gebrodMB  flr  den  natnr- 

geschichtlicben  Unterricht,  wie  er  bisher  nach  Lübens  Vorgänge  ertheilt  wurde. 
Zwar  werden  die,  sowol  in  Jange's  „Dorfteich"  als  auch  in  unseren  Schriften*) 
nicderprelegten  Gründe,  welche  eiiu  stlieils  ge^en  systematischen  Unterricht 
sprechen,  anderentbeils  die  Berechtigung  der  von  uns  gemachten  Eeformvor- 
scUAge  nacliweiieD,  keinerngt  widerlegt  Jedoch  glaabt  der  Henr  VtfiMaer, 
einige  n^^rondfehler"  der  „Neuerer"  (mit  dem  letiteren  Aasdraeke  sind  Herr 
Haupth  hrer  Junge  und  wir  gemeint),  geAwdea  SQ  haben.  Deshalb  and  weil 
Herr  Dr.  Witlaczil  aiiGerdoin  in  so  nng-enaner,  wenig'  treffender  Weise  ül)er 
unsere  Be8trebung»*n  rtl'erirt,  dass  seine  Arbeit  wo!  arteig-tict  ist,  in  den  p^e- 
ehrten  Lesern  irrthümliche  Anschauungen  über  dieselben  autkommen  zu  lassen, 
sehen  wir  mis  zn  folgender  Entgegnnng  genSthigt. 

Herr  Dr.  Witlaczil  berichtet,  wir  suchten  das  klare  Verständnis  der 
Nntnr  „blos  in  der  Erkenntnis,  dass  die  Erde  ein  wolgeordnetes  Ganze  ist, 
dessen  einzelne  Glieder  sicli  nicht  nur  gegenseitig:  bedingen,  sondern  auch  den- 
selben allgemeinen  Lebensbedingungen  unterworfen  sind,''  und  darin,  dass  „der 
Mensch  ein  sowol  bedingendes  als  bedingtes  Glied  des  groften  Natorgaozen" 
set  Wir  sind  Jedoch  bestrebt,  du  Verständnis  der  Nntor  aueh  dnreh  Ver* 
mittelnng  der  Wahrheiten  anzubahnen,  „dass  jedes  Wesen  einen  in  seiner  Art 
vollkonimenen  Organismus  darstellt,  welcher  in  eigenartiger  Weise  bi  f.iliigt  ist, 
sich  das  Leben  /u  erhalten  und  zugleich  auch  dem  üestehen  des  grolien  (lanzen 
zu  dienen,"  und  „dass  das  gesammte  Naturlebeu  mit  seinem  Entstehen,  Keifen 
nnd  Yergehen  ein  nnnnterbroehener  EreislAnf  ist". 

Femer  sagt  Herr  Dr.  WitlacsU,  dass  wir  „vorwiegend  solche  Natnr- 
Itörper  auswUlilten,  deren  Beziehungen  zur  übrigen  >ratur  klar  ersichtlich  sind", 
während  doch  „vor  allein  das  Bedärfhis  des  praktischen  Lebens  maAgebead  sein'' 

*)'  Kießling  und  Pfals,  Wie  mnss  der  Natnrgeschichtsiinterrieht  sich  gestalten, 

wenn  er  der  Ausbildung  des  sittlichen  Charakters  dienen  soll?  Eine  Meihodik  des 
NaturgeschicbtsuAternchtes  nach  refbrmatorischen  Qruodsätcen.  Brauoachweig,  firuhns 
Verlag.  Ferner:  Alte  nnd  neue  Methoden  des  NatorgesdiiehtsoBterrichtes.  Histonscfa- 
kritis<  he  n»-leu(  htuni;  der  P.r^tn  bnngen  auf  (lit  SMin  ("!t-hiete  seit  Lüben.  Leipzig,  Usx 
Uesse's  Verlag.  —  Diese  letztere  Schrift  wird  Uerra  I>r.  Witlaczil  auch  zeigeOt  dass 
die  BedentDDg  Darwins  uns  dodi  nicht  so  ganz  entgangen  ist,  wie  er  meint,  soadeni 
dass,  außer  bis  zu  ihm,  auch  bis  zu  uns  di<'  Knni.'  von  diesem  Manne  gedrungen 
ist.  Dass  wir  in  der  zuerst  geuannten  „Methodik"  keine  Veranlassung  hatten,  von 
ihm  SU  reden,  bedarf  wol  keiner  weiterai  Dadegnng. 


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—   233  — 


müsse.  Es  niuss  dies  zu  der  Annahme  fiiliren,  dass  wir  das  letztere  unberüok- 
sichtigt  gelassen  hätten.  Allerdings  tretfen  wir  die  Aaswahl  nicht  lediglich 
▼om  Nfttsl{ehkeits8taad]Hinkt6  ans;  trotsdem  haben  wir 'aber  bei  deneLben  doeh, 
wie  unsere  Handbflcber*)  aar  Genüge  seilen,  und  wie  wir  aaeh  in  unaerer 
„Methodik"  ausdrücklich  hervorheben,  nimmer  solche  Objecto,  welche  zam 
Menschen,  dem  höchstentwickelten  aller  Naturwesen,  in  irg-end  einer  Beziehung 
stehen,  sei  es,  dass  er  sie  seiner  £xistenz  dienstbar  macht,  oder  dass  ihm  ihre 
Betrachtung  Gennss  gewälirt»  vor  allen  anderen  berücksichtigt. 

In  dem  bereiten  Anfwtae  wird  noeli  hervoigthoben,  daae  wir  die  ana- 
ländischen  Objecte  im  naturgeschichtlichen  Unterridite  unberücksichtigt  ließen. 
Dies  beruht  auf  Wahrheit.  Die  folgenden  Ausführungen  des  Herrn  Dr.  Witlaczil 
jedoch  und  insbesondere  die  Worte:  „dass  man  das  Entferntere  und  was  sich 
überhaupt  nicht  anschaulich  macheu  lässt,  einfach  vom  Unterrichte  ausschließt, 
ist  ein  neuer  Grondaats,"  mSaien  zu  der  Meinung  vorioiten,  daaa  wir  die  aus- 
llndiadien  Üatnrol^leete  flberhaapt  aua  dean  ünterriehte  der  Volkaaehule  enttont 
wissen  wollten.  Das  ist  jedoch  nielit  der  Fall.  Wir  schUeAen  aie  zwar  ans 
dem  Naturgeschichtsunterrichte  ans.  weil,  wie  wir  in  unserer  „Methodik" 
(pag.  27 — 33)  dargelegt  haben,  „ihre  Besprechung  sich  weniger  als  diejenige 
einheimischer  Objecte  dazu  eignet,  klares  Verständnis  der  Natur  anzubahnen 
uid  liebe  aar  Natur  an  erwedien/  und  weil  dieae  Objeete  aneh  »inlblge  der 
eigenartigen  unterrichtlichen  Beliandlnng,  welche  sie  erfahren  müssen,  wenn  sie 
in  rechter  Weise  gewürdigt  werden  sollen,  nicht  in  den  Rahmen  des  natur- 
geschichtlichen Unterrichtes  passen^  —  weisen  sie  jedoch  der  Geographie  und 
anderen  Disciplinen  zu  und  begründen  dies  an  obenbezeichneter  Stelle  auch 
anefuhrlidi.  So  lange  nun  Herr  Dr.  Witlaczil  nur  behauptet,  dass  wir  ans 
Irren,  ohne  daaa  er  ee  aber  nnteminunt,  unaere  Auaflihmngen  an  wideriegen, 
darf  er  ea  uns  aneh  nieht  venigen,  wenn  wir  auf  unserem  Standpunkte  be- 
harren. 

Weiter  ist  in  dem  in  Rede  stehenden  Aufsätze  (resagt,  das.s  wir  die  ..Ver- 
wertung des  Systems  in  der  Volksschule  überhaupt  bekämpften^'.  Diese  Behauptung 
igt  unberechtigt.  Zwar  gehen  wir  nicht  vom  Syateme  aus  und  machen  ea  nicht 
Bom  Piincip  der  Anordnung,  wol  aber  ist  ee  uns  eine  Frucht  des  ünterrichtea, 
wie  aus  den  Abschnitten  auf  pag.  133—138,  241  und  242,  320—328  des 
ersten  Bandes  und  101  —  154,  191 — 208  und  328—337  des  zweiten  Bandes 
unseres  „HandbuchB.s "  zu  ersehen  ist.  Die  Gründe,  welche  wir  für  diese  Art 
der  methodischen  Gestaltung  des  Unterrichtes  geltend  machen,  sind  von  Herrn 
Dr.  Witlaczil  nicht  widerlegt  worden. 

Was  er  zur  Erhärtung  seiner  Anschauungen  anführt,  können  wir  nicht 
als  richfi?  anerkennen.  Er  meint  nflmlich.  das  System  solle  deshalb  „als  Grund- 
lage in  der  Anordnung  Verwendung  tiiiden'^,  weil  es  „d^n  Zusannnenliang:  der 
Naturkörper  erkennen  lässt** ,  d.  h.,  weil  es  uns  „den  natürlichen  Stammbaum 
dar  Lebeweaen  vwfBhrt*.  länen  aolchen  Stammbaum  kBnnta  man  Jedoch  auch 
anfttellen,  ohne  daaa  man  die  einaebgm  Objecte  in  ^yatematiacher  Beihenfolge 
beapriche.  Sagt  doch  auch  Herr  Dr.  Witlacail  aelbet:  „Bs  hindert  nichta,  daaa 

*)  Kießling  und  Pfalz:  Metbodifiches  Handbuch  für  den  ünterricht  an  Yolka* 
und  höh-ren  Mäih  hoiuschulcn.  2  Bände,  Braun.schweiir,  Brulms  Verlap:.  —  Ferner: 
Naturgeschichte  für  die  einfache  Volksschale.  Ein  Handbuch  für  Lehrer.  Braun- 
schweig,  BnAoB  Yerkg. 


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—   234  — 


Pflanzen  und  Insecten  aus  naheliegenden  Gründen  im  Sommer,  und  zwar  in  der 
Keihenfolge  ihres  Auftretens  (also  nicht  in  systematischer  Keihenfulge!  D.  Verf.), 
zar  Besprechons  gelangMi.*  Was  er  lua  xam  Vwwnrf  macht,  beförwortet  er 
also  doeli  adbat:  das  Yeriassai  der  systeiiiatiBehen  Reihenfolge. 

Zudem  kommt  es  uns,  wenn  wir  BMk  systematisclie  Zusammenstellungen 
geben,  in  denen  keine  der  llaupt^^mppen  nnberücksichtigt  bleibt,  s^ar  niflit 
darauf  an,  einen  Staminbamn  vorzuführen.  Denn  wenn  durch  einen  solclien  die 
gesammte  lebende  Natu-  als  einheitliche  Eotwickeluug  aus  gemeinsamer  Wurzel 
dargestellt  werden  sollte,  so  nflsste  doch  wenigstens  die  Entwickeliingsgescliichte 
dner  Anzahl  Repräsentanten  der  wichtigsten  Abtheilingea  lebmder  Wesen  von 
den  niedrigsten  bis  zu  den  höchsten  in  genetischem  Zusammenhange,  verbanden 
mit  der  gescliichtlichen  Entwickelung  und  allmllhlichen  üifferenzirung  der 
wicluigsten  Organe  und  ilirer  B'unctionen,  zur  Anschauung  gebracht  werden, 
dfirften  femer  auch  frühere  Epochen  onserer  Erdgeschichte  nicht  anberück- 
sichtigt bleiben«  Dass  man  aber  damit  der  Fasnungslcraft  der  VolkasehtUer 
Unmögliches  snmnthen  würde,  branchen  wir  wol  nicht  erst  zu  beweisen.  Die 
Volksschule  niuss  sich  mit  dem  thatsächliclien  Befunde,  wie  ihn  die  Natur  der 
Jetztzeit  liietet.  und  mit  der  elementaren  Erklärung  desselben  begnügen. 

Zu  dem  kommt,  dass  selbst  unsere  sogenannten  natütliclien  Systeme  doch 
noch  hypothetischen  Charakters  sind  ond  keineswegs  mit  apodiktischer  Gewiss- 
heit die  genetjsehcii  Besiehni^peii  dar  Wesen  snm  Ansdnick  bringen,  dfirften 
doch  sonst  die  Heinangen  der  Forscher  über  diesen  Gegenstand  nicht  ver- 
schieden sein.  Es  werden  sich  aber  derartige  Verschiedenheiten  immerfort 
zeigen,  wenigstens  so  lange,  als  menschliche  Auffassung  und  der  Standpunkt 
menschlicher  Erkenntnis  wandelbar  sind,  lääst  sich  doch  der  subjective  Autheil, 
den  menschliche  Oeistesthfttigkeit  an  dem  Anfbaae  des  Systems  hat,  nichf 
hinweglengnen.  Dass  wir  mit  diesen  unseren  Ansehanongen  nicht  vereinzelt 
dastehen,  beweist  ein  An.espruch.  welclien  vor  nicht  zu  langer  Zeit  Professor 
Schwendener  in  einer  Rede,  gehalten  bei  Antritt  des  Rectorats  der  Königl. 
Friedrich -Wilhelm-Universität,  getban  hat:  „Wer  das  vorhandene  Thatsachen- 
material  (mikroskt^isdMr  Fonichang)  nnbefangen  dorohmostert,  wird  sieh  kanm 
der  Überaeoguig  TerschlieBen  könnoi,  dass  die  vergleichende  Anatomie  frfiher 
oder  spftter  mit  dem  Systeme  selbst  in  Conflict  kommen  muss.  Zweifel  an  der 
▼ielgertthmten  Natürlichkeit  desselben  sind  namentlich  mit  Rücksicht  auf  die 
Dycotyledonen  schon  öfter  ausgesjtidchen  worden,  und  in  der  That  erweisen 
sicli  hier  bei  näherer  Betrachtung  nur  die  Familien  und  hier  und  da  kleine 
Familiengruppen  als  natfirlich,  d.  h.  durch  die  Oesammtheit  der  Charaktere 
abgegrenzt;  alles  ftbrige  ist  aasschließlich  aaf  Merkmale  der  Blfiten  nnd  Frttchte 
basirt  und  muss  daher  als  künstlich  bezeichnet  werden.  Damit  ist  zugleich 
gesagt,  dass  eine  solche  Grujjpe  unmöglich  der  Ausdruck  genetischer  Beziehungen, 
oder,  wie  man  auf  zoologischem  Gebiete  zu  sagen  pflegt,  der  Bluisverwandtschaft 
sein  kann.  Bezfiglich  der  Blütenformen  ist  im  Qegentheil  jetzt  anerkannt, 
dass  viele  derselben  nnr  als  Anpassung  an  die,  hei  der  Bestftnbnng  mitwirken- 
den Insecten  und  keineswegs  als  Kennzeichen  gemeinsamer  Abstammung  OL 
deuten  sind.  St»  kehren  z.  B.  die  Blüten  mit  Ober-  und  Unterlippe,  mit  langen 
]\'öhren  (ider  Sporen  etc.  bei  den  veischiedensten  Familien  wieder,  die  offenbar 
weit  auseinander  liegenden  Geuerationsreihen  angehören. 

WeDB  aber  diese  Stammhlliime  noch  hypothetischea  CkmkXen  sind,  so 


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—  286  — 


■ 

gdidren  sie  nicht  in  dieYolkiMliiile,  d«Ba  üim  mm  aftili  TonProUema  ftm- 
halten  und  darf  nur  du  ftttfiiehmen,  was  als  gesjflhcrtft wissMiBehaftUche  Wahi^ 

hflit  betrachtet  werden  kann. 

Ferner  wird  uns  in  der  Arbeit  des  Herrn  Dr.  Witlaczil  zum  Vorwarf  ge- 
macht, dass  wir  jeden  Natarkörper  als  einen  in  seiner  Art  ToUkommenen 
Organismiis  ansehen,  und  awar  deshalb  mm  Vorwarf  gonaeht,  weil  eine  solehe 

Betrachtnngsweise  den  Lehren  „vom  Kam]ife  nms  Dasein"  ntid  \  on  der  „natfir- 
liehen  Zuchtwahl"  widerspreche  und  darnm  ntir  aus  einer  ^ falschen  Aofifossimg 
der  modernen  Xaturwisspnschaften  iiborliaupt"  zu  erklären  sei. 

Dem  gegenüber  müssen  wir  bemerken,  dass,  wenngleich  wir  Gegner  der 
Anfliahme  Darwinscher  Theorien  in  die  Volkssebnle  sind  —  die  Orfinde  dafür 
liaben  wir  in  nnserer  Sehrift  »Alte  nnd  nene  Methoden  des  Natnrgeschiehts- 
nnterrichtes"  dargelegt  — ,  unsere  Anffassung  derNatnr  doch  keineswegs  dem 
Standpunkte  der  jetzigen  Naturwissenschaften  zuwiderläuft;  denn  auch  von 
diesem  aus  ist  man  wol  berechtigt,  jeden,  selbst  den  niedrigsten  Naturkürper 
als  einen  in  seiner  Art,  also  relativ  vollkommenen  Organismus  anzu- 
sehen. Ist  ja  doch  gerade  die  sweckmftftige  Einrichtung  der  lebenden 
Organismen  die  Consequenz  der  natürlichen  Zuchtwahl,  folgt  ans 
ihr  mit  starrer  Nothwendigkeit.  weil  nacli  dem  Princip  der  natürlichen  Züchtung 
nur  die  Wesen  den  Kampf  ums  Dasein  bestellen  konnten,  welche  durch  be- 
sondere Eigenschaften  am  günstigsten  gesteilt  waren,  oder,  weil  nur  das 
Passendste  alles  andere  ftberlebte.  Denn  wenn  nicht  jeder  Natnrkötper  ohne 
Ausnahme  einen  Organismus  darstdlte,  der  den  ihm  eigmihflmlicbeu  Emilirungs- 
nnd  Lebensbedingungen  am  bestoi  angcpasst  ist,  würden  nicht  gerade  die  am 
tiefsten  stehenden  Wesen  einen  so  außerordentlichen  Formenreichthum  zeitren, 
würden  nicht,  wie  es  thatsächlicli  der  Fall  ist,  gerade  die  einfachsten  (^iehilde 
eine  so  wichtige  Stellung  im  Haushalte  der  Natur  einnehmen,  eine  Stellung, 
in  welcher  sie  durch  keine  anderen  Wesen  sn  ersetsen  sind  und  durch  welche 
sie  die  Bedingung  f&r  die  Existenz  zahlloser  höherer  Organtanen  werden. 

Da  die  Zweckmäßigkeit  der  vorhandenen  Eigenschaften  von  dem  Principe 
der  natürlichen  Züchtung  gefordert  wird,  kann  die  Meinung,  dass  jedes  Wesen 
ein  in  seiner  Art  vollkommener  Organismus  sei.  auch  dadurch  nicht  erschüttert 
werden,  dass  Herr  Dr.  Witlaczil  an  Orgaue  erinnert,  die  „ihre  ursprüngliche 
Bedeutung  ▼erloren  haben,  vieUeieht  dafttr  eine  secundftre  Aufgabe  erhalten 
haben,  vielleicht  aber  auch  ohne  Bedeutung  für  den  oiganlsmus  sind",  an  die 
sogenannten  rudimentären  Organe,  an  denen  sich  infolge  des  Nichtgebrauchs 
eine  Keduction  vollzogen  hat.  Außer  ihnen  gibt  es  noch  verschiedene  andere 
Merkmale  der  Wesen,  die  für  ihre  Besitzer  ohne  Bedeutung  zu  sein  scheinen 
und  welche  bereits  NKgeli  u.  a»  als  Binwarfe  gegen  die  Selectionstheorie  ge- 
dient haben.  BesH^ch  der  letsteren  sagt  Darwin  selbst  einmal,  es  ezistirten 
sogar  bei  hSheren  Thieren  Klhiiertheile  von  solcher  Entwickelung,  dass  an  ihrer 
Bedeutung  nicht  gezweifelt  werden  könne,  dass  aber  dieselbe  trotzdem  lange 
Zeit  unbekannt  oder  vielleicht  jetzt  noch  nicht  ermittelt  geblieben  sei.  Und 
auch  über  den  Nutzen  oder  die  Nutzlosigkeit  der  ersteren,  der  eigentlichen 
rudimentSren  Organe,  wird  man  nur  mit  größter  Vorsicht  entscheiden  kOnnen. 
VieUhch  haben  sie,  wie  auch  Herr  Dr.  Witlaczil  selbst  zugibt,  eine 
secundäre  Bedeutung  erhalten.  Wenn  wir  dieselbe  nicht  in  allen  Fällen 
kennen,  dürfen  wir  mit  so  weniger  Sicherheit  auf  ihr  Fehleu  schließen i  als 


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—   236  — 


dipse  secinKlilren  Functionen,  welche  die  radimentären  Organe  erhalten  haben, 
zunächst  schwer  nachzuweisen  sind.  Zu  dem  kommt  noch,  dass  ein  Organ 
früher  nützlich  gewesen  sein  kann,  während  es  später  infolge  veränderter 
Leliensbedingongai  keinen  Vortheil  mehr  m  gewähren  Teming.  Damm  dfirfte 
man  wol,  selbst  wenn  der  Nachweis  einer  secundilren  Function  unmöglich  wäre, 
nielit  in  (ii  tn  \'orhandf'!iSf  iii  des  Ktulinienta  eine  Unzwecktiiiißiürkeit  sehen,  son- 
dern raüsste  vielmehr  in  der  Hiickbildung  selbst,  welche  das  onnötliig  gewordene 
Organ  erfahren  liat.,  eine  Zweckmäßigkeit  erkennen. 

Ans  dem  Gesagten  geht  horor,  dass  steht  wir  in  einer  „ilalsdien  Anf* 
fassnng  der  modernen  Natorwissensehaft"  befimgmi  sind,  smidem  dass  vielmehr 
Herr  Dr.  Witlaczil,  wenn  er  sagt:  „Wim  jeder  Organlarnns  in  seiner  Art  voll- 
kommen,  so  ^ilbe  es  keine  Vervollkommnung  mehr,  es  gäbe  keine  natürliche 
Zuchtwahl",  die  gesanimte  Darwinsche  Theorie  in  Frage  stellt,  obgleich  es  sonst 
den  Anschein  hat,  als  ob  er  für  dieselbe  eintreten  wolle. 

Sehen  wir  uns  also  schon  ans  wissenschaftlichen  GrBnden  gezwungen, 
jedes  Wesen  als  einen  in  seiner  Art  vollkommenen  Organismas  zn  betrachten, 
iO  noch  vielnielir  ans  plldag'ngischen,  die  für  uns  in  erster  Linie  maßgebend  sind. 

Niemand  wird  es  für  gut  halten,  etwa  in  der  Heils-  oder  Profangeschichte 
meDschliche  Vorbilder  in  ihre  Vorzüge  nnd  Fehler  zu  zerlegen,  anstatt  nur 
Verehmng  und  Bewnndemng  für  sie  einznflSßen  nnd  dadurch  snr  Nacheifening 
■nsnspomen;  ist  doch  onsere  Jagend  leider  im  Lebm  noeh  genng  d«r  Ein* 
wiritong  nSfgelnder  Elemente,  welche  die  bloße  Vemeinnng  znm  Princip  er> 
hoben  haben,  ansgesetzt.  Und  wir  sollten  in  der  Natnrgeschichte  die  Schüler 
anleiten,  nach  Art  jenes  klugen  Mannes,  der  da  meinte,  die  S(;höj)fung  ver- 
bessern zu  können,  wenn  er  die  Kürbisse  auf  Eichen  hinge,  die  Natur  zu 
kritisiren?  Es  wflrde  dies  den  Zwecken  des  erdehmidai  ünterrichtea  direet 
suwiderlaofni.  Nor  durch  Erwecknng  der  Überaeugung,  dass  die  Natnr  voll- 
kommen ist  anch  in  ihren  kleinsten  nnd  unscheinbarsten  Gliedern,  wird  die 
rechte  Liebe  zu  derselben  erzeugt  werden  und  mit  ihr  die  Achtung  vor  ihr, 
die  jedem  edlen  Gemüthe  innewohnen  soll.  Dass  femer  auch  einzig  diese  Über- 
Beugung  dem  religiösen  Unterrichte  dienstbar  gemacht  werden  kann,  bedarf 
wol  nur  der  Erwähnung. 

Endlich  wendet  sich  Herr  Dr.  Witlaczil  noch  gegen  die  Art  der  nnter- 
richtlichen  Behandlung,  welclie  wir  den  einzelnen  Objecten  angedeihen  lassen, 
namentlich  dagegen,  dass  bei  uns  das  Heschreiben  der  PHanzen  und  Thiere 
znrückgedrilngt,  und  dass  jede  unserer  Lectionen  von  einem  einheitlichen,  leiten- 
den Hauptgedanken  beherrscht  wird.  Jedoch  entsprechen  auch  hier  seine  Dar- 
legnngen  nicht  immer  den  thatsächlichen  Verhältnissen.  Wir  sehen  allerdings 
nicht  in  der  möglichst  eingehenden  Beschreibung  der  Naturkörper  nach  einer 
gewissen  Schablone  das  Heil  des  natnrgeschichtlichen  Unterrichtes,  wie  es  über- 
haupt niemand  darin  sehen  kann,  der  mit  uns  über  das  Ziel  desselben  gleicher 
Meinung  ist.  Ist  uns  doch  die  Keimtnis  eines  Wesens  nicht  Selbstzweck,  son- 
dern es  kommt  nns  bei  der  Behandlung  eines  solchen  immer  darauf  an,  eine 
bestimmte  Einsicht  zn  erifihen  oder  eine  bestimmte  Oesinnnng  in  den 
Schüler  zn  pflanzen.  Dies  würde  nns  nicht  gelingen,  wenn  wir  alle  Be- 
spreclinniren  nach  einer  Schablone  vornehmen,  nnd  wenn  wir  nns  mit  einer  all- 
gemeinen Zielangabe,  als  etwa:  „Wir  wollen  den  Specht  kenneu  lernen*',  be- 
gnügen wollten.   Wir  sind  darum  gezwungen,  du  bestimmte  Ziel,  das  wir  m 


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—   237  — 


erreichen  beabsichtigen,  in  den  Vordergrund  der  Besprechung  zu  stellen,  so 
daas  et  den  Idtenden  fibnptgeduken  bildet,  von  dem  die  gnnie  Leetien  be- 
hemcbt  viiri.  Aaf  diese  Weise  entstehen  Dispositionen,  die  sich  ans  der 
Eigenart  des  Materials  ererelipn  und  bei  deren  Durchführung  sich  dio  Be- 
sprechungen zu  lebensvollen  Charakterbildern  der  Xatnrwesen  (restalten,  welche 
geeignet  sind,  den  Blick  für  die  Natur  zu  klären  und  das  üerz  für  dieselbe  zu 
erwtnnen.  Die  Fefderuug  einer  derartigen  SSIelaivabe  iat  eine  ao  natiilidie 
nnd  anch  aefaon  in  aolehem  Mafie  pqrehologiieh  begr&ndet  worden,  daaa  ein  Ein- 
spruch gegen  sie  in  der  Haopteache  gar  nicht  erwartet  werden  kann.  Herr 
Dr.  Witlaczii  wt-ndet  allerdings  gegen  diese  Behandlungsweise  ein,  dass  durch 
sie  eine  „vernünttige  Beschreibung"  unmöglich  gemacht  werde,  ohne  das  jedoch 
zu  J)ewei8en.  Er  scheint  als  „vernünftige  Beschreibung"  nur  eine 
aolebe  nninerkennen,  die  aieb  aneb  mit  minntiSaen  Merkmalm 
lediglieb  nm  ihrer  selbst  willen  befasat;  denn  aoTiel  beschreibende 
Momente,  als  nothwendig  sind,  um  die  Eigenart  der  Wesen  so  zu  charakteri- 
sinMi,  dus^s  Kit'  von  anderen  unterschieden  werden  können,  um  ft  nier  ihre  Zweck- 
mäßigkeit und  Schönheit  nachzuweisen,  linden  sich  auch  in  unseren  Lectionen. 
Alles  Beschreiben,  was  darüber  hinausgeht,  haben  wir  allerdings  absicbt- 
lieb  yermieden,  weil  dnrcb  ein  solches  die  Sehttler  mit  einem  Ifnterlal  be- 
lasti  t  werden,  das,  wie  anderwärts  von  uns  nachgewiesen  worden  ist,  der  Er- 
rei(  hutifr  des  Ziels,  welches  wir  dem  natnrgeschichtlichen  Unten-iclite  gestellt 
haben  und  das  fast  allgemein  als  richtig  anerkannt  worden  ist,  nicht  im  min- 
desten dient. 

Bine  weitere,  bieranf  besOglicbe  Bebanptung  dea  Herrn  Dr.  Witlaesil,  daaa 
wir  in  nnaeren  Lectionen  »gans  nnd  gar  yvn  dem  Veibalten  dea  beMfonden 
Nntnrkörpers  zum  Menschen''  ausgingen,  beruht  anf  einem  Irrthnm  seineraeita. 

Der  Grund  für  die  P.ehandluiijr  eines  ObjVctes  kann,  gemllß  dem  Ziele,  das  wir 
dem  naturgeschichtlichen  I  nterrichte  gesteckt  haben,  auch  in  der  Beziehung 
liegen,  die  das  Wesen  zu  Pilanzen,  Thieren  oder  zum  Boden  hat,  femer  in  der 
Äbbliigfgkeit.  desselben  von  Waaaer,  Lnft,  Licht  nnd  Wirme,  aowie  endlieh 
darin,  dass  seine  Besprechung  besonders  geeignet  ist,  die  zweckmäßige  Ein- 
richtung der  Organismen  erkennen  zu  lassen  oder  doch  eine  solche  Erkenntnis 
vorzubereiten.  Das  Vorstehende  wird  durch  Themen,  wie  die  folgenden  sind, 
bewiesen;  Bedeutung  der  WasserpÜauzeu  für  die  thierischeu  Bewohner  des 
Teichea;  Tide  Inaecten  flben  anf  daa  Lanb  der  Waldbttnme  einen  flbenaaohen- 
den  Einflnaa  ana;  Bedentaag  dea  Unteilioiiea  lllr  den  Wald;  die  Mooae  beben 
eine  hohe  Bedeutung  im  Haasbalte  der  Natur;  die  Sandbank  soll  uns  von  der 
Einwirkung  des  Wassers  anf  unseren  Erdboden  erzilhlen;  der  Ackerboden  als 
hauptsächlicher  F^rnährer  der  Feldpflanzen;  der  Waldbestand  ist  abhängig  von 
der  Beschaffenheit  des  Waldbodeus;  die  Ulme  ist  der  Üestäubung  durch  den 
Wind  beaendera  angepaast;  die  Tanbneasel  aeigt  treflUche  Einriebtnagen,  doreh 
welche  ihr  die  Beihilfe  gewisser  Insecten  zur  Bestftnbnng  gesidiert  ist;  der 
Lanbfrosch  ist  trefflich  eingerichtet,  sich  das  Leben  zu  erluilten  u.  a.  m. 

Weil  jedoch  der  Mensch  nicht  nur  wie  die  übrigen  Wesen  als  Glied  des 
großen  Naturganzen  von  diesem  «abhängig  ist,  sondern  auch  infolge  seiner  In- 
tdligenz  in  ganz  hervorragender  Weise  auf  dasselbe  elniawirken  vermag,,  so 
ist  ea  wel  geiechtliBrtigt,  daas  die  Bedehnngen  dea  Menaeben  aar  Nator  eine 
vorwiegende  BerttekaiebtignngertebraL  Dagegen  dürfte  aneb  Heir  Dr.  Witlaeiil 


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238  — 


uinsowenigfr  etwas  einzuwenden  haben,  als  er  ja,  indem  er  über  die  Auswahl 
des  SloHes  spricht,  selbst  einmal  sagt,  dass  „vor  allem  das  Bedürfnis  desprak- 
isch^  Lebens  maßgebend*  sei. 

ünter  den  von  dem  Verhalten  der  NaUukOkper  mm  Hauchen  «nafehen- 
den  Lectionen  scheinen  insbesondere  solche,  in  denen  ein  auf  „einem  Gefühle 
beruhender  Satz**  an  der  Spitze  steht,  in  welchem  wir  uns  also  vorwieg'end  oder 
doch  wenigstens  zunilclist  an  das  Gemüthsleben  der  Schüler  wenden,  am  wenig-^ten 
den  Beifall  des  Herrn  Dr.  Witlaczil  gefanden  za  haben.  Da  jedocli  die  Be- 
siehnngen  des  Menschen  nur  Natnr  zweieriei  Art  sind,  entweder  solche,  dnrdi 
welche  die  Naturkörper  für  die  Erhaltung  seines  Lebens  7on  Wichtigltdt  wer- 
den, oder  solche,  durch  welche  sie  für  sein  Gemüth  Bedeutung-  erlangen,  so  ist 
es  wo]  ß:prechtfertig:t,  da^^s  nicht  nur  die  erstere.  sondci  n  anrh  die  letztere  Art 
der  Beziehungen  in  unseren  Themen  zum  Ausdruck  kommt,  soll  doch  der  natnr- 
geschichtlidie  Unterricht  neben  der  Verstandesblldnng  auch  der  Oemütsbildung 
dienen.  Die  hieranf  besBglichen  AnsfiUimngen  in  nneerer  „Methodik"  sind 
▼on  Herrn  Dr.  Witlaczil  nicht  widerl^  worden. 

Zuletzt  hebt  derselbe  tadelnd  liervor.  dass  bei  nns  ..die  Deduction  zum 
Haupfprincip  iremacht"  würde.  Dieser  Xdrwurf  ist  ein  ungerecht tertigter. 
Allerdings  stehen  die  leitenden  Gedanken  zumeist  an  der  Spitze  der  Leciionen, 
jedoch  erklaren  wir  ansdrilcUich:  .  Diese  änliere  Einrichtung  dient  zur  leich- 
teren Übersicht  für  den  Lehrer.  ThatsBchUoh  aber  wird  in  den  meisten  FSUfln 
Theil  für  Theil  entwickelt  werden  und  der  Qmndgedanke  das  Endresultat  der 
Ünterreduni^  bilden  müssen." 

Zum  Schlüsse  wollen  wir  noch  bemerken,  dass  Herr  Dr.  Witlaczil  deshalb, 
weil  wir  in  unserem  „Handbuche''  und  in  unserer  „Methodik"  Darwins  nidit 
gedenken,  weil  wir  fismer  das  System  nicht  in  den  Vordergmnd  des  Unter- 
richtes  stellen,  und  weil  wir  ans  wissenschalUichen  und  pädagogischen  Gründen 
jedes  Wesen  als  einen  in  seiner  Art  vollkommenen  Orgranismus  betrachten,  sieh 
zn  lirtheilen  üV)er  die  Ph-fol-^e  unseres  wissenschaftlichen  Strebens  berecht it^t 
glaubt  wie  die,  dass  wir  uns  „der  Bedeutung  des  Systems  gar  nicht  bewusst 
waren"  nnd  dass  nns  „Darwin  nicht  genügend  bekannt  sn  sein"  scheine.  Da 
man  sonst  doch  nur  bei  der  sich  gern  selbst  ftberhebenden  Jugend  die  Crfidimng 
macht,  dass  sie  „schnell  fertig  ist  mit  dem  Wort",  so  hat  dieses  Aburtheilen 
von  Seiten  des  Herrn  Dr.  Witlaczil  uns  wol  einigermaßen  in  Verwunderung 
gesetzt,  jedoch  nicht  davon  abgehalten,  seine  Beleliruugen  über  die  Unterrichts- 
grundsütze  des  Comenius,  über  die  Schilddrüse,  über  den  Kampf  ums  Dasein 
und  uidere  dergleichen  neue  Dinge  mit  gans  besonderem  Behagen  sn  lesen, 
etwa  mit  demselben  Behagen,  mit  dem  man  einen  lanizjährigen  alten  Bekannten 
aus  der  Schulzeit  begrüßt,  der  trotz  aller  Schwächen,  die  er  noch  ssor  SchaU 
tragt,  doch  gelernt  hat,  mit  größtem  äelbstge&Uen  aufzutreten. 


B.  Entgegnung.   Von  Dr.  E.  Witlacdl-Wien. 

Die  Herren  Dr.  Kießling  nnd  Pfalz  finden,  dass  ich  in  meinem  .\ufsatze: 
,,Znr  Reform  des  natnrgeschichtlichen  Unterrichtes":  ra-dagoginm.  Octolier  1  SSI), 
ihre  Heformvorschliigt'  iii<  lit  als  unberechtigt  nachgewiesen  habe.  Da  es  un- 
möglich zu  sein  scheint,  die  Herren  für  eine  andere,  als  die  von  ilinen  einmal 
gebildete  Anschannng  zu  gewinnen,  so  werde  ich  nidit  durch  so  weüsehweiflge 


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—   239  — 


£vOrtening«n  wie  die  ihrigen  die  Gedald  der  geehrten  Leaer  und  det  Henuis- 
gebers  diesM  Blattes  encböpfen  und  inicli  in  meiner  £ntgegnnngr  ganz  knn 

fassen. 

Die  an  die  Spitze  meiner  Untersuchung  gestellten  Fragen  zeigen  zur  (re- 
nllge,  daiB  es  nicht  meine  Abaicht  war,  ein  Referat  Uber  die  aaUreidhen  Ar> 
betten  der  Herren  Dr.  KieUing  nnd  Pfais  an  geben,  «mdeni  daae  ich  doreb 
dieselbe  selbst  zu  der  Frage  der  Refonn  des  Natargeschichtsnnterrichtes  Stellung 
zn  nehmen  versucht  hnhf.  Da  nioino  Arbeit  beim  Lcsor  die  HckaniitHchiift  mit 
den  Arbeiten  Junge's  suvvie  meiner  beiden  Herren  (iegner  voraussetzt,  so  luuss 
ich  den  verdächtigenden  Vorwarf  eines  angenauen,  irrthiimliche  Anschauungen 
bei  den  Leeem  benrorrafenden  Referates  als  ■nbeoreditigt  entsehieden  sorflck- 
weisen.  W&re  ich  auf  Jede  der  ÄoBemngen  von  Kießling  und  Pfalz,  in  der 
von  ihnen  q-owünschten  Breite  ein^esrfingren,  so  hiltte  ich  ein  Bnoli  iUht  ihre 
Arbeiten  allein  schreiben  iniisscn.  Da  diese  für  mioli  aber  g-anz  und  ^i^ar  erst 
in  zweiter  Linie  kommen,  so  lag  mir  diese  Absicht  naturlich  ganz  ferne.  Ob 
ich  ihre  Omndgedaaken  richti|r  erfeast  habe,  das  n  benrtheilen  überlasse  ich 
getrost  den  Lesern. 

Das  Gesagte  gilt  gleich  fflr  die  erste  von  ihnen  besprochene  Einzelheit. 
Es  war  dnrrlians  nicht  meine  Alisirlit.  mitzntheilen,  in  was  allem  meine  Ueireu 
(rrerner  die  Kinlieit  und  das  klare  \  erstilndnis  der  Natur  suchen,  denn  über 
„Einheit"  und  „klares  Verständnis'^  der  Natur  lässt  sich  viel  reden  (mehr  als 
Ar  die  Schale  gat  ist),  sondern  ich  wollte  blos  herrorheben,  dass  von  ihnen 
dabei  auf  das  System  nidit  in  genügender  Weise  Rttcksicht  genommen  wird. 

Wenn  meine  Herren  OegTier  die  Behandlnnp:  anslflndischer  Naturk^rper 
der  Geofrraphie  und  anderen  I»is(  i|ilinen  zuweisen,  die  an  der  Bürgerschule  von 
ganz  anderen  niciit  facbmiinnisch  dafür  vorgebildeten  Lehrkräften  behandelt 
werden,  so  schließen  sie  dieselben  doch  wol  aus  dem  fachmännischen  Unterrichte 
ans.  Da  die  nebensftchliehe  Behandlang  in  einer  anderen  DisdpUn  nor  eine 
ungenügende  sein  kann,  so  sind  damit  thatsKchHch  diese  NatnrkOrper  ans  dem 
Unterrichte  so  ziemlich  be-tseitiert.  Man  darf  aber  ans  so  wenig'  stichhaltigen 
Gründen  wie  die  ihrigen  nicht  einen  so  integrirenden  'l'lieil  der  Xatnrf^esehichte 
aas  der  Schale  entfeinen.  Ich  habe  übrigens  an  der  betreäendeu  Stelle  meines 
AnilHttces  andi  gecelgt»  welche  beeondere  Bedentang  die  Behandlang  anslftn- 
discher  NatorkSrper  für  den  Natiigtsehichtsanterricht  besitat 

Die  Bedentnng  des  natürlichen  Systems  fttr  die  Wissenschaft  nnd  den 
Unt<»rricht  ist  eine  zu  sroße.  als  dass  ein  g-elefrentliohes  aueh  von  Kießling 
und  i^falz  beliebtes  Piinfrehen  auf  dasselbe  genügen  würde.  Wenn  ich  aus 
praktischen  Ciründen  ein  gelegentliches  Abweichen  von  demselben  für  zolässig 
halte,  so  wird  mir  dies  kein  olgectiv  Denkender  anm  Vorwarf  machen. 
Was  meine  Herren  Gegner  ttber  das  Hypothetisclie  im  natürlichen  System  sagen, 
beweist  iiiehls  gegen  dessen  Anwendung  in  der  Schule.  Wollte  man  aus  den 
Unterrichtsdiscii>linen  alles  Hypothetische  entfernen,  so  müsste  der  Steü  der 
meisten  derselben  eine  ganz  bedeutende  Einschränkung  erfuhren.  Dasjenige, 
waa  auf  snbjeetifer  AnlUhasang  im  ^teme  bernht,  besieht  sich  ttberdiea  meist 
anf  Einxelheitea,  welche  fttr  die  Schale  nicht  von  Bedentnng  sind.  Aach 
dorch  die  mitgetheilten  Ausführungen  Schwendeners  über  die  Dicotyledonen 
wird  die  Stellung  der  Herren  I>r.  Kiefiling  nnd  l*fa1/,  nieht  vt  rstilrkt.  Be- 
trachten wir  eine  Gruppe  der  Dicotyledonen,  z.  B.  die  Lippenblütler,  so  lindeu 


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—   240  — 


wir,  dass  dieselbe  ni(  lit  mir  (Inrcli  den  ganzen  Bau  der  Blüte  nnd  Frucht  (nach 
Scliwendener  größtenthtils  künstliche  Merkmale),  sondern  auch  durch  verschie- 
dene andere  Merkmale:  Stellang  der  Blüten  und  Blätter,  Drüsen,  Bau  des 
Stengels  etc.  ansgeieidnet  ist  Und  soUteii  auch  alle  diese  Merkinale, 
was  ich  nicht  glaube,  nicht  durch  HonHdogie^  d.  h.  wirkliehe  Verwaadtsehafly 
sondern  durch  Analogie,  d.  h.  Anpassung  an  ähnliche  Lebensbedingungen  zu 
erklaren  sein,  so  hütte  es  noch  immer  mehr  Sinn,  die  Pflanzen  nach  diesen  so 
hervorstechenden  Analogien  zu  gruppiren,  als  nach  den  von  Kießling  nnd  Pfalz 
aufgestellten  viel  onsichereren  Oesichtsponkten. 

Wenn  ich  in  meinem  Anftatze  unter  anderem  sage,  dass  das  System  uns 
den  natürlichen  Stammbaum  der  Lebewesen  vorfuhrt,  so  konnten  daraus  doch 
nur  die  Herren  Dr.  Kießling  und  l'lulz  schließen,  dass  ich  in  der  Volks-  und 
BUrgerpchule  den  Stammbaum  der  lebenden  Naturköijjer  behandeln  will.  Aut 
so  eine  absurde  Idee  bin  ich  nicht  verfallen.  Der  Zusammenhang  der  einzelnen 
Gruppen  von  Natorkörpern,  welche  In  der  ansgehUdeten  Fwm  aneh  cum  Amh 
druck  kommt,  soll  den  Kindern  dnrcfa  den  Natnrgeschichtsuiterricht  com  Be- 
wosstaein  gebracht  werden.    Das  genügt. 

Eines  haben  mir  die  Herren  Dr.  Kießling:  nnd  Pfalz  besonders  verargt, 
nämlich  die  Bemerkungen,  dass  sie  sich  der  Bedeutung  des  Systems  nicht  be- 
wosst  wären,  und  dass  ihnen  der  Darwinismus  nicht  genügend  bekannt  zu  sein 
scheine.  Sie  kommen  deshalh  sowol  im  Anftog  als  in  der  Mitte  nnd  am  Schlüsse 
ihres  Aufsatzes  auf  diese  VorwSrfe  an  sprechen,  ja  es  scheint,  als  wenn  der- 
selbe hauptsächlich  verfaj>st  wäre,  um  dieselben  zu  entkräften.  Ich  glaube 
aber  noch  immer,  da.ss  d*  ijenice.  der  da.s  System  nur  so  nebenbei  mit  berück- 
sichtigt, während  er  die  (iru]>pii  iing  der  >iatuikörper  nach  gewissen  äußerlichen 
ZofiLlligkeiten  vornimmt,  das  System  thatslehUdi  nicht  recht  an  würdigen  weii>. 
Und  was  die  aweite  Bemerkung  anbelangt,  so  hatte  ich  leider  nidit  Gelegen- 
heit, die  neuerdings  citirte  Arbelt  der  beiden  Herren  Antorai,  worin  auch 
Darwin  eff'würdigt  wird,  kennen  zu  lernen.  Aus  ihren  anderen  Werken  kann 
man  aber  umsoweniger  auf  die  Thatsache  ihrer  gründliclien  Bekanntschaft  mit 
Darwins  Bestrebungen  schließen,  als  ihre  Bemühungen  auf  Beseitigung  des 
natfirlichen  Systems  ans  der  Schule  geriehtet  sind,  in  welchem  doch  die  nach 
Darwins  Auffassung  zwischen  den  verschiedenen  Lebewesen  bestehende  natttr» 
liehe  Verwandtschaft  zum  Ausdruck  kommt. 

Wie  die  Herren  Dr.  Kießling  und  Pfalz  sowol  aus  wissensrhaftlichen  als 
aus  pädagogischeu  Gründen  für,  so  bin  ich  aus  eben  solchen  Gründen  gegen 
die  BetraebtuDg  der  Naturk9rper  als  „vollkommene  Organismen".  Ich  habe 
geänflert,  dass,  wenn  jeder  Oiganismus  vollkommen  wSre,  es  keine  Vervollkomm- 
nong.  keine  natürliche  Zuchtwahl  geben  könnte.  Nadi  Darwin  erklären  sich 
die  allmählichen  Umänderungen  der  Naturkörper  ans  zwei  Princiinen.  der 
Variabilität  und  Vererbung.  Jeder  lebende  Organismus  iindcrt  ab.  Dit  se  Ab- 
änderungen vererben  sich  besonders  danu,  wenn  das  betreüeudc  Lebeweseu  iu- 
folge  dieser  Abinderungen  den  Kampf  ums  Dasebi  besser  bestehen  kann.  Es 
ist  dadurch  vollkommener  geworden,  war  also  noeh  nldit  vollkommen.  Dam 
kommt  noch,  wie  ich  in  meinem  Anftatae  ausgeführt  habe,  dass  wir  von  vielen 
Einrichtungen  noch  gar  nicht  wissen,  wozu  sie  dienen.  Soll  es  nnn  dem  Lehrer 
überlassen  bleiben,  in  seiner  Weise  dieselben  für  die  Vollkommenheit  in  An- 
spruch zu  nehmen?  Oder  soll  man  diese  Einrichtungen  einfach  aus  der  Be* 


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—   241  — 


«eMbuig  weglaasen?  Hier  koBmoi  vir  anf  die  pftdagogischen  Ghrflnde» 
welche  noch  viel  itirker  gegen  die  Betachtongsweiae  von  Kiefing  und  PfUg 

^^chen. 

Die  Naturkörper  müssen  ileii  Kindern  uiu  ihrer  selbst  willen  bekannt  gemacht 
werden,  die  Beschreibangeu  müssen  objectiv  sein,  wobei  ganz  gut  gewisse 
förmale  deüen  des  Unteniefatt  ihre  Befiiedigang  finden.  In  die  Beechreibnog 
der  NatDfkSrper  dirfon  nicht  snbjeetive  GMaaken  und  Oeftthle  hineingelegt 
werden,  der  Natnrgeschichtsnnterricht  darf  nicht  bloe  als  Uittel  fdr  andere 
Zwecke  dienen,  indem  man  ihn  benutzt,  bentimmte  Gesinnung'en  in  den  Schüler 
zn  pflanzen  und  aus  diesem  Grande  alles  als  vollkommen  erklilrt,  oder  dasjenige, 
was  sich  nicht  dafiir  erklären  lässt,  einfach  aufi  der  Beschreibung  weglässt. 
Die  mdfton  Beispiele  einer  derartigen  Beaehreibnng,  welche  die  heiden  Autoren 
in  ihrem  Büchlein  geben  und  von  denen  idi  schon  eines,  die  Betrachtung  der 
Forelle  als  „Edelfisch"  in  meinem  Anfisatze  gegeißelt  habe,  sind  geradezu  ab- 
schreckend. Charakteristischer  Weise  haben  sie  auf  meine  diesbezüglichen  Be- 
merkungen kein  Wort  der  Entgegnung  geftindeo.  Durch  ihre  ganze  subjective 
und  teleologische  Betrachtung  wird  die  Naturgeschichte  aof  einen  Standpunkt 
snriekgcMdinnht,  anf  weleliem  ale  sieh  snr  Zeit  der  Blftte  Okenscher  Nator- 
philoeophie  unseligen  Angedenkens  befunden  hat.  ünd  so  ein  Unterricht  soll 
den  modernen  naturwissenschaftlichen  Anschauungen  entsprechen?  Nein,  meine 
Herren  Reformer.  Sie  sind  trotz  aller  ihrer  Behauptungen  und  Auseinander- 
eetzungen  nicht  in  den  Geist  der  modernen  Naturforschung  eingedrungen! 

leh  glanbe,  ans  meinem  Anftatie  geht  nir  GenOge  hervor,  dasa  loli  das 
Heil  dea  Hatoigeschichtsnnterrichtes  nicht  in  einer  möglichst  aehablonenhaften, 
minutiösen  und  trockenen  Beschreibung  suche,  wie  mir  von  meinen  Herren 
Oegnem  untergeschoben  wird.  Auch  ich  glaube,  dass  der  Zusammenhang 
zwischen  Bau  des  Körpers  und  Lebensweise  hervorgehoben  werden  soll,  und  dass 
heide  mit  einander  verwebt  den  Kindern  in  lebendiger  Darstellung  geboten 
werden  sollen.  Kan  kann  aher  nnd  mnss  hiehei  mit  Vorsicht  nnd  KaS  ver- 
gehen, ohne  dass  man  deshalb  in  der  von  Kießling  und  Pfalz  durch  ein  ge- 
schmackvolles Gleichnis  ausgedruckten  Weise  die  Natur  zu  kritisiren  braucht. 
Auch  ich  glaube,  dass  bei  der  Besprechuno;  der  Naturkörper  von  ihrem  Auf- 
enthaltsorte, welcher,  wenn  er  den  Kindern  noch  nicht  bekannt  ist,  ihnen  anf 
einem  Lehripasiergange  gezeigt  werden  soll,  anszngehen  ist;  aioh  ich  glaube, 
dass  bei  der  Beschreibnng  vom  bewegten  Thiere  aosangehea  ist,  weil  die  Be- 
wegung das  Interesse  mehr  fesselt  nnd  durch  dieselbe  intereaaaote  Schlaglichter 
anf  den  Bau  des  Körpers  fallen.  Kurz  und  g-ut,  ich  nehme  manches  von  den 
Vorschlägen  Junge's  an.  wie  meine  Herren  (regner  aus  meinen  Beiträgen  zur 
Praxis  des  Naturgeschichtsunterrichts  iu  der  Zeitschrift  Bürgerschule,  Wien 
December  1889  nnd  weiter  ersehen  kSnnen,  wo  sie  anch  den  von  ihnen  be- 
handelten scharfen  HahnenftiB  in  meiner  Welse  beschrieben  finden* 

Die  Herren  Dr.  Kießling  und  Pfalz  verwahren  sich  endlich  noch  dagegen, 
dass  durch  ihr  Vorgehen  bei  Beschreibung  der  einzelnen  Naturkörper  die  De- 
duction  zum  Hauptprincip  gemacht  werde,  indem  ja  die  leitenden  Grundgedanken 
In  ihrer  Kethodik  nor  för  den  Lehrer  an  die  Spitze  gestellt  worden  seien,  wäh- 
rend sie  mit  den  Kindern  Theü  für  Theil  entwickelt  werden  müssen.  Ich 
glanbe,  dass  bei  dieser  „Entwickelung"  den  Kindern  die  oft  so  wenig  nahe 
liegenden  Gedanken  und  Gefühle  wol  in  den  Mond  gelegt  werden  müssen,  nnd 

PadkSOSiBm.  IS.  Jahig.  Heft  IV.  18 

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das8  die  Kinder,  einmal  anf  die  E&tdeekang-  grekommen,  am  was  M  tich  han- 
delt, weiterhin  ihre  Boficlireibnngren  sranz  entschieden  dednetiv  vomebmen  werden. 

Wenn  die  Herren  Dr,  Kießling  und  Pfalz  g^elegr^ntlich  bemerken,  das» 
„das  Ziel,  welclies  sie  dem  Natargeschichtsunterrichte  gestellt  haben,  fast  all- 
gemein als  richtig  anerkannt  worden  Jet*,  so  kann  ich  ihnen  nittheilen,  dass  hier 
in  Wim  von  dieser  Anerkennung  nidit  viel  m  hOren  war.  Bei  der  Veitad* 
Inng  dieser  Frage  in  der  hiesigen  „Pildagogisehen  Gesellschaft"  hat  man  zwar 
einiges  des  von  Junge  gebrachten,  obwol  man  es  nicht  für  nen  halten  konnte,^ 
bereitwillig  anerkannt,  der  ganzen  Richtung  gegenüber  aber  hat  man  sich  ab- 
lehnend verhalten.  Was  aber  ihre  ureigenste  Idee:  Behandlung  der  Forelle 
als  Edelilseh  etc.  etc.  anbelangt,  so  habe  ich  peraibiUeh  die  Erliahrong  gemacht, 
dass  noch  jeder  Sehnlniann,  mit  dem  ich  darttber  gesprochen,  hoch  oder  nieder^ 
anetibend  oder  Inspector,  einfach  darüber  gelacht  hat. 

Die  TTerren  Dr.  Kießling  und  Pfalz  beschließen  ihren  Aufsatz  mit  einigen 
rein  peri>üuiichen  Bemerkungen,  welche  zum  Theil  in  etwas  schwer  verständ- 
lichen Oleichnissen  Aasdrack  finden.  Was  zunächst  meine  Änsserungen  fiber 
die  Unterriehtsgrnndsätne  dee  Comenins  etc.  anbelangt,  so  hatten  diese  nicht 
d^  Zweck,  meine  Herren  Gegner  an  belehren,  sondern  meine  Ansführungen 
verständlicher  zu  maclien.  Wenn  von  „schnell  fertig  mit  dem  Wort"  ge- 
sprochen wird,  so  diu  ttf  (lies  auf  meinen  Aufsatz  doch  kaum  Anwendung  finden, 
da  es  ihnen  nicht  gelungen  ist,  durch  ihre  weitschwcilige  Entgegnung  im 
wesentlichen  etwas  von  meinen  AnsAhrongen  an  entkriften.  Erkliren  die 
Herren,  meine  ErOrtonngen  mit  ngam  besonderem  Behagen"  gelesen  an  haben, 
80  kann  ich  leider  nicht  mit  gleichem  Compliment  aufwarten,  denn  ich  habe 
ihre  Arbeiten  theilweise  mit  ganz  bedeutendem  Unbehagen  gelr-sen.  mit  jenem 
Unbehagen,  welches  in  dem  Freunde  der  Naturwissenschaften  die  Beobachtung 
hervorrufen  mass,  wie  versacht  wird,  den  Natnrgescliichtsnnterricht  von  seiner 
otjeetlTen  Grandlage  sn  verdribigen  nnd  Ihn  zom  Spielballe  snliJectiTer  ErnpUn* 
dangen  an  machen.  Dieses  Unbehagen  wurde  aber  noch  vermehrt  durch  die 
Erkenntnis,  dass  jene  Herren  sich  durch  ihre  zahlreichen,  bei  jeder  Gelegenheit 
citirten  AufsUtze,  durch  ihr  methodisches  Handbuch,  dadurch,  dass  sie  auf  jede 
noch  so  berechtigte  Kritik  mit  einem  neaeu  Aufsatze  antworten  etc.,  sich  aus- 
gezeichnet in  Seena  an  setzen  ventehen.  Was  zuletat  den  Vorwarf  de» 
„grOiSten  Selbstgefallens"  anbelangt,  so  kann  ich  billig  erwidern,  dass  die  ganze 
Art  des  Vorgehens  meiner  Herren  Gegner,  sowie  flur  durch  nichts  zu  er- 
Bchütterndps  selbstbewusstes  Auftreten,  das  in  so  orasseni  Gegensatze  zu  dem 
Auftreten  Junge's  steht,  ganz  gar  nnd  nicht  den  Bindmck  der  Bescheidenheit 
macht! 

(Wird  im  „Pesdagoginm*'  nicht  fortgesetat   X>.  R.) 


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Klau»  Groth  nnd  Fritz  Renter. 

Vm  Biector  O,  Henckei-Farehim. 

H  err  Gustav  Ä.  Erdmann  hat  im  Octoberheft  des  Paedagogiam  eine 
^Studie"  über  Klaus  Groth  veröffentlicht.  Wenn  ich  auch  nicht  glaube,  daas 
sich  viele  Leser  des  Blattes  für  diesen  Artikel  interessiren  werden,  so  kann 
ich  doch  nicht  onterlassen  zu  bemerken,  dass  derselbe  bei  uns  in  Meddenburg' 
ein  etwas  ptinUchet  Anftehen  erregt  hiit  Es  liegt  mir  gSnzlich  fem»  Klane 
Groths  Verdienste  um  die  plattdeatsdie  £^[nache  m  bestreiten,  noch  weniger 
will  ich  versnchen,  seinen  Verehrern  die  Frende  an  seinen  Diehtnngen  zu 
sehnilllern;  nur  offenbare  Übertreibungen  glaube  ich  zurückweisen  zu  müssen. 

Herr  Erdmann  schreibt:  „Die  wenigen  plattdeutschen  Toeten  (vor  Klaus 
Groth)  gefielen  sich  in  den  täppisclisten  Sachen  und  glaubten  ihre  Aufgabe  er> 
fUlt  TO  haben  I  wenn  ihre  Diehtnngen  mOgliehst  bftnrisch  nnd  roh  nach  Form 
und  Inhalt  anfügten.  —  Was  an  der  Oberfläche  liegt,  ist  oft  nichts  als  häss- 
liche  Schlacke;  mit  dieser  Schlacke  begnügten  sich  die  früheren  niederdeutschen 
Poeten.  —  Dem  sclilniumernden  Domröschen  war  endlich  der  Prinz  erschienen, 
der  es  durch  seinen  Flammenkuss  (!)  zu  neuem  Leben  aufweckte,  und  dieser 
Prinz  hieß  Klans  Groth,  nnd  sein  ftnriger,  brünstiger  Knss  war  der  Quick- 
bom."  — 

Ich  mBchte  Herrn  Erdmann  fragen,  wen  er  mit  den  früheren  Poeten  meint. 
EtwaLanremberg,  Voss,  Sackmann,  Bornomann,  Arndt?  HlÜt  er  diese  wirklich 
fiir  so  täppisch,  bäurisch  und  roh?  Glanlit  er  endlich,  dass  es  des  Quickborns 
bedurft  habe,  um  Keuter  zu  seinem  poetischen  bchaüeu  anzuregen,  oder  hält 
er  dessen  Bedeutung  für  die  plattdentsehe  Sprache  neben  Klans  Oroth  fVr  gSns- 
Uefa  nebensSohlich? 

Ich  empfehle  Herrn  Erdmann  die  aufmerksame  Lectiire  der  Broschüre, 
welche  Reuter  seiner  Zeit  als  Antwort  auf  die  Klans  Grothschen  Briefe  über 
Plattdeutsch  und  Hochdeutsch  verüifeutlichte.  Er  bat  sie  allerdings  erwähnt 
(S.  46),  scheint  sie  aber  doch  nicht  zu  kennen,  wenigstens  w&ren  jene  Üher^ 
treibnngen  sonst  unbegreiflich. 

Wir  Mecklenburger  sind  der  Überzengnng,  dass  Kenter  selbststftndig  nnd 
nnabhäng:ief  von  Klaus  Groth  mindestens  ebensoviel  und  ebenso  bedeutendes  znr 
„Erweckung  des  schlummernden  Dornröschens"  gethan  hat,  wie  jener.  Und 
die  Behauptung  des  Herrn  Erdmann,  dass  Klaus  Groth  in  hervorragendster 
Weise  Tei«inig«Bd  anf  dfo  Im  Anstände  lebenden  Dentsdun  gewirkt  hat,  nnd 
,dasi  es  selten  einem  Dichter  gelungen  sei,  soviel  znr  Hebung  des  dentKhen 
Wesens  in  fremden  Landen  beizutragen",  möchte  doch  in  viel  höherem  Ha£e 
bei  Reuter  zutreffend  sein.  Eine  Anfrafe  bei  den  plattdeutschen  Vereinen  im 
Auslände,  besonders  in  Amerika,  würde  Herrn  Erdmaun  darüber  belehren,  wer 

18» 


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—   244  — 

denn  eigentlicli  die  Anregung  zu  deuelben  gegeben  hat  Ich  weiß  von  dem 
jetst  ventorbenen  Bachhändler  Hinstorf,  Hcnters  Verleger  und  Frennd,  dUB 
gerade  Amerika  eins  der  Hauptabsatzgebiete  für  Reuters  Werke  war. 

Über  den  Wert  der  Klaus  Grothschen  Dichtungen,  insbesuudere  des 
Qttickbom,  zn  atreiten,  ist  ganz  vergeblich.  Es  mag  du  Geschmackssache 
tein.  Ich  penQoUoh  thefle  die  Anrieht  Beuten,  „dtm  van  teat  10  Selteo  der 
Reuterschen  Läuschen  und  Rimels  mehr  Fingerzeige  ni  einer  richtigen  Be- 
iirtlieiliinc:  nnsei'es  jetzigen  plattdeutschen  Voikriebens  und  oneerer  VoUtB^praclie 
ündet,  als  im  ganzen  (^uickbom.** 


(Wird  im  MPtedagoginm**  nicht  fbrtgeMtzc.   D.  R.) 


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Pädagogische  Kandschaa. 

BerÜD.  Der  Bttckgang  in  der  Besoldnngr  der  Volkseelmllehrer*) 

ist  seit  einiger  Zeit  ständiger  Zankapfel  in  der  öffentlichen  Presse  1  s  König* 
reichs  Preußen,  Das  „Berliner  Tag-eblatt"  hatte  zaerst  anf  Grund  anitlicher 
Veröffentlichung  auf  diese  Thatsache  hinß:ewiesen,  sofort  kamen  die  Officiösen 
mit  Beweisen  des  Gegeutheils;  denn  da  die  Keichstagswahlen  vor  der  Thür 
stehen,  darf  man  schon  ein  wenig  DmekenehwSrse  für  die  Schulmeister  anf* 
weadeii.  Das  ist  bflUg  imd  hilft  oftmals  viel.  Das  Heitere  an  der  Saehe  Ist 
aber,  dass  beide  Gegner  mit  amtlichen  Zahlen  beweisen,  nur  dass  den  Haren 
Ofliciösen  die  amtlichen  Veröffentlichungen  von  diesem  Jahre  nicht  passen, 
weshalb  sie  das  „Handbnch  für  den  preußischen  Staat"  von  1888  als  funkel- 
nagelnen  ausmfen.  Damit  haben  sie  freilich  wenig  Glück  bei  Leuten,  welche 
die  Zeitnng  nicht  blos  als  Binsehlftfeningsmittel  nach  der  UittagsmaUztit 
benatzen,  sondern  beim  Lesen  ein  wenig  aufmerken.  Diejenigen  Zeitongen 
nftmlich,  welche  den  Rückganp:  in  der  Lehrerbesoldung'  behaupten,  beweisen  es 
aus  der  neuesten  amtlichen  ^^M■öffentlichung  auf  diesem  Gebiete,  von  deren 
Vorhandensein,  soweit  es  sich  um  die  Lehrergehälter  handelt,  Leser  conserva» 
ttver  ud  nationalliberalear  BUttar  lehwerlieh  etwM  er&hren.  MaSgabend  In 
derStareitlhigeiBt  allein  das  jüngst  erschienene  Bneh:  MDasgesammte  Volks- 
seknlwesen  im  prenfilschen  Staate  im  Jahre  1886.  Im  Auftrage  des 
Herrn  Ministers  der  geistlichen,  Unterrichts-  und  Medicinal-Augfclegcnhciten 
bearbeitet  vom  königl,  statistischen  Bureau.  Mit  einer  einleitenden  Denkschrift 
von  Dr.  Karl  Schneider,  Geh.  Oberregieruugsrath  und  vortragendem  Rath,  und 
Dr.  Petersilie,  Profossor  nnd  Mitglied  des  kSnigL  statlstiMhen  Bnreans. 
Berlin,  1889."  (Preis  16,80 11)  Daraus  ersieht  man  nnn  i^ilfch  auch  nicht» 
wie  das  prenßische  Schulwesen  heute  zahlenmäßig  dasteht;  aber  neuere  nnan* 
fechtbare  Zahlen  als  die  in  jenem  Buche  sind  bislang  nicht  vorhanden,  sie  sind 
außerdem  vielfach  die  Berichtigung  derjenigen  im  Handbuche  vom  vorigen  Jahre, 
Die  1886er  Statistik  ist  zudem  um  so  lehrreicher,  weil  sie  die  Wirksamkeit 
des  preoMsolien  GnltosmlnlBters  y.  Pnttkamer  amtlich  in  das  gebttrende 
LIdit  rückt.  Anf  regierungsseitige  Anregung  hin  worden  damals  Lehrer- 
gehllter  in  Städten  erniedrigt,  und  Lehrer,  die  dagegen  schrieben,  durch  Ord- 


*)  VeigL  „Die  heutige  Volksschnie  Preußens"  im  Novemberhefte.   D.  B. 


—    246  — 


nnngsstrafen  gemaßregelt.  So  ist  nns  eine  Stadt  im  Regierungs-Bezirke  Düssel- 
dorf bekannt,  in  der  auf  regierungsseitiges  Betreiben  eine  Gehaltsordnung  ein- 
geführt wurde,  nach  der  nenangestellte  Lehrer  sechs  Tausend  Mark  we- 
niger beziehen,  bevor  sie  mit  ft'üher  angestellten  Lehrern  des  Ortes  dasselbe 
Höchstgehalt  haben.  Und  trotzdem  will  man  den  Lehrern  officiös  einreden, 
ihre  Gehälter  seien  nicht  zurückgegangen,  sondern  gestiegen.  Ein  Glück, 
dass  unsere  höchste  Unterrichtsverwaltung  zu  ehrlich  denkt,  als  dass  sie  officiell 
diejenigen  amtlichen  Zahlen  vorenthielte,  welche  klar  darthun,  was  län^TSt  be- 
hauptet worden  ist,  nämlich  die  Verschlechterung  der  Besoldung  der  Lehrer. 
Da  Worte  genug  gewechselt  sind,  so  wollen  wir  Zahlen  sehen  lassen.  Wii- 
stellen  darum  aus  angeführtem  Werke  drei  TabeUen  hierher.  Die  erste  der- 
selben enthält,  was 

das  Dnrchschnittsgehalt  fttr  Volks-  und  Mittelschnllehrer  betrug 


in 

1878 

1886 

Rückgang 

Ji 

M 

1238 

1147 

1228 

1077 

i  2063 

1726 

aaz 

1352 

1214 

laa 

1422 

1282 

140 

1162 

1103 

6a 

1419 

1283 

136 

1309 

1193 

m 

1379 

1284 

95 

1470 

1409 

63 

1118 

1094 

2i 

1372 

1366 

fi 

1422 

1263 

1652 

1496 

156 

Staat 

1441 

1329 

112 

Die  zweite  Tabelle 

lässt  die  Mittelschullehrer  außer  Ansatz  und  gibt 

nur  an 

das  Dnrchschnittsgehalt  der  städtischen  Volksschullehrer 

in 

1878 

1 

1886 

Uückgang 

M 

M 

1164 

1062 

Ifta 

1150 

991 

isa 

11>98 

1675 

323 

1339 

1144 

195 

1423 

1211 

1121 

1027 

135*> 

1248 

m 

1H4Ö 

1138 

207 

1351 

1250 

lül 

1443 

13«  55 

1179 

1096 

25 

Sclile.<wiif-Holstcin  ,    .  . 

•      •      »      •  • 

1329 

1321 

ä 

1414 

1189 

226 

ir,o8 

1878 

235 

Staat  ' 

1414 

m 

Weit  deutlicher  aber  noch  sprechen  die  Ziffern  auf  Tabelle  iL 


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—   247  — 


Lehrereinkommen  in  deu  Städtea  1878  und  1886. 


Vermehrung 

1 0  Mimmt-Strileneinkom- 

VennehraiiK 

AnnU  4»t  BteUn 

benr.  Ver- 

men  (etaaeUieAl.  pweSal. 

oder  Verminde- 

mindsrung 

UIWI  VHWHh 

ItanHäligen) 

nag  der  aafge- 

1S98 

IflSS 

d«r  Stellen 

1878 

1  18W 

wandten  Snioiaeii 
HIB: 

1  789 

782 

7 

918  645 

831  590 

-     87  055 

>>  cisipreujioii    •  . 

1  675 

762 

-  87 

77(5 109 

754  748 

-     21 361 

1567 
1777 

2t>64 

-  101)7 

3  130  619 

4  461  418  4-  1330  799 

1838 

- 

-  61 

,  2  379  203 

2  103  029 

-    276  174 

1216 

1232 

-  IQ 

1  1  730  088 

1  491  372 

-    238  715 

!  983 

lü.}G 

-  53 

1  101  796 

1  063  831 

-     37  965 

Schieden .... 

!  2040 

245() 

-  410 

2  766  382 

3  045  147 

+    27H  765 

Sachsen  .... 

'  2009 

2253 

-  244 

2  697  056 

2  564  254 

-    132  802 

Westtiüen    .    .  . 

1295 

1737  t 

-   442  , 

1  748  925 

2  171  744 

-    422  819 

Bheinl^nd   .    .  . 

3093 

418d! 

.  1090 

4  463  331 

5  709  361 

-  1  246  030 

Hohenzollern    .  . 

23 

28' 

5 

25  720 

30  676 

4  956 

^hleswig- Holstein   ,  758 
Hannover    ...    1  1034 

977  i 

-  219 

1007  700 

1  '290  729 

-    283  029 

1291 

-  257 

1  462  318f 

1534  583; 

-     72  265 

Hessen -Nassau .  . 

1040 

118G 

-  146 

1  67-_^  43H 

1  627  256 

-     44  582 

Staat      18  2i>9    22  4 1 9        4 120  j ^ 5  HS(  t ;  i:  U)  28  ()8( )  33; »  4-  2  HO; )  )9 


Obwol  also  in  den  sieben  Provinzen,  wflolif  eiiip  \'f'rminderiing  der  für 
die  Volksschullehi'ergehälter  aufgewandten  äummeu  aufweisen,  600  Lehret*' 
it«Il0D  nengegrüadet  wnrdmii  yorringerte  tleli  die  Ausgabe  für  Beaoldong  doch 
um  833000  Mark!!  An  22419  städtischen  Lehrern  in  Preußen  sind  naoh 
einer  Berechnung  in  den  Jahren  1878  1886  über  drei  Millionen  Mark  ge- 
spart worden.  Preußen  ist  nämlich,  wie  mftnnigUeh  weiA,  das  Laad  dw 
Schalen  and  Kasernen.  


Berlin.   (Von  einem  anderen  Berichterstatter.)  Die  Erweiterang  det 

staatlichen  Einflosses  auf  das  Volksschalwesen  gegenttber  den  Organen  der 
städtischen  Selbstverwaltancr  ist  eins  der  Ziele,  welches  Cultusminister  von  GoCler 
mit  Consequenz  und  Ausdauer  verfolgt.  Dh.s  Schullastensresetz  ist  das  wicli- 
tigse  Glied  in  der  Kette  der  darauf  hinwirkenden  Maßnahmen;  aber  aach  die 
ZaU  anderer  Yerffigongen,  in  denen  die  Beftigniaee  der  Gemeinden  in  Bezog 
anf  AnatoiiMiigj  Bcioldnnflf  nnd  Diedplinlrnng  ihrer  Lehrer  and  sonstige  Schul- 
angelegenheiten eine  bisher  nicht  gekannte  Einschränkung  erfahren,  ist  groß 
und  reicht  durch  die  ganze  Amtszeit  des  Ministers  hindurch.  Durch  Erlass 
vom  17.  Mai  1883  forderte  derselbe  auf  Grund  der  „Regierungsinstruction 
vom  23.  October  1817,  §.  18*^,  für  die  Regierung  nicht  nur  „die  Beaufsichti- 
gung', sondem  ttherhaapt  die  Verwaltang  des  gesammten  Elementarechnlweaenf 
mit  amfassendem  selbstständigem  Verfdgungsrechte.  In  Verbindung  hiermit 
steht  das  Bestreben,  die  Lehrer  namentlich  in  materieller  Hinsicht  in  directeste 
Abhängigkeit  von  der  RegioniiiiJi:  /n  bringren.  Der  Mangel  eines  Unterrichts- 
gesetzes läset  derartigen  Maßnahmen  freies  Feld.  So  hat  der  Minister  kürzlich 
nnter  Hlnweli  anf  eine  Bcihe  leiner  Erlasse  daran  erinnert,  dase  die  Begie- 
mng  allein  ftber  das  AnfHloken  der  Lehrer  in  hShere  GMialtsstafsn  an  ent- 
scheiden habe,  und  dass  es  unzulässig  sei,  einem  Lehrer  die  Zusage  auf  Ein- 
rücken  in  ein  Iiüheres  Gehalt  lediglich  nach  Maßgabe  des  Dienstalters  zu 
ertheilen.  Selbst  auüeronleutliche  Zuwendungen  der  Geiutiiult  u  an  ihre  Lehrer 
bedürfen  nach  Uerru  von  Goliiers  Vorschriften  der  Genehiuigung  seitens  der 


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—   248  — 


Hegienuiff.  Fr  liegt  dazn  ans  der  neuesten  Zeit  dne  groBe  Zahl  von  Einzel- 
fällen vor,  in  denen  die  Regierung  die  Dotation  von  stRdtisclien  Schulstellen 
bei  Neubesetzungen  bezw.  Neueinrichtungen  selhststiindig  geregelt  und  die 
Tou  den  Gemeinden  aufgestellten  Gehaltssätze  herabgesetzt  bat.  Uns  erscheint 
M  alfl  wttnaclieiuiwert,  daas  die  Gemeinden  üm  Bechte  auf  da«  Sehalweaea  ni 
wahren  anftngen,  damit  an  die  Stelle  des  Ton  den  Gemeinden  Terwalteten  nnd 
vom  Staate  beanfkiehtigten  Schnhvesens  nicht  die  rein  bureankratiaehe  Staats- 
schule trete.  Für  die  Lehrer  w<1rc  bei  der  jetzigen  Gestaltung  unseres  politi- 
schen Lebens  nur  Nachtheil  davon  zu  erwarten.  Innerhalb  der  Lehrerschaft 
ist  man  sich  der  Gefahr  vollauf  bewosst  und  überall,  wo  die  Gemeinden  das 
nOtbige  Interesae  iseigen,  stehen  die  Lehrer  der  reinen  Staatsachnle  wenig 
sympathisch  gegenüber.  Eher  macht  man  sich  mit  dem  Gedanken  vertrant> 
dass  die  Unterrieht>;gesetzgebung  Reichssache  sein  soll,  dann  ist  eine  etwas 
freiere  Behandlung  zu  gewärtigen.  Nur  die  Landlehrer  der  östlichen  Pro- 
vinzen erwarten  von  der  Staatsschule  Erlösung  aus  ihrer  drückenden  Lage, 
ob  mit  Bedit,  darf  naeh  allen  gemachten  Erfhhrongen  billig  beaweifelt  werden. 

Gelegentlich  der  Einwelhnng  eines  neuen  Sdinigebftndea  hielt  der  Leiter 
nnieres  Volksschulwesens,  Schnlrath  Bertram,  eine  Weihrede,  die  des  Inter- 
essanten nicht  entbehrte.  Er  sprach  darin  die  Absicht  der  städtischen  Be- 
hörden ans,  unsere  Schulen  in  ihrer  Leistungsfähigkeit  zu  steigern.  „Eine 
geringe,  scheinbar  geringe  Änderung  des  Lehrplauefi  der  Unterclaasen  ist  ein- 
getreten, nnd  doch  eine  ttnUerst  wichtige.  Eine  dentsche  Stande*)  nnd  eine 
Stunde  Gesang  sind  ersetzt  durch  turnerische  Übungen.  Solche  Übungen 
fanden  schon  statt  in  den  Vorschulen  höherer  Lehranstalten.  Dass  dieselben 
nützlich  und  forderlich  sind,  bedarf  keines  Beweises.  Bisher  hat  es  uns  an 
den  geeigneten  Lehrkräften  und  au  dem  nöthigeu  Räume  gefehlt;  jetzt  sind 
die  Kräfte  da  nod  reichlicher  Raum  durch  den  San  von  Turnhallen  gewonnen."'*) 
Ans  den  yersehiedenen  Lebenskreisen  tritt  das  Kind  in  vollbesetste  Oassen 
nnd  es  soll  sich  dem  Gebote  des  Lehrers  fugen.  Es  ist  eine  schwere  Aufgabe 
für  das  Kind,  das  gehorchen  und  für  den  Lehrer,  der  es  leiten  soll.  Gleich  in 
der  ersten  Zeit  sollte  bisher  das  Kind  lesen,  schreiben  und  rechnen  lernen, 
und  mit  einer  Hast  wurde  der  erste  Unterricht  betrieben,  dass  er  eine  äußerst 
aehlimme  EOrperlialtBDg  endeten  mnssteu  In  den  ersten  Wochen  dflrfen 
die  Kinder  keine  Tafel,  keine  Fibel,  keine  Mappe  mitbringen.  Aber 
Sprechen  nnd  Singen,  ZBhlen  nnd  Rechnen  sollen  sie  abwechselnd  treiben,  nnd 
hierzn  kommen  nun  turnerische  Übungen.  Allmählich  wird  so  aus  dem  Haus- 
kiud  ein  Schulkind."  —  Was  hier  als  neue  Weisheit  gepriesen  wird,  hatten  ein- 
sichtige Lehrer  und  Lehrerinnen  längst  erstrebt  und  erbeten,  sie  waren  aber 
Ton  der  yorgesetsten  Behörde  damit  abgewiesen.  Settsamer  Widersprach! 

Im  Widersprach  zur  Warnung  gegen  die  Hast  dea  Unterrichts  steht  auch 
ein  Experiment,  welches  jetzt  in  den  Oberclassen  unserer  Schulen  ausgeführt 
wird.  Es  soll  in  diesen  das  l'ensum  für  ein  Jahr  in  einem  halben  Jahre 
durchgearbeitet  und  im  zweiten  Halbjahr  wiederholt  werden!  Welche  Un- 
m^lichkeit,  ein  so  hocfageschranbtes  Pensom,  wie  es  unsere  Obwdaasen  Ar 
ein  Jahr  haben,  in  der  halben  Zeit  an  bewUtigen!  Wo  bleibt  denn  die 

*)  Warum  nicht  statt  dcfcsen  eine  Stunde  Religiou?  Drei  pro  Woche  wäre  iür 
die  Unterdasse  ausreichend. 

**)  Eäne  nicht  der  Wirklichkeit  entqpieQfaeade  Behauptung  I 


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—  249  — 


Pädagogik?  Es  kann  nnr  ein  Naschen  am  Stoff  sein,  die  Uftlblieit  wäre  daoa 
in  Permanenz  erklärt  Aber  —  der  Bien'  mass!  —  . 

D«r  Efeat  der  BerUnar  QtmeindeMliiileii  Ar  1890/91  Ist  im  yorauclilair 
MsMteUt  ia  Ebmahme  mit  80935  Hk.  ind  in  AugalM  mit  8538645  Hk., 
gegen  das  laofende  Jahr  mehr  291  027  Mk.  Am  1.  Oetotar  1890  werden  vor- 
anssichtlich  vorhanden  sein  190Schiileamit  3170C1mmii  vnd  ca.  177000  Scha- 
lem und  Schülerinnen. 

Erwähnung  verdient  die  Bemerkaug  des  Decementeo,  das«  iu  keinem 
Jahre  seit  1870  die  yerhlltniemaftige  Zonahme  der  sdholpflidhtiffen  Kinder 
80  gering  war,  wie  im  Jahre  1889. 

In  den  Pfingsttagen  des  kommenden  Jalires  wird  sich  in  den  gastlichen 
Manern  der  Reichshauptstadt  der  achte  deutsche  Lehrertag  versammeln.  Schon 
jetzt  werden  die  uüthigen  Vorbereitungen  getroffen,  insbesondere  besteht  die 
Abeicht,  eine  Diesterweggedenkfeier  in  großartigster  Weise  dabei  an  ver- 
anatalten,  da  der  29.  Oetober  1890  der  100.  Oebnrtstag  nnseree  Altmeisters 
ist.  Voraussichtlich  wird  der  Besuch  ein  angewöhnlich  starker  werden,  da  ja 
Berlin  als  solches  eine  große  Anziehungskraft  ansiilion  wird. 

Die  Themen,  die  nach  der  vorläufigen  Tagesordnaug  zur  Behandlung  vor- 
geschlagen werden,  sind  folgende: 

1.  Die  Sehidsynode.  (Ist  ee  wünschenswert,  dan  mr  Entscheidung  prin- 
eipieller  Scholfiragen  neben  den  ScholverwaltungsbehOrden  eine  au  Ver- 
tretern der  Lehrerschaft,  Gemeinde,  Kirche,  Staat  zusammengesetzte 
Schnlsynode  bestehe?) 

2.  Der  Bureaukratismus  auf  dem  Schulgebiete. 

3.  Inwieweit  soll  die  Scholgesetzgebang  Eeichssache  werden? 

4.  Beflreinng  de«  Lehrers  vom  nfedem  Kfisterdienst 

5.  Die  haaswirtschaftliche  Ansbildung  der  Mädchen. 

6.  Die  Hefombestrebnngen  auf  dem  Gebiete  des  naturkundlichen  Unter- 
richts. 

7.  Durchführung  der  Schulclassen. 

Das  Cvratotima  der  Dieeterweg-Stiftnog  (Vonitiender  A.  Böhme, 

Seminaroberlehrer  a.  D.  in  Berlin)  hat  einen  Rechenschaftsbericht  veröffent- 
licht, welchem  wir  folgende  Data  entnehmen.  Die  Stiftung,  deren  Zweck  es 
ist,  „im  Geiste  A.  Diesterwegs  zu  wirken,  insbesondere  seine  anregende  und 
geistweckende  Methode  unter  den  Lelirern  zu  pflegen",  hat  seit  ihrer  Grün- 
dnng  im  Jahre  1866  eine  Getanmteinnahme  von  15005,11  Mk.  gehabt 
(Samminngea  nnd  Geiohenke  7708,3  Hk.,  Jahresbeitrilge  2656,50  Mk., 
Zinsen  4645,.58  Mk.);  veraasgabt  hat  sie  9149,77  Mk.,  darunter  für  das 
(Tfabmal  Diesterwegs  3354,40  Mk.,  für  Preisarbeiten  im  Sinne  des  Stiftungs- 
Zweckes  3Öä3  Mk. 


Von  der  Ostsee.  Zwei  Nenerongen  im  Sobnlleben  ziehen  gefenwirtig 

die  Aufmerksamkeit  aller  Strandpädagogen  auf  sich:  Der  „Handarbeits- 
unterricht für  Knaben"  und  die  „lateiiilose  höhere  Bürgerschule". 
T'm  den  Handarbeitsunterricht  kennen  zu  lernen,  haben  mehrere  Commnnen 
einzelnen  Lehrern  die  Mittel  bewilligt,  dass  sie  einen  Cursas  iu  Leipzig  darch- 
madiiB  konnlen,  imd  diese  haben  non  die  VerpAichtang,  die  nese  Knoet  im 


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—   260  — 


Ueimatsorte  \\'eiter  zu  verbreiten.  Die  „Lateinlose''  i»t  bis  jetzt  noch  ein 
Experiment  Hau  wird  erst  einige  Jahre  ins  Land  geben  lassen  müssen,  um 
m  sehen,  ob  sie  dne  MitgenABe  SehOpfling  für  mseni  Schnlorganismiis  ist 
oder  nicht.  Sie  soll  eine  tUchtige  Bildung  fürs  Leben  geben,  die  Jangen 
sollen  sich  aber  ancb  nicht  den  Kopf  zn  selir  anstrengen  dürfen.  Ob  sich 
beides  vereinbaren  lassen  wird,  muss  die  Zukunft  lehren.  Einstweilen  erwirbt 
sich  die  neue  Schulart  unter  Eltern  nud  Schülern  hauptsächlich  deshalb  viele 
IVeimde,  well  sie  das  PriTilegimn  haben  soll,  Zeugnisse  für  den  einjfth- 
rigen  Militftrdienst  aasstellen  zn  dürfen.  B. 


Oldenburg.  Das  Jahr  1889  hat  den  Lehrern  der  Stadt  Oldenburg-  eine 
Gehaltsaufbesserung  gebracht;  das  Gebalt  der  seminaristisch  gebildeten  Lehrer 
stellt  sieh  jetst  fblgttidermaBen:  Die  Vorstelier  der  s.  g.  Mittelsehnlen  —  ge- 
hobene Volksschulen  —  beziehen  2400  bis  3600  Mk. ;  die  Vorsteher  der  Volks- 
schulen erhalten  2100  bis  3300  Mk.  Die  Lehrer  sind  in  drei  Gehaltsclassen 
eingetheilt  —  erste  Classe,  '  der  Lehrer,  1800  bis  30<X)  Mk.;  zweite  Classe, 
»/a  der  Lehrer,  löOO  bis  2400  Mk.j  dritte  Classe  Vs  ^^r  Lehrer,  1000  bis 
2100  Mk.;  Lehrerinnen,  1000  bis  1400  Mk.  An  Zulagen  werden  bei  zn- 
friedenstellender  Dianstfnhrong  der  Lehrer  in  der  Bogel  bewilligt  fünf  Jahre 
nach  der  ersten  Ansldlnng  und  sodann  von  drei  zu  drei  Jaliren  je  200  Mk.; 
an  die  Lehrerinnen  von  drei  /u  drei  Jahren  je  150  Mk.  Von  den  291  Haupt- 
lehrern im  evangelischen  Theile  unseres  Herzogthums  bekleiden  etwa  80  zu- 
gleich das  Amt  eines  Orguuisteu.  Au  verschiedenen  Orten  betrug  die  \er- 
gtttong  fllr  den  Organistendienst  bisher  nieht  300  Hk.,  es  ist  aber  Jetit  ttberall 
eine  Vergütung  T<ni  300  Mk.  gjBwftbrt  worden.  Das  Einkommen  der  mit 
einem  Kirchendienstc  verbundenen  Schulstellen  betr.'lo:t  an  15  Orten  1200  Mk., 
von  42  Orten  1500  Mk,,  an  15  Stellen  über  1500  Mk.,  darunter  sind  sieben 
Stellen,  welche  über  2000  Mk.  bringen.  Die  drei  besten  Stelleu  gewähren 
2500,  2660,  2800  Mk.  Es  geben  fOr  die  Inhaber  der  Organistenstellen  noch 
hinia  die  Alterssnlagen  bis  an  450,  ueh  30  Diensijahren  Im  Sdinlamte  and,  wenn 
kein  Diaastland  Toriianden  ist,  1 20  Mk.  Landentschädlgimg.  Die  Gehaltsanf- 
bessemnp^en  in  unserm  Lande  sind  ja  reelit  erfreuliche,  es  ist  jedoch  noch 
lange  nicht  genug  geschehen,  und  wir  haben  un.ser  Ziel  —  Gleichstellung  mit 
deu  höheren  Sabalternbeamten  —  noch  immer  nicht  erreicht.  Der  Lehrer- 
▼enin  wird  gewiss  nicht  rohen,  bis  dies  Zid  errdoht  ist  Der  Verein  ent- 
wiekolt  sieh  in  etfkenlicher  Weise  weiter,  die  MitgUedersahl  ist  auf  599  ge- 
stiegen, von  den  evangelischen  Lehrern  stehen  nur  einzelne  Collegen  abseits, 
von  den  Katholiken  gehört  kein  einziger  Lehrer  nnserm  Vereine  an.  Möchten 
sich  doch  auch  diese  anschließen! 

Vor  zehn  Jahren  schloss  der  Verein  mit  der  Fenerversicherungsgesell- 
Schaft  „Proyidentia*  einen  Vertrag  ab;  ans  diesem  Vertrage  sind  unserer 
Gasse  2603  Mk.  zngeflonen,  welche  dem  Pestalozziverein  zugewandt  sind. 
Dieser  hatte  im  letzten  Jahre  eine  Einnahme  von  5290  Mk.;  darunter  sind 
2502  Mk.  als  Geschenke  eingegangen:  an  Unterstützungen  sind  ausgegeben 
4282  Kk.  —  500  Mk.  mehr  als  im  Jahre  vorher.  Die  Uuterstützuugeu  ver- 
theUen  sieh  anf  40  Fftlle,  dnrohschnittlieh  betrSgt  also  die  gewährte  BeihUlb 
107  Mk.;  die  hSehste  Untentlltning  betrog  300  Mk.,  in  acht  Fillen  wurden 


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—  251  — 


150  Mk.  bewilligt.  Das  Vt^i  iiiögen  des  Veroins  beträgt  28  580  M..  seit  seinem 
Bestehen  hat  derselbe  au  Unterstützungen  bewilligt  insgesammt  42  380  Mk., 
es  8ind  also  im  Ganzen  über  70000  Mk.  zusammengeflossen.  Mit  den  ver- 
augabien  Sonineii  iit  gewte  naneheNodi,  wtm  aneh  nieht  gau  gdiobeii,  ao 
doch  fGhlbar  gemindert  worden.  Dankbar  erkennen  wir  an,  daai  Privatperaonen 
aiyährlich  dem  Vereine  namhafte  Summen  zufließen  lassen. 

Die  Berichte  des  Testalozzivereins  zeig-tn  deutlich,  dass  die  Hinterblie- 
benen der  Volksschullehrer  recht  oft  mit  Noth  und  Sorgen  zu  kämpfen  haben. 
Dieaer  ünatand  Tenudaaate  den  Lehrerrareia  m  owägen,  ob  nicht  die  Pen- 
aionen  der  Lehierwitwea  erh9ht  «erden  konnten.  Die  Lehrer  aind  bereit,  für 
eine  bessere  Verafirgnng  ihrer  Hinterbliebenen  Opfer  zu  bringen,  und  derVor> 
atand  des  Lehrervereins  wird  sich  bemühen,  eine  Erhöhung  der  Witwenpensionen 
herbeizuführen.  Hotfentlich  hat  er  in  dieser  Sache  einen  besseren  Erfolg  als 
in  der  Lesebuchfrage,  die  den  Verein  in  den  letzten  Jahren  beschäftigte. 

Die  prenliaehe  Orthographie  aoll  von  jetzt  ab  in  den  Sehnlen  dea  Landea 
gelehrt  werden,  bisher  hatten  wir  uusere  „eigene  Beehtaobraibnng".  Die 
Änderung  der  Rechtschreibung  gab  den  Lehrern  erwünschte  Gelegenheit,  eine 
Änderung  des  Lesebuches  für  Oberclassen,  welches  auf  Veranlassung  des  Ober- 
schulcoUegiums  von  vier  Lehrern  bearbeitet  wurde,  zu  beantragen.  Das  Lesebuch 
zerfällt  in  zwei  Abtheünngen;  die  eiste  Abtheilang  —  280  Seiten  groß  Octav  — 
tat  eine  Chreatomatiiie,  die  zweite  AbtheUong  kann  man  fflglich  ein  Bealienbnoh 
nennen.  Mit  dem  eraten  Theile  sind  alle  Lehrer  hinsichtlich  der  Auswahl  der 
Stücke  zufrieden,  nur  wünsclit  man  allgemein  eine  Vermi'lirnnij:  des  Lese- 
stoffes, und  dies  um  so  dringender,  da  das  Bach  auch  in  mehrdassigeu  Schalen 
gebraucht  werden  muss. 

Die  zweite  Abtheilang,  —  zor  ünteratfttznng  nnd  Belebung  dea  Ünter- 
lichta  in  der  'Welftonde  betitelt,  gefiUlt  wo!  eigentUeb  keinem  einzigen 
Lebrer.  Eine  Partei  will  diese  Abtheilang  beibehalten  wissen,  verlangt  jedoch 
eine  gründliche  Umarbeitung;  die  andere  Partei  will,  dass  der  jetzige  zweite 
Theil  des  Bnches  ganz  gestrichen  werde  und  dass  ;in  dessen  Stelle  eine  Aus- 
wahl aus  den  edelsten  Erzeugnissen  der  Gesummtliteratur  trete.  Ein  dahin 
gebender  Antrag  wnrde,  zam  Leidweaen  Ihrea  Berlchteratatten,  anf  der 
Landeaoonferenz  mit  72  gegen  70  Stimmen  abgelehnt.  Der  Vorstand  des 
Lehrervereins  veranlasste  nun  die  Vcreinsmitglif^der.  ihre  Wünsclie  bezüglich 
der  Gestaltung  des  Lesebuches  kundzugeben  und  arbeitete  auf  Grund  der  Vor- 
schlage eine  Denkschrift  aus,  welche  der  Behörde  vorgelegt  wurde.  Die  Be> 
bArde  ging  leider  Aber  die  Wflnadia  der  Lehrer  einfach  hinweg  and  Tenidaaat« 
einen  Neadmek  dea  Leaebnehea  in  aeiner  bidierigai  Qeatalt,  nur  die  Ortho- 
graphie wurde  geändert. 

Wie  nöthig  die  Änderung  des  zweiten  Abschnittes  unseres  Lehrbuches 
ist,  mögen  einige  Proben  darthiin.  Wii-  greifen  einzelnes  lierans:  Die  Ire- 
Schichte  des  letzten  deutsciifrauzüsischen  Krieges  ist  sehr  austühriicli  erzählt. 
Die  DartteUnng  iat  derartig,  daaa  man  die  (jteaehiehte  nicht  leaen  laaaen  kann; 
wollte  jemand  FremdwSrter  suchen,  die  nieht  in  ein  Schnlbach  gehören,  er 
würde  übergenug  finden.  Eine  Menge  von  Namen  nnd  Zahlen  ist  hier  auf- 
gespeichert, jeder  Fülu'er  eines  .\rmeecorps  ist  sorgfHltig  registrirt,  jedes  kleine 
Gefecht  erwähnt,  nnd  schwerlich  ist  eine  eroberte  Kanone  vergessen.  Die 
Geschichte  füllt  19  Seiten  gro£  OcUv! 


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—   252  — 


In  dem  uatuikundlicheu  Theile  finden  wir  folgende  Übersichten:  Ein- 
theUuiir  d«r  NatorkQrper,  die  12  Gküeii  d«  Thioreldiei,  die  12  Ordnungen 
der  Slngetliierey  die  8  OrdnvDgeQ  der  VOgel»  die  4  Ordnnsgea  der  Beptilieii, 

die  Reptilien  im  allgemeinen,  die  Fische  im  allgemeinen,  die  Insecten  im  all- 
gemeinen, die  7  Ordnungen  der  Insecten.  die  Pflanzen  im  allgemeinen,  das 
Linne'sche  Ptianzensystem ,  das  Minf'r:ilrei(  h  im  allgemeinen.  Der  Abschnitt: 
Naturlehre  bildet  einen  vullständigen  Luilladen  in  der  alten  Manier;  es  scheint, 
als  wenn  die  meKhodischea  Fortachrftte  der  letstMi  Jahrsehnte  fllr  den  Ver^ 
fasser  nicht  exiatireD.  Kein  Lehrer  wird  ana  dieaem  Atiacfanitt  etwas  als  Lese- 
stoff benntzea,  wollte  er  es  dennoch  tbtuif  ao  kOnnte  man  nur  die  Schiller 
bedauern. 

Im  geographischen  Theile  finden  sich  ebenfalls  viele  Übersichten,  Tabellen, 
Abriaae  a.  dgl.  Hier  finden  wir  ein  Lesestfick:  „Bo4enge8talt  und  Bodea- 
hShe**,  in  diesem  Anftata  —  57  Zeilen  —  werden  folgende  ElementarbegriiTe 

erklärt:  Spiegel  =  Niveau  des  Meeres,  absolute  Höhe,  relative  Höhe,  Ebene, 
Tiefebene,  Niederung,  Tit  fland,  Hochebene,  Anhöhe,  Hügel,  Höhe,  Berg,  GiptVl, 
Spitze,  Kuppe,  Fuß  ult  s  Herges),  Abhang,  Gebirge.  Gebirgskette,  Gebirgskamm, 
Gebirgsrücken,  Gebirgsgruppe,  Mittelgebirge,  Hochgebiige,  lüesengebirge  (Art- 
beseiehnnng!),  Gebirgsknoten,  Gebirgastock,  Thal,  Schlucht,  Längenthal,  Qaerthal, 
Sattel,  Joch,  Pass,  Vorgebirge,  Cap,  GeiblrBaland,  Hochlaad,  Qndle,  Bach, 
Floas,  Hanptflnss,  Nebenfluss,  Strom,  Mündong,  Küstenfloss,  Ufer,  Bett,  Strom- 
rinne, oberer  —  mittlerer  —  unterer  Lauf,  StufenlUnder,  Gefiille,  Wasserfall, 
Strouienge,  Stromschnelle,  Steppenlinss,  Flussgebiet,  Meergebiet,  Wasserscheide, 
See,  Queilsee,  llfindnngssee,  Flasssee,  Steppensee.  All  diese  Begriffe  —  66  — 
in  57  Zellen  erklärt,  daa  iat  gewiss  eine  Leistnng!  Wer  m5ohte  aber  seinen 
Sehfllem  znmntlien,  ein  solches  Stfick  zu  lesen? 

Die  vorstehenden  Proben  ergeben,  dass  der  Wunsch  nach  I'mgft'staltung 
des  LeseVuchts  .sehr  wol  berechtigt  war.  r»ie  Lehrer  waren  auch  allgemein 
enttäuscht,  als  die  Nachricht  kam:  das  Lesebach  erscheint  in  der  alten  Fas- 
aong.  Wir  wiaaen  nnn  freilidi  wd,  daaa  viele  Leaebflcher,  wenn  nicht  die- 
selben, 80  doch  Ihnliche  Mangel  aofweiaen,  nnd  daaa  nnaer  Leaebach,  nament- 
lich dessen  erster  Theil,  nicht  za  den  aehlechtesten  Erzengnissen  der  Literator 
gehört,  doch  dürfen  wir  nicht  eher  ruhen,  bis  unsere  berechtigten  Wünsche 
erfüllt  sind.  Die  Behörde  wild  endlich  eine  Umgestaltung  des  Buches  Yer- 
anlassen  müssen. 

Ein  wander  Punkt  In  nnaerm  Seholweaen  iat  die  SehnlaofMeht.  Sie  ist 

eine  vielgestaltige:  der  Geistliche  der  Gttneinde  ist  Localschulinspei  tor ,  dann 
gibt  es  Kreisschnlinspectoren,  im  Nebenamt,  theils  Geistliche,  theils  Lehrer; 
ferner  ist  mit  den  Kirchenvisitationen  eine  Schulvisitation  bezüglich  des  Re- 
ligionsunterrichtes verbanden,  und  endlich  hat  der  Oberschulrath  die  Ober- 
anlUcfat  ftber  slmmtUcbe  evangeliadia  Volksschnlen  nnd  Iber  alle  Ubereii 
Schalen  des  Landes.  Die  Lehrer  wfinschen  den  WegfUl  der  Loealaobnl- 
inspectioD,  und  erstreben  Fachaufsicht,  ausgeübt  durch  Lehrer,  welche  sich  in 
praktischer  und  wissenschaftlicher  Hinsicht  bewährt  haben.  Der  Schulinspector 
soll  kein  anderes  Amt  bi kleiden,  er  soll  seine  ganze  Kraft  seinem  Amte 
widmen.  Hätten  wir  Fachauihicht,  dann  würden  gewiss  die  berechtigten  For- 
denmgen  der  Lehrersehaft  viel  schneller  verwirklicht  werden. 

Dringend  wUnschen  wir,  dass  die  Voigcsetaten  in  ehnen  regeren  peraOn- 


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—   253  — 


Ucben  Vflikehr  mit  den  Lelmni  treten,  an  den  Verhandlimgen  auf  den  Landes- 

conferenzen  bethoilipt  sich  nie  ein  Rclmlinspector,  noch  niemals  liat  die  Behörde 
den  versammelten  Lehrern  eine  Begrüßnng:  zntheil  werden  lassen.  Die  Semi- 
naiiehrer  stehen  mit  den  Völksschullebrem  im  besten  Einvernehmen,  besuchen 
die  VenuDBloDgen  der  Lehrer  imd  nebmen  an  den  VerliaodlinigeD  lebhaften 
Anthefl.  Ein  reger  persönlicher  Verkehr  zwischen  Vorgesetzten  nnd  Unter- 
gebenen würde  größeres  Yertranen  hervorrnfen.  Augenblicklich  werden  recht 
viele  Berichte  geschrieben,  aber  was  nützen  dem  Lehrer  die  Berichte,  welche 
eorgföltig  zu  den  Acten  gelegt  werden  and  die  dem  Lehrer  nie  zu  Gesichte 
kommen! 

Das  Sehnlwesen  eines  Landes  ist  noch  lange  nicht  in  bester  Ordnnng, 

wenn  die  Kegistrator  dar  BehSrde  hübsch  gefüllt  and  geordnet  ist,  es  kann 
vielmehr  nur  dann  gedeihen,  wenn  die  Inspectoren  den  Lehrern  mit  Rath  und 
That  beistehen,  wenn  sie  den  Strebenden  unterstützen  und  ermuntern  und  den 
Trägen  unnachsicbtlich  zar  Erfüllung  seiner  Pflicht  antreiben.  Der  Schnl- 
inspeetor  soll  dar  Frennd  der  Lehrer  sein;  er  soll  allen  Bemtthnngen  der 
Lehrer  rar  Hebung  des  Schnlwesens  krSftigen  Vorachab  leisten.  Das  kann  er 
aber  nur,  wenn  er  die  Sache  grttndlich  versteht,  und  genügende  Sachkenntnis 
besitzt  nur  der  Fachmann,  guter  Wille  allein  reicht  nicht  ans.  Darum  müssen 
aach  wir  immer  und  immer  wieder  die  Forderung  erlieben:  Weg  mit  den 
Fremden  aas  der  Schalleitang,  die  Schale  dem  Pädagogen! 


Aus  dem  OroAhersogthnm  Hessen  (Mainz).^)  Dinier  sagt  an 
einer  Stelle  in  seinen  Schriften:  „Die  BKder,  anf  denen  der  Schnlwagen  fiort- 
roUen  soll,  sind:  Bildung,  Besoldung,  Aufsicht,  Freiheit."  Betrachtet  man 
yon  dem  Standpunkte  dieses  Ausspruchs  die  Volksschul Verhältnisse  in  Hessen, 
and  vergleicht  man  sie  zugleich  mit  früheren,  so  lässt  sieh  mit  gutem  Grnnde 
behaupten,  dass  der  Schalwagen  in  unserem  engeren  Vaterlande  eine  beträcht« 
liehe  Strecke  yorwftrts  gmllt  ist.  Vor  allem  soi^  die  Begiemng,  die  nach 
der  für  Hessen  so  verhängnisvoll  gewordenen  Ära  Dalwigk>Eetteler  das  * 
Knder  des  Staates  ergriff,  durch  Errichtung  von  Simultanseminaren  und  Um- 
gestaltung der  Lehi7»l;ine  für  eine  bessere  und  gediegenere  Bildung  de^< 
Lehrerstandes,  sowol  in  allgemein- wissenschaftlicher,  als  auch  in  methodischer 
Beziehnng,  nach  der  Seite  des  Wissens  nnd  Könnens.  Aach  der  Besoldangs- 
frage  war  man  emstUeh  näher  getreten,  nnd  wenn  dieselbe  bisher  aneh  nicht 
aar  allgemeinen  Befriedigung  geregelt  werden  konnte,  so  ist  doch  nie  der  ge- 
waltige Fortschritt  gegen  früher  außeracht  zu  lassen.  Nicht  minder  fand  der 
alte  Krebsschaden  des  Schulregimentes,  die  Aufsichtsfrage  eine  zeitgemüßere 
Regelung,  indem  fast  allenthalben  an  Stelle  der  bekannten  ^ geborenen  Schul- 
aafteher"  fachmännisch  gebildete  Inspectoren  ernannt  wurden,  die  in  den 
ihnen  unterstelltea  Sehnlen  die  GröndsKtie  einer  gesunden  ▼(orwlrts  scbrei- 
tenden  Pädagogik  nach  besten  Kräften  in  Anwendung  zu  bringen  suchten. 
Auch  das  Rad,  das  da  heißt  Freiheit  der  Schule,  wurde  trotz  mancher 
Schwankungen  des  Schul wagens  um  ein  gutes  Stück  weiter  geschoben,  ja  das 
trotz  des  heftigsten  Widerstandes  der  Geistlichkeit  zustande  gekommene  Schul- 


*i  in  diesem  Berichte  die  ronfessionelleu  Vorliältni^ise  eine  wichtige  Bolle 
spielen,  so  bemerken  wir  ausdrücklich,  doss  Verfasser  Katholik  ist.  D.  R. 


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—   254  - 


gesetz  vom  16.  Juni  1874  inadite  die  so  nötliige  Freiheit,  die  besteht  „nicht 
im  Genoss,  sondern  in  der  Arbeit,  der  unausgesetzten  Arbeit  an  den  Caltur- 
waUgflb&a  des  modeneii  Staates",  gendem  mr  Ffliditl  Mit  Beeht  wude  des- 
halb dieseB  wkhtigef  dem  CMsta  der  Zeit  entspfeelieiide  Gesets  yoa  Ldirera 

und  Schulfreunden  anf  das  Lebhafteste  beg^-till^t  und  als  der  Anbruch  einer 
besseren  Zukunft  för  die  bisher  durch  geistliche  Gewalt  geknechtete  Schule 
angesehen.  —  Leider  stellten  sich  aber  dem  so  wünschenswerten  Weiter- 
schreiten der  Schule  starke  Hindernisse  entgegen,  vou  Seiten  einer  Partei,  die, 
dem  Zeitgeiste  fiherhaupt,  so  besonders  dem  Geiste  der  modernen  Sehnle  ewige 
Feindschaft  geschworen  hat.  (reradeca  unglaublich  ist,  was  von  diesen  licht- 
schenon  Elementen  in  Verdrehung  von  Thatsachen  geleistet  wurde,  unzählig 
sind  die  Antrrirte.  die  in  \\'ort  und  Schrift  die  „antichristliche  und  Staats-  wie 
religiunsgefälirliche"  Neuschule  erfuhr.  Glücklicherweise  scheiterte  lauge  jeder 
nntemommeae  TorstoA  aa  dem  festen  Willen  der  Begiening  und  erst  jüngst 
antwortete  Herr  Staatsminister  Finger  in  hSchst  onzweideatiger  Welse,  als 
dericale  Heißsporne  es  versadltSBi  einen  allgemeinen  Sturm  gegen  das  ilineii 
verhasste  Schulgesetz  in  Scene  zu  setzen.  „Was  das  Volksschulgesctz  angeht"* 

—  so  sprach  Herr  Finger  unter  dem  Beifall  d<  r  Majorität  der  Ständekammer 

—  „so  ist  bei  der  Staatsregierung  noch  niemals  der  Gedanke  auf- 
getaneht,  daran  eine  Änderung  Torsnnehmen,  namentlich  eine  Ände- 
rung in  dem  Sinne,  wie  sie  von  Jener  Seite  (der  nltramontasen  nftmlich!  D.B.) 
erstrebt  wird,  nnd  fÄr  welche  tagt.lglich  das  ,Mainzer  Journal'  (Hauptorgan 
der  clericalen  Partei!  D.  B.)  plaidirt.  Eine  solche  Änderung  wird  nicht 
stattlinden,  solange  in  Hessen  eine  Kegierung  besteht,  die  ihre  Auf- 
gabe begreift.  Die  heutige  Schale  ist  ein  Prodnct  langer  geschichtlicher 
Entwickelnng.  Sie  ist  infolge  eines  mehr  als  hnndertjfthrigen  Prooesses  ana 
den  Händen  der  Kirche  in  die  Hftnde  dos  Staates  übergegangen,  und  der 
Staat  würde  seine  Existenz  selber  aufgeben,  oder  doch  dazu  beitragen, 
dass  sie  gefährdet  würde,  wenn  er  die  Schule  wieder  au.s  der  Hand 
gäbe,  wenn  er  die  Kirche  die  Schule  wieder  regieren  ließe.''  So  ist 
es  glommen»  dass  die  nltramontane  Partei  trots  „BaaemTerein*  nnd  Er> 
ziehnngsbrfidwschaft  („es  mnss  der  Junker  mit  dem  Pftifoi  gehen")  es  an 
nennenswerten  Erfolgen  im  ganzen  und  großen  nicht  gebracht  hat. 

Andei*s  in  Mainz!  Hier,  in  der  Hochburg  des  Ultramontanismus,  war  ja 
von  hoher  Stelle  schon  sehr  frühe  der  Krieg  gegen  den  „grundsätzlich  religions- 
nnd  gottlosen,  sog.  modernen  Staat"  proclankirt  worden;  wie  konnte  es  da  noch 
ansbleiben,  dass  die  moderne  SchnlOf  dieses  „Kind  der  Bevdntion",  die  best- 
gehasste  der  bestehenden  Staats-Institntionen  wurde?  Dabei  Iknden  die  be- 
kannten niinkt'lniilnner  nebst  ihrem  lauten  und  stillen  Anhange  selbst  da 
Unterstützung-,  wo  man  sif  zuletzt  suchen  sollte,  nilnilich  in  Uelirerk reisen 
selbst.  Es  ist  hinlänglich  bekannt,  welcher Eintiuss  dem  in  weitesten  Kreisen 
bekannt  gewordenen  Bisehofe  von  Eetteler  während  der  für  Hessen  se  tran-' 
rigen  Zeit  des  Dalwigkschen  Regimes  anstand;  ebenso  bekannt  ist  weiter,  wie 
die  ganz  im  clericalen  Fahrwasser  segelnde  katholische  Abtheilung  der  „Ober- 
Stndien-Direction'*  bestrebt  war,  den  Willen  des  westfälisrlie  Zähigkeit  mit 
italienischer  Klugheit  verbindenden  I'rälaten  auch  in  Bei  reff  der  Lehrer- 
emennung  zu  erfüllen.  So  kam  es,  dass  nur  „Gutgesinnte"  in  der  „Diöcesan- 
hanptstadt**  Verwendung  fimden,  solche  nur,  von  denen  voraussnsehen  war,. 


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—   255  — 


dass  sie  dem  mächtigen  Manne  und  der  „guten  Sache"  keinerlei  Schwierige 
keiten  bereiteten.  Nicht  verwunderlich  ist  deshalb  auch,  dass,  während  in 
allen  Gauen  Hessens  infolge  des  Frühling-s,  der  durch  das  neue  Schulgesetz  in 
das  Laad  gezogen  war,  im  Schulwesen  alles  keimte  und  sprosste,  im  „goldnen 
Mains*  mar  mit  MlUie  nnd  allmlliUolk  der  eliig«  Paaser  gebiroelien  werden 
konnte,  in  den  durch  Priesterhand  die  Schule  eingezwängt  war.  Und  wäh- 
rend draußen  „auf  dem  platten  Lande"  Männer,  die  die  Fahne  der  Schul- und 
Lehrerfreundliohkt  it  hochhielten,  verdiente  Anerkennung  landen,  wurden  ihres- 
gleichen au  den  Ufern  des  „freien  Rheines"  in  ihrem  Wirken  gehemmt  und 
in  jeder  Beziehimg  yertolgt!  Es  zeigte  von  genauer  Kenntnte  der  bestehenden 
Verhältnisse  und  too  gfsnsdem  pidagegtoehen  SinBe,  daas^  als  im  Sommer  1883 
die  Stelle  eines  Kreisschnlinspectors  frei  wurde,  das  inzwischen  an  Stelle  der 
..Oberstudien-Direction"  getretene  Sclinlministerium,  um  dem  Mainzer  Schul- 
wesen aufzulielfen ,  die  Ernennung  eines  fachmännisch  gebildeten  Mannes  ins 
Auge  fasste;  sowol  die  Namen  der  hessischen  Schulmänner,  wie  die  der  außer- 
heesisehea,  die  als  CSandidaten  genannt  worden,  Uefleo  in  der  Tiiat  auch  das 
Beste  hoffen.  Allein  es  soUte  anders  kommen.  Man  flüsterte  bald  Ton  Schrittest 
die  die  in  Mainz  immer  rückhaltloser  und  anmaßender  auftretende  nltramon- 
tane  Partei  gethan  habe  und  noch  in  Aussicht  stelle,  um  den  erledigten  In- 
spectorpofiten  einer  „natürlichen  Autorität"  zuzuwenden.  Genug!  prä- 
aeotirte  aieh  in  jedermanns  Erstannen  im  Herbete  1888  ein  nea  enuumter 
geistlicher  „Inspecter  der  Stadt-  nnd  Landachnlen  des  Kreiaes  Haina!"  Ob- 
sebon  man  den  streng  ultramontan-kettlerschen  Standpunkt  des  auf  einen  so 
verantwortungsvollen  Posten  berufenen  Herrn  vollständig  kannte,  so  liielt  man 
es  doch  in  verschiedenen  Kreisen  tiir  nnmüglicli,  dass  bei  einem  liberalen  Schul- 
gesetze, einem  liberalen  Ministerium  und  einer  inzwischen  immer  zahlreicher 
gewordenen  liberalen  Lehrerschaft  nochmals  jeaaitiseher  Geist  nnd  Jesuitische 
Schulpolitik  ihre  Triumphe  Mm  idtnnte.  Daan  hatte  Herr  Brilmayer  — 
so  ist  der  Name  des  neuen  Herrn  Luqpectors  —  erklärt,  „auf  dem  Boden  des 
Schulgesetzes  zu  stehen";  eine  Umgehung  des  in  dem  Gesetze  wehenden 
liberalen  Geistes  aber  wurde  geradezu  für  unmöglich  gehalten.  Dem 
Schreiber  dieser  Zeilen  ist  seit  jener  Zeit  schon  sehr  oft  das  Urtbeil  eingefallen, 
das  ein  hervorragender  hessischer  Sehuhnaan  bei  der  Ernennung  BrÜmayers 

zum  Kreisschulinspector  HUlte.    „  Entweder  muss",  so  lautete  es,  „Herr 

Brilmayer  fortan  der  Schule  leben  oder  der  Kirche.  Thut  er  crsteres,  so  ist 
sein  Conflict  mit  der  Clerisei  gewiss;  lebt  er  der  Kirche,  so  bedauere  ich 
Schale  und  Lehrer,  denn  ich  selbst  habe  lange  genug  den  Segen 
einer  geistlichen  Schnlanfsicht  genossen!  JedeniUls  aber  kann  man» 
wenn  man  der  Kirche  lebt,  nicht  zu  gleicher  Zeit  ein  WoltliSter  der  so  sehr 
TOn  der  Geistlichkeit  angegriffenen  Neuschule  sein!'* 

Sechs  Jahre  sind  seitdem  verflossen,  Zeit  genug,  um  einem  Manne  in 
leitender  Stellung  Gelegenheit  zu  geben,  das  von  ihm  gewählte  Ideal  zu  ver- 
wirklichen; and  wer  wollte  leugnen,  dass  Herr  Brilmayer  das  seinige  stets 
unverrBckt  im  Auge  behielt  und  es  mit  Zähigkeit  nnd  Jesuitischer  Schulung 
▼erfUgte?  Ja,  es  zeigte  sich  bald»  daaa  der  von  gewissen  Autoritäten  als 
,,eifriger  Jünger**  Bezeichnete  Heister  g^eworden  war  und  eine  mehr  als 
leitende  Aufsicht  zu  föhren  wusste,  kaum  zum  Heile  des  Princips  der  geist- 
lichen Scholinspection,  zum  größten  Schaden  aber  für  die  innere  und  äußere 


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—  266 


Entwickelang  des  ihm  unterstellten  Schulwesens.  Allen  Bezielinngren  spürte 
und  spürt  er  nach,  an  die  sich  für  seine  Zwecke  anknüpfen  lUsst;  alle  Ver- 
ordnungen und  Erlasse,  die  auf  ihn  als  technisches  (1)  Mitglied  der  Kreisschul- 
committioD  sorlldaiiflUirai  lind,  tragen  mett  oder  weniger  daa  Gepräge  einer 
längst  aatiqnirteOt  mittelalterlichen,  nicht  feu^hmänniBchen  Anflkimng  der 
Schul-  und  Lehrerverhältnisse.  In  den  Augen  der  Ultramontanen  natürlich 
gestalteten  sich  alle  rnternehranngen  als  „Siege  der  guten  Sache",  d.  h. 
als  Siege  einer  langst  erhofften  clericalen  Schulleitung.  In  diesem  Sinne 
arbeitete  aacb  die  Caplanspresse.  Heate  wnsate  dieselbe  von  „Verdiensten" 
des  „hoohTerdieiiteD  Hom"  anf  dem  OeMete  der  Sehide,  morgen  von  seinem 
„pflichttrenen  und  humanen  (!!)"  Auftreten  zu  er/.Uhlen,  so  dass  der  ünkmidige 
den  Eindruck  gewinnen  konnte,  als  sei  erst  durch  die  Ära  Brilmayer  der 
Schule  Heil  widerfahren!  Zuweilen  konnte  zwar  der  „pflichttreue"  nnd 
^jhumane"  Beamte  mit  seiner  „herzgewinnenden  Freundlichkeit''  auch  leideu- 
flohaftlieh  werden,  wenn  nftmlicb  das  SpeooUren  anf  den  Fansttamu  der 
nrtheilslosen  Menge  oder  auf  dai  Hitleid  der  frommen  Bfnfiilt  nicht  mehr  ver- 
fing. In  diesem  Falle  hob  dieselbe  Presse  mit  Freuden  hervor,  dass  „den 
modernen  PMagogen  der  Staar  gestochen  nnd  klar  gemacht  wird,  dass  die 
natürlichen  Autoiitllten  (!!)  doch  noch  leben.''  (Mainzer  Journal  No.  304, 
Jahrg.  1888.)  So  interessant  und  lehrreich  es  für  eine  spätere  Special>Schal> 
geaehiehte  aneh  w8re,  wenn  wir  eine  GeMralmnstening  aller  Sehnlerlane  und 
Schulbestiminungen,  die  ana  der  neuesten  Plmae  der  Entwiekdangsgeschichte 
des  Mainzer  Krei.sschnlwesens  datiren.  yomehmen  würden,  so  gebietet  docb 
Aufgabe  und  Rahmen  unserer  Darstellung,  uns  in  engen  (irenzen  zn  halten. 
\Vir  greifen  daher  nur  auf  das  zurück,  was  gewissen,  allgemein  anerkannten 
nnd  für  den  IMnunm  ftatatelienden  VerUltninen  bewmden  widerspricht  nnd 
geeignet  ist,  aneh  weiteren  Kreisen  das  Büd  eines  Eldomdos  geistüdwr 
Schulleitung  za  geben«  Der  „hochwürdige"  Herr  Kreisschulinspector  hatte 
kaum  von  seinem  neuen  Amte  Besitz  genommen,  als  er  Gelegenheit  fand,  seinen 
Standpunkt  der  heutigen  Pildagogik  gegenüber  zu  entwickeln.  Auf  einer  in 
Sachen  der  LehrerbibUothek  und  des  Lehrerlesezirkels  abgehaltenen  General- 
yeraammlnng  wurde  nämlich  von  einem  mtgliede  des  LehrarerelnB  der  Antrag 
anf  BiwfUhmng  dee  „Psedagoginrns"  gestellt,  nnd  seUflvtlltlndlich  stimmte 
weitaus  die  grf'tßte  Mehrheit  der  Confert-nzmitprlieder  für  genannte  Fachschrift. 
Nun  aber  erhob  sidi  der  bisher  schweigsam  dasitzende  „Vorgesetzte"  und 
erklärte  mit  der  ihm  eigenen  „Schneidigkeit'S  dass  er  nie  und  nimmer 
„dniden**  würde,  dieses  Blatt  in  lesenl  Dittes  lo  setite  der  edle 
Gottesstreiter  in  seinem  «heiligen*  Zonie  hinm  —  sei  ein  „ Antichrist",  nnd 
der  „protestantische  Geist"  werde  mehr  als  genügend,  so  a.  B.  auch  von 
der  „Allgemeinen  Deutschen  Lehrerzeitung"  vertreten.  Wir  wissen  nicht,  ob 
der  „über  Nacht**  vom  Caplan  zum  Schulleiter  des  größten  hessischen  Kreis- 
lehrerkörpers Beförderte  vorher  Gelegenheit  genommen  hatte,  beide  Blätter 
nnd  ihreTendo»  kennen  n  lernen;  noch  wollen  wir  nicht  mtenuchen,  inwie- 
weit die  Prädicate  „anttehiistUeh"  nnd  „protestantisch**  die  für  Hem  B.  wol 
identisch  sind,  auf  genannte  Zeitschriften  nnd  deren Redactionen  anzuwenden 
sind  :  es  wurde  aber  allmählich  auch  dem  blöden  Auge  klar,  was  die  bekannten 
Agenten  bezweckten,  als  sie  mit  allen  ihnen  zu  Gebote  stehenden  Mitteln  die 
Eiosdiielvng  des  wie  sein  „hehres"  Vorbild  v.  Ketteier  stahlharten  und  doch 


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wieder  so  elastischen  Manrips  in  die  hessische  Schiilinspection  herbeiznfiiliren 
suchten.  Diese  natürliche  Folge  der  gegen  die  pädagogische  Literatur  ein- 
genommeoen  Stellung  des  Herrn  B.  mae,  daw  dem  „deetroeUven*'  Xaioser 
Lesezirkel  dnroii  OoollMttiQaeB»  Yerweigemiig  einer  GeneralTenamnilnny  ete. 
allerlei  Cbicanen  bereitet  worden,  im  Landbezirke  aber  die  „protestantische" 
^AUgemeine  Deutsche  Lehrerzeitungr"  ans  zwei  Lesevereinen  verschwand. 
Hier  wurde  sie  als  „  Feindin  der  (doch  sonst  von  dem  Clerus  geschmähten) 
weltlichen  Lehrerinnen"  hingeetollt,  dort  eoUte  aie  atfttt  „praktischer  Aufsätze** 
an  viel  „onflrnohtbare  (?)  thewetiwdie  ErOrtflnmgen**  biingeo!  (Im  Znsammen* 
hange  hiermit  steht  jedenfalls  nicht,  dass  die  Lehrpersonen,  welche  für  Be- 
seitignng  der  ^Allg-.  D.  Lehrerztg."  besonders  thUtig^  waren,  bald  eine 
BefJ^rdefung  nach  Mainz  erfuhren  und  jetzt  eifrige  Mitglieder  des  „von  dem 
hoch  würdigsten  Herrn  Bischof  mit  gutem  Grunde  geschätzten  „Katholischen 
BMehnogt^eireias*  tindl)  Immer  iCliker  t»t  Üe  VennntliQng  anf,  dass  der 
nm  das  Seelenheil  des  ihm  mteratollten  Lehrpersonals  so  besorgte  Herr  bald 
selbst  als  pädagogischer  Schriftsteller  hervortreten  werde.  In  der  That  prä- 
sentirte  sich  auch  der  Unennfldliche ,  der  sonst  immer  von  „Zeitmangel"  und 
„erdrückender  Arbeitslast"  sprach,  einer  neuen  Lehrerconferenz  als  Redacteur 
der  „wie  der  bekannte  Schulbote"  (Organ  des  liberalen  „Hess.  Landeslehrer* 
Vereins*)  monatlich  sweimal  erseheineoden  «Sehnlblfttter".  Das  nene  Prodvet 
wurde  sls  „Ihrblos"  von  Seiten  seines  geistlichen  Bedacteurs  bezeichnet  nnd 
sollte  „in  erster  Linie"  die  amtlichen  Hikanntmaclningen  der  Kreisschnlcommission 
enthalten;  etwas  zögernd  aber  folgte  die  Bemerkung,  dass  der  übrig  bleibende 
Baum  noch  mit  „anderen  Dingen"  angefüllt  werden  wfirde.  Und  er  wurde  es! 
Dafür  sengen  Mmmner  flr  NamoMr,  von  der  V^rherrUehang  des  „verdienst- 
voUea"  Kapnainer^Ptdagogeii  Don  Boseo  bis  anrHittheilnng  des  „bedirenden 
Besuches"  von  dem  Alzeyer  Lehrerseminar  durch  den  „hochwfirdigsten  Herrn 
Panlns  Leopoldus,  Bischof  von  Mainz"  nnd  seiner  „Beffrüßung^*  (!)  durch  den 

 Geh.  Oberschalrath  Greim!   Es  hätte  dieser  Herrn  B.  entschlüpften 

Herzensergießnng  nicht  bedurft;  auch  ohne  sie  konnte  kein  Zweifel  darüber 
tiestehen,  wer  nach  dar  Ansicht  der  „Sehnlblltter"  im  hessischen  Schnlwesen 
„"Rtsn^  IB  sein  verdient  nnd  wer  nicht.  Die  Brilmayersehen  „Scholblitter'' 
wurden  aus  nahe  liegenden  Gründen  von  den  geistlichen  Collegen  seines 
Bedacteurs  durch  Abonnements  und  literarische  Beitrüge  kräftigst  unterstützt, 
und  Herr  B.  fuhr  trotz  „Zeitmangels"  und  „erdrückender  Arbeitslast"  beharr- 
lich fort,  Probennmmem  seines  Hnsenkindes  an  Lehrer  in  Stadt  nnd  Land  zn 
veneaden;  allein  trotedem  anf  den  verMhiekten  Adressen  die  charakteristisohe 
Handschrift  des  fswaltigen  Schulleiters  in  nicht  misszu  verstehender  Absicht  an 
erblicken  war,  so  wollte  das  Blatt  bisher  doch  nicht  „ziehen"  nnd  nur  wenige, 
kanm  dem  Seminar  entwachsene  Lehrer  außerhalb  der  Stadt  Mainz  und  gewisse 
pädagogisch  dilettirende  Pfarrherren  ließen  sich  herbei,  die  so  heiß  ersehnten 
Beitilge  SV  Ueton,  erstsre  allerdings  in  der  HoAiung,  dnrch  diesen  Act  der 
Gesinnnngstiliclitiglnit  sich  den  Wcf  nach  Mains  an  bahnen.  Sehr  verrechnet 
hat  sich  aber  jedenfalls  Herr  B.,  wenn  erglanbt^  dnrdi  seine  eigene  redactionelle 
Thätigkeit  gewisse  „protestantische"  nnd  .  antichristliche"  pädagogische  Fach- 
schriften aus  den  Kreisen  der  ihm  unterstellten  Lehrer  verdrängen  zu  können! 
—  Auch  die  alten  Klagelieder  ttber  die  „fortschreitende  Verwilderung  der 
Jncend'*  worden  bald  wieder  in  allen  Tonarten  gesnngen,  nnd  wer  sollte  an 

Pa4mt«nB*  St.  Mir.  HM  IV.  19 


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—  2ö8  — 


diesem  Übel  anders  schald  sein,  als  dieScbule?!  Allen  modernen  pftdagogiidieE 
OnmdsitJWB  warn  Hohne  wurde  dam  aoob  die  Zahl  dar  BeUgioosstnndea  per 
Woebe  von  vier  wat  fftnf  erhSbll  Dw  „goldeM  Kalns^  hat  «Im  uter  allen 

hessischen  Gemeinden  den  zweifelhaften  Rohm,  in  Minen  Volksschulen  die 
größte  Anzahl  der  v^öchentlichen  ReligioDsstnnden  zn  genießen.  Dabei  sorgte 
Herr  B.  auch  dafür,  dass  in  den  übrigen  Lehrstunden  das  „Wort  Gottes"  zu 
seinem  Rechte  kam.  Sogar  protestantische  Lehrer  und  Lehrerinnen  wurden 
angehalten,  darauf  n  eehent  daaa  bei  Beginn  und  Schhiae  der  Lehretnaden  für 
Profan fä eher  die  katholischen  Kinder  MTichtig  das  heilige  Kreuz  machen". 
Ein  90  belehrter  I^hrer  erlaubte  sich  zwar  die  Einwendung,  es  sei  dies  Auf- 
gabe des  betr.  Keligionslehrers;  allein  „Sie  müssen!"  so  klang  es  ihm  ent- 
gegen, und  schwer,  sehr  schwer  hatte  der  „liberale  Krakehler"  seine  „unqnali- 
Hdrbtt«  Binwenduog"  spftter  noeh  an  MBen.  So  aebr  batte  man  atoii  in  te 
Eifer  fBr  die  religUlM  Bildung  der  Sebnijngend  binefaigeredet,  dais  man  aich 
auch  in  der  Beaufsichtigung  dea  Religionsunterrichtes  nicht  genug 
thun  konnte  und  „man"  außer  dem  gewiss  waschecliten  Herrn  Kreisschnlinspector 
und  einem  zum  „Religionsinsi)eot.(»r"  ernannten  bisclHit'l  ichen  Donicapltnlar 
noch  vier  andere  ,, besonders  verdienstvolle"  PlarrgeisLliche  der  Stadt  Mainz 
snrBeaaMobtigung  dei  lutholiaeben  Beligionsanterricbtea  beBÜmmte.  Zngleieb 
eriiieltoi  die  Alumnen  dea  bisehöflicben  Seminars  die  Erlaubnis,  die  Ton  dea 
Lehrern  ertheilten  Religionsstnnden  besuchen  zu  dürfen!  Man  wird  uns  viel- 
leicht von  Seiten  unserer  „Schwarzen"'  einwenden,  die  znletzt  genannten 
Alumnen  seien  nicht  zu  Aufsehern  Uber  die  Lehrer  bestimmt,  sondern  ihre 
Anwesenheit  in  der  Schulclasse  bezwecke  eine  Beförderung  ihrer  praktischen 
OeeebiekUchkeit  Allein  wir  aind  an  genan  mit  den  AMcbannogen  dieser 
Leute  vertraut,  als  dass  es  uns  gelänge,  einzusehen,  wie  dem  durch  die  ver* 
scliiedenen  Weihen"  zur  „liölieren  Einsicht"  Gelangten  in  irgend  einer  Be- 
ziehung Belehrniip  von  dem  durch  Geburt  und  Beruf  mit  einer  levis  notae 
macula  behafteten  „Schulmeister"  zutheil  werden  könnte!  „Die  modernen 
Ptdagogen  werden  wol"  —  ao  epraeb  daaalt  eine  bekannte  elerieale  „GrOBe" 

»ftber  manchea  ilire  pidagogische  Nase  rfimpfen;  alldn  es  ist  daftr  i^e-  ' 
aorgt,  dass,  wenigstens  in  Mainz,  ihre  Zeit  vorüber  ist!" 

Wir  kommen  zu  einer  anderen  interessanten  Ei-scheinung  innerhalb  der 
neuesten  Phase  der  Entwickelung  des  Mainzer  Schulwesens,  nämlich  zu  der 
Thatsacbe  eines  bedenklichen  Hervortretens  confessioneller  StrO* 
mnngen.  Bs  war  den  altramontanea  Oewalthabem  achon  Iftagst  ein  Dom  im 
Ange,  dass  zwischen  den  eiaaslnen  Lehrern  der  Commnnalschnle  ohne  Rück- 
sicht anf  die  Confession  ein  reger,  ungetrübter  Verkehr  herrschte,  dass  derselbe 
sich  auch  äußerlich  in  einem  simultanen  Lchrerverein  und  einem  Leseverein 
von  gleicher  Beschaffenheit  zeigte  Auch  das  mnsste  anders  werden,  Herr 
Brilmajer  batte,  wie  bereita  beaierkti  achon  frftber  von  einem  „protestaatiseben" 
GMste  gesprochen,  der  mehr  als  genügend  ▼ertreten  sei,  nnA  «katholiaelie 
Lehrer  haben  andere  Bedürfnisse  als  protestantischel*  so  klang  ea 
weiter  von  den  Lippen  desselben  „modernen  PHdagogen",  als  eine  Vereinigung 
der  von  ihm  besonders  in  schützende  Obhut  genommenen  Landlehrer  im  Be- 
griffe stand,  eine  gemeinsame  Lehrerbibliothek  zu  gründen.  Die  Folge  dieser 
ofBciellen  ErafUeistnng  blieb  denn  nicht  ans.  Verletate  lätdkett  nnd  nn- 
befiriedigter  Ehigeia  einerseits,  religiöser  Fanatlemna  nnd  dericale  Unduldsam* 


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keit  andererseits,  sie  alle  fanden  sich  in  rührender  ilarmonie  in  dem  Bestreben, 
den  Fackelbrand  des  confessioneilen  Haders  in  die  Kreise  der  Lebrencbaft  za 
Mbkidira.  laibeiradfln  aiber  erMiryoB  dieaeD  Wflblen  der  Ubarato  JLtndM- 
tehierrerein",  in  weldMai  di»  hMiiacben  Lehrar  ohne  Frage  nadi  dem  Tauf- 
achein  ihre  Interessen  gemeinsam  vertraten,  die  heftig^ste  Aufeindang.  So 
mnsste  es  denn  die  Welt  erleben,  dass  in  dem  Lande  Philipps  des  OroBmötigen 
eines  Tages,  ^um  den  Bann  des  Landeslebrervereins  za  brechen"  (1),  ein  „katho* 
Ilaoher  Brziebangsverein  fär  das  GroflbenGogthiini  Hesaeo**  entstand,  ge- 
laitei  md  imrtagirt  BaMriieh  von  Mains  ana,  in  walehar  Stadt  aeit  der  Biil- 
mayerschen  Schnlleitong  nach  den  Worten  eines  Kenners  ^kein  Pflastaratein 
in  den  Schnlbof  gesetzt  wurde,  ohne  aaf  seinen  confessionellen  Charakter  ge- 
prüft zu  werden."  Nach  §  1  der  Satzungen  des  genannten  Vereins  besteht 
der  Zweck  desselben  in  der  „Förderung  der  religiösen  Erziehung  im  Geiste 
der  kntlioliaohen  Eirebe!"  Waa  dieaa  Framinen  unter  einer  „Bniehnng 
im  Oeiate  der  kalboUaebeo  Kirebe'*  verateben,  iat  Jeden  klar,  dar  einmal  in 
die  Karten  dieser  Oottesstreiter  hineingesehen  hat.  Außer  strenger,  wenn  andl 
äußerlicher  Befolgung  der  kirchlichen  Ceremonien  und  Herbeiführung  einer  zur 
Schau  getragenen  kirchlichen  Gesinnung  verlangen  dieselben  nämlich  nuter 
jenem  Schlagworte  weiter  eine  confessionelle  Färbung  des  gesammten 
Profannnterriobtea,  also  Hineiotragnag  von  Bigotterie  in  jede  Art  der 
üoteniclitafächer!  Nach  den  Unterrichtsmaximen  dieser  Clique  werden  natür- 
lich nur  „religiöse"  Siltzo  als  Scli<irischrift  in  Anwendung  {gebracht,  wird  bei 
jedem  Dictando  Wasser  auf  die  p:roße  römisclie  Miihlc  geleitet,  und  jedes  Lose- 
stück muss  es  sich  gefallen  lassen,  für  ultramontane  Zwecke  ausgebeutet  zu 
werden!  .Im  Oeiate  der  katboUaeben  Eirohe**  wird  Umier  die  Qeaefaiolite  vor* 
getragen,  d.  fa.  divt  wo  die  Tliataaehen  sn  Uagonaten  der  Plpate  and  Hiararehie 
sprechen,  gefälscht,  in  der  Geographie  statt  Erdbeschreibung  biblische  Orta- 
kunde  gelehrt,  ja  selbst  in  der  Arithmetik  werden  die  Rechenexempel  so  ge- 
wählt, dass  dabei  „die  Kirche  und  ihre  Diener gut  drauskommcn!  Dass  eine 
solche  „Erziehung**  keine  Erziehung,  sondern  eine  Abricbtnng,  eine 
Dreaanr  iat,  kimmert  dleae  deriealen  Biedermlnner  niebt;  man  will  eben 
nicht  ein  wolnnterrichtetes,  aufgeklärtes,  gebildetes,  sondern  ein  «glänbigea" 
d.  h.  ein  einfältiges,  leicht  zu  belügendes  Volk!  Nach  einem  weiteren  Para- 
graphen soll  aus  dem  „katholischen  Erziehungs verein"  „jede  Politik  aus- 
geschlossen sein".  Man  überlege  aber!  Eül  Verein,  der  von  politisch- 
deriealen  Tagesblättem  angeregt,  von  hervorragenden  Fartallliurem  gegrSndet 
nnd  geleitet  wird,  dar  oiKen  Tenprifkt,  den  „Bann  dea  libemlen  Lnndealekrfer- 
vereins  an  breeben*';  ein  addier  Verein  schreibt  nnf  seine  Faline:  ,,Pditiadw 
Bestrebungen  sind  ausgeRchlosBen!"  Wir  wissen  wirklich  nicht,  was  wir  am 
meisten  bewundern  sollen,  die  Unverfrorenheit  der  Behauptung  oder  das  Spe- 
colireu  auf  die  Leichtgläubigkeit  der  Menge!  Mit  Hecht  konnte  deshalb  auch 
der  verdiente  Obmann  dca  „Landedebrerverdna",  Herr  Lebrer  Baekea  war- 
nend mfen:  «Waa  aie  wollen,  ist  nneingeaokrftnkte  Herrschaft  über 
die  Schule,  was  sie  für  den  Lehrerstand  erstreben,  ist  Knechtang 
anter  das  clericale  Joch;  darum  trauet  ihnen  nicht!" 

Dass  bei  einem  so  von  Jesuitismus  und  Hierarchismus  durchtränkten 
Schulorganismns  uieht  dn  frischer,  frder  pädagogischer  Geist  dek  eatwiekdn 
kann,  liegt  für  jeden  EiadchtavoUeu  auf  der  Hand;  ebenao  ist  klar,  daaft  da, 

19* 


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,wo  dieser  Geist  ablianden  gekommen  ist,  das  Dogma,  die  Fom,  die  geistlose 
Sclablcae  ihre  Hvnduift  aiftohllgt.  Zo  dem  Übel  des  GleriealiBmiiB  gesellt 
sieh  «6  das  einer  auf  ÄvtoritAt  gegrflndeten  »Bnrean-Pldagogik*; 

Aach  in  dieser  Beziehang  ist  die  Brilmayersche  Sdinlleitlll^  4iB  iprechflll- 
der  Beweis.  Rede  man  da  immer  auch  von  Anfordernng:en  einer  gfesnnden 
Piidagogik,  von  Rechten  des  Kindes  und  Berücksichtigung  einer  individuellen 
LelirtecUuik:  ein  kategoriBches  »Ich  verlange  es  so**,  wird  die  stete  Ant- 
wort bildenl  'Was  aoll  nim  der  das  lUße  Joch  einer  etoteelen  SehaUmfUeht 
Ingende  Lehrer  beginnen?!  WOl  er  pariren  (die  Präftmgen  sind  aehr  frühe 
nnd  werden  oft  nar  zwei  Tage  vorher  angesagt!),  so  mnss  er  wol  oder  übel 
„jagen".  Herr  Brilmayer  verlangt  ja,  dass  das  und  das  vorhanden  ist, 
ihm  ist  nicht  der  geistige  Stand  der  Classe  und  der  Grad  des  Verständnisses 
Hanptsaobe,  sondern  ein  „alleseit  verfögbares  Wissensquantami "  Die  nnaoa- 
UeibUehe  Fcdge  ist  denn  aaeh,  daaa  dnieh  das  Haaefaen  nach  pSdagogiaehen 
Flittergold  die  Fächer,  die  eine  tiefere,  geistigere  Lehrerwirksam- 
keit  erheischen,  wie  z.  B.  das  Deutsche,  seit  5  bis  6  Jahren  in  den 
Volksschulen  von  Mainz,  wie  leicht  bewiesen  werden  kann,  in  besorgnis- 
erregender Weise  zurückgegangen  sind!  Daneben  kann,  wo  das  an- 
hefanlidie Gespenst  einer  nBnrean-Pftdagogik"  einmal  haost,  von  einer  Arbeit 
aiia  innerem  Drange,  ven  Begeiaternng  fftrden  Bernf  nidit  die  Bede 
sein,  und  gerade  die  besaeren  Elemente  des  Lebrerstandes  finden  aicb  am 
meisten  in  ihrem  Wirken  gehemmt.  Was  über  sie  triamphirt,  ist  eine  anft- 
selige  Liliput- Pädagogik,  die  Mittelmäßigkeit,  die  geistige  Impotenz,  die  Untere 
wfirfigkeit,  das  Kriechertham,  die  Schmarotzereil 

Neben  dieeer  allMi  p&dagoglaehen  Ctoaetaen  direet  nawiderlanfenden  „Bvreaa- 
Pädagogik^  wndiert  eine  nicht  minder  gefohrliche  Giftpflanze  in  dem  Mainzer 
Kreisschulwesen,  es  ist  die  immer  mehr  zur  drückenden  Last  gewordene 
Menge  bnreaukratischer  und  statistischer  Arbeiten.  Man  sollte 
meinen,  das  Heil  der  Menschheit  hinge  daran,  wenn  man  sieht,  wie  genaue 
VoracfarifteD  eilaaMn  werden  s.  B.  Uber  die  Farbe  dea  Schreibheft* 
aebnitteif  Uber  die  Ftthrnng  der  Lehr  berichte,  etc.  et&  Waa  nttit  es 
—  80  fragen  wir  —  was  ntttzt  es  der  Sdmle,  woui  bei  Conferenzen  aosf&hr- 
liche  Notizen ttber  das  procentische  Verhältnis  der  katholischen  Kinder 
zu  den  evangelischen  zur  Verlesung  kommen!?  Was  kann  für  die  Schul- 
arbeit heraosspringen,  wenn  der  Lehrer  noch  so  genau  in  die  Schnlchronik  die 
aahlrelehen  amtliehen  Erlaaae  eintrigtl?  Wir  behaupten  aogar,  daaa  dnroh  «ina 
aolohe  maschinenmäßige  Arbeit  der  Lehrer  nnnOthig  belaatet,  von  seiner 
eigentlichen  Wirksamkeit  abgelenkt  wird,  und  dass  er  selbst  zu 
einem  verknöcherten  Statistiker  und  Ziffernsammler  herabsinkt. 
Herr  Brilmayer  allerdings  scheint  anderer  Meinnng  za  sein.  Bei  Visitationen 
iat  uladidi  aein  eratea  Beginnen  —  naehsoaiiMn,  ob  aneh  alle  Geionnen  der 
ireiechiedenen  Liaten  hlibaeh  mit  Ziffum  anagellUlt  aind,  nnd  ob  die  Froeenta 
'Sich  aach  richtig  auf  die  vorgeschriebene  Anzahl  der  Decimalstellen  migerechnet 
finden!  Wehe  dem  Lehrer,  bei  dem  das  Auge  des  Herrn  Inspectors  noch  einen 
Mangel  an  dergleichen  Dingen  vortiiulct!  Sofort  ist  dies  Stoff  zu  neuen  Er- 
lassen, in  denen  —  unter  Nennung  des  Namens  des  säumigen  Lehrers 
' —  aof  die  Nothwendigkeit  aohirfsrer  Beatlmmongen  etc.  aaftnerkaam  gemacht 
wird.   Wir  mOehten  wiaaen,  wie  nnter  aolchen  Veridatniaaen  der  Lehrer  an 


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einer  rahigen,  allein  gedeihliclien  Arbeit  kmuneil  mlll.  Wir  tchließeti  uns 
Tollständig  in  dieser  Beziehung  dem  Pädagogen  Mager  an,  der  in  folgenden 
Worten  das  Resuni6  anch  iinsrrer  Ansicht  Über  die  Schnlstatistilc  aasgedrUcItt 
bat:  „Dnrch  die  viele  Beaufsichtigong''  —  so  schrieb  er  einst  in  seiner 
»DMtMhMi  BtigsEMhidA*  —  „iraideii  die  Solnileii  nkdit  bcnor,  ehe  tehleeii- 
ter,  taa  m  ist  wilir:  je  ftnrstlielier  eine  Thlti^keit  beeufttchtigt 
Dvird,  desto  ftuBerlicher  wird  sie.  Man  kann  es  durch  eine  solche  Be* 
anfsichtignng  wol  dahin  bringen,  dass  die  Versänmnistabellen,  die  StofTbücher, 
die  Censarlisten,  die  Schreibhefte  der  Schüler  und  andere  Äoßerlichkeittm  in 
guter  Ordnung  gehalten  werden,  aber  die  eigentlich  geistige  und  sitt« 
liehe  Lehrerwirkeankeit  geht  dabei  naeh  and  naeh  sa  0raade| 
weil  sie  gar  aieht  beanfsiehtigt  werden  kann,  und  die  Lehrer  .  .  .  .  zn« 
letzt  dahin  g-odrüngt  werden,  ilire  p-.inze  Aufmerksamkeit  und  Sorgfalt  dem 
zuzuwenden,  was  dem  Schnlaufseher  nothwendig  in  die  Augen  fällt,  d.  h.  dem 
minder  wesentlichen,  wenn 's  hoch  kommt,  den  äußerlichen  Fortschritten 
In  XflBBtaima  aad  FertigfcdtaB  ....  Wen  eia  (^ystmatisditi  MiwferMMB 
bewisMo  werdaa  mass,  der  ^verdisat  aichts  aaderaa,  als  dass  er  vea.  dem 
Schnlamte  entfernt  wird,  denn  er  ist  unfähig,  die  Erziehung  der 
Schuljugend  zu  leiten,  er  ist  ein  Mietling!  Leider  gibt  es  noch  Miet- 
linge nnter  den  Lehrern,  nicht  wenige  davon  sind  es  aber  gewiss  durch 
die  Mietlingsaufsicht  geworden,  der  man  sie  unterwarfl'^ 

Haa  aiiM  gwtehea,  Herr  Brflmajw  hat  es  vtnteadeo,  dM  vielgepriMaie 
ßjritemdergciitlidMnSchnlaalUcfatnach Jeder Blehtnng  hin  aanabanen!  Seine 
„hochwnrdigsten"  Lehrherm,  sie  können  stolz  sein  auf  ihren  einstigen 
Zögling,  der  sich  rühmen  kann,  ihnen  ebenbürtig  zur  Seite  zu  stehen,  eben- 
bürtig vor  allem  in  der  Auffassung  der  bestehenden  Schul-  und  Lehrerverhftit- 
nine.  Es  sind  nicht  die  Augen  eines  Mannes,  der  cljeetiT  nihigen  Bliekes 
dnreh  die  Welt  schritt  aad  Dinge  and  Persooea  nimat  and  gelten  liest,  wtt 
ile  dad,  sondern  es  sind  die  mit  kunstvoll  geschliffenen  Gläsern  bewaffneten 
Augen  eines  treuen  Sohnes  der  Kirche"  und  eines  eingeweihten  der  römischen 
Politik  und  Hierarchie,  jener  Hierarchie,  „welche  mit  der  ^esamniten  modernen 
Cultur  im  Kampfe  liegt  oder  doch  in  unlösbarem  Widerstreite  sich  befindet, 
elaer  HleraroUe,  welche  ihre  Ideak  ia  den  kirehlicbea,  Qberhanpt  lodalea 
ZirtHndea  des  lOttelilten  tncht"  Anfisewtehsen  aa  dm  Brttsten  einer  jesn- 
itischen  Weltanscbannng  hat  Herr  Brilmayer  es  verstanden,  still  und  geriUtsehtiM^ 
aber  desto  sicherer,  sie  „zur  größeren  Ehre  Gottes"  in  die  Schulleitung  zu 
ubertragen;  mit  rücksichtsloser  Strenge  bekämpfte  und  bekämpft  er  alles,  was 
ihm  zur  Erreichung  seines  Zweckes  hinderlich  ist,  ja  ihm  als  solches  anch  nur 
ieheintl  Wehe  nlmlich  dem,  von  dem  bekennt  wird,  dase  seine  Ansldit  tob 
der  des  sich  fQr  anfehlbar  haltenden  Schulleiters  abweicht!  Ein  trefflieh 
org-anisirtes  und  nur  von  „bewährten"  Denuncianten  geleitetes  Spürsystem 
sorgt  dafür,  dass  alles,  was  vielleicht  einer  oder  der  ;ind»TP  ..moderne  Schul- 
meister" mit  seinem  „aufgeblasenen  Wissensdünkel"  äußert,  au  den  obersten 
laqaialtiontrlefaler  gelangt  Hnsite  doch  z.  B.  ?or  einigen  Jahrea  ela  katho» 
liseher  Lehrer  die  Qnalen  einer  DisetpUaarnntersuehang  bestehen,  weil  aha 
▼ermnthete,  es —  stehe  mit  seinem  Tenfelsglanben  nicht  zum  besten! 
Und  zwei  andere  derselben  Confession  angehörige,  aber  „nicht  nltramontane" 
Lehrer  sahen  sich,  um  den  V  erfolgungen  einer  stets  wachsenden  Heute  zu  ^ 


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entgehen,  veranlasst,  ihre  Confession  mit  einer  anderen  zu  vertauBchen.  Schade, 
dads  Folter  nnd  Scheiterhaofen  nicht  mehr  winken,  unser  Schnlleiter  des 
XIX.  Jahrbonderta  würde  schon  längst  wenigstens  seineu  Wirkungskreis  Yoa 
d«r  wlibcnlMt  PMt**  gvfcioigt  bftbenl  Fast  ssbeiot  €•»  Hsmi  Mmayw  sehwebe 
auch  in  seinem  Verb&ltiili  xa  den  Untergebenen  sein  f,unyerge88licher  Bischof 
Kettler"  vor,  der  einst  an  der  Tafel  des  Cardinais  H.  die  bezeichnenden 
Worte  sprechen  konnte:  „In  meiner  Wirkungsstätte  hört  kein  Bischof  die 
Wahrheit,  schon  —  in  folge  meiner  höheren  Jurisdiction!"  Mag  ein  solches 
EoadEiaiegfaMiit  vieikii^  bk  dem  festgefügten  Körper  einer  päpstlich-jeseitfiehMi 
HieraieUe  am  Pkrtw  sein  —  in  eine  Sdnlleituif  des  XIX.  Jahrhinderti 
fehlirt  es  nkht.  Ein  Schulanfiseher,  einerlei  in  welcher  Stellang  er  auch  sein 
mag,  muss  wissen,  dass  seine  Untergebenen  „nicht  bloe  als  Mittel  zum  Zweck, 
sondern  auch  als  Zwecke",  d.  h.  als  Menschen  und  zumal  als  ^lännor  zu 
betrachten  sind;  bei  allen  Amtsverrichtungeu  muss  das  Lehrpersonai  merlLCn, 
daie  der  Inspestor  Faehkenntnia  beritst,  dass  er  weiter  mit  ihm  Mg  ist  in 
der  Liebe  zur  Schule  und  in  der  Sorge  für  deren  Wolergehen.  Ist  dies  nicht 
der  Fall,  dann  hilft  anch  der  strengste  Disciplinar-  nnd  Strafcodex  nichts,  der 
Inspector  ist  und  bleibt  „eine  Null  TOT  einer  Eins"  (Dr.  K.  Xehr)|  eine  »ver- 
fehlte Existenz"  (A.  Chr.  Jessen). 

Es  sind  trftbe,  traurige  VerhftltDisse,  unter  denen  das  Sehnlwesen  der 
Stadt  nnd  dee  Kreises  Mains  leidst,  tranrig  für  die  Sebnle  sowol  als  niieh  IVr 
den  Lehrerstand!  Allein  —  so  fraieren  wir  —  dürfen  bei  dieeon. onerqnick- 
liehen  Umständen  die  Lehrer  ruhig  die  Hände  in  den  Schoß  lepren  oder  sich 
gar  der  Strömung  anschließen?  Nimmermehr!  Bessere  Zustände  werden 
nur  durch  Kampf  herbeigeführt,  allein  der  Feigling  wartet,  bis  dad  (iute 
yon  aelbet  kommt,  „bis  der  Strom  sieh  wird  veriaaUni  bsiben".  ÄngstUebe 
Gemfither  denken  mit  Heine:  „leb  mnss  meiner  Sicherheit  wegen  jetzt  devote 
Gesichter  schneiden,  sonst  pribt  er  (?wer?)  mich  seinen  Mitheuchlern  in 
Christo  an!"  Wir  aber  wollen  unsere  Hoffnnng  nnd  Tliatkraft  frisch  erhalten 
ohne  Rücksicht  auf  Menschen  und  Zeiten  und  im  Vertrauen  auf  den  endlichen 
Sieg  unserer  Sache  mit  dem  edlen  Streiter  Ulrich  von  Hntten  spreohen: 
„Mehl  Miasgesebiek  Ist  groS»  mein  Math  aber  ist  noeb  grSfterl* 


Württemberg.  Das  Jahr  1889  mnss  für  die  württembergische  Lehrer- 
schaft als  ein  an  mancherlei  Erfahrungen  n  iches  bezeichnet  werden.  Zunächst 
ist  hervorzuheben,  dass  die  Schulanfsichttsfrage  auch  wieder  einmal  im  Land* 
tage. rar  l^inraebe  kam.  •  Anlasa  dasn  war  gegeben,  dnroh  eine  geringe  Mehr- 
fordemng  an  besserer  pftdagogioeber  AnsbiUimg  jüngerer  OeistHeben  durch 
Abhaltnng  von  sechswSchenUichen  sebnltechnischen  Lehrcnrsen.  Ein  Redner  der 
Linken  bestritt  die  Nothwendierkeit  dieser  Mehrforderung,  deren  Bewilligung 
dazu  führe,  das  geistliche  Schulregiment  noch  mehr  zu  stärken  und  stellte 
einen  Antrag  auf  Einführung  der  fachmännischen  Schulaufsicht  zur  Leitung 
and  Überwaebnng  des  ünterriebts  in  den  w^lieben  Fftebem.  Wie  sieb  aber 
schon  ans  der  Zusammensetznnii  unserer  zweiten  Kammer  mit  ihren  privile- 
girten  Rittern  nnd  Prälaten  vorhersehen  ließ,  konnte  das  Ergebnis  der  Ab- 
Btimmnner  kein  dem  Antrag-  günstiges  sein.  Derselbe  wnnle  mit  f>8  gepen 
12  Stimmen  abgelehnt.  Doch  hat  dieses  betrübende  Resultat  immerhin  das 
Onte,  dass  diese  Ar  die  gedetbUebe  Sntwiekelnng  naaeres  VolkssobnlweaeBa 


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hochwichtige  Frage  wieder  einmal  ans  der  pädagogischen  Presse  und  den  Ver- 
einsbestrebungen der  Lehrer  hinaus  in  die  r)ffentlichkeit  gerückt  ist.  Da  es 
bei  dem  übermächtigen  Einüuss  der  Geistlichen  aber  wol  nocli  lange  nicht  za 
eiMr  in  SiaiM  der  FMdnuunmiilUflht  Uegtadoi  Äiid«niii|r  konaeii  wird,  wo 
kautt  man  den  jetzigen  eifrigen  Yerfedttmi  dieser  Fordenug:  omioweiijiger 
vorwerfen,  sie  werden  in  ihrem  Streben  von  persönlichen  Bücksichten  geleitet, 
•  BdtMderen  Worten,  sie  erstreben  nur  deshalb  eine  Ändernng,  damit  sie  sogleich 
in  Sohalanfefchtaftmter  einrücken  können.  Eben  diese  in  weite  Feme  gerückte 
Änderung  mnss  es  ja  sein,  weiche  die  jetzige  LehrergeneratioB  ent  recht  an- 
apomt,  ram  Wol  der  Sdnle  allee  Mrikobieton,  daadi  die  fliigaode  OenemtiiMi 
Ib  günstigeren  Verhilltnissen  arbeiten  kann. 

Besser  als  mit  der  Aufsichtsfrage  ging  es  dagegen  mit  der  Aufbesserungs- 
frage, die  am  o.  Juni  d.  J.  zur  Berathung  kam.  Die  Kammer  ging,  was  noch 
nie  da  war,  einstimmig  über  die  Regierungsvorlage  hinaus.  Es  wurde  bewilligt 
•o  pendöneberechtigten  eUatUchen  AUemnlagen  vom  80.  Jahr  ab  80  Mlc. 

i Mither  0),  vom  35.  Jahre  an  90  Hk.  (seither  0),  vom  40.  Jahre  an  180  Uk. 
seither  100  Mk.),  vom  45.  Jahre  an  270  Mk.  (seither  140  Mk.)  und  vom 
50.  Jahre  an  360  Mk.  (seither  200  Mk.).  Ebenso  wurden  die  in  drei  Ab- 
stufongen  gereichten  Witwenpensionen  erhöht  von  250  Mk.  auf  300,  von  325 
.auf  390  und  von  400  auf  480  Mk.  Diese  erfreuliche  Thatsache  der  eiu- 
atimmigen  BewUligong  dieser  ErhShnngen  ist  darauf  aarfickanführeB,  dasa  die 
Beaeldnogsaufbesserung  der  Lehrer  mit  der  allgemeinen  Beamtenaaf besserung 
zusammenfiel.  Anstatt  aber  bei  dei-selben  die  Bedürfnisfrage  in  vorderste  Linie 
zustellen,  wurde  von  der  Regierung  eine  procentuale  Aufbesserung  vor^eschla^^en, 
und  zwar  so,  dass  die  Geistlichen  und  Lehrer  7 "/^  und  die  übrigen  Beamten  b^jg 
ihrea  GeaannteiDhonmeoa  ala  Aafbeaaernng  erhielten.  Die  letateren  aber 
erhielten  liiesn  je  nach  der  GrSBe  ihrea  Wohnaitxea  4»  7  nnd  9*/«  Wohnnnga- 
gddsnschnss.  Die  Regiernn«rsvorlage  wurde  angenommen,  so  dass  der  ohnehin 
so  große  Unterschied  zwischen  höherfn  und  niederen  Beamten  noch  größer 
wurde.  Die  Besoldunffserhöhung  der  Lehrer  aber,  die  auf  zuletzt  verschoben 
wurde,  konnte  nicht  genehmigt  werden,  ohne  dass  ein  Mitglied  der  Oberschul- 
hehSrde,  PriUat  Dr.  tob  Mwa,  neben  aneikennenden  Wortea  die  heftigsten 
AnsDUte  gegen  die  freiere  Richtung  im  Lelireratande  machte.  Zum  Schlüsse 
der  einstündigen  Rede  dürfe  der  obligate  Hinweis  auf  den  Gotteslohn  nicht 
fehlen,  welcher  mit  den  Worten  gegeben  wurde:  Wehe  dem  Lelirer,  wenn  er 
nicht  auf  Höheres  hofft ,  wenn  er  nicht  auch  hoffen  und  rechneu  könnte  uud 
wollte  anf  den  veirheifienen  Gottedohal  Vom  Abgeordneten  Lehrer  Nnssbanmer 
wnrde  dieser  Vortritotnng  gegenBber  betont»  dass  mit  dieser  Mflnae  keinem 
Beamten,  nicht  einmal  den  Geistlich»  anl|iebessert  worden  sei.  —  Aus  dem 
Vereinsleben  Württembergs  sei  hervorgehoben,  dass  sich  der  „Volksschullehrer- 
verein" dem  ^Deutsclien  Lehrerverein"  angeschlossen  hat,  und  dass  er  beab- 
sichtigt, die  beiden  anderen  Vereine,  den  „Katholischen  Volksschullehrervereiu'* 
OBd  den  „Evangeiiaabea  (pietiBtiaefaea)  Lehrerverein*>  an  ▼eranlassea,  aieh  mit 
ihm  ia  wiehtigen  Fragen  aar  gemeinaamea  Aetion  anaammenaothnn.  Schön 
wtra  es,  wenn  dieser  Plan  znr  Gründung  eines  wärttembergischen  Lehrer- 
bandee  führen  würde;  allein  die  Katholiken  wie  die  Pietisten  stehen  dieser 
Anregung  sehr  küiii  gegenüber  und  das  Ganze  wird  wol  ein  frommer  Wunsch 
bleiben.  F. 


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Ößterreich-Ungarn.  Am  3.  December  ist.  der  Kcidisrath  wieder  zii- 
'MHimengetreten,  diesmal  ohne  deQ  Priozen  Alois  von  Liechteustein ,  der  sein 
Handat  iiiederg«legt  hat,  weil  ada  Angriff  anf  die  Nenehnle  geeeheileit  iat 
Wir  haben  der  Saefaa  in  ihren  Yenefaiedenen  Phaaen  die  gebllrende  Beaehtang 
gewidmet  and  sind  mit  dem  znr  politischen  Rohe  eingegangenen  Haupte  der 
fendal-ultraraontanen  Partei  vorlilnfi^'  feitig;  möge  er  in  Frieden  leben  und 
andere  in  Frieden  lassen.  —  Einstweilen  herrscht  nun  unter  den  Verfechtern, 
der  oonfeeaionellen  Schole  Verstimmong,  Zwietracht  nnd  Bathlosigkeit.  Sie 
•woDen  daher  Im  Abgeordaeteahanae  ihre  Action  ein  wenig  rohen  laaeen  nnd 
abwarten,  oh  ihnen  nicht  im  Henenbanse  die  dort  sitzenden  „Eirchenforsten* 
den  Weg  zum  Ziele  bahnen.  Der  gute  Wille  soll  vorhanden  und  zu  baldigen 
'Thaten  bereit  sein.  Nun,  wir  lianrea  der  Dinge,  die  .da  kommen  sollen. 

Aus  Kroatien  erhalten  wir  die  folgende  erfreuliche  Nachricht: 

Das  kroatische  Lehrerheim  in  Agram  wurde  am  4.  September  v.  J. 
Merlich  eingeweiht  und  vom  Vorstande  der  Abtheilung  für  Cultur  und  Unter- 
rieht, Hemi  Dr.  St  Spevec,  dem  raaüoaen  FSrderer  der  Schale,  namena  der 
aadeeregiemng  seiner  Beatlmmnn^  fibergeben. 

Vor  vierzehn  Jahren  tanchte  die  Idee  der  Errichtung  eines  Lehrerheims 
zum  erstenmale  im  Kreise  der  pädagogischen  Gesellschaft  auf.  Im  Jahre  1884 
gelangte  die  Idee  zur  Reife,  und  heute  sehen  wir  sie  schon  verwirklicht,  sehen 
wir  das  Werk  vollendet.  Dass  es  möglich  wurde,  nach  verhältnismäßig  so 
knnser  Zeit  äen  stattliehen  Ben  anfgefBlirt  zn  sehen,  der  am  ICarktplatae,  In 
der  Nähe  der  Universitilt  und  Akademie,  2nr  Zierde  der  Stadt  und  zur  Ehre 
derjenigen  sieh  erhebt,  die  entschlossen,  geschickt  und  mit  Patriotismus  das 
Werk  gescliaffeu,  ist  nur  zu  verdanken  dem  einheitlichen  Vorgehen  der  Lehrer 
nnd  aller  Schichten  der  Bevölkerung.  Die  Gesaramtkusten  für  den  Bau  beliefen 
sich  auf  104487,65  iL,  wekhe  Snmme  anfigrebraeht  wnrde:  durch  ein  nnver- 
ainsliehes  Darlehen  von  10  000  fl.,  das  die  Landesregiemng  Torstrei&te,  ferner 
durch  eine  Lotterie,  die  einen  Reingewinn  von  15  000  fl.  abwarf,  dann  dnrch 
Beiträge  des  „Verbandes  kroatischer  Lehrervereine,"  der  pädagogischen  Gesell- 
scliaft,  einzelner  Lehrer,  verschiedener  Geldinstitute,  zahlreicher  Stadtrepräsen- 
nzen  und  der  ganzen  Bevölkerung. 

Das  Lehrerhefm  —  das  zweite  in  Europa  —  wird  alleselt  den  GrAndem 
an  bleibendem  Huhme,  der  Lehrerschaft  zn  allseitigem  Fortschritt  dienen; 
dieses  Heim  errichtend  hat  sie  den  Beweis  geliefert,  dass  mit  Ideinen  Mitteln, 
wenn  Einigkeit  herrscht,  Großes  vollbracht  werden  kann. 

Mit  der  Verwaltung  des  Gebäudes  ist  ein  aus  sieben  Mitgliedern  bestehender 
Ansschnss  betrant    A.  D.  in  K. 

Ans  der  Fachpresse. 

251.  Über  die Nothwendigkeit  des  fransSsischen  Unterrichts  an 
den  Lchrerseminarien  (U.  Kleinert,  A.  D.  Lehrerz.  1889,  42).  Vortrag 
anf  der  letzten  Hauptversammlung  des  allgemeinen  sächsischen  I/ehrervereins. 
■„Der  Unterricht  in  der  französischen  Sprache  sollte  in  den  Lehrplan  der 
Lehrerseminare  aufgenommen  werden,  weil  es  im  Interesse  der  gesellschaft- 
licben  Stellang  dea  Lehrers  liegt,  die  franiflaische  Sprache  es  wert  UA,  daa 


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Jkoit  es  erfwdert."  Wenn:  Lfttein  oder  FhunOetaeh  —  dann  für  FnuuriMieh 

.entacheiden. 

252.  Aus  Pftstalozzi's  Umarbeitung;  seines  Buches  „Wie  Gertrud 
ihre  Kinder  lehrt"  (0.  Hunziker,  Pestalozziblätter  1889,  VI).  Umarbeitong 
in  8  Briefen  (der  Jahre  1804  und  1805),  von  denen  3—8  achon  bei  SejlTartb, 
Bind  XVII,  TerOiSMifliclit,  1  «nd  2  Terloren  geraubt,  nonmebr  aber  in  der 
Zflrieber  Stadtbibliothek  aufgefunden  worden  sind.  Diese  beiden  eraten  Briefe 
■liasail  in  den  „Pestalozziblilttern"  vor.  —  In  dem  ersten  vollständig  ansgear* 
beiteten  Briefe  beklagt  sich  Pfstalozzi  darüber,  dass  er  ,,8o  übel  verstanden 
worden £r  sagt  u.  a.:  „Dqt  Geist,  der  in  mciuem  Üuche  von  seiner  ersten 
•Seit»  Ma  aaf  seine  letite  weht,  tat  das  voUendete  Zeugnis,  daaa  ieli  iieiBe 
Hethode  anf  daa  HeUlgthnm  dea  Organiamna  der  Menschennator  an  buen 
sachte;  aber  ich  brauchte  statt  dieses  Wortes  das  Wort:  Mechanismus,  and 
dafür  beliebte  man  sich  die  Mühe  zu  nehmen,  um  diese«  verfehlten  Wortes 
willen  ans  eigenem  Kopfe  ein  UnvernnnfUbild  zu  schaden,  von  dem  keine  Spar 
in  der  Ansieht  meinea  Bachea  liegt."  —  Der  sweite  Brief  hatte  arspröngüoh 
IbIfMde  EinleitBiig!  »llaB  flogt  an,  aieh  Me  and  da  so  tngm,  wie  daa»  waa 
ich  jetzt  treibe  und  thue  und  was  ich  darch  mein  Leben  immer  gelhaa  aad 
betrieben,  eigentlich  von  friihor  Jugend  auf  in  mich  hineingekommen  sei  — 
and  die  Art  der  Entfaltung  meines  Geistes  und  meines  Herzens  hat  wirklich 
aoviel  Eigenes  und  soviel  Zusammenhang  mit  der  Art  meines  jetzigen  Denkens 
aad  Hsadelna,  dsaa  Idi  ea  wirkUeh  für  aehicklieh  halte,  Didi  (Oeaaaor)  in 
dieaem  BrieHa  biervea  an  nnterhalten.**  Er  aprioht  aon  (in  disaem  sweiten 
ausgearbeiteten  Briefe  nnd  in  den  Fragmenten  anderer  Redactionen)  von  der 
nachtbeiligen  Bedentung,  die  der  frfihe  Verlast  des  Vaters  für  ihn  gehabt,  von 
.dem  Einflüsse  der  Magd  (die  er  anfti  höchste  rühmt),  des  Haases  überhaupt,  der 
Schale,  Bodmers.  Hier  noch  eine  der  zahlreichen  wichtigen  Äußerungen: 
«Uebe,  Arbeit  aad  ümgaag  aiad  die  voa  der  Natnr  aelbat  gegebeaen  Weckaaga- 
Bilttel  der  Gesammtheit  derKr&fte  unseres  Geistes,  unaerea  Herzens  und  unseres 
Körpers;  es  ist  aber  unmöglich,  dass  diese  Gesammtheit  unserer  Kräfte  allgemein 
nnd  harmonisch  geweckt  werde,  wenn  diese  Mittel  nicht  neben»  und  mitein- 
ander und  im  Gleichgewichte  untereinander  aaf  die  Bildung  des  Menschen  ein- 
wirkaa.  Die  ao  aotlmaBdige  BanooBia  im  Eiaflasae  dieser  dnl  OegeastlBde 
mangelte  metaerSniehaag  gaaa.  Der  aeeteaariiebeBde,  Liebe  nadAafopferaag 
weckende  Zustand,  in  dem  ich  bei  einem  angeborenen  lebendigen  Ti  leb  an  einer 
jugendlich  sprudelnden  Thätigkeit  im  Geiste  dieser  Liebe  und  dieser  Aufopfening 
lebte,  war  mit  der  höchsten  Beschränkung  in  der  Bildung  zur  Arbeit  und  in 
den  Gelegenheiten  zum  Umgange  verbunden,  und  das  Unglück  meines  Lebens 
Ittt  in  aeinem  gaaaen  Umüaage  ia  diesem  Ihnatande  seine  eigeotlidie  Qndle  sa 
anehen.*' 

253.  Social elrrthfim er  und  die  sociale  Heilkraft  der  Pädagogik 
(E.  Roff,  Hannoversche  Sthulzeitung  1889.  33.  34).  „Die  Erziehung  des 
Menschen  zur  Selbsthilfe,  die  Emporbilduug  seiner  Anlage  und  Kräfte  bildet 
den  Pol,  nach  welchem  alle  Erziehnngsbeatrebnngen  Peataloisi'a  biazieleD,  nnd 
darin  ist  auch  daa  innerste  Wesen  der  Sodalpldagogik  gekennzeichnet.''  Die 
Principien  derselben  hat  die  aocialpädagogische  Bewegung  der  Gegenwart  zn 
erforschen,  auf  sie,  also  auf  Pestalozzi  sich  zu  gründen.   (Bisher  versäumt.) 

254.  Bischof  Sailer  als  PUdagog  (K.  J.  Brand,  Eepert.  d.  Pttdag. 


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1889/90, 1).  Seine Vwmuiteebaft  mit  F^nelon,  seine  Anerkennnng  RooiMM*t b»- 
betont,  —  ^Sailer  war  ein  feiner  Beobachter  nnd  Kenner  der  Menschen-  nnd 
Kindesnatnr  und  stellt,  wie  Pestalozzi,  überall  an  die  Spitze  der  Erziehung  das 
Princip  der  natargemäßen  körperlichen  nod  geistigen  Entwickelang.  Dabei  ist 
er  M  TOD  jeder  Enghendgkeit  eKduhrem  Klfolieothiiiii,  ond  nirgends  iit 
bei  ihm  eine  Spar  yon  stairem  OoBfeerfoiiaUiBiii.''  (Bewein  zmeisi  mit 
Sailers  eigenen  Worten.) 

255.  Volkswirtschaftliche  Lehren  im  Unterrichte  der  Volks- 
gchnle  (Praxis  der  Schweiz.  Volks-  und  Mittelschulen  18H9,  V).  Verfasser 
nennt  die  Volkswirtscbaftulehre  eine  concrete  Sittenlehre.  Sie  bilde  keinen  be- 
tenderen  ünterriehtegegenttand ,  Mmdem  werde  »n  geeigneten  Stellen  nndmr 
F&cher  den  Kindern  nach  nnd  nnoli  fibennittelt,  besonders  im  kirchlidMi 
Unterrichte  (4.,  7.  Gebot!),  in  der  Geographie,  Geschichte  und  ira  Rechnen. 
(Ffir  diese  Einfügung  werden  geschickte  Andeutungen  gegeben.)  Das  Lesebuch 
soll  eine  gute  Aaswahl  kaltargeschicütUcber  and  volkswirtschaftlicher  Bilder 
als  Grandlige  bringen. 

866.  Über  Jagendleotlre  und  Sehttlerblbliotheken  (RIehtw, 
Seblesische  Schnlzeitnng  1880,  41).  Kritik  der  gegenwlrtig  bestehenden 
Schalerbibliotheken:  Tendenz  verwerflich,  weil  die  Kinder  veranlasst  werden, 
nur  zu  ihrem  Vergniig-en  zu  lesen.  Einrichtung  verkehrt,  weil  hinsichtlich  der 
Zumathung  an  die  FasAongskraft  und  AneignnngstUbigkeit  der  Schüler  ein 
gewaltiger  Widenpnidi  beetebt  BwiMbeo  dem  SebnUeeen  md  derPrifatleetln 
(2,  3  —  60,  100  Seiten !),  weil  ftber  letstere  der  Lehrer  keine  Controle  «u- 
flben  kann,  weil  die  Kinder  zu  Romanverschlingem  herangebildet  werden.  — ^ 
Reform vorschlilge:  .Sorge  fiir  Jugendlectiire  bleibe  allein  der  Schule  überlassen 

—  weg  mit  Hofmann,  Nieritz  und  Genossen !  —  anfänglich  nor  kleine  Broschüren 

—  alle  Kinder  lesen  zu  gleicher  Zeit  dasselbe.  (Dann  Controle  nnd  linterriebt^ 
Hebe  Auenvtsuig  mSgiidh.  Lnst  snm  Leaen  wird-nloht  entiekt,  atdlt  aieh 
rechtzeitig  mm  aelbat  ein;  Abnahnm  der  iweekloaeo,  mflßigen  Lenorel  wftre  ein 
Glfick.) 

257.  Der  vorsichtige  Conjunctiv  (R.  Hildebrand,  Zeitschrift  für  den 
dentechen  Unterricht.  1889,  VI).  Mit  objectiv  und  subjectiv  ist  der  Unter« 
aebied  der  Uedi  am  geaaaeaten  beieiehnet;  aber  aacb  ObjeeU^ea,  «nwelMbaft 
Tbattlehliehea  kann  eonJanetiviaebe  Faianng  erbatten,  aobald  ea  mit  anbjectiver 

FArbnng  auftritt.  Was  thatsächlich  ist,  wird  ans  dem  äußeren  Kreise  des 
Objectiven  für  den  Augenblick  (des  Sprechens)  hineingezogen  in  den  subjectiven 
inneren.  —  Feines  Conjunctivgefiihl  in  früheren  Zeiten  (bis  zum  16.  Jahr- 
hundert): Das  gänzlich  ungeschnlte  Sprachgefühl  konnte  den  ünterachied 
Bwiacben  AnBenleben  nnd  Innenleben,  thatalcblieh  nnd  gedaebtr  OI;Jeetifem 
nnd  Snli^ectivem,  auch  in  ihrem  Vt  rfließen  SO  acbarf  nnd  fein  beobachten,  wie 
man  es  nur  einer  philosophischen  Zeit  wie  der  unseren  zutrauen  möchte.  —  An 
sprachlichen  SchöpAingen  und  Wandlungen  ist  ein  gutes  Stück  Psychologie  xa 
lernen. 

238.  Spracbbildung  und  Lebratoffe  In  der  Volkaaebvle  (E.  R, 
St  Oaller  Sebnlblatt  1889,  21).  Über  swei  wiehtige  Capitel  in  mnatergütlKer 

Kürze  nnd  Klarheit.  —  Sprachunterricht  nicht  ein  Fach  neben  anderen,  son- 
dern gleirhpam  das  Reflexbild  aller  Fächer,  ihr  orgauischer  Sammelpunkt. 
Sprachübang  Hauptsache.  —  Sprachlehre:  wesentlich  Übungen  im  Vergleichen 


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JuA  CMmmlMD  der  sprachrichtigen  Form.  —  Ülierall  von  der  realen  ErmMf 
nnng  ansgehen,  Anschaaong  der  Wirklichkeit  als  Erstes  za  erstreben ;  Ühnng-en 
im  Unterscheiden  an  Lebendigem  nnd  Bewegtem  fdanarh  die  Sprache  einzu- 
richten: immer  AnsdrUcke  des  Werdens,  Bewegens,  Thuns,  Handelns).  Schlagende 
Beweise  für  die  Haltioeigkeit  sweier  Zniencber  Theorien  (ColtnritaflMi  —  Er* 
sfthlungen  als  Omndlagen  des  Unterrichtes). 

259.  Reformation  des  Geschichtsunterrichtes  (B.Erhardt, Deutsche 
Volksschule  1889,  45.  46).  Völlige  Umgestaltung.  Die  neuere  Geschichte  er- 
hält den  Vorzug;  von  politischer  Geschichte  nur  soviel,  als  zum  Verständnis 
dar  Ciltüfgetdilfliile  neHiwendig;  Tide  Ffirsten  und  sogenannte  große  Staats- 
■dbmcr  soUes  fainllnt  «nerwUint  bleiben  oder  NebenroUen  spielen,  dagegen  s6- 
Tiel  als  möglich  „Männer  aus  dem  Volke"  in  den  Vordergrund  rücken.  —  Der 
erste  Geschichtsunterricht  ist  kein  „sj'steraatischer",  kein  in  der  Zeit  einfach 
fortschreitender;  er  schafft  nur  Bausteine  herbei,  mittels  sachlicher  und  sprach- 
licher Anschauung.  Jene  wird  gewonnen  au  sichtbaren  Zeugen  der  heimat- 
knndlielien  Vergangenheit,  diese  an  der  Sprache  selbst  (Personen-  mid  Orts* 

•  namen  nach  Hildebrand  —  Lebensgesefaiehten  gewiner  wichtiger  Wlbrter,  wie 
EOrper,  Bürger,  Kaufmann,  Geld).  Die  gewonnenen  Einzelheiten  werden  zeit- 
lich geordnet,  die  Lücken  angemessen  ausgofullt,  so  dass  sich  schließlich  un- 
gezwungen eine  zusammenhängende  Geschichte  ergibt.  —  Coltorgeschichtliche 
Bilderbflcher  anstatt  der  Leitfäden. 

260.  Poesie  im  natorkandliehen  Unterricht  (R.  D.,  Blätter  Ar 
natnrgemäl^e  Erziehung  1889,  42.  43.).  Die  wirkliehe  Natnr  wird  dnrdi  die 
malende  nnd  dichtende,  aber  von  den  Naturkörpem  selbst  unmittelbar  und 
mächtig  angeregte  Phantasie  verklärt,  auf  die  Stufe  des  Persönlichen  erhoben; 
doch  so,  dass  Kern  und  Wesen  unverletzt  bleiben  nnd  von  Unwahrheit  und 
Natnrwidrlgkelt»  von  Tendern  nieht  die  Rede  sein  kann.  Zuweilen  —  nicht 
immer  —  gelangen  wir  sn  einer  bereehtigten  poetischen  Anschannng,  indem 
wir  einfach  das  ünbewnsste  als  bewnsst,  das  Unwillk&rliche  als  gewollt,  die 
Bewegung  als  Handlung  auffassen.  Jedenfalls  mnss  die  Poesie  sich  immer 
freiwillig  einstellen,  darf  sie  nicht  ängstlich  gesucht,  beschworen  —  heraus- 
gepresst  werden.  Vollendete  Beispiele  solcher  Poesie  z.  B.  hei  ScheflTel  (Erd- 
mlnwIelB,  Waldmebter,  IVmne  im  «Trompeter"),  Stifter  nnd  Boeegger  (Wald), 
Benter  (Feld-  und  Thierlehen  in  der  „Strorotid"  und  in  „Hanne  Nute"),  Her- 
mann Wagner  („In  die  Natur").  —  Verfasser  bekämpft  selbstverstäj.dlich 
willkürliche  Symbolisirnngeii,  nioralisirende  Erfindungen  wie:  von  der  trotzigen 
£iche  und  geschmeidigen  Weide,  dem  bescheidenen  und  dem  uubescheidenen 
Veilchen,  von  dem  Streite  verMliiedener  Pflanzen  (Pappel  mid  Fflanmenbaam, 
FeldUamen  nnd  Getreide),  wo  immer  die  eine  dBnkelhalt  dargestellt  nnd  Unten- 
nacb  vom  Herrn  der  SchSpftmg  mit  Verachtnng  oder  Vemicbtnng  « be- 
straft" wird. 

261.  Die  Sachgebiete  des  Kechnenf»  (H.  Wendt,  Deutsche  Blätter 
1889,  32 — 36).  Der  Ausgang  des  Rechueus  von  bestimmten  Sachgebieten  ist 
bente  als  ein  erheblicher  Fortschritt  der  Methode  aaznsehen  (Ansgehen  von 
interessanten  sachlichen  An^ben;  nicht:  Ansgehen  von  Aufgaben  mit  reinen 
Zahlen  nnd  nachträgliches  Anhängen  einiger  sachlichen,  in  Wirklichkeit  meist 
nur  „eingekleideten"  Aufgaben!).  Einheit  des  Sachgebietes  und  Wechsel  in 
den  £echeuoperationen.    „Keineswegs  jedoch  meinen  wir,  dass  die  Kunst  des 


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Unterrichtes  nun  hierbei  fdr  alle  Zeit  stehen  bleiben  sol1<v    Wir  hoffen  tand 

wünschen  vielmehr,  dass  durch  weitere  Forschung:en  und  Entdecknng;en,  nament- 
lich auch  auf  dein  Gebiete  der  Psychologie,  noch  p:anz  neue,  uns  bisher  unbekannte 
Gesichtspunkte  gefunden  werden  für  weitere  didaktische  Fortschritte/ 


Wo  ist  Byzanz?  „Überall,  wo  nach  eines  Fürsten,  Grafen  oder  hoch- 
mögenden Beamten  gnädigem  Blick  and  haldvoller  Anrede  derTross  ergebenster 
Creatoren  aebmaehtet,  wo  Mftmior,  jeden  SeUMtgeiaUoB  bar,  Tor  Unterthlnig^ 

keit  ersterben,  keine  Meiiiuni^  und  keinen  Willen  haben,  WO  eine  angnädige 
Miene  des  Gestrengen  schlaflose  Nüclite  und  kummervolle  Tage  vernreacht,  wo 
vor  jedem,  von  welchem  ein  Vortheil  erwartet  werden  darf,  hündisch  gekiochen 
wird,  da  überall  ist  Byzanz."  (Moderne  Todtengespräche  von  Laciau  dem 
jOogeren.  Beriln,  B.  Bdnteln  Naehfolger.) 


Literatur. 


Meiiir.  Feclnier,  Seminarlehrer  inBerlfait  Aufgaben  für  den  ersten  Unter- 
richt in  der  BachstabenrechniiBg  und  Algebra.  120S.  Berlial888f 
Schultze.    1,20  Mk. 

Die  Vonllge  dieeer  Sammlung:  sind  schon  in  Besug  der  ersten  Auflage  von 
einer  großen  Anzahl  Zeitschriften  anerkannt  worden,  und  wir  kchincn  nur 
lustimmen,  daas  sie  sieb  nach  Keichhaltiglioit  und  Sorgfalt  der  Auswahl  nicht 
bloe  Seminaristen,  sondeni  auoh  für  jeden  Aafangsonterricht  in  der  Algebn 
dgnet  Ganz  zweckmäßig  scheinen  die  vorangestellten  theoretischen  Erörterungen, 
wenn  auch  durch  dieselben  der  Verfksser  nur  dem  Vergessen  der  Ergebnisse 
des  Unteniehtee  Torbeugen  wollte.  Doch  mOgen  uns  zn  dieser  Theorie  einige 
Bemerkungen  ge-^tattet  sein.  Zunächst  mfiohten  wir  die  Zeichen  -|-  und  — 
„mehr"  und  „weniger"  gelesen  haben.  Die  Kegein  zwei,  drei  und  vier  auf  Seite 
'  drei  sind  unnOtliig  xaa  werden  vollkommen  durch  die  Bemerkung  am  Ende 
der  Seite  sieben  ersetzt.  Auf  Seite  vier  wäre  die  erste  und  zweite  Kesrel  in 
eine  zusammcozuzieheu  ,  dagegen  die  folgenden  vier  bis  neun  wieder  unnüthig 
sind,  weil  sie  gleichfalls  dari  h  die  Ikmerkung  am  Fuße  der  Seite  sieben  volt 
ständif^  orsotzt  werden.  —  Bei  allen  Suhtraetionsaufgahen  auf  Seite  sieben 
hätten  wir  (gewünscht,  daß  Minuend  und  Subtrahend  nebeneinander  gestellt 
und  durch  das  Kechnungszeicben  geschieden  wftreiL  Auf  Seite  neun  konnten 

J gleichfalls  die  Hegeln  swei  und  drei  in  eine  yereinigt  werden,  wenn  der  Vei^ 
asser  den  Ansdruek  Glieder,  welchen  er  ohnehin  anf  der  folgenden  Seite 
erklärt,  .schon  auf  dieser  eiuLrcfUhrt  hätte. 

Ganz  richtig  sind  die  negativen  Zahlen  definirt;  es  muss  dies  lobend  her- 
vorgehoben irerden,  wefl  man  ee  selten  Undet.  Mit  wahriiaft  wolthnendcv 
Klarheit  ist  die  Vorzeiohenreyrl  für  din  ^rultipliration  entwickelt;  nur  hätten 
wir  gerne  die  Definition  der  Multiplication  in  erweiterter  Form  gefunden. 
Anf  ante  15  und  16  nehmen  die  Avf^aben  eme  etwas  nnbehellbne  Gertalt  an, 
da  die  Potenzen  durch  Wiederholung  der  Buchstaben  anstatt  durch  Bcifllgung 
des  Exponenten  ausgedrückt  sind,  was  leicht  zu  vermeiden  wäre.  Der  schwächste 
Theil  des  Buches  ist  die  Darstellung  der  Quadrat*  nnd  Cubikwurzel.  £s  wird 
je  eine  zwei-,  drei-,  vierstellige  Wurzel  besondeiBTOigeflUirt  und  dabei  an  Anf* 
wand  von  Ziffern  viel  zu  viel  gethan. 

Aus  den  vorstehenden  Bemerkungen  ist  wo!  Sil  entadUtten,  dass  wir  die 
bezeichneten  Mängel  für  leicht  abstellbar  halten,  nnd  dass  wir  auf  dieselben 
nur  aufmerksam  machten,  um  den  Verfasser  bei  einer  späteren  Auflage  dahin 
zu  veranlassen.  Doch  auch  in  seiner  gegenwärtigen  (Gestalt  halten  wir  das 
Buch  für  einen  recht  braachbaien,  besondentoiSeininaristen  duichaus  empfehlens- 
werten Lehrbehelf.  H.  E. 
A.  Lieb,  Aufgabelt  snm  schriftlichen  BeclineB  für  Töchter-  und  weib- 
liche Fortbildungsschulen.    32  S.    Nürnberg  1888,  Korn.    30  Pf. 

Die  Übungen  umCBssen  die  vier  Grundrechnungsarten  in  ganiea  und 
gebrociienen  Zahlen  nur  rar  Wiederiiolnng  auf  wenigen  Seiten,  wihiend  der 
nOßte  Theil  derselben  die  sogenannten  bürgerlichen  Rechnungsarten  betrifft 
Der  Veriassai  war  bei  der  Textierung  der  Aufgaben  bestrebt,  dieselben  dem 
Irtswssentareise  der  weiblidien  Jugend  an  entacSimen.  Anfertigung  weiblicher 
Xhider,  Kochkunst  und  Haushaltungskundc  haben  das  Material  geliefert.  Wir 
können  nur  aus  der  eigenen  Erfahrung  bestätigen,  dass,  wie  in  den  Fort- 


^  270  — 


bilduDgäächulcn  der  Knaben  Beispiele  dem  gewerblichen  Lebea  entoommen  am 
meisten  befriedigen,  so  auch  dasIntereaBe  der  Mädchen  duroliAlÜisaben,  wd(Ae 
in  du  Gebiet  dm  Ijebe&sÜi&tigkeit  tob  flauen  einiwhlagen.  vonriegeud  ange- 
ngl  wild.  H.  E. 

Biehara  Klinpert,  Oeeehichte  der  Geometrie  für  Freunde  der  Ifatbe» 
matik  gemeinverständlich  dargestellt.  100  Figueil  im  Texte.  169  S. 
Stattgart  1888,  Julius  Maier.    3  Mk. 

Der  Verfasser  wünscht  besonders  betont  zu  haben,  dass  sein  Buch  nicht  nur  für 
fachniiiunisch,  sondern  überhaupt  fiirGcbildete geschrieben  ist.  Er  hebt  hervor, dam 
die  Werke  Aber  die  Geschichte  der  Mathematik  zumeist  nur  ftlr  Gelehrte  ge- 
schrieben and  anfierdem  auch  schwer  zugänglich  sind,  dass  er  somit  zu  glauben 
berechtigt  ist,  mit  bi  inem  Buche  einem  Beditrtni.ssc  entsprochen  su  haben. 

JHiK  Verfasser  schildert  in  einzelnen  Abschnitten,  was  die  vezachiedenen  Völker 
des  Alterthoms  und  der  Neuzeit  für  die  Entwiekelan?  der  Qeometrie  gleistet 
hüben.  Soweit  es  iiir»o:li(h,  wird  Gcburts-  und  Todesjahr  der  bekannteren  Gto- 
meter  ange^ebeu  und  werden  die  Satze  entwickelt,  welche  theils  ihren  Namen 
tragen,  tbeils  naehweisbw  von  flmeB  henrfUureB.  Die  Vortragswdse  des  Ver- 
fassers ist  ebenso  klar  als  anziehend ,  so  dass  man  seinen  AnsfUhrnngen  mit 
Vergnügen  folgt.  Die  besondere  Voi  liebe,  welche  er  für  die  Griechen  bekundet, 
kanii  man  ihm  kaum  sam  Fehler  anrechnen,  obwol  eesnwdt  gegangen  scheint, 
wenn  dem  Arcbimedes  und  ApollonioB  i^diaam  im  Eie  alle  Verdienste  modemer 
Geometer  zugeschrieben  werden. 

Außer  einer  mangelhaften  BeMihreibnng  an  Figur  23  sind  uns  störende 
Druckfehler  nicht  vorgekommen.  Zur  Seite  154  können  wir  es  nicht  unter- 
lassen zu  bemerken,  da>8  die  Deckung  geometrischer  Gebilde  im  Räume,  gleich 
wie  in  der  Ebene  auf  zweifache  Art  herbdjmführcn  ist,  durch  Verschiebung 
oder  durch  Wendung  Da»  Dreieck  III  kann  nnr  durch  Umwenden  mit  Dreieck  I 
cur  Deckung  gebracht  werden,  genau  ebenso  kann  auch  der  Handschuh  der 
rechten  Hand  umgewendet  auf  die  linke  Hand  gezogen  wenlin.  Vormöge 
dieser  einfachen  Betrachtung  hätte  der  Verfasser  es  Gauss  füglich  ersparen 
kSnnen,  in  den  Verdacht  moderner  Vierdimenslonalitit  gebracht  nu  werden. 
Im  übrigen  bildet  das  Bucb  ein  lifuhst  br.uKbbares  Hilfsmittel  für  den  Unter- 
ncht;  es  ist  Kleyers  Encvklopädio  der  exakten  Wissenschaften  angeschlossen, 
kann  aber  andi  so  wie  Jeder  Theil  dieses  ftunmdwerkee  cioaeni  bezogen 
werden.  H.  h. 

Dr.  Max  Simon,  Scminarlolirer  in  Berlin:  Der  erste  Unterricht  in  der 
Kaumlehre.  36  S.,  58  Figuren  im  Texte.  Berlin  1889,  Springer.  50 Pf. 
Der  Verfasser  bUt  es  für  feststehend,  dam  der  Unterricht  der  Geometrie 
mit  einer  das  geometrische  Anschauungsvermögen  heranbildenden  Formenlehre 
SU  beginnen  habe,  und  bietet  mit  dem  angezeigten  Buciie  ein  Lehrmittel  hierzu. 
Er  beginnt  mit  dem  Würfel  und  Prisma,  an  welche  sich  die  SrUftrungw  über 
Vierecke  und  Dreiecke  anschließen.  Es  folgen  noch  einige  andere  einfache 
geometrische  Gebilde  mit  dtT  Erklärung  Uber  .\etze,  des  Rauminhaltes  und 
einiger  Beziehungen  zwischen  Gerade  uud  Kreis.  Schliefilich  folgt  ein  Anlian):; 
Uber  einfache  Goustructioneu.  Die.ser  Lehrbehelf  ist  vorwiegend  wegen  seiner 
gut  entworfenen  und  sorgfältig  ausgelUhrten  Figuren  ein  recht  brauehbaier 
zu  nennen.  Man  findet  iu  di  ui.^clbeu  alles,  was  ubirhaupt  in  den  propädeu- 
tischen Unterricht  gehört,  nämlich  Würfel,  Prisma  und  Pyramide  als  Ver^ 
aBachavlichnogsmittM  von  Dreiecken  und  Vierecken,  dann  Walte,  Kegel  und 
Kugel  als  Beispiele  runder  Korper,  an  welche  das  Xüthigc  aus  d  r  Krei-lehre 
eich  anknüpfen  lasst.  Wenn  auch  der  Vertasäer  nicht  die  von  uns  gewünschte 
Ordnung  befolgt,  d.  i  die  Pyramide  rot  das  Dreieck  zu  stellen,  und  aolerdem 
noch  in  Bcziifr  auf  Inhaltsbereehnung  viel  weiter  geht,  als  es  filr  einen  propä- 
deutischen Unterricht  sachgemäß  ist,  so  wird  man  doch  das  von  ihm  gebotene 
Lehrmittel  benutzen  kOnnen,  weil  man  Jaanr  da8Überilii>sige  wegzulassen  hr  uu  ht. 

Von  den  ("onstructionen  des  -Anhanges  verdient  besonders  ein  dem  Verf.isser 
eigenthümliches  und  für  den  Unterricht  recht  brauchbares  Verlahren  hervor- 
gehoben zu  werden  t  flaehengieiehe  Figuen  dnrA  HiUUinien  in  congruente 


Stttoke  zn  aedegea. 


—   271  — 

Wilhelm  Keeb,  GjmnuiaUehrer  zu  Mainz:  Methodischer  Lieitfaden  for  den 
Uoterrieht  In  der  ebenea  0eoinetrfeu678.Oie6mil888,E.Botb.  1  Mk. 

Der  Verfasser  sagt,  dass  das  Torlicgendc  Hett  aus  seiner  Schulpraxis  an  der 
fiealflchule  und  einer  hohem  Mftdcheaachnle  zu  Mainz^  herrorgegaaeen  iat 
Br  vemt  Miii  IiehrrerftilireD  .eoostraetlT*  und  „lieiirittiMsh"  —  swei  wTorte, 

mit  Vorsicht  zn  gebrauchen.  Dass  man,  ehe  von  t'ong'rucnz  gesprochen  wird, 
zwei  congruente  Dreiecke  aufzeichnet,  ist  kaum  zu  vermeiden,  und  deshalb 
IcaBB  der  Lehrgang  noeh  Hiebt  Torwiegoid  anf  den  Titel  «inet  eonstmetlTen 
AMprach  erheben.  "Wenn  man  aher  den  pyfhajoriiischen  Lehrsatz  mit  Hilfe 
Ton  earrirtcm  Papier  und  Abzahlen  der  Quadrate  nachweisen  laast,  so  isi  dies 
kaoai  ein  cnnstructiver  Vorgang  zu  nennen.  „Heunstisch"  i'>t  nadi  Beidt 
ttberhaupt  keine  Bezeichnung  für  das  Lehrbuch,  sondern  fär  das  Verfahren  des 
LcÄren  im  Unterrichte.  Uns  aber  scheint  das  Vorlirg:en<ie  nach  dogmatischer 
Mediode  irearbeitet  zu  sein,  und  empfehlen  mOditen  wir  es  auf  keinen  Fall, 
schon  nicht  wegen  des  Mangels  der  fiUr  eia  geometrisches  Lehrbuch  unerläas- 
lich  nothwendigeu  Figuren.  H.  £. 

Friedrieli  Pollak,  Geachielits-Leitfadeii  für  Billiger-  und  lOtttelseholen. 

1 1.  Auflage,  h  eraas  gegeben  unter  Hitvii^iuig  von  Otto  Sattler.  Gera  1889, 

Hof  mann.  1,40  Mk. 

Manche  Eigenthümlicblieiten  heben  diesen  Leitfaden  aus  der  Ma^se  der  tllr 
Bürger-  und  Mittelschulen  bestimmten  geadhiebtUdMa  Lehrbücher.  Dahin 
gehört  die  Form  der  DarstcUang,  die  sich  Tom  trockenen  lA-hrhuehstilc  fern- 
hält und  natürlich  klingt.,  wenn  sich  ein  Knabe  bei  der  Nacherzählung  an  sie 
h&It,  feiner  in  den  Anmerkungen  die  Erläuterung  der  technischen  Ausdrttcke 
(z.  B.  Acht,  Interdict,  Capitulation  etc.)  und  die  am  Schlüsse  Jedes  Abschnittes 
angefügten  Fragen,  die  auf  eine  verstandesmaßipe  Betrachinng  der  Geschichte 
hinarbeiten  oder  als  Themen  für  den  Aufsatz  {reiten  wollen,  dann  der  Hinweis 
auf  iiistoriscbe  Gedichte,  deren  Stoff  dem  betreffenden  Abedinitte  entlehnt  ist, 
und  endlich  die  209  cnltuTt^escbichrlichen  Abbildungen  (Statuen,  Porträts  auf 
Münzen  und  Medaillen,  Gebäude  ete.).  -  Im  einzelnen  freilich  werden  die 
beiden  Verfasser  trote  der  elften  Auflage  noch  manches  Terbessem  müssen. 
Hnndio  Frage  und  Aiii)p;abe  ist  fttr  das  Alter,  dem  du  Blleblein  in  die  Hand 
gegeben  wird,  zu  schwer.  Wir  grciten  ein  paar  {jrclle  Beispiele  heraus: 
-SehÜdere  einen  iiieekampf.  einen  Thunipbzug,  das  Treiben  der  iSecrauber,  die 
Tevlobnrgpr  SeUaeht  ete."  Anf  Orand  der  paar  Notisen  des  Bnebes  kann 
das  kein  Schüler  Die  Gefahr  liegt  außerdem  nahe,  dass  der  Sinn  für  Wahr- 
heit ertödtet  wird.  Zu  schwer  oder  von  einem  Schüler  auf  (irund  der  Angaben 
des  Boefaes  nicht  zu  lösen  sind  Fragen  wie:  Welchen  Eindusi  liatten  die 
Kreu7znge  anf  die  Sittlichkeit?  Was  haben  Alexanders  Erobernngen  der  Welt 

genutzt?    Warum  wählte  Hannib&l  nicht  den  See-,  sondern  den  Landweg? 
eschichtUdier  Hintergrund  des  Nibdangcaliedes.  Mängel  der  republicanischen 
Verfa-ssung.  —  Unter  den  auffrenommcncn  Bildern  sind  viel  Phantasiebilder; 
da  nur  einmal  diese  Bezeichnung  einem  Bilde  beigesetzt  ist,  so  kann  leicht 
der  Irrthum  entstehen,  als  ob  alle  anderen  Porträts,  z.  H.  der  deutschen  Kaiser 
des  Mittelalters,  authenti>-che  seien.  Gregor  VII.  ist  mit  der  Tiara  geschmückt, 
ein  Anachronismus,  der  sich  hätte  leicht  vcnncMen  lassen.  Woher  ist  übrigens 
diese  Zeichnung  genommen?  Hier  wie  öfter  fehlt  jede  Quellenangahe.  W. 
A.  V.  Heyden.    Die  Tracht  der  Culturvölker  Europas  vom  Zeitalter 
Homers  bis  zum  Beginne  des  XIX.  Jahrhonderts.  Leipzig  1889,  £.  A.  See- 
mann.   3,20  Mk. 

Costümgeschichte  ist  ein  Theil  der  Culturgeschichte;  in  ihr  spiegelt  sich 
der  Geist  der  Zeit  in  sinnlicher,  greifbarer  Gestalt  wieder.  Man  vergleiche  nur 
z.  6.  die  Tracht  in  Frankreich  zur  Zeit  Ludwigs  XIV.  mit  der  der  Puritaner 
derselben  Epoche,  und  man  wird  die  Bed^'utung  auch  dieses  Theiles  der  Cultur- 
geschichte 1^  den  Unterricht,  für  die  Veranschaulichong  der  Gerichte  begreifen. 
Ab  Costflmgeseb lebte  bat  sie  nicht  Mos  die  Traeht  einer  bestimmten  Periode 
zu  be>chrciben  und  das  Costümbild  ausführlich  zu  erläutern,  sondern  auch  die 
Eatwickelung  der  Tracht  klarzulegen,  nachzuweisen,  was  letztere  beeiaffuast, 


^.   1  Lj 


_   272  — 


ihr  Verbreitung  verschiifft  und  was  sie  wieder  beseitigt  hat.  Nach  beidei 
Richtungen  entspricht  Heydens  Werk  den  Anforderungen  und  Wüngchen.  Es 
httit  die  Mitte  zwischen  den  austiibrUchen  nnd  darum  äußerst  kostspieligen 
Werken  und  einem  Leitfaden.  Auf  266  eng  gedruckten  Seiten,  illustrtrt 
durch  222Trachteiibihler,  bietet  es  das  Wesentliche  in  einer  auc  h  für  den  Autänger 
in  dieser  Wissenschaft  leicbfc  fiuubaien  Form.  So  su  «rbeiten  vermochte  natlir- 
lich  nur  einer,  der  ans  dem  Vollen  schöpfen  kann  and  dnrch  langj&hrige 
Ih  m  bäftigung  auf  diesem  Gebiete  —  Heyden  ist  seit  1876  Heniusgobcr  und 
Mitarbeiter  der  Blätter  fttr  Costtimkonde  —  die  Literatur  vollständig  beherrscht. 
Es  wird  danm  audi  niemanden  wundernehmen,  wenn  der  Verftisser  hie  und 
da  (z.  B.  Artikol  Tof^ai  in  Strcitfrsigen  eingreift  und  so  selbst  dem  mit  der 
Lu&tUuigecchichte  Vertrauten  manches  Neue  bietet.  Die  Beschreibungen  der 
eiwtelnen  Bilder  sind  ausfttliilleh  und  sehr  genau.  -Die  Literaturangaben  sowol 
im  Quellenvcr/.eichnisse,  als  auch  unter  dem  Texte  und  der  Hinweis  auf  Werke, 
in  denen  die  Trachten  von  nur  localer  uilei  vorübergeheuder  Bedeutung  ab- 

Sebildet  sind,  welche  in  da»  Handbuch  nicht  aufgenommen  sind,  eilanbin  es 
em  Le«or,  auf  einem  speoiellpn  <;ebi(  te,  für  das  sein  Interesse  rege  geworden 
ist,  bequem  weitere  Keuutuisse  sich  zu  verschaffen.  Die  zahlreich  eingestreuten 
Notizen  geschichtlicher  Art  gewähren  häufig  einen  lehrreichen  Einblick  in  die 
Intimitäten  weltgesrhiditlicher  Gestalten,  die  in  den  üblichen  SchulbUchem 
voll  Pathos  über  die  i'.iihue  schreiten  (vergl.  z.  B,  die  Bemerkung  S.  231 
über  General  Hahn  oder  die  S.  233  über  Napoleon);  lehrreidi  sind  audi  <lie 
Citafee  aus  alten  Kleiderordnungen  oder  die  costfluigeschichtUchen  Notizen  aus 
alten  Chronisten,  die  in  die  Oarstellnng  verflochten  sind  (z.  B.  die  recht  ehaiak- 
terißtischcn  Stellen  S.  Jl  oder  S.  102  fl".).  Das  Sachregister  (S.  257  -268) 
ermöglicht,  die  £ntwickelung  eines  Kleidungsstückes,  einer  Haartracht  (z,  B. 
der  PertteKe,  des  Bartes),  ones  Sehmuckgegenstandes  von  seinem  ersten  Ant- 
treten  durch  alle  Formen  hindurch  bis  zur  Gopcnwart  zu  verfolgen,  indem  es 
bei  dem  Namen  jedes  Objectes  die  Seiten  des  Buches  nennt,  auf  denen  es 
bdOmdelt  ist  Erwibnt  sei  noch,  dass  Heyden  auch  die  Geschichte  der  Bewaflf- 
nung  und  zwar  als  eigenen  Abschnitt  bei  dem  betreffenden  Volke  oder  Jahr- 
hundert, die  Geschichte  der  geistlichen  Tracht  aber  als  Anhang  behandelt. 
Zum  Schlüsse  möge  es  uns  gestattet  sein,  ein  paar  Wünsche  auszusprechen, 
die  bei  einer  nä.  hsten  Auf  Inge  Beachtung  finden  mrtgen.  Die  Tracht  der 
Babylonier-Assyrier  sollte  doch  etwas  eingehender  und  mit  Zuhülenahme  eines 
Bildes  beschrieben  werden.  Zu  wiederholtenmalen  feUt  im  TsKte  der  Hinweis 
auf  die  Abbildung  (z.  B.  Figur  12,  17  etc.),  sodass  man  sich  aus  dem  „Ver- 
zeichnis der  Abbildungen"  (S.  VUl  ff.)  Auiklärung  über  das  Bild  holen  muss. 
Zweimal  kommt  dasselbe  Bild  vor  (S.  116  und  S.  132),  ein  Hinweis  auf  die 
S.  116  würde  dämm  bei  S.  132  genügen.  Dagegen  würde  es  sich  empfehlen, 
der  Beschreibung  der  Costüme,  wie  z.  B.  der  der  Schotten  oder  dsrlnciOTabtef 
und  der  MerroillBBsen  wir  besseien  Ywansnliaiiliflhuwy  ein  Bild  beiidUgcn.  W. 


VerutwortJ.  BedMtew  Dt.  friedrieh  Dlttee.  Baebdraekeiei  Jaline  Kliakhardt,  Leipsiff. 


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über  Ideen. 

Von  Dinetoc  A,  Qoerth^Imterburf. 

X)er  Begriflf  ^  Idee**  wii'd  heatzntag^e  selbst  in  den  bedeutendsten 
wissenschaftlichen  Werken  in  so  verschiedenartiger  und  oft  so  unklarer 
Weise  gebraucht,  dass  man  sich  nicht  selten  ^enöthigt  sieht,  den  Schrift- 
steller um  eine  besondere  Aufkläning  zu  bitten.  In  den  Werken  der 
Geschichtsschreibung  und  namentlich  in  den  Literaturgeschichten  und 
Erläuterungen  zu  dichterischen  Kunstwerken  \^ird  mit  diesem  Begriff 
ein  so  heilloses  Spiel,  ja  ein  solcher  Unfug  getrieben,  dass  jeder  wisseu- 
schaltlich  gebildete  denkende  Mensch,  insonderheit  jeder  Lehrer,  der 
in  diesen  Wissenschaften  an  den  Oberclassen  höherer  Lehranstalten 
zu  unterrichten  hat,  wol  die  Beorderung  stellen  darf,  man  möge  in 
diesem  hochwichtigen  Punkte  endlich  zur  Klarlieit  kommen.  Da  diese 
Klarheit  zugleich  geeignet  ist.  auf  andere  wichtige  Gebiete  ein  lielles 
Licht  zu  werfen,  so  habe  ich  es  unternommen,  hier  allen  Lehrern 
meine  Untersuchungen  vorzulegen. 

Der  Begriff  Idee  (Bild,  Gedankenbild,  Vorstellung)  hat  seinen 
Ursprung  in  der  Philosophie  von  Plato,  in  dessen  Ideenlehre.  Nach 
ihm  ist  die  Idee  das  Olgect  des  Begriff  Sie  geht  auf  das  Allgemeine, 
wird  als  ein  nmiii-  md  wMoam  UrUId  der  Indhidueo  voigoateDt 
Gegenüber  der  weefaaelvolleii  Welt  der  Encfaeinuigen  gibt  es  eine 
dem  Weehael  nicht  mitenrorftiie  Welt  der  Ideen.  „Werden  die  In- 
dividoen,  welebe  miteinander  das  gleiche  Wesen  tfaeOen,  oder  derselben 
CSasse  ang«3iOren  (also  beispielsweise  aUe  einaelnen  Menschen)  befMt 
gedadit  von  den  Schranken  des  Baomes  and  der  Zeit,  yon  der  Mate- 
rialität und  den  indiyidaellen  Mängeln,  und  so  anf  eine  Einheit  anrftck- 
geftthrt,  welche  der  Qnind  ihres  Daseins  sei,  so  ist  diese  (olijectiv- 
reale,  nicht  blos  von  ans  dnrch  Abetraction  gedadite)  Einheit  die 
Platonisdie  Idee.'*  Die  Idee  ist  das  Urbild,  die  Einzelwesen  sind  die 
Abbilder.  Jedes  Einzelwesen  Jebt  mit  der  Idee  in  Gemeinschaft;  sie 
ist  ihm  in  gewissem  Sinne  gegenwärtig.  Die  hOchste  Idee,  die  Idee 
des  Guten,  wird  als  wirkende  Ursache  betrachtet,  die  den  Individuen 


Dasein  und  Wesen  yerl^ht  In  filinlicher  Weise  hat  alles  Schöne  auf 
Erden  Theil  an  der  (ohjectiY-realen)  Idee  des  Schonen. 

Diese  geistvolle  Lehre  eiMr  im  Lanfe  der  Zeit  mannig&ehe 
UmSndenmg.  FQr  die  Scholastiker  des  Hittelalters  galten  die  Ideen 
als  die  »reinen  Formen'**),  als  die  „voUkmnmenen  ürhflder'*  aller 
Wesen,  die  nach  derselben  ans  demT^en  Gottes  hervorgegangen  seien. 

£ine  wesentliche  Veränderung  erfhhr  der  Begriff  jjdee'*  durch 
unseren  großen  Kant.  „Ich  verstehe  unter  der  Idee",  sagt  er  (  Kiitik 
der  reinen  Vernunft),  „einen  nothwendigen  Vernnnftbegriff,  dem 
kein  congruirender  Gegenstand  in  den  Sinnen  gegeben  werden  kann.** 
„Der  objective  Gebrauch  der  reinen  Vemnnftbegriffe  ist  stets  trans- 
cendent,  indessen  dass  der  von  den  reinen  Verstandesbegiiflfen  seiner 
Natur  nach  stets  immanent  sein  muss,  indem  er  sich  blos  auf  mög- 
liche Erfahrung  einschränkt.'-  „Diese  transcendentalen  Ideen  fz.  B.  die 
drei  Ideen  Gott,  Freiheit,  Unsterblichkeit,  mit  denen  es  die 
Metaphysik  zu  thun  hat)  sind  nicht  willküi'lich  erdichtet,  sonderu 
durch  die  Natur  der  Vernunft  selbst  aufgegeben.  Sie  über- 
steigen die  Grenze  aller  Ertahrung:,  in  welcher  niemals  ein  Gegenstand 
vorkommen  kann,  der  ihnen  adäquat  wäre;  sie  bestimmen  den  Ver- 
standesgebraucli  im  Ganzen  der  gesammten  Erfahrunj?  nach  Prin- 
cipien."  „Wer  die  Begriffe  der  Tugend  aus  Erfahrung  schöpfen 
wollte,  der  würde  aus  der  Tugend  ein  nach  Zeit  und  Umständen 
wandelbares,  zu  keiner  Regel  brauchbares,  zweideutiges  Undinfi:  nuic.lien. 
Dagegen  wird  ein  jeder  inne,  dass,  wenn  ihm  jemand  als  Muster  der 
Tugend  vorgestellt  wird,  er  doch  immer  das  wahre  Original 
blos  in  seinem  eigenen  Kopie  habe,  womit  er  dieses  angebliche 
Muster  vergleieht  nnd  es  blos  danach  schitit  Dieses  ist  aber 
die  Idee  der  Tugend,  in  Ansehnng  derer  alle  möglichen  Gegenstinde 
der  Erfiüimng  zwar  als  Beispiele,  aber  nidit  als  Urbilder  Dienste 
thon.  Dass  niemals  ein  Mensch  demjenigen  adflqnat  handdn  verde, 
was  die  reüie  Idee  der  Tugend  enthilt,  beweist  aber  gar  nicht 
etwas  Chimärisches  in  diesem  Oedanken;  denn  es  ist  gleidiwol 
alles  Urtheil  fiber  deo  moralisokai  Wert  oder  Unwert  nnr  yermit- 
telst  dieser  Idee  möglich.'* 

Diese  klare  Darstellnng  des  Begriffii  «Idee**  ist  dnrch  Kants 
Nachfolger,  namentlich  durch  Hegel  wSedemm  verindert  und  dadurch 


•)  Aber  in  den  heitern  Kejjionen, 

Wo  die  reinen  Formen  wohnen, 

Bauitebt  des  Jammers  trüber  Starm  aicht  luebr. 

Schiller:  Dm  lAeal  voA  dm  Leben. 


■nUar  gemacht  Vörden.  Hegel,  desam  Philosophie  den  gi  ößten  Ein- 
ftifls,  namoitlieli  auch  aaf  dk  Ästhett  «««gettil  Int,  iat  vied«r  auf 
Plato  nrflflkgegangen.  Die  Idee  Ist  WMdi  ihm  „die  Einheil  des  Be- 
griffs mid  seiiier  Realität,  die  an  lieh  seiende  Einheit  des  SnbJectiTen 
and  Oljeetiyen  als  fOr  sich  seiend  gesetzt"  „Die  absolute  Idee 
ist  die  reine  Ferm  des  Begriffli,  die  ihren  Inhalt  als  sich  seihst  an- 
sehant,  die  sich  visseiide  Wahiteit,  die  abeolnte  nnd  alle  Wahrheit, 
die  sieh  seihst  denkende  Idee  als  denkende  oder  logisdie  Idee.**  „Die 
Idee  als  Sein  oder  die  seiende  Idee  ist  die  Natnr.**  „Der  Geist 
ist  das  Beisichsein  der  Idee,  oder  die  Idee,  die  ans  ihrem  Andetssein 
in  sich  suflckelirt  Seine  Itonente  sind:  der  snl^jeetive^  der  ol^jecti¥e 
nnd  der  abaolnte  Gejat**  »Der  ahsolnte  Geist,  oder  die  Religion  im 
▼eiteren  Sinne  als  die  Einheit  des  snhJeetiTen  mid  objecÜTen  Geistes 
realisirt  sich  in  der  objectiven  Form  der  AnBehammg  oder  des  nn- 
mittelbai*en  sinnlichen  Wissens  als  Kanst,  in  der  sat^jeetiyen  Form 
des  GefiUils  in  der  Vorstellung  als  Religion  im  engeren  Sinne;  endlich 
in  der  subjectiv-objectiven  Form  des  reinen  Denkens  als  Philosophie." 
^Dh^  Schöne  ist  das  Absolute  in  sinnlicher  finstenz,  die  Wirklichkeit 
der  Idee  in  der  Form  begrenzter  Erscheinnng.  Auf  dem  Verhältnis 
der  Idee  zn  dem  Stoff  beruht  der  Unterschied  der  qrmbolisdien,  das- 
aischen  nnd  romanischen  Kunst" 

Diese  He^elsche  Philosophie  hat  Fr.  Th.  Vischer  seiner  berühmten 
Ästhetik  zugrunde  gelegt.  -Die  absolute  Idee",  sagt  er.  „kann 
auf  keinem  einzelnen  Punkte  zur  vollen  Erscheinung  kommen;  sie  vcr- 
vörklicht  sich  im  endlosen  Laufe  der  Zeit  im  Process  der  Bewegung. 
Desgleichen  die  einzelne  Idee,  deren  Wirklichkeit  nur  durch  den 
Gredanken  gefasst  werden  kann,  an  den  sie  zunächst  in  Form  der  An- 
schauung treten  muss.  Dadurch  erzeugt  sich  der  Schein,  dass  eine 
bestimmte  Idee,  und  dadurch  ein  Einzelnes  die  absolute  Idee  ausdrücken 
kann.  Dieser  inhaltsvolle  Schein  oder  die  Erscheinung  ist 
das  Schöne." 

Fr.  Th.  Vischer  sagt  ferner:  „Die  Idee  ist  streng  zu  scheiden 
vom  abstracten  Begriff.  Die  Idee  ist  der  Inbegrift'  des  wahren 
Wesens,  gedacht  als  wirklich  ausgeführt.'*  Dadurch  weicht  er 
wesentlich  von  Hegel  ab.  Und  er  fügt  hinzu:  „Ideen  sind  die 
großen  bewegenden  sittlichen  Mächte  des  Lebens."*)  Dadurch 

*)  Dies  Wort  hat  mich  zuerst  darauf  geführt,  meine  Ansicht  des  BogriSi 
Idee  m  kliien  und  die  so  gewonneiuB  SriMumiMe  Ito  die  Bevrtheilnif  mm 
KviiBfcfrarkia  n  vtrwuUm. 

20* 


nähert  er  sich  wieder  der  Ajsttutnag  toh  Eaat,  and  dieeellie  kommt 
seinem  Werke  ▼eeentUch.  mgate. 

Nachdem  ich  bo  die  hanpttfchUehen  AniEuBmigen  dee  Begrüb 
„Idee**  klar  gemacht  habe,  sei  ee  mir  vergönnt,  meine  eigene  dar- 
sol^ien. 

In  der  SpracfaQ.  dee  alltftglichen  Lebens  versteht  man  unter  Idee 
einen  Einfall,  oder  Vorsats,  oder  Plan  in  Beamg  anf  ein  Werk, 
das  man  schaffen  will.  Dieser  Qebranch  des  Wortes  Idee  erinnert  an 
den  philosophisdien  insofam,  als  jeder,  der  soldi  eine  Idee  ihsst,  «ich 
von  dem  Werke,  das  er  aassoAhien  jiedenkt,  im  Geiste  em  mehr  oder 
weniger  vollständiges  Bild  desselben  entwirft,  sich  dasselbe  in  der 
Olg'ectivitftt  völlig  durchgeftthrt  denkt."  Wer  die  Idee  fiasst,  ein  Hans 
zn  bauen,  macht  sich  nach  dem  ersten  Einfall  oder  Voi*satz  im  Geeiste 
ein  Bild  von  dem  Zwecke,  der  GröBe,  der  inneren  Einrichtung  dieses 
Werkes.  AVenn  der  Baumeister,  dem  er  die  Aasfnhning  übergibt, 
seine  Zufriedenheit  erlangen  will,  so  muss  er  auf  diese  Idee  (oder  diese 
Ideen)  genau  eingehen,  oder  den  Auftraggeher  durch  schlagende  Gründe 
nOthigen,  davon  abzustehen  resp.  sich  in  Verändeninjiren  zn  f&gen. 

In  derselben  Weise  gehraucht  man  den  Bpfrrift"  Tdeo,  wenn  es  sich 
um  einzelne  oder  zusammenhängende  Thatip^ktiten  handelt;  so  fasst 
man  die  Idee,  einen  Spaziergang,  eine  Keise  zu  unternehmen,  für  sich 
oder  seine  Kinder  einen  Stand  und  Beruf  zu  wählen,  sich  in  Geschäfte 
einzulassen,  die  besonderen  Gewinn  abzuwerfen  versprechen.  Auch 
gebraucht  man  diesen  Begrifl"  bei  [genialen  Einfällen  oder  Ein- 
gebungen, die  zu  großen  Erfindungen  oder  Entdeckungen  geführt 
haben.  Man  sagt:  James  Watt  wurde  schon  als  Knabe  von  der  Idee 
geleitet,  den  Dampf  als  bewegende  Kraft  bei  Maschinen  zu  verwenden; 
Christoph  Columbus  wurde  durch  die  Idee,  Ostindien  durch  eine  Reise 
nach  Westen  hin  aufzufinden,  der  Entdecker  von  Amerika.  In  der 
Kunst  spricht  man  davon,  dass  durch  die  Idee,  die  alten  Meisterwerke 
der  Griechen  und  Römer  zu  studiren,  die  Baukunst,  Malerei,  Plastik 
und  Dichtkunst  in  Europa  einen  großartigen  Aufschwung  genommen 
habe.  (Benaissancekunst) 

ICsn  sieht,  dass  der  ursprünglich  philosophische  Gebrauch  des 
Begriffs  Idee  sich  dermallen  abgesdüüEBn  hat,  dass  er  in  der  Sprache 
dee  alltäglichen  Lebens  fftr  Jeden  beliebigen  Verstell ungsinhalt 
gesetzt  wird. 

Indessen  ist  ein  Umstand  zn  beachten.  Bei  den  vorhin  ange- 
führten Arten  des  Gebrauchs  haben  die  Menschen  bei  diesen  Vor- 
stellungen nur  ihr  eigenes,  ihr  personliches  Interesse,  im 


weitesten  Sinne  nnr  ihre  QllLekBeligkeit  im  Ange.  Selbst  bei 
den  Ideen,  die  zn  grofien  ErfiodungeB  oder  Entdeckungen  auf  den 
Gebieten  der  WiaBenichalten  imd  Einste  gdlihrt  fanben,  sbid  die 
genialen  EOi^  nie  dnreb  den  Hinblick  anf  die  gesammte 
Menschheit  geleitet  worden.  Ihre  Ideen  «eigen  sieh  nnr  jenen 
rein  persönlichen  gegenflber  ra  grttüerer  Tragweite;  sind  von  anderen 
genialen  Menschen  ait  Frenden  begrftfit  und  weiter  ausgebildet  worden. 

Dagegen  spricht  man  von  Ideen,  die  von  MilUonen  Menschen,  von 
einem  Theile  der  gessmmten  enroptifichen  BevOUraning  als  wahr  an- 
erkannt nnd  bJs  rar  Anfopfamng  des  eigenen  Glflekes,  ja  des  Lebens 
selbst  yertheldigt  worden  sind.  Zu  solchen  Ideen  rechnet  man  die  der 
Glaubens-  nnd  .Gewissensfreiheit,  die  der  Menschenrechte. 
In  diesen  Fällen Innss  der  Begriff  Idee  eine  besondere,  von  der 
oben  angeführten  wesentlich  verschiedene  Deutung  haben. 

Dass  ich's  ksm  sage:  In  dieser  Bedeutung  sind  Ideen  kate- 
gorische Imperative  der  drei  grossen  im  Menschenh^ben  wal- 
tenden Mächte  der  Ueligion,  Sittlichkeit  und  SchOnhelt,  oder, 
wie  man  auch  zu  sagen  pflegt,  des  Großen,  Guten  imd  Schönen. 
Sie  treten  allen  Menschen  mit  dem  unbedingt  zwingenden  .,l)u  sollst!** 
entgegen.  JJiesen  kategorischen  Imperativ  fühlt  jeder,  der  die  Idee 
ausspricht  oder  als  wahr  anerkennt,  für  sich  als  Pflicht  und  fordert 
dieselbe  von  allen  seinen  Mitbürgern,  ja  von  allen  Menschen  ohne 
Unterschied. 

Der  Be^^rift"  ..katepforischer  Imperativ'  ist  bekanntÜL-h  durch  un- 
seren großen  Kant  in  seiner  „Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten** 
klar  erörtert  worden.  „Der  kategorische  Imperativ  —  im  Gegensatz 
zu  den  hypothetischen,  technischen,  pragmatischen  —  ist  derjenige, 
welcher  eine  Handlung  als  für  sich  selbst  ohne  Beziehung  auf 
einen  anderen  Zweck  (z.  B.  den  der  eigenen  Wolfahrt,  Glück- 
seligkeit) als  objectiv  nothwendig  vorstellt."  Auf  die  Frage: 
„Wie  ist  ein  kategorischer  Imperativ  möglich?"  antwortet  der  große 
Weise:  „Diese  Frage  kann  zwar  soweit  beantwortet  werden,  als  man 
die  einzige  Voraussetzung  angeben  kann,  unter  der  er  allein  möglich 
ist,  nftmlieh  die  Idee  der  Freiheit:  ingisiehett  als  man  die  Noth- 
wehdigkeit  dieser  Voranssetsmig  einsehen  kaon,  weldies  znm  prak-^ 
tischen  Gebranehe  der  Vernunft,  d.  h.  zur  Überzeugung  von  der 
Giltigkeit  dieses  Imperativs,  mithin  anch  des  sittlichen  Gesetzes 
—  sowie  des  religiösen  nnd  ftsthetischen  —  hinreichend  ist;  aber  wie 
diese  Voraossetsong  selbst  mOglieh  sei,  l&sat  sich  dnrch  keine 
menschliehe  Vernnnft  jemals  einsehen.'  Znm  Sehlnsse  seines 


—   278  — 


WeriEchens  sagt  er:  „Und  so  begreifiBii  w  xwar  nloht  die  prsktiBdie 
imbediBs^  Noftbwendigkdt  des  moraUselMa  ImperathnB,  wir  begrreifoE 
aber  doch  seine  Unbegreifliehkeit,  irakhes  alles  ist,  yna  UlUger- 
mafien  von  einer  Phüosopbie,  die  US  nr  Greose  der  mensehlidhei 
Vemonft  nach  Prindpien  strdrt,  gefordert  werden  kam/* 

Diese  kategorischen  Imperative  der  BeUgioii,  Sittlidikeit  nnd 
Schönheit,  mögen  wir  immerÜn  das  Entstehen  derselben  ans  nieht  er- 
kUren  klinnen,  sind,  wie  Fr.  Th.  Vischer  richtig  sagt,  „die  großen 
bewegenden  geistigen  Mächte  des  Lebens.*^  Anf  ihnen  beruht  im 
wesentlichen  der  Unterschied  zwischen  dem  mensclilichen  nnd  dem 
thierischen  Denken  und  Handeln.  Ihre  Wahrheit  und  die  daraus  eBt> 
springende  Verpflichtung  wird  Ton  allen  Mensehen,  selbst  von.  denen 
anerkannt,  die  scheinbar  von  solchen  Pflichten  nichts  wissen  wollen. 
Mit  Recht  sagt  Kant:  „Es  ist  niemand,  selbst  der  Srgste  Bösewicht, 
wenn  oi-  nur  sonst  Vernunft  zu  brauchen  gewohnt  ist,  der  nicht, 
wenn  niaii  ihm  Beispiele  der  Redliclikeit  in  Absichten,  der  Standhafüg- 
keit  in  Befolgung  guter  Maximen,  der  Theilnehmung  und  des  allge- 
meinen Wolwollens  (und  noch  dazu  mit  großen  Aufopferungen  von 
Vortheilen  und  Gemächlichkeit  verbunden)  vorlegt,  nicht  wünscht, 
dass  er  auch  so  gesinnt  sein  möchte." 

Diese  Ideen  (kategorische  imperative  der  Religion,  Sittlichkeit 
und  Schönheit)  werden  vom  ganzen  Menschengeschlechte  in  seinem 
Streben  nach  echt  menschlicher  Vollkommenheit  („Gottähnlich- 
keit")  durch  gemeinsame  geistige  Arbeit  erzeugt.*)  Die  Kraft,  die- 
selben hervorzubringen,  hat  Gott  allen  Menschen  als  ihr  eigenstes 
Merkmai  mitgegeben.  Bei  Thieren  haben  die  sorgfältigsten  Forscher 
nnr  gans  geringe  Regungen  einer  solchen  Kraft  entdeckt,  oder  so 
entdecken  geglaubt  Thiere  handeln  nach  praktischen  Ideen;  aber  nie 
nadi  kategorischen  Imperativen,  die  wir  als  religiöse,  sitUiebe  oder 
sekOna  beieieb&ai  durften.^ 

In  der  Kraft,  soldie  Ideen  sn  erzeugen,  danach  m  handeln  nnd 
ftr  sie  einzQstehen,  besftrt  jedes  Volk  einen  Mafetab  llr  seine  Ge- 
sundheit nnd  geistige  Blftte. 

Die  traibende  Maeht,  ans  der  dies  Streben  naeh  Erzengug  neuer 

♦)  Ich  bitte  meine  Leser,  von  hier  ab  nur  diesen  Begriff  von  dem  Wesen  einer 
Idee  festzuhalU'n,  von  jenen  oben  erwähnton  praktischen  Ideen  abzusehen. 

•  ♦*)  Wer  eine  neue  Idee  der  Art  ausspricht,  vernimmt  gleichsam  eine  Stimme, 
die  ihm  dieedbe  mit  der  Forderung:  „äJim  eoll  es  aein!"  mnft.  (Daher  du  Wort 
der  «Heil  Piophetea;  «Gott  spnoh  sn  mir:  Thn  «Mo!")  Damm  darf  mam  dieee 
Thttlfkeit  der  Seele  mit  Fag  md  Beoht  als  yeraanfttkitigkeit  beaeidiMa 


—   279  — 


Idew,  noaer  kat^goniclier  Impentive,  sowie  das  Haadela  danach 
hemngeht,  ist  die  Llabe,  qieeieli  die  Liebe  lu  Religion,  Sittlich- 
keit ttttd  Schönheit  Man  pflegt  dies  Qnudgefähl  nm  Unterschiede 
Tcn  der  siODlldien  oder  Gesehlechteriiebe  als  ideale  liehe  za  be- 
aetehnen.  Sfe  ist  lanrtMnlieh  Terhunden  mit  der  Abneigung  gegen 
fUsche  Imperativei  dis  sich  bis  aom  schnnershalten  Widerwillen 
(l^er,  Graosen)  steigorn  kaan.*)  Diese  ideale  Liebe  ist  nicht  kahe 
Achtung,  sondern  ein  interesseloses  Wolgefallen,  eine  innere 
Wäme  Ar  BeUgien,  Sittlichkeit  und  Schönheit  und  kann  sich  bis 
sor  Begeisterung  stefgem.  Sie  hängt  mit  der  Achtnng  vor  den 
Geselaen  (religiösen,  sittlichen  oder  Schönheitsgesetzen)  innig  sa- 
sammen;  denn  diese  Achtung  kann  sich  bei  rechter  idealer  Liebe  so 
steigern,  dass  jene  zu  Gesetzen  erhobenen  kategorischen  ImperatiTe 
als  heilig  gelten;  aber  sie  ist  dorchaus  nicht  mit  Achtung  vor  dem 
Gesetz  als  identisch  aufimfiissen,  weil  in  diesem  letztgenannten 
Gefühl  keine  treibende  Kraft  liegt. 

Diese  i<ieale  Liebe  zei^^t  sich  bei  kleineren  Kindern  in  so  ge- 
ringem Maße,  dass  nur  das  scharfe  Auge  eines  sehr  sorgsamen  und 
gebildeten  Erziehers  leise  Spuren  davon  entdecken  kann.  Aber  sie 
muss  vorhanden  sein;  sonst  könnte  sie  sich  nicht  entwickeln  und  oft 
schon  im  Jünglings-  und  Junglraueualter  in  rührender  und  erhebender 
Schönheit  und  Kraft  hervortreten.  Diese  ideale  Liebe  liängt  nicht  ab 
von  gießen  Ueistesgaben  oder  gehobener  Bildung,  denn  man  findet  sie 
gai*  oft  bei  den  einfachsteu  und  wenig  gebildeten  Leuten  in  solch 
einer  Keinheit  und  Stärke,  dass  der  klar  schauende  Menschenfreund 
dadurch  innig  erfreut  und  erhoben  wird.  Diese  einfachen  Naturen 
wissen  nicht,  dass  sie  solch  eine  ideale  Liebesfülle  besitzen;  vermögen 
nicht,  die  kategorischen  Imperative,  durch  die  sie  geleitet  werden,  in 
Worte  zu  kleiden:  aber  ihr  Denken,  Beden  und  Handeln  gibt  davon 
ein  untrügliches  Zeugnis. 

„Wm  kna  Yartiad  iar  Venttadigw  riekt, 
Dm  Qbet  in  Binialt  ein  kiadlich  GemfttL*' 

Wie  bereits  gesagt  worden,  erzengt  das  Menschengeschlecht,  ge- 
trieben von  dieser  idealen  Liebe,  jahians  jahrein  in  gemeinsamer 
geistiger  Arbeit  neue  Ideen,  neue  kategorische  Imperative.  Sobald 
dieselbe  in  Gedanken,  in  Worte  gekleidet  werden,  treten  sie  in  Ge- 
sprächen, Beden  oder  Schriften  in  der  Form  von  Heinangen  hervor, 

*)  Diese  ideale  Liebe  kann  sieh  nie  bis  zum  Haas  steigcru.  Hass 
liebtet  eieh  avr  »■  f  Perlenen  nnA  Uhift  mit  der  ainnlioken  oder  Qeedilecbts* 
Kebe  nianunen. 


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durch  die  entweder  eine  neue,  für  alle  als  unbedingt  itflichtm&fiige 
Fdrdenmg  aufgestellt,  oder  eine  bestehende  als  falsch  venrtJieüt  wird. 
Jeder,  der  solch  eine  Meinung  äußert,  wirft  sich  damit  zum  Gesetz- 
geber in  Religion,  Sittlichkeit  oder  Schönheit  für  alle  Menschen 
aal  Es  ist  aber  nicht  zn  bdianpten,  dass  deijenige,  welcher  solch 
eine  nene  Idee,  eine  Meinung  in  der  Form  eines  kategorischen  Im- 
perativs aufstellt,  dieselbe  lediglich  ans  seinem  Geiste  erzengt  habe. 
Der  Ursprung  von  Ideen  ist  stets  dunkel  wie  die  göttliche  Macht, 
welche  ihr  Entstellen  leitet.  Dies  ^ilt  namentlich  von  den  bedeutenderen 
Ideen,  die  das  Menscheng^eschlecht  gewaltig  bewegen  und  erst  nach 
langen,  schweren  Kämpfen  als  wahr  anerkannt  werden,  z.  K  von 
denen,  die  man  in  Bep^riffen  ausgedrückt  als  die  Ideen  der  (ilaubens- 
und  Gewissensfreiheit,  der  Menschenrechte,  der  'J'oleranz,  der  Volks- 
Souveränität  zu  bezeichnen  pflegt.  Diese  Ideen  —  es  sei  mir  gestattet, 
sie  Samraelideen  zu  nennen  —  zerfallen  in  Hunderte  von  einzelnen 
kategorischen  Imperativen.  Es  ist  durchaus  falsch,  die  Erzeugung 
der  letzteren  allein  großen  Denkern  oder  mindestens  bedeutenden 
Menschen  zuzuschreiben,  oder  doch  solchen,  die  als  Haupt  Vertreter 
jener  Sammelideen  aufgetreten  sind.  Weder  Lutlier  als  Hauptkämpfer 
tili'  die  Idee  tler  Glaubens-  und  Gewissensfreiheit,  noch  J.  .1.  K<nisseau 
als  Verfechter  der  Idee  der  Volks-Souveränität,  noch  Lessing  als 
treuester  und  genialster  Kämpfer  für  die  Idee  der  Toleranz  haben  aUe 
die  einzelnen  Ideen,  die  kategoriMshen  Lnpenative,  die  sie  ansspraidMi, 
aUein  ans  ihrem  Geiste  erzeugt.  Es  zeigt  sioli  djtbei  gar  oft,  dass 
Gott  gerade  in  dem  scheinbar  Sehwadum  mftditig  ist  Diese  groAen 
Ideen  sind  dem  Liebte  der  Sonne  m  yergleiclMB.  Sie  kflndet  sieh 
zuerst  als  leichte  Dttnunemng  an,  bis  sie  znMst  sfenUend  in  Glanz 
nnd  HenÜdikeit  iienrorgebt  ans  der  Nsiebt  und  die  Nebel  nmber  eiegr 
reieb  zerstreut  Die  einaehMii  kategoriaidien  Imperstive,  die  tov- 
bereitenden  Ideen  der  Reformation  haben  sidi  bereits  mehrere  Jahr» 
hunderte  yor  Lnther  denflich  genig  aagektkndlgt  nnd  ihre  Bekenner 
auf  den  ScheiteibanflBn  k^hracbt 

Nene  bedeutende  segensreicbe  Ideen  bleiben  oft  lange  Zeit  ver- 
borgen. Wenn  ae  dann  endUefa  mit  Kraft  hervortreten,  so  tragen  die 
Reden,  die  Schrifl»n,  die  Thaten  der  Zeit  ihr  Gepräge.  Die  großen 
Geister,  die  „Genies"  haben  nnr  die  besondere  Begabung,  alle  diese 
zerstreuten  Strahlen  des  neuen  geistigen  Lichtes  in  ihrer  Seele  irie 
in  einem  Brennspiegel  zu  sammeln  imd  klar  auszusprechen,  was  die 
an  Logik  arme  grofie  lienge  nur  dunkel  zu  ftthlen  und  verworfen 
auszudrücken  vermag. 


—   281  — 


Alle  Ideen  treiben  zu  Thaten;  alle  bestimmen,  beeinflussen^ 
verändern  die  Denk-  und  Handlungsweise  der  Menschen.  Darum  er- 
zeugen alle  naturgemäß  iiiiinlcsteiis  geistige  Kämpfe,  durch  die  das 
Leben  in  beständigem  Fliiss  erhalten  wird.  Das  J^esteliende,  Alt- 
hergebrachte mit  seinen  veralteten  Ideen  und  den  daraus  hervor- 
gegangen oft  tmheilvollen  Einrichtongen  kämpft  mit  der  neuen  trei- 
benden  Macht  um  seine  Existenz.  Je  gröfier  und  folgenschwerer  die 
nene  Idee,  desto  mfiehtigier  dieeeB  Bingen.  Es  ist  in  seiner  Hdhe  ein 
Kampf  um  die  heiligsten  Gflter  des  LebeDS.  Die  größttti  Ideen  haben 
die  Welt  stets  in  zwei  große  Heerlager  getheüt,  md  die  Qeschidite 
weist  nacht  dass  hd  solchen  Kämpfen  die  Parteien  StrOme  von  Bist 
Teigosaen  mid  .sich  ob  solcher  Ideen  bis  svr  VemichtaDg  beklinpft 
haben.  MMdBUgen  sind  stlrkor  als  Kriegsheere.**  FreQich  ent- 
stsmmen  Ideen  ans  der  idealen  Liebe,  die  keinen  Haas  kennt;  aber 
wenn  sie  znr  Geltung  kommen  sollen,  so  müssen  sie  eine  Macht 
werden,  und  bei  dem  Streben  danach  werden  nnr  zn  oft  die  niedrigsten 
Leidensdmfken  entfiasselt  Bein  nnd  edel  kann  das  menschliche  Streben 
sein;  sehr  selten  ist's  die  menschliche  That 

Alle  großen  Ideen  eneugoi  nattuigeniiß  Begdslarang;  die  ge- 
waltigsten haben  stets  in  ihrem  Gefolge  den  sittUehen  Hddenmvth, 
das  echte  Mfirtyierthnm.  Kleinere  nnd  naklare  Ideen,  wie  sie  in  dem 
alltäglichen  bürgerlichen  Kleinleben  auftreten,  erzengen  die  wunderlichen 
Thaten  der  Menschen,  die  „Stürme  im  Glase  Wasser'^  Aus  solchen 
Kämpfen  ringt  sich  im  Laufe  der  Jahrhunderte  langsam  die  Wahrheit 
hervwr,  jene  große  göttliche  Macht,  vor  deren  versöhnendem  hehren 
Glänze  sich  alle  Parteien  bengen.  Wie  gering  auch  ihr  Fortschritt 
sei,  wir  glauben,  dass  sie  sich  zu  immer  größerer  Stärke  entwickeln 
und  in  sittlicher  und  religiöser  Hinaicht  „das  £eich  Gottes  auf  Erden'' 
herbeiführen  werde. 

Wenn  die  Kämpfe  um  Ideen  zum  .Stillstande  gekommen  sind,  so 
werden  aus  diesen  kategorischen  Imperativen  Gebote  oder  Gesetze, 
nach  denen  wenigstens  ein  Theil  der  Menschheit  handelt.  Die  ältesten 
unter  ihnen,  die  sich  bereits  in  grauer  Vorzeit  gebildet  haben,  sowie 
die,  welche  Christus  ausgesprochen  liat,  gelten  wenigstens  dem  über- 
wiegenden Theil  der  Menschheit  als  heilig:  es  sind  die  heiligen 
zehn  und  Christi  Gebote.  Um  andere  Ideen  wird  noch  lange  ge- 
kämpft werden  müssen,  bis  man  sie  als  heilige  Gebote  betrachtet. 
Wie  wenig  Menschen  betrachten  die  Idee  der  Toleranz  als  ein  sitt- 
liches Gesetz!  Die  sittlichen  Ideen  zerfallen  in  einfach  sittliche, 
die  das  Verhältnis  der  Menschen  zu  einander  beireüen;  in  sociale, 


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—   282  — 


die  „der  Menschenrechte",  bei  denen  der  Stand  dem  Staade  gegenftber 
ins  Auge  gefasst  wird;  und  in  politische,  bei  dmm  es  Mk  vm  das 
Verfafiltnis  des  Btrgers  mm  Staate  ud  denen  Herrscher  haadett 
Wie  «ikwtmk  ist  gegenwärtig  noek  die  Macbt  der  poUtiseh-flitttieliea 
Idee:  Dn  sollst  deine  Meinang  frei  bekennen  nnd  mit  6it  nnd  Blnt^ 
selbst  unter  Verfolgungen,  daftr  tren  einstehen! 

Alle  diese  Ideen  spielen  eine  Hauptrolle  bei  der  Ersiehnng 
des  ][ensckengeschlec]ite&  Damm  werden  sie  den  Kindern  von 
frOheBter  Jngend  an  anablissig  in  der  Fenn  Yon  Qeboten  nnd  Vov 
boten  angemfen  und  eingepiftgt  Jeder  Menscli  lernt  sie  kennen  duck 
bewnsste  oder  nnbewnsste  Einwirknng  seiner  Eätem  nnd  Bnieber, 
dnrch  die  verBchiedeosten  Personen  seiner  Umgebong,  sowie  dnrek 
die  Tkaten  des  Offentliehen  Lebens,  ferner  dnrek  die  Leetüre  nnd 
Viter  dnreh  das  Stadium  von  Werken,  die  das  Ctoprftge  sokher 
Ideen  tragen. 

Bin«^  Ideen,  namentlich  die  einfacheren,  die  man  znm  Leben  wie 
gangbare  Mftnzen  beim  Handelsrerkehr  braucht,  erstarren  zu  Sitten 
und  Gebräuchen.  Sie  erstairen  in  einer  Weise,  dass  die  meisten 
Keuschen,  weLche  diese  Sitten  nnd  Gebräuche  pünktlich  befolgen,  von 
den  denselben  sogmnde  liegenden  religiösen,  sittlichen  oder  Schön- 
heitsideen gar  keine  Ahnung  haben.  Man  denke  an  die  auf  Schön- 
heitsideen beruhenden  Sitten  des  Umjifangs,  das  Grüßen,  die  Haltung 
bei  Tische,  die  ^rode.  Dies  Erstarren  von  Ideen  bringt  oft  großen 
Nachtheil,  namentlich  dann,  wenn  solche  Sitten  und  Gebräuche  im 
Laufe  der  Zeit  mit  einem  Schein  von  Heiligkeit  umgeben  worden  sind 
und  wie  die  heiligsten  Gebote  verehrt  werden.  In  eine  Abänderung 
oder  Neuerung  fugt  sich  die  große  Menge  sehr  schwer,  selbst  bei  der 
Erkenntnis,  dass  eine  Reformation  nöthig  sei.  Die  wunderbare  Kraft 
unseres  großen  Luther  zeigt  sich  auch  in  dem  Umstände,  dass  er  es 
verstand,  dem  durch  die  Jahrhunderte  geheiligten  Gottesdienste  der 
katholischen  Kirche  eine  neue  Form  zu  geben,  die  sogleich  allgemeinen 
Anklang  fand  und  wie  die  alte  mit  Verehrung  aufgenommen  wuixle. 

Bisher  haben  wir  nui-  Ideen  betrachtet,  die  rein  aus  der  idealen 
Liebe,  d.  h.  der  intei  esselosen  Wärme  füi-  Religion,  Sittlichkeit  und 
Schönheit  stammen.  Sie  treten  als  kategorische  Imperative  größten- 
theils  in  scharfen  Gegensatz  zu  den  praktischen  oder  pragmatilohAn 
Impemtiven  der  sinnlichen  Neigungen,  des  Strebens  naoh  Bebag*> 
liehkeit,  Wolleben,  irdischer  Glückseligkeit,  das  ans  der  Selbstliehe 
entspringt  Wie  die  Liebe  snm  Wolieben  nniss  nns  ja  aneh  die  ideale 
Liebe  eingeboren  sein,  denn  sonst  konnte  sie  sich  nicht  entwiokehi. 


—   283  — 


Aber  jene  ist  kräftigei*,  zeigt  sich  namentlich  in  der  ersten  Jugend- 
zeit in  besonderer  Stärke  und  bildet  sich  infolge  des  mit  der  Be- 
ftiedigung  verbnndenen  sinnlichen  Lustgefühls  (oder  Unlnstgeföhls 
tiei  Versagung  jener  BelHidigung)  zu  einer  soldien  Kacht  ans,  dass 
ae  ZOT  Leidenscbaft  werden  kann  und  die  FordenmgeB  der  idealen 
Liebe  ftst  gftndiek  eretiekt.  Die  simili^  Liebe,  die  Selbstliebe, 
ist  selbst  bei  den  edel  angelegten  Naturen  so  staric,  daes  alle  Lnperative 
der  idealen  Liebe  anfauf s  einen  Zwang  ausiben,  der  erst  dureh 
langt  und  sorgsame  Übung  und  Gewobnnng  llberwundai  werden  muie. 
Jlan  nennt  ja  deshalb  Tugend  die  durch  Gewohnheit  eitagte  Übung 
im  Handeln  nach  guten  Gmndsitsen,  infolge  deren  das  Sittengesets 
in  der  Seele  cum  Naturgesetz  geworden  ist,  also  dass  der  Tugend- 
hafte nicht  anders  als  gut  handeln  kann.  Mit  Becht  legt  darum 
Kant  Hauptgewicht  auf  die  gegen  unsere  einttUflhe  Neigung  erworbene 
Tugend,  im  GegmsatB  zur  Temperamentstugend,  bei  der  uns  das 
Onte  infolge  einer  eingeborenen,  den  idealen  Geboten  entgegen- 
kommenden Neigung  eine  gewisse  sinnliche  Lust  bcvefitet,  mindestens 
gar  nicht  schwer  fällt. 

Ks  gibt  jedoch  unter  den  Grundtrieben  der  menschlichen  Seele 
drei  Arten  von  Liebe,  die  sich  der  oben  besprochenen  idealen 
nähern,  oft  mit  ihr  identisch  zu  sein  scheinen:  die  Geschlechter- 
liebe (Liebe  der  Brautlente  zn  einander  nnd  Liebe  der  filtern  zu 
ihren  Kindern,  namentlich  die  Mutterliebe),  die  mj'stische  religiöse 
Liebe  oder  der  mystische  Glaube  and  endlich  die  Liebe  zur 
Wissenschaft  oder  zur  Kunst. 

Jede  dieser  Arten  von  Liebe  erzeugt  Ideen,  die  zwar  nicht  als 
kategorische  Imperative  (im  Sinne  von  Kant)  aufgefasst  werden  düifen, 
aber  doch  Imperative  sind,  die  sich  von  denen,  welche  der  gewöhn- 
liche Naturtrieb  zur  Selbsterhaltung  erzeugt  —  zu  essen,  zu  trinken, 
unser  Leben  zu  schützen,  uns  Vergnügen  aller  Art  zu  bereiten  — 
wesentlich  unterscheiden. 

Betrachten  wir  zunächst  die  Idee  der  Geschlechterliebe. 
Diese  Liebe  ist  nach  dem  Ausspruche  eines  Naturforschers  „ein  Kunst- 
grift' der  Natur  zur  Erhaltung  der  Gattung."  Aber  sie  ist  bei  uns 
Menschen  anderer  Art  als  bei  den  Thieren.  Sie  richtet  sich  bei 
uns  in  Bezug  auf  ihren  Wert  genau  nach  dem  sittlichen 
Werte  unseres  Wesens,  also  genau  nach  der  durch  die  Erziehung 
erworbenen  sittlichen  Gteffthlsgmndlage.  Darans  entstehen  bei  dem 
späteren  ehelichen  Zusammenleben,  wenn  der  beseligende  Bauseh  der 
Lisbesleidensehaft  Teiflogen  ist,  die  herrlichen  Imperattre  der  Treue 


I.J — 


—    284  — 


4er  hingebenden,  nnelgenntttsigen  Anfopfernng  Ar  das  Wol  der 
geliebten  Pereon  nnd  der  in  der  Ehe  erzeugten  Kinder,  der  Baok- 
sicht,  die  nach  dem  Diehterworte  die  nBHIte  edebten  Gemttthee"  ist 
Es  sind  dies  Impemti?e,  die  mit  den  kategorischen  der  Sittlichkeit 
ToUstfindig  auammenfRlIen,  wemigleich  der  Gnmdtrieb  dazu  nicht 
alkin  die  ideale  liebe,  scMidem  in  erster  linie  die  Geschleehtodiebe  ist 
Aber  diese  GescUechterüebe  hat  auch  ihre  eigenen  Imperative, 
nnd  dieselben  können  oft  mit  den  kategorischen  der  Sittlichkeit  und 
selbst  der  fieligion  in  argen  Oonflict  kommen.  Die  Qeschlechterliebe, 
mag  sie  noch  so  schön  auftreten,  ist  and  bleibt  ein  unerklärlicher 
Natur  zwang.  Bei  der  rechten  Liebe  —  denn  nur  von  ebier  solchen 
kann  hier,  wo  es  sich  um  Ideen  handelt,  die  Bede -sein  —  sagt  jeder 
der  Liebenden,  nm  mit  dem  Dichter  zn  reden: 

„Ich  liebe  dich,  weil  ich  dich  lieben  miiSB; 
Ich  liebe  dich  nuch  einem  HimmelsschlubS." 

Diese  Liebe  fordert  unbedingt  (.Tegenliebe,  ist  also  eigen- 
.nütziger  Art,  ist  niclit  wie  die  ideale  ein  „interesseloses  Wolgefallen". 
Von  ihr  darf  man  im  Hinblick  auf  das  liebende  Verlangen  uach  Ver- 
einigung das  Bibelwort  anführen:  .,Wenn  ich  nur  dich  habe,  so  frage 
ich  nichts  nach  Himmel  und  Erde;  wenn  mir  gleich  Ijeib  und  Seele 
verschmachten,  so  bist  du  doch  allezeit  meines  Herzens  Trost  und 
raein  Theil."  Bei  dem  Manne  stammen  diese  der  öeschlechterliebe 
eigenen  Imperative  aus  gröberer  Sinnlichkeit;  darum  verliert  sich  bei 
ihm  nach  der  Vereinigung  der  Freudenrausch  sehr  bald  und  macht 
—  bei  edeln  Naturen  —  einer  durch  sittliche  Wärme  und  deren 
kategorische  Imperative  geregelten  Freundschaft  Platz.  Beim  edeln 
Weibe  sind  diese  Imperative  anderer  Art.  Ihre  Liebe  ist  feiner  und 
tiefer  als  die  des  Mannes,  ist  viel  weniger  diu-ch  das  sinnliche  Wol- 
geftUen  an  äußerer,  körperlicher  Schönheit  zu  erregen.  Hat  sie  einem 
Hanne  ihre  Tolle  liebe  zugewandt,  so  hAngt  sie  an  ihm  ihr  Lebenlaug 
mit  Treae  nnd  Anfopfening  fest  nnd  -wird  ni  diesem  Gefllhl  oft  seOMit 
bei  arger  Tftaschnng  nicht  beirrt.  Für  den  geliebten  Mann  ertrigt 
das  Weib  alles,  hofft  alles,  duldet  aUes,  gUnbt  sUes,  wird  nie  mfide, 
selbst  das  Schwerste  zn  flbemehmen,  an  leiden,  an  darben,  ihre  Ge- 
sundheit zn  opfen,  sieh  bis  anr  Vemichtong  an&nreiben.  Sie  ertrSgt 
des  Mannes  Lannen,  seine  Wunderlichkeiten,  selbst  Roheiten,  über» 
sieht  arge  Fdiler,  selbst  Verbreehen.  Sie  beherrseht  sieh,  entsiefat 
sich  selbst  Frenden,  nm  ihm  einen  Gennas  zn  bereiten,  ist  onermfid- 
lidi  thAtig,  für  sehie  BehagUdikett,  sein  Glflek  nnd  seine  Freode  an 
sorgen.  Sie  ist  gMekselig,  wemi  der  geliebte  Mann  gelobt  oder  gar 


grefeiert  ^vird.  theilt  seine  Kränkungen,  regt  sicli  über  feindselige 
Angrille  viel  iirger  auf  als  er  selbst,  nimmt  überall  unbedingt  für  ihn 
Partei,  ganz  gleich,  ob  er  recht  oder  unrecht  gehandelt  hat,  schwört 
auf  seine  Worte,  seine  Grundsätze,  lebt  und  webt  nur  in  ihm.  Die 
meisten  der  Imperative,  die  ihr  solch  ein  Handeln  eingeben,  fallen 
zwar  mit  den  kategorischen  der  Sittlichkeit  zusammen;  aber  viele 
sind  vom  sittlichen  Standpunkte  aus  mindestens  als  bedenklich  zu  be- 
zeichnen. Danach  fragt  das  echte  edle  Weib  aber  gar  nicht  Ihr 
Thon  wird  geiegelt  durch  die  elementare  Macht  der  echten  öe- 
schlechterliebe,  und  diese  Maolit  adiwindet  bei  ihr  nimmer,  so  daas 
Franen  ihren  Ifitanem  gegenüber  noch  in  spAteren  Jahren  gUk^liefaer 
Ehe  die  ganze  Schönheit  ihrer  brftatUehen  Liebe  zeigen  können.  Bei 
ihr  findet  nie,  wie  bei  dem  Manne,  ein  Kampf  zwischen  dieser 
Neigung  und  der  sittlichen  Pflicht  statt  Wo  solch  ein  Kampf 
sieh  zeigt,  ist's  mit  der  Beinheit  and  SdiOnheit  ihrer  Liebe  vorbei 
Ehlen  sittJichen  Kampf  mag  sie,  ohne  inneren  Sehaden  zn  leiden,  anf 
anderen  Gebieten  bestehen,  nie  in  Besng  anf  ihre  eheliche  Liebe. 
Ans  diesem  Grande  ist's  anch  erkUrlich,  dass  efai  Weib  Vater  nnd 
Matter  verlassen  nnd  mit  dem  geliebten  Manne  enie  »wilde  Ehe"  ein- 
gehen kann,  ohne  hi  ihrem  Innern,  ihrem  Gemftfhdeben  dnrdi  diese 
Verletzung  sittlicher  und  religiöser  Gebote  und  der  f&r  Frauen  so 
gewaltigen  Macht  der  Sitte  eine  zu  tief  gehende, .  ihre  Ruhe  und  ihr 
Glück  vernichtende  Störung  zu  erfahren.  Es  kommt  dabei  lediglich 
auf  die  Persönlichkeit  des  geliebten  Mannes  nnd  die  Stärke  ihrer 
Liebe  an. 

Dieselben  Imperative  tieten  bei  dem  Weibe  in  noch  erhöhterem 
Maße  bei  der  Liebe  zu  ihren  Kindern,  bei  der  echten  Mutter- 
liebe hervor.  Der  Gegensatz  derselben  zu  den  kategorischen  dar 
Sittlichkeit  ist  oft  ein  viel  ärg^erer  als  der  vorhin  geschilderte.  Die 
elementare  Macht  der  Mutterliebe  aclitet  namentlich  in  Zeiten  der 
Noth  und  Gefahr,  sobald  die  Kinder  bedroht  werden,  weder  göttliche 
noch  menschliche  (-ä-esetze. 

Da  wir  oben  festgehalten  haben,  dass  Ideen  kategorische  Imperative 
der  Religion,  Sittlichkeit  und  Schönheit  sind,  so  dürfen  vir  die  Mei- 
nungen und  Gesetze,  die  lediglich  aus  der  Geschlechterliebe  stammen, 
nicht  Ideen  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes  nennen;  höchstens  mag 
man  sie  als  subjeotive  Ideen*)  bezeichnen.   Da  diese  Meinungen  und 

*)  In  der  Seele  der  Liebenden  erklingen  alle  diese  ImperatiTe,  wie  die  kate- 
goriscbon,  mit  der  Forderung:  „Du  sollst";  obgleich  diosplb«>  dem  zugrunde  liegen- 
den Naturswange  gemlLA  als:  „Du  maastl"  aufzufassen  hu  Diese  Ideen  kOnncn 


—    286  — 


Gebote  aber  im  Leben  der  einzelnen  Menschen  eine  so  große  Rolle 
spielen,  sich  vielfach  mit  den  kategorischen  Imperativen  verbinden 
und  auf  den  allgemeinen  Fortschritt  der  Menscliheit  zur  höchsten  Voll- 
kommenheit (Gottähnlichkeit)  immerhin  einen  nicht  unbedeutenden 
Kinflnsfi  aosgefibt  haben,  so  war  es  bei  onserm  Thema  geboten,  auch 
dies  Qebiet  sa  wOprtanL 

Dasselbe  gilt  flr  das  Gkiblet  der  mystischen  religiösen  Liebe 
oder  des  mystischen  Glaubens. 

Dem  Anscheine  nach  gehört  diese  Liebe  m  der  idealen,  die  sich  als 
innere  Wflnne  fttr  Beligion  nnd  religiöses  Leben  seigt  nnd  die  rdi- 
gifisen  Ideen  and  wahrhaft  frommen  Thaten  der  Menschen  henror- 
gebracht  hat  Aber  es  hemcht  zwischen  ihr  nnd  der  mystischen 
religiösen  Liebe  ein  wesentlicher  Unterschied. 

Um  die  mystische  religiöse  Liebe  recht  za  yerstehen,  ist  es 
nOthig,  sttTor  die  echte  ideale  Liebe  zur  Beligion,  ahs  der  die  ans 
aUe  bindenden  kategorischen  Imperative  entspringen,  nfther  za  be- 
leochten.  Hierbei  kann  nicht  die  Gesammtheit  von  Dogmen,  Ge- 
brilachen,  Einrichtnngen  und  Vorstellangen  in  Betracht  kommen,  die 
man  (objectiv)  als  Religion  za  bezeichnen  pflegt,  sondern  nnr  die 
echte  Frömmigkeit,  aach  Gottesfurcht,  oder  fromme  Gesinnung 
genannt 

Man  hat  dieselbe  sehr  schön  als  „das  Heimweh  des  Herzens  nach 
seiner  Wahrheit**  bezeichnet.  Sie  zeigt  sich  in  der  That  als  eine 
tiefe  Sehnsucht,  als  ein  liebevoller  Zog  des  Gemüthes  nach  dem  Ewigen, 
Unbedingten,  unbedingt  Heiligen;  zeigt  sich  in  dem  Streben,  iiber 
das  Unbefriedigende  unserer  irdischen  Zustände,  unserer  Kämpfe  mit 
uns  selbst  und  der  Welt  hinauszukommen.  In  unsagbareni  (Tlück. 
d^  wir  weder  uns  noch  irgend  einem  Menschen  verdanken  können, 
sucht  das  Gemüth  des  guten  Mensrhen  über  sich  einen  gütigen  Urheber, 
dem  er  aus  vollem  gerührten  Herzen  den  Dank  ausströmen  könne; 
im  tiefsten  Seelenschmerz  einen  heiligen,  all  weisen  Weltenlenker,  dem 
er  das  volle  Vertrauen  schenken  könne,  dass  alle  Schicksale,  die  er 
sendet,  uns  zum  Besten  dienen,  der  uns  das  „Kreuz"  nie  zu  schwer 
machen  werde;  einen  liebevollen  Vater,  dem  er  wie  ein  Kind  sein 
Leid  klagen  <lürfe.  In  der  höchsten  Noth  richtet  sich  das  Gemüth 
des  geängstigten  Menschen  unwillkürlich  nach  oben,  um  dort  „den 
iielier"  zu  sucheu.    In  der  Seelenangst,  die  ihn  überkommt,  wenn  er 

darum  nicht  objcciivc  sein,  da  äio  uicht  lür  alle  Meueehcu  ohne  Unterschied 


in  Leidenschaft  gegen  seine  bessere  Überzeugung  schwer  gesündigt 
hat,  verlangt  sein  (xeinüth  nach  dem  heiligen  Erlöser,  der  ihm  die 
verlorene  Seeleni-uhe  wiedergeben  möge.  Gewiss  hat  in  den  ältesten 
Zeiten  die  überwältigende  Furcht  vor  den  rohen  Naturgewalten  zur 
Religion  geführt  -  -  Timor  facit  Deos  wol  auch  die  Sorge  um  das 
Wol  der  Lieben,  um  das  eigene  unbeständif^e  Glück;  aber  schon  da- 
mals muss  zugleich  das  mit  der  Menschemiatur  innig  verbundene,  ihr 
eingeborene  Liebessehnen  nach  dem  absolut  Heiligen,  das  auf 
Erden  nirgends  zu  finden  ist,  leise  mitgewirkt  haben.  Der  Beweis 
dafür  liegt  in  dem  Umstände,  dass  dies  liebevolle  ßedürftiis,  Heiliges 
mit  Ehrfurcht  (kindlicher  Furcht)  zu  umfassen,  sich  immer  stärker 
ausgebildet  und  bei  guten  Menschen,  so  wie  das  höhere  Liebesgefühl 
tüi'  echte  Sittlichkeit  bis  zu  hoher  Feinheit  und  Stärke  entwickelt  hat. 

Diese  ideale  religiöse  Liebe  ist  bei  edeln,  feinen  und  scharfen 
Denkern  nicht  minder  zu  finden  als  bei  den  einfachsten  guten  Men- 
Bdieii,  ninuBt  nor  andere  Fonnen  an,  zeigt  sich  in  anderen,  besonders 
ftiiMD  Q«fllUea,  die  der  fitnune  Ungebildete  nieiit  iDemit  Dieselben 
rind:  dje  Ehiitaroht  tot  den  Walten  des  Weltgeistes,  Tor  den  groBen 
nnd  kleinen  Wandern  des  Scfaöpfangsprooesses,  des  Werdens  nnd  Ver- 
gehens in  der  Natur,  Yor  den  ewigen  Säthsdn  des  Lebens,  vor  den 
Gesetien  der  sittUohen  Weltordnong;  es  sind  die  feinem  tragisehen 
GeftMe,  das  tragiadie  Mitleid  nnd  die  tragische  Furcht  beiBi  opfsr- 
wflUgen  Anheben  des  eigenen  Qlttokes,  ja  des  Lebens  im  Xampfe 
um  das  GroBe,  Ghite  und  SchSne;  das  tragische  Grausen  vor  dem 
Untesgange  irdiseher  Macht  und  Herrlichkeit,  vor  dem  »großen, 
gigantiseheo  Sobieksal,  welches  den  Menschen  erhebt,  wenn  es  den 
Menschen  zermalmt;"  vor  den  Thaten  fhrohtbaren  nnd  zugleich  ge- 
waltigen, mit  Größe  gepaarten  Frevelsinns.  Es  ist  ferner  die  Ehr^ 
Ihrcht  vor  allem,  was  anderen  Menschen  als  heilig  gilt,  auch  wenn 
man  selbst  die  äußeren  Gebräuche  dieser  fremden  Verehrung  nicht 
theilt,  ja  für  wunderlich  zu  betrachten  geneigt  ist. 

Diese  ideale  Liebessehnsucht  nach  dem  Ewigen,  Unerforschüchen, 
anbedingt  Heiligen  hat  allmählich  zu  dem  Glauben  an  einen  einigen 
Gott,  den  Schöpfer,  Erhalter  und  Regierer  der  Welt  geführt.  Als 
„die  Zeit  erfüllet  war",  und  Christus  lehrte,  dass  dieser  Gott  ein 
Gott  der  Liebe,  ein  lirbender  Vater  aller  Menschen  sei,  wurde  seine 
£eligion,  das  Chiistenthnm,  dadurch  zu  einer  weltbezwingenden  Macht. 

Aber  soviel  und  so  tief  man  sich  auch  in  dies  absolute  'Heilige 
versenken,  sich  mit  allen  Gaben  der  riiantasie  und  des  scharfen 
Denkens  von  ihm  ein  Bild,  eine  für  unsere  Sinne  und  unseren  Gbist 


—   288  — 


fassbare  Vorstellung  machen  möchte:  dies  Bemühen  ist  eitel  und  wird 

ewig  resultatlüs  Ideiben,  denn  diese  Welt,  so  sehr  wir  uns  auch  nach 

ihr  sehnen,  wie  g^roß  unser  Ahnen  sein  möge,  ist  unserem  Greiste  auf 

ewig  verschlossen,  ist  unerforschlich.    Darum  bleibt  die  Keligion, 

als  Frömmigkeit  oder  fromme  Gesinnung  aufgefasst,  stets  Gegenstand 

des  Gefühls,  nie  des  Wissens;  der  fromme  Glaube  ist  stets  sub- 

jectiver  Art,  fällt  zusammen,  ist  identisch  mit  der  frommen 

idealen  Liebe.    Da  wir  das  Wesen  der  Gottheit  nicht  erforschen 

können,  richten  sich  der  Begriff  und  die  Vorstellung  von  Gott  bei 

jedem  Menschen  nach  den  Gaben,  nach  der  Kraft  der  Phantasie  und 

des  Geistes,  die  er  durch  die  Geburt  erhalten  und  durch  die  Erziehung 

ausgebildet  bat.   „Gott",  sagt  Luther,  „ist  eine  unbeschriebene  Tafel; 

was  da  darauf  schreibest,  das  hast  du.'*  Der  Gk>tt  der  emfeu^heu, 

nngebOdeteii  Lente  ist  ein  anderer  als  der  der  feinen  und  aeharfen 

•Denker.  Jenen  ist  Qott  eine  Person,  ein  Ueber,  gütiger,  TftterUeher 

Freond  und  Helfer,  der  in  musugänglichem  Liebte  ttber  dien  Sternen 

thront  Sie  verkehren  mit  ihm  in  ihren  Sorgen  and  Ängsten,  in  Frende 

and  Leid  wie  mit  einem  Menschen,  dessen  Macht  nnbegrenst  ist,  dessen 

Liebe  sie  yoUstindig  sicher  sind.  „Um  die  Leere  sa  ftllen,  die  durch 

die  Ohnmacht  des  Strebens  nach  wahrer  Eikenntnis  m&agt  wird, 

aetchnet  der  Mensch  sein  eignes  Bild  in  das  Dunkel  mit  yeigrOttem- 

den  ünoissen  als  höchste  Liebe.**  (Fr.  Th.  Vischer.)  Die  feinen 

und  scharfen  Denker  sind  darüber  hinaasgegaogen  und  haben  andere 

Vorstellungen  erklttgelt,  ohne  za  besseren  Besoltaten  gehingt  au  sein. 

Schließlich  kommt?^  bei  ihnen  allen  auf  das  berOhmte  pantheistische 

Glaubensbekenntnis  hinaus,  das  Goethe  in  seinem  „Faust"  entwirft: 

..Wer  darf  ihn  nemimi? 
Und  wer  bckcnaea: 
Ich  t?laub'  ihu! 
Wer  empfindea 
Und  Bich  unterwindon 
Zn  sagen:  Idi  glaub*  Uin  nidit? 
Gpfnhl  ist  nllei; 
Name  i«t  Schall  und  Rauch 
Finnilx-lnd  Himmolsjflut." 

Die  Frömmigkeit  eines  Menschen  riclitet  sich  demgemäß 
durchauü  nicht  nach  diesen  Begriffen  und  Anschauungen, 
die  er  sich  von  Gott  gemacht  hat,  sondern  nach  der  Stärke 
der  idealen  Liebe,  mit  der  er  Heilig:es  zu  umfassen  vermag, 
zu  umfassen  sich  bemüht.  Auch  der  sogenannte  Atheist,  der  nicht 
an  den  persönlichen  Gott  glaubt,  wie  ihn  die  einfachen  Leute  sich 


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—   289  — 


vorstellen,  wie  ihn  die  Kirche  lehrt  ;  der  den  Glauben  an  eine  B^ortdauer 
nach  dem  Tode  als  unmöglich  und  damit  die  Lehre  vom  ewigen  Leben 
als  unnöthig  betrachtet,  kann  ein  durchaus  frommer  Mensch  sein.  Dies 
können  heutzutage  nur  Ungebildete  oder  Zeloten  bestreiten,  bei  den^ 
geistlicher  Hochmath  und  Verfolgongssucht  das  klare  Denken  beein- 
trächtigen. 

Diese  ideale  fromme  Liebe,  sich  in  das  absolut  Heilige  zu  ver- 
senken, dasselbe  mit  Ehrfurcht  zu  umfassen,  zur  treibenden  ^facht 
seines  Lebens  zu  machen,  ist  allen  Menschen  in  höhere  in  oder 
niederem  Grade  ei<,'-en.  Sie  bildet  das  vereinigende  und  ver- 
söhnende Element  aller  wahren,  auf  den  Glauben  an  einen  einigen 
(lOtt  ^^ebauten  Religionen*)  und  der  verschiedenen  Confessionen.  Aus 
ihr  entspringen  die  Ideen,  die  wir  als  die  für  alle  Menschen 
giltigen  kategorischen  Imperative  der  Religion  kennen  ge- 
lernt haben.  Mag  ein  Mensch  noch  so  gebildet  und  aufgeklärt  sein, 
mag  seine  Vorstellung  von  Gott  sich  von  der  aller  anderen  Menschen 
unterscheiden:  diese  kategorischen  Imperative  erkennt  er  willig  an, 
muss  sie  als  edler  Mensch  auerkennen  und  als  Maximen  in  seinen 
Willen  aufnehmen. 

Aber  dies  Dunkle,  GeheimnisvoUe,  Ahnungsreiche  der  religiösen 
GelBUe  hat  von  jeher  besonders  in  dieser  Bichtung  begabte  Menschen 
venuüasst,  sich  trotz  der  ünergrttndlichkeit  mit  Hilfe  der  Phantasie, 
unter  Zurückweisung  der  klaren  Verßtandesthätigkeit,  in  dies 
Gebist  zu  vertiefen,  um  dasselbe  durch  innere  Erleuchtung,  inneres 
Schauen  des  Genius  zu  erfassen.  Die  Anschauungen  und  Vorstel- 
lungen, wekhe  sie  auf  diese  Weise  gewonnen  haben,  betrachten  sie 
als  Erleuchtungen,  als  Eingebungen  der  göttlichen  Macht, 
als  Geschenk  der  göttlichen  Gnade  und  nennen  sie  göttliche 
OJfenbanuigeii.  Sie  betrachten  sie  demgemäß  als  absolute  Wahr- 
heit, an  der  zu  zweifeln  Frevel  am  Heiligsten  wflre.  Solche  Personen 
nennen  wir  Mystiker,  die  ganze  Erscheinung  die  Mystik. 

Der  Urgrund  zu  diesem  Streben  ist  aber  nicht  die  allen  Menschen 
eigene  ideale,  religiöse  Liebe,  sondern  eine  mit  derselben  zusammen- 
hsiigüiniift  besondere  Vorliebe.  Sie  ist  zu  vergleichen  mit  der  auf 
besonderen  eingeborenen  Gaben  beruhenden  Vorliebe  des  Künstlers  für 
seine  Kunst,  des  echten  Gelehrten  für  die  Wissenschaft.  Sowie  die 
Fhantaaiethfttigkeit  des  Künstlers  infolge  dieser  Vorliebe  oft  von 


*)  .Tede  Heligion,  die  Vielgötterei  anfw«iat,  beruht  auf  Fuicht  vor  dea 

Naturgewalten,  mithin  auf  Aberglaubeo. 

PmUcogtnm.  Jahtg.  18.  Heft  V.  21 

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Jugend  auf  mit  yendbrenctor  Gewalt  sich  auf  das  Schaffen  von 
Kanstwerkesi  richtet,  also  dass  er  in  keinem  anderen  Sinne  Denken 
and  Sehalfen  ab  nur  in  diesem  seinem  rechten  Beruf  sone  Lebens- 
aniisibe  findet,  wud  die  Phantaslethätigkeit  des  Mystikers,  sein  ganzes 
Sbinen  und  Denken  mit  yensehrender  Gewalt  anf  ^  Eifonchnng  joner 
donketai  Gebiete  der  Beligion  geleitet  Diese  treibende  Kraft  seines 
Wesens  ist  die  mystische  Liebe  zur  Beligion. 

Der  echte  Mystiker  lebt  dämm  in  einer  ganz  eigenthflmlichea 
Welt,  die  anderen  Menschen  nnverstfindlich  bleibt  —  wie  die  des 
grofien  Künstlers  oder  Gelehrten  — ,  nnr  angestaunt  oder  bewandert, 
nicht  begriffen  werden  kann.  Für  ihn,  den  Mystiker,  sind  diese  durch 
innere  Erleuchtung  gewonnenen  Anschaanngen  in  der  That  absolut 
wahr,  sind  göttliche  Offenbarungen.  Sein  Glaube  daran  ist  uner^ 
schQtterlich,  kennt  keinen  Zweifel,  ist  identisch  mit  seiner  mystischen 
Liebe,  bildet  ..spin  ihm  zugewognes  Glück."  Und  ob  die  ganze  Welt 
sich  achselzuckend  von  ihm  abwendet,  ihn  verspottet,  verfolgt:  er  ist 
freudig  bereit«  f&r  diese  Liebe,  diesen  Glanben  alles  zu  ertragen,  selbst 
sein  Leben  zu  opfern. 

Wie  groß  bei  diesen  Mystikern  die  Phantasiethätigkeit  ist,  er- 
gehen wir  aus  dem  Umstände,  dass  gar  viele  unter  ihnen  ,.Gesiclite 
sehen,"  „Entziirkungen"  tiililt  n,  dass  sie  die  Wesen  ihrer  Einbildungs- 
kraft als  Personen  hdltliattig  vor  sich  sehen,  mit  ihnen  Gesi^räche 
führen,  von  ihnen  Bctehle  empfangen,  die  sie  als  g'Utliche  Gebute  aus- 
führen. Diese  Erscheinungen  haben  für  sie  volle  Wahrheit  und 
Wesenheit.  Wenn  Luther  auf  seinen  Gott,  wie  bei  Melanchthons 
schwerer  Krankheit,  mit  zornigen  Worten,  mit  heftigen  und  harten 
Vorwürfen  einredete,  so  war  ihm  dies  zornige  Gebet  wahrlich  heiliger 
Ernst,  und  er  war  später  des  festen  Glaubens,  dass  er  Gott  dadurch 
bewogen  habe,  seinen  Freund  gesund  zu  machen.  So  hat  man  sich 
auch  die  (Gesichte  der  alten  Propheten  und  ilire  Gespräche  mit  Gott 
zu  erklären. 

Die  Mystik  hat  in  dem  religiösen  Leben  der  Menschen  von  jeher 
einen  gewaltigen  Einflnss  ansgefibt^  omsomehr,  da  sie  sich  bei  den 
geistig  hochbegabten  Menschen  in  noch  höherem  Maße  als  bei  eingehen 
Naturen  findet  Alle  Religionsstifter,  alle  Beformatoren,  alle  hervor- 
ragenden Kirchenlehrer,  die  Stifter  von  Secten,  die  alten  Propheten, 
die  Apostel  nnd  Heiligen,  die  frommen  Märtyrer  ihres  Glanbens  sind 
Mystiker  gewesen.  Dnich  Mystiker  hat  sich  von  alten  Zeiten  her  die 
Trennung  der  Menschen  in  Priester  nnd  Volk,  in  Geistliche  und 
Laien  vollzogen. 


—   291  — 


Die  groflartigste  Wirinmg  der  Mystik  zeigt  sich  in  ihrem  Eiii- 
flnsse  auf  die  AnsMldiing  der  Äußeren  Beligion,  die  dcli  als  Ge- 
nnuntheit  Ton  Dogmen,  Gebränchen,  ESmiehtnngen  zeigt,  auf  die  Am- 
Idldmig  des  Lehrgebäudes  der  christlichen  Kirchen.  Znm  Thefl 
sind  es  diese  Mystiker  selbst,  znm  Theil  scharfe  Denker  gewesen, 
die  diese  Dogmen  nnd  Einrichtungen  geschaffen  haben.  Die  letzteren 
haben  den  subjectiven  Glauben  der  ersterea  und  ihre  Vorstellungen 
als  gOttUdie  Qifenbanmg,  als  absolute  Wahrheit  anügefesst  und  Ton 
diesem  Grunde  ausgehend  den  Verstand  mit  seinen  scharfBU  SehUssen 
walten  lassta*  Als  erste  Folgerong  ans  dem  Obersatze,  dass  diese 
Eileuchtnngen  der  Mystiker  höhere  gOttUche  Eingebungen  und  Offim- 
bamngen  seien,  die  Gott  aus  freier  Gnade  erthefle,  bildete  sich  das 
Dogma  ans,  dass  Gott  hier  als  heiliger  Geist  wirke,  dass  dieser 
heilige  Geist  nur  die  Geistlichen  erleuchte  und  demgemäß  auch 
deren  gemeinsame,  auf  den  Concilien  gefassten  Beschlüsse  unter  Ein- 
wirkung des  heib'gen  Geistes  stehen  und  die  daraus  formnlirten 
Dogmen  als  absolute  göttliche  Wahrheit  zu  betrachten  seien. 

Aus  solchen  Bestrebungen  hat  sich  die  Religionswissenschaft,  die 
Theologie  f Gottesgelahrtheit)  aufgebaut.  Soweit  dieselbe  nicht  Philo- 
logie, Alterthumsforscluino:,  Bibelauslegung  oder  Geschichte  ist,  gründet 
sie  sich  auf  Metaphysik,  auf  die  Lelire  oder  Wissenschaft  von  dem 
Übersinnlichen,  und  stellt  gewisse,  durch  die  Mystik  erzeugte 
Hauptsätze  als  absolute  Gewissheit  und  ^^'alll•)leit  auf,  als  Offen- 
barung. Die  offenbarunprsgläubigen  Denker  uuter  den  Theologen  und 
ihr  Anhang  sagen:  „Der  religiöse  Glaube  geht  auf  Wahrheit  und  setzt 
die  festeste  Überzeugung  voraus,  die  es  überhaupt  geben 
kann.  Wo  also  die  geistige  Cultur  genügend  erstarkt  ist,  da  sucht 
der  Glaube  ausdrücklich  strenge,  conseciuente ,  logisch  erweisbare, 
wissenschaftliche  Wahrlieit  für  seinen  Inhalt  zu  erreichen,  und  wo 
er  dieses  Streben  aufgeben  inüsste,  da  nüisste  er  auch  sich 
selbst  aufgeben.  Denn  daran  lässt  sich  nun  einmal  nichts  ändern: 
der  Zweifel  an  der  Erkennbarkeit  und  Beweisbarkeit  des  .Übersinn- 
lichen' und  Göttlichen  ist  auch  ein  Zweifel  an  der  Realität  des- 
selben und  deshalb  unabänderlich  auch  ein  Zweifel  an  der  reli- 
giösen Wahrheit,  und  mit  allen  Aushilfsmittebi  yon  ,Werturthei]en* 
Aber  ,Erlebbares,  aber  nicht  BirklftrharesS  von  «praktischen  NGthigungen' 
und  4ntere8sirter  Wdtanschauung'  ist  dagegen  gar  nichts  auszurichten. 
Wer  die  Metaphysik  als  Wissenschaft  leugnet,  der  leugnet  auch  die 
wissenschaftliche  Dogmatik  und  damit  mittelbar  auch  die  Wahrheit 
der  Religion  und  speciell  der  christlichen  Religion.**  (A.  Lassen.) 

21» 


Wir  mttssen  aber  entBehieden  die  Behauptung  zurückweisen,  dass 
die  Forschimgen  der  Uetaphysik  absolnte  Wahrheit  enthalten  und 
den  Zweifel  an  der  Erkennbariuit  und  Beweisbarkeit  des  Übersinn- 
lichen nnd  Göttlichen  durchaus  aufrecht  erhalten.  Uan  leugnet 
damit  nicht  die  Wahrheit  der  Beligion,  sondern  mir  die  gewisser 
Dogmen  und  theologischer  Lehren.  Der  Glaube  der  Mystiker  ist  nur 
ein  subjectiver,  denn  .unser  Geist  kann  vermöge  seiner  Einrichtung 
Übersinnliches  nicht  erfassen;  ihre  durch  inneres  Schauen  ei> 
woiboien  Anschauungen  sind  nur  subjective,  enthalten  nur  Wahr- 
heit für  sie  allein,  aber  nicht  eine  absolute  Wahrfaeity  an  die  zu 
glauben  jedem  Menschen  zur  heiligen  Pflicht  gemacht  werden  dfirfte. 
Für  sie  gilt  das  Wort:  JX»  Wahrheit  ihres  Glaubens  ist  n|cht»  was 
sie  glauben,  sondern  dass  sie  gruben.**  Die  Ideen,  welche  aus  dieser 
eigenthfimlißhen  mystischen  Liebe  und  diesem  mystischen  Gümben 
entspringen,  sind  nur  pragmatische*),  aber  nicÄit  kategorische 
LnperatiTe,  und  es  ist  unrecht,  daraufhin  die  ganse  Menschheit  ver- 
pflichten zu  wollen.  Daraus  ist  der  Glaubens-  und  Grewissens- 
zwang  entstanden,  o-nter  dem  wir  noch  bis  zur  Stunde  mehr 
oder  weniger  zu  leiden  haben.  Wer  soU-h  einen  mystischen 
Glauben  besitzt,  soll  darin  unangetastet  bleiben;  aber  es  ist  thö rieht, 
denselben  von  denen  zu  fordern,  die  diese  mystisclie  Liebe  nicht  be- 
sitzen und  dazu  gar  keinen  Bei-uf  haben,  und  frevelhaft,  solch  einen 
Glauben  durch  irgend  eine  Gewaltmaßregel  erzwingen  zu  wollen.  Es 
ist  schon  verwertlich,  die  Lehre  aufzustellen,  dass  derjenige,  der  ihn 
noch  nicht  besitzt ,  veri)tiichtet  sei ,  durch  inbrünstiges  Ringen  im 
Gebet  dafür  zu  sorgen,  dass  ei'  „eileuchtet",  der  „Gnade  theühaftig 
werde". 

Man  darf  von  jedem  Menschen  fordern,  dass  er  in  dem  oben  von 
uns  erörterten  Sinne  fromm  sei,  sittlich  strebe  und  handle  und  nach 
den  Ideen  der  Schönheit  lebe.  Die  Ideen,  die  solch  ein  Leben 
regeln,  sind  die  einzig  wahren  kategorischen  Imperative.  Sie  sind 
allen  Menschen  verständlich,  und  jeder,  selbst  der  Bösewicht, 
fühlt  sich  dazu  verpflichtet;  aber  es  ist  Versüjidigung  au  der 
Menschennatur,  uns  zur  ptiichtmäßigen  Annahme  von  Ideen  und  der 
daraus  entspriugendeu  Gesetze  zwingen  zu  wollen,  die  nur  in  der 
eigenthümlichen  Begabung  einer  kleinen  Zahl  von  Mensehen 
ihren  Ursprung  haben.  Auf  dei*  Erkenntnis  dieses  Ar  die  Menschen 


*)  Pragmatisch  sind  diese  Ideen,  weil  tue  einen  Zweck  ins  Ange  fassen, 
■iinUoh,  cUm  lalen  religiüse  Lebw  dar  Goneiade,  d^r  „KiidM"  ra  ng«fai. 


—  293  — 


ungerechtfertigt  Zwanges  bemhA  das  so  oft  angefeindete  Wort  unseres 
grollen  Schiller: 

„Wekd»  BeUgion  ieh  bekenne? 

Keine  Ton  allen, 
Die  du  nennst.  —  Und  wanm  keine? 

Aus  Keligion." 

Nach  diesen  Erörtemngen  können  wir  über  die  Ideen,  welche  bei 
Gelehrten  und  Künstlern  aus  der  ihnen  eig^enen  Liebe  zu  wissen- 
scliaftlichen  Forschung:t'n  oder  zu  Kunstschüpfungen  entspringen,  leichter 
hinweggehen.  l>ie  Inii)erative,  die  für  solche  Menschen  aus  dieser 
Liebe  entspringen,  sind  für  sie  selbst  kategorisclie;  denn  kein  echter 
Gelehrter  denkt  bei  seinen  Foi-schungen  an  einen  Zweck,  und  der 
rechte  Künstler  will  auch  nur  zwecklos  Schönes  schaffen:  aber  sie 
können  nicht  zu  Imperativen  und  zu  Gesetzen  für  die  ganze  Mensch- 
heit erhoben  werden,  weil  die  eigenthümliche  Art  der  Liebe,  aus  der 
sie  hervorgehen,  nur  den  für  diese  beiden  Bichtuagen  besonders  be- 
gabten Menschen  verliehen  ist. 

Nachdem  wii*  so  das  Wesen  der  Ideen  erörtert  haben,  ist  es  noch 
geboten,  den  Begriff:  „die  Idee  in  einem  Kunstwerke"  näher  zu 
beleuchten,  weil  damit  der  meiste  Unfug  getrieben  wird.  Da  die  Be- 
trachtung dieses  Begriß'es  für  die  verschiedenen  Arten  von  Kunst- 
werken zu  weit  fuhren  würde,  wollen  wir  uns  daranf  beschränken, 
denselben  nur  in  Bezug  auf  dichterische  Kunstwerke  festzustellen. 
Es  herrscht  bei  Anwendung  dieses  Begriffes  selbst  in  den  Werken 
der  ÄsthetlkeTi  nnd  namentlich  bei  denjenigen,  welche  Dichterwerke 
erlintem  oder  als  Literarhistoriker  auftreten,  dne  solche  VerwiiTang 
nnd  Unklarheit»  dass  jeder  wahre  Freund  der  Diehtkanst  dnrehans 
die  nUthige  Klarheit  fordern  mnss. 

HOren  wir  zunächst,  was  ein  mit  Becht  hochgefeierter  Dichter 
nnd  Gelehrter,  Gustav  Freftag,  Uber  diesen  Begriff  sagt 

In  seiner  „Technik  des  Dramas"  heifit  es:  »la  der  Seele  des 
Dichters  gestaltet  sich  das  Drama  allmUilich  ans  dem  rohen  Stofl^ 
dem  Bericht  über  irgend  etwas  Geschehenes.  Zuerst  treten  emsebie 
Momente:  innerer  Kampf  und  Entschluss  eines  Menschen,  efaie  folgen- 
schwere That,  Gonfliot  zweier  Charaktere,  Gegensatz  eines  Helden 
gegen  seine  Umgebong  so  lebhaft  ans  dem  Zusammenhange  mit  anderen 
Ereignissen  heraus,  dass  sie  Veranlassung  znr  Umbildung  des  Stoffes 
werden  Diese  Umbildung  geht  so  vor  sich,  dass  die  lebhaft  empfun- 
dene Hauptsache  in  ihrer  die  Menschenseele  fesselnden,  rührenden 
oder  erscbflttemden  Bedeutung  an^e&sst»  Ton  allem  zufiUlig  daran 


—  294  — 


Hftngenden  losgelöst  und  mit  einzelnen  ergänzenden  Erfindungen  in 
einen  einheitlichen  Causalnexus  gebracht  wii*d.  Die  neue  Einheit, 
die  dadurch  entsteht,  ist  die  Idee  des  Dramas."  Demgemäß 
bedeutet  hier  die  Idee  die  Handlung  des  Stückes,  sie  ist  der  nach 
Kunstgesetzen  geregelte  Plan,  nach  dem  Spieler  und  Gegen- 
spieler handelnd  uns  vorgeführt  werden  sollen.  Freytag  bezeichnet 
aber  die  Idee  ferner  „als  die  stille  Seele,  durch  welche  er 
den  von  außen  an  ihn  tretenden  Sto  ff  vergeistigt,"  versteht 
also  dabei  unter  Idee  die  künstlerische  Verarbeitung  des 
Stoffes  zu  einer  ein lieitliclien  drama tischen  Handlung.  Ein- 
mal bedeutet  Idee  mithin  das  Ausgeführte,  das  Object  der  dichte- 
rischen Thätigkeit  und  gleich  darauf  diese  Thätigkeit  selbst. 
Wenn  er  femer  hinzufügt:  „Es  ist  das  Eigenthümliclie  bei  solcher 
Arbeit  der  Dichterseele,  dass  die  Haupttheile  der  Handlung,  das  Wesen 
der  Hauptcharaktere,  ja  auch  etwas  von  der  Farbe  des  Stückes  zu- 
gleich mit  der  Idee  in  der  Seele  aufleuchten,  zu  einer  untrenn- 
baren Einheit  verbunden,"  so  bedeutet  hier  Idee  die  dichterisch© 
Conception,  mit  der  sich  die  einzelnen  Theüe  des  vollendeten  Werkes 
in  halbdonkeln  Umiiaaen  iiad  Furbea  sogleich  einstellen.  Kan  sieht» 
auf  diese  kann  mm  Aber  den  Begriff  Idee  znr  reehten  Klarheit 
nicht  gelangen. 

Noch  firger  wird  die  Yerwimmg,  wenn  es  weiterhiii  heißt,  ^daas 
der  Dichter  sich  erst  später  dnreh  Nachdenken  seine  innere  Habe  in 
das  g^rägte  Metall  der  Bede  umsetzt  und  die  Idee  als  Grund- 
gedanken seines  Dramas  begreift"  Hier  taiidit  ob  bei  Herrn 
Gnstav  Freytag  zun  erstenmale,  will  ich  nicht  behaupten  —  das  un- 
selige Wort  „Grundgedanke  .aut  Er  sagt  weiter,  dieser  Grund- 
gedanke sei  „eine  Formel,  durdi  die  die  Idee  des  werdenden  Stückes 
abgesogen  und  in  Worten  beschrieben  werde,**  und  räth  den  Dichtem, 
„diesen  Abkflhlungsprocess  ihrer  warmen  Seele  schon  im  Beginn  der 
Arbeit  voraunehmen  und  kritisch  die  geAindene  Idee  nach  den  Grund- 
bedingungen des  Dramas  zu  beurtheUen**.  Die  so  auf  einen  Grund- 
gedanken, eine  Formel  abgezogene  Idee  der  „Maria  Stuart'*  sei  z.B.: 
„an4[eregte  Eifersucht  einer  Königin  treibt  zu  Tüdtung  ihrer  ge- 
ftngenen  Gegnerin;"  in  ,^abale  und  Liebe":  „aufgeregte  Eifersucht 
eines  jungen  Adligen  treibt  zur  Tödtung  seiner  bürgerlichen  Geliebten". 
Man  fragt  sich  vergebens,  was  denn  eigentlich  das  Wesen  der  Idee 
sei,  wenn  sie  sich  so  auf  eine  Formel  abziehen  lasse,  femer,  wie 
diese  Formel,  dieser  Gnindgedanke  denn  eigentlich  mit  der  vorher 
gegebenen  Darlegung  des  Begi'iä'es  Idee  zusammengereimt  werden  könne. 


—  296  — 


Unmöglich  können  doch  diese  Grundgedanken  in  der  Seele  unseres 
Schiller  bei  der  Conceptiou  und  Ausarbeitung  seiner  großen  Kunst* 
werke  die  treibende  Kraft  gebildet  habeu! 

Dieses  Bemühen,  den  Hauptinhalt  eines  Kunstwerkes,  namentlich 
eines  Dramas  oder  Epos  —  oder  auch  eines  lyii^clien  Gedichtes,  einer 
Romanze,  Ballade  —  auf  eine  sogenannte  Idee  oder  solch  einen  Grund- 
gedanken zu  filtriren,  spukt  bei  allen  berufenen  und  unberufenen 
Literarhistorikern  und  Erläut^rern  dichterischer  Kunstwerke  seit  einer 
langen  Keihe  von  Jahren  dermaßen,  dass  es  endlich  an  der  Zeit  ist, 
energisch  dagegen  aufzutreten  und  das  Falsche  und  tür  die  ästhetische 
Erkenntnis  völlig  Überflüssige,  ja  Thörichte  und  Lächerliche  solch 
eines  Bemühens  nachzuweisen.  Dies  Abfiltriren  von  „Grundgedanken" 
grassirt  bereits  überall  in  den  Schulen.  In  Gymnasien,  Realschulen, 
höheren  Mädchenschulen,  Seminarien  ist  die  ei*ste  Arbeit  nach  dem 
Vortrage  eines  Dichterwerkes,  die  Schüler  zum  Herausquälen  solcher 
„Grundgedanken"  anzuleiten.  Man  geht  nicht  zu  weit,  diese  Jagd 
danach  als  die  recbte  Fundgrube  des  Witiea  pedantischer  HohlkOpfe 
und  unberufener  Erl&uterer  zu  bezeichnen. 

Was  soll  dies  Abziehen  yon  Grundgedanken  —  wie  G.  Freytag 
es  sogar  vom  Eflnstler  fördert  —  dem  schaffenden  Dichter  oder  dem,  . 
der  ZQ  höherem  Yerstfindnis  und  feinerem  Gennas  dessen  Werk 
geistig  nachschaffen  wül,  für  Nntsen  bringen?  Ifan  ist  infolge 
dieses  Unftages  schon  darauf  Terfidlen,  die  Idee  ehies  Ennstwerkes  als 
dessen  Tendenz,  als  den  Zweck  za  betrachten,  zu  dem  der  Dichter 
es  geschaffen  habe.  Als  ob  ein  wirkliches  Kunstwerk  solch  eine 
Tendenz,  solch  einen  Zweck  irgend  anfimweisen  habe!  Schliefilich 
wird  man  noch  als  die  Idee  oder  den  Grundgedanken  des  ^Nathan'* 
Leasings  Ausspruch  betrachten:  »Ich  will  den  Pfiiffen  damit  eins  auf- 
wischen!" oder  die  grölten  Dramra  yon  Shakespeare  oder  Schiller  als 
Fabeln  auffassen,  ans  denen  man  Moral  lernen  solle  und  uns  als  deren 
„Grundgedanken"  moralische  Sätze  auftischen! 

£s  wird  nun  klar  geworden  sein,  dass  man  bei  einem  dichterischen 
Kunstwerke  von  der  Idee  oder  dem  Grundgedanken,  auf  denoi 
das  Ganze  gebaut  sein  soll,  gar  nicht  reden  darf.  Es  ist  barer 
Unsinn!  Will  man  sagen,  der  Dichter  fasste  in  diesem  Jahre,  bei 
dieser  Veranlassung  die  Idee,  dies  oder  jenes  Kunstwerk  ansznftlhren, 
so  ist  dagegen  nichts  zu  erinnern;  dann  bedeutet  Idee  soviel  wie 
Plan,  Einfall,  Eingebung  in  dem  gebräuchlichen  Sinne. 

Man  darf  sagen,  dass  in  einem  Gedichte  Ideen  verarbeitet 
sindi         i^i^f  dass  darin  nur  eine  einzige  zu  finden  sei 

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—    296  — 


Ideen  als  kategorische  ImperatiTe  der  dttUchen,  reUgiOsen  und  schOnen 
Pflicht  bewegen  die  Dichteraeele  nnabUssig  nnd  verbinden  sich  mit 
allem,  was  er  schallt  Man  kann  freilich  ein  großes  Strebnngsgebieti 
eme  große  Bichtnng  dee  gesammten  Ideenlebens,  wie  wir  gesehen 
haben,  in  einen  Begriff  zwängen  nnd  yon  einer  Idee  der  Toleranz,  der 
Menschenrechte,  der  Volks-Sonverftnitftt  sprechen;  aber  selbst  wenn  wir, 
darauf  ftifiend,  sagen,  Lessing  habe  in  seinem  „Nathan**  die  Idee  der 
Toleranz  verarbeitet,  so  ist  doch  damit  nur  gemeint,  dass  er  das  ganze 
reiche  Leben,  welches  die  Hnnderte  yon  kategorischen  Imperativen  er- 
zengen, die  wir  unter  diesem  S;immelbegriff  verstehen,  zur  lebendigen  An- 
schauung gebracht  habe.  Wollen  wir  von  dem  Studium  seines  Kunst- 
werkes den  rechten  Gewinn  haben,  so  mfissen  wir  uns  mit  Hilfe  von 
historischen  und  cultnrhistorischen  Studien  von  diesem  Leben  eine 
Anschauung  machen  und  unseren  Schiileni  eine  recht  lebendige  An- 
schauung zu  geben  vermögen.  Das  ist  freilich  schwerer  als  „Grund- 
gedanken" abziehen.  Ich  weise  auf  mein  Werk  hin:  „Einführuns:  in 
das  Studium  der  Dichtkunst"  (Leipzig  bei  Jul.  Klinkhardt).  Möge 
man  darin  foischen  und  meine  dort  aus^^esproclienen  Ansicliten  und 
Meinungen  —  liier  praktische  Ideen,  dt  icn  Ziel  die  Ausliildunu:  der 
eciiten  Unterriclitskunst  ist  —  womöglich  annehmen,  ausarbeiten  und 
zum  Nutzen  der  Jugend  verwenden.  Tu  Bezug  auf  das  wahre  Wesen 
des  Begriltes  ,4dee"  wird  man  dann  wol  zur  Klarheit  gelangen. 


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Ober  die  fiedeatmig  Jean  PaiiLs  für  die  Päd4i|;ogik  der 

Gegenwart. 

VoB  BMuupa  Xakier-Wietbaden. 

der  Schroffheit  des  (Gegensatzes,  in  welchem  unsere  Zeit 
zu  deijenigen  Jean  Fanls  steht»  dfirfte  es  gewagt  erseheinen,  anf  einen 
Einflass  dieses  Schriftstellers  anf  nnsere  jetzige  Pädagogik  zn  rechnen 
nnd  anf  die  Wichtigkeit  seiner  pädagogischen  Grandsätze  fttr  die 
Gegenwart  hinzuweisen.  Stand  doch  ein  Autor  am  Schlüsse  des 
TOrigen  und  noch  am  Eingange  des  jetzigen  Jahrhunderts  einem  ganz 
anderen  Publicum  als  dem  gegenwärtigen  gegenüber.  Kaum  jemals 
haben  Schriftsteller  eine  so  souveräne  Herrschaft  über  ihr  Volk  aus- 
geübt, wie  die  deutschen  jener  Zeit;  sie  erfreuten  sich  einer  Hoch- 
achtung, einer  Verehi  ung,  wie  sie  ihnen  unsere  Zeitgenossen  schwer- 
lich entgegengebracht  hätten,  und  ihre  Aussprüche  wurden,  wie  sich 
Frau  von  Stael  ausdrückt,  wie  Orakel  aufgenommen.  Darum  brauchten 
sie  sieh  auch  keine  sonderliche  Mühe  zu  geben,  ihre  Werke  dem  be- 
quemen allgemeinen  Verständnisse  anzupassen;  waren  diese  nur  tief 
und  gehaltvoll,  so  blieb  es  dem  Publicum  überlassen,  sich  mit  ihnen 
abzufinden.  F^ine  Nation,  die  ein  so  vorwiegend  literarisches  Leben 
führte,  wie  die  deutsche  von  damals,  ließ  sich  die  Mühe  nicht  ver- 
drießen, in  die  Werke  ihrer  Schriftsteller  einzudringen,  wenn  auch 
dieses  Eindringen  mit  Schwierif^keiten  verbunden  war,  und  zeigte  der 
Eigenart  und  selbst  den  Sonderbarkeiten  der  Schriftsteller  gegenüber, 
die  den  Gegenstand  ihrer  Bewunderung,  ihrer  Verehrung  und  ihres 
Stolzes  bildeten,  eine  Duldsamkeit,  die  ein  ausländischer  Schriftsteller 
schwerlich  von  seinem  Piildicum  hätte  beanspruchen  dürfen. 

Nun  ist  aber  Jean  Paul  in  hohem  Grade  ein  Kind  seiner  Zeit 
mit  all  ihren  Vorzügen  und  Schwächen  und  macht  von  dem  Hoheits- 
rechte, das  dem  Dichter  und  Schriftsteller  derselben  dem  Publicum 
gegenüber  zustand,  den  ansgeddintesten  Gehrftnch.  Ging  ttherfaanpt 
damals  die  Neigung  des  deutschen  Volkes  dahin,  sich  dem  Offentlidien 
Lehen  gegenüber  fbsnschließen,  nm  desto  ungestörter  im  traulichen 


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—   298  — 


Familien-  und  Freundeskreise  aussehen  za  können,  dazu  aber,  und 
dies  war  besonders  bei  den  hervorragendsten  Geistern  der  Fall,  sich 
im  tiefsten  Innern  eine  ideale  Welt  aufzubauen,  so  besaß  Jean  Paul 
diese  Neigung  im  erhöhten  Mafie.  Wiesen  die  Zeitverhältnisse  den 
Deutschen  überhaupt  auf  ein  innerliches  Leben  hin,  so  drängten  die 
persönlichen  Verhältnisse  dieses  Dichters  und  die  Weltabgeschlossen- 
heit, in  der  er  aufwuchs,  zumal  da  dieselbe  durch  seine  Erziehung 
noch  auf  künstliche  Weise  verstärkt  wurde,  die  Richtung  seines 
Geistes  umsomehr  nach  innen.  Mit  der  Vorliebe,  mit  welcher  er  sich 
in  die  Welt  des  Gedankens  versenkt,  steht  die  Form  seiner  Werke 
in  entschiedenem  Zusammcnhan<^e.  Der  reichbegabte  und  von  heißem 
Wissensdrange  erfüllte  Jean  Paul,  der  die  Schranken,  welche  örtliche 
Verhältnisse  und  Ei-ziehung  der  Bildun«,^  seines  lebhaft  aufstrebenden 
Geistes  entgegenstellten,  auf  das  peinlichste  emplaud,  suchte  die 
Mängel  dieser  Bildung  dui"ch  eifrige  Leetüre  zu  beseitigen.  Da  der 
Stoff  seiner  Jugendlectürc  weniger  von  der  Wahl  als  vom  Zufall  ab- 
hing, auch  bei  seiiu-r  Jugend  und  dem  Mangel  an  geeigneter  An- 
leitung von  Planmäßigkeit  in  dieser  Leetüre  kaum  die  Rede  sein 
konnte,  und  da  später  der  Mann  sich  nicht  von  der  Gewohnheit  des 
Jünglings  zu  befreien  vermochte,  die  verschiedenai'tigsten  Werke  in 
bunter  Reihenfolge  zu  studiren,  führte  ihn  dies  zu  einer  wahrhaft 
chaotischen  Gelehrsamkeit,  die  auf  den  Inhalt  und  besonders  auf  die 
Form  der  Erzeugnisse  des  SduiftstellerB»  der  ebenso  reich  an  üppiger 
Phantasie  ßls  dOrftig  an  plastlseher  Gestaltungskraft  war,  durdiaas 
nicht  Tortheilhaft  einwirkte.  HaaptsSchlich  ist  es  die  ÜberftUle  von 
zum  großen  Theü  fremdartigen  und  wunderlichen  Bildern,  die  er  aus 
den  yerschiedensten  Gtebieten  des  Wissens  herbeizieht,  was  seiner 
DarsteUung  zu  häufig  die  Ein&chhdt  und  NatOrlichkeit  raubt  und 
den  reinen  Oenuss  seiner  Werke  für  den  Leser  stOrt  Auch  der  viel- 
besprochene  Humor  Jean  Pauls  leidet  besonders  durdi  Überladung 
mit  solchen  Büdem  und  durch  die  Manier  des  Sdiriftstellers  aber- 
hanpt;  selten  ist  es  ein  wirklicher,  frisch  und  unmittelbar  ans  der  Seele 
quellender  Humor. 

Das  alles  aber  kann  uns  nicht  abhalten,  dem  Schriftsteller  eine 
besondere  Bedeutung  für  unsere  Zeit  und  speciell  auch  für  die  Päda- 
gogik zuzusprechen,  da  er  gerade  einen  Überreichthnm  von  dem  be- 
sitzt, was  der  Gegenwart  so  sehr  fehlt  Seit  die  Kritik  mit  ver- 
nichtender Strenge  über  ihn  zu  Gericht  gesessen  hat,  hat  man  ihm 
zum  besonderen  Vorwurfe  gemacht,  dass  er  nie  über  seine  Jugend- 
ideale hinausgekommen  sei   Man  hat  dabei  zu  wenig  in  Anschlag 


—   299  — 

gebracht,  dus  die  Schwftehe  „des  ewigen  Jflnglings  iintor  den  Dichtern**, 
ine  ihn  der  ihm  geistesverwandte  lächendorff  nennt,  zugleich  gerade 
dessen  Stärke  ist.  Gormas  gab  seinerzeit  den  Deutschen  den 
Rath,  so  praktisch  zn  werden,  wie  die  anderen  Nationen.  Ganz  gntl 
Nur  hat  er  dabei  die  Mahnung  an  die  Deutschen  fiir  übeiiliissig  ge- 
halten, dass  der  Sinn  für  das  Praktische  nicht  in  Sinn  für  das  rein 
Materielle  ausarte,  und  dass  die  höheren  Interessen  nicht  darüber 
vergessen  werden  möchten.  Worüber  aber  führen  lieutzutage  die 
deutschen  Schriftsteller  in  ihrem  Verbandsorgane  laute  und  offene 
Klage?*)  Vielleicht  darüber,  dass  die  zeitgenössischen  Schi'iftsteller 
gegenüber  den  großen  Classikern  unserer  Vorzeit  verachtet  und  ver- 
nachlässigt würden?  Gott  bewahre!  ^'ielmehr  wird  nachdrücklich 
hervorgehoben,  dass  fast  niemand  diese  Classiker  mehr  liest.  Da- 
gegen gehen  die  Khigen  des  Scliriftstellerverbandes  dahin,  dass  es 
dem  deutschen  Volke  —  mau  bedenke,  der  Nation  der  Denker  und 
Dichter!  —  zu  sehr  an  —  Bildung  fehle,  und  dass  das  sogenannte 
„gebildete  Publicum"  im  allgemeinen  keineswegs  derjenige  Theil  des 
Volkes  sei,  bei  dem  man  wahre  Bildung  zu  suchen  habe;  dass  der  auf 
das  Materielle  und  Außeiliclie  gerichtete  Sinn  der  großen  Mehrzahl 
für  höhere  Interessen  unzugänglich  sei,  die  geeignet  wären,  den  Geist 
über  das  Gemeine  und  Alltägliclie  emporzuheben.  Dazu  stimmt  die 
andere  Klage,  dass  die  Unberufenen  unter  den  „Schriftstellern",  die 
aber  recht  gut  wissen,  „was  zieht",  und  „wie's  gemacht  wird",  dadurch, 
dass  sie  durch  gefügiges  Eingehen  auf  die  gewöhnlichen  Tages- 
interessen der  für  höhere  Impnise  unempfänglichen  Menge,  zn  der 
gerade  die  yornehme  Welt  ein  betrftditliches  Contingent  stellt,  den 
SchiiftsteUerbemf  xiim  feilen  Handwerk  erniedrigen,  sich  ein  groftes 
PaUicom  erwiHrben  hahen. 

Zugleich  wendet  sich  das  Verbaadsorgan  dentseher  Schriftsteller 
an  die  Lehrer  nnseres  Volkes,  damit  diese  die  Bestrebongen  des  Yer- 
handes  dadoreh  nnterst&tzen,  dass  sie  den  Sinn  und  die  Begeisterung 
der  Jngend  f&r  das  Ideale  zn  erwecken  suchen,  so  dass  diese  einst 
empftn^cher  dafür  werde,  als  ihre  Eltern,  das  Beine  und  Edle  in 
Kunst  und  Literator  zn  würdigen. 

Dieser  AppeU  der  Schriftsteller  aa  die  Pädagogen  ist  nmso  be- 
dentsamer,  als  anch  bei  der  Lehrerwelt  die  Begeisterung  und  der 
IdeaUsmuB,  die  sie  zur  Zeit  Pestalozzi's  und  Diesterwegs  beseelten, 


*)  Ich  Tenreiie  nur  beiapidtweise  auf  Nr.  26  der  »DentsdiMi  Frone", 
Beilia  1889. 

 '  -'^le 


—   300  — 


vielfach  erheblich  nachgelassen  haben,  und  weil  der  Widei*stand,  den 
die  Zeitverhältnisse  und  Gesinnung  des  Publicums  idealen  Bestrebungen 
entgegensetzen,  sowol  auf  den  Lehrern  als  auf  den  Schriftstellern 
lastet,  ein  ümgtand,  der  mit  Naehdmck  aqf  das  Studium  deijenigen 
pSdagogischen  Sehriftstellei*  hinweist,  deren  Bemfihiingai  ein  ent- 
schiedenes Gegengewicht  gegen  das  vorherrschende  Strehen  nnserer 
Zeit  bilden,  ünter  diesen  Sehiiftstellem  ist  dcijcuige  mit  in  erster 
Linie  zu  nennen,  der  mit  feniigem  Eifer  gegen  die  Gefohr  ank&mpfte, 
dass  „die  junge  Seele  ohne  das  heilige  Fener  der  Jugend,  ohne  FlOgel, 
ohne  große  Plane,  knrz,  so  nackt  in  das  kalte,  enge  Leben  hinein- 
krieche, als  die  meisten  ans  demselben  herans.**  Gewiss,  Jean  Panl 
theilt  die  Schwachen  seines  Zeitalters,  aber  er  ist  auch  stark  in  dessen 
Vorzflgen.  Die  Treue,  die  der  Dichter  den  Erinnerungen  aus  seiner 
Kindheit  und  den  Idealen  seiner  Jugend  bewahrt  hat,  hat  allerdings 
zum  Thefl  seine  Fähigkeit  beeinträchtigt,  die  wirkliche  Welt,  wie  sich 
Schiller  ausdrückt,  „mit  dem  Organ,  womit  man  sieht",  zu  betrachten; 
sie  verleiht  ihm  aber  auch  anderseits  ein  tiefes  nnd  inniges  Ver- 
ständnis für  die  Neigungen  und  Bedürfnisse  der  jugendlichen  Seele 
und  ein  warmes  Interesse  fftr  die.se  Ncii^Mingen.  Dazu  kommt,  dass 
der  durch  seinen  Bildungsgang  und  durch  seine  natürliche  Eigenart 
der  Wirklichkeit  sonst  in  mehrfacher  Hinsicht  entfremdete  Mann 
gerade  der  Kinderwelt  durch  eigene  Erfahrung,  die  er  sich  sowol 
durcli  Erziehung  fremder  Kinder  als  seiner  eigenen  erworben  hatte, 
unmittelbar  nahe  stand.  Der  Umstand,  dass  in  Jean  Paul  nicht  blos 
der  geistreiche  Scliriftsteller,  der  ül)er  Erziehung  schön  zu  reden  ver- 
steht, wie  es  bei  Rousseau  der  Fall  ist,  sondern  besonders  auch  der 
väterliche  Erzieher  zu  uns  spricht,  verleiht  seinen  Worten  über  Er- 
ziehunt,'  denen  Rousseau's  (re^cpiiübei-  nicht  allein  erhöhte  InnlL-^keit, 
siiudi  in  auch  erhöhte  praktische  JiL'drutung.  An  herzlicher  Liebe  zur 
Iviuderwelt  und  hin^-ebender  Tlieilnalmie  für  ihre  Leiden  und  Freuden 
wird  er  von  keinem  Autor  unter  seinen  Zeitf^enossen  erreicht  und  nur 
von  Pestalozzi  übertrnll'en.  Mit  Pestalozzi  theilt  er  auch  die  Über- 
zeugung von  der  hohen  Bedeutung-  der  Familie  liir  die  Erziehung, 
und  besonders  der  Mütter,  die  „auf  den  blauen  Bergen  der  dunkeln 
Kinderzeit  stehen,  nach  welchen  wir  uns  ewig  umwenden  und  hin- 
blickcn",  und  wie  Pestalozzi  wendet  er  sich  mit  besonderer  Vorliebe 
an  die  Herzen  der  Mütter.  Welche  Begeisterung  er  liierdurch  zu 
seiner  Zeit  bei  den  Müttern  erzielt  hat,  weiß  die  Literaturgeschichte 
zu  berichten. 

Was  er  seiner  Mitwelt  von  der  Kothwendigkeit  der  Jugendideale 


—    3Ü1  — 


sagte,  ist  fttr  die  C^egenwart  yor  noch  gr&ßerer  Wichtigkeit,  and  weit 
mehr  als  früher  sind  hento,  zu  ehier  Zeit,  in  der  man  ailza  geneigt 
ist»  nnr  das  nnmittelbar  Nfitadiche  za  schätzen,  seine  Worte  am  Platze: 
»Tügt  ihr  aber  das  Ideal  ans  der  Bmst,  so  yerschwindet  damit 
Tempel,  Opferaltar  nnd  alles."  Freilich  war  er  schon  anf  den  Ein- 
wand seiner  Zeitgenossen  gefasst,  dass  sich  der  jnnge  Mensch  in  Zeit 
nnd  Welt  zu  schicken  habe,  da  es  ja  der  alte  auch  tirne.  Für  die- 
jenigen, welche  deshalb  von  der  Begttnstignng  der  Jagendideale  nichte 
wissen  wollen,  ja  sogar  ihre  UnterdrOckang  Terfamgen,  hat  er  schert 
die  rechte  Antwort  bereit,  die  angesichts  der  Bichtong  nnserer  Zeit 
noch  mehr  angebracht  wäre:  „0  Himmel,  also  was  Welt  und  Zeit 
ohnehin  entkräften,  dies  wollt  ihr  schon  gleich  kraftlos  ins  Fdd 
stellen  . . . .,  als  ob  von  den  späteren  Jahren  allmählirhe  Erhebung  za 
erwarten  wäre,  anstatt  Versenkung  ....  0,  es  geschieht  genog  davon 
ohne  euch."  Auch  weist  er  mit  Becht  darauf  hin,  dass  manche  fri  oße 
That  des  späteren  Alters  nur  den  unverwelklichen  Idealen  zu  danken 
sei,  deren  Ursprung  auf  ein  zartes  Jugendalter  zurückgeht:  „Das 
Schönste,  was  die  Menschen  thaten,  fiel  es  auch  in  ihre  kältere  Jahres- 
zeit, war  nur  der  auffreliende  Samen,  den  der  Lebensbaum  des  kind- 
lichen Paradieses  getragen  hatte,  gleichsam  realisirte  Jugendträume.*' 
Der  ersteren  der  vorerwähnten  Stellen  p:emäß  fiilirt  er  auch  in  der 
„Unsichtbaren  Loge"  in  gewissermaßen  allcf^orischer  Weise  die  Idee 
aus,  dass  eine  Überfülle  von  Eindrücken  der  realen  Welt  auf  den 
idealen  Sinn  und  die  Phantasie  der  Jugend  niederdi'ückend  wirken 
müsse.  Dr.  Karl  Lange,  der  sich  durcli  eine  sorgfiiltige ,  mit  einer 
interessanten  Lebensbeschreibung  Jean  Pauls,  worin  mehrere  in  anderen 
Biographien  enthaltene  Irrthihner  über  das  Leben  des  Dichters  be- 
richtigt sind,  sowie  mit  wertvollen  Anmerkungen  ausgestattete  Aus- 
gabe der  „Levana''  verdient  gemacht  hat,  meint,  dass  der  Dichter  in 
einer  Täuschung  befangen  sei,  wenn  er  durch  die  Einbildungskraft 
ersetzt  haben  wolle,  was  der  Wahrnehmung  entzogen  bleibe,  da  die 
Phantasie  nur  so  weit  reiche,  als  sich  unser  Erfahrungskreis  erstrecke, 
und  dass  sie  mit  onserem  Yorstellangsschatze  wachse  and  verarme. 
Man  darf  jedoch  einem  Hanne  wie  Jean  Paul  schwerlich  einen  so 
groben  IiTthnm  zntraaen,  dass  er  als  Dichter  nicht  wisse,  dass  ohne 
reale  Grundlage  die  Entwickelang  der  Phantasie  anmöglich  ist,  and 
dass  er  als  Pftdagoge  einer  hermetischen  Abgeschlossenheit  der  Kinder- 
seele gegen  die  Anßenwelt  emsthaft  das  Wort  reden  wolle.  Die  Idee, 
die  seinen  AasfBhrangen  zngrande  liegtt  ist  yiehnehr  eine  psycho- 
logisch woIbegrOndete,  nämlich  die,  dass  die  Phantasie  keineswegs  in 


—  302  — 

gleichem  Verhältnisse  mit  der  Zunahme  der  Kenntnis  des  wirklichen 
Lebens  wachse,  sondern  dass  sie  vielmehr  an  überreicher  Wirklichkeit 
verarme.  Denn  wie  die  Phantasie  der  Nahrung  aus  der  Außenwelt 
bedarf,  so  bedarf  anderseits  der  Mensch  auch  hinwiederum  der  ge- 
hörigen Ausspannung  gegenüber  den  von  außen  auf  ihn  einströmenden 
Einwirkungen,  wenn  sich  seine  Phantasie  frei  entfalten  soll.  Schon 
darom  verdienten  seine  Betrachtungen  über  das  Spiel  der  Kinder, 
„die  erate  Poesie  des  Meii8chen*\  besonders  seine  Fordenmg,  dass  das 
Spielzeug  ja  recht  einfach  sei,  gerade  für  unsere  Zeit  ernste  Beachtong. 
Verlangt  er  diese  Ein&chheit  hanpts&cUich  im  Interesse  der  Phan- 
tasie, so  liegt  seine  Forderung  noch  mehr  in  dem  der  Erhaltnng  des 
reinen  Eindergemflthes  mit  seiner  harmlosen,  nnschnldigen  Ft«ade  am 
Kleinen  nnd  Geringen.  Bedenkt  man,  welche  fthergrofie  Menge  yon 
kostbaren  Spielaachen  hentzntage  vielen  Kindern  als  Weihnachts- 
geschenke dargeboten  wd,  nnd  dass  diese  Spielsadien,  zmnal  solche 
f&r  kleine  Mädchen,  zum  großen  TheQ  Nachbildnngen  von  mit  dem 
grOfiten  BafiBnement  ausgeführten  modernen  Lnznsgegenstftnden  sind, 
so  dürfte  man  in  ihnen  wol  eines  der  Mittel  ei^ennen,  die  dasn  an- 
gethan  sind,  den  zarten  Blütenstaub  von  der  Seele  der  Kinder  abzu- 
streifen und  dieselben  schon  frühzeitig  zn  beklagenswerten  blaairten 
Qescböpfen  zu  machen. 

Nicht  minder  beherzigenswert  ist  das,  was  er  Ober  Kinderbälle 
sagt,  die  er  ebenso  streng  yemrthfiUt,  als  er  Eindertänze  warm  be- 
fürwortet, sowie  manches  andere,  was  besonders  bei  der  Erziehung  der 
Kinder  aus  den  höheren  Stünden  in  Betracht  kommt. 

Stimmt  Jean  Paul  in  den  weiter  oben  erwähnten  Beziehungen 
mit  Pestalozzi  überein,  so  bildet  seine  Lehre  insofern  eine  Ergänzung 
zu  der  Pestalozzi's,  als  er,  was  f^ewiss  noch  jetzt  sehr  zeitgemäß  ist, 
besonders  darauf  hinweist ,  dass  die  luilieren  .Stände  wegen  ihres 
Egoismus  einer  KrzieiiiiiiL'^srefürm  nocli  niflir  bedürften  als  die  übrigen. 

\\'Hhrend  er  bei  seineu  Betrachtungen  ul»er  das  Spielzeug  be.son- 
ders  an  dessen  Einfluss  auf  die  Phantasie  des  Kindes  denkt,  hebt  er 
bei  der  Gegenüberstellung  von  Dorf  und  Stadt  vorzüglich  den  nach- 
theiligen Einlluss  der  Großstadt  auf  die  Entwickelung  der  Hei*zens- 
eigenschaften  und  hauptsächlich  der  Menschenliebe  bei  dem  Kinde 
hervor.  Gegenwärtig,  wo  an  die  Stelle  der  damaligen  die  modenie 
Großstadt  und  an  die  Stelle  des  Kutschkastens,  den  der  Dichter  für 
noch  gefahrlicher  als  ständigen  Aufenthalt  flu*  Kinder  erklärt  als  eine 
Hauptstadt,  die  Eisenbahn  getreten  ist,  ist  seine  Ermahnung,  gegen 
die  nachtheiligen  Folgen,  die  duich  das  Leben  der  Kinder  in  Orott- 


^.  1^  1  L  j  v^>..(.,'^le 


—  803  — 


stMten  oder  auf  langen  Reisen  entstehen  können,  Vorbeugungsmaß- 
regeln zu  treifen,  doppelt  angebracht.  Dass  aber  das  Leben  der 
modernen  Großstadt  auch  die  von  Jean  Paul  in  der  ..Unsichtbaren 
Loge"  verfolgte  Idee  bestätigt,  indem  dasselbe  der  Förderung  der 
Phantasie  keineswegs  heilsam  ist,  lässt  sich  schwerlich  bestreiten. 
Ein  Dichtergenins,  der  sich,  statt  wie  Shakespeare  in  dem  jogendfrisch 
anfstrebenden  London  der  Königin  EUsabeth,  in  dem  jetzigen  London 
sa  voller  schöpfenfleher  Kraft  entfiütetei  —  undenkbar! 

Freilich  liegt  f&r  die  Gegenwart  die  Bemerkung  nahe,  dass  die 
Erziehnngsgrundsätze  eines  Hannes,  der  so  sehr  die  Wichtigkeit  der 
Bfldnng  des  Gemflfhes  nnd  die  Pflege  der  idealen  Gesinnung,  sowie 
der  Phantasie  hervoriiebe,  leicht  dahin  Ähren  konnten,  dass  der  Zög- 
ling der  Außenwelt  entfremdet  nnd  f&r  praktische  Tüchtigkeit,  die 
unsere  Zeit  gebieterisch  fordere,  ungeeignet  werde.  Aber  eben  die 
Richtung  unserer  Zeit  bietet  ein  m  starkes  Gegengewidit  gegen  ein 
ZuTieL  von  denjenigen,  was  Jean  Paul  mit  Vorliebe  für  die  Erziehung 
fördert  NSher  liegt  bei  dem  jetzt  hemcfaenden  Uaterialismus  die 
BeArchtnng,  dass  die  Grunds&tze  des  Dichters  von  viel  zu  geringer 
Wirkung  auf  die  Gegenwart  sein  dttrften.  Mit  Becht  hebt  er  jedoch 
hervor,  dass  das  Kind,  das  uns  lieiliger  sein  müsse  als  die  Gegenwart* 
nicht  ihr  diese,  sondern  für  die  Zukunft  zu  erziehen  sei,  und  zuweilen 
sogar  wider  die  n&chste  Zukunft.  Übrigens  trägt  die  Lehre  Jean 
Pauls  das  Gegengewicht  gegen  ihre  etwaige  Übertreibung  auch  schon 
in  sich  selbst.  Allerdings  ist  er  als  echtes  Kind  seines  Zeitalters  Ton 
der  Sentimentalität  desselben  keineswegs  frei  geblieben;  aber  er  war 
eine  zu  gesunde  und  kernhafte  Natur,  als  dass  er  ihr  nnterlpfren  wäre. 
Dies  zeigt  sich  nicht  allein  in  seinem  Leben  durcli  die  zähe  Festigkeit, 
mit  welcher  er  sich  durch  die  Widerwärtigkeiten  und  die  Xoth,  die 
sich  ihm  entgegenstellten,  siegreich  hindurchrang,  sondern  auch  in 
seiner  pädagogischen  Theorie.  Voll  treuer  Hingebung  an  die  strenge 
,  und  reine  Sittenlehre  Kants,  die  er  nur,  ganz  wie  Schiller  in  dem 
bekannten  Disticiion,  durch  Liebe  zur  Ptlicht  gemildert  wissen  will, 
tritt  er  der  (TÜickseligkeitslehre  der  Philautliropeu  wiederholt  energisch 
entgegen.  Wenn  er  der  Pflege  des  Gefühls  und  des  Idealisiuus  das 
Wort  redet,  so  hat  er  dabei,  seiner  ('berzeugung  gemäß,  ,.dass  das 
echte  Kernfeuer  der  Brust  gerade  in  jenen  Männern  glühe",  die  von 
stiller,  aber  dauernder  Begeisterung  ei füllt  seien,  das  kräftige  und 
nachhaltige  Gefühl  und  den  gesuiideu  lilealisnius  im  Sinne,  die  zu 
Thaten  treiben.  Auch  hebt  er  mit  Nachdruck  hervor,  dass  das  Kind 
nicht  sum  Genüsse,  der  sich  bald  erschöpfe,  sondern  zum  Streben  an- 


—    304  — 


znleiAen  sei,  das  sich  nie  erschöpfe,  womit  auch  in  y^iniryng  steht» 
dass  er  in  der  »Selina**  von  den  Forderungen  der  „praktischen  Ver- 
nonft**  dico'enige  der  Unsterblichkeit  der  Seele  nicht  etwa  wegen  des 
Lohnes  f&r  die  Tagend,  sondern  wegen  der  Fortdauer  der  Togend 
anerkannt  wissen  wilL  G^egen  die  Befttrchtung,  dass  die  Erziehungs- 
lehre Jean  Pauls  zur  Verweiclilichung  des  Zöglings  führen  könne, 
spricht  auch  seine  wiederholt  und  entschieden  ausgesprochene  Forde- 
rung von  Festigkeit  und  strenger  Consequenz  in  der  Zuclit,  und  zwar 
schon  für  die  ersten  Lebensjahre  der  Kinder.  —  Bei  den  Betrachtungen 
Jean  Pauls  über  die  Ausbildung  der  Phantasie  liegt  allerdings  die 
Bemerkung  nahe,  dass  er  die  Erziehung  zu  sehr  mit  dem  Auge  des 
Dichters  betraclitet,  dass  die  Phantasie  eine  Eigenscliaft  ist,  die  nur 
wenige  in  hervorragendem  Maße  besitzen  können,  und  dass  nur  selten 
jemand  gerade  zuui  Künstler  oder  Dichter  geboren  ist.  Jedoch  kommt 
liierbei  auch  in  Betracht,  dass  ein  Mensch  ohne  jede  Spur  von  Phan- 
tasie schwerlich  imstande  ist.  ein  Kunstwerk,  eine  Dichtung,  einen 
Gegenstand  der  Ästhetik  überhaupt  genügend  zu  würdigen. 

Unter  dem,  was  er  über  religiöse  P^rziehung  anführt,  verdient 
neben  der  Bemerkung,  dass  lebendige  Religion  nicht  durch  Lelirsätze, 
sondern  durch  die  Geschichten  der  Bibel  aufkeime,  und  dass  das  Leben 
Christi  die  beste  christliche  Keligionslehre  sei.  besonders  diejenige 
ernste  Berücksichtigung,  dass  das  Kind  dahin  zu  tuhren  sei,  dass  ihm 
fremde  Religion  so  heilig  sei  wie  die  eigene,  und  dass  es  die  ver- 
schiedenen Keligionen  so  liebend  aufnehme  wie  die  verschiedenen 
Sprachen,  woiin  doch  nnr  ein  Menschengemüth  sich  ausdrücke.  Wollte 
man  hierzn  bemerken,  dass  das  eine  althdoiante  Weidieit  sei,  so  wftre 
diese  Entgegnung  nnr  dann  angebracht,  wean.  die  G^egenwart  in  reli- 
giOeer  Duldsamkeit  gegen  die  Zeit  Jean  Panls  yorwftrts  gekommen 
wfire;  allein  leider  ist  das  GegentheQ  der  Fall. 

Auch  was  er  in  pftdagogischer  Beziehung  Aber  die  deutsche  Sprache 
und  aber  die  Sprachen  Überhaupt  sagt,  hat  zum  Theil  gegenwärtig 
sehie  Bedeutung  noch  lange  nicht  verloren,  und  es  w&re  sehr  xa  ' 
wünschen,  dass  Sfttze  wie  die  fölgenden  weit  allgemeinere  Anerkennung 
ftnden,  als  sie  bis  jetzt  besitzen:  „Sprache-Lemoi  ist  etwas  Höheres 
als  Sprachen- Lernen,  und  alles  Lob,  das  man  den  alten  Sprachen 
erthfiflt,  ftUt  doppelt  der  Muttersprache  anheun,*  —  »Warum  wollt 
ihr  die  Bildung  durch  Sprache  erst  einer  anslftndischen  aufheben?"  — 
»Welche  Dichter  aber  soll  der  Erzieher  einfähren?"  (nämlich  fllr  das 
Alter,  in  welchem  das  Kind  bereits  empfänglich  für  Poesie  geworden 
ist).  —  »Unsere!  —  Weder  griechische,  noch  römische,  noch  hebräische, 


—   806  — 


uoch  indische,  nocli  französische,  sondern  deutsclK'  -  Ferner  eutlialten 
seine  Worte:  „Vertrauet  auf  die  Entzifferkanzlei  der  Zeit  und  des 
Zusammenhangs!"  eine  wahrhaft  goldene  Regel  niclit  nur  für  die  Be- 
handlang der  Muttersprache,  sondeni  aller  Sprachen.  Wie  viele  unnütze 
Mühe  wird  vorzeitig  auf  die  Erklärung  so  mancher  gi-ammatischen 
Einzelheiten  verwandt,  deren  Verständnis  sich  mit  dem  Fortschritte 
geistiger  Entwickelung  des  Schültis  ganz  von  selbst  gibt!  —  Auch 
hat  die  Mahnung  Jean  Pauls  an  die  Philologen:  «Die  Alten  waren 
Menschen,  keine  Gelehrten!  Was  seid  ihr?  Und  was  holt  ihr  aus 
ihnen?  .  .  Copiam  vocabolorum",  leider  noeh  heute  nicht  ihre  Be- 
rechtigung verloren. 

El  kmarte  natSriieh  fileht  In  meiiMr  AhMit  liegen,  hier  «ine 
eraebOpl^de  Besprechung  aller  noeb  ftr  «liere  Zeit  bedeateanieii 
Qmndaltie  Jean  Pauls  Uber  ErsielMnig  sn  Uefim,  die  sieh  zwar  ver- 
«ogiretoe  in  der .  „Levana*^,  doch  aaeh  vieUheh  in  anderen  seiner 
Sdiriften  finden.  Alkin  das  Angef&hrte  mag  fleUeicht  genfigm,  die 
Anfmerksaakeit  eines  oder  des  anderen  auf  einen  SdiriftsteUer  zu 
lenken,  der  ebenso  hftnfig  dtirt  als  selten  gelesen  -wird,  so  asitgemftß 
andi  viele  seiner  Gedanken  sind.  Man  hat  ihm  sehen  bei  dem  Er- 
scheinen der  „Levaaa"  den  Vorwarf  gemacht,  dass  er  keine  eystema- 
tisebe  Ensiehnngslehre  bietet.  Allein  es  ist  selbstrerslindlich,  dass 
man  bei  einem  SehnftsteUer  von  seiner  dichterisdien  Eigenart  von 
Yonherein  keine  Eiziehnngslehre,  die  in  streng  logiseher  Folge  Glied 
an  Glied  anreiht  ond  das  Ganze  za  einem  geschloss^en  System  ab- 
randet,  erwarten  darf.  EUne  solche  hat  der  Mann,  der  ansdr&cklich 
bemerkt,  dass  der  Mensch  blos  aus  einem  Buche,  und  sei  es  auch  das 
vollendetste,  nie  wirklich  Endehnng  lernen,  sondern  nur  Anregung-  ftir 
den  G^t  der  Erziehung  empfimgen  könne,  auch  schwei  lit  h  lie£arn 
wollen.  Übrigens  bedarf  unsere  Zeit,  die  ohnehin  oft  mehr  als  genug 
zum  Systematisiren  geneigt  ist,  weit  weniger  der  strengen  Systematik 
tlir  die  Pädagogik,  als  der  Zuführung  frischen  Lebenssaftes  filr  die- 
selbe. Hat  doch  alle  Sy.stematik  nicht  davor  geschützt,  dass  das 
Bestreben,  den  Schülern  „nur  recht  viele  Kenntnisse  aller  Art  einzu- 
schütten," wie  es  nach  Jean  Pauls  Worten  vor  Pestalozzi  bestand, 
sich  auch  nach  Pestalozzi'^  Zeit  nur  allzusehr  geltend  g:ema('ht  hat. 

Übrigens  ist  die  TlnMirie  Jean  Pauls  erschöpfender  und  weniger 
einseitig,  als  es  aut  den  ersten  Blick  scheint.  So  ist  z.  B.  die  Ansicht 
schwerlich  begründet,  dass  nach  seiner  Lehre  die  Erziehung  nicht  in 
dei"  Entwickelung  aller  Kräfte  bestehen  könne.  Eine  Stelle  (..Levana", 
§  22)  scheint  allerdings  entschieden  dafüi*  zu  sprechen.   Allein  jene 

Padi^offinm.  U.  Jtlug.  Heft  V.  22 

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—  306  — 


Stelle  soll  doch  \vo\  nur  eine  Wainung  vor  der  Zei'splitteriin^*'  der 
Kräfte  des  Kindes,  welche  aus  dem  Streben  nach  gleichzeitiger 
Ausbildung  derselben  lieiTorgehen  könnte,  vor  der  Behandlung  von 
vielerlei  Dingen  auf  kurze  Zeit  enthalten,  wogegen  der  Dichter  auch 
an  anderen  >>tellen  zu  Felde  zieht.  Dass  es  kaum  anders  gemeint  sein 
kann,  zeigt  sein  Aussi)ruch,  dass  der  Tdealmensch  „das  harmonische 
]Maxiinuiii  aller  individuellen  Anlagen  zusammengenommen"  sei,  und 
die  andere  Stelle:  ,.t 'brigens  bleib'  es  Gesetz,  da  jede  Kraft  heilig  sein 
soll,  keine  an  sich  zu  schwächen,  sondern  nur  ihr  gegenüber  die  ander«' 
zu  ei-wecken,  durch  welche  sie  sich  harmonisch  dem  (Janzen  zutügt." 
Ähnlich  verhält  es  sich  auch  mit  der  Annahme,  dass  er  da8  Kind 
nidit  für  andere,  sondern  am  seiner  selbst  erzogen  wissen  wolle.  Das 
ist  insofern  richtig,  als  er  sich  enistlich  dagegen  verwahrt,  dass  das- 
selbe zur  künftigen  StaatsbranchlMTkeiti  zn  einer  todten  Maseldne  fikr 
die  Zwed^e  des  Staates,  flberhaiipt  Ar  einen  bestimmten  Zweck  im 
Interesse  anderer  erzogen  werde.  Allein  im  Gegensatze  zu  der  von 
Ronssean  nnd  zum  Theil  von  den  Philanthropen,  Ton  diesen  aUerdings 
mit  lobenswerter  Inconseqnenz,  vertretenen  endSmonistischen  Lehre, 
wonach  das  Eind  ftlr  sein  eigenes  Wo!  erzogen  werden  soll,  verlangt 
er,  ganz  im  Einklänge  mit  Pestalozzi,  dass  das  Kind  nicht  nnr  zn 
seinem  Glücke,  sondern  zn  dem  der  ganzen  Menschheit  erzogen  werde. 
Wie  Pestalozzi  will  er,  dass  daa  Eind  angeleitet  werde,  sich  in  das 
fremde  Leben  nnd  das  fremde  Ich  zn  versetzen  nnd  zn  versenken 
und  dieses  in  edler  Selbstentänßerung  mit  dem  eigenen  als  gleich  zn 
betrachten  und  so  das  eigene  Glück  in  dem  der  Menschheit  zu  suchen. 
Dementsprechend  soll  auch  jedes  Leben  für  das  Eind  ins  Menschen- 
reich hereingezogen  werden,  damit  die  Kinderwelt  auch  alles  thierische 
Leben  fiir  heilig  halten  lerne. 

Ist  Jeau  Paul  seinem  ganzen  Wesen  nach  in  erster  Linie  dazn 
angethan,  fruchtbare  Anregung  zum  Nachdenken  über  Erziehung  zu 
geben,  so  fehlt  es  bei  ihm,  dei-  ja  eigene  Erfahrung  in  der  Erziehimg 
besaß,  daneben  auch  nicht  an  unmittelbaren,  wirklich  praktischen 
pädagogischen  Anweisungen.  Freilich  dürfte  manchen  die  eigeuthiini- 
liche  Form,  in' die  ei-  seinen  Gedankenreichthum  kleidet,  von  dem 
Eindringen  in  diesen  zurückschrecken.  Aber  es  verlohnt  sich  eher 
der  Mühe,  sich  mit  der  Darstellungsweise  des  Dichters  abzufinden,  als 
sich  mit  dem  Studium  der  pädagogischen  Schriften  anderer  abzumidien, 
die,  um  ihre  Schwäche  zu  verbergen,  groben  Unfug  mit  unnützen 
philosophischen  Ausdrinken  treiben,  und  vor  dieser  rnbefiuemlichkeit 
ist  man  wenigstens  sicher  bei  ihm.    Er  hat  die  Jouglem-künste  der- 


jenigen  Philosophen  diu'chschaut  —  und  er  ftilirt  zutreöende  Beispiele 
dafüi*  an  — ,  die  schwierige  Fragen  dadurch  umgehen,  dass  sie  sie 
anders  benennen,  worin  ihnen  dann  der  große  Haufen  blindlings  folgt. 
Wenn  er  freilich  bezüglich  bestimmter  Richtungen  der  Philosophie 
seinei-zeit  die  Frage  anfwirft:  „Was  nützt  der  Tod  des  Teufels, 
wenn  seine  Großmutter  fortlebt  so  ist  auch  heute  noch  die  Klage 
nur  zu  berechtigt,  dass  die  rüstige  alte  Matrone,  wenn  auch  in  ver^ 
änderter  Gestalt,  ihr  zähes  Leben  munter  weiter  fristet 

Steht  auch  die  Manier,  welche  den  Diehter  beherrscht,  im  all- 
gemeinen, zmnal  da,  wo  er  sich  bemüht,  witzig  zu  sein,  dem  reinen 
und  nngetrflbten  Gennese  seiner  Werke  ffir  den  Leser  im  Wege,  so 
entschädigt  er  anderseits  dafllr  dnreh  Stellen,  in  denen  sein  tiefeB 
und  inniges  GeAU  in  natfirlicher  nnd-  dabei  hochpoetisdier  Sprache 
snm  Anadmcke  kommt. 

Han  wOrde  viel  zn  weit  gehen,  woUte  man  h<tfen,  dass  das 
Stndinm  eines  SchiiftsteUers  wie  Jean  Panl  ansere  Zeit  von  ihrem 
Materialismus  nnd  ihrem  Mangel  an  Begeistemng  für  edlere  Be- 
strebungen eoriren  konnte.  JedeniUls  aber  gehört  er  onter  die 
Autoren,  die  ihren  Beitrag  hieran  zn  liefern  nnd  dito  Gegenströmung 
zu  fitrdem  vermilgen,  die  sich  gegenüber  der  Hauptrichtang  unserer 
Zeit  zu  regen  beginnt.  Von  einer  optimistischen  Ansicht,  die  sich 
gegen  die  Mängel  unserer  Gegenwart  vers(  liließt  oder  die  ernste 
Schwierigkeit  der  Beseitigung  dieser  Mängel  ?erkennt,  ist  wenig  zu 
hoflfen;  aber  auch  mit  einer  zu  pessimistisrlien ,  welclie  die  Hoffnung 
auf  eine  von  reinerem  nnd  höherem  Streben  ala  die  Mitwelt  beseelte 
Zukunft  aufgeben  wollte,  kann  uns  ebensowenig  gedient  sein.  Dass 
gegenwärtig  eniste  und  unverholdene  Klagen  über  die  Gleiclij^iltigkeit 
der  Mehrzahl  unserer  Nation  gegen  hrdiere  Interessen  laut  werden, 
spricht  sicher  nicht  gegen  die  Bereclitigung  einer  solchen  Hoffnung. 
-Jede  holie  Kla^^e  und  ^rhriine  über  eine  Zeit,"  sagt  Jean  Paul,  „sagt 
wie  eine  Quelle  aut  einem  Berge,  einen  höheren  Berg  oder  (Tipfel  an." 
Können  wir  auch  einen  solchen  höheren  Gipfel  noch  nicht  bestimmt 
erkennen,  so  ist  doch  der  Umstand,  dass  man  ihn  überhaupt  zu  suchen 
beginnt,  nicht  das  schlechteste  Zeichen  unserer  Zeit 


22* 


Ymnschavlieliiuig  der  Cfesehiehte  in  der  Yelksselmle. 

Von  K,  OM-Oaardm  Im  Kid. 

•Hein  freund,  die  SSeiUn  il<  r  Vi  rf  Ani^Lnhcit 

Wmfvu  tla  Baek  alt  ftobtn  Si.-ir.  iti.- 

£^uat  ztt  Wagner. 

Gresdiichte  Ist  in  Deatsdifayid  Sache  der  GebOdeteren  loid  besBer 
Unterrichteten.  Die  gro6e  Haaee  weiß  nichts  von  Karl  dem  Groden, 
Otto  dem  Großen,  Friedrich  Barbarossa  md  Friedrich  dem  Gfoßoi; 
die  historischen  PersOnUcbkeitcn  sind  dem  Volke  keine  lebendigen 
'  Gestalten.*) 

Geschichte  ist  ein  abstraeter  Stoff.  Der  Historiker  Ilionunsen 
sagt  Uber  die  QneUen  zor  römischen  Gescfaidite:  „Unsere  Oberiiefe- 
mng  ist  wie  die  dfirren  BUIIter,  yon  denen  wir  mühsam  begreifenf 
dass  sie  «nst  grttn  gewesen  sind."**')  Im  Gmnde  gilt  dies  ftr  alle 
geschichtliche  Uberliefemng.  So  fahl,  so  dftrr  nnd  trocken,  wie  das 
herbstliche  Blatt,  sind  aach  die  auf  uns  gekommenen  Berichte  yon 
Geschehnissen  der  Vorzeit.  Sollen  sie  wieder  Leben  gewinnen,  nnd 
das  mflssen  sie,  um  in  bildender  Weise  auf  den  Schiller  einzuwirken 
und  in  seinem  Gedächtnis  aufbewahrt  zu  werden,  so  muss  der  Lehrer 
,  der  Geschichte  ihnen  wieder  Leben  verleihen.  Für  den  Geschichts- 
unterricht, soll  er  lebensvoll  ertheilt  werden,  gilt  aber  dasselbe  wie 
ftkr  alle  anderen  Unterrichts(>^egenstände:  „Die  Anschauung  ist  das 
absolute    Fundament  aller  Erkenntnis." 

Trotz  alles  Dringens  auf  Anschauung  fehlen  dem  Geschichts- 
unterricht Veranscliaulichung  und  Anschaulichkeit  noch  zu  sehr.  l>er 
geschichtliche  Lehrton  ist  zu  abstract.  es  fehlt  an  der  poetischen  Be- 
lebung des  Geschichtsstoffes,  an  Abbildungen,  man  benutze  mehr  die 
Karte  -  historische  Kai  teu  sind  iu  den  Volksschulen  wol  kauw  vor- 


*)  Vgl.  WM  Dr.  Ludwig  Halm  in  der  Tonede  n  sein»  nOeachichte  des 
preofliscbea  Vaterlandes'*  sagt:  „Über  die  Thntaaehc,  wie  wenig  verbreitet  in 

un-sereni   prcuBischcn  Vatcrlanflo   die    Bekanntschaft    mit  der   preuBiachen  Ge- 
schichte ist."       Vgl.  auch:  Biedermann,  Gcsdiiclitsuntorricht.   S.  29. 
Hoiuiuscn,  Küiui.sche  Cieschichte.    Band  i,  Cup.  XJ. 


—   300  — 


httldeii;  ob  die  Weise,  Namen,  Zaiilen  und  Daten  medianisch  einlenMll 
m  lassen,  gänzlich  verschwunden  ist,  will  ich  unerürtert  lassen. 

Vorliegende  Arbeit  hat  es  sieb  als  Aa%abe  'gestellt,  die  Mittel 
zur  Veranschaalichung  der  Geschichte  zosammenfassend  vorzuführen, 
und  zwar  soll  zunächst  gezeigt  werden,  welche  Hil&mittel  geeignet 
sind,  Gescliichte  sinnlich  zu  veranschaulichen. 

Geschichtliche  Gegenstände,  Alterthiimer  und  Denk- 
mäler aller  Art  sind  in  erster  Linie  als  Veranscbaolichangsmittel  ge* 
eignet. 

Selbstverständlich  muss  sich  eine  Besprechung  daran  knüpfen. 
Hei  der  Erzählung  von  der  Lebensweise  unserer  Vorfahren  zeige  mau 
einen  Pfeil  oder  ein  Steinbeil  u.  s.  w.;  ist  ein  Hünengrab  in  der 
Nähe,  so  führe  mau  die  Schüler  dahin  und  beschreibe  ihnen,  wie  die 
Alten  Todte  zu  bestatten  pflegten.  Kann  man  sich  eine  Urne  aus 
einem  solchen  Gralihügel  verschalten,  so  zeige  man  sie  vor  und  er- 
läutere deren  Gebrauch;  sind  Kuueusteine  voihuiiden,  so  müssen  sie 
betrachtet  und  besprochen  werden.  Denkmäler  geschichtlichei"  Per- 
s<men  oder  Ereignisse  und  Baudenkmäler  müssen,  wenn  sich  Gelegen- 
lieit  d«  findet,  betnMditvt  mBL  die  Versnlassong  der  Eniehtnng 
mm  erörtert  werdeo.  Audi  der  Besuch  des  Lebra»  mit  seinen 
SdiAlfini  in  einen  AherUHUunnseiun  dirfte  sopfeUenswert  sein. 

Aber  wie  selten  bietet  sieh  C^egenhsift  zur  Betrsehtung  histo- 
rieeher  Qegenstftnde!  Beahalb  mnss  die  Volkasohmle  mit  wenigen  Ans- 
nabmen  auf  diese  Art  der  Vemnscbaalicbung  verziditen. 

Aber  lumn  man  nidit  die  Dinge  adbst  betrachten,  so  suche  man 
sie  durch  Abbildungen  n  ersetcen.**)  An  Bilderwerken  sur  Ver- 
aHHchanlifthung  ist  ja  nicht  mehr  wie  ehemals  IfaageL  Was  hilft  es 
indes,  dass  Abbildungen  in  HQlle  und  FfiUe  da  sind,  wenn  ihre  Eost- 
spieligkmt  die  Anachaffhng  verbietet?  Es  sollte  aber  emstlich  danach 
gestrebt  werden,  dass  die  YoUnschnlen,  wie  sie  im  Besitz  von  Bildern 
f&r  den  Anschauungsunterricht,  von  Bildern  zur  biblischen  Geschichte 
und  Naturkunde  sind,  auch  mit  einem  Bilderwerk  für  Geschichte  ver- 
sehen würden.  Für  Schulen,  denen  gute  historische  Bilder  zu  theuer 
sind,  empfiehlt  Schumann***)  mit  Becht,  Mimchener  Bilderbogen  und 

„Uie  ücgenstÄade  selbat  locken  die  Jugend  an."   D.  M.  Cap.  XVII,  II.  IH. 
**)  „Man  sollte  weder  Ton  ägyptischer,  nodi  griechischer,  noeh  deutscher  Bau- 
kontt  den  SdUttwn  enahlen,  wtnn  man  ihnen  nicht  die  entopieclienden  Abbildungen 
vorzeigeu  kuna."  —  Uiube,  Cliunkterliildev  MB  der  GMdiiehte  «ad  Sage.  (Einleitende 

Vorrede.  J^.  X.) 

***)  Di.  bcbumano,  Lehrbuch  der  li'ädagogik.  II.  TheiL  S.  266. 

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andere  Illustrationen  anznschaieiii  ebenlUls  dttrite  das  Hirtaehe 

Bilderwerk  zu  empfehlen  sein. 

Wenn  etwas  geeignet  ist,  das  siebenmal  versiegelte  Buch  der 
Vergangenheit  aufzuschließen  und  es  Kindern  zu  erschließen,  so  sind 
es  Bilder.  Wer  Kindern  die  Abbildung  eines  geschichtlichen  Ereig- 
nisses erläuternd  vorzeiget,  der  thut  mehr,  als  wenn  ei*  die  Geschichte 
zehnmal  erzälilt.*) 

Auch  (las  Vorzeigen  naturkundlicher  Abbildungen,  eine  For- 
derung Dr.  Finger's  *).  erweist  sich  in  der  Geschichtsstunde  zuweilen 
als  nothwendig.  Bei  Bespreciiung  der  Geschiclitf  der  alten  Deutscheu 
müssen  z.  B.  Bildei*  des  Kiens,  des  Auerochsen,  des  Bären  \l  s.  w. 
vorgezeigt  werden. 

Aber  auch  durch  Zeichnung  an  der  Wandtafel  wird  Ge- 
schichte anschaulicher.***)  Es  werde  die  Marsclirichtuiig  der  Krieg- 
führenden angezeichnet ,  so  z.  B.  die  des  vom  Rhein  Deutschland 
dui'cheilenden  großen  Kurfürsten  und  die  der  zurückweichenden 
Schweden. 

Daneben  iniiaa  die  Wandkarte  als  Veranachaalichungsmittel 
verwendet  werden.f)  Die  Geschichte  wird  anschanUeher,  lebendiger, 
interessanter,  wenn  man  genan  den  Ort  kennt,  wo  sie  sidi  Eugetragen 
hat  FQr  Jede  Gesehiehtsstonde  ist  deshalb  eine  Wandkarte  unent- 
behrlich —  am  besten  eine  historische,  weil  sonst  in  der  Seele  des 
Kindes  ftlsche  VorsteUongen  entstehen  kOnnen.tf  )  Anf  der  Karte 
mOssen  alsdann  die  in  der  Stunde  genannten  gesdüchtück  wichtigen 
Örter,  Flüsse,  Berge,  Gegenden,  Landschaften  n.  s.  w.  geoeigt  werden. 
Die  SchtUer  sucken  am  Ende  der  Stande  oder  im  Hanse  diese  nodi- 
mals  in  ihren  Handatlanten  anf.  Es  ist  aneh  toq  Nntnn,  wenn  der 
Lehrer  sich  die  Lage  dieser  Örter  u.  s.  w.  dnrch  Handansstrecken 
seitens  der  Schiller  angeben  Ifisst,  s.  B.  das  Lechfeld  liegt  von  mis 
ans  weit  nach  Süden.  (Die  SekQler  strecken  die  Arme  ans  in  der 
nngefilhren  Richtung.) 

*)  VgL  was  iioetho  Uber  die  Bilder  der  deutecheu  Kaüer  im  Kaitterüaai  zu 
FmnkAirt  ».  H.  and  die  sieh  danui  BcUieSeiide  B«lehning  sagt  (Aus  in«iii«Bi 
Leben.   Wahrheit  und  Diehtnng.  L  Tbdl,  1.  Bach.) 

♦•)  Dr.  Finger,  Anweisung  zum  Unterricht  in  der  Heimatskundc.    S.  14(5. 
***)  „Dos  Zeichnen  soll  in  der  Schule  nicht  nur  eme  Disciplin,  sondern  ein 
methodische«  Princip  sein.'*  Fr.  Polack. 

t)  „Alle  Geachidilte  wiid  der  Jqgend  in  die  Lnft  geadiridien,  wenn  die  Geo- 
graphie nicht  die  Bub  iet*'  Sehleiennadier. 

tt)  „So  denkt  das  Kind,  wenn  von  den  Kurfilrsten  von  Sachsen  die  Bede  ist, 
htetfi  an  d»s  KiJnigrcicb  oder  auch  an  die  PiOTiBS  Sachsen'*  u.  8.  ir.  Krieger,  Der 
(•Cächichtsunterricht.   S.  113,  114. 


—   811  — 

Zuweilen  ist  es  auch  nothwendig,  bei  Besprechung  der  betreffenden 
Abschnitte,  einen  Ort,  eine  Gegend  oder  Landschaft  kurz  zu  charak- 
terisiren,  z.  B.  das  Leclifeld,  das  Marchfeld,  die  Ebene  um  Leipzig, 
die  Gegend,  in  welcher  Fehrbellin  liegt,  u.  s.  w.  Es  werden  die 
wahrscheinlichen  vormaligen  Wohnsitze  unserer  aus  Asien  einge- 
wanderten V'orfahren  gezeigt,  die  von  Heinrich  L  gegründeten  Städte, 
ferner:  „die  große  Kaiseistraße,  die  von  alters  übern  Breuiier  aus 
Germanien  führt  nach  Welschland."*)  Der  Wes:  der  Ungarn  und 
Türken  bei  ihren  Einfällen  nach  Deutschland,  der  Weg  der  Kreuz- 
fahrer, sowie  die  uralte  Handelsstraße  über  den  St.  Gotthard  nach 
Italien**)  u.  s.  w.  Indes  darf  dies  nicht  weiter  ausgeführt  werden, 
als  zum  Verständnis  des  geschichtlichen  Pensunis  nothwendig  ist: 
Geschichte  muss  eben  Geschichte  bleiben,  und  dei*  Geschichtslehrer 
darf  nicht  auf  das  Gebiet  der  Geogi*aphie  abirren. 

Nachdem  so  die  Hilfsmittel  ins  Auge  gefasst  sind,  wodurch  Ge- 
schichte sinnlich  veranschaiilicht  wird,  soll  erwogen  werden,  wie  mGg- 
liebste  Anschaulichkeit  des  Gaschichtsstoffes  zu  erstreben  ist 

Der  GMGbiditoimterridit  in  der  V  oUcssehale  mnss  sieb  vorwiegend 
nach  der  Nator  des  iündes  richten  und  sich  demgem&S  Überwiegend 
Thaten  und  Personen  zawenden.  Der  Vortrag  sei  anacbanlich  und 
lebendig.  Die  gesehiehtlichen  Personen  mflssen  vor  den  Augen  der 
Kinder  wachsen  und  werden  bis  zn  ihrem  Höheponkte:  das  Kind  muss 
gleichaalD  die  Geschichte  erleben. 

Da  ist  Karls  des  Grollen  Heldengestalt,  seine  Züge  nach  dem 
Sachsenlande,  das  fortwährende  Anflodem  des  Aafrnhrs,  die  endliehe 
Unterweifhttg,  Wittekinds  Tanfe  und  die  KaiserkrOnung  in  Born.  Da 
wird  Hebrich  der  Vogelstelkr  vorgeffthrt:  sein  Arbeiten  an  der 
Wehrhaftmaehnng  seines  Volkes,  die  Gründung  von  Stftdten,  die 
Schlacht  bei  Merseburg.  Da  steigt  Friedrichs  I.  Heldengestalt  aus 
der  Vorzeit  auf:  seine  Römerzüge,  Mailands  Zerstörung,  das  beiden» 
hafte  Ringen  und  die  Niederlage  bei  Legnano,  Heinrichs  des  Löwen 
Ungehoissm  und  Bestrafung,  der  glänzende  Reichstag  zu  Mainz,  sein 
Kreuzsog  und  klägUches  Ende.  Da  ist  Luther:  sein  allmähliches 
Wachaen  und  ^^'erden  (besonders  auch  des  inneren  Menschen),  sein 
Kampf  gegen  Ablass  und  Papstthum  und  endlich  der  Gipfelpunkt: 
sein  Auftreten  auf  dem  Reichstag  zu  Worms.  Ferner:  Gustav  Adolf: 
sein  Abschied  von  den  schwedischen  Ständen,  die  Laudung  in  Pommern, 

*)  Julius  Wölfl,  Taniiliäuscr. 

Schiller  s  TclL    V.  Aufeug,  2.  Auftritt. 


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die  Hilldernisse,  welche  Magdeburgs  Entsetzung  vereiteln,  die  Schlacht 
bei  Breitenfeld,  der  Siegeszug  nacli  dem  Süden,  schließlich  sein 
tragisches  Ende.  Da  ist  der  große  Kurfürst,  da  ist  Friedrich  der 
Große,  ihre  Jugendzeit  und  Leiujabret  die  vieleu  ireiude  und  der 
endliche  'rriumpli. 

Auch  (J u  1  tu rgi; schichte  nuiss  herangezogen  werden,  abei'  im  . 
Anschluss  an  Personen  und  Thatsachen. 

Bei  Karl  dem  Großen  werde  des  Landes,  der  Keiigiun  und  Sitten, 
des  Charakters,  der  Lebensweise  der  Sachsen  gedaclit,  aber  im  An- 
schluss an  ihren  Nationallielden  Wittekind.  Bei  Kourad  1.  und 
Heiniich  L  spielt  wieder  die  Ciilturgeschichte  hinein:  die  Ungarn 
werden  geschildert  (nach  Aussehen,  Bewaffnung,  Lebensweise,  Krieg- 
fühnmg),  die  Wehrhaft  machung  des  deutschen  Volkes,  die  Gründung 
vmi  Stldten  schließe  sich  daran.  Man  bespreche  „die  kaiserlose,  die 
schreckUclie  Zdt**  im  Anschluss  an  Badolf  von  Habsburg,  der  die 
Ordnung  wiedetiiei^tellt.  Bei  der  Geschichte  der  Entdeckung  des 
Seeweges  nach  OstindieB  werde  der  alte  levantische  Handelsweg  ge- 
schildert Bei  Luthers  Geschichte  bespreche  man:  Kloetersehalen, 
lateinische  Schulen,  Universitäten,  das  £losterwesen  u.  s.  w.  Die  üm- 
wUznng,  welche  durch  Schieftpulver  und  Feuerwaffen  bewirkt  wurde, 
zeige  man  an  der  Niederwerfimg  der  brandenburgischen  Bitter  durch 
Friedrieh  von  Hohenxollern. 

Wird  die  Gnltuigeschichte  von  Personen  nnd  Thatsachen  abgelöst, 
so  ist  sie  Kindern  zu  dfirr  und  abstract  und  wird  infolge  davon  nicht 
behalten.*)  Das  ist  den  Lehrern  sattsam  bekannt  Darre  Notken, 
Abstractionen,  trockene  Lehren  haHm  niefal  Im  Geiste  des  Kindes, 
aber  kleidet  die  Lehre  ein  in  eine  kleine  Erzfthhmg,  und  wie  begierig 
horcht  (las  Kind! 

Es  wird  eingewendet,  dass  Kinder  fiir  die  Auffassung  gi'ofter 
C  haraktere  nicht  reif  seien.  Allerdings  für  die  tiefere  Erfassung  der- 
selben sind  sie  nicht  reif;  aber  wenn  die  geschichtlichen  Gestalten 
Schülern  in  kindlicher  Weise  nahe  gebracht  werden,  so  ist  der  Zweck 
d^  Geschichtsunterrichtes  in  der  Volksschule  erreicht.  Da  ist  vor 
allen  Dingen  n<'»thig,  dass  die  Jugendgeschichte  und  das  Fami- 
lienleben dei'  geschichtlichen  Pei'sonen,  sowie  das  Äuüere  dei-selben 


*)  „Macht  iiuincrhin  ein  Capitel  üb«r  das  Ritterweaeu,  aber  Teraftumt  nicht, 

«Uo  lobendige  Figur  cinos  iU)t7.  von  Bcrlichingen  odor  Hayard  hineinzustellen."  ..l>ie 
junge  Seck-  fuHsf  gerne  und  kicht  diia  Naclieinamlcr,  ungern  und  ucliwcr  das  2subeu* 
einander.  '  —  Cirube,  ( harakterbilder.   Einleitende  Vorrede.   8.  r\'. 


—  318  — 


gebärende  Berücksichtigung  tinde.  .Jugeudgeschichten  groUer  Männer 
sind  wichtig  nnd  lassen  einen  Rück  voiaus  thun  in  das  spätere 
Leben  derselben;  treftend  sagt  der  Dichtei*:  „In  auserer  Jugend 
wurzelt  unser  Schicksal.'* 

Es  werde  gezeigt,  wie  Heinrich  IV.,  welcher  der  väterliclien 
Erziehung  entbehrte  und  aus  der  Hand  eines  schlimmen  Priesters 
in  die  eines  noch  schlimmeren  gerieth,  der  von  Jugend  aut  ver- 
dorben und  verführt  wurde,  zu  einem  scliwankenden,  bald  übermäßig 
starren  und  strengen,  bald  verzagten  und  kriechenden  Charakter  werden 
musste.  Mau  zeige,  wie  die  strenge  Zucht  der  Eltern  und  Lehi-er 
Luthers,  wie  Noth,  Hunger  und  Kummer,  das  Früh-auf-sich-Belb8t> 
gestellt-sein  Luther  zu  einem  solchen  kräftigen  Chai-akter  heranbildeten. 
Es  werde  darwf  hinge wieeen,  wie  der  große  KnrfOrst,  der  die  Er- 
ziehung xweter  tüchtiger  Fnuien  eifUir,  der  die  Noth  des  Lebens 
nnd  die  Greuel  eines  entsetzliehen  Krieges  schon  als  Kind  keimen 
lemte,  dann  der  Aafimthalt  in  Holland  nnd  das  lenchtende  Yorbild 
Friedrich  Hebrichs  yon  Oranien  ihn  tüchtig  machten.  Der  Lehrer 
trete  mit  dem  Kinde  ein  in  Lntliers  Hans,  lasse  es  seiner  Lante  nnd 
dem  Gesänge  seiner  Kinder  lauschen  nnd  mit  dem  starken  Mamie 
am  Sarge  seiner  lieben  Lene  die  Abgeschiedene  beklagen.  Auch  das 
Änfiere  der  geschichtlichen  Persemen  miise  geschildert  wei*deii,  damit 
das  Kind  sich  dieselben  lebendig  YorsuiteUen  vermöge. 

Wie  beim  Eizihlen  der  biblischen  Geschichte,  so  dürfen  auch  bei 
der  nnteirichtiichen  Behandlung  der  ProfiMigeschichte  Neben- 
nmstftnde  und  individuelle  Züge,  selbst  wenn  sie  ftkr  die  Geschichte 
wenig  wichtig  sind,  doch  nicht  wegbleiben.*) 

In  wissenschaftlichen  Geschichtswerken  finden  solche  Zü^'^e,  wie: 
Karl  der  Große  in  der  Schule,  geringe  Erwähnung;  iu  der  Volks- 
schule darf  diese  Episode  nntfi  keinen  Umständen  fehlen.  JTür  die 
Greschichte  ist  es  unwesentlich,  dass  Heinrich  L  die  Krone  empfing, 
als  er  im  Walde  dem  Vogelfang  oblag;  Kindern  wird  der  König  da- 
durch interessant.  Was  kümmert  den  gelehrten  Historiker  viel  Luthers 
Jugendgeschichte,  seine  Noth  in  Magdeburg  und  Eisenacli,  seine  Yev- 
sorgung  durch  Frau  Cotta,  und  wie  fesselnd  ist  sie  dncli  für  Kinder! 
Wie  geeignet  sind  solche  und  ähnliche  Episoden,  obwol  nicht  strenge 
Geschichte  enthaltend,  ziu*  Kinführunfr  in  die  Geschichte.  Wie  wird 
dadurch  das  Auffassungsvermögen  gebildet,  das  Interesse  geweckt! 

*)  Grabe  fordert:  „Vertiefüag  in  das  Individuelle.'*  —  Grube,  Chanktcrbilder 
Eiideitendc  Vorrede.  S.  XI. 


^.  ij  1  Lj  v^<..<^_'^le 


—  814  — 


Wie  werden  daduicli  die  historischen  Gestalten  den  Kindern  näher 
gerückt!  Wie  prägt  sich  dann  die  Geschichte  leicht  dem  Gedächtnis 
ein!  Was  daher  der  Geschichtsschreiber  als  unwesentlich  beiseite 
setzt  oder  kaimi  andeutet,  das  ist  dem  kindlichen  Geiste  oftmals 
wichtig  und  für  seine  Entwickelung  nöthig.  Was  also  an  das  kind- 
liche Leben  anklingt,  wie  Karl  der  Große  in  der  Schule,  Heinrich  I. 
am  Vogelherd,  Luther  der  ('urrendschüler,  Friedrich  der  Große  am 
Mittwoch  Nachmittag  in  Berlin  einreitend:  das  lindet  ein  aufmerk- 
sames Ohr. 

Dai'aos  muss  der  Jugendlehrer  die  Lehre  ziehen,  dasä  trockene, 
abstracte  Geschichte  nicht  hk  die  Volksschule  gehört,  sondern  Ge- 
schichte in  Und&dieiD  Gewände.*) 

Um  eine  lebendigere  Bantellong  zn  erzielen,  mflssen  die  Helden 
der  Geschichte  redend  eingeführt  werden.  Besonders  theile  man 
redit  chankteristiBche  Anssprttehe  mit:  Bndolfr  von  Schwaben  Avs^ 
mf,  als  ihn  in  der  Sohlacht  bei  Heraebm^  die  Strafe  ereilte:  nüas 
ut  die  Hand,  mit  welcher  ich  dem  Kaiser,  meinem  Hem,  Trene 
schwor!"  BndoUh  von  Habsbnrg  Wortt  als  er  die  Raubritter  bdcAmpfte: 
„Keinen  halte  ich  für  adlig,  der  von  Ranb  und  nnehriicher  Hantirong 
lebtP  Kannitz*s  Ansrnf  bei  der  Nachricht  von  dem  Tode  des  grofien 
Friediicfa:  „Wann  wird  wieder  ein  so  groSer  K<^nig  das  Scepter 
fahren?**  n.  v.  a.**) 

Auch  die  zuerst  von  Stiehl  angeregte  Berücksichtigung  vater- 
ländischer Documenta,  z.  B.  des  „Aufrufs  an  mein  Volk",  nützt  zur 
Veranschaulichong.  So  könnte  man  auch  benutzen  die  Briefe  und 
Telegramme  König  Wilhelms  bei  Gelegenheit  der  groien  Siege. 

Einer  weitergehenden  Forderung,  die  Schüler  an  die  jeweiligen 
Geschichtäquellen  heranzuführen,  kann  von  der  Volksschule  wol 
nur  in  mäßigem  Umfimge  und  im  Anschlnss  an  das  Lesebuch  ent- 
sprochen werden. 

Ähnlich  wie  der  blaue  Duft  eine  ferne  Gegend  verschönt  und 
ihre  M&ngel  verhüllt,  so  verklürt  auch  die  Sage  die  zeitlich  fernen 

*i  ..Da  ist  iiiiinclies  (te.schicht.sbiiihlfin,  (Iiis  eiu  Histdrik«-»-  von  Farli  vehichtlitli 
Uber  üie  äciiulter  ansehen  wttrdc,  lUr  deu  JUcthodiker  vou  Fuch  eiu  wakrbatt  claiui- 
9dm  Werk.**  —  OniH  ChuakteibildM.  EiBleitende.VoiMde.  S.  Y. 

**)  BfaMO  Sefaiitt  weit«r  geht  nooh  SehfltM.  (SmigeUBeliA  Sdndknnde.  S,  £06.) 
Er  ('in])ficblt,  die  Geschichte  zn  drainatiliMlI.  Als  Beispiel  ist  gewählt  die  Geschichte 
von  Heinrich»  des  Löwen  l'ngehorsam  nnd  Hestrafunfr.  Wenn  es  sich  un^esucht 
eigibt,  wirkt  eiu  »o  behandelter  Abschnitt  ohne  Zweitul  unscUaulicüer  als  bloüe 
BcBlUung  ohne  Dialog. 


historischen  (Testalteu,  entkleidet  sie  des  Kleinlicheu,  Niedrigen  und 
Hässlichen  —  das  ja  auch  ^rioßen  Männern  anhaftet,  hebt  dagegen 
die  guten  Seiten  hervor,  die  sie  im  hellsten  Glänze  erstrahlen  lässt. 
Deshalb  ist  die  Sage  für  die  Schule  so  wichtig;  sie  zeigt  dem  Kiade 
das  Gute,  Große,  Nachahinnngswiirdige  im  hellsten  Lichte. 

Wer  möchte  wol  die  poetisclie  Sage  vom  Kaiser  Rothbart,  die 
Heine  in  „Deutschland  ein  Winteiniärchen"  vergeblich  in  den  Staub 
zu  ziehen  bemüht  gewesen  ist,  entbelireiiy  Oder  dürfte  wol,  um  einer 
Sage  der  Heimat  zu  gedenken,  die  Erzählung  fehlen  von  der  gnaden- 
reichen Frau,  die,  um  Hüte  angefleht  in  der  Schlacht  von  Bornhöved, 
die  ermatteten  Kämpfer  vor  den  Sonnenstrahlen  schützt,  indem  sie  vor 
der  Sonne  ihren  Mantel  ausbreitet? 

Sagen  tragen  weseDtlich  zur  Veranschaalichaiig  bei,  und  ist  daher 
eine  größere  BeriUifcsiehtigung  dior  Sage  im  OesehiditBiiiitenißlEt  der 
Yolksachiile  wolbegi  ündet 

Aber  aach  Anekdoten,  mkam  sie  charakteristieeh  amd,  darf  der 
gewissenhafte  Lehrer,  ohne  Gewissensbisse  zn  empfinden,  einfiecbten. 
Wie  trefflich  eharakterisirt  s.  B.  eine  Anekdote  den  SoldatenkOnig 
und  stellt  ihn  Kindern  besser  vor  Aogen  als  weitschwmfiges  Erzählen. 

"Wie  die  Sage,  so  ist  auch  die  Poesie  ein-  vortreffliches  Ver- 
anschaolichnngsmittel  der  Geschichte.  Was  würdig,  rOhmlidi  und 
edel  ist,  das  stellt  sie  in  lebendiger  Sprache,  in  knapper  Form  vor 
die  Angen.  Den  allen  bekannten  hohen  Wert  echter  Poesie,  mit 
ihrer  leichteren  Yerstiodlichkeit,  mit  ihrer  anregenden  und  belebenden 
Kraft;  hat  auch  Luther  erkannt 

Ein  geschickter  Lehrer  wird,  sei  es  in  der  Geschichtsstunde 
Bfllbet  oder  in  einer  anderen  geeigneten  Stunde  (z.  B.  Lesestuude), 
auf  geschichtliche  Personen  oder  Ereignisse  sich  beziehende  Gedichte 
mit  der  Geschichte  verknüpfen.**) 

Bei  Karls  des  Großen  Geschichte  werde  Bezug  genommen  auf 
Geroks  Gedicht:  „Schulvisitation";  bei  Heinrich  I.  auf  Vogls  „Herr 
Heinrich  sitzt  am  Vogelherd " ;  bei  Barbarossa  auf  Rückerts  „Der  alte 
Barbarossa"  oder  auf  Geibels  „Tief  im  Schöße  des  Kjifhäusei-s"  und 
auf  Uhland's  „Schwäbische  Kunde".***)  Bei  Rudolf  von  Habsburg  auf: 

*)  Er  ruft  klagend  ans:  „Ja  wie  leid  iitt  mir's  jetzt,  dass  ich  oichi  lueiir 
Poetea  md  ffittorieii  getown  luibe  and  mkh  anoli  dieielbeii  niemand  gelehiet  hat!" 

**)  „Gedichte  eiliOhen  die  AnaehanBehkeit  des  Untenidites  uud  erwecken  in 
den  Schttlern  eine  Icbbsifto  Thcilnnhme  an  hjetomohem  Penonen  und  Brnignimon  " 
Monatsblatt  des  evaogcliscbeu  Leiirerbundes. 

Vgl.  Methodik  des  Unterrichtes  in  der  Cicbchicüte  vuu  Prot.  Rusch.  40. 


—   316  — 


„Kaiser  Rudolfs  Ritt  zum  Grabe^';  bei  der  Geschichte  der  BefireilliigSo 
kri^e  auf  „Lützows  wilde  Jagd"  ii.  s.  w. 

Wie  anschaulich,  wenn  bei  Besprechung  des  Hubertsburger  Friedens 
Kindern  die  Heimkehr  ans  dem  langen  Kriege  aosgemalt  wird: 

„Der  Kumg  und  die  Kaiserin, 
lies  langen  BmäetB  Bilde, 
Erweichten  ihren  harten  Sinn 
Und  machten  endlich  Friede; 

Und  jedes  Heer,  mit  Sincr  und  ^iitißf, 
Mit  rauk(  Q8<-hla;:r  und  Kling  und  Klang, 
GtanhmUckt  mit  grünen  Beiaern, 
Zog  heim  su  seinea  Hiiuera.^ 

All«:  Bürixt-rs  „I-eiiDrc". 

Ist  es  nicht  für  das  geistige  Auge  wolthuend,  wenn  die  Geschichte, 
die  so  oft,  von  Greueln  und  Blutvergießen*)  handelt,  auch  einmal 
den  Gegensatz  hervorhebt:  ..Schön  ist  der  l^'riede!*'    Dasselbe  Thema 
behandelt  auch  der  Abschnitt  aus:  „Die  Piccolomini": 
„O  »chöuer  Tag,  wenn  endlich  der  .Soldat 
Iis  Leben  heimkehrt,  in  die  Meaeddiehlteit  v.  •:  w. 
(I.  Aufiräg,  4.  Auftritt) 

Diese  liebliche  Scene  ist  sehr  w<di  geeignet,  bei  fiesprecfaiuig  des 
westfiUischen  Friedens  die  greuelYolle  Geschichte  des  dreiAigjShrigeii 
Krieges  zu  beschließen. 

Kein  Geschichtsschreiber  schildert  so  anschaulich  wie  Uhlands 
„Kaiserwahl",  wie  die  deuts(  hen  Stämme  auf  dem  Maientelde  „am 
schönen  Kheinstrom  rwischen  Worms  und  Mainz"  sossmmenkommen 
und  einen  Kaiser  küren. 

Poetischer  Stoff  zur  Veranschaulichung  ist  in  Menge  vorhanden. 

Aber,  könnte  mancher  fragen,  was  nützen  alle  diese  Verse, 
Sprüche,  Oitate  u.  s.  w.?  Wird  die  Geschichte  dadnrch  nicht  zu 
einem  wüsten  Durcheinander? 

Einmal  dienen  sie  dazu,  die  Geschichte  zu  veranschaulichen,  dann 
aber  auch,  sie  dem  Gedächtnis  einzuprägen.*  I 

Audi  eine  Vergleicliuug  und  Kntgegenslel  I  uuj^  geschicht- 
licher Personen  und  Ereignisse  dürfte  zur  bt^sereu  Veranschau- 
lichung  wesentlich  beitragen.  So  könnten  in  Parallele  gestellt  werden: 
Bonifacius  und  Anschar  —  Luther  und  Zwingli  (Huss)  —  Heinrich  I. 
und  Budüil  von  Habsburg  —  Otto  der  Große  und  Friedrich  ßarbaiossa 

»Peehten  rad  TodtMUagen."  Loeke. 

**)  ^Haftet  doch  «ne  Geeobielite,  ein  Ten,  ein  Wort,  die  er  (der  Schaler)  im 
Fluge,  im  zufälligen  Lesen  aufraffte,  oft  hcMer.  al«  da»  noch  so  inUhsnm  Ein^eObte.* 
David  Malier,  Geschichte  des  deutschen  VoUies.    Vorwort  zur  1.  Aod.   S.  VI. 


—  Attila  und  Napoleon  I.  u.  s.  w.;  die  Schlacht  auf  den  cutalaunischen 
Feldern  und  die  Völkerschlacht  —  der  Einbruch  der  Hunnen  mit 
den  Einföllen  der  Araber,  Ungarn,  Mongolen,  Türken  —  der  Zu}^  der 
Angeln  und  Sachsen  nach  Britannien  und  der  Einbruch  der  Ostgothen 
in  Italien  —  des  großen  Kurfürsten  Zug  vom  Khein  nach  Fehrbellin 
und  Friedrichs  des  Großen  Rückzug  aus  Mähren  (Zomdorf)  u.  s.  w. 

Man  hüte  sich  vor  unpassenden  Vergleiclien  und  frage  sich  jedes- 
mal, welche  Vergleichspunkte  sich  finden,  und  ob  die  Parallele  für  den 
Schüler  nutzbringend  und  fördernd  sei. 

Dies  zui*  Frage  über  Veranschaulichnng  der  Geschichte. 

In  der  Pädagogik  handelt  es  sich  nicht  um  hohe  Geheimnisse, 
sondern  das  ganze  Geheimnis  des  rechten  Schnlhaltens  besteht  darin, 
sich  zu  den  Kindern  herabzulassen,  einfach,  kindlich  und  anschaulich 
mit  ihnen  zu  sprechen  und  sie  so  allmählich  geistig  zu  sich  empor- 
zuheben. 

Die  anschauliche  Behandlung  der  Gesehidite  erlbfdert  also 
Betrachtung  etwa  vortiaiidener  Alterthfimer  und  DenknUUer,  Yor- 
ftthmng  von  gescliißhtlichea  Abbildungen,  Zdchniingea  an  der  Wand- 
taftl,  fleilige  Bentrang  der  Karte;  lisnier  verwiegend  Besprechimg 
ymt  PenoMQ  nd  EreigHiBsen  (Onltiugescbichte  im  Ansdilnss  daran), 
ehngehende  Berttduichtigung  der  Jagendgeschichte  und  des  Familien- 
lebens, sowie  des  Äniteren  geschichtlicher  Personen,  Vertiefting  in 
individodle  Züge,  Anfuhren  von  Aossprüchen  grelSer  Männer,  Bin- 
Üeohten  von  Docnmenlen,  Sagen  (Anekdoten)  ind  Poesie,  Yeigtoicfanng 
nid  Entgegenstellni^r  von  Thaten  nnd  Personen. 

Um  aber  eine  redite  kindliche  und  anschanUehe  Behandlung  des 
GeschichtsstoffiBS  zu  ermOgUehen,  ist  von  selten  des  Lehrers  eifriges 
Studium  erforderiioh. 

Wie  der  Bergmann,  ehe  er  einen  Schacht  hinabteuft  bis  zu  den 
goldenen  Adern,  zuvor  die  Gegend  und  den  Boden  sorgfältig  unter- 
sucht,  damit  die  mühsame  Arbeit  nicht  an  solchen  Orten  begonnen 
werde,  wo  sie  keinen  Gewinn  bringt,  so  muss  auch  der  Lehrer,  will 
er  Kindern  die  Geschichte  ersclüießeu,  dies  unerm  essliche  Gebiet 
Studiren.  D&an  nur  eifriges  Studium  anschaulicher  Geschichts- 
darstellungen (Grube,  Spieß  und  Beriet*),  größerer  g'eschichtlicher 
Werke  (Schlosser,  Ranke,  Giesebrechtj ,  (^uell Schriften  i WattenbachV 
methodischer  Schriften  (Krieger  u.  a.)  und  die  infolge  davon  möglicli 
werdende  rechte  Auswahl,  Begrenzung  und  Behandlung  des  Stotfes 
sichern  vor  MissgiiÜen. 

*)  Letetens  Weile  wiid  tob  Herrn  Dr.  Dittes  empfohlen. 


Friedrieb  Benst. 

Von  Dr.  EuxUd  Haufe-Meran. 

Im  Jahre  1866  gritaidete  Kari  Fi^bel  eine  Eniehiiiige>  «id  Pendoiie- 
ansUlt  in  Zürich,  um  in  ihr  die  Ideen  seines  berähmten  Onkels  Friedrich 

Fri)bel  vom  Kindorg-arten  an  durch  alle  Schulstnfen,  bis  znni  Eintritt  in  die 
Universität,  als  Kichtsclinur  dienen  zu  lassen.  Allein  schon  nach  vier  Jahren 
überließ  er  die  Anstalt  dreien  seiner  Lehi^er,  um  in  Hamburg  die  Leitung  einer 
höheren  TBehtendnle  (Hftdehenonhrenitlt)  m  ttlienielinien.  Die  „Erziehangs* 
aastalt  im  Seelttd"  in  Zürich  ging  nach  swei  Jahren  an  den  ala  HlUUefarer 
an  ihr  wirkenden  Friedrich  Benst  Aber,  welcher  bis  1854  mit  einem  Collogen 
der  Anstnlt  an  ihr  thlltig  war.  In  genanntem  Jahre  trennten  sich  die  beiden, 
Jeder  fiUirte  eine  Erziehungsanstalt  unter  eigenem  Namen  fort;  doch  konnte 
sieh  die  eine  nicht  lange  lialten,  wihraid  aieh  die  von  Benst  in  Hottingen  bei 
ZUrich  gegründete  in  gUnttiger  Weise  entwickelte,  was  ebenso  sehr  der  Avs- 
daaer  nnd  dem  Ifnthe,  als  der  BedUrfhialosigkeit  ihres  Leiters  angesdirieben 
werden  mnss.  Die  Bestrebungen  desselben  weiteren  Kreiseii  bekannt  sn 
machen,  ist  der  Zweck  folgender  Zeilen. 

Beusts  Verdienst  ist  im  wesentlichen  darin  begründet,  dass  er  in  der 
Yolksschnle  den  Arbeitsnnterricht  einzufahren  soeht;  hierfür  Wege  nnd 
Mittel  zu  finden,  nm  dem  Wollen  nnd  Vollbringen  innerhalb  der  pädagogischen 
Ziele  die  llaterie  an  schaffisn,  war  die  eigentliche  Kefonnaa^abe,  die  er  sich 
stellte. 

Die  Lösung  derselben  erkannte  er  in  erster  Linie  im  Vergleichen  und 
Hessen  im  weiteren  nnd  engerm  Sinne  des  Wcntes.  Von  Anfang  seiner 
Lebrthfttigkeit  an  sah  er  darin  eines  der  wichtigsten  Mittel,  das  Kind  natar> 
gemüß  zn  erziehen.  „Die  Tliätigkeit  dei-  Sinne,''  sagt  er.  ..beginnt  bei  dem 
Kinde  bald  nach  der  Geburt.  Sobald  dieselben  vergleichend  arbeiten,  sind  sie 
aut  dem  Wege,  die  Umgebung  richtig  zu  erkennen.  Das  \  ergleiclien  beginnt 
schon  sehr  firflh;  alle  Thätigkeiten  des  Kindes  dienen  ihm  dabei  als  HitteL 
Dahin  gehSren  zunftchst  alle  Spiele,  die  nicht  von  einem  nenen  Joh.  Ballhom 
verbessert  sind,  und  alle  die  kleinen  Handreichnngen,  welche  dem  Kinde  — 
früher  mehr  als  jetzt  —  in  der  Familie  zugemuthet  werden.  Der  Kreis  der 
anf  diese  Art  vergleichend  und  messend  angeschauten  Dinge  ist  schon  selu* 
gro6,  wenn  die  Sdiole  daa  Kind  mit  den  Malen  nnd  deren  Handhabnng  anf 
seine  Art  vertraut  macht.  Indem  die  Kinder  beobachten,  nntersnchen,  ver- 
gleichen und  messen,  schärfen  sie  ihre  Sinne,  eignen  sich  Begriffe  an  nnd  bilden 
Schlüsse.  So  erfassen  sie  das  wahre  Wesen  der  Dinge  und  befinden  sich  also 
bereits  auf  dem  Wege,  die  Wahrheit  zu  erlorschen.  Und  vollzieht  .sich  nicht 
die  ganze  Entwickelung  der  Menschen,  bis  zum  Erlöschen  der  Denkfähigkeit, 


—  319  — 


dnrch  Vergleichen,  Messen,  Scliließen.  Wollen  und  Vollbringen?  Vergleichen 
und  Messen  sind  aber  vom  Beginn  der  Gelürnthtttigkeit  au  allen  anderen 
Thätigkeiten  vwaugebeid.  Alle  rohen  HandarbeitMi  keben  iiBMUgeietKt  det 
Versktohen  lad  Menen  nSthig;  bei  Jeder  bOheren  teolmiichen  Thftti^eit  wird 

das  Vergleichen  und  Hessen  noch  in  hSherem  Grade  ange\s  (MuIet;  Mathematik 
nnd  Naturwissenschaften  erschließen  sich  uns  nur  durch  Vergleichen  und  Messen. 
Und  so  geht  es  mit  jedem  Berule."  ^Die  Auswahl  der  Vergleichsobjecte  be- 
ginnt mit  den  einfachsten  md  naheliegendstMi  Begriffen  nnd  entspricht  sowol 
dsr  UndlieheD,  wie  der  allgeoMiiMB  tocialflii  Eatwiekeleiigittiife.  Berihsite  * 
Pädagogen  sind  darin  Wegweiser  gewesen,  am  nächsten  stehen  Pestalozzi  nnd 
Fröbel;  letzterer  hat  auch  ein  vortreflfliches  l'bungsraaterial  geschaffen.  Das 
N'cit^leichen  und  Mes.s(»ii  niufis  aber  an  den  Dingen  selbst  geschehen;  in  ihm 
sollte  sich  auch  das  Wollen  und  Vollbringen  verkörpern,  oder  jenes  sollte  zu 
diesem  die  Einleiteng  seiB." 

In  der  Praxis  hat  Fr.  Benst  dem  V'ergleichen  nnd  Messen  im  engeren 
Sinne,  den  Untersuchungen  und  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der  Grüßen  lehre 
(Geometrie  und  Rechnen),  die  größte  Beachtung  geschenkt.  In  seinem  Schriftchen: 
„Grundgedanken  von  Pestalozzi  und  Fröbel  in  ihi-er  Anwendung  auf  Elementar« 
nnd  Seeandnnehiilitnfe''  (ZBrich,  1881,  SeHMtwU«  des  VerftMeie)  endit  er 
die  ArbettsinetlHide  anf  naUMMitiaeher  Grundlage  an  begründen.  „Ytm  nllen 
eber,"  sagt  er  daselbst,  „was  das  menschliche  Sinnen,  Denken  und  Forschen 
als  gesetzmäßig  und  festbegründet  erkannt  hat,  ist  nichts  so  einfach,  klar  und 
leicht  erfassbar,  als  was  sich  auf  die  Gröfien Verhältnisse  bezieht,  also  die 
Mathematik.  Es  ist  aber  aneh  keine  einsige  Wissenschaft,  oder  wenn  Sie  lieber 
wellea,  keine  der  eaoketen  Wissenschaften  anch  nnr  denkbar  nnter  der  Voran»- 
Setzung,  dass  uns  die  Kenntnis  der  mathematischen  Wahrheiten  versagt  sei. 
Die  Mathematik  ist  aber  auch  zugleich  das  einzige  Wissensfeld,  welches  nicht 
allein  einer  sinnlichen,  äußeren  Anschauung  zugänglich  ist,  sondern  zugleich 
die  Verstandesthätigkeit  unerlässlich  bedingt  und  durch  die  gegenseitige  Durch- 
dringof  von  Form  nnd  Inhalt  an  siehsrai  SddHssen  and  Folgemngen  fBlirt 
Hier  ei-scheint  die  Richtigkeit  eines  Schlusses  als  eine  unabwendbare  Noth- 
wendigkeit,  Wahrheit  also  gleichbedeutend  mit  Notlnvendigkeit.  Auf  ihrem 
Boden  gedeiht  kein  Wahn,  kein  Vorurthcil.  Di»-  Erkennung  solcher  Wahr- 
heiten, welche  in  numittelbarer,  allseitiger  Anschauung  wurzeln,  erzeugt  in 
dem  BewnsBtsdn  eine  Widerstandskraft  gegen  den  Lrrthnm,  weklnr  sieh  nach 
nnd  nach  auf  aUe  Lebensbeziehungen  erstreckt.  Es  erwacht  die  Freude  an 
der  Wahrlit  it  und  steigert  sich  zu  dem  Muthc.  unter  allen  rmständen  für  die 
Wahrheit  einzustehen.  .  .  .  Die  so  erlangte  Erkeiuitiiis  fällt  mehr  ins  Gewicht, 
als  eine  Wahrheit,  die  wir  auf  die  Glaubeuswiirdigkeit  einer  Autorität  hin  an- 
nehmen. Ihre  Wirkung  äoBert  sieb  swar  nur  allndlhlichi  dafür  aber  grftbt  de 
sioli  tief  In  daa  Bewnaitsein  ein  nnd  maebt,  wie  Psstakni  aaft»  daa  mttbaelige 
Beden  nnd  die  vielen  Umtriebe  überflüssig,  die  gegen  Irrthum  und  Vomrtlieile 
nngeföhr  das  wirken,  was  das  Glockengeläute  gegen  die  Gefahr  des  Gewitters." 

Fröbel  gab  schon  dem  Säuglinge  die  Bällchen;  in  Kugel,  Walze  und 
Würfel  bot  er  den  Kleinen  die  drei  wichtigsten  Körperformen  und  gab  Ihnen 
Bankftsten,  damit  Ihnen  das  Wesen  des  Eürperliehen  nicht  fkemd  bleiben  soUe. 
DaSMlbe  wollten  Fellenberg,  Wehrli  nnd  andere  dnrch  materielle  Arbeiten, 
wenn  nach  nicht  ganz  im  Sinne  Fröbels,  erreichen,  der  bekanntlich  selbst  nicht 

^.   1  Lj  v^>.j^_'^le 


—  330  — 


zav  vollen  Klarheit  hiDdarclidrang,  wurden  seiner  TliAtigkeit  ja  so  schon  genug 
HilteiiaM  Iii  im  Weg  gelegt.  Ktteer  itat  NaoUblgw  FMbeb  htA  iBMra 
Wtomt  «Im  MtlMiMktiaelMii  AflMitig«dMikflB  m  ikAÜg  erfturt,  wie  Beut; 

keine  der  FrQbelBchnlen  hat  in  genannter  Riditong  einen  Schritt  vorwärts 
g«than,  wie  dies  Fr.  Benst  selbst  behauptet,  ^ünd  doch  besitzt  der  Mensch 
an  sich  alle  Eigenschaften  eines  Körpers  and  seine  Umgebung  besteht  vom 
UranfiGuig  an  bis  zur  endlichen  Auflösung  ans  körperlichen  Dingen. „Die  slmmt- 
liohea  Eig«flichaftfln  derKQrper  kOimen  mit  einaader  TergUekea,  also  gMumna 
werden,  ebenso  die  der  FlAchen  und  Linien.  Die  Linien  ....  werden  in  der 
Vftlksschule  in  der  Geometrie,  im  Rechnen  und  beim  Zeichnen  mehr  oder  weniger 
eingehend  behandelt,  der  Körper  selbst  aber  mit  seinen  Eigenschaften  wird 
vollkommeu  übersehen,  bei  Seite  gesetzt  und  als  ein  zu  schwieriger  Stoff  für 
höhere  Unterrichtaitiifen  ailjgespart,  wo  er  allerdings  meist  als  ein  «nrerAan- 
liches  Deflnitioii^gerleht  aufgetischt  werden  mag.  Wie  kommt  die  Schule  zu 
diesem  Respect  TOf  einfachen  Fundamentalwalii  lieiten ,  die  dem  Kindt- 
tiberall  am  Wege  liegen,  an  die  es  anstößt,  mit  denen  es  auf  ganz  vertiautem 
Fuße  atehtV  Wie  kommt  es,  dass  die  Schule  die  Erkemitnis  der  Baumgrööeu, 
die  alle  anderen  ünterriehtseteffB  an  Wichtigkeit  ttbertraAii,  m  aaflUkad 
TeniaehlMgt,  to  ewar,  dan  «ioh  ana  dcr  Mitte  dee  w  ihr  lunMUgebildeteu 
Publikums,  ja  aus  der  Lehrerschaft  selbst,  Stimmen  erheben  können,  welche  die 
Erkenntnis  des  Raumes  ganz  ond  gar  als  ttberflüasig,  als  Luxus,  ans  der  Schule 
verbannt  sehen  wollen?" 

Die  Betolilftignng  mit  Brangebüden,  das  VergleidieB  ond  IfeneD,  wird 
in  Bentts  Endehmigaeohnle  von  der  untersten  daase  aa  gefiht,  und  «war  an- 
fangs im  Rechnen  nnd  Ausschneiden,  spftter  bei  Darstellung  geometrischer 
Körper  aus  Carton,  sowie  in  Messnngen  an  Himmelskörpern  mit  selbstgemachten 
Qnadi  anten  nnd  durch  Arbeiten  mit  dem  Mesatische;  sie  findet  aber  auch  reichliche 
Anwendung  in  Heimatiinnde,  Geograpliie  und  Natui^^eschichte,  auch  ist  sie 
Stfttze  fftr  das  Zeichnen  nnd  damit  eine  Haoptgrondlage  fttr  Handwerk,  Kunst 
und  Technik.  Durdi  das  Arbeitdeben  wird  Bensts  Anstalt  eine  treffUflhe 
\'or8chule  des  Lebens.  Kleine  neue  Arbeitswege  und  Arbeitsmethoden  aus- 
findig zu  machen,  welche  den  Entwickehingsstufen  der  Jugend  entsprechen  und 
dem  Kinde  innerhalb  der  Forderungen  des  Lehrplanes  ausführbar  sind,  und 
wodnrch  ihm  Thatsacben  nnd  Gesetse  im  Bereiehe  twi  Ifathematlk,  Natur- 
geschichte und  Geographie  klar  und  bestimmt  als  Wahrheiten  entgegentreten, 
das  blieb  nnd  ist  eines  der  ersten  Ziele  Beusts  fdr  Menschenbildong.  Viele 
seiner  Arbeiten  waren,  wie  man  sich  in  seiner  Erziehungsanstalt  tiberzeugt, 
mühsam  und  zeitraubend.  Manche  der  Arbeiten  haben  sich  mit  ihren  Vorarbeiten 
vom  ersten  Entwürfe  bis  nun  Absehlnne  durch  Jabnehnte  hindnrehgecogen. 
AnAerordentUeh  erschwert  wurden  die  Arbeiten  dadordi,  dass  jeder  Versucli, 
sie  allgemein  zugänglich  zu  machen,  ebenso  sehr  an  dem  der  Speculation  ab- 
geneigten Sinne  Bensts,  wie  an  dem  Lehrmittelnionopol  scheitern  musste. 

Wie  unter  Fröbel,  so  wurden  auch  unter  Beust  Spaziergänge  ausgeführt, 
doch  verwertete  er  sie  in  weit  ausgiebigerer  WdbM  für  Terrainknnde,  Karten- 
zeichnen  nnd  Kartenleees.  Vor  vielen  Jahren  wurde  nnter  seiner  Leitung 
durch  die  Sehttler  der  vierten  Abtheiinng  der  Stadtplan  Zflrichs  aus  Vso<»o 
'  uüo  ftbertragen.  In  jene  Zeit  fallen  auch  seine  \'nrarl)eiten  zur  Heransgahe 
einer  Schulwandkarte  vom  Canton  Zürich  mit  Höheulinieu  von  lUU  m  zu  100  m 


~   821  — 


in  \'4oooo  Jißtß^  zugehSriß'er  Handkarte  für  den  S^cliiiler.  Im  Jahre  1871  wurde 
die  Karte  ganz  neu  als  Unterlage  für  einen  vuii  ihm  herausgegebenen  kleinen 
bistorisclien  Atlas  vom  Cauton  Zürich  gezeichnet.  Auch  eine  grolle  itrdkarte 
in  Vstkatan  Pfojeotimi  Twdaiikt  Uire  Bntitohiuigr  jennr  Zeit;  €e  wrdm  anf 
ihr  die  Wohnplätze  der  wichtigsten  VSlkerfamilien  durch  Farben  WfiiThiwt> 
Ein  besonderes  Verdienst  erwarb  sich  Beost  durch  seine  Methode  der  Relief- 
arbeiten, eine  ideale  wissenschaftlich -künstlerische  Arbeitsmethode  von  her- 
vorragendem Werte  für  die  £rziehang  zur  Arbeit  durch  Arbeit.  Beim 
geograpUidMii  ÜBlanriaiito»  yd»  tbeiteiqi  Mf  lUm  QeÜetm  «nieheiideii 
UBtaniditn,  gilt  Jim  derGMankey  dm  Kjndwn  aidits  anteuifiagMirlNtfliidArar 
Beachtnag  wart;  er  will,  dass  sie  sich  durch  eigene,  freiwillige  Arbeit  Kennt- 
nisse erwerben.  „Es  wird  in  ihnen  das  Bedürfbis  nach  Wissen  geweckt  and 
sie  werden  zu  scliaffeuder  Arbeit  angeleitet.  Was  so  erworben  wird,  ist 
Eigenthom  fdr  das  Leben.  Diese  Arbeit  ist  dm  Sohfllem  eine  Freude,  daher 
erkUrt  aleli  ihn  grolle  Lieibe  aar  Sehnte.  Data  die  OewShnnng  an  eine  nkha 
■diaffende,  sich  selbst  entwickelnde  Geistesthätigkeit  einer  mechanisclian  Yiel* 
wisserei  weit  vorznziehen  ist,  wer  wellte  dies  in  der  Heimat  dea  groien 
Pestalozzi  bestreiten?" 

Auf  allen  BUduugsstufen  und  Unterrichtsgebieten  stellt  Beust  die  An- 
•ehanong  in  Yerbindnng  mit  Arbeit  in  den  Vordeismad.  Waa  er  nnter  dieser 
versteht,  hat  er  in  der  Presse,  in  Schriften  nnd  Vortragen,  wie  in  seinem 
Lehr-  nnd  Erziehungsmateriale  dargetlian.  Es  würde  den  Rahmen  der  Arbeit 
überschreiten,  wollten  wir  auf  Einzelheiten  eingehen.  Wertvolles  Material 
ündet  der  Leser  in  folgenden  Schriften  von  Beust:  „Der  wirkliche  Anschauungs- 
nntenicht  aof  Schreiben  und  Lesen  angewendet."  «1^^  wirkliche  Anschauungs- 
nnteiricbt  aaf  der  untersten  Stofe  der  OrSfienlehre."  „Das  Belief  in  der 
Schule."  „Die  Grundgedanken  von  Pestalozzi  nnd  FrBbel  in  ihrer  Anwendung 
auf  Elementar-  und  Secnndarschulstufe."  „Vier  öffentliche  Vortfilge,  gehalten 
im  Winter  1880/81  zum  Besten  der  Fröbelschen  Kindergärten  in  Zürich." 
Diese  Ueinen  Schriften  sind  thdls  im  Selbstreriage  des  Yerfbssen,  theils  im 
Veriagsmagaatne  nnd  bei  OreU  FttBli  db  Co.  in  Zürich  eiachienen.  Doch  mehr 
als  Worte  sprechen  die  Arbeiten  seiner  Zöglinge,  weldie  von  Lehrern  nnd 
Schnlbehörden  seit  .Tahren  an  der  Quelle  stndirt  werden  nnd  seit  1865  auf 
schweizerischen  nnd  internationalen  Schulausstellungen  dem  Urtheile  des  pftda- 
gogisch  gebildeten  PnbUeams  vorgeführt  werden. 

Ohne  aaf  das  Arbeitsleben  in  Bensts  Schale  <einzngeh«n,  s.  B.  anf  Sdinl-' 
Spaziergänge  und  Schnlreisen  in  oi^anischer  Verknüpfung  mit  dem  Gesammt« 
nnterrichte,  ja  ohne  die  Arbeiten  auch  nnr  im  allgemeinen  zu  kennzeichnen, 
kann  hier  doch  die  allgemeine  Aufziihlung  derjenigen  nicht  fdilen.  die  von 
Knaben  nnd  Mädchen  ausgeführt  werden.  Behufs  leichteren  Eiubiickcä  mögen 
üdgende  Hianpi*  nnd  Unterabtheihingen  angeftthrt  werden. 

A.  Znr  EinIBhmng  in  die  Grofienlehre  dienen  folgende  Arbeiten: 
a)  Legearbeiten  fl.  nnd  2.  Schuljahr).  Anschauen.  Vergleichen, 
Messen,  Zuzählen,  We^i^nehnien,  Vervielfachen,  Theilen  und  wiederholtes  Weg- 
nehmen derselben  Zahl  (^Division).  Allmähliches  Eindringen  in  das  Decimal- 
^ysten,  Ansffthmng  mit  kttrperUehen  Dingen  (BanklOtBehfln),  FIftchen  (an 
BankUftachen),  Längen  ganten  nnd  Stftbdien),  Gewichte  and  HUnaeai  vdA 
«war  stets  nach  dem  Zehnentystem  in  Gruppen  geordnet 

TMUfOS*»*  IS.  JUns.  B«ft  V.  28 


—   322  — 


I 


bi  Wiig:earbeiten  (1.  und  2.  Schnljahr).  Ergründen  der  Gewichts- 
beziehungen zwischen  verschiedenen  Menpren  verschiedener  Holzarten,  zwischen 
dem  Gewicht  des  Wassers  und  den  iuneurüumeu  von  Holiigefäßen  (3.  und 
4  Sefaii^jahr)  und  dem  Voliimea  dnd  Gewichte  venchieden  feformter  Metall- 
atftbe  (3.  and  4.  SchnUabr). 

c)  DarstellnngsarbeitPn.  1.  Die  Grundrisse  von  splh';tprfun*l''nen 
symmetrischen  Figuren,  aus  Baaklötzchen  dargestellt,  werden  durch  Zeichnung 
auf  Papier  übertrageo.  Unterscheiden  der  körperlichen  Dinge,  Flächen  und 
LftDgen;  Rechnen  (1.  und  2.  Seholjabr).  2.  DanteUimf  der  Ergebnfeee  von 
Bediimngen  ohne  voifeeehriebeDeFonD,  wodurch  Lingfen,  Fliehen  und  KOrper 
bis  zn  10000  Einheiten  zur  Erscheinung  gebracht  werden  (3.  und  4.  Schul- 
jahr), 3.  Praktische  Geometrie.  Die  Kinder  des  ersten  Schuljahres  schneiden 
ans  farbigem  Prisma  symmetrische  Figuren  aus  und  kleben  sie  in  ihre  Hefte. 
In  zweiten  Jahre  schneiden  sie  geometrische  Formen  nach  gegebenen  Uai/m 
MS  and  kleben  de  in  Ihre  Hefte.  Die  Schiller  des  dritten  bia  seehatea 
Schuljahres  stellen  geometrische  CartOBkUrper  dar;  sie  beginnen  mit  dem 
Würfel,  der  nach  verschiedenen  Richtungen  getheilt  wird,  und  schreiten  bis  zu 
Pyramiden,  Kegeln  und  Polyedern  fort.  4.  Aufnahmen  des  Schulterrains  mit 
dem  Messtische  (Secundarclaesen).  Jeder  öchüler  zeichnet  den  aufgenommenen 
Ftaa  in  einer  anderem  Verklelaenuiir»  il>  die  Aufnahme. 

B.  Zur  EinAbrong  in  HelnitslnuMle  und  Geographie  dieneii  Iblgende 
Arbeiten: 

a)  Messen  von  Entfernungen  mit  Heterst&ben  im  Schalhofe,  in  benach- 
bartpfi  Straßen  und  auf  Schnlspaziergängen;  Ansmessen  des  Schulhausgrund- 
risses; Darstellen  desselben  in  bestimmter  Verkleinerung  aus  Stäben  (im 
öchulhofe);  Aufbauen  in  bestimmter  Verkleinemng  der  ümfassnngsmaiMni  des 
Sehnl-  oder  eines  anderen  Hansen  ans  Backsteinen;  Ban  eines  einlhchai  Daches 
ans  Latten  und  Schindeln  (1.  wtd  2.  Sehn^jahre). 

b)  Arbeiten  mit  XedeUen  vom  Schnlhanae  in  Vsm  ^       ^  Zimmer 

nnd  Schulhofe. 

c)  Arbeiten  am  Plane  von  der  Umgebung  des  Schulhauses  in  Vsoo» 
dem  Gemeindeplane  in  Vmnw       ^^"^  Plane  der  Stadt  (Zürich)  in  ^/  gooo  (l-iiQ<l 
2.  Sdinljahr). 

ä)  Arbeiten  am  Hdireiief,  in  Horiiontatoehiehten  leilecbar  (3.  ind 

4.  Schuljahr). 

e)  Darstellen  von  drei  Gruppen  Reliefs  aus  Horizontalscluchten  mit 
wachsenden  Schwierigkeiten  (3.  bis  6.  Schuljahr). 

f)  Ausarbeiten  von  Nets-  nnd  Constmctionskarten  aaf  Tersohiedenen 
Stefan  (3.  bis  9.  Schaljahr). 

g)  Anfertigung  eines  Quadranten  mit  Pendel}  Meaien  der  SonaenhShe; 
Bestimmen  von  Zeit  und  Polhöhe  (Secundarclassen). 

h)  Anfertigung  von  Armillargloben  mit  Gestell,  Horizontring  nnd  Stunden" 
seiger  ana  Bledi,  Hol^  Oartm  nnd  Draht  (Seoondarelaaaen). 

C.  ZnrEinllIhnmg  ia  dieNatnrseschfolite  dienen  n.n.  Hdfende  Arbeiten: 

a)  Sehnlreisen;  Anaehanen,  Beobaehten,  Untetsmdien,  Sammein  (dnreh 
alle  Classen  hindurch). 

b)  Freesen,  Troolmen  nnd  Aufkleben  Ten  Pflannn  (1.  Ma  9.  Scha^ahr). 


—   323  — 


c)  Eefltiminen  und  Ordnen  von  PflMHan  Ja  du  eigeilO  HMtariom  (dnrdl 
edsn  Schiller  vom  5.  Schuljahre  ab). 

d)  Herbeischaffen  von  Natording^n  flir  den  OeBammtonterricht  (dorch 
•ito  flmVin  lilndiirdi), 

e)  BeulMitflii  jm.  BlfttendliagniiiiMD  (2.  «nd  8.  Seoudandane). 

Der  Leser  wird  erkannt  haben ,  daat  Bensts  Reformbestrebangen  im 
wesentlichen  darin  besteben,  das  in  der  Lnftschwebe  befindliche  ünterrichts- 
leben  auf  den  Boden  wahrer  Wirklichkeit  dnrch  wiaseuschaftlich-künstlerisches 
Arbeiten  zn  ziehen,  die  Gegensätze  von  Schnle  und  Leben  zn  tilgen  nnd  der 
Schale  den  Stempel  d«r  idealen  Arbeitaatttte  anflndrllekeii,  ohne  den 
Handfertigkeitsnnterricht  zn  benöthigen. 

Der  Anerkennongskreis  seiner  Eeformbestrebnngen  geht  weit  über  die 
Grenzen  deutschen  Sprachgebietes  hinaus.  Wenn  ihm  Männer  wie  Köchly  und 
Holeschott  ihre  Kinder  anvertrauten,  so  wundert  mau  sich,  dass  Lehrer  und 
Franen,  irM»  Uber  FiQbel  nnd  deaaen  Naehfolger  geadirieben,  Ten  Beaat 
nichts  wissen  ;  doch  fUngt  man  in  der  pftdagogiachen  Presse  an,  sich  mit  Benata 
Reformgedanken  zn  befassen.  So  widmet  Professor  v.  Soden  im  „Correspon- 
denzblatt  für  die  Gelehrten-  und  Realschulen  Württembergs"  (Tübingen,  1883) 
in  seiner  Abhandlung  über  „Die  Einflüsse  unseres Gymnaainrnw  auf  die  Jugend- 
bildnnff.  Yorachlftge  fOr  eine  natvr-  nnd  zeitgemftfie  Belbnn  der  JOttoUahnla'' 
sneh  der  Beiataelien  Entehnngaachnle  einer  eingehendere  Wllidisnnf.  »Wie 
achon  der  Name  dieses  ihres  Gründers  (Fr5bel)  Temnthen  lässt,''  sagt  v.  Soden, 
„schließt  sich  die  Beustsche  Schule  durchaus  an  die  Ideen  des  großen  Reformators 
Friedrich  Fröbel  an  und  darf  mit  Recht  den  Anspruch  erheben,  in  sich  nicht 
nnr  einen  vermittelnden  Übergang  vom  GUndergarten  in  die  Sdiole  darzU' 
atolkOi  aondem  die  FrSbelaehen  Ideen  flir  die  Sehnle  aetbat  praktiaek 
gemaebt  md  für  deren  Zwecke  organisch  weiter  entwickelt  zn  haben.* 
Was  genannter  Schulmann  über  das  Arbeitsleben,  die  Ordnung,  die  Lehrthätig- 
keit  nnd  die  praktischen  nnd  sittlichen  Erfolge  sagt,  welche  die  Beustsche 
Schnle  gewährt,  kann  hier  nicht  wiedergegeben  werden.  Prof.  v.  Soden  ist 
ttnIgeBn  aneh  der  Heining»  daaa  Benata  M etbode  neek  weiter  ala  bia  ana  Bnda 
darVelksscbule  zn  reichen  habe.  „SoUte  ea  nnn  nicht  möglich  sein",  fragt  er, 
„unsere  Schulen,  auch  soweit  sie  flir  eine  höhere  Bildung  bestimmt  sind,  zu- 
nächst in  den  unteren  Classen  in  ähnlichem  Sinne  zu  reformiren  und  dadurch 
anch  dem  Tjpns  der  Volksschule  mehr  anzunähern,  die  Kluft  der  Bildnngs- 
weiae  siriaehen  den  Volke  nnd  den  aogen.  GeUldelen  m  llberbrilekeii?* 

Daa  sind  freilieh  neck  WInache,  denn  Beut  eneiekte  biaher  niekt  dai^ 
was  ihm  zunächst  am  Herzen  liegt,  seine  Arbeitsmethode  in  die  Volksschule 
verpflanzt  zu  sehen,  obgleich  seine  Arbeiten  in  dem  Gedanken  an  die  allgemeine 
Volksschule  entstanden  und  er  einen  großen  Theil  seiner  Mittel  für  diesen 
Zweck  opferte. 

AlaVerfuaer  den  ergrauten  Pädagogen  mitten  in  der  arbeitenden  Sdifiler* 
aoknr  sah,  empfing  er  den  Eindruck,  dass  ein  emster  Mann  die  Jngend  oime 
Pedanterie  in  das  Leben  einführe.  Ungezwungen  bewegten  sich  Meister  und 
Zöglinge;  ein  mehr  familiäres  Gebaren  leitete  die  Stürmenden  in  das  Bett 
beruhigenden  Arbeitswassers,  nnd  die  geistig  Armen  wusste  er  auf  sicheren 
Fnl  an  ateDen,  ao  daaa  ea  iknan  gdnngt  ein  beaekeidanaa  Ziel  m  emielien, 
•bar  irelBbea  der  Keiater  aainn  Vraada  ebanao  m  etkauMn  gnb,  wie  Iber  daa 

88* 

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höhere  der  Talentvollen.  Ohne  Hedenkeu  hat  er  uns  in  seinen  Lehr-  und 
Arbeitsplan  eingeweiht;  frei  von  äpeculation  machte  er  selbst  auf  Verbeweruugen 
aiteerkaam,  die  aothwendig  oder  wUrnfthentwert  sind. 

Vikdikk  Beut  tot  jetst  78  Jahre  alt  und  nicht  viel  nehr  lUblt  n  tineni 
fBnft^fUirifHI  ^?lrken  auf  dem  dornenvollen  Felde  der  Privaterziehnn^  und 
Erziehnngsrefonn.  „Die  verringerte  Leistungsfähigkeit",  schrieb  er  mir  vorigen 
Sommer,  „wie  sie  ja  im  aligemeinen  einzutreten  püegt,  wenn  man  ein  gewisses 
Alter  ftbflorachrittea  bat,  macht  sich  leider  sehr  ftthlbar.  Ich  darf  aber  wol  zU' 
frieAni  mIb,  dui  di«  Artrattakralt  ao  luge  itandgehaltwi  hal  Fflr  den  Anshaa 
dar  Sohnle  habe  kh  aedb  naoobe  AiMt  ananflkrai,  ehe  iah  nhen  datf.** 


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Pldi^ogischd  Randschaii. 


Ans  dem  Großherzogthnm  Baden.  Gymnasialprofbssor  Trentlein 
«n  KarlsruliP  vrröflFentlichte  gegon  Ende  vorigen  Jahres  eine  Schrift  über 
_Zudran£?-  zu  den  gelehrten  Bernfs arten",  welclie  die  größte  Anfmerk- 
sanikeit  auf  sich  zieht  und  der  weitesten  Verbreitung  würdig  ist.  In  dieser 
Schrift  «itwldcelt  der  Verftawr  fn  klarer  und  bttndiger  Weiee  die  Idee  der 
„Einheitsschale".  Dieselbe  soll  sieh  auf  der  Basis  der  Yolkaschidbfldnii; 
anfbanen,  an  die  Stelle  unserer  Gjrmnasien,  Progymnasien,  Bealgymnasien, 
höheren  Bürgerschulen  etc.  treten  nnd  In  ihren  unteren  Classen  den  Schülern 
eine  „allgemeine,  zeitgemäße"  Schulbildung  vermitteln.  In  ihren  oberen  Classen 
■dU  denjenigen  Schülern,  welche  sich  höheren  Fachstudien  widmen  wollen,  die 
dazQ  nOthige  winensehaftUche  Vorbildung  gegeben  werden.  Dordi  diese  Ein- 
liehtong  würde  das  alleinseligmachende  Latein  in  die  oberen  Cnrse  verlegti 
den  neueren  Sprachen  (Dentscli,  Französisch  und  Englisch)  in  den  unteren 
Classen  der  Vorzug  gegeben,  das  Griechische  auf  das  Allernotlnvendigste  be- 
schränkt und  der  Mathematik,  Naturwissenschaft  und  dem  Zeichnen  eine  zeit- 
geD&6e  Wttrdigmig  nnd  Wartung  sufheil  werden. 

Einen  Hanptvorzng  dieser  Organisation  finden  wir  darin,  dass  die  Nöthigung 
zur  Berufswahl  in  spiltere  Jahre  als  bisher  zurückfrelegt  und  auch  denjenigen 
Schülern,  welche  die  Anstalt  nicht  absolviren  wollen,  Gelegenheit  geboten  wird, 
das  zu  lernen,  was  ihnen  in  ihrem  späteren  Leben  wertvoll  und  praktisch  ver- 
wendbar sein  kann.  Der  BcfUiigte  nnd  Lusttragende  kann  dagegen  auf  dem 
bereits  Erlernten  weiterbauen,  wenn  er  sich  etwa  dem  Stndinm  widmen  will, 
ohne  den  ftlrs  praktische  Leben  fast  wertlosen  Ballast,  den  unsere  heutigen 
Mittelschulen  uiitKclileppen  müssen,  sich  mit  colossaler  Miihe  und  Anstrengung 
anzueignen.  Auch  beseitigt  die  Treutleinsche  „Einheitsschule''  jene  lächerliche 
Eifersadit  swischen  den  versäiiedenarHgen  Kategorien  der  lUttelsehulen,  die 
Inflnenautig  sogar  ?lele  Lehrer  derselben  ergreift  und  sieh  bei  densdben 
chronisch  festsetzt.  Die  „Einheitsschule",  wie  wir  sie  eben  skizzenhaft  schil- 
derten, ist  pan/  geeignet,  unser  ver/opffes  und  reformbedürftiges  >Tittelschul- 
wesen,  namentlich  das  Gymnasialwesen,  gründlich  und,  wie  wir  meinen,  auf  die 
ficiltige  Art  nnd  Welse  zu  reorganisiren,  wodurch  manches  alberne  Yorortheil 
mit  beseitigt  wird.  Ohne  Kampf  wird  «Uese  Reorgaoiiation  indessen  nlebt  ab- 
gehen, WOTOn  uns  einige  Zeitungsartikel,  denen  man  dai;  Zopfthum  sofort  ansah, 
einen  Vorgeschmack  boten.  Diese  Polemik  hielt  jedoch  den  schiilfreundlichen 
und  Rußerst  wackeren  Stadtrath  zu  Karlsruhe  nicht  ab,  denHeschluss  zu  fassen, 
eine  Schule  („Einheitsschule*')  nach  dem  Trentleinschen  Vorschlage  zu  gründen 
und  Hemi  Trentlein  nun  Vontand  derselben  au  ernennen.  Diese  Schule  soll 
haldigst  ins  Leben  treten.  Selbstredend  madit  Kariaruhe  damit  einen  Versuch; 


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—   326  — 

der  sicherlich  zum  Heile  des  Mittelschulwesens  ansfallen  wird.  DasB  die  „Be* 
nehtigQDgsfrage"  n.  «.  dadnieh  ein»  anderweitige  Begelung  erhalten  wird,  ist 
klar.  DIeae  «Fragen"  aber  lind  der  gaaien  Sache  gegenüber  nnr  von  seonn- 
dSrer  BedentuDg,  Hauptsache  bleibt:  die  anf  durclians  g^esnnder  Grondlage 
mhende  Reorganisation  des  Mittelschnlwesens.  Das  Ausland,  namentlich  Ame- 
rika, Frankreich  nnd  England,  sind  uns  in  Bezug  auf  ^Reorganisation  des  Gym- 
nasial weaena  vorangegangen,  ohne  daas  dadurch  die  Wlawuebaft  nothgelitten 
bitte.  Das  Ausland  hat  anf  allen  Gebieten  des  menschlichen  Wissens  mindestens 
ebenso  bedeutende  Männer  «otaiweisen,  wie  Deutschland,  das  seine  Gelehrten 
nnd  Techniker  dnrch  Aneignung  des  größtentheils  für  ihren  späteren  Beruf 
unnützen  Wissensballastes  während  ihrer  Schulzeit  auf  Kosten  ihrer  Gesundheit 
abquälen  ließ.  Die  „Einheitsschule''  beseitigt  auch  den  Charakter  der  bisherigen 
Gynmaslen  etc.  als  Gelehrten-  nnd  Beamtenschule,  wird  dagegen  den  Bedürf- 
nissen des  Technikers  nnd  praktischen  Geschäftsmannes  mehr  entsprechen,  wie 
sie  überdies  auch  die  gehässige  Standesabsonderung  vermindert,  oline  dass  sie 
dabei  das  wissenschaftliche  Faclistndium  beeinträchtigen  dürfte.  Wir  wollen 
für  heute  nicht  eingehend  diese  »Sache  weiter  erörtern  und  nur  unserer  Freude 
Iber  das  dnrchaas  gesunde  Trsntldnsehe  Beorganisationsproject  nnd  dessen 
baldige  VerwirklichnngAnsdmck  geben.  Vor  allem  empfehlen  wir  das  Stndinm 
der  Treutleinschen  Broschüre  besondtts  denen,  die  anf  das  Schulwesen  einen 
mafigebenden  Einflnss  haben. 

Aus  dem  Gebiete  des  Volksschulwesens  haben  wir  zu  berichten,  dass 
der  latent  rührige  nnd  tüchtige,  vor  Jahresfrist  neugewihlte  Verstand  des 
I.ehrerveTC^  sine  sasii-  nnd  aettgemäSe  Denkschrift  um  thunlichste  Gleich- 
stellung der  LehrNT  mit  den  „Beamten",  die  mitNenjahr  1890  in  die  erhöhten 
Gehalte  eingetreten  sind,  dem  Landtage  einreichten.  Der  Obmann  des  Vereins,  Herr 
Hauptlehrer  Hey  d  aus  Weißenstein-Pforzheimi  ein  thatkräftiger  und  geistreicher 
Vertreter  des  Lehrerstandes,  begnügte  aldi  mit  der  Einrelohnng  der  belegten 
Denlcschrift  an  die  beiden  Landtagskanunen  jedoch  nicht;  er  Übsirelebte  sie 
auch  in  einer  erbetenen  und  gewährten  Audienz  dem  schlü-  nnd  lehrerfreund- 
lichen Großherzoge ,  welcher  bei  dieser  Gelegenheit  sehr  anerkennend  vom 
Lehrerstande  sprach  und  die  Lösung  betreifender  Sache  zugunsten  der  Lehrer 
in  Aussicht  stellte,  wenn  —  vielleicht  —  auch  nicht  in  dem  dieiyährigen  Land- 
tage, des  allenfaUsigen  Oddmangels  wegen.  Wir  behalten  uns  vor,  seineneit 
über  den  Erfolg  der  eingereichten  Denkschrift  zu  referiren. 

In  Mannheim,  jener  Stadt,  die  zuerst  die  „gemischte  Schule"  in  Baden 
einführte  und  colossale  Opfer  freudig  für  Schulzwecke  bringt,  wurden  die  Lehrer 
am  27.  December  v.  Js.  namhaft  aufgebessert  Gleichzeitig  hat  die  städtische 
Bebdrde  daselbst  das  in  Baden  sn  Beeht  bestehende  Princip  der  BenUmg  der 
Lehrer  nach  Ortsclasaen  dniehlBebert,  indem  man  die  Bezahlung  der  Lehrer 
nach  dem  Dienstalter  znm  Beschluss  erhob.  Die  Dienstzeit  wird  von  der 
provisorischen  Anstellung  der  städtischen  Lehrer,  einerlei,  ob  diese  im  In-  oder 
Auslände  geschah,  gerechnet  Seither  konnte  ein  Vorrücken  in  eine  höhere 
Gehsltselasw  nnr  erfolgen,  wenn  ein  ütterer  Lehrer  mit  Toä  ete  dnreh  Pen- 
sionimng  abging.  Nach  der  nenen  Gebaltsregnlinng  eiliniten  dagegen  die 
Lehrer  vom  1.  bis  10.  Dienstjahre  2100  Hark,  nnd  steigt  dieses  Gehalt  von 
4  zu  4  Jahren  nni  2(10  ^Tark  bis  zum  Maximalgehalt  von  3400  Mark  (bisher 
3070  Hark);  das  Höchstgehalt  wird  im  Durchschnitt  mit  dem  52.  Lebei^jahre 


—   327  — 


erreicht.  Bei  der  öffentlichen  Beratbang  wuideu  die  Lehrer  sehr  geehrt;  aach 
wurde  betont',  dan  mui  nur  ftr  vmVÜatig  den  H udmalgebalt  auf  8400  Hark 
tetoetae  und  die  ErhShnng  desselben  sich  für  später,  wenn  dies  nöthig  erachtet 
werde,  vorbehalte.  Die  Lehrer  Mannheims  sinrl  für  diese  hochherzige  Nei^ahrs- 
gabe  sehr  dankbar.  Khre  einer  solchen  Stadt  und  ihrer  Vertretung!  Möchten 
ihrem  Beispiele  recht  viele  andere  folgen,  möchte  insonderheit  aach  der  badische 
Landtag  and  die  Begierong  den  Lnpnla  YonKannheim  inrBenUnng  derLehier 
dea  ganaen  Landoa  naeh  dem  Dlonatalter  erhalten. 


Das  ungarische  Unterrichtswesen.  Der  vor  ans  liegende,  eben  Jetzt 
erschienene  achtaelinte  Bericht  des  angarischen  Miniaters  f&r  Coltos  and  üffent- 
lieben  Untarrieiit  ttber  den  Stand  dea  ünterrlehtawiaana  in  Ungarn  Metet  nna 

willkommene  Gelegenheit,  nach  einer  l&ngeren  Paose  uns  wieder  mit  den  cnK 
turellen  Fortschritten  und  Verbältnissen  des  zn  immor  ^Hßerer  Bedeutung: 
gelangenden  und  rasch  aufblühenden  ungarischen  Staatswesens  zu  beschäftigen. 
In  erster  Beihe  veranlasst  uns  hierzu  der  in  der  Unterrichtsleituug  inzwischen 
eingetretene  Weebeel  dea  Miniatere;  denn  bei  unserer  pariamentarladhen  Ver- 
fassung drttckt  dieser  dem  ihm  anvertrauten  Ressort  den  Stempel  seines  Geistes, 
seiner  Begabang  und  seines  Fleißes  auf.  Und  dies  gilt  in  vollem  Maße  bei 
Graf  Albin  CsÄky,  dem  neuen  Unterrichtsminister  Ungarns,  der  seit  dem  im 
Spätsommer  1888  erfolgten  Tode  des  unsterblichen  Ministers  und  Staatsmannes 
Angoat  Trefiirt  an  der  Spitae  dea  ünteixichtaBdniatertQnia  atefat. 

Graf  Cs&ky  lat  einer  der  bekanntesten  nnd  bedentendsten  Staatsmänner 
Ungarns  nnd  ist  namentlich  als  die  vorzflgüdiate  administrative  Kraft  allgemein 
anerkannt.  Es  ist  also  natürlich,  dass  sein  Name  bei  jedem  erledigten  Minister- 
posten in  erster  Beihe  genannt  wurde,  wobei  sich  jedoch  allemal  anch  der 
Zweiftl  erhob,  ob  er  wol  seine  bisher  bewahrte  vollkommene  Unabhängigkeit 
ud  vomefame  geaellaehaftUehe  SteUang  in  den  Dienet  einer  Partei  im  poli> 
tieohen  Leboi  atellen  würde.  Und  Graf  Ct&ky  hätte  sich  hienni  kaam  ent- 
schlossen, wenn  nicht  die  Stellung  eines  T^nterriclitsmlnisters  gerade  eine  über 
dem  Parteihader  erhabene  Persönlichkeit  erfordern  würde.  Und  das  Unterrichts- 
and Erziehangswesen  ist  in  Ungarn  keine  Parteifrage,  sondern  eine  Frage  der 
Znknnft  dea  Landen,  die  ja  doeh  allen  Parteien  dea  Beichatagea  ohne  jeden 
Unterschied  gleich  warm  am  Herzen  liegt. 

Seinen  Entschlnss,  ins  Cabinet  einzutreten,  mag  auch  sein  mit  seinem 
Amtsvorgänger  Trefort  geschlossenes  Frenndschaftsband  und  der  Wunsch  des- 
selben, sein  Nachfolger  za  werden,  gereift  habea,  denn  Trefort  wasste  und 
ahnte  ea,  daaa  Qnt  Gaiky  aieh  keine  billigen  Lorbeerai  anf  Koaten  aeinea 
Amtsvorgftngers  erwerben,  sondern  daaa  er  dnrdi  eigenea,  aelbatbewnsatea 
Schaffen  nnd  Wirken  sich  die  Anerkennung  zu  verschaffen  wissen  wird  und 
dabei  auch  die  bei  der  Unterrichtspolitik  erforderliche  Stabilität  and  lang- 
Barne  Fortentwickelang  nicht  gefährden  würde. 

Und  daa  Antrfttsprogramm  nnd  die  bisher  entwiekelte  eii^Uirige  Thätig- 
keit  des  Grafen  CSsAky  entspricht  tollkommen  den  in  Um  geaetnten  Ermurtangen. 

Nach  seiner  Ansicht  muss  für  eine  genaue,  energische  und  nach  jeder 
Richtung  hin  gerechte  Vollziehung  der  bestehenden  Gesetze,  für  die  Aus- 
itUlong  der  Ltteken  and  sowol  für  die  Erhaltung  and  Förderang  als  aach  für 


die  mOg^Uehsto  Potei»fniiif  der  bieberlgen  bedeatenden  Brfblge  bis  so  der 

Oreoze,  welche  die  Finanzlage  UM  rteckt,  gesor^  werden. 

Er  hält  es  fiir  seine  I^flicht,  vor  allem  die  Angelegenheit  der  Kleinkinder- 
bewahranstalten  zu  regeln;  auf  dem  Gebiete  des  Volksschulunterrichtes  dafür 
zu  sorgen,  dass  dort,  wo  keine  Schulen  sind,  solche  errichtet  werdeu,  dass  die 
LdnrerfeUUter  «od  ilire  BeltUügiiDgr,  sonde  das  Peariopngnaote  dcnelben  lerl-  . 
dirt  werde. 

Bei  dem  Mittelschulnnterricht  will  er  fiir  eine  bessere  Lehrmethode  swgeB 
und  steckt  sich  zum  Ziel  die  Einführung  der  einheitlichen  Mittelschule. 

Die  Universitätsätatuten  müssen  einer  genauen  Revision  unterzogen,  der 
Besnoh  der  Vorlesungen  tod  Betten  der  H9rer  gefordert  imd  eentndirt,  die 
Stadien-  ond  PrttlbngsordDong  mnss  im  Interesse  der  WiiMBiehnflUiildielt  uA 
der  Hörer  umgearbeitet  und  endlidi  die  Frage  der  GoUegleii-  md  PrttAmgs- 
taxen  geregelt  werden. 

Auiierdem  wird  er  den  speciellen  Caltnrbestrebungen ,  der  Pliege  und 
Helnug  alles  ScfaOnen  und  Idealen  seine  besondere  Sorgfalt  angedeiben  laswn. 

Tor  allSBi  anderen  aber  ist  es  nothwendig,  dass  an  Stelle  der  blsberigeii 
eKtensiven  Wirksamkeit  die  intensive  trete,  dass  die  bestehenden  Gesetze, 
selbst  wenn  »ie  theilweise  mangelhaft  wären,  aoflfecht  erhalten  and  die  Schal- 
administration vereinfacht  werden  möge. 

■  •  Und  Graf  Csäky  hat  seinem  Versprechen  gemäft  die  einleitenden  Ver» 
fHgnngen  behaft  VerwirkHchang  seiner  PlSae  bereits  getroffen. 

Unter  den  das  Volksschalwesen  betreffenden  organisatorischen  Neuemogen 
ist  eine  Verfügung  zn  erwähnen,  nach  weicherinden  Lehrerseminaren  fiir  Bürger- 
schulen Lehrcurse  einfferichtet  wurden,  damit  Seininarprofessdren.  beziehungs- 
weise Lehrerinnen  für  Seminare  und  höhere  Mädchenschulen  sich  die  Methode 
des  Semlnaranterriobtes  nnd  der  Intematsendebnng  praktiseh  aneignen  kDnnen. 
Zöglinge  in  diese  Lehrcurse  werden  nin  in  beschrinkter  Zahl  and  nur  solche 
aufgenommen,  welche  ein  Lehrer-  oder  Lehrerinnenseminar  mit  vorzüglichem 
Erfolge  absülvirt  haben.  Die  Zöglinge  hüren  während  des  einjährigen  Curses 
keine  besonderen  Vorträge,  sondern  sie  beschäftigen  sich  unter  Leitung  der 
Kroibssoren  der  Anstalt  mit  selbststftndigan  Stadien  tber  pädagogisebe  and 
Fachihigen,  hospiliren  nnd  werden  in  4er  DireotienskaoBlei,  bei  der  Leltang 
des  Internates,  der  Wirtschaft  verwendet. 

Da  die  Lehrer  ihre  Bezüge  unordentlich  bekommen,  sind  die  Erhalter  der 
Scholen  angewiesen  worden,  den  Lehrern  die  Bezüge  pünktlich  und  vor  jedem 
-anderen  Bedarf  der  Sehale  auszufolgen. 

Die  in  den 'Volksschalen  gebranehten  Sefaolbtteher  sind  einer  genaaen 
Revision  nnterzogen  and  die  betreffs  der  Wahl  der  Schalbücher  frei  verfligsadsa 
CSonfessionen  anirelmlten  worden,  ihre  BüeluT  ebenfalls  zu  revidiren. 

Mit  Rücksicht  darauf,  dasö  den  Verheerungen  der  l'hilloxera  nur  dorch 
den  Anbau  und  die  Veredelang  amerikanischer  Reben  begegnet  werden  kann, 
bat  da«  Hinist^am  neben  den  LdirerpvipaaraHidien  in  den  Weingegenden  des 
Landes  Weinbauschalen  einrichten  la  sen,  um  die  Schüler  und  durch  diese  das 
Volk  in  dem  Anbau,  in  der  \'eredelung  and  Behandlung  der  amerikanischen 
Heben  unterricliten  lassen  zu  können. 

im  Intcieöse  der  Bewahrung  der  Gesuudheit  der  Schulkinder  dürfen  nur 
sokbe  Efaider  in  die  Sehnte  nnigemmunen  iferden,  die  geimpft  irorden  sbid. 


—  829  — 


Ferner  wnrdc  verboten,  Schnlkinder  zur  Zeit  von  Epidemien  nnd  in  schlechter 
Witternng  zn  Leichenbegängnissen  zu  führen  nnd  sie  dort  singen  zn  lassen. 
Die  Schal-  and  Verwaltaogsbebörden  worden  angewiesen,  strenge  darauf  zu 
aditen,  daas  die  Lvft  Im  d«&  Msktnimeni  und  ihre  Vnfebmiir  aamml  den 
ftiak Wasser  rein  gehalten  werde. 

Über  die  Ausbreitnng'  des  Volksschnlunterrichtes  geben  nns  die  folgenden 
Daten  ein  entsprechendes  Bild.  Im  Jahre  1888  besnchten  von  2  416  945  schnl- 
pflichUgen  Kindern  (ö  — 12jährige  1750013,  13  — 15jährige  666932) 
1960879,  demMdh  80,78  */o  MM  die  Schale.  Im  Jehre  1869  betn« 
die  Zahl  der  sehiilpflichtigen  Kinder  znsaromen  2  284  741»  deaen  1 162 116, 
dmnach  nur  50.4- "    die  Schule  factiscli  besnchten. 

Dieser  maditigen  Steigerung  entspricht  auch  die  Vermehrnnfr  der  Schulen. 

Im  Jahre  1869  gab  es  12  757  Gemeinden  mit  13  798  Schulen,  im 
Jihre  1888  betrug  die  Zidil  der  OeneiBdea  18694,  die  der  StihideB  16688. 

Die  Zahl  der  Lehrer  sdeg  von  17 792  auf  24879. 

Die  Erhaltungskosten  der  yolkwdilllen  betrugen  im  Jahre  1869 
3760123  fl..  im  Jahre  1888  aber  das  vierfarho:  14H47  871  fl. 

Die  Zahl  der  Lehrerseminare  erhöhte  sicii  seit  1869  von  46  aaf  71, 
die  der  Zöglinge  derselben  von  1556  auf  3955  nnd  die  der  "Pwt&mna  und 
Lehrer  «a  dieaea  Aasteltea  y«b  271  aaf  686.  Die  Erhaltuagskoatfln  der 
PMI^randien  betragen  1 040  481  iL 

Kinderbewahranstaltf'ii  waren  im  Jahre  1888  603  g«gen  255  im 
"Jahre  1869.  Dieselben  wnrdoii  von  55  639  Kindern  besncht  (gegen  18  624), 
das  Personal  bestand  aus  1212  Tersonen  (gegen  315),  und  die  Kosten  betragen 
409246  i.  (gegen  192 18^  «.). 

Eine  gleich  rege  Thitlgfceit  ihidea  wir  aaeh  anf  dem  Gebiete  dea 
Mitte  1  sc  h  n  hin  t  e  r  r  i  f  h  1 0  s. 

Vor  allein  anderen  hat  der  Minister  die  Regelnng  der  I'^  nsionstVage  jener 
Professoren,  welche  an  von  den  autonomen  Cunfessioneu  und  eiuzelueu  Gemeindeu 
erhalteaea  Mitteladhalea  angestellt  sind,  angeregt  und  bereits  die  grandlegenden 
YarftKaagea  behaft  rascher  LQsimg  der  Frage  ge^ifen. 

Die  gegenwärtige  Lage  ist  nämlich  die.  dasR  die  genannten  Professorea 
entweder  gar  keine  Pensionsan.sprüche  erheben  können,  oder  aber.  da.s8  sie 
eine  bedeutend  längere  Dienstzeit  ausweisen  müssen  als  die  an  Staatsmittel- 
aehokn  aageateUten  Lehrer,  am  eine  im  YerhUtaiaae  aa  ihrem  letstbeaegeaea, 
ehadiia  geriagerea  Gehalt  aoeh  Urglichere  Peaatea  bealehea  sa  kOnnen. 

Die  vom  Minister  geplante  Pensionsanstalt  bezweckt  nun  eine  vollkommene 
Gleichstellung  der  genannten  Profes-soren  und  ihrer  Angehörigen  mit  den 
Pension8ans])riichen  der  staatlichen  Professoren.  Die  Einnahmsqnellen  des 
Pensionäinstitutes  würden  beetefaen:  aas  einem  einmaligen  Beitrag  der  ProfbaaereB, 
der  ela  Drittel  ihree  Gehaltes  betrigt;  ferner  ans  einer  geringea  Eingiahlmig 
jedes  Schülers  bei  seiner  Aa&ahme  in  die  Schule;  dann  aus  einem  Beitrag 
von  Seiten  jener  Corporationen,  welche  eine  Schale  erhalten,  nad  endlich  aaa 
einer  jährlichen  Beisteuer  des  Staates. 

Zu  dem  Zwecke,  um  neben  dem  Gymiiasialanterricht  den  Zöglingen  aacli 
eiae  aorgsaaie  Eraiehaag  geben  aa  k^anen  aad  sie  aameatUch  fSr  eiaea  aolehen 
Lebensbernf,  welcher  praktische  Spraehkeaatatne  «rfordert,  Torsaberetten,  hat 
dar  Miaiatar  aeben  eiaem  Badapeetar  GymaaBiam  eia  lateraat  Tordafhaad 


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—  330  — 


nur  fiii-  20  Zöglinge  errichtet.  Die  Zöglinge  sind  theila  Zahl-,  theils  Stift«- 
zöglinge  und  der  jährliche  Betrag  für  einen  Zögling  beträgt  800  fl.  Der 
Minister  hofft,  dan  sieh  das  iBternat  nach  s^ner  für  40  Zöglinge  beredmetw 
VcrgrOßernng  selbst,  ohne  eine  Beittenov  olialtMi  wird. 

Die  Errichtung  dieser  Erziehungsanstalt  entspricht  einem  lang  gefühlten 
Bedürfnisse,  auch  in  Ungarn  eine  solche  Anstalt  zu  besitzen,  in  welcher 
materiell  besser  situirte  Eltern  ihren  Söhnen  eine  sorgfältige  und  streng  über^ 
waohte  Ertiehung  gebeo.  Bit  Jetit  wann  diaaelben  geswnngen,  ihn  SBIum 
wvnOglidi  In  dem  Wiener  Thenaianam  nnterralnriiigeB,  waa  flreflich  M  den 
großen  Andrang  der  SchtUer  ana  beiden  HUAeft  der  (MemidiiMlHnigaikGhn 
Monarchie  nur  schwer  gelanpf. 

Die  Anstalt  selbst  hat  jedenfalls  ein  aristokratisches  Gepräge  und  schien 
mit  Bttekaioht  darauf,  dass  das  Internat  mit  einem  aas  katholischen  Stiftongs- 
fonda  erhaltenen  Gymnarinm  in  VerUndnng'  gebracht  wurde,  auch  einen  oo*- 
fienloiieillai  Anstricli  bekommen  zu  wollen. 

Es  erhob  sich  denn  auch  beim  Bekanntwerden  des  geplanten  Internates 
ein  Sturm  der  Besorgnis  und  des  Unwillens  namentlich  in  den  demokratisch 
angehauchten  Kreisen  des  Protestantismus,  weicher  die  Stellung  des  Ministers 
m  enehftttem  aeUen*  Daa  mteeHeha  Anifinten  dea  Miniaten  Jedoeh,  wobei 
er  auch  die  Cabüietsfhige  stellte,  und  aeine  beruhigenden  Aufklärungen 
dämpften  die  aufgeregten  Gemflther,  und  Oraf  Ce&ky  konnte  aeine  jedenlSüla 
zeitgemäße  und  glückliche  Idee  verwirklichen. 

Eine  weitere  Lieblingsidee  des  Ministers  bezweckt  die  Reform  des  Mittel- 
aehnlweeeiia  und  DameniUeh  die  Frafe  dea  grieddadieii  SpraehnotenMitei, 
mit  welcher  die  Einführung  der  einheitlichen  Mittelschule  in  engw  Verbindung 
steht.  Infolge  seiner  Aufforderung  beschäftigen  sich  denn  auch  die  Fach- 
kreise und  Organe  mit  der  geplanten  Reform,  um  auf  Grund  der  Be|n>^ 
achtungen  und  Vorschläge  die  Verwirklichung  der  Reform  vorzubereiten. 

Die  Zahl  der  Mittelschalen  beträgt  gegenwärtig  180,  nnd  awar  161  Gyn- 
naaien  nnd  29  Bealsehnlen,  daronter  jedoch  3  Privatgjmnarien  ebne  Oflbnfe* 
lichkeitsrecht.  In  120  Mittelschulen  ist  die  Unterrichtssprache  die  ungarischOi 
in  39  ist  sie  eine  mit  der  nngarlMhen  gemischte,  in  den  ftbrigen  die  Sprache 
der  betreffenden  Nationalität. 

Die  Zahl  der  SchtUer  betrug  39  918,  um  616  mehr  als  im  vorhergehenden 
SohnUahr.  Daa  Qymnaaiam  beauditen  88866  Schttler,  die  KealenhnUw  6663 
(im  verflossenen  Jahre  6306). 

Unter  den  Schülern  wann  ihrer  Muttersprache  nach: 

Ungarn   28487,  also  71,3  »/o 

Deutsche   6285    ,    15,7  % 

Romftnen   2466   ,  ^^^U 

ItaUeoer   123   „     0,3  «"/q 

Slovakon  .   1 542    ,     3,8  *V<, 

Serben-Kroaten   810    „  2,0 

Ruthenen   97    „  0,2^0 

Anden   118   »  Oß% 

Eine  Correctnr  der  vorhergehenden  Ziffern  und  der  Folgerungen  aua 
selben  gibt  der  folgende  Ausweis  äber  die  Sprachkenntnis  der  Schttler. 


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—  331.  — 


Nur  nngarijBch  aj^rftchen  .  . 

oeoiuer 

„    aeuiscii          ^      ,    .  < 

«  ooo 

n 

„    romftnisch      „  ... 

669 

n 

n    ilovakiBeh      „  ... 

11 

rt 

„    rnthenisch      „  ... 

» 

^    serbiach-kroatisch  sprachen 

!  83 

Nor  eine  einzige  Sprache  sprachen  demnach  18002  Schftler,  also  ^o^/q, 
die  fibrigen  verkehrten  außer  in  ihrer  Mattersprache  auch  noch  in  einer  anderen. 

Zar  KatnitatsprOftmir  ^attoi  lieh  8322  8eh«kr  geneUift,  deM 
263  mit  Torzfiglichem,  685  mit  goteai,  und  9&5  nit  g«iiQgeiid«ii  Eilbig  du 

B/difheitszengrnis  erhalten  haben. 

Die  Erhaltunf?8ko8ten  der  Mittelschnlen  repräsentiren  ein  Capital  von 
68,7  Uülionen  Gulden.  Die  Ausgaben  beliefen  sich  im  letzten  Schuijahr  auf 
4798000  0. 

Auf  dem  Gebiete  des  höheren  und  Univerritittsunterriehtes  ging  das  Be- 
streben des  Ministers  dabin,  dass  der  Unterricht  und  die  Pflege  der  Wissen- 
•cbafb  möglichst  intensiv,  prärig,  und  sowol  in  theoretischer  Beziehung  gründlich 
als  auch  in  praktiBcber  Richtung  möglichst  instmctiv  sei,  dass  die  verschie- 
d—an  gidiwfiawurhaftfai  md  DiidpUBMi  sidit  mir  noniiiaU  in  der  üntaiTtehta- 
«ffdanof  ttahoi,  aondflni  dan  die  HOrer  thatrihdilkh  anch  die  betreffenden 
Vorlesnngen  und  praktiwhen  Übungen  freiaeatirea  nad  der  Fleifi  enftaprecbend 
eontrolirt  werden  möge. 

An  der  Universität  in  Budapest  wirkten  im  letzten  Jahre  180  Professoren 
nd  44  Aiaistenten,  and  zwar  an  der  theologischen  Faenltilt  11,  an  der 
Jaridiieheii  39,  an  der  mediefniaehen  66  (nnd  82  Aasiateiiten)  mid  endlieh  an 
der  philosophischen  64  Professoren,  die  allo  zuBammen  623  Vorleaongen  in 
2166  ^Voohenstunden  hielten.  Die  Zahl  der  Hiirer  betrug  im  Wintersemester 
3573,  im  SoniTnersemestor  3400,  zusammen  6973.  Am  besuchtesten  war 
die  rechtb-  und  üiaatswissenschaftliche  Facultät  mit  zusammen  3331,  dann  kam 
die  »edieiniaehe  mit  sBaammen  2335  Hörem.  Im  ganzen  worden  3481 
Prüfungen  und  2570  Rigorosen  abgehalten,  jedoch  nur  zu  zwei  Drittheilen 
mit  Erfolg.   Die  jährlichen  Erhaltungskosten  beliefen  sich  auf  599  882  fl. 

An  der  Universität  in  Klaasenburg  wirkten  66  Professoren,  Die  Vor- 
leaoi^en  besachten  im  Wintersemester  534,  im  Sommersemester  519  Hörer. 
Sa  mntden  447  Prüfungen  nnd  439  Bigoroaea  abgehalten,  im  giaaen  and 
groien  mit  beaaerem  Ergebnis  als  aof  der  Bndapeater  Hochechnte.  Die  Er- 
baltongskofiten  betrugen  54087  fl.  57  kr. 

Am  k.  Josephs-Polytechnicum  waren  46  Lehrkräfte  und  25  Repetitoren 
nnd  Assistenten  angestellt.  Im  Wintersemester  waren  602,  im  Öommersemester 
544  H9rer.  Die  meisten  derMlben,  627o>  beaachten  die  Fediaeotion  Ar 
lagenlevre,  20%  ^  ^  Maaehinenbaa,  die  übrigen  thellten  aieh  in  die  all- 
gemeine Fachsection  and  in  die  fQr  Architectur.  Rigorosen  wurden  285  ge- 
halten nnd  203  angenomnien.  Die  Erhaltungskosten  betrugen  197  834  fl.  62  kr. 

Die  Zahl  der  theologischen  Seminare  betrag  53  mit  1912  Schülern. 

Rechtsakademien  waren  11  mit  796  Hörem. 

Anf  dem  Gebiete  der  FachsehnleD  nnd  Fachlehrenrae  ist  ra  erwihnea, 

daaa  256  Wiederholungs-Lehrcurse  för  Lehrlinge  bestehen,  dass  behafs  An- 
eignnng  einer  gewiaaen  Handfertigkeit  90  gewerbliche  Lehrwerkit&tten  errichtet 


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—   832  — 


sind,  und  dass  die  Haasindustrie  in  1459  Volksschulen  gelehrt  wurde.  Außer- 
dem besteht  in  Budapest  eine  staatliche  GewerbemittelBohole,  mit  der  ein 
teelinologiscIiM  Oewerbenrateiin  Yerbonden  Ist 

üm  die  theoretischen  Faehkenntnisse  der  kanflnamüscheB  Lehriin^re  m 
vermehren,  bestehen  65  Lehrcnrse  mit  259  Lehrern,  fBr  diejenigen  aber,  die 
eine  höhere  kaufmännische  Bildung  sich  aneisnen  wollen,  dienen  22  Handels- 
Mittelscbnlen  mit  242  Lehrkräften. 

Zar  Ansbüdiing  von  Hebammen  sind  10  Lehrcnrse  von  je  fBaAnoDfllliQher 
Daser;  2  derselben  sind  mit  den  ünlTenttiten  in  Verbindmi^  fcliraciit,  die 
anderen  an  den  verschiedenen  Orten  des  Landes  errichtet. 

Als  weitere  Fiu'liscliulcii  sind  zu  erwilhnen:  die  Landes-Mnsterzeicheji'Thnle 
und  Zeichenlehrer- rrüparaudie  mit  92  Schülern,  die  Kunstgewerbeschule  mit 
67  Schülern,  die  Maler-Meisterschule  mit  8  Schülern,  und  der  Malerlehrcursos 
Ar  Franen  mit  17  SchfUermnen,  das  Olasmalereünstitnt,  nnd  endlieh  die  La&des- 
Akademie  für  Musik  nnd  Schauspielkunst. 

Unter  den  philanthropischen  Instituten  milssen  in  erster  Keilie  die  für  den 
Unterricht  der  Taubstummen  dienenden  genannt  werden.  Es  bestellen  peeren- 
wärtig  2  Landes-Taubstommeninstitute  und  8  Taabstummeuscliuleu;  die  Zahl 
der  Zöglinge  beltnft  sieh  auf  284  Schiller. 

Im  Landes-BUndenlnstitnte  waren  89  Zöglinge. 

Wnisenhnuser  befinden  sieh  in  Ungarn  69,  in  denen  2567  Waisenkinder 

Unterkunft  finden. 

Aulier  diesen  ünterrichtaaustalten  behandelt  der  erwähnte  ministerielle 
Beridit  andi  die  fibrigen  gemelncnhnrellen  Institute,  als  da  sind:  das  Nationa]» 
RiQseam,  die  Lsades-Bildergallerie  und  gesehlehtliehe  Porträtgallerie,  das 

Kunsterewerbo-Museum,  den  Verein  für  Kunstgewerbe,  die  Knnstdenkmftler  und 
die  bildenden  Künste.  Überall  ist  eine  glückliche  Nenerun-r  oder  ein  interessanter 
Zuwachs  zu  verzeichnen,  die  alle  auf  eine  sorgsame  Fliege  der  Kuustinteressen 
deuten.  Victor  von  Holn&r. 


Ans  der  Fachitresse. 

262.  Diesterwee  ffir  immer!  (Tr.  Bartels.  Rhein.  Bl  189n.  I).  Durch 
eine  Keihe  von  Citaten  aus  IMesterwegs  Keden  und  Schritten  werden  seine 
.  Gharaktereigenscbaften  and  Verdienste  veranschaulicht,  nachdem  vorher  die 
Dankelmlimer  der  0«genwart  gekennneiehnet  worden.  Am  Schlvsse  Tersprieht 
Verfasser  (Bedactenr  der  Rhein.  Rl,):  „DIesterweg  ftlr  immer!  soll  auch  in 
diesem  neuen  Jahre  bei  jeder  Arbeit  unser  (relübde  «^ein.  Tn  seineiii  Geiste 
wollen  wir  aucli  in  Zukunft  diese  Bliltter  weiterführen;  seinen  (iei.it  wollen 
wir  rein  und  kräftig  wach  halten  in  der  deutschen  Schule.  Nur  zur  Förderung 
der  Sehnle  nnd  ihrer  Lehrer  werden  auch  in  Zoknnft  die  l^alten  dieser  BUktter 
geöffnet  sein.  Jede  persOnlidie  Hadmacfae,  jegli<to  Personencnltns  bleibt  ana> 
geschlos.sen.'' 

2li3.  Die  moderne  Pädas^o^ik  in  Person:  Wiehard  Tianpe  (Fr. 
Holzer,  Eepert.  d.  Päd.  1889,  IX — Xlj.  Eine  mit  großer  Wärme  geschriebene 
Oeschlchte  seines  Werdens  nnd  Wirkens.  Mit  gebaremderAnsfBhrUehkelt  werden 
seine  Beziehungen  zu  IHerterweg  nnd  BMbel  nnd  deren  ISnflflsse  anf  seine 
Lebensarbeit  klargelegt,  sodann  sein  Organisationstalent,  seine  Verdienste  HU 
die  Schalreformation  in  Hamborg  (allgemeine  Volksschule;  Schnlsjrnode). 


—   388  — 


264.  Herbert  Spencor  über  Erziehung  (0.  Hunziker,  Schweiz.  Schul- 
archiv 1889,  IX — XII).  Ubwol  ein  originaler  Denker,  dem  die  großen  Päda- 
gogen des  CoDtinents  (Pestalozzi  aosgenonunen)  onbekaont  sind,  gelangt  Spencer 
im  weseatlkhen  doch  aieht  m  nenea  ErgtHudmin.  Am  anflUlmditea  itt  die 
VerwaMdtKhaft  mit  Roasseaa,  fast  in  jeder  Beziehung  (namentUdb  in  den  Atft> 
fiihrunpren  über  Verhtandes-  nnd  sittliche  Bildung).  Im  übrigen  trifft  Spencer 
hauptsächlich  mit  Salzmann  und  Schleieimacher  zusammen;  Beweise:  Schuld 
der  i<a:zieher  au  deu  i^  chlern  der  Zöglinge  —  Anleitung  der  Jugend  zum  Beob- 
nahttn  mi  Seihrtflndiii  (Snlimnnn,  AawtoenbtteMein).  DieBeHara  derBndehOBgr 
müsse  einer  Reform  der  Lebensverhältnisse  überhaupt  entsprechen  (Helvetius, 
Schleiermacher);  Ansichten  über  die  Strafe,  den  (Charakter  der  Familie,  die 
^GeflÜurlichkeit  der  Übergänge"  (Schleiermacher).  Eigenartig,  aber  nicht  un- 
anfechtbar Neues  im  Absclmitt  über  die  „leibliche  Jilrziehung''. 

8661.  BjOritan  uad  die  weibliche  Ersiehnng  (C.  Spielmann,  P&d. 
Mtarn  1889,  49.  60).  Trauiuiff  der  GeicUeobter  erst  in  eiitterai  Jahren 
—  Ilftdchenerziehung  in  späterer  Zeit  hauptsächlich  eine  religiöse,  natur- 
wissenschaftliche und  gymnastische  —  an  der  Miidclienschnle  männliche  und 
weibliche  Lehrkräfte  (männliche*  Oberleitoug)  —  die  in  der  «Schale  erhaltenen 
Lehren  in  FnuMaverelnen  fortEnpflansen. 

968.  Ant  dem  Briefweohael  einet  Lehrera  (G.  JQigeBS»  Denttebe 
Schulpr.  1889,  50).  Verfasser  spricht  iiflb  MTend  Ober  die  Doppelnatur  des 
Lehrers  —  Schulmeister  und  Mensch  —  aus:  ^Es  ist  zwar  sehr  angebracht, 
wenn  eins  ins  andere  hinnberspielt,  wie  denn  die  Verbindung  Uberhaupt  niemals 
völlig  getrennt  werden  soll;  aber  der  erfahrene  Pädagoge  sollte  immer  so  ziem- 
liek  witMB,  wann  md  wo  er  daa  6ewi43iit  Beiner  Penanllebkdt  aaf  daa  Sdnl- 
bcia,  und  w  ann  und  wo  er  es  anderseits  auf  das  Gesellschaftsbein  zu  steUenbal.'' 

267,  Todtes  Wissen  (PreLsarbeit,  Allg,  D.  Lehrer/.  1889, 51).  Im  ganzen 
nichts  Nenes;  aber  was  Verfasser  klar  und  gescliickt  vorträgt-,  muss  immer 
wieder  nachdrücklich  betont  werden,  besonders;  „Nicht  ist  entscheidend,  wieviel 
und  wie  hohes,  gdehrtM  WiMen  dar  Einnlne  beaitct)  Modera  ob  er  mit  Sieber- 
bett  nnd  Gewandtheit  Aber  die  FSUe  gerade  jenes  WiBsens  verfügt,  das  bei 
seiner  Stellung  im  ganzen  eben  ihm  noththut,  weil  die  anders  gestellten  und 
beschäftigten  Glieder  der  Gesellschaft  liitriii  auf  ihn  angewiesen  sind  und  in 
der  Lösung  wiederum  ihrer  Sonderautgabeu  behindert  werden,  wenn  sie  auf 
lieh  nehmen  MUea,  was  dem  anderen  ngewieeen  ist— Ba  ist  eiaeTerfaftagnis- 
velle  Verkehrtheit,  daa  Witten  ale  tdchet,  naal  daa  der  Gelehrten,  ala  «in 
Gut  zu  betrachten,  dessen  Betiti  einen  bSbann  Grad  von  Seelnadel  nnd 
Menschenwürde  verleihe." 

268.  Ein  Rückblick  (R.  D.,  Zeitschr.  f.  d.  deutschen  ünterr.  1889, 
Erg&unmgsheft).  Ein  Rhckblick  auf  die  Leistungen  der  pädagogischm  Zeit* 
aehriften  im  Dienete  dee  denttohen  Unterriehtea  (wShread  daa  Jahree  1888)  lehrt 
Bweierlei:  „Der  dentiohe  üntemclit  ist  er.stons  von  der  pädagogischen  Prette 
mit  Vorliebe  gepflegt,  zweitens  erfreulicherweise  verbessert  worden  oder  wenig- 
stens im  Bejfriffe,  sich  krätliper  und  schöner  zu  entwickeln.  Zwar  die  Lese- 
buchfrage hat  das  Jahr  1888  (und  auch  1889)  so  gut  wie  nicht  gefördert;  sie 
harrt  noch  ihrer  eadgiltig'  beftiedieendeaLgmng,  nnd  waa  über  ale  geschrieben 
werden,  ist  eitel  Wiederholung  nad  nhdit  eelten  Phrase.  Die  Arbeiten  Aber 
?einMB]ebre  nnd  Anfnti,  ÄnBerangen  tber  den  Wert  der  Mundart  dagegen 


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—   834  — 


liefern  den  Beweis,  dass  man  an  vielen  Orten  in  den  FnAstapfen  HUdebrands 
zu  wandeln  strebt.** 

269.  Wie  mitertelieHei  aieli  der  Spraehnnterricht  hörender 
VDd  tanbttnmmer  Kinder?  (Fid.  Zeitnngr  1889,  60.  51).  Was  die  Vell». 
Mdmle  nicht  besonders  zn  pflegen  hat,  von  der  Tanbstnmmensclinle  aher  eigen- 
artig" zu  behandeln  ist  (Articulationsunterripht)  —  Yerscliiedenheit  der  Arbeit 
in  den  gemeinsamen  Zweigen  des  Sprachanterriclites  (Anscbanongsnnterricht, 
Grammatik,  Lesen,  Aafsatz).  —  Ergebnis:  Abweichungen  auf  der  Unterstufe 
am  grOAten ,  im  weiteren  Verlanfe  immer  mehr  Übeninitimniiii|r.  MittelttBli» 
der  Taubstnmmenschule  =  Unterstufe  der  Vidkawiliile;  Obentnfe  der  Tanb- 
Stnmmenschule  =  Mittelstufe  der  Volksschule. 

270.  Etwas  über  Lesevortrapr  von  Gedichten  iK.  Hessel,  Zeitschr. 
f.  d.  deutschen  Unten*.  188U,  Ergänzuugsheft).  „Gedanken  und  Erfahrungen" 
—  ans  der  VolkaschnlA.  Beifpiele:  „Die  Bache'*  und  „Daa  SeUoM  am  Xe«r" 
▼on  Ubiand.  Sehr  beachtenswerte  Regeln  über  Aussprache  und  Betonung,  wie: 
^Sclimiukende  Beiwörter  sind  gttian  in  derselben  Tonhöhe  zu  sprechen  wfe  das 

dazugehörige  Substantiv."  »Nor  die  Wiedergabe  in  lauter  Rede  erzeugt 

neu  all  die  ij'ormenschönheit^  die  der  Dichter'  in  sein  Werk  gelegt  hat,  and 
danit  auch  die  too  iliin  beabalehtigu  Wirknng  auf  daa  0«MIl*  —  ttUna 
elaigermaBoi  befriedigende  Wiedergabe  Sehillaneher  Balladen  flberatelgt  die 
Kraft  der  Volksschüler.«    (Sehr  richtig!) 

271.  Über  die  Beiiehnngen  zwischen  der  Erd-  und  Menscben- 
kande  (Ft.  Reuß,  Repert.  d.  Päd.  1889,  VJIlj.  Der  innige  Zusammenhang 
swIidMii  Geographie  wd  Oeeolilahta  Irt  bei  weitem  nxdi  oleht  allgemein  an- 
erkannt  Er  mnsa  deahalb  (wie  die  Thatsache,  dan  poUtisehe  Karten  frfiher 
oder  später  als  liietorische  gelten)  noch  immer  wiederholt  nachgewiesen  werden. 
Verfasser  thnt  es,  nnd  insofern  ist  seine  Arbeit  von  Wert.  Als  Gewfthrsaftnner 
citirt  er  vornehmlich  Herder,  Ritter,  Ratzel. 

272.  Die  Verwertnng  von  Natnrgebilden  im  Zeichennnterrieht 
der  Volkaaehule  (B.  Heer^  FSd.  Zeit  1889»  44.  45).  WirUiehea  Zeidien- 
object  für  den  Maseennnterricht  nur  das  geometell  aasgebreitete,  gepresste  ud 
aufgeklebte  Blatt.  Andere  Naturobjecte  dienen  zur  Erklärung  der  Vorlagen 
(Ornamente),  sowie  zur  Erkenntnis  der  Schönheit,  Zweckmäßigkeit  and  Freiheit 
in  der  Natur. 

278.  Sehraibeii  nnd  BeehtaehrelbeB  (H.  Reinhard,  Deatedie  Velka- 
adinla  1889,  52).    «Des  ]QBdem  ist  aittdrttcUieh  za  sagen:  man  verlange 

nicht  nnd  könne  nicht  verlangeiif  dass  sie  schßn  schreiben,  wol  aber,  dass  sie 
sauber,  deutlich  und  sorgfilltig-  —  und  später,  dass  sie  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  and  unter  gewissen  Bedingungen  schnell  schreiben."  —  Das  Rechtschreiben 
gründe  aidi  in  der  ÜBtercüaMa  tbAA  auf  ein  aeharfta  (Nur  mid  Auge,  wMA 
anf  Einüben  vcw  Bagebi  nd  Beispieien.  —  Verftiwer  «npllelilt  »Ar  die  Klefnen" 
folgendes  (nach  einer  beziiglichenünterredang)  als  Ab- oder  Nachschrift  („Diotafi^^: 
„Die  Ciadde  f,Conceptheft',  ,Tagebuch')  ist  kein  Schmierhefl.  Es  gibt  über- 
haupt keine  Schmierhefte  in  der  Schale.  Ich  soll  immer  sauber  schreiben.  Jede 
Zeile  moM  voll  lein.  Über  den  Bandatrieh  hinweg  darf  ich  nicht  aelveiben. 
Nirgenda  darf  Bau  Tinteofleeke  aeben.  Auch  andere  Fleeka  aind  vertwleii. 
In  jedee  Heft  gehSrt  wenigstens  ein  Löschblatt.  Dann  kann  nichts  aaswischen 
and  niehte  von  dar  einen  Seite  anf  dia  andere  aieh  abdrucken.   Wlhrend  dea 


Schreibens  liegt  das  Löschblatt  unter  der  rechten  Hand.  Ich  darf  die  Feder 
erst  dann  weglegen,  wenn  der  Satz  zu  Ende  ist.  Jedes  geschriebene  Wort, 
jeder  Satz  nnd  endlich  das  Ganze  ist  sorgfältig  za  lesen."  (Wir  anerkennen 
sowol  die  OriginaUtttt  wie  die  ErspriefiUohkdl  dltMr  Maftregel) 

^Steile  Lateinschrift*  Unter  diesem  Titel  hat  Herr  Emanoel  Bayr, 
Schulleiter  in  Wien,  soeben  eine  kleine  Schrift  (9R  S.,  Preis  1,60  Mark)  er- 
scheinen lassen  (bei  Pichler  in  Wien),  welche  bezüglich  einer  jetzt  viel  erörterten 
methodischen  und  schalhygienischen  Frage  von  Belang  ist.  Welche  Schriftart 
is  der  Volknchiile  hemdieiii  welehe  Lage  das  Sehreibbeft  erlialteD,  wie  das 
schreibende  Kind  sitzen  soll  etc.,  darauf  erstreckt  sich  die  hier  geführte  Er- 
örterung; der  reiche  Inhalt  des  Büclileins  gründet  sich  theils  auf  ein  sehr 
umfängliches  Studium  der  Fachliteratur,  theils  auf  vierjährige  praktische  Ver- 
suche und  verdient  eingehende  Würdigung. 

Der  „österreichisolieSchnlbote''  (Redacteur  Frans  Frisch  in  Klagen» 
furt)  ist  in  den  40.  Jahrgang  eingetreten  nnd  erscheint  nunmehr  in  Monats- 
heften von  2'/.2  bis  B  Bogen.  Mit  dem  neuen  Zusatz  zum  Titel:  „Zeitschrift 
für  die  Praxis  der  österreichischen  Volks-  und  Bürgerschule*',  ist 
angezeigt,  in  welcher  Blditmig  der  nSdudbote"  Man  Mine  Haapikralt  wt- 
iUten  will,  welehe  StolTe  aleo  YOisngtweiae  roa  Om  bearbeitet  werden  seilen 
—  die  eigentlichen  Lehranfgaben  der  Volks-  und  Bürgerschule  in  den  ver- 
schiedenen Disciplinen  und  auf  den  verschiedenen  Unterrichtsstufen.  Der  Re- 
dacteur des  „Schulboten''  genießt  schon  längst  eines  wolverdienten  Rufes,  und 
ttehtige  Sohnlminner  (Bräutigam,  Gesell,  Kleinschmidt»  Pick,  Bosoli  eto.)  stehen 
üm  als  Mitarbeiter  sor  Seite;  das  Blatt  wird  also  aneh  in  Znkonft  die  vorige 
bewahren,  die  wir  an  ihm  schon  wiederholt  gerühmt  haben,  uid  wir  wlliiiiihw 
ihm  daher  in  seiner  neven  Qestalt  das  beste  Qedeihen. 


Unser  rtthmlichst  bekannter  Mitarbeitei*  Herr  Heinrich  Morf,  emer. 
Sesdnardirector  nnd  Walsenvater  in  Winterthnr,  M  Ton  der  phüoso^iischen 
FaenUit  der  Universitit  Zürich  honoris  causa  zum  Doctor  ernannt  worden, 
und  zwar  in  Anerkennung  seiner  Verdienste  als  Erzieher,  pädagogischer  Schrift- 
steller und  speciell  als  Pestalozziforscher.  Nie  ist  solche  Auszeichnung  einem 
Würdigeren  zutheil  geworden.  Ehre  den  Männern,  die  das  prunklose,  aber 
TeUwiehttge  Vetdlenst  einer  langen,  trenen  nnd  segensniehen  Wiihsankelt  im 
Dienste  der  Hensdienbfldnng  erkannten  nnd  anerkannten!  —  Die  Anaaefadiniing 
erfolgte  am  12.  Januar  in  Zürich,  nachdem  Moi-f  vor  einer  großen  Festversamm- 
lung zur  Erinnerung  an  den  Geburtstag  Pestalozzi's  die  alle  Hörer  tiefergreifende 
Gedenkrede  gehalten  iiatte,  und  die  ganze  Versammlung  war  hocherfreut  über 
die  dem  72jlhrigen,  noch  immer  rMgen  Greise  einlesene  Bhre. 


Literatur. 


J.  fidddek,  ordeDtl.  Lehrer  an  der  Taubstummenanstalt  in  Brcdaa»  Der 

Taabsttimme  und  seine  Sprache.  Erneute  rntersuchungen  über  das 
methodologische  Fnndamentalprincip  der  Taabstummenbildang.  31 8  S.  Brealaa 
1889,  Woywod.  6  Mk. 

Eine  BefonMchrift,  in  welcher  es  rieh  am  die  Frage  handelt:  In  wie  weit 
soll  in  der  Tüubstnmmenbildunp^  Hcinieke  oder  de  l'Ep^e  ,  die  dcutsrhe  oder 
die  franiteische  Jücthude,  die  Wort-  oder  die  Geberdenspracbe  zur  üeltung 
kommen?  —  Herr  Heidsiek  tritt  der  in  Deutschland  fast  allgemein  herrschenden 
3Ieinung  entgegen,  dass  die  Theorie  und  Praxis  Heinicke's  dunbnus  richtig 
und  zur  Alleinherrschaft  benifen  sei;  ohne  die  Vorzüge  der  deutschen  Methode 
n  verkennen,  yerfaehlt  er  nicht  st mc  Sympathien  für  de  l'Epäe,  und  behraptst 
er  eine  theilweise  Berechtigung  der  französischen  Methode.  Nach  seiner  An- 
rieht müssen  die  Irrthünier  von  hUben  und  drüben  aufgegeben,  die  richtigen 
Grundsätze  und  Bestrebungen  von  beiden  Seiten  hannonisch  vereinigt  werden, 
damit  sie  sich  gegenaeitig  su  einer  allgemein  gütigen  und  für  sftmmtliche 
Kategorien  Ton  Tkubstnmmen  ersprieBnehen  ^tbme  erginsen.  Dass  das 
Votum  von  Herrn  H.  liic  iiud  da  ziemlich  schroff  klingt,  und  da^s  er  an  der 
einen  Methode  die  Schatten-,  an  d&c  anderen  die  Lichtseiten  stärker  hervor- 
hebt, darf  man  riner  Befbnnsdirtft  nidit  allsahoch  «nreclineB,  ftik  mui 
Ansicht,  dass  die  bisherige  Pnixis  zun  Thdl  inrthtUnljdi  nnd  gemelnichidlidi 
sei,  als  richtig  anerkennen  muss. 

„FHr  die  methodisehe  Bntwickelung  des  Tsnbstammen-BiMtoiigswwwms  isl 
es,"  bemerkt  Herr  II.,  „verhiinpnisroll  gewesen,  da^s  die  Taubstnmmenlehrer 
keinen  Unterschied  gemacht  und  keine  (Frenzen  gezogen  haben  zwischen  den 
Yenddedenen  Arten  von  Taubstummen.  Darob  Unterlassung  einer  solchen 
Trennung  oder  (inipi»irunß:  liahrn  die  riuibstnmmenh'hrpr  sich  selbst  und  diia 
Publicum getüuücht.  '  Es  i^ieu  zu  unterscheiden  die  geborenen  Taubätuuimeu 
TOn  denen,  die  es  erst  nach  der  Geburt,  früher  oder  später,  geworden  sind, 
unter  welch  letzteren  sich  solche  befinden,  die  eine  Reihe  von  Jahren  ge- 
sprochen haben  und  sich  noch,  in  höhcrem  oder  geringerem  (Irade,  im  Besitze 
der  Lautsprache  befinden,  wenn  sie  einem  Institut  übergeben  werden.  Ebenso 
seien  die  völlig  Tauben  von  den  sehröchwechüngen  zu  untersoheiden  u.  s.  w. 
Wie  sich  nun  die  flranzOsisehe  Methode  an  aU  dcnjeuigcn  Taubstummen, 
welchen  das  (Jehiir  nicht  gänzlich  fehle,  durch  Yernaclüussi^uue;  der  Wort- 
eprache  yersündigt  habe,  so  die  deutsche  dadurch,  dass  sie  mit  den  gänzlich 
'nuibstmnmen  (beiiriietttoeh  Qeigtessohwnchen)  laatsprachlieiie  Ziele  erawinffen 
wolle,  welche  nur  mit  dem  relativ  begabteren  Schülermaterial  (!)  erreichbar 
seien.  .Die  deutsche  Schule  der  Taidwtunuu&ubilduug  verwirft  die  (ioberde 
und  foraert  von  dem  GehSrlosen,  dass  er  seine  Zeichen  nicht  mit  den  Händen, 
sondern  dass  er  sie  mit  dem  Munde,  mit  den  Sprerhwerkzcujren  mache.  Un- 
bekümmert darum,  dass  der  wirkliche  Taubstumme  seinen  eigenen  Ton  nicht 
hört,  glaaben  wir  dem  Gehörlosen  eine  Lautspmehe  su  geben,  wenn  wir  ihn 
anhalten,  mit  denselben  Organen  dieselben  Bewegungen  zu  machen,  wie  sie  der 
Hörende  beim  Sprccbou  erzeugt  ....  Die  deutsche  Methode  hat  sich  Aul- 
gaben gestellt,  die  sie  zu  lösen  anBeiStande  ist:  sie  hat  Versprechungen  ge- 
macht, die  sie  nicht  halten  kann  ....  Von  Heinicke  bis  auf  unsere  Tage 
ist  mau  von  nur  halbwahreu  Gruudäätzeu  ausgegangen,  und  dieser  Umstand 


—   337  — 


ut  €8,  warum  tinsorom  Wollen  diu*  VoUbrinij^en  fehlt ,  warum  wir  das  Ziel  nur 
halb  erreichen,  warum  wir  ans  selbst,  das  große  rubliciau  und  die  hohen  Bo- 
höiden  in  den  berechtigten  Hoffnungen  und  Erwartungen  tftuBcben.  Zu  diesen 
nur  halbwahron  Orundsätzcn  c^ehOrt  in  erster  Linie  der,  nach  wL'khem  die 
Laxitsprache  iiiiht  nur  hi^rbar,  sondern  auch  sieht-  und  fUhlbnr  sein  soll." 

Wie  nun  Herr  H.  seinen  Orundanschanungen  gemäß  den  in  Deutschland 
bisher  üblichen  Taubst ammennnterricbt  umgestalten  will,  um  die  Vorzttge  der 
Methode  Heinicke's  mit  denen  der  Methode  del'Ep^e's  ku  vereinigen,  das  möge 
hier  iiberirangen  werden,  (Li  nur  ein  sehr  kleiner  P.nichtheil  der  Leser  des 
nl'sedagogiums"  Taubstuuunenlehrer  sind.  Dagegen  wollen  wir  auf  das  tflr 
jeden  Pädagogen  bSdnt  InteneBante  Phlaomen,  welchea  hiei  Toriiegt,  nodi 
besonders  hinweisen:  es  ist  der  ZiHammenatoß  der  beiden  obfliSten  fininilsiitze 
aller  Pädagogik,  nämlich  der  Grundsätze:  Erziehe  naturgemiB  und:  Erziehe 
onltuigemU.  De  l'Ep^c  huldigte  don  enten,  Heinieke  dem  letsten,  jeder  ein- 
seitig und  daher  im  Übermaße.  fWolgemcrkt:  wir  r<  fl'  n  hier  nur  vom  TTntcr- 
richt  der  Taubstummen.)  De  l'Eji^e  folgte  der  Kii  htung,  welche  durch  die 
nattlrliche  Verfiwsung  des  TanlMtuinmcn  und  durch  die  ans  ihr  entapringende 
Art  des  Gedankcnausdniekes  angezeigt  ist,  und  erreichte  auf  diesem  natürlichen 
Wege  sein  Ziel  leichter  und  vollständiger  als  Heinieke  das  seiuige;  de  rK])ee 
bedachte  aber  m  wenig,  dass  der  Taubstumme  doch  auch  ein  sociales  Wesen, 
ein  Culturmensch  werden  soll,  für  den  die  Wortsprache  ein  sehr  wichtiges 
Element  der  Bildung  und  Organ  der  Bethätigung  hl  und  dum  daher  dieselbe 
Übermittelt  werden  soll,  falls  er  des  (tehJirsinnes  nicht  gänzli<h  entbehrt, 
Heinieke  ging  allzu  energisch  darauf  aus,  den  Taubstummen  dem  Hörenden 
gleich  eu  machen  nnd  ganz  in  das  allgemeine  Cnlturleben  zu  erhebeu,  wogegen 
mit  Recht  bemerkt  werden  kann,  dass  der  Taubstumme  (wenn  er  nicht  zu- 
gleich an  völligem  Blödsinn  leidet),  doch  immerhin  in  seinem  Kieiie  und  in 
seiner  Weise  aueh  ohne  Wortopraene  ein  Cnlturmenseh  werden  kann,  daas 
ferner  die  Individualität  -  also  auch  die  Taub.stumniheit  ein  Stück  Natur 
ist,  welches  rcspectirt  werden  muss,  dass  endlich  auch  der  beateemeintc  Kampf 
gegen  die  Natur  nicht  das  Unmögliche  anstreben  und  in  qnslerlsche  und  er* 
folglose  (icwaltthiitigkeit  ausarten  darf.  Es  ist  gewiss  nicht  leicht,  in  allen 
iHUen  einen  billigen  Ausgleich  zwischen  den  beiden  höchsten  Erziehungs- 
prindpien  zu  tiemn;  aber  dennoch  ist  dieser  Ausgleich  ahi  das  Ideal  aller 
Pädagogik  unverrüekbnr  festzuhalten;  nnd  der  eute  ehrliehe  Wille,  diesen 
Ausgleich  zu  vcrwirkücheu,  muss  iu  jedem  l'ädapogen  vorausgesetzt  werden. 

•  Wwiss  ist  dies  auch  das  Ziel,  welches  Herr  Heidsiek  mit  seiner  Refonn- 
sehrift  anstrebt,  und  schon  deshalb  verdient  sie  alle  Anerkennung.  .\ber  auch 
die  I>urrlifdhrung  seiner  Gedanken  muss  im  ganzen  als  höchst  gelungen  be- 
zeichnet werden,  und  Referent  spricht  es  offen  ans,  dass  er  in  allem  Wesent- 
lichen Herrn  Heidsiek  zustimmt  und  sein  Buch  für  ein  sehr  sehiltzenswertes 
Werk  hält.  Es  beruht  auf  fleißigem  und  ernstem  Studium  der  Fachliteratur 
im  weiteren  und  engeren  Sinne,  ist  vielseitig  und  gründlich  durclidaeht,  sorg- 
fältig, wolgeordnet  und  stilistisch  correct  abgefasst  und  gibt  allenthaibw 
Zeugnis  von  reiner  Wafariieitsliebe  und  fireimfitniger  überzeuirungstrene.  Das 
sind  Kic^ensjebaften,  dift  in  der  piidat!:(><riselien  Literatur  der  ciegenwart  nicht 
alltäglich  sind.  BeUagen  miisste  mau  es  daher,  wenn  dem  Buche  Heidsieks 
ein  Fiaspo  bescbieden  sein  sollte,  wenn  es  insDesondere  von  den  speeiellen 
Faeliq-eno^spii  des  Verfassers  todtiresehwii  iren  oder  todtgestiniiiit  werden  sollte. 

Allerdings  hat  es  üerr  Heidsiek  dem  Leser  nicht  eben  leicht  gemacht,  sich 
fliit  seinen  Ideen  b«  befreunden.  Ein  grttndlichee  Stvdivra  sdnes  Bnehes  er* 
fordr'rt  vii  1  Zeit  und  .Viisdiiiier,  während  dwh  das  Geistesleben  unserer  Zeit 
im  allgemeiueu  ein  recht  kurzathmiges  ist.  Vielleicht  hätte  Herr  H.  besser 
getiian,  das  heißt  seinen  Reforai^an  mehr  gefördert,,  wenn  er  sieh  kürzer  ge- 
fasst  hritfe.  Die  allgemeinen  psycholnirisehen  und  anthropologischen  Er- 
örterungen, welche  er  seinem  Buche  einverleibt  hat,  waren  für  seinen  Zweck 
nicht  unbedingt  nöthig,  wenigstens  nicht  in  der  vorlieir« uden  Ausführlichkeit; 
und  überdies  kfinnen  sie  leicht  zu  Kritiken  Anln-ss  geben,  welche  von  dem 
eigentlichen  ätrcitponkte  ablenken.  Auch  sind  sie  in  derThat  nicht  das  Beste 
des  Bneliei  ud  nklit  unaafeelitbar.  Zwar  iprieht  Herr  H.  den  schSnoi  und 

PaiagogfaMi.  lt.  Jahrf .  Hsft  V.  94 


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—   338  — 


ganz  richtigeB  Ldteats  mu:  „Die  Leharm  der  Psychologie  man  jeder,  der  sie 
kennen  lernen  will,  an  und  in  sioii  Mlbst  erleben;  selbst  die  großartigsten 
D«&nitioiie]i  vemögen  hier  nur  wenig  su  hellen."  Aber  er  bleibt  dieser 
Uaxime  nicht  tren,  nmden  «rbeitet  in  einer  Beflie  von  Capiteln  mit  fk<emden 

Mitteln,  indem  er  aus  den  Werken  wnehiedener  Autoritäten  —  wobei  er 
nicht  einmal  durchaus  das  Beste  bringt  —  massenhatto  Citatc  vorlUhrt,  die 
den  Leser  ermflden,  ohne  ihn  in  Sachen  des  eigentlichen  Themas  vorwBrto  m 
bringen.  Man  vergleiche  z.  B.  die  Capitel  über  die  Enge  des  Bewusstseins, 
über  i^wusstes  und  Unbewusetes  in  der  Seele,  über  Apperception  und  mit- 
idiwingcnde  Vorstellnn^en,  Aber  die  Wechsel wirkong  zwischen  Seele  und  Leib. 
Älan  erholt  sich  förmlich,  wenn  man  über  diese  akadeniit<chen  ({emeinplätze 
hinweg  in  da.s  Revier  gelangt,,  wu  Herr  H.  wirklich  zu  Hause  ist  uud  uns 
aas  eigenen  Mitteln  die  schätzenswertesten  AufsehlttsSB  bietet,  wie  i.  B.  ift 
dem  st^önen  (13.)  Capitel  Uber  die  Geberdeosprache. 

Schließlich  noch  ein  paar  Nebensachen.  Referent  hat  oben  einem  Worte 
aus  H.'s  Buch  ein  Ausrufczeiehen  beigesetzt,  weil  ihn  dieses  Wort  sehr  unan- 
genehm berfthrt  bat.  Esbeiüt  nSciittlermateriai"  —  einespracliUcbeUis^gebart^ 
die  Bwar  nidit  Herrn  H.  dss  Dasein  Terdankt,  aber  doeb  nenester  Ibdie  w^^int 
seit  der  E|iorhe  des  wieder  emporgekommenen  ('ääariümus  als  ein  spradmdMS 
äjmptom  aufgetreten  ist,  nabe  yerwandt  mit  Hecrutenmatenal,  Mensdnn- 
material  v.  s.  w.;  bisweilen  bOrt  man  ancli  sehon  Lebrermatarial,  Beamten- 
muteriftl,  Officiersmaterial,  und  vielleicht  wird  man  auch  noch  von  ander*  ni 
Material  sprechen.  Alles  scheint  Material  zu  werden,  Stofi  ohne  eigenes  Leben 
und  Bedit,  ein  willMhMes,  unpersönliches  Ding.  In  den  Sdavenstaatea  des 
Alterthums,  z.  B.  in  Athen  und  Rom ,  galten  die  SVlaven  wenijrstons  als 
Werkzeuge  (Maschinen);  jetzt  aber  werden  die  .Menschen,  die  doch  gesetzlidl 
Hiebt  einmal  Sciaveu  sind,  gar  nur  als  Material^  bezeichnet,  wie  ein  Lebm« 
klumpen  oder  ein  Holzbloek.  Mau  sirht.  wie  tii  l'  der  Wert  des  Menschen  ge- 
sunken ist.  Wenn  mau  dagegen  eiuwendeu  will,  so  sei  es  nicht  gemeint: 
warum  sagt  man  es  denn  so?  —  Jene  niederträchtigen  Wörter  waren  ja 
früher  ganz  unerhört,  sie  sind  neu,  das  Materialanh&ogsel  ist  auch  sprachlogisch 
ganz  überflüssig  und  eben  deshalb  um  so  empOrender.  Dass  es  sich  aber 
bereits  in  anstäudiger  (iesellschaft  zu  zeigen  wagt,  ersiebt  man  daraus,  dass 
es  sdbst  Heim  H.»  dem  despotische  Denkart  fremd  ist,  einmal  unteilanfen 
konnte,  wSbrend  er  es  bei  bundert  anderen  Gelegenbeiten  gaas  wol  m  ent- 
behren wusste.  —  Endlieh  muss  bemerkt  werden,  dass  das  auf  S.  IV  citirte 
Bictom:  „Ex  hat  es  g^agt,"  dem  Sokratea  und  seinem  Kreise  ganz  fremd 
war,  wol  aber  dea  Pytbagorlern  eigen  geweaen  sein  aoIL 

In  Summa  nodunab:  Jh»  Boeb  Heidsic«  rerdient  im  gaaien  die  wlinwta 
Empfehlung.  D. 

StrJJse,  Hilfsbuch  für  den  geographisclien  Unterricht  in  Bürger- 
und  Mittelschulen.  3.  AuÜage,  Göthen  1889,  P.  Schettlers  Erben.  1  Mk. 
Das  vorliegende  Hilisbuch  nennt  in  einem  Prospecte  seine  bante  noch 
nicht  übertronenen  Eigenthttmlichkeiten  und  Vorzüge,  unter  anderen  auch  „die 
große  Anzahl  cingeflochtener  Beschreibungen  uud  .Schilderungen  in  „kind- 
licher und  volksthümlicher  Fassung''.  Ob  dieses  Lob  uid  die  dafür  ge- 
brauchten Ausdrücke  begründet  sind,  mag  der  geneigte  Leser  aus  einer  kleinen 
Blumenlese,  die  wir  liier  mittheilen,  entnehmen.  Seite  3ö.  Die  Et.sch  geht 
bekanntlich  ohne  Ruhestation  ins  Meer;  die  übrigen  drei  Flüsse  schleichen 
langsam  dem  Po  zu,  der  im  Tieflande  auch  eben  keine  Eile  hat.  Bringen  ihm 
seine  Zuflüsse  mehr  Wasser  zu,  als  er  mit  Bequemlichkeit  fortschaffen  kann, 
so  lässt  er  es  Uber  die  I 'fer  ins  Land  hinein  laufen,  da  mögen  denn  die  Leute 
sehen,  wie  sie's  los  werden.  Seite  36.  Das  Foma  ist  jetst  (II)  bock  mit 
Sebvtt  bedeckt  vnd  beißt  Knldttd,  weü  Ktthe  dannf  weiden  .  .  .  Wenn  dem 
Papste  auch  sein  Landbesitz  genommen  ist,  kann  man  doch  nicht  sagen,  dass 
er  nicht  habe,  wohin  er  sein  Haupt  l^gen  könnte.  Wenn  er  bei  feierlichen 
Gelegenbeiten  mit  der  dreilbeben  Krone  anf  dem  Kmptcr  nnd  umgeben  tm 
den  Würdenträgern  der  Kirche  und  seines  Hofes  aus  einem  seiner  11000 Zim- 
mer nach  der  Feterskiicbe  geht,  so  entfaltet  er  ftlr  einen  Knecht  Uottes  immer 


^.  1^  1  L  j  v^>..(.,'^le 


—  389  — 


noch  viel  Glanz.  Seite  37.  Bis  heute  ißt  dem  Vesuv  nicht  zu  trauen;  an  dem 
Erdbeben,  welches  1883  die  Insel  Ifichia  verschüttete,  war  er  gewiss  niclit  un- 
h<  tiicili^^t.  Seite  40.  Wenn'8  nicht  gerade  so  kalt  ist,  dass  die  Augen  mfrieren, 
belnätigcn  »ich  die  Bussen  auf  den  Eisrutschbahnen,  die  ttbcraU  eingerichtet 
werden.  Seite  48.  Die  Lnstreisenden  fühlen  sich  in  Norwegen  überall  sieher 
wie  iu  Abraham.s  Schoß.  Seite  53.  Auch  die  unehrlichen  Handwerke  werden 
in  London  ins  grofte  getrieben.  Die  Londoner  Diebe  z.  B.  sind  Meister  in 
ihrer  Knnst  vnA  tintn  sidi  fn  ganse  Banden  sasamnen.  Die  19000  Constabler, 
welche  ihnen  auf  die  Finder  i^i  h'  ii,  miis^^f  n  f->  schon  klujp  anfangen,  wenn  sie 
einen  ertappen  wollen.  Seite  Ö4.  In  den  Hütten  der  irischen  Päditer  leben 
Ifensehen  nnd  Vieh  in  einem  nnd  demselben  Ranme  Imisammen  mid  tiieilen 
ihre  Kartoffolmahlzeiten  miteinander.  Den  S<hwein(  n  bekommt  das  vortreff- 
lich; aber  die  Menschen  gedeihen  dabei  weder  leiblich  noch  geistig  .  .  .  Ir- 
bad  ist  eine  offene  Wunde  am  britischen  Seiche,  för  welche  das  leehte  PHaster 
n"ch  f'hlr.  Stite  57.  Den  Parisorn  ist  auch  nicht  recht  zu  tran-n  Wenn 
Bich  die  rechten  Leute  au  die  Spitze  einen  aufgeregten  Häuft  n>  stellen,  so  ist 
ein  StraBenanflanf  fertig:,  der  auch  unter  Umständen  /ii  einer  allgemeinen 
Empfirung  anwachsen  kann.  Seite  67.  Die  '/Am  uner  spielen  jedermann  auf, 
wer  tanzen  will,  und  bc-^tehlen  jeden,  der  etwas  hat  '  etc.  etc.    Sapi*  nti  sat. 

W. 

Cfntmann  und  Marschall,  Grnndriss  der  deutschen  Sprach-  und  Kecht- 
schreiblehre  für  höhere  LehrauBtalten.  4.  Auflage,  üttnchen  1888. 

Oldenbuurg. 

Das  Bttchlein  geht  nvr  in  der  Lautlehre,  der  Orthocvaphie  und  der  Ety- 
mologie auf  nihd.  Formen  zurück.  Die  gramniatischen  Termini  sind  in  Frli- 
noten  etymologisch  erklärt  und  ihre  Betonung  ist  durch  eimn  fettgedruckten 
Bnehstaben  angedeutet.  Die  Fassong  der  Regeln  ist  so,  dasä  sie  leicht  Ter- 
standen  und  behalten  werden,  die  MuHterhf  i«ipicle  sind  zumeist  Klassikern  ent- 
nommen, liegen  aber  doch  nicht  aulicrhalb  des  <?esichtskrei.se.s  der  Schüler. 
Seite  126  wird  das  Beispiel:  Jnngfrnn  —  junge  Frau.  Manneskraft  —  die 
Kraft  des  Hannes  zu  beseitigen  sein.  (DieSchiUer  sollen  den  [Jnterscbied  an- 
geben.) Seite  74  der  Ausdruck:  Die  Präpositionen  „regieren"  den  Casns, 
Seite  70  der  Terminus  „gemischte  fonjugation  '.  Auch  wird  der  Verfasser  gut 
thnn,  manchen  Terminus  zu  streichen  a.  B.  AdnomüuU,  Elativ,  Frotasis,  Apo- 
dofis  (Seite  165)  und  in  Anhetradit  der  Stufe,  fOr  die  das  Btuldn  bestimmt 
ist,  auch  viele  Unterabtheilungcn  deren  Kenutni.s  die  Spiachbilduug  doch 
nicht  fördert,  zu  beseitigen.  Man  ver^eiche  nur  die  AnradniiDg  der  Modal- 
atze  (Seite  160):  1.  Qnalitetiv»  MMnlittt  (mit  drei  Unten&theilnngen.) 
2.  Quantitative  Modalität  (mit  swd  üntertheilen).  8.  BelatiTS  Hodniitftt  (mit 
zwei  üntertheilen)!  — r. 

Jl&iler-Fraaensieiu,  Haudbucb  für  den  deutschen  Sprachunterricht 
in  den  oberen  Glaesen  höherer  Lehrnnitalten  I.  Zur  Sprachge> 
Mhichte  und  Sprachlehre.  HannoTer  1889.   0.  GMd  (Morddentiehe  Ver> 

lagsanstalt).   2,40  Mk. 

Das  Buch  ist  für  Lehramtscandidaten  und  Lehrer  sowie  fUr  Ausländer  be- 
stimmt, die  ein  Yerstlndnls  der  dentsehen  Sprache,  eine  tiefer  gdiende  Kennt» 

nis  derjelbcn  sich  aneignen  wollen.  Zu  diesem  Zwecke  sind  die  nlid.  Formen 
durch  ältere  Sprachfonnen  und  durch  Hinweise  auf  den  Dialect  erläutert,  wo- 
bei dem  gegenwärtigen  Stande  der  Forsehnng  Rechnung  getragen  ist;  dem 
Ausländer  schwierige  ('onptnictimipn  sind  eingehender  besprochen,  auch  der 
Aussprache  des  Deutschen  ist  ein  groUer  Kaum  gewidmet  und  die  Lautlehre 
in  wifssenschaftlicher  Weise  erörtert.  Paradigmata  sind  nicht  aufgenommen, 
aiicb  ist  Wichtiges  und  minder  Wichtiges  durch  den  Druck  nicht  geschieden, 
was  jedenfalls  die  Übereichtlidiheit  erschwert,  besonders  weil  auch  der  Ver- 
fteser  das  Durchschießen  und  die  Nniaerirung  der  einzelnen  Unterabtheüungen 
rerschmäht.  Anerkennung  dagegen  verdient  die  Fassung  der  Regeln.  Vgl 
z.  B.  die  Uber  den  Qebrauch  des  Coigunctivs  (Seite  18ö)  gegebene.  Seite  178 
nad  Sstte  179  ist  die  CtoMliaeitoi  jvn  nbegegaea"  swefanal  eagefllhn    — r. 


Kraasc-Kerger,  DentBche  Grammatik  für  Ausländer  jeder  Nationa- 
lität.  4.  Auflage,  Rostock  1889,   Wertlier.   S.liO  Mk. 

Die  vorliügeode  (irainmatik  ist  in  ihrer  vierten  Atillagc  einer  der  empichlena- 
wertestea  Leittädcu.  Wissenschaftliche  Gruudhige  und  Verständnis  dessen«  was 
der  das  Deutsclie  erlernende  Ausländer  bcoötiiigt  und  in  einer  Grammatik 
sucht,  also  Abweichungen  des  deutschen  Sprachgebrauches  von  dem  seiner 
Muttersprache  iu  der  Construciion  und  Wortstellung,  ausKikrlit  he  Behandlung 
der  Ausspiache  und  Betonung  sowie  des  lexikaUschen  Momentes  zeichnen  sie 
TOiHieinum;  ans.  Gin  paar  Bemerkungen,  die  einer  baldigen  fOniten  Autlage 
zu  |?ute  kommen  mögen,  wollen  wir  unserem  Lobe  beifügen.  Wir  würden 
Seit«  5  nicht  swei  Arten,  das  y  auszusprechen,  angeben,  Seite  7  heißt  es:  -oa 
klingt  wie  ftn*.  Wie  klingt  aber  in?  In  der  Satslelue  wttrden  wir  mit  den 
Tcrmiui  „uarkter  und  erweiterter  einfacher  Satz''  brechen  und  den  Torminus 
Copula  beseitigen.  (Siehe  Kernä  Darlegungen.)^  Endlich,  und  das  halten  wir 
iOr  das  Wichtigste,  sollte  der  Verfasser  aus  seinem  Buche  „fflr  Auslinder* 
die  kritischen  Angaben  für  die  Termini  und  deren  verMchiedenen  Sinn  bei  den 
einzelnen  Uramuiatikem  beseitigen,  desgleichen  auch  die  Notizen,  in  denen  er 
angibt,  dass  dieser  oder  jener  Satz  von  diesem  oder  jenem  (iranunatiker  aadl 
in  eine  andere  Kategorie  eingereiht  werde.  Solebe  Auseisandenetsungea  ge- 
hören nicht  iu  dieses  Buch,  ja  sie  stören,  — r. 

Dp.  Alex.  Wernicke,  Prof.  zu  Hraunschweif^,  (Goniometrie  und  (Tinnd- 
züge  der  Trigonometrie  innerhalb  der  Ebene.  Für  obere  Ciabseu 
hSherer  Lehranstalten.  175  S.,  20  Fig.  im  Text.  Brauuehwelg  1888, 
C.  A.  Schwetschke  &  Sohn.    2,40  Mk. 

Im  Vorworte  sagt  der  Verfasser,  dass  er  sein  Buch  7,unäi:h>(  t'i\r  seine 
Schüler  am  Gymnasium  zu  Bruunschweig  veröfleutlicht  liabe,  um  denselben  das 
Nachschreiben  zu  ersparen.  Es  wird  auch  daselbst  iingegeben,  welche  der 
einzelnen  Paraijraplien  des  Biu-hes  in  Ober->k*ciiuda,  ITnter-  und  Ober-Prima 
vorzunehmen  sind.  Es  scheint  uns  aber  gar  nicht  zweit'elhalt ,  da-sH  dickes 
Werk  auch  an  anderen  Lehranstalten  Freunde  gewinnen  wird.  Wie  der  Titel 
besagt,  ist  die  Goniometrie  ausführlicher  erörtert  als  die  Trigonometrie.  Die 
27  ersten  Seiten  des  Buches  befassen  sich  mit  der  Entwickelung  eines  Maß- 
systemes  für  den  Winkel;  au  deren  Schlus.-»  wird  die  Entstehung  der  Schnen- 
tafel  des  Ptolomäus,  sodann  der  Begrül  des  Sinus  vorgeführt.  Es  folgt  nun 
die  Ableitung  der  gu  uiometrischen  Formeln  nebst  Betrachtung  des  Verlaufes 
der  Functionen  in  diu  vor^t  lii>  ileucn  Quadranten.  Dieser  Abschnitt  i-nthält 
einige  aelten  Torkoumeude  Figuren,  den  Verlauf  der  Sinus-  und  Tan^enten- 
CuTTO  dantellend.  Die  graphisehe  vorftthrung  der  Wiahelftinetionen  gibt  Ge- 
legenheit, auf  da.s  (Koordinatensystem  desCartosins  und  auf  Pular  « 'oonlinaten 
ttborzugehen.  Letztere  führen  zur  Hoivre'schen  Formel  und  zur  Autiusuug 
binomialer  Gleichungen  vom  6.  und  vom  17.  Grade,  endlich  zur  Entwickelung 
der  Reihe  für  Sinus  und  Tosinus  und  der  logarithmischen  und  Exponcntial-Keihe. 

Die  Trigonometrie,  obwol  kürzer  getasst,  enthält  doch  alle  s:ebräuehlichen 
Formeln  und  auch  sahireiche  Anwendungen  derselben.  Der  Verfasser,  welcher 
am  Gymnasium  und  an  der  tei-hnisclu  n  Hoclischulc  zu  Braiinsrhweio;  al-  Lehrer 
thätig  ist,  besitzt  nicht  nur  eine  ausgebreitete  Kenntni.s  der  mathematischen 
Literatur,  sondern  vor  allem  einen  edlen  Schaffensdrang,  weither  ihn  zwingt, 
sich  an  der  modernen  Ausgestaltung  des  itiathematis* heu  l'nterriehte.s  mit  su 
betbätigcn.  Sichtbar  mit  Liebe  für  seinen  (gegenständ  hat  er  sein  Buch  bear- 
beitet, durch  literarische  und  geschichtliche  Nadirichten  den  Text  erweitert 
und  durch  eine  Idare  und  ein»che  Vortragsweise  die  Benützung  des  Budies 
Mdit  und  angenelim  gemacht.  Wir  können  im  Interesse  des  Unterrichtes  und 
der  Wissenschaft  nur  wünschen,  da.ss  das  Werk  eine  re<lit  ausgebreitete  Ver- 
wendung finde,  glauben  aber  die  Fach  genossen  insbesondece  aufinerksam  machen 
SU  soHen,  dasa  man  in  Auafllhrung  und  Behandlung  bdm  Yerfimer  origineUe 


ymatwoffU.  BadMtww  Dt.  FrUdriok  DttUs.  BmMradMnl  Jvllnt  Klinkhardt,  Mpsic. 


Oedanken  findet 


Uber  erziehenden  Unterricht 

Von  Oberiehnr  em.  G.  A,  Krett^tmtir'Bmatm. 

(8eUMS*) 

IL  Der  erziehende  Einfluss  des  Lehrers  uebeu  dem 

Unterrichte. 


it  mit  Unrecht  hat  man  behauptet,  dass  die  drei  ersten 


Lebenigahre  des  Kindes  ftir  seine  Erziehung  die  wichtigsten  sind.  In 
diesem  kurzen  Zeitraum  bildet  sidi  bereits  die  Gmndlage  zn  seinem 
künftigen  Gemüth  und  Charakter,  und  ▼enn  ^ir  anch  zugeben  mflssen, 

dass  bei  den  meisten  Kindern  fünf  his  sechs  Jahre  zn  dieser  Begrün- 
dung erforderlich  sein  möchten,  so  bleibt  doch  sicher,  dass  der  wich- 
tigste Theil  der  Erziehung  gar  nicht  in  der  Gewalt  der  Schule  liegt. 
Was  das  Kind  in  seinem  Leben  vor  der  Schulzeit  geworden  ist,  da» 
bestimmt  die  Richtunp-,  in  welclier  seine  Bildung  fortan  weiter- 
schreitet. Die  früliesten  Eindrücke  sind  die  dauerhaftesten ;  sie  lassen 
Spuren  zurück,  welche  sich  bei  allem  <j:eltend  machen,  was  tVraerweit 
in  die  Seele  eintritt,  indem  sie  dieses  entweder  anziehen  oder  abstoßen 
(ihm  widerstreben).  Dies  sieht  freilich  nicht  so  aus,  weil  das  Kind 
sich  anfangs  so  unstät,  so  leicht  umstimmbar  zeigt,  vom  Lachen  zum 
Weinen,  vom  Weinen  zuni  Lachen  übersjtrinp:t  und  bei  keinem  Gegen- 
stande lange  zu  verweilen  verma^^  Allt  in  dies  beruht  nur  darauf, 
dass  die  zur  Zeit  entstandenen  Gebilde  ni»ch  aus  wenig  gleichartigen 
Spuien  bestehen,  es  beruht  nicht  auf  Veitilgbarkeit  der  Spuren.  — 
Spurenarme  Gebilde  lassen  sich  natürlich  durch  andere  leicht  aus 
dem  Bewusstsein,  der  Erregtheit  verdrängen  und  werden  dadiuch  tür 
den  Augenblick  unwiiksam;  dadurch  lösen  sich  aber  die  Spuren, 
wenn  sie  auch  nur  einigermaßen  vollkommen  entstanden  sind,  nicht 


*)  Vgl.  NovmberlMft  &  73  fT. 


—    842  — 


auf,  sie  behalten  ihr  bestimmendes  Dasein  und  machen  es  bei  der 
Wiedererregung  sofort  geltend.  Diese  Fortwirknng  bemerken  die 
Erzieher  gewöhnlich  gar  nicht  oder  erst  dann,  wenn  es  leider  zu  spät 
ist.  Schon  in  intellectueller  Beziehung  bestätigt  dies  die  Erfahrung 
an  den  Schulkindern.  Da  sitzen  geweckte,  muntere,  geistig  regsame 
Anfänger  neben  matten,  stumpfen,  trägen;  die  letzteren,  heißt  es 
gewöhnlich,  sind  von  der  Natur  vernachlässigt,  kärjrlich  begabt, 
während  es  sehr  wahi^cheiulich  ist,  dass  sie  unter  besserer  Leitung 
jenen,  wo  nicht  gleich,  doch  ziemlich  nahe  gebraclit  worden  sein 
wüitlen.  Wo  soll  die  geistige  Munterkeit  herkommen,  wenn  die  junge 
Seele  nur  Spuren  von  dumpfem  Hinl)riiten,  v<»u  schlaffem,  mangelhaftem 
Angeregtsein  bilden  konnte,  wie  solches  in  Familien  vorkommt,  wo 
man  den  Kindei  n  alle  geistige  Thätigkeit  verkümmert,  indem  man  sie 
zu  möglichstem  Stillsitzen,  Schweigen  etc.  zwingt?  Diese  Spuren 
wieder  wegzuschaffen,  ist  ein  Ding  der  Unmr>glichkeit.  Der  Lehrer 
kann  sie  nur  dauernd  ins  Unbewusstsein  zurückdrängen,  wenn  es  ihm 
gelingt,  bessere,  schwunghaftere  daneben  zu  erzeugen,  und  das  ist 
häufig  sehr  schwer,  wo  nicht  unmöglich,  weil  die  neuen  Urvermögen, 
die  sich  tAglich  anbflden  nnd  aaf  deren  Grundlage  die  Weiterbildung 
«rfolgt,  in  der  Begel  das  Gepräge  der  rerkehrt  entwickelten  an- 
nehmen nnd  daher  schwach,  langsam  oder  stumpf,  wie  die  verdorbenen 
auftreten. 

Wenn  es  nun  Hauptaufgabe  für  die  erzieherische  Thätigkeit  des 
Lehrers  ist,  den  Kindern  die  Schule  und  das  Lernen  Tor  allem  lieb 
zu  machen,  so  ergibt  sich  leicht,  was  er  zu  thun  habe.  Er  muss 
sich  der  Verwahrlosten  mit  besonderer  Sorg&lt,  Liebe  und  Geduld 
annehmen,  schon  deshalb,  um  sie  fBr  die  Besseren  nicht  zum  Hemm- 
schuh der  Bfldung  werden  zu  lassen.  Nichts  ist  häufiger,  als  dass 
unverständige  Lehrer  die  armen  Kinder  entgelten  lassen,  was  deren 
Eitern  verschuldet  haben.  Sie  vernachlässigen  dieselben,  behandeln  sie 
kurz  und  kalt,  statt  dass  sie  ihnen  mit  Wolwollen  und  Freundlichkeit 
entgegenkommen  und  sich  ihr  Vertrauen,  ilire  Zuneigung  erwerben 
sollten.  —  So  mancher  Lehrer,  der  in  der  methodischen  Kunst  gar 
kein  Meister  ist,  fesselt  seine  Kinder  doch  an  den  Unterricht,  erhält 
sie  bei  Aufmerksamkeit  und  Lernfleiß  und  fördert  sie  dadurch  nicht 
blos  im  Wissen  und  Können,  sondern  auch  in  guten  Gesinnungen. 
Wieso  V  Weil  sich  durch  sein  Verhalten  zwischen  ihm  nnd  den 
Schülern  ein  Band  der  Liebe  geknüpft  hat,  das  die  letzteren  unbe- 
wusst  fortzieht  und  in  iliren  Seelen  alles  zurückdrängt,  was  dem  theuren 
Führer,  der  aber  den  IScUlechten  auch  seinen  Ernst  tuhlen  lässt,  un- 


343  — 


angenehm  sein  könnte.  \\  ie  eiziehend  wird  vollends  der  wirken,  der 
hiermit  uucii  gutes  Lehrgejichick  verbindet  und  dadurch  do|>i)elt  das 
tägliche  (lefülil  erzeugt:  wir  sind  heute  weiter  gekommen,  unsere  Kraft 
ist  abermals  ;it^ wachsen. 

I>as  Leliitah'nt  ist  freilich  zum  Theil  Sache  der  individuellen 
Anlage,  zum  'J'heil  l)eruht  es  aber  auch  auf  wichtigen  späteren  P^rww- 
huugen.  Unter  diesen  zeichnet  sich  namentlich  das  aus.  was  man 
<len  Lehrton  nennt,  von  dem  M-lum  im  Vnrhergelieiideu  d'w  Hede 
war.  Noch  viel  zu  wenig  ist  eikaiiiit.  wie  viel  dieser  Lelirtun,  je 
nachdem  er  ist,  die  sittlicli«-  Hililiiiig  der  .lügend  fiinlern.  hemmen 
•«»iler  wol  gar  verderben  kann.  gibt  so  gut  eine  geistige  An- 
steckung wie  eine  leibliche,  und  es  ist  ^rar  nicht  nöthig,  dass  der 
Lehrer  sein  sittliches  Gesinntsein,  sein  Ihuiitinden  und  Wollen  immer 
bestimmt  ausdrücke,  es  prägt  sich  schon  unwillkürlich  in  seinem 
ganzeu  Tliuu  und  Lassen  aus.  Die  Lehrer  zerfallen  indes  in  dieser 
Beziehung  in  zwei  Classen.  Mancher  unterrichtet  so,  dass  er  nur 
den  Gegenstand  durch  sich  hindurch  sprechen  Hast  und  alles  ver- 
meidet, was  davon  abführen  konnte;  von  seinem  Gem&th  imdCSimkter 
tritt  dabei  weniges  bemei'kbar  hervor.  Ein  anderer  mischt  fort- 
während mehr  oder  weniger  sich  selber  oder  seine  Perattnlich- 
keit  ein,  erzählt  von  seinen  Lebensverhältnissen,  seinen  Schicksalen, 
seinen  Gefühlen,  seiner  Handlungsweise,  ist  freigebig  mit  Witz  and 
Schei'z  etc.  —  Führt  dies  zn  weit  von  dem  eigentlichen  Gegenstände 
des  Unterrichtes  ab,  so  knnss  die  strenge  Didaktik  es  als  einen  Fehler 
bezeichnen,  und  es  kann  wirklich  naichtheilig  wirken,  indem  es  das 
zn  Lernende  verkürzt  und  den  Emst  fOr  die  vorliegende  Sache  bei 
den  Kindern  abstumpft  Bleibt  es  jedoch  in  den  gehörigen  Schranken, 
so  wUrzt  es  nicht  nnr  das  Trockene  der  Sacke,  sondern  es  gewinnen 
auch  die  Einder,  welche  die  entsprecheudeu  Vorbildungen  hinza- 
bringen,  an  moralischer  und  gemfithlicher  Bildung  dadurch. 
Während  die  bloße  Sache  durch  ihre  Einförmigkeit  vielleicht  lang- 
weilen würde,  bekommt  sie  hier  mehr  KiTegtheit  und  Lelx  ji.  und  das 
ist  für  viele  Individuen  entschieden  Bedürfuis.  Fällt  so  der  Lehrton 
•gewissermaßen  mit  dem  Beispiele  des  Lehrers  zusammen,  so  reicht 
doch  das  Beispiel  viel  weiter,  denn  es  erstreckt  sich  nicht  blos  auf 
das,  was  der  Lehrer  während  des  Unterrichtes  sagt  und  thut,  sondern 
umfasst  seinen  ganzen  Lebenswandel,  soweit  er  den  Kindern  unmittel- 
bar odei"  mittelbar  bekannt  wird.  Das  Beispiel  steckt  ebenfalls  an 
und  kann  als  gutes  die  Schüler  zum  Edlen  erheben  wie  als  schlechtes 
zum  Miederen  hei'abziehen.   Beispiel  und  Lehrtou  zusammen  drücken 

2ö* 

.  kj  ^  .d  by  Güogle 


aber  dei'  Schule  das  bestimmte  geistige  Gepräge  auf,  das  man  in  jeder 
findet:  die  Freudigkeit  und  den  Schwung  der  Jugend,  wie  auf  der 
anderen  Seite  das  vei  düsterte,  niedergedrückte  Wesen,  was  beiderseits 
der  Kenner  sofort  entdeckt,  wenn  er  in  eine  Schule  eintritt. 

Kein  Lehrer  ist  imstande,  seine  Stimmung,  die  oft  eine  durch 
bittere  Erfahrungen  getrübte  ist,  so  vor  den  Kindern  zu  verschließen, 
dass  sie  gar  nichts  davon  bemerken,  gar  keine  Lähmung  dadurch  an 
sich  erfahren  sollten.  Möglichste  Selbstbeherrschung  ist  aber  hier  für 
den  Lehrer  heilige  Pflicht.  Schmach  dem,  der  die  Schuldlosen  durch 
ein  mürrisches  Wesen  entgelten  lässt,  was  andere  an  ilim  gesündigt 
haben.  Ebenso  ist  es  heilige  Pflicht  flir  ihn,  dass  er  sich  um  die 
moralische  Individualität  seiner  Schüler  bekümmere,  sie  berück- 
sichtige und  leite.  Wie  verschieden  verhalten  sich  auch  hier  die 
Lehrer!  Da  gibt  es  manche,  die  genug  gethan  zu  haben  glauben, 
wenn  sie  nur  ihre  Stunden  geben.  Sie  sorgen  dafür,  dass  während 
des  Unterrichtes  Stille  und  Aufmerksamkeit  herrsche,  dass  die  erfor- 
derlichen Vorbereitungen  und  Ausarbeitungen  nicht  unterlassen  werden; 
alles  Übrige  aber,  glauben  sie,  gehe  sie  oichts  an.  Wie  wird  es  mn 
die  erziehlichen  Wirkmig^  des  Unterrichtes  bei  diesen  stehen? 
Es  gibt  Tugenden,  welche  die  Kinder  anch  in  der  Sdinle  praktisch 
flben  können  und  welche  nmsomehr  yon  ihnen  gefinnlert  werden  mfissen, 
je  weniger  sie  dieselben  oft  ans  der  hAosUchen  Erziehnng  mifbringen, 
wohin  namentlich  die  Beinlicbkeit  des  Körpers  und  der  Kleidnns^ 
gehört  Ebenso  wird  Höflichkeit,  Verträglichkeit,  Bescheidenheit, 
Wahrhaftigkeit,  DienstgeßUIigkeit  und  die  Sehamhaftigkdt  gar  oft 
Ton  ihnen  yeiietzt,  und  der  Lehrer  kann  hier  das  Bessere  nach- 
drücklich befördern,  wenn  er  darauf  hält  und  es  dnrch  sein  eigenes 
Beispiel  lieb  und  wert  macht  Mancher  sieht  dies  als  seine  Haupt- 
anfig;abe  an  und  wir  preisen  ihn  darum.  Fortwährend  wendet  er  seine 
gespannte  Aufinerksamkeit  auf  diese  Dinge;  er  controlirt  das  Be- 
tragen der  Kinder  eben  so  sehr  als  ihre  Fortschritte  im  Lernen  und 
weiß  Fehler  mit  Ermahnungen,  mit  Tadel  und  Bestrafungen  zu  be- 
seitigen. Die  Besseren  dage^n  ii  weiß  er  durch  Lob  und  Belohnung 
zu  ermuntern,  sie  anf  dem  Wege  zum  Guten  festzuhalten  und  zu 
stärken.  Dabei  aber  verkennt  er  nicht,  dass  Strafe  und  Lohn  ihr 
Bedenkliches  haben,  weil  sie  von  der  Schätzung  der  Sache  abführen, 
als  Xebenmotive  den  Charakter  eben  so  verderben  als  veredeln  krtnnen. 
De.shalb  sorgt  er  zugleich  dafür,  dass  die  theoretischen  und  i)r5ik- 
tischen  Sachen  sich  von  selbst  empfehlen,  durch  ihren  Erfolg  lieb  und 
theuei*  werden,  damit  alle  nicht  aus  der  Sache  fließenden  Beweggründe 


—  346  — 


nach  und  uach  wegfallen  können.   vSo  erzieht  ei*  iu  imd  neben  dem 
Unterrichte  auf  die  erfreulichste  Weise. 

Was  der  Schüler  auf  diesem  Wege  theoretisch  und  praktisch 
durch  den  Lehi-er  gewinnt,  kann  und  wird  allmählich  zu  bleibender 
Eigenschaft  in  ihm  werden,  denn  er  kommt  von  den  mehr  und  mehr 
angesammelten  Spuren  nicht  melir  los.  Eine  der  schönsten  Eigen- 
schaften, zu  welchen  er  so  erzogen  werden  kann,  ist  der  denkende 
Geist,  der  vom  Lehrer  auf  ihn  übergeht:  die  Liebe  und  der  Eifer 
fiirs  Foi-schen  und  Erkennen  überhaupt,  welche  immer  mehr  vom 
Gemeinen  und  Niedrigen  abziehen  und  hierdurch  ein  bedeutender 
Hebel  für  die  gesammte  Äloralitat  in  ihm  werden.  Ist  der  Lehi-er 
ein  Mann,  der  durch  sein  ganzes  Beispiel  zeigt,  dass  ihm  nächst  der 
Sittlichkeit  nichts  höher  steht  als  klare,  wol  begriffene  Erkenntnis, 
die  er  der  gröfiten  Aufopferung  für  wert  hült,  so  kann  es  nicht  fehlen, 
dass  sich  dieier  Siim  allmftUiflii  auch  auf  seine  Schäler  uberträgt. 
Ein  soldier  Lehrer  dtst  nach  den  Sdralstnndai  nicht  beim  Bterkmg 
nnd  Kartenspiel,  wodurch  manche  Schnhnänner  den  Siiu  fttrs  Weiter- 
streben nntergraben,  sondern  sncht  seine  Erholung  auf  mehr  bildendem 
Wege:  im  Umgänge  mit  redlichen  Menschen,  in  Qottes  freier  Natur, 
in  nfltiUeher  LectQre,  in  anständigen  Beschäfügongen,  die  anch  dem 
KOrper  Bewegung  yerschaften  etc.  So  viele,  die  an  der  Bildung  der 
Menschheit  an  arbeiten  berufen  sind,  sind  denk&nl,  wissenschaftlich 
liederlich,  blinde  Nachbeter  dessen,  was  andere  Ar  Wahrheit  aas- 
geben, wie  konnte  sonst  die  ZurackfBhrung  längst  erwiesener  Lr- 
thttmer  immer  wieder  gelingen?  —  Wo  gute  Lehrer  gewirkt  haben, 
ist  das  Volk  von  diesem  GNuste  unangesteckt  geblieben;  es  widerstrebt 
denVerflnsterongsversuehen,  und  die  Herde  zeigt  sich  hier  oftachtnngs- 
werter  als  die  sich  aufdrängenden  unberufenen  Hirten.  Dieser  Erfolg 
atammt  weniger  ans  dem,  was  das  Volk  prelernt  hat,  als  vielmehr  aus 
der  Wertschätzung,  die  ihm  für  die  Wahrheit  übeiliaupt  durch  den 
Eifer  eingeprägt  ist,  welchen  seine  Lehrer  für  dieselbe  an  den  Tag 
gelegt  haben.  So  wird  das  Intellectuelle  moralisch  bildend,  den 
Charakter  kräftigend,  das  Gemüth  erwärmend  und  hierduich  zu  allem 
Höheren  emporziehend. — ZomSchloss  werde  nun  noch  kurz  betrachtet: 

m.  Der  erziehende  Einfluss,  den  iu  den  Schulen  die  Schüler 

auf  einander  ausüben. 

Wer  erziehen  will,  muss  Ii  (  »her  stehen  als  der  zu  Erziehende,  das 
Terstebt  sich  von  selbst.   In  den  Volksschulen  stehen  die  Kinder 

..ij,.,...d  by 


einander  an  Bilflnng-  zu  nahe,  als  dass  von  einem  H<iherstehen  viel 
die  Rede  sein  kr.nnte;  sie  leben  in  getrennten  ('lassen,  die  meist  nur 
in  den  Zwischenstunden  mit  einander  in  JU'riihrung  kommen,  und  wa» 
etwa  die  größeren  Schüler,  die  man  zuweilen  als  Oehilfen  oder  Auf- 
seher gebraucht,  zum  Besten  der  Kleinen  thun  kraiueu,  ist  von  wenig 
Bedeutung.  Es  fehlt  namentlich  der  Kespect,  den  solche  Stellvertreter 
linden  müssten.    Daher  ist  auch  die  ..wechselseitige  Schulein- 
richtung", die  vor  dreißig  und  mehr  .Jahren  so  viel  von  sich  reden 
machte,  gänzlich  verschollen.    Der  erhoftte  (lewinn  trat  nicht  ein 
und  sehr  natürlich.    Niemand  nimmt  gern  Deine  von  seinesgleichen 
»n,  wenn  derselbe  nicht  eine  bedeutende  Überlegenheit  des  Innern 
zeigt  oder  ein  vertrauter  Freund  ist,  und  beides  fehlt  bei  den  Schul- 
kindern, weil  deren  Menge  es  zu  keinem  recht  innigen  Einswerden 
zwischen  den  Einzelnen  kommen  lässt.    In  den  Familien  ist  das  ganz 
anders.   Ist  hier  das  erste  Kind  gut  erzogen,  so  wird  man  mit  den 
nachfolgeDden  nur  halb  so  viel  Mühe  haben.  Die  älteren  Geschwister 
nehmen  sich  der  jüngeren  gern  liebreich  an,  denn  schon  die  Natur 
führt  sie  inniger  zusammen,  und  es  ^tsteht  in  den  jüngeren  leicht 
ein  Streben,  den  filteren  nachzueifern,  wodurch  jene  unvermerkt  hoher 
gehoben  werden.  Gleiches  zeigt  sich  auch  unter  den  Gespielen,  die 
keüie  Geschwister  sind,  wenn  nur  dafftr  gesoii^  wird,  dass  die  Ton- 
angeber wirklich  durch  Sittsamkeit  und  Verständigkeit  sich  aus- 
zdchnen  und  alle  Störenfriede  fernbleiben.  Dass  auch  in  den  Schulen 
solche  Verhältnisse  sich  bilden  kOnnen,  ist  zwar  nicht  zu  leugnen^ 
es  kommt  aber  hier  weit  seltener  vor.  Zu  solcher  Annäherung  lassen 
diese  Anstalten,  weü  alle  Kinder  mit  geregeltem  Lernen  beschäftigt 
sind,  wenig  Zeit  und  Itaum.  Kinderbewahranstalten,  Kleinkinder- 
schulen  sind  mehr  Familienkreisen  ähnlich  und  fbrdem  daher  ancb 
die  wechselseitige  Erziehung  der  Kinder  mehr  als  die  gewöhnlichen 
Schulen.  Verwilderte  Schulen  lassen  sich  durch  keine  Kinder,  sondern 
nur  durch  einen  kräftigen  Lehrer  in  Zucht  und  Ordnung  erhalten. 

Wie  steht  es  nun  aber  in  denjenigen  Schulen,  welche  recht 
eigentlich  zur  Erziehimg  be-timmt  sind,  in  den  sogenannten  Inter- 
naten (Alumnaten)  oder  Schulen  mit  Glausur?  Hier  kommt  es  vor,, 
dass  der  gutmiltbige,  aber  noch  wenig  weltklnfre  Srhiiler  von  seine» 
Mitschillem  gehänselt,  zum  Stichblatt  gemacht,  dadurch  geärgert  und 
verliittert  wird;  hier  geschieht  es,  dass  der  Fleißige  sich  allen  Chi- 
canen  und  selbst  körperlichen  Misshandhuigeii  vun  Seiten  der  Faulen 
ausgesetzt  sieht,  weil  diese  sich  durch  ihn  beschämt  fühlen  etc. 
Solchen  Geist  auszurotten,  wo  er  einmal  eingewurzelt  ist,  hält  außer- 


—    347  — 


ordentiich  schwer.  Dass  es  auch  bessere  Schulen  dieser  Art  gibt,  ist 
gewiss;  aber  eben  so  gewiss  ist  es  auch,  dass  alle  ganz  strengen 
Inteiiiate  schon  an  sich  etwas  UnnatQrliches  sind.  Sie  sollen  ein 
FmmilieDleben  darstellen,  allein  man  vergisst,  dass  eine  Familie  von 
siebzig  und  mehr  Kindern  oder  Jünglingen  ein  Unding  ist  Znr 
Familie  gehört  jederzeit  anch  das  weibUche  Geschlecht  mit  seinen 
sinnigen,  mtttterUchen  Einflössen  nnd  Besorgungen;  aber  dieses  Ge- 
schlecht ist  in  solchen  Anstalten  gerade  nmsomehr  fem  gehalten, 
je  erwachsener  die  JQnglinge  sind,  die  man  klösterlich  dnsperrt  Die 
Familie  wird  also  hier  znr  Caricatnr,  nnd  solche  WidematQrlichkeit 
bestraft  sidi  mehr  oder  weniger  durch  verderbliche  Wirkungen.  Man 
berufe  sich  doch  nicht  auf  England,  wo  die  (höheren)  Schulen  mit 
dausur  fOr  die  besten  gelten.  —  Wir  Deutschen  sind  keine  Eng- 
länder; wir  saugen  das  Princip  des  vom  Gesetze  geregelten  Self- 
goremmoit  nicht,  wie  es  dort  geschieht,  mit  der  Huttermilch  ein; 
anch  will  man  dort  nicht  wie  in  unseren  Internaten  die  gute  Schul- 
sucht  durch  bis  ins  Kleinste  gehende  Au&icht  erhalten  und  beleben, 
sondern  sieht  nur  anf  strengste  Beobachtung  einiger  weniger  Gesetze, 
die  lediglich  das  Allgemeinste  feststellen,  während  in  allem  Übrigen 
den  Schfllern  völlig  freier  Raum  gelassen  wiid.  Und  trotzdem  haben 
bereits  gewichtige  Stimmen  in  England  selbst  auf  das  Bedenkliche 
aufimerksam  gemacht,  das  mit  solcher  Schuleinrichtung  verbunden  ist, 
und  es  liegen  zahlreiche  Erfahrungen  dort  vor,  dass  der  Schaden  oft 
den  Nutzen  überwiegt.  —  Kommt  nun  in  Anstalten  mit  Internat  noch 
Zwiespalt  der  Ansichten  in  dem  voigesetzten  Lehrercollegio  hinzu, 
niissbilligt  der  eine  Lehrer,  was  der  andere  hochhält,  sind  sie  nament- 
lich in  Bezug  aut  Religion  entgegengesetzten  Sinnes,  so  müsste  es 
ein  Wunder  sein,  wenn  nicht  ein  gefährliches  Paitt-iwcseu  unter  den 
Schülern  entstehen  sollte,  das  wol  <:iir  iinaii  luit  Beispiele  erlebt  Ii 
von  reiigiüs  iinduldsanien  Lehrern  diiicli  ein  System  der  Spioiia^»^  ^re- 
nährt  wird  und  so  die  L'harakteibildung  der  Jugend  von  Grund  aus 
ruinirt.  Da  nun  in  unseren  Taften  sich  die  herrschende  religiöse 
Verfolgungssucht  überall  gern  eindrängt,  so  sind  gesihlossene  Schul- 
anstalteu,  von  denen  man  sie  niclit  abhalten  kann,  schon  um  deswillen 
nicht  melir  ratlisanr.  sie  verstärken  die  vorhandenen  Übel  und  weiden 
zum  Unsegen.  ^\  o  alles  nach  Öffentlichkeit,  nach  mehr  Lieht  und 
Selbstständigkeit  ringt,  kann  klosterliche  Absperrung  und  Einengung 
nur  schaden.  Wol  lässt  sich  ein  Internat  denken,  das  heilsam  wirkt; 
das  kann  aber  nur  ein  solches  sein,  welches  die  Freiheit  und  Öffent- 
lichkeit nicht  weiter  beschränkt,  als  unbedingt  nöthig  ist  zu  einer 


kj,  ^  „cl  by  ölbogle 


—   848  — 

Lebensordnung,  die  in  kurzer  Zeit  Früchte  des  i^'leißes  und  der  Sitt- 
lichkeit bringen  soll,  welche  außerdem  langsamer  und  unsicherer  reifen 
würden.  Genug,  für  die  Erziehung  bleibt  die  Familie  der  beste  Herd, 
tür  den  Unterricht  die  Schule,  und  wo  also  der  Knabe  des  Lernens 
wegen  das  elterliche  Haus  ganz  verlassen  muss,  bringe  man  ihn  in 
den  Kreis  einer  neuen,  guten,  wirklichen,  nicht  blos  scheinbaren 
Familie,  von  welcher  aus  er  die  Unterrichtsenstalt  besucht,  das  wiid 
als  das  natürlichste  auch  das  beste  sein. 


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Die  deitsehe  Rechtacbreibaii^. 

Vuu  1\  Asmussen-Leck  (Schleswig). 

Vor  etlichen  Jahren  fiel  mir  eine  im  Jahre  1580  gedruckte 
dentsche  ÜberaetroDg  der  Werira  des  j&disdien  Geschichtsschreibers 
Josephns  in  die  Hftnde.  Ich  las  den  mir  sehr  interessanten  Folioband 
mit  regem  Eifer,  imrde  aber  nicht  selten  dnrch  die  sonderbare  Bechir 
sehreibuig,  die  in  dem  Bache  zur  Anwendung  kam,  am  Weiterlesen 
gehindert.  Nicht  nur  wurden  yiele,  ich  kann  wol  sagen,  die  meisten 
Wörter  anders  geschrieben,  als  wir  das  hentsntage  gewohnt  sind; 
nicht  nur  war  es  mir  unmöglich,  die  Anwendung  der  Buchstaben  u, 
V  und  w  in  eine  feste  Regel  zu  bringen:  auch  die  einztliien  Wörter 
wurden  nicht  immer  gleicli  buchstabirt,  manchmal  fand  ich  auf  einer 
und  derselben  Seite  ein  und  dasselbe  Wort  verschieden  geschrieben. 
So  erinnere  ich  mich  für  das  Wörtchen  und  heute  noch  vier  ven» 
schiedener  Schreibweisen:  und,  vnd,  vndt  und  vnndt,  will  aber  durch- 
aus keine  Garantie  dafür  übernehmen,  dass  der  Varianten  nicht  noch 
mehrere  gewesen  sind.  Späterhin  sind  mir  mehrere  Drucke  aus  dem 
16.  Jahrliundert  zu  (Besicht  gekommen.  Die  ('berzeugimg,  die  sicli 
mir  aus  der  Betrachtung  derselben  aufgedränf^t  hat,  ist.  dass  es  um 
.die  Zeit  eine  allgemein  giltio^e.  nur  einigerniaLJen  geregelte  Bedit- 
schreibung  der  deutschen  Sprache  nocli  nicht  gegeben  hat. 

Als  Luther  seine  Bibellibersetzung  begann,  schuf  er  für  dieselbe 
keine  neue  Sclirift spräche,  sondern  richtete  sich  nach  der  Sprache  der 
sächsischen  Kanzlei,  welcher  nachfolgten  alle  Fürsten  und  Völker 
I^eutschlands,  Doch  darf  nicht  verkannt  werden,  dass  eben  durch 
Luther  diese  neuhochdeutsche  Sprache  deutsche  Schriftsprache  gewor- 
den ist,  so  zwar,  dass  anfangs  die  Schriftsteller  nicht  sofort  sich  von 
ihrem  heimischen  Dialekt  lossagten  und  dass  sie  sich  zunächst  mehr 
den  Wortschatz  als  die  Rechtschreibung  der  neuen  Schriftsprache  an- 
eigneten. In  der  Kechtschreibung  niusste  eine  Einigung  noch  erst 
erzielt  werden,  und  dazu  habeu  die  Grammatiker  der  folgenden  Jahr- 
hunderte das  ihrige  redlich  beigetragen.    Unter  den  Namen  der  yer- 


.  kj  ^  .d  by  Google 


dientesten  Männer  in  dieser  Riclitun^  müssen  Selioiielius.  Gottscbtd 
und  Adelung  genannt  werden,  so  wenig  man  sonst  von  den  beiden 
letzteren  zu  lialten  pflegt  und  so  sehr  man  den  erstert  ii  vergessen 
haben  mag.  Adelung  konnte  schon  1787  in  seiner  „Vollständigen  An- 
weisung zur  deutschen  Orthograiiliie"  die  Haui)tregel:   Sehreibe,  wie 
<lu  sprichstl  und  die  beiden  Ausnalinieregeln:  1.  Abgeleitete  und  zu- 
sammengesetzte Wörter  werden  ihrer  nächsten  Ali^tammung  gemäß, 
2.  Wurzel  Wörter  und  alles,  was  als  solche  betrachtet  werden  n»uss, 
werden  nach  dem  allgemeinen  Gebrauch  geschrieben!  fe:^tstellen.  Das 
ist  der  Standpunkt,  auf  dem  wir  noch  heute  stehen,  denn  auch  die 
sogenannte  neue  Rechtschreibung  hat  daran  niclits  zu  ändern  gesucht. 
SoUea  diese  Begeln  nun  bestehen  bleiben  oder  kdnnen  sie  yeriaesen 
▼erden?  Dass  die  deutsche  Bechtschreibung  einer  Yereinfacbiuig  ftbig 
ist,  wird  wol  nicht  geleugnet  werden  können.  Wird  sie  aber  ein- 
facher, so  wird  sie  leichter  erlernbar  nnd  damit  nach  mdner  Ansicht 
besser.   Ich  nenne  die  ein&chste  Bechtschmbung  die  beste.  Nun 
will  ja  Adelung  schon  schreiben,  wie  gesprochen  wird.  Das  ist  sehr 
einfach.    Anch  wenn  er  abgeleitete  nnd  zusanimengesetzte  WOrter 
nach  ihrer  nächsten  Abstammung  schreiben  lassen  will,  ließe  sich 
vielleicht  nichts  gegen  ihn  einwenden.  Aber  wenn  Wurzelwörter  und 
dergL  nach  dem  Schreibgebrauch  geschrieben  werden  sollen,  so  int 
mit  dieser  Ausnahme  von  der  Hauptregel  jeder  Willkfir  Thür  nnd 
Thor  geOffbet,  denn  der  Schreibgebrauch  Iftuft  doch  mitunter  dem 
„Schreibe,  wie  du  sprichst"  recht  sehr  entgegen.  Der  gedehnte  i-Laut 
kann  durch  i,  ie,  ieh  und  ih  wiedergegeben  werden,  allein  der  Ge- 
braucli  entscheidet,  welches  von  den  vieren  in  einem  bestimmten 
Worte  stehen  nniss,  das  Ohr  lässt  uns  im  Stich.  Wir  siirn  lieii  Magd^ 
aber  Jagd,  keine  Hegel,  nur  der  Gebrauch  sagt  uns,  dass  das  a  das 
einemal  lang,  das  anderemal  kurz  zu  sprechen  ist.    Und  so  ließen 
sich  Beispiele  in  Menge  finden,  wo  es  ohne  Kenntnis  des  Sprach- 
gebrauchs weder  möglich  ist,   ein  gehttrtes  Wort  richtig  niederzu- 
schreiben .  noch  ein  gesehenes  richtig  zu  lesen.    Dass  es  aber  bei 
gutem  Willen  möglich  sein  wird,  alle  i-Lante  bis  auf  einen  zu  be- 
seitigen, dass  es  m<"»glich  sein  wird,  dit^  Länge  nnd  Kürze  eim's  Vocals 
auch  «iraphisch  darzustellen  etc..  wird  man  iiieht  l(!U<:nen  w<»llen.  Die 
deutsche  Rechtschreibung  ist  also  einer  Vei  lu  >>ei  nng  fähig.    Aber  sie 
bedaif  auch  einer  solchen.    W  as  für  ^liihe  macht  es  die  Kinder  zum 
richtigen,  orthograpliisch  i-ichtigen  Schreiben  zu  bringen,  und  wenii 
sie  die  Schule  veilassen  haben  und   in  einem  Beruf  stehen,  in  den: 
sie  wenig  mit  der  l?"eder  umzugehen  haben  und  nicht  viel  lesen, 


—   351  — 


pflegt  der  Schreibgeliraiich  bald  in  Vergessenheit  zu  geiathen,  nnd 
die  Briefe  mit  der  manchmal  clasaischen  falschen  Rechtsclueiltung 
sind  an  der  Tagesordnung.  Da  nun  ferner  die  Regelang  der  Kecht« 
schreibong  Ton  behördlicher  Seite  in  die  Hand  genommen  wird,  so  ist 
eine  streng  einheitliche  Regelung  derselben  nicht  nur  wünschenswert, 
sondern  erforderlich,  weil  wir  uns  sonst  der  (Ufalir  aussetzen,  eine 
ganze  Reihe  von  verschiedenen  deutschen  Kechtsclireilmn<:en  zu  be- 
kommen. Heute  schon  stimmen  preußische  und  bayerische  zwar  in 
allen  wesentlichen  Punkten  miteinander  übereiu,  aber  nicht  in  allen 
Wortschreibungen.  Ich  meine  daher:  Die  deutsche  Keclitschreibun? 
ist  einer  einheitlichen  Regelung  und  Verbessei  uiiii:  fähig  und  bediirttig. 

Nun  könnte  man  sagen  und  man  hat  in  der  That  schon  gesagt: 
Was  nützt  das  alles,  da  man  doch  nicht  die  Leute  zwingen  kann, 
sich  der  einheitlich  geregelten,  verbesserten  Rechtschreilmiig  zu  fügen? 
In  der  That  sind  wir  r)entschen  in  dieser  Hinsicht  etwas  eigensinnig 
beanlagt.  Kaum  taucht  eine  Neuerung  auf,  so  fallen  die  Männer  vom 
kritisclKMi  Handwerk  darüber  her  und  lassen  wenig  gute  Haare  daran. 
tiUchen  wenigstens  nachzuweisen,  (iass  man  nicht  nöthig  habe,  sich 
danach  zu  richten,  80  ist  die  amtlich  vorgeschriebene  Rechtschrei- 
bung weit  davon  entfernt,  sich  der  Nachachtung  aller  zu  erfreuen. 
Ich  bin  Mitglied  eines  Joumallesezirkels  und  bekomme  außerdem  in 
Jahr  nnd  Tag  manche  Zeitschrift  in  die  Hand.  Nach  der  neuen 
Orthographie  richten  sich  wenige,  einige  gehen,  und  zum  Theil  um  ein 
Bedeutendes,  darftber  hinaus,  andere  haben  einiges  angenommen,  noch 
andere  bedienen  sich  noch  der  alten  Schreibweise  nnd  abermals  andere 
haben  eine  Bechtschreibnng,  wie  sie  zn  Olims  Zeiten  Mode  gewesen 
sein  mag.  Ist  es  da  nicht  besser,  alles  beim  alten  zn  lassen,  wenn 
Neues  nnd  Besseres  so  schwer  Eingang  findet?  Mit  nichten.  Ist  die 
deutsche  Rechtschreibung  einmal  einheitlich  geregelt  und  verbessert, 
so  kann  sie  in  den  Schulen  dngef&hrt  werden.  Die  Kinder  nehmen 
sie  mit  in  das  Leben  hinaus  nnd  werden  späterhin  wenig  Lust  haben, 
umzulernen  und  die  Schreibweise,  die  sie  in  der  Schnle  gelernt  haben, 
mit  einer  neuen  und  schwierigeren  zu  vertanschen.  Dass  eine  neue 
Rechtschreibung  nicht  gleich  bei  allen  Schreibenden  in  Anwendung 
kommt,  ist  klar,  aber  wenn  erst  einmal  die  Generation  ans  Rnder 
kommt,  die  nur  die  neue  Schreibweise  gelernt  hat,  so  wird  sie  schon 
nach  und  nach  zur  allgemeinen  Geltung  gelangen.  Auch  die  Verlags- 
buchhändler können  und  werden  dann  nicht  Iftnger  gegen  den  Strom 
schwimmen.  Freilich,  wenn  heute  eine  neue  Rechtschreibung  einge- 
tVihrt  wfirde,  dilrften  immer  noch  etwa  50  Jahre  ins  Land  gehen. 


—    352  — 


bevor  sie  allgemein  wird.  Daas  eben  ein  Übergangsstadiom  auch 
hierbei  nicht  zu  yermeiden  ist  nnd  daas  ein  solches  hier  seine  Un- 
annehmlichkeiten hat,  das  iSsst  sich  nicht  in  Frage  stdlen.  Aber 
doch  glaube  ich:  £ine  einheitlich  geregelte  nnd  verbesserte  deutsche 
Bechtschreibnng  würde  im  Lanfe  der  Zeit  allgemeine  Annahme  finden. 

Bevor  wir  nnn  darangehen,  Beformvorschläge  zn  machen,  gilt  es 
zon&ehst,  das  Übel  za  erkennen,  an  dem  unsere  bestehende  Becht- 
schreibnng krankt  Sehen  wir  einmal  zo,  wie  die  Bechtschreibnng 
irgend  einer  Sprache  entsteht  Als  man  sich  daran  machte,  die  Sprache 
durch  Lautzeichen  wiederzugeben,  steckte  man  sich  das  Ziel,  für  jeden 
gehörten  Laut  ein  sichtbares  Zeichen  zu  erasnen.  Freilich  war  man 
dabei  eben  in  den  meisten  Fällen  nicht  sehr  penibel,,  indem  Ähnlich 
klingende  Laute  manchmal  nur  ein  Zeichen  bekamen,  welches  dann 
verschiedene,  immer  aber  im  Klang  ähnliche  Laute  bezeichnete.  Trotz 
dieser  Un Vollkommenheit  können  wir  doch  den  Satz  aufstellen,  dass 
einmal  in  jeder  Sprache  jeder  Laut  sein  bestinuntes  Zeichen  gehabt 
hat  und  dass  man  beim  Niederschreiben  eines  bestimmten  Wortes 
jedem  Laute  desselben  dieses  Zeichen  gab.  Dieses  System  der  Becht- 
schreibung  nennt  man  das  phonetische.  Nun  aber  bleil)t  eine  ge- 
sprocliene,  eine  h^bendige  Spraclie  nicht  für  alle  Zeiten  dieselbe,  sie 
macht  vielmelir  im  Laufe  der  Zeiten  mannig-fadie  Anderung'en  durch. 
Hier  kann  nun  die  Rechtsclireibunf^  einen  doi»pelteii  Weg  einschlagen. 
Sie  kann  die  alte,  der  früheren  Sprache  angemessene  Schreibung:  bei- 
behalten, wenn  sich  auch  die  inzwischen  geänderte  Aussprache  noch 
SU  weit  von  der  früher  geltenden  entfernt.  Und  das  ist  die  liistorische 
Schreibwt'i.se.  Ihr  i.st  es  zum  großen  Theil  zuzuschreil)en,  dass  z.  B. 
das  Englisclie  eine  nach  unserer  Auffassung  so  unendlich  confuse 
Rechtschreibung  hat.  —  Oder  aber  die  Reclitschreibung  suclit  den 
geänderten  Lauten  der  gesprochenen  Sprache  gerecht  zu  werden  und 
diese  geänderte  Sprache  ebenso  treu  durch  Buclistaben  wiederzugeben, 
wie  die  frühere  Schreibweise  die  Sprache  ihrer  Zeit  auszudrücken 
suchte.  Und  das  ist  die  plionetische  Schreibweise.  Welcher  von  beiden 
folgt  unsere  Rechtschreibung?  Wenn  Adelung  den  dominirenden  Gnind- 
satz  aufstellte:  Schreibe,  wie  du  sprichst!  so  gab  er  offenbar  dem 
phonetischen  Systmn  den  Vorzug,  indem  er  einüeudi  das  sanctionirte, 
was  im  Laufe  der  Jahrhunderte  entstanden  war.  Doch  war  zu  seiner 
Zeit  so  wenig  .wie  heute  ein  rein  phonetisches  System  gäng  und  gäbe, 
und  da  er  nicht  die  Absicht  hatte,  etwas  Neues  zu  schafiiBn,  sondern 
nur  etwas  Bestehendes  im  festen  Bestand  sichern  wollte,  so  be- 
schränkte er  seine  Hauptregel  durch  die  Ausnahme,  Wnrzelwörter  etc. 


—   Sft3  — 


s^en  nach  dem  Schreibgebrauche  zu  schreiben.  Aber  gerade  die 
Anwendung  dieser  Ansnahmebestimninngr  ließ  eine  rein  phonetische 
Schreibweise  nicht  aufkommen.  Dieser  Bestimmung  haben  wir  die 
verschiedenen  Dehnun^zeichen  und  solche  Wortschrcibimg-en  zu  ver- 
danken, auf  die  unsere  Schüler,  wenn  sie  nach  dem  r4ehrir  schreiben 
sollen,  so  schwer  kommen.  Trotzdem  man  ja  eigentlich  unter  liisturischer 
Schreibweise  etwas  anderes  versteht,  so  möchte  ich  es  doch  als  eine 
Art  historischer  Sclii-eibweise  bezeichnen,  ich  weiß  für  die  Sache  niimlich 
keinen  besseren  Ausdruck,  wenn  man  Vieh  mit  eh  am  Ende  schreibt^ 
wenn  man  Moos  mit  einem  Doppel-o  schreibt,  während  das  j^t-iiau 
ebenso  gesprochene  Los  nur  ein  einfaches  erhält,  wenn  wir  diei  ver- 
schiedene f-Laute  haben,  ohne  den  Kindern  durch  eine  Regel  beibringen 
zu  können,  wo  jeder  von  ihnen  zu  gebrauchen  ist,  u.  dergl.  m.  Ich 
glaube  darum  aussprechen  zu  dürfen:  der  wunde  Punkt  der  gegen- 
wärtigen Rechtschreibung  ist  das  Schwanken  zwischen  dem  phonetischen 
und  einer  Art  von  historischem  System. 

Halbes  Wesen  taugt  nirgends,  auch  in  der  Rechtschreibung  nicht. 
Soll  etwas  gebessert  werden,  so  moss  eins  der  beiden  Systeme  voll 
zur  DnrclifiUming  gelangen,  al>er  welches?  In  der  ersten  Hälfte 
nnseres  Jahrbmiderts  erschien  die  bistorisehe  GrumnatilE  der  dentscben 
Sprache  yon  Jakob  Grimm  mit  der  wichtigen  Entdeckung  der  Laut- 
verschiebungsgesetae.  Es  war  in  dem  epochemachenden  Werke  der 
Nachweis  geführt,  dass  die  ümwandlmig  der  Laute  in  den  germanischen 
Sprachen  nach  ganz  bestimmten  Begeln  vor  sich  gegangen  ist  Aof 
Grand  dieser  Begeln  nnd  Gesetze  nnn  geübten  Grimm  nnd  seine  An- 
hänger genaa  bestimmen  zn  können,  welche  Laote  einem  jeden  Worte 
der  nenhochdeatsehen  Schriftsprache  erb-  nnd  dgenthfimlidi  znge- 
hOrten,  nnd  diese  Lante  wollte  man  durch  entsprechende  Schriftzeichen 
wiedergeben.  Was  also  Grimm  nnd  seine  Anhänger  erstrebten,  war 
nichts  mehr  nnd  nichts  weniger  als  die  HersteUmig  emer  deutschen 
Reebtschreibang  nadi  dem  historischen  System.  Aber  bald  erkannte 
man,  dass  die  Sache  ihre  Haken  hatte.  Die  Lantwandlungsgesetze 
sind  durch  keine  Gesetzesparagraphen  geschützt  und  durch  keine 
Strafandrohungen  vor  Übertretungen  sichergestellt.  Sie  sind  auch 
nicht  willkürlich  gemacht,  sondern  die  Übergänge  sind  nach  und  nach 
nnbewusst  erfolgt,  nur  der  unbewusst  schaffende  Geist  der  Sprache, 
so  zusagen  das  Sprachgefühl,  hat  sie  hervorgebracht.  Deshalb  fehlt 
es  auch  nicht  an  Fällen ,  wo  diese  Gesetze  Ausnahmen  und  Unter- 
brechungen erlitten  haben,  wie  ja  überhaupt  vollständige  Folgerichtig- 
keit niemals  in  einer  Sprache  durchzudringen  vermag.  Eine  nach  den 


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—   854  — 


(/tesetzeii  dei-  Lautverschiebung  bearbeitete  neuhochdeutsclie  Sprache 
entispricht  darum  durchaus  nicht  der  von  uns  gesprochenen,  im  Gegen- 
theil,  sie  würde  uns  recht  unvei-.stäiullich  klingen.  Dazu  kommt  noch, 
dass  die  deutsche  Sprache  niclit  von  einem  von  der  Welt  abgelegenen 
Volke  geredet  wird,  sondern  von  einem  inmitten  des  regsten  Völker- 
verkehrs Vohnenden,  und  so  ist  es  immer  gewesen.  Nun  üben  be- 
kanntlich die  Sprachen  benachbart  wohnender  Völker  einen  mehr  oder 
minder  großen  fiiniliufl  auf  dnander  ans.  Aneh  unsere  Spradie  hat 
sich  solchem  Einflnss  nicht  entzogen.  Ich  rede  hier  nicht  von  den 
vielgeschmahten  entbehrlichen  Fremdwörtern  n.  dergl.,  sondern  mochte 
nni*  die  sogenannten  LefanwOrter  ein  .wenig  ins  Auge  fassen,  Wörter, 
die  so  sehr  Eigenthum  unseres  Sprachschatzes  geworden  sind,  dass 
ihr  fremder  Ursprung  vielen  nnbeluuint  ist,  ich  ermnere  nur  an  Achse, 
Anker,  Armbmst,  Ball,  Biie^  dauern,  feiern,  Ente^  Fenster,  Groschen, 
Markt,  Nase,  schreiben  etc.  Die  Wörter  smd  uns  heute  unentbehrlich, 
da  wir  die  durch  sie  bezeichneten  Begriffe  mit  echtdeutschen  Wörtern 
nicht  ausdrucken  können.  Sie  sind  auch  vollständig  deutsch  geworden 
nur  in  Bezug  auf  die  Gesetze  der  Lautverschiebung  smd  sie  nicht 
allemal  mit  der  deutschen  Sprache  fortgeschritten,  was  zum  Theil 
wenigstens  daher  kommen  mag,  dass  sie  relativ  spät  aufgenommen 
wurden  und  einige  als  Fremdwörter  eine  Zeitlang  mögen  betrachtet 
worden  sein.  Wollten  wir  nun  diesen  Wörtern  die  ihnen  nach  den 
Gesetxen  der  Lautverschiebung  zukommende  Rechtschreibung  angedelhen 
lassen,  sie  wftrden  uns  ganz  unverständlich  klingen.  Wir  sehen  also, 
dass  es  einen  Weg  zur  historischen  Schreibweise  nicht  gibt.  Wir 
Avürden  dadui-cli  eine  völlig  neue  Aussprache  des  Deutschen  schaffen, 
die  schwerlich  Eingang  fände  oder  aber  Schreibweise  und  Aussprache 
kämen  in  einen  ähnlichen  Conflict,  wie  er  heute  z.  B.  im  Englischen 
besteht.  Nun  sagten  wir  schon  vorher,  ein  System  müsse  in  unserer 
Rechtschreibung  das  herrschende  werden.  Können  wir  aber  zum 
historischen  nicht  zuri)ck,  und  wir  können  es  nicht,  so  müssen  wir 
ans  dem  phonetischen  zuwenden. 

Auch  die  l'uttkamersche,  sogen,  neue  Orthographie  geht  von 
diesem  Grundsatze  aus.  Sie  bezeichnet  einen  Schritt  vorwärts  auf 
dieser  Hahn.  Sie  hat  wenigstens  in  einigen  ^^■örte^l  die  Uliertliissigen 
Delinungszeichen  weggeworfen,  sie  hat  sich  bemüht,  Regeln  ;uit/.u>tellen, 
aus  denen  eisichtlich  ist,  was  groß  und  was  klein  zu  schreiben  ist, 
sie  zeigt  überliaupt  das  Bestreben,  den  Sprachgebrauch  test  zu  nor- 
uiiren  und  die  Orthographie  dem  i»linnetisclien  System  einen  Schritt 
zu  näberu.   Aber  rein  zui*  Duichluhruug  kommt  dieses  Sy:>tem  nicht, 


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—   365  — 


und  das  ist  eine  Hauptschwäclie  der  neuen  Ortbograiihie.  Beispiele: 
Stadt  wird  mit  dt  geschrieben,  tot  mit  t,  varnm?  Die  Aussprache 
iät  die  nftmliehe,  und  in  der  Ableitung  liegt  es  auch  wol  nicht  Wenn 
man  dn  läast  nnd  der  närrisehte  ttatt  du  llasst  und  der  nirrisdiste 
ans  plionetischen  GrOnden,  aller  Abstammung  zum  Hohn  pasairen 
lässt,  warum  streicht  man  dann  nicht  das  d  nnd  sieht  auch  da  yon 
der  hftttfig  recht  weit  zurftcklicgendoi  Abstammung  ab;  so  kommen 
doch  die  Schüler  nur  in  Verwürnng,  wo  ein  d,  wo  ein  dt  und  wo 
ein  t  stehen  soll  Das  ph  sind  wir  aus  den  Worten  deutschen  Stammes 
glftcklich  los,  nur  Epheu  hat  es  noch,  der  Grund  dürfte  nicht  leicht 
ausfindig  zu  machen  sein.  Alle  Stammsilben,  die  Im  Inlaut  ein  fi 
oder  SS  haben,  bekommen  im  Auslaut  ein  ß,  „indes"  kommt  von  indessen 
her,  mflsste  also  ein  ß  haben  nnd  bekommt  ein  s.  Oleißen  soll  ein  ß 
bekommen,  Gieisner  ein  s.  Wer  das  nidit  weiß,  verfällt  nicht  auf 
so  etwas.  Weshalb  die  Wörter  Sammet,  Zwillich,  Grummet  etc.  den 
Doppelconsonanten  verlieren  sollen,  sobald  sie  einsilbig  werden,  ist  für 
mich  nicht  ersichtlich,  zumal  da  andere  Wörter  hiervon  nicht  l>erührt 
werden,  die  wenigstens  äußerlich  den  erwähnten  ähnlich  sind.  In 
weniger  gebräuchlichen  Zusammengesetzten  Wörtern  kann  ein  Con- 
sonant  dreimal  hintereinander  vorkommen,  doch  soll  in  gebräuchlichen 
Wörtmn  einer  der  drei  Gleichen  ausgestoßen  werden.  Wer  entscheidet 
denn  fiber  das  Prädicat  gebräudtlich  und  ungebräuchlicli?  Soll  etwa 
nur  in  den  Wörtern  dennocli,  Mittag,  Brennessel,  Schifi'ahrt  die  Ver- 
dreifachung unterbleiben?  Icli  niüchte  doch  wetten,  dass  das  Wort 
iStillleben  ebenso  liäulig'  gebrauclit  wird  wie  Brennessel.  Wenn  ich 
gewissenhaft  der  neuen  Orthographie  nachleben  will,  ist  mir  die 
Verdreitachung-  immer  ein  Stein  des  Anstoßes.  Warum  hat  man  sie 
nicht  zur  Regel  gemacht  oder  besser  ganz  beseiti<j:ty  Ein  ebensolches 
Jvreiiz  ist  die  Bestimmun«:^.  dass  in  Fremd\V(irtern  die  Lange  des  i  in 
der  Kegel  unbezeiclinet  bleibt,  aber  völlig  eingebürgerte  wie  deutsche 
l»eliandelt  weiden  solUn  Nun  bitte  ich  Sie,  ist  Tiger  nicht  ebenso 
eingebürgert  wie  Sie.:*  !,  o  1er  M.isctiine  als  Tiej;el?  Ich  habe  aus  dem 
Tiei^'el-  und  Wörterverzeichnis  zu  meinem  P^rstaunen  gesehen,  dass 
(las  nicht  der  Fall  ist.  Das  ])öse  th  soll  bleiben  u.  a.  in  gewissen 
Eigennamen  und  Fremdw(>rtern.  Einige  Beispiele  sind  angeführt. 
Erschöpfen  diese  die  Sache  oder  nicht?  Das  amtliche  Verzeichnis 
lässt  mich  im  Stich  und  wenn  mir  ein  „gewisser  Eigenname  etc."  in 
die  Feder  kommt,  so  kommen  mir  immer  Gedanken  an  Correctur  und 
rothe  Tinte.  Warum  ich  Schar  mit  einfachem,  Paar  mit  doppeltem  a, 
Los  mit  einfachem,  Moos  aber  mit  doppeltem  o  schreiben  soll,  ist  mir 


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—  366  — 


durchans  nicht  klar.  Was  nun  aber  die  Regeln  über  den  i^oßen  und 
kleinen  Anfangsbuchstaben  betrifft,  so  gibt  es  wol  nni  wenige,  die 
diese  ans  der  Theorie  in  die  Praxis  zu  übei-setzen  vei*stelien,  ich 
habe  midi  abp:omüht.  komme  aber  häufig  zu  anderen  ifesnltaten  «Is 
der  orthograpliische  Duden  und  das  amtliche  Verzeirlmis.  Die  Sub- 
stantive und  alle  Wörter,  die  als  Substantive  ir»' braucht  werden,  sollen 
groß  geschrieben  werden.  Nehmen  aber  die  Substantive  die  Bedeutung 
anderer  Wortarten  an  und  werden  sie  als  solche  verwendet,  so  schreibt 
man  sie  klein  und  ähnliches.  In  einer  lebenden  Spracht^  kommen  nun 
so  feine  Nuancirungen  vor,  dass  es  selbst  Grammatikem  von  Fach 
schwer  wird,  zu  sagen,  ob  ein  Wort  noch  Substantiv  (»der  schon  etwas 
anderes  ist.  Einem  gewöhnlichen  Menschen,  der  doch  auch  gern 
orthographiscli  richtig  schreiben  will,  darf  man  die  Umsetzung  solcher 
Regeln  in  die  Praxis  nicht  überlassen.  Die  Kegeln  über  die  Schrei- 
bung der  Fremdwörter  sind  nun  total  unbrauclihar.  Einige  Fremd- 
wörter werden  durch  die  in  den  fremden  Sprachen  üblichen  Buchstaben 
bezeichnet,  auch  wenn  Laute  und  Lautveibindungen  dabei  zur  An- 
wendung kommen,  die  unserer  Sprache  fremd  sind.  In  vielen  Fremd- 
wörtern behalten  wir  auch  für  solche  Laute,  welche  der  deutschen 
Sprache  nicht  fi*emd  sind,  die  fremden  Bezeichnungen  bei  Aach 
wenden  wir  für  solche  Laute  die  in  der  deatschen  Schrift  üblichen 
Zdchen  an.  Durchgehende  ehiikche  Kegeln  Jaseen  sich  nicht  anstellen. 
Also  das  amtliche  Verzeichnis  sagt  ganz  trocken:  Helft  ench  selber» 
ich  kann  nnd  will  nicht  Denn  die  paar  Beispiele  helfen  in  der  That 
nichts.  Wozu  nnn  aber  hat  es  denn  Schreibungen  decretfart,  die  wir 
Mher  bei  Fremdwörtern  nicht  hatten,  wenn  es  doch  nidit  helfen 
kann?  Wai*mn  sagt  es  nicht  ein&ch:  Schreibt  die  Fremdwörter, 
wie  ihr  es  gewohnt  seid!  Dass  von  verschiedenen  Seiten  den  Regeln 
der  Vorwarf  gemacht  worden  ist,  sie  seien  za  wenig  klar  and  bestimmt 
in  der  Fassung  and  es  ließen  dieselben  sich  nicht  praktisch  anwenden, 
wenigstens  kftme  man  mit  ihnen  nicht  aas,  um  ein  Wort  richtig 
schreiben  zn  können,  über  das  man  im  Zweifel  sei,  erwfihne  ich  hier 
nor  beüftoflg,  da  eine  Kritik  des  amtlichen  Verzeichnisses  nicht, 
wenigstens  hente  nicht,  Zweck  meines  Vortrages  ist  Aber  ich  kann 
nicht  anerwähnt  lassen,  dass  za  viele  zaUssige  Schreibarten  and 
Aasnahmen  von  der  Kegel  stehen  geblieben  sind.  Die  Regel  mnss 
gelten  und  was  nebenher  Iftoft,  mnss  verkehrt  sein.  Und  nnn  noch 
eins.  Das  leidige  th  ist  freilich  in  vielen  Wörtern  gestrichen  worden, 
aber  in  manchen  ist  es  stehen  geblieben.  Nntzen  thnt  es  nirgends. 
Man  sagt  zwar,  es  soll  die  Lftnge  des  nachfolgenden  Vocals  bezeichnen. 


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—    357  — 


aber  in  wie  Tiden  Wörtern  ist  diese  Lauge  äußerlicli  au  keinen» 
Zeichen  zu  ersehen,  nnd  im  Auslaut  der  deutschen  Wörter  ist  es  Jl^ 
wol  fort  und  wir  sehen  nun  auch  an  keinem  Zeichen,  dass  der  Yoran- 
gegangene  Vocal  lang  ist.  Ferner:  das  lange  a  wird  durch  a,  aa 
nnd  ah,  das  lange  i  gar  durch  i,  ie,  ih  und  ieh  bezeichnet,  und  doch 
wird  der  Laut  i  k(nn  anderer,  ob  er  nun  allein,  mit  e,  mit  Ii  oder 
mit  eh  verbunden  da.stelit,  wozu  denn  alle  diese  Delinungszeidifn? 
Die  neue  Orthographie  hat  bewusst  einen  Schritt  weiter  nach  dem 
phonetischen  System  hin  machen  wollen,  ist  aber  Uber  den  Stein  flos 
Sprachgebrauches  gestolpert.  Statt  fester  orthogiaphischer  Regelu 
herrsclit  leider  wieder  einmal  der  leidige  Sprachgebraucli,  nur  dass 
dereelbe  ein  anderer  geworden  ist,  wie,  er  in  unserer  Jugend  herrschte 
uns  zum  l'nsegen.  Ich  will  hier  nicht  die  oft  gehörte  Behauptung 
wiederholeil,  als  erschwere  die  neue  Orthographie  den  Kindern  das 
Deutschlernen.  Das  erscheint  auch  nur  so,  weil  uns  das  Umlernen 
Schwierigkeit  macht.  Aber  sie  eileichtert  das  Deutschlernen  auch 
nicht,  wenigstens  nicht  wesentlich.  Denn  auf  der  einen  Seite  ist  ja 
freilich  eine  kleine  Vei'einfachung  eingelrelen,  anderseits  aber  muss 
sich  genau  nach  der  amtlichen  Schrabuug  gerichtet  werden,  welche 
zu  erforschen  die  Regeln  kaum,  das  amtliche  Wörterverzeichnis  in 
keiner  Weise  aasreicht,  denn  in  diesem  findet  man  in  der  Regel  doch 
nur,  was  man  nicht  sncht  Also:  Die  amtliche  nene  Reditschreibung 
bezeichnet  aof  dem  Wege  zur  phonetischen  Schreibweise  hin  einen 
ersten,  aber  nngeniigenden  Schritt 

Und  wie  soll's  denn  besser  werden?  Im  amtlichen  Verzeichnui 
steht:  Wenn  jedem  Laut  ein  bestimmter  Bnchstabe  entspräche  nnd  der 
Lant  immer  darch  diesen  Buchstaben  bezeichnet  wOrde,  so  bedurfte  es 
keiner  weiteren  orthographischen  Regel  als:  Schreibe»  wie  da  sprichst 
Also  da  haben  wir  den  Weg  Torgezeichnet,  der  zn  gehen  ist  Ich 
meine  einmal  von  einem  QesangskttnsUer  in  Frankfurt  a.  If .  gehOrt  za 
haben,  derselbe  unterschiede  acht  verschiedene  Aussprachen  des  g, 
fttnf  solche  des  e  n.  s.  w.  Wie  er  zn  diesen  verschiedenen  Aussprachen 
gekommen  ist  und  wie  sie  kb'ngen,  kann  ich  Xhnen  nicht  vormachen. 
Wollten  wir  auf  diese  Weise  vorgehen,  so  bekämen  wir  ja  wol  an 
hundert  Buchstaben  und  unsere  Kalligi-aphen  hätten  ein  dankbares  Gtc- 
schäft,  nämlich  für  jeden  dieser  Buchstaben  entsprechende  Formen  zn 
finden.  In  der  That  brauchen  wir  so  viele  Zeichen  nicht.  Sachen  wir 
.  f^IgmiLl  das  Nothwendige.  Dass  dieVocale  bald  lang,  bald  kurz  —  ich 
benutze  der  Kürze  halber  diese  nicht  zutreffenden  Aosdrttcke  für 
gedehnt  und  geschärft  — ,  bald  dumpf,  bald  hell  gesprochen  werden 

PmbffogluD.  Ifl.  Jahne.  Haft  VL  ^ 

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-   868  — 


und  was  dergleichen  feine  Nuancii'ungen  mehr  sind,  ist  bekannt.  Aber 
das  lernt  sich  beim  Gebrauch  der  Spraclie  olme  Mühe  von  selbst.  Nur 
die  Lftnge  und  Kürze  könnte  in  der  Schi-itt  durch  die  Zeichen  bezeichnet 
werden,  mit  denen  man  bei  graphischer  Darstellung  eines  Versmaßes 
Länge  bezeichnet.  Der  Strich  resp.  das  Häkchen  würde  über  dem 
Vocal  zu  stehen  kommen.  So  würde  für  jeden  Vocal  nur  ein  Zeichen 
nöthig  sein  und  an  dem  Häkchen  oder  dem  Strich  würde  jeder  Leser 
auf  den  ersten  Blick  erkennen,  ob  der  betreffende  Vocal  lang  oder  kurz 
zu  sprechen  sei.  Vocalzeichen  hätten  wir  nur  elf  notliic-.  a,  e.  i.  o,  u, 
ä,  ö,  ü,  au,  ei  und  eu,  von  denen  die  aclit  ersteren  lef^clmiißig  ent- 
weder (la.^  Zeichen  der  Länge  oder  das  der  Kürze  erhielten.  Bei  den 
('onsonanten  brauchten  wir  die  feinen  Unterschiede  in  der  Aussprache 
gar  nicht  zu  bezeichnen,  nur  das  Sehluss-g  und  das  hart**  s  könnten, 
um  sie  auszuzeichnen,  etwa  ein  Winkelhäkchen  ültei-  (Ihiu  Kopf  erhalten. 
Dem  Grundsatze  treu,  jedem  Laut  nur  ein  Buclistabe,  könnten  einige 
unserer  Consonanten  fehlen.  Wir  brauchen  nur  tulgende  18:  b,  d, 
f,  g,  h,  j,  k,  1,  m,  n,  p,  r.  s,  t,  w,  z,  ch  und  sch.  Unser  Alphabet 
hätte  demnach  29  Lautzeicheu,  11  Vocale,  Umlaute  und  Diphthonge 
eingerechnet,  und  18  Consonanten.  Mit  diesen  Zeiclien  ließe  sich  der 
Forderung  gerecht  werden:  Fär  jeden  Laut  ein  bestimmtes,  aber  nur 
ein  Zeichen. 

Ein  weiteres  Krenz  aller  Lernenden  und  Schreibenden,  namentlich 
solcher,  die  nicht  täglich  mit  der  Feder  umgehen,  ist  der  große  und 
der  kleine  Anfangsboehstahe.  Der  kleine  Buchstabe  ist,  wenn  wir  die 
Schriftin  das  Alterthnm  hinauf  yerfolgen,  nichts  Ursprüngliches,  sondern 
etwas  im  Laufe  der  Zeiten  Hinzugekommenes,  namentlich  im  Interesse 
der  SchneUschrift.  Heute  indes  wflrde  keiner  unter  uns  zaudern,  die 
großen  Buchstaben  fahren  zu  lassen,  wenn  uns  zwischen  großen  und 
kleinen  die  Wahl  gdassen  würde,  wolgemeikt,  ich  rede  nicht  von 
Anfangsbuchstaben.  Die  kleinen  Buchstaben  kOnnen  wir  heute  nicht 
entbdiren,  wol  aber  die  großen,  denn  auch  als  Anfimgsbuchstaben  sind 
sie  uns  durchaus  nicht  notfawendig.  Unser  Deutschland  wttrde  ?on 
seiner  GrOße  und  Macht  nicht  ein  Haar  ehibttßen,  wenn  wir  es  mit 
einem  kleinen  d  schreiben  wollten.  In  der  Tlutt  ist  kein  zwingenderer 
Grund  vorhanden,  die  Unduskel  feiner  beizubehalten,  als  dass  man  das 
im  Aaslaade  auch  noch  thut  und  sie  also  kennen  muss,  um  Briefe  und 
gedruckte  ausländische  Sachen  lesen  zu  können.  Würde  man  sich 
einmal  einigen,  in  der  ganzen  Welt  die  Majuskel  zu  beseitigen,  so 
wäre  das  eine  bedeutende  Erleichterung  für  jeden,  der  lesen  und 
schreiben  lernen  soll,  und  wir  Lehrer  würden  in  der  Schule  bedeutend 


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mehr  Zeit  für  Übung  der  Lese-  and  Schreibfertigkeit  gewinnen.  WilF 
man  aber  einstweilen  die  Majuskel  nicht  ganz  fiihren  lassen,  so  be- 
«chrftnke  man  sie  auf  ein  Minimum.  Han  gebe  es  an^  die  Substantive 
groß  zu  schreiben,  da  sich  schwer  sagen  UUst,  wo  der  SabstantiT* 
iMgriff  anfilngt  und  aufhört.  Man  schreibe  nur  Eigennamen  und  von 
Eigennamen  abgeleitete  Wörter  groß,  sowie  auch  die  An&ngswörter 
«Ines  Satzes,  alles  übrige  aber  klein,  dann  sind  Jrrungen  und  Zweifel 
nusQfeschlossen.  Also:  Abschaffung  odei*  möglichst  wisiüge  Anwendung 
der  Majuskel. 

Tu  der  Schule  haben  unsere  Kinder  eigentlich  acht  verschiedene  Al- 
phabete zu  lernen,  das  große  und  kleine  lateinische  und  deutsche  in 
iSchi'eib-  und  Druckschrift.  Da  kann  auch  etwas  wegfallen,  nämlich 
die  deutsche  Sdireib-  und  Druckschrift.  Die  lateinische  Schrift  können 
wir  für  den  internationalen  Verkelir  nicht  entbehren,  da  die  meisten 
fremden  Culturvölker  sich  ihrer  bedienen.  Wir  müssen  sie  deshalb 
erlernen,  denn  jeder,  der  einen  Brief  ins  Ausland  schreiben  Avill,  muss 
mindestens  die  Adresse  mit  lateinischen  Buclistaben  schreil)en.  Da- 
gegen ist  die  Kenntniss  der  deutschen  Buchstaben  nicht  erforderlich. 
Audi  darf  uns  kein  falsches  Nationalbewusstsein  abhalten,  die  deut.sche 
Schrift  aufzugeben.  Die  Schrift  ist  gar  nicht  ursi»rünglich  deutsch, 
sondern  hat  sich  aus  der  mittelalterlichen  lateinischen  Mönchsschrift 
herausgebildet,  ist  also,  um  das  Kind  mit  dem  rechten  Namen  zu 
nennen,  eine  verdorbene  lateinische  Schrift,  und  es  ist  gar  nicht  ein- 
zusehen, warum  wir  das  Verdorbene  noch  weiter  liegen  und  nicht 
lieber  zum  Ursprünglichen  zurückkehren  sollen.  Also:  Beseitigung 
4es  sogenannten  deutschen  Alphabetes. 

Ich  glaube,  wenn  diese  drei  Forderungen  in  die  Praxis  umgesetzt 
würden,  wQrde  das  Eitomen,  Lesen'  und  Sdireiben  der  deutsehM 
Sprache  weeentlich  erleichtert.  Wenn  auch  ein  nach  denselben  ge- 
schriebenes Deutsch  etwas  sonderbar  fOr  unsere  Augen  aussähe,  wii* 
wArd^  uns  bald  daran  gewöhnen.  Und  undurchführbar  ist  die  Sache 
nicht  Die  neue  Beefatsehreibung  ist  amtlich  in  den  Schulen  einge- 
Ahrt,  warum  sollte  eine  solche  nach  diesen  Grundsätzen  das  nicht 
auch  werden?  Ans  der  Schule  würde  sie  dann  alhnählich  den  Weg 
ins  Leben  finden. 


26» 


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KiBdergärten  und  Forlbüdugssekiüeii. 

Von  Diioetor  WUh,  Jah»-Iht8den. 

Im  12.  Heft  lies  XI.  Jahrgangs  dieser  fi-escliätzten  Monatsschrift 
befindet  sich  ein  vom  Rector  Tli.  Landmann-Schwetz  a.  d.W.  g-eschriebener 
Artikel  über  ,.Kindere:ilrten  und  Fortbildung-sschulen".  Der 
geehrte  Verfasser  koninit  zu  dem  hirgebnis:  ,,Wenn  beide  Institute^ 
Kindergarten  und  Volksschule,  normal  arbeiten,  dann  dürften  die  Fort- 
biklungsschulen  in  der  That  überflüssig  werden."  Schreiber  dieses 
kann  diesem  Satze  nicht  zustimmen  und  gestattet  sich,  dem  r-rauge 
jenes  Aufsatzes  folgend,  seine  abweichende  Meinung  kurz  darzulegen. 

Rector  Landmann  hält  Fortbildung  in  i)rakiischer  und  intellectueller 
Hinsicht  für  die  aus  der  Volksschule  entlas.seneu  Knaben  nirlit  nur  für 
wünschenswert,  sondern  für  höchst  uothwendig.  Facultative  Fort- 
bildungsschulen leisten  nach  seiner  Meinung  das  nicht,  was  zu  wünschen 
ist.  Und  darum  begraßt  es  Rector  Laiidiiiaiin  mit  Freuden,  dass  in 
neuerer  Zeit  in  nnierem  deutschen  Vateriande  Ton  Stutewegen  obH- 
gatorisehe  Fortbüdnngsschnlen  eingerichtet  werden.  Es  will  nns  fiwt 
wie  ein  Widersprach  erscheinen,  dass  gleiohwol  Rector  L.  so  yiel 
Schattenseiten  der  FortbüdnngBsehnle  findet,  dass  er  die  Frage  anf- 
wirft,  „ob  nicht  doieh  irgend  eine  Einrichtung  die  ForthOdangsschnlen 
ttberllttssig  gemaoht  werden  konnten**. 

Ab  Bokhe  Schattenseiten  beseichnet  er  den  Unwillen  der  Brot» 
herren  der  zum  Besuche  der  Fortbildnngsschnle  verpflichteten  Lehr> 
linge,  weil  sie  einige  Standen  in  der  Woche  die  Lehrlinge  entbehren 
mflssen,  die  ünlnst  von  Lehrern  und  SdhOlera,  an  Sonntagen  nnd 
Wochentagsabenden  Sehnlarbeit  an  treiben,  anstatt  der  Erholung  nnd 
Ruhe  pflegen  zu  können.  Infolgedessen  sei  erfthrnngegemaß  das 
Unterrichtsresultat  ein  nnzureichendes,  welcher  Umstand  anch  darin 
seine  weitere  Begründung  finde,  dass  den  Schfliern  wenig  oder  gar 
keine  häuslichen  Schularbeiten  zugemuthet  werden  können.  Da  nun 
aber  die  Fortbildungsschulen,  die  nicht  Fachschulen  sein  sollen,  doch 
immer  nur  deshalb  nothwendig  seien,  weil  bei  den  meisten  Lehrlingen 


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nicht  der  normale  Grad  der  Schulbildung  vorhanden  sei.  müsse 
man  sie  als  ^noth wendige  Übel*'  bezeichnen,  die  übeiHüssig  sein 
würden,  wenn  alle  aus  der  Volksschule  abgehenden  Schüler  das  Ziel 
der  Schule  erreichten  und  eine  normale  Bildung  ins  praktisclie  Leben 
hinüberbrächten.  Durch  die  „obligatorischen  Kindergärten" 
könnte  dies  geschehen.  Denn  bei  richtiger  Handhabung  der  Fröbelschen 
Methode  würde  im  Kindergarten  ,.die  Fördeining  aller  noch  im  Keime 
schlummeiTiden  guten  Aidageu  berücksichtigt ,  so  dass  die  Kinder 
körperlicli  und  geistig  wol  gedeihen".  Dem  ei*sten  Grundsatze  Fröbels: 
r Sorge  dafür,  dass  da^;  Kind  nie  Lange \n  eile  hat"  naclizukommen,  sei 
Eltern,  welche  den  ärmeren  Volksclassen  angehören,  kaum  möglich. 
Ihnen  fehlt  meist  das  nüthige  Verständnis  für  die  Erziehung,  es  fehlen 
abei'  auch  Zeit  und  Mittel,  um  die  Kinder  tagüber  zweckentsprechend 
sa  beschäftigen.  SdUieSUfifa  fi«Bt  Bertcnr  L.  sebie  Ansicht  in  folgende 
Satze  zusammen: 

1.  „Nach  regelmäßigem  Besuch  des  Kindergartens  werden  der 
Yolksschide  an  Stelle  Ton  körperlich  verkommenen  und  geistig  stampfen 
Kindern  gesnnde  und  geistig  rege,  geweckte  Kinder  zogeiAhrtt  mit 
denen  sie  dann  mehr  als  bisher  sn  leisten  nnd  im  allgemeinen  das  der 
Volksschule  gestedrte  Zid  zu  erreicfaeh  imstande  sein  dOrfte.** 

2.  „Der  Kindergarten  nimmt  den  Eheni  ehie  grofle  Last  und 
Sorge  ab  und  beschäftigt  mflfiige,  sich  selbst  fiberkusene  Kinder, 
während  die  Fortbfldangsschule  mit  der  Beschäftigung  der  Lehrlinge 
^ea  Lehtherren  keinen  Qefidlen  thnt  und  Jünglinge  nothdOrftig  be- 
echäftigt,  die  schon  tagflber  tfiohtig  angespannt  sind  und  denen  diese 
wenigen  Standen  besser  als  Erholung  za  gOnnen  wärai**. 

8.  „Der  Kindeigarten  ist  eine  naturgemäße  Institution,  entspricht 
einem  wahren  Bedttrfhis  der  Kinderweltt  wähi*end  die  Masclünerie  der 
ForttaÜdungssdiule  nur  ndt  Zwang  nnd  Widerstreben  im  Gange  er* 
halten  werden  kann." 

4.  „Eine  Menge  sittlicher  Fehler  und  Gebrechen,  deren  Warsein 
in  der  Torschulpflichtigen  Zeit  des  .Sichselbstuberlassenseins'  zu  suchen 
■sind,  würden  durch  die  Kindergärten  beseitigt  werden;  denn  der 
Kindergarten  wirkt  wesentlich  veredelnd,  indem  die  Kinder  durch 
heilsame  Beschäftigang  yon  gefährlichen  Dummheiten,  die  aus  ,Lang6- 
weile'  entstehen,  abgezogen,  auch  den  verderblichen  Einflössen  des 
Hauses  mehr  entrilckt  wei'den." 

5.  „Es  würden  die  Kindergärten  nicht  nur  dem  Handwerker- 
stande, aus  ■Nvelchem  sich  vorzugsweise  die  Fortbilduno'sschulen  recru- 
tiren,  zugute  kommen,  sondern  namentlich  der  dienenden  Volksclasse. 


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r 

Bd  richtiger  Handhabung  dar  Kindergirten  dürfte  Ansfiicht  selnt  das» 
die  arbeitende  Volkadaflae  in  Zukunft  ein  menachenwflrdigeres 
Dasein  führen  ItOnnte^  dem  das  Leben  nicht  eine  Last  und  eine  Qual 
ist;  es  dürfte  Anssidit  sein,  dass  wir  dann  treaeroi  snverlissigerer 
reinlichere  und  tüchtigere  Dienstboten  nnd  Arbeiter  bitten,  and  wie 
sehr  würden  dadurch  auch  die  Arbeitgeber  gewinnen!" 

Nach  unserer  Meinung  überschätit  Herr  Bector  L.  den  Einder» 
garten  und  nntersuUUzt  die  Fortbilduagsschnle.  Schreiber  dieses  ver^ 
achert  auf  Grund  seiner  mehr  als  löjfthrigen  Erlhhrung,  die  er  in  der 
fiauptsadie  an  Dresdener  Fertbüdm^isschulen  gemacht  hat,  dass  der 
WiderwiUe  der  Arbeitgeber  gegen  die  Fiurtbildnngssciiule  immer  melür 
schwindet,  wenn  auch  lugegeben  werden  moss,  dass  immer  noch  yer* 
einzelte  Fälle  bekannt  werden,  dass  junge  Arbeiter  ihre  Stellung  ein- 
gebüßt haben,  weil  sie  noch  fortbildungssclmlpflichtig  sind.  Doch  das 
sind  AnsnahmefiUle.  (Der  stärkste  Widerwille  äußert  sich  in  länd- 
lichen Kreisen,  aus  denen  immer  noch  Petitionen  an  den  Landtag  ein- 
gehen  um  Verwandlung  der  dreijährigen  Fortbildungsscbulpflicht  in 
eine  zweyährige.)  Umgekehrt  aber  machen  Lehrer  und  Leiter  der  Fort- 
bildungsschulen wiederliolt  die  Erfahrung,  dass  das  Interesse  der  Lehr- 
lierren  und  Eltern  für  die  Foiibildnngsschule  wächst  und  sicli  auf 
mancherlei  Weise  kundgibt.  Man  erkundigt  sich  nach  dem  Verhalten 
und  Fleiß  des  Sdi iiiers,  fragt  nach  den  Censurbücheru  derselljeii,  sorgt 
liir  regelmäßigeren  Scliulbesuch.  Ähnliches  ist  in  Bezug  auf  die  Fnliist 
der  Lehrer  und  Schüler  zu  sagen.  Während  früher  in  Dresden  die  Lehrer 
geiTi  der  Ai-beit  in  der  Fortitildungsschule  den  Rücken  kehrten,  ist 
jetzt  das  Angebot  derer,  die  solche  Arbeit  suchen,  größer  als  die  Nach- 
trage. Ein  großer  Theil  unserer  Schüler  kommt  gern  zur  Schule  und 
tolgt  dem  Unterricht  mit  Interesse,  insbesondere  gilt  dies  von  den 
Schülern  der  oberen  (  'lassen.  Von  den  265  Schülern  der  niii-  unterstellten 
Kort]»ildungsschule  haben  im  Schuljahre  1888  89  90  Schüler  keinen 
l  ag  versäumt.  Zur  Osterprüfung  erhielten  2Ü3  Knaben  im  \  i  rlialt(  u 
die  1.  Censur,  im  Fleiß  34.  Es  sind  auch  einige  Fälle  zu  verzeichnen, 
dass  Schüler  noch  im  vierten  Jahre  oder  überhaupt  freiwillig  die  Fort- 
bildungsschule besuchten.  Zugegeben  wei*den  muss,  dass  die  Sonntags- 
zeit (in  Dresden  wird  nur  an  Privat-Fortbildungsschulen  vor  oder  nach 
dem  Vormittagsgottesdienst,  nicht  aber  nachmittags  Unterricht  ertheilt) 
nnd  hesonders  die  Abendzeit  der  Wochentage  keine  geeignete  Untere 
richtsieit  für  die  Fortbildungsschule  ist  Auch  wir  sind  der  Meinung, 
dass  diese  Zeit  besser  der  Ruhe  und  Erholung  dient.  In  der  städti- 
jschen  Fortbfldnngsschule  Dresdens  wird  allwöchentlich  nur  Mittwochs 


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von  1 — 5  Ubr  der  Unterricbt  abgehalten.  Jedenfalls  liegt  aber  in 
der  nngeeigneten  Unterrichtsseit  an  sich  kein  Gmnd,  um  die  Zweck- 
dienlichkeit der  Fortbildimgsschnle  za  bestreiten.  Man  sorge  yielmehr 
dafür,  dass  anch  der  Fortbildnngsschnle  diejenige  Zeit  gewfihrt  werden 
die  i&r  ihre  Arbeit  nothvendig  ist  Weiter  mfissen  wir  der  Meinung 
entgegentreten,  dass  die  Fortbildungsschnle  nur  deshalb  gefordert 
werd^  weil  bei  den  meisten  Lehrlingen  der  normale  Grad  der  Schnl- 
bildong  nicht  Torhanden  ist,  nnd  dass  man  darum  erstere  als  noth- 
wendiges  Obel  beseichnen  mflsse.  Wir  sehen  die  Fortbildnngsschnle 
als  eine  Ermngeaschafl;  der  Nenseit  an,  die  vorzugsweise  von  der 
Lehrerschaft  erkämpft  worden  ist,  nnd  die  es  verdient,  dass  sie  anch 
hochgehalten  wird.  Ihre  Angabe  besteht  nach  dem  sächsischen 
Schulgesetz  in  der  weiteren  allgemeinen  Ausbildung  der  Schüler, 
insbesondere  in  der  Befestigung  in  denjenigen  Kenntnissen  und  Fertige 
keiten,  welche  ffir  das  bürgerliche  Leben  vorzugsweise  von  Nntzen 
sind.  Und  wenn  die  Fortbildongsschule  nicht  mehr  zu  leisten  ver- 
möchte, als  dass  .sie  das,  was  treue  Lehrerarbeit  geschaffen,  erhalte 
nnd  befestige,  so  wäre  das  schon  ein  großer  Segen.  Indem  sie  aber 
das  bereits  Erlernte  befestigt,  das  Wissen  vertieft,  richtiges  Denken 
befördert  und  das  Können  steigert,  den  sittlichen  Halt  kräftigt,  er- 
weitert sie  die  gewonnene  allgemeine  Bildung  und  bringt  sie  auf  eine 
höhere  Stufe.  Wenn  aiu^h  die  Leistungen  unserer  P'ortbildungsschule 
in  unterrichtUcher  Bezieliung  keineswegs  den  Hrihcpunkt  erreicht 
haben,  so  sind  sie  doch  aiicli  anderseits  niclit  so  minderwertig,  dass 
man  sie  hinwegwünschen  könnte.  Die  Grüße  unserer  städtisclien 
Fortbildungsschulen  ermitgliclit,  dass  die  ('lassen  mehr  oder  weniger 
mit  Rücksicht  auf  die  Berutsarten  der  Scliüler  gebildet  werden  können, 
so  dass,  wenn  auch  niclit  eigentliche  Fachclassen  bestellen,  doch  Ge- 
nossen verwandter  Berntszwcige  gemeinschaftlich  unterrichtet  werden. 
Dies  ist  aber  selbstredend  von  grußer  Bedeutung  tÜr  Auswahl  und 
Darbietung  des  Unterrichtsstoffes,  wie  für  das  Interesse,  das  der 
Schüler  dem  Unterriclite  entgegenbringt.  Das  alles  kann  auch  nicht 
ohne  Kintluss  auf  die  Leistungslaliigkeit  der  Schule  bleiben.  Dass 
unsere  allgemeine  Volksbildung,  soweit  sie  durch  Kenntnisse  und 
Fertigkeiten  zur  Darstellung  gelangt,  seit  Einführung  der  Fortbildungs- 
schulen eine  bessere  geworden  ist,  beweisen  die  Erhebnngoi  bei  EUn- 
stellung  der  Recruten  sowie  an  den  Gefangenen.  Wenn  dies  nnn 
anch  nicht  lediglich  ein  Verdienst  der  ForfbÜdnngsschulen  ist,  so  ist 
sie  dock  nnstreitig  ein  wesentlieher  Faetor  dieses  Eigebnisses.  Dies 
wird  aber  noch  besser  werden,  wenn  man  der  jungen  Saat  Zeit  nnd 


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—    364  — 


Buhe  zur  Entfaltung  l&sst»  wenn  man  angelegentlich  sich  mit  dem 
inneren  Ansbaa  der  noch  jungen  Schöpfung  beschäftigt,  anstatt  mit 
Oedanken  des  Niederreifiens  und  ZerstOrens.  Und  selbst  wenn  die 
LeistnngsiUligkeit  der  Foribfldnngsschale  so  gering  wftre,  wie  Beotor  L. 
Annimmt,  wir  aber  nach  unserer  ErfUirang  durchaus  nidit  zugeben, 
so  bliebe  doch  immer  noch  der  Segen  bestehen,  den  die  Schule  durch 
ihre  Zucht  ausQbt,  ude  auch  dadurch,  dass  in  der  Persönlichkeit  des 
Lehrers  für  den  Schiller  eine  Autoritftt  gesetst  ist  Wie  wichtig  dies 
ist  in  unserer  Zeit,  die  das  Siehlosreifien  junger  Leute  Ton  jedweder 
Autorität  zu  sehr  begünstigt,  leuchtet  wol  ohne  weiteres  ein.  Wir 
bleiben  dabei:  in  unterrichüichcr  und  noch  mehr  in  erziehlicher  Be- 
ziehung ist  die  Fortbildiingsscliule  ein  großer  Segen  f[\r  unsere  Jugend, 
ein  wertvolles  Glied  in  der  Reihe  derjenigen  Veranstaltungen,  die  zur 
Hebung  der  Volksbildung  und  damit  des  Volksgliickes  getroffen  worden 
sind.  Die  Leistungsfähigkeit  der  Fortbildungsschule  hftngt  selbstver- 
ständlich auch  von  dem  Grade  der  Ausbildung  der  aus  der  Volks- 
schule entlassenen  Knaben  ab.  Rector  L.  meint,  „die  Fortbildungs- 
>j('lmle  würde  überflüssig  sein,  wenn  alle  aus  der  Volksschule  ab- 
gelieiiden  Schüler  das  Ziel  der  Schule  erreichten  und  eine  normale 
Bildung  ins  praktische  Leben  hinüberbrächten. "  Er  unterlässt  es, 
(\m  Hegriff  ,,nünnale  Bildung"  zu  deliniren.  Nach  dem  saclisisrhen 
^Schulgesetz  wird  denjenigen  Kindern  die  zur  Entlassung-  ci  forclerliche 
Reife  zuerkannt,  welche  das  Ziel  der  einfachen  Volksschule  in  den 
wesentlichen  Unterriclitsgegenständen  (Religion,  Deutsch,  Rechnen  etc.) 
erreicht  haben.  Diejenigen  aber,  bei  denen  dies  nicht  der  Fall  ist, 
haben  noch  ein  neuntes  Jahr  die  Schule  zu  besuchen.  Zugegeben,  dass 
dieses  Ziel  kein  hohes  ist,  so  muss  doch  auch  anderseits  anerkannt 
werden,  dass  die  Gesetzgebung  die  Erreichung  dieses  Zieles  zwar  für 
unbedingt  erforderlich,  aber  auch  zunächst  lüi-  genügend  erachtet  für 
den  Eintritt  in  das  praktische  Leben.  Die  weitaus  größte  Zahl 
unserer  Schüler  erreicht  nicht  niu*  dieses  Ziel,  sondern  eignet  sich  eine 
höhere  Bildung  an.  Von  den  Schülern  det  mittleren  und  höheren 
Volksschulen,  die  ebenfiüls  zum  Besuche  der  Fortbildungsschule  ver- 
pflichtet und  nur  durch  Erffillung  gewisser  Bedingungen  Ton  dem- 
selben befreit  werden,  rede  ich  nicht  Dass  unsere  Schfller  das  vor^ 
geschriebene  Ziel  in  verschiedenem  Grade,  manche  von  ihnen  Über- 
haupt nicht  erreichen,  h&ngt  aber  von  verschiedeoen  Umständen  abv 
deren  Darlegung  Pftdagogen  gegenüber  unterbleiben  kann.  Das  wird 
aber  auch  Ar  alle  Zeit  so  bleiben,  obgleich  wir  der  guten  Zuversicht 
ieben,  dass,  je  mehr  die  Volksschullehrerschaft  sich  den  inneren  Aus* 


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—  866  — 


ban  der  Schule  aogetog«n  sem  Iftast»  ein  steter  Fortschritt  snim  Besseren 

einti'eten  wird. 

Durch  obligHtoriscbe  Kinderg&rteni  80  meint  Bector  L.,  könnten 
die  Foi-tbildungsschulen  überflüssig  gemacht  werden.  Wenn  wii*  auch 
den  Segens  vollen  Einflnss  eines  guten ,  also  pädagogisch  geleiteten 
Kindei'gartens  voll  und  ganz  anerkennen,  so  dürfte  es  doch  zu  viel 
behauptet  sein,  dass  die  Volksschule,  falls  ihre  Kinder  vorher  durch 
einen  Kindergarten  gegangen  sind ,  ihre  Leistungen  dermaßen  zu 
steigern  vernuichte,  dass  die  Fortbildungsschule  als  unnöthig  erscheinen 
würde.  Der  Mensch  durchlebt  verschiedene  Eutwickelungsperioden, 
deren  Eigenthümlichkeiten  der  Unterricht  anzupassen  ist.  Der  Fort- 
bildungsschüler, ein  Mensch  im  Alter  von  14 — 17  Jahren,  bedarf 
anderer  Kost  als  der  im  früheren  Alter.  Die  Unterweisung  iu  ge- 
wissen Lehrfächern,  man  denke  nur  an  Buchführung,  Gesetzeskuude, 
Volkswirtschaftslehre,  Gegenstände,  denen  namentlich  Schüler  der 
oberen  ('lassen  erfahrungsgemäß  großes  Interesse  entgegenbringen, 
darf  und  kann  nicht,  wenn  sie  erfolgreich  sein  soll,  verfrüht  werden. 
Und  wären  wirklich  alle  eintieteuden  Elementarschüler  der  Volks- 
schule so  geistig  geweckt  und  rege,  dass  letztere  thatsächlich  niehi- 
leisten  könnte  als  yty.i,  so  wäre  darum  die  EortbiMiingsschule  noch 
nicht  unnöthig,  sondern  sie  belände  sich  ihrerseits  in  der  glücklichen 
Lage,  auch  ihre  Leistungen  zum  Heile  der  Jugend  und  des  Volkes 
wesenüich  zu  steigern.  Ihre  Aufgabe,  das  Gewonnene  zu  erhalten, 
zu  vertiefen  und  zu  erweitem,  bliebe  nach  wie  vor  bestehen.  Ent- 
schieden za  viel  behauptet  ist  es,  dass  nach  r^elmäfiigem  Besuch  des 
Kindergartens  der  Volisschnle  an  Stelle  yon  körperlich  Terkommenen 
nnd  geistig  stumpfen  Kindern  gesunde  nnd  geistig  rege,  geweckte 
Kinder  zugeführt  werden.  Abgesehen  davon,  dass  durch  diese  Gegen- 
ttbersteUnng  nach  beiden  Seiten  hin  übertrieben  wird,  mnss  doch  ancb 
bedacht  werden,  dass  dem  IcArperlichen  Verkommensein  nnd  der 
geistigen  Stompfheit  nicht  selten  Ursachen  sogronde  liegen,  die 
auch  ein  guter  Kindergarten  zu  heben  nicht  immer  imstande  ist 

Wenn  andi  ein  guter  Kindergarten  fttr  solche  Eltern,  die  aus 
Anleren  wie  inneren  GrOnden  nicht  in  der  Lage  sind,  ihre  Kleinen 
anregend  zu  beschäftigen,  eine  große  Wolthat  ist,  so  ist  die  Fortbüdungs- 
schule  nidit  minder  ein  Segen  ftr  ihre  Angehörigen,  obgldch  die  Selbst- 
sucht und  Besdirftnktheit  manche  Arbeitgeber  und  Lehrherren  ihr 
widerstrebt 

Wenn  wir  auch  nicht  so  weit  gehen,  den  Kindergai-ten  als  ein 
nuothwendiges  Übel«  zu  bezeichnen,  weU  wir  eine  vielzu  hohe  Meinung 


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von  einem  guten  Kindergarten  haben,  so  können  wir  doch  nicht  zu- 
geben, dass  der  Kindergarten  für  alle  Familien  eine  unbedingte  Not- 
wendigkeit, eine  „naturgemäße  Institution"  sei.  Überall  da,  wo  die 
Mutter  selbst  versteht,  in  riclitiger  Weise  die  Erziehung  ihrer  Kleinen 
zu  leiten,  ist  der  Kindergarten  übertlüssig.  Derselbe  theilt  bei  unseren 
socialen  Verhältnissen  mit  verschiedenen  anderen  Einriclituiigen.  z.  B. 
mit  den  Kinderhorten,  in  gewissem  Sinne  selbst  mit  der  Volksschule 
das  Geschick,  dem  elttdrlicheu  Hause  als  Hilfsinstitut,  also  zur  Unter- 
stützung, Ergänzung  und  als  Correctiv  zur  Seite  zu  treten.  Soll  aber 
der  Kindergarten  obligatorisch  gemacht  werden,  dann  wird  seine  „Ma- 
schinerie'' ebenfS&Us  mit  Widerstreben  zn  kämpfen  haben  und  des 
Zwanges  bedftarfeii  genau  so  gut,  wie  die  obligatorische  Volks*  und 
Fortbfldongsäclrale. 

Wenn  anch  dnreh  einen  guten  Kindergarten  die  Wnrseln  mancher 
sittlidien  Fehler  nnd  Gebrechen  beseitigt  worden,  so  bleibt  der  ersieh* 
liehe  Einflnss  der  Fortbildnngssdrale  trotsdem  wflnschenswert  und  noth- 
wendig,  da  dem  finrtbildmigssehaliKflichtigen  Alter  gewisse  sittliehe 
UnvoUkommenheiten  eigen  sind  nnd  diese  Altersstufe  bekanntlich  Über- 
haupt vielen  sittlichen  AnüBchtnngen  ansgesetst  ist.  Wir  halten  es 
mit  Diestervegs  Wort:  „Mit  dem  vollendeten  14.  oder  16.  Jahre  darf 
der  Schulnnteiricht»  die  Oifentliche  Erziehung,  nicht  aufhOren,  sondern 
sie  muss,  wenn  anch  in  Terminderter  Stondentahl,  fortgehen.  Ein 
14jfihriger  Mensch  ist  ein  Kind  an  Einsicht  und  Kraft,  wie  an  Jahren. 
Mögen  nun  viele  zu  Handarbeiten  Abergehen,  die  Arbeit  an  ihren 
Seelen  darf  nicht  aufhören;  denn  nun  kommen  die  einflussreichsten 
und  gefährlichsten  Zeiten!*' 

Wir  geben  gern  zu,  dass  richtig  geleitete  obligatorische  Kinder- 
gftrten  nicht  nur  dem  Handwerkerstände,  sondern  namentlich  auch  der 
dienenden  Volksclasse  zugute  kommen  würden,  ja,  wir  wünschen  so- 
gar, dass  insbesondere  jedes  Mädchen,  gleichviel  welchen  Standes,  als 
Jungfrau  wieder  schauend  und  helfend  dem  Kindeigarten  zugeführt 
werde,  damit  dieser  nach  Diesterwegs  Wort  „nicht  nur  als  Bildungs- 
stätte für  kleine  Kinder,  sondern  als  Bildungsanstalt  für  das  gesanimte 
weibliche  Geschlecht  aufgefasst  und  gewürdigt  werde";  aber  wir  können 
nicht  einsehen,  wie  hierdurch  die  Fortbildungsschule  überflüssig  werdt'u 
solle.  Halten  wir  den  Besuch  des  Ivindergai'tens  durch  die  -IiiiiR-frau 
für  nothwendig,  so  ist  damit  gleichzeitig  eine  Aufgabe  für  die  Foii- 
bildungsschule  der  weiblichen  Jugend  angegeben,  von  weicher  aller- 
dings hier  zunächst  nicht  die  Rede  ist. 

Aus  dem  Gesagten  geht  heiTor,  dass  Schi'eiber  dieses  ein  Freund 


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—  367  — 


des  guten  Kindergartens,  ganz  besonders  aber  auch  der  Fortbildungs- 
schule ist.  Schon  1873  legte  derselbe  in  einer  kleinen  Schrift:  „Die 
Fortbildungsschule  unserer  Jugend"  (Verlag  von  Kämmerer,  Dresden) 
dieselben  Anschauungen  nieder.  Wir  heften  auf  die  Zustimmung  des 
geehrten  Rectors  L.,  wenn  wii-  als  Bildunj^sgang  für  unsere  Jugend 
den  pädagogisch  geleiteten  Kindergarten  und  unsere  Volksschale  in 
Verbindung  mit  der  Fortbildungsschule  empfehlen. 


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LehrerbilduBg  in  England. 


Von  H,  Wateniraai-^eitin, 

13is  vor  fünfzig  Jahren  hat  die  englische  Regierung  für  den 
Vülksunterricht  fast  niclits  gethan,  noch  viel  weniger  aber  für  die 
Bildung  der  Lehrer.  Eine  l'ontrole  hinsichtlich  der  Prüfungen  fand 
von  Staatswegen  gar  nicht  statt.  Schulen  zu  gründen,  sowie  Unter- 
richt zu  ertheilen,  stand  jedem  frei;  ja.  auch  lieute  noch  ist  das  Schul- 
halten ,,free  trade".  Günstigsten  Falls  nahmt  n  sich  also  Geistliche  der 
einzelnen  Religionsgesellschaften  oder  Graduirte  dei'  Universitäten  des 
Elenientarimterrichtes  an;  im  übrigen  wurde  jeder  Schullelirer,  der  den 
inneren  Herzensdrang  dazu  in  sich  verspürte.  A\'irklich  tüchtige 
Elementarlehrer  waren  nur  wenig  vorhanden.  Ein  Giiind,  aus  welchem 
die  Regierung  bis  dahin  nichts  füi-  die  Lehrerbildung  getlian  hatte, 
lag  darin,  dass  die  Communen  Lehrer  anstellten,  ohne  einer  Bestätigung 
von  der  Behörde  zu  bedttifen.  Im  Jabre  1846  wurde  von  der  Re- 
gierung auf  Anregung  yon  Sir  James  Kay  Shuttleworth  beschlossen, 
Lehrei*a  eine  jährliche  ünterstntziiiig  anzabieten,  wenn  sie  sich  einer 
Prflfting  unterzögen.  Dieselben  sollten  aber  anch  gewiase  andere  Be- 
dingungen erfüllen,  welche  an  ihre  Sehnlarbdt  nnd  ihren  Charakter 
gestellt  wniüen.  Daranf  erhielten  diese  Lehrer  em  Zengnia  der  Tüchtig- 
keit (certiflcate  of  merit). 

Aber  diese  Maßregel  konnte  keine  guten  Lehrei-,  also  anch  kehie 
guten  Schulen  machen,  denn  man  hatte  keine  LehrerbOdungsanstalten. 
Die  Anregung  zu  ihrer  Gründung  gab  ebenfiüls  der  schon  erwähnte 
ShntÜeworth.  Dieser  ging  nach  der  Schweiz  (Lausanne,  Luzem  und 
Lenzburg),  um  hier  die  Anstalten,  in  denen  nach  Pestalozzi'schen 
Grundsätzen  unterrichtet  wurde,  kennen  zu  leinen.  Dann  besuchte 
er  auch  die  besten  Seminare  von  Deutschland,  Holland  und  Frankreich. 
Als  Fmeht  seiner  Beise  ist  die  Gi-ündung  eines  Seminars  in  Battersea 
(London)  anzusehen,  das  er  selbst  far  Elementarlehrer  einrichtete  (1840). 
Drei  Jahre  später  wurde  dieses  Seminar  Eigenthura  einer  großen  „Schul- 
gesellschaft",  der  National  Society  (for  promoting  the  Education  of 
the  Poor  in  the  Principles  of  the  Established  Ghurch)'^). 

*)  Stifter  diesor  Gesellacltaft  war  Andreas  Bell,  der  auch  die  GrOndung 
▼on  Ldirergeminaren  in  den  einzelnen  Difleeaen  Teranlasste  und  einen  Plan  fOr  ein 
Unsteiseminar  in  der  Hauptstadt  entwarf.  Diesem  Icam  aber  Shuttleworth  sttTor. 


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—   869  — 


Dieselbe  Ge:<ellscbaft  hatte  schon  1841  in  Chelsea  (London)  St. 
Mark's  College  als  Seminar  fßr  Lehrer  und  Whitelands  House  für 
Lehi-erinnen  gegründet  Ebenso  traten  noch  mehrere  andere  Gesell- 
schaften, welche  gleichfalls  auf  dem  Boden  der  englischen  Staatskirche 
stehen,  für  Gründung  von  Seminaren  ein,  wie  z.  B.  die  Home  and 
f'olonial  (Infant)  School  Society.  Daneben  richtete  die  große  Gesell- 
schaft der  British  and  Foreign  School  Society  Seminare  ein,  ebenso 
die  Dissenters  und  die  Katholiken.  Die  letzteren  eröffneten  ihr  erstes 
Lelirerseminar  zu  Hamraersmith  (London)  ca.  1854,  während  die  An- 
hänger von  John  Wesley  «chon  18.")1  ein  solches  zu  Westminster 
gründeten.  Und  nocli  immer  bildeten  sich  Gesellschaften,  wie  z.  B. 
die  Christian  Knowledge  and  National  Societies,  welche  im  Jalir  1878 
ein  neues  Seminar  für  Lehrerinnen  in  Tottenham  i  London)  gründete. 

Wie  diese  kuraen  Notizen  ergeben,  hat  der  Staat  als  solcher  kein 
Seminar  eingerichtet.  Aber  dadurch,  dass  er  Unterstützungen  gibt, 
hat  er  das  Aufsichtsrecht  über  diejenigen  Anstalten  erworben,  welche 
diese  Beihilfe  (grants)  annehmen.  Staatliche  Inspectoren  re\ddiren 
die  Seminare,  halten  auch  die  Prüfung  ab  mit  Ausnahme  der  in 
Religionslehre;  aber  der  innere  Betrieb  in  diesen  Anstalten,  sowie  die 
Bestimmung  Uber  die  Auswahl  der  eintretenden  Zöglinge  ist  den  ein- 
zebnen  Gesellschaften,  resp.  LebrercoUegien  völlig  überlassen.  1860 
beatandttn  in  England  (n.  Wales)  36  Seminaie  ftr  Lehrer  und  Lebrerimien; 
jetit  sind  48  solcber  Anstalten  vorhanden.  (In  Schottland  sind  im 
gansen  7  Seminare.)  Davon  kommen  anf  die 


Englische  ätaatskirohe 


I 


Lehrer 


Lehrerisnen 


■a)  National  i>ocitty  

b)  Home  and  Colonial  SoeicUcs  

c)  Dioeesan  Soeieties  

d)  Christian  Euüwle<I|c:e  ani  Natitnud  Sodetiea 

e)  Churcli  nt'  Eniiland  

fi  ]lriti;«li  and  Foreign  Schuul  yoiieties    .    .  . 

Bishop  <Jtter  s  Memorial  


3 


3 

2 


7 


1 
1 

18 
1 
1 
4 

1 


CoDgregaüonal 


1 


Wesleyan  .  . 
Ronai  OathoUe 


1 
l 


1 
8 


17  +  1-1-  25  =  48 


^Ebtnomineii  d«Bi  «Handliook  of  the  New  Ck>de,  1888".) 


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—   870  ~ 


Heatzatage  ist  es  selbstveretändlicb  mit  der  Bildang  der  Lehrer 
auch  besser.  Aus  Angaben  im  Censusjahr  1851  geht  hervor,  d&se 
708  Lehrer  und  Lehrerinnea  an  PriTatschuIen  und  85  Lehrer  an 
öffentlichen  Schulen  mit  einem  Kreuz  anstatt  des  Namens  unterzeicli- 
neten.  Ein  Hindernis  für  Heranbildung  tüchtiger  Lehrkräfte  war 
fiilher  auch  die  kümmerliche  Besoldung  der  Lehrer.  Dies  hat  sich 
auch  etwas  zum  Besseren  gewendet.  Daneben  trugen  noch  besondere 
politische  Erpicnisse.  wie  die  Eröönung  des  Suezkanals,  Gründung  des 
Deutschen  Keiclis  etc.  mit  dazu  bei,  das*;  bessere  Elemente  den  Lehrei-beruf 
erwählten.  Englands  Handelssteliung  hatte  nämlich  durch  die  angedeuteten 
Ereignisse  einen  großen  Stoß  erlitten,  so  dass  nicht  mehr  in  demselben 
Maße  wie  früher  sich  die  jungen  Leute  dem  gewerblichen  Leben  zu- 
wandten, sondern  manche  von  ihnen  sich  demLehrberufe  widmeten. 

Die  Vorbereitunir  zum  Lehramt  umtasst  1.  die  Zeit  als  papü- 
teacher,  2.  die  Senünarzeit 

L 

Nicht  ganz  in  demselben  Alter,  in  welchem  die  Knaben  in  PrenSen 
in  die  Präparandttunstaltan  dnlieten,  beginnen  in  England  die  Knaben» 
resp.  mdehüm,  welche  in  den  Schnldienst  treten  wollen,  ihre  Bemüs- 
büdimg.  Fräparandenanstalten  aber  in  nnaerem  Sinne  gibt  ea  dort 
nicht;  sondern  jede  Volksschule,  welche  anter  guten  Lehrern  Tflchtiges 
leistet,  vertritt  hier  die  Stelle  einer  Vorbereitangsanstalt  Knaben 
oder  Mädchen,  welche  den  Lehrberof  erwähleii  wollen,  werden  soerst 
pnpil-teachers,  d.  1  Scbfilerlehrer  (ein  Kind,  das  Untenkbt  empftogt, 
aber  auch  ertheilt).  Ein  solcher  papfl-teadier  ist  von  dem  Sehnl- 
vorstande  einer  „Öffentlichen  Elementarschnle''  engagirt  worden  nnter 
der  Bedingnng,  während  der  Scholstonden  nnter  Anfticht  des  Hanpt- 
lehrers  m  nntenichten  nnd  außer  dieaer  Zeit  nnterzicbtet  zn  werden. 
Als  Candidat  ftr  jenen  Posten  kann  znr  Probe  auf  eb  Jahr  ein  Kind 
genommen  werden,  das  Aber  13  Jahr  alt  ist  nnd  vor  dem  Begierungs- 
inspector  eine  Prüfung  in  den  » Elementargegenständen "  von  Stand- 
ard V  oder  VI  (Classe  3  und  2  von  oben  gezählt)  und  in  zwei  „Classen- 
gegenständen^  nnter  denen  immer  ^Englisch'*  sein  mnss,  bestanden  hat 

*)  Die  Lehrfächer  einer  Volksschule  sind  in  drei  Grupi)en  getheüt: 

1.  (Eaementargegeiurtlnde.)  Alle  Sdifliw  mttfsen  «iitHiiditet  weideo  in 
Lesen,  Schreiben,  Rechnen,  Handarbeit. 

2.  (( 'lassengegpnständc.)  Alle  Schüler  einer  Chmc  kfinnen  unterrichtet 
werden  in:  Singen,  Englisch,  Geographie.  Eleuientarwisisenschaft,  Geschichte. 

3.  Einzelne  Schüler  der  oberen  Claasen  können  l'nterricht  empfangen  in: 
Algebra,  Raumlehre,  Meduuiik,  Chemie,  Physik,  Nataibeedtteilnuig,  in  den 
Gruttdittgen  des  Ackerbaaei,  Latdn,  FnaMadt,  Haugwirtaehaftdebre. 


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—   371  — 


Auf  die  stotf Hellen  Anforderungen  werde  ich  sp&ter.  eiligeben. 
AuÄei'dem  muss  der  pupil-teacher  vorweisen:      .  . 

1.  ein  iirztliciies  Gesundheitsattest, 

2.  eine  Bescheinigung  von  der  Schulcomnüssion  darüber,  dass  er 
an  keinem  Fehler  leidet,  der  ihn  zam  Schalhalten  untauglich 

macht, 

3.  ebenso  ein  Zeugnis  über  g^ute  Fülirung, 

4.  vom  Lehrer  ein  solches  iiber  Pünktlichkeit,  FieiÜ,  (iehoi'sam, 
Eifer  in  Erfüllung  der  Pflichten, 

5.  von  der  Polizei  ein  Zeugnis  der  eigenen  und  der  elterlichen 
ünbescholteulieit. 

Alle  diese  Zeugnisse  müssen  während  der  vier-  bis  fünQährigeu 
\'orbereitungszeit  jedes  Jahr  enieuert  werden.  Die  meisten  Prüfungen 
in  England  sind  schriftlich,  da  man  von  der  Ansicht  ausgeht,  dass 
das,  was  man  wirklich  klar  niederschreiben  kann,  auch  Avirklich 
geistiges  Eügenthum  des  Betreffenden  ist.  Alle  Pr&flinge  erhalten  also 
Fragebogen  mit  Aufgaben  (papei*s),  die  sie  IOm  sollen.  Die  Wichtig- 
keit, wdelie  den  einaelnen  Gog^uttaden  .beigelegt  wird,  und  das 
WertYCriiältniB  deraelben  nnter  einander  vird  durch  eine  beliebige 
Zahl  IfariLen  (marks)  anagedrttdrt;.  Z.  B.  will  ich  annehmen,  dass 
sechs  Reihen  Engüseh  ins  Französische  m  Übersetzen  sind.  Wei* 
eine  Beihe  ToUkommen  richtig  übersetst  hat»  erhftlt  dafür  (Ünf  marks, 
weil  der  Lehrer  etwa  fttnf  Punkte  annimmt^  in  welchen  sich  Kenntnis 
und  Unkenntnis  zeigen  könnten.  Wer  also  das  Ganze  richtig  über- 
setzt, wfirde  demnach  6x6  marks  eriialten.  Die  Markenansfttze  ftr 
die  einzehien  Tlieile  des  schriftlichen  nnd  mflndlichen  Eiamens  werden 
addirt,  nnd  dadurch  werden  die  Zahlen  gewonnen,  die  ein  Prüfling 
durch  ein  Tollkommen  gaties  Examen  erlangen  kann.  Neben  dieses 
Ideal  wird  dann  am  Ende  der  Prttfhng  die  Smnme  der  Marken  gesetzt, 
die  jeder  erlangt  hat,  und  nach  dem  Verhältnis  derselben  zum  Ideal 
werden  die  Reihenfolge  der  SchQler,  Austheilung  der  Preise  etc.  be- 
stünmt  Im  einzelnen  Fall  «geschieht  die  Zuerkennung  der  Marken 
so,  dass,  wenn  etwa  der  Wert  einer  Frage  oder  Aufgabe  =  100  sein 
soll,  deijenigCt  welcher  sie  ziemlich  gut  beantwortet  oder  löst,  90 
Marken,  wer  gar  nichts  fertigbringt,  auch  nichts  angesetzt  erh&lt. 
Nach  solchen  Piincipien  werden  sowol  die  pnpil-teadiers  als  auch 
die  Seminaristen  und  Lehrer  geprüft. 

Bei  dem  Eintritt  als  pupil-teachei*  (zur  Probe)  hat  der  betreffende 
Schüler  den  Anforderungen  des  Standard  V  (Ii.  Classe)  zu  genügen. 
Dieselben  sind  sehr  mäßig.  Es  wird  verlangt:  Fließendes  und  siun- 


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—  372  — 


gfemäßes  Vorlesen  eines  Absdinitts  aus  einem  literarischen  oder  liisto- 
risclien  Lesebuch.  Aufschreiben  einer  kurzen  Geschiclitc,  die  mehr- 
mals Vorgelesen  ist,  mit  leidlich  gutem  Ausdruck  und  guter  Handschrift. 
Zerlegung  und  Gliederung  einfacher  Sätze.  Bekanntschaft  mit  der 
Art  und  Weise  der  Ableitung  englischer  Haupt-,  Eigenschatts-  und 
Zeitwörter  voneinander. 

Im  Rechnen  müssen  die  Prüflinge  leichte  Reguladetri-Aufgabeii 
lösen  krmnen,  sowie  in  der  Addition  und  Subtraction  von  eigentlichen 
Brüchen  bewandert  sein. 

Wird  Greographie  etwa  noch  als  zweiter  „Classengegenstand'* 
genommen  (s.  S.  270),  so  ist  Bekanntschaft  mit  der  politischen  und 
physikalischen  Geographie  von  Europa  nachzuweisen,  sowie  mit  geo- 
graphischer Breite  und  Länge,  Wechsel  von  Tag  und  Nacht,  Jahres- 
zeiten. 

Wie  schon  erwähnt  worden,  hat  der  pupil-teacher  am  Schhisa 
eines  jeden  Jahres  vor  dem  Regienmgsinspector  eine  Prüfung  ab- 
zulegen. Die  Bestinunongen  Aber  das  in  den  einzeben  Jahren  dnreh- 
znarheitende  Pensum  8.  S.  874  n.  375. 

Zn  den  angefahrten  Gogengttaden  kann  anf  Wnnsdi  der  pupil- 
teachers  noch  hinzngenonunen  werden  eine  fremde  Sprache  (Latein, 
Griechisch,  Französisch,  Dentsch).  Es  mfissen  in  der  bezQglichen 
Prikfong  dann  grammatische  Fragen  beantwortet  nnd  lefchte  Abschnitte 
ans  der  fremden  Sprache  ins  Englische  flbersetst  werden.  Feiner 
kann  geprfift  werden  in  einem  von  fidgenden  Fichem:  Mechanik, 
Chemie,  Physiologie,  Lehre  vom  Schall,  Licht,  von  der  Wfirme,  Magne- 
tismns  nnd  Elektricitftt,  Natnrbeschrdbang,  Botanik,  Ackertwnlehre, 
Mnsik,  Zdchnen. 

Da  die  pnpfl- teachers  nnter  Anihidit  der  Lehrer  sieh  aneh  im 
UnteiTichten  zu  versuchen  haben,  so  müssen  sie  ebenfalls  jährlich  vor 
dem  Inspeotor  nachweisen,  was  sie  in  der  Praxis  gelernt  haben.  Bei 
der  Prüfung  am  Schluss  des  ersten  Jahres  müssen  sie  eine  Classe  im 
Lesen  und  Schreiben  vcnlühren.  Im  zweiten  Jahre  tritt  noch  eine 
Lection  im  Bechnen  hinzu,  sowie  die  Beantwortung  leichter  metho» 
discher  Frästen  Das  dritte  und  vierte  Jalir  erfordern  zu  letzterem 
noch  eine  Lehri)robe  in  Grammatik  oder  Geographie,  sowie  die  Vor- 
bereitung einer  niederzuschreibenden  Aufgabe. 

Genügt  ein  pui)il-teacher  nicht  den  Anforderungen  der  .lahres- 
pi  iUnngen,  so  wird  er  entlassen.  Wer  v(»rher  die  Lust  verliert,  kann 
abgehen.  Seine  bisherigen  Zeugnisse  sind  für  ihn  die  besten  Em- 
pfehlungen. 


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1 


—  873  - 


So  bat  das  System  der  pupil-teachei-s  den  Vorzag,  dass  luiföhigie 
Leute  von  yomhereiu  vom  Schulanit  zurückgebalten  werden.  Nichta» 
deatoweniger  klagt  aber  jetzt  noch  die  Bagienmg  darüber,  dasB  manche 
pnpil-teachers  am  Schloss  ihres  Engagement»  zn  geringe  Kenntnisse 
nachweisen.  Füi*  die  Zeit  seines  Engagements  liat  der  pnpil-teacher 
gewöhnlich  freie  Station  und  dazu  10—20  Pf.  Sterl.,  je  nach  der 
Anzabl  seiner  Dienstjahre.  (Jedes  Jahr  eine  Zulage  von  27«  Pf.  Sterl.) 

H 

Mittlerweile  ist  der  pupil-teacher  18  Jahre  alt  geworden,  und  er 
kann,  wenn  er  alle  Jahres-Examina  bestanden,  sich  zur  Auiualnne  in 
ein  Seminar  (Training  (.'ollege)  melden.    Wie  schon  gesagt,  ist  er 
nicht  zum  Eintritt  in  ein  Seminar  verptlichtet.    Manche  von  ilmen 
bestehen  die  Aufnahmeprüfung,  treten  aber  doch  nicht  in  eine  Anstalt 
ein,  sondern  nehmen  bereits  eine  Lehrerstelle  an.    Sie  müssen  aber 
vom  Regieiiingsinspector  nocli  eine  besondere  Empfehlun«;  erlialten 
auf  Grund  ihrer  praktischen  Tüchtigkeit  als  Lehrer.    S(»l('hf  junge 
Leute  werden  pronsionallj'  certiticated  teachers  genannt.    Bis  zum 
25.  Lebensjahre  dürfen  diese  in  kleinen  Schulen  unterrichten.  Daneben 
unterscheidet  man  noch  assistant  teachers.    Dies  sind  junge  Leute, 
welche  das  Schlussexamen  als  pupil-teachers  oder  das  der  Aulnaiinie 
in  ein  Seminar  bestanden  haben,  oder  Graduirte  von  anerkannten 
Universitäten  sind,  welche  Lehrer  werden  wollen.   Beabsichtigen  die 
assistant  teachers  die  Lebrerpräfung  zu  machen,  so  müssen  sie 
mindestens  dn  Jahr  nnto*  dnon  eertiflcated  teacher  tbätig  gewesen 
sein  nnd  vom  Inspector  ein  gOnstiges  Zeugnis  über  ihre  Amtsführung 
erhalten  haben.  Die  meisten  pupfl-teachers  dagegen  aaehen  die  Auf- 
nahme in  ein  Seminar  nach.  Sie  heifien  dann  „Stttdenta",  nnd  wean 
sie  eine  fiegierungsunterstatznng  erhalten  »Qneen's  Scholars".  Wie 
schon  anfangs  gesagt  worden  ist,  gibt  es  in  England  keine  staat- 
lichen Seminare.  Die  Regierung  ftbt  nur  eine  Gontrole  Aber  dic|{enigeii 
aus,  welche  von  ihr  Unterstatisungen  annehmen.  Letztere  sind  um  so- 
höher,  je  mehr  ZQglinge  die  Anstalt  hat  So  erhielten  z..B.  die  Katho- 
liken 1888  für  ihre  drei  Seminare  einen  Staatszuschuss  von  ca.  69S0- 
Pf.  Sterin  wfthrend  sie  selber  ca.  2240  Pf.  Sterl.  gaben.  Die  Wesleyaner 
bekamen  fttr  zwei  Seminare  ca.  9110  Pf.  SterL;  sie  zahlten  dagegen 
nur  ca.  1660  P£  Sterl.  zur  Erhaltung  ihrer  Seminare.  Um  Einflusa 
anf  die  Erziehung  und  den  Unterricht  der  Jugend  zu  bekommen^ 
haben  deshalb  alle  größeren  Religionsgesellschaften  Seminare  gegrOndet 
und  leisten  deshalb  neben  der  Regierung  auch  den  Zuscbuss  zur  Er- 
haltung der  Institute.  Jedes  (Jomitö  eines  Seminars  stellt  seine  be- 

Padigoslain.  IS.  Jahrg.  H«ft  VI.  27 


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—  374  — 


Leieo 

Anftngen  (Bepetition) 

1 

Engl  Grammatik  und  j 
Aufsatz  1 

I. 

Das  Lesen  soll  flicikud 
und  giaBg«raftB  sein; 

in  den  letzten  Jahren 
wird  mehr  Gewicht  auf 
das  melodiflche  ud 
rbythmif((^he  Moment  sa 
legen  sein. 

Auswendig  zu 'lernen 
sind: 

60  Zetten  Poesie. 

In  der  Grammatik  er-  | 
weltert  sich  der  Stoff  i 
Tom  Analysiren  oinfacher 
bis  zu  dem  zusammen- 
gesetzter Sätze.  Femer 
wird  die  Kenntnis  der 
gewöhnlichsten  Wort- 
wendnngen  mlugt. 

IL 

Das  Lesen  soll  fließend 
und  sinngemäß  sein; 
in  den  letzten  Jahren 
wild  mehr  Gewicht  anf 
das  melodiarhe  und 
rhythmische  Moment  zu 
legen  Bein. 

80  Zeilen. 

Es  kommen  hinzu: 
Die   haupt8äcbli(  Ijsten 

lateinischen  Vorsilben 

nnd  Bndnngen. 

1 

III. 

Das  Lesen  soll  flietoid 

und  ßinueroniüß  sein; 
in  den  letzten  Jahren 
wird  mehr  Oewieht  auf 
das  melodische  und 
rhythmische  Moment  zu 
legen  adn. 

100  Zeilen. 

Voisilben  und  ange- 

Ulagte  Silben. 
ünter»cheiduug  eugli- 
acher  Wörter  von  dMen 
fremdw  Herininft 

1  IT. 

Das  Lesen  soll  fließend 

und  sinngemäß  sein; 
in  den  letzten  Jahren 
wild  mehr  Gewicht  auf 
das  melodische  und 
rhythmische  Moment  zu 
legen  sein. 

100  Zeilen  ans  Shnke- 
spenie  oder  Müton. 

GewOhnliebelateimsche 

Stämmo  entflisrhcr  Wör- 
ter. Die  Autsätze  fiu- 
dcai  ihren  Steif  in  leich- 
ten prosaischen  und  in 
noetbchcn  Stücken,  die 
in  Pioea  flbertngen  wer- 
den  sollen. 

Außerdem  wird  noch 
ein  ümriss  der  Geschichte 
der  englischen  Sprache 
und  Literatur  gegeben. 

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—   375  — 


1 

1 

1  BcehaeniiiidHatheiiiatik 

1  — = 

Geographie         |  Oeschiehte 

j  DecinwlbrUcbe. 

■ 
1 

• 

1 
i 

RritisclieTiH'lii,  Austrii- 
ueu  unu  i>riiiBCQ-i>oni- 
Amerika. 

Berge  und  Flitsse  (phys.) 
j  —  Kartenzeichnen. 

1  , 

Umriss  der  britischen 
i.TeiH.uicnie    \on  Julius 
Cänar  bis  zur  Eroberung  \ 
En£r1and8  dorch  die  Not- 
mannen. 

i 

Proportioosleiue  mit 
.   Anwendung  auf  Zins», 
!    Durcluchnitts-,  Proccnt- 
(Gewinn  und  Verlust) 
Beehnuf,  und  Beoh- 
nung  mit  Wer^piereo. 

£u«>pa  und  Britiach- 
Inditn.    (hsogr.  Lftnge 

und  Breite.   Klima  und 
Producte  der  Britischen 
Beaitmngen. 

Bifl  SU  den  Stuarts.  \ 

Wurzel  ausziehen.  Aua- 
messen  tob  Dreiecken 

;    und  Pariillcl<)i,'rammL'u. 
Algebra   bi$  zu  den 
•mfiM^Nn  Gtoiekiingen. 

1 

Atiieu  und  Afrika. 
Winde   und  lla6rM- 
BtrOmnngen. 

Von  der  Thronbestei-  ■ 
ffnng  der  Stuits  b&i  nr 
Gegenwart. 

Berechnung  ebener  Flä- 
chen. ! 

Al^bra  bis  zu  den  qiia- 
dratischen  Gleiebungeu. 

(Gleichung   1.  Grades  1 
mit  2  Unbekannten.)  ' 

iXTleicliuna:   2.  Grades  i 
mit  1  Inbekannten.)  1 

EucUd.  üb.  I  u.  IL  1 

1 
1 

1 
1 

Die  Welt  im  allgemei-  . 
nen.  I 

.Tiihrrszeiton.  Sonne. 
Mond.   Piaueteuäy^item.  1 
Ebbe.  Hit.  1 

1 

1 
1 

1 

1 
1 

1 

Dieselbe  Periode   wie  , 
im  3.  Jahr,  aber  mu- 
fthrlicber. 

27* 


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—   376  — 


Bonderen  ADfordenmgen  an  die  zukünftigen  Student».  Die  Autnahme» 
und  Lehi'erprUfungen  werden  aber  vom  R^ernngBinspector  abgehalten. 
Zu  letzterem  Examen  genügt  ein  ein-,  resp.  zweijähriger  Besuch  der 
Anstalt  Die  Aufnahmeprüfung  erstreckt  sich  über  alle  Gegenstände, 
in  denen  der  pupil-teacher  unterrichtet  wurde,  verlangt  auch  so  ziem- 
lich dasselbe,  was  er  im  Schlussexamen  zu  leisten  hatte.  Wie  aus- 
drücklich in  den  meisten  Prospecten  hei'voigehoben  wird,  ist  die 
Kenntnis  einer  fremden  Sprache  bei  der  Aufnahme  sehr  erwünscht. 
Nur  in  Keligionslehre  prütt  das  Directorium  des  Seminars  selbst.  Die 
Auswahl  der  Aufzunehmenden  bleibt  ganz  den  Vorstehern  überlassen. 
Diejenigen  jungen  Tjeute,  welche  infolge  der  Prüfung  in  die  erste  oder 
zweite  Gruppe  kommen  (unter  drei),  können  zu  Queen's  Scholars  vor- 
geschlagen werden. 

Die  Seminare  sind  Internate  in  den  meisten  Fällen.  Die  Ver- 
waltung ist  in  den  Händen  eines  Comit^s,  deren  Präsident  bei  den 
staatskirchlichen  Anstalten  meist  der  Bischof  der  Diöcese  ist.  Wir 
Huden  daneben  aber  auch  ganz  vornehme  Namen  unter  den  Mitgliedern 
des  Comit^s.  <  Präsident  des  Comit^s  der  Katholiken  ist  z.  B.  dei* 
Hei-zog  von  Norfolk.) 

Die  technische  Leitung  des  Seminars  ist  Sache  des  principal, 
dem  ein  vice-principal  zur  Seite  steht.  Beide  gehören  dem  geistlichen 
Stande  au,  oder  sind  doch  akademisch  gebildete  Männer.  Außer  dem 
Übungslehrer  (normil  master)  nnterriehten  noch  drd  bis  aeehs  Fach- 
lehrer. Diese  werden  als  leetnrers  beseichnet  oder  als  tntors,  wenn 
sie  auch  die  AuMcht  während  der  Freizeit  Aber  die  stndents  zu 
fuhren  haben.  Neben  den  wissenschaftlichen  Lehrern  findet  sich  anch 
eine  Art  Master,  welcher  Zeichennntenieht  gibt,  nnd  der  Drill  Sergeant 
fftrs  Tnmen. 

Die  Anfhahmebedingimgen,  welche  die  einzelnen  Seminare  stellen, 
sind  gewöhnlich  dieselben.  Mir  sind  zugänglich  gewesen  die  Jahres- 
berichte von  den  drei  katholischen  Seminaren  zn  Hammersmith,  Liver- 
pool, Wandsworth,  von  den  Wesleyanischen  Seminaren  zn  Westminster 
und  Sonthlaads,  sowie  von  den  anglikanischen  saBoronghKoad,  Qray's 
Inn  Boad,  Tottenham. 

Unerlftsslich  ist  immer  die  Einsendung  eines  ärztlichen  Attestes 
sowie  die  »Bescheinigung  eines  guten  and  religiösen  Charakters''. 
Dann  mnss  ein  Kevers  unterschrieben  werden,  in  welchem  der  Can- 
didat  sich  verpflichtet,  Lehrer  an  Elementarschulen  zu  werden,  zwei 
Jahre  im  Institut  zu  verweilen,  die  Hausordnung  zu  befolgen,  so  lange 
im  Amt  zu  bleiben,  bis  das  Lehrerzeugnis  erlangt  ist.  Werden  diese 


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—  377  — 


Bedingungen  nicht  erfüllt,  so  luuss  der  Betreffende  eine  bestiuiinte 
Summe  naohzahlen,  welche  fTir  jedes  Jahr  ungefähr  50  Pf.  8terl.  be- 
trägt. Wohnung,  Beköstigung  und  Unterricht  sind  an  .den  meisten 
Seminaren  frei,  wenigstens  an  denen  unter  staatlicher  Aufsicht.  I^a- 
gegen  müssen  die  J>emiuaristen  ein  Eintrittsgeld  von  1'  .,—30  Pf.  Sterl. 
zahlen.  Hierbei  ist  aber  wiederum  zu  bedenken,  dass  die  Queeus 
8cholars  soviel  Unterstützung  von  dem  Staat  bekommen,  da^s  die 
Seminarzeit  ihnen  doch  immerhin  sehr  billig  wird.  Die  meisten  Unter- 
stützungen scheinen  nach  den  mü'  yorliegeuden  Prospecten  die  Zög- 
linge der  katholischen  Seminare  zu  haben. 

Die  Seminargebättde  selbst  sind  den  Anforderungen  der  Neuzeit 
entspreeheacl  aufgeführt.  Fast  alle  arthalten  große,  luftige  R&ume 
aowol  für  den  Unterricht,  als  auch  ftr  das  Speisen,  Schlafen  nnd 
Arbeiten.  Bei  allen  sbid  große  Gärten,  in  denen  die  jungen  Leute 
den  nationalen  Vergnttgungen  der  Engländer  nachgehen  kOnnen.  Den 
Zöglingen  von  Borongh  Boad  Training  College  ist  sogar  von  dem  Erz- 
bisehof von  Ganterbnry  die  Erlaubnis  ertfaeilt  worden,  in  dem  ge- 
rftondgen  Park  von  Lambeth  Palace  ihre  Ballspiele  abenhalten.  Im 
Folgenden  will  ich  die  Hansordnnng  des  letstgenannten  Seminars 
mittbeiien,  ans  wdchem  ein  Scldiiss  aof  die  übrigen  gemacht 
werden  kann. 

An  Wochentagen,  mit  Ausnahme  Yon  Mittwoch  nnd  Sonnabend, 
findet  mn  8  Uhr  das  Moigengebet  nnd  darauf  das  Frühst&ck  statt. 
Von  9—12  Uhr  Ist  ünteniclit,  von  12—1  Uhr  Tnraen,  nm  1  Uhr 
Mittagessen,  von  2Vt^V«  Unterricht,  um  5^«  Uhr  gibt  es  Thee. 
Von  6—8  Uhr  Unterricht,  8'  ,,  Uhr  Abendessen,  O«/^  Uhr  das  Gebet. 

An  Sonnabenden  fällt  der  Nachmittagsunterricht  aus.  Pünktliche 
Anwesenheit  in  den  dassenammern  wird  von  den  Zöglingen  verlangt, 
wenn  nicht  Dispensation  von  den  Lehrein  nnd  dem  Director  ertheilt 
ist.  Es  ist  nicht  erlaubt,  sich  in  einem  anderen  als  in  dem  auf  dem 
Stundenplan  bezeiclmeten  Zimmer  aufzuhalten.  In  allen  Classen  mnss 
mhige  Ordnung  beobachtet  werden.  Nachlässigkeiten  im  Anzüge  sind 
zu  keiner  Zeit  gestattet  Die  Zahl  der  students  im  College  hängt  im 
ersten  Jahr  von  der  Anzahl  der  Aufgenommenen  ab,  im  zweiten  von 
dem  Resultat  der  Seminarprüfung.  Es  ist  Pflicht  des  Seniors,  auf 
Ordnung  zu  sehen,  sowie  alle  Krankheitsfälle  dem  Director  und  der 
Hausmutter  anzuzeigen.  Der  Speisesaal  wird  fünf  Minuten  nach  dem 
Läuten  geschlossen.  Zuspätkommende  erlialten  kein  Essen.  Nur  am 
Sonnabend  Abend  und  Sonntag  ist  es  ^e^tattet,  bei  den  Mahlzeiten 
zu  fehlen.  Der  Lesesaal  steht  den  meetings  dei'  Seminaristen  zu  Ue- 


Digiti^cü  LyjpüOgle 


—  378  — 

l>ot€.  Der  Auleiitlialt  in  deiiiselbeu  ist  besonderen  Vorschritten  unter- 
worfen, Schach-  und  Damespiel  sind  edaubt,  Karten-  und  Hazard- 
spiele  strenge  verboten.  Rauchen  in  den  Seminargebäuden  selbst  ist 
nicht  gestattet,  wol  aber  in  der  Turnhalle.  Sonnabend  nachmittags* 
und  den  ganzen  Sonntag  ist  das  Ausgehen  den  students  gestattet. 
Es  wird  erwartet,  dass  jeder  am  Sonntag  dfu  Gottesdienst  besucht. 
Für  jede  Woche  ist  ein  Sonntagsbericht  zu  schreiben.  Die  Schlaf- 
zimmer dürfen  nur  aufgesuclit  werden  in  der  Zeit  von  nachmittagsi 
1 — 2,  5 — 6  Uhr,  Sonnabends  und  Sonntag  nachmittags,  und  abends 
von  8\/2  Uhr  ab.  In  den  Schlafeimmern  dürfen  die  Sachen  der  stu- 
dents nicht  umherliegen.  Nach  11  Uhr  muss  jeder  Student  in  seinem 
eigenen  Schla&immer  sein.  Licht  in  demselben  ist  nicht  gestattet 
Alle  14  Tage.jntlMi  die  Seminaristen  eine  schriftliche  Arbeit  über 
ein  selhetgewfililtes  Thema  ^oeidieD.  Ferien  sind  10—13  Wochen. 
Da  zu  Weihnachten  immer  die  Entlassungsprttfimgen  stattfinden,  ist 
nach  Beendigung  derselben  meist  eine  Pause  von  vier  Wochen.  Im 
Sommer  dauert  dieselbe  nodi  länger.  Eflnere  Ferien  sind  zu  Ostern 
und  Pfingsten. 

Für  die  LehrerprilAmg  sind  folgende  Gegenstftnde  in  Gruppen 
gebracht: 

1.  Schulkunde,  2.  Englisch,  8.  Geographie  und  Qeschichte,  4.  Bech- 
nen,.  Algebra,  fiaumlehre,  5.  Wissenschaften  (dam  gehören :  Mathe- 
matik, theoretische  und  angemidte  Mechanik,  Lehre  vom  Schall, 
Licht  und  WSnne,  Magnetismus  und  Elektridtät,  anorganische  Chemie» 
Physiologie,  Botanik,  Naturbescbxeibuttg,  Ackerbaulehre),  6.  Sprachen» 
7.  Wirtschaftslehre. 

Alle  Candidaten  müssen  bei  der  Prfifung  genügende  Kenntnisse 
in  Nr.  1  und  2  nachweisen.  Dazu  düifen  sie  höchstens  noch  zwei 
von  den  anderen  Gruppen  w&hlen.  Derjenige,  welcher  in  letzterer  bei 
dnr  Prüfung  des  ersten  Jahres  nicht  bestanden  hat»  muss  sie  im  zweiten 
Jahre  aufiiehmen. 

Im  wesentlichen  linden  dieselben  Gegenstiüuie  ihren  Platz  in  dem 
Lectionsplan  der  Seminare.  Hinzu  kommen  noch  Musik,  Zeichnen, 
Religionslehre  und  Turnen.  In  einigen  Seminaren  werden  auch  Curse 
für  Handfertigkeitsunterricht  gehalten,  während  die  Seminaristiunen 
noch  in  Handarbeit  und  Kochen  unterrichtet  und  wol  noch  als  Kinder- 
gärtnerinnen ausgebildet  werden.  Unterschiede  tinden  sich  in  der 
Wahl  der  Spraclien,  sowie  in  einzelnen  Zweigen  dei-  ..Wissenschaften". 
Selb.stverständlich  erhalten  die  jungen  Leute  in  den  mit  den  Seminaren  ver- 
bnndenenÜbungsschuleu  auch  Gelegenheit,  sich  praktiscli  weiter  zu  bilden. 


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—    379  — 


Der  fttr  das  Seminar  gütige  Lehiplaii  ist  Ton  der  Begienuig  vor- 
geaehneben.  Es  folgt  eine  karse  Übersiclit  desselben,  der  nur  Infi»«- 
mation  der  Weihnachten  1889  geprüften  Jungen  Lente  vom  Education 
DeiMfftment  herausgegeben  kt  Wo  niehts  Besonderes  hinzogefOgt 
ist,  gilt  der  Lefarplan  anch  fttr  die  Lehrerinnen. 

L  Lesen  und  Hersagen  (Bepetition). 

L  Jahr.  Lesen  mit  deutlicher  Aossprache,  richtigem  Ausdruck 
und  gebürender  Beachtung  der  Interponction.  Jeder  student  oder 
Lehrer,  der  zur  Prüiang  kommt,  muss  wenigstens  300  Zeilen  ans  den 
Werken  Miltons,  B^rrons  oder  Wordsworths  answ^dig  gelernt  haben. 

II.  Jahr.  Von  den  Candidaten  wird  erwartet,  dass  sie  eine 
größere  Vollkommenheit  im  Lesen  zeigen  und  lange  und  verwickelte 
Sätze  richtig  wiedergeben  können.  Außt^rdem  müssen  sie  300  fieihen 
aus  einem  Drama  von  Shakespeare  hersagen  können.*) 

Außerdem  ist  jedem  Candidaten  erlaubt,  aus  einem  selbst  ge- 
wählten Bach  yorzuiesen. 

2.  Schreiben: 

a)  Eine  Schriftprobe  von  in  Vorschi'ifteu  gebräuclilicher  Schrift 

b)  Ein  Dictat  zu  schreiben. 

c)  Eine  gute  Schrift  soU  sich  in  allen  Arbeiten  zeigen. 

3.  Schulkunde. 

I.  Jahr.  Lehrmethoden  der  elementary  und  class  subjects  (s.  S.  1) 
(geistbildender  Unterricht),  Schulregister  (Tagebuch  etc.).  Führung 
derselben  und  Anfertigung  von  Listen  und  Berichten.  Bildung  der 
Sinne  und  des  Gedächtnisses.  Lehrproljen.**) 

Füi'  die  Seminaristinnen  wird  noch  be.sonders  Gewicht  gelegt 
auf  die  Methoden  und  Gruudzüge  des  Uuternchtes  und  der  Erziehung 
kleinerer  Kinder. 

n.  Jahr.  Kein  student  wird  examinirt,  wenn  nicht  der  prin- 
dpal  beieigt,  dass  derselbe  wenigstens  150  Standen,  von  denen  die 
HSlfte  mindestens  auf  das  airaite  Jahr  kommen  mnss,  in  den  Obongs* 
schalen  onteniditet  hat 

Lehrprobe  Tor  dem  Inspector.  Frag^  naeh  folgendem  au  beantp 
werten:  Verschiedene  Arten  der  Einrichtnng  nnd  Verwaltung  einer 
Schale.   Schalregister.  Verehren  bei  Bildung  von  Schlüssen.  Ge- 

♦)  Den  Prüflingen  i'lS^'Oi  wird  zum  Lesen  vorgelegt:  The  Tcmpest, 
Ivanboe,  Troncb  „Ott  the  Btody  of  worda",  The  (rolden  Treasury  of  Songs  and 
Lyrics.  Book  IV. 

**)  Den  Candidaten  sollen  Stellen  aus  LeseMchern  vorgelegt  werden,  damit  sie 
sdgen,  wie  solehe  den  Sjadern  n  erkliraa  sind. 


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—  380  — 


wObnang  und  Charakter.  Gfesnndheitsi'egdii  für  Schfltor  und  Lehrer. 
UntenicbtsvetfthreD.  Locke's  „Gedanken  über  Eniehmig". 

4.  EngUsch. 

L  J ahr.  Die  Elemente  der  Grammatik.  Auflösen  von  Wörtern.*) 

Stellen  aus  genannten  BQehem  zu  analysiren.  An&ats  Ober  ein 
gegebenes  Thema.  Sinn-  und  Worterklämng  mancher  Stellen. 

Seminaristinnen  mfissen  sich  aussprechen  können  Aber  Siirache, 
Stil  und  Inhalt  der  vorgeschriebenen  Bftcher.**) 

Satz-  und  Wortzergliederang.  Aufsatz. 

5.  Geographie. 

Elementare  Kenntnis  der  physikalischen  Geographie  mit  beson- 
derer Beziehung  auf 

a)  Gestalt,  Größe  und  Bewegungen  der  Eixle» 

b)  Atmosphäi-e,  Regen,  Wolken,  Dünste, 

c)  Winde,  Strömungen,  Ebbe,  Flut» 

d)  Ursachen  des  Klimas, 

Wirkung  des  Klimas  auf  die  Industrie,  Zunahme  der  Bevölkerung, 
den  Nationalcharakter, 
i)  Verbreitung  der  Pflanzen  und  Tbiere. 

AUjcremeine  Geographie  von  Europa. 
Der  Candida!  muss  imstande  sein,  Karten  der  britibclieu  luselu, 
B^rankreiclis,  Italiens  und  der  Schweiz  zu  zeichnen. 

Bei  den  Semiuaiistinnen  wird  besonders  die  pllysikHli^^che.  poli- 
tische und  Handelsgeographie  des  britischen  Kelches  betout.  ^im 
zweiten  Jahre.) 

6.    Englische  Geschichte. 

I.  Allgemeiner  Uniriss  der  englischen  Geschichte  von  10ti<)— 1815. 
ai  Daten  und  allgemeine  Kenntnis  der  erwähnenswertesten  Ereignisse. 
b)  Kegiereude  Häuser  und  wechselnde  Dynastien. 

II.  Jahr.    Genauere  Kenntnis  der  Zeit  von  1685 — 17SS. 

Von  den  Seminaristinnen  wird  für  das  zweite  Jahr  verlangt  eine 
genauere  Kenntnis  der  Stuart-Periode  (1603 — 88;  mit  besonderer  Be- 
rücksichtigung von 

*)  Fttr  1889  waren  Torgeschrieben:  Shakespeare'«  Macbeth,  Gnj^s  Odes 
and  Elegy,  Bacoas  Essays  I— XXVI;  fOr  1890.  King  Richard  II.«  Tennysona 
Laacolot  and  Elaiiio.    Ksaavs  of  Bnoon. 

*'|  Für  1889:  Byrons  Childc  Haroiil .  ("anto  III,  Macaiilay  >  Essay  «n 
Moores  l.ite  uf  Byrou,  Shakesitcan"-  Macbeth,  Bacons  Essays:  für  WM).  Miltons 
Lycidaä,  L'Ailegro,  11  Peuscroso,  iiyuin  üu  the  Nativity.  Macaiilay's  Vlis&y  ou 
miUm.  Shakespeaie'8  Richard  IL,  Treaeh's  Stndy  of  Wolds. 


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—  381  — 


a)  constitutioiiellen  Veränderungen  und  den  wichtigsten  Gesetzen, 

b)  Thaten  des  Heeres  und  der  Flotte, 

c)  industrieller  Thätigkeit, 

d)  der  Literatur  der  Periode. 

7.   Arithmetik,  Algebra,  Maßlehre. 
L  Jahr.  Aiithmetische  Summen  (Kopf-  und  Tafelrechnen).  Lefar- 

sfttie  beweisen  und  anwenden. 

Einfache  theoretische  und  praktische  ij'xagen  aus  der  Aigebi« 

und  Maßlehre  beantworten. 

Erhebung  einer  Quantität  von  ihrer  Wurzel  in  eine  Potenz,  Ra- 
dicii*en,  gemeinschaftliches  Maß,  algebraische  Brüche,  IiTatiouale^ 
Proportion,  geometrische  und  arithmetische  Progression,  einfache 
quadratische  Grleichungen  mit  einer  oder  mehreren  Ünbekaunten.  Aus- 
messung geradliniger  Figuien  und  des  Kreises. 

Für  Seminaristinnen: 

Die  vier  Speeles.  Rechnung  mit  einfachen  und  Decimalbrücheu. 
Zinsrechnung.  Einfache  und  zusammengesetzte  Proportionen.  Übung 
im  Kopfrechnen. 

II.  Jahr.    Schwierigere  Aufgaben. 

Permutation.  Combination.  Binomischer  Satz,  iiitegralrechnung. 
Logarithmen.  Ziuseszins-  und  Rentenrechnung.  Schwierigere  Glei- 
chungen. Berechnung  des  Cylinders,  der  Kugel,  des  Kegels  und  einiger 
unregeünäßigen  Körper. 

Den  Seminaristinnen  wird  zur  Aufgabe  gestellt  die  Anwendung 
frtther  durchgeuommener  Begeüi  anf  DiacontreclinuDg,  Bechnuug  mit 
Wertpapiei^n,  VersicherangBrechnnng  und  Wuraelansziehen. 

8.  Geometrie. 
L  Jahr:  die  drei  ersten  Bfleher  des  Euklid. 

n.    „     EokUd,  Bneli  IV-VL 

9.  Wirtscliaftdehre. 

Fflr  die  Seminaristen  des  zweiten  Jahres  Volkswirtschaftalehie, 
für  die  Seminaristinnen  Hauswirtschaftslehre. 

L  Jahr.  Zubereitung  und  Nährwert  der  Naluruig.  Die  mensch- 
li«shen  Organe  und  die  Ftocesse  des  Kanena  and  der  Verdanung. 
Materialien  znr  Klrfdnng.  Kohlen.  Ban,  Eüirichtang,  ErwArmong, 
Beleochtnng  und  Baiaigong  des  Hauses.  Frisehe  Luft;  ihre  Bestand- 
theile;  Mittel  znr  Sidierang  einer  guten  Ventilation.  Athmungsorgane. 

IL  Jahr.  Wahl  und  Bereitung  yon  Nahrungsmitteln.  Bereitung 
von  Nahrung  f&i*  Kranke.  Ftthning  eines  Hanshalts.  Ausgaben  und 
Anlage  von  Geld. 


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—   882  — 


Um  einen  Beprritf  zu  geben  von  dem  StolF,  der  in  der  Volks- 
wirtschaftslehre geboten  wird,  will  ich  einige  Fragefl  anführen,  die 
Weihnachten  1888  an  Prüflinge  gerichtet  wurden  : 

Kurze  Begritfserklärung  von:  Wolstand,  Capital,  Wert,  Nutzen, 
Rente,  Lohn  und  Profit.  Unterschied  zwischen  productiver  und  nicht 
productiver  Arbeit.  Wie  vermehrt  Arbeitstheilung  die  ProductionV 
Welclies  sind  die  Vortheile  und  Nachtheile  des  „bäuerlichen  Besitzes"? 
(Länder,  in  denen  dieses  System  besteht)  Welche  Wirkung  auf  die 
Preisverhältnisse  überhaupt  und  den  Wert  der  Goldsachen  würde  es 
haben,  wenn  die  kürzlich  eröffneten  (Toldminen  in  Wales  sich  selir 
reich  ei'weisen  sollten?  Vorbereitung  der  Niederschrift  einer  Aufgabe 
T.  Classe)  wie  dieser:  die  Post  in  ihrer  dreifai^hen  Aufgabe:  den 
V^erkelir  zu  erleiclitern,  den  Wolstand  zu  befördern  und  Einnahmen 
für  den  Staat  zu  erzielen.  Unterschied  zwischen  directer  und  in- 
directer  Besteuerung. 

10.  Musik. 

I  Jahr.  Kenntnis  der  Notenlinien  und  Noten.  Ihre  Lage  im 
Discant  ond  Bass.  Dur-Tonleitern.  Diatonische  Intervalle.  ErklÄ- 
rang  von  Tonica,  Dominante  ete.  Transposition.  Tempo.  Beieich- 
nung  desselben.  Notenwert 

Aoeordbildnng.  A-dnr-Tonleiter  in  den  wsehiedenen  SehlQsseln. 
2-,  3-  und  4  theiliger  Taet 

n.  Jahr.  Molltonleitern.  Diatonische  und  chromatische  Inter- 
valle. Synkopining.  Allgemeine  Begehi  fllr  StjmmbUdnng. 

Namen  der  chromatischen  Töne.  Versetzen  yon  Schlftssehi.  Drei- 
und  viertheflige  Tacte. 

Eine  Prflfiing  in  Harmonielehre  erfolgt  nur  praktischer 
Tflchtigkeit 

Im  (11.)  Zeichnen 
wird  nicht  bei  dem  Hanptexamen  geprüft,  sondern  besonders  dorch 
das  Art  Department 

12.  Sprachen. 

Eine  Prüfung  findet  statt  in  Latein,  Griechisch,  Franzitoisch  und 
Deutsch.  Für  Seminaristinnen  ist  meistens  Griechisch  ausgei?chlossen. 
Den  Seminaristen  ist  die  PrOfung  in  höchstens  zwei  fremden  Sprachen, 
den  Seminanstinnen  in  einer  gestattet. 

I.  Jahr.  Beantwoi*tnng  grammatisclier  Fragen  nnd  Übersetzen 
leichter  Prosastellen  ins  Englische  und  umgekehrt. 

II.  Jahr.  Übersetzung  schwierigerer  Stellen  aus  Poesie  und 
Prosa.   Construction  einzelner  Sätze.   Stoffe  für  1889:  Caesar:  De 


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—  888  — 


bello  GallicOf  lib.  Vergfl:  Aeneis,  üb.  Xenophon:  Qsrropaedie  5, 
Homer:  Blas  6,  Souvestre:  Un  phüosophe  soas  les  toits,  Racine: 
Iphigenie,  Grimm:  Kinder-  und  Hanamärchen,  Schiller:  Wallenstein  I; 
ftlr  1890:  George  Sand:  T.a  Marc  au  Diable,  Moli^re:  Le  Misan- 
thrope,  Goethe:  GQts  tob  Berlichingen,  Schiller:  Jnngfraii  von  Orleans. 

13.  Wissenschaft.  (Science.) 
Bezüglich  der  Lehrfächer  s.  S.  378. 

Wue  Prüfung  in  bestimmten  Fächern  wird  jährlich  im  Seminar 
gehalten  kurz  vor  der  HauptprüfunjE^.  Mehr  als  zwei  Gej^enstände 
zu  wählen,  ist  den  Seminaristen  nicht  erlaubt;  die  Seminaristinnen 
dürfen  nicht  mehr  als  ein  Fach  nehmen.  Bei  der  Prüfung  hierin 
gibt  es  drei  Grade  von  Zeugnissen. 

Der  Stoff  in  „Mathematik"  ist  für  die 

T.  Stufe:  Geometrie: 

Alle  Lelu-sälze  der  ebenen  Geometrie,  Euklid,  lib.  5—6,  Pio- 
portionslehre. 

Algebra:  bis  zu  lig:urirten  Zahlen  und  Kettenbrüclien.  Logarithmen. 

Trigonometrie:  bis  zur  Ausmessung  von  Dreiecken,  Flächen,  Höhen 
und  Entfeniungen. 

Stereometrie:  die  ersten  Lehrsätze.  Inhalt  der  Obertiilche  des 
Cylinders,  Kegels  und  der  Kugel, 

IL  State:  Ditt'erential-  und  Integralrechnung.  Das  Pensum  beider 
Stufen  kann  in  einem  Jahre  genommen  werden.  Erhält  ein  Student 
fiir  beide  Stufen  ein  Zeugnis  Nr.  1,  so  bekommt  er  ein  sogenanntes 
„Ehrenzeugnis''  (Honours  certificate). 

Für  (14.)  Turnen 
Ist  kein  besonteer  Lehiplan  angegeben. 

SeniiBaristinaen  haben  nodi  Unterricht  im  N&hen  und  Zoschneiden, 
soide  im  Kochen. 

15.  Handarbeitsnnterricht 

L  Jahr.  Reparatnr  irgend  eines  üntenengs.  AnMchnen  von 
Mastern  fttr  ein  Fraoenhemd,  ein  Kinderhemd,  Unterbeinkleid  für  ein 
f&nQfthriges  Kind.  Zuschneiden  und  Anfertigung  genannter  Kleidnngs- 
stficke.  Theoriei 

n.  Jahr.  Schwierigere  Handarbeiten.  Das  Schünräi,  EinsKamen, 
Kreossticb,  Ausbessem,  Stopfen  yon  Strflmpfen.  Zeichnen  von  Mastern 
für  ein  Fraoennaclitieog,  Knabenhemd,  eine  Kinderschfirze. 

Zuschneiden  und  Anfertigen  genannter  Kleidungsstücke.  Theorie. 

III 

Besteht  ein  Candidat  die  Prttfting  für  das  erste  Jahr,  so  erhält  er 


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—   384  — 


ein  Zeugnis  di'itten  Grades,  welclKs  Ilm  znr  Übernahme  einer  Schulstelie 
berechtigt,  aber  nicht  zur  Ausbildung  von  pupil-teachei*s.  Ein  Student, 
der  nach  zweijährigem  Besuch  einer  Anstalt  die  Priifung  macht,  erhält 
ein  Zeugnis  zweiten  Grades.  Eine  zweite  Prüfung  der  Lelirer  wie  in 
Preußen  besteht  in  England  nicht;  jedoch  wird  auch  hier  sehr  auf 
praktische  Bewährung  der  Lehrer  gesehen.  Diese  bekommen  nämlich 
ein  endgiltiges  Zeugnis  nicht  sofort,  sondern  sie  müssen  wenigstens 
zwei  Jahre  amtlich  thätig  gewesen  sein  und  zwei  günstige  Berichte 
über  ihre  Lehrthätigkeit  von  einem  Inspector  aufzuweisen  haben,  bevor 
sie  dies  erlangen.  (Man  sagt  dann:  He  obtained  his  parchment.)  Nach 
der  Revision  sclireibt  der  Inspector  in  Zeugnisse  zweiten  und  dritten 
Grades  einen  kurzen  Bericht.  Wer  sein  Zeugnis  dritten  Grades  erliöhen 
will,  muss  sich  der  Prüfung  unterzielien,  welclie  students  des  zweiten  Jahr- 
gangs zu  bestellen  haben.  Diese  Prüfung  darf  aber  nur  einmal  in  je  zwei 
Jahren  vei-sucht  werden.  Zeugnisse  zweiten  Grades  können  nur  durch 
gute  Amtsführung  in  solche  des  ersten  Grades  umgewandelt  werden. 
Nach  jeden»  zehnten  i'ievisi<insl)ericht  kann  liier  eine  Änderung  vor- 
genommen werden.  Certificated  ttaLlRi^  mit  Zeugnissen  ersten  Grades 
haben  also  mindestens  zehn  Jahie  Dienstzeit  hinter  sich.  Bei  der 
Revision  wird  vom  Inspector  in  solche  Zeugnisse  niclits  mehr  ein- 
geti  agen;  die  betreffenden  Lehrer  können  aber  «inB  Atedirift  Y<»k  der 
Schnicommlnion  wUngen,  sowie  der  Betkht  in  das  dMsenbneh  ein- 
getragen ist.  Ein  Zeugnis  kann  auch  widermfen  oder  hemntergesetzt 
werden,  aber  nicht  eher,  als  bis  die  Bogierong  dem  Lehrer  Gelegen- 
heit zur  Bechtfertigong  gegenflbo'  den  geltend  gemachten  Beschwerden 
gegeben  hat 

Wie  die  englischen  Schnlzeitnngen  und  Jahresberichte  der  Seminare 
ergeben,  ist  es  in  den  lotsten  Jahren  auch  nicht  immer  möglndi  ge- 
wesen, den  abgegangenen  Seminaristen  sogleich  LehrersteUen  zu  ver- 
schaflfen.  Nach  dem  Beport  des  fiorongh  Boad  Training  Collie,  ^ndon,. 
erhielten  die  anf  der  Anstalt  voigelnldeteQi  nen  angestellten  Lehrer  ein 
Jahresgehalt  von  60—110  Ff.  SterL,  also  dnrchschnittUch  85  Pf.  SterL  In 
gut  dotirte,  leitende  Stellongen  an  gelaageo,  ist  anch  den  englischen  Ele- 
mentarlehrem  erreichbar,  wenngleich  solche  in  den  meisten  FftUen  doch 
wol  nor  an  akademisch  gebildete  Lehrer  vergeben  werden. 

Wie  ans  dem  Obigen  ersichtlich  ist,  ergibt  sich  beattglich  des 
Bildungsganges  der  englischen  Lehrer  eine  große  Abweichung  von  dem 
ihrer  preußischen  Amtsgenossen.  Zunächst  ist  zu  bemerken,  dass  der 
Engländer  im  Gregensatz  zu  letzteren  seine  Bildung  durch  Privat- 
anstalten sich  aneignet,  wenngleich  die  Prüfungen  auch  von  staatlichen 


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—   385  — 


Inspectoren  abprehaltcn  werden.  Die  directe  Vorbereitung  auf  den 
Lehrberuf  beginnt  in  England  früher  als  in  Preußen,  da  mit  18  resp. 
14  .Taliren  der  zukünftige  Schulmeister  als  pnpil-teacher  seine  Laufbahn 
beginnt.  Hier  sind  die  Präparanden  gewöhnlich  15  Jahre  alt,  wenn 
>ie  in  eine  staatliehe  oder  private  Präparanden- Anstalt  eintreten,  der 
^i<'  dann  zwei  Jahre  angehören  müssen,  bevor  sie  in  ein  staatliches 
Seminar  aufgenommen  werden  können.  Nur  die  Lehrerinneu  erhalten 
auch  in  Preußen  meistens  ihre  Vorbildung  auf  privatem  Wege.  In 
Kngland  wird  von  vornherein,  also  schon  bei  den  pupil-teachers,  auf 
l»raktische  Ausbildung  gesehen,  während  hier  erst  im  zweiten  Seminar- 
jahr der  Seminarist  sich  unterrichtlich  versucht.  Man  muss  also  im 
großen  und  ganzen  den  englischen  Lehreni  bei  ihrem  Eintritt  ins  T^ehr- 
amt  eine  größere  praktische  Ausbildung  zuerkennen  als  den  preußischen. 
In  England  wird  auch  ein  einjähriger  Tk'such  des  Seminars  (unter 
l'mständen,  wie  bei  uns,  gar  keiner)  für  ausreichend  angesehen,  um 
nach  erfolgreicher  Prüfung  eine  Lehrerstelle  annehmen  zu  können. 
Was  nun  den  in  den  Seminaren  durchzuarbeitenden  Lehrstoff  anbetrifft, 
so  ist  den  englischen  Seminaristen  eine  viel  grOfiere  Möglichkeit  gegeben 
als  den  preußischen,  sieh  mehr  Wissen  in  einseinen  Gegenstfinden 
anzueignen,  —  ich  verweise  nnr  anf  das  Pensum  in  Mathematik, 
Wirtschaflslehre,  den  fremden  Sprachen.  Aber  da  nur  von  Seminaristen 
des  zweiten  Jahres  (in  England)  eine  obligatorische  Prflftang  in  (Religion), 
Schnlknnde,  Engliseh  und  zwei  andere  Gegenstfinden  verlangt  wird, 
mnss  man  unseren  Seminar- Abiturienten  doch  wol  eine  grOBere  all- 
gemeine Bildung  zugestehen.  Die  Engländer  haben  noch  manche 
Schäden,  an  denen  ihr  Yolkssehulwesen  krankt  (auf  die  ich  hier  nicht 
nfther  eingehen  kann),  zu  beseitigen.  Dennoch  ist  ihnen  nicht  die 
Anerkennung  zu  versagen,  dass  sie  schon  viel  Gutes  auf  diesem  Gebiete 
in  den  letzten  Jahrzehnten  geschaffen  haben,  wozu  wol  nicht  zum 
geringsten  Theüe  ihre  Filrsorge  flir  eine  erhöhte  Bildung  des  Lehrer- 
standes beigetragen  hat 


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Pädagaipsche  KRudsehaa. 


Znm  FortbüdniigsschalweBeii  in  DeatoeUand.  Badw  hat  im  nenea 
Jahre  einen  schweren  Verlost  in  Hinsicht  des  Fortbildongsschnlwesens  zn  ver- 
zeichnen. Kreisschulrath  Schindler  in  Baden-Baden,  der  lanjyahrige  Förderer 
desselben  in  Baden,  der  Gründer  und  bisherige  Leiter  der  „Badischen  Fort- 
bilduDgsschale,'*  welche  nach  dem  Muster  des  «Schweizerischen  Fortbildauga- 
•ehfllen"  etngeriehtet  war,  ist  am  6.  Jinner  1890  nadi  Imrsem  Leiden 
gestorben. 

Der  bisherige  Redacteur  der  trefflich  geleiteten  Fachzeitschrift  „Fort- 
bildnngssclmlp.''  Herr  Sclmldirector  Oscar  I^aclu»  in  liCipzigr-Lindenau,  beab- 
sichtigt vum  1.  April  1890  ab  in  muuatlichen  Zeiträumen  mit  dem  Verlags- 
baefahlndler  Herrn  H.  Herros^  in  Wittenberg  „Dentsehe  Fortbildnngs- 
blfttter"  heraaszugeben.  Diese  ZeitsohrMt  ist  in  erster  Linie  für  die  Hand 
der  (lontsflit'ii  Forfliildmigsschüler  bestimmt  und  es  soll  dieselbe  den  Unterricht 
in  der  Fortbildungsschule  ergänzen  und  anderseits  die  Ausbildung  dfs  Geistes 
nndGemüthes  der  jungen  I^eute  selbstständig  fördern,  indem  sie  namentlich  die 
nationale  Gesianang  pflegt  und  den  sittlichen  Emst  achftrft 

Ans  leitenden  Kreison  in  Sachen  der  dentsdien  Fortbildongsschnle  ist 
auch  bereits  die  Anregung  zar  Gründung  eines  eigenen  Verbandes  der  Lehrer 
and  Förderer  der  deutschen  Fortbildungsschule  ergangen. 

Am  \'I11.  deutscheu  Lelirertage  zu  Berlin,  Pfingsten  1890,  soll  aach  das 
Tliema  Uber  „Fortbildnngs-  andHanshaltnngsschnlen  für  M&dchen"  snr  Sprache 
koBunen,  Als  ReÜBNnt  wird  Herr  Dr. Otto  Kamp,  stUMseherLelinr  hiFraok« 
fhrt  a.  M.,  sprechen.  Die  Thesen  dieses  hervorragenden  Fachmannes  anf  dem 
Gebiete  der  Mädchenerziehung  seien  hier,  wie  auch  die  des  bekannten  Herrn 
Korreferenten  A.  £rnst,  Rector  der  höheren  Mädchenschule  in  Schneidemähl, 
nütgetheilt: 

Thesen  des  Referenten. 

1.  Eine  Aber  die  Volksschulzeit  hinausgehende  schulgemlfle  ünterweiimig 

ist  für  Mädchen  ebenso  n"»thig  uud  nützlich  wie  für  Knaben. 

2.  Dieselbe  ninss  für  lohnarbeitende  ^fädchen  in  Unten-ichtsvorkehrungen 
erfolgen,  deren  Besuch,  die  Tagesaibeit  und  den  Broterwerb  nicht  ,  beein- 
trSchtigt. 

3.  In  solchen  Mlldchenfortbildnngsschalen  kann  die  Unterwdsnng  eine 

<]i-eifache  sein:  a)  Fortbildung  in  gewissen  Volksschnlfächem ;  b)  gewerbliclies 
Anlernen  und  Unterrichten;  cj  hauswirtschaftliohe  Unterweisung. 

4.  Die  in  neuerer  Zeit  mit  Nachdruck  geforderte  und  eiuzelorts  schon 
«rfolgreieh  erteilte  hanswirtscbaftliche  Unterweisung  steht  den  erstgenannten 
Unterweisungen  an  Nothwendigkeit  nnd  Nntsen  nm  so  weniger  nach,  als  sie 


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—  387  — 


vor  allein  den  kfinftigen  dauernden  Leben5;beruf|  ihrer  Sch&lerinnen  ms  Auge  fasst 
nnd  deren  zorZeit  dnrch Broterwerb  beschränkte  lüUislicheThätig'keit  anfden  kom- 
menden £igenban8balt  als  das  Ziel  und  die  Xrune  weiblichen  Wirkens  hinweist. 

5.  Sie  erfolgt  swMhHlBig  in  Abend-,  bezw.  in  Stnnden-Hansbaltangs- 
tebideii,  den  bamwirtsdnitliolMn  FortUldmigMehiltn,  deren  Besneh  im  Verlauf 
der  Entwickelung:  nnd  nach  Maßgabe  ihrer  Bewährung  auch  swnngimftSig 
crestaltet  werden  kann.  Dieselben  sollen  keine  Mllgde-Bildungsanstalten  sein, 
sondern  die  in  Fabriksarbeit,  in  der  Kleinindustrie  und  Geschäften  und  im 
•Dienst  bei  wolhabenden  Leuten  befindlichen  Mädchen  mit  den  Anforderungen 
and  Venichtongen  dee  kleinbürgerUehen  AibeiterhaulMltee  dnrch  pnktlMhe 
Unter  Weisung  vertrant  machen. 

6.  Letztere  Unterweisung  als  Unterrichtsgeg^nstand  mit  eigener  Stunden- 
zalil  schon  in  der  Volksschule  praktisch  zu  betreiben,  erscheint  —  weil  ander» 
Fächer  schmälernd  und  die  Allgemeinbildung  gefäiirdend  —  nicht  rathsaui. 
Die  anBerhalb  derVoIkachnle  itehenden  sogenaontenNebemefanleB  kSnnen  mit 
flberwachender  Fürsorge  (USdchenhorte)  aadi  haanvirliehaftlldie  Beeohftftignng 
Terbinden  oder  diese  allein  bezwecken  (Flick-  und  Nähschulen,  Klllder-Kochcnrse  ). 

7.  Dagegren  kann  die  Volksschule  in  ihren,  einer  hanswirtschaftHchen 
Belehrung  ungezwungen  zugänglichen  Fächern  die  Haushaltnngskonde  in  dem 
XaBe  berficksichtigen,  welches  den  Kern  and  Schatz  der  denteehen  VolkBschnle, 
ihre  Allgemeinl^dnng  mgeechftdigt  Uait 

8.  Neben  und  anfler  der  hanswirtschaftlichen  Fortbfldnngsschule  stehende 
ünterrichtsvorkehrungen:  Ganztag -Haushaltnngsschulen,  Fahiikheinie  und 
Mftdchenherbergen  sind,  wo  Orts-  nnd  Erwerbsverhältnisse  ihre  £rrichtang 
empfehlen,  als  gleichwertig  gute  Hauähaltungsschuleu  zu  erachten. 

9.  Die  EMrtening,  VMarnag  ud  Pflege  aller  den  FortUldonga-  nnd 
Haushaltnngsschulen  geltenden  Beetrebangeii  ist  Pflielit  und  Ehrensaehe  aneh 
der  deutschen  Lehrerschaft. 

Die  Thesen  des  Correferenten  stimmen  in  1 — 4  mit  obigen  äberein.  Die 
folgenden  lauten: 

5.  Sie  «rfoigt  iweekmIAig  in  Abend*,  besw.  8tiinden*Haiiihaltugiiolinlen, 
die  fttr  alle  Sohfllerinnen  vom  14.  bis  17.  Jahre  obllgatoclaidi  sind.  Der  Unter- 
richt findet  an  zwei  Wochenabenden  nnd  am  Sonntag  Naehmlttag  in  je  zwei 
Stunden  st^tt  nnd  umfasst  außer  der  Fortbildung  im  Dentschen  die  praktisclie 
Unterweisung  in  allen  Zweigen  des  Icleinbtii^perlichen  Haushaltes. 

6.  Da  ungefähr  vier  Fünftel  aller  Schfilerinnen  Hausfrauen  werden,  so 
hat  die  Volkss4dmle  In  ihran  Untenriohte  die  Ffliolit,  die  Hanahaltnngtknnde 
soweit  zu  berficksiditigen,  als  dadurch  das  eigenüiebe  Ziel  der  Schale  —  die 
Allgemeinbildung  —  nicht  peschädig^t  wird. 

7.  Der  Kasseler  \'ersucli,  die  Haushaltuugsknnde  im  letzten  Schuljahre 
an  wöchentlich  einem  Vormittage  unter  Wegfall  von  zwei  Haudarbeits-  und 
zwei  Zeiöhenstmiden  praktiseh  zn  lehren,  wird  namentUdi  grSBeren  Städten 
zur  Nachahmung  empfohlen.  Ergeben  wiederholte  Versuche  dasselbe  günstige 
Resultat  wie  in  Kassel,  dass  die  Allgemeinbildung  durch  den  neuen  Unter 
richtszweig  nicht  nur  nicht  pescliädigt,  sondern  befördert  wird,  dann  ist  die 
organische  Eingliederung  der  praktischen  Haushaltungskunde  im  letzten  Schal- 
jahn in  den  Lebrplan  der  ICftdehen-Volkssdiale  anznstieben. 

8.  Wie  oben. 


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—  3«8  — 


9.  Vcn  UnteiTichtsverwaltungen  des  Deutschen  Reiches  wird  empfohlen, 
die  Haushaituugskunde  möglichst  bald  iu  den  Lehrplan  der  Lehrerinnen 
Seminare  aofiEonehmen. 

10.  Die  BrOrtemng',  FSrdenuig  und  Pflege  aller  den  FertbUdmigf»  und 
Hanshaltungsschulen  geltenden  Bestrebungen  ist  Pflicht  und  Ehrensadie  der 
deutschen  Lehrer,  die  als  ..Volkspftdagogen'*  bemfen  alndy  weeeDtUch  sur 
Lösung  der  socialen  Fi*age  beizutragen. 


Berlin.  Der  den  AbgeordnelenlianBe  vorgelegte  neoe  Etat  für  das 
VolkaielnilweBen  trftgt  ein  Geeicht,  welches  den  dringenden  Nothstitaiden  in  der 

nnterrichtlichen  Vemrg^ing-  der  sdmlpflichtigen  Jugend  und  den  traurigen 
öehaltaverhältnissen  der  Lehrki'äfte  nicht  im  mindesten  entspricht. 

Es  ist  gegen  das  \  orjahr  ein  Plus  von  331 000  Mark  eingestellt.  Davon 
entfldlen  auf  daa  LebrerUldnngsweMa  122310,  anf  die  geistliche  Schidaaf- 
deiit,  die  verstSrkt  worden  ist,  188500  Mark  und  100000  Marie  mehr  ei^ 
fordert  die  angewachsene  Zahl  der  Emeriten,  so  dass  sich  für  die  eigentlichen 
Volksschnlzwecke  ein  Rückgang  von  14()0()  Mark  ergibt.  Weleh  ein 
Zeichen  der  Zeit!  Dies  geschieht  unter  einem  Cultusminister,  der  erkliüt  hat, 
dasfi  das  Volksschulwesen  ihm  von  allen  am  meisten  ans  Herz  gewachsen  sei. 
Anf  wdche  Weise  der  Etat  herantergedrOckt  wird,  ersieht  man  daraus,  dass 
die  im  vorigen  Jahre  bewilligten  Altersznlagen  keine  Mittel  beanspruchten, 
trotzdeni  ^ine  größere  Anzahl  Landlehrer  s«il<lie  erhielten.  Woher  ist  das 
Geld  gekommen?  Einfach,  in  der  That  höchst  » infach:  man  hat  die  Zuschüsse 
städtischen  Stelleu  entzogen!  Dabei  bedenke  man,  da^s  nur  wenig  über 
10  Procent  aller  Lehrersteiloi  in  Preai{«i  1600  Mark  nad  darüber  ein- 
Iningen;  and  wieviel  entfallen  davon  auf  Kectoren  etc.,  die  doch  hier  nicht  in 
Betracht  gezogen  werden  können!  Zuviel  hat  wol  keiner,  aber  es  wird  das 
wenige  genommen,  was  einige  mehr  haben,  als  die  dringendste  Nothdui-ft  er- 
fordert. 

Weiter  ist  im  Etat  für  die  Witwenversorgnng  kein  UUierer  Betrag  ein- 
gesetzt,  obwel  die  Lelirer  keine  Belktembdtrige  mdv  lahlen.  Widier  kommt 
aber  das  Geld,  welches  doch  da  sein  moss?  Wieder  einfacli,  noch  einfacher! 
Die  von  dem  armseligen  Gehalt  der  Lehrer  bisher  gezahlten  Beiträge  haben 
sich  zu  solchen  Fonds  angesammelt,  dass  der  Staat  nocli  nicht  in  den  Säckel 
zu  greifen  braucht,  noch  kann  vom  vorhandenen  Fette  gezehrt  werden! 
Wie  biUig! 

Per  Etat  berichtet  ferner:  Für  die  Errichtung  nener  Schulstellen  sind 
;i6<M)o  Mark  wcniprei-  erforderlich.  Aber,  wird  jeder  sagen,  der  die  Verhält- 
niKse  kennt,  die  amtliche  Statistik  und  die  allgemeine  Meinung  erweist  doch, 
ddan  über  50  Procent  aller  scholpliichtigen  Kinder  iu  üherlüllteu,  oft  in  er- 
schreckend flberflUlten  dessen  sitzen,  und  dass  12  000  Stellen  nidit  besetst  sind; 
wo  kann  da  eine  Verminderung  der  Schulstellen  platsgreifen?  Warum  thnt 
man  nichts,  um  der  um  sich  greifenden  ('berfüllunsr  zu  steuern? 

Die  Antwort  wird  wahrscheinlicii  die  sein,  es  fehlt  an  Lehrkräften! 
Aller  Präparandenfang  luid  alle  Präparaudenzucht,  alle  Prämien  und  Stipen- 
dien, alle  AbkOrznng  der  Sendnarciirse  und  alles  HenintenelMa  der  Ansprtlehe 
in  I^hrerprttfangen  ntttst  an  nidits.  Die  Zahl  der  Seminaristen  sinkt  nnd  die 
der  Schnlkinder  steigt^    Wieder  sehr  einfiieh,  hOcfast  einfhcb,  denn  ein  Tage- 


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—   389  — 


lüluier  verdient  im  Dui-chscliuitt  über  75()  Mark  jährlich,  aber  lOiHjO  preußi- 
sche Volksschallebrer  haben  weniger  oder  höchstens  ebenso  viel  Eiukommeu. 

Der  Etat  webt  nidita  uf ,  was  die  Hoffimogen  der  Lehrer  auf  eine  Be- 
aiüUgvag  dringender  NotlietSnde  rechtfertigen  könnte.  Der  Beeehlnis  des  Ab- 
geordnetenhauses vom  20.  WArz  v.  J.  betreffend  die  Witvvenvei-sorgang  ilt 
ohne  Eindruck  vorübergegangon,  der  Etat  zeigt  wenigstens  davon  nicht«. 

Unheilvoll  für  das  Schulwesen  sind  auch  die  schwankenden  Staatsznschüsse 
sa  den  LehrenteUen.  In  der  Regel  hat  eine  GehattaanfbeMenmg  der  Ge- 
meinde den  Rftokxng  des  StaattnuKhueeB  nr  Folge,  so  dan  der  Lehrer  nicht 
gebessert  und  die  Gemeinde  geschädigt  ist,  der  Staat  aber  den  Vortheil  zieht» 
Dies  hat  zur  Folge,  das.^  die  Gemeinden  alles  unterlassen,  was  einer  Besser- 
Stellung  gleichkommt;  nur  um  den  ätaatszoschnss  nicht  zu  verlieren.  Eine 
derartige  Ordnung,  die  den  staatlichen  SchnlbehSrden  eine  dictatorische  Gewalt 
in  die  Hand  gibt»  kann  nnr  anf  dem  Wege  derGeeetagebong  beseitigt  werden, 
und  die  gegenwärtige  Session  geht  hoffentlich  nicht  vorttber,  4riine  dass  in  der 
Richtung  auf  ein  T^nterrichtsgesetz  hin  Schritte  erfolgen. 

Der  Etat  Preiißtiis  für  1890  91  weist  einen  Überscliuss  von  80  MiUionen 
Mark  auf;  wenn  uuu  jetzt  nichts  übrig  ist,  wo  soll  etwas  herkommen,  wenn 
die  chroniMihen  Deficite  wieder  kommen? 


Aus  dem  Großherzogthum  Baden.  Bezüglich  der  nenen  Gehalts- 
aufbesserung in  Mannheim  (siehe  voripre  Nummer)  erhalten  wir  von  dort  die 
folgenden  Erläuterungen:  Mannheim  scheut  keine  Opfer  zur  Hebung  seine» 
Vbikssdivlwesens.  Es  gibt  Jlhrlich  eine  bedentende  Samme  ans,  nm  eine  „er- 
weiterte Volkssehnle"  n  nnterluJten,  die  eine  ▼ermehrte  ünteniehtneit  nnd 
einen  umfassenderen  Lehrplan  verlangt  und  demgemäß  mehr  Lehrer  und  Lehr- 
säle. Die  Durchschnitts-Schülerzahl  einer  Classe  beträgt  50.  (Sie  entspricht 
im  ganzen  nnd  großen  der  preußischen  Mittelschule  mit  facultativem  franzö- 
sischen Sprachunterricht.)  Jedes  Kind,  auch  das  des  ärmsten  Mannes,  muss 
diese  Sehnle  besnehen,  wenn  es  nicht  eine  Privat-  oder  Hittelschnle  freqnentirt. 
Das  Schulgeld  beträgt  für  ein  Kind  jährlich  nur  4  Mark;  besuchen  mehrere 
Kinder  diese  Schule,  so  tritt  Eniiiißi£?ang,  bei  Unbemittelten  gänzlicher  Erlass 
ein.  Mannheimer  Abgeordnet»-  beantragten  in  dem  voriilhrig-fn  Landtage  die 
gänzliche  Beseitigung  des  Schulgeldes  au  VoHisschuleu,  vMudeu  aber  über- 
stimmt; Mannheim  mnss  sonaoh,  den  geaetaUchen  Bestimmungen  des  Landea 
entsprechend,  Schulgeld  erheben.  —  Wenn  auch  die  jetzigen  Lehrergehalte 
nicht  gestatten,  Extravaganzen  zu  machen  —  die  ja  auch  völlig  überflüssig 
sind  — so  reichen  sie  doch  bei  bescheidenen  Ansprüchen  ans  Leben  vorerst 
aus,  zumal  vielen  Lehrern,  abgesehen  von  Privatunterricht,  durch  Ertheilong 
von  Überstunden  oder  dnrdi  UntendchtserthaUnng  in  der  Fortbildnngsschale» 
dnrch  Ertbeilnng  von  Tum-  oder  framüSiBehmn  Unterrldit  noch  ein  Neben- 
einkommen erwächst.  (FUr  die  Ertheiinng  einer  solchen  Stnnde  wird  60  Mark 
pro  Jahr  bezahlt.)  —  Die  wöchentlichen  Unterrichtsstunden  betragen  in  den 
oberen  Classen  24,  bezw.  26,  in  den  unteren  28  (das  Schulgesetz  hingegen 
hat  32  festgesetzt).  Der  Gesammtaufvvand  der  Stadt  ffir  ihre  erweiterte 
Volkssehile  betrug  in  der  letalen  Bndgelperiode  766200  Hark,  wovon 
358  800  Mark  auf  Lehrergehalte  kommen.  Dnrch  die  Neuregelung  der  Lehrer- 
gehalte erwächst  der  Stadt  eine  Mehrausgabe  pro  Jahr  v<«  vorerst  25  000  Mark. 

PadagogiuB.  lt.  Jihtg.  H«ft  VI.  2Ö 


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—  S90  — 


—  Die  Lehrer  haben  außer  den  nicht  übennäBig:  hohen  Steuern  /Staats-  und 
Gemeindesteuer,  Kirchensteuer  kennt  man  bis  jetzt  glücklicherweise  in  Baden 
noch  nicht)  jährlich  36  Mark  Beitrag  zur  staatlichen  Lehrer-Witwen-  and 
Waiaeneaase  ond  2  Hark  Ar  d«ii  Lesesirkel  an  laUen,  nngareehnet  die  Ana- 
gaben  f&r  Privat-Unterstützangsyereine ,  wie  beispielsweise  monatlich  2  Mark 
für  den  „Pensions-Hilfsverein,"  wozu  die  Stadt  jährlich  2000  Mark  freiwil- 
Ilgen  Beitrag  leistet,  den  städtischen  Pestalozziverein  et«.  —  Die  Preise  der 
Lebensmittel  sind  denen  aller  größeren  StUdte  gleich  (OchsenfleiscU  erster  Sorte 
'70—75  Pf,  n.  Qnalitilt  60—65  Pf),  die  Oemfiee  Jedodi  veriiSltiiJamafil« 
billig;  das  Brennmaterial  besteht  fast  aosschUeBUeh  ans  Steinkohlen,  welche 
vor  dem  Strike  60 — 65,  jetzt  90  Pf.  pro  Centner  kosten.  Die  Wolmungs- 
miete  (4 — 5  Zimmer)  betrügt  550 — 600  Mark.  Wir  führen  das  ^'o^ste^lende 
zur  Vervollständigung  unseres  Berichtes  an,  damit  man  auswärts  sich  ein  klares 
BOd  voo  der  La^  dM  Mmretaiidet  In  Uanalielai  naeheii  kann.  Schlledlldi 
bemerken  wir  noch,  da«  eine  definitiv  angeatellte  Lehrerin  ein  Anftuigsgelialt 
von  1800  Mark  bezieht;  von  10  zu  10  Jahren  erhöht  sich  das  Gehalt  jetzt 
um  100  Mark,  so  dass  nacli  :?wanzigjäliriger  Dienstzeit  eine  Lehrerin  2000  Mark 
erhält.  Bisher  betrug  das  Anfangs-  und  Höchstgehalt  1770  Mark.  Die  provi- 
iorisohen  Lehrer  (Unterlehrer)  and  Lehrerinnen  erhalten  1200  Mark  ond 
steigen  Ua  16C0  Hark. 


Aus  der  Schweiz.  Am  Himmel  d^r  pädag-ogischen  Littnatur  stieg  in 
der  Berichtsperiode  ein  längst  erwartetes  (jestirn  auf,  dessen  Glanz  die 
Aufmerksamkeit  auch  weiterer  Kreise  auf  sich  lenkte:  H.  Morf's  „Zur 
Biographie  Pestaloszi'a*,  vierter  Theil.  Der  Icnndlge,  nnennfidliche  Pesta- 
lozziforscher bietet  ans  darin  höchst  intereEsantes  Material  ans  der  Blütezeit 
des  Instituts  zu  Yverdon,  sowie  aus  Pestaluzzi's  letzten  Lebenstagen  und  bewt-ist 
durch  dieses  trefOiche  Werk  au£B  ueaej  dass  er  auf  diesem  Gebiete  der  erste 
Meister  ist. 

Die  Bndehangsdireetion  des  Canums  Bern  realisirte  ein  schAnee,  anch 
andernorts  empfehlenswertes  Project:   Sie  setzte  eine  Lehrerbibliothek- 

Comni  iss  Ion  ein  zur  Erstellung  und  successiven  Weiterföhrung  eines  Katalogs 
dnrcliaus  empfehlenswerter  Werke  für  private  und  corporative  Lehrer- 
bibliütheken ,  sowie  zu  Recensionszwecken  und  erließ  deshalb  einen  Aufruf  au 
die  Lehrerschaft  zur  Angabe  besonders  sch&tsenswerter  Sohriften.  Diese 
Oonunission  zerftUt  in  drei  Sectionen,  Ton  denen  die  erste  sieh  mit  Plda^ogüt, 
Hetliodik,  Kunst  und  Fertigkeiten,  die  zweite  mit  Deutsch,  Geschichte  und 
Religion  und  die  dritte  mit  Naturkunde,  Geographie  und  Mathematik  befasst. 

Die  Tagespresse  beschäftigte  sich  in  den  letzten  Monaten  nicht  nur  mit  der 
brotlosen  „Kunst"  der  Politik,  sondern  oft  auch  mit  praktischen  Fragen  zur 
Hebong  des  Volks-  nnd  hSheren  Sohnlwesens.  Obenauf  sebwanunen  s.  B. 
(bigende:  die  schweizerische  Hochschulfrage,  der  milltArische  Vorunterricht,  die 
Recmtenprftfiingen ,  über  Handfertigkeitsunterricht,  Srhnl^esundheitspflege,  die 
HchulbSlder  u.a.  Dass  der Schulhy2:iene  immer  mehr  Bedeutuii^'^  lür  die  gegen- 
wärtige und  zukünftige  Generation  zugeschrieben  wird,  ist  gewiss  erfreulich, 
besonders  dann,  wenn  de,  wie  in  Basel,  Zflrich  ete.,  andi  praktische  Beobach- 
tung findet,  z.B.  in  der  Erriehtung  ton  ScbolUlden.  Der  Regier nngsrath  in  Baael 
beabsiehtigt  nftmllch,  Torlinflg  in  einem  Schnlhavse  DonchebSder  einzurichten. 


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391  — 

Man  geht  dabei  von  der  Überzen^uner  ans,  dass  alle  Bemühungen,  den 
Schülnlumen  durch  gute  Heizung  und  Lüftung-  stets  frische  Luft  zu  geben, 
uicUt  viel  nützeu,  wenn  in  diese  Räume  hiuein  schmutzige  Kinder  mit  vielen 
Infeetloaskeimea  am  K9rper  und  an  d«a  Kl«ideni  konoMo.  Der  gllmtige 
Bericht,  den  Hr.  Penonn,  Direetor  der  Volksscbulen  in  Göttingen,  erstattete: 
^Die  Frische  und  Lebendigkeit  nach  dem  Baden,  die  Pflege  des  Sinns  fiir  Rein- 
lichkeit, die  Förderung  der  (iesundheit  unserer  Jngend  sind  so  wesentliche  und 
wichtige  Erfolge  der  Einrichtang,  dass  ich  nicht  unterlassen  kann,  den  städti« 
Mhnn  Gollflgien  den  Wameli  amiMiMPedien,  «noh  in  dnn  aaiereD  Volkneknton 
«imliehe  BadeautaltAn  evrifihtea  in  wollen"  —  fluid  bei  dmBehÜidennnd  der 
Lehrerschaft  sofort  Anklang  und  wir  sind  vollständig  ttbeneogt^  dasB  man  in 
anderen  Städten  dem  Beispiel  Basels  bald  folgen  und  da  und  dort  schon  beim 
Bau  von  Schnlhäusern  die  Errichtung  einer  Badeanstalt  —  oder  eines 
Winter^Volksbades  — •  ins  Auge  fassen  wird. 

Daas  indetMU  die  „SanititsAmatiker''  kel  dem  nllehternen  Sinn  der  fort- 
•ehrlttlich  gesinnten  Basler  kdnen  fruchtbaren  Boden  finden,  bewies  die  Oppo- 
sition der  Presse  gegenüber  einem  Vortrage  Prof.  Kollmanns  über  ,.den 
schädlichen  Eiutiuss  der  Schule".  Dieser  Grelehrte,  offenbar  zu  wenig  vertraut 
mit  den  wirklichen  Verhältnissen  seiner  nächsten  Umgebung,  erblickte  nämlich 
ftwt  einzig  und  allein  in  der  Bescbrinknng  der  Sltszeit,  reep.  der  Sehnl- 
standen  daa  radicale  Heilmittel  gegen  die  vielen  Sehnlkrankheiten.  Er  verstieg 
sich  zu  der  Behauptung,  dass  ja  durchschnittlich  je  das  dritte  Kind  der  Volks- 
schule systematisch  durch  die  Schule  krank  gemacht  ^verde;  die  Schul(\  sagte 
er,  mache  die  Kinder  zu  körperlichen  und  geistigen  Krüppeln ,  sei  schuld  an 
Bückgratsverkrünunungen,  an  der  Knrzsichtigkeit,  an  der  MefaJienchti  an  der 
Nervosität.  Herr  Kollmaan  hieb  bei  diesen  Übertreibnngen  so  sehr  in  die 
Steine,  dass  ihm  von  verschiedenen  Seiten  der  Presse  bald  darauf  Fnncken  ins 
Gesicht  flogen.  Mit  Recht  wurde  geltend  gemacht  (z.  B.  von  der  Nat.-Ztg.), 
dass  seit  20  Jahren  für  die  Gesundheitspflege  sehr  viel  gethan  worden  ist  und 
zwar  auf  Antrieb  medicinischer  Autoritäten,  indem  man  die  Schulhäuser  nach 
den  nenesten  Regeln  der  B^ygiene  erbante,  eine  rationellere  Schulbank  ein- 
Itthrte,  sich  um  die  Ernährung  und  Überwachung  körperlich  und  moralisch 
verwalirloster  Kinder  kümmerte  u.  s.  w.  Femer  stellte  es  sich  heraus,  dass 
der  Vortrae:ende  sein  statistisches  Material  ans  Moskau  und  aus  Preußen 
bezogen  hatte.  Dass  indessen  auch  seine  Forderung,  betreä'end  Keduction  der 
tBi^liehenünteRlditBMit  auf  drei  Standen  ins  Wasser  ftOlen  milsse,  bewies  man 
mit  der  erfreulidien  Tliataache,  dass  Basel  a.  B.  bei  der  letaten  Recruten- 
l^rftfting  weit  weniger  Dienstantangliche  hatte  als  Landcantone,  deren  Kinder 
z.  B.  im  Sommer  nur  während  12 — 15  Stunden  die  Schule  besuchen,  in  <\er 
langen  Frei-  und  Ferienzeit  sich  in  Feld  und  Wald  aufhalten,  dabei  aber  Ott 
weit  sclüechter  genährt  werden  und  so  gesundheitsschädlichen  Einflössen  m^r 
anggeeetet  sind  als  die  Stadtkinder.  . 

Und  in  der  That,  Basel  ist  audi  in  Benig  auf  (je8undheits|it!e<r>'  in  den 
vordersten  Reihen;  das  Misstrauen,  welches  der  Kollmannsche  \'ortrag  im 
Publicum  gegen  das  Urtheil  der  Ärzte  überhaupt,  sowie  der  Eltern  gegen  die 
hygienischen  ÜbeLstände  der  Schule  geweckt  hat,  wird  darum  bald  wieder 
▼ersehwlnden.  Bs  ist  schade,  dass  der  genannte  Uediciner  nicht  die  Geflthren 
der  hftutlidien  Bniehung,  die  ttbertriebene  Zahl  der  Privatstnuden  etc.  geh9rig 

28» 


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—   392  — 


gegeißelt  und  die  Mittel  und  Wege  gezeigt  hat,  wie  die  Hausaufgaben  ei-setzt 
und  eine  noclt  bessere  Ernährung  der  Kinder  außer  den  Kinderliorten  and  neben 
den  Suppeuaustalten,  also  ancb  im  EltenüiaiiM  «nielt  werden  kSnnte. 

In  nehveren  Cantonen  traten  abennile  Schwenkungen  ein  im  Erfolg  der 
Beeratenpriifnngem;  die  Tendeus  nun  Steigen  war  indessen  vorherrsctiendr 
an  manchen  Orten  sogar  allgemein,  so  im  bündnerischen  Lehren^erein ,  in- 
welchem  Mnsterlehrer  Keller-l'hnr  ein  reichhaltiges  Material  in  graphischer 
Darstellung  vurlührte,  uui  die  zweckmäßigsten  Natzanwendongen  daraus  zvt 
dehen.  Als  eolehe  Terdienen  hier  etwa  folgende  der  Erwlhaiuig:  Äiieh  i» 
diesem  Canton  ftihlt  man  je  Iftnger  je  mehr  das  Bedfirfnis  gehobener  Fatir 
bildungsschuleu  mit  erhöhter  Staatssubvention  und  zweckmäßigeren  Veran- 
schaulichungsmitteln.  Femer  wünscht  der  Lehrerverein,  der  Erziehungsrat  Ii  möge 
Gemeinden  mit  schwachsinnigen  Kindern  zur  Creirung  von  Nachhüfsclasseti 
eraHUileni  und  die  ttaentwÜMildigten  AhaeDsen  noeh  strenger  ahnden  ab  biaher* 
Man  ^erwandert  äeh  im  HinUlek  auf  die  enormen  Hindemisse,  welche  Gran- 
bflnden  aufweist,  selbst  über  die  immerhin  noch  befriedigenden  Resultate  der 
Recrntenpröfnngen,  und  in  der  That  hat  kein  einziger  Canton  solche  besondere 
Schwierigkeiten,  so  z.  B.  eine  so  große  sprachliche  \'er8chiedeuheit  (Romanisch, 
Italienisch  nnd  Deatsch,  zudem  noch  in  mehr  als  je  einem  Dialect)  wie  Grav- 
bllnden  mit  aeinen  hodigdegenen,  theUwelae  vom  Verluhr  ahgeaehnittenen 
Gegenden  und  seinen  Sommerschulen  mit  veiltfirzter  Unterrichtszeit. 

Man  bekUnipft  natürlich  die  Lehre  von  der  Unfehlbarkeit  des  Recruten- 
prüfiings-Ergebnisses ;  allein  das  steht  fest,  das«  dasselbe  zur  Selbsterkenntnis 
nnd  zum  energischen  Sti-eben  (der  Behörden,  Lehrer  und  Privaten)  nach  ratio- 
neueren  Fortaehritten  im  Sehnlweaen  führt 

I>6r  Handfertigkeitsunterricht  bricht  sich  ftkat  fiberall  Bahn.  Nachdem 
Opponenten  aus  Fachkreisen  und  Laien  die  schonen,  praktischen  Früchte  ge- 
zeitigt sehen  und  sie  wol  auch  selber  ptlücken,  sei  es  lehrend  und  lernend  in 
eigenen  Versachen,  sei  es  in  strebsamen  Söhnen,  welche  die  Standen  des  Haud- 
fertigkeitaiintenlehtea  beanehen,  Teraefawindon  die  Vomrtheile  gegen  dieaen 
nenen,  prakflaahen  Zweig  dea  ESnnena  wie  die  Nebel  vor  der  anfgehenden 
Sonne.  Da  und  dort  werden  zwar  noch  Vorträge  über  den  Wert  des  Arbeitena 
gehalten,  allein  die  Hauptthätigkeit  concentrirt  sich  nicht  mehr  auf  die  Pro- 
]iaganda,  da  diese  allmählich  im  glänzenden  Erfolg  aufgeht.  Die  am  häufigsten 
veutilirte  Frage  ist  dagegen  die:  Welche  Gebiete  des  Handfertig keitannter^ 
riflfatea  aollen  lonldiat  nnd  am  tiefirten  gepiflgt  werden,  damit  daa  ao  er^ 
wttnaehte  Gleichgewicht  in  der  körperlichen  and  geistigen  Aasbildnng  der 
Kinder  ermöglicht  und  der  praktische  Zweck  erreicht  werde,  ohne  dass  man 
die  moderne  Schule  übeilade  oder  sie  zur  Berufsschule  stempelt?  Ziemlich 
übereinstimmend  weist  mau  den  Papp-  und  Holzarbeiten,  dem  Modelliren  und 
Sohnitnn  die  eraten  Stellen  an  nnd  frent  alch  der  Erihhmngathataaehe,  das» 
die  sielbewusste,  tmai^^  Th&tigkeit  des  Knaben  in  der  Arbeitsschule  ihm  das 
Handwerk  nicht  nur  nicht  verleidet,  sondern  es  ihm  im  Gegentheil  lieb  und 
thener  macht,  wa.s  für  manclie-s  vornehme  Söhnchen  von  hohem  Werte  ist. 

Zu  einer  staatlich  contiolirteu  und  vom  Staate  regelmäßig  auch  üuauziell 
anteratUtzten  Erxiehang  der  Kinder  aitBer  der  Sehnle  hat  ea  anaerea  Wimen» 
erat  daa  energiaehe  nnd  reiehe  Baad  gebraeht»  daa  aehon  jahnehntelang  darcb 
private  Mittel  ao  manche  Terwahrloate  oder  der  VerwahrkMnmg  entgegengehende 


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Kinder  auf  bessere  Wege  ftthrte.  Schon  im  Jahre  1887  winden  auf  di  • 
Initiative  des  Erziehnngsrathes  hin  Frhohnng-en  e-emacht  Über  dio  Zahl  und 
die  persönlichen  Verhältnisse  nnbeautsichtigter  Kinder.  Der  Griitliverein  und 
der  Arbeiterbund  waren  es  nun,  welche  die  Errichtung  der  Kinderhorte  durcli 
den  StMt  empfaUeD  und  die  WoMihftt  der  togen.  LneuBtlftang,  die  nur  den 
grOAeren  Schülern  zntheil  ward,  ancli  auf  die  Primarsch üler  aoagedehnt  wünschten. 

Bei  der  Aufnahrae  der  nun  hierzu  nöthigen  Erhebungen  wurde  durchaus 
kein  Zwang  ausgeübt;  im  ersten  Jahre  meldeten  sich  im  ganzen  183  Knaben 
and  161  Mädchen,  also  zusammen  344  Kinder,  welche  man  in  sieben  „Horten" 
▼ersorgte  nnd  swar  in  den  slmmHifllien  FrimanelinllitnBem,  im  Winter  von 
10 — 12  mid  TOD  2 — 6  Ulir,  aowie  in  den  Semmerferien.  Dieae  Einderliorte 
«teben  unter  der  Leitung  von  Lehrern,  bezw.  Lehrerinnen  nnd  von  aonstigen 
freiwillig  sich  anbietenden  Personen.  Spiel,  Schularbeiten.  Lesen  nnd  Hand- 
arbeit bilden  das  tägliche  Programm  and  Milch  und  Brot  wird  allen  genügend 
verabreicht.  Die  approximativen  Kosten  wurden  auf  je  5000  fl.  für  baaliche 
Einrichtungen  nnd  HobiUaare  elnenelta  nnd  Unterlialt  nnd  Betrieb  anderaeits 
berechnet. 

Aber  auch  der  Staat  ließ  es  bei  der  prophylaktischen  Thiltigkeit  nicht 
bewenden,  so  wenig  als  die  gemeinnützige  Gesellschaft,  welche  aHt  dt  in  Jahre 
1875  jährlich  in  den  Anstalten  8 — 23  und  in  Familien  3 — 31  Verwahrloste, 
im  ganaen  600 — 700  Zöglinge  venorgt  hatte,  dabei  titeit  ans  ilnansieilen 
Orfinden  viele  andere  nnberücksichtigt  laaaen  mnatfee,  deren  Verwahrloaang 
notorisch  nachgewiesen  werden  konnte. 

Die  staatliche  Versorgung  ist  nnn  nicht  nur  rationeller,  sondern  sie  geht 
auch  rascher  von  statten,  weil  wirksamere  amtliche  Befugnisse  zurVertÜgung 
stehen;  dlea  iat  aehr  irMiÜgt  da  mitnnter  bei  langaamer Versorgung  eine  ver- 
hBngniavolle  Zeit  ventreieht,  wihiend  weleher  daa  zn  rettende  Kind,  achon 
von  der  Schnle  ansgeschlossen,  sich  nnbesch&ftigt  hemmtreibt. 

Sie  ist  in  folgender  Weise  organisirt: 

1.  Der  RR.  richtet  Kinderhorte  ein,  in  welchen  Schüler  der  Primarschule, 
4ie  der  elterlichen  Aufsicht  entbehren,  aoiJerhalb  der  Schulzeit  an  den  Wochen- 
tagen beanfUchtlgt  nnd  beaehSfUgt  werden  können,  nnd  ea  wird  liierfttr  efai 
jilhrlicher  Credit  bis  auf  5000  Fcs.  und  ein  einmaliger  Credit  bis  auf  5000  Fca. 
auf  Rechnung  des  Jahres  1889  für  die  baulif  lu  n  Einrichtungen  bewilligt. 

2.  Der  RR.  wird  zur  vermehrten  Unterbringung  von  verwahrlosten  Schul- 
kindern in  6es8eiungsam>talten  oder  in  auswärtigen  Familien  ermächtigt  und 
«rhfilt  hiefllr  einen  Jährlichen  Credit  bia  anf  2000  Fea. 

Wir  ersehen  hierana,  daaa.  Baael  anch  anf  dem  Gebiete  der  HeOpttdagogik 
etets  voranmarschirt,  anderen  Städten  und  Cantonen  zum  leuchtenden  Vorbild. 

Die  auf  den  1*2.  Januar  vom  Züricher  Lehrerverein  veranstaltete  Feier 
zur  Erinnerung  an  den  Geburtstag  Pestalozzi's  nahm  einen  erhebenden  Verlauf. 
Ein  Pnblicnm  ana  allen  Standen  hatte  bia  anf  den  letzten  Platz  den  Cantona- 
rathaaal  beaetzt,  nm  den  ErOflbnngageaangt  ffGeiat  der  Walirheit,  ateig'  her- 
nieder", den  sehr  gehaltvollen  Prolog  J.  C.  Heer's  und  den  anregenden  Vortrag 
4es  bewährten  Pestalozzikenners  Morf  aus  Winterthnr  anzuhören.  Dieser 
verstand  es  in  ausgezeichneter  Weise,  größtentheils  mit  iv^talozzi's  eigenen 
Worten,  seine  Zuhörer  für  die  hehren  Ideen  der  Jugendbiidung  zu  begeistern 
«nd  ihnen  den  edeln  Menachenfrennd  ao  naher  an  fllhren. 


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—   394  — 


Pen  Hölieimiikt  e) reichte  das  YcBt  in  dem  Momente,  als  der  Decaii  der 
ersten  Section  der  philosophischen  Facultät  den  72  jährigen  tiet'geriihrten  Greis 
in  Auerkeimuiig  seiner  Verdieitste  als  Erzieher,  pädagogischer  Schriftsteller 
nnd  spedeU  all  Pestalozziforscber  zun  Doctor  phfloeophiae  honoiii  cania  er- 
nannte und  ihm  dadurch  den  liehenten  Beweis  daffir  erbrachte,  dan  die  höchsten 
Tröger  der  Wissenschaft  ununterbrochenes  Ringen  nnd  Forsclien  nach  "Wahr- 
heit ,  6o>vie  treues  Arbeiten  anf  dem  Felde  der  Jugenderziehung  gebUrend  zu 
würdigen  wissen. 

Der  begelatenide  Genug  dca  Lehterehon:  nLaait  freudig  trmm  LM«r 
lehallfln"  wurde  zum  aligemeinen  Gantot  der  begciiterten  Menge,  und  ein 

zweiter  Act  im  Hotel  Central,  in  welchem  der  Erziehungsdirector  Stossel,  Prof. 
0.  Hunziker,  sowie  der  Urenkel  Pestalozzi'B,  Prof.  Karl  Pestalozzi  noch 
manches  Goldkom  erhabener  Wahrheiten  zu  Tage  förderten,  krönte  die  Feier 
in  schönster  Weise. 


Österreich.  Die  nAUgemeiue  Juristenzeitnng"  meldet,  dass  laut  amt- 
lichen Berichten  in  Österreich  die  Zahl  der  Verbrechen  und  demgemiiß  auch 
die  Zahl  der  StrJlflinge  seit  Jahren  stetig  abnimmt.  Fast  alle  Strafan- 
stalten bind  nur  unvollständig  besetzt,  und  in  einigen  derselben  stehen  derzeit 
ganze  Refhen  der  Zelleii  leer.  —  Wieder  eine  verderbUdie  Folge  der  Nen- 
aobole!  — 

Bei  der  diesjährigen  Pestalozzifeier  der  „Wiener  Pädagogischen  Ge- 
sellschaft" hielt  Herr  Director  Dr.  E.  Hannak  die  Festrede.  Er  schilderte 
den  Einfluss  Pestalozzi's  auf  die  Pädagogik  als  Wissenschalt  und  auf  das  mu- 
deme  Schnlweaen  nnd  kencaddinete  seine  Omndgedanken,  indem  er  sie  in 
eine  fibersichtlielie,  alle  HQrer  feaaelnde  Parallele  zu  denen  Booaoeau's  stellte. 
Lebhaften  Beifall  fand  besonders  anch  der  Scbluss  des  Vortrages,  in  welchem 
Redner  darauf  hinwies,  dass  die  gegenwärtig  herrschende  Pichtnng  im  Unter- 
licbtsbetiiebe  weit  hinter  den  Ideen  Pestalozzi's  zurückstehe :  der  übertriebene 
QelffMMh  von  Hilfrbttchem  und  Veranschaalicbnngsmitteln  wirke  nachtheilig, 
indem  er  den  Untenieht  nnnfttaer  Weise  ▼enSgere,  oder  aneh  daa  Kind  nn- 
lelbatatftndig  mache;  die  Sucht  nach  Lehrplftnen  und  Leitfaden,  welche  alles^ 
was  man  der  Jugend  beibringen  will,  schwarz  anf  weiß  enthalten  nnd  den 
Stoff  auf  Wochen,  womilglich  auf  Tage  und  Stunden  vertht  ilen  sollen,  schatlei» 
einen  Zaim,  welcher  die  freie  Bewegung  der  Lehrenden  behindert  und  zum 
Hechaniamna  Terleitet  Sie  aind,  eagt  Sedner,  ans  dem  lOsakranen  gegen  den 
Lehrstand  hervorgegangen  nnd  schädigen  seine  Wirksamkeit,  indem  sie  ihn 
des  selbstständigeu  Denkens  überheben  und  seine  Berufsthätigkeit  zum  Hand- 
werk lierabdrücken.  Diesem  überhandnehmenden  Mechanismus  gegenüber  ist 
es  geboten,  immer  wieder  die  geistbildende,  von  freier,  hingebender  Liebe  und 
anltopl^der  Kraft  getragene  Methode  Pettalossi'B  der  Gegenwart  mm  Vor- 
bilde  anfiniatellen« 


( Bürgerschullehrer-Curse.)  Die  Bürgerschullehrer -Curse  in  Öster- 
reich sind  erst  unter  dem  gegenwärtigen  Unterrichtsminister  Gautsch  von 
IVankentimra  ins  Leben  getreten.  Obwol  seit  der  neuen  Scbnlgesetzgebwigr 
alao  seit  1869,  die  Volke-  und  Bflrgeradinlen  ihre  hentigen  Grundlagen  ei^ 
halten  haben,  war  dennoeh  nleht  dalttr  geaoigt,  dasa  die  Lehrer  der 


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—   39Ö  — 


Bbgenchnlen  eine  Mlifllmiiij(e  AniblldiiDg  geuiefleii  koDntea.  Wer  ftüher 
BHigarteliilUhrer  werden  w«Mte,  nunte  naeli  Bl>seileft«r  LehrerbefiÜiignngB- 

prfifting  fllr  Bürgerschulen  durch  eigenen  Fleiß  sich  eine  höhere  Befähignni: 
im  Lehramte  erwerben,  dabei  noch  regelmlißig  den  Unterricht  der  ihm  znge- 
wießcnen  Volksscbulclasse  versehen.  Das  ^^  ar  nicht  so  einfach ,  denn  in 
einzelnen  Gegenständen,  wie  z.  B.  in  der  darstellenden  Geometrie  (ProjectiouB- 
lehre),  hatte  der  BflrgertehnUehrunti-OMididat  in  der  LehrerbOdnngsanttalt 
keine  Elementaitenntnisse  erlangt,  ebenso  war  es  mit  dem  Zeichnen  in  gar 
vielen  Fullen  so  primitiv  in  den  k.  k.  Lehrerbildungsanstalten  bestellt,  dass 
die  Candidaten  für  diese  Fachgruppe  (III)  immer  seltener  worden.  Hierzu  sei 
bemerkt,  da&s  sich  die  Lehrbefähignng  für  Bürgerschulen  in  Österreich  ent- 
weder Mf  •ämmtUehe  Lehrgegenstiode  entreckt,  oder  nor  auf  eine  oder  swei 
der  nachstehenden  drei  Gmppen: 

1.  Die  sprachllch-liietoriielien  Fieber,  als:  Spraohrach,  Geographie,  Ge- 
schichte. 

2.  Die  natarwisseuschaftlichen  Fächer,  als:  Natorgeschichte,  Natorlehre 
(Physik  und  Chemie);  dam  als  Erg&nznng:  llathematik. 

3.  Die  mathematiscb-techniBchen  Fächer,  als:  Uathematik,  Zdehnen; 
dam  als  Ergiasnng:  Natnrlehre. 

Überdies  ist  Pädagog^ik  TYüfungsgegenstand  einer  jeden  Gmppe.    Den  • 
Candidaten  der  zweiten  und  dritten  Groppe  steht  es  frei,  als  Ergänzung  statt 
des  als  Kegel  hingestellten  Faches  ein  anderes  Fach  der  dritten  oder  zweiten 
Omppe  m  wählen. 

Im  Jahre  1886  wnrde  von  selten  der  Unterrichtsverwaltung  ein  eigenes 
Statut  aufgestellt  Die  Grundsätze  desselben  seien  im  Folgenden  wiedergegeben: 
1.  BürgerschuUelirer-Cni'se  werden  je  nach  Bedarf  auf  Antrag  des  Landes- 
schnlrathes  an  einzelneu  Lehrer-  oder  Lehrerinnen-Bildungsanstalten  errichtet 
Fttr  einielne  OegenstSnde  (Zdehnen,  Chemie,  Lsndwirtschaft  n.  dgl ),  welche 
reichliche  Lehrmittelsamnilmigen  erfordern,  kdnnen  aneh  solche  Cnrse  an 
anderen  Lehranstalten  (Gewerbeschulen,  l^ealschulen ,  Landwirtschaftslehr- 
anstalten, allgemeinen  Zeichenschulen  etc.)  errichtet  werden.  2.  Der  Director 
der  betrefifenden  Lehranstalt  wird  mit  der  unmittelbaren  Leitung  des 
Lfllffwcarses  hetrant  Die  Übrigen  Lehrkiifte  ernennt  anf  Vsrsdilag  des 
LandessehnlraAhes  der  Unterriehtsminister.  3.  An  dem  Lehreorse  kOnnen  sich 
Hörer  und  Hörerinnen  gleichzeitig  betheiligen.  Die  Gesammtzahl  darf  nicht 
30  tibersteigen.  4.  Zur  Aufnahme  in  diesen  Curs  ist  nebst  dem  Nachweis 
eines  unbescholtenen  Lebenswandels  das  LehrbefUliigungszeugnis  für  Volks- 
schalen oder  mindestens  ein  Keifezeugnis  erforderlich;  ersteres  gewählt  den 
Tonmg.  6.  Jeder  Cus  nmÜMSt  In  der  Bogel  alle  Gegenstände  einer  Fach- 
gmppe,  nur  ausnahmsweise  kann  ein  solcher  Curs  auch  nur  auf  einen  Gegen- 
stand irgend  einer  Gruppe  beschrankt  werden.  0.  Die  Dauer  des  Cursns  ist 
auf  ein  Jahr  mit  zehn  wöchentlichen  Unterrichtsstunden  festgesetzt.  7.  Diese 
Stundenzalil  ist  so  zu  vertheilen,  dass  sich  die  Volksschallehrer  des  betreffenden 
Ortes  nnd  seiner  Umgebong  an  dem  Giune  betheiligen  kOnnen.  8.  Der  Lehr- 
plan fUr  jeden  solcken  Curs  ist  vom  Landeasebnlrathe  dem  Unterrichtsminister 
zur  Genehmigung  vorzulegen.  9.  Die  Hörer  (Hörerinnen),  welche  die  Grund- 
sätze der  Disciplin  nicht  beachten,  werden  in  Disciplinaruntersuchung  gezogen. 
Disciplinarstrafen  sind:  a)  Die  Küge  seitens  des  Professors;  b)  die  Ermahnong 


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durch  den  Director;  c)  die  Andioliungf  der  Ausschließung;  d)  die  wirkliche 
Aussdiließong.  Die  Disciplinarstrafeu  c  und  d  sind  dem  Lehrki>ri>er  vorbe- 
halten und  werden  dem  betreffendem  Bezirksscbnlrathe  angezeigt.  Gegen 
diese  Beaclilfltse  des  LehrkSipen  lat  eine  Beaehweide  VBsnttMlg.  H5nr 
(Hörerinnen),  welche  durch  14  Tage  ohne  Entechnldigang  den  Unterrieht 
verabsäumt  haben,  werden  aus  dem  Verzeichnis  gestrichen.  10.  Am  Schlüsse 
erhalten  Hörer  (Hörerinnen)  Frequentationszeugnisse ,  welche  vom  Director 
nnd  den  betreffenden  Professoren  unterzeichnet  sind.  11.  Der  Unterricht  an 
diesen  Cnrsen  ist  nnentgeUlieh;  die  Anatagen  werden  ans  StaatmitlelB  be- 
stritte. 12.  Es  kann  der  üntenrlehtsministor  aneh  die  Eniditaiig  solcher 
PriTatCurse  bewillie-Pii. 

Mit  dem  Sc huljaliie  1887  88  traten  denn  auch  in  Ausführung  der  \'er- 
oiduuBgen  vont  31.  Juli  1880,  welche  mehrfache  Eeformen  im  Lehrerbildungs- 
wesen  flr  die  Volkssdiiilen  mit  steh  brachteiii  siim  ersleomale  die  nenbegrttn- 
deten  Bürgerschnllelirer-CarBe  ins  Leben.  Die  Einricbtnng  dieser  Cnrse 
berücksichtigte  vorzugsweise  die  natnrwissenschaftlichen  nnd  die  mathematisch- 
technischen  Fächer  (zweite  und  dritte  Fachgruppe).  Diese  Curse  wurden  ab- 
gehalten: an  den  Lehrerbildungsanstalten  in  Krems,  Wiener-Neustadt,  Gras» 
Britnn  (dentsch),  Prag  (deutsch  nnd  csechisch),  Badweis  (deatseh),  Kattenberg 
(czechisch)  nnd  Caemowits;  femer  an  der  LehrerinBenUldnngsanstalt  in 
Brflnn  (czechisch);  endlich  an  der  Staatsgewerbeschnle  in  Beichenberg  nnd  am 
czechischen  Staats-Realgymnasinm  in  Pilsen.  An  der  Lehrerbildungsanstalt 
im  ersten  Bezirke  iu  Wien  wurde  ein  Ours  für  französische  Sprache  zu  dem 
Zwedce  abgehalten,  um  pädagogisch  und  allgemein  gebildeten  H5rem  und 
Hörerinnen  dictfenlge  mündliche  und  schriftliche  Sprachfertigkeit  im  FraniOai- 
«chen  tXL  vermitteln,  welche  zu  einer  ersprießlichen  Unterrichtsertheilung  in 
dieser  Spraclie  unerlilsslicli  ist.  In  den  letzten  Jahren  wurden  solche  Curse 
theihveise  an  anderen  Orten  errichtet,  auch  wurde  mit  der  Ertheilung  des 
Unterrichtes  in  den  Lehrgegenstlknden  an  einzelnen  Anstalten  gewechselt. 
Die  Erfiüimng  hat  bisher  gelehrt,  dass  diese  BOrgersehnllehrer-Gorse,  besonders 
in  BShmen,  sieb  eines  eahlreichen  nnd  emsigen  Besuches  von  selten  der  Höi-er 
(Hörerinnen)  zu  erfreuen  hatten.  Dies  ist  ein  Zeichen,  dass  die  österreicliische 
Lehrerschaft  rüstig  an  ihrer  Fortbildung  arbeitet  nnd  trotz  der  leider  in  den 
meisten  Ländern  bestehenden  missiichen  Gehaltsverhältnisse  jede  Gelegenheit 
benfitit,  in  ihrem  Berafe  thchtiger  m  werden.  Die  Errichtnng  dieser  Onrse 
wnrde  gleidi  anüuigs  von  der  SsterreidiiBehen  Lehrerschaft  freodig  begrilSt, 
obwol  nicht  unerwähnt  bleiben  darf,  dass  dieselben  eine  Ungerechtigkeit  in  sich 
schließen:  nfinilirh  die  Lehrer  an  entlegenen  Landschulen,  die  oft  gern  einen 
solchen  Curs  l)e.suchen  möcliten  und  in  vielen  Fällen  recht  dringend  das  Be- 
streben äußern,  sich  fortzubilden,  können  an  diesen  Lehrcarsen  nicht  tbeil- 
nehmen.  Ihanbetracht  aber,  dass  die  Ckdiegen  in  den  betreffenden  Stidten, 
wo  solche  Curse  stattfinden,  oder  die  Lehrer  der  näclisten  Umgebung  ohne 
Berufsstörung  der  ^'orthcile  dieser  Cnrse  theilbaftig  werden,  gewinnen  diese 
vor  den  weniger  Begünstigten  einen  ungerechtfertigten  Vorsprung. 

Außer  diesen  eigentlichen  Bürgei-schullehrer-Curseu,  welche  die  Ani]g;abe 
haben,  nicht  nnr  die  Lehrerschaft  fortmbüden,  sondern  anch  sachgemlft  ge- 
bildete Lehrkräfte  für  die  BQrgerschnlen  heranzubilden,  wurden  im  verflossenen 
Jahre  anch  noch  Balgersehnllehr»^Cor8e  an  der  k.  k.  deutschen  nnd  an  der 


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k.  k.  böhmisclif^n  Staatsg-owerbeschule  in  Pilsen  fünfmonatliche  Lehrcarse  zur 
Heranbildung  von  Lehrkräften  für  die  g-ewerbliclien  Fortbildungsscluilen  in 
Böhmen  abgehalten.  Die  Zahl  der  Frequentanten  an  jedem  dieser  Carse  durfte 
olelit  Bwlur  ab  12  betragen.  Die  Freqnentaaleii  komifteD  mdi  Haßgabe  ibier 
Anahildimgabedflxftigkfilt  «u  allen  TheUen  Böhmeos  bis  zur  festgesetzten 
Freqnenzzahl  gewShlt  irerden.  Die  Auswahl  der  Frequentantea  erfolgte  durch 
die  Direction  der  genannten  Staats-Gewerbeschnlen.  Die  Gwuche  ntn  Zu- 
lassung wurden  bei  der  k.  k.  Stattbaiterei  in  Prag  eingebracht.  Der  Haupt- 
gegenstand,  der  in  diesen  Lehrcnrsen  gelehrt  wurde,  war  das  Zeichnen.  \'er- 
ftsser  dieser  Zeilen,  der  einem  Besucher  eines  solchen  Gnrses  nahe  steht  ind 
die  lahlreidien  zeitraubcu  lon  Arbeiten  durchgesehen  hat,  kam  zu  der  Über- 
Beugung,  dass  die  Theilnehmer  dieser  Curse  mit  Arbeit  reichlich  versehen  waren. 

Im  Schuljahre  1888  89  ordnete  das  k.  k.  rntenichtsniinisterium  (mit 
Erlass  vom  22.  September  1888;  auch  noch  die  Abhaltung  eines  Bürgerachul- 
lehrer-Ciirses  mit  deutscher  UntcariohtssprMhe  für  die  Daner  von  drei  Wochen 
an  dem  Tanbttammeninstitute  in  Prag  zum  Zwecke  der  Heranbildung  von  Lehr* 
Personen  an  den  allgemeinen  Volks-  und  nUrgerschulen  für  den  Unterricht 
taubstummer  Kinder,  einen  gleichen  (  iirs  mit  deutscher  Unterrichtssprache  am 
Taabstammeninstitute  in  Leitmeritz,  einen  gleichen  Curs  mit  böhmischer  Un- 
tenMitnprache  am  Taabttammaninstttate  in  Frag  and  je  dnen  aolohen  mit 
Mmlseher  üntenkhtsipraebe  an  den  Taabatammeninstitaten  in  Bndwaii  and 
KSniggrfttz  an. 

Außer  diesen  Cureen  fanden  anch  infolge  dereelben  Verordnung  ein  Bih  o^er- 
schuUehrer-l'ui's  mit  deutscher  und  ein  solcher  mit  böhmischer  Unterrichtssprache 
für  die  Vorbildung  von  Lehrpersonen  zmn  Unterricht  blinder  Kinder  au  dem 
Privat^Ersiebangs-  aad  Heilinititate  Ar  arme  blinde  Sinder  nad  AagenkraalEe 
am  Hradschin  in  Prag  för  die  Dauer  von  zwei  Wochen  statt.  Diese  beiden 
letzteren  Curse  sclilossen  sich  der  Zeit  nach  an  die  Cui-se  an  der  Prager  Taub- 
stummenanstalt unmittelbar  an.  Das  Prager  Taubstnmmeninstitut  ist  eine  Privat- 
anstalt; es  geuiei^t  erat  seit  jüngster  Zeit  einen  Beitrag  aus  Staatsmitteln,  und 
die  Unteniehtsyerwaltang  konnte  da  nieht  gut  Vorschriften  bestiglieh  der 
inneren  Einrichtung  des  Curse«  machen.  Dasselbe  galt  aach  vom  Blinden- 
erziehungs-  und  Heilinstitnte  in  Prag.  Nicht.sdestowenigrer  mnss  aber  bekannt 
werden,  dass  die  Directionen  dieser  Anstalten,  namentlich  Herr  Director  Kmoch 
an  der  Taubstummenanstalt  in  Prag,  sowie  die  Lehrkräfte,  sich  die  denkbar 
giMte  Mflhe  gaben,  den  Can  ftr  die  Tiieflnehmer  so  nttdich  als  möglich 
werden  za  lassen.  Die  Theilnehmer  an  den  Prager  Lehrenrsen  waren  tut 
dorchgehends  ans  von  der  Hauptstadt  femgelegenen  Orten  des  Landes. 

Ein  mehrwochentlicher  Aufenthalt  in  Prag  ist  aber  mit  recht  bedeutenden 
Kosten  verbunden,  welche  die  Theilnehmer  ganz  allein  zu  tragen  hatten. 
Weder  der  Staat,  noch  das  Land,  noch  sonst  eine  Köi'perschaft  versprach  oder 
Idstete  eine  materielle  Unterstttzang.  Da  die  Carse  wUnwad  des  Seha^alires 
stattlsnden,  wurden  die  Schnlclassen  jener  Lehrer,  welche  einen  solchen  Cors 
besuchten,  durch  andere  Lehrkräfte  supplirt.  Die  Besncher  der  tunfmonatlichen 
Curse  an  den  Staatsgewerbeschulen  waren  fast  durchgehend.^  Uelirer  gewerb- 
licher Fortbildungsschulen  und  können  ihre  im  BürgerachuUehrer-Curse gewonnene 
Bildnng  sofort  Terwenden;  die  Beaaeher  der  letstefen  Art  von  Cniaen  sind 
aber  nur  einfludie  Volks- oder  BOigenchallefaier,  nnd  man  sollte  ihnen  voneeiten 


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der  UnteiTichtsverwaltnng  Gelegenheit  geben,  gegen  ein  angemessenes  Honorar 
die  Bildung  oder  Vorbildung  taubstummei'  und  blinder  Kindel*  eines  oder  meh- 
rerer Besbke  Ittr  eine  Tanlietiniiinen*  oder  BUndeDaatlalt  xn  ibemehmen. 
Nur  auf  diese  Art  ist  die  Gewfthr  geboten,  dass  aucli  diese  Lehronrse  einen 
praktischen  Wert  erhalten  nnd  dass  sich  in  Hinknnft  eine  größere  Anzahl  von 
Tiieilnehraern  finde.  Es  ist  nur  hierin  der  Crrund  zu  suchen,  dass  einzelne 
dieaei'  beabsichtigten  Lehrcnrse  wegen  Hangels  an  Hörern  nicht  abgebalten 
werden  konnten. 

Frans  Orambaeh. 


Die  zweite  Landes-Leiirerconferenz  in  Böhmen  fand  in  der  Zeit  vom 
3.  bis  7.  S^tember  1889  in  Prag  nach  einer  vierxehivjälirigen  Panee  statt. 
Der  AneAül  der  geaetclieh  voi^Keiehrlebenen,  von  drei  sn  drei  Jalirea  abm- 

haltenden  Landes-Lehrerconferenzen  dürfte  auf  den  Unistai^  mrückzuruhren 
sein,  dass  die  Kosten  einer  solchen  Conferenz  dem  Lande  zu  groß  erachienen. 
Demselben  Umstände  ist  es  auch  zuzuschreiben,  dass  beider  vorjührigen  zweiten 
Landes-Lehrerconferenz  die  Zahl  dei'  von  den  Bezirks-Lehrerconferenzeu  zu 
«üUenden  MitgUedem  anf  dai  geringate  berabgeeetsi  wurde;  ee  worde  in 
jedem  Bezirke  nur  ein  Vertreter  der  Lebreracbaft  gewählt.  So  kam  es,  daw 
die  zweite  Landes-Lehrerconferenz  gegen  die  erste  in  der  Zahl  der  Theilnelnner 
zurückstand.  Nicht  aber  in  anderer  Hinsicht,  (  ollegcn,  welche  Gelegeniieit 
hatten,  der  ersten  und  zweiten  Landes-Lehrerconferenz  beizuwohnen,  gaben  das 
ürlbeil  ab,  daaa  ee  in  der  swiiten  Landei>LebrenonliBrais  oflbn  m  Tage  trat, 
data  die  Lehrerschaft  an  Selbttvertranen,  an  parlamentarischer  Scfanhmg  nnd 
an  sicherem  Auftreten  in  allen  Fachfragen  gewonnen  habe;  der  Verlauf  der 
(Konferenz,  die  in  zwei  e'otrennten  Hauptabtheilnngen  für  die  deutschen  nnd 
czecbischen  Lehrer  stattfand,  zeigte,  dass  die  Mitglieder  derselben  ihre  Ziele 
nnd  Fordemngen  fest  im  Ange  haben,  da  sie  mit  fachminnisclier,  siclierer 
Hand  In  die  Veriiandlnngen  eingriSta. 

Programmpunkte  der  Conferenz  waren: 

1.  Gutachten  über  nothwendipe  Abänderungen  in  den  bestehenden  Amts- 
sdiriften  für  die  allgemeinen  Volksscholen  und  für  die  Bürgerschulen. 

2.  Aufstellung  der  Grundsätze  für  die  Einrichtung  einer  Schulchronil^ 
8.  Ontaehten  Aber  die  Einrichtung  der  nun  Untenichto  der  Kinder  be- 
stimmten Schnlgiiten,  namentlich  mit  Rdeksieht  anf  die  Unterweisung  der 
Schfiler  in  der  Obstbaumzucht. 

4.  Gutachten  über  die  Mittel  zur  Verwertung  und  Förderung  dei-  mit 
\' Olksschulen  verbundenen  landwirtscliaftlichen  Lehrcnrse  und  Mädchenfort- 
bildnngsearse. 

5.  Attlbtellnng  von  Örmdslttien,  betreffend  die  Verwertung  der  Schttler- 
bibUotheken  Ar  die  Zweeke  der  Eniebung  und  des  Unterrichtes  der  Schul- 
jugend. 

6.  Entwurf  einer  Instruction  für  die  Abhaltung  der  Local-Lehrerconfe- 
renzen  an  den  allgemeinen  Volks-  and  Bflrgerechalen. 

AuBer  diesen  Fregranunpunkten  kamen  noch  einige  selbststaadige  Anttige 
über  Lehrbefthlgongsprttftmgen ,  Schulnaehriehten,  Zeugnisse  etc.  nur  Ver- 
bandlang. Or. 


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—   399  — 


Aus  der  Fachpresse. 

274.  Karl  Lndw.  Roth  alt  Pftdagog  (0.  G«iell,  AUg.  Denttehe 
Lehrerztg.  1890,  I).   Verfasser  hat  das  VeidleiiBt»  einen  Tergessanen  oder 

doch  wenig  bekannten  Meister  den  Fachgenossen  in  empfehlende  ElrinneruDg' 
zu  bringen,  indem  er  Eoths  Gedanken  über  Erziehung  und  Unterricht  (in  acht 
Abschnitteu  zusammengestellt)  mittheilt.  Aber  die  Bedeutung  dieses  bayrisch- 
wflrttembergisehen  Gymnasialpädagogen  liegt  weniger  in  seiner  Lehre  (keines- 
üSIb  in  Minem  Standpunkte)  ak  in  idner  Penon,  seiner  eehten  Bndeheniatiir, 
seiner  sittltabeik  €hA0e.  Er  ist  einer  von  den  Ganzen,  die  unablässig  an  ihrer 
Vervollkommnung  arbeiten,  auf  das  kleinste  wie  auf  das  größte  achten,  mit 
nnermtidlicher  Ausdauer  und  eisernem  Willen,  rücksichtslos  gegen  die  Halben 
das  Wahle  uud  Hechte  zur  Geltung  bringen  wollen.  ^ 

275.  Max  Koppenttfttter  (J.  B.  Sdrabert,  Repert.  d.  Pld.  1890,  III). 
Verf.,  der  uns  hauptsächlich  ein  Bild  von  Koppenstätters  frühester  Wirksam* 
keit  entwirft,  schließt  mit  den  an  den  Todten  gerichteten  Worten:  ..^Vir  ge- 
loben dir,  in  deinem  Geiste  und  in  deiner  Weise  an  dem  Werke  der  Jugend- 
erziehong  und  au  der  Aufgabe  unseres  Bruderbundes  fortzuarbeiten.  Du 
soUst  nm  Üntan  dn  hdires  Beispiel  bleiben.  Nimmermelir  wollen  wir  dieh 
veigewen,  und  in  dankbaier  Liebe  soll  von  nns  Dein  Käme  «mgcipNchen 
werden." 

276.  Eduard  Ruff  (Frankf.  Schulz.  1889,  21).  Die  Lebens-  und 
Leideu&ge^^chichte  eines  mit  35  Jahren  an  Lungenleiden  (J  uli  1889)  gestorbenen 
hohenzoUerischen  Lehrers,  der  zn  den  besten  Schriftstellern  nnter  den  Pftda- 
gegen  gehdrte.  (Vgl.  die  Anieigen  seiner  Anfeitae  In  den  letnten  Jahrgftngen  des 
^Psedagogium".)  Seine  weaentüchen  Vorzöge :  ernste  Kritik  —  feine  Beobachtung 
der  Kindesnatur  —  Dringen  auf  die  Erkenntnis  des  Tliatsädiliclien,  Bestimmten, 
Einzelnen,  Kleinen  als  alleinige  sichere  Grundlage  der  Erzieherarbeit.  J{e- 
sonders  vertraut  war  er  mit  Pestalozzi;  ein  vielversprechendes  Werk  Uber 
dieeen  (vgl  unsere  Anzeige  im  Oetoberheft)  ifk  non  im?ol]fliidet  geblieben. 

277.  Schnlpolitische  Rück-  und  AnibHcke  (P.  Sehramm,  Frankf. 
Fchulz.  1890,  1).  „Vorwärts  schauen!  das  muss  nicht  unsere  Philosophie, 
das  muss  unsere  Natur  sein.  Wie  ein  Funke,  der  zündend  vom  Himmel  fällt, 
muss  es  Deutschlands  Lehrer  elektrisch  durchzucken,  dass  das  Gute  nicht  ist, 
daü  et  wird.  Mag  die  Ilaeht  der  Beaetion  in  stummen  oder  lauten  BUtna 
spielen:  erschrecken  soll  sie  keinen,  am  letalen  den  Lehrer.  Freudig  sieht  er 
sn  seinen  Idealen  auf.  Er  weiß,  dass  die  letzten  Ziele  der  sclinl-  nnd  bildungs- 
feindlichen Hochüut  schon  einmal  an  dem  idealen  Sehnen  and  Streben  der 
Lehrer  (angeführt  von  Diesterweg)  gescheitert  sind." 

278.  Die  Lehrer  Vereinsarbeit  (H.  Köhncke,  Päd.  Reform  1889, 
48.  49).  Treffende  Charakteristik  nnd  seharfe  Vemrtlieüang  der  „Beqnem- 
lichen,  Beeehlftigten,  Vornehmen,  Klngen,"  die  dem  Verein  fernbleiben.  — 
Aufgaben  n.  a.:  würdigen  (festen,  männlichen,  demokratischem  Charakter  zu 
zeigen  —  materielle  Selbsthilfe  zu  schaffen  —  principielle  Beschlüsse  in 
schulpolitischen  Tagesfragen  zu  fassen  —  die  Fachpresse  an  fOrdem  —  Auf- 
kllmng  Qber  Erriehnng  in  den  Kreisen  der  Niehtlehrer  an  verbreiten.  (Eine 
Arbeit  im  Geiste  frischer,  echter  Kritik.) 

279.  Pädagogik  und  Methodik  (E.  v.  Sallwürk.  iHutsche  Bliitter 
1889,  46.  47).   Ans  Anlass  der  zweiten  Auflage  von  Kelu-s  Geschichte  der 


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—  400  — 


Methodik.  —  „Die  Geschiclite  der  pädagogischen  Ideen  verlangt  eine  einheit- 
liche Dantellang;  sie  musB  in  einem  Kopfe  entworfeo,  Ton  einer  Feder  ge* 
schrieben  lein.  Die  Oetehiehte  der  Methodik  veriangt  die  Kenntnis  und  Er- 
lUining  eines  Fachmannes;  wir  thnn  gat,  sie  nicht  von  einem  einiigea  Manne 
zn  fordern,  sondern  nach  den  Fächern  auf  verschiedene  Bearbeiter  za  vertheileu, 
wie  Kehr  es  gethan  hat."  —  Von  den  Aufgaben  dessen,  der  Geschichte  der 
Methodik  schreibt.  —  Vorzüglich  skizzirt,  wie  sich  die  Metliodik  des  deutschen, 
Oeeehichts-,  erd-  und  natnrinmdlloheB,  mathematisehen  Unteiriohte  entwickelt. 
BUkhe  Ei^rebnliie:  Letelmehfrage  noch  nicht  gelSst  —  im  ganzen  ist  der 
Oco^plilennten-icht  in  g-esnnder  Entwickelnng  begriffen  —  der  Geschichts- 
imterricht  befindet  sich  noch  in  schwankendem,  unsicherem  Zustande  — ■  das 
Reelsen  ist  das  glücklichst  angebaute  Feld  der  Schule.  Hauptergebnis:  Ge- 
viiitt  StteheriMlt  in  denjeuigen  GeiUetfln,  weldie  die  Volkneiinle  faifiilge  ftoBerer 
prabUsdier  Forderungen  zn  bearbeiten,  wo  sie  fOr  einen  klar  erkennbaren 
Zweck  nur  die  didaktischen  Mittd  zn  finden  und  zu  wählen  hat  Nächste 
Zukunft  der  Pädagogik:  didaktische  Arbeiten  abzuschließen  —  sich  wieder 
den  grundlegenden  Fragen  (vor  allem  nach  dem  Bildungsstand  und  den  Bildungs- 
zielen  der  Zeit)  zu  widmen. 

380.  Zur  Schnlgesnndheitspflege  (W.  Siegert,  Ptdag.  Zdtnog  1889, 
49).  Bericht  über  die  rühmlichen  Bestrebungen  des  Berliner  Lehrerverdui. 
llitgetlieilt  werden  45  Regeln  für  die  Kinder  Uber:  Pflege  des  Körpers  — 
der  Athraungswerkzeuge  —  der  Augen  —  der  Ohren  —  wie  sollst  du  zu 
Hause  beim  Schreiben  und  Lesen  sitzen?  Letztere  wurden,  veranschaulicht 
durch  eine  Zeichnong,  den  Schreibheften  (auf  den  inneren  Seiten  des  Um- 
schlags) vorgedmekt  (dadurch  nur  eine  ganz  unwesentliche  Erhöhung  der 
P*reise);  Erfol^r  in  Elternkreisen  und  bei  den  Kindern  ein  g-iinstig-er.  (Der 
Bericht  wurde  auch  in  den  Deutschen  Blättern  1890|  4  and  in  der  Preofi. 
Schulz.  1890,  4.  5  ToröffentUcht.) 

281.  Vom  Lesen  (Deatsehe  Schn^.  1890,  3.  4).  „Aus  der  Praxis 
einer  (dnroh  nngewShnUebe  Tflohtiglceit  ansgezeiclineten)  Arbeitsoonferenz."  — 
Fragerei  des  Lehrers  zum  Theil  Ursache  fär  den  Mangel  an  Verlangen  (seitens 
des  Kindes")  nach  Verständnis.  —  Was  zu  Hause  beim  Durchlesen  niclit  ver- 
standen, ant  Zettel  zu  sclireiben  (für  die  Schule).  —  Das  Kind  soll  sich  ge- 
wöhnen, gegebenen  Falles  zu  bekennen:  Ich  habe  das  Gelesene  nicht  ver- 
•taaden.  (Mftmg:  Vertneh,  es  ans  dem  Kopfe  nnd  in  der  eigenen  Spraebe 
sn  sagen)..  —  Aussprechen  über  das  Gelesene.  —  Scheiden  zwischen  bereits 
Bekanntem  (Angeeignetem)  nnd  nen  Gelerntem.  —  Leseboohfrage  noch  nicht 
gelöst.*) 

282.  Zum  deutschen  Unterricht  au  höheren  Mädchenschulen 
(St  mtnoldt,  Zeitsehr.  f.  d.  dentoeh.  Unterr.  1890,  I).  »Mehr  noch  als  an 
höheren  Knabenschulen  sollte  in  den  Ifädehensehnlen  der  deotMdie  Unterricht 

Mittelpunkt  und  Träger  des  Gesaramtunterrichtes  sein.  Das  beste,  was  wir  den 
Mildchen  mitgeben  können,  ist  nicht  eine  mangelhafte  Kenntnis  fremder  Sprachen, 
sondern  ein  Verständnis  für  das  eigene  Volk,  für  seine  Arbeit  und  sein  Wesen. 
Dam  soll  ihnen  der  dentaehe  ünterrfdit  im  weitesten  nnd  tieibten  Sinne  des 


*)  Wu:  freuen  uns —  nicht  über  die  Thatsache,  aber  dass  sie  ron  zwei  ganz  ver» 
schiedenen  achtungswitrdigen  Stimmen  anerkannt  wird  (vgL  Nr.  279.) 


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—  401  — 


Wortes  verhelfen.**  —  „Der  Aufsatz  in  Briefform  verführt  zur  inneren  Un- 
wahrheit. —  Gegen  das  Declamiren:  „Die  gut  deklamirenden  Schülerinneu 
tiiid  Bfliit  yordifnglldie  ftvMidie  Natnreo." 

283.  Geschichtsunterricht  (L.Göhring,Bayr.Lehre«.  1889,48.49). 
\'erf.^),  erfreulicherweise  auf  dem  culturgeschichtlich-demokratischen  Standpunkt 
stehend,  verlangt  (was  gegenwärtig  leider  noch  mit  größtem  Nachdruck  betont 
werden  mnu):  Der  Geachiclitsunterricht  hat  sich  des  aosschließlich  höfischen 
Tones  n  entschlagen  ud  neben  den  Ffintoo  das  Volk  m  bfiritekaiehtigen. 
(OleichEeiticw  Pflegen  von  politischer  ind  GoltoisMeliielite  sehon  vor  100 
Jahren  gefordert!)  —  „In  den  wenij^ten  Fällen  werden  wir  die  geschichtlichen 
Ereignisse  und  Zustände  um  eine  einzige  Persönlichkeit  gruppiren,  vielmelir 
diese  umgekehrt  meist  nur  als  letztes  Glied  einer  Kette  betrachten.''  (Also 
keine  „biographische  Methode.") 

284.  Über  die  Beilehnngen  swisehen  der  Erd-  nnd  Hensehen- 
knnde  (F.  Renß,  Repert.  d.  Pid.  1890,  U).  Abhängigkeitsverhältnis  zwi- 
schen Natur  und  Mensch  ein  gegenseitiges.  Beispiele  von  (günstig  und  un« 
günstig)  umgestaltender  Einwirkung  des  Menschen  auf  das  von  ihm  bewohnte 
Land.  Die  größere  oder  geringere  Zagänglichkeit  der  Länder  und  ihi^e  Folgen 
Ar  die  Cnltiir  (Abidüietang  und  Ißsohnnr  der  VQIker,  gleieharUgM  Oedeht 
der  Großstädte).  Annfthernng  oder  Entfernung  der  Erdtheile  vnd  die  Vw- 
breitung  der  Rassen  und  Völker  (Bedeutung  der  Wüsten,  Meere,  weitvorge- 
schobenen Halbinseln;  Doppelberuf  der  Inseln).  Raumverhältnisse  und  Bildungen 
des  Festlandes,  Seen  und  Flüsse  in  ilirer  Wirkung  anf  den  Verkehr.  („Zwei- 
typischkeit"  —  mlfib  «in  XJngetllm!) 

285.  Die  Verwertung  der  kunstgewerblichen  Erzeugnisse  im 
Zeichenunterricht  der  Volksschule  (R.  Heere,  Päd.  Zeit.  1890,  2).  Ziel: 
Verhütung  der  Geschmacksverirrungen  im  Kunstgewerbe,  in  der  Ansstattung 
der  Wohnungen,  in  der  Tracht;  Unterdrückung  der  Neuheitssucht  —  für  die 
Knnsthandwerkfi^  Hebnng  ihres  gesellschaftlichen  Ansehens  —  Wiednirahr 
der  „alten  stolzen  Inmingenl*  —  Nothwendig:  SMumlnng  von  Zeiefannngen  und 
wiikHchen  Erzengnissen  der  Knnstindartrie  (leicht  zu  beschaffen;  man  denke 
s.  B.  an  die  ninstrationen  md  Beüagin  venchiedener  Zeitacbiiften). 


Karl  Ritter  über  Heinrich  Pestalozzi.  Der  berühmte  Geograph 
Karl  Bitter  weilte  wiederholt  längere  Zeit  bei  Pestalozzi  in  Iferten  nnd  ent- 
warf in  seinen  Anftdehnimgeii  das  Bild  des  groBen  Ftdagogen,  wie  es  sieh 
dem  unbefangenen  Beobachter  darbot.  Besonders  bezeichnend  ist  folgende 
Stelle:  „Pestalozzi  selbst  ist  nicht  imstande,  in  seiner  eigenen  Methode  auch 
nur  in  einem  Zweige  eigentlichen  Unterricht  zu  geben,  für  das  Einzelne  ist 
er  ganz  unbrauchbar;  aber  das  Ganze  tiligt  er  in  sich  und  weiß  es  mit  einei* 
Kraft  und  Elarlieit  mitnitheilen,  die  jeden  sinnigen  Ifonsehen  weckt  nnd  ihn 
flUOg  macht,  in  seinem  Stame  m  wirken.  Hit  Becht  sagte  er  m  mir  in  einem 

')  £in  Gesinnungsgenosse  des  wackeren  Kämpen  ^einc»  „Bayern"),  der  sich  an 
der  letsten  Preisconcnrrenz  der  AUg.  d.  Lehren,  mit  „Andeutungen  snr  Nenbelebung 
des  Gesrhichtsiintcrrichlcs''  (s.  unsere  Anzeige  im  Maiheft  de3  ,.Pac<lag.''  von  1889  j  bc- 
theiligte,  einer  Arbeit,  die  unter  den  gekrönten  innerlich  und  äußerlich  in  icder 
Besiehung  die  bedeutendste  nnd  —  gersde  nodi  mit  dem  vorletsten  Preise  bedacht 
weiden  ist.  Ein  Zeichen  der  Zeit! 


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—  402  — 


Gespräche  über  sich  seihst:  .Ich  kann  nicht  sagen,  dass  ich  alles  das  liervor- 
gebi*acht  habe,  was  Ihr  da  seht;  Niederer,  Krüsi,  Schmid  u.  s.  w.  würden  mich 
mit  Bedkt  avilMlieii,  wann  ieh  sagte,  idi  wiie  ihr  Lelmr.  leh  kann  nidit 
reclmeii,  nieht  «direibeOf  Ttritolie  kdne  Grammatik,  keine  Ifathematik,  keine 
Wissenschaft;  der  geringste  meiner  Zögling^e  weiß  mehr  als  ich:  ich  hin  nur 
der  Wecker  der  Anstalt,  und  andere  müssen  eigentlich  hervorbringen,  was  ich 
denke;  ich  bin  nur  ein  Werkzeug  in  der  Hand  der  Vorsehung:  —  dies  ist  in 
der  That  wahr,  und  dennoch  würde  olioe  ihn  das  ganae  Work  nieht  da  sein. 
Er  Tenteht  die  Kmat  dordiaii  nieht,  efai  le  groftea  Qanie  m  dirigim  uid 
soiammenanhalten;  dennoch  besteht  ee.  Er  ist  der  sorgenloseste  Mensch,  der 
sein  ganzes  Vermögen  aufopferte,  der  noch  jetzt  den  Wert  des  Geldes  nicht 
kennt,  der  weder  Buch  noch  Rechnung  zu  führen  weiß,  der  jeden  unterstützt, 
wie  ein  Kind  alles  hingibt.  Er  hat  keine  verständliche  Sprache,  spricht  weder 
rein  dentaeh  hoch  ftnauOeltch,  und  dennoeh  irt  er  die  Sede  der  Geaenaehaft 
im  Emst  und  Scherz,  dennoch  ist  seine  Morgenandacht,  sein  Morgengebet, 
seine  Prüfung  der  Herzen  seiner  Zöglinge  tief  eindringend  und  überaus  wirksam. 
Er  wird  geliebt  und  verehrt  wie  ein  Vater."  (Siehe  n^weizerisches  Schal- 
archiv,« XI.  Band  Nr.  1.) 


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Literatur. 


Pref.  Dr.  Schmedfalgt       Bedenken  Sr.  Excellenz  des  Herrn  Ministers 
von  Gossler  gegen  die  Aufhebttfiff  des  Gymnatialmonopois.  99  S. 

Brauußchweig  1890,  Otto  Salle. 

Auch  in  der  vorliegenden  Zeitäcbritt  iat  die  weitauügebrcitete  KetormbewegllQg 
anf  dem  (iebicte  des  mittleren  Schulwesens,  ftrelche  seit  etwa  zehn  Jahren  ia 
verschiedeneu  Culturstaaten,  besonders  auch  in  Deutschland,  imnier  luüebtiger 
anwächst,  schon  wiederholt  zur  Sprache  gcliuiumuu.  loübcaoudtru  aind  deu  mit 
ihr  sQsammenh&ngenden  Fra^^  nadl  dem  absoluten  und  relativen  Werte  der 
claasischen  Bildung  im  Vergleiche  znr  modernen,  ferner  nach  der  besten  Organi- 
sation der  (rymnasien  und  ihrer  Schwesteninstalten,  insbesondere  der  Idee 
einer  „Einheitsschule"  mehrere  aiiäfiüirliche  Abhandlangen  im  „Pwdagogium'' 
gewidmet  worden.  Wenn  wir  bisher  noch  nicht  Baum  und  Zeit  gemnden 
haben,  diesen  wichtigen  Fragen  gegenüber  unser  Schlossurtheil  auszusprechen 
und  zu  begründen,  so  dürfte  dies  uagesii.lit.s  der  Thutsache,  dass  die  Discussion 
«ich  noch  immer  in  vollem  iluase  befindet,  als  eine  veraeihliche  Venögerung 
«nwheiiifln.  Snieiit  man  doeh  am  dar  MebeB  angezeigten  Sehrift,  dan  Bede 
und  Gegenrede  in  der  vorliegenden  Streitsache  noch  uiiht  erschöi»ft  sind,  und 
es  ist  ein  Crebot  der  Vorsicht,  Uber  eine  so  wichtige  Angel^nheit  die  Untcr- 
indrang  ruhig  aunaUba  an  Inwea. 

Professor  Schuieding  ist  als  ein  Hauptfilhrer  der  Refonnpartei  längst  bekannt. 
Dennoch  müge  —  wegen  der  Wichtigkeit  der  Sache  sein  Staudpunkt  hier 
noehmahi  beiwichnei  wexdM  aad  cwar  mit  seinen  eigenen  Worten,  wie  wir 
Hie  in  der  uns  vorliegenden  neuen  Schrift  finden.  Als  den  Kern  der  cranz'  ii 
Keformbewegong  betrachtet  Dr.  Schmeding  die  Frage  nach  der  Stellung 
der  altea  Sprachen  im  Organismus  des  Unterrichtet.  „Sollen  dieselben 
ihren  früheren  Vorrang  behaupten  und  mit  deu  Vorrechten  ausgestattet  bleiben, 
die  sie  bis  jetzt  genießen,  oder  hält  man  die  Zeit  tUr  gekommen,  dies  zu 
Indem?  Mit  anmrea  Worten:  Welches  ist  die  Stellung  der  Uuterrichts- 
verwaltung  zum  Monopol  der  classischen  Sprachen?  ,  .  .  Alles  andere,  da,«* 
Lehrverfahren,  die  Ausbildung  der  jungen  Lehrer,  das  Verhältnis  der  höhereu 
Lehranstalten  .  .  .  das  alles  kommt  nicht  in  Betracht  gegen  das  Monopol. 
Bleibt  es,  so  ist  eine  gesunde  Entwickelung  des  Schulwesens  unmöglich.  Sie 
kann  erat  in  Oberlegting  genommen  werden,  wenn  es  gefallen."  Prof.  Schmeding 
verwahrt  sich  dagcg>  u.  dass  man  ihm  unlautere  Triebfedern  unterschiebe,  uud 
betont,  dass  er  den  Kampf  nur  fUhre,  „geleitet  von  der  tiefen  Tbenengung, 
dass  es  sich  um  eine  große,  wichtige  Sache,  um  die  Bek&mpfung  eines  fBr  ds» 
künftige  Geschlecht  verderblichen  Vururtheils  und  um  da.^  Wi  l  des  Vaterlandes 
handelt  .  .  .  Wir  sind  nach  jahrelanger  Arbeit,  nach  jahrelanger  und  ge- 
wissenhafter PrSfiing  ttberseagt.  dass  wir  der  Jngoid  eia  aneaaudt  bessens 
Rttstieng  gfkvBi  kOnnen,  nm  die  Kimpib  des  Lebens  an  bestahen,  als  das 


—  4(H  — 


Alteitlniin  «  bietet  Wir  woOen  die  Summe  geistiger  Schätze,  die  sich  auf 
die  Xachwelt  vererben  soll,  mehren;  und  wenn  wir  dem  Altcrthum  i?ern  zu- 

E stehen,  das«  es  die  Fackel  des  Lichtes  angezttndet  in  der  Dunkelheit  des 
ittelaltezs,  wo  woUen  wir  dieselbe  nieht  aaeh  bfftudieii,  wenn  die  Mittag»» 
sonne  leuchtet.  Wir  finden  nicht,  wie  so  viele  Vertreter  des  Gj-mna-iiums, 
dass  Ideales  und  NtttsUches  im  Widerspruch  steht .  .  .  Wir  schämen  uns 
nicht  m  bekemiMi,  da«  wir,  indem  wir  glaaben,  Übt  ideal«  Zid«  besser  an 
begeistern  als  das  classischc  Alterthum,  an^deh  dem  Staat  ntltdidiere  und 
praktischere  BUrger  erziehen  werden/ 

Dies  ist  der  Standpunkt,  welken  Dr.  Sebmediag  seit  langen  Jahren  vertritt, 
mul  welchen  er  diesmal  gegen  seinen  eigenen  Chef,  den  i)reußi8chcn  Unterrichts- 
miuister,  Dr.  v.  Goüler,  vertheidigt.  Dieser  hat  am  6.  März  188'.)  eine  Parla- 
mentsrede  ijehaltcn,  welche  Dr.  Schmeding  folgemlermaßen  charakterisirt :  „An 
dem  Vorrocht  der  alten  Sjirachon  soll  in  absehbarer  Zeit  nichts  geändert 
werden.  Die  Wünsclie  der  Retonner  kann  Se.  Excellenz  nicht  erfüllen.  Das 
Monopol  der  Gymnasien  soll  bleiben.  Damit  ist  zugleich  das  Schicksal  der 
nahe  verwandten  Realgymnasien  entschieden;  sie  haben  keine  Förderung  von 
Sr.  Excellenz  zu  erwarten  .  .  .  Wir  zweifeln  nicht,  dass  sie,  wenn  nicht  eine 
Änderung  dieses  Standpunktes  bei  der  Untcrrichtsverwaltung  eintritt,  hin- 
siechen und  zugrunde  gehen  werden.  Daa  ist  das,  was  die  Anhinger  dea 
Monopols,  die  Gymnasialpartei,  wttnschen." 

Kill  in  der  Tliat  iiußorst  schroffer,  schneidiger  GegeoiatB,  wie  er  durch  die 
MittiBterrede  nach  beiden  äeiten  hin  an  voller  Eläraeit  gekommen  ist,  den 
elneii  siim  Leid,  den  aaderen  knr  Freode.  Sehmedinf;  nnn,  der  rar  ToilBufig 
gesehlagenen  Partei  gehilrf,  vertheidigt  in  der  vorliegenden  Schrift  mit  un- 
gebeufftem  Muthe  seine  i»ache  gegen  den  Herrn  Minister:  die  Einwände 
pnd  BedeBken  deaaeiben  Punkt  flIrPnnkt  s«  widerlegen,  das  eben 
ist  der  Vorwurf  der  untrrzeigten  Broschüre. 

Zu  welcher  Partei  man  sich  nun  auch  schlagen,  oder  welche  Stellung  mau 
aonat  ehuMbmen  möge  —  ein  vermittelnder  Gedanke  scheint  uns  noch  tbei^ 
sehen  zu  sein  —  jedenfalls  verdient  Sxhmedings  neue  Schrift  die  crn=iteste 
Beachtung  und  Prüfung.  Die  volle  Het^ähigung  des  Verfassers,  in  der  .Sache 
ein  ToDinclitiges  Votum  abzugeben,  steht  längst  unanfechtbar  fest;  sie  eist 
darthun  zu  wollen,  wftre  eine  Beleidigung.  Leider  aber  ist  etwas  anderes, 
neofa  wichtigeres,  in  Frage  gestellt  worden:  der  redliche  Wille.  Schmeding 
hilt  die  Bemerkung  für  nOthig:  „Die  Verdächtigung,  die  zum  Theil  tob  BBserea 
GegBem  ansgesprocheu.  als  ob  wir  den  Kampf  um  gemeinen  Gewinn  oder  ans 
ehndchtigen  Motiven  iilhrcen,  weisen  wir  weit  zurück."  Ein  Mann  von  der 
bewährten  Ehrenhaftigkeit,  zudem  von  dem  TorgerOckten  Lebensalter  uud  von 
der  aocialen  Stellang  Schmedings  sollte  derartigen  Anwürfen  überhoben  sein. 
Leider  ist  aber  die  Schmähsncbt  in  unteren  Tagen  selbst  auf  den  Höhen  der 
Gesellschaft  zu  einer  beliebten  Waffe  geworden,  zum  Schaden  einer  unpar- 
teiischen Prüfung  der  wichtigsten  Lebensfragen.  Wir  empfehlen  also  Scbme- 
dinors  Behrift  einer  Wfirdigung  sine  ira  et  Studie.  D. 

Dr*  Frauz  üooevar,  Prof.  zu  Innsbruck,  Lehrbuch  der  Oeometrie  für 
EealschnleD.  227  S.,  234  Fig.  im  Text.  Leipzig  1889,  O.  Freytag. 
2^  Uk. 

Vorwortlich  bemerkt  der  Verl*as.ser,  dass  das  vorliegende  der  llaui»tsa<  ho 
nach  mit  seinem  Lehrbuche  für  Gymnasien  übereinstimme  und  nur  in  einzelnen 
Partien  eine  Erweiterung  erfahren  habe,  fHr  deren  Vonalime  aa  OymnasieB 
zumeist  nicht  die  Zeit  gefunden  werden  kann.  .\uf  einer  verhältnismäl  i«;  ^'ehr 
geringen  iSeitenzaiil  tindet  man  in  diesem  Buche  die  liehren  der  Piauimethe, 
der  ebenen  Trigonometrie,  der  Stereometrie,  der  analytischen  Oeometrie  der 
Ebene  und  ili  r  sphärischen  Trigonometrie  nebst  einem  Anhang  über  Karten- 
projectionen  zusammengedrängt.  Besonders  ist  die  i'lanimetrie  kurz,  ausge- 
nUeB.  Das  Oeboteae  steht  Mer  dnrehaus  anf  der  Hohe  derWissensrhatt  uBd 
Methodik;  besonders  verdient  hervorgehoben  zu  werden,  dass  die  Kmtiihrung 
des  Begriffes  der  Symmetralen  auf  das  vortheilhaftestc  zur  Vercintaihung  der 


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—  406  — 


IkweisfUhruDs:  aus^entStzt  wurde,  und  luöclitcn  wir  in  dieser  Beziehung;  auch 
auf  die  elei^ante  Conatruction  der  Figuren  l'J.  21.  2b,  55  hiaweiseu.  An 
maochen  Stellen  mirdcn  wir  n  das  Lehrbach  von  Wienand  erinnert.  Unter 
welchem  das  vorliegende  an  wissenschaftlicher  Strenge  der  BeweisfUhrang  ge- 
wi88  nicht  zurückbleibt,  dagegen  c»  aber  viele  SohwerHllIigkeiten  Wiegands 
vermieden  hat.  Auffallend  war  un»  nur,  dass  der  Vcrfiuser  es  unterlässt, 
den  Begriff  der  geraden  Linie  zu  erklären,  und  denselben  den  Grundbegriffen 
beizfthh.  zu  denen  er  imofem  nicht  gehArt,  als  er  flberhanpt  einer  Erklärung 
fällig'  ist.  Die  gerade  Linie  ist  unzweifelhaft  jene,  welche  die  Ebene  iu  zwei 
decknn^^sgleiolie  Tbeüe  theüt,  was  durch  eine  krumme  nicht  erzielt  werden 
ktiui.  Audi  ist  die  gerade  Lilie  jene,  treidle  dem  Beednner,  von  jeglicher 
Seite  betrachtet,  (lasseTbe  Bild  bietet,  während  die  krumtnc  ^ine  i  rhabeuc  und 
eine  hoUe  äeite  besitst,  ja  ftberluuipt  ent  dann  tUr  eine  krumme  erklärt 
werdea  kum,  wenn  mu  ihre  ooMare  Seite  ven  dw  oeBvnea  m  mnteiMMden 
vermag. 

Auch  aus  der  ebenen  Trigonometrie  wird  alles  Xüthige  zwar  iu  knappeäter, 
aber  sehr  eleganter  Form  geboten;  besonders  verdieBt  hervorgehoben  su  werden, 
dass  die  Functionen  der  Summe  und  Differenz  v')n  Winkeln  gütig  für  alle 
möglichen  Winkel  an  zweien  allgemein  gehaltenen  Figuren  abgeleit<:t  werden, 
wie  wir  dies  zuerst  in  (iuein  Buche  des  Professor  Schmied  (Wien)  gesehen 
haben.  Die  Berechnunir  der  Winkelfunctioncn  findet  ausreichende  Darstellung, 
und  die  Ableitung  der  Moll we ids<"heu  Gleichungen  gelinpft  leicht  an  einer 
griit  entworfenen  Figur. 

Iu  der  Stereometrie  findet  die  Lehre  von  den  körperlichen  Ecken  ein- 
gebende Behandlung,  so  dass  sie  als  ausreichende  (frundlagc  der  sphärischen 
Trigonometrie  dienen  kann.  Die  Einführung  des  Pri^matoides  und  des  Satzes 
TOB  Cavalieri  mit  ein&cher,  aber  genügender  BcgrüBdung.  nebet  lehrreicher 
Anwendung  des  Satzes  über  oonvexe  Polyeder  tob  Bvler  fassen  auch  dteeea 
Abschnitt  des  Lehrbuches  als  eiuen  recht  zweckmäßigen  erscheinen. 

Die  analytische  Geometrie  ist  mit  etwas  größerer  Ausführlichkeit  be- 
handelt; 80  wird  die  Glef drang  der  feraden  Lilie  ia  mehrlhdier  Wvrm  Torge- 
filhrt.  Auch  kumnien  hier  versrhiedcne  Aufgraben  zur  Lftsung.  unter  anderen 
auch  die  Au&teUung  der  Gleichung  einer  Winkelsjmmetralen,  welche  Anlass 
güit,  das  BeonHat  lu  TenllgeDieiBera  und  aar  Pom  einer  OMehaag  su  go* 
langen,  welche  uns  in  der  modernen  .\nalTse  prelSiificr  7.n  sein  hat.  Auch  die 
sphärische  Trigonometrie  erfreut  sich  eingehenderer  Darlegung,  nament- 
lich warde  es  aieht  unteiiaasen,  aof  den  Zusammenhang  zwischea  doB  Formela 
der  ebenen  nnd  sphärischen  Trigonometrie  hinzuweisen.  Der  Anhang  über 
Kartcnprojectioncu  ist  in  drei  Abschnitte  gegliedert,  welche  von  den  per»pecti- 
vischen,  Kegel-  und  Cylind«r*Prqjeotionen  handeln  nnd  den  Freuden  der 
Geographie  gewis-s  willkommen  sein  werden. 

Die  Einrichtung  vorstehenden  Lehrbuches  littst  allerdincfs  die  Mitbcnützuug 
einer  Aufgabensammlung  als  unerlftsslich  erscheinen,  unter  d«  nen  sich  jene 
TM  Busch  dem  Lehrbuehe  recht  gut  anschließt.  Die  Vcriagshandlung  hat 
ihr  Bestes  gethau,  um  dcu  gediegenen  Inhalt  in  augeuchmer  Form  zu 
bieten.  H.  E. 

6.  iMiwidi  isd  Bb.  Weyr,  Frareaaeren  dar  üntveniat  in  Wten,  Ko- 
antslieft«  ftr  Mathematik  nnd  Phyailc.  1.  Heft  48  S.  Wien  1890, 

Uanz.   Abonnementspreis  für  12  Hefte  3rk.  14. 

Die  Aufgabe  dieser  Zeitschrift  soll  die  THe^e  der  rein  wissenschaftlichen 
Forschung  durch  Veröffentlichung  von  nngiualarbeiten  sein:  auch  soll  durch 
Berücksichtigung  der  Untersudiungen  über  die  Grundlagen  der  Wissenschaft 
dem  BedUri'nisse  der  Lehrer  höherer  Schulen  Rechnung  getragen  werden. 

l>a.s  vorliegende  erste  Heft  enthiüt  vom  Hofrath  Stefan  (Wien)  einen  Auf- 
satz Uber  die  Theorie  der  Eisbildung  unter  dem  Hinweis  einer  möglichen  Er- 
weiterung dieses  Problems.  Auch  der  Aufsatz  Uber  stetige  Functionen  und 
deren  extreme  Werte  ron  Julius  König  i Budapest)  ist  ladit  intereasaat;  wo- 
gegen daa  Folfende  nm  F.  Hertens  (Oiaa)  «her  inTiriante  Gebilde  der 

MbfOftaB.  IM.  Jahig.  YI.  Heft.  29 


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—   406  — 


räumlü-hcn  (  ollincatiun  unverständlich  bleibt,  wenn  man  nicht  einen  SitKuagS- 
bcricht  der  kaiserlichen  Akademie,  auf  welchen  sich  der  Verfasser  besieht,  nur 
Hand  liat.  —  Hie  höhere  Ableitunf?  eines  Qnotienten  sweier  Functionen  von 
F.  Mayer  (Clausthal)  enthält  eine  Verallgeuicincrung  der  sugunannten  Wa- 
ringschen  Potenzsummenformel ,  w&brend  einige  arithmetische  S&tce  Aber 
complexe  Zahlen  von  (rcgenbaaer  (Innsbruck)  an  die  Arbeiten  vonBagajef, 
C-esaro  und  Tchebychef  anknüpfen. 

I>ie  rühmlich  bekannten  Namen  der  Herausfrrber  und  der  Umstand,  dass 
sich  ibr  UntentebaeD  der  Uatenttttiang  der  UnteniebtaverwaUung  erfreut, 
lassen  erwarten,  dass  dasselbe  einen  gttten  Fortgang  nehnen  wtrdflL    H.  B. 

Anthropologie  uud  (iesundheitslehre  für  Lehrer  und  zum  Selbst- 
unterrichte. Mit  beMüderer  Berttckgtchtignng  des  Baues  dar  Tbiere  be- 
aibettrt  toh  K*  IbnnlA  Vtgtl.  428  8.  Mit  97  AbbiUngeii.  SpandM 
1888,  Hopfsche  Verlagsbuchdrnckerei. 

Seit  die  Anthropologie  und  Gesundhoitslehre  ein  Lehrgegenstand  der  höheren 
Classen  unserer  Schulen  geworden,  mehren  sich  die  Leitfäden  tUr  den  l  nter- 
rioht  in  bedeutender  Zahl.  Berufene  und  Unberufene  werfen  Compendien,  die 
meistens  nur  Compilationsarbeit  sind,  auf  den  Büchermarkt.  Vogel,  der  ans 
schon  durch  die  iierausgabe  guter  Lehrbücher  bekannt  ist,  hat  nun  im  voi^ 
üeg^den  ein  ziemlich  weitläufiges  Werk  geliefert,  das  als  recht  gelnngen 
bezeichnet  werden  kann.  Pie  iiullere  Organisation,  die  Eleraentarorgane,  das 
Knochen-  und  Muskeisystciu ,  da*  ^iervensystera  und  die  Sinuesurgane .  das  (»e- 
filii- ,  Athmungs-  nnd  Verdannngssystem  werden  der  lieihe  nach  in  austllhr- 
licher  Weise  b^chrieben  nnd  diese  Beficbreibungen  durch  zahlreiche,  sehr  ge- 
lungene Abbildungen  unterstützt.  I>ie  physiologisdien  Vorgänge  sind  bei  den 
einzelnen  Abschnitten  durcliaus  »ehr  eingehend  nnd  leicht  Terst&ndlich  ge- 
sehildert  An  jedes  Üygiem  kniinit  sich  ein  sehr  detaiUirter  hjgiODischer  Ab> 
schnitt,  wdcher  die  EjankbeRsersehelnungen  bespricht  imd  einfkche  Ter- 
haltungsmaSregeln  und  Heilmittrl  an^ilit  entstandene  Sehüdi  n  zu  heilen,  oder 
doch  ^  zum  Eintreffen  eines  Arztes  das  Weitergreilen  des  L'bels  hintanzu- 
balten.  Die  Blicke  auf  die  entsprediende  OrgamaatioB  der  TUere  gebSren 
zwar,  streng  genommen,  uicbt  in  dieses  Buch,  geben  aber  doch  oft  einen  will- 
kommenen Anlass,  außer  der  Beobachtung  des  Thieres  auf  die  menschliche 
Organisation  einen  mehr  oder  weniger  bwechtigten  Schluss  zu  ziehen.  Mit 
einem  Abschnitte  fiber  l-ebensalter,  Lebenslänge  und  Tod,  sowie  über  die  Ein- 
theilung  des  Jklenschengeschlechtes  schließt  das  interessante  und  belehrende 
Bach,  welches,  insbesoidefe  in  der  Hand  des  lichrcrs,  sich  setir  nfttaUeh  er- 
weisen wird.  Die  Ausstattung  des  Werkes  ist  sehr  su  loben.      C.  R.  R. 

Unsere  Pflannen  nach  ihren  dentschen  Volksnamen,  ihrer  Stellung 
in  Mythologie  und  Volksglauben,  in  Sitte  und  Sage,  in  Geschichte 
und  Literatur.  Beitrage  zur  Belebung  des  botanischen  Unterrichtes  und 
BOT  Pflege  sinniger  Frende  In  nnd  an  der  Nator  Ar  Sehnle  nnd  Hans  ge- 
sammelt nnd  beranagegeben  von  H.  R«liBg,  klSnigL  Ptiparandenanitnlta- 

.  Vorsteher  in  Wandersleben,  nnd  J.  Bohnhorst,  Lehrer  am  G^minasium  in 
Halberstadt.  Zweite  vermehrte  Auflage.  XVI  n.  408  S.  (3K>tha  188Ö,  Ver- 
lag von  E.  F.  Thienemanns  Hofbuchhandlung.   4,6U  Mk. 

Eiu  hochinteressantes  Buch  mit  reichem  Lihalte,  in  welchem  167  Pflanzen 
unserer  heimischen  Flora  gesell ihlert  wefden,  wie  sie  sich  das  Volk  seit  den 
ftltesten  Zeiten  in  ihren  wirklii  hen  oder  vermeintlichen  Wirkungen  vorstellte. 
Viele  historische  Daten  über  einzelne  besonders  bekannte  Exemplare  werden 
uns  vorgeführt,  die  Trivialnamen  sowol  etymologisidi  als  auch  ihrem  Sinne  nach 
erklftrt.  Vor  allem  sind  fast  bei  allen  Pflanzen  ainnige  Qedichte  angeführt 
und  Bwar  nicht  blos  von  den  großen  Meistern  der  deutschen  Literatur  i  selbe 
treten  sogar  sehr  selten  auf),  sondern  wir  begegnen  hier  vielmehr  minder 
bekannten  oder  balbvergessenen  I^amen,  welche  i£re  Vene  der  Feier  der  Kinder 


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—  407  — 


Flons  gewidmet.  Eb  ist  nnsweifelhatt,  daas  auf  diese  Weise  das  gemüthvollc 
Empfinden  im  Herzen  der  Kinder  ^weckt,  das  sinnige  und  Terständnisvolle 
Beobachten  der  Natur  angebahnt,  die  edle  Freude  an  dem  Walten  der  Natur- 
kittfte  auch  im  Jüeinen  gesteigert  wird.  FOr  die  Schule  selbst  wird  wol  bei 
der  karg  zugemessenen  &t  diese  Art  der  Betnehtnng  der  Pflanzenwelt  nicht 
praktisch  durchfülirbar  sein;  aber  wonn  der  Lehrer  mit  seinen  Schillern  wie 
ein  Vater  mit  den  Jüodem  im  heiligen  Waldesdome  oder  ttber  den  bunten 
Wiesenplan  wandert,  wird  oft  genug  sieh  Gelegeoheit  Meten,  die  r(riöhen 
Schfttze,  die  in  dem  Buche  aufgespeichert  sind,  nützlich  zu  verwenden;  im 
Hnase  wiid,  wie  im  (harten,  an  die  gepflückte  Blume  sich  eine  Sage  oder  an- 
lidbende  JBnililong  anknüpfen  lassen  vnd  dndwdi  die  Betntelitnng  des  Natar> 
objectes  beleben.  In  diesem  Sinne  bcerüßen  wir  das  Ersrhcinen  dieses  Buches, 
das  durch  die  Nothwendigkeit  einer  zweiten  Auflage  seine  Beliebtheit  zeigt, 
auf  das  frrandlieliste  nod  rnndien  Lehrer  und  Elton  nnf  dasselbe  gcbUrend 
aufinerksam.  C  K.  U. 

-Das  heimische  Natnrleben  im  Kreislauf  des  Jahres.  Ein  Jahrbuch 
d«r  Natur.  Unter  Mitwirkaug  hervorragender  Fachgelehrten  und  Kenner. 
Von  I^.  K»t1  Bdm.  VolbtBiidig  in  12  tieÜBrnngen  &  80  Pf  Beriin  1889, 
Verlag  yon  Robert  Oppenheim. 

Dieses  Werk  enthält  in  höchst  interessanter  Schilderung  das  Naturleben  der 
Erde;  Pflanzen-  und  Thierreich  werden  in  gleich  eingehender  Weise  behandelt; 
die  Entwickelung  der  Bäume,  Sträuchcr  und  Knititer  wird  vom  Beginne  an 
schrittweise  verrolgt,  das  Erwachen  des  thierischen  Lebens  bis  zum  höchsten 
Stande  des  entwickelten  Daseins  der  Thiere  in  den  einaelnen  Monaten  anziehend 
fjeschildert ,  und  ebenso  das  Ableben  derselben  in  den  Herbstmomitoii  genauer 
Beobachtung  unterzogen.  Land'  nud  Forstwirtschaft  Anden  in  den  einielnen 
Monaten  ihre  gebtlrende  Berfleksichtigung;  die  Blnmensndit  im  Garten  nnd 
Zimmer,  die  Gemüse-  und  ( )bsfgärtnerei,  das  flalten  von  Zimmerrögeln  und 
Uausthieren  wird  in  ausgiebiger  Weise  abgehandelt.  Selbst  außeriidische 
Vorgftnge,  die  Hinmels-  ind  die  "Vl^lterungskunde,  haben  einen  mehr  als 
aasreichenden  Platz  in  dem  Werke  gefnnden.  TabeUarist  he  t'ber^ichten  Wher 
die  Tliier-  und  Pflanzenwelt  in  den  einzelnen  Monaten,  sowie  nach  Monaten 
geordnete  VerBeichnisse  Aber  die  Tonundimenden  Arbeiten  In  Hans,  Qartan, 
Feld  und  Wald  machen  da.s  Buch  zu  einem  im  vollen  Sinne  des  Wortes  prak- 
tischen Handbuche;  nicht  uur  der  wissenschuftlich  Gebildete,  sondern  auch  der 
praktiidM  LsümI-  «nd  Hauswirt  kann  aus  demselben  yiel  knm  ud  m  seinem 
Nutzen  anwenden.  Dabei  ist  die  Ausstattung  eine  schöne  n  nennen  nnd  mit- 
hin das  Werk  in  jeder  Hinsicht  aller  Empfc^nng  wert.  C.  £.  R. 
Akxrader  Sipai,  Otterreich -Uacrarn.  Mit  S  Karten  in  Ferbendmekf 
60  Vollbildern  nnd  121  Textabbildungen.  (Sonderabdmck  aus  der  Länder- 
kunde von  Alfred  Kirchhoff.)  Prag  und  Impzig  1889,  Tempsky  &.  Freytag. 
Supan,  längere  Zeit  Professor  der  Geographie  an  der  Universität  Czernowitz, 
bietet  tn  dem  vorliegenden  Werke  das  erste  wissenschaftliehe  Handbueh 
der  Geographie  Österreich-Ungarns.  Was  bisher  an  Werken  ttber  die  Gcsammt- 
Monarchie  vorhanden  war,  waren  mehr  Nachschlagewerke  fUr  den  praktischen 
Gebrauch,  wie  z.  B.  Umlauft«  Handbuch  oder  das  iltere  Schmicdlsche  Werk, 
die  sich  durch  die  Mittheilung  einer  größeren  Menge  Daten,  nicht  aber  durch 
die  wissenschilt tÜL he  Venirbeitung  derselben  charaktcrisircn ,  oder  es  waren 
Bfleher  in  der  Art  der  Uciscbeschreibungen.  Wi-ssenschuftliche  Arbeiten  gab 
es  nur  über  einzelne  Abschnitte  oder  über  einzelne  Theile  der  Monarchie.  Das 
volle  Verständnis  des  Werkes  von  >Supiiu  ist  in  dem  oropn>^phischen  Theile 
bedingt  durch  eine  Sunimc  geologischer  Kenntnisse,  wie  sie  etwa  die  oberen 
Classen  einer  Realschule  oder  eines  Gymnasiums  gewähren.  Supan  betrachtet 
n&mlick  im  Geiste  der  modernen  Geographie  die  Orographie  anch  vom  Stand- 
punkte des  Geologen,  ja,  legt  auf  lue  Darstellung  der  (gegenwärtigem  geo- 
logischen YerhiUtnisse,  der  Gesteinaart,  Structar  etc.  das  Hauptgewicht  bei 
der  Ghanktadatik  der  Oebirgssysteme.  Za  diesem  Zwecke  mwertet  er  Im- 
besonden  die  JalwMlober  der  geekgiishei  Beialisaaftalt  in  Wien  niolit  bks 


—   408  - 


ihrem  Inhalt  ladi,  fondeni  «ndi,  wat  ihre  Skiaen,  Proflle  eCe.  betrifft.  Die 

Monarchie  ja^ppirt  er  hoi  seiner  Bctrachtunt;  in  vier  darch  die  Natur  selbst 
vou  einander  ffeechiedene  Thcile:  in  die  AlpenlAnder,  in  die  Sodetenländer,  in 
die  Karpatheniliider  (das  daatthiaehe  OeUet  md  die  attBericupaMaehen  Linder» 

H^ruppen)  und  in  das  KniatgebieC,  und  hetrnchtct  jede  dieser  (rni])i)eD  in  der 
Weiae,  dnu  er  zuerst  die  pigralnha  (ieoeraphie  (Öro-,  Hydrographie,  lüiuia, 
Vegetstieii  md  Thienreit)  'vorfShri  «ad  dann  die  Caltiirs«ofnpbie  (die  wirt- 
schaftlichen und  nutionalen  VerhältnissoV  In  einem  Srhiussworte  beleuchtet 
er  die  politiseiieu  l'heile  der  Monarchie  und  ihre  Bedeutung  im  wirtschaftlichen 
Leben  derselben  und  die  Stellung  der  Monarchie  auf  dem  Weltmarkte.  Diese 
Inhaltsübersicht  «lürtte  einen  Einblick  in  die  Anlage  des  Werkes  gewähren. 
Die  Art,  wie  jedes  einzelne  behandelt  wird,  ist  folgende:  Supan  setzt  jede  Er- 
scheinung in  den  ihr  von  der  Natur  gegebenen  Zusammenhang  mit  der  lie 
bedingenden,  von  ihr  beeintlulJten.  Das  Aufdecken  dieser  WecLselbeziehuugen, 
uur  uiüglich  hei  einer  vollstündigou  Beherrschung  de»  Stoffes,  einer  gründlichen 
Kenntnis  aller  Erscheinungen,  und  nur  möglich  dem  Scharfblick  eme»<  wis^en- 
BchaftUch  goächnlten  Foredters,  ist  einer  der  Keize,  der  jeden  dcukenden  Leser 
an  das  WerkSupans  unwiderstehlichfesselt.  Dazu  kommt,  dassSupun  bei  der  Darstel- 
lung der  Cnlturgeographie  Ober  ein  reiches  historisches  Wissen  verftlgi.  das  ihn  in 
den  Stand  setst,  g^^wärtige  mit  vergangenra  Zuständen  zu  vergleichen. 
Bb  iat  diesea  Wiana  mn  so  hoher  stMlen,  ah  es  rahr  mtthsam  m  erlangen 
war.  Es  sind  j:i  nur  kleine  Notizen  gewesen,  in  den  vi  rschiedensten  Büchern 
uid  Zeitsohrilten  aerstreat,  aiedeigelegt,  die  von  ihm  zum  entenmale  wissen- 
adwfüieh  Tenrertot,  nriteiBaader  in  seaiehung  gebracht  nnd  ao  ins  rechte 
Licht  gestellt  WUdcn.  Man  schlage  nur  7..  B.  die  Capitel  nach  über  den  Berg- 
bau in  den  Alpealftndem  oder  Uber  die  wirtscbafüieben  Verhäitaiase  Nord-  und 
SÜhOtaneas  in  derNonaeit  vad  lai  KittdaltBr,  nad  num  wird  ataaaead  gewahr 
werden,  wie  unter  der  Leitung  dieses  wisBcnschattlieh  geschulten  Betnichters 
die  paar  Notizen  alter  Chronisten  Leben  und  Bedeutung  gewinnen.  Die  ver- 
gleichende MeUiode  ftlhrte  ihn  auch  sonst  rar  Aufdeckung  der  interessantesten 
Thatsachen;  insbesondere  s'ih  dies  Ton  der  Art,  wie  z.  B.  .Supan  die  Besiede- 
lungsrerhiLltnisse,  die  V'erthcilung  der  Bevölkerung  und  der  Ortschaften  betrachtet. 
^Mas  er  dabei  von  einer  Autzählung  der  Merkwürdigkeiten  der  einzelnen 
()rte  und  von  der  Angabe  der  in  NaehHchlaffo werken  üblichen  statistischen 
Daten  absieht,  ist  selbstverständlich.  Nur  das  hat  er  von  diesem  Material 
v<  rkfbeitet,  was  in  oaasalem  VerfaJlltnit  steht.  Wir  würden  mit  der  Hervor- 
hebung der  genannten  Bi|^nthtbnlichkeiten  das  Buch  nicht  vollständig  charak- 
terisirt  haben,  wollten  wir  nicht  auch  der  Bilder  gedenken,  die  den  Text  er- 
läutern oder  eine  Beschreibung  überflüssig  machen,  die  vielleicht  mancher  auf 
den  ersten  Blick  an  einigen  Steilen  des  Buches  vermissen  könnte.  Bilder 
ersterer  Art  sind  die  Laadkärtchen,  zumeist  im  Maßstäbe  1 :  loOOOO,  darstellend 
die  Uiiigelnuit;  einer  Stadt,  eineu  Gebirgsabschnitt  etc.,  ferner  die  geologisehen 
Protile  und  die  vom  Standpunkte  des  Geologen  aa^nonimenen  Skisen.  Bilder 
der  anderen  Art  sind  die  Landsehafts-  nnd  Stidtebilder,  die  Abbildnngen  -von 
Bauwerken  i  f»-.,  die  entweder  für  das  Werk  nach  Photuirraphicn  eigen»  her- 
gestellt worden  sind  ^darunter  befinden  sich  einige  ganz  vorzügliche;  oder  die 
dem  „Kronprittsenwene*,  oder  dem  Stvttg^er  wnice:  „Wanderungen  dardi 
.'-'toienn.nrk  und  Kilrnthon",  entlehnt  sind.  Die  verschiedenen  (Quollen  erklären 
die  N'crschicdcnhcit  iu  der  Darstellung  und  Technik  der  Abbildungen.  Für 
einen  Lehrer,  der  an  einer  Itsterreielitechen  Schule  wirkt,  kann  Snpans  Werlc 
nach  all  dem  (»esagtcn  nur  ein  rreradezu  unentbehrliches  Buch  genannt  werden. 
Die  Mühe,  die  das  Studium  des.sclben  kostet,  wini  reichlich  gelohut  durch  die 
erlangte  Auffassung,  durch  das  gewonnene  Verständnis  der  heimatlichen  V'er- 
hSltnifse.  Aber  auch  dorn  Lehrer  im  „Keiche",  besonders  den  Herren  Ver- 
fassern der  Schulgeographien  und  Leitfäden  möge  das  Werk  recht  sehr  em- 
pfohlen sein.  Viele  der  letzteren  werden  dann  aadi  ersehen,  zu  ihrer  Leser 
Vortheile,  wie  grund-  und  haltlos  manche  ihrer  aus  veralteten  Bttcfacm  ge- 
sch"»pften,  Ostcrreieh-Ungam  betreffenden  Angaben  sind.  W. 

Veiantworü.  K»(UoteBi  Dr.  Fri«drieh~DittVt.   BathdraelMrei  J-oliaa  Klinkhardt,  Leipiig.  ~ 


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Kwm  Gliirtkteristik  ier  siniitliclieii  Werke  Beneke's 

nach  der  Zeitfolge  ihres  Erscheinens.*) 
Von  weiland  J,  G,  DreaOer,  Sminariliredor  in  Bautten. 

ie  Beneke's  Schriften  reich  sind  an  neuem,  eigen thünilicliem 
Inlialte,  so  ist  auch  die  Forschung.smethode,  die  den  Verfasser  zu 
diesem  Inhalte  geführt  hat,  eine  ihm  eigenthüraliche.  Mit  den  heiT- 
lichsten  Eil'olgen  ist  diese  Methode  zwar  schon  seit  200  Jahren  in 
den  Naturwissenschaften  angewendet  worden,  und  hier  ist  sie  demnach 
eine  alte;  in  geistigen  Dingen  hat  man  sie  vor  Beneke  stets  vernach- 
Ussigt,  wem  auch  einige  einen  sdiiniclien  Anlaiif  in  fiiMr  Benntznng 
nabmen;  erst  Beneke  hat  sie  consequent  anf  die  Seele  in  Anwendung 
gebracht  Kein  Philosoph  konnte  daher  die  rdchen  Entdeckangen  in 
der  geistigen  Welt  machen,  die  Beneke  gemacht  hat,  nnd  eine 
Charakteristik  yon  Beneke's  Werken  setzt  darmn  Torans,  dasa  znnAchst 
.das  Eigenthtlmliche  seiner  Forschnngsmethode  dargelegt  sei 

Alles  mensdiliche  Wissen,  hetreife  es  die  An8^  oder  die  Innen- 
welt, wohnt  in  der  menschlichen  Seele;  sie  allein  ist,  wie  der  Triger, 
so  auch  der  Erzeuger  aller  unserer  Wiasensehaft.  Solange  wir  non 
die  Kräfte  und  Qesetm  der  Seele  nicht  erforscht  haben,  fehlt  uns 
nothwendig  die  Einsicht  in  die  Entstehung  unseres  Vorstellens 
und  Wissens,  somit  aber  auch  die  Basis  iBr  die  Beorthellnng,  in 
wetehem  Grade  unser  Vorstelka  und  Wissen  ZuTcrlSssifl^eit  besltse. 
Das  Wesen  unserer  Seele  wird  uns  aber  nur*  kund  durch  sorgfitttige 
Beobachtung,  durch  Erfahrung,  und  wir  müssen  also  auf  das  achten, 
was  in  unserem  Innern,  in  unserem  Selbstbewusstsein,  vorgeht 

*)  Die  vielseitige  Wichtigkeit  der  l'hüosophie  uud  besonders  der  I'sychologie, 
sowie  der  Unutaiid,  dam  die  Lehie  Bencke'e  bidier  nur  In  eiaem  TeiHltiiinaUUg 
Ueineii  KicIm  die  Terdieate  Wflxdigiuig  geflmden  het  —  de  hitte  lohweieB  Vm- 
immgeii  auf  pädagogkcbem  Gebiete  Torbeugen  kSmwn!  Teraula.«son  uns.  obige 
Charakteristik  auf«  neue  ztim  Abdruck  zu  bringen,  womit  wir  zu^lei(  h  verschiedenen 
Wünschen  uud  Aulragen  bezüglich  der  Werke  des  gcuauuten  forscherb  entsprechen 
nOekten.  Die  hiexmit  Teprodndfte  Ailieit  Dranleie  endiieii  raent  1861  bei  E.  S. 
Mittler  ft  Sohn  in  Berlin.  D.  Red. 

PHdagoclaiB.  lt.  Jaluf.  HeftVU.  80 


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—   410  — 

Wie  für  die  Naturforscher  die  äußere,  so  bleibt  tür  deu  i'hilosophen 
die  innere  P^rfahrung  diealleinigeQuelleallerGewissheit  und  Wahrheit. 
lU'nkeu  kann  mau  ja  auch  das.  was  gar  uicht  existii't,  und  was 
existiit,  kann  uian  anders  denken,  als  es  existirt,  denn  das  Denken 
geschieht  durch  Begriffe,  die  auch  auf  bloße  Einbildungen  angewandt 
Verden  können;  folglich  gibt  nur  die  wiederholte  Beobachtung  über 
die  Existenz  und  die  Besdiaffenheit  des  von  jemand  Gedachten  oder 
Behanptetea  fliehte  Anskinift.  Das  tmi  der  EriUinmg  abgewandte, 
daa  reine  oder  bloBe  Denken,  gewöhnlich  Specnliren  genannt^  führt 
miansbleiblidi  in  die  Ine,  weil  es  die  Ezistena  des  Gedachten  woi 
voranssetst,  aber  durch  nichts  gewAhrleistet 

Freilich  kann  die  Erihhmng  nicht  alles  an  den  Gegenständen 
wahrnehmen,  manches^  nnd  oft  gerade  das  Wirksamste  in  ihnen,  ent- 
zieht sich  dem  Blicke,  nnd  wie  dies  der  Fall  ist  bei  den  Gegenstftnden 
der  änfieren,  so  anch  bei  denen  der  inneren  Erfahmng.  Was  thnt 
man  dann?  Man  ergänzt  das  Fehlende  durch  Voraossetznngen  (Hypo- 
thesen), also  durch  Hinzogedachtes,  sonst  behielten  wir*in  dem  Wahr- 
genommenen nnr  BmchstOcke,  wir  gewännen  kein  in  sich  zusammen- 
stimmendes Ganze,  und  das  Begreifen  fiele  weg.  Zur  Hypothesenbildnng 
ist  also  das  Denken  durchaus  erforderlich,  nur  muss  es  ein  Denken 
sein,  das  streng  von  den  beobachteten  Thatsachen  gefordert,  in  keiner 
Beziehung  Villktirlich,  nie  von  der  Erihhrung  abgewendet  ist  Es 
darf  folglich  der  Er&hrung  nicht  vorangehen,  sondern  mnss  ihr 
nachfolgen,  es  muss  ein  Denken  a  posteriori,  darf  nicht  ein  Denken 
a  priori,  d.  h.  vor  der  Erfahrung  sein,  wie  eben  das  Denken  oder 
Speculiren  der  Philosophen  bisher  war.  Wenn  z.  B.  Herbart  annimmt, 
die  Seele  habe  gar  kein  Vermögen,  weder  etwas  zu  empfangen  noch 
zu  produciren,  so  ist  das  eine  Hypothese,  die  er  durch  Denken  vor 
der  'Erfahrung  gebildet  hat,  und  es  ist  dämm  kein  Wunder,  dass  sie 
gegen  alle  innere  Erfahrung  verstößt.  Denn  diese  Erfahrung  lehi-t 
überall:  wo  keine  Kräfte  sind,  da  ist  auch  kein  Geschehen,  keine 
Entwickelung,  denn  aus  nichts  wird  nichts  —  ein  Satz,  an  welchem 
alle  Naturwissenschalt  fe.sthält  unil  festhalten  muss.  Folglich  kann 
die  richtige  Hy])<)these  nur  so  lauten:  Die  Seele  hat  Kräfte,  oder 
genauer  ausgedrückt,  sie  be.stelit  au.s  Kräften  oder  Vermögen,  welche 
für  die  Aufnahme  äußf^rn-  KiiidrUcke  <Miii>f;iii.<i-lich  sind  und  nul'  mit 
Hilfe  derselben  sich  w»-iter  forthilden  i  riinlnftinncn  erzeuü:en). 

Die  innere  Erfahrung  ist  nun  durch  Benekt*  eine  so  fruchtbare 
dadurch  geworden,  dass  er  die  alten  falschen  Hypothesen  verworfen 
und  neue  richtige  zu  dem  innerlich  Waluzuuehmeudeu  gebildet  hat. 


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—  411  — 


Sie  sind  also  angewohnt,  dime  Hypothesen,  und  man  hat  sie  bisher 
nicht  allgemein  anerkennen  wollen, 'aber  sie  sind  .von  den  Thatsachen 
mit  Notbwendigkeit  gefordert,  and  die  Thatäachen  werden  nur  durch 
sie  begreiflich.  Man  denke  an  die  „Spuren'',  an  die  „gegenseitige 
Anziehung  des  Gleichartigen",  an  die  „Ausgleichung  der  beweglichen 
Elemente",  an  die  ..Anbilduiig  neuer  Urvermögen"  etc.,  lauter  Hypo 
thesen,  die  von  den  beobachteten  Thatsachen  de.^  Innern  unausgesetzt 
bestätigt  werden.  Sie  stehen  daher  eben  so  fest  wie  die  Hyiiothesen, 
diu-ch  welche  die  Naturforscher  die  Bewegung  der  Phmeten,  die 
Erscheinungen  beini  Licht,  bei  der  Luft,  bei  der  Elektricität  etc. 
erklären,  ja  sie  haben  eine  noch  viel  größere  Zuverlässigkeit  als 
diese,  da  die  innere  Erfahrung  viel  tiefer  dringt  als  die  äußere,  nicht 
auf  bloße  Erscheinungen  beschränkt  ist,  sondern  das  An-sich-sein 
des  Wahrgenommenen  erfa^st.  Von  den  Außendingen  fallen  nämlich^ 
nur  Eindrücke,  die  sie  auf  uns  machen,  in  unser  Bewusstsein,  nicht 
sie  selber,  und  somit  nur  gleichsam  ihr  Schatten,  ja  bei  den  sicht- 
baren und  hörbaren  Dingen,  die  gar  nicht  unmittelbar,  sondern  nur 
durch  das  Medium  des  Lichtes  und  der  Luft  auf  uns  einwirken, 
nehmen  wir  sogar  nur  den  Scliatten  des  Schattens  in  unser  Bewusst- 
sein auf.  Nun  ist  aber  alle  Erkenntnis  an  das  Bewusstsein  gebunden; 
was  tui  eine  vollständige,  genaue  und  wahre  Erkenntnis  von  den 
Außendingen  kann  uns  folglich  solcher  Schatten  gewähren?  Was  wii* 
dagegen  einzelnes  in  nnserem  Innem  wahrnehmen,  ist  das  Wahr- 
genommene selber  und  ganz,  sobald  es  ganz  ins  Bewusstsein  gehoben 
wird;  indem  wir  einen  solcihen  Act  durch  einen  sieh  darauf  beziehen- 
dan  Begriff  („innem  Simi*',  aofEuteii  oder  yorstellen,  kommt  keine 
anffiwwende  llraft  hinzu,  die  von  dem  AuüEuftissendeD  in  der  AH  ver- 
schieden ^wftne,  wie  solches  bei  der  Wahrnehmung,  der  Aufiendinge 
stets  der  Fall  .ist .  Sein  und  Vorstellen  bleibt  bei  der  inneren  Wahr- 
nldunung  eins;  wir  sind  zogldch  dap,  was  wir  TorsteUen,  und  diese 
Eiidieit.  allein  gibt  die  vollste  Wahrheit»  die  uns  Menschen  zu  en<eichen 
milgüch  ist  Darum  können,  wir  auch  nur  unser  Inneres  in  seiner 
Genesis:  diButUch  verfolgen,  und  so  wird  die  peychische  Selbst- 
erkenntuis  zum  Uaßstabe  &ac  die  Wahrheit  und  Gtewissheit  aller 
anderen  ErkeAntnis.  • 

.  Das  Gerägte  mag  manchem  pmHox  v^oi^ommen,  es  bleibt  aber 
nur  f&r  'den  befremdlich,  dar  in  der  innereu.Er&hrung  ganz  ungelibt 
bleibt;  er  staunt,  wie  der  FremdUhg  in  der  Astronomie  ebenfalls  staunt, 
wenn  er  die  Astronomen  sprechen  hört.  Durch  Übung  wird  man  in 
i^em  Heister,  und  wie  man  im  Gebiete  der  äußeren  ficfahrung 

ao* 


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—   412  ^ 


allmählich  eine  Sicherheit  des  Blickes  gewonnen  hat,  die  unseren  V<M> 
eitern  unglaublich  schien,  so  ist  gleiches  noch  mehr  in  der  inneren 
Erfahrunp:  irxiglich.  Denn  diese  Erfahrung  beschränkt  sich  ebenso- 
wenig wie  die  äußere  auf  die  ungesuclite,  zutallige  Wahrnehmung, 
sondern  auch  ihr  ist  die  Beobachtung  (die  gesuchte  und  mit  Auf- 
merksamkeit verfol^ite  Wahnielimung),  sowie  der  Versuch,  das 
Experiment  möglich,  da  mau  aucli  an  der  Seele  experimentiren  kann. 
Genug:  der  Seelenforscher  geht  ebenso  ^vie  der  Naturforscher  zu- 
vörderst den  We^r  der  Tnduction  (Aufzählung  des  einzelnen),  d.  h. 
er  sammelt  die  einzelnen  Thatsachen,  stellt  sie  zur  Vergleichung 
zusammen,  verfahrt  also  zuerst  syntlie tisch;  danu  zerlegt  er  in 
Gedanken  das  so  Gefundene,  das  immer  aus  mehr  oder  weniger 
zusammengesetzten,  oft  sehr  verwickelten  Producten  besteht,  in  seine 
Factoren,  und  gelangt  so  auf  analytischem  Wege  zu  den  Grund- 
kräften und  Grundgesetzen,  durch  welche  die  Seelenvorgänge 
bedingt  sind.  Die  Objecte,  womit  es  die  innere  Erfahrung  zu  thun 
hat,  sind  freilich  ganz  andere  als  die  Objecte  bei  der  äußeren  Erfahrung; 
jene  sind  geistige,  diese  materielle  Objecte,  aber  die  Methode 
der  Forschung  ist  bei  jenen  wie  bei  diesen  anwendbar.  Da  nun  diese 
Methode  seit  ßaco  und  Galilei  in  den  vorzugsweise  so  genannten 
Naturwissenschaften  zur  Anwendung  gelangt  ist»  so  hat  sie  den  Namen: 
naturwissenschaftliche  Forschungsmethode  bekommen,  und  nur 
dieser  Methode  verdanken  wir  es,  dass  die  ehemaligen  Träumerden 
Uber  die  Anfiero  Natur  aufgehört  haben.  Wird  dkse  Metiiode  anf  die 
Seele  angewendet,  so  erhftlt  natflrüch  anch  die  Psyehologie  einen 
naturwissenschaftlichen  Charakter,  wfihread  sie  immer  eine  Wissen- 
schaft Vom  Geistigen  bleibt,  nnd  da  die  Philosophie  sich  ganz  auf 
Sedenknnde  MQtzt,  weü  sie  es  wesentlich  mit  der  weiteren  ErOrtemng 
nnd  Be^rbeitang  Ton  Seelenaoten'  nnd  Seelenprodncten  in  thm  hat 
(kanm  die  sogenannte  Naturphilosophie  ansgenommen),  so  mnss  anch 
sie  an  einer  Naturwissenschaft  vom  Geistigen  werden,  wie  sie  es  in 
Beneke's  Werken  bereits  geworden  ist 

Dies  sind  in  Hinsicht  der  Forsdiungsmethode  die  Principieo,  von 
welchen  Beneke  ausgegangen  nnd  denen  er  nnTerbraddiehtrea  geblieben 
ist  Schon  seine  frühesten  Schriften  hat  er  so  klar  nnd  bestimmt  ab> 
gefosst,  als  dies  ohne  die  erst  später  von  ihm  anogebüdete  nene  und 
schärfere  Terminologie  nur  irgend  mOgUch  war.  Dies  zeigt  sich 
bereits  in  der  ersten  Schrift,  die  er  heransgab: 


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« 


—  418  — 

1)  nErkenntnislehre  nach  dem  Beimsstsein  der  reinen  Ver* 
nanft  in  ihren  Grundzli^en  darg^elegt"^  Jena,  bei  From- 
mann,  1820.   XVI.  u.  21()  S.  kl.  8". 

Schon  diese  erste  von  Beneke  veröflfentlichte  Schrift  verficht  den 
Satz:  Alles  Wissen  entsteht  durch  AVahrnehmung  der  Thätigkeiteu 
unseres  Geistes,  und  diese  Tliätigkeiten  oder  die  von  ihnen  gebildeten 
Abstracta  müssen  aller  Wissenschaft  als  höchste  Anschauungen  zum 
Gründe  gelegt  werden*'  (S.  15*^).  In  Hinsicht  der  Bündigkeit  stechen 
die  dafür  geführten  Beweise  freilich  noch  ab  von  der  Strenge,  die  sich 
in  den  späteren  Werken  geltend  macht,  und  das  wird  bei  einer  jugend- 
lichen Krstlingsarbeit  wol  nichts  Auffalliges  haben;  der  Jüngling  ist 
noch  kein  Mann.  Die  Speciilation  in  bloßen  Begriffen  wird  aber  hiei" 
schon  eifrig  bekämpft  und  das  Kehlerhafte  in  den  bislierigen  Systemen 
der  Philosophen  freiniüthig  aufgedeckt.  Audi  versteht  Beneke  unter 
^reiner  Vernunft"  bereits  etwas  anderes,  als  was  bis  dahin  daflir 
gegolten  hatte.  —  Ähnlich  müssen  wir  über  die  zweite  Schritt  ui'theüen, 
*  die  mit  der  genannten  gleichzeitig  erschien: 

2)  „Erfahrungsseelenlehre  als  Grundlage  alles  Wissens 
in  ihren  Haupt zügen  dargestellt"  Berliji,  bei  E.  S. 
Mittler,  1820.    VII  u.  172  S.  kl.  8". 

Schon  dieser  Titel  besagt,  dass  sie  kein  Lehrbuch  der  Fsyeho- 
logie  sein  will;  sie  hat  es  nur  mit  dem  Nachweise  zu  thun,  dass  alles 
Wissen  auf  Ei'fahrungsseelenlehre  gebaut  werden  müsse,  zu  welchem 
Zwecke  sie  f^reilich  mancherlei  Psychologisches  nicht  entbehren  konnte. 
Aach  kann  man  noch  immer  psychologische  Wahrheiten  ans  ihr  Ionen, 
obgleich  dieeelben  nicht  in  der  Bestimmtheit  nnd  Klarheit  auftreten, 
wie  in  seinen  sp&teren  Werken.  Bichtig  ist  aber,  was  der  Yerisaaet 
in  der  Vorrede  sagt,  dass  er  nämlich  von  den  in  der  Torigen  Schrift 
dargelegten  Ansidilen  so  gut  als  nichts  aufgegeben,  sondern  nnr,  wo 
es  so  aussehe,  „weniger  wissenschaftlich  durchgebildete  Ausdrücke 
der  gebräuchlichen  Philosophie,  an  denen  er  dort  noch  aas  Gewohn- 
heit Ibetgehalten,  jetzt  mit  hesliimmteren  nnd  deutlicheron  vertausdit 
hahe."  Die  Anhänger  der  „gebräuchlichen**  Philosophie  konnten  hierin 
fteilich  keine  Verbesserung  erblicken. 

3)  De  veris  philosophiae  initüs  dissertat  inauguiaL  seripsit  atque 
ampUssimi  philosophorum  ordinis  anctoritate  pro  summis  in  phüo- 
sophia  honofibus  in  üniversitate  Berolinensi  lite  adipiscendis 
publice  defendet  etc.  Berlin,  bei  Mittler,  1830.  48  S.  8**. 

Hier  ist  seht  neuer  philosophischer  Standpunkt  noch  <^eiier  dar* 
gelegt,  ab  er  bereits  in  den  vorgenannten  Schriften  zutage  tritt 


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—  414 


4)  „Nene  Ornndlegmig  zur  Metaphysik,  als  Programm  zn 
•  seinen  Vorlesungen  fiber  Logik  und  Metaphysik  dem 

Drack  &h ergeben."    Berlin  and  Posen,  bei.  Emst  Siegfried 
Mittler,  1822.  33  S.  8«. 

Diese  Blätter  sollen  den  Beweis  fiihren,  dass  auch  die  philo^ 
sophischen  Wissenschaften  den  mathematischen  an  Klarheit,  Bestimmt- 
heit und  Bündigkeit  nicht  nachzustehen  brauchen,  und  die  Darsteliong 
bewegt  sich  daher  dnrch  and  durch  in  der  mathematisch  strengen 
Ableitung  ihrer  Sätze  von  einander.  Ausdrücklich  aber  bemerkt  der 
Verfasser  in  der  Vorrede,  dass  er  „diese  mathematisch  strenge  Methode 
in  seinen  Vorlesungen  mit  einer  weniger  steifen  vertausche,  da  sie 
für  den  Fortschritt  des  Denkens  ohne  Bedeutung  sei".  Seine  meta- 
physischen Ansichten  treten  hier  bereits  schärfer,  als  in  den  vorigen 
Schriften,  in  ihrer  Eig-enthümlichkeit  hervor. 

5)  „Grundlet^ung  zur  Physik  der  Sitten,  ein  Gegenstück  zu 
Kants  Grundlegung  zur  Metaphysik  der  Sitten,  mit 
einem  Anhange  über  das  Wesen  und  die  Erkenntnis- 
grenzen der  Vernunft/  Berlin  und  Posen,  bei  E.  S.  Mittler,  1822. 
XVI  u.  354  S.  8'\    (Ausgegeben  bereits  zu  Ende  isjl.i 

Diese  Schrift  zog  Beneke  (Febniar  1822)  das  Verbot  seiner  Vor- 
lesungen zu.  Theils  mochte  schon  der  Titel  (..Physik  der  Sitten-) 
anstr)ßig  befunden  werden,  obgleich  er  nur  bedeutet,  wa.s  Physik  iiberall 
bedeutet:  Naturlelire,  hier  also  eine  geistige,  uud  von  einer  solchen 
hatten  auch  schon  andere  geredet;  theils  und  vorzüglich  witterte 
Hegel  aus  dieser  Schrift  einen  getahrlichen  Nebenbuhler  in  Beneke, 
denn  auf  Hegels  Betrieb  vornehm licli  ist  jenes  Verbot  erfolgt.  Das 
Buch  enthält  die  erste  der  in  der  „Erfahrungsseelenlehre  als  Grund- 
lage alles  Wissens"  versprochenen  austührlicheren  Darstellungen  der 
philosophischen  Wissenschatten,  und  zwar  in  Briefform.  Freilieh 
kommen  iu  demselben  sehr  ungewohnte  Wahrheiten  vor,  und  manche 
neue  Ausdrücke,  wie  Lnstraum,  Strebangsraum,  gaben,  obgleich  sie 
genügend  erklärt  sind,  doch  seinen  Gegnern  eine  willkommene  Hand- 
habe za  den  ganz  imgegrUndeten  Vorwflrfen  des  Materialismns  nnd 
EpikareismoB.  Zwei Beeensionen,  die  in  gelehrtenZtitscliiiflea «rsciiisnen, 
fanden  nichts  iSefthrliches  in  dieser  Schrift;  aber  was  die  eine  an  . 
derselben  lobte,:  tadelte  die  andere  —  ein  meilLwfirdiges  Zeugnis  von 
der  üneinigkeit  der  philosophiBchen  Systeme.  Am  meisten  Anstoß 
nahmen  die  Gegner  an  dem  Nachweise,  dass  die  Freiheit  des  Willens 
kerne  absolute  sei,  indem  sie  daraas  folgerten,  dass  es  kehie  Zorech- 
nnng  geften  kSttne,  nnd  was  dergleichen  Verdrehnngen  mehr  waren. 


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—  416  — 


Auf  sechs  Vorstelliinjj^en,  die  Beneke  an  die  Behörden  (die  letzte  an 
den  König)  gerichtet  hatte,  um  den  Grund  zu  dem  Verbote  seiner 
Vorlesungen  zu  erfaliren,  blieb  jede  Antwort  aus,  und  dasselbe  Schicksal 
hatte  auch  eine  von  der  Universität  in  dieser  Beziehung  eingereichte 
Vorstellung.  Wer  sälie  nicht  aus  diesem  Vorgange,  dass  der  philo- 
sophisclie  Dogmatismus  eben  so  verfolgungssüchtig  macht  wie  der 
religiöse?  Indes  mochten  die  Gregner,  wie  ihr  Schweigen  beweist, 
wol  etwas  zur  Besinnung  gekommen  sein,  und  beschämt  mossten  sie 
dastehen,  als  Beneke  die: 

6)  „Schutzschrift  für  meine  Grundlegung  zur  Physik  der 
Sitten."    Leipzig,  bei  Reclam,  1823.    56  S.  8". 

herausgegeben;  denn  diese  kleine  Schrift  ist  ein  Muster  von  Klarheit, 
Bündigkeit  und  Ruhe  nnd  macht  alle  Vorwürfe  der  Widersiiclier  wider- 
legend zu  schänden.  In  ihr  treten  seine  neuen  Principien  der  Moral 
in  großer  Scliärfe  und  Präcision  hervor. 

In  der  Zeit,  wo  Beneke  vergeblich  auf  die  Aufhebung  der  über 
ihn  verllängten  Maßregel  wartete,  förderte  er  eine  neue,  sehr  wichtige 
Schrift  zu  Tage: 

7)  „Beiträge  zu  einer  rein  seelenwissenschaftlichen  Be- 
arbeitung der  Seelenkrankheitskunde,  als  Vorarbeiten 
fttr  eine  künftige  strengwissenschaftliche  Naturlehre 
derselben.**  Leipzig,  bei  Beclam,  1824.  LYm  n.  530  S. 

Es  kann  anfflUlig  erschdnen,  dass  Beneke  sich  jetzt  an  die 
schdnbar  dunkelste  Begion  der  Seelenvorgänge  wagte,  da  er  ja  als 
Forscher  auf  dem  Gebiete  des  gesunden  Sedenlebens  so  großen 
IfisBverstftndmssen  begegnet  war.  Allein  es  beweist  diese  Eithiiheit 
nur,  wie  sehr  er  mit  sich  über  die  Gesetze  der  Seelenentwickelimgr 
bereits  im  reinen  war,  nnd  er  vermochte  schon  jetzt  nachzaweiBeii, 
dass  die  Eraokheiten  der  Seele  nadi  denselben  Gnmdgesetzen  erfolgen; 
▼on  welchen  die  gesunde  Seele  bdierrscht  wird,  nur  dass  sie  dort 
infolge  nnnatflrlichar  Anregung  von  anften  her  anders  zusammen^ 
wirken.  Dabd  Usd  er  auch  das  leibliche  Leben  als  ein  nntergeordnet 
seelisches  aof  (m.  s.  hierOber  §  43—52  der  „Psychologie  als  Nator- 
wiBsensehafkf*),  weshalb  sich  diese  Schrift  als  dme  reinseelenwissen- 
schafkliche  Bearbeitung  der  Seelenkrankheitskonde  ankikndigt;  nnd 
wenn  es  htordurcfa  den  Ansdidn  gewinnt,  als  sei  der  Verfosser 
Idealist,  so  verdient  «r  doch  diesen  ihm  gemachten  Torwnrf  eben- 
sowenig als  den,  dass  er  Materialist  sei  (näheres  hierfiber  weiter 
unten).  In  der  „Psychologie  als  Naturwissenschaft'*  genügte  es,  die 
Sedenknmkheiten  in  einem  bloßen  „Anhange**  zu  erörtern,  da  bereits 


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—  416  — 

jene  Schrift  alles  Nähere  ausführlich  und  gelimgtii  gegeben  hatte,  so 
dass  bloü  darauf  zu  verweisen  blieb.  Die  Terminologie  in  derselben 
nähert  sich  der  späteren  schon  sehr,  ist  aber  doch  theilweise  noch 
nicht  so  scharf  ausgeprägt,  als  gerade  hier  zu  wünschen  wäre.  — 
Sehl-  interessant  ist  die  Abhandlung,  welche  der  Schrift  vorgedi-uckt 
ist:  „Soll  die  Psychologie  metaphysisch  oder  physisch"  (d.  b.  natur- 
wissenschaftlich) „begründet  werden?  Ein  Sendflchreiben  an  den  Herrn 
Ftofessor  Her  bar  t  zn  Königsberg.'*  Hau  sielit  hier  klar,  in  -wMien 
Ponkl^n  beide  Psychologen  flbereinstinimen,  in  welchen  sie  von  einander 
abwdchoi,  ein  VerhftltDis,  daa  aber  noch  bestimmter  in  der  Schrift: 
„Die  nene  Faychologie*'  (S.  76—121)  cor  Sprache  kommt.  Ea  aei 
hierftber  nor  b^nerkt,  daaa  Herbart  eben  so  wie  Beneke  die  alther^ 
gebrachten  Hypothesen:  es  gebe  einen  angeborenen  beaonderen  Yer^ 
stand,  efai  angeborenes  besonderes  Gedächtnis  etc.  —  kurz  die  ab- 
Straeten  SeelenvermOgen  yerwirft»  sonst  aber  nnr  einige  terminologische 
Ansdrficke  mit  flmi  gemein  hat,  denen  ein  anderer  Sinn  als  bei  Beneke 
lam  Grande  gelegt  ist  Obgleich  nimlich  anch  Herbart  anf  Er&hrong 
bauen  will,  und  sogar  den  Yersnch  macht,  Mathematik  anf  die  Seelen- 
yoigflage  anzuwenden,  so  hSlt  er  doch  die  Erfhhmngsbegriffe  für 
solche»  die  erst  einer  Gorrectnr  durch  speculative  Bearbeitung  bedürften, 
und  somit  baut  er  auf  eine  entstellte  Er&hrang,  er  lässt  die  That- 
saehen  der  inneren  Erfahrung  nicht  rein  zum  Worte  kommen.  Dass 
die  Bechnungen,  die  er  anf  die  Seelenthätigkeiten  anwendet,  in  der 
Luft  schweben,  braucht  kaum  versichert  zu  werden,  wie  dam  der 
grofie  Mathematiker  Gauß  mit  Recht  sagte:  „Die  psychischen  Er- 
scheinungen haben  sicher  eine  mathematische  Grundlage,  aber  die  Ein- 
sicht in  dieselbe  hat  nur  Gott."  Die  Begriffsspeculation  herrscht  überall 
bei  Herbart  vor,  und  bei  dieser  Forschungsmethode  trifft  man  das 
wirkliche  Sein  nur  zufällig,  in  den  meisten  Fällen  gar  nicht 

Da  Beneke  die  Berliner  Universität  verschlossen  blieb,  so  ging 
er  im  Jahre  1824  als  Privatdocent  an  die  Universität  zu  Güttingen. 
Hier  gewann  seine  psychologische  Theorie  vollständige  Reife  und  zu- 
gleich eine  mehr  systematische  Form.  Dies  bezeugen  die  drei  Schiliften: 

8)  „Skizzen  zur  Naturlehre  der  Gefühle,  in  Verbindung  mit 
einer  erläuternden  Abhandlung  über  die  Bewusstwer- 
dung  der  Seelenthätigkeiten/'  Göttingen,  bei  Vandenhoeck 
Ruprecht,  1825.    XVllT  und  492  S.  8". 

9)  Das  Verhältnis  von  Seele  und  Leib.  Philosophen  und 
Ärzten  zu  wolwollender  und  ernster  Erwägung  über- 
geben."  In  demselben  Verlage,  1826.  XXXU  iL  dOi  S.  8». 


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—  417  — 


10)  nÜber  die  Vermögen  der  menschlichen  Seele  und  deren 
allmähliche  Ausbildung.^  In  dem  nfimlichen  Verlage,  1827. 

XXXVm  u.  (598  S.  8". 

Die  ei^te  und  dritte  dieser  Schriften  f&hren  auch  den  Nebentitel: 
„Psychologische  Skizzen,  erster  und  zweiter  Band."  Sie  bieten 
aber  nicht  blos  Umrisse  zur  Seelenwissenschaft  dar,  sondern  diese  ist 
in  ihnen  ausführlich  dargestellt,  und  man  findet  hier  einen  Reichthum 
der  feinsten  psychologischen  Beobachtungen,  wie  sie  nur  ein  Beneke 
liefern  konnte.  Keine  Nation  kann  diesen  Schriften  etwas  Ähnliches 
an  die  Seite  stellen,  und  man  saf?t  nicht  zu  viel,  wenn  man  behauptet, 
es  liege  in  ilmeu  eine  ganz  neue  W'eltentdeckung  (die  Entdeckung  der 
Innenwelt)  vor.  Was  die  Getülile  eigentlich  sind,  worin  sie  sicli  von 
anderen  Geistestliiitigkeiten  untensclieiden,  hat  man  vor  Beneke  nie 
bestimmt  i^a^vn  kömwu:  wie  ferner  das  Bewusstsein  entstellt,  wechselt 
und  sich  immer  hoher  ausbildet,  ist  eltenfalLs  durch  ihn  erst  natur- 
gemäß nacligewiesen  worden,  und  mit  diesen  Seeleuthatsachen  hat  es 
die  erste  dieser  Schriften  zu  thun.  —  Die  Erkenntnis  des  Verhältnisses 
zwischen  Seele  und  Leib  setzt  eine  richtige  Einsicht  in  das  Ver- 
hältnis zwischen  Vorstellen  und  Sein  voraus,  denn  die  letztere  Ein- 
sicht ist  der  Schlüssel  zu  jener,  und  Beneke  hat  beide  Verhältnisse 
klar  ins  Licht  gestellt  iu  der  zweiten  der  genannten  Schriften.^;  — 

*)  Hier  dflrfte  der  geeignete  Plate  sein,  Uber  dieses  schwierige  Thema  Felgen- 
des beizubringen: 

Wie  es  nicht  wahr  ist,  das^;  die  Erde  still  st(>hc.  so  ist  es  auch  nicht  wahr, 
dass  der  Leib  uu  sich  tudic  Materie  atii  Wiiä  wir  I^Laierie  ucuuen,  ist  iu  sciucm 
An-sich-sein  ebenfUls  (in  vendüedenen  Atetuftugeu;  lebende  Kraft,  und  swar 
dnidi  nnd  dofch;  es  enthilt  nicht  bks  Kiaft,  und  nur  ans  diesem  Gninde  kann 
der  Leib  mit  der  Seele  so  zusammen  bestehen,  dass  beide  Existenzen  sich  gegen- 
seitig durchdringen.  Dass  uns  die  Kiißeren  Sinne  über  dieses  Verhältnis  keinen 
richtigen  Aulischluss  geben,  darf  uns  nicht  bciremdcu.  ^  Dean  bei  jeder  Wahrnebmung 
durch  die  Sufieien  Suine  sind  sw«i  Teraehiedene  Faetoien  im  Spiele:  det  iileie 
Eiadradt  nnd  die  anfibsseode  psychische  Sinnenknft  Indem  jener  sieh  dieser  ein- 
nnd  unterordnet  und  somit  zu  ctwax  Psychischem  wird,  kann  er  nur  SO  edcaant 
werden,  wie  die  auffassende  Kraft  es  bedins^t.  l)a  rnn  jeder  Sinn  anf  anderen 
Krattcii  besteht,  so  ist  es  zugleich  natürlich,  dass  uu»  jeder  von  einem  und  dem- 
selbeu  Uc-gcostandc  der  Außenwelt  einen  anderen  Bericht  gibt.  Der  Apfel  z.  B.  wird 
dnieh  den  Oesiditssinn  als  etwas  rftnmlich  Ausgedehntes  nnd  Farbiges  an^geftsstt 
durch  den  Tastsinn  nur  als  räumlich,  sugleich  aber  fasst  er  den  Apfel  ids  etwas 
Hartes  oder  Weiches  auf,  das  ihm  der  Gesichtssinn  nicht  ansieht.  Essen  wir  den 
Apfel,  so  .srhmeckt  er  nicht  räumlich  dick,  breit  etc.,  sondern  süß,  sauer  etc.,  und 
dem  Geruehsiuu  stclku  aii-h  von  iluu  DUfte  dar,  die  ebenfalls  nicht  den  Eindruck 
flnmlicher  Ausdehnung  madicn  denn  nie  riecht  etwas  tief,  hoch,  diek,  dünn  etc. 
Gleiches  wigt  sich«  wenn  ein  fallender  Apfel  auf  den  GehSninn  wirkt.  Wie  nnd 


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—  418  — 


Was  endlich  außer  und  neben  den  Gefühlen,  die  so  sehr  wechseln, 
Bleibendes  in  der  Seele  ist,  das  stellt  die  dritte  jener  Schriften  in 

Wils  ist  uuD  der  Apfel  seinem  wahreu  iuuereu  We^ica  uacii?  Offenbar  haben  wir 
ihn  nur  anffaseen  kSnneii,  wie  er  TemOge  der  EiBrichtimg  imserer  Siime  uns  er- 
scheinen munte.  Bitten  wir  andere  SinnenVennQgeat  so  würde  dieeea  EmlMineii 

ein  ganz  anderes  eein.  So  riel  kommt  also  auf  die  BosohafFonhoit  der  Sinne  an. 
Ganz  anders  bei  dein,  wm^  wir  p  in  innerlich  durch  da^  Selbstbewiisst'^oin  auflassen 
(vorstellen).  Hier  ist  alles  reiu  psychisch;  es  tritt  zu  dem,  was  aulgefasst  werden 
8oU,  kein  Sinn  hinzu,  der  nicht  aus  denselben  Kräften  bestünde,  wie  das  Aufinip 
fiuaende.  Xetsten»  kann  daher  keine  Alterimng  eri^den,  es  wird  auljB^efiust,  wie 
CS  an  sich  ist,  und  so  weit  daher  unser  Bewusstscin  reicht,  so  weit  reich(»i'aiieh 
die-e  Auffa»»un£»en ,  die  wir  als  vollkonunonste ,  als  absolut  wahre  zu  bezeichnen 
haben.  .So  laui^e  uun  Leib  und  Seele  znsannnen  bestehen,  kann  unter  Umständen 
auch  (Jas  Leibliche  mit  dem  i'sychischen  gleielizeitig  bewusst  werden,  wie  solches 
nameotUeh  bei  starker  Erregung  gesdiieht,  wo  die  leiUiohen  Unlust-  und  Sehmei» 
empAndungen,  in  anderen  Fällen  auch  Lnstem]»findungen  entstehen.  In  solchen  Em- 
])findnngcn  kündigt  sich  das  Leibliche  stets  nur  als  Kraft,  ^h^rh  drtn  r:uirnloseii 
Psyohisohen,  an;  die  rftnmlif  he  Ausdehnung  denken  wir  nur  unwillkiirlit  h  liinzu  durch 
die  Begriffe,  die  aus  den  W  ahrnehmungen  des  Gesichts-  und  Tastsinnes  abstrahirt 
sind,  und  anch  dieses  nur  dann,  wam  wir  das  I<eibliche,  da«  uns  durch  seine  Em- 
pfindung jetst  bewnsst  wird«  firlUier  wiridieh  durch  diese  Sinne  wahigenonunen 
hatten.  Wo  daher  Leibliches  jemand  nie  s<hmcrzhaft  bewnsst  wurde,  kann  er 
sich  nicht  die  mindeste  VorstellnnsT  von  der  raunilielien  Oestiilt  desselben  machen, 
da  diese  erst  dem  Auge  oder  dem  Tastsinne  be>.tininit  entirej^entreten  würde.  In 
den  leiblidien  Lust-  oder  Schmenempfindungen  selber  kündigt  sich  unmittelbar  eben 
nichts  an,  was  sie  ab  in  dch  selbst  diek,  dflnn,  hoch,  tief  ete.  eharakterisirte;  anch 
wo  wir  den  Edipertheil,  der  uns  schmerzt  etc.,  als  mehr  oder  weniger  groß,  klein, 
dick  etc.  iiuffassen,  sobald  wir  ihn  sehen  oder  betasten.  Tn  sich  selbst  bleiben 
die  Körjiereniiitindnniren.  also  das  Bewusstscin  des  Materiellen,  nur  dynamisch  ver- 
schieden, cnthalu  u  uu  hts  vuu  raumlicher  Ausdehnung,  die  blos  in  den  Auffassungen 
des  Gesidits-  und  Tastsinnes  liegt,  nnd  sonaeh  schUeBt  sieh  das  im  Selbstbewnsst- 
sein  aufgefasste  Leiblidie  mit  dem  Fiyehischea  an  einer  Beihe  snaammen,  die  anf 
beiden  Seiten  Hauinloses  zeigt.  Das  scheinbar  Unbegreifliche  bei  der  Wechselwirkung 
zwischen  Seele  und  Leib  verschwindet  mithin  ftlr  dcnjenifjen,  der  diese  An-sich-Er- 
kenntnis  erfasst  hat;  denn  Kraft  muss  auf  Kraft  wirken  können,  so  verschieden  von 
einander  sie  flbrigens  in  Beiug  auf  Freiheit,  Energie,  Dauerhaftigkeit,  Ansbildungs» 
fähigkeit  etd.  sein  mSgen.  Auch  leaehtet  ein,  dass  diese  beiderseitigen  Krlfte  m* 
nammenhalten  können  ohne  ein  be.sonderes  verimüpfendes  Band ;  eine  Kraft  verbindet 
sirli  mit  der  anderen  schon  dur'  h  ihr  [renken sei tirjes  Verwandtscliat'tsverhältnis,  in 
ähnlicher  Art,  wie  die  versdiiedent  n  St  eh  iikriiltf  unter  sieh  zu  sammenhalten. 

Was  fände  sich  nun  in  dieser  Darbtclluug,  das  Beucke  zu  einem  Idealisten 
oder  Materialisten  machte?  Leib  und  Seele  bleiben  vOUig  in  ihrer  Veraehiedenheit 
nebeneinander  bestehen,  und  nur  das  wird  veriaagt,  dass  man  die  Materie  lichtigw» 
uändich  als  Kraft,  vorzustpllen  habe,  wie  Solches  bereits  Leibnitz  erkannt  hatte. 
Diese  Forderung  ist  aber  nicht  autfälliger  als  die,  man  habf  die  scheinbare  täj^liche 
Bewegung  der  Sonne  als  ein  stillstehen  zu  denken.  Die  leiblichen  Kräfte  sind  un- 
geistige, die  Seelenkrtfle  dagegen  geistige;  jene  kann  man  als  s(deh«  anislien,  die 


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—    419  — 


erschöpfender  VoUstlDdigkeit  dar.  Dem  Anilbiger  ist  za  rafhen,  diesen 
Thefl  der  »Skizseii'  zuerst  za  stadiren,  denn  er  ist  üusUeber  «Is  jener, 
eben  ireil  die  Sachen  oonstanter  nnd  deshalb  anschaoUcher  sind. 
Namentlich  markig  und  instmctilT  sind  die  gewiehtigen  Vorreden  in 
allen  drei  Schriften,  und.  es  mag  auf  sie  recht  dringend  besonders  auf- 
merksam gemacht  sein.  Es  bilden  diese  Werke,  wie  den  Commentar 
für  4ille8  Einzelne  in  der  theoretischen  Psycliologie,  so  auch  das  Re- 
pertorium  dazu,  auf  sie  konnte  und  musste  Beneke  in  seinen  späteren 
Schriften  verweisen.  Drhh  die  Terminologie  in  diesen  Schriften  zu 
Toller  Schärfe  gebracht  und  bleibend  festgestellt  sei,  wollen  wir  noch 
ausdrücklich  bemerken;  und  wenn  man  behauptet  liat,  das  seien 
nur  nnnöthige  neue  Ausdrücke  für  alte,  längst  bekannte  Dinge,  so 
sprach  man,  wie  der  Blinde  von  der  Farbe.  Was  thun  die  Natur- 
forscher, wenn  sie  Neues  entdeckt  haben,  wozu  kein  bisheriges  Wort 
der  Sprache  passt?  Niemand  sagt,  sie  th&ten  besser,  neuen  Wein  in 
alte  Schläuche  zu  fa.ssen.  — 

Nachdem  Beneke  zu  Ostern  1H27  wicdei-  die  Erlaubnis  zu  Vor- 
lesungen an  der  Berliner  Universität  eilialten  hatte  und  dahin  zurück- 
gekehrt war,  ging  er  an  die  Ausarbeitung  der 

11)  „Grundsätze  der  Civil-  und  Crimiual-Gesetzgebung  aus 
den  Handschriften  des  englisclien  Rechtsgelehrten  Jere- 
mias Benthani,  herausgegeben  von  Etienue  I)uniont,  Mit- 
glied des  repräsentativen  Käthes  von  Genf.  Nach  der 
zweiten,  verbesserten  und  vermehrten -\ uflage  bearbeitet 
und  mit  Anmerkungen  von  Dr.  F.  E.  Beneke.""  Berlin,  bei 
C.  Fr.  Amelang.  1880.  Erster  Band,  XXXU  u.  416  S.  8^ 
Zweiter  Band,  XXXTOI  u.  814  S.  8". 

Die  höchst  lehrreichen  Vorreden  und  Anmerkungen,  die  Beneke  zu 
dieser  von  ihm  gelieferten  l'^bersetzung  gegeben  hat,  verleihen  dem 
Buche,  das  .schon  an  sich  Beachtung  verdient,  einen  erhöhten  Wert. 
Dass  ein  englischer  Schriftsteller  mit  Beneke,  ohne  dass  beide  von  ein- 
ander wusst«n,  in  so  vielen  Punkten  übereinstimmend  über  Rechts- 
verhältnisse philosophiren  konnte,  liefert  den  Beweis,  dass  die  ge- 
wissenhafte Beachtung  der  Natur  immer  zu  denselben  Ergebnissen 
führt.  Indem  Beneke  diese  Übereinstimmung  freudig  hervorhebt,  unter* 

eine  imtefgeofdnete  Seele  ftnonadiea,  nieniAls  aber  all  Geist.  Da  nm  Beneke 

klar  nachgewiesen  hat,  dass  schon  die  SiDnenthätigkeiten  (nicht  di^  Sinnenorgane!) 

Thiifi£rkeiten  der  durcli  iiud  durch  p:oi>^ti}rfn  .*<ci'lo  sind,  so  ninj^  man  soin  System, 
das  allt'8  aus  den  Sinncuvcrmögcu  und  d<  ren  Kntwiikclung  ablciK  t,  inimcrliin  ein 
Bcusunlistiaches  nennen,  aber  dieser  äenäuuliämus  ist  kein  Materialismus. 


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—  430  — 


lässt  er  jedoch  nichti  dasjenige,  was  Beiitham  einseitig  oder  fehlerhaft 
an^efasst  hat,  zu  verbessern,  und  durch  die  Gegens&tze,  die  80  neben 
einander  treten,  fiült  auf  die  juridischen  Objecte,  um  welche  sich'« 
hier  handelt,  ein  um  so  helleres  Licht  Näheres  hierüber  weiter  unten. 
Zu  Anfange  des  Jahres  1832  ließ  Beneke  drucken: 

12)  „Kant  und  die  philosophische  Aufgabe  unserer  Zeit. 
Eine  Jubeldenkschrift  auf  die  Kritik  der  reinen  Ver- 
nunft"   Berlin,  bei  E.  S.  Mittler.    104  S.  8«. 

Hier  wird  nach  einer  Einleitung  die  wichtige  Frage  beantwortet  "• 
„Was  beabsichtifjfte  Kant  und  wodurch  ist  das  Misslingen  seines  srroßen 
Unternehmens  von  seiner  Seite  begründet?"  Sodann  folgt  eine  „Dar- 
legung des  Charakters  der  späteren  deutschen  Philosophie  und  der 
Ursaclien,  welche  denselben  bestimmt  haben,"  und  zuletzt  wird  über 
die  „Aussichten  für  die  Zukunft"  gespiocheu.  Beneke  hat  keine  Kritik 
der  reinen  Vernunft  geschrieben,  weil  sich  das,  was  (in  Kant's  Sinne 
genommen  I  gar  nicht  existirt,  unmöglich  kritisiren  lässt,  aber  seine 
Kritik  hat  an  die  Stelle  der  erträumten  Seelenvermögen  die  wahren 
gesetzt 

Einige  Wochen  später  (Beneke  war  jetzt  zum  außerordentlichen  ' 
Professor  der  Phiiusophie  ernannt  worden;  kam  in  demselben  Verlage 
heraus: 

13)  „Lehrbuch  der  Logik  als  Kunstlehre  des  Deukens."  1832. 
XXVIII  u.  196  S.  8«. 

Hier  erscheint  die  Denklehre,  die  seit  Aristoteles  sich  wesentlich 
um  die  höchst  künstliche  Schlosstheorie  gedreht  hatte,  in  einer  viel- 
fach neuen  nnd  praktisch  frachtbareren  Gestalt,  eine  Folge  der  neuen 
Psychologie,  auf  welche  diese  Bearbeitang  gebaut  ist  Die  ausflUuv 
liehe  Vonrede  gibt  Uber  die  einsebien  Verbeaseruugeu  nnd  deren  Noth- 
wendigkeit  ToUst&ndige  Auskunft  Namentlich  die  Schlnsslehre  ist 
eine  ganz  neue  geworden  und  sticht  durch  ihre  EiniSachheit  von  der 
erkttnstelten  Aristotelischen  hOchst  Tortheühftft  ab.  Was  das  Ver- 
stftndnis  dieser  Schrift  fUr  den  Anfilnger  erschwert,  ist  ihr  Charakter 
als  „Lehrbuch^  dar,  ihr  nicht  erlaubt,  ins  Spedelle  einzugehen,  und 
der  sie  nöthigt,  die  Veranschaulichung  durch  Beispiele  der  Lehrstunde 
selbst  zu  Überlassen.  Mehr  hierher  Gehöriges  weiter  unten.  Hier 
wollen  wir  in  Betreff  der  neuen  Schlusstheorie  nur  noch  bemeikeD. 
dass  die  beiden  Engländer  William  Hamilton  und  de  Morgan, 
welche  im  Jahre  1847  ttber  die  Frage,  wer  Ton  ihnen  beiden  der 
eigentliche  Urheber  dieser  ganz  neuen  Theorie  sei,  einen  wissenschaft- 
lichen Streit  ft&hrten,  beide  kein  Becht  dazu  gdiabt  haben  dtirften. 


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—  421  — 


Denn  Beneke  hatte,  wie  das  eben  erw&hnte  Lehrbuch  beweist,  diese 
Theorie  bereits  1832  aufgestellt,  hatte  de  später  in  einer  lateinischen 
Dissertation,  auf  die  wii*  zu  sprechen  kommen,  weiter  ausgeführt  und 
dann  in  seinem  „System  der  Logik"  (s.  unten)  vollständig  dargelegt. 
Dieses  „System  der  Logik"  hatte  er  1843  Hamilton,  mit  dem  er  in 
Briefwechsel  gekommen  war.  zu^pschickt,  und  so  möchte  wol  die 
Priorität  der  Aiiftinduno:  jener  Theorie  auf  Seiten  Beneke's  sein.  So- 
lange also  nicht  das  (ipf^^entheil  Vtewiesen  wird,  wird  man  kaum  der 
Annahme  entpfelien  können,  dass  Hamilton,  der  sich  die  Priorität  vor 
de  Morgan  zusclirieb  (letzterer  sollte  <lie  neue  Theorie  von  Hamiltons 
Zuhr»rern  oder  auch  ans  Andeutungen  in  Hamiltons  Brieten  kennen 
gelernt  haben  i,  nur  von  Beneke  entlehnt  hatte,  was  ei-  für  das  Seinige 
ausgab.  Allerdings  können  zwei  ganz  unabiiängig  von  einander  die- 
selbe Entdeckung  machen,  und  ein  Kn<,dänder  kann  so  gut  wie  ein 
Deutscher  finden,  was  allen  den  Unzähligen,  die  sich  seit  Aristoteles 
mit  der  Schlußtheurie  beschäftigt  hatten,  entgangen  war.  Man  kann 
es  aber  unter  den  bewandten  Umständen  Beneke  nicht  verdenken, 
dass  er  hier,  wie  er  gegen  Dressler  äußerte,  ein  Plagiat  verinuthete. 
zumal  da  Hamilton  es  sorgfältig  vermied,  auf  Beneke's  brielüche  Au- 
fragen wegen  dieses  Zusammentreftens  einzugehen. 

14)  Das  „Lehrbuch  der  Psychologie  als  Naturwissenschaft" 
schien  zum  erstenmale,  Berlin,  bei  Mittler  &  Sohn,  1833,  dann 
in  zw^ter,  vermehrter  und  verbesserter  Auflage  1845. 

Da  wir  auf  dasselbe  weiter  unten  bei  der  zugehörigen  Schrift: 
„Die  neue  Psychologie  etc."  —  zui'ückkommen,  so  gehen  wii*  jetzt  Uber 
zu  der  Schrift: 

15)  ,J>ie  P.hilosophie  in  ihrem  Verhältnisse  zur  Jlrfahrnng, 
znr  Specnlation  nnd  zum  Leben  dargestellt"  Berlin,  hei 
Mittler  &  Sohn,  1838.  XYH  n.  130  S.  Sf». 

Wer  mochte  tther  dieses  wichtige  Thema  nicht  gern  einen  Mann 
Ternehmen,  dem  Mäfiignng  nnd  Klarheit  in  so  hohem  Mafle  eigen  war? 
Man  findet  hier  die  gediegensten  Wahrheiten  anilsestellt,  die  freilich 
nooh  heute  yon  den  Anhängern  der  Specnlation  nicht  anerkannt 
werden;  denn  dass  die  Verkehrtheiten,  die  hier  freunftthig,  aber  mit 
Bnhe  nnd  ohne  persönliche  Angriife  ani^eckt  sind,  den  Namen  Phi- 
losophie nicht  verdienen,  kann  nnr  denen  eüüenchten,  die  sich  den 
Lehren  der  Erfahrong  nicht  verschlossen  haben.  Die  Schrift  hatte 
aber  den  Zweck,  eine  uedicina  mentis  für  viele  zu  sein,  denn  sie  trat 
hervor  in  einer  Zeit,  wo  in  Berlin  alles  dem  Hegelthnm  nachlief,  und 


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—   422  — 


welcher  MaUi  dam  geliörto,  unter  solchen  VerhAltiiissea  die  Wahrheit 

mramwnndeii  sa  sagen,  das  lässt  sich  denken. 

Wir  kommen  nnn  zu  der  höchst  wichtigen  Schrift: 

16)  „Erziehungs-  und  Unterrichtslehre."  Zwei  Bände,  in  dem- 
selben Verlage,  1835  und  1836.  Zweite  vermehrte  und  ver- 
besserte Auflage,  1842.  Ei-ster  Band:  Erziehungslehre, 
XXIV  u.  622  S.  Zweiter  Band:  Unterrichtslehre,  XX 
u.  744  S.  8«. 

Hier  ist  das,  was  Henekes  Vorgänger  auf  dem  Felde  der  Päda- 
gogik tlieilweise  Gutes  geleistet  hatten  und  was  von  ihm  rückhaltslos 
anerkannt  wird,  bei  weitem  Ubertrotien,  weil  die  waliren  psycliologischeu 
Grundlagen,  auf  welche  hier  gebaut  ist,  früher  fehlten,  jetzt  aber  ent- 
deckt waren.  Die  Natur  gehorcht  dem  Menschen  überall ,  soweit  sie 
seineu  Kräften  nicht  absolut  ül>erlegen  ist,  aber  sie  gehorclit  nur  dann, 
wenn  wir  vorher  auf  sie  geliorcht,  ihre  Gesetze  ihr  getreulich  ab- 
gehorclit  haben  und  dann  das  Walten  derselben  weise  benutzen.  Nur 
so  gewinnen  wir  Sicherheit  des  Gelingens  füi' unsere  Bestrebungen. 
Herrschten  in  der  o:eistigen  Natur  nic)it  eben  so  feste  Gesetze,  wie  in 
der  materiellen,  wie  könnte  da  ein  f^esundes,  ungestörtes  Wachsthum 
des  Seelenlebens  je  vorkommen?  An  einen  Mechanismus  ist  aber  da- 
bei nicht  im  entferntesten  zu  denken,  denn  bei  aller  Gebundenheit  au 
Gesetze  haben  die  Seelenkräfte  als  lebende  (§  293)  eine  Selbst- 
thätigkeit,  die  sich  durch  keine  äuBeren  Einflüsse  völlig  hemmen  nnd 
unterdrücken  lässt  Das  Meisterstück  der  Pädagogik  besteht  folglich 
darin,  diese  Selbsttlifttigkeit  so  zn  leiten,  wie  es  dem  Ziele  entspricht, 
za  welchem  die  Kräfte  bei  ungestörter  Entwiekelang  hinstreben. 
Dieses  Ziel  ist  Erhebung  aus  dem  Niederen  zum  Höheräi  und  Edleren, 
aas  dem  anfSuigs  blos  Similichen  zum  tein  Geistigen  nnd  sittlich  Voll- 
kommenen»  ist  ein  yon  Gott  dem  Menschen  gestelltes  Ziel,  an  welchem 
sich  kein  Erzieher  ungestraft  yersQndigt.  Wie  also  die  Diätetik  als 
leibliche  Erziehung  sich  an  die  Gesetze  des  Leibes  binden  moss,  weil 
sie  sonst  die  leiblichen  Kräfte  unfehlbar  minirt;  wie  sie  dagegen  durch 
richtiges  Eingreifen  in  dieselben  den  Kdrper  ganz  anders  erstaricen 
«nd  gedeihen  macht,  als  wenn  er  sich  selbst  überlassen  wäre,  so  yer- 
hält  es  sidi  auch  mit  der  Tfaätigkeit  des  SeelenbQdners.  Zwsr  nicht 
wir  bringen  Leben  und  Entwickelung  in  die  Seele,  wie  wir  kein  Leben 
und  keine  Entwickelung  in  den  EOrper  bringen  können,  wo  beides 
nicht  schon  da  ist;  die  Seele  lebt  entschieden  in  sich  selber  und  ent- 
wickelt sich  selber,  aber  es  macht  einen  großen  Unterschied,  ob  wir, 
als  bereits  Entwickdte,  unterstützend  zu  diesem  sich  entwickelnden 


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—  428  — 


Leben  hiiizatreten,  oder  ob  wir  dies  gar  nicht  oder  so  thiin,  dass  die 
Entwickelung  eine  verkehrte  Richtung  nimmt.  Alle  Regeln  der  Er- 
ziehung und  des  Unterrichtes  müssen  demnach  aus  der  Natur  der 
Seele  geschöpft  sein,  und  hierin  eben  übertrift't  das  Erziehungswerk 
von  Beneke  alles,  was  man  voi-  ilun  hatte.  Merkwürdig  ist  aber,  dass 
die  rationellen  Pädagogen,  namentlich  seit  Pestalozzi,  im  wesentlichen 
ganz  in  der  Richtung  gegangen  sind,  die  Beneke  einschlägt,  nur  mehr 
instiuctartig  und  nach  einem  dunkeln  praktischen  Takte,  während 
Beneke  das  Unklare  überall  auf  bestimmt  Erkanntes  zurückführt  und 
das  Falsche,  dem  man  noch  anhing,  aussciicidet.  .iene  Pädagogen 
sind  also  wieder  ein  Beweis,  dass  die  Achtsamkeit  auf  die  Natur 
überall  zum  Recliten  hinleitet,  bis  es  gründlich  autgefunden  wii'd. 
Dass  der  zweite  Theil  dieser  vSchrift,  die  Unterrichtslehre,  den  iScliul- 
mänuern  theils  ganz  neue,  theils  neu  geeltnete  Baliucn  hinsichtlich  der 
Lehrmethode  eröffnet,  wollen  wir  ausdi  Ucklich  zu  bemei'ken  nicht  untei- 
lasseu. 

Auch  das  Beste  muss  in  der  Welt,  wie  sie  nun  einmal  ist,  bei 
seinem  ersten  Hervortreten  eine  Zeitlang  \'ert(ilgung  erleiden,  darum 
konnte  Beneke's  Erzidiungs-  und  ünterrichtslehre  hiervon  keine  Aus- 
nahme macheu.  Infolge  der  Angriffe,  welche  sie  bald  eiiubr,  gab 
Beneke  heraus: 

17)  „Erläuterungen  über  die  Natur  und  Bedeutung  meiner 
psychologischen  Grandhypothesen."  Berlin,  bei  Öhmigke, 
1886.   30  S.  8». 

Man  kaoB  fiber  das  Wesen  der  Hypothesen  nichts  Schöneres  nnd 
Klareres  lesen,  als  hier  gegeben  ist  Wer  sich  in  das,  was  das  „Lehr- 
biieh  der  F^chologie^  sagt,  nicht  finden  kann,  lese  ja  vor  allem  diese 
kleine  Sduift,  die  eine  Menge  hesfig^icher  Vomrtheile  aerstrent  nnd 
dep  ganzen  Geeist  der  nenen  Psychologie. auf  das  anschaulichste  ab- 
i^egelt 

Sehr  instractiv  ist  auch  die  folgende  Schrift: 

18)  Unsere  UniT^rsit&ten  und  vas  ihnen  noththnt  In  Briefen 
an  den  Herrn  Dr.  Diesterweg,  als  Beitrag  anr  „Lebens^ 
frage  der  Civilisation**.  BerUn,  hei  Mittito  &  Sohn,  1886. 
102  S.  8« 

VeninlaMt  ist  sie  dnrch  Diesterweg's  kleine  Schrift:- JOie  Lebens- 
frage der  CiviUsation*'  (Fortsetaung).  „Oder  ttber  das  Verderben  aof 
den  deutschen  UniTersitäten.  Dritter  Beitrag  zur  LOsung  der  Axif- 
gäbe  dieser  Zeit**  (Essen,  bei  Bfldeker,  1836.)  Indem  Beneke  die  Ton 
piesterweg  gegen  die  Universitäten  erhobenen  Anklagen  thols  aner^ 


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—   424  — 


kennt,  tlieils  zurückweist,  wendet  er  sieli  vornelimlicb  zu  der  Lehr- 
methode auf  L'niversitäten,  welche  Diestenveg  hauptsächlich  refonnirt 
wissen  will,  zeigt  den  vielfachen  Unterschied,  der  zwischen  dieser  und 
den  Methoden  auf  niederen  Schulen  bestellt  und  bestehen  muss,  und 
bespricht  insonderheit  die  Frage:  wie  weit  die  erotematische,  über- 
haupt die  entwickelnde  Lelinnethode  neben  der  akroamatisclien 
und  positiv  gebenden  beim  akademischen  Untemclite  aiu  Platze  sei. 
Ebenso  kommt  über  den  Wert  der  Prüfungen,  das  rechte  Verfahren 
bei  denselben,  wie  über  vieles  das  Universitätsleben  sonst  noch  Be- 
trettende nicht  wenig  Beachtenswertes  vor.  Schon  in  seiner  Unt«r- 
richtslehre  hatte  sich  Beneke  als  Meister  in  Sachen  der  Didaktik  und 
Melliodik  V)ewährt,  und  diese  Meisterschaft  finden  wir  hier  wieder. 
Auch  über  den  Gymnasialunterrickt  gibt  diese  Schrift  mancherlei  be- 
herzigenswerte Winke. 

Die  verdienstvollste  Arbeit  Beneke's  nächst  den  psychologischen 
Skizzen  ist  nnleugbai*  das  auf  vier  Bände  berechnete  Werk: 
19)  nGrundlinien  des  natürlichen  Systems  der  praktischen 
Philosophie,"  von  welchem  leider  der  vierte  Band  infolge  yon 
Beneke's  Tod  aasgeblieben  ist  Die  eraten  zwei  Bande  sind  der 
Sittenlehre  gewidmet,  und  führen  den  besonderen  Titel:  „Grund- 
linien der  Sittenlehre.  Ein  Versuch  eines  natttrliehen 
Sy Sternes  derselben."*   Berlin,  bei  Mittler  &  Sohn,  1837  n. 
1840.    Eister  Band:  „Allgemeine  Sittenlehre.**    XXTT  n. 
599  S.  8*   Zweiter  Band:  „Specielle  Sittenlehre.**  XXTV 
n.  661  S.  8^  Der  dritte  Band  hat  es  mit  der  Bechtslehre 
zu  thnn  and  betitelt  sich  specieD:  „Grundlinien  des  Natur- 
rechtes,  der  Politik  und  des  philosophischen  Griminal' 
rechtes.  Ein  Versuch  eines  natürlichen  Systemes  dieser 
Wissenschaften.'*  In  demselben  Verlage,  1888.  Erster  Baad: 
„Allgemeine  Begründung.**  XX  u.  400  S.  8^ 
Beneke  selbst  erklArte  die  Sittenlehre  fttr  sein  gelungenstes,  ihn 
am  meisten  beMedigendes  Werk,  und 'wer  es  kennt,  wird  ihm  gern 
hierin  beistimmen.  Der  Beidithnm  desselben  ist  auKerordentlieh,  aber 
noch  lobenswerter  die  GrQndlichkelt  nnd  Tiefe,  bis  zu  welcher  es 
bei  den  schwierigsten  Fragen  vordringt   Jährt  ansende  ist  das  Wesen' 
der  Sittlichkeit  ein  Tummelplatz  fOr  die  mannigialtigsten,  einander  oft 
direct  widersprechenden  Ansichten  gewesen,  und  wer  es  unternimmt 
in  dieses  Chaos  Ordnung  und  Licht  zu  brinpren,  hat  in  der  That  eine 
Herkulesarbeit  Tor  sich.  Der  bescheidene  Titel:  „Grundlinien**  — 
liest  den  hier  vorliegenden  Schatz  kaum  ahnen;  man  sehe  aber, 


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—  426  — 


.  iras  du  „Lehrbuch  der  Psychologie'*  in  den  §§  266-*279  vom  Sitt- 
lichen in  ümriaBen  gibt,  und  man  wd  sich  sagen  kfinnen,  nm 
welche  -wichtige  Poncte  Bich*B  in  dieser  HoralpläloBophie  handelt 
Namentlich  die  Natur  der  dtttichen  Freiheit  ist  ins  hellste  lidit  gesetat» 
und  es  wird  nie  gelingen,  diese  BeweisfHhmng  nmzostoßen,  so  sehr 
man  auch  an  ihr  rütteln  möchte.  Eben  so  ist  das  Wesen  der  Zn- 
reehnnng,  der  Pflicht,  des  Grewissens,  der  yerschiedenen  Arten  des 
von  der  sittlichen  Norm  Abweichenden  etc.  genau  bestimmt  and  vor 
allem  das  Wesen  nnd  die  Quelle  dieser  Nonn  nachgewiesen.  Der 
zweite  Band  bespricht  dann  die  einzelnen  Neigungen  vollständig  nnd 
führt  sie  auf  ihre  wahren  Entstehungsursachen  zuiück.  Weder  in  der 
deutschen,  noch  in  der  ausländischen  Literatur  gibt  es  eine  Schrift, 
die  das  Wesen  der  Sittlichkeit  in  solchem  naturwaliren  Liclite  auf- 
aseigte.  —  Dass  auch  die  Rechtslehre  eine  neu  begründete  ist, 
braucht  wol  kaum  versichert  zu  werden.  Man  hat  sie  öfter  füi*  einen 
Nachhall  von  Ben  t  harn 's  Grundsätzen  aiisgL'ben  wollen,  weil  diese 
vonBeneke  fniher  (s.  Nr.  11)  bearbeitet  worden  waren.  Diese  Meinung 
beweist  aber  nur,  wie  wenig  man  Beneke's  Grundsätze  mit  denen 
Benthams  verglichen  hat.  In  den  Resultaten  treffen  beide  Forscher 
öfter  zusammen,  aber  in  der  Begründung  gelien  sie  nicht  selten  weit 
auseinander,  was  schon  darum  nicht  anders  zu  erwarten  ist,  weil 
Bentham  ein  Psycholog  wie  Beueke  bei  weitem  nicht  war.  Die 
Schrift  geht  daher  einen  von  Bentham  völlig  unabhängigen  Gang, 
wie  nicht  allein  die  treffliche  Vorrede  versichert,  sondern  noch  mehr 
die  Ausführung  selber  darthut.  Die  Vorreden  in  allen  drei  Bänden 
dieser  praktischen  Philosoi)liie  sind  überhaupt  sehr  gewichtvoll.  Dass 
der  zweite  Band  dieser  Rechtslehre  nicht  hat  erscheinen  können, 
bleibt  sehr  zu  V)eklagen,  denn  das  Speciellere  in  Sachen  das  Rechtes 
würde  uns  noch  manclien  lehrreichen  Aut'schluss  gebracht  haben. 

Es  folgt  jetzt  die  Dissertation: 
20)  Syllogismonim  analyticorum  origines  et  ordinem  naturalem  de- 

monstravit  Fridericus  Eduardus  Beneke  etc.  Berlin,  bei  Mitller, 

1839.   19  a  4» 

Diese  in  classischem  Latein  geschriebene  Abhandlung  gibt  die 
bereits  oben  unter  Nr.  13  erwflhnte  neue  Schlusstheorie  in  mehr  aus- 
geltthrter  Darlegung.  Beneke  ist  kein  Freund  der  lateinischen  Spradie, 
inwiefern  sie  zu  wissenschaftlichen  Erörterungen  dienen  soll;  die 
Muttersprache  gflt  ihm  ndt  Becht  für  weit  zweckmAlUger  hierzu,  und 
er  bequemte  sich  daher  nur  einem  akademischen  Gebrauche,  als  er 
zum  Antritt  eines  akademischen  Amtes  (am  24.  Juli  1839)  diese 

PadafOfffoB,  SS.  Jahrr.  Heft  m  31 

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_  426  — 

Dissertation  schrieb.  Da88  er  das  latonische  IdioBi,  wenn  dafür  noch 
ein  Beweis  erforderlich  gewesen  wäre,  vollkommen  in  der  G^ewalt 
hatte,  tritt  hier  ebenso  deutlich  zu  Tage  wie  bereits  in  dei*  unter 

Nr.  3  genannten  Dissertation. 

Eins  der  vollendetsten  Werke  Beneke's  ist: 

21)  „System  der  Metaphysik  und  Religionsphilosophie  aus 
den  natürlichen  Grundverhältnissen  des  menschlichen 
Geistes  abgeleitet.  Berlin,  bei  Ferdinand  Dümmler,  1840. 
XVI  u.  600  S.  8«. 

Das  Verhältnis  zwischen  Vorstellen  und  Sein,  bekanntlich  das 
IFauptthema  aller  Metaphysik,  ist  hier  aufs  lichtvollste  erörtert,  und 
das  darüber  Festgestellte  gegen  die  abweichenden  Ansichten  Kants, 
Fichte's,  Berkeley's,  Hume's  und  anderer  vertheidigt.  Ebenso  sind 
über  Substanz  und  Accidenz,  über  Raum  und  Zeit,  über  das  Cansal- 
Verhältnis,  über  'das  Verhältnis  von  Seele  und  Leib  etc.  die  gründ- 
lichsten Untei*suchungen  angestellt,  und  wo  die  Scliranken  unseres 
Geistes  ein  tieferes  Eindringen  unmöglich  machen,  ist  das  oifen  aner- 
kannt und  jeder  Versuch,  diese  Schranken  durch  Phantasien  über- 
springen zu  wollen,  vermieden.  Daher  ist  auch  über  Gott  und  l'n- 
sterblichkeit  —  zwei  aller  Erfahrung  entzogene  Objecte  —  mitgroßei* 
Besonnenheit  philosophirt,  wobei  die  Erfahmngsseelenkunde,  welche 
znm  Leitstern  genommen  ist,  den  Verfasser  in  den  Stand  gesetzt  hat, 
den  Glauben  an  ^e  Unsterblichkeit  des  menschlichen  Geistes  ganz 
nea  und  fiaster  zn  liegrftndeD,  ak  aol^^  anf  dem  Wege  dar  ftnierai 
Natnil»nchnng  bisher  möglich  war.  Überhaupt  ist  das  Weeen  der 
Religion  hier  Ton  aüen  Seiten  anf^wolthnendste  beleuchtet  Wir  halten 
nna  flbenengt,  dass  es  nie  gelingen  werde,  Torortheilafreier  fOter  die 
metaphysischen  Probleme  zn  phüosophiren,  und  .  stellen  daher  dieses 
Werk  unter  die  vorzOg^chsten,  die  wir  BendEO  verdanken. 

Ein  nidit  minder  lehrreiches  und  besonnenes  Werk  ist  das: 

22)  „System  der  Logik  als  Ennstlehre  des  Denkens.*  Berlin, 
bei  DQmmler,  1842.  Erster  Theil:  XH  n.  828  S.  Zweiter 
Theü:  VI  u.  897  S.  8«. 

Hier  wird  dasjenige,  was  das  unter  Nr.  18  erwähnte  „Lehrbuch* 
ra^  abstract  gehalten  gibt,  so  ooncret  dargestellt>  als  die'  Natur  des 
Logischen  solches  ftberhaupt  znlässt,  und  die  neue  von  Beneke  ent> 
deckte  Schlnsstheorie  erscheint  hier  in  ihrer  ansgetührtesten  Gestalt, 
indem  zugleich  die  alte  aristotelisch-scholastische  in  ihrer  UnnatUrlich- 
keit  angezeigt  ist.  Wie  in  jener  Schrift,  ist  auch  hier  der  Gang  ein 
streng  genetischer,  so  dass  das  l<'rühere  dem  Späteren  überall 


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—  427  — 

Torangebt  und  man  klar  sieht,  wie  ans  den  Anscliauaügen  die  Begriffe, 
aus  den  Begriffen  die  UrtheUe,  aus  diesen  die. Schlüsse,  aus  diesen  die  ' 
Erklärungen,  Eiatlieiliuigen  etc.  henrorwachsen.  In  den  früheren 
X)enklehren,  welche  mehr  oder  weniger  die  aristotelische  Schlusstheerie 
zum  Centrum  des  Logischen  machen,  ist  zwar  den  Begrüben  und  ür- 
theilen  schon  mehi-fach  eine  besondere  Betrachtung  gewidmet,  solche 
echt  natürliche  Genesis  aber,  wie  sie  hier  vorliegt,  sucht  man  dort 
tiberall  vergebens.  Noch  vergeblicher  ist  dort  die  Frage  nach  einer 
Kunst  lehre  des  Denkens,  d.  h.  nach  Anweisungen,  wie  bei  jeder 
Denkstufe  die  geistige  Thätigkeit  zu  begünstigen,  Störungen  und 
Hemmungen  abzuwehren  und  so  eine  allseitige  Vollkommenheit  des 
Denkens  zu  erzielen  sei.  Zwar  sind  auch  dort  Vorsclu'iften  zu  dein 
gleichen  Zwecke  mehrfach  gegeben,  aber  die  hier  aufgestellten  haben 
einen  ganz  anderen  Gehalt,  denn  sie  sind  auf  Entwickelungsgesetze 
gebaut,  die  man  früher  nicht  kannte,  und  jene  konnten  daher  keine 
Macht  über  die  Denkthätigkeit  verleihen,  wie  sie  aus  der  Befolgung 
der  jetzigen  resultirt.  Was  fenier  vor  und  neben  dem  Denken  in 
der  Seele  vorgeht,  ist  unter  dem  Namen:  „Grundverliältnisse  des 
Denkens"  —  streng  geschieden  von  den  Denkthätigkeiten  selbst, 
und  diese  Sclieidung  gehört  zu  den  Hauptverdiensten  der  Beneke'schen 
Forschungen.  Der  dritte  Hauptabschnitt  im  zweiten  Theile  dieses 
Systemes  betrachtet  das  Denken  und  Erkennen  in  seiuem  Gesammt- 
ieben und  beleuchtet  beides  wieder  in  seinem  Zusammenwirken  mit 
dem  Äußeren  und  Inneren,  was  zu  gewichtvollen  neuen  Aufschlüssen 
geführt  hat.  Die  Entwickelung  des  Denkens,  von  ihrer  subjectiven 
Seite  betrachtet,  ist  ein  nicht  minder  wichtiges  Capitel,  welches  den 

.  Beschlnss  macht,  nnd  das  man  in  solcher  psychologisch-wahren  Ans- 
fllbntiig  in  kdner  Logik  Tor  Bmeke  Andel. 

Wir  kommen  jetat  zn  dem : 
23)  „Lehrbnch  der  Psychologie  als  Naturwissenschaft^ 
das  im  Jahre  1845  in  zweiter  Auflage  erschien.  E^s  enthftlt  nicht 
bloe  eine  systematische  Zusammenfusong  der  iUteren  psychologischen 
AnsfUumngen  des  Verflwsers,  sondern  anch  wichtige  Ergijbiznngen 
daan.  So  findet  sieh  s,  B.,  was  hier  Aber  das  Verhältnis  Ton  Wachen 

'  und  Schlaf  §  313  ff;,  sowie  Aber  die  Trflume,  das  Nachtwandeln,  den 
magnetischen  ScUaf  etc.  vorkommt,  theils  gar  nicht,  theils  nicht  in 
solcher  Ansflihrlichkeit  in  anderen  Schriften  Beneke's,  weshalb  auch 
in  diesem  Abschnitte  die  Citate  fehlen.  Ähnliches  gilt  von  den 
§§  180—182,  und  mehrfiush  anch  yon  344  ff.  Im  übrigen  bedarf  das 
mit  größter  Frftcision  geschriebene  Bach  keiner  weiteren  Empfehlung. 

81* 


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—  428  — 

Zu  iluii  gehört : 

24)  „Uie    neue    Psychologie.     Erläuternde    Aufsätze  zur 
zweiten  Autlage  meines  Lehrbuchs  der  Psychologie  als 
.  Naturwissenschait."*    In  demselben  Verlage,  1845.  XIV  u. 

350  S.  8<'. 

Es  handelt  in  neun  Aufsätzen  1.  über  „die  Behandlung  der 
Psychologie  als  Naturwissenschaft",  2.  über  „die  Natur  der  inneren 
Wahrnehmung",  3.  über  „das  Verhältnis  meiner  Psycholofrie  zur 
Herbartschen",  4.  über  „die  Natur  der  äußeren  Walirnehmung 
5.  über  „die  Grundorganisationen  der  Theilnahme  und  der  Zuneigungen 
zu  anderen  Menschen",  0.  über  „das  menschliche  Bewusstsein",  7.  über 
„das  menschliche  Handeln  und  die  mit  ihm  verwandten  (geistig-)  pro- 
ductiven  Entwickelungeu**,  8.  über  ^das  Verhältnis  meiner  Psychologie 
zur  sogenannten  sensualistischen",  9.  über  die  Frage:  „Wie  weit 
stellen  sich  tlie  gegenwärtigen  psychologischen  Arbeiten  des  Auslandes 
die  Aufgabe  einer  naturwissenscliattliclien  Behandlung  der  Psychologie?" 
(Franzosen,  Italiener,  Nordamerikaner,  Engländer.)  —  Wir  wüssten 
nicht,  welchem  dieser  Aufsätze  wir  den  Vorzug  vor  den  anderen 
geben  sollteii;  alle  sind  ebenso  lehrreich  wie  klar  und  luhren  die 
wichtigsten  und  schwierigsten  Punkte  im  „Lehrbuch"  weiter  ans  (na- 
mentUeh  die  Bewnastseiiistlieorie).  Doch  wollen  wir  den  dritten  nnd 
die  beiden  letzten  Anftfttse  der  AnfiiBerkBainkeit  ganz  besonders 
empfohlen  haben,  da  sie  das  Wesen  dei*  neuen  Psychologie  von  histo- 
rischer Seite  ms  licht  stellen  und  namentlich  fiber  den  Sensoalisrnns 
derselben,  im  Gegensatz  zn  Locke,  GondÜlac  nnd  Laromigui^  das 
Richtige  geben.  In  den  Sinnenthfttigkeiteii  wurzelt  freiüch  zuletzt 
alle  psychisdie  Entwickelung.  Aber  nur  die  alte  verkehrte  Psychologie 
betrachtet  das  spater  hervortret^e  höhere  Getetige  im  Menschen 
so  oberflächlich,  dass  sie  die  Wurzeln  desselben  nicht  bemerkt  und  in 
den  menschlichen  Sinnen  blos  Materielles,  nichts  von  dem  elemen- 
taris'ch  Geistigen  sieht,  das  sie  doch  eben  so  sicher  enthalten  mOssen, 
als  der  Kern  des  Banmes  bereits  die  elementarisdie  Natur  des  Baumes 
und  nicht  die  eines  Dornstrauches  euthftlt  Beneke's  ^stem  ist 
ein  durch  und  durch  spiritualistlsches;  ein  sensualistisches  nur 
insofern,  als  es,  bildlidi  gesprochen,  die  EkUirung  des  reich  dastehenden 
Baumes  aus  seinen  Anfängen  nicht  schuldig  bleiben  mag.  Das  Gei- 
stige wohnt  nicht  blos  in  einigen  Kräften  (gleichsam  in  einem  Winkel) 
der  menschlichen  Seele,  sondei-n  alles  in  ihr  ist  geistig;  alle  ihre  Ent- 
wickelung wurzelt  in  geistigen  Grundel^enten.  Anders  bei  den  Thieren. 
Ihre  SinnenyermOg^  sind  durchaus  ungeistige,  und  darum  bringen 


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—  429  — 

sie  es  nie  zu  eigentlichem  Verstände,  zur  Vemiinft,  zur  Sittlichkeit  etc., 

obgleich  sie  im   ganzen  auf  dieselbe  Weise  von  außen  her  enegt 

werden,  wie  der  Menscli.  Die  Sinnenverraögen  (=  psychischen  ürver- 
mögen)  sind  ja  etwas  ganz  anderes  als  die  Sinnenorgane.  Jene  liegen 
durch  diese  hindurch  nur  für  die  äußeren  Eindrücke  gleiclisam  zu 
Tage,  und  die  körperlichen  Organe  haben  blos  die  Bestimmung,  das 
Geistige  zu  unterstützen,  weslialb  sie  gesund  sein  müssen. 
Eine  kleine  beachtenswerte  Schrift  ist  femer: 

25)  „Die  Reform  und  die  Stellung  unserer  Schulen.  Ein  phi- 
losophisches Gutachten."  In  dem  nämlichen  Verlage,  1848. 
IV  u.  76  S.  8«. 

vSie  wurde  veranlasst  durch  die  Kämiite,  welche  im  genannten 
Jahre,  wie  über  die  politischen,  so  auch  über  die  socialen  und  unter 
diesen  über  die  Schulverhältnisse  entbrannt  waren  und  mit  leiden- 
schaftlicher Hitze  geführt  wurden.  Diese  Hitze  zu  mäßigen  und  zur 
Besonnenlieit  und  Gerechtigkeit  zurückzurufen,  erhob  Beneke  seine 
Stimme.  Dass  sie  gehört  und  beifallswert  befunden  wurde,  beweisen 
die  liecensionen,  die  sie  damals  erfuhr;  aber  keine  derselben  ließ  sich 
näher  auf  die  psychologischen  Grundlagen  ein,  sondern  man  schöpfte 
hauptsächlich  die  pädagogischen  Resultate  ab,  ein  Beweis,  wie  wenige 
es  damals  noch  gab,  die  auf  den  Kern  der  Sache  einzugehen  verstanden 
hätten.  Gewiss  hat  sie  manches  Gnte  gewirkt,  und  das  vermag  sie 
Mch  fernerhin,  da  sie,  wie  grttndlicb,  so  auch  fasslich  geschrieben  ist. 
Sie  ferbfdtet  sich  a)  Uber  die  An^gfabe  flbeiliaupt,  b)  über  das  Aos- 
emandertreten  der  Volksbildung  der  Art  nach,  c)  über  die  Gradab- 
stofiuigeii  der  VolksbfldoBg,  d)  aber  Einheit  tmd  Umfang  der  Sehule, 
e)  Über  Anfkicht  nnd  Freiheit  der  Yolksbüdang. 

Die  folgenden  Schziftoi  ffihren  uns  auf  ein  Feld,  das  Beneke  in 
ganz  neuer  Art  md  anfii  frachtbringendste  angebaut  hat. 

Dahin  gehört  zuerst  die: 

26)  „"BitkgmtLtUche  Psychologie  oder  Seelenlehre  in  der  An- 
wendung auf  das  Leben."  Berlin,  bei  Mittler  u.  Sohn,  1850. 
Erster  Band:  XIV  n.  426  a  Zweiter  Baad:  Xm  u.  434  S.  8^ 
Wer  ee  weiß,  wie  sehr  bisher  im  Gebiete  des  Geistigen  Wissen- 
sehaft und  Leben  dnrdi  eine  weite  Eluffc  getrennt  waren;  wer  es 
weiß,  wie  unsicher  man  in  der  Behandlung  geistiger  Dinge  umher- 
tappen nfusate,  weil  hier  die  Wissenschaft  nur  Schatten  und  Fhan- 
tastweien  bot,  der  wird  Beneke  für  das,  was  er  hier  geleistet,  auf- 
richtig Dank  wissen.    Die  praktische  Beurtheilnng  des  Lebens,  wie 
sie  Ton  den  Gebildeten  im  Volke  gettbt  wurde,  war  zwar  grOßtentheils 


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besser  als  jene  klägliche  Wissenschaft,  aber  ein  sicherer  Maßstab  und 
Leitstern  fehlte  auch  da,  und  nur  in  populären  Schriften  gab  es 
Ahnungen,  dass  der  Entwickelungsgang  der  Menschheit  auf  tiefer 
liegendfln  SeolaiiswetEeii  rohe.  Das.  ist  nim  für  jeden,  der  sehen  kann 
und  tohen  will»  anders  geworden.  Die  genannte  Schrift  bietet  einen 
Sehats  von  lelurreichen  Thatatchen  ans  dem  praktischen  Leben,, der 
sofierordenüich  ist^  und  Schriftsteller  ans  den  mannigfachsten  Lehens- 
gebieten haben  hierin  ihre  Beiträge  geliefert  Indem  sie  mit  ihren 
Erfahmngen  als  Zeugen  fltr  die  Wahrheit  der  theoretischen  Psychologie 
anilsefilhrt  sind,  gewinnt  ditee  ihre  Bestätigung  in  reichster  FiUle. 
Wer  da  wfihnen  konnte,  die  nene  Fsychotogie  sei  nnr  em  ähnliches 
Lnftgebilde  ivie  die  hergebrachten  Speculationen,  hier  wird  er  sich 
gründlich  widerlegt  sehen  nnd  den  piraktiBchen  Sinn  Beneke's  eben 
so  sehr  hochachten  lernen  wie  dessen  große  Belesenheit.  Dass  man 
sich  in  höchst  interessanter  GteseUschaft  befinde^  wenn  man  die  ans- 
genichnetsten  Geister  des  In-  nnd  Auslandes  ttber  ihre  Seelenznstände 
sprechen  hOrt,  bedarf  wol  keiner  Versichemng,  nnd  dass  der  Einzelne 
wie  ganze  Völker  der  praktischen  Musterbilder  bedürfen,  wenn  sie 
Irrwege  Termeiden  nnd  ihr  Lebensglück  danerhaft  sicherstellen  wollen, 
igt  ebenso  ausgemacht.  Die  Wissenschaften  von  der  äußeren  Natur 
gi'eifen  überall  segensi*eich  ins  Leben  ein  und  nichts  ist  hier  praktisch 
nntzlos;  die  Wissenschaft  von  der  geistigen  Natur  kann  gleichen,  ja 
noch  viel  höheren  Segen  stiften,  wenn  sie  den  Einfluss  auis  Leben 
gewinnt,  der  in  ihrei*  Bestimmung  liegt,  und  so  kommt  es  nur  darauf 
An,  dass  sie  richtig  aus  dem  Leben  des  Geistes  geschöpft  sei,  sie  wird 
es  dann  rückwirkend  aufs  schönste  zu  gestalten  vermögen.  Man 
studire  diese  Schrift,  und  das  Gesagte  wird  sich  bewahrheiten. 

Um  den  unendlichen  Reiclitlmm  an  praktischer  Ausbeute,  den  die 
neue  Seelenkimde  darbietet,  noch  weiter  zu  verwerten,  als  es  in  der 
genannten  Schrift  allein  möglich  war,  gründete  Beneke  das: 
27)  „Archiv  für  die  pragmatische  Psychologie  oder  die  Seelen- 
lehre in  der  Anwendung  auf  das  Leben." 
Dies  ist  eine  bei  Mittler  &  Sohn  in  Berlin  erschienene  Zeit- 
schrift, die  in  vierteljährigen  Heften  herauskam  und  durchgehends  von 
Beneke  selbst  geschrieben  ist.  Es  heißt  in  dem  Vorwurfe  dazu:  „Die 
gegenwärtige  Zeitschrift  ist  bestimmt,  dasjenige  fortzuführen,  was  die 
im  vorigen  Jahre  von  mir  herausgegebene  „Pragmatische  Psycho- 
logie" begonnen  hat:  die  Seelenlehre,  in  ihrer  neuen  Begründung, 
für  das  praktische  Leben  fruchtbar  zu  machen"  etc.  —  „Sie  soll  das 
dort  aufgelichtete  Gebäude  weiter  ausbauen  und  wohnlicher  machen. 


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.  Im  Interesse  dieses  Zweckes  wird  sie  Beitrige  Ikiem  fikr  alle  QeUete 
des  menschliclien  Oeistedebens:  fDr  die  logische,  die  üsthetisclie,  die 
mondische,  die  reUgiOse^.  die  poUtische,  (psychisch)  mediciniiMshe 
imd  difttetisehe  Ennstlehre"  etc.  —  Das  ist  mm  trefflich  ansgeftthrt 
worden  nnd  nur  zn  beklagen,  dass  diese  Zeitschrift  schon  nach  drei 
Jahren  dorch  Beneke^s  Tod  nnterhrochen  worde.  Der  erste  Band 
(Jahigaof  1851)  entfaXlt  XI  nnd  628  a,  der  zweite  17  nnd  519  S., 
der  dritte  IV  mid  514  a  8«»  Wir  erwfthnen  hier  nnr  die  Anftätae: 
„In  weileher  Art  kann  nnd  soll  der  Unterricht  sogleich  erziehen?'' 
(Band  t  a  26  ft);  „Dia  Sdiwierigkeiten  der  Volksersiehnng*';  „Die 
ehglisehe  nnd  die  deutsche  Erziehnng,  nnd  was  können  nnd  sollen  wir 
nns  ?on  jener  aneignen?''  „Wo  hat  die  Psychologie  ihre  Nachtseite, 
nnd  in  welcher  Art  ist  dieselbe  bedingt?"  (Band  n,  S.  218  £, 
S.  297  ff.  und  S.  253  ff.);  „Gesundheit  und  Krankheit  in  der  Knt- 
wickelong  der  Völker  und  Zeiten''  (Band  III,  S.  422  ff.).  In  den 
sämmtlichen  Aufsätzen  dieses  Archivs  finden  wir  ebenso  wie  in  der 
vorigen  Schrift  fast  alles  mit  Thatsachen  aus  dem  Leben  der  ausge^ 
zeichnetsten  Natur-  und  Menschenbeobachter  belegt.  In  dem  erst^ 
Bande  ist  außerdem  noch  das  „Vorwort"*  and  die  „Vorrede**  besonders 
der  Aufmerksamkeit  zu  empfehlen. 

Noch  ist  anzuführen  das: 
28)  „Lehrbuch    der  praf^niatischen    Psychologie   oder  der 
Seeleulehre  in  der  Anwendung  auf  das  Leben.'*   In  dem- 
selben \'erlage,  1858.  VII  u.  180  S.  8". 

Es  ist  zunäclist  als  Unterlage  für  Beneke's  Vorlesungen  bestimmt, 
sollte  aber  auch  über  den  Kreis  seiner  Zuhörer  hinaus  nützlich  werden. 
Auch  diese  kleine  Solirift  zeigt  Beneke  als  Meister  in  der  zweckgc- 
mäUen  Zusammenorduung  der  verschiedenen  Stoffe  und  bietet  daher 
über  das  praktische  Seelenleben  einen  reichhaltigen  Überblick. 
Überall  ist  für  die  weitere  Ausfülirung  dieser  Umrisse  auf  die  größeren 
Schriften  des  Verfassers  verwiesen. 

Endlich  sei  noch  auf  die  lehrreichen  Recensionen  hingedeutet, 
die  von  Beneke  über  Herbarts  ..Lehrbuch  zur  Psychologie",  über 
dessen  Schrift:  „Über  die  Müglichkeitund  Xotliwendigkeit, Matliematik 
auf  Psychologie  anzuwenden",  sowie  über  dessen  „Psychologie  als 
Wissenschaft,  neu  gegründet  auf  Erfahrung,  Metaphysik  und  Mathe- 
matik" in  den  Wiener  „Jahrbücheiii  der  Literatur",  Band  18,  27,  28 
nnd  37  vorliegen.  Nicht  minder  verdienen  die  Beiträge  Beachtnng, 
die  sich  von  ihm  in  Brzoska's  „Centraibibliothek"  etc.  Über  sehr 
wichtige  Gegenstände  der  Psychologie  und  Pädagogik  gegeben  finden, 


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^  vonmter  namentUeh  der  SpiachnnterriAht  hervorzahebeii  ist,  der  .dort 
infolge  des  tieferen  Eindringens  in  das  Wesen  der  Sprache  in  ^nem 
ganz  nenien  Gepräge  erscheint 

Beneke  spricht  es  ttberall  ans,  dass  er  anf  Fortsetier,  anf  weiter 
fUirende  Mitarbeiter  rechne,  dass  sein  System  nnr  der  Anfiuig^  nicht 
die  YoUendnng  der  grofien  Geistesarbeit  sein  woüe,  die  noch  ftbrig 
bleibe.  Diese  Beseheidenheity  die  von  ungebildeter  UntrOgliehkeit 
weit  entfernt  ist,  ist  ein  H«qvtsag  in  seinem  Charakter.  Wie  er  als 
Mensch  sich  im  praktischen  Leben  dnrch  Biedoiceit  der  Qfwrfnnnng, 
durch  Achtung  fremden  Verdienstes  aosieicbnete^  so  leuchtet  auch  ans 
Allem,  was  er  geschrieben  hat,  die  reinste  Liebe  aur  Wahrheit  h^or, 
die  er  mit  sitOieh  edlem  Eifer  erstrebte.  Die  Gegenwart  ist  ihm  viel 
schuldig  geblieben,  die  -Nachwelt  aber  wird  seine  Verdienste  zu  ehren 
wistan. 


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Aveli  eil  Beitrag:  ,^nm  Mmlniterriclit^*) 

Von  Reotor  Landmann-Schwetz. 

„Waa  dn  als  wahr  erkannt, 
Vwküad'  M  ohne  Zagen; 
•  Doch  tracht«  Wahrheit  »tcts 

Mit  mildam  Wort  zu  tagen !" 

Grar  mancbes  zum  Theil  sehr  yortrdOidie  Wort  ist  beraits  in 
diesen  Bl&ttem  tiber  »die  Moral  ia  der  Schale,*'  besw.  Aber  deren 
Einfthrnng  als  Unterriehtsaweig  in  den  Schnlen  g^esdirieben  worden; 
dennoch  ist  dieses  so  flberaos  vichtige  Thema  noch  keineswegs  er^ 
schöpft,  und  die  Frage,  ob  eine  systematische  Moral  in  den  Schnlen 
zn  lehren  sei,  noch  eine  nnerledigte. 

Demnach  wolle  man  auch  den  vorliegenden  Beitrag  znr  Losung 
der  schwebenden  Frage  wolwollend  aufnehmen  und  vornrt heilsfrei 
prüfen.  Verdankt  er  doch  seine  Entstehung  niclit  etwa  einer  mo- 
mentanen Erregung,  sondern  einer  anf  langer  Lebens-  nnd  Schaler* 
fifthmng  gegründeten,  tiefgewurzelten  Überzeugung. 

Um  der  hohen  Wichtigkeit  der  vorliegenden  Frage  willen  wolle 
man  mir  gestatten,,  etwas  gründlich  zn  Werke  zu  geben  und  der  Reihe 
nach  folgende  Fragen  zu  erörtern,  aus  deren  Beantwortung  sich  dann 
aam  Schluss  die  entsprechenden  Thesen  ergeben  werden. 

1.  W<as  haben  wir  unti^r  „Moral"  zu  verstehen? 

2.  Welches  Ergebnis  würde  die  allgemeine  Verbreitung  der 
Moral  haben? 

3.  Ist  die  Moral  heutzutage  überall  verbreitet? 

4.  Welclie  Kriftel  und  Wege  wären  einzuschlagen,  um  der  Moral 
eine  allgemeini'  Verbreitung  zu  verschaffen? 

5.  Was  Iiätte  die  Schule  behufs  moraliächei*  Duichbüdung  ihrer 
Zöglinge  zu  thun? 

6.  Wie  wäre  der  Moralunterricht  in  den  Schulen  einzurichten? 
Zu  1.   Was  haben  wir  unter  „Moral"*  zu  verstehen?  ' 

*)  YgL  aber  dteie  pBdagogiBdie  Ziit*  und  Streitfrage,  deren  ErBitemug  hier 
fortgesetit  wird,  die  befflglidieii  Artikel  auf  Seite  12  9.  waA  170  ff.  des  laufenden 
JahigMigea.  D.  B. 


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Man  wolle  (loch  ja  nicht  die  Erledigung  dieser  Frage,  also  die 
Begritrsbestiiniiiung-  von  Moral,  für  tibeiHüssig  halten!  Dass  die  Begriffe 
in  Bezug  auf  Moral  noch  keineswegs  geklärt  sind,  beweist  zur  Genüge 
folgende  Stelle  in  einem  kleinen  Aufsatz  im  Decemberheft  dieser  Zeit- 
schrift S.  170,  betitelt:  „Zum  Moralunterricht".  Dort  heißt  es:  „Es 
scheint  in  dem  Moralunterrichte  darauf  abgesehen,  den  Schülern  ein 
vollständiges  System  aller  Tugenden  und  Laster  zu  bieten  und  —  ihnen 
anzueignen."  (!)  Hierbei  lässt  es  Verfasser  allerdings  unentschieden, 
ob  die  bloße  Kenntnis  des  Systems  Eigenthum  der  Schiller  werden 
soll,  oder  ob  denselben  sämmtliche  Tagenden  und  —  Laster  in  der 
Weue  angeeignet  werden  sollen,  dass  sie  dieselben  auch  praktisch  im 
lieben  ansühen. 

Vor  allem  wird  es  znr  Vermeidung  von  lllssyerständniBsen  daranf 
ankommen,  festznstelleD,  was  in  dem  vorliegenden  Artikel  nnter  „Moral*' 
Terstsiiden  wird.  Und  zwar  möchte  idi  nnter  Moral  Wissenschaft  yer- 
standen  wissen:  denlnbegriff  sämtlicher  Lehren,  welcheimstande 
sind,  den  Menschen  flher  sich  selbst  und  seine  Bestimmung 
anfzakl&ren,  die  Summe  aller  Gebote,  deren  Befolgung  den 
Menschen  beglückt  und  seiner  von  Gott  gewollten  Bestim- 
mung zuffthrt  Also  alles,  was  veredelnd  auf  die  Gesinnung,  auf 
Herz  und  Gemflth  des  Menschen  wirkt^  was  geeignet  ist,  sein  Handeln 
in  normale,  heilsame  Bahnen  zu  leiten,  gehört  in  die  Moralwissenschaft. 

Danach  wflrde  also  auch  die  Bdehmng  ttber  dott  und  Unsterb- 
lichkeit in  das  Gebiet  der  Moral  ftülen;  denn*  der  Glaube  an  Gott  und 
an  die  Weisheit  sehier  Weltregierung,  sowie  der  Glaube  an  ein  hidivi- 
dnelles  Fortleben  nach  dem  leiblichen  Tode,  das  sind  doch  wahrlich 
diejenigen  Momente,  die  dem  Menschen  in  erster  Linie  einen  „mora- 
lischen Halt  '  flirs  Lehen  verleihen!  Vor  allem  aber  würde  als 
Kernpunkt  der  Moral  die  gesammte  Lehre  von  den  „Pflichten  des 
Menschen  gegen  seine  Nebenmenschen  und  sich  selbst"  zu 
betraditen  sein.  Als  minder  wichtiger  Theil  könnte  sich  dann  noch 
etwa  eine  Belehrung  über  Höflichkeit  und  Anstand  im  geselligen  Leben 
anschließen.  Man  sieht,  es  fällt  ein  großer  Theil  der  Moral  mit  der 
Religion  zusammen:  der  Glaube  an  Gott,  an  Unsterblichkeit  und  ein 
Theil  der  Ptlichtenlehre.  Das  aber  ist  ottenbar  derjenige  Theil  der 
Religionslehre,  der  allen  monotheistischen  Religionen  gemeinsam,  der 
göttlichen  Ursprungs  ist.  Ausgeschlossen  von  dem  Gebiet  der  Moral- 
wissenschaft ist  demnach  alles,  was  co nfessionelle  Färbung  hat,  alle 
Unterscheidongsiehren  der  verschiedenen  Parteien  und  Secten,  alle 


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gelelirten  Dogmen,  kurz,  alleä  religitee  Matei'ial,  welches  pai-ticula- 
ristischen  Ursprungs  ist. 

Soviel  zur  Begritt'sbestiiniiiung  der  Moral;  es  dürlte  für  das  rich- 
tige Verständnis  des  Folü;endiu  genügen. 

Zu  2.   Welches  Ergebnis  würde  die  allgemeine  Verbrei- 
tang  der  Moral  unter  den  Menschen  aufzuweisen  haben? 

Wenn  hier  von  einer  allgemeinen  Verbreitung  der  Moral  unter 
dot  MeuBclien  gesprochen  wird,  so  ist  dies  nicht  nor  in  theoretischer 
Hinsicht  zu  Terstdien,  sondern  auch  in  praktischer.  Es  soll  damit 
gesagt  sem,  dass  nicht  nur  alle  Menschen  eine  ToUkommene  Kenntnis 
jener  oben  angedeuteten  moralischen  Lehren  nnd  Vorschriften  haben, 
sondann  dass  dieselben  auch  Ton  Jngend  aof  gewöhnt  sein  sollen,,  dieser 
Erkenntnis  gon&fi  m  leben,  ihr  Denken  nnd  Handdn  mit  den  gött- 
lichen M<Nralge8etzen  flberall  nnd  stets  in  Einklang  an  bringen.  Keh- 
men  wir  an,  dies  wflre  der  Fall:  in  allen  Volksschichten,  bei  hoch 
nnd  niedrig,  vornehm  nnd  gering,  bei  arm  und  reich  wftre  eine*  gründ- 
liche Kenntnis  der  Mond  nicht  nur,  sondern  anch  der  enisfce  Wille 
nnd  die  nOthige  Willenskraft  vorhanden,  der  gewonnenen  Erkenntnis 
gemftß  zu  handeb:  —  wir  h&tten  den  Himmel  anf  Erdent  Das 
klingt  sehr  optimistisch,  nnd  doch  liegt  unleugbar  Wahrheit  darin. 
Einige  Beispiele  mOgen  zur  Beleuchtung  dienen:  wftren  alle  Menschen 
von  der  sehr  eüilkehen  Wahrheit  durchdrungen,  dass  ein  mäßiges, 
tbätigeff  Leben  gesund,  leistungs-  und  genuBsfähig,  froh  und  heiter 
macht,  und  wären  sie  von  Jugend  auf  an  Mftfiigkeit  und  Thätigkeit 
gewöhnt,  wären  sie  keinen  Verführungen  ausgesetzt,  welche  die  Klar- 
heit ihres  Denkens  trüben  und  ihre  Willenskraft  lahmen,  weksh  eine 
Masse  von  Unglück,  Krankheit,  Elend  und  Jammer  würde  ans  der  , 
Welt  verschwinden!  Oder:  hAtte  jedeimann  die  tief  innere  Überzeugung, 
dass  ein  allmächtiges,  allweises  nnd  allgütigcs  Wesen  (Gott)  die  Welt 
geschaffen  hat  und  nach  ewigen,  unal)änderlichen  Gesetzen  regiert,  dass 
dieser  Gott  „den  tiefen  Entwurf  gemacht  zur  Glückseligkeit  aller 
Weltbewohner**  (Klopstock),  dass  die  Befolgung  der  weisen  göttlichen 
Moralgesetze  allein  imstande  ist,  den  Menschen  zu  beglücken  und 
dem  Endziel  seiner  Bestinmiimg,  der  Glückseligkeit,  entgegenzu- 
führ^n:  wie  unendlich  viel  Jammer  und  Elend  würde  weniger  auf 
der  Erde  sein!  Der  sich  zur  Verzweiflung  steigernde  Kleinmuth, 
die  schließlich  im  Selbstmord  endende  Verzweiflung,  diese  Schand-* 
flecke  der  Menschlieit,  sie  würden  unbekannte  L)in»re  sein!  —  Oder 
anch:  wären  die  schönen  (resetze  der  Humanität,  des  WolwoUens 
gegen  alle  Menschen,  der  Toleranz  allgemein  verbreitet  und  befolgt. 


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welch  eine  Quelle  des  Ärgers,  des  Grams,  des  Kummers  und  .Tainmers 
würde  dadurch  verstupft!  —  Kurz,  i<'li  wiederhole  es  nachdrücklich: 
wären  alle  Menschen  gleichmäßig  moralisch  durchgebildet,  wir 
hätten  annähernd  den  Himmel  auf  Erden! 

Zu  3.    Ist  die  Moral  heutzutage  überall  verbreitet? 

Wenn  wir  diese  Frage  entschieden  verneinen  müssen,  so  bedarf  * 
diese  Antwort  wol  kaum  einer  eingehenden  Begründung.  Jeder,  der 
auf  dieser  Erde  eine  Spanne  Zeit  mit  oöenen  Sinnen  gelebt  hat,  weiß 
sehr  wül  aus  Erfahrung,  wie  traurig  es  bezüglich  der  Moral  unter 
den  Menschen  steht.  Durch  alle  Volksschichten  zieht  sich  der  ver- 
derbliche Hang  zum  mühelosen  Genuas,  in  den  wolhabenderen 
Ständen  herrscht  der  Hang  vor  zu  feineren,  kostspieligen,  in  den  nie- 
deren Volksclassto  zu  rohen,  thierischsinnlicben  Genüssen.  Welch  ein 
anabsehbares  Heer  Ton  Übeb  daraus  erwiehst,  iat  Uar  irie  dar  Tag! 
Selbstmorde,  ÜberfUlnng  der  Iirenhftiuer,  MeBseralfoiren,  ungiaekUche 
Ehen,  KraaUieiten,  Verarmang,  UntangUdikeit,  ünznMedeiüieit»  Ar- 
beitsschea  n.  s.  w.  sind  die  nnseligen  Folgen  des  Ifangel's  an  mo- 
ralischer Erkenntnis  nnd  moraliseker  Kraft!  In  allen  Volks- 
fldiichten  ist  der  nEgoiamus**  in  trauriger  Weise  vertreten,  jener 
unedle  Egoismus,  der  äußere  Torthefle  selbst  auf  Kosten  des  Woles 
«iderer  erstrebt,  der  sich  nicht  scheut,  unter  Umstfinden  selbst  „Uber 
Leifshen**  hinwegmschreiten.  Man  kann  ehiwenden,  dass  der  EgoLsmus 
in  der  menschlichen  Natur  begrOndet  liegt,  dass  man  deshalb  diese 
Eigenschaft  niemand  zum  Vorwnif  machen  kOnne.  Zugegeben  — 
jeder  Mensch  strebt  natnrgem&ß  nach  GMck  und  bat  das  Becht, 
gincklich  sein  zu  irollen;  aber  —  'der  Terkennt  das  wahre  Wesen 
des  Ginckes,  der  da  glaubt,  auf  Kosten  anderer  glftckUch  sein.su 
dOrfen;  er  weift  es  nicht,  dass  Selbstverleugnung,  dass  selbst  Entbiah- 
rung  SU  Gunsten  seiner  Mitmenschen  eine  bei  weitem  höhere,  edlere 
innere  Glückseligkeit  gewähren,  als  die  rafiinirtesten  sinnlichen  Ge- 
nflsse  zu  gewähren  vermögen!  Jawpl,  —  der  Egoismus  liegt  in 
der  menschlichen  Natur,  aber  —  es  sei  nur  jener  „edle  Egoismus," 
der  die  Triebfeder  zu  rilem  Guten  ist!  Sein  eigenes  Wol  —  in  treuer 
PtlichterfOUung  und  in  der  Begläckung  —  nicht  der  Schädigung  — 
seiner  engeren  oder  weiteren  Umgebung  suchen,  das  heißt,  nach  Gottes 
Willen  leben,  der  gewollt  hat,  dass  alle  Menschen  glücklich  werden. 
Und  wie  steht  es  mit  der  Wahrheitsliebe  nnd  der  Rechtlichkeit?  Es 
ist  kaum  anders  mehr,  als  dass  heute  ein  einfacher,  gerader,  recht- 
licher Sinn,  der  Lüge  und  Täuschung  um  eines  Vortheils  willen  ver- 
schmäht, für  identisch  erachtet  wird  mit  Dummheit  und  Thorheit. 


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Nein,  ^vahrlich  —  nach  Gottes  Willen  ist  die  Welt  kein  Jammer- 
tlial!  Der  Mensch  macht  sich  selbst  und  anderen  die  Welt  durch  seine 
Schwächen  und  Thorheiten,  die  die  Folge  sind  des  Mangeli?  an  mo- 
ralischer Erkenntnis  und  moralischer  Kraft,  zur  Hölle!  W^er 
wollte  lengTien,  dass  die  allgemeinp  Verbreitung  der  Moral  unter  den 
Menschen  von  außerordentlicher  Wichtigkeit  wäre?! 

Zu  4.  Welche  Mittel  und  Wege  wären  behufa  ailgemei* 
uer  Verbreitung  der  Moral  einzuschlagen? 

nNeigtUß  htsi.  fron  Ui  sr-hwer.  fjcsoUt  sich  aber  Gewohnheit 
Wunelnd  alliiKilili<  li  dazu,  unüberwindlich  wird  sie.^ 

Dieser  Ausspruch  (joetlie's  deutet  schon  auf  den  einzuschlagenden 
Weg  hin.  Einige  Sprichwörter  sprechen  denselben  Gedanken  aus: 
..Jung  gewdhnt,  alt  gethan.'*  ..Was  ein  Häkchen  werden  will,  krümmt 
sicli  bt'izeiteu.''  Im  Talmud  heißt  es:  „Lerne  in  der  Jugend,  im 
Alter  ist  es  zu  schwer**  und  „Was  mau  in  der  Jugend  lernt,  womit 
ist  das  zu  vergleichen?  Als  ob  etwas  mit  Tinte  auf  frisches  Papier 
geschrieben  ist;  aber  was  man  im  Alter  lernt?  Als  ob  etwas  mit 
Tinte  auf  besclimutztes  Papier  geschrieben  ist."  Welch  zutretfendes, 
anschauliches  Bild!  —  Wo  ich  mit  diesen  Citaten  hinaus  will,  ist  nicht 
schwer  zu  erkennen:  mit  der  moralischen  Bildung  der  Jugend 
muss  begonnen  werden.  Das  erwaclisene  Geschlecht  noch  belehren 
und  in  andere  Bahnen  lenken  zu  wollen,  das  wäre  ein  ziemlich  erfolg- 
loses, verirebliches  Bemühen.  Wer  einmal  von  Jugend  auf  dai5  Gift 
falscher  und  verderblicher  Grundsätze  eingesogen  hat,  wer  von  Jugend 
auf  nicht  daran  gewöhnt  wird,  seine  unedlen  Begierden  zu  unter- 
drücken, seine  Willenskraft  im  Streben  nach  allem  Guten  zu  üben, 
wer  von  Jagend  auf  laxe  Begriffe  Uber  Gott,  Tugend,  Moral  iL  8.  w. 
dngesogen,  der  wird  aehwerlich  noch  spftter  im  Leben  ein  wiHens- 
starker,  moraUscher  Mensch  werden,  wird  sich  schwerlich  noch  ändern; 
denn  die  Macht  der  Gewohnheit  ist  zu  gro6.  Wie  viele  Menschen 
werden  oft  trotz  schöner,  herrlicher  Natnranlagen  dnreh  falsche  oder 
mangdnde  Jugenderziehung  unglücklich  fürs  ganze  Leben  1  Venn« 
staltnngen,  auf  die  Erwachsenen  moralisch  einzuwirken,  gibt  es  ja  seit 
Jahrhunderten  genügende;  zu  diesen  gehOrt  in  erster  Linie  die  Kirche 
und  die  Geistlichkeit  Wie  diese  ihre  große,  schöne  Aullgfabe  erftUlt 
hat  und  noch  erfüllt,  darftber  zu  urtheilen  ist  nicht  meine  Sache  und 
gehOrt  nicht  hierher.  Thatsache  aber  ist  es,  dass  trotz  der  Wirk- 
samkeit  der  Kirche  die  Sittenverderbnis  bei  heutiger  Zeit  noch  eine 
große  und  allgemeine  ist  Daneben  gibt  es  ja  in  neuerer  Zeit  Vereine, 
die  moralistrend  auf  das  filtere  Geschlecht  einwhrken  wollen,  Hand- 


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—  488  — 


werker-,  Bildiinj^s-,  Turnvereine  u.  s.  w.    Diese  wirken  gewiss  Tiel 
,     Gutes  und  sind  allseitiger  Unterstützung  wert;  aber  —  eine  grilnd- 
liehe  Heilung  der  Menschheit  in  moralischer  Hinsicht  kann  durch  sie 

nicht  erzielt  werden;  diese  g-ründliche  Heilung  kann  offenbar  nur 
allmählich  durch  zweckentsprechende  Einwirkunj,'^  seitens  der 
Erzieher  auf  die  .Tupfend  angebahnt  werden.  Eltern  und  Lehrer 
aber,  (xler  besser  ge.^a^'t:  Schule  und  Uaus  sind  in  diesem  Bezage 
die  maßgebenden  Fucturen. 

Es  wii'd  nun  von  mancher  Seite  behauptet,  dass  die  moralische 
Bildung  der  Jugend  wesentlich  Sache  des  Hauses  sei,  dass  die  Scliule 
sich  lediglich  auf  die  intellectuelle  Bildung  zu  beschränken  habe; 
ja,  man  geht  so  weit,  es  für  einen  unberechtigten  Eingriff  der  Schule 
in  die  Rechte  des  Hauses  zu  erklären,  wenn  sie  über  die  Sphäre  des 
eigentlichen  Unterrichtens  hinausgreift  und  auch  die  sittliciie  Seite  der 
Bildimg  ins  Auge  fasst,  also  eine  eigentlich  „erziehliche"  Thätigkeit 
entwickelt. 

Wahrlich,  es  wäre  das  wünschenswerte  Ideal,  wenn  Schule  und 
Haus  sich  in  dieser  Weise  in  die  Ei-ziehungsarbeit  theilen  ku nuten. 
Denn  dass  die  Einwii'kung  der  Eltern,  namentlich  der  Mutter,  auf 
die  Kleinen  bis  znm  schulpflichtigen  Alter  fürs  ganze  Leben  von 
grOflter  Wichtigkeit  ist,  ist  unbestreitbar:  „Eine  tttchtige  Matter  jgt 
in  der  Famifie  der  Magnet  aller  Herzen  und  der  Polarstem  aller 
Angen.  Ihr  EinflnsB  ist  nnermesslich;  ihr  Charakter  wiederholt  sich 
beet&ndig  in  ihren  Kindern.  Die  reinen  G^edanken  und  Handlan- 
gen der  Liebe,  der  Zucht,  der  Selbstbeherrschung,  des  Flei- 
fies,  der  Arbeit,  von  denen  sie  täglich  Beweise  gibt,  leben 
und  wirken  fort  und  fort,  gehen  durch  die  Kinder  in  die  fol^ 
genden  GeschUchter  aber.**  (Smiles.)  Oewiss,  es  gibt  auch  heute 
noch  Tiele  solcher  Familien,  in  denen  der  Einfluss  der  Mutter  den 
Kindern  eine  noimale  moralische  Bichtang  fttrs  Leben  verleiht  In- 
des —  bei  dem  herrschenden  materialistischen  und  egoistischen  Zeit- 
geiste sind  diese  Familien  offenbar  in  der  Minderheit!  Es  fiUlt  dem- 
nach der  Schule  die  schwere,  aber  segensreiche  Aul|s;abe  zu,  fOr  die 
moralische  Durchbildung  der  Jugend  systematisch  zu  sorgen!  WOrde 
sie  diese  Aufgabe  nicht  auf  ihre  Fahne  schreiben,  wftrde  sie  sich  nur 
auf  die  Yerstandesbildung  ihrer  Zöglinge  beschränken,  sie  wäre  nicht 
wert,  dass  Staat  und  Gemeinden  so  viele  Opfer  für  ihre  Unterhaltung 
brächten.  Anderseits  aber,  —  lässt  die  Schule  die  moralische  Bildung 
ihre  Hauptsache  sein,  dann  haben  Staat  und  Gemeinden  die  aufge- 
wendeten Kosten  nicht  zu  beklagen,  dann  kann  man  in  Wahrheit  sagen: 

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—   439  — 


^Das  Geld  »uf  Schulen  angfelegt, 
Die  allerbesten  Zinsen  trüjjt/" 

Es  liegt,  ich  wiederhole  es,  wesentlich  der  Schule  die  Pflicht  ob, 
durch  eine  heilsame,  systematische,  auf  vemünftio^en  pädagogischen 
Grundsätzen  bei-uhende  Thätigkeit  derart  auf  die  Jugend  einzuwirken, 
dass  die  Menschheit  von  Generation  zu  Generation  moralisch  besser  und 
somit  die  Richtung  des  Zeitgeistes  eine  gesundere  werde! 

Bevor  wir  nun  aber  diese  moralische  Thätigkeit  der  Schule  naher 
zergliedern,  wird  es  uüthig  sein,  noch  einen  Blick  auf  die  Kizieliung 
der  .Tuo:end  im  vorschulpflichtigen  Alter  zu  werfen.  Denn  gerade 
während  dieser  Zeit  wird  von  Kltei-n,  Tanten  und  Kindermädchen  am 
allermeisten  an  den  Kleinen  gesündigt,  von  den  ersteren  tUeils  aus 
übertriebener  Zärtlichkeit,  theils  aus  Bequemlichkeit  oder  aus  Mangel 
an  Zeit,  von  letzteren  aus  Unwissenheit,  Unbildung  oder  Fahrlässigkeit. 
Es  liegt  nun  nicht  im  Ulaue  der  vorliegenden  Arbeit,  ein  S3'stem  von 
Regeln  für  die  Behandlung  dei*  Kinder  im  vorschulpflichtigen  Alter 
aufzustellen;  auch  wäre  dies  eine  überflüssige  Mühe,  zumal  es  schon 
von  anderer  Seite  zum  Theil  in  ganz  vortrefiflicher  Weise  geschehen 
ist.  Als  ganz  vorzttglich  wäre  unter  den  diesen  Gegenstand  beban- 
delnden  M^ieni  ein  Werkehen  zn  empfehlen,  betitelt  „Die  ErsiehnngB- 
knnst  in  der  Familie**  fttr  Eltern,  Erzieherinnen  und  Er- 
zieher, herausgegeben  von  Jnlins  Boss,  Lehrer.  Bybnik  1886 
Im  Selbstverläge  des  Herausgebers.  Diese  Schrift  enthält  eine 
voUstindige  und  treffliche  Anweisung  zur  Behandlung  der  Ehider  bis 
zum  siebenten  Lebensjahre.  Namentlich  auch  zeigt  es  die  modernen 
Fehler  und  UissgiifliB  zu  zärtlicher  oder  unveinftDftiger  Eltern  im 
rechten  Lichte.  Da  ist  kein  todter  Bucihstabe*,  man  fühlt  es  aus  der 
wannen,  lebensfrischen  DarsteUung  heraas,  dass  der  Inhalt  aus  leben- 
diger Erfthmng  geschöpft  ist  und  aus  einem  warmen,  menschenfreund- 
liehen Herzen  quillt  Der  Inhalt  dieses  Buches  sollte  nicht  nur  allen 
Eltern  und  Erzidierinnen  bekannt,  sondern  ihr  yolles  geistiges  Eigen- 
thum sein!  Eine  große  Menge  moderner  Erzlehungsverkehrtheitett 
und  im  Gefolge  davon  viel  Unheil  und  Elend  würde  schon  dadurch 
aus  der  Welt  geschafft  werden!  Wir  kommen  nunmehr  zur  Schule. 

Zu  5.  Was  hätte  die  Schule  behufs  moralischer  Durch- 
bildung ihrer  Zöglinge  zu  thun? 

Zum  Zweck  der  Beantwortung  dieser  Frage  wolle  man  mir  ge- 
statten, zunächst  einige  Sentenzen  zu  citiren,  deren  Inlialt  deutlich 
auf  die  verschiedenen  Richtungen  dei-  pädagogischen  Thätigkeit  hin- 
•weisen  dürfte.  Im  Talmud  heißt  es:  „Wo  die  Scheu  vor  der  Sünde 


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—    440  — 

größer  ist  als  die  Wissenschaft,  da  ist  die  Wissenschaft  von  Bestand; 
wo  aber  die  Wissenschaft  mehr  gilt  als  die  Scheu  vor  der 
Sünde,  da  ist  auch  die  Wissenschaft  nicht  von  Bestand.'' 
Wie  wahr  und  schön!  Es  ist  also  die  moralische  Unterweisung  weit 
wichtiger  als  die  wissenschal tliche! 

Koquette:      nBilderreichthuiu  und  pruukend  ücdicht, 
Wenn  w  die  Siiine  bnanseht  md  beiticlit, 
Wirici  auf  die  LSoge  niebt  ^iltaulich, 
Aber  das  Wort,  das  einfach ,  schlicht 
Aus  dem  Ci*i!iiitli  zum  Geinüthc  spricht, 
Klingt  uus  iiuuier  hold  und  vertraulich/ 
Goethe:         n£ii>  geistreich  ao^eschloesnes  Wert 

Wiikt  fttr  die  Ewigkeit" 
^Ein  gutes  Wert,  zur  rechten  Zeit  gesprochen, 
Es  lebt  in  uns,  nach  Tagen  nit-ht,  nach  Wochen. 
Es  ist  ein  Ro.srnstrauch .  di  r  jährlich  blüht, 
Ein  Gotteshttuch,  der  durch  die  Seele  zieht." 
Bodenstedt:  „Wimder  wirkt  oft  im  Gemflthe 
Eia  gewmhtM  Dichterwoit.'* 

Jean  Panl:  iJZxan  Ziele  der  Erziehiuigskiinst  gehört  die  Eriie- 
hufkg  über  den  Zeitgeist!  Nicht  für  die  Gegenwart  ist  das  EJnd  ni 
erziehen,  sondern  für  die  Znkiinit!'* 

Reimann:  Die  Ennst  des  naturgemäßen  Lebens  nenne  ich  Ta- 
gend, die  Tagend  des  Körpers,  weil  die  Lehx«i  der  privaten  Hy- 
giene mit  den  Lehren  der  Moral  sich  decken,  weil,  was  immer 
der  Moral  dient,  geeignet  ist,  die  leibliche  Gesondheit  zn  fördern,  and 
amgekehrt.  Indem  die  Tagend  zum  höchsten  der  Güter,  zar  Ge- 
sandheit  itlhrt,  ist  sie  selbst  die  Erone  aller  Gftter,  der  Inbegriff  and 
das  Ziel  aller  praktischen  Lebensweisheit. 

Seneca:  Lang  ist  der  Weg  durch  Lehren,  karz  and  erfolgreich 
darch  Beispiele. 

Der  Inhalt  obiger  Citate  gibt  uns  ottenbar  die  Norm  für  die 
Thätigkeit  der  Schule  an  die  Hand:  In  erster  Linie  ist  für  die  leib- 
liche Kraft  und  Gesandheit  der  Schüler  za  sorgen:  denn  diese 
ist  die  Grundlage  eines  gesunden  geistigen  Lebens!  Femer 
hat  die  Schule  fftr  moralische  Belehrung  zn  sorgen,  und  diese  Be- 
lehrung muss  von  Männern  ausgehen,  die  von  der  göttlichen  Wahrheit 
ihrer  Lehren  vollständig^  durchdrungen  sind,  denen  das,  was  sie  lehren, 
auch  von  Herzen  komnit  und  demnach  auch  wieder  zu  Herzen  geht. 
Endlich  soll  der  Leiirer  durcli  sein  Beispiel  wirken;  er  muss  also  vor 
allen  Dinpfpn  selbst  ein  Mann  sein,  der  moralische  Kraft  genug  besitzt, 
um  seinei*  Erkenntnis  gemäß  zu  leben. 


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—  441  — 

Wenn  aüao  die  pftdagogischea  Bestrebangen  der  heatigen  Zeit 
weeentlieh  auf  die  intellectaelle  Bildang  der  Schttler  gerichtet  sind 
und  demgemftt  auch  die  Vorbildung  der  Lehrer  wesentlich  die  Er- 
werbung einer  möglichst  großen  Menge  von  Wissen  znm  Ziele  hat, 
so  scheint  diese  Richtung  nicht  ganz  der  Förderung  des  allgemeinen 
Woles  zu  entsprechen.  Es  BoUte  doch  nach  allem  bei  weitem  mehr 
.Qewicht  auf  die  allgemeine  und  moralische  Bildang  der  Lehrer 
gelegt  werden!  Moral,  Pädagogik,  Logik,  mathematische  Geographie, 
Anthropologie  und  Psychologie,  sodann  praktische  Ausbildung  zum 
•Turnlehrer,  das  sind  die  Zweige,  die  vorzugsweise  betrieben  werden 
sollten,  deren  Durcbdiiugung  den  Lehrer  erat  zum  wahren  Erzieher 
stempelt. 

Die  erste  Forderun ])ehufs  erfolgi'eicher  moralisclier  Erziehung 
der  Jugend  in  der  Schule  wäre  also  die  moralisclie  Durchbildung  der 
Lehrenden  und  eine  diesem  Zwecke  entsprechende  Unif^estaltung  der 
Vorbereitungsanstalten  zum  Lelirberuf  in  der  oben  bereits  angedeuteten 
Weise.  Der  Lehrer  muss  in  erster  Linie  mit  gutem  Beispiel  wirken 
und  dann  mit  gelegentlichen  aus  dem  Herzen  kommenden  Belehrungen 
und  Ermahnungen.  Im  allgemeinen  ist  man  ja  heute  gegen  das 
gelegentliche  „Moralisiren"  in  der  Classe.  Man  ist  der  Ansiclit, 
dass  moralische  Belehrungen  keinen  Eindruck  auf  das  kindliche  Gemüth 
machen,  dass  dadurch  der  Unterricht  nur  gestört  und  beeinträchtigt 
werde,  dass  nichts  für  die  Kinder  „langweiliger"  sei  als  „Moral- 
predigten". 

Pädagogen,  die  solche  Behauptungen  aufstellen,  sprechen  sich,  sollte 
mau  meinen,  selbst  das  Urtheil;  sie  beweisen  damit,  dass  ihnen  selbst 
die  Moral  langweilig  and  gleichgiltig  ist,  dass  sie  ihnen  nicht  Herzens- 
sache ist  Wtre  iie  es  nnd  kirnen  ihre  Worte  von  Kmm,  m 
wibrden  de  andi  m  Henen  gehen,  nnd  ein  großer  Theil  der  Kinder 
würde  dttvoa  einen  größeren  Nutzen  haben  als  von  dem  in  dieser 
Zeit  yenänmten  wiflsenechaftlichen  Pensum.  Je  Öfter  dergleichen 
BelebruDgen  bei  Oelegenbeit  irgend  eines  Vergehens  der  Schiller  gegeh 
die  Moral  wiederholt  worden,  desto  größere  Nachwirkung  liaben 
sie  Dir  alle  Zeiten,  desto  mehr  gehen  sie  in  „Fleisch  uitd  Blüt**  ttber, 
desto  mehr  Sdifller  werden  sich  dafür  empftnglidi  zeigen,  wenn  auch 
anfing^ch  bei  vielen  die  Empflinglichkeit  und  somit  das  Yerständnis 
dafOr  mangeln  dflrfte.  —  Semper  aliquid  haeret 

Was  tthrigens  das  Verhalten  des  Lehrers  und  seine  Ebiwirkung 
anf  die  Schiller  durch  das  Beispiel  betrifft,  so  ist  hierttber  im  Aprfl- 
Hefte  1888,  S.  443  iE  ehi  vortareiniches  Wort  von  Dr.  Eefersteln 

M^afftam.  IM,  Mag.  HMkVD;  92 


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—  442  — 


beachtenswert.  Der  Verfasser  führt  dort  den  sehr  wahren  Gedanken 
ans,  dass  Eigenschaften  des  Lehrers,  wie  Gerechtigkeit,  Geduld,  Wol- 
wollen.  liebevolle  Hingabe  an  die  Schwachen,  Gewissenhaftigkdt  in. 
allen  amtlichen  Functionen,  Pünktlichkeit,  Selbstbeherrschung  tt.  a.  als 
die  nGrnnd Voraussetzungen''  der  Moral  der  Schäler  anzusehen 
seien.  —  Sehr  wahr  und  schön!  Ob  aber  ein  besonderer  ^oralunter- 
rieht"  in  den  Schulen  einzuführen  sei,  diese  Frage  läsBt  er  noch  offen. 
—  Diese  Frage  wird  dagegen  im  September-Hefte  des  IX.  Jahrganges 
dieser  Zeitschrift  1887,  S.  761  If.  von  Schiilinspector  Wyss-Burgdorf 
in  überzeugender  Weise  bejaht.  Den  vorzüglichen  Ausführungen  des 
Herrn  Verfassers  in  diesem  Artikel  kann  ich  mich  nur  von  j^anzem 
Herzen  anschließen;  ich  wäre  also  auch  dafür,  dass  in  sämmtlichen 
Schulen,  nicht  nur  in  den  niederen  und  höheren  Knabenschulen,  son- 
deiTi  auch  ganz  besonders  in  Mädchenschulen  ein  besonderer  systema- 
tischer „Moraliinterricht"  in  den  mittleren  und  oberen  Classen  an 
Stelle  des  confession eilen  Religionsunterrichtes  Einführung  fände! 
Denn  bei  der  gelegentlichen  moralischen  Unterweisung  darf  es 
doch  nicht  bewenden,  insofern  diese  immer  nur  lückenhaft  und  von 
Zuialligkeiten  abhängig  sein  kann.  Die  Kenntnis  eines  Gesetzes 
und  seiner  heilsamen  Bedeutung  ist  immerhin  die  erste  Grundbedingung 
zur  Befolgung  desselben.  „Und  die  Moral  muss  doch  gelehrt  werden  1" 
(Dr.  Fricke.) 

Wenn  nun  der  Verfasser  jenes  oben  bereits  citirten  Artikels 
,Zum  Moralunterricht"  im  December-Hefte  1889  S.  170  ff.  den  Moral- 
unterricht YoUständig  verwirft,  wenn  er  behauptet,  dass  dieser  Unter- 
richt sein  Ziel  vollständig  verfehle  und  vieUelelit  sbgtar  sdiädlidi 
wirke,  so  hat  er  diese  Behauptungen  so  wenig  objectiv  begrOndeti 
dass  sie  eigentlich  gar  keinen  Eindmek  machen. 

Damit  aber  der  nMoralnnterricht**,  dessen  EiariohtOBg  im  IMm 
Theile  dieses  Anftatzes  noch  besonders  behandelt  werden  soll,  nicht 
seinen  Zweck  ssnm  Theil  verfehle,  sollten  wol  di^cmgen  Untemchts- 
fiksher  mit  besonderem  Nachdrucke  behandelt  werden,  welche  sich  m 
jenem  grandlegend  und  nnterstiltiend  verhalten.  Zu  diesen  Fichem 
gehört  ^nmflchst  der  Turnunterricht,  welcher,  indem  er  die  körper- 
liche Gesundheit  und  E[raftbe8weckt,  hierdurch  auch  suglaich  das  geistige 
Leben,  namentlich  aber  die  Willenskraft  erheblieh  fördert  Geterom 
censeo:  Dem  Turnen,  also  der  körperiichen  Bewegung,  besw.  den 
-Bewegnngsq^ielen,  mflsste  tftglich  mindestens  eine  Stande  gewidmet 
werden  I  —  Im  naturwissenschaftlichen  ünterrichte  könnten  ohne  Schaden 
eine  Menge  Elinzelheiten  ans  dem  Gebiete  der  drei  Beiehe  gestrichen. 


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—  448  — 


dagc^n  ein  weit  größerer  Nachdruck  auf  die  Lehre  Tom  Menschen 
nnd  auf  die  populäre  Physik  gelegt  werden.  Besonders  sollten  die 
Sinnesorgane  des  Menschen,  ihr  wunderbarer  Bau  und  ihre  Bedeutung 
für  das  geistige  Leben  eingehend  behandelt  werden;  daran  müsste 
sich  eine  vernünftige,  populäre  Gesundheitslehre  anschließen  und 
endlich  auch  die  Lehre  von  der  menschlichen  Seele  und  ihren  ver- 
schiedenen Functionen  als  besonders  wichtig  nicht  vergessen  werden! 
In  der  Physik  würden  diejenigen  nnahänderlichen  Naturgesetze  und 
ihre  Wirkung  eingeliender  zu  behandeln  sein,  die  im  täglichen  Leben 
eine  wichtige  Rolle  spielen  und  an  denen  sich  sichtbar  eine  allweise 
Schöpferkraft  bemerkbar  macht.  Wird  beispielsweise  das  merkwürdige 
Ausnahmegesetz  von  dem  allgemeinen  Gesetz,  dass  das  Wasser  sich 
unter  4"  C.  wieder  auszudehnen  beginnt,  in  rechter  Weise  mit  Bezug- 
nahme auf  die  großartigen  Wirkungen  auf  das  Natur-  und  Menschen- 
leben den  Schülern  zum  Bewusstsein  gebracht,  so  dient  ja  diese  Er- 
kenntnis oft'enbar  wieder  der  Gotteserkenntnis,  unterstützt  also  ohne 
Zweifel  den  Moralunterricht.  Und  welch  großartigen  Einblick  in  die 
Weisheit  Gottes,  der  die  ewigen  Natiu-gesetze  geschaffen,  gewährt  die 
Lehre  vom  Schalle,  vom  Lichte,  von  der  Dampf  kraft  und  der  Elek- 
tricität!  Auch  in  der  G^graphie  w&re  eine  Menge  Ballast  über  Bord 
zu  werfen  und  daf&r  der  astronomischen  Geographie  größere 
Beachtung  zn  schenkenl  Was  sollte  wol  geeigneter  sein,  Ehrfurcht 
nnd  heilige  Sehen  Yor  der  AUmaeht  nnd  Weialifiit  Oottea  In  der 
Henaohenhmat  zn  erwecken,  ala  der  Einblick  in  die  Wunder  des 
WeltaUsI  lat  es  einerseits  die  Großartigkeit,  so  ist  es  anderseits 
die  nnwandelbare,  ttberall  im  Weltall  waltende  Ordnung  und  Gesetz- 
lichkeit, die  ganz  besonders  den  Sdittlem  zum  Bewnsstseln  zn 
.bringen  ist 

Nnfimehr  aber  konunen  wir  znm  „Horalnnterricht**  selbst 
Zn  6.  Wie  wäre  der  „Moralnnterricht**  in  den  Schalen 
einzurichten? 

Die  eingehende  Beantwortnng  dieser  Frage  wttide  einen  so 
großen  Saarn  einnehmen,  dass  sie  weit  ttber  das  Ziel,  welches  mir  in 
diesem  Anftatae  gesteckt  ist,  hinausgehen  würde.  Es  sei  mir  hier 
nnr  gestattet,  andentnngsweise  meine  Ansicht  aber  Inhalt  nnd  Form 
des  in  Bede  stehenden  Unterrichtes  auszusprechen. 

Als  ersten  Theil  des  Unterrichtes  denke  ich  mir:  die  Glanbens- 
lehre, d.  h.  die  Lehre  yon  Gottes  Dasein,  seinem  Wesen  nnd  seinen 
Eigenschaften. 

Als  zweiter  dürfte  folgen:  die  Lehre  yon  der  Unsterblich- 

32* 

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—  444  — 

Iceit  der  menschlichen  Seele  und  die  ans  diesem  GHaaben  fllr  difr 

Menschen  sich  erg^ebenden  wolthätigen  Folgen. 

Als  dritter  Theil  würde  sich  dann  die  Lehre  von  den  Pflichten, 
die  eigentliche  Sittenlehre,  anschließen,  und  zwar  die  Lehre  von 

den  Pflichten  gegen  unsere  Nebenmenschen  und  uns  selbst,  welche 
nach  meiner  Auffassung  mit  den  Pflicliten  gegen  Gott  vollständig  zu- 
sammenfallen. Die  weitere  Gliederung  dieser  Sittenlehre  kiinnte  etwa 
so  beibehalten  werden,  wie  sie  von  Herni  Schulinspector  Wyss  in 
dem  schon  oben  angeführten  Artikel  im  Jahrgang  1887,  S.  771  ff.  auf- 
gestellt ist. 

Endlich  dürfte  es  nicht  unzweckmäßig  erscheinen,  wenn  als  An- 
hang norli  die  geselligen  Sitten,  die  Pflichten  des  Anstandes  und 
der  Höflichkeit  im  Umgange  mit  den  Seineu  und  mit  Fremden  etwa 
in  dem  Sinne  von  Knigge's  „Umgang  mit  Menschen"  behandelt  würden. 
Eine  Bhunenlese  aus  dem  genannten  Buche  würde  gewiss  reichlichen 
und  heilsamen  Stoff  zui'  Belehining  bieten.  Soweit  einstweilen  über 
den  Inhalt.  — 

Was  die  Form  des  Unterrichtes  anlangt,  so  denke  ich  mir,  dass 
die  einzelnen  unter  obige  Rubriken  zu  bringenden  Lehren  in  kurzer, 
präciser  Fassung  von  den  Schülern  gelernt,  von  dem  Lehrer  besprochen  ^ 
und  durch  aus  dem  Leben  gegriffene  Beispiele  illustrirt  und  den 
Sch&lem  zum  klaren  TentSndnis  gebracht  werden  mfissten.  Femer 
floUten  zu  allen  einzeben  Pnnktea  Belegstellen  nicht -nur  angefahrt, 
tondem  anch  Ton  den  Schfllem  gelernt  nnd  so  oft  wlederiiolt  werden, 
dass  sie  fürs  ganze  Leh^  ihr  festes  geistiges  Eigenthnm  werden  und 
jederzeit  bei  gegebenem  Anlasse  mit  Leiehtigkeit  reprodncirt  werden 
können  1  Dies»  BelegsteUen  wSren  nicht  nnr  ans  den  BeUgionsbfichem 
aller  drei  monotheistischen  Religionen,  der  Bibel,  dem  Talmnd  -nnd. 
Koran,  sondern  voßk  «äs  den  weltlichen  dassiseheii.SehriftsteDem  aller 
Zeiten  zu  entlehnÖL  * 

„Wnnder  wirkt  oft  im  Gemfithe  ein  geweihtes  Dichterwort^ 
Man  gestatte  mir,  znrTeraiischaaliehoDg  der  oben  aiisgesprochenen 
Idee  nnr  einige  wenige  Beispiele  anznf&hren.  Soll  der  Lehrer  den 
Kindern  das  Dasein  eines  aUmfiehtigen  Gk>tteB  klar  machen,  der  die 
Welt  geschalfen  hat  nnd  sie  nach  nnwandelbaren  Oesetzen  erhAlt,  so 
wttrde  er  sie  etwa  lernen  lassen:  ^Ich  g^be  an  Gott,  den  allmächtigen 
Schöpfer  ffimmels  nnd  der  Erde"  oder  in  modernerer  Form:  „Es  ist 
ein  Gk)tt,  der  die  Welt  geschaffen  hat  nnd  sie  nach  anwandelbaren 
Gesetzen  erhält."  Dieser  Satz  wird  dann  gründlich  besprochen  und 
nmttt  Hinweis  aof  die  wanderbaren  Naturgesetze,  welche  in  der  Natnr, 


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—  446 

im  Menschenleben  und  im  Weltall  walten,  den  Kindern  klar  gemacht, 
dass  das  kein  Werk  des  Zufalls  sein  könne,  dass  nur  Thoren 
oder  «gedankenlose  Menschen  so  sprechen  kOuutea  etc.  Dazu  wären 
«twa  folgende  Belegstellen  zu  lernen: 

Psalm  14 1  1.  |j)ie  Thoren  sprechen  in  ihrem  Herzen,  es  ist 
kein  Gott." 

Psalm  19,  2:  „Die  Hinunel  erzählen  die  Ehre  Gottes,  and  seiner 
Hände  Werk  verkündet  das  Firmament." 

Talmud:  „Gott  ist  es.  der  allein  die  Welt  schuf.  Von  allem, 
was  Gott  in  der  Welt  geschaffen  hat,  gibt  es  nicht  ein  Ding,  daü 
zwecklos  wäre.'* 

Koran:  „Er  lässt  die  Nacht  dem  Tage  und  den  Tag  der  Nacht 
folgen  and  zwinget  Sonne  and  Mond,  ihren  Dienst  za  verrichten,  und 
beide  dorcheUen  ihren  bestimmteB  Laol  Das  that  Gott,  eaer  Herr, 
dem  da  gehört  die  Hernchalf* 

Oder:  Bei  der  Besprechong  Yon  Oottes  Weisheit  und  Gttte 
würde  auf  die  HenUehkeit  Beiner  Geeetse,  wie  die  Befolgung  dersdhen 
das  Glflck  der  lebenden  Wesen  bezwecke,  tainzaweiflen  and  etw« 
folgendes  sn  lernen  sein: 

Psalm  104,  24:  »Herr,^  wie  sind  deine  Werke  so  groB  nnd  viel! 
Da  hast  sie  alle  weisliGb  geiordnet  nnd  die  Erde  ist  toU  deiner  Gttte.** 

Klopstock  in  seinem  Psalm:  „Er,  der  Hocherbabene,'  der  allein, 
gans  sich  denken,  seiner  ganz  sidi  fronen  kann,  machte  den  tiefen* 
Entwarf  zur  Seligkeit  aller  seiner  Weltbewohner'*  etc. 

Wie  wirksam  mttsste  es  femer  bei  Besprechong  der  Lflge  sein, 
wenn  das  schöne  Wort  ans  Qoethe's  Iphigenie  IV,  1  gelernt  nnd 
grttndlich  besprochen  wQrde:  „O  weh.  der  Lüge!**  etc^  nnd  etwa  das 
Geibelsche  Wort:  ,Jittge,  wie  sie  scUan  sich  hüte,  Injcht  am  Ende 
stets  das  Bein;  kannst  du  wahr  nicht  sein  aus  Gttte,  lern*  aus  Elng* 
heit  wahr  zii  seia'*  Doch  —  diese  Beispiele^  die  ich  leicht  vermehren 
könnte,  mögen  genOgen. 

Von  diesen  Belegstellen  müsste  das  Beste  gelernt  werden,  was 
zu  allen  Zeiten  von  gottbegeisterten  Männern  .gesohrieben  worden  ist 
Man  sollte  meinen,  dass  derj^leichen  Sentenzea  weit  heiljiamer  and 
veredelnder  aof  die  Jugend  wirken  würden,  als  so  manche  Bibelstellen, 
Gesangbachverse  nnd  biblische  Geschichten,  für  deren  Inhalt  die  Jugend 
wahrlich  kein  Verständnis  haben  kann.  —  Wie  ein  derartiger  Unter- 
richt den  Schüler  mit  Unlust  erfüllen  soll  und  mit  welchem  Rechte 
ihn  der  unbekannte  Verfasser  jenes  Ai-tikels  im  December-Hefte  einen 
schablonenhaft  gekünstelten  nennt,  ist  mir  allerdings  unerfindlich. 

9 


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—   446  — 


Bereitet  denn  der  confessionelle  Religionsunterricht,  wie  er  heutzutage 
gegeben  wü*d,  den  Kindern  Fi-eude,  erregt  er  auch  nur  einigermaßen 
ihr  iBteresse?!  Nach  meiner  Erfahrung  bezweifle  ich  dies  ganz  ent- 
schieden. Dagegen  habe  ich  oft  zu  bemerken  Gelegenheit  gehabt«  dass 
die  Mldehen  der  ersten  Classe  Ähnliche  Sentenzen,  wie  die  angeflUirtai, 
die  idi  ihnen  gelegentlich  mit  Voilfobe  zum  Lemoi  dietire,  gern  und 
mit  Freade  lernten  nnd  ihrer  Beeprecbimg  ein  aofloerlEaaijiieB  Ohr 
liehen.  Wird  der  Jagend  wfthrend  der  Schulzeit  die  groBe  Wahrheit 
snm  Bewosstsein  gebracht»  daes  die  Befolgung  der  Gesetze  Gtottee  in 
jedes  Menschen  eigenem  Interesse  liegt,  dass  z.  R  Arbeit  nnd 
tflchtige  Anstrengung  ein  reines,  hohes  Wolgefbhl  erzengen,  dass  aber 
Jede  AbweidinDg  Ton  üem  pflichtgemAfien  Wege  Unheil  im  Gefolge 
hat,  nnd  erhfilt  diese  Wahrheit  allmihlich  dnrch  Erfthnmg  ihre  Be- 
stAtfgnng,  so  mnss  das  entschieden  auf  Gesinnung  und  Handlnngs* 
weise  Ton  krSftigerer  Wjrknng  sein,  als  die  Lehre  Ton  der  SQnd- 
haftigkeit  der  Menschen,  die  nur  dnrch  Christi  Yermittelung  wieder 
Gnade  bei  Gott  erlangen  kOnnen.  Geradem  verderblich  wirkt  Ja  der 
nngehenere  Irrthma,  in  dem  sieh  heute  noch  Millionen  w  Menschen 
befinden,  dass  man  seine  Sfinden  durch  gottesdienstUehe  Handlangen, 
Beichte,  Abendmahl,  Ablass,  Messen  etc.  abbttßoi  kOnne;  dadurch  wird 
ja  doch  offenbar  der  Sttnde  und  dem  Unheil  Thür  nnd  Thor  geöffnet! 
—  Wie  anders  und  schöner,  wenn  der  Mensch  es  tief  innerlich  er- 
kennt und  davon  durchdrungen  ist,  wie  gut  es  Gott  mit  uns  geraeint, 
als  er  uns  seine  Gesetze  gab,  durch  deren  Befolgung  wir  glücklich, 
durch  deren  Missachtung  wir  unglücklich  werden  müssen.  Doch  — 
das  ist  ja  klar.  „Tugend  nnd  Laster  tragen  in  sich  selbst  die 
Vergeltung!"  (Wyss  a.  a.  0.)  Es  wird  einmal  eine  Zeit  kommen, 
wo,  wie  Fichte  sagt,  „für  jeden  vernünftigen  Menschen  die  Moral 
auch  die  wahre  Religion  sein  wird",  und  wo  alle  Menschen  soweit 
vernünftig  sein  werden!  Ja  —  es  wird  auch  einmal  eine  Zeit  kommen^ 
wo  der  „Moralunterricht"  obligatorisch  in  allen  Schulen  eingeführt 
sein  wird.  Sie  ist  wahrscheinlich  noch  feine,  weil  erstens  das  günstige 
Vorurtheil  flu*  den  confessionellen  Religionsunterricht  noch  zu  tief 
gewurzelt  ist,  und  weil  zweitens  noch  zwei  wichtige  Vorarbeiten  zu 
erledigen  wären,  und  zwar  einerseits  die  geeignete  Vorbereitung  der 
Lehrer  und  anderseits,  wie  Herr  Wyss  sehr  richtig  sagt,  die  Her- 
stellung eines  geeigneten  Lehrmittels  oder  Leittadens  für  den  Moral- 
unterricht. Letztere  Bedingung  dürfte  sehr  bald  erfüllt  werden,  so- 
bald nur  erst  von  maßgebender  Seite  der  Sache  näher  zu  treten 
Miene  gemacht  würde! 


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—    447  — 


Die  Thesen,  weldie  sich  aus  der  Beantwortmig  der  im  AnfSeuige 
goateUten  sechs  Fragen  ergehen,  würden  demnach  etwa  lauten: 

1.  Unter  „Moral**  haben  wir  diejenige  Bichtnng  der  Denk-  nnd 
Hsndlongsweise  des  Menschen  za  verstehen,  die  ihn  semer  von  Gott 
gewollten  Bestimmimg  zoftUirt 

2.  Die  allgemeine  Verhreitang  der  Moral  würde  einen  höheren 
Zostand  der  Glückseligkeit  der  Menschheit  znr  Folge  haben. 

3.  Die  Mond  ist  heutzutage  keineswegs  allgemein  verbreitet 

4.  Um  der  Moral  allgemeine  Verbreitung  zu  verschaffen,  mnss 
vor  allem  auf  die  Jugend  moralisch  eingewirkt  werden. 

5.  Die  Schule  hat  die  Aufgabe,  neben  den  die  Nieral  unterstützen* 
den  Unterrichtsfächern  einen  besonderen   „Moralunterricht"  an 
Stelle  des  confessionelien  Beligionsonterrichtes  in  ihren  Lehrplan  anf-  - 
znnehmen. 

6.  Der  Moralunterricht  mnss  alle  diejenigen  Glaubenslehren  nnd 
Sittengesetze  enthalten,  in  welchen  die  drei  monotheistischen  Religionen 
übereinstimmen,  und  diese  Lehren  müssen  durch  zutreffende  Beleg- 
stellen aus  Heligionsbachem  nnd  Classikem  erl&utert  und  befestigt 
wei'den. 

Wenn  ich  nun  im  Obigen  versucht  habe,  meiner  Ansicht  übi  r  den 
fraglichen  Gegenstand  in  einfacher  Form  einen,  wie  ich  wul  fiihle, 
nur  unvollkojnmenen  Ausdruck  zu  j(eben,  so  habe  icli  das  walirlich 
nicht  in  der  Absicht  getlian,  zwecklos  Opposition  gegen  bestehende 
Verhältnisse  zu  machen;  nein  —  vielmehi-  lialte  ich  es  einfach  für 
Pflicht,  da  nicht  zu  schweigen,  wo  ich  nacli  meiner  Auffassung  irr- 
thümliche  Ansichten  und  zweckwidrige  Veranstaltungen  sehe.  Gerne 
will  ich  mich  belehien  und  bekehren  lassen,  wenn  jemand  es  besser 
weiß;  anderenfalls  aber  hoffe  ich  auch  weiter  noch  Gelegenheit  zu 
haben,  für  die  oben  entwickelte  Idee,  die  mir  nun  einmal  Herzens- 
sache ist,  nachdrücklich  einzutreten.  Und  so  schließe  ich  mit  dem 
Worte,  mit  dem  auch  Herr  Schulinspector  Wyss  seinen  Aufsatz  schloss: 
„Und  die  Moral  muss  doch  gelehrt  werden!'* 


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Franz  Stelztiamer. 

Von  Alfred  von  Ehrmamn-Badtn, 

In  jüngster  Zeit  «dnlat  das  Dichterwort  in  Erfttllang  gehen  zn  wollen, 
naeh  welchem  „die  Dialekte  eich  bald  lebhafter  regen  and  matiiiger  empor* 
bttamen  würden  und  neben  dem  ernstgesenkten  nnd  fruchtbaren  Herbstbanme 

—  der  Schriftsprache  —  aucl»  der  lustig  blühende  Frühlingsstrauß  der  Volks- 
sprache wieder  zu  Einen  kommen  sollte".  In  derTluit,  seit  die  Sprachforschung 
die  Dialektkimde  als  eine  ilirer  wichtigsten  Hilfswissenschaften  auerkennt,  hat 
auch  das  allgemeine  Litereese  des  groSeii  PabUcnma  Ar  die  Sprache  der  imteren 
Volkssehiehten  sogeiiommeik  —  nicht  nur  in  nnaerer,  Mndern  anch  in  fremden 
Literaturen. 

In  Frankreich  z.  B.,  wo  seit  den  fünfziger  Jahren  schon  P.  Jasmin,  der  be- 
gabte Dichter  der  Gascogne,  eine  verhältnismäßig  große  (jemeiude  von  Ver- 
ehrern nm  sich  gesammelt  liattCf  bricht  sich  neaerdings  der  proTenaliBche 
Dialekt  mit  elementarer  Gewalt  Bahn.  Es  hat  sich  eine  klehie  Schar  yon 

Dichtem  nnd  Gelehrten  gefnnden,  welche  fSr  das  Idiom  des  südlichen  Frank- 
reich, die  alte  Sprache  der  Troubadours,  Geltung  neben  dem  Schriftfranzösischen, 
ja  sogar  Gleicbstellnng  mit  demselben  erkämpfen  wollen.  Die  ehemaligen  poe- 
tischen Akademien  des  französischen  Sadens,  jene  berühmten  jeux  floraoz,  sollen 
wieder  eingeführt  and  durch  Heranggabe  von  Original-Dichtwerken,  tSrammar 
tiken  und  Wörterbüchern  in  prOTm^aliseher  Sprache  die  ehi-würdige  langne 
d'oYl  zu  neuem  Leben  erweckt  werden.  Das  H:inpt  dieser  Dichterschule  ist 
Friedr.  Mistral,  ein  so  eigenartiges  poetisches  (reiüe,  dass  sein  Name  gewiss 
schon  längst  in  der  ganzen  gebildeten  Welt  einen  guten  Klang  besitzen  wüi  de, 

—  wenn  er  es  eben  nicht  venchmihte,  fkamMMh  an  schreiben.  Übrigens  hat 
dieee  aufblähende  Literatur  bereits  die  Anfhieriuamkeit  des  Nordens  auf  deh 
gelenkt  und  wird  auch  bei  uns,  die  wir  wegen  unserer  „Fremdländerei"  so  arg 
verschrieen  sind,  bald  manchen  literarischen  Feinschmecker  bewegen,  einen  Ein- 
blick in  die  Grammatik  des  Proven^alischen  zu  nehmen,  um  etwa  Mistral's 
„Hireio'',  „Nerto"  oder  das  herrliche  Epos  „Galendal"  zu  lesen. 

England  hat  seit  Robert  Borna  keinen  bedeutenden  Dialektdichter  herrmv 
gebracht,  dafttr  genießt  aber  auch  der  schottische  Barde  eine  Würdigung,  wie 
sie  keinem  deutschen  Volksdichter  je  zntheil  geworden  ist.  Der  Name  Burns 
geliort  eben  gerade  so  gut  zur  englischen  Literatiugescliichte ,  wie  der  eines 
Moore  oder  Byron;  und  doch  ist  seine  Sprache  ebensowenig  Schriftenglisch,  wie 
a.  B.  daa  Dentach  eines  bayrischen  FloBkneditea  oder,  elnea  Waldbanem  aas 
dem  Innviertel  Hochdentsch  genannt  werden  kann.- 

In  Deutschland  ist  die  mundartliche  Dichtung  hauptsächlicli  diircli  zwei 
Namen  vertreten:  im  Südwesten  dorch  J.  P.  Hebel,  im  Norden  durch  Fritz 


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-  449 


Eeuter.  Hebels  alemannische  Gedichte  nehmen  in  der  deatschen  Literatur 
längBt  einen  geachteten  Hätz  ein,  und  mit  Fr.  Reuter  wird  in  Norddeutficlüand 
ein  förmlicher  Cnltns  getrieben;  ja  durch  die  Übermacht  de«  Bfiebervertriebes 
vom  „Beiche*'  ftos  wird  denelbe  M»g»r  uns  SMAeitMlien  ftmUeh  Mfjgiedritagtk 
Und  dodi  Silld  gerade  wir  in  Österreich  so  glücklich,  einen  Dialektdichter  den 
Unieren  m  nennen,  welcher  nach  den  Urtheilen  eines  Emil  Kuh,  eines  Freih. 
von  Feudi tersleben  weder  Bums,  noch  Hebel,  noch  Keater  an  {»oetischem  Werte 
nachsteht.  Dieser  Dichter  nun  ist  Franz  ätelzhamer  und  stine  Sprache  ein 
Zweig  jenes  gro6en  bajorarisehen  Spraehstammei,  denen  Bereich  von  Bayern 
Uber  die  ganzen  Alpenländer  bis  an  die  Marken  Ungarns  sich  erstreckt! 

Während  aber  in  den  Lesebfichem  für  Deutschlands  Schulen  sich  Proben 
llebelscher  und  Kenterscher  Poesie  Torflnden,  geschah  bei  uns  bis  vor  kurzem 
nichts  zu  einer  auch  nur  oberflächlichen  Würdigung  Stelzhamers.  Bemerkens- 
wert isli.  B.  gewiss  die  Tliatsache,  dass  la  efaMm  wettmAnitetflii,  u  Tielea 
Osterrkehischfin  ünterrlohtsanstalteii  elngeflUirten  Lehrbuch  der  dentseheuLite- 
ratnrgeschichte  wol  die  BiograpMm  Hebels,  RenteES  nad  Klans  Groths,  aber 
keine  drei  Worte  über  Stelzharaer  zu  ftnden  sind. 

Erst  in  neuerer  Zeit  beginnt  es  in  dieser  Beziehung  besser  zu  werden. 
£in  rühriger  Stelzhamer-Aosschuss,  dessen  Seele,  Dr.  Anton  Matosch  von  der 
Wiener  üsäyersitttsUbliothek,  selbst  ein  hoehbcffstoter  Dialektdichter  ist,  wirkt 
durch  würdige  Biichusgaben  eifrig  für  die  Sadto  der  obderennsischeu  Dialekt* 
dichtung.  In  Wien  versammeln  Leopold  Hörmann  und  andere  fiir  ihre  \'or- 
lesungen  Stelzhamerscher  und  eigener  Dichtungen  ein  zahlreiches  Publicum. 
Aber  wie  weit  ist  die  Popularität  unseres  oberdeutschen  Vulksbarden  von  der 
Friti  Bentws  in  Norddeotsdilaad  entfernt,  wo  eigene  Benter-Vereiae  Ar  die 
möglichste  Verbreitung  des  „plattdeutseben  Homer"  sorgen!  —  Um  nur  von 
der  Biographie  Stelzhamers  zu  reden,  so  ist  dieselbe  sogar  in  Österreich  so  gut 
wie  unbekannt.  Die  Aufsätze,  welche  über  diesen  Gegenstand  hier  und  da  in 
Koseggers  „Heimgarten''  erscheinen,  geben  patürlich  uui  Beiträge,  so  wertvoll 
sie  anch  als  solche  erscheinen;  es  sind  AngenWIcksbilder  aas  desDichters Lebm, 
ohne  gewollten  Zusammenhang.  Und  die  einiig«  rdativ  TollsmndlgB  Stdi- 
hamer^Bio^raphie,  das  vortreffliche  Werkchen  von  J.  Bd.  Engl,  ist  trotn  ssiner 
■weiten  Auflage  nicht  eigentlich  im  großen  Publicum  verbreitet. 

So  möge  denn  nachfolgende  bincrraphische  Skizze  in  dem  h  bluit'toii  W  unsche, 
wieder  ein  bescheidenes  Theii  zum  Andenken  an  den  bedeutendsten  \  ertreter 
oberdeutscher  Dialektdiehtuug  beiintragen,  ihre  Entschuldigung  finden.  «Aus 
obenangefBhrten  Grttnden  wird  wid  für  sehr  wenige  damit  Bekanntes  geboten 
sein  —  abgesehen  davon,  dass  eine  PtnliihaMor  Biographie  schon  an  und  fttr 
sidk  des  Interessanten  genog  enthält. 

•  ♦ 

Franz  Stelzhamer  wurde  zu  Großpieseiiliam,  einem  Dorfe  nächst  Ried  im 
Innkreis,  Oberösterreich,  am  29.  November  1802  geboren.*)  Seine  Eltern 
waren  efiiikehe  Banerslente,  d«r  Täter  ein  tüditiger  Mann  Ton  pnkUsfliMn 
Verstände,  die  Mutter  gemtitbrelch,  ja  Ihst  ÜelnAhUg  troti  Ihres  niederen 


*)  Im  selben  Jahre  kam  auch  Frankreichs  natioiialster  Dichter,  Yiolav.SiMpv 
rar  Welt:  und  dnrdi  einen  seltssmen  ZniSdl  starb  Fiits  Beuter  ha  i^sidistt  3tSn 
mit  Stelsaamer,  nur  einen  Tag  nach  Ihm. 


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—  460  — 


Standes,  und  ihrem  jüngsten  Sohne  Franz  mit  geradezu  rührender  Liebe  zu- 
gethaB.  AliKnalM  muBte  er  fleißig  amvttterliolieiiOiite  initarbettMi  «Bd  lernte 

dabei  das  Landleben  mit  allen  seinen  Einzelheiten  kennen.  Oft  war  er  tage- 
lang yom  Hause  fem,  auf  abgelegenen  Triften  einsam  das  Vieh  hütend.  Daher 
seine  von  keinem  Volksdichter  erreichte  Kenntnis  des  bäuerlichen  Kleinlebens, 
daher  seine  innige  Vertrautheit  mit  dem  gelieimsten  Weben  der  heimatlichen 
Natnr.  Vielleioht  atammt  aoch  aas  Jener  Zeit  die  Keigong  zum  TMmnen  und 
Fabnliren,  jene  „einnirddo  Weia'*,  '  ide  er  aie  nennt  nnd  ven  der  er  geateht» 
dam  aie  ihm  von  Jugend  auf  anhaftete.  Wenigstens  hat  er  mit  Vorliebe  in 
seinen  poetischen  Allegorien  f^ioh  selbst  als  Hirtenknabe  hingestellt,  dem  die 
belebte  Natnr  sowie  M Ureben  und  Sage  der  Heimat  in  mannigfachen  Peraoni- 
ficationen  ihre  poetischen  Enthüllungen  machen. 

^Schiin*)  wie  ri  mi  g'hüet't  hatf^) 

I)ü  Gaiß**)  und  dii  (iäna 

Obn,  bon  WiUd  au  der  Cininitzfl 

In  Land  ob  der  Elms" 
beginnt  er  im  „ Waldfi*itiiprl"  CMnsa  rnralis)  die  kfistliche  Erzählung  seines 
Bündnisses  mit  der  ländlichen  Mnse,  die  sich  zu  ihm  gesellt  und  ihm  alle 
geistigen  Güter  verspricht,  wenn  er  sich  ihr  weihen  wolle.  Aach  in  anderen 
Oedlditen  benutzt  er  gern  das  Hott?  von  dem  poetiseli  veranlagten  BanenH 
jongen  nnd  weUl  ans  dem  'Widerstreft  der  idealistiaeheii  Meigangen  mit  dem 
Bealismns  der  ümgebong  uiwiderstelilich  komische  Effecte  zn  ziehen. 

Der  aufgeweckte  Knabe  wurde  zum  Studium  hpstinimt.  Er  beendete  in 
Salzburg  mit  ausgezeichnetem  Erfolge  das  Gymnasium  und  ging  dann  nach 
Gna,  vm  dort  Jos  zn  8tadiren>.  Dieser  Schritt  f&hrte  zn  ernsthaften  Zerwflrf« 
nimen  mit  aeinem  Vater,  welelier  den  Sohn  flir  den  geietlichen  Stand  be- 
stlnunt  hatte. 

Nachdem  Stelzhamer  seine  Studien  in  W^ien  absolvirt  hatte,  nahm  er  eine 
Erzieherstelle  in  Reindorf,  spater  eine  solche  in  einem  griitlidieii  Hause  zuBielitz 
in  Schlesien  an.  Damals  glaubte  er  ein  Talent  zum  Zeichnen  in  sich  entdeckt 
80  haben  nnd  ging  Iran  entMAkosen  nach  Wien  zmrttok,  nm  eidi  dem  Stndiom 
der  Malerei  zn  widmen.  Er  beeidite  aoch  wirklich  die  Malerakademie,  aber 
bald  scheiterte  sein  Plan  an  dem  gUnzlichen  Mangel  aller  Geldmittel. 

Nun  gedachte  er  doch  sich  noch  der  Theologie  zuzuwenden  —  schon  um 
den  zürnenden  Vater  zn  versöhnen.  In  Linz  stodirte  er  als  Externist,  dichtete 
aber  nebenbei  aeine  enlin  Ideder  in  obderamaiiQlier  Mondart,  darunter  einige^ 
ala  deren  Aotor  man  gewiss  nicht  einen  Stndiosoa  der  Theologie  vermnthet 
lAttt,  Es  fand  anch  dieses  Studium  ein  rasches  Ende,  herbelgefUtrt  durch  die 
Ungeberdlgkeit  des  poetischen  Gottesgelehrten,  der  nach  einer  missgliickten 
Prüfung  am  Ende  des  ^weiten  Corsas  der  Theologie  für  immer  den  Kacken 
kehrte. 

Yen  da  ab  beginnt  fltar  Stelsbamer  Jenes  Wanderleben,  zn  dem  sein  nn> 

ruhiger  Geist  ihn  trieb,  und  welchem  er  bis  in  sein  hohes  Alter  uie  auf  lanfo 
Zeit  entsagen  iLonnte.  Das  Heimatsdorf  Termeidend  —  denn  das  Vaterhans 

*)  schan  (srhon),  ebenso  wie  baa  (habe)  sind  mit  dem  tiefen  (bayerischen) 

a-Lant  zn  spreohen.  Pieser  Laut  kommt  bei  Stelzhamer  jedem  a  zu,  wclehcs  ni'  ht 
ausdrUc-klich  durch  dea  Acceut  (&)  als  ein  helles  bezeichnet  ist.  Das  n  ist  ua^al.  — 
**)  ai  klingt  nach  Stdchamers  vielbekrittelter  Sdneiboag  wie  ftaaiQsisrh  oi  (also 
—  t)  Greaae. 


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^  451  — 


war  ihm  jetzt  mehr  als  je  verschlossen  -  zop  er  zuviirderfit  durch  Ober- 
Österreich  bis  an  die  bayerische  Grenze.  In  I'assaa  traf  er  einen  ehemaligen 
StndieiicollegeD,  der  inzwiscliai  Dinetcr  einer  wandeiiideii  Sehampielertrnppe 
geworden  jnct  und  unseren  Franz  roa  Pieeenham  als  wülkoramenee  MitgUed 
für  sein  amlndantes  Theater  engagirte.  Der  nene  JUnger  Thaliens  spielte 
verschiedene  ernsthafte  und  komische  Rollen,  vor  allem  Intrigante.  Er  scheint 
kein  geringes  Talent  für  die  Bühne  besessen  za  haben,  wie  dies  ja  später  die 
meisterhafte  Art  seiner  Vorlesungen  bewiesen  hat  —  wlhren^  umgekehrt  zn 
dieser  Knust  des  Vortrages  die  sehanspielerisefae  Lehnelt,  sowie  die  ooHegialen 
TTnterweisQDgen  einer  Sophie  Schröder,  welche  sich  flir  den  jungen  Mimen  inter- 
essirte,  nicht  wenig  beigetragen  liaben  mochten.  Die  Herrlichkeit  war  jedoch 
von  kurzer  Daner.  Der  Herr  Director  erklärte  sich  eines  Taiges  seiner  Truppe 
gegenüber  insolvent.  Franz  saß  mit  einer  größeren  Zecbschnld  im  öasthaase 
fest  nnd  motte  sieh  in  «inem  Briefe  nm  Hilfe  an  die  Mntter  wenden.  Dies« 
machte  sich  sofort  anf  den  Weg  nnd  kam  nach  einer  anstrengenden  Fußwande- 
rung In  Passan  an,  wo  sie  ihren  Sohn  ohne  ein  Wort  des  Tadels  mit  ihren 
ersparten  Oelde  auslf)ste.  • 

In  lichtblauem  Frack  mitJlessingknöpfen,  in  gelben  Nankinghosen,  lichter 
Weste,  MiedeErsehnhen  nnd  hohem  weitai  QyUB^criinte  enibli  J.  Er.  Engl  — 
ging  der  ▼etnnglttckte  Schanspieler  im  Mirs  18d5|  Passan  verlassend,  neben 
seinem  Mfitterlein  her,  die  in  ihrer  soliden  Landestracht  seltsam  von  ihm  abg»>  - 
stochen  haben  mochte.  In  Schärding  fand  er  nnvermnthet  eine  Gesellschaft  von 
Männern,  die  seine  Lieder  schon  kannten  —  sie  hatten  inzwischen  handschrift- 
lich eine  rasche  Verbreitung  im  Lande  gefunden  —  und  sofort  eine  Snb- 
seription  veranstalteten,  um  dem  Dichter  ans  der  augenblicklichen  Noth  sä 
helfen  nnd  ihm  eine  Sammlung  und  Heransgabe  des -bis  dahin  Entstandenen  zn 
ermöglichen.  Getröstet  nnd  nenerdings  voll  Vertrauen  zu  ihrem  Sohne,  machte 
sich  die  ]\Intter  wieder  auf  den  Heimweg.  Franz  aber  setzte  seine  Wanderung^ 
in  der  Kichtuug  nach  Wien  fort. 

Er  sah  sich  nun  mit  allem  Ernste  nach  einem  VerleKtor  nm.  Der  k.  k. 
Hofbnehhfo^er  P.  BohrmaDB  war  der  erste,  welcher  sich  zn  einer  Hwansgabe 
der  Dialektlieder  bereitfinden  ließ.  Nachdem  der  Verlagscontract  abgeschlossen 
worden  war,  kehrte  Stelzhamer  ins  F.Uernhaus  zurück,  nm  dort  die  letzte  Feile 
an  sein  Manuscript  zu  legen.  Et  hatte  sich  nicht  getäuscht,  wenn  er  hoffte, 
den  Vater  durch  die  verbriefte  Thatsache  des  Erfolges  endlich  zu  versöhnen. 
Besonders  war  es  der  obenan  gedruckte  kaiserL  Adler  im  ContraAtbrief  dee 
Hofbachhändlers,  welcher  dem  schlichten  Bauersmann  imponirte.  Leider  sollte 
er  von  den  künftigen  Erfolgen  seines  Sohnes  nicht  mehr  als  dieses  blofie  Voi^ 
zeichen  erleben;  er  starb  noch  während  der  Drucklegung  des  Buches. 

Dieser  erste  Band  „Lieder  in  obderennsischer  Mondarf^,  1837  erschienen'"), 
enthUt  aii0er  einem  kÜBinen  Epos  „D&  SoldatnvOdA,*  einige  der  seither  be- 


*)  Das  BUi  hlcin.  welches  übrigens  im  Buchhandel  >i«  roit>  >olt<  ii  wird,  ist  tür 
die  damaligen  Verbältnisse  recht  wUrdig  ausgestattet:  auf  gutea  Papier  gedruckt 
mit  hUbsehem  Titel  und  einer  HolcMAnitt^gaette  anf  dem  Uanddag  TersdieSt 
wolrho  rine  auf  knorrigem  Bauniast  nihnnd»^  Leier  als  Symbol  der  Volksmuse  dar- 
stellt. Mit  dieser  Vignette  nun  hat  der  Zufall  ein  seitsames  Spiel  getrieben.  Ein 
(3i«hA>  davon  dndet  man  nindich  snf  den  Programmen  einer  altbekannten  Wiener 
VolkBsiageigeBeUsehaft  abgedruckt.  Nun  konnten  wir  fragen:  Soll  dies  Tidleieht 


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t 

—   452  — 


rfUunt  gtmotimm  drastisehen  OenrebUdolien  au  dem  obartefeemiehJaohea 
fiaoenlfllieii  (s'Henmähdd-Osang",    „iä  pfiffi  Bue",  „dä  SpieUomp''),  dann 

Scenen  ans  dem  Liebesleben  des  Volkes  (dö  bsondäLiab",  „dös  anbrennt  Rosl", 
„di'i  Gfocktü"*),  außerdem  Autobiographisches  („dÖ  drei  Brüedä",  „Nemo  pro- 
pheta  in  patdria*^  oder  „Wo  diPfening  gscblagen  is,  da  gilt  &  nix'Q  and  jene 
rthraid«  Apoatropbe  an  «Melii  Hlladflrl*!  weloha  er  in  dar  Folg»  nicht  Öfter 
all  efaimal  öffentlich  gelesen  hat|  da  er  beim  Vorteafe  desselben  laiw  dann 
war,  selbst  ^Wich  seinen  Zuhör«»m  von  der  Rühmng  überwältigt  zu  werden. 

Die  „Lieder"  begegneten  gleich  bei  ihrem  Erscheinen  einem  ungeahnt 
großen  £rfolge.  Und  dies  iat  um  so  bemerkenawerter,  als  ziemlich  zu  gleicher 
Zeit  ancfa  Joh.  Gabriel  Seidls  MFlinBeri"  in  niederOateireiehiaGfaer  Hnndart» 
das  „Schwarzblattl  aus  dem  Wienerwald"  von  Freiherrn  v.  Kiesheim,  sowie 
Kobells  altba3'eri8che  Gedichte  erschienen.  Über  alle  diese  Publicationen  trug 
Stekhainei-s  Buch  den  Preis  davon,  indem  es  sich  mit  einem  Schlage  die  Gunst 
des  Pnblicums  und  die  Anerkennung  der  Presse  errang.  Dieser  glänzende  Er- 
toHg  beatinnnte  Stelahamer,  von  da  an  die  DiehtkonM  als  seinen  Lebensbemf 
zu  betrachten,  obwol  er  im  voraus  wusste,  dass  er  angefeindet  werden  und 
keine  besonders  glänzende  materielle  Existenz  vor  sich  tinden  würde.  Unter 
seinen  Aphorismen  befindet  sich  t  iner,  welcher  diese  Erkenntnis  hiichst  treflend 
ausspricht:  „Ich  habe  mir  das  Kiinstleiios  gewählt,  eine  kahle  Hübe,  aber  mit 
Bdcender  Fensldit*«**) 

Eine  wülkonunene  Einnahmsquelle  «rteUoss  steh  ihm  wol  in  den  stark' 
besachten  N'orlesungen,  welche  Stelzhamer  von  da  an  abwechselnd  in  Wien, 
Linz,  Salzburg  und  München  hielt.  In  Wien  las  er  meist  im  „Saale  der  Musik- 
freonde'',  in  Linz  öfters  bei  Erzherzogin  Sophie  (wo  iku  auch  einmal  der  König 
Ton  PrenBra  hSrte),  in  München  war  er  ein  gern  ge^dienerOast  derKttnstler- 
gesellschaft  im  StabenvoU,  «ihrend  er  im  Mnaenmanal  vor  der  Öffentlichkeit 
erschien. 

In  der  Isal■^^t;ull  war  es  aucli,  wo  Stelzhamer  jenen  Ausspruch  that,  der 
seither  mancher  audereu  Berühmtheit  in  deu  Mund  gelegt  worden  ist.  Er 
aoHte  Tor  dem  bayariicben  ESnige  lesen,  leimte  aber  diese  Ehre  wegen  ehies 
geringen  Formzwaages  ab.  Als  ihm  seine  Freonde  diese  Unklagheit  zum  Vor- 
wurf machten,  entj^-egnete  er  ihnen  mit  jenem  ungebändigten  Stolze,  der  eine 
seiner  Charaktereigenthümlichkeiten  bildete:  „Könige  gibt  es  mehrere,  Stels- 
hamer  aber  nur  eiuen!'* 


bedeuten,  dass  fflr  un^  joni'  Biinkelsängor  nn<l  l'oiiidetJii  lit<T,  wie  hervorragend  sie 
auch  in  ihrem  Fache  sein  mügca,  aU  die  berechtigten  Erben  der  Stclzhamenchen 
Muse  und  ab  würdige  Nadifolger  eines  Diditeis  gelten  soUea,  te  eine  »AliBi*,  eme 
„KBniir in  Noth"  gceehrfsbea  h»t?l 

'  j  Der  (  icfoppte. 

**)  Audi  der  ."^chlu^sven  eines hochdeatsdiem Gedichtes  „Zn  Wien  (1637)*  drflekt 
mit  ieiiiei  Ironie  dasselbe  aus: 

„Bald,  wenu  ich  werde  zu  Hause  sein, 

Höret  an,  was  ich  treibe: 

Wieder  dicht'  ieh  und  schreibe 

Gar  ein  ergötzliches,  schönes  Bttehelein, 

Und  krieg*  ich  Hunger  dabei,  so  sehr'  ich, 

vom  Jäahmei 
D«  HMgens  lad  Abendi  ein  KrOmohen, 

Mittags  eine  Krume. 


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—  468  — . 


Waa  die  persönliche  ErschemiiDg  des  Dichters  betrifft,  so  mnss  dieselbe 
nach  Aussagen  vieler,  die  ihn  voitragen  geb5rt  odMr  als  Frennde  gekannt 
haben,  eine  vngeinein  aympathladie  gewesen  sebi.  Von  Angerieht  nichts  weniger 

als  schön,  mit  einer  anfSrmlich  großen  Nase  in  dem  rothangelanfenen  Gesicht^ 
konnten  dennoch  diese  grobgeschnittenen  Zöge  dnrch  den  Abglanz  eines  reichen 
Gefühlslebens  and  den  Ausdruck  männlichen  Selbstbewusstseins,  welcher  ge- 
legentlich in  ihnen  anflencbtete,  fast  za  wirklicher  Schönheit  verkl&rt  werden. 

^Wie  sieht  4  denn  aus?" 

—  Hau,*)  kennst  ja  dö  Art  — : 

An  &f8tehats  Haar 

Und  an  Liing!\tn  Bart! 
lUßt  er  im  „Nemo  propheta^  die  ihn  beredenden  Bauern  fragen  und  antworten. 
Und  in  der  That  trug  auch  Stelzhamer  gerade  so  wie  „dö  Art"  —  Künstler 
nnd  Dichter  «t-  langes,  rtekwirts  wtUeiides  Kopfhaar  nnd  einen  mftchtigen 
VoUbnrt 

Inzwischen  war  der  zweite  Band  mundattUdier  Dichtungen,  „Nene  GFe- 
8&nge  in  obderennsischer Mundart",  1841  erschienen  nnd  gleich  günstig  nuf- 
genommen  worden.  1843  kam  die  zweite  Auflage  der  „Lieder"*,  1844  eine 
ebensolche  der  „Geaftnge"  h^ns;  tai  Zwiseheurimnen  dann  die  fibrigen  zwei 
Btaide  Mundart.  Ans  den  gesaonnten  vier  BBnden  Dialektdichtnng  sind  als 
besonders  bemerkenswert  zu  erwähnen:  „s'Waldfräuerl**  (Musa  mralis), 
«s'MAhrl  von  Fnrtbach"  und  „Königin  Noth".  Es  sind  dies  längere  erzählende 
Dichtungen,  welche,  untereinander  in  losem  Zusammenhang  stehend,  im  Gewände 
der  Allegorie  —  aber  einer  lebensvollen,  mit  manchen  realistischen  nnd 
laoBigai  Zflgen  dorchsetsten  Allegorie  —  dnw  Grundgedanken  von  hohem 
sittlichen  Ernste  zum  Ausdruck  bringen.  Stelzhamers  bedeutendstes  Werk  Ist 
aber  jedenfalls  die  ,.Ahnl",  großes  episches  Gedicht  in  der  Art  von  Göthe's 
„Hermann  und  Dorothea"  und  Voßens  „Luise";  von  vielen  Literaturkennem 
wird  anch  die  „Ahnl**  den  obengenannten  dassischen  Werken  unserer  hoch- 
dentsehen  Literatur  dem  dlehterisohen  Werte  nach  TSlUg  i^eMiiMlallt. 

Auch  hochdeutsch  hat  Stelzhamer  einige  Bände  Lyrik**)  nnd  eine  Heihe 
von  Novellen***)  veröfl'entliclit.  Al)er  das  rnblicnm  übersah  sie  ganz  und  fast 
geflissentlich;  diese  Theiluahmlosigkeit  wurde  zu  einer  Quelle  des  bittersten 
Missmnthes  fär  den  Dichter,  welcher  sich  gerade  auf  seine  hochdentsc)ien  Dich- 
taagcn  viel  nngute  that. 

Nun  muss  allerdings  zugestanden  werden,  dass  dieselben  seinen  mund- 
artlichen Werken  nachstehen.  Gerade  was  den  letzteren  einen  unwidersteh- 
lichen Reiz  verleiht,  die  Naivetät  der  Anschauung,  die  virtuose  Behandlung 
des  vierzeiligen  Maßes,  hat  den  hochdeutschen  Dichtungen  zum  Xachtheil  aus- 
geschlagen.  Und  doch  —  ungeachtet  mancher  sprachlicheii  Eflhnbelt,  mancher 
mit  Ostentation  gebrancliter  Provinzialismen  —  offenbart  sich  auch  in  diesen 
_  Liedern  der  geniale  Dicliter,  nnd  seine  kraftvolle  Individaalitftt  leuchtet  noch 
siegreich  durch  seine  Verirrangei^.t) 

♦)  Schau! 

**)  Darunter:  „Liebe"  (inderCotta'schenSepaxataufigabe:  „Liebesgllrtel,''gFofie8 

hochdeutsches  Gedicht  in  2  BUchem. 

♦**)  (.Sebastian",  „Im  Walde",  .,KIoiu-.Tonikl"  etc. 

t)  Um  sich  davon  lu  fibexsenges,  lese  man  nur  einmal  das  seltsame  Gedicht: 
nLiehesaffaire",  und  beobachte  wie  dann  dttVon  —  eine  Art  Xnittel  —  ebensowol 


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—  4W  — 


Die  Jabre  1850 — 1870  bilden  ungefähr  den  Hüliepunkt  von  Stelzhamers 
Popoladtit.  DamalB  war  dar  Dielrter  mit  den  henrorrageuditen  Vertretern 
der  CBterreiehiBchen  Schriftiteller-  imd  EttnetlerweltbeiEaiiiit,  ja  theUweiee  tag 

belteundet,  so  mit  Nik.  Lenau,  Fr.  Grillparzer,  Ed.  von  Bauernfeld,  A.  Grün 
ü.  a.  So  oft  er  in  Wien  war,  fand  er  sich  auch  regelmäßig  in  dem  Stelldich- 
ein des  damaligen  ^ geistigen  Wien",  dem  „Sil])ernen  Kaffeehaus"  in  der 
Flankengasse,  üil 

1854)  auf  einer  nenen  Vcileeertoiir,  maebte  Stelibaaier  In  Mttndien  ein 

literarisches  Experiment,  welches  erwähnt  zu  werden  verdient.  Er  trat  im 
Museumssaale  als  Märchenerzähler  mit  einem  Originalmärcbcn:  ,,Die  drei 
^ten'*  auf,  welches  er  nach  Art  eines  orientalischen  Improvisators  völlig  auä 
dem  Stegreif  epraeb.  Der  Entider  erntete  leiohen  BeifaU,  doch  iat  nicht  he- 
kaant,  data  er  das  Expedmeat  apftter  wiederholt  hätte. 

Nachdem  Stelzhamers  erste  Fran  nach  kurzer  Ehe  gestorben  war,  heiratete 
f'i-  1868  znm  zweitenniale,  66  Jahre  alt.  Gleichzeitig  zog  er  sich  nach  Men- 
dorf, Uberösterreich,  zuiuck,  wo  er  in  geordneten  pecuniären  Verhältnissen*) 
die  letzten  aechs  Jahre  aeinea  Lehens  verbrachte;  nur  aeitweilig  trieb  ihn  die 
alte  Gewdinlieit  des  Wanden»  anf  Wochen  ans  seinem  gemfithUdwn  Heim. 
Er  war  kemgesnnd,  rttitig  ond  arbeitete  Tiel,  wie  diea  sein  reicher  literariaeher 
Nachlas»  bewies. 

Am  5.  Juni  1874  musste  er  sich,  da  er  sich  unwol  fühlte,  zu  Bette  legen. 


ftUr  hutleAeB  Humer,  als  auch  für  tiefe  OefühlsäuBerung  dienstbar  gemacht  ist. 

.Uo,  ich  darf  noch  maulen  und  pocheo, 

leb  bin  noeb  hundejung, 

Hab'  Mark  DO(b  in  dea  Knochen 

Und  in  den  J;'äusten  Schwung  — " 
llsst  der  IHchter  s^en  Jugendlichen  Hdden  im  Übermut  vemefaitlichea  Llebes- 
glüclces  prahlen.    WeMior  Contrast  zwischen  dieser  Strojjhe  und  der  Stimmung  in 
den  folgenden  Schlus8Vt-ri<cn  des  Gedichtes.    (Der  Betrogene  hat  Untreue  smaes 
Liebdiens  erfSdoea  und  jagt  sie  mit  höhnenden  Worten  davim.) 

^Scbluchzend  und  mit  rothcn  Wangen 

Ist  sie  wimktjud  fortgegangen, 

Still  und  schweigend  sah  ich  nach, 

Doch  mein  Herz  erseufist'  und  brach." 


Nun  mit  dem  gebrochnen  Heiaen 

Geh'  ich  in  der  Welt  herum, 

Ohne  Frciidcn,  ohne  Scbiuurzen, 

Bin  nicht  weise  und  nicht  dumm; 

Bin  nicht  heiß  und  l>in  nitlit  k:ilr. 

Seh'  nicht  jung  aus  und  uuht  alt; 

l  nd  mit  meinen  starren  Mienen 

K&tiü  ich  hcrrsihcn  nicht,  noch  dienen." 
*)  Schon  am  27.  April  186()  hatte  er  die  erste  Landes-Subvention  von  600  fl. 
aus?  der  ständischen  Domc8ticiilcHK.se  nusbozahlt  crlialfcn,  iiii«!  durch  einen  späteren 
Beschluiiä  des  Landesaufiflchuüses  wurden  iluu  40011.  zugesprochen.  Ein  eigenh&ndiges, 
sehr  schmeicbelhaftes  Schreiben  des  IßnisterR  Schmerling  vom  25.  August  1864  wies 
ihm  eine  von  der  r>stcrrcii  hischcn  Regiorinif;  l)i  willigte  Ehrenpension  von  6(H}  fl.  an, 
welche  er  hin  au  sein  Lebensende  alljiihrliih  erhielt.  ^Das  Ehrenamt  eines  Landes- 
schulinspeetofB  von  Oberitaterrcich,  welches  ihm  schon  frtther  angetragen  worden 
WST}  hatte  er  ahgelehnt,  worauf  Adalbert  Stifter  ernannt  wurde.) 

Hau  sieht  also,  dos  Land  wuäste  seinen  bänger  zu  schätzen  und  ihm  in  auer- 
kennungs-  und aachahmungswOidiger  Weise  die  prskttschen  Beweise  dafOr  m  geben! 


* 

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—  456  — 

Das  Übel,  welcliee  er  anfangs  gering  achtete,  entwickelte  sich  rasch  zu  einer 
schweren  Erkrankung,  die  ihn  fünf  Wochen  an  das  Schmerzenslager  heften 
und  d«r  endlieheii  AnflSaiing  entgegenfUiren  sollte.  Am  14.  Juli  1874|  vor-, 
mittags  9  Uhr  verschied  er.  Er  wurde  auf  dem  kleinen  Friedhofe  Ton^wdorf 
begrabcni— also  nicht,  w  ie  er  Rieh  in  jenem  Liede  gewünaoht  hatte: 

„Daetter  aiun  wär  uieiü  Wunsch, 

Und  &  Wun»ch  is  ja  frei; 

I  mecht'  z'  Sehildeni  bogisabn  liege 

Bon  MUcderl  biebci! 

Dö  w5ckt  mi,  wann  s'  blasen, 

Und  lasst  mi  not  hint 

Suecht  alle  neun  Himmel 

Am»  bis  a'  mi  flndt.«' 


Es  wäre  nun  dieser  dürftigen  Skizze  eines  reichen  Dichterlebens  nichts 
weiter  hinzuzufügen,  als  der  Wunsch,  dass  sie  ihren  bescheidenen  Zweck  er- 
reichen  und  manoheii  cur  Leetüre  von  Stelzhamers  Werken  anregen  mOge,  der 
ea  bisher  versäumte,  sich  diesen  Genuas  zu  verechaffen  —  einen  Gtanus  aller- 
dings, welcher  für  den  NichtÖsterreicher  mit  einiger  BemUhnng  erkauft 
werden  muss,  da  diesem  das  Verständnis  des  h(icbst  eigenartigen  Idioms  an- 
fangs Schwierigkeiten  machen  wird. 

P.  K.  Boeegger  tagt  dieebestiglidi  im  Vorwcrt  der  von  ihm  treffUeh  redi- 
girten  Stelzhamer- Ausgabe:  „Es  wage  jeder,  der  das  Volksthum  liebt,  die 
Mühe,  sich  in  die  Stelzhamei-sclie  Mundart  zu  fügen;  Qedichte  wie  «D'Ahnl"^ 
„Königin  Noth"  etc.  werden  ihn  überreich  belohnen." 

Welcher  von  allen  gebildeten  Ständen  wäre  nun  eindringlicher  darauf 
hingewiesen,  „das  Volkithnm  in  lieben*',  wer  itflnde  ihm  nfther,  als  der 
Lehretand?!  — 


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.  PädagttgiBche  Bnndflchai. 

Die  Zanbermacht  der  elasBischen  Bildung.  Ptofeasor  Schmeding 
cUirt  in  seiner  neneeten  Sehrift  (debe  vorige  Nunmer  dee  „Psedagogionk'') 

folgenden  Aussprach  eines  Gymnasialdirectors:  „Wer  in  einer  Gelehrten- 
schnle  gebildet  wonitMi,  liat  sich  eine  Lernftlhigkeit  nnd  T.ernbefrierde  erworben, 
wodurch  er  von  der  Mücke  in  der  Luft,  wie  von  der  Blume  des  Feldes,  von 
der  Werkstätte,  welche  in  seine  Augen  fällt,  wie  von  jedem  2^itang8blatt, 
das  Ihm  ttglich  dai^beten  wird,  ans  dem  Bliebe,  wie  ans  der  ConTersation, 
wodurch  er  fortwährend  von  allen  Seiten  her  alles  das  aus  der  Erd-,  Natur-, 
Gewerbe-,  Staatenknnde  sich  aneignet,  was  doch  in  keiner  Schule  so  speciell 
gelehrt  werden  kann,  und  wozu  er  auch  die  gebildete  Trtlicilskraft  mitbringt; 
und  doch  wird  allenfalls  eher  ein  Cuvier  oder  Davy  oder  Ritter  aus  ihm,  als 
woin  er  unter  all  den  Naturalien,  Btperimenten  nnd  Landkarten  die  kostbare 
Sehalzeit  vertrödelte." 

Hiorzn  ffibt  Schniedinfr  folg'ende  sarkastische  ErlUutemng:  „Die  Ansicht 
der  Vertreter  ilrr  dnnh  du-  classischen  Sprachen  erzielten  formalen  Bildung 
liefie  sich  etwa  so  ausdrücken:  Wie  ein  auf  dem  Schleifsteine  geschärftes  Mes- 
ser alles,  was  es  an  schneiden  gibi,  besser  schneidet  als  ein  nicht  gesehtrftes, 
einerlei  ob  Papier,  Holz,  Brot  oder  Fleisch,  so  ist  ein  durch  formale  BUdnng 
geschärfter  Verstand  befUhii^t  —  hat  wenierstens  einen  bedeutenden  Vorsprung 
vor  dem  nicht  formal  gebildeten  ,  über  alles  zu  urtheilen,  was  es  zu  urt heilen 
gibt;  einerlei  ob  über  Jacototsche  Lehrmethode  oder  über  die  Jadenfrage,  ob 
fkhtst  UnfUlversiGheningBgesetz  oder  ttber  Girknlirlffen,  ttber  ftoerfeete  Steine 
odwttber  eine  Bemini'sche  Statue,  Uber  die  Züchtung  von  Yorkshire-Ebern  oder 
über  eine  Schleierniachersche  rre<lig:t,  über  Münchener  Bier  oder  über  die 
Bildung  des  (Tcwissens;  —  mit  einein  Worte,  über  alles.  Und  das  beste 
Mittel,  dieae  formale  Bildung  zu  erzielen,  sind  die  classischen  Sprachen.'' 
OehVrt  ins  Bereich  der  Feeomlrehen.   Die  Wirklichkeit  weiB  nichts  davon. 


Die  neueste  Schulbank  (Normalschulbank).  Seit  Jahrzehnten  schon 
schenkt  man  den  besser  cfmstruirten  Subsellien  eine  ihrer  h(»heu  Bedeutung 
entsprechende  Aufmerksamkeit.  Das  Urtheil  medicinischer  Autoritäten  ver- 
schiedener eoropUsoher  Staaten  wird  je  länger  je  hiSher  gesch&tzt,  anch  wenn 
es  sich  blos  um  unwesentliche  Verbesserongen  der  einfachen  Schalbank  liandelt. 
Bei  Einfiihrnng  eines  neuen  Systems  entscheidet  nur  das  Gutachten  der  maß- 
gebenden Ärzte.  Dies  bewies  z.  B.  die  neueste  Geschichte  der  nach  Größen 
sich  abstufenden  Schulbank.  Die  Vortheile  derselben  sind  so  bestechend  und 
wirklich  bedentsam,  dass  ein  hervonragender  Schvlhygieniker  mit  Becht  nene 
Gonsfemctionen  so  lange  für  nnnttts  erklärte,  bis  ein  ganx  anderes  Prindp  er-  * 


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—   467  — 


dacht  wordp.  Pädagogen  und  {^ohiilliygieniker,  wie  Inspector  Largiad^r  in 
Basel,  betonen,  dass,  so  lani^e  man  nur  die  GesamratkörperHlnge  eines  Kindes 
als  MaÜstab  zar  Bestimmung  der  Dimensionen  einer  einzuführenden  Schulbank 
benntse,  lo  lange  werden  manche  Kinder  einer  and  derMdben  Glaase  in  ganz 
anpassenden  Snbsellien  sitzen.  —  Die  Mittelgröße  der  Schüler  ist  „durchaus 
nicht  maßgebend,  da  die  Schüler  des  gleichen  Lebensjahres  sich  in  den  Ver- 
bftltnissen  ihres  Körperbaues  wesentlich  unterscheiden." 

Angenommen  nun,  eine  Behörde  mache  sich  die  Anschaffung  neuer  Schul- 
bftnke  nach  einem  DnrehBcbsittsmaße  zur  Aufgabe,  so  ist  sie  schon  dedialb 
nicht  gesehtttst  vm  unpassenden  BaalcgrOßen,  veil  sie  die  Schülersahl  der  ersten 
Classe  z.  B.  fürs  nilchste  Jahr  nicht  kennt  und  weil  die  Kinder  der  gleichen 
Classe  das  nächste  Jahr  in  ihrer  Mehrzahl  vielleicht  auffallend  viel  kleiner  —  ' 
oder  grüßer  sind  als  die  früheren;  die  gleichen  Banknnmmem  sind  deshalb 
in  za  groller  oder  sa  kleiner  Zahl  Torha&dso.  Wollte  man  aber  cooseqnent 
sein,  so  hfttte  man  da  und  dort  die  Sehfller  einer  unteren  Classe  in  der  Bank 
einer  oberen  zn  placiren  und  der  Lehrer  mfisste  über  eine  Menge  Reeeryi^ 
bftoke  verfügen  können,  wenn  er  seine  Zöglinge  bequem  setzen  wollte. 

Die  Folgen  dieses  Übelstandt^s  liegen  auf  der  Hand.  Zunächst  werden  die 
physisdi  nnd  somelrt  avch  geii>tig  abnoimalfln,  so  Ueinea  oder  sa  gzoAn 
Schüler  benachtheiUgt,  weil  man  sie  unter  den  herrschenden  Vmstindengkieh- 
sam  in  das  Prokrustesbett  einer  unpassenden  Zwangsschulbank  steckt.  Sodann 
sind  es  aber  auch  die  vielen  geistig  begabten,  außergewöhnlich  kleinen  oder 
hochgewachsenen  Kinder,  die  in  der  munteren  Schar,  entweder  beinahe  eines 
Hauptes  l&nger  oder  künsw,  einen  bedanemsverten  Anblick  darbieten.  Als 
Ideal  Unirte  hier  nnr  der  üi  Laigiad^  Lehrerkalender  «rwUmte  Anthropo- 
meter  (Körpermesser)  gelten,  wenn  er  nicht  zu  theuer  wäre. 

Diesen  und  anderen  hier  nicht  erwähnten  tibelständen  hilft  nun  die 
ueuesteus  von  Joä.  Kttdlillgerf  Lehrer,  erfundene  Schulbank  gründlich  ab. 
Sie  ist  das  Ergebnis  nnermüdlichen  Prüfens  and  Vergleichens  der  Usherigen 
bewtthrtesten  Systeme,  die  Fracht  Tieler  Beobachtongen  and  Experimente  anBer 
nnd  in  der  Schule  und  darf  darum  wol  Anspruch  machen  auf  eine  gewisse 
Anerkennung  von  Seite  der  Behörden  und  der  Lehrerschaft  Sie  iiat  folgende 
Vortheile: 

1.  Der  Faflschemel  dieser  neuesten  (in  der  Schweiz  and  in  Franknldi 
schon  patentlrtoi)  Bank  kann  nach  voni  and  onten  Tcrsdloben,  der  Sitz  Ter- 

breitert  nnd  die  Lehne  erhöht  werden.    Die  drei  wesentlichen  Theile 
sind  also  ganz  dem  Bedürfnis,' d.  h.  der  Grüfie  jedes  einzelnen. 
Schülers  entsprechend,  beweglich. 

2.  Diese  Verschiebong  hat  so  weite  Grenzen,  dass  der  jüngste  nnd  kleinste 
Elementarschfller  (im  sechsten  Leben^ahre)  so  gat  wie  ein  Recmt  mit  Minimal- 
maß  bequem  darin  sitB«D,  Stellen,  lesen  und  schreiben,  in  einer  Stellong  ttber- 
hani  t  Hidi  darin  bewegen  kann,  die  den  Anfordernngen  der  Hygiene  in  Jeder 
Beziehung  entspiicht. 

3.  Die  bei  der  Anpassung  der  Bank  an  die  individuelle  KSrperbeschaffen- 
heit  des  Schülers  nüthig  werdende  Verstellung  kann  sehr  leicht  nnd  schnell 
—  natürlich  nui  vom  Lehrer  —  vollzogen  werden  nnd  zwar  durch  LOsong 
mehrerer  Schrauben  and  deren  Wiederbefestigang.  Dabei  ist  die  Bank  für 
den  Schüler  fest. 

Ptedagogiom.    12.  Jahrg.  VlI.  lieft.  3B 


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4.  Dieselbe  hat  nur  gewöhnliche  Schnlbaiikgröße  und  kann  ein-  and  mehr' 

aitzig  hergestellt  werden. 

5.  Die  wesentlichste  Verbesserung  principieller  Natur  ist  der  Schräg« 
lehevel,  da  durch  denen  Gebrauch  das  Vorbeugen  beim  Schreiben  und 

Lesen  erfolgreich  bekämpft  und  der  Korzeichtigkeit  wirksam,  weil  ohne  fort- 
währende, ppecielle  Ermahnungen  des  Lehrers,  entgogepgearbeitet  wird  Die 
richtige  Lage  des  FuUes,  seint-  rechtwinkelig»;  Stellung  zum  Unter- 
schenkel ist  bei  der  Benutzung  dieses  Schemels  nicht  nur  geboten,  sondern 
für  den  Sitaenden  auch  die  bequemste. 

6.  Im  individaellen  Verkehre  des  Lehrers  mit  den  Schülern,  also  im 
iSchreib-  und  ZeicbnuDgsunterrichte  etc.  muss  sich  jener  nicht  mehr  zu  diesem 
herunieriH  i:^^en  —  weil  die  Blinke  für  das  höchste  Maß  couBtroirt  sind  und 
alle  Pulte  fiir  den  Lehrer  gleiche  Höhe  haben. 

7.  Die  BSdlingersche  Bank  bildet  überall  da  einen  sehr  erwünschten  Aus- 
gleidi,  wo  infolge  fHlherer  Anschaffang  von  SchnlbSnken  nacli  nnvoUkom- 
menerem  Systeme  manclie  Schüler  sein-  Miigünstig,  sanitfttswidrig  placirt  worden 
sind,  indem  diese  neue  Bank  für  dir  S(  luiler  abnormaler  Größe  in  entsprechender 
Anzahl  von  Exemplaren  zur  Ergänzung  augeschafft  werden  kann. 

8.  Die  Abnntnung  dieser  Bank  mit  guseeisemem  Oestell  ist  eine  viel 
geringere  als  die  der  besten  Holzbank. 

9.  Ihre  Construetion  ist  nach  fachmännischem  Urtheile  die  denkbar 
einfachste. 

10.  Die  so  absolut  nöthige  freie  Bewegang  des  sitzenden  und  stehenden 
Schülers  ist  nicht  irgendwie  gehemmt.  Der  redite  oder  linke  FuB  oder  beide 
FUße  können  beliebig  vor,  horisontal  oder  senkrecht  gestellt  werden.  Sdbst 
das  Zorückstellen  der  Füße  ist  ermöglicht. 

11.  Diese  Bank  macht  jegliche  (Irößcnnussung  anmittelbar  vor  der  neuen 
Bestuhlung  eines  Schulzimmers  total  übertiüssig. 

12.  Die  sweckmüMge  Construetion  simmtlicher  (beweglicher)  Theüe  er^ 
mSgUeht  die  Zusammenstellnng  derselben  zu  einer  beliebig  langen  Bank  mit 
freiem  Platz  znm  Ein-  nnd  Ausgehen  der  Schüler. 

18.  Die  Anfertigung  von  Einplfttzem  nach  gleichem  Systeme  fdr  das 
Hans  ist  leicht  möglich. 

14  An  die  Hoiisdiwelleii  lassen  sidi  Bollen  anbringen,  wodurch  die 
Beinigong  des  Zimmers  bedeutend  erleiditert  wird. 

15.  Im  Verhältnis  zu  den  hier  verehiigten  vielen  Vortheilen  ist  diese 
Normalbank  sehr  billig. 

Die  bei  irgend  einem  anderen  Schulbanksysteme  mehr  oder  weniger 
gefOrehteten  Naehtheile^  Hindenüsse  der  allgemeinen  Verbreitung  und  Schwierige 
keiten  beim  Sdur»  des  Zimmors,  beim  Faehwechsel,  beim  Hinausgehen  der 
Schüler  etc.  fUleo  hier  weg,  indem  ein  zu  hohes  Gewicht,  eine  wackelige 
Tischplatt»',  störendes  Geräusch,  Versuchung  des  Schülers  zu  Spielereien  nnd 
nncontrulirbureu  Bewegungen  der  Hände,  wenn  nicht  in  allen,  so  doch  in 
vielen  Füllen  auBges«di]osseii  sind. 

AUflUlige  Bedenken  beaüglteh  der  gnitsi  Entfomung  bis  zum  Tinten- 
gefÜÜ  (für  die  kleinsten  Kinder),  bezüglich  Länge  und  Breite  der  Tischplatte, 
Versorgung  der  Bücher  und  Zeichnungsmappen,  die  Minusdistanz  von  H  cm  etc. 
schwinden  voraussichtlich,  sobald  die  „Normalbauk'  der  Traxls  dienstbar  ist, 


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—  459  — 


und  mancher  (.•oncnn-ent  wird  beim  Prfifen  jedes  einzelnen  Theiles  oder  des 
Qeaamratobjectes  unwillkürlich  an  das  ,.Ei  des  Coliimbiis"  erinnort  werden. 

So  erscheint  diese  Erfindung  eines  experimentirenden ,  schiichteu,  aber 
MiMif  beobKelitaideii  Lelmn  s.  B.  fu  Lfdite  ▼<«  Dr.  Babinsky 's  *)  Anfinderaofeii 
ao  die  SehnllNuik  der  Znknnft  als  du  adum  ttnget  Erstreikte.  &.  Sdimid-St.  Gallen. 


Berlin.   Ale  der  Abgeordnete  Engen  Bichter  im  iwenßlechen  Ab- 

geortlnetenhaase  die  anangemessene  Behandlung  dtf  Volksschallehrer  im  deut- 
schen Keiclisheere  znr  Besprechung  brachte,  antwortete  der  Kriegsminister 
VerJy  du  N'ernois  u.  a.  atuli  in  ziemlich  gtieiztem  Tone,  es  werde  zu  er- 
wägen sein,  üb  den  Lehrern  nicht  die  Bevorzugung  abgekürzter  Welirdienst- 
zelt  (10,  6,  4=t20  Wochen)  entzogen  werden  mtteae.  Wenn  der  Kriegn- 
minister  geglanbt  haben  sollte,  mit  dieser  Drohung  die  Lehrer  einznadlflcfatem, 
80  hat  er  sich  sehr  im  Irrthnme  befunden.  Die  Berechtigung  zum  einjährig- 
freiwilligen  Heercs<lit>n>>te  ist  von  den  Lehr<  rn  seit  Jahren  sehnlichst  herbei- 
gewüubcht  worden.  Es  mag  nur  au  den  Bescliluss  des  vierten  deutächeu 
liehrertages  in  Gamel  (Pftngeten  1882)  erinnert  werden,  welcher  folgenden 
Wortlaut  hatte:  „1.  Dit-  sechswöchentliche  active  Militärdienstpflicht  der  deut- 
schen Volksschullehrer  fJaxlert  nicht  das  Wol  der  Volksschule,  sondern  übt 
durch  ilie  dadurch  gesciiädigte  berufliche  Stelluiür  der  Lehrer  einen  nach- 
tiiL'üigeu  KinHubS  auf  dieselbe  aus.  2.  Der  deutsche  Vulksschullehrer  muss 
gldche  Beehte  nnd  Pfliditen  mit  jedem  anderen  gemeinsam  haben  nnd  tragmi 
und  mnsB  berechtigt  sein,  auf  Grund  der  Befähigung  für  das  Volksschulamt 
seiner  activen  Militilrdienstprticht  durch  den  einjährig-freiwilligen  Dienst  zu 
genügen.**  Wie  gerechtf»^rtigt  dicst^r  Beschluss  ist,  ergibt  sicli  am  besten  aus 
der  Trüfungsorduung  für  den  einjährig-freiwilligen  Wehrdienst.  Die  darin 
gestellten  Forderungen  bleiben  weit  hinter  denjenigen  snritck,  wdlche  an  Volks- 
Bchnllehrer  in  ihren  Prfilhngen  gestellt  werden.  Ein  Punkt  freilich  macht 
eine  .Ausnahme:  es  werden  vom  Einjährigen  Kenntnisnachweise  in  zwei  fremden 
Spraclii'ii  verlangt.  Die  Anforderungen  in  denselben  sind  zwar  mir  geringe 
(Julius  Cäsar,  Charles  XIL,  Vicar  of  Wakefield;.  Zudem  scheint  die  Militär- 
behSrde  ftvmdspraehliche  Kenntnisse  nicht  für  nnbedingt  nothwendig  zu  erachten, 
denn  von  dem  Nachw^se  einer  wissenschaftlichen  Prüfung  dürfen  entbunden 
werden:  „1.  junge  Leute,  welche  sich  in  einem  Zweige  der  Wissenschaft  oder 
Kunst  (liier  in  einer  anderen,  dem  (femeinwesen  zugute  koraniendcu  Thätigkeit 
besonders  auszeichnen;  2.  kunstverständige  oder  mechanische  Arbeiter,  welche 
in  der  Art  ihrer  Th&tigkeit  hervorragendes  leisten;  3.  ni  Ellnstleistnngen 
angestellte  Uitglieder  landesherrlicher  Bfiknen."  Wie  weit  die  Kenntnisse 
derjenigen  Einjährigen,  welche  nur  den  nothwendigen  Wissensbedarf  besitzen, 
hinter  denjenigen  der  Lehrer  zuriiekstehen.  beweist  schlagend  die  oftmals  vur- 
kummende  Thatsaclie,  dass  junge  Leute  mit  „eiujährigem'*  Zeugnisse  noch 
einer  einjährigen  Vorbereitung  znr  Anfisahme  .in  das  Lehrerseminar  mit 
bekanntUdi  dreUtthrigem  ünterrichtscnrsns  bedOrfen.  Sollte  der  preußische 
Kriegsminister  mit  seiner  Drohung  nan  aber  gar  gemeint  haben,  die  Lehrer 
sollten  in  Zukunft  drei  Jahre  zur  Fahne  einberufen  werden,  so  würden  die 


*)  Dr.  Baginsky  ^Berlin),  Handbuch  der  ächulhys^icnc. 


33* 


—  460  — 


preußischen  Volkssehullebrer  trotz  der  damit  vorkiiiiiiffen  Zurücksetzung  hin- 
ftiebtlich  ihres  Bildungsgrades  solche  Bestimmung  mit  Freuden  begrülien. 

Wer  würde  alsdann  wol  noch  Lust  verspüren,  bis  zum  zwanzigstel! 
Lebeni^ahre  die  Sehnle  nt  berachen,  nm  Lehrer  mit  Auaidit  auf  ilrej(}SlirifeD 
Heereedienat  zu  wei'den?  Und  da  die  preußischen  Lehrer  doreh  lange,  lange 
Erfahrung  wissen,  dass  nur  der  Lehrermangel  Aiifhesserungen  der  kläglichen 
LehrereeltiiUir  bewirkt,  so  würden  sie  den  Tag  segnen,  au  dem  die  dreyährige 
Dienstzeit  für  Lehrer  verfügt  würde.  Ein  rheinischer  Lehrerverein,  der  Freie 
Lehrerrerein  zn  Dniehnr?,  acheint  dem  Herrn  Kriee;sminiBter  die  Antwort  anf 
dessen  Äußerungen  über  die  vielleicht  zu  verlängernde  Dienstpflicht  der  Vulks- 
schnlU-brer  gelx'n  zu  wollen.  Diesei' Verein  bat  iiiliiilicb  für  den  XIV.  rheinischen 
Lebreitafj:  vom  7.-  \K  April  zu  Ki'iln  den  f(»lgenden  Antrag  eingebracht: 

„in  Erwägung,  dass  bereits  durch  Kescript  vom  21.  April  1818  solchen 
jungen  Leuten,  welche  ddi  zu  Lehrern  fHr  Volkiecbiilen  hflden,  anf  Grond 
vortheilhafter  Zeugniaie  ihrmr  YorgeBetzten  der  Eintritt  in  das  Heer  als  Frei- 
willige auf  ein  Jahr  gestattet  gewesen  ist; 

in  Erwät^ung,  dass  im  Bundesstaate  Bayern  den  \'olksschullehrem  die 
Berechtigung  zum  eiiyührigeu  Wehrdienst  auch  gegenwärtig  zusteht; 

in  Erwägung,  dass  nach  der  Heer*  nnd  Wehrordnnng  vom  22.  NoTem- 
her  1888  die  Militärdienstzeit  der  Lehrer  nicht  mehr  sechs,  sondern  sehn, 
sechs  und  vier,  also  bereits  zwanzig  Wochen  beträgt  ; 

in  Erwägung,  da.s.s  mit  dieser  Neuordnung  noch  insofern  eine  Sohäditfung 
des  Ansehens  des  Lehrerstandes  verknüpft  ist,  als  die  aus  seinen  Keihen  uus- 
gehobenen  Wehrpflichtigen  sammt  ond  sonders  nidit  den  wehrflLhigsten  Truppen 
gleichgesteUt  werden; 

in  Erwägung  endlich,  dass  nach  dtMi  Ausfiilirungen  des  Herrn  Kriegs- 
niinisters  im  Abgeordnetenhause  die  Stimmung  für  Verlängerung  der  Wehr- 
ptlicht  der  Volksschullehrer  an  maßgebender  Stellung  zur  Zeit  besonders 
günstig  ist: 

efsacht  der  rheinische  Provlnzial*LeIirerverband  den  Vorstand  des  Landes- 
vereins preußischer  Volksschullehrer,  beim  Kriegsminister  und  dem  Minister 
der  geistlichen.  Unterrichts-  und  Medicinal-Angelegenheiten,  erforderlichen 
Falles  beim  Abgeordnetenliause  dabin  vorstellig  zu  werden,  dass  den  Volks- 
schnttehrem  anf  Onnd  ihrer  Prfifungeu  die  Bereehtignng  znm  ei^jährig-ftwi- 
wüligen  Wehrdienst  gewihrt  werde. 

Sollte  der  Landesverein  ein  Vorgehen  in  dieser  Sache  ablehnen,  so  wird 
dem  Vorsitzenden  des  rheinischen  Pro vinzial Verbandes  der  Auftrag  ertheilt, 
die  erforderlichen  Schritte  selbstständig  zu  unternehmen." 

Derselbe  Lehrerrerein  Anste  in  Besag  anf  das  Seite  249  des  „P»dago- 
ginm"  mitgetheilte  nnd  für  den  VIII.  Deutschen  Lehrartag  zn  Berlin  in  Aas- 
sicht genommene  Thema:  „Inwieweit  soll  die  Schnlgesetsgebong  Eeiehssaehe 
werden?''  den  folgenden  Beschlnss: 

„In  Erwägung,  dass  in  einzelnen  Bimdesstaaten  des  Deutschen  Kelches, 
besonders  in  Preußen,  bislang  ein  tJnteniehtsgeBetz  mangelt,  weil  die  Hinder- 
nisse, welche  der  gesetzlichen  Eegdiing  der  Schnlangelegenheiten  schon  in 
diesen  Theilen  des  grollen  Qanzen  bislang  nicht  haben  ttberwnnden  werden 
können ; 

in  Erwägung,  dass  die  Keichsgesetzgebung  oft  auf  weit  weniger  einschnei- 


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denden  Gebieten  als  dem  des  Scbulwetens  in  DUUichen  Bondeaataaten  wenig 
günstig  aufgenommen  wird- 

in  ErwSgnng,  dass  das  Eintreten  des  Dentschen  Lehrenrereins  fttr  die 
Beichgschnlgesetggebnpg  ui  maßgebender  Stelle  snr  Zelt  nicht  die  geringste 
Anasicht  auf  Erfolg  bietet; 

in  Erwilffung,  d;i«.s  in  solchen  Bundesstaaten,  denen  ein  Unterriclitsofosetz 
noch  mangelt,  es  vielmehr  von  Erfolg  sein  dürfte,  wenn  die  betroffene  Lehrer- 
schaft auf  Erlass  von  Landesschulgesetzgebangen  mit  allen  gesetzlichen  Mitteln 
hinarbeitet: 

erklärt  der  Freie  Lehrerverein  DuisUu-g  die  Frage  der  Beiehaschalgesetz- 
gebnng  als  eine  rowoI  sachlich  als  taktisch  nicht  zeitgemäße,  zumal  die  Ver- 
wirklichniig  diestr  Frage  auf  absehbare  Zeit  nicht  zu  erwarten  ist." 

Hier/u  sei  bemerkt,  dass  auch  der  Spandauer  Lehrer  verein  sich  gegen 
die  Behandlung  dieses  Themas  auf  dem  Lehrertage  erklftrt  hat 

Österreich.  Prinz  Liechtenstein  istabgethan.  Nun  ki»nimen  die  „Kirchen- 
fürsten" und  verlangen  noch  mehr.  Die  „Wiener  Abendi)ust-  brachte  an> 
12.  März  folgende  Mittheiluug:  „Auf  Grund  eines  in  der  heutigen  Sitzung 
gefltfsten  Beschlusses  der  zur  Vorberathnng  des  Oesetsentwurfts  Aber  die  Ab* 
ändemng  einiger  Bestimmnngen  des  Gesetzes  vom  14.  Mai  1809  (R.  G.  Bl. 
Nr.  62),  beziehungsweise  des  Gesetzes  vom  2.  Mai  1883  iR.  G.  Bl.  Xr.  53), 
betreffend  die  Grundsätze  desl'nterrichtswesens  bezüglich  der  Volks- 
schulen, eingesetzten  Specialcommissiou  des  HeiTenhauses  des  Eeichsrathes 
ist  uns  vom  Bureau  dieses  hohen  Hauses  der  folgende  FMtokolls-Auszug  zur 
VerOflbntllAhung  mitgethdlt  worden: 

Protokolls- Auszn  s:. 

Nach  Eröffnung  der  Sitzung  ergriff  Sc.  Eminenz  der  hochwürdigste 
Cardinal  Fürst-Erzbischof  von  Trag,  Graf  Schönborn,  das  Wort,  um  nach- 
stehende ErlcUrung  zu  verlesen: 

„In  Verfolg  der  in  der  ersten  Sitzung  der  Schulcommission  des  hohen 
Herrenhauses  am  28,  Februar  d.  J.  tTklärten  15ereitwillii:kt'it .  den  Versuch 
machen  zu  wollen,  der  von  der  hohen  Regierung  selbst  als  ii(»thwentlig  erkannten 
Änderung  der  Gesetze  vom  14.  Mai  IHüii  und  2.  Mai  1883  eine  solche  Kich- 
tung  zu  gehen,  dass  die  berechtigten  Ansprüche  der  katheUschen  Kirche  be- 
fiiedigt  werden,  erlauben  sieh  die  unterzeichneten  Mitglieder  der  Schnlcom* 
mission,  zugleich  als  Vertreter  des  gesammten  Episcopates  der  im 
Keicbsrathe  vertretenen  Königreiche  und  Länder,  die  angedeutete  Eichtuog 
im  Nachstehenden  näher  zu  kennzeichnen. 

Nadi  den  eben  bezogenen  Oesetzen  «dflrfen  die  Eltern  oder  deren  SteQ- 
Tertreter  ihre  Kinder  oder  PflegebefbhleuNi  nicht  ohne  den  Unterricht  lassen, 
welcher  für  die  öffentlichen  Volksschulen  vorgeschrieben  ist".  f§  20.) 

DemgemäÜ  sind  dir  meisten  Eltern,  beziehungsweise  Stellvertreter  der- 
selben, gesetzlich  gezwungen,  ihre  Kinder  oder  l'tlegebefohlenen  den  öffent- 
lichen Volksschulen  ancnvertnnen.  (s  23.)  Die  QiüBntUche  Volksschule  stellt 
sich  somit  als  eine  Zwaagsschule  dar,  und  kdnnen  die  Elten  oder  deren 
Stellvertreter  sogar  durch  Zwangsmittel  verhalten  werden,  fUr  den  regel- 
mäßigen Schulbesuch  ihrer  schulpflichtigen  Kinder  Sorge  zu  tragen,   (i?  24.) 

Indem  die  Unterzeichnelea  von  der  Frage  der  Berechtigung  des  Schoi- 


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Zwanges  überhaupt  absehen,  erachten  sie  den  Schalzwang,  wie  er  bei  uns 
geübt  wird,  nur  dann  fUr  zulässig  und  erträglich,  wenn  durch  denselben  den 
Katholiken  das  heilii:8te,  aneh.itaatagrandiieeetillGh  (Artikel  14)  ^ewUurleistete 

Recht  der  vollen  Glaubens-  und  Gewissensfreiheit  niekt  TCrkflnt  wird.  Eine 

solclie  Vf'rkiir/iinp:  findet  aber  nnzwcitelhaft  statt,  wenn  es  den  gesetzlichen 
\'ertretern  der  katholischen  schulpflichtigen  Kinder  unmöglich  gemacht  wird, 
denselben  durch  die  öffentliche  VoIkaBcbule  eine  solche  Erziehung  und  einen 
solchen  Unterricht  aagedethen  za  lassen^  wie  de  den  OmndsItMii  ihres  Olanhena 
einzig  entsprechen  und  von  ihrem  Gewissen  gefordert  werden,  und  legt  ihnen 
die  Pflicht  auf,  ihre  Stimme  für  eine  kath<»lische  Einrichtung  der  Volksschule 
immer  wieder  zu  erheben.  Das  Bewusstseiu,  alle  Schul-  und  öflentUchen 
Lasten  redlich  mitzutragen  und  alle  Bürgerpflichten  getreulich  mit  zu  erfüllen, 
mnss  ihrer  Stimme  ninr  nm  so  grSBerai  Nachdmek  geben. 

Aber  in  noch  höherem  Maße  sind  die  Bischöfe  verpflichtet,  für  die  ilinen 
anvertraute  Herde  Jesu  Christi  eine  s(p]clie  Einriclitnn°:  der  als  Zwangsschule 
sich  darstellenden  öfFentlichen  \'olksscliule  in  Anspruch  zu  nehmen,  dass  die 
Kinder  nicht  nach  den  Lehren  wechselnder  Schulmeinungeu,  sondern  nach  den 
nnabinderliehen  Gmnd^tmni  ihres  heiligen  Olanhens  reUgife-sittlidi  enogen 
und  nicht  nur  mit  den  zur  weiteren  AosbUdong  för  das  zeitliche  Leben  erfor- 
derlichen Kenntnissen  und  Fertigkoiten  anspestattet,  sondt  rn  anch  befähigt 
werden,  ihre  ewige  Bestimmung  zu  erreichen,  und  dass  so  die  (iiundla^e  für 
Heranbildung  wahrhaft  tüchtiger  Menschen  und  Mitglieder  des  staatlichen  un- 
kirdilichen  Oemehiwesens  gesehaffen  werde. 

Dieser  ihrer  Pflicht  entsprechend,  können  die  ünterzeicluieten  nicht  umhin 
für  katholische  Kinder  katholische  öffentliche  Volksschulen  za  fordern  nnd 
diese  Forderuni^  in  foljti^enden  Punkten  näher  zu  bestimmen: 

1 .  Die  öfl'entlichen  Volksschulen  sind  so  auszugestalten,  dass  es  den  katho- 
lischen Kindern  mOglich  gemacht  werde,  dieselben  in  der  Begd  ohne  Ver- 
mischung mit  Kindern  anderer  Confessionen  zu  besuchen. 

2.  An  katholisehen  'iffentlichen  Volksschulen  haben  sllmmtliche  Lelirer 
der  katholischen  Kirche  anzuf^eliiiren.  sind  für  dieselben  an  katho- 
lischen Lehrer-liildungsanstalteu  auszubilden  und  haben  auch  die 
Befthigung  zor  Ertheilnng  des  katholischen  Beligionsanterrichtes  za  erwertmi. 

3.  Bei  Anstellung  der  Lehrer  an  katholischen  öff'entlichen  Schalen  ist 
den  Organen  der  katliolisclu  ii  Kirche  jene  Einflussnahme  zu  ge- 
währen, welche  noMnv«  iidig:  ist,  um  sieh  der  entsprechenden  Wirksamkeit  des 
anzustellenden  Bewerbers  zu  vergewissern. 

4.  Der  Beligionsnnterricht  ist  an  diesen  Schulen  durch  Mitver- 
wendung des  Lehrers  zu  erweitern  und  der  übrige  Unterricht,  die  Lehr» 
pläne,  sowie  auch  slUnmtliche  Lehr-  nnd  Lernmittel  so  einzurichten, 
dass  darin  nidit  nur  nichts  vorkomme,  was  für  katholische  Kinder  anstöüiff 
wäre,  sondern  alles  in  einheitlicher  Beziehung  zu  dem  katholischen 
Charakter  der  Schale  stehe. 

5.  Was  die  Beaafsichtignng  der  katholischen  Volksschalen  and  Lehrer- 
Bildnngsanstalten  betrifft,  so  ist  es  der  Kirche  zu  ennrifrlichen,  deren  eon- 
fesslonellen  Charakter  durch  ordnungsmäßig  von  ihr  bestellte 
Organe  nach  allen  liichtungen  in  wirksamer  Weise  zu  wahren  und 
za  fSrdern. 


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Schließlich  erklären  die  UnterzeiclineteD,  ohne  hier  das  Gebiet  politischer 
Erwägnngen  zu  li«ril]uren,  sieh  berdt,  in  Betreff  dar  Ton  Ikam  gestellten 
derang  mit  den  competenten  Faetorai  sich  dee  weiteren  so  lienelinfln. 

Wien,  12.  Milrz  1890. 
Franz  Cardinal  v.  Schönborn.  Fürst-Erzbischof  von  Prap.   Johannes  Zwerger, 
Fürstbischof  von  Seckan.    Jacobus,  Fürstbischof  von  Laibach.^ 

Auf  dieee  ErUftmng  erwiderte  Se^  ExMUeas  der  Herr  Minieter  für  Cultas 
imd  üntenlehty  Dr.  Freiherr  Ganteeli  naelistelieiideB:  „Nadideiii  die  soeben 
vernommene  Erklärung,  die  von  den  hochwUrdigsten  Herren  Bischöfen  nicht 
blos  in  ihrer  Eigenschaft  als  Mitglieder  d»>f?  holit-n  Horrenhanses.  sondern  anch 
namens  des  hochwördigsten  Episcopates,  welchem  die  i'flege  der  religiösen 
Intereaaen  der  Itathdbdien  BevSUcemng  obliegt,  abgegeben  wnrde,  mit  Rttck- 
tieht  auf  ihren  wichtigen  Inhalt  eine  ernste  nnd  eingehende  PrSflmg  seitens 
der  Regiemng  erheischt»  so  werde  ich  nicht  ermangeln,  hiervon  dem  Minister- 
rathe  Bericht  zn  erstatten  nnd  dessen  Beschlüsse  einzuholen.  Zn  diesem 
Behnfe  erlaube  ich  mir,  an  den  Herrn  Vorsitzenden  die  Bitte  zn  richten,  die 
Sitzung  der  hohen  Commission  schließen  zn  wollen  nnd  die  hohe  Ck>mmis8ion 
dann  wieder  einzubemüni,  wenn  ich  in  der  Lage  sein  werde,  die  Antwort  der 
B^ening  ndtentheüen.*'  

Österreich.  Im  Kronlande  Böhmen  wurden  zu  Beginn  dieses  Jahres 
einschneidende  Änderungen  anf  dem  Gebiete  der  Schnlverwaltung  und  der 
Sdinlanlhieht  getroffen. 

Infolge  der  Ausgleichsb<  stimninngen  wird  von  nun  an  der  Landesschul- 
rath  ans  einer  deutschen  und  einer  tschecliisclien  Section  bestehen,  welche 
innerhalb  ihres  Wirkungskreises  selbsiständig  Beschlüsse  fassen.  Der  Plenar- 
berathnng  bleiben  die  gemeinsamen  Angelegenheiten,  sowie  die  Errichtung  der 
Kinorittttssehnlen  Torbehalten.  Der  Landessdinlrath  wird  anf  Onmd  des  Aus- 
gleiches kfinftig  bestehen:  1.  Ans  dem  Landeachef  oder  dem  von  ihm  bestimmten 
Stellvertreter  als  Vorsitzenden :  '2.  ans  sechs  vom  Landesansschnsse  pcwilhiten 
Abgeordnt'tcu  [drei  Deutschen  und  drei  i'schcchen ).  Wählbar  sind  alle,  welche 
in  den  Landtag  gewählt  werden  können;  3.  aus  den  Referenten  für  die 
administrativen  nnd  Skonomischen  Schnlangelegenheiten;  4.  ans  den  Landes» 
schulinspectoren ;  5.  ans  einem  deutschen  und  einem  tschechisehen  Vertreter  der 
Stadt  Pras:;  0.  ans  zwei  katholisclien ,  einem  evangelischen  Geistlichen  nnd 
einem  Israeliten;  7.  ans  vier  Mitgliedern  des  Lehrstandes  ^zwei  Deutsche  und 
zwei  Tschechen). 

Minder  gfinstig,  ja  geradezu  von  den  sehädlgendsten  Folgen  Ar  das  VolkS' 

Schulwesen  in  Böhmen  ist  folgende  Maßregel:  Unter  der  Begründung,  daas 
der  Norin;i]schnlt'oiid  Böhmens  die  Substitut ionsgebüren  fiir  die  dem  Volks- 
schullehivistandf  entnumraenen  k.  k.  Bezirksschulinspectoren  nicht  mehr  zur 
Gänze  zu  bestreiten  vermag,  ist  Uber  Erlass  des  h.  k.  k.  Ministeriums  für 
Cnltos  nnd  Unterricht  vom  24.  Januar  1890  sn  Beginn  des  Monates  Felmiar 
1.  J.  einer  größeren  Zahl  k.  k.  BezirkaaehuUnapectorai  Böhmens  das  Enthebungs- 
deeret  zn^estellt  worden. 

Unter  den  auf  diese  Weise  und  aus  diesem  (Jninde  enthobenen  k.  k. 
Beziiksschuiinspectoren  betiuden  sich  auüersl  tüchtige  und  befähigte  Schul- 
mSnner  Böhmens,  deren  Amt,  das  sie  in  bester  nnd  ▼erlisslichster  Weise  ver- 


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waltet  haben,  mm  an  Mittdaehnllehrer,  Geistliche  oder  Personen  andeier  Stinde 

ttbergehen  soll. 

In  dieser  Maürcfjt*!  erblickt  die  Lehrerschaft  Böhmens  nicht  nur  eine 
empfindliche  SchUdigung  ihres  Ansehens,  sondern  eine  Beeiiitlussung  des  hei- 
mischen Sdinlweoens,  dessmi  streng  fochliche  BeavfUchtigung  alldn  mr  an- 
unterbrochenen  Fbrdemng  nnd  Hebung  desselben  beizutragen  geeignet  ist. 
Dei-  Ansschuss  des  Deutschen  Landes-Lehrervereins  in  Böhmen  veröffentlicht 
voi-stfthende  Kundffpbnnur  an  der  Spitze  seines  Vereinsorg-ancs.  der  ,. Freien 
Schalzeitung",  und  drii<  kt  sein  Bedauern  daiiiber  aus,  dass  im  hohen  Landtage 
nidit  mttel  nnd  Wege  getunden  wurden,  dieser  tiefelnBehneidenden  llaSregel 
entschieden  vorzubengen,  nnd  hofft,  dass  es  durch  geeignete  Beschlässe  des 
Landtages  seinerzeit  wieder  ermöglicht  werden  wird,  die  schädigenden  Wirkongen 
dieser  bedaiierlicljen  Maßregfei  zu  beheben.  Auch  gibt  der  Ansschuss  des 
Deutschen  Laudes-Lehrervereius  in  Böhmen  der  sicheren  Hoffnung  Ausdruck, 
dass  die  hohen  SchnlbehSrden  hei  Bestellnng  der  1c  k.  Beairkssefanlinspectoren 
stets  dem  Principe  der  Beanftichtigang  der  Schale  dnrch  Faehmlnner  ans  dem 
Kreise  der  VoUu-  nnd  Bfii^rerschnllehrar  Rechnung  tragen  werden. 

Aus  der  Fachpresse. 

286.  Diesterweg  nnd  die  Lehreryereine  (A.  Bebhnhn,  Pid.  Zei* 
tong  1890,  3.  4).  Greschichtlicher  Kückblick  auf  Diesterwegs  Bedehnngen, 
die  er  vier  Jahrzehnte  hindurcli  (1824 — 68)  zum  deutschen  Lehrervereins- 
leben hatte.  Besonders  wertvoll  das  Programm  von  1824  (Zusammenkunft 
mit  den  ersten  jungen  Lehrern,  die  er  in  Mörs  entiaäsenj  —  Plan  von  1828 
(kleine,  mittlere,  allgemeine  GonÜBrenxen*,  ünterstttnanguwecke)  —  1848. 
Qründnng  von  Pestalonai-  nnd  Proyinnalvereinen  in  den  sechaiger  Jahren.  — 
Verfasser  stellt  am  Schlüsse  zusammen,  welche  Gesinnung  und  Einrichtung 
Diesterweg  für  das  Gedeihen  der  Lehrervereine  verlangt.  Was  der  Meister 
auf  die  Frage:  Wovor  haben  sich  die  Lehrer  vereine  zu  hüten?  antwortet, 
geben  whr  hier  wlbrlUdi  wieder  (es  ist  ja  nodi  immer  seitgemäß!):  „Vor  den 
an£Mdineiderisdien,  den  Hochmnthstenftl  heranfbesdiwftrettden  Phrasen,  vor 
allem  leeren,  hohlen,  nichtsnutzigen  Eeden  und  inhaltslosen  Salbadern;  vor 
allem  unnützen  Poleniiairen  gegen  andere  Stände,  besonders  gegen  verwandte: 
vor  der  Überschätzung  der  W^irksamkeit  der  Lehrer,  der  Bedeutsamkeit  der 
S<äiale,  wie  sie  ist;  vor  der  ÜberschUsnng  des  Ifethodisbrens,  Tor  allem  Spin- 
tisfaren;  vor  allem  Wortkram,  allem  Kachspveehen,  allem  Pathos,  aller  Salhnng 
(die  Liebe  zur  Einfachheit,  Wahrheit  und  WahrhAftigkeit  vertii^  sich  damit 
nicht.    Ein  Lehrerverein  ist  kein  Conventikel). 

287.  J.  Chr.  Fr.  Guts-Muths  (A.  Wenzel,  Deutsche  Blätter  1890, 3— 5). 
Eine  nmfassende  Darstellnng  seiner  erzieherischen  nnd  schriftstellerischen  Wirlc- 
samkeit  (letztere  Im  Gebiete  der  Pftdagogik,  der  Tnmknnst  nnd  der  Oeognqihie), 
seines  Einflusses  auf  Karl  Bitter,  seiner  Beziehungen  zn  Jahn  nnd  anm  Frei- 
herrn vom  Stein.  Besonders  dankenswert  die  Würdigung  seiner  verschiedenen 
zahlreichen  Schriften. 

288.  K.  Y.  Stoy  nnd  die  sogenannten  formalen  Stufen  des  Unter- 
richtes (A.  Bliedner,  Rhein.  Blltter  1890, 1.  II).  Verhftltnis  Stoy's  an  Her- 
bart und  Ziller;  ( Überlegenheit  über  den  letzteren.  Ergebnis:  „Stoy  schreibt 
den  vier  Herbartschen  Stufen  eine  groAe  Wichtigkeit  für  die  gesaaunte  Unter- 


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richtstliätigkeit  zu.  Anwendung  dei-selben  wie  bei  Hoibart:  für  große,  kleinei'e 
uud  kleinste  üii Ullrich tsgr Uppen,  für  aualjÜBchen  und  syuthetisclien  Unterricht. 
Der  ZUlenelien  Atttumag  konnte  er  sich  nieht  anidüiefien.   Stoy  hat  eine 

Fortbildung  auf  Herbartscher  Grundlage  insofern  geschaffen,  als  er  die  Unter- 
richtsstoffe bestimmt  hat,  die  ihrer  Natur  nach  das  analytische  Verfahren 
erfordern  (Muttersprache,  Furnienlehre,  Heimatskunde  und  Geographie). 

289.  Fußpfade  im  Gebiete  der  Erziehunprsknnde  f\V.  Walter, 
Päd.  Zeit.  1890,  6).  „l)a.s  bekannte  Bild  vom  breiten  und  schmalen  Wege 
gilt  anch  för  das  Erziehungswerk.  Zwar  —  der  schmale  Weg  allein  führt 
nieht  ins  pftdagegische  Himmelreidi,  ein  dnxelner  nieht  nnd  die  Summe  vieler 
nicht.  Aber  dieser  nnd  die  breite  Heerstraße  zusammen  bringen  uns  znm 
Ziele.  Die  zahlreichen  Fußpfade  sind  die  Theile:  die  ]ane:e  Landstraße  stellt 
das  geistige  Band  dar,  das  natürlich  den  Eigenthümlichkeiten  der  Verbundenen 
nnd  Verbündeten  angepasst  sein  muss  (ist  also  erst  noch  zu  bauen  oder  zu 
wehen).  AndemlUIs  eehwebt  es  in.  der  Luft,  ichwebt  es  und  «diwanlct  et 
unklar  nnd  unsicher  im  Nebel  —  mul  es  ▼eriehwinden,  sobald  ein  lotlUger  • 
Wind  den  Nebd  verscbeocht.'* 

290.  Unsere  Schiller  jetzt  und  spftter  (Bichsei,  Praxis  d.  Schweiz. 
Volks-  und  Mittelsch.  1889,  VI).  Von  der  {Schwierigkeit,  die  Kinder  richtig 
zu  behandeln  und  zu  beurtheiien  nach  Begabung,  Wissen,  Können,  Wullen, 
nach  der  Oesaaiitheit  und  den  ZniaamenwirlMii  aller  Seelealtrftfte;  von  der 
NotKwendiirkeit  (für  den  Lehrer),,  über  den  besehrftnkten  Scholhoriaont  hlnans- 
znsehen.  —  ,.Der  Erfolg  des  Augenblickes  und  eine  vermeintliche  Volksstimme, 
die  niflit  O'ittes  Stimme  ist.  verhiteii  den  Lehrer,  der  Kuhm  sucht,  und  den. 
der  sich  von  dem  Phantom  eines  Normalmenschen  der  papierenen  l'Udagogik 
tftnschen  lasst,  dazn,  gute  Lem^r  nnd  schwache  Lemer  für  identisch  zn  halten 
mit  tfiehtigen  nnd  nntttchtigen  Menschen.  Er  sieht  nur  anf  die  PrSftingsnoten, 
nicht  in  die  Kinderseelen.  Der  Irrthnm  ist  da,  nnd  von  ihm  kommt  Ungerechtig- 
keit in  Fälle." 

291.  Zerstreute  Kinder  (Allg.  D.  L.  linMz.  1890,  0).  Ein  recht  an- 
sprechend freschriebener  Aufsatz  über  ein  Tlitiiia,  das  zn  denjenigen  gehört, 
für  deren  zeitweise  Wiederholung  oder  Auffrischung  wir  immer  dankbar  sind. 
VorfiMner  qpiieht  (anf  0mnd  langjtthrigor  Erfehmngen  und  gründlicher  psjeho- 
logischer  Kenntnisse)  über  Kennzeichen,  Schaden,  Ursachen,  Verhütung,  Be- 
kämpfung der  Zerstrentlx  it.  (Den  jttngeren  CoUegen,  den  Erstlingen  im  Amte 
ganz  besonders  warm  zu  empfehlen.) 

292.  Didakt  isf  he  Erinnerungen  (Frd.  Euraenes,  Repert.  d.  Päd. 
1890,  I}.  Diese  Erinneningen  des  Verfassers  an  seine  Lehrjahre  enthalten 
eine  Fülle  von  Anregungen.  Ein  Wort  seines  trefflichen  Lehrers:  „Erziehung 
nnd  Bildung  wirken  nnlengbar  viel  im  Menschen;  abor  der  fireie  Wille  — 
das  heißt  Anspannung,  Wachsamkeit  und  SellwtbehaTsdinng  —  wirkt  auch 
viel  oder  gar  noch  mehr,  da  dieser  selbst  dem  manpelhafl  Erzogenen  nnd  Ge- 
bildeten innewohnt  nnd  nur  von  ihm  in  Thiltio;ktit  zu  setzen  ist,  um  das 
Wünschenswerte  auszuführen.  Dieser  freie  Wille  bildet  das  hohe  Panier,  um 
welches  alle  Krftfte  in  nns  sich  sammeln  müssen." 

293.  Öffentliche  Unterrichtsstunden  (K.  LOhrl,  Schule  nnd  Haus 


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1890,  II).  Am  Sonntag  In  einer  Stande  zwei  verschiedene  GegeustUnde  zu 
Mttiideln,  als  mnstergiltige  Piobdeetiraeii,  die  in  Ordnung  and  Qwag  Ton  den 
gewöhnlichen  Wochenlectionen  nicht  abweichen  sollen.   Abhaltnng  je  nach 

BedfirflÜB  (Wunsch  der  Eltern),  ^'erfas5er  hat  den  Vorschlags  an  seiner  Schule 
mit  bestem  Erfolge  dnrchgefühi't.  Letzterer  wäre  auf  selten  der  Eltern: 
Möglichkeit  wirksamer  Nachhilfe,  Achtang  vor  der  Schale  (energische  Ver- 
theidigung  der  Nenschnle),  LebrerfrenndUdkkeit 

294.  Pftdagogisclie  Statistik  (Jetter,  Praxis  der  Endehnngisehnle 

1889,  VI).  Zweck:  „Sie  sucht  in  der  Mannigfaltigkeit  der  Erscheinungen  die 

individuell  treibenden  Kräfte  und  Gesetze  auf,  führt  diese  auf  ihre  Ursachen 
zurück  und  stellt  so  bei  Betrachtung  von  vereinigten  Ganzen  den  Anthi-il  des 
Individuums  und  des  in  demselben  waltenden  allgemein  gütigen  Gesetzes  gegen- 
über der  Gesammtwirknng  liest,  sei  es  nun,  dass  bereits  bekannte  psychologische 
Oesetze  nnd  jAdagogisdie  Haißregeln  durch  statistische  Nachweise  bestätift« 
sei  es,  dass  angenommene  wieder  in  Zweifel  gezogen  werden  nnd  dadurch  zu 
weiteren  Untersuchangeu  Anlaas  gegeben  wird,  sei  es  endlich,  dass  man  neaeu 
auf  die  Spur  kommt." 

295.  Geschichte  und  Zweck  des  Lesebnches  (K.  Brandt,  Päd. 
Reform  1890,  2—4).  Oeschichtliclie  Entwiekelnng:  ]foralisch>praktische8  — 

grammatisches  —  belletristisches  Lesebuch ;  letzteres  der  Form  nach  zu  schwer, 
dem  Inhalte  nach  dem  kindlichen  Vorstcllnngskreise  und  dem  UnterrichtsstoflTe 
nicht  angepasst.  (Aber  die  Lesebücher  der  Unter-  und  Mittelstufe  kennzeichnen 
sich  doch  vielmehr  durch  seichte,  langweilige  Natorbeschreibung  einerseits  und 
dnrok  Afterpoesie  nnd  Uoralisterei  der  Cliristoph  von  Schnid,  Knunmadier, 
Cnrtman,  Hey  etc.  etc.  anderseits!)  —  Zwecke:  Nicht  „nationale,  homane, 
harmonische  Bildung,"  sondern  Leeenlehren  (im  weiteren  nnd  tieferoi  Sinne) 
and  Sprachhildung. 

29tj..Der  heimatkundliche  Unterricht  (U.  Früh.  St.  Galler  Schulbl. 

1890,  1.  2).  Blick  auf  die  Eutwickelung  dieses  UnteiTichtes  in  der  Schweiz. 
Aasgang:  Die  PestakeKl'schen  Anstalten  in  Bnrffdorf  nnd  Ifoten.  Verdienste 
Hennhigs  (in  seiner  „topischen,  physikalischen,  p<ditjsdtett  nnd  mathematischen 
Elementargeographie");  wenn  auch  die  Eutwickelung  einer  Unmasse  von  geo- 
graphischen Begriffen  (Darbietung  der  ..ganzen  geographischen  Sprache"*)  als 
nächstes  Ziel  galt,  so  hat  doch  die  spätere  Methode  bezüglich  der  Stofi'auswahl, 
der  Gesiditspnnkte,  der  Darstdlnng  betrachteter  Fonnen  dnreh  Sehraifenldbt- 
cben,  des  Dringens  anf  vielseitige  BeohMhtnng  dnrdi  die  Schiller  nichts  Besseres 
mehr  anCnihrlngen  vermocht 

297.  Heimatskunde  und  Geographie  (Schweiz.  Lein  crz.  1890.  1  -3). 
»Indem  Heimat-  und  Naturkunde  theils  vor.  theilsmitnud  neben  dem  (icogiaphie- 
anterrichte  fortwilhrt  nd  auf  phantasie-  und  verstandesmäßige  Erfassung  des 
Seins  nnd  Geschehens  in  der  Umgebong  sich  richten,  sollen  sie  za  einem  ooii- 
tinnirlich  flieBenden  Qnell  woden,  der  dem  Unterrichte  über  firemde  Gegenden 
durch  ZnfDhrung  neuer,  ans  der  nnmittelbarui  Anschauung  gewonnener  Vor- 
stellungen und  (H:-dank»»n  anschauliches  Leben  zu  geben  hat."  —  Von  (im 
engeren  Sinne;  geographischen 'riit  inen,  die  sich  mit  naturkundlichen  berühren, 
sind  nothwendig  nnd  mit  aller  Gründlichkeit  zu  behandeln:  die  äußere  Gestaltung 
der  heimatlichen  Erdoherfl&che  nnd,  soweit  durch  den  Schiller  so  ermitteln, 


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deren  Ursaclifn  —  der  Kreislauf  des  AVassers,  seine  rrsaehen  und  seine  Be- 
deutung —  täglicher  und  jährlicher  Erscheinungscyklus  am  Himmel  —  Wechsel- 
besiehimgeii  zwiacheii  Luft,  Erdboden ,  Waner,  PHanxeii-  und  Tbierleben  — 
AbhSng^keit  des  Hmeehen  von  der  Natur  (Tor  allem:  Erwerbaqnellen,  Wohn- 
ort, Lebensweise)  —  Veränderungen  in  der  Natur  durch  den  Menschen  (Er- 
stelhinpr  von  Verkehrsmitteln}  Tb&tigkeit  in  Feld  nnd  Wald,  Herrscbaft  Aber 
die  (iewäsäer  etc.  etc.). 


Dr.  Karl  Schmidts  Geschichte  der  Pädagogik  iu  der  vorchristlichen  Zeit, 
nrnftaeend  die  Ersiehnng  bei  den  NatnrrOllcero,  im  Oriente,  bei  den  Oriedieii 

und  Kömem.  Vierte  Auflage,  vielfach  vermehrt,  verbessert  nnd  nmgearbeitet 

von  Professor  Dr.  Knianuel  Ilaniiak,  Director  des  Pädagogiums  der  Stadt 
Wien.  Mit  dem  Porträt  l»r,  Karl  Silimidt's,  einer  Biographie  desselben  und 
einem  Vorwort  von  Dr.  Friedrich  Dittea.  XXXII  u.  Üö8  Ö.  JvötUea  1890, 


Vor  'iO  Jahren  erschien  dieser  erste  Theil  von  Karl  Schmidts  großer  (Jeschichtc 
der  Pädagogik  zum  ereteomale,  und  jetst  liegt  er  in  neuer  (icstait  vor  uns 
ab  ein  rflhinliches  Zengnls  herrorragender  Oelennamlteit  und  jahrelanger  Aus- 
dauer in  trciifleißiprr  Arluit.  fiic  Schwierigkeiten,  welche  der  Ilerausgelier 
zu  Überwinden,  die  Zwecke,  welche  er  aniuftrebcn  hatte,  bezeichnet  er  selbst 
in  der  zutreffendsten  Weise  folgendermaBen;  „Sie  eigaboi  sieh  erstUoh  daiaua, 
dasa  seit  der  ersten  .Vuflacre  auf  dem  (Jebicte  de«  orientalischen  und  elassiscli<  n 
Ältertbums  weitgehende  Forsehungcn  gemacht  und  stauiieuswcrte  Kry:ehnisj>e 
zu  Tage  gelordert  wurden,  weh  he  in  den  späteren  Auflagen  id.  i.  in  der  2.  nnd 
3.1  keine  Berücksichtigung  fanden,  dann  aber  auch  daraus,  dass  idi  in  meiner 
Auffassung  der  Geschichte  der  Pädagogik  von  «leni  Vcrfa-sser  iusolcrn  abwich, 
als  dieser  auf  die  subjective,  abstracte,  tht  oretische,  auf  bestimmte  Gesetze  ge- 
richtete, unter  dem  Einflüsse  Hegclscber  I'hilosophie  stehende  Anordnung  und  • 
Behandlung  des  Stoffes  das  Hauptgewicht  legte,  \(-Shrend  ich  das  objective, 
historisch  beglaubigte,  concrcte  Material  in  den  N'ordergrund  stellte  und  daraus 
die  sich  ergebenden  Beziehungen  und  Entwickelungen  zu  abstrahiren  suchte, 
ohne  auf  irgend  welche  Theonen  RVcksieht  zu  nehmen.  Zunflehst  galt  es,  die 
inzwischen  imldicirfen  Resultate  <ler  Forschung  m^ch  Tliunlichkeit  zu  sammeln 
und  zu' verwerten.  £s  kam  auf  diese  Weise  viel  uvucs  Material  hinzn,  ao  dass 
aieh  der  Unfeng  des  Werkes  fast  verdoppelte.  Dann  erforderte  die  Beächtnng 
des  historischen  Momentes  mancherlei  Veriinderungen  in  der  .\nordnnng  und 
Eintheilung;  doch  suchte  ich,  soweit  es  möglich  war,  den  alten  Text  zu  be- 
wahren nnd  verwies  deshalb  die  von  dem  Verfasser  abweichenden  Anmerkungen 
unterluilb  des  Textes.  Überdies  wurde  durch  Sternchen  angeaelgt,  was  Original, 
was  Zusatz  ist." 

Von  den  zahlreichen  Verbesseruntren  und  Zusätzen,  wddie  das  Werk  in  seiner 
neuen  Hedrbcitung  erhalten  hat,  seien  die  wichtigsten  angeführt.  Die  Dar- 
stellung der  Erziehung  bei  den  Naturvölkern  ist  vöUitr  umgearbeitet  und 
bedeutend  erweitert  worden,  indem  die  anthropologischen  Werke,  sufcrn  sie 
pftdagogiache  Capitel  und  2iotizen  enthalten,  verwertet  wurden,  wodurch  sich 
an  Stelle  blos  theoTCtiseher  AnseinanderBetaungen  ein  Bild  eoncreter  Verhftlt- 
nissc  eryab .  das  zu  c:ei;riindet<'n  Schlii^x'u  auf  die  primitivsten  Formen  der 
Erziehung  die  Unterluge  bot.  Dem  Erziehungswesen  der  Chinesen  ist  in  der 
neuen  Auflage  dreimaf  soviel  Raum  gewidmet  wie  in  der  ersten,  und  dasselbe 
ist  eben.«o  wie  das  der  Japanesen  bis  auf  di<  (oi,'(  tnvart  verfolgt.  Die 
Abschnitte.  Uber  diu  Pädagogik  der  Ägypter,  Bab^  louier,  Assyrcr,  PhO- 


LiteratBr. 


Schettler.  12  Hk. 


—  468  — 


aiker  und  Inder,  liülicr  sehr  uuiugtUuilt  dargwtoUt.  ist  nun  in  helles  Licht 
gesetzt,  die  der  Baktrer,  frtlher  ganz  übersehen,  hat  die  verdiente  Stelle 
erhalten.  Auch  das  BiMiingswcsen  der  Israeliten  und  der  Perser  erscheint 
jetzt  in  weit  klarerer  lit  louchtung  als  in  der  ersten  Auflstrc   Bezfliarlich  der 

cliissischen  Völker  ist  neben  zahlreichen  Verbesseruntrcn  im  einzelnen  be- 


Kaiserzeit,  welche  gans  nen  grearbeitet  wurde.  Welche  unennttdliche  Avs- 

dftuor  Prof,  Hannak  seiner  AufcabG  widmete,  ersidit  man  noch  bc^^onders 
daraua,  diü>8  er,  nachdem  das  Werk  selbst  bereit«  voUbradit  war,  noch  zwei 
Zugaben  lieferte,  welche  ebenso  dankenswert  rind,  wie  sie  von  unnpesehwiehter 
l.u^t  und  Kraft  zur  Arbeit  zeugen:  das  i-t  <  rstens  der  summarische  Ühcr- 
Mick  des  ganzen  behandelten  Stoffes  uud  /.weiteus  diu»  musterhafte,  ganz  nenc 
alphabetische  Namen-  und  Sachregister,  welches  den  Oebrauch  des 
Werkes  als  Naclischhigebuch  wesentlich  erleichtert. 

Die  Ausstattung  uiuss  als  sehr  lobenswert  bezeichnet  werden,  wenn 
auch  Wegen  der  Entfernung  des  Druckortes  vom  Herausgeber  eine  Anzahl  von 
DruckfeUem  unterlanfcn  sind.  Dieselben  siad  meist  unbedeutend  und  Überdies 
in  einem  dem  Texte  vorangestellten  VetBeichnis  tagt  sSmintlich  berichtigt. 
Aufgefallen  sind  dem  Keferenten  vnn  nennenswerten  ICÄBgeln  nur  norh  folgende : 
S.  76,  Z.  3  T.  XL.  „Karl  Schmidt*-  muss  beißen  Karl  Adolf  ^chmid;  S.  lUU, 
Z.  20  T.  n.  „CnlturTölker"  muss  heißen  Naturvtflker;  S.  151,  Z.  9  u. 
„443"  muss  heißen  4H.3;  S.  t.').').  Z.  14  v.  o.  „vor"  muss  heißen  nach;  S.  898, 
Z.  Ü  V.  0.  „erhält"  muss  heitten  enthält. 

Und  nun  soin  ScUnsse  nnr  noch:  das  Werk  h>bt  den  Heister,  Ehre  dem 
Ehre  gebürt!  D. 

A.  Dillmann,  Oberlehrer  a.  I>.  Die  Anschaunng  im  Bilde  in  ihrer 
Anwendung  auf  den  fremdsprachlicheil  Unterricht,  insbesondere 
auf  die  praktische  Übang  im  mändlichen  Ausdruck.  Druck  und 
Veriag  von  Gebrfider  Petmecky  in  Wiesbaden.  —  12  BUdertallBln  mit 
französischem  oder  engUechem  Text  (9  Bogen)  4,50  Mk.;  mit  beiden 
Textbüchern  5.70  Mk. 

Dius  Werkcht  u  enthalt  12  lithographirte  ilililertalein  in  Folioformat,  elegant 
p;ebunden;  /.u  denselben  gehört  ein  fran/üsischcr  und  ein  englischer  Text,  jeder 
in  besonderer  Ausgabe.  Die  Bilder  sind  künstlerisch  ausgeführt  und  dadurch, 
sowie  durch  die  (ienauigkeit  und  Mannigfaltigkeit  des  Zusanuncngcstellten 
gauz  l)esuuder8  geeignet,  die  Freude  und  den  Kitcr  des  Lernenden  zu  wecken 
und  rege  au  erfa«lten.  Jedes  derselben  stellt  ein  Alomeut  aus  dem  Familien-, 
Gewerbe-,  Verkehrs-  und  Landleben  dar  und  wird  so  den  allseitigen  An- 
forderungen gerecht. 

Der  zu  einem  jeden  Bilde  gehönge  Text  enthält  1.  eine  austühiiiche  Be- 
schreibnng  des  anf  dem  Bilde  Dargestellten;  2.  einen  anf  die  Beschreibung  be- 
ziiglichen  t^uestionnaire;  eine  Kr/ählung  oder  Sdiilderung.  die  auf  irgend 
einen  Liegenstand  oder  eine  Person  des  Bildes  Bezug  nimmt;  4.  ein  oder  zwei 
einfache  (iedichte,  die  dem  .Alter  derSchüIer  entsprechen.  SSuletirt  folgt  ein  genane» 
Wörterverzeichnis,  da.s  nach  den  einzelnen  Darstelluugen  geontuet  ist.  Die 
Anschauung  im  Bilde  ist  in  neuerer  Zeit  beim  fremdsiiradilithcn  Unterricht 
mehrfach  m  iJlwMidung  gekommen,  ganz  hegonderä  auch  deshalb,  weil  man 
die  Erfahrung  gfcmacht,  dass  die  in  demselben  erzielten  Resultate  nicht  an- 
nähernd der  darauf  verwandten  Zeit  und  MQhe  entsitiecheu.  Geschieht  dies 
auf  die  richtige  Wei.se,  so  ist  der  von  dem  neuen  Lehrmittel  erwartete  Erfolg 
sicher.  Das  genannte  Werk,  welches  demselben  Zweck  dienen  »oll,  verfolgt 
alw  keine  neue  Unterrichtsmethode:  ea  bietet  nur  Slaterial  anr  OmTersation, 


Ldirer  ansgiebigen  Stoff  zur  Übung  im  müudlicheu  Ausdruck  und  der  zusammen' 
hängoBden  Besprechung,  wozu  der  beigefügte  QucstionnaircTTortreffUche  Dienste 
leistet,  s'  ndcrn  die  Erzählungen  kiiniion  aiirh  durch  Abfragen  des  lahaltCS  und 
>>acherzuhien  zu  SprochUbungun  benutzt  werden.  Die  Verarbeitung  des  ge> 
botenea  Testes  m  .ConversauonsBbiingen  mit  Benutmng  der  Bilder  und  die 


nnd  dies  in  reichem 


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dadurch  zn  crlang:cndc  Sprachfertiifkeit  sind  der  Hauptzweck  diese»  Burlios. 
Das  Werk  bietet  so  in  diosor  \\  fise  etwas  ganz  Neues  und  ist  ebenso  iür 
den  Scbuli^ebrauch  wie  für  diu  rnvatunterricbt  beätcnä  zu  empfehlen. 

£s  mag  vielleicht  nicht  ttberüässig  sein,  noch  hinziuuifOgeo,  dan  der  tran- 
eOsIwrhe  Theil  dnrcham  keine  Ohenetziing;  den  euirlischen  Tlitilw  ist.  Es  kam  dem 
Vt  rta>><  r  vielmehr  darauf  au,  sich  hier  aut  euglist  hem,  doit  auf  französischem 
Boden  zu  bewegen,  und  so  können  beide  Theile  nicht  allein  durch  die  Sprache, 
der  sie  dienen  wollen,  sondern  auch  durch  ihren  Inhalt,  der  in  leineo  Lese- 
stückon  und  (JiNlichtrn  nur  srld  n  den  eiitrli^ehi  n  ri  sp.  französischen  Boden 
Tcrlösst,  redit  eigentlich  auch  tils  LcsicbUcher  der  bet rettenden  Sprachen  beuutzt 
werden.  I)ic  Auswahl  von  jenen  ist  so  getroffen,  dass  der  Sehftler  nebenbei 
noch  raanchorlei  andere  gute  Dinge  daraus  lernen  kann.  Penn  nichts  wäre 
verfehlter  als  die  Auswahl  von  nur  couversationsartitft  u  und  fdr  die  Jugend 
g»  radi  zu  gemachten  Stoffen,  deren  grobe  Absichtlichkeit  den  SchOli»  mit  Un- 
lust erfüllt  oder  doch  wenigstens  nicht  aneifert.  An  dem  Wörterverzeichnis 
wRre  noch  die  VollstÄndigkeit  und  Reichhaltigkeit  zu  rühmen,  die  dem 
Srh'ürr  er-Jiiart,  seino  Zeit  mit  Nachschlagen  zu  verlieren,  und  damit  auch  der 
Lehrer  nicht  zu  kurz  kommt,  dem  vielleicht  nicht  jede  der  beiden  Sprachen 
in  wllnschenswerter  Geläufigkeit  zu  Gebote  steht,  emditen  wir  die  ad  2  in 
großer  Ati-Jnhrliclikeit  und  M  aiiiiLrfultigkeit  beigegebeuen  i^uestionnaires  als 
nicht  den  kicinstea  Vorzug  des  Werkchens,  das  in  dieser  Ausstattung  gewiss 
nicht  Teifiehlen  wird,  sich  eineii  uu^iedehBten  Freundeskreis  zn  erwerben.  N. 

HoldemuiB  und  Setiepfindt,  Bilder  and  Ersfthliiiiffea  »vs  der  all- 
gemeinen und  deatschen  Oeschiclite  (III.  Theil,  Neaseli  Mit  57  Ab- 
bililnngcn  uud  4  Karten  iu  Farbendruck}.  Leipzig  188i>,  Freytag.  1,50  .Mk. 
Wie  scbuu  der  Tit«l  t-agt,  ist  dieses  Hilfibuch  lur  die  untere  uud  mittlere 
Stufe  des  (iCM-hichtsunterriehtes  au  höheren  (.preußischen j  Lehranstalten  nicht 
eine  hlle  Partien  in  gleicher  AustUbrlicbkeit  behandelnde  (icschichtc  der  Neu- 
zeit. Es  wählt  aus  derselben  die  (iestalten  aus,  die  für  den  Entwickelnngs- 
gang  von  hervorragender  Bedeutung  sind,  und  stellt  die  Verbindung  zwischen 
den  „Bildern''  durch  übersichtlich  gehaltene  äkiasen  her.  Solche  .l^üder"  sind 
s.  B.  ans  dem  Zeitalter  der  Reformation:  „I^vtlier,  Karl  V.,  Zwinj^U  und  Calvin, 
rbilii»!»  II..  Heinrich  IV.  von  Krankreich  und  Elisabeth  von  Englaud."  l)ie 
Darstellung  ist,  was  die  Sprache  betritt,  schlicht  und  j>achiich,  was  den  Inhalt 
anlangt,  ziemlirh  reieh  an  Detail  ,  durch  ebarakteristische  Ausspr&ehe  der  Be- 
genti'n  cfc.  bfliht.  Manches  dieser  Art,  das  der  Darstellung  ein  frisches 
("ulorit  Verleiht,  ist  freilich  nicht  sicher  beglaubigt;  ein  „soll"  oder  „man  er- 
z.iblt"  hätte  da  seine  berechtigte  Stellung  getuuden.  i  V'gl.  in  dieser  Iliusieht 
das  Buch  ,  von  Hartslet.  „Treppenwitz  der  \\'t  li;;eaihi(  hte."  wo  eine  Anzahl 
der  auch  hier  mitgctheilten  Anekdoten  als  soli  he  uai  hgewiesen  werden.)  Recht 
gelungen  sind  iu  dem  Buche  die  drei  Abschnitte:  ..Leben,  ."^itte  und  Kunst  im 
16.,  im  17.  und  18.  und  im  V.K  .lahrhundert."  Solche  Bilder  finden  si(h  in 
ähnlichen  LehrbU<  heru  nii  ht  oder  nicht  in  der  Weise  ausgeführt.  Anerkcnnuugs- 
wert  ist  auch  das  Bemiihi  u  der  V^crlagshandlung,  durch  gute  Copieu  authen- 
tischer Portrats,  Bunten  eu-.,  deren  das  Buch  57  euthält,  die  Anschauung  der 
Lernenden  sn  fordern  und  das  geschriebene  Wort  zu  beleben.  —r. 

Wagner,  Cleorg,  Streifzttge  in  das  Gebiet  der  dentsehen  Sprache. 

EäneZasammenstellung  deutscher  Wortfamilien.  Hamburg  1889,  Meißner.  4  Mk. 
Der  Verfasser  bietet  hier  dem  Lehrer,  dem  die  Gelegenheit  tehlt,  grüliere 
etymologische  Wörterbücher,  wie  Weigand,  (irimm  etc.  zu  benutzen,  ein  Büch- 
lein, das,  in  handlicher  Form,  die  für  die  .Schule  intrn  s.santesten  Wortgruppen 
zusammenstellt  und  etymologisch  deutet.  Es  zieht  auch  Fremdwörter  io  den 
Kreis  der  Betrachtung.  Um  ein  „Grandwort"  gruppirt  es  die enrMdbim  Wurzel 
uehi  rigen  Wörter,  wodurch  ott.  „/ur  \'i  rwi;ii>Icruiifr  und  Freude  di  s  Lesers 
Verwandtschatten  zwischen  Wörtern  anlgedeckt  werden,  die  ihm  nach  Form  und 
Bedeutung  weit  auseinander  zu  liegen  schienen,"  z.  B.  Bahre,  gebühren,  ge- 
bühren, gebären,  entbehren.  Bürde,  (ieb.trde,  Kiniev,  Znhcr,  erbarmen,  Borste. 
Bürste,  BUrzel,  burzelu,  Purzelbaum,  Geburt,  Adebar,  urbar,  empor,  oder  z.  B. 


—   470  — 


credü^redit,  Kreditiv,  accreditiieo,  kredenzen.  Natürlich  gibt  es  bei  jedem 
dieser  W9rter  auch  den  Otnig  an,  den  dieBedeutnng  von  der  des  Grundwortes 

aus  jrenoinincn.  Da  es  sich  :uif  dio  obt-n  genannten  wissonpchaftlichen  Wörter» 
bücher  stützt,  so  kann  i  s  mit  Bonibigung  gebraucht  werden.  — r. 

Faukstadt,  Entwürfe  zu  deutschen  Aufsitzen  und  müodlichen  Be- 
sprechangen  fttr  die  Secnnda.   Dessan,  1889,  Banmann. 

Der  Lesestuff  der  Secnnda  ist  die  epische  Dii  hfnnsr.  Dementsprechend  hat 
diese  J?ammlung  von  Entwürfen,  die  zum  grijlsien  Theil  litcrari.sche  Themen 
behandeln,  ihren  Stoff  Dichtungen  dieser  Kategorie  entlehnt.  Sieht  mau  von 
ein  paar  Themen  ab.  wie  z.  B.  Thema  .Tl:  „Die  Compo.sitioii  di  Aiiiioliedes.  ■ 
dessen  Stoft  den  Schülern  aus  der  Leciüre  kaum  bekannt  seiu  dürtt«:  und  dessen 
LBsiuig  in  der  vom  Verfasser  Toigfesehlagenen  und  dufcligefllhreen  Bearbeitung 
gewiss  kein  Schüler  zustande  bringen  wird,  so  kann  man  sagen,  da&s  das  Buch 
auch  dem  Ideenkreis  und  der  Fimungskratt  der  Secundaner  angemessen  ist. 
Besonilers  die  Themen,  die  sieh  an  die  Odyssee,  an  das  Nibelungenlied,  an 
Gudrun,  an  Keineke  anschließen  oder  die  Themen  aus  der  praktischen  Poetik 
sind  yidfedi  geeignet  ,  das  Ventln^ds  der  Didtitunoren  zn  fHrdem.  Die  Ent- 
würfe sind  sehr  ausführlich  gehalteili  §0  dass  uian  >\<  ]it.  sji-  sind  mehr  tTir  den 
Lehrer  als  bequemes  iiilfsmittd,  demt  ^r  den  ächUler  bestimmt;  diesem  bliebe, 
fiüls  er  auf  Grundlage  der  EntwflrfiB  die  Themen  ansarbeiten  sollte,  doch  su 
wenig  zu  thun  übrig.  — r. 

Möller,  (  bungsbach  für  den  Unterricht  in  der  deutscheu  Grammatik 
(2  Hefte).  Hamburg  1889,  Meißner. 

Dit  i^es  ni.  thodisehe  Sohriftchen  ist  zum  Gebrauche  au  mehrstufigen  Volks- 
schulen und  an  Mittelst  luilen  (im  preußischen  Sinne  dos  Wortes!  bestimmt  und 
gliedert  sich  in  zwei  Theile  (I  für  das  2.,  3.  und  4.  Schuljahr).  Die  Ortho- 
graphie lehrt  es  durch  Vorführung  methodisch  geordneter  Wörtergruppeu,  hie 
und  da  mit  Zuhilfenahme  von  Beimregeln,  Formen-  und  Satzlehre  in  concen- 
trischen  Kreisen,  erst  von  der  V.  Stufe  an  In  mehr  systematfseher  Weise^  und 
zwar  iiln-nill  so,  dass  es  von  fiiniii  leiclit  verständlichen  Mustersatz  ausgeht, 
auf  inductivem  Wege  die  ii^el  entwickelt  und  dem  erlaugteu  Verständnis  die 
Übung  folgen  ISsst.  Der  übungsstoiT  nimmt  dem  Titel  des  Buches  entspre- 
chend den  größten  Th».il  des  I^üchleins  ein  und  ist  dnieh  Fragen  und  Auf- 
gaben bequem  für  Lehrer  uud  Schüb  r  zurechtgelegt.  — r. 

Sarauel  Schillings  Kleine  Schulnaturgeschichte  der  drei  Reiche, 
Nenbearbeitmig  durch  R.  Waelier.  Äaagabe  A,  mit  dem  Pflansenreiche 
nach  dem  Linn^'schen  ^yateme.    (Achtzehnte  Bearbeitung,  erster  Druck 

der  von  R,  Waeber  besorgten  Neugestaltung.)  (Tesammtausgabe.  das 
Thier-,  Pflanzen-  und  Mineralreich  enthaltend;  mit  öCH  I  .Abbildutigen.  einigen 
im  Farbendruck.  —  Ferdinand  Hirt,  Künigl.  L'niversitüis-  und  Verlags- 
bnchhaadlung,  Brealan  1890.  Zoologie,  188  S.,  geb.  1,60  Hk.;  Botanik 
nach  Linn4,  156  S.,  1,25  Mk.;  Botanik  nadi  natSrlichem  Systeme,  156  S., 
1,25  ^Ik.;    Mineralreich,  84  S.,  80  Vfg. 

Einen  wolverdienten  Kuf  haben  in  der  deutscheu  pädagogischen  Literatur 
Sehillings  Werke,  wie  auch  die  groSe  Anflagensahl  beweist;  die  thätige  Hirt- 
srbe  Vcrlaglhandhing  hat  nun  dieselben  der  bewahrten  Hand  Waehers  zur  Neu- 
gestaltung Qbeigeben  und  liefert  uns  in  vorliegenden  Werken  fast  neue  Bücher. 
Wie  Waeber  den  uaturhistorischen,  speciell  den  botanisclien  l'nterricht  auf- 
fa<!.st  und  si-)ir  c  wnndt  behandelt,  haben  wir  vor  .Tahr>'n  bei  der  I'.espreehune: 
seiner  Botamk  hervorgehoben;  dasselbe  zeitrt  sieh  nun  aucii  in  den  uns  vor- 
liegenden Werken.  Der  Verfasser  beschränkt  den  Stoff  nach  Thunlichkeit  und 
sucht  ihn  so  interessant  als  müglich  zu  schildern,  dio  Systematik  spielt  eine 
untergeordnete  Rolle;  auf  das  Gesammtleben  uud  die  Wechselbeätiehungen  zu  den 
Mitges<:h(ipfcn  ist  überall  Kücksicht  irennnuneu.  .\us  dii  -en  Gründen  w(dleu  wir 
auch  mit  dem  Verfasser  nicht  rechten,  dass  sein  System  nicht  das  neueste  ist, 
so  s.  B.die  Schnabelthiere  nicht  dk>  letsteSiogethierordnvng  bilden,  dielnsecten 


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—   471  — 


nicht  nach  ^en  Fresswerkzeuj;ea  geordnet  erscheinen  u.  dgl.  Die  Botanik  (in 
beiden  Bttehem)  ist  jedenfallt  tm  loi^isaiDBtett  (gearbeitet,  ja  in  rfudnen  Partien 

geradezu  niusti^rfjiltig:  die  Minoraloirio  isr  mit  IxUck-icht  auf  die  Sprödi^keit 
,  des  Stoffes  interessant  geschrieben  und  beüondem  dadurch  praktisch  gemacht, 
dass  der  Verarbeitnng  der  Minexalien  nelur  Anftneikiamkdt  gewidmet  ist,  ab 
dies  sonst  geschieht;  wir  verweisen  u.  a.  auf  die  Glasbercitung,  die  Eisenge- 
winnuug,  die  Goäbcreitung  u.  s.  w.  Kurz,  das  ganze  Werk  int  höchst  em- 
pfehlenswert und  wird  es  noch  mehr  duidi  die  allen  Werken  des  Uirtschcn 
Verlages  ei^enthUmliche  muster^rilti^e  AnsBtattinig  im  Drucke  und  in  den  zahl- 
reichen  sehr  gelungenen  iioizäcbuitten.  C.  E.  R. 

Onindzfiird  der  Geognosie  und  Oeologrie  von  Dr.  Chutav  LMihardf 

weil.  Professor  in  Heidelberg.    Vierte  vermehrte  und  yeriwnerte  Anflage. 

Nach  des  \'erfassprs Todp  besorgt  durch  Dr.  Rudolf  Hoernor,  k.  k.  o.  o. 

Professor  der  Ueologie  und  Paliloutologie  an  der  Universität  Graz.  4.  (Schluss-) 

Lieferung  mit  122  Holzschnitten.    XI  S.  u.  v.  S.  577 — 980.  Leipzig. 

G.  F.  WiDter'sehe  VerlagaliiBdliiDr  1889.  7  Mk. 

Mit  dieser  Schltisslicfcrnng  findet  das  ausgezeichnete,  in  der  wissenschiiftürhen 
Literatur  Deutschlands  fast  einzig  dasteliende  Werk  seine  würdige  Vullenduug. 
Reichhaltigkeit  des  Stoffes  in  paläontolofrischer  sowie  strati^raphischer  Hinsicht, 
ein  auspfezeichnetes  Detail  in  der  Sehildenias;  der  Localvorkommnisse,  Hüok- 
)iichtnahuie  aut  die  neuesten  Erfahrungen  und  Entdeckungen  in  den  verschie- 
densten Gegenden  der  Erde,  ein  stetes  und  genaues  Anführen  der  Literatur 
der  einzelnen  Abschnitte  der  geologischen  Perioden  und  Formationen,  das  sind 
die  Hauptvorzüge  des  Werkes.    Es  bietet  dem  Studirenden  ein  so  reiches 
3Iaterial,  wie  es  kaum  sonstwo  zusammengetragen  erscheint.    F'in  4t)  Seiten 
umÜEtfsendes  Sachregister  erleichtert  das  Nachschlagen  bei  den  betreffenden 
Fartien.  Dabei  ist  die  Ausstattung  des  Werkes  eine  duTChaus  TorzOglicbe.  C.  R.  R. 
Tasehenbitch  für  Schmetterlingssammh  r  von  Emil  Fischer.  Dritte 
vollständig  neu  bearbeitete  Auflage.    Mit  I  i  Farhpiidrncktafeln  und  TieleD 
Holzschnitten.    IX  u.  292  S.    Leipzig,  Oskar  Leiner.    geb.  4  Mk. 

Würdig  reiht  sich  dieses  Taschenbuch  den  übrigen  Lciner-Piacher'schen  In- 
aeetenbttchcrn  an.    Es  enthält  nach  nini  iihnloirischi  n  N'orbiincrkungen  Winke 
fltr  den  Sammler,  eine  Beschreibung  der  wii  htigsten  ächmetteriiogsarten,  einen 
Raupen-  und  Schmettorlings-Kalender,  ein  alpbabetisebes  Register  und  syste- 
matisches Verzeichnis  und  ein  Fund-Xntizhuch.    Di«'  P.i  s(  hreibuuiren  sind  kurz 
und  prftcise  und  werden  durch  vorzügliche  Farbentaieln  unterstützt,  welche 
die  lypea  der  Gattungen  darstellen,   überhaupt  ist  die  Ausstattung  des  sehr 
beciuemen  Büchleins  vorzüglich  und  dabei  der  Treis  im  Versrleiche  zu  ähnlichen 
Werken  recht  hillig.    Der  Sammler  wird  in  dem  Bestreben,  seiner  Schmetter- 
liug.<.sammlung  ein  gefälliges  Aussehen  in  geben,  sehr  nnteistHtst  duiob  die 
Etiketten    für    Schmetterlingssammlungen,    zusammengestellt  von 
Emil  Fischer,  zweite  Autlage,  l.öü  Mk.,  welches  Zettel  für  Fiimilien.  (lat- 
'  tungen,  Arten  und  Geschlecbtszeichen  in  reiehlicher  Zahl  theils  mit  vorge- 
druckten Namen,  theils  leer  enthält.  ('.  H.  H. 
Diesterwegs   populäre  Himmeiskunde    und  mathematische  Geo- 
graphie.   Neu  bearbeitet  tod  Dr.  H.  Wflheln  Hey  er,  Director  der 
Gesellschaft  Urania  noter  Uitwirknng  von  Profesaor  Dr.  B.  Schwalbe, 
Direktor    des    Dorotheenstädtiscben    Bealgymnasiunis    zu    Berlin.  Mit 
vielen  in  den  Text  gedruckten  Abbildungen,  Vollbildern  und  Sternkarteo. 
IV  u.  426  S.  Berlin,  Verlag  von  Emil  Goldschmidt  1889.    6  Mk. 

Nunmehr  liegt  voHstftndig  die  11.  Aufliige  des  alten  bekannten  Diester- 
wegschen  Werkes  in  neuem  Gewände  und  den  neuesten  .Xiisidiri  n  entsprechend 
umgearbeitet  vor  uns.  Dass  das  Werk  durch  die  Neubearbeitung  wesentlich 
-  gewonnen  hat,  zeigt  jede  Sr-ite  des  Buches.  Der  pftdagogische  t'barakter  des- 
selben ist  gewahrt  geblieben,  und  -n  ist  es*  ein  populäres  Buch  im  edol-;trn 
Sinne  des  Wortes  iusbesouderc  dadurch,  diu>s  es  nicht  oberflächlich  und  seicht 


—  472  — 


den  hodiinteressanten  Oegesstand  behandelt,  sondern,  wo  es  nothwendig  ist, 

auch  beweist  und  sich  so  weit  vortieft,  dass  der  Leser  ein  lehenditros  Bild  des 
Waltcns  im  Weltalle  erhiilt.  Um  deu  reichen  luhalt  zu  charakteri.Hireu,  er- 
wähnen wir  nur  di«'  t  apitcl:  Erklärungen  über  Gestalt,  Grblio  und  Bewegungen 
der  Erde,  [ihyfiisrhe  Heschaffonheit  der  Sonne,  Planeten,  des  Mondes,  der  Ko- 
meten und  Meteorite,  von  den  Fixsternen,  die  Eut wickeluugiJgciK'hiehte  des 
Weltalles,  kurze  Übersieht  Ober  die  (tesehiehtc  der  Astronomie  Q.  s.  f.  Viele 
Holzschnitte  und  Vollbilder  sowie  Übersichtstufeln  erleichtem  das  Veretändnia. 
Die  Ansstattnno:  des  Werkes  ist  vorztiglich  zu  nennen.  Fttr  Lehrer,  Schflier 
iin<l  Laien  ist  dieses  Buch  gleich  empfehlenswert.  ('.  R.  R. 

A.  F.  3IöbiU8,  Die  Hauptsiitze  der  Astronomie.  7.  Auflage  fnr  Schulen 
und  zur  Selbstbelehrung  umgearbeitet  und  enveitert  von  Professor 
H:  Crants.  Mit  29  Fignren  und  einer  Tabelle.  III  S.  Stuttgart.  C^.  J. 
GOschensche  Verlagsbachhandlung  1890. 

In  gedrängter  Form,  aber  dorh  ausreicbend  für  das  gewöhnliche,  aber  nicht 
oberflächliche  Stu<liuin  der  Astronomie  werden  in  diesem  Werkchen  die  wich- 
tigsten Lehren  derselben  behandelt  und  durch  einfache  aber  sehr  instruetive 
Figuren  erläutert.  In  «ien  Alischnitten  von  der  Erde,  Sonne,  dem  Monde,  den 
IManeten,  den  Kümetcu  und  Meteoren  und  von  deu  Fixülcrut-u  werden  die 
wiohtip^sten  Wahrheiten  und  Hypothesen  angeführt.  Die  Tabelle  über  die 
Terschiedenen  Monde,  die  Umlaufiseiten  der  Kometen,  die  Doppelsteme  und  die 
Elemente  der  meisten  Planeten,  sowie  die  Übersicht  der  bei  nns  wahmehm-' 
baren  Sternbilder  sind  eine  sehr  dankenswerte  Beigabe.  E.s  ist  nur  z\i  be- 
dauern, dass  bei  den  Meteoren  nicht  auch  etwas  ttber  die  eigentlichen  Meteor- 
steinllUle  geboten  ist,  die  doch,  angeregt  dnich  die  hie  sid  da  angelegten 
Sammlungen,  allgemeines  fiiteiesse  errsgen.  C.  B.  R. 


Venntwortl.  SadMtenr  Dr.  Friedriob  DitUt.  BmhdnelMni  Jttliat  Kliakliatdt,  IMf^. 


BeitrSge  rar  Refim  des  ReUgi^iunuitorriehtes  in  BeEBg  «if 

Inhalt  nnd  Lehrweise."*^ 

Ym  Dinetor  mer.  Frof.  Theodor  Vomaiokon'Qrwg, 
HL  Confessioneller  Religion Bnnterriclit 

Wir  halten  an  dem  Gnmdsatze  fest,  dass  ein  Unterricht  in 
Religion  und  Sitte  für  die  Volksschule  ein  wesentlicher  Bestandtheil 
ist  und  bleiben  muss  und  dass  er  in  dieser  christlichen  Grundschule 
eine  Hauptgrundlage  haben  muss  an  den  wolverstandenen  Lehren 
des  Neuen  Testamentes,  mit  Ansschlnss  anyerständlicher  theologischer 
Meiimngen  mittelalterliclifir  SdioliistilL  Anch  eine  pädagogische  Lehr- 
weise sollte  Eingang  finden.  Darans  folgt,  dass  speciell-ooDfessionelle 
Lehrmittel  keinen  Platz  in  nnserer  znkanfligen  pädagogischen  yolks- 
sehnle  haben,  also  anch  der  herkömmliche  Katechismns  nicht  Fillt 
dieser  ans,  so  wird  aoeh  die  Entscheidung  angebahntt  ob  die  Volks- 
schnle  confessionell  oder  simultan  sein  soll. 

Im  Januai^Hefte  des  „Ftodagogirnns'*  (1890)  hat  Prof.  Fioh- 
MjhammermitBecht  daranf  hüigewfeseo,  dass  dnrch  die  aufgekommenoi 
Gegensfttze  in  der  nrspriknglichen  Religion  der  Liebe  viel  Elend  über 
die  Menschheit  gekonmien  ist,  indem  der  wilde  Glaabenseifer  keine 
andere  Meinung  neben  sich  dnldete.  Gewaltmaßregeln  and  Ver- 
folgungen gingen  bekanntlich  von  der  päpstlichen  Kirche  ans.  Um 
schon  der  Jugend  die  Unduldsamkeit  einzuimpfen,  forderte  man  später, 
als  ob  wir  an  den  nationalen  Gegensätzen  nicht  schon  genug  hätten, 
auch  noch  confessionelle  oder  Kirchenschulen.  Nehmen  dann  die 
nichtrömischen  ronfessionen  ebenfalls  eine  schärfere  Tonart  an,  so  ist 
die  gegenseitige  Hetze  fertig.  Die  VolLsschule  wenigstens  soll  sich 
auf  das  allen  christlichen  Confessionen  Gemeinsame  beschränken, 
und  dies  finden  wir  nicht  in  einem  Katechismus,  sondern  hauptsäch- 
lich in  den  Evangelien. 

*)  TgL  hiom:  Pädagogium  Jahrgang  XI,  S.  141  IT.  «id  84181      D.  S. 
Padagociaau  lt.  JArg.  Htft  vm.  84 


—  474  — 


Die  l^ltramontanen  <M()ft'nt^n  gern  Hinterthürchen ,  und  das  ist 
weder  ehrlich  noch  christlich.  In  unserem  Zeitalter  ist  das  Ver-  ^ 
Mltnis  zwischen  dem  Staate  und  der  sop-en.  Kirclie  (d.  b.  eigentlich 
dem  Clerus)  ein  ganz  anderes  als  im  Mittelalter,  das  scheint  auch  die 
Kirchenpartei  einzusehen.  Sie  weiß,  dass  kein  Staat  mehr  gesonnen 
ist,  seine  Schulanstalten  einer  Gesellschaft  zu  überlassen,  darum 
klammert  sich  die  Kirchengesellschaft  an  das  Wort  confessionell, 
meint  aber  Kirchenschule,  und  das  ist  das  Hinterthürchen.  Die  Zeiten 
sind  andere  geworden..  Noch  im  16.  Jahrhundert  regierte  der  Papst 
im  heiligen  römischen  Beiche  deutscher  Nation,  nicht  nur  als  oberster 
Bischof  in  geistlichen  Angelegenheiten,  sondern  eben  so  sehr  als 
politischer  ICadiihaber.  Seitdem  sind  900  Jahre  vergangen,  nnd  der 
heutige  Staat  ruht  anf  anderen  GmndUtgen,  irobei  die  sittlichen 
Grundlagen  des  Christenthnms  keineswegs  aasgeschlossen  sind,  wol 
aber  die  hierarchischen  des  Mittelalters.  Ein  Staat  ohne  jene  sitt- 
lichen Grundlagen  hat  keinen  langen  Bestand,  aber  von  hierarchischen 
mnss  er  sich  frei  machen.  Hit  den  in  cleticalen  Yersammlnngen 
froherer  Jahrhunderte  aoi^tellten  Meinungen  (Dogmen)  hat  der 
moderne  Staat  so  wenig  zu  thun,  wie  mit  der  neuesten  Meinung  von 
der  Unfehlbarkeit  des  römischen  Papstes.  Der  einzelne  B&rger  im 
Staate  mag  sehen,  wie  er  mit  solchen  Glaubensmeinungen  fertig  wird; 
der  Staat  hat  nur  darauf  zu  achten,  dass  ihm  kein  Nachtheil  daraus 
erwachsei  Nun  sollen  aber  diese  Meinungen  schon  in  der  ^'olks- 
'  schule  unseren  Kindern  beigebracht  werden  und  zwar  mit  Umgehung 
oder  Umdeutung  der  reinen  Lehre  des  Stifters  und  seiner  Apostel. 

Bezeichnend  ist  der  Antrag,  den  Windthorst  und  9B  Mitglieder  des 
Centnims  vor  kurzem  im  preußischen  Abgeordnetenhause  einbrachten:  • 
„Das  Haus  der  Abgeordneten  wolle  beschließen:  die  künigl.  Staats- 
regieriing  aulziüordern,  dem  Landtage  baldigst  den  Entwurl  eines 
Gesetzes  vorzulegen,  durch  welches  den  Kii'cheu  und  ihren  Organen 
in  Betrefl  des  religiösen  Unterrichtes  in  den  Volksschulen  diejenigen 
Befugnisse  in  vollem  Umfange  gewährt  werden,  welche  die  Ver- 
fassungsurkunde im  Art.  24  denselben  durch  den  8atz:  .den  religiösen 
Unterricht  in  der  Volksschule  leiten  die  betreftenden  Religionsgesell- 
schaften'  zugesichert  hat  und  dabei  dem  ui^prünglichen  Sinne  dieser 
Zusicherung  entsprechend  insbesondere  auf  Feststellung  folgender 
-Rechte  Bedacht  zn  nehmen:  1.  In  das  Amt  des  Yolkssehalldirers 
dürfen  nur  Personen  berufen  werden,  gegen  welche  die  kirchliche 
Behörde  in  kirchlich -religiöser  Hinsicht  keine  Einwendung  gemacht 
hat  Werden  später  solche  Einwendungen  erhoben»  so  darf  der  Lehrer 


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475  — 


SDT  Ertheilnnir  des  BeUgConsnnteiTidites  nicht  weiter  zngelABsea 
werdeD.  2.  Diejenigen  Organe  zn  bestimmen,  welche  in  den  einzelnen 

Yolksscliulcn  den  Religionsunterricht  m  leiten  berechtigt  sind,  steht 
ansschließlich  den  kii'chlichen  Oberen  zu.  B.  Das  zur  Leitung  des 
Beligionsnntenichtes  berufene  kirchliche  Organ  ist  befugt,  nach 
eigenem  Ennessen  den  schalplanmäßigen  Religionsunterricht  selbst  m. 
crtheilen,  oder  dem  Religionsunterricht  des  Lehrers  beizuwohnen,  in 
diesen  einzuo^reifen  und  für  dessen  Ertheilnno:  den  Lehrer  mit  Wei- 
sungen zu  versehen,  welche  von  letzterem  zu  befolgen  sind.  4.  Die 
kirchlichen  Behörden  bestimmen  die  für  den  Religionsunterricht  und 
die  religiöse  Übung  in  den  Schulen  dienenden  Lehr-  und  Untemchts- 
bücher.  den  L^rafang  und  Inhalt  des  sclmlplanmäßigen  religiösen  Uuter- 
ricliisstoties  und  dessen  Vertheilung  auf  die  einzelnen  Classen." 

In  Österreich  sind  ähnliche  Vorschläge  j^emacht,  nur  in  anderer 
Fassung.  Man  spricht  zwar  nur  vom  Religionsunterrichte,  thatsäch- 
lich  aber  will  man  die  T^ehrer  und  die  Schule  in  unbedingte  Abhängig- 
keit  von  den  kin  hlichen  Oberen  bringen. 

Die  Grundschule  der  Völker,  die  Volksschule,  kann  keine  anderen 
Wege  gehen  als  die  Staaten  bei  der  jetzigen  Civüisation,  in  der  die 
Staaten  sieh  nor  confessionslos  gestalten  dttrfen.  Dasa  drängen,  abge- 
sehen von  localen  und  pecnniären  Grftnden,  schon  die  modernen  Ter^ 
kehrsTerhftltnlsse,  bei  denen  von  einer  Beschränkung  nicht  mehr  die 
Bede  ma  kann,  vie  im  MitteUiIter.  Thatsflehlich  smd  die  meisten 
Volksschnlen  In  den  enropftischen  Staaten  noch  immer  eonfessionell, 
indem  meistens  Theologen  der  betreffenden  Confession  den  Religions- 
unterricht ertheÜen  nnd  die  Beligionshücher  dn^  confessionellen  In- 
halt haben. 

Für  eine  blos  christliche,  aber  confessionsfreie  Volksschule  kftme 
noch  etwas  in  Betracht,  an  dias  noch  wenige  gedacht  haben,  weil  es 
sich  schon  nach  den  vier  ersten  Jahrhunderten  des  Christenthums  ein- 
gelebt hatte.  Allgemein  nimmt  man  heutzutage  an,  dass  die  Taufe 
fldion  eonfessionell  mache.  Ist  dieser  symbolische  Act  nicht  ein  all- 
gemein christlicher?  Die  verfolgte  Brüdergemeinde  der  Waldenser 
erblickte  in  der  Besprengung  der  Unmündigen  nur  eine  vorbereitende 
Namentaufe  und  erwartete  eine  innere  Wirkung  von  der  wahren 
Taufe  nur  dann,  wenn  das  Bekenntnis  des  Glaubens  (confessio)  seitens 
des  Täuflings  hinzukomme.  Nun  kann  aber  das  Bekenntnis  erst  bei 
der  ..('ontirniation''  abgelegt  werden,  wodurch  der  junge  Christ  einer 
<ler  lu'sirhcndt  n  Kirchengenieinschaften  zugeführt  wird,  und  die  Vor- 
bereitung dazu  sollte  vernünftigerweise  nicht  vor  dem  12.  Lebensjahre 

34* 


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—  476  — 

geschehen.  Vor  dieser  Zeit  gehOrt  das  Kind  dgenüich  zu  keinei* 
Coufeasl«»!,  irie  es  Ja  aneh  noeh  sa  keiner  ^fkugeriichen  GesellBduft  gehört 
Die  sogen.  Gonflnnation  (Firmuiig)  ISast  sich  vergleichen  mit  dem 
Anziehen  der  toga  ▼iriliB  bei  den  BOmem  nnd  der  mittelalterlichen 
SchwerÜeite,  d.  L  Wehrhaftmachnng.*)  Erst  bei  solchen  Feierlichkeiten 
wurde  das  Jonge  Volk  als  mfindig  erklärt  Ifit  dieser  Anschaaqng 
steht  es  vielleicht  im  Znsammenhange,  dass  die  Osterreichische  Gesetz 
gebnng  folgende  Bestimmung  getroffen  hat  Ln  Art  4  des  Gesetaes 
vom  25.  Mai  1868  heifit  es  nftnlich:  „Nach  yollendetem  14.  Lebens- 
jahre hat  jedermann  ohne  Unterschied  des  Geschledites  die  freie  Wahl 
des  BeligioDsbekenntnisses  nach  seiner  eigenen  Überzengong.^  Vielleicht 
ist  auch  (las  noch  zu  frUh;  nach  altdeutschem  Rechte  musste  sich  der 
Jüngling  bis  zum  21.  Jahre  yom  Vater  bevormunden  lasseUi  dann  erst 
ward  er  selbstständig. 

Auf  eine  theologische  (dogmatische'^  Betrachtung  der  Taufe  gehen 
wir  hier  nicht  ein.  Bei  allen  morgenländischen  Völkern  galt  äußer- 
liche Waschung  oder  Besprengung  als  Symbol  der  inneren  Reinheit, 
und  diese  Bedeutung  entwickelte  sich  besonders  mit  dem  Christenihum 
als  Wiedergeburt,  dann  als  Aufnahme  der  Juden  und  Heiden  in  die 
Christengemeinschaft.  Die  Kindertaufe  ist  erst  seit  Augustinus,  also  etwa 
400  Jahre  nach  Christus,  herrschende  Sitte  geworden,  ohne  dass  dafiir 
ein  Befehl  Christi  und  der  Apostel  v(»rliegt.  Die  verschiedenen  Kirchen 
haben  aber  diese  schöne  Sitte  beibehalten,  nur  sollte  man  sich  nicht 
der  Meinung  hingeben,  als  ob  ein  Kind  katholischer  Eltern  dadurch 
eine  andere  Religion  erhielte,  wenn  es  etwa  von  einem  protestan- 
tischen Geistlichen,  oder  umgekehrt,  getanft  wird.  Die  Taufe  ist  ein 
christlicher  Act,  aber  kein  confessioneUer.  Es  wird  auch  hier  wieder 
„Eirchengesellschaft*'  mit  „Religion  oder  Christenthnm"  verwechselt. 
Wir  haben  den  UnterseMed  bereits  im  Ifarzheft  des  «Pftdagogiams** 
1889  dargelegt. 

Welche  Folgerungen  alles  dies  fftr  die  Kinder  unserer  Volks- 
schnlen  hat,  braucht  wol  hier  nicht  weiter  hervorgehoben  an  werden. 
Die  Simultanschule  ergibt  sich  daraus  von  selbst  Eine  Trennung 
wäre  schon  wegen  der  fi»t  ttberall  gemischten  Bevölkerung  und 
wegen  der  Kosten  nur  an  einzebien  Orten  ansflfhrbar.  Hanptbedingung 
für  eine  gemeinsame  (simultane)  Volksschule  ist,  dass  innerhalb  der 
Schule  nur  das  allen  Christen  Gemeinsame  gelehrt  und  gefibt  werde; 


*)  Vgl.  die  trcfnichc  AI  li  uullung  (Pädagogik  des  deutschen  Kitteblten)  TOB 
Fnuiz  Bianky  im  Ö.  Jaiuebbericht  von  St.  Anna  in  Wien,  8.  29. 


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—  477  — 


alles  andere  gehört  in  den  Confirmandenunterricht,  der  den  TheolK^^^en 
überlassen  bleibt.  Den  Eltern  sollte  es  freistehen,  für  ihre  Kinder 
die  Wahl  zu  treffen,  welcher  chnstlichen  Kirche  sie  dieselben  zuführen 
wollen. 

rV.  Pädagogischer  Unterricht  in  Religion  und  Sitte. 

Der  Gegensatz  zur  clericalen  Volksschule,  die  nur  confessionellen 
Unterricht  auf  Grundlage  des  alten  Katechismus  und  der  noch  mehr 
yeralteten  Lehrmethode  yerlangt  und  damit  wieder  eine  Brflcke  hei> 
stellen  will  zor  Hemehaft  Uber  das  Volk,  bildet  die  staatiieh» 
Volksedmle  aaf  Onmdlage  der  fortgeBchritteneB  Pftdagogik  und  der 
sonstigen  wissenschafttiehen  EmmgeDscliaften.  Also:  Theologischer 
oder  padagogisdier  BeUgionsnntemcht?  Das  ist  die  Frage. 

An  nns  tritt  efaie  Forderong  des  zur  Neige  gehenden  Jahr- 
honderts  heran,  die  schon  im  vorigen  Jahrhundert  ihren  Schatten 
Torans  geholfen  hat  Im  Jahre  1777  lemte  Kaiser  Josef  n  ein  Bnch 
von  Langoinais  kennen,  das  n.  a.  für  den  Beügionsnntäridkt  forderte: 
„Keine  Dogmatik,  sondern  die  ethischen  Gmndsätie  der  Togend  und 
Menschenliebe."  Das  war  dem  großen  Kaiser  aus  dem  Herzen  ge- 
sprochen, und  die  Geschichte  seiner  kurzen  Regierong  best&tigt  e& 
Was  damals  einzelne  Denker  nicht  ausführen  konnten,  davon  ist  der 
Geist  unserer  SSeit  erfüllt.  Kaiser  Josef  hat's  nicht  erlebt,  nnd  wir 
Alten  erleben  es  vielleicht  auch  nicht,  aber  das  darf  uns  nicht  ab- 
halten, immer  wieder  darauf  zurückzukommen. 

In  Confessionsschulen  ist  der  Dogmatismus  zu  Hause,  die  Begriffe 
Theologie  und  Religion  werden  fort  und  fort  verwecliselt.  Und  wie 
sind  wir  dazu  gekommen?  Bei  Beantwortung  dieser  Frage  nehme 
ich  drei  Perioden  in  der  Entwickelung  des  Cliristenthums  an:  1.  Den 
großartigen  und  sieghaften  Apostelzeiten,  welche  die  einfachen,  ur- 
sprünglichen Lehren  Christi  uocli  festliielten ,  folgte  das  legendisch- 
hierarchische  Zeitalter,  das  mit  der  Höhe  der  Verweltlichung  der 
Kirche  schloss  (12.  Jahrhundert);  2.  dann  erhob  sich  in  der  Mystik 
und  einigen  „Ketzern"  (d.  h.  Reingläubigen)  der  evangelische  Geist, 
um  die  Freiheit  des  Denkens  und  Glaubens  zu  erobern  und  die  Ge- 
meindekirche wiederherzustellen ;  die  Flamme  wurde  von  der  päpstlichen 
Kirche  geldscht,  doch  derFonke  konnte  nicht  erstickt  werden*);  dann 
folgte  8.  die  Beformation,  haapts&chlich  gegen  Born  gerichtet,  aber 
der  Dogmatismus  blieb',  denn  Bekenntaisschriften  Und  Katechismen 

*)  nie  besten  Schriften  darüber  sind:  Staat'^archivar  Keller,  „Die  Ref  ormation 
and  die  älteren  Beformparteien''  (^Leipzig,  Hirzel  1885);  J.  v.  Döllinger,  „6ecteu- 
geschichte  des  Mittelalte»"  (Manchen  1890). 

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8oUt«n  die  Unterschiede  dareteUen.  DasZosammenwirken  der  Literatur 
des  letzten  JalurhuidertB  In  Yerbindong  mit  der  neueren  Katar*  und 
Bbelforsehung  scbeint  eine  nene  Wandlang  vorznbereiten,  die  schon 
Lessing  geahnt  hat  am  Schiasse  seiner  Schrift:  „Die  Erziehung  de» 
Menschengeschlechtes.''  % 

Die  Geschichte  der  Menschheit  nimmt  einen  langsamen  Oang.  Anf 
diesen  hat  auch  Lessing  hingewiesen  in  dieser  Schrift  Er  hringi 
darin  die  Oifonbamng  mit  der  Ersiehong  des  Menschengeschlechtes  in 
Zusammenhang.  Leasing  sagt:  „Was  die  Eiviehung  bei  dem  einnelneik 
Menschen  ist,  ist  die  Oflbnbarung  bei  dem  ganzen  MenschengeechlechteL 
Erziehung  ist  Offenbarung,  die  dem  einzelnen  Menschen  geschieht^ 
und  Offenbarung  ist  Erziehung,  die  dem  Menachengeschlechte  geschehen 
ißt  und  noch  geschieht.  Ob  die  Erziehung,  aus  diesem  Gesichtspunkte 
zu  betrachten,  in  der  Pädagogik  Nutzen  haben  kann,  will  ich  hier 
nicht  untersuchen.  Aber  in  der  Theologie  kann  es  gewiss  sfehr  großen 
Nutzen  haben  und  viele  Schwierigkeiten  heben,  wenn  man  sicli  die 
Offenbarung  als  eine  Erziehung  des  Menschengeschlechtes  vorstellet.'' 

Lessings  Anwendung  dieser  Sätze  auf  die  Kelitriun  lassen  wir 
hier  beiseite,  behaupten  aber,  dass  sie  auch  für  die  Pädairogik  von 
Nutzen  sein  können.  Wie  Gott  stufenweise  das  „auserwahlte  Volk" 
der  Juden  zur  Erkenntnis  brachte,  so  kann  dies  auch  bei  der  Er- 
ziehung des  einzelnen  Menschen  geschehen.  Und  dies  ist  das  Ge- 
heimnis der  Methodik  im  Jugendunterrichte,  auf  das  selbst  der  größte 
Lehrer  der  Menschheit  hingewiesen  hat,  indem  er  sagte  (Ev.  Joh.  16, 
12):  „Ich  habe  euch  noch  viel  zu  sagen,  aber  ihr  könnt  es  jetzt  nicht 
tragen."  Lessing  weist  auf  das  Alte  Testament  als  Elementaibucb 
fir  das  jüdische  Volk  hin.  In  diesem  Elementarbache  fehlen  z.  E. 
die  lichre  yon  der  Unsterbliehkeit  und  die  damit  verbnndene  Strafe 
und  Belohnung  in  einem  künftigen  Leben*  „Ein  Elementai'bueh  für 
Kinder'^,  sagt  Lessing,  «darf  gar  wol  dieses  oder  jenes  wichtige  Stück 
des  Wissens  mit  StiUsohveigen  übergehen ,  yon  dem  der  Pädagog  nr- 
theUtOi  dass  es  den  Fähigkeiten  der  Kinder,  f&r  die  er  sdurieb,  noch 
nicht  angemessen  sei.  Aber  es  darf  schlechterdings  nichts  enthalten, 
was  den  Kindern  den  Weg  xa  den  znrQckbehaltenen  wichtigen  Stücken 
versperre  oder  yedege."  Übrigens  seien  Vorübungen,  Ans^elungen 
(z.  B.  die  Bedensart  „lu  seinen  Vitem  yersammelt  werden**)  und 
Fingerzeige  gani  am  Platze;  ebenso  allegorische  Einkleidungen  und 
sinnbildliche  DarsteUangen  (Schöpfungstage,  verbotener  Baum.  Thurm- 
bau zu  Babel  etc.).  Das  alles  eignete  sich  für  ein  Volk  in  seiner 
Kindheit,  und  wir  dürfen  es  heute  noch  in  ähnlicher  Weise  für  unsere 


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Kinder  verwerten,  aber  nur  für  ein  gewisses  Alter.  Als  in  der  Ge- 
schichte Israels  die  Zeit  gekommen  war.  erschien  Christus  und  ver- 
vollständigte die  Lehre  fär  die,  welche  dalui  empfänglich  waren,  und 
swar  in  einer  Art  und  Weise,  die  damals  zur  Annehmung  seiner  Lehre 
vom  Beiclie  Gottes  und  seiner  Sendung  wichtig  gewesen  ist  „Jetzt% 
meint  Lesiing,  „sd  es  zor  Erkemrang  der  Wahriieit  dieaer  Lehr« 
nieht  mehr  ao  wichtig."  Daa  Nene  Testament  war  daa  aweite,  hOere 
Elementarbneb  flr  daa  Menacbengeechlechtt  nnd  ea  Ueibt  einatweüen 
die  beste  Gnmdlage  fttr  die  reUgiOae  Erziehong  der  Jagend  and  der 
Volker,  wenn  andi  die  Aofhsaangen  dea  Bdialtea  oft  weit  aoseinander 
gehen  nnd  nnn  adt  bald  2000  Jahren  die  efaristliche  Welt  theila  ge- 
hoben, theüa  entaweit  haben. 

Daa  Vorstehende  paast  ganz  wol  an  nnserem  Thema,  bd  dem 
wir  sowol  die  Saehe  als  auch  die  Methode  im  Ange  haben.  Es  ist 
natürlich  nnr  eine  gewisse  Ähnlichkeit,  die  zwischen  der  Entwickelung 
des  einzelnen  Menschen  und  derjenigen  der  Menschheit  besteht,  allein 
wir  dürfen  diese  Ähnlichkeit  bei  der  geistigen  Ausbildung  nicht  anBer- 
acht  lassen,  am  wenigsten  bei  der  religiösen  Erzidiong.  Es  wäre 
eine  Sünde  wider  den  heiligen  Geist  —  des  Kindes,  wenn  man  in  den 
ersten  Lernjahren  ihn  behelligen  wollte  mit  den  Lehrmeinungen  (Dog- 
men) der  Theologen.  Ebenso  sollen  Eltern  und  Lehrer  den  jungen 
Menschen  einstweilen  mit  confession eilen  Dingen  verschonen.  Die 
Gewöhnung  zu  Pietät  und  guter  Sitte  kann  nicht  früh  genug 
begonnen  werden,  aber  der  Einführung  in  eine  Religionsgesellschaft 
(Kirche)  und  ihre  Glaubenssätze  muss  ein  geschichtlicher  Unterricht 
vorausgelien ,  wie  er  für  die  Jugend  sich  eignet.  Das  Kind  hat  für 
die  gesellschattüchen  Gestaltungen  und  Vereinigungen  im  Leben  weder 
ein  Interesse  noch  ein  Verständnis.  Gibt  man  dem  Kinde  doch  auch 
erst  Milch  und  nicht  Fleisch,  und  zum  Lesen  erst  einfache  Geschichten, 
den  Robinson  u.  dergl.,  nicht  aber  den  „Faust".  Die  Lehre  von  Mein 
nnd  Dein  gehört  in  die  Volksschule,  aber  nicht  die  Jnrispmdenz; 
ebenso  Kenntnisse  aos  der  Natnrknnde,.  aber  nieht  Natnrphüosophie; 
aidi  daa  Zeichnen,  aber  nichtEnnatgienÄidite;  ebenso  SpiMhftbangen, 
aber  nieht  Philologie.  In  gleichem  Verhlltniase  stehen  religidae  nnd 
sittliche  BegriffB  snr  Theologie  nnd  snm  kirchlichen  Dogma,  wie  ihn 
dar  Katedriamna  bietet. 

Viele  haben  eine  nnnOthige  Farcht  vor  den  Folgen  der  Ent» 
wickehmgstheorie  Darwins,  Haeckels  n.  a.  Keine  Wissenschaft,  ins- 
besondere aber  die  Anthropologie,  Philosophie  nnd  Theologie  wird 
sich  den  Oonseqnenaen  dieser  neuen  Lehren  entliehen  können.  Am 


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mdsten  wehren  sich  die  Theologen  dagegen.  .  Unleugbar  hat  dieee 
Lehre  auch  dnen  Einfluss  auf  den  Religionemiterricht,  aUein  der 
Jugendmitenicht  hat  nichts  mit  der  natdrlichen  SchOpfungslehre 
oder  der  monistischen  Ethik  zn  schaffen.  Eine  richtige  Pftdagogik 
mnss  wissen,  was  für  die  Jngend  gehört  und  was  Sache  der  Wissen- 
schaft ist  Niemandl  sagt  Canieri,  denkt  daran,  den  Darwinismos 
unter  die  G^egenstlode  der  niederen  Scholen  an&oneihmen,  in  die  yer- 
nnnftgemftß  kein  Gegenstand  gehört,  der  eine  höhere  Ansbfldimg 
voraussetzt. 

Diese  pädagogische  Einsicht  haben  die  kirchlichen  Religionslehrer 
bisher  nicht  gehabt,  denn  seit  Jahrhunderten  sind  die  theologischen 
Lehitneinungen  in  den  Händen  unserer  Kinder.  Der  Katechismns 
war  fast  die  einzige  Grundlage  für  den  Religionsuntemcht.  Fertiges 
hat  man  den  Kindern  eingegeben,  ohne  zu  bedenken,  dass  aus  ge- 
bratenen Eiern  keine  Küchlein  kommen,  dass  man  Meld  nicht  säen 
kann.  Selbst  katholische  Pädagogen  haben  dagegen  geeifert,  z.  B. 
Overberg  nennt  das  mechanische  Auswendiglernen  des  Katechismus 
eine  uiiiiiitze  und  schädliche  Plagerei  (vgl.  Kellner,  Ei-ziehungsge- 
schichte  2,  HU)).  Man  frage  in  Städten  und  Döifern,  welchen 
Schrecken  das  Buch  eingeflößt  hat,  und  wie  nachhaltig  der  Widerwille 
gegen  das  Auswendi^'lernen  der  theologischen  Lehrmeinungen  (denn 
das  sind  die  ,. Dogmen'  )  ist.  Sogar  die  Herren  in  den  Unterrichts- 
behörden haben  ein  solches  Einsehen,  dass  sie  bei  Lehrplänen  selten 
über  die  obligaten  zwei  Stunden  hinausgehen.  Sie  wissen  ja  selbst  aus 
eigener  Erfahmng,  wie  saaer  der  Jugend  diese  mechanische  Arbeit 
wird.  Wir  fragen  nun:  Wird  das  im  Interesse  der  Jngend  nnd  der 
wirklichen  religiösen  Bfldung  nicht  bald  anders  werden?  — 

Vor  mehr  als  60  Jahren  hörte  ixdi  schon  «inen  Prediger  in  der 
WQste.  Der  war  Diesterweg,  damals 'nodi  in  seinem  „stillen  Hörs^ 
Der  nnp&dagogische  Dogmatismns  Uieb  vor  wie  nadi  in  katholischein 
wie  in  protestantischen  Schnlen.  Leider  mnss  der  Geschichtskenner 
bestfttigen,  dass  selbst  seit  dem  großen  Geistesprocesse  der  Zeit 
Walihen  yon  der  Vogelweide  (im  iS.  Jahrhundert)  und  der  deutschen 
Beformation  (im  16.  Jahrhnndert)  die  dogmatische  Machtform,  in  weldie 
Innocens  HI.  die  Menschheit  bannte,  zwar  gelockert,  aber  noch  heute 
nicht  übeiwnnden  ist  Dieser  langsame  Gang  der  Menschenerziehong 
scheint  eben  anch,  um  christlich  zn  reden,  im  Rathe  der  Yorsehnng 
beschlossen.  Sie  scheint  in  Natur  nnd  Geschichte  von  jeher  zwei 
Mächte  zuzulassen,  die  einander  bekämpfen,  und  aus  diesem  Kampfe 
geht  die  VervoUkommnong  hervor,  deren  sich  die  Menschheit  bereits 


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erfreut.  Die  staatliche  Gesellschaft  wie  die  Schule  haben  immer  gegen 
rftekläufige  Elemente  zu  kämpfen,  die  bald  die  Oberhand  haben,  bald 
imterliegwi.  Die  Zeit  te  Soheiterliaiifen  ist  yorftber  und  die  Waffen 
sind  andere  geworden.  Beide  TheiLe  kOsnen  sich  «nf  die  Antoritit 
Christi  stfttsen,  der  sagt  (Ey.  Matth.  10,  35):  „Ihr  sollt  nieht  meinen, 
dass  ich  gekommen  sei,  Frieden  ra  bringen  auf  Erden.  Ich  bin  nieht 
gekommen,  Frieden  an  bringen,  sondern  das  Schwert** 

Dieses  Schwert  hat  ein  Henschenalter  bindnreh  auch  Diesterweg 
geschwungen  im  Interesse  eines  yemOnftigen,  pftdagogischen  Beligiqns- 
nnteniehtes  fttr  die  Jagend,  nnd  wir  dtlrftn. nicht  aofhOrea,  diesen 
Kampf  fortzusetzen.  Der  Staat  wird  in  seiner  Weise  sich  wehren, 
aber  ohne  ihn  kfimpft  die  Schnle  yergebens.  Beide  haben  gemeinsame 
Interessen. 

In  npiipstcr  Zeit  hat  man  in  Österreich  viel  darüber  verhandelt, 
ob  sechs-  oder  achtjährige  Schulpflicht.  Das  ist  nicht  einmal  die 
Hauptsache.  Schon  Diesterweg  hat  1851  in  den  „Rheinischen  Blättern" 
den  Religionsunterricht  als  die  Haupt-  und  Lebensfrage  der  Schule 
bezeichnet;  „in  ihm  ist  die  Zukunft,  die  Wirksamkeit,  die  Stellung 
und  die  Bedeutung  der  Schule  beschlossen".  Es  ist  dies  der  Schwer- 
punkt der  Emancipationsfrage,  dit^  zusammenhängt  mit  der  Frage,  ob 
die  Schule  confessionell  sein  soll  oder  nicht.  So  lange  die  Volksschule 
conf'essionell  ist,  also  so  lange  der  Religionsunterricht  der  öffentlichen 
Volksschule  in  den  Händen  der  Kirchenpartei  bleibt,  wird  die  Schule 
nicht  frei  sein.  Das  we  iden  nicht  blos  Deutschland,  Fraukieich  und 
Belgien,  sondern  auch  andere  Staaten  bald  einsehen. 

Der  Dogmatismus,  der  die  Spaltung  in  der  Christenheit  verur- 
sacht hat,  niuss  wenigstens  vom  Jugendunterrichte  fem  bleiben.  Man 
sehe  sich  nur  den  Inhalt  nnsei'er  Katechismen  an,  den  „Heidelberger" 
mit  eingeschlossen,  und  frage  sich,  ob  diese  Speise  fttr  die  Jagend 
yerdanlich  ist*)  Der  Kern  der  ehristlichen  HeUslehre  lieBe  sich  auf 

•)  Der  „Heidelberger"  beginnt  ohne  weiteres  mit  der  Frage:  „Was  ist  dein 
eini(;rer  Trost  im  Leben  und  im  Sterben?"    Dann  folgt  gleich  die  fertige  Antwort 
*  —  zum  Auswendiglernen!   Vgl  den  Xleinen  iLatechiamus.   Wien,  Scbnlbttcher- 
veiiag  1880. 

Anstatt  dem  alebealihiigw  Kindern  die  BnehnAing  der  Welt,  du  Leben  Jesa  etc. 
in  Knlhfamgen  m  fobea,  ifaidfla  wir  nur  Fragen  und  Aatwortan  sum  Annrendig- 

lernen,  z.  B.: 

Frage:  Waa  sind  die  EngelV 

Antwort:  Die  Engel  sind  reine  Geister,  welche  Ventnnd  nnd  Willen,  aber 
keinn  Leib  haben. 

Frage:  Wanun  wird  Jenu  der  Sohn  Gottei  genannt? 


r 

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ein  kleines  Blatt  schreiben.  Wenn  —  wie  es  in  Grimms  Kleinen 
Schiilteu  1,  218  heißt  —  ^wenn  einmal  die  gesammte  katliulische  und 
protestantische  Kirche  ilir  (Tlaubens-  und  Sittengesetz  auf  eine  geringe 
Zahl  einfacher  Gebote  beschränken  wollte*)  und  darüber  hinaus  jeden 
Menschen  mit  sich  selbst  und  seinem  Gewissen,  wie  es  die  duldsamen 
Alten  thaten,  fertig  werften  liefie,  so  brauchte  sie  nicht  länger  Pro- 
seliten za  werben,  nicht  mehr  Liebe  und  Hass  ans  demselben  GeOfie 
sa  gießen.^ 

Auch  Emannel  Geibel  klagte,  dass  Religion  zur  Theologie  ge- 
worden sei  nnd  die  Besten  entfremdet  habe.  Er  gibt  daher  den  Rath: 

„Wollt  ihr  in  der  Xizolie  SchoB 

Wiflrr  die  Zerstreuten  samraelo, 
Miiiht  die  Ptorten  breit  und  ^oß, 
Statt  sie  selber  zu  verrammeln.  " 

Die  persönlichen,  ztim  Theil  gelegentlichen  Mittheilangen  der 
Ältesten  Zeugen  des  diristenthums,  wie  sie  im  Neuen  Testamente  Yor- 
liegen,  enthalten  keine  systematisch  geordnete  „Glanbenslehre*'.  I>aza 
wurden  die  Berichte  nnd  Briefe  erst,  als  die  Kirche  ans  ihnen  die 
Bekenntnisformehl  ao&tellte,  die  dann  als  „Eirchenlehre*'  galten,  aber 
dem  einiSBichen  apostolischen  Christenthum  wenig  mehr  Ahnlieh  sahen. 
Dagegen  erhob  sich  eine  Beaction  schon  in  der  Vorreformation  (P. 
Waldus,  Wielif,  Huss),  am  wirksamsten  durch  Luther  mit  seiner  offenen 
Bibel  in  der  Hand.  Bald  trat  aber  aueh  in  der  evangelischen  Kirche 
die  neoformulirte  Eirchenlehre  in  den  Vordergrund:  das  lutherische 
Dogma  als  abgeschlossenes  Gegenstück  zu  der  römischen  Kirchenlehre. 
Wir  erinnern  nur  an  die  Lehrartikel  der  Augsburgischen  (}onfession 
im  Gegensatze  zu  den  Tridentinischen  Beschlüssen.  Das  gab  nun  Stoff 
für  die  Katechismen.  Der  Heidelberger  oder  Pfälzer  Katechismus 
wurde  1562  verfasst  und  ist  so  mit  Inhalt  und  Form  bis  auf  unsere 
Tage  unverändert  gebliebon.  Auf  der  anderen  Seite  verfassten  die 
Jesuiten  (Canisius)  ähnliche  Lehrmittel  zum  Frommen  der  lieben 
Jugend.  Die  „Religion"  wurde  jahrhundertelang  fix  und  fertig  dem 
Gedächtnisse  eingegossen,  und  dagegen  hat  die  Pädagogik  schon  lange 
Protest  eingelegt  und  zwar  nicht  blos  gegen  die  Form  und  Methode,  ' 
sondern  auch,  im  F.iirklange  mit  der  neueren  Schriftforschung,  gegen 

Ajitwot:  WoQ  V  tob  wriam  h&maliB^ai  Vater  von  Bwigkeit  hör  gaimget  iit 

Frage:  Wie  nennt  man  diejenigen,  ^reiche  Jesu  Chzüti  Lehre  tekmea? 
Antwort:  Die  nennt  man  katholische  Christen. 
Demnach  wären  alle  germanischen  Vülker  kathoiiscbe  Ckristen! 
*)  Man  7gL  auch  „Pfiedagogiom"  1880  im  1.  Hefte  S.  88,  tsmer  8.  Heft 
&  148%.,  NoTember  1888  &  100  iL  «.  0. 


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den  Inhalt,  der  ala  „von  Gott  eingegebene"  Offenbarung  dargestellt 
wird. 

Zar  Beligion  und  Sitte  moss  der  junge  Mensch  erzogen  werden. 
Soü  er  lam  Beoken  angeleitet  werdeii  so  daxf  maii  ilim  nichts  Feiv 
tiges,  Abgeschlossenes  bieten.  Zum  Thnn  Icann  Jemand  gezwungen 
▼erden,  aber  nicht  som  Qlanben.  Nor  die  Mtm  und  der  Staat 
schreiben  Gesetze  vor,  nnd  diesen  hat  sich  der  Mensch  als  Kind  nnd 
später  als  Mitglied  des  Gemeinwesens  unbedingt  zn  fftgen.  In  religiösen 
und  geistigen  Dingen  ist  dies  anders.  £3n  von  Theologen  an^sesteUtes 
Dogma  kann  nicht  verbindlidi  sein,  das  beweist  schon  der  Name.  Das 
griechische  Wort  dokeo  heiltt:  ich  meine,  wihne;  Dogma  beieicluiete 
orsprllnglich  die  tfeinnng,  den  Lehrsats  eines  griechischen  Philosophen. 
Wenn  nun  in  päpstlichen  Concilien  durch  Beschlnss  etwas  angenommen 
wurde,  so  folgt  daraus  nicht,  dass  alle  nicht  clericalen  Glieder  der 
Kirche  dies  als  das  einzig  Kichtige  and  Wahre  annehmen  müssen. 

In  einer  zeitgemäßen  Schrift  von  Bähring  („Die  Reform  des 
christlichen  Religionsunterrichtes'*)  lesen  wir  folgende  bemerkenswerte 
Stellen:  „Christus  hat  keine  dogmatischen  Lehrvorträge  gehalten,  die 
dai-auf  angelegt  gewesen  wären,  gewisse  Lehrsätze  zum  Gegenstand 
verstandesmäßiger  Erörterung  zu  niacheu  und  dem  Gedächtnis  ein- 
zuprägen, wie  es  die  Rabbiner  mit  ihren  Satzungen  thaten.  —  Ver- 
schiedene Ursachen  wirkten  in  der  Folge  zusammen,  um  das  priester- 
liche Bewusstsein  der  Gemeinden  zu  unterdrücken  und  die  anfangs 
aus  den  Gemeinden  durch  freie  Walil  hervorgejs^angenen  Ältesten  und 
Vorsteher  zu  einem  Standespriesterthum  zu  erheben,  das  im  Wider- 
spruch mit  dem  Vorbild  und  den  Weisungen  der  Apostel  (2.  Korinth. 
1,  24;  1.  Petr.  5,  1 — 4)  als  Mittleramt  zwischen  Christus  und  der 
Gemeinde  den  Glauben  zu  Dogmen  formulirle/* 

Auch  die  Reformation  ist  auf  halbem  Wege  stehen  geblieben, 
denn  auch  der  Protestantismus  zog  durch  seine  Bekenntnisschriften 
der  Glaubens-  und  Gewissensfreiheit  bestimmte  Grenzen,  obwol  bei 
weitem  nicht  so  enge  wie  die  päpstliche  Kirche.  Wir  sehen  dies  in 
'  den  TielfiMh  veralteten  Confessionskatechismen  (dem  Lutherischen  nnd 
Heidelberger). 

Die  evangeUsche  Kirdie  ist  wol  am  ersten,  imstande  mit  einer 
Beform  Toranzngehen,  d.  i  znr  HersteUong  eines  Uber  die  Schranken 
des  Gonfessionalismns  hinansreiGhenden,  allgemein  dnistUchen,  anf 
einen  in  wahrer  Kenschenliebe  thätigen  Glanben  hinwirkenden 
BeUgionsmiterrichtes.  »Was  will  man^  sagt  der  oben  erwähnte 
Bähring,  „die  Jagend  noch  mit  Bekenntnisformetal  plagen,  die  selbst 


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so  conservativ  gesinnte  Theologen  wie  Palmer  niolit  mehr  festhalten 
können,  wenn  sie  elnlich  sein  wollen?  Begreift  man  nicht,  dass  ein 
solcher  Unterricht  in  sittlicher  Bezir4uing  sogar  verderblich  wirken 
kann?  —  Der  Mensch  wird  nicht  als  Lutheraner  oder  Katholik, 
sondern  als  Mensch  geboren  und  tritt  durch  die  Taufe  nicht  in  eine 
besondere  Oonfesdon,  sondern  in  den  allgemeinen  Bund  der  Christen- 
heit«eiii.'' 

Die  Schule  ist  Henschenbildungsanstalt,  die  Kirche  GJanbens- 
gemeinschaft.  Beide  haben  also  verschiedene  Aufgaben.  Eine  spe- 
cielle  Angabe  des  Inhaltes  für  einen  pädagogischen  Beligions- 
unterrieht  behalte  ich  mir  fftr  eine  spätere  Abhandlung  yor. 


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Die  alten  Glasfiiker  anf  den  preußischen  Oyinnasien.  * 

Fortsetzung.*) 

Von  BeektgoMpalt  Ihr.  Otto  von  IMhmanHrQrcifnoaid. 

CjTegen  die  in  meiner  ersten  Abhandlnngf  über  diesen  Gegenstand 
gemachten  Vorjichläge  sind  von  manchen  Philologen  Einwendungen 
erhobeD,  welche  sich  hauptsächlich  darin  concentriren,  dass  für  einen 
lateiniflchen  Dichter  wöchentlich  eine  Schulstunde  nicht  genüge,  sondern 
zwei  Standen  wöchentlich  unumgänglich  nOthig  seien,  ind  dass  der 
Sophokles  im  griechischen  Urtext  duidiaiis  nicht  fbrtMen  dflrfe. 
Hiergegen  mOchte  ich  nodi  einige  Gründe  Yorbringen  nnd  sngleich- 
eyentoeUe  VeimittelungsvorschlAge  machen. 

Feiner  ist  beim  Entwarf  des  Lehrplans  für  unsere  Oymnasien 
.  nicht  berttclDBichtigti  dass  ein  groter  Bmchthefl  der  SchOler  nnr  ein 
Jahr  in  der  Seeonda  sitst  nnd  dann  das  Oymnasiam  ginzlich  verUsst» 
weil  diese  Zeit  genügt,  nm  ihnen  das  Becfat  nun  eiigahrig-freiwil- 
Ugen  MilitSrdienst  zn  geben.  Dies  mnss  beim  Lehrplan  berücksich- 
tigt werden. 

Endlieh  halte  ich  für  dringend  nothwendig,  dass  bei 
unserem  Gymnasialunterrichte  auf  Weltgeschichte,  be- 
sonders vaterländische,  und  auf  deutsche  Sprache  weit  mehr 
Gewicht  gelegt  werde  als  bisher. 

Diese  drei  Punkte  sind  es,  welche  mich  veranlassen,  zu  meiner 
ersten  Abhandlung  über  die  alten  Classiker  anf  den  prenßtBchen  Gym- 
nasien noch  diese  Fortsetzung  hinzuzufügen. 

Üie  lateinischen  Dichter. 

Der  größte  Fehler  im  Lehrplan  unserer  preußischen  Gymnasien 
besteht  dai'in,  dass  die  Schüler  viel  zu  früli  mit  der  Lectiire  der  la- 
teinischen Dichter  beginnen  und  viel  zu  viel  Zeit  auf  die  lateinischen 
Dichter  verwenden.  Die  lateinische  Poesie,  welche  auf  uns  gekommen 
ist  ist  ja  nicht  aus  dem  Sinn  und  dem  Herzen  des  römischen  oder 
des  italischen  Volkes  selbstkräftig  und  naturwüchsig  herausgewachsen, 

«)  YffL  Jahig.  XI,  617  ff.  D.  B. 

« 

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sondern  ist  mit  einziger  Ausnahme  der  Satjrren)  nur  Nachahmung 
der  griechischen  Dichter.  Die  lateinische  Poesie  ist  eine  Treibhaus- 
pflanze. Wenn  ich  einen  Schüler  ülier  ein  Land  unterrichten  will 
und  ich  richte  meinen  Vortrag  zum  großen  Theil  auf  diejenigen 
Pflanzen,  welche  in  jenem  Lande  nur  in  Treibhäusern  wachsen,  so 
bekommt  der  Schüler  eine  ganz  verkehrte  Vorstellung  von  jenem 
Lande.  Ebenso  wenn  fast  ein  Drittel  der  lateinis(  lien  Leetüre  auf 
den  preußischen  Gj'mnasien  in  der  lateinischen  Poesie,  diesei-  Treib- 
hauspflanze, besteht,  so  bekommt  der  Schüler  eine  ganz  verkehrte 
Vorstellung  von  der  lateinischen  Sprache  und  von  dem  römischen 
Volke.  Das  römische  Volk  war  keine  poesievolle  Nation.  Es  steht 
ja  in  der  Entwickelung  der  Rechtswissenschaft  allen  Nationen  voran 
und  hat  überhaupt  im  praktischen  Geschäftsleben  Ungeheures  ge- 
leistet Aber  die  lateinische  Poesie  hat  sich  weder  ans  dar  eigenen 
Natnr  des  rOmlsehea  Ti^IkM  «itwiekielt,  noch  einen  maßgebenden  oder 
andi  nnr  erheblichen  Einflnss  auf  die  Entwickehuig  des  römischen 
Lebens^  des  rOnusehen  Denkens  nnd  Empfindens  ansgettbt 

Ich  Terkenne  dnrcbans  nicht  die  große  Knnst,  welche  sich  in  den 
lateinischen  Diditnngen  zeigt  Während  Homer  ans  dem  miindlicben 
Vortrag  die  Freiheit  ttberfcommen  hat,  in  dnzehien  Silben  bal^  lange» 
bald  knrae  Vocale  an  gebranchen,  nnd  ihm  der  Versban  dnrch  manche 
kleine  Fkffükelchen  sehr  erieichtert  wird,  so  mnss  der  lateinische 
Dichter  sich  ohne  ^«se  HiUunittel  helfen.  Er  wird  daher  hluflg  in 
die  Nothwendigkeit  versetzt,  des  Versbaus  halber  eine  gezwungene 
Wortstellung  vorzunehmen  und  einen  Ausdruck  zu  wählen,  welchen 
er  sonst  wol  nicht  gewählt  hätte.  Aber  die  gi-oße  Kunst,  mit  welcher 
der  lateinische  Dichter  diese  Schwierigkeiten  überwindet,  sieht  der 
Tertianer  oder  der  üntersecundaner  noch  nicht  ein.  Solcher  jugendlicher 
Schüler  erhält  nui*  den  Eindruck,  dass  Ovid  oder  Virgil  mit  großer 
Kunstfertigkeit  die  einzelnen  Wcirter  in  den  Vers  hineingeklemmt 
und  ihm  damit  die  Mühe  bereitet  habe,  die  einzelnen  Vocabeln 
nun  wieder  zusammenzusuchen,  wie  sie  im  Satzbau  zu  einander  ge- 
hören. Schon  Lessiug  in  einem  seiner  kleinen  Gedichte  bemerkt  spot- 
tend, die  Lehrer,  welche  mit  kleinen  Knaben  den  Ovid  lesen,  zeigten 
dadurch,  dass  sie  selbst  den  Ovid  nicht  verständen.  Aber  diese 
scharfe  Benierkuug  Lessings  hat  bis  jetzt  leider  nichts  genutzt. 

In  vieleu  philologischen  Kreisen  gilt  es  für  ersprießlich,  wenn  der 
junge  Philologe  schon  eine  Bekanntschaft  mit  möglichst  vielen  alten 
Qassikern  auf  die  Universität  mitbringt.  Diese  Rücksicht  hat  auf 
den  Lehrplan  unserer  Gymnasien  stark  eingewirkt,  obgleich  kaum  ein 


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Fünftel  von  den  Schülem  unserer  Gymnasien  später  Philulugie  stii- 
diren.  Ferner  hat  auf  den  Lehrplan  auch  wol  eingewirkt  der  un- 
glückselige Ehrgeiz,  die  Schüler  ,.recht  weit  zu  bringen"  und  selbst 
die  schwersten  Classiker  mit  ihnen  schon  auf  der  Schule  zu  lesen.  So 
ist  denn  die  Leetüre  der  alten  Classiker  auf  unseren  Gymnasien  all- 
zusehr in  die  Breite  getrieben.  Und  weil  unter  den  lateinisclien  (las- 
sikern  die  Dichter  natüilich  am  scliwersten  sind,  so  liält  man  darauf, 
ja  schon  recht  früh  den  Schüler  mit  den  lateinischen  Dichtem  be- 
ginnen zu  lassen.  Und  so  wird  denn  schon  der  Tertianer  dam  ab- 
gerichtet, daas  ee  den  Ovid,  den  er  nfclit  yenteht^  wenigstens  noäi- 
weise  übersetzen  kann.  Und  dem  ünterseenndaner  ergeht  es  geradeso 
mit  dem  Virgil. 

Ich  meine  nun:  Unsere  Gymnasien  dfirfen  keine  Uofien  Vor- 
sdralen  flr  eine  einzelne  Facnltttt  sein.  Noch  viel  weniger  dOtfen 
die  SchUer  eine  einseitige  oder  gar  schiefe  Aosbildnig  erhalten,  ledig- 
lich in  der  Hoffinmg,  daas  bei  demjenigen  SchtUeni,  welche  apftter 
Philologie  atndirent  deivinat  in  höheren  Stndiensemeatem  die  Sadie 
ins  Gleichgewicht  kommen  ymöa.  Das  Gymnaalnm  aoll  eine  aUge- 
meine  Ansbildong  für  das  Leben  geben,  mag  der  Schiller  sich  später 
einer  der  yier  Facoltäten  zuwenden,  oder  mag  er  von  der  Schule 
direct  ins  praktische  Leben  eintreten.  Der  Lehrplan  des  GymnasiamB 
muss  also  einen  AbschloflS  in  sieh  selber  haben.  Das,  was  dem 
Schüler  gelehrt  wird,  muss  schon  auf  der  Schale  selbst  dem  Schüler 
in  Fleisch  und  Blut  übergegangen  sein.  Ob  dieser  Zweck  erreicht 
ist,  dafür  ist  der  beste  Prüfstein  der,  ob  der  Schüler  auf  der  Schule 
die  Wissenschaften  so  lieb  gewonnen  hat,  dass  er  auch  später  sich 
mit  ihnen  beschäftigt,  ohne  durcii  sein  sogen,  iirodstndium  dazu  ge- 
zwungen zu  sein.  Und  da  dies  fost  durchgängig  nicht  der  Fall  ist, 
so  muss  der  Umfang  des  zu  Lt  In  enden,  insbesondei  e  die  Anzahl  der  zu 
lesenden  alten  Classiker  eingeschränkt  werden,  damit  in  diesen  engeren 
Grenzen  das  Wissen  des  Schülers  eine  gewisse  Abnmdung  und  die 
Gesammtausbildung  des  Schülers  einen  gewissen  Abschluss  erhält. 

Nach  dem  ohen  Ausgeführten  wird  im  Verhältnis  zu  der  so  sehr 
wichtigen  lateinischen  Prosa  auf  unseren  Gymnasien  ^iel  zu  viel  Zeit 
auf  die  ja  viel  weniger  wichtigen  lateinischen  Dichter  verwendet.  Aul 
einem  ebenso  unrichtigen  Princip  beruht  es,  dass  mit  den  lateinischen 
Didrtem  vfel  frtther  begonnen  nnd  flberiianpt  der  Schiller  .damit  ykSL 
mehr  besolUUtigt  wird,  als  mit  den  griechisehen'  Diehtern,  Ton  denen 
die  lateiniadie  Poesie  doch  nur  eine  Nachahmung  ist  Diese  viele  nnd 
anhaltende  Beschftftigong  des  Schttlers  mit  der  lateinischen  Poesie  be- 


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ruht  also  nach  zwei  Riclitungeu  iiiu  auf  einem  unrichtigeu  Princip,  Tiiim- 
lich  sowol  im  Vergleicli  mit  der  lateinischen  Prosa  als  auch  im  Vergleich 
mit  der  griechischen  Poesie.  Mit  der  lateinischen  Poesie  wird  der  Schüler 
aber  sechs  Jahre  hindurch  wöchentlich  zwei  Schulstunden  beschäftigt; 
und  außerdem  erfordert  ja  gerade  der  Dicliter  eine  besonders  müh- 
same und  zeitraubende  Präparation.  Indem  also  ein  so  bedeutender 
Theü  von  der  Arbeitskraft  des  Schülers  nach  einem  unrichtigen 
Princip  verwendet  "wird,  dadurch  ist  der  ganze  Lehrplan  unserer 
Gymnasifiii  in  eine  aeliiefe  Lage  gerathen. 

Insliesondere  dem  Tertianer  bringt  der  (Md  nidit  nur  viel  MOhe 
und  ZeitveilQBt)  olrne  ilun  za  nlltKen;  sondern  der  Ovid  Inlngt  iJim 
sogar  positiven  Schaden.  Denn  die  Beschftftigang  mit  diesem  Dicliter, 
wddien  der  Tertianer  nicht  versteht,  gibt  seiner  Ausbüdnog  etwas 
Yersohntbenes  nnd  erschwert  es  aofierdem  dem  Tertianer,  in  der  la- 
teinischen  .Grammatik  sich  einige  Sicherheit  anaoeignen.  Von  den 
beiden  Schnlstonden,  welche  jetst  in  Tertia  wöchentlich  auf  0vid  ver- 
wendet werden,  will  ich  mne  anf  Nepos  verwenden,  so  dass  der  Ter* 
tianer  im  Sommersemester  noch  eine  Nepos-Stnnde  mehr  bekommt,  als 
nach  meinem  früheren  Vorschlage,  und  er  im  Wintersemester  neben 
dem  Caesar  eine  Stunde  wöchentlich  Nepos  liest.  Ich  lege  ein  sehr 
grofles  Gewicht  darauf,  dass  schon  der  Tertianer  soweit  kommt,  den 
Nepos  ohne  sonderliche  Mühe  lesen  zu  können.  Denn  in  dem  Zeit- 
punkte, wo  der  Schüler  den  ersten  lateinischen  Schrift- 
steller, wo  er  seinen  Nepos  ohne  sonderliche  Mühe  lesen 
kann,  da  beginnt  er  die  lateinische  Sprache  liebzugewinnen 
und  sich  in  ihr  heimisch  zu  fühlen:  er  fülilt  sich  als  Lateiner. 
Es  ist  ein  arger  Fehlet-  unserer  meisten  Pädagogen,  dass  sie  mit  den 
Schülern  stets  nur  solche  Schriftsteller  lesen  wollen,  welche  dem 
Schüler  schwer  werden.  Da  muss  ja  die  lateinische  Sprache  dem 
Schüler  zum  Ekel  werden.  Da  ist  es  ja  natürlich,  dass  er  die  latei- 
nischen Klassiker  beiseite  wirft,  sobald  er  ii-gend  kann  und  darf. 
Nicht  nur  in  Tertia,  sondern  auch  in  Secnnda  und  Prima 
muss  der  Schüler  neben  den  lateinischen  Classikern,  welche 
ihm  sauer  werden,  stets  auch  einen  lesen,  welcher  ihm  leicht 
wird;  nnd  dam  eignet  sich  am  meisten  deijenige  SchriftsteUer,  in 
welchen  er  in  der  vorhergehenden  Glasse  sich  eingelesen  hat  Übrigens 
Nepos*  Leben  des  Atticos  wird  anch  noch  der  Secondaoer  mit  Nntawn 
lesen,  nnd  er  wird  dadurch  mit  dem  rOmisdien  PrivaÜeben  einiger- 
maiten  bekannt  gemacht  werden.  Wenn  der  Schiller  sich  in  efaien 
Schriftsteller  eingelesen  hat,  dann  boH  er  ihn  nicht  beiseite  legen. 


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Denn  erst  dann  beginnt  dessen  Lectüre  ihm  den  haui)tsächlii"hsten 
Nutzen  zu  bringen.  Erst  dann  kann  der  Schüler  den  Inlialt  des 
Schriftstellers  im  Zusammenhange  gehörig  verstehen.  Erst  hei  der 
wiederholten  Lectllre  des  schon  Gelesenen  prägen  sich  die  Rede- 
wendungen und  Vocabeln  gehörig  ein;  und  der  Schüler  bekommt  da- 
durch eine  ganz  andere  Vocabelkenntnis  und  Sprachkenutnis. 

Auch  in  Untersecimda  will  ich  noch  keinen  lateinischen  Dichter 
didden,  sondern  erat  in  Obenecimda  damit  beginnen.  Wo  abo  die 
ganze  Seconda  zusammen  "  in  demeelben  Classenlocale  onterriehtet 
wild,  da  dürfen  di^enigen  Schtttar,  welche  noch  kein  Jahr  in  der 
Seconda  gesessen  haben,  an  der  LectOre  des  lateinischen  Dichters 
nicht  theibiehmen.  Ich  habe  dalllr  folgende  Qrftnde: 

1.  Alsdann  eriiält  der  Schttler  eine  genügende  Sicherheit  in  der 
lateinischen  FMi  nnd  in  der  lateinischen  Grammatik,  bevor  er  mit 
dem  lateinischen  Dichter  beginnt 

2.  Wenn  die  Lecthre  der  lateinischen  Dichter  in  Obersecunda  be- 
ginnt, so  ist  der  Schüler  reif  dazu,  den  Dichter  zu  verstehen.  Und 
drei  Jahre  sind  überreichlich  Su  den  SchÜer  cor  BeschAftigiug  mit 
lateinischer  Poesie. 

3.  Nicht  durch  einen  lateinischen  Dichter  soll  der  Schüler,  in  die 
Poesie  der  Alten  eingeführt  werden,  sondern  durch  einen  griechisehen 
Dichter,  und  zwar  durch  den  Tyrtaios  in  Untersecimda. 

4.  Diejenigen  Scliülei-,  welche  nui*  behufs  Elrlangunj:^  der  C^nali- 
licati(tn  zum  einjährigen  >[ilitärdienst  ein  Jahr  lang  die  Secunda  be- 
suchen, die  sollen  überhaupt  keinen  lateinischen  Dichter  lesen,  sondern 
ihi'e  Arbeitskraft  auf  die  lateinische  Prosa  concentriren. 

Bereit«  im  Eingänge  dieser  Abhandhmg  habe  ich  erwähnt,  dass 
nach  preußischen  Gesetzen  diejenigen  das  Recht  zum  einjährigen  Mili- 
tärdienst erwerben,  welche  das  Gymnasium  soweit  durchmachen,  dass 
sie  ein  Jahr  die  Secunda  besuchen.  Manche  Pädagogen  sehen  in 
diesen  Schülern,  welche  nur  diese  Qualification  erwerben  wollen,  eine 
Last  ftr  die  Gymnasien.  Ich  meine:  der  Fehler  liegt  darin,  daaa  aehon 
in  Tertaa  und  T^nteraeconda  lateinische  Diditer  geleeeft  midka.  Diese 
▼erkehrte  Einrichtu^r  des  Lehriilaiia  Übt  fineüich  ihre  schädliche  Wir- 
kung aoch  anf  die  A^iranten  dea  eii^|ahrigen  Militlrdienates  ans. 
Denn  wdl  dieee  Aapbanten  in  Tertia  und  Unteneennda,  alao  drei 
Jahre  hindoreh,  mit  den  ihaaB  nnveratlBdliehen  lateiniachim  Dichtem 
nntak»  geqaäH  werden,  so  lernen  sie  aoch  ton  der  lateiniaehen  Prosa 
nichts  OrdentUches;  aoaden  waa  aie  Latefaiisdiea  gelent  haben,  daa 
wird  in  ihrem  Kopfe  mm  wüsten  Chaea.  Dagegen  wenn  in  Tertia 


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uud  Uotei'secunda  keine  lateinischen  Dichter  gelesen  würden,  so 
würde  diesen  Militäraspiranten  dei*  Nepos  vollständig  geläufig  und  auch 
Gaesar  und  der  von  mir  besonders  warm  empfohlene  Sallnst  geUlnflg 
werden,  und  ihnen  der  lateinische  Unterricht  zor  Kttmng  und  SchSr- 
ftang  ihrer  AnfGusungefthigkeit  wesentlich  nfltaen.  Andi  dei'  üntisr^ 
rieht  selbBt  ip  den  lateinischen  Dichtem  wOrde  gewinnen,  wenn  jene 
Uüitftrasplranten  nicht  daran  theünAhmen.  Ich  hoffe  daher,  dass  dieser 
mein  Vorschlag  Anklang  finden  wird. 

Dagegen  mOchte  ich  elneii  wöchentlich  zweistündigen  Unterricht 
in  der  Chemie  als  &cnltatiT  ehigeffthrt  sehen,  an  wdchem  jeder  Se- 
cnndaner  und  Primaner,  welcher  dazn  Loat  hat,  theilnehmen  kann. 
Es  würden  dadurch  die  Wünsche  auf  größere  TierücksichtSgang  der 
Naturwissenschaften  wenigstens  theilweise  befriedigt  werden. 

Jetzt  komme  ich  zu  demjenigen  Punkt  meiner  Reformvorscbläge, 
in  welchem  ich  den  lieftigsten  Widerspruch  namentlich  von  Philologen 
erwarte.    Ich  will  in  Obei"secunda  und  in  Prima  den  lateinischen 
Dichter  wüchentlicii  nur  einstündig  lesen-,  und  zwar  in  Obei-secunda 
den  Ovid,  in  Prima  Winters  den  Virgil  und  iSommers  den  Horax. 
Über  die  Noth wendigkeit,  die  Lehrstunden  für  lateinische  Dichter  zu 
verringern,  habe  ich  ja  ausführlich  gesprochen.  Das  praktische  Leben, 
für  welches  ja  doch  die  Schüler  vorbereitet  werden  sollen,  ist  ja  vor- 
wiegend prosaisch,  ja  meistentheils  sogar  gewaltig  prosaisch.  Nun 
hat  zwar  die  Poesie  die  Bestimmung,  uns  Menschenkindern  über 
»manche  Härten  des  praktischen  Lel)eus  leichter  hinwegzuhelfen.  Aber 
wenn  mit  den  Schülern  allzu  viel  Poesie  getrieben  wii'd,  so  bekommen 
sie  eine  ganz  unrichtige  Vorstellung  vom  Leben,  und  es  wird  ihnen 
dadurch  wesentlich  erschwert,  flkb  dereinst  im  praktischen  Leben 
zurechtaufinden.    Wir  mttssen  auf  dem  Gymnasium  weniger 
Poesie  treiben  und  mehr  Weltgeschichte.  Und  es  mun  gerade 
das  Studium  der  lateinischen  Poesie  hesehrinkt  werden.  Denn  durch 
die  giiechiBche  und  deutsche  Poesie  weht  doch  ein  viel  frischerer 
Hauch,  ala  durch  die  lateinische  Poesie.  Auch  bei  den  latolnisGhen 
Dichtem  wttnsche  ich,  dass  lieber  weniger  gelesen,  das  Gelesene  aber 
wiederholt  werde,  damit  wenigstens  etwas  von  der  lateinischen 
Poesie  dem  Schiller  so  geläufig  werde,  dass  er  es  später  ohne  Mtthe 
lesen  kann. 

Filr  den  Fall  nun,  dass  ich  mit  meinem  Vorschlage,  die  latei- 
nischen Dichter  wöchentlich  nur  einstOndig  zu  lesen,  nicht  durch- 
dringe, will  ich  folgenden  Vermittelongsvorschlag  machen: 

In  Obersecunda  und  in  Prima  sollen  die  lateinischen  Dichter 


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—  491  — 


wöchentlich  zweistündig  gelesen  werden;  und  zwar  in  Ober- 
secunda  der  Ovid,  in  Prima  Winters  Virgil  und  Sommei-s  Horaz. 
Aber  die  Schüler,  welche  ein  -Jahr  in  Prima  gesessen  haben, 
brauchen,  wenn  sie  nicht  wollen,  an  der  Leetüre  der  latei- 
nischen Dichter  nicht  mehr  theilzünehmen ;   und  demgemäß 
braucht  auch  beim  Abiturieutenexamen  niemand,  der  nicht  wUl^ 
(las  Examen  in  den  lateinischen  Dichtern  mitzumachen. 
Der  Oberprimaner,  welcher  sich  für  lateinische  Dichter  nicht 
,  interessirt,  würde  alsdann  also  seine  Zeit  anderweitig  anwenden  können. 
*  Und  lllr  den  Unterridit  «iSbet,  ftr  die  LeetQre  d€0  Dichten  iMtarde 
«B  ein  Vortheil  sein,  wenn  in  Oberprima  nur  lanter  Verehrer  des 
Dichten  daran  thdlnfthmen. 

Die  griechischen  Dichter. 
Nicht  dorch  einen  latefaiischen  Dichter,  sondern  durch  einen 
griechischen  Dichter  soll  der  Schttter  muMres  Qymnasianis  in  die 
Poesie  der  Alten  eingeflihrt  werden,  wie  ich  oben  schon  knn  an- 
deutete. Unter  allen  ndr  bekannten  Dichtem  des  Alterthnms  ist 
meiner  Ansicht  nach  keiner,  welcher  sich  hiem  so  sehr  eignet»  wie 
die  wenigen  anf  ans  gekommenen  Lieder  des  Tyrtaios.  Denn  zunftchst 
sind  sie  leicht  zu  lesen,  bis  auf  wenige  abweichende  dorische  Formen, 
welche  dem  Schüler  leicht  bekannt  gemacht  werden  können.  Den 
Tyrtaios  versteht  ein  Untersecundaner  vollständig.  Sodann  haupt- 
sächlich die  patriotisrhe  Tendenz,  der  einfache,  klare  Inhalt,  die  ein- 
fache, schlichte  und  vielleicht  j^orade  deshalb  so  packende  Darstellungs- 
weise und  die  große  historische  Bedeutung  der  Tyrtaios-Lieder  sprechen 
dafür,  mit  ihnen  die  Leetüre  der  alten  Dichter  zu  beginnen.  Ich  ent- 
sinne mich  noch  sehr  wol,  welch  tiefen  Eindruck  schon  damals 
Tyrntaios  auf  mich  machte,  als  mir  während  meiner  Schulzeit  mal  zu 
fällig  eine  Sammlung  alter  griechischer  Lieder  in  die  Hände  fiel  und 
ich  still  für  mich  ein  Lied  des  Tyrtaios  las.  Und  jetzt  in  meinem 
reiferen  Mannesalter  habe  ich  noch  öfter  die  wenigen  uns  erhaltenen 
Lieder  des  Tyrtaios  gelesen,  und  stets  mit  demselben  Interesse.  Die 
von  den  Urvätern  stammende  spartanische  Erziehongsweise,  diese 
strenge,  sehr  einförmige,  ja  sogar  einseitige  Schalung  und  Ausbildung 
der  Spartaner  hat  Tyrtaioe  durch  seine  Lieder  gewissemuJen  ideali- 
eirt  und  dem  Gefthl  seiner  Zeitgenossen  näher  gebracht  Und  somit 
hat  er  gewissemaäen  eine  Brücke  geschlagen  swischen  der  strengen, 
ja  starren  und  abetoftenden  Einseitigkeit  der  Spartaner  und  d^  leichi- 
beweglichen,  vielseitigen,  aniiehenden  Genialität  der  Joner.  T^ntaios, 
den  die  Sage  als  lahmen  Schulmeister  beieichnet,  war  wol  hauptsäch- 

86* 


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—   492  — 


lieh  der  Instructor,  welcher  die  bei  den  Spartanern  von  altersher 
herkömmliche  militftriflche  Ausbildung  des  einzelnen  Mannes^ 
weiter  entwickelte  und  dorch  seine  Lieder  wenigstens  indireet  snm. 
Oiuwiiigat  der  griechiBehen  Nation  machte,  welche  dadnrch  in  den 
Stand  gesetzt  wurde,  die  Schlachten  von  liarathon,  Salamis  nnd. 
Hatää  m  schlagen.  Der  Tyrtaios  soll  nmi  in  üntersecnnda  gelesen 
werden  nnd  den  Schiller,  in  die  Poesie  der  Alten  einfuhren.  Der  alte 
Dickter,  mit  welchem  der  Anüuig  gemacht  wird,  kann  ja  natOrlich 
anftngs  nnr  langsam  gelesen  werden;  aber  hierzu  eignet  gerade  der  ^ 
Tyrtaios  sich  ganz  besonders,  wefl  seine  Lieder  nicht  erzählende» 
sondern  Sinngedichte  sind,  nnd  von  ihnen  schon  kurze  Abschnitte  Ar 
sich  vei*sUindlich  und  fttr  den  Leser  interessant  sind.  Vor  Ober- 
secunda  soll  kein  anderer  antiker  Dicliter  gelesen  werden  als  Tyi-talos. 

Die  Lieder  des  Tyrtaios  sind  offenbar  dazu  bestimmt,  von  allen 
Spartanern  ohne  Unterschied  der  Lebensstellung  oder  Begabung  ge- 
lernt zu  werden,  und  sie  haben  dalier  einen  gewissen  Beigesclimack, 
der  an  eine  preußische  militärisclie  Instructionsstunde  erinnert.  Ge- 
rade deshalb  eignen  sie  sich  besonders  für  die  Untersecunda.  Denn 
das  ist  ja  die  letzte  (.'lasse,  weh'he  von  den  oben  raehrt'ach  erwähnten 
Aspiranten  des  einjährigen  Militärdienstes  besucht  wird.  Es  g\ht  gar 
keinen  antiken  Dichter,  welcher  sich  so  sehr  zur  Vf»rbereitung  auf 
den  Militärdienst  eignet  wie  Tyi'taios.  Wenn  die  Ziiglinge  unserer 
Gymna.sien  später  als  Recruten  gedrillt  werden,  dann  möge  diese 
ebenso  uothwendige  wie  anfangs  unbequeme  militärische  Detailaus- 
bildung ihnen  erleichtert  wei'deu  durch  ihre  Erinnerung  an  die  Lieder 
des  Tyrtaios.  Die  Aspiranten  des  eiiyährigen  Militäi'dienstes  sollen 
also  anf  der  Schule  keinen  anderen  alten  Dichter  lesen  als  den 
Tyrtaios. 

Erst  in  Oberseemida  sott  man  damil  beginnen,  mehr  Zeit  auf  die 
alten  Dichter  in  verwenden.  Erst  in  Obersecnnda  soll  mit  dem  Ovid 
nnd  hauptsächlich  mit  der  Ilias  begonnen  werden.  Unter  allen  Qe> 
singen  der  Dias  sagen  mir  am  meisten  an:  das  dritte  findi  (Teieho- 
skopie)  nnd  das  sediste  Bach  (Hektors  Abschied),  das  neunte  Buch 
(vergeblicher  AnssOhnnngsversuek  zwisehen  Agimenmeli  und  Aehitt) 
und  das  zweiondz wanzigste  fiuch  (Achills  und  Hektors  Entscheidungs^ 
kämpf).  Und  diesen  Geschmack  dürften  sehr  viele  Verehrer  der  Ilias 
mit  mir  theilen.  Ich  winsehe  daher,  dass  diese  vier  Bücher  schon  in 
Obersecnnda  geleeen  und  nachher  mehr&ch  wiederholt  werden.  In 
Prima  sollen  sodann  eben  diese  vier  Bücher  wiederholt  werden  nnd 
auch  andere  Bücher  der  Ilias  gelesen  werden.  Nur  das  dreizehnte 


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—   49S  — 


Buch  (Schlacht  bei  den  Schiffen),  das  siebzehnte  Buch  (Kampf  um  die 
Leiche  des  Patroklos)  und  das  einundzwanzigste  Boch  (Achill  im 
Flosse  Xanthos)  sollen  überhaupt  nicht  gelesen  werden,  weil  diese 
drei  Bücher  sehr  viel  Wiederholungen  enthalten  md  daher  den 
Schüler  leicht  ermüden  könnten.  Es  kommt  mir  aber  gerade  bei  der 
Ilias  ganz  besonders  darauf  an.  dass  der  Schüler  sie  mit  Lust  und 
Liebe  liest.  Die  übrigen  einundzwanzig  Bücher  brauchen  nicht  alle 
gelesen  zu  werden.  Aber  wenigstens  die  ersten  neun  Hiicher,  sowie 
das: sechzehnte  Buch  (Tod  des  Patroklos),  das  neunzehnte  Bncii  (Aus- 
söhnung zwischen  Acliill  und  A£>-aniemnon)  und  das  zweinudzwanzigste 
Buch  fEntscheidungskanipf  zwischen  Achill  und  Hekton  müssen  i,'e- 
lesen  werden.  Der  Ijehii  r  soll  also  soweit  freien  Spielraum  hal)en, 
dass  er  in  Ol)erse('un(la  und  Prima,  also  in  drei  Jahren,  wenigstens 
zwölf  Biiclu  r  Ilias  mit  den  Schülern  lesen  muss  und  höchstens  ein- 
undzwanzig Bücher  Ilias  lesen  darf.  Während  der  ganzen  Schulzeit 
und  anch  beim  Abitnrientenexamen  soll  kein  anderer  griechischer 
Dichter  yorgelegt  werden  dürfen,  als  die  Ilias  (mit  Ansnaime  jener 
drei  Bflcher)  nnd  der  Tyrtaios.  Ich  will  eben  dnrehans  das  Interesse 
der  SchlUer  anf  diese  bdden  grieehischen  Dichter  concentriren. 

Hiermit  komme  ich  wieder  aof  einen  Punkt»  wo  ich  ^en  starken 
Widersprach  seitens  vieler  Philologen  erwarte»  nftmlieh  gegen  die  Ver^ 
hannnng  des  Sophokles  yon  unseren  Gymnasien.  Meine  GrOnde  habe 
ich  ja  bereits  in  meiner  ersfen  Abhandlung  Aber  dieses  Thema  aiis- 
einandergesetst  Obgleich  die  große  Bedeutung  und  die  Schönheit  des 
Sophokles  unbestritten  ist»  so  folgt  daraus  dodi  nicht»  dass  er  in  der 
Ursprache  nun  gerade  anf  dem  Gymnasium  gelesen  werden  muss.  Er 
kann  ja  auch  auf  der  Universität  gelesen  wei*den.  Man  wird  mir  ein- 
wenden» dass  anßer  den  Pliilologen  &st  niemand  auf  der  Universität 
dazu  kommen  werde,  den  Sophokles  griechisch  zu  lesen.  Dies  gebe 
ich  als  wahrscheinlich  zu.  Aber  der  Sophokles  ist  für  die  Schule  zu 
schwer.  Um  dem  Wissen  der  Schüler  eine  gewisse  Abnindung  und 
ihrer  Ausbildung  einen  gewissen  Abschluss  zu  geben.  müs.sen  wir 
namentlich  die  Zahl  der  zu  lesenden  alten  ('lassiker  einschränken  und 
diejenigen  alten  ('lassiker  i^anz  wejrlassen.  bei  welclien  wir  nicht  mit 
Wahrscheinliclikeit  erwarten  kiinuen,  dass  wenigstens  zwei  Drittel 
der  Schüler  sich  so  in  dieselben  einlesen  werden,  dass  sie  auch  nach 
ihrem  Abgange  von  der  Schule  dieselben  noch  ohne  große  Mühe  lesen 
können.  Es  ist  aber  nicht  mal  zu  erwarten,  dass  auch  nur  ein 
\'iertel  der  Schüler  sich  so  in  den  Sophokles  einlese.  Daher  verljleibe 
ich  dabei,  dass  es  am  besten  ist,  den  Sophokles  griechisch  auf  dem 


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Gymnasium  nicht  zu  lesen.  Unsere  (j^ymnasiaUcliüler  lesen  troudeok 
noch  reiclilich  viel  Dichter. 

Für  den  Fall  nun,  dass  ich  diese  Beseitigung  des  Sophokles  auf 
unseren  Gymnasien  nicht  durchsetzen  kann,  will  ich  folgenden  Ver- 
mittelungsvoischlag  machen : 

In  I*rima  darf  Sophokles  gelesen  werden,  jedoch  höchstens  nur 
in  jedem  Wintersemester  eine  Tragödie.    Daran  brauchen  aber 
diejenigen  ScJiiiler  nicht  theilzuuehmeu,  welche  dazu  nicht  Lust 
haben;  und  im  Abitnrientenexamen  darf  Sophokles  überhaupt 
nicht  vorgelegt  werden. 
Der  Primaner,  welchem  der  Sophokles  am  achwer  ist  oder  wdeher 
sieb  fOr  den  Sophokles  nicht  intereeehrt,  wttrde  alsdann  also  seine 
Zeit  anderweitig  anwenden  kOnnen.  Und  fllr  den  Unterricht  selber^ 
für  die  Lectfire  des  Sophokles  würde  es  ein  grofter  VortheQ  sein^ 
wenn  nnr  Umter  Verehrer  des  Dichters  daran  theilnfthraen.  Ich  helfe 
daher,  dass  wenigstens  diesem  meinem  VermittelangsTorschlage  aneb 
viele  Philologen  anstimmen  werden. 

Dentsch  und  Weltgeschichte. 
Auf  Weltgeschichte  oder  anf  deutsche  Sprache  darf  beim 
Gymnasialunterricht  nicht  weniger  Gewicht  gelegt  werden 
als  auf  Lateinisch  oder  Griechisch. 

Insbesondere  auf  deutsche  Prosalectüre  wird  an  wenig  Gewicht 
gelegt.  Der  Lehrer  soll  die  SchQler  anhalten,  namentlich  auch  be> 
stimmte  prosaische  Schriften  unserer  deutschen  Classiker  zu  lesen; 
und  er  soll  diese  alsdann  in  der  Classe  mit  ihnen  durchgehen.  Nächst 
Lessings  Laokoon  würde  ich  hierzu  am  meisten  Platens  Gescliichte 
Neapels  empfehlen.  Platen  versteht  es,  eine  Menge  einzelner  Per- 
sonen und  Ereignisse  so  vorzutragen  und  so  zu  gruppii*en,  dass  wir 
dadurch  ein  Gesammtbild  der  damaligen  Geschichte  Neapels  erlialteu. 
Seine  Darstellung» weise  hat  etwas  Dramatisches  und  erinnert  mich 
lebhaft  an  die  Schreibweise  des  Sallust.  Ganz  besonders  möchte  ich 
noch  auf  das  aufmerksam  machen,  was  Platen  in  der  Einleitung  über 
die  Geschichtschreibung  sagt.  Ferner  sollen  die  Schüler  bestimmte 
Abschnitte  aus  Schillers  und  Goethe's  prosaischen  Schriften  lesen^ 
wozu  ich  besonders  die  historischen  Schriften  empfehle  und  diejenigen, 
weldie  wenigstens  etwas  Historisches  enthalten.  Es  tritt  dadorch  des 
SdiQlen  Aioeit  im  Dentaehen  in  eine  Verbindung  zmn  Geschichts- 
unterricht; die  Arbeit  des  Schfllera  wird  mehr  concentrirt,  nnd  sefn 
Wissen  gewissermafien  abgenmdet  Ebenso  soUen  mit  dem  SchQler 
wenigstens  einaelne  Stellen  ans  Mommsens  römischer  Gesdiichte 


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durchgegangeu  werden,  z.  B.  über  die  Vei-scliiedenlieit  des  National- 
charakters der  (irieclien  und  Römer,  über  die  Eroberung  (Iriechen- 
lands  imd  Macedoniens  durch  die  Römer  und  über  den  römischen 
„Mittelmeerstaat Denn  wenn  auch  Moramsen  etwas  viel  eingescho- 
bene Sätze  hat  und  sein  Periodenbau  zuweilen  etwas  complicirt  ist, 
so  müssen  wir  doch  Mommsen  nicht  allein  zu  den  gi-ößten  Histurikeni 
rechnen,  sondern  sowol  wegen  des  Inhaltes  seiner  römischen  Gej^diichte, 
deren  Bedeutang  und  Wirkung  auf  die  geistige  Entwickelung  der 
deatschen  Nation  ja  unendlich  weit  aber  eine  Fachachrift  hinausieicht, 
als  auch  wegen  seiner  DafSteUungsweise  mfiBsen  wir  Mommsen  mdner 
Ansteht  nach  aoeh  m  nnserai  deotadien  Glassikem  atiden.  Mommsens 
politischen  ParteSaasiehteii  stimme  ich  nicht  bei.  Aber  warm  hat 
midi  anter  anderem  Mommsens  DanteUong  berührt^  wie  im  SoUani* 
sehen  Büigerkriege  Pompcgos  einen  gefiugenea  poUtischen  Gegner, 
einen  durchans  ehrenhaften  Mann,  welchem  noch  daan  Pomp^  selbst 
bei  einer  froheren  Gelegenheit  sein  Leben  zu  danken  hatte,  ans  rein 
selbstsllditigen  Motiven  hinrichten  Usst»  wogegen  Casar  in  seinem 
ganzen  Leben  es  stets  seiner  selbst  und  seiner  alten  Familie  würdig 
erachtet,  empfangene  Wolthaten  niemals  zu  vergessen. .  Mommsen 
legt  dar,  wie  Undankbarkeit  das  Zeichen  eines  gemeinen  Charakters  ist* 
Hauptsächlich  aber  sollen  mit  den  Schttlern  durchge- 
gangen werden  Abschnitte  aus  guten  Geschichtswerken 
über  deutsche  (Teschichte,  insbesondere  ans  den  Sybelschen 
Büchern  Uber  die  Gründung  des  Deutscheu  Reiches. 

Der  Väter  Thaten,  Vaterlands  Gescbick 
Soll  Beupiel  tüx  die  Jugend  lein  und  Lehre« 
Damit  du  Tatniud  fai  Leid  und  0lflek 
Der  guten,  lapftn  SOhne  nie  entbehre. 

Aul'  Weltgeschichte  muss  mehr  Gewicht  gelegt  werden,  und  sehr 
viel  mehr  Gewicht  auf  vaterlftndische  Geschichte.  Über  den  Ge* 
schichtsimteRieht  habe  Ich  bereits  in  meiner  ersten  Abhandlung  aus- 
geitthrt,  dass  in  jeder  CUsse  mindestens  drei  Stunden  Geschichte 
wöchentlich  gegeben  werden  müssen  und  darunter  eine  Stande  deutsche 
Geschichte.  Noch  lieber  wilrde  ich  es  sehen,  wenn  in  jeder  Classe 
wöchentlich  vier  Gesdiichtsstnnden  gegeben  wfirden  nnd  darunter 
zwei  Stunden  deutsche  Geschichte.  Ich  wfinschCi  dass  auch  im  Ge- 
schichtBonterricht  Extemporalia  geschrieben  werden.  Es  soll  dem 
Schiller  ohne  spedeUe  Vorbereitung  ein  geschichtliches  Thema  zur 
sofortigen  schriftlichen  fiearbeitung  in  der  Classe  gestellt  werden, 
z.  B.  über  ein  bestimmtes  geschichtliches  Eireigms  oder  dessen  Be- 


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deatimg  f&r  die  Eatwickelung  des  Volkes,  über  eine  bedeutende 
historische  PeraOnbehkeltt  ftber  deren  oder  dner  Dynastie  VerhältniR 
zu  einer  historischen  Idee,  etwa  Besiehung  der  OaroUnger  zum 
Ohristenthnm,  der  Salischen  Kaiser  zum  Papstthnm.  Dadurch  wird 
der  Schiller  dch  gewöhnen,  einzelne  zu  einander  in  Beziehunf  stehende 
historische  Momente  sich  selber  zu  einem  G^esammtbade  au  gmppiren. 
Er  wird  alsdann  yom  Gteschichtsontemcht  mehr  Katzen  haben,  auch 
die  historischen  Thatsachen  sich  dadurch  fester  einpräge  und  besser 
behalten.  Natürlich  hat  auch  der  Oeschichtslehrer  die  Schiller  anzu- 
halten, bestimmte  Abschnitte  aus  guten  Geschichtswerken  zu  lesen, 
und  hat  diese  mit  ihnen  durchzugehen.  Es  empfielilt  sich,  den  T'nter- 
richt  im  Deutschen  und  den  in  der  Geschichte  wenigstens  in  der 
deutschen  Geschichte  in  die  Hände  desselben  Lehrers  zu  legen.  Die 
deutsche  Geschichte  muss  fttr  den  Schüler  Herzensangelegen- 
heit sein. 

Das  System  unseres  Gymnasialunteirichtes. 

Das  System,  nach  welchem  ich  <len  F/elirplan  unserer  Gymnasien 
ab&ndern  möchte,  fasse  ich  tolgeudermaßen  kurz  zusaninien: 

Der  Zweck  unseres  Gymna8ialunteriichte>  ist  nicht  etwa,  mü^?- 
lichst  viel  Gelehi'samkeit  den  Schülern  zwangsweise  einzuflößen,  sondern 
durch  nicht  allzu  reichliche,  aber  möglichst  gute  und  dem 
Begriffsvermögen  der  Schüler  entsprechende  geistige  Nah- 
rung die  Fassungskraft  und  den  Verstand  der  Schüler  uatuigemäß 
zu  entwickeln  und  auszubilden,  ihr  Herz  und  Gemttth  Ar  die  Wissen- 
schaften und  aberhaupt  f&r  das  Gute  und  Edle  zu  erwftnnen  nnd  so 
die  Schiller  für  das  praktische  Leben  Torznbereiten  und  sie 
zu  guten  und  branchbaren  deutschen  Staatsbürgern  zu  er- 
ziehen. 

Unter  allen  Lehrgegenstftnden  sollen  sowol  während  der  Schul- 
zeit als  auch  beim  Abiturientenezamen  folgende  vier  als  die  wich- 
tigsten behandelt  werden: 

1.  Weltgeschichte^  und  zwar  besonders  Taterlindische  Geschichte; 

2.  Deutsche  Sprache»  und  zwar  sollen  die  Schüler  nicht  weniger 
deutsche  Prosa  lesen,  als  deutsche  Dichter; 

3.  Latein,  und  zwar  besonders  vorwiegend  Prosa; 

4.  Griechisch.  Von  giiechischen  Dichtern  sollen  nur  die  Ilias 
und  Tyrtaios  gelesen  werden  (event.  und  nur  facultativ  Sophokles).  - 

Auf  Weltgeschichte  oder  deutsche  Sprache  darf  nicht  weniger 
Gewicht  gelegt  werden  als  auf  Lateinisch  oder  Griechisch.  M^gel- 
hafte  Kenntnis  in  einem  Fache  kann  durch  besondere  Leistung  in 


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einem  oder  melirei  en  anderen  Fftchera  aufgewogen  werden.  Wenn  die 
Lehrer  einen  Abiturienten  im  übrigen  des  Zeu^ni^^ses  der  Reife  fOr 
würdig  tialten  und  nur  seine  Fehler  im  griechischen  Extemporale  da- 
gegen Bedenken  ergeben,  so  kann  ihm  das  Zeugnis  der  Reife  ertheilt 
werden  mit  dem  Beiiurken,  da&s,  falls  er  Sprachwissenschaft  Stadiren 
will,  er  ein  Examen  im  Griechischen  nachmachen  muss. 

Mit  den  lateinischen  und  griechischen  Dichtern  außer  Tyrtaios 
t;oll  erst  in  Obei*secunda  begonnen  werden,  so  dass  die  Aspiianteu  des 
einjährigen  Militärdienstes  keinen  alten  Dichter  aufier  Tyrtaios  zu 
lesen  bekommen. 

Die  Schule  darf  niemals  vergessen,  dass  sie  ein  deutsches  Institut 
und  (las.s  sie  ein  Staatsinstitut  ist.  — 

Durch  die  von  mii*  vorgeschlagenen  Einrichtungen  wird  dem  ein- 
zelneu Sciiüler  die  Möglichkeit  gegeben,  seine  Ai  V)eitskraft  auf  eine 
geringere  Anzahl  von  Materien  zu  concentriien  und  also  in  den 
Fichm,  SU  welchen  er  größere  Fähigkeit  oder  besondere  Lust  und 
Liebe  hat,  mehr  zu  leisten,  ohne  dass  die  wesentliche  Gldehhelt  der 
Gesammtansbildttng  unserer  Gymnasialsdifller  dadurch  beeinträchtigt 
wird.  Ich  hoife  daher,  dass  die  Schüler  alsdann  mehr  mit  Lost  nnd 
Liebe  arbeiten  nnd  wenigstens  in  ihren  Lieblingsftchem  mehr  leisten 
werden,  nnd  dass  jedenfidls  das  Gelernte  ihnen  mehr  in  Fleisch  und 
Blnt  übergehen  wird.  Ich  hofib  ferner  znversichtlieh,  dass  alsdann 
namentlich  die  von  Hanse  ans  gnt  sitnirten  Schüler,  welche  nicht 
nOthig  haben,  des  Brotstudiums  wegen  fleißig  zu  sein,  ans  Lnst  nnd 
Liebe  arbeiten  und  nahezu  alle  das  Gymnasium  ganz  durchmachen 
werden.  Ich  lege  hierauf  einen  ganz  besonderen  Wert,  weil  ich  eine 
wesentliche  Bessemng  unserer  politischen  und  socialen  Verhältnisse 
mir  davon  verspreche,  wenn  besonders  diejenigen,  welche  von  Hause 
aus  durch  ihre  Vermögens-  und  sonstigen  Familienverhältnisse  in  den 
Stand  gesetzt  werden,  im  politischen  oder  geschäftlichen  Leben  eine 
größere  Rolle  zu  spielen,  durchgänjriy  eine  recht  gute  Schulbildung 
zu  ihrer  dt-reinstigen  Wirksamkeit  mitbringen. 

Im  Drange  des  praktischen  Lebens  müssen  wir  vieltach  rasch 
arbeiten  und  uns  rascli  entscheiden,  ohne  dass  uns  vergünut  ist,  uns 
die  Sache  länger  zu  überlegen  oder  gar  aus  Büchern  oder  von  anderen 
uns  Raths  zu  erholen.  Auch  deshalb  liegt  meistens  gar  nicht  so  viel 
daran,  dass  das,  was  wir  einmal  gelernt  haben,  sehr  in  die  A\'eite  und 
Breite  geht;  sondern  es  ist  meistens  viel  wichtiger,  dass  das,  was  wii- 
gelernt  haben,  uns  so  in  Fleisch  und  Blut  übergegangen  ist,  dass  wii' 
es  wenigstens  in  den  Grundzfigen  möglichst  jeden  Augenblick  präsent 


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—  4Ö8  — 

haben  und  dass  wir  durch  den  Unterricht  wii'klich  verständiger  und 
klüger  geworden  sind.  Wirklich  verständiger  aber  werden  wir  nicht 
etwa  durch  massenhaftes  uns  eingeflößtes  Wissen,  das  wir  nicht  in 
uns  verarbeitet  haben,  sondern  nur  durch  eine  vorsichtige  und 
naturgemäße  allmähliche  Entwickelung  unseres  Gemüthes 
und  Verstandes  vermittelst  nicht  allzu  reichliclier,  aber  mög- 
lichst f,aiter  geistiger  Nahrung.  Unverdautes  Wissen  ist  für 
den  Schüler  schädlicher  Ballast,  hindert  seine  naturgemälie 
geistige  Kntwickelung  und  kann  ihn  leicht  einseitig  und  für 
das  praktische  Leben  ungeschickt  machen.  Wenn  der  Unter- 
richt sich  nicht  innerhalb  der  Grenzlinie  hält,  welche  durch 
das  Begriffsvermögen  der  Schüler  gezogen  wird,  so  ist  er 
nicht  mehr  Erziehung,  8ond«rn  er  wird  zur  Dressur. 

Daaemd  aber  kOnnen  wir  das  Gelernte  selbst  in  den  Gmndzflgen 
nur  dann  prAsent  haben,  wenn  wir  aach  nach  unserem  Abgange  von 
der  Sehnle  dalllr  sorgen,  dass  das  Getomte  uns  nieht  in  Vergessenheit 
gerttth,  nnd  wenn  wir  aneh  in  gereiftem  Maanesalter  das  Gelernte 
znweUen  nochmal  wieder  durchdenken.  Der  erfidurene  Hann  sieht 
manches  mit  anderen  Angen  an.  Und  so  TerUndet  sich  atodann 
Schule  und  ErfS^irung  zu  einem  hannoniscfaen  Ganzen.  Was  wir 
wirUich  in  uns  verarbeitet  haben,  um  das  wenigstens  in  den  Grund- 
zfigen  fest  zu  bewahren,  ist  nicht  viel  Zeit  octor  Mühe  erforderlich. 
Wenn  wir  aber  die  auf  der  Schule  gelesenen  alten  Glassiker  nicht 
dermaBen  in  uns  Terarbeitet  und  liebgewonnen  haben,  dass  wir 
wenigstens  einzelne  davon  auch  später  noch  gern  einmal  lesen,  dann 
beruht  unser  Gymnasialunterricht  in  den  alten  Sprachen  nicht  auf 
richtigen  Principien.  Und  wenn  wir  die  Weltgeschichte  und  die  ge- 
lesenen deutschen  Classiker  nicht  dermaßen  in  uns  verarbeitet  und 
liebgewonnen  haben,  dass  wir  auch  später  mal  ein  Geschieh ts werk 
oder  einen  deutschen  Glassiker  gern  zur  Hand  nehmen,  so  beruht 
unser  ganzer  Gymnasialnnterricht  aut  unrichtigen  Principien. 

Die  kune  Sohukeit,  die     scimeil  verhunt, 
Sie  wll  dioB  danend  Ovt  dem  flolilUer  g^wn» 
t>a88  er  die  Wisbenschaften  lidigewiiuit 
Und  sie  dann  lieb  behiUt  fürs  giate  Leben. 


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Eine  lene  „Enieliiig  der  deitsekei  Jigend**. 

AV^ährend  der  enton  zwanzig  Jahre  seit  Bestehen  des  Deut- 
schen Beiches  hat  die  Schule  sich  keiner  besonders  Uebeyollen  Anfinerk- 
samkeit  seitens  der  leitenden  Persönlichkeiten  eifrent  Denn  die  Ära 
Falk  war  im  Grande  doch  nnr  ein  Ifittel  zur  Bekftmpfiing  yon  Be- 
strebungen, welche  dem  damaligen  Leiter  der  Geschicke  gefährlich 
schienen;  da  das  Mittel  nicht  fruchtete,  zerbrach  und  zerbröckelt  man 
noch  jetzt  das  Werkzeug,  das  unschaldige,  und  die  Schule  trägt  den 
Schaden.  Fürst  Bismarck  entbehrte,  so  groß  sein  Genie  in  anderen 
Richtungen  auch  war,  des  pädagogischen  Taktes  und  Interesses  vOUig. 
Diese  Theilnahmslosigkeit  scheint  endlich  weichen  zu  wollen.  Kaiser 
Wilhelm  II.  hat  sein  Interesse  für  Erziehung-  und  Unterricht  zu  ver- 
schiedenen Malen  kundgethan;  nicht  in  allgemeinen  Ausdrücken,  wie 
sie  etwa  dem  Laien  als  gutgemeinte  Phrase  zu  Gebote  stehen,  sondern 
durch  Kundgebung  ganz  bestimmter  Ansichten  und  Vorschriften,  die 
zu  dem  Schlüsse  berechtigen,  dass  er  über  pädagogische  Dinge  nach- 
gedacht hat  und  den  Ergebnissen  seines  Nachdenkens  zu  gelegenerer 
Zeit  mit  der  ihm  eigentbümlichen  Energie  Folge  zu  schatten  ver- 
suchen wird. 

Wie  dieses  pädagogische  Ideal  der  Zukunft  beschaffen  ist,  lässt 
sich  aus  den  bisherigen  Kundgebungen  nicht  mit  Sicherheit  schließen. 
Es  sind,  entsprechend  den  Gelegenheiten,  mehr  Andeutungen  und 
Bmebsticke  als  eine  consequente  Gedankenfolge  zu  Tage  getreten. 
Seit  zwei  Monaten  jedoch  glaubt  man  in  PauljGQssfeldts  Buche:  „Die 
Erziehung  der  deutschen  Jugend"  ein  ausgeftUurteres  Bild  jener  An- 
schauungen zu  besitzen.  Der  Inhalt  dieses  Werkchens  ist  zuerst  im 
Januar-  und  Febroar-Heft  der  »Deutschen  Bundschau'  erschienen  und' 
liegt  nun  schon  in  2.  Auflage  (Berlin,  Gebr.  Paetel)  yor,  ein  Beweis, 
wie  sehr  es  die  Auflneiksamkeit  weiterer  Kreise  erregt  bat  Weshalb 
man  die  Veröffentlichung  Gflssfeldts  mit  den  pädagogischen  Ansichten 


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—   500  — 


Kaiser  Wilhelms  in  Verbindung  bringt?  Daiüber  zum  Schloss  ein 
Wort.  Vorher  sei  es  gestattet,  den  Inhalt  der  Ai'beit  zu  skizziren. 

Die  einleitenden  Abschnitte  enthalten  für  den  Fachmann  nichts 
Neues,  sind  jedoch  für  jeden  Laien  liöchst  anregend,  da  Güssfeldt  die 
Sache  wesentlich  vom  Standpunkte  eines  solchen  ansieht.  Er  wird 
der  Arlxit  der  Lehrer  gerecht,  indem  er  sie  nicht  für  das  verant- 
wortlich macht,  was  die  Foltife  „der  Tretmühle  eines  starren  Systems, 
des  Lehrprogramms",  ist.  Aber  diejenigen,  welche  berufen  sind,  die 
Lösung  des  neuen  Programms  zu  übernehmen,  sieht  er  in  ihnen  nicht. 
„Dazu  müssen  die  Lehrer  selbst  erst  durch  eine  Schule  gegangen 
sein,  wie  sie  mir  vorschwebt.** 

Der  Verfasser  wendet  sich  deshalb  vor  allem  an  die  Ehem. 
Ihnen  legt  er  dar,  was  in  der  Kindesseele  keimt  und  lebt,  wie  die 
zarten  Sprossen  zu  pflegen  und  zu  ziehen  sind,  vielfach  in  vielleicht 
nnbevBSBtem  Ansctalnss  an  die  Forderungen  des  großen  Genfer  Pftda^ 
gogen.  Da  er  steh  vor  allem  auf  eigene  Erlebnisse,  Erinnerungen  and 
Reflexionen  stfttzt,  so  ist  es  erklftrlich,  wenn  er,  den  Begriff  »dentsche 
Jugend**  arg  beschneidend,  sich  auf  die  mftnnliche  Jugend  der  mittleren 
und  (Oberen  Gesellschaftsdassen  bescfaiftnkt,  „also  denjenigen  Classen, 
von  deren  Verhalten  und  Beschaffenheit  das  Wolsein  der.  nnteren 
Classen  wesentlich  beeinflusst  wird  —  und  damit  das  Wolsein  des 
ganzen  Staates.  Eine  Anwendung  der  anfgesteUten  Prindpien  auf 
die  Elementarschulen  ist  unterlassen  worden;  richtig  gehandhabt, 
-würde  dieselbe  dem  Unglück  der  Halbbildung  (in  :der  Yolksscbnle?) 
und  ihrer  Opfer  entgegenwirken." 

Nachdem  also  in  den  ersten  acht  Abschnitten  in  zwangloser 
Form  die  Punkte  dargelegt  sind,  bei  denen  in  der  frühesten  häus- 
lichen Erziehung  die  meisten  Missgriffe  begangen  werden,  wendet  G. 
sich  der  Zeit  des  tlierganges  aus  dem  Kindes-  in  das  Knabenalter  zu. 
Hier  findet  er  den  Hauptfehler  des  gegenwärtif^en  Schulsystems:  bisher 
waren  die  Maßnalimen,  denen  das  Kind  sieh  ausgesetzt  sah,  fast  nur 
erzieherische;  nun  tritt  plötzlich  ein  solches  Übergewicht  des  Unter- 
richts ein,  dass  „von  den  Kräften,  die  bisher  gleiclimäßig  in  AusiUmng 
kamen,  nur  einige  übermäßiir  angespannt  werden,  während  andere 
brach  liegen  müssen.  Es  tindet  ein  Sprung  statt  —  und  dieser  Sprung 
ist  ein  P'ehler.  Ihn  zu  vermeiden  oder  doch  auf  das  kleinstmögliche 
Maß  herabzudrücken,  das  macht  den  Kern  der  gi-oßeu  Bewegung  aus, 
die  ein  jeder  von  uns  zum  Segen  Deutschlands  durchgeführt  sehen 
mochte.**  Nicht  in  unzulänglichen  Mittelchen,  sondern  in  einer  durch- 
greifenden Reform,  die  an  Sparta  oder  gewisse  Abschnitte  des 


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—  501  — 


Plato'schen  Staates  erinnert,  sucht  die  Abliilte.  Vor  I)arleg:uug 
seiner  Pläne  sucht  er  jedoch  durch  Aufstellung  des  Erziehungszieles 
und  dmch  Kritik  des  bisherigen  Unten-ichtsbetriebes  seinen  Vor- 
stellungen den  Weg  im  Geiste  des  Lesers  zu  ebnen. 

Inhalt  und  Ziel  der  Jugcndei*ziehung  sei  die  harmonische  Bil- 
dung. Sie  ist  der  Inbegi-iö'  von  Gesundheit,  physischer  Kraft 
und  Geschicklichkeit,  einem  reinen  Gemüthe  und  einem 
Immanen  Sinne,  Charakterfestigkeit  und  PflichtgefQhl,  Ver- 
standesschftrfe  und  einem  gewissen  MaBe  von  Kenntnissen. 
So  ordnen  diese  Begriffe  sich  nach  der  Wertschätzung  Gfissfeldts. 
Die  Erwerining  einer  solchen  harmonisehen  Bildung  wird  angenhlick- 
lieh  dadurch  erschwert^  dass  Elraehnng  nnd  Unterricht  „als  getrennte 
Gebiete  ohne  inneren  Znsammenhang  angesehen  werden;  jene  fiült  der 
EVonilie  zo,  dieser  dem  Staate  oder  dem  commnnalen  Gemeinwesen; 
ein  Zasammenwirken  gibt  es  nicht,  wol  aber  ein  Enl^iegenwirken. 
Der  Ünterricht«  indem  er  mehr  nnd  mehr  fttr  sebe  Allgewalt  bean- 
s])ruchte,  hat  die  erziehende  Kraft  des  Elternhauses  untergraben  nnd 
durch  Herrschsucht  die  harmonische  Entwickelang  des  Knaben  unmög- 
lich gemacht."  Die  Familie  vei-mag,  solange  der  Untemcht  das 
Kind  auch  außerhalb  der  Schule  durch  häusliche  Aufgaben  mit  Be- 
schlag belegt,  wenig  zur  Abhilfe.  In  der  Schale  selbst  müssen 
Änderungen  vorgenommen  werden,  und  das  Schlagwort  für  den  Be- 
srinn  der  Reform  miiss  sein:  Weniger  Kenntnisse  und  mehr  Bildung. 
Die  einseitige  Ausbildung  des  Verstandes  zerreißt  die  innere  Har- 
monie und  treibt  das  Lebensschifflein  weit  ab  von  den  wahren  Zielen 
des  Lebens. 

Um  nun  das  Übergewicht  des  Unterrichtes  zu  vennindern  und  das 
oben  gesteckte  Ziel  der  harmonischen  Ausbildung  zu  en'eichen,  stellt 
der  Verfasser  in  dem  Mittelpunkt  seiner  gesammten  Betrachtungen 
folgende  Vorschläge: 

„Die  Schule  verwandelt  sich  aus  einer  Anstalt  fui*  Unterricht  in 
eine  Anstalt  für  allgemeine  Bildung.*' 

„Die  BilduDg  erstreckt  sich  anf  den  Intellect,  das  Gemuth,  das 
kibUehe  Wol,  die  Sinne,  anf  HandÜsrtigkeiten,  anf  die  Grandzüge 
aOgemeinen  Wolveriialtens  nnd  anf  den  Charakter." 

Die  Ifsflnahmen  müssen  so  genommen  werden,  dass  sie  im  Ein- 
klänge mit  den  KriHteA  der  Jugend  stehen,  dass  Jede  Beacüon,  als 
F<^  von  Obenuistrengong,  Yermieden  wird.  Dedialb  mnss,  selbst 
wenn  eine  grOltere  AnsMIdnng  des  Ihtellectes  oder  ein  grOAerer  Vor- 
rath  Ton  Kenntnissen  erwfinseht  wBre,  dieses  Mehr  rftcksichtslos  ge^ 


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—   502  — 

strichen  werden,  sobald  die  kiirperliche  Ausbildunpf  und  das  körper- 
liche Wolbetinden  darunter  leiden. —  Die  für  die  Reform  uüthige 
Zeit  wird  in  folgender  Weise  beschaftt: 

„Die  tägliche  Scliulzeit,  welche  abwechselnd  in  <len  Classen- 
zimmern,  im  Freien,  in  Turnhallen,  auf  Spielplätzen,  in  WerkstAtten, 
auf  der  Schwimmschule,  auf  Ausflügen  verbracht  wird,  dehnt  sich 
über  die  ^auze  Tageszeit  aus. 

Die  wissenschaftlichen  rnterrichtsstunden  eines  Tages  werden 
auf  vier,  höchstens  fünf  Stunden  lierabgesetzt,  womit  aber  nicht  ge- 
meint ist,  dass  sich  die  geistige  Thätigkeit  der  Schüler  auf  diese  Zeit 
allein  beschränken  soll.  Denn  es  wird  noch  von  besondere  einge- 
richteten Arbeitsstunden  die  Rede  sein,  in  welchen  die  Schüler  der 
selbststindigren  Arbeit  obliegen. 

Viele  von  den  bisher  gelehrten  Kenntnissen  fallen  aus.  Die 
Schüler  werden  damit  auf  das  spätere  Leben  verwiesen  und  sollen 
sich  zwischen  achtzehn  nnd  achtundzwanzig  Jahren  diejenigen  Kennt- 
nisse erwerben,  welche  sie  flr  ihren  Bemf  oder  ihi«  Mwillig  geabte 
wissenschaftliche  Thätigkdt  gebrauchen.  Auf  diese  Weise  bleiben 
von  den  zwAlf  Stunden  noch  sieben  zur  Verfikgang. 

Die  Tagesmablzeiten  werden  in  der  Anstalt  eingenommen. 

Der  Aufenthalt  im  elterlichen  Hause  und  der  Verkehr  mit  den 
Mtem  ist  yomehmlieh  auf  die  frmen  Abendstunden,  auf  den  Sonntag 
und  auf  die  Ferien  beschrlnkt 

Die  häusliGhen  Arbeiten  kommen  ganz  in  WegüUL 

Bichtschnur  fttr  alle  Haftnahmen  bleibt  der  Gmndsate;  Entwiche- 
lung  der  krlftigen  Individuen,  nicht  Erhaltung  der  sehwachMcben.'' 

An  diese  Vorschlage  wird  eine  Beihe  methodischer  Bemerkungen 
geknüpft,  die  für  Lehrerkreise  zu  selbstverstAndUeh  sind,  als  dass  sie 
hier  Erwähnung  linden  dürften. 

Wie  musB  nun  angesichts  dieses  Befonnplaaes  der  bisherige  Unter- 
richtsstofr  umgestaltet  werden?  Diese  Fnige  wiod  mit  einer  Qrttnd- 
Uehkeit  und  Behutsamkdt  behandelt,  welche  das  Bemttw»,  die  An- 
hänger des  humanistischen  Gymnasiums  zu  gewinnen,  nicht  yerkennen 
lässt.  Doch  die  Erfthrungen,  welche  der  Verfasser  als  Schüler  und 
mit  ihm  Tausende  yon-  uns,  die  gleich&lls  der  „ehrenvollen  Mittel- 
mäßigkeit*^ angehörten,  gemacht  haben,  sie  werden  den  echten  Alt» 
Philologen  nicht  wankend  machen.  Man  lese  den  Aufsatz  Zellers, 
welchen  die  Redaction  der  „Deutschen  Rundschau"  dem  Gttssfeldt- 
scben  folgen  ließ,  and  man  wird  sich  in  der  Überzeugung  befestigt 


» 


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—  603  — 


fiililen,  dass  diese  Partei  nicht  mit  Gründen  zu  (iberwindeo,  sondern 
nur  durcli  einen  Maclitspruch  zu  unterwerfen  sei. 

Vor  allem  —  ruft  Güssfeldt  —  Achtung  der  Muttereprache!  Sie 
muss  obenan  stehen,  dem  Ihiterncht  in  ihr  muss  der  Gesammtunter- 
richt  dienstbar  gemacht  werden.  Dagegen  .alles,  was  eine  Sprache 
tüi'  die  Verstandesschuiung  dadurch  leistet,  dass  sie  nicht  unsere 
Mutteraprache  ist,  das  muss  von  den  alten  auf  die  modernen  Sprachen 
abertragen  irardeD."  Die  alten  Claaaiker  soUen  mit  dem  Beistande 
dentsclier  Übersetzungen  getosen  irerden,  damit  die  Jagend  sieh  bald- 
mOg^ichat  an  dem  gdBtigen  Inhalt  erlabe,  mit  der  Toraehmen  Denk- 
weise  des  Alterthnms  bekannt  werde.  Kein  systematisches  Durch- 
arbeiten der  Grammatik  mehr;  mir  die  Fnndamente  des  Gtiediisehen 
und  Lateinischen,  Dedination»  Co^fogstion  nnd  Präpositionen,  werden 
gelerat  Was  diese  beiden  Sprachen  bei  solcher  Behandlong  nicht 
mehr  leisten  kOnnen,  wird  das  FransOaisehe  mit  seinem  liiinen  nnd 
reichen  Formenschatze  ersetzen.  EzereUdnm  und  Extemporale,  welche 
für  die  alten  Sprachen  wegfallen,  treten  im  Französischen  ein;  die 
Schriftsteller  werden  hier  ohne  Übersetzungen  gelesen.  Das  Eng- 
lische soll  swar  mit  geringerem  Nachdruck,  aber  doch  so  gelehrt 
werden,  dass  es  verstanden  und  gesprochen  wird." 

Sehr  beherzigenswert  sind  Güssfeldts  Ausfülirungen  über  die 
Gründe  des  unfrudit  baren  mathematischen  l'nterriclits  auf  den 
höheren  Lehranstalten.  Das  sclilimmste  ist,  „das  bei  vielen  Schülern 
niemals  Vorstellungen  von  geometrischen  Gebilden  existirt  haben.'* 
^Die  einzelnen  ('lassen,  eigens  für  den  mathematischen  Unterricht  ge- 
bildet, sollten  die  Schülerzalil  von  zwölf  nicht  übersteigen."  (Hohn- 
geiächter  sämmtlicher  Unterrichtsminister  Deutschlands.) 

Hinsichtlich  der  Naturwissenschaft,  der  astronomischen  Geographie 
und  der  Erdbeschreibung  sagt  der  Verfasser  nichts  Neues.  Die  Re- 
ligion als  Bekenntnis  will  er  vom  Unterricht  ausgeschlossen  sehen. 
Wir  treffen  hier  auf  eine  wolthnende  Vorurtheilslosigkeit  und  hören 
Grunds&tze,  an  deren  geflissentlicher  Niedertretung  in  Preußen  jetzt 
leider  wieder  mit  hOehstiem  Eifer  gearbeitet  wird.  Die  hamMMdscIie 
Endehnng  hat  in  gleieher  Weise  die  Keime  der  Irretigiosität  wie  der 
Intolenuu  zu  nnterdrficken.  tßi»  mnss  ihre  Zöglinge  mit  der  Er- 
kenntnis durchdringen,  dass  es  etwas  Höheres,  ÜbermenaoUiches  gibt, 
das  kein  Verstand  der  VersCindigen  zu  durchdringen  Terang;'  mnss 
es  aber  dem  Geistlichen  ftberiassen,  das  Gbrnbensbekenntnis  nnd-  die 
religiösen  ÜberttefiBntngen  an  lehren,  welche  die  geistig«  (Anmacht 
ersetien  sollen.    Die  Moral,  menschlichen  Ursprungs,  geschailBn,  um 


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—   504  - 


ein  orgaui^irtes  Zusaiiimfiilebeii  zu  erniögliclien  und  möglichst  sicher 
zu  gestalten,  und  geeignet,  ein  gemeinsames  Band  zwischen  den  vei- 
schiedeDen  Bekenntnissen  herzustellen,  muss  gelehrt  werden. 

Die  Geschichte  befestige  das  Ideal  im  Kinde,  die  Gewissheit^  dass 
die  Tngesd  trinmphirt,  das  Laster  untergeht;  sie  pflege  aber  neben 
der  allgemeinen  Bogeisternng  anch  besonders  die  Vaterianddiebe  dnreh 
Betraehtong  der  vaterländischen  Geschichte.  Dorch  geeignete  Aas- 
wahl dentscher  Schriftsteller  soUen  große  Ideen  geiredct  und  edle 
Handinngen  rar  Anschauung  gebracht  werden.  Oberhaupt  ist  bei 
Behandlung  der  meisten  Untenichtaftcher  mehr  Gewicht  auf  die  Aus- 
gestaltung des  Charaktei's  und  des  Gemttthee  als  auf  die  Forderung 
der  Intelligenz  au  legen.  Letrterar  s<dioi  besonders  die  Ituttersprache, 
das  Französische  und  die  Mathematik  dienen. 

Wichtiger  fast  als  das  Vorhergehende  erscheint  dem  Verfasser 
die  gesundheitliche  und  körperliche  Ausbildung  der  Schüler.  Der 
Engländei',  «frei  von  Nervosität  und  Empfindlichkeit,  stark  von 
K(irper,  klar  von  Kopf,  gelenkig  und  zäh,"  ist  auf  diesem  Gebiete 
sein  Ideal.  Freiübungen,  Spiele,  gymnastische  Übungen  am  Geräth, 
schätzbar  zugleich  für  die  Bildun};  des  Willens,  Schlittscliuhlanfen, 
Ausflüge,  Baden,  Schwimmen  sollen  im  Verein  mit  Handfertigkeits- 
unteiTicht  in  Weikstätten  die  körperliche  Ausbildung  zur  Vollendung 
führen. 

Wenigstens  eine  Tagesstunde  muss  den  Z«(j:lingen  ganz  zn  be- 
liebigem (-rebrauche  gegeben  werden.  An  Stelle  der  häuslichen  Ar- 
beiten nimmt  der  Erziehungsplan  Arbeitsstunden  auf  in  denen  jeder 
Schüler  sich  selbstständig  und  ungestört  beschäftigen  kann.  \\'ährend 
der  Freistunden  wird  eine  Art  von  self-goverumeiit  den  Schülern  er- 
möglichen, das  Leben  im  kleinen  darzustellen  und  zu  erproben. 

Soweit  der  Plan.  Hinsichtlich  seiner  Vei'wirklichung  gibt  Gttss- 
feldt  sich  groAen  Erwartungen  hin.  Die  Mittel  rar  Durchführung 
wird  das  deutsche  Volk  geben.  nBegierung,  Pailament  und  Volk 
mflssen  an  den  Opfern  bereit  sein,  welche  durch  die  ümgestaltung 
der  Schuten  n  St&tten  harmoniseher  Ausbildnng  an  sie  herantreten,** 
„Wir  werden  eben  in  Zukunft  zwei  Armeen  m  unterhalten  haben, 
eine  Armee  mit  Kasernen  ....  und  eine  mit  Schulhinsem  und  allem, 
was  die  harmonische  Ausbildnng  erheischt  Fttr  welch  besseren 
Zweck  konnten  wir  unser  GeU  anch  hingeben?  Wir  werden  dann 
stark  nach  aufien  und  nach  innen  sein." 

Für  Ideen  ähnlicher  Art  wirkt  sdion  seit  einer  Reihe  von  Jahren 
eine  andere  fieformbewegungt  deren  Organ  „Die  neue  deutsche  Schule" 


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—   505  — 


ist  und  als  deren  Hauptstreiter  Dr.  H.  Goehring  und  Prof.  Preyer 
bekannt  sind.  Während  diese  sich  aber  dahin  bescheiden,  die  Anwoid- 
barkeit  ihres  Planes  in  einer  privaten  Anstalt  erproben  zu  wollen, 
wird  Güssfeldt,  wie  er  schon  im  Vorwort  bemerkt,  von  der  Zuversicht 
beseelt,  dass  seinen  Ideen  die  Stunde  der  Verwirklichung  sclilagen 
werde,  und  zwar,  wie  aus  dem  oben  Angeführten  erhellt,  der  Ver- 
wirklichung in  vollem  Umfange  und  von  selten  des  Staates. 

Woher  diese  Zuversicht?  Der  Verfasser  verräth  es  nirht.  Drei 
Freunde,  sagt  er,  haben  ihm  nach  Vollendung  des  Entwurfs  mit  Rath 
und  ürtheil  zur  Seite  gestanden;  ein  Schweizer  Philosoph,  ein  preu- 
ßischer höherer  Militär  und  ein  deutscher  Forschungsreisender.  Hin- 
sichtlich des  an  zweiter  Stelle  Genannten  könnte  man  sich  einer  Ver- 
muthung  hingeben,  die,  wenn  sie  zuträfe,  wieder  aui  das  eingangs 
ausgesprochene  Gferttcht  ftUkren  würde.  Letzteres  findet  jedoch  aucü 
in  dem  Werke  selbst  Nahrung. 

Da  ifll  «lerat  der  Ton  und  dar  gaiise  Geist  der  AufUiruug.  Es 
lebt  etwas  Ungekfinsteltes,  Frisehes  und  ZnversichtlicheB  dariu,  das 
auf  den  unbefangenen  Laien  entschieden  bestechend  wirken  muss, 
eine  muthigB  Frende  an  der  GrOBe  und  Bewegtheit  des  modernen 
Lehens,  deijenigen  gkieh,  weLehe  sich  auch  in  allen  Worten  und 
Handhmgen  Wühehns  n.  neigt  Die  Au£hs8ung  Oüssfeldts  Ton  Wert 
und  Zweck  der  Geschidite  deckt  sich  mit  den  Ansf&hrungen  des 
Kaisers,  die  Tor  Monaten  durch  alle  Tageszeitungen  gingen;  auch  In 
ihnen  wurde  besonderes  Gewicht  auf  die  neuere  vaterlAndische  Ge- 
schichte gelegt  Es  ist  bekannt,  dass  der  Kaiser  in  den  Cadetten- 
anstalten  gewissermaßen  Musterschulen  sieht,  die  manches  Vorbild- 
liche f&r  andere  Schulgattungen  enthalten.  Güssfeldt  theilt  diese 
Meinung;  er  spricht  von  den  „verbesserten  Einrichtungen  der  Cadetten* 
Corps,  welche  den  Übergang  bilden  von  unseren  heutigen  Schulen  zu 
den  Erziehungsinstituten  filr  die  gesammte  deutsche  Jugend."  Es  ist 
freilich  eine  missliche  Sache,  aus  solchen  Parallelen,  die  ja  ebenso  gut 
zufällige  sein  können,  weitergehende  Schlüsse  zu  ziehen.  Was  solchen 
Folgerungen  einige  Wahrscheinlichkeit  verleiht,  ist  neben  jener  zur 
Schau  getragenen  Zuversichtlichkeit  des  Verfassers,  der  bisher  noch 
garnicht  als  pädagogischer  Schriftsteller  auftrat,  noch  der  Umstand, 
dass  er  sich  im  verflossenen  Jalire  in  der  Reisegesellschaft  des  Kaisers 
befand.  Hier  hätte  man  denn  Zeit  und  Gelegenheit  zu  ausführlicheren 
Auseinandersetzungen  auch  über  pädagogische  Keformpläne  zu  ver- 
mutheu. 


i'atU^^nm.   12.  Jahrg.  Heft  VIIL 


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€l«OHetrie  oder  Fomeilebre? 

Vm  Sckvidirtetor  MUtmtmae^-Leipzig-Lindmm. 

II  iiutig  wird  der  Unterricht  erschwert  diircli  die  Vermenguiig 
verschiedenai'tiger  Forderungen  und  durch  dievei  schiedeuen  Auffassungs- 
weisen, die  nicht  selten  ein  Begriff  zulässt.  l)asselbe  ist  z.  B.  auch 
der  Fall  mit  der  Bezeichnung  Formenlehre;  wie  verschieden  sind 
da  nicht  die  Meinungen  über  Begriff,  Stoff',  Umfang,  Bedeutung  und 
Wert  der  letzteren  und  besonders  über  das  Verhältnis  zu  anderen 
Lehrobjecten,  namentlich  zur  Geometrie.  Bald  hat  sich  die  Formen- 
lehre mit  der  OrSBe  der  geometrischen  Gebilde  beschäftigt,  bald  mlft 
der  Lage  derselben,  bald  tr«t  sie  spedell  als  „geometriaehe  Ck»n» 
atmetionalebre"  anf  etc^  kurzum,  ein  gevaltigea  Schwanken.  Ja,  in 
der  einen  Schule  nennt  man  Geometrie,  was  in  der  anderen  Fonnen- 
telu«  heiftt 

Ab  diesem  Schwanken  und  benehongs  weisen  Widerstreben  tragen 
am  meisten  die  Sehold  die  Vertreter  der  exacten  Wissensobaften;  sie 
protesturen  beständig  gegen  das  Popnlarisiren  —  oder  Profimiatai, 
wie  sie  es  nennen  möchten  —  ihrer  Wissenschaft;  und  so  sagten  sie 
auch,  dass  kein  TheQ  der  Mathematik,  mithin  aneh  keiner  der  Geo- 
metrie eine  populäre  Behandlung  yertrage.  Da  nun  die  Vertreter  der 
eza<;ten  Oeometrie  keine  elementare  Behandlung  anließen,  die  Päda- 
gogik aber  —  nachdem  die  empirische  Anschannng  durch  Comenius 
und  Pestalozzi  in  ihre  Rechte  eingesetzt  war  —  eine  solche  heischte, 
so  sah  sie  sich  genöthigt,  eine  „Elementarstufe'*  füi'  den  geometrischen 
Unterricht  zu  schaffen;  natürlich  durfte  diese  nur  unter  fremdem 
Namen  passiren,  man  gab  ihr  den  Namen  „Formenlehre".  So  unend- 
lich wichtig  es  war,  eine  naturgemäße  Behandlung  anzustreben  und 
den  geometrischen  Unterricht  anschaulich  vorzubereiten,  so  lässt  sich 
doch  nicht  leugnen,  da.ss  durch  Einfiilirung  der  Formenlehre  als 
selbstständigen  Lehrgegenstand  nicht  der  rechte  Ausweg  gefunden 
wurden  ist,  wie  wir  später  sehen  werden.  —  Zunächst  müssen  >vir  uns 
jedoch  über  den  Begriff  und  den  Inhalt  der  Formenlehre,  sowie  über 
ihr  Verhältnis  zui'  Geometrie  klar  zu  werden  suchen. 


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—   507  — 

Die  sogenannte  Formenlehre  hat  zam  Zweck,  die  geometrische 
Anschanmig  and  die  geometrische  Phantasie  vor  Beginn  dee  eigent- 
lichen geometrischen  üntemchtes  zu  üben.  Man  sucht  dies  nun  be- 
sonders  za  erreichen  durch  analytische  Betrachtung  der  im  krystallo- 
graphischcn  Systeme  vorkommenden  bedeutendsten  Körper  und  beginnt 
da  gewöhnlich  mit  den  „regelmäßigen"  Körpern:  Hexaeder,  Tetraeder, 
Oktaeder,  Dodekaeder  und  Ikosaeder;  man  bestimmt  die  Zalü,  Gestalt 
und  Richtung  der  Flächen,  die  Zahl  und  Form  der  Kantenlinien  und 
die  Zahl  und  Lage  der  Eckpunkte.  Hierauf  betrachtet  man  die  „un- 
regelmäßigen'" Körper:  Prismen  und  Pyramiden  und  endlich  die  „ninden" 
Körper:  Walze,  Kegel,  Kugel,  und  schließlich  folgt  in  der  Regel  noch 
eine  „Zusammenstellung  und  Er  Weiterung"  der  gewonnenen  Anschauungen, 
wo  von  den  verschiedenen  Arten  der  Drei-,  Vier-  und  Vielecke,  von 
den  Linien  und  Winkeln  in  und  am  Kreise  etc.  die  Rede  ist. 

Über  das  Verhältnis  der  B^rmenlehre  zur  Geometrie  schreibt 
Seeger  (Elemente  der  Geometrie,  1860):  „Der  Formenlehre  ist  es  am 
unmittelbares,  anscbaoliches,  der  Geomeitrifi  um  vennitteltes  denkendes 
Erkeanen  za  Uran;  jeiisr  kommt  es  hanpts&chlicli  «of  die  Saehe,  düsser 
anfterdem  noch  aof  die  kanstmftßlge  Behandlnng  derselben  an;  die 
eine  begnügt  sich,  zu  fbrdem,  dass  der  Schltter  die  OogenstSade  rein 
und  scharf  aoffiksse,  die  andere  yerlaogt,  dass  er  sie  yerstandesm&ßig 
durchdringe.**  Während  also  die  Geometrie  mittets  begrünicher  Ver- 
tiefiing'  abstraete  BanrnverhSltnisse  behandelt  und  dem  Schfller  eine 
energische  Abstraction  znmnthet,  bleibt  die  Formenlehre  gmndsfttsUdi 
aof  dem  Standpunkte  der  Anschauung  stehen  und  Termchtet  auf  die 
wissenschaftliche  Einheit  der  Deduction.  Und  hier  stoßen  wir  auf 
den  ersten  ESInwnrf,  welchen  wir  gegen  die  Einführung  der  Formen- 
lehre als  selbstständigen  Lshrgegenstand  eriieben  imfissen.  '  Es 
muss  n&mlich  als  fehlerhaft  gelten,  erst  die  ganze  „Lehre  von  den 
Formen"  zu  absolviren  und  Material  und  Begriffe  anzuhäufen,  bevor 
Ton  Gombmation,  Determination  etc.  die  Rede  sein  soll.  Das  Kind 
wird  diu'ch  die  Menge  der  Begriffe  und  die  Summe  der  Verhältnisse, 
die  aus  den  Beziehungen  und  Verbindungen  der  geometrischen  Objecto 
nicht  selten  hier  schon  abgeleitet  werden,  fast  erdrückt;  es  müssen, 
wenn  eine  gewisse  Anzahl  Anschauungen  und  Begriffe  gefunden  sind, 
dieselben  erst  verarbeitet,  mit  ihnen  erst  vielfach  operirt  werden,  be- 
vor neue  hinzutieten  dürfen.  Oder  warten  wir,  wenn  wir  z.  B.  einem 
Kiude  das  Lesen  und  Schreiben  lehren,  mit  der  Zusammensetzung  von 
Silben  und  Wörtern,  bis  es  alle  Buchstaben  kennt  und  geübt  hat? 
Schon  lange  nicht  mehr.   Es  haben  neben  der  Anschauung  auch  die 

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—  608  — 

geometrischen  Übungen,  Messungen  und  Berechnungen  aufzu- 
treten. Die  Formenlehre  fordert  ferner  das  Zeichnen  der  Körpernetze, 
schon  nach  der  Betrachtung  des  Würfels  wird  die  Aufgabe  gestellt^ 
<las  Netz  desselben  zu  zeichnen,  doch  dem  Kinde  ist  weder  die  Hand- 
habung des  Zirkels,  noch  die  Construction  von  senkrechten  und  pa-. 
rallelen  Linien  gelehrt  worden  etc.,  was  doch  unumgänglich  nöthig  ist. 
Weiter  ist  nüthig,  dass  der  Schüler  den  ünifaii«,^  einer  Fläche  niessp, 
die  Länge  der  Kanten  berechne  etc.  Auch  ist  in  dem  ersten  Jahr- 
gange —  zumal  dieser  Unterricht  gewöhnlich  erst  mit  dem  sechsten 
Schuljahre  begonnen  vnvd  —  schon  einiges  aus  der  Flächenberechnung, 
80  die  Inhaltsberechnung  eines  Quadrates,  Kechtecks  und  Dreiecks,  zu 
behandeln,  wie  überhaupt  eine  möglichst  concentrische  Vertheilung 
des  Lehrstoffs,  zumal  iu  gegliederten  Schulen,  die  allein  berechtigte 
ist  Es  ist  dieser  oben  angedeutete  Mangel  auch  bereits  mehrfeudi  ge- 
fehlt worden,  und  man  hat  deshalb  der  Fenneiilehre  so  Terschiedenes 
heigegeben,  was,  streng  genommen,  in  die  Geometrie  gehört,  was  aller> 
dings  nicht  za  Terwnndem  ist,  da  Übergänge  yon  der  einen  Erkennt- 
nisweise sor  anderen  nnsertrennbar  sind.  Ja,  man  ist  in  neuerer  Zeit 
sogar  soweit  gegangen  und  hat  gesagt,  beide,  Geometrie  imd  Formen- 
lehre, behandeln  denselben  Stoff  und  zum  groflen  Theil  dieselben 
Wahriulten,  beide  lehren  den  Schüler  gerade  nnd  krumme^  parallele, 
coa«  nnd  diyergirende  Linien  kennen,  die  verschiedenen  Winkel,  die 
Arten  der  Dreiecke»  Vierecke  etc.  nntsrseheiden,  nnr  der  Lehrgani^ 
ist  ein  anderer,  die  Geometrie  beginnt  mit  dem  Ponkte,  geht  dann 
zur  Linie  nnd  Fläche  nnd  ans  der  Planimetrie  zur  Stereometrie  ftbei*, 
während  die  Formenlehre  mit  der  Vorzeigung  der  Körper  beginnt,  an 
diesen  die  Flächen,  Kanten,  Ecken  und  Winkel  anWilt  und  erst 
dann  die  Planimetrie  bebandelt.  Gegen  diese  Auffassung  ist  aber  ein^ 
zuwenden,  dass  es  gar  nicht  die  Aufgabe  der  Formenlehre  sein  kann, 
den  Inhalt  der  Geometrie  zu  popularisiren,  sondern  „dass  sie  gi'und- 
sätzlich  auf  der  Elementarstufe  stehen  zu  bleiben  hat".*)  In  der  For- 
menlehre werden  concrete  Raum  Verhältnisse  mittels  der  Anschauung 
behandelt,  der  Schüler  vertraut  der  Beobachtung,  andere  Beweise, 
fordert  er  nicht;  werden  ihm  aber  Lehrsätze  ohne  Beweis  mitgetheilt 
so  wird  der  spätere  geometrische  Unterricht  geschädigt.  „Der  Schüler 
muss  geradezu  irre  werden,  wenn  ihm  Sätze,  deren  Richtigkeit  er  bei 
der  Aiitlüsung  \ieler  Aufgaben  vorauszusetzen  gewohnt  war,  nun  noch 
be^\  iesen  werden.  Er  niuss  sich  dann  einen  ähnlichen  Begriff  von 
der  Geometrie  bilden,  wie  ihn  Mephistopheles  von  der  Logik  gibt."**) 

**)  Grube:  Bedeutung  und  Stellung  der  Formenlehie im VoikMdndimtenicht» 
**)  LindemftiiB :  OeometriBolie  Fonneolehie. 


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—   509  — 

Ein  fernerer  Übdstand,  weLcber  durch  EbfAhrnng  der  FoimeR* 
lehre  all  BeLbstständigen  Lehrgegenstaad  berrörgemfen  wurde,  ist 
der,  dass  man  in  den  höheren  Schulen  von  einer  geometrischen  An> 
flofaanungslehre  meist  ganz  absieht.  Schon  ein  flüchtiger  Blick  in  die 
verschiedenen  Schulprogramme  lehrt  uns  dies  zur  G^nilge.  Man  sagt 
dort:  die  Formenlehre  ist  für  die  Volksschule,  wir  treiben  hier  jedoch 
die  Geometrie  „wissenschaftlich".  Man  beginnt  also  sofort  mit  der 
abstracten  exacten  Wissenschaft  und  bedenkt  nicht,  dass  die  Ausbil- 
dung der  Raumphantasie  und  der  geometrischen  Anschauung  so  uner- 
lässlicli  ist,  dass  alle  Erkenntnis  sich  in  ihren  Grundzügen  auf  die 
Anschauung  stützen  muss.  Schon  der  bedeutende  Graßmann*)  sagt: 
,.l)ie  Geometrie  des  Euklid  ist  für  Männer,  nicht  für  Kinder.  Sie 
fordert  einen  gereiften  Verstand,  um  die  Gründe  der  Anordnung  zu 
übei-sehen  und  die  Folge  der  Sätze  bis  zu  den  Grundsätzen  hinab, 
worauf  ein  Beweis  gegründet  ist,  so  mit  einem  Blick  zu  überschauen, 
dass  der  vorliegende  Satz  im  Grundsatze  selbst  erkannt  wird.  Eine 
zusammenhängende  Reihe  von  Schlüssen  gehört  nicht  füi-  Kinder  und 
•kann  von  ihnen  nicht  ftherBehsB  werden.  Wie  deutlich  ihnen  jedes 
ebadne  Glied  einer  aplchea  Kette  und  sein  ZnHamagiihaag  in  dem 
▼orheifeheiidflD  «ein  nag,  ee  feUt  ihnen  die  Kraft,  die  Glieder  ab 
ein  Ganzes  amosehen,  nnd  so  geht  ihnen  die  Einheit  des  Beweises, 
'  naeh  welcher  die  Folgerong  in  der  VoransBeteing  ab  nmertrennbar 
erUiekt  werden  eoU,  nnd  damit  die  eigentliche  Erideas  yerloiren,  wih 
doreh  die  Geometvie  eben  aninehend  und  hädend  wird.**  ünd  noch  yer^ 
echiedene  andere  Antoritäten  haben  es  wiederholt  aosgeeprochen,  dass 
Enklid  nicht  für  12-  Us  llttUirige  Knaben,  daaa  er  tlbeilianpt  nicht  Ihr 
Anfibiger  iat  (veigL  aneh  Mager:  „Die  dentaehe  BttigerMdinle^%  Eß 
wird  soviel  Aber  die  Erfolglosigkeit  des  wathematfaichen  nnd  besonders 
4m  geometrischen  Unterrichtes  geklagt;  man  meinte  sogar  lange  Zeit, 
dass  deijenige  Schiller  besonders  organisirt  sein  müsse,  welcher  in  der 
Mathematik  etwas  lernen  solle;  ja  man  fand  es  sozusagen  in  der  Ord- 
nung, verzeihlich  und  höchst  anständig,  in  der  Mathematik  nichts  zu 
wissen.  Welch  gewaltiger  Irrthum!  Die  Mathematik  ist  eine  reine 
Verstandeswissenschaft;  da  nun  alle  normal  organisiiten  Menschen  die- 
selben Vers  tan  deskräfte  haben,  so  kann  bei  der  häufigen  Erfolglosigkeit 
der  Fehler  nur  an  der  Methode  liegen.  Die  einzig  richtige  Methode 
kann  aber  nur  darin  bestehen,  dass  jeder  Schüler,  bevor  er  zum 
systematischen,  wissenschaftlichen,  formal  logischen  Gange 


*)  Graßmana,  Baumlehre  f.  Yolksschalen.  1817. 


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in  der  Geometrie  gelangt  und  über  den  inneren  Zusammen- 
hang aus  der  geometrischen  Entstehung  und  über  die  syste- 
matische Anordnung  der  geometrischen  Wahrheiten  reden 
und  denken  soll,  die  geometrischen  Begriffe,  den  geometri- 
schen Stoff  und  die  geometrisclie  Fertigkeit  und  Übung  durch 
Anschauung  kennen  lernen  muss.  Wie  einem  Schüler  die  Zahlen 
auch  anschaulich  vorgetührt  werden  müssen  und  er  das  "Rechnen  im 
Zahlenraume  von  1  bis  10,  von  10  bis  100  etc.  absolvirt  haben  muss, 
bevor  er  sich  mit  diophantischen  Gleichungen  beschäftigen  kann,  so 
ist  aucli  unbedingt  nöthig,  dass  der  erste  geometrische  Unterricht  —  sei 
es  in  der  Volksschule  oder  in  einer  höheren  ünterrichtsanstalt  —  An- 
schauungsunterricht sein  muss  und  mit  der  Betrachtung  von  Körpein 
zn  beginnen  lial  Das  Hans  kla^^t  so  oft  Aber  ÜberbBrdnng',  die 
Schnle  klagt  so  yid  Uber  nngentkgende  BefiUiigung,  Aber  Ignoranz  nnd 
Strebloaigkeit;  und  die  Schnld  Uegt  znm  grofien  Thefle  mit  an  der 
Yeikehrtheit  der  Methode:  ein  Lehrsaal  Ittr  Kinder  ist  kein  HOr- 
Baal  fflr  Akademiker. 

Es  ist  swar  neaerdings  Ton  oben  angestrebt  worden,  doch  fflr  das 
erste  Jahr  etwas  elementarer  za  veilftbren,  so  hat  s.  6.  die  oberste 
SchnlbehOrde  fflr  Prenßen  in  den  ErUaternngen  der  Lehrplftne  fflr  die 
höheren  Schalen  vom  81.  Mfirs  1882  in  Quinta  des  Gymnasinms  Bamn 
gesehaiFen  fflr  einen  propidentischen  Unterricht  in  derOeometrie.  Der 
einschlägige  Passus  lautet  auf  S.  25  'wörtlich:  „Die  fflr  VI.  und  V. 
angesetzten  Lehrstunden  gehören  dem  Bechenunterrichte  an.  Die  iiir 
V.  eingetretene  Erhöbung  der  Anzahl  der  Lehrstanden  ermöglicht  es, 
eine  wöchentliche  Lehrstunde  dem  Zeichnen  von  Figuren  mit  Lineal 
und  Zirkel  zu  widmen  und  durch  diese  methodische  Ausbildung  der 
Anschauung  den  davon  ausdrücklich  zu  unterscheidenden  geometrischen 
Unterricht  voi-zubereiten."  —  „Ausbildung  der  Anschauung"  wird  ge- 
fordert. Sehr  gut.  Aber  [dieser  Begriff,  so  einfach  und  klar  er  er- 
scheint, hat  in  praxi  die  wunderbarsten  Auffassungen  erfahren.  Was 
hat  man  nicht  alles  lür  die  armen  Quintaner  zusammengetragen  und 
aufgespeichert!  Projectionslehre,  Ahnlichkeits-  und  Congruenzlehre, 
Ornamentik,  Berechnung  der  Drei-  und  Vierecke,  Berechnung  des 
Cubikinhaltes  von  Prisma,  Cylinder  und  Kugel;  die|Correspondirenden-, 
Weclisel-,  Gegen-,  Ergänzungswinkel  und  wie  sie  sonst  ad  libitum  oft 
benannt  werden,  fehlen  aber  nirgends.  Es  ist  ein  wahrer  Jammer! 
(Wir  übertreiben  durchaus  nicht;  wer  sich  noch  eingehender  hierüber 


Bartholom äi,  Die  Geometrie  der  VoUuschale. 


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<n4eDtireii  und  die  betreffenden  Werke  kennen  lernen  will,  der  lese 
unsere  Besprechungen  der  geometrischen  Literatur  in  den  „Pädago- 
gischen Blättern",  begründet  von  Kehr).  Das  Zunächstliegende  wjlre 
aber  doch  die  Gewinnung  der  geometiischen  Grundbegriffe  und  zwar 
durch  eine  entsprechende  Betrachtung  yon  Körpern  etc.  Halten  wir 
fest,  dass  alle  Erkenntnis  auf  die  Anschauung  sich  stützen  muss,  so 
folgt  ohne  weiteres,  dass  jede  Schulspecies  des  geometrischen 
Ansc  Ii  a  Illings  unter  licht  es  bedarf,  dass  aber  eine  jede  derselben 
Auswahlund  Verai  beitung  des  Stofes  ihrem  geometrischen  Standpunkte 
gemäß  einzurichten  hat. 

Ja,  wir  gehen  noch  weiter;  die  Anschauung  und  das  geunietrisclie 
Material  wird  am  besten  zugleich  mit  der  formal-logischen  Form  ge- 
geben. Und  gerade  der  Grund,  welchen  die  Vertreter  des  gesonderten 
Anscliauungscursus  ins  Feld  fuhren,  „dass  der  wissenschattliche,  for- 
mal-logische Gang  in  größerer  Reinheit  auttreten  könne,  wenn  zuvor 
der  Schüler  das  ganze  geometrische  Material  in  elementar  anschau- 
licher Weise  kennen  gelernt  hat",  spricht  —  wenigstens  in  Hinsicht 
auf  die  YidlBBdiiile  —  für  Vereinigung  beldw  Kchtnngea.  Die 
gröBere  nBeinheit^  des  formal-logischen  Ganges  kann  leicht  zu  eber 
pedantischen  Systematik  ausarten  nnd  dem  größten  Feinde  aller  Un* 
teniditsbestrebungen,  nflmlich  der  Interesselosigkeit  nnd  Langeweile 
günstigen  Boden  bereiten,  znmal  bei  weniger  abstractionsflüiigen 
fichttlem.  Werden  aber  die  Anschannngen  mit  Conatmction,  Gombi- 
nation,  Determination,  Hessong,  Berechnung  etc.  verknöpft,  so  gestaltet 
tisk  der  ünterrieht  yUA  mannigfBltiger  und  daher  interessanter,  als 
wenn  jedes  getrennt  behandelt  wird,  gewiss  ein  m  beachtender  Factor, 
ziunal  im  mathematiaehen  Unterrichte. 

Summa  Summarum:  Die  Formenlehre  ist  die  elementare 
Stnfe  des  geometrischen  Unterrichtes,  doch  sie  ist  von  diesem 
unzertrennbar,  weil  di  e  Elementarstufe  stets  zum  eigentlichen 
Unterricht  gehört;  und  wie  z.  B.  beim  Rechenunterricht  keine 
selbstständige  „Zahlenlehre"  nöthig  ist,  sondern  die  concrete  Behandlung 
der  Zahl  mittels  Kugeln,  Würfeln,  Strichen  etc.  als  die  Elementar- 
stufe des  gesammteu  Rechnens  betrachtet  wird,  so  hat  auch  der  geo- 
metrische Anschauungsunterricht  als  Elementarstufe  des 
gesammten  geometrischen  Unterrichtes  zu  gelten,  aber  nicht 
als  selbstständiger  Lehrgegenstand.  Es  möchte  daher,  und 
zwar  auch  aus  den  oben  angetührten  Gründen,  zu  empfehlen 
sein,  die  Bezeichnung  Formenlehre  —  zumal  auch  der  Name 
nicht  gut  ist,  da  es  noch  andere  Disciplinen  gibt  (z.  B.  die 


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Grammatik),  die  es  mit  den  „Formen"  zu  thun  haben  —  voll- 
ständig fallen  zu  lassen  und  den  g&uzen  Unterricht  mit 
„Geometrie"  zu  bezeichnen. 

Wenn  die  oberste  Schulbehörde  für  Preußen  in  den  obenerwähnten 
BevStimraungen  für  Quinta  nocli  ganz  besonders  betont,  dass  die  für 
diese  Stufe  vorgeschriebene  Ausbildung  der  Anschauung  und  das  Con- 
struiren  von  Figui'en-  mit  Lineal  und  Zirkel  von  dem  geometrischen 
Unterrichte  „ausdrücklich  zu  unterscheiden"  ist,  so  ist  damit  noch 
keineswegs  gesagt,  dass  dieser  Standpunkt  der  richtige  sein  müsse. 
Es  kommt  immer  darauf  an,  bei  wem  man  sich  Baths  erholt;  ein  in 
seiner  Vissensehaft  verknöcherter  Profiessor  der  Mathematik  wird  aller- 
dings die  Geometrie  der  YolksBchale  gar  nicht  als  Geometrie  gelten 
lassen,  nnr  ist  es  meikwfirdig,  dass  es  an  den  homanistischen  Gym- 
nasien gerade  mit  der  Geometrie  nicht  selten  reeht  „windig"  anssiiBfat 
Vielleixäit  hat  das  preußische  Untenichtsmimsteiiiim  war  sagen  wollen, 
man  mOehte  ja  nicht  etwa  den  Stoff  für  Quarta  mit  anf  Quinta  «ns- 
dehnen  und  mit  Lehisätien,  Voranssetsangen,  Behaaptnngen  und  Be- 
weisen an  die  Qnintaaer  herantreten.  SoUte  dies  der  FWUi  sein,  dano 
sind  wir  der  genannten  hohen  Behfirde  sogar  sehr  dankbar.  Nnn, 
dass  die  Geometrie  in  den  Gymnasien  eine  andere  ist  als  in  den 
Yolksschnlen,  das  ist  selbstverständlich,  doch  es  ist  z.  B.  die  Botanik 
oder  die  Geschichte  in  den  Volksschulen  auch  eine  andere  als  an  den 
Uni?ersitäten  —  akademische  Wissenschaft  kann  nicht  Yolksschol- 
Wissenschaft  sein  —  und  doch  ist  der  Name  gleich;  wanun  soll  es 
hier  anders  sein?! 

Zum  Schlüsse  noch  eins. 

Die  meisten  Unterrichtsdisciplinen  erhalten  ihre  Begründung  in 
einem  Unterrichte,  welchen  wir  Anschauungsunterricht  nennen;  auch 
der  geometrische  Unterricht  muss  von  demselben  berücksichtigt  werden  *) 
Pestalozzi,  der  Begründer  der  Formenlehre,  hat  letztere  durchaus  nicht 
als  selbstständigen  Unterrichtsgegenstand  hingestellt,  sondern  sie  seinen 
„Anschauungs-  und  Sprechübungen"  eingereiht.**)  Die  elementarsten 
geometrischen  Begiiflfe  wie  oben,  unten,  links,  rechts,  senkrecht,  wage- 
recht, gleichlaufend,  Viereck,  Dreieck,  Kreis,  Körper,  Fläche,  Linie, 
kugelförmig,  walzenförmig  etc.,  müssen  schon  in  der  Unterclasse  ge- 
wonnen werden  und  zwar  nicht  zufällig,  sondern  absichtlich;  an  ge- 
eigneten Objecten  zur  Betrachtung  kann  es  ja  nicht  fehlen.  Es  ist 

*)  Hftrbait  verlangt,  dass  der  üoterricht  fai  der  AnffiMiiiag  des  Binnliekea 
eintreten  muss,  sobald  der  Untemeht  Oberhaapt  beginnt. 
••)  Grube  a.  a.  0. 


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—  613  — 


dies  nöthig,  weil  die  Cultur  des  Räumlichen  viel  Anstrengung  erfordert. 
Herbait  will  daher,  um  das  mühsame  Einprägen  zu  vermeiden,  die 
Elemente  der  Synthesis  schon  möglichst  frühzeitig  zu  Bestandtheilen 
der  täglichen  Erfahning  des  Kindes  machen;  er  will  deshalb  schon 
dem  Kinde  in  der  Wiege  die  geometrischen  Formen  anffUllig  gemalt 
oder  durch  glänzende  Nägel  auf  Tafeln  bezeichnet  fortdauernd  vor 
Augen  gestellt  wissen.*)  Und  wenn  dies  vielfeicht  auch  nicht  wört- 
lich gemeint  ist,  so  muss  man  doch  dem  zustimmen,  dass  mit  der 
Cultur  der  räumlichen  Vorstellungen  schon  mit  dem  Beginn  des  Un- 
terrichtes überhaupt  der  Anfang  gemacht  werden  muss.  Das 
Kind  darf  nicht  bis  zu  seinem  11.  oder  12.  Lebenegahre  ohne  alle 
Keaatais  der  rftmnlichen  Fonnen  nad  Beiiefaaagea  bletben,  weil  die 
Bilder  des  BäomHehen  fiut  fortwtOirend  unser  Vorstellea  begkitea, 
wtSL  die  inchügsten  Begriife  aaseree  Denkeas  Hetaphera  des  Banmee 
siad  aad  eine  Menge  geomeirischer  YentellBageBt  sowie  die  riumUcfaea 
Beiiehnagsbegriffe  swiscbea  Snitlect  aad  Objeet,  Streckea,  Biehtoagea, 
•Wiakel,  Drebnagea,  Figuren  aller  Art  BerflekaiehtigaBg  fordeca.**) 
Hier  bleibt  für  den  Anschaonngsanterricht  ein  laDgjfthrigeB  Un- 
recht m  sQhnen,  denn  wAhread  derselbe  bald  der  Nataxgeschicht^ 
bald  der  Onuamatik,  bald  dem  Stile,  bald  der  Qeographie  etc.  cor 
BegrOndaag  dienen  soll,  wird  an  die  Caltnr  der  geometrisehea  Tor- 
steOongen  nad  Begriffe  kaum  gedacht 

♦)  Her  hart  Bibl.  piülag.  Klassiker  Vni.  S.  91. 

**)  Es  ist  das  Uaapf.verdiunst  Fröbelä,  dass  er  der  AuBbildung  der  rftnm- 
li^fla  PhaatMi«  im  Mbai  KiDdeMlteir  mehr  sa  ihnm  B«ehte  TerliolfiBii  hat 


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Das  Karteueiehieii  als  Hilfsmittel  des  Unterriektes 

in  der  Brdkuide. 

.Man  Unit  ebt  n  nur  durch  Zeichnen  sehen,  nnd  M  ist 
gi'wiiw.  doM,  wer  eine  Stunde  sdrhnet.  mehr  fflr  seine 
Atischauunnkllft  gMriaat,  als  wer  zi-hn  Stunden 
bloB  sieht A  (D  i  e  s  t  e  r  w  e  g.) 

Der  Wert  des  Zdchnens  als  Mittel  zur  Erzielong  klarer  Vor- 
steUnngen  ist  schon  lange  von  den  verschiedenstoi  Pädagogen  an- 
erkannt worden.  Weist  doch  bereits  Bonssean  in  seinem  „Emil" 
darauf  hin,  wenn  er  beim  Unterricht  in  der  Geographie  verlangt: 
„Das  Kind  entwerfe  sich  selbst  von  allem  eine  Kante,  dieselbe  sei 
sehr  einfkch  nnd  enthalte  anfinglich  nur  zwei  Gegenstände;  diesem 
füge  es  nach  und  nach  die  flbrigen  hinzu,  sowie  es  dieselben  kennea 
imd  ihre  Entfernung  und  Lage  abschätzen  lernt"  Neuerdings  ist 
man  ja  bestrebt»  den  Griffel  auch  dem  naturgeschichtlichen  Unterricht 
dienstbar  zn  machen,  und  die  Thatsache,  dass  sich  von  Jahr  zn  Jahr 
die  Stimmen  hierfür  mehren,  scheint  zu  beweisen,  dass  man  gute  Er- 
fohmngen  in  dieser  Beziehung  gemacht  hat. 

Sollen  die  Zeichnungen  zur  Unterstützung  eines  Unterrichtsfaches 
ihren  Zweck  erfüllen,  so  sind  verschiedene  Anforderungen  an  dieselben 
zu  stellen.  Sie  müssen  v*)r  allen  Dingen  einfach,  klar  und  übersicht- 
lich sein,  müssen  das  Wesentliche  zur  Anschauung  bringen  und  das 
Nebensächliche  unberücksichtigt  lassen,  das  Ausschmückende  dem 
Charakteristischen  opfern.  Diesen  Anforderungen  entspricht  allein  die 
schematische  Zeichnung,  die  also  auch  einzig  als  Hilfsmittel  des 
UnteiTichtes  zur  Anwendung  kommen  sollte. 

Aber  auch  bei  dem  Verwenden  des  Zeiclinens  im  geographischen 
Unterricht  können  wir  die  alte  Wahrnehmung  machen,  dass  gute 
Mittel  bei  ungeschickter  Verwendung  entweder  wertlos  werden  oder 
gar  schädigend  wirken.  Und  wie  hat  man  das  Eartenzeichnen  bisher 
meist  betrieben?  Von  der  Einfachheit,  die  schon  Rousseau  betont,  war 
nichts  zn  spüren;  man  copirte  möglichst  genaa  die  als  Vorlage  dienende 
Landkarte.  Noch  deatUch  erinnere  ich  mich  ans  meiner  eigenen  Schul- 


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zeit,  dass  unter  uns  ein  reger  Wetteiler  darin  stattfand,  am  bestimmten 
Tage  eine  möglichst  große,  bunte  und  reichgefUllte  Karte  abzuliefera, 
und  dass  wir  in  diesem  Wetteifer  von  unseren  Lehrern  stets  ange- 
spornt wurden.  Noch  deutlich  erinnere  ich  mich,  wie  ich  wochenlang 
alle  Tagesfreistunden  opferte,  um  mögliclist  treue  und  zeichnerisch 
gefällige  Copieu  abliefern  zu  können.  Ebenso  klar  aber  ist  es  mir 
heute,  dass  dadurch  nicht  allein  meine  geographischen  Kenntnisse 
nicht  in  dem  der  angewaiidttu  Zeit  entsprechenden  Maße  geftirdert 
wurden,  sondern  dass  der  Körper  bedeutend  unter  der  Arbeit  litt,  ein 
Schaden,  der  durch  die  merkliche  Ausbildung  der  Hand  in  zeich- 
neriBcber  Hinsicht  nicht  aufgewogen  wird- 

Da  ist  es  denn  ganz  natfirlicfa,  dass  sich  gegen  das  Eartea- 
zdchnen  die  Opposition  regte.  Besonders  in  der  neueren  Zelt  haben 
sich  mehrere  gewichtige  Stimmen  mit  aller  £nt8diiedenheit  dagegen 
erhohent  so  dass  es  wol  am  Platse  ist»  sich  einmal  nfther  mit  der  An- 
gelegenheit des  Eartenseichnens  zn  beiSusen. 

Die  Gegner  des  Eartenzeichnens  haben  sich  die  Sache  insofern 
leicht  gemacht»  als  sie  die  zahUosen  Abgeschmackthexten  der  einzdnen 
Vertreter  dieser  Methode  geUebi.  Es  wird  darauf  hingewiesen,  dass 
Kinder  doch  unmöglich  die  ümrisse  der  thfliingischen  Staaten  ans  dem 
Gedächtnis  zeichnen  kCnnen,  zumal  wenn  mit  dieser  Aufgabe  die 
Forderung  größtmöglicher  Genauigkeit  Tcrbunden  wird,  dass  sich 
zahlreiche  Fehler  einschleichen,  die  Augen  zu  sehr  angegriffen  wer- 
den u.  s.  w.  Und  nachdem  so  die  einzelnen  Mängel  beleuchtet  worden 
sind^  zieht  man  den  Summirungsstrich  und  sagt,  wie  z.  B.  Tromnau- 
Bromberg:  „Die  Volksschule  .  .  .  muss  es  (das  Kartenzeichnen)  aus  päda- 
gogischen Gründen  verwerfen",  oder  man  sucht  die  Enll)ehrlichkeit 
desselben  mit  Leitzinger  („Zeitschrift  lür  Schulgeographie"  1888, 
Heft  TV")  durch  die  Vergleichung  darzuthun:  „Es  lässt  sich  der  aus- 
gezeichnetste Naturforscher  denken,  der  nicht  imstande  ist,  die  Gestalt 
eines  Pferdes  correct  aus  dem  Kopfe  zu  entwerfen'',  ein  meiner  Mei- 
nung nach  sehr  übel  gewähltes  Beispiel,  da  gerade  von  den  Natur- 
forschern möglichste  Ausbildung  in  der  Zeichenfertigkeit  lebhaft  ge- 
wünscht wird. 

Die  Gegner  des  Kai  tenzeiehnens  schie6en  weit  über  das  Ziel 
hinaus.  Indem  sie  die  Auswüchse  der  verschiedenen  Alethodeu  als 
Kriterium  ansehen  und  in  Anbetracht  derselben  das  Zeichnen  einftch 
entfernen  wollen,  schtttten  sie  das  Kind  mit  dem  Bade  aus.  ^t  sich 
wol  ein  einziger  unter  den  Gegnern  die  Mühe  gegeben,  darttber  nadi- 
zudenkeUt  welchen  Nutzen  das  Kartenzeichnen  im  geographischen 


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Unterrichte  gewähren  kann,  wenn  es  rationell  gehandhabt  wird?  Ihre 
Schriften  lassen  dies  wenigstens  nicht  erkennen.  Und  der  Mühe  wäre 
es  doch  wol  wert  gewesen;  denn  Männer  wie  Karl  Ritter,  Kirchhoft" und 
Heiland  werden  kaum  ohne  guten  Grund  das  Kartenzeichnen  warm 
empfohlen  haben.  Ist  es  doch  bekannt,  wie  Ritters  voi-züglicher  Vor- 
trag gerade  durch  die  Kartenskizzen,  die  er  während  desselben  eut- 
-wai^  in  wirksamster  Weifle  nnterstfltzt  wnrde. 

Um  das  EartensEeielineii  la  dem  Hilftmittel  za  machen,  welches 
es  ftr  dm  geographischen  ünterrieht  sein  kann  nnd  soll,  war  es  mr 
nöthig,  eine  yernttnftige  nnd  zweckentsprechende  Anwendung  desselhen 
zn  finden.  Diese  An^gabe  scheint  mir  durch  eine  neoe  Methode  ge- 
ltet zn  sein,  welche  wir  dem  Herrn  Bector  Otto  Bismarek,  Ortsschnl- 
inspector  in  Eüenbm^,  yerdanken.  Ich  hin  fiberaengt,  dass  die  Bis- 
marcksche  Methode  bald  zn  allgemeiner  Geltung  kommen  wird,  be-  ' 
eonders  da  sie  nicht  erst  lange  erprobt  zn  werden  brancht»  sondern 
schon  einePrüfnngszeit  von  zehn  Jahren  hinter  sich  bat,  bei  der  heute 
herrschenden  wilden  Jagd  nach  neuen  G^esichtsponkten  gewiss  ehie 
rfthmenswerte  Selbstyerleognang  des  Erfinders. 

Bevor  ich  an  die  Darstellung  der  Bismarckschen  Methode  gehe» 
bemerke  ich  vorweg,  dass  Bismarck  von  früheren  Bestrebungen  nur 
die  bereits  1821  von  Selten  angedeutete  Benutzung  geometrischer 
Figuren  übernommen  hat  und  auch  diese  in  wesentlich  anderer  Art 
Ich  bediene  mich  bei  der  Schilderung  der  neuen  Methode  der  kleinen 
Bismarckschen  Schrift:  „Das  Kartenzeichnen  als  Hilfsmittel  des  Unter- 
richtes in  der  Erdkunde"  (Wittenberg,  R.  Herrose,  1890.  Preis  40  Pf.) 
und  der  von  demselben  Verfasser  im  gleichen  Verlage  als  Hilfsmittel 
herausgegebenen  „Kartenskizzen  für  den  Unterricht  in  der  Ei*dkunde" 
(3  Curse  k  1,20  Mk.). 

Fundamentsatz  für  die  ganze  Methode  ist:  „Das  geogiaphische 
Zeichnen  ist  nur  ein  Hilfsmittel  des  Unterrichtes,  nicht  Selbstzweck." 

Kenntnis  der  Erdoberfläche  ist  eine  der  Forderungen  des  geo- 
giaphischen  Unterrichtes.  Wodurch  wird  dieselbe  erzielt?  Durch 
Schilderungen.  Aber  diese  Schilderungen  haben  sich  an  ein  Bild 
anzuschließen,  an  das  Kartenbild,  sfe  sollen  demselben  Ldieii 
einhattehen  und  sollen  allmahMch  den  Schüler  dazu  hinleiten,  beim 
Anblick  eiur  Karte  selbst  eine  Schilderung  geben  zn  kUnnen:  yon 
der  Karte  zn  lesen.  Aber  «Karten  sind  Stebe  der  Weisen,  und  es 
gehört  ein  bedeutender  Aufirand  Ton  Kraft  dam,  sich  ihren  £Hnn 
zn  Terdenüichen**,  sagt  der  bertthmte  Geogrsph  Oskar  FescheL 
kommen  die  geringen  Resultate,  die  gewöhnlich  im  Kartenlesen  er- 


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zielt  werden?  Für  die  Kinder  ist  das  Bild  der  Landkarte  ein  Laby- 
rinth, das  sie  verwirrt,  in  dem  sie  sich  verin'en,  und  sie  bedürfen 
daher  eines  Ariadnefadens,  der  sie  sicher  zum  Ziele  leitet.  Diesen 
Faden  gibt  nun  die  Bismarcksche  Methode  und  führt  hierdurch  zum 
wirklichen  Verständnis  der  Landkarte. 

Ausgehend  von  dem  Verfahren  der  Triangulation,  popularisirt  er 
dasselbe  fiir  die  Schule  und  gewinnt  hierdui'ch  für  die  zu  betrachten- 
den Gebiete  Dreiecke  oder  Vielecke,  welche  zwanglos  die  Grundform 
derselben  angeben.  Complidrte  mathematische  Figuren  sind  stets 
gemieden,  da  dier  TevfiMser  an  don  Gnmdsals  .feathait,  nur  kleinere 
Lftndergttbiete  auf  anmal  in  den  Kreis  der  Betrachtung  sn  lieben. 
Die  Fhuattnlb  werden  dnreii  eharalLteristiBehe  LnftUnieii  angedeutet, 
▼fthrend  sieh  ftr  die  Qehiigssflge  meist  ebeniUls  ein&ehe  mathe- 
matisdie  Figoren  als  Grundlage  ergeben.  So  entsteht  ein  ein&ehes 
Skelett  ans  wenigen  Linien,  das  bei  snner  AnsflUlnng  ein  klares, 
leicht  übersichtliches  Eartenbild  in  Form  einer  Skisze  bildet 

Von  ganz  besonderer  Wichtigkeit  ist  es,  dass  Bismarck  bei  Her^ 
BteUnng  des  Skelettes  anf  die  Anwendimg  des  Earteamallstabes  dringt, 
wodurch  die  Schüler  einen  Begriff  von  der  wahren  Ausdehnung  des 
betrachteten  Gebietes  erhalten,  ein  Erfordernis,  das  nur  gai'  zu  oft 
bisher  nnberücksichtigt  blieb.  War  doch  bis  heute  in  den  meisten 
Fallen  der  Maßstab  auf  der  Wandkarte  ein  „rudimentäres  Organ*^, 
mit  dem  man  nichts  anzufangen  wusste. 

Aber  wie  entstehen  nun  die  Kartenzeichnungen? 

Nachdem  an  der  Wandkarte  die  grundlegende  mathematische 
Figur  für  das  zu  betrachtende  Gebiet  aufgefunden  ist,  wird  die  eine 
der  Linien  mit  dem  Kartenniaßstahe  gemessen  und  in  dei'selben  Länge 
und  Lage  an  der  Wandtafel  gezeichnet.  Die  übrigen  Linien  werden 
nun  unter  Berücksichtigung  der  gemessenen  abgeschätzt,  eine  treff- 
liche Übung  des  Augenmaßes,  die  Neigungswinkel  der  Linien  zu 
einander  werden  mit  dem  Transporteur  gemessen,  worauf  denn  die 
von  den  Schüleni  gefundene  Grundfigur  in  den  richtigen  Verhältnissen 
von  der  Hand  des  Lehrers  an  der  Wandtafel  entsteht.  An  dieses 
Skelett  lehnen  sich  leicht  die  i^'ormen  des  Gebietsumrisses,  bei  denen 
durchaus  kein  Anspruch  auf  absolute  Genauigkeit  erhoben  wird.  Die 
Schüler  zeichnen  nnter  Benatzung  der  gleichen  Hilfsmittel  dieselbe 
Gestalt  hl  verjüngtem  Mafatabe  auf  ihre  Tafel  oder  in  ein  Heft 
Nun  versucht  man,  das  Chaos  der  Gebirgszüge  zu  entwinren,  indem 
man  auch  hier  für  die  Hanptzüge  die  Grundform  auftucht,  diese  dem 
Umrisse  elnftgt  imd  darauf  die  einiehien  Züge  leicht  den  Leitlinien 


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anschmiegt.  Die  Anreihung  der  außerhalb  der  Grundform  liegenden 
Gebirgszüge  dürfte  nur  geringe  Schwierigkeiten  machen.  Nun  werden 
die  Luftlinien  für  die  Flüsse  gesucht,  wenu  anders  die  Flussläufe 
nicht  schon  durch  die  Richtung  der  Gebirgsketten  genau  angedeutet 
sind,  und  an  der  Hand  derselben  entwickelt  sich  dann  ein  Bild  des 
Flusssystems  jenes  Gebietes,  das  zwar  nicht  jede  Windung  und 
KrQmmung  der  StrOme  wiedergibt,  wie  eine  Gopie,  das  aber  trots 
seines  schematisehen  ChaFskters  wegen  der  genauen  Hafte  der  Lnft- 
linien  eine  viel  klarere  Yorstellnng  yon  dem  Wesen  des  Elosslaiifee 
gewährt  als  jene.  Es  ermangelt  nun  nur  noeh  die  Eintragung  der 
gemerkten  Ortschaften,  die  nach  natOrlichen  Hericponkten  oder  nach 
Abschfttaongen  geschieht,  und  die  Eartenskizse  ist  fertig. 

Biese  Karte  entsteht  nnn  aber  nicht  etwa  in  weni^  Angenblieken 
als  ein  Oanies.  Sie  wird  als  Grundlage  wihrend  des  Unterrichtes 
allmählich  ans  dior  Landkarte  heran^geschllt  and  gewinnt  durch  den 
Vortrag  des  Lehrers  Leben.  Während  der  Schüler  die  ein&chen 
Striche  einer  Zeichnung  macht,  muss  seine  Phantasie  das  gezeichnete* 
Gebiet  durchschweifen  und  ihm  alles  das  ins  Gedächtnis  znrftckmfen, 
'  was  ihm  von  jenen  Gegenden  bekannt  ist.  Dann  erst  gewinnen  jene 
einfachen  Skizzen  ihren  vollen  Wert,  der  durch  Profilseichnnngen 
noch  wesentlich  gehoben  werden  kann. 

Die  Zeichnungen  des  Lelirers  sowie  die  des  Schülei-s  sollen  mög- 
liclist  einfach  sein;  deshalb  werden  z.  B.  auch  die  Gebirge  nur  mit  je 
einem  kräftigen  Strich  angedeutet,  da  die  Schraffirungsversuche  der 
Kinder  meist  reclit  unglücklicli  ausfallen  und  das  Kartenbild  nur  ver- 
unzieren. Dagegen  ist  es  zu  empfehlen,  dass  Lehrer  und  Schüler 
eine  farbige  Skizze  herstellen,  ersterer  mittelst  farbiger  Kreide, 
letztere  unter  Anwendung  von  Buntstiften,  welche  Kinder  bei  einiger 
Anleitung  bald  recht  geschickt  gebrauchen  lernen.  So  können  z.  B. 
die  Grund-  und  Luftlinien  roth,  die  Grenzen  grün,  Flüsse  blau,  und 
die  Gebirge  braun  angelegt  werden,  während  die  Ortschaften  mit 
Tinte  oder  Bleistift  herzustellen  sind.  Das  ^einfache  Kartenbild  ge- 
winnt  dadurch  sehr  an  Lebhaftigkeit 

Die  unter  Leitung  des  Lehrers  in  der  Schule  entstandene  Karte 
wird  in  genau  demselben  Mafte  dann  zu  Hause  in  ein  besonderes  Heft 
eingetragen.  Der  freie  Baum,  welcher  gewöhnlich  noch  an  irgend 
einer  Stelle  auf  dem  Kartenblatt  bleibt,  wird  dazu  benutzt,  in  den- 
selben noch  einmal  in  kleinem  Haflstabe  den  Grundriss  der  Karte  zu 
zeichnen,  dessen  Linien  die  richtigen  Ausdehnungen  beigemerkt  werden. 
Hierdurch  wird  [der  Grundriss  dem  Gedächtnis  fest  eingeprägt  und 


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ermögliclit  es,  den  Kartenumriää  auch  einigeriuaßeii  richtig  auä  dem 
C^edächtuis  zu  zeichnen. 

Es  steht  nun  ganz  in  dem  Belieben  des  Lehrers,  durch  mannig- 
fache Abänderungen  der  Skizzen  dieselben  immer  fester  einzuprägen. 
So  kann  er  z.  B.  Skizzen  entwerfen  lassen,  in  denen  nui-  die  Namen 
der  Halbinseln,  Inseln  und  Häfen  benannt  werden,  während  alle  an- 
deren Objecte  unbenannt  ble&Mn,  oder  es  werden  nar  die  Gebirge 
benaimt  etc.  ete« 

Da  sich  das  Zeichnen  gleich  an  den  Unterricht  anschließt»  nnd 
iamest  nur  da^enige  gezeichnet  wird,  was  gerade  besprochen  wurde,  i 
so  wird  diese  Methode  niemals  die  Klage  Aber  zu  großen  Zeiiyerbraach 
zulassen.  Kommt  doch  aof  einen  Zeitraum  von  drei  bis  Tier  Sdiul- 
wochen  im  Durchschnitt  immer  nur  eine  yollstSndige  ^"*^»Wmi> 

Treten  wir  nun  an  die  Beantwortung  der  Frage,  was  durch  die 
Anwendung  der  Bismarckschen  Kartenzeichenmethode  ifllr  den  geo- 
graphischen Unterricht  gewonnen  wird. 

Zunächst  dürfte  es  klar  sein,  dass  dnrdi  das  Skizzenzeichnen  die 
Landkarte  nicht  nur  nicht  verdrängt,  sondern  dass  ihr  durch  dasselbe 
erst  wahrer  Wert  verliehen  wird.  Das  Skizzenzeichnen  zwingt  ja  in 
seiner  ^Eigenartigkeit  zur  jgenauen  Betrachtung  der  Karte,  es  weist 
dem  Kinde  ja  Jerst  den!  Weg,  die  complicirte  Kartenzeichnung  richtig 
zu  verstehen.  Dann  \  aber  kommt  es  dem  kindlichen  Gedächtnis 
zuhilfe.  Statt  der  scheinbaren  Verwirrung  auf  der  Wandkarte  bietet 
die  Skizze  geregelte  (schematisirte)  Ordnung  in  feststehenden,  leicht 
merkbaren  raathematischen  Formen,  statt  der  Überladung  der  Land- 
karte hier  weise  Beschränkung  auf  dasjenige,  was  der  Unterridit  dem 
Kinde  bot.  Dass  liienlurch  die  Aussicht  auf  festes  Einprägen  des 
Gelernten  unendlich  wächst,  bedarf  keines  weiteren  Wortes. 

Sodann  bieten  diese  selbstgezeichneten  Skizzen  den  Kindern  vor- 
zügliche Hilfsmittel  zur  leichten  und  doch  gi'ündlichen  Wiederholung 
dar,  die  durch  keine  Nebeneindrücke  gestört  wird,  und  endlich  ist 
die  Bildung  des  Augenmaßes  und  die  Anleitung  dazu,  in  der  Einfach- 
heit die  wahre  Schönheit  zu  erkennen,  gewiss  nicht  gering  anzu- 
schlagen. 

Zum  Schlnss  noch  einige  Worte  über  die  Hilfsmittel  der  Bis- 
marckschen  Eartenzeichenmethode.  Die  kleine  anleitende  Schrift  ist 
schon  erwfthnt  Für  die  Hand  des  Lehrers  sind  femer  die  8  Curse 
mit  Kartenskizzen  {k  Cursus  1,20  Mk.)  bestimmt,  die  ftrbig  ansge* 
llihrt  sind.  Cursus  1  entfafilt  auf  11  Blatt  liitteleuroparDeutschlsnd, 
Cursus  2,  11  Blatt,  Europa  und  Cursus  8,  18  Blatt,  anfiereuropfiische 


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Erdtlieile.  Wenn  auch  im  allgemeinen  diese  drei  Curse  fUi*  den 
Lehrer  bestimmt  sind,  so  düi'fte  es  sich  doch  wol  empfehlen,  dieselben 
auch  besonders  kurzsichtigen  Kindern  in  die  Hände  zu  geben.  Metho- 
dische Bedenken  stehen  dem  wenigstens  kaum  entgegen. 

Von  ganz  besonderer  Wichtigkeit  sind  aber  die  in  dem  Herrose- 
schen Verlage  erschienenen  Skizzenwandtafeln  von  Bismarck,  die 
in  ihrer  Eigenart  etwas  ganz  Neues  in  der  pädagogischen  Literatur 
sind.  Sie  sind  die  Kartenskizzen  der  vorhin  genannten  (-urse  in  der 
Größe  80 : 65  cm.  Vorläufig  ist  nur  der  erste  Cursus  —  Mitteleuropa- 
Deutschland  —  11  Blatt,  im  Preise  von  8  Mark  erschienen.  Die 
Größe  der  Skizzenwandtafeln  ermöglicht  es,  dass  .sie  selbst  in  großen 
Classenräumen  von  allen  normal  sehenden  Kindern  scharf  aufgefasst 
werden  können.  Hervorgegangen  sind  sie  aus  der  Erwägung,  dass 
die  vom  Lehrer  an  der  Wandtafel  entworfene  Skizze  niemals  dauernd 
ist»  da  die  Tafel  stets  gebrandit  wiid.  Es  ist  aber  für  die  Schule 
Ton  Wert,  die  Idtende  Skizze  f^stzohalten. 

Ein  dreifaelier  Zweck  fällt  bei  den  Skizzenwandtafeln  besonders 
leicht  in  die  Augen.  Ilir  Platz  ist  neben  der  Wandkarte,  für  deren 
Labyrinth  sie  den  Kindern  die  Leitlinien  geben  sollen.  Als  besonders 
nützlich  aber  erweisen  sie  sich  im  Massenunterricht,  vorzugsweise 
jedoch  bei  Wiederholungen.  Jede  Unterrichtsstunde  soll  mit  Wieder- 
holung beginnen,  fordert  die  Pädagogik.  Wenn  aiber  das  TOtge- 
schriebene  neue  Pensrnn  absolTirt  werden  soll,  so  kOnnen  nur  wenige 
Ifinnten  fftr  die  Wßämhßllmg  Terwandt  werden.  Wib  Undeilidi  in 
diesen  FiUen  das  flbeifUlte  Landkartenbild  sich  erweist,  hat  wol 
schon  jeder  Lehrer  der  Geographie  in  seiner  eigenen  Praads  erfiihren. 
Da  treten  nnn  helibnd  die  Skizzenwandtafehi  ein.  In  seiner  Über- 
aichtUchkeit  ist  der  Idialt  emer  einzehien  TtM  in  einigen  lünnten 
abgingt«  das  Bild  g^chzehäg  wieder  in  seiner  YoUen  Klarheit  ins 
G^edfichtnis  znrflckzanifiBn,  nnd  man  wird  in  den  meisten  Fällen  in 
dner  Stande  mehrere  Wandtafeln  zur  WiedeAolnng  biingai  lüSmuaL 
Dies  gewährt  wiederum  den  groAen  Vortheil,  dass  selbst  ein  umfang« 
reiches  Pensum  in  einem  Jahre  den  Kindern  wiederholt  vorgeftthrt 
werden  kann,  wodurch  der  Sicherheit  im  Wissen  beträchtlich  ge- 
holfen wird. 

Endlidi  aber  dienen  die  Skizzenwandtaiebi  als  vorzBglich  ans- 
geftthrte  Zdchenvoilagen  beim  Classennnterricht  Sie  bieten  in  dieser 
Hinsicht  besonders  demjenigen  Lehrer  ein  willkommenes  HUfiimittel, 
der  keine  große  Fertigkeit  im  Zeichnen  an  der  Wandtafel  besitzt 


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Die  Kartenskizzen  sowol  als  auch  die  Skizzenwand  tafeln  sind  in 
dem  weltbekannten  Institut  von  Giesecke  &  Devrient  in  Leipzig  aus- 
geführt, Bürgschaft  genug  für  ihre  Genauigkeit  und  Eleganz. 

Ich  bin  der  festen  t'berzeugung,  dass  die  Bismarcksche  Karten- 
zeichenmethüde  einen  großen  Fortschiütt  auf  dem  Gebiete  des  geo- 
graphischen Unterrichtes  bedeutet,  und  dass  sie  zum  Heile  für  diesen 
Unterrichtsgegenstand  allen  Gegnern  zum  Trotz  den  alten  Grundsatz 
wieder  zur  Ehre  bringen  wird: 

Nolla  dies  sine  lineai 


Mhioglak  lt.  Mag,  ym.  Btft. 


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Sport. 

£iiidfe  Jahre  lind  im  Lud  gezogen,  Mit  wir  in  diesen  Blftttem  auf 
die  Schftden  im  Culturleben  des  Banernvolkes  bingrewiesen  und  glelAaeitig 

anzadenten  versucht  haben,  wie  durch  eine  heilsame  Wechselwirknnf?  zwischen 
Volk  und  Intelligenz  jene  Übelstände  zu  beseitigen  oder  dtnih  zu  niild^^rn 
wären.  (IV.  Jahrg.,  6.  Heft:  „Volksbildungsmittel''.)  In  dieser  Spanne  Zeit 
hat  sieh  in  den  einiehlägigen  VerhUUdnen  niehts  geKndert;  gar  langsam  treibt 
daa  Ktthlrad,  wenn  der  Himmel  nur  spärlich  Wasaer  spendet.  Damals  be- 
tonten wir  hauptsächlich  die  Fehler,  welche  auf  seiton  <ler  Bauern  liegen, 
heute  wollen  wir  uns  mit  einer  Erscheinung  beschäftigen,  die  uns  in  weiten 
Kreisen  der  Gebildeten  entgegentritt.  Hierbei  müssen  wir  wieder  vor  allem 
danlibar  anerkennen,  daas  görade  diese  Zdtschrift  ans  Gelegenheit  bietet, 
caltarelle  Fragen  solcher  Art,  die  für  die  Volkserziehaog  von  hoher  Bedentong 
sind,  vor  pädagogisch  gebildeten  Tjesern  zu  behandeln. 

So,  wie  in  lilngstvergangen^'n  lalirlinnderten  religiöse,  ethische  Probleme 
die  Qemüther  beschäftigten  (Humauismus,  Reformation),  so  werden  heute  die 
hnromgendea,  fBhrenden  Geister  der  Nation  von  Fragen  politiseher  nnd  ▼olKs» 
wirtschaftlicher  Natnr  inSpaanang  gehalten  (Parlamentarismus,  Nationalismus, 
Socialismus),  während  die  große  Menge  des  N'olkes  in  dem  aufreibenden 
harten  Wettbewerb  um  Erriugung  materieller  Lebensgüter  nicht  zur  ruhigen 
Einsicht  in  Dingen,  die  den  inneren  Menschen  angehen,  kommen  kann.  Diese 
Zeitatrihnnng  bringt  nnn  BndidnQngen  satage,  welche  ericennen  laiaeo,  dass 
in  deiaslben  unsere  gebildete  Gesellschaft  vielfach  verfladkt  nnd  ▼<«  der  Er- 
strebung ethisch  fördernder  Ziele  abp^elenkt  worden  ist. 

Das  l'lx'iwieg^on  politischer  und  socialer  Fragen  ist  durch  unsere  der- 
maligen Bedürtuisse,  durch  die  ganze  Entwicklung  unserer  Staatengebüde 
bedingt,  nnd  daran  etwaa  indem  an  wollen,  wire  nidit  nnr  eine  Tergebliehe 
Ktthe,  sondern  auch  ein  adur  n  TernTtheilendes  Beginnen,  weil  dadurch  die 
nothwendige  Entscheidung  über  Fragen,  welche  das  Volkswol  nahe  betreffen, 
vereitelt  oder  verzögert  werden  könnte.  Dagegen  müssen  wir  aber  alleiding^s 
Sorge  tragen,  dass  nicht  in  Verfolgung  jener  Richtung  eine  übergroße  Ein- 
aeitigkeit  sich  breit  mache,  doreh  wetehe  hShere  menschliebe  Zwecke  geschädigt 
werden  miissten.  Und  hier  dünkt  es  nns  nun  von  besonderem  Vortheile,  gerade 
eine  jener  Erscheinungen,  von  denen  zu  Ende  des  vorigen  Absatzes  die  Bede 
war,  welche  besonders  detitlich  das  (iepriiire  der  Zeit  trägt,  einer  näheren  Be- 
trachtung zu  unterziehen,  um  das  Fehlerhatte  daitin  zur  klareren  Erkenutnia 
an  bringen. 


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—  52S  — 


Wir  haben  die  Art  nnd  Weise  im  Aagre,  wie  sich  heutzataye  die  Sport- 
mäßigkeit ia  allea  Dingen  bemerkbar  macht.  Das  Wort  „sport^  bedeutet 
im  Englischen  tovid  wie  Spiel,  BelnsUgaDg,  SpaB,Vergnägen,  Zeitvertreib; 
waxk  die  Jagd  wird  d*nuiter  rmUnäm^  DieM  Begrilfe  keannialiiieii  Im 
Chnmde  anch  Jene  Gewohnheiten  und  Übanr>'n,  die  wir  Dentschen  keoto  mit 
dem  Aasdrucke  „Sport"  belegen.  Der  Sport  muss  hauptsiiclilich  einem  Ver- 
gnligen  dienen.  D.;r  Botengänger,  der  den  ganzen  Tag  herumläuft,  betreibt 
nicht  Sport,  weU  er  sich  mit  «einem  Gehen  das  Brot  verdient;  wol  aber  be- 
treibt Iba  der  „Dtotaiuffeber*,  der  fkreiwUUg,  ohne  einen  anderen  Nntami  ab 
die  etwaige  Aassicht  aaf  den  „MeiBterschaftspreis''  zu  haben,  sich  seine  Alf- 
gäbe  gestellt  hat;  streng  genommen  darf  auch  schon  ein  „Distanzläufer"  von 
Profeesion,  der  aus  seiner  körperlicheu  Übung  ein  Geschäft  macht,  nicht  melir 
nli  richtiger  „sportsman"  gelten,  nnd  wird  eigentlich  —  ebenso  wie  der 
ajodny*  —  nur  deshalb  an  den  Sportkreisen  geilhlt,  weil  dnreh  sdne  Knnit 
der  Sport  im  aUgemeiDen,  das  Vergnügen  anderer,  zu  höherer  Blüte  gebracht 
werden  kann.  Ebenso  betreibt  ein»^r  Sport,  der  leidenschaftlich  alte  Cigrarren- 
spitzen  sammelt,  nur  um  sagen  zu  können,  er  besitze  so  und  so  viel  von  dieser 
nnd  von  jener  Gattong  —  während  ein  anderer,  der  dieser  Beschäftigung 
ernstere  Zwecke  nnteriegt»  etwa  nm  die  Entwiclnlnng  dar  .Heenehanm» 
drechalerei  zn  itndiren,  nicht  mehr  ein  bloa  sportmiftiger  Sammler  genannt 
werden  darf. 

Anfänglich  war  aller  Sport  nur  auf  körperliche  Leistungen  gerichtet. 
Die  älteste  Form  desselben  war  wol  die  Jagd,  die  bald  nachdem  sie  aufgehört 
hatte,  dem  Menaehmi  seinen  Lebensnnlerbalt  an  liefern,  nur  mehr  sportmMMg 

betrieben  wurde.  Daran  schlössen  sich  gymnastische  Übungen  (Waffentänae), 
das  Fechten,  Fahren,  nnd  in  spJUeren  Zeiten  das  Reiten,  Schießen,  Schwimmen, 
endlich  das  Rudern,  Radfahren  u.s.  w.  Immer  handelte  es  sich  bei  der  Pflege 
des  sportlichen  Vergnttgens  nm  die  Erreichung  der  höchstmöglichen 
Leistnng.  Daher  finden  wir  «<dion  fHUiseitig  die  OepflogwMt,  Wett- 
bewerbe zu  veranstalten. 

Im  Wechsel  dor  Zeiten  wurden  auch  Farbe  und  Richtung  des  Sportwesens 
verändert  —  dtn  jeweilig  herrschenden  Auslohten  und  Bestrebungen  ent- 
sprechend. In  unseren  Tagen  mit  ihrem  hochentwickelten  Schreibstnbenlebea* 
nnd  Beamtenwesen  hat  der  kSrperiiehe  Sport  schon  vom  Standpunkte  der  Oe- 
sundheltqifloge  eine  besondere  Bedeutung  gewonnen;  es  fBUt  Ja  jeder  beim 
Verlassen  seines  „Bureau"  das  Bedürfnis,  dem  vom  Sitzen  ermüdeten  Körper 
einige  Übungen  der  Muskeln  und  Lnngen  zu  g-önnen.  Diese  t'bun^eu  nehmen 
dann  leicht  die  Form  des  Sportes  au.  Auch  die  nVereiusseligkeit"  unserer 
Zeit  Ist  derEntwickelnng  des  Sportes  günstig.  Wir  sahen  denn,  wie  der  Sport 
immer  weitere  Kreise  zieht.  Was  oft  die  kärglicher  zugemessenen  Mittel  dem 
Einzelnen  nicht  gestatten,  das  ermog-licht  ihm  die  Vereinigung  mit  anderen 
zu  gemeinschaftlichem  Zwecke  im  reichsten  Maaße;  so  ist  die  Ausübung  sport- 
lichen Zeitverireibeji  nicht  mehr  an  die  VVolLabenheit  gebunden,  die  ver- 
adiledensten  OeaeUsohaftsdasaen  bethefligen  sich  an  demselben.  Natflrlich 
steigern  sich  infolge  dieser  weiten  Ausbreitung  des  Sportes  anch  gewisse  Be* 
dtirfnisse,  welchen  das  Gewerbe  abzuhelfen  hat.  Es  entwickelte  sich  eine 
eij^ene  Sportindustrie,  welche  die  neue  RichtuniE^  ausg^iebig  pflegt  und  ihr,  wo 
es  nur  angeht,  eine  einträgliche  Seite  abzugewinnen  bestrebt  ist.  Hierdurch 

»7» 

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—   524  — 

wird  Wiederau  die  allgemeiue  Aufmerksamkeit  enrcf^,  die  Sacke  „populär'* 
nad  «ndlidi  —  cor  Mode  gemacht 

t)bertreibaiig:  und  die  Sucht  nach  AuBergewöhnliohem  dnd  Merkmale 
unserer  blasirten  Zeit,  in  der  ^schpn  alles  einmal  dagewesen";  aofort  wurden 
sie  auch  dem  Sportwesen  aufgedrückt,  und  dasselbe  trug  hinwieder  nicht  wenig 
zur  Verschärfung  dieser  EigenthUmlichkeiten  bei.  £s  ist  jetzt  eigentlich 
Hiebt  mehr  um  die  bettmSgliche,  tondeni  um  die  mttglichat  aaAer* 
gewVbnliche  Leistung  zu  thun;  am  ausgeprägtesten  finden  vir  dieaas  Be* 
streben  in  den  beliebten,  den  Inbegriff  alles  Sportes  umfassenden  „Exoentric- 
Clubs'*.  Dieser  Endzweck  ist  jetzt  ausschlaggebend  geworden,  und  wenn  auch 
betont  werden  muss,  dass  im  Einzelnen  ausnahmsweise  auch  die  alte,  ei'uster& 
Artmig  dea  Sportea  aick  rein  eriialtan  hat,  ao  kann  doeh  nicht  gelangnet 
iretden,  dass  im  ganaen  nnd  groBen  daa  eigentliche,  niaprüngliche  Ideal  v«r- 
wiadit  worden  ist. 

Durch  die  Betheiligung  verschiedenartiierer,  weiter  Kreise  an  der  Sport- 
pliege,  infolge  des  liierbei  bethätigten  Strebens  nach  Außergewöimlichem,  Auf- 
fiOtondiB,  und  endlich  aadi  dem  großen  Zuge  der  Zeit  entapreehend,  «md» 
aanolt  derSpcErt  anf  Änflerlichkeiten  hingedrtngt.  Anf  Nebenaachen  hat  ua» 
ein  scharfes  Auge,  auf  die  Erfüllung  gewisser  Förmlichkeiten  wird  ein  großes 
Gewicht  gelegt.  Es  hat  sich  ein  ganz  eckiger  Geschmack  entwickelt,  der  nur 
das  Zweckmäßige,  Glatte  und  das  eben  durch  diese  Eigenschaften  besonders  Auf- 
fallende pflegen  will.  Man  hat  ^HHihemden,  Sporthosen,  SportHldce,  Sport- 
waaten,  Sportaohnhe,  Sporthttte,  ebensolche  Halabinden,  Bnaennadeln  nnd 
Handschuhe  im  Gebrauche,  —  mit  einem  Wort,  man  hat  jene  eigenthüniliche^ 
allüberall  in  der  ganzen  Welt  sich  bemerkbar  machende  sociale  Eiseh<'innng 
ins  Leben  gerufen,  die  der  Wiener  spöttisch  mit  dem  Ausdrucke  „Gigerlihuui**' 
n  baniiftiieB  beliebt»  uid  deren  Vertreter  er  „Gigerln**  nennt  Unter  dieaer 
Beseiohamig  ist  nach  dem  Wiener  SpraohgelOhle  etwas  QekUnateltea,  Über* 
tliebeneaf  Haltloses  zu  verstehen.  Der  richtige  „Gigerl"  muss  schon  in  seinem 
Äußeren  —  und  das  ist  ja  bekanntlich  die  Hauptsache  —  seine  Artung  zur 
Schau  tragen,  indem  er  alle  jene  früher  erwähnten  gewerblichen  £rzeugnis8& 
gewiaaeohalt  bemitst;  beaacht  er  dann  nm^  an  Men  Sonntagen  den  »Tlirf  * 
•nd  gehOrt  er  etwa  andi  einem  Badlhhrer»  oder  Bnderdnb  an,  ao  ist  er  voll- 
atlndig  —  npschtttt«. 

Die  ungeheure  Vermehrung  der  Zahl  der  Halb-  und  Dn  iviertel-Gebildeten,^ 
die  sich  mit  Vorliebe  der  Behandlung  von  wissenschaftlich  aussehenden  Dingen 
widmen;  das  allgemeine  Beatreben,  gelehrt  nnd  wi^1%  m  thu;  die  Vor» 
aeklebnng,  welche  nenerer  Zeit  in  den  VeraBgenaverhitlUiiaMin  elngötreten  ist», 
wonach  es  neben  einer  Anzahl  von  Armen,  auf  kärglichen  Hände verdienat 
Angewiesenen  auch  eine  große  Menge  von  Reichen  gibt,  die  mit  ihrer  freien 
2ieit  nichts  anzufangen  wissen;  —  alle  diese  Umstände  bewirkten,  dass  zuletzt  der 
Sport  auch  auf  geistiges  Gebiet  äbertragen  wurde,  das  heifit, ee werden 
hewte  nicht  nar  kttrpeiüeliek  aondem  amdi  Angeiegonkeiten,  die  das  mnschliehe 
Benkaii  und  Ffihlen  betreffen,  einer  rein  aportuSAigen  Behandlnngsweise  unter- 
zogen. Diese  Erscheinung  steht  in  innigem  Zusammenhange  mit  dem  f  ber- 
handnehmen  des  Dilettantismus;  allein  der  Dilettant  fasst  im  ganzen  seine 
Thätigkeit  doch  noch  emster  auf  als  derjenige,  welcher  nur  Sport  betreibt, 
and  dem  ee  hauptsächlich  auf  eine  bemerkbare  Wirkung  nach  anfiea  ankommt» 


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—   525  — 

FaaMn  wir  nan  das,  was  wir  in  wenigen  Worten  tber  die  Entwiekelnog 
tind  den  gegenwärtigen  Stand  des  Sportes  gesagt  haben,  zusammen,  so  er2:ibt 
«ich,  dass  wir  heute  unter  Sportniäßigkeit  anf  geistigem  Gebiete  eigentlich 
folgendes  zu  verstehen  liaben:  Alle  ernste,  gründliche,  in  die  Tiefe 
gehende  Arbeit  ist  der  epertnftßigeii  Behandlnngtweiie  inwider, 
da  diese  ja  eigentlich  schon  von  jeher  mehr  anf  das  Vergnfigen, 
■das  Spiel  angelegt  ist;  die  Sportmilßigkeit  hat  es  heute  hauptsäch- 
lich auf  ünßere,  in  die  Aagen  springende,  überraschende  Wir- 
kungen abgesehen. 

Das  Wolgefallen  am  Sportmäßigen  hält  die  weitesten  Kreise,  namentlich 
unsere  Jugend,  gefimgen;  es  gehSrt  sam  gatm  Ton,  irgend  eioett  Spert  m 

treiVton.  und  wenn  einer  „recht  was  Dummes*  Mutollt,  dann  entschuldigt  matt 
ihn  damit,  dass  dies  „halt  sein  Sport"  sei,  ebenso  wio  der  Wiener  Gassenbube, 
der,  seinen  irgendwo  ergatterten  Cigarrenstuinpf  in  einem  versteckten  Winkel 
schmauchend,  zum  „Spezi"  sagt:  „Du,  des  is  dir  schon  Spurrt!"  Dieses  Wort 
^Spnrrt"  lat  aneh  noch  von  Jeaer  wngerechten  Bewegong  der  voigettrecktea 
Fanit  mit  weggespreisfeeBi  Danmea  begleitet. 

Durch  die  Ansbreitang  des  Sportee  aieh  tber  geistige  Gebiete  wurde 

demaeUwa  der  weitestgehende  BiitflnM  anf  muer  gesammtes  Leben  gesichert. 
Er  gewann  eine  Beden tung,  die  er  nie  vorher  gehabt  hatte;  leider  aber  trug 
dieser  Umstand  der  Gesammtbeit  keinen  Vortheil  ein,  und  wir  wollen  nun 
versuchen,  an  einzelnen  Beispielen  diese  Behanptnng  zu  begründen. 

Die  Sportmäfligkeit  in  wissenschaftlichen  Dingen  äußert  sich  vornehmlich 
in  allea  Arten  dee  Sammelsportes.  Derselbe  bat  altovdinga  «Im  gewisses 
Interesse  an  irgend  einer  Wissenschaft  snr  Vortassetanng,  allebi  dieses  Inter- 
esse dringt  nicht  tiefer  ein,  sondern  verbreitet  sich  nur  Ober  Äußerlichkeiten, 
<iabei  finden  die  EfFecthascherei  und  der  Vergniigungszweck  volle  Befriedignng. 
£s  wird  der  Honigseim  vom  Rande  der  Schale  genippt.  Der  wissenschaftliche 
Anstrich  moss  sam  Anlauts  dienen  nnd  wird  deshalb  besonders  wert  gehaltra. 
Vorzüglich  beliebt  Ist  das  Sammeln  von  Alterthümem.  Hf  an  sammelt  ans  der 
Stein-,  Bronze-  und  Eisenzeit;  man  sammelt  Waffen,  Kleider  und  Geschmeide 
—  der  eine  ansschließlich  dies,  der  andere  jenes.  Schon  das  Specialisiren  an 
«ich  muss  zur  Erhöhung  des  wissenschaftlichen  Ansehens  dienen.  Dieses 
Sammeln  MixMt,  dm  yerOeil,  dass  sidi  bei  demselben  allerhand  wolfeile  Ge- 
lehrsamkeit anfwenden  lisst;  so  kann  also  einer  leicht  Ar  eteen  Historiker, 
Anthropologen  oder  Ethnographen  gehalten  werden.  Wie  viele  „Literatur- 
frennde"  gibt  es,  die  nichts  weiter  als  Büchersport  treiben  und  in  dem  Zu- 
sammentragen von  Büchern  verschiedener  „Editionen"  ihr  einziges  Vergnügen 
linden,  ohne  diese  Bftcher  zu  lesen,  geschweige  denn  einen  tieferen  Nutzen  als 
«Ine  leere,  anf  den  Lippen  getragene  B^ielstwong  „fftr  die  groBen  CMsfeer 
4er  Nation"  darans  zu  ziehen.  Von  jeder  dieser  einzelnen  Abarten  von 
^„Sportsmen"  sind  nns  bestimmte  Exemplare  im  Leben  bekannt.  Viele  solcher, 
l>esonders  auffallender  Figuren  hat  auch  der  bekannte  Wiener  Schriftsteller 
Friedrich  SchlCgl  geschildert.  Man  findet  sie  unter  Jungen  und  Alten,  M&nn- 
lein  nnd  Weiblein;  bei  allen  Feilbietnngen  ▼mtKnustgegensandenodsr  Biebern 
«Ind  sie  scharenweise  zn  treffen.  Da  gibt  es  Damen  in  schwarzer  Kleidung, 
mit  Nasenkneifem  (obwol  sie  ohnedies  nicht  knrasiehtig  sind),  und  Hftnner, 


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—  526  — 


die  ständig  einen  Katzenbuckel  machen,  nm  rar  Schan  a. tragen,  urie  Mkwer  * 
sie  ihre  Wiseenschaftliclikeit  niederdrnckt. 

Eine  Abart  des  Sammelsportes  mass  aach  zur  ErgftozuDg  dctWohnnngs- 
sportea  dienen.   Dieter  iMstelit  an  md  Ar  lieli  In  dam  Bestreben,  aeina 

Wohnnng:  so  sehenswert  als  möglich  einzurichten,  wobei  es  natürlich  weit 
mehr  auf  äußere  Effecte  ankommt,  als  auf  stilvolle,  die  Sinnes-  und  Gemüihpai  t 
des  Eigenthümers  bekundende,  behagliche  Aut^stattung  der  Wohnräume.  Die 
hohe  Entwickelang  des  Kunstgewerbes  ermöglicht  es  ans  heute,  dasa  wir  uns 
ait  Vielgestaltigen  Erzeugnissen  eines  guten,  gellnterten  Geadnnaekea  nm- 
gaben;  —  aber  wie  viel  wlri  hier  geaHndigt  dnrch  t)lwrtreibQngen  in  der 
Form  und  in  den  Mengen! 

Eine  Wohnung,  die  den  sportlichen  Aiifurderungen  gentigen  soll,  mnsa 
sehen  vor  allem  anderen  eine  etwas  weitläufigere  Gliederung  in  ihrer  Anlage 
anfvreisen.  Sitninunar  („Salon*),  Spaiae-  ,Sch]af-  nnd  Damenzinnier  («Bondoir"), 
Herren-,  Banch-,  Efpiel-,  Badezimmer  n.  s.  w.  —  das  sind  so  die  unerlässlichen 
Räumlichkeiten,  wenn  eine  Wohnung  hallwegs  „fashionable''  sein  soll;  dann 
muss  dieselte  auch  zugleich  in  einem  eleganten  Stadtviertel  und  einem  schon 
von  außen  eleganten  Hause  liegen.  „Wenn  man  sich  mit  einem  bloßen  Obdach 
hegnflgen  will,  dann  wird  man  adne  Anaprfteha  niederer  atellen*,  tagte  mir 
einmal  eine  Mietpartei,  die  zweitausend  Gulden  Jahreszins  für  ihre  Wohnung 
bezahlt  —  nnd  ich  hätte  gedacht,  dass  zwischen  einem  einfachen  „Obdach" 
und  einer  theueren  Stadtwohnung  denn  doch  ein  größerer  Unterschied  bestünde. 
Die  innere  Ausstattung  der  Wohnräume  muss  so  effectvoli  als  möglich  ge- 
lialten  aein;  ea  liandalt  ridi  dabei  nicht  um  Oedkgenheit  nnd  geachmackvoUe 
Form,  sondern  um  Auf&llendes,  den  Besucher  überraschendes.  Und  hier  greift 
eben  auch  der  Saromelsport  herüber.  Man  trägt  alles  Mögliche  in  so  eine 
Wohnung  zusammen:  Figuren  aus  Tanagra,  alte  Kröge  aus  verschollenen 
Burgen,  Waffen  aus  den  Kreuzzügen,  Sessel  und  Bänke  aus  NOmberger 
FatiieiarhHiiaero,  Ttepplehe  ana  daan  Orient,  Ungehener  ana  Japan  nnd  ün- 
ainniges  ans  aller  Welt.  Das  hat  es  allea  früher,  da  der  Sport  noch  nicht 
seine  allumfassende  Ausbreitung  gewonnen  hatte,  nicht  gegeben;  aber  die 
Zimmer  mit  ihren  weißen  Fenstervorhängen  nnd  den  guterhaltenen  Möbeln  ans 
Großvaterszeiten,  an  die  sich  tausend  Erinnerungen  knüpften,  waren  gewiss 
ivohnlicher  nnd  anhalmelnder  ala  mmn  hentlgeii  Wohnritanae  mit  ihrem  Icalten 
Prunk,  ihren  yon  Jedem  HObelhändler  zu  erstehenden  Schaustücken,  bei  deren 
Anblicke  wir  uns  an  keinem  freundlichen  Eiinnei-ungsbilde,  das  fie  in  unB  er» 
wecken,  erwUinien  können,  da  sie  ja  nur  von  heute  auf  morgen  erworben 
worden  sind.  Heutzutage  zeigen  die  Hausfrauen  ihren  Besuchern  die  äußeren 
Vorsfige  nnd  Efgenthtlmliehkaiten  ihrer  Wohnung,  wie  aie  ehemala  dieaelban 
mit  dem  reichen  Inhalte  der  Schrftnlte  vertraut  machten  nnd  gerne  die 
Menge  der  selbstgefertigten  Leinenwäsche,  Stickereien  u.  dergl.  bewundern 
ließen.  Dieser  Unterschied  i^^t  wiedt  r  bezeichnend  für  die  auf  Äußerlich- 
keiten gerichtete  Sportmäßigkeit  unserer  Zeit. 

Die  heaprodMueB  Sportarten  alnd  IndcaMii  nur  privater  Natur.  Enister 
müssen  jene  ÄnBarungen  der  S^Hirtiuat  genommeii  werden,  welche  die  AU* 
gemeinheit  berühren. 

Der  hentige  Sfort  bekundet  auch  darin  den  Zup  unserer  Zeit,  dass  er 
aich  eines  Gebietes  bemächtigt  hat,  auf  welches  gegenwärtig  die  allgemeine 


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Aafmerksamkeit  gerichtet  ist,  —  des  Gebietes  der  Politik.  Hier  liat  nnn 
der  Sport  viel  erustliclies  Unheil  gestiftet,  denn  derjenige,  welcher  sportmäßig 
Politik  betreibt,  bat  es  nur  auf  äaßera  Erfolge  abgesehen  and  sucht  gew^n- 
Ueh  efaMn  Ansnahnrntondiwiikt  etnsnnehiMB,  der  reoht  «nflUleiid  iit  Bs 
mig  flberraschen,  dass  sich  viele  gerade  für  den  politischen  Sport  erwärmen; 
man  sollte  doch  meinen,  dass  die  Beschäftigung-  mit  den  sich  drängenden 
TagMfragen,  den  aufregenden  Parteikämpfen  gar  wenig  Anziehendes  für  den- 
jenigen, der  sportliches  Vergnügen  sucht,  in  sich  schließe.  Und  dennoch  sehen 
wb  nidit  nur  fUmiide  PenSnlleUnitfln,  Mndera  andi  einen  gewaltigen  An- 
hängertross  politischen  Sport  betreiben;  bei  den  ersteren  finden  wir  Kampfee- 
frenriigkeit,  Eitelkeit,  manchmal  sogar  natürliche  politische  Talente,  bei  dem 
letzteren  vorzugsweise  das  Behagen  an  Wirtshausgesellschaften,  als  Beweg- 
gründe, welche  das  Eintreten  in  das  politische  Getriebe  veranlassen.  Bei 
BinMlnen  kommt  aneh  Mdk  eine  gewlne  materielle  Wolhabenbelt  dara,  wekhe 
dieser  Sportart  sehr  fÖrderlieh  ist. 

Wenn  auch  diese  Art  von  Politikern  nicht  so  gefilhrlioh  ist.  wie  das  offene 
oder  versteckte  Streberthuin,  so  kommt  doch  viel  von  der  Zerfahrenheit,  Un- 
einigkeit und  Unbeständigkeit  unseres  gegenwärtigen  politischen  Lebens  auf 
ibre  Beehnnng.  Ee  will  einer  den  anderen  dnreh  rflekaiehtelMeres  Anftreten, 
edtaamere,  wnoeh  nie  dagewesene"  Programme  flberbieten.  Die  einielnen 
Gruppen  suchen  mit  Eifer  zwisrhen  einander  Unterscheidungsmerkmale  herans- 
znfinden,  auf  die  man  sich  nicht  wenig  zugute  thut.  Finden  sich  im  Urunde 
•olche  Merkmale  nichts  dann  verbeißt  man  sich  an  nebensäclüichen  Dingen. 
So  wird  die  emete  AiMt  geetOrt,  daa  Trennende  anstatt  des  Yereineiiden 
•herf  ergekehrt. 

Da  in  diesen  Blättern  nicht  der  Ort  ist,  politische  Streifereien  zu  unter- 
nehmen, können  wir  wol  nicht  in  nähere  Schilderungen,  wie  sich  die  politische 
Sportmääigkeit  bei  den  einzelnen  Parteien  äußert,  eingehen.  Allein  es  mag 
uns  dodi  geetafttet  lein,  an  bemwken,  daas  lidi  gerade  In  den  jüngeren  poli- 
tiaehen  Bichtongen  die  SportmiBigkeit  geltend  macht  und  die  Wirkung  dieaer 
fHschen  Strömungen,  welche  sieh  dueh  belebende. Kraft  anaMiehnen  aoUten, 
leider  wesentlich  beschränkt. 

Wir  wollen  ans  nun  mit  dem  Einflasse  des  Sportes  auf  die  Volks- 
bildnng  teadMIHgen. 

Zu  allen  Zelten  hat  die  Überfbinerang  des  Lebens  eine  gewisse  weich- 
herzige Sehnsacht  nach  dem  Ursprünglichen  und  eine  schwUrmerische  Ver- 
ehrung der  Äußerungen  desselben  im  Volksthnme  bei  den  Gebildeten"  wach- 
gerufen. In  früheren  Epochen  kam  bekanntlich  diese  Stimmung  in  sentimentaler 
Welae  nun  Anadrteke.  KaB  ▼eraetile  lieh  kloatUeh  in  elBlhdMre,  naivere 
Tage  snriek  vnd  Tetsnehte  dnrdi  LiBoenimng  Ton  nSdilÜBreieB"  oder  durch 
das  Lesen  von  idyllischen  ,^ Schäferromanen"  die  Saiten  des  „empfindsamen*' 
Gemöthes  in  wehmuthklingende  Schwingungen  zu  versetzen.  Hentzutage  geht 
man  mehr  verstandesmäflig- vor:  man  „reflectirt".  Die  Gemüthsbewegung  tritt 
mrlkk  gegenttber  dar  irrtheOsfUHlgkik  Kan  kam  to  der  Überzeugung,  daaa 
daa  Leben  in  mprangliefaeren  Veridtttaiaieii  wd  frei  yon  manch  drückendem 
Zwange  und  reldier  an  fk«nndlichen  Bildern  als  unsere  gegenwärtigen  Zustände 
sei;  aber  ebenso  wurde  es  allgemein  klar,  dass  ein  künstliches  Zurückversetzen 
in  jene  Ursprünglichkeit,  wie  es  von  Kousseau  gedacht  war,  nicht  nur  unmög- 


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lieh  sei,  sondern  auch  keine  Befriedigung  bieten  würde.  Man  sah  ein,  dass  die 
einflwiiaB  ZattSnde  vidftMh  aneli  lundingUch  Beten;  tomit  «teilte  mm  tUk 
deneelben  mit  mehr  Selbatbewotttieiii  oder  auch  nur  mit  mehr  AnmaBnng 
gegrenüber,  als  es  in  der  sentimentalen  Epoche  der  Fall  war.  Im  Volke  verehrt 
man  nach  wie  vor  die  alten  Reste  von  Urwüchsigkeit  and  Naivetät  mit  mehr 
oder  weniger  richtigem  Verständnisse ;  zugleich  aber  denkt  man  auch  äber  die 
SchwIdMB  und  Fehler  dee  Volkes  niflh  oad  TeuMWlit  dieeeibm  tIbnMBiL 
Also  nicht  wie  frfiber  de»  ZnrttckTereetBeii  in  e{Bfiwhere  Znetlnde,  lOiidAm  der 
Versuch,  dieselben  emponroheben,  iat  beste  der  Erfolg  jener  «ibenerwUuitiii 
.Stimmung. 

Man  fühlt  sich  zum  Volksleben  hiugeaogeOt  oftmals  macht  sich  sogar  eine 
fibertriebene,  kindische  Vethimmetamg  deeielbett  benvkbar,  aber  lüxt  ist  dabei 
Immer  bestrebt,  auf  dasselbe  emmwirken.   Ventirkt  wird  dieeea  Bestreben 

noch  durch  den  heute  herrschenden  BUdnngsdttnkel,  der  über  alles  erhaben  sein 
will ,  und  durch  die  Ideen  allgemeiner  Volksbeglucknngi  die  immerfort  Segen 
spenden  wollen. 

Diese  SlBBMriehtuug  änderte  sish  iimi  «nildmfc  in  der  Politik  dvroh 
stramme  Herynkehrung  des  nationalen  Standponktes  in  aUen  Fragen,  sie  flmd 

aber  auch  für  ihre  praktische  Bethätignsg  das  bereits  bebaute  Gebiet  der  all- 
gemeinen Volksbildung  vor.  Wir  sehen  daher  auf  demselben  trotz  der  un- 
günstigen äußeren  Verhältnisse,  wie  sie  durch  das  Vordrängen  rückschrittlicher 
Chmdiitie  geschaffen  werden,  eine  erhOhtere  Begsamkeit,  welche  hie  und  da 
aneh  sdion  den  sportmiBigen  Betrieb  erkennen  llsst  Die  Lust  am  Spori- 
mldigen  liegt  heute  eben  in  der  Luft;  kein  Wunder  also,  wenn  wir  ihren 
Einflnss  auch  manchmal  in  den  Volksbildungsangelegenheiten  leise  verspüren. 
Unter  den  vielen,  die  sich  heute  mit  denselben  befassen,  muss  es  auch  solche 
geben,. die  diese  ihre  Thätigkeit  zu  „ihremSporf*  maehen.  Sie  finden  na  dsr- 
•elben  ein  angenehmes  Vergntfen,  ein  Mittel,  in  MBentlieheii  Angdegenheltea 
mitcnwirken  ond  in  diesem  Wlrkeu  rasche,  auffallende  Erfolge  zu  erleben. 

Finden  wir  den  Sport  in  der  Stadt  unter  den  Gebildeten  in  schönster 
Blüte,  so  ist  davon  unter  dem  Landvolke  noch  wenig  zu  bemerken.  Um  den 
Körper  in  Übnng  zn  erhalten,  brancht  der  Bauer  keinen  Sport;  beim  Mist- 
ftbren  md  Dresehen  kommt  das  Bivt  genigei^  in  Bewegug,  ond  statt  Wett* 
bewerbe  hierin  zu  veranstalten,  ist  der  Bauer  froh,  wenn  er  Mistkralle  und 
Dreschflegel  ruhen  lassen  darf.  Von  wissenschaftlichen,  geistigen  Bestrebnngen 
reicht  in  das  Leben  des  Bauers  wenig  hinein;  nur  die  ülaubenssachen  be- 
schäftigen ihn  eigentlich  näher  —  und  hierin  hat  sich  allerdinga  eine  Art 
Sport  entwickelt 

Wir  meinen  das  Betschwesterthum,  welches  in  aumchen  seiner  Eigen- 
heiten eine  sportliche  Richtung  erkennen  lässt.  Vor  allem  entspricht  dasselbe 
keinem  wirklichen,  nothwendigen  Bedürfnisse,  da  das  religiöse  Gefühl  in  den  ge- 
wöhnlichen und  allgemeinen  religiösen  Übungen  weitaus  sein  Genügen  finden 
kann.  Die  Betschwesteni  und  Betbrttder  finden  aber  ein  Vergnfigen  daran, 
über  das  gewöhnliche  Mafi  in  auffallender  Weise  hinauszugehen.  Dass  ihnen 
dies  in  den  meisten  Fällen  ein  wirkliches  Vergnügen  bietet,  ühnlicb  wie  dem 
JRuderer  das  Uberstandene  Training,  beweist  das  sichtliche  Wolbehagen,  mit 
dem  sie  sich  ihren  freiwillig  gestellten  Aufgaben  unterziehen,  und  mit  welchem 
nie  sich  anoh  der  VolUlIhrong  denelben  fronen.    Ansgenommen  sind  hier 


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allerding^s  roli^iöse  Fanatiker,  ^vplche  eher  einem  krankhaften  Drang'e  als 
einer  sportlichen  Neigung  folgen.  Dem  Betschwesterthinii  ist  es  allemal  um 
eine  Wirkung  nach  außen  zu  thunj  das  erhellt  aus  dem  Bestreben,  V'er- 
eiiiigBiig«!!  sn  gritaideii  und  bei  gflnitlgMi  AnUtaMB  mhIi  Mrpantfv  wfciiireteu 
(bei  Processionen,  Leichenbe^LngiiiiMii  n.  dergl.).  Audi  in  der  Oewandnnir 
sucht  jedes  Mitglied  seinen  Sport  zur  Schau  zu  tragen;  die  Betschwestern 
wählen  gerne  Häubchen  und  schwarze  Röcke,  welche  sie  den  Klosternonnen 
ähnlich  machen,  und  die  vom  „dritten  ürden''  haben  sogar  Ansprach  daraaf,  falls 
ito  kdlsr  sterben,  Im  NooMBgeiwaiids  mf  die  Bahre  gelegt  sn  werden;  die 
Bethrfider,  die  wol  in  der  Mindeneahl  sind,  ahmen  in  ihrem  ÄuBeren  mOglidiBt 
die  geistlichen  Herren  nach.  Nur  einen  kennen  wir,  der  will  recht  bäuerisch 
erscheinen,  trägt  einen  breitkrempigen,  grünen  Steirerhut,  gestutzten  Backen- 
bart und  eine  lederne  Hose;  aber  der  will  dadarch  mit  Absicht  seine  couser- 
vativQ  Richtung,  die  nit  allen  DeniettUdiea  Oeflnnker  niohts  geaelii  hat,  anr 
Schan  tragen.  Ist  das  nidit  Gott  Teneih'  nns  die  Sünde!  —  das  reine 
,.Gigerltlinm"  im  Weihrauchsnebel?  Man  sucht  sich  auch  gegenseitig  in 
außerordentlichen  Leistungen  zu  übertrumpfen,  und  wer  etwa  am  öftesten  die 
weitesten  Wallfahrten  macht,  der  erringt  die  Palme  der  Glaubeuseifrigkeit. 
Ist  das  alefat  der  sportliehe  Wettbewerb?  Dabei  entwickdt  sich  ianeriialb 
der  Betschwesterkreise  über  alle  diese  Angelegenheiten  und  VoikomninisBe  ein 
regelrechter,  boshafter  „Tratsch'',  der  dem  häufigen  Gezänke  in  den  Sport- 
kreisen der  Stadtleute  anch  in  nichts  nachgibt.  Zudem  fehlt  —  um  der  sport- 
lichen Charakteristik  vollständig  zu  entsprechen  —  dem  ganzen  Betschwester- 
fhmne  der  eigentUflhe  innere  Wert.  Dieae  Leute  sind  selten  wahre,  anMehtige 
ud  edle  CauisteB;  aie  aiMtan  niofat  an  dar  VerTaHkommnaag  dea  inneten 
Menschen,  sondern  verwenden  alle  ihre  Zelt  nd  Kraft  auf  die  Pflsfe  dar 
äußeren  Religionsgebräuche. 

Dr.  Hans  Willibald  Nagl  hat  in  dem  von  nns  herausgegebenen  „Großen 
ItanrniValmdnr  mit  Bildani*  (1890)  drei  typische  Figuren  im  Betaehweatnrn 
aaeh  lebenden  Unatem  geaelehnet,  die  dieae  naaere  Aosfilhnuigen  recht  dent- 
Ueh  illnstriren.  — 

Mit  den  vorgeführten  Beispielen  für  die  sportmäßige  Richtung  unserer 
Zeit  wollen  wir  ein  Genügen  finden.  Die  gleichen  sportlichen  Eigenheiten 
wiederholen  sich  ja  bei  den  verschiedensten  Zelterseheinangen,  und  jeaar  Leser, 
der  tterhaapt  ▼enrtanden  hat,  was  wir  meiaen,  wird  aiit  Leiohtigkait  ans 
seinem  eigenen  ErfkhraagakieiBe  aoih  aaUrekhe  Peisptola  den  aagaflUniaa 
hinzufügen  können. 

Solange  sich  ein  Sport  nicht  für  mehr  ausgeben  will,  als  er  eigentlich 
ist,  erscheint  er  nidit  gefiUirlich;  nur  dartdi  seine  nnbeschrftnlrte  Anslnreitang 
aad  Anmaflmg  wird  er  schldlieh.  Dann  leidet  nater  seinem  ICInihisae  tot 
aOem  Jene  Innerlichkeit  und  Gründlichkeit,  dia  an  wirklichen  Erfolgoi  anf 
geistigem  Gebiete  unerlässlich  ist.  Das  Wesen  von  Kunst  nnd  Wissenschaft 
erftrdert  von  jenen,  die  sich  einem  künstlerischen  oder  wissenschaftlichen  Be* 
rnft  widmen,  treue  und  ernste  Hingabe,  bei  denen  aber,  für  weldie  die 
Leistaagea  aad  SehSplhagen  dieeer  Bemftartea  bereehaet  alad,  abi  eüHgea, 
gründliches  Nachdenken  und  Nachfühlen.  Aaf  beiden  Seiten  werden  heute 
diese  Pflichten  häufig  vernachlässigt,  weil  man  auf  ein  ernstes,  in  die  Tiefe 
gehendes  Streben  wenigei  Wert  legt,  als  anf  überraschende,  seltsame  Wir- 


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knngen.    Man  unterzieht  sieh  nicht  der  Mühe  einer  ruhig'en.  sachlichen,  den 
Kern  erfassenden  Beortheiluug.  Daher  die  vielfache  Zorücksetzung  wirklicher 
'KllnBtlflr  md  CMelnier,  daher  deren  Vcriiitteraiiir  vsd  deren  QroU  e:egen 
unsere  öffentlichen  ZostJünde. 

Namentlich  bleiben  jene  künstlerischen  und  wissensehaftlichen  Leistungen 
unverstanden,  die  im  lebendigen  V(»lksthnm  wurzeln  und  auf  die  Verbreitung 
der  Kenntnis  und  Würdigung  desselben  abzielen.  Die  Seele  des  Volkes  er- 
iddieftt  eich  nicht  dem  eberfflkhliehen  BeobacMer,  den  Sport  Mbenden 
Bammler;  aie  will  genu  atadirt  und  mit  Liebe  nnd  BUtar  etfbnoht  werden. 
Anderseits  aber  sind  ihre  Regungen  einfach  und  entbehren  der  Über- 
schwenglfchkeit,  welche  doch  so  nothwendig  ist,  um  ^Sensation"  zu  machen. 
Auch  kann  mau  dem  Volke  fiberail,  auf  allen  Wegen  and  Stegen,  begegnen; 
wie  kann  da  die  Sooht  nach  Selttanem  beftiedigt  weiden?  Deehalb  holt  man 
lieh  lieber  aeine  Yorwlife  a»  entlegeneren  Gebieten,  ana  «hahcnn  Xreiien'', 
oder  man  erwählt  jenes  todte  Volksthnmi  das  der  Geschichte  angehSrt^  ond 
das  sich  leichter  etwas  Effectmachendes  —  andichten  lässt. 

Von  unserem  eingangs  erwähnten  Standpunkte  aus  müssen  wir  diesem 
eben  bertthitea  Kadillieile  ein  ganz  besonderes  Angenmerk  zuwenden,  denn  er 
tilgt  den  grilBtan  Theil  der  Schuld,  wenn  zwiachen  Volk  nnd  InteUigeni  kein 
inniger,  emster,  ersprieBlicher  Veikdir  aufkonunen  louin.  Der  Mangel  an 
Verkehrswegen  ist  es  nicht,  der  eine  Annäherung  erschweren  würde;  heute 
führen  unzählige  Schienenstränge  und  Straßenzüge  mitten  unter  das  Volk,  an 
deoaen  aeit  Uneiten  beaiedelte  Heimatitten,  nnd  dennoch  finden  wir  heute  weit 
weniger  Beziehnngen  der  Intelligenz  zn  denaelben  als  früher.  Man  pfliickt 
heute  eben  nur  die  Blumen,  die  am  Straßenrain  stehen,  und  adieat  den  Weg, 
der  weiter  hinein  in  die  blumige  Wiese  fährt;  ao  im  Vorfoeieilen  iSaat  aidi  die» 
wahre  Blumenpracht  niemals  erfassen. 

Andi  hetironagende  Geiater,  wie  der  jüngst  leider  m  früh  von  uns  ge- 
aefaiedene  Anzengmber,  bleiben  von  einem  groSen  TfaeOe  der  Gebildeten  nn- 
gewürdigt,  wenn  sie  sich  die  Pflege  des  lebendigen  Volksthnma  anaerkoren 
haben.  Der  Volkscharakter  bietet  wol  Licht  und  Schatten,  aber  zu  wenig  jäh 
aufzuckende,  grelle  und  beängstigende  Blitze,  die  uns  aufregen  könnten.  Aut- 
regung aber  iafe  nnaeaer  aportloatigen  Zeit  erwünscht.  Der  bftnerische  Rauf- 
bold, der  den  Nebenbuhler  ersehllgt,  iat  aehUedUeh  ein  Lomp,  ton  dem  nichts 
Besseres  zu  erwarten;  aber  ein  alter  Lebemann,  der  eine  Geliebte  erdolcht, 
damit  sie  ihn  nicht  noch  länger  betrfigen  kann,  der  Ist  ein  — ▼errfickter  Kerl, 
der  hat  was  für  sich. 

Der  fieiaesport,  welcher  die  Intelligenz  doch  ao  häufig  in  Berührung  mit 
der  LandbevOlkerang  bringt,  kann  einen  ernsteren  Verkehr  nicht  anbahnen, 
weil  sich  die  Gebildeten  nicht  im  entflnrntesten  Mühe  geben  wollen,  durch  wol- 
überlegtes  Eingehen  in  die  Äußerungen  des  Volkscharakters  das  Zutrauen  der 
Leute  zu  gewinnen.  Daher  moss  auch  der  Antrag,  der  einmal  in  einer  Ver- 
aammlung  von  Volksbildnem  geeteUt  wurde,  und  der  darauf  abzielte,  unsere 
Tovriaten  als  Apostel  der  Anfkllwng  unter  dem  Landvdke  tn  benntaan,  er- 
Iblglos  sein. 

Zum  Schlüsse  fühlen  wir  uns  gedrängt,  ausdrücklich  zu  betonen,  dass  wir 
den  Sport  (Spiel,  Vergnügen,  Zeitvertreib)  in  köriieriiohen  Übungen  durchaus 
nicht  tadeln  wollen;  wir  gestehen  auch  gerne,  dass  sogar  seine  Übertreibungen 


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Dicht  allemal  BchSdlich  tind.  Er  steht  eigentlich  außerhalb  nnBerer  Betrach- 
tungen. Wir  wenden  nne  gegen  die  Sportmftßigkeit  auf  geistigem  (lebiete; 
denn  hier  sollte  ein  Spielen,  eine  loee  Zeitvertreiberei  und  endlich  eine  Effect» 
hateherei  sieht  anfkonnnes.  Wir  wellen  auch  nicht  den  Sport  an  aieh  für  alle 
Plattheiten  in  geistigen  Dingen  verantwortlich  machen;  die  Übertragung  des 
Sportes  auf  geistiges  Gebiet  ist  vielmehr  eirip  Folge  unserer  allgemeinen  Zeit- 
richtnng  —  aber  eben  eine  Erscheinung,  welche  die  Flachheit  dieser  Richtung 
sehr  deutlich  erkennen  ISast 

Eine  grllndlldw  Hcflnng  der  berflkrten  Sehidnt  ist  nnr  ▼om  Wandel  der 
Zeiten  zn  erwarten,  dar  die  Hohlheit  der  Sportm&ßigkeit  auf  geistigem  Gebiete 
zur  Erkenntnis  bringen  wird.  Bis  dahin  können  wir  nichts  verRuchen,  als  jene 
Erkenntnis  durch  grelle  Beleuchtung  der  Übelstände  allmählich  zn  wecken 
nnd  so  schon  Jetzt  eine  wesentliche  Milderung  des  Fehlerhaften  zu  ermöglichen. 
Ein  heaondera  wirkaamei  Mittel  liegt  tlbn  in  einer  dieser  Absiebt  eotQNcfaah 
den  Einwirkung  anf  die  Jngend  —  nnd  dasselbe  ad  allen  JogendUldnen 
empfohlen. 


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Pidag«glwhe  RudaeliAn. 

Österreich.  Vom  2. — 4.  April  wurie  in  ^\icn  der  „Tl.  dontsch- 
österreicbische  Mittelschultag-'  abgehalten.  Die  Hauptversaininlungen 
fanden  im  Festsaale  des  Akademischen  Gymnasiums  statt.  Vertreten  waren 
«nter  Wien  9B  Stldte  mit  71  liShefeii  Lehrwiftalteii,  d.  k.  OjrmiiMfeii  imd 
Bealseholen,  durch  circa  2001>ireetoreii  und  Professoren;  ttherdies  betbeiliften 
sich  mehrere  höhere  Schulbeamte  und  Hochschulprofessoren.  Unter  den  Verhand- 
lungen waren  die  über  ^.Tugendspiele"  und  über  ;,Schülerau8flüge'*  von 
%  allgemeinem  Interesse.  Das  Keferat:  „Über  die  Pflege  der  Jagendspiele  aa 

Hittelsehiileii''  führte  Prof.  Dt,  Leo  Burgerstein^Wiea  mit  gewohmter 
PrSeision  und  Begeisternng.  Zn  Onnsteii  der  Jngendspiele  führte  er  u.  a.  den 
Wunsch  an,  dass  die  -wechselseitigen  Einwirkungen  des  Gemütlislebens  der 
Schüler  einen  weiteren  Spielraum  erhalten  miichten  als  bisher,  und  betonte,  von 
welchem  Werte  es  in  socialer  Hinsicht  wäre,  im  unbeiaugeueu  Kindesalter 
ipiteren,  oft  ganz  angereditMIglMi  GegensAtam  ywwümgn.  Naehdem  der 
Redner  den  hohen  erdehUehen  Wert  der  Jngendsirfele  ond  verwandter  Be- 
thätigungen  in  hygienischer  Hinsicht  als  eine  Compensation  der  mit  der  Schule 
unvermeidlich  verbundenen  schädlichen  Einflüsse  auf  die  Gesundheit  dargelegt 
hatte,  beantragte  er  die  Annahme  zweier  Thesen,  weiche  lauten:  1.  Die  thon* 
Uehate  Forderung  einer  fMoi  Bethfttigung  der  Jagend  dnrdi  Sj^sle  und  Ter* 
wandte«  ist  wegen  des  hohen  eniehlichen  und  aetnellea  gesnndheitliehen 
Wertes  der  genannten  Factoren  von  Schnlwegen  gmndrttslich  und  entschieden 
anzustreben.  2.  Der  Mittelschultag  beschließt,  die  Vereine  „Mittelschule"  und 
„Realschule",  „Deutsche  Mittelschule"  und  „Innerüsterreichische  Mittelschule*' 
aufzufordern,  sich  in  einer  gemeinsamen  Eingabe  an  das  MinisteriunL  für 
Cnltns  und  Unterricht  sn  wenden  mit  der  Bitte  nm  moralische  F9rdemng  der 
Spiele  und  verwandter  Bethätigungen  der  stndirenden  Jugend  unter  Führung 
der  Schule."  —  An  das  Referat  schloss  sich  eine  längere  Debatte,  welche  zu 
einer  Erweiterung  der  Thesen  führte.  Es  wurden  sowol  die  Anträge  des  Re- 
ferenten, als  anch  die  des  Directors  Fetter  (Wien)  auf  Einsetzung  eines 
Oonütte  behnfb  eingehenden  Stndinms  dieser  Flrage  nnd  des  Landesschnünspeo» 
tors  Maresch,  es  sei  anlässlich  des  bevorstehenden  Falles  der  Linienwälle  an 
die  Regierung  und  die  Stadt  Wien  die  Bitte  an  richten,  den  Schalen  SpielplAtse 
zu  sichern,  einstimmig  angenommen. 

Professor  A.  Weinberg  (Wien)  referirte  über  „Schülerausflüge  und  deren 
Einflnse  anf  die  Eniehnng  nnd  den  Unterricht  der  Jagend*  und  loun  m  dem 
Schlüsse,  dasB  Schülerausfliige  ohne  wissenschaftlichen  Hintergrund  zn  entfallen 
hätten,  wol  aber  seien  solche  Ausflüge  mit  wissenschaftlichem  Hintergrunde 
geboten,  wobei  das  Augenmerk  auf  die  mannigfachsten  Disciplinen  (Geographie, 


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Geschichte  etc.)  zu  richten  sei.  Das  Unterrichtsmiaisterium  soll  um  Würdignog 
dkier  Frage  gebeten  frarden.  Biwiii  Anirfianangett  trtlen  die  Profeatorea 
Beehtl,  Tmnlirx  «ad'  Gratsy  (La£bMk)  entgegen,  und  nahm  ^reiten  nnter 
allgemeiner  Spannung  Gymnasialdirector  Dr.  Petrovic  (Belgrad)  das  Wort, 
welcher  mittheilte,  welch  weitgehende  Unterstützung  die  serbische  Regierung 
solchen  Schüleraosflügen  zutheil  werden  lässt,  dass  Eisenbahnfahrten  ohne  Ent- 
gelt gemacht,  die  oOthigen  Apipante  wut  Verfügong  gestellt  werden  nnd  sehr 
oft  anch  die  BekSetignng  unentgeltlich  erfdg«.  Et  handle  deh  bei  8dleheD,ofk 
auf  10  Tage  ausgedehnten  Excnrsionen  darum,  auf  den  Charakter  der  Jugend 
einzuwirken,  sie  unter  das  AV»lk  zn  fiiliren,  den  Landmann  bei  seiner  Arbeit, 
in  seinem  Hause  aufzusuchen,  der  Jugend  ethnographische  Kenntnisse  beizu- 
bringen. Die  Ezcarsioneni  welche  zu  Ermehongszwed^en  und  Charakterbildung 
nnternommea  werden,  seien  ebenso  wichtig,  wie  dii(jenigen  'za  wiMeuchaft- 
lichen  Zwecken.  (Lebhafter  BeilUl.)  Andi  Director  Hannak  trat  fAr  solche 
Schülerreisen  ein,  welche  ein  Verbindungsmittel  zwischen  Hans  und  Schule 
seien.  Nach  einigen  Auslührungen  des  Directors  Hackspiel  wird  sodann  eine 
Beioltttion  angenommen,  dahin  lautend,  dan  anBor  den  Usherigen  Ansflflgen 
ans  Eniehnngt-  nnd  ans  Blickaichten  für  die  Chankterbfldnng  anch  Sehnl- 
teisen  wünsebenswert  enchefaMo. 


Die  XIV.  westfälische  Provinziallehrerversammlung  zu  Siegen 
am  7.  und  8.  April.  Aus  der  Xilhe  und  Ferne  eilten  am  2.  Ostertage  die 
Lehrer  Westfalens  und  der  Nachbarprovinzen  nach  der  schön  gelegenen  Berg- 
stadt Siegen  im  Sfbden  unserer  Proviu,  nm  in  würdiger  Feier  den  Altmeister 
der  modernen  dentschen  Pädagogik,  Dr.  Adolf  Diesterweg,  am  29.  Oetober 
1790  hier  geboren,  in  dankbarer  Erinnerung  an  seine  Verdienste  zn  ehren. 
Auch  die  Familie  Diesterweg  war  bei  dieser  Feier  vertreten  durch  den  Sohn  des 
großen  Todten,  der  als  Sanitätsrath  in  Wiesbaden  lebt,  einige  Enkel  und  einen 
Neflbn,  den  Conmerdenrath  Kreni  in  Siegen.  Den  Uitlelironkt  der  ganxen 
Feier  bildete  die  Grnndsteinlegnng  des  von  Professor  Bensch  in  Königs- 
berg, gleichfalls  einem  S(»hjie  Sieg-ens,  entworfenen  Piesterweg-Denkmals, 
dessen  Enthüllung  am  UHJ.  Geburtstage  Diesterwegs  stattfinden  soll;  das 
Denkmal  wird  die  eherne  Büste  Diesterwegs  auf  einem  Piedestai  von  Granit 
isdgen. 

Am  Ostennontage,  nachmittags  nm  4  Uhr,  erOfltaete  der  Voisitnende  des 
westAlischen  Provinziallehrervereins,  Gector  Euhlo-Bielefeld,  die  Deleglrten- 
versammlung,  in  der  lediglich  Vereinsangelegenheiten  besprochen  wurden, 
die  über  Westfalen  hinaus  wenig  Interesse  bieten.  Erfreulich  ist  das  stetige 
Anwachsen  der  bestehenden  und  die  Bildnng  neuer  Vereine,  zu  bedauern  die 
Entstdinng  confessioneller  Sondenrerbindnngen ,  wie  des  im  yorlgen  Jahre 
durch  den  Cmtrumsführer  Dr.  Windthorst  ins  Leben  gerufenen  katholisdien 
Lehrervereins.  Die  Wilhelni-Angusta-Stiftn np^  für  Westfalen,  deren 
Schattenseite  besonders  die  ist,  dass  sie  eine  Wulthiltigkeits-,  keine  Rechts- 
casse  ist  nnd  ans  der  bedürftige  and  würdige  Lehrerwitweu  und  -Waisen 
nntevstiltst  werden,  verftgt  ttber  ein  Vermögen  von  28000  Hark,  snr  Ver^ 
theilnng  gelangen  in  diesem  Jahre  880  Hark. 


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Per  Deleg-irtenversainmlung  schloss  sich  eine  geraüthliclie  Abendaater- 
baltang  an,  wozu  aach  die  Bilrgerechaft  Siegens  —  Herrea  uad  Damea  —  in 
großer  AnnU  enchienen  waren;  Getang  und  freie  Rede  bUdetea  du  Programm. 
College  Klein-Bochom  Bpraeh  folgenden  von  ihm  gedichteten  Prolog: 

Sie  blühen  schont 

Sie  bldhen  schon  in  Feld  and  Wald  die  Blumen  Icozgeboren. 

Der  Lerche  Hang,  der  Drossel  Schlag  dringt  hell  zu  unsen  Ohm. 

Dex  Osterglocken  froher  Jüaog  verlandet  Auferstehon, 

Der  Genius  des  Lenaes  sieht  anreh  Feld  und  Wall  und  BMien. 

TJnd  Rosenknospnn  hr^f^hcn  auf  heim  L\^(\  der  Nachtigallen, 

Uad  Jubelhymnen  weihevoll  dem  groBen  Gott  erachallen. 

Sie  blflhen  schon  in  holdem  Schmnck,  ron  heil'gem  Lieht  nmfloason,  « 

Dü^  'Teislesblumen  rein  uad  schrm,  der  Wahrheit  SchoB  eotsprOSiea. 

Ein  großer  (rcistesfrilhling  tagt,  die  (ieij'tcr  mächtig  ringen, 

Für  Wahrheit,  Freiheit,  Recht  und  Licht  die  Flammenscnirerter  klingen. 

Sie  blühen  schon  im  lichten  Kleid,  der  Wiihrheit  Licht  geweihet« 

Von  dir,  o  großer  Diesterweg,  die  Saaten  auägestreuet 

Die  Bahnen  hast  da  uns  gezeigt,  worauf  zu  Qotteä  Ruhme 

Erbltlht  ein  edles,  treacs  Volk  znm  freien  Menschen thume. 

Drum  nahen  hente  hnldigeud  wir  dir,  dem  großen  Todten. 

Der  kQha  für  Wahrheit,  Freiheit  stritt,  als  WinterfrO^te  drohten. 

Uad  D^nk  und  ew'ge  Liebe  sei  dir,  Oeistesheld,  entboten. 

0,  daas  in  jedem  Lehrerher^  die  hefl'gen  'Ölaten  lobten, 

Die  brannten  einst  in  deiner  Brust  filr  alles  Gute.  Wahre! 

0,  dass  der  Geist  von  Diestcrweg  uns  all'  zusammenschare,  * 

Damit  ein  hohes  Ideal  im  Kampf  verwirklicht  werde: 

Ein  freies  Volk  auf  freie  n  Grund  auf  Gotte?  sohilner  Erde' 

Ein  Lehrerstand,  an  Geist.  GunnUh  im  Sinn  de»  großen  Todten, 

Die  Jugendbildner  gut  und  schön,  der  Wahrheit  treue  Boten. 

Dos  deutsche  Volk,  so  stark  und  fromm  und  fest  wie  seine  Eichen, 

Im  Schmuck  der  alten  Lieb'  und  Treu",  den  heil  gen  deutschen  Zeichen. 

Das  deutsche  Volk,  gesinnungstreu  im  Ringen  nach  Vollendung. 

Am  tapfren  Schwert  den  Palmenzweig  nach  gottgewollter  Sendung. 

Sie  blähen  sdiott!  Die  OstergrtIB*  entflammen  unsre  Herzen, 

Div>ft  glUhen  ungetrübt  und  rein  der  Freude  helle  Kerzen. 

Sie  blühen  schon  beim  Becherklang,  des  Frohsinns  schiJnste  Triebe. 

Sie  hlflhen  schon  nach  dentacher  Art,  Oemflthlichlceft  und  Liebe. 

Sic  blühen  si'hon  !    r>iiM  sei  mein  ßrnß  im  givstlinli  freien  Si^eo: 

Wir  wollen,  schlaget  alle  ein,  in  diesem  Zeichen  ^iegenI 

Herr  Lehier  Sichel  begrüßte  als  illtestes  Ariticlie  l  <\''s  Siegener  Lehrer- 
vereins die  Fcstversammlang.  In  markigen  Worten  feierte  er  Diesterweg  als 
den  Stifter  der  Lebrervereine,  als  den  Kämpfer  für  die  Rechte  der  Schule  und 
der  Lehrer,  ala  daa  Ideal  Jedea  atrebiamen  Lehrera.  Diedterweg  würde  nie 

veralten,  so  lange  die  heilige  Sache  der  Menschenbildnng  zii  den  Idealen  edler 

Gci'^ter  <rel!r>re.  so  lange  Lehrer  hestrel.t  seien,  einen  hinreißenden,  geistig  Ul' 
regt  iuit  ii  l'iitt'rricht  /u  erthcilen.  R'  ilnor  fordert  seine  CoUegen  auf,  unent- 
wegt zu  dem  großen  Pädagogen  zu  halten  und  sein  Andenken  nie  verlöschen 

SU  laiMii. 

Herr  Sanitätsrath  Dr.  Diesterweg  aus  Wiesbaden  dankte  bewegt  für 
die  große  Liebe  nnd  Anhänglichkeit,  die  die  Lehrerschaft  Westfalens  für 
seinen  verblichenen  Vater  an  dtn  Tag  legte.  Er  wisse,  wie  es  allezeit  die 
Lebensaufgabe  des  lieben  Heimgegangenen  gewesen  sei,  nach  Kräften  für  den 
geiatigen  nnd  materiellen  Anfbehwnng  dea  Ldireratandea  m  aorgen,  damit  der- 


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—  Ö36  — 

selbe  nach  jeder  Seite  Inn  seine  hohe  Aufgrabe  erfüllen  könne.  Stets  habe  die 
Familie  Diet»t«rweg  mit  Interesse  alles  verfolgt,  was  die  Lehrerschatt  bewege, 
Toa  heute  ab  wfirde  das  noch  in  erhShtem  MaBe  der  Fall  tein.  Bedner  wtnscht 
der  Lehrerschaft  Bltthen  und  G«delken. 

Die  Hauptversammlung  am  Osterdieiista«?»'  die  von  ca.  40()  Theil- 
nehmern  besucht  war,  nahm  iliren  Anfang  um  9  L  hr.  Zunächst  begrüßte  der 
Bürgermeister  Delius  die  Erschieueueu  mit  herzlichen  Worten,  ihm  folgte  der 
YenitMiid«  des  Siegener  LehremnfaMS.  BoliM-BerliB  Ininft  henlisfae  QtUe 
und  Segenswünsche  von  dem  g^esehiftsflUmoiden  Anasehnsse  des  dentsohen 
Lelircrverpins,  Strebe-Mag'Ubnrg  vom  Vorstande  des  prenßisrlien  Landos- 
leiiiervereins,  Müller- Wiesbaden  vom  nassauischen  Lehrci  verein ,  Berg- 
director  Knops- Siegen  vom  liberalen  Scholverein  für  Eheinland  und  West- 
iUen  und  Wilh.  Meyer-Markao  ans  Daislmrg  fan  Namen  des  gleichzeitig  in 
C51n  versammelten  rheinischen  Lehrertages.  Die  Bede  Mejers  lantete: 

Sehr  geehrte  Versamralnng!  Die  Vertreterversammlung  des  weit 
über  2000  Mitglieder  zälilenden  rheinischen  Provinzial-IiPhrerverbande«  hat 
Herrn  Homscheidt  aus  Crefeld  und  mich  gestern  im  altehrwärdigen  Cöln 
besnftngt,  Ihnen  die  henliehsten  OrUe  nnd  die  besten  Wlnsd»  tBr  einen 
gesegneten  Verlauf  Ihrer  beutigen  Verhandlungen  persönlich  n  ftberfaiingen. 
Es  ist  eine  alte  Gepflogenheit  zwischen  dem  westfölischcn  und  rlieinlMthen 
Lehrerverbande,  einander  während  gleichzeitiger  Tagungen  zu  begrößen. 
Und  wie  könnte  es  auch  anders  sein!  Wenn  sich  selbst  die  Lelirer  Preußens, 
jaÄUdentschlands,  als  eine  groieFuBilie  fttUen,wie  viel  mehr  noeh  müssen 
da  erst  die  Lehrer  Westfalens  nnd  Bhetnlands  sieh  als  m  einander  gehSrlg 
betrachten.  Sind  es  doch  Schwesterprovinzen  unseres  KönigreidiSi  die 
wir  unsere  Heimat  nennen,  zwei  Geschwister  wahrlich,  denen  gegenüber  nur 
eb  Fremder  in  Zweifel  gerathen  kann,  welcher  von  beiden  er  den  Preis  zu- 
erkennen sdl,  ob  dem  Lande  der  Grethen  Erde",  ob  den  Gestaden  dee 
mftchtigen  Bhelnstromes.  Der  Weetfttle,  der  Bheinllader  geitthen  in  solche 
Zweifel  nie;  dem  sobald  der  Bheinlinder  in  Iberspmdelnder  Lebens- 
lost  singt: 

..Nur  tun  KLeine  mOcht'  ich  leben, 
Nur  um  Rheine  mächt'  ich  sein. 
Wo  die  Beige  troffen  Reben 
Und  die  Beben  goTdnen  Wein  — * 

da  stimmen  die  «Hftnner  aas  Westfehuiland'  mit  onfthlbarer  Sicherheit  mis 
der  Tiefe  herainnerlichater  Übersengnng  an: 

„Ihr  nittgt  den  Rhein,  den  stolzen,  purisea, 
Der  in  dem  ^choß  der  Reben  liegt  j 
Wo  in  den  Bergen  ruht  das  Eisen, 
Da  hat  die  Mutter  niich  gewiegt  — ** 

jenes  markige  Westfalenlied,  das  da  betheuert; 

„Bis  ich  zu  Staub  und  Asche  werde, 
Heb  Heis  iioh  sdner  Belmat  ftent«" 

'  Abw  nicht  nnr  die  landsehaftttdie  Lage  nnserer  Heimat|HroThuen  Terweist 

uns  auf  einander,  meine  Herren,  sondern  auch  unser  Beruf  und  die  Ge- 

•  schichte  unseres  Stande.s.  Wir  sind  Lelirer.  Und  dn  Imt  jener  Mann,  dessen 

•  Büste  heute  diesen  Saal  ziert,  dessen  lOOjährigem  (Tediichtnisse  der  heutige 

•  westfälische  I..ehrertag  geweiht  ist,  dessen  Verdiensten  diese  seine  Vaterstadt 


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—   53ö  — 


flia  Denkmal  eb  enichtem  beabdchtigt  —  d*  hat  dieser  grolle  Lehrer  dar 
Lehrer  las  Westfalen  aad  Bbefadftader  dmeh  seinen  Lebenagaag  noch  im 
besonderen  an  einander  g^ekettet.  Gaboren  nnd  anfigrewachsen  als  Sohn  der 
„rothen  Erde",  „in  einem  der  interessantesten  Thäler  Deutschlands",  hier  in 
Siegen,  hat  er  seinen  wahren  Lebensbemf,  den  Beruf  im  Dienste  der  Volhs« 
achole,  an  den  Gestaden  des  Rheins  evkannt  aad  ergriffen.  Eiae  rbdaiscbe 
Onistadfe,  Elberfeld,  ist  die  gitetife  Zeagaagastfttte  dieses  VolkH^al- 
mannes,  ein  rktlaiicher  Schulmann,  Wilberg  in  Elberfeld,  der  geistige 
Vater  desselben,  ein  ^^kleines  rheinisches  Nest",  Mörs,  sein  geistig'er  Geburts- 
ort. Da  w&re  es  eine  Unterlassungssünde  schwerster  Art  gewesen,  wenn 
BheiBlaads  Lduer  sieh  deai  heutigen  Feste  ftragehaltea  hlttea.  Hat  doeh 
IMesCerweg  ak  Semiaardireetor  stets  dea  Verkehr  mit  dea  Lefarera  ge- 
sucht; hat  er  doch  schon  selbst  damals  Lehrerrereine  gegründet,  als  er 
noch  Seminardiroctor  in  Mfirs  war,  einem  Orte,  der  heute,  siebzig  Jahre 
später,  trotz  des  dort  errichteten  Diesterwegdenkmals,  kein  einziges  Mit- 
glied aoseres  rfaeiaischen  Verbaades  aufweist,  nicht  eianal  aater  dea 
dertigea  Volksacbal-y  geediweige  deaa  aater  dea  Seniaarlehrera.  Uad 
doch  schreibt  Diesterweg:  „Als  Resultat  langen  Nachdenkens  habe  ich  den 
Satz,  nnd  er  hat  mich:  Lehrervereine  sind  die  eigentliche  Lebenslust  des 
Lehrersinnes.  *^  Und  nun  lassen  Sie  mich  znm  Sclilusse  eilen  mit  den 
Worten,  die  ein  rheinischer  Dichter,  Emil  Rittershaus,  zu  einer  Diesterweg- 
Mer  gesaagen  hat: 

JDir  mfamer  all*,  zum  Fest  vereint,  die  Stime  hoch  erhobest 

0  lasset  uns  in  tiefster  Brust  dies  schwören  und  peloben, 
Dass  wir  im  Dienst  de«  freien  Geist«  nie  wnnkcu  und  erlahmen, 
Dass  wir,  so  lang  wir  leben,  streun  der  Wahrheit  edlen  Samen, 
Dass  wir  dem  freien  Menschenthum  die  Bahn  die  Wege  brechen  I 
Zu  diesem  Schwur  da  möge  Gott  sein  Ja  nnd  Amen  sprechen." 

Rector  Bartholomäus-Hamm,  der  es  übernommen  hatte,  die  Gedächtnisrede 
zu  halten,  war  leider  durch  häusliche  Verhältnisse  am  Erscheinen  verhindert; 
das  TOB  ihm  elagesaadte  Haaaserlpt  warde  dareh  Liaaeweber^Hagea  aar  Ver- 
lesung gebracht.  IMs  Bede  ist  bereits  in  der  .Sammlung  pildagogiseher 
Vorträge"',  herausgegeben  von  Wilhelm  Mejer-Markan,  im  Verlage  von  A. 
Helmich-Bielefeld  erschienen ;  eines  weiteren  Eingehens  auf  dieselbe  bedarf  es 
aus  diesem  Grande  hier  wol  nicht. 

Aaf  dea  Yonrng  des  GoUegen  Üngerath-Hagea  masste  die  Versamailiiag 
leider  verachten.  Ungerath  wollte  über  „die  Bedeutung  der  freien 
Lehrervereine  für  Lehrer  nnd  Schule"  sprechen;  indes  erklärte  der 
Vorsitzende  bereits  in  der  Vertreterversamnilung',  dass  der  Berichterstatter 
seinen  Vortrag  zurückgezogen  habe.  Da  diese  Jsjrkiärung  nach  einer  iängerea 
Uatenrednag,  laent  xwisehen  dem  aaweseadea  Begiemagsrath  Eiaaier  aas 
Arnsberg  aad  dem  Vorsitzenden,  sodann  zwischen  ersterem  und  Uagarath«  er- 
folgte, so  war  es  für  jeden  handg:reiflich,  dass  der  als  »Ehrengast"  an- 
wesende Vertreter  der  königlichen  Keffierung,  jedenfalls  durch  einen  ..grewich- 
tigen''  wolgemeinten  Hathschlag,  den  unliebsamen  Vortrag  zu  i^'all  gebracht 
hatte.  Henr  Regierongsiath  Kresier  mass  wol  Ober  dea  Nataen  der  Maa 
Lehrervereine  anders  denken  als  viele  seiner  Collegen,  die  sloh  ia  aoeriteaasn* 
der  Weise  über  die  Ziele  nnd  Mittel  der  Lehrerrereine  ansgeqtrochen  haben. 


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—    537  — 


Nun,  er  wird  dit  Rad  der  Zeit  kaiiin  «ufhalteii,  ebensowenigr  wie  der  be- 
kannte Scliulrath  von  Cyriaci- Wantrap,  dessen  Nachfolger  Herr 

KrPHiPr  peworden  ist.  Dass  diese  Maßro^'l  nachlialtiger  wirkt,  als  im  schliminsteTi 
Falle  der  Vortrag  Ungeraths  zu  wirken  imstande  pewesen  wäre,  leuchtt^t  wol 
jedem  ein.   Auf  den  Vortrags  des  Lehrers  Merten-Dortmund  über  den  „V'er- 
*  beUsiiin  in  der  Sdrale*  vendditete  die  VenammlnBcr. 

Um  12  Uhr  ordneten  sich  die  Feittbeilnehmer  zum  Zuge  durch  die  Alt- 
stadt zum  Gebnrtshause  Diesterwegs,  an  dem  eine  Marmortafel  auf  dif  Gf- 
buriÄStätte  Adolf  Diesterwegs  aufmerksam  macht.  Nachdem  der  Zag  Halt 
gemacht  hatte,  sprach  Siebel-Siegen  etwa  folgende  Worte: 

„Wir  itehen  bier  vor  dem  Hanse,  worin  vor  100  Jabren  tet  Lebrer 
der  Lehrer,  Adolf  Diesterw^,  das  Licht  der  Welt  erblickte,  nm  sie  selbst 
mit  seinem  Lichte  zu  erleuchten.  Zum  Andenken  an  die  Geburtsstätte  haben 
Freunde  des  Verewigten  mit  uns  Lehrern  die  Marmortafel.  die  zu  unseren 
Häuptern  glänzt,  als  Wahrzeichen  für  die  Vorii hergehenden  im  Jahre  1867 
aofebradit  Adolf  Dleeterweg  bat  in  seinem  Leben  dorcb  Wort  und  Scbrüt 
fflr  Schale  und  LeliTer  Großartiges  gewirkt.  Nun  ist  er  nach  segensreicher 
Thätigkeit  lu  imisregangen,  aber  sein  Name  wird  fortleben  bis  an  das  Ende 
der  Tage.    Diesterweg  für  immer!" 

In  feierlicher  Stille  mit  entblößtem  iiauptc  standen  Hunderte  deutscher 
Lehrer  via  dem  Vaterbanae  ibres  IHesterweg. 

Sodann  ging  es  weiter  warn  SchnlplAtse,  zur  Grundsteinlegung.  Hier 
bleitSehnldirigent  SchrJ-der  Siegen  eine  lilngere  Rede,  die  mit  den  W^orten  schloss: 
„Das  Denkmal  Adolf  Dieeterwegs,  das  einst  auf  diesen  Grundstein  sich 
erheben  wird,  soll 

1.  ein  iiebtbarw  Zeiebeii  des  lebhaften  Dankes  IBr  alles  das  sein,  was 
Diesterweg  filr  die  deutsche  Schule  nnd  die  deutsche  Lehrerwelt  und  durch 

sie  fiir  die  deutsche  Volksbildung  gethan: 

2.  das  Denkmal  Diesterwegs  für  uns  Lehrer  eine  tägliche  l^fahnung  sein, 
beharrlich  und  treu  zu  wirken  in  unserem  Berufe,  damit  jedes  un.s  anver- 
traute Kind  ein  Kind  Gottes  werde,  zu  jeglichem  guten  Werke  gesciuckt, 
efai  guter  Unter(ban  und  efai  treuer  Arbeiter  auf  seinem  Arbeitsfelde; 

3.  das  Denkmal  Diesterwegs  alle  Bürger  Unserer  Stadt  und  alle  Fremden, 
die  es  zu  sehen  bekommen,  daran  erinnere,  wa.s  man  treuen  Lehrern  des 
Volkes  um  ihres  Werkes  willen  schuldig  ist,  auf  dass  sie  ihr  Werk  mit 
Freuden  thun  und  nicht  mit  Seufzen. 

Und  nun,  hochverehrte  Herren,  die  £He  die  hohe  königliche  Begierung,  den 
Kreis,  die  hiesigen  städtischen  Behörden,  die  Geistlichkeit,  die  answilrti^en 
Lehrervereine  und  da.s  Denkmal-Comit»''  vertreten,  bitte  ich  Sie.  weihen  Sie 
den  Grundstein  zum  Diesterwe^denkmale  mit  den  Wünschen,  die  Sie  für 
das  Wol  der  deutschen  Volksbildung  hegen  1*^ 
Herr  Regierungs-  und  8cbnbrath  Eremer  ftthrte  die  ersten  drei  Hammer- 
scbläge  ans  niid  sprach  hierauf:  „Anfang,  Mittel  und  Ende  stell'n  wir  in  Gottes 
Hände.   Im  Namen  des  Vaters  und  des  Sohnes  und  des  lieiliEfen  Geistes! 
Amen."  —  Herr  Riirp:ermeister  Delius  folgte  mit  dem  Spruche:  ..Wer  die 
Schule  hat,  hat  die  Zukunft!"  —  Herr  Sanitätsrath  Diesterweg- Wiesbaden: 
„Das  Gedächtnis  des  Gerechten  bleibt  in  Segen!"  —  Herr  Bobm'Berlin:  „Jm 
Naaieii  des  deutschen  Lehrervereins:  dem  Altmeister  der  deutschen  Lclirer 

Padagofinm.  iS.  JUuf .  vm.  Haft.  86  ^ 

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638  — 


Ztun  Oreflächtnis,  seinen  Schülern  zur  Freude,  den  deutschen  Lehrern  zur  Nach- 
eiferung I"  —  Herr  Strebe-Magdeburg:,  der  Vertreter  des  preußischen  Landes- 
lehrervereins: „Wer  im  Verein  mit  andern  schafft,  stärkt  seine  und  der 
ULderen  Kraft"  —  Herr  Wilhelm  Heyer-lUricaii  als  Vertreter  de«  rheini- 
aehen  ProvinziaUelirerTeiteiidee:  „VoUnAreihflit  nnd  VolkBglttck  durch  Volks- 
bildung!" —  Herr  Müller- Wiesbaden  für  den  nassauischen  Lehrerverein: 
„Das  Werk,  das  dankbare  Liebe  liier  bog-ontieii.  es  tnöE^e  die  Kommenden  zur 
That  begeistern.  Nur  wer  ein  Vurbiid  schätzt,  kann  selbst  sich  meistern." 

Nachdem  die  Familie  Diesterweg  noch  einen  prachtvolloi  LorlMerkmis 
am  Gnmdsteiii  niedeigeleKt  hatte,  war  die  Dieatwwegfeier  beendet  Ein  Feet- 
eaien  beschloss  den  lag.  Möge  er  reichen  Segen  bringen  allen  Mitfeiernden 
nnd  ein  Born  sein,  ans  dem  sie  stets  neue  Kraft  snm  schweren  Werke 
schöpfen;  denn 

„nie  Zeit  ist  schwer  und  ring!<uiii  viel  l>«>.se  Feinde  wumlcni. 
l>i<'  einen  sii'n  das  'i'oUkraut  aus,  den  Scblummermohn  die  nudeml 
Der  schwarze  Maulwurf  wUhlt  itii  Grund,  es  nagt  am  dttrren  Blatte 
Selbstoucht^  Qcmoinheit.  RiuipcnfruB  ist  das,  der  nimmeisatte. 
Wir  haben  mit  dem  hlankrn  Schwert,  mit  Stahl  und  Blei  und  Bisen 
Uns  einen  hohen  Platz  erkämpft  rings  in  den  VölkerkieiBen; 
Was  wir  errungen,  kann  uns  nie  die  Waffe  nnr  bewahren, 
Es  wird  uns  wie  ein  Truia^/Ercsehenk  aus  iinscrn  Hämlen  fahn  n. 
Wenn  nicht  des  (Putschen  Geistes  Licht  vorleuchtet  allen  Stämmen, 
Wenn  wir  der  Feinde  Bosheit  nieht  mit  allen  Kräften  lieminen! 
Nit  ht  Säbel  kann's  und  Polizei,  kein  HtUt(«i  auf  den  (rassenl 
Von  allem  Zwang  die  Geister  frei,  und  Bildung  in  die  Müssen! 

Ans  Bayern.  Vor  etlichen  Wochen  wurde  vom  Münchener  Land^:eri(•llt 
ein  63jähriger  Priester  zu  1?'  ..  .Jahren  Gefängnis  vernrtheilt.  weil  er  im 
Lanfe  des  Winters  1888/89  an  sechs  noch  nicht  1 4jährigen  Mädchen  unzüch- 
tige Handinngen  verübt  hatte.  Ich  würde  dieses  Falles  nicht  Erwühnnng  ge« 
than  haben,  hBtte  der  Verlauf  diet  OeriditsTerhaiidlnng  nicht  ganz  eigenthnm- 
liclie  Blasen  geworfen.  Um  sich  weiß  zu  waschen,  erklärte  der  Angeklagte 
mit  widerlichem  Pathos,  unter  Augenverdrehen  nnd  Anflieben  der  IlUnde 
znm  Himmel,  dass  er  ein  großer  Lügner  vor  Gott  und  seinem  Gewissen  wäre, 
würde  er  behaupten,  er  hiUe.  die  Handlangen  ans  unreiner  Kegung  begangen. 
Denn  das  Fleisch  sei  in  ihm  mit  dem  ersten  Jünglingsalter  ertüdtet  Habe  er 
„liebkosf  —  in  Wirklichkeit  waren  diese  Liebkosungen  sehr  bedenklicher 
Art  — ,  80  geschah  das  lediglich  aus  christlicher  Liebe  zur  .Tneeiid  und  zur 
Belohnung  für  deren  Tugendhaftigkeit  —  Zum  anderen  wäre  er  zu 
diesen  Handlungen  nur  durch  das  Beispiel  anderer  Erzieher  gekommen,  — 
nnd  die  Anklage  beruhe  übrigens  nnr  auf  Oehftssigkeit  des  Lehrers. 
Ven  der  Staatsanwaltschaft  anf  das  dringendste  aufgefordert,  Namen  zu  nennen, 
verweigerte  es  der  schurkische  Heuchler  —  ans  Xärhstenliebe,  um  niemand 
zu  compromittiren.  Diesen  Menschen,  der  aut  di  r  Kanzel  mit  Vorliebe  das 
Bordell  behandelte,  so  dass  ehrbare  Frauen  und  Tüchter  nachgerade  von  der 
Kirche  fernbleiben  mnssten,  diesen*  tfenschen  zn  retten,  TerschmShte  es  der 
Vertheidiger  nieht,  zu  behanpten,  dass  derartige  „Liebkosungen"  allerdings 
pädagogische  Aiifminit<>rungs-  nnd  Erziehnngsmitte]  wären!  Ich 
^anbe  kaum,  dass  Buseubaum  je  einen  größeren  üynismus  begangen,  und  die 


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—  639  — 


bedeiiklicluMi  Mittel  der  ofFenkmidiprt'ii  Jfsnite»  ei'sehoinon  harmlos  diefien  Stimn- 
lanti«'n  der  iimdenien  verkappten  ^'e^fpnüber.  .lencr  \'ertheidigrr  aber  mit  der 
eiserneu  Stirue,  Kitter  von  Schultes,  gehört  zu  den  StimmfUlueru  jener  Pailei, 
die  in  diesem  Augenblick  zur  Sdumde  lUieires  VatorlaadeB  die  widerliebste 
Hetze  K^gen  Wissenschaft  nnd  VolknoftlSniDg  unteniittiftt.  Ans  Rache  gegen 
den  bayrischen  Cultnsniinister  versagen  unsere  nltramontanen  llnversölinlichen, 
ihr  geringes  t'bergevvicht  in  der  Landtagskanuner  niissbrauchend.  Mittel  um 
Mittel  für  Zwecke  des  Uuiernt-htes.  Sie  eutziindeu  eiuen  Brand  der  Unduld- 
lamkeit  im  Lande,  de  heiiehelii  Religioeitilt  in  politischen  BUltteni  ond  treiben 
rtmiscbe  Politik,  wo  sie  Keligioeitftt  zn  pflegen  hätten,  .^ic  fanatisiren  den 
bayrischen  Katholiken,  sie  verdrehen,  sie  deuteln,  sie  denuniiren,  sie  schimpfen 
in  einer  Sprache,  deren  sich  ein  Fuhrknecht  schämen  würde;  und  das  alles 
mit  jenem  Augenverdrehen,  wie  es  auch  der  augeklagte  Priester  zuwege 
brachte,  nnd  mit  der  Jesnitenmoral  seines  Httnchener  Yertheidigers.  Und  das 
sind  die  Hilfttmppen,  mit  welchen  Windthorst  Stoim  gegen  die  moderne 
Sehale  laufen  will!  In  Norddentschland  ist  es  gelungen,  in  das  feste  Gefiige 
der  Lehrerschaft  Bresche  zu  legen,  ich  will  nicht  sagen,  in  der  belagerten 
Borg  Verräther  zu  werben.  Auch  bei  uns  tönt  das  Liebeslockeu  der  Clericalen ; 
es  tat  der  Ton,  womit  der  Weidmann  sein  nachmaliges  Opfer  betblM. 

Der  „rasende  See  der  Centnimspartei'*,  wie  sich  ein  Icathdisdier  Ffknrer 
ansgedrilckt»  der  mittlerweile  selbst  diesem  See  zum  Opfer  fiel,  hat  auch  einen 
Antrag  verschlingen  helfen,  der  vom  Verein  zur  Schulreform  im  Landtage 
eingebracht  worden  war.  Allerdings  ist  die  Frage  einer  durchgreifenden  Ke- 
forni  der  Mittelschalen  erst  im  Finanzaasscbnase  behandelt  und  abgewwfen 
worden,  sodann  in  der  VoUversammlnng  ohne  viel  Aufhebens  der  Regiemng 
zur  Würdigung  Wnübergegeben  worden.  Wer  jedo(!h  unsere  Verhältnisse  kennt, 
weiß.  da«8  damit  üb<^rhauj>t  d;»s  l'itlieil  gesprochen  ist.  Tnd  doch  hätte  die 
Bewegung,  welche  den  .Antrag  auf  den  Tisch  des  Hauses  warf,  eine  eingehen- 
dere Würdigoiig  verdient,  als  die  bekannte  vergilbte  der  classischen  Philo- 
logie. Der  stdlvertretende  Minister  für  Cnltnsangelegenheiten  —  Freiherr 
V.  Lutz  ist  immer  noch  nnpKssUch  —  ist  offenbar  über  da«  angestrebte  Neue 
niclit  .«ionderlicli  unterrii  hti-t.  —  noch  oftenbarer  Jedoch  kein  Freund  desselben. 
Das  ciriechi.'^che  iiiittc  .soviel  Feinheiten,  so  fasste  er  seine  Ausführungen  zu- 
sammen, da^  man  es  aus  pädagogischta  Gründen  als  Erziehungs«  und  Bildungs- 
mittel nidit  entbehren  kSnnte!  Die  Bemerkung  ist  wenigstens  kurz  nnd  knapp, 
wenn  auch  falsch. 

Der  Stn  iehwnth  der  Clericalen  nicht  allein,  sondern  auch  der  Lässigkeit 
der  s.  V.  Liberalen  unserer  Kammer,  die  statt  ahzustimmen,  zur  Mittagsschüssel 
eilten,  ist  es  zu  danken,  da^s  eine  Summe  vuu  16,000  Mk.,  für  bcdUrttige 
nuijorenne  Lehrerwaisen  bestimmt,  abgelehnt  wurde.  Das  zehnfisdie  haben  die 
Diftten  der  Abgeordneten  aufgezehrt,  welche  ein  Vierteljahr  lang  katholische 
Reden  gehalten  haben,  über  Kirchenlehren  gestritten  and  Bemerkungen  über 
Kunst  verübt,  über  welche  man  besser  lacht,  als  sich  ärgert.  Nach  Ablauf 
eines  Zeitraumes  von  November  bis  März,  und  nachdem  kein  Mensch  mehr  die 
Kammefberichte  lesen  mochte,  endete  dmr  erste  Act  mit  der  Preisgabe  der 
Altkatholiken.  Einen  Augenblick  trat  Windstille  ein  und  es  klang  aus  den 
Orgaheu  des  Centrums  wie  Befriedigung  über  das  Erreichte,  wie  Versöhnung 
und  liachgiebigkeit.  Doch  «Born  will  alle«  nehmen".  Das  confessionell  ge- 

38« 


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—  Ö40 


mischte  Lehreneminar  Bamberg  gab  erwünachtoi  Anlan  zum  Stonnlanfen 
gegen  die  Simnltanschale  ttberfaaapt.  Und  hier  ist  eine  der  bedaaerlichsten 

Erscheinungen  unseres  bayrischen  „Parlaments"  schroff  zu  Tage  getreten:  vott 
der  ganzen  Linken  ist  nur  ein  einziges  Mitj,dit'd  pr»'f?en  die  Rechte  aufgetreten 
—  und  dieses  Mitglied  war  leider  kein  gutei'  Eedner.  Die  Fordemng  der  • 
Sbraltanaehide  tcheiDt  ana  den  Ubcnlen  Programm  gewischt  worden  m  aefo; 
oder  will  man  dem  Coltiuminiater  keine  nenoi  Verlegenheiten  bereiten,  dem 
Cultusminister,  der  bereits  einer  Anzahl  der  von  ihm  geschaffenen  Sininltan- 
schnlen  den  Hals  umgedreht?  Bei  uns  scheint  das  Schachersystem  das  einzig 
Zeitgemäße  zu  sein.  Über  eine  Drehscheibe  mehi*  uder  minder  auf  einem 
Bahnhof  ist  man  bereit,  einen  Tag  mit  hoehpoUtiadien  Beden  sn  verschwenden; 
wenn  von  der  Sehole  die  Sprache  ist»  -schweigt  alle«,  am  ehesten  sogar  die 
liberalen  Angehörigen  des  Lehrerstandes,  welche  in  der  Kammer  sitsen. 


Ans  Vexiko  schreibt  uns  unser  Berichterstatter,  dass  aach  dort,  ebenso 
wie  in  Eoropa,  „die  ewige  Feindin  alles  Fortschrittes,  die  schwane  Bande  der 

Finsternis,  Jetzt  wieder  wie  im  Mittelalter  ihren  Bachen  Ofltaet".  Die  weitere 

Schilderung  dieses  Treibens  müssen  wir  aus  "Rt  sjiect  v<»r  der  europäischen 
Prossfreiheit  beiseite  lassen,  ('brigens  enthiUt  sie  nichts  saclilich  Neues:  das 
Geschäft  ist  ja  interuatiunal  und  wird  von  einem  Ceutrum  aus  geleitet.  Der 
Untersdiied  ist  nur  der,  dass  es  in  Europa  aneh  von  nnbemfoier  Seite  gehegt 
nnd  gepflegt,  in  Amerika  hingegen  in  gehörigen  Schranken  gehalten  wird. 

Zugleich  erlialten  wir  die  Mittlirilung.  dass  im  Mmiat  >filrz  in  ^lexiko 
ein  Pädagogeucougresa  getagt  hat,  um  die  Mittel  einer  gleichmäßigen  natio- 
nalen ErziehuDg  und  Bildung  zu  berathen,  worüber  uns  ein  Bericht  in  Aus- 
sicht gestellt  wird. 

Indem  wir  demselben  mit  Vergnügen  entgegensehen,  danken  wir  zugleich 
unserem  wackeren  Freunde  und  Bericht«  rstatter,  Herrn  Professor  M.  iii  Pm  bla, 
tür  seine  stets  bereite  Mühewaltung  und  seine  neuerlich  an  den  Tap  ^clcpte 
herzliche  Sympathie.  Mügeu  seine  guten  Wünsche  au  ihm  selbst  in  Erfüllung 
gehen!  D. 

Ans  der  Fachpresse. 

298.  Za  Scherrs  Todestag  (Schweiz.  Lehrerstg.  1890,  10.  11). 
Scberrs  nnverwelkliche  Verdienste:  „was  er  IQr  die  Methodisimng  des  Sprach- 
unterrichtes, die  Popnlarisirung  des  grammatisdien  Unterrichtes,  ffir  die  metixo- 

dische  Durchfnlirung  der  Realien  gethan,  was  er  als  geist-  und  rliarakter- 
bildender  Lehrer  und  als  Schulnrpanisator  geleistet."  \'or  fünfzig:  .lahren 
forderte  er,  dass  sich  an  die  Kinderschule  die  ^Schule  des  mittleren  Alters" 
(14. — 18.  Jahr)  und  weiter  die  „Sehnle  des  blirgerliehen  Alters"  anscUieten 
B(^e.  Ans  seinem  Beridite  Aber  die  Organisation  des  zfirdieriBchen  Unter- 
fiehtsweeens  twi  1832:  „Ohne  genügendes  Einkommen  keine  genügende  An« 
zahl  guter  Lehrer;  ohne  gute  Lehrer  keine  gute  Schule;  ohne  gute  Schule 
keiue  emporstrebende  Bildung  des  \'olke8;  ohne  allgemeine  Volksbildung  keine 
allgemein  verbreitete  edlere  Gedttong,  kein  b^lUckender  Wolstand,  keine 
wahre  Freiheit.* 


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—  541  — 


299.  Zeicheu  der  Zeit  (II.  M.,  Bayr.  Lehrcrztff.  1890,  12).  Welche 
sind  siey  N'erschwinden  (and  Verschwundensein)  des  Interesses  für  Schule  und 
Lehrer,  im  besonderen  Gleichgiltigkeit  der  Lehrerbildung  gegenüber  —  Ab- 
sieht, den  Leltnr  henitaadrttckeD  (um  seiner  Herkunft  und  um  der  von  ihm 
im  Seminar  genossenen  staatlichen  ünteratfttznng  iviUen)  —  feiger  nnd  lügne- 
rischer Gebrauch  der  Kedensart  vom  „Nicht-opportun-sein".  Auf  Seiten  der 
Lehrer:  die  alte  thatkräftige  Liebe  zum  Vereinsgeist  erloschen  —  in  den  Ver- 
sammlangen fehlt  der  zündende  Gedanke,  das  Wort  der  freien  Überzeugung; 
nan  eprieht  mit  IVnichtiger  Elngheit  and  hohlem  Fnthos.  („Ei  ist  ja  alles 
so  harriich;  so  seh9n  nnd  prBefatig  fthrt  sldi's  in  den  sltea  Geleisen.*'  Wahr!) 

300.  Fußpfade  im  Gebiete  der  Erziehungskunde  (W.  Walter, 
Päd.  Zeit.  1890,  7.  10.  11).  1.  „Kömdien"  von  Ursprünglichkeit  in  padago- 
fischen  (besonders  schriftstcllerisc  lienj  Leistungen,  (  ,,Man  wiege  den  Ijehrer 
nach  dem  Eeichtham  —  schon  wenige  machen  reich  —  seiner  nrsprüuglich- 
eifenaitigen  BlatstropfSan  oder  Harkkttgelchen,  oder  Gedanken,  oder  Mnme.^ 
2.  „Superlativ."  Gegen  die  Unsitte  der  Lobhndelei,  geübt  von  den  Lehrern 
an  sich  selbst  (in  Berichten  über  Vortrage.  Recensionen)  und  an  den  Kindern 
(Censiren  Grundgesetz:  im  ersten  Schuljahr  den  möglich  und  erlaubt 
niedrigsten  Grad  zu  wählen).  3.  „Diminutiv."  Die  Sucht,  die  Namen  der 
Kinder  abankflnen  nnd  mit  VerldeinernngssUhen  an  behingen  nnd  flr  sie  die 
Namen  der  Dinge  in  ahnlieher  Weise  lIpiilBeh  nmsnwandeln,  entspringt  fUseher 
oder  gefälschter  Liebe  nnd  schw&chUdier  Sentimentalität. 

801.  Psychologische  Begründung  der  Verschiedenheit  in  den 
Leistungen  fP.  Niehus,  Deutsche  Hlrltter  1S90.  12).  Ein  Versuch  —  und 
ein  wolgelangener.  Gesichtspunkte  für  die  Beobachtung:  Vorstellungsgeschwin- 
digkeit —  Klaiheit  nnd  SeUbrlb  der  EfameiveffSteDnag  —  Linge  nnd  GUe- 
dersng  der  Vorstdlnngsreihen  —  Keprodnction  —  Apperoeption.  Hit  einer 
höchst  interessanten  tabellarischen  Übersicht  (die  Kinder  einer  Mittelclasse  ge- 
ordnet —  in  3  Abtheilungen  mit  je  3  Gruppen  —  nach  dem  Unterschied  der 
Leistungen  in  Dictat  nnd  Lesen;  letztere  verglichen  mit  demjenigen  in  Ge- 
schldite  nnd  Religion  ^  ee  ergeben  sich  dieselben  Äbtheünngen  beaw.  Groppen; 
huptsSchlicher  Anhaltspnnkt:  das  erlangte  Geschick  in  Anflsssang  der  Bdhen). 

302.  -Vom  Corrigiren  (Sdileswig-holst  Schnlz.  1890,  3).  Verfhsser 
will  das  Corrigiren  auf  das  äußerste  Maß  eingeschränkt  wissen  O'e^^s"^^^^ 

die  Arbeiten  einzelner  Schüler  eingehend  corrigiren  nnd  besprechend  dagegen 
sehr  viel  und  immer  wieder  Neues  schieiben  lassen  und  dabei  hauptsächlich 
anf  gnte  Handschrift  nnd  Sauberkeit  halten.  Wertsohltsnng  der  Orthographie 
nach  Hildebrand.  „Es  gibt  orthographische  Tslente.**  „Mit  der  Orthographie 
macht  es  sidi  allmlblich  gana      seibat  —  oder  gar  nichl'' 

303.  Religionskenntnis  und  Religiositit  (E.  Hartberg,  Schule  nnd 
Haus  1890,  III).  Kritik  der  herrschenden  Unsitte,  religiöse  Kenntnisse  für 
religiöse  Gesinnung  auszugeben,  und  des  darauf  gestützten  „Religionsunter- 
richtes". Argumente:  die  bekannten.  Trotzdem  erwfthnen  wir  den  Anfints 
hier;  denn  was  er  bringt»  kann  in  nnaorer  Zeit  nicht  oft  genug  gebracht 
werden« 


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Litoratv. 


Lan^e.  Frucht-  und  Blumealese  aas  üoethe's  Schriften.  Potsdam 

1889,  Stein. 

368  Citate  ans  Goethe*s  DichtnngcD  und  Prosascbriften.  oline  i^nau  ersicht- 
lich gemachte  Anordnung  nebeneinandergestellt  und  ohne  Angabc  des  AVcrke«, 
aas  dem  sie  cntBommen  sind.  Da  unter  den  Citaten  manche  sind,  die  auch 
eiq  eifriger  Leser  Oeethe's  nicht  sofort  nach  ihrem  Standorte  in  den  Wericen 

des  Meisters  erkennt  und  der  BeniUzi  r  ilifi.sor  Aunwahl  aller  Walirsch'  inlii  Iik<'ir 
nach  ebenso  häufig  in  die  Lage  kommt,  die  Quelle  eines  üoethe'schen  Citates 
wie  das  Citat  selnit  kennen  m  lernen ,  so  dürfte  es  sieh  empffeUen,  tvots  des 

in  der  Vorrede  aufgestellten  Pirtnins  „"Wiirc  die  Stellf  (\v>  ntate»  genannt, 
so  biefie  das  zu  dem  Leser  sagen:  Du  kennst  unsere  größten  deutsrhen  IHehter 
nicht")  jedem  Citate  die  Quäle  (Werk,  Act,  Seme  oder  Strophe,  Vers)  bei- 
zufügen und  die  «^itate  in  Gruppen  mit  einem  gemeinparaen  Titel  m  ordnen» 
wodurch  ja  auch  das  Aultiudcn  bedeutend  erleichtert  wird.  W, 

Böhme,  Erläuterungen  zu  den  Meisterwerken  der  deutschen  Dichtkunst  fiij-  die 
hämUehe  Vorberdtuig  der  SditDer.  1.  BddMO.:  GOts  von  Berliehingen ; 
2.  BdcheD.:  Der  PriDX  von  Hombarg.   Berlin  1890,  Weidmann. 

Der  Gang  dieser  Erläuterung  i^t  folgender:  Zuerst  spricht  der  Oomraentator 
kurz  über  die  Entstehung  des  ächauspiels,  dann  erläutert  er  Scene  für  Sccne 
aUe  dem  Sebflier  ans  seiner  bisherigen  Lectflre  kaum  bekannten  Ansdrtteke. 
Hierauf  bespricht  er  die  einzelnen  Seenen,  indem  er  sowdl  ihre  Stellung  im 
dramatischen  Aufbau  des  Werkes  erläutert,  als  auch  die  geschichtlichen  Ke- 
siehnngen,  auf  die  in  der  betreffiraden  Seeae  angespielt  wird,  darlegt.  Ein- 
gestrente Fragen  und  Hinweise  atif  Späteres  oder  Verwandtes  machen  auf 
Manches  aufmerksam,  das  ein  tieferes  Verständnis  des  Werkes  lürdert.  Auch 
die  eingehaltene  Dispositionsform  hebt  die  Punkte,  die  der  Beachtung  wttrdig 
pind.  irut  hervor.  Den  Schlu.ss  bilden  „Bemerkungen  zum  ganzen  Schauspiel", 
z.  B.  also  in  der  Erläuterung  des  „Götz"  ein  Lebensbild  1.  Götaens  (nach  der 
Selbstbiographie  und  der  allgemeinen  deutlichen  Biographic),  2.  Franz  von 
8ickingen,  3.  Lerae,  ferner  die  Beantwortung  der  Frage:  Warum  war  Goethe's 
Götz  epochemachend?  und  einige  Stimmen  über  Goethe's  Oöt«  (Herder,  Wieland, 
Ticck).  \h  Anhang  siud  46  Aufgaben  zu  Aufsätzen  und  freien  Vorträgen 
beigegeben  und  ein  Verzeichnis  der  im  Drama  genannten  Orte  mit  Annbe 
ihr»  Lage.  W. 

Geibels  Gedichte  (Auswahl),  .Schulaasg.  mit  Aumerkougen  von  M.  MeUki. 
Stattgart  1890,  Cotta's  Nachfolger.    1  Mk. 

Der  Herausgeber  iiat  dieser  Auswahl  ans  den  Oediditea  des  beliebten 

Lyrikers  eine  Einleitung  vorausgeschickt,  in  der  er  des  Dichters  Leben  er- 
zählt und  seine  Lyrik  nach  ihren  istoffgebietcn  (den  lyrisehen  Standpunkten) 
charakterisirt.  Dom  Gange  der  Einleitung  enti<pre<hend  sind  die  ausgewählten 
Gedichte  gruppirt:  1.  <ieili(  hte.  zu  denen  Geibel  durch  Erlebnisse  auf  seinem 
Lebensgange  angeregt  wurde,  und  in  denen  er  von  solchen  erzählt,  2.  Ge- 
dichte, in  denen  er  Gott,  Natur  und  die  Liebe  verherrlicht.  3.  (icdichtc  zum 
Praiae  des  Vaterlandes,  4.  Gedichte,  die  sich  auf  das  classische  Alterthum  be- 


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ziehen,  und  ül)er3etziine:on  ijriccbischcr  und  rüiuLscher  Dichtungen,  5.  Ethiaches 
und  Ästhetisches.  Den  6cliluss  bilden  Gelegeuheitsgediclite,  einice  der  berühmten 
Balladen  <z.  B.  der  Tod  des  Tiberius)  und  anderes.  Der  Herausgeber  fiber- 
schreibt diesen  Theil  seiner  Auswahl:  „Vennischte  Gedichte."  Bei  dem  Um- 
stände, duss  die  Gcsammtausgabo  der  Oeibelschcn  Gedichte  zu  einem  billigen 
Preis  nicht  zu  kaufen  ist  und  auch  sobald  noch  nicht  z.  B.  in  der  Reclamschen 
Ao^gahe  eiscbeinen  kuui,  seine  Gedichte  aber  wert  sind,  yon  unserer  Jugend 
^kavnt  zu  werden,  mebar,  als  dies  dureh  die  ja  fanmernin  nnr  dflrfUj^  An^ 
wähl  in  den  Le  sebüchern  möglich  ist,  wird  man  der  vorlicticmlen  billitjcn  Ann» 
gäbe  für  die  Hand  des  iSchttlers  eine  recht  große  Verbreitung  wünschen.  Die 
nette  AuBrtattnng  wftide  das  BOdilein  aneh  nur  Schttl«inriaile  geeipet 
madMn.  W. 

Volz,  Grundriss  der  alten  Geographie.   Zweite  Auflega  Berlin  1889, 

Spamer.    1,60  Mk. 

Das  Büchlein  behandelt  auf  144  Seiten  die  alte  Geographie  Griechenlands, 
Italiens  und  Pattstinas  (am  ansfUirUchsten  die  Grieeheidands,  mdir  ab  An* 

hang  die  Palästinas nii<l  zwar  so,  da.s.s  durch  Unterscheidung  des  Textes  in 
Groß-  und  liLloiugedrucktes  der  Gebrauch  des  Grundiissee  aul'  beiden  Stufen 
des  Oymnaaiums  ermöglicht  wird.    Lob  Terdient  die  Ansehanlieliluit  der 

Schildenine:.  Hauptsächlich  auf  Grund  des  Pausanias  und  der  neueren  For- 
schungen auf  dein  <iebicte  der  alten  Topographie,  sowie  des  Selbsigeschauten 
werden  die  Land.schaften  und  die  historisch  bedeutenden  Orte  nach  ihrer 
Eigenart,  ihren  historischen  und  sagenhaften  Erinnerungen,  ihren  Bauten. 
Denkmälern  u.  s.  w.  geschildert,  besonders  auätUbrlieh  Attika,  Athen,  Sparta, 
Delphi,  Oljrmpia,  Korinth,  roiiipoji  uud  Syrakus.  Nur  Rom  kOnnte  noch detamiila! 
beschrieben  sein.  In  der  Beschreibung  der  Akropolis,  die  sonst  sorgsam  ge- 
arbeitet ist,  venuiskst  man  deu  Tempel  der  Nike  von  den  Propyläen.  Das  mit 
sichtlicber  Liebe  zur  Sache  geschriebene  Büchlein  wird  von  Gymnasiasten  bei 
der  Leetüre  dei;  antiken  Cla^iker  und  von  Schülern  höherer  Scholen  ttberhanpt 
beim  Geschichtsunterricht  mit  Nutzen  gebraucht  werden.  W. 

Geistbeck,  Leitfaden  der  Geographie.    IV.  Theil:  Die  außerearopäischeu 

Erdtheile.   4  Auflage.   Mllnehee,  Oldenbonrg.   60  Vtg. 

Geistbeeks  Leitfaden  nimmt  zu  seinem  Vortheile  auch  Rücksicht  auf  die 
praktischen  Bedürfnisse  des  Lebens,  auf  volkswirtschaftliche  Thatsachen  und 
Erscheinungen  (Rohproduction,  Luduatrie,  Handel,  Verkehrswesen  u.  s.  w.)  und 
«war  nicht  in  Form  zutallig  hier  und  da  eingeschalteter  Notizen.  Geiatbeck 
betrachtet  diese  Belebrangen  viehnehr,  wie  es  eben  in  den  meisten  anderen 
Leitfaden  nicht  geschieht,  ata  einen  integrirenden  wesenfUehen  Bestandtheil 
der  ]!( si'lireibung  eines  Landes;  nach  veri^Ieichcmler  Metbode  f^ruiipirt  er 
außerdem  in  Tabellenform  die  wichtigsten  der  genannten  volkswirtschaftlichen 
Erscheinungen  sv  einem  Genmmtbilde.  Wie  alle  Odstbeeksdien  Bfleker, 
zeichnet  sich  auch  da.s  vorliegende  deich  Kl;irheit  der  Disposition  aus  und 
dadurch,  dass  es  auf  den  ursächlichen  Zummmcuhang  der  geographi^K^hen  1^ 
adMlnuDgen  nnteieinander  den  gebttiendoi  Wert  legt.  W. 

Herkflt,  Historisehes  Hilfebneh  fttr  iie  oberen  CUsien  der  Gyni' 
naiien  nnd  ReaUehnlen.  3  Theile.   Wiesbaden  1889,  Knnse's  Naeh- 

ftlger. 

Da.s  Hilfsbueh  von  Herbst  ist  der  Nachfolger  des  vor  Jaliren  an  den  meisten 
Anstalten  eingeführt  gewesenen  Lehrbuches  von  l'ütz.  Ein  (jutes  Buch  ist 
hier  durch  ein  besseres  verdrftngt  worden:  Es  lässt  dem  Schill«  r  einen  größeren 
Spielraum,  da  es  durch  seine  ronn  ihn  nöthigt,  nicht  mechanisch  zu  lernen, 
und  ist  anderseits  so  hübsch  gegliedert,  dass  die  i^eji^ebene  Disposition  des 
Stoffei4  das  Lernen,  die  Übersicht,  sowie  die  Aufdeckung  des  Zu.sanimenhange.s 
wesentlich  erleichtert.  £ntq^rechend  der  Bildungsstufe,  für  die  es  geschrieben 
ist»  wird  nidit  bhM  die  ttntore  Geeehicht&  sondern  aneh  die  Entw^dnng  der 
inneren  Verhiltnisse  sehr  genau  nad  dem  Stande  dm  gegenwtrtigen  Fenehttag 


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gemäß  besprofhon ;  auf  eine  ausfilhrliche  Parstellung  »1er  Saß:o  jedoch  verzichtet. 
Ein  paar  ächlagworte  geniigen  ja  auch,  den  nui  der  Unterstufe  gelernten 
Sagoutoff  iu  GediditDiB  svrfleknirafeii.  W. 

Junge,  Iieitfaden  fttr  den  GeiehichtiiBterriclit  in  den  oberen 
Glasten  hVkerer  TSektereehnlen.  Berlia  1889,  VeUen.  8  Mk.* 

Der  vorliegende  Leitfaden  (?^rupi)irt  den  für  prrußivohe  Töchterschulen  vnr- 
«■duriebenen  Lehrstoff  in  zwei  Uaupttbeile:  1.  in  die  (iescbicbte  der  wichtigsten 
Völker  der  TOfgermanisehen  Zeit  (Alterthnin)  und  2.  in  die  der  Deatadien  Ton 
ihrem  ersten  Auftreten  bis  zur  Gegenwart.  In  dem  ersten  Theüe  bespricht  er 
in  Kilize  die  niürgenländischen  Völker  i^S.  3 — 10)  und  in  uugef&br  gleichem 
Ausmaße  auf  je  ca.  26  Seiten  das  Wichtigste  aus  der  griechischen  «nd 
römischen  Geschichte.  S.  62 — 224  umfasst  den  zweiten  Haupttheil;  am  aus- 
führlichsten wird  der  Abschnitt  unserer  Gesihichte  vom  Jahre  1640—1889 
behandelt  (die  Hegierong  Kaiser  Wilhelms  I.  von  8,  206— 'i22).  Mit  Recht 
bemerkt  dazu  der  Verfasser:  „Für  deutsche  tichUlerinnen  und  Schüler,  welche 
nach  neunjähriger  Schulzeit  die  Schule  verlassen,  gibt  e«  nur  eine  deutsche 
Geschirlite  mit  ihrer  nothwendigeii  > ii iiinllage,  d.  h.  einer  Geschichte  des 
Alterthoffls,  die  auf  die  deatsche  TO'bercitet."  Von  diesem  seinem  pftdo^giBchen 
SUndpmüite  wihlt  er  maA  den  Stolf  am:  Trotz  des  beselntnkten  Ummnges 

der  IpriechischM  GesehicbtC  führt  er  <\oc\i  ilir  Sagen  we^^en  ilms  n  irh>  u 
Bildnngistofts  eingehendef  vor,  skizzirt  anderseits  mit  Weglasüung  vieler 
Namen  nnd  ZMn  Kriege,  die  wie  der  peloponnesisehe  oder  der  Sannnterkrieg 

sich  nur  sch^vfT  eiiipräj^nn.  Einige  Angaben  über  die  Ursache,  den  Gang, 
den  Wendepunkt,  die  Folgen  und  die  Bedeutung  des  Krieges  sind  da  besser 
als  viel  Detefl  nnd  Namen.  Die  deutsche  Geschichte  ist  mit  Zugrundelegung 
des  Textes  von  Müller's  deutscher  Geschichte  geschrieben,  die  .Tunge  seit  dein 
Tode  ihres  Vert'assers  wiederholt  umgearbeitet  und  herausgegeben  hat.  Einen 
Schmuck  des  Büchleins  bilden  die  eingefügten  neun  oolorirteu  Karten,  die  nur  die 
im  Buche  erwähnten  Orte  enthalten  und  dämm  sich  als  „leere  Karten"  leicht 
einprägen,  und  die  fünf' eigens  für  den  Leiti'aden  zusammengestellten  BUdertafein 
Mur  KuMtgesebiiAte.  W. 

GusiMl-Beck,  WeltgeBehiehte  fflr  höhere  H&dchenschaien  nnd 
Lelirerinnen'bildangtanetalten.    L  Theil  (Altetthnm).  Wlesbadea 

1889,  Kunze'»  Nachfolger. 

Auch  dieser  erste  Theil  der  Cassian-Beckschen  Weitgeschichte  VOTdieat  den 
Namen  eines  guten  Idstorbehra  Lesehvehes,  das  jedem  Leitfaden  nur  Er* 

gftnzung  und  dem  Lehrer  bei  .ler  Vorbereitung  auf  die  GeschichtsKtunde  dienen 
kann.  Weil  es  auch  dun  Antheil  der  Frauen  und  ihre  Stellung  in  den  ver- 
schiedenen Zeiten  nnd  bei  den  verschiedenen  Völkern  des  Alterthums  in  eigenen 
Charakterbildern  bespricht,  und  auf  die  Culturverhältuisüc  und  die  äußere 
(iesehichte  das  Hauptgewicht  legt,  eignet  es  sich  besonders  für  Lehrerinnen- 
bildungsanstalten  und  höhere  Mädchenschulen.  Die  Erzählung  ist  klar,  einfach 
im  Satzhau  »nd  anjichaulich,  so  dass  sie  sich  der  PJiaiuasie  und  dem  Gedächt- 
nis der  Jugend  leicht  einprägt.  Hier  und  du  iüt  eine  mitgctheilte  Sage  nicht 
ak  Sage  bezeichnet,  und  mancher  einer  bedeutenden  Persönlichkeit  nur  irr- 
thümlich  in  den  Mund  ffelegte  Ausspruch  ohne  weiteres  als  von  ihr  gesprochen 
hingestellt.  Eine  Durc^icnt  des  Buches  z.  B.  an  der  Hand  des  bekannten 
Werkes  von  Ilertzict  „l>ie  Treppenwitze  der  Weltgeschichte"  wird  darum 
xathsam  sein.  Dabei  Ueüen  sich  auch  einige  Dru (Mehler  verbeBsem,  z.  B. 
Pavierw  (8.  88),  Eupatrite  (S.  122X  Tneien  (8.  128),  fomesisoh  (S.  179j, 
Satiereu,  Deckenblatt  (S.  175)  etc.,  ebeuo  die  hnu  giieeUsoiiei  hnlb  römische 
form  einiger  griechischer  tarnen.  W. 


Vwnntwvrll.  nadaetoar  Dr.  rrtedrieb  Dfttaa.  nmbdniekanl  Jallm«  KliakhaHt,  L«^(. 


Zum  fledlelitiiis  Adolf  Diesterwegs. 

Owproeben  auf  dem  tehtea  dentedieii  LehxeiUge  am  27.  Kai  1890  im  Feitiaale 

der  Philhannonie  m  Beriia.*) 

To»  Dr.  Mßdrieh  IHUm, 

dem,  der  seiner  Väter  gern  gedenkt^  der  froh  von  ihren 
Thaten,  ihrer  OrOBe  den  HOrer  nnteriiilt  nnc^  still  sich  freuend,  ans 
Ende  dieser  schOnen  Beihe  sich  geschlossen  sieht** 

Wie  oft  hat  sich  in  den  letzten  Wochen  nnd  Monden  dieses 
schöne  Dichterwert  hewflhrt!  Oberall,  wo  es  deutsche  Lehrer  gibt, 
die  noch  Sinn  haben  fftr  das  nnveiigfingliche  Verdienst  ihrer  geistigen 
Vorfahren,  gedenken  sie  in  diesen  Tagen  eines  ihrer  ruhmreichsten 
Ahnlierren;  sprechen  sie  von  dem  Meister  und  Bahnbrecher,  der  vor 
hundert  Jahren  das  Licht  dei*  Welt  erblickte:  sprechen  sie  von 
Adolf  Dies terweg,  der  unter  den  ehrwürdigen  Vätern  der  deutschen 
Schule  dem  heutigen  Geschlecht  am  nächsten  steht. 

Es  ist  ein  Trost  in  dieser  vielfach  trübseligen  Zeit,  dass  es  unter 
den  deutsehen  Lehrern  noch  einen  Kern  von  Männern  gibt,  welche 
sicii  oüen  zu  den  Grundsätzen  und  Strebzielen  Diesterwegü  bekennen 
und  ohne  Menschenfurcht  bezeugen: 

„lo  ihm  liab'  ich  seit  meiuer  ersten  Zeit 
EiB  Miuter  dta  voUlKnDDmneD  MaaiM  gesebeo." 

Dass  audi  der  „Deutsche  Lehrerrerein'',  die  weitaus  bedeutendste 
Kdrpersdiaft  ihrer  Art,  bei  Gelegenheit  seiner  achten  Hauptversamm- 
lung «ne  DiesterwegfiBier  veranstaltete,  war  eme  unerlässlidie  Pflicht 
der  Ebre  und  Dankbarkeit,  eine  Pflicht,  zu  deren  ErfftUung  es  keines 
Befehles  bedurfte^  weil  die  Stimme  des  Herzens  sie  forderte.  Und 
wo  anders  könnte  der  „Deutsche  Lehrerrerein**,  der  das  ganze  Deutsdie 
Reich  zu  umfiissen  berufen  und  bestrebt  ist,  seinem  geistigen  Ober- 
haupte nnd  Proteetor  eine  vollwichtige  Huldigung  darbringen,  wenn 
nicht  in  der  Hauptstadt  des  Deutschen  Reiches?  Hat  doch  in  Berlin 
unser  Diesterweg  fast  die  Hälfte  seines  Lebens  verbracht,  den  gi-ößten 
Theil  seiner  Arbeit  gethan  und  endlich  die  letzte  Ruhestätte  gefun- 
den.   Und  so  ist  Berlin,  abgesehen  von  seiner  hauptstädtischen  Be> 

*)  Der  folgende  Abdruck  ist  genau  und  ToUständig  uach  dem  Manaieript  bei^ 
gestellt;  im  mUndlicbrn  Vortrage  waren,  wenn  ich  mich  i«cht  erinnere,  einige 

Stellen  vergessen  worden.  D. 

PailagogiBm.   18.  JaJtrg.   Ucft  IX.  99 


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deiitung.  fiir  die  A'ereUrer  Diesterwegs  einer  jeaer  bevorzugten  Orte, 
die  der  Dichtei*  mit  den  Worten  preist: 

„Die  Stätte,  die  eiu  guter  Meuäcb  betrat* 

Ist  eingeweiht;  nedi  hundert  Jähren  Idingt 

Sein  Wort  und  seine  That  dem  Enkel  wieder  " 

Und  so  danke  ich  dem  geehrten  Vorstand  des  „Deutschen  Leh- 
rervereins", dass  er  so  freundlich  war,  mich  zur  Theilnahme  an  dieser 
Gedenkfeier  einzuladen.  Es  war  mir  ein  Herzensbedürfnis,  den  Manen 
unseres  großen  Berufsgenossen  und  Vorgängers  in  einem  Kreise  treuer 
Gesinnungsgenossen  die  wolverdiente  Huldigung  darzubringen  und 
öffentlicli  auszusprechen,  dass  ich  die  Verelirung,  welche  mich  von 
Jugend  auf  dem  Lebenden  verband,  auch  dem  Todten  ungeschmälert 
bewahren  werde  bis  an  das  Ende  meiner  Tage.  Mögen  ilin  andere 
lür  ..üb(>rwunden"  und  _al)gethau"  erkliireu.  uns  bleibt  er  einer  der 
Unsterbliclu'U,  auf  die  wir  das  Wort  anwenden,  weh^lies  die  beiden 
größten  deutschen  Dichter  ihrem  Vorgänger  Lessing  widmeten: 
„Vormals  im  Loben  ehrten  wir  dich  wie  einen  der  Gtttter; 
Nun  dtt  todt  hist,  «o  herneht  Uber  die  Geister  deb  Geist* 

Was  aber  könnte  ich,  geehrte  Yersammlnng,  Ihnen  noch  sagen 
znm  Lobe  dieses  herrlicben  Mannes?  Es  bieBe  Wasser  ins  Meer 
tragen»  wollte  ich  Ihnen  eraählen  von  seinem  Lebensgange,  seinem 
rastlosen  Wirken  für  die  Schnle,  ftlr  Förderung  der  Volks-  und  Men- 
Bchenbildnng,  für  Glaubens-  und  Gewissensfreiheit,  für  die  Vervoll- 
kommnung der  Unterriclifsniethode,  für  die  geistige,  sittliche  und 
sociale  Hebung  des  Lehrerstandes,  oder  von  den  Leiden  und  Ver- 
folgungen, die  ihm  beschieden  waren,  und  in  denen  sich  sein  eherner 
Charakter  nicht  weniger  bewährte,  als  in  Arbeit  und  Kampf.  Nicht 
auf  Lob  und  Ruhm  war  sein  Sinn  gestellt,  sondern  Gutes  zu  wirken, 
das  war  das  Ziel  seines  Lebens.  Und  darum  glaube  ich  in  seinem 
und  in  Ihrem  Siinie  zu  handeln,  w^enn  ich  etwas  beizutragen  versuche, 
das  die  heutige  Gedenkfeier  nicht  blos  dem  Gefeierten  zur  Ehre, 
sondern  auch  uns  zum  Nutzen  gereiche. 

Dazu  bedarf  es  aber  keiner  neuen  Gedanken,  und  fern  liegt  mii* 
die  Absicht,  Ihnen  solche  vorzuführen.  Originalität  wird  derzeit  ohne- 
hin mehr  geiibt,  als  gut  ist.  Ich  möchte  nur  hinweisen  auf  die 
wahren  Fundamente  der  deutschen  Nationalbildung,  die  längst  gelegt, 
nun  aber  leider  halb  vergessen  sind;  zurückweisen  auf  die  Leit- 
gedanken im  Leben  und  Wirken  Diesterwegs  und  damit  anf  die 
glänzendste  Epoche,  aof  das  klassisdie  Zeitalter  des  dentscheii  Geistos- 
lebens. Denn  Diesterweg  lebte  in  der  Welt  nicht  als  ein  abge- 
schlossener Sonderling,  er  lebte  im  Ganzen,  er  lebte  in  jenem  Beidie 


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^er  Ideell,  welches  von  den  edelsten  Geistern  der  deutschen  Nation 
erschlossen  war,  in  jenem  Heiche,  aus  welchem  ich  bereits,  mit  Vor- 
bedaclit,  einige  Stimmen  citirt  halte.  Rückkehr  zu  den  wahren,  echten 
nnd  dauernden  Grundlagen  deutsclier  Cultur  und  deutschen  Bohmefli 
das  ist  es,  was  meines  Erachtens  heute  vor  allem  noththut. 

Gestatten  und  verzeilien  Sie  mir  ein  offenes  Wort.  Wol  weiß 
ich,  dass  dem  (laste  Bescheidenheit  ziemt,  und  ich  will  .so  zahm  sein, 
als  es  mir  möglich  ist.  Aber  Sie  haben  ja  selbst  meine  Gegenwart 
gewünscht,  und  so,  hoffe  ich,  werden  Sie  mir  auch  einige  Nachsicht 
gewähreu.  Zudem  habe  ich  doch  auch  noch  ein  gewisses  Recht,  heute 
ein  wenig  mein  Herz  sprechen  zu  lassen,  da  ich  ja  auch  ein  Glied 
der  deutschen  Nation  bin  und  mich  wol  aucli  einen  deutschen  Päda- 
gogen nennen  darf,  dem  es  erlaubt  .sein  mag,  an  einem  Dicstei-weg- 
tage  seinen  Ansichten  über  Erziehung  und  Unterricht  Ausdruck  zu 
geben.  Es  steht  ja  einem  jeden  frei,  wie  er  sich  zu  ihnen  stellen 
will  Ist  doch  niemand,  als  ich  allein,  für  meine  Worte  verantwort- 
lich. Ich  werde  nichts  anderes  reden,  als  was  ich  auf  Grund  langer 
Erfiüimng  nnd  sorgfältiger  Beobaehtung  für  sidiere  Thatsache,  oder 
nach  meiner  innersten  Überzeugung  fllr  evidente  Wahrheit  halte. 
H(fren  1^  mich  also  geduldig  an,  wenn  ich  etwas  sage,  was  Ihnen 
nicht  geftllt»  nnd  lassen  Sie  mich,  wenn  Sie  wollen,  in  Gottes  Namen 
-einen  alten  Zopf  oder  verhirteten  Ketzer  sein,  an  dem  nichts  mehr 
zu  bessern  ist  Gern  verzichte  ich  auf  jeden  BeüSdl;  lassen  Sie  mieh 
denn  auch  etwaiges  Ifissfhllen  nicht  allzu  hart  empfinden. 

Es  mag  zunlehst  dahin  gestellt  bleiben,  ob  die  Ideen  Biesterwegs 
und  seiner  Geistesverwandten  heute  und  in  Zukunft  noch  einen  prak- 
tischen, einen  actuellen  Wert  haben,  oder  ob  ihnen  nur  noch  eine 
schanliche  und  erbauliche,  eine  speculative  und  contemplative  Be- 
•dentung  zukommt;  ob  sie,  mit  anderen  Worten,  als  das  Abendroth 
eines  vergangenen  oder  als  das  Morgenroth  eines  anbrechenden  Tages 
im  Leben  des  deutschen  Volkes  anzusehen  sind.  Gewiss  ist,  dass  sie 
einmal  in  den  besten  Geistern  gelebt  und  Großes  gewirkt  haben,  dass 
ihnen  also  wenigstens  eine  h-istorische  Würdigung  gebürt,  und  dass 
an  einem  Gedenktage,  der  uns  zur  Selbstbesinnung  mahnt,  es  sich  ge- 
ziemt, die  Vergangenheit  mit  der  Gegenwart  zu  verbinden,  um,  wo 
möglich,  einen  Ausblick  in  die  Zukunft  zu  gewinnen. 

Bekanntlich  betrachtet  Diesterweg  als  Ziel  aller  Erziehung  und 
allen  Unterrichtes  die  allgemeine  Mensclienbildung  in  nationa- 
ler Form  und  individueller  Ausprägung.  Diese  Zielsetzung  hat 
•axiomatische,  also  absolute  Giltigkeit  und  muss  daher  tlir  immer  die 

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unabänderliche  Norm  der  Pädagogik  sein  und  bleiben.  Denn  es  leuch- 
tet unmittelbar  ein,  dasss  jedes  Wesen  sein  und  werden  soll,  wozu  es 
von  Natur  beanlagt  und  bestimmt  ist.  das  Menschenkind  also  ein 
möglichst  vollkommener  Mensch;  ein  jedes  derselben  trägt  die  Grund- 
zflge  der  Gattung,  in  allen  walten  die  gleichen  Entwickelungsgesetze, 
und  alle  haben,  nach  Gottes  Ebenbild  geschaffen,  die  gleiche  Würde 
und  Bestimmung,  also  ein  natürliches  Anrecht  auf  Erziehung  und 
Bildung.  Es  ist  femer  eine  feststehende  riiatsache,  dass  jedes  Men- 
schenkind einer  bestimmten  Nation  angehört  und  dadurch  eine  be- 
stimmte Sprache,  bestunmte  Bildnngsmittel  und  bestimmte  Lebeosaof- 
gaben  erh&lt,  die  aber  sfimmtlieh  den  allgemeinen  Nonnen  der  Mensch- 
heit ab  ihrer  höchsten  Biditadmnr  entspreehen  mtlsseD.  Endlich  be- 
flitst  Jedes  menschliche  Indi?idnnm  die  allgemein  menschlichen  An- 
lagen in  besonderem  MaBe,  in  besonderer  Ausprägung,  Mischung  und 
Gradabstnflmg,  mit  besonderen  MftngeJn  und  Yonllgen;  es  besitzt 
mit  einem  Worte  seine  Eigenart,  die  berOcksichtigt  werden  mnss,  nm 
Fehlem  entgegemmirirken,  Vollkommenheiten  wbl' fUstdetiL  —  Wer 
diese  Fondamentalwahrheiten  nicht  begriffen  hat»  oder  nicht  achtet,  der 
ist  nicht  20m  Pädagogen  berufen  und  hat  kein  Recht»  in  Sachen  der 
Yolksbildnng  seine  Stimme  zu  erheben. 

Für  Diesterweg»  wie  für  jeden  echten  nnd  ganzen  Pädagogen, 
ergeben  sich  aus  jenen  Grundwahrheiten  organisch  und  mit  logischer 
Nothwendigkeit  alle  Theilaufgaben  der  Erziehnng:  Gesundheit,  Kraft 
und  Gewandtheit  des  Köi'pers,  Aufklärung  des  Geistes  durch  lebendige, 
fruchtbare  Erkenntnisse  und  durch  Entwickelung  der  Denkkraft, 
Bildung  des  Willens  zu  strenger  Sittlichkeit  und  beharrlicher  That- 
kraft,  Veredelung  des  Gemüthes  durch  das  Wahre,  Gute  und  Schöne, 
duixh  Erhebung  in  eine  höhere  Welt,  in  das  Reich  des  Göttlichen 
und  Idealen  —  dies  alles  in  innigem  Zusammenhange,  mit  unver- 
wandtem Blicke  auf  das  Ganze,  zu  allseitiger,  einheitlicher  und  har- 
monischer Ausgestaltung  des  ganzen  Menschen.    Als  äußeres  Ziel 

m 

und  Merkmal  aller  echten  Erziehung  fordert  demgemäß  Diesterweg: 
Unterordnung  der  persönlichen  Interessen  unter  das  Ganze  der 
Menschheit,  der  Nation,  der  Gemeinschaft,  des  Standes,  Leben  und 
Streben  zum  Ganzen,  daher  strenge  Zucht,  feste  Gewöhnung  zur  Ge- 
setzlichkeit und  zum  Gehorsam,  dabei  aber  freie  Entwickelung  aller 
Anlagen  und  Enfle  des  jungen  Meoachen  nnter  enldilieher  Antori- 
tAt,  damit  er  sich  allmählich  zur  Selbststfindigkeit,  Selbsterziehung 
und  sittlichen  SelbMbestimmung  erhebe. 

Dem  allen  entspricht  denn  auch  die  ganze  Didaktik  und  Lehiw 


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methode  Diesterwegs:  Bes<ihränkuDg  des  Wissens  auf  das  Maß  dessen, 
was  dfir  Sdillkr  in  sein  Tolles  geistiges  Eigentum  yerwandeln  kann, 
Aiurottniig  alles  leeren  Wortwesens  und  mediaaisehea  Gedielitois- 
werkes»  Behandlang  des  gesammten  Lehrstoffes  in  anschaulicher,  ent- 
wiekelnder,  kraftbfldender  Weisen  Gestaltung  alles  Untenichtes  nur 
FOrdemng  der  freien  Selbstthfttigkeit,  der  Wissbegierde,  der  Walir- 
heitsliebe,  der  Sdbstsoeht»  zor  Bildung  für  das  Leben,  zur  Stärkung 
des  Willens  zum  Outen,  zur  Weckung  der  Begeisterung  für  allen 
Hohe  und  Edle^  mit  einem  Worte  in  durchaus  pädagogischem,  erzieh* 
lichem  Geiste,  nach  den  Gmndsätaen  seines  groAen  Yorbildes  Posta-, 
lozzi,  den  er  als  den  „Mann  des  erziehenden  oder  bildenden,  natur- 
gemäß entfaltenden  Unterrichtes**  beaeichnet 

Behufs  sicherer  Durchfdhrung:  dieses  Planes  fordert  Diesterweg 
eine  möglichst  gründliche  Lehrerbildung;  nur  geweckte,  denkende, 
selbstständige,  reife  Menschen  hält  er  für  würdig  des  Lehrerberufes; 
femer  eine  seiner  Bildung  und  der  Würde  seines  Amtes  entsprechende 
Stellung  und  Besoldung  des  Lehrers;  ingleichen  fachmännische  Auf- 
sicUt  und  Leitung  der  Schule;  endlich  Unabhängigkeit  dereelben  von 
der  Kirche,  sowie  von  politischen  und  socialen  Sonderbestrebungen, 
•weil  die  allgemeine  Volksbildung  und  allgemeine  Volksschule  ihrem 
Wesen  nach  mit  trennenden  Gegensätzen,  also  mit  confessionellen 
Satzungen,  mit  bürgerlichen  Parteiungen  und  Standesunterschieden 
nichts  zu  thun  hat,  ja  unvereinbar  ist. 

Wie  ist  nun  Diesterweg  zu  dieser  seiner  Pädagogik  gekommen?  — 
Allgemein  bekannt  ist,  dass  er  sich  in  erster  Linie  an  Pestalozzi  au- 
schloss,  dass  er  zu  diesem  mit  Bewunderung  aufblickte,  in  dessen  Le- 
ben und  Wirken  ein  hohes  Vorbild  fand,  aus  dessen  Scluiften  die 
nachhaltigsten  Anregungen  schüpite,  dass  er  es  sich  zur  Lebensauf- 
gabe madite,  im  Sinne  und  Geiste  Pestaloasi's  in  ariieiten,  daas  er 
dessen  grOndMchster  nnd  fhuditbarster  Interpret  war  und  noch  in 
hohem  Alter  die  Losung  ausgab:  „Pestaloin  Ar  Immert''  Schon  in 
semem  ersten  Lehramte,  au  Frankflirt  a.  IL,  trat  Diesterweg  mit 
einer  Anzahl  unmittelbarer  Schiller  Pestalozzi's,  unter  denen  besonders 
Gruner  und  de  Laspto  herronagten,  in  enge  yeEi»hidnng,  ebenso  mit 
dem  geistesverwandten,  auageseidmeten  Schulmann  Wilbeig,  einem 
SchlUer  Bochows.  Mit  diesen  M&nneni  verkehrte  er  zur  Zeit  seines 
Wirkens  in  Frankfurt  und  MOrs,  so  oft  er  dam  Mu8e  Ihnd,  um  aich 
an  ihrem  üntenidite  und  im  Gespiftch  mit  ihnen  sn  bilden.  Zweier- 
lei lernte  er  von  ihnen:  Methode  —  und  Begeisterung  für  den  ]>ftda- 
gogischen  Berui   Zu  welcher  Meisterschaft  in  der  ersteren.  er  ea  ■ 


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gebracht  hat,  das  wissen  Sie  aUe;  lieillglieh  des  zweiten  großen  Er- 
furdenusses  fttr  den  Lehrerbernf  sagt  er  selbst  noch  in  späten  Tagen: 
»Von  der  Begeistomng,  wie  sie  damals  nnter  den  jüngeren  Lehrern 
lebte,  hat  das  gegenwärtige  Geschlecht  keine  Ahnnng  mehr."  Sie 
wurde  damals  genährt  von  allen  jenen  TorMDichen  Männern,  welche 
theils  noch  mitten  im  pädagogischen  Berufe  standen,  theils  dnreh  ihre 
Schriften  nachwirkten  auf  die  vorwärts  strebenden  Jünger.  Diese 
Männer  empfahl  denn  anch  Diesterweg  bei  jedei*  Gelegenheit  seinen 
Seminaristen  und  jüngeren  Lehrern  als  3Ieist«i'  und  Muster.  Neben 
Pestalozzi  schätzte  er  besonders  Rochow,  Basedow,  Salzmann  nnd 
Campe,  Niemeyer  und  Schwarz,  Dinter  und  Denzel,  Schleiermacher 
und  Beneke  und  eine  ganze  Reihe  tüchtiger  Zeit-  und  Berufsgenossen, 
die  ihm  als  Mitarbeiter  an  seinen  periodischen  Schriften  und  am 
„Wegweiser"  nahe  standen.  Gleicli  fern  von  lilinder  Hingebung  an 
seine  Lieblinge  wie  von  gehässiger  Heral)setzung  Andersdenkender, 
ehrte  er  neidlos  jedes  Verdienst,  erwies  er  Gerechtigkeit  auch  dem 
Schwächeren,  auch  dem  Gegner.  Immer  aber  blieb  sein  Sinn  auf  das 
Wahre,  Schone  und  »Tute  gerichtet,  welches  ihm  von  Jugend  auf  in 
glänzenden  Gestalten  nahe  getreten  war,  und  welches  die  eigentliche 
Grundlage  der  klassischen  Pädagogik  Deutschlands  bildet. 

Die  Bildungsjahre  und  die  ei-ste  Periode  der  Lehrthätigkeit 
Diesterwegs  fallen  in  jenes  glänzende  Zeitalter,  wo  unsere  großen 
Denker,  Dichter  und  Patrioten  die  h(k^hste  Coltnrstnlb  darstellten, 
wdehe  nnsei«  Nation  bisher  erreicht  hat,  und  derselben  ehien  blei- 
benden Sitz  in  der  Bnhmeshalle  der  Mensdiheit  errangen;  wo  -durch 
Kant  und  Fichte,  dnrch  Lessing,  Herder,  Gfodthe,  Schiller  nnd  den 
großen  Kreis  derer,  die  ihren  Spuren  folgten,  aJle  Ideen  nnd  Bahnen 
der  dentsohen  Natiooalerziehnng  erkannt  nnd  gewiesen  wurden;  wo- 
neben allem,  was  die  Geister  adelt,  anch  die  kOrperlidie  Tüchtigkeit 
als  Bildnngsziel  zn  ihrem  Bechte  kam,  nnd  insbesondere  die  Philanr 
thropen  Guts  Mntbs  nnd  Vieth,  dann  Lndwig  Jahn  die  dentsdie 
Tnmknnst  schnfisn.  Wol  bat  za  unserem  Bildongswesen  schon  das 
Alterthnm  manch  gnten  Banstehi  geliefert;  wol  lagen,  yiel&ch  unter 
mittelalterliehem  Sdintt  verborgen,  die  ewigen  Wahrheiten  des  Christen- 
thums bereit;  wol  hatten  der  Slave  Eomensky,  der  Engländer  Locke, 
der  Franzose  Rousseau  der  deutschen  Pädagogik  trefflich  vorgeai'beitet: 
aber  ins  Leben  trat  sie  doch  eigentlich  erst  durch  die  mächtigen 
Wellenschläge  im  Ocean  des  deutschen  Geisteslebens. 

Das  also  ist  der  Schauplatz,  auf  welchem  Diesterwegs  Pädagogik 
and  Diesterwegs  Lebenswerk  emporwuchs,  und  das  sind  die  geistigen 


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"V&ter,  deren  Werke  Diesterweg  in  seinen  besten  Stunden  auf  sich 
"wirken  ließ,  mit  denen  er  auch,  soweit  dies  möglich  war,  persönlich 
verkehrte.  Sagt  er  doch  selbst,  dass  jene  Begeisterung  für  Menschen- 
bildong,  welche  ihn  umwehte,  „eine  Nachwirkung  der  Glut  f&r  Deutsch* 
lande  Wiedergeburt  nnd  Enienenmg'*  war.  Diesterweg  leiste  im  Qsn- 
sen,  sein  Element  war  die  hohe  See  wahrer  Oeistesgrtase;  ans  ihr 
sdiOpfte  er  seine  Idesle,  s^ne  Methode,  seine  Kraft,  seinen  Enthusias- 
mns.  Höge  denn  dem  heutigen  Gesdhlechte  wieder  Inind  werden, 
in  welchem  Garten  der  Stammbaum  der  wahren  deutschen  National- 
ernehnng  za  finden  ist,  mOge  es  begreifen,  dass  dieser  Baum 
mit  all  seinen  Wnrsehi,  Stimmen,  Ästen  nnd  Blttten  erwachsen  ist 
sm  den  schöpferischen  Geistern  unserer  großen  Denker,  Dichter  und 
Patrioten  nnd  ans  dem  ftbenengnngSYollen,  hingebenden  Sfamen  nnd ' 
Arbeiten  ihrer  trenen  NadifUuren.  „Wol  dem,  der  seiner  Vftter  gern 
gedenkt." 

Leider  kann  ich  in  dieser  Stunde  weder  den  Werdeprocess,  noch 
die  Grundzttge  der  Pädagogik  Diesterwegs  näher  beleuchten;  noth- 
gedrungen  mnss  ich  skizzenhaft,  aphoristisch,  oberflächlich  sein;  selbst 
sehr  wichtige  Themata,  wie  die  Lehrerbildung,  die  allgemeine  Volks- 
schule, deren  fachmännische  Leitung  und  Beaufsichtigung,  kann  ich 
blos  streifen,  nicht  ausführen.  Nur  über  eins  derselben,  über  den 
Religionsunterricht,  möchte  ich  mir  ein  paar  Bemerkungen  gestatten, 
weil  Diesterweg  selbst  darin  eine  Haupt-  und  Lebensfrage  des 
Bild ungs Wesens  erblickte,  indem  er  meinte,  von  der  Gestaltung  des 
Religionsunterrichtes  hänge  zum  guten  Theile  die  Zukunft,  Wirksam- 
keit, Stellung  und  Bedeutung  der  Schule  ab;  weil  ferner  diese  Au- 
gelegenlieit  auf  das  tiefste  in  Diesterwegs  Lebensschicksal  eingegriften 
und  das  Urtheil  über  den  Mann  wesentlich  beeinflusst  hat.  Diesterweg 
wai'  eine  tief  religiöse  Natur;  wer  dies  leugnet,  der  kennt  ihn  nicht. 
Von  Jugend  auf  war  er  streng  christlich  erzogen ,  und  bildete  ernste 
Qottesforcht,  frommes  nnd  anfHchtiges  Qottvertraaen  einen  Gmndzog 
seines  Wesens.  Seihst  die  kirchliche  Ausprägung  fehlte  seiner  Beli- 
gion  nicht»  wie  seine  Einsehreibangen  in  die  Familienbibd  nnd  sein 
ileifiiger  Besuch  des  Öffentlichen  Gottesdienstes  hezengen.  Vom  Beli* 
gionsuntenichte  sprach  er  stets  mit  großer  Wärme  und  Wert- 
schätmng,  s.  B.:  „Die  BOdungsmittel  kOnnen  im  Laufe  der  Ent- 
wickelung  in  mancherlei  Art.  sich  ändern,  constant  wird  die  Beligion 
bleiben,  die  im  Menschen  die  Gottähnliehkeit  entwickelt.  Sie  ist  das 
Universal-Endehungsmittel  aller  Zelten  und  aller  Völker,  Oentrum» 
Kern,  Blüte  und  Frucht  aller  wahren  Bildong.**  —  Und  dennoch 


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wurde  er  von  jener  Partei^  welche  sich  die  rechtgläubige  nennt,  ab 
Fond  der  Religion  nnd  Kirche  erkUUrt  und  in  der  heftigsten  Weise 
befehdet,  ja  selbst  sein  amtlicher  Schüflnrnch  hat  hierin  die  Hanpt- 
nrsache.  "^e  ging  diee  zu,  und  was  war  der  eigentliche  Strei^ 
pnnkt?  Diesterweg  wollte  in  der  Volksschole  nnr  das  Ghristenthnm 
Ghristf  gelehrt  wissen,  wie  es  in  der  Bibel  steht,  nicht  aber  das 
Christenthnm  der  Confessionen,  wie  es  in  den  Eateidiismen  steht;  er 
wollte  einen  allgemein  chi-istlichen,  aber  keinen  apedell  confessionellen 
Keligionsnntenicht  in  der  Volksschule,  welch  letzteren  er  den  Kirchen 
flberlassen  wollte.  Und  meines  Erachtens  hatte  er  damit  ganz  recht, 
weil  die  Kinder  in  der  Volksschule  nicht  reif  sind,  um  die  Unter- 
scheidungslehren der  Kirchen  verstehen  nnd  beurtheilen  zu  können, 
und  weil  die  Volksschule  das  allen  Parteien  Gemeinsame  lehren  soll, 
diis,  was  sie  verbindet  und  versöhnt,  nicht  das,  was  sie  trennt  und 
verfeindet.  Nun  sagt  mau  aber,  jener  allgemeine  Religionsunterricht 
sei  abstract,  also  uni)ädagogisrli;  überdies  sei  es  unmöglich,  das 
Cliristenthum  ohue  confessionelle  Fassung  zu  lehren.  Eitel  Irrthum 
oder  Sophisterei  CDUcret,  anschaulich  und  unmittelbar  zum  Herzen 
sprechend,  also  pädagogisch,  ist  ebeu  die  Lehre  Jesu,  von  dem  der 
Evangelist  sagt:  „Er  predigte  gewaltig  und  nicht  wie  die  Schrift- 
gelehrten";  abstract  liingegen  und  die  Fassungskraft  des  Kindes 
übersteigend  sind,  abgesehen  von  ihrem  sonstigen  Werte,  die  unter 
vielen  Kämpfen,  Zerwürfhissen  und  Zwangsmaßregeln  zustande  ge- 
kommenen Glaubenssatzungen.  Und  wenn  Religion  nicht  gelehrt 
werdtt  konnte,  ohne  ein  besonderss  Glanbenssystem,  dann  kttante 
anch  nicht  gelehrt  werden,  was  gut  und  bOse,  recht  und  unrecht  ist, 
ohne  ein  besonderes  System  der  Ethik  oder  ^urispmdenz,  könnte  ans 
der  Weltgeschichte  nichts  erzählt  werden,  ohne  es  nach  einem  po- 
litischen Parteiprognunm  zu  modehi,  konnte  keine  popuUre  Natur- 
kunde gelehrt  werden,  ohne  ein  naturphilosophisches  System  ehizn- 
mischen,  z.  B.  für  oder  gegen  den  Darwinismus  Stellung  zu  nehmen. 
Es  konmit  ttberall  nur  darauf  an,  ob  der  Lehrer  sidi.  selbst  beherr- 
schen, sich  unbefiuigen  der  Sache  hingeben,  sich  auf  den  Standpunkt 
des  Kindes  versetzen  kann,  ob  er  also  ein  pädagogisch  gebildeter  und 
gearteter  Mann  ist.  Wenn  aber  trotz  aUedem  die  Orthodoxen  einen 
fieligionsnntemcht  ohne  confessionelle  Deutung  und  Färbung  für  un- 
möglich halten,  so  mögen  mir  die  weisen  Herren  doch  sagen:  welcher 
Confession  oder  Separat-Kirche  gehörte  denn  ChrLstos  an?  War  er 
römischer  oder  griechischer  Katholik,  Lutheraner  oder  Calvinist, 
Heimhuter  oder  Methodist  oder  was  sonst  f&r  ein  Confessioneiler? 


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—   65S  — 

Mir  ist  von  alledem  nichts  bekannt,  und  doch  ertheilte  er  einen  aus- 
gezeichneten Religionsunterricht,  und  das  war  ein  allgemein  christ- 
lirlier.  wie  wir  Ketzer  ihn  wollen.  Jesus  sprach  zu  seinen  Jiingeni, 
die  docli  Männer  waren:  „Ich  habe  euch  noch  viel  zu  sagen,  aber 
ihr  könnt  es  jetzt  nicht  tragen."  Unsere  Orthodoxen  hingegen  wollen 
schon  dem  zarten  Kindesalter  Satzungen  aufbürden,  um  die  sich  die 
schaifsinnig.sten  Köpfe  Jahrhunderte  lang  gestritten  haben  und  noch 
heute  streiten.  Wenn  doch  dit-  Herren  Theologen  nicht  weiser  sein 
wollten  als  ihr  Heisterl  Wenn  sie  doch  nicht  so  hochmüthig  sein 
wollten,  den  Herrn  dei*  Welt  in  ihre  Menschensatzungen  und  Schul- 
formeln zu  bannen!  Die  Differenz  zwischen  ihnen  und  uns  ist  ein« 
fSuh  folgende:  Sie  woUen  BekflontniB,  irfr  wdlen  Beligion;  sie  stellen 
aehf  d.  b.  die  -Theologen  und  die  Kirchen  Aber  C9iriBtiim,  wir  itellen 
Ohristiim  über  alle  Theologen  und  Kirchen. 

Weil  wir  diesen  Zwiespalt  nun  leider  nicht  beseitigen  kOnnen, 
nnd  weil  alle  YerkleiBtemng  desselben  nicht  zum  danemden  Frieden 
itthrt,  so  bleibt  nns  nichts  anderes  ftbrig,  als  die  nnbedingte  und 
gftnzUche  Trennung  der  Schnle  von  den  Separatidrchdn  zu  üDrdeni. 
Die  Beligion  wird  damit  der  Schule  nicht  verloren  gehen.  Denn  ich 
mOdite  doch  sehen,  wer  es  dem  Lehrer  verwehren  will,  seinen  Kin- 
dern biblische  Geschichten  zu  erzShlen  oder  mit  ihnen  Abschnitte 
ans  der  Bibel  zu  lesen!  Etwa  ein  evangelischer  Pfarrer  oder  ein 
evangelisches  Consistorium?  Ist  es  doch  einer  der  obersten  Grund- 
sätze des  Protestantismus,  dass  jeder  Christ  die  Bibel  zu  lesen  das 
Becht  und  die  Pflicht  hat  und  zwar  nicht  etwa  am  Gängelbande 
priesterlicher  Bevormundung  und  Satzung,  sondern  in  freier  Bethäti- 
gung  seines  eigenen  Gewissens.  Und  scliließlich  ist  doch  die  Kirche 
nicht  die  alleinige  Inhaberin  aUes  Glaubens:  wir  haben  ja  auch  eine 
deutsche  Nationalliteratur,  die  tiberall  von  religiösem  Geiste  durch- 
drungen ist:  man  denke  an  Luther,  an  Klopstock,  Lessing,  Herder, 
Goethe,  Schiller,  Arndt,  Uhland  u.  s.  w.  Man  kann  immerhin  schon 
zufrieden  sein,  wenn  alle  Kinder  und  alle  Theologen  so  viel  Religion 
haben,  wie  unsere  echt  volksthtimlichen  Dichter  und  Schriftsteller. 

Traurig  genug,  dass  solche  Betrachtungen  in  unseren  Tagen 
nöthig  sind;  dass  heute  noch  gekämpft  werden  muss  um  die  besten 
Grundlagen  der  deutschen  Nationalerziehung,  um  die  wichtigsten 
Rechtstitel  der  deutschen  Nationalehre,  um  Glaubens-  und  Gewissens-, 
freiheit,  um  Freiheit  des  Gedankens  und  Wortes,  nm  die  freie  Wissen- 
schaft und  Lehre!  —  Das  16.  Jahrhundert  jubelte  einem  Luther  ent* 
gegen,  das  19.  scheüit  mit  dem  Triomphe  der  Oeisteskneehtschaft 


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—  664  — 


enden  zu  sollen.  In  meinen  Jugendjahren  las  ich  aui  einem  Denkstein 
in  der  Leipziger  Ebene  die  Inschrift: 

^(histav  Adolf,  Christ  and  Held, 
Kettete  bei  Breitenfeld 
Glaubensfreiheit  för  die  Welt" 

Heute  will  es  scheinen,  als  ob  diese  „Glaubensfreiheit  für  die 
Welt"  in  manchen  Ländern  recht  wenig  zu  bedeuten  habe;  man 
spricht  auch  niclit  mehr  gern  davon.  Mächtiger  als  je  ist  ihr  Unter- 
drücker, der  Papst,  dessen  Besiegung  doch  ein  Hauptzweck  der  Be- 
formation  war.  In  einer  Encyklika  nach  der  anderem  Terkfindigt  er 
kOhii  Bdn  angeUichfls  Itoeht  auf  die  Welthenraehaft,  seine  Oberhoheit 
Aber  alle  YtHker  und  Henraeher,  seine  absolute  Antorit&t  in  allen 
Cnltiir-  und  Biidnngsfragen,  Uber  alle  Wissenschaften  and  Schulen» 
prodamirt  er  einen  M9nch  des  IS.  Jahrhnnderts  als  den  Gesetzgeber 
aller  Forscfaong  nnd  Lehre:  nnd  fut  niemand  wagt  es,  gegen  diese 
Uachtsprfiche  zn  protestiren.  Man  lauscht  nüt  Ehiftircht  den  römi- 
schen Offenbarungen»  oder  man  duckt  sich  wie  der  Vogel  Strauß  und 
schweigt  wie  die  Auster  in  ihrer  Schale.  Ja  mehr  noch:  man  hält 
sich  in  steter  Fühlung  mit  dem  römischen  Pontifex  maximus,  man 
^teht  mit  ihm  in  fortwfihrenden  Verhandinngen,  will  ohne  ihn  nichts 
Großes  unternehmen,  kommt  seinen  ungeheuren  AnsprQchen  rück- 
sichtsvoll entgegen  nnd  sucht  auf  alle  mögliche  Weise  seine  Gunst 
zu  gewinnen;  man  ruft  ihn  an  als  Schiedsrichter  über  weltliche  Mächte» 
man  bittet  ihn  nm  Hilfe  in  den  Nöthen  des  Parlamentarismus,  man 
streckt  vor  ihm  ruhmlos  die  Waffen  des  Culturkampfes ,  man  sucht 
seinen  Beistand  zur  Lösung  der  socialen  Fragen.  Solche.s  war  denn 
doch  seit  der  Reformation  bis  auf  unsere  Tage  unerhört,  ja  es  geht 
hinaus  über  den  Maßstab  des  Mittelalters.  W  as  Wunder,  dass  sich 
diesem  verhängnisvollen  Zug  der  Zeit  alles  beugt,  was  am  Webstuhl 
der  Gedankenfabrik  sitzt,  und  dass  dabei  Erzeugnisse  zustande 
kommen,  welche  man  vom  Lande  der  Dichter  und  Denker  nicht  er- 
wartet hatte.  Doch  sprechen  wir  nicht  davon,  das  ist  ja  eine  be- 
liebte Maxime  unserer  Zeit.  Die  sogenannte  öffentliche  Meinung 
schweigt  eben  auch  gar  vieles  todt.  Man  will  nicht  anstoßen  und 
betrachtet  daher  die  großen  Lebensfi'agen  der  Cultur  als  ein  Noli-me- 
tangere.  Und  diese  Erbärmlichkeit  wirkt  ansteckend  wie  eine 
Epidemie  selbst  da,  wo  man  auf  eine  gesunde  Widerstandskraft  ge* 
rechnet  hatte.  SellMit  im  britlsehen  Musterstaate  des  LtbersUsmus 
lehnen  bereits  freisinnige  Blätter  ersten  Banges  wissenschaftliche 
Arbeiten  von  henrorragendoi  Gelehrten  ab,  um  nicht  das  Missfhllen 


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—  566  — 


eines  sehr  bekannten  Cai*dinals  zu  erwecken.  Ähnliche  Ablehnungen 
seitens  deutscher  Blätter  von  freisinniger  Farbe  sind  schon  längst 
usuell.  Nur  die  Organe  der  schwärzesten  Reaction  finden  es  für 
überflüssig,  sich  irgend  einen  Zwang  anzuthun.  Es  ist  ein  gar  wunder- 
lich Ding,  unsere  Pressfreiheit.  Man  kann  ihr  uuch  Belieben  die 
Zügel  schießen  lassen  oder  das  Lebenslicht  ausblasen.  Und  hierzu 
bedarf  es  nicht  einmal  immer  offener  Gewalt,  es  gibt  auch  Mittel, 
sie  heimlich  zu  erdrosseln.  Und  mit  der  Lesefreiheit  ist  es  ähnlich 
bestellt.  Wer  insbesondere  so  viel  Aufpasser  hat,  wie  der  Lehrer, 
der  ftrchtet  sich,  ein  missliebiges  Blatt  oder  Buch  in  die  Hände  zu 
nehmeD,  und  er  hat  Grand  genug,  der  aUfUUgen  Beitellang  die  Bitte 
«asiiftgai,  man  mOge  es  ihm  ja  nicht  offen,  sondern  in  ymdthaaeom 
Oonvert  senden. 

Man  kann  Ober  solche  Zustande  verschieden  denken,  je  nach  dem 
persönlichen  Standpunkte.  Man  kann  sie  fttr  heilsame  Schranken  des 
knrzsiehtigen  Unterthanenverstandes  nnd  ftr  Bfirgschaften  der  Staats- 
WfiJfahrt  erkUrep.  Ich  meinerseits  halte  sie  fOr  hOchst  Terderblich 
nnd  gefiUiriich.  Dem  dentschen  Volke  das  wdsche  Joch  auferlegen, 
ihm  die  Selbstbestimmung,  die  Freiheit  des  Gedankens  und  der  Rede, 
der  Wissenschaft  und  Lehre,  des  Glanbens  und  Gewissens  yer- 
kttmmem,  das  heiAt  nach  meinem  Dafürhalten:  dem  deutschen  Volke 
die  Seele  anareifien  und  ihm  seine  Kraft  rauben.  Als  vor  77  Jahren 
der  „Aufruf  an  mein  Volk"  erschien,  da  hat  die  deutsche  Nation  ge- 
seigt,  was  sie  in  der  Sonne  der  Freiheit  zu  leisten  vermag.  Damals 
stand  sie  auf  jener  Höhe,  auf  welcher  das  Volk  der  Hellenen  stand, 
als  es  das  Joch  der  Perser  zerschmetterte.  Möge  nie  der  Tag  er- 
scheinen, wo  ein  ähnlicher  Aufruf  ein  in  Knechtschaft  versunkenes 
Geschlecht  vorfindet!  —  „Wol  dem,  der  seiner  Väter  gern  gedenkt.'' 

Vorläufig  kann  man  leider  nicht  ohne  Besorgnis  auf  die  Gegen- 
wart und  in  die  nächste  Zukunft  blicken.  Es  will  scheinen,  als  ob 
eine  weitgehende  Entwertung,  ja  ein  förmlicher  Preissturz  der 
höchsten  Güter  des  Menschengeschlechtes  eingetreten  sei  und  damit 
der  Grund  zu  wanken  beginne,  auf  welchem  allein  Völker  und  Reiche 
dauernd  bestehen  können.  Schon  treten  Kennzeichen  eines  Geistes 
hervor,  der  verderblich  wirken  müsste,  wenn  er  sich  weiter  entwickeln 
und  verbreiten  sollte.  Dieser  Geist  nennt  sich  „Kealismus"  oder 
„NaturaUsmos"  und  besteht  in  dem  entschiedenen  Übergewicht  der 
niederen,  sinnlichen,  thierischen  Elemente  im  Menschen  über  die 
höheren,  geistigen,  göttlichen;  er  ist  der  directe  und  bewnsste  Gegen- 
satz zum  Idealismus,  welcher  in  der  Pflege  und  Yorherrsdiaft  der 


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—  B66  — 


edleren  Anlagen  des  Mensciien:  in  der  Vernünftigkeit,  Wahrheit, 
Schönheit  und  sittlichen  Freiheit  sein  Ziel  erblickt.  Der  Realismus, 
zunächst  in  der  Politik  entwickelt  und  von  da  aus  in  alle  anderen 
Lebensgebiete  eingedrungen,  respectirt  nur  das,  was  die  Macht  hat, 
sich  thatsächliche  Geltung  zu  verschatten,  gleichviel  was  es  sei  und 
mit  welchen  Mitteln  es  seine  Erfolge  erziele;  etwas  Bleibendes  und 
Ewiges,  etwas  absolut  Giltiges  und  WertyoUes  gibt  es  in  seineii 
Augen  nicht,  das  ist  ihm  Chimäre,  an  sioii  ein  lichcriidier  Wahn, 
der  nnr  insofern  Beachtung  verdient,  aU  er,  in  kleineren  oder  grOiteren 
Ereieen,  auf  Iflngere  oder  Idlnere  Dauer,  als  Maditfiietor  wirkt  Die 
natürlichen  Instinete  sind  die  Basis  dieses  Bealismns,  die  Befinedigong 
der  Selbstsndit  dorch  Gennss  und  Herrschaft  ist  sein  Ziel  Wahr, 
das  heißt  reale  Machte,  sind  ihm  anch  Irrthnm  nnd  Aherglanbe»  Ver- 
stellnng  nnd  Heuchelei,  LQge  nnd  Verleomdnng,  wenn  sie  Erfolg 
haben;  schSn  sind  ihm  anch  das  Alltftgliehe  nnd  Gemeine,  das  Häss- 
liche  nnd  Ekelhafte,  die  nackte  Schamlosigkeit  nnd  die  rohe  Bruta- 
lität, wenn  sie  durch  die  Kunst  (Poesie,  Malerei)  naturgetreu  copirt 
werden,  woiin  eben  die  realistische  oder  naturalistische  Kunst  besteht ; 
gut  sind  ihm  auch  die  bösen  Züge  des  Menschen,  Hinterlist  und  Gfe- 
waltthätigkeit,  Hass  und  Fanatismus,  Cori-uption,  Betrug  nnd  Fälschung, 
Verhöhnung  der  gebeugten  Unschuld,  Beschönigung  der  siegreichen 
Niedertracht,  Undank  gegen  den  Wolthäter,  Venrath  des  Freundes, 
kurz  alle  Sünden  und  Laster,  wenn  sie  seinen  Zwecken  dienen,  aller- 
dings auch  alle  Tugenden,  jedoch  ebenfalls  nur  dann,  wenn  sie  Vor- 
theü  bringen.  Recht  hat  in  jedem  Falle  und  unbedingt  der  Stai'ke, 
er  aber  auch  ganz  allein,  unrecht  in  jedem  Falle  der  Schwache. 
Man  proclamirt  diesen  Realismus  oder  Naturalismus  jetzt  als  moderne 
AVeltanschauung  und  Lebensphilosoi)hie ,  der  in  unseren  Tagen  die 
Alleinherrschaft  gebiire.  In  der  Literatur  wird  er  nicht  nur  factisch 
und  praktisch  von  zahlreichen  Adepten  gepflegt,  sondeni  auch  bereits 
theoretisch  und  programmmäßig  entwickelt.  Man  sagt  da  wörtlich 
und  allen  Ernstes:  ,.Die  Anschauungen  einer  versunkenen  Welt"  (das 
sind  die  unserer  Classiker)  „müssen  den  Forderungen  der  gegen- 
wärtigen Stunde'S  „den  bewegenden  Mächten  der  Zeit**  weichen; 
„kein  heilig  gesprochenes  Muster  der  Vergangenheit*'  kann  uns  als 
TorhOd  dienen,  man  darf  sich  „an  keine  Formel,  an  keine  Autorität*^ 
hinden,  man  muss  ledig^ch  «dem  stQimend  Neuen  in  all  seiner  gfthren- 
den  Begellosigkeit%  «dem  ewig  Werdenden,  der  unendlichen  Ent- 
fiiltung  n  unhekannten  Zielen*  folgen.  Das  wäre  also  die  bewusste 
geistige  Sdbstentmannung  und  Verlotterung,  die  Wegwerfhng  der 


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Ö57  — 


Menschenwürde,  die  Zertrümmerung  des  Compasses  und  Steuerruders, 
ein  fatalistisches  Sichpreisgeben  an  das  Spiel  der  Wellen.  Die  spontane, 
inneren  Gesetzen  folgende  Freiheit  des  Wollens  und  Schaffens  hört 
auf,  und  der  Tenmnftbegabte  Menschengeist  wird  unter  den  Lockungeu 
und  QeifteDiieben  AnBerar  Lnpidae  ein  wildes  Boss  ohne  Zügel,  das 
Offemtliclie  Leben  ein  entgleister  SdmeUBOg.  Nun  eneliallt  von  vielen 
Seiten  her  die  Klage,  daas  mia  ein  zncktlofles  GeaeUeeht  herumeiiae. 
Ja,  woUte  man  nur  aadi  ernstlich  nach  den  wahren  üraachen  for- 
sehenl  Dieeterweg,  der  Hann  strenger  Zucht,  hat  eindringlich  genug 
daTor  gewarnt  yergeben&  Nun  erhebt  aush  ein  keckes  Epigonen- 
thnm  in  seiner  Tollheit  und  Nichtigkeit.  Ihm  gilt  auf  allen  Gebieten 
die  Warnung: 

„Vergebent  wenlen  mgebmidiie  Oelster 

Nach  der  VoUenduQg  reiUHr  Hohe  streben, 
Und  das  Gesets  mir  kMm  uns  Freiheit  geben." 

Leider  ist  diese  Erinnerung  auch  schon  in  der  p&dagogischeu 
Literatur  vonnOthen.  Auch  da  hat  der  ungestüme,  serstfirende,  nur 
äußeren  Antrieben  und  wechselnden  TagesstrOmnngen  folgende  Zug 
der  Zeit  schon  sehr  merkliche  Spuren  gezogen,  und  so  weit  diese 
reichen,  ist  die  Pietät  vor  den  bahnbrechenden  Meistern,  der  An- 
schluss  an  wegweisende  Vorbilder,  das  Verständnis  für  die  maß- 
gebenden Principien  geschwunden.  Ich  verkenne  durchaus  nicht,  dass 
nnsere  Fachwissenschaft  noch  eine  Anzahl  tüchtiger  Männer  auf- 
zuweisen )iat,  welche  mit  gi-ündüchem  Verständnis  tür  deren  uner- 
schütterliche Fundamente  und  füi*  die  ausgezeichneten  Leistungen  der 
Vorfahren  das  Errungene  zu  bewahren,  anzuwenden,  zu  ergänzen  und 
auszubauen  vei*steheu,  und  mit  großer  Befriedigung  lese  icli  ihre  Ar- 
beiten. Aber  daneben  macht  sich  eine  Verworrenheit,  Zerfahrenheit 
und  Obei'flächliclikeit  bemerkbar,  welche  bei  aller  Impotenz  zu  hoch- 
müthig  ist,  ihr  kostbares  Gedankenmaterial  dem  gemeinsamen  Bau  zur 
Verfügung  zu  stellen,  sondern  sich  zu  gnmdstürzenden  Hammer- 
sehUlgen  und  originalen  Neugestaltungen  berufen  w&hnt.  —  Würde 
doch  die  deutsche  Schule,  wie  sie  Dieaterweg  geplant  hat»  erat  wirk- 
lich hergestellt,  statt  daas  man  n»  schon  wieder  asntOreu  willl  — 

Bekanntlich  gab  ea  schon  im  alten  Testamente  nicht  nur  große 
Flwphetea,  sondern  auch  kleine  und  sdbet  ftlsche  Propheten.  -  In  der 
Pädagogik  unaerer  Zeit  dominiren  die  kleinen  und  Jdschen  Pnopheteo^ 
und  alle  finden  ihr  Auditorium,  daa  freilich  meist  nur  ein  paar  Schlag- 
worte behält»  sonst  aber  zum  linken  Ohre  ausgehen  lAsst,  was  durchs 
redite  eingeht  Es  will  scheinen,  als  ob  die  Geister  zu  Sieben  würden. 


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—  668  — 


die  alles  tlurchtallen  lassen,  und  als  oh  sie  schon  von  Jenem  Marasmus 
Ijefalleu  wären,  welchen  der  Apostel  Paulus  in  der  gesimkenen  Haupt- 
stadt Griechenlands  vorfand  und  die  Bibel  mit  den  Worten  bezeichnet: 
„Die  Athener  aber  alle  waren  gerichtet  auf  nichts  Anderes,  denn 
etwas  Neues  zu  sagen  oder  zu  hören."  So  ergeht  es  immer,  wenu 
die  Menschen  den  Keni  fester  Leitgedanken  verlieren. 

Sich  in  die  großen  Propheten  zu  versenken,  das  kostet  den  kurz- 
athmigen  Streblingen  unserer  Tage  zu  viel  Kraft  und  Zeit,  auch  sind 
diese  großen  Propheten  in  den  Kreisen  der  kleinen  Größen  missliebig. 
Beides  ist  nicht  verlockendf  denn  man  will  mit  wenig  Mflhe  schnellen 
Erfolg  ersdelen.  Jeder  will  idne  paar  Deka  Qddxn  mOgUchst  rasch 
varwerten,  und  so  kann  «  sieh  nicht  dämm  kllmmera,  schon  w 
ihm  geschaffen  ist  und  neben  ihm  geschaffen  wird,  nnd  wie  seine  Lieb- 
haberei zom  Ganzen  passe.  Wie  Stemsehnnppensehwftnne  schweiÜBn 
die  Originalgenies  nnd  Frojeetmacher  am  pldagogischen  Himmel  um- 
her. Ein  wahrer  „Stnrm  nnd  Drang**  hat  die  Schalwelt  etgrüSan. 
Ans  allen  Ecken  nnd  Enden  erschallen  die  Schlagworte:  «Befonn, 
Beform,  ZeftgernftSe  Gestaltung,  Nene  Bahnent"  nnd  wie  sie  sonst 
noch  heißen.  Es  ist  ein  Ärmliches  Geschäft  und  ein  förmlicher  Sport, 
„Reformliteratur"  en  gros  zu  producii-en.  Wer  einen  ganzen  oder 
halben  Gedanken  gefasst  zu  haben  glaubt,  der  meint  schon,  alles  Be- 
stehende 'aus  den  Angeln  heben  zu  können  und  ein  Universalmittel 
zur  Heilung  aller  Schäden  zu  besitzen.  Für  alles  mnss  ein  besonderer 
Verein  oder  wenigstens  eine  Kameraderie  und  womöglich  ein  eigenes 
Pressorgan  gegründet  werden.  Welch  buntes  Durcheinander,  welche 
babylonische  Verwirrung,  welche  /^ersiilitternng  und  Zersetzungl  Man 
halte  nur  eine  Überschau  über  die  pädagogische  Tagesliteratur  und 
Journalistik.  Jedes  Ländchen,  jede  Gattung,  Art  und  Nel)enart 
von  Schulen,  jedes  einzelne  Lehrfach,  jede  Specialität,  die  Lehnnittel- 
kunde, die  Schulhyjiriene ,  das  Jugendspiel,  die  Handarbeit,  die 
Haus-  und  Volkswirtschaft,  der  Knabenhort,  die  Feriencolonie,  der 
Idiotenunten-icht ,  und  w^as  sonst  noch  alles  muss  ein  autonomes 
Gebiet  werden;  auch  die  Lehrerinnen  müssen  ilire  eigenen  Vereine 
und  Zeitschriften  haben.  Und  jede  Partei  proclamiit  ihr  Pro- 
giamm  und  ihr  Interesse  als  das  Wichtigste  von  allem,  als  das 
ISncf,  was  noththnt  Wer  soll  da  noch  den  mhenden  Pol  in  der  Er- 
scheinungen flneht  eAannen?  Und  da  habe  ich  die  mannigfaltigen 
Bewegungen  anf  dem  G^Uete  des  höheren  Sehnlwesens  nodi  gar 
nicht  erwähnt.  Ich  lese  mehr  als  40  pädagogische  Blätter  nnd  erhalte 
jede  Woche  mehrere  Ballen  nener  pädagogischer  Schriften;  aber  das 


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—  650  •  — 

genügt  kaum,  um  mich  sattsam  zu  orientireii.  Dauert  diese  Siiudflut 
so  fort,  dann  muss  schließlich  alles  aus  Rand  und  Band  gehen.  Ich 
gebe  ja  zu,  dass  die  meisten  der  erwähnten  Angelegenheiten  ihre  Be- 
rechtigung haben.  Aber  man  muss  sie  ni(lit  zu  weltbewegenden 
Fragen  aufbauschen,  nicht  vom  Ganzen  losreißen,  nicht  als  Special- 
sport betreiben;  mau  kann  den  meisten  derselben  auch  in  allgemeinen 
Vereinen  und  in  al"l gemeinen  Zeitschriften  gerecht  werden;  man 
muss  auch  nicht  glauben,  die  Altmeister  der  Pädagogik  hätten  davon 
gar  nielits  gewusst,  und  die  Schulgeschichte  fange  erst  mit  den  Epi- 
gonen an.  —  Wieder  andere  bleiben,  von  diesem  rastlosen  Treiben 
angewidert,  stricte  in  den  ansgefalirenen  Gleisen  und  bei  ihrem  Pensom, 
.  irie  es  die  Boreaiipädagogik  zuges^itten  hat  Aber  schiiftsteUern 
wollen  sie  doch  auch,  und  nmi  finden  sie,  dass  es  ihre  Christenpfficht 
sei,  ftr  die  liehen  hüfibedürftigen  CoUegen  oder  Untergebenen  An- 
weisnngen  fiber  Anweisungen,  Lehrproben  über  Lehrproben  zn  schrei- 
ben, so  dass  man  fragen  möchte:  Was  lernen  denn  eigentlich  die 
Lelffamtseandidaten  in  ihren  Seminarien,  wenn  man  ihnen  selbst  das 
Metier  erst  nachtrftglich  eindrillen  mnss?  Oder  ist  etwa  der  Lehrer 
eine  Spielnhr,  die  immer  wieder  an|g;ezogen  werden  moss^  so  oft  die 
Walze  abgelMfim  ist?  Die  kleinliche  MethodeujAgerei  ist  flberhanpt 
immer  ein  Zeichen  von  geistiger  Dürftigkeit,  nnd  der  Dichter  hat 
recht,  wenn  er  sagt:  * 

,.Es  trägt  Verstand  und  reohlar  &m 
Mit  weaig  Ktuut  sich  «albtt  TW," 

wenn  man  ihn  nur  erst  hat. 

Wenn  man  diesen  pädagogischen  Hexensabbath  —  er  datirt  von 
der  Zeit  an,  wo  die  Diesterwegsche  Pädagogik  dui-ch  die  Regulative 
und  ihren  Anhang  in  den  Bann  gethan  wurde  —  Jahrzehnte  lang  be- 
obachtet hat,  ihn,  der  so  viel  Zeit  und  Kraft  nutzlos  verdorben,  so 
viele  schwache  Kopfe  verwirrt,  so  viel  Zwiespalt  und  Hader  hervor- 
gerufen und  nach  und  nach  die  großen  Meister  der  deutschen  Päda- 
gogik in  den  Hintergrund  gedrängt  hat:  dann  muss  man  sich  wol 
fragen,  ob  es  noch  der  Mühe  lohne,  und  ob  ^  noch  ehrenvoll  sei,  sich 
an  der  pädagogischen  Literatur  zu  betheiligen;  dann  darf  man  sich 
nicht  wundern,  wenn  bei  wissenschaftlich  gebildeten,  aber  mit  den 
Classikern  der  Pädagogik  nicht  bekannten  Männern  alle  Schulmeister- 
weisheit zum  Gespdtte  wird,  wenn  das  alberne  Geschwätz,  die  Päda- 
gogik sei  eigentlich  gar  keine  Wissensehaft,  gläubige  Nachbeter  findet 
(Tor  lierzig  Jahren  nnd  frfiher  war  die  Pädagogik  ebie  Wiswnschaft, 
mit  der  sidi  (Deister  ersten  Banges  be£usten);  darf  man  sich  nicht 


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—   560  — 


wundern,  wenn  gar  mancher  Laie  das  Eefoimiren  besser  zu 
verstehen  glaubt  and  in  der  That  neben  gewissen  Merkmalen  des 
DOettanten  mebr  geoinden  UenscIienyerBtand  zeigt,  als  Schnlmlbmer 
Ton  Beruf;  darf  man  sidi  aach  nicht  wondeni,  wenn  gelegent- 
lich .  ein  blasirter  Jonker  ftber  die  n^eosiDi^en  GeheimniBse^  des 
Ijehrerberofes  witielt  —  Es  dflrfte  also  Ton  Nntsen  sein,  wenn  die 
Diesterweg&ier  den  Erfolg  hätte,  dass  die  dentsehe  Lehre^sehait  fortan 
sich  etwas  jBprOder  zeigte  geg^  Stfimper  nnd  Ekinmeister,  Pftascher 
und  Projectschmiede,  Viertels-  und  Achtelspädagogen,  SteckenpiSBrd- 
reiter  and  Karrenschieber.  Wer  anf-  and  vorwärtskommen  will,  der 
moss  sich  Meister  wählen,  die  höher  stehen  als  er  seihst;  wer  immer 
sa  kleinen  Geistern  in  die  Schnld  geht,  wird  selbst  ein  kleiner  Geist. 
Lesen  Sie  also  wieder  und  immer  wieder  die  classischen  Werke  der 
dentsdien  Denker,  Dichter  und  Pädagogen.  In  ihnen  finden  Sie  fttr 
das  ganze  nationale  Büdungswerk  den  allumfassenden  Plan,  den  leiten- 
den Geist  und  Zweck,  für  jede  heilsame  Reform  den  rechten  Sinn, 
den  rechten  Platz,  den  rechten  Weg.  «Wol  dem,  der  seiner  Väter 
gern  gedenkt!** 

Die  liückkehr  auf  die  geistige  Höhe  des  Lehrerberufs  wird  auch 
der  socialen  Stellung  des  Leinerstandes  zustatten  kommen.  Auch  in 
dieser  Hinsicht  ist  die  Gegenwart  noch  weit  entfernt  von  dem,  was 
Diesterw^  anstrebte,  am  weitesten  in  seinem  eigenen  Vaterlande. 
l>as  Ausland  hat  während  der  letzten  Jahrzeliute  bedeutende  Fort- 
schritte gemacht,  so  Mexiko  und  Chile,  Uruguay  und  die  Argentinische 
Republik,  Japan  und  Australien,  in  Europa  namentlich  Frankreich,  Eng- 
land und  Italien;  doch  dies  nur  nebenbei.  Gestatten  Sie  mii*  jedoch  einige 
Bemerkungen  über  das  nachbarliche  und  verbündete  Österreich.  Vor 
allem  ist  da  hervorzuheben,  dass  dieser  Staat  seit  mehr  als  zwanzig 
Jahren  ein  Schalgesetz  besitzt,  und  zwar  ein  solches,  welches  im 
wesentlichen  den  Anscfaannngen  Diesterwegs  entspridit  Diesem  Ge- 
setze verdankt  es  die  Ostenreichische  Lehrersdiaft,  dass  sie  nidit  mehr 
nOthig  hat,  Uber  die  «Befreiang  vom  niederen  Sttsterdienste"  zu  ver- 
handehi,  das  ist  dort  ebi  längst  verschollenes  Thema.  Ebenso  gibt  es 
seit  jenem  Clesetze  keine  geistliche  Localsdialinspection  mehr,  ist  die 
BedrksschnUnspection  im  Prindp  ond  meist  anch  schon  in  der  Wirk- 
lichkeit eine  üuhmännische,  in  vielen  Ftilen  Beroftogenossen  im  engeren 
Sinne  fibertragen;  qpecieU  in  der  Hauptstadt  Wien  gehören  von  den 
seefas  Scholinspectoren  fünf  dem  Stande  der  Volks-  und  Bttrgerschnl- 
lehrer,  einer  dem  der  Gymnasiallehrer  an.  In  allen  Bezirksschulräthen 
ist  die  Lehrerschaft  gesetzlich  durch  frei  gewählte  Glieder  ihres 


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—  561  — 


Standes  vertretoo.  Dei'  Usus,  zu  Seminai-directoren  und  -Schulräthen 
Theologen  za  eammm,  ist  in  Östezreich  unbekannt  und  UDmöglick. 
Ferner  sind  alle  Öffentlichen  Schulen  in  sodaler  nnd  eonfeesioneller  Hin- 
sidit  nngesehieden,  die  schulpflichtigen  Kinder  aller  Sttnde  und  Bekennt- 
nisse vereinigend,  also  »allgemein''  und  »simultan".  y^Vorschnlen"  gibt 
es  nicht.  Die  Frage  des  Schulgeldes  ist  längst  erledigt;  in  den  we- 
nigen Lfindem,  wo  es  noch  nicht  entbehrt  werden  konnte,  wird  es 
nur  noch  als  Nothstand  betrachtet  Die  Öffentliche  Achtang  des  Lehrer- 
standes ist  bei  allen  gebildeten  Classen  bedeatend  gestiegen,  nur  von 
den  reactionären  Parteien  wird  sie  geflissentlich  verleugnet  und  herab- 
gesetst'  Die  Candidaten  des  Lebiiinits  haben  nach  Absolvirung  des 
Seminars  das  Becht  auf  den  einjährig-freiwilligen  Militärdienst,  was 
um  80  bemerkenswerter  ist,  als  in  Österreich  dieses  Recht  nur  solchen 
jungen  Männern  zusteht,  welche  das  Gymnasium  oder  eine  Schule 
gleichen  Ranges  ganz  absolvirt  oder  eine  ä(iuivalente  Prüfung  be- 
standen haben.  Brutale  Behandlung  der  Lelirer  im  Militärdienst 
kommt  nicht  vor.  Überliaupt  ist  in  Österreich  das  Militär  der  Neu- 
schule freundlich  gesinnt,  weil  es  sehr  wol  weiß,  dass  es  mit  den 
Recruten  jetzt  leichtere  Arbeit  liat,  als  in  den  Zeiten  der  alten  Schule. 
Wol  bleibt  auch  in  Österreich  noch  manclies  zu  wünschen  übrig;  aber 
die  erwähnten  ^loinente  sind  doch  feststehende  Thatsachen.  —  Allerdings 
möchte  nun  eine  bekannte  Partei  in  Österreich  die  alten  Schulzustände 
wieder  zurückführen,  wobei  sie,  und  leider  nicht  ohne  Grund,  sich 
stets  auf  das  Muster  PreuÜeus  beruft  Aber  bisher  hat  sie  noch  nieht 
viel  ausrichten  können,  weil  ihr  ein  von  den  Lehrern  tapfer  verthei- 
digter  Wall  von  Gesetzesparagraphen  im  Wege  steht.  Wol  sind  auch 
in  Österreicli  der  t'ultusniinister  und  der  Unterrichtsniinister  in  einer 
Person  vereinigt,  bei  welchem  Verhältuis  bekanntlich,  der  Herr  Unter- 
richtsniinister in  der  Regel  eine  seiner  ersten  Pflichten  darin  erkennt, 
den  Herrn  Cnltusminister  zufinedenzustellen  und  bei  gnter  Laune  zu  . 
erfaslten,  was  nicht  immer  möglich  ist  ohne  Schädigung  der  Schule. 
Wo  aber  ein  Schulgesetz  besteht,  da  hat  denn  doch  auch  die  größte 
GefiUligkeit  unflbersteigliche  Schranken. 

Wie  es  in  allen  diesen  Beziehungen  m  Preußen  und  anderen 
deutschen  Lindem  steht,  wissen  Sie  selbst  Wie  nachtheiUg  femer 
ein  Qberm&Big  entwickelter  Bureankratismus  wirkt,  welcher  mit 
unnOthiger  Vielschreiberei  Tiel  kostbare  Zeit  in  Ansprach  nimmt  und 
die  eigentliche  Schularbeit  sch&digt,  indem  er  die  besten  Lehrer  um 
ibi*e  Bemikfreodigkeit  bringt,  die  minder  guten  Elemente  aber  der 
Verantwortlichkeit  vor  dem  eigenen  Gewissen  überhebt  und  an  eüie 

P«d«8«giun.  lt.  Jthis.  H«ft  IX.  40 


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—    562  — 


0 


blos  irerkgeTechte  BerafsfOhrung  gewöhnt,  das  dürfte  Ihneii  eben&Us 
nicht  unbekannt  sein.  Noch  weniger  (raachen  Sie  über  Ihre  Oehalta- 
verhSltnisse  eine  Belehmng  von  mir;  zodem  heifit  es  ja  jetzt  wieder 
einmal,  dass  dieselben  besser  werden  sollen,  und  ich  kann  nar  von 
ganzem  Herzen  wQnschen,  dass  diese  Aussicht  wie  verschiedene  andere 
Hoifinmgen  sich  bewähren  mOgen.  Ober  den  bisherigen  Stand  der 
Sache  meine  Meinung  abzugeben,  wäre  mir  in  parlamentarischen  Aus- 
drücken unmöglich.  Gestatten  Sie  mir  daher  einen  Satz  anznftthren, 
den  ich  unlängst  in  einem  Schriftchen  von  einem  wackeren  preußischen 
Pfoner  fiind.  Derselbe  sagt  wOrtlidi:  „Die  Besoldung  der  Volks- 
schnllehrer  ist  eine  Schmach  und  Scliande  für  unser  ganzes  Staats- 
wesen, und  man  begreift  nicht,  wie  diejenigen,  die  es  zu  verantworten 
haben,  ein  gutes  und  ruhiges  Gewissen  dabei  haben  kOnnen."*)  Hier- 
nach niuss  man  baldige  Abhilfe  zuversichtlich  erwarten.  —  Besonders 
auffallend  ist  auch  der  niedere  Stand  oder  die  niedere  Taxation  der 
Lehrerbildung,  indem  dieselbe  kein  Anrecht  gibt  auf  den  Freiwilligen- 
SChein,  welchen  doch  in  Deutschland  ein  fünfzehnjähriger  Knabe  er- 
werben kann.  Zur  Helmni,'-  der  Achtung  des  Lehrerstandes  trägt 
dieser  T  justaml  prewiss  nicht  bei.  i)ass  dieselbe  gerini>-  ist,  zeigen  die 
schon  erwiiliiitru  Besoldungsverliältuisse,  ferner  der  .Manirel  jeuer  In- 
stitutionen, deren  .^ich  der  «isterreichische  fieliier  erfreut,  nicht  mindei- 
die  niisstrauisrlie,  bevornuiudemle  und  geringschätzige  Behandlung,  ja 
ufFeiitliehe  iSciimahung,  welche  in  einem  großen  Theile  Deulsehlands 
der  Lelirerstand  iil)er  sich  ergehen  lassen  muss.  Man  könnte  da  fast 
zu  der  Meinung  koninien,  die  deutsche  Nation  niilsse  vor  sich  selbst 
wenig  Achtung  haben,  wenn  sie  die  Lehier  ihrer  Jugend  so  übel 
behandelt. 

Und  wenn  nun  Diester  weg  heute  von  den  Todten  auferstände, 
würde  es  ihm  besser  ergehen,  als  es  ihm  zu  Lebzeiten  ergangen  ist? 
Ich  mochte  diese  i>Yage  nicht  bejahen,  glaube  vieLnehr,  sein  Martyrium 
würde  gegenwärtig  ein  noch  schwereres  sein.  Wol  s^cht  er  von 
demselben  unter  dem  Motto:  „Unsagbaren  Schmerzes  Erneuerung**, 
und  mit  Becht;  denn  Jahre  lang  mit  den  ungerechtesten  und  heftig- 
sten Schmähungen  verfolgt  zu  werden,  dabei  auch  unter  den  eigenen 
Schülern  die  bekannte  und  stehende  Figur  des  Judas  Ischarioth  zu 
finden,  endlich  vor  der  Zeit  aus  einem  mit  ganzer  Seele  umfassten 
Amte  geworfen  zu  werden:  das  ist  wahrhaftig  kein  Vergnügen.  Attein 
im  übrigen  wurde  er  mit  ziemlicher  Schonung  behandelt.   Man  lieft 

*)  .Siehe  Koblrauscb.  Der  evangdiflche  Geistliche  and  der  eTaagcli.'^che  Volki- 
«chuUehrcT.  MAgdeburg  bei  Rathke. 


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—   563  — 


ihm  die  ganze  Besokhmg,  hetzte  keiue  orgaiiisirleii  Meuten  auf  ihn, 
die  ilini  die  Ehre  abschnitten,  ihn  auf  Schritt  und  Tritt  umlauerten 
und  mit  dem  Tode  bedrohten,  jagte  ihm  auch  keine  Angst  ein  um 
das  Siliicksal  seiner  Kinder:  vor  solchen  und  ähnlichen  Liebenswüi-- 
digkeiten,  welclie  s^ine  sclilat'luseu  Nächte  um  das  Zehnfache  hätten 
vermehren  können,  blieb  Diesterweg  glücklicher  Weise  verschont  Ob 
er  nun  in  unseren  Zeiten  sein  Leben  noch  einmai  zu  leben  wünschen 
würde,  daraber  will  ich  keine  Vamirtlinng  aussprechen,  zumal  ich  über- 
zeugt bin,  dass  ein  Schulmann  seiner  Art  gegenwärtig  überhaupt  gai* 
nicht  mehr  aufkommen  und  bestehen  könnte.  Diesterweg  war  sieben- 
nndzwanzig  Jahre  lang  Seminardirector,  heute  könnte  er  es  nicht  vier 
Wochen,  nicht  efaien  Tag  sein,  und  im  ganzen  Deutschen  Beiche  wftre ' 
keine  Stelle  ffir  ihn.  Ihre  Augen,  geehrte  Damen  und  Herren,  werden 
keinen  Adolf  IMesterweg  mehr  sehen.  Noch  ein  Factum.  Im  Jahre  1851, 
Tier  Jahre  nach  seinem  amtlichen  Schüfbmeh,  subscril^rten  auf  sein 
nPftdagogisches  Jahrbuch**  1681  preußische  und  1926  sonstige  deutsche 
Lehrer,  im  ganzen  3456  (abgesehen  von  den  freien  EAufem);  heute 
wtLrde  er  trotz  der  weit  gröfieren  Lehrerzahl  schwerlich  die  Hälfte 
dieses  Erfolges  er  zielen.  Schon  im  Jahre  1857  erklärte  ein  deatscher 
Scluilin^pector  seinen  Untergebenen:  „Diesterwegs  Standpunkt  ist  seit 
zehn  Jaiiren  überwunden.''  Und  ein  paar  Jahre  spftt«r  nannte  ihn 
der  ünterrichtsminister  v.  Bethmann-HoUwe":  einen  ..unverbesserlichen 
Reactionär."  Diesterweg  mnsste  diesem  Urtheil  beipflichten  und  nannte 
sich  selbst  einen  „Zurückgebliebenen"*,  weil  er  auf  dem  Standpunkt 
verliarrte,  welchen  die  Herren  Eiclihorn,  .Stiehl,  v.  Raumer  u.  s.  w. 
überwunden  hatten.  Gestatten  Sie  mir.  der  ich  auch  ein  solcher  Zu- 
rückgebliebener bin,  Ihnen,  yeelirte  I)anien  und  Herren,  im  Namen 
meines  verstorbenen  Leidensgenossen  den  herzlichsten  Dank  auszu- 
sprechen, dass  Sie  ihm  ein  achtuuii^svolles  Andenken  bewalirt  haben 
und  heute  in  feierlicher  Versammlung  sein  f^rutSes  Verdienst  ehren. 
Wol  erfüllt  es  uns  mit  bitterem  Schmerze,  wenn  wir  .ziehen,  wie  relativ 
wenig  bisher  das  Wirken  dieses  edlen  und  stärkt  ii  Mannes  gefruchtet 
hat,  und  wie  fern  uns  noch  die  Ideale  sind,  denen  er  mit  ganzer 
Seele  ergeben  war.  Bildung  und  P'rieden,  Recht  und  Freiheit,  Ge- 
sittung und  Wolfabrt  wollte  Diesterweg  seinem  Volke  erringen  helfen. 
Wer  aber,  erfüllt  von  diesen  Hochgedanken,  die  gegenwärtigen  Zu- 
stände betrachtet,  der  möchte  in  die- Klage  einstimmen: 

.Ach.  der  Hiimiiel  lüujr  mir 
W  ill  die  Erde  uie  berlllireu, 
Uid  das  Dort  ist  aieiiMls  hier." 


40* 


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Heil  uns,  dass  eine  höhere  Hand  uns  aufrichtet,  w^nn  der  Mensch- 
heit Jammer  unseren  Muth,  unsere  Hoffnung  niederdrückt;  dass  uns 
nach  jedem  Winter  in  jedem  neuen  Frühling,  die  ganze  Natur  ein 
ewiges  Sein  und  Leben  synibolisirt.  Wol  fülilen  wir*  oft  nur  allzu- 
sckwer,  wie  schwach  unsere  Kralt,  wie  unzulänglich  auch  das  edelste 
Streben,  wie  klein  und  ohnmächtig  alles  Menschliche  ist: 

„Doch  ist  es  jedem  eingeboren, 

Dtn  ieis  QvBM  hinauf  und  Tomrirts  dringt, 
*  Wenn  Aber  uns,  im  blauen  Baum  Terlomn, 

Ihr  schmetternd  Lied  di(  Lerche  singt; 

Wenn  über  schrofftn  Fichtenhohen  • 

Der  Adler  ausgebreitet  schwebt, 

Uad  ttbor  FIIoImd  Ikbor  Seoi 

Der  Knnich  nach  der  H«jni«t  •trebt" 
.,Wol  dem,  der  seiner  V&ter  gern  gedenkt."  Über  die  schmerz- 
eifüllte  Erde  hinaus  weisen  sie  uns  in  die  ewige  Heimat  des  Men- 
schengeistes, damit  wir  auf  dieser  dornenTollen  Pilgerfahrt  anserer 
höheren  Bestimmung  eingedenk  bleiben,  nm  standhaft  und  treu  ans- 
mharren  Im  Dienste  unserer  Pflicht. 

Eines  Mannes  gedenken  wir  heute,  der  mit  Luther  sprechen 
konnte:  „Ich  suche  nicht  das  Meine,  sondern  allein  des  ganzen  deut- 
schen Landes  Glück  und  Heil.**  Möge  sein  Wirken  fortan  den  wer- 
denden Geschlechtern  tausendfältige  Frucht  bringen  zu  Glück  und 
Heü,  zu  Ruhm  und  Ehre  unserer  ganzen  Nation!  Das  wünsche  ich 
Ihnen,  geehrte  Versammlung^,  zu  dieser  Stunde,  und  das  wünsche  ich 
dir  zum  hundertsten  Gebuitstage  eines  deiner  besten  Söhne,  dir,  o 
Matter  Germania! 


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1 


Zar  Discussion  äber  dea  Moralunterhcht. 

Aletner  Abhandlong  Aber  den  „Moraluiterrieht  in  der  Volks- 
sebnle  FrankrdchB"  ist  im  12.  Heft  des  nP^dagogium''  tob  1889  die 
Ehre  einer  Entgegnung  geworden.  Der  geehrte  Heranageber  dieeer 
Zeitsehrift  begleitete  diese  letsteie  mit  der  Bemerkimg,  der  Moral- 
imtenidit  sei  noch  „eine  olfone  Frage^  nnd  bedfiife  «allseitiger  Be- 
lenchtong*;  sodann  verweist  er  aof  seinen  Standpunkt,  wie  er  ihn  in 
der  „Schnle  der  Pftdagogik"  darlegt  Dorch  diese  Bemerkung  ver^ 
anlasst  er  mich,  hiermit  die  Discossion  Aber  die  „offBoe  Frage"  finrt* 
zusetzen. 

Meinem  Gegner  im  S.  Heft  von  188^  habe  ich  einleitend  nur 
wenig  zu  erwidern.  Seine  Entgegnung  beruht  auf  einem  MissTerstftndnis. 
£r  hat  eben  meinen  früheren  Artikel  im  12.  Heft  des  IX.  Jahrganges 

nicht  gelesen.  In  diesem  Iiabe  ich  einen  „anschaulich"  gehaltenen 
Moralunterricht  füi'  die  Stufe  der  Oberschule  verlangt,  einen  Unter- 
richt, der  dem  Kinde  die  Tuj^enden  und  Pflichten  „durch  Beispiele  und 
Vorbilder"  veranschaulicht,  und  der  durch  diese  Beispiele  im  Kinde 
sittliche  Gefühle  erweckt  und  das  sittliche  Bewusstsein,  das  Ge- 
wissen bildet.  Es  handelt  sich  also  nicht  darum,  dem  Schüler  blos 
ein  „System  aller  Tugenden  und  Laster  anzueignen,"  wie  der  Gegner 
meint!  Damit  wäre  allerdings  nicht  viel  gewonnen.  Und  es  wäi'e 
gewiss  nicht  pädagogisch,  mit  «Umgehung  desGemüthes  auf  den  Willen 
wirken  zu  wollen."  —  Mein  <4egner  kämpft  also  einfach  gegen  eine 
Windmühle;  ich  kann  mii  h  darum  nicht  länger  mit  ihm  befassen. 

Was  ich  heute  zu  tliun  wünsche,  das  ist,  andere  Schriftsteller  in 
die  „Discussion"  einzuführen,  nämlich  vorab  den  Herausgeber  des 
„Psedagogium"  selber,  dann  Jahn,  Salter  und  Kant  etc. 

Nachdem  Herr  I>r.  Dittes*»  mit  Recht  hervorgehoben  hat,  dass 
die  Triebkraft  alles  Wollens  und  Handelns  nicht  in  seinen  Begriffen 
nnd  Grandsätzen  liege,  sondern  luden  aus  Empfindungen  entspringen- 

r 

*)  Siehe:  „Söhnte  der  FIdagogik",  S.  428  v.  s.  1 


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—   566  — 


den  Zu-  und  Abneigungen,  und  dass  die  moralischen  Veihältnisae 
erst  erlebt  werden  müssen,  ehe  sie  be^-ifFen  werden  können,  hebt  er 
dann  die  Bedeutung  der  sittlichen  Belehrung  in  folgenden  Worten 
gehörig  hervor: 

„Sind  aber  die  ursprünglichen  Grundlagen  des  Willens  real  ent- 
standen, dann  ist  allerdings  die  Belelirung  von  großem  Wert.  Sie  er- 
zeugt erstens  Klarheit  über  die  sittlichen  und  unsittlichen  Elemente 
des  Willens,  l)eseitigt  die  chaotische  Verschwommenheit  derselben, 
scheidet  und  ordnet  sie,  verwandelt  sie  in  Begriffe  und  Grundsätze 
und  bringt  dadurch  Sicherheit  in  das  sittliche  Urtheil  und  Stn*ben. 

„Sie  gibt  zweitens  den  moralischen  Empfindungen  und  Strebuugeu 
eine  erhöhte  Bewnsstheit  und  Erregtheit,  denn  sie  beginnt  mit 
Reprodnction  derselben  und  fUu*t  zu  jenen  festen  Gebilden,  die  ver- 
möge ihrer  sdiaite  Ausprägung  dominirende  Hittelpunkte  des 
sittlichen  Gefflhles  würden. 

nDritteofl  yerleihen  die  durch  Betehrung  eizengten  Begriffe  und 
Grundsätze  dem  Willen  jeneFestiglceit  und  Beharrlichkeit,  welche 
das  Wesen  des  Charakters  ausmachen. 

„Viertens  ist  die  Belehrung  ein  vorzfigliches  Mittel,  um  den  sitt- 
lichen Schätzungen  und  Neigungen  eine  vielseitige  Ausdehnung 
auf  die  mannigfiiltigBten  Lebensverhältnisse  zu  geben,  so  dass  die  All- 
gemeingiltigkeit  der  Moralgesetze  dentlidi  wird.  Das  Kind  soll 
die  SittUcfakeit  als  Sache  der  gesammten  bliigerlichen  Gesellschaft, 
der  gesammten  Menschheit  erkennen  lernen. 

„Diesen  Zwecken  dienen  lebendige  und  treue  Schilderungen  ver- 
schiedener Charaktere,  Lebenslagen  und  Welt  Verhältnisse,  also  Be- 
lehrungen über  die  menschlichen  Tugenden  und  Fehler,  Thaten  und 
Schicksale,  Freuden  und  Leiden,  über  Glück  und  Unglück,  Armut  und 
Reichthum,  über  Verkehrs-  und  Staat^sverhältnisse,  Lebensweisen  und 
Benifsarten,  Sitten  und  Rechte.  Fieilich  müssen  alle  solche  Beleh- 
rungen an  die  Erfaluungen,  Emplindungen  und  Neigungen  des  Kindes 
angesclilopsen  werden." 

Aul  Seite  451  spricht  dann  Herr  Dr.  Dittes  seine  Meinung  über 
das  „Religion.sbuch-  aus,  das  zugleich  die  bestt^  (Triuiillatrc  für  den 
Muraluiiterriclit  darbieten  würde.  Er  sagt  hierüber.  J)(.mi  abend- 
ländischen Völkern  stehen  als  Denkmaler  der  religiösen  Eutwickelung 
des  Menschengeschlechtes  vor  allem  die  biblischen  Schriften  zu  Ge- 
bote. Aus  dem  alten  Testamente  lassen  sich  eine  Reihe  der  schönsten 
Erzählungen,  etliche  Psalmen  etc.,  aus  dem  neuen  Testamente  be- 
sonders Beden  und  Gleichnisse  Jesu,  Aussprüche  dei*  Apostel  als  un- 


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—   667  — 

übertreffliche  Stoö'e  fiir  die  Jagendbüdang  verwerten.  Man  sollte  sie 
in  einem  Rellgionsbuclie  zusammenstellen,  welches  aber  nicht  aus- 
schließlich ans  jüdischen  und  christlichen  Quellen  geschöpft 
werden  müsste.  sondem  das  Schönste  aus  allen  welthistorischen 
Relipfionsurkunden  zu  enthalten  hätte:  AIj^o  aucli  eine  Blumen- 
lese aus  dem  Zendavesta,  den  Vedas,  der  brahmanischeu  und  buddhi- 
stischen Literatur,  Ausspruche  des  Lao-tse,  des  Confucius,  Stellen  aus 
dem  Koran  etc.  Das  wäre  (l;iini  ein  lebt^iuliger  Schatz  der  edelsten 
Bildung^sstoff'e ,  zugleich  ein  redeiitles  Denkmal  der  religiösen  Cultur- 
ent Wickelung  der  Menschheit  und  also  ein  Hilfsmittel  ziu-  Einführung 
in  die  Culturgeschichte.  Namentlich  nui>sre  das  Buch  auch  in  einer 
Reilie  von  moralischen  Kernspriichen  die  allgemeine  menschliche 
Sittenlehre  enthalten.  Es  würde,  als  Bildungsmittel  der  Jugend,  zu 
rechter  Zeit  dem  dünkelhaften  und  engherzigen  Sectengeiste  vor- 
beugen, indem  es  das  aufwachsende  Geschlecht  auf  die  Höhe  der 
Henscbbeit  stellte,  auf  den  Standpunkt  der  Humanität,  des  Kos- 
mopolitismns,  der  Vorurtheilslosigkeit,  der  Sittlichkeit,  der 
Ifenschenachtung  und  Menseheiiliebe.  Zeit  wäre  es  endlich, 
dass  die  Menschheit  zu  sich  selber  käme,  dass  die  Volks- 
sehnle  hierzu  beitrüge,  dass  sie  allen  unfruchtbaren  Wust 
von  sich  würfe  und  dafür  die  herrlichen  Perlen  eintauschte, 
welche  uns  die  edelsten  Geister  aller  Zeiten  und  Völker 
hinterlassen  haben«"  — 

Führen  wir  nun  einen  anderen  Autor  in  die  Discussion  ein. 

Vor  kurzer  Zeit  erschien  von  Dr.  Jahn  eine  hOchst  bemerköis- 
werte  Schrift  untor  dem  Titel:  „Ethik  als  Grundwissenschaft 
der  Pädagogik.** 

Aus  diesem  Buche,  welches  die  Ethik  als  „die  wichtigste  der 
Wissenschaften''  bezeichnet,  geben  wir  hier  nur  wenige  Sätze,  um  die 
Leser  auf  diese  Schrift  selber  zu  verweisen: 

„Wird  das  Kind  mit  Beispielen  des  Guten  und  Schönen  um- 
geben,  so  können  die  edlen  Gefühle  emporwachsen.  Die  sittlichen  Ge- 
fühle entwickeln  sich  zu  sittlichen  Vorschriften;  diese  bilden  das  Ge- 
wissen. Die  Sittlichkeit  ist  die  HeiTschaft  der  sittlichen  Ideen.  Das 
Gewis.seu  ist  die  Summe  der  sittlichen  Gefühle  und  Gedanken.  Die 
Vernunft  ist  der  Sitz  des  Sittlichen. 

..Das  Ziel  der  Erziehung  heißt:  Sittliche  Einsicht  durch 
Entwickelung  der  sittlichen  Begriffe  und  durch  Belebung 
der  sittlichen  Ideen. 

„Das  sittliche  Urtheil  ist  eine  nuih wendige  Vorstufe  des  sittlichen  ^ 

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—  W8  — 


oder  vernünftigen  Wollens.  Der  sittliche  Charakter  ist  das 
Ziel  aller  Erziehung.  Der  Gang  der  sittlichen  Willensbildung  ist: 
Bildung  sittlicher  Oefühle:  {iraktische  ?jnsicht  in  sittliche  Lehens- 
verhältnisse: Unterscheidung  des  Guten  vom  Bösen  und  sittliche  Ge- 
wöhnung und  i'bung.  Der  Mensch  wird  nioralisirt,  wenn  in 
ihm  die  vernünftige  Natur  zur  Herrschaft  gebracht  wird." 

Im  Jahre  1889  erschien  im  Verlage  von  W.  Friedrich  in  Leipzig 
ein  kleines,  aber  gediegenes  Büchlein:  ^Moralische  Reden"  von 
W.  M.  Salter,  ins  Deutsche  tibersetzt  von  G.  v.  Gizycki.  Salter 
ist  ein  Amerikaner  und  ein  tüchtiger  Verti*eter  der  etliischen  Bestre- 
bungen, wie  sie  sich  in  den  amenkaniaGhen  „Gesellschaften  iüi'  mora- 
lisehe  CdtDr**  geltend  inadieD.  Salter  Ist  elten^dte  der  Verfasaer  des  - 
ansgezeichneten  Werkes:  „Die  Religion  der  Moral",  auf  das  wir 
die  Anfinerksamkeit  ancb  richten  möchten. 

In  der  dritten  nmoraUschen  Hede"  des  erstgenannten  Sehriftehens 
spricht  Salter  von  den  „Pflichten  der  religiös  Freisinnigen  gegen  ihre 
Kinder."  Nachdem  er  hier  es  streng  getadelt  hat»  dass  die  Freisinnigen 
ihren  Kindern  einen  Beligionsnnterrieht  geben  lassen,  den  sie  selber 
nicht  für  wahr  halten,  verlangt  er  dann,  dass  die  „ethische  Schnle'' 
den  Schttlem  yom  12.  Jahre  an  einen  eigentlichen  Moralnnterrieht 
ertheile.  Salter  sagt  hierüber: 

„Vom  12.  Jahre  an  soll  ein  directer  Versuch  beginnen,  den  Geist 
des  Kindes  hinsichtlich  der  Pflicht  aufzuklären.  Was  eine  gute  Hand- 
lung ausmacht,  soll  vor  allem  den  Kindern  klar  gemacht  werden. 
Dann  können  die  gaten  Handlungen  eingetheilt  und  kann  eine  nach 
der  anderen  vorgenommen  werden.  Lasset  die  Kinder  durch  eigenes 
Nachdenken  die  wahre  £intbeUang  herausbringen;  sie  werden  finden, 
dass  es  Pflichten  gegen  andere  und  Pflichten  gegen  uns  gibt.  Die 
ersteren  ^verden  sie  eintheilen  in  PHichten  gegen  die  Familie,  den 
Staat  und  die  Welt.  Die  zweiten  kann  man  in  Hinsiebt  auf  den 
Körper,  den  Geist  und  den  Cliaraktcr  auffassen. 

.,Die  Kinder  sollen  gelehrt  werden,  sich  selbst  zu  achten,  und 
dass  Selbstachtung  in  Wahrheit  die  erste  der  Tugenden  ist. 
Ein  jedes  v<tii  ihnen  hat  Wert,  ein  jedes  von  ihnen  hat  Würde  als  ein 
moralisches  Wesen,  das  fähig  ist,  sich  seinen  Weg  im  Leben  zu  wählen, 
und  jedes  sollte  seinen  Körper  für  heilig  ansehen  und  ihn  rein  halten 
und  ihn  stets  zum  Diener  der  besseren  Natur  machen;  jedes  muss 
sehen,  welche  wun<lerban*  Kraft  es  im  Geiste  hat,  wie  fleißig  wir  sie 
pflegen,  wie  selir  wir  uns  der  Trägheit  schämen  sollten. 

»Die  Moral  von  Wahrheit  und  Lüge  sollte  klar  gemacht  werden; 


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—   669  — 


das  Gote  und  das  Schlechte  am  Zorn  —  das  Edle  eines  sittlichen 
Unwillens  sollte  gezeigt  werden;  die  sittlichen  Elemente  des  Muthes 
sollten  dargelegt  werden,  das  Heldenthnm,  allein  einzustehen  für  seine 
Überzeugungen,  tapfer  das  zu  ertragen,  was  wir  nicht  Andern  kOnnen, 

die  Erhabenheit  der  Geduld  im  Unglück. 

„Und  dann  sollte  die  Bedeutung  der  Familie  eröffnet  werden,  die 
Heiligkeit  ihrer  Bande,  die  besonderen  Pflichten,  die  wii*  hier  haben, 
nämlich  die  der  Ehrerbietung  und  des  Gehorsams  gregen  die,  welche 
über  uns  sind,  der  Brüderlichkeit  gegen  die,  welche  unseresgleichen. 
der  Milde  und  Hilfsbereitschaft  gegen  die,  welche  unter  uns  sind. 
Dann  sollten  die  Pflichten  gegen  den  Staat  kommen.  Die  Kinder 
sollen  gelehrt  werden,  den  Staat,  zu  dem  sie  gehören,  zu  lieben. 
Menschen,  welche  die  Interessen  des  Staates  vernachlässigen,  welche 
sich  den  üflentlichen  Verpflichtungen  entziehen,  oder  welche  gai'  die 
öffentliche  Meinung  verderben,  sollten  dem  stärksten  Tadel  preisgegeben 
werden. 

„Noch  weiter  sind  dann  die  Pflichten  gegen  den  Menschen  als 
Menschen  vorzuführen.  Dies  ist  in  einer  Hinsicht  der  höchste  Zweig 
der  Moral;  denn  wir  hahen  die  zu  lieben,  welche  wir  nie  gekannt 
haben.  Die  Kinder  sollen  fllhlen,  dass  ein  lleaaeh  um  seiner  seihst 
willen  geachtet  zn  werden  Teidient  Hier  ist  die  Gelegenheit,  dem 
Geiste  des  Kindes  die  Lection  der  Humanität  einznprftgen  in  dem 
Sinne  der  Nächstenliebe,  des  Mitleides,  des  feineren  GefOhles  fftr  mensch- 
liches Unrecht,  einer  vollkommeneren  Gerechtigkeit,  als  die  Welt  ttht."  — 

Salter  will  die  Bihel  den  Kindern  nicht  vorenthalten;  er  will  sie 
als  Verm&chtnis  einer  ehrwftrdigen  Religion  zur  Kenntnis  bringen; 
aber  er  will  nicht  dabei  stehen  bleiben.  — 
.  Geben  wir  jetzt  noch  dem  l^osophen  Kant  das  Wort 

„Um  in  den  Kindern  einen  moralischen  Charakter  za  begründen, 
mtlssen  wir  Folgendes  merken: 

„Man  muss  ihnen  die  Pflichten,  die  sie  zu  erfüllen  liaben.  soviel 
als  möglit'h  durch  Beispiele  und  Anordnungen  beibringen.  Die  Pflichten, 
die  das  Kind  zu  thnn  hat,  sind  doch  nur  gewöhnliche  Pflichten  gegen 
sich  selbst  und  gegen  andere.  Wir  haben  hier  daher  näher  zu  betrachten: 

„a)  Die  Pflichten  gegen  sich  selbst.  Diese  bestehen  darin, 
dass  der  Mensch  in  seinem  Inneren  eine  gewisse  Würde  habe,  die 
ihn  vor  allen  (.Teschüpfen  adelt,  und  seine  Pflicht  ist  es,  diese  Würde 
der  Menschheit  in  seiner  eigenen  Per.>^on  nie  zu  verleugnen. 

„Die  Würde  der  Menschheit  aber  verleugnen  wir,  wenn  wir  z,  B. 
uns  dem  Trünke  ergeben,  alle  Arten  von  Unmäßigkeit  ausüben,  wei- 


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—   570  - 


clies  alles  ^en  Menschen  weit  unter  die  Thiere  arniedi  iirt.  Durch  die 
Lüge  kann  sich  auch  das  Kind  unter  die  Würde  der  Menschheit  er- 
niedrigen. Das  Lüofen  macht. den  Mensclien  zam  Gegeofitand  der  all- 
gemeinen Verachtung. 

..b)  Die  Pflichten  gegen  andere.  Die  Elirfurcht  und  Aclitung 
für  das  Reclit  (h'V  Menschen  miiss  dem  Kinde  sclion  früh  beigebracht 
werden.  Unserer  Schule  fehlt  fast  durchgängig  etwas,  was  dorli  sehr 
die  Bildung  der  Kinder  zur  Reclitscliaftenheit  befördern  würde,  näiu- 
licli  ein  Katechismus  des  Rechtes.  Was  die  Verbindlichkeit  zumWol- 
ihun  anbetrifft,  so  ist  sie  nur  eine  unvollkommene  Verbindlichkeit.  Es 
genügt  nicht,  im  Herzen  des  Kindes  Mitleid  zu  erwecken,  sondern  es 
muss  erfüllt  werden  von  der  Idee  der  IM  licht." 

Zum  Schiasse  seiner  Abhandlung  sagt  Kant: 

„Es  bmiht  hei  der  Erziehung  alles  darauf,  dass  man  überall  die 
richtigen  Gründe  aufstelle  ond  den  Kindern  begreiflich  nnd  annehm- 
lieh  mache;  sie  müssen  letnen,  den  inneren  Absehen  statt  des  äntteren 
vor  Mensdien  nnd  der  göttlichen  Strafen  zu  setzen,  Selbstschätznng 
nnd  innere  Wflrde  statt  der  Meinung  der  Menschen,  inneren 
Wert  der  Handlung  statt  der  Worte  nnd  der  Gemflthsbewegung, 
Verstand  statt  des  Gefühls  nnd  Fröhlichkeit  und  Frömmigkeit 
bei  gnter  Laune  statt  der  grftmischen  nnd  finsteren  Andacht  ein- 
treten zu  lassen.** 

Auch  Dr.  H.  Höffding^Xsoll  in  dieser  „Discnssion*  noch  gehört 
werden.  In  dem  angeführten  Werke  tritt  er  für  die  „humane  Moral" 
ein  und  stellt  die  Vernunft  als  Princip  dieser  Moral  auf.  Da- 
gegen bezeichnet  er  die  Mängel  der  religiösen  Moral  mit  folgenden 
Worten:  Positive  Religion  heißt  auf  Autorit&t  gegiündete  Religion. 
Die  christliche  Cardinaltugend  ist  der  Gehorsam,  die  Unterwerfung 
nnter  den  göttlichen  Willen,  nicht  die  Liebe;  denn  man  soll  ja  die 
Menschen  um  (Rottes  willen  lieben!  Das  Christenthum  erkennt  nur 
die  auf  den  dlauben  gegründete  Liebe  an!  Aber  das  Gebot  der  Lielie 
kommt  erst  zur  vollen  Geltung,  wenn  man  über  die  Schranken  des 
Glaubens  hinausgeht.  Die  Triebe  ist  griiLjer,  als  der  (ilaube. 
—  Die  ,humane  Ethik'  sucht  ihr  Princip  in  den  psychologischen  und 
ethischen  Gest-tzen,  und  diese  sind  Naturgesetze.  Die  Autoi'ität  hat 
zwar  Bedeutung  für  das  Ethische,  aber  das  Autoritutsprincip  ist  nicht 
der  vollständige  Grund  des  Ethischen.  Die  Autorität  appellirt  in  letzter 
Instanz  an  egoistische  Motive,   lu  deu  Augen  der  Ethik  erscheint 


„Die  (iruadlagcD  Ucr  humancu  Ethik." 


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—  Ö71  - 


die  AntoritSt  nur  ab  Mittel.  Der  Schwerpunkt  ist  yon  aaßen 
nach  innen  zn  verlegen.  Dies  ist  das  grofie  Ziel  aller  Endehong. 
Der  Wert  der  ethiseben  Ideen  beruht  auf  ihnen  seibat,  anf 

ihrem  ZusanimenliaTio:emit  den  Grundbedingungen  des  mensch- 
lichen Lebens.  Für  den  Protestanten  ist  das  trewisson  die  ein- 
zige Richtschnnr.  Das  Gewissen  selbst  ist  die  höchste  Autorität; 
es  ist  ja  die  höchste  Klarheit  und  Überzeugung.  Der  Lebensnerv  der 
humanen  Kthik  ist  die  innige  Verbindung  des  Einzelnen  mit  dem  Ge- 
schlecht. Das  Wunder  widerstreitet  der  Ethik  ebenso  sehr,  wie  der 
Physik  und  Logik.**  —  ' 

Der  bedeutende  Forscher  W.  Wundt  sagt  in  seiner  Ethik  (Ver- 
lag von  F.  Enke  in  Stuttjrart  :  ..Es  ist  gefährlich,  wenn  die  alten 
Motive  des  Guten  verschwinden,  bevor  die  neuen  an  ihre  Stelle  ge- 
treten sind."  —  Dieses  Verschwinden  der  alten  Motive  ist  gegen- 
wärtig der  Fall.  Gerade  die  Geistlichen  klagen  darüber,  dass  der 
religiöse  Zweifel  im  \\"achsen  begriffen  sei.  Die  tlieologische  Wissen- 
scliatt  der  Bibelkritik  hat  iiierzn  selber  beigetragen,  indem  sie  zeigte, 
wie  flas  neue  Testament  auf  ganz  natürliche  Weise  aus  dem  Streit 
von  Keligionsparteien  entstanden,  also  kein  „Wort  Gottes"  ist.  Auch 
die  Naturwissenschaften  sind  es,  die  den  Zweifel  mehren,  indem  sie 
ttber  die  Entstehung  der  Erde  und  des  Weltganzen  ganz  andere  Be- 
griffe TOibreitent  als  der  Supranaturalismns  der  Beligion.  Je  mehr 
aber  die  reUgiOsen  Lehren  geschwächt  werden,  desto  wenig«*  eignen 
sie  sich  als  Onmdlsge  der  Moral.  Damm  mehren  sich  die  Klagen 
Aber  mangelhafle  Erziehung.  Chtistinger  z.  B.  sagt  in  seinem  Vortrag 
Uber  „nationale  Erziehung":  „Man  soU  sich  nicht  yerhehlen,  dass  aus 
mehrfiichen  Ursachen  in  unserer  Zeit  eine  Schwächung  der  sittlichen 
Kräfte  und  damit  eine  Schwächung  des  Charakters  eingetreten  ist.** 

Dr.  Fricke  in  Wiesbaden  bemerkt  in  seiner  Pädagogik,  die  Bil- 
dung des  Herzens  sei  augenftUig  hinter  der  Bildung  des  Verstandes 
zurückgeblieben,  man  müsse  daher  der  ,y8ittenlehre"  eigene  Unterrichts- 
stunden widmen.  Und  Kehr  sagt  in  seinen  „Pädagogischen  Reden" 
(S.  23):  „Der  Hauptgiimd  'der  unbefriedigenden  Verhältnisse  ist 
darin  zn  suchen,  dass  bis  jetzt  viel  zn  wenig  ihr  die  sittliche  Erziehung 
der  Jugend  gethan  worden  ist."  — 

Dies  allesr  lässt  sich  in  die  Worte  Schillers  zusammenfassen: 
„Es  wankt  der  Grund,  worauf  wir  bauten!" 

Nun,  so  baue  man  auf  einen  solidereu  Grnnd.  Ein  schwankender 
Glaube  ist  kein  solider  Grund.  Die  Erkenntnis  früherer  Jahrtausende 
ist  heute  kein  solider  Grund.  An  übernatürliche  Offenbarung  glauben 

■ 

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—   672  — 


heute  nicht  mehr  alle.  Die  Gedanken  der  Weisen  sind  die  einzige 
UÖenbarimg  für  viele.  Mit  dem  blos  negativen  Vorgehen  der  Wist^en- 
schaften  Lst  dem  Volk  niclit  gedient.  Man  gelie  positiv  vorwärts! 
Man  baue  die  Ideen  des  Guten  auf  neuen  Grund  und  Boden!  DavS 
aufgeklärte  Gewissen  ist  der  Felsen,  der  nie  wankt  Verlegen  wir 
die  Motive  in  das  Innere! 

Zum  weiteren  Studium  dieser  Frage  wird  die  „Moralphilo.sophle** 
von  0.  T.  Gizyckl  (Leipzig,  W.  Friedrich)  empfohlen.  Es  ist  dieses 
Buch  eine  hocbbedeatsame  Erscheinung.  Das  Verhältnis  von  „Moral 
and  Theologie**  wird  hier  in  gründlicher  Weise  auseinandergesetzt. 
Einige  Worte  aus  diesem  Boche  sollen  zur  Empfehlung  desselben  hier 
beigesetzt  sein: 

nWir  haben  uns  Überzeugt,  dass  die  Moral  von  der  Theologie  un- 
abhängig ist,  da  die  Pflicht  das  Höchste  bleibt,  gleichviel  ob  ein  Gott 
.  oder  ob  keiner  ist  Die  Sittengesetze  bedürfen  der  göttlichen  Sanction 
nicht  Angenommen,  es  gebe  ein  persönliches  höheres  Wesen,  welches 
Befehle  erlftsst,  so  würde  es  nur  dann  recht  sein,  denselben  Folge  zu 
leisten,  wenn  sie  gerecht  wären;  und  wenn  eine  Handlung  gerecht 
ist,  so  haben  wir  sie  zu  befolgen,  ob  auch  kein  Gott  sie  gebiete. 
Wenn  wir  sollen  Gott  gerecht  nennen,  so  muss  .gerecht'  etwas  an 
sich  selbst  bedeuten  und  also  seinen  Wert  behalten,  auch  falls  ke|n 
Gott  wäre.  Der  Begriff  der  Gerechtigkeit  und  der  sittlichen 
Vorstellungen  überhaupt  entspringt  nicht  aus  der  Religion, 
sondern  aus  dem  gesellschaftlichen  Leben  der  Menschen. 

„Die  Meinung,  dass  der  Mensch  nur  aus  Hot!'nung  auf  jenseitigen 
Lohn  und  Furcht  vor  jenseitiger  Strafe  recht  zu  handeln  vermöge, 
steht  mit  der  Erfahrung  aller  Zeiten  im  Widersprucli.  Wahre  Tugend 
muss  selbstlos  und  nicht  blos  weitsehende  Klugheit  sein. 

„Die  Vorstellungen  von  Himmel  und  Hölle  können  leicht  eine 
eigensüchtige  Sinnesart  ei*zeugen,  indem  der  Mensch  sich  gewöhnt 
nur  durch  sie  sich  zum  Kechtthun  bestimmen  zu  lassen  und  die  so 
beständig  in  Untliätigkeit  erhaltenen  unmittelbaren  Triebfedern  zum 
Guten  allmählich  abzehren,  wie  die  nicht  arbeitenden  Muskeln.  Wenn 
dann  jener  Glaube  schwindet,  so  bleibt  eine  Selbstsucht  zurück,  die 
ihre  ganze  Niedrigk»'it  otfenbart.  Es  ist  sicherlich  nicht  gut,  auf 
etwas  zu  bauen,  was  man  niclit  weiß.  Das  sittliche  Verautwortlichkeits- 
bewusstsein  besteht  nicht  in  der  Meinung,  dass  ein  Gott  uns  in  einer 
anderen  Welt  mai'tem  wird,  sondern  in  der  Gewissheit,  dem  Richter- 
spruclie  des  eigenen  Gewissens  zu  unterliegen.  Die  menschliche  Ver- 
nunft, das  menschliche  Gewissen  ist  ohne  irgendwelche  Rücksicht  auf 


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—  573  — 


Gott  der  einzige  Schiedsrichter  zwisclien  wahr  und  falsch,  gut  nnd 
böse;  sie  ist  sich  selbst  Gesetz  und  reicht  liin,  durch  ilire  natürlichen 
Kräfte  das  Wol  des  Menschen  und  der  Viilker  zu  begründen.  —  Die 
Kirchen  des  alten  Glaubens  tessehi  die  freie  Entfaltung  des  sittlichen 
Lebens,  indem  sie  die  Meinung  aufrecht  zu  erhalten  suchen,  dass  etwas, 
was  jetzt  nicht  mehr  leben  kann,  eine  Bedingung  der  Sittlichkeit  sei. 
—  Gott,  anfgefasst  als  Schöpfer  des  liinimels  und  der  Erde,  bedarf 
unserer  nicht;  wol  aber  bediirfen  wir  ^lenschen  der  ganzen,  ungetheilten 
Kraft  unserer  Herzen,  die  Erde  von  all  dem  Übeln  und  Bilsen,  das  in 
ihi'  emporwuchert,  zu  reinigen.  Unser  Gott  sei  nur  das  Gute  in  uns 
selbst."  — 

„Die  Geschichte  zeigt  nicht,  dass  der  Supranaturalismus  auf  eine 
Beförderung  der  Menschenliebe  hingewirkt  hat  Der  „tbeologisclio 
Hass"  gilt  als  der  stfirkste;  er  hat,  wie  kein  anderer,  Unheil  Uber 
das  Henschengeschlecht  heranfbeschworen.  Der  „Glaube"  hat,  Zwie- 
tracht säend,  der  Liebe  entgegengewirkt  Und  noch  mehr  hat  er  die. 
Wahrhaftigkeit  gesch&digt,  da  er  das  redliche  Forschen  nach  Wahr^ 
heit  nnd  Verkftndigen  derselben  oft  mit  Fener  nnd  Schwert  verfolgt  hat" 

Die  Forsten  nnd  Regierungen  sollten  die  Lehren  der  Geschidite 
lernen.  1^  sollten  das  Wßtt  Kaiser  Friedridis  beherzigen:  Zeit» 
in  der  wir  leben,  veilangt  Licht  nnd  AnfkUbrnng.** 

„Religion  ist  nicht,  was  Unnatur, 
Grübelnd  nach  vcti^nlbteu  Mönchsreoq»teil« 
Zeitigt«  auf  der  Suphiätik  Flur. 
B«ligion  ist  nicht,  was  die  Adepten 
Listig  dnieh  Jahihiinderte  Tendileppten  — 
Religion  ist  Manwchenltebe  nur." 

(Moderne  Xenien.) 

Dr.  Fricke  wird  also  doch  recht  behalten  mit  seinem  Wort: 
„Und  die  Moral  muss  doch  gelehrt  werden!*' 


r 

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Bäuerlicher  Antoritätencnlt. 

Daigestellt  auf  Unuul  zahlreicher,  im  siUlüstlichen  ^lederöstemicli 

gesammelter  Erfahrungen. 
Von  Dr.  H'il/ihald  \agl-Grat. 

SoU  der  Mensch  moralisch  sein,  so  muss  er  vor  allem  über 
eine  gewisse  Selbstständigkeit  vei*füg^  Beim  Wahnsinnigen,  beim 
Cretin,  beim  nocli  unbewussten  Kinde  kann  man  Ton  Moralität  nickt 
oder  noch  nicht  reden. 

Soll  der  selbstständige  Mensch  moralisch  sein,  so  muss  er  seine 
geistigen  Kräfte,  seine  Gefiililsanlagen,  sein  ^^'illensleben  den  Natur- 
gesetzen der  Gesellschaft  gemäß  regeln  oder  zu  regeln  suchen. 

Wir  reden  Iiier  nicht  vom  idealen,  vollkommenen  Men.schen.  son- 
dern nui-  vom  I'u rclisciinittsmenschen,  der  Ja  als  solcher  die 
Schwere  der  menschlirlien  <  rcsellschaft  bildet  und  in  unserem  Cultur- 
lel)eu  einen  großen,  wenn  nicht  —  leider  auch  get^^enüber  den  voll- 
kommeneren Zeitgenossen  —  den  herrschenden  Ausschlag  gibt. 

Der  Durchschnittsmensch  ist  also  kein  idealer,  vollkommener,  ge- 
regelter Mensch.  Wie  er  einerseits  bei  vielen  Anlä^sen  eine  (.Teistes-, 
Gefühls-  und  Willenstüchtigkeit  erweist,  die  Uber  das  jeweilig  Er- 
forderliche, die  Pflicht,  hinausreicht  und  als  Überschuß  der  Kräfte 
zum  Höheren,  zum  Idealismus  führt,  so  bleibt  er  bei  anderen  An- 
lAssen,  wo  ihn  seine  Qeistes-,  Gkl&hls-  und  Willenskräfte  im  Stiche 
lassen,  hinter  den  Leistungen  eines  normalen  vollkommenen  Menschen 
zurück,  und  nm  nicht  Schaden  zu  leiden,  sucht  er  sich  in  solchen 
FfiUen  Ton  anderen  Kräften  ersetzen  zu  lassen:  er  lehnt  sich  an 
Autoritäten. 

Wo  das  Erkennen  zu  schwach  ist,  sucht  der  durchschnittliche 
Ifensch  eine  Autorität,  der  er  glauht;  wo  der  eigene  Wille  zu  schwach 
ist,  eine  solche,  der  er  gehorcht  Das  Gefühl,  das  für  Erkenntnis 
und  Willen  vorbereitet,  theUt  sich  daher  auch  auf  gegenüber  den 
Autoritäten  der  Erkenntnis  und  des  Gehorsams. 

Bei  den  Landleuten  macht  man  nun,  in  Bezug  auf  den  Cultus  der 


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—  575  — 


Aatoritftten,  dieverochiedensten,  einander  oft  grell  widersprechenden  Er- 
iahningen.  Der  Bauer  erscheint  bald  devot  Ms  zur  Senrilität,  bald 
wieder  stutzig  und  stOiiig;  einmal  misstranisch  und  skeptisch,  das  andere 
Mal  wieder  leichtgläubig  wie  ein  £ind.  Wir  werden  uns  indessen 
dennoch  zurechtfinden,  wenn  wir  den  schon  im  vorigen  Jahrgänge  des 
„Psedagogiums"  („Bauemreligion")  gewonnenen  Gegensatz  zwischen 
Manier  und  Natur  uns  vor  Augen  halten. 

Wie  steht  es  nun  bei  unseren  Bauern  mit  den  Autoritäten  an 
sich  und  im  allgemeinen?  Erst  nach  Beantwortung  dieser  Frage 
\v'erden  wir  untersuchen,  wie  sich  der  Autoritfttscult  im  GUuben  und 
im  Gehorsam  beth&tigt. 

A. 

a)  1.  Das  Bedürfnis  nadi  einer  Autorität  entspringt  dem  Gefülile 
jedes  einzelnen,  dass  seine  Kiäl'te  unzulänglich  sind,  um  alle  höheren 
und  niederen  Lebensaufgaben  ins  Detail  hinein  blos  uns  und  durch  sich 
zu  lr»sen.  Wer  sollte  nun  von  diesem  Gefühle  mehr  geleitet  sein,  als 
der  auf  so  vieleu  Gebieten  menschlicher  Ausbildunj^  so  weit  zurück- 
gebliebene Bauer?  —  Iii  der  l'liat  sehen  wir  in  diesem  ein  starkes 
Alllehnen  an  die  Autorität  Höherer  und  Tüchtigerer.  Wir  dürfen  aber 
nicht  vergessen,  dass  mir  die  ecUereii  Atfecte  des  Bauers  nach  einer 
Ergänzung  durch  die  Autorität  streben  und  zielen,  denn  nur  die  edleren 
AfFecte  und  Strel>ungeu  würden  sich  mit  dem  durch  Bildungsversäumnis 
ausgefallenen  Theile  des  Geistes-  und  Seelenlebens  zu  einem  einheit- 
lichen Ganzen  vervollständigen,  und  nur  sie  wollen,  wemi  schon  ein 
Nachholen  dieses  Bildungsversäuranisses  nicht  sofort  möglich  ist,  wenig- 
stens einen  Ersatz,  der  eben  im  Anlehnen  an  die  Autorität  am  ehesten 
geflinden  wird.  Die  Versäumnisse  in  der  richtigen  Entwickelung  haben 
aber  ein  gleichzeitiges  Aufwuchem  falscher  Seelenyorgänge  zur  Folge, 
welche  zu  jenen  edleren  Affecten  in  feindlicher  Gegenwirkung  stehen, 
dieselben  oft  hindern  und  niederhalten. 

Wir  haben  zwei  Hauptursachen  falscher  innerer  Vorgänge  beim 
Bauer  kennen  gelernt:  die  tief  eingerottete  Manier,  welche  die  Ent- 
wickelung so  vieler  natOriicher  Anlagen  verhindert  hat  und  nun  deren 
Stelle  ausfüllt,  und  die  heimliche  entartete  Selbstsucht,  in  der  sich 
die  Natur  des  Bauers,  freilich  entstellt,  noch  behauptet  hat 

2.  Der  Antoritätscult,  getragen  von  den  edleren  Affecten  des 
Bauers,  wird  demnach  eine  beträchtliche  Minderung  erfahren,  wenn 
die  autoritäre  Person  irgendwie  '^egen  die  Manier  verstoßen  sollte. 
So  genießt  z.  B.  jeder  „studirte  Herr"  von  vorneherein  Ansehen  und 
Autorität,  nicht  blos  auf  geistigem,  sondern  auch  auf  moralischem  Ge- 


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—   676  — 


biete;  wenn  er  aber  mit  dnem  Mädchen  nnr  einen  Jux  macht,  mit 
ihr  schäkert  und  lacht,  —  so  ist  seine  Autorität  verscherzt:  man 
mag  ihn  gern  haben,  sich  seiner  freuen,  aber  sittlich  imponiren  kann 
er  nimmer.  „Maclit  halt  auch  Dummheiten,  wie  unsere  un- 
geschickten jungen  Leu  f."  Noch  ärger  wird  ein  Verstoß  gegen 
die  bäuerliche  Keligiosität  emitfunden:  wer  sich  z.  B.  in  der  Kirche 
nicht  „christlich"  benimmt,  hat  nicht  allein  seine  Aatohtät,  —  er 
hat  auch  alle  Sj'mpathie  verloren. 

3.  Auch  f^egen  die  Selbsisuclit  des  Bauers  dai-f  keine  Person 
verstoßen,  welche  auf  wirkliche  Autorität  Anspruch  macheu  will.  Der 
Kaufmann  oder  Krämer,  von  dem  der  Bauer  weiß,  da^s  er  von  dem 
Gelde  seiner  Kunden  lebt,  und  voraussetzt,  dass  er  diese  womüi^'-lich 
über  vortheilt,  —  kann  in  den  Aug:en  des  Bauers  niemals  Träger  einer 
Autorität  sein,  ^^'as  immer  er  sagt,  —  Bäuerlein  wird  sich  dagegen 
misstramsch  inacht  nehmen  und  einen  Betrug  dahinter  wittern.  Der 
Krämer  wird  als  pfiffig  gelten,  wird  wegen  seiner  Wolhahenbeit  and 
seines  MArheitdosen"  Lebens  beneidet  werden,  —  aber  der  Bauer 
mdehte  sich  doch  nie  an  die  Stelle  eines  soldien  nnchristlichen  Schebnen 
wflnschen,  „Hoben  jo  nit  amol  a  Erenz  hängen  in  ehanern 
GwOlb.**  So  sucht  die  Abneigong,  welche  in  der  gekränkten  Selbst- 
sacht wurzelt,  eine  Erklärang  and  BeschOnigang  in  der  Beligion.  — 
Gerade  wie  mit  dem  Kaofinann,  oder  noch  ärger,  steht  es  mit  den 
Staatsbeamten  nnd  Advocaten.  Der  Baner  hat  einen  Horror  vor  ihnen, 
der  ihn  in  der  Kanzlei  Uber  lauter  Devotion  nnd  Bespeet  kaom  ver- 
nünftig und  ruhig  reden  lässt,  einen  Horror,  der  ihm  mitunter  sogar 
auf  der  Gasse  einen  Gruit  abjagt,  —  aber  das  ist  alles  nur  Angst; 
eigentliche  Autorität  oder  Achtung  zollt  er  den  „GTichtsdokteni",  wie 
der  Collectivausdruck  lautet,  nur  ausnahmsweise.  „Sic  thun  einen  so 
viel  mit  ihren  Stempeln  und  Taxen  überhalten;  an  den  hohen  Steuern 
ist  auch  niemd  Schuld  als  sie."  Dabei  wird  zwischen  Advocaten, 
Richtern,  politischen  Beamten  u.  s.  f.  gar  kein  Unterschied  gemacht. 

Hingegen  genießen  alle  jene  Personen,  die  entweder  jsehr  einlluss- 
reich  sind  in  der  Ortsiremeinde,  oder  die  über  ein  bedeutendes  Ver- 
mögen veifügeu,  kurz  alle  jene,  von  denen  der  Bauer  in  irgend  einer 
Lage,  ohne  Taxen  und  Gebüren,  Hilfe  und  llnterstützung  erlangen 
kr>nntt',  unbedingtes  Ansehen.  So  wird  der  Gutsbesitzer  von  den 
Bauern,  der  Bauer  von  den  Eheholden  verelirt:  und  was  „so  ein 
Mensch"  wünscht,  das  eniptindet  man  als  Befehl,  und  was  „so  ein 
Mensch"  sagt,  das  wird  geglaubt,  —  und  wenngleich  ein  Verstän- 
digerer etwas  Besseres  uud  Richtigeres  vorbrächte.  Ohnehin  wii-d  dei* 


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—  577  — 


Bauer  schon  durch  die  traditiunellp  1  Überschätzung  des  Geldes  und 
Besitzes  zur  unverhältnismäßigen  Vereliiuntr  gegen  Reichere  verfülirt. 

(Ausgenommen  von  solcher  Verehrung  ist  aber  gewöhnlich  der- 
jenige, welcher,  aus  der  Mitte  der  Bauern  stammend,  sich  aus  änneren 
Verhältnissen  vor  ihren  Augen  zur  Wolhabenheit  emporgescliwungen 
hat.  Der  Neid  der  Überflügelten  —  ebenfalls  in  gekränkter  Selbst- 
sucht wui-zelnd  —  hat  eine  zu  große  Abneigung  gegen  einen  solclien 
Emporkömmling  in  jenen  rege  gemacht,  auch  wissen  sie  zu  gut,  dass 
sie  dui'ch  boshafte  Äußerungen  etc.  sein  Wolwollen  verscherzt  haben, 
als  dass  sie  jetzt  so  leicht  seine  Hilfe  beanspruchen  möchten:  und  weil 
ihnen  dieser  letztere  selbstsüchtige  Gedanke  abgeschnitten  ist,  so  will 
in  ihnen  aneh  kein  AebtungsgefÜhl  gegen  einen  solchen  homo  novus 
platsgreifen.) 

4.  Zwei  Momente  hat  man  also  bei  der  Betrachtung  des  bäuerlichen 
Antoiitfttscnltee  anseinand^  sn  halten:  Erstens,  dass  der  Baner  im 
Gefühle  seiner  Znrflckgebliebenheit  extensiv  ein  starkes  Anlehnen  an 
Autoritäten  venäth:  er  grfiftt  Jeden  besser  Gekleideten,  der  ihm  be- 
gegnet; er  nimmt  sich  in  seinen  Yerkehrsformen  möglichst  „znsammen**, 
tun  dem  yeimeintlichen  „Hfiheren'*  in  dem  nobehi  städtischen  Bocke 
thnnlichst  anständig  za  begegnen;  er  räumt  jedem  Fremden«  oft  bis 
zom  Ealkftthrer  herab,  gerne  den  Vorrang  ein,  wenn  etwa  im  T^rts- 
bans  anf  die  gegenseitigen  Verhältnisse  die  Sprache  kommt,  nnd  er 
tluit,  als  müsste  er  sich  an  jedem  ein  Beispiel  nehmen,  von  dessen 
Thun  tnitl  treiben  er  nur  von  ferne  gehört  hat.  Aber  ein  Verhängnis- 
volles  Zweitens  steht  jeder  Fractifldrang  dieses  äafierlichen  Anto- 
ritätscnltes  gegenüber:  es  ist  ungemein  schwierig,  dem  Bauer  gegen- 
über intensiv  eine  solche  Autorität  zu  behaupten,  dass  sich  dieser 
von  derselben  irgendwie  leiten  ließe;  die  eigentliümliche  geistige  Ver- 
fassung und,  ich  möchte  sagen,  die  coniplicirte  Gemüthscon- 
struction  des  Landvolkes  erschwert  die  Behandlung  des  letzteren, 
und  sehr  leicht  kann  man  sich  einen  Verstoß  zu  Sclmlden  kommen 
lassen,  der  einem  auch  jene  oberflächliche  äußerliche  Autorität  tür 
immer  raubt. 

b)  1.  Vom  natürlichen  Autoritätscult  gehen  wir  über  zum  Auto- 
ritätscult  auf  Gnind  der  Manier.  Die  klösterlich-bäueri.sclie  Munier- 
doctrin  beruht  im  Grunde  nur  auf  Autorität,  —  sie  stellt  ja  die  Er- 
kenntnis, das  Wollen,  ja  selbst  die  Gefühle  unter  die  Botmäßigkeit 
der  Maniersatzungen.  Man  soll  zu  keiner  anderen  Erkenntnis  ge- 
langen, als  der  vorgeschriebenen;  man  soll  nichts  wollen,  als  das 
Vorgeschriebene;  ja  selbst  die  Geffthle  werdeii  vorgeschrieben: 

rMi««gf«n.  U.  Jikif.  BifllZ.  41 


4 

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—  678  — 


jetzt  mnaat  du  Reue  empfinden;  gegen  diesen  oder  jenen  mnsst  da 

Liebe  hegen;  dieses  und  jenes  musst  du  verabscheuen  etc. 

Ist  demnach  in  dei'  Manier  das  Autoritätsprincip  ausgiebig  ver- 
treten, ao  mnss  es  zu  allernächst  seine  Geltung  haben  gegenftber  den- 
jenigen, welche  sich  der  Bauer  von  altersher  als  die  Träger,  als  das 
Centrum  des  gesammten  lianierensystems  vorstellt:  gegenüber  dem 
Clerus. 

Wir  sunimiren  hier  die  Autorität,  welrhe  der  Priesterstand  auf 
Grund  der  Rplipfion  wie  bei  allen  Volksstäinmen  so  auch  hei  unserem 
Landvolke  genießt,  und  jene  Autorität,  welche  unser  Bauer  auf  Grund 
seiner  speciellen  Manierhattigkeit  dem  Clerus  zuerkennt.  Manier  und 
Religion  sind  ja  bei  unseren  Landleuteu  so  enge  in  einander  ver- 
wachsen, die  Religion  ist  von  der  Manier  so  arg  überwuchert  und 
durchsetzt,  dass  man  aus  diesem  Gemenge  ^^elleicht  theoretisch 
noch  das  rein  Religiöse  herausfinden,  aber  keineswegs  praktisch 
eine  aparte  Bethätigung  der  Bauernmanier  und  Bauernreligion 
constatiren  kann.  Auf  letztere  kommen  wir  übrigens  noch  zu  sprechen. 

Der  manierhafte  Antorititsenlt  wird  aJao  vor  allem  dem  Geist- 
lichen aniheil.  Männer,  Weiher  nnd  Kinder  küssen  ihm  die  Hftnde, 
wenn  sie  zn  ihm  aoflB  Zimmer  kommen;  die  Weiber  nnd  Kinder  aneh 
bei  dner  Begegnung  anf  der  Gasse.  Man  littert  vor  respectvoller 
Anfregung,  wenn  man  mit  ihm  zn  reden  hat  Ist  irgendwo  von  ihm 
die  Sprache,  so  darf  man  Fehler  nnd  Schwächen  nicht  erwähnen,  — 
eigentlich  hat  er  ja  gar  keüie.  Seine  guten  Seiten  werden  oft  in  ganz 
unverhältnismäBiger  Weise  hervorgehoben  und  belobt  „Is  wull  a 
recht  a  freindlicher,  gmoaner  Herr,  —  mit  ein'm  jeden  redt 
er**,  heißt  es,  wenn  er  hin  nnd  wieder  ein  altes  Weibel  anruft;  „und 
WOB  er  olls  Guats  thuat,  ein'm  jeden  gibt  er",  heißt  es,  wenn 
er  den  Dorfarmen  5ft«r  einen  Groschen  über  das  Nomale  znkODun^ 
lässt.  Auch  körperlich  ist  er  „so  ^^el  ein  schöner  Herr",  wenn"  ear 
mit  dem  „Rocket"  auf  der  Kanzel  steht  Kurz,  er  ist  alles  Treffliche, 
Hohe  und  Würdige  in  Person,  oder,  wie  sämmtliche  in  die  Stadt 
übersiedelte  und  acclimatisirte  Landgeborene  betheuem:  ffi^r  Pfarrer 
ist  den  Bauern  ihr  Herrgott." 

Dabei  denken  die  Baueni  zunächst  garnicht  mehr  daran,  dass 
der  Priester  Stellvertreter  Gottes  ist;  nein,  sondern  es  ist  schon  Manier 
geworden,  dass  man  den  Pfarrer  so  behandelt.  Erst  nachträglich 
kommen  einzelne  Frömmere  darauf,  dass  er  diese  Behandlung  auch 
wirklich  verdient,  weil  er  täglich  das  Fleisch  und  Blut  Christi  ge- 
nießt, weil  durch  seine  Hand  der  Segen  Gottes  über  die  Gemeinde 


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—   579  — 


kommt,  durch  seinen  Mimd  Gott  selber  redet  etc.  Aber  die  gewöhn- 
lichen Durchschnittsbanem  denken  an  gnr  nichts,  sie  thun  nur,  „ms 
sich  gehöil." 

2.  Und  nun  erst  der  Bischof!  Nur  selten  ist  er  zu  sehen;  ein 
Firmungsfest,  die  Einweihung-  einer  iif'n{j:ebauten  Kirche,  das  sind  die 
einzigen  nur  nach  Jahren  wiederkelirenden  Anlässe,  den  Bischof  zu 
sehen.  Da  drängt  sich  denn  auch  alles  heran,  von  den  fernsten  Ge- 
meinden eilen  die  Scliaren  herbei,  und  sehen  und  staunen.  Was  man 
sonst  nur  hoch  auf  dem  Altare  in  Weihrauchdampf  und  Kerzenflimmer 
erblickt,  die  seltsame  Himmelsge^italt  mit  der  mächtigen,  spitzen  Inful 
und  dem  gekrümmten  Stabe,  —  heute  steht  sie  heraieden  vor  dem 
Altäre  und  regt  und  bewegt  sich  wie  ein  anderes  Menschenkind!  Und 
wenn  sie  sich  zum  Schlüsse  umwendet,  die  Bischofsgestalt,  um  den 
dreifachen  großen  Segen  zu  ertheilen,  wenn  die  dienenden  Priester 
selber  vor  ihr  in  die  Kniee  sinken,  die  Orgel  plötzlich  Terstammt  und 
aUgemeinM  tiefes  Sdiweigen  die  Feierlichkeit  des  Actes  verräth,  — 
da  dOnkt  es  dem  Baner  wnl,  als  irire  er  einen  Homent  in  den  Hinunei 
msttckt,  sein  Herz  klopft,  eine  anbeschreiUiehe  Ahnong  nnd  Sehn- 
sneht  nach  dem  Höheren  dnrehiieht  seine  Brost,  vnd  tausend  nach- 
folgende  Standen  prosaischen  Lebens  kSnnen  den  Eindruck  dieses 
Angenbliekes  nicht  mehr  yerwiseben. 

Wahrlich,  der  Czar  aller  Beaßen  mfisste  sich  gratnliren,  wenn  er 
bei  seinen  ünterthanen  nnd  Knechten  eine  Antorität  besftße,  wie  der 
Bischof  bei  dm  Bauern!  ^  Einem  Bischof  sich  an  nfthem,  mit  ihm 
an  reden,  dafür  halten  sie  sich  fttr  ganz  nnwQrdig;  sein  Verkehr  ist 
ja  schon  mehr  mit  den  Engeln  des  Himmels,  mit  den  Heiligen,  mit 
Gott  selber,  und  sie,  die  Bauern,  haben  mit  Ochsen,  Pferden,  Schweinen  etc. 
zu  thon.  Sie  können  sich  kanm  Torstellen,  dass  ein  Bischof  auch  ein- 
mal ein  Wickelkind  gewesen,  nnd  es  wäre  Sünde,  zu  denken,  dass  er 
sich  damals  auch  nicht  braver  aufgeführt,  als  die  anderen  Kinder  alle. 

Weniger  fast,  als  der  Bischof,  gilt  der  Papst.  Nicht,  als  ob  man 
nicht  wüsste,  dass  der  Papst  über  dem  Bischof  stehe;  sondera,  weil 
man  vom  Papste  und  seiner  Macht  und  Herrlichkeit  nur  hört,  ihn 
selber  aber  nie  sieht:  und  der  sinnliche  Eindruck  richtet ^  beim 
Bauer  mehr,  als  das  bloße  Hörensagen. 

3.  Kehren  wir  aus  diesen  hohen  Sphären  wieder  in  die  tieferen 
zurück.  —  Neben  dem  Pfarrer  schaltet  und  waltet  im  Dorfe  noch 
etwas  anderes:  es  krabbelt  und  spielt  auf  der  Orgel,  wenn  der  Herr 
Pfarrer  beim  Altare  steht;  es  singt  in  herzzerreißenden  Tönen  vor 
ihm  her,  wenn  er  an  die  Einsegnung  einer  Leiche  geht;  es  haust 

41» 


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—  680  — 


neben  dem  Pfarrhofe  in  einem  kleinen  Baue,  wo  es  auch  seinen  Unter- 
richt ertheilt,  —  es  ist  das  Schulmeisterlein.  Immer  in  der  Nähe 
des  Pfarrei"S  gesehen,  diesem  beispringend  und  helfend,  empfangt  es 
in  den  Augen  der  Bauersleute  Licht  von  ihm,  wie  der  Mond  von  der 
Sonne  erleuchtet  wird.  Es  besteht  zwar  keine  specielle  religiöse  Satzung, 
dass  man  den  Schulmeister  scliätzen  und  ehren  solle,  aber  eine  solche 
Satzung  wird  durch  den  Eindruck,  die  sinnliche  Wahrnehmung 
ersetzt,  dass  der  Pfarrer  zu  ihm  in  engerer  Beziehung  steht. 

4.  Eine  solche  Satzung  besteht  aber  in  Bezug  auf  das  weltliche 
Oberhaupt,  den  Kaiser.  Der  Kaiser  genießt  allerdings  auch  eine  natür- 
liche Autorität  als  mächtiger,  reicher  Herr;  von  dieser  kann  aber 
hier  nicht  die  Rede  sein.  Seine  religiöse  und  manierhafte  Autorität 
ist  aber  nicht,  wie  die  des  Bischofs,  eine  ihm  innewohnende,  Selbst- 
ständige:  de  ist  nur  der  Abglanz  der  kirchlichen  Autorität  Dem 
Bischof,  dem  Geistlichen  soll  man  nldit  widersprechen,  soll  man  keine 
Einwendung  »nuuAen;  den  Kaiser  und  seine  Begierungsacte  kritisfart 
man  nngesdieat  Des  Kaisers  Antoritftt  geht  gar  nicht  oder  doch  nnr 
wenig  auf  die  Staatsbeamten  ttber;  wemi  diese  nicht  durch  die  Staats- 
gewalt geschätzt  wären,  kSnnten  sie  ihre  oft  nnangenefamen  Pflichten 
bei  den  Banem  nicht  erftllen.  Anders  steht's  mit  den  Gdstlicfaen:  sie 
tragen  ihr^  Autorität  in  sich  selber,  weil  sie  dieselbe  unmittelbar  von 
Gott  haben. 

Die  maniergemä6e  Autorität  des  Kaisers  und  seiner  Beamten  be- 
ruht eben  nur  auf  dem  kirchlichen  Gebote,  dass  man  auch  die  weit* 
liehe  Obrigkeit  schätzen  mflsse;  wo  aber  der  Bauer  zwischen  Clems 
und  Kaiser,  im  Falle  eines  nicht  zu  bdTürchtenden  Conflictes,  zu  wählen 
hätte,  —  er  wtirde  sich  (in  meiner  Heimatsgegend  wenigstens)  un- 
bedingt für  den  Clems  entscheiden.  So  wirkt  der  Satz  des  Schwaben- 
spiegds  noch  bis  heute  nach:  „Sit  nu  got  des  vrides  fürste  heizet,  sö 
liez  er  zwei  sweil  hie  üf  erderiche,  do  er  ze  himel  fnor,  ze  schirme 
der  kristenheit.  diu  lech  got  Sant  Peter  bei  diu,  daz  eine  mit  geist- 
Kchein  gerihte,  daz  ander  mit  wereltlichem  gerihte.  daz  wereltliche 
swert  des  gerihtes,  daz  Hliet  der  päbst  dem  keiser.  daz  geistliche  ist 
dem  pabest  gesezet,  daz  er  da  mit  rihte.  dem  päbest  ist  gesezet  ze 
bescheidenlicher  zit  ze  riten  üf  einem  blanken  pherde,  unde  der  keisei* 
sol  dem  päbest  den  stegereif  haben,  daz  sich  der  satel  iht  winde." 

5.  Wir  haben  noch  der  Fälle  zu  gedenken,  in  welchen  der  Bauer 
seine  eigene  Autorität  auf  Grund  der  Manier  geltend  macht.  So 
müssen  wir  in  erster  Linie  die  Eltern  erwähnen,  die  sich  den  Kindern 
gegenüber  fortwährend  auf  ihre  elterliche  Autorität  berufen  und  von 


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—   581  — 


dieser  so  lange  den  ausgiebigsten  Gebrauch  machen,  als  sick  s  diese 
gefallen  lassen.  Darauf  ist  man  noch  nicht  gekommen,  dass  in  den 
Kindern  die  Pietät  und  das  Autorität sgefiilil  von  selber  rege  werden 
und  bleiben  kann,  wenn  die'  Eltern  nui-  ihre  Pflichten  mit  Liebe  und 
Mäßigung  erfüllen.  Solange  aber  der  Prügel  regiert,  kauu  solch  ein 
natärliches  Autorltätsgefuhl  nicht  aufkommen,  es  muss  daher  eine  for- 
cirte  MtnieruitoritSt  ihre  Dienste  tfann.  Äbnlieh  steht  es  auch  mit 
den  Dienstiierrai  ihren  Knechten  nnd  Mägden  gegeniber.  Da  hemdit 
der  eiserne  Mnss,  und  der  ^err  Bauer"  nimmt  die  strengste  Autorität 
f&r  sich  in  Ansprach,  die  keine  Widerrede  y^m  Dienstboten  dnldet 
Beim  Tischgebet  z.  B.  mnss  immer  der  Baner  jeden  Absatz  zuerst  an- 
ftngen,  nnd  erst  wenn  er  eine  Sübe  schon  iSut  fertig  gesprochen,  feilen 
die  anderen  mit  ein.  Nnn  trUft  sichre  Öfter,  dass  der  Baner  beim  »eng- 
üschen  Groß'*  in  seiner  Gedankenlosigkeit  ein  GHied  aaslässt  oder 
zweimal  betet,  —  auch  dann  stimmt  das  Hanspersonal  ein,  niemand 
wagt's,  den  „HenA"  zn  conigiren,  nnd  wenn  auch  im  ganzen  nnr 
vier  oder  fftnf  Betende  wären. 

6.  Fragen  wir  schließlich  noch,  wer  von  den  angeführten  Auto- 
ritäten,  die  auf  der  Manier  fußen,  einen  thatsächlichen  TBififlnaa  auf 
Grund  seines  maniermäßigen  Ansehens  ausüben  kann? 

Nur  der  Pfarrer,  der  Geistliche  überhaupt,  übt  mit  seiner  Autorität 
einen  starken,  bis  zu  gewissen  Grenzen,  welche  durch  die  bäuerliche 
einseitige  Selbstsucht  gezogen  sind,  unbedingten  Einfluss  auf  gi-oß 
und  klein  in  der  Bauernwelt.  Der  Bischof  kann  seine  Autorität  nicht 
direct  zur  Geltung  bringen,  er  verstärkt  nur  das  Gewicht  und  An- 
seilen der  Pfarrer  und  Cooperatoren,  die  ja  bei  gewissen  Gelegenheiten 
öftVntlich  voi'  dem  Volke  als  Mithelfer  des  Bischofs,  sogar  als  dessen 
gehorsamste  Freunde  erscheinen.  —  Der  Kaiser  kann  aber  seine  Auto- 
rität weder  direct  noch  indirect  durch  seine  Beamten  thatsächlich  aus- 
nutzen: er  selber  kommt  mit  den  Bauern  in  keine  Berührang,  und 
auf  die  Beamten  erstreckt  sich  die  kaiserliche  Autorität,  soweit  sie 
auf  der  Baueimmanier  beruht,  gar  nicht  oder  nur  in  ganz  unzuläng- 
lichem Grade.  Hier  muss,  da  auch  die  natürliche  Autorität  des 
Kaisers  als  eines  reichen,  mächtigen,  weisen  und  gütigen  Herrn  noch 
nicht  zui'  Besiegung  des  bäuerlichen  Stonerhasses  etc.  ausreicht,  die 
Furcht  vor  der  Gewalt,  yor  der  Strafe  emgreifen.  Von  diesem 
mächtigen  Factor  miterstfltzt,  ist  das  Banungemltth  dann  doch  hin 
und  wieder  imstande,  seinen  Staatspflichten  aneh  unter  mamerbrayen 
AutoritätsgefBhlen  gegenftber  dem  Kaiser  und  seinen  Organen  naeh- 
zukommen. 


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—  582  — 


Die  bäuerlichen  Eltern  bringen  ihr  uianiergeinäßes  Autoritäts- 
recht zur  ausgiebigsten  Verwertung  gegenüber  ihren  Kindern,  ebenso 
die  bäuerlichen  Herren  gegenüber  ihren  Dienstboten.  Und  in  Kindern 
und  Dienstboten  wird  das  Anerkennen  solcher  unerbittlichen  Autorität, 
wenn  aach  unter  Ach  und  Wehe,  zur  Gewohnheit.  Freilich,  bei  den 
Kindern  kommt  endlich  die  Zeit,  wo  sie  diese  Antoiitit  abschütteln 
und  umgekehrt  ihre  Eltern  ebeoBO  heyonnimdeD,  wie  sie  eevon  letsteren 
dnreh  eigene  ErÜiidinuig  gelernt 

Der  Schnlmeieter  natOrliGiii  und  was  senst  nodi  einige  manierhafte  . 
Autorität  nnd  Weihe  besitEen  sollte,  etwa  der  Arzt,  kOnnen  anf  Gmnd 
der  Manier,  wenn  nicht  andere  Bttdcdditen  mitwitken  (als:  Angst  vor 
gesetadicher  Ahndnng,  vor  Verscfalinunerong  der  Krankheit  etc.),  kanm 
einen  bestimmenden  Einflnss  anf  die  Banem  ausüben.  Sie  sind  allza 
indirect  von  Gott  angeordnet 

B. 

Wie  bethätigt  sich,  so  fragen  wir  jetzt,  der  eben  im  allgemeinen 

geschilderte  Autoritätscult  im  Glauben? 

a)  Das  wirklich  innerliche  Glauben  setzt  naturgemäß  voraus, 
dass  der  Geist  des  Menschen  weit  genug  entwickelt  ist,  um  füi*  einen 
bestimmten  Gegenstand,  der  geglaubt  werden  soll,  Interesse  zu  haben; 
das  Interesse  für  einen  Gegenstand  entwickelt  sich  in  mir  dadurch, 
dass  ich  denselben  bereits  absichtlich  oder  zufällig  von  einem  Stand- 
punkte, von  einer  Seite  kenneii  oder  doch  ahnen  gelernt  habe,  und, 
im  Wolbehagen  über  die  bereits  erlangte,  wenn  auch  noch  ganz  zweifel- 
hafte Vorstellung,  je  nach  der  Kraft  meines  Geistes  oder  der  inneren 
Verwandtschaft  meiner  sonstigen  Verhältnisse  mit  diesem  fraglichen 
Gegenstand  mich  stärker  oder  schwächer  gedrängt  fühle,  denselben 
weiter  oder  vollends  kennen  zu  lernen.  Außerdem  muss  im  Geiste 
ein  kritisches,  sichtendes,  controlirendes  Element  vorhanden  sein, 
welches  den  zum  Glauben  vorgestellten  Gegenstand  oder  die  denselben 
vorstellende  Autorität  nach  der  Glaubwürdigkeit  prüft.  Krst  wenn 
diese  Vorbedingungen  da  sind,  ist  naturgemäß  das  wahi  e  und  nchtige 
Glauben  möglich,  welches  ebie  echte  und  rechte  Überzeugung  yer- 
mittelt,  ganz  wie  die  unabhängige  Eigenforschung. 

1.  Li  unserem  Landvolke  sind  diese  Vorbedingungen  UiAet  nicht 
▼orhanden.  Wir  haben  bereits  Über  das  Oeisteslebeil  der  Bauern 
gehandelt  und  wissen,  dass  das  Interesse  für  geistige  Objecto  im 
allgemeinen  Tiel  zu  wenig,  Ihst  gar  nicht,  geweckt  ist  Die  ganzen 
geistigen  Ernrngenschaften  unserer  Zeit  kttmmem  den  Bauer  einen 
Pfifferling.  Wenn  man  ihm  etwas  eipliciren  will,  so  wird  er  viel- 


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—   583  — 


leicht  nicht  wagen,  sein  UnbehagvU  liierüber  zu  zeigen;  er  wird 
immer  wiederholen:  „Jo,  freilich*',  ,Ja  so,  ja  so**,  Jo,  es  ist  eh  aso, 
es  ist  so",  —  aber  er  bemüht  sich  gai*  nicht,  die  Sache  aa^ufELSsen, 
und  Bseb  «brar  halben  Stunde  weift  er  nichts  mehr  dAT<m.  Er  kann 
aocb  nicht  gianben,  dass  ein  Kenach  n.  B.  wissen  kann,  wie  groß 
Ägypten  ist;  ans  welchen  Steifen  die  Lnft  besteht;  oder  wie  man  die 
Zeit  einer  Sonnenfinsternis  berechnet  „Das  steht  in  den  Bttehern", 
sagt  er,  nnd  die  Bttcher  erscheinen  ihm  Ust  wie  eine  zanherhafte 
Geheimlehre,  der  man  im  praktischen  Leben  nicht  nachgehen  kann. 

Anch  in  der  Wirtschaft  pflegt  er  nicht  viel  an  denken,  ist  daher 
anch  skeptisch  gegen  Jede  Belehrung.  Das  Otgeet  der  Belehrung 
Ifisst  sich  ja  nur  durch  geistige  Arbeit  erfiusen,  nnd  flir  die  ist  er 
nicht  vorbereitet  Er  thnt  in  seiner  Wirtschaft,  was  er  yom  den 
Eltern  gesehen  hat:  Der  Gedchtseindmek  wirkt  stärker  nach,  als 
jede  folgende  Belehining. 

2.  Vollends  ist  der  Bauer  außerstande,  eine  Autorität  oder 
ihre  Äußerungen  zu  prüfen.  Er  hat  eine  gewisse  Summe  tob 
Dogmen  überkommen:  wer  gegen  diese  verstößt,  —  nnd  eine  ver- 
ständige und  zugleich  ehrliche  Autorität  ist  hiezu  in  so  manchen 
Fällen  gezwungen  — ,  der  hat  alle  Glaubwürdigkeit  verloren.  Wer 
viel  anderes  vorbringen  will,  was  gegen  den  ungeschriebenen  Bauern- 
koran zwar  nicht  verstoßt,  aber  in  demselben  auch  nicht,  enthalten 
ist,  der  hat  zu  wenig  Berührungspunkte  mit  dem  bäuerlichen 
Gedankenkreis  —  und  kann  das  Interesse  der  Landleute  zu  wenig 
fesseln.  Diese  echten  Manierleute  von  reinem  Wasser  mögen  die 
interessanteste  Geschichte  nicht  bis  zu  Ende  hören:  ihre  Geisteskraft 
j-eicht  nicht  so  weit,  sie  verstehen '  alle  die  feinen  Apercus  einer 
besseren  Erzählung  nicht,  weil  sie  ihre  eigene  Natur  nicht  verstehen. 
Wir  tinden  also  im  Geiste  der  Bauern  nur  Vorurtheile  oder 
Schwächen,  —  aber  nicht  jenes  objectiv  verlässliche,  rege  Control- 
element,  wie  wir  es  als  nothwendige  Vorbedingung  für  ein  richtiges 
GkBben,  für  eine  wahre  Überzeugung  gefiinden  haben. 

8.  Und  doch  imiss  das  GelBhl  der  eigenen  Unwissenheit,  der 
Zurftdcgebliebenheit  anf  geistigem  Gebiete  den  Bauer  innerlich  an- 
treiben, sn  fragen  und  zu  forsdien.  So  lange  nur  noch  die  untersten 
Grade  des  Geisteslebens,  die  von  der  physischen  Natur  lunftchst  ab- 
hängigen, noch  gesund  sind,  so  lange  fllhlt  der  Mensch  anch  den 
Drang,  etwas  zu  erfahren  und  kennen  zu  lernen  von  all  dem,  was  ihm 
unbekannt  ist.  Aber  was  der  Baner  fragt,  wo  und  work  er  die 
Autorität  eines  Belehrenden  anerkennen  wollte,  das  sind  lanter 


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—   5ö4  - 

Eleinigkeiteii:  iMüd  etwas  Yon  dort,  iMld  -wieder  etwas  yon  da,  eiiimal 
diest  eiiiinal  jenes.  Aber  um  soldie  Eldnigkeiten  m  einem  System 
za  leihen,  mit  anderen  Worten,  nm  etwas  Terstehen  n  lernen,  dazn 
fehlt  ihm  die  Geduld,  die  Sehnlnng,  die  Kraft  Der  Baner  ist  oft 
neugierig,  aber  selten  lernbegierig.  „Was  ist  denn  das,  die  Sehwefel- 
•  s&ore?"  fragt  dich  ein  Bauer,  wenn  in  seiner  Gegenwart  Öfter  von  ihr  die 
Rede  ist  Sag'  ihm:  „Ein  scharfes  Wasser",  das  genügt  ihm  sdion, 
und  das  glaubt  er  dir  auch.  Willst  du  ihm  das  Weitere  noch  so 
populär  erklären,  du  thust  ihm  doch  keinen  Gefallen  damit:  ja,  es 
dünkt  ihm  unwalirscheinlich,  unsicher,  dass  man  gerade  diese  oder 
jene  von  dir  genannten  Ingredienzien  dazu  brauche,  er  kann's  nicht 
recht  glauben  und  verschließt  sich  innerlich  gegen  deine  Belehrung. 
„Wo  liegt  denn  dös  Arabien?"  „Gegen  Sonnenaufgang."  Alles 
Weitere:  die  Erwähnung  des  Welttheils  Asien,  die  Nennung  der  an- 
gi  enzenden  Meere  wäre  zu  viel  und  zu  weitläufig.  So  will  der  Bauer 
gelegentlich  auch  eine  gleiche  kurze  Erklärung  über  den  Zweck  der 
Parlamente,  der  Hochschulen,  der  Eisenbahnen  etc.,  —  aber  wenn 
man  ihm  dann  diese  Dinge  noch  so  bündig  auseinandersetzen  wollte, 
so  wird's  ilnn  zu  lang.  p]in  andere.s  Mal  fragt  er  nicht  mehr  nach 
demselben  Gegenstand,  und  denkt  sich,  du  hast  ihn  wol  zum  besten 
gehabt  mit  demer  unTerstandenen  Ehrklfirung. 

Und  hat  er  anch  eine  Kleinigkeit  anfgegriifen  —  er  getränt  sieh 
gar  nicht,  dieselbe,  wenn  sie  noch  so  Bweifellos  ist,  mit  ToUer  Ober- 
zeugung zu  eriSusen  und  auf  seine  Veraatwortong  weiter  wa  TertMwiten. 
Kommt  er  dock  in  die  Gelegenheit,  davon  zn  reden,  so  thnt  er's  nicht, 
ohne  ein  „wia  ma  hOrt"  oder  »sog'n  s**  einsnschalten,  um  jede  Ver^ 
antwortnng  von  sich  abndehnenA  Und  wie  UcherUdi  so  ein  „sog'ns*** 
bei  handgreifliehen  oder  allbekannten  Dingen  sich  ansnimmtt  „Dta 
Ungarn  war'  leicht  so  a  iloche  Gegend,  sog^  s'I" 

Der  Bauer  will  sich  an  das  Höhere  nicht  gewQhnen;  dieses  mOsste 
sich  nadi  ihm  richten,  wenn  er  damit  zufrieden  sein  oder  dafür  Inter- 
esse haben  sollte.  Es  dürfte  kein  anderer  Gedanke,  der  nicht  in  den 
traditionellen  Manierdogmen  enthalten  ist,  keine 4ieue  Idee,  die  nicht 
bisher  schon  fructificirt  war,  mafigebend  sein,  weder  in  politischen, 
nodi  in  wirtschaftlichen,  noch  in  irgendwelchen  anderen  Dingen.  Und 
weil  die  Welt  den  Bauern  diesen  Gefallen  nicht  thut,  so  bleibt  sie 
unverstanden  von  ihnen:  die  Bauern  bilden  sich  auf  Grund  der  über- 
lieferten Anschauungen  und  Dogmen  ihre  eigenen  Urtheile  über  sämmt- 
liche  Neuscliöpfungen,  und  solche  lächerliche,  bornirte  Urtheile  sind 
die  gangbare  Münze  im  Vei'kehi*e  der  Landleute  unter  sich.  Mau 


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—  58Ö  — 


darf  sie  clarob  nicht  bemitleiden,  denn  solche  Urtheile  stammen  nur 
aus  Trägheit,  ja  aus  absichtlicher  Selbstbomirungf,  zu  der  sie  sich 
gegenseitig  verstehen,  um  desto  leichter  die  ganze  übrige  strebende 
Welt  ignoriren  zu  können. 

Somit  wird  dem  Leser  klai*  sein,  dass  eine  natürliche  Autorität 
}m  den  Baaem  nur  sehi*  schwer  Qlauben  und  Anerkennung  finden  wird. 

b)  1.  Auf  Qnmd  der  Manier  „glauben**  die  Landleate  weit  lieber 
und  eher,  als  ans  natfirHdieii  Gfttnden.  FreQich  ist  der  Uanieigiatibe 
kein  ^eigentlicher  Glaabe.  Er  ist  nur  ein  mflndliehes  Binstimmen  in 
die  Äntemng  eines  anderen,  bei  welehem  das  Gemftth  eine  gewisse 
Piet&tsregnng  empfindet,  der  Geist  aber  jeder  weiteren  Untersnehnng 
Uber  die  objeetiye  Bichtigkeit  des  Gesagten  sieh  enthSlt,  wenn  die- 
selbe nnr  mit  den  traditionellen  Dogmen  nnd  Anschanangen  stimmt. 
Der  Bauer  ist  an  dieses  Glauben  gewdhnt  worden.  Er  will  sieh  nicht 
„dummer  Bauer**  schimpflBn  lassen,  aber  er  gesteht  es  bereitwillig, 
dass  er  ein  ,/)anfocher  Banemmensch"  ist,  nnd  ans  dieser  seiner 
nOanfochheit**  (Einfidt)  leitet  er  die  Nothwendigkeit  ab,  den  herge- 
brachten Autoritäten  sein  Geistesleben  zu  unterstellen,  und  folgert  sein 
Becht  zur  bequemen  Gedankenlosigkeit,  denn  diese  Autoritäten  „denken 
ja  für  die  andern  Leut'  auch."  Er  lässt  sich  die  Glanbenswahrheiten 
auf  die  simpelste,  oft  geradezu  lächerliche  Weise  versinnlichen.  „Die 
heilige  Dreifaltigkeit  ist  wie  das  Wasser:  erst  ist  es  Quelle,  mitten 
ist  es  Bach,  endlich  wäclist  es  zum  Flusse  an  —  und  doch  sind 
Quelle,  Bach  und  Fluss  nur  ein  Wasser,  wie  die  drei  göttlichen  Per- 
sonen nur  ein  Gott  sind."  Daneben  glaubt  der  Bauer  aber  doch,  dass 
der  Vater  der  ganze  Gott,  der  Sohn  der  ganze  Gott  und  der  heilige 
Geist  der  ganze  Gott  ist.  „Wenn  man  sich  mit  Weihwasser  besprengt, 
so  wüthet  jedesmal  der  Teufel  darob,  und  im  Gegentlieile  lacht  er, 
wenn  jemand  am  Weih  Wasserkessel  vorübergeht,  oline  die  Finger 
hineinzutauchen,"  u.  dgl.  m.  Im  Katechismus  ist  für  die  „Einfältigen" 
viel  Rücksicht  genommen;  sie  brauchen  nur  gewisse  Wahrheiten  zu 
kennen,  die  anderen  haben  sie  nur  implicite  zu  glauben;  solche  Nach- 
sichten wendet  der  Bauer  gerne  für  sich  an,  —  „mein  Gott,  die  geist- 
lichen Herren  wissen's  schon,  wie  schwer  unser  einem  das  viele  Denken 
nnd  Specaliren  fallen  thät"  Der  Gastliche  ist  die  erste  und  höchste 
Manierantoiitftt,  der  man  alles  glsnbt  Was  er  in  der  Ftedigt  sagt, 
das  haben  ja  die  Bauern  alles  schon  einmal  oder  öfter  gehört,  —  und 
dämm  interessirt  sie's,  dämm  glanben  sie  es  anch.  Das  sind  ja  die 
alten  Wahrheiten,  die  Mk  leider  der  Baner  anch  immer  nor  in  seiner 
altgewohnten  Weise  auslegt  Der  Geistliche  predigt  von  der  Ter^ 


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—  686  — 

achtung  alles  IrdiBclieD,  von  der  Verdienstiiehkeit  der  Entbehrung  und 
PJage,  TOD  der  Schadlicfakeit  der  ftlechen  Wissbegierde,  Ton  der  Ter- 
derblichkeit  der  Zeitungen,  Ton  der  GotÜodgkeit  unserer  Schulen  etc. 
Wir  haben  bereite  dargekgti  wie  der  Bauer  alle  diese  Lehren  mit 
seinem  Thun  und  Lassen  su  vereinbaren  weiA.  Er  glaubt  aiso  dem 
GeisUlchen  um  so  lieber,  weil  er  ihn  su  nichts  Neuem,  zu  keiner  den 
Willen  und  die  Denkkraft  in  ungewohnter  Weise  beanspruchenden 
Veränderung  anhfilt 

Aber  nicht  nur  in  kirchlichen,  auch  in  weltlichen  Dingen  fühlt 
sich  der  Baner  dem  Geistlichen  zum  Glauben  verpflichtet;  ja»  er  zieht 
wol  gar  die  Meinungen  desselben  denen  eines  Faclimannes  YOr.  Liegt 
jemand  krank  im  Hause,  dann  fragt  man  heimlich  den  gerufenen  Amt, 
wie  lange  der  Kranke  noch  leben  könne.  Kommt  der  Priester  zum 
„Versehen",  so  fragt  man  ilin  aucli,  —  und  sagt  er  etwas  anderes, 
als  der  Arzt  gesagt  hat,  so  glaubt  man  nicht  diesem,  sondern  dem 
Geistlichen;  natürlich,  „so  ein  Herr!" 

„So  ein  Herr"  nämlich,  der  die  himmlische  Gelehrsamkeit  in 
sich  trä^t,  die  doch  mehr  ist  als  alles  irdische  Wissen,  und  der  über- 
dies auch  in  der  irdischen  Gelehrsamkeit  auts  höchste  g'studirt  ist, 
der  muss  es  doch  besser  verstehen,  wie  der  unchristliche  „bartete 
Doctor",  der  halt  auch  nur  auf  seinen  Erwerb  ausgeht,  und  sogar 
eine  Alte  (ein  Weib)  zu  Haus  hat,  wie  ein  ganz  gewöhnlicher  Bauer! 

2.  Wer  sich  auf  den  Standpunkt  der  Manier  stellt,  braucht  nicht 
einmal  eine  angesehene  Persönlichkeit  zu  sein,  um  bei  den  Bauern 
Glauben  zu  finden.  Wenn  ein  Bauer  nur  auf  Besuch  geht  zum  anderen 
und  80  wihriod  seines  Besuches  die  Ehren  eines  Gastes  genießt,  so 
ftthlt  sich  der  andere  schon  Terpflkditet,  zu  allem,  was  der  Besuchende 
meint  und  ftnfiert,  „Ja**  und  nAmen"  zu  sagen.  „Fteilieh  ist's  aso,' 
„jo  holt  jo,"  ,4h  sog*  's  ah**  etc.  Natfiilich  wird  da  Iraine  „nnchrist- 
liche**  oder  unmanierliche  Ansicht  Torgebracht  Es  wird  z.  B.  vom 
Schulwesen  gesprochen.  „Ih  glaub',**  sagt  dar  Gast,  „dass  dO  Lehrern 
koaner  koan^  Glanb^  nit  hob'ta,  dS  kinnan  thuan,  rain  wos  wOUn.** 
,Ja  wull/  meint  der  andere  ,es  is'  eh'  asol*  Es  wird  von  neuerflm- 
denen  Isndwirtschaftlieben  Instrumenten  gesprochen:  „Ih  moan',  dOs 
Maschinwer'  ist  der  Menschheit  koaa  Nutz;  arbeit't  amol  nit  so  natta, 
und  hemoch  werd'n  d'  Leut'  ah  faul,  wenn  d'  Maschin  oUas  thuat** 
'Jo  freilih  is  's  a  so,  sein  thuat  's  eh  aso.'  In  dieser  Weise  etwa  wird 
verkehrt,  und  was  der  Gast  sagt,  —  das  „glaubt**  der  andere  alles, 
er  wüsste  ja  selber  nichts  anderes  zu  sagen. 

3.  Hier  muss  auch  jenes  gdiorsamste  Beipflichten  erwähnt  warden, 


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dessen  sich  der  Bauer  befleißt,  wenn  er  mit  höheren  Personen  ver- 
kehrt, auch  für  den  Fall,  dass  er  von  deren  Reden  nichts  versteht. 
„Da  müssen  yie  bei  der  höheren  Instanz  einen  Kecurs  einreichen,  Sie 
verstehen  nrich?**  So  fragt  z.  B.  eine  Gerichtsperson  den  Bauer. 
„Je,  jo,"  sagt  der,  ,Jo,  jo,  Herr  Doctor —  und  durch  dieses  über- 
eifrige ,Jo"  schneidet  er  sich  selber  die  Möglichkeit  einer  weiteren 
Frage  ab  und  geht  Teridttift  nnd  yerwirrt  yon  daunen.  ,^*n  Beyers 
soll  ieh  einreicheil,  oder  wie  er  gesagt  hat/'  recapitidirt  er  dann  un- 
sicher anf  dem  Hdmwege,  „ein'n  Bevers  bei  der  hOhern  Distanz  1** 

H<Qieren  Personen  pflichtet  der  Bauer  Öfter  sogar  bei,  wenn  sie 
etwas  Manierwidriges  sagen.  FreUieh  rent  es  ihn  im  stillen,  — 
aber  er  ist  Ton  dem  GefQhle  seiner  Unterordnung  momentan  so  ergriffen, 
dass  er  sich  fOr  den  Augenblick  kaum  etwas  anderes  zu  denken  getraut, 
als  was  der  Höhere  bricht  Aber  man  darf  dieses  Beipflichten  nicht 
mit  Glauben  verwechseln,  nicht  einmal  mit  dem  maniermftfligen  Glauben, 
—  es  ist  vielmehr  die  reinste  Äuflerlichkeit. 

4.  Den  Glauben,  welcher  der  manierrnftlHgen  Autorität  gezollt 
wird,  verlangen  auch  die  bäuerlichen  Eltern  von  ihren  Kindern,  bäuer- 
liche Herren  von  ihren  Dienstboten.  Widerspruch  oder  Einwendungen 
werden  bei  Kindern  und  Dienstboten  nicht  geduldet,  sie  haben  zu 
glauben,  was  man  ihnen  sagt.  Die  Alten  predigen  aber  auch  wie 
ein  Pfarrer:  ob  sie  alle  ihre  schönen  Lehren  selber  je  befo]f!:en  konnten, 
das  ist  gleichgilt  ig-,  die  „Gesindel"  brauchen  das  auch  gar  nicht  zu 
wissen.  „Ja",  meint  ein  aufgeweckter  Knabe,  „wie  kann  euch  denn 
das  Vergiftwenden  'was  helfen?"  ,Das  verstehst  du  nicht,'  ist  die 
Antwort  des  weisen  Alten,  ,sei  nicht  so  vorlaut'  „Die  Gesindel 
(Kinder)  müssen  in  der  Stuben  bleiben  und  brav  sein,"  predigt  manche 
Bauernmutter,  und  es  wäre  das  größte  Unrecht,  wenn  jetzt  eines  ihrer 
Kinder  sagen  möchte,  zu  Hause  beim  langen  Sitzen  wiid  ihm  üfter 
nicht  gut. 

C. 

Wie  beth&tigt  sich  der  bSuerliche  Autoritätscnlt  im  Gehorsam? 
a)  Ymi  Natur  aus  ist  der  Btaet  wenig  zum  Gehorsam  geneigt 
Er  soÜte  aUerdingar  so  könnte  man  meüien,  firoh  sein,  wenn  eine  höhere 
Autorität  in  seine  misslichen  Terhflitnisse  eingreift,  um  ihn  einem 
besseren  Ziele  entgegcoizultthren,  als  er  allein  bei  seiner  Zurflck- 
gebliebenheit  und  fUschen  Cultnr  erreichen  kann.  Allein  so  ablehnend 
sich  der  Bauer  gegenftber  einer  natürlichen  Autorität  im  Glauben 
verhält,  so  ablehnend  veihält  er  sich  gegen  eine  solche  auch  in  Bezug 
auf  das  Gehorchen.  Man  hat  den  Bauer  in  seiner  gesammten  gesell- 


—  588  — 


schaftlichen  und  wirtschaftlichen  Gebanm^  viel  zu  viel  ihm  selber 
Uberlassen:  er  ist  fast  wie  ein  Robinson,  der  keine  Bedürfnisse  hat, 
die  er  nicht  aus  Eigenem  befriedigen  konnte.  Und  ireil  er  sieh  seine 
Nahrang,  zum  großen  TheQe  seine  Kleidung  nnd  seine  sonstigen 
geringen  Beqnemliehkeiten  unmittelbar  dnreb  die  Arbeit  seiner  H&nde 
herstellt»  so  flUdt  er  ein  EingreiüBn  einer  noch  so  wohneinenden  höheren 
Autorität  ftr  eine  ÜberfiOssigkeit  nnd  Ungerechtigkeit  Für  den  S  t  aat 
hat  er  nicht  das  geringste  VerstSndnis;  er  bedenkt  noch  nicht»  welche 
Wolthaten  er  Tom  Staate  empfingt  durch  Straßen ,  Bahnen,  durch 
die  Öffentliche  Sicheiheit,  durch  das  Schulwesen  nnd  durch  das  Landes- 
vertheidigungssystem.  Er  denkt  nur  daran,  dass  er  isst,  was  er 
selber  gebaut,  dass  er  trinkt,  was  er  selber  gepflanzt,  —  alles  Weitere, 
mefait  er,  gibt  sich  von  selber,  wozu  so  viele  Beamte,  Lehrer,  Soldaten, 
oder  gar  Bftchersclireiber,  Spielwaren&brikanten  etcl 

1.  Wir  wollen  hier  nicht  reden  vom  Steuerzahlen,  vom  Einrücken 
der  Recruten  oder  von  anderen  empfindlichen  Lasten  und  Pflichten. 
Es  ist  flberflflssig  zu  sagen,  dass  der  Bauer  solchen  Anforderungen 
der  staatlichem  Autorität  nicht  entsprechen  würde,  wenn  nicht  die 
Gewalt  und  die  Strafe  zu  fttrchten  wäre.  Wir  reden  nur  daTon,  dass 
auch  alle  anderen,  noch  so  zweckmäßigen  Anordnungen  der  weltlichen 
Obrigkeit  nur  mit  Widerwillen  hingenommen  und  vollzogen  werden. 
Da  ordnet  z.  B.  der  Bedrkshauptmann  an,  es  sollen  Bäume  längs  der 
Straße  gesetzt  werden.  «Jo  freillh,''  heißt  es,  «dann  werden  wir 
extra  ein'n  Baumhftter  halten,  damit  nix  rninirt  oder  g'stohrn 
wird!"  Sie  setzen  pro  forma  die  yeriangten  Bäume;  wenn  aber  einer 
von  den  Bauern  den  Pflug  umwendet  am  anstoßenden  Acker,  dann 
ist's  ihm  eine  Genugthuung,  wenn  die  Ochsen  dabei  das  junge  Bäum- 
chen quetschen:  „Da  sieht  man's  ja,  so  was  taugt  ait  bei  uns." 
Und  so  sind  wirklich  bald  alle  Bäume  verdorben:  „was  versteht  denn 
so  ein  Bezirkshauptmann  von  der  Landwirtschaft?"  —  Ein  anderes 
Mal  ist  eine  Anordnung  ans  schwarze  Brett  beim  Bürgermeisteramt 
geheftet  :  auf  allen  wichtigeren  Wegkreuzungen  und  Straßenabzweifrungen 
müssen  Wegzeiger  angebracht  werden.  „Je  freHih,"^  wird  da  wieder 
gebrummt,  „damit  das  umgehende  G'sind  gleiwl  Ubeiall  hinhnden  konni" 
u.  dgl.  m. 

Dieser  Widerwillen  der  Bauern  gegen  die  Anordnnngen  der  welt- 
lichen Obrigkeit  ist  aber  nidit  erst  von  heute.  Sdion  in  den  Linder- 
ma3ri*schen  Dichtungen  (neu  edirt  yon  Dr.  Pius  Schmieder)  findet 
sich  derselbe  oft  recht  komisch  yerwertet  Ich  erinnere  an  die  Gedichte 


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—  589  — 

„Der  von  allen  Seiten  geciuälte  Bauer",  „Der  klagende  Bauer",  „Der 
Bauer  aas  Yerzweifiaug  eiu  Schatfgräber" : 

^  kan  ma's  tinmigH  nöt  denkii, 
Was  d  Herren  mit  uns  no  auhöbn. 
Ä  Baor  aoU  d  wirkli  gnda  henkft, 
So  kAm  ft  dient  wOg  to  den  LBbo. 

Seyn  d'RiLstgeldä  käm  sna  diidnriiigtt 

Und  gleiwobl  höbns'  Noimiifrä  an, 

Und  thaue  uns  än  Toitel  aufbringä, 

Den  d*Herr8cbaft  «elbs  nennS  nöt  kan/  n.  s.  f. 

Die  weltliche  Obrigkeit  hat  indessen  die  Mittel,  sicli  den  Ge- 
horsam zu  erzwingen.  Und  so  energisch  ist  der  Bauer  bei  weitem 
nicht,  dass  er  sich  auch  k  der  That  iridersetM  möchte,  so  wie  er 
sich  in  fleiiiBr  GeBinnung  und  in  seiiMn  Werten,  wm  niemand  Yer- 
ftnglicher  ee  hOrt,  widersetst.  Denn  so  wie  sein  innerlieher  Ün* 
gehonnm  snm  grefien  TheQe  anf  der  angeerbten  WiUensträgheit 
beroht»  die  alle  Neneningen  schent  ond  bei  der  traditionellen  Bobinaon- 
wirtschaft  bleiben  will,  ao  hslt  ihn  auch  dieselbe  Wilknstrftgheit 
davon  ab^  dass  er  sich  mir  Wehr  setne,  selbst  wenn  ihm  Unrecht  ge> 
schieht  Mit  Gewalt  lässt  er  alles  aas  sich  machen,  ohne  Gewalt 
will  er  nirgends  folgen,  anch  nicht  zom  eigenen  Nntasen,  ^  anlter, 
n^  hftlt  ihm  den  Lohn  dafür  schon  mit  vollen  Hlnden  hin. 

2.  Ifan  kann  sich  nnn  leicht  vorstellen,  wie  wenig  etwa  eine 
wissenschaftliche  Antoritit  bei  den  Bauern  ausrichten  kann.  Nehmen 
wir  an,  der  Baner  liest  z.  B.  in  einem  Bauernkalendei*  einen  gedie- 
genen, leiclit  verständlichen  Artikel  fiber  rationeUe  Düngerbereitung; 
er  wird  anfiioglich  zugestehen,  dass  der  Kalender  recht  hat;  bald 
aber  wird  er  allerlei  Einwendnngen  finden,  und  thnn  —  wird  er 
nichts. 

3.  Die  Autorität  des  Arztes  wird  durch  die  Angst  unterstützt, 
man  könnte  die  Krankheit  verschlimmeni,  wenn  man  ihm  nicht  ge- 
horcht.  Dass  aber  mehr  diese  Angst  als  das  positive  Vertrauen  zur 
Kunst  des  Arztes  die  Bauersleute  zum  Gehorsam  gegen  letzteren 
bringt,  dafür  zeugt  das  gemeinübliche  Drunterpfuschen  von  ver- 
schiedenen Hausmitteln,  welche,  ohne  Wissen  des  Arztes,  mehr  zur 
Beruhigung  der  Angehörigen,  zur  Bekämpfung  ihrer  Angst,  als  zur 
Gesundheit  des  Patienten  angewendet  werden.  „Man  will  halt  doch 
nix  unbenutet  lassen,  wenn  man  dem  Kranken  helfen  könnt'." 

4.  Wie  schwer  ein  prompter  Gehorsam  den  Bauersleuten  fällt, 
sieht  man  am  besten  an  den  bäuerlichen  Recruten.  Sie  wissen«  dass 
sie  beim  Militär  gehorchen  müssen,  und  sind  auch,  weil  sie  die  Gewalt 


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fürchten,  von  dem  Gefühl  ihrer  untergeordnet tn  Rolle  durchdrungen; 
es  könnte  ihnen  nicht  einfallen,  sich  zu  widersetzen.  Aber  selbst 
beim  besten  Willen  haftet  ihnen  das  heimische  Widerstreben  gegen 
einen  prompten  Gehorsam  an:  ruft  der  Ofticier  den  Recruten,  so  macht 
sich  dieser  ohne  weiteres  auf  seine  schwerfalligen  Beine  und  geht, 
mit  der  ergebensten  Miene  von  der  Welt,  zum  Oflßcier.  Beim  Militär 
heißt  es  aber:  „Trab,  Trab!''  und  wer  gerufen  wird,  muss  laufen. 
Manche  Officiere  fassen  diese  Schwerfälligkeit  als  bloße  Langweilig- 
keit auf  und  schelten  solche  Recruten  „fad",  „lamlacket"  etc.,  — 
aber  es  ist  eine  gute  Dosis  inneren  Widerstrebens  gegen  den  Ge- 
horsam dabei 

Der  Bauer  will  aiidi  niebt  gehorsam  eraeheinen,  er  sdiiiiit 
aich  deasen.  Wenn  er  einer  höheren  Person  den  achnldigen  oder  nicht 
schuldigen  Gehorsam  erweSat,  iat  er  froh,  wenn  ihn  kein  anderer 
Bauer  dabei  sieht  Anch  im  gegenseitigen  Verkehr  der  Bauern  nnter- 
einander  seigt  sieh  öfter  diese  Sehen,  gehorsam  an  ersdiebien.  Sie 
thnn  einander  gern  einen  GeMen,  die  Manier  sdireibt  es  ihnen  tot; 
wenn  aber  die  Situation  eine  sotehe  ist»  dass  der  Oefiülen  einer  Nach- 
giebigkeit, also  einem  Gehorsam  gleiche,  dann  ftllt  er  schwer.  Da 
hftlt  ein  Bauer  mit  seinem  Heuwagen  auf  dem  Fahrwege  vor  seiner 
Scheune  und  ladet  ab.  Der  Nachbar  kommt  eben  auch  mit  einer 
Fuhre  und  kann  nicht  passiren.  Obwol  der  andere  nun  seinen  Wagen 
in  den  Hof  fahren  und  auf  der  inneren  Seite  der  Scheune  ebensogut 
abladen  könnte,  thut  er  es  doch  nicht,  denn  das  sfthe  fast  aus  wie 
ein  Gehorsam.  Der  Nachbar  muss  warten  oder  einen  Umweg  ein- 
schlagen. 

b)  Je  iingerrier  der  Bauer  einer  natürlichen  Autoritiit  gehorcht 
desto  eifriger  befleißigt  er  sich,  der  maniergemäßen  Autorität  seinen 
Gehorsam  zu  erzeigen.  Jeder  Mensch  hat  seinen  Herrn,  und  alle 
Herren  haben  wieder  einen  noch  höheren  Herrn  in  dem  Himmel.  — 
Gottes  Stellvertreter  sind  aber  die  Geistlichen,  ihnen  muss  man 
zuei'st  und  vor  allen  anderen  Herren  gehorsam  sein. 

1.  Der  religiöse  Gehorsam  ist  der  eigentliche  und  einzige 
Gehorsam  in  der  Vorstellung  des  Bauei-s.  Jeder  andere  Gehorsam, 
gegen  den  Kaiser,  die  Elteni  etc.,  muss  sich  auf  diesen  zurück- 
führen lassen,  wenn  er  überhaupt  berechtigt  sein  will:  aber  auch 
dann  erhält  er  noch  immer  nicht  dieselbe  Bedeutung,  wie  der  religiöse 
G^orsam  im  engeren  Sinne.  Es  wäre  unerhört,  wollte  jemand  den 
kirchlichen  AnfordKungen  der  Geistlichen  nicht  nachkommen.  Die 
Toigeschriebenen  Beichlen  und  Fastenaeiten  werden  pünlctUchst  eln- 


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—  591  — 


gehalten  etc.  Das  Beichten,  das  Fasten,  das  Ablaasgewinnen 
kostet  eben  nichts,  ja,  die  Hausfrau  kann  dabei  sogar  ersparen.  Die 
bäuerliche  Selbstsucht  wird  dabei  nicht  verletzt.  Die  wenigen  An- 
lässe, wo  man  den  Geistlichen  zahlen  muss,  als  Taufen,  Hochzeiten, 
Begräbnisse,  treffen  den  Einzelneu  verhältnismäßig  so  selten  und  immer 
in  so  erregter  Stimmung,  dass  seine  Aufmerksamkeit  nicht  gar  so  , 
sehr  auf  das  weggezaldte  Geld  concentrirt  ist;  und  überdies  kann 
man  sich  ja  daran  erinnern,  dass  einem  dafür  der  Segen,  den  bei 
solchen  Anlässen  die  Kirche  spendet,  im  Himmel  und  auch  auf  Erden 
schon  ein  reichlicher  Ersatz  sein  wird.  Beim  Steuerzahlen  hat  man 
selbst  diesen  Trost  nicht.  — 

Aber  auch  der  Geistliche  ist  an  die  Tradition  gebunden,  er  darf 
den  Landleuten  niclit  befehlen,  was  er  will.  Die  neuerlichen  Er- 
leichterungen des  Fusteugebutes  erfüllen  den  Bauer  mit  Bedenken 
und  er  getraut  sich  nicht  von  ihnen  Gebrauch  zu  machen,  trotzdem 
sie  yon  der  Kanzel  verkflndet  werden.  „Die  Geistlichen  werden 
leicht''  (leicfatsiBnig),  sagen  die  Leute,  „ist  kein  Wunder,  wenn  der 
Olanben  scUeclit  wird.**  Aach  wfirde  der  QefstUcbe  wenig  Qehorsam 
finden,  wenn  er  die  Bauern  bewegen  wollte,  in  der  Wirtschaft,  in 
ihrem  hänslichen  Treiben  etc.  Nenerangen  nnd  Yerbesseningeii  in 
modernem  Sinne  einznfUiren,  —  obwol  man  sich  zu  derlei  Dhigen 
noch  am  ehesten  dnreh  den  Rath  des  Pfiirrers  bringen  liefie.  —  Am 
allerwenigsten  soll  aber  der  Geistliohe  nene  Taxen  einfthren  und  so 
den  Baner  an  der  empfindlichsten  Stelle  Terletsen.  Ich  habe  mich 
gewundert,  wie  scharf  sich  Bauemweiber  darftber  ansdrftckten,  dass 
in  jttngster  Zeit  der  Geistliche  auch  für  Versehg&nge  ehie  Taxe  (1  fl.) 
annimmt,  und  dass  die  Yersehtaze  immer  allgemeiner  in  Gebrauch 
kommt.  „Mit  der  Zeit  müssen  dann  die  armen  Leut'  (zu  denen 
sich  bei  solchen  Anlässen  natürlich  auch  die  Bauern  rechnen)  ohne 
Versehen  sterben,  können  sich  nur  die  Beichen  den  Himmel 
erkaufen,  jetzt  gehen  die  Geistlichen  auch  nur  mehr  auf 
das  Geld"  etc.  Allerdings  getrauen  sie  sich  nicht,  gelegentlich 
den  Gulden  zu  verweigern,  aber  es  ist  schon  viel,  dass  man  es  wagt, 
in  dieser  Weise  über  die  Geistlichen  zu  reden. 

2.  Eltern  und  Dienstherren  verlangen  stren;:^en  Gehorsam  von 
ihren  Kindern  resp.  Dienstboten.  Die  Bauernmoral  macht  ihnen  dies 
sogar  zur  Pflicht.  ,,Man  muss  das  junge  Volk  streng  halten",  heißt 
es.  Es  wird  ihnen  keine  Freude  geboten,  die  Erziehung  umfasst  nui 
Befehle  und  Strafen.  Und  wenn  man  auch  den  Kindern  etwa  auf  dem 
Jahrmai'kt  einen  „Kirchtag  \  kauft,  zu  Weihnachten  ein  „Chnstkindl" 


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—  592  — 


einlegt,  so  mischt  man  strenge  und  hei'be  Wai-nnng  und  Mahnung  in 
die  Festfreude  der  kleinen  Empfänger.  Das  Frohe  daran  mttssen  diese 
von  selbst  und  allein  herausfinden.  Weil  aber  der  Gehorsam  so 
freudenleer  und  trocken  ist,  so  kann  er  nur  raaniermäßig  fortbestehen; 
die  Natur  sucht  liinter  dem  Rücken  der  strengen  Gebieter  die  ilir 
gebürende  Freude;  die  Eltern  oder  Dienstherren  sollen  es  aber  nicht 
wissen.  Die  Kinder  laufen  aus,  «gesellen  sich  irgendwo  in  Scharen 
zusammen,  raufen,  zerreißen  sich  bei  unUber  wachten  S])ielen  die 
Kleider,  dafür  sind  sie  dann  zu  Hause  so  still  und  scliweigsam,  wie 
man  es  von  ihnen  verlangt.  Die  Dienstboten,  besonders  die  männ- 
lichen, nehmen  bei  der  Nacht  oft  Reißaus,  um  sich  irgendwo  zu 
unterhalten.  Besonders  die  Samstaguächte  sind  in  dieser  Beziehung 
berühmt. 

So  übt  man  den  maniermfiiSigen  Gehorsam  gegen  den  strengen, 
christlichsn  Hansherrn,  ist  brav  und  folgsam,  fast  sclavlBch  gehorsam, 
solange  man  in  seinen  Augen  ist,  —  und  lünter  seinem  Bflcken  ent- 
schsdigt  man  sich  dafür,  so  Tiel  als  eben  thnnlich  ist 

c)  Wenn  w  den  ganzen  Antoxitfttscnlt  des  Baoero  nochmals 
Überblicken:  wie  der  Baoer  jeden  HOhergeeteUten  eiigebenst  grilBt, 
aber  dessen  Bdehrnng  ignorirt  und  bei  Seite  setst;  wie  er  innerlieh 
yon  der  ganzen  ihn  nmgeboiden  Welt  sich  losgea^t  hat,  von  niemand 
beeinflnsst  werden  will,  nnd  wie  er  nach  außen  doch  Gehorsam  leistet 
und  sich  alles  ge&llen  lasst,  obwol  er  es  hart  empfindet,  —  so  kommen 
wir  zu  der  Einsicht,  dass  eine  gewisse  sdavische  Unterwürfigkeit, 
ein  gewisser  Drill  den  eigentlichen  und  gesunden  Autoiitfttscult  in 
unserem  Landvolke  verdrängt  hat. 

Über  diese  Unterwürfigkeit  schreibt  ein  Herr  Lehrer  Sieber 
ans  Ransdorf : 

Die  Bevölkerung  des  südiJstlichen  Theiles  von  Niederösterreich 
besitzt  einen  besonderen  Unter würtigkeitssinn.  Als  Beispiel  hierfür 
kann  Folgendes  dienen:  In  den  ersten  Jahrzehnten  dieses  Jahrhunderts 
sagte  der  gutsherrliche  Verwalter  beim  Herannahen  der  Assentirung 
zu  den  Ortsrichtern:  So  viel  Männer  hat  jede  Gemeinde  zum  Militär 
zu  stellen,  schaut  um,  woher  ihr  dieselben  nehmt.  Nun  hatten  abei- 
die  wolhabenderen  Stellungspflichtigen  und  deren  Väter  sich  schon 
irpfendwelclie  arme  Bursche  ausgeschaut,  die  in  die  Lücke  geschoben 
werden  könnten.  Es  waren  dies  meist  Söhne  sogenannter  «Inwohner", 
überhaupt  armer  Leute.  Dieselben  wurden  nun  nicht  etwa  durch  ein 
verabredetes  Kaufgeld  bewogen,  für  die  Gemeinde  Soldat  zu  werden, 
sondern  worden  nachts  von  einer  Rotte  dabei  interessirter  Bauern 


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-  693 

übei-fallen,  gebunden,  zur  Herrschaft  geschleppt,  visitirt  und,  wenn 
tauglich,  zum  Militärdienst  gezwungen  an  Stelle  der  Bauemsöhne. 
Nun  war  aber  diesen  Misshandelten  gar  wol  bekannt,  dass  ein  solcher 
Vorgang  nicht  der  gesetzliche,  sondern  nur  durch  den  jeweiligen  un- 
gerechten (Ttutsverwalter  und  Ortsrichter  gebilligt  war.  Man  sollte 
glauben,  sie  hätten  den  Fanorhunden  einen  Denkzettel  gegeben,  dass 
ihnen  die  Lust  fiir  immer  vergangen  wäre;  nein!  Die  Scheu  vor  dem  ge- 
strengen Herrn  Verwalter  und  dem  Ortsrichter  war  so  groß,  dass  die 
meisten  sich  blöde  wie  Schafe  vierzehn  Jahre  in  den  Watienr<jck  stecken 
ließen.  Und  was  war  das  Ende  dieser  Zwangssoldaten?  Nach  der 
eisten  C'apitulation  waren  sie  zu  einer  anderen  Arbeit  nicht  mehr 
recht  tauglich,  machten  gewöhnlich  eine  nochmalige  Tour  mit  und 
kamen  endlich  in  iluc  Heimat,  um  als  Bettler  vor  den  Thüren  der- 
jenigen, für  die  ii0  zum  Militär  gepfercht  worden  waren,  ihren  Lebens- 
nnteriudt  m  «ammeln.  Ich  glaube,  sagt  Herr  Sieiber,  dass  nur  eine 
ausgesprocbene  SdaTendresenr  solehe  VerhAltnisse  ermöglichen  konnte. 
Und  der  krenzbrave  Baoer,  der  auf  diese  ungerechte  Weise  seine 
Söhne  vom  ICiUtfirdienste  frei  machte,  fikhlte  ob  solchen  Vorgehens 
keine  Gewissensscropel,  so  wenig  wie  der  gntsherrliche  Verwalter 
oder  der  sanbere  OrtsricÜter.  Noch  jetzt  leben  solche  Fanghnnde 
und  höchst  wahrscheinlich  anch  Me  nnd  da  als  elender  Qoartierer 
einer  der  G^epferchten. 

Überhaupt  war  ein  gntsherrlicher  Verwalter  im  Vereine  mit  deqn 
Ortsrichter  bei  diesem  Sclavenvolke  eine  Macht,  die  nach  der  nnge^ 
rechtesten  Willkür  schalten  und  walten  konnte.  Nicht  besser  machte 
es  oft  in  dieser  Beziehung  die  geistliche  Obrigkeit;  ja  selbst  der 
jeweilige  Schulmeister,  wenn  er  mit  ersteren  auf  gutem  Fuße  stand, 
hatte  das  Eecht,  auf  dem  Rücken  der  Bauern  hemmzutreten,  weil 
sich  dieses  Volk  einmal  alles  gefallen  ließ. 

Nun  sind  freilich  viele  Änderungen  in  dieser  Hinsicht  ein- 
getreten. Das  Jahr  1848  hat  den  allmächtigen  Gutsherrschaften  einen 
argen  Hieb  versetzt,  auch  die  Geistlichkeit  etwas  zurückgedrängt. 
Die  Leute  dieser  Gegend  waren  aber  nur  die  Geschobenen;  man 
denke  ja  nicht,  dass  sie  das  bisschen  Freiheit  und  Selbstständigkeit, 
welches  sie  jetzt  besitzen,  üirer  eigenen  Initiative  zu  verdanken  iialten. 
Andere,  thatkräftigere  Menschen  haben  ihnen  dazu  verhelfen.  Der 
echte  Bauer,  Söldner  oder  Inwohner  althergebrachten  Calibers  kommt 
heute  noch  mit  der  unterwüitigsten  Miene  von  der  Welt  zum 
Grerichtsbeamten,  zum  Pfarrer,  zum  Bürgermeister  etc.  Man  möchte 
glauben,  die  Ehrfurcht  vor  der  Obrigkeit  wfire  in  diesem  Volke 

Padagogian.  lt.  Jtliif.  Halt  IZ.  ^ 


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—  594  — 


besonders  eingewurzelt.  Beileibe  nicht!  Nicht  Ehrfiurht,  Furcht 
ist  es,  welche  zu  einem  solchen  Benehmen  ilrang-t.  Ist  eine  Hochzeit, 
so  wii'd  ganz  gewiss  der  Bürgermeister,  wohl  auch  der  Plarrer  und 
Schullelirer  dazu  cmgeladen,  mit  allen  möglichen  Ehrenbezeigungen 
überhäuft.  Wie  schön  ist  es,  wenn  eine  Obrigkeit,  ein  Seelsorger,  ein 
Lehrer  solche  Zuneigung  im  Volke  genießtl  Doch  irolehe  T&uschong, 
wenn  einer  so  denkt  Man  fürchtet  den  Bfii^germeister,  denn  er  könnte 
bei  einem  aUfiUUgen  Streite  mit  einem  Nachbar  sich  etwa  anf  Seite 
der  Gegenpartei  stellen,  oder  hei  einer  Gesetseenrngehung  die  Augen 
nicht  zudrücken;  man  fürchtet  den  Pfiurer,  der  eine  besondere  geist- 
liche GFewalt  Aber  das  Volk  besitzt  und  einem  am  Ehid'  gar  den 
Himmel  yerschlieBen  kann;  anch  der  Schullehrer  ist  ein  Mann,  den 
man  als  Gtemeindeschreiber  oft  braucht,  oder  der  etwa  gar  im  Orts- 
schnlrathe  einen  Stra&ntrag  stellen  könnte  etc.  Daher  die  Ehre, 
die  man  scheinbar  diesen  Leuten  anthnt  Man  denke  sich  die  leb- 
hafteste Unterhaltung,  deren  eine  Bauemgesellschaft  fähig  ist  Lautes 
Singen,  Schwingen  der  vollen  Gläser,  Schäkern  mit  den  anwesenden 
Weibsen  etc.  und  nun  lasse  man  pir)tzli<  Ii  eine  Standesperson 
eintreten.  Welches  Stocken  im  fröhlichen  Tumult,  als  ob  sie  gegen 
eine  anständige  Unterhaltung  etwas  einwenden  könnte.  Solche  Beispiele 
licBcn  sicli  eine  ganze  Menge  anfiihren,  es  genüge  jedoch  das  Gesagte, 
um  darzuthuu,  weiche  sclavische  Furcht  dieses  Volk  vor  jeder  Obrig- 
keit besitzt'' 


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» 


Eine  hygienisch-statistisclie  Untersuchung  der  österreichischen 

Ncbalverhältnisse. 

Von  Dr.  Leo  Burgerstein-  Wim. 


rath  Dr.  Beer  hat  hener  in  den  Ansscfanssrerhandlongen  des  Bdchs- 
rathes  n.  a.  die  entsprechende  Beachtung  der  Schnlsanität  bezw.  eine 
Untecsochnng  angeregt 

Efi  dürfte  daher,  da  die  Frage  derart  etwas  mehr  Actnalität  er- 
hftlti  nicht  ohne  Interesse  sein,  den  bdnngreiohen  Gegenstand  an 
dieser  Stelle  ein  wenig  zn  beleoohten.  Es  konnte  sich  bei  einer 
Untersndinng  in  erster  Linie  am  eine  einmalige  Beyislon  der  Sdinl- 
locale  und  zweitens  am  eine  einmalige  üntersachnng  der  Schnl- 
beTOlkerung,  beides  in  den  Landeshanptstftdten,  wenn  thnnlich  nm 
eine  beschränkte  Anzahl  von  Schulen  und  Schulkindern  auf  dem  Lande 
handeln.  Die  Revision  der  Schullocale  ist  im  großen  Ganzen 
durch  die  Lehrerschaft  selbst  ausfiilirbar;  mit  kurzen  Schlaf^worten 
sei  hier  angedeutet,  was  liiebei  als  zu  Erfragendes  nngefälir  in  Betracht 
konmit,  weil  dies  zur  Beurtlieilung  der  Diiirlifülirbarkeit  nöthi^  ist. 

La^e  des  Gebäudes  (Orientirung:  Straße  etc.,  Abstand  und  Höhe 
gegenüberlie2:ender  Bauten,  schattende,  hohe,  feuclitmachende  Bäume, 
lärmende,  unsaubere  Betriebe,  Dungstätten  etc.  in  der  Nähej.  Ziegel- 
bau etc.  Außenstiege,  Scliutzdach,  Vorhalle.  »Stiegen  (Breite, 
^laterial.  Wendeltreppe,  IMat/.t-lstiege,  Slufenhöhe,  Vorrichtungen  zum 
Anhalten  und  Verliinderii  des  Abrutschens  daran).  Gänge  i  Breite, 
Länge.  Höhe,  lieizbar,  ventilirbar,  hell,  dunkel,  zum  Ergehen  «»der  zu 
GarderubczNvecken  benutzt).  Schulzimmer  (Länge,  Breite,  HTihe; 
Oberkltider  darin  abgelegt;  Fußböden:  Stein,  Holz,  liart,  weich,  Dielen, 
RienK^iibndcu  etc.;  geölt,  gestrichen.  Wie  viel  Schulkinder  im  Zimmer, 
wann,  wie  lange.  Wände:  tencht,  na.sstleckig;  Farbe,  Art  des  An- 
striches, wie  oft  erneuert,  ob  abfärbend,  Lambris,  wie  hoch).  Bänke 
(System,  Distanz,  Iiehne  etc.,  erschwert  das  Bankmaterial  die  Bein- 
hidtung).    Ventilation  (künstliche,  mit  der  Heiznng  yerbonden; 


42* 


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—  596  — 


werden  die  Fenster  n-gehnäßig  zur  Lüftung  geöttn»4.  wann,  wie  lange). 
Beleuchtuug  (Fen.ster:  Zald,  Größe,  Himmelsrichtung.  Art  des 
Otinens.  Doppelfenster  im  Winter;  Vorhänge,  deren  lkschaüenheit. 
Künstliche  Behnichtung,  Ol,  Petroleum,  Gas  etc.;  (Qualität  der  i Campen- 
Brenner,  Glocken,  Erfahrungen).  Heizung  lüfen,  (entralheizung, 
System  etc.,  merkbare  Nachtheile).  Woher  kommt  die  der  Heizanlage 
zugeführte  Luft.  Brauchbare  Thermometer  im  Zimmer,  wie  hoch  an- 
gebracht, etwa  r^gehn&ßig  abgelesene  Ergebnisse.  Reinhaltung  (Vor- 
richtungen znm  Beinigen  der  Schuhe.  Waschbecken  für  die  Schul- 
kinder, Seife,  Handtuch;  wie  oft  werden  Zimmer  und  Gänge  gekehrt, 
von  wem;  gewaschen;  MObel  abgewischt,  Fenster  geputzt).  Aborte 
(deren  Zahl,  Lage,  (Qualität;  Desinfection).  Wasser  (Brunnen  etc, 
Nähe  von  Senkgruben,  Kanälen,  Qualität  des  Wassers,  subjectiY). 
Arbeit  und  Pausen  (Stundenplan,  Pausen,  wann,  wie  lange,  wo 
halten  sich  die  Kinder  auf;  was  machen  sie.  Hitzeferien,  Sehnlgmrten, 
Hof,  Spielplatz,  offen,  gedeckt,  Bodenbeschaffenheit  etc.).  Körper- 
liche Übungen  (Tumraum  vorhanden;  im  Gebäude,  wo  sonst;  Di- 
mensionen, Beleuchtung  etc.  Art  der  Bekleidung  beim  Turnen.  Spiele. 
Aus  welchen  Ortscluiften,  wie  viele  ans  jeder,  ungefilkre  Entfernung 
der  Orte),   Sonstige  Bemerkungen. 

Diese  rohe  Skizze  berührt  ungeiahi-  die  Dinge,  welche  in  Beti-acht 
kommen.  Es  ist  selbstverständlich,  dass  eine  derartige  Revision  mit 
Sehl'  verschiedenem  Grade  von  Exactheit  vorgenommen  werden  kann 
und  hinsichtlich  mancliei-  Fragen  einer  kurzen  Erläuterung  bedarf^ 
wenn  die  Beantwortung  l)lo.s  durch  die  Lelirei-  ge.><cliehen  .soll. 

Je  breiter  di»*  Basis  einer  Statistik  ist,  um  so  zuverlässiger  ist 
natürlich,  caeteris  paril)us,  das  Resultat.  Von  diesem  Gesichtspunkte 
wäre  die  Autnahnie  aller  Schulbauten  in  Osterreich  ein  wünschens- 
wertes Ziel,  umsumehr,  als  durch  die  damit  verbundene  eigene  Arbeit 
Anregung  sowol  als  eigenes  Studium  seitens  der  Lehrerschaft  im 
größten  Ausmaße  einträte;  allein  schon  die  Vielsprachigkeit  der  Ant- 
worten würde  in  Österreich  eine  derart  groß  angelegte  Arbeit  er- 
schweren und  es  wird  für  eine  zuverlässige  Statistik  auch  genügen, 
wenn  mit  Rücksicht  auf  culturelle,  klimatische  und  sociale  Verhält- 
nisse eine  engere  Anzahl  von  Schulen  aus  allen  Theilen  der  Beichs- 
hälfte  ausgewählt  wird,  also  bestimmte  Verwaltungsbeziike  beadehungs- 
weise  deren  Stftcke  in  die  Untersuchung  einbezogen  werden.  Dieser 
Weg  wäre  allerdings  jenem,  blos  ein  paar  Großstädte  hinsichtlich  der 
Schulgebäude  ins  Auge  zu  fossen,  vonnziehen,  vorausgesetzt,  dass  die 
vorgescUagene  Auswahl  der  Landdistricte  so  vorgenommen  wird,  dass 


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—   507  - 


die  Besnltate  zu  einem  Dnrchschnittsbilde  führen.  Gliicklichei'^'eise 
genügt  für  die  einfachareii  ländlichen  Verhältnisse  eine  relativ  ein- 
fsMdie  Auskunft  n.  a.  schon  deshalb,  weil  hier  das  Kind  weit  mehr 
und  weit  leichter  Gelegenheit  hat  zum  Genuss  von  Sonnenlicht,  reiner 
Luft  und  freier  Bewegung,  als  das  Stadtkind.  Ein  Fragebogen 
mit  Erläuterungen  wird  für  Landschulen  ganz  ausreichen,  um  brauch- 
bares Material  für  eine  statistische  Bearbeitung  zu  erhalten.  In 
großen  Städten,  d.  h.  speciell  bei  complicirt  angelegten  Schulkasprnen 
stellt  es  sich  vielleicht  als  wünschenswert  heraus,  auf  Grund  der  ein- 
gelaufenen Auskünfte  eine  kleine  Anzahl  ausgewählter  (Tebände  fach- 
männisch zu  untersuchen;  viellei(^ht  finden  sich,  falls  dieser  Weg  sich 
als  wünschenswert  ergeben  sollte,  durch  Umfrage  bei  den  betretlen- 
den  Gesellschaften  (Ingenieur-  und  Architecten -Verein  in  Wien  etc.) 
Specialisten,  welche  sich  aus  wissenschaftlichem  Interesse  botheiligen. 
Das  sind  übrigens  Fragen,  welche  noch  gar  nicht  spruchreif  sind  und 
erst  durch  die  betreffende  Untersuchnnga-Commission  zu  erörtern 
wären.  Sehr  zu  ^ansehen  ist  es  jedenfalls,  Schulen  aller  Grade, 
vom  Kindergarten  bis  mr  Mittdscinile  einsdiHeftUiCh  m  «ntersnchen. 

Der  zweite  Ponkt,  der  mit  dem  ersten  an  Wichtigkeit  wetteifert, 
ist  die  Untersuchung  der  Schuljugend.  Es  sei  andi  hier  vor 
allem  eine  Bohskizze  der  EYagen  gestattet^  ehe  einige  allgemeine  Be* 
.merknngen  ftber  die  Durchlhhrung  gesagt  werden. 

Datum  der  Untersuchung,  Name,  Alter,  Geschlecht,  Geiburtsöft; 
Beruf  der  ESltem;  wenn  Terstorben,  woran;  HaaifEurbe,  Augen&rbe; 
Impfiiarben,  durchgemachte  Infectionskrankheiten.  Länge,  Gewicht^ 
Brustumfimg,  Lungencapacität,  Beschaifenheit  der  Augen,  Ohi«n, 
Zähne.  Andauernde  Eränklichkeitszustände  (Bleichsucht,  Öfteres 
Nasenbluten,  babitneller  Kopfsclimerz,  Appetitlosigkeit,  Rückgrats-  ' 
wkrttmmung  etc.).  Zustand  der  Körperpflege  (Reinlichkeit  etc.),  ge- 
nossener Turnunterricht,  betreibt  Sport  (Schlittschuhlaufen,  Schwim- 
men etc.).  Fähigkeitsnote  (Schwierigkeit  beim  Unterricht  in  den 
einzelnen  Gegenständen),  Folgen.  Arbeitszeit  in  der  Schule,  zu  Hause, 
obligatorisch,  freiwillig;  Zeit  des  Schlafengehens,  Aufstehens,  .Schlaf- 
dauer.  Zahl  der  im  Jahre  ....  krankheitshalber  versäumten  Sclnil- 
stunden  (niuiiatw(Mse);  durchiremachte  Krankheiten  (letztere  Fragen 
auch  bezüglitli  <ler  Lehrpersoueni.    Ol»  strenger  Impfzwang  herrscht. 

Diese  rolie  .Skizz«'  deutet  wieder  das  zu  Erfragende  bezüglich  der 
Schulen  bezw.  .Schulkinder  allei-  (4rade  au.  Wie  man  sieht,  weiden 
zur  Beantwortung  einer  Reihe  vun  Fragen  die  Kitern  herbeigezogen. 
Sowol  in  dieser  Hinsicht,  als  bezüglich  der  von  den  Aizten  zu  erhul- 

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—  698  — 


tenrten  Antworten  ist  die  Sache  natürlich  wieder  in  den  Mittelschulen 
und  inji^roßen  Städten  relativ  leicht  durchführbar,  da  in  diesem  Falle  die 
Eltern  sehr  oft  die  nütliitjc  Bildung-  und  vielfach  Hausärzte  haben,  sich 
iiberdios  wahrscheinlich  iibei-  Anfrage  bei  den  ärztlichen  Gesellschaften 
eine  hinreichende  Anzahl  von  Herren  fänden,  wcldip  l»ereit  wären,  die 
Schulen  behufs  einer  solchen  einmaligen  IJntci  sucliung  unter  sich  auf- 
zntheilen.  Bezüglich  der  Landeshauptstädte,  speciell  der  Universitäts- 
städte, ist  es  ganz  gut  denkbar,  dass  sich  für  Untersuchung  von 
Augen,  Ohren,  Zähnen  wenigstens  hinsichtlich  einer  ausgewählten 
Gruppe  von  Schulen  bereitwillige  Specialisten*)  fänden,  so  dass  die 
Auskünfte  über  eine  statistisch  ausreichende  Anzahl  Mittelschüler  so- 
gar die  größtmöglichste  wissenschaftliche  Exactheit  hätten. 

Andei-s  steht  die  Sache  natürlich  bezüglich  der  Volksschulkinder, 
zumal  auf  dem  Lande.  Arpnt  mid  Mangel  an  SdniIbOdiiiig  aeitens 
der  Eltern  schaffen  hier  große  Sehwierigkeitea,  obawar  eine  Untere 
snchnng  der  Kindergarten-  und  yolksschnlbevOlkemng  sowol  an  sich 
von  größter  Wichtigkeit,  als  anch  für  das  volle  Verständnis  der  Re- 
sultate hinsichtlich  der  Mittelschulen  belangreich  ist  Da  es  sich  aber 
hier  wie  bei  den  Mittelschulen  besonders  darum  handelt,  eine  sta- 
tistiscli  hinreichende  Anzahl  passend  ausgewählter  Schulen 
zu  nntersoehen,  so  erscheint  das  Unternehmen  bei  der  mdglicherveise 
bereitwilligen  Mitwirkung  der  Ärzte  voraussichtlich  dnrchftthibar. 
Hinsichtiich  der  Landeshauptstädte  scheint  dies  ganz  besonders  anßer 
Frage.  Würden  z.  B.  in  Wien  einige  hundert  Volksschulkinder  in 
jedem  Bezirke  und  „Vororte"  untersucht,  gäbe  das  eine  ganz  brauch- 
bare statistische  Basis,  und  es  fragt  sich,  ob  nicht  in  Ländern,  wie  in 
Mähren,  wo  das  Institut  der  Bezirksärzte  durchgeführt  ist,  sogar  eine 
Gruppe  von  Landschulen  in  die  ärztliche  Untersuchung  einbeziehbar 
wäre;  die  Untei'snclinng  hätte  auch  dann  bleibenden  Wert,  wenn 
jetzt  nur  einzelne  ivronläiider  eiiiliezogen  werden  könnten.  —  Eine 
ganze  Reihe  von  Fragen  kann  der  Lehrei'  ln  autworten,  auf  (Trund 
einer  kurzen  Instruction  z.  B.  auch  eine  statistisch  verwertbare  Prü- 
fung der  Sehschärfe  vornehmen,  wie  dies  in  einer  Wiener  Volksschule 
(Koperuikusgasse  15,  Schulleiter  Emanuel  Bayr)  mit  dei*  Cohuschen 


*)  Derartige  Uotemehmungen  bedürfen  auegubiger  bebördUdivr  F6id«nag; 
die  eigenen  Bifdiningett,  welehe  der  nm  die  Hygiene  muem  Schalen  liooliTeidieiite 

Proff.s.xur  V.  Ucnss  auf  <lt  in  VI.  intern.  Congreüse  fiir  Hytriciie  und  DemogiapUe, 
Wien  1887,  niitEfotluilt  hat.  siml  illustrativ  und  nicht  ailei^^r••luMlll.  Das  generfise 
Anerbiet^en  d«?«  Wiener  Zalmarztes  Dr.  Th.  M  iiiischer  aul  deuiselhen  Congresee 
(alle  Wiener  Sohulkinder  betrefifend)  ist  ofienbar  ganz  unbenutzt  geblieben. 


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—  699  — 


Piüfuugstafel  tliatsäclilich  scliou  geschielit.  ebenso  eine  Geliörprüfung, 
die  Messung-  und  Wägung-,  für  andere  Untei*sucliungen  i  Brust unitang, 
Gebiss,  KrHuklichkeitszustäude)  ist  natürlich  der  Facluuaim  entweder 
wünschenswert  oder  unbedingt  notlnvendig. 

Sicher  ist,  dass  der  Lehrer  derart  eine  neue  beträchtliche  Aibeit 
bekäme,  die  er  nicht,  wie  eventuell  der  Arzt  die  kleine,  freiwillig 
flbeiiiimmt,  und  dass  die  Kinder  deslialb  zur  Schule  müssten;  mit 
Rflckflicht  auf  diese  Verhältnisse  wäre  es  billig  und  praktisch,  für  die 
ganze  hier  skizsfrto  wichtige  einmalige  Untersuchungsarbeit  ein  paar 
,  Schultage  unterrichtsfrei  zu  machen.  Die  freiwillige  ärztliche  Unter- 
sndrangsarfoeit  könnte  eventuell  so  erledigt  werden ,  dass  die  Kinder 
während  der  Sehnlstunden  fitr  Fertigkeiten  ahwechselnd  in  klehien 
Gruppen  yoigefthrt  werden.  —  Dass  die  ungefähre  Gleichzeitig- 
keit eraer  Untersnehnng  der  Schnllocale  und  der  SchnlbevGlke- 
rnng  noch  von  besonderer  Bedentang  sei,  ist  klar.  Der  Anfiing  des 
Unternehmens  könnte  mit  den  grofistädtischen  Schulen  gemacht  wer^ 
den.  Die  Ergebnisse  wfiren  auch  fdr  die  Untenichtsreform  von  hohem 
Wert.  Vielleicht  discatirt  eine  oder  die  andere  nnserer  pädagogischen 
ond  ärztlichen  Gesellschaften  die  angeregte  Frage? 

Die  bereits  ziemlich  reiche  Literatur  Uber  verwandte  Studien  im 
Auslande,  unter  welchen  die  Axel  Eey^s  in  Stockholm  und  die  der 
dänischen  Commission  obenan  stehen,  bieten  vortreffliche  Anhalts- 
punkte Über  die  einzuschlagenden  Wege;  zutreffende  exacteste  Frage- 
stellung wird  die  statistische  Bearbeitung  erleichtem.  Die  vorliegen- 
den Muster  über  Verwandtes  aus  Belgien,  Dänemark,  Frankreich, 
Russland,  Scliweden  und  der  Schweiz  bieten  manchen  guten  Anhalts- 
punkt; mit  Benutzung  aller  Erfahrungen  hat  eine  Untersuchung  Aus- 
sicht auf  großen  B^rfolg.  Die  wesentlichen  Kosten  dürften  zeitweilige 
besondere  Verwendung  einigei"  Beamten  sowie  betriichtliclie  Druck- 
auslagen sein;  letztere  weiden  allerdings  z.  Th.  durch  den  buchhändle- 
rischen Vertrieb  der  L'nteruehnningsresultat«  ]iereinzu])riiigen  sein, 
besonders  wenn  außer  einer  streng  wissenschaftlichen  Ausgabe  eine 
für  die  weitesten  Kieise   Kitern)  veranstaltet  wird. 

Abgesehen  von  dem  bleibenden  Wert  der  Krg-ebnisse  in  wissen- 
schaftlicher Beziehung,  iiirer  anregenden  ^\'irkung■  und  ihrer  großen 
praktischen  Bedeutung  für  die  Schulbehörden,  würden  die  Resultate 
last  not  least  von  der  ( iffentlichkeit  mit  großem  und  in  die  weitesten 
Kreise  dringendem  Interesse  verfolgt  werden;  es  ist  klar,  wie  sehr  eine 
derartige  von  der  maßgebendsten  Stelle  inaugnrirte  Arbeit  anf  das 
Publicum  und  die  Lehrerschaft  hinsichtlich  einer  rationellen  häuslichen 


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—  600  — 


und  Schulerziehuug  der  .lugend  in  hygienischer  Richtung  eiinviikt^n 
möchte,  —  Deutschland  liat  durch  kräftige,  andauernde  Fürdening 
gesunder  körpL'rlicher  Bethätigung  (Spiele,  Bäder)  einen  großen  Schritt 
in  der  Praxis  voraus,  wendet  aber  sonst  viel  Zeit  auf  akademische 
DlBCOssioii  schulhygienischer  Fragen.  Bei  der  TOTStebendeii  Skizze, 
wdehe  ja  von  eiiier  Episode  im  Österreichischen  Parlamente  ansgeht, 
habe  idi  Österreich  im  Auge  gehabt,  welches  derart  gleicblUlB  in 
hygienicia  einen  großen  praktischen  Schritt  nach  vorwirta  machen 
konnte. 


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I 


Pidago^lie  RnndsehaiL 

Ans  Sachsen.  Das  Winterhalbjahr  188*.)  90  briK  litp  fiir  die  säelisische 
Lekrei-schalt  manches,  das  iuteressaut,  oud  mauches,  das  niclil  uui' interessant, 
■OBdern  auch  erfreulich  ist. 

Der  vor  Ostern  d.  J.  gMehlossene  Landtag  hat  mehrere  Beschlftsse 
gefasst,  welche  von  den  Lehrern  als  wohlthnend  wirkende  empfanden  werden. 
A.  Am  15.  März  gelangte  in  der  2.  Kammer  Cap,  110  des  Staatshaushaltes 
zur  Berathnng  und  Erledigung,  betr.  die  Dotationen  au  die  Schulgemeinden. 
Zunächst  ist  erwähnenswert,  dass  dieses  Capitel  nicht,  wie  in  Preusseu,  den 
veriiftognisvollen  und  —  hier  ist  einmal  das  Fremdwort  am  Platie  —  omi- 
nSsen  Namen  „ Schul lastengesetz"  erhalten  hat.  Cap.  110  Uberweist,  wie 
früher,  an  die  Schnlgemeinden  die  Hillftc  der  Grundstenereinnalime  in  Höhe 
von  1  559  223  Mk.  und  eine  Beihilfe  „zur  Bestreitung  der  Lehrergehalte"  in 
Höhe  von  1  700  000  Mk.  Diese  Gewährung  soll  in  der  Weise  erfolgen,  daes 
den  Schnlgemeinden  an  dem  Diensteinkommen  der  Lehrer  und  Lehrerinnen  an 
den  einfachen  Volksschulen  und  an  den  mittleren  Volksscluih  n,  sofern  am  Orte 
eine  einfache  Volksschule  nicht  bt'st<«ht,  für  jede  stiindige  Lelirerstelle  ein 
Zufichnss  von  3(K)  Mk.  und  für  jede  llilftilehrerstelle  ein  solcher  von  l.')0  Mk. 
zuthcil  wird.  Voraussetzuug  für  die  Gewährung  dieser  Beihilfeu  soll  aber 
■ein,  dass  das  Schulgeld  im  Dnrehschnitt  den  Betrag  Ton  5  Mk.  jShrlidi  nicht 
fibersteigt,  sowiei,  dass  das  AfindesttMukonnuen  der  ständigen  Lehrer  und  Lehre- 
rinnen nicht  unter  900  Mk..  das  Mii\dt  stcrehalt  der  Hilfslolirer  und  Hilfslehre- 
rinnen nicht  unter  tiOO  Mk.  jährlich  bt-tra^e.  Ausnahnuswcisc  kann  ^zui- 
Vermeidung  einer  erheblichen  Belastung  mit  Schulanlagen''  der  Staatszuscliuss 
anch  dann  gewfthrt  werden,  wenn  das  Schulgeld  im  Dnrehselinitt  bis  auf  8Mk. 
jährlich  ansteigt.  Die  Wünsche  der  Lehrer  nach  Aufbesserung  der  OehSlter 
haben  also  insofern  Berücksiclitifirun«::  erfalircn,  als  das  ^iindcsteinkommen  eint^s 
Hilfslehrers  von  540  auf  üOO  Mk.,  ihm  »  iiu-s  ständigen  Lehrei-s  von  840  auf 
900  Mk.  erhöht  worden  ist.  Kanu  diese  Erhöhung  auch  keine  außer- 
ordentliche genannt  werden,  so  ist  sie  dodi  sehr  dankbar  angenommen 
worden,  da  seit  Yorigem  Jahre  Tenchiedene  Ursachen,  daranter  nicht  znm 
mindesten  die  jjcwaltsanien  und  massenhaften  Arbeiterausstände,  eine  Preis- 
erhöhung all»  r  r.ebensViedürtnis.se  herbeigeführt  haben.  Bei  diesem  Cap.  110 
liatte  die  socialdemukratische  Partei,  au  deren  Spitze  die  Abgg.  Bebel  und 
Liebknecht  iteben,  den  sdioii  frOher  gesteUteii  Antrag  aof  Wegfall  des 
Schnlgeldes  von  neuem  eingebracht,  der  jedoch  abgelehnt  wurde.  Bei  der 
Berathuug  desselben  sagte  ein  Abgeordneter,  der  ganz  auf  dem  Boden  der  be- 
stehenden Gesellscliaftsordnune:  steht,  „dass  die  Aufliebung  des  Schulg-eldes 
nicht  nur  durchführbar  uud  möglich,  sondern  auch  nur  eine  Frage  der  Zeit 


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—  602  — 


sei,"  wahrend  ein  anderer  hervorhob,  die  GelialtsverhUltniss*'  der  Lehrer  könnten 
an  vielen  Orten  giüistiger  sein,  weshalb  er  die  Regierung  bitte,  „ernstlich  nach- 
mdenkeD,  in  welcher  Weise  beim  nSchsten  Luidtage  in  dieser  Beziehung  Än« 
demngen  eintreten  kOnntoi."  —  B.  In  einer  andern  Sitsmig  wurden  folgende 
Antr&ge  des  Finanzansschnsses  zam  Besch Inss  erhoben:  1.  Die  Kammer' wolle 
von  den  eingereichten  IVtitionen  diejenigen,  welche  darauf  ererichtet  sind,  den 
slAndigen  Lehrern  an  den  Gymnasien  und  Realgymnasien  königlicher  Collatur  die 
Staatedienereigenschaft  gesetzlich  za  verleihen,  auf  sich  beruhen  lassen.  2.  Das 
Oesoch  der  stftndigen  Lehrer  an  den  Oyninasien  nnd  Bealgymnaaien  königlicher 
Collatur  um  Gleichstellong  ihrer  Pensioniverh&ltnisse  mit  denen  der 
Staatsili ener  ist  der  königlichen  Staatsregiemng  zur  ErwätTTin?  zn  fiber- 
geben mit  der  Maßgabe,  diese  ErwÄgung  auch  auf  die  1  eichst el hing  aller 
ständigen  Lehrer  an  den  VolkeBchulen,  Realschulen,  Seminaren  nnd  anderen 
höheren  Schulen,  sowie  der  Oeistlieben  za  erstrecken.  8.  Dorch  diesen  Un- 
Ktand  ist  die  Bitte  des  Allgemeinen  Sächsischen  Lehrervereins,  fftr  die  Volks* 
schnllehrer  di»'  Scala  des  Staatsdiener- TViisinnsgesetzes  Geltnn?  erlangen  tax 
lassen,  als  erledigt  anzusehen.  Nach  allt  dem  dürfen  die  Lehrer  in  den  nächsten 
Jahren  einer  vortheilhaften  Änderung  sowohl  des  Dotations»,  als  auch  des 
Pensionsgesetzes  gewSrtig  Bein.  —  0.  Ferner  sttminte  der  Landtag  einer 
Regierangs-Vorlage  zn,  nach  welcher  die  Beiträge  der  Lehrer  zur  Landes- 
Lehrerpensionscasse,  sowie  zur  Witwen-  nnd  Wnist lu-asse  vom  1.  Januar 
d.  J.  an  in  Wegfall  kommen.  In  gleicher  Weise  sind  sämmtliche  TVnsions- 
beitrUge  gleichzeitig  den  Geistlichen  und  schon  früher  den  iStaatsdienern  er* 
lassen  worden.  Die  Bdtrftge  der  Lehrer  zn  beiden  Gassen  betrogen  durch- 
schnittlich 1  des  Gehaltes;  immerhin  ist  die  eintretende  Erleichtemng  fBUbar. 
Und  so  könnf  ii  dif  Lelirer  mit  dieser  Maßnahme  sehr  zufrieden  sein,  umsomehrt 
als  sie  durch  dit  sf  lbe  »'im'  gewisse  Gleichheit  mit  den  Geistlichen  und  Staat«- 
dienern  eiTeichten!  —  D.  Die  meisten  der  zahlreichen  Petitionen,  in  denen  um 
HemhsetBUng  der  gesetzlich  bestdienden  dreijährigen  Fortbüdungssehulplllcht 
auf  2  Jahre  gebeten  wurde,  Hess  man  auf  sich  beruhen,  etliche  jedoch  wurden 
der  Reo-ierung  7.nr  Kenntnis  überwiesen.  —  E.  Ein  von  einem  Arzte  einge- 
reichtes Gesuch  um  völlige  Aufhebung  der  Icörperlichen  Züchtigung 
blieb  unbeachtet. 

Der  Besuch  der  hierl&ndischen  Lehrerseminare  (s.  Febmarfadl  1888) 

hat  sich  seit  1885  fortgesetzt  gesteigert.  Dennoch  kann  der  Bedarf  an  Iiehr- 
kriUten  noeli  nicht  vrillig»  gedeckt  werden,  so  dass  es  nötliig  geworden,  emeri- 
tirte  Lehrer  und  Candidaten  der  Tlieologie  vereinzelt  /,nr  Aushilfsleistung 
heranzuziehen.  Bei  diesem  thatsäcliiichen  Lehrermangel,  der  aber  mit  dem 
in  Pren6en  z.  Z.  bestdienden  nicht  zu  vergleichen  ist,  wird  der  Besudi  der 
Seminare  thunlichst  zu  Hirdern  gesucht.  Neben  dem  vollständigen  Parallel- 
Seininar  zu  Dresden-Friedrichstadt  wird  nunmehr  auch  das  Doppelseminar  zu 
Grimma  (ein  normales,  eins  für  illterc  aus  anderen  Herufskreisen  übertretende 
•Schuiamts- Aspiranten)  mit  i'arallelclassen  verseben.  Die  solchergestalt  ge- 
steigerte Frequenz  der  Seminare  (dieselben  zBhlten  1885:  2241,  1886:  2262, 
1887:  2387,  1888:  2422  und  1889:  2480  Zöglinge)  lässt  erwarten,  dass 
Nothbehelfe,  wie  die  erwähnten,  künftig  nur  in  seltenen  Fällen  eintreten  wer- 
den. 1889  betrug  z.  B.  die  Zahl  der  mit  Reifezeugnis  vom  Seminar  Abgehen- 
den 347,  einschließlich  37  weibliche. 


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—  608  — 


Tn  der  Erkonntr\is.  dass  di>  T'ntorrifli  tsstatistik  trotz  vieler  Ein- 
'wäiide  doch  nicht  uhue  Bedeutung  ist,  haben  die  Uini»terieu  de»  Unterrichtä, 
des  Innern,  des  Krieges  und  der  Finanzen  soeben  einen  „2.  fiericht  fiber 
die  gresammten  Unterrichts'  nnd  ErsiehnngsanstAlten  im  KQnIg- 
reich  Sachaen"  veröffentlicht,  nachdem  schon  1885  anf  Gmnd  statistischer 
Erhebungen  vom  l.December  1884  ein  1.  Bericht  heranspepreben  worden  war. 
Die  Erhebung  erstreckt  sich  hauptsächlich  auf  den  Zweck,  die  Organisation 
und  den  Besnch  der  Scfanlen,  femer  anf  den  Schulanfwand  nnd  die  Art 
der  Deckung  dersclbeD,  sowie  anf  die  Lehr  erstellen  nnd  die  Bhnintlichen 
Lehrkräfte.  Der  erste  Theil  des  Berichts  behandelt  die  dem  ünterrichts- 
niinisrerinm  nnterstelUen  Anstalten,  niimlich  die  T'niversität  zu  Loipzier,  das 
l'olytechnicum  zu  Dresden,  die  Leliranstalten  für  allgemeine  Bildungszwecke 
(Gymnasien,  Realgymnasien,  Bealschalen,  höhere  Mädchenschnlen  and  Privat* 
schalen  mit  hlttieren  Unterriehtssielen),  die  BUdnogsanstalten  Ar  Lehrer  ind 
Lehrerinnen,  die  öffentlichen  Volksschulen,  die  Taubstummenanstalten,  die  con* 
ct^ssionirten  Privatanstalten  und  den  Unterricht  durch  HauslehrtT.  TTirr  sei 
d»'r  Kürze  halber  nur  von  der  üniversitüt  zu  Leipzig  einiges  angeführt: 
Die  Zahl  der  Docenten  betrug  im  Sommerhalbjahr  1889:  181,  im  Winter- 
semester 1889/90  182,  die  Zahl  der  Yorlesnngen  im  erstgenannten  Semester 
407  nnd  im  letztgenannten  423.  Die  Zahl  der  Studirenden  erreichte  im 
Soninierseraester  1889  die  Höhe  von  3322,  darunter  1546  Sachsen,  und  im 
Winterhalbjahr  1889  90:  eine  solche  von  3453,  darunter  1553  Sachsen; 
außerdem  haben  im  Sommer  87  und  im  Winter  86  Personen,  ohne  inscribirt 
an  sein,  Voriesongen  bemdit  Bas  letate  Wintersemester  hat  nKdist  de»  Ttm 
1883  84  die  hSiditte  BeenohsriiTer  eneicht.  Seit  1864/65  ist  die  Zahl  der 
Studirenden  stetig  gewachsen,  und  zwar  um  251,fi3  Procent  des  damaligen 
B*'Rtandes.  Die  geringste  Zahl  von  Studirenden  haben  die  Pädagogik  und 
die  Mathematik  aufzuweisen.  Von  Interesse  dürfte  noch  der  Unterlialtungs- 
anfwand  sein.  Die  Oesammtanigabe  betrug  1440338,65  Mk.,  die  Einnahme 
402606,93  Hk.,  der  Staatsznschnas  dmnnach  1037  741,72  Mk.  An  Unteiw 
StfttsnDgen  sind  den  Studirenden  zugeflossen:  107  758,13  Mk.  an  Stipendien, 
48871,93  Mk.  an  Convictstellen.  1  031,63  Mk.  an  Freistellt  n.  51 7  234,10  Mk. 
betrugen  die  Besoldungen  der  Professoren  und  Lehrer,  öl  7Ul,41  Mk.  die- 
jenigen der  Verwaltonga*  nnd  GerlditsbeamtMi,  566611,02  beanspraehte  der 
Anfnrand  fftr  akademische  Lehrmittel  nnd  Institute,  n.  a.  f. 

Der  Handfertigkeitsunterricht,  sofern  er  nicht  innerhalb,  sondern 
außerlialb  des  Volksschulunterrichts  betrieben  werden  soll,  bricht  sich  mehr 
nnd  mehr  Bahn.  Der  deutsche  Verein  für  Kuabeuhaudarbeit,  der  be- 
kaanlUdi  in  L  e  i  ]•  2  i  g  ein  Handfertlgkelts-Semlnar  nntevidllt^  für  «elcii« 
anch  der  letste  Landtag  eine  namhafte  üntenttttanngasnmme  bewilligte,  wird 
im  Laufe  d.  J.  mehrere  Curse  znr  Ausbildung  von  Lehrern  abhalten. 
An  dem  O.sterlehrga ng  betheiligten  sich  vorwiegend  solche  Schulmänner, 
welche  an  geschlossenen  Anstalten  (Internaten)  wirken,  z.  B.  an  Waisen- 
häusern, Einderhorten  nnd  Bewahranstalten,  an  Blinden-,  Taubstummen»  nnd  an- 
dern Instituten,  In  welchen  —  nach  meiner  Ansicht  —  der  HandÜertigkeitannter- 
riehtseinen  eigentlichen  Platz  hat.  Im  Juli  soll  sodann  den  norddeutschen,  im 
Ans-nst  den  siiddentschen  und  im  Sei)t<Mnber  den  rheinischen  Lehrern 
Uelegeoheit  geboten  werden,  sich  an  einem  Cursus  zu  betheiligen,  damit  dann 


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—  604  — 


überall  die  Knaben  sclmn  in  der  bildung'sfähif^t'ii  .lu^j^endzeit  angeleitet  werden 
künnen,  nach  und  neben  dem  ScUolanterriclit  (der  immer  die  Haaptsache 
bleiben  moMl)  am  SfihranbBtock  und  in  der  Werkstatt  für  Papparb^t  oder  aa 
der  Hobelbank  nnd  am  Schnitstisdi  Hand  nnd  Ange  za  fiben. 

Die  Schulreformbewegung  hat  auch  in  Sachsen  Boden  gewonnen: 
schon  seit  Jahren  besteht  in  Dresden  eine  Freie  Vereinigung  für  Schulreform''; 
jüngst  bat  »ich  ein  Verein  für  Schul-Reform  gebildet,  welcher  dem  großen 
ndentKhenVereinlBrSdnKBelbnn*'  znBerlin  als  Ortsgruppe  Dresden  beigetreten 
ist  In  derconstitnirendenVersammlnng  wurden  folgende  Gedanken  geltend  ge- 
macht, welche  hier  wiedergegeben  za  werden  verdienen,  da  sie  von  allgemeinem 
Interesse  sein  werden,  indem  sie  einen  kurzen  Rückblick  auf  diese 
Bewegung  bedeuten:  Schon  vor  20  Jahren  begannen  ernstliche  Klagen 
über  den  gegenwärtigen  Schnlbetrieb  und  die  damaligen  Sohnlein- 
richtungen;  jedoeh  erst  Prof.  Dr.  W.  Preyers  Bede  anf  der  Nator- 
fonehenrenammlnng  an  Wiesbaden  Uber  »Natorforschung  und  Schule"  führte 
zu  weiteren  SchritteOi  n,  a.  zn  einer  mit  23000  Unterschriften  versehenen 
Schulpetition  an  den  preuiJisclien  Unterrichtsminister  Herrn  v.  Gossler.  £s 
folgte  die  Bildung  zweier  Schulreformvereine  zu  Berlin,  des  einen  mit 
Dr.  Lange  nnd  Generalseeretllr  Peters,  des  andern  mit  Prot  Preyer  nnd  Dr. 
Hugo  Gering  an  der  Spitze.  Die  Spaltung  der  Sdiulreformer  in  zwei  Vereine 
hat  keinen  sachlit  hen  (irniid.  und  es  ist  auch  von  Seiten  des  Preyer'schen 
\  ereins  („Neue  deutsche  Scliule")  der  Wunsch  vorhanden,  sie  zu  beseitigen.  — 
Ein  fibexnsdiender  Erfolg  ward  den  ßeformbestrebungen  dnrch  die 
Cabfnetsordre  des  Kaisers  Wilhelm  vom  12.  Fehmsr  d.  J.  ftber  den  Unterricht 
in  den  Cadet^nhftnsern.  Der  Erlass  enthält  die  wolerwogene  nnd  aus- 
drückliche Willensmelnunp:  des  Kaisers,  zniiitchst  freilieh  nur  für  die  Cadeten- 
anstalten;  indes  ist  es  blos  eine  Frage  der  Zeit  und  liet^t  Jedenfalls  auch  in 
der  Absicht  des  Kaisers,  daas  die  In  dieser  Ordre  ausgesprochenen  Grundsätze  auch 
anf  die  bttrgerliehen  Schalen,  namentlich  die  Gymnasien,  Anweadniig 
finden.  Minister  v.  Gossler  ist  seitdem  weit  eher  ein  Begünstiger  als  ein 
Gee:ner  der  Schulreform,  und  er  hat  bei  der  Berathnng  des  Cnltnsetats  im  März  d.  .1. 
erklärt,  dass  man  die  „Berechtigungsfrase"  des  Einjähriß: -Freiwilligendienstes 
jedenfalls  ganz  von  der  Schulfrage  loslösen  werde,  und  dass  eineEnqnete- 
Gommission  Ton  etwa  40  Personen  einbemSm  werden  solle,  nm  Aber  Sohal- 
reformvr>rs(  hläge  zu  berathen.  UOge  die  Fi  a^i-  der  Schulreform,  der  ja  im 
nPa'dagogium"  eine  fortgesetzte  Anftnerksamkeitzngewendet  wird,  einer  gedeih- 
lichen Lösniip  entjüregen geführt  werden!  — 

Zum  Schluss  meines  Berichtes  will  ich  noch  einer  i'ersou  Erwähnung 
thnn:  Job.  Fried.  Ang.  Lansky,  ein  Hann,  welcher  aa  der  in  den  letaten 
60  Jahren  erfolgten  Hebung  des  sächsischen  Schulwesens  und  Lehrerstandes 
großen  Antheil  hat  und  meist  in  Verbindung  mit  den  Namen  Berthelt,  .Jäkel, 
Bunieniiinn.  Thomas,  Petermann,  Heger  etc.  genannt  wird,  trat  ;uii  0.  Januar  l.J. 
in  den  liuhestund;  1818  zu  Dresden  geboren,  war  er  zuletzt  daselbst  Schul- 
dfreetor, im  Kai  1849,  als  JnLEeH  Bedaeteor  der  Sftehs.  Sehnlaeitnng  nnd 
Mitglied  des  Landtages  1848/49,  in  Dreiden  erkrankte  und  starb,  flber- 
nahni  Lansky  die  Leitung  dieses  Blattes.  Die  Lehrerschaft  hat  ihm  zu 
Ehruu  eine  Lausky-.StiftntiLr  im  Sächsischen  Pestalozzivereine  errichtet,  als 
dessen  Vertreter  Oberschuirath  A.  Berthelt  au  Lansky  u.  a.  folgende  Woi  te 


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—  605  — 


richtete:  ^Was  Sie  dunh  Ihr  reidig^eseffiietes,  melir  als  oUjiihriires  l«eiut'- 
liches  Wirken,  wu.s  Sie  tVnier  durch  »-ine  mehr  als  25jährig'e  Mitylieds<  hat'r 
im  Vorstaude  des  Allg.  8.  L.-\ .  und  seit  über  40  Jahren  als  Sclirütleiter  der 
Sttcha.  Sehnkeitang  im  Interesse  des  Lebrerstandes  in  Bezog  auf  erliSlite 
Bdrafobildnng  und  Anerkennung  der  dem  Stande  gebürenden  Stellnng  im 
socialen  Treben,  unbekümmert  nm  I.nb  und  Tadel,  ^ethan  haben,  was  Sie  end- 
lich durch  die  Erzeugnisse  Ilirer  poetischen  Kegrabung*)  zur  rechten  Feier 
fröhlicher  und  emster  N'orkommuisse  im  Lehrerleheu  beigetragen  haben,  und 
V.  a.  m.  wird  Ihnen  in  tausend  Bensen  eine  dankbare  Erinnernng  sicheni!  ** 

Aus  Dresden.  r>ie  vor  12 — lö  Jahren  ins  Leben  gerufenen  Schnl- 
spareassen  vcrlicirn  iiiiiiicr  mehr  Ansehen  und  Anhilnger.  Ein  denken- 
der Ko|)t  erfand  die  .Sparniarke,  und  seitdem  ist  die  Frage,  wie  schou  die 
schulptlichtige  Jugend  znr  Sparsamkeit  geftthrt  werden  kSnne,  als*  gelSst  zn 
betrachten.  Die  meisten  dentschen  Spareasaen  haben  bereits  die  Sparmarke 
eingeführt;  auch  die  liicnitrc  Sjjarcasse  hat  zahlreiche  Verkaufsstellen  er- 
richtet, wodurch  es  nun  der  Jnirend  leicht  fremacht  i.it,  kleine  Ers|)arnisse 
anzusammeln.  Im  April  IbUU  befanden  sich  unter  den  Einlagen  der  4  Spar- 
eassensteUen  5970  Sparmarken »  also  eis  Betrag  von  597  Hk.  Es  sind  aber 
aneh  sehon  Monate  zn  verzeiehnen  gewesen,  da  die  Einzatilnng  in  Spannarken 
fut  die  Summe  von  1()00  ^I.  eireichte.  UOge  die  Einrichtung,  welche 
pädagogisch  wie  volkswirtschaftlich  gleich  wertvoll  ist,  zu  einer 
überall,  herrschenden,  einer  internationalen  werden!  — 

Der  lOOjfthrige  Todestag  Samuel  Heiniek6*s  (30.  April  1790),  des 
BegrSnders  dee  dentsdien  Taubstummen-Unterrichts,  ist  in  allen  deut- 
schen Taubstunniien-Anstalten  in  entsprecli.  iider  Weise  geiSaiert  worden.  Bei 
der  Feier  der  Ihesdner  Anstalt  entwarf  \  icc.lii-.  11.  V..  Stötzner.  Leiter  des 
Beiblattes  zur  Allg.  i).  Lehrerzeituug:  „Auz.  f.  d.  neueste  päd.  Literatur", 
ein  lichtvolles  Lebensbild  des  unter  die  Wolthftter  der  Menschheit  zu  zäh- 
lenden Mannes.  — 

Nach  dem  FiDunzgesetze  für  1800  91  werden  dt  ii  ScJiulgemeinden  300 
bez.  150  ilk.  Zusciiuss  für  jede  stäudifre  bez.  llilfslelu erstelle  gewährt,  wenn 
die  Uehiilter  dieser  Stelleu  wenigstens  9ü0  und  »iLKJ  Mk.  ausmachen  und  das 
Schulgeld  5  Mk.  jährlich  nicht  fibersteigt.  Meie  Schulgcmeiuden,  welche 
schon  bisher  ihren  Lehrern  jene  Summen,  also  etwas  mehr  als  das  Minimum, 
bezahlten,  setzen  nun  zwar,  um  den  Staatsbeitrag  zu  erhalten,  das  Schul- 
geld auf  f)  Mk.  lic(;i]),  erhöhen  aber  nicht  die  Lehreitrchillte!-.  obwol 
eine  Erhöliung  derst  lben  angesichts  der  jetzigen  Z'  it verliältnisM'  wUnschens* 
wert  ist  und  jedenfalls  auch  in  der  Tendenz  der  Regierung  gelegen  hat.  In 
Dresden  erhalten  die  provisorischen  Lehrer  1^00  Mk.,  die  stftndlg  wwdenden 
1500  Mk.,  wovon  jedesmal  !>0<)  Mk.  als  Wohnungsgeld  zu  rechnen  sind. 
Demnach  —  sagt  man!  —  liegt  kein  Kechtsirnuid  vor.  die  Gehälter  zu  er- 
höhen. Es  wird  daher  woi  noch  eine  Weile  dauern,  bis  es  hier  so  schön  wie 
in  Mauüheim  wirdi  — 

In  vielen  Städten  des  Deutschen  Reiches  (Fraokftirt  a.  M.,  Berlin,  Leip- 
zig, Chemnitz  u.  a.)  haben  sich  seit  ungefähr  10  Jahren  Lehrergesang- 

•*)  S.  u.  a.  die  Oedichtssmmlung:  „Unser  Wandel  ist  im  Himmel'*  (Leipaig, 
JuUus  Klinkhardt) 


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—   806  — 


vereine  gebildet,  welche  durch  ihre  Leistuiigeu  iu  der  luusikalischeu  Weit 
Beachtaug  finden  und  demgemäß  zur  Hebung  des  Ansehens  des  Lehrerstaiw 
des  beitragen  werden.   Der  seit  1884  in  Dreiden  beetehende  L.-0.-V.  hatte 

am  2.  Mai  die  Bhre,  den  Königi  Hqj estäteii ,  welche  nach  moiuitelangem  Anf* 
enthalte  soeben  von  dei-  Riviera  znriickf?ekehrt  waren,  ein  Abendständchen 
(unter  Leitung  des  Musikdir.  Prof.  Osk,  Wermann)  zu  bringen.  Der  \  <tr- 
titasende  gab  dem  Gedankeu  Ausdruck,  dass  die  Lehrerschaft  iu  patriuiischer 
Geeinnimg  dem  fDr  die  Volkabildnng  beMiytra  König  Albert,  aowie  der  meaachen- 
fireondlichen  Protectorin  de.s  Sächsischen  Pestalozzivercins,  der  Königin  Carolai 
sich  7A\  Dank  \  »  rpHichtet  fühle.  Se.  Majestät  antwortete  auf  die  Ansprache, 
dass  ihm  und  seiner  Gemahlin  „die  künstlerische  D.orbietuug"  des  L.-G.-V. 
„eine  große  Freude  bereite'';  iu  dem  uacli  Beendigung  der  Gesänge  geführ- 
ten ISageren  PriTatgespifioh,  das  hanptsfteblich  mnaikalisch  peraöidielie  nnd 
locale  Angelegenheiten  l  erührte,  äußerte  sich  Se.  Majestät  u.  a.  dahin,  es  ael 
anzuerkennen,  dass  dir  Lclirer.  welche  .,\vi»l  ohnehin  schon  viel  zu  thmi 
haben",  neben  ihrem  Berufe  aucli  der  Kunst  ihr  Inti  ressi:  zuwendeten.  — 
Wenn  einer  der  mit  Recht  angesehensteu  deutscheu  i  ürhieu  eine  reichliche 
Stande  Zelt  findet,  nm  Lehrern  somhören,  nnd  es  nicht  anter  seiner  Wfirde 
liUt,  sich  längere  Zeit  mit  ihnen  zu  unterhalten,  so  dürften  aach  manch 
andere  keinen  aasreichenden  Grand  liaben,  die  Lehrer  „bergetief "  unter  sieh 
zu  erblicken! 


Aas  Österreich.  —  Dareh  Erlass  des  üntenrichtsministeriams  vom 
20.  Jänner  1890  ist  auf  Grund  der  Vorlage  des  Landeeaassohnsses  für  Böhmen 
eine  größere  Ziilil  k.  k.  Bezirksschulinspectureii ,  welche  dem  Kreise  der 
"\'olks-  und  Bürgersehullehrer  an^ehflren,  ibnb  Amtes  vom  1.  Milrz  1(S9U  an 
enthoben  worden.  Der  Grund  dazu  war,  dass  der  Nurmalschulfoud  Böhmens 
nidit  mehr  imstande  sei,  die  SabstitatioDiBgebttr  Ar  diese  Inspectoren  ca  be- 
schaffen. Es  werden  deshalb  non  die  Terwaisten  BezirksschnÜnspectorenstellen 
durch  k.  k.  Mittelschulitrofe.ssoren,  deren  Substitutionsgebüren  aus  dem  Staats- 
säckel fließen,  oder  durch  (Teiftliche.  Apotheker,  He/irksrichter  u.  s.  w.,  tlir 
welche  Personen  tiieilweise  solche  GebUren  ganz  „ei-sparf*  werden,  besetzt! 

Dieser  Vorgang  wird  sidi  in  der  Folge  ganz  natürlich  als  ein  arger 
Missgriff  erweisen;  es  ist  nndenkbar,  dass  Inspectoren,  dem  Lehrpersonale  der 
^fittelschnle  entnommen,  oder  gar  aus  Ständen  stamnienil,  die  der  \'olksschule 
ganz  tVeiiid  gegenüberstehen  und  diese  gleich  Laien  nur  von  auüen  kennen, 
die  Arbeit  des  Volksschullehrers  in  gerechter  Weise  würdigen  und  beurtheiien 
können. 

Eiin  Apothelrar,  ein  Geistlicher,  ein  BeiirkBrichter  —  k.  1l  Bezirksschul- 

inspector!  Solche  Fälle  sind  in  Böhmen  jetzt  zur  Thatsaclie  geworden.  Die 
bezügrlichen  Interpellationen  im  Reichstasre  hatten  W(d  eine  Antwort  des 
Uuterrichtsmiuislers  zur  Folge,  die  aber  erstens  nicht  ganz  klappte,  und  iu 
VdUcBsehallehrerltreiBen  idoht  befriedigen  konnte,  weil  die  Lehrer  am  besten 
wissen,  dass  nnr  deijenige  eine  Arbeit  richtig  zn  beortheflen  Termag,  der  die 
Arbeit  selbst  einmal  gemacht  hat.  Die  Lehrer  Böhmens,  namentlich  die  deutsch- 
böhmische  Lehrerschaft,  hat  sowol  duich  ihren  Lande^lelirer-N'erein,  als  auch 
in  fast  sämmtlicheu  Zweigvereinen  Kuudgebungen  gefassst,  welche  diese  \'er- 
füguug  als  eine  tiefeinschneidende  und  schädliche  bezeichnen.    Leider  hört 


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—   607  — 


man  die  Stimme  d«  r  Lehrci^chat't,  ^  ataht  in  Österreich  seit  Jahrzehnteu  so 
in  seiner  Gresckichte,  zu  spät!  — 

Im  Statthaltenigebftnde  in  Prag  fand  efaie  Berathiug  tob  Vertreteni  des 
gesammten  Sdudweseiis  Böhmens  nnter  dem  Vonitae  des  Statthalters  statt.  Zwsek 

der  Enrniete  war,  zn  berathen,  in  welcher  Weise  das  Schulwesen  Böhmens  auf 
der  Landes -Jubililnms -Ausstellung-  am  geeignetsten  zur  Ausstellung  zu  brinj^eu 
wüxe  und  hiediuch  die  geeignete  Grundlage  zu  gewinnen  für  die  dem  k.  k. 
Ministerium  za  erstattenden  besfiglichea  Antrftge.  Znnftchat  handle  es  sich 
dämm  ,  ob  all«  Kategorien  Schulen  bis  anf  die  niedeisten  ünteiriehtsstofen 
herab  die  Ausstellung  bescbicken  sollen,  was  im  Principe  bf^fabt  wurde.  Mit 
welchen  Gegenständen  und  in  welchem  TTinfang-H  sich  jedoch  die  einzelneu 
Sdinlkategorien  an  der  Ausstellung  betheiligeu  bullen,  wurde  mit  BücksicUt 
daranf,  dass  fiber  die  für  die  Sdiiilaisstellung  verfugbaren  Bftnme  noch  Un- 
Uariieit  hemeht»  einer  spUeren  Beachlnsstanng  vorbehalten. 

In  einer  engeren  Conferenz  der  Vertreter  des  Fachschulwesens  fand  die 
Berathung  über  die  approximative  Bestimmung  des  benöthia-ten  Raumes  und 
Aufwandes  statt  Zur  Durchfülirung  der  Vorbereituugsarbeiten  wurde  ein 
engeres  nnd  ein  weiterem  Comlt6  gewählt  — 

Der  Lehrermangel,  bsMer  gesagt,  dw  Unterlehrermangel,  ist  in  Böhmen  im 
stetigen  Stcli^eii  bcg^rifTen.  Die  UnterlebrcrstcUcn  an  2classigen  Scholen  sind  in 
manchen  Bezirken  fast  alle  iinliesotzt.  Nirlit  einmal  n\ir  einitremiaßen  an  einer 
Mittelschule  gebildete  Aushili^krälte  iinMrii  sich.  I>ir  rnrrrlelirer  mi\sseu  eben 
8  bis  10  Jahre,  bie  und  da  iu  Städten  uuch  langer  warten,  bevur  sie  eine  mit  100 
bis  800  fl.  dotirte  Lehrenteile  erhalten.  — 

Die  Venammlnng  des  dentsch^fstenreichlMhen  Lehrerbnndes  wird  stehetem 
Vernehmen  nach  am  ß,  u.  7.  August  1.  J.  in  Böhmen,  und  zwar  in  der  Stadt 
Saaz  tagen.  In  erster  Linie  war  Znaira  in  Mithn-n  in  Aussicht  genninmen. 
Die  Hauptversammlung  des  deutschen  Laudeslelirer-Vereines  in  Bölimeu  wird 
im  tanHanden  Jahre  entlhUen.  Die  VenammlQBg  des  dentsA'-liatwreicliiMAen 
Lehrerbnndes  sollte,  nachdem  sieh  fai  Znaim  mit  der  Abhaltang  dersdben 
Schwierigkeiten  ergaben,  für  heuer  ausfallen,  doch  hat  die  von  den  Bischöfen 
eingebrachte  neuerliche  Forderung  auf  Deniolirung  der  ;»8terreichischen  freien 
Schulgesetzgebung  und  Unterordnung  der  Schule  unter  die  katholische  Kirchen- 
gewalt wieder  die  Gemlither  der  Freunde  wahrer  Volksbildung  in  Aufregung 
gebracht  nnd  die  Lehrer  der  OsterreiGliischen  Schale  nr  Stellnngnahme  gegen 
solche  Angrüfe  anf  Volkseniehnng  nnd  Staatsgmndgesetse  veraolasst.  Or. 


Aus  der  Fachliteratur. 

304.  Warum  ein  kritischer  (Geschichtsunterricht  die  „biogra* 
phische  Methode*'  verwerftii  mnss  (R.  D.,  Päd.  Beform  1890,  5).  „Will 
die  Kjritik  ihre  Anklage  gegen  die  „liiographische  Methode'*  in  wenige  kurze 

Sätze  znsammendrJlngen,  so  sind  es  diese  :Sie  beschäftigt  sich  Überhaupt  nicht 
mit  Geschichte,  8on<lt'rn  mit  Geschichten  (und  Sagen).  Sie  zieht  die  Schale  dem 
Kern  vor.  .Sie  stellt  Muster  auf,  die  keine  sind,  für  unsere  Kinder  keine  sein 
können  oder  dürfen.  Sie  fälscht  die  Geschichte.  Sie  verdreht  nnd  verhöhnt 
die  Natnrgeaetze.* 

305.  Das  historische  Moment  im  naturwissenschaftlichen  Unter- 
rieht (Aarganer  SchnlbL  1890,  3).  „Kein  Unterrichtsfach  scheüit  so  wie  das 


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der  Naturwissenschaft  gr^  iffnet.  je  nach  Art  der  Beliandlnng  entweder  Stolz 
und  Selbstüberheboog,  oder  rahigen  Math,  gepaart  mit  Bescheidenheit,  zu  er- 
zeugen." Hinweis  auf  die  Leistniigen  der  Vergangenheit  im  LiteraaBe  der 
Pietät,  Gereditigfceit  mid  Bescbeidenlieit      dw  Vertieftiiigr  und  Erweitenmg 

(hinsichtlich  des  Fachwissens).  „Sollte  die  Naturwissenschaft  dem  MateriaUamu 
den  Boden  geebnet  haben  oder  zn  ebnen  im  IJegrifle  sein,  dann  würde  das  er- 
folgreichste Gegenmittel  in  der  Verknüpfoug  ihrer  realistischen  und  objectiv 
kalten  Lehren  mit  geschichtliehen  Momoiten  (dem  erwärmenden  Allgemein- 
menachUchen)  liegmi.'' 

ROß.  Reform  des  RechennpterrichteB  (Pr,  Drischel,  Repert.  d.  Päd. 
1890,  III).  Nur  eiiie  ungezwung-ene  Verknüpfung  des  Rechenunterrichtes 
mit  den  übrigen  Fächern  (nicht  Spielerei  and  Künstelei  wie  in  der  Schale 
Zillers).  Behandlung  der  DecunalbrUche  nach  Steuer  (Rechnen  mit  ganzen 
nnd  mit  gebrochenen  Zahlen  in  eteter  Weehsdbesiehnn;,  FortfBhmng  der 
Decimalbruclircclinnng  in  üoncentrisclien  Kreisen).  Beseitigung  verschiedener 
Aufgaben  und  Aufgabenpriuppen  (die  theils  zu  complicirt  sind,  tbeils  den  Anfor- 
derungen des  Lebens  nicht  entsprechen,  z.  B.:  aus  den  Grundrechnungsarten 
Aufgaben  mit  mehr  als  zweifadi  benannten  Zahlen;  Bräche  mit  unbequemem 
nnd  nngebrftnchlichem  Namen:  Anlli;aben  ana  der  Begeldetri,  Zlna-,  lOadiuiga- 
nnd  Terminrechnnng-,  Kettensatz;  Wnrzelausziehen. 

307.  Vom  geometrischen  Unterriclit  (A.  J.  Pick,  Osterr.  Schulbote 
1890,  I,  II).  Uber  den  ei-sten  geometrisclien  Unterricht  im  allgemeinen  und 
die  Entwickelang  der  geometrischen  Grundbegriffe  im  besonderen.  Verschiedene 
Wege:  1.  Der  empiriache  (ezperimMitelle)  Nadiweis  (an  einer  Anzahl  Einnel- 
Alle)  fVr  die  Richtigkeit  einer  Behauptung  —  nur  bei  der  Einübung  zn  be- 
nutzen. —  2.  Die  ^'eranschaulichang  der  Wahrlitit  bei  vielen  Sätzen  an- 
wondbai".  —  3.  Die  synthetisch-katechetische  Methode  (durch  Abfragen  die 
Mittel  zur  Führung  des  Beweises  für  die  Richtigkeit  des  gegebenen  Lehrsatzes 
zn  finden)  —  weitana  am  hinflgaten  ansnwendoi.  —  4.  Die  henriitiaehe 
Methode  ist  —  richtig:  angewandt  -  -  die  beste  und  kann  ftberall  gewählt 
werden:  aber  sie  würde  den  Unterricht  außerordentlich  verlangsamen,  wollte 
man  sich  ihn-r  überall  bedienen.  In  Fällen,  wo  das  zu  Findende  leicht  er- 
sichtlich ist,  ist  sie  am  Tlatze.  („Thöricht  wäre  es,  wollte  man  z.  B.  den 
pythagoreiaohen  Lehrsata  von  den  SchfUem  finden  laaaen.") 

308.  Der  physikalische  Unterricht  (R.  Jünger,  Deutsche  Sehnlpr. 
1890,  8.  9)  ist  auf  die  Erfahrungen  der  Kinder  (die  aus  ihrem  Zusamnien- 
hauf:re  nicht  herausgelöst  werden  dürfen)  zu  gründen.  Stoffe:  physikalische 
Individuen  (Lampe,  Ulcn,  bounej,  dabei  auch  chemische  Erscheinungen  zu  be- 
handeln. Anordnung  nach  der  Schwierigkeit,  nicht  mit  Bilckaicht  anf  das 
System.  Versuche  als  Prüfsteine  der  Wahrheit  (ethiaoher  Wwt).  Die  Kinder 
betheiligen  sich  an  der  Erfindung  der  N  ersnche. 

3(.)9.  Gedanken  über  den  Unterricht  in  Irt  indi  n  Sju  iu  hen  f J.  L., 
Freie  iSchulzeitung  1889/90,  23).  Lehrbuch  =  Ergäuzuugsbuch  für  die  in  ge- 
mehaaamer  Arbeit  yon  Ldirer  nnd  Sohiller  gew<»nenen  grammatiaehem  Kennt- 
nisse und  bietet  daher  genügenden,  sorgfältig  anagewfthlten  Stoff  in  einer 
Form  dar,  die  genau  den  Vorgflngen  des  Lemprocesses  entspricht,  damit  das 
Selbststudium  (auch  für  den  der  Schtlle  Entwachsenen)  erleichtert,  angenehm 
und  wirklich  nutzbringend  werde.  Charakteristik  des  französischen  Unterrichtes 


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—  anf      UntenM:  in  den  Veriwn  anf  er  imd  den  HUftreiteit.  —  Mittel- 

stnfe;  in  den  drei  nnteren  Oonjngationea  einechliefilich  der  nnregelmäBigMi 

Verben  —  Oberstufe:  in  der  ausführlichen  syntaktischen  Behandlung  eines 
Redetheils  nach  dem  anderen.  Aligemeiner  Grundsatz:  Wenig  Regeln,  viel 
Beispiele. 


810.  Valentin  Trotzendorf  fL.  Sturm,  Schles.  Scholz.  1890,  7).  Alf 
„Gedenkblatt  zum  vierhundertjährigen  Geburtstage"  wol  geeignet.  -  Skiz- 
zirang  seiner  Lebensgeschichte,  seines  Charakters  and  seiner  A[ethodei  letzteres 
naeh  dem  Berichte  seines  Nachfolgers,  des  Magisters  Tabornus. 

311.  Beformen  nnd  Proteste  (Aügr.  Dentaehe  Lehrers.  1890,  16). 
Etgeoattchtige  FaohmBnner  (Specialisten)  haben  in  der  SchnlreformA-age  nicht 
mitzureden,  sondern  nur  Sclinlraänner,  d.  h.  M&nner,  „die  neben  vielseitigem, 
gründlichem  Wissen  eine  tiefg^eliende  Kenntnis  der  Jugend  ihr  eigen  nennen 
dürfen".  Die  erste  Stimme  gebüre  Endolf  Uüdebrand,  in  dessen  Werk  vom 
dentaehen  äprachvnterrieht  nSich  dä>  Qeist  eines  Peataloizi  mit  dem  Jakob 
Grimms  zu  einer  wahrhaft  nationalen  Tliat  verbunden  habe".  (Für  diese  dnrch- 
aus  richtige  Bemerkung  verdifnt  Verf.  alle  Anerkennung.  Zu  tadeln  aber  ist, 
dass  er  unter  den  Reformen  ß;*  lade  die  nothw endigste,  dringlichste  nicht  be- 
rührt: die  Erziehung  zur  That,  die  von  der  modernen  Schulbildung  nicht  nur 
Twnachlttsslgt,  sondern  planmSfiig  Tereitelt  wird.) 

'512.  Der  Kampf  um  die  Schulreform  (G.  Holzmfliler,  SSeitachr.  f. 
lateinlose  hiih.  Schulen  1890,  I).  Verf.  ohanikterisirt  verschiedene  anf  die 
rmj^estaUunt;-  der  höheren  Schulen  abzielende  Bestrebungen,  im  besonderen 
die  Eingabe,  welche  der  von  Lange,  Peters  und  üeuossen  geführte  Verein  für 
Sdinlreform  an  den  prenÜlBchen  Cnltosminiater  gerichtet.  Diese  Eingabe  wird 
praktisch  als  unwirksam  erachtet,  weil  ein  hinreichender  Grandstock  latein- 
loser Schulen  fehle.  Letztere  haben  an  sich  genttgende  Lebenskraft;  de  ver^ 
ziehten  auf  jegliche  Berechtigungsjagd. 

313.  Der  Mittelweg  im  Streite  der  Parteien  (C.  Spielmann,  Hess. 
Sehnte.  1890,  12).  Geschickte  Empfehlnng  des  niiparteiischen  FondiaiB  md 
Prfifens.  Der  p^ldagogische  lOttelweg  ist  »sehr,  sehr  schwierig''.  Yert 
glanlit,  ..dass  sieli  zwischen  Wissenschaftlern  und  Vulgaren  eine  große  ge- 
niäüit,'te  Mitteliiartei  bilden,  die  mit  der  Zeit  sich  über  ganz  Deutschland  ver- 
breiten werde  und  alles  Gute,  das  ersonnen  wurde  und  in  der  Praxis  sich  be- 
wihrt  hat,  Tereinigt". 

314.  Herab  nnd  binanf  (W.  Walter,  PÄd.  Zeitnng  1890,  14).  Tom 
Herablassen  und  Hinaufziehen.  „Die  beiden  Gesetze  ergänzen  sich.  Eines 
kann  ohne  das  andere  nicht  bestehen.  Sie  stehen  im  Verhältnis  des  Bedingen- 
den zum  Bedingten.  Das  erste  Gesetz  gilt  als/ Einleitung  zum  zweiten,  wel- 
chea  Hauptgesetz  ist.  Die  Theorie  dea  Herablassens  gründet  sich  auf  die 
Psychologie,  die  Theorie  des  HinanlUehena  anf  die  Ethik.  In  der  PTaiia  Tor- 
Inlten  rie  sich  wie  Nüttel  und  Zweck.  —  Das  Herablaasen  gilt  dem  IndlTldamB, 
das  Hinanfziehen  dem  .Mimi<(  lu  n." 

315.  Die  Durchführung  der  Schulclassen  (A.  Lomberg,  Deutsche 
Blätter  1890,  13).  Bei  Durchführung  der  Classen  wird  die  Unmbe,  welche 
daa  Nepe  im  Kinde  erregt,  vennindert  (da  der  Lehrer  nicht  nen  ist)  —  die 
Nothwendigkeit  dea  „Einarbeitena*  anf  Seiten  dea  Lehrera  hInfUlig  —  die 

PwiaeotiwB.  1>  Mktg.  Haft  IX.  48  ' 

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—   610  — 


Fflhlang  des  letzteren  mit  dem  kindlichen  Geiste  erhalten  und  verstärkt  — 
das  Gesetz  über  Berücksichtigfang  der  Individualität  erfüllt  —  die  Zucht  be- 
deutend erleichtert  —  Krittelsucht  auf  Seiten  der  Sciiüler  erstickt  oder  ver- 
hütet —  die  Anhänglichkeit  der  letzteren  an  den  Lehrer  eine  über  die  Schule 
Uiiaiu  daa«Ride.  —  (Dass  schon  durch  ein  anfrichtig  gefBhrtes  pftdagogicehea 
Tagebuch  und  durch  wrgfSlüg  gezeichnete  Charakterbilder  der  Lehrerwechsel 
sehr  viel  des  Misslichen  verliert,  verschweigt  der  Verf.  Er  scheint  überhaupt 
nur  mit  den  ungünstigsten  Verhältiiisseu  rechnen  zu  wollen,  —  Beispiel:  ^Der 
Ltihrer,  dem  eine  Classe  nur  auf  die  Zeit  eines  Jahres  übei^eben  wird,  be- 
achAfUgt  deh  in  dleaer  Zeit  Cut  anasdüiellich  mit  der  Darcharbdtang  dea 
TOigeBdiriebenen  Jahreapenamna  und  kdmmert  sich  in  seiner  Arbeit  weder 
im  aeinen  Vorgttnger,  noch  um  aeinen  Nachfolger.") 

316.  Pas  Durchführungssysteni  (Fr. Viergutz,  Pomm. Blätter  1890,8). 
Verf.  beleuchtet  die  Nachtheile  der  reinen  Durchfiihrtinir;  er  will  sie  nur  für 
drei-  oder  vierdassige  Schulen  gelten  lassen;  in  mehr  gegliederten  Schulen 
soll  eia  Lehrer  dieselben  Kinder  2 — 4  Jahre  behalten.  (Jn  vielen  Fällen  könne 
~-  wegen  einer  grollen  Zahl  Zarflckgebliebener  —  von  einem  Fortfahren  der 
nrq^rttnglichen  Claaae  gar  nicht  mehr  die  Rede  aein.) 

317.  Gesnndheitsregeln  in  der  Schule  (Schlesische  Schulz.  1890, 
5.  6).  „Es  pribt  eigentlich  keinen  Uiitei  richtso^efrenstand,  der,.  natnrgemUß  ver- 
nünftig, pädagogisch  treu  gehandhabt,  nicht  zugleich  eine  Lection  in  der  Ge« 
aondheitalehre  «tra.  Auch  bei  der  AnateUnng  beaonderer  Sdiidftnte  wird  die 
Ku^vertretnng  der  Schnlhjgiaie  immer  in  der  Povon  und  im  ünteirichte 
des  Lehrers  liegen.  —  Es  ist  unmöglich,  alles  hervorzuheben,  was  im  Schul- 
leben eine  Anknüi)fung  für  Gesundlieitslehre  bietet;  die  Anlässe  sind  oft  auch 
nngesuchte  oder  zufällige."  —  Belehrung  über  a)  Erhaltung  der  Gesundheit; 
Veranlaaauig:  daa  Scbiillebe&  im  ganten;  —  b)  Heilung  von  Krankheiten, 
Wegschaflhng  fiilacher  Heilmittel  n.s.w.*,  VeranlManng:  besondere  Etile,  Ver- 
letzangen,  Epidemien  n.  ä. 

318.  Staatliche  Anstalten  für  Stotternde  (Fr.  Kreutzer.  AUg. 
Deutsche  Lehrerz,  1890,  14).  In  erster  Linie  für  Arme.  Ein  Dutzend  .An- 
stalten mit  einem  üauptlehrer  und  einem  Hilfslehrer  würde  für  Deutschland 
genügen.  Auf  daa  beste  „Lehrbuch  mit  Eriülrungen"  wäre,  eine  Prämie  za 
aetaen;  im  EreiarichtercoUeginm  bitten  Sprachlelirer  (diese  als  Leiter),  Päda- 
gogen und  Ärzte  zu  sitzen.  —  Die  gegenwärtig  von  einzelnen  Gemeinden  ver- 
anstalteten ^Curee"  seien  ihrer  Kürze  (4 — 5  Monate  täglich  nur  eine  Stunde) 
und  ungenügender  Lehikiäfte  wegen  zu  verwerfen.  —  Über  das  Wesen  des 
Stottema.  Kritik  aa  Gotamanna  Lehrbttchem  „Dm  Stetten  L  tnid  IL** 
Empiehlnng  der  BroachUre  von  A.  Fett 

319.  Daa  Märchen  in  der  Volksschule  (R.  D.,  Pldagoglache  Rnnd- 
Bchan  1890,  TV).  Abgesehen  von  der  Phantasie,  wirke  es  sogar  auf  die 
Denkungsart  veredelnd.  Erfahrung  an  uns  Erwachsenen  selbst  i  P^inflnss  der 
„märchenhaften  Stimmung"  am  Weihnachtsfeste).  —  Pflege  der  Märchen  in 
der  Schule  mit  Behntsamkeit  und  ohne  Übertreibung  (sie  dürfen  nicht,  wie  bei 
den  Züleriaami,  mdehmi  für  aUea  aein).  Weil  sie  mehr  ala  allea  anders  die 
Phaataaie  beleben,  mitaaen  aie  den  Spraehreichthnm  mehren,  die  Beweglichkeit 
des  Stiles  steigere. 


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—   611  — 


320.  Die  Robinsonade  auf  dem  Gebiete  der  Pädag:ojrik  (Ed.  Ruft*), 
Repertoriom  der  Päd.  1889/90,  VI).  Die  erste,  nrsprüngrliclie  Robinsonude, 
die  erste  Veraibeitang^  der  Robinson-Idee  im  Dienste  der  I'ädagogik  brachte 
der  SimpUdniniis  (I.  Bvfih).  —  Besiebangen  cwiBcfaen  Simplidsaiiiiiis  — 
Boblmon  —  Bonaseaa's  Emil  —  Alban  Stolzens  „Spaniadiem  für  die  gebil- 
dete Welt". 

H21.  Zwei  Lesebücher  für  mehrclassige  Schulen  (Th.  Kirchberg, 
Frankfurter  Schulzeitung,  1890,  4.  5).  Kritik  im  allgemeinen  und  besonderen, 
lnuner  MBond:  FalwiMtioniwelBe  —  alberne  Scheidnng  in  „Ausgaben  für 
evangelische  nnd  für  katholische  Schnlen."  —  Fsendo- Jugendschriftsteller  (in 
enfeer  Linie  Cnrtman,  Krammacher,  Franz  Wiedemann).  Viele  schreiben  fdr 
Kinder,  obwol  ihnen  Hauptbedingung  zum  .Tn^end schriftsteiler  fehlt;  Organ  f&r 
den  Humor.    Mit  Recht  warme  Empfehlung  Andersens. 

322.  Der  deutsche  Unterricht  in  Bnatland  (S.  Cidcalay  2Seitsehiift 
fOr  den  deutschen  Unterricht  1890,  H).  Die  Sehnten  in  den  OstseeproTimen 
und  im  Innern  Bossland.  Der  Petri- Paul -Schule  zn  Moskau  ist  eine  ausführ- 
liche Darstellung  gewidmet;  sie  bildet  eine  Ausnahme  unter  den  deutschen 
Schulen.  Im  ganzen  ist  es  nm  letztere,  ^ie  um  die  FUege  der  deutschen 
Sprache  fiberhaupt,  recht  misslich  bestellt  (schlechte  Lehrer,  Unterriditabetrieb 
ilan,  Icein  Streben  na^  syradüiehflir  Beinheit)  —  vaa  freilich  nnter  der  Begie- 
mng  eines  Alezander  IIL  nicht  befremden  kann. 

Pestalozzi  fflr  immer!  In  Commission  der  „Permanenten  Sehvlana- 
Bteltnog  in  Zürich"  ist  eine  kleine  Schrift  (39  Seiten)  erschienen,  welche  der 
weitesten  Verbreitung  wert  ist  und  namentlich  der  jüngeren  Lehrergeneration 
angelegentlich  empfohlen  sein  möge.  Das  Bürhlein  führt  den  Titel  „Pesta- 
lozzi-Feier in  Zürich,  den  12.  Januar  1890"^  und  enthlLlt  einen  kernigen 
nnd  schwnngToUen  Prolog  Ton  J.  C.  Heer  nnd  eine  Festrede  vom  Alt- 
meister Dr.  Heinrich  Horf.'  Die  wenigen  Blätter  dieses  Schriftchens  geben 
ein  lebendiges  Bild  der  nnvergttnglirhen  Gi-oße  Pestalozzi's  nnd  sollten  anch 
von  denen  gelesen  werden,  welche  „nicht  viel  Zeit  haben". 


Ein  Eaiserwort  fiber  Oeschichtsnnterricht  Franz I.,  der  Oemahl 
Maria  Theresia'a  nnd  Vater  Josels  IL,  gab  über  die  Erziehnng  seines  Sohues 
n.  a.  folgende  schriftliche  (eigenhilndige)  Instrnction:  ..Die  Historie  soll  meinem 
Sohne  Josef  so  tradirt  werden,  dass  ihm  ebensowenig  die  Fehler  und  Ubel- 
thateu  der  Regenten,  als  ihre  Vorzüge  nnd  guten  Handlungen  verschwiegen 
werden.  Hein  Sohn  mnss  sich  ans  der  Geschichte  das  Treftliehe  merken  nnd 
sich  gnte  Grundsätze  bilden;  dann  wird  er  dch  flrihzeitig  gewOhnen,  die 
Fehler  der  vorigen  Regiemngen  zn  vermeiden.  Und  das  wird  gewiss  von 
gnter  Wirkung  sein."  —  Vergleiche:  Franz  Böhm,  ^Kaiser  Josef  II.  als 
Reformator  des  üsterreichischen  \  ulksschulwesens",  ein  vortreffliches,  höchst 
empfehlenswertes  Schriftchen.  (Znaim  1890,  Foamier  &  Haberler.  21  S. 
Preis  22  kr.  =  40  Pi|r.  incL  Postversendnng.) 


•)  Eduard  Ruft",  einer  der  besten  pädaKoyischen  Scbriftsteller,  tiel  im  Juli  vor. 
Jahres  als  FRnftmddreißigjäljriger  einer  tOdüschen  Krankheit  zum  Opfisr.  J6t  Hegt 
begiabea  in  sdnem  Oebortsorte  Zimmern  am  Fnfle  des  HoheazoUeni. 


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^    Ö12  — 


^Aiiek  die  Lehrerinnen  mftsaen  ihre  eigr^nen  Vereine  and  Zeit- 
schriften haben."  Dieser  Satz  in  meiner  Gedenkrede  auf  Diesterweg 
(s.  oben  S.  558)  hat,  wie  mir  niiindlioli  und  brieflich  mit^etheilt  worden  ist,  in 
Kreisen  von  Lehrerinnen  sehr  verstimmend  gewirkt.  Das  thut  mir  leid,  ich 
kann  es  alier  nicht  Inden.  Denn  m  den  bekUgeninrartetten  BSneheinongen 
der  Zeit  gehSren  meinen  Enehtean  die  vidlhehen  Spaltnngen  in  der  dentacben 
Lehrerwelt,  deren  eine  eben  die  Absonderang:  der  Lehrerinnen  von  den  Lehrern 
ist.  Ich  besori^e  von  derselben  sehr  schlimme  Folgen  verschiedener  Art,  nnd 
deshalb  bedaaere  und  missbillige  ich  sie.  Nimmt  man  mir  dies  Übel,  so  mnss 
ich  mich  damit  trösten,  daas  meine  Wamnng  anf  langjähriger  Erfobrnng  beruht 
nnd  lediglich  das  beste  des  ganzen  Lehrerstandes,  besonders  auch  der  Ldtrerinnm 
zum  Zwecke  hat.  Wer  meine  Grundsätze  und  mein  Wirken  kennt,  wird  mir 
uii'hts  anderes  zutrauen.  Aber  davon  kann  ich  nicht  ab<jrehen,  dass  auch  für 
die  l^elirerinnen  Diesterwegs  Mahnung  gilt:  „Lebe  im  Ganzen!"  —  Wozu 
auch  die  Trennung?  Eine  Lehrerin,  welche  sich  durch  meine  Äußerung  schwer 
gekrankt  fBhlt,  schreibt  mir;  „Ich  erlaube  mir,  Ihnen  einen  knrzen  Bericht 
ftber  den  civtcn  Lehrerinnentag:  beizulegen.  Sie  werden  daraus  ersehen,  dass 
unser  Ziel  genau  dasscllic  ist,  wie  das  des  deutscht'n  T^ehrf^rt  as^es, 
dass  dieselben  Fragen  ln'i  uns  wi«;  dort  in  Erwiie:nn;?  genommen 
werden."  Wozu  also  die  Trennung?  Nun,  dieselbe  Lehrerin  schreibt  mir: 
„Ansgeschloisen  von  den  Verdnignngen  nnd  Arbeiten  der  männlichen  Berafth- 
genossen,  haben  wir  Lehrerinnen  uns  zusammengethan,  um  in  Gemein.scliaft  und 
ans  eigener  Kraft  uns  zu  unserem  Ziele  emporzuarbeiten/'  Abt  i-  ist  dit^ses 
> Ausgesclilossrn"  »iiie  ThatsaclieV  In  dem  erwähnten  lierichto  rinde  ich  im 
Gegentheile,  dass  die  Vorsitzende  des  ersten  Lehrerinnentages  ausdrücklich  be- 
merkt hat:  „Zwar  ist  es  den  Lehrerinnen  vergOnnt,  an  den  Versamm- 
lungen der  Lehrer  theilzunehmen."  Auch  bin  ich  der  Überzeugung,  dass 
die  Lehrerinnen  ihrer  Sache  besser  dienen  können,  wenn  sie  dieselbe  unter 
Milnnern.  st;irf  nur  unter  sich  vertreten.  Im  ganzen  aber.  d.  h.  bezüglich 
aller  Spaltungen  im  Lehrerstande,  lehrt  die  Krfalirung,  dass  dieselben  stetB 
der  Anfong  von  Fefaidsdigkeiten  sind  nnd  zn  einem  gemeinscbftdlicben  Sivali- 
siren  der  Parteien  ftthren.  Dies  kann  nnr  den  Feinden  der  Schule  nnd  des 
Lehrerst^indps  y.w  statten  kommen.  Ihre  Losung  ist:  Divide  et  impera.  Soll 
nun  der  Lehrerstand  selbst  seinen  Untenli  iickrrn  in  die  Hiinde  arlit  ittMi?  Soll 
er  den  beliebten  Kunstgrift'  unterstützen,  dass  man  eine  Partei  gegen  die  andere 
ansspielt,  um  sie  alle  zn  schlagoi?  —  So  wenig  femer  die  Familienendehnng 
gedeihen  kann,  wenn  Vater  und  Mutter  getrennt  nebeneinander  ihre  Wege 
gellen,  so  wenig  wird  es  der  Schule  frommen,  wenn  sidi  zwischen  Lehrern  nnd 
Lehrerinnen  eine  Scheidewand  erhebt. 

Vielleicht  kamt  ich  das  hier  nur  an  einer  Stelle  berührte  Thema  einmal 
in  wnitnran  Umiknge  beleuchten.  Filr  heute  mochte  ich  nnr  die  gesammte  dentsebe 
Lehrerschaft  eindringlich  an  das  Wort  erinnern:  „Seid  einig  —  einig  — 
einig!«  —  D. 


▼•imtwofti.  n«dftelMr  Dr.  Fri«<rleb  Dittet.  BMUnskerri  J«li«t  Kllnkhardt,  Luipiif. 


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« 


Die  Forderung  des  SMnfidnii  intellectns  und  der  Lehrerstand. 

Fol»  Fnf,  Dr.  JT.  n'oha^ammer'MBnd^, 

»Sacrifidimi  iBteUectuB*,  »Opfer  der  Veraonft^  ist  eine  Feide- 
nng,  welche  der  xeUgKieen  oder  irielmehr  kinAUdien  Orthodoxie  allentp 
halben  mehr  oder  weniger  elgenthfimlich  m  eein  pflegt,  insbesondere 
aber  in  der  nenesten  Zeit  mit  yerstarlcter  Energie  geltend  gemacht 
wird.  Am  entsehiedeiisten,  nachhaltigsten  nnd  andi  eifblgreichsten 
geschieht  dies,  wie  bekannt,  in  der  rOmiseh-kathoUschen  oder  päpst- 
lichen Kirche,  vom  Papste  nnd  den  Organen  seiner  geistlichen  Hen^ 
whaft.  Es  kann  nicht  anders  als  sonderbar  erscheinen,  dass  gerade 
in  unserer  Zeit,  wo  der  Gebrauch  der  menschlichen  Vernunft  in  der 
Wissenschaft  die  höchsten  Triumphe  gefeiert  hat  nnd  feiert,  wo  das 
menschliche  Dasein  durcli  die  Naturwissenschaft  in  so  vieler  Beziehimg 
gefördert  wurde,  dem  physischen  lieben  der  Menschen  nnd  Völker  so 
große  Vortheile  erwachsen  und  ^o  auch  die  Geisteswissenschaften  so 
viel  für  Humanisimng  des  Lebens  geleistet  und  die  Barbarei  zurück- 
gedrängt haben,  dass.  —  sage  ich,  gerade  in  solcher  Zeit  diese  Forderung 
auf  kirchlichem  Gebiete  mit  solcher  Dringlichkeit  j^estellt  wird.  Indes 
liegt  die  Erklärung  hiervon  ziemlich  nahe.  Gerade  in  der  großen 
Thätigkeit  des  menschlichen  Intellects,  in  der  energischen  Entwickelung 
desselben  durch  die  freie  Bethätigung  in  Wissenschaft  und  Leben  er- 
blickt man  die  größte  Gelalir,  wenn  auch  nicht  für  die  Religion  über- 
haupt, so  doch  für  den  kircliliclien  Glauben  an  die  festgesetzten  Dog- 
men und  Cultiishandlungen,  sowie  für  die  kirchliche  Herrschaft  über 
die  Seelen,  für  die  Behanptimo:  der  kirchenregimentlichen  Autorität.* 
Da  meint  mau  min,  diesen  Glauben  und  die  kirchlii  he  Autorität  nicht 
anders  retten  zu  können  unter  solchen  Verhältnissen  als  dadurch,  dass 
man  wirklichen  Vemunftgebrauch  aus  diesem  Gebiete  ausschließt^  dass 
man  den  GUubenss&tzen  nnd  der  UrchUdien  Antorität  gegentUwr  das 
Opfer  der  Yemnnffc,  d.  h.  gänzliches  Verzichten  auf  eigenes  FrttfiBn  nnd 
Urtheilen  fordert,  also  nrtheilsloee  Annahme  der  Olaahenssitse  nnd 
Uindgehorsame  Unterwerfimg  nnter  die  Antorität 

Padagogiaai.  U.  JUkiy.  Ball  Z.  44 

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—  614  — 


Wenn  wir  Sacrificium  intellectus  als  Opfer  der  Vernunft  be- 
zeichnen, so  ist  dies  bei  der  schwankenden  Bedeutung  des  Wortes 
„Vernunft"  nicht  ganz  genau;  man  muss  unter  intellectus  mehr  den 
Verstand  verstehen,  d.  h.  das  logische  Vermögen  des  Menschengeistes, 
Begriffe  zu  bilden  (zu  abstrahiren),  zu  urtheilen  und  zu  schließen,  also 
überhaupt  das  Vermfigen  zu  urtheilen,  da  das  Begriffebilden  (Ab- 
strahiren)  auch  nur  durch  Urtheilen  geschehen  kann  und  das  Schließen 
ebenfalls  ein  Urtheilen  ist,  wenn  auch  ein  yermitteltes,  complicirtes, 
da  drei  ürthefle  daza  gehören,  indem  nftmlich  ein  drittes  ans  zwei 
anderen  durch  logische  Operation  gewonnen  wird.  Ln  Sacrifidnm  in- 
tellectus ist  also  gefordert  gfinzUches  Verzichten  anf  eigenes -Ürtheiloi 
im  Gebiete  der  Religion  nnd  des  Idrcldichen  Olanbens  nnd  ortheils* 
lose  ünterwerfiing  nnter  das,  was  die  Autorität  hierin  yerkfindet  nnd 
zn  glauben  Torsebreibi 

Und  diese  Fordemng,  die  Vemnnft  zn  optoi,  d.  h.  auf  eigenes 
Forschen  nnd  Urtheilen  im  G^iete  der  Idrdilichen  Beligion  zn  ver- 
zichten, riditet  sidi  nicht  etwa  nur  an  das  ungebildete  Volk,  das  im 
Drange  der  täglichen  Lebensgeschäfte  weder  Zeit  noch  Kraft  flbrig 
hat,  um  selbstständig  zu  forschen,  die  Forderung  richtet  sich  anch 
nicht  blos  an  die  Kinder,  deren  Geist  noch  nicht  entwickelt  genug 
ist,  um  prüfen  und  nrtheilen  zu  können,  die  daher  ihi*e  Vernunft  einer 
fi-emden  hingeben  und  unterordnen  müssen,  —  aber  nicht,  um  in  der 
Unterwerfung  urtheilslos  zu  verharren,  sondern  dieselbe  möglichst  frei 
und  selbststÄndig  daraus  zurückzuerhalten,  —  sondern  auch  die  ge- 
bildete Vernunft  nnd  die  Wissenschaft  selbst  sollen  dieses  Opfer  bringen, 
d.  h.  sich  selbst  des  Urtlieils  begeben  und  der  Autorität  sich  unbedingt 
unterwerfen.  Nun  kann  man  dies  allenfalls  noch  bei  der  sogenannten 
theologischen  Wissenschaft  begreiflich  finden,  insofern  die  positive 
Theologie  speciell  dazu  bestünmt  ist,  im  Dienste  des  Glaubens,  von 
welcher  Art  dieser  auch  sei.  zu  wirken,  die  festgestellten  Glaubens- 
sätze nicht  etwa  auf  ilire  Wahrheit  zu  prüfen,  denn  diese  steht  durch 
den  Glauben  fest,  sondern  nur  dieselben  zu  erklären,  womöglich  zu 
vertheidigen  und  zu  begründen.  Ob  dies  möglich  sei  oder  nicht, 
ändert  an  dem  Verhältnis  nichts;  denn  sollte  die  Prflfhug  ein  anderes 
Resultat  argeben,  als  den  bestimmten  Glaubeossatz,  so  muss  das  wissen- 
schaftUohe  Resultat,  mögen  noch  so  viele  oder  sichere  Gründe  daftlr 
sprechen,  als  unrichtig,  als  Irrthnm  Terworfen  und  der  unbewiesene 
Glanbenssatz  als  Wahrheit  festgehalten  werden.  Dass  die  wissen- 
schaftliche Frfifiing  ein  abweichendes  Resultat  als  Wahrhdt  ergebe, 
muss  der  Schwäche  der  menschlichen  Ymwtt  ttberhaupt  oder  ebem 


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—  615  — 


speciellen  Fehler  bei  dieser  Untersuchung,  oder  endlich  geradezu  einer 
Eingebung  oder  Vorspiegelung  des  Teufels  zugeschrieben  und  jeder 
Zweifel  an  der  Wahrheit  „unterdrückt"  werden.  Die  positive  Theo- 
logie also,  welcher  "Religion  sie  auch  dienen  mag,  muss,  ihrer  Stellung 
und  Aufgabe  gemäß,  das  8acrificium  intellectus  bringen.  —  Aber  die 
Kirchengewalt  fordert  dieses  Sacrificium  auch  von  den  übrigen  Wissen- 
schaften, von  den  Geistes-  wie  von  den  Naturwissensclmften:  von  der 
Philosopliie  Vor  allem  mit  ihren  verschiedenen  Disciplineu,  von  der 
Geschichte,  der  politischen,  wie  der  Literatur-  und  (Kulturgeschichte 
und  nicht  minder  von  den  Naturwissenschaften,  soweit  sie  in  Beziehung 
zu  dem  Ghiubeiisgebiet  kommen.  Von  der  Philosophie  ist  es  ohnehin 
bekannt  genug;  sie  soll  die  Magd  (ancillaj  der  Theologie  sein,  aber 
ancii  die  Gesddcbte,  insbesondm  MMh  die  Einteigescbichte  darf  nnr 
flolohes  als  geschehen,  als  Thatssdie  beriehten,  was  den  Interessen  der 
Kirehe  und  der  Antorität  gemftß  ist,  das  flbrige  hat  sie  mit  Still- 
schweigen  zn  ftbergehen  oder  nrnzadenten  oder  irgendwie  za  recht- 
fertigen oder  wenigstens  za  entschnldigen.  Selbst  in  der  politischen 
Wissenschaft  wird  Unterordnung  des  Intellects  nnter  die  Ansprache 
der  kircUichen  Antoiitftt  gefordert,  wie  denn  z.  B.  alle  politischen 
Schriften,  welche  der  OberfaeiTsdiaft  des  rOmischen  Papstes  Uber  die 
weltlichen  Begienmgen  Opposition  machten  nnd  die  SelbetstSndigkeit 
des  Staates  vertraten,  auf  den  römischen  Index  der  verbotenen  Bücher 
gesetzt  wurden  und  noch  jetzt  darauf  stehen,  —  voran  Dante's  Schrift 
über  die  Monarchie  (de  monarchia).  Endlich  auch  den  Naturforschem 
wird  zngemnthet,  ihren  Intellect  den  Dogmen  und  der  Kirchengewalt 
zn  nnterwerfiBn,  d.  h.  nichts  als  wissenschaftliches  Forschung8)*e8altat 
zu  behaupten,  was  mit  den  Glaubenssätzen  oder  der  heiligen  Schrift 
oder  der  Entscheidung  der  Kirchenautorität  in  Widerspruch  steht  oder  zu 
stehen  scheint.  Davon  gibt  die  (rescliichte  der  modernen  Astronomie  Zeug- 
nis, denn  das  Copernicanisclie  System  wurde  von  der  Congregation  der 
Inquisition  und  des  lud*  \  für  ketzci  isch,  der  heiligen  Schrift  und  also  der 
göttlichen  Offenbarung  widersprerhend  erklärt  und  demtitmiäß  kirch- 
lich verworfen.  Den  Astrunonien  ward  daher  zugemuthet,  iliren  In- 
tellect nach  den  kirchliclien  Bestimmungen  zu  richten,  d.  h.  das  <  )pl'er 
des  Intellects  zu  brint^en.  Die  ganze  moderne  Astronomie  mit  allem, 
was  sich  daran  knüpft,  die  moderne  Naturwissenschaft  hätte  niclit  ent- 
stehen kr>nnen  und  das  Ptoloraäische  Svstem  wäre  als  Wahrheit  in 
Geltung  erlialten  worden,  wenn  die  positive  Theologie  nnd  Kirchen- 
gewalt sich  h&tte  geltend  machen  können,  wenn  insbesondere  der  Staat 
sich  znm  Werkzeug  der  Unterdrückung  der  selbstständigen  Forschung 

44» 

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Doch  fei'ner  hergegeben  hätte.  Ähnliches  wiederholt  sich  in  neuester 
Zeit  in  manchen  Zweigen  der  Naturwissenschaft,  z.  B.  der  Geologie, 
Paläontologie  und  der  daraus  hervorgehenden  Entwickelungstheorie 
gegenüber. 

Es  ist  begreiflicli,  dass  hierdurch,  d.  h.  durch  die  Forderung  und 
Erzwingung  des  Sacrificium  intellectus  auch  im  Gebiet«  der  Wissen- 
schaft, also  durch  Versagung  der  Freiheit  der  Forschung,  nicht  blos 
aller  Fortschritt  in  der  Ek-kenntnis  der  Wahrheit,  alle'  Erweiterung 
des  menschUehen  Wissens  yerhindert,  sondern  geradezu  die  Wissen- 
Schaft  auch  comunpirt,  zom  Scheunnssen  verdorben,  zum  lUselieD 
Wissen  und  Lehren  genöthigt  wflrde.  —  Abgesehen  aber  von  der 
Wissenschaft  ^vird  durch  diese  Forderung  des  Yenranftopfera  der 
Mensch  nm  seine  hOdiste  Kraft  und  deren  Bethfttignng  gebracht^ 
um  das,  wodurch  er  sich  von  den  vemunftlosen  Wesen  unter- 
scheidet, und  gerade  in  Besag  anf  seine  höchste  Betfa&tigong  und  dem 
höchsten  Gegenstand  gegenAber.  Man  Hordert  das  Saorifldnm  inteUeetos 
im  Namen  göttlicher  Oibnbaamng  und  der  Wahrheit,  nm  -diese  znr 
Geltung  zu  bringen  und  den  Irrthnm  zn  vermeiden.  Als  ob  für  jemand, 
der  auf  eigenen  Vernunftgebranch,  auf  eigenes  Urtheil  verzichtet,  es 
noch  eine  göttliche  Offenbarung  nnd  in  irgend  einem  Gebiete  Wahr- 
heit geben  könnte!  Die  Wahrheit,  mag  sie  stammen,  woher  immer, 
existirt  nur  für  den  Intellect  und  durch  ihn;  wer  auf  diesen  ver- 
zichtet, muss  auch  auf  die  Wahrheit  selbst  verzichten  und  auch  auf 
göttliche  Offenbarung.  Selbst  die  Scholastiker  behaupten  (nach  Aristo- 
teles), dass  Wahrheit  und  Intellect  sich  gegenseitig  correspondiren, 
dass  Wahrheit  erst  durch  den  Intellect  zustandekomme.  In  der  Tliat: 
das  real  und  ideal  Seiende  ist  zwar  auch  ohne  Intellect,  wii'd  aber 
zur  Wahrheit  (im  Sinne  von  Übereinstimmung  des  Denkens  mit  dem 
Gedachten)  erst  dadurch,  dass  es  erkannt  wird,  so  etwa,  wie  die  sach- 
lichen Bedingungen  der  Töne  zwar  auch  ohne  Ohr  schon  da  sind,  aber 
ohne  Ohr  nicht  zu  Tönen  werden,  so  dass  das  Olir  es  ist,  wodurch 
Töne  als  .solche  entstellen  und  ohne  Ohr  es  auch  keine  Töne  gäbe  in 
der  Natur.  So  auch  kann  es  ohne  Intellect  keine  Wahrheit  geben  und 
die  Thaügkeit  des  Intellects  hemmen  oder  verbieten,  heifit  die  Wahr- 
heit selbst  unmöglich  machen.  Das  Sacrifidnm  intellectus  fordern,  be> 
dentet  also  der  Wahrheit  gegenfiber  so  viel,  wie  die  Forderung,  im 
Interesse  der  Töne  sich  die  Ohren  ni  verstopfen;  —  iras  ebenso  einer 
gOtllichen  Offenbarung  gegenüber  sich  verhilt,  da  eine  solche  nor 
möglich  ist  einem  Wesen  gegenüber,  das  seine  Vernunft  gebraucht 
Wenn  im  Namen  der  Wahrheit  oder  selbst  Gottes  das  Opfer  des  In- 


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—  617  — 


tellects  trefüiflert  wird,  so  heißt  das  nichts  anderes  als  im  Namen  des 
Lichtes  und  dessen,  was  darin  p:esehen  werden  kann,  fordern,  dass 
man  sich  die  Augen  verbinde  oder  geradezu  ausreiße,  um  besser,  rich- 
tiger zu  sehen  oder  um  nichts  Unrechtes  zu  sehen  oder  um  nicht  Ge- 
sichtstäuschungen zu  erfahren.  Wird  für  ein  Gebiet,  hier  für  das  reli- 
giöse, das  Opfer  der  Vernunft,  d.  h.  des  Vermögens  zu  urtheilen,  ge- 
fordert und  gebracht,  dann  gibt  es  in  diesem  Gebiete  im  Grunde  gar 
keine  Wahrheit  mehr,  sondern  nur  Unterwerfung,  blinden  Ge- 
horsam, wobei  es  dann  ganz  gleichgiltig  ist,  ob  das,  was  in  Unter- 
werfung angenommen  wird,  auch  wirklich  Wahrheit  sei  oder  nicht, 
denn  das  Verdienst  des  Gehorsams  ist  ja  dasselbe,  ob  das  so  An* 
genommene  wirklich  Wahrheit  sei  oder  nicht. 

Daraus  geht  ten  ein  weiteres  nothwendig  hervor:  Mass  im 
Glanbensg^jiet  das  Sacrifldiim  inteUedoi  getaistet  werden  und  ist 
«Im  hier  Frttfong  and  eigenes  ürthefl  oostatthaft»  mn  davon  die  An- 
nahme des  VerkQndeten  abhängig  zn  machen,  dann  setst  dies  für  die 
Antoiität)  die  dies  Opfier  fordert,  nothwendig  physische  Zwangsmittel 
vorans.  Denn  wie  soll  man  die  Menschen  zor  Annahme  des  Verkltair 
deten,  zom  Gianben  deesdheD  hringen,  wenn  anf  geistigem,  inteUectnellem 
Wege  dies  nicht  mehr  geschehen  kann?  Trota  allen  Tadels  gegen 
andere  Beligfonen,  s.  B.  den  Mohamedanismns,  wegen  gewaltth&tiger 
Verbreitang  nnd  Behauptung  däs  Glaubens,  hat  daher  auch  die  christ- 
liehe Kirche  in  den  verschiedenen  Confessionen  physische  Machtmittel 
Zürn  Scliutze  und  zum  Geltendmachen  des  Glaubens  nicht  verschmäht, 
und  insbesondere  hat  das  Papstthnm  stets  den  Staat  mit  seiner  phy- 
sischen Macht  als  weltlichen  Arm  für  seine  Zwecke,  d.  h.  zum  Schatze 
des  Glaabens,  zur  gewaltsamen  Darchföbrong  seiner  Beschlüsse  nnd 
zor  Verfolgung  und  Ausrottung  der  Gegner  zu  verwenden  gesucht. 
Dies  gilt  auch  noch  für  unsere  Zeit.  In  dem  bekannten  Syllabus 
kirchlich  verdammter  Irrthümer  von  1864  ist  auch  der  Satz  verworfen, 
dass  Jurche  und  Staat  zu  trennen  seien.  Indes  ist  dies  nicht  ganz 
emsthaft  gemeint;  denn  dass  die  Kiiche  sich  vom  Staate  trenne,  ist 
wol  als  zulässig  angenommen,  ja  ist  thatsächlich  durchgeführt  oder 
gelegentlich  geltend  gemacht,  da  das  Papstthum  für  erhaben  über  alle 
Staaten  gilt  und  Verträge,  die  es  mit  diesen  schließt,  nur  als  Gnaden- 
sache gelten.  Also:  der  Staat  zwar  darf  sich  nicht  von  der  Kirche 
trennen,  wol  aber  die  Kirche  (das  Papstthuroj  vom  Staate,  daher  die 
Kirche  beschließen  und  sich  einrichten  kann,  wie  sie  will,  ohne  dass 
irgend  ein  Staat  etwas  einzureden  hat;  dagegen  im  Staate  darf  nichts 
angeordnet  werden,  wenn  die  Kirche  nicht  ihre  Zustimmung  gibt. 


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—  618  — 


Wie  die  Verhältnisse  sich  in  dieser  Beziehung  gestaltet  haben,  zeigte 
sich  bei  dem  vaticanischeu  Concil  1870.    Während  früher  zu  allge- 
meinen Concüien  die  weltlichen  Regierungen  auch  ihre  Vertreter  sandten, 
z.  B.  noch  bei  dem  Concil  von  Trient,  wurden  bei  dem  vaticanischen 
Concil  diese  weltlichen  Regierungen  nicht  vertreten,  gleich wol  aber 
ward  ?oii  ihnen  pftpstlicherseits  gefordert/  dass  sie  die  Beschlüsse 
dieses  Goneils:  die  Beschlltose  sor  Vernichtimg  der  freien  Foi-schung 
(24.  April  1871)  und  das  Dogma  von  der  UnfbhUMurkdt  des  Papstes 
duxebftbreD.  Und  zwar  soll  es  geschehen,  wie  dies  noch  yor  koraem 
sich  z.  B.  in  Bayern  gezeigt  hat,  ohne  dass  die  BesdüHsse  von  der. 
weltUehen  Begienmg  erst  geprüft  werden,  um  das  zu  Iteeht  bestehende 
königlidie  Flacet  zu  erhalten.  Das  heiflt  also:  anch  vom  Staate  wird 
prüAmgslose  UnterwerAmg,  prIlflmgsloBer  Gehorsam  gefordert,  indem 
■er  seine  physische  Macht  der  Kirche  snr  Yerlügnng  stellt  in  Anwen- 
dung Ton  Zwangsmaßregeln;  d.  h.  noch  vom  Staate  wird  das  Saeri- 
fleium  intelleetas  der  Kirche  gegenftber  gefordert  und  ihm  nicht  ein- 
mal im  Ernste  der  vernünftige  G^orsam  (obseqoinm  rationahfle)  ge- 
stattet, indem  er  etwa  seine  Action  za  Gunsten  der  Kirche  von  seiner 
Prüfling  abhängig  macht!   Glaubenszwang  also  nnd  Hindenmg  der 
freien  Wissenschaft  zu  Gunsten  der  sogenannten  positiven  Glaubens- 
bekenntnisse und  der  Rechtgläubigkeit  wird  als  Aufgabe  der  welt- 
lichen liegierung  (als  brachium  saeculare*  betrachtet.    Mehr  oder  we- 
niger gilt  dies  von  den  meisten  Religionsgemeinschaften  mit  ihren 
Lehrsystemen  und  ihren  Glaubensautoritäten.    In  hervorragender  und 
erfolgreichster  Weise  wird  dies  aber  wiederum  geltend  gemacht  von 
der  päpstlichen  Kirche,  die  mit  enieuerter  Anstrengung  dieses  Ver- 
hältnis und  sogar  in  verbesserter  Form  —  nämlich  ohne  selbst  an 
den  Staat  irgendw^ie  gebunden  zu  sein,  wieder  zui'  Geltung  zu  bringen 
sucht.    Die  Methode  ist:  die  weltliche  Regierung  soll  das  Volk  und 
die  Wissenschaft  zur  Unterwerfung  unter  die  kirchliche  Autorität  und 
ihre  Glaubenssätze  und  Befehle  zwingen,  so  dass  sie  das  Sacrificium 
intellectus  bringen  müssen;  sie  selbst  aber,  die  weltliche  Regierung, 
soll  hinwiederum  zu  dieuar  Art  von  Kachtbethätigung  genöthigt  werdOB 
duirdi  das  Volk  seihet  mittels  der  Ausübung  der  politische  Bechte, 
welche  die  coostitationellen  Verfhssungen  gewähren;  ^  da,  wo  die  päpst- 
liche Purtei  die  M^rität  in  den  Kammern  hat  oder  wenigstens  Aber 
eine  Macht  gebietet,  mit  wehsher  gerechnet  werden  mus&  Und  zwar 
soll,  wie  schon  bemerkt,  der  Staat  durch  die  Majorität  der  gläubigen, 
ungebildeten  Volksmassen  und  ihrer  Tertreter  genöthigt  werden,  seine 
Machtmittel  blindlings  der  Kirche  zui*  Verfllgung  zu  stellen,  ohne 


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—  619  — 


prüfen  zu  dürfen,  wofür  eigentlich  die  Kirche  sie  verlangt,  d.  h.  der 
Staat  selbst  soll  seinerseits  durch  die  ungebildete  Volksmenge,  resp. 
deren  Vertreter  zum  Sacrificium  intellectus  genöthigt  werden,  um  dann 
durch  seine  Macht  die  Wissenschaft  und  die  Gebildeten  zu  diesem 
Sacrificium  zu  nöthigen.  Es  konnte  für  die  päpstliche  Kirche  nichts  • 
Günstigeres  gefunden  werden,  als  die  constitutionelle  Verfassung  und 
die  möglichst  große  Ausdehnung  des  Stimmrechtes  auf  die  weitesten 
und  untersten  Schichten  des  Volkes.  Das  ungebildete  Volk  wird  vom 
Clerns  beherrscht  und  dieser  steht  in  unbedingter  Unterordnung  unter 
dem  kirchlichen  Oberhaupts  und  hat  nneh  desaen  Weisung  auf  das 
Volk  in  aUen  Beiieliiingen  zu  wirken.  So  ist  es  i.  B.  in  der  neuesten 
Zeit  mfig^ieh  gewwden,  dass  in  der  rOndBch-katholiachen  Kirche  das 
Oberhaupt  die  Austtbongr  der  durch  den  Liboralisanis  den  Volke  er> 
rungenen  politischen  Bechte  in  hohem  MaBe  Ar  seine  AnsprQche  gegen 
die  weltliche  Regierung  auid)euten  konnte.  Ein  hervorragendes  Bei- 
spiel lieferte  in  neuester  Zeit  gerade  Bi^em,  wo  die  ultramontsne 
Partei  in  der  Kammer  die  M^orit&t  besitst,  wenn  aueb  nur  mit  ein 
paar  Stimmen.  Schon  die  Wahlen  werden  nach  den  Wünschen  und 
Weisungen  des  kirchlichen  Oberhauptes  in  hohem  Hafte  beeinflussti 
wflhrend  die  weltliche  Regierung  eifersfichtig  überwacht  wird,  dass 
sie  keinen  nnconstitutionellen  Einfloss  dabei  ausübe-,  und  die  Kammer- 
beschlüsse selbst  werden  unter  Führung  der  zahlreich  gewählten  Mit- 
glieder des  Clerus  den  Ansprüchen  dieses  kirchlichen  Oberhauptes 
gemäß  gefasst,  nicht  etwa  in  untergeordneten,  weltlichen  Angelegen- 
heiten, wovon  auch  das  Volk  etwas  versteht,  sondein  in  den  höchsten, 
wichtigsten  Angelegenheiten  des  geistigen  Lebens  und  der  wissenschaft- 
lichen und  künstlerischen  Thätigkeit,  wovon  die  Mehi-zahl,  aus  ungebil- 
deten Männern  bestehend,  nicht  das  mindeste  Verständnis  hat.  Man  kann 
sagen,  diese  Majorität  steht  auf  dem  Standpunkt  des  päpstlichen  Ab- 
solutismus, dem  sie  dient,  nicht  auf  dem  dei-  constitutionellen  Ver- 
fassung bei  der  V' erwendung  üirer  politischen  Kechte.  Das  Papsttlium 
kann  auf  diese  Weise  die  politisclien  Rechte  und  Freiheiten  der  Völker 
gleichsam  für  sich  in  Beschlag  nehmen  und  zu  seinen  Gunsten  aus- 
beuten. Das  Volk  muss  zunäclist  sich  des  eigenen  Urtheils  begeben, 
das  ohnehin  in  den  geistigen  Dingen  schwach  genug  ist,  muss  in 
seiner  Gläubigkeit  in  gehorsamer  Unterwerfung  das  Sacrificium  in- 
tellectos  bringen;  durch  Ausübung  seiner  politischen  Bechte  soll  dann 
der  Staat  sur  ünterweitog'  unter  die  Kirche,  zur  prttfongslosen,  ge- 
nuthigt  werden,  also  ebenlhlls  sum  Saerilldnm  intellectns,  und  dnreh 
den  Staat  soll  dann  die  gebildete,  forschende  Vernunft  und  die  Wissen- 


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—  620  — 

Schaft  selbst  zu  diesem  Sacrificium  gebracht,  die  Freiheit  der  Forschung 
vernichtet  werden.  Es  ist,  wie  man  sieht,  Methode  in  der  Sache! 
Ebenso  klar  ist  aber  auch,  dass,  wenn  damit  voller  Ernst  gemacht 
und  in  möglichst  umfassender  Weise  in  dieser  Richtung  weiter  ge- 
gangen wird,  damit  der  Weg  zor  Barbarei  .^orttck  beschritten  ist; 
tan  diese,  mius  ümner  wieder  eistreton,  weatk  dk  ungebildeten  Hassen 
den  Gfebfldeten  und  der  Wissenschaft  GeeeUe  vorschreiben,  ihren 
Willen  and  Unverstand  ao&wingen  nnd  Vemnnft  und  Wissenschaft 
in  ihrer  Entwiekehmg  henunen.  Oanz  gelingen  kann  das  Unternehmen 
immerhin  jetst  kaum  mehr  vollkommen;  denn  ein  Volk,  bei  welchem 
dergleichfin  dnrchgefllhrt  würde,  kannte  alsbald  die  Ooncorrens  mit  den 
anderen,  tnaen  Vdlkem  nicht  mehr  bestehen  nnd  müsste  verkfkmmem 
nnd  seine  Bedentong  nnd  Selbststfindigkeit  verlieren.  Aber  theQweiser 
nnd  bis  zn  einem  gewissen  Grade  kann  das  betreifende  Volk  immer 
noch  schwer  geschädigt  werden,  wenn  dnrch  die  Kenntnis-  und  Urtheils- 
losigkeit  der  Majorität  des  nngeibildeten  Volkes  die  hierarchischen  Be- 
strebungen Erfolge  erringen. 

1ji  welchem  Verhältnis  nun  diese  Forderung  des  Sacrificium  in- 
tellectus  zum  Lehrerstand  stehe,  ist  aus  dem  Bemerkten  unschwer  zu 
erkennen.  Ist  das  Sacrificium  intellectus  ein  holies  Verdienst  für  den 
Menschen,  ist  das  Opfer  der  Vernunft  die  Gott  wolgefalligste  Gabe 
und  die  Offenbarung  der  Wahrheit  sogar  zu  diesem  Zwecke  gegeben, 
so  sollte  eigentlich  alles  geschehen,  um  dieses  Opfer  zu  erleichteni 
und  dadurch  dem  Volke  in  umfassendster  Weise  zu  diesem  großen 
Verdienste  zu  verhelfen.  Die  Geschichte  der  lieligiunen  zeigt  ja  durch- 
aus, dass,  je  mehr  die  W^issenschaft  sich  entwickelt  und  die  Bildung 
zunimmt,  umsoraehr  Gefahren  für  den  altherkömmlichen,  überlieferten 
Glauben  entstehen,  umsoweniger  Bereitwilligkeit  besteht,  sich  den  ti-a- 
ditionellen  Autoritäten  und  religiösen  Satzungen  zu  unterwerfen  nnd 
sie  blindlings  zu  glauben,  —  also  das  Sacrifidnm  intelleetns  zn  bringen. 
Dieser  Brfhhmng  gemftß  mflsste  es  also  als  das  Beete  erscheinen,  das 
Volk  ganz  nngebildet  zn  lassen  nnd  alle  wissenschaftliche  Forschnng 
m  yerpOnen.  Höchstens  mochte  soweit  nnd  zn  dem  Zwecke  zn  unter- 
richten sein,  nm  einigen  geistigen  Verkehr  zn  ermöglichen,  wie  ihn 
die  Briei^^osten  besorgen.  Man  wendet  vielleicht  ein,  dass  es  sich  ja 
nnr  nm  das  religiöse  Gebiet  nnd  nm  Glanbenssachen  handelte.  Allein 
die  Grenzen  shid  schwer  zn  bestimmen  nnd  sind  bewefl^ich  je  nach 
der  Ansicht  nnd  dem  Willen  der  geistlichen  Antorittt;  daher  kann 
dieses  Vernnnftf^ftr  gelegentildi  gefordert  werden  in  Angelegenheiten, 
die  dnrchans  nicht  als  geistliche  oder  kirchliche  erscheinen.  Wozu 


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—  621  — 


hat  in  früheren  Zeiten  nicht  die  Excommunication  dienen  müssen,  die 
doch  eine  rein  kirchliche  Maßregel  und  für  moralische  und  dogmatische 
Angelegenheiten  bestimmt  war!  Nicht  blos  die  Unterwerfung  der 
Fürsten  bezüglich  ihrer  souveränen  Gewalt  sollte  dadurch  erz^^^mgen 
werden,  sondern  selbst  ganz  weltliche  Geschäfte  und  Dinge  wurden 
zu  Gunsten  der  Kirche  oder  des  Clerus  unter  den  Schutz  der  an- 
gedrohten Excommunication  gestellt.  Ks  könnte  daher  wol  sein,  dass 
gegebenen  Falles,  bei  günstigem  Verlauf  der  hierarchischen  Bestrebungen 
*  das  ganze  menschliche  Witten,  die  ganze  theoretische  Forschung  und 
aeibet  snrn  Thefl  das  pnktiBche  Leben  unter  das  Zeichen  des  Sacnficiom 
inteUecstiiB  gwtdlt  wOrde. 

SoU  dies  nieht  geadielieD,  loil  es  den  energisehem  SteebmigeD  der 
Hierarchie  und  ihres  ndlchtigeo  Anhanges  gegenflber  verhindert  werden, 
80  mnaa  eine  sehr  entschiedene  Abwehr  und  Gegenwirkung  statt- 
finden. Und  wem  liegt  diese  mehr  ob  and  wer  ist  geeigneter  dam, 
als  der  gesammte  Lehrerstand,  dessen  eigenstes  Gebiet  wie  Recht  die 
,  Bethfttignng  and  Bfldnng  des  IhteUeets  nnd  der  anbescfarftnkte  Ge- 
branch  desselben  ist?  Wer  sonst  soll  sidi  der  armen  Vemanft  ihren 
Gegnern  nnd  Bedrftngeni  gegenflber  annehmen,  wenn  sie  in  EJrlassen 
und  auf  Kanzeln  nnanfhörlich  verdächtigt,  herabgewürdigt,  geschmäht 
wird,  als  der  Lehrerstand  durch  alle  Stufen  hindurch?  Ihm  liegt  es  ob, 
nnaofliGrlich  geltend  zu  machen,  dass  diese  Vernunft  vom  Schöpfer 
gegeben  sei  nicht  zur  Opfenmg  und  nicht  blos  für  die  kleinlichen 
und  für  die  blos  äußerlichen  Angelegenheiten  des  Lebens,  sondern  auch 
und  ganz  besonders  für  die  höchsten  und  wichtigsten  desselben,  auch 
die  religiösen.  T^nd  er  muss  fest  darauf  bestehen,  dass  es  falsch  sei. 
dass  sich  der  Mensch  in  allen  gewöhnlichen  Dingen  mit  seiner  voUeu 
Denk-  und  Urtheilskraft  bethätigen  dürfe,  nur  aber  in  dem  horlisten 
Gebiete,  Gott  gegenüber,  sich  wie  ein  vemunftloses  Wesen  verhalten 
müsse.  Für  dieses  ist  ihm  doch  im  Gegentheil  das  apostolische,  christ- 
liche Wort  gegeben:  Prüfet  alles  und  das  Gute  behaltet;  —  ein  Wort, 
das  nicht  etwa  blos  für  die  zum  Prüfen  wenig  geeignete  Vernunft  des 
Ungebildeten  gilt,  sondern  wol  vor  allem  für  die  gebildete,  wissen- 
schaftlich forschende  Vernunft.  ~  Der  Staat  wii'd  wol  nicht  anders 
können,  als  den  Lehrerstand  in  diesem  berechtigten,  unbedingt  noth- 
wendigen  Streben  zu  unterstützen,  sei  es  auch  nur  um  der  eigenen 
Sidiemng,  nm  der  Selbstbehauptung  willen,  an  der  er  durch  den 
hierarchischen  Ansturm  genSthigt  ist,  der  um  so  mächtiger  nnd  ge- 
fiOulicher  wird,  je  größer  die  Hasse  derer  ist,  die  YollstAndig  unge- 
bildet sind,  oder  die  im  Interesse  bestimmter  Strebnngen  mit  Bewnsst- 


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—  622  — 

sein  und  Willen  das  Sacrificium  intellectus  gebracht  haben.  Der  mo- 
derne Staat  und  die  moderne  Wissenschaft  und  Civilisation  werden 
ohnehin  immer  zusammen  genannt  als  gemeinsame  Producte  der  ver- 
derbten und  verkehrten  menschlichen  Vernunft,  wenn  von  den  kirch- 
lichen Machtbabern  die  Schlechtigkeit  der  ganzen  Welt,  soweit  sie  sich 
Tor  ihBon  nicht  beugen  will,  geseholtai  wird  —  was,  wie  bekaaat, 
nicht  gar  ra  selten,  uni  nicht  m  sagen  unaofhArlich  geschieht  Man 
meint  wol  im  Ernste,  Beüigion  nnd  Glaaben  nicht  retten  m  Jcflnnen 
ohne  ToUständige  ünterwerfimg  der  Gl&nbigen  unter  ihre  geistliche' 
Obrigkeit,  ohne  ▼(^Uige  Beditloaigkeit  im  religiösen  Gebiete,  die  eben 
im  Sacriflctnm  intellectas  zum  Ansdmck  kommt,  nnd  vermeintlich  Qott 
gegenflber  stattfindet,  wfthrend  es  doch  nnr  ron  Menschen  mit  d)en^ 
falls  beschrinkter  Yemonft  gefordert  wird.  So  glaubte  man  früher 
im  Hans-  und  Staatswesen  ohne  Sdaven  nicht  aaskommen  zn  kflnnen, 
wie  ja  auch  Aristoteles  diese  Ansicht  mit  aller  Entschiedenheit  rar  . 
Bechtfertigong  der  Sclaverei  vertritt  Jetzt  ist  dieser  Wahn  ver- 
schwunden; es  wird  ähnlich  mit  der  geistigen,  religiösen  Sclaverei  er- 
gehen und  sich  zeigen,  dass  Beligion  und  Frömmigkeit  aach  ohne 
sie  bestehen  kann. 


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In  Saeliei  des  Monlmtemelites. 

'Veranlasst  durcli  den  im  Decemberheft  1889  dieser  Zeitschrift 
erschienenen  Aufsatz  „Zum  Moralnnterricbt'*  hatte  ich  schon  im  Januar 
nachfolgenden  Aufsatz  geschrieben,  jedoch,  wie  ich  es  gewDfanlidl  thne, 
eine  Zeitlang  beiseite  gelegt,  um  ihn  später  mit  mehr  objeetiTMi 
Augen  wieder  durchzulesen  und  in  amendirtar  Form  der  Bedaction 
des  „Psedagogium"  einzusenden.  Warn  in  ebenerwähntem  Artikel  der 
Moralnnterricht  In  der  Sehlde  als  eine  Yeriining  des  Geistes  dar^ 
gesteDt  "Wird,  so  konnte  diiae  doeh  nicht  das  letzte  Wort  in  dieser 
Sache  .bleiben.  D»  lc3i  mm  schon  seit  Jahren  dieses  Thema  zom 
G^egenstand  - meines  Stidimns  gemadit  und  mich  sogar  der  erwähnten 
Geistesverimmg  schuldig  gemacht,  indem  ich  den  Horaluiterrieht 
nach  einem  Ton  mir  selbst  anl^estellten  Moralkatechismus  in  meiner 
Emehnngsanstalt  eingeführt  nnd  mit  Erfolg  betrieben  hatte  —  so 
glaubte  ich  in  dieser  Sache  anch  ein  bescheidenes  Wort  sprechen  zn 
können.  Nmi  bin  ich  sehr  erfreut,  dass  im  Aprilhefte  schon  eine  Ent- 
gegnmig  auf  den  besagten  Artikel  im  Decemberheft  erfolgt  und  die 
Einführung  des  Moralnnterridites  doch  wieder  za  Ehren  gekommen 
ist.*)  Mein  Aufsatz  wäre  nun  eigenüich  überflüssig,  aber  ich  denke, 
si  duo  ÜAcinnt  idem,  non  est  idem,  und  wage  mich  daher  mit  meinei- 
Arbeit  ans  Licht,  weil  ich  doch  noch  einige  andere  Seiten  in  der 
Sache  beleuchtet  habe.   

Die  in  eine  neue  Phase  getretene  Arbeiterbewegung  hat  immer 
mehr  einen  internationalen  Charakter  angenommen  und  hat  sich  mit 
dem  Socialismus  in  eine  gefährliche  Verbindung  gesetst  Dies,  zu- 
sammen mit  der  schon  so  viel&ch  beklagten  aUgemeinen  Slttenver- 
deitmis,  weist  auch  auf  die  Nothwendigkeit,  für  die  Zukunft  eine 
gründliche  Bmedur  «ninbahnen,  als  welche  ich  die  Einführung  des 
Konbmtenichtes  in  die  Schulen  ansehe. 


T«fgleicbe  auch  die  Axbeit  tob  Wjn  im  Junihefte. 


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—  624  — 


Nachdem  die  bekannten  ICaigeeetae  so  gai  -wie  begraben  sind, 
hat  der  Goltnrkampf  einige  Zeit  nnter  der  Asche  geglüht  Bs  hat 
den  Ansdiein,  als  ob  er  im  dentsdien  Reichstag  wieder  aufleben  sollte» 
wenn  das  Oentrom  seine  alten  Anträge  anf  Wiedererlangung  des  Mr 
heren  Einflnsses  anf  die  Scholen  emenert  Znm  Glftek  sind  diese  An- 
träge,  infolge  des  ftr  das  Centmm  gttnstigen  StimmverhgJtnisses,  so 
maßlos,  dass  eine  Annahme  derselben  keine  Aossidit  anf  Erfolg 
hat  Wir  wünschen  und  hoffen,  dass  die  Schalen  nicht  preisgegeben 
werden,  was  wir  aber  noch  sehnlicher  hoflfon,  ist,  dass  den  Regieningen 
endlich  die  Aug^en  darüber  aufgehen  mögen,  dass  ein  Compromiss 
zwischen  Staat  und  Rom  ein  nutzloses  Bemühen  ist,  dass  gewisse 
Dinge  sich  nun  einmal  nicht  mischen  lassen,  dass  man  sie  daher  ge- 
trennt halten  muss.  Der  Culturkampf  ist  nun  auf  das  Schulgebiet 
übertragen,  und  er  wird  kein  Ende  haben,  bis  man  entweder  alles 
preisp^eben,  oder  das  Kirchliche  ganz  von  der  Schule  trennen  wird. 
Wii'  hoffen  und  glauben  fest,  dass  einmal  das  let2:tere  ^^eschehen  muss 
und  wird.  Die  Schule  muss  confessionslos  werden,  und  statt  der 
Dogmennioral  muss  ein  für  alle  Menschen  g'leich  verbindliche!:  christ- 
licher Religions-  und  Moralunterricht  einpefiilirt  werden.  Das  ist  nur 
eine  Frage  der  Zeit,  deren  Lösung  einmal  kommen  muss,  wenn  das 
moralische  Weltenrad  nicht  stille  stehen  soll.  Zu  dieser  Lösung 
drängen  die  Zeitverhältnisse  immer  stärker.  Der  ( iilturkampf,  die 
Arbeiterfrage,  der  Socialismus,  die  allgemeine  sittliche  Zersetzung  in 
allen  Schichten  der  G^eUschaft  sind  eine  sociale  und  internationale 
Krankheit  am  Leibe  der  Menschheit,  welche  die  Staatenlenker  emstlich 
anflfordert,  die  wahren  Ursachen  dieser  Erscheinnng  an&udeeken  nnd 
eine  HeQnng  von  innen  herans  anzubahnen.  Die  znr  Linderung  des 
Nothstandes  der  arbeitenden  Glasse  in  Berlin  berathenen  ICafiregetai 
süid  nnr  Pflaster  anf  die  Wunden,  aber  keine  grOndüche  Heilmig. 
Man  geht  sehr  gründlich  zu  Werke,  wo  es  sidi  darum  handelt,  k(tr- 
perliche  Krankheiten  epidemischer  nnd  contagiOser  Art  Tersehwinden 
zn  lassen.  Man  muss  sich  wundem,  dass  man  den  sittlichen  Krank- 
heiten nicht  besser  nachspürt  und  zn  Leibe  geht  Wenn  man  zugesteht, 
dass  die  sittlichen  ZnstAnde  der  menschlichen  Gesellsdiaft  efai  F^er 
der  Erziehung  sind,  so  kann  man  doch  mit  Beeht  fkragen,  wer  für  die 
sittliche  Eiziehang  yerantwortlich  ist,  und  muss  sich  die  Antwort 
geben,  dass  es  teilweise  die  Schule  ist.  Der  Staat  hat  sich  bisher  damit 
begnügt,  die  sittliche  Erziehung  in  den  Schulen  dem  conflessionellen 
Bdigionsunterricht  zu  überlassen,  nnd  meint,  damit  sei  genügend  für 
die  Sittlichkeit  gesorgt.  Wenn  der  BeUgUmsunteiricht  seine  Angabe 


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—  625  — 

richtig  anfasste,  wäre  allerdings  schon  viel  erreicht,  aber  dem  ist  nicht 
so.   Der  confessionelle  Religionsunterricht  stellt  die  Dogmen  in  den 
Vordergrund  und  vernachlässiprt  die  Moral.    Aber  auch  die  confessio- 
nelle Moral  selbst  reicht  für  die  Volkserziehung  nicht  aus;  sie  ruht 
auf  sehr  verschiedenen  Grundlagen  und  kann  deshalb  keine  einheit- 
liche sein.  Mit  einer  solchen  Moral  ist  dem  Staate  niclit  g-edient.  Es 
ist  nicht  zweckmäßig,  den  Gehorsam  gegen  die  Staatsgesetze  und  die 
Befolgung  einer  allgemein  verbindlichen  Moral  aus  confessionellen 
Gründen  in  Frage  stellen  zu  lassen.    Dieser  ÜT)elstand  ist  gerade 
durch  den  Culturkampf  ins  hellste  Licht  gestellt  worden.    Die  Moral 
der  Schule  muss  vom  Confessionellen  losgelöst  und  mit  dem  Menschlich- 
religiösen verknüpft  werden.    Der  Staat,  der  doch  fiii-  die  Erziehung 
des  Volkes  zu  sorgen  hat,  muss  auch  fiii'  eine  allgemeine  Staatsmoral 
sorgen;  er  kann  sich  dieser  Forderung  nicht  entziehen.  Die  allgemeine 
Gesetzgebung  reicht  dafür  nicht  aus.  Die  Pflicht  der  Selbsterhaltung 
fordert  mehr.  Die  Weltgesdiichte  beweist,  dass  ein  Staat,  der  die 
Gesetze  der  sittlichen  Weltordnnng  anßeracht  lässt,  frOh  oder  spät  zu- 
grunde geht  Wenn  die  geseUschafOiche  Zersetzung  so  fortwächst, 
wird  die  staatliche  Ordnung  emstlich  bedroht,  und  es  werden  noch 
bedenkliche  Convulsionen  zu  erwarten  sein.  Um  dies  (Ar  die  Zukunft 
zn  vermeiden,  sorge  man  recht  bald  fttr  eine  ordentlidie  moralische 
Erziehung  in  den  Schulen.  Leider  ist  dazu  wenig  Aussicht,  so  lange 
die  Beglements*  oder  Bureanpftdagogik  statt  der  wissenschaftlichen 
Vemunftpädagogik  in  den  jSchnlen  bestehen  bleibt.  Es  muss  anders 
werden,  es  mnss  eine  Zeit  kommen,  wo  der  Confeesionalismns  dem 
Humanismus  Platz  macht,  wo  in  den  Schulen  keine  confessionell  ge- 
Knuten  Kinder,  sondern  einerlei  Menschenkinder  sitzen.  Die  Schäden, 
•  welche  in  der  fehlerhaften  Erziehung  ihre  Quelle  haben,  können  auch 
nur  durch  eine  verbesserte  Erziehung  wieder  verschwinden.  Für  diese 
Fehler  sind  weniger  die  Lehrer  anzuklagen,  als  das  System,  die 
leitende  Pädagogik,  unter  der  die  Lehrer  selbst  erzogen  sind.  Der 
beste  Lehrer  kann  nicht  viel  an  der  Moral  thun,  wenn  ihm  dafür  in 
der  Scliule  kein  Raum  gegeben  ist.    Auch  denken  die  Lehrer  ge- 
wrihnlich,  die  Moral  sei  Sache  des  Religionsunterrichtes,  und  so  kommt 
es,  dass  wenig  oder  gar  nichts  geschieht.  Manche  sind  auch  der  An- 
sicht, dass  das  Haus  und  die  P'amilie  für  die  moralische  Erziehung 
sorgen,  und  da  die  Familien  ihrerseits  die  Sache  wieder  auf  die 
Schule  und  den  Religionsunterricht  schieben,  so  kommt  schließlich 
alles  auf  diesen  an,  und  —  man  sieht  kein  Resultat. 

Der  sittliche  Mangel  tritt  uns  in  allen  Lebensschichten  entgegen, 


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—   626  — 


in  den  unteren  offianer,  in  den  oberen,  der  sogenannten  guten  Gesell- 
Schaft,  versteckt  er  sich  unter  äaßei*em  Schliff  und  anständigen  Fomeo. 
Man  sehe  sich  um  bei  den  Lehrlingen,  Gesellen  und  Arbeitern  aller 
Art»  wie  es  mit  den  Eio:e!ischaften,  die  zu  einem  ordentlichen  Menschen 
gehören,  bestellt  ist.  Wahrhaftigkeit,  Ehrlichkeit,  Gewissenhaftigkeit, 
Pflichttreue,  Sparsamkeit,  Ordnungsliebe  sind  Ausnahmen.   Die  Regel 
ist  Lüge,  diplomatische  Verstecktheit,  raffinirte  Übervortheilung,  Nach- 
lässigkeit im  Dienst,  Unlust  bei  der  Arbeit,  Selbstsucht,  Gennsssttcht, 
unnöthige  Geldverschwendung  für  Tabak,  Schnaps,  Kartenspiel  etc.  — 
und  das  alles  wii'd  gar  nicht  mehr  als  ein  Fehler  empfunden,  das  ver- 
steht sich  ja  g&nz  von  selbst.    Diese  unordentliche  Lebensfülirung  ist 
eine  Hauptursaehe  der  internationalen  Arbeiterbewegung  und  des  Socia- 
lismus.   Es  mag  ja  vieles  Berechtigte  in  den  Forderungen  in  Bezug 
auf  Lohnerhöhung?  und  Verminderung  der  Arbeitszeit  sein,  aber  selbst 
die  Bewilligung  aller  dieser  Forderungen  wird  das  Übel  niclit  hellen, 
wenn  man  die  Leute  nicht  zu  jrleicher  Zeit  moralischer,  d.  h.  mäßiger, 
sparsamer,  ordnungsliebender  nuu  hi.  Dieselben  werden  den  Überschuss 
an  Zeit  im  Wirtshause  verbringen,  den  Zuschuss  an  Lohn  weniger 
auf  die  Verbesserung  ihrer  allgemeinen  Lebenslage,  als  auf  unnütze 
Nebenausgaben  verwenden;  sie  kommen  dämm  nicht  besser  mit  ihrem 
Lohn  ans,  die  ünznfiriedenheit  wird  bleiben  und  zn  immer  neuen  For- 
derungen antreiben:  Man  sieht  von  der  Sache  kein  Ende.  Könnte 
man  mit  einem  Schlage  die  Menschen  ordentlich  nnd  sittUdi  machen, 
so  dass  sie  ihr  VergnQgen  im  Znsammenleben  mit  der  Familie,  oder 
in  ihrer  eigenen  geistigen  Fortbildung  .suchen  würden;  dass  sie  die 
Groschffli,  welche  sie  sonst  verrandien,  vertrinken  nnd  verspielen,  auf 
die  Sparcasse  legten,  dann  würde  man  die  sociale  Frage  bald  gelOst 
haben.  Aber  die  Leute  leben  in  den  Tag  hinein,  sie  meinen,  das 
Leben  gehöre  sich  so.   Hätten  sie  schon  in  der  Schule  die  Lehren 
der  Wirtschaftlichkeit  aoi^nommen,  hätten  sie  gelernt,  wie  man  es 
machen  mnss,  um  weniger  auszujreben  als  einzunehmen,  dann  stände 
es  viel  besser.   Einzig  nnd  allein  die  moralische  Eichung  in  Schule 
und  Haus  kann  dne  bessere  Zukunft  anbahnen.    Alle  sittlichen 
Tugenden  müssen  in  der  ersten  Jugend  gelernt  werden,  sie  kommen 
nicht  von  selbst. 

Man  sag-t  zwar:  „Der  Relig-ionsunterricht  lehrt  ja  alle  diese 
Tu^^enden."  Ja  —  aber  warum  fehlen  sie  denn  dem  Volke?  —  Der 
Keliirionsunterricht  hätte  ;,'-ewiss  Zeit  und  Gelef^'-enheit,  eine  das  Leben 
bestimmende  Moral  zu  lehren,  wenn  er  sich  die  Sache  angelegen  sein 
ließe,  wenn  er  uicht  seine  Zeit  mit  audereu,  von  der  Moral  weit  ab- 


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liegenden  Dingen  verbrauchte.  Er  will  die  Menschen  znm  Himmel 
vorbereiten,  und  versäumt  mittlerweile,  sie  zu  einem  guten  Leben  auf 
der  Erde  zu  befähi<^en  —  Man  hat  wol  gesagt:  „Es  muss  mehr  Beli- 
giou  in  die  Schulen  hiueinkoinmen!'* 

Nein  —  es  sind  zu  viele  Religionen  in  den  Sohnlen,  es  muss  nur 
eine  Religion  und  eine  Moral  in  die  Schulen  hineinkommen. 

"Wenn  aber  auch  im  Religionsunterricht  confessionelle  Moral  ge- 
lehrt wird,  so  ist  diese  doch  von  der  Moral,  welche  unseren  Schiüen 
Lütlithut,  sehr  verschieden.  Wenn  überhaupt  mit  confes.sioneller 
Moral  etwas  zu  leisten  wäre,  so  hätte  diese  doch  aucli  schon  sicht- 
bare Früclite  tragen  müssen.  Aber  davon  ist  niclits  zu  selien.  Der 
ganze  kirchliche  und  geistliche  Apparat  ist  zu  sehr  in  Misscredit  ge- 
rathen,  und  durch  diese  Canäle  ist  im  Laufe  der  Zeit  so  viel  Schmntz- 
ynamt  gdanfen,  dass  man  kein  Zutraaea  mehr  m  da*  Lauterkeit 
.   derselben  hat 

Was  Ar  eine  Moral  soll  man  denn  in  den  Scholen  lehren? 

Eine  gans  beeümmto  einheitliche  Moral,  welche  allen  Mensehen 
nnbeschadet  ihrer  Gonfession  gieich  angepasst  und  gleich  Terbindlich 
ist»  weO  sie  allgemein  menschlieh  ist  Wenn  man  anf  die  Welt  kommt» 
ist  man  nicht  eonfessloneU,  man  ist  bloe  Mensch,  und  dies  Menschliche 
bleibt  jedem,  anch  wenn  er  confessionell  wird;  oder  siiUer,  gleichviel 
ans  welchoi  Qrllndflii,  das  GonüBssionelle  wieder  ablegt  Leider  ist  in 
unserer  Zeit  dieses  Ablegen  des  Confessionellen  so  allgemein  ver- 
breitet, dass  dies  eine  große  6e&hr  für  die  menschliche  Gesellschaft 
geworden  ist.  Warum?  —  Die  confessionelle  Eraiehang  ist  im  Laufe 
der  Zeit  in  eine  so  eigenthfimliche  Bahn  gerathen,  dass  die  Menschen, 
die  in  dieser  Richtung  erzogen  sind,  das  Eeinmoischliehe  ganz  ver- 
nachlässigt und  darum  verlernt  haben.  Wenn  nun  solche  Menschen 
von  dem  Rationalismus  und  Materialismus  unserer  Zeit  befallen  werden, 
fallen  sie  dem  einseitigen  Realismus  in  die  Arme,  der  ja  unsere  Zeit 
beherrscht,  und  sind  nachher  —  nichts  als  sinnliche  Thiermenschen. 
Dies  geht  so  zu.  Nachdem  die  Naturwissenschaften  die  Geister  von 
den  Banden  des  blinden  Glaubens,  des  mystischen  Idealismus  befreit 
hat.  wenden  sich  dieselben  <lein  naturalistischen  Realismus,  oder  wenn 
ich  so  sagen  soll,  dem  Utilitarismus  zu,  wie  es  ja  wol  anders  kaum 
sein  kann.  Die  Xaturwissenschaften  haben  ja  darin  ihre  Haupt  Wirkung 
geäußert,  dass  sie  f^elehrt  haben,  wie  man  die  Natur  zu  seinen  Zwecken 
ausbeuten  kann,  wie  man  sie  zu  einer  Quelle  von  Macht  und  Reich- 
thum machen  kann.  Diese  Art  dei'  Naturbetrachtung  vernachlässigt 
ganz  die  Ästhetisch-ethische  Seite  nnd  wendet  den  Bück  anf  das 


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Nächstliegende,  Handgreifliche,  Sichere,  Nützliclie,  aber  sie  macht  den 
Geist  arm  an  Ideen,  die  Phantasie  arm  an  Bildern,  die  Seele  arm  an 
Empfindung,  und  das  Kesultat  ist  eine  enge,  trockene,  von  Musen  und 
Grazien  verlassene,  verödete  Seele. 

Auch  die  Interessen  der  Politik  ziehen  von  den  Idealen  ab:  die 
Geister  leben  von  der  Hand  in  den  Mund.  Wer  hat  noch  Zeit  und 
Lust,  sich  in  das  unendliclie  Meer  der  Ideale  zu  verlieren,  der  Wahr- 
heit und  Schönheit  zu  leben?  Reich thum,  Üppigkeit,  äußerer  Schliff 
gepa&rt  mit  Unwissenheit,  innerer  Beschränktheit,  Roheit,  sind  die 
Merkmale  dieser  Richtung.  Auch  in  DeotscUajid  hat  dieser  Batte- 
rismos,  der  in  Amerika  s^e  Torzlligltehste  Heimstiltte  hat,  sehr  groBe 
Fortschritte  gemacht  und  droht  den  Sbin  für  das  Ideale,  den  wir  noch 
haben,  yoUends  zn  ersticken. 

Das  Beinmenschliche  also  mnss  den  Gmndcharakter  der  Moral 
ausmachen.  Dieselbe  enthBH  auch  BeligiOses,  weil  dies  ja  doch  som 
Menschenwesen  gehört,  weil  man  sich  den  Menschen  nicht  ohne  Zn- 
Hammenhang  mit  Gott  nnd  der  Ewigkeit  denken  kann  nnd  dart  Der 
Mensch  hat  eine  ganz  besondere  leibliche  nnd  geistige  Organisation, 
welche  mit  seiner  Bestimmung  auf  Erden  so  genau  zusammenhängt, 
dass  man  ans  der  genanen  Kenntnis  der  Organisation  die  Bestimmung 
erkennen  kann.  Wenn  er  nnn  sein  Leben  ganz  in  Einklang  mit 
seiner  Organisation  bringt,  wenn  er  so  fühlt,  denkt,  will  und  handelt, 
wie  es  seiner  Organisation  nach  Leib  und  Seele  angemessen  ist,  dann 
lebt  er  auch  seiner  Bestimmung  gemäß,  —  er  ist  moralisch.  Kr  er- 
kennt mit  seinem  Geist  die  Beziehungen,  die  er  zu  Gott,  Welt,  Neben- 
niensnlien  und  zu  sich  selbst  hat,  und  leitet  daraus  seine  religiösen 
und  uioralisclien  PIlichten  ab. 

Wie  bringen  wir  nun  eine  solche  Moral  in  ein  geordnetes  8yst^»ni? 

Jedes  wissenschaftliche  System  bedarf,  wenn  es  Anspruch  auf  all- 
gemeine Billigung  der  Geister  machen  soll,  einer  axiomatischen  Grund- 
lage, gewisser  allgemein  angenommener  Wahrheiten.  Der  menschliche 
Geist  liefert  sie  selbst,  und  diejenigen,  welche  uns  hier  beschäftigen, 
sind  zugleich  Axiome  fiii-  Pädagogik  und  Moral.  Betrachten  wir  die 
wesentlichsten  derselben. 

a)  Die  Ideen,  deren  Keime  dem  Menschen  angeboren  sind,  derai 
Entwkkelnng  sich  im  großen  Gang  des  Menschengeistes  Tollsogen  hat 
nnd  welche  die  eigentlichen  Leuchten,  die  Leiter  und  Enieher  des 
Menscheogeschlecfales  gewesen  sind  und  sein  werden.  Die  phänome- 
nalen Besnltate  dieser  Entwlckelnng  sind  hanptsftehlich  nach  vier 
Bichtangen  hin  erkennbar,  ganz  entsprechend  den  Ideenanlagen  im 
Mensdien. 


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—    629  — 


a)  Das  Bewns^tsein  des  UnencUiclieD  und  des  Zoninmeiihajiges 
mit  demselben  hat  die  Beligion,  oder  die  BeUgionen  hervorgebracht. 

Das  GeAhl  Ar  das  SehOne  hat  die  große  Welt  des  Astheti- 
sehen,  namentlich  der  Knnst»  ins  Dasein  gemfeo. 

y)  Der  Trieb  nach  Wahrlieit,  der  Forschertrieb,  war  der  Enseaget 
des  Keiclies  der  Walirheit,  der  Wissenscliaft. 

d)  Die  Erkenntnis  des  ZweckmÄßigen  nnd  der  Zwecke  hat  die 
ganze  Welt  des  Nützlichen  und  Guten,  und  auch  die  Unterscheidung 
von  Gut  und  Böse  zur  Folge  gehabt,  deren  Haoptmerkmale  das  Ge> 
wissen  und  die  Sittlichkeit  sind.  Zweckmäßig  zu  sein,  za  denken,  za 
handeln,  ist  —  moralisch. 

Dies  sind  Gnmdideen,  aus  denen  sich  alle  anderen  sittlichen 
Ideen  leicht  ableiten  lassen. 

Die  Ideen  in  der  Menschenseele  sind  göttlichen  Ursi)riings,  sie 
sind  ihrem  Wesen  nach  unendlich  und  füllen  die  Seele  mit  einer 
stillen  Sehnsucht  nach  dem  Unendlichen,  nach  dem  Unjuell  der  Schön- 
heit, der  Wahrheit  und  Güte.  Und  dieser  stille  Trieb  —  ist  das 
Wesen  der  Liebe,  gleichviel  ob  er  sich  auf  den  Urquell  (Gott)  bezieht, 
oder  auf  die  uns  näher  liegenden,  mehr  fassbaren  Objeete  der  Welt. 
Daher  ist  Liebe  aucli  das  Grundwesen  des  Menschlich-Keligiösen  und 
des  Chiistenthnms. 

b)  Die  Begriffe;  sie  sind  wesentlich  verschieden  von  den  Ideen, 
sie  sind  nicht  das  Unendliche,  sondern  das  Reale,  Endliche  nnd  sind 
die  Resoltate  des  moiseihlichen,  logischen  Denkens.  Das  Material,  ans 
denen  sie  sich  bilden,  ist  das  Reale,  die  Welt,  nnd  die  Pfbrten,  dnrch 
die  es  in  unsere  Seele  gehingen  kann,  sind  die  Sinne.  Sie  haben 
insofern  einen  Zusammenhang  mit  dem  Idealen,  als  sie  nnr  mit  Hilfe 
eines  in  nns  liegenden  gOtÜichen  Organes  zustande  kommen  kOnnen, 
mit  Hilfe  der  Logik;  nnr  ein  mit  Logik  begabtes  Wesen  kann  Be- 
grife  bilden,  und  nur  durch  Begriffe  steigt  man  auf  zu  den  Idealen 
der  Wahrheit  nnd  Güte  und  zur  MoraL  Erst  die  Kenntnis  der  Welt 
nnd  ihrer  Erscheinungen,  die  Erkenntnis  der  darin  waltenden  ewigen 
Gesetze,  befähigt  uns,  die  Dinge  nach  ihren  Beziehungen  und  nach 
ihrem  wahren  Werte  zu  schätzen,  und  daraus  sittliche  Pflichten  ab- 
zuleiten. 

Wenn  man  die  liuidlänfigen  Ansichten  ttber  Moral  und  Pflicht 
ein  wenig  näher  ins  Auge  fasst,  so  findet  man,  dass  sie  sehr  lax  und 
sciiwankend  sind,  und  dass  sie  mit  der  wahren  Moral  oft  wenig  zu 
thun  haben.  Man  hält  für  l*tiicht.  was  nur  Schickiichkeit  ist,  man 
hält  vieles  für  erlaubt,  was,  nach  reiner  Moral  taxirt,  unmoralisch  ist. 

Padtgogiiun.  lt.  Mag»  Heft  Z.  45 

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Einige  Beispiele  mdgen  dies  eridSren.  BeligiOse  Pflichten  sind  solche . 
nur  för  bestimmte  Leute;  die  Pflichten  der  Höflichkeit  entsprechen 
noch  lange  nicht  immer  der  wahren  Höflichkeit,  sie  sind  nur  Mode, 

Convenienz,  Gewohnheit  Viel  schlimmer  noch  sieht  es  aus  mit 
Pflichten,  die  man  gar  nicht  mehr  als  solche  erkennt,  infolge  der 
yerschrobenen  Begriffe,  z.  B.  die  Entwickelung  und  Vervollkommnung 
unseres  Wesens  zum  Guten,  Wahren  und  Schönen,  überhaupt  die  Er- 
aiehung  wii-d  nicht  allgemein  als  Pflicht  erkannt.  Wahrheitsliebe  ist 
▼erkehrt,  in  diplomatische  Schlauheit  und  Gelegenheitsrederei,  je  nach- 
dem es  der  Vortheil  so  mit  sich  bringt.  —  Die  Ehi'lichkeit  ?  —  Sie 
ist  oft  gerade  in  ilir  (-Jefrentlicil  verkehrt  und  gipfelt  im  Egoismus. 
Sparsamkeit,  Oidnungslitlie,  Hausliclikeit  sind  ganz  nett,  aber  nicht 
Pflicht,  selbst  da  niclit.  nvo  es  sich  ums  Wol  und  Wehe  von  Familien 
handelt.  Dahin  gehören  aucli  eine  Menge  socialer  Untugenden,  die  in 
ihrer  allgemeinen  Verbreitung  schwere,  folgenreiche  Verirrungen  sind; 
sie  werden  nicht  mehr  als  Sünde  erkannt.  —  Die  Regelung  solcher 
verworrenen  Anschauungen  kann  nur  durch  eine  Berichtigung  der 
moralischen  Begrifie  geschehen  und  muss  von  Staat  und  Schule  aus- 
gehen. Falsche  Begiiffe  föhren  auch  zu  falschen  Ideen,  und  —  Ideen 
regieren  die  Wdt 

Nadidem  wir  nnn  die  Nothwendigkeit  des  M oralnnterrichtes,  sowie 
die  idlgemeinen  Qmndlagen  der  Moral  in  BegrüSan  und  Ideen  erkannt 
haben,  wollen  wir  uns  noch  tther  die  Vorbedingungen  zu  einer  grttnd- 
lichen  Beeserong,  eowie  Aber  die  Ifittel  dieser  letiteren  aussprechen. 

Wie  ist  Besserung  zu  erreichen?  Zuerst  mflssen  wir  fragen,  wer 
ist  zu  bessern?  Theilen  wir  die  Menschen  einmal  in  Yier  Gruppen: 

a)  In  die  der  Schule  entwachsene  Generation, 

b)  die  der  Jugend  als  Lehrende  oder  Belehrende  gegenflber^ 
stehenden  Menschen,  die  Lehrer  und  Eltern, 

c)  die  schulpflichtige  Jugend, 

d)  die  vorscliulpflichtigen  Kinder. 

ad  a)  Was  ist  also  an  der  der  Schule  entwachsenen  Generation 

zu  thun? 

Sehr  wenig,  und  zwar  aus  folgenden  Gründen: 

1.  Wenn  man  besserungsbedürftig  ist,  kann  man  erst  dann  l>esse- 
ningsfähig  werden,  wenn  man  seine  Fehlerhaftigkeit  einsieht,. und  das 
ifit  bei  Erwachsenen  leider  sehr  selten  der  Fall. 

2.  Sell)st  wenn  man  seine  Mangelhaftigkeit  einsieht,  gesteht  mau 
sie  aus  falscher  Scliam  oder  aus  falschem  Ehrgefühl  niclit  ein. 

3.  Die  Gleichgiltigkeit  gegen  alles  Sittlich-Ernste  ist  zu  groß. 


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Was  nützen  Bdehrnngen,  gute  Sehriftea  und  Bftcher,  mm  sie  nicht 
gatesen  und  beherzigt  werden?  —  Was  lesen  diese  Art  Leate,  wenn 
sie  flberhsnpt  lesen?  —  Nichts  als  TagesklatBch  nnd  alieriei  Sens»- 
tionsnachrichten.  —  Welche  Zeitongen  haben  den  meisten  Erfolg? 
Di^enigen,  die  ihre  Spalten  mit  Neuigkeiten  füllen,  die  eine  Entehrong 
und  eine  Schände  der  Menschheit  aufdecken,  Diebereien,  Schwindeleien, 
Mordthaten,  EhebmchsgeBchiditen,  Selbstmorde  n.  dgl.  Zum  Lesen 
guter  Bücher  hat  man  weder  Zeit  noch  Lust,  weil  die  Geniisssncht 
die  Menschen  plagt;  dieselbe  Theilnahmslosigkeit  zeigt  man  für  Fre- 
digten oder  Vorträge  belehrender  Tendenz. 

4.  Wenn  Menschen  schon  in  ihrer  frühesten  Jugend  eine  ver^ 
kehrte  geistige  oder  unmoralische  iTrundrichtung  bekommen  haben, 
ändern  sie  sicli  selten  im  si)äteren  Alter.  Sie  bleiben  ihr  ganzes 
Leben  in  ihren  Vorurtheilen,  Irrthitmem,  schlechten  Gewohnheiten, 
bösen  Neigungen  stecken. 

Soll  au  der  jetzigen  Generation  noch  etwas  gebessert  werden,  so 
könnte  dies  nur  mit  ilireui  freien  Willen  geschehen,  indem  man  sie 
•  überredete,  sich  an  Vereine  anzuschließen,  welche  sich  geistiije  und 
sittliche  Erhebung  als  Ziel  gesetzt  haben,  z.  B.  Turnvereine,  Gesaug- 
vereine, Bildungsvereine,  Vereine  zur  Verbreitung  nützlicher  Bücher, 
Vereine  zur  Beförderung  <iuter  Sitten  und  Unterdrückung  der  Unsitt- 
lichkeit.  Wenn  solche  Vereine  ihr  Ziel  mit  Ernst  verlblgen,  können 
sie  selu'  viel  Gutes  stiften.  Dann  müssen  die  verbreiteten  Schriften 
und  die  Offaitlichen  Vorträge  aneh  soldie  Gegenstände  behandebi, 
-welche  dem  Volke  wahre  Anfkiftnmg  ttber  das  menschliche  Lehen, 
über  die  Bedingungen  zu  Glück  nnd  WoliUirt  bringen,  die  zur  Be- 
seitigong  Ton  VomrtheOen,  zor  Elfining  der  sittlichen  Begriffe,  zur 
richtigen  Wertschfttznng  der  Güter  des  Lebens  dienen.  Solche  Gegenr 
stände  sind  die  Lehre  vom  Menschen  nach  Leib  nnd  Seele,  die  Wirt- 
scfaaftslehre  oder  die  Ennst,  'hsnsznhalten  nnd  zn  sparen,  die  Lehre 
Yom  Umgang  mit  den  Menschen  n.  a.  m.  Es  fehlt  nicht  an  dergleichen 
Vereinen,  aber  wol  an  der  mmea  Betheiligung  an  denselben. 

ad  b)  Wie  wäre  der  Lehrerstand  zu  heben  nnd  zur  Ertheilnng 
des  in  den  Schulen  einzuffthrenden  Moralnnterrichtes  vorzubereiten? 

Diese  wichtige  Frage  muss  noch  vorher  geklärt  und  entschieden 
werden,  ehe  in  der  Schule  etwas  gemacht  werden  kann.  Wenn  die 
Lehrer  Moral  lehren  sollen,  müssen  sie  selbst  moralisch  sein  nnd  den 
Schülern  als  ein  Anschauungsobject  dienen.  Aber  sie  sind  darum 
doch  noch  nicht  für  den  Unterricht  in  der  Moral  be&higt,  weil  sie 
selbst  noch  keine  confessionslose  Moral  gelernt,  noch  weniger  sie 

45* 


—  632  — 


gelehrt  haben.  Dieses  neue  Lehrfach  miiBB  erst  in  den  Seminarien  ein- 
gefllhrt  werden,  und  den  jan^eii  Lehrern  mnss  ein  besonders  dai*auf: 
eingerichtetes  Moralbuch  in  die  Hand  gegeben  werden.  Solche  Bflcher 
existiren  noch  nicht,  und  die  Anfertigfiin;?  derselben  wäre  eine  Auf- 
gabe tXu-  liumanistisch  durchgebildete  Jfänner  und  Pädagogen.  Es 
wäre  daher  wünschenswert,  wenn  von  möglichst  vielen  Seiten  Pläne 
für  die  Einriclitunf]^  solcher  Lelirbücher  geliefert  wUrden  und  so  eine 
Einigung'  darüber  erzielt  werden  könnte. 

ad  c)  Teil  wende  mich  nun  zu  dem  Moralunterricht  der  Schul- 
jugend. Als  noth wendige  Voraussetzungen  zu  demselben  sehe  ich  fol- 
gende Punkte  an: 

1.  Das  Kind  muss  von  iiause  aus  schon  eine  gewisse,  auf  das 
Gute  zielende  Grundrichtung  bekommen  haben. 

2.  Der  Lehrer  muss  seiner  Aufgabe  gewachsen  sein,  d.  h.  er  muss 
die  ad  b  besprochene  Vorbildun«,^  erhalten  haben,  und  muss  vor  allem 
selbst  ein  Beispiel  für  die  von  ihm  vorgetragene  Moral  sein. 

3.  Dem  Lehrer  muss  beim  Unterricht  ein,  auch  in  den  Händen 
der  Kinder  befindliches  Handbüchlein  dienen,  worin  die  moralischen 
Grnndlehren  in  klarer  nnd  möglichst  kurzer  Fassung,  übersichtlich  ge- 
ordnet, enthalten  afaicL  Er  muss  dieselben  dnrdi  das  lehendige  Wort 
erklSren  nnd  dnrch  Erzählungen,  Gedichte,  Beispiele  znm  Bewnsstsein 
und  ZOT  Empfindung  bringen  nnd  dann  ansirendig  lernen  lassen.  Ob 
dies  B&chlein  in  Form  Yon  einfMhen  Geboten  oder  Begeln,'  oder  eines 
Eatechismns  emgerichtet  sei,  mag  dahingestellt  sein.  Mit  diesem 
Moralbfichlein  mnss  ein  gedgnetes  Lesebnch  in  Verbindiing  treten, 
dessen  Stücke  zn  dem»  Moralbnch  passen.  Die  Lesestacke  desselben 
dflrfen  nicht  einseitig  sein,  d.  h.  sich  etwa  nnr  ftber  moralische  Lehren 
verbreiten,  sondern  aadi  anf  das  die  Moral  unterstützende,  grund- 
legende Wissen,  besonders  die  Natui"wissenschaften,  die  Menschenknnd^ 
die  GesnndheitBlehre,  Wirtschaftslehre,  Höflichkeitslehre.  Der  ganze 
Moralunterricht  mnss  als  Hauptliebel  seiner  Thätigkeit  das  Gemüth 
des  Kindes  benutzen,  und  darauf  hin  müssen  die  Lesestücke  gewählt, 
sein  nnd  viele  Gedichte  enthalten.  Wenn  der  Lehrer  selbst  ein  ge- 
müthvoUer  Mensch  ist,  wird  es  ihm  nicht  schwer  sein,  auch  auf  das 
Gemüth  zu  wirken.  Einem  von  seinen  Lehren  durchdrungenen  Lehrer 
weiden  auch  die  Worte  im  Munde  zu  (7<>ld,  während  der  lierzlose 
pedantische  Lelii-er  alles  in  eine  lederne,  lan{,^weilige  Form  kleidet. 

4.  Der  Moralunterricht  muss  nicht,  wie  der  heutif,^e  Religions- 
unterricht, als  ein  von  den  übrigen  Lehrfächern  ganz  abgetrenntes 
Lehrfach  betrachtet  werdeu,  sondern  es  muss  das  ganze  Unterrichts- 


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^   633   —  . 

« 

gebiet,  soweit  es  thmdich  ist,  mit  dem  Moraliiiitenriclit  in  organlsdiem 
Zusammenhang  stehen  und  in  keinem  Fa4die  etwas  gelehrt  werden, 
was  der  Moral  entgegenstände.  Das  ist  leider  ein  wunder  Ponkt  des 
dogmatischen  Beligionsonterrichtes.  Er  lehrt  Dinge,  die  in  offenem 
Widersprach  mit  den  Natorwissenschaften  and  der  Logik  stehen. 

5.  Als  letzte  VoranssetBong  zn  einem  wirksamen  Moralnnterricht 
wSre  die  Unterstfitznng  der  Schale  dnrch  das  Haas  nnd  die  Familie 
za  fordern.  Das  Lehrbach,  welches  den  Lehrern  in  den  Seminaiien 
ZOT  Belehrnng  and  Bichischnnr  im  Horalanterricht  dient,  mflssto  aach 
in  den  Hftnden  der  Familie  sein,' damit  die  Eltern,  besonders  die 
Mütter,  eine  Richtschnur  dafür  hätten,  wie  sie  in  der  Behandlung  der 
Kinder  der  Schule  an  die  Hand  gehen  sollten.  Was  bierg^en  alles 
eingewendet  werden  könnte,  etwa  von  Beschränkung  der  persönlichen 
Freiheit  etc,  ist  nicht  von  Belang  in  anbetracht  der  großen  und 
wichtigen  Aufgabe,  die  doch  ohne  Mithilfe  der  Familie  gar  nicht  ge- 
löst werden  kann. 

ad  d)  Die  moralische  Erziehnn«^  dei  niclitsclmlptlichti(?en  Kinder 
liegt  ganz  in  den  Händen  der  Familie  und  muss  dem  Mürahmterricht 
in  der  Schule  vorarbeiten.  Natiiilich  kann  liier  von  einem  Unterricht 
nicht  die  Kede  sein,  sondern  nur  von  einer  angemessenen  Behandlung 
und  Angewöhnung  im  humanistischen  Sinne.  Damit  die  Eltern  darin 
einer  Anleitung  nicht  entbehren,  ist  denselben  noch  besonders  das 
Moralbui  h  für  Seminarien  und  außerdem  eine  besondere  Anleitung  zur 
Erziehung  der  Kinder  im  Hause  zu  empfehlen.  Hierbei  rechnet  man 
freilich  auf  den  guten  Willen  der  Eltern,  sich  mit  der  Schule  zu  einer 
einheitlichen  Erziehung  in  unterstützender  Weise  zu  verbinden.  Nur 
so  ist  die  moralische  Erziehung  der  Jagend  nach  ejnem  einheitlichen 
Plan  zn  verwirklichen. 


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Die  F^rtbildang  des  Lehrers  und  die  Cbnig  in  der  freien  Rede» 

l^iB  gibt  wol  wenige  Lehrer,  wenigstens  unter  deigenigen,  die  sich  einige 
Beraftfrendigkeit  bewahrt  haben,  welehe«  nachdem  aie  den  geeetdieh  bestimmten 
Pflichten  Genüge  getlian  haben,  nunmehr  mit  ihrer  Weiterbildung  Schlua» 
machen  niid  Bücher  uiul  Wissenschaft  ad  acta  h-gen  zu  dürfen  glauben.  Wenn 
man  auch  nicht  für  geistige  Bevormundung  schwärmt,  wird  doch  jedt-i-  unserer 
Berufsgenossen  uns  recht  geben  darin,  dass  man  unausgeset;ct  au  seiner  eigenen 
AoebUdnng  arbdten  mon,  data  man  nach  den  Worten  des  Volkes  nUie  sa  alt 
wende,  nm  an  lernen."  Das  Interesse  an  der  FortbUdnng  in  der  Lchrerwelt 
rege  za  halten,  ist  anch  Hauptzweck  der  von  der  Behörde  angeordneten  Con- 
ferenzen.  Endlich  ist  wie  jedem  Berufe,  der  auf  die  Bezeichnung  „geistige 
Arbeit"  Anspruch  erheben  kann,  so  besonders  dem  Lehrerstande  die  stetige 
Weiterbildung  Bedürfnis  und  die  Fühlungnahme  mit  dem  fortschreitenden 
Staadpnnkte  der  Pädagogik  unentbehrlich. 

Für  die  Weiterbildung  im  engeren  Berufe  ist  die  Schule  eine  willkommene 
Stilttf:  doch  hat  die  Behörde  auch  dem  Streben  des  Lehrers  nach  anderweitiger 
Au>bildung  futgcgenkounnen  zu  müssen  geglaubt,  von  dem  Gedanken  geleitet, 
dass  alles  Studium,  auch  das  nicht  speziell  pädagogische,  der  Schule  zugute 
komme  und  immer  tiefer  in  die  Schule  hineinfahre.  In  der  That!  Die  wissen- 
schafüiohe  Ausbüdung,  welche  sich  in  den  richtigen  Grenaen  hllt  und  anch 
der  Vorbert  itnng  auf  den  Unterricht  genügenden  Raum  lässt,  kann  niemals 
der  Schul«'  enifremden.  Der  gute  Wille  der  Behörde,  den  Lehrern  das  Weiter- 
stndium  zu  erleichtern,  ist  in  der  Errichtung  sog.  Fortbilduugscurse  für 
Lehrer,  wie  solche  in  Elberfeld,  Stettin  und  Berlin  bestehen,  an  erkennen. 
Leider  ist  die  Zahl  der  erwihnten  Cnrse  eine  verschwindend  kleine,  nhd  ao 
bh  iht  denn  ftst  der  Gesammtheit  der  Lehrer  behufs  weiterer  wissenschaft- 
licher Ausbildnng  kein  andt  rei-  Weg  nftVn .  als  (hT  einsame,  beschwerliche 
Pfad  .des  häuslichen  Stiirliimis .  vieh-  sind  nicht  einmal  in  die  Lage  vei-setzt, 
sich  durch  Einzelunterricht  einen  Wegweiser  und  eine  Stütze  bei  ihrer  Arbeit 
an  verschaffen.  Das  bildende  Mittel  ist  für  diese  einzig  nnd  allein  der  tote 
Buchstabe. 

Wenn  wir  auch  zugestehen,  dass  der  mit  einer  guttun  Seminarbildnng 
ausgerüstete  Lehrer  den  nöthigen  Bikiunj^sgrad  besitze,  um  sich  in  den  für 
weitere  Prüfungen  vorgeschriebeneu  wissenschaftlichen  Fächern  mit  alleiniger 
Selbsthilfe  an  vMToUkimiuBtti,  so  liat  doch  daa  ansschließlich  liänsliche 
.  Stndinm,  welches  nicht  durch  den  Verkehr  mit  erfahrenen,  durchgebildeten 
Männern  lebendige  Anregung  und  feste  Kichtung  findet,  seine  groften  Be- 
denken. Es  erfrinlet  t  mehr  als  der  in  der  Schule  durcli  das  lebendige  \\'ort 
venuittelte  Unterricht  und  die  dm'ch  wetteiferndes  Streben  gehobene  Arbeit 


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—   635  — 


Austrengnng  und  Fleiß.  Übertriebener  £ifer,  dem  gerade  das  in  unseren 
Tagen  lieh  spfretmnde  StreberÜmm  Tliflr  mid  Thor  9Ai«t|  fBhrt  wtu  YoniMdi- 
lft88igw>g  der  Bemfearbeit,  naht  dem  Lebnr  die  Zeit  und  die  Kraft,  mit 

Liebe  nnd  Frische  die  Kleinen  zn  lehren,  schadet  der  krirperlichen  Gesmidheit, 
die  hei  dem  Mangel  nttthiper  Erholung-  über  CTcbär  angegriffen  wird.  Und 
nicht  auch  der  geistigen'/  h'üi-  denluiam  aus  dem  Seminare  entlassenen  jungen 
Mann  liegt  die  Oe&lir  nehe,  dan  er,  der  doeh  bei  der  Abgeachloesenheit  des 
SoBinarielMiis  kaum  einMi  Blick  in  die  Welt  gethan  hat,  rieh  der  wolthnenden 
Einwirkung  eines  gesunden  Volkslebens  entzieht  und  infolge  dessen  auch 
niemals  die  Kraft  erlangt,  die  in  echter  Volksthünilichkeit  verborgen  liegt  und 
dem  Lehrer  bei  seinem  Wirken  in  der  Schule  so  sehr  zustatten  kommt,  aber 
auch  in  seinem  unmittelbaren  Eiuüusse  auf  das  Volk  sich  oft  in  überraschender 
Weise  offenbart  Für  den  noeh  nioht  genugsam  gefestigten  Charakter  dee 
jungen  Lehrers  hat  ein  Boleh  efnaeitigee  Stndinm  den  Nachtheil,  daas  er  die 
Wirklichkeit  aus  den  Augen  verliert  und  die  Dinge  nnd  Verhältnisse  nur  durch 
die  Brille  seiner  Bücherweisheit  beurtheilen  lenit.  Da  ist  Goethe's  Ausspruch 
am  Platze:  „Grau,  theurer  Freund,  ist  alle  Theorie  und  grün  des  Lebens 
gold'ner  Baum.**  Daas  aokbea  Streben  Menschen  erzengt,  die  für  den  geaeU- 
sehaftlichen  Verkehr  ingenieSbar  sind,  nur  „ttbers  Handwerk"  sa  sprechen 
wissen  nnd  oft  bei  aller  Redlichkeit  der  Absicht  keineswegs  znr  Vermehnmg 
des  Ansehens  des  Lehrerstandes  in  engeren  und  weiteren  Kreisen  beitragen, 
wird  keinem  verborgen  bleiben,  dessen  Dichten  nnd  Trachten  nieht  in  der 
Schule  aufgebt,  der  das  mitunter  noch  sehr  seminaristische  Gebaren  mancher 
jungen  Lehrer  beobachtet  hat  und  die  oft  draatisehen  nnd  nicht  selten  nitreibn- 
den  Volksnrtheile  „über  den  Schulmeister''  hdrt  Der  i^r,  welcher  noch  ein 
He^z  für  di*  Srhnle  hat,  wird  es  mit  Betrübnis  sehen,  dass  die  Unnatur  der 
„Bücherbildung''  sich  auch  in  die  \'olk8scliule  hineinschleiclit  nnd  dort  als 
verderblicher  Verbalismus  ihr  Wesen  treibt.  Uder  werden  die  Kufe  nach 
Befonn dee EMehnnge* und üntenlchisweBeDS nicht  immer lanter,  trotamanciMr 
gewiss  nicht  zn  verkennenden  metfaodlaehen  FMtschritte?  Will  man  aber  das 
Übel  mit  der  Wurzel  ausrotten,  dann  lege  man  auch  Hand  an  die  dgene  Bes- 
serung; soll  die  Schule  den  heranwachsenden  Menschen  vor  einem  einseitigen 
Innenleben  schützen,  ihn  körperlich  und  geistig  gesund  erhalten,  dann  muss 
sich  zunächst  der  Lehrer  vor  einer  einseitigen  Richtung  seines  Seelenlebens 
bewahren.  — 

Nachdem  wir  auf  die  Geftdir  der  Einseitigkeit  und  der  Verkennniig  des 
wirklichen  Lebens  aufmerksam  geworden  sind,  dürfen  wir  nicht  übersehen, 
dass  auf  der  anderen  Seite  die  ubertlächliche  Allgemeinbildung,  die  überall 
mitspr^en  will,  und  die  Verflachnng  des  Wissens  gar  zu  verlockend  winken. 
Zir  Bildung  nndVeredelnn^  des  Geistes,  nr  Sammlung  des  Gemftthes  evaeheint 
dne  geditgeae  LeetSre  durchaus  Tortheilluift;  doch  ist  damit  ntekt  im  ent- 
ferntesten der  Bath  gegeben,  dass  der  junge  Lehrer  auf  dem  umfangreichen 
Felde  der  sog.  schonen  Literatur  seine  Kraft  vergeude  und  sein  Interesse  für 
die  Rerufsbildnng  schwäche  —  ist  doch  selbst  des  Guten  auch  hier  eine  solche 
Fülle  vorhanden,  dass  es  dem  Lehrer  bei  gewissenhafter  Erfüllung  sefaier  Be- 
Tuftpilichten  schwer  werden  dürfte,  „sich  auf  dem  Laaftnden  an  erhalten.* 

Darum  müssen  wir  nach  einer  Übung  der  geistigen  Kraft  suchen,  welche 
vor  Einseitigkeit  bewahrt,  aber  auch  vor  Zetttrenong  sch&tst    Dass  der 


—  636  — 


Lehrer  aelne  Ifnftetfeiiiideii  mit  eeinem  Lieblingestiidiiim  amfUle,  "wird  ihm 

niemand  wehren  wollen,  ebensowenig  wie  für  die  Wahl  des  Gegenstuides  eine 
andere  Maßgabe  als  eigener  Geschmacli  und  eigene  Einsicht  bestellen  kann. 
Doch  sei  es  uns  gestattet,  auf  ein  Mittel  hinzuweisen,  das  den  Getalireu  von 
der  einen  und  von  der  anderen  Seite  za  begegnen  geeignet  ist,  nämlich  die 
Übung  in  der  zaeaninienhlngenden  mlndHehen  Dnntelliing  bez.  in  der  i^en 
Bade.  Wir  erstreben  sehen  bei  nnseren  Sefafllem  die  gnsammenhangende  Wieder^ 
gäbe  der  Unterrichtsstoffe;  die  Lebrerbildnng-sanstalten  —  nnd  diese  wol  nidlt 
allein  unter  den  lieberen  Schulen  —  betrachten  es  als  eine  ihrer  hervor- 
ragendsten Aufgaben,  dass  ihre  Zöglinge  in  freier  li'ede  über  das  erworbene 
Wissen  verfügen  lernen ;  auf  allen  Prüfungen,  welchen  »ich  der  dem  Lehrerbe- 
mfb  siehwidmMide  jnngeHann  zn  nnterziehen  hat,  wird  die  znsBmmenhiIngende 
Rede  in  melir  oder  minder  ausgedehntem  Sinne  verlangt.  Von  den  PSdngOgMi 
hat  z.  B.  schon  Dinter  den  Wert  der  Rede  betont,  indem  er  kein  umfang- 
reichee  Wis.sen  vom  Lehrer  verlangte,  sondern  dase  er  sich  über  das,  was  er 
wisse,  flieüeud  und  klar  aosznsprecheu  vermöge. 

Niemand  yerkennt  wol  den  Vorzug  des  gesprochenen  Wortes  rm  dem 
gesefariebenen.  Sclmn  in  dem  Klange  der  mensehllehen  Stimme  liegt  etwas 
wunderbar  Ergreifendes.  Die  Worte  des  Sprechenden  nntertt&tzen  noch  die 
Geberde  und  der  lebendige  Blick  des  Auges.  Gerade  vom  gesprochenen  Worte 
gilt:  „Wer  die  Sprache  in  .seiner  (iewalt  hat,  beherrscht  die  Geister."  Jeder 
hat  es  an  sich  selbst  erfahren.  Hat  vor  allem  nicht  der  Erzieher  es  an  den 
lenehtenden  Angen  der  Jagend  gesehen,  wdeh  mlehtige  Wirkung  ein  mit 
Überseogiing  nnd  Gefühlswaiurheit  gesprochenes  Wort  erzielt,  wie  eine  schlichte 
Erzählung  durch  den  sinngetreuen  Vortrag  Inhalt  nnd  Bedeutung  gewinnt 
and  ein  schönes  Gedicht  erst  Leben  und  Poesie!  — 

Wenn  wir  von  der  Unterscheidung  absehen,  welche  gewöhnlich  zwischen 
dec  Wiedeigabe  eines  gedlehtnismUUg  eingeprägten  Steflfes  und  der  nidit  be- 
sonders vwbereiteten  Rede  (der  sog.  Stegreifrede)  gmnaefat  wird,  so  trigt  die 
tr^e  Rede  für  den  Sprechenden  zur  Aneignung  des  Stoffes  bei.  Zwar  ist  aadi 
die  kurze,  treffende  Antwort  nur  bei  gehöriger  Einprägung  und  wahrem  Ver- 
st&ndnisse  möglich;  doch  müssen  wir  der  znsammenhängenden  Darlegung  die 
jener  fehlende  Übersicht,  die  umfassende  Herrschaft  über  den  Stoff  zuerlceanen. 
Die  geistige  ThStigkeit  wird  Jedenfldls  mdir  in  Anspmeh  genommen  dnrok 
die  mit  ausschließlicher  Selbsthillb  geforderte  fortlaufende  Hede,  als  bei  der 
durcli  Mitwirkung  der  Frage  angeregten  Antwort.  —  „Reden  ist  ein  Bildner 
der  Gedanken."  Reden  ist  auch  ein  Bildner  des  Willens.  Nicht  nur  die  an- 
gestrengte Geistesarbeit  des  Redners  ist  eine  Übung  der  Willenskraft,  sondern 
auch  —  und  das  mag  uamentUoh  von  der  Stegreifrede  gelten  —  die  Über- 
windung einer  gewissen  BeAmgenhdt,  von  der  sieh  die  wenigsten  ganz  i^i 
fühlen,  ist  eine  Bestätigung  der  EJnergie.  Es  gehört  oft  kein  geringer  Muth 
dazu,  vor  eine  größere  Versammlung,  in  deren  Mitte  wir  kampffähige  und 
schlagfertige  Gegner  wissen,  mit  seinen  Leistungen  und  Ansichten  hervorzu- 
treten, nicht  wenig  Selbstbeherrschung,  ihre  unvorhergesehenen  Angriffe  mit 
Rohe  anznhOren,  nnd  nieht  minder  Geistesgegenwart,  saehgemlB  au  erwidern 
nnd  dieselben  mit  Überlegung  zurückzuweisen.  —  IHm  endlich  durch  die 
Übung  in  der  freien  Rede  wie  für  die  Gedankenbildung  so  auch  für  die  Sprach- 
bilduog  gewonnen  wird,  braucht  wol  kaum  gesagt  zu  werden.  Durch  das 


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•     —    Ö37  — 

Bestreben,  im  entscheidenden  Aagenblicke  das  reckte  Wort  zu  finden,  waclisen 
Spradigewudthflit  snd  Spnudulchcorlieit. '  Die  Spradie  fiberhanpt  gewinnt  an 
NntBriidikeik,  wu  nm  »  eher  dnlenehtetf  als  die  freie  unvorbereitete  I'>  de 
als  nnmittelbarer  An^^fliiss  des  Hemos  am  entMi  Ajupmcli  auf  Wahrheit  und 

.Überzeugung  maclien  kann. 

Sei  darum  auch  der  Inhalt  einer  BedeUbong,  welcher  er  welle,  so  kümieu 
wir  deneiben  die  fonud  Uldende  BedeituBg  nidit  abspredMn;  wir  kOnnen, 
da  die  Spradie  Unterriehtsmittel  ist,  den  Wert  der  dnreh  die  Bede  «nielten 

sprachlichen  Vervolllcoinainong  des  Lehren  auch  dann  nicht  verkennen,  wenn 
ihr  Inlialt  die  F^ädapoonk  nicht  berührt,  wir  müssen  endlich  die  auf  diesem 
Wege  gewonnen»'  Ansbildunpr  überliaupt,  namentlich  aber  die  moralische  Kräf- 
tigung zum  Theil  der  Schule  und  dem  Unterrichte  zuweisen,  da  bei  dem 
UnterrÜDhte  nnd  in  enter  Linie  bei  eineoi  eniehliehen  Untenichte  der  ganne 
Mensch  sich  in  seinem  eigensten  Wesen  nieht  entftnilem  Icann  nnd  darf. 

Der  Hinweis  auf  den  Wert  der  sprachliclien  Vervollkomranunpr  für  die 
Schule  legt  nns  den  Gedanken  nahe,  dass  die  Ertheiluug  des  Unterrichtes  ein 
gutes  Stück  Stil-  und  Bedeübung  für  den  Lehrer  sein  kann.  Die  Schule  ist 
der  rechte  Ort,  wo  der  Lehrer  die  Sprache  des  Henens  nnd  Gemüthes  er- 
lernen kann.  Es  -wfirde  wenig  dabei  heransiBoninien,  wollte  der  Lehrer  die 
den  Verstand  bildende  Katechese  ans  ihrem  Bechte  verdilüigen,  nm  sie  durch 
die  zusammenhUngende  Darlegung  zn  ersetzen;  er  wird  ohnedies  Gelegenheit 
genug  finden,  wo  die  Natur  der  Unterrielitsstoffe  die  achromatische  Methode, 
also  aach  die  Übung  in  der  freien  Bede  bedingt.  Wenn  schon  im  gewöhnlichen 
Leben  da«  Ableeen  den  Bündrack  der  Rede  sehwicfat,  dann  Terfidilt  nament- 
lich der  Unterricht  seine  Wirkung  auf  die  Schüler,  wenn  der  Lehrer  eine 
biblische  Erzilhlunp:,  ein  geschichtliches  Ereignis,  eine  geographische  Schilde- 
rung aus  dem  Buche  ablesen  niuss.  Das  freie  Erzälilen  hebt  das  Interesse 
für  den  Uuterrichtsgegenstand,  wie  auch  die  Autorität  des  Lehrers.  Die  Kin- 
der sehen,  dass  der  Lehrer  dim  Stoff  yoU  nnd  gani  beherrscht.  DieBenntinng 
eüies  Baches  ersehwwt  anllerdem  die  SchBldiadplin,  indem  der  Lehrer  seine 
Aufmerksamkeit  nicht  in  ungetheiltem  MaAe  den  Sdifliem  widmen  kann.  Im 
allgemeinen  kann  dem  Lehrer  nnr  gerathen  werden,  dass  er  sich  die  vorzu- 
tragenden Stoffe  nach  Form  und  Inhalt  genau  zurechtlege,  damit  er  im 
Unterrichte  nicht  nach  Worten  zu  suchen  brauche.  Dennoch  muss  die  Form 
bei  der  Benntsnng  von  ffiiftbflchem  immer  sdne  eigene  genannt  werden 
können  und  nicht  su  ängstlieh  ÜBStgehalten  werden,  dass  nicht  die  Stimmung 
des  Angenblickes  eine  bessere  an  ihre  Stelle  setzen  dürfe.  Selbstverständlich 
ist  Jede  willkürliche  Änderung  da  unzulässig,  wo  die  Darbietung  des  Stoffes 
an  einen  bestimmten  Wortlaut  gebunden  ist.  — 

Dieae  Gelegenheit  der  Bedettbung,  welche,  wir  betonen  es  nochmals,  nieht 
auf  Kotten  des  üntenidhtes  gepflegt  werden  darf,  ist  in  die  Gewalt  eines 
jeden  Lehrers  ^'^cgeben.  Eüne  weitere  Gelegenheit  bietet  das  gemeinschaftliche 
Studium  durch  Mittheilung  von  Gelesenem  oder  Memorirtera  an  einen  Zweiten. 
Jedes  wissenschaftliche  Gebiet  ist  ein  Feld  zur  Übung  in  der  zusammenhängen- 
den Bede.  Das  gemeinschaftliche  Studium  hat  außerdem  noch  den  Vortheü, 
dass  es  dnreh  gegenseitigen  Anstanseh  der  Ansichten  nnd  Meinnagen  das  ür- 
theil  verschärft,  den  Blick  erweitert  nnd  die  Arbeitslast  wachhält. 

Wo  die  geoellschaftliehen  Verhältnisse  es  gestatten,  erscheint  die  Oröndnng 


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—   638  — 

von  Uflinemi  yareine&,  wie  sie  in  manchen  Städten  bestehen,  recht  paieend 
zur  Pflege  des  rasammenhiagenden  Vortrages.  Der  Vortrair  im  engwen  Krelae 

der  Amtsg-enossen  bereitet  auf  die  Rede  in  öffentlichen  größeren  Versamm- 
lungen, auf  deren  Bedeutung  wir  später  hinweisen  wollen,  vor.  Es  ist  darch- 
aus  nicht  gesagt,  dass  bei  den  kleineren  Zasammenkünften  der  Lehrer  nnn 
Pidagogisches  TCiliandelt  werden  soll;  allgemein  wissensehaftUehe  Gegeu- 
stSade  verdienen  nicht  weniger  in  die  Bespreehnng  hineingezogen  sa  werden, 
nnd  selbst  hnmoristische  Vortrige  erscheinen  nicht  selten  als  eine  treffliche 
Würze  und  «»ine  Erheiternnu"  de«  ernsten  Bernfslebt^ns.  Variatio  delectat.  Ein 
Vorbild  jener  \'ersaninilungen  sehen  wir  in  den  V(tn  der  I^eliördti  »duf^erichteten 
Couferenzen  der  Lehrer.  Nur  finden  dieselben  zu  selten  statt,  als  dass  sie  den 
Ansdrodc  in  freier  Rede  wesentUdi  fftidem  Mannten;  hieran  scÄieinMinns  eigens 
zn  diesem  Zwecke  gegründete  Vereinigungen  der  Lehrer  weit  besser  am 
Platze.  Damit  wollen  wir  jedoch  die  Nothwendigkeit  der  amtlichen  Conferenzell 
ni(  Itt  bestreiten,  welche  ja  auch  nicht  der  genannten  Bestimmong  allein  dienen 
können. 

'  Soviel  US  bekannt  ist,  wird  snf  den  amtUdien  (Kreis-)  Confbremen  auch 
nicht  der  freie  Vortrag»  sondern  nnr  das  Ablesen  eines  selbstg«fertigten  Anf- 

satzf  s  gefordert,  woran  sich  freilich  die  freie  Besprechung  in  Rede  und  Gegen- 
rede knüpft.  Wüiirend  wir  auf  der  einen  Seite  die  Rücksichtnahme  der  Be- 
hörden aut  die  den  meisten  Lehrern  mangelnde  Übung  in  der  freien  Rede  an- 
erkennen müssen,  können  wir  andererseits  nicht  umhin  zu  gestehen,  dass  die 
Rede  eines  Sprediers,  der  sich  ängstlich  am  Concepte  hUt,  mit  dem  fMen, 
lebendigen  Vortrage  keinen  Vergleich  aushalten  kann.  Dem  Gelesenen  fehlt 
die  überzeno:ende  Kraft,  die  lebendige  Seele,  die  Ergriffenheit  des  Redners,  da 
wir  durchaus  nicht  einmal  g:enöthigt.  sind,  das  Interesse  des  Vorlesers  als  vor- 
handen auzunebmeu.  Erst  dadui'ch  wird  der  Gedanke  unser  eigenstes  £r- 
sengnis  nnd  nnser  volles  Sigenthnm,  da»  er,  dem  Geiste  stets  gewirtig,  in 
klarer  Form  jederseit  mir  Mittheünng  bereit  steht;  erst  dann  ist  er  ins  Hen 
gedrungen,  nicht  aber,  weun  er  nnr  auf  dem  Papiere  steht ;  erst  dann  kann  er 
zum  Herzen  /^ehen.  Es  kennen  zwar  organische  Fehler  der  Ausbildung  im 
freien  \  ortrage  hemmend  in  den  Weg  treten;  in  den  meisten  Fällen  ist  jedoch 
die  Möglichkeit  gegeben,  sich  einige  Kedefertigkeit  anzueignen,  ohne  dass  man 
gerade  ein  Redner  im  eigjßntUehsten  Sinne  des  Wortes  m  sein  brandit. 

Im  \'erkehr  mit  dem  Volke,  dem  sich  der  Lehrer  als  ein  Hann,  der  unter 
dem  Volke  lebt  und  wirkt,  nicht  entziehen  kann,  zeigt  sich  der  Besitz  eines 
erewisseii  ]\[aßes  von  Kedekunst  als  sehr  wünschenswert,  wenn  nicht  mitunter 
sogar  als  nothwendig.  In  seiner  Stellungnahme  zu  politischen  und  Tages- 
fragen kann  der  Lehrer  allerdings  nicht  vorsichtig  genug  sein;  aber  es  lilete 
doch  den  Bemf  des  Lehrers  theUweise  veriMUM»,  letnteren  als  jemanden  hinxn- 
stellen,  der  „nnr  der  Schule  gehöre  nnd  nidit  in  die  Gesellschaft.''  Da  ist 
es  oft  schon  durch  die  Stellung  des  Lehrers  In  der  Gemeinde  (das  trilt  nament- 
lich von  Dörfern  und  kleineren  Städten)  bedingt,  dass  er  zli  einer  kürzereu 
oder  längeren  Rede  das  Wort  ergreife.  Besonders  hentzntage  erhält  diese 
Fordemng  immer  mehr  Naebdmck  dnrch  die  allgemeiner  werdende  Bfldang 
nnd  denAntbeil.  den  auch  der  Mann  aus  dem  Volke  an  öffentlichen  Angelegen- 
heiten nimmt.  Es  macht  einen  oft  geradezu  peinlichen  Eindruck,  wenn  der 
Lehrer  nur  dnrch  „ächweigen"  glänzen  kann,  wohingegen  es  allen  Achtung 


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4 


—    Ö39  — 

abnOtbigt,  wenn  er  den  allgemeinen  Gefühlen  einen  beredten  Ausdruck  zn 
gelten  yermag.  — 

Bei  dea  amgedehnten  Vereiiielebeii  der  Jetitieit  bleibt  die  Kimtt  der 
'  frden  Bede  nicht  mehr  das  alleinig  Eigeathiim  der  Gebildeten,  sondern  be- 
ginnt immer  mehr  Gemein^rnt  des  Volkos  zu  werden.  Die  einzelnen  Stände, 
auch  die  arbeitende  Bevölkerung,  werden  mehr  und  mehr  zum  Zusammen- 
schlösse gedrängt  and  erkennen  die  Vortheile,  welche  in  dem  gemeinschaft- 
liehen  Anttrag  seitbewegender  Fragen  auf  Öffentlichen  Yersaminliiiigen  beruhen« 
Dadurch  ist  jedem,  welcher  sich  in  freiem  Vortrage  auszudrücken  versteht,  die 
Möglichkeit  gegeben,  auf  ein  größeres  Ganzes  zu  wirken.  Wie  viel  die  Macht 
der  Rede  zu  wirken  vermag  bei  dem  regen  Vereinsleben  der  Lehrerwelt  und 
welche  großartige  Bewegung  der  Lehrer  dadurch  in  die  weitesten  Kreise  Iiinein- 
antragen  vermag,  aeigen  die  Srgebnisie  der  grSfieren  Lehrenreraammlnngen. 
Eb  ist  angesichts  dessen  nieht  an  lengnoi,  dass  der  freie  Vortrag  von  ein- 
seihneidender  Wirkung  auf  das  gesammte  Schul-  nnd  Lelirerleben  ist. 

Wie  wir  im  Vorhergehenden  erkannt  haben,  ist  der  freie  Vortrag  nicht 
blos  von  bildeudeui  Werte  fiir  deu  Lehrer,  indem  er  die  Denkthätigkeit  an- 
regt, das  Wissen  klärt  und  den  Charakter  festigt,  sondern  auch  nutzbringend 
Ar  die  Sefanle,  wdeiier  die  FrSchte  der  wahren  Lelirerbildnng  niraials  yer» 
loren  gehen  können,  außerdem  :iber  auch  die  freie  Darlegung  als  Unterrichts- 
mittel schützen  muß:  er  (der  freie  Vvirtrag)  ist  ebensowol  von  Bedeutung  fiir 
die  genellschaftliche  Stellun;,^  di-s  e.iiizt  liirn  ,  als  auch  ein  mächtiger  Hebel  zur 
Förderung  de»  gesammten  Standes.  Möchte  seine  formal  bildende  Bedeutung 
jedem  ein  Sporn  sein,  in  der  Ennst  der  freien  Bede  mehr  nnd  mehr  Heister 
zu  werden;  seine  Wichtigkeit  Ar  Scbnl-  nnd  Lehrerleben  überhaupt  der  Pflege 
dieser  Kunst  in  den  Lehrerverdnen  eine  noch  frenndliehere  Heimstätte  bieten 
als  bisher! 


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Pidagoi;i8ek6  RudsehaiL 

Der  VIII.  Deatache  Lelirertag:  (Berlin,  Pfingstwocbe  1890).*)  (Von' 
Wilh.  Meyer-Daisburcr.)  Es  werden  KHK)  Schulmänner  gewesen  sein,  die  ans 
dem  weiten  Deatschland  und  aas  benachbarten  Landen  in  Berlin  zusammen- 
geströmt waren,  um  das  Gedächtnis  Diesterwegs  würdig  zu  begehen.  Diester- 
wegB  hiinder^tUirigefl  Geburtsjahr  war  bekanntlich  die  VeranlasBiinff  gewesen, 
weswegen  die  Berliner  Lehrer  ihre  Amtsgenossen  ans  dem  ganzen  Belche  nun 
VIII.  Deutschen  Lehrertage  nach  Berlin  geladen  hatten.  Die  Vor  Versammlung 
verlief  leider  recht  unruhig.  Die  schlechte  Schallwirkung  des  Saales  trug  dazu 
vornehmlich  bei.  Sodann  wurde  mit  Recht  gegen  die  vom  geschUftsfiilirenden 
AimchnBse  vorgeschlagene  Tagesordnnnir  Widerspruch  oriioben.  Die  vier  Vw- 
bandtthemen  moaaten,  will  der  Lehrertag  seinen  Grundsätzen  getren  bleiben, 
zunächst  zur  Verhandlung  kommen.  Ist  dann  noch  Zeit  vorhanden,  so  kann 
auch  über  andere  Sachen  verhandelt  werden.  Darum  durften  vom  geschäfts- 
fuhrenden  Ausschüsse  keine  abweichenden  Vorschläge  begründet  werden,  wie 
es  geschab.  —  Die  Vorstandswahl,  allerdings  nnr  die  T(»4ftafige,  die  aber  Be- 
stätigung fend,  «rgab  IBr  den  Lelurertag  als  1.  Ymitzenden  Ldirer  Tiersch- 
Berlin,  Vorsitzender  des  Deutschen  Lehrervereins,  tiß  2.  Oberlehrer  Johann 
Baptist  Schubert,  Augsburg,  Redacteur  des  „Pädagogischen  Archives",  als 
3.  Lehrer  Julius  Beeger,  Leipzig,  Redacteur  der  „Päda^^u^^ischen  Revue". — 
Die  Begrüßung  der  Gäste  in  der  Vorversamiulung  namens  des  ürtsausächusses 
lialte  der  Lehrer  und  pädagogische  Schriftsteller  Rebert  Bissmann,  Beriin, 
libemommen.  Derselbe  führte  ans:  „Amtagenossen,  die  ihr  gekommen  seid 
von  Nord  und  Süd,  von  Ost  und  West,  aus  allen  Theilen  unseres  schönen 
Vaterlandes  und  von  jenseit  seiner  Grenzen  her  aus  stammverwandtem  Volke: 
Graß  und  Handschlag  bietet  euch  durch  mich  die  Lehrerschaft  Berlins.  Seit 
Konden  rflsten  wir  ans  anf  euren  Empfang,  mit  bercUeber  Freude  hdtai  wir 
euch  willkommen.  Willkommen  in  des  Deutschen  Reiches  Hanptstadtl  Bleibt 
das  Gelingen  des  Festes  zurück  hinter  unserm  Wünschen  und  Wollen,  rechnet 
es  uns  nicht  an;  das  Hasten  und  Jag-en  der  Weltstadt  passt  wenig  zu  stiller, 
emster  Geistesarbeit.  —  Zu  guter  Stunde  tritt  der  VIII.  Deutsche  Lehrertag 


*)  Verschiedene  Correspondenten  imiss  ich  um  Entscholdigung  bitten,  dass  ich 
ihre  Mittheilungen  über  den  Eindruck,  welchen  der  Lehrertag  und  namentlirh  mein 
Vortrag  in  ihren  Kreisen  gemuchi  hat,  nicht  zum  Abdruck  bringe,  für  jeUa  wenig* 
atens.  Es  widerstrebt  mir,  im  ,.Piedagogiiim'*  mich  loben  sn  laSieiL  Ebenso  mOgen, 
mindestens  vorUiufic:.  abfilUigc  Xußemng'en  unberührt  bleiben;  unsere  Leser  werden 
dieselben  zu  würdigen  wissen,  fulk  sie  überhaupt  Notiz  davon  nehmen.  Ich  kann 
nur  sagen,  dass  ich  meine  Rede  sehr  genau  bemessen  hatte,  und  dass  ich  mir  tob 
denellratt  nichts  abhandehi  lasse.  D. 


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—   (Ul  — 


sOMamen.  Unruhe  hat  sich  des  Geschlechtes  der  Gegenwart  bemächtigrt.  £r- 
wartnngsvoll  schaut  es  nach  den  Zeichen,  die  immer  deutlicher  das  Herauf- 
steji^en  einer  neuen  Zeit  bekunden.  Wie  draußen  auf  Feld  nnd  Flur,  in  Wald 
und  Heide  es  allenthalben  aick  regt  nnd  die  Knospen  schwellen  und  die  Bläten 
sieh  entfidten,  bo  ist  auch  neues  Leben  und  neues  Streben  in  der  Menschheit 
erwaeht.  Oedankmgebftnde ,  die  Ar  die  Ewigkeit  errichtet  schienen ,  stftrsen 
jSh  Kosammen,  aber  neues  Leben  sprosst  hervor  ans  den  Ruinen.  Ideen,  vor 
kurzem  noch  der  Sonderbesitz  einsamer  Denker,  fanden  an,  das  liewusstsein 
der  Völker  zu  beherrschen.  Unterschiede  im  Denken  und  Streben,  die  vor 
kurzem  noch  unttbersteigliche  Scheidewände  aufrichteten  zwischen  Ständen  und 
Parteien,  schwinden  vor  der  Hacht  neu  auftretender  Probleme,  welche  ge- 
bieterisch ihre  Lösung  heischen.  Von  einer  solchen  Zeit  der  Umwälzungen, 
des  Kampfes  nicht  zwischen  Meinnnpren  einzelner,  sondern  entgeg'enstehender 
Weltansichten,  von  einer  Zeit,  wo  die  Anscliannng-en  über  die  Aufg^abe  des 
Menschen  und  das  Wesen  der  Gesellschaft  jähem  Wechsel  unterliegen,  von 
einer  solchen  Zeit  kann  auch  die  Schule  nicht  unberührt  bleiben.  Wird  sie 
doch  getragen  vom  Strome  des  Calturlebens.  Zwar  nicht  Bereicliemng  des 
Cnltnrschatzes  der  Menschheit  ist  ihre  Aufgabe,  wol  aber  f'benTiittelnng  des- 
selben an  das  heranwachsende  Geschlecht  nnd.  veriii(»g^e  ihrer  Bildnn^sarbeit. 
seine  Umwandlung  in  lebendige  Kraft.  Darum  mögen  die  liückschrittler  uud 
Pedanten  auch  die  Thür  der  Schule  schließen  vor  den  neuen  Ideen,  die  EUnlass 
begehren, — der  Starm,  der  diesm  die  Gegenwart  erobert,  sprengt  die  PHorten. 
Mögen  die  Philister,  die  nicht  iUiig  sind,  das  Nene  zu  beirrelftn,  die  perficken- 
beschwerten  Köpfd  schütteln,  —  mögen  die  Zünftler  in  der  Pädasrf^fTPnwelt, 
die  nichts  Höheres  kennen,  als  die  hergebrachten  Handwt  rksbräuche  einen,  ihr 
Gezeter  anstimmen.  Der  Genius  des  Fortschrittes  lachet  ihrer.  Frevel  und 
Thoihett  Ist  ee,  dem  Sad  der  Zeit  in  die  Speichen  sn  greifinii;  niemand  ist  im* 
Stande,  seinen  Lauf  zu  hemmen;  nnanfhSrlich  rollt  es  weiter  die  ihm  bestimmte 
Bahn  und  zermalmt  den  Thoren.  Aufgabe  der  bestellten  Pfleger  der  Sfhule. 
Aufgabe  dei-  Lehrerschaft  aber  ist  es.  an  das  Nene  mit  prüfendem  Malislabe 
heranznU'eten.  ich  verstehe  darunter  weder  das  hergebrachte  Ellenmaß  des 
Zllnitten,  aodr  den  Zollstock  des  Pedanten.  Prüfen  soll  die  Lehrerschaft  das 
Nene  an  dem  Kleinod,  das  üir  ▼ertrant  ist  seit  den  Tagen  PestaloaBi's  nnd 
Biesterwegs,  prüfen  an  dem  hehren  Ideal,  dem  jede  echte  Erziehung  zustrebt. 
Nur  was  die  Schule  diesem  Ideal  zu  nähern  fJlhis:  ist.  darf  in  ihrem  Reiche 
Aufnahme  tinden;  alles  anden-,  was  von  jenem  Ziele  abführt,  ist  verwernicli. 
Wol  ist  auch  jenes  ideal  nicht  vollkommen  unveränderlich.  Nur  wer  auf  des 
Meisters  Worte  schwürt,  kann  dies  behaupten.  Ihm  wird  das  lebenskräftige 
Ideal  zum  Idol,  zum  todten  Abgott.  Aber  bei  allem  Wandel  in  der  Form 
bleibt  doch  der  Keni  derselbe.  Mögen  die  Ziele  der  Krziehung  im  einzelnen 
sich  ändern  nach  den  Bedürfnissen  des  sieh  entwickelnden  Culturlebens:  ihr 
Wesen  nimmt  an  diesem  Wechsel  keinen  Theü.  Echte  Erziehung  ist  Bildung 
—  nicht  Dressu'i  EnillfHitlUtnng  —  nicht  meehanisdie  Überlieferung,  leben- 
diger Besits  —  nicht  todtes  Wissen.  In  diesem  Sinne  gilt  noch  hente  für  die 
Schule:  Diesterweg  für  inuner!  Dem  VUI.  DentschMi  Lehrertage  ist  dne 
Fülle  von  -Aufgaben  zugewiesen.  An  wichtige  Forderungen,  welche  dt  r  Gegen- 
wart entspriii^ren,  soll  er  prüfend  herantreten.  Sein  Unheil  wird  wiederklingen 
in  den  deutschen  Landen.  Möge  er  den  echten  Maßstab  anlegen  1  Möge  er  be- 


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—    642  — 


weisen,  dass  die  deatielie  Lehrerechaft  imstande  sei,  was  nnseie  Q«(n lengnoi» 
sich  anfzQschwin^en  ans;  dem  Bereiche  kleinlicher  Erwägungen  und  6goifti8Cli6r 
Interessen,  dass  ihr  ein  vulles  \'erstiindnis  der  Aufgrabe  innewohne,  welche  der 
Schale  aus  der  Cultarbeweg^ung  der  Gegenwart  erwachse,  und  dass  sie  die  aus 
dienm  Bewnntsebi  entspringenden  Ffliehten  toU  und  ganz  ni  ivlidigeii  yer- 
t^elMt  Die  Angen  des  deBtaohen  Volkes  sind  aaf  euch  gerichtet  Dentsche 
Lehrer,  zeigt  euch  dieses  Vertrauens  würdig!  Möge  der  VIII.  Deutsche  Lehrer- 
ta^  einen  Markst»'in  bilden  in  der  Entwickelung  der  deutBclien  Volksschule,  in 
der  Entwickelung  des  deutschen  Lebrerstandes!"   (Lebhafter  Beifall.) 

Die  Hauptversammlnng  wurde  im  festlich  geschmückten  Saale  der 
Pfailbarmonie  abgelialten.  Neben  den  Büsten  der  drei  Kaiser  fiel  bestmders 
die  an  barvorragender  Stelle  aufgestellte  lebewgroOe  Diesterweg-Bflste  den 
Theilnehmern  in  die  Au^en.  Viele  Ehrengäste  waren  erschienen.  Wir  nennen 
nur  Herrn  Cfoh.  Eegierungsrath  Dr.  Schneider  aus  dem  Ministerium  der  geist- 
lichen, Unterrichts-  und  Medicinalangelegenheiten,  den  Überbürgermeister  der 
Besidenzstadt,  Herrn  von  Forkenbeclc,  den  Berliner  Stadtscholmtli  Hemi 
Profieesor  Dr.  Bertram,  den  Decementen  der  Berliner  Sehnldepatalioa,  Henrn 
Stadtrath  Schreiner,  sovie  wol  sammtliche  Berliner  Stadtschulinspectoren. 
mehrereKeichs-  und  Landtagsabgeordnete,  z.  B.  die  Herren  FreiheiT  v.  S  c  h  e  n  ke  n- 
dorf,  Prediger  a.  D.  Knörcke,  Dr.  Otto  Hermes  u.  a.  Anüer  diesen 
Ehrengästen  hatten  sich  auch  noch  andere  Gäste  eingestellt  z.  B.  Herr  Hof- 
prediger StScker. 

Begr&ßt  wurde  die  Versammlung  vom  Vorsitzenden  des  Deutschen  Lehrern 
Vereins,  vom  Berliner  ( »Lerbürsermeister*).  vom  Vorsitzenden  des  Curatoriums 
der  Diesterwef^-Stiftuug,  vom  Vorsitzenden  des  Berliner  Lelirervereins,  sowie 
vom  Geh.  Oberregierungsrath  Dr.  Schneider,  dem  bekannten  Verafsser  der 
unter  dem  Ministerium  Falk  Ittr  die  preuAisehe  YoUcsBchnle  erlassenen  »All- 
gemeinen Bestimmungen".  Die  Rede  desselben  wurde  ersichtlich  zum  Fenster 
hinansgesprochen.  Wir  geben  sie  nicht  nur  dieserlialb,  sondern  ihres  wichtigen 
Inhaltes  wegen  ausführlicher  wieder.   Sie  lautete: 

„Meine  Herren!  Es  ist  mir  der  ehrenvolle  Auftrag  geworden,  ihueu  den 
Gruß  Sr.  Ezcellenz  des  Chei^  der  prenßischen  ünterrichtsvei'wattnng  sn  über- 
bringen. Er  ist  persönlich  verhindort  durdi  das  ÜbermaB  seiner  AmtsgeadUUle, 
das  in  der  That  nur  jemand  begreifen  kann,  der  den  Arbeiten  ans  der  Nähe 
zusieht.  Er  foljjt  aber  Ihren  Verhandlungen  mit  lebhaftem  Interesse  und  den- 
selben W'iinsclien.  die  eben  ausy-esproehen  worden  sind.  Ich  möchte  hinzu- 
setzen, dass  ich  mich  freue,  zu  Urnen  sprechen  zu  dürfen,  uud  möchte  um  Nach- 
sidit  bitten,  wenn  ich  etwas  ansfOhrlicher  und  Ubiger  rede,  und  dann  doppelt 
um  Nachsicht,  da,  wie  Sie  hören,  meine  Stimme  heute  zufällig  unter  dem 
Drucke  eines  Schnupfens  leidet^  Doch  werde  ich  mich  bemühen,  deutlich  an 
sprechen. 

Ich  habe  gesagt,  ich  freue  mich,  ausfüiiriicher  i-edeu  zu  dürfen  und  zwar, 
weil  ich  es  für  meine  Pflicht  halte,  Dmen  hi  kurzen  ümrisseB  das  Geblsde  m 
aelehnen,  aa  dem  Sie  an  verachiedenen  Stellen  und  unter  Tetsohiedenmi  Ver- 
hSltnlssen  mityuaibeiten  berufm  sind.   Ich  halte  dies  auch  für  eine  Pflicht 

Die  Stadt  Berlia  hatte  10000  Wt.  m  den  Kosten  des  Lehrertages  bei- 
gesteuert. 


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—  643  — 


g:egen  die  auswärtigen,  nichtpi'euCisclien  Gäste,  amsomehr,  als  ich  gefanden 
habe,  dass  bei  ähnliclien  Versanirahingen  Ähnliches  geschah.  Und  wenn  Sie 
manches  hören,  was  Sie  längst  wissen,  so  ist  das  ja  kein  Nachtheil;  denn  es 
gibt  Dinge,  die  man  immer  wieder  gerne  hört.  Schon  die  eine  Thataache  be- 
wegt dM  Hen,  dass  wir  den  Umfloir  miMrer  Arbeit  IcemieB. 

Am  20.  Hai  1886  sind  unsere  Schalkinder  gezählt  worden,  und  da  hat 
sich  ergeben,  dass  von  508201X)  Kindern  schnlpflichtigen  Alters  4838247  in 
Volksschulen  nntcniehtet  werden  und  in  solchen  im  eigentlichen  Sinne,  nicht 
eingesdilossen  die  höheren  Mädchenschalen,  die  Mittelschulen,  die  Taubstummen - 
aehideD  ilb.w.  Wir  begreifeii,  wetcbea  MaS  toh  Verantwortmig  auf  nneeren 
Kmn  liegt  und  jeder  einzelne  empfindet  es.  Die  Himmel  erz&hlea  des  Ewigen 
Ehre.  Unsere  Pflicht  ist  es,  dass  es  wahr  wird:  „Ans  dem  Monde  der  Kinder 
hast  du  dir  Lob  zugerichtet."'  Die  preußische  Unterrichtsverwaltung  hat  nun 
die  Autgabe,  diesen  nahezu  fünf  Millionen  Kindern  Unterricht  zu  besorgen, 
Lehrer  zu  beschaffen,  Schalräame  herzurichten,  Lehrpl&ne  zn  geben.  Die 
UntenielitBverwaltang  hat  den  Hnth  gebabt,  in  einer  Beibe  itatistiacher  Be>. 
lidite  ganz  offenr  bis  ins  Innerste  die  Toriiandenen  Mängel  darzustellen,  wie 
anch  das  nicht  zu  vorschweigen,  was  gelungen  ist.  Wir  müssen  ermessen, 
welche  Kiesenaufgabe  und  welche  Schwierigkeiten  ihrer  Lösung  sich  entgegen- 
stellen. Ich  nenne  unter  solchen  zuerst  die  Jugend  der  Volksschule.  \'on  der 
berttbmten  Gabinetsordre  Friedrieh  Wühelms  I.,  worin  zun  errtenmal  der  Ge- 
danke einer  allgemein  Terbindliflibai  Sehnle  aasgesprochen  wurde,  bis  za  diesen 
Tagen,  wo  die  Schulpflicht  Gesetz  wurde,  war  ein  weiter  Weg.  Als  man  den 
Muth  hatte,  in  dem  Schulreglement  nnd  im  Allgemeinen  Landrecht  die  Schul- 
pflicht gesetzlich  zu  tixiren,  war  man  doch  lange  nicht  so  weit,  sie  auch  durch« 
zuführen.  Welehe  Znst&nde  selbst  in  Berlin  herrschten,  wissen  ans  der 
Deoksdirift  zum  Lehrertage.  In  anderm  Gegenden  gab  es  Wandorlehrer,  nn- 
versorgte  Schnlstellen,  in  Ermland  150  Lehrer  und  50()  waren  erforderlich. 
Schritt  für  Schritt  hat  di  ii  Unterhaltungspflichtigen  abgekämpft  worden  müssen, 
was  sie  fiir  die  Scliule  und,  glauben  Sie  mir,  was  sie  für  die  Lehrer  getlian 
haben.  Eine  andere  Schwierigkeit  liegt  in  der  mannigfachen  Gestaltung  unseres 
Landes.  Wir  haben  weite  Strecken  am  Heere,  Inseln,  HaUigeOt  Gebirge, 
D5rf(Br  in  Marschen,  mitten  in  sehwer  zugänglichem  Boden  gelegene  Land- 
schaften. Nicht  überall  war  der  Weg  so.  dass  es  leicht  gewesen  wäre,  den 
Kindern  Unterricht  zu  verschaffen.  l)as  int  eine  Buntheit  der  Verhaltnisse, 
auf  welche  die  preußische  üuterrichtsvei'waltung  ihr  besonderes  Augenmerk 
richten  mnaste  nnd  richtete.  Ist  es  nicht  eine  Freude,  wenn  wir  sagen  kSnnen, 
wir  haben  919  Sehnlen  mit  44000  SchnUdndem,  wo  weniger  als  30  Schiller 
auf  einen  Lehrer  kommen?  Die  Schulen  gehen  hinauf  bis  zn  1000  Meter 
Höhe.  So  gibt  es  kein  Kind,  wie  isolirt  es  anch  wohne,  wie  schwer  zngang- 
lich  der  Weg  zu  ilim  auch  sei.  dass  (»hne  t\\>'  einem  Christenmenschen  nöthigste 
Unterweisung  bleibt.  Wir  haben  noch  andere  Schwierigkeiten  zu  überwinden; 
denken  Sie  an  die,  welehe  sieh  dnreh  das  Ansiedeln  ergeben.  Ganz  pNMzliGh 
tberlttllen  sich  Städte  und  Dorfer.  In  einem  wichtigen  Schulinspectionsbezirk 
war  1842  eine  eindassige  Schule,  jetzt  deren  170.  In  meiner  Zeit,  in  der  ' 
ich  in  der  Verwaltung  thiitig  bin.  Iiabe  ich  mehrfach  dergleichen  Dinge  ei- 
ffthren,  selbst  in  Dörfern,  welche  Berlin  unmittelbar  umgeben.  Nach  einem 
Bericht  ans  Oberhauen  —  ein  Frivatldirer  wollte  dort  eine  Sehnle  eiariditen 


Digltizeü  by  Cjüügle 


—    644  — 


—  gab  es  vor  17  Jahfen  100  Kinder  ohne  Schulnnterrieht.  Wir  prüften  und 
fanden,  dass  es  800  waren.  Die  Stadt  f:ss<'n  liatte  vor  40  Jahren  8000  Ein- 
wohner, Jetzt  SOOnO.  Ganze  Bezirke  entstanden  neu.  Vs  trnh  Gebenden,  wo 
mau  den  augenblicklichen  liedarl  nicht  gleich  bestreiten  liouute.  Aber  man  muss 
sieh  doch  vor.  Augen  halten,  waa  ea  bedentet»  Anf  Hillionen  Kinder  an  beadmlen. 
Daan  kommt  Unner  die  Ungleidiheit  der  Bechtarerhältniaae.  Ea  iat  nicht  recht, 
wenn  man  verstimmt  sagt:  Wir  haben  kein  Schulgesetz.  Die  allgemeinen 
Linien  sind  in  versc^hipdenrn  Verordnungen  vorgezeirlnut.  \'erkennen  Sie  die 
Schwierigkeiten  nicht,  welche  darin  liegen,  dase  wir  fraiizöHiijche,  lauenbnrgisclie, 
hannovei-sche  Gesetzgebung  haben.  In  Schlesien  haben  Katlioliken  eine  andere 
Schülgesetzgebong  als  die  Evangeliaehen,  Wenn  Sie  daa  benrtheilen  nnd  'die 
Sonde  anlegen  an  das.  was  wir  vom  Schulwesen  erzählen  können,  so  seien  Sie 
nachsiolitier  und  mild  mit  Ihrem  Frtheil  und  erwilpen  Sie,  welche  Schwierig- 
keiten zu  übt  rwiiuien  gewesen  sind.  Was  die  i'l)er\vindung  derselben  anbelangt, 
so  muss  zugestanden  werden,  dass  die  preussische  Unterriclitsverwaltnng  sich 
Jederzeit  dämm  bemftht  hat  Vom  Jahre  1872  datirt  die  nene  Bewegung  und 
der  nene  AufiHdiwnng,  und  alle  Miniater,  die  aeitdem  gearbeitet  haben,  warai 
bemäht,  unser  \'olksschnlwe8en  zu  pflegen;  und  fast  jedes  halbe  Jahrzehnt  hat 
nene  Früchte  getrae:en  und  jeder  that  es  mit  Freude,  wenn  er  der  Schule 
nützen  konnte.  Im  Jahre  1872  betrug  die  Ausgabe  des  Staates  i'iir  das  üffent- 
UcheElementarantejrrichUwesen  5000000  Mk.,  1890  55000G00  Mk.,  nicht  ein- 
gerechnet die  nenen  3000000Mk. Altemniagen.  Wir  hahen  nnn  nnsere4SS8247 
Kinder  itn  Jahre  1886  in  B30f50  Scholen  untergebracht  nnd  hatten  für  diese 
angestellt  (iöOUO  Lehrer  in  nnprefilhr  740(K)  (Massen.  Dass  wir  mehr  Classen 
haben  als  Lehrer,  ist  nur  iiaturg'emJiß.  Dies  erklilrt  sich  daraus,  dass  die 
Unterrichtsvorwaltung,  und  zwar  aut  allen  (iebieten,  den  Grundsatz  aufgegeben 
liat:  Viel  hilft  viel.  Das  Einpferchen  dar  Kinder  in  aechs-  bis  siebenstttndigen 
Unterricht,  nm  ihnen  eine  Unterweisnng  zn  geben,  die  in  vier  Stunden  ge- 
geben werden  k"«nnte.  hat  sich  überlebt.  Man  ist  der  Meinung,  dass  es  besser 
ist,  wenn  7<)  zu  unterrichtende  Kinder  in  4n  oder  30  gesondert  werden,  und 
die  einen  vielleicht  18  Stunden,  die  anderen  14  bekommen.  Der  Lehrer  kann 
einer  geringen  AniaU  tob  Kindern  erzielilidi  nnd  gemllthlieh  nSher  treten. 
Wir  haben  anch  anf  confsssionelle  Untersdiiede  mehr  Rftdcsicbt  genommen 
nnd  die  Geschlechter  auf  der  ObersÜlUR  SBm  Theil  fretrennt.  Das  ist  unter 
ümstÄnden  außerordentlich  jrütisriir,  in  manfhcn  \'<r)i:iltnissen.  z.  B.  in  In- 
dustriepregenden  sogar  nöthi<r.  W  enn  man  ilem  Lelirer  die  Walil  stellt,  ob  er 
lieber  sechs  Stunden  80  Kinder  oder  zweimal  drei  Stunden  40  Kinder  unter- 
richtet, nnd  er  mit  seinem  Halse  Bath  hUt,  was  wird  er  da  sagen?  Gerade  die 
jungen  Lehrer  geben  an  der  numerischen  Überbfirdnng  leicht  zugrunde.  Das 
sind  die  Gründe,  weshalb  die  Unten'ichtsverwaltnnir  1<HMK»  (Massen  mehr  als 
Lehrer  hat.  Ks  ist  uns  gelunpren  trotz  mancher  Scliwieriafkeiten.  trotz  der 
Armut  der  Bevölkerung  in  weiten  Kreisen,  trotz  des  Widerstandes  an  einzelnen 
Stdlen  dahin  an  kommen,  dass  1886  2600000  Kinder  nemudeB  Unterricht 
liatten,  woranter  wir  «inen  Bolchen  verstehen,  wo  eine  eindassige  Schale  nicht 
ttber  80,  eine  mehrclassige  nicht  über  70  Schüler  jiro  Classe  hat.  Seit  1886, 
wo  diese  Zalibui  veröt^'entlicht  wnrden  sfnd,  hat  sich  die  Zahl  <ler  Lehrerstellen 
um  nahezu  5*M)<>  vermehrt,  und  es  ist  der  Unterrichtsverwaltung  gelungen, 
diese  Stellen  zu  besetzen,  obwol  sie  gleichzeitig  zu  sorgen  hatte  tür  den  £r- 


Dlgitizea  by  LiOOgle 


—   645  — 


*satz,  den  eine  außerordentlich  glückliche  Füernnp:  auferlegte.  Ich  konnnc  auf 
die  Versorguntr  dn-  Lehrer.  Es  ist  gelangen,  das  Alter  der  Lehrer  sicher- 
zustellen. Während  bis  dahin  unbestimmte  einzelne  X'orsctiriiten  es  schwer 
matihtoD,  für  die  Xidirer  genügend  ni  Bergen,  baban  mr  jetzt  in  Fnatm  eb 
PensiooBgeietE,  und  jeder  Lehrer  bekennst»  wenn  er  seinen  Dienst  antgeriehtet 
hat  und  sagt:  Ich  büi  milde,  seine  Pension.  Als  das  nicht  geschehen  konnte, 
war  es  natürlich,  das«  alte  Lehrer  ihren  Pensionsantrag  in  der  Hoffnung  auf 
ein  baldiges  Pensionsgesetz  hinansschoben  und  dass  Schulleiter,  wenn  sie  einen 
Lehrer  alt  nnd  schwach  fanden.  Bedenken  tragen,  ihn  aus  der  Schule  zu  weisen. 
Warum?  Weil  aie  Umi  aeine  Zukunft  niclit  ridiem  konnten.  I<di  hStte  daa 
auch  gethau  und  hätte  mit  dem  Manne  Geduld  gehabt  bis  an  die  iluGei*ste 
Grenze.  Als  das  I'erisionsgesetz  da  war,  kamen  die  Lehrer  in  hellen  Haufen, 
8(HHt  mehr  als  bis  dahin  die  Re^rel  war.  um  ihre  Pensii-nirunj^  ein.  Dei  Unter- 
richtsverwaltung  lag  es  nun  ob,  die  Stelleu  zu  besetzen,  und  es  ist  in  der 
That  andi  gelangen.  Wirklich  unbeaetste  Stellen  gibt  ea  264  im  Anfimge 
dieaes  Jahres.  Ich  sagte,  1872  hat  die  eifrige  S<»ge  fBr  daa  Sehulweaen  an- 
geloben. Das  Bestreben  war  darauf  gerichtet,  nene  Bildungsstätten  zu  schaffen 
und  den  Lehrermangel  zu  beseitigten.  Wir  .schafften  Lehrer,  und  wie  wir  sie 
hatten,  war  die  Zahl  der  nnbebetzten  Stellen  größer  als  vorher.  Jetzt  kamen 
wir  dahinter,  daas  der  größte  Mangel  die  überfüllten  Schulclassen  waren.  Wir 
waren  nun  bemftbt»  ihre  Zahl  an  vermindern.  Von  1882  bia  1886  aank  aie  von  919 
anf  ir)2.  und  sie  wird  heute  keine  100  mehi-  sein,  vielleicht  40.  Die  zweite 
Sorge  der  UnteiTichtsverwaltung,  eine  Sorge,  die  viel  Zeit  und  Mühe  erforderte, 
war  die  Durclitühruji^'  der  \'erbesserung  der  (Tehillter.  Ich  versichere  Sie,  als 
Semiuurdirector  mit  blutendem  Herzen  gesehen  zu  haben,  wenn  ein  junger 
Lehrer,  der  Mutter  oder  Sehweater  nn  veraorgen  hatte,  an  eine  Stelle  mit 
100  Tlialem  geschickt  wurde.  Jetzt  aind  17  Millionen  zur  Verbesaerang  von 
Schulstelleu,  20  Millionen  für  die  Gemeindf  ii  ansg^eworfen.  Den  Lehrern  sollen 
Alterszulagen  gewHhrt  werden.  Wir  sind  laliin  k  langt,  dass  wir  den  Lehrern 
nach  10  Jahren  100  Mk.,  nach  15  Jahren  20U  Mk.,  nach  20  Jahren  300  Mk.,  nach  • 
25  Jahren  400  Mk.  nnd  nach  30  Jahren  600  Mk.  gew&hren,  und  zwar  anf  dem 
*  Lande  undin  Städten  bian  10000  Binwohnem  (Zwiaehenrnf:  „Leider!");  dieZabl 
der  Lehrer  in  Städtm  bis  1()(  )  Hinwohnem  ist  doch  veraehwindend  klein  gegen 
die  Zahl  der  Lehrer,  anf  welch»-  sich  die  H  Millionen  vertheilen.  Gönnen  Sie 
den  Miiiineni.  welche  die  H  Millionen  bekommen,  den  Antlieil.  welchen  sie  daran 
hüben.  \V  ir  kommen  ja  oft  in  die  Lage,  dass  wir  zusehen  müssen,  wenn  andere 
etwaa  bekommen,  und  ich  meine,  wir  aind  die  lotsten,  die  einem  etwaa  miaa- 
gfonen.  Ich  will  den  Herrn  Oberfofirgermeiater,  den  Herrn  Schulrath  nachher 
bitten,  die  Zahlen  von  den  Lenten  zn  sa^en,  die  sich  nach  Stltdten  über  10000 
Einwohnern  melden.  Der  Drang  gebt  dahin,  weil  die  Stellen  besser  sind. 
Darum  gönnen  Sie  allen  auf  dem  Laude  im  höhereu  Alter  die  Zulage  und  denen 
in  den  StSdten,  die  sie  jetzt  bekommen.  Ich  wiederhole  alao:  die  preniUaehe 
Unteniehtaverwaltang  hat  Sorge  getragen,  die  ÜberflUlnng  der  CQaaaen  su  ver- 
mindern, was  ihr  auch  in  weitem  Maße  gelangen  ist.  und  die  Zukunft  der 
Lehrer  siclier>^ustellen,  ihr  Gehalt  zu  verbessern  niul  hat  endlich  auch  die 
Sorge  tilr  die  W  itwen  und  Waisen  der  Lehrer  veiim  lui.  Auch  die  Kinführnng 
der  ständigen  Kreisschulinspectoreu  ist  auf  Kechnuug  der  neuereu  Zeit  zu 
adireiben.  Der  Untenicht  in  unaoren  Schulen  wird  nadi  den  allgemeinen  Vor* 

PadagogiuL  ia.Jahrf.  IMt  X.  46 


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646  - 


Schriften  vom  Oetober  1872  ertheilt,  und  es  wird  Sorge  getragen,  dass  die 
Lehrer  den  Unterricht  nach  allen  Seiten  hin  zu  ertheilen  vermögen.  Nicht 
blos  die  Seminare  sind  so  ansgerÜBtet,  daas  sie  den  Unterrielit  in  den  ixriaten- 
achafllichea  Fftchern  an  geben  vermögen,  wradern  asoh  in  Besag  aof  Tarnen, 
Obstbau  n.  8.  w.  wird  Sorge  getragen,  dass  die  Scholen  an  (^tarstätten  im 
Lande  werden  können.  Es  wird  in  unseren  Sdnilen  ^anz  besondere  Sorg-e 
darauf  verwendet,  dass  kein  Kind  ohne  den  Religionsunterricht  stinea  i^ekenur- 
nines  bleibt,  und  dass,  wo  sich  die  Gemeinden  weigern,  einzelnen  Kindern  Ke- 
ligioDPintenricbt  angedeihen  an  lanen,  die  Lehrer  besondere  honorirt  werden, 
and  wir  dürfen  sagoi,  es  gibt  nicht  leicht  ein  Kind,  nicht  leicht  einen  Lehrer, 
für  den  nicht  Sorge  getragen  wird.  Bei  jilledein  ist  sich  «iie  Unterrichtsver- 
waltiin^  der  noch  vorhandenen  Mängel  wol  bewusst.  Sie  hat  aber  das  \'er- 
traueu,  da^s  Sie,  meine  Herren,  beitragen  werden,  diese  Mängel  zu  überwinden. 
Die  üntenrichtaverwaltong  hat  an  kftmpfen  gegen  mtoeherlel  VornrtheilA  Ich 
gestatte  mir,  Sie  zu  bitten,  aeistrenen  wir  diese  Vomrtheile,  neigen  wir  in  ge- 
meinsamer  Tlifttigkeit,  dass  es  uns  um  das  eine  7m  thun  ist,  dass  das  Reicli 
Gottes  gebaut,  dass  der  Staat  Preußen,  dass  das  Keich  Deutschland  innerlich 
und  äußerlich  gekräftigt  werde.  Zeigen  wir,  dass  uns  vor  allem  am  Herzen 
liegt,  was  uiiseres  Amtes  ist,  and  dass  ans  unser  Amt  nnd  ansere  Kinder  am 
meisten  am  Heraen  liegen  nnd  dass  andere  Dinge  ons  nicht  so  nahe  berühren. 

Sie  gedenken,  vor  Ihren  heutigen  Verhandlungen  das  Andenken  eines 
großen  Mannes  zu  feiern.  Anch  in  Bezug  darauf  sind  die  ürtheile  verschieden. 
Aber  Freund  uiui  Feind  stellen  iliiii  ein  Zeugnis  aus:  Er  war  ein  Meister  der 
Unterrichtskunst,  ein  Mann  vou  uuermüdetem  Fleü],  der  von  frühester  Jugeud 
bis  an  seiner  letaten  Stande  gearbeitet  hat,  soviel  er  nur  konnte;  dass  der 
Unterricht,  die  ünterrichtsform  ihm  viel  verdankt;  dass  er  nicht  blos  einen 
Wegweiser  gegeben,  sondern  in  d^r  Methode  neue  Bahnen  gebrochen  hat,  dass 
er  groß  war  in  dem  Fleiß  und  in  der  Hingebung  an  sein  Amt,  im  Ertrasren 
von  Mühen  und  Sorgen,  im  Wägen  des  eimselnen  Wortes,  im  Festhalteu  eines 
bestimmten  Flanea.  Mtfne  Herfen,  Sie  haben  aich  Ünrner  die  Frage  vorgelegt: 
Was  kann  die  Schale  thnn,  nm  der  socialen  Frage  an  begegnen,  was  ktanen 
wir  thun,  dass  die  Liebe  wachbleibe  in  unserm  Volk,  sowie  Treue  und  FI.  ii5 
und  Zucht  und  Ordnung?  Was  können  wir  thun?  W*'].  sehr  viel!  Wir  haben 
es  in  der  Hand,  dass  wir  das  heranwachsende  Kind  stlbstständisf  machen,  das 
heranwachsende  W^eib  zur  ordentlichen  Hausfrau  erzieheu,  das  heranwachsende 
dentsche  Kind  mit  Liebe  erfUlen  anm  dentsehoi  Yateiiande,  an  Kaiser  nnd 
Boich.  Uns  liegt  es  ob,  unseren  Kindern  zu  erzählen  von  einer  Oeschlchto 
sondergleichen,  wie  kein  Volk  eine  ähnliche  hat;  uns  liegt  es  ob,  ihnen  zu  er- 
zählen von  einem  engeren  preußischen  Heiniatlande.  wo  die  Hohenzollern  g>'- 
arbeitet  haben  und  gerade  anch  für  die  Schule,  denn  unsere  Schule  ist  Hoheu- 
soffleiBsehnle;  naa  liegt  es  ob,  den  Kinden  mm  BewnssMa  an  Iningen,  dass 
sie  dne  Heimat,  ein  Vaterland  haben,  nnd  dann  iiaben  sie  etwas  tSsstanhalton, 
etwas  zu  verlieren,  and  wer  das  liat,  afthlt  seine  Güter  nnd  läuft  nicht  unbe- 
dacht in  den  Kampf.  Vor  allem  lassen  sie  nns  den  innersten  Grund  des 
Lebens  pflegen,  welchem  Bekenntnis  wir  auch  angehören.  Es  gibt  mancherlei 
Gaben,  aber  eiueu  Geist,  ein  2iiel,  ein  Bewosstsein  unserer  ganzen  schweren 
Verantwortung,  aof  dass  üeilUge,  tüchtige,  tiene  Kinder  ans  unserer  Zucht 
kmnmen.   So  lassen  Sie  uns  pflegen  die  Liebe  anm  Herrn  im  ffimmel,  aum 


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Könige  auf  Erden,  zui  Heiiimt,  zum  Vatoilaiule  und  vor  allem  auch  die  Liebe 
zu  unßerm  Amt  und  zu  unseren  Kindern.  Dann  wird  manche  Sorg'e  weichen, 
und  wir  werden  bageu,  wir  haben  ein  glücklich  und  fröhlich  Leben,  und  ich 
niSehfte  «m  allfis  tai  dar  Welt  w  nfclit  hingeben,  daas  ich  die  Ehre  und  den 
Stols  gehabt  habe,  eindentacherLehrarsa  wcrdeit  Daaa,  daaa  dieae  Geaumiuig, 
ich  brauche  nicht  zu  sagen,  wacbgemfen  werde  (sie  lebt),  dass  sie  sich  erprobe, 
bewähre  und  weitere  Siege  gewinne,  dazn  wolle  Gott  den  VIII.  Deutschen 
Lehrertag  segnen."  (Lebhafter  Beifall.)  Nach  einem  ;ilf.diinn  begeistert  aus- 
gebrachten Hoch  anf  den  Kaiser  wnrde  folgendes  Huldigungstelegramm  an  . 
AllerhOehatdenaalben  geaandt:  „Der  VIIL  Dentsehe  Lehrertag  flberaendet  Eiuer 
Majestät  die  nnterthänigste  Hnldignng  nnd  begleitet  dieselbe  mit  der  ehr- 
furchtsvollen Bitte,  die  Fürsorge,  welche  Eure  Majestät  ans  Herzensneignng 
dem  Wole  der  bedrängten  Theile  des  \'olkes  entgegenbrigeu,  auch  der  ächole 
oud  ihren  i'Üegeru  allergnädigst  bewahren  zu  wollen." 

Herr  Cnltoaminiater  Dr.  Oofiler  aaadte  dem  Lehrertage  aor  iweiten 
HanirfTTntammTimg  üolgende  BegrfiBiuig  ni:  „Besten  Dank  für  frenndliehe  Be- 
grüßnng.  Keicher  Segen  für  treue  Arbeit.  Unermadlich  vorwftrta  für  die 
deutsche  Volksschule,  den  Eckstein  unseres  Vaterlandes!*^ 

Die  Gedenkrede  auf  Diesterweg  von  Dr.  Fr.  Dittes,  welche  den  ersten 
Punkt  der  Tagesordnong  bildete,  ist  bereits  im  vorigen  Hefte  zum  Abdruck 
gelangt.  Der  aweite  Vertrag  yom  eraten  Tage  bebandelte  „Die  Angabe  der 
Volksschule  gegenüber  der  Bocialen  Frage"  nnd  wurde  gehalten  T<m 
.  Lehrer  L.  Claus  nitzer-Berlin. 

In  Verfolg  der  Besprechung  desselben  am  zweiten  Ta?e  wurden  folgende 
Sätze  zom  Beschlüsse  erhoben:  „Ein  directes  Eingreifen  in  die  socialen  Kämpfe 
der  Gegenwart  hat  die  Volkaachnle  ala  Stätte,  welche  die  Kinder  aller 
Staatabüiger  aller  Parteien  in  fdedlicfaer  Arbeit  vereinigt,  zu  vermeiden. 
Nur  insoweit  wirkt  sie  an  der  Lösung  der  socialen  Frage  mit,  als  sie  eine 
charaktervolle  Jugend  erziehen  soll,  welche,  frei  von  Classenliass  und  erfüllt 
von  wahrer  Religiosität  und  Vaterlandsliebe,  betähigt  ist,  dereinst  ein  urtheils- 
fähiges  und  thatkräftiges  Glied  der  Nation  zu  werden. 

„Da  besonders  die  Zeit  vom  14.  bia  18.  Lebensjahre  ala  Übergangazeit 
die  große  Gefahr  in  sich  birgt,  dass  die  in  der  Volksschule  gelegten  und  ge- 
pflegten Keime  zugrunde  gehen  und  die  .Tugend  eine  Beute  der  N'erfiihrnn^: 
werden  kann  —  somit  die  Thätig-keit  der  Schule  einfiieh  vernichtet  würde  — 
Bo  ist  die  Schulpflicht  über  das  14.  Jahr  hinaus  mit  beschränkter,  von  Stute 
an  Stnfe  aleh  mindernder  Stnndenaahl  bia  smn  18.  Lebensjahre  (fQr  Mädchen 
bis  zum  16.)  anazaddmen.  (Fortblldnngaaehule  mit  vermehrter  Stunden- 
zahl.) In  den  Lehrplänen  dieser  Fortbildungsschulen  sind  besonders  auch 
Volkswirtschaftslehre  und  Gesetzeskunde  aufzunehmen,  um  so  den  an- 
gehenden Bürger  zu  befähigen,  mit  Verständnis  seinen  socialen  und  politi- 
schen Pflichten  obzuliegen.  In  den  Unterrichtsplan  für  Ifädchenfortbildnnga» 
adinlen  ist  Hanahaltnngaknnde  einzufllgen. 

„Die  Hindernisse,  welche  zur  Zeit  nueh  die  Yolkaschnle  hemmen,  ihren 
aegenareichen  Einflnss  auf  die  Jugend  voll  nnd  ganz  auszuüben,  sind  l)esonders: 
flberfÖllte  Classen,  vielfach  StofFüberbürduiür.  nirhtfachJ!i.'Siiiiis(  lie  Schulanfsicht, 
nicht  immer  genügende  materielle  Sicherstellung  des  Lehrers  und  rechtliche 
Unaicfaerfaeit  deaadben  in  Bezug  anf  die  Ausllbnng  der  Schnldiaciidin.'* 

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—   648  — 


Diiss  eiü  Vortrag  wie  der  erste  vom  zweiten  Versamiulungstagc  im  letzten 
Jahrzehnt  des  neanzehateu  Jaki-liunderts  auf  einem  dentschen  Lehrertage 
möglich  gewesen  Ist,  nein,  dass  er  nStliig,  dringend  nStbig  war,  das  gibt  der 
Oeringschätzang  des  Lehrerstandes  einen  so  ebarakteristisohen  Ansdnck,  der 
kommenden  Geschlechtem  schier  nnierlanblich  erscheinen  mag.  Dabei  ist  leider 
die  Befürchtung  nicht  einmal  aiisgeschlossen,  dass  sich  der  nied«'re  Küster- 
dienst des  Lehrers  —  darüber  sprach  nämlich  Lehrer  und  Organist  Kumm, 
SteglltK  bei  Berlin  —  noch  ins  folgende  Jahrhundert  hinttber  retten  wird. 
Der  Beriehterstatter  vermag  nnr  schwer  der  Versnehvng  an  widentelien,  am 
diesem  Vortrage  Proben  von  allr  i  lei  Zamathniigen  zn  geben ,  wie  sie  von 
kirchlicluT  Seite  an  die  Ei/.it'lu  r  der  Jugend  vüllig  rechtlich  gestellt  werden 
und  wif  sol(  hi\  des  Lellreransl•hen^  unwürdige  Dienste  auch  venichtet  werden 
müssen.  Allem  der  Kaum  verbietet's.  Wer  sich  für  diese  Culturl'iuge  inter- 
enirt,  mag  darttber  nachloBen  in  Konnm  Sduriftdien:  „Die  Befreiiing  dea 
Lehrers  vom  niedereii  Efisterdienst"  („Sammlung  pädag<^cher  Vortrlge*  — 
II,  12  —  von  Meyer-Markau.  Bielefeld.  Preis  60  Pfennig).  Für  diesen 
Bericht  muss  es  genfigen,  den  getassten  Beschluss  mitzntheilen.  Derselbe 
lautete:  „Die  Aufgaben,  welclie  die  Übertragung  der  niederen  Küsterdienste 
an  den  Lehrer  atollt,  Btehen  In  kolBem  Znsammenhange  mit  dem  Wesen  seines 
Standes,  sind  entwfiMigend  für  seine  SteUnng  and  erechweren  ihm  die  ErIlUhmg 
seiner  Pflicht.  Der  VIII.  Deutsche  Lehrertag  zn  Berlin  erneuert  daher  die 
Forderang:  ,Die  niederen  Kfisterdienste  sind  dem  Lehrer  nicht  mehr  so  fiber- 
tragen.*** 

Unter  den  nachfolgenden  kleineren  Berichten,  Comenius-f^tiftuug  in  Leipzig, 
Dr.  Kehibachs  Monnmenta  paedagogiea  Oermaniae,  Dieaterweg-Hnaenm  und 

Kein -Denkmal,  dürften  die  Hittheilnngen  über  das  letztere,  erstattet  nameiw 
des  Leipzi<rci-  Lehrervereins,  von  vielen  Lesern  des  „Piedagogium"  gern  ge- 
lesen werden.  leh  persönlich  glaube  daher  einem  Herzensbedürfnisse,  meines 
nnvergesslichen  Lehrers  (iedächtuis  auch  an  dieser  Stelle  zu  pflegen,  Befriedi- 
gung verleihen  m  dfiifto.  Der  Bericht  lautete  wörtlich:  nDer  Leipziger  Ldiier' 
verein  ist  in  Hannover  mit  der  Errichtung  eines  Eehr-Denkmals  beauftragt 
wordffli.  Die  Sammlungen  durften  nnnmelur  aia  beendet  anzusehen  sein,  da  seit 
lllogerer  Zeit  Beiträge  nicht  mehr  eingegangen  sind.  Wir  richten  aber  doch 
noch  einmal  au  diejeuigeu  Vereine,  welche  der  Kehr-Stiftung  bisher  fern- 
gestanden haben,  die  Bitte,  auch  durch  ihre  Gaben  der  guten  Sache  dienen  zu 
heUbn,  damit  das  Kehr-Denkmal  noch  etwas  würdiger  ausgestattet  werden 
kann,  als  das  bei  den  vorhandenen  Mittdn  mOglich  ist.  Allen  den  Vereinen, 
welche  unsBeitrU?»'  zngesandt  haben,  sagen  wir  hierdurch  noch  riimial  unsem 
besten  Dank!  Die  Einnahmen  belaufen  sich  bis  heute  auf  etwa  Tl'OO  Mk.,  ilie 
Ausgaben  auf  120  Mk.,  so  dass  uns  für  die  Ausfiihrang  des  Denkmais  rund 
7100  Mk.  zur  Verfttgnng  stehen.  Angesichts  dieser  Summe  konnten  wir  ein 
Preisanssdireiben  nieht  veranstalten.  Wir  forderten  mehrere  Künstler  mm  Wett- 
bewerb auf  unter  der  Bedingung,  dass  der  uns  am  meiateB  zntagende  Entwarf 
durch  den  betrctVi'ndt'n  Künstler  zur  Ausführung  gelangen  solle.  Es  wurden 
sieben  plastische  Entwürfe  und  eine  Anzahl  Skizzen  eingereicht.  Die  Com- 
mission  zur  Benrtheiluug  dieser  Modelle  holte  für  ihre  Berathungen  das  ürtheil 
SaehverstSadiger  ein.  So  haben  uu  e.B.  der  Direefeor  dea  StidtiaGbeB  MnaaiiniB, 
Professor  Schreiber,  sowie  der  Zeicheninspeetor  Clinaer  scbatsenawerte  Dienato 


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—   649  - 


geleistet.  Als  dor  hostp  Entwurf  wnrde  das  iluilell  des  Bildhauers  Karl  ScffiuT 
in  Leipzig  für  die  Ausrülirung  tinstimmig  aogenommen.  Das  Denkmal  wird 
durch  seine  große  Einfachheit  und  Monumentalität,  besoudei's  abei-  durcli  seiue 
lebenswahre,  real  gehaltene  Bttato  einen  reeht  guten  £indmeic  hervorbringen. 
Es  erreicht  eine  Höhe  von  4,8  in.  Die  Stufen  bestehen  ans  grauem  Granit, 
der  Sockel  ans  polirteni  schwedischen  Granit,  der  an  sich  schon  durch  seine 
spietjelnde  Fläche  eine  grotie  Wirkung  hervorbring-t .  und  die  Büste  ans  ear- 
rari%cbem  Marmor,  sogenanntem  clair  blaue.  Das  Kubr-Deukmal  soll  unter 
besonderer  Berfteksichtignng  der  Wtnsehe  der  thttringisehen  Lehrerteinft  in 
der  Stadt  Qotha  seine  Anfoteliong  finden.  Kehr  war  «in  Gotliaer  T4mdeakind, 
in  Gotha  hat  er  seine  Bedentang  als  pädagogischer  Schriftsteller  erlangt,  in 
<3k>tha  hat  er  auch  zu  Füßen  seiner  Eltern  seine  letzte  KuhestiUte  gewonnen. 
Da  sich  bekanntlich  Marmor  am  besten  im  Grünen  ausnimmt,  so  wird  das 
Denkmal  in  entsprechender  Umgebung  seine  Anfistellong  finden.  Der  Rath  dei* 
Stadt  Gotha  hat  in  dieser  Hinsieht  das  wolwollendste  Entgegenlcommen  ver^ 
«prochen.  Voraussichtlich  soll  das  Denkmal  in  der  Pfingstwoche  1891  feierlich 
enthüllt  werden  und  der  J.ei|»/.ii:ei  Lehrervereiu  lässt  Sie  scIhmi  heute  ilazu  ein- 
laden. Wöge  das  Denkmal  dem  \'t  rstorlienen  zur  Ehre,  der  Stadt  Gotha  zur 
Zierde  und  der  deutsclien  Lelu'erschaft  zur  Freude  gereichen!^ 

Den  SchloBBTortrag  der  Versamminng  hidt  HanpUebrer  Jnlins  Gressler, 
Barsen,  Aber  „Schnlsynoden".  Von  lebhaftem  Beifalle  empfangen  —  der 
Vortragende  hat  sich  bekanntlich  durch  seine  mannhafte  Rede  auf  dem  evan- 
gelischen Schnlcongress  in  Barmen  in  der  deutschen  Lehrerschaft  einen  ge- 
achteten Namen  erworben  —  führte  Redner  mit  großer  Spracligewandtheit 
nnd  ftafierst '  fesselnder  Vortragsweise  in  gut  anderthalb  Stunden  Zeit  im 
weaentUdien  ans: 

„Das  Thema,  das  der  geschäftsfQhrende  Ansschnss  des  VIII.  Deutschen 
Lehrertatres  zur  Hearbeitnng  für  diese  große  Vejsammlung  mir  übertragen  hat, 
■wird  wol  tür  die  meisten  deutschen  Collegen  n(»ch  einen  tremdartigen  Klang 
haben.  Und  doch  dui  ite  es  mit  einem  Schlage  eine  ganze  Reihe  von  bekannten 
Vorstellnngen,  Godaaken  nndWflnschen  waehmfen,  wenn  ieh  bemerke,  dass  es 
im  Grunde  genommen  nichts  weiter  bezweckt,  als  eine  zeitgemäße  Umgestaltang 
der  heutigen  Schulverwaltung,  dass  es  u.  a.  aucli  die  alte  Forderung  genauer 
begründen  und  tormuliren  will,  bei  der  Organisation  und  Ansübuiiir  der  Schul- 
verwaltung auch  demjenigen  Factor  einen  bescheidenen  Platz  einzuräumen,  der  bei 
der  Entscheidung  wichtiger  Schalfragen  in  erster  Linie  mit  gehttoi  werden  tollte, 
4en  Lehrern.**  Ein  begründetes  Interesse  —  so  Aihr  Redner  fort  —  bitten 
an  der  Schulerziehun?  Staat,  Familie,  Kirche  und  Schule.  Die  Streitfrage 
sei  nur:  Wie  weit  sollen  die  Grenzen  jresteckt  wonlt-n  für  die  BethiitiErung  des 
Einflusses,  der  den  einzelnen  Factoreu  einzuniniiini  ist?  Wer  soll  die  Ent- 
scheidung in  streitigen  Fällen  haben';'  Wem  soll  die  oberste  Leitung  der  Schule 
aamtiaat  werden?  Auf  der  einen  Seite  sehwftrme  man  fBr  die  reine  Staats- 
Sehlde,  lind  namentlich  seien  es  aneh  viele  Lehrer,  die  durch  die  trüben  Er- 
fahrungen, die  sie  etwa  mit  den  A'ertretem  der  Schulgemeinde  oder  den  geist- 
lichen Schnlinspectoren  gemacht  hal)en,  zu  dieser  einseitigen  Auffassung  ge- 
drängt worden  seien.  Auf  der  anderen  Seite  sähen  wir  die  Vertreter  dei- 
atreng  kirchlichen  Bichtnng,  die  immer  nnd  immer  wieder  das  alte  bekannte 
Ifinfaen  von  „Hnttar  nnd  Toehter"  anfTrlscbten,  die  die  Lehrer  möglichst  ifinig 


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—   050  — 


mit  ihrpn  sogenannten  ..natürlichen  Antoritilten"  verknüpfen  wollten.  Des 
natürlichen  Rechtes  der  Familie  und  Schulgemeinde,  der  Schule  und  ihrer 
Lehrer  werde  im  «Ugemeiuen  wenigrer  gedacht  Der  Schnlgeiiieinde  fiherlane 
iDMi  die  Unterbaltnogr  der  Schale,  während  die  Schale  und  ihre  Lehrer  aaf 
diesem  Gebiete  so  (rui  wie  rechtlos  daständen.  So  eific.heine  in  der  Trias 
Staat,  Kirche,  Schule  die  Schule  nur  deshalb  mit  auffjeziihlt  zu  sein,  am 
das  Gebiet  zu  bezeichnen,  aul'  dem  Staat  und  Kirche  sich  furtdauernd  am  die 
Hemchaft  Btritteo.  Um  in  der  Frage  klar  ortheilen  sn  kOnnen,  mfisate  man 
sich  »niftchst  m  orientireii  aochen  über  die  Haaptanii^ben,  velche  Jenen  Ge- 
meinschaften im  Leben  des  Volkes  sofielen.  Uber  ihre  gegenseitigen  Beztehangeii 
•/n  einander  und  über  ihr  luitnrüremüßes  Verhältnis  zur  Schule.  Der  Staat  nun 
sei  für  das  Leben  des  \'ülkes  die  un.sireiiig'  bedeutsamste  (Jemeinschaft.  Tlnt^r 
Staat  sei  die  Zusammenfassang  einer  meist  nach  vielen  Millionen  zählenden 
Menge  m  einem  <wganiadi  gegliederten  VolkskSrper  an  ▼erateheo.  Das  Hanpt 
sei  die  Staatsregierung,  der  bei  einer  constitutionellen  Verfassung  in  Gemein- 
schaft mit  di-r  \'()lksvertretun^  die  Aufpabe  oblieg^e.  die  einzelnen  Olieiler  wie 
die  Gesauiratheit  nach  bestimmten  Gesetzen  zu  leiten.  Ihre  vornehmste  .Auf- 
gabe werde  es  sein,  die  Aorbedingungen  eines  gesunden,  frisch  pulsii-endeu 
Lebens  an  schaffen,  dallta*  Sorge,  an  tragen,  daaa  die  einielnen  Glieder  des 
Staates  innerhalb  ihres  Wirkungskreises  ihre  Kräfte  yoll  und  ganz  entfUten 
kSnnten.  Allein  die  Zeit,  wo  die  Förderung  des  gesammten  Volkswoles  einzig 
und  allein  von  der  Staatsrepriening:  erwartet  wurde,  sei  iJlnerst  vorüber.  Selbst- 
hilfe und  Selbstverwaltung  seien  längst  die  gewaltigen  Triebfedern  in  der 
Bethätigung  der  Volkskräfte  geworden.  Soll  der  Staatsbürger  seine  Pflichten 
im  Staate  erkennen  nnd  würdigen  kennen',  so  müsse  er  vmi  Jagend  avf  mit 
einem  mSgliehst  hohen  Maß  allgemeiner  Bildong  ausgestattet,  es  müßten  alle 
Kräfte  seines  Geistes  und  Gemüthes  entfaltet  werden,  es  sei  bei  ihm  folge- 
l  ichtiges  Denken  und  sittliches  Wollen  sorgfältig  zu  schulen.  Es  sei  klar,  dass 
die  so  manuigtach  verschlungenen  Beziehungen  der  Staatsbürger  untereinander 
znm  Segen  des  Einaehien  wie  der  Geaammtheit  nur  alch  abspielen  konnten  anf 
dem  Boden  einer  festen  sittlichen  Welt-  and  Lebeaaaaaehannng,  die  den  Ein- 
zelnen zwingt,  das  eigene  Interesse  nur  soweit  zu  fördern,  als  es  mit  den  be- 
rechtigten Interessen  der  Xebenmenschen .  der  Gesammtheit  vereinbar  sei. 
Daraus  er^'^ebe  sich  für  den  Staat  das  Ki'cht  und  die  Ptlicht,  von  jedem  seiner 
Bürger  ein  bestimmtes  Maß  von  Kenntnissen  und  Fertigkeiten,  einen  bestimmten 
Grad  allgemeiner  Bfldnng  an  verlangen;  die  Pflicht,  für  die  Begrttndong  einer 
ausreichenden  Anzahl  von  Tjehr-  und  Erziehungsanstalten  Sorge  zu  tragen,  die 
jene  Bildung  übermitteln  könnten,  und  endlich  das  Recht  und  die  Ptlirht, 
darüber  zu  wachen,  dass  rlie  so  ins  Lehen  trerutVnen  Bildungrsanstalten  ihii'U 
Aufgaben  nach  Maßgabe  ihrer  äußeren  und  iuneren  Einrichtung  gerecht  würden. 
Mit  anderen  Worten:  Dem  modernen  StiMte  nnd  seiner  Regierang  sd  daa 
Recht  der  obersten  Leitung  nnd  Verwaltung  der  Schulen,  soweit  sie  die  dem 
ganzen  Volke  gemeinsame  allgemeine  Bildung  übermitteln  sollten,  ohne  jede 
Frage  zuzuerkennen,  und  kein  Staat  dürfe  dieses  Recht  aus  der  Hand  geben 
und  einer  anderen  Volksgemeinschaft,  etwa  der  Kirche,  anvertrauen,  wenn  er 
nicht  die  Grundlagen  der  Entwickelung  seiner  eigenen  Kräfte  vernichten  wolle. 
Aber  doch  müsse  der  Binflnss  des  Staates  anf  das  Schnlwesen  natnrgemlfl  da 
seine  Grenie  finden,  wo  der  Einflnsa  der  Sdinle,  der  pidagogisch»  Wissen- 


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—  661 


Schaft  und  ihrer  Datürlichen  \'ertreter,  der  Lehrer,  begijiuen  sollte,  das  heiße 
da,  wo  allein  die  endgUtige  Eutscheidaog  über  Ziele  und  Mittel  der  Volks- 
Bchnltliiligkeit  gtlroffoi  werden  kÖBBten.  Die  Sehlde  habe  tan  «eientlidien 
nichts  anderes  zn  thon,  als  dafür  Sorge  zu  tragen,  dass  die  Entwickelung  des 
Kindesjreistes  in  den  von  der  Natur  selbst  vorgezeichneten  Bahnen  sich  bewesfe. 
Das  Aultiiiden  diesor  Bahnen,  die  Mittt  1  uml  Wofre  anzugrchpii,  die  Entwickelung 
des  kindlichen  Geistes  in  dieselbe  hineiuzuleiteu  und  daiiu  zu  erhalten,  das  könne 
nur  die  pftdagogische  WiaaeoMhaft  und  die  auf  Ghnmd  derselben  heranageatal- 
tele  Scbnlprazia.  Daraus  fdge ,  dass  die  ntthere  Festsfeelhmg  and  Beseieh- 
nnng  der  Ziele,  welche  die  Volksschnlthätigkeit  im  einzelnen  zu  verfolgen 
habe,  dass  die  Auswahl  und  Bestimmung  der  Glitte!  und  Wege,  jene  Ziele  zn 
erreichen,  im  Princ|p  nur  Aufgabe  der  Schule  und  der  Lehrer,  nicht  aber  einer 
aoAerbalb  der  Sehide  bestehenden  Lebensgemeinschaft,  des  Staates,  als  solcher 
sein  kOnne.  Selbst  wenn  wir  annBhmen,  alle  Sdralanftlehtsbeamten  efaies 
Staates,  von  dem  höchsten  bis  zn  dem  geringsten,  seien  Fachmänner  in  des 
Wortes  eigentlichster  Bedeatung,  so  würde  eine  solche  SchulvftwaltnnG:  trotz- 
dem an  den  vei-scliiedensten  Stellen  mit  den  gesunden  Forderungen  der  Päda- 
gogik in  Widerstreit  gerathen  müssen,  wenn  sie  nicht  auch  zugleich  den 
Lehrern  als  den  natflrliehsten  Vertretern  der  Interessen  der  Schule  ein  be> 
sdieidenes  Anreoht  an  der  Pflege  ond  Leitong  derselben  ehiriamen,  wenn  sie 
nicht  zugleich  auch  den  ans  der  lebendigen  Praxis  heraus  geborenen  Beirath 
der  Lehrer  mit  in  Anspruch  nehmen  wollte.  Bei  einer  rein  staatlich  organi- 
sirten  Schulverwaltung  müsse  nothwendig  der  bureaukratische  Geist  zur  Herr- 
schaft gelangen;  es  bestehe  zudem  die  Gefahr,  dass  eine  Staatsregierung  die 
Schule  dasn  beniltaen  würde,  auch  gewisse  politische  Qmndsfttse  auf  dem  Wege 
des  Schulnnterridktei  in  das  Volk  hineinsntragen,  die  Schule  also,  um  mit 
Maria  Theresia  zu  sprechen,  zu  einem  Politicnm  heraltg-owürditrt  \vürde.  Da 
liege  denn  auch  die  j^iolie  liet;ilii-  nalie,  dass  die  unselige  Afrquickung  von 
Politik  und  Pädagogik  unter  Luiständen  sogar  denioralisirend  einwirken  müsse 
auf  den  Lehrerstand  selbst  Gressler  gebe  zn:  'die  Lehrer  sollten  sich  wie  alle 
Staatsbeamte  der  MBentUchen  politischen  Agitation,  sowol  fttr  wie  gegen 
die  Kegierung,  grundsätzlich  enthalten.  Das  sei  eine  Fordening-,  der  man 
schon  mit  Rücksicht  auf  das  gute  Einvernehmen  zwischen  Lehrern  und  Kitern 
zustimmen  müsse.  Im  übrigen  aber  solle  man  dem  Lehrer  genau  dasselbe  Maß 
freier  Bewegung  einrttomen,  wie  es  jeder  andere  Staatsbfirger  beritM.  Die 
Sehnle  mflsse  im  Interesse  des  heüigoi  Werkes,  das  sie  anssabanen  und  zn 
pflegen  hat,  den  Einflüssen  der  Politik  grundsätzlich  eiitaogen  werden;  das 
tranze  Lehen  und  ^Virken  derselben  sollte  vielmehr  geregelt  und  ausgestaltet 
weiden  nach  rein  i);lda<;ogischen  Kücksichten  und  UrundsUtzen.  Der  jahr- 
hundertelange Kamj[jf  zwischen  Staat  und  Kirche  um  die  Herrschaft  der  Schule 
könne  hente  im  Prindp  ab  entschieden  betraehtet  werden.  Seit  1872  sei  in 
PreuBen  die  Schule  gesetzlich  als  Staatsschole  sanctionirt  und  die  Schnlanf- 
sicht  ausschließlich  der  Staatsregiemng  zuerkannt.  Freilich  sei  schon  unter 
Friedrich  Wilhelm  I..  dem  \  ater  der  preußischen  Volksschule,  der  staatliche 
Charakter  der  \'olksschule  bereits  in  allgemeinen  Umrissen  bestimmt  und  unter 
Friedlin  dem  6ro8en  im  „AllgemeiDni  Landschalreglement"  und  unter  denen 
Nachfolger  im  „AUgenminen  Landrecht"  der  Omndsatz  der  Staatssehnle  mit 
unzweifelhafter  Scfairfe  zum  Ausdruck  gebracht  Doch  habe  sich  der  BegrUf 


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662  — 


der  Staailmehiile  im  LanüB  der  Jahre  Terdonlnlt,  warum  et  1872  bei  Erlaas 

des  Schnlanfsicht&geset^es  geradezu  nothwendig  war,  das  Anrecht  des  Staates 
an  der  Sdiule  mit  voller  Bestininitlieit  noch  einmal  znm  Ausdruck  zu  brinp-en. 
Nun  hiltten  zwar  die  deutschen  Reg-ieruni^en  mit  der  geistlichen  .Schulaufsicht 
aucli  heute  noch  nicht  gebrochen;  allein  sie  seien  olieubar  nicht  gewillt,  die 
alten  ZutSnde  ideder  dntreten  und  die  onsweifbUiaflen  Hechte  des  Staates  an 
dir  Sdmle  durch  Idiichlidie  Einfifiase  wieder  Terdmikelii  n  lassen.  Dieses  Ziel 
unter  Beibehaltung  der  geistlichen  Schulaufsicht  aber  zu  behaupten,  gebe  es 
nur  ein  Mittel:  die  ganze  Schulthfttigkeit,  das  ganze  Leben  und  Wirken  der 
Schale  bis  in  das  kleinste  hinein  auf  dem  Wege  der  Verwaltungsmaßregelu  zu 
regtiüf  auf  klare  und  bestimmte  Verordnungen  der  staatlichen  Behdrden  lU 
stfitaen,  so  dass  die  geistlichen  Sdmlinq^toren  bei  dar  Ansttbiuig  der  Sdral- 
aufsicht  auf  Schritt  und  Tritt  an  den  sogenannten  staatlichen  Auftrag  gemahnt 
und  in  der  BothStis^nnc:  rein  kirchlicher  Einflüsse  nach  Möglichkeit  beschrankt 
würden.  Wie  (Um  aber  auch  sei.  Thatsache  bleibe,  dass  das  Volksschiihvesen 
in  den  meisten  deutscheu  Staaten  sich  auf  dem  besten  Wege  belinde,  bis  in 
seine  letatenVertetelaiigeB  liinein  mifiormirt  an  worden,  nnd  die  Lehrer  in  der 
Ansfibnngr  ihres  schweren  und  wichtigen  Erziehet  bemfes  je  länger  desto  mehr 
eine  Einschnürung  ihrer  Tndividualitilt,  der  freien  Bewegung  in  der  Entfaltung 
ihrer  Kriifte  erfuhren.  Allerdings  bedürfe  auch  die  Volksschule  der  sorgtUltigen 
Leitung  und  Überwachung,  der  einheitlichen  (restaltun^  ihrer  unterrichtlicheu 
nnd  erdeliU^n  Thitigfcsit  Allein  in  dem  Bahmea  dieser  nothwendigen 
Schranken  sollte  jedem  Lehrer  bei  der  Ansflbnng  seines  BemfBS  ein  mSgUohst 
Tolles  Maß  der  Freiheit  in  der  Bethätigung  seiner  Individualität  belassen 
werden,  und  kein  Schuldirigent  sollte  das  Recht  haben,  dem  gereift »ren  und 
gewissenhaften  Lehrer  bezüglich  der  methodischen  T^ehandlnng  der  Lehrstotie 
und  der  Gestaltung  seiner  Erziehnngsthätigkeit  bis  in  das  Kleinste  hineiii- 
gdiende  nnd  in  jeder  Hiinieht  bindende  Vorschriften  an  geben.  Das  Ibrtwäb« 
rende  Verfügen  und  Schablonisiren  müsse  dasn  dem  Unterrichte  die  zu  einer 
ruhigen  Vertiefung  in  die  Lehrstoffe  nothwendige  Stetigkeit  und  Ruhe  benehmen 
und  den  L»  hrer  zu  einer  Maschine  oder  zu  einem  Maschinentheile  herab- 
würdigen. Wie  solle  überdies  von  der  Bildung  sittlicher  Charaktere  die  Kede 
aefaiy  wenn  ea  dem  Lehivr  aelbst  Terwefart  ist,  seinen  eigenen  Oharakter  fai 
seinem  Benfe  znr  Geltung  zu  bringen,  der  Eigenartigkeit  seiner  geistigen  nnd 
sittlichen  yerfassung  gemäß  seine  Lehr-  und  Erziehnngsthätigkeit  zn  gestalten? 
Wir  sähen:  Soll  die  erzieliliche  Wirksamkeit  der  Schule  den  wünschenswerten 
Erifolg  haben,  so  müsse  mit  dem  bureaukratischen  Geiste  der  Schul  Verwaltung 
gebrochen  werden,  so  müsse  jedem  Lehrer  ein  möglichst  volles  Maß  indivi- 
dueller Freilieitf  jeder  Schule  das  QeprSge  individueller  Lehr-  nnd  Erziehing»> 
thätigkeit  mSfl^Uchst  gewahrt  bleiben.  Dem  Staate  gebüre  also  das  Recht  der 
obersten  Leitung  und  \ei\valtung  der  Schule;  aliei-  der  staatliche  Einfluss 
sollte  da  seine  (Frenzen  linden,  wo  naturgemäß  der  Eintlus.s  der  Schule  beginne. 
Mit  anderen  Worten:  Der  Staat  solle  sich  begnügen  mit  der  Zeichnung  der 
Gmndlinlen  nnd  aOgenelBea  Gesichtspunkte,  isBeriialb  deren  die  Thttigfceii 
der  Schale  sich  m  bewegen  hMte,  die  Ansgestsltnng  der  Lehr-  nnd  Eniehugs- 
thätigkeit  im  einzelneK  aber  der  Schule  und  dem  Lehrer  überlassen.  Nor  so 
werde  es  möirüch  Kein,  auf  dem  Gebiete  des  Schulwesens  die  Verqnickuns" 
politische!'  und  pädagogischer  Grundsätze  ebenso  zu  vermeiden,  wie  die  völlige 


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11111/01111110108:  der  gesammten  Schultliiltiirkeit.  die  das  frische,  individuelle  Leben 
der  Schule  im  Laufe  der  Zeit  ersticken  müsse.  —  Kedner  wendet  sich  zu  einer 
BeleuchtODg  des  Verhältnisses  zwischen  Schule  und  Kirche.  Beide  seien  Bil- 
dmigB-  md  EntehnngMtatteB  des  VoUcm.  Die  VoIkflMhDle  wolle  eftnnntliehe 
Kräfte  des  Geistes  und  OemfiOies  zu  einer  harmonischen  Einheit  entfalten  und 
damit  den  Grnnd  legren  zn  jener  sittlichen  Charakterhildun?.  die  allein  Uber 
den  wahren  AVert  des  Menschen  entscheide.  Die  Kirche  dugegcn  liabe  es  aus- 
schließlich mit  rdege  der  sittlich-religiösen  Bildung  zu  thun.  Beide,  Schule 
and  Kirehe,  eeien  also  in  den  eilMbenen  Zielen,  die  ale  verfolgen,  Tenraodte 
Aweteltiw.  Die  reUgUie  Büdang  dirfe  ond  solle  mcfate  anderes  sein,  als  die 
glänzende  Spitze  der  Pyramide  unseres  Geisteslebens,  zu  deren  Ausbau  alle 
übrigen  Wissensgebiete  die  Bausteine  jreliefert  hätten.  Von  relig-iöser  Bildung^ 
könne  daher  in  Wirklichkeit  nur  bei  dem  die  Rede  sein,  in  dem  der  Wider- 
streit Ewischen  Glauben  und  Wissen,  zwischen  Beligion  und  Wissenschaft  aos- 
gefoditen,  in  dessen  Gclrtes-  vnd  QeflUsleben  die  religiöse  Seite  mit  der  sitt> 
liehen  und  intellectuellen  zu  einer  harmonischen  Einheit  verschmolzen  seL  — 
Ohne  die  Schule  könnten  weder  Staat  noch  Fvirche  ihren  Auftraben  gerecht 
werden,  und  ohne  die  Kirche  müsse  das  sittliche  und  religiöse  Leben  in  den 
breiten  Scliichten  des  Volkes  nothweudig  verkümmern.  Darum  sei  es  in  beider 
ErzidrangBanstalten  Interesse,  wenn  sie  von  dem  Bande  wahrer  und  aufrich- 
tiger Freundschaft  nmsftHlmigen  wfirden,  wenn  Paatinen  wie  Ldirer  als  Diener 
an  ein  und  demselben  Werke  sich  betrachten,  wenn  einer  dem  anderen  freond- 
SCbaftUche  Achtuns:  entg^egenbriuge. 

Infolge  der  BeheiTschuug  der  Schule  durcli  die  Kirche  werde  das  Princip 
der  Harmonie  des  ganzen  Unterrichtes  gefährdet,  da  die  Kirche  bei  der  Schal- 
beanfUehtlgmig  der  reUgiOsen  Unterweisnng  in  Bezog  auf  den  Vmliuig  der 
Lehrstoffe  wie  die  Art  ihrer  Behandlung  äußerlich  eine  Berttcksichtigong  an- 
gedeihen  lasse,  die  das  pädagogisch  richtige  Verhältnis  zn  und  unter  den 
übrigen  Lehrt'ächern  aufliebe.  Solle  also  die  Schule  imstande  sein,  ilireii  Auf- 
gaben zu  genügen,  so  müsse  sie  fernerhin  geschützt  werden  vor  dem  sie  be- 
hMrrsdMnden  Einflnss  d»  Kirehe,  der  die  Oltiehberechtigiug  von  Kirche  nnd 
Schnle  als  Bfldnngsfactoren  aufhebe  und  damit  das  IBr  beide  gleich  wUnschens- 
werte  vertrauensvolle  Verhältnis  zwischen  Pastoren  und  Lehrern  störe  und  der 
anSerdem  die  Einheit  und  Harmonie  des  Unterrichtes  als  eine  der  wesent- 
lichsten Voraussetzungen  gedeihlicher  Schultliätigkeit  gefährde  oder  gar  ver- 
nichte. Dagegen  solle  anch  fernerhin  der  Kirche  jenes  IfaA  Ton  Kinflus  anf 
das  Leben  nnd  Wirken  der  Sdinle  verbleiben,  wie  es  zur  Pflege  der  vermndt- 
schaftlichen  Beziehungen  zvrischen  Kirche  und  Schule  nothwendig  sei.  Wir 
wünschten  daher,  dass  nicht  blos  im  Ortsschulvorstande,  sondern  auch  in  der 
von  uns  so  wann  euiptoliienen  Schulsyuode  Diener  dci  Kirche  vertreten  seien; 
aber  dieselben  solieo  auch  nicht  in  etwa  mit  einem  grüliereu  Mali  von  Rechten 
aomestattet  sein  als  alle  ttteigen  Mitglieder  dieser  KSipersdiaften.  Wie  nun 
stehe  es  endlich  um  das  Anrecht  der  Familie  nnd  Schnlgemeinde  an  der 
Schnle  und  Schul  Verwaltung?  Der  hauptsächlichste  Grund  für  die  stets 
wachsende  Lockerung  des  Bandes  zwisrhen  Schule  und  Haus  licire  in  der 
Thatsache,  dass  die  Schulgemeinde  als  solche  kaum  noch  einen  ucuuenswerten 
Einflnss  aif  das  Leben  nnd  Wirken  der  Schale  besitze.  Gewiss  sei  in  dieBitaide 
des  Ortssdinlvontndes  eine  ganne  Beihe  widitIgerBechte  gelegt  worden,  wie 


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Lehrer  wähl,  Festsetzung  der  Lehrergehälter.  Regelung  der  äußeren  Verhält- 
nisse der  Schule.  Alleiu  bei  der  Zusamineusetzung  des  Schulvorstandes,  bei 
der  Art,  wie  seine  Hitglieder  für  dies  bedentmne  Ehrenamt  bemÜBn  würden, 
kSünten  jene  Bechte  nnmaglich  yoll  nnd  gans  nun  Sagen  der  Sehale  Qeltnng 
erlangen.  An  der  Spitze  des  Ortsschulvorstandes  stehe  ein  Geistlicher,  der  den 
Lehrern  gegenüber  mit  den  Rechten  eines  Vorgesetzten  ausgestattet  sei,  obwol 
er  die  zur  Leitung  der  Schule  nothwendige  theoretische  und  praktische  Be- 
nihigung  nicht  besitzt,  also  anch  nnniüglich  des  genaueren  über  die  eigent- 
lichen BedttrftiiBBe  derSehnle  onterriehtet  aein  kOnne;  die  Mitglieder  deeSchnl- 
vorstandes  als  die  Vertreter  der  Schnlgemeinde  ging^en  nicht  ana  der  freien 
^^'ahl  der  Schulgemeinde  hervor,  wie  etwa  die  Stadtverordneten  ans  der  freien 
Wahl  der  Bürger,  sondern  sie  verdankten  ihr^Amt  einzig  und  allein  dem  Gut- 
dünken und  Wol wollen  des  Herrn  Pfarrers,  der  schon  dafür  Sorge  zu  tragen 
pflege,  daaa  er  Lente  in  den  Schnlvorstand  bekomme,  mit  dmen  er  mnnigehen 
wisse;  die  Sehnlvorstandsmitglieder  h&tten  darum  auch  keinerlei  m<H*aIiBche 
Verantwortnng  gegenüber  der  Schulgemeinde  bezfiglich  der  Art  ihrer  Amts- 
tiihrung.  Was  aber  das  schlimmste  sei:  der  eigentliche  fachniiinnische  Bei- 
rath fehle  in  der  Regel  vollständig,  da  der  Lehrer,  der  natürlichste  Vertreter 
der  Schale,  von  der  ESrpenehaft,  der  znn&ehet  die  Pflege  der  Litefenen  der 
Sehnle  aayertrant  eei,  aoegeaehlossen  werde.  Wir  mfleeten  alte  drittens  die 
Forderung  aufstellen,  auch  der  Schnlgemeinde  als  solcher  den  ihr  gebfirenden 
Einflusfi  auf  das  Leben  und  Wirken  der  Schule  einzuräumen.  Das  bisherige 
Ergebnis  laute  also:  f)er  Kiiifluss  des  Staates  und  der  Kirche  auf  die 
, Schule  muss  eingeschränkt  werden  zu  Gunsten  des  Einflusses,  der 
der  Schnlgemeinde  nnd  Sehnle  in  Besag  auf  die  Pflege  und  Ver« 
waltnng  der  Schule  anerkannt  werden  mnss.  Wie  das  im  einzelnen 
durchzuführen  sei?  Erstens  erscheine  eine  angemessene  Umgestaltung  der 
bislang  üblichen  Scliul Verwaltung  an  sich  geboten;  zweitens  sei  eine  Ergänzung 
der  staatlichen  Schulverwaltung  durch  Errichtung  von  Schul syuoden  noth- 
wendig,  das  hdfle  von  Körperschaften,  in  denen  die  ans  freier  Wahl  horor- 
gegangenen  Vertreter  der  Schale,  Schnlgemeinde  nnd  Kirche,  sowie  Vertrater 
der  Staatsregierung  zu  gemeinsamer  Berathang  wichtiger  Schulfragen  zusammen- 
träten. Im  Ortssrlmlvorstand  müssten  Vertreter  der  Schnlgemeinde,  der  Kirche 
and  Lehrer  gleiehe  Pflichten  nnd  Hechte  haben.  Der  Vorsitzende  müsse  frei 
gewählt  und  die  geistliche  Lucalschulaufsicht  gänzlich  beseitigt  werden.  Die 
Folgen  einer  derartigeii  Neogestaltnng  des  Ortsschnlvorstandea  Ilgen  auf  der 
Hand.  Die  gance  Wirksamkeit  desselben  werde  sich  sachgemäßer,  zielbewusster 
und  gedeihlicher  gestalten;  das  Interesse  der  Selmlcremeinde  an  der  Arbeit  und 
Entwickelunt,'-  der  Schule  werde  dauernd  lebendig  erhalten,  und  besonders  zur 
Zeit  der  nach  bestimmten  Zeitabschnitten  wiederkehrenden  Neuwahlen  würden 
die  eiuBsinen  Glieder  der  SdudgemeiBde  naehdrOeklioli  an  ihre  Rechte  und 
Pflichten  der  Schule  gegenttber  gemahnt;  die  Lehrer  endlich  wilrden  sneh  ihrei^ 
seits  bemüht  sein,  die  freandschaftlichen  and  yertranensvollen  Beziehungen 
zwischen  Sclinle  nnrl  ffaus  mit  Snrjrfalt  zn  pflegen  nnd  rlufiir  Sorge  tragen, 
tlass  diese  lebendifcere  ^\'eehsel^virkung  zwischen  Familie  und  Schule  der  ganzen 
Erziehungsthätigkeit  je  länger  desto  mehr  zum  Segen  gereiche.  Abweichend 
vom  seitherigen  Branche  sd  sodann  der  Kreisschnllnspeetor  nicht  von  der  Be- 
giemng  an  bestellen,  sondern  7on  den  Vertretern  der  Schnlgemeinde  in  wUden 


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und  TWl  der  Regiemng  za  bestallen.  Diese  Verwaltnngsbeaniten  müssten  so- 
dann Fachmänner  sein  in  des  Wortes  eigentlichster  Bedeutung-,  d.  Ii.  Schol- 
luänner,  die  bei  einer  gründlichen  allgemeinen  Bildung  eine  ebenso  vielseitige 
wie  tiefe  pftdagogieefae  BefUugung,  «owol  nach  der  theoreti8clie&  wie  prak' 
tiMlien  Seite  hin  beBitzen,  die  dee  gnnie  Leben  nnd  Wirken  der  Sehnle  ans 
eigener  Anschauung  und  Erfahningr  kennen  gelernt  haben,  die  imstande  sind, 
die  Bedürfnisse  der  Schule  richtis"  zu  beurtheilen  und  die  T.f  Vionsinterf'Ssen  der- 
selben nach  allen  Seiten  hin  zu  iürdern.  Dass  solche  Fachnüinner  nur  in  den 
Beihen  der  tfichtigsten  Volksschullebrer  zu  finden  seien,  sei  eigentlich  selbst- 
ventl&dlieh.  —  Wae  Redner  tnwr  die  Sehnlaynoden  aledann  eingehende  an*- 
führte,  geben  wir  wörtlich  wieder:  „Es  ist  femer  eine  Ergänzung  der  staat- 
lichen Scliulaufsiclit  (limh  solche  Körperschaften  der  Schulptlege  geboten,  in 
dt-nen  frei  gewühlte  \  ei treter  der  Lehrerschaft,  der  Schulgemeinde  und  der 
Kirche,  sowie  Vertreter  der  Staatsregierung  zu  gemeinsamer  Berathung  wich- 
tiger SdinUhigen  snaaainientreten,  d.h.  dnreh Schnlqmoden.  AUerdinga  würden 
schon  bei  der  Reorganieation  der  Schalverwaltung,  wie  ich  sie  Ihnen  vorhin  in 
allgemeinen  Umrissen  gezeichnet  habe,  die  Grenzen  für  die  Bethätigung  des 
Einflusses,  der  den  einzelnen  bei  der  Jugenderziehung  mit  interessirten  Volks- 
gemeinschaften in  Bezug  auf  PHege  und  Verwaltnng  der  Schule  eingcräomt 
werden  loll,  im  allgemeinen  natorgemftß  nnd  richtig  gezogen  sein.  IMe  Lei* 
tnng  dw  einaelnoi  Sehnle  wie  der  an  einem  grOBeren  Verbände  vereinigten 
Volksschulen  im  Kreise  liegt  danach  in  Händen  eines  wii  klichen  Fachmannes, 
d.  h.  eines  tüchtigen  Vf>lkss(  !inllf'hrer>;.  Im  Ortsschulvonstande  hat  auch  ein 
Vertreter  der  Schule  und  des  Lehrerstaiulcs,  gewöhnlich  wol  in  der  Person  des 
Hauptlehrers  oder  Rectors,  Sitz  und  Stimme  nnd  ist  in  der  Lage,  die  Angelegen- 
heiten der  Sehnle  nnd  seiner  Ifitarbeiter  nachdrSeklich  an  fSrdem.  Die  Hit-  * 
glieder  des  Schulvorstandes  als  die  Vertreter  der  Schulgemeinde  stehen  unter 
dem  lebendigen  Eindrucke  der  moralischen  Verantwortlichkeit  gegenüber  der 
Schulgemeinde,  und  namentlich  zur  Zeit  der  Neuwahlen  füi'  diese  nntorste  Stufe 
der  Schulverwaltaug  wird  auch  den  übrigen  G^eiudegliederu  dus  allerdings 
iehr  geringe  UaB  von  Beehten  nnd  PiUditen  in  Besng  anf  die  Schale  in  Er- 
innerung gebraeht  und  das  Interesse  an  dem  Leben  nnd  Wirken  der  Sehnle 
allgemeiner  und  in  grüOerem  Umfange  erregt,  der  heirschende  Einflass  der 
Kirche  auf  die  Schule  ist  crflMochen,  und  die  Geistlichen  haben  nur  noeh  als 
völlig  gleichberechtigte  Mitglieder  des  Schulvorslandes  an  der  Pflege  der  \'ülks- 
erziehang*  mitzuwiiken.  Der  Schwerpunkt  in  der  engeren  und  näheren  Aas- 
gestaltnng  der  Lehr-  nnd  Endehnngathltigkeit  raht  in  der  Sehnle  nnd  Sehnl- 
gemeinde,  nnd  der  Staat  wflrde  sich  mit  der  höchsten  Leitung  des  gesammten 
Schulwesens  nach  allgemeinen,  weiteren  Gesichtspunkten  zu  begnügen  haben. 
Gewiss  würde  mit  einer  solchen  h'etorm  wahrhaft  Uro ües  erreicht  sein  und  ein 
reicher  Segen  davon  dauernd  auf  das  ganze  Leben  derScliule  ausströmen.  Und 
dodi  werden  wir  bei  genauerer  Prftfung  flnden,  dass  aneh  diese  an  deh  gewiss 
mnsteriiafte  Sehvlvafhesnng  an  Mängeln  leidet»  die  nur  durch  die  Einrichtung 
von  Schulsynoden  ihren  Ausgleich  finden  können.  Erstens  kommen  der  Lehrer- 
stand und  die  Sdntlirt  nieinde  als  solche  nicht  genügend  zur  Geltung  und  zwei- 
tens fehlt  es  an  .  im  iii  über  den  Urtsschul vorstand  hinaus  reichenden  hamo- 
nisdien  Zusummeuwirkea  von  Schale,  Gemeinde,  Staat  und  Kirche  im  Dienste 
der  Volkaerziehang.  Nach  der  neuen  Gestaltnng  der  SchulverfiuBung  sind  die 


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IjPit^r  der  Schule  allerding^s  FacliniSnner.  die  nach  ihrer  theoretischen  wii^ 
praktischen  Ausbildang  die  volle  iktähigung  zur  technischen  Leitung  der  Schule 
besitzen.  Aber  anch  mit  den  sogenannten  Fachleuten  habe(i  die  Lehrer  schon 
9ibst  ndit  eigrathfimliche  ErfRhrtiiig«n  maehen  mflasen.  Gar  maaehe  leben 
sich  aUailbli«3i  in  den  Gedanken  hinein,  dass  die  Sehulthiitigkeit  nur  dann 
segensreicli  entfaltet  werden  könne,  wenn  sie  fi:anz  nach  ihrem  Willen,  nach 
ihren  Ansichten  über  üntenidit  und  Kr/.ieliiiim^  ausgestattet  werde,  wenn  das 
ganze  äußere  and  innere  Leben  der  Schule  nur  das  Gepräge  ihrer  pädagogischen 
AnechavnDg  ond  Übersengung  trage.  Ein  StSek  fk«ier  Bewegnng  naeh  dem 
anderen  wird  den  Lelitem  abgenommen,  und  endüdi  liat  sich  eine  Paeehw* 
Wirtschaft  eingenistet,  die  selbst  den  Bureaukraten  vom  reinsten  Wasser  kanm 
etwas  zu  wünschen  übrig  lässt.  Dass  unter  den  lähmenden  Einflüssen  solcher 
Schulmouarclien  oder  richtiger  Schultyrannen  mauclieni  Lehrer  im  stillen  Ge- 
mäthe  die  Überzeugung  aufdämmert,  daee  unterm  Kmmmstabe  es  sich  doch 
eigentUoh  gemfithlicher  leben  lasse,  darüber  wollen  wir  nns  wahriieh  nieht  ver- 
wundern.  Weisen  Sie  mich  nicht  liin  auf  den  wirksamen  Schutz,  der  doch 
bei  einer  so  frei  gerichteten  Schulveifassuntr  schon  von  Seiten  des  Ortsschul- 
vorstandes für  die  Lehrer  mit  Bestimmtheit  zu  erwarten  sein  dürfte.  Nein, 
meine  Herren,  je  haruiouischer,  gesetz-  und  regelmäßiger  ein  Bau  äußerlich  anf- 
fpeführt  ist,  einen  desto  wolfhnenderen  Eindmelc  wird  er  auf  das  Ange  desBe- 
schaners  ausüben ,  je  schablonenhafter,  nniformirfeer  vnd  bnreankratiieher  die 
Thitigkeit  der  Schule  äußerlich  ausgestattet  wird,  je  mehr  sie  aus  einem  Guss 
herau.«gearbeitet  ist,  desto  größer  wird  das  ilali  der  Anerkennung  sein,  das 
man  dem  Leiter  der  Schule  zutheil  werden  lässt.  Ob  das  Recht  der  fremden 
PersOnHelikeit  als  solcher,  das  Beeht  der  Individnalität  bei  Lehrern  wie  Schtl- 
lern  mit  FttAen  getreten  nnd  damit  die  eigentUehe  Omndlage  dar  Volkssehnl- 
endehnng  noch  so  heftig  erschüttert  werde,  dafür  haben  die  Laien  in  der  Regel 
kein  Verständnis.  Wir  haben  daher  alle  Veranlassung,  die  Forderung  zu  stellen, 
das-s  auch  den  Lehrern  als  solchen,  d.  h.  ganz  unabhilngig  von  dem  Dirigenten 
der  Schule,  das  ihnen  gebürende  Maß  von  Eintluss  auf  Pflege  und  \'erwaUuug 
der  Sehnle  einger&nmt  werde.  Wie  sollte  das  aber  wirknmer  gesehehen  kSnnen, 
als  durch  die  Möglichkeit,  auch  ihre  durch  freie  Wahl  berufenen  Abgeordneten 
in  die  einzelnen  Abtheilungen  der  Schulsynoden  zu  entsenden,  wo  sie  nicht  hlos 
das  Hecht,  nein,  die  Pflicht  hüben,  ihre  nnd  ihrer  Wühler  Meinungen  Olfen  und 
entschieden  zu  vertreten  auch  gegenüber  den  bureaukratisch  angehauchten  Lei- 
tern derSeknld,  soweit  sie  ttberbanpt  in  diesen  Körperschaften  Sita  nndStine 
haben.  Sobald  aber  in  einer  gröfieren  Versammlnng  gebildeter  Hinner  eine 
vorurtheilsfreie  Beleuchtung  von  Schulfragen  nach  verschiedenen  Richtungen 
statttindet,  dürft*»  der  starre  Bureankratismns  in  den  meisten  Fällen  doch  wol 
den  kürzeren  ziehen.  Außerdem  muss  es  darauf  ankommen,  dieTheilnahme  der 
Familie  und  Schulgemeinde  an  dem  Werke  der  Volksbildung  noch  weiter  zu 
beleben,  dieVoIksensiehnng  womöglieh  an  einer  Angelegenheit  des  allgem^en 
öffentlichen  Interesses  zu  erheben.  Das  wird  aber  nor  möglich  sein,  indem  man 
der  Schulgemeinde,  d.  Ii.  di  r  Familie,  noch  eine  über  den  Ortsschulvorstand 
hinausreicliende  ^litwiikting  an  dt-r  Pflege  und  Vfrwaltunsr  ermöglicht.  Ks  ist 
ja  keine  Frage:  kein  Factor  des  gesammteu  Volkslebeus  hat  ein  su  unmittel- 
bares, ein  so  nahdiegendes  Interesse  an  der  Jngendereiehnng  wie  die  Familie, 
wie  denn  nach  kein  Fremder  geneigt  sein  dürfte,  die  Verantwortang  für  die 


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traurigen  Folgen  auf  sich  zu  nehmen,  die  sieh  aus  der  Vernachlässiicrniig  der 
Kinder  in  körperliciier  oder  geistiger  Hinsicht,  aus  einer  oftenbai'  falschen  oder 
irre  geleiteten  Erziehung  ergeben  müssen.  Und  würden  wir  einen  verhängnis- 
volleB  Fehler  begehen,  wolltaB  vir  «m  dStmst  Tltatseche  die  allerdings  nahe- 
liegende SehlniifolgeraDg  sfaheii,  daw  damit  der  Familie  oder  der  Sefantgeoieinde 
aach  der  entscheidende,  besthnmende  Einflnss  auf  die  AnngtintüHang  derSehnl* 
thHtigkeit  gebüre,  dass  das  ganze  \V'erk  der  Schuler/.iehnng  nur  zu  betrachten 
sei  als  eine  Privatangelegenheit  der  Familie  und  der  Schule,  die  nur  zwischen 
diesen  zunächst  Betheiligten  geregelt  zu  w  erden  brauche.  Freilich  gehurt  das 
Kind  in  erster  Linie  der  Familie  an;  aber  sein  Zweck  liegt  nieht  allein  in  der 
Familie.  Es  soll  auch  vorgebildet  und  erzogen  werden  für  das  Leben  in  Staat 
und  Kirche,  die  beide  ihren  Aufgaben  nicht  gerecht  werden  können  ohne  die 
durch  die  Schulthätigkeit  begründete  Bildung.  Zudem  liedarf  es  unter  Fach- 
genossen nur  der  Erwähnung,  dass  unter  unseren  heutigen  Culturverhältuissen 
eine  allen  berechtigten  Anfordenmgen  des  Lebens  in  Familie,  Staat  nndKirohe 
im  allgemeinen  entqireehende  Vfdksfaildang  nur  dann  taeMt  werden  kann, 
wenn  das  g^mmte  Schulwesen  nach  grofien,  weiten  Gesichtspunkten  von  einer 
Centralstelle  aus.  dem  Landcsschulcollegium  oder  dem  llnterrielitsiuinisteriunK 
einheitlich  geleitet  und  überwacht  wird.  Endlich  ist  die  reine  Fuinilieiischule 
*  schon  danun  ein  Unding,  weil  sie  im  allgemeinen  noch  der  zu  einer  wahrhaft 
gedeihliehen  Entfldtong  ihrer  Thfttigkeit  nothwendigen  OrnndToraniMetzang,  der 
nüthigen  Einsicht  nnd  Bildung  der  Familienväter,  ermangelt.  Eine  richtige  ond 
umfassende  Wüi  dignng  der  Volksbildung  kann  selbstredend  nur  bei  Leuten  von 
wirklicher  Hildung  erwartet  werden,  und  selbst  bei  diesen  auch  dann  nur,  wenn 
sie  in  der  Volksbildung  eine  Quelle  wahren  Volksglückes  erkennen;  der  Bohe 
nnd  Ungebildete  dagegen  pflegt  die  Wissenschaft  entweder  nnr  als  einen  hSchst 
äberflftssigen  nnd  darum  leicht  eutbehrliehen  Lnznsartikel  n  betrachten  oder 
doch  nnr  das  als  echte  Bildung  anzoataonen,  was  sich  ihm  mit  fremdländischen 
Floskeln  reich  verbrämt  zu  prilsentiren  weiß,  ünd  so  ist  es  alsdann  ganz  na- 
türlich, dass  die  Volksschulichrer  selbst  heute,  wo  der  Familie  und  Schul- 
gemeinde doch  wahrlich  kein  sehr  großes  Maß  von  Eechten  in  Bezug  aof  die 
Schnle  elngerBnmt  ist,  in  weiten  Kreieen  sieb  zn  beklagen  haben  flber  Mangel 
an  Opferwilligkeit  und  Interesse  sogar  bei  den  sogenannten  maßgebenden  Per- 
sönlichkeiten ihrer  Schulgenieinden,  dass  sie  kaum  das  Allernothw endigste  für 
Schulzwecke  loseisen  und  niciit  selten  gezwungen  sind,  die  Hilfe  der  vorgesetzten 
Behörden  in  Anspruch  zu  nehmen.  Wir  werden  uns  daher  woi  zu  hüten 
haben,  ans  der  Scylla  der  reinen  Staatssehnle  in  dieCharybdis  der  reinen  bunt« 
seheckigen  FamiUmisehnle  mit  voUen  Segeln  hinnberznAhsen.  Der  goldene 
Weg  liegt  vielmehr  auch  hier  in  der  Mitte.  Wir  erkennen  das  unzweifelhafte 
Recht  des  Staates  an  der  obersten  Leitung  der  Schule  in  seinem  ganzen  Vu\- 
fange  an.  Gleichzeitig  aber  wünschen  wir,  dass  auch  der  Schule  und  Familie 
als  den  bei  der  Jogenderziehimg  zunächst  Betheiligten  soviel  Einüass  auf  die 
Oestaltnng  der  .Sehnlth&tigfceit  eingeräumt  werde,  als  das  ohne  Schädigung 
dieser  mOglich  ist.  Insbesondere  halteii  wir  es  Ar  eine  unabweisbare  Pflicht, 
alles  zu  thun,  was  geeignet  erselieint.  das  Interesse  der  Familien  an  der  Wirk- 
samkeit der  Schule  zn  beleben.  ilitKecht  sagt  Ziller  in  seiner  , Grundlegung ' : 
,Aui;  beiden  Seiten,  d.  h.  der  Familie  und  der  Schule,  sollte  das  Bedürfnis  des 
Anstanschfls  nnd  ArngtoieheBS  von  Meinungen,  Gedanken,  Wflnschen  lebendig 


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Bein;  beide  sollten  refrclniäßige  Gele^jeiilieiteii  begrrüuden,  wie  sie  gegenseitig: 
von  ihrem  inneren  Leben  Kenntnis  nehmen  und  ihre  ThJUigkeiten  und  Cber- 
sengangen  in  Übereinstimmang  bringen  Icönnten;  beide  Theiie  sollten,  wie  bei 
der  Begiernng  und  Zucht,  to  ancli  hinalchtUch  des  Unterrichtee,  theib  in  du- 
seinen  lUlen,  theUa  Aber  ein  grOfieres  Ganzes  von  Einrichtnng^en  einander  be- 
rathen  und  gemeinsame  Entschließungen  fassen.*  Wie  sollte  das  aber  wirk- 
samer und  erfolgreicher  g:eschehen  können,  als  dorch  die  Begründung  von 
Scbolsynoden,  iu  der  Fachmänner  und  Laien  über  Schulerziehongsfragen  ein- 
mutor  sm  belehren  und  m  Terstlndigen  micfaen.  —  DieOrganiaatkn  derSelml* 
■ynoden  wftrde  dch  wie  fblgt  gestalten:  Neben  der  einnelnen  Sdinle  steht  der 
Ortsschalvorstand,  in  dem  die  Vertreter  der  bei  der  Jngenderziehang  mltinter- 
essirteii  \"o!l<sfr(>niein8chaften,  Schule,  Gemeinde,  Kirche  und  Staat,  in  gemein- 
•  schaltlicher  Arbeit  die  gesammten  Interessen  der  Schule  und  des  Lehrerstaudes 
nach  Kräften  zn  fördern  bemüht  sind.  So  sollte  neben  dem  Kreissehulinspector 
die  Ereiseynode,  neben  der  ProvinzialechiilbehOrde  die  ProTinaialichnl- 
Synode  and  neben  der  höchsten  Stufe  der  staatlichen  Schnlverwaltung ,  neben 
dem  Unterrichtsministerium,  die  Landessch nlsynode  ihren  Platz  finden. 
Die  Mitg;lieder  der  Kreisschulsynode  gehen  aus  der  unmittelbaren  Wahl  der 
einzelnen  Schulgemeinden  und  der  in  diesen  Gemeinden  amtireudeu  Lehrer  und 
PCurer  hervor.  In  die  Provinzialtdiiüqnode  werden  einxelne  MM^eder  der  ' 
Krelii^oden  abgeordnet,  «fthrend  die  lOftglieder  der  Landeaidinl^ynode  ans 
den  einzelnen  Provinztal^oden  recnitiren.  Als  die  wichtigsten  Geschäfte  der 
Schulsynoden  bezeichne  ich  im  Ansclilusse  an  die  treffliche  und  gründliche  Ab- 
handlung des  Herrn  Wigge- Coswig  über  denselben  Gegenstand  folgende: 

1.  Sie  regelt  die  inneren  Schnlangelegenheiten,  soweit  es  dielndividnalität 
der  einieldeii  Schule  gestattet 

2.  Gleiche  Aufgaben,  wie  für  das  Y(dksBchalwesen,  hat  die  Synode  bezüg- 
lich der  Fortbildiinps.schulen.  der  Fiettung-s-  und  Waisenhäuser. 

3.  Die  Synode  nimmt  tlieil  an  der  Regelung  der  Lehrerhesoldune:. 

4.  Die  Synode  besorgt  die  von  der  Ortsschulbehürde  zu  bestätigende  Wahl 
des  Ereissehnlinspectors,  der  Fachmann  sein  und  ansschliefiUch  seinem  Amte 
leben  mnss. 

5.  Die  Synode  erledigt  Fragen  der  Schulhygiene  und  die  in  das  Baufach 
schlagenden  Fragen  von  allgemeiner  Bedeutung. 

6.  Bedürftigen  Gemeinden  gewährt  die  Synode  auf  Ansuchen  Unter- 
sttttzangen  aus  der  Ereisschulcasse, 

7.  Die  Synode  wlUt  eine  Gommission,  welche  die  Function  eines  Schieds- 
gerichtes bei  streitigen  Angelegenheiten  innerhalb  derErei«chnlgemeinde  wabr- 
snnehmen  hat. 

Vielen  von  llinen  werden  diese  der  Schnlsynode  übertragenen  Befugnisse 
zu  weitgebend  sein.  Einige  derselben,  wie  z.  B.  die  Theilnahme  an  der  Rege- 
lung der  Lehrerbesoldung,  die  UnterstHtnng  hilftbedlirfliger  Gemeinden  ans 
der  Ereisschulcasse  betreffend,  würden  dne  völlige  Umgestaltung  der  bisher 
üblichen  Unterhaltung:  der  Schulen  voraussetzen.  Wieder  andere,  die  ReprelnnR' 
der  inneren  Angelegenheiten,  die  Wahl  des  Kreis.schulinspectors  betrertend. 
geben  der  Synode  offenbar  den  Charakter  einer  ausführenden  Körperschal't, 
während  wir  im  allgemeinen  schon  gewiss  damit  zufrieden  seüi  können,  warn 
snnftchst  nur  Schnlsynoden  mit  dem  Bechte,  BathschUge  sn  ertheüen  und  An- 


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trÄge  zu  stellen,  ins  Leben  g-ernfen  würden.  Jedeiifiills  wird  den  Sdiulsynoden 
in  erster  Linie  das  Recht  ,  bei  der  llegelnng  siimmtlicher  äußerlicher  8chal- 
augelegeulieiten  mitzurathen,  zuerkannt  werden  müssen.  Aber  aucli  das  ganze 
innere  Leben  der  Schule  mnss  in  den  Kreis  der  Berathnng  gezogen  werden 
dlbtilBn,  und  zwar  eehon  deshalb,  am  das  VerstSodiiis  der  Ifitf^eder  für  allge- 
meine  Schnlfiragen  zn  wecken  mid  an  lOrdem  und  daadt  den  Grand  zn  legen 
für  ein  das  g-esammte  Schulwesen  umfassendes  Interesse.  Der  Schulsynode 
aualoi^e  Einrichtungen  haben  wir  in  den  Ärztekammern  und  im  Volkswirt- 
schai'tsrathe." 

Die  Geschichte  der  Scbnl^yDode  koBnte  Gressler  Zeitauuigels  wegen  nicht 
geben.  Er  schloss  darum  mit  Beantwortung  der  Frage,  wie  wir  un^  zur  Ein- 
fUmmg'  der  Schulsynode  stellen  wollten,  die  er  folgendermaßen  gab: 

.  1.  Dem  Staate  gehört  die  oberste  Leitung  nach  den  weitereu  und  größeren 

Gesichtspunkten. 

2.  Die  engere  Ausgestaltung  der  Schnlthfttigkeit  moas  der  Sehnle  in  Ver^ 
bindnng  mit  .der  Scbvigemeinde  and  Kirche  liberlaasen  bleiben. 

3.  Damit  aber  ein  ersprießliches  Zusammenwirken  von  Familie,  Schale, 
Kirche  und  Staat  möglich  sei,  müssen  Schulsynoden  ins  Leben  gerufto  werden, 
die  sich  in  Kreis-,  Provinzial-  und  Landessynoilen  scheiden. 

4.  Die  Schulsyuoden  sind  berathende  Körperschaften,  die  den  staatlichen 
Organen  der  Seholverwaltang  mit  ihram  Bdrath  aar  Saite  steheh  sollen. 

Meine  Herren,  eine  derartige  Aasgestaltnng  der  Schulverfassung,  wie  ich 
sie  Tliiu  n  in  kurzen  Zügen  gezeichnet  habe,  würde  eine  weittragende  Bedeu- 
tung gewinnen  für  das  Leben  in  Schule,  Kirche  und  Staat.  Die  Schule  ist 
ebenso  gesichert  gegen  die  lähmenden  £intlüsse  der  einseitigen  Dureaukraten» 
Yorwaltong,  wie  anf  dar  anderen  Seite  gegen  die  WUlkflr  des  Dorf-  and  Stadt- 
Uagnateathnma.  Wird  sie  in  allem  bestrebt  sein,  bei  der  Ansttbong  ihrer 
TbStigfceit  von  jenen  bestimmten,  unabänderlichen  Gesetzen  sich  leiten  zu  lassen, 
denen  auch  die  geistige  Entwickelnng  des  Kindes  unterliegt,  so  wird  sie  doch 
anderseits  in  der  lebendigen  Wechselwirkung  mit  der  Familie,  der  Gemeinde, 
der  Kirche  und  dem  Staate  immer  wieder  von  neuem  darauf  hingewiesen,  dass 
sie  ihre  Kinder  auch  Ittr  das  Leben  innerhalb  dieser  Kreise  voranbereiten  nnd 
den  berechtigten  Anforderungen,  die  auch  dieae  oorporativen  Schulinteressenten 
au  die  Schul*>rziehung  stellen  nmss,  Rechnung:  zn  tragen  hat.  Mit  dem  ge- 
steigerten Intei  esse  des  Volkes  an  dem  Leben  und  Wirken  der  Schule  wird  das 
öffentliche  Erziehuugsweseu  je  länger  desto  mehr  zu  einer  Angelegenheit  des 
allgemeinen  nnd  SflbntUchen  Interesses  erhoben  werdooi  nnd  damit  naeh  nnd 
naoii  aneh  jene  Volksthllmlichkeit  erlangen,  ohne  weldie  die  Bethfttlgong  einer 
allgemeineren  Theilnahme  an  der  Schulthäligkdt  nicht  wul  denkbar  ist.  Die 
Schule  erscheint  nicht  mehr  als  die  niediisre.  dienende  Magd  der  Kirche  und 
des  Staates,  sondern  neben  der  Kirche  als  der  bedeutsamste  Factor  des  Volks- 
lebens, grundlegend  und  leitend  für  die  Entwickelung  der  geistigen  und  sitt» 
liehen  Wolfahrt  des  gcsammten  Volkes,  ünd  endlich  wird  anch  dem  Lehrer- 
stande, der  hente  noch  in  so  manchen  Kreisen  nicht  ohne  i  \u  '^'^ewisses  Mitleid 
und  Bedauern  angesehen  nnd  beliandelr  wiid.  das  MaL5  der  öö'entliclien  Wert- 
schätzung zutheil.  das  der  holien  Bedeutung  seines  Berufes  in  etwa  entspricht; 
er  wird  diejenige  sociale  Stellung  erlangen,  die  thatsächlich  in  etwa  den 
Glans  Jener  hoehtüainden  Bedewendnngen  wiederstrahlt,  in  denen  man  bei  fiest- 


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—   660  — 


liehen  \'eranstalt untren  Schule  und  Lehrer  wol  zu  feiern  ptleg-t.  Und  die  Kirche? 
Nun,  der  herrschende  Eintlnss  der  Kirche  als  das  historische  Überbleibsel  einer 
längst  abgestorbenen  Zeit  ist  auf  iuimer  dahin.  Aber  dafür  hat  auch  sie  Vor- 
theile  von  bleibendem  Segen  1»ei  der  Neogestidtnng  der  SchnlTerÜMMing  ein- 
geheimst.  Die  unseligen  Streitigkeiten  zwischen  den  Geigtlichen  und  Lehrern, 
die  bislang:  das  natury-emäße  Verhältnis  zwischen  Kirche  und  Schule  versrifteten 
iiml  dii-  frciuulscliaftliclien  und  vertruuiuiKSVollen  Beziehniif^en  zwisdieii  den 
i'farreru  und  Lehrern  vielfach  vernichteten,  sind  begraben,  und  bt^idc,  Kirche 
nnd  Sehnte,  werden  je  langer  desto  melir  za  der  Erkenntnis  gelangen,  dass  jede 
nnr  ihr  eigenee  Interesse  fördert»  wenn  tie  die  Lebensbedingmigea  der  anderen 
fester  zu  liegriinden  nnd  sie  bei  der  Losimg:  ihrer  Aufgaben  wirksam  zu  unter- 
stützen sucht.  Wahre  Volksliildun^  ist  die  Grundlage  nnd  die  Quellt'  wahren 
Volkswuleti.  Das  gilt  zu  keiner  Zeit  mehr  als  heute.  Die  gewalti^^en  Aufgaben, 
welche  gei'ade  in  der  gegenwärtigen  Zeit  an  den  Staat  herantreten,  setzen  eine 
Volksbildung  vomns,  wie  sie  niemals  znVor  bettenden  hat  Geistige  fie- 
schrSnktheit ,  gepaart  mit  sittlichem  Stnmpftinn,  kommt  nur  den  Volksver-  * 
fdhrern  zugute,  deren  hohle  Schlagwörter  nnr  in  dt-r  Dummheit  des  Volkes 
Wnr/t"l  s<  lila°:en  und  üppig  eniporsinießen  kihinen.  iin  Sunneulichte  echter  Bil- 
dung des  Kopfes  und  des  Herzeus  aber  zerrinnen,  müssen.  Kein  Factor  des 
Volkslebens  kann  daher  unter  den  heutigen  VeihiUtnissea  von  einer  grilnd- 
lioh«i  Volksbildung  nnd  -Erziehung  eine  so  gedeihliehe  Fdrdemng  seiner  Le* 
bensthätigkeit  erfaliren,  als  der  Staat.  Gerade  er  wird  darum  in  erster  Linie 
bestrebt  sein  müssen,  alle  Reformen  auf  dem  Gebiete  des  Schulwesens,  die  das 
Werk  der  Volkserziehung  weiter  auszubauen  geeignet  erscheinen,  mit  Freuden 
zu  begrUBen  und  vorurtheilsfrei  zn  prüfen  nnd  zur  Verwirklichung  derselben 
seine  starke  Hand  willig  darznbieten.  So  wird  das  Leben  in  Schule,  Kirche 
und  Staat  gedeihlicher  und  segensreicher  sich  gestalten;  so  wird  eine  Volks- 
erziehung begründet  werden,  auf  der  wahre  Gottesfurcht.  be;s:eisterte  Liebe  zu 
Kaiser  nnd  Reich  und  Jene  Biii'^crtug'enden  erwachsen,  die  den  Menschen 
zieren  und  zur  Ausübung  seines  Lebensbenifes  geschickt  machen;  so  werden 
wir  aihnfthlieh  dem  idealen  fflele  nfther  kosunen,  das  uns  mein  T^andsmaan 
Emil  Rittershaus  bei  der  Aafstellung  einer  Diesterweg-Bnste  auf  dem  Kaisberge  • 
bei  Herdecke  in  WesiCslen  seineneit  in  den  Versen  ansdrfickte: 

Dann  werden  wir  ilii^  Znktnift  frei  sehn  von  der  Pest  der  Lttge; 
*      I^u  werden  durch  die  Welt  wehn  der  Gottheit  Odemjsüge. 

Dann  steigen  nicht  mehr  aus  der  Qnft  dw  flastem  Zeit»  Leichen; 
Danu  i|iiillt  i]rr  Freiheit  Lebensluft  vom  Laub  der  (biilschen  Eichen, 
Duon  wird  des  CrlUckes  Mauim  uiüd  aufn  Land  hcruiedcrregueu, 
Dann  wird  der  Qeist  Ton  Diester  weg  die  freien  Volker  segnen!* 

(Brausender  Beifollsjnbel  und  Rufe:  „Gressler  hoch!") 

in  der  Besprechung  erklären  sich  Lehrer  Eies,  Kedacteur  der  „Frauk- 
ftirter  Sehnlzeitung'' ,  Stadtsehnlinspeetor  Scheerer,  Worms  (ist  boMnders 
gegen  die  Wald  des  Schulinspectors  durcli  die  Synode),  Schmitt,  Darmstadt» 
Redacteur  der  „Hessischen  Schulzeitnna:'*  und  Lehrer  Hunuld.  T.nnsrenan. 
geeren,  Lehrer  ScIn  iM  r.  üeilin.  Redacteur  <ler  ,, Fildagoffischen  Zeitung",  und 
Lehrer  Fricke,  Hamburg,  für  die  Schulsynode.  Angenommen  wurden 
sflhUeAlich  mit  nicht  besonders  starker  Mehrheit  die  gestellten  Sitae  Or esslers: 

1.  Zur  gedeihlichen  Entwickelung  des  Volksschnlwesens  ist 


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es  notli wendig,  daBs  neben  den  Schnlbehürden  berathendft 
Körperschaften,  Sclxulsynoden,  eingerichtet  werden. 
2.  Die  Sehn  Isy  HO  den  Betzen  sich  zusammen  «os  freigewfthlten 
yertr«terB  der  Familie,  der  Eirehe  nnd  der  Lelirersehnft, 
sowie  aas  Beauftragten  der  staatlichen  nnd  oommnnalen 
Schulbehörden. 

Das  Schlusswort  der  Versannulung  sprach  der  zweite  Vorsitzende,  Ober- 
lehrer Johann  Baptist  Schubert,  Augsburg,  Kedacteui-  des  „Pädagogischen 
Arehiva*.  Mit  einem  Hoch  anf  den  Kaiser  nnd  die  dente^Mn  Bindeefttrsten 
lehloBs  der  Vm.  detteehe  Lehrertag. 

Nachmittags  4  Uhr  fand  am  Grabe  Diesterwegs  eine  Gedächtnisfefar 
statt,  bei  der  Sladtschnljnspector  Berthold,  Berlin,  die  Weiherede  liielt. 


Hein  UrtheU  tbor  den  YUL  Dentadien  Lehrertag? 
Derselbe  ist  in  groflon- Stile  verlanfen;  er  hat  bei  allen  Anwesenden  sicher 
einen  t^naltigen  Eindruck  hervoifenfen  und  hat  sich  zndon  die  Boaehtimg 

der  gesammten  gebildeten  Bevölkerung  des  Deutschen  Reiches  zu  erwerben  ver- 
standen, wie  die  politische  Presse  es  hinreichend  bewiesen  hat.  Seine  Ver- 
handlongsgegenstände  wareu  iu  erster  Liiiie  zeitgemäß.  Und  das  ist  für  große 
allgemeine  Lehrerrenaafflilnngen  die  Hinptbedingnng ,  ja,  die  Begrttndnng 
ihrer  Daseinsberechtigung.  Eine  längst  anerkannte*  Foldernng  der  pädagogi- 
schen Wissenschaft  sollte  bei  solchen  Versammlungen  nur  nebenbei  gestreift, 
nicht  aber  an  liervorragenden  Platz  zur  eingehenden,  wenn  auch  noch  so  geist- 
reichen und  von  Belesenheit  zeugenden  Erörterung  gestellt  werden.  Versamm- 
longstage  dieser  Art  sind  gleichsam'  Awühialeheii  In  der  Entwickelungs- 
gesohichte  des  Schul-  und  Lehrerweeens.  Wer  auf  diese  sehen  geteanehten 
Zeichen  stdßt,  boII  nicht  erst  nachzugrübeln  brauchen,  wamm Sie getetit  wurden. 
Worüber  hunderte  von  Fialen  abgehandelt  worden  ist,  was  nur  eines  erneuten 
Hinweises  auf  noch  nachdrücklichere  Bethätigung  eines  >vichtigen  Grundsatzes 
bedarf:  das  mag  an  kleine  Versamoüuugen  zur  Behandlung  verwiesen  oder  auf 
grolen  aUetbUehateiui  in  letite  Beilie  gerfteirt  werden,  lUla  nichts  Wicfatigena 
mehr  zu  eriedigea  ttbrig  blieb.  Wir  treten  mit  den  allgemeinen  Massenver- 
sammlnngen  au.%  dem  stillen  Wirkungskreise  unseres  Amtes  vor  die  breiteste 
()fifentlichkeit;  wir  wollen  von  dieser  gehört,  beachtet  werden.  Da  müssoii  wir 
denn  doch  auch  etwas  zu  sagen  haben,  das  allgemeine  Beachtung  erheischt, 
verdient,  das  aneh  andere  als  Ftehkrelae  auf  unsere- Bestrebungen  anflnerksam 
zu  maehen  geeignet  ist.  Wenn  dereinst  fOr  den  Lehrerstand  alles  dasjenige 
'  erreicht  ist,  um  das  wir  jetzt  zu  kämpfen  haben,  wenn  also  das  goldene  Zett- 
alter der  Schule  anc:ohrorh<  n  ist,  dann  allenfalls  können  wir  uns  zusammen- 
finden, um  uns  an  einem  formvollendeten  Vortrag  über  Grundforderungen  der 
Pädagogik  im  Kreise  von  Schulmännern  aus  allen  Gauen  des  weiten  Vater- 
hmdei  an  erbaneu.  Wer  aber  in  der  einen  Hand  die  Edle,  in  der  anderen 
daa  Schwert  zu  führen  gezwungen  ist,  der  versündigt  sich,  wenn  er  eine  Er- 
bauungsstunde abhält,  während  er  zum  Kampfe  rufen  sollte.  Ich  verkenne 
keineswegs,  dass  bei  der  Forderung  der  Zeit^emäßheit  und  Dringlichkeit  von 
Verhandlungsgegenständen  eine  gründliche  und  formvollendete  Behandlung  durch 
den  Vortragenden  nur  aohwer  sn  «Reichen  sein  wird.  Der  ZohOror  gelangt 
darum  sehr  oft  nicht  zu  dem  angenehmen  GeflUd  satter  Befdedigung;  es  scheint 

MSBOfiai'  lS.J«]na.  Htfl  Z.  47 


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—   662  — 


ihm  hier  und  da  noch  an  Tiefe  der  Begründung  zu  mangeln;  er  glaubt  nicht 
Bieber  zu  sein,  da8s  das  Gesagte  sich  gegen  etwaige  Einwürfe  widerstandsftlhig 
.  erweisen  werde;  er  kann  Zweifel  an  die  Müglichkeit  der  Verwirklichung  des 
Gefinderten  nidit  gliisUflli  imterdrttckttii.  WMe  d«r  Bedner  oft  betretene 
Fußpfade  windeln  können;  wire  ihm  die  Möglichkeit  gelten,  sich  auf  die 
Schultern  von  Vordermännern  zu  schwingen;  hätte  er  seine  Ansichten  durch 
jahrzehntelanges  Studium  allseitig  erwogen,  würde  er  alsdann  eine  schon  auf 
der  Schulbank  und  ßpiiterliiu  bei  seinen  Zuhörern  oft  angeschlagene  Saite  nur 
•nft  nene  hu  Sdiwingungen  zn  Mtnn  nSthig  haben:  er  wflrde  um  Lobredner 
ob  seines  anqgeMiehneten  Vortragee  nicht  Teriegen  sn  werden  braoehen,  wih- 
rend  ihm  jetzt  sicher  der  Tadler  weit,  weit  mehr  erwachsen  werden.  Zeit- 
fragen sind  Streitfragen;  manche  erweisen  sich  zudem  als  nnnöthigerweise 
gestellt.  Was  Wunder,  wenn  sich  darum  um  jede  Zeitfrage  ein  lebhafter  Streit 
der  Heiniingen  erhebt!  Aber  ein  ehrlicher  Streit  wirkt  dalBr  anch  wie  ein 
Gewitter;  wiefa  er  bat  reinigende  Kraft 

Das  Gesagte  nunmehr  angewandt  auf  den  Berliner  Lehrertag,  so  darf  es 
gar  nicht  wunder  nehmen,  wenn  derselbe  manchen  seiner  Theilnehmer  keine 
volle  Befriedigung  hat  gewähren  können,  wenn  er  so  vielen  Widerspruch  her- 
vorgerufen hat.  Mag  man  aber  auch  immerhin  —  ich  greife  zwei  Verhand- 
InngsgegenstBndfi  boaiu  —  ClannitBen  Bede  als  niebt  erschöpfend  genng 
benrtbeüen;  mag  man  Greaslers  erwirkten  Besdünss  mit  einem  edribien  Rahmen 
ohne  Bild  darin  vergleichen:  in  beiden  Angelegenheiten  soll  auch  das  endgiltige 
Wort  noch  nicht  gesprochen  sein.  Jetzt  ist's  an  der  Lehrerschaft,  die  Sache 
weiter  zu  prüfen  und  der  Verwirküchong  oder  der  Verwerfung  —  je  nachdem  — 
entgegenzufuhren. 

Einen-groBen  Erfolg  hat  der  Lehrertag  aneb  dadnrdi  emngen,  dass  er 
▼erstanden  hat,  allseitige  Aufhierksamkeit  auf  sich  zu  lenken.   Mögen  sie  anf 

gewisser  Seite  anch  ein  wüstes  Gezet«r  über  die  bösen  Schulmeister  anheben, 
es  wäre  schlimm,  sehr  schlimm  um  unseren  Stand  bestellt,  wenn  uns  von  dort- 
her Lobpsalter  gesungen  würden.  Auf  jeden  Fall  aber  ist's  vortheiihafter, 
dass  anf  eine  Sadie  gescholtm  wird,  denn  dass  man  sie  gSnalich  todtsehweigt. 
Wol  dem  Lehiertag,  dais  er  sieh  Feinde  sebnf !  Denn: 


So  oft  von  der  ganzen  Linie  der  schwarzen  nnd  reactionären  Gilde  neues 
Geseter  über  Dittes*  Bede  an  mein  Ohr  eehllgt,  wül's  mir  seheinen,  ab  habe 


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dieser  böse  „Österreicher-  der  deutschen  Lehrerschaft  Pftng-sten  1890  doch 
einen  großen  Dienst  erwiesen.  Leider  sind  wir  aber  noch  nicht  allerseits  so 
erstarkt,  dass  wir  der  großen  Zielpunkte  wegen  über  Sachen,  die  uns  selber, 
wwie  hier  und  d»  aneh  udan  nnaiigeiielim  berUhren,  IciolrteB  Henent  hlnwig^ 
■tMlieil  vermSchteiL  Dthin  aber  müssen  wir  um  unserer  selbst  willen  erst 
gelangen,  dass  wir  unseren  Vorkämpfern  nicht  die  Zwangsjacke  des  Ver- 
schweigens  solcher  Ansichten,  die  den  unsrigen  schnurstracks  zuwiderlaufen, 
anlegen  wollen.  Heute  freilich  sind  wir  in  der  Vorurtheilslosigkeit  noch  nicht 
M  wdt  vorgeschritten.  Und  die  iet  bot  m  natllriieh.  Steeken  iHr  doch  noeh 
in  den  Eindenehahen  dee  Verefaisweeeni»  eo  deee  wir  taoeendeiiei  Blh^iiehteii 
haben  obwalten  zu  lassen.  Da  müssen  wir  denn  unsere  Wortfdhrer  scbtni 
bitten,  nach  dem  Paiilitüsclien  Recept  mit  uns  zu  verfahren:  „liilch  habe  ich 
each  zu  trinken  gegeben,  denn  ihr  konntet  noch  nicht. 

So  groikirtig  nun  diese  Berliner  Versammlung  in  der  Qeeanuntwirkung 
Mcfa  verlanfen  ist,  so  «ngemtttUich,  vnbeha^h  wird  sieh  der  EünselnA  uf 
denelben  gefdhlt  hahen.  Ich  besuche  seit  1877  die  groSeii  Iiehferrenmiai- 
lungen,  bin  also  daran  gewöhnt,  mich  unter  großen  Massen  zu  bewegen.  Aber 
in  Berlin  verlor  man  sich  ja  fast  selber  in  dieser  ungeheuren  Menschenmenge. 
Man  gelangte  zu  keinem  ruhigen  Augenblicke;  man  fand  keine  ungestörte  Ge- 
legenheit snm  gemttthliehen  Aosspieehen  mit  idten  Freunden;  wen  man  einmal 
aas  den  Angen  verloren  hatte,  der  war  onwiederbringUch  nntergetaacht  in  der 
Flut  der  wogenden  Menge;  wen  man  anwesend  wnsste  und  nun  finden  wollte, 
den  suchte  man  ebenso  vergeblich  wie  eine  Stecknadel  in  einem  Fuder  Heu. 

Ich  habe  von  Berlin,  persönlich  statt  sachlich  gesprochen,  nur  das  eine 
befriedigende  Bewusstsein  heimgenommen,  eine  der  vielen  Einsen  gewesen  zu 
sein,  welche  in  der  Geeammtsahl  so  großartige  Wirirnng  hervorg«nibn  haben; 
denn  nirgends  mehr  als  im  öffentlichen  Leben  gilt  das  Wort  Goethe's: 
„Die  5ra«ie  könnt  ihr  nur  durch  Masse  zwingen." 

Aber  trotz  alledem  f?eht  mein  einflussloser  Wunsch  dahin,  dass  Uber  zwei 
Jahre  der  nächste  Lehrertag  nur  höchstens  halb  so  viele  Besucher  iu  Stutt- 
gart sosammenlllhren  mSge,  als  in  Berlin  anwesend  waren. 

Dasseldorf.  Von  dem  Diensteifer  der  königlichen Begierang  «iDilasel« 
dorf  liefert  die  folgende  Verfügang  eine  Probe: 

„DUsseldort,  den  1.  Mai  1890. 
In  Ergänzung  der  Vorschriften,  welche  bezüglich  des  Unterrichtes  im 
Schönschreiben  mit  Feder  nnd  Tinte  anf  Pikier  in  den  für  die  einaelnen 
Arten  der  Volksschulen  von  uns  heramgegebenen  LehridKnen  enthalten  sind, 
bestimmen  wir  hierdurch,  was  folgt : 

1.  Der  Unterricht  im  Schönschreiben  anf  Papier  mit  Feder  und  Tinte 
beginnt  in  den  drei-  und  vierclassigen  Volksschulen  mit  dem  zweiten 
Halbjahr  des  zweiten  Schuljahres,  In  den  Scholen  mit  einem  oder 
zwei  Lehrern  jedoch  erst  mit  dem  dritten  Sehn^ahre.  Wo  ei  dla  Verhilt- 
nisse  in  den  Volksschulen  mit  einem  oder  zwei  Lehrern  gestatten,  kann 
seitens  des  zn8tändis:en  Kreisschulinspactors  angeordnet  werden,  dass  mit 
dem  Schönschreiben  auf  Papier  ein  halbes  Jahr  früher  begonnen  wird. 

2.  Einzuüben  sind  zonächst  die  kleinen  nnd  die  großen  Zeichen  der 
dentsdien  Schretbaehrlft.  Das  BriemeiL  der  latoiniachen  Sdiilft  hat  in  den.. 

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drei-  und  mehrclassigen  Schulen  mit  dem  vierten,  in  den  Schulen  mit  einem 
oder  zwei  Lehrern  mit  dem  füntten  Schuljahre  seinen  Anfang  zu  nehmen. 

8.  In  te  M-  imd  »elirdMilgw  ScÜiiiIbb  eriialteii  die  Sehllkr  ni 
Sektteriimeii  der  Obentals  der  Begel  nach  keine  besonderen  SchOnacbreibe* 
stunden  mehr.  Doch  kann,  wenn  die  Leistungen  im  Schönschreiben  hicht 
genügen,  seitens  des  Kreisschulinspectors  angeordnet  werden,  dass  eine  be- 
stinuDte  Zeit  hindurcli  wöchentlich  eine  Stunde  auf  Schönschreiben  verwendet 
wird.  Anch  iet,  wo  solches  erforderlich  encheint,  die  Obung  im  Schön- 
•direiben  mm  Oegeoetand  kaoiücher  Avtgtlbttk  m  nuaehen. 

4.  Dem  fraglichen  Unterricht  sind  tewol  anf  der  Unter-,  wie  auf  der 
Mittelstufe  wöchentlich  zwei  Stunden  zuzuweisen.  In  den  Schulen  mit  einem 
oder  zwei  L«-hrern  erhält  außerdem  die  Oberstufe  wöchentlich  noch  eine 
Stunde  Schüuschreib-Unterricht. 

6.  Sobald  die  Einttbingr  der  lateinlaehMi  SehrelbaBluift  beginnt,  lat  ab- 
weehaelnd  die  eine  Schönsclireibstunde  auf  das  „angewandte  Schreiben  der 
deutschen  Currentschrift",  die  anderen  anf  die  Erhmnnp  der  lateinisdien 
Schreibschrift,  bezw,  die  Vervollkommnung  in  derselben  zu  verwenden. 

Von  vorstehender  Anordnung  ist  den  Lehrern  und  Lehrerinnen  der 
Volksscbulen  Kenntnia  zir  Nacbachtung  zu  geben  vnd  fügen  wir  zn  dem 
Ende  ftr  jede  VoUuaclinle  je  einen  Abdmek  dieaar  Verflignnir  bei,  weLcher 
von  dem  HaupHelirer,  nachdem  dieClaaseolehrer  ond  Classenlehrerinnen  von 
der  Verfügung  Einsicht  genommen  haben,  bezw.  bei  eindaatigen  Sdiolen 
von  dem  Lehrer  zu  den  Schulacten  zu  nehmen  ist. 

Königliche  Kegierung. 
AbtheQung  ftr  Eliehenverwaltnng  and  Schul weaen. 

Y.  Teivita/' 

Trotzdem  der  preußische  Cultnsminister  erst  jnngsthin  den  Regierungen 
die  "Weisniij;:  ^ab,  nicht  zu  eingehende  VeifBgungen  über  Methodik  u.  dgl.  zu 
erlassen,  konnte  sich  die  Regierung  zu  Düsseldorf  die  obige  Verordnung  doch 
nicht  ersparen.  Die  Lehrer  im  BeairlGa  D&meldoif  aoheinen  von  Methodik 
dea  üntenriehtaa  noeh  Immer  nieht  mehr  m  Tentehen  ala  Ihn  Teiglnger,  dfe 
15 — ISjihii^pan  Lehrgehilfen,  welche  dort  bis  zum  Jahre  1874  amtirten,  da 
die  Regierung  selbst  über  den  —  Schreibuntenicht  eine  so  eing'fhende  Ver- 
fügung- erlassen  niusste,  die  aiiK  irgend  einem  ]iädagogischen  Xioilfadeu  fär  den 
SeminarunteiTicht  abgeschrieben  zu  sein  scheint.  . 


Ana  Preußen.  Die  preußische  Yolkaaehnle  in  finanzieller  Hin- 
sicht nach  den  Ergebnissen  der  letzten  Statistik.  Im  Novemberheft 
des  Pädagogiums  sind  die  inneren  und  Hußeren  Verhältnisse  der  pnMißischen 
Vollisschule  an  der  Hand  der  voijährigen  Statistik  geschildert  worden.  Da 
die  finanziellen  Yertilltniaaa  daM  nor  eine  knrse  Behandlung  erfthren  haben, 
dieae  aber  doch  ym.  hoher  Wlehtigkait  aind,  kommen  wir  anf  die  Statiatik 
noehmala  zarfick  nnd  wollen  ihre  Ergebnisse  in  finanzieller  Beaiebnng-  zn- 
sannnenstellen. 

Im  Jahre  188(3  war  nur  dit  lläHU'  der  Lehrerstellen  mit  Schul  vermögen 
ausgestattet.  Unter  den  ö4  750  Stellen  für  vollbeschäftigte  Lehrkräfte  gab 
ea  82583,  zn  deren  Dotation  Schal-  nnd  StiftnngaTermOgen  yorhaaden  war. 
Die         deaaelben  konnte  nieht  ermittelt  werden.   Dagegen  lied  aich  aein 


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—  606  — 

ErttÄfttOgUchatgenaa  featatelleii.  Erbeziffertesich  im  ganzen  auf  7 323  641  Mk., 
wovoü  Äüf  die  Städte  nur  883480  Mk.,  anf  das  platte  Land  aber  6440161  Mk. 
entfielen.  Im  Vergleiche  zu  den  Gesamintkosteu  der  öffentlichen  Volksschulen 
ist  det  Ertrag  des  Sohnlvermögens  nicht  erheblich.  Derselbe  deckte  im 
gwietf  Hbr  0^28%  «nttrai,  «tf  dMn  LMde  aU«rdiii«i  9,74<^/o,  in  den 
Stftdten  dagegen  nur  1,75  ^^/q.  Ber  größte  Theil  des  Schalvermögens  besteht 
in  dei*  Landdotation.  Solche  war  für  1936  städtische  und  25966  länd- 
liche Lehrerstellen  vorhanden  und  betrug  ihr  Flächeninhalt  72244  ha,  wovon 
69619  ha  auf  das  platte  Luid  entfielen.  Der  Gesauuutertrag  derselben  wurde 
Mf  8740507  Kk.  bendmet 

Die  Getammtkosten  der  öffentlichen  yolknohiüen  in  Prenftm 
bezifferten  sich  1886  auf  116  615  648  Mk.,  wovon  auf  das  platte  Land 
66  134  918  Mk.,  auf  die  Städte  50480730  Mk.  entfielen.    Die  Statistik 
scheidet  dieselben  in  sachliche  (für  Bauten,  Feuerung,  Wohnung  etc.)  und  in 
persönliche  £oeten,  nnd  hetrogen  hiernach  die  ersteren  33  ^2%' 
teiw  64  V«  7s  ^  Oeenamtaafradiiifen.   Seit  den  Jahn  1861  elnd  die 
aachliflhen  Xoeten  des  preußischen  Volksschulwesens  stark  in  die  H5he  ge- 
orangen,  von  24*/ 4  auf  35Vo"/o,  während  die  persönlichen  Kosten  sich  ver" 
hältnismäßig  um  ebensoviel  verringert  haben,  von  75^  4  auf  64Vo"/o  der  ge' 
sammten  Schulkusten.  lu  den  Städten  des  preußischen  Staates  betragen  die 
•ncMieheii  Koeten  Mgar  eftwnt  mehr  ala  38^/«,  nad  !•  B«Un  imd  in  deii  Fro* 
▼luea  Posen  nnd  Westfalen  stiegen  lie  Iber  40^0*  Oleee  Vermehrung  ist 
hervorgerufen  durch  die  zahlreichen  Schalbauten.  Von  1874  bis  1885,  alse 
in  11  Jahren  sinil  9952  Schulhäuser  erneuert  und  6685  erweitert,  mithin 
die  volle  Hälfte  der  1886  vorhandenen  Schulgebäude  erneuert  oier  vergrößert 
worden.    In  den  Jahren  1874  bis  1881  erforderten  die  preußischen  Volks- 
nehnllMMiteii  darduKhBittUeh  ftber  14V«  l^OiMeiiMk.,  ntad  Ton  1883  bto  1885 
Steigerfee  äidl  diese  jährliche  Ausgabe  sogar  auf  18  837000  Mk.   Die  größten 
Kosten  verursachten  in  den  letzten  Jahren  die  Schalbanten  in  Rheinland  und 
Westfalen,  nämlich  3^'.2  und  2  Millionen  Mk.  pro  .lahr.  Dann  folgen  die  Pro- 
vinzen Schlesien  mit  1,8,  Sachsen  mit  1,5,  Berlin  mit  1,4  und  Hannover  mit 
1,3  lOlIion.    Am  weiiig«feen  worde  fdr  SehiIhMteB  ausgegeben  in  Ponmem 
nnd  Weitprenflen,  769000  Mk.  bezw.  7840X  Mk.,  ivfthrend  fBr  Ostpreußen 
die  Aufwendung  nahezu  eine  Million  betrag.  —  Den  welthilB  größten  Theil  der 
Volksschnlbankosten  trugen  die  Gemeinden,  nämlich  von  den  18 V4  erforder- 
lichen Millionen  lö'/^  Millionen  Mk.    Die  staatlichen  Aufwendungen  fdr 
Schalbanten  waren  verhältnismäßig  unbedeutend.   Sie  beliefen  sich  von 
1871  hie  1881  dnrehsohnittiieh  anf  ca.  400000  Mk.,  in  den  letaten  Jahren  aaf 
750000  Mk.    Nur  für  die  zurückgebliebenen  polnischen  Landestheile  wurden 
besondere  staatliehe  Aufwendungen  ni&thig,  1886  bie  1837  allein  swei  Mil- 
lionen Mk. 

Von  den  75245144  Mk.  persönlichen  Kosten  der  öffentlichen  Volks- 
•ohnleii  waiw^  26826S9  Mk.  Aafireodugen  ftr  Hilfilehrer  nnd  Hilfe- 
lehrerinnen.' Letatere  sind  ganz  überwiegend  Handarbeiti-  eler  Indiitri^ 
lehrerinnen,  erstere  Hilfskr.lfte  für  den  technischen  and  den  Religionsunterricht. 
Im  Dorchschnitt  erforderte  eine  Hilfslehrkraft  7 1  Mk.  Ferner  rechnet  die  Statistik 
m  dea  persönlichen  Kosten  die  Leistungen  fUr  die  Lehrerwitwen-  und 
Waisencassen,  sowie  die  Bnhegehalte  für  emeritirte  Lehrkräfte. 


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—  666 


Die  ereteren  bezifferten  sich  auf  779059  Mk.  oder  dnrohsclinittlich  für  eine 
Lehrerstelle  auf  13,45  Mk,  Diese  AuBgaben  haben  sicli  nach  Aufnahme  der 
Statistik  um  ca.  1  228  000  11k.  erhöht,  da  der  Staat  inzwischen  die  von  den 
LehrefB  enttkbteiteD  'Belictenbeitrfige  ttbernomineii  hat  über  die  Zahl  der 
Yorhuideneii  Lehrerwitwen  und  -waisen  nacht  daa  Tabellenwerk  kebe  An- 
gaben. Indessen  ist  bekannt,  dass  jede  "Witwe  resp.  die  Waisen  eines  Volks- 
schnllehrers  250  Mk.  Jahrespenaion  erhalten,  gleichviel  ob  eine  Waise  oder 
mehrere  vorhanden  sind. 

Die  Ausgaben  für  die  pensionirten^Lehrkräfte  betragen  2869154  Mk. 
Diese  worden  an  3928  emeritirte  Lehrer  nnd  an  288  emeritirte  Lehrerinnen 
gezahlt.  Durchschnittlich  stellte  sich  die  Pension  für  einen  Lehrer  in  den 
Städten  auf  1062  Mk,,  auf  dem  Lande  auf  508  Mk..  für  eine  Lehrerin  in  den 
Stlidten  auf  563  Mk.,  auf  dorn  Lande  auf  456  Mk,  Leider  macht  die  Statistik 
keine  Angaben  über  das  Dienstalter,  das  diese  enieritirten  Lehrkräfte  zurück- 
gelegt haboi.  Eine  Ermittdnng  ans  ftrfiheren  Jahren  ergab,  daes  Hut  20% 
aller  Volkf  eohnlleifarer  mehr  als  dO  Dienstjahre  hinter  sieh  hatten  nnd  dass  bei 
diesen  das  durchschnittlleha  Dienstalter  38,3  Jahre  betrug.  Man  wird  daher 
nicht  zu  liooh  p^reifen,  wenn  man  für  die  obigen  4211  Lehrkräfte  im  Durch- 
schnitte Jt'  8(1  Dienstjahre  annimmt.  Und  bei  einer  solchen  Dienstzeit  er- 
scheinen die  berechneten  Pensionsbetrfige  außerordentlich  niedrig.  Sie 
sind  kavm  ansreiehend  für  den  Unteihalt  einer  Person,  geschweige  denn  eines 
alten,  oft  kränklichen  Ehepaares.  —  Nun  bleiben  abnr  die  Lebrerpensionen  in 
manohon  Bezirken  nocli  beträclitlich  hinter  den  angegebenen  Dnrchschnitts- 
gätzen  zurück.  Die  85  emeritirten  Landlehrer  "im  Kegiernngsbeziikp  Danzig 
bezogen  im  Durchschnitt  je  489  Mk.,  die  144  im  Bezirke  Marieuwerder  je 
487  Uk.  ind  mt  9  Eaeriten  in  den  StSdten  des  letateren  «ntflden  nur  je 
650  Vk.  Wie  kirgUeh  die  Pension  in  banohen  lUlen  bemessen  war,  das 
mögen  folgende  Beispide  ans  den  Kreistshell«!  der  Statistik  darlegen.  Ib. 
Stedten  angestellt  gewesene  Lehreremoriten  erhielten  an  "Ruhegehalt:  je  einer 
im  Kreise  Marienburg  45t)  Mk..  Thorn  403  Mk,,  Flatow  20t)  Mk.,  Deutsch- 
Krone  298  Mk.,  Preußisch-Eylau  256  Mk.,  TUsit  300  Mk.,  Znin  251  Mk., 
Liegnite  180  Xk.,  Springe  (Hannover)  75  Mk.  nnd  Halle  225  Hk.,  sowie  ehe- 
malige Landlelirer  in  den  Kreisen  Lissa  310  Mk.,  Wongrowitz  288  Mk.,  Kro- 
toschin  ]  ()2  Mk,,  Zellerfeld  230  Mk.,  Harburg  260  Mk.  nnd  Lfidingbaosen 
(Westfalen)  150  Mk. 

}iun  wollen  wir  nicht  unerwähnt  lassen,  da^s  diese  niedrigen  Pensions- 
sfttze  meistens  ans  der  2ett  stammen,  da  man  bei  Abmessung  der  Pension  noch 
Btcksicht  anf  daa  FiiTatTermSgen  der  Lehrer  nahm  nnd  a«^  danadi  forschte, 
ob  etwa  in  gnten  VermOgensverbSltnissen  lebende  Kinder  den  Emeriten  unter- 
stützen könnten.  Denn  von  den  bei  Aufnahme  der  Statistik  vorhandenen  8928 
pensionirten  Lehrern  waren  nur  88t),  die  anf  Grund  des  neuen  l^en&ionsgesetzes 
vom  6.  Juli  1885  ihr  Buhegehalt  bezogen.  Jetzt  dürften  sich  die  Pensions- 
▼whlltnine  der  y«dksschnllefarer  schon  vielfiidi  gebessert  haben.  Aber  jene 
Zahlen  sprechen  sehr  deutlich.  Man  erwilge:  Am  I.April  1886  tiut  das  neue 
Pensionsgesetz  in  Kraft  und  bis  zum  20.  Mai  desselben  Jahres  (dem  Tage  der 
Aufnahme  der  Statistik),  also  in  1'-',  Monaten,  ließen  sich  schon  88*)  Lehrer 
pensioniren.  Dies  lässt  erkennen,  mit  welcher  Sehnsucht  die  altersschwachen 
Lehrw  das  Bncheinen  des  PouioDsgeseties  ei  wartet  halben.   Es  ist  bekannt» 


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—  667  — 


da»  anoh  nach  dem  20.  Ifai  1886  noch  zahlreiche  Pensioiuningen  unter  den 
VolkaBchnllehrem  erM^ten  —  der  Minister  fühlte  sich  Tttulaaib»  denaelben 

dnrch  eine  besondere  Verfögnng  an  die  Regierungen  Einhalt  zu.  gebieten  — , 
nnd  wird  die  Zahl  der  Emeriten  heate  erheblich  größer  sein  als  1886.  Da- 
mals entfiel  durchschnittlich  im  ganzen  Staate  auf  lö  active  Lehrer  ein  Emerit, 
in  den  Städten  erst  auf  19,  auf  dem  Lande  schon  auf  13  im  Amte  stehende 
Lehrer. 

Besfiglich  der  Aufbringung  der  Bnhegehalte  fhr  die  emerittrteil 
Lehrer  besteht  zwischen  Stadt  und  Land  ein  großer  Unterschied.  In  den 
StÄdten  liegt  die  Fürsorge  für  die  pensionirten  Lehrer  vorwiegend  den  Ge- 
meinden ob.  Sie  trugen  06,8  ^'/o  der  Pensionen,  während  auf  dem  Lande 
die  Sohnl9odetftten  nur  31,17«  aufbrachten.  Dementsprechend  beziffer- 
ioi  lieh  die  StaAtsznachtLsBe  sa  den  Bnhegehlltem  auf  dem  Lande  auf  61, 
in  den  Städten  nur  auf  31%.  Ein  TheU  der  Pensionen,  5,27"  ;,,  auf  den  . 
Lande  sogar  1,7^/^,  wurde  dnrch  Abgabe  der  Dienstnachfolger  vom 
Gehalte  beschafft.  Es  ist  nämlich  auch  nach  dem  nenen  Pensionsgesetze 
zulAssig,  dass  bei  Peusionirungen  das  Einkommen  der  Lehrerstelle  zur  Deckung 
der  Penaioii  bis  auf  denlffaiimaliatz  gektbrzt  wird.  Dies  ge8dialiüi616FS]leii, 
laeistens  auf  dem  Lande,  und  wurde  dabei  das  Einkommen  der  Dienst- 
nachfoiger  im  ganzen  um  151263 Mk^  dnrohsehnittlieh  nm24öllk. 
vermindert. 

Wir  kommen  nuiuuehr  zu  den  persönlichen  Volksschulkosten  im  engeren 
Shuie:  dem  Diensteinkonmeii  der  TollbeschftftigtenLehrkrftfte.  Daa- 
aelbe  betrog  fOr  die  64760  veiliandenen  Stelleii  65686716  Ifk.  Daven 

entfielen  auf  die  57  902  Lehrer  59  404  613  Mk.  nnd  auf  die  6848  Lehrerinnen 
6182102  Mk.  Außerdem  bezogen  22  657  Lehrer  (39%  der  Gesamratzahl) 
und  930  Lehrerinnen  (13**/o)  persönliche  oder  staatliche  Dienstaltcrszulagen 
im  Gesammtbetrage  von  3  487  587  Mk.  Mit  diesen  bezilferte  sich  das  Dienst- 
einkommen der  ToUbeaehSfligten  Lehrkrilte  wt  69074802  Mk.  und  madite 
dasselbe  583 ^  gesummten  Volksschnlkosten  und  91,7%  der  persönlichen 
Aufwendungen  aus.  Ohne  freie  Wohnung  und  Feuerung,  aber  mit  Hinzurechnung 
der  persönlichen  und  staatlichen  Dienstalterszulagen  ergab  sich  188()  für  einen 
Lehrer  1084,  für  eine  Lelirerin  914  Mk.  durchschnittliches  Einkommen.  Wie 
aiek  daaielbe  ia  frOkereB  Jabien  fSr  die  YelkMoliiillelirer  geatalteto,  darüber 
maeht  die  Denktehiift  snr  Statistik  auf  Gnuid  Uterer'Eiliebnngen  interci'iaate 
Angaben.  Bs  betrug  das  dnrehachnlttUehe  Stelleneinkommen  im  preofiiseheB 
Staatei 

1820:        1861:         1871:         1878:  11886: 

A.  In  den  Stftdten:  638  Mk.    846  Mk.    1042  Mk.    1414  Mk.    1279  Mk. 

B.  Auf  dem*  Lande:  258  ,  648  ,  678  „  964  »  964  „ 
Die  dürftigen  GdiUter  der  inrenßischen  VolksKchnllehrer  haben  rieh  also  stetig, 
wenn  auch  langsam,  gehoben,  bis  die  siebzig^er  .Jahre  mit  ihrer  liberalen  Re- 
gierung und  dem  Lehrerfreunde  Dr.  Falk  an  der  Spitze  des  Unteirichts- 
ministeriums  einen  plötzlichen  Aufschwung  brachten.  Durch  diesen  erhöhte 
sich  das  durchschnittliche  Oehalt  der  städtischen  Lehrer  um  S72  Mk.  oder 
86<>/o,  das  der  llndUehen  am  276  Mk.  oder  41«/^  Li  der  Zelt  von  1878 
bis  1886  dagegen  ist  ein  bedeutender  Rückgang  in  der  Besoldung  der  Volka* 
KdmUebier  eingetreten.   Das  Dnichschnittsgehalt  der  städtischen  Lehrer  iit 


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I 


—  6Ö8  — 


in  allen,  das  der  ländlichen  in  mehreren  Provinien ,  zorückgegangeni  was 
lUgonde  Übenloht  zeigt.   Es  betrag  dag  DncbachaitliKvIialt: 


• 

In  den 

Städten 

 — 

A 

af  dem  Lande 

gegen 

WWW 

In  den  ProTinsen 

* 

1878 

1886 

j  AO  iO 

1886 

wenii^er 

1878 

gegen 
1878 

Mk. 

Mk. 

Mk. 

Mk 

1  Mk. 

Mk. 

MIR 

OfetpiratBen  

1164 

1062 

102 

1  845 

■ — ■ — • — 

a37 

—  8 

WestorenBen  

gtadtlieiB  Bedin   .  .  . 

1150 

991 

\-,'.) 

830 

806 

—  84 

1998 

1675 

323 

1144 

196 

1  979 

+  18 

1423 

1211 

212 

885 

883 

2 

1121 

1027 

94  i 

i  863 

850 

-  18 

1866 

1848 

118 

1  901 

913 

1845 

113« 

207  i 

1033 

1054 

1861 

1260 

101  1 

1079  , 

1044 

—  36 

Blieinland  

1448 

1865 

78 

1064  1 

1048 

—  15 

Hohcnzollem  

1119 

1096 

23 

822 

845 

-f  23  • 

ächleswig-Holsteia  .   .  . 

1329 

1321 

8 

1066 

1107 

h 

Hannover  •  .  . 

1414 

1189 

886 

905 

914 

Heaeen-NaiBMi  .... 

1608 

1878 

235 

936 

909 

-  87 

lim  gaami  Staate  .  .  . 

1414 

1279  1 

136      II  954 

964 

Demnach  Ut  ftr  die  Landstellen  dasDnrchBeluiittsgehalt  iwar  auf  der  gleidien 

Höhe  geblieben.  Eis  hat  sich  aber  doch  in  der  Hälfte  der  Provinzen  vermin- 
dert, was  nur  durch  mäßige  Verbessern no:en  in  den  anderen  Provinzen  aus- 
geglichen wird.  Die  Verechlechterung  beträgt  in  Westfalen  37^%,  inWest- 
jurenßen  37o>  bedeutender  ist  der  BUckgang  in  der  Lehrerbeeoldong  in 
StAdten  alUr  ProTinsen.  Er  eneiolit  in  Berlin  die  Hohe  von  16,2  ^/q^ 
mm  namentlich  durch  die  AlwHIl^ng  von  Lehrerinnen  erzeugt  ist  Dann 
folg'en  die  Provinzen  Hannover  mit  16,  Sachsen  mit  15,4,  Pommern  mit  15, 
Brandenburg  und  Hessen-Nassau  mit  je  14,6,  Westpreußen  mit  14,  Ostpreulien 
Bit  9,  Posen  mit  8,4,  Schlesien  mit  8,3,  Westfalen  mit  7,5  und  Bbeinland 
mit  5,4  o/o. 

Dieaer  Büokgaog  d«r  Lelinrgehälter  ist  mu  in  dnen  Theile  der  Presse 

bestritten  worden.  Uad  beliaDptet,  die  Zahlen  von  1878  seien  nicht  mit  denen 
von  1 886  vergleichbar,  weil  bei  den  damaligen  Ermittelnngen  die  Mittelfcholen 
mit  zu  den  Volksschulen  gezählt  worden  sind.  Das  ist  jedoch  eine  leere  Aus- 
jwde.  Die  Denkschrift  zur  Statistik  bietet  nämlich  zweierlei  Tabellen.  In 
der  Obersicht  Nr.  24  anf  Seite  09  sind  die  OorobsoltnittsiilllBnt  -der  CkMltsr 
für  Volks-  nnd  liittelschnUelner  angegeben,  während  Tabelle  40  und  41 
(Seite  84,  86  und  87)  sich  nur  auf  die  Gehälter  der  Volksschullehrer  erstrecken. 
Und  den  letzteren  sind  die  obigen  Angaben  entnommen.  Zudem  wird  in  der 
Denkschrift,  die  namentlich  aUes  hervorhebt,  was  das  Schulwesen  in  günstigem 
Lfclite  enelMiiieiL  Uwt,  nirgends  der  Verrooli  gtnacht,  jene  ZaUsn  m  ter- 
schleiem  oder  alisosdiwftcliea.  Der  Rückgang  der  VoUcssehnllehrergehllter 
ist  damit  stillschweigend  zugegeben.  Unter  welchen  Umständen  derselbe  ef- 
folgte,  das  ae^  aioe  aeaerdings  von  der  «PreoAischan  Lehrerzeitnng"  v^r* 


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~  669  — 


öffentlichte  BeiBpielsammInng  aas  den  verschiedensten  Landestlieilen.  Danach 
scheint  der  Höhepunkt  der  Abbesseriingen  um  das  Jahr  1880  zu  liegren,  doch 
sind  sie  viell'ach  auch  später,  sogar  nach  1886  ert'olgt.  Welche  bedeutenden 
Yerinitd  die  Lehrenehtft  dabei  erfUmn  hMt,  seift  fblgeodeübenldit  ttber  das 


Lehrereinkommen  in  den  Städten  1878  und  1886. 


Am 

uU 

Vermeh- 

1  Oesammtsteilea  •  Bin- 

1 

dar 

Tungbezw. 

kommen  (einschl.  per- ' 

Vermfhriincf  oder 

«  roTIIlaOD 

Vermin- 

süuliche and  Dienst- 

Vermiodenmgder 

Stelteii 

derung  dei 

altanralacen) 

{  anfgewendflien 

Stellfln 

Sunome  am 

1 

1878 

1886 

vm 

1878 
Mk. 

1886 
11k. 

Mk. 

Ofltpreutoi  ... 

789 

782 

7 

1  918646 

1  *  881680 

-  87066 

^estprentoi    .  . 

675 

76ä 

f-  87 

I     77C 101» 

754  748 

21  361 

Berlin  

1567 

2664 

-  1097 

1  3130619 

4  461418 

+  1 330  799 

Bnadnbaig.  .  . 

1777 

188^ 

- 

-  61 

2379808 

2108089 

—  878174 

Pominen  .... 

1216 

1232 

.  16 

1  730  088 

1  491  372 

-    238  716 

Posen  

1  983 

1036 

53 

1101796 

1063831 

37  965 

flAlMtoi  ....  1 

2040 

2450 

.  410 

1  2766383 

3  046147 

-f    278  765 

Sachsen    .   ,   ,  . 

2009 

2253 

_  244 

2  697  056 

2  564  264 

-    132  802 

Westfalen    .  .  . 

1295 

17371 

_   442  1 

1  1  748  925 

2171714 

h    422  819 

Rheinland  ... 

3093 

418^ 

- 

.  1090 

!  4  463  331 

5  709  361 

-  1246080 

Hohenzollern 

23 

28! 

5 

25  720 

.  30676 
4  2*K)729| 

4  956 

Schleswig-Holstein,  l 

758 

977 

-  219 

1007  700 

-    283  0211 

HiMeTOf .  .  .  .  1 

1034 

1291 

-  257 

1462  318 

15345831 

1  - 

-      72  265 

BeiMD-Xasgau  .  .  i 

1040 

11S6, 

-  146 

1672  438  i 

1  ^'27  851) 

44  f)H-i 

Staat         ul»2i)9j22418Si  -f  ^120  i| 

2ÖÖ80330I 

28  680339, 

-f  3  399  809 

Aus  diesen  Zahlen  ergibt  sich  folgendes:  von  Ostpreußen  abgesehen  ist  die 
Zahl  der  städtischen  Lehrer  in  der  Zeit  von  1878  bis  1886  in  allen  Pro- 
vinzen gestiegen.  Trotzdem  ist  das  Gesammteinkommen  in  sieben  Provinzen 
herontergegangen,  und  zwar  zusammen  um  838  854  Mk.  Die  preußische  Unter- 
ilelitaTerwaltiiBg  hal  in  den  SOdten  dtaMrPminsen  (Ostpreni^n,  WestprenBeo, 
PoBen,Pomnieni,Bnadenbiifig,  Saduen  andHenen-NaaMn)  sniammea  600 LelirOT 
neu  angestellt  nnd  trotzdem  volle  838  854  Mk.  zurückgezogen,  während 
nach  dem  Durchschnittsgehalte  von  1878  zur  Eirichtung  dieser  Stellen  eine 
Neuaufwendung  von  848  400  Mk.  erforderlich  gewesen  wäre.  In 
den  anderen  Provinzen:  Schlesien,  Westfalen,  Rheinland,  Schleswig -Holstein 
imd  Baonover,  towie  in  Berlin  und  HoitauBoUern  worden  die  LehrenteUen  an 
VoUcsBchuIen  um  3520  vermehrt  Nach  dem  GehaltsdurchieiUlitte  TOn  1878 
hätten  dieselben  eine  Mehrausgabe  von  4  977  280  Mk.  verursachen  müssen. 
Sie  betrug  aber  nur  4  238  663  Mk..  und  trat  also  eine  Gehaltsvermin- 
derang  von  738  617  Mk.  ein.  Im  ganzen  Staate  wären  für  die  4120  neu- 
gesdiafrenen  Stellen  erlinderUdi  gewesen  4120  X 1414  Mk.  =  5825680  Mk. 
Statt  denen  lind  melireingeatelH  3  899 809 Mk.  Mithin  haben  die  stftdti- 
teilen  Lehrer  einen  Gehaltsverlust  von  2425871  Mk.  zu  beklagen. 

Die  Gehälter  der  ländlichen  Volksschullehrer  sind,  wie  bereits  erwUhnt, 
nur  in  den  Provinzen  Ostpreußen,  Westpreußen,  Pommern,  Posen,  Westfalen, 
Rheinland  nnd  Hessen-Nassau  zurückgegangen.  Die  dortigen  Gehaltsverlaste 
wdait  die  Ünlfinde  Tabelle  naeh. 


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—  670  — 

Lehrereinkommen  anf  dem  Lande  1878  und  1886. 


- 

Provinsen 

• 

.                    _  _ 

der 
Stellen 

1878  f  1886 

1  Ver- 
1  mehiong 

der 
Stellen 

um 

— .  

GesammtstcUen  -  Ein- 
konimon  leinsihl.  i)er- 
sünJicher  und  Diuust- 
altertncnlagen, 

1878     j  1886 

Mk.        '  Mk. 

1 

! 

V  criii"iirui|K 

j  der 

OmiuDO  UDl 

Hk. 

Ostprenllen  .  .  . 

mi 

3633 

236 

2  869  928 

3041 6&5 

171  633 

Westprenßen    .  .  < 

•2()74 

2327 

263 

1  1  721  356 

1  876  236 

154  880 

FMamem  .  .  .  .  ; 

2046 

27Ö6 

11(3 

1  2  341  (ÜIC. 

2  4H2  638 

91  542 

Posen 

a)47 

2245 

198 

1  765  568 

1  iNj7  939 

142  371 

Westfalen.   .   .  . 

2r)rii ) 

3211 

661 

2  752  1 18 

:?  352  320 

liOO  202 

'Rheinland  .... 

■  S52 

642(1 

568 

6  L'2:!  760 

6      1  .".76 

.-.Hl  sk; 

1 6-J 

.:'7  1  J 

1  / 

-    ■  :i  1 

Zluammen  ( 

299Mj 

1    2188  i 

1994&Ü76| 

217001801 

1  7ÖÖ104 

Li  den  genannten  Provinzen  wnrden  von  1878  bis  1886  im  ganzen  2188 
L«hrkrftfte  auf  dem  Lande  nea  aDgeBtellt  Nach  dMiiDiireliMliiilttsgiehalte  von 

1878  hätten  för  dieselben  2188x954  Mk.  =  2087  352  Mk.  Gehalt  ab- 
geworfen werden  müssen.  Das  Stelleneinkommen  der  lllndlichen  Lehrer  in 
jenen  sieben  Provinzen  vennehrte  sich  aber  nur  um  1  Tön  104  Mk..  und  trat 
deumach  eine  Gehaltsvermindernng  von  zusammen  332  248  Mk.  ein. 

Nach  diesen  Amfflhmngen  beziffert  ddi  der  GFchaltsrQckgang  der 
Vblksschnllehrer  in  Stadt  und  Land  zuaammen  auf  2  758119  Mk. 

Die  ang-eführten  Durchschnittszahlen  geben  von  den  Gehältera  derVolka- 
schuUelirer  ein  nicht  genügend  anschanliclies  Bild;  denn  sie  werden  von  den 
verhältnismäßig  hohen  Dirigentengehälteru  vielfach  beeinflusst,  deren  Inhaber 
BW  mm  kleinsten  Thefle  dem  VollaBdinUehrerstande  angehlfiran.  Bs  Ist  dahor 
sehr  dankenswert,  daas  die  Statistik  anch  spedelle  Übersichten  darttber  bietet» 
wie  vieleLehrer  auf  den  ei nz einen Gehaltsstnfen  stehen.  Ans  diesen 
Tabellen  theilen  wir  folgendes  mit: 

1.  Von  18322  städtischen  Lehrern  hatten: 

A.  Ohne»  £.  Mit 

Alterszulagen 

ein  Gehalt  bis   750  Mk.    1814  Lehrer  =  10,0  "/o    1780  Lelirer  =  9,8% 
„    900  «     4925    „     =  23,5  „  2996 
,  1200  n     9280    ,     =60»7»  8560 
flberllMX)        5084    „     =  27»4  ,  5672 

2.  Von  39580  Landlehrern  bezogen: 

A.  Ohne»  B.  Kit 

Alterssalagen 

ein  Gelialt  bis  ÜUÜ  Mk.    2924Lehrer=    7,4«/o    2844  Lehrer  =    7,1 7o 


» 


ff 
II 


=  16,3 
=46»?, 
=  30,9, 


ff 
ff 
ff 
ff 


=  32,0  „  8852  „  =  22,3  „ 

=  66,4  „  18611  ,  =  47,0  „ 

=  82,6  ,  28246  ,  =  71.1  „ 

=  8,9  ,  Ö908  „  =  14,9  „ 

In  Stadt  nnd  Land  hatten  (mii  Altennilagen)  1^^%  d«r  Voikischnl- 


9 
ff 
ff 

n 


»  7Ö0 
ff  900 
„  1050 
ttberl200 


» 
» 

n 
ff 


12577 
26267 

32G83 
3516 


n 
ff 
ff 
ff 


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—   671  — 


lehrer  ein  Einkommen  bis  750  Mk.,  39  "/o  ein  solches  bis  900  Mk.  und  73 '^/^ 
ein  Gehalt  bis  1200  Mk.  Ein  volles  Sechstel,  auf  dorn  Lande  fast  ein  Viertel 
der  Lehrer  lebt  also  bei  einem  Gehalte,  das  den  Betrag  von  750  Mk.  nicht 
oder  nur  eben  erreicht  and  mehr  als  sieben  Zehntel  genie^n  nicht  ein  Unter» 
beamtengehalt  Ym  1200  Mk.  TTnter  soIdieB  Umflindeii  tot  es  kflin  Wandere 
dAM  tieb  die  prenfitochen  LdumbUdugsanttalten  trots  aller  Locknife  mid 
Matal  nicht  fUloi  widlen. 


Ans  Sachsen.  Vor  kurzem  erschien  der  vom  königlichen  Ministerium 
des  Cnltut  und  öffentUohen  ünteniehtes  mittele  Bekaimtmachnng  vom  5.  No- 
Tember  1878  vertMhntliebte  und  Twn  Geheimen  Sefaolnlh  F.  W.  Koekel  mit 

erlluitemden  Anmerkungen  und  Sachregister  herausgegebene  Lehrplan  fflr 
den  Unterricht  in  einfachen  Volksschnlen  in  5.,  durchgesehener  und 
erweiterter  Anflage.  Wenn  einerseits  anerkannt  werden  mnss.  dass  der  Ver- 
fasser in  den  „ Anmerkungen seiner  Schrift  auf  „die  gutachtlichen  Berichte 
der  Bediknehnlingpectcren  dee  Landee*  (auf  Chrnnd  deren  yorlieefender  Lehr- 
plan anfgeatellt  worden  iat)  nnd  auf  die  nTomebmlich  inländische  8dinlTer> 
hftltnisse  behandelnden  methodischen  Schriften  mehrerer  Bezirksschulinspectoren* 
Bezug  nimmt,  om  die  im  Lehrplane  getroffenen  Bestimmungen  zu  begründen 
und  zu  erläutern,  so  darf  anderseits  nicht  verschwiegen  werden,  dass  erstens  nur 
Schriften  y<m  Bezirkfischolinspectoren,  nicht  aber  Bolcbe  anderer  bedeutender 
•IdiaiadierSehnlmanner  Berikdcdehtignnf  geflmdm  haben*),  nnd  daes  sweltens 
die  jenen  Schriften  entnommenen  Bemerkungen  auch  bei  ganz  und  gar  zuwider- 
laufenden Ansichten  fast  durchgehends  ohne  jede  Kritik  nebeneinandergestellt 
worden  sind.  Weiter  mnss  es  jedem  denkenden  Leser  auffallen .  dass  von  den 
den  Lehrern  zur  Vorbereitung  oder  als  Lehrmittel  empfohleneu  24  Werken 
9  von  Bedrkaaehnlinepeetoren  Terfaest  nnd  1 4  in  demeelben  Verlage  er- 
schienen  sind,  dessen  Eigenthnm  der  erschienene  Lehrplan  tat. 
Nur  4  Bücher  werden  empfohlen,  die  weder  einen  Bezirkssclinlinspector  znm 
Verfasser,  noch  Alwin  Huhle  in  Dresden  zum  Verleger  haben.  Und  dabei  er- 
laubt sich  ein  gewisser  A.  P.  seiner  in  Nr.  24  der  „Säcbs.  Schulzeitung ent- 
haltenen Besprechung  den  Sats  dunAgen:  „Aneh  der  Hlnweia  auf  einaelne 
dar  neueren  Sehnl-  und  Hilihbfieher  ist  recht  willkommen.*^ 


Ans  dem  Großherznpthnm  Baden.  Die  von  uns  früher  schon  er- 
wähnte „  Einheit ssclmle '•  in  Karlsruhe  wird,  wenn  sich  keine  unvorher- 
gesehenen HindenÜBse  erheben,  bereits  im  Herbste  dieses  Jahres  ins  Leben 
treten.  Der  Oberschnlrath  hat,  nachdem  einige  Vorsehlige  ▼on  demselben, 
welche  aber  die  von  Professor  Trentlein  anllseBteilten  Grundzflge  in  ihrem 
Wepen  nicht  berühren,  vom  Stadtrathe  angenommen  wurden,  nichts  gegen  die 
Griindnn^'^  der  zeitgemäßen  Schule  einzuwenden,  —  Eine  weitere  erfrenliche 
Thatsache  können  wir  aus  Karlsruhe  melden.  Der  Stadtrath  daselbst  ist  dem 
Beispiele  der  Mannheimer  StadthehSrde  gefolgt  nnd  hat  die  Besolduigen  der 
definltiT  angestellten  Lehrer  der  Volkssehnle  in  seitgeoAfter  Weise  so  erhOht» 
dass  der  Anüuigsgehalt  2000  Hark,  der  Hdchstgehalt  3200  Ifalk  fortan  be- 

*■  Ein*  Aiibnahme^iiuuhen  die  vom  Scbuldixector  Ueier  in  Zwickau  verOlTent- 
lichten  „Lehrgäuge". 


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—  672  — 

trägt.    Vom  12.  Dienstjahre  *  an  tritt  nach  je  zwei  Jahren  eine  Zulage  von 
100  Mark  ein,  so  dass  der  Höchstgehalt  nach  35  Dienstjahren,  vom  Serainar- 
auBtritt  an  gerechnet,  erreicht  wird.  —  Lehrerinnen,  welche  eine  defini- 
tiv« Amtellaiiflr  «riangt  babco,  6r1iaUi«ii  Ifis  m  12  Dicomahrw  1600  llwk 
nnd  nach  je  drei  Jahren  eine  Znlage  von  100  Hark  his  zum  H&chatgehalt  von 
1800  Mark.  —  Für  provisorisch  angestellte  Lehrkräfte  gelten  die  Sätze 
1050,  llnO  lind  1200  Mark.  —  Die  Vertreter  der  Sodalderaokratie  in  der 
Stadtverordnetenverstttauulung  traten  sehr  lebliaft  für  Erhöhung  des  Anfang»- 
gflhallM  dar  LefaMrlnaeii  di.  Hiii  IwaiiaiBC«  ist  Aanohai  dnlt,  daM 
die  LehrerimieD  thdlweiie  in  kumr  Zelt,  inürif»  Huer  Verlieiretimirf 
dem  Dienste  träten  nnd  eoUte  Bum  deneelben  doch  vor  Uirem  Abgange  einen 
größeren  Bezog  zuweisen;  andere  verzichteten  „ans  Liebe  zu  ihrem  Bernfp" 
auf  die  Versorgung  darch  Heirat  und  sollten  dafür  auch  Anerkennung  linden. 
(Sehr  eigenthümlich!  Die  Schale  ist  doch  keine  Ausstattongs*  und  einstweilige 
VenorgongeeaBtett!   D.  B.)    Dem  Antngüeller  wnrde  von  Bürgenneirter 
Schnetzler  XL  a.  bedeutet,  daae  ein  Gehaltsbezug  von  1500  Mark  für  eine 
einzelne  Dame  wol  mehr  zn  bedeuten  habe,  als  3000  Mark  für  eine  ganze 
Lehrersfamilie;  dieSiitze  seien  vollst.lndig  gerecht fertig-t;  ferner  glaubt  Redner, 
deas  jede  heiratsfähige  Lehrehn   eine   ihr   zusagende  \'erheiratang  dem 
Wetterwirkea  In  ihren  Bemfe  voniehA.  (OieErf&hmng  beeMtigt  dieae  Worte 
vIclftwiL  D.  E.)  Endlieh  bemerkte  Bflfgermciiter  SelmetBler,  daae  die  Leh- 
rerinnen mit  ihren  Besoldnngen  zufrieden  seien,  womit  diese  Sache  erledigt 
war.  —  Von  berechtigterem  Interesse  waren  die  Wünsche  der  Socialdemokraten 
bei  Berathung  des  „ Cxemeinde Voranschlages".   Sie  wünschten  den  Posten 
für  „AnStands-  und  Tanzanterricht  in  der  höheren  Mädchenschule^'  gestrichen 
nnd  veriaagten  den  WegMl  dar  Atotarfbagen  der  veraohiedenen  VolkaBoiinlen 
und  Verschmelzung  in  eine  einheitliche  Volksschule,  wie  sie  in  Mannlieim 
bestehe,  damit  nicht  die  Kinder  der  Armen  gegenüber  denen  der  Reichen  zu- 
rückgesetzt erschienen.    Diese  Wünsche,  respective  Antrüge  erlangten  nicht 
die  Minorität.  —  Tiiatsächlich  ist  die  Gliederung  der  Karlsruher  Volksschule 
an  maanigftdCig;  aie  aarfiUit  in  eine  dnMie,  in  eine  erweiterte^  IneineBOrger- 
nnd  TSehtendiäe.  —  Anßer  dieaen  Volkaaelinlea  beatehen  noch  Voraohnlen, 
Seminarschnlen,  eine  höhere  Bürger-,  eine  Beatoehnle«  ein  Eealgymnasinm,  ein 
Lyceum  und  mehrere  Institute  zur  Auswahl  fflr  die  Eltern.    Wir  kennen  die 
vielgestaltige  Gliederung  der  Karlsruher  Volksschule  aus  pädagogischen  Grün- 
den auch  nicht  gutheißen.  —  Der  freisinnige  Stadtverordnete  Dieber  trat  gegen 
einen  aehr  bedeoldiehen,  an  die  erate  Beaetionaperlode  (1850)  erinnenidea 
Panna  der  aogenannten  „Grundziige"  der  Gehaltsordnung  auf.    Im  §  9  helBt 
es  nämlich,  dass  die  von  der  Stadt  gegebenen  Zuschüsse  widerruflich  und  von 
befriedigender  Dienstleistung  und  würdigem  anßerdienstliclien  Verhalten  des 
Betreffenden  abhängig  seien.    Unter  „würdigem  außerdienstlichen  Verhalten*' 
fciSane,  ao  IBbfte  derBedner  aaa,  gar  laUht  aneh  die  politiacheOealnnung  einen 
Lehren  ventanden  werden,  nnd  da  aei  der  Strieh  des  betreffenden  Paaaoa  daa 
beate  Mittel  der  Verhinderung  aoldhen  Vorkommnisses.  Trotzdmn  deh  Bürger- 
meister Schnetzler  gewaltig  gegen  eine  derartige  Insinuation  verwahrte,  hielt 
der  freisinnige  Vertreter  seinen  Antrag  aufrecht,  der  jedoch  von  der  national- 
liberalen Majorität  der  Stadtverordneten  abgelehnt  wurde.    Die  „  Grundzüge " 
gelangten  lohliefilich  rar  einstimmigen  Annahme.  —  Daae  der  freisinnige  Stadt* 


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—  673  — 


verordnete  Dieber  von  Karlsrnhe  nicht  zu  scliwarz  g-eeehen,  dürfte  jedem  ein- 
leachten,  der  unsere  Zeit  versteht,  in  der  selbst  das  Unmögliche  möglich  ist. 
Der  Hinweis,  dass  im  „Beamtengesetz"  und  in  der  ,,6ebalt8ardniuig''  der 
Stedt  Mannheim  eine  Hut  gletcUantende  Bestünmong  «atiMten  mI,  beweiit 
nichts;  gerade  in  Mannheim  hätte  man,  wenn  man  einen  fast  bestimmt  auf- 
tretenden Gorüclite  Glauben  beimessen  kann,  erfahren  können,  dass  der  Ober- 
schnlrath  schon  von  diesor  Bestimiunng-,  djp  erst  seit  Neujahr  dieses  Jahres  in 
Kraft  ist,  Gebrauch  gemacht  und  ihr  sogar  eine  „rückwirkende  Kraft"* 
gegeben  haben  aoIL  Der  Obersehnlraäi  habe  nlnlieh,  so  lastet  das  Gerdeht) 
Henn  Dr.  Kenser,  der  tot  JatareMi  wegen  einer  FreanAdie  gemaßregelt» 
vom  Oroßherzoge  aber  reactivirt  nnd  dessen  Dienstentlassung  in  einen  Vervveis 
verwandelt  worden  ist,  nachträglich  um  einige  Jahre  im  Avancement  zurück- 
versetzt. Wir  bemerken  nochmals  ausdrücklich,  dass  das  Vorstehende  in  der 
Form  eines  fast  bestimmt  auftretenden  G^erüchtes  im  ganzen  Lande  bekannt 
itt  nnd  flberall  mit  ünmvth  empAmden  wird.  Wir  behalten  na  vor,  vns  hier- 
über authentische  Gewissheit  zu  verschaffen,  und  werden  nicht  ermangeln,  diese 
dem  „Ppedagogiuni"  sofort  zu  melden.  In  dem  eben  erw.'llmten  Falle  handelt 
es  sich  nm  eine  doppelte  Bestrafung,  die  um  so  interessanter  und  beweis- 
schwerer ist,  als  dadurch  ein  sogenannter  Gnadenerlass  eines  Landesfürsten  durch 
eine  von  Ihm  eingesetite  nnd  abliftngige  Behörde  nach  ihiem  eigenen  ErmeiBeii 
interpretirt  wird.  —  Unserer  Ansicht  nnd  der  Anrieht  ÜMt  almmlilieher  Übenden 
Lehrer  der  Residenzstadt  nach  hfttte  der  (Ugenacdiwere  I^Mns  ans  der  Oe> 
haltsordnung  gestriclien  werden  sollen. 

Über  ein  weiteres  erfreuliches  „Zeichen  der  Zeit"  können  wir  aus  Frei- 
bnrg  im  Breisgau  berichten.  An  der  dortigen,  in  der  Blüte  stehenden  Uni- 
veraitSt  Ueet  Privatdocent  Dr.  Münsterberg  über  Oesehichte  der  Pädagogik. 
Im  Wintersemester  beabsichtigt  genannter  Herr  über  allgemeine  und  specielle 
Pitdagogik  zu  lesen.  AVii  freuen  uns  dieser  Thatsacbe  nnd  sprechen  Herrn 
Dr.  Münsterberg,  der  vorerst  12  Hörer  —  darunter  2  Lehrer  —  hat,  unsere 
Anerkennung  dafür  ans,  dass  er  einer  mehr  als  stiefmütterlich  behandelten 
Wiaaensehaft  anf  den  dentaehen  üniytfsititeD  sn  ihrem  Bedite  m  Tcrhelftn 
Hand  ans  Werk  legt  Wir  wünschen  ihm  reichen  Brfldg. 

Interessant  ist  auch  die  aas  reactionären  Kreisen  stammende,  in  der  ersten 
badischen  Kammer  erörterte  Frage  über  die  Aufhebung  einer  der  drei 
Hochschulen  Badens.  Geheimrath  Dr.  v.  Holst-Freiburg  bemerkte  in  der 
ersten  Kammer  mit  Recht,  da^s  sich  niemand  in  Baden  (mit  Ansnahme  der 
reaedonären  Dnniceiminner.  D.  'B.)  nnd  ftberiNrapt  In  der  dvilirirten  Welt 
des  Westens  finden  werde,  der  dieser  Sache  das  Wort  reden  könne.  Er  möchte, 
so  bemerkte  Redner  am  Sclilusse  seiner  Austülu  nngen,  den  Wunsch  äußern, 
dass  für  die  Zukunft  diese  Frage  nicht  wieder  in  der  Art.  wie  es  geschehen, 
zur  Sprache  komme.  Aus  der  Rede  des  genannten  Herrn  Abgeordneten  er- 
wlhnen  wir  noch,  dass  Ton  112  ordentlichen  ProÜBiaoren  an  den  UniTersltateD 
27  mit  weniger  ab  4000  nnd  11  mit  weniger  als  3000  Hark  angestellt  seien. 
Wenn  man  das  oben-  Ende  der  Gehaltsscala  dieser  Professoren  betrachte,  so 
finde  man  10,  die  8(KtO  Mark  nnd  mehr  beziehen.  In  keinem  anderen  Theile 
der  Staatsangestellten-Kategorie,  bei  denen  nicht,  wie  bei  dieser  Angestellten- 
Kategorie,  Rang  und  Pflichten  anf  gleichen  Stufen  stünden,  sei  ein  derartig 
grokr  Unterschied  in  den  Besügen  sn  constatiren.  Er  bitte  die  Begiening 


r 

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« 


—  674  — 


einen  Mittelweg  zu  sucheo,  nach  welchem,  vielleicht  nach  dem  Dienstalter,  ein 
Minimal,  und  Uazimalgebalt  festgesetst  wwde.  Wir  flndea  diese  Bitte  lehr 
{«rechtfertigt  nnd  halten  eine  AUgenein«  BrhShnng  der  FMHanörengeiialte 

geradSzn  fiir  geboten,  wenn  mit  der  Zeit  nicht  unsere  Universitäten  dnrdi  den 
bisherigen  Besoldungsmodus  der  Professoren  geschädigt  werden  sollen. 

Ans  den  Kammerverhandlangen  berichten  wir  femer,  dass  die  Petition 
der  VolksBchnll ehrer  um  Gleichstellung  ihrer  Bezüge  mit  deigenigen  Be- 
amten, mit  denen  aie  in  Besag  anf  Vorbildnng  nnd  Stellung  ebenbttrtig  eraehtet 
werden  können,  fdr  den  nächsten  Landtag  zurückgelegt  worden  ist.  Einst- 
weilen speiste  man  die  Petenten  mit  schönen  Worten  und  Versprechungen  ab 
und  überwies  die  allseitig  wolgefällig  aufgenommene  Petition  empfehlend  der 
Begiernng.  Wir  nehmen  au,  dass  diesmal  es  den  Herren  Abgeordneten  UAd 
der  Begiernng  emit  mit  dem  Venf  roelienen  iat  lud  dieeelbea  aneh  ihr  Ver- 
apreohen  einUtaen  werden,  wenn  binnen  zwei  Jaliren,  nach  welcher  Zeit  der 
Landtag  wieder  zusammentritt,  nicht  ein  Krieg  ausbricht  oder  ein  neues  Ge- 
wehr eingeführt  werden  muss.  Bei  der  Berathung  des  Beamtengesetzes  ging 
es  rascher;  es  wurde  damads  mit  „ Dampf kraft^  gearbeitet.  „Warum?  Darum, 
aagte  aeinerzeit  ein  bodiacheaSclralblatt  oftmals.  Ebenso  rasch  ging  es  in  dieaer 
Landtagiperlode,  als  es  galt,  20000  Hark  für  die  proteetantiKhen  Geistlichen 
zu  genehmigen,  trotzdem  ein  protestantischer  Geistlicher  jetzt  schon  nach 
2 --3  Dienstjahren  einen  Gehalt  bezieht,  <l"!i  -in  I.ehrer  nach  40 — 50  Dienst- 
jahren nicht  erhält.  Betrachtet  man  dagegen  die  Arbeit  eines  Laudpfarrers 
mit  der  eines  Landlehi-ei's,  so  muss  man  wol  sagen;  „Das  Pferd,  das  den  Hafer 
▼erdient  ete.** 

Endlich  erwähnen  wir  noch  ans  unserem  Landtage,  dass  die  Ultramontanen 
fUr  Abschaffung  des  achten  Schuljahres  der  Mädchen  plädirten,  aber  keinen 
Erfolg  damit  hatten.  Dass  diesen  Herren  jegliche  Volksbildung  verhasst  ist, 
die  nicht  von  Rom  ans  sanctionirt  wird,  ist  selbstverständlich)  denn  „Nacht 
wm  ea  sein,  wo  Friedlanda  Sterne  strahlen*.  ^  Zum  Schinne  onserea  heutigen 
Befbratea  theUen  wir  noch  mit,  dasa  last  Zeitaagsootizen  von  den  Mannheimer 
Lehrern  in  Mannheim  ein  Dieaterwerg-Verein  gegründet  worden  ist,  der 
die  Weiterbildung,  Förderung  der  modernen  Schule  und  Wahrung  der  Stundes- 
interessen zum  Zwecke  hat.  Die  Gründung  solcher  Vereine  thut  allenthalben 
noth,  um  den  reactionären  Gelüsteu  und  vaterlandsloseu  Bestrebuugeu  schul- 
nnd  lehrerfBlndlioher  Blemente  belaeiten  wirksam  an  begegnen.  —  Wie  wir 
dem  ofBoiellen  Berichte  über  eine  der  letzten  Stadtrathssitznngen  zn  Mann- 
heim entnehmen,  hat  sich  der  dorti^^c  Stadtrath  bereit  erklärt,  die  „29.  Allge- 
meine Deutsche  Lelirerversammluiig  "  in  Mannheim  Pfingsten  1891  auf- 
zonehmeu.    Möge  dieselbe  der  1863  dortselbst  abgehaiteneu  äimlich  werden  1 


Ana  der  Faehpreaae. 

823.  Geographisches  (Schlesische  Schulzeitung  1890,  11).  Sobald 
die  Karte  in  den  Mittelpunkt  des  Unterrichtes  tritt,  sind  fdr  die  Kinder  in  der 
Regel  die  Himmelsrichtungen  nur  noch  auf  der  Karte  vorhanden.  Weitere 
Folge:  Länder  u.  s.  w.  nur  bunte  Flecke,  Striche,  l'unkte  auf  dem  l'apier. 
Zeigenlaaien  der  Biehtnng,  naeh  weleher  ein  genaantea  Ol||ect  liegt,  das  geeig- 
n^ate  Hittd,  die  Kinder  davon  zn  flberzeogen,  dass  die  Lftnder  und  Städte 
nifllit  nnr  anf  die  Karte  gemalt  aind,  aendem  daaa  aie  wirklidb  eziatiren. 


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—  676  — 


324.  Über  die  Bedeutung  der  Wandkarte  im  g-eo^rapliischon 
Unterricht  (K.  A.  Schmidt,  Zeitschrift  für  das  Kealschulwesen,  1S90,  IV). 
2Sa  sdoluwii,  Mfem  Zeit  Toriiaiidaii:  a)  eüiftdie  SUsnn  to&  Objecten,  wddw 
auf  der  Wandkarte  nicht  groß  nnd  deutlich  genug  hervortreten  (Deltabüdmigi 
Fjorde),  h)  am  Schlüsse  der  ünteirichtsstunde  eine  schematische  Skizze  des 
durchgenommenen  Stoffes  von  der  üand  des  Schülers.  (Die  Hauptsache  bleibt 
die  Wandkarte  selbst  —  worüber  alle  hervorragenden  Schalmänner  einig  sind.) 

325.  Einiges  ans  dem  Leben  nnd  Wirken  dei  Dr.  Friedr.  Otto 
(0.  Krilgel,  DeatMshe  Sdrals.  1890,  8—10).  Otto's  VesdkiiBte  als  Sehnk 
mann  überhaupt,  um  die  Bürgersehöle  zu  Hühlhausen  (Thüringen)  und  den 
deutschen  Unterricht  im  besonderen;  seine  Geistesschärfe,  sein  vorbildlicher 
Charakter.  —  Dem  Verfasser  (Schüler  Ötto's)  gebürt  Dank,  dass  er  besonders 
die  jüngere  Lehrerschait  an  einen  unserer  besten  Schulmänner  erinnert.  (Wenig* 
stenB  Otto*8  gelBt-  QndfgemftÜiToille  SdirifteB  Uber  die  Spraehbfldnngr  soUten 
fort  und  fort  studirt  werden  —  und  wäre  es  nur  um  des  Genusses  willen.) 

326.  Über  Herbert  Spencers  Pädagogik  (K.  Wehnnann,  Frankf. 
Schulz.  1890,  2.  3).  Jede  Erziehung  will  Spencer  nur  nach  dem  Maße  be- 
urtbeilt  wissen,  in  welchem  sie  den  Erfordernissen  zu  den  fünf  Lebensthätig- 
katten  genügt,  becw.  so  BUIb  kommt.  Letsteie  aind  (in  Sbnt  JEtangordnuug 
anilgefBhrt)  solebe,  welche  direet  cor  SeUateiiialtaat  dienen — die  noth wendigen 
BedttrikilMe  zu  befHedigen  trachten  —  die  Nachkommenschaft  zu  erziehen  be* 
zwecken  —  die  socialen  und  politischen  Verliiiltnisse  aufrechterhalten  wollen 

—  zur  Erholung  dienen  und  die  Mußestuiidcn  ausfüllen.  Beim  Durchschnitts- 
menschen können  nicht  alle  gleichmäßig,  sollen  aber  die  ersten  am  stärksten 
augebüdet  werden.  Für  Auaübnng  aller  fünf  Thltigkeiten  ist  die  ezacte 
Wissenschaft  die  nothwendigste;  deshalb  hat  sie  unter  allen  .EenntniBMn  den 
höchsten  Wert.    (I.  Capitel  der  Spencerschen  „Edncation".) 

327.  Das  Familienrecht  an  der  öffentlichen  Erziehung  (J.  Trüper, 
Oentscbe  Blätter  1890,  16—20).  „Ein  kritischer  Überblick  über  die  Fort- 
entwi<Mang  des  Fanllteiq^indp«  In  der  SdinlTaftsBangstheoiie  der  neueren 
FIdagogik.*  —  EntnUediBa  YerMer  des  FamiHwiprinclpee  naoh  Peitaloaai: 
Diaaterweg,  DSrpfeld,  Stoy.  Stoy  und  Dörpfeld  ergänzen  sich  („Encyklepddie* 

—  „Die  freie  Schulgemeinde").  —  Dadurch,  dass  dem  Familienprincip  inner- 
halb der  Schulverfassung  zu  seinem  Rechte  verhelfen  wird,  soll  auch  der  Lehrer- 
stand am  besten  erreichen,  was  ihm  an  Freiheit,  Besoldung,  Ansehen,  socialer 
Geltang  gegenwärtig  noch  vorenthalten  wird. 

328.  Über  Lehren  und  Lernen  (W.  Jütting,  Päd.  Zeit  1890,  15). 
Die  sprachgescliichtlichc  Entwickelung  beider  Begriffe,  ihre  ältesten  cultur- 
geschichtlichen  Beziehungen,  die  in  ihnen  liegenden  Fingerzeige  für  die  Päda- 
gogik. Letztere  entspringen  aus  der  Grundbedeutung:  auf  die  Spur,  ins  Ohleis, 
anf  den  reditm  Weg  bringen  —  gebraaht  werden  (in  der  Erwartung,  dass  der 
Lehriing  MÜMm  Heister  Folge  leirte,  gehorolie,  im  gewieaenen  Gdeia^  aof  ge- 
bahntem, zum  gewünschten  Ziele  führendem  Wege  nnbeirrt  fortwandle:  erat 
geführt,  dann  allein,  aelbstständig.)*) 

*)  Der  erste  Yertnch,  a«  der  spiacUicheBBntwiekelung  pädagogischer  Grund- 
begriffe etwelchen  rJewinn  für  die  Einsicht  des  Erziehres  lierauszuschlagen,  ist  in 
unserer  Fachpresse  vom  Berichterstatter  bereits  1888  veiOlfentUcht  woiden.  (VgL 
DeatMslie  »itter  1888,  4.) 

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—   676  — 


329.  Fußpfade  im  Gebiete  der  Erziehungskunde  (W.  Walter, 
Päd.  Zeit.  1890,  19).  V.  Hinein  and  heraas.  —  „Arbeite  dich  mühsam 
in  doi  Stoff  fejndii  und  «rbeite  SA  dann  mthtam  wieder  boraosl  Dns  Uin^t 
sehr  konstlm  und  sehr  trottlos  und  wol  auch  ein  wenig  —  geistlos.  Nun  — 
versuche  es  nur,  und  dn  wirst  sehen,  dass  du  all  deinen  Scharfsinn  und  deinen 
Witz  zasammennehmen  musst.  Aber  trostlos,  ja  recht  trostlos  ist  die  Arbeit 
zuweilen."  —  Kritik  der  Lehrbach-  and  Leitfadenfabricafcion.  —  Und  wenn 
anch  dM  Mnsterkhitaäi  (mit  einer  voUitftndigen  Sammhing  von  UntendchtB- 
Torbüdem)  eradiieneD  ftrt^  wird  „der  Lehrer  jenes  mtUttaiBea  Hisein-nnd-herans 
nicht  TOHig  ledig.  In  jede  nena  Classe,  in  jeden  neuen  Schfiler  mnss  er  seine 
Seele  versenken;  nicht  damit  sie  versinke,  sondern  auf  dass  sie  mit  klarem 
Bewusstsein  des  in  den  Tiefen  Geschaaten,  und  zugleich  verjüngt  und  gestählt, 
sich  wieder  emporringe.  Und  alle  die  großen,  guten*,  schönen  Schöpfungen 
erlauekter  Geister  moM  der  Enieher  danshwaadam,  zuweilen  anf  nodh  reeht 
nnbetretenen  Fußpfaden  in  der  Hoffnung,  da«  ar  larttdduhre  und  heraas- 
trete  mit  etlichen  Kleinoden  für  die  Schatzkammer  seiner  hehren  Königin  - 
SSO.  Zur  Reform  des  Lehrplans  der  Primarschule  (J.  M.  Gaader, 
Schweiz.  Blätter  f.  erz.  ünt  1889/90,  5.  7).  Verfasser  schüeßt:  „Das  Volk 
verlangt  Eeligion,  Lesen,  Sobnlben,  "Rftclww«.  Und  wir  postoUran:  ReUgions- 
nnd  Geilnnnngnintanieht,  und  aie  unterstfitaend  Schanplataknnde  (statt  ,Geo- 
graphie')  und  Oesang  —  Lesen  und  Bereicherung  des  Gedankenkreises  dnrch 
das  Lesen  —  Aufsatz,  und  ihn  untei-stützend  Grammatik  und  Schönschreiben 
—  Berechnung,  und  sie  unterstützend  Arbeitskunde  (statt  .Naturkunde*  — 
,Vertraatheit  mit  der  menschlichen  Arbeit,  mit  den  Mitteln  und  iuilften, 
watehe  flrdemd  oder  hanmand  aaf  Jane  einwirken'),  Zatehnaa  und  BaadArtig^ 
keitsunterricht." 

331.  Über  Schulausflnpo  und  Schulreifen  (R.  F.,  Schweiz.  Schul- 
archiv 1890,  V).  Ein  anmuthig  geschriebener  Aufsatz,  der  besonders  z:Nvpier- 
lei  betont:  wie  bei  einem  kürzeren  Gange  Longengymnastik  getrieben  werden 
kann  (beim  langiamen  OeiieB)  and  wie  (bei  Oeleganlielt  grOlarar  Anaflilga) 
ein  narfcar  "Wink  dai  Lehrers  genflgt,  die  Kinder  n  bewegen,  „anf  die  liab- 
liehste  "Weise  sodalistische  Theorie  in  die  Praxis  umzusetzen"  (indem  Kinder 
-  Wolhabender  ihren  armen  Mitschülern*)  freiwillig  von  der  Fülle  ihre.s  Pro- 
viants mittheilen,  für  sie  die  Fahrkosten  bestareiten.  Verf.  hat  in  dieser  Be- 
ziehung sehr  Erfreulich^  erlebt.) 

882.  Hanaanfgaben  oder  nicht?  (B.  Hanrieh,  Bair.  Lahrais.  1890, 
13^ — 15).  Verf.  kommt  am  Ende  seiner  sehr  gründlichen  Untersuchung  an 
dem  Urtlieil:  Unterricht  und  Erziehung  erleiden  durch  Abschaffung  der  Hans- 
aufgaben (Abbrechen  einer  bedeutsamen  Verbindung  zwischen  Schnle  und  Haus) 
eine  wesentliche  Einbuße.  Der  wachsame,  geschickte,  willensstarke  Lehrer 
walA  alle  penOnUehen  und  lanhUehen  Schwierigkeiten ,  welche  ans  dem  Er- 
thaOen  van  HansaiiflBialMa  fttr  Eltern,  Schüler  und  Ldirer  erwachsen  sollen, 
zu  Überwinden  odar  an  Tariifiten.  Folglich  aind  Haaaanfgaben  pidagogiaeh 
geboten. 

333.  über  den  Bedeutangswandel  der  Wörter  in  der  deutschen 


*)  Es  ist  hier  daran  zu  erinncra,  dass  in  der  Schweiz  die  öffentliche  Tolks- 
ichnle  eine  allgemeine  i>t^  am  und  leidi  also  beiiannien  shid. 


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—   677  — 


Sprache  nnd  seine  Berücksichtigung  in  der  VolkBSchiile  (Allg. 
Deutsche  Lchrerz.  1890,  12.  13).  Im  rnterrichte  zu  berücksichtigen  des 
Verständnisses,  der  Auschaulichkoit  wegen  (z.  B.  Leuinnnd,  Hifthorn)  —  der 
verstandesmäßigen  Aneignung  gewisser  Wurtformeu  wegen  (Damhirsch,  Her- 
lierge,  NieBbmiicb)  —  MaAi  Bsreichenuig  des  Wortschatzes  (Qaecksilber, 
Onedte»  erqnickeii)  —  behnik  Erweekanf  einM  lebendigen,  liobienSpndigefiaila 
md  des  wahren  Patriotismns.  (Des  Deattchen  Vaterland  —  patria  —  ist 
loweit  die  deutsche  Zunge  klingt.) 

334.  Die  Reform  des  neusprachliehen  Unterrichtes  (G.  Schwai'z, 
Schweiz.  Lehrerz.  1890,  5 — 7.  15— lö).  Verf.  erörtert  einlässlich  die  For- 
derongen  der  Befomer  (welehe  er  mit  ihren  Schriften  am  SoUnate  anflllhit); 
Lautlehre  gesondert  und  mit  größter  Sorgfalt  zn  behandeln,  unter  directeroder 
indirecter  Verwertung  der  Phonetik  —  Lcctüre  im  Mittelpunkt  des  Unterrichtes 
—  Grammatik  vorzugsweise  inductiv  —  schriftliche  und  mündliche  Übungen  eng 
an  die-Lectüre  anzuschließen.  —  Er  steht  auf  Seiten  der  gemäßigten  Reformer. 
SelBe  bemikiiiswertesten  Auiehtea  nnd  Vondilftge:  Lesen  erst  nach  erlang- 
tem Yentindnia  (TorBprecheii  —  übenetaen  —  lesen).  „Die  Leetüre  soll  in 
eehton,  idiomatischem  Französisch  ein  Bild  (bescheidener  Art)  französischen 
Lebens  bieten.  sp?lterhin  aach  geeignete  Abschnitte  aus  der  französischen  Ge- 
schichte und  Geographie  behandeln."  Anwendung  der  indnctiven  Methode 
leicht  bei  Behandlung  der  Declinatiou,  empfehlenswert  auch  beim  Studium  der 
^jntaac,  ichwieriir  vnA  &nfierrt  aeitnnbend  beim  Gewinnen  der  Goigngationen. 
Vennindamng  des  Lernstoffea  (ftegeln).  Yoeabeln  zuerst  im  lebendigen  Zu- 
sammenhang des  Satzes  anzuschauen;  später  groppirende  Pepetition.  Möglich 
früh  Sprechübungen  (mittels  einfacher,  leichter  Fragen  und  Antworten,  vor^ 
nehmlich  um  dem  Schüler  die  Zunge  zu  lösen.) 

335.  Daa  indnetive  Verfahren  Im  Oeographiennterriclite  (H. 
Kenfeen,  Lehieneitong  f.  Thflringen  ete.  1890»  4-— 6).  Handelt  Ton  der 
Vergleidinng  verwandter  Objecte  oder  Erscheinungen  behufs  Auffindung  all? 
gemeiner  Begriffe  oder  Gesetze,  unter  Bezugnahme  auf  Analogie  im  natur- 
wissenschaftlichen und  mathematischen  Unterricht  (zum  Theil  von  soklieu  aus- 
gehend). Die  Gesetze  soUen  alle  in  derselben  Form,  als  Bedingungssätze  aus- 
gedrfickt  werden  (VoranaBetaang  und  Behanptnng  enthalten).  Beispiel:  Ent- 
Wickelung  des  Gesetzes  über  Entstehen  und  Gedeihen  der  FlflSBe,  mit  Hilfe  T<m 
Klima-  nnd  \'egetation8karten,  welche  für  Schftleratlanten  nothwendig  sa 
wünschen  sind. 


PudaioftaB.  U.  Jilar*  Hett  X. 


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Literatur. 


ileilriell  Scherer,  Scholinspector  in  Worms  a.  Hh.,  Adolf  Diegterwegs  Päda- 
gogik. In  8y8tom;itisclier  Anordnung  nnd  asor  Einfülirnnp  in  das  Studium 
der  wissenfichaftlichen   Pädagogik  bearbeitet,     llit  Porträt  und  Facnmüe 

-    Diesterwegs.    Giei^en  1890,  Emil  Hoth.    186  8.    2  Mk. 

„Dm  Tinü«e«ite  Workchen,  bemerkt  der  Veifiunr,  will  dem  Leeer  in  der 
Hauptsache  die  pädagogischen  Ansichten  Diesterwegs  in  Hysteniatischer  An- 
ordnung und  mit  Diratenvegs  eigenen  Worten  vorl'iUucu,  iliu  iu  den  Eingangs- 
eapltdn  mit  der  Stellung  Diesterwegs  zu  der  Pädagogik  Tor  ihm  und  zu  seiner 
lind  nnscrcr  Zeit  und  im  Schlusscapitol  zu  dor  in  unserer  Zeit  besonders  sich 
entfaltenden  Horbart-Zillerschen  I'ädagügik  bekannt  machen."  Hieraus  iot  Hchon 
sn  entnehmen,  dasi  dieees  Buch  auch  für  den  gründlichsten  KeuMT  der  Werke 
IMesterwegs  keineswegs  überflüssig  ist,  indem  es  vieles  bietet,  was  iu  dm 
letzteren  theils  gar  nicht  berührt,  thcils  nur  nebenbei  angedeutet  ist.  Oeht 
man  in  das  Werk  näher  ein,  so  lernt  man  es  mehr  und  mehr  als  eine  geradem 
hervorragende  Leistung  auf  dem  (lobiete  der  jjädagogischen  Literatur  kennen 
nnd  sch&tzen.  Ein  uuiIiishcikIoh  und  gründliches  Studium  der  einschlagcuden 
Sehriften,  eine  vielseitige  schulniiinnische  Erfahrung,  ein  klares,  auf  fest  aus- 
geprägten Grundsätzen  beruhendes  Urthcil  und  eine  lebhafte  liegeisterung  für 
die  Sache  mussten  zusammenwirken,  um  dieses  Buch  möglich  zu  machen  und 
herzustellen.  Es  wird  alten  wie  jungen  Pidagogen  Belehmig  bieten  nnd 
Freude  bereiten. 

Adoli'  DiesterwegS  ansjrt  wäliltt!  Srhriften,  herausgegeben  von  Eduard  Lan- 
genberg. Vollständig  iu  2U  Lieferungen  ^  60  Pf.  oder  iu  4  Bänden  d, 
8  Mark.   Ent«  Llefenmg.   Frankftirt  n.  H.  1890,  Horits  Dieeterweg. 

Bedarf  kt  iner  Empfehliini^.    Wer  sich  ülior  diese  Austr;il«f'  iiifnrniiron  will, 
erhält  in  jeder  Buchhandlung  die  er^te  Lieferung  zur  uucntgi  ltlu  iit-n  I  •un  h.'-ii  lit. 

Edwin  Wilke,  DiesterM-eg  und  die  Lehrerbildung.  Ein  Beitrag  znr  Gcscliichte 
dea  deatschen  Volksachallehrerstandes.  Von  der  Dieiterweg- Stiftung  in 
Berlin  mit  dfln  ersten  Preise  nDsgeselehnet.  Berlin  1890,  Weidnuuin. 
144  S.  2^Hk. 

'Wilhelm  Kreitz,  Diesterweg  nnd  die  Lehrerbildung.    Eine  Geschichte  der 

deutsclien  Lehrerbildung  mit  besonderer  Berncksiohtignng  Diesterwegs. 
Von  der  Diesterweg-Stiftung  geki'önte  Preisschrift.  Mit  dem  Bildnis  Diester- 
wegs.   Wittenberg  1890,  Herros^.    131  S.    1.80  Mk. 

Im  Hinblick  auf  die  Thatsache,  dass  diese  beiden  Schriften  von  der  Diester- 

weg-Stiftung  mit  Preisen  gekrOnt  worden  aind,  mOge  die  einfaehe  Ameige 

derstilhen  genügen. 

Emst  Lllttge,  Adolf  Diesterweir  In  seiner  Bedentong  für  die  Hebmig  dee 

Volksschullehrerstandes.  Ein  Beitrag  zur  Gescliichte  der  Volksschule  des 
19.  Jahrhunderts.    Leipzig,  Siegisniund  &  Volkening.    140  S.    -  Mk. 

Einleitungs weise  gibt  dies  Buch  eine  Skizze  der  Lehrenrerli&ltuisse  bis  zum 
AnliuigB  des  19.  Jamiinnderts.  Diesterwegs  WiKkssmkdt  sdlwt  wird  dann  in 


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—   Ö79  — 


dr^i  Haii])tabschnittcn  mit  folgenden  Titeln  dai^cstellt:  1.  Dirstorwr  o;  mul  die 
VulkAScüullehrerseminare;  2.  Diestenvcg  uad  die  Biidungabestrcbuageu  des 
Volksschallehrentandes;  3.  Diesterweg  und  die  EmaneipatioiMibe8trebiiiig«ii  in 
Volksscbullfhrprstandes.  ^fan  mu88  anerkennen,  dnss  dio  canzc  Monographie 
mit  Verstüudnis  und  Sorgtalt  aufgeführt  ist  und  als  specielie  Bcleuchtang  einer 
Hanptriehtmig  der  Lebomurbeit  iHestenregs  Tolle  BenchtiiBg  verdient. 

3fax  Pohlaudt,  Diesterwegs  Verdienste  um  die  Lelirerbildung.  Eine  Jubi- 
Iftunsgabe  an  die  deutsche  Lehrertebalt  znm  29.  October  1890.  Ldpdg 

1890,  Österwitz  Nachf.    99  S.    1  Mk. 

Es  ist  natürlich,  dnss,  wenn  ein  nnd  derselbe  Gegenstand  nach  im  iranzen 
gleichen  Quellea  und  von  gleichem  (hier  meist  zustimmeudem)  Standpunkte  aus 
von  verschiedenen  Au  torailMiandelt  waA,  in  der  Hauptsache  ttbereinstinunende 
Resultate  zu  Tac:e  kommen  und  der  Leser  vielfachen  Wiederholungen  bogojrnet, 
obwol  die  Verfasser  unabhängig  von  einander  gearbeitet  haben.  Duih  tiudet 
sich  in  jeder  der  angezeigten  Schriften  manrhes  Eigcnthiimliche,  so  dass  sie 
sich  gcttenseitig  ergänzen.  Und  so  verdient  auch  die  Arbeit  von  Max  Pohlanidt 
neben  den  verwandten  Monographien  Beachtung  und  Würdigung. 

J.  LangemaDll ,  Die  Fortbildung  des  Volksschulklirers.  Ein  Wort  an  die 
freien  liehrwymine  Deotechlanda,  zugleich  ein  Beitrag  zur  Diesterweg» 

•Jubelfeier  1890.  Vortrag,  gehalten  im  Lelirerverein  für  Barmea  tand  Um- 
gegend.   Hilohenbacb,  I..  Wiegand.    38  S.    ßO  Pf. 

Eine  im  Geiste  Diesterwegs  und  sehr  anregend  abgefasste  Erörterung  über 
das  angefShrte  Thema,  deren  Kern  sehlieSlieb  in  LeltsStsen  nndAntrSgen  sn- 

s;\iiinioiigcfasst  ist.  Verfasser  mahnt  die  Lclirer  heztlglich  des  Zwrckrs  seines 
Vortrages  liauptsftchlich  zur  Selbsthille,  und  zeigte  wie  dieselbe  einzurichten 
■d.  Da  er  aelbetVolknchuUebrer  ist  und  ans  Ernnraag  spricht,  venlieiit  ada 

ifahnwort  die  Beachtung  seiner  rollcgen.  besonders  der  jüngeren,  und  CS  lei 
daher  diesen,  namentlich  auch  den  Lehrer-Vereinen  l)esten.s  empfohlen. 

L.  Hoffnieyer  und  W.  Hering;,  Erzählungen  ans  der  "Weltgescliielite.  Für 

den  Gebrauch  in  I^Iittelschulen  bearbeitet.    Ausgabe  B.    'd  Theüe.  Hun- 

nover  1890,  Helwing.    108,  140  und  168  S.   90  Pf.,  1  Ifk.  n.  1.10  Uk. 

OemU  den  „Allgemeinen  BcstimmunL!:en  für  das  preußische  Volksschnl- 
wosen  sollen  diese  pErzählun^en"  in  den  drei  oberen  Classen  der  gehobenen 
Volksschule  („Mittclächule"  i  N'erweiuluDi;  finden,  und  es  ist  kein  Zweifel,  dass 
de,  ia  drd  eonoeatiischcn  Kreisen  bearbeitet,  ihnm  Zwecke  recht  wol  ent- 
sprechen werden,  wenn  tUchtige  Lehrer  dem  gedruckten  Worte  das  leehte 
Leben  einzuhauehen  verstehen. 

a,  Kobmann  und  L.  Schilffarth,  Lehr-  und  Lesebuch  für  weibliche  Sonn- 
tags- mid  FortiiildnBgsBdiidflB.  Nttmberg  1890,  Friedr.  Xoni.  186  S. 
Preis  geb.  1.30  Hic. 

Per  Inhalt  des  Buches  ist  uuter  folgende  Überschi il'ten  geordnet:  Da.s Leben 
in  der  Familie,  die  Haushaltung,  Wohnung,  Küchi-,  Xahruugs-  und  (Jeuuss- 
mittel,  Pflege  der  Gesundheit  und  Krankeniiflege,  Pflege  nnd  Erziehung  der 
Kinder.  Wolthätiffkeit .  Kleider  und  Wästhe,  Wirtschaftslehre,  Leben  in  der 
Gemeinde,  P^iuij^es  aus  der  deutschen  lieschichtej  ein  Anhang  enthält  Briefe, 
Quittungen,  Zeu<?ni>s(>,  Schuldscheine  und  sonstige  GesohiftBBdhxiftai,  sowie 
ein  Verzeichnis  der  ^gebräuchlichsten  Fremdwörter. 

Neben  gemüthbildcn(l(  n  l,esestüeken,  den  be.sten  Schriftstellern  unserer 
Nation  enuehnt,  bringt  (ia>  r>uch,  wie  vorstehende  Übersicht  zeigt,  ein  reiches 
nnd  wertvolles  Material  zur  Belehrung  des  weiblichen  Geschlechtes  (Iber  alle 
diejenigen  Verhältnisse  und  Gegenstände,  welche  für  dasselbe  von  praktischer 
Bedeutung  sind.  Ilm  kann  also  die  Auswahl  und  Zusammenstellung  des 
Stoffes  nur  billigen;  die  Ausstattung  des  Buches  (Papier,  Druck  und  Einband) 
ist  lobenswert,  der  Preis  sehr  billig,  das  ganze  Buch  also  empfehlenswert. 


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—    680  — 


Oskar  Pache,  Schnldirector  in  Leipzig-Lindenau,  Deutsche  Fortbildangsblätter 
Nr.  1  und  2.  April  und  Mai  1890.    ^VittenbeJ■^^  Horrof,«^.    ;l  Heft  15  Pf. 
Bereits  seit  mehreren  Jahren  bestehen  in  vcrächiedenen  Ländern  (Schweiz, 
Badea,  Östmeich  ete.)  Blätter  für  Fortbildung^schUler,  und  man  kann  aidi 
nur  freuen,  dass  nun  auch  in  Norddcutschland  ein  derartiges  T'ntemehmen 
ins  Leben  getreten  ist.  Denn  jungen  Leuten  eine  gtistig  und  sittlich  bildende 
Leetüre  für  ihre  Mußestunden  sv  oieten,  ist  um  ho  vcrdieni^tlicher,  je  dringen- 
der die  Gefahr  ist,  dass  die  sogenannte  «Schund-  und  Schandliteratur"  auch 
den  im  getährlichsteu  Lebensalter  stehenden  jungen  Leuten  in  die  Hände 
falle.   Daas  Hott  Director  Fache  der  rechte  Mann  zur  Leitung  eines  solchen 
Unternehmens  ist,  bedarf  im  Hinblick  auf  seine  längst  bewährte  Tüchtigkeit 
keines  Nachweisen,  ersieht  man  übrigens  auch  aus  den  beiden  bisher  vorliegen- 
den Nummern  seiner  ^FortbildTOgsUitter".    X9ge  ihm  die  Unteisttttmiig 
seiner  Coliegen  zutheil  werden! 


Das  „Protest.  Familienblatt",  herausgegeben  von  Dr.  R.  Weitbrecht 
(Verlag  von  Karl  Clausen  in  vStnttgart)  reproducirt  folgende  zeitgemäße  Aussprüche 
des  berühmten  katholischen  'J'heologen  Döllin  erer  (iMiinchen):  „Wäre  mir,  wie  das 
in  allen  von  den  Jesuiten  geleiteten  Bildungsanstalten  zu  geschehen  pflegt,  von 
frühester  Jagend  an  der  Satz  eingeprägt  worden,  dass  ich  bereit  sein  mOsse, 
weiß  fSr  schwarz  zu  erklären,  sobald  der  Papst  qprichtt  dann  freilich  ^vHrde 
ich  es  für  mfiglich  gefunden  haben,  mich  den  Decreten  von  1870  zu  unter- 
werfen. Aber  dann  würde  ich  überhaupt  ein  ganz  anders  denkender  und  sehen- 
der Mensch  geworden  sein ;  meine  Bücher  wären  entweder  nie  oder  ganz  andera 
geschrieben  worden,  mein  ganzes  literarisches  Sinnen  und  SU'ebea  wftre  nur 
darauf  geriehtet  gewesen,  mSgUchst  gute  Belege  für  gewisse,  von  Tomhevein 
mir  ftststehende  Sitae  ansammenznsnchen  und  alles  diesen  Sätze  Widerlanfende 
20  ignoriren  oder,  wenn  dies  nicht  anging,  abzuschwächen  und  zu  verderben. 

Die  röiiiisch-kath<)li.sche  Kirche  hat  dui-ch  die  Erhebung  des  Papstes  zum 
unfehlbaren  Kichter  über  Glauben  und  Sitten  eine  Lehre  als  die  ihrige  erhal- 
ten, die  von  allen  anderen  Kirehen  verworfen  wird,  die  Lehre,  dass  Anders- 
gläubige nicht  geduldet  werden  dürfen,  nnd  daas  die  Anwendung  von  Zwan; 
nnd  Gewalt  gegen  Andersgläubige  nicht  nur  erlaubt,  sondern  geboten  ist. 

•  Wir  deutsche  Theolorren  haben  früher  immer  behauptet,  es  sei  nicht  eine 
Lehre  der  röuiisch-hathulischeu  Kirche,  dass  Andersgläubige  zu  unterdrücken 
seien,  wenn  aneh  snsogeben  sei,  dass  tbatsächlich  Päpste  nnd  andere  kirchliche 
Haehtiiabw  sieh  solche  ünterdrttcknngen  haben  zn  Sebalden  kommen  lassen. 
So  habe  ich  50  Jahre  gelehrt.  Jetzt  aber  müssen  alle  röniiscb-katholischen 
Theologen  es  als  eine  Lehre  ihrer  Kirche  vortragen,  dass  die  Anwendung  von 
Gewalt  gegen  Andersgläubige  «ilaubt  nnd  Pflicht  sei;  denn  wa.s  die  Päpstr  in 
dieser  Beziehung  gelehrt  haben,  das  ist  seit  dem  18.  Juli  1870  als  Glaubens- 
lehre der  rSmiseb-katholisehen  Eirehe  ansnselien.'' 


Vmatmfd.  MbUkm  Dr.  Frltdrieb  Dittts.  Bncbdraekerd  Jnl  ina  Klinkhardt,  Leipzig. 

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« 


Lessing  und  Friedrieh  der  Grofie. 


Eine  Parallele. 

(Vortrag  zum  56.  Stiftungsfeste  des  Danziger  LehrervereinsO 


as  Ziel  unseres  Lelirervereins  ist:  „Anregung  des  Geistes 
und  Erhebung  des  Gemiithes  zu  segensreicher  Lelirerwirk- 
samkeit  und  Erstrebung  alles  dessen,  wodurch  wahre  Volks- 
und Menschenbildung  gefordert  werden  kann."  Wie  der  Verein 
diesem  Ziele  im  verflossenen  Jahre  näher  gekommen  ist,  hat  der 
Htyr  Voi*sitzende  uns  im  heutigen  Berichte  mitgetheilt.  Wie  wir 
weiter  diesem  Ziele  eiitf^ec^ensteuern  sollen,  das  verräth  uns  des  Dichtei-s 
Geist  in  folgendem  Dicliterwurt:  „Halte  das  Bild  der  Würdigen 
fest!  Wie  leuchtende  Sterne  theilte  sie  aus  die  Natur  durch 
den  unendlichen  Raum."  Unter  den  Würdigen  bei  zweien  der 
Würdigsten  für  einige  Augenblicke  zu  verweilen,  unseren  Greist  zu 
unserer  erhebenden  und  belebenden  Erstarkong  in  ihren  Geist  hinein- 
zayenenken,  das  Ist  ei^  was  ich  mit  meiner  schwadien  Kraft  versachen 
ivilL  Die  Edlen,  m  denen  vir  hinanftchaien  woUea,  sind  so  innig 
miteinander  yerwaadt,  haben  so  viele  bedeatsame  Berührungspunkte 
und  im  Verhftltnis  dazu  so  wenig  trennende  Unterschiede,  dass  es  wol 
gerechtfertigt  erscheint,  sie  auf  einem  Bilde  vereint,  auf  einem  Bilde 
nebeneinandergestellt  zu  betrachten. 

Die  Wiege  beider  Heroen  ist  das  erste  Drittel  des  vorigen  Jahr- 
hunderts, ihre  Zeit  eine  unaufhaltsame  Periode  der  geistigen  Gähmng 
und  ElArnng.  Als  deutsche  Söhne  auf  deutschem  Boden  entsprossen, 
begrüßten  sie  das  Licht  der  Welt»  um  selbst  hellstrahlendes  Licht 
für  unseren  G^eist  und  belebende  Kraft  für  unser  Herz  zu 
verbreiten,  „um  das  in  dumpfer  Luft  eingeengte  geistige 
Leben  aus  der  Finsternis  in  frische  Morgenluft  zu  führen,* 
der  eine  vom  Königsthrone  herab,  der  andere  aus  schlichter  Bfbgei^ 

FaliCOgioBi.  lt.Jabri.  Hdl  XL  49 


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—  682  — 


hütte  ins  deutsche  Volk  hinein.  —  „Erkennen,  was  wahr  ist, 
fühlen,  was  schön  ist,  wollen,  was  gut  ist",  —  das  war  ilir  er- 
habenes Ziel,  die  Wahrheit  pflanzen  nnd  pflegen,  die  Freiheit 
lieben  und  Liebe  üben,  —  ihr  unaufhörliches  Leben  und  Streben» 
Aufklärunj^,  Humanität,  Volkswol,  Volksbildung,  Pflege 
der  Kunst  und  Wissenschaft,  —  ihr  bewunderungswürdiges  Wirken 
und  Walten.  Durcli  diese  Thätigkeit  in  solcher  Mannigfaltigkeit  ragt 
der  große  König  aus  dem  politischen,  wie  der  große  Lessing  aus  dem 
literarischen  Wirrwarr  jener  Zeit,  einem  festen,  weithin  sichtbaren 
Leuchtthurme  gleich,  hervor,  um  niclit  bloss  seinen  Zeitgenossen,  sondern 
aucli  der  ^egeuNvärtigen  und  zuküul'tigen  Geistesarbeit  bessere  Wege 
zu  bleibenden  Zielen  zu  weisen. 

Wer  hätte  dem  Königsspross  anf  seineni  „Elistriner  Patmos''  alle 

die  Glanz-  und  Ruhmesthaten  voraussagen  können,  die  er  in  der 
Folirezeit  so  kraftvoll  entwickelt  und  ent&ltet  hat?  Unbeirrt  ist  er 
den  eigenen,  sicheren  Weg  gegangen,  wenn  man  auch  oft  genug  ver- 
suclitt'.  ihn  auf  andere  Geleise  zu  bringen.  Dasselbe  Eigenthümliche 
entdecken  wir  auch  an  dem  Sohne  des  Kamenzer  Pastors,  der  darum 
dem  Eltemhause  entfloh,  während  „Fritzens  Flucht"  vereitelt  wurde. 
Offenherzigkeit,  Wissensdurst,  Ehi-geiz,  Behendigkeit  und  schlagfertiges, 
witziges  und  geistreiches  Wesen  waren  schon  früh  die  gemeinsamen 
Eigenschaften  unserer  merkwürdigen  Helden,  die  es  nie  verschmähten, 
von  Überlegenen  zu  h'riien,  weil  ihnen  jedes  höhere  K<)nnen  Ehrfurcht 
einflößte.  Waren  sie  darin  übei-  den  gewölinlichen  ^[enschengeist  hinaus, 
so  offenbarte  sich  in  ihnen  auch  der  geniale  Keim  in  der  Fähigkeit, 
„zwischen  dem  Ungleichartigen  hin  nnd  her  zu  sj)ringen  und  doch 
stets  bei  der  Sache  zu  bleiben".  Dieser  Keim  ti'oil)t  seine  Wurzel  in 
den  fruchtbaren  Boden  des  Wissens,  und  die  Wissenscluift  aller  Wissen- 
schaften, die  Philosophie,  führt  ihm  reicliliche  Säfte  zu,  damit  die 
Wurzel  immer  stäiker  wird,  immer  tiefer  dringt,  und  so  eine  mächtige 
Eiche  aus  ihrem  Schöße  em}>orstreht,  die,  in  vei*scliiedenen  Stürmen 
ond  Gefahren  erprobt,  dem  vorübergehenden  Wanderer  verkündet: 

aKag  nlles  Stürzen  und  Tergehen; 
Mag  sich  die  Welt  kopftiber  drehen: 
Ich  stehe  fc:<t  und  wanke  nicht!" 

Die  Philosophie  war  der  feste  Boden,  welcher  unseren  beiden 
gewaltigen  Eichen  den  sicheren  Halt  verlieh  ;  sie  war  zugleich  der 
unversiegbare  Horn,  aus  welchem  diese  Eichen  Erquickong  und  Labung 
schöpften,  und  beider  Verhältnis  zu  derselben  etwas  genauer  zu  be- 


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—   683  — 

trachten,  dürfte  einerseits  ebenso  interessant  und  dankenswert,  als 

anderseits  begründet  sein;  denn: 

„Hab'  ich  des  MenBchen  Kern  erst  untcrsurht. 
So  weiß  ich  auch  seiu  Wollen  uud  sein  Haudeln." 

Lessing,  der  die  philosophischen  Ideen,  die  Früchte  seiner  denken- 
den Betrachtang,  durch  eine  allen  Terst&ndliche  Sprache  zum  Gemem- 
gnt  der  deutschen  Nation  zu  machen  sieh  hemOht,  ist  als  der  „Volks- 
Philosoph"  in  des  Wortes  edelster  Bedeutung  hochgeschitst  Friedrich 
der  Große,  in  wdchem  seine  Freunde  schon  mehrere  Jahre  Tor  seiner 
Thronbesteigung  den  Marc  Aurel  »eines  Jahrhunderts  erblickten,  wird 
als  der  „Philosoph  yon  Sanssouci"  gefeiert.  Der  Tolksphilosoph 
betrachtet  »Selbsterkenntnis*'  als  die  nächste  Au^be  der  Phflo- 
sophie,  „thiUjges  Schaffen  und  Wirken"  oder  Selbstthätigkeit  als 
die  Folge  jener  und  »SelbstTerTollkommnung"  als  die  Frucht 
beider.  Die  Bedingungen  zur  Selbsterkenntnis,  Selbetthätigkeit  und 
Selbstvervollkommnung  sind: 

1.  Inbrünstige  Liebe  zur  Wahrheit, 

2.  Anhänglichkeit  an  eigene  besondere  Meinungen, 

3.  Dreistigkeit,  zu  sagen,  was  man  denkt  und  wie  man  e9  denkt, 

4.  Wärme  und  Sinnlichkeit  des  Ausdrucks  f&r  den  Gedanken, 

5.  stille  Verbr&demng  mit  qrmpathisirenden  Geeistem. 

In  diesen  Aui|:aben  und  Bedingungen  mit  Lessing  übereinstimmend, 
£Bhrt  der  Denker  von  Sanssouci  erwdtenid  fort: 

1.  Die  ^lilosophie  bezweckt  Aufklärung  des  Verstandes  und  ge- 
winnt damit  das  wesentlichste  Mittel  zur  Losung  praktischer  Aufgaben. 

2.  Sie  lehrt  ans: 

,a)  die  Natur  des  Berufes  erforschen, 

b)  die  Erfiülung  der  Pflichten  dieses  Berufes  zur  herrschenden 
Neigung  seiner  Seele  machen, 

c)  dieser  Neigung  muthig  alle  übrigen  unterwerfen  und 

d)  unermfldet  alle  Kräfte  nach  dem  Punkte  der  Vollkommenheit 

richten. 

3.  Wenn  man  das  Ziel  der  Vollkommenheit  auch  nicht  erreichen 
kann,  so  ist  es  doch  eines  denkenden  Weseos  würdig,  üun  so  nahe 

wie  möglich  zu  sein. 

Nach  dem  Ausspruche  beider  Philosoplien  befindet  sich  auf  dem 
Wege  zur  Vollkommenheit,  wer  den  Sinn  auf  das  Große  und  Erliabene 
richtet,  sich  stets  an  das  Bleibende  und  Ewige  hält,  —  und  das 
haben  die  tüchtigsten  Menschen  aller  Zeiten  gethuii.  Die  modtM  ue 
Philosophie  ihrer  Zeit  wird  von  beiden  Denkern  als  die  nioderue 

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—   684  — 

verurtheflt,  verachtet  Sie  halten  ihr  tolgende  Warnung  entgegen: 
„Macht  durch-s  Geäffe  weicher  Auslandssitte  erzne  Knochen 
nicht  zu  Marzipan!"  Verlasst  den  Weg  der  Nachahmung,  der 
rückwärts  führt!  Schreitet  vorwärts  auf  dem  Wege  selbst- 
ständiger Hervorbringung!  ^Schlürft  aus  der  Quelle,  daraus 
Griechenland  und  Latium  geschlürft!"  damit  es  besser  werde. 
So  warnend  und  ermunternd,  schreiten  sie  auf  der  Kampfesbahn  auch 
schon  voran,  um  ihre  Gedanken  durch  ihr  Thun  zu  verkörpern. 

Lessings  erste  philosophische  That  war  eine  Kriegserklärung  an 
die  damals  herrschenden  Modephilosophen.  Mit  folgenden  Worten 
wirft  er  ihnen  den  Fehdehandsdrah  vor  die  Füße:  Ihr  fttllet  den 
Kopf,  aber  das  Hers  bleibt  leer.  Ibr' fahrt  den  Geist  bis  in . 
die  entferntesten  Begrionen,  wAbrend  das  Gemttth  durcb  seine 
Leidenschaften  bis  anter  das  Yieb  herabgesetzt  wird.  Ihr 
seid  anf  Irrwegen,  welche  zur  Einöde  und  Wflste  fuhren. 
Sachet  andere,  bessere  Gefilde  anf!  Die  Krebsschäden  blofi- 
legend,  yerordnet  er  folgende  Arzneimittel:  Der  Mensch  ward  znm 
Thnn  and  nicht  znm  Vernflnfteln  geschaffen.  Thörichte 
Sterbliche!  Was  Uber  ench  ist,  ist  nicht  fttr  each.  Kehrt 
den  Blick  in  each  selbst!  In  ench  sind  die  anerforschten 
Tiefen,  worin  ihr  each  mit  Nutzen  verlieren  kOnnt  In  Each 
richtet  das  Boich  aaf,  wo  ihr  ünterthan  and  EOnig  seid! 
In  euch  begreift  and  beherrscht  das  einzige,  was  ihr  be- 
greifen and  beherrschen  kOnnt,  ench  selbst!  —  Mit  Waifen 
des  Spottes  nnd  der  Ironie  entfesselt  er  die  Gefesselten,  wie  in  folgen- 
dem geharnischten  Wort: 

Ach,  eure  Wissenschaft  ist  noch  der  Weisheit  Kindheit,  • 
Der  Klugen  ZeitTortreib,  der  Stols  der  falschen  Blindheitl 

Dass  Thaten  und  Gedanken  nicht  getrennt  mai-schiren,  sondern 
auf  einander  wirken  sollen,  begründet  er  also:  Wie  Leib  nnd  Seele, 
so  sind  Gedanke  und  That,  Erkennen  und  Wollen,  Wissen  und  Leben 
antrennbar  eins.  Diese  Lessinjj^sche  Lehre  liat  niemand  mehr  als  er 
selbst  durch  sein  eigenes  Denken  nnd  Uandelji  besiegelt,  indem  er  als 
unermüdeter  Wahrheitsforscher,  nach  Geistesklarheit  ringend  nnd 
kämpfend,  die  in  Vorurtheilen  befangene  Welt  mit  der  Fackel  seines 
Geistes  erleuchtete.  Er  ist  nicht  blos  der  die  Walirbeit  Erstrebende, 
sondern  auch  mit  der  ganzen  Kraft  tür  sie  eintretende  Held. 

Lessing  folgte  dem  Grundsatze,  nichts  auf  Treue  und  Glauben  anzu- 
nehmen, sondeiTi  alles  auf  der  Menge  verborgenen  Pfaden  zu  unter- 
suchen.  Dabei  verkannte  er  nicht  den  großen  Rinflnaa  der  Unab- 


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685  — 


bingigkeift  fftr  die  freie  Bewegnng  und  Entwiekelun^  des  Geistes, 
der  Unabliängigkeit  von  änfierer  Beeinflnssiuig  imd  in  der  Treae  gegen 
seine  innere  Übeneognng  fand  er  das  OHSaisk  siaines  Lebens,- wie  ihm 
des  Stieben,  Suchen  nnd  Bingen  nsAh  der  Wahrheit  als  höchste 
menschliche  That  erschien.  Denn:  „Nicht  die  Wahrheit,  in  deren 
Besitz  ein  Mensch  ist  oder  za  sein  yermeint,  sondern  die  anfHchtige 
Hthe,  die  er  angewandt  hat»  hinter  die  Wahrheit  am  kramien,  macht 
den  Wert  des  Henschen.**  „Hass-  der  Knechtschaft  des  Geistes, 
Math,  Selbstvertrauen,  Liebe  zur  Erkenntnis  ans  Gründen, 
freie  Bewegung  im  Denken  und  Handeln,**  diese  seine  Kern- 
e^enschaften  markiren  zugleich  auch  seinen  stählernen  Charakter,  der 
TOll  und  ganz  befähigt  ist,  für  die  Ideale  seines  Kopfes  und  Heraens 
einzutreten.  Aber  es  ging  ihm,  wie  allen  großen  Geistern:  „£r  war 
rechtschaffen  nnd  freimüthig;  er  musste  gehasst  werden,** 
gehasst  von  seinen  Zeitgenossen,  um  der  Nachwdt  desto  glanzvoller 
nnd  erhabener  zu  erscheinen.  Zur  Erfiillunjr  ^^'uwv  großen  Au^aben 
war  er  von  der  Vorsehung  auch  aufs  glücklichste  luit  den  erforderlichen 
geistigen  Mitteln  ausgerüstet;  denn  wo  der  Kopf  so  hell  und  klar,  der 
A\'ille  so  stark  und  gut,  das  Herz  so  wann  und  weich  entfaltet  war, 
da  nmssten  Heldenthaten  vollbracht  werden!  Sein  Verdienst  bleibt  es 
dass  er,  „der  durchdrin;2fendst e  Verstand  seiner  Zeit,"  neues 
deutsches  Geistesleben,  im  deutschen  Volke  wurzelnd,  neue 
deutsche  Innigkeit  des  Gefühls,  mit  frischen,  starken  Trieben 
hervorzaubernd,  zu  neuer  Kraft  des  Denkens  ans))ornend 
und  hinführend,  ^deni  ei'uiatteten  deutsclien  (-ieist  zu  seiner 
besseren  Bildung  und  Vemlrluno:  die  verborgfuen  iScliätze  • 
aufgetlian  liat."  Aus  diesem  Gi  uiide  kann  man,  wenn  Immanuel  Kaut 
der  bedeutendste  Pliilosopli  des  vnii>ren  .lalirhuuderts  ist.  Lessing  mit 
Fug  und  ßecht  als  seinen  bedeutendsten  Vorläufer  bezeiclmeu.  Denn 
er  nffenbai't  durch  sein  Wollen  und  ^^'irken,  wie  er  seineu  Zeit- 
genossen vorauseilt.  Er  ist,  wie  Schillers  Posa,  „eiu  Bürger  derer, 
welche  kommen  werden".  — 

Aber  auch  der  Kiinig  ist  seinen  Zeitgenossen  voraus,  auch  der 
Pliilosopli  von  Sanssouei  ist  mehr  ein  Mann  der  Zukunft  als  der  Ver- 
ganjrenlieit.  j,Jedes  Siunen  ein  Kfinigsgedanke,  jede  Handluu;^ 
eine  K<")nigsthat,"  lautet  das  ürtlieil  eines  seiner  Biographen.  In 
dem  Pliilosopbeii  auf  dem  Throne  erblickt  der  Monarch  sein  Ideal. 
Ein  Aristoteles,  welcher  Alexander  den  Großen  zu  dem  schweren  und 
sorgenvollen  Regentenberufe  vorbereitete,  fehlt  ihm.  Aber  er  schreitet 
Torwärts,  wie  der  Maic  Aurel  des  Altei*thums,  Indem  er  durch  eigenes 


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—  686  — 


i^tudiuin,  durch  anhaltenden  emsigen  Fleiß,  durch  angestrengte  Arbeit 
mit  den  Wissensschätzen  immer  vertrauter  wird,  sich  in  ihnen  immer 
heimischer  fühlt  und  so  vorher  gediegene  Münzen  prägt,  die  er  später 
im  königlichen  Berufe  verwertet.  Von  seinen  Gedanken  seien  nur 
folgende  als  fiir  die  Denkweise  des  Kouigs  besonders  cbaraktenstiscli 
hervorgehoben: 

1.  Es  wird  immer  wahr  bleiben,  dass  man  nur  dann  glücklich 
sein  kann,  wenn  man  einen  guten  Charakter  hat,  seine  Aufgabe  erfüllt, 
mäßig  lebt  und  sich  aus  dem  Leben  nicht  zu  viel  macht, 

2.  Es  ist  auch  nicht  notliwendig,  dass  ich  lebe,  wol  aber,  dass 
ich  meine  Pflicht  thue.  Mein  Körper  und  mein  Geist  haben  sich  ihrer 
Pflicht  zu  fügen. 

3.  Meinen  Weg  gehend,  thue  ich  nichts  gegen  die  Stimme  des 
Gewissens  und  kümmere  midi  niclit  um  das  Gerede  der  ^lenschen. 

4.  Wir  haben  unser  lieben  nach  klar  erkannten  Grundsätzen  zu 
regeln  und  an  diesen  unverbrüchlich  festzuhalten,  und  jeder  soll,  was 
er  für  gut  erkannt,  in  seinem  Wirkungskreise  mit  unerschütterlicher 
Festigkeit  erstreben.  • 

5.  Die  Philosophie  lehrt  uns  unsere  leidenschaftlichen  Erregungen 
beherrschen  und  gibt  uns  die  Gemüthsruhe,  die  uns  glücklich  macht, 

6.  Der  Schöpfer  hat  uns  so  viel  Vernunft  gegeben,  als  wir 
branchen,  um  uns  in  der  Welt  zui'echtzufinden  und  für  unsere  Be- 
dürfnisse zu  sorgen;  aber  diese  Yemanft  reicht  nicht  aus,  unsere 
unerfüllte  Wissbegierde  zu  befriedigen.  In  Wirklichkeit  wissen  wir 
nnr  sehr  wenig  nnd  haben  doch  den  Stolz,  alles  wissen  zu  wollen. 

/  7.  Trotcdem  ist  die  Pflege  der  Wissenschaft  eine  nnerlftsdiche 
Fordemng  ftr  jedennann.  Der  grOftte  Gdst  ist  ohne  die  Kenntnisse, 
welche  ihm  die  Wissenschaft  Tendttelt,  nichts  mehr  als  ein  nnge- 
schliffener  Edelstein.  Erst  die  Bearbeitang  gibt  ihm  seinen  wehren 
Wert  Wer  sidi  dieser  Arbeit  unterzieht,  wird  dadurch  jedenftOs  von 
zahlreichen  Irrthllmem  frei  werden. 

8.  Die  Wissenschaft  schadet  nnr  den  Betrügern,  deren  Schliche 
sie  aufdeckt;  sie  allein  haben  das  Interesse,  die  Anfklümng  des  Volkes 
in  üblen  Ruf  zu  bringen. 

9.  Jeder  einsichtige  Fürst  wird  sich  die  Mühe  geben,  die  zu- 
künftige Generation  seines  Volkes  zu  nützlichen,  tugendhaften  Bürgern 
zu  bilden.  Nichts  ist  verkehrter  als  die  Meinung,  ein  unwissendes 
und  dummes  Volk  sei  leichter  zu  regier«!  als  ein  an^jeUtotes.  Je 
unterrichteter  und  je  gebildeter  ein  Volk  ist«  desto  mehr  fthige  Diener 
gewinnt  der  Staat,  je  roher  es  ist,  um  so  schwerer  ist  die  BDart- 


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—   687  — 

näckigkeit  zu  überwinden,  die  es  vemünftigen  Maßregeln  entgegensetzt. 
Ein  Staat  mit  einer  unwissenden  Bevölkerung  sieht  aus  wie  das  ver- 
lorene Paradies  der  Genesis,  das  nur  von  Thieren  bewohnt  war.  — 

Sind  das  nicht  königliche  Gedanken,  eines  Herrschers  würdig, 
dessen  Streben  nur  dem  Höchsten  galt? 

Die  Sehnsuclit  des  Jahrhunderts  nacli  freier  Forschung  fand  unter 
seiner  Regierung  ihre  Befriedigung.  Er  war  nicht  der  Unterdrücker, 
sondern  der  Beschützer  und  Beschirmer  der  DenklVeiheit,  für  welche 
Lessing  kämpfte.  Die  Philosophie  durfte  unter  des  großen  Königs 
Obhut  ungehindert  die  letzten  Consequenzen  ziehen.  Er  war  es,  der 
einem  Pousseau,  einem  Voltaire  den  Aufenthalt  in  seinem  Lande  ge- 
stattete, als  diese  merkwürdigsten  Geister  Frankreichs  in  ihrem 
eigenen  Vaterlande  verfolgt  wurden.  Er  war  es,  der  den  vou  seinem 
Vater  vertriebenen  Philosophen  Wolflf  wiederzugewinnen,  ilm  zur 
Bückkehr  nach  Preußen  zu  bewegen  sich  bemühte,  seinen  Wunsch 
also  begründend:  Ein  Mensch,  der  die  Wahrheit  sucht  and  sie 
liebt,  masB  unter  aller  menschlichen  Gesellschaft  wertge- 
halten werden.  In  seinem  Dankschreiben  an  WoUf  bemerkt  der  - 
König,  dass  die  Fürsten  von  den  Philosophen  in  den  Gmndsätaen 
nnteniditet  werden  müssen,  ddren  prsktische  Anwendung  ihr  Beruf 
seL  Im  Begriff;  den  Thron  zu  besteigen,  bekennt  er,  dass  die  Philosophie 
für  ihn  einen  größeren  Beiz  habe,  als  der  Herrschersita,  und  einige 
Jahre  sp&ter  sehnt  er  sich  mitten  anter  dem  Triumphe  über  den  ent- 
schiedenen Sieg  bei  Chotnsits  nach  der  philosophischen  Unterhaltung 
in  Bheinsberg  und  Gharlottenbuig  znrftck.  Der  Monareh  nennt  die 
Philosophie  seine  Mntter,  den  Hof  seine  StieAnutter,  um  damit  auszn- 
drftcken,  wie  in  yerzweifdten  Lebenslagen  diese  Wissenschaft  allein 
seine  einzige  Trflsterin  wsr.  So  ist  er  ein  Held  wahrer  Weisheit  und 
HerzeDsgüte,  ehe  wir  den  Kriegs-  und  Friedenshelden  kennen  lernen, 
UDd  soll  nun  einmal  ein  Unterschied  zwischen  dem  Yolksphilosophen 
und  dem  Philosophen  Ton  Sanssouci  gemacht  werden,  so  sei  es  dieses: 
Da  eine  war  vorherrschend  philosophischer  Held,  der  andere  mehr 
heldenmflthiger  Phüosoph,  das  Leben  beider,  wenn  auch  nicht  unmittel- 
bar, so  doch  mittelbar  eine  sich  erg&nzende,  großartige  und  erhabene 
That,  als  bleibendes  Erbe  der  deutschen  Nation  segensreich  wirkend 
nnd  schaffend,  dem  fruchtbaren  Beg^  gleich,  der  auf  dflrres  Erd- 
reich fällt 

Lessing  wie  Friedlich  dem  Großen  hat  es  nicht  an  Verdäch- 
tigungen nnd  Angritfen  gefelilt.  Beide  Männer  wäi'en  irreligiös,  sie 
hätten  keine  Beligion,  behauptete  man.  Aber  Leute,  die  das  sagten. 


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—  688  - 


verstanden  den  religiösen  Geist  nicht,  der  in  diesen  Gestalteu  waltete, 
oder  sie  wollten  ihn  nicht  verstehen.  Ihi*e  Angriffe  prallten  an  Lessin^ 
und  dem  großen  Könige  ab,  und  die  Pfeile  verwundeten  meist  die- 
jenigen, von  welchen  sie  ausgegangen  waren.  Unsere  moralische  Pflicht 
ist  es,  die  Philosophen  auch  in  ihren  religiösen  Gedanken  als  den 
unsichtbaren  Thaten  und  in  ihren  religiösen  Thaten  als  den  sicht- 
baren Gedanken  kennen  zu  lernen.  Das  Wesen  der  Religion  suchen  und 
finden  beide  im  praktischen  Christenthum.  Beiden  ist  die  edelste  Blüte 
der  Tugend  jene  Liebe,  welche  über  die  endlichen  Schranken  der  Völker, 
Staaten  imd  Religionen  hinweg  die  Menschen  verbindet.  Sie  waren 
von  einer  heiligen  Ehrfurcht  vor  dem  Bleibenden  und  Erhabenen  er- 
füllt, und  das  Dasein  Gottes  ist  von  ihnen  nie  bezweifelt  worden.  In 
einem  G^cht  rühmt  der  König  „die  Gflte  Gottes,  dessen  Weisheit 
den  Plan  der  Welt  entirorfen,  dessen  Allmacht  sie  ans  dem  Nichts 
geflehalTeii,  dessen  6hiade  den  Ifensdien  ins  Dasein  gemfen,  ihm  in  der 
Yenranft  das  hOehste  ?on  allen  Gütern  geschenkt  und  die  ganze 
Welteinrichtiing  aof  das  heste  berechnet  habe."  Aber  anch  in  des 
Königs  späteren  Jahren,  als  sein  Optimismos  dnrch  seine  Lebens- 
erlUmingen  tief  herabgestimmt  wurde,  hielt  er  daran  unwandelbar  fest, 
dass  der  letzte  Grund  der  Welt  nur  in  einem  weisen,  allgütigen  Wesen 
gesucht  werden  kOnne.**  In  seinem  Testament  erklirt  er:  Ich  gebe 
willig  und  ohne  Klage  den  Lebenshanch,  der  mich  beseelt,  dem  wol- 
thAtigen  Wesen,  das  mir  denselben  geliehen  hat,  und  meinen  Leib  den 
Elementen  zurfick,  aus  denen  ich  gebildet  bin.  Mit  dem.  Könige  stimmt 
Lessing  in  folgendem  Urtheile  Qberein:  „Nur  die  Vernunft  erhebt 
uns  Aber  die  Thiere,  nur  die  Herzensgflte  nähert  uns  Gott.** 
Vernunft  und  Herzensgftte,  von  Gott  in  uns  gepflanzt,  mahnen  uns,  das 
Gottesieich  hier  auf  Erden  auszubauen,  welches  das  Reich  der  Wahr* 
hdt,  der  Freiheit  und  der  Liebe  ist  Der  duldsame  König  urtheUt 
ferner:  Da  alle  Menschen  dem  Irrthum  unterworfen  sind,  so 
darf  keiner  auch  in  religiösen  Dingen  seinen  Weg  für  den 
allein  richtigen  halten,  am  allerwenigsten  dann,  wenn  er,  von 
falschem  Glaubenseifer  geblendet,  zum  verfolgungssüchtigen 
Tyrannen  ausartet  Lessings  religiöse  Ansicht  ist:  In  jeder  Kirche 
gibt  es  ehrenwerte  Männer,  die  Gott  dui'ch  Gerechtigkeit  und  Menschen- 
Hebe  verehren.  .Jede  Keligion  ist  gut,  wenn  sie  gute  Menschen 
erzieht,  und  diejenige  Religion  ist  die  beste,  welche  die 
meisten  besten  Menschen  erzieht.  Die  besten  Mens<  lien  sind  ihm 
zugleich  die  Pfleger  und  Förderer  der  Aufklärung,  der  Toleranz,  der 
Humanität,  der  Aufklärung,  ohne  welche  unsere  Vernunft  als  gott- 


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—  «89  — 


gegebene  Kratt  im  Keime  erstickt,  der  Toleranz,  ohne  welche  das 
gBte  Herz  der  wesentlichsten ,  Eigenschaft  entbehrt ,  der  Humanität, 
-  olme  welche  wahre  Liebe  nicht  denkbAr  ist.  —  Wenn  Handeln,  Thätig- 
sein  die  eigentliche  Bestimmung-  des  Menschen  ist,  so  war  beiden 
Philosophen  tugendhaftes  Handeln  der  einzige  Prüfstein  wahrer  Reli- 
giosität, und  der  gereifte  Mann,  der  ohne  Aussicht  auf  Lohn  und  Ehi-e 
seine  Pflicht  thut,  das  sittliche  Ideal.  —  Und  nun  das  religiöse  Wirken 
.Iiessings  und  seines  grossen  Zeitgenossen? 

Ihr  ganzes  Leben  war  ein  Dienst  im  Tempel  der  Gerechtigkeit^ 
und  wie  der  König  die  DenktVeiheit  gestattete,  so  gewährte  er  die 
Glaubens-  und  Gewissensfreiheit,  welche  TiPssing  forderte.  Auch  in 
religiösen  Dingen  durften  sidi  die  Geister  ohne  Fesseln  regen  und 
bewegen;  denn  in  dem  ,.Fiie(lcricianischen  Staate"  konnte  jeder  nach 
seiner  Facon  selig  werden.  T>ie  Duldsamkeit,  welche  Lessing  auf 
seine  Fahue  geschrieben,  welche  er  in  Woit  und  That  vei'kUndigte, 
hatte  der  Hensclier  in  dem  weitesten  mit  dem  Staatswol  verträg- 
lichen (^mfange  geübt.  Ja,  er  hatte  sich,  ehe  Le.ssiug  den  Nathan, 
sein  Hohes  Lied,  von  den  Zinnen  des  Tempels  herab  in  die  Welt  hinein- 
gesungen, die  Duldung,  den  Schutz  der  Glaubens-  und  Gewissensfreiheit 
zur  Lebensaufgabe  gemacht,  und  wenn  irgend  jemand,  so  durfte  sich 
Friedrich  II.  wie  Lessing  vor  der  chrisllicli- apostolischen  Forderung: 
„Zeige  mir  deinen  Ghuiben  in  deinen  Werken"  nicht  fürchten. 

Friedrich  der  Große  ist  im  Gegensatz  zu  Lessing  als  der  pliilo- 
sophische  Held  bezeichnet  worden.  Da  wir  den  Helden  der  ^^'eisheit 
und  darauf  den  ebenso  religiösen  wie  weisen  K^inig  betrachtet  haben, 
düi-fte  die  Beantwortung  folgender  Frage  ;uu  i'iatze  sein:  Wie  zeigte 
sich  der  Kriegs-  und  Friedensheld?  Nicht  wie  Alexander  der  Große, 
nicht  wie  Kaid  XIL,  aus  Neigung,  sondern  aus  Nothwendigkeit  war 
er  Feldherr.  Das  Wol  des  Vaterlandes,  die  Ehre  des  Thrones  rufen 
ihn  zu  all  den  stfirmischen  Schlachten.  Ein  ungleichei*  Kampf  ist's» 
den  er  beginnt,  und  groB  die  OefUir  des  Kampfes  fUi*  ihn  und  sein 
Reich.  Aher  es  ist  «ich  Friedrichs  GMBe,  da»  er  in  dieser  OMa 
nicht  zorflckbebt  und  dass  er  den  Kampf  in  dem  Angenblieke  auf- 
nimmt, der  für  seine  glflckliche  ünrchfiUirung  die  günstigsten  Aus- 
sichten darbietet  Stets  gerOstet,  stets  bereit,  das  Schwert  zur  Ent- 
scheidung zu  fOhren,  erkämpft  er  auch  die  dem  Menschen  unglaub- 
lichsten glorreichen  Siege,  worOber  ganz  Europa  erstaunt,  und  mit 
Recht;  denn  oft  sind  es  mehr  Wunder  der  Gottheit  als  Wirkungen 
menschlicher  Erftfte.  In  unserem  Helden  schauen  vir  die  Verkörperung 
der  geschichtlichen  Wahrheit,  „dass  das  Schicksal  der  Staaten  weniger 


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~  690  — 


von  ihren  Kräften  abhängt,  als  von  wenigen  großen  Menschen,  welche 
dieselben  zu  brauchen,  zu  vermehren  und  Nationen  eine  Seele  zu  geben 
wissen".  Kühn  und  unerschrocken,  wo  er  sdilägt,  vorsiclitig,  wo  er 
unterhandelt,  mit  Adlerblicken  durchspähend,  wo  er  erscheint  und 
entscheidet,  genial  rathend  und  thatend,  iiiuthig  anfeuernd,  wo  die 
Masse  kopflos  und  verzagt  wird,  ist  Friedrich  der  Große  einer  der 
tüchtigsten  Feldherren  aller  Zeiten.  In  den  schrecklichsten  Augen- 
blicken, da  alles  sich  gegen  ihn  verschworen  zu  haben  schien,  in 
welchen  selbst  römischer  Muth  verzagt  und  römi.sche  Standhattigkeit 
gewankt  hätte,  da  war  er  es,  der  durch  seine  Entschlossenheit,  Tapfer- 
keit, Geistesgegenwart  und  unerschütterliche  Festigkeit  der  Retter 
seines  Beiches  wurde.  Indem  wir  solche  Größe  des  Geistes  schauen, 
bewnndem  wir  auch  den  Adel  und  die  Stärke  des  Willens,  der  mit 
soldiem  Geiste  war. 

„Diese  anscheinende  Hitze,  diese  ungeduldige  Eile,  diese  reißende 
Gewalt,  womit  er  in  einem  einzigen  Feldzuge  die  feindliche  Macht, 
wie  der  Sturmwind  die  Wolken,  vor  sich  triel)  und,  was  das  Schwert 
nicht  fral),  in  den  Schnee  der  Gebirire  jagte,"  was  verräth  sie  anders, 
als  den  entschiedensten  Charakter  eines  Feldherrn,  „der,  wie  selten 
einer,  so  gefürchtet,  so  schrecklich  —  und  doch  so  friedliebend  war!" 
Kr  ist  der  große  Vorkämj)f<'r  einer  tiefgehenden  Bewegung  im  poli- 
tischen Gebiete,  der  große  Vorarbeiter  jener  gewaltigen  Thatsachen, 
die  das  Jahr  1871  entrollt,  und  dadurch  einer  der  bedeutendsten 
Schripfer  und  Mitbegründer  des  neuen  Deutschen  Kelches.  Diese  Helden- 
griUie  in  seinem  Urahnen  erkennend,  hat  Kaiser  Wilhelm  IL  kürzlich 
bei  einer  Fahnenweihe  in  Berlin  folgende  denkwürdige  Worte  ge- 
sprochen: ^M(»o;e  er,  der  beinahe  die  ganze  Welt  ziiiii  Feinde  hat  und 
dennoch  das  Reich  zusammensili miedet  und  aufbaut,  stets  unser  leuch- 
tendes Vorbild  sein!"  Fürwahr,  kein  besseres  Vorbild  für  unsere 
Truppen  als  dieser  Feldherr I 

Strebt  der  Kriegsheld  nach  dem  Ziele,  sein  Volk  groß  und  ge-  • 
achtet  zu  sehen,  so  ist  es  dar  erhabene  Gedanke  des  Friedenshelden, 
seine  Unterthanen  glücklich  zu  machen,  glücklicli  dnrdi  ,.die  höchste 
in  der  Verliindung  mögliche  Wolfahrt".  Wo  seine  Pflichttreue, 
seinHenschertulent  und  seine  Thatkraft  zur  Enttaltung  kommen,  da  ver- 
ehren wir  zugleich  auch  den  weisen,  milden,  menschenfreundlichen,  gefühl- 
vollen und  edelmüthigen  Landesvater,  der  die  schrecklichen  Verirrungen 
der  Menschen  kennt,  im  innersten  Herzen  Mitleid  mit  denselben 
empÜDdet,  und  wir  verstehen  den  großen  Psychologen«  w  enn  er  schreibt: 


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• 


—  691  — 

Der  Wermut  bleibt  gleich  bitter,  mögen  wir  darüber  klagen 
oder  nicht. 

Duldet  die  Schlechten,  weil  sie  einmal  so  sind!  —  Wie  als  Feld- 
herr, so  verbindet  er  als  Staatsmann  und  Gesetzgeber  mit  dem  Geiste 
nnd  der  Einsicht  desselben  aucli  die  Gaben  zur  Ausführung,  immer 
nach  dem  Beifall  der  Weisesten  strebend.  Er  war  es,  der  dem  Staate 
eine  verbesserte  Rechts])He(^e  zugrunde  legte  und  die  Unabhängigkeit 
und  Würde  der  Kicliter  siclierte.  Musterhafter  Hanshalter  seines 
Reiches,  weiß  er  die  Spuren  des  Verderbens  zu  tilgen,  indem  er  auf 
Aschenhaufen  und  Trümmern  Dörfer  und  Städte  erbaut,  bessere  Ver- 
kehrsstraßen einrichtet,  die  Landwirtschaft  hebt,  Handel  und  Gewerbe 
fördert,  das  Heer  verstärkt,  die  Zeughäuser  anfüllt  und  dennoch  die 
Schatzkammer  um  Millionen  vermehrt.  Er  unterstützt  den  Landmann, 
dessen  Kbigen  zu  seinem  Throne  dringen,  hilft  dem  entkräfteten  Adel, 
der  durch  Krieg  und  Misswachs  fast  verniclitet  ist,  und  gibt  gern 
Tonnen  Goldes,  um  allen  seinen  Untertlianen  aufzuhelfen.  Wie  groß 
sein  monarchisches  Pflichtbewusstsein,  wie  ungelieuer  seine  Arbeitskraft 
war,  dafür  sind  die  Tausende  von  Eingaben,  Gesuchen  und  Bitt- 
schriften, auf  welchen  die  kurzen,  witzigen  und  schlagenden  Kand- 
bemerkungen  sicli  befinden,  der  beste  Beweis!  Nirgends  ist  der  Ver- 
waltungsapparat vor  dem  gefürchteten  scharfen  Blicke  des  Königs 
sicher,  der  überall  auch  den  kleinsten  Missstand  entdeckt.  Wo  er  er- 
scheint uud  sich  überzeugt,  wie  man  seine  Anordnungen  und  Befehle  er- 
füllt, werden  Lob  und  Tadel  gleich  streng  abgewogen  und  ausgetheilt 
In  der  kleinsten,  wie  in  der  größten  Beschäftigung  darf  der  Geist  der 
Ordnung  nicht  fehlen,  welchem  er  selbst  bis  an  sein  Lebensende  treu 
blieb.  Aber  wamm  die  Anhörung  jeder  Klage,  warum  die  Beant- 
wortung jeder  Frage,  warum  die  ErlUlung  so  Tieler  Bitten?  Warum 
alle  die  Arbeit  in  den  durch  ihr  Einerlei  peinigenden,  oft  gering- 
fügigen Sachen  seiner  Unterthanen  fSac  einen  Geist,  der  ganz  andere, 
schönere  und  bessere  Arbeiten  kannte?  Nun,  „so  geliebt,  geschmeichelt, 
begünstigt  von  den  Musen,  sich  ihnen  entwinden,  ihren  so  mftditigen, 
durch  Unschuld  selbst  so  Teifthrerischen,  immer  schöneren  nnd  immer 
gefiUn-licheren  Selzen  widerstehen,  um  freiwillig  auch  die  klemsten, 
reizlosesten  Pflichten  zn  erfüllen  und  in  dieser  Denkungsart  ein  Leben 
hindurch  beharren**:  darin  eben  zeigt  sich  die  rechte  HerrschergröBe, 
darin  offenbart  sich  der  beste  Landesvater,  und  er  ist  gewiss  ebenso 
sehr  der  Vater  des  Volkes/  wie  er  der  Vertheidiger  und  Beschützer 
seines  Beiches  ist  Er  bleibt  einer  der  ersten  Kriegs-  und  Staäts- 
manner  aller  Zeiten.  Ohne  ihn  wSre  Preußen  kerne  Grofimacht  ge- 


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—  692  - 


worden.  In  ihm  erblicken  wir  das  Ideal  eines  Monarchen,  „der  gleich 
groß  ist,  wenn  er  im  Rathe  das  Recht  verwaltet,  weun  er  im  Felde 
für  die  Unabhängigkeit  seines  Landes  kämpft". 

Haben  die  Kriegs-  und  Friedensthaten  dieses  Königs  dem  Volke 
das  Nationalbewusstsein  eingeimpft,  so  waren  es  doch  nicht  minder 
auch  die  Kampfesthaten  eines  Lessing,  welrhe  dieses  Bewusstsein, 
diese  Zusammengeliürigkeit  und  den  wahren  Seelenadel  erweckend,  in 
fruchtbarer  Weise  tV)iderten.  In  ihm  gewann  die  Liebe  zum  deutschen 
Vaterlande  einen  reinen  und  klaren  Ausdruck.  Namentlich  veilieh  er 
der  (letitsclien  Prosa  Kühnheit  und  Kraft,  um  so  die  letzten  Fesseln 
franzr»sischer  Knechtschaft  von  deutscher  Sprache  abzuschütteln.  Er 
hat  das  deutsche  Drama  geschalten  und  sich  dazu  unmittelbar  durch 
Preußens  Ruhm  und  Grüße  begeistern  lassen.  Er  ist  das  Spiegelbild 
für  Goethe's  Urtheil,  dass  durch  den  gi-oßen  Friedrich,  dui'ch  die  ge- 
schichtlichen Ereignisse  des  siebenjährigen  Krieges  der  erste  wahre, 
höhere,  eigentliche  Lebensgehalt  in  die  deutsche  Poesie  kam.  Zu 
Lessings  Lebzeiten  existirte  ein  deutsches  Volk,  aber  wie?  Einige 
hundert  l"'ürsten  und  Dynasten  regierten  und  herrschten  mit  absoluter 
Gewalt,  nur  zu  oft  durch  Willkür.  Deutsche  Art  und  Sitte,  deutsche 
Sprache  und  Literatur  wurden  von  den  Großen  und  Vornehmen  ver- 
achtet; den  deutschen  Bürgern  fehlte  der  Sinn  für  Nationalität  nnd 
Eigenthflndielikedt.  liessing  durfte  in  fleinem  Jugenddnma  einen  Hann, 
allerdings  blos  einoi  Bediraten,  sprechen  lassen:  „Ich  hin  nnr  ein 
Deatscher;**  aber  er  fthlte  tief  diese  Sehmadi,  er  yerachtete  bitter  die 
Sacht  nach  fremdem  Tand  und  die  Ansländerei,  und  er  setzte  seine 
ganze  Kraft  dn,  diese  zu  yerdrftngen,  die  nationalen  Eigenthttmlich- 
keiten  zn  heben  nnd  za  verstärken.  Kein  Schriftsteller  hat  wie  er 
die  Bentschen  „ans  ihrer  wissenschaftlichen  SdbstgefiUligkeit,  ans 
dem  Gelehrtendunkel  und  unfruchtbaren  Literatortreiben"  so  gründ- 
lich au^sierttttelt,  keiner  so  wie  er  durch  Wort  nnd  Beispiel  daranf 
hingearbeitet«  dass  unsere  Literatur  nnd  mit  ihr  die  Nation  sich  wieder 
dem  thätigen,  handehiden  Leben,  den  Interessen  des  Staates  nnd  der 
Gesellschaft  zuwandte.  Er  war  Gottscheds  Erbe,  nm  zugleich  auch 
der  Vemichter  der  hemmenden  Einflösse  dieses  Mannes  zu  werden, 
und  diese  zn  beseitigen,  war  ihm  »kein  Mittel  zn  gewaltsam,  kein 
Wort  zn  scharf  kein  ürtheil  zn  schroff^.  —  Von  Lesslng,  dem  Wiedeiv 
erwecker  deutschen  NationalgeftUds,  deutscher  Selbstachtung,  deutscher 
Literatnr  und  edler  Sprache,  können  die  Pädagogen  die  Idee  der  Er- 
ziehung zu  nationaler  Eigenthflmlichkeit  lernen.  Er  ist,  ehe  die  Be- 
freiungskriege Yon  1813  — 15  ansgefochten  werden,  ein  Apostel  der 


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—   693  — 


Freiheit  und  Befreiung  auf  literarischem  Gebiete,  indem  sein  Losungs- 
wort: ..Aus  der  Nachahmung  heraus,  in  die  innere,  selbst- 
ständige Hervorbringung  hinein!"  auch  hierin  zur  Geltung  kommt. 
Er  allein  ragt  aus  der  stattlichen  Zahl  der  Wasserpoeteu  seijier  Zeit 
hervor,  „ein  Lernender,  um  schnell  ein  Lehrender  zu  werden".  Er 
räumt  auf,  um  alte  Richtungen  zu  verdrängen  und  in  dem  großen 
Siegeszuge  der  selbstständigen  deutschen  Literatur  die  Fahne  voran- 
zutragen. Sein  Lebenslauf  bewegt  sich,  wie  der  des  Königs,  nicht 
zerstreut,  sondern  vielseitig  in  überraschendem  Fortschritt,  indem  er, 
bald  als  Philosoph,  bald  als  Diclit^r,  bald  als  Literator,  bald  als 
Scluiftsteller  und  Kritiker,  immer  neue  Fähigkeiten  seiner  reichen 
Natur  entfaltete.  „Tischgenosse  des  ersten  Scliriftstellers  in  Europa, 
Gast  des  l'reundes  des  ersten  Königs  von  Preußen.  Welche  Ausj>icht 
auf  Belehrung  und  Fiirderung,  auf  Protection  und  Empfehlung!"  Doch 
war  seine  Aussicht  ehie  i^'ata  Morgana,  die  ihm  nur  kurze  Zeit  ent- 
gegenlächelte, um  dann  für  immer  zu  versclnvinden.  Denn  Voltaire 
hatte  die  Schrift  „Siecle  de  Louis  XIV'"  verlksst.  Lessing  erhielt  noch 
vor  ihrem  Erscheinen  ein  Exemplar,  das  aber  nicht  sorglaliig  genug 
aufbewahrt  wnrde.  Der  Verfasser  witterte  unredliche  Absichten  und 
es  kam  zum  Brache.  Aber  Voltaire  wurde  dadurch  nur  der  Hebel, 
welcher  Lessing  zur  Selbstständigkeit  trieb,  damit  dieser  desto  kräftiger 
seine  wichtige  literariaehe  Eede  gegen  seine  Blnkesdimiede  sehwingeu 
konnte. 

Welche  StOime  hat  dieser  gef&ichtete  Kritiker  heraofbeschworen, 
nnd  wie  ittpkir  wnsste  er  diesen  Stürmen  Trotz  zn  bieten!  Sachsen 
war  sein  Vaterland;  dennoch  stand  er  mit  seinem  Herzen  auf  Friedrichs 
Seite,  nnd  wie  dieser  seine  kriegsgeschichtlichen  nnd  politischen,  so 
hat  er  seine  jonmalistischen  FeldzOge  geführt,  jedoch,  nm  die  Stümper 
zn  entmnthigen  nnd  die  fihigen  £öpfe  auf  würdige  Ziele  zn  lenken. 
Keinem  Schriftsteller  hatte  das  Zeitalter  Friedrichs  des  Großen  sein 
Bpeciflsches  Gewicht  in  so  hohem  Maße  an^iedrflckt  wie  Leasing. 
Kein  Schriftsteller  war  dem  innersten  Geiste  des  Königs  mehr  ver- 
wandt denn  er.  Zar  Bestätigung  dafür  das  folgende,  die  bisherige 
Ansfllhmng  theils  znsammenilssBende,  theils  erweiternde  Urtheil  Wilhelm 
Scherers:  ,ibi  beiden  dieselbe  Lebhaftigkeit,  derselbe  Ehrgeiz,  dieselbe 
Jagendliche  Bnhmsacht,  die  den  Gegner  rücksichtslos  niederwarf,  die- 
selbe Hftrte  gegen  das  Schlechte,  dasselbe  Freundschaftsbedürfius  bei 
geringerer  Empfindlichkeit  gegen.  Frauenliebe,  dieselbe  Mischung  von 
Lebenslust  und  PfüchtgefÜhl,  derselbe  Freisinn,  dieselbe  Toleranz,  der- 
selbe klare,  rasche  VerstandesstU:  Lessing  verlangte  von  dem  Gescbicht- 


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—  694  — 


Schreiber,  dass  er  die  zeitfreiiüssischen  Erei^isse  erzähle,  eine  Forde- 
rung, die  Friedrich  der  (rroße  erfiillte.  Lessing*  führte  ein  strammes 
Regiment,  wie  Friedrich  in  Feld  und  Frieden.  Lessing-  führte  die 
nationale  Sache  gegen  die  Fremden,  wie  der  große  König.  Nie  waren 
zwei  Menschen  mehr  für  einander  geschaffen,  als  Lessing  und  Friedrich 
der  Große;  nirgends  hätte  der  Kfinig  einen  Unterthanen,  einen  Beamten 
gefunden,  der  ihm  mit  gr(ißerer  Treue  und  würdigerer  Gesinnung  ge- 
dient, nie  einen  Schriftsteller,  der  ihm  so  völlig  einsetzt  hätte,  was  er 
an  den  Franzosen  liebte/'  Aber  es  genügte  jenes  Missgeschickes 
wegen  die  ungerechte,  unbewiesene  Anklage  Voltaire's,  um  Lessiug  für 
immer  aus  des  Königs  Nähe  zu  verbannen. 

Oiine  Lessing  wäre  auch  die  deutsche  Poesie  und  Literatur  keine 
Grofimacht  geworden.  Lessing  ist  der  für  alle  Zeiten  vorbildliclie 
Kritiker,  und  dieser  Kritiker  und  Dichter  „begreift,  was  er  thut  und 
erfüllt,  was  er  fordert'*.  Darin  bestellt  seine  GrOfie.  Die  beiden 
bedeutendsten  Dichter,  welche  ihm  gefolgt  sind,  haben  eingedeok  seiner 
Kämpfe  und  Siege  Lessing  als  den  Achilles  der  dentsehen  Literatur 
Yerherrlicht  Dieselben  Dichter  haben  ihm  nach  seiiiem  Hiiiacheiden 
folgende  Grabschxift  gewidmet: 

MVormals  hn  Leben  ehxtea  wir  dich,  wie  einen  der  G9tter; 
Nun  da  todt  bist,  ao  henwht  Uber  die  Geister  dein  Geist." 

Diesem  edlen  Geiste  licssings,  wie  dem  groften  Geiste  des  Königs 
gleich  zn  werden,  sind  nur  wenige  Hensdien,  oft  nach  Jafarhnnderten  erst 
Ton  dem  Weltengenins  erkoren.  Aber  in  ihrem  Geiste  den  Ghaiakter 
bilden,  den  sittlichen  Wülen  kräftigen;  in  ihrem  Geiste  Jede  ver- 
nfinfljge  Seele  «durch  die  Erkenntnis  ewiger  Wahriieit  zn  yeredehi, 
aber  auch  durch  die  Wahrheit  des  Ewigen,  Unendlichen  und  Heiligen** 
zu  weihen  und  zu  erheben:  das  können  wir  mit  nie  Terlöschendem 
Eifer  erreichen;  das  wollen  wir,  „dem  Vaterlande  ergeben,  uns  selber 
treu,  dem  Heiligen  gehorsam*,  in  unserem  Berufe  erstreben!  Denn: 

^"Wer  den  Besten  seiner  Zeit  genug  gethan. 

Der  hat  gelebt  für  alle  Zeiten/ 

(Quellen:  1.  Friedrichs  II.  hinterlassene  Werko:  2.  Zeller.  Friedrich  der  Große 
als  Philosoph;  3.  Du  Bois-Rcymond,  Friedrich  11.  in  der  bildenden  Kunst;  4.  H.  Tröhle, 
Friedrich  II.  und  die  deutsche  Literatur;  5.  D.  Maller,  Geschichte  des  deutschen 
Ydkes;  6.  Lesaings  Weite;  7.  Dansd  und  Gubraner,  Lessings  Leben  und  Werke; 
8.  Erich  Schmidt,  Leasing,  öeschichte  seines  Lebens  und  seiner  Schriften:  9.  Joh. 
Jakoby,  Le.ssin<r,  der  Philosoph:  10.  Diesterw'eg,  .lahrbu<li  IS.'iS;  11.  Kuim  Fischer, 
Lessing  als  Heformator;  12.  Wilhelm  Scherer,  üeschichte  der  deutscheu  Literatur  u.  a. 


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IK6  Bildug  der  ersten  Yerstellugsreihei. 

Von  Alois  Slexdk-Littau. 

^^iemand  hat  so  viel  Gelegenheit  und  Ursache,  Betrachtungen 
über  die  Thätigkeit  des  menschlichen  Geistes  anzustellen,  aber  auch 
die  Lückenhaftigkeit  unseres  Wissens  um  den  psychischen  Organismus 
zu  bedauern,  als  wir  Lehrer.  Insbesondere  ist  es  aber  die  Lelire  vom 
Gedächtnis,  die  für  den  Unterricht  und  infolgedessen  für  die  Er- 
ziehung von  inaßjrebendster  Bedeutung  ist,  und  docli  noch  nicht  jene 
Stufe  der  Kntwickelnng  und  Klarheit  erreicht  hat,  dass  sie  immer  und 
überall  dem  Lehier  eine  feste  Stütze  bei  seiner  Thätigkeit  bilden 
würde.  Im  ( Jec:entlieil:  oft  versajrt  so  manches  Gesetz  dieser  Lehre, 
wo  man  nachweisen  kann,  dass  der  (Tiund  des  Versagens  nicht  in  der 
Art  der  Anwendung,  sondern  in  der  Art  der  Abstraction  dieses  Ge- 
setzes, also  in  dem  Gesetze  selbst  liegt. 

Das  Gedächtnis  ist  für  die  Schule  ein  Mittel,  ohne  welches  sie 
ihre  Tliätigkeit  einstellen  müsste;  wenn  sich  die  Schule  dieses  Mittels 
bedienen  will,  muss  sie  dessen  Art  kennen.  Nicht  zum  erstenmal  werden 
die  Fragen  aufgeworfen:  Ist  das  Gedächtnis  das  „^falent"  selbst  oder 
es  ist  nur  ein  Talent  unter  anderen?  Ist  das  Gedächtnis  eine  An- 
lage der  Seele,  oder  ist  diese  Anlage  schon  mit  der  normalen  Be- 
ßchaflfenheit  des  leiblichen  Organismus  gegeben,  also  bei  jedem  normal 
entwickelten  Menschen  vorhanden  und  nur  abgestuft  durch  eine  leichtere 
oder  minder  leichte  Erregbarkeit,  beziehentlich  Stumpfheit  der  Nerven? 
Die  Beobachtung  der  EindesentwickelaDg  lehrt,  dass  das  GedAchtnis 
täatsaehlich  keine  orsprünglicbe  Anlage  der  Seele  sein  kann  (?D.H.), 
nnd  insofern  es  wirklich  yererht  za  sein  seheint,  ist  es  dies  nnr  mit 
Blicksicht  auf  die  relative  Vollkommenheit  der  Sinnesorgane  nnd  der 
Nervenerregbarkeit 

Biesen  Satz  angenommen,  fragt  es  sich  weiter:  Wie  kommt  es, 
dass  es  trotzdem  Kinder  mit  besserem  nnd  solche  mit  minder  gutem 
GedAchtnisse  gibt,  ferner  Kinder,  in  denen  das  Gedftchtnis  in  einer 
bestimmten  Bichtnng  entwickelt  ist,  obwol  nach  den  sonstigen  Äofte- 
rongen  ihres  Geistes  nnd  der  Anfiiahme  Von  Empfindungen  ihnen  Ein 

» 

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—  69ß  — 


Grad  der  Eutwickelung  von  Sinnesorganen  und  nach  ihrem  Tempera- 
mente Ein  Grad  der  Nervenerrejrbarkeit  innewohnen  mag.  Eine  voll- 
kommen zufriedenstellende  Antwort  auf  diese  Fragen  zu  geben,  wüi'de 
uns  nicht  gelingen  und  liegt  auch  nicht  in  unserer  Absicht  Wir 
wollen  nur  darauf  liinweisen,  dass  alle  die  sogenannten  Eigenschaften 
des  „Gedächtnisses"  und  auch  der  Reproductionsgesetze  begründet 
sind  in  der  ersten,  d.  h.  im  Kindesalter  geschehenden  Ausbildung  von 
Vorstellungsreihen  und  deren  Verknüpfung  zu  Vorstellungsmassen.  Wie 
diese  Aasbildimg  und  Verknüpfung  nach  den  siclitbai  en  Regungen  der 
Kleinen  wol  vor  sich  gehen  mag,  daraut  sollen  sich  folgende  Unter- 
sndningen  beziehen. 

Wir  ^rissen  leider  zu  wenig  von  dem  Grade  der  ersten  AnfliAS- 
simgsfilhigkeit  der  Kinder;  nur  so  viel  steht  nach  dem  Gutachten  im 
Physiologen  fest,  dass  die  Kinder  erst  in  ^er  gewissen  Zdt  nach 
der  Geburt  das  AlIeranlMendste  durch  jeden  der  fünf  Sbme  ani^ 
nehmen  imstande  sind,  wobd  der  Geschmadosinn  allen  den  ftbrigen 
TOianzngehen  scheint  und  der  Gemchsinn  wol  am  spätesten  seine 
Thfttigkeit  anfiiimmt  Von  den  übrigen  dflrfte  sich  das  allgemeine 
„Gefilhl'^  unmittelbar  nach  oder  g^chadtig  mit  dem  Geschmaeksinne 
and  dann  der  Gesichts-  und  Gehdrshin  entwickebi. 

Die  erste  Vorstellnngareihe  wird  sich  also  knfipfen  an  die  Vor- 
stellnng  des  Geschmacks,  die  au  gleicher  Zeit  eine  Complezion'  bilden 
muss  mit  der  Yorstellung  der  Beseitigung  eines  Unangenehmen  (Hunger,  ' 
Durst).  Dass  dem  thatsächlich  so  ist,  sehen  wir  daran,  dass,  wenn 
das  Kind  i^ter  die  Fähigkeit  an  sehen  erlangt  hat,  es  bestrebt  ist, 
alles  ihm  Sichtbare  und  Enreichbare  zum  Munde  zu  fOhren  (und  das 
in  einer  Zeit,  wo  es  noch  nicht  „zahnen^  kann),  um  es  danach,  ihlls 
es  ein  Gegenstand  war,  der  keinen  Geschmack  gab,  nodmials  zu  be- 
trachten. 

Dass  die  so  mittels  des  Geschmacks  gebildeten  Vorstellungen  nur 
schwach  sein  worden,  ist  wegen  der  geringen  „Eindringlichkeit^  und 
der  „Unbestimmtbeif  der  bezüglichen  Empfindungen  anzunehmen.  Dass 
es  also  anderen  eindringlicheren  und  bestimmteren  Empfindungen  ge- 
lingen wird,  Vorstellungen  hervorzurufien,  die  jene  ersten  yerdrängen, 
indem  sie  sich  mit  ihnen  gleichzeitig  verbinden,  ist  nur  eine  Folge. 
Und  welche  sind  die  „eindringlichsten"  und  bestimmtesten  Vorstellungen? 
Gewiss  die,  welche  durch  den  Gesichtssinn  gewonnen  werden.  Fnd 
so  entwickelt  sich  später  bei  dem  sehenden  Kinde  der  Vorgang  der 
Sammlung  von  Vorstellungen  nicht,  wie  man  erwarten  sollte,  vom 
Geschmackssinne,  sondern  vom  Gesichtssinne  aus;  das  Kind  betastet, 


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—   697  — 


will  die  Wirkung  auf  den  KJ^rpet  erproben  ete.,  wiU  schmeckeB, 
hören,  riechen  alles  das,  was  es  gesehen  hat. 

Alle  infolge  der  Empfindungen  der  übrigen  Sinne  gewDimeiieii 
Vorstellungen  determiniren  gleichsam  die  durch  das  Gesicht  gewon- 
nenen Vorstellungen.  So  „beherrschen"  also  gleich  im  Ursprünge  diese 
eindringlichsten  aller  Vorstellungen  alle  die  übrigen  und  so  bleibt  es 
auch.  Auch  der  Erwachsene  stellt  sich  mit  der  Vorstellung  einer 
Geruchsempflndung  nicht  zufrieden,  sondern  „sucht  mit  den  Augen" 
den  diese  Empfindung  verursachenden  Gegenstand.  Es  ist  ihm  also 
die  Geruchsempfindung  zu  unwesentlich,  zu  schwach;  er  sucht  das 
Wesentliclie  hierzu,  das  er  durch  sein  Gesicht  gewinnen  kann,  und  an 
die  so  gewonnene  Hauptvorstellung  knüpft  er  die  des  Geruchs. 

Der  Ubergang  aber  zur  Vorherrschaft  der  (Tesiclitsvorstellungen 
ist  ein  allmählirlier  und  ilin  vermittelt  der  Tastsinn  (dass  der  Tast- 
sinn tliat.^arhlioh  das  (Tesicht  ersetzen  kann,  sehen  wir  an  Blinden), 
so  dass  wir  scliließen  können,  dass  das  Kind,  bevor  es  manche  von 
den  dem  Gesichtssinne  zugänglichen  Eigenschaften  mit  diesem  Sinne 
aufgefasst  hatte,  es  schon  die  bezüglichen  Vorstellungen  durch  den 
freilich  sehr  unentwickelten  Tastsinn  gewonnen  hatte. 

Aber  auch  diese  Empfindtmgen  sind  zu  schwach  und  ihre  Vor-  ! 
Stellungen  müssen  sich  jenen  des  Gesiclitssinnes  unterordnen,  werden 
aber  nicht  zuiückjredrängt,  sondern  kräftigen  je  nach  ihrer  Gleich- 
artigkeit die  entsprechenden  GesichtSTorstellungen. 

Solange  also  die  höheren  Shme  nidit  entwiekdt  sind,  bilden  sich 
wol  auch  Yorstelliuigeii  und  Beflien  im  Geiste  des  Kindes,  aber  jdiese 
sind  so  schwach,  dass  sie  sich  den  späteren  durch  den  Gesiehtssuin 
gewmmenen  YoUstSndig  unterordnen  mfissoi,  also  gleichsam  eine  Vor- 
stnfe  >ii  der  eigentlichen  BOding  von  Yorstellnngen  und  deren  Beihen 
.  snid.  Das  eme  muss  aber  wahr  sein,  dass  schon  diese  Entwickdmigs- 
Torstnfe  bei  yerschiedenen  Mensehen  eine  yerschiedene  Klarheit  bfr> 
siteen  mag  nnd  dass  diese  Klarheit  ein  Besnltat  erblicher  Eigen- 
schaften ist 

Nun  ist  das  Kind  so  weit»  dass  es  sehen  kann.  Welche  Gegenstftnde 
nnd  welche  Eigenschaften  dieser  Gegenstinde  werden  seinem  Gesichts- 
sinne zuerst  anflhllen  ?  Sowol  Ton  den  Personen  nnd  Gegenständen  als 
anch  von  den  Eigenschaften  mflssen  ihm  nmftchst  die  anfallen,  von 
denen  es  sieh  schon  während  der  Ycn-stufe  „schwache  yorstellnngen*^ 
gebildet  hat:  das  werden  G^egenstände  nnd  Personen  seiner  nächsten 
Umgebung  sein. 

Welche  Eigenschaften  es  an  diesen  bemerkt,  dürfte  schwerer  m 

FMlacocim>      Akrg.  Haft  XL  60 


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—  698 


beurtheilen  sein:  gewiss  aber  auch  zunäclist  die,  die  es  schon  mit  dem 
Tastgefühl  der  Zunge  und  der  Hand  aufgefiisat  hatte  und  von  allen 
den  übrigen  die  eindringlichsten. 

Was  ist  aber  dem  Gesichtssinne  das  eindringlichste?  Zunäclist  die 
Bewe^'uii(^,  dann  das  Licht  als  solches,  dann  das  Licht  als  Beleoch- 
tnng  und  Karbe.  dann  die  Form. 

Wir  Wüllen  die  folgenden  Untersuchungen  über  die  Bilduns:  von 
Vorstellungen  und  Reihen  mit  dem  bekannten  Verlangen  Fröbels  er- 
ölfnen,  dass  dem  neug-eborenen  Kinde  eine  einfache  Holzku'jfcl  von 
Naturfarbe  über  das  Bettchen  beweglich  an  einer  Schnur  l)eti^stigt 
werde.  Die  Kugel  wird  also  gewiss  eine  Zeitlang  unbeachtet  hängen 
bleiben,  sowie  auch  die  Mutter  und  der  Vater  eine  Zeit  warteil  müs- 
sen, bevor  sie  eine  Äußerung  der  geschehenen  Auffassung  von  Seite 
des  Kindes  erhalten. 

Das  erste  jedenfalKs,  was  dem  Kinde  an  der  Kugel  auffallen  wd, 
ist  deren  vollkommene,  d.  h.  nach  allen  Seiten  hin  ausführbare  Be- 
weglichkeit. Da  die  Kugel  ferner  keine  Mannigfaltigkeit,  sondern  die 
höchste  Einfachheit  zeigt,  so  bleibt  auch  das  Augenmerk  des  Kindes 
nur  auf  die  Beweglichkeit  gerichtet. 

Die  Vorstellung  der  Beweglichkeit  wird  die  oberste  und  erste  von 
den  dnreb  das  GMcht  gewonnenen  im  BewoBsteein  des  Kindes  sein, 
bei  nsturgemafier  Entwickelung  ungestört  dvreh  die  sich  allen&Qs 
anfdrfiiigende  Form,  oder  den  Klang  n.  a. 

Es  drangen  sich  nim  folgende  Fragen  auf:  Wie  geht  die  An- 
reihnng  der  Vorstelluigen  nach  der  wahrgenommenen  Beweglichkeit 
Tor  sich,  wenn  dem  Kinde  FrObels  Kngel  als  erstes  Spielzeog  gegeben 
wird,  wie,  wenn  dieses  nidit  geschieht? 

Wir  mfissen  aber  voranaschieken,  dass  wir  annehmen,  die  „Be- 
weglichkdt*'  sei  dem  Kinde  keine  vom  Gegenstande  abstrahirte,  son- 
dern diesem  ajihaftend,  was  keineswegs  der  olngen  Bdiaaptong  wider^ 
spricht,  dass  die  Vorstelhing  der  Beweg^chkeit  ^e  durch  die  Form  etc. 
ungestörte  sei;  das  Kind  bekonunt  eben  den  unbestimmten  Eändmck 
aller  mit  dem  Gesichtssinne  wahrzunehmenden  Eigenschaften  der  Kugel, 
aber  so,  dass  die  der  Beweglichkeit  sofort  alle  die  sehwAcheren  (oder 
sagen  wir:  dem  Eäitwickelnngsgrade  des  Auges  noch  niclit  angemes- 
senen) Yorstellnngen  zurückdrftngt  und  allein  die  herrschende  wird. 

Erst  nach  und  nach  gelingt  es  den  flbrigen  darch  entsprechende 
„Hilfen",  die  um  so  zahli*eicher  werden,  je  vielseitiger  die  Augen- 
thätigkeit  wird,  also  je  entwickelter  das  Auge  wird,  sicli  emporzuheben 
und  ihre  Stellung  im  Bewusstsein  gegen&ber  der  „Beweglichlceit''  ein- 


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699  — 


yimehinen.   Dass  aber  die  Beweglichkeit  immer  das  Herrschende  im 

Gteiste  bleibt,  sehen  wir  deutlich  an  allen  Erwaohsenen. 

Für  die  Beweglichkeit  bleibt  nämlich  mUMr  ^Interesse"  immer 
nnd  im  höchsten  Grade  wach;  ..Abweclislung  muss  sein",  heißt  ein 
trivialer  Ausdruck,  der  aber  nur  bedeutet,  dass  Unbeweglichkeit,  ob 
in  Lebensweise  oder  in  sonstiger  Richtung,  das  Gegentheil  dessen  ist, 
was  im  Geiste  jedermanns  das  Herrschende  ist,  woraus  jedermanns 
„Intei  esse"  entsteht. 

Wir  sagten,  dass  die  Vorstellung  der  Beweglichkeit  keine  vom 
Gegenstande  ahstrahirte  ist;  sie  an  sicli  kann  also  das  erste  Glied 
für  die  Am*eihung  anderer  Vor8tellung:en  nicht  abgeben:  das  tliut  die 
dunkle  Complexion  aller  der  übrigen  Vorstelhiniren  von  dem  G^en- 
stand:  also  ein  dunkler  „Begritt^'  des  Gegenstandes  allein. 

Die  Beweglichkeit  wii'd  deninacli  nur  da>  ..Bindemittel"  sein  für 
die  gewonnenen  Gesammtvorstellungeu,  welche  sicli  aneinander  reihen 
werden  nach  dem  Grade  und  der  Art  der  ihnen  innewohnenden  Be- 
wegliclikeit. 

Dem  Kinde  wird  es  gewiss  bald  auffallen,  dass,  wenn  sich  die 
Kugel  bewegen  soll,  sie  in  diese  Bew^i^ung  versetzt  werden  muss; 
weiter,  dass  gewisse  Dinge  nie  in  Beweorung  gesetzt  werden,  sowie 
dass  ein  dritter  Theil  seiner  ünigebung  sich  bewegen  kann,  ohne  von 
einem  fremden  Körper  hierzu  veranlasst  Wehrden  zu  sein.  Nach  diesen 
drei  Graden  der  Beweglichkeit  reihen  sich  die  Vorstellungen  und  gliedern 
sich  aneinander:  1.  Vorstellungen  von  Gegenständen,  die  wie  die  Kugel 
die  mannigfaltigste,  wenn  auch  nicht  ursprüngliche  Bewegung  zeigen 
(dunkle  Xebenreihe  der  Causalität  [Ursache  der  Bewegung]);  diese  Neben- 
reihe bleibt  so  lange  dunkel,  bis  das  Kind  durch  entsprechende  Be- 
obachtung Gleichartiges  gewinnt,  was  dann,  als  Hilfe  wirkend,  jene 
klarer  macht;  2.  Vorstellungen  Ton  Gegenständen',  welche  wol  eine 
mehr  oder  weniger  unyollkommene  Bewegung  besitzen,  die  ihnen  aber 
ursprünglich  gehört  (a.  dunkle  Nebenreihe  der  Vorstellung  der  Kraft 
als  bewegende  ürsaehe,  b.  dunUe  Nebenreihe  des  Banmes);  3.  Vor- 
BteUungen  Ton  Gegenständen,  die  nur  selten  oder  nie  ihren  Standort 
▼ertndeni,  und  wenn  dies  geschieiht,  so  nur  durdi  Einwirkung  eines 
anderen  EQrpers. 

Ist  Im  dieser  dritten  Gruppe  doeh  manchmal  eine  Bew^^g  zu 
bemericen,  so  verhalten  sich  die  ihnen  entsprechenden  Vorstellungen 
wie  die  bei  1.  Bewegen  de  sieh  nie,  so  lenken  sie  Torlftufig  die  Be. 
obachtung  des  Kindes  nieht  auf  sich.  Geht  die  Gewinnung  der  ersten 
Vorstellungen  wirklich  auf  diese  Art  yor  sich,  ^  ist  das  ein  natttr- 

ßO* 


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lieber  Entwickelungsgang,  der,  wenn  er  niclit  gewaltsam  gestört  wird, 
zum  „guten  (Tedächtnisse"  führen  mnss,  weil  von  allem  Anfang  das 
was  von  Natur  aus  das  Eindringlichste,  odei-  besser,  der  betreffenden 
Fassungsstufe  Angemessene  ohne  Hindernisse  aufgefasst  wird,  und 
alles,  wozu  die  Sinnesentwickelung  noch  nicht  „hoch"  genug  ist,  als 
dunkel  unter  seiner  Herrschaft  hält,  um  es  nach  und  nach  als  Seiten- 
reihen abzuzweigen.  Einheit  und  Klarheit  bleibt  dem  ersten  Inhalte 
des  Geistes  so  erhalten. 

Nun  sind  aber  die  wenigsten  Kinder  in  der  Lage,  dass  ihre 
Eltern  ihnen  absichtlich  ein  so  einfaches  Spielzeug  geben,  und  trotz- 
dem ist  eine  große  Anzahl  von  Kindern  —  also  auch  ohne  das  Spiel- 
zeug —  im  Besitze  eines  guten  Gedächtnisses  und  der  geistigen  Ein- 
heit und  Klarheit. 

Wenn  dem  thatsächlich  so  ist,  so  ist  der  Erfolg  dem  Zwang  der 
zufölligen  Verhältnisse  zu  verdanken. 

Dass  aber  der  Zwang  der  zufalligen  Hausverhältnisse  einen  ebenso 
großen  Theil  von  Kindern  im  Anfang  ihrer  Enuvickelung  zur  .,(7e- 
dankenlosigkeit"  und  Zerstieutheit  fuhren  muss,  werden  wir  unten 
beleuchten. 

Durch  einen  Zufall  kann  das  Kind  sein  Augenmerk  auf  einen  in 
der  Ein&chhett  jener  Engel  Terwandten  Gegenstand  riehten,  der  ihm 
dann  für  immer  das  liebete  „Spielzeug"  bleiben  wird  nnd  von  dem  ans 
dann  die  Büdmig  der  ersten  YoisteUungsreihen  ausgehen  wird. 

Dass  dies  zn  gleich  gnten  Besnltaten  fthren  kann  wie  bei  der 
Verwendong  der  Kugel,  ist  ansonehmen,  da  der  Gegenstand  so  gleicher 
Zeit  anch  beweglich  sein  wird;  denn  wie  schon  erwdlmt»  ist  das  kind- 
ttdie  Auge  Tor  aUem  anderen  fttr  die  ^Beweglichkeit**  empl3lnglich  nnd 
sacht  also  anter  den  yielen  sidi  ihm  znr  Beobaehtnng  darbietenden 
Gegenständen  Jenen  ans,  der  ihm  wegen  seiner  sonstigen  «iänfhchheit** 
ungestörte  Gelegenheit  bietet^  die  „B^eglichkeif  zn  beobachten.  Nur 
kann  es  durch  die  HansrerÜUtnisse  geschehen,  dass  dem  Kinde  sich 
ein  Gegenstand  zur  Beobaehtnng  darbietet,  der  eine  besondere  Art 
Ton  Bewegung  ausführt  Sagen  wir:  das  kleine  Kind  mnss  oft  bei 
der  Mutter  in  der  Kttobe  verbldben  nnd  beobachtet  hier  die  Bewegung 
der  vom  Dampfe  gehobenen  und  sich  wieder  niederlassenden  Stttrze. 
Die  kreisfilmige,  gewOhnlieh  mattforbige,  also  nicht  glftnzende  Stürze, 
ist  ein  zienüidi  emfhcher  Gegenstand,  dessen  Gesammteindruck  den 
der  Bewegung  nicht  stören  kann. 

In  einem  solchen  Falle  muss  aber  auch  jene  dunkle  Beihe  der 
Cansalität  eine  gan^  andere  Ausbildung  bekommen,  als  wenn  das  Kind 


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an  der  Kugel  MUie  fieobachtnng  maeht,  weil  diese  von  jemand  ge-  . 
stoßen  werden  mnss,  um  sich  zu  bewegen.  Hier  sieht  das  Kind  dBUtlieh 
die  die  Bewegung  hervorbringende  £raft  (Hand  etc.),  bei  dem  Ton  uns 
gewählten  Beispiele  nicht. 

Da  aber  die  Bewegung  fortdauert,  so  bleibt  auch  der  Reiz  da, 
jene  Ursache  der  Bewegung  herauszufinden:  die  Vorstellnngsreihe  der 
Causalität  entwickelt  sich  vorherrschend. 

Wenn  diese  Entwickehing  nun  nicht  gestört  wird,  so  muss  aus 
dem  Kinde  ein  „Denker*'  im  aUgeineinen  werden.  Damit  ist  aber  auch 
schon  oft  dem  Denken  in  einer  bestimmten  Richtung  (Facheignung) 
der  Grund  gelegt,  ja  dieses  Denken  in  bestünmter  Richtong  gewinnt 
sogai*  die  Oberhand.  • 

Diese  beiden  von  uns  angefülirten  Fälle  zeigen  das  Ideal  der  Entr 
Wickelung  der  Geist esthätigkeit  eines  Kindes:  im  ersten  Falle  durch 
Absicht,  im  zweiten  Falle  durch  Zufall  herbeigeführt. 

Jene  Angliedcrung  nach  Beweglichkeit  erleidet  aber  oft  große 
Hemmung  und  Str»rung.   Wir  sagten,  dass  das  Auge  für  die  Beweg- 
lichkeit zunächst  entwickelt  ist.  Triebt,  Gestalt  und  Farbe  etc.  werden  . 
nur  wahrgenommen,  wenn  sie  besonders  eindringlich  an  und  für  sich 
oder  im  Vergleich  zu  der  Beweglichkeit  des  Beobachteten  sind. 

^^'enu  z.  B.  statt  der  rohen  Holzkugel  eine  glänzende  Metallkugel 
genommen  würde,  so  müsste  schon  der  .Glanz"  hindern,  dass  die  Be- 
weglichkeit ungestört  zur  herrschenden  Vorstellung  in  dem  von  uns 
angeführten  Sinne  werde. 

Dieses  Stöi*en  müsste  Unlnstgefühle  und  schon  im  Uranfang  Zer- 
streuung zur  Folge  haben. 

Dass  ünlostgeflUüe  entstehen,  beweist  der  Umstand,  dass  das  mit 
einer  sddien  einfeehen  Kugel  spielende  Kind  lacht:  ein  Zeichen  seiBee 
Wolbefindens.  Dass  aber  hier  durch  die  ersten  Gegenstände,  mit  denen 
ndi  das  Kind  befiisst,  der  Gnmd  zur  Zerstreanng  gelegt  wird«  beweist 
die  Thatsache,  dass  die  zerstreutesten  Kinder  ans  jenen  H&asem  kom- 
men, wo  man  dem  kaum  geborene^  Kinde  allerhand  und  compli- 
eirtes  Spielzeug  vorlegte.  Gebe  man  demselben  Kinde  eines  jener 
Glockenspiele,  wie  solche  verwendet  werden,  so  wird  man  sehen,  dass 
das  Spielzeug  nach  kürzester  Zeit  ans  dem  Bettchen  fliegen  und  das 
schOnsto  Vcsklingeln  mit  dem  Spielzeug  das  Kind  nicht  in  gute  Laune 
bringen  wird.  Das  Kind  faast  zunächst  die  Beweglichkeit  der  GlOck- 
chen  auf,  wobei  ihm  schon  die  zweiftehe  Bewegung  (der  Glocke  und 
des  Klöppele)  hemmend  iSL 

Die  ruhige  Auffiusung  der  Bewegung  stört  aber  auch  der  gellende 


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(also  sehr  eindringliche)  Ton  und  der  Glanz  des  schün  polirten  Spiel- 
zeuges. 

Diese  Störung  des  Erfolges,  dass  das  dem  Auge  Fassbars te'^  in 
seiner  vollen  Stärke  aufgenommen  und  zu  herrschender  Vorstellnng 
des  Geistes  werde,  ist  auch  die  erste  Ursache  einerseits  des  Mangels 
an  Klarheit  und  Einheit  in  der  Auffassung,  also  eine  Ursache  der 
späteren  Zerstreuung  und  mangelhaften  Reproduction;  anderseits  ver- 
ursacht diese  Hemmung  der  lassharen  Voi'stellungen  durch  andere,  die 
■wegen  der  geringen  Entwickelung  der  nöthigen  Nerven  nur  dunkel 
sind,  ein  Unlustgefühl,  das  von  nun  an  schwer  ausrottbar  sein  wird, 
ebenso  wie  jene  Zerstreuung. 

Wenn  solche  Störungen  andauern,  so  ist  die  nächste  Folge,  dass 
durch  den  fortwährenden  Zwang,  dieses  der  Entwickelung  des  körper- 
lichen Organes  nicht  Angemessene  aufzunehmen,  zunächst  jene  beson- 
deren Nebenorgane  sich  früher,  als  es  beim  natürlichen  Gange  der 
Entwickelang  der  Fall  gewesen  wäre,  ausbilden  müssen:  das  £md 
wird  frühreif. 

Beobachten  wir  ein  frühreifes  Eind  und  dessen  Eigenflcliaften,  so 
bekommen  wir  thatsächlich  einen  Beweis  aof  umgekehrtem  Wege,  daae 
nnsore  obigen  Behauptungen  waJir  sein  mttssen:  das  frtUirejfe  Kind 
&Bst  leicht  aof  in  allen  mOgUehen  Gebieten  (weil  ja  die  Organe  aus- 
gebildet  sind);  es  fiisst  aber  sehr  oberflftcUich  aof  (weil  ja  diese  Anf- 
fusong  doch  nur  wieder  mit  den  Organen  eines  nnentwickelten  Kör- 
pers geschieht);  es  ist  verstreut  (weil  von  Jagend  anf  diese  AnffasBong 
oberflicUich  geschehen  mnsste;  denn  bei  einem  frühreifen  Kinde  ent- 
wickehi  ddi  die  Oigane,  weil  sie  hierzu  durch  eindringliche  Ehnpfln- 
dvngen  fönnlieh-  geswtmgen  werden,  wogegen  bei  dem  natüriich  sich 
entwiekehiden  Kmde  die  Organe  nur  das  anflhssen,  wosa  sie  die  Beife 
h^ien). 

Diese  Zerstarentheit  der  frikhreifen  Kinder  ist  aber  anch  eine  Folge 
dessen,  dass  wegen  der  Art  nnd  Zahl  der  gebotenen  Empfindungen 
nie  Eme  VorsteUimg  imstande  wa^  einigend  auf  die  flbrigen  an  whrken. 

Wiedeihden  wollen  wir,  dass  eine  angeobte  leibliche  Be- 
Bchaifenheit  viel  znr  Milderong  oder  Yersehäifimg  bei  der  besproch^en 
Bildnng  der  Yorstellangsreihen  beitragen  kann.  Ein  leicht  erregbares 
Kind  whrd  sieher  bei  der  größten  Vorsicht  dem  natürlichen  Ent- 
wickelongsgange  Toranseilen,  ebenso  wie  ein  schww  erregbares  Kind 
hinter  demselben  zurückbleiben  wird  auch  bei  einer  noch  so  großen 
Zahl  und  einer  noch  so  bedeuten4en  Schärfe  der  Empfindungen. 

Dieses  gilt  auch  für  die  Bildung  yon  Vorstellungareihen,  deren 


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—   708  - 


einzelne  Vorstellungen  infolge  von  Empfindungen  entstanden  sind,  die 
durch  die  übrigen  Org^e  des  Körpei-s  zur  Seele  den  Eingang  ge- 
funden haben. 

Wir  haben  oben  die  Behauptung  aufgestellt,  dass  es  drei  Haupt- 
reihen sind,  die  isich  nach  der  Fassungsfiihigkeit  des  Gesichtsorganes 
entwickeln:  vollkommene  Bewef^lichkeit  (Nebenreihe Causalität);  weniger 
vollkommene  Bewegliclikeit  (Nebenreihen  Kraft,  Raum);  Unbeweglich- 
keit.  Gegenstände,  die  unbeweglich  sind,  beachtet  das  Kind  nicht, 
ol)wol  man  doch  annehmen  muss,  dass  es  eine  dunkle  Vorstellung  ihres 
Wesens  habe.  Die  Vorstellungen  dieser  dritten  Reihe  müssen  wegen 
ihrer  Dunkelheit,  obwol  sie  durch  den  Gesichtssinn  gewonnen  sind, 
auf  der  nämlichen  Stufe  des  Bewusstseins  bleiben,  wie  jene  der  Vor- 
stufe, die  oben  dargestellt  wurde.  Sie  bleiben  hier  so  lange,  bis  das 
Auge  nach  und  nach  mehr  fassen  kann. 

Die  infolge  der  vermehrten  und  verschärften  Fassungsfähigkeit 
entstandenen  Emplindungen  wecken  dann  Vorstellungen,  zu  denen  der 
„Untergrund"  bereits  durch  jene  dunkeln  gegeben  ist 

Aber  auch  die  Nebenreihen  der  Kraft,  des  Baumes  und  der  Cau- 
salit&t  bleiben  noch  dunkel 

In  dieeer  DimlEelheift  aber  bekommfln  sie  Nebeunihen  zweiter 
Ordnung.  Ton  der  Reihe  des  BanmeB  zweigt  sieh  die  yorlftnfig  noeh 
weniger  Uare  Verstelkuigsreibe  der  Zeit  ab.  Die  Engel  Icaim  durch 
dieselbe  Kraft  Terschiedeiiaitig  bewegt  werden:  Nebenreibe  ModaHtit. 
Alle  diese  NebenreUien  zweiter  Ordnnng  nnterliagen  in  einem  größeren 
oder  kleineren  0rade  der  Hemmung,  je  nach  der  Umgebung  des  Kindes 
und  nach  den  suftlügen  Ereignissen,  denen  es  unterworfen  war. 
Weehsel  der  umgebenden'  Perstfneir,  Verstellung  der  2SimmennObel, 
Wechsel  des  Zimmers  u.  a.,  alles  das  wiikt  auf  die  Ausbildnng  dieser 
oder  jener  Beihe  Yor  der  anderen  ein,  alles  das  kann  aber  zur  Hem- 
mung unter  denVorstellnngen  führen  und  Störungen  in  der  natfirlichen 
Bildung  von  Reiben  veranlasaen,  die  von  bleibenden  Folgen  fOr  das 
geistige  Leben  des  Individnums  sind,  und  die  durch  die  Erziehung 
nur  dann  behoben  werden  können,  wenn  der  Erzieher  in  Kenntnis 
ihrer  GraBdürsaehen  ist 

Wann  ist  dies  aber  der  Fall?  Wann  kann  also  die  Schule  erst 
Ar  das  eventuelle  Misdingen  ihrer  Bestrebungen  bei  einzelnen  Schü- 
lern verantwortlich  gemacht  werden? 

Die  zweite  Hauptreihe  von  Vorstellungen  erlangt  die  größte  Aus- 
bildung. Zwar  den  beobachteten  Wesen  fehlt  es  an  einer  vollkom- 
menen Beweglichkeit,  aber  dafür  haben  sie  diese  ursprünglich.  Diese 

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—   704  — 


Ursprünglichkeit  muss  dem  Kinde  auffallen.  Denn,  schreit  es,  so 
kommt  die  Mutter,  die  Amme,  der  Vater  etc. 

Wenn  es  die  Kugel  in  Bewegung  gesetzt  liabeu  will,  da  nützt 
das  Anschreien  der  Kugel  nichts.  Die  Vorstellungen  dieser  Gruppe 
finden  jedoch  in  den  dunkeln  Vorstellungen  der  Vorstufe  eine  bedeu- 
tende Hille:  das  Erscheinen  der  Mutter  bedeutet  auch  die  Befriedigung 
eines  leiblichen  Bedürfnisses,  also  die  Beförderung  eines  Lust-,  oder 
die  Beseitigung  eines  Unlustgetühls.  So  bildet  sich  auch  hier  eine 
vol  schon  frtther  vorhandene  Reihe  als  Nebenreihe  aus,  die  der  M6- 
(Uditftt  (angenehm,  uaangenehm).  So  hebt  sich  nach  und  nach  der 
dmilde  Ishalt  des  Geistes,  der  sich  während  der  Vorstufe  bildete, 
empor,  um  thdis  als  Veratlriamg  des  Neasrnpltandeiien,  tfaeOs  mr 
Bfldung  von  Nebenreihen  za  dienen,  die  bei  einer  bestimmten  Be- 
obachtung steh  von  der  Hanptreibe  emporiiebeiid  mit  dieser  In  Ver^ 
bindnng  btoiben  und  snmeist  VorsteUnngen  des  leibliehen  Woles  ent- 
hkltffli. 

Ans  ihnen  mfissen  dann  jene  Beihen  hervorgehen,  die  aof  das 
eigene  »Ich*  Beeng  haben  nnd  denen  also  anch  die  VorsteUnngen  des 
Unterschiedes  zwischen  dem  eigenen  »Ich**  und  der  ümgehnng  des- 
selben innewohnen.  Dass  anch  hier  die  angefahrten  Thateachen  der 
Wahriieit  entsprechen,  zeigen  ja  dentlidi  „verzogene"  Kinder. 

Bei  diesen  gewann  eben  die  letzterwähnte  Beihe  die  Herrschaft 
im  Geiste.  Alles,  was  nm  sie  hemm  sich  bewegte,  bewegte  sieh  auf 
ihre  Veranlassung.  Diese  Kinder  sind  also  bald  znr  Eitenntnis  ihres' 
»Ich''  und  ihrer  „Macht**  gekommen. 

Da  die  Befriedigong  des  Strebens  immer  käxa,  so  wachs  anch  der 
Beiz  nach  dieser  Befiiiedighng.  D^  Vorstellnneen  blieb  meist  nur 
das  Streben,  sich  in  einer  dem  »Ich"  angenehmen  Art  zn  beth&tigen. 
Thatsächlich  ist  das  Streben  dieser  charakteristisch  ihr  die  „Verzogenen** 
(Selbstsüchtigen). 

Wenn  das  Auge  SO  weit  entwickelt  ist,  dass  ihm  Licht  als  solches 
und  als  Beleuchtung  auffällt,  d.  h.  wenn  es  die  verschiedenen  Wir- 
kungen des  Lichtes  als  Beleuchtung,  Licht  für  sich,  Farbe  trennen 
kann,  so  muss  sich  eine  neue  Yorstellungsreihe  im  Oeist«  des  Kindes 
ausbilden,  die  sich  aber  an  die  der  Beweglichkeit  anschließen  wird. 
Nehmen  wir  an,  das  Kind  sehe  eine  Kerze,  die  umliergetratren  -wird: 
vermöge  der  wahrgenommenen  Beweglichkeit  wird  sich  der  Begriff 
des  Lichtes  an  jenen  der  Kugel  knüpfen  müssen;  aber  die  Verbindunj? 
nacli  der  Beweo'lirhkeit  muss  schwach  ausfallen,  weil  die  neue,  mit 
Kraft  eindringende  Vorstellung  des  Lichtes  als  eine  Nichtbeweglichkeit 


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—  705  — 

erkannt  werden  muss.  So  bildet  sich  der  Anfang  einer  Xebenreihe 
von  der  Beweglichkeit:  der  Vorstellangareilien,  deren  VerknUpfoog  die 
Vorstellung  „Licht"  bildet. 

Sieht  das  Kind  das  nächstemal  eine  brennende  Lampe  umher- 
tragen, so  wird  sich  die  Vorstelbmpr  hiervon  nicht  mehr  an  die  ^Be- 
weglichkeit", sondern  an  die  Vorstellung  des  Lichtes  vermöge  des 
aufgefassten  stärkeren  Orleicharti(>:en  knüpfen. 

Wie  bei  jeder  einzelnen  Kcihe  werden  sich  auch  hier  Nebenreihen 
bilden,  insbesondere  die  der  Modalität  und  Causalität,  die  mit  ihren 
vei-wandteu  und  schon  früher  gebildeten  Modalitäts-  und  Causalitäts- 
reihen  in  mannigfaltige  Verbindung  treten ,  sie  heben  und  andere 
^heterogene)  verdunkeln:  das  geistige  Leben  des  Kindes  zeigt  schon 
Wogen  und  glatte  Flächen.  Wol  dem  Kinde,  welches  bei  diesem  an- 
langenden psychischen  Leben  nicht  zu  viel  an  Emdriicken  bekommt,  . 
das  von  allem  Anfange  nicht  viel  Neues  zu  „sehen"  bekommt  und  Ge^ 
fegenheit  und  Zeit  genug  hat,  jede  einzelne  Voratellung  dem  gewon- 
nenen Vorrathe  anzugliedern  und  mit  dem  Verwandten  in  Beziehung 
zn  bringen.   Dem  bleibt  der  einfache,  „empföngliche**  Q&at  bewalirt! 

Noch  später  aia  die  Reihe,  deren  Bind^lied  „Licht"  Ist,  muss 
■ich  jene  der  Form  ansbÜdin.  Sieht  das  Kind  dne  l&ngere  Zeit  hin- 
durch die  sich  bewegenden  Personen,  so  moss  sich  die  ihnen  eat^ 
q^rechende  TorlAoflg  dunkle  Yorstellong  ebenfdls  an  die  ändringlichere 
der  Beweglichkeit  knüpfen,  doch  muss  nach  and  nach  die  Mannig- 
ftltigkeit  an  Formen  im  Vergleiche  m  der  Engel  henrortreten.  Dass 
die  FormeDmannigfiiltlgkeit  zumeist  nur  an  der  Thitigkeit  oder  an 
sdiarf  heryortretenden  Eigenschaften  zn  erkennen  ist,  seigt  auch  die 
SrlUunmg  der  firwachsenen.  lüt  dem  Hervorlxeten  jeder  einaehun 
«yKIchtbeweglichkeit'  oder  einer  neuen  Art  der  Beweglichkeit  ist  der 
Anfimgspnnkt  zur  Bfldnng  Ton  Seitenreihen  gegeben,  die  ihrerseits 
wieder  alles  anfSülend  Ungleichartige  an  ein  Gleichartiges  der  ent- 
sprechenden Beihe  knikpfen  oder  nach  Maßgabe  der  Beweglichkeit 
doreh  diese  angliedern.  —  EHienso  yerhSlt  es  sich  mit  den  Farben.  Da 
diese  nicht  als  lichtwirknngen,  sondern  als  Eigenschaften  Ton  Oegen- 
sOaden  ailiseihsBt  werden,  so  kann  die  Reihe  jener  VorsteUongen,  die 
ihre  Yerknttpfiing  nach  Fube  geAinden  haben,  nicht  selbstständig  anf- 
•treten,  sondern  sie  kann  sich  an  das  Verwandte  jeder  beliebigen  Reihe 
anknüpfen,  was  also  dnrdi  die  Vorstellang  eines  fisrbigen  Gegenstan- 
des geschieht 

Die  weiteren  Vorstellungen  werden  dann  wol  durch  die  der  Farbe 
aneinandergereiht  Dass  jedoch  hier  das  Gehör  dnrch  das  anfgefiosste 


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—    706  — 

Wort  der  Farbenbezeichnung  sehr  mitwirkt,  ja  oft  die  Farbenonter- 
scheidong  des  Gegenstandes  hervorruft,  iodem  das  Augenmerk  anf  dtee 
UnterscheiduDg  gelenkt  wd,  zeigt  die  Eindfirbeobachtang  täglidb. 

Wenn  wir  nim  den  gfimmaom  Stoff  aberbttekfin,  so  finden  wir, 
dass  der  Kindesgeist  zonäohst  eine  Yorstnfe  durchmachen  mnss,  die 
ans  dner  Anzahl  sehr  dunkler  Vorstelliingen  besteht,  welche  yermOge 
des  inneren  Sinnes,  sowie  zonftchst  des  Geschmacks-  nnd  Tastsinnfls 
gewonnen  worden;  die  durch  den  Gesichtssinn  gewonnenen  Empfindungen 
begründen  die  erste  klare  und  herrschende  Vorstellungsreihe:  die  diar 
Beweglichkeit,  von  der  sich  natuigemftS  Seitenreihen  bilden,  die  sieh 
mannigMtig  durchdringen  und  durchkreuzen  und  so  jenes  „Gewebe'* 
bilden,  das  wir  Vorstellungsmassen  nennen.  Nach  unserer  Darstellung 
w&re  also  die  Vorstellung  der  Beweglichkeit  das  hauptsSchHchst^ 
Bindemittel''  der  Vorstellnngen,  nnd  die  an  der  Hand  der  Beweglichr 
keit  gebildeten  Vorstellungsreihen  der  Mittelpunkt,  von  dem  aus  die 
Reihen  und  Seitenreihen  der  Vorstellnngen,  gebildet  durch  Verbindung 
der  Ursache,  Art,  Licht,  Farbe  etc,  ausgingen,  zu  welchem  jene  Reihen 
aber  auch  wieder  —  oft  auf  Umwegen,  oft  direct  —  zarttckkehren. 

Es  bleibt  uns  zu  untersuchen,  wie  sich  die  ans  den  Empfindungen 
des  Gehörs  und  Geruchs  hervorgehenden  Vorstellnngen  zu  jenen  frohere 
verhalten. 

Die  aus  den  Gerachsempfindungen  her\'orgehenden  gehören  zu 
jenoi,  die  dem  Geiste  sehr  dunkel  sind ;  ihre  Angliedernng  wird  immer 
eine  sehr  schwache  sein  und  ihre  Reproduction  oft  raisslingen. 

Sie  werden  auch  sehr  nebensächliche  Merkmale  von  den  Gegen- 
ständen ausmachen,  an  denen  sie  gewonnen  wurden.  Nur  dort  wird 
die  Vorstellang  des  Geruchs  verbindend  wirken  können,  wo  der  Geruch 
verm^e  seiner  Stärke  bei  der  Beobachtung  des  Gegenstandes  eine  so 
eindringliche  Vorstellung  gebildet  hat,  dass  alle  die  übrigen  Theilvor- 
stellungen,  die  mit  jener  eine  Complexion  bilden,  in  allem  Anf&nge  „im 
Zustande  der  Hemmung  in  den  Geist  frelangen". 

Solclier  Keilicii  gibt  es  aber  wenicre.  und  sie  stehen  dann  nur 
durch  den  betreöenden  Gegenstand,  oder  die  Causaliliit  oder  Modalität 
etc.  in  Verbindung  mit  den  übrigen  Vorst ellungsniassen.  Anders  steht 
es  um  die  ans  den  Euiptinduiigen  des  Geliürs  hervorgehenden  Vor- 
st elhingen.  Diese  Knipfmduiif^t  n  entsprechen  tlieils  cliarakteristischen 
Geräuschen,  theils  musikalisciieu,  theils  sprachlichen  Gebikien. 

Dieser  dreifaclien  Art  müssen  auL-li  die  gewonnenen  Vorstellungen 
sein.  Es  fragt  sich  nun,  ob  diese  nach  diesen  drei  liichtungcn  aus- 
laufenden Vorstellungsreiheu  selbstötäudig  auftreten  (insofern  als  sie  nur 


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ira  nebensächlichen  Zasammenhange  mit  der  ei*wähnten  obersten  Vor- 
stellungsmasse  sind),  oder  ob  sie,  sowie  alle  die  übrigen  Bdhen,  von 
jener  theils  ausgingen,  theils  sich  ihr  stark  unterordneten. 

Was  die  erste  Reihe  anbelangt,  so  leuchtet  ein,  dass  die  ihr  zu- 
grunde liegenden  Eindrücke  schwach  und  gewissen  Wesen  in  einer 
Art  eigen  sind,  also  als  ein  oft  sehr  ontergeordnetes  Merkmal  diesen 
Wesen  anhaften  müssen. 

Die  durch  die  charakteristischen  Geräusche  entstandenen  Reihen 
werden  also  von  den  Vorstellungen  des  Wesens  ausc^ehen.  Diese  Reihen 
werden  sonach  eine  geringe  Selbstständigkeit  aufweisen  können. 

Die  aus  ^'llrstellungen  der  musikalischen  Gebilde  entstandenen 
Reihen  werden  schon  selbstständiger,  also  stärker  hervortreten-,  aber 
bilden  werden  sie  sich  doch  nur  von  den  früher  gebildeten  Vorstel- 
lungsreihen und  zwar  immer  von  dem  betreffenden,  das  musikalische 
Gebilde  hervorbringenden  Wesen. 

Wenn  wir  auch  zugeben  müssen,  dass  solche  musikalische  Gebilde 
etwas  sehr  Eindringliches  sind,  so  trägt  doch  die  Eigenart  der  Stimme, 
des  Tones  (  „Klangfarbe")  dazu  bei,  dass  dieses  Gebüde  vom  Kinde  als 
etwas  dem  Wesen  Eigenes  angesehen  wird. 

Die  Eindringlichkeit  wird  eben  durch  die  „Klangfarbe"  herab- 
gemindert, d.  h.  die  sich  bildende  Vorstellung  des  musikalischen  Ge- 
bildes wird  gehemmt  durch  die  gleichzeitig  hervortretende  „Klangfarbe", 
insofern,  als  diese  die  übrigen  an  dem  Wesen  gemaehten  Voistellmigen 
als  eine  der  ihrigen  hervoriiolt  Erat  viel  später  entstehoi  selbetstBn- 
dige  Bflähcn  musikalisdier  Gebilde,  die  thatsächlieh  nnr  eine  sehr  nn- 
wesentlidie  Yerbindnng  mit  dem  übrigen  geistigen  Inhalte  haben. 

Eine  noch  höhere  SeLbststftwdigkmt  haben  die  Yorstellnngen  von 
SprachgebQden.  Zwar  mftssen  nnteischeiden  Jene  Spraehgebilde, 
die  nnr  in  Beeng  anf  ein  Wesen  ihre  Gdtnng  haben,  nnd  solehe,  die 
thatsSddich  fttr  sieh  d.  h.  infolge  des  ihnen  anhaftenden  H<irbann, 
Beihen  bilden  nnd  nnr  in  nnwesentliehem  Znsunmenhange  mit  den 
übrigen  VorsteUnngsmassen  stehen. 

Jene  ersten  Sprachgebilde  sind  die  Wörter,  mit  denen  das  Kind 
alle  OegenstAnde  nnd  Wesen  beseichnen  hört  Da  Jeder  Gegenstand 
*  seinen  eigenen  Namen  hat,  so  ist  ersichtlich,  dass  das  Eind  anch  den 
Namen  als  eine  Nebenreihe  an  das  Wesen  knüpft,  aber  diese  Neben- 
reihe ist  eine  sehr  erzwungene,  denn  das  Wort  hat  als  Yorstollnng 
einer  Gchöraemplfaidnng  (Elang)  gar  keinen  Anknüpfungspnnkt  mit 
der  Yorstellnng  des  Wesens,  die  hauptsächlich  durchs  Auge  gewonnen 
wurde. 


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—   708  — 


Daher  können  Namen  nur  durch  fortwährende  Wiederholung,  also 
rein  „mechanisch'*  behalten  werden.  Wesentlich  anders  ist  es  schon 
bei  Wörtern,  die  mehr  oder  weniger  onomatopoetisch  eine  Thätigkeit, 
Eigenschaft  bezeichnen.  Da  besteht  eine  natürliche  Verbindung  durch 
den  Klang.  Die  Wörtervorstellungen  haben  also  das  Bestreben,  ihre 
eigenen  Reihen  einzugehen  und  diese  nach  dem  Klange  auszubilden. 

Vollständig  selbstständige  Keilieu  von  Sprachgebilden  bilden  sich 
erst  bei  der  Erziehung:  die  ersten  Sprüchlein  and  Gebete,  wol  auch 
Beihen  von  Zahlwörtern,  deren  thatsächlicher  ZosammenhaDg  mit  den 
entsprechenden  wesentlichen  Vorstellungen  erst  später  nnd  leidir  oft 
gar  nicht  geschieht.  Dass  eine  vernflnftige  Enddrang  dies  thmdichst 
wmflidan  irird,  kt  siisber,  aber  immfir  wird  sie  dkaer  Thataache 
Bedmnng  tragen  müssen. 

Die  letzterwähnten  Yorstellnngsreihen  stehen  also  nrsprOnglich 
?oU8tändSg  oder  dodi  relativ  selbstetändig  im  Geiste.  £b  bedarf  dämm 
der  fortdaaeniden  Anstrengung,  sie  im  Bewusstsein  sa  eriialten,  denn 
Diur  geringe  Hilfien  sind  es,  die  ihnen  sa  Gebote  stehen. 

Übersehen  wir  nun  das  Ganze,  so  finden  wir,  dass  die  vennittelst 
der  „Beweglichkeit"  gebildeten  Beihen  die  stäricsten  nnd  nrsprfltaig- 
liehsten  sind.  Von  ihnen  ging  die  Bildung  der  anderen  ans  nach  der 
Entwickelnngsstofe  der  Sinnesorgane.  Wir  können  also  keinen  Fehl- 
sdilnss  madien,  wenn  wir  behaupten,  dass,  je  einfisusher  die  ersten  Ein- 
drOeke  beim  SSnde  waren,  desto  Idarer  and  einheitlicher  die  Vorstel- 
langsmassen  entwickdt  werden,  desto  leichter  femer  diese  behalten 
nnd  reprodocirt  werden  können.  Eine  Zerstreatheit  kann  dann  nnr 
in  geringem  Grade  nnd  nnr  nebensächlich  anfkommen.  Wenn  nun  die 
ganse  Umgebang  des  Kindes  die  eribrderliehe  Ein&chheit  besitst,  so 
kcnmien  immer  nnr  wenige  Gegenstände  in  wenigen  Bichtungen  znr 
Betrachtung;  wenige  Vorstellongmi  treten  an  die  vorhandenen  heran, 
ihre  Anknüpfung  kann  also  um  so  fester  geschehen.  Der  Grund  fOr 
ein  gates  G^edächtnis,  aber  auch  für  ein  ruhiges  Gremüth,  abgesehen 
von  einer  etwaigen  alles  besiegenden  physiolo^sclien  Prädisposition, 
ist  gelegt  Dass  dem  so  ist,  sdien  wir  an  den  in  ein£Eu;hen  Verhält- 
nissen aufwachsenden  Kindern  vom  Lande,  die  immer  gründlicher  em- 
pfanglich, weniger  oberflächlich,  ruhigeren  Gemüthes  sind  als  viele» 
Stadtkinder  (natürlich  solche,  die  unter  einem  Wust  künstlicher  Spie- 
lereien, Bilderbücher,  in  überfüllten  Salons  ihi-e  Jugend  verbrnohttn). 

Jede  die  momentane  Fassungsfähigkeit  übersteigende  Mannigfaltig- 
keit mu.^s  eine  vielseitige  Schwächung  unter  den  Empfindungen  und 
dann  Hemmung  unter  den  Vorstellungen  hervorbringen.  Wegen  dieser 

X 

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fortwährenden  Hemmnng  entsteht  auch  im  Kinde  jene  Lost  nicht,  die 
eine  Folge  der  Beth&tigimg  des  Strebens  der  VorsteUnngen  nnd  er- 
rungener Erfolge  ist 


Etwas  vom  deutschen  Sprachunterricht  in  der  Volkssehnle. 

Yon  Armin  SchwUdt-SüdburghaiueH, 

Trotz  der  dritten  Auflage,  in  der  ilildtbrands  Bach  ^Vom 
deutsclien  Sprachuntemchte  in  der  Schule"  V(ir  kurzem  erschienen  ist, 
nehmen  rein  grammatische  uml  ortliofTrapliisclie  Belehningen  undl^bungen 
immer  noch  einen  breiten  liaum  in  den  meisten  deutschen  Schulen  ein. 
Jahraus  jahrein  verwendet  man  \iel  Zeit  auf  die  Betrachtung  und  Zer- 
gliederung des  Leibes  der  Sprache,  auf  die  Kenntnis  ihres  buntscheckigen 
Kleides,  ( )rtli()gnii»hie  genannt,  und  findet  keine  Muße,  die  Jugend 
an  den  lebendigen  Quell  der  Sprache  zu  tlihren,  ihre  Augen  für  das 
Leben  zu  ötlnen,  das  sich  unter  jener  tbippelten  Decke  in  hunderterlei 
Gestalten  regt.  Daher  wollen  auch  die  Klagen  über  die  geringen, 
ja  geradezu  negativen  Ei-folge  unseres  Sprachunterrichtes  nicht  ver- 
stummen: die  Schüler  bringen  ihm  kein  freies  Interesse  entiregen,  son- 
dern müssen  in  der  Regel  unter  Anwendung  iiulJerer  Mittel  gezwungen 
werden,  bei  der  Sache  zu  bleiben,  so  dass  von  einer  Betheiligung  des 
Gemüthes  bei  diesem  Unterrichte  nur  selten  die  Rede  sein  kann.  Das 
hat  aber  zur  Folge,  dass  die  Schüler,  wenn  sie  nicht  geradezu  mit  Ab- 
neigung nnd  Widerwillen  gegen  alle  Gegenstände  auf  dem  Sprach- 
gebiete erfüllt  werden,  höchstens  in  formaler  Beziehung  einigen  Gewinn 
ans  dem  linterrichte  in  der  Muttersprache  daTontragen,  aber  un  den 
Segen  der  Gemfltbsbfldnng,  die  gerade  bei  richtiger  fiehandhing  der 
Muttersprache  im  Schnlnnterricfate  mächtig  gefördert  werden  kann, 
betrogen  werden.  Ans  der  Tiefe  des  Gemftthes,  nicht  ans  dem  durch 
Dedinations-  nnd  Co^jugations&bungen  „gekUrten  Sprachyerstand" 
ist  das  herrliche  LobÜed  Seh^nkendorfe  auf  die  deutsche  Sprache 
geAoBS^ 

So  lange  die  amtlichen  Lehrpläne  noch  ein  so  grofies  Gewicht  aaf 
Grammatik  nnd  Orthographie,  auf  das  Erlernen  trockener  Begeln 
legen,  wbd  sich  der  auf  lebendige  Geistesbildung  ausgehende  Lehrer 
vielfiich  beengt  fühlen.  Eingedenk  der  reichen  Bfldnngselemente,  die 


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—   710  — 


unsere  Mutterspraclie  in  sicli  trägt,  will  er  die  Jugend  an  die  Quellen 
führen,  an  denen  ihr  so  reine  Genüsse  geboten  werden.  Genüsse,  die 
für  die  ganze  Lebensdauer  vorhalten  und  sich  jederzeit  wieder  enieuem 
lassen.  Und  dalier  kann  er  sich  niclit  damit  zufrieden  geben,  die 
Schüler  mit  Wort-  und  Satzarten,  Declination  und  Conjugation,  Rection 
und  Interpunction,  worin  für  viele  das  Wesen  der  Sprache  beschlossen 
ist,  bekannt  gemacht  zu  haben.  Es  stehen  ihm  glücklicherweise  Mittel 
nfcnng  zu  Gebote,  die  Jn^'^end  aus  den  Secirsälen  der  Grammatik  in  die 
Gärten  zu  tiihren,  wo  es  lustig  wächst,  grünt  und  blüht,  wo  uns 
Laute,  so  „wonnesam  und  traut"  umschwirren.  Ich  denke  hier  haupt^ 
sächlich  an  den  Bilderschatz  unserer  Muttersprache  und  seine  Aus- 
beutung im  Schulunterrichte.  Verwertung  in  dem  angedeuteten  Sinne 
kann  dieser  Bilderschatz  in  allen  Unterrichtszweigen  und  zwar  ohne 
Benachtheiligung  derselben  linden. 

Wenn  gefordert  wird,  in  allen  Ünterrichtsstunden  auch  die  Sprache 
zu  pflegen,  durch  alle  Fächer  den  Sprachuntenicht  zu  unterstützen, 
so  denkt  man  gewöhnlich  nur  an  Correctheit  des  Ausdruckes,  an 
WoUaut  der  Aussprache,  an  richtigen  Satzbau,  was  ja  selbBtrerttind- 
lieh  nicht  getadelt  werden  soll.  Wir  fordern  abö*  zur  Ergänzung 
dieser  Übungen  Pflege  und  größere  Beachtung  der  bildlichen  Ans- 
drttcke  und  Redensarten  und  ein  Eingehen  in  die  Bedeutiing  gewisser 
Ausdrucke  nicht  allein  im  Sprachunterricht,  sondern  auch  in  anderen 
FScheni,  namentlich  in  BeUgion  und  in  den  Bealien.  Das  gegen- 
wärtige Geschlecht  ist  an  ein  so  hastiges  Lesen  und  Schreiben,  an  ein 
so  eilfertiges  Verschlingen  der  Lesestofife  gewöhnt,  dass  ihm  die  Muße 
und  das  Verständnis  abgeht,  sich  in  den  sprachlichen  Ansdmck  zu 
vertiefen.  Die  plastische  Schönheit  vieler  Ausdrücke,  Bedewendungen, 
Wortverbindungen  wird  von  den  meisten  Lesem  nicht  beachtet,  die 
lebensvollsten  Bilder  sind  ihnen  zu  bedeutungslosen  Schemen  geworden. 
Sollen  die  Todten  wieder  Leben  gewinnen,  so  mnss  die  Sehlde  jene 
Fehler  vermeiden,  die  diesen  beklagenswerten  Zustand  herbeigeführt 
haben.  An  ihr  ist  es,  dem  heranwachsenden  Geschlechte  die  Aigen 
ftr  die  Schönheiten  unserer  brache  wieder  zu  öfihen  und  es  mit 
Lust  und  Liebe  zur  Muttei-sprache  zu  erfüllen. 

Es  sei  im  Folgenden  auf  einige  Mittel  Iiingewiesen,  die  unserer 
Meinung  nach  geeignet  sind,  den  Schülern  die  Poesie  unserer  Mutter^ 
spräche  zu  erschließen. 

1.  Sc  hüler  vermehre  seinen  Wortvorrath,  soviel  wie  möglich, 
auf  Grund  lebendiger  Anschaunng,  sei  diese  sinnlicher  oder  geistiger  Art. 

An  einigen  Beispielen  soU  gezeigt  werden,  wie  man  dieser  Forde- 


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—  711  — 

rwng  im  SprachimteiTicbte  der  Unterclasse  gerecht  werden  kann.  — 
Es  handle  dch  etwa  nm  die  Vennschaiilichung  und  Eiottbimg  der 
Verkleineningssilben.  Hier  könnte  man  so  verfahren,  dass  man  die 
8Uben  ohne  weiteres  an  die  Stammwörter  anhängen  ließe.  Dieses 
rein  mechanische  Verfahren  hat  wol  keine  Stätte  mehr  im  Schulunter- 
richte. Es  ist  klar,  dass  bei  demselben  so  wol  die  Silben,  als  auch  die 
neugebildeten  Wörter  Hast  ganz  inhaltslos  bleiben;  namentlich  phan- 
tasieärmere  Kinder  werden  sich  „nicht  viel  dabei  denken",  wenn  sie 
ans  Tisch  Tischchen,  aus  Ring  Ringlein  etc.  bilden.  Anschaulicher 
schon  verfährt  der,  der  die  Schüler  bevor  er  die  neuen  Sprachformen 
bilden  lässt,  an  die  entsprechende  Sache  erinnert.  Das  rechte  Leben 
erhalten  aber  die  todten  Formen  erst,  wenn  der  Lernende  die  Sache 
unmittelbar  vor  Augen  hat  und  mit  dem  Gesichtseindruck  zugleich  die 
sprachliche  Bezeichnung  in  sich  aufnimmt.  So  eignet  sich  das  Leute- 
mannsche  Bild  ,.Gänse"  ganz  vorzüglich  zu  unserem  Zweck.  Nach 
der  Betrachtung  der  alten  Gänse  (im  Anschauungsunterricht!  lenke 
man  die  Aufmerksamkeit  der  Kinder  auf  die  jungen  und  entwickele 
,  etwa  folgende  Sätze:  Auf  dem  Wasser  schwimmen  drei  Gänschen. 
Das  Gänschen  hat  ein  Köpfchen.  Vorn  am  Köpfchen  ist  ein  Schnäbel- 
chen. Zu  beiden  Seiten  des  Köpfchens  stehen  zwei  .Äuglein.  Das 
Köpfchen  sitzt  auf  dem  Hälschen.  Am  Leibe  des  (Tänschens  sind  zwei 
Beinchen  und  zwei  Flügelchen.  Das  Letzte  am  (Tünschen  ist  das 
Schwänzchen.  Man  wird  sehen,  wie  die  Augen  der  kleinen  Schar 
aufleuchten  und  mit  welchem  Eifer  sie  dann  zu  Tafel  und  GriÖel 
greift,  um  die  Sätzchen  niederzuschreiben.  Da  ist  nicht  bloße  Ver- 
standesthätigkeit ,  da  wird  die  Sache  mit  ganzem  GemUthe,  mit  dem 
Herzen  —  par  noeur  —  gelernt. 

Auch  bei  der  Einführung  in  das  Yei-ständnis  des  Wesens  der  Wort- 
arten sollte  man  an  Dinge  und  Verhältnisse  anknüpfen,  die  den  Kindern 
gemüthlich  nahe  stehen.  Bekanntlich  ist  das  bei  unseren  Kleinen 
namentlich  mit  der  Thierwelt  der  Fall.  Man  stelle  etwa  das  Leute- 
mannsche  Bild  „HUhner"  vor  die  Augen  der  Classe  hin  und  lasse 
Eigenschaftsworter  lu  Hauptwörtern  setzen,  wie:  Der  Hahn  ist  bunt, 
stols,  wac^aam,  munter,  schön,  seine  Augen  sind  rund,  der  Xamm 
fleiscUg,  die  lAppehen  roth,  der  Schnabel  gekrttnnnt,  die  SchnabebrSnder 
scfaaif  etc.,  so  prägt  sieh  der  Begriff  des  Eigenschaftswortes  sicher 
und  ungeawungen  ein;  denn  hier  auch  hilft  das  GemQth  ihn  er&ssen. 

2.  Macht  der  Lehrer  im  Vortrag  oder  in  der  UnteEiedung  Gebranch 
Tim  bildlichen  Ausdrtt<^en,  oder  kommen  solche  in  einem  Lesestftcke^ 
einem  Oedichte  Tor,  so  genOgt  es  häufig,  durch  sinngemftfie  Betonung 


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—   712  — 


und  Tonfarbung,  durcli  lanirsanieres  oder  beschleunigtes  Tempo  das  Bild 
aus  seinem  Rahmen  hervoizuheben,  um  den  Schülern  die  Schönheit,  die 
Innigkeit,  das  Treffende  eines  Ausdruckes  zum  Bewusstsein  zu  bringen. 
Wenn  nüthig,  hilft  der  Lehrer  durch  Hinzufügung  einiger,  das  Bild 
ergänzender  Züge  nach.  Denn  darin  besteht  eben  das  Anregende  und 
Bildende  bildlicher  Ausdrücke,  dass  sie  nur  den  charakteristischen 
Zug  einer  Handlung,  eines  Vorganges  hervorheben  und  es  der  Phan- 
tasie des  Hürei-s  überlassen,  das  Büd  zu  vervoUstä^idigeu. 

8.  Der  Lehrer  benntee  Jede  Odegenbeit,  den  Bilderschmack  der 
Sprache  zum  Eigenthum  der  Kinder  zu  machen. 

• 

Damit  ist  zunächst  nicht  gemeint,  die  Kinder  auf  Kosten  der 
Klarheit  der  Vorst^illungen  mit  Bildern  zu  Uberschütten.  Auf  manchen 
Wissensgebieten  ist  es  erstes  P^rfordernis,  dass  die  Ausdrücke  bundig, 
bestimmt,  treft'end  sind,  andere  gestatten  eine  freiere  und  mannig- 
faltigere Sprache.  Wir  halten  namentlich  die  Stilübungen  für  geeignet, 
in  diesem  Sinne  (zur  AoeigDong  des  BUderschmuckes  der  deutschen 
Sprache)  in  Anspruch  genommen  zu  werden.  Doch  müssen  wir  ans 
dagegen  aussprechen,  dass  das  Erklären  von  bildlichen  Aasdrftcken 
geradezu  zu  einer  besonderen  Stofe  d^  Stflübniigai  gemaebt  wird, 
wie  einige  Leitfäden  wollen.  Das  Bild  mnss  vielmehr  in  einem  leben- 
digen Znsammenbange  stehen,  es  mnss  zn  einem  relaliTen  Oanzoi  ge- 
hören. Man  verwendet  häufig  die  Realien  zn  An&atzstolfen,  um  der 
C!oncentration  der  üntetrrichtszweige  zu  dienen.  Läset  man  aber  Auf- 
sätze dieser  Art  nur  zu  dem  Zweck  der  Befestigung  des  Stoffe»  aii> 
fertigen,  ohne  Bfickaicht  auf  die  sprachliche  Fonn,  so  sind  das^ebea 
keine  Stiltibungen,  sie  nützen  dann  hdchstens  der  Qrthogr^^,  fSr- 
dem  aber  die  Sprachbildung  nicht  mehr  als  eben  der  Unterrichtszweig, 
dem  sie  entnommen  sind.  Sollen  sie  in  den  Dienst  der  Sprachbildnng 
gestellt  werden,  so  müssen  sie  in  einer  edleren,  doch  volksthfindich 
schlichten  Form  verab&sst  werden.  Gerade  die  Pflanzen-  und  die 
Thierwelt  bieten  wegen  der  Poesie,  die  sich  um  viele  ihrer  Gestalten 
webt,  dem  kindlichen  Gemflthe  viel  Anregendes  und  dein  Aofialz- 
untenichte  Gelegenheit  in  Hülle  und  FfiUe,  spradi-  und  gdstii^ldinde 
Übungen  anzuknüpfen.  Dazu  gehört  freilich,  dass  der  Iiehrer  selbst 
Sinn  und  Verständnis  für  die  Poesie  der  Natur  besitzt  Adhati- 
Übungen  aus  dem  Gebiete  der  Bealien  im  trockenen  Leitfadentone  mögen, 
wie  schon  gesagt,  Grammatik  und  Orthographie  befestigen,  einen 
edleren  geistigen  Gewiim  >^  erfen  sie  den  Schülern  nicht  ab.  Daher 
hat  eine  Arbeit,  die  aus  wenigen  sprachlich  gehaltvollen  Sätzen  be- 


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—   713  — 


steht,  für  die  SpracliliilduiiG:  mtlir  Wert  als  eine  aas  Dutzenden  yon 
nach  der  Schablone  gebildeten  Sätzen  bestehende. 

Es  seien  einige  Beispiele  zur  weiteren  Illustration  des  Gesagten 
.  angefügt.  Aufgabe  ist,  in  einer  Mittelclasse  eine  schriftliche  Arbeit 
über  den  Stachelbeerstrauch  anzufertigen.  An  der  Wandtafel  steht 
u.  a.  das  Stichwort  „Frühling".  Die  Schüler  bilden  den  Satz:  Der 
Stachelbeerstrauch  l)lüht  im  Frühling.  Sie  werden  aufgefordert,  auch 
etwas  von  den  Bliillern  hinzuzufügen,  und  so  erhält  der  Satz  die 
Form:  Im  Frühling  bekommt  der  Stachelbeerstrauch  Blätter  und 
Blüten.  Lehrer:  Wir  können  diesen  Satz  noch  anders  ausdrücken.  In 
welcher  Jahreszeit  geftillt  euch  der  Stachelbeerstrauch  besser,  im  Winter 
oder  im  Frühling?  Weshalb?  Er  sieht  jetzt  schöner  aus  als  im  W^inter. 
Das  ist  ja  mit  euch  auch  manchmal  der  Fall.  Wann  seht  ihr  Mäd- 
chen denn  schöner  aus  als  heute?  An  Sonn-  und  Festtagen,  nament- 
lich am  Kinderfest.  Wie  kommt  es,  dass  ihr  da  schöner  ausseht? 
Antwort:  Wir  sind  gepatzt.  Setzt  ein  anderes  Wort  für  „geputzt"! 
Geschmückt  Womit  gescbmitekt?  Wer  schmückt  euch?  Beim 
Stadietbeerstraach  irt  es  fthnUeli.  Wann  ist  er  geschmückt?  Womit  ist 
ei*  gescbmüekt  We^  schmllekt  ihn?  Das  thnt  der  Frühling.  Wie  soll 
also  nun  unser  Satz  heißen?  Der  Frühling  schmückt  den  Stachel- 
heers tranch  mit  Bl&ttern  nnd  Blttt-en. 

Ein  anderes  BdspieL  Das  An&atathema  heißt:  Der  Herhet  Wir 
sind  hei  den  Stichworten:  »Binmcn,  FeUl,  Wald,  Garten"  angelangt 
Es  wird  zonichst  der  Sate  gehildet:  Die  Blnmen  im  Feld,  Wald  und 
Garten  sind  verblüht  Lassen  wir  den  Gkuten  vorllnflg  noch  weg,  so 
heißt  der  Sata:  Die  Blnmen  in  Feld  nnd  Wald  sind  Terblfiht  Der 
Lehrer  weUit  daranf  hin,  dass  man  dodi  noch  einige  blühende  Blnmen 
findet  Es  mnss  also  noch  ein  Würtehen  hinzngeftgt  werden,  damit 
der  Sats  riditig  wird.  Von  den  verschiedenen  Ansdirüoken,  die  von 
den  Schüleni  angegeben  werden,  finden  wir  das  Wort  „meisten^  am 
passendsten  nnd  bilden  nnn  den  Satz:  Die  meisten  Blnmen  iqi 
Feld  und  Wald  sind  Terhlfiht  Whr  wollen  nnn  den  Satz  mit 
Garten  bilden.  Im  Sommer  blieben  die  Vorübergehenden  oft  an  onserem 
Garten  stehen.  Warum?  Wanim  bleibt  jetzt  niemand  mehr  am  Blnmen- 
garten  stehen?  Er  sieht  nicht  mehr  schön  ans.  Und  woran  liegt  es, 
dass  er  nicht  mehr  schön  aassieht?  Was  thun  denn  die  Menschen,  damit 
sie  selber  schön  aussehen?  Patzen,  schmücken  sich.  Womit?  Wie 
nennt  man  alle  diese  Dinge,  mit  denen  sich  die  ^Menschen  schmücken, 
mit  einem  Worte?  Schmuck.  Auch  der  Garten  hat  seinen  Schmuck. 
Was  ist  sein  Schmnck?  Warum  sieht  also  der  Garten  jetzt  nicht 

Fadagogliiai.  U.  JMttg.  Haft  XI.  51 


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—   714  — 


mehr  schon  ans?  Weil  er  seineD  Schmuck  nicht  mehr  hat.  Wie 
können  wir  nun  unseren  Satz  vom  Garten  ausdrücken?  Unter  den 
verschiedenen  Sätzen,  die  die  Schüler  bilden,  wählen  wir  den:  Der 
Garten  hat  seinen  Schmuck  verloren.  Wir  wollen  diesen  Satz 
mit  dem  vorigen  verbinden.  Es  entsteht  die  Satzverbindung:  Die 
Blumen  in  Feld  und  Wald  sind  verblüht,  und  der  Garten  hat  seinen 
Schmuck  verloren.  Es  gilt  nun  noch,  das  Würtchen  ..und"  durch  ein 
.  passenderes  zu  ersetzen,  und  so  erhält  der  Satz  schließlich  die  Form: 
Die  meisten  Blumen  in  Feld  und  Wald  sind  verblüht,  auch 
der  Garten  hat  seinen  Sclimuck  verloren. 

Die  Kinder  folgen  diesen  t'bungen  mit  g:roßem  Interesse,  und  die 
Freude,  die  aus  ihren  Augen  blitzt,  wenn  eine  soldie  tJbertragung 
von  Ausdrücken  und  Wendungen  aus  dem  Menschenleben  auf  die  Pllanzen- 
oder  die  Thierwelt  geglückt  ist,  i.^^t  der  beste  Beweis  dafür,  dass  der 
Unterricht  die  Seele  in  ihrem  Innersten  angeregt  und  alle  Sinne  ^e- 
Öffnet  hat.  Und  wenn  es  feststeht,  dass  nur  der  Unterricht,  der  die 
Seele  von  Grund  aus  erregt,  walnliafte  Bildung,  Bildung  von  innen 
heraus,  nicht  bloße  Anleniuug,  bewirkt,  so  ist  der  größere  Aufwand 
an  Zeit,  der  sich  durch  die  skizzirte  umständlichere  Behandlung  der 
Stilübungen  nöthig  macht,  kein  Verlust. 

Die  Stiliilnmgen  bieten  auch  die  beste  Gelegenheit,  die  das  Ver- 
hältnis und  die  Beziehungen  mehrerer  Sätze  zu  und  auf  einander  be- 
zeichnenden Formwörter  mit  anschaulichein  Inhalt  zu  versehen.  Nach- 
dem der  Aufsatzstotl"  (auf  der  Mittelstufe)  in  einfache  Sätze  gekleidet 
worden  ist,  werden  die  Kinder  aufgefordert,  je  zwei  bestimmte  Sätze 
durch  ein  passendes  Wörtchen  zu  verbinden  In  dieser  Weise  wird 
sQLim  auf  difiser  Stufe  die  sinngemäße  Anwendung  von  Ck>i^nnctionen, 
wie:  nnd,  denn,  wenn,  well,  darum,  deshalb,  als  und  te  Belativpro- 
nomen  yorbereitet  Als  Beispiel  führe  ich  folgendes  an:  Jn  einem 
Anfsats  über  die  Eidechse  sind  die  Sätae  festgestellt  woidea:  „Sie 
kann  geschickt  klettern.''  „Ihre  Zehen  sind  mit  Krallen  yeralÜmJ*  Es 
ergeht  nun  an  die  Sdifiler  die  Anffordenmg,  beide  Sätse  durch  ein 
passendes  Wort  an  yerbiaden.  Ndthigen&Us  hilft  der  Lehrer  mit  der 
Frage:  Warom  kann  sie  geschickt  klettern?  nach,  mn  das  gewünschte 
Wort  finden  zn  lassen  und  die  endgiltige  Fassung  zn  gewinnen:  Sie 
kann  geschickt  klettern,  denn  ihre  Zehen  sind  mit  Krallen 
versehen. 


Üigiiizea  by  LaOügle 


Welche  Stellaug  hat  die  Lehrerschaft  zn  der  Präparanden- 

'  bildiug  za  nehmen?*) 

Cmftrmmertrag  «on  JB.  ürmue-  Wrimn  u/O, 

^iVenn  wir  hentigestags  in  die  Fachpresse  blicken  und  dabei 
aneh  die  äußeren  Verhältnisse  im  Schnlwes^  aufinerksam  beobacht«i, 
80  kann  uns  ein  Übelstand  nicht  entgehen,  der  schon  immer  und  immer 
die  Anfinerhsamkelt  der  Behörden  und  der  Lehrerschaft  aof  sich  ge- 
zogen hat,  der  aber  bisher  noch  nicht  hat  beseitigt  werden  kOnnen. 
Es  ist  dies  der  Lehrermangel.  Dass  er  thatsachlich  besteht,  wer  wollte 
es  leugnen?  Nimmt  doch  die  Zahl  der  jungen  Leute,  die  sich  dem 
VolksschuUM^e  widmen,  alUfthrlich  ab;  die  Seminarien  entlassen  statt 
der  Normalzahl  von  25  Abiturienten  nur  etwa  zwanzig  und  noch 
Tveniger,  wie  wir  fast  in  jeder  Nummer  unserer  Sclinlzeitungen  lesen  . 
können.    Dabei  gibt  es  noch  zahllose  überfüllte  Classen  und  circa 
11000  Classen  ohne  eigene  Lehi'er.    Bei  einer  Aufstellung,  die  im 
vorigen  Jahre  j^emarht  Tvurde,  ergab  sicli.  dass  10B47  VolksschuUelirer 
fehlten.    Die  Zalil  der  Seminaristen  tiel  von  1876  bis  1888  von  9400 
auf  8500,  während  die  Zahl  der  schulpflichtigen  Kinder  in  derselben 
Zeit  um  650000  stieg.   Von  19  Seminarien,  die  vergangene  Ostern 
ihre  Abiturienten  entließen,  blieben  zwölf  hintei'  der  durchschnittlichen 
Zahl  zurück,  und  nur  fünf  gingen  um  ein  geringes  darüber  hinaus. 
Aus  vielen  Anstalten  wurden  nur  17  bis  20  Seminaristen  mit  dem 
Eeifezeu^jnis  entlassen,  und  die  Zahl  der  als  Ersatz  sich  einstellenden 
Präparaiidcii  war  in  einzelnen  Bezirken  so  ni*.Mlrig-,  wie  seir  lange  nicht. 
Auch  wenn  die  jetzt  bestehenden  107  Lehrerseminare  alle  in  der  etats- 
mäßigen Stärke  besetzt  wäien,  könnten  sie  den  laufenden  Bedarf  an 
Lehrkräften  bei  weitem  nicht  decken.  Man  vei-suclit  zwar  hier  und  da, 
die  <,'esetZLr«'bende  Kürperschaft  über  den  vorliandenen  Lelirermancfel 
hinwegzutäuschen,  aber  bei  dem  lieiitii^en  Stande  der  Statistik  ist  dies 
nicht  immer  möglich.    Verschiedene  Mittelclien  hat  man  denn  auch 
schon  versucht,  um  dem  inmier  drohender  werdenden  Lelirermangel 
abzuhelfen:  Mau  hat  königliche  Präparaudeuaustalteu  eingerichtet, 

*)  TerCBner  Iwt  prent ische  VeiliSItiiiflse  im  Ange.  D.  B. 

61» 


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man  begünstigt  die  Privatvorbildung  von  Präparanden  auf  alle  mög- 
liche Weise,  man  errichtet  neue  Seminare,  nimmt  Doppeicurse  auf, 
versetzt  von  West  nach  Ost,  vermehrt  die  Ijehreiinnenstellen,  kürzt 
die  Seminarcurse  ab  etc.  etc.  Aber  alles  verg-ebens.  „Die  vorhandenen 
Lücken  im  Lehrerpersonal,"  so  schreibt  das  Berl.  Tgbl.,  „sind  auf 
diese  Weise  nicht  auszufüllen.  Nimmt  man  an,  wie  von  sachkundiger 
Seite  geschieht,  dass  durch  Tod,  Pensionining,  Dienstaustritt  etc.  von 
den  vorhandenen  Lehi'kriitten  alljährlicli  fünf  Procent  ausscheiden  und 
außerdem  nur  1()(X)  Stellen  neu  zu  errichten  sind  —  der  Bedarf  war 
in  den  letzten  Jaiiren  erheblich  größer  — ,  so  müssen  nach  Abrechnung 
der  weiblichen  Lehrkräfte  jährlich  über  4(JÜÜ  Schulamtscandidaten  zur 
Verfügung  stehen,  die  Seniinarien  mitliin  stets  mit  mehr  als  12000 
Seminaristen  besetzt  sein.  Auch  bei  dieser  Zahl  könnte  eben  nur  der 
laufende  Bedarf  gedeckt,  also  weder  die  ClassenüberfüUung  beseitigt» 
noch  die  mitverwalteten  HOOG  Classen  mit  eigenen  Lehrkräften  ver- 
sorgt werden.  Welchen  Zuständen  also  die  Volksschule  entgegengeht,, 
wenn  z.  Z.  höchstens  2800  Seminaristen  jähi'lich  entlassen  werden,, 
bedaif  keiner  weiteren  Beleuchtung." 

In  neuerer  Zeit  haben  liie  Behörden  sich  besonders  darauf  gelegt» 
neuen  Zuzug  für  die  Seniinarien  zu  gewinnen,  vielleicht  in  der  niclit 
unrichtigen  Voraussetzimg,  dass,  wer  erst  einmal  drei  oder  sechs  Jahre 
seines  Lebens  der  speciellen  Vorbildung  zum  Lehrerberufe  geopfert  hat, 
nicht  mehr  zurück  kann.  Einen  anderen  Beruf  zu  ergreifen,  dazu  ist 
es  dann  in  den  meisten  Fällen  zu  spät;  der  Betreffende,  oder,  besser 
der  Betroffene  mnss  zeitlebens  fllr  einen  Hnngerlohn  seine  Kritfite  ein> 
setzen.  Der  Wabn  war  kon,'  die  Beae  ist  lang.  Man  rührt  jetzt 
gar  eifrig  die  Werbetrommel,  nm  Menschen  zu  ftngen.  So  hat  bei- 
spielsweise  die  EOnigl  Regierung  zu  Liegnitz  nntem  5.  Mttrz  1889 
eine  Yerf&giing  erlassen,  in  welcher  die  Lehrer  mehrclassiger  Schalen 
an^iefordert  werden,  vielleieht  unter  Mithilfe  der  Schnlinspectoren  sieh 
zur  gemeinsamen  Arbeit  für  den  bezeichneten  Zweck  za  Teremigenu 
t^Wir  enmchen  daher,*'  so  heißt  es  am  Sehlnsse  derselben,  «die  Herren 
Ereisschnlinspectoren,  die  betreffenden  Kreise  fortgesetzt  fifar  die  wichtige 
Angelegenheit  zu  interessiren.  Dorch  die  nns  znr  Verffigong  gestellten 
yermehrten  Mittel  sind  wir  in  die  günstige  Lage  Tcrsetzt,  tfichtige 
Leistnngen  der  Lehrer,  wie  bedOrftiger  Zögh'nge,  auch  wenn  sie  sieh 
im  elterlichen  Hanse  aufhalten,  mit  Beihilfen  zu  bedenken.'*  —  Unter- 
stützungen werden  also  für  die  FrJ^^aranden-  und  Seminaijahre  ver- 
sprochen, die  Ausbildung  wird  den  Beflectanten  so  leicbt  als  mOglieh. 
gemacht,  und  zwar  nicht  blos  in  pecunifirer  Hinsidit,  was  immerhin 


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noch  anzuerkennen  ist,  sondeni  oft  auch  betreffs  der  Prüfungen,  was 
nichts  weniger  als  lobenswert  ist.  Man  gewährt  den  Eintretenden 
späterhin  ^Erleichterung  bei  Erfüllung  der  allgemeinen  Wehrpflicht, 
man  zahlt  den  Präparandenbildnem  Kopfgelder  u.  dgl.  Die  Kniffe, 
womit  die  ai'men  Seelen  von  den  Präparandenjägern  bethrirt  werden, 
sind  ja  hinlänglich  bekannt;  sie  bedürfen  kaum  einer  weiteren  Aus- 
einandersetzung. Ob  es  dadurch  gelingen  wird,  dem  Ijehrermangel 
abzuhelfen?  Wer  möchte  es  verneinen?  Es  gibt  noch  immer  solche, 
die  nicht  alle  werden;  und  wer  will  es  bejahen?  Glücklicherweise 
gibt  es  auch  noch  einsichtsvolle  Elten).  Sei  dem,  wie  ihm  wolle; 
jedenfalls  ist  die  Angelegenheit  wichtig  genug,  dass  die  Lehrerschaft 
sich  mit  ihr  eingehend  beschäftige;  und  von  dieser  Ansirlit  ging  wol 
auch  der  Vorstand  des  brandenburgischen  Pro  vinzial- Lehrer  Vereins 
aus,  als  er  obiges  Thema  auf  die  Tagesordnung  der  diesjährigen 
Provinzial -Versammlung  setzte.  Wir  wollen  nun  in  Folgendem  unter- 
suchen, welche  Stellung  wii*  Lehi-er  zur  Präparandenbüdungsfrage  ein- 
zunehmen haben. 

Es  ist  ein  allgemein  bekannter  und  auch  allgemein  anerkannter 
y  Satz:  Der  Preis  einer  Ware  richtet  sich  nach  Angebot  und  Nachfrage. 
Wenden  wir  diesen  Satz  auf  den  Lehrerstand  an  —  und  warum  sollten 
wir  das  nicht  thuu  dürfen?  —  so  stellt  sich  folgendes  heraus:  Je  mehr 
Lehrer  zur  Verfügung  stehen,  um  so  geringer  wird  der  Preis  sein, 
den  man  pro  Arbeitskraft  zahlen  will,  und  umgekehrt.  Schon  von 
diesem  Gedanken  ans  wäre  fftr  uns  Lehrer  das  Näcbadiegttidei  dalllr 
zu  sorgen,  dan  möglichst  wenige  Jünglinge  sieh  dem  Lebrerstande 
zuwenden.  „Der  Lehrermangel  ist  stets  die  unmittelbare  Folge  der 
ungünstigen  materiellen  und  sodalen  Verhältnisse  des  Lehrerstandes 
gewesen,  und  mit  Beeht  haben  die  Lehrer  denselben  von  jeher  ab 
einen  der  wirksamsten  Faotoren  im  Kampfe  um  die  Hebmig  ihrer 
socialen  Stellung  betrachtet^  (Pr.  L.-Ztg.)  Und  in  der  Thst,  es  ist 
bei  den  heutig  Besoldungsverhaitmssen,  wo  die  sweiten  Lehrerstellen 
iuif  dem  Lande  noch  mit  640,  080  oder  höchstens  mit  760  Mark  dotirt 
smd,  nur  eine  Änftersng  des  Selbsterfaaltangstriebea,  wenn  die  Lehrer- 
schaft geschlossen  Stellung  nimmt  gegen  das  Qbliche  Frftparandenr 
Werbeqnstemi  wenn  sie  durch  Wort,  und  Schrift  die  Elterli,  die  aus 
ihren  S<fthnen  gerne  etwas  machen  möchten,  deneh  ihre  Kinder  stun 
AiWter  oder  Handwerker  zu  gut  dttnkftn,  bdehrt  und  auf  die  Schatten- 
seiten im  Lehrerleben,  auf  die  Domen,  die  die  Bosenmeist überwuchern, 
beizeiten  aafitterksam  macht,  wenn  sie  sich  mit  allen  Krflften  gegen 
neuäi  Zndrang  zum  Lehrerberufe  wehrt  Ist  es  doch  iSwt  mir  durch 


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—  718  — 


den  Lehrermangel  möglich,  eine  Stelle  zu  erlangen,  die  ein  einiger- 
maßen erträgliches  Einkommen  gewährt;  und  nur  der  dauernde  und 
steigende  Lehrermangel  ist  die  einzige  Macht,  welche  imstande  ist, 
unsere  Beliürden  und  die  Schulunterhaltungspflichtigen  zu  zwingen,  der 
Lehrerschaft  außer  der  Versicherung  dauernden  Wolwollens  auch 
noch  ab  und  zu  eine  kleine  Gehaltsaufbesserunci:  angedeihen  zu  lassen, 
allerdings  auch  meist  erst  dann,  wenn  die  Schreier  gar  zu  unbequem 
werden  und  der  etwas  schwache  Geduldsfaden  zu  reißen  droht. 

Im  Stuttgarter  „Lehrerheim"  finden  wir  folgendes  nützliche  G^e- 
schichtchen:  „Vor  kurzem  sprach  der  Einsender  dieses  mit  einem 
alten  Bekannten  des  Finanzdepartements  über  unsere  Bitten  und  ihre 
Aussichten.  Der  Herr  ließ  mich  reden,  ließ  mich  schildern,  ließ  mich 
begründen  und  vergleichen,  wie  leb  wollte  —  er  saß  mir  stamm  gegen- 
über. Die  Sitiution  wmdfi  mir  oidlich  peinlieh,  so  dass  ich  gerade 
heraus  fragte,  was  .denn  seine  Meinung  sei.  ,Nun,'  meinte  er,  »wenn 
Sie  Arbeitgeber  wären,  und  Ihre  filteren  Arbeiter  würden  Ihnen  jahr^ 
aas,  jahrein  nicht  nnr  die  eigenen  Söhne,  sondern  auch  die  von 
Bekannten  in  solcher  Masse  anfuhren,  dass  Sie  diese  nidit  mehr 
beschäftigen  könnten;  ja,  wenn  diese  Znfbhr  von  überschüssigen  Arbeits- . 
krfiften  anch  dann  nidit  aofhSren  wfirde^  wenn  Sie  schon  einen  Theil 
der  früher  anfgenommen^  Arbeiter  feiern  lassen  mttssten:  was  würden 
Sie  wol  an  dem  Begehren  einer  Lohnanfbessening  sagen?  Sehen  Sie, 
andere  St&nde  warnen  in  den  Zeitungen  vor  dem  Betreten  einer  Laof- 
bahn,  in  der  an  viele  Yordermfinner  sind;  die  Arbeiter  thnn's  in  jedem 
Fache;  für  diese  oder  jene  Beamtenkategoiie  geschah  es  schon  von  beater 
Stelle  ans,  —  Sie  aber  treiben  noch  immer  neue  Scharen  von 
Arbeitskräften  in  Ihren  Beruf:  in  Ihrer  eigenen  Hand  liegt 
Ihr  Schicksal,  das  sich  allerdings  in  wenigen  Jahren,  die  einen 
Mangel  an  Lehrkräften  bringen  würden,  nicht  wenden  wird  nnd  kann  * 
,Gat,*  sagte  ich  dem  Herrn,  ,von  meinen  Sühnen,  nnd  soUte  das 
Dutzend  voll  werden,  soll  keiner  seinem  Vater  folgen,  nnd  bei  meinen 
Schülern  werde  ich's  halten  wie  seither;  ich  habe  noch  keinen  geliefert'* 

Wenn  wir  uns  also  gegen  das  beliebte  Werben  von  Präparanden 
aussprechen,  wer  wollte  es  uns  verdenken!  Anderseits  aber  birgt 
anch  der  Lehreimangel  eine  Gefahr  für  unseren  Stand  in  sich,  die  wir 
uns  nicht  verlielilen  dürfen.  Nehmen  wir  an,  der  Mangel  würde  immer 
größer,  so  würde  man  bald  hinausgehen  auf  die  Straße  und  an  die 
Zäune  und  zum  Eintritt  in  die  Präparande  laden,  wen  man  findet, 
Böse  und  Gute,  um  nur  die  Tische  möglichst  voll  zu  bekommen.  Dass 
dann  aber  auch  manche  Elemente  in  den  Lehrerstand  hineingeratlien, 


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—   719  — 


die  besser  draußen  geblieben  wären,  die  dem  Lehrerstand  nicht  zur 
Zierde  gereichen  werden,  das  kann  dann  gar  nicht  ausbleiben.  Und 
wenn  dann  unter  den  vielen  einmal  einer  sicli  befindet,  der  kein  hoch- 
zeitlich Kleid  anhat  und  hinausgewiesen  werden  muss.  dann  werden  flugs 
Aschermittwochsreden  gehalten  vom  Minister  bis  zum  Ortsschulinspector 
hinab,  und  es  wird  constatirt,  dass  der  gesammte  Lehrerstand  sittlich 
verderbt  sei.  Das,  meine  Herren,  muss  uns  einleuchten,  dass  der 
Lehrermangel  gerade  dazu  angethan  ist,  ungeeignetes  ]\Iaterial  in  den 
Lehrerstand  hereinzubringen,  und  darum  ist  es  hinwit^denim  unsere 
moralische  Pflicht,  den  Lehrermangel  zu  bekämpfen.  Wie  d&s  geschehen 
soll,  will  ich  des  weiteren  zeigen.  * 

Wenn  ich  ß:esagt  habe,  die  Lehrerschaft  sei  es  sich  selbst  schuldig, 
den  Lehrermangel  zu  bekämpfen,  so  will  ich  mich  aber  von  vorn- 
lierein  dagegen  verwahren,  als  ob  ich  nun  doch  dem  Werbesystem  das 
Wort  reden  wollte.  Nein,  durchaus  nicht.  Wie  ließe  es  sich  auch 
mit  der  Wahrhaftigkeit  yereiiifoareii,  wollte  man  einerseits  junge  Leute 
bethören,  den  Lehrerberuf  zu  ergreifeiii  während  man  anderseits  fort- 
während Jeremluton  anttimmt  üiMr  das  traurige  Los  des  Lehren?  Oder 
sollte  der,  der  nicht  mit  Freudeo,  Mmdern  mit  Sea&en  sehien  Beruf 
amAhti  in  anderen  Lest  erregen  kQnnen,  sein  Los  zu  .theflen?  „Httssten 
Lehrer,  die  das  thftten,  nidit  dereinst  errOthen  ond  yor  Scham  yer- 
gehen  yor  jenen  ehemaligen  Knaben  nnd  Jflnglingen,  deren  Yertranen 
sie  80  arg  getänscht,  denen  sie  snr  Zeit  den  Lehrerbemf  nicht  wahr- 
heitsgetreu  gekennaeichnet  hatten?** 

Aber  da  yrird  mancher,  der  sich  selbst  mit  Prftparandenansbfldnng 
beschäftigt,  entgegnen,  das  thne  er  nicht;  er  nehme  nnr  solche  Knaben 
anf ,  die  ans  eigenem  Antriebe  kämen,  die  fllr  den  Lehrerbemf  be^ 
geistert  seien.  Kann  man  das  wol  bei  einem  14jährigen  Knaben  yor^ 
anssetnn,  nnd  noch  dazu  Begeisternng  Ar  etwas,  vas  man  noch  gar 
nicht  keimt?  Langermann  schildert  in  ^er  BroschOre  recht  drastisch, 
wie  so  ein  Junge  für  den  Lehrerbemf  begeistert  wird. 

«Da  rückt  in  einer  annien,  mit  Kindern  reich  gesegneten  Familie 
der  Tag  heran,  dass  wiedisr  einer  der  yielen  Knaben  die  Yolksschnle 
yeriässt,  nnd  mit  besoigtem  Herzen  stehen  die  Alten  yor  der  schwierigen 
Frage:  Was  nun  aus  dem  Jungen  machen?  QiM  für  die  Gründung 
eines  selbstständigen  Geschäfts  können  wir  ihm  nicht  mitgeben.  Ob 
er  es  aus  eigener  Kraft  zur  Selbstständigkeit  bringt,  ist  zum  mindesten 
fraglich.  Und  ewig  Fabrikarbeiter  oder  gar  gewöhnlicher  Arbeiter 
sein,  nein,  dafür  ist  uns  der  Junge  doch  zu  gut,  und  dafür  bat  er  in 
der  Schnle  auch  znyiel  gelemtl  In  der  Schule  gelemtl  0  das 


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—    720  — 


wäre  vielleicht  noch  em  PIul!  Ja,  wenn  der  Junge  so  ein  ,HeiT 
Ldirerf  ▼erden  könnte!  Bas  wäre  schon  beinahe  so,  als  wenn  er 
«in  Men  Bastor  würde.  Freilich,  besser  wäre  hesser,  denn  ein  Herr 

Pastor  ist  doeh  noch  ganz  etwaa  anderes!  Wenn  wir  so   dodi 

nein,  das  geht  nicht!  —  iMens  das  mle  Qeld  und  dann  anch 

die  vielen  Kinder!  —  —  Aber  ein  Lehrer  sein,  ist  doch  auch  schon  was. 
ünd  was  für  bequeme  Tage  hat  er  da  nicht:  braucht  nnr  die  Kinder 
ein  idsBchen  lesen  und  schreiben  an  lehren,  hat  all  die  schQnen  Ferien, 
jeden  Mittwoch-  nnd  Samstagnachmlttag  einen  ganzen  halboL  Tag  fid, 
kann  alle  Werktage,  wenn  wir  arbeiten  müssen,  spazieren  gehen  und 
braucht  nicht  einmal  Soldtt  zn  werden,  denn  Aber  die  zehn  Wochen 
kommt  er  wol  hinweg. 

„So  reden  sich  die  liebenden  Herzen  in  helle,  liebte  Begeisterang 
hinein.  Wer  wollte  es  ihnen  wol  rerdenken,  sie  bauen  Ja  am  Neste 
ihres  Kindes.  — 

„Der  Junge  wird  geiiifen.  Man  zeigt  ihm  an  dem  Rosenstock 
des  Gewerbestandes  nur  die  Domen  —  die  kennt  man  ja  aus  eigener 
Erfahrung  —  und  an  dem  Rosenstrauch  des  Lehrerstandes,  den  man 
nicht  kennt,  eitel  Blüten  und  schwellende  Knospen  und  vergisst  dabei, 
dass  keine  Rose  oline  Dornen  ist,  und  dass  ein  jeder  Stand  wol  seinen 
Frieden,  aber  auch  seine  Last  hat.  —  So  sagt  der  g'ute  Junge  ja, 
weil's  die  Eltern  so  wünschen,  die  Mutter  wendet  sich  an  den  Herrn 
Pastor,  der  ja  in  den  meisten  Fällen  Localschulinspector  ist.  Sie  er- 
zählt von  der  Be^'eisterung  ihres  Kindes  für  den  Lehrerberuf,  und 
wie  der  Junge  duixhaus  nichts  anderes  werden  wolle,  und  der  Herr 
Lehrer  ihn  ja  auch  immer  gelobt  habe,  und  wäre  auch  zwei  Jahi-e 
lang  der  ,Obei*ste'  gewesen,  und  sie  mochtens  doch  alle  so  gerne, 
dass  der  Junge  zu  seinem  Ziele  käme  etc.  etc.  —  Aber  sie  wären  nur 
gar  zu  arm  und  hätten  all  die  vielen  lieben  Kinder,  ob  der  Herr 
Pastor  nicht  daliir  sorgen  wolle,  dass  der  Junge  eine  Freistelle  in  der 
Präparandenanstalt  des  Herrn  Soundso  bekomme,  dann  würden  sie  es 

mit  Gottes  Hilfe  wol  ermüglichen,  dass  und  so  geht  es  auf 

dieser  Bahn  fort  ohne  P^nde.  Und  der  Junge,  der  so  mit  allen  mög- 
lichen Raupennesteru  im  Hirn  eines  guten  Tages  seinen  Einzug  hält 
in  seine  Präparaudenzt-lle  das  ist  der  fui"  den  Lehrerberuf  geeignete 
und  begeisterte  Jüii-liii^;.  '  — 

Also  mit  der  Begeisterung  ist  es  so  weit  nicht  her,  und  wenn 
dieselbe  gai-  von  Lehrern  gemacht  wii'd,  so  ist  es  unsere  Aufgabe, 
«in  solches  Handeln  bloßzustellen.  Ja,  gegen  alle  diejenigen,  die  theils 
aus  Eitelkeit,  theils  aas  E^ennutz,  nicht  aber  aus  innerem  Berufe, 


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—  721  — 


die  handwerksmäßig,  um  nur  möglichst  viel  Gteld  zu  verdienen,  Scharen 
von  jungen  Leuten  ausbilden,  gegen  diejenigen,  die  von  Straßen  und 
Zäuuen  zusammenschleppen,  wen  sie  finden,  wollen  wir  uns  wenden, 
deren  Treiben  wollen  wir  bekämpfen  um  der  Ehre  unseres  Standes  willen. 

Auf  welche  Weise  aber  können  wir  denn  dann  den  Lehrermangel 
bekämpfen?  Nun,  foi^chen  wir  nur  nach  den  Ui'sachen,  so  werden 
wir  auch  bald  sein  Heilmittel  entdecken.  Woher  kommt  es.  dass  zur 
Zeit  so  wenige  junge  Leute  den  Lehrerberuf  ergreifen?  Ist  denn 
dieser  Beruf  weniger  ehrenwert  als  jeder  andere?  O  nein,  das  wird 
wol  niemand  behaupten.  Aber  die  Leiirerbesoldung  ist  es,  die  jeden  ein- 
sichtsvollen Vater  abschrecken  muss,  seinen  Sohn  Lehrer  werden  zu 
lassen,  die  vielen  anderen  Übelstände  auf  dem  Gebiete  des  Scliul- 
wesens  sind  es,  welche  die  Ausübung  gerade  dieses  Berufes  vor  allen 
anderen  erschweren.  Soll  ich  Iliiien  diese  Übelstände  erst  einzeln 
aufführen?  Ich  halte  es  nicht  flii-  nöthig.  Lesen  Sie  doch  nur  einmal 
die  Themen  durch,  welche  in  den  Lehrenwsamralungen  behandelt 
werden,  so  finden  Sie  sie  selbst.  Da  lesen  wir  z.  B.:  ,.I)er  Bureau- 
ki-atismus  auf  dem  Schulgebiete",  —  „Befreiung  des  Lehrers  vom 
niederen  Küsterdienste"*,  —  „Die  Schulinspectionsfrage",  —  „Die  Frei- 
heit des  Lelirers  im  Amte^,  —  „Die  sociale  Stellung  des  Lehrers",  — 
„Die  Relictenversorgung"  etc.  etc.  Das  alles  sind  Dinge,  ganz  dazu 
angethan,  den  Zuzug  zum  Lehrerberufe  hintanzuhalten.  Ist  es  aach 
BOD  in  erster  Linie  Aufgabe  der  Behörden  und  der  Schnlonterhaltungs- 
pflichtigen,  diese  Übebttnde  m  beaeitigen,  so  kaim  aadendts  doch 
die  Lehranchait  gar  viel  mit  dasa  beitragen,  daaa  dieae  Dinge  ge- 
beesert  werden,  und  dass  somit  der  Urgrund  des  Lehrermangds  be- 
seitigt wird,  wenn  sie  geschlossen  vorgeht  imd  nieht  milde  wird,  in 
Wort  und  Schrift,  auf  Versammlungen  und  in  der  Presse  gegen  diese 
Mängel  zu  Felde  zu  ziehen,  die  Behörden  und  das  Publicum  aufiro- 
kUtai  Aber  die  ungeheuren  Nachtheile,  welche  der  gesammten  Nation, 
der  ganzen  bOrgerUchen  Geaenacbaft  durch  eine  mangelhafte  Eniehung 
und  Bildung  erwachsen.  In  diesem  Sinne  jden  Lehrermangel  beklmpfen 
ist  «nsere  heilige  Pflicht  und  Auf|gabe,  und  wer  es  redlich  meint  mit 
dem  Lehrerstande,  mit  der  Schule  und  mit  der  Nation,  der  setxe  seine 
Erifte  ftr  dieses  edle  Ziel  ein,  der  werde  nicht  mflde,  unseren  schönen 
VorbÜdem,  yor  aBen  unserem  Altmeister  Dieaterweg  Eachzoeifenii 
auch  wenn  er  in  den  Geruch  eines  Schreiers  kommen  sollte.  Lassen 
wir  uns  nicht  entmuthigen,  wenn  es  auch  biaweikn  trfibe  Zeiten  gibt 
„Es  muss  doch  FrlhUng  werden",  und  wenn  die  Zeichen  der  Zeit 
nicht  t&oschen,  so  steht  auch  unser  Fr&hling  vor  der  Thür, 


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—  722  — 


Die  nächste  Frage,  die  wir  uns  nun  zur  Beantwortung  stellen 
wollen,  ist  die:  Wie  steht  es  mit  der  derzeitigen  Ausbildung  der 
Seminaraspiranten?  Ist  sie  geeignet,  die  Anforderungen,  welche  im 
Seminar  an  dieselben  gestellt  werden  müssen,  um  sie  dereinst  als 
tüchtige  Bildner  der  Jugend  zu  entlassen,  zu  befriedigen?  Ich  für 
meine  Person  beantworte  diese  Frage  mit  „nein"  und  will  Iknen  auch 
die  Gründe  für  diese  Antwort  auseinandersetzen. 

Beobachten  Sie  den  heutigen  Volksschullehrerstand  in  seinem  rast- 
losen, emsigen  Fortarbeiten  an  seiner  Weiterbildung.  Wie  viele  sind 
es  nicht,  die  ihre  Mittelschal-  tind  Rectoratsprüfung  absolviren,  und 
wie  noch  yiel  mehr  sind  es,  die  so  eifrig  weiterarbeiten,  ohne  eine 
Frflfbng  abzulegen!  Etwas  Ähnliches  hat  kein  anderer  Stand  av&a- 
weisen.  So  erfreulich  diese  Erscheinung  an  und  fftr  sich  ist,  so  kann 
ich  doch  nicht  umhin,  dieselbe  als  etwas  nieht  Normales  za  beaeichnen« 
Sobald  der  Lehrer  im  Amte  ist,  so  gehören  seine  Exflfte  der  Sehnle, 
und  seine  freie  Zeit  ist  dam  da,  um  sich  einerseits  die  so  nSthige 
Erholung  zn  gOnnen,  nnd  anderseits,  nm  sich  bezQgUdi  dessen,  was 
seine  Sehnle  angeht,  anf  dem  Laufenden  sa  erhalten.  Die  Schnlarbeit 
mit  ihren  Vorbereitnngen  nnd  den  nOthlgen  Nacharbeiten,  In  ihrem 
Fortschreiten  bezüglich  der  Hethode,  mit  ihrer  Literatur  nnd  mit  aUe- 
dem, was  sonst  nodk  drnm  nnd  dian  hfingt,  ist  wol  geeignet,  eine 
volle  Hanneskrait  zn  absorbiren.  Daher  ist  dieForderong  wolbereditigt) 
dass  das  Seminar  seine  ZOgUnge  so  TOigebÜdet  entlftsst,  dass  sie  sowol 
in  allgemeiner  Bildung,  als  auch  in  der  specieUen  Bemlhbüdung  nieht 
nöthig  haben,  Lücken,  die  sich  nach  der  Entlassung  noch  herausstellen, 
zn  ergänzen  und  in  einzelnen  Fächern  ihr  Wissen  zn  vertiefen.  Wenn 
wir  von  einer  Yertieftmg  in  einzelnen  Wissensftchem  sprechen,  so 
setzt  dies  doch  nnbedfaigt  voraus,  dass  vorher  das  Wissen  nur  ein 
oberflächliches  war,  und  das  durfte  sich  die  Seminarbildnng  nicht  nacli- 
sagen  lassen.  Das  Wissen,  welches  das  Seminar  vermittelt,  muss  ein 
derartiges  sein,  dass  die  entlassenen  Zöglinge  auch  ohne  besondere 
I'rüfung  nicht  nur  an  den  Unterclasscn,  sondern  auch  an  den  Mittel- 
und  Oberdassen  von  Mittelschulen,  höheren  Töchter-  und  Bürger- 
schulen zu  unterrichten  befähigt  sind.  Man  würde  dann  eben  ffir 
solche  Schulen  sich  diejenigen  Lehrkräfte  der  Volksschulen  aussuchen 
können,  die  in  ihrer  bisherigen  Thätigkeit  Außerordentliches  oder  doch 
recht  Tüchtiges  geleistet  haben,  und  das  würde  meiner  Ansicht  nach 
ein  Yortheil  für  die  höheren  Schulen  sein,  ohne  dass  dadurch  die 
Volksschulen  geschädigt  würden;  denn  das  erhöhte  Arbeiten  in  der 
Schule  und  für  dieselbe  würde  ihr  ersprießlicher  sein,  als  wenn,  wie 


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_   723  — 

es  bisher  oft  der  Fall  war,  junge,  strebsame  Lelu'er  bisweilen  Tag-  und 
Nacht  lUr  ihre  Prüfung  arbeiten  und  so  einen  Theil  ihrer  Kraft  der 
Schule  entziehen.  Wie  kann  aber  ein  Seminar  so  viel  leisten,  wenn 
ihm  nicht  geei^^net  vorgebildete  Zöglinge  zu  Gebote  stehen?  Ver- 
gegenwärtigen wir  uns  zunächst  einmal  das  Pensum,  welches  ein 
Präparand  in  seiner  gewöhnlich  auf  drei  Jahre  bemessenen  Vor- 
bereitungszeit zu  bewältigen  hat.  Die  Allgemeinen  Bestimmungen 
geben  uns  darüber  Aufschluss.  In  Religion  fordern  sie:  „Bekanntschaft 
mit  der  heiligen  Geschichte  alten  und  neuen  Testaments,  einschließlich 
der  zum  Verständnisse  derselben  erforderlichen  Kenntnis  des  Schau- 
platzes derselben.  Der  Aspirant  muss  befähigt  sein,  die  bekanntesten 
biblischen  Geschichten  frei,  im  Anschlüsse  an  die  Ausdrucksweise  der 
Bibel  zu  erzählen  und  über  den  religiösen  und  sittlichen  Inhalt  der- 
selben Auskunft  zu  ertheilen.  Derselbe  mu.ss  ferner  den  dem  Religions- 
unterrichte im  Seminar  zugrunde  liegenden  Katechismus  mit  den  Kr- 
klärungen  nach  Wort-  und  Sachinhalt  behen*schen,  namentlich  über 
die  BedeutuM«^^  der  einzelnen  Worte  Kechenschaft  geben  können,  auch 
zu  den  Geboten,  den  Glaubensailikeln  und  den  Bitten  des  Vaterunsers 
die  wichtigsten  Belegstellen  aus  der  heiligen  Schrift,  sowie  passende 
Liederverse  auswendig  wissen  und  Beispiele  ans  der  biblischen  Ge- 
schichte zu  denselben  angeben  kOnnen.  Er  mnss  Aber  den  Inhalt  der 
'«nxebieii  Bttcher  der  heiligen  Schrift  eine  allgemeine,  Aber  das  1.  Badi 
Hosis,  die  Fäalmen,  die  Tier  EyangeUen»  die  Apostelgeschiehte  eine 
etwas  genaiiare  Anakmift  zu  ertheileii  imstande  sein.  Er  mius  die 
Hauptsachen  von  der  Beformationsgeschichte  wissen  und  etwa  20  geist- 
Uche  Lieder  inndiaben,  in  den  Inhalt  derselben  eingeltUirt  sein,  sie 
ndt  guter  Betonung  nnd  gntem  Ansdmck  TortrageUf  sowie  ttber  ihre 
Vevteer  Bechenschaft  geben  kOnnen.*  Dies  wftre  also  das  Pensom 
fttr  den  Beligionsanterricfat,  das  innerhalb  dreier  Jahre  geleistet  werden 
soll,  wahriich  kehie  Kleinigkeit  Gehen  wir  aber  weiter  nnd  sehen 
wir,  was  im  Deutschen  verlangt  wird.  Da  lesen  wir: 

„1.  Kenntnis  der  Wort-,  Wortbüdmigs-  nnd  Satadehre.  Präparand 
mnss  die  einzelnen  Begehi  etc.  an  Sprichwörtern  nnd  an  Mnstersfttaen 
ans  den  Schriften  der  dentschen  Dichter  nnd  YolkssehriftsteUer  nach- 
weisen können. 

2.  Er  mnss  laatrichtig,  logisch  richtig  nnd  fließend  vom  Blatte 
lesen  können  nnd  Uber  das  Gelesene  Becfaenschaft  zn  geben,  die 
einzelnen  Wörter  zn  bestimmen,  die  Satze  zn  bestimmen  nnd  zn  analy- 
siren  vermögen. 

3.  Er  mnss  die  Hanptarten  der  Poesie  an  Proben  ans  den  dentschen 


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Olassikt'in  kennen  gelernt  haben  und  einige  r4edichte  erzählenden 
Inhalts  von  Schiller,  Uhland,  Rückert  etc..  die  seinem  Verständhisse 
zugänglich  sind,  auswendig  wissen,  mit  Verstä,ndnis  und  gutem  Aus- 
drucke sprechen  und  über  ihren  Inhalt  Auskunft  geben  können." 

Alles  dies  soll  er  auch  in  den  drei  .laliren  erlernen,  denn  was  er  in 
die  Präparande  mitbringt,  ist  in  den  meisten  Fällen  nur  sehr  wenig, 
wie  wir  später  noch  sehen  werden.  Aber  gehen  wir  weiter.  Rechnen. 
Raumlehre  und  (Geographie  wollen  wir  hier  übergehen,  da  in  diesen 
B^ä<  hern  die  Anforderungen  nicht  viel  über  das  Pensum  einer  guten 
Volksschide  hinausgehen.  Aber  nun  Geschichte.  Da  soll  der  Präparand 
„die  Hauptsachen  aus  der  alinü  Geschichte  (wie  der  trojanische  Krieg, 
die  Perserkriege,  die  Blüte  Griechenlands,  Alexander  der  Große,  die 
Gründung  Roms,  die  Könige,  die  Vertreibung  der  Tarquinier,  Camillus, 
die  Gallier,  die  punischen  Kriege  u.  s.  f.),  die  Pflanznng  und  Aus- 
breitung des  Christenthums,  die  Völkerwanderung'*  kennen,  sowie  ..nähere 
Bekanntschaft  mit  den  Hauptpersonen  und  Begebenheiten  der  deutscheu 
und  der  brandenburgisch -preußischen  Geschichte  bis  zur  Gegenwart* 
haben.  Allerdings  wird  hierbei  weder  Verständnis  des  Zusanunen- 
hanges,  noch  Vollständigkeit  der  Daten,  dafOr  aber  Sicherheit  des 
Wissens,  namentlich  in  Bezng  aof  die  Baaptdate  g«ford«rl.  Dies 
alles  auch  noch  in  denselben  drei  Jahren.  Gehen  wir  weiter  aar  Natoiv 
knnde.  Da  soll  der  Präparand  die  Natargeschiehte  der  drd  Bdche 
an  hervorstehenden  Typen  nnd  Familien  kennen  gelernt  haben;  des- 
gleichen soll  er  nähere  Bekanntschaft  mit  den  Cnltnrpflanaent  den 
Giftpflanzen  nnd  'mit  der  ^anna  nnd  Flora  det  Heimat  haben.  Was 
das  sagen  wiU,  nähere  Bekanntschaft  mit  der  Flora  der  Heimat  an 
besitaen,  d.  h.  ca.  300-~400  yerschiedene  Pflanzen  anfinisnchen  nnd 
wä  bestimmen,  miteinander  zu  yergleichen  nnd  ihre  wesentliohsten 
UntersdMidnngsmeikmale  zn  erlenien,  welchen  Anfwsnd  an  Zeit  nnd 
Mflhe  das  erfordert,  braucht  wol  nicht  näher  aosehiandergesetat  m  werden. 
Dazu  kommen  aber  noch  die  wichtigsten  physikalischen  Lehren  und 
die  Elemente  der  Chemie,  nnd  zwar  alles  auf  Grundlage  des  Experiments, 
und  alles  das  auch  nodi  in  diesen  drei  Jahren.  Nun  aber,  last  not 
leaat,  die  Musik.  Wer  you  den  Gollegen  hat  nicht  schon  Musikunter- 
richt ertheilt?  Daher  whrd  sich  jeder  einen  Überschlag  ma^en  kamen, 
wenn  ich  die  Frage  auf  werfe:  Wieviel  Stunden  Zeit  sind  wol  wöchent- 
lich erforderlich,  um  in  drei  Jahren  fol^des  zn  erreichen? 

Im  Ciavierspiel  sollen  sämmtliehe  Tonleitern  in  Dur  und  Moll  mit 
dem  richtigen  Fingersatze  fest  einstudirt  sein,  ebenso  sollen  einige 
leichte  memorirte  Stacke,  Etüden,  Sonatinen  vorgetragen  werden,  auch 


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—   725  — 


soll  der  Präparand  leichte  Claviersätze  mit'  einiger  Siclierheit  vom 
Blatte  spielen  können.  Im  Violinspiel  soll  er  die  gebräaclilichstei^ 
Dur-  und  Molltonleitem  in  der  ersten  Lag'e  und  bei  mäßigem  Tempo 
mit  Reinheit  ausführen,  die  aus  dem  Gedächtnisse  zu  singenden  Choräle 
und  Volkslieder  (je  20)  auf  der  Violine  vortragen  und  leiclite  Melodien 
ohne  erhebliche  Fehler  gegen  die  Intonation  von  Noten  unmittelbar 
abspielen  können,  und  bei  beiden  Instrumenten  wird  eine  correcte 
Technik  verlangt.  Außerdem  soll  Präparand  Kenntnis  der  verschie- 
denen Schlüssel,  Takt-  und  Tonarten,  der  gewöhnlichen  Fremdwörter 
und  Tempobezeichnungen,  der  Intervalllehre  und  der  Ton  Verwandt- 
schaften zeigen.  „In  der  Harmonielehre  soll  der  Spieler  den  Dur- 
und  Molldreiklang,  sowie  den  Hauptseptimenaccord  in  allen  Lagen  und 
rmkehrungen  nennen  und  spielen  können.  Im  Orgelspiel  muss  Prä- 
parand die  elementaren  Manual-  und  Pedalübungen  innehaben,  einen 
ausgesetzten  vierstimmigen  Choral  ohne  Vorbereitung  von  Noten  ab- 
spielen und  leichte  Orgelstücke  aus  dem  (iedächtnis  vortragen  können.  ' 

Das  sind  die  Forderungen  der  „Allgemeinen  Bestimmungen,^* 
und  walirlich,  wir  müssen  gestehen,  sie  sind  hoch  gestellt,  so  hoch 
gestellt,  dass,  wenn  sie  voll  und  ganz  erfüllt  werden,  die  Semiuarien 
wol  imstande  sein  dürften,  mit  solchem  Muit  iial  das  vorhin  von  mir 
bezeichnete  Ziel  zu  erreichen.  Nur  in  einem  Tunkte  zeigen  sie  einen 
oöenbaren  Mangel,  das  ist  das  Fehlen  einer  (oder  auch  zweier)  fremden 
Sprache.  Der  Lehrerstand  zählt,  oder  muss  zu  den  gebildeten  Ständen 
zäMen;  von  einem  Gebildeten  aber  muss  man  heutzutage  eine  gewisse 
KeimtBia  wenigstens  einer  fremden  Sprache  fordern,  und  das  bisohea 
fremdspraGUieliir  Ttotfirrielii  in  ta  dni  Saminaijahren  genügt 
daza  nieht 

Also  abgesehen  yon  dem  Mangel  der  firamden  Spnehe  amd  die 
Allibrdeningen  an.  einen  Seininanuq^fanten  sehr  hohe.  Alier  seihen 
■wir  nns  doch  nun  einmal  um,  woher  sich  denn  der  Lehrerstand 
reemtirt?  Der  „berUhmte"  Geheimrath  Stiehl  schrieb  karz  vor  seinem 
Sturz  darüber:  aAls  die  Begnlatire  erschienen,  und  es  ist  seitdem 
nicht  anders  geworden,  widmeten  sich  dem  Lehrerberufe  and 
suchten  die  Anftiahme  in  die  Seminsnen  sehr  wenige  SOhne  von 
Lehrern  oder  wolbabenden  Handwerkern  und  Bauern,  meistens  nur 
Söhne  aus  der  armen  Landbevölkerung,  vielfiMdi  aus  Familien  des 
imtersten  Subaltembeamtenstandes.  Diese  Präparanden  waren  mit 
dem  14.  Jahre  ihst  ohne  Ausnahme  ans  der  gewQlinlicfaen  Elementar- 
schule entlassen;  der  Ehitritt  in  die  Seminarien  kann  erst  mit  dem 
17.  Lebeniiiahre  erfolgen.  Bis  dahin  waren  diese  Prftparanden  in  den 


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—   726  — 

meisten  Fällen  darauf  angewiesen,  sich  in  privater  Weise  und  wesentlich 
auf  eigene  Kosten  die  f&r  den  Eintritt  in  das  Seminar  erforderlichen 
Kenntnisse  zu  verschaffen.   Die  Erfahrung  hat  gelehrt,  dass,  wenn 
auch  die  Vorkenntnisse  mühsam  in  etwa  ausreichendem  Maße  ange- 
sammelt waren,  die  in  die  Seminarien  eintretenden  Präparanden  nach 
Maßgabe  der  geistigen  Atmosphäre,  in  welcher  sie  bisher 
gelebt,  und  nach  Maßgabe  des  mangelhaften  Unterrichtes, 
den  sie  genossen,  in  keiner  Weise  die  allgemeine  geistige 
Vorbildung  l»esaßen,  welche  die  Seminarien  unbedingt  voraussetzen 
müssen,  wenn  sie  in  dem  kurzen  Zeitraum  von  drei  Jahren  das  Aller- 
not h  wendigste  leisten  sollen.**    Provinzialschulrath  Wetzel  schrieb  in 
demselben  Jahre,  1872,  dass  in  den  Provinzen   ] Brandenburg  und 
Pommern  sich  zur  Aufnahme  in  die  Seminare  meist  nur  Söhne  von 
Tae:elr»hnei*n  und  kleinen  Handwerkern,  nur  vorgebildet  in  den  ge- 
wiilinlichen  Dorfschulen,  meldeten.    Und  so  wie  es  1872  war,  so  ist 
es  mit  wenigen  Ausnahmen  noch  heute.  Sühne  von  kleinen  Handwerkern 
und  armen  Landleuteu,  die  durch   die  Volksschule  gegangen  sind, 
stellen  das  Hau|)tioiitingent.    Und  das  sind  meistens  noch  nicht  die 
schlechtesten.  Gewöhnlich  sind  es  begabte  Schüler  gewesen.  Aber  oft 
genug  kommt  es  vor.  dass  Schüler  höherer  Schulen,  die  dort  nicht  gut 
thun  wollten  oder  nicht  mit  fortkamen,  noch  schnell  einer  Präparanden- 
anstalt  zugeführt  werden,  um  dort  fürs  Seminar  zurechtgestutzt  zu 
werden.   Der  normale  Weg  zur  Lehrerbildung  wäre  nun  der,  dass 
diese  14jährigen  Jünglinge  in  eine  dreiclassige  staatliche  Präparanden* 
anstalt  gebracht  würden.  Dort  haben  sie  ihre  eigenen  L^irer,  die 
ihnen  ihre  ganze  Zeit  widmen  können;  anch  sind  diese  Anstalten  in 
der  Begel  mit  Lehrmitteln  aller  Art  gut  ausgestattet;  nnd  wenn  es 
ttherhanpt  mGglich  ist,  die  ans  den  yerschiedensten  Schulen,  ans  ein- 
daaeigen  Dorfischnlen,  ans  Halbtagsschnlen,  ans  Stadtschulen,  ans 
Mittel-,  Beal-  nnd  anderen  Schulen,  wol  gar  auch  aus  Gymnasien  zn- 

^  Sammengelaufenen,  mit  der  verschiedensten  Vorbildung  Tersehenen 
Jflnglinge  in  drei  Jahren  so  weit  zu  fördern,  wie  es  die  ,AUgemeinen 
Bestimmungen*  fordern,  und  wie  es  die  Seminarien  TOraussetzen  müssen, 

»  um  ihr  hohes  Ziel  zu  eneichen,  dann  ist  es  bei  den  jetzigen  Verhftlt- 
nissen  nur  in  einer  staatlichen  Fi*äi»arandenanBtalt  möglich.  Aber  das 
ist  zu  bezweifeln;  denn  eben  jenes  Henrorgehen  der  Lehrer  aus  den 
unteren  Schichten  des  Volkes  bringt  ganz  natuigemift  eine  geringe 
Bildung  mit  So  gering  und  dOrftlg  vorbereitet,  treten  die  allermeisten 
Prftparanden  ein,  und  nun  sollen  sie  innerhalb  dreier  Jahre  mit  den 
zur  Aufbahme  in  das  Seminar  nOthigen  Kenntnissen  anegerllstet  werden. 


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—   727  — 


„Was  kann  ihre  Vorbildung,  wenn  sie  wirklich  gelingt,  anderes  seiii, 
als  eine  mechanische,  eine  Einpaukerei,  ein  unverstandoier  nnd  unver- 
dauter Ged&chtiii8ki*am.  Bei  den  hohen  Anfordenmgen ,  die  das 
Seminar  zn  stellen  berechtigt  wäre,  wird  den  Prftparandenlehrem  nnd 
den  Präparanden  etwas  zngemuthet,  das  über  ihre  Kräfte  geht.  Au 
eine  gründliche  Durchbildung,  an  eine  Vertiefung  in  die  Unterrichts- 
ge^renstände  ist  gar  nicht  zu  denken."  Und  dann,  wie  viele  solcher 
Anstalten  gibt  es  denn?  Im  ganzen  preußischen  Staate  34,  die 
natürlich  auch  im  entferntesten  nicht  imstande  sind,  den  nöthigen 
Bedarf  an  Seminaraspiranten  zu  decken.  Infolgedessen  sieht  mau 
sich  genüthigt,  die  private  Vorbildung  von  Präparanden  zu  begünstigen. 
So  haben  sich  an  vielen  Seminarien  auch  Präparaudenanstalten  auf- 
getliau,  die  von  den  Seminarlehrern  geführt  werden,  aber  docli  Privat - 
unternehmen  sind.  Wol  haben  diese  Anstalten  auch  gute  und  reichliche 
Lehrmittel,  da  sie  eventuell  die  des  Seminars  benützen  können;  auch 
haben  sie  in  den  Seminarlelu-ern  die  denkbar  besten  Lehrkräfte;  aber 
sollten  die  Herren  Seminarlehrer  niclit  vollauf  in  ihrem  llauptamte 
Beschäftigung  finden,  sollten  sie  nicht  ihre  volle  Kraft  für  den 
Seminardienst  nöthig  haben,  statt  sie  auf  diese  Weise  zu  zersplittern? 
Es  mögen  diese  Einrichtungen  einem  Bedürfnisse  entsprungen  sein, 
da  die  fui*s  Seminar  verfügbaren  Schüler  anderswo  nicht  genügend 
vorgebildet  wurden;  das  hindert  aber  nicht,  sie  als  einen  Nothbehelf 
anzusehen,  den  baldigst  zu  beseitigen  Pflicht  der  Behörden  ist.  Bisweilen 
hat  man  an  solchen  Anstalten  anch  wol  einen  besonderen  Präparanden- 
lehrer,  in  der  Regel  einen  eben  Tom  Seminar  abgegangenen  Ldirer, 
der  also  noch  m^rfiiluren  ist  und  sich  tadem  meist  mit  Voiberdtimgeii 
für  weitere  Kramina  beschSitigt 

In  letster  Zeit  haben  sich  anch  üi  grOfteren  Städten  mehrere 
Lehrer  sosammengethan,  welche  sich  die  Angabe  stellen,  ans  Abitn- 
rienten  der  Volksschulen,  ans  AbgefoUenen  der  höheren  Schnlen  nnd 
anderen  Elementen  Seminaraspiranten  xn  &bridren.  Hierzu  wird  der 
„Prenft.  Lehrerztg.^  geschrieben:  »Wdcheii  Wert  hat  nun  eine  solche 
«Lehranstalt^?  Sie  dürfte  wol  kaum  diese  Bezeichnung  verdienen. 
Die  Präparandenbildner  sind  nAmlich  YoUbeschftfdgte  Lehrer,  welche 
nur  ihre  Freistunden  der  Präparandenbüdong  zu  widmen  yermOgen. 
Sie  können,  wenn  sie  in  ihrer  Classe  ihrer  -Pflicht  genttgt  haben,  un- 
möglich noch  mit  frischer  Kraft  junge  Leute  für  em^  ebenso  schweren 
wie  idealen  Beruf  in  dem  Grade  vorbereiten  und  begeistern,  wie  es 
in  wirklichen,  wol  eingerichteten  Präparandenanstalten  möglich  ist 
Femer  können  die  Zöglinge  nur  außer  der  Schulzeit  unterrichtet 


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—   728  — 


werden  und  müssen  daher  die  für  neues,  geistig-es  Aufnehmen  und 
Durchdringen  gerade  j^^eeignetsten  Tagesstunden  zur  Selbstbeschäftigung 
verwenden,  ein  ähnliches  Verhältnis,  als  wenn  man  am  Tage  zu 
schlafen,  in  der  Nacht  zu  arbeiten  gezwungen  ist.  Außerdem  aber 
wird  die  infolgedessen  im  Verhältnis  zur  Unterrichtszeit  viel  zu  lange 
Arbeitszeit  kaum  immer  zweckmäßig  und  genügend  ausgefüllt  werden 
können.  Solche  Einiichtnngen  müssen  daher  nicht  nur  als  pädago- 
gische Hissgriffe  beEsidaiet  wsrden,  sondern  sie  eriimeni  doch  auch 
gar  za  sehr  an  die  Winkel-  und  Gelegenheitssdinlen  firflherer  Jahr- 
hunderte nnd  passen  durchaus  nicht  mehr  in  die  heutige  Zeit 
hinein.  Wenn  aber  auf  diese  Weise  die  Kosten  des  Besaches  einer 
Präparandenanstalt  verringert  werden  sollen,  so  ist  dem  gegenfiber  za 
bedenken,  dass  dort  das  erstrebte  Ziel  daftr  ohne  Frage  schneller 
und  gründlicher  erreicht  wird  als  in  solch  einem  Zwitterdhig  yon 
Lehranstalt  und  FriTatsastutaungscorsus  für  eine  gewisse  Pmftmg, 
dessen  Wirksamkeit  nicht  nur  in  pädagogischer  Hinsicht,  sondern 
auch  viel&ch  mit  Bttcksicht  auf  die  in  dieser  Weise  der  Volksschule 
zngeführten  Lehrkräfte  im  allgemeinen  weder  der  Schule,  noch  dem 
Lehrerstande  zu  Nutz  und  Frommen  gereichen  kann."  —  Aufier  den 
bisher  erwähnten  Einiichtungen  findet  man  auch  noch  hier  und  da  in 
DOrfem  und  kleinen  Städten  einzelne  Lehrer,  die  sich  privatim  mit 
V<Mrbildang  von  Prl^Muranden  beschäftigen.  Die  Art  und  Weise  einer 
solchen  Vorbildung  schildert  ein  Correspondent  der  „Prenß.  Lehrerztg." 
recht  treffend  folgendermaßen:  „Täglich  fünf  bis  sechs  Sttmden 
niussten  wir  Präparanden  mit  dm  Schttiem  der  1.  Classe  einer 
di-eiclassigen  Volksschule  in  dem  an,  sich  schon  überfüllten  Locale 
verbringen.  An  den  Religionsstunden  der  Kinder  nahmen  wir  theil, 
um  über  die  Katechisation  schriftlich  zu  referiren;  während  der  anderen 
Unterrichtsstunden  wnrden  wir  still  beschäftigt.  Es  bedaif  wol  keines 
weiteren  Beweises,  dass  die  Vorbildung  der  Präparanden  unter  diesen 
Verhältnissen  eine  gänzlich  unzureichende  war,  da  es  doch  zum 
mindesten  ein  —  Unding  ist,  neben  etwa  100  Kindern  der 
1.  Classe  einer  dreiclassigen  Volksschule  gleichzeitig  auch  noch  Prä- 
paranden- und  Fortbildungsschüleni,  welcli  letztere  aneli  noch  ver- 
treten waren.  Unterricht  ertheilen  zu  wollen.  Wenn  wir  daneben 
auch  noch  im  Sommer  täglich  zwei  und  im  Winter  täglich  eine  Stunde 
besonders  unterrichtet  wurden,  so  vermochten  diese  wenigen  Lectionen, 
in  denen  es  überdies  auch  noch  sehr  gemüthlich  zuging,  das  T,"^nzu- 
längliche  und  Mangelhafte  des  ganzen  Betnebes  nicht  zu  ersetzen. 
Physikalischer,  zoologischer  und  Turnunterricht  wurde  gai'  nicht  er- 


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—   729  — 

theüt,  TOD  orthographischen  Begeln  habe  ich  nichts,  von  Grammatik 
nur  sehr  wenig  vemommeD.  Hinzufügen  will  ich  noch,  dass,  wenn 
noch  freie  Zeit  verblieb^  wir  Fräparanden  Holz  spalten,  GartenMcbte 
behacken,  Heu  trocknen,  Eflstergeschlfte  n.  dergl  DiDge  mehr  yer- 

richten  mussten." 

Wenn  ich  auch  anwkannt  habe,  dass  die  Vorbei-eitung  m  könig- 
lichen Prftparandenanstalten  gegenwärtig  die  einzig  empfehlenswerte 
ist,  so  muss  ich  doch  auch  gestehen,  dass  mir  diese  Art  der  Vor- 
bildung des  künftigen  Jugenderziehem  noch  lange  nicht  als  das  Ideal 
einer  solchen  erscheint*  Ben  einen  Grand  dafür  habe  ich  schon  er- 
wähnt, nämlich  das  Zusammenwerfen  der  verscliiedenartigsten  Elemente, 
die  dort  nun  nach  einem  Plane  behandelt  werden  sollen.  Ein  anderer 
Grund,  weswegen  ich  mich  dagegen  erkläre,  ist  der:  Das  Seminar  ist 
eine  Fachschule.  Die  Fachbildung  aber,  so  ist  es  wenigstens  bei 
anderen  Berufszweigen.  kann  immer  erst  dann  eintreten,  wenn  die 
allgemeine  Bildung  ihren  Abschluss  erreicht  hat,  also  gewiss  nicht 
vor  dem  vollendeten  17.  Lebensjahre.  Die  Präpai'andenanstalten  aber, 
obgleich  in  ihnen  noch  nicht  gerade  Pädagogik  getrieben  ^vi^l.  sind 
doch  speciell  nur  darauf  zugeschnitten,  für  den  Kiuti  ia  ins  Seminar  vor- 
zubereiten; sie  geben  also  iu  gewissem  Sinnti  vli»ch  t-ine  Bildung  ad  hoc, 
eine  Fachbildung;  und  eine  solche  ist  verfrüht,  wenn  sie  schon  mit 
dem  14.  Lebensjalire  eintritt.  Diesem  Umstände  Laben  wir  es  liaupt- 
sächlich  zuzuschreiben,  dass  man  so  vielen  Lehrern,  besonders  den  in 
Internaten  gi-oß  gewordenen,  den  „.Scliulnieister'*  auf  Schritt  und  Tritt 
ansieht,  was  ich  niciit  gerade  für  einen  Vorzug  halte.  Und  wenn  in 
den  Präparandenanstalten  auch  nur  allgemeine  Bildung  gewährt  wird, 
eine  allgemeine  Bilduugsanstalt  ist  sie  darum  doch  nicht;  denn  welcher 
Vater  würde  wol  seine  Kinder,  um  ihnen  eine  gute  bürgerliche  Aus- 
bildung angedeihen  zu  lassen,  in  eine  Präparandenanstalt  schicken? 

Dies  führt  mich  auf  den  dritten  Grund,  waruui  ich  die  Präpai  anden- 
anstalten  verwerfe.  Der  Lehrerstand  nimmt  überall  eine  .Ausnähme- 
st ellung  ein;  man  will  ihm  nirgends  die  sociale  Stellung  zuerkennen, 
die  er  seinem  Bildungsstandpunkte  nach  zu  beanspruchen  hat.  Ein 
sdiwerwkgender  Gnmd  ist  hier  aieheriidi  in  seiner  Ausnahmestellung 
auch  in  der  Vorbildung  zu  suchen.  Würde  er  mit  seinen  Mitbürgern, 
die  ihn  späterhin,  Tielieicht  in  dlem  stolzen  Bewnsstsein,  das  „ESn- 
jährigenzeugnis**  in  der  Tasche  zu  haben,  Uber  die  Schultern  ansehen, 
obwol  sie  an  geistiger  Bildung  weit  unter  ihm  stehen,  anf  derselben 
Schulbank  gesessen  haben,  denselben  Bildnngsweg  durchschritten  und 
das  Seminar  noch  obendrem  absolvirt  haben:  der  wichtigste  Grund 

PiMtefogiui.  lt.  Jdirg.  Haft  XL  '  62 

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—  730  — 

Sil  seiner  niederen  socialen  SteUnng  wftre  hinweggerftnmt  Und  dämm 
stelle  ick  die  Forderung:  Der  snkOnftige  Seminarist  mnss  anf  einer 
allgemeinen  bOheren  BUdnngsanstalt  seine  Vorbildung  empiSragen  haben. 
Welche  Anstalt  dies  sei,  ist  mir  zunächst  gleichgiltig;  nur  die  Be- 
dingung wftre  zn  stellen,  dass  diese  Anstalt  eine  abgeschlossene 
Bildung  gewährt,  dass  man  also  nicht  etwa  ans  der  Secunda  eines 
Gjrmnasiums  oder  eines  Realgymnasiums  direct  in?  Seminar  trete. 
Am  geeignetsten  dürften  von  den  jetzt  bestehenden  St  huleinrichtnngen 
die  lateinlose  sechsclassige  höhere  Bürgerschule,  die  Realschule  und 
die  Oberrealschule  sein.  Ebenso  müsste  es  Bedingung  sein,  dass  der 
Aspirant  das  Eit^&hrig-freiwüUgensengnis  aufweisen  kann,  schon  der 
socialen  Stellung  wegen. 

Ich  weiß,  dass  sich  der  Realisirung  dieser  Forderung  gar  man- 
cherlei Schwierigkeiten  in  den  Weg  stellen  wurden;  dieselben  dürfen 
uns  aber  nicht  abhalten,  einem  Gedanken,  den  wir  als  richtig  aner- 
kannt haben,  Ausdruck  zu  verleihen.  Ich  will  nur  einige  dieser 
Schwierigkeiten  andeuten.  Wo  bleibt  die  Pflege  der  Musik?  Nun, 
nach  meiner  Meinung  hat  man  bisher  derselben  zuviel  Zeit  gewidmet. 
Von  einem  künftigen  Lehrer  hat  man  nur  zu  fordeni,  dass  er  einen 
gediegenen  Gesansrunterricht  ertheih'n  könne,  und  dazu  gehört  weder 
Orgel-  noch  Clavierspieh  diese  beiden  Fächer  könnten  sehr  wol  facul- 
tativ  sein.  Oder  man  dürfte  mir  die  Frage  entgegenhalten:  Wer,  der 
eine  solche  höhere  Schule  durchgemacht  hat,  wird  dann  so  thöricht 
sein  und  Lehrer  werden  wollen?  Darauf  die  Antwort:  Sobald  die 
materielle  und  sociale  Lage  der  Lehrer  eine  bessere  sein  wird, 
werden  sich  auch  Siihne  der  besseren  Stände  mit  dieser  Schulbildung 
dem  Lehrerberufe  zuwenden;  und  diese  Zeit  mit  herbeiführen  zu  helfen, 
ist  eben  eine  unserer  Hauptaufgaben.  Oder  man  wird  fragen:  Wie 
sollen  denn  dann  anno  und  wenig  bemittelte  Eltern  ihre  befähigten 
Knaben  durch  solche  Schulen  bringen?  Auf  diese  Frage  antworte 
ich  mit  Diesterweg:  ..Wenn  arme  Knaben  vom  Lehrerstande  zurück- 
gehalten würden,  so  wäre  das  gar  nicht  so  tibel;  denn  Armut  drückt 
und  knickt  Geist  und  Herz,  und  die  vielen  Krummbnckel  und  Feigen 
im  Schulstande  rühren  wahrlich  vielfach  von  ihrem  durch  Armut  ge- 
drückten  Jugendleben  her."  —  Kurz  und  gut,  ich  lasse  keinen  Süi- 
wand  gelten ;  denn  „wo  ein  Wille  ist,  da  ist  aodi  ein  Weg".  — 


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f 


Pädagagifiehe  RiuidBehaii. 

B.  Vom  deutschen  Ostsees'trande.  Li  dM  friedliche  Schul-  ondLehnr- 
leben  unseres  heiraischf^n  Strandes  ist  aus  Westen  ein  jinfrei^ender  Stnrm  ge- 
drnnfren.  Als  der  Antaclier  dieser  nnlielmlichen  Luft.strömung  wird  in  weiten 
Kreisen  kein  anderer  als  die  kleine  Excellenz  einer  großen  Keicbstagspartei 
«nfeselien,  denn  diese  irt  die  eigeotUehe  Seele  des  denteoliai  Eaihelikentages 
und  letiterer  wieder  «if  der  yemunnilQnf  n  Bochnm  der  SchOpfsr  des  Ge- 
dankens, die  eenfessionelle  Trennung  der  Lehrer  Deutschlands  ins 
Work  zu  setzen.  Nach  den  g:emacht»Mi  Erfahrungen  unterstützte  nicht  nur 
die  Geistlichkeit,  sondern  auch  die  ultraniontane  Presse  die  Bestrebungen  aufs 
eifrigste.  Immer  deutlicher  erschollen  die  Aufrufe  zur  Bildung  „katholi- 
scher Lehrer  verbinde*  nach  den  Ostseqifeivinsen,  nnd  es  war  nnTermeld- 
lieh,  dass  anch  hier  nur  neuen  Idee  in  irgend  einer  Weise  nettgemlBe  Stelhing 
genommon  wnnl»\  Die  Bctlieiligten  selbst  waren  znwoilcn  überrascht  übfr 
die  Zumuthung,  ihren  alten  Kreis-  und  Provinzial- Lehrer  vereinen  für  immer 
den  Bücken  kehren  zu  sollen.  Sie  sollten  das  Dach  verlassen,  unter  dem  sie 
sieh  so  wol  gefllhlt  nnd  das  sie  mit  erbaat  haftfesn?  —  Da  neigte  sieh  bald 
hier,  bald  dihrt  ein  Widerstand.  Eine  grSBere,  sehr  weit  grOBwe  Bedentang 
hat  die  kurze  nnd  .bündige  Erklftrong  des  „Ermländischen  Gaulehrer- 
yereins"  erlangt,  die  auf  Antrag  ihres  Vorsitzenden,  Herrn  Rectnr  Fischer- 
AUenstein,  im  December  v.  J,  abgegeben  wurde.  Der  \  ereiu  erklärte:  ,,Die 
Ermländische  Gaulehrerversammlfing  nimmt  von  einem  Anschlüsse  an  den 
^alhoüsehea  Ldirerverband'  (Vorort  Bochnm)  Abstand,  indem  die  Trennung 
der  Lehrervereine  nach  Confessionen  im  Widerspruch  steht  mit  dem  gegen- 
wärtigen Stande  der  Pädagogik  als  einer  selbststündigen  und  allgemein  giltigen 
Wissenschaft,  aus  der  Verkennung  der  bisherigen  Bestrebungen  der  Lehrer- 
vereine hervorgegangen  und  nur  zu  sehr  geeignet  ist,  die  erfolgreiche  Wirk- 
samkeit der  Lehrerveratne  ni  sehwtdmi.*  Diese  ErUftrung  ist  zwar  bestimmti 
aber  friedlich  nnd  nur  aagethaa,  den  Unfrieden  von  der  eigenen  Hansthfir^ 
schwelle  abzuhalten.  Die  flberzengende  nnd  änflerst  sacbgemftfle  Begründung 
der  angenommenen  Thesen  war  in  einem  Referate  vorausgegangen.  (S.  Lelir.- 
Ztg.  f.  Ost-  u.  Westpr.  Jahrg.  21,  Nr.  6.)  Wir  können  nicht  umhin,  auch 
hier  zur  Dlustration  des  Folgenden  einige  Stellen  der  erhebenden  Fischer'schen 
AnsflUimngen  anznfBhren: 

Die  Erziehung  erstreckt  sich  auf  alle  natürlichen  Anlagen  des  Kindes, 
und  nicht  blos  auf  die  religiösen.  Die  natürlichen  Anlagen  sind  aber  von  der 
Confession  nicht  im  sreringsten  ablülngig.  Ein  katholisches  Kind  hat  ganz  die- 
selben natürlichen  Anlagen,  wie  ein  evangelisches;  die  Entwickelnnf  dieser 
Anlagen  mnss  selbstredend  anch  nach  gleichen  Qesetaen  erfolgen,   (fiter  ^ 

62* 

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782  — 

natürlichen  Anlagen  nnd  die  Gesetze  ihrer  Entwickelong  aber  belehrt  nns  die 
Psychologie,  die  wir  sonach  als  eine  Grundsäule  der  PUdagogik  betrachten  nnd 
in  allen  bezüglichen  Fragen  zurathe  xielien  müssen.  Da  es  nun  weder 
eine  katholische,  noch  eine  evangelische,  nar  eine  allgemeine 
Psycbologie  geben  kann,  to  haben  wir  hier  einen  Boden,  anf  dem  wir  mit 
den  evangelischen  GoUegen  gemeinsam  verhandeln  können.  Wer  das  Gegen- 
theil  bf'liaupten  wollte,  der  niüsste  auch  zugeben,  dass  ein  katholischer  nnd 
evangelischer  Ai  zt  sich  über  anatomische  und  physinlogische  Fnvgen  nicht  ver- 
ständigen könnten,  indem  der  Organismus  des  katholischen  Menschen  anders 
eonstmirt  tü  nnd  anders  ftmctlonire  als  der  des  eTangellsehen.  Bei  der  Er- 
dehnng  kommt  es  aber  nicht  allein  anf  die  menschlichen  Anlagen  nnd  die  Ge- 
setze ihrer  Enti^'ickelnng  an,  sondern  auch  anf  das  Ziel,  zu  dem  die  Entwicke- 
Inng  führen  soll.  Pipses  Ziel  ist  durch  die  sittliche  Bestinimung  des  Mensclien 
vorgezeichnet,  die  wiederum  eine  allgemein  menschliche  ist,  denn  alle  Menschen 
haben  als  gleiche  Wesen  auch  dieselbe  Bestimmung.  Bie  Erziehung  hat  als» 
das  Ziel,  die  Kinder  zur  Sittlichkeit  an  endehen,  oder  wie  Herbart  sagt,  mr 
Charakterstärke  der  Sittlif  hkeit,  d.  h.  zur  Tugend.  Die  Lehre  von  der  mensch- 
lichen Bestimmung  und  den  sittliclien  l'fliditon  heißt  Ethik,  und  dieses  ist 
die  zweite  Grnndsiiule  der  pildagogischen  Wissenschaft.  Nun  hat 
man  freilich  verschiedene  ethische  Systeme  aufgestellt.  Ich  erkläie  hiermit, 
dass  wir  dasjenige  als  Ziel  der  Erziehvng  aufgestellt  wissen  wollen,  das  in  den 
Lehren  des  Christenfhnnis  enthalten  ist.  Uns  ist  Christus  selber  der  höchste 
Lehrer  und  das  verkörperte  Ziel,  dns  uns  bei  der  Eiziehung  als  Ideal  vor- 
schwebt. Dieses  Ziel  hat  die  Lehrerschaft  zu  allen  Zeiten  hoch- 
gehalten, und  zwar  nicht  blos  die  katholische,  sondern  auch  die 
evangelische.  Wir  können  also  auch  fiber  das  Ziel  der  Erziehung  in  einem 
conlbsslonell  gemischten  Ldnrerverehie  ▼erbanddn.  Ben  Zell^nnkt  des  Frie- 
dens zwischen  Kirche  nnd  Schule,  der  auf  Anerkennung  der  gegenseitigen  Un- 
abhängigkeit beruht,  werden  ^\ir  herbeiführen  helfen,  wenn  wir  treu  und  fest 
wie  bi.xher  zusammenhalten^  darum  lasst  uns  sein  und  bleiben  ein  einig 
Volk  von  Brüdern. 

So  nnd  Shnlleh  referirte  Herr  Fischer  in  sacbgemftter  Weise  ttber  den 
vorliegenden  Gegenstand,  nnd  man  wird  kaum  etwas  Anstößiges  entdeckoB 
können.  Nicht  so  die  clericalen  Blatter!  —  Sie  fielen  über  F.  her  und 
schrieben  unter  anderem:  „Die  Bestrebungen  des  Gauvereins  sind  die  des  Frei- 
maurerthums, die  unerhört  anmaßende,  die  katholische  Geistlichkeit  rent- 
meisfeemde  Spraehe  des  Aliensteiner  Psychologen,  des  AUensteiner  Gangrafen. 
Bald  wird  der  ehigeldge  Herr  einsam  anf  den  TMmmem  seiner  so  sehSn  ge- 
trftnmten  ermländischen  Gangrnfiscbaft  stehen  und  Gelegenheit  haben,  sich  ganz 
nnd  gar  den  tiefen  Problemen  der  anscheinend  von  ihm  erst  erfundenen  specu- 
lativen  PsyclKdoe-j»-  liiii/npcben.  (niten  Mor^jeti.  Herr  Fi.scher!"  —  Es  ist  doch 
gut,  dass  die  ir^cheiterhaufeu  abgesclialit  sind.  Die  Angelegenheit  war  mit 
diesem  Ansflnss  von  Hohn  nnd  Galle  nicht  abgethan,  anch  Se.  Hochwtirden, 
HeiT  Bischof  Dr.  Thiel,  nahm  Stellung  zu  der  einst  so  harmlosen  Vereinsange- 
lecrenheit  und  erließ  einen  Hirtenbrief,  dessen  Wortlaut  wir  in  Anbetracht  der 
Sachlage  unseren  Lesern  nicht  vorenthalten  wollen:  ..Tn  der  Seelsorpe  des  Geist- 
lichen für  seine  Gemeinde  nimmt  die  religiöse  Unterweisung  der  Jugend  fast 
die  erste  Stelle  ein.    Wol  kann  dersdbe  bei  der  gegenwärtigen  Einrich- 


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—  733  — 


tims-  unseres  Volkssclinlwesens  sich  dafür,  namentlich  in  den  größeren  und  aus- 
gedehnteren Gemeinden,  der  Hilfe  gehörig  unterrichteter,  kirchlicher  Laien 
bedieoeu,  und  dürfen  zur  Zeit  noch  im  allgemeineu  unsere  katholischen  Lehrer 
als  genägBtlt  «rächtet  werden.  Aber  stets  trftgt  er  dafür  die  eigentUebeVenuitwor' 
tung  und  hat  darum  dieser  seiner  Pflicht  in  jedem  Falle  dureh  fortlaafende  per- 
sönliche Beaufsichtigung  und  Leitung  jenes  TTnterrichtcs  zu  genügen.  Umso 
dringender  nud  f(irmlich  brennend  wird  diese  VerpMichtung,  wenn  der  welt- 
liche Lehrer  sich  irgend  als  kirchlich  unzuverlässig  erweist.  Ich  habe  in  letzter 
Zeit  mdirfiush  Gelegenheit  gehabt,  zn  sehen,  dass  der  G-eist  in  dem  soge- 
nannten freien  Lehrerverein  Ermlands  ein  nnkirehlioher  ist.  Die 
neuliche  Rede  seines  Vorsitzenden  vertritt  ganz  offen  die  durch  das  kirchliche 
Lehramt  ver\V(»rfenen  IiTtliümer  des  Liberalismus,  Indifferentisiuus  und  Natu- 
ralismus fast  mit  denselben  Pliraseu  und  (iehässigkeiten,  wie  wir  sie  bis  dahin 
zwar  von  den  modernen  Culturkämpfern,  nicht  aber  von  den  kathulischeu  Leh- 
reni  Brmlaads  «i  h9ren  gewohnt  waren.  Gldehwol  ist  dieselbe  naeh  Offent- 
liehen  Berichten  von  den  anwesen  d n,  größtentheils  activen  katholischen  Leh- 
rern nicht  blos  un widerlegt  geblieben,  sondern,  was  midi  bt  simders  geschmerzt 
hat,  sogar  beitlillig-  aufgenommen  und  damit  gleichsam  als  Programm  ihi^er 
geistigen  Anschauungen  und  Bestrebungen  erklärt.  Bei  solcher  Sachlage  ver- 
pflichte ich  die  hodigeehrten  Herren  Pfkrrer  nnd  Coraten  der  einzelnen  Ge- 
meinden, sich  nach  Mahnung  des  Apostels  2.  Tün.  4,  2,  ob  gelegen  oder  un- 
gelegen, alle  Mühe  zu  geben,  ihre  Lehrer  von  einem  Verein  loszumachen  oder 
fernzuhalten,  welcher  derartigen  Tendenzen  huldigt,  dadurch  die  Liebe  und 
Treue  gegen  die  Kirche  mit  Füßen  tritt  und  thatsächlich  zu  deren  Gegnern 
Stdit  Sollten  einige  Lehrer  hartnäckig  bei  demselben  nnd  jenen  seinen  Gruud- 
stttzen  verbleiben,  nnd  anch  der  VorsteUnng  des  Deeans  bei  der  nächsten 
Kirchenvisitation  nicht  Folge  geben,  so  erwarte  ich  deren  Namen  in  dem  be- 
treffenden Bericht  mir  speciell  mitgetheilt,  nm  be/,ii;j^liclienfalls  auch  diesseits  - 
nach  Möglichkeit  f:<'t,'eii  solch  verderbliche  Eintliisse  einzutreten.  Inzwischen 
aber  wollen  die  HochwUrdigen  Brüder  un  jenen  Orten  um  so  sorgsamer  darüber 
wachen,  dass  die  Herzen  der  KleLien  nidit  Schaden  leiden,  nicht  stati  des 
Brotes  des  christlichen  Glaubens  unter  aUerlei  schillernden  Redensarten  den 
Stein  der  Gleichgiltigkeit,  des  Hochmuthes  und  der  Empßrung  gegen  unsere 
heilige  Kirche  erhalten,  welche  die  verderblichsten  Folgen  auch  für  Familie 
und  Staat  nach  sich  ziehen.  In  Erinnerung  an  die  vielen  lieben,  edlen  Lehrer 
Ermlsads  nnd  an  aJuiUelie  Versnchongen,  die  unser  Lehrerstand  in  den  Jahren 
1848—50  nnd  1870—71  entschieden  znriickwies,  habe  ich  die  HofEhnng, 
dass  auch  jetzt  seine  kirchliche  Treue  nicht  wanken,  bei  allen  das  Wort  christ- 
licher Liebe  and  besserer  Erkenntnis  eine  bereite  Stelle  linden  wird." 


Aus  Württemberg.  Ein  Kückblick  aut  den  IV.  Neuplülologeutag.  Die 
Festtage  sind  voMlber.  Die  Ansstellnng  der  schwäbischen  Dichter  im 
Polytecbnicmn,  welche  dem  IV.  Nenphilologentag  zn  Ehren  veranstaltet  wurde, 

ist  geschlossen.  Die  Gäste  aus  nah  und  fern  haben  uns  mit  warmen,  herz- 
lichen Worten  ihre  Anerkennung  ausgesprochen  für  alles  Schöne,  was  sie  in 
Stuttgart  genossen.  Uns  Schwaben  aber  ist  mit  dem  entschiedenen  Gelingen 
des  Festes,  wir  dürfen  es  jetzt  wol  gestehen,  ein  Sorgenstein  vom  Herzen  ge- 
Inommen.  Denn  als  wir  vor  zwei  Jahren  veranlasst  wnrden,  nnsere  Collegen 


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—   734  — 

aas  ganz  Deutschland  für  diestsmal  nach  Stuttgart  einzuladen,  nachdem  sie 
bisher  in  Hannover,  in  Frankfurt  und  Dresden  getagt  hatten,  da  gaben  wir 
misera  Ziutlinmmig  Dor  saghaft  und  mit  getheUtem  Henen.  Wol  kann  ja 
anaer  Stattgart,  was  die  Schönheit  seiner  Lage  und  die  GaatUchkeit  «einer  Be- 
wohner betrifft,  mit  andoron  Städt»ii  getrost  sich  messen,  wol  kommen  die 
Gäste  ans  dem  Norden  stets  mit  Fretiden  und  mit  besonderen  Erwartungen 
nach  dem  sangesreichen,  gemütlUichen  Schwaben,  und  so  waren  sie  auch  diesmal 
dea  Lobea  toU,  obwol  aie  die  Belle  nnaerer  Heimat  nur  im  Begensefamneke 
admnrai  durften.  Allein  die  groBe  Frage  war  die,  ob  die  Erilfte  nnserea  jongen 
wttrttemba^chen  Vereines  ausreichend  seien,  um  auch  in  wissenachaftliclier 
Hinsicht  das  zu  bieten,  was  unsere  GSste  —  zum  Theil  Männer  von  ganz  her- 
vorragendem Kufe  auf  dem  Gebiete  der  modernen  Philologie  — -von  uns  er- 
warten. Denn  in  Württemberg  ist  ja  das  wissenschaftliche  Studium  der 
neneren  Sprachen  etwaa,  daa  aicfa  erat  langaam  nnd  mit  Beseitiging  vieler 
HindemiaBe  hat  Bahn  brechen  mfiasen.  Wir  haben  wol  jederzeit  eine  Beihe 
hervorragend  tüchtiger  Reallehrer  besessen,  allein  Philologen,  wie  man  sie 
anderwärta  schon  lange  besitzt,  Fachmänner,  welche  auf  der  Universitiit  dem 
historischen  Stadium  der  romanischen  Sprachen  und  ilirer  Literatur  sieb 
gewidmet  und  ihre  wiiaeaadialtllelie  facliblldnnir  inaäk  einen  iSagena  Antoit- 
halt  im  Aodande  yervollatftndigt  lialMn,  daa  konnte  ea  ja,  dank  den  eigenartigen 
Yerhiltnissen,  wie  sie  auf  anserer  Landesuniversität  bestehen,  nnd  dank  den 
ebenso  eigenartigen  Vorschriften  für  unsere  realistischen  Lehramtsprüfungen 
bis  vor  kurzem  in  Württemberg  kaum  geben.  So  war  es  denn  durchaus  am 
Platze,  wenn  Profeaaor  Ehrhart  die  Reihe  der  Vorträge  damit  eröffiiete,  dasa 
er  den  ananribtigen  Gttsten  in  geachichtlicher  Entwii^elnng  die  Bahnen  nnd 
Ziele  des  neusprachlichen  Unterrichtes  in  unserem  Lande  darlegte.  Mit  gründ- 
licher Sachkenntnis,  aber  auch  mit  maßvolk-r  Besonnenheit  im  Urtheil  führte  er 
ans,  wie  der  Unterricht  im  Franziisischen  fast  ein  Jahrhundert  hindurch  auf 
die  Universität  beschränkt  blieb,  wo  ihm  Herzog  Ludwig  1592  durch  Errich- 
tung dea  Colleginm  Ulnatre  eine  HelmaUtte  gründete.  Erst  gegen  Ende  den 
17.  JahihnndertB  nahm  anch  daa  Stattgnrter  Fidageginm,  aeit  1686  zum  Gym- 
nasium ülustie  «rhoben,  daa  Französische  in  seinen  Lehrplan  auf,  der  bisher 
ganz  den  t^berlieferungen  der  alten  Schola  Latina  gefolgt  war.  Die  Lehrer 
waren  stets  geborene  Franzosen,  meist  Mümpelgarder,  die  zugleich  als  Geist- 
liche der  französischen  Gemeinde  in  Stuttgart  angestellt  waren.  Doch  war  die 
Betheilignng  am  Unterileht  den  Sdifilem  frdgeatellt  nnd  der  Lehrer  anf  die 
Naehmittagsstnnden  von  1—2  Uhr  angewiesen.  Seit  dem  Anfang  des  18.  Jahr- 
hunderts war  dort  auch  für  das  Italienische,  dagegen  für  das  Englische  erst 
seit  dem  Ende  des  letzten  Jahrhunderts  Gelegenheit  geboten.  Umsomehr 
erfreuten  sich  die  neueren  Sprachen  einer  hervorragenden  Fliege  in  derjenigen 
Anatalt,  welche  ttberliaapt  daa  BOdnngaideal  dea  18.  Jahrhonderta  zum  treneaten 
Anadmok  brachte,  in  der  Hohen  Karlaachnle.  Dort  war  Ja'  die  ganae  Lafb, 
welche  man  athmete,  französisch.  Von  der  untersten  bis  zur  obersten  Stufe 
waren  diesem  Fache  zahlreiche  Wochenstunden  gewidmet  und  auch  für  andere 
Fächer  wurden  theüweise  französische  Lehrbücher  zugrunde  gelegt.  Dabei 
huldigte  man  dem  Grandsatz,  dass  zuerst  das  Ohr  geübt  werden  müsse,  data 
der  Anfkngannterricht  mit  Sfttsen  an  beginnen  habe,  welche  der  Umganga» 
apraohe  entnommen  aden,  nnd  erat  apftter  die  Grammatik  hinzutreten  dürfe: 


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—   736  — 


ein  Beweis,  das8  auch  auf  dem  Gebiet  der  Methode  nichts  Neaes  anter  der 
Sonne  iit  Zu  den  Spraehmeietern,  welche  den  Anfeuigrsanterricht  eiiheflten, 
traten  an  den  oberen  Classen  Professoren,  welche  die  Zöglinge  neben  pfak- 

tischen  Übungen  auch  in  die  tVaiizösische  Literatur  einführten.  Immerhin  war 
der  praktische  Zweck,  Franzosisch  spreclien  und  schreiben  zu  können,  der  be- 
herrschende, und  dank  diesem  Unterrichte  war  Schiller  noch  gegea  das  Ende 
■eine«  Lebens  befähig,  sich  sieailich  selSoilg  mit  Fnm  von  Statt  n  unter- 
halten.'  Damit  lehlieftt  die  erate  Periode  dea  nenqtraehlichen  ünterrichtea  in 
Württemberg.  Die  Lehrer  sind  fast  darchaas  Sprachroeister  und  die  SchfUw 
gehören  auH.«!chließlich  den  höheren  Stünden  an,  dem  Adel  und  den  zukünftigen 
weltlichen  Beamten,  für  welciie  die  Kenntnis  der  modernen  Sprachen  ebenso 
Bedürfnis  als  Modesache  war. 

Eine  nene  Zeit  brach  anch  In  W&rttemberiir  fUr  den  nenapracblichcn  Unter- 
richt an  mit  den  Umgestaltungen,  welche  die  französische  Kevolntion  und  daa 
Napoleonische  Zeitalter  im  Gefolge  hatten.  Das  Französische  hört  auf,  ein  Vor- 
reclit  der  Vornehmen  zu  sein.  Man  errichtet  Keal-  und  Gewerbeschulen, 
in  welchen  das  Französische  in  den  Mittelpunkt  des  sprachlichen  Unterrichtes 
tritt,  wenn  auch  yielfeich  daa  Lateinische  noch  eine  Zeitlang  daneben  beibehalten 
wurde.  Dieae  Periode,  wddie  bei  nna  vom  Ende  dea  yorigen  Jahrhnnderta 
bia  in  die  Mitte  der  60er  Jahre  sich  erstreckt  hat,  können  wir  die  bürgerlich- 
gewerbliche  nennen.  An  die  Stelle  der  ausländisclien  Sprachmeister  traten 
UBsere  Reallehrer  als  einheimiäche  Kräfte.  Nur  grüilere  Anstalten  besoldeten 
ausländische  Professoren,  wie  z.  B.  das  Stuttgarter  Gymnasium  au  Borel  einen 
herrorragenden  Lebrer  beaaB.  Fflr  die  Yorbildnng  der  Lehrer  in  d«i  neneren 
Sprachen  wurde  1808  Ton  König  Friedrich  in  Tübingen  ein  Lehrstuhl  für 
französische  Sprache  und  T.iteratur  errichtet,  allein  das  Studium  der 
modernen  Sprachen  wollte  nicht  recht  gedeilien.  Wenn  e.s  neben  manchen  her- 
vorragenden Kräften  zeitweilig  auch  an  geeigneten  Lehrern  fehlen  mochte,  so 
lag  dodi  die  Hanptachnld  ateta  an  der  Art  der  Stadenten,  beziehnngaweiae  an 
dan  Feaaeln,  welche  die  Prüftmgaordnung  dem  realistischen  Stodinm  auferlegte. 
Sie  alle  mussten  ja  die  sogenannte  Reallehrerprnfung  erstehen  und  zu 
diesem  Zweck  neben  den  neueren  Sprachen  die  sämmtlichen  mathematischen  und 
naturwissenschaftlichen  Fächer,  auch  Zeichnen  etc.  in  einem  Umfange  betreiben, 
welcher  jedes  neusprachliche  Fachstudium  ausschloss,  umsomehr  als  vielen 
Gandidaten  des  realiatiachen  Lehramtes  von  Hanse  ans  die  Vorbedingnngen  für 
ein  enprießlichea  Studium  der  S|iradien  fehlten.  Unter  170  realistischen  Leh- 
rern und  Lehramtseandidaten  waren  im  Jahre  18r)4  nicht  weniger  als  lir> 
frühere  VolksscIiuUehrer.  Ein  anderer  Theil  aber,  diejenigen,  welche  ihren  Weg 
durch  die  theologischen  Seminarien  nahmen,  ti'aten  zwar  mit  einer  sehr  gründ- 
liehen altsprachliehen  Büdong,  damit  aber  mit  nm  so  sdilechtqrNi  Vorlcenntp 
niaaMi  im  FraaaOaiaehen  an  ihr  Stndinm  heran.  Wenn  es  trotsdem  nnserem 
Lande  nie  an  trefflichen  ReaUehrem  gefehlt  hat,  so  sind  sie  es  durch  eigene 
Kraft  den  ungünstigen  äußeren  Verhältnissen  zum  Trotz  geworden.  So  war 
es  eine  erlösende  That,  als  unter  der  Regierung  König  Karls  wenigstens  für 
die  ProfesBoratsprüfang  die  langersehnte  Trennong  zwischen  der  Gipracblich- 
historischen  nnd  mathematisch-natarwissenschaftliehen  Bicfatnng  eintrat,  ala 
weiterhin  den  Abiturienten  der  Gymnaaien  und  der  Realgymnasien  die  Er- 
atehnng  der  Bealiehrerprnfiing  erlaaaen  nnd  ebenso  die  Zöglinge  des  Tübinger 


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Stiftes  vom  Stodiain  der  Theologie  entbunden  werden  konnten,  um  sicli  aus- 
teUittMich  dem  Stndiam  der  Phflologie  oder  der  Matbenuttik  zn  widm«i.  Dunit 
war  der  erste  Schritt  in  Wfirttemberer  gethan,  der  efai  wissenschaftlich  es, 

neu  philologisch  es  Facbstndi  um  ermöglichte;  der  zweite  Schritt,  den  wir 
noch  zu  erwarten  liaben .  ist  die  Errichtung:  eines  ordentlichen  Lehrstuhles  für 
romanische  Philologie  au  unserer  Landesuniversität,  welche  darin  anderen  deut* 
sehen  Hcehadmleii  toh  gleicher  Bedeatuug  bis  beate  noch  mrflckstehea  mim 
Hit  dem  Oesagten  hftagt  es  thdlw^se  snsammen,  weno  auch  an  nnsereii  Mittel- 
schulen  der  französische  Unterricht  allezeit  den  praktischen  Gesichtspunkt 
in  den  Mittelpunkt  js-fstellt  hat.  wilhrenl  anderseits  hin^iehtlich  der  Methode 
die  graniniatist  he  Lelirweise  —  abjreseheii  von  vorüheixehcnden  Versuchen, 
welche  mau  mit  der  Hamilton 'scheu  Methode  in  der  Stettener  Erziehungs- 
anstalt maehte  —  die  vorherrschende  war  «id  noeh  ist.  Zn  einer  Zeit,  da 
lingenm  der  Bof  nach  einer  Reform  des  neasprachlichen  Unterrichtes 
erhoben  wird,  wandelt  man  in  Württemberg  einstweilen  noch  in  den  Bahnen 
der  Ploetzschen  Grammatik  und  wartet  ruhig  ab.  bis  aus  dem  heißen  Streite 
der  alten  uud  der  neuen  Schale,  wie  er  in  Preußt^n  und  anderwärts  entbrannt 
ist,  eine  neae  Methode  sich  heraimUftrt  und  die  Gegeosfttie  der  rein  gramma- 
tischen wie  der  »natfirliehen**  Methode  in  eine  h9here  Einheit  sieh  aoflOeen. 

So  steht  denn  bis  jetzt  Württemberg  ziemlich  abseits  vom  Kampfplatze. 
Wir  sind  mehr  prüf'inle  Heobachfer,  als  dass  wir  uns  leideuschafrlich  am 
Streite  der  Parteien  betheiligen  würd<  ii.  Pass  man  aVier  nichtsdestoweiiig-rr 
auch  bei  uns  über  diese  Frage  sich  sehr  gründlich  besinnt  und  über  die  Ziele 
der  Parteien  genan  unterrichtet  ist,  dass  eine  Bewegung  der  Geister  im  Sinne 
des  Fortschritts  sich  auch  in  Schwaben  anbahnt,  dafür  waren  ein  Beweis  zwei 
weitere  Vortrüge,  welche  gleichfalls  von  württemberg^iachen  Lehrern  gehalten 
uud  el)enso  wie  der  erste  von  der  Versammlnng  mit  lautem  Beifall  ao^euom- 
men  wui'den. 

Bector  JlBger-Gannstttt  ipraeh  über  die  Verwertnng  des  spraehge- 
sehichtliehen  Elementes  in  dem  franxQsischen  Unterricht  der  latein- 
losen Realschule.  Jäger  hat  ebenso  wie  Ehrhart  seinen  Weg  durch  unsere 
theoloirisehen  Seniinarien  genommen  und  bei  beiden  Kednern  dürfen  wir  die 
tiefe  philosophische  Auffassung  ihres  Themas  und  die  übersichtliche  Klarheit, 
mit  welcher  die  Hauptpunkte  herausgestellt  wurden,  die  sichere  Kuhe,  mit 
welcher  das  Ganze  Torgetragen  wurde,  als  Vorzüge  anerkennen,  welche  die 
anderen  Redner  nicht  alle  in  gleichem  MaBe  besaßen,  .lägers  Vortrag  war  für 
classische  Philologen  vielleicht  noch  interes-santer  als  für  viele  der  realistischen 
Lehrer.  Es  war  ein  Eingeständnis,  dass  der  lateinlosen  Realschule ,  wie  sie 
namentlich  in  Württemberg  blüht,  mit  dem  Lateinischen  doch  ein  wesentliches 
Moment  zur  historischen  Bildung  fehle.  Will  aber  die  Bealschnle  ebenso  idealen 
Zwecken  nachstreben,  soll  sie  ebenso  wissensehalUiche  Bildung  geben  kOnnen, 
wie  Gymnasium  und  Realgymnasium,  so  muss  sie  nach  .Tüger  das  sprach- 
geschichtliche Element  in  sranz  anderer  Weise  pflegen,  als  dies  vielfach  beim 
neusprachlichen  Unterricht  geschieht.  Nicht  als  ob  systematische  Sprachver- 
gleicbuDg.  getrieben  werden  sollte  —  dagegen  verwahrt  sich  Redner  ausdruck- 
lich — ,  wol  aber  soll  in  der  Leotflre  und  sonst  durch  gelegentliches  Zu- 
rückgehen auf  das  Mittel-  und  Altfranzösische,  und  wo  es  leicht  zu 
machen  ist,  auch  auf  das  Lateinische  dem  Schiller  der  oberen  Classen  ein 


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Blick  iu  die  genetische  Entwickelnng  der  Sprache  geöffnet  werden.  Demselben 
Zwecke  einer  wissenschaftlichen  Vertiefaug  des  neusp rachlichen  Unter- 
richtM  dient  es,  wenn  Jäger  z.  B.  auch  den  Bedeattmgswandel  der  Wörter 
Innerhalb  de«  FransfetBehen,  die  Beobaditiuig  der  Tropen  (Synekdoeheif  Xeto- 
D3'inie  etc.),  die  Zusaninionstellung  nnd  Ordnung  sinn-  oder  stammverwandter 
Wttrter,  die  Gesetze  des  Lautwandpls  pt<\  mehr  als  bisher  in  den  Bereich  des 
französischen  Unterrichtes  liert'in/.u/it'htn  wünscht.  Ki-  glaubt  auf  diesem 
Wege  daa  Franzübische  der  liealächule  zu  einem  spraahlicheu  iJiidungsmittel 
erheben  zu  kOnnen,  welches  andi  ohne  eigenen  latetnlachen  Unterrieht  wenig 
hinter  dem  der  Latein  treibenden  Schnlen  zurückstehen  wfirde.  —  Die  yorge- 
sehrittene  Zeit  verstattete  leider  dem  Vortragenden  nicht,  seinen  Stoff  in  brei- 
terer Weise  zu  behuiuleln.  Aber  auch  in  dieser  abgekürzten,  mehr  anszugs- 
weisen  Vurführung  enthielt  der  Vortrag  gewiss  eine  Fülle  von  anregenden  Ge- 
danlcen.  An  den  VonGhUgen  des  Bednm  IKiitSk  m  ftben,  lag  freilich  uhe, 
und  das  meiste»  was  ihm,  namentlich  von  norddeatschen  OoUegen,  entgegen- 
gehalten wurde,  hatte  er  selber  im  Vortrage  schon  angedeutet.  So  viel  aller- 
dins-s  wild  ein  weiteres  Naclidenken  über  die  Ausführbarkeit  der  Jilgerschen 
G»'ilanken  ergeben,  dass  zu  diesem  Zwecke  niclit  nur  die  Vorbildung  unserer 
Beallehrer  eine  andere  werden  müsste,  als  sie  es  vielfach  noch  ist,  sondern  dass 
wol  anch  die  geistige  BeifS»  der  Bealschttler  im  Dnrchsehnitt  eine  grSIIere  sein 
sollte,  wenn  ein  frnehtbarer  Unterricht  in  der  gedaehten  Weise  möglich  werden 
sollte.  Sonst  würden  wol  die  gt'legentlich  beigezogenen,  vom  Lehrer  mitge- 
theilten  lateinischen  Formen  und  Constructiduen  in  den  meisten  Füllen,  statt 
wie  im  Gj'mnasialuuterricht  die  feüte  Grundlage  zu  bildeu,  dem  Realschüler 
nur  als  schattenhafte,  halbverstandene  OrOAen  in  der  Luft  schweben  und  za- 
'sammen  mit  den  mltt^-  ond  altfiraaaOsisohen  Aosdr&cken  bei  vielen  mehr  mir 
Yerwirnmg  als  zur  Klarnng  des  sprachlichen  Bewusstseins  dienen,  so  dass  über 
dem  idealen,  wissonsrhaftlichen  Streben  der  unmittelbar  praktische  Zweck,  die 
sichere  Handhabung  des  modernen  Französisch,  leicht  gefährdet  werden  konnte. 

Endlicli  gedenken  wir  noch  eines  dritten  Schwaben,  der  auf  einem  ganz 
anderen  Gebiet  sich  den  Stoff  zu  seinem  Vortrag  gdiolt  nnd  den  Beweis  ge- 
liefert Isat,  da-ss  auch  die  neueste  Blüte  am  Stamm  der  neuphilologischen  Wis- 
senschaft, die  Phonetik,  in  Württemberg  bereits  einen  sehr  namhaften,  eifri- 
gen Vertreter  gefunden  hat.  Professur  Wagner- Reutlingen  erwarb  sich  den 
Dank  der  Versammlung  durch  Vorführung  des  Grützner-Marey'schen  Appai'ates; 
Uber  dessen  Verwertung  namentlich  auch  zn  genaner  Beobachtung  mundart- 
licher oder  firemder  Idiome  etc.  gab  der  Vortngmide  reichlich  Anftdünss.  Und 
wenn  auch  manchem  von  den  Anwesenden  für  die  gewandten,  von  gründlichster 
Sachkenntnis  zeugenden  Ausführungen  Wagners  das  volle  Verständnis  fehlen 
mochte,  so  war  ihm  dafür  der  Beifall  der  zalüreich  vertretenen  Phonetiker 
unter  den  Neuphilologen  um  so  gewisser. 


Das  Gelehrtenschulwesen  Württembergs.  Den  soeben  ausgegebenen 
statistischen  Nachrichten  über  ilcn  Stand  des  Gelehrtenschulwesens  in  Württem- 
berg auf  1.  Januar  1890  entnehmen  wir  folgende  Punkte.  Die  Zahl  der 
öffentlichen  Gelehrteuschulen  betrug  im  ganzen  92  an  87  Orten.  Darunter 
belknden  sich  auAer  den  4  thedogiscben  Seminariea  20  Anstalten  mit  Ober» 
dassen,  nftmlieh  13  Gyamaden,  damnter  2  Bealgyrndasien  nnd  1  Gjnmaalnm 


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mit  einer,  einem  Healgymnasinm  entsprechenden,  realisiisclieu  Abtheiluüg, 
7  Lyceen,  danmter  3  B«allyceen;  aoBerdem  68  Lateintchiaen,  darnnter  2  Real- 
lateinaehiilen.  HanptlehntellMi  beataadea  an  den  (Mfontlichen  Oelehrtenflchnlen 

im  ganzen  425,  darnnter  27  provisorisch  errichtete.  Die  Gesammtzahl  der 
Schüler  belief  sich  anf  8425.  Nach  den  4  Kreisen  des  Landes  vertheilen  sich 
dieselben  folgendermaßen:  es  kommen  auf  den  Neckarkreis  3882,  Scbwarzwald- 
kreia  1507,  Jagstkreis  1224,  Donankreis  1812.  Nach  dem  fieligionabekeantaia 
befiuiden  sieh  darmter  eyanfeliselte  6068,  kafhoUadie  1986,  iaraelitlaohe  337, 
andere  19.  Von  den  13  Gymnasien  iftlüte  das  Kealgymnasioni  In  Stuttgart 
844  Schüler,  das  Eberhard-Ludwigsgrymnasinm  ()28,  das  Karlsgymnasium  611, 
das  Gymnasium  in  Ileilbronn  44U,  das  Realgymnasium  in  Ulm  314,  das  Gyin- 
nasinm  in  Ulm  275,  in  Ravensburg  249,  in  Kottweil  220,  in  Tübingen  220, 
in  Ehingen  210,  in  Hall  209,  in  EUwaagen  198,  in  BentUngen  185.  Der 
Stand  am  1.  Januar  1890  er^^bt  gegen  daa  Tojahr  eine  Abnahme  von  206 
Schülern.  Am  Turnunterricht  haben  theilgenoramen  5440  Schüler.  Das  Zeug-- 
nis  bestandener  Reifeprüfung  an  Classe  X  haben  im  Kalenderjahr  1889  er- 
halten 327  Schüler;  das  Zeugnis  wissenschaftlicher  Befähigung  für  den  eiiyäh- 
lig^freiwilügen  Militärdienst  716  Schfiler.  Von  den  Lehrstellen  kamen  in  dem 
▼eargangenen  Jahre  in  Erledigung  1  Oymnatialreetorat,  1  Seminaireetorat» 
1  hamanistische  Professorsstelle,  2  realistische  Professorsstellen,  25  Prftceptors- 
stellen,  1  Collaboratorstelle.  Neu  errichtet  \\Tirdf'  eine  definitive  Professors- 
stelle. Auf  Lebenszeit  angestellt  ^varen  BSl  Lthr«'r.  Das  Lebensalter,  in 
welchem  die  Staatsprülungen  erstanden  wurden,  war  bei  der  Professoratsprü- 
fling  29  Jahre,  bei  der  Prftceptoratsprflftmg  25,6  Jahre;  daa  Lebensalter,  in 
welchem  die  ersteren  Oandidaten  Anatellung  auf  Lebenszeit,  gleiclivie]  auf 
welcher  Stufe  des  Dienstes,  erhielten,  war  28  Jahre,  bei  den  letzteren  27,2  Jahre. 
Unstilndipe  Lehrer  waren  im  abgelaufenen  Jahre  72  in  Verwendung-.  Die 
Zahl  der  vollständig  geprüften  Professoratscandidaten,  welche  noch  nicht  anf 
Lebenneit  aageatellt  waren,  belief  sich  anf  S3>  der  PMeeptontaeandidaten  54» 
der  CaUaboratarcandidaten  29.  Von  diesen  3  Kategorien  hatten  8,  xesp^  21« 
reap.  15  keine  Verwendung. 

Die  Zahl  der  öffentlichen  Realschulen  bi  tnig  77.  Hauptlehrstellen 
bestanden  an  denselben  27(),  worunter  27  provisorisch  errichtete.  Von  diesen 
gehören  45  der  Professoratsstufe,  174  der  Reallebrerstufe  und  57  der  Colla^ 
boratnrstnfe  an.  Die  Zahl  der  Schfiler  belief  sich  anf  8593,  welche  Zahl  eine 
Zunahme  von  235  Schülern  gegen  das  Vorjahr  ausweist.  Auf  den  Necfcarkreis 
entfallen  3778  evangelischer,  337  katholischer.  203  israelitischer,  7  eigenei-  i'im- 
fesfiiun,  zusammen  4325  Schüler;  auf  den  Schwarzwaldkrris  1.H79  pvang«'lis(  her, 
299  katholischer,  31  israelitischer,  1  eigener  Confession,  zubammcu  1710  Schiller; 
anf  den  Jagstkreia  832  eTangeUseher,  135  katholischerf  94  ianelitiacheri  m- 
sammen  1061;  anf  den  Donankreia  930  evaageliacher,  498  haiholiBdMr,  68  ia^ 
raelitischer,  1  eigener  Confession,  zusammen  1497  Schüler.  Nach  der  Srhüler- 
zahl  ergibt  sicli  für  die  Ü-^  Kealanstalten  folgende  Reihenfolge:  Stuttgart  1402, 
Heilbronn  453,  Cannstatt  40(),  Esslingen  371,  Reutlingen  368,  Ulm  345, 
Göppingen  2Üü,  Ludwigsburg  270,  Tübingen  240,  Hall  233,  Ravensburg  182, 
Biberaeh  157,  Bottweil  151.  Am  Tnrannterricht  haben  theilgenomnien  5322 
Scliüh  r.  Das  Zeugnis  bestandener  Reifeprüfung  an  Classe  X  haben  22  Schüler, 
das  Zengnia  wissenschaftlicher  BefiUügang  für. den  eiiütthrig-fteiwiUigen  Hili- 


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tÄrdienst  381  erhalten.  Im  abgelaufenen  Kalenderjahr  wurden  im  ganzen  er- 
ledigt 10  Lehrstellen,  nämlich  1  Prufehsor-,  7  Eeallehrei--  und  2  Collaboratur- 
stellen;  nea  errichtet  wurde  1  Collaboratorstelle.  Das  Lebensalter,  in  welchem 
die  ProfeneratsprUftmir  entanden  wurde,  beMgt  27,7  Jahre,  bei  der  Beal- 
lebrerprfifang  27  Jahre,  wShrend  das  Lebensalter,  in  welcher  die  Candidaten 
ihre  erstmalige  Anstellnr??  auf  Lebenszeit,  gleichviel  auf  welcher  Stufe  des 
Dienstes,  erhielten,  für  die  Lehrer  L  Stufe  28,5.  II.  Stufe  28,8  Jahre  beträgt. 
Unständige  Lehrer  waren  73  Candidaten.  Die  Zahl  der  vollständig  geprüften, 
aber  nieht  auf  Lebenszeit  angeatellten  Candidaten  belief  lieh  auf  86  und  zwar 
34  Professorats«  und  52  ReaUehramtBcandidaten;  daan  kommen  dann  noeh  die^ 
jenigen  Candidaten,  welche  die  Dienstprüfnngen  noch  nicht  vollständig  erstan- 
den  haben,  so  dass  die  Zahl  derer,  welche  noch  auf  definitive  Anstellung  harren, 
127  ist!  Wie  oben  gesagt,  kamen  im  vergangenen  Jahre  im  ganzen  11  Stellen 
znr  Besetzung;  rechnet  man  mit  dieser  Zahl,  so  wird  es  noch  gegen  12  Jahre 
danem,  bis  die  schon  vorhandenen  Candidaten  eine  definitive  AnsteOong  er- 
halten haben.  Insbesondere  aber  nngfinstig  liegen  die  Verhältnisse  fBr  die 
Professoratscandidaten  der  niatheniatisch-natnrwissenschaftlichen  Richtung,  von 
welchen  nämlich  21)  voll.'itänilig-  f^ciirüfte  und  15  mit  abgelegtem  theoretischen 
Theil  der  Prüfung  vorhanden  sind;  der  Bedarf  au  diesen  Lehrern  ist  im  ver- 
HoBseneii  Jahre,  der  Bedarf  an  den  Gymnasien  mit  eingeschlossen,  3  gewesm. 

An  18  Orten  bestanden  Elementarschulen,  welche  Knaben  znm  Ein- 
tritt in  die  Gplthrtrn-  und  Realschulen  vorbereiten.  Die  Schülerzahl  belief 
sich  auf  2484,  was  gegen  das  Vorjahr  eine  Abnalinie  von  5()  Schülern  bedeutet. 
Unter  diesen  sind  2101  evangelischer,  223 katholischer,  99 israelitischer,  öSchüler 
eigener  Cenfession.  Im  Jahre  1889  kam  eine  Lehrstelle  in  Erledigung,  welche 
wieder  definitiv  besetat  wurde.  P. 


Ans  der  Schweiz.  Auch  in  der  Schweiz  wirft  die  L at einfrage  immer 
noch  ihre  \Vell>  n  in  berufenen,  engeren  und  weiteren  Kreisen,  besonders  seit- 
dem Professor  Maurer-St.  ü allen  dieselbe  in  einer  Beilage  zum  ofticiellen  Pro- 
gramm der  St.  Gallischen  Caatonsschnle  in  objectiver,  grfindiicher  Weise  nnd 
mit  dem  Scharfblick  des  erliihrenen  Philologen  erörtert  hat.  Gewiss  mit  Recht 
sagt  dieser  Gewährsmann  n.  .a.:  „Die  Forderung  einer  Rt/fonn  des  Gymna- 
siums ist  niclit  eine  Frucht  des  Materialismus,  wie  i»hilnlogische  Kurzsichtig- 
keit sich  und  anderen  einreden  möchte.  —  Die  Frage  der  Reform  wird  sich 
dämm  drelwn,  ob  von  don  traditienellen  LdirstsAti  des  Gymnasimii  das  €lier^ 
illissige  und  Schlechte  getilgt  werde  nnter  Beihehaltnng  des  Goten  mid  üner^ 
setzbaren,  oder  ob,  der  Anschaunng  des  Blldnngsphilisters  entsprechend,  die 
Schale  das  P.essere  über  Bord  werfe  nnd  das  „classi.'-che  Studium"  beschranke 
auf  das  Latein.  Eines  von  diesen  wird  früher  oder  8]iätHr  gt^schehen:  die  Philo- 
logen haben  es,  wenn  sie  eine  besonnene  Selbstverleugnung  üben  mögen,  zum 
gnten  Theil  in  ihrer  Hand,  die  Entwickeinng  aom  besseren  Ziele  gedeihen  m 
lassen."  Im  gleichen  Sinne  dir  Entlastung  von  onnfttsem,  altsprachlichem 
Ballast  nnd  intensiverer  Ptlege  der  modernen  Sprachen  nnd  naturwissenschaft- 
lichen Fächer  an  Gymnasien  sprachen  sich  der  Reihe  nach  auch  andere  ge- 
wiegte Philologen  und  Schulmänner  der  Schweiz  aus.  Ein  nicht  uninteres- 
santes Discossionsobject  hatte  auch  die  Yolksschnle  in  der  Frage  einer  wirk- 
lichen Abschaffung  oder  Reorganisation  der  Examen.   Selbst  politische 


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Blätter  nalmieu  in  letzter  Zeit  längere  Artikel  über  dieses  Thema  in  ilire 
Spalten  auf.  Übereinstimmend  wurde  der  "Wert  der  Scklusfiprüfangen  als  Binde- 
mittel zwischen  Hau  und  Sehlde,  Lehrer  and  Behörden  hervorgehohoiy  gleich* 
zeitig  und  mit  besondeMm  Xachdrack  aber  aach  die  Schattenseite  derselben, 
das  verwerf lirlie  I^ennen  and  Jagen  des  Lehrers  nach  dem  fliichtig^en  Glück 
der  momentanen  ^ Ij-hrplan- Leist ung-en"  betont.  DU'  Muehr  der  Pi-esse  übte 
Bchon  jetzt  ihren  günstigen  Eiutiuäs  auf  die  Behürdeti,  be^uiiders  der  Städte, 
am,  indeni  mehrere  derMlbMi  alluAhlich  absahMi  von  der  Bearthdlnng  einer 
Schale  und  ihret  Lehrers  nach  den  Seheinresnltaten  der  SchalprüAuig  ond  dieee 
selbst  80  organisiren,  dass  sie  weit  eher  als  früher  die  Wirksamkeit  des  Leh- 
rers und  den  Stand  seiner  Schule  darzustellen  vermag. 

Als  ein  wesentliclier  Fortschritt  ist  z,  B.  der  nun  in  mehreren  Städten 
eingeführte  Usus  zu  betrachten,  wonach  Parallelelassen  der  Anstalt  anch  gleich- 
seitig und  mit  ganz  gtelchen  Anfordoimgen  ins  EzamenUraer  genommen  wer- 
den. Oft  gibt  man  Schülerabtheilungen  desselben  Altei'S  die  nämlichen  (gC- 
dnn  kten)  Aufgaben  fürs  Ki  chnen  und  die  Sprache  und  nimmt  in  Geirenwart 
von  Eltern  und  Schulfreunden  erst  nachher  eine  blos  mündliche  PriUung  in  den 
Hauptfächern  ab. 

Seit  karzer  Zeit  wird  In  Basel  der  Boden  zur  Aussaat  eines  gesonden 
Samenkornes  Torbereitet,  ans  dem  in  wenig  Jahren  ein  kriftiger,  stattlicher 
Baom  erwachsen  dfirfte:  diese  Stadt  will  auch  ihr  eigenes  Lehrerseminar 
—  allerdings  mit  einer  ziemlich  originellen  Organisation  —  gründen.  Schon  • 
jahi'zehu  telang  bezog  sie  nämlich  ihre  Lehrer  der  Primär-  und  Secnndar- 
Bcbnlen  zum  grSBten  Theil  ans  anderen  Cantonen.  Die  hohen  Gehalte  nnd 
andere  Vorzttge  lockten  beim  Vacantwerden  einer  Lehrstelle  stets  eine  aoiler- 
gewöhnlich  große  Zahl  von  Anmeldnngen  herbei,  so  dass  man  jeweilen  dia 
besten,  bevvilhrtesten  Kräfte  auswählen  konnte.  Allein  ein  Nachtheil  hiervon 
lag  in  der  Verschiedenartigkeit  der  Vorbildnnir  siiniratlicher  Lehrkräfte  nnd 
ein  anderei'  iu  dem  Umstand,  dass  junge  Leute  in  Basel  keine  Gelegenheit  zur 
YorbOdong  auf  den  Bemf  des  VolkssehnUehrers  fiuden;  andere  Gantone  be- 
klagten sich,  wenn  ihnen  die  bewährtesten  Lehrer  entzogen  worden.  Offenbar 
Vf  rtritt  die  vorberathende  Commission,  an  deren  Spitze  Herr  Professor  Dr.  Hin- 
kelin  stellt,  einen  principiell  richtigen  Standpunkt,  wenn  sie  fin  ihrem  Be- 
richt an  die  Erziehungsdirectiuu;  sagt:  Ein  Staatswesen,  das  so  viel  für  die 
Bildung  seiner  Einwohner  thnt,  anfier  den  Primär-  und  Secondarschnlen  stark 
besnchte  Oberschnlen  nnd  eine  wol  ansgestattete  nnd  gut  freqnentirte  üni?er- 
sitftt  nebst  gewerblichen  Bildungsanstalten  unterhält,  darf  nicht  anderen  die 
Sorere  für  die  Erzielinng  seiner  Jugendbildner  übertragon.  darf  sich  des  bestim- 
menden  Einflusses  auf  die  Ausbildung  der  zukünftigen  Leiirer  nicht  entsohlagen. 
Ba:>el  steht  es  wol  an,  selbststäudig  vorzugehen  nnd  eine  mustergiltige  Eiuhch- 
tnng  SQ  treffen."  —  Als  wesentllchai  Unterschied  wird  die  zokttnltlge  Anstalt  • 
weder  eine  Verbindung  von  Seminar  mit  Cantonsschnle,  noch  ein  Convict  auf* 
weisen.  Sie  soll  die  Trennung  der  allgemein  wissenschaftlichen  von  der  spe- 
ciell  beruflichen  Bilduntr  realisireu.  Deslialb  muss  der  zukünftige  Pimarlehrer 
eine  obere  Mittelschule  (Kealschule  oder  Gymnasium)  absoivirt  und  ein  Keife- 
zengnis  von  einer  dieser  Anstalten  erlangt  haben,  aladami  die  ünlTenlttt  be> 
suchen  nnd  deren  henroiragende  geistige  HUftmittel  nnd  Anregnngen  zu  Nntzen 
ziehen.  Denuach  wird  die  eigentliche  pldagoglsdie  BUdong  des  Lehramtsean- 


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didaten  nicht  der  Hochschnle,  sondern  einem  Lehreneminar  zng^ewiesen,  dessen 
Cnrse  zusammen  nur  drei  Semester  danern  und  das  neben  der  UniversitMt  lier- 
gelit.  —  Mit  Vergnügen  erselien  wir  ans  dem  sclion  entworfenen  l.fhrplan, 
dass  bedeatendes  Gewicht  gelegt  wird  auf  Methodik ,  Ethik ,  Scholgesundheits- 
lehre,  wie  anf  Prilparationen  und  Übangen. 

Dan  diese  angidienden  Lehrer  im  Zeichnen  (an  der  Gewerheschnle),  im 
Singen  und  Violin^^picl  (an  der  Musiksdinle),  sowie  im  Tomen  (im  Lelirertum- 

verein)  anßerEpewöhnliclif  r  Begünstif^nng-en  sich  erfienen  würden  sreo^pnüber 
eigentlichen  „Seminaristen",  und  dass  sie  ül*r(lies  nach  eif^^eiit-r  Xfiirnng  nnd 
Aaswahl  Colle^ien  an  der  Universität  zu  ihrem  allgemein  wi^äenscliaitlichea 
nnd  bomf  lich-pralctlBchen  Nntsen  besuchen  ItSnnten,  ist  selbstTerständlich.  An  ge- 
eigneten Schnlclassen  fHr  Lehrttbnngen  fehlt  es  nattirlich  in  Basel  am  aller- 
wenigsten. Ein  .Tahresbuderet  von  fiCKK)  Francs  wird  bei  einer  Besoldung  von 
200  Francs  jicr  .Tahresstmule  als  ausreichend  erklilrt,  so  dass  also  der  Reaü- 
Binmg  eines  stadtbasleriscben  Lehrerseminars  keine  beachtenswerten  Hinder- 
nisse mehr  gegenlborstehen,  vmsoweniger,  da  dasselbe  als  eigenartiges  In- 
'  sUtnt  ohne  ZweiM  bald  eine  bedeutende  Frequenz  aus  der  Stadt  und  vom 
Lande  her  erhalten  dürfte.  Hoffentlich  wird  dieses  fortschrittliche  Project 
einer  akademischen  Bildune:  der  zukünftieren  Volkserzielit  r  recht  bald  auch  in 
anderen  Städten  mit  Hochsciiulen  auftauchen  und  reali.sirt  werden! 

Pen  Recrutcniiriifuii^'pu  wird  in  allen  bcrufent  n  Kreiscu  und  dank 
der  journalistischen  Ausbeutung  ihrer  Resultate  auch  in  den  niedersten  Schich- 
ten der  BevSlkoning  die  ihnen  gebfirrade  Beachtung  gesdienltt,  nnd  damit  nidit 
nur  f^Idee  und  Wort  im  Flug  der  Zeit  ans  Bftumliche  gebunden*  sei,  sollen 

die  schriftlichen  Arbeiten  der  Recmtenprüfungen  abwechselungsweise  von  fünf 
zu  fünf  Jahrgängen  bei  den  scliweizeiischen  permanenten  SchnlanBStellnngen 

in  Zürich  und  Bern  dcj/nniit  werden. 

Die  Actien  der  Bildung,  welche  die  Akademiker  an  schweizerischen  Uni- 
versitäten holen,  scheinen  immer  noch  steigen  zu  wollen,  indem  nijcht  nur  die 
neue  üniverdtftt  in  Freibnrg^  sehr  gut  frequentirt  ist,  sondern  auch  di^enigen 

in  Basel,  Bern,  Genf,  Zürich  1889  bedentend  höhere  Besnchszifft  i  n  (409,  568, 
563  nnd  507)  aufweisen,  als  vor  zwei  Jahren  (165,  282,  155,  '624). 

Auf  dem  Gebiete  der  Turnkunst  herrscht  reges,  freies  I.eben.  Niclit 
nur  gedeihen  die  Lehrertnrnvereine  der  Städte  (Basel,  Zürich,  St.  Gallen  etc.) 
vorzfiglich;  auch  in  den  Landbezirken  regt  sich  die  Lust  zur  erfolgreichen 
Pflege  der  auf  EOrper  nnd  Geist  so  wolthätig  einwirkenden  Kunst,  und  in 
mehreren  Gantonen  wurden  seit  dem  Frftbjahre  Turneurse  abgehalten  an 
Gunsten  des  militärischen  Vomnterrichtes  sowol ,  als  auch  zur  Beförderung 
rationellerer  Körperj'flege  bei  Lernenden  nnd  Lehrenden.  Das.s  dabei  dem 
Mädchenturnen  weit  mehr  Aufmerksamkeit  geschenkt  wird  als  früher,  ist  eine 
erfreuliche  Thatsache,  die  sich  auch  in  einer  neu  erscheinenden  Fachzeitschrift, 
der  ^Mmiatsseluift  ffirs  Schulturnen",  redigirt  von  Bieus  und  Bollinger — Auer 
und  Glatz  in  T^asel  —  bestätigt.  Selbst  die  politischen  BIfttter,  wie  s.  B.  die 
Nene  Züricher  Zeitung  und  die  Baseler  Nachrichten,  halten  ihre  Leser  an  con- 
rant  über  die  Fort^schritte  des  rationellen,  praktischen  Schul-  nnd  Frauentur- 
nens und  treif  liehe  Lehrbücher,  welche  das  praktische  Leben,  also  insbesondere 
die  Hausgymnastik  berttcksichtigen ,  wie  x.  B.  dasjenige  von  Dr.  E.  Anger- 


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Rtoin  und  G.  iv  kler  (Berlin.  Th.  Chr.  Fr.  Enalia)  fiodMi  in  nnserein  Lande  je 
lüuger,  je  inohr  \'erbrcitiing. 

Feiner  entwickelt  sich  auch  aaf  wissenschaftlichen  Gebieten  efiM 
leltene  B^rBunkelt  ond  StrebiamMt;  m  beraeben  die  Lebrer  der  üniver- 
•itätsstädte  meistens  recht  zahlreich  die  akademischen  Vorträge,  imd 
während  sidi  diejenigen  auf  dem  Lande  in  Specialconferenzen  und  freien  Za- 
sammenkünlten  fortbilden,  hören  ihre  Collegen  in  kleinen  Städten  da  und  dort 
einen  Cyklos  wissenschaftlicher  Vorträge.  So  z,  B.  lassen  sich  in  St.  Gallen 
ca.  80  Lehrerinnen  und  Lehrer  von  einem  praküseh  erfbbnnen  nnd  wiisen- 
fldhaftlioh  asf  der  Höhe  stehenden  Aizt  (Herrn  Dr.  Fenrer)  in  die  Ar  die 
Schule  so  wichtige  Anatomie  einführen,  was  nm  so  wertvoller  ist,  da  z.  B.  die 
Somatolog-ie  an  vielen  Seminarien  immer  noch  blos  stiefmütterlich  behandelt 
wird.  Der  Leetor  versteht  es  in  vorzüglicher  Weise,  bei  seinen  Zuhörern  das 
Literesse  am  inneren  Bau  des  menschlichen  Körpers  zu  wecken,  zu  fördern  nnd 
sn  krSftigai  dnreh  Hinweis  anf  die  Anfordemnf«!  der  Gesundheitspflege  an 
die  moderne  Schule.  Beachtenswert  erscheint  hier  wol  das  Urtheil  desselben, 
nach  welchem  die  Schule  zwar  z.  B.  die  Scoliose  i  Rü(^kg:ratsverkrämmnng)  be- 
fördern  kann,  nie  aber  unbedingt  und  allein  schuld  ist  an  derselben. 

Der  Handfertigkeitsunterricht  wird  je  liiuger  je  mehr  gepflegt. 
Für  die  Zeit  Tom  20.  Joli  bis  15.  Angnst  findet  hi  Basel  wieder  ein  Cnnos 
statt»  der  ▼oranasichtUch  sehr  aablreicb  besucht  sein  wird. 

In  Zfirich,  Bern  etc.  finden  die  sehr  beachtenswerten  Ideen  Herrn.  Mol- 
kenboors  in  Bonn  a.  Uh.*l  allmählich  mehr  Anklang,  nnd  obwol  die  Zahl  der 
Adhärenten  auch  hier  noch  niinim(17)  ist,  werden  jene  d(»ch  den  fruchtbarsten 
Boden  finden,  sobald  sie  einmal  noch  mehr  in  Fluss  gekommen  and  die  Adhft> 
raiten  aller  LSnder,  gut  oiiganisirt,  Holtke's  neuesten  AnsspTnch  im  deutschen 
Beicfastag:  „Die  Völker  und  nicht  die  Fürsten  machen  die  Kriege"  beherzigent 
nnd  Tiwar  als  Lehrer  der  .Timi'nd.  also  besonders  im  Geschichts-  und  geogra- 
phischen Unterrichte  die  Friedensidee  und  den  allgemeineni  internationalen 
Patriotismus  hochhalten. 

Offenbar  ist  auch  das  anf  den  27.  bis  29.  September  festgesetzte  schwei- 
sttische  Lehrerfest  bemfBn,  weitere,  und  zwar  tonangebende  Krftfte  für  die 
gute  Sache  zu  gewinnen,  besonders  dann,  wenn  die  Discussionen  der  zwei  znr 
Behandlung  kommenden  Hauptthemata  Scliuldisciplin  und  .\b8chlnss  der  Volks- 
schulbildnng,  resp.  Anschlus.s  des  Lehrplans  höherer  Schulen  an  deigeuigen 
der  Vdksschnleo)  nicht  allzuviel  Zeit  absorbiren. 

Gegenwärtig  InAnselt  ein  allmählich  immer  stirker  werdend«*  Wind  der 
Keaction  die  sonst  so  mhige  Obei^äche  des  Schullebens;  seine  nrsprUngliche 
Richtung  ist  nicht  leicht  7.n  eiraitteln,  da  es  auf  die  außergewöhnliche  Kednc- 
tion  der  Schulstunden  nnd  auf  die  gänzliche  Verbannung  der  Hausaufgaben 
abgesehen  ist.  Weil  man  wirklich  —  vielleicht  da  und  dort  auch  in  bester 
Treue  —  yM.  sündigt  anf  diesem  Gebiete,  wird  oline  ZweiÜBl  der  Sturm' 
anch  in  sehul-  nnd  Ichrerfrenndlichen  Kreisen  nicht  ansbleiben  nnd  manche  ab- 
solnt  nothwendige  Schulstunde  mit  der  unnothigen  wegfegen.  Es  ist  indessen 
^  erfreuliches  Zeichen  nnd  ein  gutes  Omen,  dase  gerade  berufene  Oigane  nnd 


*)  Vcrgl.  Psedagogium  Nr.  9,  1881,  betitelt:  „Ein  bleibender,  intcruatioaaler 
EisishniigBntk.*' 


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—   743  — 


Persönlicbkeiten  sich  der  Frag^  bemächtigen  und  ihr  zur  rechten  Zeit  ein  ent- 
schiedenes Halt  zu  bieten  versprechen.  So  brinert  die  „Neue  Züricher  Zeitunpp" 
einen  gewappneten  Artikel  gegen  die  Überbürdung,  und  in  der  fdr  weitere  Um- 
kreise jeweilen  demlidi  maßgebenden  Schnlsynode  ZHricha  gab  Herr  Dr.  Stadler 
der  Bednotion  dee  UnterriditBttofliBs  Im  allgemeinen  und  im  besonderen  im 
Lehrerinnenseminar  in  beredtester  Weise  Aosdmek^  Dagegen  betonte  er  die 
Nothwendigkeit  einer  besseren  I3em£ibildting  bis  nun  Anstritt  ans  dem  Seminar. 


Ans  der  Fachpresse. 

336.  Ans  dem  Heimatlande  Pestaloszi's  (R.  Dietrich,  POd.  Zeitnng 

1890,  23).  Die  Entwickelnngsgeschichte  der  Volksscbnle.  Beginn  in  der 
zweiten  Hälfte  des  18.  Jahrhnnderts,  Verdienste  der  „helvetischen  Gesell- 
schaff  —  Leistungen  des  Einheitsstaates  (helvetische  Republik,  1798i  durch 
den  Minister  Stapfer  (auch  thatkrUftige  Unterstiit^nng  Pestalozzi's)  —  canto- 
aale  Bestrebungen  1803  bis  1815  —  Fortschritt  nnd.A]ibmch  der  neuen  Zeit 
1830:  Seiinle  als  Staatsanstalt  (Zttrieber  SemiBardireefeer  Thonai  SdMir)  — 
seit  1874  Betbeilignng  des  Bundes  an  der  Entwickelnng  des  Schnlwesens 
(Recrutonprüfnn^cn ,  Turnunterricht.  Fabrikgesetz,  Unterstüt/nnp  der  gewerb- 
lichen und  landwirtschaftlichen  Bildongsanstalten,  der  Schulmuseen  und  ge- 
wisser literarischer  Arbeiten). 

337.  Die  Ansichten  Diesterwegs  über  den  Lehrerstand  (Schles. 
Schulz.  1890,  15)t  folgendermaßen  zusammengestellt:  Ansehen,  der  Wichtig» 
keit  des  Berufs  entsprechend  —  Freiheit  hinsiclitlich  der  Methode  und  der 
Öchulver«'altungr  —  uneingeschrilnkte  Ausübung  der  8taat^;bürgerliclien  Hechte 
—  ausreichendes  Gehalt  —  gründliche,  die  Anforderungen  des  Lebens  berück- 
sichtigende Vorbildong  —  der  Lehrer  sei  ein  Cänlit,  ein  täubet  Charakter, 
sndie  sieh  den  Idealismus  zu  erhalten,  strebe  nach  Fortbildung,  sei  im  -Amte 
kein  Parteimann  —  Nothwendigkeit  freier  Lehrervereinigungen. 

H.SH,  Dor  Beruf  CR.  DietrirJi,  (Vsterr.  Schnlbotp  1M90,  VI).  Jnlrr  Mensch 
hat  zwei  IKrufe:  einen  besonderen  („Brotberuf",  der  dem  Einzelnen  zum  Unter- 
haltserwerbe dient,  „Haupt-  und  Nebenberuf  im  gewöhnlichen  Sinne)  und 
cAnen  allgemein«!  (den  alle  erfUlen  sollen,  der  dem  Allgemeinen,  GroBen, 
Oanien,  der  Welt,  dem  Menschenthnme,  der  Menschlichkeit  gilt)  —  oder: 
einen  realen  und  einen  idealen.  „Ist  der  besondere  Beruf  ein  erwählter,  so 
ist  der  allgemeine  ein  für  alle  Zeiten  und  alle  Personen  sittenfj:e.setzlich  be- 
stimmter —  ein  ererbter,  wenn  man  will.  Übrigens  verhält  sich  der  reale 
Beruf  zum  idealen  wie  das  IQttel  zum  Ziveek.  Letzterer  muss  in  ertterem 
Anknüpftmgspnnkte  sudien  und  finden.  Jeimi  Hht  der  Fachmann  ans,  diesen 
der  Mann  als  solcher.  —  Gewisse  Berufe  (Künste)  sind  reich  an  Anknüpfungs- 
punkten für  den  allgemeinen  Beruf,  wiUnvnd  solche  anderen  fFabrikarbeit) 
gänzlich  zu  fehlen  scheinen:  wem  viel  gegeben  ist,  von  dem  wird  viel  gefor- 
dert. —  Auch  der  Lehrerberuf  ist  ein  realer.  Hört  man  ihn  jemals  so  nennen? 
Bezeichnet  man  ihn  nicht  vielmehr  als  einen  idealeUt  erhabenen,  heiligen?  Das 
ist  eben  das  Eigenthümliche,  das  ist  allerdings  das  Außerordentliche  an  unserem 
Berufe,  dass  er  den  besonderen  und  den  allgemeinen  in  sieh  verpiniert,  das«  er 
seinem  Wesen  nach  leal  und  ideal  znjrleieh  ist  wie  kein  anderer  und  deshalb 
als  der  edelste  menschliche  B^ruf  anerkannt  werden  muss/ 


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Uteratar. 

Dr.  Volkmer.  Johann  Tg:naz  von  FplTiicer  nnd  seine  Scliulreform.  —  Ein 
Beitrag  zur  Geschichte  der  Pädagogik  des  18.  Jahrhunderts.  96  S.  Habel- 
schwerdt  1890.   Verlag  von  J.  Franke's  Buchhandlung. 

Vorliegend«  Schrift,  wenn  audi  keine  <  n  legcnheitsschrift  im  engeren  Sinne 
des  Worte«,  verdankt  ihr  Entstehen  der  hundertjährigen  Todesfeier  Felbigers, 
welche  bt  kanuilich  vor  zwei  .Jahren  stuttgetiiuden  hat.  Der  Verlasser  findet, 
„dn.s8  bi8  jetzt  eine  besondere  und  einigermaßen  ansfttbrlirhe  Darstellung  des 
Lebens  und  Wirkens  dieses  Mannes  in  der  pädagogischen  Literatur  nicht  vor- 
handen ist/  und  sein  Zweck  ist,  einen  Beitrag  zu  liefern  zur  Behebung  des 
in  dieser  That-^siche  enthaltenen  Mangels. 

Eine  ansehnliche  Zahl  von  Schriften  werden  als  QueUen  angeführt,  und  an 
der  Hand  derselben  ninimt  die  DamteUnng  des  Lebens  vnd  der*  Thfttiriseit 
Felbigers  einen  reeht  anziehenden  Lauf.  Wir  wollen  und  ki'mnen  hier  auf  aUe 
Einzelheiten  nicht  eingehen,  heben  nur  einige,  vielleicht  nicht  allgemein  be- 
kannte Thatsachen  hervor.  So  b.  B.,  dass  Felbiger  zu  seiner  Schvlrefbrm 
eigentlich  durch  den  Umstand  bewogon  wurde,  dass  die  katholischen  Kinder 
die  evangelischen  Schulen,  weä  diese  besser  waren,  besuchten  (S.  9);  dass  Fcl- 
Wgers  Souiften  die  AttfinerkMiinkeit  seiner  Landenegiemng  (Schlesiens)  eigent- 
lich ilurcli  den  Unnveg  Uber  Berlin,  also  durch  eine  evangelisclie  Empfehlung 
auf  sich  gezogou  haben  (S.  19).  Ausführlich  wurden  wir  Jahr  tiir  Jahr  über 
die  Lebennchicksale  nnd  Thaten  des  ehrenwerten  Refennators  informirt  nnd 
lernen  den  edlen  Sinn,  den  unerniildlichen  Fleiß,  das  organisatorische  Talent 
demselben  immer  mehr  und  mehr  schätzen.  Es  ist  bekannt,  da.«s  aich  seine 
Thätigkcit  hauptsächlich  auf  die  Volki^scbulc  concentrirte;  alle  Verordnungen 
und  Pläne,  die  er  mit  Be/ug  auf  dic'^e  Anstalten  erließ,  wenli  n  kurz,  -^kiz/irt, 
nnd  alle  seine  Schritten  ihrem  hauptMäohliehen  fuhalte  naeh  ebenfalls  kurz  ge- 
kennzeichnet. —  Sehr  interessant  nnd  lehrrciclt  ist  auch  die  Sehilderung  der 
östorreirhisclieu  Interessen  gewidmeten  Thiititjkeit.  unter  anderem  z.  B.  die 
Statistik  der  >chulen  bei  seiner  Ankunft  und  nach  seinem  Abtreten  vom  Schau- 
platze der  Thätigkcit. 

Um  die  Darstellung  kurz  zu  beurtheilen,  so  heben  wir  hervor,  dass  der  Ver- 
fasser wol  voll  Lobes  filr  die  Verdienste  Felbigers  ist,  aber  auch  die  S  >hattcn- 
seitcn  seiner  Methode  nicht  übersieht.  Er  fasst  die  vier  Vortheile  derselben 
in  „das  Zusammenunterrichten,  das  Katechisiren,  die  Buchstabenmethode  und 
das  Tabellarisiren"  fS.  42)  zusammen,  erwähnt  aber  öfters  die  Schiefheiten, 
die  bei  der  Anwendung  dieser  Methode  besonders  bei  nachlässisferen  Lehrern 
entstehen.  Auch  die  Charakteristik  Felbigers  als  Menschen  ersdifllst  uns  ge- 
recht und  nnbefangen,  nnd  indem  er  avsffllnrt:  „Die  vidseitige  Bewunderung, 
die  ihm  (nämlich  Kelhiger)  gezollt  wurde,  verleitet,  ihn  leider  zu  mancher 
Eigenmächtigkeit.  Er  vertrug  allmählich  keinen  Widert^pruch  mehr  und  dul- 
dete eigenen  Wfflen  bei  anderen  nmsoweniger,  je  mehr  er  selbst  davon  besaS**, 
S.  76,  gibt  er  auch  den  S(hinssel  zur  Erklärung  der  letzten  Jahre  von  Ft  1- 
bigcrs  Thätigkcit.  Durch  diese  Eigenschaft  zog  sich  Felbiger  die  Feindschaft 
vieler  zu;  Joseph,  der  Sohn  M.  Tlmesia^s,  hatte  schon  als  Hitregent  entschie- 
dene Abneigung  gegen  ihn,  auch  deshalb,  weil  er  ein  Ordenspriesicr  war,  und 
so  geschah  es  (wie  dies  in  der  Schrift  noch  aui^fiihrlicher  dargelegt  wird),  dass 
er  «einer  gllnzcndea  Stelle  enthoben  nnd  nach  Presshuig  geschidct  wnide.  — 


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—   745  — 


Rühmend  höht  der  Vorfassor  Felbigers  milden  Sinn  in  Bczuc;  auf  die  confe»- 
sionellen  Strcitigfkcitcn  hervor,  weshalb  er  TOD  seinen  Glaubeusecouäüeu  üttcra 
und  heftig  angetrriffen  wurde,  ja,  wie  der  Verfi^er  zeigt,  aa<^  heute  ooch  an- 
gierriffen  wird;  und  der  Hinweis  auf  einige  Verdienste  um  das  praktische 
Leben  und  auf  seine  Pflege  der  Naturwissenschaften  ergänzt  in  willkommener 
Weise  die  Reibe  seiner  Verdienste. 

Tioti  alledem  ist  die  ächrift  keine  eigentliche  wissenschaftliche  Monographie. 
Der  VerfiMser  gibt  Uber  die  Benutzung  seiner  Quellen  keine  Aaslouift,  ge- 
schweige einen  Bericht  über  dieselben  i  besonders  über  die  handschriftliche  Vita 
von  Leipelt  hiltte  er's  thon  sollea),  aach  ist  dieEntwickelnn;;  der  f  elbigenchea 
Amehaniingeii  und  die  auf  dendben  «ailirebmten  Thäti^keit  sebr  lenlieBeiid 
pc/f'ichnet,  ebenso  vermisst  man  ungern  in  einer  ähnlichen  Schrift  eine  biblio- 
graphisohe  Zusammenstellung,  wenn  eine  solcho  auch  anderswo  bereits  er- 
aehfeneii  wixe. 

Es  mag  aber  sein,  dass  Vcrfa.'^ser  mehr  eine  popnliir^  Sehrift  im  Auge  hatte, 
ohne  die  Ansprüche,  diu  eine  wissen^aftUche  Behandlungswcii^e  stellt,  und 
wenn  dtfls  der  Fall  ist,  gesteh«!  wir  getn,  daw  die  kleine  Sdirift,  getragen 

von  einer  lebhaften  Betreisterung  für  den  verdienstreichen  Schulorganisator, 
sehr  gec^ignct  ist,  zur  Würdigung  seiner  Thätigkeit  und  zur  Wcekung  dcd 
seiner  Persou  gcbflienden  Interesses  recht  viel  beizutreges,  weshalb  dieselbe 
auch  hiermit  bestens  empfohlen  wird.  „Der  Reinertrag  wird  als  Zu- 
schusH  zu  den  Kosten  der  Errichtung  eines  Felbiger-Denkmuis 
verwendet."  J,  K. 

Dr.  med.  Paul  Srhuhert,  Augenarzt  in  Nflinberg.  Über  Heftlage  und  Sehiift- 

richtung.    Hamburg  und  Leipzig  1890. 
Emanuel  Bayr,  Schulleiter  iu  Wien.  Steile  Lateiuschrift.  Wien  1890.  • 

Eine  Frage,  welche  immer  dringender  an  die  Schule  hemntritt,  ist  die,  wie 

der  Kurzsichtigkeit  und  der  .schlechten  Körperhaltung  der  Schulkinder,  welch 
letztere  mituutcr  zu  Kttckgratüvcrkrümmuugen  fiUirt,  vorzubuugeu  sei.  Zur 
Lösung  derselben  wurde  zunBchst  eine  richtig  conitrnirte  Schulbank 
gefordert.  Seit  einem  Viertcljuhrhundert  ist  die  Literiitiir  darüber  lawinen- 
artig angeschwollen.  Schulmänner  und  Ärzte,  Handwerker  und  Techniker 
wetteiferten  iu  der  Erfindung  von  zweckmäßigen  „Subsellien".  In  neuester 
Zeit  wurde  die  Aiifmcrk.sanikeit  der  Heftlage  und  Sehriftrichtunir  zu- 
gewendet, weil  mau  l'rsiichc  zu  der  Annahme  fand,  diws  durch  die  schiefe  Lage 
der  Schreibhefte  und  die  daraus  hervorgeiu  ndc  rcebtsschiefe  Lage  der  Schrirt- 
zeiehen  die  schlechte  Haltung  der  SchüU  r  veranlasst  sei.  Man  stellte  deshalb 
die  Forderung,  dass  statt  der  rechtüliegenden  eine  Steilschrift  einzuführen  und 
demL^ciniii)  eine  gerade  Hittenlage  des  Heft«  >  >  in/uiiLilteu  sei.  Es  gebürt  das 
Verdienst,  diese  Forderung  zuerst  (1880)  aulj^cstelit  uud  begründet  zu  haben, 
dem  Augenarzte  Dr.  med.  Paul  Schubort  in  Nürnberg.  Zunächst  waren  es 
Arzte  (Mayer,  Schenk.  Kocher  etc.),  welche  in  mcdicinischen  Zeitschriften  diese 
Frage  mit  Hilfe  wissenschaftlicher,  physiologischer  Untersuchungen  itaten  und 
darlegten,  da.<(s  tbatsachlich  die  schiefe  Loge  des  Heftes  nnd  der  Sehrift  die  her* 
vcrgehobenen  Übelstände  im  Gefolge  li;ibc.  Insbc-i  tuli  re  Imt  Schubert  in  (träfe's 
Archiv,  32.  Jahrg.  1886  und  zuletzt,  188^,  iu  Xotelmanns  Zeitschrift  filr 
Schttlgemindheitspticge  in  streng  wissenschaftlicher  Weise  die  Bereditigung 
.seiner  Forderuiitren  begründet:  Ein  erweiterter  Abdruck  der  bei  Kotelmann  er- 
schienenen Abhandlung  ist  die  oben  angeführte  Broschüre.  Aus  derselben  kann 
deijenige,  welcher  die  Frage  der  Steilschrift  nicht  oherillehUeh  sn  beurtheüen, 
wie  dies  einzelne  §«hulniänner  in  Jisterreichischen  Zeitschriften  thaten,  .^'ondeni 
gründlich  zu  studiren  unternimmt,  die  streng  wisseuschattlicheu  Grundlagen 
der  neuen  Sehreibmethode  ersehen,  denen  dureh  das  Hemrhehen  (ter  geSnderten 
Eit^en-ichaften  unserer  Federn  und  der  infolge  der  Stahlfedern  entstandenen 
(.icwöhuiingen  nicht  beizukommen  ist.  Er  ündet  daselbst  auch  ein  Verzeichnis 
der  wichtigsten  iu  dieser  Fnige  seit  dem  Jiüne  1870  enohienm,  anneist  medi- 
cinischen  Werke  un<i  Abhandlungen. 

Es  kounte  nicht  Ichieu,  da^s  auch  ächulmanucr  dieser  für  das  physische 
Gedeihen  der  Jugoid  wichtigen  Frage  ihre  Aufmerksamkeit  mwaadten.  Unter 

Pcdacogiu.  lt.  Jabig.  Heft  ZL  68 


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^esea  ist  Prot.Daibec  in  Stuttgart  herronuhebon,  weldier  in  soinsa  Schtiften 
^Di6  Körperhaltnng  vstA  Sdnile^,  1881,  mä  „Die  flehnfb-  und  KSTperitaltinif^- 
nage",  1889)  auf  <  !rund  lancjähriger  Erfahrungen  in  der  Schulpraxis  für  die 
Mskredite  Sclirü't  bei  gerader  Winkeltage  des  Heftes  eintrat,  liua  folgte  der 
Wiener  Sohnlmann  Bmannel  Bnjt  mit  obigem  Werke,  in  weldtem  die  Lite- 
ratur über  diese  Frage  vervollständigt  und  die  bisher  zu  Gunsten  der  Steil- 
flchrift  angeführten  Argumente  durch  HerbeiBiehunff  reicher  eigener  Erfah- 
rungen und  nener  Outaäiten  naneaf^di  ym  eeiten  aee  Wiener  Anatomie-Pio- 
fessdrs  Dr.  K.  ToMt  erweitert  erscheinen.  Herr  Bavr  hat  in  der  von  ihm  i^c- 
I  leiteten  Schule  berate  die  Steilschrift  einffeftUurt,  und  es  zeigt  sich,  wie  der 

ünteizeichncte  aua  der  auf  Angenidiein  oemhenden  ÜberEeugung  beskfttigen 
kaam,  das«  bei  dieser  Schritt-  iiml  Heftlage  die  Kinder  gerade  sitzon,  sifh  nicht 
VWbeagen  und  auch  die  Brust  nicht  an  den  Rand  der  Bank  andrücken.  Zu- 
gleicfa  eiBcheint  die  Steilscbrift  gefälliger  als  die  schiefliegende,  weil  bei  letz- 
terer es  den  Kindern  mehr  Schwierigkeiten  bereitet,  den  Paralleli.'smus  der 
einzelnen  Schatten-  und  Haarstriche  einzuhalten,  als  bei  der  senkrechten  ächrift. 
Auch  zeigt  die  Eri'ahnmg,  dass  bei  den  meisten  Kindern  die  Schattenstriche 
nicht  senkrecht,  sondern  vielmehr  links  srhicf  erscheinen,  so  dass  sie  mit  d*Mii 
Haarstriche  und  der  Linie  gleichseitige  Dreiecke  bilden,  deren  Scheitelpunkte 
■enkrecht  Uber  der  Linie  zu  liegen  kommen.  Pien*  ilun  h  die  Erfahrung  sich 
eigebende  Moment  verdient  noch  eine  genauere  Beobachtung  und  Untersuchung. 
Bin  bisher  noch  nicht  hervorgehobenes  Argument  zu  Gunsten  der  Steilschrift 
mag  auch  der  Hinweis  auf  die  Thatsache  bieten,  da^s  in  Enorland  die  Kurz- 
•ichtigkeit  so  selten  ist,  dass  man  einen  Mann,  der  Brillen  trägt,  sofort  als 
Deutschen  bezeichnen  zu  können  glaubt,  und  dass  die  Engländer  fast  durchwegs, 
so  weit  meint)  Erfahrung  reicllt,  eine  eenkieehte  oder  nach  links  sicli  neitreiäe 
Handschrift  schreiben.  L>r.  E.  Hannak. 

Des  Pädagogen  Traum.  Festsjjiel  von  I'aul  Risch,  Musik  von  Paul  Ziegler. 

Aufgefühlt  am  28.  Mai  1890  bei  der  Diesterweg-Feier  des  \  III.  deutschen 

Lehrertages  im  Saale  der  FMlIiarmoBie  m  Berlin. 

Die  im  Titel  erwähnte  Aufführung  fand  ungetheilten  Beifall  um!  weckte  in 
vielen  Hörem  den  Wunsch,  das  Werk  allgemein  zugänglich  gemacht  zu  sehen. 
Dies  Teranlasste  den  Ortaanssdrass  dee  VIII.  denteeben  Lebrertages,  einen 
Claviorauszug  der  Coniposition  zu  veranstalten,  welcher  zum  Preise  v>»n  4  Mark 
bei  Herrn  Kosenberg  in  Berlin  SW.,  Qroßbeerenstrafe  56b,  zu  bezichen  ist. 
Ihunit  das  Festqiiel  ancli  in  kleinerem  Rahmen  cur  AnfftUming  gebraelit 
werden  könne,  ist  der  davierauszu;?  mit  den  nöthigcn  Angaben  wichtiger 
Orchestereins&tze  versehen  und  so  auch  als  Partitur  verwendbar.  Die  Orcbester- 
atimmen  ist  der  Componist  bereit  zum  Selbstkostenpreiie  zu  liefern.  Die  Zu- 
sendung des  Textes  allein  erfolgt  gegen  Einsendung  Ton  90  Pfennig  in 
Briefmarken. 

Allgemein  emplelilenswert,  besonders  aber  für  Frieiliehkeiten  ni  Bbren 

Diesterwegs  ein  nöchst  schätzenswerter  Beitrag. 

Christian  Harms,  Zwei  Abhandlungen  über  den  Hechennnterriclit.    72  S. 
Oldenburg  1889,  G.  Stalling.  80  Pf. 

Der  Verfasser,  dessen  viel  Terbreitete  Lehrbttcher  sich  eines  sehr  guten  Rufes 
erfreuen,  darf  wol  unsere  gespannte  Aufmerksamkeit  er>varten.  wenn  er  uns 
seine  didaktischen  Ansichten  mittheilt  Die  erste  Abhandlung  über  das 
Rechnen  mit  Kahlen  tou  1  bis  100  iHrd  in  vier  »Stufen  gcglie<lert,  ntmlidi 
in  das  Pu-clui-  ri  in  den  Zahlenkreisen  ö,  10.  20  und  100.  Der  Verfasser  er- 
klärt sich  gegen  die  Methode  von  Grube  und  will  die  alte,  bewährt«  Methode 
gegen  Orube  in  Scbuts  ndunen.  Es  will  uns  aber  fiut  sdieinen,  dass  sieb  der 
Verfasser  d:ibei  eine  nimrithiire  AntVabe  gestellt  hat;  zu  einem  vollständigen 
Siege,  das  wäre  die  Betrachtuug  jeder  einzelnen  Zahl  bis  100  als  Zahl- 
InfflTidnnnif  hat  es  ja  Grube's  HetMde  ohnehin  nieht  gebracht,  und  ün  Gebiete 
von  10  bis  20  lässt  ja  der  Verfasser  selbst  dieser  Methode  thats&chliche  An- 
erkennung widerfahren,  während  endlich  ihr  Wert  fUr  den  Zahlenkreis  unter 
10  immenin  als  eine  offene  FMge  au  betraditen  ist  —  Als  Ldirbdulf 


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empfiehlt  der  Verfasser  sein  Rechenbrett  o<ler  Quuilratnetz;  wir  ziehen  einem 
mit  Stiften  oder  farbigen  Punkten  veRjeheneu  Netze  die  russische  Kugelreehen- 
mascbine  wegen  ihrer  größeren  Bewegliehkcit  jedenfalls  vor.  So  Icäco  5vir 
«.  B.  die  Behauptung,  6  sei  leichter  ah  2  mal  3,  denn  als  3  mal  2  zu  erfassen, 
wir  meinen  aber,  dass  mit  Hilfe  der  Kugelrecheumaschiue,  wenn  man  2  Kugeln 
auf  je  3  Stäben,  oder  3  Kugeln  aitf  je  8  StibMi  abeondert,  beiie  Vocrtellvngen 
gleich  leicht  xu  erfassen  sind. 

Eine  Tiel  "wEnncre  Zustimmung  als  der  ersten  Abhandlung  rorniögeu  wir 
dir  zweiten  über  Rechenunterricht  und  Rechonbiicber  zu  widmen. 
Hier  schreibt  sich  der  Verfasser  das  Verdienst  zu,  die  Lehre  von  den  Vechält- 
niflsen  und  Proportionen  als  dner  der  ernten  ans  der  Volksschule  entfernt  zu 
haben,  ü-o.-^teht  jedorb  zu,  dass  dies  überhaupt  nur  in  eiuer  „fjewohnlii  ben" 
Schule  uiüglich  sei,  uud  eine  -hühere**  Schale  der  Proportionen  nicht  entrathen 
ItBinie,  womit  wir  durchaus  «mrerstandeii  sind.  Oenan  genommen  steht  aber 
die  eben  gemachte  AusfiÜining  des  Verfassers  mit  der  folgenden  im  ^Vider• 
Spruche,  in  welcher  er  nämlich  sagt,  dass  es  ja  keine  verschiedene  Ket-hen- 
kunde  Ar  niedere  und  hiAeve  Schalen  geben  kSnne,  sondern  dass  für  beide, 
wie  fiir  die  Kinder  übrrbaupt  nach  Goethe's  Wort  das  beste  nur  gut  Kcnuq;  i>T, 
Höeh'^t  wichtig  scheiut  auch  die  Erkenntnis:  „Nicht  darauf  ist  das  Haupt- 
gewicht zu  legen,  ob  die  Schale  ein-  oder  mehrclassig  sei,  sondern  duauf,  dass 
ein  tüchtiger,  treuer  Lehrer  an  ihr  wirke  unter  nicht  allzu  ungünstigen  Ver- 
hältnissen, was  Schulbeiäucb  der  Kiuder  und  Bilduuirs-  und  Vennögeui-  tand  der 
Eltern  betrifft."  Dies  stimmt  wol  mit  unserer  ott  wiederholten  Bemerkunfi^, 
dass  nicht  dat»  Lehrbuch,  sondern  der  Lehrer  das  be<lcutendste  Agens  der  Schule 
sei,  und  zwar  noch  viel  mehr  für  Volks-  als  für  hühere  Schulen. 

Wenn  der  Verfasser  endlich  hervorhebt,  dass  er  den  Erfolg  seiner  LehrbBehw 
hauptji&chlicb  dem  T'^mstande  zuschreibt,  dass  er  in  denselben  „Wissenschaft 
und  Leben  möglichst  gleichmäßig  berücksichtigt"  habe,  so  kann  mau  dieser 
Äußerung  nur  zustinunen  und  wünschen,  divss  die  didaktischen  Überzeugungen 
des  Verfassers  diehclbe  Verbreitung  tiiulen  mügen  wie  seine  Leiirbüeher.    H.  E. 
a.  Zaber,  MittelschalleUrer  in  Ludwigsborg,  Das  Öpeciesreclinen  und  der 
Brnehasts.  LehilHidi  so  ntioiiAller  Behandlnng  de«  BeehenimterrichtM  in 
den  Oberdassen  der  Volks-  und  lüttelBcholen.  Stattgart  1889,  Bonz.  Lehrer- 
Ausgabe.    lOß  S.    2  Mk.  40  Pf.    .Schiiler-Atisgabe.    52  S.    45  Pf. 

Der  Verfasser  ^eht  von  der  häufig  zu  machenden  Erfahrung  aus,  dass  Per- 
sonen,  welche  keine  Gewandtheit  im  Bedmen  besitzen,  sich  der  ZerflUlangs- 
ni-.thcde  Oller  welsiben  Praktik  bedienen;  das  heißt,  da  sie  die  Rechnung  in 
ihrer  Uesammtheit  nicht  zu  übersehen  TCnnOgen,  so  nehmen  sie  die  uothwea- 
digen  Operationen  im  einseinen  nnd  nacheinander  Tor.  Die  Auflösung  jeder 
Proiiortioii  besteht  in  der  Ausfühning  einer  Multipllcation  und  eimr  IMvision; 
die  Auleiuauderlblge  dieser  Rechnungsarten  kann  nach  Belieben  geändert 
werden  und  mnss  nothwendigerweise  f^ndert  werden,  wenn  man  nm  das  auf 
die  Eiuheit  Entfallende  fragt.  Diesen  Vorgang  belolirt  der  Verfasser  für  Auf- 
lösung der  Proportion  und  leitet  seineu  Uuierricht  sehr  zweckmäßig  durch 
einen  Abschnitt  über  den  „Zweisatz"  ein;  unter  Zwei.satz  wird  verstanden, 
diiss  eines  der  vier  (ilicder  der  Proportion  der  Einheit  gleich  sei,  wodurch  dann 
natürlich  die  Auflösung  derselben  nur  in  einer  Multiplicatiun  oder  nur  in  einer 
Division  besteht.  Der  zweite  Abschnitt  handelt  vom  Dreisatz,  welcher  bei 
gerade  proportionirtcn  rjrößen  zu  seiner  Durchführung  zuerst  eine  Pivision, 
sodann  eine  Multiplication  erfordert;  bei  verkehrt  proportionirtcn  (irößcn  geht 
die  Multiplicatiun  vorher  uud  die  Division  folgt.  Im  dritten  Abschnitt  werden 
verschiedene  Aufgaben  de-  tiiirgerlicben  Rechnens  hauptsächlich  nach  den  t^irund- 
sätzen  der  welschcu  Praktik  gelöst;  in  gleicher  Weise  wird  im  vierten  Ab- 
schnitt der  Vielsatz  behaaddt,  wobei  jedodi  der  Gang  der  Rechnung  —  wie 
es  kaum  anders  sein  kann  —  ein  schleppender  wird;  bündiger  und  daher  zweck- 
mäßiger zeigt  sich  im  fünften  und  sechsten  Abschnitt  die  Anwendung  der 
Grundsätze  der  welschen  Praktik  auf  die  Procent-  und  Zinsrechnung.  Im 
siebenten  Abschnitt  lässt  der  Verfasser  die  Aufgaben  des  zweiten  und  dritten 
Abschnittes  nach  der  Bruchsatzform  lösen,  was  tttr  die  Aufgaben  des  Vielsatzea 

6S» 


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—   748  — 


unbedingt  eiulaciier  i^t.  Der  achte  Abschnitt  endlich  enthält  Au^abeu  Uber 
Rftchen-  und  Vohnnsbaeehiraiig«!!. 

Außer  (lein  ^lüeklichen  Gedanken,  wolflur  den  Terfa.sper  bei  Entwerfimg 
und  Ablassung  des  ganzen  Buches  leitete,  finden  wir  in  demselben  noch  viele 
didaktinli  hOeInt  muidibtire  Whike,  m  »m  Bebpiel  die  Bemerirong,  dnai 

es  zweckmäßig  sei,  das  Ercrebnis  einer  schriftlich  zn  lösenden  Aufgabe  im  vor- 
hinein schätzen  zu  las.sen,  ferner  die  Angtibe  über  die  Aiizühl  von  Decimal» 
stellen,  welehe  je  nach  der  Sortenbeneunung  berechnet  werden  mttnen. 

Im  Lehrerhefte  findet  man  außer  den  didaktischon  Bemerkune-on  nnd  den 
Anleitungen  für  Lösung  der  Aufgaben,  deren  Anzahl  gewiss  tausend  übersteigt, 
auch  noch  die  Antworten.  Im  SchfUerhefte  Undet  man  nur  die  Daten  tir 
640  AutViiben,  so  daM  also  eine  grttoe  Anzahl  derselben  sich  mir  im  Lehrar- 
hefte  alKin  findet . 

Die  alltüiirliche  ESrfiAmng  von  der  Weise  dei  Itechnens  nageBbt«  Rechner 

konnte  jedermann  machen,  diese  Erfahning  aber  ilidaktisch  zu  verwerten,  ist 
ein  geuiahr  (ledunki',  welcher  nicht  nur  alle  Anerkennung  verdient,  sondern 
aueli  volle  B<'achtung  zum  Zwecke  der  Verw* nunt;  ;in  ullen  Volks-,  Bürger- 
und  Mittelschulen,  deren  Anforderangen  die  vorliegende  Sammlnng  vollständig 
genügt.  H.  E. 

Verd.  Heuer,  Beditnbiicli  für  mehrdassige  Sdinlen  nnd  für  1  bis  Sclassige 

Volksschulen.    1.  Theil:  Zahlengebiet  bis  10().    Bearbeitet  von  K.  H.  L. 

Magnus.  Seminarlehrer  in  Wunstorf.  Lehrerbeft,  Ausgabe  A  und  B.  199  S, 

Hannover  1890,  Karl  Meyer.   1  Mk.  60  Pf." 

Wir  hatten  in  diesen  BISttem  schon  biuflg  Gelegenheit,  die  Lebr>  tmd 
Übungsbileher  von  Heu«  r.  welch»  in  ihrer  Bearbeituntr  durch  Magnus  ihren 
guten  Huf  bewahrt,  wenn  nicht  verbessert  haben,  empfehlend  zu  besprechen. 
In  der  vorliegenden  Ausgabe  war  der  Verfiimer  gleiehnuls  bemtlbt,  das  in  der 
früheren  Bearbeituntr  überflüssig  Gewordene  auszuscheiden,  obwol  er,  von  d^r 
Überzeugung  ausgehend,  dass  nur  eine  große  Sicherheit  und  Schlagfertigkeit 
des  Becnnens  im  Zahlenkrell  bis  100  sv  einem  gedeihlichen  Arbeiten  anf 
höherer  Stufe  führen  könne,  nndi  einen  sehr  reichlichen  T'hiinrrsstofr  rrehoten 
hat.  l>ie  erste  Stufe  des  Rechnens  im  Zahlenkreise  bis  10  unila:^.it  54  Seiten, 
beinahe  ebenso  viel  die  Erweitening  des  Zahlenkreises  bis  20,  während 
die  zweite  Hälfte  des  Bnelies  d'u  ('hnnrren  im  Zahlenkreise  bis  100  ge- 
widmet ist.  Wir  stimmen  den\  Verfaaaier  vollkommen  bei  in  Bezug  auf  die 
Wichtigkeit  der  gründliehen  l>urcharbeitung  der  niederen  Zahlenkreise,  beson- 
ders jenes  bis  20:  wir  sind  überzeugt  von  der  Noth wendigkeit,  dem  Lehrer 
in  diesem  (iebiete  ein  rciebes  Übungsmaterial  zur  Verfütriin<r  /u  stellen.  Der 
Verfasser  lässt  es  nicht  fehlen  an  pädagogischen  Winken  iiWrr  Voriihnng,  Ver- 
ansehanlii  luinir,  Verknüpfung,  Einübung  und  Anwendung  de-  l.«'hrstoflfes  nebst 
mehrlachen  Winken  über  die  Verwendung  seiner  Kechonmaschine  und  seiner 
ÜhuuL^stafelu.  Die  Beatdnmg  swischcu  Lehrer-  und  .Sehülerheft  ist  durch 
üb«?reinstinimende  Numerimng  hergestellt.  Die  ansehnliche  Verbreitung  der 
Bechenbücher  von  Heuer-Magnus  ist  eine  wolbegrilndete,  und  können  wir  nicht 
nmbin,  das  liier  besprochene  bestens  an  empfehlen.  H.  B. 


Vwmntwoitl.  Kedaetenr  l>r.  Friedrieb  Ditte*.   Bneladnickerei  Julia«  Klinkhärdt^  Lcipcif. 

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Zorn  fiedScktnis  Adolf  Diesterwegs. 


Gesproebcn  auf  der  drittes  YoümwMiniilnng  dee  dentsdi^steReiefaieelieB 
LehTerbimdee  am  8.  August  1890  in  Saas. 
Fo»  J>r,  rrUOrieh  IHttesi 


seine  HanptTenamnilimg  hielt,  war  er  genOthigt,  gegen  einige  Männer 
SteUimg  zu  nehmen,  welche  mit  EntwflrfBD  zoin  ümBturz  nnserar  Schul- 
ordnung hervorgetreten  waren.  Nun  sind  sie  still  geworden,  diese 
Jttnner,  und  fiber  ihre  £ntwflr£s  wichst  Gras.  Das  Werk  hoeh- 
sinniger  Ideen  hat  sich  stftrker  gezeigt  als  das  Schanzzeug  egoisti- 
scher Interessen.  Alle  Ansdiläge  der  Thorhdt  nnd  Selbstsncht  anf 
das  Leben  der  Ödster  bergen  in  sich  den  Keim  der  SeLbstzerstOrnng, 
nnd  wer  ihnen  nacigagt,  der  reitet  zum  Tode.  Bascher  als  er  ge- 
dacht, ist  seine  TJhr  abgelaufen,  nnd  bald  gleitet  sein  Name  hhiab  in 
jenes  stamme  Schattenreich,  dessen  Eingangsthor  die  Inschrift  trftgt: 
„Versunken  und  yergessenl*' 

Heute,  geehrte  Versammlung,  wollen  Sie  vor  allem  einen  Mann 
feiern,  welcher  zum  Aufbau  der  modernen  Volksschule  meisterhafte 
Pläne  entworfen  und  vorzügliches  Material  geliefert  hat.  Eüi  Jahr- 
hundert ist  verflossen,  seit  Adolf  Diesterweg  ins  Dasein  trat,  fast 
ein  Vierteljahrhundert,  seit  er  von  hinnen  schied;  aber  sein  Geist 
lebt  fort  in  voller  Kraft,  seine  Ideen  beleuchten  nach  wie  vor  die  Bahnen 
der  Volkserziehung,  und  sein  Vorbild  wirkt  wie  ehedem  stärkend  und 
erhebend  auf  jedes  treue  Lehrerherz.  Noch  ans  seinem  Grabe  erschallt 
seine  berathende  und  ermuthigende  Stimme  durch  alle  Lande,  soweit  die 
deutsche  Zunge  klingt,  insbesondere  auch  durch  die  deutschen  Gaue  Öster- 
reichs, wo  sie  den  Lehreni  und  Freunden  der  Schule  zuruft:  Schart 
euch  in  festgeschlossenen  Reihen  um  euer  rechtmäßif^ps  und  rulirn- 
würdiges  Baiiner  mit  dem  glänzenden  Datum  vom  14.  Mai  18(39,  um 
(las  Banner,  in  dessen  sinnvollen  Denksprüchen  ihr  die  Schrift züge 
unvergesslirlipr  Patrioten  erkennt,  um  das  Banner,  welclies  einer  der 
grüßten  Herrscher  dieses  alten  Heiches  mit  eigener  Hand  aufgerichtet 

Fadacofinm.  U.  Jahrg.  Haft  XII.  64 


der  deutsch-Osterreidiisdie  Lehrerbund  vor  zwei  Jahren  in  Gra/. 


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—  750  — 


hat  ,  um  seine  Völker  einer  höheren  Stufe  der  Cultur  und  Ehre  ent- 
gegenzuführen. So  redet  lieute  der  Geist  Diesterwegs  zu  uns,  damit 
wir  niclit  weichen  nocli  wanken,  wenn  die  Feinde  unserer  Schule 
immer  neue  Anläufe  machen,  um  sie  zu  erschüttern,  zu  schmähen,  zu 
unt^  r^ralien.  zu  stürzen.  Und  so  steht  Adolf  Diesterweg  in  unserem 
Kreise  als  starker  und  wandelloser  Mitkämpfer  für  die  Bildung.  Ge- 
sittung und  Wolfahrt  des  Volkes.  Wer  solchen  Zielen  sein  Leben 
gewidmet  hat,  um  den  Besten  seiner  Zeit  geuugzuthun,  der  bleibt 
auch  unvergessen  im  Gedächtnis  der  Nachwelt  „Nenut  man  die  besten 
Namen,  wiid  seiner  auch  genannt." 

Aber,  geehrte  Versammlung,  wollen  Sie  es  noch  wagen,  den 
Namen  Diesterweg  mit  Achtung  zu  nennen?   Man  missgönnt  es  den 
Lehrern,  wenn  sie  sich  an  der  leuchtenden  Gestalt  ihres  grofien  Vor- 
gängers erfkreoiB  wnA  aoMehten;  man  zflrnt  flmeii,  xrenn  de  ihrem 
WohHhftter  efai  Wort  des  Dankes  in  die  Ewigkeit  nachmfen;  man 
flocht  ihnen,  wenn  sie  pietätvoll  sein  grofies  Verdienst  anerkennen 
nnd  für  die  kommenden  Geschlechter  frnchtbar  machen  wollen.  In 
demselben  Lager,  ans  welchem  die  gehässigsten  Angriffe  anf  unsere 
VolksBchnle  hervorgehen,  herrscht  auch  die  bitterste  Feindschaft  gegen 
Diesterweg  nnd  seine  Freunde.  Das  fiekenntnis  macht  da  keinen  ünter^ 
schied:  es  gibt  Fanatiker,  welche  sich  katholisch  nennen,  nnd  Fana- 
tiker, welche  sich  evangelisch  nennen;  aber  es  sind  nnr  Spielarten 
des  gleichen  Typus.   Auch  halten  sie  in  allen  entscheidenden  Mo- 
menten fest  zusammen,  verbunden  durch  gleiche  Zwecke  und  gleiche 
Mittel  Wo  sich  ein  Funke  von  Geistesfreiheit  zeigt,  da  erseheinen 
sie  zuhanf,  um  ihn  zu  ei'sticken.  Ihr  Cultorideal  ist  ein  unwissendes 
und  unmündiges,  blindgläubiges  nnd  unterwürfiges  Volk,  das  sie  beliebig 
gingein  und  commandiren,  ausbeuten  und  missbrauchen  können.  Eigen» 
nutz  und  Herrschsucht  sind  ihre  stärksten  Triebfedern,  Heuchelei,  Lüge, 
Verleumdung  ihre  beliebtesten  Werkzeuge.   Und  diese  Waffen  haben 
sie  denn  auch  an  Diestcrwpof  tausendfach  erprobt.   Sie  nennen  ihn 
einen  Feind  der  Kirche,  des  Christenthnms,  der  Religion;  einen  Ver« 
führer  der  Lehrer  zum  Unglauben,  zur  UnzufHedenheit,  zum  Dün- 
kel und  Hochiiiiif  Ii :  d(^n  geistigen  Urheber  der  fluchwürdigen  Neuschule, 
wo  die  Jugend  zur  Gottlosigkeit  und  Zuclitlosigkeit,  zu  Sünden  und 
Verbrechen,  zur  Vfrachtung  von  Gesetz  und  Ordnung,  ja  zum  Nihi- 
lismus und  Anarchismus,  zum  Umsturz  der  Altäre  und  Throne  an- 
geleitet wird.    Und  natürlich  müssen  dann  alle,  welche  für  den  auf 
diese  Weise  verlästerten  und  vei  tVliniten  Mann  das  Zeugnis  der  Wahr- 
heit ablegen,  iu  gleicher  Yerdammuis  sein.   Sie  mögen  tausendmal 


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—   751  — 


protestiren  gegen  böswillige  Filttshimg,  sie  mOgen  das  entstellte  Bfld 
des  groften  P&dagogen  immer  anüB  neae  ans  seinem  Leben  und  seinen 
Werken  berichtigen  und  aatnigetieii  vorf&hren,  es  hilft  alles  nichts: 

der  Mann  hat  dem  Lichte,  der  Wahrheit,  dem  Rechte»  der  Geistes- 
freiheit gedient,  er  hat  der  Unwissenheit,  Verdammung  und  Irre- 
fühiung  des  Volkes  entgegengewirkt,  und  somit  ist  er  dem  Bann  ver- 
fallen und  für  vogelfrei  erklärt.  Das  ist  der  arglistige  Frevel,  wel- 
chen eine  kleine  aber  mächtige  Eotte  verwegener  Schurken  an  den 
Manen  eines  der  bebten  deutsclien  Männer  Terfibt,  und  leider  veiüben 
kann,  weU  die  große  Menge  der  Gebildeten  wie  der  Ungebildeten  da^* 
bei  ebenso  gleich giltig  und  müßig  bleibt,  wie  vor  fast  2000  Jahren, 
als  von  einer  gleichen  Rotte  daa  Licht  der  Welt  ans  Kreoi  geschhigen 
•wurde. 

Wenn  man  solclies  erlebt,  geehrte  Damen  und  Herren,  wenn  man 
es  erlebt  gegen  Ende  des  19.  Jahrhunderts,  wenn  man  es  erlebt  auf 
deutscher  Erde:  dann  möchte  mau  verstummen  in  tlelster  Seelenqoal 
und  an  der  Menschheit  verzweifeln. 

Doeli  da  gilt  kein  mutliloses  Zagen  und  Klagen,  soudeni  nur  un- 
beugsame Entschlossenlieit  und  Thatkraft.  Wir  feiern  die  Gedenktage 
bedeutender  Männer  nicht,  um  uns  in  eitler  Selbstbespiegelung  vorzu- 
lügen, wir  hätten  alles  erreicht  und  geleistet,  was  diese  angestrebt 
und  gefordert,  aber  auch  nicht,  um  uns  in  trostloser  Resignation  vor 
Hindernissen  und  falschen  Menschen  zu  beugen.  Wir  feiern  sie  nicht, 
um  uns  in  diese  oder  jene  Stimmung  zu  versetzen  und  in  derselben 
leidend  zu  verhan-en,  sondern  um  Weisungen  und  Antriebe  für  unser 
Wirken  zu  empfangen.  So  will  es  Diesterweg  selber,  wenn  er  spricht: 
„Wir  ehren  unsere  großen  Todten,  um  den  Lebenden  zu  nützen.  Man 
erweiset  seinen  Dank  gegen  die  Todten,  wenn  man  ihre  Lebenszwecke 
fördert,  wenn  man  fortsetzt,  was  sie  begonnen,  wenn  man  ausführt, 
was  sie  gewollt  haben.' 

Aber  ist  es  denn  mit  den  Qrondsätsen  der  Moral  yereinbar,  dass  wir 
fortsetzen,  was  Diesterweg  begonnen,  ansfUiren',  was  er  gewollt?  Oder 
haben  seine  Feinde  recht,  welche  ihm  jede  wahre  Sittlichkeit  ab- 
sprechen und  der  Welt  vorspiegeln ,  sein  Elrziehmigssystem^  verderbe 
die  Jugend  und  untergrabe  die  ethischen  Fundamente  der  Gesellschaft? 

Geehrte  Versammlung!  Ich  möchte  mich  heute  kurz  ftssen,  weil 
Sie  in  einer  einzigen  Sitzung  eine  umfimgreiche  und  wichtige  Tages- 
ordnung zu  erledigen  haben,  Ihre  Zeit  also  sehr  knapp  bemessen  ist 
Gestatten  Sie  mir  daher,  mich  bezüglich  des  Gesammtcharakters  der 
Diesterwegschen  Pfidagogik  auf  Jenen  Vortrag  zu  berufen,  wekhen  ich 

64» 

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—   762  — 


am  27.  Mal  d.  J.  ror  Ihren  GoUegen  im  DeutBchen  Beidie  zn  halten 
die  Ehre  hatte.  Er  dürfte  keinem  von  Ihnen  unbekannt  geblieben 
sein,  und  daher  kann  ich  mich  heute  auf  einige  Ergftmningen  be- 
schränken, welche  zunächst  nnd  Torzugsweise  der  soeben  erwähnten 
Anschnldigong  begegnen  ni<igen,  womit  ich  ja  anch  dem  Grondznge 
Ihrer  wateren  Tagesordnung  entsprechen  werde. 

War  die  alte  Schule  besser,  war  sie  insbesondere  tugendhafter 
als  die  neue?  —  Wer  in  der  Geschichte  der  Erziehung  und  des  Unter- 
richtes bewandert  und  zugleich  ein  Freund  der  Wahrheit  ist,  der 
kann  nur  antworten:  Nein,  im  Gegentheil,  die  alte  Schule  ist  eben 
deswegen  abgescbalft  und  durch  die  neue  ersetzt  worden,  weil  sie 
nicht  nur  in  intellectueller,  sondern  auch  in  moralischer  Hinsicht  ein 
höchst  mangelliaftes  Institut  war.  Die  älteren  Angehörigen  der  gegen- 
w4irtigen  Generation  wissen  dies  noch  aus  eigener  Erfahrung,  aus 
ihren  Jugenderinuerungen;  die  jüngeren  vernehmen  es  aus  dem  3[unde 
ihrer  Eltern  und  Großeltern  und  erkennen  es  an  den  Früchten  der 
alten  Erziehungsweise,  welche  noch  heute  genieinscliädlich  fortwirken. 
In  der  That:  würden  die  schweren  Gebrechen  des  socialen  Lebens  der 
Gegenwart  noch  bestehen  in  ihrer  bedi'ohlichen  Ausdehnung,  würde 
es  noch  so  viel  Armut,  Palend  und  sittliche  Verkommenheit  geben, 
würden  die  redlichsten  Bemühungen  zur  Herbeiführung  besserer  Zu- 
stände noch  mit  so  mächtigen  Hindernissen  zu  kämpfen  haben,  würden 
wir  noch  eine  so  große  Anzahl  von  Polizei-  und  Sicherheitsorganen, 
von  Gerichtshöfen  und  Strafanstalten  bedfirfen,  würden  noch  so  breite 
Schichten  der  G^ellschaft  sich  von  listigen  Volksverführern  betrügen 
lassen  nnd  gegen  Ihr  eigenes  Wol  den  Feinden  des  Foitacbrittes 
Frohndienste  leisten,  würde  die  Unvernunft  noch  so  oft  in  der  Mi^orität^ 
die  Yemnnft  in  der  Hinoritftt  sein,  wflrden  die  politiadien  Listitn- 
tionen  der  Neuzeit,  das  Vereins-  und  Versammlungsrecht,  die  Press- 
freiheit, die  Autonomie  der  bOrgerlichen  Verbftnde  noch  so  Tielen  Miss- 
br&ncben  und  Fftlschungen  unterliegen,  würde  die  Lfige  die  erste 
Oroflmacht  unserer  Ts^  sein  und  überall,  im  Bedeutsamen  wie  im 
Oeringen,  so  viele  Erfolge  zu  verzeichnen  haben,  würden  die  hta- 
lichen Umtriebe  dee  Parteilebens,  die  rohen  Ausbrüche  mittelalter- 
licher Verfolgungssucht  und  so  viele  andere  beklagenswerte  Erschei- 
nungen heute  noch  mOgUch  sein,  wenn  die  alte  Schule  ein  geistig 
und  sittlich  tüchtigeres  Geschlecht  erzogen  hfttte?  —  Wer,  geehrte 
Versammlung,  diese  Fragen  mit  gründlichem  Ernste  orwigt,  der  muss 
begreifen,  welch  ruchloses  Attentat  an  der  Menschheit  geplant  wird, 
wenn  man  die  sogenannte  gute  alte  Zeit  wiederherstellen  und  zu 


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diesem  Behufe  die  (rrundscliule  einer  neuen  Culturperiode  vernichten 
will.  Kaum  auf  eigenen  Füßen  stehend,  wird  dieses  Schmerzenskind 
von  einer  heizlusen  Meute  umlauert,  deren  Denken  und  Trachten  also 
lautet;  Es  steckt  ein  Kiese  in  diesem  Kindleiji,  kommt,  la.sst  es  uns 
erwürgen,  ehe  es  ^oß  wird.  Sie  haben  ihm  ja  schon  so  oft  die 
Lebensluft  verkümmert  und  das  Herz  zug:eschnürt,  dass  seine  Athem- 
züge  und  Pulsscldäge  kaum  noch  zu  spüren  waren.  Der  Geist,  wel- 
chen die  giüüen  Pädagogen  der  Vergangenheit  in  seinen  Keim  ge- 
haucht hatten,  jene  Volksfreunde  und  Volksbildner,  zu  denen  der 
Österreicher  mit  gerechtem  Stolze  auch  die  Comenius,  Felbiger,  Kinder- 
mann, Milde  und  manch  anderen  Wackeren  zählt,  indem  er  zugleich 
mit  patriotischer  Begeistemng  emporblickt  zu  dem  stitüilenden  Doppel- 
gestirn  Maria  Theresia  und  Josef  n.  ^  diesen  Geist  edler  Uensch- 
liebkeit  hatten  seine  geschworenen  Fdnde  immer  wieder  zn  dimpfim 
Teimoeht,  weil  er  noch  keinen  gescUoflseaen  und  yon  dem  Bewnsst- 
sein  seiner  hohen  Ani^he  erfOllten  Stand  hemfener  Pfleger  geftmden 
hatte.  Erst  seit  das  Lebenswerk  des  unsterblichen  Pestalozzi  in 
Adolf  Diesterweg  einen  ebenso  Terst&idnisyollen  wie  praktischen  Ans- 
leger  nnd  einen  nnerschatteriichen  Yertheidiger  ftnd,  erst  seitdem  ist 
es  gelungen,  die  Idee  der  echten  Volksschule  endgiltig  zn  begründen 
und  ihr  in  einem  seine  Zeit  begreifenden  Lehrerstande  eine  zielbewnsste 
Pnrchf&hmng  zu  sichern.  Erst  seitdem  ist  die  Volksschule,  Tormals 
—  von  rOhmlichen  Ausnahmen  abgesehen  —  ehie  blofte  Lern-  und  Drill- 
«nstalt,  zu  einer  Stätte  der  Bildung  und  Erziehung  geworden:  erst 
seitdem  erhebt  sie  sich  ttber  die  mechanische  Beibringung  der  noth- 
dürfügsten  Fertigkeiten,  Uber  das  stumpfsinnige  Auswendiglernen  und 
Hersagen  unverstandener  Glaubensformeln  nnd  die  zwangsweise  Ab- 
rieb tung  zu  gedankenlosen  Gebräuchen  und  fiußerem  Werkdienste;  er^ 
hebt  sie  sich  zum  Ideal  ilirer  ahnungsvollen  Seher  und  Bahnbrecher, 
um  den  Schein  durch  das  Wesen,  todte  Worte  durch  lebendige  Ge- 
danken zu  ersetzen,  durch  fruchtbare  Stoffe  und  geistweckende  Me- 
thoden Verstand,  (iemüth  und  Willen  gleichmäßig  und  harmonisch  zu 
entfalten.  Die  Pestalozzi  -  Diesterwegsche  Schule  ist  die  Schule  des 
erziehenden  Unterrichtes  und  der  auf  humaner  Gesinnung  und  sitt- 
licher Strenj^e  beruhenden  Disciplin.  Sie  ist  auch  die  Schule  echt 
nationaler  und  patriotischer  Gesinnuug,  weil  ihre  ethischen  und  metho- 
dischen Grundsätze  nur  im  engsten  Anschluss  an  die  Cultur  und  die 
Lebensl)edinf,nin<j:en  des  eigenen  Volkes,  an  die  gesammten  Verhältnisse^ 
Interessen,  bürgerlichen  Ordnungen  und  Verbände  der  engeren  und 
weiteren  Heimat  durchgeführt  werden  können.   Und  so  gilt  für  die 


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—  754  — 


moderne  Volksschule,  deren  gnißter  Werkmeister  Diesterweg  war, 
ilurem  ganzen  Wesen  nach  der  Spruch  des  Dicliters: 

„Ans  Vftterland,  ans  theure,  schließ  di(?h  an, 
Daa  halte  feüt  mit  üeioeiu  giinzen  Uorzen, 
Hier  irfod  die  ■tarken  Wuneln  deiner  Kralk." 

Man  mfisste  tagelang  sprechen,  wenn  man  dies  alles  aas  dem 
langjährigen  Wirken  nnd  aus  den  saUrolelieii  SehrifUa  Diesterweg» 
im  i^Mrf«^  naehireiseii  w<dlte.  Ich  nrass  mich  hier  anf  Aafthrang 
einiger  Kemsprfiche  ans  seinen  Werken  beschrftnken,  nm  den  sittlichem 
Geist  seiner  Scholendehnng  za  kennzeiehnen. 

„Die  sittliche  Erziehnng",  sagt  Diesterweg,  »ist  ftherall  die  ewig 
nnddie  einsig  wahre,  also  anch  die  stets  nnd  ftherall  enltorgernftBe.  Di» 
i^ahre  Cnltor  der  G^egenwart  in  sittlicher  Beziehnng  verlangt  TORngs^ 
weise:  Aasbüdong  des  sittlichen  Bewnsstseins,  klare  Erk«nitnis  der 
Pflichten  nnd  Rechte,  Entwickelnng  minnlicher  Kraft,  unbedingte 
Wahrheitsliebe  nnd  oftoen  Geradsinn.*'  —  Ein  rechtschaffener  nnd  kraft- 
ToUer  Charakter  entsteht  aber  nnr  unter  der  strengen  Antoritftt  von 
Gesets  nnd  Ordnung.  Dies  hat  niemand  klarer  erkannt  nnd  nadi- 
drficklicher  aasgesprochen  als  Diesterweg.  „Ohne  Gehorssm  gegen 
die  Gesetze",  sagt  er,  „ohne  Bespect  and  Achtung  der  Gesetze  kann 
kein  Staat  bestehen.  Der  Gehorsam  gegen  die  Gesetze  mnss  veiv 
banden  sein  mit  Bespect  und  Achtang  gegen  die  Personen,  welche 
die  Gesetze  geben  und  in  Vollzog  setzen  ....  Wenn  des  Kind 
den  Eltern  und  Lehrern  zu  gehorchen  gewöhnt  ist,  so  gehorcht 
es  späterhin  auch  willig  den  Gresetzen  des  Staates,  den  Gesetzen 
seiner  eisrenen  Vernunft,  den  Gesetzen  Gottes.  Aber  ein  den  Ge- 
boten der  Eltern  und  Lehrer  hohnsprechendes  oder  sie  umgehendes 
Kind  umgeht  später  auch  dorch  List  und  Trug  die  bürgerlichen,  durch 
Sophismen  die  göttlichen  nnd  menschlichen  Gesetze.  Ich  wollte,  dass 
ich  wie  Demosthenes  sprechen  könnte,  um  alle  SchulvorstÄnde  und 
Lehrer  von  der  unbedingten  Nothwendigkeit  der  strengen  Zucht  und 
von  der  absoluten  Verderblichkeit  der  Zochtlosigkeit  in  den  Schalen 
za  überzeugen!" 

So  Diesterweg.  Geehrte  Versammlung::  lieißt  das  die  Jugend 
verderben  und  die  ethisclieii  Fundamente  der  Gesellschaft  untergraben? 
Ist  das  die  Anleitung  zu  Sünden  und  Verbrechen,  zur  Verachtung  von 
Gesetz  und  Ordnung,  zum  Nihilismus  und  Anarchismus,  zum  Umsturz 
der  Altäre  und  Throne?  Ich  halte  dafiir,  wir  würden  uns  an  dem 
makellosen  Charakterbilde  Die.sterwegs  versündigen  und  die  Würde 
einer  Versammlung  deutscher  Lehrer  verletzen,  wenn  wir  diesen  Läste- 


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—   756  — 


nmgeB  ehrloser  Buben  noeh  ein  Wort  der  Polemik  widmen  wollten. 
Fragen  wir  lieber,  warum  denn  Diesterweg  den  größten  Nach- 
drack  auf  die  sittliche  Erziehung  legte,  wumm  er  in  seiner  persön- 
lichen Berufsth&tigkeit  mit  unbeugsamer  Strenge  aaf  Zucht  und  Ord- 
nung hielt  und  in  seinen  Schriften  diese  Praxis  so  oft  und  eindring- 
lich empfahl.   Ich  antworte:  weil  er  ein  i>eund  edler  Freiheit  war. 
In  dem  Ideenkreise  eines  ganzen  Mannes,  wie  Diesterweg  einer  war, 
sind  alle  Grundlagen  mit  einander  aufs  engste  verbunden,  sie  bedingen 
und  stützen  sich  gegenseitijr.    Es  ist  daher  ein  gedankenschwaches 
oder  charakterloses  Unterfangen,  einige  Principien  Diesterwegs  zu  bil- 
ligen, andere  zu  verwerfen,  etwa  für  die  Abschaffung  der  geistlichen 
Schulinspection  zu  stimmen,  daneben  aber  für  Beibehaltung  der  con- 
fessionellen  Schulvertassuiig  einzustehen.   Das  ist  ungefähr  so  logisch, 
wie  wenii  man  die  Vorrechte  des  Adels  beseitigen,  das  Feudalsystem 
aber  aufrecht  erhalten  wollte.    Ähnlich  hier.    Volksfreiheit  und  Ver- 
wahrlosung der  Jugend  sind  nicht  vereinbar.  Wer  ein  liberales  Staats- 
system will,  der  muss  auch  das  ihm  entsprechende  Erziehungssystem 
wollen,  das  System,  welches  auf  Heranbildung  eines  intellectuell  mün- 
digen und  sittlich  charaktenollen  Geschlechtes  gerichtet  ist;  er  kann 
also  weder  einen  geistlosen  Unterricht,  noch  eine  schwankende,  zwei- 
deutige, schlatTe,  libertinistische  Moral  dulden.  Je  liberaler  die  Staats- 
verfassung ist,  desto  gediegener  und  strenger  muss  die  Erziehung  sein, 
und  umgekehrt:  je  gediegener  und  strenger  die  Erziehung  ist,  desto 
liberaler  kann  die  Staatsverfassung  sein.   Der  Weg  zur  Freiheit  der 
Völker  geht  durch  Anstrengung,  Arbeit,  Selbstbeherrschung,  Bildung, 
Oeliomm,  GeBetdichkeit,  Sittlichkeit  £r  ist  lang  und  beschwerUeh, 
nur  durch  die  Kraft  ttberwindbar,  welche  dem  Heneehen  das  Gefilhl 
seiner  Wfirde  nnd  höheren  BeBtiauniing  Yerkifat;  dämm  scheut  ihn  die 
große  Menge,  welche  gemächlich  ihrer  Bequemlichkeit  nnd  ihren  thie* 
risehen  Trieben  frOhneo  will  Wie  die  Sage  berichtet,  konnte  Moses 
sein  in  der  Knechtschaft  verdorbenes  Volk  erst  nach  yierzigjähiiger 
Wandemng  durch  die  Wttste  unter  strenger  Zucht  an  die  Groize  des 
gelobten  Landes  fthren;  und  nach  alltäglicher  Wahrnehmung  gibt  es 
noch  heute  große  Menschenmassen,  welche  durch  das  alte  Staats-  und 
BUdungssystem  alles  höheren  Aufechwunges  und  aller  nadihaltigen 
Kraft  dermaßen  Terlnstig  gegangen  sbd,  dass  all  ihre  staatsbttrger- 
lidien  Anliegen  ungefthr  in  folgenden  Worten  ausklingen:  Gebt  uns 
nur  die  Ägyptischen  FleischtOpfe,  gern  wollen  wir  uns  dann  die  ägyp- 
tische Finsteniis,  die  ägyptische  Knechtschaft  und  die  Igyptischen 
Prügel  gefUlen  lassen.  Weil  nun  mit  derartigen  Leuten  niemsJs  ein 


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—   766  — 


freier  Staat  gegründet  werden  kann,  so  sind  alle  diejenigen,  welche 
keinen  freien  Staat  wollen,  eifrig  darauf  bedacht,  dieses  imbrauch- 
bare Material  zu  conservireu,  dagegen  mit  allen  Mitteln  zu  verhindern, 
dass  eine  geistig  und  sittlich  gehobene,  also  der  Freiheit  fähige  und 
würdige  Generation  heranwachse.  Daher  denn  auch  ihr  grimmiger 
Hass  gegen  Diesterweg  und  gegen  jedeimann,  der  einer  gi'ündlichen 
Entwickelung  der  im  Volke  schlummernden  Keime  edler  Menschlich- 
keit das  Wort  redet.  Die  Ziele  des  geistlichen  und  weltlichen  Ab- 
solutismus sind  eben  ganz  andere,  und  demgemäß  ist  auch  seine  Me- 
thode eine  ganz  andere:  an  die  Stelle  der  objectiven,  unparteiischen, 
genieingiltigen  und  unverbrüchlichen  Gebote  der  Moral  setzt  er  die  sub- 
jective  Willkür  und  Laune,  die  bald  als  hochfahrender  Zorn  und  Despo- 
tismus, bald  als  herablassende  Gunst  und  Gnade,  bald  als  tyrannische 
Härte,  bald  als  deraoi-alisirende  Laxheit  auftritt,  immer  aber  die  knech- 
tische Unterwürligkeil  gegen  Personen  statt  des  freien  Gehorsams  gegen 
die  bürgerliche  Ordnung  und  das  Sittengesetz  zum  Endzwecke  hat  Der 
Unterschied  ist  ein  durchgreifender.  Das  eine  Erziehungs-  und  Staats- 
system verachtet  die  Menschheit  und  will  die  Niederhaltimg  und  Aus^ 
bentung  der  großen  Mehrheit  durch  eine  Uoiiie  Minderiieit;  das  andere 
ehrt  in  jedem  Wesen,  das  MenaehflnanUftg  trftgt»  die  persönliche  WQrde, 
das  Ebenbild  Gottes,  und  eAennt  in  der  Endehnng  zar  sittlichen 
SelbstbeBtimmnng  die  Grundbedingung  der  gemeinsamen  OffentUehen 
Wolfiidirt  und  aller  Segnungen  der  Gnltor.  Wir  fblgen  mit  Diester- 
weg der  zweiten  Bichtong  nnd  yerstehen  daher  seinen  entschlossenen 
Aussprach:  „Ich  kam  nur  wünschen,  mit  dem  Fluch  der  Menschen- 
feinde beladen  in  die  Grube  zu  fahren." 

Wer  nun,  geehrte  Versammlung,  diese  Grundansdiauungen  Diester- 
wegs  kennt,  wer  da  weiß,  welch  hohe  Auil^abe  er  der  Yolkssefanle 
nnd  ihren  Lehrern  stellt,  der  begreift  auch  leicht,  warum  ihm  seine 
Feinde  Sdiuld  geben,  er  habe  die  Lehrer  zum  Hochmuth,  zu  eitler 
Selbstttberhebung  verfuhrt.  Die  Wahrheit  ist,  dass  er  sie  mit  dem 
Bewusstsein  der  Wichtigkeit  und  Heiligkeit  ihres  Berufes  erfüllt  hat, 
und  so  ist  es  recht  Denn  dieses  Bewnsstsein  ist  unentbehrlich,  wenn 
der  Lehrer  immer  aufs  neue  mit  Demuth  erkennen  soll,  dass  er  in 
seiner  menschlichen  Schwachheit  noch  lange  nicht  hinanreicbt  zur 
Größe  seiner  Pflicht,  und  dass  er  unablässig  an  seiner  Selbstvervoll- 
kommnung  zu  arbeiten  hat;  wenn  er  aber  auch  die  Kraft  gewinnen 
soll,  trotz  aller  MOhen  und  Entbehrungen,  trotz  des  Hohnes  nnd 
Spottes  böser  Zeitgenossen  unerschütterlich  auszuharren  in  der  Hoff- 
nung auf  eine  bessere  and  gerechtere  Zukunft  und  in  der  Treue,  die 


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—   757  — 


er  seinem  Dienste  geschworen.  Hören  wir  aoeh  hier  Diestervegs 
eigene  Worte:  ^Die  Schnle  ist  Ton  nnermessharem  Einfluss  auf  Ge- 
sittung und  Bildung  der  Einzelnen  und  der  Völker.  Ihr  Ansehen 
faeht  sich  mit  dem  Fortschritt  der  Humanität.  Je  mehr  man  diese 
will  und  hat,  desto  höher  schätzt  man  die  Schule  ....  Will  man  die 
ganze  Wichtigkeit  des  Lehramtes  beg^i-eifen,  so  denke  man  sich  einmal 
sämmtliche  Volksschulen  eines  Landes  geschlossen  und  die  Jugend 
ohne  Unterricht  aufwachsen.  Eine  völlige  Barbarei  würde  über  uns 
hereinbrechen.  Sind  die  höheren  Schulen  nnd  Universitäten  die  Träger 
der  liöchsten  Cultiir,  so  legen  die  Volksschulen  zu  dieser  Cultur  den 
Grund.  Die  Volksschule  ist  das  unentbehrlicliste,  weil  fundamentalste 
Glied  in  dem  Organismus  der  öffentlichen  P^rziehung/" 

Darum  und  aus  keinem  anderen  Grunde  suchte  Diesterweg-  das 
Standesgefühl  der  Lehrer  zu  heben  und  ei  wies  er  jedem  von  ihnen, 
der  seine  Pflicht  redlich  erfüllte,  aufrichtige  Hochachtung.  ,.Wer  nach 
den  Zeugnissen  der  Mitwelt",  sagt  Diesterweg,  ,.sein  Schulamt  mit 
Treue  verwaltet  hat,  der  ist,  als  thätiger  Theilnehmer  an  der  Ent- 
wickelung  seiner  Zeit  zu  einer  höheren  Stufe  der  Vollendung,  ein 
würdiges  Glied  der  menschlichen  Gesellschaft  gewesen  und  hat  nicht 
umsonst  gelebt  ....  Ich  flehe  zu  Gutt,  dass  er  den  Lehrern  den 
Glauben  an  die  Heiligkeit  ihres  Berufes  erhalten  möge." 

Sie,  geehrte  Versammlung,  werden  ohne  mein  Zuthun  diesen  treff- 
lichen Worten  die  sinngemäße  Deutung  zu  geben  wissen.  Wer  aber 
meint,  so  hohe  Ideale  dflrfe  man  den  „halbgebildeten*'  Elementar- 
lehrem  nicht  vorhalten,  der  möge  nur  wacker  eintreten  fQr  eine  ganze 
und  grOndÜeliare  Durchblldnng^  deraelbeD.  Damit  hingegen,  dass  man 
einen  Stand  niederbält,  um  ihn  dann  zn  veriiOluien,  gibt  man  seinem 
Selbstgefühl  niebt  das  rechte  MaB  nnd  die  rechte  Ricbtnng.  Yerargen 
mOge  man  es  doch  keinem  Manne,  der  die  MenschenwOrde  im  Kinde 
achten  und  pflegen  soll,  wenn  er  auch  in  sich  selber  diese  Wflrde 
fttUt  nnd  anerkannt  wissen  will.  Der  Lehrer  im  Sinn  und  Gdste 
Diesterwegs  ftgt  sich  bescheiden  in  die  Schranken  seiner  Wiiksam- 
keity  aber  er  besteht  anch  mit  mftnnlicher  Entscbiedenheit  anf  seinem 
guten  Becfate.  Er  wa6,  was  er  seinem  Dienste,  seinen  Vorgesetzten, 
der  bOiigerlichen  Ordnung,  den  Qewobnbeiten  nnd  selbst  den  Vor- 
nrtheOen  seiner  Umgebung  schuldig  ist;  aber  er  weift  auch,  was  er 
sich  selbst,  seinem  Gewissen,  seinen  Überzeugungen,  seiner  Standes- 
ehre  schuldig  ist  Darum  wird  er  es  auch  nicht  dulden,  dass  man 
das  Andenken  eines  seiner  ehrlichsten  und  hingebungsvollsten  Freunde, 
eines  der  verdientesten  Vertreter  seines  Berufes  in  den  Staub  ziehe 


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—   7Ö8  — 


und  moralisch  vernichte.    Diesterweg  hätte  es  nicht  nöthig  gehabt,  der 
•   scheinbar  geringen  Sache  des  Volksschulwesens  sein  Leben  zu  widmen; 
kaum  dem  Jünglingsalter  entwachsen,  fand  er  an  einer  lateinischen 
Schule  eine  ehrenvolle  Stellung,  und  leicht  hätte  er  auf  den  Kathe- 
dern der  Gelehrsamkeit  Lorbeeren  ptlücken  können,  wenn  ihn  nicht 
sein  tiefer  Blick  und  sein  edles  Herz  zur  Arbeit  am  Fundamentalbau 
des  Bildungswerkes  gerufen  hätte.  £r  zog  es  vor,  wie  er  selbst  sagt, 
Jn  den  niedrigen  Dienst  der  Volksschule  zu  treten",  ein  Entschluss, 
▼eksher  flachen  Köpfen  als  AiiM«fa»ji^  nnbedairtender  Balähigung  er- 
acheineB  mag,  in  der  That  aber  dem  Geiste  und  Chatakter  Diester- 
wegs  zu  gleicher  Ehre  gereicht  Die  YolksschnUehrer  werden  ihm 
dies  nie  vergessen.  Ihm  gebfirt  ein  Gx^theil  ihres  .Dankes  fllr  die 
Hebung  ihrer  Bfldong  nnd  Bem&tflditigkeit,  für  die  Oiganisation  nnd 
höhere  Aditong  ihres  Standes,  ftr  die  BegrOndnng  ihres  Vereins-  nnd 
Versammlnngswesens»  fOr  die  Veibesserong  ihrer  socialen,  rechtlicben 
nnd  pecnniftren  Stellnng,  für  die  Yersorgug  ihrer  Witwen  nnd  Waisen, 
Ar  die  Befreiung  von  drftckenden  Nebenfimtern,  fär  die  Betheiligong 
an  der  Anfeicht  nnd  Leitung  der  Schnle,  knrz  fBr  all  die  Erron^- 
aehaiten,  durch  welche  sich  die  neue  Schule  von  der  alten  nnta> 
scheidet  Bald  sind  sie  aufgezählt,  diese  Eimngenschaltea,  und  leicht 
werden  sie  Ton  dem  jflngeren  Oeschlechte  unterschätzt,  weil  dasselbe 
die  Misören  yergangener  Zeiten  nicht  gekostet  hat  Wer  aber  weiß, 
wie  es  ehedem  stand  und  zuging,  welch  harte  und  langwierige  Klm|ife 
Schritt  für  Schritt  gefUhrt  werden  mnssten,  um  nur  ein  vrenig  vor- 
wärts zu  kommen,  der  wird  zu  schätzen  wissen,  was  wir  gewonnen, 
und  dankbar  die  Männer  ehren,  welche  es  gefördert,  unter  ihnen  in 
erster  Linie  Adolf  Diesterweg,  der  dafür  lebenslang  gesonnen,  gesorp^t, 
gearbeitet,  gestritten  und  gelitten  hat  Die  Lehrer  müssten  sich  des 
schwärzesten  Undankes  schuldig  machen  und  Verrath  üben  an  ihrer 
eigenen  Sache,  wenn  sie  diesen  Mann  vergessen  oder  verleugnen  wollten. 

Aber  ist  man  einem  Ketzer  Treu  und  Glauben  schuldig?  Und 
ist  nicht  Diesterweg  ein  arger  Feind  der  Kirche  und  Religion  ge- 
wesen? Nun,  geehrte  Ver^inimhiug,  diese  dritte  Hauptbeschuidigung 
ist  nicht  gerecliter  als  die  anderen,  weiche  ich  isoeben  beleuchtet,  und 
ich  habe  sie  bereits  in  meiner  Berliner  Rede  widerleg-t.  Die  Wahr- 
heit ist,  dass  Diesterweg  ein  aufrichtiger  und  liegeisterter  Freund  des 
unverfälschten,  im  neuen  Testauientc  iiie(lergelec,^ten  Christenthums 
war,  und  dass  er  dasselbe  auch  der  Schuljugend,  soweit  sie  es  zu  er- 
fassen vermag,  lebensvoll  ins  Herz  pflanzen,  sie  aber  mit  confessio- 
nellen  Hadersachen  verschonen  wollte.   Dieser  Thatbestaud  liegt  im 


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—   759  — 


Leben,  Wirken  und  in  den  Schriften  Diesterwegs  so  klar  und  otfen- 
kundig  vor,  dass  ihn  niemand  widerlegen  kann,  und  es  ist  auch  von 
keiner  Seite  der  geringste  Versuch  gemacht  worden,  die  Richtigkeit 
meiner  Darstellung  zu  bestreiten.  Dafür  aber  hat  das  ganze  schwarze 
Consurtium  beider  Schattiningen  unisono  die  heftigsten  Anklagen,  ja, 
man  kann  es  nicht  anders  nennen,  ein  wahres  Wuthgeheul  erhoben 
über  das  angeblich  gottlose  Programm  Diestei-wegs.  Es  sind  noch  die 
sanftesten  Ausdrücke,  wenn  man  dasselbe  als  ^Feindschaft  gegen  das 
Christenthunr\  als  „Krieg  gegen  die  christliche  Pädagogik'*  bezeichnet; 
man  geht  weiter  und  behauptet,  es  habe  die  Tendenz,  die  Herzen  der 
Kinder  zu  „vergiften",  in  ihm  „feiere  der  Unglaube  wahre  Orgien", 
es  sei  „anticbristlich",  „irreligiös"  und  „gotteslästerlich",  eine  „Schlamm- 
flnt  des  Unglaubens  und  Aberwitzes",  ja,  man  1^  ihm  Prftdicate  bei, 
die  man  Ift  einer  anstAndigen  Gesellsdiaft  gar  nicht  aussprechen  kann, 
man  ihbelt  vom  „Ranch  yerkohlter  Tempel  nnd  yerbrannter  Throne", 
vom  MÜmstois  alles  Bestehenden",  von  „greulicher  Verwttstang",  yon 
„Nihiiismns",  „Anarchisrnns"  nnd  Ihnlichen  Schaaergeachichten.  Wir 
möchten  es  Ihr  nmnö^^ich  halten,  dass  Mensehen  mit  gesunden  Sinnen 
eine  so  einfiiche  und  hannlose,  jedem  Freud  des  Christenthnms  ein- 
lenehtende  nnd  sympathische  Doctarin  in  so  nngeheoerUdier  Weise  ent- 
stellen nnd  Terketaem  könnten.  Aber  die  Utheber  der  erwähnten 
SduDähnngen  glanben  ihre  Sprflehlein  selber  nicht,  sie  wollen  damit 
nnr  schwache  Köpfe  bethören  nnd  ftnatislren,  ihre  sdbetsftchtigen 
Bestrebnngen  ftrdem  nnd  yor  Hindemisaen  scfa&taen.  Und  da  sie  sich 
bewnsst  sind,  wie  eiüHg  sie  bisher  fOr  die  Yerdnmmnng  der  Menschen 
gewirkt  haben,  so  hoffen  sie  nun  anch  Ihr  den  tollsten  Schwindel 
gUnbige  Seelen  nnd  willige  Weikaenge  sn  finden.  Doch  das  wird 
ihnen  nicht  immer  nnd  überall  gelingen.  Es  ist  gut,  dass  sie  in  ihrem 
blinden  Grimme  bisweilen  jede  Besonnenheit  nnd  Vorsicht  verlieren 
nnd  nnverhällt  ihre  Falschheit  offenbaren.   Sie  nennen  sich  Christen 
und  geben  vor,  die  ti-euen  Hüter  der  Eeligion  Jesu  zu  sein.  Nun  aber 
richten  sie  sich  selbst   Denn  da  Diesterweg  aasdrück  lieh  und  klar 
das  Christenthum  und  nichts  anderes  fordert,  so  sind  die  gegen  ihn 
gerichteten  Verdammnngsurtheile  gegen  das  Christenthum  selbst  ge- 
richtet, and  die  ihm  zugefügte  Schmach  ist  eine  Verwerfung  und 
Lästerung  des  Christenthums  selbst.   Wir  haben  da  Leute  vor  uns, 
die  gar  nicht  sind  und  glauben,  was  sie  zu  sein  und  zu  erlauben  vor- 
geben, Leute,  welche,  wie  wir  uns  in  bürfrerlicher  Sprarlie  ausdrücken, 
sich  der  Falschmeldung  und  des  betrügerischen  Missbrauches  einer 
fremden  i<  irma  schuldig  machen;  LeutCi  welche  Frömmigkeit  heucheln 


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—   760  — 


und  täglich  Gottes  Gebote  übertreten,  beim  Namen  des  Höclisten 
fluchen,  lügen,  trügen  und  falsches  Zeugnis  reden,  gelegentlich  auch 
einen  kleinen  Meineid  schwören,  mit  ihrem  ganzen  Treiben  aber  die 
private  und  öffentliche  Moral  untergraben.  WÄre  die  menschliche  Ge- 
rechtigkeit weise  genug,  um  diese  Wölfe  im  Schafskleide  zu  entlarven, 
mächtig  genug,  um  ihnen  nach  Verdienst  zn  lohnen:  dann  wfirden 
idr  sie  nicht  In  Conratikeln  nnd  VolksversammUmgen,  nicht  auf 
Parlamentstribflnen  und  in  Zeitungsbnrenns,  nicht  auf  Kanzeln  nnd  in 
SniehungsstAtten  der  Jugend  antreflfen,  sondern  in  ZnchthtoBenit  vo, 
Dank  unserer  Neoschule,  Baum  ihr  sie  geworden  ist 

Dank  unserer  Neiischale,  sage  ich,  und  Dank  all  den  ICftnneni, 
die  ihr  Torgearheitetk  und  die  ihr  die  Stfttte  bereitet  haben,  Dank  auch 
dem  erleuchteten  und  volksfreundlichen  Herrscher,  der  sie  ins  Leben 
gemfenl  Ißt  Stola  und  Befriedigung  bückt  der  aufgeklftrte  Öster^ 
reidier  auf  dieses  Werk,  durch  welches  ein  so  mächtiger  Schritt  zur 
Verwirklichung  der  Ideen  unserer  besten  Vorfohren  und  grOfiten  Staats- 
lenker geschehen  ist  Bereits  In  meiner  Berliner  Bede  habe  ich  eine 
Beihe  der  Vorzüge  unserer  Neusdiule  aufgefthrt,  und  jeder  Kenner 
des  Sachverhaltes,  wenn  er  ee  nicht  für  gut 'findet,  die  reine  Wahr- 
heit ein  «Zerrbild''  zu  nennen,  um  unter  Wölfen  mit  zu  heulen,  wird 
mir  bezeugen,  dass  ich  dabei  streng  der  Wirklichkeit  gem&fi  berichtet 
habe.  Femer  habe  ich  erst  vor  wenigen  Minuten  etliche  wichtige 
Errungenschaften  genannt,  welche  die  Lehrer  Österreichs  ihrer  Neu- 
schule verdanicen.  Gestatten  Sie  mir  nur  noch,  an  einige  leitende 
Grundsätze  zu  erinnern,  welche  derselben  als  Fundamente  dienen.  „Die ' 
Wissenschaft  und  ihre  Lehre  ist  frei,'*  und  demgemäß  ist,  bei  aller 
Achtung  vor  der  Beligion  nnd  ihren  Instituten,  »der  Unterricht  in 
den  übrigen  Lehrgegenständen  unabhängig  von  dem  Kinflnss  jeder 
Kirche  oder  Religionsgesellschaft.**  „Dem  Staate  steht  rücksichtlich 
des  gesammten  Unterrichts-  und  Erziehungswesens  das  Kecht  der 
obersten  Aufsicht  und  Leitung  zu."  Die  öffentlichen  Schulen  sind 
,.alleü  Staatsbürgern  ohne  Unterschied  des  Glaubensbekenntnisses  zu- 
gänglich". ,J>as  Ziel  aller  .Tugenderzieliung  ist  ein  offener,  edler 
Charakter.  Zur  Anbalinung  desselben  hat  (lt>r  Lehrer  auf  ein  wahr- 
haft sittliches  Verhalten  der  Jugend,  auf  Priiclit-  und  Ehrgefühl,  auf 
Gemeinsinn,  Menschenfreundlichkeit  und  Vaterlaudsliebe  unausgesetzt 
hinzuwirken." 

Das  sind  Normen,  welche  heute  in  Österreich  zu  Recht  bestellen, 
welche  zu  achten  jeder  Staatsbürger  schuldi;?  ist,  und  welche  un- 
verbrüchlich zu  wahren  jeder  Schulmann  das  Recht  und  die  Püicht 


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—   761  — 


hat.  Wer  sie  often  verletzt,  begeht  ein  Verbrechen;  und  wer  sie  heim- 
lich untergraben  will,  dem  rufen  wir  zu:  -Ein  Kaiserwort  soll  man 
nicht  drelin  noch  deuteln!"  Wer  aber  den  Lehrern,  welche  unter 
diesen  Gesetzen  an  der  Erziehung  des  heranwachsenden  Gesclilechtes 
im  Geiste  Diesterwegs  arbeiten,  Untergrabung  der  Religion  und  Moral 
vorwirft,  der  ist  ein  Lügner  und  Verleumder.  Und  wenn,  geehrte  Ver- 
sammlung, von  derselben  Seite  aucli  Ihre  patriotische  Gesinnung  ver- 
dächtiget wird,  so  seien  Sie  getrost:  jeder  Ehrenmann  wird  der  deutsch- 
österreichischen  Lehrerschaft  bezedgen,  dass  sie  ihrem  Volke,  ihrem 
Staate,  ihrem  Monarchen  aufrichtig  und  mit  ganzer  Kraft  ergeben  ist, 
und  dass  in  ihrem  Kreise  Untreue  und  Felonie  keine  Stätte  tinden 
kann;  jeder  Ehrenmann  wird  bezeugen,  dass  die  deutsch-üsterreichiische 
Lehrerschaft  das  Dichterwort  bewahrheitet: 
„Der  üäterreichcr  hat  ein  Vaterland 
ünd  liebte  and  hat  andi  XJtaach*,  es  m  liebm*'  — 
and  mit  Freuden  lunznfügt: 

Der  Österreidier  hat  einen  Kaiser 
Und  liebt  ihn  und  hat  anch  Ursach',  ihn  zu  lieben. 
So  ist  es,  nnd  so  sott  es  bleiben,  trotz  aller  Yerhetsnng  hinter^ 
listiger  Menschen.  Und  so,  geehrte  Versamnüung,  beharren  Sie  in 
der  Verehrang  alles  Großen  und  Edlen,  in  der  Pflege  alles  Wahren, 
Guten  und  Schönen,  in  der  Hingebnng  an  Ihren  Yerbrflderangsbnnd 
zur  Yertheidignng  Ihrer  Ideale,  mit  dem  alten  Wahlspruch: 

„Wir  wollen  sein  ein  einig  Volk  von  BiQdeni, 

In  keiner  Noth  uns  trennen  und  Gefahr. 

Wir  wollen  trnucn  auf  den  hiiehsten  Gott 

Und  um  nicht  fürchten  vor  der  Macht  der  Menschen.'* 


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BSuerlicher  Mealisniis. 


Daig«0teUt  anf  Grand  nUieieher  im  •fldOitlidie&  Niederttatemidi  gesammelter 

Brfidiniiigwi. 

Von  Dr.  Wülibald  Nagl-Grax. 

w 

V  T  ena  wir  aus  uochiuulB  vergegenwärtigen,  dass  die  Bauern  in  einer 
BkeptiBeben  Oeriogaehätsiuiflr  ftUee  Geistigen  befangen  sind  und  nnr  dai  Greif- 
bare als  reell  und  wertvoll  betrachten,  dass  sie  meist  einer  aaMbendoi 

Bäckerei  und  Sparsamkeit  fröhuen,  dass  sie  gerade  die  zarteren  und  edleren 
Gefühle,  auf  denen  sich  ein  hiiht  rt  s,  idealeres  Leben  aufhauen  sullte,  unent- 
wickelt lassen  odei-  gar  unterdrücken,  —  dann  werden  wir  wol  einselien,  dass 
der  Idealismns  li«i  dmi  Banerslmtmi  aolchen  Hindernissen  gegenüber  nicht 
in  besonderem  Qrade  anfkommen  kann.. 

Und  wenn  der  Idealismns  anf  dem  Üb  ersehn sse  der  Kräfte  beroht,  anf 
jenen  Kräften,  die  im  Kampfe  um  di<'  Kxistenz  nicht  aufgezehrt  und  für  die 
nächsten  und  aliernothwendigsten  Btdürfaisse  des  Geistes  und  Körpers  nicht 
beauäiirucht  werden,  —  daim  kann  ja  der  Bauer  bei  seinem  vielseitigen  geistigen 
nnd  physisdien  Deficit  von  innenherans  kanm  eine  Anregung  zum  Idealismus 
Ten^firen. 

Trotzdem  dürfen  wir  den  letzteren  aus  unserer  Darstellung  des  Bauem- 
charakters  nicht  streichen:  denn  der  Idealismus  erwächst  nicht  aus  dem  Ge- 
sa m  m  t  überschuss  der  menschlichen  Kräfte,  —  in  diesem  Falle  würden  wir 
vielleicht  in  gar  kii&er  Menaehenclasse  einen  Idealismos  finden,  —  aondem 
wann  nnd  wo  immer  momentan  ein  KraftfiberscbniB  vwhanden  ist,  sei  es  an 
Willenskraft,  Geisteskraft  etc.,  dort  ist  man  zn  jenen  idealen  Dingen  anliegt, 
welche  sich  durch  die  eben  überschüssig-e  Kraft  erfassen  lassen. 

A.  Rücken  wir  uns  nun  die  hervorragendsten  Gebiete,  auf  denen  sich  der 
Idealismns  in  productivem  und  receptivem  Sinne  bethätigen  kann,  der  Reihe 
naeh  vor  Angen  nnd  beginnen  wir  mit  der  Wissenschaft. 

a)  Der  Pädagog  Herbert  Spencer  erRflfnet eine  pädafrogiidie Abhandlung 
mit  der  interessanten  Bemerkung,  dass  die  Kleidung  in  denAnftine:rn  mensclilicher 
Cnltur  ziMiächst  als  bloßer  Putz  auftrete  und  dass  sich  erst  aus  diesem  die 
nutz  liehe  Kleidung  entwickle.  Ähnlich  sei  es  mit  der  meuschlicheu  Cultur 
fibeiiiaopt,  nnd  speciell  anch  mit  der  Pfl^  der  Wissenschaft  Zuerst  kommt 
der  wissenschaftliche  nPntz",  d.  i.  alieilei  Cniiositaten,  Abentenerlichkeiten, 
Seltsamkeiten  aus  frt  nulen  Spliären  etc.,  erst  nach  und  nach  gewinnen  die 
Wissenschaften  Systeuj,  endlich  lernt  man  dieselben  auch  für  das  Leben  prak- 
tiscli  verwerten,  nicht  blos  in  Eisenbahnen,  Telegraphen,  Maschinenwerkeu 
n.  s.  w,,  sond^  amdi  in  Endehnng  des  Volkesi  in  Hebuig  des  Geisteslebens 
einer  Nation  duch  Schulen,  Theater  nnd  sonstige  Anstalten  aller  Art. 


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—   763  — 


Dem  Bauer  ist  die  Wissenschaft  noch  „Putz".  Et  ist  kein  Freund  der 
Seliale,  er  will  keinen  Wiasenszweig  systematisch  sich  aneignen.  Aber  er 
will  docli  gelegenUidk  —  n^tfirUeh  „unsitt*^)  —  etwas  Intereasantet  hSren, 
aber  es  muss  wol  recht  was  „Merkwürdiges"  (Abenteuerliches,  Seltsames)  sein; 
und  da  ist  /.  B.  die  Einleitung  zu  Cocliems  ^ Leben  und  Leiden  Christi"'  bald 
das  Allerschönste,  was  man  lesen  oder  anhören  kann,  über  die  ganze  Welt- 
kugel, die  sieben  riaueteu  u.  s.  w.  Da  steht  z.  B.  S.  12  dieses  populären 
Werkes:  „Naeh  der  erden  hat  OoU  das  waaser  gesetst»  weldies  ngrleicli  mit 
der  erden  eine  Ingel  machet:  dannoch  weit  mehr  plats  einDimmt,  als  die  erde. 
Die  höhe  des  raeeres  ist  gemeiniglich  drey  deutsche  meilen:  an  etlichen  orten 
aber  ist  es  vil  grösser;  ja  an  etlichen  orten  kan  man  gar  keinen  gnind  finden. 
In  dem  meer  seynd  berg  und  thäler,  bäum,  heckeo,  wiesen  and  allerhand 
gewSchs,  wiewel  einer  andern  art,  als  ttber  der  erden.  Dan  im  wasser  aejnd 
sie  Walch:  so  mans  aber  fiber  das  wasaer  bringt,  werden  sie  so  hart  wie  stein. 
Es  seynd  aneh  allerley  art  der  thier  im  meer,  welche  auff  erden  seynd:  als  meer* 
hund  ,  meer-wölflf,  meer-ochsen,  meer-mannlein  und  weiblein;  welche  am  obem 
leib  dem  menschen,  und  am  untern  den  tischen  gleichen.  Warüber  man  sich 
höchlich  verwundern  und  die  Allmacht  Gottes  loben  muss.  Damit  auch  das 
meer  dnreh  sein  stiUstehea  nieht  Aul  werde,  so  hat  Gott  verordnet,  dass 
nicht  allein  durch  die  grausame  wind,  sonder  anch  durch  die  kraSt  des 
monds  ab-  und  zulanffe.  Ja  das  meer  p-^jren  mittemaoht,  auff  dem  hfichf5ten 
gipffei  der  erden,  lauffet  durch  einen  unsrelieuren  grossen  c;inal  durch  die  erden, 
und  kommet  auff  dem  andern  gipffei  der  erden  gegen  mittag  wider  heraus: 
also,  daas  wan  sieh  die  sohunent  nieht  wol  Arsehen,  nnd  etwas  zu  weit  gegen 
mittemadit  fohren,  sie  tou  der  gewalt  des  waaaers  in  den  nngehenren  wflrbel 
gesogen,  und  nimmer  wider  gesehen  werden." 

Auf  Seite  27  u.  f.  ist  m  lesen:  „§.  3.  Nach  der  lieben  sonnen")  folget 
der  feurige  planet,  Mars  genant,  welchen  Gott  darum  gerad  über  die  sonn 
gesetzt  hat,  damit  er  dieselbige  mehr  entzünden  solle.  Dieser  planet  bestehet 
ana  fdsen  nnd  wSssem,  nnd  ist  nnmilligllch  warm  nnd  trocken.  Seine  berg  nnd 
felsen  seyn  gelblecht  wie  schweffei,  (dannoch  ganz  hart  nnd  vest)  ans  welchen 
eine  zähe  und  gifftige  matery,  gleich  nl«  ]>ecU  heraus  schwitzet,  wie  dan  anch 
auß  uiiterschidlichen  bergen  und  gnibcii,  si»  in  disem  planeten  seynd,  offtmahl 
überaus  grosse  und  stinkende  teurflammen  ausschlagen.  Die  wässer  dieses 
Btems  seynd  gante  cfth  nnd  dick,  nicht  tü  ungleich  dem  zerachmoltxnen  pech 
mit  sehwelfel  vermischt,  gantz  feurig  nnd  brennend,  aoß  welchen  dunkele 
Flammen  und  sch?ldliche  dämjiff  herauß  schlagen.  Der  ]Mars  wird  theils  von 
seinem  selbst  eigenen,  theils  von  dem  liecht  der  sonnen  erleuchtet.  Wan  er  über 
der  sonnen  stehet,  ist  er  gar  hell:  so  er  aber  unter  der  sonnen  stehet,  hat  er 
schier  eine  bfaitige  färb.  S^en  jlhriidien  vmkxtSB  Terriditet  er,  gleichwIA 
der  Mercnrins,  Venns,  Jupiter  nnd  Satnnns  nm  die  Sonn:  dan  die  sonn  ist  das 
centrnm  oder  mittelpnnct  diaer  ftnff  planeteo.  Wan  die  strahlen  des  Martia 
allein  in  der  lufft  regieren,  verursachen  sie  grosse  hitz  und  truckenheit,  hitzige 
und  schildliche  wind,  blitz  und  ungewitter,  wie  auch  krankheiten  nnd  pestUentz : 
sonderlich  wan  der  Saturnus  mit  ihm  einstimmet. 

„Hie  ist  an  wiaaen,  dass  der  Mars  dämm  erschaffui  sey,  damit  er  alles 
gifft,  so  auß  dem  einflnsa  anderer  schädlicher  Sternen  entstehet,  zu  sich  ziehn, 
lud  fl^chaam  sn  aeiner  tttgliclien  nahmng  gebrandie:  gleichwie  die  krotten 


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—   764  — 

und  spinnen  auf  erden  das  gifft  zu.  sieb  ziehen  und  davun  leben.  Weil  auch 
die  untere  weit  Utswcileii  die  wasienncbt  bekomt,  oiid  mit  vilen  icfaSdlichea 

fenchtigkeiten  aii£;efUllet  wird,  so  ist  der  Mars  gleich  als  ein  artzt,  welcher 
durdi  seine  anßtnicknende  krafft  die  schädliche  Feuchtigkeiten  verzehret: 
Also  ist  nichts  in  defgantzen  weit  so  büß,  welches  nit  zu  etwas  dienlich  seye."^) 
Wenn  ich  —  zufällig  in  einen  winterlichen  Lesezirkel  gerathen,  wo  diese 
Capitel  eben  yorgetragen  werden  —  bemerken,  wollte,  diese  geographisdien 
oder  astronomiechen  Ansichten  seien  ttngst  als  iirthfimlleh  naehgewiesen, .  ich 
wolle  den  Anwesenden  dagegen  die  hentigen  Resultate  der  Wissenschaft  kurz 
darlegen,  so  würde  jetzt  ihr  Interesse  ffir  meine  Darlegung  nicht  mehr  aus- 
reichen; denn  der  Bauer  will  nur  etwas  „Merkwürdiges-'  hören,  abei-  er  mag 
eich  in  keine  nähere  wissensdiaftliche  Speculation  oder  Controverae  einlassen, 
anch  nicht  in  die  einftushste.  ünd  wenn  ich  ihm  gar  mit  Bechnnngen  kommen 
und  ihm  auch  nur  durch  gewöhnliche  Additionen  oder  Multiplicationen  ein  astro- 
nomisches Problem  klar  raachen  wollte,  —  dann  hätte  ich  von  vornherein 
alles  Interesse  verscherzt.  Das  Rechnen  erinnert  schon  zu  stark  ans  praktische 
Leben,  und  daium  interessirt  es  ihn  nicht,  —  ihm  ist  die  Wissenschaft  eben 
nnr  »Patz*. 

2.  Wenn  schon  das  reeeptlTe.Teriialten  der  Bauern  gegen  die  Wisaen- 
schaft  ein  so  wenig  günstiges  ist,  so  kann  von  einer  Producti  vität  auf  wissen- 
schaftlichem Boden  natürlich  keine  Rede  sein.  Die  besten  Anlagen  bleiben 
meist  unverwertet,  denn  die  Wirtschaft  zu  Hause  wird  nicht  rationell  und 
wiisenadiaftliob  betrieben,  und  weni)  ein  junger  Bnb  etwa  gar  foitgeht  „in  die 
Stadl*,  so  darf  er  nnr  Geistlicher  werden,  in  der  alten  weltsdienen  Manier* 
tngendsamkeit,  wodurch  die  hervoiragendsten  Talente  der  Banemdasse  immer 
Uos  auf  ein  Gebiet  geleitet  werden. 

b)  Das  verdient  aber  Erwlihnung,  dass  in  unserer  Landbevölkerung  sich 
mitunter  tüchtige  Mechaniker  hnden,  welche  blos  durch  die  eigene  Begabung, 
ohne  weiteren  üntenrieht,  es  so  weit  bringen,  dass  sie  selbst  eompUcirte 
Arbeiten  anzufertigen  imstande  sind.  Im  Jahre  1859  ist  in  meinem  Heiraats- 
orte  ein  Baner  gestorben,  der  eine  große  Uhr  fertigbrachte,  sie  auf  dem  Dach- 
boden aufstellte  nnd  das  Zifferblatt  zum  Giebelfenster  hirarsschauen  ließ. 
Zwei  Kuhglocken  verkündeten  unter  dem  Schlage  der  Lhrhämmer  weit  hinaus 
bis  anf  dte  Fdder  regelmäßig  die  Standen  nnd  Vierteistnnden,  die  Zeiger  der  Uhr 
wiesen  anch  die  Hondesphasoi  ans.  Derselbe  Baner  oonstmirte  eine  Breech* 
maschine,  sog.  „Windmühlen"  u.  dgl.  Bei  Kirchberg  am  W^echsel  lebt^  noch 
im  Jahre  1868  ein  Bauer,  der  sich  selber  ein  ganz  regelrechtes  Ciavier  an- 
gefertigt hatte  und  auf  demselben  als  Virtuose  von  Gottes  Gnaden  seine  Nach- 
barschaft entzttekte.  Zimmerlente,  die  nur  mit  dem  rohen  Beile  nnd  der  0rob- 
eige  nmgehen  gelernt,  leisten  oft  die  feinsten  Tisehleratbeiten,  machen  Feniter- 
rahmen,  Schranbenbänke  n.  s.  w.  Und  das  Hüttenzimmem,  Brückenmachen 
n.  8.  w.  weiß  jeder  Bam  r  richtig  anzustellen,  als  hätte  er  ein  gut  Stück 
Pionierdienst  gelernt.  Freilich,  die  letzteren  Dinge  schlagen  schon  ganz  ins 
Praktische  ein,  aber  sie  sind  doch  ein  Beweis,  dass  der  Bauer  Sinn  und  Ver- 
ständnis fttr  allerlei  nnd  selbst  fbinere  mechanische  Arbeiten  hätte.  • 

c)  Wie  steht  es,  fragen  wir,  mit  den  Efinsten? 

Den  Künsten  gegenüber  ist  im  ganzen  wol  nnr  ein  receptives  Verhalten 
der  Bauern,  und  anch  dieses  nur  in  gewissen  ifällen,  zu  verzeichnen.  Für 


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—   766  — 


Malereieu  und  Zeichnungen  hat  der  Bauer  einigen  Sinn;  aber  er  will  keinen 
Kreuzer  für  dergleichen  ausgeben.  Indessen,  einige  religiöse  Bilder  muBS 
er  aich  kaufen,  denn  es  wäre  gar  bald  der  Segen  des  Uimutels  verscherzt,  wenn 
mm.  aieki  eiuMl  tfa  HdUgoililId  dir  Stute  hlttop  mi  di»  Lrate,  wtlclM 
einem,  dabac  ksniBin»  BOekte»  einen»  für  gw  keinen-  Ghrietan  heltiB. 

Aber  wie  sehen  diese  Bilder  ans?  —  Da  haben  wir  z.  B,  eine  hL  MiiUer 
Anna,  auf  Glas  gemnlt.  Sie  hat  ein  zinnoberrotlies  Kleid  an,  darüber  einen 
libnmelblaueu  Mantel  mit  violetten  Falten.  Sie  sitzt  auf  einem  goldenen  Stuhl, 
dessen  Lehne  über  den  Achseln  sichtbar  wird,  und  auf  den  Knieen  hat  sie  ein 
geOfbetes  Bveh  liegen;  nnd  die  swei  anliBeiehlagenen  Seiken  seigen  mit  gnAer 
Sjmmeteie  eine  jede  drei  Zeilen.  Daneben  steht  die  IL  Ifuia  als  kleines  Abc* 
Mädchen,  in  grünem  Kleide  und  hochrothen  Wangen  prangend,  mit  den  langen 
Haaren  fast  den  Boden  berührend,  und  hält  einen  Finger  auf  das  Buch.  Über 
den  Gesichtsausdruck  der  beiden  Gestalten  scheint  der  Maler  mit  sich  selber 
nicht  recht  einig  gewesen  n  sein:  man  weiß  nicht,  will  die  hL  Anna  lachen 
oder  weiaeiL  oAer  nanken.  Bs  seheint  aber  das  letstere  der  FaU  an-  sein,  weil 
ja  die  kleine  hl.  Karia  mit  ihren  Angen  gar  nicht  anf  die  Zeilen  trifft  und  so- 
gar ganz  beiseite  steht,  damit  wol  der  Zuschauer  destö  bt^quemer  ins  gerade 
vorgehaltene  Buch  schauen  und  ihr  die  Hieroglyphen  entziffern  k<»nne.  Die 
ganze  Sitiiatio&  entspinnt  sich  in  einer  Luube  von  kopfgroßen  rothen,  gelben 
nnd  blanen  Btaen. 

Die  Glasbilder  kommen  aber  heute  schon  mehr  nnd  mehr  ans  der  liede; 
man  bekommt  ja  Papierbilder  viel  wolfeiler  auf  dem  Jahrmarkte,  Und 
auch  die  Papierbilder  kann  man  so  schön  und  hell  gemalt  hüben  wie  Glas- 
bilder, es  steht  überdies  der  gedruckte  Name  darauf  und  manchmal  sogar  noch 
ein.  schöner  heiliger  Sprneh* — WolhabeadeBaaeni  lassen  sidi's  'aber  mitanter 
etUehe  Onlden  kosten  and  kaaflm  sieh  ein  oder  swei  große  ÖlgemUde  in 
Goldrahmen  flir  die  Extrakammer,  etwa  einen  krenztragenden  Christus  mit  der 
bluttriefenden  Dornenkrone,  die  breite  Schulterwnnde  den  Augen  des  erschüt- 
terten Zuschauers  vorhaltend,  oder  ein  Ecce- Homo-Bild  mit  einem  großen  Nagel 
doreh  die  Lippen,  und  eine  hl.  Maria  mit  sieben  blanken  Soh wertem  im  bloi- 
gelegten  Hessen. 

Man  muss  sich  aber  stets  gegenwtrtig  halten,  dara  man  diese  Bilder  nicht 
aas  Kunstliebe  anschafft,  sondern  nur  wegen  deren  religiöser  Bedeutung.  Und 
was  man  hier,  dureh  die  Religion  g-leichsam  gezwungen,  über  die  eigentliche 
KuQstliebc  hinaus  zu  thun  aich  entschließt,  das  lässt  man  die  weltlichen  Bilder 
dalBr  entgelten.  Bin  weltliciies  Bild  im  Hanse  anikahangen,  hilt  der  Baamr 
nicht  nnr  für  einen  halben  Abfidl  von  dem  Glaoben,  sonden  nodi  überdies  flr 
eine  läppische  Thorheit.  Und  wenn  er  in  ein  Zimmer  kommt,  wo  nur  weit-  , 
liehe  Bilder  hängen,  so  ist  er  mit  Misstrauen  gegen  dessen  Bewohner  ertüllt, 
während  ilrn  das  Vorhandensein  religiöser  Bilder  von  vornherein  zum  Ver- 
tränen  stimmt.  Eine  gut  bekannte  Banersfrau  hatte  ihren  Sohn  nach  Wien 
gegeben  aar  kaaftaSanisehen  AasbUdong  für  ein  Wareagesdütft.  Sie  mietete 
ihm  ein  CSabinet  um  9  fl.  per  )[onat.  Als  sie  mir's  enihlte,  meinte  sie:  „Wir 
könnten  ganz  daneben  anoh  eine  Wohnung  bekommen,  um  1  t1.  (>0  kr.  billiger; 
aber  der  Jetzige  I'hitz  i.st  halt  soviel  nett:  es  sind  lauter  heilige  Bilder  drin, 
nnd  es  brennt  eine  Ampel,  auch  sonst  ist's  reinlich,  so  zahl'  ich  lieber  die 
1  iL  60  kr.  mehr." 

Pnlatogitui.  lt.  Jahig.  Heft  XU.  66 


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~   766  — 


2.  Nur  im  Wirtshaus  dürfen  weltliche  Bilder  hängen:  natürlich,  dort 
würden  ja  die  religiösen  durch  die  gottlosen  Räusche  und  Stänkereien  nur 
yerunelirt,  und  die  papiereneu  Ueiligen  müssteu  vor  Entsetzen  noch  blässer, 
die  glftsemen  vor  EntrfistiiDg  nocb  rOther  werdon.  Übrigens  ist  ja  der  Bauer 
im  Wirttbavs  ein  ganz  anderer,  viel  ecblediterer  Uensdi  als  dah^  nnd  in 
der  Kirche,  somit  braucht  er  dort  auch  keine  Heiligenbilder.  Die  weltlichen 
Wirtsliansbilder  sind  aber  in  der  Kegel  das  Nonplusultra  der  Gosoliiiiaoklosig- 
keit:  rohe  Litlio^'-raj»liien  —  Schlachten,  Jagdscenen,  namhafte  rersönlichkeiten 
etc.  vorteilend,  aber  immer  ohne  künstlerische  Wahl.  Nuditäteu  sind  auch 
ans  dem  eohten  BanemXrirtsbans  verpönt. 

Auch  im  Kalender  mag  man  weltliche  Bilder  Idden,  man  aleht  die  „Ka- 
lendermanderl"  sogar  mit  Vorliebe  an.  Wenn  man  tle  gesehen  hat,  klappt 
man  ja  das  Buch  wieder  zu,  und  darum  können  sie  einem  nicht  alleweil  so  ein 
weltliches  „Plärament'^'^)  vor  die  Augen  machen,  als  wenn  man  sie  in  Glas 
und  Bahmen  an  die  Wand  hinge. 

3.  Frodnetiv  wagt  es  vd  selten  ein  bluerlicbes  IndiTidnnm  auf  dem 
Gebi^  der  ^Talerei  and  Zeiehenkunst  aufltntreten;  doch  trifft  man  anf  ein- 
sameren Feld-  oder  Waldwegen  nicht  gar  so  selten  ein  Bild  des  gekreuzigten 
Erlösers,  welches  augenscheinlich  von  keinem  Rubens,  sondern  vielleicht  von 
dem  biederen  „Kirchenvater"  oder  einem  Schneiderlein  des  nächstgelegenen 
Ilorfes  heiTAbrt.  Solche  Bilder  sind  meist  anf  Blech  oder  Holz  gemalt,  aus- 
geschnitten und  an  den  Kreuzstamm  grcnagelt.  Sie  lassen  an  Correctheit  nichts 
zu  wünschen  übrig:  die  Seitenwnndf,  die  Hlutströnie  aus  den  Nägelwunden, 
die  Domenkrone,  der  Heiligenschein,  alles  ist  da  und  nichts  ist  vergessen; 
nur  die  Kniebiegung,  die  Fiopurtion  der  Glieder  u.  s.  w.  lässt  einiges  zu 
wflnschen  fibri^f,  und  wenn  das  gesenkte  Haupt  im  Profil  geieiehnet  ist,  so  ist's 
ein  Wunder,  wenn  der  Haler  nidit  mit  Gewissenhaftigkeit  —  beide  Augen 
anf  derselben  Seite  der  Nase  ersichtlich  gemacht  hat. 

d)  Noch  schwächer  als  die  Malerei  ist  die  Sculptur  vertreten.  Die  Dorf- 
kapelle ist  in  der  Kegel  mit  einem  grüßen  geki'euzigten  Christus,  aus  Holz 
geschnitzt,  versehen.  Darunter  strecken  die  armen  Seelen,  ebenfalls  atis  mas- 
sivem Holz,  flehend  ihre  Arme  aus  den  bOhBemMi  Fenerflammen  empor,  die 
eher  plumpen  Ochsenhörnern  als  der  „wabernden  Lohe"  gleichen.  Was  aber 
diesen  so  künstlich  geschnitzten  Flammen  an  Naturwalirheit  fehlt,  soll  indes 
durch  die  rothbraune  Ölfarbe  ersetzt  werden,  mit  dt-r  sie  dick  überhtrichen 
sind.  Die  armen  Seelen  sind  gelbbraun  angestrichen,  wahrscheinlich,  weil  sie 
Y<m  dem  —  leider  vom  Holzschnitzer  nkdit  richtbar  gemachten  —  Quatan  des 
F^efeuers  so  geriuchert  werden;  hingegen  ist  der  Ober  ihnen  lAngende  Leib 
des  Herrn  schneeweiß  getüncht,  weißer,  als  irgend  ein  staubgebomes  Menschen- 
kind je  sein  kann.  Um  an  dem  Kunstwerke  nichts  zu  versäumen,  hat  man  sowol 
die  Gestalt  des  Heilands  als  die  armen  Seelen  und  das  rothglüheude  Feuer  mit 
glänzendem  Firnis  überzogen,  und  schon  auf  zehn  Schritte  Entfernung  kann 
■  man  es  aus  dem  zur  Andadit  stimmenden  Terpentingwueh*)  entndimen,  dass 
man  jetzt  dem  Heiligthum  des  Dorfes  näher  tritt. 

Oben  im  'rhorho<;'(  ii,  in  einer  vergitterten  Nische,  ist  (ifrer  ein  hl.  Florian 
aus  Hr>lz  oder  Gips,  friscli  und  In-ll  bemalt,  zu  gewaliren,  wie  er  mit  weit  ge- 
öffneten Augen  in  die  Weit  lüiuiusstarrt,  die  so  grol]  und  geräumig  wäre, 
wihrmd  er  in  einem  so  engen  Käfig  ein  ganz  unbemerktes,  todteneinsames 


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—   767  — 


Dasein  fristen  mass.  Abei-,  wenn  auch  alle  Menschheit  gleichspiitig  an  dem 
heiligen  ^Manderl"  —  extra  geweiht  ist  es  ja  nicht  —  vorbeigeht,  ein  Ange 
wacht  darüber  mit  emsiger  Sorgfalt:  das  Aage  der  Uausfnia.  Sie  weiß  die 
fWurlieUnifeea  diesM  Bildnisses  aaf  viele  JalineliBt«  sur&clc,  und  sie  mag's 
nur  iileht  sagen,  wie  oft  der  Heilige  in  versehiedeaMi  heimlielien  vnd  offenbaren 
Nöthen  auch  schon  seine  Schuldigkeit  gethan  hat.  Sie  hat  ihn  von  einer  weit- 
schichtigen  Muhme  geerbt  oder  sonst  zu  Geschenk  bekommen,  —  denn  kaufen 
kann  sich  ein  Baaersleut  so  etwas  natürlich  nicht. 

Halt,  —  ja  doch!  Fast  in  jedem  Hanse  findet  sich  ein  geschnitztes  Gm- 
eillx,  Berehtesgadner  Gonstmetlon;  es  steht  anf  dem  Hansaltare,  nnd  wenn 
der  Priester  zu  einem  KrankciB  kommt  ins  Haus,  wird  es  herabgenommn  Und 
zwischen  zwei  brennende  Kerzen  auf  den  Tisch  gestellt.  So  ein  Kreuz  muss 
immer  vorhanden  sein;  bricht  es  etwa  durch  einen  unvorsichtigen  Starz,  so 
muss  unbedingt  wieder  ein  neues  gekauft  werden. 

,So  ein  Sachen,  —  kost't  eben  nur  ein  Sechserl nnd  Ist  langmEchtlg 
ein'  Andacht  im  Hans." 

2.  Productiv  bethiUigen  sich  die  Landlente  auf  dem  Gebiete  derScnlptnr 
natürlich  soviel  wip  f^ar  nicht.  Ich  weiß  in  meiner  Heimat  weit  und  breit 
nur  ein  einziges  Wegkreuz,  dessen  Christustignr  von  einem  Dorfbewohner  ge- 
aehnitit,  im  übrigen  aber  besser  ist,  als  man  Ton  einem  bftnerUchen  Laien  er- 
warten sollte. 

e)  Von  einer  Architektur  als  einer  edlen  Kunst  darf  nnter  dem  Land» 
Yolke  gar  nicht  dio  Rede  soin.  Für  schöne  Bauten  haben  sie  keinen  Sinn, 
und  es  gefällt  ihnen  ihre  Dorfkirche,  welche  ohne  Geschmack  und  Stil  im 
Heustadeitypus  ausgeführt,  aber  außen  wie  innen  schön  geweißt  ist,  viel  besser 
tjlB  der  „mnsige*  Stefansdom  mit  seinem  nftrrischen  Ziekzaek-  nnd  SehnSrkelwerk. 

f)  An  keiner  Kunst  hat  (hxs  Landvolk  relativ  mehr  Gefallen,  als  an  der 
Musik.  Es  ist  dies  eigentlich  selbstverständlich,  denn  die  Musik  wirkt  auf 
den  Menschen,  so  lange  nur  dessen  Sinne  gesund  sind,  die  anderen  Künste  — " 
Malerei,  Sculptar  —  setzen  immerhin  einige  Vorbedingungen  voraus:  ich  will 
nicht  etwa  den  Baaer  mit  dem  Thiere  vergleichen,  wenn  ich  daran  erinnere, 
dass  der  Hnnd  dnreb  eine  mit  einem  lanteren  Instrumente  gespielte  Melodie 
zum  Heulen  und  Klagen  gestimmt  wird,  dass  er  aber  durch  Bilder  nnd  Stand« 
figuren  in  keiner  Weise  aftieirt  wird,  dieselben  höchstens  beschnuppert  nnd 
wenn  sie  nicht  nach  etwas  für  ihn  Interessantem  riechen,  theilniahmslos  vorüber- 
liafL  Allerdings  darf  man  nicht  glauben,  dass  der  Bauer  für.  Opern  und 
gTo8e  Kirchenmessea,  oder  andere  grosse  Musikanfltthrnngen  Verstftodnis  habe. 
Er  interessirt  sich  nur  für  Tanz-  nnd  Singmelodien,  fttr  Marsche,  überhaupt 
fär  kürzere  und  einfachere  Cnnipositionen.  Von  solchen  Piei^en  wird  er  aber 
gewaltig  ergriffen  und  seine  }^an/e,  duieh  die  Manier  niedenrelmltene  Xatur 
kommt  in  Aufregung.  In  der  Kegel  ist  die  Manier  wol  stark  genug,  um  ihn 
auch  in  dieser  Aufregung  noch  fSestsnhalten:  er  sdient  sieh  ja,  seine  lebhafteren 
G«fahle  nach  außen  in  adftqnater  Weise  kundzugeben.  Hat  er  aber  die 
Manierschranken  einmal  Überschritten  nnter  dem  Hochdrucke  seiner  GefQble, 
—  dann  geberdet  er  sich  wie  ein  Narr.  Er  jauchzt  in  den  schrillsten  Tönen, 
strampft  unaufhörlich  mit  den  Füßen  nach  dem  Tacte  der  Musik,  die  Augen 
rollen  wie  die  eines  Besessenen  und  ohne  alle  Scheu  und  Überlegung  stftrzt  er 
von  einer  Dim  zur  andern,  und  das  allgemeine  Gellichter  der  Anwesenden. 

66* 

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—  768 

TBactit  ihn  hnin«r  toller.  Und  solche  Dlrge  kann  man  anf  den  Tanzböden, 
noter  den  rauschenden  Tönen  der  BleolliliftnuieBt8f  öfter  AU  dem  BtLÜSten  Süd' 
aeoBt  ruhigsten  Barschen  erleben. 

8.  Es  finden  sicfa  aveh  immer  Bnrscbe  und  llftaner  vnter  <fea  Bt^aerny 
welehft  4le  TendUedeneB  BlMimlfuinente  „BonlMriMi*,  uTronpefte", 
„Flügelhom",  „Clarinette"  gut  znFammenf>pielen  kfliinen.  Weniger  beliebt  irt 
die  Geige:  sie  darf  sich  bei  fpstlicheren  Anlassen,  z.  B.  auf  Hochzeiten,  gKt 
nicht  zeigen,  und  ein  Bauernhursche  würde  sich  schämen,  einem  größeren 
Pnblicun  etwas  vorzugeigen,  i*^  ist  mir  ganz  unbekannt,  warum  die  Fidel 
Win  de  q^ttiMli  genannt  wird,  eo  in  Mlieridtt  fmtiien  iit;  wnhraeheinifah 
knnnnt  ü»  dem  lAnerlicben  Ohr  zn  welch  nnd  weinerlicli  ror,  die  Bleddnitn- 
UMDtt  rauschen  viel  kräftiger  drein.  —  Ein  beliebtes  »•Saiteninstrument  ist 
aber  die  Zither:  es  g-ibt  fast  in  jedem  Orte  einen  oder  zwei  bessere  Zither- 
spieler, bei  denen  sich  in  der  Winterzeit  des  Abends  manchmal  die  Nachbars» 
lente  einfinden,  nm  sich  etmt  snibpielen  zn  laasen. 

3.  Wenn  indeseen  das  WoIgeAtUen  an  der  Mnailc  ein  sIeniUeh  nUfeoMine» 
ist,  nndtelbetdiemanierbrayeren  nnd  betschwesterlichen  GemQther,  trotz  äofier- 
lich  zur  Schau  getrag-ener  Gleichgilti^keit.  doch  innerlich  das  Wojf^efallen  an 
moailtalischen  Productionen  nicht  unterdrücken  können,  nnd  wenn  es  ferner 
amdi  stets  einzelne  „ Musikanten "  gibt,  welche  die  landläufigen  Walzer  und 
Liedl  8ch8n  nnd  lästig  henpielen  ktenen,  —  im  ganzen  lebt  doch  in  der 
Banernwelt  weni^^  mnsikaliscbes  GehOr,  nnd  es  ist  wahrhaft  ohnerreifiend, 
wie  die  Burschen  Sonntatrs  im  Wirtshause  in  ihren  Duetten  und  Terzetten 
vielmehr  auseinander-  als  zusamraensinf^en.  l^ie  Buben  auf  der  Weide,  die 
Mftgde  im  Stall,  wol  die  Bäuerin  selber  beim  Milcheioschenken,  —  alle  singen 
vor  Lnngnireile,  spotten  ah«r  üiher  uleier  über  ihnn  Oeaang:  „SMl  iitPi. 
nicht  'gangen,  aber  lant* 

Das  gilt  allerdings  mehr  von  den  Bauern  im  Flachland.  Tm  Gebirge 
dörften  die  Leute  etwas  besser  singen,  —  ich  kann  aber  nicht  dafür  bürgen. 
In  Älterer  Zeit  sclieint  es  auch  bei  uns  auf  dem  Flachlande  urUnstiger  mit  dem 
Gesänge  bestellt  gewesen  zu  sein,  denn  die  jetzigen  alten  Mütter  singen,  wenn 
■ie  mal  dazu  anf^legtsind,  «vit  bester  als  ihreTSchter  nnd  wissen  anch  mehr 
nnd  adlltaere  Lieder  nnd  Arien. 

B.  a)  Mit  den  Liedern  sind  wir  nun  bei  dem  Capitel  über  Unterhaltung 
nnd  Spiel  angelangt.  Von  den  ländlichen  Liedem  mnss  vor  allem  bemerkt 
werden,  dass  wir  in  ihnen  jenem  tieferen  Widersprucli  zwischen  Banemmanier 
nnd  Natnr  nicht  begegnen,  denn:  die  Manier  hat  keine  Lieder.  Sie  ist 
ja  von  anfien  oetroyirt,  nnd  ktante  liSdistens  in  epischen  oder  didaktischen 
Dichtungen  ihren  Elnfluss  seigen.  Das  Landvolk  kennt  aber  fast  nur  die 
'  lyrische  Poesie,  die  Lieder  quellen  aus  dem  tiefsten  Innern,  bis  wohin  die 
Manier  noch  nicht  bekehrend  nnd  verödend  dringen  konnte. 

Selbst  das  religiöse  Lied  und  das  Kirchenlied  stellt  sich,  eben  weil 
es  Lied  ist,  nicht  in  den  Dienst  der  Manier.  Die  gans  manierbraven  nnd  bet^ 
schwesterlichen  Seelen  fühlen  sieh  kanm  in  der  Kirche  zam  Singen  gestimmt» 
wo  sie  ja  in  tiefe  Andacht  und  Separatverzückung  versunken  sein  müssen, 
und  wer  dulicr  in  oder  anüer  der  Kirche  ein  religiö.ses  Lied  ertönen  lilsst,  ist 
gewiss  ein  aufgeweckterer  Geist,  der  seiner  natürlichen  inneren  Stiromong 
Ijrischen  Ansdnck  verleihen  will.    „Böse  Menschen  haben  keine  Lieder*!  — 


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—   780  — 


ftber  aach  schlechte  Geistes-  uad  GeaiimiiiigcriolitangeQ  kaben,  soweit  sie  ebea 
schlecht  sind,  keine  Lieder. 

2.  Wir  koanen  hier  keine  Übersicht  über  den  Yallngeaaag  geben,  — 
ein  MlehM  üntemehiiMii  wflrde  eiae  nrnftogUehere  Vorarbeit  erbsiflchMi,  ala 

wir  diesem  speciellen  Zwecke  widmen  konnten.  Wir  verweiaan  nnr  auf  die 
vorhandenen  Sammlangen  von  Dialektsliedern  (Ziaka  und  Schottky,  1819, 
Pogatschnigg  and  Herrmann,  1879  o.  a.),  welche  zum  Theil  recht  übersichtlich 
und  verständig  eingetheilt  sind.  Hier  interessirt  uns  hauptsächlich  nur  der 
Nachweia,  daaa  die  ItndlicheB  Lieder  ulelit  im  Dianate  der  Manier,  sondern 
«oaselilieBIIeh  in  deai  der  Natur  erttaen. 

3.  Die  Freade  an  der  Sateren  uif^lieiMleii  Natur  nnterdrllekt  der  llaiiier- 
aeoadi  «ad  lehainft  aioh  ihrer  —  Im  Uede  kUnct  aie  doato  heller: 

„T  muass  jo  heint  ah  uoh  am  Gamsberg:  geka, 
Ist  ja  der  Wind  und  das  Wt-der  ho  sohfin, 
Uiti  2ttucliieil,  um  dmu  ju  so  heil  uad  klor 
—  So  sohan  wiid'i  naamer  dos  J(üurl"  —  oder: 

,  In  die  Berg  bin  i  gern, 

Und  da  fri.Mit  äi  nieia  GmUeth, 

Wo  die  Ohnrosen  woohst 

ünd  ikr  Enzian  btfleht."  —  oder: 

jjSchaa  schau,  wia's  reffna  thuat, 
Sdkau  schau,  wia's  giait, 

Schau  schau,  wiu's  Waaierl 

Vom  Doch  oberschiaßtl**  — -  oder  in  humonsUacher  Färbung: 

jJhobn  auf  der  Olm 
Do  thuau  die  JsLUßh  kolbn, 
Do  hab*B  die  FUh  SUeÜBil  ob, 
Doa  hat  mer  gf^faUa.** 

Und  wie  oft  wird  da  der  grüne  Wald,  der  hlane  Bimmel,  der  hohe  „Alpen- 

apitz",  die  „hohe  Schneid"  u.  s.  w.  gqiriesen  md  das  Wassert  liegt  tief  drunt 
im  Thal,  der  blaue  See,  über  den  zwei  srhneeweisse  Täaberl  fliegen,  odnr  das 
Hirscherl  im  Tanu  und  das  Vögerl  in  den  Lüften  angerufen,  damit  sie  gleich- 
sam, wie  denkende  Wesen,  theilnehmen  sollen  an  der  Freude  des  Jägers,  des 
Almkneehtea,  des  WUdaditttaen,  —  oder  in  was  immer  für  Bollen  der  bftner- 
äehe  Singer  oleh  ehen  Wtieft  hat 

4.  Die  Liebe  ist  von  der  Manier  grin/  zum  Schweieren  vernrtheilt:  sie 
erficheint  als  die  Haupt(iuelle  juf^ondlicher  'l'horheit,  als  jenes  im  Grunde 
freilich  notliwendige  Übel,  Uber  welches  sich  der  Mensch  erst  hinauszuarbeiieu 
hat,  um  zu  den  höheren  Zielen  des  Maniersystems  zu  gelangen.  Wer  daher 
dieoer  Liebe  achSnen  Avadruck  verleihen  wollte,  wfirde  dadurch  nur  einen 
Zostand  feater  attttaen  nnd  halten,  der  je  ft-Uher  desto  besser  beadtigt  wird. 
Im  Liede  aber  erklingt  hnndertstimmig  das  Lob  der  holden  Maid,  und  das 
Vmrlangen,  aie  an  beaitaen,  drückt  sich  in  tausend  verschiednen  Wendungen  aus: 

„Mein  Schot  zcrl  bot  biaoni  ▲og'a, 

San  Toila  Liab, 

Und  i  denk  ollwal  drauf,  woaa  i 
Branai  Aug'n  siaohl*'  —  oder: 


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—   770  — 

..Su  liil)»ch  und  BO  fein 

Wird  nit  bold  onni  seiil, 

01s  wia  dös  Dirndl  is, 

Wal's  80  schworzaufrad  is"  —  oder: 

.^wou  Augirin  bad  s'  wiu  XiurscluikearQ, 
De  Zandin  san  schneeweiß, 

De  WaDg:orln  de  san  rosrnroth, 
Hob'  h'  recht  betrocht't  mit  Fleiß. 

In  Loaboch  und  in  Dres'n 
Und  in  Bos'n  kann  i  BOff*n, 

Is  koan  !<()  sclii'iii  SoL«  iKig^iin, 
ünd  de  uiuatw  üi  no  hubn.'* 

5.  Der  manierbrave  Darchschnittsbaner  ist  der  Eackerei  ergeben,  in  Ihr 
fühlt  er  seine  Tauglichkeit  fiir  die  \Velt,  und  sein  übertriebenes  Sparen  nnd 
t'bersehJitzen  des  Geldes  hat  seinen  Grund  nur  darin,  dass  der  Bauer  bei  seiner 
Plackerei  sich  von  jeder  Speculation  oud  ungewohnten  Unternehmung  dispensirt 
glaubt  und  sieh  nach  keiner  Seite  hin  Bedeutenderes  sa  erwerben  weiA.  Wia 
ganz  anders  der  Baoembonclie  im  Lied:* 

„Jahe,  ih  hob  kosji  Oeld, 

Ih  hol)  koans  'hroacht  auf  d'Wdt, 
Mein  Vpda  gibt  lua  koans, 
Ih  schau  nvt  selber  um  oaas: 

Ih  nimm  sein  Stotzerl  her, 

*  ScbiaÜ  a  (Janiserl  frisch, 

A  Geld  dos  kriug'  i  schon 

—  Dos  woaB  i  g'wiss."  —  oder; 

,,Wonn  i  ß:or  ka  Geld  him, 

Schiaß  i  Wuldtäuhl  /'sonim, 

Und  a  Gaiusl  dazua, 

Hon  i  (leid  wieder  g'ana.*'  —  oder: 

yjl  8:eh  herein,  i  knia  herein, 
I  treib  a  poor  ungleiche  Stier  herein, 
Ein'n  junt^en  und  ein'n  ölten, 
Hein  voda  \vill  nü  nienier  g'halten. 
Er  glaubt,  i  bin  schon  lang  vcrdorb'n 

—  Und  jetst  bin  i  erst  ein  reicher  Kaufinann  word'n!" 

Und  80  denkt  man  denn  im  Liede  an  keine  Geldnoth,  smidem  ist  Uuiig 
und  läast  sich's  wol  ergehen  : 

,.T>t  r  Vuiln  hot  c'sogt, 
Bucbnia  seid  h  nur  lusti, 
Sonst  wcr'n  meine  Tholer 
In'n  Kostn  rusti!'*  oder: 

..Hob'  mein  Lebtog:  nit  gast  ton, 
jSon's  uoh  nit  in  Sinn, 
Siacht  ma's  an  iada  in'n  Federn  on, 
Woe  f*r  a  Vogl  i  hin!'*  —  oder: 

.,Lu^tic:  ij^'s  Lum[mlrhn, 
'b  Geld  hat  ma  d'  Muuda  gebn, 
*s  Dbadl  han  i  selber  ghot, 
Drin  in  da  Stodt»'  —  oder: 


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—   771  — 


.,Hijitz  hou  i  uoü  sit't'hs  Kraiza, 
Dil  i;'hörn  nit  meiu,  uit  dein  — 
Drall  (Ii,  Wcbcrl,  druh  di. 
Vcr^offu  mOnssen  's  stiu",  ii.  w. 

6.  Die  Manier  schreibt  vor,  dass  mau  sich  ärmer  und  „minder",  d.  i.  be- 
danenuwerter  stellen  soll,  all  man  in  der  That  ist.  Die  Manier  nfthrt  infolge- 
deasen  das  Lamentiren,  das  gegeasiltig«  Klagen,  den  traarigen  Ton  im  gansen 

äußeren  Verkelir,  —  und  schließlich  wird  diese  grundlose,  affectirte  Tranrigkeit 
habitnell  und  wird  wahr.    Dagegen  macht  nun  das  Lied  Front: 

„Wonn  i  aniol  stirb,  stirb,  stirb, 
Müassen  mi  d'  Steirer  trog'n 
Uuil  dabei  Zitht^rii  sclilog'n, 
AlhvL-il  liilrl.  Hfi.  l.  fidrl. 
•  Traiiri  sei  kouu  i  "s  uit,  jo  niciner  8cclM  "  —  oder: 

,,A  lusti^rf  T  Biia 

Bin  i's  oihvt'il  fjwrs'n, 

Und  ban  Wirt  af  der  Thür 

Stclit'ä  zum  oberles'n."  —  oder; 

„Wenn  i  srhon,  wenn  i  schon 
A  kloaus  Witserl  uiir  bon, 
Sein  woi  denna,  woi  denna 
Viel  HenscliSber  dronf^*  —  oder: 

„Bin  a  lustififcr  Buu, 
r.in  a  Olinahohla, 
Hob  silbcruu  Knöpf 
Ba  da  Hosnlbltar  n.  •.  w. 

7.  Ja,  die  Lieder  wenden  sieh  mit  Spott  oder  Spa£  sogar  direet  gegen 
jene,  welche  der  froheren  Jugend  gegenüber  die  Haniersatanngen  entweder 

wirklich  oder  nur  in  der  Vorstellung  des  Sängers  vertreten,  also  gegen  die 

Eltern  und  den  Pfarrer.    Mar:olie  Pfarrer  sind  auch  in  der  Tliat  so  nnver- 

stJlndig,  sich  in  die  berechtigten  Freuden  der  Jugend  einzumischen  und  sogar 

die  Tanznnterhaltuugen,  das  Schäkern  der  Burschen  und  Dirnen,  das  Singen 

nnd  Jabeln  als  eines  Christen  nnwOrdig  nnd  als  sündhaft  hinsastdlen.  Solchen 

Übergriffen  eines  Pfarrers  folgen  dann  die  ÜbergrUfo  des  Banemliedes  nnd 

die  Fehde  nimmt  kein  Ende. 

„Och,  Voda,  geh,  mocb  koan 

So  närrisch'»  Octöst, 

Du  gantfi^t  (»elher  zum  Dirnderl, 

Wonnst  d'  Muada  nit  häst!"  —  oder: 

„Jo,  jo,  hol  er  f;";>o£rt 
Da  Hoehnegijer  Pater. 
Bein»  Dirnderl  därföt  lieg'n 
Über  weg-gedrahter!''  —  oder: 

jJlet  Pfoner  thnat  predig'n, 
Dos  Liab*n  war  a  Sund, 
Und  die  KOchin  thuat's  wundern, 
Doos  er  oUi  Nodit  Ummt," 

nnd  wenn  der  Pfarrer  etwa  sonstige  Anknäpfnngspiuikte  für  den  VoüuwitB 
bietet»  wenn  er  s.  B.  in  der  Sprache  als  Gieehe  oder  Slovalt  sich  vwrith,  oder 
in  der  Kleidung  etwas  AnltftUiges  nnd  Komisches  hat,  so  ist  bald  ein  Lledl 
darauf  fertig  gebracht: 


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—   772  — 


mUhmt  Ptter  fldilewMk 
BAt  «ia*a  cUnlongen  Frack 
Und  „mm  Angedenk'n" 
LoMt  «'s  oWkenk'n/' 

8.  Unser  Volkslied  ist  unstreitig  älter  als  die  heutig«  Bauernmanier  und 
Banernmoral.  Obwol  es  im  einzelnen  fortwährend  umgedichtet  und  umgemodelt 
wM,  80  darf  der  dg«iitlidie  S«ni  oder  Stamm  deoaelben  doA  in  dia  Zeit  vor 
dw  Reftanatloii  and  Gegenreformation  zuräckdatirt  werden  nnd  reprlseoortirt 
somit  den  von  der  geß^nwärtipen  hünerliolion  Manierdoctrin  noch  nnbenTOngPtiPn 
Rest  des  Volkslebens.  Ziska  und  Schottkj'  sagen  in  der  Einleitnns:  zu  iluer 
obenerwähnten  Samnüung,  S.  IX:  „Es  athmet  in  den  Tönen  der  Volkslieder 
ein  kecken  AilMrelMii  nnd  Janclizen,  das  nicfat  im  16.  od«  17.  Jabrimndert, 
vid  weniger  noeh  ^iter  gebaren  werden  konnte,  in  einer  Zeit»  wo  der  VoUka- 
geist  in  Deatschland  nicht  mehr  krüftig  nnd  selbstständig  sidb  heransznarbeiten 
oder  frisch  zu  verzweigen  vermochte.  Die  Zeit  der  Begeisterung  war  da  schon 
gewesen;  Religionsstreite  wirkten  mehr  oder  minder  lastend  aufs  Volk,  es 
war  mit  dem  Singen  anSi  oder  dogmatische,  eintönige  Lieder  verdrängten  die 
weltUdien.* 

So  lange  die  im  Mittelalter  so  gllaaend  bewährte  natürliche  Geisteslcraft 
des  Österreichischen  Volkes,  dt  .s?pn  angeborener  Sinn  für  Lied  und  Dichtung, 
unter  dem  Krücke  des  gegenwärtigen  Maniersystems  ohue  neue  Nahrung  und 
Hebung  noch  fortbestehen  kann,  so  lange  w  ird  auch  das  im  Dienste  derNatür- 
liehkeit  stehende  YoUulied  noeh  fbrtklingen,  immer  sdiwicher  nnd  sehiriUdier. 
Die  aitergewordenen  Banenlente,  MSaner  and  Weiber,  die  schon  IMer  in 
die  Manier  verschanzt  sind,  verabaehenen  diese  Liedl  als  „  Dummheiten als 
„vonnäulige"  fd.  i.  vorlaute)  nnd  „dalkerte  G'schichtn",  und  je  schwächer 
sich  im  Laufe  der  Zeit  das  Geistesleben  in  der  Jugend  regt,  desto  leichter  lässt 
sich  diese  durch  derlei  abfällige  Beden  der  Alten  einschüchtern.  Hente  sind 
die  echt  ländlichen  Liedertezte  thatsäehlieh  immer  mehr  im  Abnehmen  be- 
griffen ,  an  ihre  Stelle  tritt,  wo  nicht  z.  B.  durch  die  Fabrikbevölkenmg  die 
textreicheren  „kecken"  "Wiener  Lieder  importirt  werden,  ein  textloses,  leider 
auch  wenig  harmonisches  Gejohle  und  ,.Zusaramendudeln".  Allerdings  wird  bei 
diesem  „Dudeln**  nicht  so  viel  durch  Fiirwitz  gesündigt  wie  bei  den  altüu  Liedein. 

So  wirtschaftet  der  Unverstand  mit  einem  koetbaren  Erbetttek  aas  einer 
Driseheren,  froheren  Epodie  nnseres  VoUtslebens.  Anstatt  das  alte  Volkslied, 
wo  es  nothgethan  hatte,  zu  verbessern,  zu  veredeln  und  es  zu  immer  größerer 
Bedeutung  zu  erhebon ,  war  man  froh ,  es  absterljen  zu  sehen .  ai-beitete  sos:ar 
an  diesem  Zerstürungsproceäse  nocii  eitrig  mit.  Aber  Besseres  haben  die  öden 
Dnckmäoser,  deren  gehässiges  Streben  gegen  das  Volkslied  gerichtet  war,  doch 
nieht  an  dessen  Stelle  an  setaen  gewnsst,  —  und  das  arme  Volk  leidet  die 
Strafe  dafür  mit  seinem  immer  größeren  Stumpfsinn  und  seiner  wachsenden 
Unempftnglichkeit  für  Lebensfreude,  für  alles  Schöne,  Heitere  und  Frolie. 

\))  Nach  dem  Liede  spielt  die  Erziihlung  die  erste  Stelle  in  drr  l^aneni- 
unterhaiiuug.  Wie  von  den  Bauernunterhaltungen  überhaupt,  so  macht  mau 
tidi  gewQhnlidi  aiieh  ^nm  dem  btnerlidien  Interesse  Ar  EraSUnngen  einen 
aDaa  idyllischen,  optimistischen  Begriff.  Es  ist  in  intelligenten  Kreisen  fiult 
sehon  zum  Dogma  geworden,  dass  sich  an  Winterabenden  Bauerndirnen  nnd 
Knechte  regelmäßig  in  der  Spinnstnbe  versammeln  nnd  hier  mit  einer  &belr 


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—   773  — 


haften  UnerscbSpflichkeit  pieli  frt'genseitig  die  riilirendsten  Gescliicliten  vor- 
erzähleD.  Ganze  liüclier  8iud  ja  erschienen  unter  den  Titeln  „Spinustube^, 
„EnXbSnBgm  an  liSinlklmi  Eerde*  «.  «.  w.»  nid  wie  in  soldieii  BUdiem 
anf  eine  volle  Seite  stets  eine  zweite  folgt  miA  Icein  leeres  Blatt  daswiadien 
ist,  so.  g'lfiTibt  man,  folgt  anch  in  der  oTalig'aten  wirklichen  Spinnitobe  beim 
Schnurren  des  Spinnrades  eine  interessante  Erzählung  auf  die  andere. 

Der  Bauer  kaoft  heute  seine  Leinwand  billiger  and  feiner  im  Kanfmanns- 
IftdeOi  als  er  sie  selbst  eneagen  kann,  nnd  statt  des  nsAs  baut  er  lidmr 
Ktthflütter,  im  mäa  Xfleh  Tsricanftn  m  Unnen,  oder  Weinn,  «m  destomehr 
BackbUirieln  fir  den  Stadtmarkt  berananzfichten.  Die  romantische  Spinnstnbe 
mit  iliren  Historien  ist  fast  ganz  in  Vergessenheit  gerathen,  dafür  geht  der 
Baner  sammt  (iesinde  nm  VgS  Uhr  abends  schlafen,  nm  für  die  morgige  Arbeit 
und  Bäckerei  gut  ausgerastet  zu  sein.  Nur  das  „Kukuruz- Abplübschen",  das 
EatblMiteni  des  Halses,  fVhrt  in  den  HerbBtabeaden  Sfter  eine  grMere  Oesell- 
schaft zusanmien,  und  wenn  sich  dabei  die  Hände  fleißig  regen,  so  wiU  auch 
„das  Maul  nicht  feiern",  wie  der  B.iner  sich  ausdrückt.  Und  da  kann's  wol 
sein,  dass  die  alte  Kathl  wieder  einmal  herausiückt  mit  einer  ihrer  schon 
Itogst  bekannten  £&uber-  und  Gespenstergesckichten,  und  dass  der  lustige 
WasÜ  dranf  «In  pnsr  „DuanlNitfln'*  «nu  besten  gibt,  danit  die  Wefberient' 
▼or  Angst  nnd  Grans»  nieht  «twa  gar  ibfctn  Bdilaf  ^bttBen  aflssen. 

2.  Und  was  erzählt  die  Kathl?  Nun,  vom  seligen  Ranchbanern  halt,  wie 
der  auf  dem  Fußboden  seiner  Stube  drei  Blutstropfen  gehabt  hat,  die  mit 
allem  Reiben  und  Waschen  nicht  wegzubringen  waren;  wie  sie  dann  den  Laden 
anfgerissen  nnd  in  den  Ofen  gesteckt  haben,  —  und  wie  jetzt  auf  einmal  ober 
dem  Kachelofen  ein  „Wcrg^Wkld*  gdegen  Ist»  ansircleheai  der  ff  t  — 
soll  ihn  nicht  nennen,  aber  er  war's  —  heranageredet  hat.  Und  iwganbringen 
war  der  Werg-\Vickl  nicht,  weder  mit  Ansprechen  noch  mit  Besprengen.  Die 
bravsten  Geistlichen  aus  der  graiizen  Gegend  sind  gekommen,  den  Tnfug  weg- 
zuschaffen, aber  einem  jeden  hat  der  böse  Feind  eine  Einwendung  machen 
ktanen.  .Dn  hsnt  als  Sdralbnlb  delneni  Vseter  einen  PHanning  gestohlen,  anf 
ains  Sebre&feder",  sagte  er  dem  einen;  „dn  bast  defaier  Matter  die  Stndel') 
abgezählt  auf  dem  Tisch,  wie  viel  anf  dich  kommen  sollen**,  hfJhnte  ereinem  anderen 
entgegen. *)  .\Vor  kann  dich  heben",  fragte  man  endlicli  im  Namen  Gottes  und 
aHer  Heiligen  den  bö&eu  Feind.  „Übern  Annaberg  geht  ein  Lackenpatscher,  der 
wird  midi  heben",  war  die  Antwort.  Und  wirkltdi,  der  „Lackenpatscher",  ein 
recht  demflthiger,  „gmoaner**  gdstUeber  Herr  ist  gekennen  nnd  hirt  ihn  gcboben. 

Und  dann  weiß  die  Katlil  nodi  sdireckliche  Räubergeschichten.  Aber 
es  sind  ^te  nnd  edle  Känber,  von  denen  sie  erzählt.  Diespllu  n  rauben  nnd 
morden  zwar  wie  die  aiult^irii,  —  aber  nnr  Ijei  den  grossen  Herrn,  den  Guts- 
besitzern und  \'erwaltern,  und  zwar  lediglich  zu  dem  Zwecke,  um  arme  Baueru 
«ttd  mflbseUge  Inwohner  zn  besiAenken.  ünd  mancber  Yon  dies»  BBabem  bat 
sich  wieder  znr  rechten  IZelt  einen  ofdentUchen  Leben  ngewendet  nnd  seina'Tage 
in  "Wolhabenheit  beschlossen,  ein  mancher  freilich  hat  unter  dem  Beile  des 
Henkers  hoch  auf  der  Gerirhtstribüne  endw  Brössen,  aber  er  hat  sich  bekelirt 
nnd  seine  Seele  ist  gerettet  worden. 

8.  „Jo,  jo,"  sagt  der  Wastl  draof,  »so  geht's:  der  R&uber  bat  nflssen 
Unanlhtt%en  nnd  vir*  gwiss  gern  bemnter  HbUeben.  —  Und  nandunsl  dner 
flMt^  wieder  gern  hlnanflAelgeni  nnd  es  geht  vät* 


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—    774  — 


Die  Dimea  idimatMii.  Denn  der  Waitl  ist  ein  Schelm,  wer  weiß,  wae 
der  dronter  sdioii  wieder  meint. 

„Na,"  sag-t  er  dranf.  iliren  Zweifeln  begegnend,  ,kennt'e  Hbr  denn  nidit 
dieaelb'  G'schicht  von  dem  besofienen  Reiter?" 

„Nein,  nein,  ich  nicht,  ich  auch  nicht",  sagen  alle,  nur  dieXathl  zwinkeri 
halb  schelmisch  und  halb  geringschätzig  uit  den  Augen.  Sie  wösste  solcher 
^Dummheiten''  auch  genng  von  ihren  jüngeren  Jahren  her,  aber  te  etwa«  wir' 
ihr  echon  zu  „leicht"  zum  Erzälilen. 

„Das  is  so  g'west,"  ftUirt  der  Wastl  fdrt.  r,Der  besoffene  Eeiter  hat 
nicht  auf  das  Kos»  liinauf  können.  Und  weil's  halt  gar  nit  'gangen  is,  so  hat 
er  einen  Ernst  g'macht  und  hat  die  heiligen  vierzehn  Kothheifer^^j  an- 
gemfen,  nnd  richtig  is  er  hinanfkommen.  Aher  gieieh  ii  er  auf  der  andern 
Seiten  wieder  hinunter  'pnnelt;  und  wfthrcnd  des  Fallena  hat  er  g'ichrieen: 
,Ö8  Tschappeln  Ol,")  —  münt's  denn  all'  vierzehn  anf  einer  Seit'  an- 
tauchen?!*'' 

„Is  irei  ein  Frevel,^  sagt  die  Kathl  ernst,  während  alle  anderen  ein 
heUes  Gelächter  anstimmen. 

„Oh,**  meint  der  Waid,  „m  Si^  Mhen  m  dnmme  Lent',  —  nnd  waa 
wahr  ii,  kann  man  ja  sagen.    Wie  war's  denn  mit  dem  Sehaflialterbaaben, 

der  schon  sein  zweitesmal  zur  österlichen  Beiclit  und  Communiou  '^anfren  is. 
Wie's  zum  Absjteisen  g'läut't  haben,  klopft  er  auf  sein'  Brost  and  sagt  an- 
dächtig: 

„Ooo,  da  Schaf  Oottei,  welchee*  

„Qehit  nit,*  ichreit  gleich  der  Messner,  „wie  kannst  denn  m  waa  in 

der  Kirchen  sagen,  auf  der  Stell  schick  ich  dich  weg!" 

„Nau,''  meint  der  Schaflialter,  .fert^')  ii'i  ein  Lampl  g'west,  so  kannt's  ja 
doch  heuer  schon  ein  Schaf  sein!" 

Und  so  weiß  der  Wastl,  zum  sichtlichen  Verdron  der  alten  Kathl,  noch 
allerhattd  m  enftUen  vom  Plhirer  nnd  aeinem  Fido,  vem  WeidmanniMder 
Herrgott  u.  s.  f.  ünd  weil  der  Herr  nnd  die  Fran  lohon  schlafen  gegangen  sind, 
und  keine  Autorität  da  ist,  der  locker  gewordenen  Unterhaltung  den  noth- 
wendigen  Kadschuh  anzulegen,  so  bringt  heut  der  Wastl  einmal  alles  vor, 
was  er  weili.  Und  er  ist  ein  uusbündiger  Spitzbub,  dem  keine  „Dummheit" 
noeh  entgangen  ist,  —  iit  com  Glfiek  kein  loleher  mehr  in  der  gansen  Gegend 
weit  and  breit.  Die  ganz  PÜur  krieget'  dorTeuel,  wenn  noeh  ein  paar  Kdche 
wftren  im  Ernst  nnd  Spaß! 

Aber  auch  der  Wastl  erschöpft  sich,  —  ist  auch  schon  höchste  Zeit,  den 
Dirnen  thun  schon  die  Wangen  weh  vor  Lachen,  und  die  alte  Kathei  ihrer- 
idta  hfttt'i  auch  nicht  mehr  länger  aasgehalten,  hätt'  bald  dem  Wastl  eln's 
hinanl^^eacUendert,  eine  Engrohheit  nftmlidi  oder  einen  KnknrnznapfBn,  waa 
ihr  eben  zuerst  zur  Hand  geweeoi  wire.  Nun  ist  sie  aher  crUM,  und  den 
Wastl  srlifiiit  es  selber  zu  reuen,  dass  er  heut'  wieder  gar  so  ausgelassen  war. 
In  so  und  sijvit  1  Wochen  kommt  die  österliche  Zeit,  und  beichten  rauss  man 
so  was,  sonst  ist  mau  ja  ein  (iottesschänder,  ein  Sacrameutsräuber,  ein  Mörder 
nnd  Gott  weiB,  waa  noch  aUei  lonit.^*) 

4.  ünd  wie  der  Maishaofen  schon  aaf  die  Neige  geht,  md  die  letzten 
noch  unenfhl'ifterten  Frnclitzapfen  aus  den  locker  anfgethtirmten  Hügeln  ab- 
gerissenen Kukorttzlaubes  hervorgesacht  werden,  so  sacht  man  nan,  nachdem  auch 


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—   775  — 


der  geistige  ünterhaltungfsvorrath  fast  gänzlich  auf^t  zolirf  ist.  die  lotzton  Piecen 
hervor,  um  den  Geist  noch  ein  wenig  zum  Denken  anzuregen  und  den  Schlaf 
za  bauneu.  Ks  sind  die  Kätbsel,  die  jetzt,  nachdem  man  sich  schon  müde 
geUeht  hat,  mit  Oacm  Btoder  aufregenden,  spietandeD  Lihalt  gm  wolthaend 
wirken.  —  »Wer  emlli't*?  das  ftagt  eine  Dira: 

^8  ist  ein  Fasscrl  ohne  Wunden, 
Hat  kriirn  Keif  und  in  nit  ^blinden, 
Sein  xweierlei  Wein'l  drein, 
Was  man  des  für  ein  Faswii  eein?" 

pDas  Fasserl  is  ein  Ei,"  sagt  die  Katlil  gleicli  drauf,  „die  zweierlei  Weinl 
sind  der  Dotter  und  das  Eiweiß."  „Was  musst  denn  du  gleich  alles  sagen, 
Kathl,**  trumpft  die  Dirn,  „sie  hätten  vielldelit  lang  nachdenken  mfieeoi,  und 
am  End'  hätt'a  der  Waatl  aelher  nit  enathen.  —  Warfs,**  fthrt  sie  fort,  ,ieii 
weiA  noch  eins: 

„In  nnserm  Hof  ist  ein  grosser  Stein,  nnd  wenn  der  Hahn  kräht,  so 
rfihrt  er  sich,  —  was  ist  denn  das  V" 

Alle  denken  und  denken,  niemand  könnt'  halt  dranfkomroen,  —  nnd  die 
Kathl  sagt  niehta.    «1        sdion,  i  weiß  schoni"  fW>hloekt  anf  einmal  der 

Halterbnb,  „das  ist  der  Oroßknecht,  weil  er  sieb  in  der  Früh  nur  überdreht, 
wann  er  den  Hahn  hört,  nnd  wir  andern  aufstehen  müssen,"  nnd  dabei  fährt  er 
mit  der  Hand  verlegen  zum  Mund,  weil  ei-  erst  in  demselben  Moment  die 
große  Lästerung  erkennt,  die  er  ausgestoßen.  „Wart  Hallank,"  platzt  der 
mürrische  GroiUtneeht,  der  Usher  theihiahmslos  neben  demWastl  gesessen  nnd 
langsam  der  Arbeit  aufgewartet  hatte,  »hast  mir  jnst  Finger  und  Schnabel 
schön  beinand,"  und  streicht  ihm  mit  der ,  umgekehrten  Hand  ein  derbes 
übers  Gesicht,  —  was  dieser  schweigend  hinnimmt  nnd  niemand  zu  bemerken 
scheint 

aAlsdaan  was  i^s/  mahnt  wieder  die  Diru,  „in  mmerm  Hof  Hegt  da 
großer  Stein,  nnd  wann  der  Hahn  kräht,  so  rührt  er  sich!" 

Aber  niemand  könnt's  errathen  und  scbliefllieh  muss  es  die  Magd  selber 
erklären,  dass  im  Hof  ein  Stein  liegt  und  auch  regungslos  wie  ein  Stein  liegen 
bleibt,  und  dass  nur  der  Hahn  sich  bewegt  beim  Krähen.  ,Wann  der 
Hahn  kräht,  so  rührt  er  sich.** 

Mittlerweile  ist  man  mit  der  bentigen  Portion  Arbelt  fertig  nnd  erhebt 
sich  schläfrig  ächaend,'nm  das  Na«  htlager  aufzusuchen.  Der  Großknecbt  knüpft 
noch  die  zwei  let/.ten  Frucht7.a]»fen  und  wirft  sie  unwirsch  zu  den  anderen  in 
den  Korb.  Er  ist  heute  beleidigt  worden,  nnd  morgen  beim  Ackern  wird's 
der  Halterbub  noch  entgelten. 

 So  etwa  sieht  eine  ländliche  Unterhaltung  mltEnählnngen,  Witaen 

nnd  Bäthseln  ans.  Der  Unterhaltuiigiatsff  ist  ein  beschränkter,  nnd  mit 
20  Jahren  haben  die  meisten  Landleute  fast  alles  gehört,  was  nur  irgend  an 
bäuerlichen  Geschirliten ,  Anekdoten  und  Eilthseln  etc.  circulirt.  Neues  wird 
nicht  erfunden,  und  gegen  den  fremdartigen  Unterhaltungsstotf  anderer  Stände 
nnd  Classen  hat  das  Bauemvolk  eine  unbesiegbare  Abneigung.  Übrigens  wird 
ihm  von  anßen  anch  wenig  geboten.  Nnn  mag  man  sich  Torstdlen,  wie  lang- 
weilig die  freien  Stunden  der  älteren  Leute  sind,  wie  diese  Langweile  cor 
Stumpfheit  nnd  Hnrrischbeit  fährt,  welche  sich  schließlich  sogar  gegen  die 


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—   776  — 


wenige  geistigB  AongOBg  faindUch  «od  «btohiMBd  vfliMlt,  die  alek  atir« 

noch  böte. 

5.  £8  wären  noch  die  SpftAe  zu  erwIiiMB,  welche  im  Wiitahanee  zum 
httUm  f^aytan  'wtHtaL-  Wbt  fUdt  äA     der  Baner  mätwäiüg  dar  FieiMiii, 

welche  Um  au  die  Manier  binden,  gftadiob  entledigt  «nd  er  gibt  sich,  wie  ibia 

ist.  Aber  es  ist  in  diesen  Wirtshausspäßen  leider  so  wenig  Flug  des  Geistes, 
80  wenig  Erhebung  des  Gemüthes,  so  wenig  Sinn,  dass  idi  dm  Leser  hier 
damit  verschonen  will;  nur  andeutungsweise  beaierke  ich,  das«  Zoten  und  Un- 
flfttigkaiten,  bodialte  ud  «rdialre  Witea  fiber  Abweaende  oder  ftber  andere 
Stiade,  Zänkardoi  vnd  gegenaeitige  Foppereien,  im  besten  Falle  eine  gans 
unreife  Häsonnirerei  Uber  sociale  oder  politische  Zustände  etc.  in  den  lllnd- 
lichen  Gaststuben  an  der  Tagesordung  sind.  Nur  wenn  gesungen  wird,  lässt 
sich  so  eine  Wirtshausunterhaltung  noch  hinnehmen.  Höchste  Zeit  wäre  es, 
dass  hier  eine  intelligente  Kraft  sichtend  und  veredelnd  einwirken  wfirde. 

e)  Wir  haben  jetat,  in  dem  Capitel  fiber  die  ünteihaltiuigen,  noch  daa 
Spiel  zu  besprechen.  Die  Spiele  der  Kinder  erwähnen  wir  nur  im  Vorüber- 
geben: das  ^0  —  renna",  das  „Oninäuerln",  das  ,,Ver8teckalix",  das  „\h- 
fangalix",  das  „Grüeberlscheibn"  und  „Xussschürgerln".  das  j.Hudlpelzen'', 
das  „Bämtreiben",  das  „Speckschneiden'',  das  ^G'vatter  leih  mir  d  Schar"  sind 
die  beliebteren  Spiele  der  Knaben;  die  Xädchen  spielen  lieber  „Biindlmloal* 
(Blindekuh),  „Orttnes  Oras,  grünes  Gras*,  .Ringa-RiagapBeiha*  n.  Ihnliehe. 

2.  Diese  Kinderspiele  sind  meist  altttberlieferte.  Eine  zweite  Gattung 
von  Spielen  bildt  ii  flit  it  niiren,  welche  sich  die  Kinder  ohne  formelle  Anleitung 
selber  erfinden,  indem  »ie  das  Treiben  der  großen  Leute  nachahmen:  so  spielen 
die  Knaben  „Ackern",  „Pferdhandeln'',  „Sauschlacbten"  (Abstechen),  oder 
ffthren  wol  gar  ein  Soldaten- oder  Biaberqglel  anf;  die  Itidchen  spielen  ^Motter 
nnd  Tochter"  oder  „Gräfin"  u.  s.  w. 

3.  Die  Eltern  nehmen  in  den  Spielen  der  Kinder  keine  leitende  Stelle  in 
Anspiuch;  das  \v;lr'  ja  kindi-scb,  wenn  ein  alter  Meusch  bei  sukhem  „Tschap« 
perluerke"  mitthun  würde.  Der  kindliche  Geist  bleibt  sich  also  hier  selber 
fibeiiassen,  nnd  bei  der  Verbfldang  nnd  Verkehrtheit  der  Alten  ist  es  anch 
ffir  die  Entwickelnng  der  Kinder  so  relativ  am  besten.  Damit  ist  aber  nicht 
gesagt,  dass  die  bäuerlichen  Kinderspiele  objectiv  keiner  Besserung  fllhig 
wären  und  die  t^berwachUDg  vernünftiger  Kinderfreunde  als  überflüssig 
gelten  dürfte.  Die  Kinder  verfallen,  wenn  mau  sie  allein  Uisst,  auf  allerlei 
nngeschiektes  Zeug:  da  hMten  zwei  3jährige  Knaben  einmal  „Sauabstechen* 
gespielt;  als  Messer  diente  ihnen  ein  Holzspan,  nnd  statt  du*  Schweine  — 
fingen  sie  die  eben  ausgekrochenen  Küchlein  aus  dem  Ilühnerkobel,  um  die- 
selben durch  die  hintere  Leibesöffnung  abzustechen.  Eben  wollten  sie  das 
dritte  Schweinehen  erlegen,  —  als  die  Mutter  dazflkam  und  der  Murkserei 
ein  Ende  machte.  Natürlich  ist  das  Nachspiel  solcher  kindlicher  Geschmacks- 
Terimmgen  eine  tüchtige  Tracht  Prfigel;  aber  was  kennen  fSglich  die  Kleinen 
dafür? 

"NVenn  aber  die  Eltern  auch  den  Gang  der  Kinderspiele  formell  nicht 
beeinflussen,  so  üben  sie  doch  insoferne  eine  sehr  empfindliche  Einwirkung  auf 
diese  Spiele,  als  sie  dieselben  gewaltthätig  verkürzen.  Nicht  nur,  wenn  die 
Kinder  irgendwie  dnrdi  ihr  Spielen  nnbeqnem  werden  oder  gar  Sdiaden  an- 
richten kannten,  Tenagt  man  ihnen  die  Erianbnis  dazu:  man  will  sie  fibeibanpt 


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zwinff«n,  recht  frühzeitig  das  Spielen  panz  beiseite  zn  lassen.  Da  der  Baner 
die  Kinder  von  vornherein  nnr  spielen  lilsst,  wenn  er  vor  ihnen  eine  Zeitlang 
Rnhe  haben,  ilirer  los  sein  will,  and  da  er  dieeelben  anderseits  schon  früh- 
nltig  „einzaspaiineB*  nsd  llr  Miiie  WiiMMfl  WMwiittiiBB  miS,  m  trlMllt 
▼ML  Mlbit,  dan  dk  ttüt  Spielscit  der  BmerniJiigead  in  gansM  genoniMii 
fiat  beacbrinkte  ist.  Am  mdstan  wird  no^  geipielt  beim  Viehhtiten,  —  aber 
auch  hierbei  wird  es  noch  ungern  gesehen,  weil  dadurch  die  Anfmerksamkeit 
von  dem  Weidevieh  zn  viel  abgelenkt  wird,  and  wenn  der  Bauer  seinen 
„Halterbaben"  beim  Spielen  erwischt,  so  schilt  er  ihn  gründlich,  ans,  wenn 
aidit  mmIi  li^jem  gwdiiebt 

d)  Und  doch  lässt  sich  das  Spielen  nicht  aasrotten.  Aach  die  reifem 
Jagend  und  selbst  noch  di*?  Erwachsenen  haben  ja  ihre  Spiele.  Da  ist  vor 
allem  das  Kartenspiel  her vorzn heben,  welches  einen  großen  Theil  der  freien 
Zeit,  über  welche  die  Barschen  and  Männer  verfügen,  absorbirt.  Namentlich 
dir  Somtag-Naehmittiff  iit  Uan  uamt^my  tm.  Wlrtahnt  grnppirtn  lieh 
di»  Bnum  and  die  „gBMffftei'*  Banche  und  Kaidito  la  afanr  Pr6f(6reiiee  zn- 
sammen,  draußen  am  Anger  unter  dem  Nassbanm  ln»«m  abends  die  Weid- 
bnben  nm  ein  Häuflein  Nässe  herum,  die  KartenbliUter  in  den  Händen.  Und 
es  ist  noch  gut,  wenn  man  so  ein  Hilunein  Nüsse  als  ausgesetzten  Spiel» 
preis  erblickt:  garoft  verspielen  schon  diese  Jungen  ihr  Tanbengeld  and  später 
ale  ftltere  Borsoke  ihm  liiherh^,  nad  als  Baaem  so  meoehen  €Küdca  vmn 
KomerlDe.  Es  liegt  gar  nichts  Ideales  in  diesem  Spielen:  nicht  um  den  Geist 
angenehm  y.n  beschäftigen,  spielt  man,  sondern  hauptsächlich,  um  sich  etwa 
cinifj^e  Kreuzer  oder  „SecliserP  zu  verdienen.  Zwanzig  Kreuzer  Gewinn, 
was  ist  schon  das  tiir  ein  Herzensjubei,  zwanzig  Kreuzer,  die  man  sich  gar 
niebt  einninl  smot  verdieiit  hati  Und  nuuichsr  ha*  aneh  wAml  2,  3  (Calden 
edcr  noeh  mehr  anf  einmal  gewonnen!  Es  ist  beseichnend  fir  den  Haofiri  aa 
der  eigentlichen  Si)iilfrende,  dass  man  mit  Banernburschen  ^ar  nicht  unent- 
geltlich spielen  kann:  sie  fang^en  einem  dabei  zu  pilhnen  an,  spielen  ohne 
Aafmerksamkeit,  ja,  sie  schämen  sich  fast,  umsonst  zn  spielen.  Sogar  die 
SQbne  eines  reichen  Baners  gehen  regelmäßig  darauf  ans,  rieh  Sonntag»  bete 
Kartenspiel  oder  anf  der  Kegelhnlin      ihr  Zehrgeld  m  verdienen! 

Sollte  man's  glauben,  dass  bei  diesem  sonst  so  knickerisch-nüchtemen  Volke- 
ein  13j:lliris:er  Knabe  bei  seinem  Kameraden  10  Gulden  Spielsdinlden  ans- 
stehen  hat,  die  die.ser  in  Katen  wirklich  zahlt  VI  Dass  die  woliiabenden 
Eltern  des  üewiunenden  davon  Kenntnis  haben  und  die  Sache  gelten  lassen, 
sttnunt  allerdings  zu  der  Tenteekten  Gddsnoht  saldier  manierhcfligen  Schein- 
frdnunler. 

e)  Von  dem  Kartenspiel,  welches  uns  so  stark  an  eine  dü.stere  Seite  der 
heimlichen,  entarteten  Bauernnatnr  erinnert  hat,  wenden  wir  uns  zu  den  mehr 
dramatischen  Spielen.  In  frühereu  Decennien  gab  es  eine  beträchtliche  Anzahl 
sekher  Spiele,  theils  weUUeher,  theile  religiSoer,  Ih  weleh  leteteron  die  Ma- 
nier zwar  stark  vertreten  war,  aber  nicht  die  vnkesehrinkte  AOeinhenrsekaft ' 
ausübte.  Man  erlaubte  sieh  nicht  nur  komische  Einschaltungen  in  den  kirch- 
lichen Stoff,  etwa  einen  sclia  den  frohen  Dinner  des  Herodes  oder  die  Gi"oßmatter 
Lucifers,  sondern  nuMlelte  überhaupt  die  tr»"^'iuiraten  historischen  nnd  selbst  die 
überirdischen  Erscheinungen  nach  bäurischem  Muster  am,  so  dass  z.  B.  die 
hethlehendtiBcheiL  Hirten  als  »HaosI",  »Hiasi',  „Uoü'^  nnd  »Jegl*  anftreten 


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—   778  — 

und  der  heilige  f  etroa  aof  aeinen  W«adenuig«a  bei  einem Baaer  in  der  Scheane 

übernaclitet. 

Solche  religiöse  Spiele  („Komödien'*)  waren  das  „Adam>  and  Eva'G'spieP, 
welebes  nna  Boeegger  m  vortrefflieh  geediUdert  hat;  das  «Krippwlgspiel**,  die 

herumziehenden  „Heiligen  drei  Oitige"  mit  dem  liölzernen  Stern  und  das 
„Passions^'spiel".  An  weltlichen  Spielen  haben  wir  die  „Minkerlbursch"  und 
den  „Fasrhititrszug",  das  „Kuscliinf^begrab.'n-'  und  etwa  nocli  das  ^Sonnweud- 
feaer*"  und  die  verscliiedeueu  Uochzeitsgebrauche  za  erwähaen.  Auch  der 
„Haibanm"  gehftrk  hierher. 

2)  Beate  hat  anser  Landvolk  fast  alle  diese  Spiele  schon  aafgegeben. 
Man  könnte  glauben,  dass  das  Aufstreben  der  Provinzstildtchen  und  -Märkte 
dieses  Abnehmen  altbäuerlichen  'J'reibens.  zunächst  in  den  angrenzenden  Bauern- 
dörfern, bedinge.  Allein  die  Bauern  verhalten  sich  souht  ganz  ablehnend  gegen 
die  «tldtlMhe  Ciltnr,  wenn  sie  aiuh  nir  eine  Viartabtimde  Weges  vom  Harkte 
oder  der  Stadt  abseits  hausen:  and  fibrigeas  leigt  sich  andi  tiefisr  im  Qebirge 
das  gleiche  Sehwinden  der  altot  Spiele,  und  selbst  ii  den  entlegenen  Berg- 
thälern  Steiermarks  hat  Rosegger  dieselbe  Erseheinnng  zu  bedauern.  Wir 
müssen  vielmehr  den  allgemeinen  geistigen  Niedergang,  das  Schwinden 
der  natürlichen  Geisteskiaft  unter  dem  Drucke  des  Mauierwesena  als  die  Ur- 
sache dieser  VerMaog  erkennen,  einen  Niedeigaagi  fllr  welchen  das  splrliche 
Wnizelfauen  unserer  modernen  Scholkenntnisse  noch  ein  allan  nngenOgender 
Ersatz  ist. 

Es  ist  charakteristisch  für  die  Quelle,  aus  welcher  das  Landvolk  die  geistige 
Kraft  für  diese  Spiele,  auch  für  die  religiüt>en,  geschöpft  hat,  dass  beim  all- 
m&liltgen  Schwinden  dieser  Kraft  nnd  der  Frende  an  der  bftnerlichen  Dramatik 
nicht  die  kirehlidien  EomOdioi,  sondern  die  weltlichen  Spiele  sich  am  lingsten 
behauptet  haben,  was  doch  sicherlich  bei  der  Bigotterle  der  Bauern  sehr  be- 
merkenswert ist.  Das  letzte  Aufflackern  des  dramatischen  Geistes  zeigte 
diesen  wieder  als  eine  natürliche  Anlage  des  Volkes,  die  aber  schon  zu 
schwach  war,  als  dass  sie  noch  hätte  lebendig  auf  den  Mauierboden  hinüber- 
maltr&tirt  werden  kVnnen. 

In  meiner  Knabenzeit,  zu  Ao&ng  der  sedisiger  Jahre,  hatte  ich  denn 
noch  Gelegenheit.  Faschingsspiele  ZU  Sehen,  ond  kann  sie  daher  noch  aas 
eigener  Anschauung  schildern. 

f)  Der  i;'asching  ist  die  Zeit,  in  welcher  die  Manier  zeitweilig  suspeudirt 
oder  dMsh  gans  bedeatend  gelüftet  wird.  JSs  herrscht  In  diesen  Tagmi  die  nn- 
verfUschte  Baoemnator,  gaas  wie  sie  sich  heraosgebildet  hat  wfthrend  der 
jahrhundertelangen  Vernachlässigung  und  Verwahrlosung:  ausgelassene  Frende 
bis  zum  Unsinn  und  zur  Schamlosis-keit.  rohe  Genusssucht  in  Speise  und  Trank, 
diese  beiden  Factoren  fallen  dem  teiiu  r  Gebildeten  in  den  bäuerlichen  Fascliings- 
nnterhaltnngen  zuerst  auf.  Es  kommt  einem  rein  vor,  als  hätten  die  geistlichen 
nnd  weltlichen  EalenderheiVen  mit  dftmonischer  Bmrächnang  nur  deshalb  dem 
unwissenden  Volke  etliche  Tage  die  Zügel  schießen  lassen,  damit  es  nach  ver» 
dorbenem  Mairen  desto  besser  die  Schädlichkeit  eines  freien"  Lebens  einsehe 
und  hinterdrein  desto  gutwilliger  sich  wieder  unter  da«  Manierjoch  füge. 

Aber  so  hässlich  der  Fasching  nach  dieser  Hinsicht  ist,  so  hat  er  doch 
aoch  Sehl  Anregendes,  seine  sohSnere,  ideale  Seite. 

1)  Schon  die  Schnlknaben  wollen  ihren  Fasching  haben.  Sie  vereinigen 


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sich  m  tina  ^Kinktrlbiineh*'.  Jedw  rieht  eine  bestimmte  StlndeflkleldaBg 
an:  einer  istKtinr,  einer  Banchfangkehrer,  einor  i<!t  Fleisclihaiier,  einer  wieder 
Handwerksbnrsch,  nnd  einer  im  Weiberkittel,  das  Zeckerlweib,  trägt  den  großen 
Korb,  welcher  bestimmt  ist,  die  Geschenke  an  Eiern,  Fleisch  u.  s.  w.  auf- 
zunehmen. Non  gebt  die  „Barsch"  von  einem  Haas  in  das  andere,  überall, 
ihre  Sprüchlein  anftagend.  Zuerst  klopft  der  Kaiser  an  die  Thilr,  nnd  wbrd 
er  willkommen  geheiCm.  9.0  tritt  er  hinein  in  die  Bauemstnbe  mit  seinem 
weißen  Hemd,  das  als  Waifenrock  gelten  soll,  nnd  mit  seinem  hAlzemen  Degen, 
den  er  an  die  Seite  gegürtet  hat;  er  spricht: 

-Kaiser  Ferdinand  bin  ich  gcaunnt, 
idi  bin  der  Herr  im  dentsehen  Laad,** 

nnd  indem  er  seinen  Degen  zückt  nnd  gebieterisch  von  sich  streckt: 

,,Si-hwert  mch  der  Seiten, 

Mit  dem  Feind  will  ich  streiten! 

Herda  Kamendt" 

Der  Baaehfkngkehrer  springt  herein,  ein  rolUger  Bnb  mit  einem  Hühnergitter 
statt  der  Leiter,  einer  Trogschaire  aof  der  Achsel  und  einem  Bartwisch  in  der 
Hand: 

„Tri,  tra,  ho, 

Der  Bavehfangkehier  is  do; 

Wann  die  Köchin  is  zu  H;ui<. 

So  kehr'  ich  ihr  den  RauiLtang  aus; 

Jst  die  KUrhin  nicht  zu  Haus. 

So  kehr'  ich  »l<  n  RaiH  litane  auch  nicht  aus. 

Drob'n  am  lirrü;  (io  steht  u  Buu, 

Dff  schaut  dem  Rauchfiugkehier  xua, 

Mit  tlcr  Zeit  wird',1  ah  a  Mann, 

Das»  CT  Eauchfaug  kcbrcn  kann. 

Herein,  KamemdP 

Und  so  gebt  es  fort.  Znletät  kommt  das  ^Zeckerlweib":  es  bittet  nm  die 
Gabe  und  stellt  sein  Kommen  auch  für  näelistes  Jalir  in  Aussicht,  wenn  ihm 
die  Blluerin  recht  viel  pibt.  Nach  der  I^eschenkung  folgt  das  Schlusslied. 
Und  schaa,  —  ist's  deon  noch  nicht  za  Ende  ?  Dort  schleicht  jetzt  der  Baach- 
fangkehrer  znr  BBnerin,  die  hinter  dem  Ofen  sitst.  Man  sieht  nicht,  wie  er 
roth  wird,  denn  er  hat  sich  wolweisiich  das  Gesicht  mit  Rn6  gehSrig  aberzogen; 
die  Bäuerin  nickt  nnd  lacht  ein  wenig,  und  die  kleine  Lisi,  efne  12Jftlirige 
Schnldim,  springt  in  sichtlicher  Aufregung  zur  Tliür  hinaus. 

-  Was  war  denn  das?  Der  Eaachi'angkelirer  hat  sich  die  Lisi  für  abends 
za  seiner  Tftnzerin  erbeten. 

Dann  trollt  die  Schar  yon  dannett,  nnd  bis  sie  alle  Htaser  paasirt  hat, 
ist  es  Mittag.  In  einem  beistimmten  ^anemhanse,  wo  die  Blnerin  den  „O'sln- 
deln"  nicht  abhold  ist,  wird  nun  gesotten  und  probraten,  gegessen  und  ge- 
trunken, getanzt  und  gesungen  bis  in  die  tiefe  Nacht  liincin.  Und  mancher 
Bub,  dem  bei  Fleisch  und  Wein  unwol  geworden  ist  und  der  nicht  warten  will, 
bis  ihn  in  der  Finsternis  jemand  abholt,  füllt  anl  dem'Heimweg  in  einen  Sehnee- 
haafen  nnd  bleibt  darin  liegen,  bis  die  nmnebdten  Sinne  wieder  gehOrig  dnrch- 
frischt  sind.    Ist  mir  selber  so  gegangen. 

Das  war  der  Krnderball  auf  dem  Lande. 

2.  Noch  lanter  ging's  bei  den  Faschingt^spielen  der  Erwachsenen  her, 
Midi  viel  aasgelassener.  Ich  ttbei^ehe  das  „Kameeltreiben",die  „Faschings- 


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predig:!'*,  das  .Füheiichspiel",  auch  den  „Nam  nzng",  und  Twbalte  niek  mar 
bei  «bier  einzigen  FaschingserscheinuDg:  dem  Hanswurstl. 

g)  Der  EauBwurst  ist  der  Liebling  des  Baueruvolkes  ia  jeuea  Stunden, 
in  wddieB  die  Natnr,  angehindert  to»  der  Manier,  nach  ihrem  eigenen  Be- 
liebea  denken.,  fühlen  und.  lidi  bethltigpn  kenn,  aleo  tot  allem  im  Faeching. 
Und  wofär  dem  Hanswarst  tft  aolchen  Zdkm.  luter  Beifall  gezollt  wird,  das 
mu88  der  Bauemnatui'  homogen  Bein;  denn  was  mir  widersteht,  das  lobe  ich 
nicht,  dafi  gefällt  mir  nicht.  Und  so  ist  denn  gerade  der  Hanswurst  für  uns 
ein  sehr  bedeutongsvoller  Maßstab  tur  den  Entwickelungsgang,  den  die  Bauern* 
xmtur  —  beimlidi  natSrlidi  —  eüunueblagen  geiwimgen  worden  ist 

1.  Was  treibt  der  Hansworat?  Er  that  in  allem  das  Gegentheil  von 
dem,  was  die  Manier  vorschreibt.  Der  manierbrave  Bauer  mnss  steif  und 
„gesetzt"  daherkommen,  darf  nicht  viel  umschauen,  muss  überall  den  gewJihn- 
lichsten  Weg  gehen  und  in  allem  das  than,  was  am  wenigsten  Aufsehen  macht. 
Der  Hanawont  naebt  die  tidtaten  Fonelbäiime;  will  er  vom  Tbor  in  die  Stabe 
keBmea,  lo  Bnft  er  dm  ükweg  ttbec  den  DttngerbaiiftB,  in  dtf  Btät»  springt 
er  auf  Bänke  und  Tische,  und  am  aefoe  ]!lixriMile&  recht  auffällig  zn  **^***"| 
trägt  er  eine  buntgeflickte  Eleidang  and  wol  gar  etliche  Schellen  an  den  ler- 
lumpten  Ellbogen. 

Der  manierbrave  Bauer  muss  besonders  das  weibliche  Geschlecht  voll- 
BkSndig  angesehoren  lassen  und  sieh  gegen  dasselbe  einer  gewissen,  Ehrftirebt 
einflößenden  Gleichgiltigkeit  befleißen.  Der  Hanswurst  springt  fast  athemloe 
auf  (  ine  jede  zn,  die  sich  von  ihm  sehon  läset,  kfisat  aie  and  balgt  mit  ihr  so 
lange  herum,  bis  sie  sich  g:lücklich  losreißt. 

Die  Manier  hält  so  strenge  darauf,  dass  man  seine  Gefühle  nach  außen 
nicht  Terratlie.  Der  Hanawunt  weint,  wenn  ihm  sein  Stecken  anf  die  Brde 
lUlt,  nnd  lacht  ond  tSa^  and  qjHringt  Tor  Frenden,  wenn  ihm  etwa  eine  Dirne  . 
aiB  Galanterie  eine  leere  Eierschale  zum  Präsent  macht. 

2)  Aber  in  diesem  Streben,  der  Manier  in  allem  Opposition  zn  machen, 
läast  aidi  der  Hauswurst  bis  zu  den  verwerflichsten  Extremen  hinreißen,  und 
— •  was  besondere  Beachtung  verdient  —  auch  in  diesen  Extremen  findet  er 
den  Tollen  Beifall  seiner  sonst  in  ihrem  gannn  Leben  ond  Treiben  ao  kieoa- 
braven  Zuschauer,  eSfk  Beweis,  doas  ancb  sie  durch  den  Manierdnek  in  den 
heimlichsten  Begoi^ien  ibiei  Bensens  cn  den  gleichen  Extremen  gedringt 
worden  sind. 

Oder  wie  wäre  es  sonst  erklärlich,  dass  man  lacht  und  sich  lieut,  wenn 
der  Hanswarst,  der  manlerriohtigen  Klngthoerei  entgegen,  von  einer  Flanke 
oder  einem  Dadie  herab  in  einen  tfsAn.  Sebneebaalbn  stirat,  so  dass  er  darin 

halb  begraben  ist?  Wenn  er  sich  mit  der  Pfanne  eine  Portion  Kraut  ans  der 
aufgestellten  Schüssel  nimmt,  damit  unter  den  Tisch  kriecht  wie  ein  Hund,  in 
die  Pfanne  schneuzt  und  den  Unrath  mit  dem  Kraut  wieder  herauaisstV  Oder 
wenn  er  sich  vollaugefressen  und  angeduselt,  halbzweit  mit  einem  nichtig 
ahnenden  Ander  SimpHdas,  aaf  das  Faachiiqjad  binden  Usat,  welches  im 
Wirbel  durch  die  Gassen  gezogen  wird,  bis  der  VoUgefressene  zu  speien  be- 
ginnt nnd  den  anderen,  der  nicht  weichen  kann  nnd  vergeblich  um  Einhalt 
bittet,  in  der  unai»petitliclisten  Weise  besudelt?  —  Oder  wie  könnte  man  es 
bunst  dnldeu,  dass  der  Hanswurst  seine  „schwaugei-e  Frau~  —  einen  als  Weib 
angezogenen  Borsebeo,  der  aleh  rin  Blbidel  Stndi  nnterfaalb  dse  Bockes  ftbtf 


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—   781  — 


den  Banch  gebunden  —  MfentUch  auf  dem  Anger,  vor  einer  Sehar  Kinder,  tat 
Enfbindong  niederbettet;  dann,  wenn  ele  wiedor  nnverricbteter  Sache  anlbtelit 

und  weitergeht,  unter  den  Rock  hinauflaagt,  mn  den  herabgleiteaden  Bond 
Stroh  wieder  besser  hinaufzuschieben! 

3.  Und  das  sind  dieselben  „christlichen"  Landleute,  die  es  sich  niclit  ver- 
aeihen  könnten,  wenn  sie  des  Sonntags  einmal  nicht  zur  Kirche  kämen,  die  sich 
f»t  einem  Selmrken  nnd  HQrder  gldcbachten  würden,  sollten  de  einmal  die 
Qeterliche  Beichte  versäumen,  die  sogar  an  jenen  anigelMienea Tngen  selber  das 
regolmäßige  dreimalige  Tischgebet  nicht  unterlassen,  um  dann  —  gleich  hin- 
zugehen, der  VfiTohung  ihrer  Natnr  Zeugnis  zu  geben. 

Der  weniger  bigotte  Durchschnitts-StUdter  würde,  so  gerne  er  eine  lustige 
Unterhaltung  nnd  aelbet  mitonter  eine  toUe  Hanswnrstiade  mitmaeht,  von  aol- 
•  chen  Geschmacksverirrangen  sieh  mit  Entrüstung  oder  mit  einem  mitleidigen 
Lächeln  abwenden.  Das  Banornvolk  bestärkt  den  Hanswurst  darin  mit  ju- 
belndem Beifall.  Jeder  von  den  Zuschauern  möcht'  es  selber  so  machen,  nur 
getraut  er  sich's  nicht  auszuüben,  weil  es  —  unschön  istV  nein,  sondern 
weil  die  Manier  so  etwa*  nicht  dnldet  Denn  für  allea  nnd  für  alle  ist  auch 
im  Faeching  die  Manier  nicht  anfler  Kraft  geeetst  Lnstlg  nnd  rar  (angendim) 
wär's,  wenn  die  ganze  Welt  so  eüie  „Hanswurstg-audi^'  wär',  aber  in  Wirk- 
lichkeit, wo  seil,  die  Manier  herrschen  mnss,  geht  lialt  das  nicht  an. 

4)  Nun,  lieute  ist  der  Hanswurst  —  zwar  nicht  verpessen,  er  spukt  noch 
in  den  Erinnerungen  der  Alten  und  in  der  Phantasie  der  Jungen,  —  aber  er 
liest  sich  nimmer  sehen.  Mit  dem  Hanswurst  ist  andi  der  letacte  Best  der 
dramatisdien  Banemspiele,  aus  meiner  Heimatagegend  wenigstens,  Yarschwonden, 
nnd  man  muss  gestehen,  dass  das  Finale  ein  sehr  klägliches  war. 

Die  jungen  Twente  sind  jetzt  mehr  oder  weniger  der  Langweile  preis- 
gegeben; zwar  wird  noch  immer  der  Tanzboden  cultivirt,  werden  noch  immer 
Liedl  gesnngen,  —  aber  allea  hat  etwas  Epigonenhaftes,  Schwaddiehes,  hat 
dw  Gharalcter  des  Niederganges  an  d<A.  Elnaelne  Bnrsche  gehen,  wenn  de 
nicht  weit  in  einen  Markt  oder  eine  Stadt  haben,  dorthin,  um  dch  eine  Dnter- 
haltung  zu  verschaffen,  besurlien  ein  falirendes  Theater,  einen  Circns,  oder  was 
sich  in  solchen  Proviiizstüdtchen  gerade  lindet.  Sogar  auf  „Bälle"  wagen  sie 
sich,  man  mag  sich  aber  leicht  vorstellen,  dass  de  dabd  nicht  mit  der  Elite 
der  stftdtiscben  BevOlkernng  in  Berflhmng  kommen.  Dort  lernen  de  vidldcht 
neb-^it  ein  paar  kecken  Wiener  Gonpletstrophen  sogar  eine  Quadrille  tanzen 
und  andere  noble  Tänze  herstolpem,  nnd  es  kann  sich  wol  ereignen,  dass  ein 
Banernburscli  vom  Tanzsani  an  die  mitgekommenen  Dirnen  liinausinift:  „Ment- 
scher,  kemmts  eina,  Damenwahl  is!" 

DranBen  aber  anf  den  Dörfern  darf  man  nicht  Tid  davon  erwihnen,  dass 
man  dch  im  Markte  unterhalten  hat.  Denn  der  Baner  soll  Bauer  bleiben  nnd 
sich  an  das  niclit  kehren,  was  die  „Herrischen"  thun. 

C.  Wir  hatten  jetzt  über  den  Idealismus,  soweit  er  sich  in  Bezug 
auf  den  Körper  bethäUgt,  zu  handeln,  das  heißt  zu  untersuchen,  wie  sich 
die  Freode  aa  der  Ansbildnng  und  dem  Wolergehen  des  KlSrpem  nodi 
fiber  die  Beflriedigong  von  dessen  dringendsten  Bedürfblnen  hinaus  bethBr 
tigt.  Wir  haben  indessen  schon  gesehen ,  dass  der  Bauer  für  seinen  Körper 
kaum  das  N<itliwendlgste  tlmt,  dass  er  das  Turnen  nnd  Springen  nicht  ein- 
mal bti  beineu  Kindern  dulden  will,  dass  er  in  seiner  Kleidung  so  wenig 

Pädagogium,  la.  Jahrg.  Heft  XU.  66 

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782  — 


GeidmiMk  bekundet,  daea  er  aneh  in  seiner  Behanrang  gar  keinen  GHnn  Ar 
SdhOnheit  entwickelt  and  höchstens  daa  traditionelle  VorgSrtlein  mit  etlidien 

Blnmenstcickon  noch  )mm  Hause  belässt.  Eine  Sommerpartei  legte  in  einem 
gar  nicht  weiter  benützten  Winkel  des  Hofes  ein  Zierfärtlein  an:  ein  Blomea- 
beet,  von  Küsen  umsäumt  und  mit  zwei  symmetrischen  Easentellern  in  der 
Mitte,  deren  jedea  im  Centnim  einen  Ndkensloek  liltte  anlbehnien  aoUen.  Ea 
war  aber  aelion  q>lt  im  Herliate  nnd  snm  Blmnenpianaen  nioiht  mehr  die  rechte 
Zeit  Die  Sommerpartei  ertheilte  daher  der  Bäuerin  den  Auftrag,  das  Ein- 
setzen  der  Blumenstöcke  im  nächsten  Frühjahr  zu  besorgen.  Im  folgenden 
Sommer  kam  die  Partei  wieder  von  der  Stadt  zurück,  und  was  traf  sie  in  den 
Raaentellem  an?  Zwei  riesige,  prosaische  Burgunderrüben.  „Sind  ja  auch 
■chdn,  die  Bnrfrvnder,  nnd  hat  doch  daa  Vieh  waa  dav<m!" 

D.  Der  Idealismus  soll  den  Menseben  aber  nicht  nur  in  seinen  arbeits- 
freien Stunden  beseelen,  ihn  zu  Unterhaltungen,  znr  T^abung  und  Erquickung 
seines  Geistes  anregen,  —  er  soll  ihn  auch  in  der  Arbeit  selber  leiten. 
Der  Idealismus  der  Arbeit  ist  der  höchste  Idealismus.  Der  Mensch  soll  einem 
Ziele,  welches  er  in  Begeisterung  erfiwst,  mit  allen  seinen  Er&ften  nsfcrehen, 
alle  seine  Arbeiten  diesem  idealen  Ziele  nntenodnen;  dann  wird  ihm  die  Ar- 
beit selber  angenehm,  nnd  alle  Hindemisse  werden  leichter  beseitigt. 

Der  Bauer  ist  bis  zu  dieser  Höhe  des  Idealismus  bei  weitem  noch  nicht 
emporgestiegen.  Wie  sollte  dies  auch  der  Fall  sein  können,  wenn  ihm  sogar 
der  Idealiamns  der  UntertaltungT  abhanden  gekommen  ist?  Die  Arbeit  ist  ihm 
eine  Last,  an  deren  Ertragen  man  aieh  gegen  sein  OefUlen  sn  gewOhnen  hat 
Daw  er  sich  z.  B.  da^  fichöne  Ziel  stecken  würde,  fdr  die  Hebung  eines  be- 
stimmten Zweites  dei-  Landwirtschaft,  z.  B.  der  Viehzucht,  mit  allem  Eifer  zu 
wirken,  um  so  die  Gegend  zu  größerer  Wolhabenheit  zn  fiihren  und,  wenn  etwa 
die  gehobene  Viehzucht  eiue  größere  Anzahl  von  Käufern  herbeizöge,  dabei 
Mch  den  eigenen  Nntaeii  nnd  Vortheil  an  linden,  daa  fUlt  ihm  nicht  etat  Noch 
weniger  lässt  er  sich  woa  einer  noch  höheren  Idee,  etwa  der  Liebe  zum  Vater^ 
lande,  leiten.  Und  wenn  er  auch  hin  und  wieder  hervorkehrt,  dass  „der  Bauern- 
stand allen  Ständen  das  Brot  herschalTen  müsse'',  so  darf  man  dabei  nicht 
glauben,  dass  ihn  dieser  Gedanke  etwa  bei  seiner  Arbeit  selber  beseele  und 
amtachele.  Er  gebrancbt  diese  Phrase  nnr  gelegentlieh  wa  seiner  Ver- 
tbeidlging. 


^  ,  Umsist  '  =:  umsonst^  gratis. 

*)  Hag  sein,  das«  sich  die  biihericen  NordpolfUmr  dies  hinter  die  Ohren  ge- 
gchricbeu  haben.  —  Obfigens  eeheint  hier  eine  Venrechsdnag  mit  dem  Kaistrom 

vorzuliegen. 

■)  Die  Sonne  ist  der  vierte  Planet  von  der  Erde,  ab  dem  Oentram,  '"^eg  ge- 
rechnet. Der  Capuziner  Cochem  bleibt,  ein  Säeulum  nach  Auürtldinng  mueNB  Welt- 
systems durch  Kopernikus,  noch  beim  PtulüiniiischcD  ^stem. 

*)  Diese  Aoschauungen  sind  von  der  hcutifren  Wisseimdiaft  Itagst  verworfen. 

Aber  es  ist  die  populäre  Sprache  und  Darstellung  roehems  anzuerkennen,  und  zu 
wffnschcQ  wäre  es  nur,  da^s  die  heutige  Tolkentfrcmdcto  Intelligenz  mit  gleichem 
Eifer  sich  bemlUien  niSehtc,  dem  Volke  die  richtigen  Resultate  der  WisscaiBchaft 
znt^änclich  zu  machen,  wie  sich  die  alten  Cochenis  und  Abrahams«  SS  Idrolllidien 

Zwecken  natürlich,  mit  ialsehen  Resultaten  bemüht  haben. 
„Pläramcnt"  =  großer  Lärm,  Aufsehen. 
*)  Ich  will  hier  nicht  etwa  einen  rohen  Spaß  machen.    Die  fromme  Einfalt 
bringt  in  Wahrheit  öfter  eine  sinnliche  Empäadiuig,  einen  Geruch,  Gesdimack  etc. 


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—    783  — 


der  an  heiligen  Orten  oder  Gegenständen  wahrgenommen  wird,  mit  der  Weihe  dieses 
Ortes  oder  (f('f;i>ii>t;iade3  in  innerliche  Vcrbinduns:  und  fiililt  sich  durch  einen  der- 
artigen Geruch  oder  Geschmick  zur  Andacht  t;e:stiiuint.  Da  ging  einmal  ein  Bäuer- 
lein  am  Ostermorgon  in  den  Markt  Neunkirchen,  um  Fleinch  und  Rrot  in  der  Üblichen 
Weise  weihen  zu  lassen.  Der  gute  Sshöckl  Toni  —  so  heifit  das  Bäuerlein  —  kam 
sur  Weihceremonie  noch  viel  su  früh,  stellte  seinen  Korb  daher  in  Ucssner«  Wohnung 
ab  und  suchte  unter  dem  Meiuchengcwühlc  draußen  auf  dem  Hauptplatzo  eini-n  wol- 
feilen  Zeitvertreib  und  —  kommt  zur  Ceremonie  su  ap&t.  Der  Me^saer  iiat  seine 
Wohnung  gesperrt,  ent  nach  dem  Hochsmte  hekommt  der  SehBekl  Ton!  sein  noch 
ungeweihtcs  Fleisch  vom  Measncr  heraus.  Angsterfailt  eilt  er  nach  H.iuse,  —  was 
soll  er  jetzt  zu  Hiuse  der  strengen  „Alten"  sasea?  Die  Alte  reilit  ihm  hastig 
den  Koro  ans  der  Hand,  steokt  die  Nase  in  denselben  nnd  meint:  „Ahhh,  —  hat 
aber  d(5s  Saclicn  cin'n  schön'n  (l'ruih  von  der  liob'n  heiligen  Weih!" 

Ftlr  die  Wahrheit  dieses  Vorfdlies  kann  ich  garantireu.  Der  Schöckl  Toni,  seit* 
her  zum  sweitenmale  Tvrhdratet,  lebt  nooh  lüs  rflstig^r  Drescher  nnd  benutzt  all- 
jährlich wacker  dir  (Ti  lcnrrnlicit .  sich  von  dem  schienen  (titiicU  der  lieben  heiligen 
Weih  am  Ostcrßeisch  uud  -Brot  zu  überzeugen.  Der  verewigten  leioschmeckenden 
Alten  dürfte  aber  die  elysi^chc  Ambro.^ia  fanm  80  ^t  mnndea,  wie  das  irdische 
Osterflei^^ch  mit  dem  schönen  Weihtr-Tur-li. 

Ein  Pseudo-Silberätück,  tur  10  kr.  anzunchmea. 

Das  Strudel  ist  eine  langgozoi^eno  MehUpeii^e,  die  in  NiedsvBsterreieh  in 
fingerlange  Stili-ke  zerschnitten  und  geko:'ht  wird.  Jeder  H  lusgenosse  erhält  din 
ihm  auf  Grund  einer  gewissenhafte a  Division  zukommende  Anzahl  solcher  Stiicke. 
Die  Bftneiiiuiea  IKfimen  es  nicht  leiden,  weaa  ihnen  die  Kinder  beim  Stradelwalken 
anschauen. 

")  „Mein  Gott,  und  was  könnte  der  .andere*  erst  nnsereinem  vorwerfen!  So  ein 
geistlicher  Herr  iät  ohnehin  so  unschuldig,  dass  ihm  der  Böse  nur  solche  Kleinig- 
keiten vorhalten  kann,  —  und  doch  ist  das  schon  zu  viel!!" 
Die  Dü  maiorum  gentium  unserer  Bauenlente. 
j-  >')  Ihr  Laffen  ihr! 

**i  Fert  =  voriges  Jahr. 

Rose gg er  Mmeikt  in  seinem  „Yolksleben  in  Steiermark",  dass  die  Land- 
Icnte  nur  deshalb  in  ihren  Witzen  so  gerne  auf  religiöse  Dinge  sp<ltti-  h  anspi' lett, 
in  ihren  Spielen  so  oft  kirchliche  Einrichtungen  (Predigten,  Litaneien,  Wallfahrte- 
gesloge)  parodiren,  weil  sie  gar  keine  andere  Form  kennen,  als  die  Urchlidie» 
um  ihren  Ideen  Ausdruck  zu  verleihen,  und  —  dass  es  ihnen  dabei  trotzdem  gar 
nicht  beifiele,  über  die  Heligioa  oder  das  Kirchliche  zu  spotten.  Es  ist  unstreuig 
etwas  Wahree  an  dieser  Bemerkung:  aber  man  darf  nicht  vergessen,  dass  die 
Beligion,  w^ie  sie  der  Bauer  auffasst  und  fp«thält,  indem  er  sie  mit  seinem  Manier- 
ejrsteiu  verquickt  und  identihcirt,  zu  der  Natur  in  argem  Widerspruche  steht.  Die 
Natur  macht  sich  dadier  in  diesen,  gegen  kirchUohe  oder  religiöse  Dinge  g.-richtoten 
Witzen  zeitweilig  T^nft.  und  der  Liehreiz,  den  gerade  solche  an  sich  und  filr  einen 
Städter  ganz  unbed*  Utende  Spaüc  fdr  die  ländliche  Zuhörerschaft  haben,  lässt  er> 
kennen,  dass  die  stille  Auflehnung  der  Natnr  gegen  die  mit  der  Manier  verquiekte 
Banemreligion  eine  allgemeinere  und  tiefer  gewurzclte  ist. 

Nur  so  wird  die  Beue  oder,  besser  gesagt,  das  ängstliche  Unbehagen  erklärlich, 
welches  der  Witzmacher  lünterdrein  verspürt:  das  Manierjoch  ganz  abzuschütteln  ist 
nicht  möglich,  weil  einem  das  ewige  Verderben  drohen  würde,  —  und  so  bleibt 
nichta  übrig,  als  diese  als  Vergehen  empfundenen  Witze  su  bereuen  und  zu 
beiehten,  nm  wieder  die  Haaivgeiechtigknit  norBokinerlaagen. 


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Yerscliiedeiie  ABsichten  über  den  pädagogischen  Wert  der 

ekssiflehen  Sprsehei. 

(Dft  (iic^es  Thema  noch  immer  zu  den  päduLrorrischcn  Streitfragen  gehört,  so  mögea 
wieder  einige  neuerdings  veröffentlichte  Äußerungen  Uber  dasselbe  liier  zusammen- 
gestellt werden.  D.  E.) 

W  enn  die  Unterrichtspolitik  die  griechischen  Studien,  wenn  sie  die 
antike  Welt  hinauswirft  aus  der  Mittelschule'*'),  hinaus  also  aus  der  allgemeinen 
DAtioiialeii  BQdang,  dann  benwbt  sie  die  Nation  denen,  waa  nichta  anderea 
enetien  kann,  dann  wird  heute,  wo  aaeh  die  religiösen  Ideen  enchttttert  sind, 
eine  Oesellschaft  erstehen,  die  den  Znsammenhang  mit  der  Vergangenheit  ver> 
loren  hat.  in  welcher  es  die  Mensclien  als  annütz  betrachten  werden,  8icli  darum 
zu  kümmern,  wo  ihr  Großvater  begraben  liegt,  und  noch  unnützer,  daian  zu 
denken,  wofür  er  lebte,  wof&r  er  starb.  Eine  Gesellschaft  wird  eiateken,  ge- 
ehrtes Hans,  die  tob  der  Spitae  ihrer  fiber  alte  Vomrtheile  boch  eriiabenen 
Anfklftrung  nur  spöttisch  anf  die  Fietät  für  die  Ahnen  herabblidct,  und  mit 
streng  logischer  Folge  frnlier  oder  später  zu  der  Erkenntnis  gelangen  mnss, 
dass  auch  die  Pietät  gegen  die  Eltern  nur  insolange  eine  praktische  Be- 
rechtigung besitzt,  als  uns  die  Eltern  unmittelbar  nützlich  sein  können.  Eine 
Oeaellsehaft  wird  entstehen,  die  gleiehgilti«r  gegen  die  Vergangenheit,  ^oh- 
giltig  auch  für  die  Zukunft  sein  wird ;  die  kein  anderes  Interesse  mehr  Icennen 
wird,  als  den  Genuss,  die  Bequeniliehkeit  und  den  einsackbaren  Gewinn. 

Und  wenn  dann  dieser  AnierikanLsmus,  dieses  Extrem  des  westlichen 
Geistes  zusammentriöt  mit  dem  Geiste  des  Ostens,  wenn  diese  westliche  Genuss- 
nnd  Gtowinnancht  nioht  mit  der  fieberhaften  TbBtigkeit  des  Westens,  wenn  die 
orientalische  Indolena  nicht  mit  der  orientalischen  IfSBie^t  nnd  Anspruchs- 
losiglceit,  sondern  die  Genuss-  nnd  Gewinnsucht  mit  der  orientalischen  Indolenz, 
mit  der  üngewohnlieit  ernster  Arbeit  zusammentrifft  —  wie  sie  bei  uns  zu- 
sammentreffen werden  —  dann  kann  aus  dieser  Paarung,  geelu*tes  Haus,  nur 
eine  verkommene  und  sinkende  Oesellschaft  geboren  worden,  anter  deren 
Fihmng  wir  nor  mehr  eine  yerkonunende  Basse,  nimmermehr  aber  eine  Nation 
sein  werden. 

Die  ungarische  Nation,  geehrtes  Hans,  bei  ihrem  Zahlenverhältnisse,  ge- 
paart mit  ihrem  stolzen  Geistp,  ist  nicht  in  der  La;^e,  sicli  auf  eine  geringe 
Kolle  zu  beschränken.  Meiner  Überzeugung  nacli  wäie  für  die  ungarische 
Kation  einer  der  verhüngnisvollsteii  Irrthftmer  Jene  ülnshm,  dass  wiz  mit  dem 
Yerh&ltnisse  unserer  Anzahl,  in  diesem  Oebiete  Europas,  wo  wir  leben  und 
sterben  müssen,  zwischen  nnseran  geographischen  nnd  ethnographischen  Ver- 

*^  In  Ungarn  ebcuso  wie  in  Österreich  und  SUddeutschland  wird  unter  , Mittel- 
schule*' in  erster  Linie  das  Gymnasium  ventanden.  D.  R. 


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—  785 


baltniiMD,  ttidg  wlrcn,  dnen  Staat  iweitoi  oder  dritten  Banges  anflicht  an 

erhalten,  der  sich  um  andere  nicht  zn  kttmmem  hätte  und  nm  den  andere  sich 
nicht  kömmern  würden.  Solch  ein  Bos-fnanntpr  neutraler  Mitt^lstaat  hat  sicli 
im  Südosten  Europas  nie  dauernd  erhalten  können.  Die  ungarische  Nation 
wird  entweder  in  einem  durch  sie  aufrecht  erhaltenen  großen  ßeiche  eine 
naUgebende  SteUang  einnehmen^  and  das  war  die  Politik  der  Arpaden,  der 
Anjon's  und  der  Hnnvady's,  und  es  war,  ich  wage  es  zu  sagen,  der  Grund- 
gredanke  der  Politik  Franz  DeAks,  oder  sie  wird  nichts  anderes  sein,  als  eine 
unterdrückte  und  verkommende  Nationalität,  (reistige  Höhe,  geehrtes  Haus, 
die  äußerste  Anspannung  auf  diese  gerichtet,  das  ist  es,  womit  wir  das  un- 
günstige Verhlttnis  unserer  Anaahl  enetien  müssen. 

Mit  dieser  Hission,  geehrtes  Hans,  stimmt  es  aber  keineswegs  aasanmen, 
dass  wir  ans  unserer  nationalen  Bildung  jene  StAdien  hinauswerfen  sollen,  in 
denen  geistige  Höhe  sich  am  glänzendsten  offenbart,  die  in  nie  erreichter  Art 
die  Kenntnis  des  Menschenherzens  und  der  menschlichen  Seele,  die  FühruDg 
und  Begiemng  der  Menschen  lehren. 

Qeeiirtes  Hansl  Wir  branehen  unsere  eigene  Zeit  niebt  herabansetsen, 
diese  Zeit  hat  ihre  bewunderungswärdigen  Eimngenschaften,  mit  ihren  Er- 
findungen, welche  die  materielle  Existenz  sozusagen  von  Tatr  zn  Tag  umwülzen. 
mit  ihrem  fielifiliaften  Thatondrange  ist  diese  Zeit  eine  grosse  zu  nennen. 
AugeniUllig  ist  es  aber,  dass  das  Zeitalter  der  Elektricität,  der  Blitzzüge,  des 
Zonsntarifes  nnd  des  nerrenattaqnirenden  Telephons,  nicht  die  Zeit  der  geistigen 
Goncentration  sein  kann.  Sie  kann  nicht  die  Zeit  einer  harmonischen  Be- 
trachtung des  Menschen  nnd  der  Welt  sein.  Die  antike  Welt,  mit  ihren  viel 
einfacheren  Lebensbedingungen,  ihren  unverhiiitnismäßig  geringeren  Complica- 
tionen,  war  viel  beföhigter  als  wir,  dass  sich  der  Mensch  mit  dem  Menschen 
selbst  befbsse.  Daber  kommt  es,  geehrtes  Haus,  dass  die  Quellen  der  Weisheit» 
des  Bechtes  und  der  Kunst  in  erster  Beibe  aus  dem  Orieehenthume  flieOen,  neben 
weldiem  auch  die  lateinische  nnr  eine  Imitation,  eine  Second-Hand-CiviUsation 
war.  Aus  diesen  Quellen  nährt  sich  auch  heute  noch  selbst  unsere  materielle 
Entwickelnng,  denn  Kenntnisse  haben  wir  viele  neue  errungen  und  erringen 
neue  jeden  Tag,  neue  Ideen  kaum.  Dorch  diese  geistige  Goncentration  wurde 
die  Oesehiehte,  die  Oesetsgebung,  die  Kunst  der  Alten  so  lebrreidi  nnd  er- 
haben, durch  sie  wurde,  geehrtes  Haus,  die  Kenntnis  des  MrasehenhenMns  und 
der  Seele  so  tief  und  walir.  All  das  kann  aber  nnr  solange  anereeignet  werden, 
bevor  der  Kampf  des  Lebens  uns  der  Fähigkeit  tiefer  Eindrücke  beraubt  liat 
and  die  geistige  Goncentration  nicht  mehr  aufkommen  lässt.  Kommt  dann  das 
feifere  Jünglingsalter  mit  dem  Fiebern  der  Leldensohaften,  mit  dem  heiflen 
Wallen  des  Blutes,  kommt  dann  der  Kampf  ums  Dasein,  das  tagtlgliche  awei 
mal  zwei  ist  vier,  die  schroffe  Nüchternheit  des  einsackbaren  Gewinnes,  dann 
ist  es  zu  spät,  um  sich  all  das  zu  eigen  zu  machen,  und  wer  es  doch  ei-st  dann 
versuchen  wollte,  der  könnte  es  nur  mit  um  so  größerer  Mühe,  Anstrengung 
nnd  Zeitverlust,  oder  nnr  durch  die  Vermittelnng  bleicher,  unzulänglicher 
Übersetaungen  Teisuohen.  Das  aber,  geehrtes  Haus,  ist  ein  geradesu  demorali- 
sirendes,  die  nationale  Ambition  sdmn  in  der  Jugend  untergrabendes  Argument, 
dass  wir  diese  Stndien  .  an  denen  kleine  und  große  Nationen  gleichermaßen 
festhalten,  hinau.swerfen  sollen,  weil  die  geistige  Anstrengung  für  ans  Ungarn 
eine  übermUtiige  wäre. 


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—   786  — 


Das  wäre  nicht  die  Pioclamation  der  geistigen  Höhe,  sondern  die  der 
geistigen  Inferioriat»  4ie  AbdicatioD,  oieht  nur  von  der  Misdos  andere  ro 
fmuren^  sondern  die  Abdieatkm  in  der  Beibe  der  eivilisirten  Nationen.  (Jobann 

von  AsViütli.  Reden  gegen  die  Anflassnng  des  griechischen  Unterrichtes.  [Au 
den  Verhandlungen  des  Ungarischen  Reichstages.!   Budapest  1890.) 

Oberlehrer  Horst  (TromsöJ:  „Die  hühere  Schule  kann  als  eine  Schule 
für  die  allgemeine  Bildung  keineswegs  ala  angeMessen  betrachtet  werden.  Es 
mag  einem  ein  wenig  wvnderlich  Torkominen,  dass  ein  Hann,  der  seHist  üdlolog 
and  folglich  wahrend  seiner  Kindhdt  ganz  und  gar  in  der  classischen  Bflinng 
erzogen  ist  und  seitdem  noch  weiter  versucht  hat.  in  dieselle  einzudringen,  n 
einem  solchen  Standpunkte  gekcmimen  ist.  ich  bemerke  aber  dazu  nur,  dasa 
eine  zwanzigjährige  Beschäftigung  mit  dem  Unterricht  in  gerade 
diesen  Fftehern  bewirkt  hat,  dass  ich  an  diesem  Resultat  gekommen 
bin.  Gleichzeitig  habe  ich  eine  reiche  Gelegenheit  gehabt,  zu 
beobachten,  wie  wenig  diese  sogenannte  classische  Bildung  im 
Leben  geholfen  hat.  Unter  ..  allgemeiner  Bildung  "  verstand  der  Redner 
solche  Studien,  die  für  das  spätere  Leben  nothwendig  seien,  und  er  meinte, 
dass  das  Stadium  des  Lateinischen  and  Oiiechisefaen  In  dieser  Hinsicht  von 
keiner  wesentlichen  Bedeotong  sein  kffnne  für  andere  als  soldie,  die  be- 
absichtigen, ihr  Leben  mit  Studien  derselben  Art  zu  verbringen. 
Was  das  Griechische  betreffe,  wovon  man  zu  wenig  lese,  um  die  Sprache  zu 
lernen  und  zu  viel  im  Verhältnis  zur  Kostspieligkeit  der  Zeit,  glaube 
er  nicht,  dass  er  Worte  finden  könnte,  stark  genug,  um  seine 
Meinung  anszudrückenT  wie  nnnfitzlich  jene  Arbeit  sei." 

Dennoch  wollte  der  Redner  nicht  auf  einmal  die  classischen  Sprachen 
al  schatten;  „das  würde  eine  Revolution  s^ein.  und  in  Schulsachen  müsse  man 
refurmatorisch,  nicht  revolutionär  zu  Werke  gehen.  £r  wollte  vorläufig  nur 
das  Griechische  weggeschafft  sehen." 

„Kieht-FachmSnner  werden  gewiss  nicht  wenig  erstaunt  sein,  wenn  Ich 
erz&ble,  dass  diese  Aufbssung  im  Erdee  der  jingeren  Philologen  sehr  ya- 
breitet  ist.  Es  ist  mir  auffallend  gewesen,  dafs,  wo  ich  mit  jüngeren  Collegen 
diese  Sache  besprochen,  sie  wanne  Zustimmung  gefunden  hat.  So  ist  der  Fall 
ringsum  im  Lande,  das  heißt  in  den  kleinereu  Städten.  In  der  Hauptstadt  habe 
ich  weniger  Gelegenheit  gehabt,  die  Stimmung  zu  untersnchen.** 

Oberldirer  Echt  (Skien)  war  „auch  durch  sein  Schulleben  dahin  ge- 
kommeUf  dass  die  classische  Bildung  nicht  gebe,  was  sie  denjenigen  geben 
sollte,  die  aus  der  Schule  zu  einer  praktischen  Thätigkeit  Ubergehen."  ..Die 
Entwickelung  geht  mit  unerbittlicher  Logik  vorwärts,  und  es  kann  nicht  fehl- 
schlagen, dass  sie  ein  Ausscheiden  dessen,  was  man  die  classische  Bildung 
nennt,  herbeifBhren  wwde."  —  »Was  wir  bedürfen,  idnd  Büdnngsanstalteni 
die  im  Dienste  der  Jetztzeit  nnd  nicht  in  dem  der  Vergangenheit  stehen." 

Oberpflurrer  Wexelsen  wollte  sowol  das  Lateinische  als  das  Griechische 
verbannt  wissen.  ,,Da8  Lateinische  gehört  nicht  in  eine  Schule  für  die  allge- 
meine Bildung.  Es  muss  an  die  Universität  gewiesen  werden,  um  dort  von 
solchen  gesncht  m  werden»  die  es  für  ihre  Faehbüdang  bedtbUBn.**  Es  sei 
kein  Grondi  warum  man  es  behalten  solle.  Seine  Literatur  sei  ▼eraltet;  nadi 
der  Meinung  des  Redners  nicht  allein  nicht  gut,  sie  kOnne  sogar  gefährlich 
sein.   Die  Bedeutongi  die  man  der  formalistischen  Bildung  zuschreibe,  kOnne 


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—   787  — 


man  in  andenn  Disciplinen  finden.  Er  glaubte,  dase  es  mn  das  Latebiiaehe 
alt  dnen  nothwendigen  BestandtheU  nnaeier  hSheren  Bildung  geschehen  seL 

Caltusminister  Jacob  Sverdrnp  meinte  auch,  dass  der  Weg  zur  höheren 
allgreraeinen Bildung:  für  die  meisten  künftig  durch  die  modernen  Bildungs- 
elemente gehen  werde.  Nur  das  Griechische  abzuschaffen,  hatte  seiner 
Udanng  nach  keinen  Sinn.  „Warum  die  Axt  an  die  Wurzel  des  griechischen 
Banmea  lefsn  nnd  nidit  an  die  des  latdnischen?  Eine  Einheltssdinle  mit  einer 
ziemlich  starken  Betonung  des  Lateinischen,  das  halte  ich  für  einen  reactionllrea 
Schritt.*'  Als  eine  gemeinsame  Grnndlap:e  für  die  höhere  Bildung  glaubte  der 
Redner  die  Muttersprache  mit  Cieschichte  nennen  zu  kimnen.  Indessen  glaubte 
er  nicht^  dass  die  Zeit  schon  gekommen  wäre,  so  mit  eiuemmale  die  classische 
Büdnng  nun  Tfaote  binanszntniben. 

üllmann  (Bratsbergs  Amt).  „Ich  bin  völlig  übenengt,  dasi  das  einzig 
Rechte  wäre,  gerade  durch  zu  gehen;  das  Griechische  ganz  und  gar  zu  ver- 
bannen, und  das  Lateinische  nur  facultativ  in  den  obei-sten  C'Iassen  beizu- 
behalten; dass  folglich  Latein  künftig  nicht  die  Grundlage  für  die  hühere 
mdnng  sei,  sondeam  nir  eine  Nehenaadhe  ftr  diejenigen,  die  ans  praktiiehen 
Unaehen  lateinische  Vocabeln  bedibrfen;  denn  für  den  Angenhlick  ist  dies  das 
einzige,  was  die  Mehrzahl  der  Menschen  vom  Lateinischen  nöthig  hat." 

,,Wenn  sie  soviel  wipsen,  dass  sie  ein  wenig  Recept-  und  AjjotlK-kerlatein 
und  ein  wenig  lateinische  Sprichwörter  verstehen,  so  ist  dies  im  Grunde  alles, 
was  das  Lateinische  heutzut^ige  bei  den  Menöcheu  abgesetzt  hat,  wenn  mau 
nicht  Gelehrter  in  besonderem  Sinne  ist  Bei  der  Behandlung  dieser  Sache  be- 
gegnet uns  immer  die  Eigenthtkmliohkeit,  dass  die  Vertheidiger  der  classischen 
Sprachen  die  Gegenstände,  um  die  es  sich  handelt,  ynllstUndig  verwechseln. 
Man  spricht,  als  ob  die  Abscliaft'ung  des  Lateinischen  heilie,  das  Volk  in  die 
Zeiten  der  Barbarei  wieder  hiueinführen.  Mau  irrt  sich  dariu.  W  enn  mau 
das  Lateinische  abeehaflt,  sdiädigt  man  damit  nicht  die  Bildung.  Man  spricht 
TOm  Lateinischen  wie  von  einem  grofien  BUdnngsndttel  nnd  irrt  sich,  indem 
man  sich  einbildet»  es  sei  das  besondere  Fach  Latdn,  das  diese  Bedeutung 
habe,  während  es  dagegen  andere  Fächer  sind,  die  viel  mehr  als  das  Lateinische 
und  in  derselben  Zeit  dieselbe  formale  Ausbeute  wie  das  Latein  geben  können. 
Es  ist  ein  großes  Miss  Verständnis,  dass  es  eigentlich  das  Lateinische  sei,  das 
die  Hnmanifxra  bfld^  nnd  das  die  hnmane  Bildung  zaitthren  solle.  Mit  lAtdn 
kann  man  in  der  Sache  (im  Wesen)  in  Bund  und  Grund  roh  sein.  Was  aber 
die  humane  Bildnns-  gibt,  das  ist,  der  großen  Culturgedanken  der  Menschheit 
theilhaft  zu  sein,  und  das  kann  man  durch  das  Lateinische  als  Hauptfach 
nicht  werden.  Man  muss  wegen  des  Lateins  eine  große  Menge  Sachen  liegen 
lassen,  die  gerade  für  die  Bildnng.  befrachtend  sind.  Ich  sage  dies,  weil  ich 
Anspielmgen  gehOrti  dass  möglicherweise  ein  direoter  Antrag  gestellt  wird, 
zu  einer  neuen  Schulordnung  überzugehen,  nnd  zwar  einer  solchen,  die  auf  eine 
einzige  Linie  basirt  und  ohne  anderes  I-Atein  als  das  wahlfreie.  Einem  solchen 
Antrag  werde  ich,  was  mich  betrifi't,  mit  der  größten  Freude  beistimmen, 
indem  ich,  kraft  des  bisschen  philologischen  Oewissens,  dass  ich 
noch  von  meinen  Prüfungen  Übrig  habe,  gestehe,  dass,  falls  es 
irgend  etwas  Unfruchtbares  und  Unsinniges  in  der  Welt  für  uns 
Germanen  zu  treiben  gibt,  dies  vor  allen  dies  Fach  (Latein)  ist, 
dessen  Ausbeute  nichts  ist  als  eine  gewisse  formale  Bildung,  die 


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man  auch  dareh  andere  Fftcher  erhalten  kann,  w&hrend  gleich- 
zeitig Leben  nnd  Wirklichkeit  keinen  Nutzen  von  dietem  Fache 

haben." 

Hertzberg  (aus  Christiania,  ehemaliger  Ciiltusminister,  Tlieologe).  „Was 
die  zwei  Herren  Oberlehrer  betrifft,  die  so  angesehene^  Stellangen  an  unseren 
hlHierai  Schalen  haben,  nra»  ich  geeteheo,  dass  ihre  Äntorangen  mich  nicht 
wenig  in  Verwunderung  setzten.  Sie  lind  alle  beide,  soweit  mir  bekannt^ 
Männer,  die  nicht  allein  mit  rnteresse  im  Dienste  der  höheren  Schule  arbeiten, 
und  dies  gerade  als  Lehrer  in  den  classischen  Sprachen,  sondeni  auch  ver- 
stehen, Literesse  für  diese  Fächer  unter  ihren  Schülern  zu  wecken.  Sie  müssen 
daher  entweder  sich  lelbat  ganz  missTeratehen,  oder  ich  mnas  sagen,  sie  be- 
finden lieh  in  einer  nicht  wenig  bedaaemiwötn  Stellnng»  indem  lie  eine 
Aufgabe  haben ,  an  deren  Wert  und  Bedentong  sie  so  stark  zweifeln,  wie  sie 
heute  an  den  Tag  gelegt  haben  ....  Als  im  Gegensatz  zu  diesem  Standpunkt 
sei  es  mir  erlaubt,  auszusprechen,  dass  ich  glaube,  die  ciassische  Bildung  hat 
manche  Probe  und  manchen  Storm  bestanden,  viel  stärker  und  schwerer  als 
heate  hier,  nnd  ich  g^be,  dass  sie  anch  künftig  eine  Probe  werde  be- 
stehen können,  ohne  erschüttert  zu  werden.  Die  ciassische  Bildung  bat  so 
tiefe  Wurzeln  in  der  europ;Usclien  allgemeinen  Bildung  geschlagen ,  dass  sie 
sozusagen  ein  Glied  derselben  g-ewoiilen  ist.  Es  geht  darum  nicht  an,  sich 
anzustellen,  als  wäre  diese  ciassische  Bildung  etwas  Veraltetes^  nein,  diese 
Bildong  kann  nicht  Teraltet  werden;  sie  kann  nicht  steihen,  denn  sie  ist  mit 
der  (beschichte  der  Menschheit  v<m  ihrer  Kindheit  an  rasammengewaohsen. 
Die  classischen  Sprachen  bezeichnen  den  Bildungsweg,  den  die  Geschlechter 
betreten  müssen,  falls  sie  den  Höhepnnkt  der  Bildung  der  Zeiten  erreichen 
wollen;  falls  sie  sich  nicht  von  der  gemeinsamen  großeu  Culturarbeit,  die  jetzt 
in  den  dvilisirten  Ländern  vorgeht,  ansschlieflen  wollen.  Namentlich  sei  es 
mir  erlanbt,  darauf  anfinorksam  m  machen,  weldie  Bedeutung  die  clasitschfin 
Studien  für  unsere  Kirche  haben.  Falls  man  das  Griechische  in  nnseren 
höheren  Schulen,  die  zur  Universität  führen,  striche,  oder  falls  man  es  bis  zu 
den  Universitätsjaliren  aufsclx'ilie,  fürchte  ich,  dass  man  der  protestantischen 
Kirche  eine  tödliche  Wunde  versetzt  

ÜUmann.  „Wenn  der  Abgeordnete  ans  Christiania,  Herr  Hertsbergi 
nns  enUdte,  dass  die  ciassische  Bildung  so  manche  Probe  bestanden  habe 
und  gewiss  auch  diese  Probe  bestehen  werde ,  so  leugne  ich  aufs  bestimmteste 
die  Voraussetzung,  von  welcher  Hr.  Hertzberg  ausgeht.  Die  ciassische  Bildung 
hat  keine  einzige  Probe  bestanden.  Alle  Angriffe,  die  auf  diese  Bildung 
gemacht  wenden  sind,  haben  nnr  bewirkt»  dasi  die  Philologen  den  F<ndeningen 
der  Zeit  die  Thttre  ge9ifiiet,  dadurch,  dass  sie  erst  ein  Fach  nnd  dann  dn, 
anderes  der  modernen  Fächer  aufgenommen  und  denselbeu  einen  Plata  neben 
ihrem  lieben  Lateinischen  und  Griechischen  gegeben  haben  nnd  zwar  unter 
stetigem  Kampfe  und  der  stetigen  Befürchtung,  dass  sie  (die  Philologen)  ilir 
Lateinisch  und  Griechisch  verlieren  müssten,  weil  die  Zeit  so  gottlos  geworden 
wäre,  dsss  sie  anf  etwas  anderem  als  den  dceronisnisehen  Fddem  ni  wandern 
w  ünscht.  Nein,  die  ciassische  Bildung  hat  keine  Probe  bestanden ;  die  ciassische 
Bildung  hat  aber  verstanden  —  nnd  in  dieser  Hinsicht  ist  sie  sehr  geschickt 
gewesen  —  sich  zu  accomodiren.  Sie  hat  verstanden,  die  Schule  mit  einer 
solchen  Menge  Fächer  neben  Latein  und  Griechisch  zu  füllen,  dass  sie  die 


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^    789  — 

driDgeadsteD  AnsprUehe  befriedigt  hat,  nad  dadnreh  hAben  inr  -endlieh  eine 
Schnlwdnong  erliaUen  mit  einer  so  großen  ÜberfüUang,  mit  einem  solchen 
Vielerlei  wie  die  jetzige.  Dies  Verhältnis  bezeugt  am  klarsten,  dass  die 
classische  Bildung  äus  dem  letzten  Loche  pfeift.  Was  noch  übrig  bleibt,  ist, 
den  letzten  entscheidenden  Stoß  gegen  sie  zu  richten,  so  dass  die  Hicbtung,  in 
weither  die  leisten  Yermdeningen  geecihehen  sind,  jetet  die  aUeln  honeheode 
wird»  indem  die  modernen  Fächer,  die  sich  hineingedrängt  haben,  stehen  bleiben 
und  erweitert  werden,  und  indem  die  übrigen,  die  man  trotz  der  Einfdbmng 
moderner  Fächer  beibehalten  liat,  einen  untergeordneten  Platz  bekommen." 
(Debatte  im  norwegischen  Stortiug.  Referat  von  K.  Malm,  veröftentlicht  von 
Pirot  Sehmeding^Dniebnrg.  1890.) 

Die  Giieehea  verdankten  der  orientalisehen  Cnltnr  mindeetena  ebeneeviel 
wie  wir  der  griechlBch-römischen ;  aber  es  fiel  ihnen  nicht  ein ,  von  jedem 
Gentleman  {xalog  xat  «ya^^oc)  die  Kenntnis  der  orientalischen  Sprachen  zu 
verlangen.  Viele  Stellen  des  Alten  Testamentes  sind  schöner  und  wichtiger 
als  alle  griechisch-römischen  Classiker  zasammengenommen;  aherdeelialbzwfaigt 
man  die  Gymnaaiaateii  doeh  niefat  nun  Erlernen  der  hebrUiaehen  Sprache  (ab> 
gesehen  etwa  von  künftigen  Tlieologen).  Man  darf  femer  nicht  vergessen,  was 
alle  europäischen  Völker,  einschließlich  der  Alten,  den  Ägyptern,  den  Indiern 
und  niuiientlicli  den  Assyriern  verdanken.  Sollen  die  Gymnasiasten  deshalb 
Ägyptisch,  Sanskrit  und  Assy lisch  treiben?  Es  ist  sehr  beachtenswert,  dass 
ein  phOolegiachw  Faebmann  yon  politiaeh  oeneenratiTer  Biehtong,  der  be- 
rühmte NationalSkwom  W.  BoBoheTi  mit  Becht  behauptet,  man  kOnne  die 
Classiker  durch  gpttte  Übersetzungen  kennen  lernen  (ähnlich  wie  die  meisten 
Gelehrten  und  Gebildeten  die  Bibel  ans  der  Lntlieisclit-n  Übersetzung  kennen). 
Selbst  künftige  Theologen,  Philosophen,  nichtclassische  Philologen,  Juristen, 
NationaMftfloomeii,  Hedietnw  brancte  die  alten  Sprachen  nicht  in  der  Weise 
kfiUiftiger  Profeiaoren  nnd  Gymnasiallehrer  fBr  alte  Sprachen  sn  treiben. 
Lateinische  und  griechische  Scripta  sind  fOr  sie  nicht  nSthig.  Lateinisch  hat 
länpst  aufgehört,  die  internationale  Gelehrtenspi-nclie  zu  sein.  Zur  internatio- 
nalen Verständigung  braucht  man  heutzutage  Englisch  und  Französisch.  Der 
Berliner  Arbeiterschutz  •  Congress  von  1890  verhandelte  z.  B.  französisch. 
Meines  Wissens  machen  kflnMge  christliche  Theologen,  aneh  ansgeseiehnete 
Kenner  des  Hebräischen,  niemals  hebräische  Scripta.  Es  wäre  banausisch,  m 
beluiuiiteit,  ein  Landpfarrer  brauche  keinEngliscli,  die  assyriolog-ischen  Forschungen 
der  Engländer  und  andere  englisch-amerikanische  Werke  und  Zeitschriften 
hätten  für  ihn  kein  Interesse.  Jeder  Gebildete  muss  überhaupt  mindestens 
soviel  Englisch  verstehen,  wie  dentsche  Gymnasiasten  dnrohschnittUeh  FranaS- 
siseh  verstehen.  Das  Englische  ist  anf  den  dentsehen  Gymnaden  leider  nicht 
obligatorisch.  Infolgedessen  verstehen  95  bis  99  Procent  der  anf  classischen 
GjTnnasien  vorgebildeten  deutschen  Studenten  der  Rechte  und  der  National- 
ökonomie kein  Englisch.  Sie  machen  Fehler  bei  der  Aussprache  der  sehr  ge- 
wöhnlichsten Wörter,  und  sie  können  nicht  einmal  kurze,  leichte  englische 
Sfttse  ftbersetcen.  Fflr  Philosophen,  NationalSkonomen,  Juristen,  Natur- 
forscher u.  s.  w.  ist  die  Kenntnis  des  Englischen  unentbehrlich.  (Dr.  Karl 
Walcker,  Politik  der  cr>nstitutionellen  Staaten.    Karlsruhe  1890.) 

Dass  die  alten  Sprachen  in  Zukunft  einen  viel  geringeren  Zeitaufwand 
beanspruchen  werden  als  jetzt,  steht  ganz  fest.    Im  Mittelalter  waren  Latein 


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—   790  — 


md  Grieohiteh  gus  am  Flatse;  heate  staid  die  Details  denelben  recht  ttber- 

flUssig  geworden.  Kan  hat  berechnet,  dass  (Ier6ymnasialabitarient4066  S  t  u  n  den 
ohne  Hansarbeit  nnr  in  der  Schule  für  Latein  nnd  Griechisch,  der  Mediciner 
dagegen,  srlbst  wenn  er  fünf  Semester  lang  tUglich  vier  Stnnden  die  Kliniken 
besacht,  zur  Vorbereitung  für  die  verantwortungsvolle  Praxis  nur  2  löü  Stunden 
yerwendet.  Und  vnm  bat  jener  Abitnrient  yoii  aelnen  4066  Stondeii  eneielit? 
Er  kann  schlecht  Latein,  das  er  mit  wahrer  Wonne  an  vergessen  sich  bestrebt, 
und  er  kann  wenig  Griechisch,  das  er  gar  bald  von  selbst  vergisst. 

Die  Grammatokraten,  wie  sie  Prof.  Esmarch  so  schön  nennt,  be- 
hanpten  freilich,  die  grammatischen  Übungen  seien  eine  geistige  Gymnastik, 
welche  nur  die  alten  Sprachen  gewähren.  Ich  glaube  aber  nicht,  dass 
Jemand  beweisea  kann,  die  geistig«  Gymnastik  sei  grSlIer»  wenn  der  Sortaner 
„amo,  amas,  amat"  sich  einlernt,  als  wenn  er  ,J'iüme,  tn  aimes,  11  aime"  oder 
„I  love,  thon  lovest,  he  loves"  lernt.  Virchow  sa^te  mit  Recht:  „Dass  die 
alten  Sprachen  etwa  einen  idealen  Zweck  hiitten,  ist  doch  nur  eine  Einbildung 
verstockter  Philologen."  Diese  natürlich  müssen  den  wie  eine  ewige  Krank- 
heit fortgepflanston  Sata:  „Die  alten  Spraehoi  schufen  den  Geist  mehr  als 
die  nenen"  immer  weiter  starr  vertheidigen;  denn  sie  leben  ja  von  der  Lehre 
der  alten  .Sprachen.  Der  grammatische  Unterricht  ist  aber  überhaupt  in  gar 
keiner  Sprache  ein»  geistige  Gymnastik,  wie  in  der  Schritt  von  Professor 
Loewenthal  glänzend  uacltgewiesen  wird;  denn  Auswendiglernen  gram- 
malladier  Begeln  ist  keine  Deidtarbeit,  sondern  nnr  Mnfaiiken  Ton  WertMi 
ohne  Sinn,  welches  dorchans  kdnem  bei  dem  Kinde  vorhaadenen  Bedfirihia 
entqpridit. 

Fem  sei  es  von  mir,  die  Schfinlieiten  der  lateinischen  und  griechischen 
Classiker  leugnen  zu  wollen;  aber  wer  wollte  nicht  zugestehen,  dass  auch  im 
Sanskrit  und  in  hebräischen  Büchern  sehr  viele  Schönheiten  enthalten 
seien?  Und  doch  begnflgen  wir  nos  mit  gntoi  Übersetsnngen.  So  tet  es  anch 
mit  den  alten  Classikern;  nnr  wer  die  Sprache  völlig  beherrscht,  kann  ihre 
Schönheiten  würdigen .  nnd  so  weit  kommen  eben  die  Gymnasiasten  nielit. 
Gutzkow  hat  ganz  recht  mit  seinem  Satze:  ..Man  wird  den  Schatz  des 
Alterthums  erst  heben,  wenn  mau  auf  den  Schuleu  die  alten  Classiker  in  guteu 
Übersetznngen  liest  nnd  das  Stndinm  des  Urtextes  den  Gelehrten  ftbwUast." 

Aber  mit  den  grammatiseh-philologischen  Qnilereien  der  todten  Sprachen 
nnd  namentlich  mit  dem  ganz  überflüssigen  Rückübersetzen  ans  dem 
Deutschen  ins  Lateinische  oder  Griechische  wird  jetzt  die  Hauptzeit  vergeudet, 
die  in  der  Zukunftsschule  meist  wichtigeren  Gebieten  überlassen  werden  wird, 
den  lebenden  Sprachen,  Französisch  und  Englisch,  die  der  Staatsbürger 
des  XIX.  nnd  XX.  Jahrhunderts  nothwendig  für  das  Leben  braachti  ftmer 
der  Ilathematik,  Geschichte.  Cnltni  ge.'-chichte,  Geographie,  Physik,  Chemie,  die 
für  die  Schulung  des  Geistes  ungleich  wichtiger  sind  als  alle  todten  Sprachen 
zusammen.  Auch  dem  Zeichnen,  dem  Turnen  und  dem  Ilaiidfei tigkeitsunterricht 
wird  mehr  Platz  vergönnt  werden  als  bisher.  Denn  bei  einer  harmonischen 
Ansbildnng  mvss  anch  die  Hand  mehr  Berflcksichtigung  erfthren.  (Prof. 
Dr.  Herrn.  Cohn,  Breslau.    Die  Schule  der  Znkanft.   Hamburg  1890.) 

Denjenigen  Z(>glingen,  welche  die  Universität  besuchen,  wii*d  es  (im  Sinne 
der  Zukunfts.schule.  I>.  R.)  an  vielen  Kenntnissen  gebrechen,  welche  jetzt  den 
Abiturienten  geläuüg  sind ;  sie  werden  weder  die  griechische  noch  die  lateinische 


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Grammatik  beheiTi>chen ,  Doch  auch  imstaude  sein ,  die  classiscben  Schrift- 
tUHlet  im  Original  zn  lesen.  In  enter  Linie  trifft  da»  die  Philologen,  in 
sweiter  die  Juristen,  Historiker  und  Theologen.  Ebenso  wie  letzteren  schon 
jetzt  das  HebrHische  auf  der  ünivensitilt  gelehrt  wird,  so  miiss  nun  auch  jenen  das 
Griechische  und  Lateinische  daselbst  gelehrt  werden.  Dazn  dient  am  hesten 
ein  Seminar,  welches  der  Universität  unterstellt  ist.  Dieses  wird  nun  aber, 
im  Gegensatz  an  der  heutigen  Schnle,  nur  Ton  solchen  Studenten  besneht 
werden,  die  ein  vitales  Aiteresse  an  dem  Erlemen  der  claaaisGhen  Sprachen 
haben.  Der  Fleiß  wird  deshalb  größer  sein;  der  Fortschritt  schon  dfldialb 
schneller,  weil  die  Grammatik,  infolge  der  allgemeinen  Geisteabiidnng,  viel 
schneller  verstanden  werden  rauss. 

Diejenige  fremde  moderne  Sprache,  welche  als  Büdungsmittel  und  als 
Ersatz  fBr  das  Griechische  nnd  Lateinische  yw  allen  anderen  Berttekaiehtigang 
verdient,  ist  die  franzSsische. 

Die  Vorzüge  derselben  liegen  in  erster  Linie  in  ihrer  Grammatik,  welche 
einem  Gesetzbuch  von  der  Dnrchsichtigkeit  des  Code  Napoleon  gleicht.  Ihre 
Begeln  sind  streng  und  klar;  mau  wagt  nicht,  sie  zu  übei'treten,  aber  man 
empAndet  Frende,  sie  zu  befiolgen.  Dieser  Zug  geht  durch  die  ganze  fr«ni5- 
sisdh«  literatnr,  und  keine  Beyolntion  hat  daran  etwas  zn  Indem  vemocht. 

Es  gibt  nichts  Heiliges  noch  Erhabenes,  das  nicht  von  der  ehien  oder 
anderen  Partei  in  Frankreich  verspottet  oder  in  den  Schmutz  gezogen  worden 
wäre:  an  die  Sprache  hat  niemand  zu  riihren  gewagt.  Die  Achtung  vor  ihr 
zeigt  sich  überall,  von  den  Annoncen  der  Geschäftshäuser  bis  zu  den  Reden  in 
der  französischen  Akademie,  und  auf  jeder  Übertretung  stdit  die  harte  Strafe 
des  ridicule.  Der  Willkür  im  Satzbau  ist  kein  Spielraum  gelassen,  wie  ihn 
sich  im  Deutschen  und  im  Lateinischen  ein  jeder  selbst  schaffen  zu  dürfen 
glaubt.  Dafür  aber  herrscht  ein  solcher  Keichthum  an  Wörtern,  welche  sehr 
Ähnliches  bedeuten,  dass  der  feinen  Nuancirung  im  Ausdruck  viel  Freilieit 
gewShrt  ist  VnA  so  eignet  dch  die  Sprache  ebenso  sehr  zur  Darstellnng 
mathematischer  Theorien,  wie  zn  dem  Ansdrack  anmuthiger  Gedankenspiele. 

Eine  solche  Sprache  so  zu  beherrschen,  dass  man  sich  fließend  in  ihr  ans- 
zudrficken  vermag,  ohne  ihre  Grammatik,  noch  den  Sinn  ihrer  Wörter  zn  ver- 
letzen, das  ist  ein  schönes  Ziel  für  den  lutellect  und  den  Geschmack.  Der 
Weg  zu  ihm  hat  außerdem  das  fOr  sich,  dass  er  durch  die  bald  heiteren,  bald 
groBartigen,  fsst  immer  schönen  Gefilde  der  franzSrisehen  Literatnr  fBhrt. 
"Wer  in  letzterer  nur  eine  Ansammlung  von  Ehebruchsrumaneii  sieht,  der 
straft  sich  selbst  durch  sein  ungerechtes,  einseitiges  rrtheil.  Auch  brauchen 
wir  für  die  Schule  nicht  die  französische  Literatur  der  Gegenwart  zu  berück- 
sichtigen; es  bleiben  dann  immer  noch  die  Werke  mehrerer  Jahrhunderte  zur 
Auswahl.  (PanlGfissfeldt,  Die  Erziehung  der  deutschen  Jugend.  Berlin  1890.) 


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Pidagogiselie  Rndseliaii. 

Berlin.  —  (Lose  Hliitter  vom  Lelirortage  und  anderes.)  —  Der  gewal- 
tige Beifalisstorm  nach  der  Festrede  hatte  sich  gelegt,  die  Erregnng  zitterte 
in  Tiden  Oemtltiieni  nachi  w  dass  eich  natanKeniäß  grolle  Chrappen  im  Saale 
bildeten  und  lebhafte  Aoaebiandersetznngen  eintraten.  Ihr  Correspondent  wollte 
sicli  einen  We^  zum  Ausgang-  suchen,  als  ihm  von  befrenndotor  Seite  niitpretlieilt 
wurde,  Stöcker  sei  in  einer  jener  Gruppen  und  {j^reife  den  Festredner  lebhaft  an. 
Sofort  lenkte  ich  meine  Schritte  dahin  und  stand  bald  dem  „neuen  Luther^'  gegen- 
ttber,  dem  gerade  der  dnutiadie  Aussprach  entaehlfipfte,  es  sei  „purer  BlOd» 
ainn**,  allgemeinen  Beligionannterricht  m  fbrdem.  Ea  entatand  nnn  folgende 
kurze  Unterredung  unter  Gegenwart  von  100  Zeugen,  die  dem  theologischen 
Rüstzeug  des  Herrn  Hofpredigers  kein  lieaondera  gOnatigea  Zengnia  anaateUen 
dürfte. 

„Warum  aoU  ein  aligemeiner  Beligionsunterricht  nnmOglich  sein?" 
„Weil  ea  nichta  gibt,  worfiber  aieh  die  Terachiedenen  Ohriatoi  vereinigen 
würden.** 

„Gar  nichts  dergleichen  aoll  ea  geben,  nicht  die  drei  Artikel  des  christ- 
lichen Glaubens?" 

„Nein,  denn  es  gibt  viele,  die  sich  Christen  nennen,  aber  beispielsweise 
die  Gottheit  Christi  leugnen.**  , 

„Zugegeben,  so  tot  doeh  allen  der  Qlanbe  an  einen  Oott  gemein.'' 

.,Xein  f  !),  denn  CS  gibt  aogar  Professoren  der  Theologie,  die  das  Dasein 
Gottes  leug-nen.*' 

„Was  für  Professoren  der  Theologie  mögen  das  sein?'^ 

„Daa  aittd  paatheistlsche  Theologen." 

„Für  mich  beateht  hierin  ein  strenger  Unteiachied;  ein  Christ  kann  nicht 

Pantheist  und  ein  Psantheist  nicht  Christ  sein." 

„Die  Herren  nennen  sich  aber  doch  Christen;  es  verhillt  sich  mit  dem 
Christenthume  wie  mit  dem  Obst.  Es  gibt  Apfel,  Birnen,  Priauraen  etc.,  zu- 
sammen Obst,  so  auch  Katholiken,  Protestanten,  Methodisten  etc.,  zusammen 
Chriaten.« 

„Das  kann  nicht  emstUch  gemeint  sein.  Daa  Christenthum  soll  für  seine 
Bekenner  nicht  mehr  Gemeinsames  bieten  als  etwa  ein  Apfel  mit  einer  Birne? 
Wenn  der  Mann,  dem  eben  die  Mausende  zugejubelt  haben,  diese  Behauptung 
aufgestellt  hätte,  wie  würden  die  Herren  zetern,  er  uegirt  das  ganze  Christeu- 
thnm,  er  ist  ein  Antichrist!  Wenn  aber  solche  Überzengnngen  aelbat  bei 
Ihnen,  Herr  Hofjprediger,  m  ihiden  sind,  so  ist  es  eben  hSehste  Zeit,  oonfessiona- 
losen  Religionsunterricht  za  ertheilen ,  damit  der  Christenheit  wieder  daa  Ge- 
meinsame znm  Bewosstsein  gebracht  wird." 


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Die  Unterrednngr  fand  hiermit  ein  Ende»  da  die  Pause  sich  endete  und 

die  Verhandlungen  bald  ihren  Anfang  nahmen. 

^Vie  sehr  die  Hitze  des  Gpfeclites  den  Herrn  hingerisßen,  beweist  der 
Vergleich  des  Christentimms  mit  dem  Obst!    0,  Adolf!  Adolf!!  Adolf!!! 

"Was  er  weiter  geleistet  hat,  «m  einen  Skandal  m  erregen,  weiß  jeder. 
Sein  Zorn  iit  beaondert  dadnreh  gestiegen,  dass  ihm  in  OffentUdier  Versamm- 
Inng  die  MIDgjiehkeit  nicht  gegeben  war,  Ärgernis  an  erwecken,  obwol  ich 
glanbe,  es  wSren  wenig  Lorbeeren  zu  holen  gewesen. 

Einige  Tage  nach  den  Verhandlungen  hatte  ich  Gelegenheit,  einen  ge- 
heimen Regieningsrath  zu  sprechen,  der  die  große  Sachlichkeit  lobte,  mit  der 
diese  gefBhrt  seien.  Nur  war  er  sehr  befremdet,  dass  eine  eingehende  Debatte 
über  den  Vwtrag  Clansuitzers  nicht  stattgefunden  hatte.  Gerade  weil  der 
Vortrag  gegen  soviel  Widers])rnch  auf  die  Tagesordnung  gesetzt  und  weil 
man  besonders  in  maßgebenden  Kreisen  viel  Gewicht  auf  dieses  Thema  gelegt, 
sei  man  verwundert  über  das  etwas  dürftige  Ergebnis.  Es  ist  ja  auch  gai* 
nieht  an  bestreitea,  dass  der  Sache  noch  manch  anderer  Gesichtspnnlit  absa- 
gewinnen  wftre.  Die  Sdinld  liegt  wol  an  der  FfiUe  des  Ifaterials  für  den 
Lehrertag,  das  zu  bewältigen  war.  Man  wird  nicht  fehlgreifen,  wenn  man  ea 
als  die  Meinung  der  Mehrzahl  bezeichnet,  dass  es  des  Guten  zu  viel  war. 

Für  jede  Hauptversammlung  ein  Thema,  dieses  aber  gründlich  wird  wol 
das  Ideal  der  Znknnft  werd^K. 

Allgemein  hat  es  anch  Verwnnderang  erregt,  dass  dw  Hidster  von  Oosder 
in  der  bekannten  Abgeordnetensitzung  die  Darlegungen  des  Festredners  ftber 
die  Punkte,  in  welcher  Ostern  ichs  SclmlweKen  dem  Preußens  überlegen  sei, 
einfach  als  unrichtig  bezeichnete,  oline  doch  eine  Widerlegung  zu  unternehmen. 
Bei  der  sonstigen  Sachlichkeit  des  Henn  ist  es  allerdings  überraschend. 

Der  2.  wie  Torher  der  1.  von  den  8  städtischen  hSheren  Bttrgersdinlen 
der  Stadt  Berlin  ist  soeben  dif  Ii*  rechtigung  ertheilt,  Abgangszeugnisse  aus- 
zustellen, die  für  den  Einjährig  -  Freiwilligendienst  Anspruch  geben.  Pioses 
Recht  ist  um  .so  wirlitifrer,  als  für  unsere  Verbilltnisse  die  Lebensfähigkeit 
dieser  Schulen  davon  ubiiangt;  leider  ist  eben  ein  großer  Theil  unseres  Schul- 
wesens anf  den  einjährigen  Dienst  angeschnitten,  eine  wirkliche  Vorbildung 
jfir  das  Lehen  haben  dämm  wenig  Schüler  der  h5heren  Anstalten.  Befremd- 
lich ist  es  und  bedauerlich  zugleich,  dass  man  mit  dem  Plane  umgeht,  für  diese 
Bürgerschulen  Unterclassen  einzurichten.  Sie  sollten  nach  dem  (iründungs- 
plane  Schulen  sein,  die  dem  12jährigen  Schüler  der  Elementaischule  eine 
Fortsetzung  und  Ergänzung  seines  Unterrichtes  ermöglichten.  Richtet  BUtn  nnn 
Unterclassen  ein,  so  wird  diese  Wolthat  in  vielen  F&llen  illnsorisch  gemacht; 
denn  jeder  Vater  wird  aus  begreiflichen  Gründen  seinen  Sohn  so  früh  als 
möglich  in  die  S'chnlo  scliicken.  die  <'i-  absolviren  soll.  Dadurcli  wird  sie  wieder 
zu  einer  Institution  der  Wdlliabendt.n.  Auch  die  \'olks.scbul('  leidet  darunter, 
da  ihr  auf  diese  Weise  die  Kinder  besserer  Stände,  die  sie  sich  in  den  letzten 
swei  Jahrceluiten  hier  erobert  hat,  wieder  verloren  gehen. 

Eine  Nachricht  von  höchster  Wichtigkeit  für  Preußens  Schule  dnrchlftnft 
soeben  die  Presse.  F.'i  soll  im  Cultusministerinm  da.'i  beinahe  zur  Seoschlange 
gewordene  rnteiriciitsgesetz  ausgearbeitet  st  in  und  in  nächster  Sitzung  des 
Hauses  der  Abgeordneten  vorgelegt  werden.  Die  Sache  scheint  diesmal  ernst» 
kalter  m  sein  als  sonst.  Der  Bttcktritt  ]^mareks,  nnter  dessen  Hemcfaafk 


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Hilter  iimerpolitiscIiM  Leben  fast  stockte,  scheint  andi  hier  Bewegung  gebntcbt 

zn  liaVien.  Was  von  der  augenblicklichen  Strömung  oben  für  uns  zu  hoflFen 
ist,  gestelien  wir  es  offen,  dürfte  nicht  allzn  viel  sein.  Wo  ist  jetzt  ein  Falk? 
Es  ist  das  herbe  Gesclück  der  preußischen  Schule,  dass  sie  jahrzehntelang 
Aschenbrödel  mr,  und  jetzt,  wo  ihr  ein  Frübroth  anfisngeben  scheint,  fehlt  er, 
den  ä»  nie  vefigeeMo  lumn. 

Vielleicht  yerSffenÜicht  man  vorher  den  Bntworf,  nm  dar  VAmtUeliea 
Meinnng  Gelegenheit  za  geben,  Kritik  y.n  üben. 


Aus  Württemberg.  Pleuarversammlung  des  Württemb.  Volks- 
eebnllehreryereint  in  Esslingen.   Als  Festetadt  war  Esslingen  gewftUt 

worden,  weil  in  ihren  Mauern  vor  50  Jabren  dw  Verein  gegründet  wurde. 
Am  6.  August  fand  daselbst  die  VorverBamnilung  im  Traubensaal  statt, 
welche  über  40<J  Theilnebmer  zählte,  darunter  Gäste  und  Vertreter  der 
Brudervereine  aus  Baden,  Bayern,  Hessen  und  Preußen.  Es  wurden  verschie* 
desi  Aatrlg»  der  FOlalTereine  besproehen  nnd  die  Tagsaordaong  IBr  den  fol- 
genden Tag,  den  Haopttag,  festgestellt.  Nnn  folgte  man  einer  Einladung  aei> 
tena  der  städtischen  Behörden  anf  die  Burg,  wo  Stadtpfleger  Weith  die  Fest- 
gäste in  freundlicher  Ansprache  namens  der  Fest-  und  Seminarstadt  willkommen 
hieB.  Abends  gesellige  Unterhaltung  im  Kugel'schen  Festsaal,  bei  der  die 
sti&dtiBCben  Gesangvereine  nnd  der  „pädagogische  Kranz"  mitwiricten,  wosn 
aieb  anch  viele  Bürger  der  Stadt  mit  Familie  eingeftinden  batten  nnd  die  ttb- 
lldien  Begrüßungsreden  etc.  vom  Stapd  getassen  wurden. 

Am  7.  August  tagte  die  Vollversammlung  im  Kugel'schen  Saale,  mit 
welcher  zugleich  die  Jubelfeier  des  .ÖO jilhrigen  Bestehens  des  Vereins  und  eine 
Diesterwegfeier  verbunden  war.  Eröffnet  wurde  die  X'ersamiuluug  nach  An- 
bOrung  einen  OrgelconeerCa  In  der  Liebfranenldrehe  mit  dem  yientimmigea 
Cbnral:  Nun  lob,  mein'  Seel',  den  Herren^  und  der  Begrüßungsrede  des  betagten 
Vor?5tande8,  Oberlehrer  Laistner-Stuttgart.  Daranf  richtete  Pürgeransschnss- 
obmann  Brintzing-er  im  Auftrage  der  bürgerlichen  Collegien  freundliche  Worte 
an  die  Versauuulung,  in  denen  er  hervorhob,  dass  man  hier  erkenne,  welch 
greSea  Verdienst  der  Verein  für  Hebung  der  Volkaediule,  die  das  Fundament 
des  Staatswesens  bilde,  habe.  Dun  folgte  Mittelschnllehrer  Aner- Eselingen 
namens  des  Beiirkslehrervereins.  Mit  allgremeiner  Zustimmung  wurden  dessen 
??chlu88worte  aufgenommen:  Lehrer,  seid  treu  dem  Amt,  treu  dem  Stand,  treu 
dem  Verein.  In  diesem  Zeichen  werdet  ihr  siegen!"  Nun  ertheilte  der  Vor- 
stand den  fremden  Gästen  das  Wort.  Lehrer  Schröer-Berlin  führte  aus,  dass 
unter  den  deutschen  Lehrern  die  Wflrttemberger  die  ersten  waren,  die  sieh  m 
einem  größeren  Verbände  /.nsammenfanden  nnd  die  in  ihrem  Vereine  ziel- 
bewusst  nnd  in  besonnener  \Vt'ise  .sich  um  die  Hebung  der  Volksschule  und 
um  die  Förderung  der  Lehreriiitere.ssen  bemüht^'n.  Er  wies  sie  anf  die  Zu- 
sammengehörigkeit der  deutschen  Stämme  und  der  deutschen  Lehrer  und  bezog 
sieb,  freudig  bewegt,  auf  den  an  der  Wand  aagebraditenDeabq^rueh:  «Ein  Geist 
durehdring*  um  alle  und  eine  Liebe  mache  uns  stark !  *  Lehrer  Heid-Pfonbeim  rvt- 
breitet  sich  über  die  Verhältnisse  der  hadiscben  Volksschnllehrer,  die  durch  Einig- 
keit und  festes  Znsammenhalten  in  den  letzten  Jahren  manches  erreichten,  das 
sie  erstrebten.  Lehrer  Backes-Darmstadt  bezeugt,  dass  die  gesammte  deutsche 
Lehrerschaft  einig  sei  im  Ringen  um  Hebung  der  Volksbildung  nnd  nm  Beaser- 


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—   795  — 


stdlimg  der  Lehrer.   Die  heniecheii  Lehrer  haben  ihrer  wolwollenden  Begie- 

mng  manches  zn  danken,  namentlich  die  Gehaltoanfbessernng'  vnd  die  fiMdi* 
männische  Schulaufsicht.    Oberlehrer  Srlmbert- Anf^sborg  führt  n.  fi.  an,  dass 
die  bayerischen  Lehrer  den  wtirttemberger  Lflirern  Dank  schuldig  seien,  inso- 
fern sie  bei  Gründung  ihres  Vereins  1861  die  Statuten  und  die  Grundsätze  des 
Würfetemherger  Vereins  sieh  snm  Haster  nahmen.  Aach  die  hajerischen  Lehrer 
k&mpfen  nnter  der  Derise:  Hebnng  des  VolksschnlweBens  und  Kräftigung  des 
Lehrerstandes.  Zuletzt  sprachen  noch  Oberlehrer  Str  idle-Gmünd,  Vorstand  des 
Württemberger  katholisclien  Volk.sschullehrervereins,  und  Oberlehrer  Stern-Ess- 
ÜDgen,  Vorstand  des  Württemberger  israelitischen  Lehrervereins.  Vorstand 
Laistner  dankt  dm  Vonednem  nnd  hoflfk,  dass  die  freandUchen  BedehnDgen, 
die  seither  swisehen  der  Stadt  Esslingen,  der  Oeibnrtsstitte  des  Vereins,  nnd 
dem  Verein  sieh  neigten,  aach  fernerhin  und  für  immerdar  erhalten  bleiben. 
Ein  Telegramm  an  Seine  Majestät  den  König  Karl  wird  abgesandt  und  von 
demselben  später  huldvoll  beantwortet.   Nun  kommen  die  eingelaufenen  Glück- 
wunschtelegramme zur  Verlesung.    Solche  hatten  überscbickt:  der  Bremer 
Leluervereln,  der  Vorort  der  allgemdnen  deatsdien  Lehrsnrersanunlang,  Getha» 
der  Hannoversche  Lehrerverein,  der  Anhaltisehe  Lehrerverband,  der  Berliner 
Lehrerverein,  der  Rheinische  Provinziallehrerverein,  der  Birkenfelder  (Olden- 
burg) Landeslehrerverein.    Nach   diesen  Mittheilungen  sang  der  Esslinger 
Lehrerverein  den  Chor:  „Ich  suche  dich,  o  Unerforschlicher!''  und  dann  hielt 
Laistner  die  Festrede,  die  in  warmer  Begeisternng  nnd  tiefer  Verehrnng  die 
Wirksamkeit  nnd  hohe  Bedeutung  des  vor  100  Jahren  geborenen  groBen  Päda- 
gogen Diesterweg  hervorhoh  nnd  die  dann  imAnschlnss  nnd  mit  steter  Bezie- 
hung auf  diesen  Meister  in  ihrer  Fortsetzung  eine  Rückschau  auf  die  oOjiUirige 
Vereinsthätigkeit  gewährte.    £r  scbloss  mit  Worten  des  Dankes  gegen  alle, 
die  den  Zwecken  des  Vereins  fltederlich  und  helfend  entgegenkamen.  Er  dankte 
den  noeh  lehendm  Grttndem  des  Vereins,  von  doien  über  ein  Dntaend  derVer^ 
sanunlung  anwohnten,  er  gedachte  der  Todten,  die  sich  um  den  Verein  bemühten 
(Dr.  Riecke,  Karl  Hartniann,  Dr.  Eisenlohr  n.  a.\  der  Agenten  und  Mitarbeiter 
an  der  Wreinszeitschritt;  er  dankte  der  Oberschulbehörde,  dem  Ministerium, 
der  Stände  Versammlung,  denen  viele  Wünsche  durch  den  Verein  vorgetragen 
(aber  Irider  nnr  snm  kldnstm  Tbeil  erfBllt  —  Perstaliehe  B«nerfcnng  des  Be* 
ferenten)  wurden  nnd  die  manche  Wolthaten  der  Schule  und  ihren  Lehrern  za- 
fließen  ließen,  er  dankte  Sr.  Maj.  dem  Könige,  der  dem  Verein  und  der  Volks- 
schale stets  mit  königlicher  Huld  in  Gnaden  gewogen  war.    Allerdings  bleibe 
d«n  Verein  noch  viel  Arbeit,  er  bitte  daher  die  älteren  und  jüngeren  Vereins- 
mitglieder,  in  ihrem  BIfer  nicht  sa  ermatten,  sondern  trenlleh  welter  zn  ar- 
beiten som  Wol  des  Volkes  nnd  des  Vaterlandes,  nnd  wenn  Volk  nnd  Begle- 
mng  die  Bestrebungen  des  Vereins  nntersttttzen  und  flMeni,  so  wmlen  Schale 
und  Lelirerstand  sich  heben.    Lange  anhaltender  Beifall  folgte  dem  Vortrag. 
Der  Schriftführer  Honold-Langenau  trug  nun  die  Geschichte  des  Vereins  vor, 
woraus  nor  erwfthnt  sein  möge,  dass  in  den  letzten  10  Jahren  die  Mitglieder- 
BaU  nm  800,  d.  h.  nm  64  Pncent,  iagen<munen  hat   Eän  wdterer  Haopt- 
gegenstand  für  die  Verhandlangen:  „Die  EinschrSokODg  oder  Erweiterung  des 
Normallehrplans**  wurde  der  vorgerückten  Zeit  wegen  auf  allseitigen  Wunsch 
zurückgestellt.    Die  Zahl  der  Festtheilnehmer,  eine  viel  größere  als  in  den 
Vorjahren,  mag  cii'ca  löOO  betragen  haben. 


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—    7üü  — 


SchUenieh  Mi  noch  bemerkt,  da«  der  Semtaianreetoir  von  Bnliiigea  (ein 
Theologe)  nnd  die  äbrigen  Seminarlehrer  (mit  einer  darigen  Aunahme),  sowie 

die  Stadtp:eiBtlichkeit  (vermutblich  nach  vorangegung-ener  geheimer  Verab- 
redung infolge  eines  Winks  von  der  Obei'schnlbehörde)  der  ganzen  Versanun- 
lung  fem  blieben.  — 

Der  pftdagogisclie,  eelialteeliniiehe  Lehrenre  von  eedwwSchiger 
Daner,  der  hener  erstmals  am  E.  Lehrerseminar  in  Esslingen  gehalten  wnrde, 
nnd  an  dem  12  jünprere  Geistliche  theilnahmen,  ist  bereits  znm  Abschluss  ge- 
kommen mit  einer  kurzen  —  Prüfung-,  bei  welcher  Prälat  v.  Bieder  und  die 
Oberconsistorialräthe  Wittich  und  Kömer  zugegen  waren.  Diese  im  letzten 
Laadtag  dnieligedrildkte  moiene  Binilelitaag  iat  die  Antwort  der  Obenehal* 
'  behOide  anf  den  Antrag  einiger  Abgeordneten,  welcher  faehwteniiche  Solittl- 
nniUeht  verlangte.  Zugegeben  ist  damit,  dass  die  Geistlichen  in  Wahrheit 
doch  keine  geborenen  Schulmänner  seien,  aber  die  Absicht  kundgegeben,  die 
Schule  um  allen  Preis  in  geistlicher  Hand  festzuhalten.  In  kurzer  Zeit  wird 
im  Lande  Württemberg  kein  Mangel  an  (in  sechs  Wochen!)  pädagogisch  ge- 
bildeten Pfturem  melur  Beia.  Uad  daaa  wehe  dem  Lehrer,  der  aich  noch  er- 
dreistet, einen  Wunsch  nach  Belteinng  von  geistlicher  Schnlaufsicht  über  seine 
unbescheidenen  Lippen  gleiten  zu  lassen.  In  diesem  Lande  des  Fortschritts  ist 
die  Regierung  auch  im  Bcgrifle,  die  Lebenslänglichkeit  der  ( )rtsvorsteher  — 
meist  aufgeblasene,  blasirte  Schreiber,  einfache  Handwerker  oder  beschränkte 
Banem!  —  noch  mehr  m  befieatigen.  Ein  nafehlbarer,  hochtnbeader  Plhmr 
nnd  ein  sich  lebenslänglich  allmächtig  dfinkender  Schultheiß,  diete  swel  KUil- 
steine,  gehörig  ,,scharf"  erhalten,  Rind  sie  nicht  hinreichend,  einen  unter  dem 
pietistischen  Joch  aufgewachsenen  Lehrer  zu  zermalmen?  Möchte  doch  Qoethe'a 
Ausruf  mehr  zur  Wirklichkeit  werden,  welcher  lautet:  „Mehr  Licht!** 


Aus  Österreich.   Am  7.  und  8.  Angnst  d.  J.  tagte  in  Saas  der  dentsoh- 

Haterreichische  Lehrerbund. 

Die  reizend  gelegene  Stadt  Saaz  hatte  sieh  zum  Elmpfange  ihrer  Gaste 
festlich  geschmückt.  Von  allen  Häusern  wehten  Fahnen  in  den  Landes-  und 
BeichiAffben.  Dass  andi  die  aehwan-roth- goldene  darantor  nicht  fddte, 
brancht  kaum  besonders  erwähnt  zu  werden. 

GegiMi  tausend  Tlieilnehmer  hatten  sich  eingefunden,  und  war  der  reich- 
gesclimiickte  Saal  des  Schießhanses  nicht  imstande,  alle  in  sich  aufzunehmen. 
Dicht  gedrängt,  Kopf  an  Kopf  standen  die  Lehrer,  und  trotzdem  alle  Neben- 
rftnme  geOffliet  waren,  masate  ein  Thell  der  Bemeber  warten,  bis  wieder  einem 
anderen  Tlieile  derselben  die  Luft  in  dem  Saale  sn  schwfil  geworden. 

Der  Bundesobmann  Oberlehrer  Katschinka,  von  den  Versammelten  mit 
lebhaftem  Beifalle  begrüßt,  eröffnete  die  dritte  Hauptversammlung  mit  einer 
gefühlswarmen  Begrüßung  der  Theilnehmer.  Diese  Begrüßung  klang  in  ein 
mit  Begeisterung  aufgenommenes  Hoch  auf  Se.  Majestät  den  Kaiser,  den 
Sdiirmherm  nnd  Schütser  dw  Nenschnle  ans.  Die  Vorsammlaag  besdiloss 
die  Absendung  eines  Telegrammes  an  den  Kaiser,  in  welchem  der  Huldigung 
der  deutsch  -  österreichischen  Lehrerschaft  Ausdruck  gegeben  wurde.  Xarli 
Erledigung  des  Berichtes  über  die  Thiltigkeit  dos  Bundesausscliusses  ergriff 
Dr.  Friedrich  Dittes  das  Wort,  um  das  Andenken  Diesterwegs  zu  ehren. 


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—   797  — 


Von  miautenlang:erä  bransenden  Beifalle  empfangen,  hielt  Dr.  Dittes 
Steine  Getlilchtnisrede  auf  Diesterweg,  in  welcher  er  uiiltr  mehrfacher  Be- 
zugnahme auf  seine  Berliner  Kede  den  Charakter  des  gefeierten  I'ädagogen 
ond  die  Idtenden  Qnnditttn  denelbeii  in  Besog  auf  dieSehnle,  denUDterriolit, 
dieLdmrbildang  n.  a.  eingelieiid  beleachtete  und  die  einstigen  wie  die  lientigen 
Gegner  und  Feinde  Diesterwegs  in  ihrer  waliren  Gestalt  zeigte  und  so  treflfend 
charakterisirte,  duss  er  oft  und  oft  von  den  nicht  zurückzuhaltenden  Beifalls- 
AaAemngen  unterbrochen  wurde.  Dr.  Dittes  sprach  mit  einem  jugendlichen 
Fescr  und  mit  patriotiidier  Begeisterung,  die  alle  liinrin.  Br  befl^ück- 
wünsohteOstmeieli,  in  denen  Sehntweaen  einGroBtheil  der  Diester weg'adien 
Ideen  verwirklicht  ist. 

Unbeschreiblich  war  der  Beifall,  welchen  die  Rede  Dr.  Dittes'  hervor- 
rief. Dr.  Dittes  sprach  mit  Freude.  Er  fiililte  sich  sichtlich  heimisch  in- 
mitten der  deutsch-österreichischen  Lehrer,  die  ihm  noch  nie  ein  Mi^iä Verständnis 
«ntgegeabracliten.  Hier  io  diesem  Kreise  brandite  er  nicht  n  IBrehten,  dass 
auf  den  Jubel,  der  ihn  nmbranste,  Betheneningen  folgen  wQrden,  dass  die 
^Vahrheit  nicht  die  Wahrheit  sei,  oder  dass'  man  sie  als  solche  nicht  an  er- 
kennen vermöge. 

Über  den  zweiten  Gegenstand  der  Tagesordnung  bezüglich  des  gegeu> 
wftrtigen  Standes  der  Sehalfrage  erstattete  der  Bnndesobmaan  Herr  Oberlehrer  • 
Katsehinka  namens  des  Anssehnsses  Bericht   In  dnteeher  Webe  legte  dar 

Berichterstatter  dar,  dass  die  zur  Annahme  vorgeschlagene  Resolution  nichts 
anderes  aus.spreche,  als  dass  sich  die  deutsch-österreichische  Lehrerschaft  zu 
den  Grundsiltzen  des  Reichsvolksschulgeset/eä  bekenne  und  dass  dies  gegen- 
über den  in  der  bekannten  Erklärung  der  Bischöfe  in  der  Gommission  des 
Henreohanses  anli^tdlten  Fordornngen  ansgesprochen  werde.  Nach  knno* 
Begründung  wnrde  die  Besolotion  von  der  Versammlnng  einstimmig  ange- 
nommen. 

Herr  .1.  W.  Holczabek  aus  Wien  führte  das  Referat  über  die  Frage: 
„Trägt  die  Schule  an  der  Verwahrlosung  eines  Theiles  der  Jugend  Schuld y 
Der  Beferent  fllbrte  in  seinen  Darlegungen  ans,  dass  die  Verwahrlosnng  eines 
Theiles  der  Jagend  keineewegs  eine  neue  Erseheinnng,  kein  charakterisirendes 
Zeiclipii  unserer  Zeit  sei;  eine  verwahrloste  Jugend  habe  es  allezeit  gegeben, 
auch  zur  Ztiit  der  Concordatsschnle.  Mit  der  Zu-  oder  Abnahme  des  materiellen 
Elendes  der  Massen  steigt  und  fällt  dieses  Übel,  welches  die  Schule  allein  zu 
beklmpfen  nicht  in  der  Lage  sei.  Damm  müssen  die  Gememde,  das  Land  und 
der  Staat,  die  Lehrerschaft  nnd  die  SchnlbehOrden  zusammenwirken,  nm  Er- 
aprleAUches  in  dieser  Beziehung  zu  leisten.  Der  Berichterstatter  legte  zum 
Schlnsse  seinei*  mit  großem  BeifiJle  aufgenommenen  Bede  die  folgenden 
Thesen  vor: 

1.  Die  Verwalirlusung  dnes  Theiles  der  Jugend  ist  nicht  ein  besonderes 
Zeichen  unserer  Zeit,  sondern  es  bat  verwahiloste  Kinder  Jederzeit  in  Stadt 

nnd  Land  gegeben. 

2.  Die  Verwahrlosung  der  Jugend  wächst  im  allgemeinen  in  dem  Maße, 
als  das  materielle  p]lend  der  Massen  zunimmt.  Im  besonderen  wurzelt  die 
Verwahrlosung  wesentlich  theils  im  Leichtsinne,  theils  im  Unverstände  des 
betreffenden  Theiles  der  Jugend,  sowie  der  Eltern  oder  Pfleger  desselben,  and 
es  wird  die  Aosbrdtnng  des  Übds  Insbesondere  durch  das  Dulden  sitUieh  ver- 

PtoltCOfhiB.  19.  Jabiy.  Haft  301.  Ö7 


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—   798  — 


walirloster  Kinder  unter  den  ährigen  noch  unverdorbenen  nicht  onerheblicb 

begünstigt. 

3.  Um  der  Verwahrlosung  der  Jagend  entgegenzuwirken,  müssen  80W<d 
die  Gemeinde  wie  dat  Land  und  der  Staat  thitig  etagreifea:. 

ai  die  Gemeinde,  indem  sie  für  die  Erzlehiing  veilaMener  oder  dar 

Verwähl losnng  entgegengehender  Kinder  sorgt; 

b)  das  Land,  indem  es  die  bestehenden  nnd  ilirem  Zwecke  entsprechen- 
den Besserungsanstalten  materiell  und  moralisch  uuterätützt  und  indem  es 
selbst  naeh  Bedarf  SffmtUehe  Endehnngeanstalten  für  verlassene  oder  lllr 
nachgewiesen  bereits  sittlich  verdorbene  Kinder  sowie  Zwangaarbeltsanstalten 
für  die  der  Schule  entwachsene  Jugend  beiderlei  Geschlechtes  errichtet; 

c)  der  Staat,  indem  er  das  Verbot  der  Fabriksarbeit  der  Kinder  bis  zu 
deren  vollendetem  14.  Lebenejahre  grundsätzlich  und  ausnahmslus  aufrecht 
erbftlt,  und  indem  er  dnrch  die  Schule  nnd  seine  Schnlbehordeo,  also  den  Orts-, 
Betirks-  nnd  Laodeaschnlrath,  der  Verwahrlosmig  der  Jngrad  planmItMg  ent- 
g^en  wirkt: 

1.  durch  die  Schule,  indem  diese  bei  aller  Rücksichtnahme  auf  den 
Unterricht  vorzngfvwt  isi  in  der  Kr/.icliunp:  der  Jugend  eine  ihrer  Hauptauf- 
gaben erblickt  und  indem  der  Religionsunterricht  ebenso  wie  der  UnteiTicjit  iu 

•  allen  anderen  hiezn  besonders  geeigneten  Lehrgegenständen  das  innerste  0e> 
mfithsleben  des  Kindes  erfust  und  dieses  dadurch  wahrhaft  bildet; 

2.  durcli  den  Ortsschnlrath,  indem  er  die  Gemeinde  unterstützt  oder 
gegebenenfalls  ihre  Thätigkeit  im  übertragenen  Wirkungskreise  za  über* 
nehmen  hat; 

3.  dnrch  den  Bezirkschulrath,  der  insbesondere  Ittr  die  Gründung 
nnd  Erhaltung  von  Volkskindergftrten  für  Kinder  von  3  bis  6  Jahren  zu 

soigen  hat; 

4.  dnrch  den  Landesschnlrath,  indem  er  die  bereits  bestehenden  oder 
die  neu  enichteteu  Erziehungsanstalten  für  verlassene  oder  Uesseruntr-saii- 
stalten  tür  verwahrloste  Kinder,  sowie  Knaben-  oder  Mädchenhorte  im  ganzen 
Lande  nach  einheitlichen  Grundsätzen  organisirt  und  durch  seine  Organe 
Überwacht. 

Nach  kurzer  Debatte  einstimmig  angenommen.  „Volksschule." 


Ana  der  Fachpresse. 

339.  Die-dentsehen  Lehrervereinignngen  nnd  die  Fortbildangs- 
schale  (0.  Fache,  Die  Fortbildungsschule  1890^  9/10).  Gegenwärtig  verhält- 
nismäßig nur  ein  kleiner  Kreis  tapferer  Männer,  zielbewusst  für  den  Ausban 
der  nationalen  Fortbildungsschule  thiltig.  Wesentliche  ^'crptlichtung  aller 
Lehrervereinigungen  —  in  Anbetracht  der  hohen  sachlichen  Wichtigkeit  — 
bei  ihren  Mitgliedern  ein  lebhaftes  Interesse  für  die  Fortbildnngsschnle  zu  er- 
wecken. Jede  Lehrerconferenz,  in  deren  Bereich  sich  Fortbildungsschulen  be- 
linden, soll  für  die  Angelegenheiten  der  letzteren  einen  besonderen  Aus.schuss 
haben.  Dieser  hätte  auch  Handwerker,  Kaufleute,  Landwirte  etc.  als  Mitglie- 
der oder  Gäste  heranzuziehen. 

340.  Pädagogische  Mahnworte  (F.  Frank,  Päd.  Rundschau  1890,  VI). 
Vit  viel  Emst  und  Wftrme  geschriebene,  recht  beherzigenswerte  AuMtze  tber: 


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—  799 


KlefaddBdernntern'cht —  Lehrer,  besinDe  dich!  —  Festina  lente!  —  Praktiiscbe 
Vorschlage  für  den  Lclirplan.  — -  Gute  Worte:  Der  Lehrer  rauss  die  kleinen 
Kindpr  gleich  als  kleine  Geister  behandeln.  Das  ist  eine  d«T  errößteu  Aufgaben 
des  Lehrers:  die  Schüler  ztxr  wahren  Besinnung  zu  fühlen.  Jahrealehrplan  erst 
anflniBfedleii,  wenn  Slrar-den  materiellen,  geistigen  ond  littUchen  Zoetend  der 
(neuen)  Classe  im  reinen.  ' 

341.  Fußpfade  im  Gebiete  der  Erziehungskunde  (\V.  Walter, 
Päd.  Zeit.  1890,  22).  VL  Conflicte:  Linie  und  Punkt  in  der  Geometrie  — 
in  der  Scbreibstunde;  der  Himmel  in  der  Kircheuiehre  —  in  der  Natui'kande; 
Onunmitlk,  Logik,  Stil,  Poede,  OeMluBaok  im  läXM^  und  Dogmennnterrieht 
(„GeMBgbQch")  —  im  denteehen  ünteiricht.  „Wlre  es  vielleieht  dw  bette, 
•wenn  die  Kinder  sich  dieser  Conflicte  ttberhanpt  nicht  bewnsst  würden,  d.  h. 
wenn  es  der  Lelirer  verhindert,  wenn  er  sie  in  süßen  Scliluf  lullt?  Beruhigen 
wir  uns  damit,  dass  wir  sagen:  es  wird  schon  einmal  einer  kommen,  der  sie 
aufweckt,  wie  weiland  das  Dormöscheu!  Nur  möchte  der  Kass  so  sanft  nicht 
sein  —  und  das  Erwacben  noch  bei  weitem  weniger.* 

842.  Dae  Resultat  (R.  Rieimann,  Hessiedie  Schnls.  1890,  19.  20  des 
Kampfes  zwisolien  den  Herbart ianern  und  ihren  Gegnern.  —  Die  „formalen 
Stufen"  sind  niclit  erst  anerkannt  worden,  denn  „so  lange  die  Welt  steht,  hat 
niemand  anders  unterrichtet  als  nach  den  Formalstofen'^ ;  Widerstand  nur  gegen 
die  Terminolegie  und  gewisses  Beiwerk  SUerseher  Herininft  („Analyse"  und 
Anwendong  des  yolUftandigen  Schemas  anch  aaf  das  kleinste  nnterrichtUche 
Pensum).  Ebenso  ist  die  „Concentrationsidee**,  die  Verbindung  des  Verwandten, 
nicht  ledifrlich  der  Herbartschen  Schule  zu  verdanken.  Die  „Idee  der  Cultur- 
stufen  aber  ist  der  Sumpf,  in  welchem  der  Herbartianismus  stecken  geblieben."  — 
„Dass  der  Traum  der  Jünger  Herbart«,  die  Lehre  ihres  Meisters  werde  zur 
kwrsdhenden  PSdagogik  werden,  niemals  in  ErftQlnng  gehen  kSnne,  liat  jeder 
Einsichtige  voraoSgesehen.  Dennoch  hat  der  Herbartianismus  als  Sauerteig 
gewirkt  und  eine  segensreiche  Gälirung^  im  pädagogischen  Leben  hervorgerufen." 

343.  Die  Schulbildung  der  Stotterer  (Schweiz.  Lehrerzeit.  1890.24). 
Hsndelt  wesentlich  von  den  persönlichen  Pflichten  des  Volkssehullehrers:  äußerste 
Wachsamkeit  und  Anibpferangsfähigkeit  von  Aniluig  an  (Entdeckong  der  Stot- 
terer) —  Privat-  oder  Nachbilfestanden  neben  dem  Glassennnterricht  so  iHih 
als  möglich  (Aoflnudiea  der  Symptome  des  Stottems)  —  sorgsamste  Pflege  des 
mündlichen  Gedankenansdnicks  überhaupt  (zugleich  das  beste  Mittel,  Rückfillle 
und  Nachahmung  oder  Ansteckung  zu  verhüten).  —  Bezugnahme  auf  die  Unter- 
suchungen des  Berliner  Arztes  Oatzmann  (n.  a.  anf  seine  Schrift:  Die  Ver- 
hitnng  md  Beklmpfong  des  Stotterns  in  der  Schale,  Lmprig  1889). 

344.  Die  Recrutenprüfungen  (K.  Hauser,  Schweiz.  Lehrerzeitung 
1890,  19— 2;i).  'Wrfasser  g:ibt  eine  klare  Übersicht  über  die  geschichtliche 
Entwickelung  dieser  Prüfungen  in  der  Schweiz  und  über  ihre  gegenwJlrtig-e 
Einrichtung.  Letztere  zu  vervollkommnen,  im  besonderen  eine  gerechte  lieur- 
fheilnng  sowol  der  PrttfUage  als  der  Schalen,  ans  dmien  sie  hervorgegangen, 
zn  erzielen,  ist  das  eidgentasische  statistische  Bnrean  nnansgesetst  bemüht. 
Ihre  Zweckmäßigkeit  wird  auch  von  militärischem  Standpunkte  aus  anerkannt  — 
Vergleichende  Blicke  auf  Bel?ien.  Frankreich.  Italien,  Deutschland. 

345.  Eigenthümliche  Beschlüsse  und  Maßregeln  über  die  Stel- 
ling des  deutschen  Unterrichtes  in  den  höheren  Schalen  (L.Viereck, 

bl* 

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—   800  — 


Zeitschr.  f.  d.  deutsch,  ünterr.  1890,  III).  Württenibergische  Regierung  1883 
bezüglich  der  Gymuasien:  eine  UDgeDÜgtnde  Leistung  im  deutEchen  Aufsatz 
(oder  im  Deutschen  überhaapt?)  soll  die  Ertheilnog  des  BeifezecgBißses  künftig 
nieht  annchlieBcn.  —  DirectoreiiTenainiiding  der  Provins  HumoTer  1888: 
Deutsch  als  Hauptfach  erst  von  Olersecnnda  an!  —  Deutsche  Stunden  im 
Gyttinasinm  nach  den  (preußischen?)  Lehrplänen  von  1816:  40  —  1837:  22  — 
1856:  20  —  1882:  21  (eine  ganze  Stunde  mehr!  Latein  und  Griechiscli  zu- 
rammen  117  Stunden!!). 

846.  Die  Pflege  de>  Fonuentlnnes  (M.  HoteaoB,  Schale  und  Haue 
1890/  V^.  «"Wie  in  der  menschlichen  Entwidcelsng  das  Sehen  dem  Denken 
vorausgeht,  so  niiiss  in  der  Erziehung  das  Sehen  und  Ersehen  der  schönen  For- 
men dem  Fassen  und  Erfassen  der  schönen  Gedanken  vorhergehen.  Man  lasse 
die  Kinder  weniger  musiziren,  dafür  jedoch  mehr  zeicimen  und  malen.  Nur  • 
die  FUiigkeit,  ans  den  Gestalten  nnd  Formen  der  Umgebung  das  Schöne  and 
WolgeftlUge  mit  Genäse  heranssdinden  nnd  es  vllrdigen,  soll  im  Ktaide  ge^ 
weckt  werden." 

347.  Betrachtungen  über  das  Zählen  (W.  Tanck,  Päd.  Reform 
1890,  14  — 17):  philosophische,  historische,  psychologische,  didaktische.  — 
Zählen  ist  ein  Fortscbreiten  an  den  zu  zählenden  Gegenständen  nach  Haügabe 
einer  heitannten  festen  Reihe.  Wo  die  Zahlanflluaiug  flbor  4  hinausgeht,  iat 
die  Stufe  des  Zahlens  erklommen.  —  Fäden  der  Zahlentwickelung  beim  Kinde 
klarzulegen  (durch  möglichst  viele  Einzelbeol  achtungen)  nooh  Angabe  der  Zu- 
kunft. —  Finger  die  denkbar  beste  Reeheninaschine. 

348.  Moderne  Verirrungen  auf  dem  Gebiete  des  Turnunter- 
richtes (Allg.  Dentaehe  Lehrerzeit  1890,  21.  22).  Eine  der  beaten  „Prela- 
arbelten'*  dieaea  Jahrea.  —  Vom  nTnmmonopol"  der  TnnlehrerfaUdnngs- 
anst alten  nnd  aefaien  Answächsen,  besonders  gefordert  durch  die  Schulbeh5rden 
größerer  Städte  —  vom  „Tnmhallencnltns"  (Gfldverscliwendtiiig',  Turnen  im 
Freien  verkümmert,  das  Streben  nach  fleißiger  Uf  -  und  Ausnutzung  der  „schönen** 
Hallen  von  gesundheitsschädlichen  Folgeu  lur  die  Schüler:  Staab)  —  vom 
„Tnmdrill''  („höhere**  Lelatmigen,  SchaosteDnngen  —  daa  Schvltomen  hat 
nidit  auf  den  Militärdienst  YonnWeiten).  Im  ganzen:  Der  bekannte  Turnei^ 
spmch  passt  nicht  auf  da."?  gegenwllrtige  Schulturnen  (in  größeren  Städten). 

349.  Zur  Reform  unserer  Facliiiresse  (E.  Haiife,  Freie  Scliulzeitniig 
1888/90,  31).  Wesentlich  ^Kritik,  und  eine  Kritik,  die  auf  viele  pädagogische 
Zettongen  passt.  (Eine  groBe  Zahl  bringt  monatdang  niohta  Beaditen» wertes 
—  davon  weiß  der  Berichterstatter  dca  „Fmdagoginm*'  ein  Lied  an  singen  t 
Immerhin  ist  ansdrQcklich  zn  betonen:  es  wird  im  ganzen  viel  Qotea  ge- 
schrieben, nur  —  hilft  es  wenig,  weil  es  alliibtr.ill  an  Thatkraft  mangelt.) 
Uauptheilmittel  der  gegenwärtigen  Mängel  und  Gebresten  nach  Haufe  s  t'ber- 
zengnng:  Unabhängigkeit;  d.  h.  die  Presse  nicht  Eigenthom  des  Buchhändlers, 
sondern  der  Lehrerschalt  —  Ähnlichen  InhnltB  ein  Artikel  in  der  Schles. 
Schnkeitnng"  (1890, 19).  (Verf.  rechnet  ftr  den  pädagogischen  Schriftsteller 
anf  20  Mark  Honorar  30  Arbeitsstunden  —  richtiger  wiie  60  oder  100 
Stunden!) 

350.  Samuel  Heinicke  (J.Heidsiek,  Schles. Schals.  1890,  20).  Lebens- 
gang, Eigenart  und  refonnatoriacheTh&tigkeit  (unter  besonderer  Henrorhebnng 
der  heldenhaften  Streitbarkeit)  ttberdchtUdi  dargestellt  und  genllgend  gewilr-  ■ 


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801  — 


digt.  —  Über  den  Taubstnmmenunterriclit  vur  Heinicke.  Dessen  Vorfahr  and 
Oewlhnnaiiii:  der  Schweiler  Änt  Ammaii  in  Amsterdam. 

3ßl. Darwin  and  die  Pädagogik  (B. Freund, Päd.Rund8chaal890,VII). 
„Darwins  Theorie  darf  zur  Grundlage  der  Sclmle  g:eniacht  werden.  Darwin 
zeigt  die  Welt  am  besten  als  Einheit.  Wenn  sie  Gott  so  geschaflen  zur  Ein- 
heit, bleiben  wir  bei  der  Einheit:  sie  zu  erkennen  ist  ein  wichtigei- Gottesdienst. 
Der  Aiaban  dar  Lehrgegenstaade  snm  Organismiu  fiodet  in  Darwina  Baft- 
wiekelQngstlkeorie  den  ^atlgaten  Boden.  Indem  die  Natur  nnd  die  Menaeli- 
beit  in  \h\r-m  Werdeprocess,  in  ihrer  Weltarbeit,  also  die  Organisation  der 
Welt  in  ihrem  Nach-  nnd  Miteinander  das  Lehrplansystem  der  Schule  ordnen, 
stehen  die  Lehren  des  religiös -sittlichen  Unterrichtes  mit  denen  der  Natur- 
wissenschatlt  and  Geschichte  in  organischem  Zusammenhang.^  —  Versuch,  die 
*  Pädagogik  anf  den  Darwinitmiu  an  grfinden:  „IHe  natVriiche  Eniehnng''  von 
B.  Hanfe  (M.  ran,  1889). 

352.  Was  ist  philosophische  Pädagogik?  (AUg.  Deutsche  Lehrerz. 
1890,  17.  18).  Eine  Wissenschaft,  die  ihr  ki-itisch  ge.sichtetes  Material 
mit  anderen  Wissensgebieten  in  Verbindung  bringt,  an  den  logischen,  ethischen 
nnd  lathetitdien  Ide^  nM  nnd  hiedmeli  Tlieil  bat  an  dar  Gestaltung  einer 
aUgeaMlnea  nnd  denknetbvendigen  Weltanadiannny  eine  Knaat,  deren 
Zweck  die  Daratellong  logischer,  ethischer  nnd  ästhetischer  Ideen  im  mensch- 
liehen Bewnsstsein  ist.  (Wichtigkeit  der  ^ Methodenlehre''.)  —  MitErfirtemng 
dar  Begriffe:  Wissenschaft,  Philosophie,  empirische  Pädagogik.) 

353.  Der  Stillstand  der  Schalpädagogik  nnd  aeine  Ursachen 
fPid.  Zdtnng  1890,  19).  HaaiitQnadie:  Jeder  IndividnaUamna  ana  den 
Scholen  Terschwunden ,  daffir  militärischer  Gleichschritt.  Nothwendige  For^ 
dpruns-en:  Lehrplan  von  der  staatlichen  Oberbeliörde  und  von  praktischen 
Pildagogen  nelist  localen  Schulbehörden  aufzustellen.  Für  den  Lehrer:  Frei- 
heit and  Selbstständigkeit  in  der  methodischen  Gestaltung  des  Stoffes. 

354.  Gegen wnrt  nnd  Sehnle  (J. Eoschmieder, BcUea. Schnls.  1890, 22). 
Unter  den  II ftngeln  der  gegenwärtig  fiblichen  Lehiarbelt  wird  mit  Beeht  die 
elende  Fragerei  gegelBelt:  „Die*  übermäßige  Anwendung  der  Frage  erinnert 
an  das  bekannte  Verfahren  bei  einer  Pumpe,  die  kein  Wasser  geben  will. 
Motto  der  Fragfanatiker:  gut  gefragt,  gut  erzogen.  Wii-  sind  neugierig,  ob 
aie  niebt  mit  dem  Mittel  der  Frage  die  socialen  Schäden  werden  beseitigen 
wollen.  —  Der  Kern  nnd  die  HfiUe  dieser  Pädagogik  beatebt  in  der  Gliedemag, 
Beschreibung  nnd  Beispielsaramlnng  der  Fragarten.  Die  Fragenpädagogik  ist 
der  Todfeind  jener  Wärme,  die  von  üerzen  kommt  and  au  Hwaen  gebt  nnd 
das  beste  Teil  des  Unterrichtes  bildet. 

355.  Ein  wunder  Punkt  am  Schulorganismus  (Päd.Reforml890,19). 
VerftwN'  beaeicbnet  eine  mangelhaft  gebandbabte  Veraetznugspraxia  als  den 
gröBten  Erebnebaden  am  Gesammtorganismns  der  Scbnle  (im  engeren  Sinne) 
und  wünscht  nicht  besondere  Schulen,  nur  besondere  Claasen  fttr  die  Schwachen 
und  Zurückgebliebenen.  Für  die  Arbeit  an  solchen  sucht  er  den  Lehrer  mit 
warmen  W^orten  zu  gewinnen.  Die  Classe  für  Schwachbegabte  sei  ,.eine 
wahre  Fnndgnibe  für  den  Psychologen,  eine  Fnndgrube  erneuter  Schaffen»- 
frendlgkeit*. 

356.  Ist  unser  Lehrplan  der  Grundclasse  reformbedürftig? 
(J.  Oroppler,  Pttd.  Zeitung  1890,  27.  28).   Von  dem  Branche,  die  nnterate 


—  802 


Classe  den  jängsten  Lehrkräften  zu  fibertragen,  ist  abzugehen.  Der  Unter- 
richt Iflr  IwideB  entoi  Jahrgänge  iat  ia  eine  Hand  an  legen,  damit  sein 
Schwerpunkt  ins  aweite  Schnljahr  vexiegt  werden  kann  (besonders  im  Interease 

der  Eingewöhnnng  nnd  rahigen  Entwiekelinig).  —  Veilhawr  geht  aof  die 
Berliner  Verhältnisse  näher  ein. 

357.  Vielfächerei  und  Conoentrat ionsbetrebungcn  (G.  Stucki, 
Schweiz.  Lehrerzeitang  1890, 25 — 28;.  Innerlialb  der  letzteren  fünf  liichtangeu : 
Abiittang — BehandlangderTenehledeiieiiFIcher  nacheinander  (welche  „Plda- 
gogm*'  der  Gegenwart  vertreten  diese  Biebtong?)  —  scheinbare  Vereinigong 
der  großen  Filclierzalil  in  wenige  Gruppen  —  ein  Fach  als  Mittelpunkt  — 
„Concentrationsidee"  der  Zillerschen  Schule.  Alle  diese  Richtungen  seien  ver- 
kehrt. „Der  Lehrer  sei  die  oberste  (and  einzige?)  Concentraüon  in  der  Er- 
liflhnBgndknle.'* 

858.  Unterriehte  Ittekenloa!  (E.  Hense^  Dentsehe  Schnlaeit  1800, 28). 

^Der  Maßstab  des  lückenlosen  Fcrtachrittea  liegt  vielmehr  im  geistigen  Wachs- 
thnm  des  Zöglings  als  in  der  objectiven  Reihenfolge  der  Gegenstände,  obwol 
auch  durch  diese,  durch  die  Steigerung  der  Aufgabe  jenes  Wachsthum  selbst 
wieder  bedingt  ist."  —  Nachweis,  wie  sich  jeuer  Grundsatz  in  der  Geschichte 
der  FSdagogik  hemnagebüdet  hat 

359,  Über  den  Unterricht  in  der  Hnttersprache  (H.  Sommert, 
Päd.  Rundschau  1890,  VI.  VII).  Verfasser  dieser  vortreftlichen  Arbeit  ist 
Schüler  Hildebrands:  Beweise:  die  Muttersprache  ist  als  das  den  gesammten 
Unterricht  durchdringende  und  beherrschende  Erziehungsmittel  aufzufassen, 
nnd  swtr  für  alle  SehabtataL  nnd  Sehnlarteo.  Die  I^ehrer  vOm&a  die  Mund- 
art nnd  den  Stammeharakter  der  Schfiler  genau  Icennea.  Das  Haupl«ewieht 
ist  auf  das  gesprochene,  nicht  aaf  das  geschriebene  Wort  zu  legen,  die  über- 
mäßige Betonung  der  Lese&biuigen  vor  den  Sprechübungen  schädlich.  Die 
ürsprünglichkeit,  Natürlichkeit,  Geradheit  der  Volkssprache  ist  hinüberzurett«n 
in  die  Schriftsprache.  —  Die  Grammatik  wird  nur  dort  zu  Hilfe  gerufen,  wo 
sie  unmittelbar  gute  Dienste  leisten  kann. 

360.  Der  Brief  (R.  Dietrich,  Schule  und  Hans  1890,  VII).  Tritt  for 
naturgemäßes  Briefschreilen  (dem  eigentlichen  Zwecke  des  Briefes  entsprechend) 
ein.  Von  den  Verstößen  gegen  die  Wahrhaftigkeit  („Anrede",  „Einleitung-. 
„Schluss'').  Die  Eltern  vornehmlich  sollen  die  Jugend  (natürliche,  wirkliche, 
enste)  Briefe  schreiben  lehren  —  wenn  ea  Zeit  ist  —  Der  gesehftftliche  Brief- 
wechsel ist  etlicher  Formen  nnd  Fonnehi  wegen  in  der  Ergänzongs-  oder  Fortx 
bildungsschnle  zu  üben;  die  eigentliche  Kinderschule  bringt  den  brieflichen 
Verkehr  überhaupt  nur  in  einer  heimatkundlichen  Unterredung  über  die  Poet 
auf  die  Tagesorduung. 

S61.  Über  die  Beziehungen  zwischen  der  Erd-  und  Henschen- 
knnde  HI.  (F.  Benfl,  Bepert.  d.  Päd.  1889/90,  VII).  SeUusswort:  „Wir 
glauben  die  Aufmerksamkeit  auf  drei  wichtige  Wahrheiten  gelenkt  zu  haben: 
dass  niinilicli  erstens  die  Erdkunde  einer  der  erhabensten  Zweige  der  Nator- 
wissensclial't;  dass  zweitens  die  Menschenkunde  zugleich  Natur-  und  Ideal- 
wissenschatt  ist;  dass  drittens  beide  Wissenschaften  zu  den  vorzüglichsten 
Trtgem  der  modenen  Bildung  gehSren."  —  nNatflrlichea  EndddL''  fttrThaten 
und  Schicksale  der  Völker:  „Bewohnnng  und  Beherrschung  der  gansen  Erde, 
sodann  (nachher?)  höchste  Sittlichkeit  und  höchstes  Glttck." 


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( 


Literatiir. 

Karl  Richter,  Adolf  Diesterweg.  Naell  adnem  Leben  und  Wirken  zur  Jabel- 

feier  seines  luindcrtjälirigen  Oebortatages  dargestellt.  260  S.  3  Mk.  = 

1,50  ti.    Wien  1890,  PicUler. 

Wir  erhalten  liier  ein  treues  und  in  allem  wesentlichen  crschöitfendes  Bild 
von  dem  Lebenslaufe,  dem  Wirken  und  dem  Verdienste  des  großen  Pädagogeu, 
dem  In  diesen  Tagen  von  ollen  strebsamen  Lehrern  Deutschlands  anfs  neue 
gehuldigt  wird.  Es  wftre  überflüssig,  dieses  Buch,  in  welchem  sich  das  hervor* 
ragende  Talent  des  altbewährten  Verfassers  abetmals  im  besten  Lichte  zeigt, 
im  einzelnen  su  beleuchten  und  zu  rtthmen;  wer  es  liest,  wird  linden:  diu  Werk 
lobt  d«i  Meister. 

.Pädagogiaehes  Jahrbnek  1889.    Der  Pädagogischen  Jahrbacher  zwölfter 
Band.    Herausgegeben  von  der  Wiener  Päda^'^^i^isohen  GeseUscbaft.  Bedi- 

girt  von  M.  Zens.    1H2  S.    Wien  1890,  Maiiz. 

Dieses  Jahrbuch  eines  der  angesehensten  pädagogischen  Vereine  hat  sich 
schon  längüt  einen  ehrenvollen  Ruf  erworben,  weshalb  wir  uns  hier  darauf  be- 
schränken, den  Inhalt  des  vorliegenden  Bandes  in  Kürze  anzuführen.  Ks  bringt 
acht  Vortrüge  und  Abhandlungen  unter  fol^^enden  Titeln:  Das  österreichische 
Volksschulwescn  unter  Kaisrr  Franz  Josef  I.  illannak);  Bilder  aus  der  dster- 

reichischen  Schul^eschichte  längst  vergangener  Zeit  (Tomberger);  Bede  aar 
PestaloBsifbier  (Siegert):  Der  Oesehiditsimterricht,  ein  Ufttef  snr  sittüdieii 

Bildung  der  Jugend  (  Kraft  i;  die  concentriachc  llethode  an  der  Bürgerschule  im 
Lichte  ib  r  Schlüpraxis  (Simon);  Über  ein  neues  Lehrmittel  für  den  Unterricht 
im  pt  r>{M  ctivisehen  Zdchnen  (Hofer);  Über  die  Erriehnng  warn  Gehorsam  vnd 
ihre  lircu/rn  'Mohanjjt':  Ilriliiädagojri-ichr  Bc.strf'l)mi£!:("'n,  blinde  und  geistig 
abnorme  Kinder  ^Heiler).  Sehr  wertvoll  sind  auch  die  hierauf  fulgeudcu  Thesen 
ZV  62  pftdagogiscben  Themen,  als  Embnisse  tob  Beratbancoi  in  Lehreroon- 
ferenzon;  den  Schln<!^  bihb  t  eine  ioteressante  Übersieht  des  pidagogischea 
Vereinswcseus  in  Oätcrreirh- Ungarn. 
Otto  Ernst,  OlfeBea  Yiaiert  Oesammelte  Essays  ans  Llterator,  Pädagogik 
and  öffentlichem  Leben.    280  S.    Hamburg  1890,  Konrad  KloB. 

Ein  Sammelwerk,  welches  iiber  durchaus  den  einheitlichen,  klaren  und  freien 
Geist  des  glt  iclien  Verfassers  zeigt,  wie  ver.-clii'  ileuarti^'  auch  die  beleuchteten 
*  Themata  üi ml.  nii  ^.  llM  U  lauten:  Uluuben  und  Wissen;  Religion  ode^Literatur 
als  Centrnm  des  Volksschuluutcrrichtes':'  Der  Lehrer  und  die  Literatur;  Ein 
Parasit  der  Seele  (Ehrgeiz  und  sein  (jclolge':  Censtantc  .Mujorititten;  Eine 
PhriusC  der  Geistig-Armen :  Das  Elend  der  modernen  Lyrik;  Der  literarische 
l'ilettantismus  und  seine  BekSmpfuni;:  Poetische  An.schaulichkeit:  Literarische 
Allotria;  Die  nioderue  Literaturspaltung  und  Zola;  Die  (ieschlechtsliebe  und 
ihre  literariticbe  Bedeutung;  Lessing's  ^Nathan"  und  das  ästhetische  Phrasen- 
thnm;  Die  Charaktere  in  Goethe's  „Egmont"';  Der  Uamerlingüche  „Aha^iTer' 
und  sein  Ideengehalt.  —  Wie  man  hieraus  ernicht,  erstreckt  sieh  der  Inhalt 
nicht  blos  auf  i'iidagogik  im  engeren  Sinne,  >ondern  auch  auf  Politik  und 
überwiegend  auf  die  sdiöne  Literatur.  lnde«tien  bringt  es  nichts,  das  außer 
Beziehung  stftode  aa-  dea  Bildungs-  und  Cnltttzfragen  überhaupt  und  der  Gegen- 


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—  804  — 


wart  besonders,  nichts  also,  was  einem  ganzen  Pädagogfen  fremd  bleiben  darf. 
Für  beschränkte  und  ängstliche  Schablonenmenschcn,  welche  gern  in  den  ihnen 
angewiesenen  Geleisen  bleibt  n  wollen,  passt  das  Buch  allerdings  nicht;  tUr 
solche  ist  es  zu  aufredend,  zu  kUhn,  zu  gedankenschwer,  zu  revolatioii&r.  Für 
gute  EOpfe  aber  und  nreie  Charaktere  ist  es  eine  Quelle  wahren  Qenusses  und 
eine  Fundstätte  der  fruchtbarsten  (Jedunken.  Dem  Gehalte  eutspricht  in  wür- 
digster Weise  die  Form :  der  Stil  de»  Buches  ist  ebentto  Irisch  und  treffend,  wie 
eofzect  und  fdufBldig,  geradesn  muBteiliaft. 

J.  PHwlecki,  Anaf&hrileher  Informator  Aber  das  VolkMehnlwewa  too  Altona- 
Ottanten,  Berlin,  Bremen,  BresUn,  Chemnitz,  Danzig,  Dresden,  Dfisseldorf, 

Elberfeld,  Frankfurt  a/ll.,  Kambarg,  Hannover,  Köln.  K^uii^^sberg  i/Pr., 
Leipzig,  Magdebuig,  ^fünchen,  Nürnberg,  Stettin,  Stntlgart.  Nebst  einem 
Anhange  über  die  (iehaltsverhältnisse  der  Volksscbullehrer  in  üCKJ  größeren 
Städten  AUdeutschlands.  Zweite  vermehrte  Auflage.  291  S.  Laugen- 
salza 1890,  Sehnlbachhandlong. 

Bas  Buch  ist  vorzugsweise  für  solche  Lehrer  bestimmt,  welche  die  AVibicht 
haben,  sieb  um  eine  Stelle  im  Volksschuldieoste  einer  größereu  deutschen  ötadt 
zu  bewerben  nnd  gibt  ihnen  die  zu  diesem  Belrafe  gewttosehten  Ärnkfinlte. 
Dieselben  beziehen  sich  auf  die  Einwohnerzahl,  auf  die  ortsübliche  Art  der 
Meldung  (Bewerbung)  um  den  Schuldienst,  die  Modalitäten  der  Anstelluug,  auf 
die  GehaltsverhSltnisse,  die  Pemioiiimig,  die  Versorgung  der  Witwen  oad 
Waisen,  auf  das  Lehrer- Vcreinswesen,  auf  die  I'rcise  der  Wuhnunffen,  Lebens- 
mittel und  son8tiß:eu  Be^lürfnisse  in  den  angetührtcn  Slädteu.  l>ii.s  Buch  luuss 
als  ein  sehr  srhiU/.enswerter  praktischer  Rathgeber  bezeichnet  werden,  und 
seine  Auskünfte  sind  selbst  fUr  s'.lche  I>ehrer  interessant,  welche  nicht  den 
eigentlichen  Zweck  desselbeu  im  Auge  haben.  Es  verdient,  durch  allseitige 
Uaterstlltnng  tob  Seiten  der  Lehrefsehaft  immer  mehr  yervoUkommnet  «i 
werden.  * 

Das  Absehen  der  Schwerhörigen.  Leitfaden  zur  Erlernung  der  Kunst, 
das  Gesprochene  vom  Munde  abzusehen.  Nach  den  Grundsätzen  seiner 
eigenen,  den  Bedürfnissen  der  SchwerhSrigen  angepassten  Lehrmethode  be* 
arbeitet  nnd  h«raiisgegeb«i  von  Jnliäs  HflUer,  Leiter  der  Unterrichts- 
Anstalt  für  Schwerhörige  in  Hambnrg.  Selbstverlsg  des  Verfassers.  Adresse: 
Haosaplatz  2. 

Durch  die  Herausgabe  dus  vurlicgeuden,  ganz  einzig  in  seiner  Art  dastehenden 
Werkes  dürfte  der  AnstoB  gegeben  sein,  dass  nun  auch  in  weit  umfassenderem 
Hate  als  seitlier  crsehcbcn .  den  schlimmen  Folgen  der  Schwerhörigkeit  durch 
Eileruung  der  Aü.sehfertigkeit  energisch  eutgegengetreten  werde.  Durch  den 
Oebranch  des  Hührrohres  wurde  das  Übel  iUr  gewohnlich  immer  mehr  ver- 
schlimmert. Bei  Aneignung  der  Kunst  aber,  das  Gesprorheno  vom  Munde  ab- 
zusehen, wird  dus  kranke  Organ,  das  Ohr,  entlastet,  dafür  aber  das  gesunde, 
das  Auge,  belastet.  Das  heißt  in  der  That  Teraunftgenttfi  verfahren.  Der 
Herr  Verfasser,  ein  früherer  Taubstiimraenlehrer,  hat  es  sich  zur  Lebens- 
aufgabe gemacht,  Schwerliöriiren  diese  Fertigkeit  anzueignen;  die  erfolgreichen 
Beniltate  seiner  längeren  Erfahrung  bietet  derselbe  ia  uneigranützigster  Weise 
in  Torstchendem  Buche  offen  dar.  Da.s.selbe  zertUIlt  in  einen  theoretischeii  und 
einen  praktischen  Thcil,  welch  letzterer  aus  86  höchst  instructiven,  bis  ins 
einzelne  ausgearbeiteten  Lectionen  besteht,  deren  Anordnung  nach  der  .\bseh- 
Schwierigkeit  der  Wörter  vollzogen  ist.  Nicht  nur  der  Taubstummenlehrer, 
sondern  flberhaupt  jeder  tüchtige  Lehrer  kaun  sich  nun  an  der  Hand  dieser 
Schrift  bti  Fleiß,  Ausdauer  und  genügendem  ("-Mhick  in  den  .Stand  setzen, 
diesen  Unterricht  za  erthoUen.  Üo  ist  hiermit  die  Vorbedingung  für  eine  größere 
Verbreitung  dtesör  TTnterriehtsweisc  gegeben.  Mochten  recht  viele  Lehrer  wie 
Leidende  sich  dieser  .\rbeit  nnt.  rw.  rfcn :  es  wird  sich  dann  je  länger  desto 
uchr  das  Wort  an  dem  :;chwerhürigen  bewahrheiten:  Wol  schwerhörig,  aber 
nicht  sehwermfltbig!  F.  8ch. 


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Theodor  Seemanil,  Allp:empinf»  Gittt<>rlehrp.  Zum  Gebrauch  für  hJiher»'  Lehr- 
ani^talten,  Kunstschulen,  sowie  zum  Selbstanterrichte.  Mit  zahlreichen  Ab- 
bildungen.  208  S.  Hannover  1890,  Karl  Xaaz.  3  Mk. 

Das  Werk  beschränkt  sich  nicht  auf  die  Mythologie  der  Griechen  und  BSmer 
(welche  iillünJinffs,  wie  natürlich,  den  größten  Raum  einnimmt),  sondern  um- 
la.«-Äi  auch  die  Gotterlehreu  der  übrigen  Culturvülker:  der  Ägypter,  Semiten, 
Perser,  Inder.  (  hinesen  and  Japanesen,  Mexikaner  und  Peruaner,  sovrie  nament- 
lich auch  der  Gennaneii:  in  einem  Anhange  kommen  selbst  die  religiösen  An- 
schauungen der  halbwilden  heidnischen  Völker  zur  Darstellung,  so  dass  sich 
schließlich  ein  Gesammtbild  der  Entwickelung  des  Gottgedankens  in  der  Meusch- 
beit  ergibt.  Ein  beigefügtes  Sftcihregi*tet  dient  xuc  jSileichterang  des  Nach- 
nUngens.  Zahlrdehe  AmlMoiigea  TtfaiiBdunilidieB  den  friedi  und  eorreet 
geaeluiabenen  Text. 

M.  Asmiis,  Cours  abr6g6  de  la  litteratnre  franraise  depuis  son  origine  jnsqn'ä 
uns  jours.  Oavrag-e  redige  dapres  Bougcault,  Paris,  Albert,  Demogeot. 
Troibieme  Edition,  revue  et  completee.  165  S.  Leipzig  1890.  F.  A.  Brock- 
haiis.  1,80  Mk. 

Das  Buch  hält  die  criucklichc  Mitte  swischen  gelehrter  OrflndUchkeit  und 
dilettantischer  Ubeifläciilichkoit,  indem  es  in  grolen  Zfigen  eine  Muchaalicbe 
Skiue  der  widitigsten  Epochen  und  Hanpterscheinnngen  der  ftpaMBrirohett 
Literatur  von  den  ältesten  Zeiten  his  zur  Gegenwart  entwirft.  E^  hütet  sich 
gleichseiir  vor  t'herladong  mit  nebensächlichen  Notizen,  wie  Tor  vagen  All« 
gemdaheften  und  phrawnmiften  Raisonnements,  bietet  Tieimehr  fn  einem  klaren, 
abgerundeten  und  wol  zuHarnmenbilns^cndf n  Vortrage  alle  jene  literarhistorischen 
AnftehlOiie,  welche  geeignet  sind,  fUr  die  Leot£re  fraaaöeiacher  Schriiteteller 
an  intereesirai  und  ue  in  eileiehten.  Eib  reeht  CBpfehleMwerten  Bach. 

Oeschlckte  der  rSmischen  Kaiserseit  von  Victor  D«riiy.  Aw  dem 
FranzSdseheii  ibenetet  von  G.  Heitxberg.  FflnfterBand.  Lelpsig,  Sohmidt  & 

Günther. 

Mit  dem  vorliegenden  fünften  Rand  (Lief.  8<) — lOG)  schließt  das  bedeutende 
Werk  ah.  Die  dargestellte  Epoche  ist  die  (Te«chichte  des  römischen  Reiche» 
iiTi  IV.  Jalirliiindcrt  :W)<i  ;{!>:>),  eine  Periode,  in  der  ins]»o«cinderc  für  die  eigen- 
thüiiiiahe  Entwickelune:  der  mittelalterlieh-ehristlicheu  Kirche  der  (Trandstein 
gelegt  worden  ist.  Dementsprechend  ist  neben  der  politischen  und  Kriegs- 
geschichte  das  Hauptf^wicht  auf  die  Klan^tr  llung:  der  kirchlichen  Verhältnisse 
gelegt  und  die  Zeit  ( 'unstantins,  .lulians  und  i  heodosius  „des  Großen"  am  aus- 
führlichsten behandelt.  Es  mr  keine  leichte  Anfj^^e,  einem  Laienpuhlicum 
die  zahllosen,  den  Anschauungen  unserer  Zeit  so  ganz  und  gar  fern  liegenden 
theologischen  Streitfiragen  so  darzustellen,  dass  selbst  die  ausführliche  Behand- 
lung nieht  ermüdet,  ja  im  Gegentheil  ins  Detail  gehende  Interesse  einflößt. 
Dies  ist  Duruy  vollauf  gelungen.  Die  Darstellung  des  Eindringens  des  Christen- 
tbiana  in  alle  Verhältnisse  den  Staates,  des  siegreichen  Kampfes  mit  dem  er- 
schlafften IfeidenthuMi,  dun  seihst  ein  .luliamis  keine  Widerstandsfähigkeit 
mehr  einhauchen  konnte,  die  Sciüklerung,  wie  die  ehristliche  Weltanüohauung 
den  antiken  Oeiit  aHmiMiek  ^«rdrlBgte  and  eine  neoe  Konstepoehe  b^rnn- 
dete.  wie  die  Kirche  seit  dem  Concil  zu  Nicäa  sich  neben  und  ttnld  über  den 
Staat  stellte  und  so  eine  neue  Zeit,  das  Uittelalter,  herausbildete,  ist  fassiich, 
Uar,  saehgemiC,  rationdl,  so  dasa  man  dem  YerfiiMer  mit  gespanntester  Anf- 
merksamkeit  folgt.    Nicht  wcnip  trafen  dazu  bei  die  in  reicher  Zahl  heran- 

Sezogencn  Citate  aus  den  Qttellenschiiften  (Kirchenv&tem  und  heidnischen 
utoren)  in  den  FaBnoten,  lo  ansehaalicli  wirinn,  ifk  die  nidit  mbder 
zahlreichen  Text -Illustrationen  (keine  Phantasiebilder):  Münzen,  Mosaiken, 
geschnittene  Steine,  Diptychen,  Statuetten,  Sarkophage,  Ruinen  und  deren 
Restanrationoi  etc.  Ein  Sach-  und  Namenregister  Uber  die  fünf  Bände  und 
ein  Illustratioiisvoncichniss  V  S.  niö— B14  erleichtern  den  Gebrauch  und  die 
raschere  Orientirung.  Der  Keiereut,  der  das  Werk  wiederholt  gelegen,  glaubt 
nicht  stt  Tiel  au  sagen,  wenn  er  bemerkt,  dais  leiten  ein  Bueb  enoheiBt,  in 

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dem  die  Foncbungeu  der  Gelehrten  in  so  aamuLhiger  i'om  niedergelegt  sind, 
wie  es  hier  im  Dimiy'scheD  Werke  gesdidm  ist.  Bern  Lehrer  der  GeMhidite,  ' 

der  Relip;!')!!  und  der  Kunstge>rhi(:lite,  wie  jedem,  der  sich  über  eine  der  folgcn- 
Bchwerdten  Epochen  des  MenHchcngescblechtcä  aufklären  will,  unter  deren  £in- 
wirknng  VBser  ffcsammtes  Denken  und  Ftthlen  noch  stehen,  den  meisten  freilidi 
unbewiTsst,  empfehlen  wir  die  fUuf  Bände  der  nnDischpii  Kaisendt  snr  TiOftUro 
und  ihre  200  lUastrationea  zur  eingehenden  Betrachtung. J  "W. 

Jllicke,  Lehrbuch  der  Geschichte  für  die  oberen  Classeu  höherer  - 
Lehrftn stalten.  Zwd  ThtOe.  Bredan  1890,  Trewendt 

Dem  Buche  wird  man  zweierlei  nachrühmen  müssen:  Klarheit  und  gute  Stili- 
sirunff  was  die  Form,  und,  was  den  Inhalt  betrifft,  stete  Ettcksichtnahme  auf 
die  Ergebnisse  der  Feflsehmig.  Viel  Krinukianis,  der  in  Form  interessanter 

Anekdoten,  Aussprüche  u.  dsfl.  in  anderen  Lehrbüchern  der  Geschichte  noch 
immer  der  Jugend  mit  behaglicher  Breite  mitgetheilt  wird,  trotzdem  daa  (^anze 
ab  nnhistorisoh  Hingst  widerlegt  ist,  ist  auf  diese  Weise  in  das  Buch  .Tänieke's 
nicht  gekommen.   Wie  genau  der  Autor  mit  dem  Stande  der  Forschung  ver- 
traut ist,  siebt  man  am  deutlichätcu  und  öftesten  aus  .seiner  Danitellung  der 
römischen  Geschichte.  Die  Ge-schichto  der  classischen  Volker  sowie  der  Deutechcn 
und  die  innere  oder  Culturgcachiohte  hat  er  in  den  Vordergrund  gestellt  und 
pragmatisch  behandelt.    Ulustrutionen  zur  Culturgeschicbte,  wie  sie  z.  B. 
Gindely  oder  Junge  u.  a.  bieten,  sind  dem  Buche  leider  nicht  beigefügt;  da- 
durch wird  das  Verständnis  besonders  mancher  Abschuitte  des  I.  Theiles  sehr 
erschwert,  z.  B.  das  Capitel  über  griechische  I'la.stik.   Auf  tjccuiann.-i  Bilder- 
bogen hätte  da  wenigstens  verwiesen  wenlm  sollen.      ,  W. 
Dopenwell,  Der  deutsche  Aufsatz  in  den  unteren  und  mittleren 
Classen  höherer  Lehranstalten,  sowie  in  Mittel-  und  Bürger- 
schulen.   I.  Theii.   Zweite  Aufl.   Hannover,  Karl  Meyer  (Gustav  Prior), 
1890.  8*.  804  S.  Pr«lB:  3  lOc.  50  Pf 

]»iescs  Hilfshncli  enthält,  cceordnet  nach  zwei  Stufen,  275  Aufsätze,  deren 
Stoff  zum  Zwecke  der  Beproduction  Fabeln,  Sagen  des  dassiachen  Alterthums 
und  der  dentseben  Heldensdt,  sowie  der  OeMhidite  und  SebwSnken  entlehnt 
ist  und  die  theils  als  Erzählungen,  thcils  als  Beschreibungen  (im  Anbang  auch 
einige  In  BnefÜoun)  gehalten  sind.  Mehreres  ist  an  dem  Buche  zu  iobui:  die 
Dantellnng,  waa  den  Satsban  betrifft,  sowie  der  Inhalt,  ist  der  Altenatoie  an- 
gemessen  und  der  Umfang  jeder  Arbeit  hält  das  ri(  htitjc  ^^luß  ein :  der  Inhalt  jeder 
lässt  sich  darum  leicht  übersehen,  prägt  sich  bald  ein  und  die  2s'achbildung  muthet 
dem  Schiller  nicht  .zu  viel  Arbeitsdaner  an.  Dem  Lehrer  ist  dnreh  das  Bneh 
jcdesfalls  ein  Dienst  erwiesen,  weil  er  genug  Stoffe  zur  bequemen  Auswahl  vor- 
gelegt erhält;  der  jüngere  Lehrer  wird  das  Buch  außerdem  mit  Nutzen  ge- 
brauchen, weil  es  ihm  Winke  gibt,  wie  er  Anlbatiübungen  betreiben  rousa. 
Auch  da  loben  wir  den  Inhalt  des  Gebotenen  —  es  sind  Beobachtungen  eines 
denkenden  Lehrers,  wie  er  sie  an  einem  großen  Schülennaterial  gemacht  hat  — 
ond  die  Form.  Nichts  unangenehmer,  als  wenn  pädagogische  liatbschläge  breit- 
spurifc  mit.  d'^r  sattr;ani  bekannten  Geschwätzigkeit  mitgctheilt  werden.  Das 
ist  hier  durchauä  uiclil  der  Fall.    Eiues  mochten  wir  aber  doch  Doreuwell 
empüshlen,  daai  ev  nämlich  bei  einer  neuen  Auflage  die  geschichtliehen  Auf- 
sätze einer  genauen  Durchsicht  unterzieht  und  alles  beseitigt,  was  mit  der 
beglaubigten  Geschichte  im  Widerspruch  steht.    (Vergl,  z.  B.  das  Lesestück: 
Nero.)  W. 
CIräve,  Präparationen  zur  Behandlung  deutscher  Musterstücke  in 
der  Volksschule.    Mittelstufe  (IIL  u.  IV.  Schuljahr)  Preis  1  Mk.  20  Pf. 
Oberstufe:  L  Thcil  {\.  u.  VL  Schuljahr)  Preis  1  Mk.  60  Pf.  IL  Theil: 
(Vn.  Q.  Vm.  Schuljahr)  PreiB  8  Mk.  Supplement:  Lebrasbilder  deutscher 
Dichter  (Preis  1  Mk.  20  Pf.)  Bielefeld  und  Leipzig,  Velhagen  &  Klasing. 
Das  Buch  ist  nach  dem  bekannten  Herbart-Zilier'sehen  Verfahren  (Vorberei- 
tung, Darbietung,  Verglcicbung,  Zusammenfassung,  Anwendung)  bearbeitet  und 
Mhltolt  lieh  an  das  Leeebneh  von  Gabriel  und  Snpprian  an,  nnn  aber  auch 


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dort  gebraucht  worden,  wo  man  sich  an  daa  genannte  Schenui  nicht  strcnj^ 
halten  will,  oder  wo  dos  genannte  Lesebuch  nicht  im  (iebrauche  steht;  dcuu 
die  (Thiuterti-n  LcsestUrke  finden  rieh  beinahe  sämmtlicb  auch  in  jedem  anderen 
Lesebuch.  Du-s  Werk  ist  Anfüngern  zu  empfehlen  und  jedem,  dem  die  Zeit 
mangelt,  sich  längere  Zeit  auf  ein  Stück  vorzubereiten;  beide  finden  hier  be- 
quem zusammengestellt,  was  sie  einem  Schüler  der  betreffenden  Altersstufe  an 
einem  Lesestttck  erläutern  mQssen,  der  erstere  außerdem,  wie  er  erläutern 
mus3  und  wie  er  das  Gelesene  für  die  Ausbildung  der  sprachlichen  Fertigkeit 
seiner  Zöglinge  verwerten  kann.  In  dieser  Hinsicht  kann  er  da.s  Buch  mit 
Erfolg  bentttsen,  cerade  so  wie  die  ^Lebensbilder",  die  ihm  zeigen,  wie  er  eine 
Biographie  einet  nditeis  vor  Kindern  behandeln  mtm^  Kilebraaeh  in  seiner 

..Vorschule  der  Literaturgeschichte^  (die  Grave  unter  drii  Hilfsbüchem  S:  106 
nicht  nennt)  hat  in  derselben  Weise  gelehrt.  Unter  den  zahlreichen  Aufgaben, 
die  rieh  an  die  Leeeetttcke  anaeblieBen,  gefallen  nns  nur  zwei  Arten  nicht, 
weil  .sie  nii  lit  gelingen  oder  nicht  t^ut  liiii^en  k"iiinen.  Die  eine  Art  ist  die;* 
der  ächiUer  spll  im  Sinne,  im  Ueiüte  eines  anderen  erzählen,  also  z.  B.  im  An- 
iddVM  an  GiamiaM'a  „iMe  alte  WascUirau''  eine  Unterredung  Chamisao's 
mit  der  Wasebfrau,  in  welchen  latfttcrc  ihre  Leben.sschieks;ile  erzählt,  oder: 
Gedanken  eines  Försters  beim  Anblick  altes  Bäume  (im  An^cliluisä  au  Gribels 
Gedicht  „AuB  dem  Walde").  Die  zweite  Art  Aufgaben,  die  einem  Schttler 
nicht  gut  oder  gar  nieht  gelinj^cn  ki'mnen,  ist  die:  eine  Schilderun!?  zu  liefern 
von  Dingen  und  Erscheinungen,  die  er  nicht  gescheu,  erlebt  hat  und  zu  deren 
DarsteUvng'der  Phantasie. alle  und  jede  Anhaltspunkte  fehlen.  Als  sulchc  Auf- 
gaben nenne  jrh  z.  B.  die  S.  IHO  (der  Oberstufe  Hl  verlanfjten  Nuelihildungcn 
der  „Feuersbrunst"  in  der  Schillerschen  ülocke:  Schilderung  eines  Gruben- 
«ttglttdcet,  einea  Stvimei  auf  dem  Heere,  einer  Übenehwammnig.  W. 

Wrobel,  Dr.  E.,  Gymlehr.  in  Rostock:  Übungsbuch  zur  Arithmetik  und 
Algebra  tür  höhere  Lehranstalten.  L  Theil.  291  S.  2  Mk.  60  Pf.  Uiersu 
die  Resultate  82  S.    1  Mk.  Rostock,  Werther,  1889. 

Dieses  Übungsbuch  beschränkt  sich  nicht  auf  eine  Sammlung  von  AnfJi^ben, 
sondern  enthiilt  auch  die  dazu  nöthigen  Formeln,  Lehrsätze  und  Lösungs- 
Methoden  nebst  einer  Anzahl  einschl^iger  Fragen.  £s  war  dem  Verfasser 
nicht  nnr  dämm  zu  thnn,  neue  Aufgaben  zu  bieten,  sondern  er  hat  Tomflglieh 
Wert  darauf  gelegt,  in  der  didaktischen  .Vin/rduung  einen  Fi  rt.'^i  hrirt  zu  mk  han. 
Wir  können  seiner  Bemerkung  nur  zustimmen,  daas  au  iieichhaltigkcit  die  vor* 
liegende  Sammlung  von  keiner  anderen  ObertoolPen  wird;  anen  mllssen  wir 
hinzufügen,  da.ss  da.sselbe  auch  in  T'czuij  der  StofTvertiefiini,'  trilt.  Der  Inhalt  er- 
streckt sich  auf  den  Lchrstuft  bis  L  nter-Secunda,  umfasst  alsu  die  sieben  Rech- 
nungsarten, Proportionen  und  Gleichungen  ersten  Grades  mit  einer  und  mehreren 
Unlickanntcn ;  wilhrend  der  f'hungsstotY  für  die  übrigen  Tln  ile  der  Algebra 
einem  zweiten  demnächst  zu  veröffentlichenden  Theile  des  Werkes  vorbehalten 
.  ist.  Wir  glauben,  es  wird  zur  Kennzeichnung  des  Buches  am  dienlichsten  sein, 
wenn  wir  bemerken,  dass  dasselbe  der  rühmlich  bekannten  Sammlunur  von  Heia 
ebenbürtig  zur  Seite  gestellt  werden  kann;  so  dass  der  Lehrer  hiermit  in  die 
Lage  gebracht  ist,  die  eine  oder  die  andere  Sammlung  abwechselnd  oder  gleich* 
zeitiir  hcniitzen  zu  k<>nnen,  indem  dioselhen  nach  Umfan":  und  StoflVertiefung 
nahe  parallel  laufen,  mit  dem  Vorzuge  für  das  neue  IJuch,  dass  dasselbe  denn 
doch  sehr  viele  neue  Übuugen  bietet. 

An  Einzelheiten  möchten  wir  hervorheben;  Die  Anführung  einer  Reihe  von 
Brüchen,  wobei  sich  Vcrtauschbarkcit  von  Grundzahl  uud  Exponent  ergibt 
(nach  Ueugel  im  Programm -Aufsätze  des  Gymnasiums  zu  Emmerich  1888). 
bezüglich  des  Gebrauches  der  Klammem  wäre  zu  erinnern,  dass  dieselben 
dienen,  um  irgend  eine  Rechnungsart  anzuzeigen;  allerdings  treten  sie  zum 
.  erstenmale  bei  der  Subtraction  auf,  gerade  deshalb  niuss  aber  vermieden  werden, 
daas  der  Schttler  alle  Klammern,  welche  ihm  in  Hinkunft  begegnen,  fUr  Sub- 
tractions-Klammera  halte. 

Der  Verfasser  hat  sich  als  ein  sehr  erfahrener  Lehrer  gezeigt,  welcher  die 
didaktische  Anordnung  des  Stoffes  meisterhaft  versteht  und  sich  auf  der  Hübe 
der  wiBBenaefaaftlichen  Entwiekelung  seines  Gegenstand  hril»let.  Wir  glauben 


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nickt  zo  viel  zu  bagen,  wenn  wir  die  Yermotbung  aussprechen,  dasä  dieses 
Buch  sich  alsbald  einer  großen  Verbreitung  erfreuen  und  mit  den  gcbräuch- 
lichi'n  Piiminlungeu  in  erfolgreichen  Wettbewerb  eintreten  wird.         II.  E. 
Adam,  W.,  .Seminarlebrer  in  Neiiroppin.    1500  Aufgaben  aus  der  Bnch- 
stabenrecbnuDg  und  Algebra  mit  vollständigen  Berecbuungen  zum  Selbst- 
ontenicht.  2.  verb.  Aufl.  292  S.  Gera,  1890,  Hoftnaim..  4  Hk.  40  Pf. 

Diese  Sammlung  enthält  Aufgaben  tlber  die  sieben  Ilcchnungsart*  n .  xMlann 
über  Gleichungen  bis  zum  vierten  und  fUnften  ürade,  nebst  Diuphantiächen 
Oleicbüngen,  ftber  Profressionen,  Kettenbrlldie  und  CombinatioiMlefare.  Wie 
(Irr  Titel  riclititr  angi^it.  ist  diese  Sammlung  vermöge  der  vollstämliüfen 
rechnung  der  aufgestellten  Aufgaben  fttr  den  Sclbtituntcrricbt  ToUkummen  ge- 
eignet; fttr.  den  Sehalunterricbt  kann  sie  wol  nur  Verwendung  finden,  wenn 
ein  .*^chiller  eine  versÄurntt;  Partie  nachzuholen  hat.  Per  größte  Theil  des  In- 
haltes ist  der  Algebra  zugewendet,  wä^irend  die  Beispiele  t'ttr  die  Hieben  ^ch* 
nvngsarten  nur  etwa  deu  sechsten  .TbNl  des  Raumes  einnehmen,  besondeni 
wenig  Beispiele  sind  der  I'iviäion  zugemessen.  Das  Ko(hnen  mit  ima<;iniiren 
Zahlen  geht  ganz  leer  aus.  Deninadi  ist  eine  erfolgreiche  Verweudung  dieses 
Lehnnitteb  besonders  zu  erwarten,  wenn  es  sich  darum  handelt,  zu  erlernen, 
wie  man  gegebene  ^^'ortgleichungen  in  der  mathemati.schen  Zeichensjirai  he 
ausdniikt,  und  für  diese  Verwendung  vermögen  wir  es  auch  besten»  zu 
empfehlen.  H.  E. 

Bieler,  Dr.  Albert,  Rector  in  Gräfenthal.    Raumlehre  in  Bürger-  und 
Mittelschulen.    9(3  Figuren  im  Text   bii  S.   Jena,  Mauke,  1890.   80  Pf. 

Der  Vorgang  des  Verfassers  ist  abweichend  von»  gewöhnlichen;  er  beginnt 
mit  der  Erklärung  der  Winkel,  der  Dreiecke,  Vierecke  und  des  Kreises  und 

feht  dann  erst  auf  die  Betrachtung  der  KOrper  iiber,  dies  macht  zusammen 
4  Seiten  als  einleitenden  Theil,  dann  folgen  LehrsStze,  namentlich  Uber  Con- 
gruenz  und  Fl&chengleichheit.  Den  .Schlui-s  machen  vier  Seiten  über  K"'rii<  r- 
.  berecbuungen.  —  Jedenfalls  kommt  man  dem  Abstractioosvennögen  der  Schiller 
besser  su  Hilfe,  wenn  man  ihnen  erst  EOrper  Torlegt  und  ihnen  an  denselben 
die  ebenon  Ttebilde  weiset,  aI-~  mit  dem  Vorgange  des  Verfassers,  besonders 
wenn  man  so  mangelhafte  Figuren  gebraucht,  als  seine  18.  Was  get>eheu 
werden  soll  —  nimbdi  die  OlelcUieit  von  Gegen-  und  Weehflelwinkeln  —  iit 
nicht  da;  und  WBS  da  ist  —  BAmUch  nn^^eiehe  Winkel  —  soll  Ja  nleht  ge- 
sehen werden. 

Wir  wollen  nicht  bestreiten,  dass  der  Verfeaser  bei  neinen  Sehlllem' ausge- 
zeichnete Erfolge  erzielt;  die  T^sache  davon  liegt  aber  gewiss  nur  in  seiner 
jKTsönlichen  Lehrthätigkeit  und  nicht  in  seinem  Lehrbuche;  schon  nicht  wegen 
dessen  aufterordentlich  gedrängter  Kürze;  wird  doch  die  Ellipse  auf  einer 
halben  Seite  abgetlian,  da  muss  denn  doch  gesagt  werden,  dass  dies  t'iir  die 
zw^eit  wichtigste  Curve,  welche  der  Schüler  kennen  lernt,  außerordentlich 
wenig  i^t.  H.  E. 


Venntwoitl.  fiedccteu  Dr.  friedtiob  Dittei.  BaelidnicJtoKi  Jslias  Klinkhkrdt,  Lcipsig. 


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